6.

Noch eh' der Hügel grünt auf deinem Grab,
Eh' jener Kränze bleicher Schmuck vermodert,
Die man dir mitgab in die Nacht hinab,
Wie? all die Glut der Schmerzen schon verlodert?
Die Augen trocken, kühl der Herzen Schlag,
Als wäre nichts geschehn, was Tränen fordert?
O ihr, da er noch auf der Bahre lag,
An Jammer unersättlich, wie so eilig
Verleidet' euch das Leid der lust'ge Tag!
Im Wechsel euch betäuben müßt ihr freilich,
Denn an die eigne Flachheit mahnt euch bald
Ein jedes Wehgefühl, das tief und heilig.
Drum habt ihr eure Sprüchlein maunigfalt,
Daraus ihr lernt: ein Tor, wer nicht genieße
Des Augenblicks buntgaukelnde Gestalt,
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Vom Strom nicht trinke, der so rasch verfließe,
Versäumend eines Sonnenblickes Gunst,
Fruchtlosen Gram fest an den Busen schließe.
Carpe diem! – das sei die Lebenskunst;
Memento vivere! und nicht zum Heile
Dem lebenden Geschlecht sei Gräberdunst.
So geht denn hin und kehrt in schnöder Eile
Zu nicht'gem Tagwerk, das euch wichtig scheint,
Indes ich still bei meinem Toten weile.
Ich habe meinen Gram nicht ausgeweint,
Wie ihr, nicht aus den Augen ihn verschüttet;
Zu tief mit meinem Blut ist er vereint.
Nichts hab' ich mehr, das noch zur Not verkittet
Die Stücke des zerbrochnen Seins, als ihn,
Der ganz die Seele füllt, obschon zerrüttet.
Nicht will ich feige mir und ihm entfliehn,
Will heil'gen meines Schmerzes Feiertage,
Da mir der Andacht hohe Kraft verliehn.
Denn Frevel dünkt mich, daß man sich entschlage
Der Pflicht des Danks, mit Schmerzen die zu missen,
Die man geliebt mit innigem Herzensschlage.
Die frommen Alten lehrt' es ihr Gewissen,
Dem Gram sein Recht zu geben, wie der Freude,
Und das Volk Gottes hat sein Kleid zerrissen.
Nur ihr, die ihr der Selbstsucht Wahngebäude
Auftürmt, ihr nennt zu kostbar die Sekunde,
Die man an hoffnungsloses Weh vergeude.
O nun versteh ich, was mit stummem Munde
Du mir gesagt, mein Liebling, als mit Stöhnen
Und Schluchzen dich umgab die dichte Runde.
Dein Schweigen schien ihr Klaggeheul zu höhnen,
Als wüßtest du, der kärglichste Gewinn
Wird morgen sie mit dem Verlust versöhnen.
Die Augen, dunkel starrend vor sich hin,
Bekannten: Wohl mir, daß ich dieser Erde,
Die keine Treue kennt, entnommen bin!
So streng weltabgewandt war die Gebärde,
So kühl und stolz, es bangte mir fürwahr,
Als ob ich selbst von dir verachtet werde.
[211]
Nein, Liebling, mich nur aus der dumpfen Schar
Sollst du getreu und deiner wert erfinden;
Denn was dein Lächeln meinem Leben war,
Wird mit dem letzten Hauch nur mir entschwinden!

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Meinen Toten. Ernst. 6. [Noch eh' der Hügel grünt auf deinem Grab]. 6. [Noch eh' der Hügel grünt auf deinem Grab]. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-675C-B