Ludwig Aurbacher
Büchlein für die Jugend
Enthaltend die Legende von Placidus und seiner Familie, das Mährchen von Marien-Kind, die Volkssagen vom Untersberg, nebst vielen andern erbaulichen und ergötzlichen Historien.

[1] I. Ferien-Reise.

Die Familie hatte beschlossen, die ersten September-Tage, welche im südlichen Bayern, ungeachtet des sonst rauhen Klima's, gewöhnlich einen heitern, freundlichen Charakter annehmen, auf dem Lande und zwar im Gebirge zuzubringen. Man hatte die Gegend gewählt, welche in frühern Zeiten die GrafschaftWerdenfels geheißen, und die, wie wenige Landschaften, das Freundliche, Heimliche, Idyllische zugleich mit dem Grandiosen und Majestätischen der Natur vereiniget. In Garmisch, einem Orte, der, mitten im Thale wohl gelegen, die freie Räumlichkeit eines Dorfes und zugleich die Bequemlichkeit eines Städtchens darbietet, hatte ihnen ein Freund eine Wohnung besorgt, welche die zahlreiche Familie wohl aufnehmen konnte, dergestalt, daß die Frauen ihr Hauswesen selbst auf leichte und wohlfeile Weise zu besorgen vermochten. Man vermißte nur das [1] Angewohnte, Zierliche des heimischen Herdes, nicht aber das Bequeme, Naturgemäße.

Die ersten zwei, drei Tage hatte man in jener süßen Betäubung, in jenem träumerischen Zustande verlebt, den der Städter jederzeit erfährt, wenn er nach langer Zeit wieder einmal auf das Land, mitten in die freie, frohe Natur versetzt wird. Die mannichfachen, bunten Gestalten, die nahen Berge, die üppigen Wälder und Fluren, die entfesselten Bäche, das saftige Wiesengrün, frische Luft, freie Bewegung, heitere Muße – lauter Schönheiten und Genüsse, die, wenn auch früher schon und öfter erfahren, doch wieder in der Erinnerung erblaßt und untergegangen sind, – sie wecken den tauben Sinn, die schlummernde Seele zu plötzlichem Entzücken auf; man lebt ein neues Leben; man fühlt sich durchweg erfrischt, umgewandelt, beseligt. Den Tag über ergeht man sich in der freien, schönen Natur, und zerstreut sich an ihren Zerstreuungen, an ihren mannichfaltigen Reizen, und den Abend – wenn nicht eine wohlthuende Müdigkeit bald zur Ruhe einlädt – verplaudert man in kurzweiligen Gesprächen über das, was man den Tag über gesehen, genossen hat; oder man verliert sich wohl auch in Erinnerungen an die Heimath, an die Freunde in der Ferne, die man so gern sich herbei wünschen möchte, um bei ihrer[2] Theilnahme die Freuden der Natur und des Landlebens doppelt zu genießen.

Die Witterung änderte sich, es trat Regen ein. Bei Leuten, die bloß des Vergnügens und der Erholung wegen auf dem Lande sich aufhalten, ist dieser Umstand von Entscheidung; er veranlaßt sie, auf Zerstreuungen anderer Art zu sinnen, als welche die Natur und sonst wohl die Stadt darbieten, und nöthigt sie, durch Rückkehr auf sich selbst und in enger Beschlossenheit des Familienlebens angenehme Unterhaltung zu suchen.

Der Vater verwendete den Morgen zur Besorgung der nöthigsten Correspondenzen und Rechnungen; die Mutter gab sich in der Küche zu schaffen, und änderte Manches im Hause zu besserer Wohnlichkeit; die Großmutter stand ihr bei in dem Geschäfte, rathend und nachhelfend; die Tante beschäftigte sich mit den beiden Mädchen; der Großvater saß geruhig am Fenster oder erhob sich wohl auch, das Thun und Treiben der Leute zu beschauen; der Onkel endlich war, trotz des schlimmen Wetters, hinausgegangen, und trieb sich im Dorfe und im Freien umher mit den beiden Knaben.

Als die Familie gegen Mittag wieder vereinigt war (die Kinder spielten noch vor Tisch auf dem geräumigen Söller), da nahm der Vater das [3] Wort, und sprach: »Der heutige unfreundliche Morgen hat uns alle gemahnt, daß wir bei unserm längern Landaufenthalte, wollen wir uns nicht mitunter der bösen Langweile bloß stellen, wohl noch auf andere Unterhaltung denken müssen, als welche uns die Natur gewähren kann; denn obgleich übrigens ein stilles, ruhiges Beisammenwohnen einer Familie, wie die unsrige, für sich schon behaglich und gemüthlich genug ist, so will doch auch der Geist seine angemessene Beschäftigung, und er findet sie zumeist in einer bestimmten Aufgabe und in einer freiwilligen Beschränkung innerhalb eines gegebenen Spielraums. Nun haben die Frauen, vor unserer Abreise, uns Männern die schwere Verbindlichkeit auferlegt, daß wir keine Bücher mitnehmen sollen in die ländliche Einsamkeit, und damit so recht den Nerv unsers geistigen Lebens durchschnitten; wogegen sie freilich aber auch das ungeheure Versprechen gethan und gehalten, daß sie keine Schachteln in den Wagen mitnehmen wollten, mit Zier- und anderm Unrath; was denn freilich ihnen große Resignation gekostet hat.«

Die Mutter unterbrach ihn, und bemerkte lächelnd: »die Uebereinkunft sey von beiden Seiten mit gleich schweren Opfern geschehen, da der Männer [4] Lectüre doch auch gewöhnlich nur als solcher Zier- und Unrath anzusehen sey.«

»Um nun die freiwillige Einbuße dieses Zier- und andern Unraths wo möglich zu ersetzen – fuhr der Vater fort – möge denn folgender Rath erwoben und angenommen werden. Da wir doch zunächst der Kinder wegen, und um ihnen Erheiterung und Erholung zu verschaffen, die Stadt verlassen und das Land aufgesucht haben, so wollen wir auch vor Allem darauf bedacht seyn, daß wir diesen unsern Lieben recht viel Angenehmes bereiten, nebst allem nur möglichen Nützlichen. Und darum mache ich den Vorschlag, der auch gewiß euren Beifall erhalten wird: daß wir jeden Tag, oder doch so oft, als es Umstände erlauben und Neigungen einladen, eine Stunde ausschließlich ihrer Unterhaltung widmen, und mit angemessenen Vorträgen und andern, Geist und Herz anregenden, ernsten und heitern Mittheilungen sie erfreuen.«

»Diesen Fall habe sie voraus gesehen – sagte die Tante – und darum habe sie ja eben in Ansehung der jugendschriften Nachsicht empfohlen und Ausnahme hingerathen, um der Kinder willen.«

»Damit sie nämlich – neckte der Onkel – auch einige Nachsicht und Ausnahme hätte erlangen mögen in Ansehung einer und der andern Schachtel.«

[5] »Das Vorlesen aus Büchern, Kindern gegenüber – sagte der Großvater – erscheint mir so unnatürlich und wirkungslos zu seyn, wie eine abgelesene Predigt vor einer Dorfgemeinde. Das Volk und die Kinder wollen das lebendige Wort haben; sie wollen Aug' in Aug', Mund an Mund genießen; und an ihre Herzen geht nur, was von Herzen (par cœur) geht.

Mir wenigstens – sagte die Großmutter – kommt nichts unnatürlicher und verkehrter vor, als z.B. ein Mährchen, das vorgelesen wird. Wie es entstanden, so soll es auch fortgeleitet werden, als lebendige Sage. Die Frucht schmeckt am besten, wenn sie frisch vom Baume gepflückt wird. Ein niedergeschriebenes und vorgelesenes Mährchen erscheint mir wie ein Schmetterling, unter Glas und Rahmen gefaßt. Lieber schau' ich ihn, wie er sich regt und bewegt auf Blumenkelchen, in den Lüften.«

»Und so ist es denn meine Meinung und mein Vorschlag – fuhr der Vater fort – es sollte jedes von uns, abwechselungsweise und zu festgesetzter Stunde, irgend eine Legende, ein Mährchen, eine Volkssage, oder sonst eine Erzählung mittheilen, die für die Kinder unterhaltend und belehrend, und auch für uns Große immerhin noch anziehend genug wäre. Den letztern Punkt dürfte man, wohlgemerkt! [6] nicht aus dem Auge verlieren, damit man nicht Gefahr laufe, daß das Kindliche ins Kindische ausarte. Und ich glaube auch, daß dieser Forderung zu genügen sey. Denn gleichwie unser Umgang mit Kindern nicht nur nicht störend wirkt für sie und uns, sondern im Gegentheil recht sehr fördernd und jede herzliche Annäherung und geistige Erkräftigung anregend: also muß es auch, dünkt mich, eine Sprache, eine Auffassung und Darstellung der Gegenstände geben, welche Jung und Alt gleichmäßig anziehet und befriediget; wie denn in der That die echte Einfalt weise, und die echte Weish it einfältig ist.«

Die Tante bemerkte scherzend, daß dieß doch kaum möglich sey, zumal im Angesicht der Männer, deren Schul- und Weltweisheit zu eng und zu weit sey, um das rechte Maß zu erkennen und anzuerkennen.

»Das sey unsere Sorge – erwiederte der Onkel – an mir wenigstens soll es nicht fehlen, daß der kritische Maßstab richtig gehandhabt werde; und ich werde es jederzeit zu rügen wissen, wenn z.B. die Einfalt gar zu einfältig, oder die Weisheit gar zu naseweis erscheinen würde.«

»Weil nun aber ich es war, der diesen Vorschlag gemacht hat – sagte der Vater – so ziemt es sich[7] wohl, daß ich mit gutem Beispiele voraus gehe, und sohin gleich heute Abends mit einer solchen Unterhaltung beginne, die auch, ihres frommen Inhaltes wegen, dem Tage des Herrn, den wir morgen feiern werden, als vorbereitende Erbauung angemessen seyn sollte. Auch in Ansehung der Form wird die Erzählung genügen, und (setzte er lächelnd hinzu) ihr Uebrigen mögt nur geradezu ein Muster daran nehmen, wie man zu Kindern sprechen soll.«

[8]

II. Die Erzählung des Vaters: Placidus und seine Familie.

Als die Kinder vernommen, welche Unterhaltungen ihnen zugedacht worden, so jubelten sie laut auf. Sie sahen der Abendstunde mit Sehnsucht entgegen, die ihnen diese Gabe bringen würde. Fritz, der lebhafte, wollte zum voraus den Inhalt erfahren, oder mindestens, ob es ein Mährchen, oder sonst etwas Liebliches der Art sey. Der Vater erwiederte: »was er zu erzählen gedenke, sey eine schöne Geschichte, eine Sage aus dem christlichen Alterthum, und für Groß und Klein gleich lehrreich und unterhaltend. Das Weitere werde er zur Stunde erfahren, bis wohin er sich gedulden solle.«

Abends, als nach genossenem Mahle die Familie noch in trautem Kreise beisammen sitzen geblieben, begann der Vater also:

[9] Im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt lebte zu Rom am Hofe des Kaisers Trajanus ein Mann, der hieß Placidus. Er war der Feldhauptmann des Kaisers, und stand in großen Ehren bei ihm. Denn er war mannhaft im Felde, anschlägig im Rathe, dabei eines gar gütigen und leutseligen Gemüthes. Wiewohl ein Götzendiener, befliß er sich dennoch der Werke der Barmherzigkeit, und gab den Armen reichlich. Auch ließ er zwei Söhne, die ihm seine gar wackere und fromme Hausfrau geboren hatte, mit großer Sorgfalt erziehen, wie es seinem Rang und Reichthum nicht anders gebührte. – Placidus Wandel gefiel Gott wohl. Darum beschloß er, vom eiteln Götzendienst ihn zu erlösen, und sich ihm zu offenbaren in seiner Herrlichkeit, auf daß er möchte selig werden, sammt seinem Weibe und seinen Söhnen. – Eines Tages, als der Feldhauptmann Placidus der Jagd oblag, geschah es, daß ein Rudel Hirsche vor ihm aufsprang, unter welchen einer sich vor allen andern unterschied durch seine Größe und Schönheit. Dieser eine sonderte sich ab von dem Haufen, und entsprang in das Dickicht. Während nun die übrigen den andern Hirschen nachsetzten, verfolgte Placidus jenen einen Sprosser durch Strauch und Busch, und spürte eine absonderliche Begierde, ihn zu fahen. Der Hirsch, nachdem [10] er den Placidus lange durch die wildesten Gegenden des Waldes geführt, sprang endlich auf eines steilen Felsen gähe Zinne, und stand daselbst. Placidus ritt an den Fels hinan, um zu sehen, wie dem Thier am besten beizukommen wäre. Indem er aber das schöne große Thier mit großem Verlangen betrachtete, ward er zwischen den Geweihen des Hirschen das Bildniß des gekreuzigten Heilands gewahr, welches ihn ansah mit vielem Ernst und mit Wehmuth. »Placidus, sprach der Heiland, was verfolgst du mich? Ich bin Christus, welchem du dienest, ohne ihn zu kennen. Deine Almosen sind vor mich gekommen, und haben Gnade vor mir gefunden. Darum bin ich vom Himmel herabgestiegen, um mittelst dieses Hirschen, den du jagtest, dich selbst zu erjagen und zu fahen.« Als Placidus dieses hörte, fiel er vor großer Furcht vom Pferd auf die Erde, und lag daselbst fast sinnlos bei einer halben Stunde lang. Als er hierauf wieder zu sich selbst gekommen, sprach er: »Herr, wer bist du, der du mit mir redest? offenbare dich mir, auf daß ich an dich glaube.« Da sprach der Herr zu ihm: »Ich bin Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Ich bin auf die Welt gekommen, um das sündige Menschengeschlecht zu erlösen durch meinen Tod. Nun aber lebe ich, und es werden durch mich Alle leben, [11] die an mich glauben.« Als Placidus diese Worte hörte, fiel er abermal auf sein Angesicht, und sprach: »Ich glaube, Herr, daß du es bist, der die Irrenden bekehret und die Sünder erlöset.« »Wohlan, sprach der Herr, wenn du glaubest, so gehe eilends zu dem Bischofe der Stadt und lasse dich taufen.« Placidus sprach: »Gefällt es dir, o Herr, so will ich diese Dinge auch meinem Weibe und meinen Söhnen verkündigen, auf daß sie zugleich mit mir der Taufe theilhaftig werden.« Der Herr antwortete: »Verkündige ihnen nur, auf daß sie gereiniget werden, gleich dir. Morgen aber um diese nämliche Stunde komm wieder her zu mir an diesen Ort, so will ich dir offenbaren, was zukünftig ist.«

Als Placidus wieder nach Hause gekommen, so entdeckte er seiner Frau Alles, was ihm begegnet wäre. Sie erwiederte: »Mein Herr und Gemahl, ein Aehnliches ist auch mir geoffenbaret worden. Ich habe einen Unbekannten neben mir stehen sehen in der vergangenen Nacht, welcher zu mir sprach: Morgen sollst du und dein Gemahl und deine Kinder zu mir kommen. Jetzt sehe ich, daß solches kein Anderer gewesen, als der Herr Christus.« Als Placidus dieses hörte, stand er auf in derselbigen Nacht, nahm Frau und Kinder zu sich, und begab sich, sammt ihnen, zum Bischof, welchen er bat, daß er sie [12] taufen möchte. Der Bischof that solches mit Freuden, und nannte den Placidus Eustachius; seine Hausfrau nannte er Theospita; die beiden Söhne aberAgapitus und Theospitus. Am folgenden Morgen befahl Eustachius seinen Dienern sich wieder zur Jagd anzuschicken, und ritt mit ihnen in denselbigen Wald, wo sie gestern gejagt. Als sie daselbst angelangt waren, vertheilte er die Diener hiehin und dorthin, vorwendend, daß sie auf diese Weise das Wild am besten würden aufspüren können. Er selbst aber folgte der Fährte des vorigen Tages, und gelangte glücklich wieder an die wohlbekannte Klippe. Daselbst sah er den gekreuzigten Heiland wieder stehen zwischen den Hörnern des Hirschen. Eustachius fiel nieder auf sein Angesicht, und sprach: »Gefällt es dir, Herr, so offenbare mir, was du mir versprochen hast.« Der Herr antwortete: »Selig bist du, Eustachius, der du abgewaschen wurdest durch das Bad der heiligen Taufe. Hinfort hat der Feind kein Recht mehr über dich. Du hast der Schlange den Kopf zertreten; doch wird sie dich in die Fersen stechen. Du wirst noch viel erleiden müssen, Eustachius, bevor du die Krone erlangest. Gleich Hiob wirst du gedemüthiget werden; wenn du aber gleich ihm bewährt erfunden bist, wirst du gleich ihm wieder erhoben werden. So sage nur, ob [13] du gleich jetzt die Anfechtung zu erproben wünschest, oder dereinst am Ende deines Lebens.« »Herr, erwiederte Eustachius, kann es nicht anders seyn, so laß die Anfechtung gleich jetzt hereinbrechen. Nur gib mir Kraft, sie zu ertragen, auf daß ich nicht zu Schanden werde.« Der Herr sprach: »Sey getreu! Meine Gnade wird dir nicht fehlen.« Also fuhr der Herr wieder gen Himmel. Eustachius aber kehrte nach Hause zurück, und hinterbrachte seiner Frau alle diese Dinge.

Die Prophezeyung des Herrn ging bald in Erfüllung. Einige Tage darauf kam die Pestilenz unter das Gesinde des Eustachius, und tödtete alle seine Knechte und Mägde. Nicht lange darnach starben ihm seine Rosse und sein sämmtliches Vieh. In kurzer Zeit darauf benutzten böse Menschen die Verödung und Bestürzung des Hauses, brachen bei nächtlicher Weile ein, und raubten die Wohnung rein aus; alles Gold und Silber, alle kostbaren Geräthe, sammt Kleidern und Lebensmitteln, wurden fortgeführt, also daß nichts übrig blieb. Eustachius lobte Gott für Alles, nahm Weib und Kinder, und floh arm und bloß von dannen. – Verlassen von allen seinen Freunden, und sich schämend seiner jetzigen Armuth in einem Lande, wo er früherhin in Pracht und Herrlichkeit zu leben gewohnt war, beschloß er mit den [14] Seinigen in Aegypten-Land zu ziehen. Er begab sich an das Gestade des Meeres, und da gerade ein Schiff nach Aegypten abgehen wollte, bestieg er solches sammt seiner Frau und beiden Söhnen. Als sie über das Meer gekommen waren und jetzt ans Land steigen wollten, verlangte der Schiffsherr die Bezahlung. Da sie aber nichts hatten zu geben, begehrte der Schiffsherr, daß des Eustachius Frau bei ihm zurückverbleibe zur Bürgschaft, so lange bis, er Bezahlung erhalten. Eustachius weigerte sich dessen. Als aber der Schiffsherr drohte, ihn ins Meer zu werfen, wenn er nicht nachgebe, mußte er es leider geschehen lassen, nahm seine Kinder auf den Arm, und schlich traurig davon. Nachdem er eine Strecke gewandert war, gelangte er an einen Fluß. Das Wasser war breit, der Strom reißend. Eustachius getraute sich nicht, beide Kinder zugleich durch den Strom zu tragen, legte daher das eine diesseits ins Gras, und trug zuvor das andere über. Sobald er dieses jenseits ins Gras gelegt, eilte er zurück in den Strom, um das andre nachzuholen. Mittlerweile kam aus dem nahen Walde ein Wolf, faßte das Kind, das er eben hingelegt hatte und lief damit auf den Wald zu. Eustachius sah es, vermochte gleichwohl nicht zu helfen, verzieh sich dieses einen Kindes, und eilte nun, das andere [15] zu holen. Ehe er aber noch das Ufer erreichen konnte, kam ein Löwe gelaufen aus dem diesseitigen Wald, faßte das Kind zwischen den Zähnen, und rannte damit waldein. Eustachius weinte bitterlich, raufte sein Haar, und würde sich in den Fluß gestürzt haben, wenn Gottes Gnade ihm nicht beigestanden wäre. »Wehe mir! rief er, der ich grünte wie ein grüner Baum, und jetzt gleiche einem geschälten Stamm; der ich von Schaaren dienender Krieger umgeben war, und jetzt bin ich allein auf der weiten Welt. Heiliger Gott! fuhr er fort, du hast mir geweissagt, daß ich versucht werden solle, gleichwie Hiob versucht ward. Meine Trübsal aber ist herber, denn die seinige. Ihm blieb, nachdem er seine Güter verlassen, wenigstens ein Aschenhaufen übrig, auf dem er ruhen konnte, mir aber gebricht auch dieser. Ihm blieben Freunde übrig, welche mit ihm klagten; mir aber sind die Kinder von den wilden Thieren geraubt worden. Ihm blieb sein Weib übrig; das meinige aber besitzt ein Fremder. Hilf, heiliger Vater, oder ich muß verzagen.« Als er dieses mit vielen Thränen gesprochen, wanderte er traurigen Sinnes weiter, und um das tägliche Brod zu haben, verdingte er sich als Gärtner in einem Landhause, das einem vornehmen Aegyptier gehörte.

