Personen.
- Frau Nadja Bielew, geb. Lermontoff.
- Frau Generalin Lermontoff.
- Doktor Lenoir.
- Herr Bielew.
- Eine Schwester.
Personen.
Wollen Sie nicht ganz hereintreten und einen [121] Augenblick hier Platz nehmen, gnädige Frau? Oh, die Mutter!
Gütiger Himmel! Einen Augenblick lassen Sie mir noch Zeit. Ich muss mich erst eine Weile wieder zur Besinnung bringen ... Hier hat sie also gelebt? Hier hat also Nadja den Zusammenbruch erlebt? ... nach den fürchterlichen Ängsten, die wir haben durchmachen müssen um ihr Leben ... Ich bin ganz erschüttert ... Nun also ... vor eine neue Nadja hintreten oder vor die alte Nadja! ... Die qualvolle Unsicherheit der Erwartung bricht mir fast das Herz. Sagen Sie mir doch, liebe Schwester! Sie haben Nadja gepflegt? ... von dem ersten Tage an?
Sehr wohl, Frau Generalin! Gleich von dem [122] Tage an, als Frau Bielew hier im Hotel erkrankt war ... Wohl gleich, als sie von Russland hier angekommen war! ...
Ja ja ... als Nadja aus Russland fliehen gemusst ... um jeden Preis fliehen gemusst, und sie um jeden Preis nach Paris drängte, um dort ihrem leidenschaftlichen Hasse womöglich nur noch leidenschaftlicher weiter zu dienen ... der unabsehbaren Fata Morgana der Volksfreiheit weiter zu dienen, ihr junges Leben den grausamen Schicksalsforderungen des revolutionären Komitees noch vollends als Opfer hinzuwerfen ... Ach, du himmlischer Gott! wenn Sie wüssten! In solchen Zeiten, wie sie über unser Volk hereingebrochen sind, da werden Kindergemüter zu Feuerflammen ... Wir hätten sie schützen können ... jawohl ... wenn wir sie ganz und gar gefangen gehalten. Aber der Tag war gekommen, wo es mit dieser Einsicht zu spät war ... wo Nadja mit der roten Fahne des Aufruhrs den Haufen rachsüchtigen Volkes führte, und das Bild des Zaren vor aller Augen [123] mit Verwünschungen unter ihre zarten Füsse trat. Da sprühten ihre sanften Augen nur Hass. Sie zischte auf wie eine böse Schlange. Und nicht Vater noch Mutter, noch ihr Mann konnten irgend Gehör finden in ihrem gejagten Herzen.
Von Frau Bielew ... von Nadja Bielew, gebornen Lermontoff, meiner neunzehnjährigen, bleichen, engelsanften, geliebten Tochter.
Ja ja ... sie hat nun Sinn und Seele gefunden, wie sie oft sagt ... Ist es nicht das grosse Werk ... ja freilich, es ist das grosse Werk von Doktor Lenoir ... Oh Gott, tätig ist sie immer.
Sagen Sie nur ruhig, immer gewesen, schon mit zehn Jahren. Schon mit zehn Jahren hat dieser brennende Eifer angefangen, hat Nadja zu grübeln und zu arbeiten angefangen ... Und man hat ihr keine Hindernisse bereitet. Man hat sich einfach nicht um sie gekümmert. Das war der ganze Fehler ... Liebe Schwester, sprechen Sie doch! Wie ist sie jetzt? Ist sie sanft geworden, wie sie war?
Oh mein Gott, was für ein rätselhaftes Wesen [125] sie immer war! Schon als Kind konnte sie mit Leben und Tod spielen wie mit zwei goldenen Kugeln, konnte es ganz arglos und mit Lachen ... Aber sie konnte sich auch plötzlich zu etwas überwinden und sich ehern entscheiden ... Dann hatte sie eine heisse Flamme in der Seele brennen, die alles Ding und Wesen und Menschen und sich selber vor sich zu Schatten machte. Und wenn es in solchen Augenblicken um Mutter und Vater geschehen gewesen, hätte sie kaum mit den Brauen gezuckt. Wenn es um ihren Mann und ihre Kinder geschehen gewesen, würden nur ihre Augen flüchtig gesprochen haben –: »Was habe ich mit Euch zu schaffen?« und nichts weiter. Solche heissen Herzen haben eine Glut wie geweihte Fackelträger.
