1. Mewlana Dschelaleddin Rumi

1819.


»Im Osten tagt's von unsres Feuereifers Lichte.«

J.v. Hammer,

in den Redekünsten Persiens.

Die Form des Ghasels

Die neue Form, die ich zuerst in deinen Garten pflanze,
O Deutschland, wird nicht übel stehn in deinem reichen Kranze.
Nach meinem Vorgang mag sich nun mit Glück versuchen mancher
So gut im persischen Ghasel wie sonst in welscher Stanze.

1.

Solang' die Sonne nicht den Nachtflor bricht,
Sind Tagesvögel ohne Zuversicht.
Der Blick der Sonne ruft die Tulpen auf;
Jetzt ist, o Herz, dir zu erwachen Pflicht.
Das Sonnenschwert gießt aus im Morgenrot
Das Blut der Nacht, von der es Sieg erficht.
Voll Schlafs das Auge, sprach ich: »Es ist Nacht.«
Er sprach: »Vor meinem Angesichte nicht.«
Solang' es graut, ist zweifelhaft der Tag;
Am hellen Tag, wer zweifelt noch am Licht?
Im Osten steht das Licht, ich steh' im West,
Ein Berg, an dessen Haupt der Schein sich bricht.
[308]
Ich bin der Schönheitssonne blasser Mond;
Schau weg von mir, der Sonn' ins Angesicht!
Dschelaleddin nennt sich das Licht im Ost,
Des Wiederschein euch zeiget mein Gedicht.

2.

Zum Himmel thu' ich jede Nacht den Liebesruf,
Der Schönheit Gottes voll, mit Macht den Liebesruf.
Mir jeden Morgen Sonn' und Mond im Herzen tanzt,
Zu Sonn' und Mond thu' ich erwacht den Liebesruf.
Auf jeder Au' erglänzt ein Strahl von Gottes Licht,
Ich thu' an Gottes Schöpferpracht den Liebesruf.
Die Turteltaub' im Laub, erweckt von meinem Gruß,
Thut mir entgegen girrend sacht den Liebesruf.
Dem Felsen, der zu deinem Preis mit Licht sich krönt,
Zuruf' ich, und er nimmt in acht den Liebesruf.
Dir thu' ich für die Blum' im Feld, die schüchtern schweigt,
Fürs Würmlein, das du stumm gemacht, den Liebesruf.
Das Weltmeer preist mit Rauschen dich, doch ohne Wort;
Ich hab' in Worte ihm gebracht den Liebesruf.
Dir thu' ich als das Laub am Baum, als Tropf' im Meer,
Dir als der Edelstein im Schacht den Liebesruf.
[309]
Ich ward in allem alles, sah in allem Gott,
Und that, von Einheitglut entfacht, den Liebesruf.

3.

Ich sah empor und sah in allen Räumen eines;
Hinab ins Meer und sah in allen Wellenschäumen eines.
Ich sah ins Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten,
Voll tausend Träum'; ich sah in allen Träumen eines.
Du bist das Erste, Letzte, Äußre, Innre, Ganze;
Es strahlt dein Licht in allen Farbensäumen eines.
Du schaust von Ostens Grenze bis zur Grenz' im Westen,
Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen eines.
Vier widerspenst'ge Tiere ziehn den Weltenwagen;
Du zügelst sie, sie sind an deinen Zäumen eines.
Luft, Feuer, Erd' und Wasser sind in eins geschmolzen
In deiner Furcht, daß dir nicht wagt zu bäumen eines.
Der Herzen alles Lebens zwischen Erd' und Himmel,
Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen eines!

4.

Wohl endet Tod des Lebens Not,
Doch schauert Leben vor dem Tod.
Das Leben sieht die dunkle Hand,
Den hellen Kelch nicht, den sie bot.
So schauert vor der Lieb' ein Herz,
Als wie von Untergang bedroht.
Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt
Das Ich, der dunkele Despot.
Du laß ihn sterben in der Nacht,
Und atme frei im Morgenrot.

5.

Ihr Augen, geht, den Lenz zu schauen,
Der lächelnd liegt auf unsern Auen.
Ein Himmelskind in Blumenwiegen,
Gesäugt von Milch der Wolkenfrauen.
Die Ostluft ist die Amm' und schaukelt
Die Wiege mit dem Hauch, dem lauen.
[310]
Das Kindlein thut, als schlaf' es, blinzet
Mit seinen Äugelein, den schlauen.
Und wie's die Augen aufgeschlagen,
Träuft Tau von seinen Augenbrauen.
Und Bienen kommen, saugen emsig
Den Tau, aus dem sie Honig brauen.
O kommt und laßt euch doch vom Lächeln
Des Himmelkindleins auch durchtauen.
O kommt aus euern dumpfen Zellen,
Die euch des Himmels Licht verbauen.
Laßt uns die Zell' aus Wachs und Honig
Sechseckig, wie die Bienen, bauen.
Erwarmt am bunten Blumenfeuer,
Und laßt die Aschen ruhn, die grauen.
Die Buß' ist tot, die Liebe lebet,
Ihr Atem weht in unsern Gauen.
Geht in des Frühlings Liebeschenke,
Trinkt seines Weines ohne Grauen;
Auf daß ihr liebestrunken werdet,
Eu'r Herz sich öffne mit Vertrauen.
Die Lieb' ist wach an Erd' und Himmel,
Im Grünen Rose, Sonn' im Blauen.
O Nachtigall, sieh deine Rose;
Du Adler sollst zur Sonne schauen.

