Wir werden nicht geboren, um zu sterben, wir sterben, um geboren zu werden.
Hans Kaltneker
Die Opferung
Eine Tragödie in vier Akten
[Motto]
Personen
[53] Personen.
- Der Prinz.
- Die Sängerin.
- Die Dame.
- Der Graf.
- Der Millionärssohn.
- Der Dichter.
- Der Komponist.
- Einige Damen.
- Einige Herren, darunter Bridgespieler.
- Livrierte Diener.
- Der Landesgerichtspräsident.
- Der Staatsanwalt.
- Der Verteidiger.
- Der Gefängnisdirektor.
- Der Gefängnisarzt.
- Der Gefängnisgeistliche.
- Ein Psychiater.
- Zwei Votanten und sonstige Justizfunktionäre.
- Ein älterer und ein jüngerer Rechtsanwalt.
- Der Obmann der Geschworenen und einige Geschworene.
- Einige unbeteiligte Zuseher mit Legitimationen.
- Zwei Aufseher und mehrere Schutzleute.
- Der Herr im Frack und seine beiden Gehilfen.
- Der Delinquent.
- Der Bruder.
- Chorus damnatorum.
1. Akt
Erster Akt
Zu irgendeinem der Gäste. Sie spielen natürlich Bridge, Herr Oberst? Wieviel Partien haben wir? Drei? Oh, und ein Partner fehlt? Aber nein! Zum Staatsanwalt. Herr Staatsanwalt, Sie spielen nicht?
Aber lieber Freund, es ist theoretisch unmöglich, daß du heute schlechter spielen solltest als sonst. Wir brauchen dich leider unbedingt.
Er sagt nämlich prinzipiell Sans-Atout an, wenn der Gegner alle Asse hat. Bitte, du mischst. Man müßte dagegen einen eigenen Paragraphen im Strafgesetzbuch – –
Also alle versorgt. Zu dem Grafen, der unbestimmbaren Alters ist und sich etwas gesucht altmodisch kleidet. Sie erwarten sie? Sie kommt bestimmt. Sie hat es mir noch am Nachmittag telephonisch versprochen.
Das ist interessant Erklären Sie mir das. Ich selbst verstehe auch ein wenig von Musik. Aber ich glaube doch, sie singt so, daß sie gerade einen Menschen, dessen innerster Brennpunkt so ganz Musik ist wie bei Ihnen, Graf, nicht zu scheuen hätte, im Gegenteil, eher brauchte. – –
Ehrlich gestanden, hoffte ich es auch. Erblickte eine Basis darin. Aber jetzt verstehe ich sie vollkommen. Sie kann mir einfach nicht alles geben. Draußen zwischen sieben und zehn Uhr singt ihr Unsterbliches. Ich habe keinen Teil daran. Ich wäre dessen auch kaum würdig.
[57]Ja, sie ist etwas, das in unser Leben getreten ist wie der Tod. Nach ihr ist nichts mehr, aber in ihr haben wir alles erkannt.
Vielleicht haben Sie recht. Und doch ist heute jemand unter uns, dem ich es zutraue, nie gelitten zu haben.
[58]Ach ja, ihn. Sie müssen mir mehr von ihm erzählen. Er ist so jung und scheint so tief ruhig. Er hat eine Art, Banalitäten auszusprechen, wie jemand Öl auf das Wasser zu gießen vermag, um ruhige See um sich zu schaffen.
Ich weiß nicht. Anders, aber keineswegs geringer. Denken Sie einen griechischen Tempel, über dem die Sonne aufgeht. Aber einen, in dem kein Gott wohnt.
Ich hörte auch davon reden. Aber man hat zeitlebens so viel Legenden um sie gesponnen. Sie wissen Näheres?
Er erzählt, sie sei in einer Nacht vom Schiffe verschwunden. Auf hoher See. Einfach ein Unglücksfall. Andere wollen wissen, sie sei in einer Matrosenkneipe in Buenos Aires erschlagen worden.
Oh, nun bin ich erst im Bilde. Das ist die mythische Fürstin, die fünf Jahre lang auf ihrer weißen Yacht die Meere durchkreuzte? Und nur nachts ans Land ging? Und verschleiert? Und an seltsame Orte?
Ich sagte Ihnen ja, sein äußeres Leben verlief ungewöhnlich. Wie weit sein Inneres daran teilnahm, weiß ich nicht. Ich sehe ihn heute zum zweiten Male. Als ich von seiner Ankunft hörte, habe ich [60] ihn gleich aufgesucht. Seine Mutter war eine Freundin – nein, das kann ich kaum sagen – eine Verwandte von mir.
Ein paar Monate nach dem Tode seiner Mutter. Er hat sich – glaube ich – nur mit Mühe gerettet. Allein. Und schließlich ist er ja hier zu Hause.
Ach so, das gehört ihm? Ja, da würde ich selbst ganz gerne scheitern. Also Romantik. Strandung in einem Barockpalais. Ich hätte ihm das gar nicht zugetraut. Mir fiel nur das vollkommen Unberührte seines Gesichtes auf. Er hat die Maske eines Gottes.
Ja, nicht wahr? Sie sieht ihn versunken näherkommen. Ein Gesicht wie ein Spiegel, der kein Bild zurückwirft.
[61]Natürlich kontriert er. Na, lieber Freund, da hast du uns hübsch hineingeritten. Ich habe doch unaufhörlich gepaßt. Mit geradezu tragischem Ausdruck.
Aber bitte, gnädige Frau – –! Übrigens weiß ich nicht, ob ich heute den César Franck vorspielen werde. Ich werde vielleicht etwas Eigenes – –
Er ist klein, sehr schlank, sehr zart. Seine tiefschwarzen Haare sind fest anliegend, aus der Stirn gekämmt. Sein Gesicht ist merkwürdig elfenbeingelb und von maskenhafter Ruhe. Seine ganze Erscheinung fast etwas zu sehr soigniert. Der Jüngling aus dem Quattrocento drüben in der Botticelli-Manier – wissen Sie, daß es ihn noch einmal gibt?
Nein, ich wußte es nicht Zum Grafen. Denken Sie, lieber Freund, der Jünglingskopf mit dem Barett, den Sie mir aus Ferrara brachten – Secundus behauptet, daß noch eine Kopie von ihm existiert.
[63]Nein, wahrscheinlich das Original. Ein sehr reicher Pflanzer in Florida besitzt es. Auf der Rückseite der Tafel steht dort die Legende, soviel ich mich erinnern kann: »Antonio Pisanelli ultimo die ante mortem se ipsum pinxit.« Er malte sich am letzten Tag vor seinem Tode. Wahrscheinlich hat er Selbstmord begangen, da er es so genau wußte, und ein Schüler oder Freund hat den Kopf später kopiert.
Oh, ich verstehe gar nichts von europäischer Kunst. Ich sagte Ihnen ja, ich sah das Bild zufällig bei einem Plantagenbesitzer in Florida und –
Ja. Etwas mehr. Das heißt befaßt ist eigentlich zuviel gesagt. Wir kauften manchmal schöne Dinge von Chinesen oder Malayen. Götzen und Tiere und lebendige Seiden. Wir hatten viel davon an Bord.
Wie meinen Sie? Ach, bei dem Untergang? Na, natürlich. Es gibt mehr davon, obwohl manche Stücke selten waren.
Wie merkwürdig! Ein Sammler, der so ruhig von dem Verlust seiner Schätze spricht. Ich muß sagen, ich könnte das kaum.
Ich war wohl kein Sammler in Ihrem Sinne, Graf. Alle diese Dinge – es waren auch sehr häßliche darunter – hatten ihren Sinn und ihre Stunde. Für meine Mutter oder mich. War sie vorbei, hätten wir sie ebensogut ins Meer werfen können. Es blieb kein Schatten von Erinnerung an sie zurück.
Es hatte ja keinen Sinn, sie zu zerstören! Galten sie mir auch nichts mehr, blieben die meisten doch [65] objektiv schön. Aber soll ich darum meinen kleinen Götzen und Tieren nachträumen? Es liegt mir etwas fern.
