[47] Lied des Herbstes.

I.

Bald tauchen fröstelnd wir ins kalte Dunkel nieder;
Lebt, schnelle Sommer, wohl, die unser Herz erhellt!
Ich höre schon, wie dumpf mit finstrem Schalle wieder
Das Holz erdröhnend auf der Höfe Pflaster fällt.
In meinen Busen kehrt des Winters herb Bedrängnis,
Zorn, Schauer, Schrecken, Haß und Arbeit, scharf und hart,
Gleichwie der Sonnenball in seinem Eisgefängnis
Ist bald mein Herz ein Block, blutfarben und erstarrt.
Erzitternd höre ich das Fallen aller Scheite;
Der Bau des Blutgerüsts tönt nicht so hoffnungslos.
Mir ist, als ob mein Geist ein Turm sei, der im Streite
Zertrümmert hinsinkt vor des Sturmbocks wuchtgem Stoß.
Gewiegt durch diesen Schall, eintönig und verschwommen,
Deucht mir, daß einen Sarg in großer Hast man baut ...
Für wen? – Der Sommer ging. Nun ist der Herbst gekommen!
Gleich einem Abschied tönt der rätselhafte Laut.

[48] II.

Wie sehr lieb, Schöne, ich den sanften, grünen Schimmer
Aus deinen Augen, doch scheint alles heut mir schwer,
Und nichts, nicht deine Lieb, der Herd nicht, noch dein Zimmer
Ist wie die Sonne mir, die leuchtet über Meer.
Und dennoch liebe mich mit mütterlicher Süße,
Mag ich auch undankbar und bösen Sinnes sein;
Lieb oder Schwester, sei der Duft der späten Grüße,
Ein Herbst in Strahlenpracht, ein müder Sonnenschein.
Bald ists getan. Schon harrt auf mich des Grabes Kühle!
O laß auf deinen Knien mein Haupt ruhn noch einmal
Und fühlen, trauernd um des weißen Sommers Schwüle,
Der späten Jahreszeit gesänftigt-goldnen Strahl!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Baudelaire, Charles. Lied des Herbstes. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-202F-0