Sehen Sie! ... da ... nun glaube ich doch, dass sie es ist, die um die blühende Weide biegt und herkommt.
[126]I ... nein ... ein Herr in mittleren Jahren schon ... ein sehr kluger ... ein sehr unzugänglicher Mensch, der auch das Buch da geschrieben hat ... oh ... ein berühmter Gelehrter ... er hat nämlich bei uns auch krank darnieder gelegen ... aber er ist völlig in Genesung begriffen, wie Frau Nadja ... ein ganz abweisender Mensch ... ein bissel unausstehlich manchmal ... ich begreife Frau Nadja nicht, dass sie an ihm so hinaufsieht ... ein[127] alles verachtender ... alles bemäkelnder Herr ... ich als Schwester kann es ja ruhig sagen ... dem auch seine Pflegerin nichts rechttun kann ... Gott ... er mag wohl viele Enttäuschungen im Leben erfahren haben ... und er, hat auch gelebt ... sicherlich ...
Sagen Sie mir nur ... wer ist der dunkle, schlanke Herr, der mit ihr kommt, und von dem sie sich jetzt so hastig und zutraulich verabschiedet?
Sie ruft in den Garten. Nein nein, Frau Nadja! Niemand will sie stören. Machen Sie nur ja keine Umstände erst und kommen Sie .... rasch! ... rasch! ... ganz rasch!
Nadja ist völlig schmucklos, ganz einfach, aber anmutig gekleidet, ohne Hut, hat nur einen seidenen Shawl lässig um Schulter und Hüfte geschlungen, das Kleid ist fussfrei, kurz wie bei einem Mädchen, die Füsse in Sandalen. Sie hat einen Strauss Blumen in Händen. Noch auf der Terrasse ist sie prüfend stehen geblieben und kommt nur Schritt um Schritt zögernd bis zur Tür heran. Sie sagt kein Wort.
Liebe ... Schwester ... meine Mutter? ... Wie denn? Wartet Vater auch draussen? ... Wartet mein Mann auch draussen? ... Kommen sie alle wieder, um mich neu zur Gefangenen zu machen? ... Wollen mich die Augen meiner Mutter wieder mit Zorn anblitzen ... bis ich ganz demütig bin? ... Will Vater mich neu niederschreien mit seiner harten Stimme? ... Und der reiche, duldsame Mann mich anflehen, dass ich das Glanzstück seines Lebens bleiben soll!? ... Werden Sie mich wieder klein und erbärmlich machen vor mir selber? ... Schwester ... ich muss mich retten, Schwester!
Du sollst nicht weinen, Mutter! Ich will auch geduldig sein! Ich werde mir alles anhören! Ich werde kein Wort erwidern ... und alles, was ihr verlangen werdet ...
Nein nein ... gar nichts, Kind! Ich komme nicht, gleich etwas zu verlangen. Ich will dir nur erst wieder in die Augen sehen. Ich will nur erst deiner Seele wieder nahe kommen. Ich will erst wieder zu meiner kindlichen, heiteren Nadja kommen. Ich verlange einstweilen gar nichts von dir. Lass mich nur eine Weile stumm neben dir sitzen, wie früher ... und fühlen ... einmal endlich wieder ... dass du mein Kind bist, und ich deine Mutter bin.
