[22] Am Grabe meiner Mutter
Freundin weicher Seelen, Wehmuth, folge
Zu dem Schatten jener Linde mir!
Ach am Grabe der geliebten Mutter
Weih' ich bange, heise Thränen dir!
Von den bleichen abgehärmten Wangen
Sinken sie im Abendstral dahin,
Traulich hüllt er sich um Leichensteine
Und um dieses Grabes falbes Grün.
Gleich wie der Pilot auf fernem Meere,
Den ein Sturm auf ödes Eiland trug,
Wenn der Himmel sich in Nacht verhüllte,
Ein Orkan die wilden Wellen schlug,
Sich verlassen fühlet, so verlassen
Stand ich einst an dieser stillen Gruft;
Deiner Kleinen laute Jammerklagen
Stöhnten ängstlich durch die Abendluft! –
Schlummre sanft dem grossen Tag' entgegen,
Der gerecht die Spreu vom Waizen trennt,
Blicke tröstend auf die Tochter nieder,
Die kein Glück und keine Freude kennt; –
Ach, sie trugen sie mit dir zu Grabe,
Einsam wall' ich nun den rauhen Pfad,
Blicke sehnsuchtsvoll nach jenem Morgen,
Wo auch mir der Friedensbote naht.
[23]Möcht' er, fleh' ich, dann so sanft erscheinen,
Als er dich in seine Arme nahm,
Ausgeweint sind alle deine Leiden
Und des Mutterherzens tiefer Gram;
Deines Willy Klagen
1 riefen leise
Dich auf seinen dunkeln Pfad zurück,
Selig ruht er nun in deinen Armen
Unter Palmen, mit erhelltem Blick!
Wie die Rose sinkt am jungen Morgen,
Wenn ein Sturm den zarten Stengel beugt,
So hast du in schönster Lebensblüthe
Frühe der Vollendung Ziel erreicht.
Schwebe auf der Morgenröthe Flügel,
Wie ein Schutzgeist warnend um mich her,
Lispelnd: selig harr' ich dir entgegen,
Trennung schreckt uns ewig bald nicht mehr!
O, Geliebte! deiner Gruft entblühen
Sollen Rosen und Vergissmeinnicht;
Kühlen soll der Schatten dieser Linde
Meine Blumen, wenn die Sonne sticht.
Und wenn einst ein lebensmüder Waller
Eine Thräne weint auf dieses Grab;
O dann saget ihm, dass Schmerz und Liebe
Euch, ihr Blumen! euer Daseyn gab!