[56] Die dreißigste Fabel.
Von der Fliegen und Ameißen.

Mit einer ameißen zankt ein fliege,
Vermeinet wider sie zu siegen,
Und sprach: »Ich bin ein edel tier,
Du aber bist weit under mir;
Mit meinem fliegen hoch her far:
Du kreuchst auf der erden bar.
Auf den schlößern da wone ich hoch:
Dein herberg ist in einem loch.
Das harte korn ist deine speis,
Und trinkest aus der wagenleis;
So iß ich von der könig tisch
Gewürzet, wilpret, fleisch und fisch
Und trink aus gold und silber schon:
Das verdien ich alls mit müßig gan.«
Dawider bald die ameiß redt,
Mit ernst es widerfechten tet
Und sprach: »Mein herkunft und gebort
Ist wol bekant an manchem ort.
Mein eltern und mein ganz geschlecht
Haben sich gehalten allzeit recht.
Ich hab mein sitz, du bist ein gast
Und keine stete wonung hast.
Das körnlin und das waßer rein
Ist mir und jederman gemein
Und schmeckt mir wol mit gutem gwißen;
Das dein mustu mit sorgen genießen.
Was ich genieße oder verzer,
Komt von meinr sauren arbeit her.
Mit arbeit ich mein zeit vertreib,
Bin sicher, frölich, alln menschen lieb.
Mein tat all menschen zur arbeit weist,
Derhalben mich die schrift auch preist.
[57]
Du aber fleugst in sorg daher,
Und hat niemand nach dir beger:
Alle menschen tun dich meiden,
Dich mag weder baur noch bürger leiden,
Ein ungebetner gast im haus,
Drumb streicht man dich mit ruten aus.
Man helt dich untüchtig und unedel,
Jagt dich aus mit eim fliegenwedel.
Die faulen dich zum beispiel han,
Ir eigenschaft zeigstu in an.
Im sommer hab ich des winters acht,
So tötet dich hunger und schmacht.«
Wer nicht hat maße seiner wort,
Der hört oft, das er nicht gern hort.
Het die fliege wol gesungen,
So wer es ir auch baß gelungen.
Dieweil sie redet all zu vil,
Muß hören, was nicht hören wil.
Doch gib ich hie der ameißen recht:
Es ist vil beßer, leben schlecht
Mit wenig sorg bei kleiner hab,
Denn daß man prechtig hoch hertrab.
Bei großem gut ist hoher mut,
An leib und seel oft schaden tut.
Ein gringer stand mit freud und fried
Ist fürwar zu verschmehen nit.
Selig wird der geacht allzeit,
Den auf erd kennen wenig leut.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Waldis, Burkhard. Fabeln. Esopus. Erster Theil. Das erste Buch. 30. Von der Fliegen und Ameißen. 30. Von der Fliegen und Ameißen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8CFF-D