[297] Ich
Fragment einer Bildungsgeschichte
Mein sogenannter Vater, welcher den häuslichen Unfrieden, von dem ich die unschuldige Ursache war, nicht länger ertragen konnte, sagte zu meiner angeblichen Mutter: »Desdemona, es muß geschieden sein. Ich habe es geduldet, daß du mir täglich einige und dreißigmal sagtest, du seiest meine Gattin nicht aus Liebe zu mir, sondern aus Achtung für meinen seligen Vater, den Lügner, geworden; geduldet sechzehn Jahre und neun Monate lang, aber daß du diesen armen Wurm, den ich mir habe sauer genug werden lassen, beständig knuffst, wo du ihn siehst, verletzt mein Gefühl allzusehr. Lebe wohl, Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir wollen aneinander schreiben, aber miteinander leben können wir nicht länger.«
Er lockte mich mit einem Zuckerplatz zu sich, steckte mich, da ich noch nicht gehen und stehen konnte, obgleich ich übrigens bereits klüger war als mancher Dreißiger, in seine linke Rocktasche und stürzte ab, während die verlassene Gattin sich im Gefühle weiblicher Würde an das Fortepiano setzte und: »Nach so viel Leiden« usw. sang.
Mein Vater stürzte die Dorfstraße hindurch, er stürzte auf die Straße nach Braunschweig. Ich bat ihn langsamer zu gehen, die heftige Bewegung mache mir Schmerzen, und wirklich zerschlug ich mir beinahe die Nase an seinem Beine, gegen welches die linke Rocktasche flog. Er aber hörte nicht auf mich, sondern stürzte immer heftiger fort, unter Tränen rufend: »Du solltest ein Opfer jenes bösen Weibes werden, du sauer zubereiteter Wurm? Dem sei nicht also. Du bist das Produkt meiner tiefsten Studien, mein liebstes Kleinod, mein teuerster Schatz!«– Ich litt unaussprechlich bei den Ausbrüchen dieser heftigen Zärtlichkeit und bei den durch sie hervorgebrachten stürmischen Bewegungen der Rocktasche. Damals schöpfte ich die erste Erfahrung von dem Satze, daß die Menschen, wenn ihre Liebe recht heiß ist, dem Gegenstande derselben hundsübel machen können.
[298] Zum Glück kam ein Postillion halben Weges mit einer leeren Extrachaise von Braunschweig retour gefahren; den bestach mein sogenannter Vater, der Schwager verriet für einen Spezies seine heiligsten Pflichten, nahm uns auf, kehrte um und setzte uns vor Braunschweig ab. Dort mietete mein Vater einen Hauderer, der uns über Scheppenstedt, Magdeburg, die Walachei hindurch nach Thessalonich fuhr. In Scheppenstedt sollte gerade damals eine allgemeine deutsche Akademie errichtet werden, in Magdeburg war Landestrauer, weil die Klöße in dem Jahre nicht geraten wollten, in der Walachei werden lauter Wallachen gezogen, bei Thessalonich kommt man schon in das Türkische.
Wenn ich nur nicht immer in der Rocktasche hätte sitzen müssen! Ich hatte den brennendsten Drang nach Selbständigkeit, nach unumschränkter Beobachtung, und mußte da immer zwischen Schinken und Semmel und Sauerbraten verächtlich zubringen, denn mein Vater pflegte auch sein Frühstück in die linke Rocktasche zu senken, und ich durfte nur so eben aus der Schlitze gucken. Ich sagte zu meinem Vater in jedem Nachtquartiere: »Papa, die Tasche steht mir nicht mehr an, lassen Sie mich neben Ihnen sitzen.« Er aber gab mir dann jederzeit einen väterlichen Kuß und schlug mir meine Bitte ab, weil ich ihm, wie er sagte, außer der Tasche verlorengehen könne. Mein jugendlicher Frohsinn schwand in der Tasche, ich fühlte, daß ich mich selbst mündig sprechen müsse, und wartete auf die erste günstige Gelegenheit, diesen Entschluß auszuführen.
In Thessalonich machten wir Halt und bezahlten unsern Hauderer. Der Hauderer erhielt gute Rückfracht, nämlich einen gefühlvollen, liberalen Russen mit seinen vier frisch angekauften zirkassischen Sklavinnen. Bei Thessalonich geht wie gesagt, schon das Türkische an. Mein Vater wollte dort ein Mittel gegen die Emanzipation der Frauen ausfindig machen, und ich sollte Kadett bei den Janitscharen werden, sobald ich gehen und stehen könne. Wir hatten Empfehlungsbriefe nach der Türkei von Hannover mitgenommen. Indessen wendete das Schicksal alles gar anders.
[299] Mein Vater (ich mag nicht immer das Beiwort: »Sogenannt«, hinzufügen, versteht sich also in Zukunft von selbst) ging viel spazieren, hauptsächlich um meinetwillen, um, so sagte er, mir früh Empfindung für die schöne Natur beizubringen, überlegte nur nicht, daß ich in der linken Rocktasche von der schönen Natur wenig zu sehen bekam und ihm daher in meiner Finsternis auf das Wort glauben mußte, wenn er stillstehend, oder zwischen seinen Beinen durchguckend, in welcher Positur die Landschaft immer am reizendsten aussieht, von der göttlichen Aussicht, von der blauen duftigen Ferne und dem goldenen Morgen-oder Abendrote laut schwärmte. Eine recht verkehrte Erziehung! Ich bat ihn flehentlich, er möge mich doch wenigstens in einen seiner Stiefeln stecken, wie die Samojeden ihre Kinder bei sich führen – er trug weite Schlappstiefeln mit seidenen Troddeln vorn – jedoch vergebens. Auch aus den Stiefeln fürchtete er mich zu verlieren. Meine Lage wurde allgemach unerträglich und ich weinte oft die linke Rocktasche ganz naß.
Eines Tages saß mein Vater mit dem Rücken gegen einen Ölbaum gelehnt, sah die Sonne untergehen und war außer sich über ihren purpurnen Widerschein im Meerbusen von Thessalonich. Sonst pflegte er bei allem Enthusiasmus die Hände in der Tasche zu halten, so daß kein Entrinnen gedenkbar war. Dieses Mal übermannte ihn aber seine Begeisterung, er schlug unter Interjektionen die Hände über dem Kopfe zusammen, und ich benutzte den Augenblick, um aus der Tasche zu schlüpfen. Da sah ich um mich, da atmete ich, da ward mir wohl nach langer Kerkerhaft. Ich kroch, ging, stolperte, lief ein wenig, wie es eben glücken wollte, während mein Vater seine Rede an Sonne und Meer fortsetzte. Ich war eben in der Furcht vor Schlägen auf dem Rückwege nach der Tasche – denn mein Vater züchtigte mich ungeachtet aller Liebe sehr oft in der empfindlichsten Art – als das Verhängnis mit mir die wunderlichen Spiele begann, welche sich so lange fortsetzen und mir die eigentümlichsten Erfahrungen geben sollten.
Plötzlich fühle ich mich nämlich von einem großen, dunkeln Etwas überschattet, höre einen Lärmen, wie wenn ein Baum knattert und fällt, fühle ein rauhes Gefieder und zwei scharfe [300] Krallen an meinem Leibe, sehe mich pfeilschnell erfaßt, in die Lüfte geführt, wolkenhoch emporgetragen. Mit Entsetzen erkenne ich mein Los, und rufe mir zu: »Du bist in den Fängen eines Lämmergeiers, du armer, deinem Vater so sauer gewordener Wurm! Warum, Unglücklicher, verließest du die Tasche?« – Die Lage des Kindes war schaudervoll! Über mir der goldgelbe Bauch und die korallenrot glühenden Augen des Ungeheuers, um mich Luft und Wolken oder Schwärme folgenden und krächzenden Gefieders, welches dem Geier seine Beute mißgönnt, tief, schwindlicht tief unten Land und Meer wechselnd als dunkele und blanke Streifen! – Der Geier fliegt und fliegt; er ist ein Geier, der auf Reisen geht und sich seinen Mundproviant hat mitnehmen wollen. Das Ungeheuer schreit beständig: »Pfy! Pfy!« – Da rufe ich mit dem Witze der Verzweiflung: »O, wenn du Pfy! schreien kannst, so rufe doch zuerst über dich Pfy! aus, abscheulicher Franz Moor der Lüfte; Pfy! über deine mehr als unredliche Handlungsweise! Nach der Naturgeschichte fällst du zuweilen ausnahmsweise Hirtenknaben an. Bin ich denn ein Hirtenknabe? Bin ich nicht das gebildete Kind gebildeter Eltern? Hast du nicht selbst Kinder, Barbar? Jammert dich der Vater nicht, der drunten mit dem Rücken gegen den Ölbaum gelehnt sitzt, vermutlich noch immer die Sonne sinken sieht, und an den Sohn in der Tasche glaubt?«
Ich war, man sieht es hieraus, über meine Jahre gereift. Der Geier kehrte sich aber an meine Reden nicht, sondern flog und flog.
Ein Blitz, ein Knall, ein Fall! Aus unermeßlicher Höhe stürze ich hinab; mir vergeht Hören und Sehen. Als ich von meiner Betäubung erwache, liege ich weich gebettet, und ohne daß mich eines meiner Glieder schmerzt. Ich sehe mich auf dieser Lagerstätte um; sie ist ein Carbonaromantel von blauem Tuch, ausgespannt zwischen zwei Tamarisken. Ein langer, bleicher Mann steht neben den Bäumen, die abgeschossene Perkussionsflinte in der Hand, der fürchterliche Geier liegt einige Schritte davon blutig am Boden, schlägt mit den Flügeln und zuckt und schnappt in letzten Zügen. Etwas weiterhin graset, abgezäumt, ein Reitpferd.
[301] »I killed the vulture«, sagte der großmütige Brite nachdenklich, hob mich vom Carbonaromantel herunter, hielt mir seine Hand zum Kusse hin und fuhr gleichgültig fort: »You shall stand indebted for it all your life, Sir. Adieu.«
Er zäumte sein Pferd auf, schlug den Carbonaro malerisch um die Schultern, bestieg den Klepper und ritt fort. »Um Gottes willen, Mylord, habt Ihr mich darum gerettet, um mich in dieser Einöde dem Hunger, dem Durst, den wilden Tieren preiszugeben?« rief ich. »Bei der Gnade des Himmels! nehmt mich auf der Kruppe Eures Pferdes mit.« – »You would deprive me of my comfort«, versetzte der großmütige Engländer kalt und ritt wirklich fort, so daß ich ihn bald aus dem Gesichte verloren hatte. – »Elender«, sagte ich dumpf, »ist dieses die Großmut Albions? Du dachtest an dein Jagdvergnügen und nicht an das gebildete Kind gebildeter Eltern, an den sauer zubereiteten Wurm seines Vaters, als du schossest. Geh, falscher, heuchlerischer Brite, wir sind quitt! Bewaffne dich mit dem ganzen Stolze deines Englands, ich, ein deutscher Knabe, verwerfe dich!«
Durch diesen Monolog fühlte sich meine Seele erhoben und gekräftigt. Ich empfand zugleich, was ich meiner Ehre gegen den verruchten Geier schuldig war, der noch immer schnappte und jappte, trat daher zu ihm und sagte: »Ein anderes Mal sehen Sie besser zu, wen Sie vor sich haben, Federvieh! Die Naturgeschichte erlaubt Ihnen, ausnahmsweise auf Hirtenknaben zu stoßen, nicht aber auf gebildete Kinder gebildeter Eltern.« – Der Geier drehte seinen borstigen Schnabel matt nach mir um und verschied sodann, wie es mir vorkam, mit einiger Reue in den Augen.
Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als Felsen und Klippen, eine über der andern, und in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Moose und Heiden bedeckten den Stein, Alpenröslein zeigten die roten Kronen, wilder Lorbeer, Tamarisken, Johannisbrotstauden standen in leichten, dünnen, malerischen Gruppen umher. Ich war auf einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog scharf und kühl, allem Vermuten nach auf einem der berühmten griechischen Berge, denn der Geier war mit mir südwestlich geflogen, aber auf welchem? Ich befand mich in der peinigendsten Ungewißheit über diesen Punkt, [302] weil ich einsah, daß es vor allen Dingen nötig sei, mich örtlich zurechtzufinden, um den richtigen Weg nach Thessalonich und der linken Rocktasche einzuschlagen, die mir bei den schweren Erfahrungen, welche ich in so kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte, schon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.
Aber wie diese Kenntnis erlangen? Die Gegend schien so einsam, daß kein Tier, geschweige denn ein Mensch sich erblicken ließ. Ich wollte anfangs das Geschick befragen und an meinen Jackenknöpfen abzählen, ob ich auf dem Öta, Parnaß, Olymp, Pindus oder Helikon stehe? verwarf aber dieses Auskunftsmittel als zu kindisch und meiner nicht würdig.
Das Dunkel nahte sich, die Kuppen der Berge wurden violett, Hunger und Durst begannen mich zu peinigen, und ich stand noch immer allein da droben, ich und der tote Geier die einzigen lebenden Wesen in jener Einöde! Mich fror in meiner leichten türkischen Janitscharenkadettenuniform, die mir mein Vater schon hatte machen lassen! Sie bestand in weißen Pumphöschen, in einem auf europäische Art zugeschnittenen roten Collet mit gelben Litzen und in dem Turban, der damals noch nicht abgeschafft war. Ein kleiner blecherner Säbel klirrte an meiner Seite und einen Schnurrbart trug ich auch, vorläufig einen mit Kohle gezeichneten.
Um wenigstens meinen Durst zu löschen – denn gegen den Hunger gab es da freilich nichts, als Stengel, Blätter und Alpenrosen – kroch ich zu einer Quelle, welche zwischen grünlichen Klippen hervorsprudelte und an diesem ihrem Ursprunge von einigen der schönsten Lorbeern überstanden war. Ich ahnete, daß es mit diesem Wasser eine eigene Bewandtnis haben müsse, denn Gewalt und Klarheit wohnten in ihm so nahe beieinander, daß es kein gewöhnlicher Spring sein konnte. Zischend und schäumend drang der Strahl unter dem moosigen bekräuterten Steine an das Licht, als koche er, und einen Schritt weiter floß schon das klarste beryllgrünste Naß ohne Unruhe, Schaumblasen, Wirbel in seinem Rinnsale.
Ich bückte mich zur Quelle und netzte meine Lippen, aber wie wurde mir da! In meinen Eingeweiden tat es ein Grimmen, in meinem Blute ein Wallen, in meinen Gliedern ein Glühen, in [303] meinem Herzen ein Klopfen, in meinem Haupte ein Schwärmen! Die wundersamsten Phantastereien begannen mir vor den Sinnen umherzugehen. Meine rote Janitscharenkadettenuniform kam mir vor wie das rote Meer, meine weißen Pumphöschen leuchteten mir wie der Schnee der Alpen und mein kleiner blecherner Säbel gemahnte mich wie das Schwert des Alexander. Ich öffnete die Lippen, und sie sprachen unwillkürlich:
Gesperret lange Zeit in eine Tasche,
Selbständigwerdenwollend ausgekrochen,
Nahm in die Krallen dich der Gei'r, der rasche,
Dem Albions Großmut drauf den Hals gebrochen,
Und als dir nun gesunken die Courage,
Fühlst du in Grimmen, Glühen, Wallen, Pochen
Dein Herz gelöset fluten gleich der Träne
Des Stocks im Lenz, am Born der Hippokrene!
Ja, ich hatte unversehens aus der Hippokrene getrunken und war sonach am Helikon! Meine Lippen öffneten sich abermals und skandierten unwillkürlich:
Sauerbereiteter Wurm des gütigsten Vaters,
Für die Kadettenanstalt des größesten Sultans
Mit dem Säbel aus Blech bewaffneter Knabe,
Streife das rote Collet und die weißen batistnen
Höschen vom Leibe dir ab und glänze in reiner
Klassischer Nacktheit!
Wirklich warf ich Säbel, Collet, Turban, Pumphöschen, kurz alles und jedes ab, wälzte und kugelte mich wie toll umher, unwillkürlich, von dem Musenwasser getrieben. Schon hatten sich wieder neue Bilder in meine Seele und Weisen auf meine Lippen gedrängt; ich sang:
Feinsliebchen, wenn du suchest mich,
Trala!
Du findest mich ganz sicherlich
Sasa!
[304]Wie bei der Lamp' ich sitz' und mach'
Ein Liedchen für den Almanach!
Feinsliebchen, weißt du, was das ist?
Trala!
Ein Büchlein voll von Jesu Christ
Sasa!
Und Blümelein und O! und Ach!
Das ist der Musenalmanach!
Ich hatte rasch den Entschluß gefaßt, einen Musenalmanach zu schreiben, ganz allein ich selbst; um mir mein Brot zu verdienen, »denn« – rief ich –
Warum denn andre brauchen und deren Instrumente?
Ein rechter Virtuose spielt jedes Instrumente.
