[173] Die Überfahrt nach Remagen.

So wie nach dem heidnischen Volksglauben der Griechen Charon die Seelen in einem schmalen Boote über den Cocytus fuhr, so glaubten auch einige heidnische Völkerschaften in Deutschland, daß das Reich der Lebenden und Toten durch ein Wasser getrennt werde, über welches die Gestorbenen übergesetzt werden müßten. Britannien wurde für das Totenland gehalten. Dahin, glaubte man, würden die Seelen der Abgeschiedenen gefahren. Am Ufer des festen Landes wohnten unter friesischer Oberhoheit, aber von altersher jeder Abgaben entbunden, Ackersleute und Fischer, denen es oblag, die Seelen überzusetzen. Das Amt ging der Reihe nach um. Mitternachts hörten die Leute an ihrer Thüre pochen und mit dumpfer Stimme rufen. Dann erhoben sie sich, gingen zum Ufer und erblickten dort leere Nachen, fremde, nicht eigene, bestiegen sie, griffen zum Ruder und setzten über. Sie bemerkten, daß der Nachen ganz voll geladen war und kaum fingerbreit über dem Wasser stand. Doch sahen sie Niemand und landeten schon nach einer Stunde, während sie sonst mit ihrem eigenen Fahrzeuge eine Nacht und einen Tag auf Reisen waren. In Britannien angelangt, entlud sich der Nachen alsbald von selbst und wurde so leicht, daß ihn die Flut nur ganz unten berührte. Weder während der Fahrt noch beim Aussteigen sahen die friesischen Bauern irgendwen, [174] hörten aber bei der Ankunft im Lande der Toten eine Stimme einem jeden seinen Namen und den Volksstamm, welchem er angehörte, abfragen.

Von solchen heidnischen Fahrten der Toten kann in christlichen Tagen freilich nicht mehr die Rede sein; doch wird noch folgende Sage von der wunderbaren nächtlichen Überfahrt der Zwerge über den Rhein erzählt, die vielleicht mit jener älteren Überlieferung in Zusammenhang stehen dürfte. Es mag ungefähr zu Anfange des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein, da wurde ein Schiffer zu Erpel am Rheine bei Nacht durch ein Pochen an seiner Thür geweckt und von einem Unsichtbaren aufgefordert, überzufahren. Der Kahn sank immer tiefer ins Wasser, doch sah der Schiffer nicht, daß Jemand einstieg. Als der Kahn endlich nur noch einen Finger breit über dem Wasser hervorragte, wurde ihm befohlen, vom Lande abzustoßen. An dem anderen Rheinufer zu Remagen angelangt, hob sich der Kahn allmählig wieder. Daraus entnahm der Schiffer, daß der Kahn sich wieder entlud. Das waren die Zwerge, die hatten zu Glenberg bei Linz gewohnt und waren dort beleidigt, darum hatten sie ihren alten Wohnsitz aufgegeben und zogen nun fort über den Rhein. Wohin weiß Niemand.

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TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. Sagen. Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Die Überfahrt nach Remagen. Die Überfahrt nach Remagen. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8156-7