Ja. Ich kann doch nicht sein ohne freien Blick in die Nacht. Das ist eine alte Gewohnheit von der See her. Und bis man hier die paar Instrumente bekommt – – –
[66]Aufrichtig gesprochen, nicht sehr. Ich muß mich erst gewöhnen. Fremde Städte sind mir lieb, aber hier kommen ab und zu Leute zu mir und versichern mir, daß ich zu Hause sei. Und ich erinnere mich wirklich an manche Straßenzüge, Gebäude und so weiter wie an einzelne Gesichtszuge eines Menschen, der mir als Ganzer fremd geworden ist Ich wohne im Hotel. Und wenn ich in unser Haus ziehe, wird die stillose Sternwarte darin das einzige sein, das ich kenne.
Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr jeden Winter ein paar Wochen. Meine Mutter machte ein paar Bälle mit und nahm mich manchmal mit in die Oper. Übrigens nur zu Balletten.
[67]Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich ein Barbar sei, haben Sie recht Theater – das ist für mich wirklich mehr die japanische Heldentragödie mit Samurais und Dämonenfratzen. Unverständlich, bunt, lärmend. Oder gewisse phantastische Tänze in den Hafenvaudevilles Yokohamas oder Singapores. Oder meinetwegen noch die Stagione in Buenos Aires. Alles ist durchstrahlt wie von Scheinwerfern, und die Menschen stellen sich zur Schau – ich meine nicht die uninteressanten auf der Bühne, die dazwischen für Geld singen – nein die wirklichen in den Logen, auf den Galerien, in den Promenoirs. Aber hier tritt man in einen verdunkelten Saal und läßt sich andächtig von fremden, meist eher widerwärtigen Menschen in Mysterien einweihen, die einem gleichgültig sind oder die man besser kennt. Nein, finden Sie das im Ernst schön, wenn Ihnen jemand Richard den Zweiten im Kerker vor' spielt, wo Sie jeden Tag die Möglichkeit haben, sich der Stille Ihres Zimmers gefangen zu geben und Richard der Zweite zu sein? Ich für mein [68] Teil will ein Spektakel in einer fremden Sprache, die ich keinesfalls verstehe. Sonst Zirkus!
Nein, nein, lieber Freund, gegen dieses Bekenntnis werden Sie nichts ausrichten. Es ist wenigstens ehrlich. Ein Glück nur, daß die Morena noch nicht da ist.
Eine Sängerin, nicht? – Unser kleiner Prinz ist doch nett. Sind Sie mir böse, wenn ich Sie so nenne? Ich bin doch eine Art alter Cousine. Das ist nämlich die Sängerin, Secundus!
Sie verzeihen. Ich muß meine Unwissenheit damit entschuldigen, daß ich diesen Namen eigentlich mehr in einem anderen Zusammenhang hörte.
Ja. Man sagt hier von ihr, daß sie eine Dirne sei. Aber wie Sie sehen, verkehrt sie hier im Hause und wir lieben sie alle sehr.
[69]Wenn Sie sie sehen oder gar singen hören wollten, werden Sie uns verstehen. Sie müssen deshalb doch einmal Ihren Prinzipien untreu werden und in meine Loge kommen.
Guten Abend! Guten Abend! Oh, Sie sind alle noch hier! Wie schön! Es ist warm. Es sind gute Menschen hier. Zu der Dame des Hauses, ihr ein Heer von Veilchen reichend, das sie trägt. Danke, daß Sie mich gerufen haben. Hier sind Blumen. Man hat sie mir geschenkt. Darf ich sie Ihnen geben? Sie lieben Veilchen!
Oh, Manon ist tot! Arme Manon! Aber ich lebe noch. Und es ist gut bei Ihnen. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Zum Grafen. Lieber Abend!
Manon war schön. Sie dürfen mir nicht böse sein. Ich habe Des Grieux gehört. O, Sie lachen, er ist klein und fett und sieht wie aufgeplustert aus in der rosaseidenen Weste. Aber es hätte mir weh getan, Sie in der Loge zu wissen. Ich hätte notwendig einen betrügen müssen. Und wenn ich Manon bin, kann ich nur Des Grieux gehören.
Alle haben den ganzen Abend nur an Sie gedacht. Sehen Sie, die verbissensten Bridgespieler stoppen. Soll ich eifersüchtig auf Sie sein?
Seien Sie's nicht. Alle wissen doch, daß alles Gute nur von Ihnen ausgeht. Sie geben Wärme, Licht, Ruhe, Freude. Was kommt von mir? Eine Sensation, für die Besten eine tragische. Ich bin nur eine unter allen, die sich in Ihre sanften, dunklen Sessel schmiegen dürfen. Behüten Sie mich ein wenig. Eine, zwei Stunden. Dann, oh dann – – wissen Sie, was mich der heutige Abend gekostet hat? Und übermorgen Senta und Samstag die Tosca – – Und dazwischen ganz allein gelassen.
Ja, Sie haben recht, ich bin undankbar. Heimlich, fasziniert. Wissen Sie es nicht? Er hat den schönsten Smaragd der Welt für mich erhandelt Eine Großfürstin [72] besaß ihn. Sie wollte ihn nicht hergeben. Aber sie hatte Schulden. Nun hat er alle Forderungen aufgekauft. Sehr schmutzige darunter. Skandal! Nun mußte sie. Die Bestie!
Sie werden sich zugrunde richten mit dieser Leidenschaft. Und er – Sie wissen doch, daß er nicht reich ist. Er wird vielleicht sein Letztes geopfert haben. Wie können Sie, die so gut sind –
Er hat mich gehabt. Es war ausgemacht. Er wird mich heute wieder haben. Vielleicht noch morgen. Scheint Ihnen der Preis zu hoch?
Warum nicht? Ich liebe meine Steine. Sie sind rein und kalt wie Gestirne. Meine Hand badet im Licht verzauberter Götter. Ich bin erst nackt, wenn ich meine Ringe von mir abtue. Auch Manon hat sich verkauft.
Nun also. Kommen Sie, Sie fangen an, bösartig zu werden. Zum Komponisten, der in der Nähe steht. Wir wollen jetzt die neue Sonate hören. Sie werden spielen, nicht wahr? Unsere Freundin freut sich darauf.
Wie hübsch, daß Sie hier sind. Aber es ist wahr, Sie haben mich ja begrüßt. Ich hörte den A-dur-Akkord. Sie haben eine Sonate geschrieben? Was macht die Oper? Ich freue mich auf die Partie.
Gehen Sie, den Leuten Sonaten vorspielen. Sie waren häßlich. Sie wissen, daß ich einem anderen Mann gehöre.
Wir wollen hier bleiben. Sie setzen sich. Das Speisezimmer wird verdunkelt, so daß das Licht etwas gedämpfter scheint. Sie sind – warten Sie. Meine Freundin sprach mir von Ihnen. Ich kenne Sie.
Alles. Alles. Und alles, was dann war. Von allen Frauen. Von allem, was war. Ich werde vielleicht sterben daran. Aber Sie müssen sprechen.
Ich war dreizehn Jahre. Es war Sommer. Sie wissen es noch? Das Korn stand reif. Der Wind lief rot durch das gebeugte Korn.
Mittag war heiß. Der Wind fiel ab. Madonna – Sie wissen, daß ich meine Mutter so nannte – schlief in ihrem kühlen, blauen Zimmer. Ich saß mit einem Buch auf der Terrasse. Von der Stadt, [76] die nah unserem Gute lag, stieg senkrechter Rauch in den Himmel. Dunst und gelbe Wolken brüteten über der Stadt.
Ich ging auf die Stadt zu. Seltsam angezogen. Am Abend stand ich in den häßlichen Straßen. Der Himmel verbrannte über schwarzen Dächern. Im Theater spielte eine Sommerschmiere. Ich setzte mich in die erste Reihe. Die Leute sahen mich verwundert an. Ich trug einen blauen Matrosenanzug, den Hals frei, und hatte keinen Hut mit. Dann erkannten mich einige – der Notar, der Restaurateur – und grüßten. Es war entsetzlich heiß und die Leute rochen nach Bier und Schweiß und Sommer. Sie spielten. Sie waren ein Kind wie ich.