6.

Ich sah, wie auf zur Sonne sich schwang ein Adelaar,
Und wie im Schatten girrte ein Turteltaubenpaar.
Ich sah, wie Wolkenherden der Ost am Himmel trieb,
Und auf der Flur dem Hirten sich stellten Lämmlein dar.
Ich hörte Sterne fragen: »Wann sollen wir entstehn?«
Und Keim im Körnchen: »Sollen wir schlafen immerdar?«
Ich sah ein Gras am Morgen erblühn und vor der Nacht
Verblühn und Zedern trotzen den Stürmen tausend Jahr.
Ich sah des Weltmeers Wogen wie Kön'ge schaumgekrönt,
Vorm Fels sich niederwerfen wie Beter am Altar.
[311]
Ich sah ein Tröpflein funkeln, Juwel am Sonnenstrahl,
Das, aufgeglüht zu werden, nicht scheute die Gefahr.
Ich sah im Menschenwimmeln sich Städt' und Häuser baun,
Und Hügelein zu häufen sich mühn Ameisenschar.
Ich sah das Roß des Krieges zertreten Stadt und Land,
Daß seine Hufe wurden vom Blute rosenfar.
Ich sah den Winter weben aus Flocken ein Gewand
Der Erde, die der Frühling verlassen nackt und bar.
Den Webstuhl hört' ich sausen, der Sonnenschleier wob,
Und sah ein Räuplein weben sein Grab aus Fädlein klar.
Ich sahe Groß' und Kleines, und sah auch Kleines groß;
Denn Gottes Gleichnis sah ich in allem, was da war.

7.

Unser Haus hat viele Thüren,
Die hinein zum Herren führen.
Wer den Herrn sieht, muß anbetend
Mit der Stirn den Boden rühren.
Viel' im Haus sind blind geboren,
Die des Herrn Gebot doch spüren.
Auch den Lahmen sind gegeben
Hausgeschäfte zu vollführen.
Selbst der Wind mit kaltem Atem
Muß des Hauses Feuer schüren.
Thun muß jeder, was ihm obliegt,
Wahl hat keiner, selbst zu küren.
Mancher wähnt sich frei und siehet
Nicht die Bande, die ihn schnüren.
Trägest du dein Band in Demut,
Wird es dir zu Blumenschnüren.
Schwöre Treu'! und Gnad' antwortet
Dir mit höchsten Liebeschwüren.
Knecht im Hause! gegen deinen
Mitknecht will kein Stolz gebühren.
Sei verträglich! denn der Herr hat
Keine Freud' an Ungebühren.
[312]
Wer darf trotzig Einlaß fordern,
Den nicht Er ein lässet führen?
Wer kann mit dem Hausherrn hadern,
Den er stößt aus seinen Thüren?

8.

Tag ist's, auf, steh auf, o Jüngling Muselmane!
Packe dein Gerät und komm zur Karawane.
Horch, o horch, sie ziehet schon, indes du schläfest.
Horch! ihr Glöcklein, daß es nicht zu spät dich mahne!
Wann der Wüste Sand verweht hat ihre Spuren,
Hoffe nicht, daß sie dein Fußtritt wieder bahne.
Auf dich raffe! sei ein Mann, ein Held, ein Kämpe,
Bringe nicht das Leben hin in eitlem Wahne.
Sei gedenk des Ahnenstammes, Perserjüngling,
Wie Rostem ein Held, wie Sal ein Pehlewane.
Mann des Lichtes, Held des Rechtes, Sonnenkämpe!
Falle nicht anheim dem dunklen Ahrimane.
Wenn du hast die ird'sche Seel' im Kampf getötet,
Schwingt die himmlische des Lebens Siegesfahne.
Wann du dich demütigtest zum Staub der Schwelle,
Wirst du Siegelring in unsres Schachs Diwane.

9.

Die Liebe rief vom Himmelsthor:
»Wer ist, der schaut zu Gott empor?«
»Wir sind, die schaun empor zu Gott«,
Rief zu der Lieb' ein Priesterchor.
Die Liebe rief: »Wie könnt ihr schaun?
Vor eurem Antlitz hängt ein Flor,
[313]
Ein Flor, gewebt aus Gier und Haß,
Durch den das Licht den Schein verlor.
Vor eurem trüben Blicke nimmt
Die Sonne Wolkenschleier vor.
Die Gnade, die auf Wolken sitzt,
Schließt eurem dumpfen Ruf ihr Ohr,
Und die Erhörung steiget nicht
Herab, die eu'r Gebet beschwor.
O thut, eh' ihr zum Himmel schaut,
Euch Erdedunkels ab zuvor.
Statt Gier und Haß nehmt Lieb' ins Herz
Und schaut zur Gottheit dann empor.«

2. Mewlana Dschelaleddin

1.