Er bläst mit seinem Munde, dem Finger fünfe dienen,
Das lippenhauchgenährte, das Flöteninstrumente,
Und streichet mit dem Bogen, geknüpft am Ellenbogen,
Das saitenstegbewehrte, das Geigeninstrumente,
Derweil an seinen Schenkeln sich hellen Schalles stößet
Das Kindern klingklangwerte, das Beckeninstrumente,
Und Klöpfel an den Knieen mit mut'ger Rührung rühren
Das kesselbauchbeschwerte, das Paukeninstrumente,
Von seinem Haupte aber die Glöcklein schwingend bimmelt
Das Roßschweif' nie entbehrte, das Halbmondinstrumente.
So mit Gebläs' und Streichen, mit Stoßen, Rühren, Bimmeln
Sah ich, als sein der Meister fünf da der Instrumente,
'Nen einz'gen jüngst noch spielen am Markt das mannigfalte
Flöt- Geige- Becken- Pauken- und Halbmondinstrumente.
Damit war meine Begeisterung noch nicht erschöpft. Formen und Verse, Weisen und Reime, Laiche, Stollen, Stanzen, Assonanzen, Dissonanzen, Dezimen, Kanzonen, Terzinen, Handwerksburschenlieder, Sprichwörtliches, Afrikanisches, Madekassisches, an Personen, Gelegenheit, Denk- und Sendeblätter, Runenstäbe, Gepanzertes und Geharnischtes, Blätter und Blüten, Schutt – alles dieses und noch unendlich viel mehr entquoll meinen unermüdlich vom Wasser bewegten Lippen, [305] so daß ich glaube, ich armes nacktes Kind habe da droben auf dem Helikon an jenem Abende in wenigstens sechs Dutzenden der verschiedensten Arten und Weisen meine Kindlichkeit lyrisch ausgesprochen. Ich weiß nicht, ob ich mich nicht totgeschrieen haben würde und ein lyrisches Opfer geworden wäre, hätte nicht das Schicksal, welches mich schon aus den Fängen des Geiers rettete, nunmehr mich auch von den Folgen jenes hippokrenischen Sauerbrunnens befreit.
Auf einmal nämlich, als ich eben ansetzte, meine Empfindungen im Geiste eines enthaupteten Hottentotten auszuströmen, fühlte ich mich von allen Seiten angerannt, übergerannt, beschnoppert, beleckt, befühlt, bestoßen, betrampelt. Zu Boden geworfen, sah ich nichts über mir und um mich als gelbe Augen, dürre Beine, rauche bärtige Gesichter. Eine Herde wilder Ziegen war mit ihren Zicklein zum Orte ge kommen und übte an mir diese etwas stürmische Bewillkommung aus. Mein anfänglicher Schreck dauerte indessen nur wenige Augenblicke; ich erkannte sehr bald, daß ich gutmütigen Wesen in die Pfoten gefallen war, die nur durch ihre Individualität bestimmt wurden, so unbequem ihre Freude über den Fund des kleinen Lyrikers zu äußern. Das waren keine blutdürstige Lämmergeier, es waren sanfte, milde Ziegen mit den besten Herzen. Sie riefen alle im Chore: »Ach, der arme Kleine! der Verlassene! Da liegen seine Häute, er muß eine fürchterliche Krankheit gehabt haben, wovon sie sich abgeschält haben, nun sieht er wie geschunden aus. Laßt uns seine Wunden lecken! der Jammervolle!« Ich mußte im stillen über diese unerfahrenen Ziegen lächeln, welche meine Janitscharen-kadettenuniform für einen abgestreiften Balg und meine heile, weiße Haut für geschunden ansahen, beschloß indessen Achtung vor dieser Volksmeinung zu haben und nicht übereilt mir durch Eröffnung einer höheren Wahrheit bei den Ziegen zu schaden. Indessen war ich doch bald genötigt, Einspruch zu tun, denn alle Ziegen leckten in ihrer wohltätigen Absicht so eifrig an mir umher, daß ich es vor Kitzel nicht länger aushalten konnte. Ich ergriff daher das rechte Vorderbein derjenigen Ziege, welche mir die älteste und verständigste zu sein schien, mit meinen kindlichen Händen, drückte es an mein Herz und [306] sagte: »Ehrwürdige Mutter, ich danke Ihnen. Genug nun des Leckens! Vertrauen Sie der Natur, und überlassen Sie ihr die Nachheilung meiner Ihrer Ansicht zufolge wunden und geschundenen Haut!« – Wirklich ließen die gutmütigen Ziegen, sobald sie meinen Wunsch vernommen hatten, von ihrer Leckkur ab.
Die Zicklein, welche bisher diese Szene der Barmherzigkeit mit possierlichen Mienen und Gebärden umstanden hatten, drängten sich jetzt, entsetzt seitwärts blickend, den Müttern so innig an, wie die jüngste der Niobiden dem Schoße, der sie doch nicht vor den schrecklichen Pfeilen zu bergen imstande war. Sie schrieen meckernd: »Der Geier! der böse Geier!« und zitterten und bebten, als ob jener tote Bösewicht sie noch fressen könnte. Anfangs schauerten auch die Mütter bei seinem Anblicke zusammen, indessen faßten sie sich bald und beruhigten die Zicklein mit verständigem Meckern. »O«, rief eine der Ziegen, »wie vielen Dank sind wir diesem armen kleinen Findlinge schuldig! Ohne ihn würden wir wahrscheinlich den Verlust eines von euch, ihr teuren Kinder, zu beweinen haben! Der Lämmergeier sah aber ihn und nahm ihn an eurer Statt in die Lüfte!« – Hier erwachte mein ganzer Stolz, und auf die Gefahr hin, es mit diesem Ziegenvolke auf der Schwelle unserer neuen Bekanntschaft zu verderben, sprach ich: »Meine Damen, Sie sind im Irrtum. Daß jener Räuber mich für einen Hirtenknaben hielt, den er nach der Naturgeschichte ausnahmsweise zuweilen anfallen darf, war schon unverzeihlich von ihm, daß er mich aber gar für ein Ziegenlamm hätte halten sollen, dazu traue ich ihm denn doch zuviel Verstand zu.« – »Das Wundfieber phantasiert aus ihm«, riefen alle
Ziegen, »er weiß nicht, was er spricht.« – »Meine Schwestern«, hob die älteste der Ziegen an; »uns dieses kleinen verlassenen Wesens anzunehmen erfordert unsere Ziegenpflicht; um so mehr, da es ein Opfer für eines unserer Kinder geworden ist. Bringen wir denn es vor allem unter Obdach, und späterhin wollen wir überlegen, was von uns für ihn geschehen kann!«
Die Herde setzte sich in Bewegung, die Mütter voran, die Zicklein folgend. Die Mütter stießen mich mit ihren Köpfen [307] vorwärts; ich weinte und schrie, daß ich erst meine Janitscharenkadettenuniform wieder anziehen wolle, denn die klassische Nacktheit beginne mir frostig zu werden, davon aber wollten die Ziegen nichts wissen, sondern hielten es für eine neue Fieberphantasie, daß ich in jene kranken Hüllen kriechen wolle. Ich mußte mich daher fügen, klammerte mich zwischen zweien der Gesetztesten mit den Händen an deren Zottelpelzen an, und konnte so notdürftig mit der Herde mich fortbewegen.
An Abgründen vorbei, auf rauhen Pfaden, über welche meine tierische Gesellschaft sicher ging, gelangten wir zu einer großen Felsenhöhle, dem von der Natur gebildeten Stalle dieser wilden Ziegen. Räumlich und wohnlich war die Höhle, ein warmer Hauch schlug aus der tiefen Wölbung meinem frierenden Körper wohltuend entgegen, der Boden und die Seitenwände waren mit weichem Moose ausgepolstert, das ertastete ich, als wir hineingingen. Der süße, aromatische Duft des Thymians, welcher auf jenem Gebirge überall blüht, drang in die Höhle, kurz, dieser Aufenthaltsort konnte nicht tröstlicher gedacht werden, wenn man einmal von der linken Rocktasche seines Vaters verbannt sein sollte.
Die Ziegen streckten sich auf dem weichen Moose nieder und begannen ihr Wiederkäuungsgeschäft, die Zicklein legten sich ihnen an die Euter, und sogen, aber was wurde aus mir, dem Fremdlinge ohne Familienverbindungen in diesem Kreise? Traurig saß ich in einer Ecke auf meinem Moosklumpen, hungerte und durstete. Endlich ersuchte ich bescheiden auch um einige Milchnahrung, wenn die Kinder des Hauses gesättigt sein möchten. »Glaubst du denn«, rief die älteste der Ziegen, welche die andern Sisi nannten, »daß wir dich nicht längst auch zu unsern Nahrungsquellen herbeigelassen haben würden, wenn wir nicht wüßten, daß dein Wundfieber jede Überladung des Magens tödlich machen kann?« – Ich bat sie bei den Häuptern ihrer hoffnungsvollen Lämmer, es darauf zu wagen, ich verschmachte sonst, worauf sich unter der Herde eine ziemlich lebhafte Verhandlung über die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit des Säugens in meinem Zustande ergab, welche in den Beschluß auslief, daß mir ein weniges an Milch wohl verstattet werden möge. Froh über diese Entscheidung [308] kroch ich zur barmherzigen Sisi und sog die ersehnte, heilsame Nahrung in mich. Als ich aber im besten Saugen war, wurde ich schon wieder abgestoßen, weil ein mehreres, wie die um mich besorgten Ziegen ängstlich ausriefen, mir sicherlich schaden würde. Ich war daher nur halbsatt geworden, indessen doch vor dem Hungertode nunmehr geschützt.
Über meine Nachtruhe entstand darauf eine zweite Verhandlung, welche ein Streit zu werden drohte, denn die Ziegen waren gegen mich so liebevoll gesinnt, daß jede mich in ihren Pfoten erwärmen und keine mich der andern gönnen wollte. Ich mußte voraussehen bei diesem Liebesfeuer die ganze Nacht über ungewärmt zu bleiben, rief daher: »Wohltätige und rechtschaffene Ziegen, teilt euch in euren kleinen Lyriker, laßt ihn bei jeder von euch eine halbe Stunde liegen!« – Dieser Vorschlag fand Beifall, zuerst nahm mich die alte Sisi in ihre Pfoten, dann die Riri, dann die Quiqui, dann die Nini, dann die Mimi, dann die Lili, dann die Pipi, dann die Fifi, dann die Bibi, dann die Didi, dann die Wiwi, dann die Kiki, endlich und zuletzt morgens gegen vier Uhr die Zizi, die jüngste dieser meckernden Grazien. Denn diese Namen, alle in i endigend, führten die zwölf Ziegen, aus denen die Herde bestand. Ich hatte sie durch ihre Gespräche zufällig erkundet. Was meine Nacht betraf, so war sie freilich unruhig, denn ich hatte fast nichts zu tun, als mich niederzulegen und wieder aufzustehen, indessen erfror ich doch nicht.
Wundert ihr euch, daß ich das Gemecker der Ziegen so bald verstehen lernte? Ihr hättet euch eher darüber verwundern sollen, daß ich den Engländer verstehen konnte.
Betrachtungen über mein sonderbares Schicksal raubten mir den wenigen Schlaf, den mir der Wechsel meiner zwölf Wohltäterinnen allenfalls noch hätte verstatten mögen. »So bist du denn«, dachte ich, »indem du deine Selbständigkeit erringen wolltest, in die Klauen eines Usurpators und darauf nach kurzem lyrischem Taumel unter das Vieh geraten, von welchem du nicht einmal für voll angesehen wirst.«
»Erlaube mir«, rief hier der alte Baron, da Münchhausen einen Augenblick innehielt, »diese hirnlosen Geschichten zu [309] unterbrechen und mit dir von unserer Fabrik« –
»Sogleich«, versetzte Münchhausen, »meine Erzählung geht zu Ende.«
In den nächsten Tagen besuchte ich mit den helikonischen Ziegen und ihren Zicklein die Weide. Ich muß ihnen das Zeugnis erteilen, daß sich die Ziegenmütter gegen mich immer gütig und liebevoll betrugen, und daß auch ihre Kinder nicht allzuarg mit mir umgingen, obschon diese freilich, mutwillig, wie die Jugend einmal ist, allerhand neckende Possen trieben, welche auf mich Bezug hatten, z.B. sich gegen mich bäumten, mir über den Kopf wegsprangen, nach mir stießen, und was dergleichen Schalkstorheiten mehr waren, die ich als gebildetes Kind gebildeter Eltern nur verachten konnte. »Du bist unter Ziegen«, sagte ich zu mir selbst, wenn der Grimm in mir überwallen wollte, »vergiß das nie, kleiner Münchhausen, du sauer zubereiteter Wurm deines Vaters.« Ich fühlte, daß ich mich dem Zustande, in den mich nun einmal die Fänge des Geiers und die Kugel des großmütigen Engländers geworfen hatten, anbequemen müsse, versuchte also zuvörderst auf allen vieren zu laufen, da ich ohnehin auf meinen beiden kleinen menschlichen Füßen noch nicht recht fortkommen konnte, und bestrebte mich außerdem, auf jene bäumenden, springenden, stoßenden Scherze einzugehen, freilich nicht ahnend, wohin dieses Anbequemungssystem führen sollte.
Wenn die gütigen und liebevollen Ziegenmütter sich nur nicht von vorgefaßten Ideen so sehr hätten leiten lassen! Aber es war meinen Bitten unmöglich, sie zu bewegen, daß sie mir meine Janitscharenkadettenuniform zukommen ließen; sie blieben steif und fest dabei, daß dieses Collet, diese Hosen, dieser Turban Überbleibsel krankhafter Häutungen seien. Nackt war ich also, und nackt blieb ich, so daß mich in den ersten Tagen meines ziegenhaften Lebens entsetzlich fror, bis die Haut eine Gegenwirkung zu entwickeln begann, welche den erkältenden Einfluß der Luft allgemach aufhob. Auch von der Milch bekam ich immer nur halbe Portionen aus Sorge um mein angebliches Wundfieber. Oft knurrten meine Eingeweide vor Hunger. Bei allem dem war ich der Liebling der ganzen [310] Herde und sämtliche zwölf Ziegen auf i nannten mich nur ihren herzigen Jungen. Ich hatte meine Verwunderung darüber, so viel Menschliches unter dem Volke zu finden, welches doch, wie ich aus allen Reden und Äußerungen, die ich hörte, abnahm, in einer völligen Einsamkeit und Absonderung von der übrigen Welt auf diesen helikonischen Höhen erwachsen war, und gegen die Menschen, von denen es nur durch Hörensagen wußte, eine so tiefe Verachtung hegte, wie die tugendhaften Houyhnhnms des Dechanten Jonathan Swift gegen die sündlichen Yahoos.
Das Leben einer Ziege, insonderheit einer wilden, hat sonst viel Schönes. Der erste Frühstrahl drang golden, wie ihn die Ebene nicht kennt, in unsere Höhle und beleuchtete ihre moosigen Klüfte, vor denen nach dem Tage zu leichte Geflechte wilden Weines und bunter Winden hingen. Rote Lichter und farbige Schatten umspielten die Herde, die umher an den Steinen und Mooswülsten noch lag und schlummerte, bald aber sich erhob und die Glieder dehnend in den Morgenwind hinausschritt, der die Waldreben und Winden säuselnd bewegte. Wie herrlich glänzte dann der hohe Gebirgsrücken mit seinen tausend Zacken und Klippen vor uns, wie nagte geschäftig der scharfe Zahn an den würzigen Kräutern, die ihn bedeckten, wie leckmäulerig wurde, wenn diese Kost genossen war, emporstrebend die aromatische Rinde der Stauden und Bäume abgeschält, wie labte nach solcher Speise die süße Kühle der göttlichen Quelle! Die Lüfte wehten erquicklich und labend über diese Gipfel hin. Sie waren mit keinem Dunste der Ebene befrachtet und erzählten die Sagen der alten schönen Götterwelt. Tief drunten in weiter Ferne lagen die Städte der Menschen mit dem gemeinen Wuste ihres Wesens; zu diesen seligen Höhen drang der Schrei des Bedürfnisses nicht und nicht der Seufzer der Sorge. Bisweilen erklang aus dem Gestein, umsproßt von wilden Rosen und Feigen, der melodische Schall der Steindrossel oder tönte aus den Heiden und Thymusbüschen der goldene Laut der Zikade. Alles klang hier voller, reiner, unschuldiger in der Nähe des Bornes, den der Huf des heiligen Rosses aufriß, denn alles hatte aus ihm getrunken; selbst die Gräser, Blumen, Büsche, Bäume, welche [311] das schäumende und doch so ruhige Naß benetzte, oder auch nur mit seinem feinen Dufte erreichte, standen stolzer und vornehmer da, als die Gewächse der Fläche. Wenn der Alpenhauch ihre Spitzen und Kronen rührte, beschrieben die Stengel und Zweige schöne, dem Auge wohltuende Linien in den Lüften. So war jegliches da droben verfeinert, abgeklärt und selbst im Kräftigen zart; Scheltworte, zu denen etwa einmal eines gegen das andere sich vergaß, adelten die Winde des Helikon in zierliche Epigramme um; dieses war, was die Nähe bot, die Ferne aber zeigte auch nur Erhabenes: Die göttlichen Häupter des Pindus, Parnassus und Kithäron.