Der allbarmherzige Gott hat es aber geschehen [16] lassen, daß die beiden Knaben gerettet wurden, ohne Wissen des Vaters. Der Löwe, der den einen Knaben davon getragen, wurde von den Hirten wahrgenommen, die in derselben Gegend die Schafe hüteten. Eilends setzten sie dem Löwen nach mit den Hunden. Der Löwe, der sich jetzt seiner Haut wehren mußte, ließ das Kind durch Gottes Schickung fallen, ohne daß es einigen Schaden genommen hatte. Die Hirten nahmen das Kind, sahen, daß es schön und stark sey, und brachten es in ihr Dorf, um es groß zu ziehen. Mittlerweile waren auch einige Ackerleute, die im Walde ein Stück Acker pflügten, des Wolfes ansichtig geworden, der ein lebendiges Kind im Rachen trug. Augenblicklich verfolgten sie ihn, warfen ihn mit Prügeln und Steinen, und zwangen ihn, den Raub fahren zu lassen. Die Ackerleute waren aus demselben Dorfe mit jenen Hirten. Also brachten sie das Kind, über dessen Schönheit sie sich sehr verwunderten, in dasselbe Dorf, und wollten es auferziehen. – Inzwischen geschah es durch die Fürsehung Gottes, daß auch Theospita, die Mutter der beiden Knaben, aus der Gefangenschaft erlöset wurde, worin sie von dem Schiffsherrn gehalten ward. Dieser fiel nämlich in eine gefährliche Krankheit; und Theospita versprach ihm, im Vertrauen auf die Gnade Gottes, [17] daß sie ihn heilen wolle, wenn er verspräche, sie nach erlangter Gesundheit frei zu geben. Der Schiffsherr wurde auch wirklich gesund durch ihr Gebet, und aus Dankbarkeit entließ er sie, wie er versprochen. Nun war ihr angelegentlichstes Geschäft, ihren Gemahl aufzusuchen und ihre Kinder; und sie durchzog das Land nach allen Seiten. Nach einigen Monaten kam sie auch in das Dorf, wo die beiden Knaben wohnten; und es wurde erzählt, wie sie wunderbarlich aus den Rachen der Raubthiere gerettet worden. Alsobald, wie Theospita die Knaben zum ersten Mal sah, erkannte sie solche als ihre Söhne, und, da sie dieselben nicht unter den Händen der Heiden lassen wollte, so entfloh sie mit ihnen heimlich in der Nacht, und begab sich in die Wüste, um vor den Nachstellungen der Heiden sicher zu seyn, verhoffend, daß ihr Gott endlich auch ihren verlornen Mann wieder zuführen werde. Nach vielem Suchen entdeckte sie endlich eine Höhle, die sie ganz geeignet fand zu einem verborgenen Aufenthalt. Der Eingang war sehr eng; je tiefer man aber hinein kam, desto breiter und höher wurde sie; und da, wo sie am geräumigsten war, hatte das Felsengewölbe eine Oeffnung, durch welche das Tagslicht herein fiel, so daß man drinnen alles wohl sehen mochte. Auch sprang nicht fern von der Höhle ein frischer, [18] klarer Quell aus einem Felsen hervor, und in der Gegend gab's Beeren und andere Früchte genug, um tägliche Nahrung zu finden ohne Mühe und Sorge. Also konnte Theospita Gott nicht genug danken für ihre und ihrer Kinder Rettung, und sie beschloß, da zu verweilen, so lange, bis Gottes Willen sie von dannen rufen würde.

Eines Tags, als sie mit den Kindern aus der Höhle gegangen war, um Früchte und Beeren zu sammeln zu ihrer Nahrung, da sah sie von fern einen alten, ehrwürdigen Mann herkommen, begleitet von einem Diener. Jener trug ein hölzernes Kreuz an der Brust, und alsobald erkannte sie an diesem Zeichen, daß es ein Christ sey, und ein Bischof. Theospita näherte sich ihm mit Ehrfurcht, und sagte: »Herr, sehet an eure demüthige Magd, und gebt mir euren heiligen Segen. Ich bin Theospita, die Gemahlin desPlacidus, des Feldhauptmanns, und dieses sind meine Kinder. Durch Gottes Gnade sind wir getauft, und in die christliche Gemeinde aufgenommen worden. Aber der Herr hat uns schwere Leiden und Versuchungen auferlegt; mein Gemahl hat alles verloren, Ehren, Güter, Vaterland. Er selbst ist mir und meinen Kindern entrissen worden, und ich weiß nicht, ob er noch lebe, und wo. Ich habe mich mit diesen [19] in diese Wüste geflüchtet, und wir leben hier allein, verlassen, ohne Tröstungen der Religion. Herr, habt Erbarmen mit mir und mit meinen Kindern, und erquicket uns mit den Worten und den Segnungen des Heils.« Nachdem der Bischof ihre Rede vernommen, gab er ihr und den Kindern den Segen. Dann sprach er: »Gelobt sey der Herr, der mich in diese Wüste geführt! Als mich die Heiden verstießen aus der Gemeinde, da jammerte ich, wie ein Hirte, dem seine Heerde geraubt wird. Nun aber finde ich, zu meiner Freude, hier in der Wüstenei zerstreute Schäflein, die ich auf der Weide des Lebens ernähren, und von dem Quell des Heiles tränken kann. Sey mir gesegnet, Tochter, und ihr, meine Kinder! Ihr sollt an mir den Vater haben, den ihr verloren, und den Freund, der euch ins Vaterland geleitet des ewigen Lebens.« Hierauf ging er mit ihnen in die Höhle, um ihren Aufenthalt kennen zu lernen; und nachdem er dort ein Gebet gesprochen, und die Wohnung gesegnet hatte, verließ er sie mit dem Versprechen, daß er sie von Zeit zu Zeit heimsuchen werde, um sie in der Lehre des Heils zu unterrichten, und der Gnaden Gottes theilhaftig zu machen.

Es war eine Woche vor Weihnachten, als der fromme Bischof mit dem Bruder, der ihn immer [20] begleitete, wieder zur Höhle kam. Nachdem er, wie er immer zu thun pflegte, ein Gebet verrichtet, setzte er sich auf einen Stein, nahm den kleinern Knaben auf seinen Schoß, den größern stellte er zur andern Seite, ihn bei der Hand fassend; und die Mutter saß gegenüber, um auf sein Wort zu horchen, während der Bruder seitwärts in der Ferne stand. Und er that seinen Mund auf, und lehrte: »Daß es nur Einen Gott gebe, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde; daß er den Menschen geschaffen habe nach seinem Ebenbilde; daß er ihn in einen überaus schönen Garten gesetzt voll der herrlichsten Früchte, und mit ihm Umgang gehabt habe, wie ein liebevoller Vater mit seinem Kinde; daß aber der Mensch undankbar und ungehorsam geworden sey gegen den himmlischen Vater, und durch seine schwere Sünde sich den Zorn Gottes und Elend und Tod zugezogen habe. Aber, fuhr er fort, der gnädigste Gott hat sich des gefallenen Menschen, und derer, die von ihm abstammten, erbarmet, und er hat seinen eingebornen Sohn gesandt, Jesum Christum, daß er die Verirrten aufsuche, die Fluchbeladenen versöhne, die Elenden in ihre Heimath zurück führe, die Todten wieder auferwecke zum ewigen Leben. Dieses große, heilige Geheimniß der Geburt und Ankunft Christi auf Erden, sagte er, [21] werde nun nach wenigen Tagen gefeiert von allen, die sich Christen nennen, und der Verdienste Christi theilhaftig werden wollen. Zu diesem Feste nun sollen sie sich vorbereiten durch Heiligung ihres Sinnes und Wandels, daß sie ihre Gedanken und Begierden zu Gott richten, unter sich Friede und Eintracht bewahren, und ihr Herz von allen bösen Gelüsten rein erhalten.« – Hierauf nahm er von ihnen Abschied. Der alte, ehrwürdige Bruder aber, der den Bischof begleitete, besuchte sie alle Tage in ihrer Höhle. Er war ein gar kunstreicher Mann, und wußte aus Holz und Gebein gar schöne Bildlein zu schnitzen, daß sie einen ansahen, als wären sie lebendig. Auch aus Moos und Gestein und Pflanzen und Muscheln, und aus allem, was er fand, konnte er Häuser und Wälder und Berge und allerlei andere wundersame Gestalten hervorbringen, daß es schier aussah, wie eine Welt im Kleinen. Ein solches künstliches Werk wollte er nun in der Höhle aufrichten zur Freude der Kinder und zu ihrer Erbauung. Da, wo das Licht am hellsten herab leuchtete durch die gebrochene Felsendecke, in einer Vertiefung der Felsenwand, fing er zu bauen an. Im Hintergrunde erhob sich ein hoher Berg, aus Felsstücken zusammengefügt, mit Moosen und Bäumen theilweise bekleidet, und mit glitzerndem Sande beworfen, [22] daß alles gar lieblich schimmerte. Einzelne Rehe, Gemsen und Hirsche standen auf den Absätzen der Felsen, und der Jäger fehlte auch nicht, der sich sein Wild schoß. Auf dem Berge ward die Stadt Jerusalem erbaut, mit ihren Mauern und Palästen und mit dem Tempel Salomonis. Den Berg auf und ab wanderten Juden jedes Geschlechtes und Alters. Auf der Ebene aber, die ganze Bühne entlang, da weideten Schafe und Ziegen und Kühe; und die Hirten hüteten sie. Und in der Mitte, wo der künstlich erbaute Berg eine Höhlung hatte, ward ein Stall erbauet, von eitelm Holz, mit einem Strohdach; darinnen standen an der Krippe ein Ochs und ein Esel. – Alles dieses ward von dem fleißigen und geschickten Bruder in den ersten Tagen errichtet und vollendet; und die Knaben hatten ihre große Freude an allem, was sie da werden sahen, und brannten vor Begierde, was noch endlich werden soll. – Am Vorabende der heiligen Weihnachten endlich kam der Bischof selbst, und mit ihm wieder der Bruder, der in seinem Korbe das Schönste mitbrachte, um sein Werk zu vollenden. Indem der Bischof die schöne Geschichte von der Geburt Christi erzählte, und wie sich alles begeben mit Joseph und Maria; und wie die Engel den Hirten zuerst die frohe Botschaft gebracht, daß der Heiland der Welt [23] geboren sey; und wie diese aber schaarenweise gekommen, um ihn anzubeten: da vollführte der Bruder alles, wie es die Geschichte anzeigte; und das Jesuskindlein wurde im Stalle auf Stroh gelegt, und Maria und Joseph standen dabei, und Hirten brachten Milch und Eier und Früchte; und oben an der Wölbung erschien ein Engel, mit den Worten: Ehre sey Gott in der Höhe, und Friede auf Erden den Menschen! – Es herrschte eine feierliche Stille in der weiten Höhle, und die Kinder waren ganz Andacht und Liebe und Freude. Nachdem der Bischof das Gebet und den Segen gesprochen, beschenkte er noch die Knaben mit Früchten und Broden, und verließ sie, mit dem Versprechen, daß er zu seiner Zeit wieder kommen werde.

In den darauf folgenden Wochen erschien der gottselige Bruder von Zeit zu Zeit öfter in der Höhle, wo die Mutter mit ihren Kindern beisammen wohnte in stiller, frommer Einsamkeit. Und immer brachte er wieder andere Bilder mit, womit er die Krippe verzierte, und erklärte ihnen allzeit, wie sich's weiter begeben hat mit dem Jesus-Kindlein; wie es in acht Tagen nach seiner Geburt Gott geweiht wurde durch die Beschneidung; wie die heiligen drei Könige aus Morgenland gekommen, um dem König der Könige zu huldigen, mit vielen Dienern und [24] Kriegern und Kamelen, in aller Pracht; sodann wie der böse Herodes dem Christkindlein nachstellen, und viele, viele Kinder in und um Bethlehem auf grausame Weise ermorden ließ; wie Maria und Joseph mit dem göttlichen Kinde nach Aegypten geflohen, und erst nach langer Zeit wieder nach Judäa zurückgekehrt ist. Alles dieß und noch vieles Andere stellte der Bruder in der Krippe bildlich dar, und erklärte es ihnen ausführlich nach der Geschichte und dem heiligen Evangelium. – Vieles erzählte er ihnen auch, was er aus frommer Leute Mund und durch einfältige Ueberlieferung von dem Kinde Jesu erfahren, wie folgt: Als das neugeborne Kind in der Krippe lag, und bei offenem Stalle, in der grimmigsten Kälte und in schlechten Windeln, auf Stroh und Heu, gar sehr von Frost litt: da sollen, wie man sagt, das Oechslein und das Eselein, die bei der Krippe gestanden, sich gebeugt und das Kind mit ihrem Athem erwärmet haben, zum Zeichen, daß sich die unvernünftige Creatur den Herrn des Himmels und der Erde erkannt und verehrt habe. – Ein andersmal erzählte er: Ein Lämmlein, das ein Hirt dem Kindlein geschenkt, sey nicht mehr von seiner Seite gewichen; es habe sich zu des Schlafenden Füßen gelegt, sey des Gehenden Schritten gefolgt; und das Kindlein selbst habe es gar lieb gehabt, [25] und oft umhalset und geküßt; zum Zeichen, daß er selbst wie ein unschuldiges Lamm geschlachtet werden solle zur Erlösung des sündigen Menschengeschlechtes. – Weiter erzählte er: Eines Tages, als Maria vor der Hütte saß, und der Jesusknabe vor ihr auf dem Rasen, machte er aus den Reisigzweiglein, die um ihn lagen, lauter Kreuzlein, so daß die Mutter, die das endlich sah, gar sehr erschrak, aus Furcht, es möchte dieß eine Vorbedeutung seyn, daß ihrem Sohne die Schmach des Kreuzes werde; was freilich damals Maria noch nicht begriff, daß aus dieser Schmach die Ehre und das Heil der Welt erwachsen werde. – Es war auch alles, setzte der Bruder hinzu, ganz wunderbar an dem Kinde, der Blick, die Gebärde, der Gang, die Sprache; sogar das Kleidchen, das ihm die Mutter verfertigt, zerriß nie, und wuchs gleichsam mit ihm auf; und es war dasselbe, um das die gottlosen Soldaten die Loose geworfen unter dem Kreuze des Sterbenden.

Ein anderes Mal erzählte der gottselige Bruder ausführlich, was sich Wunderbares auf der Flucht nach Aegyptenland begeben; und wie da, in der gänzlichen Verlassenheit, und bei menschlicher Verfolgung, die Natur auf Gottes Geheiß sich besonders [26] dienstbar erwiesen habe dem Jesuskindlein und seinen Eltern. Die beiden unvernünftigen Thiere, Ochs und Esel, welche bei seiner Krippe gestanden, folgten williglich auf der Flucht; und sie fanden, ohne Wegweiser, den Weg, den Gott bezeichnet, um das Kind in Sicherheit zu bringen. – Eines Tages sah Joseph von ferne einen großen Baum, und er sprach: Wir wollen dahin gehen, und allda über Nacht bleiben. Als sie aber zum Baume kamen, und sich lagern wollten, da konnte Joseph, so weit er umherforschte, kein Wasser finden. Aber bei dem Baum war viel Gras, daß Esel und Ochs genug zu fressen hatten. Wie nun die Jungfrau Maria sah, daß sich Joseph, ihr Mann, sehr kümmerte wegen eines Wassers, da setzte sie sich nieder, und nahm das Kind in den Schoß, und stach mit ihrem Finger in die Erde. Da sprang eine Quelle hervor; und sie lobten Gott und waren froh, daß sie Wasser für sich und ihr Vieh bekommen hatten. Des andern Tages füllten sie ihre Flaschen und Krüge mit Wasser, daß sie auf dem Wege zu trinken hatten. – Als sie nun weiter reiseten, so wurde Maria eines hohen Baumes gewahr, der viele Früchte hatte, und die Früchte waren alle reif. Und sie verlangte nach den Früchten, um Nahrung zu haben für sich und ihr liebes Kind. Aber der Baum war sehr hoch, [27] und Joseph konnte Alters halber nicht auf den Baum steigen; und die Mutter mit dem Kinde stand unter dem Baum, und sie sah sehnsüchtiglich hinauf. Weil das Kind Gott und Mensch war, so verstand es, was sie begehre. Hierauf ließ sich der Baum gegen Maria nieder, daß sie von der Frucht nehmen konnte, so viel sie wollte. Da sie nun nach Belieben gegessen, und ihre Säcke gefüllt hatten, so richtete sich der Baum wieder auf, und breitete seine Zweige wieder aus, und Joseph und Maria lobten Gott für Alles, was sie bekommen hatten, wohl wissend, daß ihnen all das Gute um des Kindes willen wiederfahren. – Und es schien auch, als wenn alle Creaturen in der Wüste die Nähe ihres Herrn geahndet hätten. Wo die Pilger des Weges gingen, da sproßten Blumen unter ihnen auf; die wilden, reißenden Thiere hielten sich ferne und thaten ihnen kein Leid; die Vögel flogen in Schaaren jubilirend über ihnen her, oder musicirten gar schön von den Bäumen herab, wo jene vorbeiwanderten; und die Bäume selbst neigten sich in Ehrfurcht, und rauschten mit ihren Wipfeln freundliche Begrüßung zu, die hohe Ceder, die starke Eiche, der schattige Buchenbaum. Nur die Espe, sagt man, soll den vorüberziehenden Herrn der Welt nicht begrüßt und sich gebeugt haben, aus Unverstand und Eigensinn; dafür [28] aber ward ihr der Fluch, daß sie immer an allen Blättern zittern muß, bis auf den heutigen Tag.

Wieder ein anderes Mal erzählte der Bruder: Sobald Herodes, der Mörder der unschuldigen Kindlein, gestorben war, da kehrten Joseph und Maria mit dem Christkindlein aus Aegypten wieder zurück nach Judäa, und wohnten zu Nazareth in ihrer Vaterstadt. Und Joseph, welcher von Gott als Nährvater Jesu ausersehen war, trieb hier das Handwerk eines Zimmermanns, und hielt sich fleißig zur Arbeit, während Maria das Kind pflegte. Es kam aber oft die Base Mariä, die heilige Elisabeth, über das Gebirg herüber, mit ihrem Söhnlein Sanct Johannes, welcher der Vorläufer Christi geworden, und seine Ankunft verkündigt hat. Und die beiden Knaben hielten sich gern und treulich zusammen, und redeten zu einander in einer Sprache, welche selbst Maria nicht verstand; und jedermann verwunderte sich über den Ernst und die Anmuth und den Frieden und die Eintracht, wie sie beide zusammen wohnten in Liebe. – Aber auch mit andern Kindern war Jesus oft und gern beisammen, und es war nie Streit oder Neid, oder Gehässigkeit unter ihnen, wenn Jesus dabei war. Als eines Tages die Kinder mit Jesus zum Thore hinaus aufs Feld gehen wollten, so kamen sie auf einen Platz, da man Leimen gegraben hatte; [29] und Jesus setzte sich auf denselben Platz nieder, und nahm mit seinen Händen von dem Leimen, und machte kleine Vögel daraus, so wie sie auf dem Felde fliegen. Da die andern Kinder sahen, daß Jesus solche schöne, kleine Vögel gemacht hat, so freuten sie sich darüber, und wollten auch solche Vögel nachmachen. Während der Zeit kam ein alter Jude, der sah, daß sie mit einander scherzten und spielten, und er strafte sie und sprach: Ihr haltet den Sabbath nicht heilig, ihr seyd Teufelskinder, ihr erzürnet Gott. Er sagte auch zu dem Kinde Jesus: Du bist Schuld daran, die andern Kinder machen es dir nach, ihr gehet alle verloren. Jesus antwortete: Gott weiß es am besten, ob du oder wir den Sabbath am besten heiligen, du darfst nicht Urtheil sprechen über mich. Der alte Jude ward böse, und wollte sich auf der Stelle an dem Kind Jesus rächen; er ging hinzu, und wollte auf die Vögel treten, die das Kind gemacht hatte. Alsbald klopfte Jesus in die Hände, als wenn er die Vögel erschrecken wollte; da wurden sie lebendig, und flogen auf gen Himmel, wie andere Vögel; der alte Jude mußte sie auch lassen fliegen. – Es geht noch manche andere fromme Sage, bemerkte der Bruder, wie sich der Knabe Jesus gehalten im Hause seiner Eltern zu Nazareth in Judäa. Als er aber zwölf Jahre alt war, erzählt die [30] heilige Geschichte, da ging er mit Joseph und Maria hinauf nach Jerusalem zum Tempel, um den Festen beizuwohnen. Nach vollendeten Festtagen kehrten die Eltern wieder zurück; Jesus blieb aber zu Jerusalem, und hielt sich im Tempel auf unter den Lehrern. Erst unterwegs bemerkten die Eltern, daß ihr Sohn nicht mehr bei ihnen sey. Sie glaubten jedoch, er werde unter den Gefährten seyn, und kamen so eine Tagreise weit. Als sie ihn aber Abends in der Herberge nicht gefunden, gingen sie wieder nach Jerusalem zurück, und suchten ihn. Zuletzt kamen sie auch in den Tempel, und fanden ihn dort mitten unter den Lehrern, wo er sie anhörte und fragte über Gottes Wort. Und alle, die ihm zuhörten, erstaunten über seinen Verstand und seine Antworten. Alls nun die Eltern ihn sahen, verwunderten sie sich; seine Mutter aber, aus Bekümmerniß sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns dieses gethan? Sieh, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Er aber, der Sohn Gottes, sprach zu ihnen: »Warum habt ihr mich gesucht? Wisset ihr nicht, daß ich in dem Hause meines Vaters seyn muß? Drauf ging er mit ihnen hinab, und kam nach Nazareth, und war ihnen gehorsam. Und er nahm zu an Weisheit und Alter, und an Gnade vor Gott und den Menschen.«