Es war eine obszöne Farce und Sie tanzten manchmal und sangen und sprachen unanständige Pointen. Ihr Kindergesicht war weiß geschminkt und sah unsäglich lasterhaft aus. Ich fühlte es, obgleich ich Laster damals nicht kannte. Aber Ihre Augen waren keusch und hatten Angst vor allem. Und wenn Sie sangen – einen blödsinnigen Refrain – spiegelte sich ein blendender Himmel in ihnen. In Ihren Augen kreisten alle Gestirne und es ward Tag und Nacht.
Und allmählich kamen Ihre Augen zu mir. Erst mit der gleichen Angst wie zu allen, dann wuchs Vertrauen in Ihnen und Sie lächelten mir zu. Dann[77] liebten Sie mich, Ihre Augen, und wurden nun erst ganz wach. Und wurden feucht vor Zärtlichkeit und Güte und dunkelten vor Schmerz, und das Ende war Verzweiflung und Tod. Und als Ihre Augen brachen – während eines gemeinen Couplets – war meine Kindheit abgebrannt von mir wie Zunder. Ich war alt und schien mir reif für allen Tod in der Welt. Ich stürmte hinaus, ehe. das Stück zu Ende war. Gegen Morgen kam ich heim.
Madonna hatte auf mich gewartet, um mich zu strafen. Mit ein paar Worten, die brennen konnten wie Peitschenhiebe. Als sie mich sah, sagte sie kein Wort. Sie ließ mich bewachen von unserem alten Diener, aber es gelang mir doch, noch vor Tagesanbrach, in Wasser aufgelöste Phosphorköpfe einer Streichholzschachtel zu schlucken.
Ich versuchte in jener Nacht aus dem Fenster zu springen. Aber man hielt mich auf und band mich auf das Bett. Dann tat mir unser Bonvivant Gewalt an.
Die Dosis war zu klein, ich starb nicht. Aber bald darauf wurde ich krank – o nein, nicht infolge jener Vergiftung! Es war nur die Lunge. Nicht sehr schwer. Aber Madonna ging mit mir in die Schweiz, ins Hochgebirge, und wir wohnten zwei Jahre lang in einem großen Sanatorium. Ich vergaß Sie, ja, glauben Sie es mir!
Viele Menschen lebten und starben an uns vorbei. Aber mich rührte das Leiden nicht mehr an und [78] ich genas schneller, als die Ärzte dachten. Ich war gefeit wie Madonna, an deren Schönheit der Schmerz zerbrach. Wir waren anders als die anderen – mit unserem Ich verankert in einer fremden Welt. Gehärtet in der Glut eines fremden Sternes, daß die Feuer dieser Erde uns nicht mehr brannten, ihre Kälte nicht mehr fror. Madonna merkte, daß ich war wie sie, und wir gehörten fortan zusammen, ohne es uns zu sagen.
Manchmal vielleicht.
Hören Sie.
Als ich genesen war und um Madonnas Auge die erste Falte kroch, gingen wir zu Schiff.
Auf die weiße Yacht. Zwölf Burschen an Bord, von denen keiner gescheut hätte, für uns zu morden, aber gelegentlich auch uns zu erschlagen.
Fünf Jahre Meer. Verstehen Sie das?
Die Erde war nicht mehr. Das südliche Kreuz uns verwandter als Menschen.
Manchmal fuhren wir an heißen Flüssen hinauf, über denen Wolken weißen Fiebers dunsteten.
An brennenden Urwäldern vorbei. Südseeinseln standen in Flammen.
Wir brachten Feuerwasser in rauchige Negerkrale. Nachts heulten betrunkene Wilde um das Lagerfeuer. Mit Malayen trieben wir Tauschhandel. Vergiftete [79] Pfeile zischten um unsere Stirnen.
Wir lagen in goldenen Zelten nachts in der Wüste. Der Donner der Löwen kam von den Quellen.
Ein brauner Scheich besaß Madonna. Mir schenkte er seine drei schönsten Frauen.
Durch Monate blieben wir dann auf hoher See. Das Wasser war faulig und das gesalzene Fleisch verbrannte uns den Mund. Im Zwieback wuchsen Würmer. Es war gut, nicht ohne Revolver herumzugehen und selten zu schlafen. Den Boys stand der Schaum grün vor den Lippen.
Sie forderten, daß Madonna sich ihnen gebe. Sonst über Bord. Wir schlugen die Meuterei nieder und sie nahm sich nachher den Schönsten. In Rio mußten wir ihn leider ausschiffen. Er taugte nichts mehr an Bord. Dann gingen wir an Land. Ich meine in die Städte. Die großen Hafenstädte. Yokohama, Valparaiso, Singapore. Wir wohnten in den großen Hotels und ich hatte die schönsten Kokotten und spielte Poker mit den geriebensten Falschspielern. In den Hafenvierteln suchte ich Händel. Um die letzte Dirne von Cadix erhielt ich diesen Messerstich.
Und litten nie wieder? Nicht an dem bösen Fleisch der Kokotten, an den falschen Brillanten der Hochstapler, dem Schmutz und Dunkel der Hafengassen?
Litt? Nein. Schmutz und Trübes gehörten dazu, Kulissen, vor denen wir spielten. Amüsierte es uns nicht mehr, brachen wir ab. Die Yacht wartete.
[80]Doch. Ich weiß von zwei Malen, wo Sie noch da waren.
In einer Nacht, unsäglich gestirnt, trieb ich in einem Kanoe an der Küste. Ein Weib lag bei mir. Ein Annamitenmädchen, das kein Wort meiner Sprache verstand. Ich keines der ihren. Ihr sagte ich alles von Ihnen. Warme Nacht. Vom Himmel stürzten Sternschauer herab. Segnend waren Ihre Augen aus Milchstraßentiefen über mir.
Dann später.
In einer Nacht, die weiß von Nebeln war, tief im Pazifischen Ozean – merkte Madonna, daß sie nicht mehr schön war. Hatten meine Augen es ihr gesagt oder nur der Spiegel – ich weiß nicht. Am Morgen fanden wir sie nicht mehr.
Nein. Sie mußte so sterben. Sie war eine Göttin. Man leidet um Götter nicht wie sie nicht um uns. [81] Ein halbes Jahr später ging unser Schiff unter. – Still, ich bin am Ende und dann ist das alles gewesen oder nicht gewesen, wie du es willst.
Ich selbst zerschlug die Instrumente und wir trieben ziellos. Ich wußte, daß die Boys mich einmal erschlagen würden. Ein Zyklon war im Anzug. Ich gab ihnen Branntwein, so viel, daß ihnen sogar die Lust zum Morden verging. Wir scheiterten nachts. Zwei Tage trieb ich an einen Balken gebunden und sprach mit dir. Das war das zweitemal. Dann nahm mich ein englischer Schoner auf. Nun bin ich wieder hier. Mein Leben gehört ganz dir. Es ist neu. Ich weiß nichts mehr. Ich habe nie eine Frau berührt.
Mein Leben ist anders. Was tut es, da es nun in deines mündet. Traurigkeit, Erniedrigung und manchmal Haß. Und die Kunst. Meine schöne, schöne Stimme. Nein, laß! Ich werde nie mehr singen, wenn du es nicht willst!
Nur dies eine ist gleich in unserem Leben: Ich habe nie einem Manne gehört.
Viele, viele haben mich besessen. Es mußte so sein. Viele hatten Macht über mein Blut. Zu manchen trieb mich die Musik und das gräßliche Nichts, wenn die Rampen ausflammten.
Und auch das noch. Ich habe Edelsteine. Sieh diese Ringe an. Für jeden habe ich mich verkauft. In jedem Stein ist Musik, Musik des Lichtes – und mehr noch, etwas von der kühlen Lieblichkeit deiner Augen, deiner Augen, wie ich sie sah an jenem Abend, da du in einem Matrosenanzug in [82] der ersten Reihe eines Sommertheaters saßest und ich obszöne Lieder sang.
Glaube mir, ich bin ganz rein von dir. Nur daß ich gelitten habe und du das Leiden vergessen hast. Mein armer Geliebter! Du wirst noch viel leiden müssen!
