An Milons Billet

Was seh ich! all ihr Thatenrichter!
Ihr Götter! – Was erblick ich hier!
Ha, mein Geliebter spricht mit mir,
Er selbst, er ist der feine Dichter,
Der diese goldne Worte schrieb –
Nun wirds in meiner Seele lichter,
Nun hab' ichs Leben wieder lieb –
O theures Blatt, wo willst du bleiben;
Mein Herz verlangt dich Schlag auf Schlag
Mit heißen Foderungsbetreiben.
Es will du sollst dich Nacht und Tag
An seine linke Seite schmiegen. –
Ach allzusüßes, schönes Pfand
Hier könntest du nicht lange liegen,
So hätte dich die Gluth verbrannt,
Die stets in diesem Herzen lodert;
Auch würdest du nur gar zu oft
Von diesem Munde hier gefordert,
Der dich noch dann zu küssen hofft,
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Wenn er auf ewig sich soll schließen.
Nein, nein, du mußt nicht untergehn,
Ich will dich sehen und genießen,
So lange noch ein Wunsch im Herzen kann entstehn.
Drey Tage soll dies Herz dich haben,
Und nach drey Tagen liegst du dort,
Wo Milons Rose ward begraben:
Da soll mein allererstes Wort
Des Morgens früh beim Sonnengruße
Die Frage seyn: wo ist mein Schatz?
Und Abends spät nehm ich nach siebenfachem Kusse
Von dir auf meinem Lager Platz. –
[299]

Notes
Entstehungszeit unbekannt.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. An Milons Billet. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9118-1