[107] Ghaselen

1.

In der ärmsten kleinen Geige liegt die Harmonie des Alls verborgen,
Liegt ekstatisch tiefstes Stöhnen, Jauchzen süßen Schalls verborgen;
In dem Stein am Wege liegt der Funke, der die Welt entzündet,
Liegt die Wucht des fürchterlichen, blitzesgleichen Pralls verborgen.
In dem Wort, dem abgegriffnen, liegt was mancher sinnend suchet:
Eine Wahrheit, mit der Klarheit leuchtenden Kristalls verborgen ...
Lockt die Töne, sucht die Wahrheit, werft den Stein mit Riesenkräften!
Unsern Blicken ist Vollkommnes seit dem Tag des Sündenfalls verborgen.

2.

Jede Seele, sie durchwandelt der Geschöpfe Stufenleiter:
Formentauschend, rein und reiner, immer höher, hell und heiter,
Lebt sie fort im Wurm, im Frosche, im Vampir, im niedern Sklaven,
Dann im Tänzer, im Poet, im Trunkenbold, im edlen Streiter ...
Sehet: eine gleiche Reihe Seelenhüllen, Truggestalten
Muß der Dichtergeist durchwandeln, stets verklärter, stets befreiter:
Und er war im Werden Gaukler, war Vampir und war Brahmane,
Leere Formen läßt er leblos und strebt höher, wahrer, weiter ...
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Aber wissend seines Werdens, hat er werdend auch erschaffen:
Hat Gestalten nachgebildet der durchlaufnen Wesensleiter:
Den Vampir, den niedern Sklaven, Gaukler, Trunkenbold und Streiter.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Ghaselen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-788E-1