Mittags rasteten wir gewöhnlich auf einer sonnigen Halde. Dann kamen die Gatten der Ziegen zu einem kurzen, aber traulichen Besuche. Sie bewohnten eine andere Felsengrotte an der entgegengesetzten Seite des Berges und führten eine abgesonderte Wirtschaft, denn zwischen beiden Geschlechtern bestanden hier die edelsten und keuschesten Verhältnisse. Dann begannen die gymnischen Spiele der Jugend, welchen nur in dem niedern Zustande gemeiner zahmer Ziegen die herabwürdigende Bezeichnung von Bockssprüngen zukommen kann. Hier war in diesen Spielen feurige Kraft und die Blume der komischen Grazie zu schauen. Rings im Kreise gelagert freuten sich die sanften Mütter und die ernsten, ehrwürdigen, bebarteten Väter der herrlichen überquellenden Lust und dachten ihrer einstigen Zeit. Meldete sich nun wieder der Gläubiger unter dem Zwerchfell, der nie die Schuld einzufordern vergißt, d.h. wollten die Ziegen und ihre Gatten noch etwas fressen, so schied man mit herzlichem Gruße und dem frohen, getrosten Worte: »Auf Wiedersehen!« Beide Geschlechter gingen zu ihren Weideplätzen, und nun wurde noch ein leichtes Vesperfutter abgerupft. Wenn aber die dämmernde Eos mit Rosenfingern herabsank, und der Abendtau den klassischen Boden zu netzen begann, schritten wir lieblich meckernd heimwärts, erreichten vor der völligen Finsternis die bergende Höhle und streckten uns saugend oder wiederkäuend in ihrer behaglichen Wärme auf dem sammetnen Moose aus. Bald goß ein leichter, träumeloser Schlummer seinen Balsam auf uns nieder, machte unserem Saugen und Wiederkäuen ein Ende.
[312] Ich sage: »Wir«, ich sage: »Uns«, ich sage: »Unserem«. Mit mir war nämlich eine wunderbare Veränderung vorgegangen. Ich lernte von Tage zu Tage flinker auf allen vieren laufen, ich nahm an den gymnischen Spielen der Jugend, bei welchen ich mich anfangs höchst ungeschickt betragen hatte, allgemach immer dreister teil und rannte eines Tages erhobenen Leibes, Kopf gegen Kopf mit einem Böcklein, welches mich zu diesem Stoßkampfe herausgefordert hatte, so tapfer zusammen, daß das Böcklein stürzte, ich aber stehen blieb, worüber alle Ziegen und ihre Gatten ein herzlich meckerndes Gelächter aufschlugen. Ich hatte, da mir die Milchnahrung nicht genügte, mich an das Nagen von Gräsern und Knabbern von Baumrinde gegeben, zuerst den heftigsten Widerwillen gegen diese Speise verspürt, allmählich aber ihn schwinden sehen und gefunden, oder zu finden gewähnt, daß Gras wie grüner Kohl und Rinde wie Krautsalat schmecke – alles das war in mir vorgegangen, aber ich hatte dessen nicht geachtet, weil ich nicht über mich nachdachte. Ein unvorhergesehener Vorfall entzündete endlich in mir die Fackel der Selbsterkenntnis und lehrte mich meinen umgestalteten Zustand verstehen.
Eines Abends liege ich in der Höhle neben der Ziege Quiqui. Die Zicklein sind von den Eutern abgegangen und schlafen schon, die Mütter käuen wieder und unterhalten sich von Freiheit und Notwendigkeit. Ich schlafe noch nicht. Es geht mir etwas im Kopfe umher, was ich nicht zu nennen weiß, es ist ein formloses Etwas, was sich nach und nach durch die Kehle in die unteren Regionen hinabsenkt und dort ein losgebundenes Leben für sich anfängt. Meine Kinnbacken beginnen sich kreuz und quer übereinander zu schieben, und ein sonderbares Nachschroten ohne Gegenstand auszuführen; bald ergreift die angrenzenden und dann die unteren Teile die Mitleidenschaft, mir wird sehr übel, Dinge, die ich für immer abgetan glaubte, steigen in mir auf, ich weiß nicht, was das bedeuten soll, ich befürchte, einen gefährlichen Magenkrampf zu haben, ich ächze, ich stöhne. Teilnehmend rutscht die Quiqui herzu und fragt, was mir fehle? So gut ich unter dem unaufhaltsamen Schieben und Schroten der Kinnbacken es vermag, schildere ich ihr den Zustand; und wer beschreibt meinen Schreck, als [313] die sanfte Quiqui, Tränen vergießend und mich zärtlich an sich drückend, ausruft: »Heil dir und Segen, herziger Junge! Du bist nun ganz der Unsere, du käust wieder!« – »Ihr Götter!« rufe ich (denn auf dem Helikon spricht man nur mythologisch) »was ist aus mir geworden?« Ich habe aber nicht Zeit, diese Ausrufungen fortzusetzen, denn alle eilf andern Ziegen, welche den Freudenschrei der Quiqui vernommen haben, drängen sich um mich, und sind wie außer sich, die Lili leckt mich, die Pipi neckt mich, die Riri schmiegt sich an, die Fifi riecht mich an, die Titi will mich küssen, die Wiwi hätte vor Liebe mich fast gebissen, Bibi, Didi, Kiki scherzen, Mimi, Nini herzen; von dem Jubel erwachen die Zicklein und Böcklein, hören halb schlaftrunken, was vorfiel, und nun erbrauset erst der rechte bacchische Taumel. Das springt, bockt, bäumt, stößt, rennt um mich her, das schüttelt sich, rüttelt sich, tänzelt, schwänzelt, hänselt, daß keine Phantasie, und wäre sie die kühnste und leichtfertigste, diese tolle Szene, beleuchtet von einem zweifelhaften Mondschein, sich vorzustellen vermöchte. Nur die ehrwürdige Sisi behielt einigermaßen ihre Fassung, legte, als sie durch das Gewirre zu mir dringen konnte, ihre mütterliche Pfote segnend auf mein Haupt und sprach: »Mögen dich Pan und alle Faunen beschützen, du junger Geretteter!«
Endlich legt sich der Sturm und alles lagert sich wieder zum Schlummer. Ich aber liege, halbtot von allen den Pfoten, Schnauzen, Köpfen, Bäuchen, die mir Liebe hatten erzeigen wollen. Der Schreck war freilich das meiste gewesen, denn keines der gutmütigen Tiere hatte mir wehe getan, sie hatten sich vor jeglicher Roheit zu hüten gewußt. Nur das Schieben und Schroten der Kinnbacken wollte nicht wieder geläufig in Gang kommen, dieser ganze Hergang war durch die Heftigkeit der Neigungen, die ich erdulden müssen, gehemmt worden, ich empfand einige Störungen im Verdauungsgeschäfte.
Aber wie wenig bedeuteten diese Unbequemlichkeiten gegen den Seelenschmerz und die geistige Unruhe, die ich in jener Nacht durchzudulden hatte! »Ist es möglich, daß du unter Ziegen aufgehört haben solltest, ein Mensch zu sein?« sprach ich zu mir selber. – »Warum hast du dich gehenlassen, warum [314] deine angeborene Würde nicht im Auge behalten, nicht treu und fest im Auge behalten die schreckliche Gefahr herabziehenden Umgangs und erschlaffender Gewohnheit?« Noch zitterte in mir ein schwacher Strahl der Hoffnung, daß alles nur Täuschung sein möge. Ungeduldig wachte ich dem Tage entgegen, der mir Gewißheit bringen mußte, wenn auch vielleicht eine schreckliche. Bei dem ersten Schimmer der Morgenröte schlüpfte ich, während die Herde noch ruhte, aus der Höhle, rief: »Bedenke, daß du Mensch bist!« und wollte aufrecht einherschreiten, aber, o ihr Himmlischen, es ging damit nicht; ich war genötigt, auf allen vieren zu laufen, auf allen vieren zur Quelle Hippokrene, welche mir die Wahrheit zeigen sollte.
Über ihren klaren und göttlichen Spiegel gebeugt, sah ich nunmehr, daß alle schwarzen Ahnungen recht hatten, daß das Entsetzliche geschehen war. Ich sah aus ihrer Flut einen mit zottigem Vlies bedeckten Leib mir abschreckend entgegenstarren, dünn und knöchern gewordene Gliedmaßen, die, als ob sie Scham empfänden, sich in Fell hüllten, ich sah spitz-und steifgewordene Ohren und ach! jene von meinem Umgange mit der Herde mir so bekannte Physiognomie, in welcher der Mund sich zum breiten Maule verzogen, die Nase die lächerliche Streckung nach vorn angenommen hatte, die Augen aber, erschreckt von diesen Verwandlungen, nach den Seitenbeinen des Schädels auseinandergewichen waren; mit einem Worte, denn wozu so viele? Im Spiegel der Poesie sah ich mich als jungen, wenigstens werdenden Bock.
»Dahin also ist es gekommen!« rief ich, und suchte zu verzweifeln. »Bist du darum deinem Vater so sauer geworden, darum aus seiner Tasche gekrochen, um als Gehörnter und Beschweifter zu enden?« – Denn die Musenquelle hatte mir außer allem, was ich beschrieben, auch an Stirn und Rückgrat Keime gewiesen, welche mit den Jahren, wenn das Wetter günstig war, zu Horn und Schweif erblühen konnten.
Ich war sehr angegriffen und bedurfte der Stärkung, oder tat es die Nüchternheit des Morgens? genug, ich mußte fressen, und schälte einen der Lorbeerbäume über der Hippokrene ab. Die bitterlich-herbe Rinde bekam mir wohl. Ich suchte jetzt abermals zu verzweifeln, oder, da dieses nicht gelingen wollte, [315] mindestens mein Los zu bejammern. Auch das glückte nur zum Teil. »Wie verstehe ich das?« fragte ich mich. »Du hast deine Menschheit zum größeren Teile eingebüßt und kannst keine Verzweiflung, ja nicht einmal einen recht tüchtigen Jammer zuwege bringen?«
Da machte ich eine Entdeckung in meinem Inneren, die noch schlimmer war, als die äußeren Wahrnehmungen, welche mir die Quelle gegeben hatte. Ich merkte nämlich, als ich mich scharf prüfte, daß ich den Verlust meiner Humanität eigentlich nur der Form wegen und ehrenhalber betrauere, im Grunde aber mit dem Fell an Leib und Gliedern, mit dem breiten Maule, der nach vorn gestreckten Nase, den seitwärts abgewichenen Augen, mit den Keimen an Stirn und Rückgrat wohl zufrieden sei. Meine Seele war, das empfand ich, auch bereits in der Verbockung begriffen. – O Menschen! Menschen! Menschen! nehmt an dieser Tatsache ein warnendes Beispiel. Wahrlich, das Tier kommt rasch genug in euch zum Vorschein, wenn ihr nicht unablässig auf euch achtet.
Ich graste und hing Betrachtungen dieser tiefsinnigen Art nach, als die Ankunft der Herde mich in denselben störte. Die guten Ziegen waren schon besorgt um mich gewesen und zeigten, als sie mich bei der Hippokrene denkend und grasend fanden, die unverstellteste Freude, so daß nicht viel an einer Wiederholung der nächtlichen Auftritte gefehlt haben würde, wenn ich nicht Rührung und Erschütterung über mein neues Glück vorgeschützt und sie ersucht hätte, meine durch das Wiederkäuen etwas angegriffene Gesundheit zu schonen. »Ja, er bedarf der Ruhe«, riefen die edeln Ziegen und entfernten ihre Pfoten und Mäuler von mir. Der Platz an der Hippokrene wurde für heute zur Weidestelle ersehen, und ich hörte sie lange, während sie fraßen, in erhöhter Stimmung und in einem sogenannten schönen Stile mein Glück preisen, daß ich endlich vernünftig und einer der Ihrigen geworden sei.
»So geht denn also durch das ganze Reich der Wesen derjenige Zug, von welchem ich glaubte, daß er nur meinen ehemaligen Kameraden, den Menschen, angehöre!« dachte ich bei diesen Gesprächen. – »Erst wenn sie jemand zu sich heruntergezogen und ihn in seiner besten Eigenart vernichtet haben, [316] glauben sie, daß er vernünftig geworden sei, und einer der ihrigen zu heißen verdiene. So zerklopft der Wegewärter an der Chaussee die großen Steine und pflastert dann mit den kleinen Bröckelchen die gemeine Heerstraße des täglichen Verkehrs zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen, mitunter auch zu Esel.«
»Erlaube mir«, rief der alte Baron hier abermals dazwischen, »diese hirnlosen Geschichten nunmehr zu unterbrechen, und laß uns von unserer Fabrik« –
»Sogleich«, versetzte Münchhausen. »Meine Erzählung dauert kaum noch eine Viertelstunde.«
Ich war nun gleichsam Hahn im Korbe bei den guten und edlen Ziegen am Helikon. Sie liebten mich fast mehr, als ihre eigenen Kinder; natürlich, ich war ja das Kind ihrer Wahl und hatte für sie außerdem das besondere Interesse, daß noch einige Reste der Menschheit in mir staken, welche ihre fernere Erziehung ebenfalls auszutilgen berufen schien und hoffen durfte. Sie bildeten und besserten unaufhörlich an mir, d.h. sie leckten und putzten mich beständig, um den vollkommenen Bock aus mir herauszulecken und zu -putzen, und jedes Fünkchen widerstrebender Menschheit mir abzulecken. Ich mußte mir das gefallen lassen, obgleich ich es gern gesehen hätte, ein Stückchen Mensch zu bleiben, der möglichen Fälle halber, in welchen ein zweites Metier von großem Nutzen sein kann. Auch meine Sprache war ihnen noch nicht akademisch genug; sie meinten, es sei nicht das reine toskanische Meckern. Ich muß hier einschalten, daß ich mich deshalb so rasch mit meinen Wohltäterinnen hatte verständigen können, weil meine erste Kindheit mir teilweise unter deutschen Kanzelrednern hingegangen war, und ich daher nur bekannte Töne hörte, als ich zu den Ziegen kam, nur bekannte Töne im Gespräch mit ihnen zu wiederholen brauchte. Indessen, wie gesagt, mein Meckern sollte doch noch nicht ganz rein sein, es mochte wohl noch in etwa den Kanzelredner verraten. Die gelehrte Ziege Pipi gab sich daher an das Werk und unterwies mich im Meckern nach den Regeln der Grammatik. Ich lernte rasch und fand, daß das Ziegenidiom einen großen Reichtum an eigentümlichen [317] Wendungen für unklare Vorstellungen habe, weshalb es manchen Zeiten zu empfehlen sein dürfte, um darin die Geschäfte des öffentlichen Lebens abzuhandeln.
Tage kamen und Tage gingen, daraus wurden Wochen und aus den Wochen stellten sich Monate zusammen, ohne daß unser idyllisches Leben auf dem Helikon irgendeine bedeutende Störung erlitten hätte, außer daß wir Zicklein mitunter von den Müttern zu sehr allein gelassen wurden und in einer dieser Verlassenheiten zwei junge Böcke einbüßten, welche, den ersten ein Steinadler, den andern ein Goldadler auffraß. Unser Gefühl wurde von diesen Verlusten schmerzlich berührt, obschon die Ziegen Fifi und Riri durch glückliche Entbindungen für den Ersatz sorgten. Jenes nicht selten vorkommende Alleinsein und die Einbuße der beiden Böcklein machte die Reste der Menschheit in mir nachdenken. Ich fragte, wenn wir so uns selbst überlassen umherirrten, kein gutes Futter finden konnten, oder uns durch unüberlegte Sprünge die Füße verstauchten, oder auch wohl vom richtigen Pfade gänzlich abgekommen waren, wo denn die Mütter seien? und erhielt zur Antwort, daß sie ihre Sitzungen hielten. Fragte ich nun weiter, aus was Grund und zu was Ende diese Sitzungen stattfänden? so erwiderten mir meine Altersgenossen, es seien die Sitzungen des Wohltätigkeitsvereins. Freilich blieb ich durch solche Antworten so klug als vorher; ich schärfte indessen das Auge der Beobachtung und kam auch binnen kurzem der Sache auf den Grund. Leider entdeckten da meine Forschungen gewisse Schattenseiten an dem sonst so liebenswürdigen und vollkommenen Zustande der helikonischen Ziegenherde.