Mit deiner Seele hat sich meine
Gemischt wie Wasser mit dem Weine.
Wer kann den Wein vom Wasser trennen,
Wer dich und mich aus dem Vereine?
Du bist mein großes Ich geworden,
Und nie mehr will ich sein dies kleine.
Du hast mein Wesen angenommen,
Sollt' ich nicht nehmen an das deine?
Auf ewig hast du mich bejahet,
Daß ich dich ewig nie verneine.
Dein Liebesduft, der mich durchdrungen,
Geht nie aus meinem Mark und Beine.
Ich ruh' als Flöt' an deinem Munde,
Als Laut' in deinem Schoß alleine.
Gib einen Hauch mir, daß ich seufze,
Gib einen Schlag mir, daß ich weine.
Süß ist mein Weinen und mein Seufzen,
Daß ich der Welt zu jauchzen scheine.
Du ruhst in meiner Seele Tiefen
Mit deines Himmels Widerscheine.
[314]
O Edelstein in meinen Schachten,
O Perl' in meinem Muschelschreine.
Mein Zucker ist in dir zerschmolzen,
O Milch des Lebens, milde, reine;
Und unsre beiden Süßigkeiten
Genießet Kindermund als eine.
Du preßtest mich zu Rosenwasser,
Nicht seufzt' ich unter deinem Steine.
In deiner süßen Qual vergaß ich,
Daß ich die Rose war am Raine.
Da brachtest du an deinen Kleidern
Mich mitten unter die Gemeine;
Und als du auf die Welt mich gossest,
Ward sie zu einem Rosenhaine.

2.

Zur Sonne schaut der Aar mit Mut,
Die weh dem Eulenauge thut.
Doch dir genüber, höchste Sonn',
Ist Eule gleich und Adlerbrut.
Was ist die blöde Seele, die
Blinzend nach dir das Aug' aufthut!
Die Kerz' umkreist der Schmetterling,
Planeten wandeln lichtbeschuht.
Planet und Schmetterling ist eins,
O höchstes Licht, in deiner Hut.
Was ist die kühne Seele, die
Dich zu umkreisen niemals ruht?
Die Flamme zehret trocknes Holz,
Das feuchte ist dazu nicht gut.
Doch feucht' und trocknes Holz ist eins,
O höchste Flamm', in deiner Glut.
Die Fluten löschen Gluten aus,
In deinen Gluten brennt die Flut.
Unliebe selbst zu lieben, halt',
O Liebe, dich nur nicht zu gut!
[315]
Du bist nicht Glut, wenn du nicht zwingst
Des spröden Stoffes Trotz und Wut:
Brich das verstockte Herz der Welt
Und bring in Fluß das starre Blut!

3.

Laß mein Streben dir gefallen
Und mich strebend weiter wallen!
Laß mich stehn durch deine Huld, wo
Ich durch meine Schuld gefallen.
Von des Berges Gipfel glänzen
Mir entgegen deine Hallen;
Und die heil'gen Chorgesänge
Hör' ich mir entgegenschallen.
Laß den Glanz und laß den Klang nicht,
Eh' ich nah', in Duft zerwallen;
Hüben ich, du drüben! laß mich
Von der Kluft zurück nicht prallen.
Zeige, die mich drüber trage,
Mir die Brücke von Kristallen!
Und dem Abgrundsungeheuer,
Schwindel, seien stumpf die Krallen.
Meiner Pilgerreise Schritte
Zähl' ich ab an Betkorallen;
Wie den Rosenkranz der Himmel
Betet ab an Sonnenballen.
Manches hab' ich nicht verstanden,
Das ich wagte nachzulallen:
Also singen dir zum Preise
Unverstandnes Nachtigallen;
Also lernen Kinder reden,
Welche lieb dir sind vor allen.

4.

Höchste Liebe, wo du thronest, laß vor deinem Throne knien
Meine schönsten, ewig deinem Thron geweihten Melodien!
[316]
Wenn sie wohlgefällig deinem Ohre tönen, wenn die Kraft
Auch in deine Seele wirket, die du ihnen hast verliehn;
Laß sie danken, laß sie beten, laß sie fragen, laß sie flehn:
Wo ist, der ein Stern auf Erden mir aus deiner Höh' erschien?
Der, sein Haupt mit deinen Rosen kränzend und sein Saitenspiel,
Liebetrunken mir vorüberzog, um mich dir nach zu ziehn;
Der in wallenden Gewanden, am gebrochnen Säulenschaft
Lehnend, Lieder strömt', auf deren Wog' er selber wollt' entfliehn;
Wo ist der dir Zugeflohne? Sag' mir's, Liebe, wie du einst
Ihn beseligt hast auf Erden, wo du nun beseligst ihn?
Wo, Volkstrachten ausgezogen, Stammabzeichen abgelegt,
Schmelzen Kastenunterschied' in deinen ew'gen Harmonien;
Wo ist unter allen Heil'gen aller Zonen (Heil sei dir,
Heilig mir sein Angedenken!) Mewlana Dschelaleddin!