Schwester! Lassen Sie meine Mutter ganz allein mit mir! Vielleicht ... ja ... ich habe doch viele unaussprechliche Qualen durchgemacht ... und aus all der Jagd und dem Fieber ist doch eine andere Nadja auferstanden. Wenn [131] wir jetzt ein paar Augenblicke ohne Worte allein wären, sodass wir unsern Atem und unsre Herzschläge heimlich hörten ... vielleicht, dass dann doch ein Frieden zwischen uns auftauchte.
...Ich hatte es Ihnen ja nie gesagt, Schwester, dass ich meine Mutter hasste, seitdem sie mich vorzeitig um Reichtum verkuppelte, und meinen Vater hasste, weil er mein Volk um seines Amtes willen verleugnete ... trotz der elenden Knechtschaft, in der es seufzt und die er so gut erkannte, wie ich und Millionen.
Ach Gott! Das war... das war ich alles früher einmal. Das ist längst untergegangen. Das soll nie wieder kommen. Ich bin aus den Fieberschrecken der Seele neu und klar aufgewacht. Ich habe ein Chaos durchlaufen ... dort in der Heimat ... hier in der Krankheit [132] ... darin es noch ungebundener nachtobte, wie Irrsinn ... Aber das ist alles wie ein Lärmschrecken verweht, dass die Seele sich plötzlich selber hörte ... Nun bin ich ein glücklicher Mensch geworden, Mutter! ... Nun will ich auch weinen ... an deinem Herzen, Mutter! ... Ich will den finsteren Rest Erinnerung, der noch ferne auftaucht, wegweinen ... an deinem Herzen! ... Oh, Mutter ... sieh mich ... jetzt bin ich endlich ganz genesen zu mir selber. Du kommst zu einem keuschen Menschen, zu einem einsamen ganz in der Stille ... der sich um nichts mehr auf die Gosse wirft! ... Du hast wieder nur eine Zärtliche vor dir ... All das Vergangene waren Alpträume ... Schauer, die allen Hass vollends in mir zerbrachen ... Fürchterliches! ... fort ist es! Ich habe mich heute draussen am See bekränzt, Mutter. Es ist Frühling draussen ...
Ich hatte immer nur den Kopf voll flammender Ideen ... nicht? Und den Mund voll flammender Worte. Ich wusste gar nichts anderes, als das gehetzte Volk weiter zu jagen ... und wähnte immer irgendwo etwas vor mir, wie ein [134] Reich voll Licht und Reinheit ... ein Dunstbild in der Ferne ... dorthin! ... dorthin! ... sollten sie alle getrieben werden! ... Den Widerstrebenden alle Verachtung ... Für die Schönheit der wirklichen Frühlinge und der stillen Sommernächte hatte ich ja nur die ewige Blindheit! ... Oh ... eine Jagd, die mir das Herz zerriss ... Ein Wahnbild aus Rauch, wofür der einzelne weggeworfen ist auf dem Wege ohne Erfüllung ... Nun beginne ich einen andern Traum zu ahnen. Nun beginne ich an die Fülle Leben zu glauben, die in mir ist ... Nun fühle ich mich emporgetragen, ich selber aus der eigenen Tiefe des Daseins ... voll Liebe ... auch zu dir, Mutter! ...
Wenn ich auch deine Worte nicht ganz verstehe, liebes Kind, so scheint mir doch das eine daraus klar, dass du endlich die furchtbare Krankheit deines politischen Fanatismus deutlich erkannt hast ... Dass du endlich deine [135] ideale Verstiegenheit von dir getan hast ... Dass du zum ersten Male mit dir selber beginnen willst ... Und das wäre doch eine Basis, auf der sich eine Zukunft errichten liesse! ... Wo hätte ich denn auf der Herfahrt an eine solche Fügung je zu denken gewagt! ... Ich bin ja doch in zitternder Sorge gleich vom Coupé aus hierher gehastet ... ich hatte wohl noch manch' andre Worte von früher gellend im Ohr, dass du eine geborene Revolutionärin wärst, und dass du keine tiefere Leidenschaft besässest, als deinen Kopf abzugeben, wenn dein Volk es verlangte. Robespierre spukte ja damals in deinem Kopfe.