Die wohltätigen und rechtschaffenen Mütter hatten nämlich einen Verein »zur Linderung des Elendes leidender Naturwesen« gestiftet. Dieser Verein war aus den Trümmern eines früheren, untergegangenen entstanden, welcher auf die Verfeinerung ihrer Pelze abgezielt hatte. Ein reisender Waldesel war nämlich einstmals über den Helikon gekommen, hatte aus der Hippokrene gesoffen und darauf von dem wundervollen Gespinste der Tübetziege phantasiert, aus welchem in Kaschmir die herrlichen und kostbaren Schals gewebt [318] werden. Der phantasierende Esel hatte weder Tübetziegen noch Kaschmirschals selbst gesehen, sondern im Walde einen armenischen Kaufmann davon reden hören, der zwar mit den Schals bekannt war, die Ziegen aber auch nie in Augenschein genommen hatte, sondern nur von seinem verstorbenen Bruder gehört haben wollte, es gebe dergleichen. Die Phantasie des Esels entzündete aber die Phantasie der Mütter und befruchtete ihren Geist mit dem Ideale einer tübetischen Hochgebirgsziege. Dieses ferne hohe Bild brachte in ihnen den Trieb der Nacheiferung hervor, ihre Pelze dünkten ihnen seit dem Tage roh und gemein, sie verbanden sich, durch ein Leben im höheren Sinne des Worts ihre Wolle zu verfeinern und es womöglich bis zu Kaschmirwolle zu bringen, denn der Pelz ist einer Ziege das, was schönen Seelen ihr Gemüt ist.
Das Leben im höheren Sinne des Worts konnte aber nur dadurch in das Werk gerichtet werden, daß sie alle Gemeinschaft mit ihren Gatten abbrachen und die Milch bei sich behielten. Diese Schritte bedrohten nun die ganze Herde mit dem Untergange, und als die Seufzer der Gatten und das Wimmern der Zicklein ihnen die Gefahr einleuchtend gemacht hatten, so mußten sich die hochherzigen Ziegen entschließen, dem schönen Unternehmen zu entsagen; schmerzlich ergriffen, denn wie es ihnen vorkam, war während der wenigen Tage, wo Gatten und Kinder darbten, ihr Pelz schon merklich feiner geworden.
Aus diesem Wolleverbesserungsvereine war der »Verein zur Linderung des Elendes leidender Naturwesen« hervorgegangen, weil das höhere Selbst der helikonischen Ziegen Befriedigung wollte und für die Einbuße Ersatz heischte. Der neue Verein bekümmerte sich um jedes Unglück und half allen Insekten, Vögeln und kleinen Säugetieren, die in Not staken. Er hielt wöchentlich seine regelmäßigen Sitzungen; ich habe mehreren derselben beigewohnt, da man mich als Böcklein von guten Anlagen für würdig hielt, so edle und gemeinnützige Tathandlungen kennenzulernen. Die Ziegen pflegten an einer beschatteten Stelle des Berges im Kreise umherzuliegen und wiederzukäuen; die verständige tugendhafte Sisi aber, welche auf einem erhöhten Steine in der Mitte des Kreises ruhte, [319] führte in diesen Konferenzen das Präsidium. Während des Wiederkäuens wurden denn nun Notfälle der verschiedensten Art in barmherzige Erwägung gezogen, als z.B. wie einer Hummel zu helfen sei, welche die Ziege Riri hatte in das Wasser fallen sehen? ob man nicht einer erlahmten und erstummten Grille eine Art Hackbrettlein aus Blättchen und Dörnchen zurichten lassen könne, um ihr die Ausübung ihrer Kunst für die Zukunft wenigstens einigermaßen möglich zu machen? oder in welcher Art einer in ihrem Loche darbenden Maus Futter für sich und ihre Jungen geschafft werden möge, von der die Ziegen wußten, daß sie ohne Verschulden in solche Nahrungslosigkeit geraten war, und was dergleichen wohltätige Maßnahmen mehr waren, welche den helikonischen Ziegen und ihrem Vereine einen fast göttlichen Namen bei allem notleidenden Geschmeiße zuwege gebracht hatten. Ich sage: Bei dem Geschmeiße, denn was die edleren Geschöpfe betrifft, so wollten diese von dem Vereine und seinen Taten nichts wissen. Die Steindrossel hörte auf zu singen, wenn die Ziegen in der Nähe ihres Busches ratzuschlagen begannen, eine weiße Hinde, welche zuweilen besucheshalber auf den Berg kam, wies, als die Ziegen ihr den Antrag machten, in den Wohltätigkeitsverein zu treten, statt aller Antwort nur den stolzen Rücken, und die Lorbeerbäume, unter welchen die Sitzungen vor sich gingen, habe ich oft die Kronen hochmütig schütteln sehen, wenn die Reden der Ziegen im tönendsten Schwunge und ergiebigsten Flusse waren. Ja, einer jener geweihten Bäume mußte die Nähe der barmherzigen Ziegen selbst körperlich nicht vertragen können. Er bekam ein krankes Ansehen und ging endlich ganz aus.
Auch erreichten die Mütter nicht in allen Fällen ihre tugendhaften Zwecke. Es war streng verboten, daß von irgendeiner Ziege privatim, ohne Aufsehen, aus dem Stegreife, wie sie sie fand, Not gelindert werden durfte; nein, alle Wohltätigkeit sollte seit der Stiftung des Vereins im Geschäftswege verwaltet werden, und die Einzelziege war streng angewiesen, dem leidenden Wesen, welches sie traf, vorüberzugehen und über den Fund nur dem Vereine zu berichten. Auf diese Weise wollten die helikonischen Mütter die gemeine, instinktartige Milde [320] ausrotten und an deren Statt die höhere, selbstbewußte, die administrierende Milde pflanzen. Da es nun aber immer mit einiger Weitläuftigkeit verknüpft war, eine Sitzung zustande zu bringen, die Sitzungen selbst jedoch das Weitläuftigste bei der ganzen Sache wurden, indem die Ziegen meckernd und wiedermeckernd gleichsam außer ihrem Futter auch die Barmherzigkeit wiederkäuten, so kam oft alle Hülfe zu spät. Die Hummel, welcher ein auf der Stelle zugeworfenes Blatt das Leben gerettet hätte, war während der Reden über die Pflicht, sie zu retten, untergegangen, und die Maus, der die vorübergehende Einzelziege ein paar Körner hätte zuscharren können, bis es zum Gesamtwirken für sie kam, Hungers gestorben.
Mitunter war etwas unternommen worden, was gegen die Natur anging. So konnte fast keine der lahmen Grillen mit den Kunsthackbrettchen fertig werden. Am schlimmsten waren, wie ich schon angedeutet habe, die langen und weitläuftigen Sitzungen des helikonischen Ziegenvereins für uns Zicklein und Böcklein. Wenn wir während derselben ohne Weg und Steg und oft ohne Futter umherliefen, wenn Gefahren und Raubtiere uns Außerachtgelassenen drohten, da konnten wir armen Schluckerchen nicht selten unsere bitteren Tränen darüber vergießen, daß die Mütter an ertrinkende Hummeln, lahme Grillen und hungernde Mäuse dachten und uns vergaßen. Indessen waren solche Tränen und jene Mißglückungen im ganzen unwichtig. Die Helikonierinnen lernten sich durch den Verein in ihrer Vortrefflichkeit immer mehr fühlen und an ihrer eigenen Tugend begeistern, und darauf kam es doch hauptsächlich vor allem an.
Ich habe lange nicht gewußt, auf was Art diese Stimmung, welche die eigene Familie um Geschmeiß hin und wieder vernachlässigen lehrte, und eine schlichte und unscheinbare Barmherzigkeit zu einem glänzenden Geschäfte aufzublasen antrieb, bei den Helikonierinnen entstanden war. Endlich konnte ich mir das Rätsel erklären. Die helikonische Herde soff nämlich, wie wir wissen, aus der Hippokrene. Diese Quelle wirkt nun bei allen, welche sie trinken, die gewaltigsten Dinge, jedoch nur bei den durch das Schicksal dazu Vorbestimmten jenen reizenden Wahnsinn, den wir kennen, bei [321] vielen dagegen versetzt sich das Wasser und schafft entweder die abscheulichsten Würfelreime, wie bei mir der Fall war, so oft ich trank, oder einen sozusagen erhitzten und geschwollenen Zustand im Handeln und Empfinden, den man die blühende Prosa des Lebens nennen könnte.
Die helikonischen Ziegen gehörten nicht in die Reihe der zum reizenden Wahnsinn Vorbestimmten. Bei ihnen wirkte die Quelle den Drang zu unnötigen Tugenden und überflüssigen Wohltätigkeiten. Ihr Zustand war blühende Prosa. Dieser Zustand rührte von versetzter Hippokrene her.
Wie oft mußte ich, als ich nachmals mehr unter Menschen kam, und ihre geschmacklosen Herrlichkeiten, ihre Aufspannungen für und um das Erbärmliche kennenlernte, still für mich ausrufen: »Versetzte Hippokrene!« – Wo diese mit der blühenden Prosa in ihrem Gefolge auftritt, da stirbt das melodische Getön der Steindrossel, da weiset die stolze weiße Hinde vornehm den Rücken, da schüttelt der Lorbeer zornig die Krone, oder geht aus.
Auch die Gatten der Ziegen soffen für gewöhnlich aus der Hippokrene und wollten hinter den Gattinnen nicht zurückbleiben. Sie gehörten ebenfalls nicht in die Reihe der zum reizenden Wahnsinn Vorbestimmten, was mir gewiß jeder, der einmal einen solchen Gatten gesehen hat, auf mein Wort glaubt. Da nun die Gattinnen ihnen schon das Elend des Geschmeißes weggenommen hatten, so waren sie auf dessen Laster beschränkt und stifteten unter sich einen Verein »zur Rettung sittlich verwahrloseter Naturwesen«. Der Zweck desselben war, durch moralische Einwirkung, durch tugendhafte Anrede und herzliche Aufmunterung zum Guten alle die Tierlein, welche ihrer Natur nach stechen, beißen, kratzen, stehlen, oder sich von schmutzigen Dingen nähren, zu einem unschädlicheren und reineren Leben anzuführen. Nach der Absicht der Stifter sollte, wenn der Verein wirklich durchgriffe, die Mücke ihrem Stachel und der Floh seinem Blutdurst entsagen lernen, die Elster auf den Diebstahl verzichten, Würmer und Maden aber von Unrat und Aas sich entwöhnen.
Da ich mich allein bei den Ziegen aufhielt, so kann ich nicht sagen, wie weit der Besserungsverein mit seiner Tätigkeit [322] gediehen war, als ich auf den Helikon kam. Ich weiß nur, daß allerhand Geziefer auch auf diesem heiligen Berge stach, biß, kratzte, stahl und Unaussprechbares fraß, weiß aber nicht, ob es gebessertes oder ungebessertes war. Einer einzigen Versittlichungsgeschichte Augen- und Ohrenzeuge bin ich geworden, von ihr will ich berichten, muß ich sogar berichten, da sich eine Katastrophe mit ihr verband, welche zu weiteren Schicksalen Münchhausens des Kindes, damals Böckchens, führte.
Die vereinigten Böcke ... oder vielmehr die sittlichen Gatten der wohltätigen Ziegen waren an dem Tage, der meiner Auffindung folgte, an den Ort gekommen, wo der großmütige Engländer sein Pferd hatte grasen lassen und der tote Lämmergeier lag. Wo das Pferd gestanden, fanden sie einen Käfer mit schwarz-glänzenden Flügeldecken, einen der Art, welche bei Aristophanes die Knechte des Trygäos dem Herrn für den Ritt zu Zeus auffüttern, und die Deutschen Mistkäfer nennen. An dem Halse des Geiers aber bemerkten sie die stahlblaue Fliege, Schmeißfliege geheißen. – »Ich will, Bruder Schnuck, ungeachtet deine göttliche Tochter nicht zugegen ist, dennoch den Käfer aus Rücksicht auf deine Delikatesse nur das Roß des Trygäos und die Fliege die blaue Schwärmerin nennen«, sagte Münchhausen, vom Manuskripte aufsehend.
»Erlaube« – rief der alte Baron fast wütend.
»Erlaube mir«, sagte Münchhausen, »dir die Geschichte von dem Käfer und der Fliege vorzutragen.« –
»Dreht sich einem nicht das reine Herz im Leibe um«, rief einer der Gatten, »zwei Mitwesen in solcher Niedertracht zu sehen? O Brüder, laßt uns hier helfend einschreiten, laßt uns diesen Gefallenen die rettende Klaue reichen, entwöhnen wir den Käfer von seinen üblen Neigungen, die Fliege von der Leidenschaft, selbst die ungeborene Zukunft ihres Stammes einem verdorbenen Elemente einzupflanzen, machen wir Käfer und Fliege zu anständigen Leuten, die in der guten Gesellschaft fortkommen können!«
Allgemeiner Beifall folgte dieser Rede. Einstimmig beschloß man, das Roß des Trygäos und die blaue Schwärmerin sollten sittlich und anständig werden, sie möchten wollen oder nicht. Vorsichtig scharrte der Redner, der Ziegengatte Solon (sie hatten [323] sich lauter Namen von weisen und erhabenen Männern des Altertums beigelegt), den Käfer von seinem Mahle mit der Klaue hinweg und trieb ihn in eine Felsritze, die sofort durch einen vorgewälzten Kiesel zum Besserungsgemache erschaffen wurde. Diese Unternehmung hatte wenig Schwierigkeiten gehabt, denn ehe ein Käfer zum Fliegen gelangt, dauert es einige Zeit mit Bauchdehnen und Halsrecken. Schlauer mußte man mit der Fliege zu Werke gehen, der wohlbeschwingten Schwärmerin. Indessen gelang es dem jungen Plato, einem Ziegengatten von der unerreichbarsten Hoheit der Gedanken, die zu Bessernde zu beschleichen, sie mit seinen Lippen zu erschnappen und zwischen denselben nach dem Astloche eines Feigenbaumes zu tragen, worin sie durch einen vorgestopften Pflock verspündet wurde. Man teilte das freudige Ereignis bei der nächsten Zusammenkunft den Gattinnen mit, welche nicht verfehlten, an den Hoffnungen des Vereins den lebendigsten Anteil zu nehmen. Auf diese Weise erhielt ich von der Sache Kunde. Wir Zicklein und Böcklein mußten nun den Ort, wo das Pferd des großmütigen Engländers gestanden, rein scharren, die erwachsene Herde stürzte aber den Leichnam des toten Geiers in einen tiefen Abgrund, um von den beiden eingesperrten Zöglingen der Sittlichkeit alle Anreizungen zum Laster zu entfernen.
In den folgenden Tagen begannen nun Solon und Plato, unterstützt jezuweilen von den übrigen Mitgliedern des Vereins, ihre Reden und Ermahnungen an das Trygäosroß und die blaue Schwärmerin. Solon lag vor der Felsritze und hielt seine Schnauze an ein federspulenkleines Löchlein, welches der Kiesel unbedeckt ließ; Plato stellte sich an dem Feigenbaume auf die Hinterfüße, hielt sich mit den Vorderfüßen am Stamme fest und legte das Honigmaul gegen das Astloch, um sich verständlich zu machen. In dieser Stellung oder Lage hielten die beiden Böcke ihre Besserungsreden, wenn sie nicht fraßen, der eine die Feigen des Baumes, der andere das junge Laubgesproß, welches an der Felsritze gerade in der wucherndsten und saftigsten Fülle wuchs.
»Ist es denn nicht besser, sich an reiner und reinlicher Nahrung zu sättigen?« sprach Solon zum Käfer, wenn er von [324] dem Genusse des Laubes ausruhte. – »Fühlst du denn nicht, du armer Gesunkener, daß uns alle, Ziegen, Käfer und Fliegen, Zeus der Vater in die Furchen der brütenden Mutter aussäte, die Speise aus der Hand der Götter, nicht aber sie aus der Pforte, die da stets nur ausläßt und nimmer ein, zu empfangen? Schreckliche, unbegreifliche Verirrung, das, was Trift und Gefilde heilsam in das Reich der blonden Demeter emporschickt, zu verachten, und erst dann danach zu streben, wenn es, in den Hades gestoßen, dem gestaltenlosen Schattengebiete der traurigen Persephoneia angehört! Liebst du des Hafers goldenes Korn, warum frissest du nicht Hafer? Gelüstet dich nach dem Sproß des Grases, weshalb beißest du nicht in Gras? Was reizt, was verführt dich, das alles erst umgestimmt, entmischt, abgenützt zu mögen? Höre dieses freudige Knirschen und Rauschen vor deinem Kerker, vernimm, wie ich in dem saftigen, fetten Portulak, in der wilden bittern Kresse, in dem erfrischenden Sauerklee schmause. Könntest du denn nicht, wenn du frei wärest, neben mir brüderlich sitzen und dieser von der Oreas uns verliehenen Blätter dich erfreuen, als einige Schritte weiter zurück, ein Helot und Barbar, zu harren, ob dir ein von der Harpyie besudeltes Mahl werde? Oder sagst du: ›Ich bin Käfer, du bist ein Ziegengatte‹? Nun so blicke auf deinesgleichen, sieh, wie der kleine rote zirpende Schelm das süßduftende Blatt der Lilie nagt, wie der Runde mit kupferbraunen Flügeln und grünem Schilde im Schoße der Rose schwelgt! Denen folge, denen schließe dich an, bei ihnen ist deine Stelle! Friß Lilien, wenn du nicht Hafer, friß Rosen, wenn du nicht Portulak, Kresse und Sauerklee fressen willst!«
Nach diesen Reden fühlte sich der edle Solon immer mit neuem Appetite versehen und war zu erhöhter Tätigkeit an den Bergkräutern aufgelegt. Plato, wenn er vom Feigenfraß rastete, hielt Ermahnungen ungefähr des nämlichen Inhalts an seine Schülerin. Auch er riet der Fliege auf das eindringlichste, verdorbenes Fleisch zu lassen, in Zukunft Feigen zu fressen und auf Feigen ihre Eier zu legen. Er suchte besonders auf das Muttergefühl zu wirken und in glänzenden Bildern ihr vorzustellen, welch ein begabteres Geschlecht ihre Brut werden würde, wenn sie statt in Dust und Dunst, da droben auf sonnebeschienenem,[325] lüftegewiegtem Zweige auskäme. Auch er verzehrte nach seinen Reden immer wieder Feigen, solange dergleichen noch am Baume hingen, dann nagte er die Zweige ab, so daß der Baum ein ziemlich verwüstetes Ansehen zu bekommen anfing.