Ich werde nie leiden. Nie. Ich werde glücklich sein. Muß ich nicht glücklich sein, dir alles Glück zu geben? Ich will – – Nein, nein – nicht Worte, nicht – – – Ich habe keine Gewalt über das Wort. Geben Sie mir einen Augenblick Ihre Hand. So – –
Ich werde morgen abend bei Ihnen sein. Nein. Ich will diese Nacht allein sein. Ich muß diese Nacht haben – mich ganz suchen, um mich ganz an dich zu verlieren. Still – – still – –
Gut, gnädiges Fräulein, wir gleichen uns aus, jeder gibt fünfzig vom Hundert nach. Die Musik ist nicht schön, aber dafür kann er zu wenig.
Ich verstehe nicht viel davon, aber ich glaube, daß diese Sonate den Höhepunkt Ihres bisherigen Schaffens bedeutet.
Mir gefiel besonders der zweite Satz. Er ist wie das Erlebnis einer Reise durch abenteuerliche, gefährliche Zonen. Mit einem Blick auf den völlig versunken dastehenden Prinzen. Oder kommt mir diese Interpretation nur von außen – –
Aber erlaube mir, wir müssen doch den Rubber fertig machen! Nachdem du mich in ein Defizit von achtzig hineingerissen hast –
Staatsanwälte stehen grundsätzlich in keiner Beziehung zur Musik. Es sei denn, sie tritt als nächtliche Ruhestörung auf. Gnädige Frau, helfen Sie mir doch. Wenn wir einen anderen Vierten hätten –
Aber im Ernst, Herr Staatsanwalt, bleiben Sie doch! Es ist kaum elf. Sie könnten sonst ein schlechtes Beispiel geben.
Sie dürfen mir nicht böse sein, Gnädigste – ich muß wirklich gehen. Ich habe morgen um drei Uhr aufzustehen und werde ohnehin kaum mehr schlafen.
Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Gnädigste – aber ich hätte mich sonst unseres lieben Freundes nicht erwehren können. Und ich habe wirklich keinen Kopf zum Bridgespielen. Ich habe es ja vorhin versucht.
Ich weiß, ich hätte überhaupt Ihrer liebenswürdigen Einladung keine Folge leisten sollen. Aber Sie werden mich vielleicht verstehen, ich griff geradezu nach ihr – ich bin so doch über einen Teil der Nacht hinweggekommen. Ich habe ja selbst die Anklage vertreten – und ich darf sagen, nicht immer mit so völliger Überzeugung wie in diesem Falle – aber man ist schließlich doch ein Mensch – wenn das auch natürlich den Lauf der Gerechtigkeit nicht tangieren kann – natürlich –
Er begreift nicht ganz. Hört den letzten Sätzen interessiert zu. Verzeihen Sie, bitte – Sie sagten da etwas, das mir merkwürdig vorkam. Das kann also den Lauf der Gerechtigkeit nicht berühren, daß man ein Mensch ist? Gerechtigkeit und Menschliches widersprechen sich also bei uns irgendwie?
[86]Nein – derartiges zu behaupten konnte absolut nicht in meiner Absicht liegen. Es ist völlig gerecht, diesen Menschen morgen hinzurichten. Ich habe selbst alles getan, um das bezügliche Verdikt herbeizuführen und billige es als Mensch vollkommen.
Einen Augenblick – aber Sie äußerten doch vorhin, daß Ihnen dabei nicht wohl zumute sei, daß Sie nicht – wie soll ich mich ausdrücken – von Ihrem Erfolge befriedigt seien?
Sie sagen immer »menschlich« in Verbindung oder im Sinn von Schwäche. Gott – ich meine nicht unseren Katechismusbegriff, sondern überhaupt irgendein vollkommenes Wesen im Gegensatz zu »Mensch« – Gott wäre also über diese Schwäche erhaben, er wäre nur »gerecht«? Er könnte ohne weiteres Bridge spielen mit dem Gedanken an morgen?
Verzeihen Sie, Cousine – nur noch einen Moment. Darf ich Sie fragen, warum an diesem Menschen morgen – die Gerechtigkeit vollzogen wird?
Ich glaube nicht, daß sich eine Fortführung dieses Gespräches für diese Umgebung eignet. Aber wenn Sie es durchaus wissen wollen – es handelt sich um einen Lustmörder.
Vielleicht genügt Ihnen das und ich muß nicht auf die näheren Details des Deliktes eingehen, die haarsträubend sind. Sie billigen mir also zu, daß ich das Recht habe, auch als Mensch mit dem »Lauf der Gerechtigkeit« einverstanden zu sein?
Ich meine, ob Sie morgen der Hinrichtung zusehen wollen. Ich gebe Ihnen eine Karte von mir, die Sie zum Eintritt legitimiert. Dreiviertel vier Uhr früh. Landesgerichtsgebäude.
Es ist auch – glaube ich – besser für Sie. Nur – verzeihen Sie, Durchlaucht – sollten Sie dann nicht so viel über Gerechtigkeit und dergleichen philosophieren. Theorien im Salon sind ja ganz schön. Zur Dame. Sie verzeihen mir, Gnädigste, ich bitte tausendmal um Entschuldigung für diesen etwas peinlichen Auftritt. Meine Nerven sind begreiflicherweise etwas überreizt, und wenn dann ein junger Mann kommt, der über diese Probleme Er küßt ihre Hand. Also noch einmal, Sie vergeben mir.
Der arme Staatsanwalt Er tut mir leid. Dieser Mensch ist die Güte selbst – Und Sie, Secundus, haben ihn wirklich etwas gereizt.
[90]Aber – ich muß doch gehen. Ich muß doch! Er erreicht den Staatsanwalt an der Türe. Ich bitte um die Karte.
Sie verzeihen, liebe Cousine. Dank für den Abend. Ich muß jetzt gehen. Vor der Sängerin, einen Moment wieder ganz versunken in ihren angstvollen Blick, dann langsam, nachdrücklich. Nein, Sie müssen das verstehen. Ich kann nicht anders. Sagten Sie nicht selbst, man müsse sich erst ganz suchen, um sich ganz verlieren zu können? Ich muß da noch etwas in mir suchen, dem ich auf die Spur gekommen bin. Gute Nacht.
Wollen Sie mich mir selbst verkaufen? – Nein, ich weiß. Sie dachten nicht daran. Danke. Ich brauche nun keine Steine mehr. Auf dem Kalvarienberg trägt man keine Edelsteine mehr. Keine Steine – –.
2. Akt
[92] Zweiter Akt
Man weiß nicht recht, ob aus Langeweile oder Nervosität. Mhm! Ich lege mich nachher unbedingt noch einmal ins Bett.
Meinen Sie? Ich weiß doch nicht. Mir wäre es leichter. Es ist doch alles so entsetzlich trostlos. – –
Und nachher natürlich gedraht. Kann mir vorstellen. Na, da müssen Sie in der richtigen Stimmung sein!
Ah, der Kerl! Ich sag' Ihnen, der hält sich z'samm. Der ist aus Eisen. Der streckt uns allen noch die Zunge 'raus.
[95]Entschuldigen Sie – mir ist etwas übel – eine leichte Magenverstimmung – schon seit ein paar Tagen. Wankt gegen den Ausgang zu, sein Kollege unterstützt ihn.
Aber lieber Freund, das ist wirklich nichts für Sie – – Der junge Rechtsanwalt wird hinausgelassen, das Tor versperrt.
Haben S' schon einmal den Kurtz arbeiten g'sehn? Ein Genuß, sag' ich Ihnen. Der versteht's. Passen S' auf, ein Griff beim Gnack – und schwuppdi!
Herrgott, wenn man schon den ganzen Prozeß hat mitmachen müssen, will man doch auch beim Finish dabeigewesen sein.
Na hören S'! Das Verdikt war doch einstimmig. Freisprechen hätt' man ihn auch noch sollen, den Saukerl!
Ja, haben S' denn den Prozeß nicht verfolgt? A Maderl von no net zwölf Jahren in den Wald schleppen und nachher –! Gut, vergewaltigen – der Kerl war ein Viech. Aber den Hals abschneiden und nachher mit 'n Messer noch –!
Man versteht nur ab und zu ein Wort, wie »tückischen Mordes«, »gemäß Paragraph«, »schuldig«, »zum Tode durch den Strang«, »dem Gnadengesuch keine Folge gegeben«, »zu Rechtskraft erwachsen«, dann etwas deutlicher. Haben Sie das Urteil verstanden?