Du musst aber jetzt auch hören, liebes Kind! Du kannst dir denken, wie mich die weite Reise tief ermüdet hat ... Und ich bin noch genug erschüttert, dass auch ich alle meine Kräfte zusammenraffe ... für dich ...
[136]Ich bin ja doch hierher gefahren mit der verzehrendsten Unruhe, endlich einen Weg für dich deutlich zu erkennen ... auch nur eine kleine Hoffnung für dich und uns ... deutlich zu erkennen! ... Du weisst ja doch sicher, wie es in den Deinen aussieht ... wie es um uns steht ... wie wir heimlich zittern und beben, dich um Gotteswillen nicht ganz von uns zu lassen, dich in unser schlichtes, friedliches Menschendasein neu zurück zu gewinnen ...
Wo hätte ich denn jemals an eine solche Wandlung denken können, an eine solche Milde und stillen, sanften Sinn. Es ist ja wie ein reiner Gottesfriede über dich gekommen, mein geliebtes Kind ... Du stehst ja da, wie ein [137] schüchternes Mädchen ... wirklich ... und ich beginne in meiner geängstigten Seele ... wirklich ... ach Gott ... noch in Petersburg damals ...
Nein nein, ich will von alledem nicht mehr reden. Ich will gar keine Erinnerungen weiter heraufbeschwören. Die Zerwürfnisse mit deinen Eltern und mit deinem Manne sollen jetzt nicht mehr zwischen uns stehen. Das Vergangene ...
Ja, du sollst es vergessen und begraben in dir! Deine Eltern haben dir voll verziehen. Deine Kinderchen rufen nach dir ... Dein sanfter Mann hatte ja doch immer nur Liebe und Güte, um nicht zu sagen Anbetung für dich. Er würde dich aus einem brennenden Hause herausgeholt haben ... Du kennst ihn ja ... [138] und wenn er dabei zehnmal selber zu Staub und Asche geworden wäre. Er hat dir deine verstiegenen Launen nie angerechnet ...
Dein guter Mann läuft die ganze Zeit unten [139] ruhelos auf dem Kiesplatz hin und her ... und wartet nur deines Winkes ...
Gut ... ich gehe, liebes Kind. Es ist durchaus besser, wenn wir dir jetzt Zeit lassen ... und du uns Zeit lässt. Ein jeder mag sich jetzt erst eine Weile hinstrecken, um sich von der ersten, furchtbaren Angst zu erholen.
Dein Mann und ich, wir sind unten in dem Hotel am Kurpark sehr gut untergekommen ... Nadja ... wenn ich deine sanfte Stimme höre ... wenn ich dich ansehe ...
[140]Habe ich noch den harten Blick und die scharfen Linien auf der Stirn und um die Mundwinkel, die der Enthusiasmus der Aufreizung in ein junges Gesicht bringt? Fange ich nicht wieder an, aufzublühen? Du sagtest doch selbst, ich erschiene dir, wie ein schüchternes Mädchen?
[141]Nadja Lermontoff hat jetzt eine Frühlingsblüte auf den Lippen und ein Lied in der Seele, ein Schwärmerlied ... zum ersten Male ...
Und wann willst du, Kind, dass wir wiederkommen, um uns endlich von einer besseren Zukunft zu unterhalten?
Kommen? ... wer? ... ach, nein nein ... für diese Nacht wäre es doch am Ende ganz zwecklos ... oder ... Gott ja, Mama ... komme nur du gegen die Dämmerung ... Nicht vor acht, Mama! ... Und wenn Herr Bielew wirklich auch noch daran dächte ... später [143] liegt der Garten in tiefem Frieden ... und das Herz wird gewappnet sein ... mit Güte, Mama ... mit eherner, klarer Güte! ... Adieu, Mama!