3. Freimund

1822.

1.

Auf, zum Himmel dich zu schwingen aus der Nacht!
Herz, empor zum Licht zu ringen aus der Nacht!
Sieh, wie Gottes Liebesboten leuchtende
Grüße dir entgegenbringen aus der Nacht!
Wo im Westen sank die Sonne, blühn ihr nach
Röten, die noch nicht vergingen, aus der Nacht.
Wo sie steigen wird im Osten, sieh, wie schon
Rosen an zu keimen fingen aus der Nacht!
Lichts Erinn'rungen und Lichtes Hoffnungen,
Die sich dir zum Kranze schlingen aus der Nacht.
Und darüber schaun die ew'gen Stern' herein,
Die hernieder tröstend klingen aus der Nacht:
Eh' der Kranz von Doppelrosen dort verblüht,
Wird dein ew'ger Tag entspringen aus der Nacht!
Nachtigall der Himmelsrosen, Freimund, auf,
Liebend dich empor zu singen aus der Nacht!

[317] 2.

Die Seele soll am Boden schweben, wie lange noch?
Und soll sich nicht ins Licht erheben, wie lange noch?
Dem Strahl des Lichtes, der vom Himmel zur Erde kommt,
Ist hier der Schatten beigegeben, wie lange noch?
Die Sterne winken, doch du lässest, o Schmetterling,
Den Flug um Sinnenblumen schweben, wie lange noch?
Die Sonne strahlet, doch du lässest, o Nachtigall,
Dich Rosenschlummerduft umweben, wie lange noch?
Die Blume, die in Düften steigen zum Himmel will,
Sie fühlt sich fest an Wurzeln kleben, wie lange noch?
Der Frühling, der die Welt will schmelzen in Blumenglut,
Muß vor dem starren Winter beben, wie lange noch?
Und scheitern muß des ew'gen Lichtes Vernichtungskampf
An dunkler Stoffe Widerstreben, wie lange noch?
Wie lange willst du deiner Schranken, beschränkter Geist,
Ohnmächt'gen Drangs dich überheben, wie lange noch?
Sich senkt vor dir der Vorhang tiefer, jemehr du hebst,
Doch immer suchst du ihn zu heben, wie lange noch?
Es wächst die Zahl der Meereswogen, indem du zählst,
Doch immer zählen mußt du eben, wie lange noch?
O komm aus deinen Höh'n herunter! Es rufet hier
Dein Liebchen und das Blut der Reben: wie lange noch?
Sie rufen: »Gib dich uns gefangen und werde frei!
Genieß und frage nicht das Leben: wie lange noch?«

3.

Flammt empor in euren Höh'n, Morgensonnen, lobt den Herrn!
Rauscht in euren Tiefen auf, Schöpfungsbronnen, lobt den Herrn!
Die ihr, ohne zu verglühn, lang' geflammt vor seinem Blick,
Ohne zu verrinnen, lang' hingeronnen, lobt den Herrn!
Der ein mannigfaltiges Leben schaun will außer sich;
Alle, die ein Leben ihr habt gewonnen, lobt den Herrn!
Alle Tropfen seiner Huld, die zu Perlen sich geformt,
Funken Lichtes, die zu Gold sind geronnen, lobt den Herrn!
[318]
Soviel Halme von dem Tau seiner Gnade trunken sind,
Soviel sich an seinem Strahl Welten sonnen, lobt den Herrn!
Ob vor seinem ew'gen Blick ihr des Lebens raschen Tanz
Jetzt vollendet oder jetzt habt begonnen, lobt den Herrn!
Blumen, die der Frühling weckt, Garben, die der Sommer dörrt,
Trauben, deren Blut der Herbst preßt in Tonnen, lobt den Herrn!
Raupe, die das Blatt benagt, haftend an dem grünen Zweig,
Puppe, zur Verwandlung reif eingesponnen, lobt den Herrn!
Schmetterlinge, die ihr noch von dem Duft der Blüten nascht,
Schmetterlinge, die ins Licht schon zerronnen, lobt den Herrn!
Geister, eingeengt in Nacht oder aufgeflammt ins Licht,
Herzen, schmeckend Lebenslust, Todeswonnen, lobt den Herrn!
Die ihr mit dem Flügelschlag glühender Begeistrung strebt,
Oder fördert euer Werk still besonnen, lobt den Herrn!
Lobt den Herrn, des Lichtgewand auch durch dunkle Fäden wächst,
Die ein unscheinbarer Fleiß hat gesponnen, lobt den Herrn!
Lobt den Herrn, des Angesicht lächelnd in den Spiegel schaut
Auch des Tropfens, der am Halm hängt geronnen, lobt den Herrn!
Lobt den Herrn, der loben sich gern in allen Sprachen hört,
Die Bedürfnis seines Lobs hat ersonnen, lobt den Herrn!
Ob das Blatt am Zweige rauscht, ob des Menschen Zunge tönt,
Ob ein Engel höhern Gruß sich ersonnen, lobt den Herrn!
Alle, die ihr euren Gott fühlet, ahnet, denket, schaut,
Die ihr sinnt, was niemals wird ausgesonnen, lobt den Herrn!
Wenn in des Gemütes Nacht euch sein erster Schimmer brach,
Oder wenn ihr euch im Glanz habt versonnen, lobt den Herrn!
Alle Sinne, die des Sangs Woge schwellet himmelan,
Lobt mit allen rauschenden Schöpfungsbronnen, lobt den Herrn!
Alle Seelen, in der Glut des Gebetes Weihrauch-gleich,
Lobt mit allen brennenden Morgensonnen, lobt den Herrn!