Das Roß des Trygäos und die blaue Schwärmerin lebten bei diesen Ermahnungen in ihren Besserungslöchern ein trauriges Leben. Sie waren beide schlichte, rohe Naturwesen ohne alle Theorie, praktischen Trieben ergeben. Anfangs rasten sie wie wahnwitzig brummend und schnurrend in den Kerkern umher, da ihnen dieses aber nichts half, so wurden sie still und hörten den Reden ihrer Verbesserer zu. Von denen verstanden sie nun aber nicht das mindeste, als, daß der Käfer Lilien und Rosen fressen, die Fliege sich zu Feigen wenden solle – Zumutungen, die Roß und Schwärmerin außer sich setzten, weil sie ihnen das Beleidigendste dünkten, was ihnen nur gesagt werden konnte. »Seelenverkäufer! Seelenverkäufer!« brummte der Käfer. – »Warum soll denn unsereins nicht fressen, was unsereinem schmeckt?« – »Ich such', such', such' Geruch!« summte die Fliege. Am meisten ärgerte es die beiden Kandidaten der Sittlichkeit, daß sie ihre Besserer draußen behaglich in Laub und Feigen knarpen hörten, und daß denen die tugendhaften ermahnenden Reden gleichsam nur dienten, sich der Verdauung halber nach dem Essen eine Bewegung zu machen. Indessen nahmen die Dinge für beide eine sehr ernste Gestalt an, denn sie bekamen natürlich nicht das allergeringste zu essen und fielen daher während ihrer Bearbeitung zu einem reineren Leben jämmerlich ab. Das Trygäosroß wurde so matt, daß es kaum noch auf den Füßen stehen konnte; die blaue Schwärmerin ließ kraftlos die Flügel hängen.
In dieser traurigen Verfassung überkam sie der den Tieren eingepflanzte schlaue Trieb der Selbsterhaltung. Sie setzten sich vor zu heucheln, und gaben klägliche und melancholische Töne von sich. »Höre!« rief Solon dem Plato zu (denn Felsritze und Feigenbaum waren einander nahe); »das Laster schlägt in sich, die ersten Kennzeichen der Reue sind zu spüren.« – »Meine arme Gefallene ächzt auch schon über ihr Unheil«, versetzte Plato. Nach einiger Zeit prüften die beiden ehrwürdigen [326] Ziegengatten den Sinn der Bekehrten, indem Plato ein Stückchen Feige, welches noch am Baume gehangen hatte, vorsichtig in das Astloch schob, Solon aber ein Lilien- und Rosenblättchen unter den Kiesel in die Felsritze zu bringen wußte.
Roß und Schwärmerin erbebten vor Grimm bei dieser Darlegung abscheulicher Anträge, wie sie ihnen vorkommen mußten. Die Schwärmerin wich entsetzt vor dem Feigenstücklein in die letzte Ecke des Astloches zurück, das Roß stieß die Blätter, deren Geruch ihm den Atem raubte und die Luft seines Wohnortes ihm zu verpesten schien, mit den kurzen, kräftigen Beinen von sich ab. – »Niederträchtiger Gestank!« brummte es. – »Sollte man's glauben, daß es Narren gibt, die an dem greulichen Zeuge Behagen finden? Ich ersticke! O meine Ambrosia!« – »Feigen! Feigen! Feigen! Kinderpapp! Kinderpapp!« tosete die Schwärmerin.
Aber ihre Lage war zum Äußersten gediehen. Die Besserer draußen, das begriffen die Opfer der Sittlichkeit drinnen, konnten es bei guter Nahrung mit ansehen, wenn sich das Geschäft auch noch so sehr in die Länge zog. Hunger tut weh, Verstellung tat not, die draußen zu täuschen. Der Käfer überwand sich und fraß unter Verwünschungen und Zuckungen etwas Lilien und Rosen, welches er aber alsobald wieder von sich gab, so übel bekam ihm der höhere und reinere Lebensgenuß! Die Fliege bezwang ihr schauderndes Gemüt und verrichtete über der Feige einigermaßen und gleichsam zur Probe das, was von ihr im Namen der Tugend gefordert wurde. Plato und Solon hatten gelauscht und an dem Geräusche, welches drinnen entstanden, abgenommen, daß etwas Entscheidendes vorgefallen sein müsse. Öffnend jetzt die beiden Verließe, sahen sie Lilien und Rosen angenagt, das Feigenstücklein beschmeißt, Roß und Schwärmerin aber halb ohnmächtig auf dem Rücken liegen. Solon und Plato umarmten einander mit den Vorderbeinen und riefen: »Triumph! die Tugend hat gesiegt! Das Laster ist aus dem Busen dieser sittlich Verwahrloseten gewichen, sie werden nie wieder in ihre schimpflichen Angewöhnungen zurückfallen!«
Der Jubel drang zu den übrigen Ziegengatten, welche ungeachtet ihrer Ehrwürdigkeit den frohen Fall mit einem herrlichen [327] Reigentanze in den kühnsten Sprüngen feierten. Auch die Mütter und uns Zicklein und Böcklein zog das Getöse herbei. Die Mütter wurden mit wenigen freudigmeckernden Worten von dem Gelingen der Versittlichung in Kenntnis gesetzt, sahen Roß und Schwärmerin die Füße von sich strecken und vergossen Tränen der Rührung. Wie die Frauen denn immer mit blitzschneller Ahnung das Höchste, Richtigste treffen, so ging auch in den helikonischen Ziegen damals die Blüte des versittlichenden Wirkens auf. – »Laßt uns aus diesen beiden der Tugend gewonnenen Wesen ein Paar machen!« riefen die Ziegen begeistert. »Verheiraten wir sie miteinander, und als Aussteuer geben wir ihnen so viele Lilien, Rosen und Feigen, als sie am Helikon finden können!«
Ein unglaublicher Sturm des Entzückens folgte diesem Vorschlage. Zwar wollte der ehrwürdige Moschus den Zweifel erheben, ob selbiges Ehebündnis wohl fruchtbar ausfallen möchte, und der kritische Bion erst die Neigungen von Braut und Bräutigam prüfen; aber die erwähnten Bedenken fanden keinen Anklang, vielmehr rief der Chorus der übrigen einhellig: »Wo die Tugend zusammenführt, kommt es auf Neigung und Fruchtbarkeit nicht an!«
Man wollte sogleich zu diesen Hymenäen im Namen der Sittlichkeit schreiten. Plato und Solon nahmen das Trygäosroß und die blaue Schwärmerin auf ihren Rücken. Sie schritten voran, die ehrwürdigen Gatten folgten ihnen paarweise, denen folgten die rechtschaffenen und wohltätigen Mütter, hinter den Müttern sprangen wir Zicklein und Böcklein, und so setzte sich der Zug nach dem Platze an der Hippokrene in Bewegung, wo die Hochzeit gefeiert werden sollte.
Dort angekommen, nahm die alte verständige Sisi das Roß zwischen ihre Lippen, die gute Quiqui aber tat desgleichen mit der Schwärmerin. Sie trugen demnächst das Brautpaar zu einem hohen Steine, stellten die beiden jungen Leute, welche von der freien Luft erfrischt, wieder stehen konnten und überhaupt mit jedem Augenblicke munterer zu werden schienen, auf den Stein nebeneinander, und darauf schlossen wir alle, jung und alt einen weiten Kreis um das Paar. Das in der Eile entworfene Programm der Festlichkeiten ordnete diese Reihenfolge [328] derselben an: Strophe; Reden von Solon und Plato; Gegenstrophe; Zeremonie, Schlußgesang, gymnisches Spiel, Reigentanz, Festmahl.
Eine der kleinen lahmen Grillen, die einzige, welche mit dem Kunsthackebrettlein aus Blättchen und Dörnchen hatte fertig werden können, war zur Festsängerin ernannt worden. Als daher der Kreis sich gebildet hatte, schritt oder hüpfelte vielmehr diese Dichterin des Wohltätigkeitsvereins zur heiligen Quelle, netzte darin ihre Freßzangen ein weniges, verdrehte darauf die goldgelben Äugelein im Kopfe, erreichte mit einem lahmen Sprunge das Gezweig einer Tamariske, nach vergeblichen Bemühungen, auf einen der Lorbeerbäume, den niedrigsten unter allen, zu gelangen, stimmte das Hackebrettlein, putzte die Freßzangen an demselben ab, und sang nun, das Kunstinstrumentlein schlagend, begeistert folgende:
Gegenstrophe
Und ist er denn ein Schweinichen,
Brumm! Brumm!
Und hat sie denn sechs Beinichen,
Summ! Summ!
So reicht einander jetzt die Füß'
Und sei der Ehestand euch süß;
Brumm! Brumm! Summ! Summ! Summ! Summ!
Indem es aber nun zur Zeremonie kommen sollte, und die Ziegen Sisi und Quiqui das Paar ersuchten einander die Füße zu geben, nahm die Feierlichkeit eine plötzliche unerwartete und unglückliche Wendung. Denn zur Rechten wurde in der Entfernung der Hufschlag eines Pferdes hörbar, und zur Linken kroch unten durch einen Bergspalt ein Fuchs, oder ein Wolf oder ein anderes Raubtier. Ich weiß nicht, was dem Pferde begegnen mochte, das aber sah ich, weil ich auf der äußersten Linie des Kreises stand, daß das Raubtier ein Stück Fleisch im Rachen trug. Alsobald drang in die beiden jungen Leute auf dem Steine eine konvulsivische Bewegung, ihren scharfen Sinnen brachten die Lüfte von weitem verführerische Botschaft zu, Roß und Schwärmerin sammelten ihre letzten von der Sittlichkeit verschont gebliebenen Kräfte, spreiteten die Flügel aus, und mit dem Gebrumm: »Mist! Mist! Mist!« und mit dem Gesumm: »Luder! Luder! Luder!« flog der Bräutigam rechts, die Braut links davon, ungerührt von Besserungsversuchen, Reden, Rührungen, Strophen und Gegenstrophen das alte Lasterleben von vorn zu beginnen.
Die entsetzte Überraschung der Freier, als Odysseus plötzlich aus Bettlerlumpen mit sieghafter Hoheit hervorleuchtete und die tötenden Pfeile vor sich hingoß, kann nicht größer gewesen sein, als der Schreck der Mütter und ihrer Gatten bei [330] diesem Anblicke, welcher ebenfalls sozusagen die Hoheit der Natur aus Lumpen hervorscheinen machte. Anfangs standen sie da, stumm, starr, regungslos, gleichsam ein großes Viehstück aus Stein, dann aber ergriff sie der haltungsloseste Taumel, und sie rannten nach allen Richtungen ebenfalls auseinander, entweder, weil sie die sittlich Verwahrloseten wieder einfangen wollten, oder auch nur überschattet von dem Dämon, welcher sich ungeheurer Augenblicke zu bemächtigen pflegt. Die Zicklein und Böcklein folgten, so daß die den Gipfel hinan und hinunter rennenden, springenden, stolpernden, stürzenden Tiere demselben ein Ansehen gaben, wodurch er mehr der Kuppe eines thessalischen Zauberberges, als der heiteren musischen Höhe glich.
Was mich betrifft, so war ich an der Quelle zurück geblieben. Warum sollte ich hinter Käfer und Fliege herlaufen? Mein eigenes Schicksal machte mich bange. Ich fürchtete die Rückkehr der Herde.
Die Mütter hatten mir nämlich schon vor einigen Tagen angekündigt, daß, um auch die letzten Reste der verhaßten Menschlichkeit in mir auszutilgen, ich nächstens aus der weiblichen Erziehung entlassen und den Händen der Gatten übergeben werden solle. Dagegen sträubten sich nun aber jene Reste mit aller Macht und vielleicht ebenso heftig, wie die Neigungen des Trygäosrosses gegen Lilien und Rosen. Denn mir blieb ein physischer Abscheu gegen die Gatten beiwohnen, so sehr ich ihre ehrwürdigen Eigenschaften achtete. Aber letztere hatten gewisse natürliche Begabungen an ihnen nicht zu tilgen vermocht, und ich empfand das innigste Grauen vor dem Augenblicke, der mich ihrer Atmosphäre so nahe bringen sollte. Indessen standen ganz andere Dinge in den Sternen geschrieben.
Der Hufschlag des Pferdes näherte sich, und es kam ein ältlicher, dicker Mann, dem ein dünner folgte, nach der Stelle zu geritten, wo ich stand. Der Mann trug einen gelben Hut, einen gelben Rock, eine gelbe Hose und eine gelbe Weste, sah sehr blaß und aufgedunsen und äußerst verdrießlich aus. Schon sein Ansehen und der völlig gleichgültige Blick, mit dem er die Gegend überschaute, würde mich gelehrt haben, von welchem [331] Volke dieser Fremdling sei, wenn ich ihn auch nicht sobald hätte reden hören. Der Diener half seinem Herrn vom Pferde, führte ihn zu dem Steine, auf welchem das Brautpaar gestanden hatte, ließ ihn niedersitzen, gab ihm ein spanisches Rohr in die Hand, schob dessen Knopf unter sein Kinn, und richtete auf diese Weise gleichsam die Statue eines gefühllosen Naturbeschauers zu. Der Herr ließ nämlich alles phlegmatisch mit sich vornehmen und antwortete nur spärlich auf die Reden des Dieners, welcher ziemlich gesprächig war.
Aus ihrer Unterhaltung erfuhr ich, daß der gelbe Dicke ein reicher, vom Geschäfte zurückgezogener Rentenierer war, welcher unweit Amsterdam und eine Stunde von Haarlem auf seinem Landhause gelebt hatte. Da sich die Anfälle des Podagras bei ihm mehrten und gewisse Vorboten der Wassersucht erschienen, so war ihm von seinem Arzte eine Reise in die südlichen Länder verordnet worden. Dazu wollte sich denn auch Mynheer van Streef verstehen und erklärte seine Bereitwilligkeit, bis in den Reichswald bei Kleve zu reisen. Der Arzt erklärte aber dagegen, er sei mißverstanden worden und nannte ihm die ungeheure Meilenzahl, welche er wenigstens abzureisen habe. Der Holländer war hierüber anfangs, soweit sein Naturell dies zuließ, in einige Verzweiflung geraten, jedoch endlich, weil der Arzt ebenfalls ein ruhiger hartnäckiger Altniederländer war, und seinem Patienten mit größter Fassung Todestag, ja Todesstunde vorausgesagt hatte, wenn er nicht Folge leiste, genötigt gewesen, sich zu fügen, und an die Reise zu denken, die er in südöstlicher Richtung vornehmen mußte, da er südlich auf der Karte die verordnete Meilenzahl nicht vor sich sah.
Um dies zu verstehen, muß gesagt werden, was ich aus den Gesprächen heraushörte, daß nämlich Mynheer van Streef durchaus nur seine Meilen in gerader Richtung, ohne durch Umwege und Absprünge ihre Zahl zu erfüllen, verreisen wollte. Denn da ihm die Reise äußerst zuwider war, so haßte er alles, was ihr den Schein einer Wanderung zum Vergnügen hätte geben können. Er zog deshalb auf seiner Karte von Europa nach dem Lineal mit Bleistift einen Strich von Amsterdam nach Südosten, maß daran die Meilen, fand, daß ihre [332] Zahl sich genau auf dem Gipfel des Helikon vollende, und war so, immer streng dem Striche nachreisend, und weder rechts noch links abweichend, allgemach auf den geheiligten Berg gekommen.