Ach, Mama, weisst du es nicht, dass ich das schon tat, als ich ein zehnjähriges Mädchen war! Es tat mir oft fast weh ... aber ich liebte diesen Schmerz.
Aber du sollst es jetzt nicht tun ... um alles in der Welt nicht ... denn ich will mich nicht neu zu fürchten beginnen ... ich will mit ruhiger Hoffnung von dir gehen.
»Ich will mit ruhiger Hoffnung von dir gehen!« Oh, ihr gütigen Geister! ... Diese Stunde muss über viel entscheiden ... muss über sehr viel entscheiden!
Ich muss wohl doch jetzt ein bissel für Ruhe sorgen ... Gott ... liebe Frau Nadja ... nur nicht so hastig ... nur nicht immer gleich ruhelos werden!
Hat es so den Anschein? ... Oh ... ich bin [145] es gar nicht ... ich bin durchaus nicht hastig ... ich bin sehr ruhig jetzt.
Nein nein, da haben Sie nur zu recht. Als Kind unterlag ich immer dieser Bewunderung ... Oh, eine Mutter ... dachte ich.
Und das war also Ihr lieber Mann ...? ... Und Ihre beiden Kinderchen sind doch gewiss auch mitgekommen?
Aber diese Blumen von Doktor Lenoir ... nein nein ... Sie sollen keine Blumen hier haben, wenn Sie schlafen. Der Duft erregt Ihre Nerven viel zu sehr.
Nein nein, Frau Nadja, hindern Sie mich nicht ... und ergeben Sie sich in,die Anordnungen, die der Arzt mit aller Bestimmtheit getroffen hat.
Nur reden Sie nicht immer dasselbe, wie ein [147] Papagei ... und gehen Sie endlich! ... Machen Sie nicht erst Verdriessliches weiter! ... Lassen Sie das Licht herein oder nicht herein ... Lassen Sie die Tür angelweit offen oder machen Sie sie unnütz zu, dass die weiche Luft nicht herein kann ... meinetwegen ... nur lassen Sie mich endlich, ohne dass Sie wie ein Wächter stehen!
Ich schliesse nur die Tür. Die Vorhänge will ich offen lassen. Es ist nicht gut, am Tage bei geschlossenen Vorhängen zu schlafen. Der Schlaf wird zu tief.
Da ... diese schnee-schneeweisse, reine Wolke ... kann so unermesslich frei hingehn in der blauen Luft ... ist ganz losgebunden ... Haben Sie einen Halt gefunden in diesem Leben, Schwester?
Ich ...? ... Fragen Sie mich ...? ... Mein Gott! wenn man so viel zu tun hat, wie [148] in diesem Hause ... Einen Halt? ... Wie meinen Sie das? ...
Ich, ich denke, es ist jetzt besser, dass Sie einen rechten Halt im Schlafe suchen. Denn wenn man richtig ausgeruht ist, dann hat man wieder frische Kräfte. Und das ist der beste Halt.
Nein, du ... es hat doch wohl nicht recht Sinn, wenn ich dir jetzt die so notwendige Ruhe störe ... Ich kommespäter ...
.. Oh, dass du kommst! ... Setze dich dort auf den Schreibstuhl ... ich werde hier liegen ... so können wir reden.
Ach, wenn ich nur reden könnte ... wenn ich nur alles sagen könnte, was ich fühle ... den grossen Schmerz, den ich in mir trage!
Nein nein ... davon will ich durchaus jetzt nichts wissen, wenn du bei mir bist ... Ich will nur jetzt einmal endlich eine Sache ganz deutlich fühlen ...
Ich will es jetzt nur einmal ganz deutlich fühlen, das glückselige Gefühl ... das Einzige, was ich je besass, noch besitze ... Glaubst du es mir nicht? ... Mein Leben war furchtbar ... vielleicht in der Einbildung ... aber auch im Wirklichen. Jedenfalls kannte ich in meiner Jugend keinen hellen Tag, kein Lachen ohne Schmerzen ... Ich lernte an allem zweifeln und an allen ... Wenn ich oft vom Tode spreche, so ist das kein Spass. Liebe in Nadja Lermontoffs Herzen einmal erkannt, einmal erlebt, ist ein A und O ... und nichts mehr ... Wenn [152] ich sie verlöre ... wenn ich sie einmal aufgeben müsste ...