[31] Einige Wochen vor den heiligen Ostern kam der fromme Bischof öfter zu der einsamen Familie, um ihnen von Gottes Wort und von dem Leben des Heilandes zu erzählen; und die Kinder sahen jederzeit seiner Ankunft mit Freuden entgegen, und empfanden Wehmuth, wenn er von ihnen schied. Es war aber auch der Mann so freundlich und mild, mit so ehrwürdigem Antlitz und einnehmender Gebärde, wie uns fromme Maler Christum vorstellen, als er die Kinder segnete, und sagte: Lasset die Kleinen zu mir kommen; denn ihrer ist das Himmelreich. Und seine Rede floß gar sanft und erquicklich aus seinem Munde, besonders wenn er die schönen Gleichnisse und Parabeln vorbrachte von dem verlornen Sohne und von dem guten Hirten, oder wenn er erzählte, wie Jesus das Töchterlein Jairi und den Jüngling zu Naim von den Todten erwecket, und wie er unter den Menschenkindern gewandelt und überall Gutes gethan, die Kranken heilend, die Sünder bekehrend; und wie Judäa voll ward von seinen weisen Lehren, großen Wundern und göttlichen Wohlthaten. Also setzte der fromme Bischof seinen Unterricht fort von Zeit zu Zeit, viele Stunden lang, bis die letzte Woche erschien vor Ostern. Da sagte er den Kindern, daß er sie nun genug vorbereitet halte in Worten und im Wandel, um Theil zu nehmen an dem öffentlichen [32] Gottesdienste der Christen. – Es hatten sich nämlich noch viele andere Christenleute in die Wüste begeben, um der Verfolgung der Heiden zu entgehen, oder um sonst Gott zu dienen in Abgeschiedenheit des Lebens; und es hatte der Bruder ein Kirchlein erbaut, worin sie sich zu gewissen Zeiten versammeln, das Wort Gottes vernehmen, und die Geheimnisse des Glaubens in Gemeinschaft feiern konnten. – Dahin kam denn nun auch Theospita mit ihren Kindern, und die versammelte Christengemeinde feierte nun die letzten Tage vor Ostern, in Fasten und in Gebet, in Anhörung des Wortes von dem Leiden und Sterben Christi und in Theilnahme an den Sacramenten, durch den Mund und die Hand des Bischofs. O mit welcher Andacht und Stille und Ehrfurcht wohnten die Knaben dieser Feier bei, und wie dankten sie Gott, daß er sie gewürdigt habe, Theil zu nehmen an den Geheimnissen und Gnaden des Christenthums! Als nun aber nach Verlauf des letzten Tages der Bischof die erfreuliche Botschaft anstimmte: »Christus ist erstanden!« und als das Kirchlein, welches bisher ohne Zierde, in schwarzem Flor, gleichsam getrauert, nun in heitere Farben sich kleidete, und mit Bildern sich schmückte, und von Weihrauch duftete, und von Lichtern erglänzte; als der Gesang der Gemeinde in vollern Tönen und in[33] schönern Weisen erklang, und der Bischof die freudenreiche Geschichte der Auferstehung erzählte, und daß nun die Erlösung des armen Menschengeschlechtes vollendet sey durch die Barmherzigkeit Gottes und seines Sohnes: da war kein Auge ohne Thränen, kein Herz ohne Trost, ohne Freude; und die Kinder, obwohl sie die überschwängliche Gnade noch nicht so klar begreifen konnten, waren doch ganz selig in dem, was sie hörten und sahen, und was ihnen zur Kunde geworden von Gott und seinen Erbarmungen. – Von dieser Zeit an besuchten sie, in Begleitung ihrer Mutter, an allen Sonn- und Festtagen die Kirche, und beteten mit der versammelten Gemeinde, und hörten Gottes Wort; und, das Beispiel Jesu im Auge, verweilten sie gern und lange im Hause Gottes, und waren gehorsam, und nahmen zu, wie an Jahren, also auch an Weisheit und in der Furcht Gottes.

Es vergingen viele Jahre. Die Knaben wuchsen auf unter der Zucht der Mutter und in der Lehre des alten Bruders, der ihnen verschiedene nützliche Dinge beibrachte. Als sie Jünglinge geworden und zu Jahren und Kräften gekommen, da beschäftigten sie sich am liebsten mit der Jagd, und schweiften wohl auch manchmal in die Länder der Menschen hinaus, hauptsächlich, um da und dort zu [34] erforschen, ob sie keine Spur und Kunde von ihrem verlornen Vater erhalten könnten. – Mittlerweile wurde das römische Reich von seinen Feinden hart bedrängt. Kaiser Trajanus gedachte an seinen Fedhauptmann Placi dus, wie er so siegreich gestritten und die Gränzen des Reichs mannlich beschirmt habe. Er hatte zwar schon früher hie und da nach ihm fragen lassen, jedoch ohne den gewünschten Erfolg. Als aber jetzt die Noth des Reiches groß wurde, schickte der Kaiser Kriegsleute aus durch alle Provinzen seines Reiches, um den verlornen Feldherrn wieder zu suchen. Nun begab sich's durch die Schickung Gottes, daß zwei von diesen ausgesandten Kriegsleuten, die vornehmsten, während ihrer Wanderung auch auf das Landhaus trafen, wo sich Eustachius als Gärtner verdingt hatte. Er sah die Soldaten, und erkannte sie sogleich. Seine alte Herrlichkeit fiel ihm ein. Er schaute gen Himmel, seufzte und sprach: »Hilf, Herr, daß, so wie ich diese meine alten Kriegsgefährten wider Vermuthen wiedersehe, ich also auch einstens mein frommes Weib wiedersehen möchte.« In demselben Augenblicke sprach eine Stimme zu ihm: »Sey getrost, Eustachius; nicht nur dein Weib sollst du wiedersehen, sondern auch deine Kinder und deine ganze Herrlichkeit.« Indem grüßten ihn die Soldaten, [35] ohne ihn zu kennen; sie fragten auch, ob er nichts von ihrem verlornen Hauptmann Placidus gehört habe. Er aber führte seine alten Kriegsgefährten schweigend in die Wohnung, setzte sie zu Tische, und während sie speiseten, diente er ihnen. Die Gestalt des Mannes fiel den Soldaten immer mehr auf, je mehr sie ihn betrachteten. Einer sprach zum andern: »Wie ähnlich sieht dieser Mann unserm Hauptmann Placidus!« Der andere sprach: »Er ist ihm allerdings ähnlich. Laß uns Acht geben, ob er auch die Narbe am Kopfe hat, die der Hauptmann davon trug in der Schlacht mit den Parthern. Hat er sie, so ist er es gewiß.« Hierauf betrachteten sie ihn genauer, und erkannten die Narbe. Augenblicklich sprangen sie auf, und begrüßten ihn als ihren Feldhauptmann mit geziemender Ehrerbietigkeit. Zugleich entboten sie ihm des Kaisers Willen, und zogen ihm ritterliche Kleidung an. – Inzwischen waren auch andere Kriegsleute ausgesandt ins Land, um alle wehrhaften Jünglinge aufzuheben für den Dienst des Kaisers. Einige derselben durchstreiften auch die Wüste, wo Theospita mit ihren Söhnen wohnte. Die Jünglinge waren, wie fast täglich geschah, auf der Jagd; und als die Kriegsleute sie erblickten, wiesen sie ihnen den Befehl des Kaisers vor, und hießen sie folgen. Die Jünglinge, [36] welche vom Kaiser oft gehört, und gelernt hatten, daß man ihm Gehorsam und Ehrfurcht schuldig sey, gehorchten ohne Widerstand; nur baten sie das Eine als Gnade aus, ihre arme, verlassene Mutter mit sich nehmen zu dürfen, um sie fortan zu ernähren. Das wurde ihnen denn auch bewilligt; und Theospita folgte ihnen um so lieber, da die Hoffnung in ihrem Herzen aufging, daß sie bei dem Heere auch ihren Gemahl wie der finden werde. – Die beiden Jünglinge befanden sich unter denen, welche vor das Landhaus gebracht wurden, in demselben Augenblicke, als Placidus seinen Ehrenschmuck angezogen hatte, um den Dienst eines Feldhauptmanns wieder zu übernehmen. Er musterte die Jünglinge, und befragte jeden nach seinem Herkommen, Alter und Gewerbe. Da trat plötzlich aus der Reihe ein Weib hervor, und warf sich dem Feldhauptmann zu Füßen, und rief: »Placidus, mein Gemahl! sieh' diese zwei Jünglinge, sie sind deine Kinder! Gelobt sey Gott, der uns dich hat wieder finden lassen!« Placidus hob sie auf; und nun erzählte sie, wie alles geschehen, von dem Tage an, wo sie ihn verloren; und wie sie die Kinder wieder gefunden, und was sich weiter zugetragen. Placidus hatte drob große Freude, und er begab sich mit Weib und Kindern alsogleich in ein stilles, abgelegenes Gemach, [37] wo er mit den Seinigen, auf den Knien, mit gefalteten Händen und unter vielen Thränen Gott Lob und Dank sagte für die Gnade, daß sie sich wieder gefunden, und für die noch größere Gnade, daß der Herr sie alle im Glauben an Jesum Christum erhalten und gestärkt hatte.

Placidus zog nun mit den Seinigen nach Hof, und langte innerhalb fünfzehn Tagen dort an. Als der Kaiser vernommen hatte, daß sein Feldhauptmann gefunden sey, war er sehr froh, zog ihm entgegen, fiel ihm um den Hals, als er ihn gewahr worden, und küßte ihn aufs zärtlichste. Placidus aber erzählte, wie es ihm bis daher ergangen. Der Kaiser setzte ihn alsbald in die verlornen Würden ein, und gab das ganze Kriegsheer unter seine Hand. Darüber entstand große Freude im Heere. Denn der Feldhauptmann war allgemein beliebt, wegen seiner Tapferkeit sowohl, als auch seines Kriegsglücks, und wegen seiner Leutseligkeit und der väterlichen Art, womit er auch den gemeinsten Soldaten behandelte. – Placidus zog alsobald gegen den Feind, und besiegte ihn in mehrern Schlachten, so daß der Krieg in kurzer Zeit beendigt ward. – Während dieß in den Provinzen vorging, war in der Hauptstadt der Kaiser Trajanus gestorben, und hatte dem Hadrianus das Reich [38] hinterlassen, welcher die Christen noch mehr verfolgte, als jener. Als Hadrianus die Zeitung erhielt, daß der Feldhauptmann Placidus die Feinde vertilgt, gefiel es ihm wohl; zog auch dem heimkehrenden Feldherrn entgegen, und erzeigte ihm große Ehre. Placidus mußte im Triumph in die Stadt einziehen, und ward in des Kaisers Palast aufs herrlichste bewirthet. Hierauf sprach Hadrianus: »Laßt uns in den Tempel gehen, und für des Reiches Wohlfahrt und des Feldherrn siegreiche Heimkehr den Göttern unsern Dank darbringen.« Placidus sah sich genöthigt, den Kaiser zu begleiten. Als er aber weder des Kaisers Göttern die geringste Ehre erzeigte, noch an den Opfern einigen Antheil nahm, verwies ihm solches der Kaiser, und sprach: »Solltest du den Göttern nicht danken, die dir und deinem Hause und dem ganzen Reich so großes Heil haben widerfahren lassen?«Placidus antwortete: »Dieß Heil verdanke ich Gott dem Allmächtigen und seinem Sohne Jesu Christo. Darum kann ich nichtigen Götzen nicht danken.« Als der Kaiser hörte, daß er ein Christ sey, ergrimmte er, befahl auch alsofort, den Placidus sammt seinem Weibe und seinen beiden Söhnen in der Gluth eines ehernen Ochsen zu Asche zu verbrennen. Dieß grausame Urtheil vernahmen die Heiligen mit unerschrockenem [39] Muthe, befahlen ihre Seele Gott, gingen betend in die Gluth des Erzes, und gaben darin ihren Geist auf. Als aber auf Befehl des Kaisers der Ochse am dritten Tage geöffnet wurde, fand man die Leiber der Märtyrer gänzlich unversehrt, auch kein Haar ihres Hauptes war versengt, noch spürete man einigen Brandgeruch in ihren Kleidern. Durch dieses große Wunder wurden die Gläubigen nicht wenig getröstet, nahmen die Leichname der Bekenner, und bestatteten sie mit großer Inbrunst.


* * *


Die Kinder hatten der Erzählung des Vaters mit unverwandter Aufmerksamkeit und sichtbarer Rührung zugehört. Die Zeit war indessen weit vorgerückt, so daß die Mutter ihnen bedeutete, sie sollten sich zur Ruhe begeben. Man sprach sofort das Abendgebet; und die Kinder, nachdem sie ihre Grüße und Küsse dargebracht, verließen das Zimmer.

Die Andern blieben noch einige Zeit beisammen, um sich in Gesprächen zu unterhalten. Der Großvater lenkte das Wort auf die Legende, welche so eben angehört worden war. Er lobte sie als eine der schönsten Geschichten aus dem christlichen Sagenkreise, zumal da sie auch, als eine Familien-Geschichte, zugleich eine der volksgemäßesten sey, [40] und den Armen wie den Reichen am Geiste in gleichem Grade gefallen müsse. Auch die Großmutter war mit der Erzählung, ihrer Wahl und Darstellung zufrieden; zumal rühmte sie die letztere, und erklärte sie, wenigstens nach ihrer Hauptpartie als Muster, wie dergleichen Geschichten nach ihrem Bedünken vorgetragen werden sollen. Sie könne sich übrigens (setzte sie hinzu) nicht genug verwundern, wie ihr hochstudirter und tiefgelehrter Herr Sohn sich zu einer so einfachen, schmucklosen, natur- und volksgemäßen Erzählungsweise habe bequemen und herablassen können.

Der Vater versetzte: »Will ich ehrlich und aufrichtig seyn, so muß ich gestehen, daß, wie die Legende, so auch ihre Darstellung größtentheils nicht mir gehöre, sondern eben einem andern, der es besser verstanden hat, als ich und wir Uebrigen, im Geiste und Worte der evangelischen Einfalt zu sprechen. Als ich nämlich – sagte er – gestern in den Winkeln dieses Hauses umhergestöbert, fand ich auf dem Gesimse der hintern, finstern Kammer, wo nur der Plunder liegt, ein Fragment von einem Foliobande, und, wie ich ihn durchblätterte, bemerkte ich, daß es eine jener sogenannten Legenden sey, die ehedem, nebst der Bibel und einigen Gebetbüchern in keinem christlichen Hause fehlte, und die, [41] zusammen mit einer und der andern Chronik oder auch sonst ein Paar nützlichen Hausbüchern, die Bibliothek eines ordentlichen Bürger- und Bauernhauses ausmachten. Das Buch zog mich an, und ich las fort, und verdarb meine Augen sehr in dem dunkeln Loche; denn hervor wollte ich mich doch nicht wagen in die Gesellschaft der Damen mit dem bestaubten, wurmstichigen, nach Moder riechenden Folianten –

Da haben wir's! – rief die Tante – er hatte Furcht, Vorwürfe von uns zu erhalten über den Bruch des Versprechens; ich meine nämlich das Capitel von Schachteln und Büchern.«

»Und so – fuhr der Vater fort – kam ich denn auch auf die schöne Legende von Placidus, oder, wie er im Martyrologium der Kirche genannt wird, Eustachius; und es war mir leicht, nach Inhalt und Form sie aufzufassen, daß ich sie treu wieder geben konnte; wie denn geschah.«

»Da er einmal eingestanden, daß er ein Plagiat begangen – sagte der Onkel – so möchte ich fast vermuthen, er habe auch ein Falsum gemacht. Die Episode von der Kindheit Christi, und was damit in der Geschichte, wie sie von ihm vorgetragen worden, zusammenhängt, scheint mir nicht zu der Legende selbst zu gehören, sondern – er soll es nur gleich gestehen – sie ist von ihm selbst eingeschaltet worden.«

[42] »Das möchte ich nimmermehr eingestehen – sagte der Vater lächelnd – außer man überwiese mich denn förmlich und nach Rechten.«

»Er gesteht's ein! – sagte lebhaft die Tante. – Aber fühlst du auch – fuhr sie fort – daß so etwas nicht bloß unrecht, sondern wahrhaft gottlos sey? Oder ist es erlaubt, eine kirchliche Ueberlieferung dieser Art willkürlich zu ändern, zu mißstalten? Wohin muß es kommen, wenn man auch das Heilige, das Religiöse antastet, und nach seiner Weise auslegt und entstellt?«

»Nicht so streng geurtheilt, mein gnädiges Fräulein! – versetzte der Vater. – Ich mag vielleicht eine ästhetische Sünde begangen haben, durch willkürliche Einschaltung jener andern Legende in die, allerdings in sich schon beschlossene, vollendete; aber eine sittliche Sünde, eine Verletzung des Heiligen, kann wohl hier nicht gefunden werden. Es gibt eine Art Legenden – wohin auch die unserige gehört – die von vorn herein schon eine poetische Gestaltung, zum Zwecke religiöser Auferbauung, erhalten haben, und die, obgleich sie der Wirklichkeit ermangeln mögen, dennoch die entschiedenste und wirksamste Wahrheit besitzen. Aus dem erstorbenen historischen Keime entsproßt eine lebendige, blühende Dichtung. Wenn nun aber einmal die Poesie an der ursprünglichen [43] Entstehung einer solchen Legende Theil genommen, so sehe ich nicht ein, wie es ihr verwehrt seyn soll, an der weitern Ausbildung derselben zu arbeiten, zumal zu einem besondern Zwecke, z.B. den ich vor Augen gehabt habe. Das religiöse Gedicht würde nur dann zu einer gewöhnlichen Erdichtung herab schwinden, wenn jene höhere Wahrheit, die tiefe, religiöse Bedeutsamkeit, Schaden litte; was aber von der Legende, wie sie von mir ausgestattet worden, wohl nicht behauptet werden kann.«

»Ich bitt' euch – sagte die Mutter – laßt dieses euer Kritisiren! Ihr verderbt uns damit allen reinen Genuß, und benehmt uns übrigen wohl auch die Freude und den Muth zu Mittheilungen ähnlicher Art. Was wollen wir denn mehr mit unsern Erzählungen, als die Kinder unterhalten, erbauen, erfreuen und erheben? Und haben sie heute nicht mit Andacht zugehört? und sind sie nicht mit jener innigen Rührung erfüllt wor den, die jede wahrhaft schöne, fromme Erzählung, sey sie nun Gedicht oder Geschichte, in uns erwecken soll? Was mich erbaut, das lieb ich, ohne weiter zu forschen, ob (wie man zu sagen pflegt) und was dran wahr seyn mag, oder nicht. Als Kind hielt ich so manche evangelische Parabel, z.B. die vom verlornen Sohne, für eine wirkliche Geschichte. Nun weiß ich, daß dem wohl [44] nicht so sey. Bin ich drum jetzt gescheidter? bin ich besser geworden? Durch die Aufklärung über die Form des Buchstabs nicht, sondern wohl nur durch tieferes Eindringen in den Geist der Wahrheit, der allein lebendig macht.«

»Man sprach noch vieles für und wider die Zweckmäßigkeit solcher religiöser Poesien; man vereinigte sich aber zuletzt doch darin: sie seyen schöne und liebliche Blüthen des Christentums, und gleichsam die Bilder und die Zierrathen an dem erhabenen Dome, den die Andacht der Gläubigen aller Jahrhunderte auszubauen unternommen hat, und der noch seiner Vollendung entgegen harret.«

[45]

III. Scenen aus dem Leben.

Der Freund machte der Familie den Vorschlag, nach Tisch eine Partie nach der Klamm zu machen. Es ist dieß eine sehenswerthe, tiefe, enge Felsspalte, durch die sich, eingeklemmt, die Partnach hindurch windet. Der Weg dahin, nach der Beschreibung des Freundes, däuchte jedoch den Großeltern zu weit und zu beschwerlich, und sie beschlossen, später nachzukommen, bis in die Wildenau, um dort die Rückkehrenden zu erwarten. Die Mutter erklärte sich, sie wolle den Großeltern Gesellschaft leisten. Die Uebrigen brachen sogleich nach Tisch auf, mit Bergstöcken wohl versehen.

Der Weg bietet an sich nichts Beschwerliches dar, eine jener steilen Stellen ausgenommen, welche die Einwohner einen »Stich« nennen. Leuten jedoch, die des Bergsteigens nicht gewohnt sind, macht es Schnaufens und Schwitzens genug.

[46] Als die Gesellschaft den steilen Weg antrat, rief der Freund: »Halt!« und gleich dem Anführer einer Truppe, gab er, den Knaben besonders, seine Ordres: »Jetzt langsam gegangen! Nur in kurzen Schritten! Nicht auf- und abwärts gesehen, sondern vor sich hin! Der Stock werde leicht geführt aber fest niedergehalten! Kein Wort gesprochen! Von Zeit zu Zeit still gestanden, ausgeathmet, umhergesehen! Dann wieder vor- und aufwärts! – Marsch!«

Fritz fing mit dem Munde zu trommeln an, undKarl pfiff dazu. Alle Commandowörter waren rein vergessen. Die Knaben gingen um die Wette, und ließen die Uebrigen bald weit zurück. Die Tante rief ihnen nach: »Langsam! nicht so schnell! ihr erhitzt euch zu sehr!« »Laßt sie, sagte der Vater; sie werden schon selbst nachlassen, wenn sie außer Athem kommen.« Und sie ließen auch bald nach, und schleppten sich so langsam fort, daß sie zuletzt von den Uebrigen beinahe eingeholt wurden. Da erwachte in ihnen aber das Ehrgefühl; sie rafften die letzten Kräfte zusammen, und nach einer Weile standen sie schon oben, während die Andern, in weiten Entfernungen, noch in dem Hohlweg sich heraufbewegten. Die Knaben feierten ihren Triumph durch lautes Rufen und Jubeln.

