Die sieben Geißlein

Es ist einmal eine alte Geiß gewesen, die hatte sieben junge Zicklein, und wie sie einmal fort in den Wald wollte, hat sie gesagt: »Ihr lieben Zicklein, nehmt euch in acht vor dem Wolf und laßt ihn nicht herein, sonst seid ihr alle verloren.« Darnach ist sie fortgegangen.

In einer Weile rappelt was wieder an der Haustüre und ruft: »Macht auf, macht auf, liebe Kinder! Euer Mütterlein ist aus dem Wald gekommen!« Aber die sieben Geißlein erkannten's gleich an der groben Stimme, daß das ihr Mütterlein nicht war, und haben gerufen: »Unser Mütterlein hat keine so grobe Stimme!« Und haben nicht aufgemacht.

[215] Nach einer Weile rappelt's wieder an der Türe, und ruft ganz fein und leise: »Macht auf, macht auf, ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein ist aus dem Walde kommen!«

Aber die jungen Geißlein guckten durch die Türspalte, und haben ein Paar schwarze Füße gesehen, und gerufen: »Unser Mütterlein hat keine so schwarzen Füße!« Und haben nicht aufgemacht.

Wie das der Wolf, denn er war es, gehört hat, ist er geschwind hin in die Mühle gelaufen, und hat die Füße ins Mehl gesteckt, daß sie ganz weiß worden sind. Danach ist er wieder vor die Türe gekommen, hat die Füße zur Spalte hinein gesteckt, und hat wieder ganz leise gerufen: »Macht auf, macht auf ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein ist aus dem Walde kommen!«

Und wie die Geißlein die weißen Füße gesehen haben, und die leise Stimme gehört, da haben sie ja gemeint, ihr Mütterlein sei's, und haben geschwind aufgemacht. Aber kaum haben sie aufgemacht gehabt, so ist der Wolf hereingesprungen. Ach wie sind da die armen Geißlein erschrocken und haben sich verstecken wollen! eins ist unters Bett, eins unter den Tisch, eins hinter den Ofen, eins hinter einen Stuhl, eins hinter einen großen Milchtopf, und eins in den Uhrkasten gesprungen. Aber der Wolf hat sie alle gefunden und zusammengebracht. Hernach ist er fortgegangen, hat sich in den Garten unter einen Baum gelegt, und hat angefangen zu schlafen.

Wie hernach die alte Geiß aus dem Walde zurückgekommen ist, hat sie das Haus offen gefunden, und die Stube leer, da hat sie gleich gedacht, jetzt ist's nicht geheuer, und hat angefangen ihre lieben Zicklein zu suchen, sie hat sie aber nicht finden können, wo sie auch gesucht hat, und so laut sie auch gerufen hat, es hat keins Antwort gegeben. Endlich ist sie in den Garten gegangen, da hat der Wolf noch gelegen unterm Baum und hat geschlafen, und hat geschnarcht, daß alle Äste gezittert haben; und wie sie näher zu ihm gekommen ist, hat sie gesehen, daß etwas in seinem Bauch gezappelt hat. Da hatte sie eine Freude und dachte, ihre Geißlein leben wohl noch. Jetzt ist sie geschwind hinein ins Häuslein gesprungen, hat eine Schere geholt und hat dem Wolf den Bauch aufgeschnitten, da sind ihre sieben Geißlein eins nach dem andern heraus gesprungen, und haben alle noch gelebt. Darnach hat die Alte geschwind [216] sieben Wackelsteine 1 geholt, hat sie in den Wolf seinen Bauch gesteckt, und hat den wieder zugenäht.

Wie der Wolf munter wurde, hatte er Durst und ist an den Brunnen gegangen, um zu trinken, aber wie er einen Schritt gegangen ist, da haben die Wackelsteine in seinem Bauch angefangen, zusammen zu schlagen, und da hat er gesagt:


»Was rumpelt,
Was pumpelt
In meinem Bauch?
Ich hab gemeint, ich hab junge Geißlein drein,
Und jetzt sind's nichts als Wackelstein'!«

und wie nun der Wolf an den Brunnen gekommen ist, und hat trinken wollen, so haben ihn die Wackelsteine hineingezogen, und er ist ersoffen. Und die alte Geiß ist mit ihren Zicklein vor Freude um den Brunnen herumgetanzt.

Fußnoten

1 Wackelsteine, oder Wackersteine, rundliche Basalttrümmer.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Deutsches Märchenbuch. Die sieben Geißlein. Die sieben Geißlein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2722-E