Was aufgeben müsste? ... weil ich es nicht ganz so fühle, wie du es dir ausmalst ... weil ich ja doch ein Leben gelebt habe ... alles tausendmal erfahren habe ... und nicht mehr brenne und mich erhitze, liebes Kind? ... Aber warum aufgeben müsste? ...
Oh ... ich mag es nicht sprechen ... ich mag es nicht laut nennen ... Die lauten Worte verletzen meine Seele ... Und nicht fragen, nicht prüfen! ... Ich fürchte mich doch ... Ja ja ... das ist nun ein Unterschied ... die einstige Revolutionärin liebte den Tod ... und die Liebende will leben ...
Liebe Nadja, wir sollten durchaus nicht immer nur solche Gespräche führen ... ich bin gar nicht hier hereingekommen ...
Nein ... Du hast ganz recht ... man kann [153] es einander doch! nicht zeigen, was in unserm Blute brennt an wirklichem Feuer ...
Nein ... ich muss dir etwas erklären ... Es peinigt mich augenblicklich so sehr, dass du ewig nur von Eitelkeit redest ... Natürlich bin auch ich eitel ... eitel um mich ... eitel für deine Augen ... eitel für dein Herz ... aus Verlangen, zu blühen und zu leben ... eitel aus dem tiefsten Lebensdrange ... Ich war natürlich auch sonst eitel ... auch als Revolutionärin war ich eitel ... wenn du es eitel nennen willst, was mit Schwärmergefühl nach dem Tode buhlt ... denn der Trieb sich auf die eigenste Weise rein zu vollenden, vielleicht im Leben ... oder auch durch den Tod ... das ist Eitelkeit ... das magst du immer Eitelkeit nennen ... du ... Freund ... oder Geliebter ... sage es mir doch einmal, ob du mich allzu eitel findest?
[154]Der Tod quält ja doch die Menschen nur durch seine scheinbare Unlogik und Unkonsequenz. Aber in der Revolution bekommt der Tod den Glanz der grossen Freude, den Glanz des kühnen Opfers, den Glanz der Konsequenz. Er bekommt das Verlockende ... Nie kann der Tod Lebensziel sein ... ganz gewiss nicht ... Aber er wird zum letzten Massstabe unsres Lebensgefühls ... er wird zum erlösenden Ende der Tragödie ... er beleuchtet die grossen Visionen, um die Millionen Seelen sich immer wieder neu freudig opfern ... Eine Leidenschaft danach war immer in mir ... wie ein Durst der tragischen Vollendung brannte mich immer ... lag mir immer im Blute ... Das kann natürlich nur bei aktiven Menschen sein ... und bei solchen Menschen, die ein ganz eigenes Leben in ganz reiner Bestimmung nur einmal leben wollen ...
Ach, sei nicht böse, Geliebter, dass ich immerfort[155] von politischen Dingen spreche ... denn jetzt ist meine Seele von ganz anderem erfüllt und möchte gerne vergessen.
Eine solche heimlich-fröhlich sich streckende Flamme nach dem letzten seligen Ende ... eine solche Inbrunst zum Opfertode kann natürlich in Leuten wie Bismarck oder Napoleon nicht leben. Napoleon und Bismarck waren gar nicht politische Kämpfer ... politische Götter waren sie ... standen ausserhalb von Gut und Böse ... ausserhalb aller Idee von der Gerechtigkeit, die ihre Bestimmung nur im einzelnen Menschen findet. Sie waren die Schöpfer und Baumeister der grossen, politischen ... dieser grossen, unheimlichen Moloche, die das einzelne Leben in ihre Feuerarme drücken ohne gross zu fragen ... sehr ohne Rücksicht auf die Sehnsuchten der einzelnen Seele.