[47] »Man muß den wilden Rangen – sagte der Vater zum Freunde entschuldigend – diesen Uebermuth wohl nachsehen, den das freie Landleben in ihnen erweckt und nährt. Zu Hause, in der Stadt, in der Stube fühlet sich ihr Sinn und ihre jugendlich quillende Kraft zu sehr gehemmt und niedergedrückt. Hier, auf dem Lande, in der Freie und Frische, da finden sie ihr Element; und so schwirren und flattern und wirbeln sie denn, wie Vögelein, die, dem Käfig entronnen, trunken in die Luft, in das Licht, in die Freiheit sich hinein stürzen. Kommen sie wieder zur Stadt, so gibt und fügt sich wohl alles wieder zur nöthigen Stille und Ruhe, und zu jenem Ernst und Anstand, den dort das Leben und der Beruf erfordern.«

Nachdem die Gesellschaft auf der Höhe angekommen, sagte der Freund: »Nun wird vor allem nöthig seyn, daß wir ein wenig ausruhen, und uns abkühlen. Denn in der Schlucht drunten wehet eine sehr kühle Luft, die den Erhitzten leicht schädlich werden könnte.« Man lagerte sich auf der grünen Matte unter dem Schatten eines Apfelbaumes. Nachdem man so eine Weile gerastet, brach man auf, und stieg zur Schlucht hinunter. Der Freund ging voran; die Knaben blieben unter der Obhut des Vaters und des Onkels, die Mädchen hielten sich an die Tante.

[48] Sie standen auf der Brücke, die über die Kluft geschlagen ist. Der Anblick, der Eindruck ist überraschend, groß, schaudererregend. Man denke sich eine Felsenspalte, nur einige Schritte breit, gegen sechszig Klafter tief, unübersehbar nach ihrer Länge hier- und dorthin! Tief unten brauset die Partnach, gleichsam zürnend über die gewaltsame Beschränkung. Lichter flattern, wie Gespenster, matt flimmernd durch die Höhle. Bäume, anderes Gesträuch hält sich nur mühsam an den Felsenwänden. Kalte, schaurige Luft streicht durch die Kluft; und der Mensch steht auf einer leichten, hölzernen Brücke, schwebend über dem gähnenden Abgrund.

Nachdem sie alle eine Weile in stillem Erstaunen versunken geblieben, äußerte jeder seine Empfindungen nach eigenthümlicher Weise. Man fragte und antwortete; man machte sich gegenseitig aufmerksam auf einzelne Partien; die Knaben holten Steine herbei, und warfen sie in die Tiefe, und horchten nach dem Pralle derselben an den Wänden, und nach dem Platsch, den ihr Fall ins Wasser machte. Die Tante, die nicht zu bewegen war, in die Tiefe zu schauen, war immer hinter den Kindern her, warnend, abwehrend, sie wegziehend von dem Geländer. Bald mahnte sie ans Weggehen von diesem schauerlichen Orte, und zog die Mädchen nach sich. Die [49] Uebrigen blieben noch. Der Onkel machte noch auf den tiefern Hintergrund, auf die ferner liegende Landschaft aufmerksam, auf jenes Tannengebirge, das, sonnig und frei, außer dieser Schlucht sich hinlagert, und hinter welchem der mächtige Wetterstein die hell schimmernden Steinmassen aufthürmet. Die mannichfaltigen Naturgestalten, diese abwechselnden Farben und Lichter und Gegenstände, wie sie die kühnste Phantasie nicht zu ersinnen vermöchte, sie zogen die Blicke der Schauenden immer neuerdings an, so daß man sich schwer entschloß, den Platz zu verlassen.

Noch ehe sie weggingen, sagte der Freund: »Der Ort ist erst seit ein Paar Jahren Naturfreunden ohne Gefahr zugänglich, seitdem nämlich diese Brücke hier erbaut worden ist, von wo aus das Ganze bequem übersehen werden mag. Die Brücke selbst hat aber einem wesentlichen Bedürfniß ihre Entstehung zu verdanken. Es muß nämlich bemerkt werden, daß aus den innern Waldgebirgen alljährlich eine Menge Holz auf der Partnach herausgeflößt wid. Da geschieht es denn gar oft, daß das verworrene Zeug sich hier unten in der engen Kluft verrammelt und anhäuft. In solchen Fällen wird nun an einem Seile ein Mann in die Tiefe hinunter gelassen, der das angestauchte Holz wieder flott machen soll; eine Arbeit, [50] die, wie man sich denken kann, nicht bloß sehr mühsam, sondern auch sehr gefährlich ist.«

Die Knaben stutzten, und fragten nach Einzelnem, das bei diesem halsbrecherischen Unternehmen vorgenommen wird.

»Ehe diese Brücke erbaut war – fuhr der Freund fort – da war dieß alles bei weitem noch mühsamer und gefährlicher. Denn damals mußte der Mann, den das Loos traf, nicht hier in der Mitte, sondern an den Seitenwänden hinabgelassen und heraufgezogen werden, wobei es die schwere Aufgabe galt, vermittelst des Stockes, den er fest hielt, von den Wänden sich fern zu halten, damit er nicht an dem vorstehenden Gestein gequetscht oder geschunden würde.«

»Es wird also jederzeit glooset, wer diese Arbeit unternehmen soll? – fragte Karl. Man könnte ja lieber Preise aussetzen! Der Kühnste, der Verwegenste möchte sich wohl etwas verdienen wollen.«

»Das geht eben nicht an – sagte der Freund –; diese Leute verdingen sich einmal insgesammt, das Holz zu fällen, zu scheitern, weiter zu schaffen, und sie ziehen dafür ihren festgesetzten Lohn. Die Geldsumme ist im Allgemeinen bestimmt; die Arbeit muß gefördert werden. Da stehen denn zuletzt Alle für Einen ein, und Einer für Alle. So ereignete sich denn im letzten Jahre, ehe noch die Brücke gemacht [51] war, ein rührender Vorfall; und dieser hat wohl den menschenfreundlichen Beamten zunächst veranlaßt, die sichere und heilsame Vorrichtung zu treffen. Es hatte das Loos einen Mann getroffen, der ein Weib und vier unversorgte Kinder zu Hause hatte. Der trübe Tag, der heftige Strom des Wassers, die Masse des aufgehäuften Holzes machten das Wagniß noch größer, noch lebensgefährlicher. Andre Umstände waren aber auch höchst dringend; es mußte diese Höllenfahrt ohne Säumniß geschehen. Da trat der Bruder des Mannes hervor, den das Loos getroffen, und der auch zu den gedingten Leuten gehörte; und sprach: ›Hansel, ich lasse mich statt deiner hinunter; du bist verheirathet; mir weint kein Weib und kein Kind nach, wenn ich zu Grund gehe.‹ Er ließ sich an das Seil anbinden; und er kam auch, einige Prellungen ausgenommen, glücklich hinunter, und verrichtete da sein höchst mühseliges Geschäft mit Eifer und Ausdauer und Anstrengung aller Kräfte. Als er nun aber herauf gezogen wurde –

Ach! – fiel Fritz ein – da ist er sicher zerschmettert worden an den Felsen!«

»Das zwar wohl nicht – sagte der Freund –; aber, schon zu geschwächt durch die viele, schwere Arbeit, nicht mehr im Stande, sich fern zu halten von der [52] felsigen Wand, in der Dunkelheit, bei dem Gewüthe des tobenden Wassers, das seine Stimme, seine Rufe übertönte, kam er an seinen Kleidern, am Leibe selbst zerschunden, halb todt und kaum noch lebend, ans Tagelicht.«

»Er lebt also noch, dieser Mann?« fragte Fritz. »Er wird doch eine große Belohnung erhalten haben?« »Lieber Fritz, erwiederte der Freund; solch eine That belohnt sich selbst, und kann wohl auch anders Art belohnt werden, als durch eben dieß Bewußtsein. Uebrigens ist zu bedenken, daß Leuten, die oft mit Beschwerden und Gefahren zu kämpfen haben, Muth und Ausdauer und Geduld und Gelehrsamkeit zur zweiten Natur geworden sind; und Rühmlichkeit, Gesundheit, das Leben selbst stehen diesen nicht in so hohem Preise, als bei denen, die noch von der Natur mehr entfernt, und durch, Geberden, Gewohnheiten mehr verfeinert, und wohl manches erbildet haben.«

Nachdem der Freund noch also sprach, ertönte ein donnernder Ruf von oben herab: »Um Gottes willen wo bleibt ihr so lang?« Es war die Stimme der Tante, die zurückgekommen und einige Schritte vor der Brücke stehen geblieben war. »Ich habe große Angst um euretwillen ausgestanden! sagte sie. "Kommt denn, und verlaßt die verdammte Brücke.« [53] Man lachte. »Fräulein, sagte der Freund, Ihre Furchtsamkeit sticht sehr ab mit dem Muth, oder vielmehr Uebermuth jenes Mädchens, das erst im vorigen Jahr hier über den Baumstamm, der als Geländer dient, aus freien Stücken hinüberging.« Fritz rief: »Vater, wenn du mich führst, so wag' ich's auch.« Die Tante wollte schier ohnmächtig werden, als sie das hörte. »Es thut nicht Noth, sagte der Vater zu Fritz; ich weiß ohnehin schon, daß du brav und tapfer bist.« – Man verließ den Ort.

Nahe an der Klamm liegen ein Paar Bauernhäuser zwischen fetten Wiesen und nicht unerträglichen Feldern. Man beschloß, eine Equickung zu nehmen, Milch und Brod und Butter. Es stand vor der nächsten Hütte ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen, welches das Haus zu hüten (zu gaumen) schien, und das sogleich, nachdem es den Wunsch vernommen, Anstalten traf, um die Gäste zu bewirthen. Man lagerte sich im Schatten des Hauses, der Bäume; das Verlangte wurde herbeigebracht in reichlicher Fülle; man aß und trank mit so köstlichem Appetit, als genösse man von einer königlichen Tafel. – Das Mädchen fiel der Gesellschaft auf. Aermlich, aber reinlich gekleidet, in einer ungelenken, doch anständigen Haltung, nicht schüchtern, doch auch nicht zudringlich, stand sie vor den Gästen, als [54] wollte sie weitere Befehle erwarten. Ein gesundes Aussehen, frische, rothe Wangen, ein seelenvolles Auge. Man stellte einige Fragen an sie, die sie einfach und verständig beantwortete. Der Freund schien ihr schon näher bekannt zu seyn, und auf ihn war besonders der forschende Blick gerichtet.

»Dieß Kind – erzählte der Freund, während der Zeit, als das Mädchen sich entfernt hatte, um der Tante das verlangte Wasser zu holen – dieses Kind ist über seine Jahre gescheidt, besonnen und vernünftig, dabei gutmüthig, bescheiden und fromm. Im vorigen Winter, als der furchtbare Brand in Partenkirchen wüthete, war sie mit ihrem Großvater daselbst. Der alte, gebrechliche Mann sollte sich einer langwierigen Cur unterziehen, und so zog er denn von seiner Hütte in Grüneck da hinunter, und nahm diese seine Enkelin mit sich. Die kochte ihm, und besorgte alles, was dem Alten sonst nothwendig war, mit allem Geschick und Fleiße. Da brach mitten im Winter, bei Nacht, Schnee und Wind der furchtbare Brand aus. Was that sie? Das Haus lag fern, wo der Großvater wohnte; sie allein konnte nicht helfen, wenn die Gefahr sich nahte. Sie lief fort, und lief, mitten in der stockfinstern Nacht; durch Schnee und Eis, bei grimmiger Kälte, hieher nach Haus, um zu berichten, daß es in Partenkirchen [55] brenne, und daß der Großvater dort sey.«

Die Kinder bekamen großen Respect vor der kleinen Dirne, in dem ärmlichen Anzug, aber mit der großen Seele, – und die Mädchen machten sogleich nähere Bekanntschaft mit ihr. Man lud sie ein, mitzuhalten; sie zögerte sittsam, aber auf Zureden des Freundes langte sie zu, und schien seelenvergnügt zu seyn ob der Leutseligkeit der vornehmen Gesellschaft. Nach genossenem Imbiß, während die Größern noch Rast hielten vor der Hütte, gingen die regsamen Kleinern auf die Wiese, die abseiten vom Hause liegt, und unterhielten sich mit Spielen und Schäckern. Die Tante stand nach einer Weile auf, um den Kindern nachzusehen; und – »Herr Jesus!« kreischte sie, daß die Männer erschrocken herbeiliefen. Die Knaben wälzten sich auf der, gegen die Klamm zu abhängigen Matte, und wargelten und burzelten über und über, während die Mädchen ihnen lärmend nachliefen. Die Männer lachten über die eitle Schreckhaftigkeit der Tante, wo doch gar keine Gefahr sey; und der Onkel lehrte Fritzen noch, der etwas unbeholfen sich gebärdete, wie er sich anzustellen habe bei dem Burzelbaum-Spiele.

Als die Eltern sich wieder vor der Hütte niedergelassen, sprach der Onkel lebhaft seinen Tadel gegen[56] die Tante aus, über ihre Furchtsamkeit, ihr ewiges Abmahnen und Abhalten, wo auch nicht die mindeste Gefahr sey. »Du solltest – sagte er – diese Unart, wenigstens in Gegenwart der Kinder, verdecken und unterdrücken, welche hiedurch geärgert, wo nicht gar angesteckt werden. Die Mädchen, die Ohnehin von Natur aus schüchtern sind, folgen nur zu leicht dem Zuge des bösen Beispiels, und sie legen sich zuletzt die Furchtsamkeit bei, wie einen Putz, der sie zieren soll. Die Knaben aber, wenn sie dich nicht vollends als eine Geckin verlachen, werden dich mindestens als eine strenge Hofmeisterin scheel ansehen, und das ihnen ohne Noth Verwehrte mit Ingrimm fahren lassen, um es hinter deinem Rücken mit desto mehr Freude nachzuholen.«

»Nun fürwahr – unterbrach die Tante – diese Strafpredigt hätte ich nicht erwartet für meinen guten Willen.«

»Wer zweifelt denn an deinem guten Willen? – sagte der Onkel. – Minder gut, wäre er besser. Auch will ich dir in deinem Regimente über die Mädchen, dem du dich so liebevoll unterziehest, durchaus nicht einreden; und wenn sie von dir auch diese Furchtsamkeit ablernen würden, so wäre der Schaden noch nicht so gar groß, weil das zartere Geschlecht doch einmal nicht sowohl zum Handeln und Kämpfen, [57] als viel mehr zum Dulden, zur stillen Häuslichkeit und zu friedlichem, ruhigem Thun und Lassen geboren und bestimmt ist. Aber die Knaben laß mir aus dem Spiele und stecke sie mir nicht an mit deinem zimpferlichen Wesen; die sollen einst handelnd und kämpfend sich durch die Welt schlagen, und darum müssen sie schon von jung an mit der Gefahr sich befreunden, und an Hindernissen und Beschwerden ihre Lust haben, gleichsam als an Cameraden, mit denen sie sich gern herum balgen. Kurz: die Knaben gehören meiner Zucht an. – –

Da stehen sie wahrlich unter einer heilsamen Zucht! versetzte die Tante. Wären sie immer auf dem Lande, und unter deiner Obhut, sie würden zu wahren Wildfängen ausarten.«

Der Onkel lachte, und das Gespräch nahm wieder eine freundliche, heitere Wendung. Und da ungefähr die Stunde sich nahte, wo, abgeredter Maßen, die Zurückgebliebenen in der Wildenau einzutreffen sich vorgenommen, so beschloß man aufzubrechen, und den Rückweg anzutreten. Der Vater beschenkte das Mädchen aus der Hütte großmüthig, die, ohne das Geld sogleich anzusehen, artig und sittsam sich dafür bedankte.

Ein steiler Fußpfad, wie der, den die Gesellschaft zurückzulegen hatte, ist für Ungeübte abwärts schwerer [58] zu beschreiten, als aufwärts. Der Onkel bot daher der Tante den Arm; der Vater und der Freund führten die Mädchen. Karl sagte: »Ich führe Fritz,« und der: »Ich brauche niemanden.« Und also trat die Caravane den Weg an. Der erste, der ausglitschte und unsanft zu Boden fiel, das war der Fritz. »Achele, ach!« rief er aus. Diesen von der Großmutter abgelernten Schmerzausruf ließ er gewöhnlich hören, wenn er keinen besondern Schaden genommen, und mit seinem Unfall selbst Scherz treiben wollte. Karl bot ihm seine Hand, die er nun annahm. Der Vater sagte: »Schaden nehmen lehrt Acht geben.« Und der Onkel: »Besser eine Beule am Kopf, als eine Makel im Herzen.« – Indem sie so thalwärts gingen, begegnete ihnen ein junger Mann, wohl beladen, der mit raschen Schritten bergan stieg. »Wohin heute noch?« fragte ihn der Freund. »Auf die Wettersteiner Alm,« antwortete der Bursche. »Wie weit habt ihr dahin?« fragte der Onkel. »Noch gute drei Stunden. Wollt ihr mit?« »Nein, sagte der Onkel, für heute nicht; vielleicht ein anderes Mal. Gute Fahrt!« Man sah dem Manne nach. »Wetter! sagte der Onkel, der hat eine Wadenkraft!« »Das sind so die Spaziergänge unserer Gebirgsbewohner!« bemerkte der Freund.

[59] Die Gesellschaft kam wohlbehalten in der Niederung an. Nun erst aber bekannte die Tante, welche Angst sie ausgestanden im Herabsteigen. Sie war auch ganz ermattet an Leib und Seele. »Einmal in die Klamm gegangen – ächzte sie – und nun nimmermehr.« Alles lachte. – Indem man sich um einander umsah, bemerkte man erst das Mädchen aus der Bauernhütte, welches der Gesellschaft stille nachgeschlichen war. Sie ging auf den Vater zu, und, indem sie die Hand öffnete, wo das große, schwere Geldstück lag, als wollte sie fragen, ob er's wirklich so gut habe meinen wollen, küßte sie ihm stillschweigend die Hand, und ging dann des Weges zurück. »Das gute Kind – sagte der Vater – hat uns, obgleich sie freilich sehr hoch wohnt, die Treppen herab bis an das Thor begleiten wollen. Was wir aus Höflichkeit thun, das that sie aus Herzlichkeit.«

Bald, nachdem sie den Damm zurückgelegt, entdeckten sie auch schon von ferne die Mutter mit den Großeltern, die auf einem Felsstein ausrasteten. Die Kinder jubelten ihnen entgegen. Sie hatten des Erzählens kein Ende. Man wandelte nun zusammen das kleine Thal entlang; die Abendlichter spielten wundersam an den belaubten Abhängen; die Lüfte wehten erfrischend den Wandelnden entgegen; die Wasser mischten ihr Geräusche, gleichsam [60] mitplaudernd, in das wechselnde Gespräch; die ganze Natur athmete und hauchte stille Freude in die friedlichen Gemüther. Man kam spät zu Hause an; und nach einem kurzen Abendmahle sehnten sich alle gar bald nach Ruhe.

[61]

IV. Das Mährchen von den Kücheln. – Der Reiter und sein Ross. – Der Lügner. – Der Vogel und der Bauersmann.

Es brach ein heiterer, schöner Morgen an. Auf den höhern Gebirgen lag frisch gefallener Schnee, in dessen Spiegel der Morgenstrahl leuchtete gleich einem Opferbrande. Einzelne Nebel stiegen wie Rauchwolken von den niedern Gebirgen empor. Die ganze weite, große Landschaft erschien als ein Tempel Gottes mit seinen gewaltigen Bergwänden, mit dem bunten Estrich der Wiesen und Felder, und mit dem erhabenen Gewölbe des sonnigen, blauen Himmels. Die Natur hielt mit den Menschen ihre Sonntagsfeier.

Es war alles schon früh rege im Hause, was der Mutter zum Theil unlieb war, weil sie manches [62] noch zu besorgen hatte für die Kinder und ihren Sonntagsstaat. Doch es galt hier das »ländlich, sittlich,« und so ward sie durch die Unordnung der großen und kleinen Leute in ihrer Ordnung nicht besonders gestört. Immer noch zur rechten Zeit war der Anzug vollendet, das Frühstück genossen, die Arbeit für den Tag erwogen und befohlen.

Die Familie brachte den Morgen in Stille, Ruhe und Andacht, wie sich's ziemte, in der Kirche und zu Hause zu. Vor Tisch ward noch ein Sabbathsweg ge macht längs der Loisach hin, und auf der schönen Flur, die den Ort von allen Seiten umschließt.