[319] 4.

Durch die Himmel jüngst mit Flügelschnelle
Stieg ich, suchend nach des Lichtes Quelle.
Bei dem Monde fragt' ich, und er sagte,
Von der Sonne fließ' ihm zu die Welle.
Zu der Sonne kam ich, forscht' und hörte,
Daß ihr Licht aus höh'rer Sonne quelle.
Und ich hörte von der höhern Sonne,
Daß noch höh'rer Sonnen Strom sie schwelle.
Und es wies mich jede höh're Sonne
Von sich weg zu höh'rer Sonnenschwelle.
Und ich schweifte durch den Glanz und sahe,
Daß unendlich mich umfloß die Helle;
Bebte, daß mein Kahn an Sonnenklippen
In des Lichtes Ozean zerschelle.
Doch ein Engel, ungesehn im Glanze,
Stand bei mir und redete: »Geselle!
Wohin irrst du? wohin dich verlierst du?
Kein Gestad' hat dieses Meeres Welle.
Eine Woge fließet aus der andern,
Alle fließen aus dem ew'gen Quelle.
Der allgegenwärt'ge Quell des Lichtes
Ist gleich nah' und ferne jeder Stelle.
Näher ist er nicht der höchsten Sonne
Als dir selbst in deines Busens Zelle.
Kehre bei dir selber ein, o Freimund,
Und daß hell dein Haus sei, das bestelle!«

5.

Laß die Welt in deinen goldnen Strömen baden, ew'ges Licht!
Speise Geister an der Tafel deiner Gnaden, ew'ges Licht!
Wie das Meer in weiten Kreisen um das Land, so flutet dein
Äther um die Welt in weitern Glanzgestaden, ew'ges Licht!
Nicht die Sonne dich, die Sonnen zeugest du; in deinem Strahl
Tanzen sie, als wie in ihrem Strahle Maden, ew'ges Licht!
[320]
Nicht der Himmel kann dich fassen, und zur Erde steigest du,
Opfer zündend unter allen Breitegraden, ew'ges Licht!
Zu dem Meru, zum Olympos, wie zum Sinai herab
Senkst du hell durch Wolkenschichten einen Faden, ew'ges Licht!
Ab von dir ins Dunkel wendet ihren Pfad die Welt, doch du
Strömst entgegen aus dem Dunkel ihren Pfaden, ew'ges Licht!
Auch auf krummen Straßen lenkest du den Wahn zurück zu dir;
Aber laß zu dir mich wandeln die geraden, ew'ges Licht!
Wo vor dir sollt' ich mich bergen? Sollt' ich auf zum Himmel fliehn,
Wo mir funkeln deine lichten Myriaden, ew'ges Licht;
Wo vor dir sollt' ich mich decken? Flieh' ich in die Erdennacht?
Golden brichst du durch des Schachtes dumpfe Schwaden, ew'ges Licht!
Ja, dies Herz auf keine Weise kann sich deinem Dienst entziehn,
Seit du mir dein goldnes Joch hast aufgeladen, ew'ges Licht!
Du mit Strahlen hell besaitend Abendsternes Lautenspiel,
Stimmest auch die schrill'ge Leier der Cikaden, ew'ges Licht!
Auch in meiner Töne Fugen, allgeschmeid'ges, schmiege dich!
Lasse dem Juwel nicht seine Fassung schaden, ew'ges Licht!
Gleichwie deine Sonnenstrahle sende meine Lieder aus,
Alle Welt zu deinen Festen einzuladen, ew'ges Licht!

6.

O Wieg', aus der die Sonnen steigen, o heiliges Meer!
O Grab, in das die Sonnen neigen, o heiliges Meer!
O du im Duft der Nacht entfaltend den Spiegel, darein
Vom Himmel Luna schaut mit Schweigen, o heiliges Meer!
O du in stillen Mitternächten mit Wogengesang
Einklingend in der Sterne Reigen, o heiliges Meer!
Die Morgen- und die Abendröten erblühen aus dir,
Zwei Rosen deinem Garten eigen, o heiliges Meer!
[321]
Atmender Busen Amphitrites, der nieder und auf
Die Wogen sinken läßt und steigen, o heiliges Meer!
Schoß, mütterlicher, Aphrodites! gebäre dein Kind,
Um deinen Glanz der Welt zu zeigen, o heiliges Meer!
Spreng' auf den Frühlingskranz der Erde den perlenden Tau!
Denn alle Perlen sind dein eigen, o heiliges Meer!
Du sammelst alle dir entstammten Najaden der Flur
Zurück zum Nereidenreigen, o heiliges Meer!
Die Schiffe der Gedanken segeln und sinken in dir;
Atlantis ruht in deinem Schweigen, o heiliges Meer!
Der Götterbecher, der gefallen vom hohen Olymp,
Hängt tief an den Korallenzweigen, o heiliges Meer!
Ein Taucher in das Meer der Liebe ist Freimunds Gesang,
Der deinen Glanz der Welt will zeigen, o heiliges Meer!
Als wie der Mond will ich mit Sehnen mich stürzen in dich;
Laß mich aus dir als Sonne steigen, o heiliges Meer!