3. Akt
[103] [105]Dritter Akt
Mein Bruder, das Tier heute, sagte »Mutter« zu mir, wir drängen uns nach Güte, Liebe tut uns wohl. Wir morden nicht, wenn man uns lieb hat.
Und dennoch kann es geschehen.
Denke, wie einer dasitzen muß im äußersten Dunkel [109] und alles Böse heraufkratzen muß mit seinen Nägeln, bis er so weit ist. Denke, wieviel Liebe an ihm vorbeigegangen sein muß, bis er die Liebe anfällt und mordet Wieviel Güte man ihm aus den Händen geschlagen hat, bis solche Bosheit über ihn kam. Kannst du das denken?
Nein! Das ist der Fluch! Das ist das Grauen! Als du mich gestern etwas Ähnliches fragtest, verstand ich dich nicht. Ich war ein Götze, ein blindes Gestirn. Ich habe nichts gewußt von dem Schweiße der Heizer auf unsrem Schiff. Ich ging in Bordelle und habe die Angst der Dirnen nie gespürt. Wenn ich nachts auf Beute durch die unbeleuchteten Hafengassen strich, gellten Schreie zu mir. Ich habe nicht gefragt, ob sie von Liebenden, von Kreißenden, von Sterbenden kamen.
Es ist ganz Nacht geworden. Der Himmel beginnt von Gestirnen zu glühen. Ja, ich war etwas Ähnliches. Meine Mutter war eine Göttin. Die dort Er weist nach den Sternen. waren meine Brüder. Nicht, die hier unten lebten und starben.
Dann ganz leise, innigst. Wir haben einander doch lieb. Das ist doch geblieben. Sie geht scheu wie ein Kind zu ihm, kniet nieder, küßt seine Hände. Sie sehen sich wieder lange an, ihre Lippen berühren sich nicht.
Bitte. Mich friert ein wenig. Ich war den ganzen Tag draußen. Es hat stark geregnet. Sie zündet den Samowar an, gießt dann den Tee ein, und so weiter.
Wir wollen nachdenken. Wir wollen zueinander sprechen. Es liegt vielleicht nur daran, daß ich nie über diese Dinge gesprochen habe. Seit jener Stunde, da ich als Knabe um dich sterben wollte, war ich wie gebannt in den Kreis meines Selbst. Niemand [112] trat herein. Nie trat ich heraus. Die Leute, die mit mir redeten, sprachen in fremden Zungen – und Madonna sprach nie. Vielleicht ist es nur das. Du bist klug. Du bist weise. Du hast gelitten. Du warst nicht fünf Jahre allein auf dem Meer. Dich hat nicht das fremde Leiden angefallen wie ein reißender Panther, der einem an die Kehle springt. Stück für Stück war es dir bloß, Maske auf Maske nahm sich die Menschheit vor deinen Augen ab und es blieb immer noch ein Gesicht übrig, wo ich nur enthäutetes, blutiges Fleisch sehe. Sprich du zu mir!
Ich bin heute, nachdem ich von dort kam, durch die Straßen gegangen. Nicht durch verrufene, ungewöhnliche, in denen das letzte Elend hockt und zuckt, durch ganz ruhige Straßen. Man schlug Pferde, in den Fleischerläden hing Geschlachtetes, in reichen Geschäften bedienten unausgeschlafene Kommis unbarmherzige Damen, kleine Beamte eilten nach Hause und in ihren Gesichtern stand Ärger und Hunger, nicht Liebe nach heimischem Tisch, Arbeiter brachen trotzig aus Fabrikstoren und ließen das Werk wie einen Fluch hinter sich zurück, junge Männer sprachen Ladenmädchen an und ihr Blick mühte sich nicht, Bosheit und Geiles zu verbergen. An einem Orte machte ein Homosexueller mir Anträge. In einer einzigen ruhigen Straße war soviel Hölle, daß Dante verstummt wäre.
Warum ist das so?
Aber warum nicht? Was hindert uns? In jedem von uns ist süßeste Güte. Und auch, der selbst nichts Gutes zu tun vermag, sehnt sich nach Güte, weiß also von ihr, wir sind nicht schlecht!
Nein. Wir tun ja oft Gutes – große, gute Taten – mit prunkenden Gebärden. Aber wir unterlassen sooft das Kleine, wir versäumen soviel gegen einander. Wir unterdrücken Worte, Liebkosungen, Gebärden, weil uns der Ort nicht richtig scheint, die Zeit unangebracht. Und diese unausgegebene Güte, die wir feig erspart haben, fehlt dann irgendwo in der Welt. An ihre Stelle tritt Leeres und im Chaos brütet das Böse. Und mehr noch – diese unverbrauchte Güte, diese angebrachten Opfer werden Bodensatz in uns, kehren sich gegen uns, wandeln sich in fressenden Eiter, verbitterte Reue, – endlich Haß – –
Noch nicht Erlöste. Früher einmal muß Urhaß gewesen sein. Menschen fraßen einander, Brüder schlugen Brüder tot, Söhne die Väter, Männer die [114] Weiber. »Sie erkannten einander.« Und da kam der Haß über sie. Noch waren ihre Augen trübe, sie erkannten einander schlecht. Und ungeheure Brocken Haß, ererbte Sünde schwimmen von damals zwischen uns. Wer erlöst uns vom Haß, wie wir lieben wollen? Was erlöst uns vom Haß?!
Nein, nein, das ist es noch nicht. Kam nicht Einer, der war gut – zu jeder Zeit, an allen Orten, zu den Lebendigen und den Toten? Ja, seine Güte war so stark, daß sie im Grimm den Tod in die Knie zwang. Lazarus kam aus dem Grabe! Und wir sind nicht erlöst.
Nein. ER nahm alles Leid auf sich. Er stöhnte im Ölgarten und schrie nach Engeln um Hilfe. Er wand sich an der Säule unter Geißelhieben. Er blutete auf Golgatha unter Nägeln und Dornen. Und wir sind nicht erlöst.
Ich weiß nicht. – Als Kind las ich oft in der [115] Passion. Und in meinem Gebetbuch stand: »O agnus Dei, qui tollis peccata mundi.«
Der du die Schuld der Welt trägst. Er steht auf, preßt die Hände auf sein Herz. Lange Stille. Er trug sie nicht. Erkennend. Er trug sie nicht! Fast jauchzend. Er trug sie nicht!! Sehr hastig, zitternd vor innerer Erregung. Er hat unsre Schuld nicht auf sich genommen. – Höre, als Kind – später dachten wir nicht mehr daran – als Kind erschien es dir noch ungeheuer sinnlos, daß wir erlöst sein sollten, weil wir einen Unschuldigen ermordet haben! Weil ein Unschuldiger sich ermorden ließ? Wir haben ein Lamm geschlachtet! Wir haben uns die Hände nur blutiger gemacht. Seither waren Morde, Kriege – Scheiterhaufen brannten, Städte verkohlten, Fabriken explodierten, Pogrome wurden abgehalten! Wir haben ein Lamm geschlachtet! Halleluja! Er fällt, am ganzen Körper zuckend, in den Sessel zurück.
Wo bist du? Wo bist du? Du hast mich töten wollen in diesem Augenblick. Mich! Wo hast du dein Messer? Gib her! Gib her! Sie ringt mit ihm, schreiend. Ich will nicht!! Zu Hilfe!! Ich liebe dich! Gib dein Messer!
Aber weißt du nun, welche Schuld der Erlöser auf [119] sich hätte nehmen müssen? Es gab eine gute Dirne, Maria von Magdala, die ihn liebte. Wenn er sie eines Tages erschlagen hätte, glaubst du, er hätte noch fragen können: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Er hätte es dann gewußt Glaubst du nicht, daß wir dann erlöst wären, daß keine Schuld mehr wäre nach dieser?
Wie in südlichsten Nächten flammt der Himmel. Zärtlich, traurig. Sieh, nun sind wir wieder ganz allein und die Gestirne kreisen um uns wie ehedem. Es ist kalt und klar geworden.
Nein, dort zieht Schwarzes herauf, Gewölk greift nach den Sternen. Bald wird es den Himmel gefressen haben. Bald wird es ganz finster sein.