Nach getroffener Abrede wollte man den Nachmittag in Hammersbach zubringen. Es ist dieß ein Weiler, aus einigen Häusern bestehend, am Fuße desWachsensteins gelegen. Der Weg dahin beträgt nur eine Stunde, und führt ebenen Landes über Felder und Wiesen. Indem man des Weges geht, entfaltet sich hier vor den Augen des Lustwandlers die weite Gegend am schönsten und vollständigsten. Das große, in sich beschlossene Thal ergießt sich in drei Mündungen. Nach Norden verfolgt das Auge die Berge, die in die Ebene hinaus laufen; von Osten schaut der mächtige Karwendel [63] herein; gen Westen erheben sich, terrassenförmig, andere Gebirge; im Süden endlich ragt hervor und breitet sich aus jener kolossalische Zug von Gebirgen, deren höchster Gipfel dieZugspitze 1 ist. Der Wachsenstein, selbst ein Gigant, scheint sich an jenen anzulehnen, wie ein Zwerg an einen Riesen. Dann die grünen, begras'ten und tannenbewachsenen Vorgebirge umher, und die frischen, üppigen Matten und Saatfelder hier unten, – und droben der von Düften schwangere, von Luft und Farbe gesättigte Aether – – es bildet dieß alles zusammen ein Panorama von solch erhabener Größe und reizender Mannichfaltigkeit, daß der Sinn, übersättigt vom Anblick, von der Bewunderung des Ganzen, zu gleich nicht satt werden kann in der Beschauung des Einzelnen.

Der Onkel, an den sich die Kinder angeschlossen, hatte bereits schon Erkundigungen genug eingezogen, um ihnen jeden Berg zu benamsen, und sonstige Aufschlüsse über die Gegend, die Einwohner, ihre Beschäftigung und Nahrung zu ertheilen. Sie bildeten die Vorhut, das »leichte Volk,« wie die Tante sagte; die Uebrigen folgten in einiger Entfernung nach, weil Großvater und Großmutter, der starken [64] Bewegung noch nicht gewohnt, langsam gehen und oft ausruhen mußten.

Nach einer Stunde langte man am Hammersbach an, von dem der Weiler den Namen führt. Es zieht sich nun der Weg längs des Baches hinauf, und der Lustwandler erfreut sich des Schattens frei und kräftig empor strebender Bäume, und der erfrischenden Kühle, die der rasch fließende, aus den Bergschluchten Wasser abführende Bach verbreitet. Das weite große Thal verschwindet allmählich in dem Busch; ein breiter, hoher Hügel voll buntgefärbten Laubholzes, nebst dem kahlen, schroffen Wachsenstein, bildet den Vordergrund, indem zwischen beiden eine Schlucht sich öffnet, die zumHöllenthal führt, und im Hintergrund von den Eisfeldern der Zugspitze begränzt wird. Man erging sich in dieser erquicklichen Partie noch langsamer und behaglicher.

Der Onkel hatte indeß Quartier gemacht, und unter den Höfen denjenigen ausgewählt, wo die Wohnung am reinlichsten, der Garten am schattigsten, die Hausfrau am freundlichsten schien. Die Angekommenen lobten seine Wahl; und, da der Tag so warm und heiter sich zeigte, beschloß man, auch den Abend hier zuzubringen.

Die Kinder tummelten sich im Garten umher, spielend, während die Größern, unter einem Baume [65] gelagert, sich in mannichfaltigen Gesprächen ergingen. Man nahm dann den Imbiß im Freien ein, der, nebst Milch in Kücheln bestand, welche die Bäuerin gar wohl zuzubereiten wußte. Jedermann lobte die Speise, zumeist die Kinder, durch die That nämlich, daß sie sich dieselben recht sehr schmecken ließen.

»Indem ich diese ländliche Delicatesse wieder einmal auf dem Lande genieße – sagte die Großmutter nach einer Weile – so erwachen wiederum so manche Jugenderinnerungen an Personen, Zustände und Geschichten, die ich in jener glücklichen Zeit erfahren habe. Und so fällt mir denn auch ein Mährchen ein, das uns Kindern besonders wohl gefallen hat, und des Wiedererzählens und Aufbewahrens werth ist.«

Der Großvater, alle drangen in sie, das Mährchen zum Besten zu geben. »Ich wollte es gern; aber du weißt – sagte sie, sich an den Großvater wendend – wie mich der böse Husten plagt, und mich hindert, lange zu reden.«

»Thu' dein Möglichstes, sagte der Großvater; und wenn du in deiner Geschichte stockest, so will ich mit einer andern kürzern inzwischen kommen, um dir Ruhe zu schaffen, und das junge Volk hier in der Aufmerksamkeit und bei rechter Stimmung zu erhalten.«

[66] Die Großmutter begann, so recht in der Weise der schwäbischen Mundart – sie war eine geborne Schwäbin – »Als die Küchle gebachen waren – –«

Die Kinder lachten laut auf; Fritz schlug jubelnd in die Hände. Die Tante fragte: ob es denn gerade zum Wesen des Mährchens gehöre, daß es in dieser groben Mundart vorgetragen würde. Die Großmutter sagte: »Ja! das Kind ist einmal ein schwäbisches von Geburt, und so soll es denn auch ein schwäbisches Jankerle tragen.« Sie begann wieder:


* * *

Das Mährchen von den Kücheln.

Als die Küchle gebachen waren, gab die Mutter jedem Kinde eins zum Imbiß; die übrigen aber trug sie in die Speis für das Mittagessen, und sagte dann, und drohte: Rührt mir nichts an in der Kuchel und im Keller, das sag' ich euch; sonst ergeht es euch, wie jenen bösen Buben, von denen die Geschichte erzählt.

Eine Bäuerin hatte sechs Kinder, lauter Buben, von sechs bis zwölf Jahren. Da hatte sie denn mit ihrem Manne vollauf zu thun, um sie alle zu ernähren. Am Notdürftigen fehlte es auch den Kindern eben nicht; aber Küchle kriegten sie nie, [67] gleichwie die Kinder in andern Bauernhäusern. Da sagten sie oft: »Aber, Mutter! wann bachet Ihr uns denn einmal Küchle? Wir möchten auch einmal Küchle haben.« Die Mutter sagte dann jedesmal: »Merkt! Schwarzes Brod macht die Backen roth. Habt ihr sonst keine Schmerzen?« – Warum sie aber keine Küchle bachen, und weder sie selbst noch ihr Mann eins schmecken und essen mochte, das muß wohl, denk' ich, seine geheime Ursache gehabt haben. – Das ging nun so fort bis ins siebente Jahr. Da gebar sie ein Töchterle, das sie Lisele nannte; und ihre Freude darob war so groß, daß sie den Buben versprach, sie wolle ihnen endlich auch Küchle bachen. Als die Buben das hörten, hatten sie große Freude, und sie konnten kaum den Tag erwarten, wo sie endlich auch einmal Küchle kriegen sollten. Die Mutter richtete den Teig zu; sie machte Feuer an; sie setzte die Pfanne voll Schmalz darüber; jetzt pregelte scbon das erste Küchle und bräunte sich; jetzt ward es herausgelangt mit dem Spieß, und in die Schüssel gelegt; und da lag es nun so schön braun und von Fett triefend, und es schmeckte (roch) so gut, daß den Buben der Mund darnach wässerte, und der Gelust ihnen aus den Augen lugte. Darauf als die sechs Küchle gebachen waren, nahm die Mutter die Schüssel, und trug sie in die Speis, indem [68] sie sagte: »Die Küchle müssen erst ein wenig auskühlen; dann schmecken sie besser.« Kaum aber hatte die Mutter die Kuchel verlassen, so schlichen die bösen Buben in die Speis, und jeder nahm sein Küchle, und lief davon; und vor dem Fenster, daraus die Mutter guckte, blieben sie stehen, und bissen in die Küchel, und lachten sie aus. Das verdroß die Mutter, und sie rief voll Ingrimm: »O ihr vermaledeiten Rabenkinder!« Als sie das kaum ausgesprochen, sieh, da verwandelten sich plötzlich die Buben in lauter Raben, und sie flogen auf und davon, schreiend und krächzend. – Es gereute zwar die Mutter alsbald ihr Fluch, und sie heinte und jammerte; aber es war zu spät. Da sah sie das Lisele liegen in der Wiege, und sie sagte: »Sey du mein Trost und meine Freude und meine einzige Hoffnung!« – So vergingen ein paar Jahre und drüber. Da wie eines Tages Lisele im Garten saß im Grase und ihre Milchbrocken aß, kamen sechs Raben herbei geflogen, und setzten sich im Kreis um das Kindlein, als bäten sie dasselbe um ein Bröckle. Und Lisele, wie es denn ein gar gutes Herz hatte, warf jetzt dem einen, dann den andern Vögeln einen Brocken hin, und lugte ihnen zu, wie sie fraßen, und hatte ihre Freude daran. Ihr habts errathen, wenn ihr glaubt, daß diese sechs Raben niemand anders gewesen, als [69] die verwünschten Brüder. Ach! sie hatten ihren bösen Lust theuer büßen müssen. Sommer und Winter, bei Hitz' und bei Kälte, mußten sie sich auf freiem Felde aufhalten, und sich kümmerlich nähren von dem Aas und dem Dung und all dem Unrath. Oft flatterten sie um das Haus, darin sie geboren worden – denn sie hatten die Besinnung behalten, gleich Menschen – aber aus Furcht vor der Mutter, die ihnen geflucht, flogen sie bei jedem Geräusch gleich wieder hinweg, schreiend und krächzend. An jenem Tage aber, als sie ihr Schwesterle erblickten, da faßten sie Zutrauen, und flogen näher, um Speise bittend; und von der Zeit an kamen sie alle Tage, das Lisele aufzusuchen, die auch jederzeit schon auf sie wartete, und gern mit ihnen theilte. »Allmählich wurden sie so heimlich, daß sie ihr aus der Hand fraßen. Und wenn sie noch nicht da waren, so rief nur Lisele:


Raben schwarz, mit dem Schnabel roth,

Kommt doch her zum Vesperbrod!


und alsogleich kamen sie herbei geflogen, als wenn es so seyn müßte, im Sommer in den Garten, im Winter vor's Fenster. – Das hat viele Jahre so gedauert. Eines Tags sind sie aber alle ausgeblieben, und nicht wieder gekommen.«

»Wo sind sie denn aber hingekommen?« fragten[70] die Kinder. »Müßt ihr denn sogleich alles wissen?« sagte die Mutter.


* * *


Hier hielt die Großmutter inne, und sie sagte, daß nun der Großvater seine Geschichte beginnen sollte. Dieser erzählte folgende Geschichte »vom Reiter und seinem Roß.«


* * *

Der Reiter und sein Ross.

Wer im Kleinen nicht Sorge trägt, muß im Großen Schaden leiden ... Das erfuhr einst ein Kaufherr, der, um eines schlechten Nagels halber, ein schönes Roß verlor. Dieser ritt von dem Markte nach seiner Heimath zurück, wohl bepackt mit Geld und Geldsorgen. In einem Städtchen hielt er Mittag; und der Knecht, als er ihm sein Pferd vorführte, sagte: »Herr, es fehlt dem Roß ein Nagel am Hufeisen, am linken Hinterfuß.« Ei was! sagte der Kaufherr; »Nagel hin, Nagel her! Die sechs Stunden, die ich noch zu machen habe, wird das Eisen wohl noch halten. Ich hab' Eile.« Und damit ritt er fort. Nach etlichen Stunden, als er wieder einkehrte und dem Rosse Brod geben ließ, kam der Knecht in die Stube, und sagte: »Herr, es fehlte euerm Pferde ein Hufeisen am linken Hinterfuß. [71] Soll ich's wohl zum Schmied führen?« »Hm! sagte der Kaufherr, Hufeisen hin, Hufeisen her! Die Paar Stunden, die ich noch zu machen habe, wird das Pferd wohl aushalten. Ich hab' Eile.« Und er ritt wieder fort. Er ritt aber nicht lange, so fing das Pferd zu hinken an; und das Pferd hinkte nicht lange, so fing es zu stolpern an, und es stolperte nicht lange, so fiel es endlich, und brach sich ein Bein, und stand nicht mehr auf. Da sagte der Kaufherr freilich nicht mehr: Pferd hin, Pferd her; sondern er kratzte sich hinter den Ohren, schnallte ganz stät die Geldkatze und den Mantel ab, und setzte seinen Weg fort, zu Fuß, wohlbeladen mit Geld und Geldsorgen; und er hatte nun keine Eile mehr. Unterwegs aber dachte er wohl: »An dem ganzen Unglück ist doch nur der vermaledeiteNagel Schuld.« Aber


Vorgethan und nachbedacht

Hat manchen schon in Schaden gebracht.


* * *


Die Großmutter fuhr hierauf fort in ihrem Mährchen:

Als die Küchle gebachen waren, sagte die Mutter: »Da, nehmt's mit Dank, und esset ordele; und lasset kein Brösele fallen, oder ihr hebt's vom [72] Boden wieder auf; – es ist Gottes Gabe! – Und daß keins dem andern neidisch sey! Sonst gibt's Riß! – Kinderle, gönnt fein alles einander von Herzen, wie ich's euch gönne, und Gott gesegn' es euch!« Drauf sagte sie: Ich könnt' euch eine traurige Geschichte erzählen, wie's Menschen ergeht, welche Gottes Gabe verachten oder sie andern mißgönnen.

Es lebten zu einer Zeit zwei Grafen, von großem Reichthum und Ansehen; und ihre prächtigen Schlösser lagen nahe an einander auf hohen Bergen, und ein enges Thal war dazwischen. Der eine hatte in Söhnle, der andere ein Töchterle; und die Eltern wachten schon früh daran, wie sie beide einstens mit einander vermählen, und so ihre Güter zusammen bringen wollten. Und das wäre gut gewesen. Aber die beiden Grafen waren gar stolze und hochmüthige Herren, und sahen auf die andern Leute mit Verachtung herab, als wären sie nicht auch Menschen, wie alle. Und diesen bösen Sinn übertrugen sie auch auf ihre Kinder; und der Junker that über die Maßen wirrisch und vornehm gegen alle, die nicht seines gleichen waren, und das Fräule war zänkisch und neidisch, und gönnte Niemanden nichts. – Nun wohnte im Thale, das zwischen den beiden Schlössen lag, in einer ärmlichen Hütte ein altes Mütterle, [73] die sich kümmerlich nährte. An der Kirchweih aber mochte sie wohl denken: »Heute will ich mir auch einmal einen guten Tag anthun; und ich will, wie andere Leute, Küchle bachen; und wenn sie gut gerathen, so will ich auch den beiden jungen Herrschaften einige schicken.« Und es geschah; und sie schickte ein Paar der schönsten Küchle auf das eine Schloß, für den gnädigen Junker, und ein Paar andere, die eben so schön waren, auf das andere Schloß für das gnädige Fräule. Als der Junker durch den Boten die Ausrichtung gehört, da wurde er aus eitlem Stolz ganz unwililg, und er nahm das Teller, und warf die Küchle zu Boden, und trat sie mit Füßen, wobei er sagte: »Das sey eine Kost für gemeine Leute, aber nicht für vornehmer Herren Kinder.« Zu gleicher Zeit kam auch der andere Bot zum Fräule und machte seine Ausrichtung. Wie diese die schönen Küchle sah, und merkte, daß sie so gut schmecken, da erwachte in ihr der Neid, und sie sagte: »Was? dieses Lumpenvolk ißt so gut? So etwas gehört nur auf vornehmer Leute Tafel.« Und die Eltern beider Kinder, als sie das hörten, lachten dazu. – Ihr mögt denken, Kinder, daß solche Ruchlosigkeit nicht ungestraft geblieben. Die beiden Schlösser sind alsogleich, mit Mann und Maus, in die Erde versunken. Junker und Fräule sind aber [74] bei Leben geblieben. Wißt ihr, wie? und wo? Arme Bauersleute sind's geworden; die Eltern sind's gewesen von den sechs Buben, die in Raben verwandelt worden, und von dem kleinen Lisele, die sie mildthätig gespeiset. Jetzt wißt ihr alles, und ihr mögt nun fein eure Lehre daraus nehmen.

»Was ist denn aber aus dem Lisele geworden, und ihren sechs Brüdern?« fragten die Kinder. »Hab' ich's euch nicht schon erzählt? sagte die Mutter. Nun, sagte sie, so will ich's euch ein ander Mal erzählen.«


* * *

Der Lügner.

Als die Großmutter wieder eine Pause machte, nahm der Großvater das Wort, und erzählte folgende Geschichte:

Es begab sich, daß ein frommer Rittersmann ins Wälschland nach Rom pilgerte. Unterwegs gesellte sich ein lustiger Bruder zu ihm, den jener sofort als Bedienten mit sich nahm. Dieser Geselle hatte aber die böse Gewohnheit, daß er entsetzlich log, was der Ritter nicht leiden mochte. Eines Tags erzählte er ihm: er habe auf seinen Reisen einen Hund gesehen, der so groß gewesen sey, wie ein Elephant. Das verwies ihm der Ritter, und [75] sagte, das sey' gewiß erlogen. Jener aber betheuerte und schwor, daß es wahr sey, und daß nicht ein Haar daran fehle. Da dachte der Ritter: Wart, deine Lüge will ich dir so schwer machen, daß du sie gern abschüttelst. Er sagte nach einiger Weile zu dem Gesellen: Nun kommen wir bald zu einem Flusse, den wir übersetzen müssen; und es ist die Eigenschaft dieses Wassers, daß derjenige, welcher an demselben Tage gelogen, ohne Rettung darin ersaufet. Das fiel dem Lügner etwas schwer aufs Herz, und er fragte: wie weit es noch hin sey? Der Ritter antwortete: nicht mehr gar so weit. Da sagte jener, von Furcht getrieben: »Mit Verlaub! habe ich nicht vorher zu Euch gesagt: der Hund, den ich gesehen, sey so groß gewesen, wie ein Elephant?« »Ja, antwortete der Ritter, das hast du gesagt.« »Da hab' ich mich versprochen, sagte der Geselle; ich wollte sagen, er sey so groß gewesen, wie ein Ochs.« Sie gingen darauf eine Weile weiter, und der Ritter sagte: Nun sehen wir schon in der Ferne den Fluß, über den wir setzen müssen. Der Geselle sah trübselig hinaus und schwieg still. Kurz darauf sagte er aber: »Wenn ich's so recht bei mir bedenke, so erinnere ich mich, daß jener Hund doch nicht ganz so groß gewesen ist, wie ein Ochs; aber größer war er sicherlich, als ein Kalb, ein gemästetes; das kann [76] ich Euch sagen, und ich laß mir nun nichts mehr abmarkten.« Der Ritter sagte darauf kein Wort, sondern ritt weiter, und sie standen nun am Flusse. Wie nun der Ritter schon im Wasser war, schaute er nach dem Gesellen um, und sah, daß er noch am Ufer wartete, und sich am Kopf kratzte. »Nun was ist's? fragte der Ritter; folgst du, oder folgst du nicht?« Der Geselle sagte: »Mit Vergunst, Herr Ritter! daß ich Euch etwas sagen will. Der Hund, von dem ich zu Euch gesprochen; er war eigentlich nicht viel größer, als ein anderer Hund, oder vielmehr gerade so groß, wie Ihr wißt, daß die Hunde alle sind.« Nachdem er dieß Geständniß gethan, ritt auch er in das Wasser, und beide kamen glücklich ans andere Ufer. Als sie wieder im Trockenen waren, da las ihm aber der Ritter ein tüchtiges Capitel; und späterhin, so oft es dem Gesellen beifallen wollte, zu lügen und aufzuschneiden, so erinnerte er ihn an den Hund und an das Wasser, das keinen Lügner duldete.


* * *


Nachdem der Großvater geendet, wendete sichFritz wieder zur Großmutter, und sagte, in einem Tone, der fast wie Spott klang: »Als die Küchle gebachen [77] waren – – wie heißt's weiter?« Die Großmutter drohte dem Schelm mit dem Finger, und fuhr dann fort:

Als die Küchle gebachen waren, sagte die Mutter: »Die armen Kinder des Nachbauern möchten auch gern Kirchweih haben. Ihr könnt wohl warten bis Mittag, wo andere Leute essen.« Also wurden die Küchle eingepackt, und hinüber getragen zu des Nachbauern seinen Kindern. »Was man den Armen thut, tragt Gotteslohn, sprach die Mutter; und die Creatur schreit zum Himmel, und bringt Segen oder Fluch. – Habt ihr die Geschichte von den sechs Raben nicht vergessen, und dem Schwesterle, das sie gefüttert? Hört nun, wie die Geschichte ausgegangen.«

Das fromme Lisele war von dem Tage an, als die Raben ausgeblieben, nicht mehr bei frohen Sinnen. Es schmeckte ihr kein Vesperbrod mehr, seitdem sie es nicht mehr mit ihren lieben Vögeln theilen konnte. Da kam sie auf den Gedanken: als habe vielleicht das Brod den Raben endlich zu schlecht geschienen, und sie seyen darum ausgeblieben. Und sie bat die Mutter, daß sie ihr doch einmal ein einziges Küchle bachen möchte, aber ein recht großes. Die Mutter erschrack darob, wie ihr leicht denken mögt, denn die Küchle gemahnten sie an jenes frühere [78] Unglück. Sie konnte aber dem Lisele, dem einzigen Kinde, nichts abschlagen, und so bachte sie denn eines Tags Eines, und zwar ein so großes, daß es die ganze Pfanne ausfüllte. Das nahm Lisele, die nun sieben Jahre alt geworden, und trug es mit sich fort in den Garten, und rief:


Raben schwarz, mit dem Schnabel roth,

Kommet her zum Vesperbrod.


