[299] Berenice

Ein erotischer Spaziergang.

Der neue Dädalus

In dem goldnen Labyrinthe deiner Locken eingefangen,
Hab' ich meine müde Freiheit in den Schlingen aufgehangen.
Denn wie sollt' ich es versuchen, aus den holden Irrgewinden,
Die sich um mein Herz geringelt, wieder mich heraus zu finden?
Könnt' ich auch aus Wachs mir Flügel, wie ein Dädalus, bereiten,
Ach, ich würde doch sie beide nur nach deiner Sonne breiten,
Bis die Federn mir zerschmölzen an der Gluth der nahen Strahlen
Und ich sänk' aus meinem Himmel in das schwarze Meer der Qualen.

Locken und Gedanken

Wie meines Herzens selige Gedanken
Sich um dein Bild in banger Wonne ranken,
So seh' ich, wie mit ihren goldnen Ringen
Die Locken Stirn und Nacken dir umschlingen.
Du schüttelst mit dem Kopf, und schüchtern fliegen
Zurück die Locken, die am schönsten liegen.

[300] Überall und nirgends

Um dein Bild mir abzuwehren,
Bin ich auf das Feld gegangen:
Ach, da sah ich goldne Ähren
Auf den Pfad herüberhangen!
Ach, da sah ich goldne Ranken
Sich um weiße Stämme schlingen!
Ach, da flogen die Gedanken
Heim zu deinen Lockenringen!

Goldprobe

Wie das stolze Gold auf Erden nun in seinem Preise fällt,
Seit mit ihm die neue Probe Amors Richterauge hält!
Wirf es weg als falsche Münze, sei es wichtig oder leicht,
Wenn es nicht in Farb' und Glanze ihren Lockenringen gleicht!

Gold auf Gold

Was will der goldne Reif in deinem Haar?
O sieh, er möchte sich so gern verstecken
Und sich mit deinem Golde überdecken,
Denn seines ist nicht halb so licht und klar.
Mit feinem Gold wird grobes überzogen:
So zieh' dein Haar um diesen armen Bogen.

Amor, ein Seiler

Amor ist ein Seiler worden,
Drehet Seile, Schnür' und Ketten
Aus den sammetweichen Fäden
Deiner goldnen Lockenkrone.
Und so groß sind seine Künste,
Daß er aus den kleinen, feinen,
Dünnen, zarten Ringelhärchen
Diamantenfeste Bande
Für die armen Herzen windet.
Und in hunderten zusammen
Schnürt er sie mit einem Seile,
[301]
Hängt sie dann vor Schlafengehen
An den Riegel deiner Kammer,
An des Ladens Schraubenspitze,
Und die frömmsten jeden Sonntag
An das Kreuz auf deinem Busen.

Der Haarkräusler

Ein Grübchen deiner Wangen
Ersah sich einst zum Lager
Der kleine Gott der Liebe.
Daß er heraus nicht fiele,
So schlang er um den Nacken
Die Schultern und den Köcher
Sich deines Haares Bande.
Davon sind sie bis heute
Geringelt noch geblieben.

Das einzige Mittel

Willst du, meine Augen sollen nicht nach deinen Locken sehen,
Mußt du selber sie zusammen mir mit ihrem Haare nähen.

Goldperlen

Trübe Regentropfen fielen draußen in dein Lockenhaar.
Schüttle sie mir in die Hände, Perlen sind es goldenklar.

Die Nachtigall

Die Nachtigall selbst schreiet in der Schlinge,
Und ich in deiner Locken Schlinge singe.
So laß mich frommen Vogel ruhig hängen!
Ich werde ja kein Härchen dir zersprengen.

[302] Der Stoff ihres Haares

Sag', woraus ihr Wunderhaar gesponnen?
Aus dem reinsten Morgengold der Sonnen;
Und damit der Glanz des Himmels tauge
Für der Erdenkinder blödes Auge,
Hat beim Spinnen es getaucht die Liebe
In die Thränen ihrer süßen Triebe.

Die Stärke ihres Haares

Wie die Fädchen deiner Locken sind so weich, so dünn, so fein!
Und sie ziehen in den Himmel doch mein schweres Herz hinein.

Nachgefühl

Wie das Meer noch braust am Morgen, wenn zu Nacht ein Sturm geweht,
Wie ihr lange nach dem Regen noch die Blume zittern seht,
Also wogt es ganze Tage mir im Herzen tief und hoch,
Wenn mir deine Lock' im Traume streifend um den Busen flog.

Das Versteck der Liebesgötter

Kleine Liebesgötter sitzen
Dir in jedem Lockenringe,
Und aus diesem Hinterhalte
Schießen sie nach mir mit Pfeilen.
Pfeile sind die goldnen Strahlen,
Die aus deinen Haaren leuchten,
Und sie legen sie zum Zielen
Auf die Bogen deiner Augen.

Der Mond

Mond, du kannst durch's offne Fenster in die kleine Kammer sehen,
Wo sie flicht die goldnen Locken, und du bleibst in Wolken stehen?
»Engel sind zu mir gekommen, und daß Keiner mög' entdecken,
Wo sie hin die Blicke richten, müssen Wolken sie verstecken.«

[303] Gefahr der Erlösung

Rosen, ihrem Haar entrissen, wollen nicht mehr blühen,
Funkenwürmchen, ihm entflogen, können nicht mehr glühen:
Und, mein armes Herz, du solltest dich zu lösen wagen?
Nur nach ihrer Locken Wallen kannst du hier noch schlagen.

Die bewegte Luft

Ist's ein Wunder, daß die Luft nie bei uns kann ruhig werden?
Daß die Winde nimmermehr auf sich schwingen von der Erden?
Wißt, so lange diese Locken ihnen sind vergönnt zum Spiel,
Finden sie bei Nacht und Tage nimmer ihres Wehens Ziel.

Rosen und Rosenöl

Alle Morgen weht der Wind Rosenblätter von den Zweigen,
Und sie schwimmen auf dem See, sich als Lettern dir zu zeigen.
Sag', verstehst du ihre Schrift? – Laßt uns unsre Rosen pflücken,
Und daraus das Balsamöl reiner Liebeswonne drücken.
In der Wacht der strengen Dornen, sieh, wie lange blühen wir?
Tauch' in Rosenöl die Locke, und sie duftet ewig dir.

Die Verlobung

Wenn ein goldner Ring am Finger ewig kann die Liebe binden,
Goldne Locken, warum wollt ihr tausend um das Herz mir winden?
Mädchen, mit so vielen Ringen hast du dich verlobt an mich:
Laß es dich nicht mehr verdrießen, nenn' ich nun die Meine dich.

Amors Scheere

Amor schleicht mit einer Scheere
Um dein Lockenhaupt verstohlen.
Nimm in Acht dich vor dem Gotte,
Denn er will das Haar dir scheeren,
Weil er sieht, daß alle Herzen
[304]
Nur in deinen Locken hängen.
Will er für ein andres Plätzchen
Auch einmal ein Herzchen haben,
Muß er es aus deinen Locken
Erst mit List und Mühe lösen.

Perlen

Wenn in seinen tiefen Gründen aufgewühlt sich trübt das Meer,
Wirft es helle weiße Perlen über seinen Strand umher.
Wenn die Liebe wühlt im Herzen und die Augen trübe macht,
Fallen diese heitern Lieder aus dem Mund mir unbedacht.

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TextGrid Repository (2012). Müller, Wilhelm. Berenice. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5C0F-C