Wie sanft deine Stimme ist! Sprich, du Dunkler, du Liebender, du Geliebter, mein Tod! Sing mich ein mit deinen sanften Worten! Sing mich ein und dann komme!
[121]Bald wird es ganz finster sein. Wolken droben, schwere, nasse Wolken. Als hätten sie alle Tränen getrunken. Von allen Menschenaugen alle Tränen. Bald regnet es Tränen – – –
Hallo! Bitte, Fräulein, dringend. Verbinde. Sie mich mit dem nächsten Polizeikommissariat.
Hallo! –
Ja, Gutenbrunnstraße sieben telephoniert. Hier ist ein Mord begangen worden, Herr Kommissär! Ich habe einen Mord begangen.
4. Akt
[125] [127]Vierter Akt
Geht unruhig auf und ab. Unzusammenhängende Sätze. Madonna spielt Klavier. Abend schleicht über die Räume, drückt schwarze Wipfel zu Boden. Madonna spielt im Nebenzimmer. Wenn sie nur nicht immer dieselbe endlose Etüde spielte. Ich möchte gern Beethoven hören. Bitte – einmal Beethoven. Nicht? Nun, dann nicht. Es ist auch gleichgültig. Immer kommt dieselbe Wendung: La – la – lala – la – – Ich verstehe gar nichts von Musik, aber das peinigt mich unsäglich. Übrigens, warum eigentlich? Nein. nein. Man denkt einfach nicht daran. Wenn nur nicht auch schon Abend würde. Der Abend ist so entsetzlich lang. Madonna wird bei Kerzenlicht ihre Spitzen abwickeln und wieder aufspülen. Und ich kann nicht lesen, muß ihr zuschauen. Muß einfach. Ihre Hände. Wenn das nur nicht so lange dauern würde. Manchmal sitzen wir bis elf, halb zwölf. Und man sollte mehr schlafen. Man kann dann nämlich so schwer einschlafen. Von den offenen Augen im Finstern kommt alles. Alles Schlimme. Unsere Augen sind nur für den Tag. Im Finstern sieht man, daß gar [127] nichts ist Ganz feste, schwere Dinge sind plötzlich weg, Waschtisch, Kasten. Bilder sind schwarz und ausgelöscht. Was bleibt denn noch? Wir ganz allein. Grauenvoll. Grauenvoll. Früher glaubte ich wenigstens an Engel. Das war sehr beruhigend. Aber Madonna hat mir neulich erklärt, daß es keine Engel gäbe. Warum tat sie das? Warum hast du mir das gesagt, Mutter? Ich hatte einen so schönen Engel. Fast so schön wie du. Den hast du mir getötet. Das war nicht gut, Mutter – sicher nicht ...
Ich habe Ihnen die Mitteilung zu machen, daß Ihrem Gnadengesuch, zumal es seitens des hohen Gerichtshofes keine Unterstützung finden konnte, nicht stattgegeben wurde. Das zu Rechtskraft erwachsene Urteil wird demnach morgen vier Uhr früh vollstreckt werden.
Das Urteil ist Ihnen ja bekannt. Wenn Sie es wünschen, werde ich es noch einmal zur Verlesung bringen. Sie sind mit Stimmeneinheit des tückischen Mordes schuldig erkannt und gemäß Paragraph – – des Strafgesetzbuches zum Tode durch den Strang verurteilt worden.
[128]Bitte, stellen Sie sich doch nicht, als ob Sie mich nicht verstünden. Wir sind durch das psychiatrische Gutachten über Ihren Geisteszustand hinreichend informiert Es ist ganz überflüssig, daß Sie hier noch einmal Simulationsversuche unternehmen. Aber wenn Sie darauf bestehen, wiederhole ich also: Ihr Begnadigungsgesuch ist abgewiesen worden. Die Vollstreckung des Urteiles wird morgen um vier Uhr früh stattfinden. Der irdischen Gerechtigkeit – –
Aha – wird Genüge geschehen. Das wollten Sie doch sagen? Oder – wird ihr Lauf gelassen. Nicht wahr? Aber die Gnade, ich bitte – die Gnade?
Ich habe Ihnen schon gesagt: der hohe Gerichtshof hat durch Ihr ganzes Verhalten während des Prozesses nicht den Eindruck gewonnen, daß es am Platze wäre, Sie zur Begnadigung zu empfehlen.
Wenn Sie wüßten, wie Sie uns durch Ihr Benehmen die ganze Sache erleichtern! Es ist vielleicht [129] inkorrekt, wenn ich Ihnen das an dieser Stelle vorhalte, aber – entschuldigen Sie – ein Mensch von Ihrer Abkunft, Ihrem Bildungsgrad sollte doch den Mut aufbringen, die Folgen seines – seiner Handlungsweise mit etwas Würde auf sich zu nehmen.
Das Urteil der Geschworenen über Sie wäre vielleicht nicht so einstimmig vernichtend ausgefallen, wenn Ihr Simulieren religiösen Wahnsinns, Ihr geradezu frivoles Ausspielen der heiligsten Begriffe und Gefühle die Herren nicht unwillkürlich gegen Sie aufgebracht hätte.
Ja. Und recht ungeschickt. Das psychiatrische Gutachten hat in dieser Hinsicht keinen Zweifel offen gelassen. Auch der Exzeß, den Sie sich am Vormittag vor der Tat geleistet haben, hat ja gottlob das richtige Gesamturteil der Herren nicht zu beeinflussen vermocht Sie sind ein degenerierter, zu exaltierten Ausbrüchen neigender, aber geistig vollkommen verantwortlicher Mensch. Sie haben einen gewöhnlichen Lustmord begangen und suchen diesen nun mit einem mystisch-romantischen Schimmer aufzuputzen. Wie tief Ihre Verderbtheit geht, erhellt [130] eben am besten der Umstand, daß Sie die Tat begangen haben, unmittelbar nachdem Sie durch die Justifizierung eines gleichen Verbrechers gewarnt worden waren – ja, daß dieser Akt Ihren sadistischen Neigungen gewissermaßen als Stimulans gedient haben mag!
Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich weiß, daß meine vielleicht begreifliche Erregung nicht am Platze ist. Über den Fall selbst sind hier gewiß keine Worte mehr zu verlieren. Es steht mir nicht zu, einen Gerichteten zu richten. Nochmals – entschuldigen Sie. Zum Prinzen. Sie haben also verstanden, um was es sich –
Herr Staatsanwalt, ich begreife Ihren Standpunkt, aber Sie müssen doch auch versuchen, den meinen – – Ich –
Ich bedaure, mich mit Ihnen in keinerlei Konversation weiter einlassen zu können. Etwaige Wünsche sind dem Herrn Gefängnisdirektor vorzutragen.
Bitte, äußern Sie ruhig Ihre Wünsche. Was irgend möglich ist und den Vorschriften nicht zuwiderläuft, wird gern getan. Wollen Sie ein Henderl mit Reis und Kompott? Oder lieber eine kalte Platte? Man wird sie Ihnen holen.
Bedaure, das ist unmöglich. Künstliche Beruhigungsmittel dürfen wir nicht verabfolgen. Aber lassen Sie sich eine Flasche Champagner kommen. Den können Sie haben. Trinken Sie sie aus. Dann werden Sie ganz gut schlafen.
Schön. Ihr Herr Verteidiger bleibt noch bei Ihnen. Wenn Sie noch irgendwelche Angelegenheiten zu ordnen haben sollten –
[132]Ich werde das Nötige veranlassen. Fast herzlich. Und nehmen Sie sich zusamm'! Es ist nun einmal nicht zu ändern. Sie sind doch – soviel ich weiß – schon wiederholt dem Letzten gegenübergestanden. Man muß – – Ja, was wollte ich sagen? Kurze, schreckliche Pause. Bricht ab. In anderem Tone. Der Herr dort hat ein paar Worte mit Ihnen zu reden. Es ist besser, wenn Sie ihn heute schon sehen, damit Sie ihm morgen gefaßter – – ja. Er tritt mit den anderen in den Hintergrund.