Doch die Raben kamen nicht; aber, indem sie die Worte gesprochen, entwitschte ihr das Küchle, und es wargelte fort auf dem Boden, wie ein Rad. Lisele lief ihm nach, um es einzuholen; aber das Küchle rollte fort und fort, jetzt bergab, dann gradaus, dann ums Eck herum, immer weiter und weiter, bis endlich ein Berg von lauterm Krystall am Wege stand. Das Küchle aber rädelte sich auch den Berg hinauf, und Lisele konnte nicht nach auf der glatten Wand, weil sie immer ausrutschte. Das arme Mädle wurde nun sehr traurig, und fing an, bitterlich zu weinen. Da öffnete sich ein Thor im Krystallberg, und heraus trat eine weiße Frau zu ihr, die sagte: »Weine nicht! Dein Küchle ist am rechten Orte. Willst du aber selbst sehen, wo es hingekommen, so nimm diesen Ring, stecke ihn an den Finger, und reibe ihn.« Lisele nahm den Ring mit Dank an, und that, wie ihr gerathen ward. [79] Und, sieh da! husch! flog sie als Fliege davon, den Krystallberg hinauf, wohin das Küchle den Weg genommen. Oben am Gipfel bemerkte sie eine weite Oeffnung, und wie sie hinein schaute – was meint ihr, was sie da sah? Sechs Junker, in schönen, seidenen Kleidern, saßen da um einen großen Tisch, in dessen Mitte, auf einer silbernen Schüssel, das Küchle lag. Es war aber ein hoher, weiter Saal, darin sie saßen, Boden und Wände von eitelm Silber und Golde, und übersäet mit funkelnden Edelsteinen, so daß es im Himmel nicht schöner seyn könnte. Lisele bekam Lust, in den Saal zu fliegen, und die schönen Junker in der Nähe zu besehen – wie denn die Mädle alle neugierig sind. Und sie flog sogleich hinab, und setzte sich dem ältesten auf die Nase. Die Junker waren in lebhaftem Gespräch über das Küchle, wie es so plötzlich herein gekommen, und was wohl die Mutter mache und das liebe Lisele. So konnte sie denn von einem zum andern fliegen, und jeden genau besehen, ohne daß sie bemerkt wurde. Endlich aber sah sie der jüngste, und er rief: »Wie kommt denn diese Fliege herein? Jagt sie hinaus!« Und nun machten sie Alle Jagd auf die arme Fliege; diese flog hin und her, auf und ab, in voller Angst, erschlagen zu werden, bis sie endlich ganz müd und matt an der Wand hinab fiel in ein Eck, wo man [80] sie nicht mehr bemerkte. Als sie wieder zu sich gekommen, so stand sie wieder in ihrer wahren Gestalt da, wie sie leibte und lebte; und sie fürchtete und schämte sich, unter so vielen Junkern allein da zu seyn. Diese aber, als sie kaum das Mädle erblickten, riefen wie aus Einem Munde: »Sieh da! Schwester Lisele! Ja, wie kommst denn du hieher, liebs Schwesterle? Sey willkommen, Herzenslisele!« Und sie küßten und drückten sie, daß sie sich fast ihrer erwehren mußte. Dann führten sie dieselbe zum Tische; dann mußte sie ihnen sagen, wie's zu Hause zugehe, und ob die Mutter noch auf sie zürne; dann erzählten sie, wie es ihnen ergangen; dan baten sie, sie möchte, wie sie es einst mit ihnen als Raben gethan, das Küchle vertheilen und mit ihnen essen. Das geschah denn auch; und es schmeckte ihnen über die Maßen gut. Während sie nun so fein friedlich und geschwisterlich mit einander aßen, bemerkten sie nicht, daß der Krystallberg sich plötzlich in einen großen Pallast verwandelt habe, mit hohen Fenstern, Thoren und Thüren, und daß sie in einem prächtigen Speisesaal saßen, aus dem man eine schöne Aussicht hatte an zwei wohlangebaute Berge und längs einem fruchtbaren Thale hin. Leute kamen von allen Seiten herbei, und guckten in den Saal, und verwunderten sich über den Pallast, und über die schönen [81] Kinder, die also in Eintracht zusammen wohnten und aßen und fröhlichen Muthes waren.

»Was ist denn aber aus den Eltern geworden?« fragte Fritz neugierig, nachdem die Großmutter eine Pause gemacht. Diese sagte: »Um das haben auch die neugierigen Kinder ihre Mutter gefragt. Weißt du aber, was die Mutter gesagt hat? ... So eben, hat sie gesagt, hab' ich euch das noch erzählen wollen; es kann aber auch ein anderes Mal geschehen.«


* * *

Der Vogel und der Bauersmann.

Die Reihe kam wieder an den Großvater, und er begann, wie folgt:

Ein Bauer hatte einen großen Garten voll schöner Blumen und Früchte, und auf allen Bäumen sangen gar lieblich Vögelein aller Art. Aber der Mann war ein plumper Geselle von einfältigem Verstande und eigennützigem Gemüthe. Eines Tags sah er auf einem Baume ein Vögelein von seltsamer Art, das eine wunderschöne Stimme hatte, und allerlei Weisen sang. Das gedachte er zu fangen, und er legte ihm Schlingen, und fing es. Da begann der Vogel zu sprechen, und sagte: Was willst du von mir, und was hoffest du, daß ich dir nütze? Der Bauer sagte: Du sollst mir singen im Käfig. [82] Der Vogel: Das will ich nicht, sondern ich werde schweigen. Der Bauer: So werd' ich dich würgen und essen. Der Vogel: Du magst mich sieden oder braten, so hast du an mir nur ein winziges Bißlein. Wenn du mich aber wieder fliegen lässest, so will ich dir sehr zu Nutzen seyn; denn ich werde dir drei weise Lehren geben, die feiner klingen, als der schönste Gesang, und so viel werth sind, als der größte Schatz. Das gefiel dem Bauern, und er ließ den Vogel wieder frei. Da sprach das Vögelein: »Zum ersten, glaub' nicht alles, was man dir sagt; zum andern, behalte, was du hast; zum dritten bekümmere dich nicht um das, was du verlierst. Nach diesen Worten flog das Vögelein auf einen Baum, und fing da an mit heller Stimme zu fingen und zu sagen: Dem Himmel sey Dank! Dieses teuern Sinne sind so verdunkelt, daß seine Augen nicht gesehen haben, noch seine Hände gegriffen, noch seine Vernunft gemerkt den kostbaren Edelstein in meinem Leib, der wohl zwei Loth schwer ist. Er wäre damit sehr reich geworden, aber ich hätte mein eignes Leben lassen müssen.« Als das der Bauer sagte, ward er sehr betrübt in seinem Gemüthe, und sprach weinend und klagend: Weh mir Armen, der ich den betrüglichen Worten dieses falschen, bösen Vogels geglaubt habe! Da sprach der Vogel: »O [83] du Thor! warum betrübst du dich in deinem Herzen? Und warum vergissest du die Lehren, die ich dir gegeben habe? Zum ersten, du sollst nicht alles glauben, was man dir sagt. Wie aber könnte es möglich seyn, daß ich einen Stein, zwei Loth schwer, in mir trage, da ich doch selbst kaum ein Quentlein wäge? Zum andern, wenn das auch wahr gewesen wäre, warum hast du nicht behalten, was du gehabt? Zum dritten endlich, da du das verloren hättest, so solltest du das vergessen und aus dem Gemüthe schlagen.« Damit flog der Vogel fort in den Wald, und der Bauer sah sich verspottet und verlacht. – Diese Fabel lehrt, daß ein unverständiger Mensch, wenn man ihm auch das Glück in die Hand legte, und die Weisheit in den Mund, doch um nichts reicher und klüger würde.


* * *


Der Großvater bemerkte sogleich: »Die Volksweisheit, wie sie sich in dergleichen Fabeln und in den meisten Sprüchwörtern kund gibt, hat ein doppeltes Gesicht, gleich dem Janus-Kopfe. Das Eine wendet sich nach der Seite des Sittlichen, das andere nach dem Klugen. Aus jenem Mund vernehmen wir, was gut und böse ist, aus diesem, was nützlich und schädlich ist. Und so lassen sich denn [84] jene drei Sprüche, welche das kluge Vögelein in der erzählten Fabel vorbringt, in einer andern Beziehung geradezu umkehren, so daß sie also lauten müßten: Glaube alles, was man dir sagt – Behalte nicht, was du hast – Bekümmere dich um das, was du verlierst. – Du begreifest doch das, Karl?«

»Allerdings, erwiederte dieser. Das sagt uns ja schon die Vernunft und der Katechismus. Unsern lieben Eltern z.B. werden wir wohl alles glauben dürfen, was sie uns sagen; und den Armen sollen wir gern mittheilen, was wir im Ueberflusse besitzen; und, wenn der Mensch seine Ehre verliert, so soll er sich doch wohl darum bekümmern, wie er dieselbe wieder gewinnen könne.«

Nach einer Pause, während sie sich nochmal geräuspert, nahm wieder die Großmutter das Wort, und erzählte:

Als die Küchle gebachen waren, sagte die Mutter: »Jetzt mache sich vorerst jedes von euch an seine Arbeit. Es geht ein Sprüchwort: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Und ein anderes: Hunger ist der beste Koch.« – Sobald nun die Arbeit gethan war, gab die Mutter einem jeden Kind' sein Küchle, und sie sagte: Schmeckts? Gott 'segn' es! Nun wißt ihr, wie's Leuten ist, die vorerst arbeiten, und dann essen. Das sollten eben der [85] Junker erfahren, und das Fräule, die weder Gottes Gabe noch Gottes Werk zu schätzen wußten.

Mit der armen Hütte, die unten im Thale gelegen zwischen den zwei Schlössern, und mit der armen Frau, die drinn gewohnt, hatte es eine wunderliche Beschaffenheit; und die Nachbauren umher wußten unglaubliche Dinge davon zu erzählen. Leute, die unter Lichtzeit von Ungefähr an der Hütte vorbei gekommen, wollten bemerkt haben, daß die Alte statt Werg lauter Gold spann und Seide, und die Lumpen, in welche sie sonst gekleidet schien, waren lauter kostbare Stoffe, und alles glänzte in ihrem Stüble von Gold und Edelstein. Auch erzählten viele, daß seit undenklichen Zeiten kein Glück oder Unglück in der Gegend geschehen, wo nicht die Alte ihre Hände im Spiel gehabt hätte. Daher sagten die Bösen unter ihnen, daß sie eine Hexe, aber die Guten, daß sie eine Fee gewesen. Wunderbar war es, daß an demselben Tag und in derselben Stund, wo die beiden Schlösser versunken, auch die Hütte plötzlich verschwunden ist; und es hat sich an der Stelle ein schmutzig grauer Bühel erhoben, auf dem kein Kräutle und kein Gräsle wuchs; und die ganze Gegend ist verändert worden, daß man sie nicht mehr erkennen konnte. – Wie aber der Junker und das Fräule gerettet wurden, das weiß niemand zu sagen; [86] sie wußten es selbst nicht; ihr Schrecken war zu groß gewesen, als die Schlösser über ihnen einstürzten. Nur so viel erinnerten sie sich, daß sie plötzlich in einer fremden Gegend gestanden, und daß eine Bäuerin aus dem nächsten Dorfe sie auf der Straße gefunden, und in ihr Haus gebracht habe. Diese hat sie nun in Gottesfurcht und bei Arbeit auferzogen; und als sie groß geworden, hat sie ihnen ihr Bauerngütle übergeben, und sie sind Mann und Weib geworden, und haben sieben Kinder bekommen, sechs Buben und das Lisele, wie ihr schon wißt. – Errathet ihr nun endlich, wer das arme Mütterle in der Hütte im Thal gewesen? Sicherlich ist sie eine Fee gewesen, und dieselbe, welche die ganze Geschichte, wie ihr sie gehört, angestiftet hat zum Schrecken der Gottlosen und zum Segen der Frommen. Nun könnt ihr auch das begreifen, was darauf gefolgt ist. In dem selben Augenblick, als die sechs Brüder mit ihrem Schwesterle das Küchle aßen in Lieb und Eintracht, da kamen Vater und Mutter in einer Kutsche gefahren zum Pallast heran. Dieser stand auf demselben Platz, wo die Hütte der armen Frau gelegen war, und wo sich der schmutzig graue Bühel erhoben hatte. Nachdem sie in den Saal getreten, ei! was war da ein Küssen und Drücken und Umarmen, und ein Fragen, und ein Erzählen, und ein Weinen [87] vor Freuden! Die Fee hatte den Eltern alles kund gethan, und daß nun der Zauber gelöset, und ihre Kinder gerettet seyen. Und es erscholl alsogleich der Ruf ins ganze Land; und Kaiser und Könige und Fürsten und Grafen kamen herbei; und die Eltern erhielten die väterlichen Güter wieder, und die Kinder lebten in Freude und Eintracht beisammen, bis sie sich vermählten. Die Junker bekamen lauter schöne, edle Frauen aus fürstlichen und gräflichen Familien. Lisele ist aber eine Königin geworden.


* * *


Es war unter diesen Erzählungen spät geworden. Die Sonne senkte sich schon hinter die Berge; die Luft fing an, kühl zu wehen; man drängte zum Aufbruch. Für die Großeltern, Mutter und Tante hatte der Vater einen Wagen bestellt, der sie zurück bringen sollte. Die Uebrigen traten den Rückweg zu Fuß an.

Fußnoten

1 In der Mundart des Volkes »der Zugspitz.«

V. Das Hirtenbüblein. – Marianne. – Die Christgeschenke. – Röschen.

Es fiel wieder nebelige, naßkalte Witterung ein. Die Kinder zeigten sich Morgens etwas träge, verdrossen. Man fühlte sich verlegen, sie auf eine angenehme und nützliche Weise zu unterhalten. Da hatte der Vater einen Einfall, und er sagte: »Heute wäre so ganz der Tag, um mit Mährchen und ähnlichen Erzählungen uns zu unterhalten. Da nun aber wir Größern zum Theil schon das Unserige geleistet, so kommt es wohl nun an euch, ihr Kleinern, daß ihr dasselbe versuchet. Es ist also zu erwarten, daß Großvater und Großmutter und wir übrigen heute Abends mit ähnlichen Geschichten von euch unterhalten werden, wie bereits von uns euch zu Liebe geschehen ist.«

[89] Die Kinder machten große Augen bei dieser Erklärung des Vaters, und der Fritz sagte: »Ich weiß nichts, gar nichts.« Darauf versetzte der Vater: »Wenn man nichts weiß, so muß man lernen, und sich an Leute wenden, die etwas wissen.« Das verstandFritz, und mit ihm auch die andern. Und der Knabe wandte sich sogleich an den Onkel, und sagte: »Bitte, Onkel! erzähle mir was, damit ich auch was zu erzählen habe.« Der Onkel sagte es ihm zu.

Die Absicht des Vaters war, den Kindern eine nützliche Beschäftigung zu geben, ohne daß sie eben als eigentliche Schulaufgabe erscheinen sollte. Er war der Meinung, man sollte den Geist auch nicht eine Woche, einen Tag ganz brach liegen lassen, sondern immer dessen Anbau besorgen, bloß mit Abwechselung der Saat, und in rechter Folge derselben.

Die Knaben wandten sich also zu guter Stunde an den Onkel, die Mädchen an die Tante. Denn die Mutter, an die sich sonst Malchen am liebsten anschloß, besonders auch in Hausangelegenheiten, hatte in der Küche, überall viel zu thun; deßgleichen am Schreibtische der Vater, den sonst Karl, zumal in Schulsachen, gern zu Rath und zu Hülfe zog.

[90] Für Fritz hatte der Onkel eine kleine Geschichte ausgesonnen, die er ihm vorerzählte, und sie dann so lange wiederholen ließ, bis der Knabe sie wörtlich auswendig wußte. Karln machte er die Arbeit nicht so leicht; er gab ihm wohl einen Gedanken zu einem Mährchen, das er aber selbst weiter aussinnen und schriftlich ausführen sollte. Ungefähr auf dieselbe Art verfuhr die Tante mit den Mädchen. Sie hatte als Gouvernante in einer guten Familie, deren Töchter sie zu lehren und zu leiten hatte, Gelegenheit genug gehabt, über die verschiedenen Methoden nachzudenken und sie anzuwenden, um zum Verstande und zum Gemüthe der Kinder Eingang zu finden, und ihnen das Wahre und Gute vorzuhalten in den naturgemäßesten Formen.

Abends, nach Tisch, erklärten die Kinder, daß sie im Stande seyen, ihre Erzählungen vorzutragen.Fritz wollte der erste seyn, der seine Geschichte vortrage; und man gestattete es. Er begann:


* * *

Das Hirtenbüblein.

Ein Hirtenbüblein war wegen seiner klugen Einfälle und witzigen Antworten weit und breit bekannt. Von ihm hörte auch eines Tages der [91] Bischof; der ließ ihn sogleich zu sich kommen, um zu erfahren, ob die Leute wahr geredet. Der Knabe erschien vor dem geistlichen Herrn, das Käpplein in der Hand, züchtig in Gebärden und freundlich von Antlitz. Da sagte der Bischof: er habe von ihm gehört, daß er ein kluger Knabe sey, und er wolle ihm nun zur Probe drei Fragen vorlegen, und wenn er sie gut beantworte, so solle er für jede Antwort einen Goldgulden erhalten. Das war dem Büblein recht. Der Bischof sprach: »Zum ersten sag' mir, wie viel Sterne sind am Himmel?« Das Büblein verlangte Dinte, Feder und Papier; denn er hatte fein schreiben und lesen und rechnen gelernt, und Religion obendrein. Dann machte er auf das Papier so viel Tüpflein, als er vermochte, und zeigte drauf das Papier dem Bischof, und sagte: So viele Sterne sind's, und nicht mehr. Der Bischof sagte: Wer wird diese Tüpflein alle zählen? Das Büblein antwortete: Der Sterne sind eben auch unzählige. Mit dieser Antwort war der Bischof zufrieden, und er gab ihm einen Goldgulden. – Drauf fuhr er fort: Zum zweiten sag' mir: wie viel Tropfen sind im Meer? Das Büblein nahm wiederum einen Bogen Papier, und schrieb Zahl an Zahl, so weit das Papier reichte. Das gab er dem Bischof hin, [92] und nahm einen andern Bogen, und schrieb wiederum fort. Der Bischof sagte: Wenn du so fort schreibst, so kommen wir an kein Ende. Das Büblein antwortete: Und wenn die Quellen und die Flüsse es so forttreiben, so kommen wir mit dem Zählen der Tropfen auch an kein Ende. Wollt Ihr aber machen, daß alle Quellen versiegen und alle Flüsse vertrocknen, so will ich's sagen, wie viel Tropfen das Meer hat; anders nicht. Mit dieser Antwort war der Bischof wiederum zufrieden, und er gab ihm einen zweiten Goldgulden. – Drauf legte er ihm die dritte Frage vor: Wie viel Blätter gibt's auf allen Bäumen, die in der Welt sind? Aber das mußt du mir im Kopf ausrechnen, anders gilt's nicht. Das Büblein war nicht verlegen, sondern sagte: Wenn ihr alle Blätter, die im Herbst abfallen, wollt abziehen von denen, die im Frühjahr darauf wachsen, so wißt ihr's ganz genau. Der Bischof sagte: Da bleiben ja keine übrig. Ja, sagte das Büblein, es sind auch keine Blätter auf den Bäumen im Winter. Der Bischof mußte lachen, und gab ihm den dritten Goldgulden. – Das Hirtenbüblein bedankte sich. Dann sagte er: Herr Bischof, erlaubt mir nun noch, daß ich an Euch auch eine Frage stellen darf. Der Bischof erlaubte es ihm, und war begierig zu hören. Das Büblein sagte: Worin gleichen [93] wir beide einander, und worin unterscheiden wir uns? Das errieth der Bischof nicht. Da sagte das Büblein: Im Katechismus steht, daß Ihr ein Hirt seyd, und Schafe zu hüten habt; darin sind wir einander gleich. Wir sind aber darin von einander unterschieden, daß Ihr ein Oberhirt seyd, und Reichthum und Ehre besitzt, und ich bin ein ganz armer Hirtenbube, und habe von beiden nichts. Darum, so bitte ich Euch, nehmet mich in Eure Dienste, und gebt mir Nahrung und Kleidung, und tragt Obsorge für mich. Das that denn auch der Bischof; und aus dem armen Hirtenbüblein wurde später ein angesehener und hochstudirter Mann.


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Marianne.

