295. St. Viti Gaben

Vom Kloster Corvey bei Höxter an der Weser gehen viele schöne Sagen. Das Kloster war dem heiligen Veit geweiht und hatte zwar arme, aber sehr fromme Mönche. Nur einmal im Jahre hielten sie ein Gastmahl, und das geschah am St. Vitustage, zu Ehren des Schutzpatrons, und war dennoch mäßig und beschränkt, denn die Einkünfte des Klosters waren gering. Einmal geschahe es, daß St. Vitustag, welches ist der 15. Juni, herankam und es leider dem Kloster fast an allem zu einem Festmahl Nötigen gebrach, an Fischen, an Wildbret und an Wein, nur Gemüse war vorhanden. Vergebens sannen die Mönche, wie sie ohne das Nötigste ihr Fest begehen sollten, siehe, da plätscherte es im Klosterbrunnen, und zwei große Karpfen schwammen darin, und auf dem Hofe stellten sich zwei prächtige Hirsche ein, die waren feist vor der eigentlichen Feistzeit. Das war eine Freude! Fast hätte der Bruder Klosterkoch getanzt. Und da kam mit strahlendem Gesicht der Bruder Kellermeister und trug zwei große Krüge, die er gefüllt hatte am Quell, der in der Kirche hinter dem Altar sprang, und verkündete, daß das Wasser dieses Quells in Wein verwandelt sei. Da nun die Kunde solcher hohen Wunder dem Abt angesagt war, so sprach dieser: Brüder, lasset uns in Demut und Dankbarkeit diese Gaben Gottes und unsers heiligen Schutzpatrones genießen. Es genüge uns aber an einem Hirsch und an einem Fisch, und jeder fülle sich nicht mehr als zwei Kannen Weines. Da ließen die Brüder ohne Widerrede den einen Hirsch ins Freie und den einen Fisch in die Weser und segneten im Herzen den guten Abt, daß er ihnen doch statt nur eines Krüglein Weines deren mindestens zwei erlaubt hatte, und hielten ihr Festmahl zu Ehren St. Viti in Eintracht und Liebe. Seitdem erneute sich diese Spende des Heiligen an jedem Jahrestage, und immer wurde also verfahren wie am ersten. Endlich aber starb der gute und fromme Abt und ward ein anderer erwählt, dessen Gott der Bauch und dessen Heiliger Herr Bacchus war, der bekannte brave Mann, und als St. Viti Jahrtag wieder kam, da ließ der Abt beide Hirsche schlachten und beide Fische und Weines die Fülle füllen und bezechte sich zu Ehren St. Viti weidlich. Und als wieder ein Jahrtag kam, da kam mit ihm weder Hirsch noch Fisch, und der Altarquell sprudelte nach wie vor recht klares frisches Wasser, und der Küchenmeister im Kloster Corvey hieß Bruder Schmalhans.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 295. St. Viti Gaben. 295. St. Viti Gaben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2A77-9