Bitte? – Alsdann, Sie sollen nämlich ein schrecklich nervöser Herr sein, hat man mir g'sagt. Na, ich weiß ja eh. Macht nix. Schauen S', das kann jedem passieren. Darum komme ich auch her. Sie brauchen nämlich gar ka Angst zu haben. Es tut überhaupt nicht weh.
Nicht? Aber ich dachte – wenn man so langsam erstickt. Ich versuche manchmal mich zu trainieren. Halte den Atem an. Aber es geht höchstens bis zwanzig, dann – –
Aber ich tu' Ihnen doch nix. Nix für ungut. Sein Sie aber nervös! Na servus, das kann morgen lieb werden!
Aber wissen S' denn das nicht? Das ist ja der Trick. Ganz unbetont. Ich dreh' Ihnen nämlich dann mit einem Griff das Genick um.
Ja. Das tut gar nicht weh. Im Gegenteil. Sie stehen sich starr gegenüber. Der Behäbige lächelt einen Augenblick leicht, satanisch. Also lassen S' sich keine grauen Haar' wachsen bis morgen. Trinken S' a Flascherl Schampus. Und sein S' mir fesch morgen. Net so – Was, der Mensch muß doch an Ehrgeiz haben! Ich hab' einen 'kannt, der hat mir, wie ihm 's Krawattel schon umg'legt war, noch schnell gesagt: »Kannst mich – –!« [135] Allerhand Hochachtung. Also machen S' es ihm nach. Habe die Ehre. Guten Abend. Auf Wiedersehen! Zieht sich zurück.
Also – Sie haben jetzt mit dem Herrn Nachrichter gesprochen. Er wird Sie hoffentlich über den – physiologischen Vorgang beruhigt haben. Ich kann Ihnen nur den Rat geben, erleichtern Sie Ihr Gewissen – das wird auch Ihren Nerven gut tun. Also – etwas vor vier Uhr.
Zwei Aufseher fallen ihm in die Arme. Würgt hervor. Herr Staatsanwalt, glauben Sie wirklich, daß ich – daß ich – Ich habe die Welt – –!!
Aber bitte, Durchlaucht, bemühen Sie sich jetzt nicht. Wir sind unter vier Augen. Und selbst wenn es anders wäre, es hätte doch gar keinen Sinn. Ich hab' es Ihnen ja prophezeit. Sie haben mir nicht folgen wollen. Ich habe Ihnen gesagt, religiöser Wahnsinn zieht nicht mehr, seit gewöhnliche Raubmörder schon mit dem heiligen Antonius arbeiten. Weder bei den Psychiatern noch bei den Geschworenen. Erstere sind zu wenig aufgeklärt, letztere leider zuviel. Hätten Sie mir gefolgt, hätten Sie sich als Erzsadist ausgegeben! Psychopathia sexualis mit schwerer hereditärer Belastung. Ein Onkel von Ihnen hat doch auch einmal ein kleines Mädchen genotzüchtigt, die Sache ist nur vertuscht worden. Damit hätten wir vielleicht reüssiert. Aber Sie haben die ganze Sache aus der sexuellen Sphäre, für die sich alle interessiert hätten, in die mystische transponiert, um die sich keine Katz kümmert. – Tja, was hilft jetzt alles Reden? Ich habe Sie gewarnt.
Ich habe die Schuld auf mich genommen! Aller alle Schuld! Und jetzt kann ich nicht mehr! Sie erdrückt mich. Ich kann einfach nicht. Es muß doch ein Zurück geben. Es muß doch, Herr Doktor –! Es hilft ja so nichts! Ich kann ja nicht mehr! Ich bin schwach, ich bin schwach!
Aber, lieber Freund! Das Thema regt Sie zu sehr auf. Red'n wir von was anderm. Haben Sie noch [137] letztwillige Verfügungen zu treffen? Sie haben volle Testierfreiheit.
Es tut mir leid – aber Sie müssen einsehen, Durchlaucht, Sie haben mir die Situation so schwer gemacht –
Für Sie ist es jedenfalls besser, in dieser Stimmung zu sein. Ich wünsche Ihnen aufrichtig, daß sie vorhält. Ich werde morgen natürlich zur Stelle sein.
Natürlich. Erstens kostet es nichts. Zweitens können Sie von der Geschichte eine Woche lang in den Salons leben.
Ich begreife Ihre Erregung und bin weit entfernt, Ihnen diesen Ausbruch übel zu nehmen. Es tut mir leid, daß ich sonst nichts für Sie tun kann. Ich wünsche Ihnen von Herzen eine möglichst ruhige Nacht. Er geht.
Doleschal! Er horcht, zwingt sich zusammen. Dann stärker. Doleschal! Schreiend. Doleschal! Er wirft sich heulend auf die Steine und schlägt mit der Stirne den Boden. Doleschal!! Doleschal!!!
Scho' da! Scho' da! – Jesus! – Na, was is' denn? Aber was is' denn? Aber – bitt' Sie – bitt' Sie! [139] No ja, das geht vorüber. No – – Er richtet den Prinzen auf, der sich an ihn klammert.
Doleschal! Doleschal! Sie glauben mir nicht! Ich habe die Welt erlösen wollen! Ich habe alle Schuld auf mich genommen – nicht wie ER, verstehst du, nur das Leiden! Das Leiden, das ist nichts – aber die Schuld! Ich habe nicht gemordet aus Lust, Doleschal, ich habe gemordet in Schmerzen, wie eine Mutter sie leidet, wenn sie gebiert. Und nun kann ich es nicht mehr tragen!! Ich kann einfach nicht! Es schlägt über mir zusammen! Ich bin schwach, ich bin feig! Es muß alles rückgängig gemacht werden. Das kann doch geschehen, Doleschal! Ich werde ein neues Gesuch schreiben. Du wirst es mit mir unterschreiben, nicht wahr, Doleschal?! Auf dich hören sie, du bist alt, du hast die Medaille für vierzigjährige treue Dienste. Es muß rückgängig gemacht werden. Ich kann das Leiden nicht ertragen!
Aber, aber – bitt' Sie – also beruhigen S' Ihna! Schaun SY da kann ma doch nix machen. Sind doch alle so, Herr Jesus! Da is' Essen! Schauen S' nur, ein feines Schinkerl – und französischer Schampanjer.
Das Licht der kleinen Petroleumlampe liegt voll auf ihm, doch beschattet die Kapuze sein Antlitz. Der Prinz sitzt ganz im Dunkeln. Können Sie das Paternoster?
Sie haben mir einiges zu sagen. Bitte, sprechen Sie ganz frei. Ich brauche Sie nicht auf das Siegel des Beichtgeheimnisses aufmerksam zu machen. Ich werde mich bemühen, Ihnen zu folgen.
Nur Bruder, bitte einfach »Bruder«. Wer von uns ist würdig der Ehre? Es steht geschrieben: »Ich bin nicht wert, ihm den Riemen von seinen Schuhen zu lösen.« Wissen Sie, wer das von sich sagt?
Vom Blute. Vom Leiden. Von der Schuld. Von der Erbsünde. Vom Fluche, der über der Liebe ist. Vom Schweiße, der am Werke klebt. Vom Kriege, den Brüder wider Brüder führen. Von der Revolution, die Brüder wider Brüder führt. Von allem Übel.
Ich wollte die Schuld auf mich nehmen. Ich wollte mich selbst ausschließen von der Gnade, auf daß sie allen zuteil werde. ER ist rein geblieben. ER hat nur das Kreuz auf sich genommen. Das ist zu wenig. ER hat seinen Körper dargebracht, ich mehr – ich habe auch meine Seele geopfert. Sein Leiden wuchs rein zu den Sternen auf, meines aber gebiert sich aus trächtiger Schuld. Niemand kann mehr verdammt werden nach mir. Denn ich habe die schwerste Sünde begangen. – Ich habe Gott geschaut und mich von ihm gewandt Gott wollte den Kelch an mir vorbeigehen lassen, ich aber habe ihn an mich gerissen. Ich habe ihn geleert bis zum [144] letzten bittersten Tropfen. Ich war vorhin schwach, mein Irdisches krümmte sich zur Erde. Nun aber weiß ich, daß ich den rechten Weg gegangen bin. Und wenn ich morgen unter dem Galgen stehen werde, wenn mein Leib sich erbrechen wird vor Angst und Ekel, wird meine Seele aufschreien vor Lust. Denn ich weiß, nach meinem Tode wird der Tod nicht mehr sein und nicht Leid und Geschrei. Millionen meiner Brüder und Schwestern werden kommen unter mein Holz und sich umarmen und Hosiannah singen. Kinder werden geboren werden ohne Schmerz und heranwachsen mit reinen Augen und glänzenden Scheiteln. Die Kranken werden genesen, die Verlorenen werden heimfinden, die Geknechteten werden frei sein, die Toten werden erstehen und die Pforten der Hölle auffliegen für ewig!!