Nachdem Fritz seine Erzählung geendigt, wurdeMinchen aufgefordert, ihre Geschichte vorzutragen. Sie begann, nicht ohne Schüchternheit:

Es wallten jeden Morgen zum Schlosse der Edelfrau eine Menge armer Leute hinauf, jedes Alters und Geschlechts, um in der theuren Zeit das Stücklein Brod zu holen, das die mildthätige Frau auf dem Söller austheilte. Unter den vielen Armen, die da hinauf zogen, war auch ein Mädchen, Namens Marianne, die weder Vater noch Mutter [94] mehr hatte. Bescheiden stand sie jederzeit in der Reihe derer, die um Almosen baten, und drängte sich nicht vor; ältern Leuten ließ sie den Vortritt, und zankte nicht mit den Kindern, die sie bei Seite schoben und zurückdrängten. So war sie denn meistens die letzte, welche das Almosen bekam; und sie küßte jedes Mal der gnädigen Frau dankbar die Hand für die erhaltene Gabe, die wohl auch meistens reichlicher ausfiel, als bei den andern. Zuletzt fiel die Bescheidenheit und die Dankbarkeit des Kindes der Edelfrau auf, und sie wollte das Mädchen einer besondern Prüfung aussetzen, um zu erfahren, ob nicht etwa Heuchelei und Eigennutz ihr Benehmen leite. Des andern Tages nun, als Marianne, wie gewöhnlich, die letzte zum Almosen kam, sagte die Edelfrau: Liebes Kind, es thut mir leid, daß ich dir nichts mehr geben kann; es ist alles schon weggegeben. Marianne ward drob zwar traurig, aber sie küßte dessen ungeachtet der Frau die Hand, als hätte sie etwas empfangen. Dasselbe geschah denn auch so am folgenden Tage; und auch am dritten erklärte die Edelfrau, sie hätte nichts mehr; und Marianne küßte ihr, wie jedes Mal, die Hand, und ging ruhig ihres Weges. Zu leben hatte das Mädchen diese Tage doch, das mögt ihr denken; denn die Edelfrau schickte insgeheim täglich Brod und [95] andere Speise ins Haus derer, welche Mariannens Pflegeltern waren. Als nun aber Marianne zum dritten Male mit leeren Händen davon ging, dankbar und ruhig, da rief sie die Edelfrau zurück, und sagte: Es gefällt mir an dir, gutes Kind, daß du ohne Murren davon gehest, und ohne Zagen wieder kommest, obgleich du zu dreien Malen nichts erhalten hast; aber nun sage mir, warum küssest du mir auch jedes Mal die Hand? Da antwortete Marianne: Gnädige Frau, das habe ich deßwegen gethan: zum ersten Mal habe ich gedacht: Du hast schon vieles Gute von der gnädigen Frau erhalten; dafür mußt du jetzt noch dankbar seyn. Zum zweiten Mal habe ich gedacht: Du wirst doch wieder Gutes von ihr erhalten; dafür mußt du jetzt schon dankbar seyn. Zum dritten Male habe ich gedacht: »Und erhältst du auch selbst nichts Gutes, so erhalten es doch andere; auch dafür mußt du der guten, mildthätigen Frau dankbar seyn.« Da küßte die Edelfrau Mariannen zärtlich, und sagte: »Du bist ein frommes, liebes Mädchen; und so will ich denn Gottes Verheißung an dir wahr machen, die an alle Kinder geschehen, die eines frommen Sinnes sind, daß es ihnen werde wohl ergehen auf Erden. Willst du meine Tochter seyn?« Marianne fiel der Edelfrau weinend in die Arme, und von der Zeit an wurde [96] sie an Kindes Statt gehalten, und in christlichem Wandel und in adeligen Sitten auferzogen.


* * *

Die Christgeschenke.

Die Reihe kam nun, dem Alter nach, an Karl, der, seines Stoffes mächtig und seiner Kraft sich bewußt, ohne Anstand und Verlegenheit seine Erzählung vortrug.

In dem Hause des Hofkammerraths wohnte seit einigen Monaten im abgelegenen Hintergebäude ein alter Mann von seltsamem Aussehen und wunderlichen Sitten. Er nannte sich Albertus und gab sich für einen Mechanikus aus; allgemein galt er aber unter den Leuten als ein Zauberer, der die Kunst verstände, Maschinen und Gefäße zu bilden, vermittelst deren sogar des Menschen geheimste Gedanken und Empfindungen verrathen würden. Indessen konnten sich nur sehr wenige rühmen, daß sie seine Werkstätte betreten und gesehen hätten, und niemanden gelang es, irgend ein Kunstwerk von ihm auch um die höchsten gebotenen Preise zu erhalten. Er selbst lebte ganz einsam, und schien überhaupt ein Menschenfeind zu seyn; nur die Kinder liebte er, und sah sie gern um sich, und darum zog er gern in Häuser, wo sich kleine Knaben und Mädchen befanden; [97] nach einem Jahre aber verließ er jederzeit das Haus wieder, und zog in ein anderes in der Stadt.

Der Hofkammerrath hatte drei Kinder, Theo dor, einen Knaben von sieben Jahren, Lorchen, ein Mädchen von fünf Jahren, und Hugo, der vier Jahre alt war. Anfangs fürchteten die Kinder den alten Mann mit dem finstern Gesicht und dem seltsamen Anzug, und sie gingen ihm überall aus dem Weg; bald aber, als er ihnen ein und das andere Spielzeug schenkte, und überaus freundlich mit ihnen sprach, faßten sie allmählich Zutrauen, und besuchten ihn zuletzt wohl gar in seiner Werkstätte, wohin er sie eingeladen hatte. Da gab's denn gar vielerlei zu sehen und zu versuchen. Theodor ergötzte sich besonders an einer Maschine, welche die Welt darstellte, die Sonne, den Mond, die Erde und die andern Planeten, wie sie sich in regelmäßigen Kreisen bewegten; es war des Fragens von seiner Seite kein Ende. Lorchen stand vorzüglich gern vor einer Landschaft, auf welcher Lämmer weideten, so natürlich, als ob sie lebten, und ein Hirte blies von Zeit zu Zeit ein Stücklein. Hugo aber hielt sich vor allem an den Tisch, worauf Soldaten auf- und abmarschirten, einen Trommler an der Spitze, und wie sie die Gewehre luden, und abfeuerten, daß es krachte. So unterhielten sich die [98] Kinder stundenlang in der Werkstätte des Alten; und dieser ermahnte sie fleißig zur Zucht, Ordnung und Frömmigkeit; und so oft sie kamen und zu ihm hinzu traten, hielt er ihnen einen Spiegel vor; und als ob er darin ihre Gedanken und Handlungen leibhaftig gewahrte, nickte er dem Einen freundlichen Beifall zu, und schüttelte bei dem andern bedenklich den Kopf, je nachdem sie Gutes oder Böses gethan oder gedacht während des Tages.

Nun erschienen die Weihnachten, und der alte Herr hatte den Kindern versprochen, das Christkindlein werde auch bei ihm jedem von ihnen etwas bescheren. Darüber freuten sie sich über die Maßen. Am Vorabende des heiligen Christfestes, nachdem die Kinder bereits von ihren Eltern beschenkt worden, holte er sie selbst ab, und führte sie in seine abgelegene Wohnung. Die große Stube war gar schön beleuchtet; in der Mitte stand ein großer Tisch mit dem funkelnden Christbaum, in dessen Zweigen Vöglein sangen, und hellleuchtende Insecten umher schwirrten. Auf demselben lagen auch die Geschenke, die jedem Kinde bestimmt waren. Bevor der Alte sie jedoch vertheilte, sprach er: »Diese schönen Sachen, die ich euch geben will, sind kostbare Christgeschenke von ganz besonderer Art, wie sie nirgends zu haben sind. Diese Blume hier, wenn man in [99] ihren Kelch schaut, entfaltet so schöne und mannichfaltige Farben, daß man nicht genug daran sehen kann. Diese Frucht hier, bringt man sie an den Mund, gibt solchen Wohlgeschmack, wie keine Frucht in der Welt sie zu geben vermag. Dieser Vogel endlich, wenn man das Ohr hinneigt, singt einen so schönen, lieblichen Gesang und in so mannichfaltigen Weisen, daß aller Vögel Töne dagegen nichts sind, und alle vor ihm verstummen müssen. Allein – fuhr er fort – diese schönen Gestalten, dieser Wohlgeschmack und diesen Gesang vernimmt und genießt nur derjenige, dessen Herz rein ist von Neid, von Lüge und von Zornmuth. Ein Kind aber, welches Unwahres redet, das den Andern beneidet und mit dem Seinigen geizet, das sich des Ungehorsams schuldig macht und Unmuth zeigt gegen seine Eltern und Geschwister, ein solches böses Kind verdient nicht diese Christgeschenke, und genießt nicht die geheimen Wundergaben, die darin verborgen sind.«

Also sprach Albertus; und nun wies er jedem Kinde sein Geschenk zu; dem Theodor die Blume, dem Lorchen die Frucht, und dem kleinen Hugo den Vogel. Zuerst trat Theodor zur Blume, und sah hinein; aber mit einem Angstgeschrei fuhr er zurück, und schrie: Eine Kröte! eine Kröte! – Lorchen nahm hierauf die Frucht in den Mund; [100] aber sie verzog gewaltig das Gesicht und sprudelte, als wenn sie Galle geleckt hätte. Zuletzt wagte es auchHugo, und hielt sein Ohr dem Vogel hin; dieser aber that einen so widerlichen Schrei, daß dem Knaben das Ohr gellte, und er wie unsinnig zurück sprang. Die Kinder standen ganz verdutzt, und sahen den Mann mit verdrießlicher Miene an, als einen, der sie habe verspotten wollen. Dieser aber sprach mit ruhiger, ernster Stimme: »Kinder, es muß schlimm in eurem Herzen aussehen, daß diese Gottes-Gaben in Strafen sich euch verwandeln. Gestehe mir aufrichtig, Theodor, hast du dich nicht des Neides schuldig gemacht? Die Kröte, die du in der Blume gesehen, sie ist in deinem Herzen.« Theodor gestand es, daß er noch erst bei der Vertheilung der Christgeschenke der Eltern diese böse Empfindung gehabt habe. »Und du,Lorchen, gesteh'! hast du dir nicht heute noch eine Unwahrheit oder Lüge erlaubt? Der Gallengeschmack, den du an der Frucht gekostet, er kam aus deinem falschen Herzen.« Lorchen ward roth, und gestand, daß sie erst noch heute eine Unwahrheit gesagt habe. Endlich wandte sich der Alte an Hugo, und fragte ihn: »Und du?« Hugo sagte sogleich: Er sey heut sehr böse gewesen, und habe heftig gezürnt. »Der widerliche Schrei des Vogels, den du gehört, sagte Albertus, das [101] war der Widerhall aus deinem Herzen, das leicht in Zorn und Unmuth entbrennt. – Weil ihr nun aber, fuhr der Mann fort, eure Fehler aufrichtig gestanden habt, und in der guten Meinung, daß ihr euch vorgenommen, eure Unarten zu bessern, so mögt ihr es nochmal versuchen, und die Christgeschenke prüfen; ich hoffe, daß sie euren Sinnen nun besser behagen werden.«

Hugo wagte es zuerst, sein Ohr an den Vogel zu legen – und seine Stimme erklang so lieblich, und wechselte in so vielerlei Weisen, daß es nicht zu beschreiben ist. Dann versuchte auch Lorchen ihre Frucht – und wie sie dieselbe nur an die Lippe brachte, quoll aus ihr ein Wohlgeschmack, der mit nichts zu vergleichen war, und je mehr sie sog, desto süßer schmeckte die Frucht. Endlich unterstand sich auchTheodor in seine Blume zu schauen – und es war ihm, als sähe er in ein belebtes Farbenmeer, wo die einzelnen Wellen wechselweise sich hoben und senkten, und immer zu neuen Gebilden sich wundersam gestalteten. Die Kinder standen wie verzaubert und gebannt, und konnten sich nicht satt schauen und schmecken und hören. Endlich sagte Hugo zuLorchen: Schwester, wir wollen nun abwechseln; höre du dem Vogel zu, und ich will deine Frucht schmecken. Aber Albertus sagte: »Das geht nicht an; sondern [102] das Werk dienet nur, dem es gegeben ist. Es hat aber ein jedes genug an dem Einen, und es wird keinem je verleiden, so oft er es auch erfahren mag. Nur, wie gesagt, nahet euch jedes Mal mit reinem Herzen und schuldlos; widrigen Falls wird das Böse, das euer Herz birgt, euch jederzeit an den Sinnen bestrafen.«

Das merkten – und erfuhren auch die Kinder. Täglich prüften sie ihre Christgeschenke; aber so oftTheodor Neid gezeigt, so sah er wiederum die scheußliche Kröte in seiner Blume; so oft Lorchen eine Lüge gesagt, so schmeckte sie an ihrer Frucht die abscheuliche Galle; und so oft Hugo sich vom Zorn hat hinreißen lassen, hörte er, wenn er den Vogel prüfte, sein gellendes, widerliches Geschrei. Wollten sie denn also von Tag zu Tag das Vergnügen haben, das ihnen der Alte bereitet, so mußten sie sich wohl in Acht nehmen vor den Fehlern, die sie sonst so leicht begingen. Nach und nach, in wenigen Wochen, gewöhnten sie sich dieselben ganz ab, und Theodor wurde theilnehmend und wohlthätig, Lorchen wahrhaft und aufrichtig, und Hugo sanftmüthig und gehorsam.

Noch vor Ablauf des Jahrs war Albertus aus dem Hause des Hofkammerraths ausgezogen; man wußte nicht, wohin. Die Christgeschenke verblieben[103] aber den Kindern, und erprobten fortan ihre geheime Kraft. Man weiß aber nicht, wo sie in spätern Zeiten hingekommen. Doch man kann sie auch entbehren; denn jeder Neid, jede Lüge, jeder Zorn bestraft sich meistens von selbst; und Liebe und Wahrhaftigkeit und Sanftmuth und Gehorsam finden ihr Lob und ihren Lohn vor Gott und den Menschen.


* * *

Röschen.

Es wurde nun zuletzt Malchen aufgefordert, ihre Geschichte vorzutragen. Sie erzählte, wie folgt:

Ein Vater hatte drei Töchter, die wuchsen auf, und wurden groß und schön, so daß jedermann seine Freude an ihnen hatte. Einsmals mußte der Vater fort auf Reisen. Da sagte die ältere Tochter: Vater, bringt mir ein schönes Kleid mit. Und die mittlere sagte: Vater, bringt mir einen schönen Schmuck mit. Die jüngste aber, welche Rosa geheißen, schwieg, und verlangte nichts. Da fragte sie der Vater: Und was soll ich denn dir mitbringen, liebe Rosa? Hierauf sagte sie: Lieber Vater, wenn Ihr wollt, so bringt mir eine weiße Rose mit. Der Vater versprach einer jeden, was sie verlangt, mitzubringen, und reisete sodann ab.

[104] Es vergingen viele Wochen, bis er seine Geschäfte abgethan hatte. Nachdem endlich alles verrichtet war, so dachte er an die Rückkehr nach Hause, und an die Geschenke, die er seinen Töchtern mitzubringen versprochen hatte. Er kaufte daher der ältern ein schönes Kleid von Sammt und Seide, und der mittlern einen kostbaren Schmuck von Gold und Edelgestein. Aber eine weiße Rose für seine liebe Rosa konnte er nirgends erfragen und auftreiben; und er hätte doch gern das Doppelte drum gegeben, was Kleid und Schmuck für die beiden andern gekostet.

Da dachte er: Auf dem Heimweg werde ich wohl noch eine weiße Rose auftreiben können; und er fragte auch überall bei allen Menschen nach, ob keine weiße Rose zu haben sey; aber niemand wußte etwas von einer solchen Blume, und viele lachten ihn wohl gar darüber aus. Als er nicht mehr fern von seiner Heimath war, kam er eines Tags durch einen großen dichten Wald, und er war recht traurig, daß er nun seinem Röschen nicht die versprochene weiße Rose mitbringen könnte. Da stand er plötzlich vor einem schönen, großen Garten; und im Garten erhob sich ein großer, schöner Palast; nirgends aber war ein Mensch drinn zu sehen. Er wagte es daher, und ging in den Garten, der offen stand; und wie er [105] zwischen Blumenbüschen hin und her wandelte, sieh! da bemerkte er einen Busch voll der schönsten weißen Rosen. Sogleich pflückte er die schönste ab, und dachte: wie wird sich Röschen darüber freuen! Aber, indem er nun weg und fort wollte, da trat ihm ein großer schwarzer Zottelbär in den Weg; der brummte: »Du hast mir die schönste Rose aus dem Garten genommen, dafür will ich dir deine Rose aus dem Hause holen.« Drauf trollte sich das Thier seitwärts ab, und der Reisende ritt weiter gen Haus zu, indem er bei sich dachte: Mit dem Holen hat's Zeit; zu Hause binich Herr.

Als er heimgekommen, so war sein erstes, seinem lieben Röschen die weiße Rose zu reichen. Die hatte große Freude darüber, und sie setzte die Blume sogleich in frisches Wasser, und trug sie in ihr Kämmerlein, um sie sorgsam zu pflegen. Auch die beiden andern Schwestern freuten sich sehr über die reichen Geschenke; und sie legten sogleich Kleid und Schmuck an, und besahen sich im Spiegel, und gingen drauf zu den Nachbarsleuten, um sich sehen zu lassen.

So vergingen mehrere Wochen in vielen Freuden; denn der Vater hatte seinem lieben Röschen nichts gesagt, wie er zur Rose gekommen, um sie nicht zu betrüben. In der neunten Woche aber erschien plötzlich ein [106] Wagen mit vier Pferden vor dem Hause, mit einem Kammerdiener und zwei reich gekleideten Bedienten. Der Kammerdiener aber hatte einen Brief an den Vater, und einen an Röschen, und viele schöne Geschenke. In dem Briefe an den Vater stand geschrieben: er solle die Tochter ziehen lassen; sonst wäre er sammt seinen Töchtern verloren. In dem Briefe an Röschen hieß es: »Liebes Röschen, komm ja recht bald, sonst verschmachte ich vor Sehnsucht.«Röschen sagte: »Das muß gewiß ein lieber Herr seyn, der also schreibt; ich ziehe gern zu ihm, mit Eurem Willen.« Der Vater aber sagte: Ein Bär ist er, ein abscheulicher Bär, und ich lasse dich nicht. Darob erschrack Rosa nicht wenig, zumal wie nun der Vater ihr die Geschichte erzählte. Als er ihr nun aber auch den Brief vorlas, und sie die Drohung hörte, die darin stand, so faßte sie sich alsogleich, und sagte: Lieber heirathe ich einen Bären von einem Mann, als daß ihr alle um meinetwillen unglücklich werdet. Drauf hieß sie dem Kammerdiener auf die Nacht alles in Bereitschaft setzen, und fuhr fort, ohne Abschied zu nehmen. Sie weinte freilich bitterlich, aber es konnte einmal nicht anders gemacht werden.

Der Wagen hielt im Wald vor dem Schlosse. Das hatte eine Einrichtung, so reich und schön wie [107] ein Königspalast; es waren viele Bediente da, und Kammerjungfern für Röschen. An der Tafel gab es gute Speisen und Getränke; man lustwandelte im Garten, und fuhr spazieren durch den grünen Wald. Kurz, man lebte so vergnügt, wie irgendwo in der weiten, schönen Welt. Nur der Herr des Hauses war ein mürrischer, jähzorniger Brummbär, und die Pein und Plage für alle im Schloß. Und ihn sollte nun Röschen als Gemahl lieben! Der machte ihr die Tage recht hart. Wenn sie auch bemüht war, ihm alles recht zu thun, wenn sie ihm freundlich zu essen und zu trinken gab, und ihm schmeichelte und ihn streichelte, so war ihm doch nichts recht gethan. Blieb sie dann eine Weile von ihm weg, oder sprach sie freundlich mit den Leuten, so wurde er gleich zornig, und brummte, und stieß alles über den Haufen, und zertrat die Blumenbeete im Garten, und wälzte sich im Kothe. Ach! wie oft weinte da das arme Röschen im Stillen, und wünschte sich nach Hause! Da machte ihr der Bär wieder bittere Vorwürfe, daß sie wieder fort wolle, daß sie ihn nicht lieb habe, daß sie undankbar gegen ihn sey. Als nun einmal Röschen sich wieder recht vor Gott ausweinte auf ihrem einsamen Zimmer, da kam ihr Trost und wunderbare Kraft vom Himmel, und sie dachte: »Hab' ich doch durch mein Unglück das Unglück [108] vom Vater und von den Schwestern abgewendet! Und das arme Geschöpf, an das ich nun einmal gebunden bin, es wird doch wohl durch meine Milde milder; und vielleicht mit der Zeit wird alles gut werden.«

Der Bär mochte auch ihren guten Vorsatz und Willen merken, und er wurde von Tag zu Tag zahmer und verfiel immer seltener in seine alten Unarten. Eines Tages, als sie ihn gerade bei guter Laune fand, trug sie ihm den Wunsch vor, den sie schon lange im Herzen gehabt hatte, und bat ihn um die Erlaubniß, ihren Vater und ihre Schwestern besuchen zu dürfen. Nach langem Bitten gab er es zu, und schickte sie im Wagen mit den vier Pferden fort nach ihrer Heimath. Wie groß da die Freude war, besonders bei dem Vater, als er sein liebes Röschen wieder hatte, das läßt sich nicht beschreiben. »Nun darfst du mir nimmer fort,« sagte der Vater; und Röschen gefiel sich auch so gut im väterlichen Hause, daß sie nicht mehr an das Schloß im Walde dachte, und an ihren Gemahl, den Bären. Nach neun Tagen aber kam Botschaft von ihrem Herrn, mit dem Befehle, daß sie wieder zurückkehren solle, alsogleich. Da sie aber vernahm, daß sonst nichts fehle, so hielt sie es für einen Anfall böser Laune, die wohl wieder vergehe, und blieb. [109] Nach neun Tagen aber kam wieder eine Botschaft mit der Meldung, daß der Herr krank sey, und mit der Bitte, sie sollte ja bald kommen. Das fielRöschen schwer auf's Herz; sie wäre auch gleich gegangen, wenn nicht Vater und Schwestern sie zurückgehalten hätten mit Bitten und Vorstellungen. Als nun wieder neun Tage verstrichen waren, da kam neuerdings Botschaft, und die Nachricht, daß der Herr im Sterben liege, und er sehne sich gar sehr nach Röschen, und, wenn er sie nicht bald sehe, so müsse er sterben. Nun ließ sich Röschen nimmer halten; sie fuhr eilig zurück nach dem Schlosse, und ging sogleich zu dem Kranken. Als sie ihn da so liegen sah, ächzend vor Schmerz, und sah, wie er die sterbenden Augen nach ihr wandte, als wollten sie sagen: Wie hast du mir das thun können? mich so verlassen? so vergessen? da traten ihr Thränen in die Augen, und sie schlang ihre Arme um den Kranken, und küßte ihn. – Und, sieh da, in dem Augenblicke hielt sie den schönsten Jüngling in den Armen, der sie nun ebenfalls umarmte und herzlich küßte. – Der Bär, müßt ihr wissen, war ein verwunschener Prinz. Weil er, als Prinz, den Mädchen übel mitgespielt hatte, so wurde er in einen Bären verwandelt, auf so lange, bis ein reines, treues, liebendes Mädchen ihn erlösen würde. Viele [110] Mädchen hatten die Probe nicht bestanden, und es war ja freilich auch eine schwere Probe! Dafür war nun aber auch Röschen eine vornehme Frau, und lebte nun glücklich mit dem Prinzen viele Jahre lang, bis zu ihrem Tode.