7.

Die Schöpfung ist zur Ruh' gegangen, o wach in mir!
Es will der Schlaf auch mich befangen, o wach in mir!
Du Auge, das am Himmel wachet mit Sternenblick,
Wenn mir die Augen zugegangen, o wach in mir!
Du Licht, im Äther höher strahlend als Sonn' und Mond;
Wenn Sonn' und Mond ist ausgegangen, o wach in mir!
Wenn sich der Sinne Thor geschlossen der Außenwelt,
So laß die Seel' in sich nicht bangen, o wach in mir!
Laß nicht die Macht der Finsternisse, das Grau'n der Nacht
Sieg übers innre Licht erlangen, o wach in mir!
O laß im feuchten Hauch der Nächte, im Schattenduft
Nicht sprossen sündiges Verlangen, o wach in mir!
[322]
Laß aus dem Duft von Edens Zweigen in meinem Traum
Die Frucht des Lebens niederhangen o wach in mir!
O zeige mir, mich zu erquicken, im Traum das Werk
Geendet, das ich angefangen, o wach in mir!
In deinem Schoße will ich schlummern, bis neu mich weckt
Die Morgenröte deiner Wangen; o wach in mir!

8.

Preis dir, allgewaltige
Liebe, vielgestaltige!
Licht und Schatten, Farbenspiel,
Eine, mannigfaltige!
Formenquelle, die du strömst,
Unerschöpft reichhaltige!
Fördre zur Geburt ans Licht
Alles Lichtgehaltige!
Laß im Licht gedeihn und blühn
Alles Lichtgestaltige!
Gleiche aus mit deinem Hauch
Jegliches Zwiespaltige!
Und vor deinem Blick vergehn
Laß das Mißgestaltige!
Blättre mir wie Rosen auf
Dies Gemüt, das faltige!
Und noch lange sing' ich dir
Lieder mannigfaltige!

4.

1. An J. von Hammer

Jüngst am blühenden Rosenhag sprach mit wichtiger Miene
Gegen Sängerin Nachtigall Honigsammlerin Biene:
Immer saugest du Rosenduft, immer Duft nur der Rosen,
Kosest immer vom glühenden Rosenlippenrubine.
[323]
Zur Werkstätte von meinem Fleiß dient dagegen mir jede
Von den Knospen des Frühlinges zur Entfaltung gedieh'ne.
Denn zum köstlichen Honigseim umzuwandeln versteh' ich
Alles Süße, ohn' Unterschied allen Kelchen Entlieh'ne.
Ob der Blüte die Farbe fehlt, leicht verzeih' ich den Fehler,
Nur der fehlende Nektar bleibt das von mir Unverzieh'ne.
Leider, daß mir der Flug versagt, um zu sehn, ob zu holen
Duft nicht sei aus des blühenden Morgenrotes Karmine.
Darum bin ich durch Emsigkeit die im Land Berühmte,
Du, Verliebte, durch Müßiggang bleibst mit Recht die Verschrie'ne.
Sieh, derweil du dich abgehärmt hast am Dorne der Rosen,
Stieg ich duftend aus Veilchenschoß mit vergoldeter Schiene.
Und nun sage mit Einem Wort, ob du selber nicht meinest,
Daß ich Kleine den Preis vor dir, stolze Große! verdiene?
Oder, willst du noch streiten, laß zum Schiedsrichter uns wählen
Den Dolmetschen der Pforte dort im hochtürmenden Wiene,
Der, so hat mir Hafis gesagt, löst mit glücklicher Schnelle
Jedes Rätsel aus Osten, das schwierig anderen schiene.

