12.

Ins Reich der Schatten führte mich der Traum.
Da sah ich unser liebes Kind sich nahn,
So still und blaß und ernst – ich kannt' es kaum.
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Die Arme streckt' ich aus, es zu umfahn,
Doch schüttelt' es die Locken schwer wie Blei,
Als hätt' ihm noch das Hälschen wehgetan.
Dann deutet' es, als ob es durstig sei,
Auf seine Lippen, und mit müdem Winken
Der beiden Ärmchen zog es mich herbei.
Kind, rief ich zu ihm eilend, willst du trinken?
Sieh hier den Quell, der meiner Brust entquillt,
Aus breiter Wunde strömend an der Linken. –
Da trank's; und als es seinen Durst gestillt,
Das blasse Mündlein mit dem Blute färbend,
Gewann es Sprache, seufzt' und sagte mild:
O lieber Vater, dem zuerst ich sterbend
So großes Leid gebracht und mehr noch bringe,
Die Lust am Licht der Sonne dir verderbend,
Sei doch getrost und wieder guter Dinge.
Ich schweb' hier unten freud- und kummerlos,
Der Nacht gewohnt, wie nächt'ge Schmetterlinge.
Das eine quält uns leichte Schatten bloß,
Daß ihr mit Tränen unser Grab betrauert,
Die zu uns dringen durch der Erde Schoß;
Daß Regenguß uns winterlich umschauert
Und unser Schattenleib von Frösteln bebt
Und fieberhaft am Lethestrome kauert.
Uns wird nur wohl, wenn ihr zu hemmen strebt
Den blut'gen Quell untröstlich bittrer Tränen
Und euer Auge rein zum Himmel hebt.
Denn wenn ihr mäß'ger, mit gefaßtem Sehnen
Der Toten denkt, so ist's, als fühlten wir
In warmem Schimmer unsern Leib sich dehnen.
Sieh nur, so manche Schatten wandeln hier
Von sanftem Zwielicht wundersam umflossen,
Verklärten Blicks im traurigen Revier.
Das sind die Seelen, deren Lichtgenossen
Mit steter Treue noch ihr Bild bewahren,
Doch ihre Tränen still ins Herz verschlossen.
So, Vater, wenn du nun hinaufgefahren,
Tu auch, und sage meinem Mütterlein – –
Da schwieg's, als dürf' es mehr nicht offenbaren.
[200]
O, rief ich, Kind, du mahnst uns, froh zu sein?
Bist du denn froh, seitdem du uns verlassen? –
Da winkt' es mit der Hand, als spräch' es: nein.
Und wie ich's wollt' in meine Arme fassen,
Schwand es gleich einem Rauch an mir vorbei;
Ich sah es nur noch lächeln und erblassen.
Da weckte mich der erste Hahnenschrei.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Meinen Toten. Marianne. 12. [Ins Reich der Schatten führte mich der Traum]. 12. [Ins Reich der Schatten führte mich der Traum]. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-66DB-4