Hier tröstete ihn nun der Diener, nachdem er ihm Vorstehendes in einzelnen Bemerkungen erinnerlich gemacht hatte, um ihn durch den Gedanken an die Notwendigkeit der Reise und ihre strenge Konsequenz aufzurichten, mit dem Ausrufe:
»Mynheer, wir sind am Ziel, und morgen geht es nach unserem schönen Welgelegen zurück.«
»Gottlob«, sagte der Holländer, der sich bei dem Gedanken an sein Landhaus ein wenig erheitert fühlte, »und ich will, wenn wir nach Hause gekommen sind, ein Lusthaus anbauen und das soll heißen: Vreugde en Rust. Und aus der Ruhe will ich nicht wieder gehen, möchte auch meine Wassersucht so überhandnehmen, daß alle Deiche von Seeland bedroht wären. Ich kenne gar nichts Wahnschaffneres, als diese griechischen Gegenden, in denen ein beschwerlicher Berg nach dem andern kommt, wo man keine Aussicht auf Kanäle und Wiesen hat, und der Himmel die unnatürliche blaue Farbe nicht los wird.«
»Es kann nicht überall Altniederland sein«, versetzte der Diener und stopfte sich eine kleine tönerne Pfeife; »es muß auch solche nichtsnutzige Striche Landes geben.«
»Wenn ich da mein Landhaus Welgelegen betrachte«, fuhr Mynheer van Streef fort, der jetzt etwas gesprächiger wurde, obgleich sein Gesicht so verdrießlich blieb, wie früher, »was für eine andere Gegend ist das! Nebenan liegt Mynheer de Jonghes Schoone Zieht und auf der andern Seite Mynheer van Tolls Vrouw Elizabeth, und mitteninne liegt Welgelegen. Ich will nun gar nicht reden von meinen innerlichen Schönheiten und bequemen Dingen, von der Menagerie, von meinem mit bunten Steinen gepflasterten Hofe, vom Muschelhäuschen, von der Voliere, von den Goldfasanen und den Mistbeeten voll Hyazinthen, die hier elend wild wachsen – aber Sebulon, denke nur an die schöne Aussicht auf den Kanal, über den alle Tage die sechs braun angestrichenen Treckschuiten von den Jägerchen gezogen werden und auf die unabsehliche Wiese dahinter, in der dann doch auch nicht eine einzige Erhabenheit, [333] so groß wie ein Maulwurfshügel ist, und den Hintergrund von zwölf Windmühlen im Gange! Und dann sieht man das nicht alle Tage, nein, einen um den andern Tag nebelt oder regnet es, so daß die Entbehrung das Glück, um sich blicken zu können, erhöht, und der Himmel bleibt immer, auch wenn es helles Wetter ist, bescheiden, mäßig und grau. Wie wird dir denn Sebulon, wenn du an alles das denkst?«
»Abscheulich wird mir zumute«, rief Sebulon und warf zornig seine Pfeife an den Boden, daß sie zerbrach. »Hole der böse Feind diese verdammten griechischen Wüsten!«
»Ereifre dich nicht, Sebulon«, sagte der Herr schläfrig, mit verdrossenem Mundhängen. »Ein Holländer ereifert sich nicht, oder er prügelt wenigstens jemanden dabei, auf daß der Eifer einen Nutzen habe. Mache mir jetzt Tee, das Wasser dort scheint noch so ziemlich klar zu sein, wie es in diesem vermaledeiten Lande sein kann, denn freilich, Wasser von Utrecht ist es nicht. Ich will unterdessen in der ›Elektra‹ unseres großen Vondel lesen.« Er nahm ein Buch aus der Tasche, schlug es auf, und las halblaut mit sonderbarem Pathos die Anfangsverse der Vondelschen »Elektra«:
O zoon van Atreus zoon, die't opperste gezagh,
In't Grieksche Leeger had, toen hy voor Troje lagh,
Nu zietge zelf het gée, daer staegh uw hart naer haeckte.
Dit's Argos, d'oude Stad, daer uw gemoed om blaeckte.
Dit's't woud van Jö zelf, dat dolgeprickelt dier.
Het wolfsveld van Apol, den wolvenschrick, is hier,
En dees vermaerde Kerck, die Argos Juno wydde,
Rijst ginder hemelhoogh, aen uwe rechte zijde ...
»Ja, ja«, unterbrach sich Mynheer van Streef, »das ist denn freilich etwas griechischer, als diese helikonische Knüppeldammwirtschaft.« Er summte sacht in seinem Vondel weiter.
Sebulon hatte unterdessen die Reiseteemaschine, welche sein Herr überall mit hinnahm, aus dem Mantelsacke hervorgeholt, Feuer angezündet, Wasser aus der Hippokrene geschöpft, es gekocht und grünen Tee aufgeschüttet. Als das unentbehrliche Getränk bereitet war, reichte er seinem Herrn eine Tasse.
[334] Mynheer van Streef führte sie so langsam und mürrisch zum Munde, wie er in allen seinen Bewegungen bisher gewesen war. Er kostete und kostete, die schlaffen Lippen zogen sich ein wenig zusammen, dann schluckte er bedächtig den Inhalt der Tasse hinunter, und sagte; »Sebulon noch eine.« – Sebulon sah seinen Herrn bedenklich an und schüttelte den Kopf. Die zweite Tasse trank Mynheer van Streef, ohne zu kosten, aus. Seine Augen bekamen während des Trinkens eine Art von Glanz und er sagte: »Sebulon noch eine.« – Sebulon reichte ihm zitternd und eine große Unruhe in seinen Zügen die dritte Tasse. Diese stürzte Mynheer van Streef beinahe hastig hinunter und darauf sah er fast gen Himmel.
»Ach, Mynheer!« rief der Diener besorgt, »was ist Euch widerfahren? Sonst braucht Ihr ja auf drei Tassen Tee drei Viertelstunden, und hier geht es wie mit Extrapost in den Magen.«
Der alte Holländer sah sehr nachdenklich aus und sagte endlich nach langem Schweigen: »Sebulon, dieser Tee hier schmeckt mir besser als der auf meinem Landhause Welgelegen eine Stunde von Amsterdam.«
Da raufte der treue Diener sein Haar, weinte und schrie: »O wehe mir, wehe! Mynheer van Streef ist auf diesem nichtswürdigen Berge toll geworden; sein Tee schmeckt ihm dahaußen besser als daheim; er lobt die Fremde auf Kosten von Altniederland, er ist abgefallen von Oranjeboven und Altniederland.«
»Sebulon erhitze dich nicht«, sagte der Herr gleichmütig und freundlich. »Ich habe meinen Verstand nicht verloren. Weißt du, was Schwärmerei bedeutet? Es ist der Zustand, worin sich der Hanswurst von Franzosen, und der Bull von Engländer oft befindet, und der deutsche Muff fast immer, Altniederland aber niemals. Die Sache sollte aber zur Probe auch einmal an uns kommen, denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Ich liefere die Probe. Ich schwärme, Sebulon, das ist das Ganze. In dem Tee muß etwas sein; ich bin von dem Tee ein Schwärmer geworden, denn ich muß es noch einmal sagen; er schmeckt wahrhaftig besser, als der auf meinem Landgute Welgelegen. Es wird aber schon wieder vergehen.«
[335] Nur mit Mühe gelang es dem schwärmerischen Holländer, seinen Diener zu beruhigen. Am meisten wirkte dazu die Versicherung, daß aller Wahrscheinlichkeit nach dieser exaltierte Zustand eine rettende Krise seines Übels sei, daß die Wassersucht durch die Schwärmerei eine Stopfung erhalten habe. Der alte Schwärmer stand auf und schickte sich zum Rückwege an, Sebulon packte das Teegerät zusammen. Mynheer van Streef sah sich um und sagte: »Ich möchte wohl ein Angedenken an diesen ziemlich erträglichen Platz und an die schöne Stunde, in welcher mir der Tee so wohl schmeckte, mitnehmen, ein Erinnerungszeichen an die hiesige Schwärmerei.« – »Was sollen wir mitnehmen?« versetzte Sebulon noch immer ziemlich kleinlaut, »wir können doch nicht die Boompges (er meinte die Lorbeeren) oder die großen Klinker (er meinte die Klippen) einpacken.« – In diesem Augenblicke sah er mich, der ich hinter einem Felsen den schwärmerischen Auftritt belauscht hatte, zog mich hervor und rief: »Was für eine Kreatur ist das?« Der schwärmerische Holländer besah mich, und sagte dann langsam: »Wirf dem Vieh einen Strick um den Hals, Sebulon. Das will ich mitnehmen als Angedenken an diese schöne Stunde. Es scheint zu einer unbekannten Tierart zu gehören; Mynheer de Jonghe, der in Batavia gewesen ist, soll mir sagen, ob sie auch auf Java vorkommt.«
Was sollte ich machen? Ein Entrinnen war nicht möglich, auch muß ich bekennen, daß die Reste der Menschheit in mir einige Freude darüber empfanden, wieder unter ihresgleichen zu kommen; obgleich eine geheime düstere Ahnung mir zuflüsterte, daß die Schwärmerei des Holländers mir drückend werden könne. – Ich ließ mir das Fangseil geduldig um den Hals schlingen und verließ mit meinem neuen Herrn, der sacht voranritt, und Sebulon, der mich am Stricke hinter sich her führte, den Berg, auf welchem mir so vieles begegnet war. Vor unserem Abmarsche hatte Sebulon die Kantinen, die zu beiden Seiten des Pferdes hingen, mit Wasser der Hippokrene füllen müssen zu einem nochmaligen Tee auf dem Landhause Welgelegen.
Am Fuße des Berges war Mynheer van Streef schon wieder ebenso verdrießlich, wie vorher, und diese Stimmung blieb ihm [336] auch während der ganzen Reise. Wir setzten dieselbe, nachdem wir in ebnere Gegenden gekommen waren, zu Wagen fort, d.h. Herr und Diener saßen im Wagen, und ich lief nebenher – ihr mögt mir es glauben oder nicht, es liegt mir nichts daran, aber wahr muß wahr bleiben – ich habe die paar hundert Meilen zu Fuß zurückgelegt, ausgenommen eine kurze Strecke des Adriatischen Meers, die wir auf einer sklawonischen Schebecke durchschnitten. Ja, neben holländischen Schwärmern läßt sich schon zu Fuß fortkommen!
Bald genug aber sehnte ich mich auf den Helikon zurück. Denn die Herrschaft von Altniederland ist die härteste, die es gibt. Ich wurde behandelt wie eine Kolonie, für mein Futter mußte ich selbst sorgen, auf der sklawonischen Schebecke bekam ich, Gott verdamme mich, nichts zu genießen als den Duft von Hyazinthenzwiebeln, die Mynheer van Streef gekauft hatte, und welche neben meinem Verschlage lagen. Dazu die Einseitigkeit einer Reise nach dem Bleistiftstrich! Denn nach diesem machte mein Herr auch seine Rückfahrt. Die meisten Merkwürdigkeiten der Örter lernt man oft nur zur Hälfte kennen. So z.B. habe ich in Frankfurt das Inkompetenzgebäude nicht zu sehen bekommen, weil unser Strich durch die Judengasse ging.
Nun, diese Unannehmlichkeiten hatten zuletzt auch ein Ende. Wir trafen in Amsterdam und eine Stunde später auf dem Landhause Welgelegen ein. Bei dem Anblicke des Kanals, der ebenen Wiese, der zwölf Windmühlen, endlich bei dem Anblicke seines stillen Hauses mit den herabgelassenen Fenstervorhängen, mit dem buntgepflasterten Hofe, mit der Voliere aus vergoldetem Draht und mit dem grünen, eingezäunten Flecke, auf welchem Gold- und Silberfasanen nebst anderem Getier spazierengingen, vergoß Mynheer van Streef zwei runde Tränen und sagte zu Sebulon: »O Welgelegen!« weiter aber nichts. Sebulon schluchzte, beugte sich vor dem Tore zur Erde, gleichsam um sie zu küssen und versetzte: »Welgelegen ist Welgelegen, Mynheer van Streef.« In der Pforte standen sechs nordholländische Mägde mit goldenen Blechen in den Haaren, alle weiß und rund und sauber gekleidet, daß sie glänzten. Sie machten einen Knicks, küßten ihrem Herrn die [337] Hand und sagten: »Viel Glück und Heil zur Rückkunft, Mynheer.« Ihren Kreis trennte ein kleiner Mann, roten Antlitzes, aber ganz weiß und ehrwürdig eingepudert, schüttelte dem Heimkehrenden die Hand und sprach: »Ich habe davon erfahren, daß Ihr heute kommen würdet, da wollte ich gleich zusehen, ob die Kur angeschlagen habe.« – »Doktor, ich schwärmte auf dem Helikon, danach wurde mir besser, und ich bin völlig hergestellt«, versetzte der Patient. Der Doktor hatte ihn inzwischen prüfend beschaut und erwiderte kaltblütig: »Nein, Mynheer van Streef, Ihr seid noch ebenso krank, als da Ihr abreistet, Ihr müßt deshalb von neuem auf Reisen gehen, sonst sterbt Ihr dann und dann.« Er nannte den Todestag.
Hier aber sah und hörte ich, wenn ich früher holländische Schwärmerei kennengelernt hatte, was holländische Wut heißen wolle. Denn das Gesicht von Mynheer van Streef wurde graubraun, die Stirnadern schwollen an, daß sie Baumwurzeln glichen, und er goß über den Doktor eine solche Flut von Scheltreden aus, daß ich über den Reichtum der Landessprache in derartigen Wendungen erstaunen mußte. Der Doktor seinerseits fühlte auch in sich eine niederländische Begeisterung erwachen und schimpfte den Patienten aus, Sebulon schimpfte auf den Doktor, die erste Nordholländerin schimpfte auf Sebulon, daß er sich in den Streit der Herren mische, die zweite auf die erste, daß sie auf Sebulon schimpfe, die dritte auf die zweite, daß sie auf die erste schimpfe, die vierte auf die dritte, daß sie auf die zweite schimpfe, die fünfte auf Sebulon, die erste, zweite, dritte und vierte insgesamt, die sechste schimpfte auf niemand insbesondere, sondern im allgemeinen. Es erinnerte mich dieses verwickelte Schimpfgemälde durchaus an den gegenwärtigen Zustand der deutschen Tagesliteratur.
Auf so laute und stürmische Weise ging der Empfang des schwärmerischen Holländers in der Hofespforte seines stillen Landhauses vor sich. Die Goldfasanen, die Silberfasanen und einige indianische Raben der Voliere schrieen in das allgemeine Geschrei auch hinein, und Gott weiß, ob nicht noch Tätlichkeiten das Fest gekrönt haben würden, wenn nicht plötzlich[338] in der Entfernung das reitende Jägerchen, und hinter ihm am Seile vom Pferde gezogen, das braune Nationalfahrzeug sichtbar geworden wäre. Bei diesem Anblicke ebneten sich die zornigen Wellen, aller Antlitz begann friedlich und freundlich zu leuchten, und wie aus einem Munde riefen Doktor, Patient, Sebulon und sechs Nordholländerinnen: »Die fünfte Schuite!« – »Kommt aber heute zwei Minuten zu spät«, setzte Mynheer van Streef hinzu, indem er auf seine Uhr sah. – Er ging freundlich in sein Landhaus; der Doktor bestieg besänftiget die Schuite nach Amsterdam.
So schlichtete der Anblick der fünften Schuite von Haarlem diese niederländischen Wirren. Ich war, als gehöre ich zur Familie, meinem Herrn bis auf den Hausflur gefolgt, aber eine Magd trieb mich ziemlich unsanft von den Stiegen und fing sogleich an, heftig nachzuscheuern, wo ich gestanden hatte, obgleich ich mir selbst das Zeugnis geben muß, daß ich mich sehr anständig auf dem Flure von Welgelegen benommen habe. Sebulon sperrte mich auf einem der grünen Plätze zu den Gold- und Silberfasanen ein, d.h. ich kam nicht zu diesem Gefieder unmittelbar, sondern erhielt einen eigenen kleinen Abschlag, wie denn auch jeder Goldfasan und jeder Silberfasan seinen besonders abgesteckten und eingefriedigten Platz hatte, vermutlich, weil Mynheer van Streef selbst bei den Tieren holländische Neigungen voraussetzte. Ich fand ziemlich gute Weide, wenn auch nicht so aromatische Kräuter, wie am Helikon, fraß mich endlich einmal in Muße wieder satt und verschlief den meisten Teil der folgenden Tage aus übergroßer Ermüdung von dem langen Reisewege. Erst etwa eine Woche später bekam ich sonach die Fähigkeit wieder, aufzumerken, über meine Umgebung und mich nachzudenken.
Als dieser Zeitpunkt eingetreten war, habe ich die Lebensweise eines holländischen Rentenierers, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, gründlich kennenlernen. Denn mein Weide- und Wohnplatz lag hart unter den Fenstern des Lusthäuschens, welches durch den Hof von dem Haupthause getrennt, dem Herrn des Landhauses zu seinem täglichen Vergnügungsorte diente, es mochte Sonnenschein oder Nebel, Sturm oder Regen sein. Sebulon hatte mir einen Felsen von[339] Klinkern etwa vier Fuß hoch aufgebaut, welcher Klein-Helikon genannt wurde. Auf diesen kletterte ich häufig und konnte von ihm aus alles sehen, was in dem Lusthäuschen vorging, das meiste auch hören, was darin gesprochen wurde, da die Fenster, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht war, nach der Menagerieseite zu, offen zu stehen pflegten. Nach der Kanalseite aber waren sie stets geschlossen und auch verhängt bis auf eine kleine, zur Beobachtung der Treckschuiten notwendige Öffnung.