2. Der Bußeprediger

Als ich nach Gewohnheit saß in der Schenke neulich,
Mir zu machen Erdennot durch das Glas erfreulich;
Kam ein Bußeprediger mit bestaubtem Kragen
Und hub an den Wein zu schmähn, weit- und lästermäulig.
Selber sich in heiligen Eifer redend, malt' er
Den verdammten Freund mir mit Farben ganz abscheulich;
[324]
Hätt' ich ihm geglaubt, so war in dem Höllenrachen
Von den Drachen keiner so ganz entsetzlich greulich.
Und so tobt er weiter, bis sein Gesicht in Flammen
Selber glüht, ein Höllenschlund, rötlich, trüb' und bläulich.
Meinem Schenken winkt' ich, der ihm ein Glas kredenzte
Und mit schelm'schen Blicken es unterstützte treulich.
Erstlich sträubte sich der Held, sprach den Fluch und Segen;
Endlich nahm er's an den Mund, schlürfte leckermäulig.
Mildere Beredsamkeit drauf entfloß den Lippen,
Paradiesisch lustentzückt, himmlisch morgentäulich.
Mit dem Schenken tanzt' er um, sang das Lob des Weines,
Und den alten Schmähgesang widerrief er reulich.
»O Hafis!« sprach er zu mir, »Wein ist Seelenwollust,
Wie der Himmelsmädchen Kuß ewig neu jungfräulich.«

3. Die Entflohene

Wie die Sonne sinkt am Abend,
Sich im goldnen Glanz begrabend;
Wie der Lenz vorm Herbste flüchtet,
Im Entfliehn mit Duft noch labend;
Wie die schöne Jugendgöttin
Auf dem Roß der Zeit hintrabend;
Wie das Leben, in den Händen
Unerfüllte Wünsche habend:
Also flohst du, Sonne, Frühling,
Jugend, Leben, lustbegabend;
Und Hafis, dir ferne, fühlet
Sterben, Alter, Herbst und Abend.

4. Heim

Gott geleite die armen traurigen Kranken heim!
Gott geleite die müden irren Gedanken heim!
Gott verleihe dir einen Stab der Geduld, mein Herz!
Müder Wandrer! um am Stabe zu wanken heim.
Gott verleihe dir einen gnädigen Hauch, mein Schiff!
Aus den Wogen des Unbestandes zu schwanken heim.
[325]
Alle Triebe, dem dunklen Schoße der Erd' entblüht,
Aufwärts ringen sie, sich zum Lichte zu ranken heim.
Alle duftigen Blütenstäubchen der Frühlingslust,
Rastlos sprühen sie, bis zum Staube sie sanken heim.
Also sehnet Hafisens Seele sich himmelwärts,
Und sein Irdisches zu den irdischen Schranken heim.

5. Herbstlied

Was sagt der Herbst der Ros' ins Ohr.
Daß sie die Munterkeit verlor?
Er mahnt sie an die Nichtigkeit
Der Treue, die der Lenz ihr schwor.
Sie reißt entzwei den Schleier, den
Sie nahm, als er zur Braut sie kor;
Und wie sie bleich vom Throne sinkt,
Erseufzt der Nachtigallen Chor.
Wer brach entzwei das Lilienschwert?
So blank geschliffen war's zuvor.
Die Tulp' entfloh so eilig, daß
Den Turban sie am Weg verlor.
Beschämt senkt der Iasmin sein Haupt,
Weil ihm der Ost die Locken schor.
Es streut der Wind mit voller Hand
Von Bäumen Blättergold empor.
Das dürre Laub schwirrt durch die Luft,
Wie Fledermäus' aus Gräberthor.
Das Totenlied der Schöpfung spielt
Der Herbstwind auf geknicktem Rohr.
Die finstre Tanne trägt den Schnee
Wie weißen Bund ums Haupt ein Mohr.
Der Berg nahm weißen Hermelin,
Weil ihm die nackte Schulter fror.
O sieh des Jahrs Verwüstung an
Und hole frischen Wein hervor!
Die Sonne sandt' uns, eh' sie wich,
Den jungen Most ins Haus zuvor,
[326]
Daß er uns leucht' an ihrer Statt,
Wann ihre Kraft dämpft Wolkenflor.
Sieh, wie des Wintergreises Grimm
Des Frühlingskindes Hauch beschwor.
Er weckt im Bechertönen ein
Verzaubert Nachtigallenchor;
Und trunkne Blicke sich ergehn
Auf schöner Wangen Rosenflor.
Du trink', und seufz' im Winter nicht;
Denn auch im Frühling seufzt ein Thor.

6. Das ist dein Amt

Leucht', o flammendes Sonnenaug', über die Welt; das ist dein Amt.
Lenz! mit blühendem Rosentraum schmücke das Feld; das ist dein Amt.
Mond am Himmel! o schlafe nicht! denn hier auf Erden wollen sein
Liebesnächte von deinem Strahl lieblich erhellt; das ist dein Amt.
Sing', o liebende Nachtigall, was du von Rosen-Schönheit weißt,
Sing' und stirb im Gesang, zu Sang bist du bestellt; das ist dein Amt.
Thräne meines verlassnen Augs! für ein geliebtes Bild, das hier
Soll einkehren, mit duft'gem Flor schmücke das Zelt; das ist dein Amt.
Bild der Schönheit! mit Himmelsglanz allen in Nacht Versunkenen
Vorzuleuchten, dazu hat uns Gott dich gesellt; das ist dein Amt.
Sag' zu deinem verklärten Blick: lege die goldne Rüstung an,
Gründ' auf Erden der Liebe Reich, leuchtender Held! das ist dein Amt.
Zu dem Bogen der Braue sprich: spanne dich stolz, daß Pfeil auf Pfeil
Auf rebellischer Herzen Trotz werde geschnellt; das ist dein Amt.
[327]
Daß du flatternde Locke mich Flatternden fingest, dank' ich dir;
Immer neu sei dein reizendes Netz mir gestellt; das ist dein Amt.
O mein tönendes Saitenspiel! weil das Geschick in meine Hand
Dich gegeben, von Liebeshauch Töne-geschwellt; das ist dein Amt.
Lenk', o rüstiger Steuermann, diesen verlornen Nachen durch
Klipp' und Brandung und Wogendrang, bis er zerschellt; das ist dein Amt.
Laß die heuchlerisch dumpfe Welt scheitern an ihrer Eigensucht.
Lieb' aufrichtig und trink, Hafis! schwärm' unverstellt; das ist dein Amt.