[156]Famos, Nadja! ... Das ist wirklich ein tiefer Lebensunterschied, den du damit kenntlich machst. Und vielleicht kann man sich das Wesen der Revolution gar nicht besser klar machen, als wenn man eine wahre Epidemie solcher Inbrunst im Durchschnitt eines Volkes annimmt, wie sie in deinem Blute lodert.
Huh ... ja ja ja ... so mag es wohl zu erklären sein. Aber das interessiert mich jetzt im Grunde gar nicht ... Du ... sieh mich an ... ich habe zwei Menschen in mir ...: einen ganz ganz alten ... einen immer trauernden Menschen ... einen, der in jeder Minute zehn Leben verlebte ... und einen lustigen Menschen, das Kind, das immer wieder neu geboren wird.
Ja ja ja ... das ist die liebende, leidende Nadja ... wenn man dein Feuerherz brennen [157] sieht ... Gott ....wirklich ... es könnte mich fast froh machen ... jedenfalls beneide ich dich ... Du hast noch allerhand solche Anbetung ... die dir heiss macht ... Du hast noch Leidenschaft ... du hast noch einen Glauben ...
Ja ... hab ihn nur ... ich hab ihn nicht mehr ... ich habe gar nichts mehr derart ... und muss auch weiter kommen
Nein, nein, nein, nein ... nur jetzt noch nicht davon, wenn du mich nicht auf einmal ganz verwirren willst!
Liebst du mich nicht? Sage die Wahrheit! Sage, so wie du denkst und fühlst! ... Ja! ... Ganz bestimmt ... in diesem Augenblick musst du es ganz bestimmt sagen ... Ich habe nie einen Mann geliebt ... nie einem Manne wahrhaft angehört ... ausser dir ... und in meiner Seele kann es nie eine Enttäuschung geben für dich!
Sonst bin ich nur eben eine ganz haltlose Seele. Ich habe mich auch; damals nur in Seelenangst hingeworfen, um meinem Leben einen reinen Sinn zu geben. Mein Geliebter, du hast über all die politischen Dinge tiefer als ich nachgedacht. Du kennst die Mächte, die ein Volk heissen, das Durcheinander, die Gewalten, die [159] nicht gut und nicht böse sind. Nur unbarmherzig. Nur ehern. Darin die volle Seele zerrinnen muss, wie ein flüchtiger Tropfen in einem Schwalle .... Jetzt bin ich heissen Lebens. Ich möchte nicht ziellos verlöschen. Ich möchte brennen. Ich möchte Ich sein, weil ich ganz nur du bin. Den Glauben an die grossen, potentatischen Worte hast du mir geraubt. Ich will stumm sein und Leben fühlen. Ich brauche keinen Glauben mehr ... weil ich es lebe ... weil es dein Leben ist ...
Ja ... Nicht? ... Ich bin dir fast närrisch mit meinen Gefühlen. Ich weiss es ja ... Und ich sage dir doch ... ich will vergehen auf meinem einsamen Wege, wenn es nicht eine Macht gibt, die absolut ist, warm wie das Licht, klar wie der Himmel, einzig wie die Sonne, ein unverbrüchliches Geborgensein, wie keine Mutter ihr Kind bergen kann, weil sie es hinausgeben [160] muss, keine Blüte ihren Keim bergen kann, weil er ihr entwachsen muss. Nein, nicht entwachsen, nichts davon hinausgeben! Ganz es sein! Ganz es leben! Ein einziges Ich und Du, Du und Ich, das den Frühling weckt, und den Sommer lebt und den Tod ... Ein einiges Leben aus der Fülle und nichts zweites, das Du und Ich ist. Es muss da sein ... auch in dir. Es ist grenzenlos selig ... und es ist der Abgrund des Todes ohne das ...