Des Morgens um acht Uhr kam Mynheer van Streef regelmäßig in sein Lusthaus gegangen. Er trug dann seinen Frühanzug von zeisiggrünem Kamelott und eine rote Mappe unter dem Arme. Mit der Pfeife und dem Teegeräte folgte ihm die erste Magd, denn zu Hause ließ er sich nur von den Frauenzimmern bedienen, Sebulon war nur auf der Reise zum Diener erhöht worden, in dem Landhause Welgelegen hatte er seine Stellung als Haus- oder Gartenknecht wieder eingenommen. Mynheer van Streef trank nun seinen Tee, nicht rasch, wie auf dem Helikon, sondern wirklich, wie Sebulon gesagt hatte, die Tasse in einer Viertelstunde, wozu er langsam den Rauch aus der angezündeten Pfeife blies und in geregelten Zeitabschnitten wechselweise mit starrem Blicke nach dem Kanal und nach uns, seiner Menagerie, aussah. Sonst nahm er während dieser Zeit nichts vor, denn er war der Meinung, daß jedes Geschäft für sich betrieben werden müsse. Nach dem Frühstücksgeschäfte schickte er sich zu dem zweiten an, nämlich den Text seiner Kansbilletts, die er in der roten Mappe verwahrte, Stück vor Stück, obgleich derartige Schriftwerke bekanntlich gleich lauten, nachzulesen. An den Zinstagen gesellte sich dazu die Arbeit, die Coupons abzuschneiden. Diese Mühen pflegten die zwölfte Tagesstunde heranzubringen. Dann erschien ein Diener aus dem Landhause Schoone Zicht und einer aus der Vrouw Elizabeth, brachte einen höflichen Gruß von Mynheer de Jonghe und Mynheer van Toll und die Anfrage ihrer Herrn: Wie Mynheer van Streef geschlafen habe und sich befinde? Mynheer van Streef antwortete nach langer Überlegung jeden Tag dasselbe; daß die Nacht ziemlich ruhig gewesen sei, und das Befinden, Gott sei Dank, sich leidlich [340] verhalte. Wenn diese Boten abgefertigt waren, wurde Sebulon geklingelt und nach der Schoonen Zieht und der Vrouw Elizabeth entsendet mit höflichem Gruße von Mynheer van Streef an Mynheer de Jonghe und Mynheer van Toll und seinerseitiger Anfrage, wie diese beiden Herren geschlafen hätten und sich befänden?
Nach vorgedachten Anstrengungen wurde zur Herstellung der erschöpften Lebenskraft wieder Tee getrunken, geraucht und die Meldung des zurückkehrenden Sebulon entgegengenommen. Darauf ging Mynheer van Streef in das Haupthaus, kam angekleidet zurück in den Hof, stellte sich vor die Voliere und demnächst vor jeden Abschlag der Menagerie, sah die Einwohnerschaft der Voliere und dann jedes von uns eine geraume Zeit lang bedächtig an, schüttelte auf jeder dieser Stationen das Haupt und sagte, sooft er schüttelte: »Unvernünftige Tiere!« – Dieses tat er jeden Tag, auch wenn es regnete, Sebulon hielt ihm dann nur während dieser geringschätzigen Betrachtungen den Regenschirm über.
Waren die Allokutionen an die Voliere und Menagerie geendiget, so ging er wieder in das Haupthaus und speiste, es mochte dann etwa vier Uhr nachmittags sein, zu Mittag; hielt darauf seine Mittagsruhe und kehrte, abermals eine Mappe unter dem Arme, jetzt aber eine grüne, sechs Uhr abends in das Lusthaus zurück. Er trank nunmehr seinen dritten Tee, rauchte, wie sich von selbst versteht, abermals dazu und las dann Amsterdamer Stadtobligationen, die er in der grünen Mappe verwahrte. Darüber pflegte es dunkel zu werden; Mynheer van Streef klappte gähnend die Mappe zu, sah noch einmal nach dem Kanal, verließ hierauf das Lusthaus und zog sich in das Haupthaus zurück. Sobald es völlig dunkel war, schloß Sebulon die Pforte; die Lichter, welche in den Fenstern des Hauses eine kurze Zeit lang leuchteten, erloschen allgemach – ein Zeichen, daß Herr und Dienerschaft in ihren Betten von den Anstrengungen des Tages ausruhten. Das tiefste Schweigen und die lautloseste Stille senkten sich auf Welgelegen herab.
Ich habe unter den Beschäftigungen des Tages anzumerken vergessen, daß Mynheer van Streef auch den Ankunftsaugenblick [341] jeder der sechs Schuiten, welche täglich von Haarlem nach Amsterdam vorüberfuhren, auf einer schwarzen Tafel, welche im Lusthäuschen hing, zu notieren pflegte, und aus den Unterschieden wöchentlich eine mittlere Zeit herausrechnete. Ich hörte ihn zuweilen sagen, es sei sein größter Kummer, daß diese Mittelzeiten nie stimmen wollten, auch wenn er sie auf Monate, ja selbst Jahre schlüge, und daß daher die rechte mittlere Ankunftszeit einer Treckschuite noch immer ein unlösbares Rätsel wäre.
So ging ein Tag wie der andere hin.
»O Herr!« seufzte ich bei diesem niederländischen Leben in Freude und Rast oft (denn ich bediente mich bei meinen Ausrufungen nun nicht mehr der Mythologie) »was für eine Langeweile! Steht denn mein Herr nur eine Stufe über dem Faultier und nicht tief unter dem Elefanten, dem stolz-empfindlichen Rosse, dem rührigen Hunde, obschon er Kansbilletts und Amsterdamer Stadtobligationen liest? Und doch dünkt er sich was Rechtes, glaubt eine unsterbliche Seele zu besitzen, und doch behandelt der schwärmerische Barbar uns Tiere mit Verachtung!« – Es war natürlich, daß sich auf solchem Wege kein Verhältnis der Zuneigung zwischen mir und ihm entfalten konnte; dieser Holländer war nicht geeignet, Liebe zu erwecken. Ich drehte ihm daher auch immer den Rücken zu, wenn er vor meinen Verschlag trat. Um der Last der schrecklichen Langeweile von Welgelegen mich zu entziehen, suchte ich mit meinen Nachbarn in der Menagerie Umgang anzuknüpfen. Ich hatte recht leidliche Leute zu Nachbarn, links einen Goldfasan und rechts einen Silberfasan, hinter mir ein paar Schildkröten in einem großen Sandkasten und einen jungen Biber, dessen Schwanz in Wasser hing. Es wäre mir interessant gewesen, mit so Vögeln, Amphibien und amphibienartigen Geschöpfen auch einmal meine Ideen auszutauschen, aber dazu wollte sich hier keine Gelegenheit finden. Diese Partikuliers waren von dem geistigen Drucke, der über Welgelegen lastete, so gebeugt, daß alle meine Versuche, ihnen näherzutreten, mein herzliches Meckern und so mancher treugemeinte Bockssprung keinen Anklang fanden. Die Fasanen lagen meistens, den Kopf unter die Flügel gesteckt, dumpf hinbrütend da, die Schildkröten [342] zogen sich, sobald sie sich an ihrem Kohle satt geknabbert hatten, unter ihr Schild zurück, der Biber hatte für nichts Sinn als für das kalte Wasser um seinen Schweif.
Meine Pein zu schärfen diente die berufene holländische Reinlichkeit. Es wurde nämlich auf uns Tiere eine besondere Kehrmagd gehalten, welche bei ihrem Mitgesinde Dreck-Griete hieß, weil ihr anbefohlen war, die äußerste Sauberkeit unserer Wohnstätten in Obacht zu nehmen. Sie brachte den Tag über in einer Art von Portierhäuschen am Eingange des Haupthauses zu und lugte beständig auf die Menagerie hinaus. Ließ nun ein Fasan eine Feder fallen, oder fiel sonst etwas vor, was nicht zu vermeiden stand – lieber Gott, man bleibt denn doch Tier! – alsobald schoß diese ihrem Berufe fanatisch ergebene Reinigungsperson, bewaffnet mit einem langen Borstbesen hervor, riß den betreffenden Verschlag auf und säuberte vermöge des Besens die Stelle. Meine Kollegen waren zu sehr Vieh, um sich hieraus etwas zu machen, aber in mir hatte der Mensch teil an dergleichen Verkommenheiten, in mir schämte sich der Mensch vor einer solchen Überwachung seiner eigensten und innersten Angelegenheiten. Ich war oft in der größten Verlegenheit zwischen Müssen und nicht Mögen, zwischen natürlichen Wünschen und der Furcht vor der auflauernden und schon zum konventionellen Borstbesen greifenden Dreck-Griete!
Die Langeweile – die Isolierung – die ewig drohende Kehrmagd – meine Lage wurde von Tage zu Tage fürchterlicher! Münchhausen war damals unglücklich, ganz unglücklich! Das Schicksal hatte mich zu hart angefaßt, ich war ein Opfer kalter Schwärmerei geworden; das ist das Schrecklichste, was es zwischen Himmel und Erde gibt.
Eine tragische Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Ich sann auf Selbstmord. Ich wollte die Natur zwingen; wie andere sich der Speise enthalten, wollte ich dem Borstbesen der Reinigungsperson sein Opfer unterschlagen – lange – für immer! – – Denn ich fühlte, daß, mit Heldenmut den Entschluß durchgeführt, der Organismus untergehen müsse. Diese Weise, zu enden, dünkte mich die erhabenste, reinste, sie kam mir neu und unnachahmlich vor.
[343] Ich hielt mich still für mich. Zwei Tage lang rastete das Türschloß meines Verschlages. Die Reinigungsperson umschlich mich unheimlich spähend. Ich dachte: »Schleich du; ich sterbe!«
Am dritten Tage ließ Mynheer van Streef die Späherin rufen und fragte sie, was mir fehle? ich stehe ja so verdrossen und ohrhängerig da? Griete berichtete dem Herrn, was sie wußte. – »So muß man abwarten, ob es sich bis morgen mit ihm bessert«, sprach mein fühlloser Gebieter, »und wenn das nicht geschieht, so gebt ihm -–« Er verordnete das schnelle und unwiderstehliche Mittel, gegen welches in solchen Fällen selbst der Heldenmut eines Cato sich fruchtlos stemmen würde.
»Nein, es ist zu viel!« meckerte ich ingrimmig und traurig zugleich; indem ich am Felsen Klein-Helikon niedersank und meine heiße Stirn wider diese Klinker stieß. »Nicht leben können, und nicht sterben dürfen!« – Ich sah schon im Geiste den Augenblick, der meinen Entschluß gewaltsam brechen würde, und das furchtbare Instrument in Grietens Hand, ich sah mich schon wieder schamrot, entwürdigt, in die alten Konflikte zurückgeworfen, denen meine freie Seele sich entronnen wähnte.
Ach, der nämliche Tag sollte mich noch etwas ganz anderes sehen lassen! Wie schwach steht es um die sogenannten großen Vorsätze! Bittere und demütigende Erfahrung, die ich an mir selber machte!
Mynheer van Streef empfing an diesem Tage einen Besuch von seinen Nachbarn de Jonghe und van Toll. Die Besitzer der drei Landhäuser Welgelegen, Schoone Zicht und Vrouw Elizabeth pflegten einander nur einmal im Jahre gegenseitig zu besuchen. Die Tage waren ein für allemal festgestellt, und sonst sahen einander die drei Holländer nicht, obgleich die Landhäuser kaum fünfhundert Schritte voneinander entfernt waren. Wenn sie zusammenkamen, so zeigte der Wirt seinen Gästen den Zuwachs vom letzten Jahre in dem, woran seine Seele hing. Mynheer van Toll hielt auf ein reiches Porzellankabinett, Mynheer de Jonghe auf eine Sammlung von Naturalien und Mynheer van Streef auf seine Menagerie am meisten.
[344]Nachdem die drei Freunde im Lusthäuschen Tee getrunken hatten, führte mein Gebieter seinen Besuch zu unsern Verschlägen und fragte de Jonghen, der, wie wir wissen, in Ostindien gewesen war, ob er eine Tiersorte, wie die meinige, auf Java kennengelernt habe. Schon bei dem ersten flüchtigen Überblicke, den mir der Naturaliensammler widmete, fingen seine Augen an zu glänzen, und seine farblosen Wangen wurden von einer leichten Röte überflogen. Ich mußte mich erheben, Mynheer de Jonghe betrachtete mich von allen Seiten, hob meine Pfoten, die noch nicht ganz vergessen hatten, Menschenarme zu bedeuten, auf, untersuchte mein Vlies, guckte mir in den Rachen, befühlte meinen Schädel.
Mynheer van Streef sah dieser Analyse mit dem ruhigen Stolze eines glücklichen Besitzers zu. Nach vielfältigem Anschauen und Tasten war Mynheer de Jonghe zu dem Bekenntnisse gedrungen: »Nein, diese Tiersorte kommt nicht auf Java vor. Ich glaubte anfangs, es sei der kleine gefleckte Hirsch, moose-deer, welchen man auf Ceylon findet, aber der Bau des Schädels widerspricht dieser Annahme. Der Schädel hat etwas vom Affen, der ganze übrige Leib gehört in das Ziegengeschlecht. Es hilft keine Menschenmacht dawider, wir müssen eine neue Spezies ernennen. Dieses Geschöpf, woran Ihr, Mynheer van Streef, eine gar große Seltenheit besitzt, muß der Bockaffe, capra simiae proxima, heißen.«
»Ich fand ihn«, versetzte Mynheer van Streef, »auf einem griechischen Platze, in einer unvergeßlichen Stunde. Sebulon, sage zur Gertruid, daß wir heute von dem Wasser, welches du in den Kantinen mitbrachtest, den dritten Tee trinken wollen, wofern es sich frischgehalten hat. Ich möchte sehen, wie es auf Mynheer van Toll und Mynheer de Jonghe wirkt.«
Er ging mit dem ersteren zu seinen Hyazinthen, welche die zweite Stelle in seinem Herzen einnahmen. Mynheer de Jonghe bat um die Erlaubnis, bei dem Bockaffen zurückbleiben zu dürfen. Als er sich mir gegenüber allein sah, sagte er: »Daß Mynheer van Streef dich, du einziges Exemplar, mir abläßt, ist nicht zu denken, die Dienerschaft wird nicht zu bestechen sein, folglich muß ich dich stehlen lassen.«
[345] Nach diesen unzweideutigen Worten kehrte mein Gebieter mit seinem zweiten Freunde von den Hyazinthen zurück. – »Wie ich Euch sagte, Mynheer van Streef« sprach Mynheer van Toll »es hält sich auf Vrouw Elizabeth seit einigen Tagen ein fremder Maler und Chemikus auf, der eine besondere Mischung der Farben entdeckt hat, wodurch auch auf dem Porzellan das vollkommene Helldunkel von Rembrandt sich erzielen läßt. Ich wollte durch ihn eine große Vase in dieser Manier malen lassen, und alle Anstalten des Glühens und Einbrennens sind auch schon gemacht, nur war ich über den Gegenstand noch verlegen, weil ich einen ganz neuen für die neue Manier zu haben wünschte. Gar gerne möchte ich nun den sogenannten Bockaffen in Helldunkel auf meiner Vase sehen, weil den gewiß noch niemand hat, und ich bitte Euch daher, daß Ihr mir die nachbarliche Gefälligkeit erzeigen wollet, meinem Chemikus diese Nacht den Zugang zur Menagerie zu verstatten. Er soll an dem Tiere bei Laternenlicht seine Studien machen und in dieser Beleuchtung eine Farbenskizze von ihm entwerfen.«
»Nein, Mynheer van Toll, das geht nicht an«, versetzte der Hausherr. »Die nächtliche Ruhe von Welgelegen darf unter keiner Bedingung gestört werden. Ihr könnet bei Tage dieses fremde Tier durch Euren Chemikus in Helldunkel abzeichnen lassen.« – Gertruid ging mit dem Teegeräte nach dem Lusthäuschen. – »Kommt hinein«, fuhr Mynheer van Streef fort, »ich will Euch, meine Freunde und Nachbarn eine neue Sorte Tee zu kosten geben.«
»Wieder also sollst du gestohlen werden!« dachte ich für mich. »Bist du denn so kostbar?« – Inzwischen war es im Lusthäuschen sehr lustig geworden, freilich nur auf niederländische Weise. Offenbar hatte das Wasser der Hippokrene durch die Reise seine Kraft nicht verloren. Die drei Freunde waren nach der ersten Tasse vom Teetische aufgestanden und gingen, phantastisch erregt, ohne sich umeinander zu bekümmern, im Stübchen auf und nieder. De Jonghe versuchte, während er ging, einen Pas aus der »Menuet à la Reine« zu bewerkstelligen, van Toll sang in einem sonderbaren Falsett das Nationallied, van Streef zog den Vorhang des Kanalfensters [346] auf, öffnete letzteres selbst und vergaß, die eben vorbeifahrende sechste Schuite am schwarzen Brette zu notieren.