7. Und dann nicht mehr

Ich sah sie nur ein einzig Mal, und dann nicht mehr.
Da sah ich einen Himmelsstrahl, und dann nicht mehr.
Ich sah umspielt vom Morgenhauch durchs Thal sie gehn;
Da war der Frühling in dem Thal, und dann nicht mehr.
Im Saal des Festes sah ich sie entschleiern sich;
Da war das Paradies im Saal, und dann nicht mehr.
Sie war die Schenkin, Lust im Kreis kredenzte sie;
Sie bot mir lächelnd eine Schal', und dann nicht mehr.
Sie war die Ros', ich sah sie blühn im Morgentau;
Am Abend war die Rose fahl, und dann nicht mehr.
Nur einmal weinte Gärtner Lenz um eine Ros':
Als Tod ihm diese Rose stahl, und dann nicht mehr.
Ein einz'ges Mal, als sie erblich, war herb die Lust
Des Lebens, süß des Todes Qual, und dann nicht mehr.
Ich sah die Rose Braut im Flor verschließen in
Die dunkle Kammer eng und schmal, und dann nicht mehr.
Ich will ums Rosenbrautgemach im Mondenglanz
Noch weinen meiner Thränen Zahl, und dann nicht mehr.

8. Die Rose im schönsten Glanze

Der hat in ihrem schönsten Glanz die Rose nicht gesehen,
Wer nie die Perle des Gefühls ihr sah im Auge stehen.
O Liebe! wunderbare Macht, daß deine höchste Wonne
In Menschenbrust den Ausdruck muß borgen von Schmerz und Wehen.
[328]
Die Rose lächelte mich an, und von den süßen Strahlen
Ging mir im stillen Herzen auf ein Drang zu süßem Flehen.
Ich klagte wie die Nachtigall, bis meine Rose weinte;
Und wie ich's sah, verklagt' ich mich, daß es durch mich geschehen.
Die Rose trug, in Duft gehüllt, die Fülle des Gefühles,
Sich unbekannt; mein Seufzer kam, den Schleier wegzuwehen.
Und wie sie sah vor ihrem Blick den Abgrund ew'ger Liebe
Im eignen Herzen, bebte sie darinnen zu vergehen.
Sie sah nach einem Stab sich um, sich schwindelnd festzuhalten,
Sie warf sich an mein schwaches Herz, als könnt' ich bei ihr stehen.
O Rose, wenn du trunken bist, so bin ich selbst berauschet,
Und keine Rettung weiß ich, als zusammen untergehen.

9. Schlußlied

Du Duft, der meine Seele speiset, verlaß mich nicht!
Traum, der mit mir durchs Leben reiset, verlaß mich nicht!
Du Paradiesesvogel, dessen Schwing' ungesehn
Mit leisem Säuseln mich umkreiset, verlaß mich nicht!
Du Amme mir und Ammenmärchen der Kindheit einst!
Du fehlst, und ich bin noch verwaiset verlaß mich nicht!
Du statt der Jugend mir geblieben, da sie mir floh;
Wo du mir fliehst, bin ich ergreiset, verlaß mich nicht;
O du mein Frühling! sieh, wie draußen der Herbst nun braust;
Komm, daß nicht Winter mich umeiset, verlaß mich nicht!
O Hauch des Friedens! horch, wie draußen das Leben tobt;
Wer ist, der still hindurch mich weiset? Verlaß mich nicht!
O du mein Rausch! du meine Liebe! o du mein Lied!
Das hier durch mich sich selber preiset, verlaß mich nicht!

[307] Zweiter Bezirk
Ghaselen

[329] Nachklang

1837.


Und du hast mich nicht verlassen,
Mich verlassen wirst du nie.
Wenn die Rosen hier erblassen,
Dort am Himmel blühen sie.
Wo der Himmel dort im Osten
Schmückt sein ew'ges Rosenbeet,
Laß mich Duft der Sehnsucht kosten,
Der von meiner Heimat weht!
Dankbar bin ich meinem Auge,
Daß ihm keine Blum' im Thal
Blühet, ohne daß es sauge
Einen lichten Gottesstrahl.
Der im Osten und im Westen
Höhet seiner Liebe Stern,
Der das Schöne dir zum Besten
Hat gegeben, Preis dem Herrn!

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Zweiter Bezirk. Ghaselen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A3B1-C