Aber Nadja, du rennst doch immerfort hinter Träumen her. Zu was nur immer solche grüblerischen, quälenden Erörterungen, die dir bloss die Ruhe rauben ... Nun ... mein Gott ... ich sage dir ja, du kannst doch von einem Menschen, wie mir, nicht einen solchen Enthusiasmus der Liebe verlangen ... Du kannst doch von einem solchen Menschen, wie mir, nicht glauben, dass ihm sozusagen das Leben noch den Tod lohnte .... Aber warum nur immer solchen Phantomen nachjagen, die man [161] nicht greifen kann ... und alles so übertreiben? Man braucht doch nicht die Dinge gleich auf die äusserste Spitze zu stellen! ...
Dann erhebt sie sich, blickt das Kissen an, und sagt so vor sich hinstarrend. Meine Mutter ist heute gekommen.
Ja ... was ist es denn zunächst nur mit deiner Mutter? Ich begreife gar nicht ... warum [162] soll sie nicht kommen? Du bist doch kein kleines Kind mehr, das sich vor der Mutter fürchtet?
Wenn du die Seele dieses Briefes noch zusammen [163] bringst, vielleicht bringst du auch noch meine Seele zusammen.
Gehe nur im voraus in den Saal hinunter. Ich muss erst meine dumme Aufregung ganz in Ruhe bringen; ... Was soll da gross überlegt werden? ...
Ich brauch dich nichts mehr zu fragen. Ich weiss schon alles ... Adieu ... mein ... einziger ... Geliebter!
Nadja! ... Nimm es harmlos! Das Leben ist eine Harmlosigkeit. Es ist gar nichts dahinter. Man muss es leben, wie es kommt. Und nur ein wenig vernünftig sich halten. Tue mir den Gefallen, Nadja!
Dann erhebt sie sich, sieht sich um, und geht auf die Terrasse, um den Blumenstrauss herein zu tragen. Sie steht einen Augenblick unentschlossen damit an der Tür. Dann sagt sie vor sich hin. Nein ... hier auf der Chaiselongue nicht ... ich will mich lieber aufs Bett legen.
Es ist nichts anderes notwendig. Ich werde wie [166] ein liebendes Mädchen daliegen. Es entstellt gar nicht.
Nein nein ... auch das ist unnütz ... Worte können es nicht mehr tun ... Schmerzen will ich ihm nicht machen ... Adieu ... mein ... einziger Geliebter!
So etwas hatte auch immer Napoleon bei sich ... für den Fall, dass er zu sehr in die Enge käme ... Und ich habe ja Lenoir zum Abschied das Wort deutlich gesagt. Es wird ihm lange im Ohre klingen.
Kommen Sie nur hier herein, gnädige Frau Generalin. Sehen Sie, die Terrassentür ist nicht verschlossen. Und Sie warten gütigst eine Weile, wenn Frau Nadja noch beim Souper ist.
Ja ... ich dachte es mir schon ... dass sie noch beim Souper wäre ... Bitte, nehmen Sie doch Platz auf diesem Stuhl ... und Herr Bielew, wollen Sie nicht hier ...
Hier hat sie eben Notizen ... oder einen Brief zerrissen ... ich weiss nicht ... Gott ... es fällt plötzlich eine Aengstlichkeit über mich her ... obwohl ich durchaus gar keinen Grund wüsste ...
Nein ... sehen Sie nur ... sie schläft! ... Wie sie nur tief schläft ... und aussieht, wie ein liebliches Mädchen ...!
Nein nein ... sie ist aber so wunderbar still ... Das ist ja gar keine Schlummerruhe ... Das ist ja ein ganz rätselhafter Frieden, der aus diesem Mädchengesicht redet.
Gott Gott Gott ... Frau Generalin ... Frau Generalin! ... sie hat ja gar keinen Hauch Atem mehr ... das Herz von Frau Nadja Bielew steht ja ganz still!