Nun sprechen Sie mich schuldig, wie es Ihre Pflicht ist. Ich habe nichts zu bereuen.
Ihr »Schuldig« trifft mich nicht. Doch Sie sprechen von Hoffart? Ich, der ich mich unter alle gebeugt habe, der ich mich in die Hände der Henker gegeben habe?
Sie sprechen immer von »sich«. Hören Sie nicht, wie sich aus jedem Ihrer »Ichs« die schwarze [145] Schlange des Hochmuts bläht? Sie haben sich aufgeopfert – gut, das durften Sie, ich weiß nicht, ob Ihr Opfer Gott wohlgefällig gewesen, ob sein Rauch zum Himmel aufgestiegen wäre! Ich weiß es nicht. Aber Sie haben mehr getan. Sie haben Gott ein Blutopfer dargebracht. Wer gab Ihnen das Recht über ein anderes Leben? Das besser war als Ihres? Wissen Sie nicht, daß Gott unblutiges Opfer verlangt?
Verlangt er das? Warum gibt es dann Maschinengewehre, Flammenwerfer, Gasbomben, schlagende Wetter, Tuberkelbazillen, Syphiliskeime?
Eitler! Hochmütiger! Ehrgeiziger! Sie wollen die Harmonie, und die Dissonanz, aus der sie einzig wird, wollen Sie nicht hören? – Warum? Daß wir wachsen, daß wir kämpfen, daß wir niederbrechen, uns neu erheben, aufs neue zum Staube geschlagen werden! – Daß uns blutend, zerfetzt, bespien, am Wegrand, am Fuß des Berges – die Liebe finde! Denn die Liebe geht überall durch die Welt.
Sie sind ihr begegnet, aber Sie wußten mit ihr nichts anzufangen als sie totzuschlagen. Der Prinz zuckt zusammen. O seien Sie ruhig, Sie Erlöser. Sie ist [146] nicht tot, sie geht überall durch die Welt. Und ehe der Tag anbricht, wird sie auch zu Ihnen gefunden haben.
Ich will nicht – ich will nicht – Und wenn es wahr ist, was Sie sagen, ich will verdammt, ich will das Opfer sein!
Der, über den Sie sich erhoben, hat das Opfer gezeigt, das gebracht werden muß. Die Sie mordeten, hat es Ihnen genannt: den eigenen Hochmut darbringen, den Haß des Herzens, die Ehrsucht des Geistes, die Eitelkeit der Sinne – – – Demut heißt das Opfer, Güte, Gnade. Die Arme ausstrecken zum Segen, nicht zum Mord. Wie, Sie wollten aller Schuld auf sich nehmen und sehen die eigene nicht?!
Ihre Schuld war Hoffart, Ungenügsamkeit in der Güte. Sie wollten nicht den schweren, langsamen Weg der Liebe gehen, den tausend Namenlose vor Ihnen gegangen sind und heute gehen. Sie waren nicht gut zu der, die Sie liebte. Sie haben die Betrübten nicht getröstet, die Gefangenen nicht besucht. Sie wollten den Kalvarienberg stürmen. Sie [147] wollten das Opfer Christi bringen – und haben das Opfer Kains gebracht!
Nun hast du dich gebeugt, mein Bruder. Das ist gut. Aber es ist noch nicht alles. Nun sollst du erkennen!
Du sprichst stets von der Schuld. Ich weiß nicht, ob es eine gibt. Aber nimm an, es bestehe etwas wie Schuld, das auf uns Menschen Hegt, das einer wider den andern trägt – Begierde nach fremdem Leib und fremdem Leben, unausgegebene Güte, Gleichgültigkeit, Haß sogar. Du wirfst IHM vor, daß er diese Schuld nicht auf sich genommen habe, daß er sein Leiden trug wie ein fremdes Kind, nicht aus eigenem Blute, aus eigener bewußter Schuld geboren, du vermaßest dich, es zu tun. Weißt du nicht, daß es dies, was du Schuld nennst, ist, was die Menschen aneinander bindet – nicht in Haß und Verzweiflung, wie du meinst, sondern in Liebe? Daß wir immer sündigen müssen, um lieben zu können? Weißt du nicht, daß wir ohne die Schuld herzlose Götter wären, wie du einer warst? Weißt du was Güte ist? Abtragen wollen die Schuld gegen deinen Gläubiger – langsam, langsam abtragen, mit eigenem Leid bezahlen, was er von dir litt – dir abringen die guten Gedanken, die lieben Worte, freundlichen Blick und Segnen der Hände. Wer liebt, trägt ab. Wer leidet, trägt ab. Erlöst sich selbst, erlöst die anderen, erlöst am Ende – wo gibt es ein Ende? – die Welt – das ist der Sinn von Golgatha. – – Du aber, Eitler, Hochmütiger, Ehrgeiziger, fühltest dich nicht genug verschuldet, ein ganzes Leben lang zu lieben und zu leiden? Du mußtest erst morden?! Teuerstes Leben, [149] dir namenlos gläubig an die Brust gelegt, in die Seele geschmiegt, mußtest du verraten, um schuldig zu werden?! So rein warst du? Künstlich mußtest du erst Schuld auf dich laden, du Schuldigster?! Du hast nicht das Opfer Christi gebracht, du hast das Opfer Judas' gebracht.
Nicht »Herr«. Nur Bruder, nur Bruder. Von allen Sünden sollst du losgesprochen werden, denn sieh, ich weiß, du hast aus Liebe gesündigt.
Wie schön das Licht mit deinen Haaren spielt. Sagte ich nicht, ehe der Tag anbricht, würde auch dich die Liebe gefunden haben? Du bist kein Erlöser – wir sind es alle nicht. Du bist ein Mörder, mein Bruder – wir sind es alle. Es gibt keine Verdammung. Wir werden nicht geboren, um zu sterben. Wir sterben, um geboren zu werden.
Das Saatkorn stirbt, um geboren zu werden. Siehe, ein Sämann gehet aus und die Saat fällt in die Erde und manches Korn erstickt im Geröll. Aber ein Tag kommt und Grünes bricht aus dem Dunkel, wird gelb und reif und schwer und bringt hundertfältige [151] Frucht. Und am Himmel steht rot der Sommer. Mußtest du nicht leiden, um gut zu werden?
Aber nun littest du für andere. Von deinem Leiden gehen Wellen der Güte aus, durchströmen den Äther – tausend Seelen, die du nicht kennst, beginnen zu schwingen wie Saiten, Musik wird – und das Ende ist die Harmonie.
Aber die sterben, ehe sie zu ihren Ohren dringt, die sterben, einer Handgranate Zischen im Ohr, einer Stichflamme Pfiff, eines Hammers Donnern, eines Stromes Gegurgel – die sterben, Fluch auf den Lippen?
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Ich bin der Sämann, der sät, ich bin der Schnitter, der Ernte hält. Ich habe alle gezählt und sieh, noch keiner ist verloren gegangen.
Dann will ich meinen Weg gehen. Er erhebt sich und kniet vor ihm nieder. Gib mir deinen Segen! Sprich mich los! Verzeih mir, aber mein irdisches Ohr möchte das Wort hören!
[152]Verzeihen Sie mir, meine Herren, die Mühe, die ich Ihnen mache, Sie, Herr Staatsanwalt, meinen törichten Simulationsversuch, mit dem ich Sie gestern reizte – Sie, Herr Doktor, meinen häßlichen Ausbruch von gestern Abend. Es tut mir herzlich leid.
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- TextGrid Repository (2012). Kaltneker, Hans. Dramen. Die Opferung. Die Opferung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8E6E-5