Statt eines drei holländische Schwärmer! Wunderbares Wasser! Selbst eine Stunde von Amsterdam wirktest du Zeichen, obschon zu Tee verkocht! – Bald sollte die Schwärmerei wieder mich in ihre Kreise reißen, mich, den schicksalbezeichneten Helden der abenteuerlichsten Bildungsgeschichte, welche jemals die Erde sah. Van Toll trat an das Menageriefenster des Lusthäuschens und flüsterte hinunter: »Nach Mitternacht schicke ich den Chemikus mit einem Nachschlüssel her, dich abzureißen. Du sollst, und du sollst mir auf die Vase in Rembrandtschem Helldunkel!« – Er trat zurück, de Jonghe näherte sich hierauf dem Fenster und rief, mit einem sehnsüchtigen Blicke auf mich, halblaut hinaus:
»Stehlen lass' ich dich noch vor Mitternacht und dann auf der Stelle ausstopfen!«
»Ausstopfen!? – – Nein, nein, das geht in das Ungeheure! Du sublime au ridicule – –« Meine Sinne schwanden.
Als ich wieder zu mir selbst kam, stand Mynheer van Streef allein vor meinem Verschlage und Sebulon neben ihm. – »Sebulon«, sagte mein Gebieter, »der Besuch ist nun fort, und da kann also etwas geschehen, was sich vor Fremden nicht ziemt. Ich bin durch das Teetrinken wieder in die helikonische Stimmung gekommen. Ich möchte der ganzen Welt helfen und rasch! Sage der Griete, sie könne auf der Stelle mit dem fremden Tiere hier verrichten, was nach meinem früheren Befehle erst morgen vorgenommen werden sollte.«
»Wird wohl nicht mehr nötig tun«, versetzte Sebulon trocken. »Es scheint wieder munter zu sein, seht nur, Mynheer, welche lustige Sprünge es macht.«
Ach nein, es war nicht mehr nötig! – Die gräßliche Perspektive, ausgestopft zu werden, hatte mit einem Schlage alle selbstmörderischen Gedanken in mir vernichtet, mich dem Leben in jeder Beziehung wiedergegeben und die gewaltigste Lebenslust in mir angefacht. Ich sprang wie unsinnig im Verschlage umher, das nannte jener holländische Hausknecht Lustigkeit, ich stieß entsetzliche Töne aus, mich verständlich [347] zu machen, meinem Gebieter den Verlust seines Teuersten anzukündigen, darüber lachten die Blinden!
Sie gingen, es wurde dunkel, Sebulon schloß die Pforte. »Unglücklicher, lege auf die Mauer, über welche Mynheer de Jonghe seine Mordknechte steigen lassen wird, Selbstschüsse und Fußangeln! Durch die Pforte kommt höchstens der unschuldige Chemikus, euren armen kleinen Bockaffen im Helldunkel seiner harmlosen Laterne abzureißen!« schluchzte ich. »Wie wird er sich betrüben, der Getäuschte, wenn er statt seines Studienobjektes nur die leere Stätte findet! Jammer über dich Welgelegen, wenn du morgen erwachest, und dein Kleinod dir gestohlen siehst! Traure, traure, Vrouw Elizabeth, deine Vase bleibt unbemalt!
Warum kann der Chemikus nicht vor Mitternacht kommen, und die Bande de Jonghes nach Mitternacht? So würde der Chemikus noch bei Laternenlicht zeichnen, wenn die Bande anlangte, sie verscheuchen, und diese Nacht wäre wenigstens gewonnen. Zufall, Zufall, du betrunkener Würfelspieler! Tolles Rätsel des Daseins, grimmiger Wust chaotischer Verwirrung! O mein Vater, mein Vater, wo eilest du? Eile herbei, deinen dir so sauer gewordenen Wurm vor dem Letzten, Schrecklichsten zu erretten! Du bist wißbegierig und reisest viel, mein guter Vater, vielleicht besuchst du einmal auch das Kabinett von Mynheer de Jonghe, und welch ein Augenblick wird es dann sein, wenn du deinen unglücklichen Sohn vielleicht zwischen einer Fischotter und einem sibirischen Eichhorn siehst! – Zwar ich vergesse, wer ich bin, ich rede irre – du wirst mich nicht erkennen!
Ausgestopft zu werden! – Gedanke, der das Hirn sieden macht, und alle Sehnen krachen! Nichts als Balg zu sein und Werg! Aus gläsernen Augen dumm und starr zu schauen, und ewig den Draht in Rücken und Beinen zu fühlen, als einzigen haltenden Grundsatz! Neben sich nur Bälge zu haben, und diese ganze trockene Unsterblichkeit lediglich auf Kampfer und Spieköl gegründet!«
In solchen jämmerlichen Betrachtungen ging mir ein Teil jener merkwürdigsten Nacht meines Lebens hin. Ich fühlte zugleich, daß die äußerste Beängstigung in meinem Körper Folgen [348] hervorbrachte, denn ich konnte, da ich im Verlauf meines Kummers als Mensch mir vor die Stirn schlagen wollte, wunderbar genug, dies mit meinen Vorderbeinen bewerkstelligen, ich konnte an mein Fell fassen, und die Haare fielen ab, sowie ich sie nur berührte, endlich schien in meinem Antlitze ein förmliches Umziehen und Quartierverändern von Maul, Nase und Augen vor sich zu gehen, so rückten und knackten dort die Knochen. Aber auf alles dieses hatte ich weiter nicht acht, ganz verloren in die Furcht vor dem Ausstopfen.
Gegen Mittemacht Geräusch draußen vor der Mauer, Klimmen, Herabwerfen einer Strickleiter! Ein Kerl steigt an ihr nieder, tappt zwischen Biber und Schildkröte vorsichtig hindurch – – Ich sitze (denn ich vermochte auch schon wieder zu sitzen) stumm da, und raufe mir vollends alles Fell ab; seine rauhe Tatze ergreift mich – hui und davon mit mir über die Mauer! Ich hange schlotternd und an allen Gliedern gebrochen in seinen Armen. – »Was, zum Teufel, habe ich denn da gefaßt? Das ist ja kein –« murrt er, während er einige Schritte längst des Kanals nach dem Landhause Schoone Zicht zu macht. Ehe er zu Ende gesprochen, stürzt ihm ein Mann entgegen, ruft mit einer von der Tugend selbst gebildeten Stimme heftig: »Steh du Dieb, ich sah dich über die Mauer steigen!« und haut auf ihn mit einem Degen ein. Der Dieb – Sünde gibt keinen Mut – läßt mich fallen und läuft davon. Ich falle in den Kanal, jener unbezahlbare Retter springt, immer den Degen in der Faust, mir nach, holt mich heraus, ruft: »Wie, ein nacktes Kind?« und trägt mich, dem von diesen jähen Abwechselungen das Haupt schwindelt, zu einer Laterne hin, die etwa hundert Schritte von der Stelle am Kanale brannte. Bei dem Schimmer dieser Blendlaterne sehe ich meinem Retter in das Antlitz, und – wer faßt's, wer glaubt's, wer sagt's, was ich empfinde? – Es ist – – mein Vater, mein sogenannter Vater!
Was die Furcht und der Jammer nicht gekonnt, die Freude vollbringt es. Ich finde die Sprache wieder, und, zwar noch immer etwas meckernd, aber doch verständlich, ist: »Vater! Vater! Dein Kind!« mein erstes Wort. Mit heißen Tränen stürze ich an seine Brust, er erkennt mich, wie ich ihn erkannt, [349] und – doch schweige, Lippe! falle, Vorhang über diese unbeschreibliche Szene!
Stumm vor Rührung steckt er mich ohne weiteres wieder in seine linke Rocktasche. Darin finde ich ihn ganz. Alle lieben Erinnerungen gehen mir in jener Tasche auf; es ist noch ein Rest Frühstück darin; ich versuche, es zu essen. Es gelingt; ich kann wieder Brot und Wurst essen! Ich bin ein Mensch wieder, das gebildete Kind gebildeter Eltern! Aber wie ging das zu? Mein Vater trägt mich in das Lusthaus Vrouw Elisabeth. Er ist's ja, er ist der gute Chemikus, der sich dort aufgehalten, der mit dem Nachschlüssel zu mir kommen, mich nach Mitternacht bei Laternenlicht abreißen wollte, aber von einer unerklärlichen Unruhe getrieben (sein Vaterherz war's, das so stürmisch geklopft hatte!), vor Mitternacht sich aufmachte, einen Degen zu sich steckte, weil das Abenteuer immer einige Gefahr hatte, und so am Kanal Zeuge des Diebstahls wurde.
Wie ich diese ersten Erklärungen der wunderbaren Geschichte empfangen, ich weiß es nicht mehr zu sagen. Mein Vater stammelte nach der Tasche hinunter, worin ich saß, ich stammelte hinauf, wir begriffen uns durch Naturlaute. – »Aber warum machtest du nicht Lärmen, mein Vater, als du den Dieb über die Mauer steigen sahst?« fragte ich in einem ruhigen Augenblicke. – »O Sohn«, versetzte er, »um einen Menschen zu retten, haben sich wohl schon größere Unwahrscheinlichkeiten begeben müssen, als daß man einen Dieb erst einsteigen und dann wieder herauskommen läßt. – Du konntest nur gerettet werden, wenn diese Unwahrscheinlichkeit vorfiel, denn machte ich früher Lärmen, so erwachte das Landhaus Welgelegen, die Pforte wurde besetzt, du bliebst mir unsichtbar und in den Händen von Mynheer van Streef.« – Diese Antwort stellte mich vollkommen zufrieden.
Wir waren unter solchen und ähnlichen Gesprächen vor Vrouw Elizabeth angekommen; mein Vater zog die Klingel und weckte dadurch den Portier, der ihm sein Zimmer auftat. In der Helligkeit, welche durch Wachskerzen und Alabasterlampen hervorgebracht wurde, umarmten wir uns nun erst bei voller Muße. »Vater, wie sehe ich aus?« war meine erste Frage.
[350] »Abscheulich, mein Sohn«, versetzte er. »Deine Züge sind in einer wunderbaren Unordnung, es ist, als wären Nase, Mund und Augen bei dir berauscht gewesen und erwachten nun in Winkeln, wohin sie nicht gehören. Die Ohren müssen wir vor allen Dingen stutzen, sie haben sich etwas zu üppig gen Himmel erhoben, an den Extremitäten sind dir überflüssige Haarbüschel gewachsen, auch deine Sprache schmettert sonderbar; warst du etwa bei einem Trompeter in der Lehre? Du kommst mir vor wie eine durcheinandergeworfene Bibliothek oder Garderobe, die einzelnen Bestandteile deiner Totalität sind richtig vorhanden, aber es fehlt die Harmonie.«
»Alles nichts, mein Vater«, sagte ich, nachdem ich vor den Spiegel getreten war, und mich wieder so ziemlich menschlich gesehen hatte. – Er brannte, meine Geschichte zu vernehmen. Ich gab sie ihm in großen Umrissen. Er glaubte, ich habe geträumt. »Sieh mich an«, versetzte ich, »und sage dann noch einmal, daß dies Träume gewesen seien. Das letzte Wunder«, so schloß ich meinen Bericht, »war das größte. Hat man auch nur noch ein Fünkchen Humanität in sich, und soll man ausgestopft werden, so nimmt sich bei diesem Gedanken jenes Fünkchen zusammen und man restauriert sich von innen heraus. In den Tiefen von Angst, Grauen, Verzweiflung habe ich mich sozusagen als Menschen zum zweiten Male geboren und die Tierhülle durch Seelenkämpfe abgestreift.«
»Streife jetzt nur auch eine anständige Hülle über!« rief mein Vater, ging zu einer Kommode und holte daraus die weißen Pumphöschen, das rote Collet, den kleinen blechernen Säbel und den Turban hervor. Großer Gott! die Janitscharenkadettenuniform war auch da! »Wo fandest du sie?« fragte ich ihn. »Im griechischen Gebirge, welches ich nach dir verzweiflungsvoll, wie Ceres Proserpinen suchte, durchrannte«, antwortete er. »Ich fand die Stücke auf einem Felsenabhange und glaubte, daß dich ein Raubtier gefressen habe.« – »Aber mein Vater«, sagte ich, indem ich die Hosen anzog, »an den Kleidungsstücken war ja kein Blut, woher also dieser Glaube?« »Konnte dich das Raubtier nicht rein herausgefressen haben?« erwiderte er, etwas verstimmt über meine kritischen Zweifel. – Er mußte mir nun auch seine Geschichte erzählen. [351] Sie war einfach. Aus Schmerz über meinen Verlust hatte er, nachdem er jede Hoffnung aufgegeben, mich wiederzufinden, sich noch eifriger den chemischen und physikalischen Studien ergeben, wie früherhin, und unter anderem auch jenes Farbenbereitungsgeheimnis entdeckt, welches ihn dem Holländer van Toll so wert machte. In der Heimat litt ihn der Kummer nicht, er reiste durch die Lande Europas als düsterer, zerrissener Porzellanmaler. Unterweges traf er mehrere Kollegen. Durch die allerseltsamste Fügung brachte uns das Schicksal wieder zusammen. Er ging bei Nacht aus, einen Bock zu zeichnen und traf seinen Sohn.
Wir machten uns noch vor Tagesanbruch von Vrouw Elizabeth fort, denn mein Vater fühlte wohl, daß, da er dem Eigentümer das fremde Tier nicht auf die Vase liefern könne, seine Rolle im Landhause ausgespielt sei. Wir benutzten die erste Schuite nach Amsterdam, und dort die erste Gelegenheit nach Bodenwerder. Als wir im Wagen saßen, ich wie in den ersten Zeiten in der Tasche, fiel mir der Gedanke an Frau von Münchhausen, die Gemahlin meines Vaters, schwer auf das Herz. Ich teilte ihm die Besorgnis mit und setzte hinzu: »Wird so es uns nicht gehen, wie Mynheer van Streef, der in der Pforte seines Landhauses zum zweiten Male auf Reisen geschickt werden sollte?«
»Nein, mein Sohn«, erwiderte er, »die vortreffliche Frau ist bereits vor sechs Monden gestorben, von mir begraben und hinlänglich beweint worden.« – Ich zollte ihrem Andenken ebenfalls einige nachträgliche Zähren.
Auf Bodenwerder widmete sich mein Vater nun ganz dem Werke meiner Ausbildung. Denn obgleich ich, wie aus dem Verlaufe dieser Geschichte erhellt, schon als kleines Kind wie ein Buch sprach, so fehlte es doch meinem Wissen an Zusammenhang, der jetzt erzielt werden mußte. Einen Augenblick dachten wir daran – denn ich gab zu meinem Bildungswerke auch jederzeit meine Stimme – mich nach Lorinsers Ideen ohne Griechisch und Lateinisch bloß durch Haus- und Wirtschaftskenntnisse zum Manne zu machen, allein es entstand die Besorgnis, daß ich bei dieser Methode leicht wieder in meinen früheren Zustand versinken könnte, und es dann [352] vielleicht nicht einmal bis zum Bock, sondern nur bis zum Schöps brächte. Wir ließen also Lorinser Lorinser sein und mein Unterricht wurde in der Art geregelt, welche ich in einer meiner früheren Erzählungen zu schildern versucht habe.
Noch oft unterredeten wir uns über die Einzelheiten meiner außerordentlichen Geschichte. – »Sage mir nur, mein Sohn«, sprach mein Vater eines Tages, »welche historische Lehre ziehst du aus allen diesen unglaublichen Vorfällen?« – »Vater«, versetzte Münchhausen das Kind, »die Geschichte ist erhaben über alle Lehren. Willst du aber aus der meinigen durchaus einen Satz ziehen, so ist es die einfache Wahrheit, welche jeder Student fühlt – daß die Söhne auf die Taschen ihrer Väter angewiesen sind.«
Hier machte der alte Baron noch einen letzten Versuch, den Strom Münchhausens zu hemmen, denn seine Kräfte waren schon halb gebrochen. Der Freiherr hatte aber auch jetzt Rat und Stärke, ihm zu begegnen, denn ehe der Schloßherr seinen Spruch vorbringen konnte, war bereits das zweite Manuskript entfaltet und die Geschichte »von den Poltergeistern in und um Weinsberg« angefangen.
Als der Freiherr auch diese zu Ende gelesen hatte, schlief der alte Baron, erschöpft von den Anstrengungen der letzten vierundzwanzig Stunden und den ausgezeichnet albernen Erzählungen seines Gastes einen festen und gesunden Schlummer. Der Freiherr stellte sich triumphierend neben den Sessel des Schlafenden und rief mit gedämpfter Stimme: »Habe ich dich endlich unter mir, du alter Nachtschwärmer und Ruhestörer?
Übrigens ist meine Lage auf diesem Schlosse bedenklich geworden«, fuhr er ernsthaft fort. – »Theoretisch darf man den Leuten so viele Dinge, welche der Pöbel Lügen nennt, vorsagen, als man will, aber wehe dem, der ihnen etwas in den Kopf setzt, woran sich ihr Eigennutz heften kann! Sie glauben's, sie glauben's, und die Schüler treiben den Meister in die Enge. Ich fürchte, daß ich einen Fehler begangen habe, als ich die Luftverdichtungsaktienkompanie hier zur Sprache brachte, und der würde schlimmer sein, als ein Verbrechen.«
[353]