Ihre beiden Schwestern aber sind sitzen geblieben, und haben keinen Mann bekommen.


* * *


Die Großeltern, Vater und Mutter waren zufrieden mit den erzählten Geschichten, so wie auch Onkel und Tante mit dem freien, frischen Vortrag derselben.Fritz gefiel sich sehr, und war voll freudigen Stolzes, wie einer, der zum ersten Mal als öffentlicher Redner aufgetreten, und Lob und Preis davon getragen. Minchen schmiegte sich an den Großvater, dessen Liebling sie war, und erwiederte seinen Kuß mit Wärme und holdseliger Miene. »Und die Mährchen, die ihr beiden andern uns erzählt – sagte der Vater – habt ihr sie selbst gemacht?« Karl sagte un bedenklich: ja! (denn er gedachte der Mühe, die ihm die Ausführung gekostet), und Malchen, schwach erröthend, sagte nicht: nein! Der Vater mochte es glauben, obwohl er mit Grund vermuthete, daß Onkel und Tante ihren guten Theil, auch [111] in deren Ausführung genommen. Jede selbstthätige Aeußerung eines Kindes verdient als solche schon Anerkennung, und das Wirken gilt hier so viel als das Werk selbst.

Die Mutter, die Tante und der Onkel versprachen, bei Zeit und Gelegenheit auch ihr Scherflein beizutragen zur gemeinschaftlichen Unterhaltung; und so ward der Tag, der sich so ungünstig angelassen hatte, recht nützlich verbracht und recht angenehm beschlossen.

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VI. Die Ruine Werdenfels. – Das Fräulein von Schroffenstein.

Die Ruine Werdenfels.

Gegen Mittag heiterte sich das Wetter auf, und man versprach sich einen schönen Nachmittag. Die Familie beschloß, die Ruine Werdenfels zu besuchen, und der Freund versprach, gleichfalls von der Partie zu seyn. Der Weg dahin ist weniger einladend und befriedigend, als nach den andern Seiten der Gegend; er führt der Loisach entlang, die überall Spuren der Versandung und Verwüstung zurück läßt. – Nach einer halben Stunde langt man an der Schwaige an, welche an dem Fuße des Vorhügels liegt, auf dem die Ruine steht. Die Wirthschaftsgebäude jener Schwaige sind neu, freundlich, geräumig und bequem. Es stößt ein hübscher Garten an, in dessen schattiger Laube sich's angenehm sitzt. Unfern stürzt ein kleiner Wasserfall nieder, dessen Rauschen belebt und erquickt, ohne zu stören und zu [113] betäuben. Saftig grüne Wiesen ziehen sich längs des Hügels hinunter. Der Ausblick gegen den majestätischen Süden steht offen. Das Auge fühlt sich durch freundliche Beschränkung angezogen, während ihm zugleich die Freiheit gegeben ist, ins Unendliche auszuschweifen.

Es wurde verabredet, daß die Großeltern in der Schwaige verweilen möchten, indeß die Uebrigen den Hügel hinansteigen und die Ruine besuchen wollten. Auf das Zureden des Vaters ließ sich auch die Mutter bereden, von der Partie zu seyn; er selbst beschloß bei den Großeltern zurück zu bleiben, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Die Tante, obgleich sie's verschworen, keinen Berg mehr zu besteigen, mußte doch der zudringlichen Bitte der Mutter nachgeben. »Sie selbst, sagte sie, wolle auch einmal so etwas wagen, damit sie nicht in der Stadt ausgelacht würde, wenn sie bekennen müßte: sie sey im Gebirge gewesen, und hätte keinen Berg bestiegen; – habe sie aber das Wagniß überstanden, so könne sie sich dessen sehr rühmen und überaus groß damit thun.« Sie traf nur noch Anstalten, daß, nach ihrer Zurückkunft, Erfrischungen für Alle bereit stünden.

Nach einer halben Stunde etwas mühsamen Steigens war man, mit Weibern und Kindern, [114] oben auf der Terrasse. Die alten, hohen Mauern sehen einen verwunderlich an; so morsch, daß ein Jahrtausend an ihnen vorüber gegangen zu seyn scheint, und doch zugleich so fest, daß man meinen möchte, es könne noch ein Jahrtausend an ihnen vorübergehen. Indem man sich nun aber umkehrt, nach der Landschaft hin: welch ein Anblick! welch eine Aussicht! Es ist zwar dieselbe Gegend, die man immer schon gesehen, oft durchwandelt hat; aber von einem höhern Standpunkt aus betrachtet, erscheint sie in einem neuen, erhabenern Charakter. Die tiefer liegenden Gegenstände, zwischen denen man sich umgethan, und die man einzeln beschaut hat, werden nun näher zusammengerückt und durch einander mehr verklärt und gehoben, und die höher und ferner liegenden, die Gebirge und Gewässer und Wälder, die vordem in ansehnlicher, gleichsam vornehmer Absonderung erschienen, sie zeigen sich jetzt im Zusammenhang, und alle, auch die verschiedenartigsten Gegenstände gestalten sich, wie die Elemente in einer wohlgeordneten Gesellschaft, zu einem großen, lebendigen Ganzen.

Der Freund übernahm das Geschäft eines Dolmetschers, und zeigte und benannte den Neugierigen die verschiedenen Spitzen des Gebirgszuges, wobei er, mit einiger Selbstgefälligkeit, die Stellen [115] bezeichnete, die er selbst, je von Zeit zu Zeit, bestiegen.

Da kamen die Knaben, die sich unbemerkt entfernt hatten, lärmend zurück: »Vater! Onkel! da drunten ist's schön! noch viel schöner!« – Es ärgerte beinahe den Freund, daß die Kinder der Ueberraschung, die er bereiten wollte, zuvorgekommen. Er mußte es sich indeß gefallen lassen, daß man ihnen nachfolgte.

Man steigt durch die Mauern und über den Schutt, wie durch ein weites, hohes Grab einer untergegangenen Herrlichkeit. Da leuchtet plötzlich durch eine Maueröffnung eine heitere, mannichfach gestaltete Gegend herein, licht und farbig verklärt, wie in einercamera lucida. Man glaubt sich, wie durch einen Zauberschlag, in eine andere, ferne Landschaft versetzt. Es eröffnet sich hier die Aussicht nach Norden, über Farchent nach Eschenlohe, und in die nach dem ebenen Lande auslaufenden Berge; dieLoisach zieht sich schlängelnd, wie ein silberner Faden, durch die Fluren; der Charakter der Gebirge ist sanfter, gedämpfter, als derer gegen Süden; das Auge folgt allmählich, leicht angeregt und überall befriedigt, immer weiter und weiter, und ruhet zuletzt in dem Durchschnitt, den es gewonnen, in voller, ruhiger Betrachtung; – während gen Süden zu die imposante[116] Erscheinung mit Einem Male hereinbrich den Sinn beinahe betäubend, so daß von der Macht der Einen Schönheit die Anmuth des einzelnen Schönen verdeckt und entzogen wird.

Man verweilte noch einige Zeit auf der sonnigen und luftigen Terrasse, und vergnügte sich, im Angesicht der heitern Landschaft, in traulichen Gesprächen.

»Diese Mauern hier – sagte der Onkel – scheinen auf ein höheres Alter hinzudeuten, als die Ruinen anderer Ritterschlösser.«

»Man ist auch – erwiederte der Freund – so ziemlich der Meinung, daß sie, wenigstens der Grundlage nach, römischen Ursprungs seyen, obwohl freilich die Form des Ausbaus einer spätern Zeit und Sitte anzugehören scheinen. Ueberhaupt schwebt über der Geschichte der Grafschaft Werdenfels großes Dunkel. Das gräfliche Geschlecht scheint schon sehr frühe ausgestorben zu seyn. Das ›Landl,‹ wie es im Munde des Volkes gewöhnlich heißt, kam schon vor undenklichen Zeiten unter den Krummstab von Freysing, und ward, als vereinzelter, entfernter Gebietstheil, nach altem Herkommen milde regiert, besteuert und verwaltet. Daher denn die Geschichte fast gänzlich davon schweigt, und beinahe keine Ueberlieferung, keine Sage vorhanden ist. [117] Nur das Einzige meldet sie uns: in uralten Zeiten hätten sich drei Brüder adeligen Geschlechtes im Thale niedergelassen, und sich da Schlösser erbaut: der eine in Eschenlohe auf jenem Bühel, wo, wie wir so eben vorher gesehen, ein Kirchlein steht; der andere hier zur Stelle, zuWerdenfels; der dritte am Fuße des Wachsenstein, dessen Schloß Schroffenstein geheißen habe.

Man zeigte uns neulich, als wir in Hammersbach waren, die Stelle, wo das Schloß gestanden haben soll – erinnerte Karl. – Es ist eine geräumige Grube von hohen Bäumen umgeben. Vor mehrern Jahren, sagte der Mann, habe man noch Ueberreste von altem Gemäuer gesehen. Jetzt ist aber keine Spur mehr vorhanden.«

»Wunderbare Verwandelung! sagte die Mutter. Da wo ehedem mächtige Geschlechter gehauset in Ehren und Würden, ist nun keine Spur, kein Stein mehr vorhanden; oder es gemahnt nur noch eine unwirthbare Ruine an die alte, verschwundene Herrlichkeit; oder endlich, es hat sich über den Särgen jener Edlen ein unansehnliches Kirchlein erhoben, auf daß die Andacht mindestens sich noch erinnern möge an die, welche da gewesen!«

»An jene ganz einfache Sage nun – fuhr der Freund fort – die uns meldet, es seyen die Schlösser [118] der drei Brüder in der Richtung erbaut gewesen, daß sie von dannen aus sich gegenseitig sehen mochten, um sich einander zu Schutz und Trutz zu seyn gegen jeden Feind: an diesen örtlichen Umstand mochte sich noch eine andere Sage aus einer spätern Zeit angeschlossen haben, die übrigens nicht so allgemein bekannt ist, wie jene, und darum auch nicht die erforderliche Gewährschaft für sich hat.«

»O, erzählen Sie sie doch – sagte Karl; – es ist hier so recht der Platz, Rittergeschichten zu erzählen und zu vernehmen.«


* * *

Das Fräulein von Schroffenstein.

Es lebte vor Zeiten auf seiner Burg zu Eschenlohe ein junger Graf, schön von Gestalt, und von angenehmen, feinen Sitten. Dieser empfand Liebe für die junge und schöne Adelheid von Schroffenstein, die einzige Tochter und Erbin des verstorbenen Herrn, welche unter der Vormundschaft ihres Oheims stand. Beide hatten sich schon von Kindheit an gekannt; denn die drei edlen Familien des Thals waren von jeher gewohnt, wie Eine Familie zu leben; und als sie daher zur Jungfrau herangewachsen, konnte und wollte sie ihre zärtliche Neigung gegen den jungen Grafen nicht verhehlen. Nun war es aber die Absicht ihres Oheims, sie dereinst [119] mit dem mächtigen Grafen von Werdenfels zu vermählen; und dieser warb um so lieber um die schöne Adelheid, als er mit ihrer Hand zugleich eine stattliche und ihm wohlgelegene Herrschaft bekommen sollte. Der Oheim aber, als er die gegenseitige Neigung der jungen Leute bemerkte, suchte ihnen alle Gelegenheit zu benehmen, sich zu sehen und zu sprechen; das Fräulein wurde in ihrer Burg streng bewacht, und auch der junge Graf in allen seinen Schritten und Tritten beobachtet, daß er keinen Zutritt fände zu seiner Geliebten. –

Die Tante stand auf, und winkte Malchen. Diese sah auf die Mutter, welche der Tante bedeutete. Jene setzte sich wieder.

»Die Liebe findet überall Auswege, und besieget alle Hindernisse. So geschah's auch hier. Die beiden Herren, der Schroffensteiner und der Werdenfelser, waren große Freunde der Jagd, und liebten dieses ritterliche Geschäft über die Maßen. Da ward denn zwischen beiden Liebenden die Verabredung getroffen: so oft sie ihr Linnentuch ausspreitete an der Sonne, so sey dieß ein Zeichen, daß der Oheim auf die Jagd gegangen, und daß sie sich frei und frank sehen und sprechen könnten. So geschah es denn auch. Wenn das Linnentuch auf der Terrasse des Schlosses erschien, beleuchtet vom Morgensonnenstrahl, [120] so ließ der Eschenloher alsogleich sein Roß satteln, und ritt, ohne alle Begleitung, die Loisach hinauf, das Schloß Werdenfels vorüber, zur Burg Schroffenstein; und während die beiden andern Herren etwa im Höllenthal oder auf dem Teufelsg'säß den Gemsen nachsetzten, saß er bei der Geliebten im stillen Kämmerlein, von niemand gesehen und belauscht, als dem treuen Burgvogt und der verschwiegenen Zofe.«

Die Tante entfernte sich, vorschützend, es sey auf der Terrasse ein schädlicher Luftzug.

»Die Fahrten des Grafen von Eschenlohe nach Schroffenstein konnten jedoch nicht lange unentdeckt bleiben. Die wachsamen Leute des Werdenfelsers gewahrten ihn, wie er dahin zog, und meldeten es sogleich ihrem Herrn. Der berieth sich alsobald mit dem Oheim des Fräuleins, und ihr Entschluß war gefaßt. Sie traten des Morgens ins Gemach des Fräuleins, stellten sie zur Rede über ihr Verhältniß mit dem Eschenloher, das sie nicht läugnen mochte, und der Oheim erklärte, sie müßte sich Augenblicks entschließen, ihre Hand dem Grafen von Werdenfels anzugeloben. Darob erschrack das Fräulein nicht wenig; sie kannte den rauhen Ernst ihres Oheims, und wußte, daß eine Weigerung ihr das Schlimmste zuziehen würde. Sie faßte [121] sich jedoch nach einer Weile, und sagte zum Werdenfelser: ›Wenn's Euch doch nicht anders geliebt, so gelobe ich denn, daß ich meine Vermählung auf Eurem Schlosse feiern werde. Machet daher sogleich Eure Zurüstungen, daß binnen heute und acht Tagen das Hochzeitfest dort gehalten werden möge.‹«

Die Tante hatte hinter dem Gemäuer zugehört, und kehrte nun wieder an ihren Platz zurück.

»Wirklich machte sie nun selbst alle Zubereitungen zur nahen Hochzeit. Sie verlangte vom Werdenfelser Diener und Pferde; Kleider und Linnen und Kostbarkeiten wurden gepackt; und eines Morgens, da die beiden Herren wieder in das Gebirg gegangen, dort zu jagen, ließ sie sich den Zelter vorführen; und von einem stattlichen Gefolge begleitet, zog sie genWerdenfels zur Burg, die ihr, als der künftigen Herrin, ohne Anstand geöffnet wurde. Sie gab sogleich ihre Befehle, daß alles schleunigst zubereitet werde zur Hochzeit. Alle Diener, der Burgvogt selbst, waren sofort beschäftigt in der Küche, im Keller, in den Gemächern; die Aufmerksamkeit Aller war der Zurüstung zum Feste zugewandt. Da, mitten in dieser Verwirrung, ritt durch die Pforte der Burg, die offen gestanden, der Eschenloher herein, mit einem Zug bewehrter Reisigen. Das Thor, die übrigen Eingänge, die Rüstkammer, [122] wurden sogleich besetzt, der Burgvogt in Verwahr gebracht, die Dienerschaft erschreckt und willig gemacht zur Ausführung der gegebenen Befehle ... Das Fräulein nämlich, muß man wissen, hat durch ein Brieflein den Grafen vonEschenlohe von allem in Kenntniß gesetzt, was ihr widerfahren, und ihm zugleich den Plan mitgetheilt, wie sie der gewaltthätigen Zudringlichkeit durch List entgehen wollte. Daß der Eschenloher nicht säumte und zauderte, kann man sich denken ... Die Einsegnung des Fräuleins von Schroffenstein mit dem Grafen von Eschenlohe ist noch an jenem Morgen vollzogen worden. Und Nachmittags setzte man sich zum Mahle, wozu der Werdenfelser alles Köstliche schon zum voraus hatte herbei schaffen lassen an Gewürzen und Weinen und anderm leckerhaftem Zeug. Auch Fiedler hatte der Graf schon bestellt, und in seiner Burg untergebracht, so daß es gar lustig zuging bei de Hochzeit des Fräuleins von Schroffenstein mit dem Grafen vonEschenlohe auf der Burg des Werdenfelsers.«

»Die Volkssage wahrt doch mindestens die Heiligkeit des Eidschwurs – unterbrach der Onkel; – unsere schlechten Romane wüßten die Treue und Liebe nicht anders zu retten, als durch Treu- und Lieblosigkeit.«

[123] »Als die beiden Herren von der Jagd auf demWetterstein zurückgekommen, fanden sie die Burg Schroffenstein ganz menschenleer, und das Thor von Außen verschlossen. Landleute erzählten ihnen: daß das Fräulein schon früh am Morgen weggeritten sey mit Dienerschaft und Gepäcke. Die beiden vermutheten sogleich eine Entführung, und sannen schon auf Rache gegen den Eschenloher. Sie nahten sich der Burg Werdenfels. Fiedeln und Schalmeien schallten ihnen von weitem entgegen. ›Was gibt's da oben?‹ fragte der Werdenfelser einen Landmann. ›Nun, was sollt's geben? erwiederte dieser. Das Fräulein von Schroffenstein ist heute Morgens ins Schloß eingeritten, und gleich später der Graf von Eschenlohe. Sie halten da oben, wie ich gehört, ihre Hochzeit. Ihr wißt ja doch davon, Herr Graf?‹ Der Graf erstarrte fast zu Stein ob der Nachricht, und der Wettersteiner fluchte. Sie nahten dem Thore. Man hatte drinnen bereits ihre Ankunft vernommen, und der Graf mit seiner Braut eilten herbei, und jener bedeutete ihnen: ›daß sie sehr willkommen wären, wenn sie als Hochzeitgäste kämen, und nichts Arges im Sinne hätten. Dieß müßten sie aber geloben.‹ Darauf nahm die Braut das Wort, und bat sie mit eindringlichen Worten um Verzeihung [124] wegen der List, die sie ausgeübt, wozu sie aber von ihnen selbst verleitet worden sey durch Gewalt. – Was sollten die Männer thun? Von ihren Burgen ausgeschlossen, von ihren Leuten verlassen, im Bewußtseyn, daß sie in einer unrechten Sache sich selbst in fremde Listen sich verstrickt hätten, unterdrückten sie ihren Aerger, und der Werdenfelser sagte: ›Hol mich der Teufel! ehe sie mir alle meine Schinken wegfressen und meine Weine aussaufen, so will ich doch lieber noch selbst mithalten, und Theil nehmen, so weit es reicht.‹ Auf ihr gegebenes Wort wurde die Pforte geöffnet; die beiden Männer reichten dem Eschenloher die Hand, und begleiteten die Braut in das Gemach, wo die Tafel gedeckt war. Adelheid kredenzte selbst ihnen den ersten Becher; der Wein verscheuchte bald allen Verdruß, auch in dem Herzen des Oheims, und die beiden Herren trugen auch von der Zeit an keinen Groll nach. Der Oheim blieb im Besitze von Schroffenstein, so lange er lebte. Der Werdenfelser, ohnehin schon bei Jahren, blieb unvermählt, und nach seinem Tode fiel Burg und Herrschaft seinem nächsten Verwandten zu, dem Grafen von Eschenlohe. – So weit die Volkssage.«


* * *


[125] Um die, welche in der Schwaige unten zurückgeblieben waren, nicht zu lange warten zu lassen, schied man, wiewohl ungern, von dem Platze; und man beschloß, ein anderes Mal die Erfrischungen hier oben zu nehmen, um sich dem Genusse der schönen Natur länger hingeben zu können.

Man verweilte bis spät gegen Abend auf dem freundlichen Plätzchen vor der Schwaige; dann trat man den Rückweg an. Die Kinder gingen mit dem Freunde voraus, der ihnen mancherlei zeigen und erklären konnte; die übrigen folgten in kleinern Gruppen.

Unterwegs konnte sich die Tante nicht enthalten, ihrem Unmuthe über die Erzählung des Freundes Luft zu machen. »Es ist doch höchst undelicat, sagte sie, und von einem Manne, der als gebildet gilt, unbegreiflich, wie man in Gegenwart von Kindern so etwas erzählen mag. Es gibt Zustände des Lebens, Verhältnisse der Gesellschaft, Leidenschaften des Gemüthes, welche, abgesehen auch von allem sittlichen Urtheile, jugendlichen Seelen durchaus unbekannt bleiben sollen. Der mindeste Schaden, den die vorzeitige Enthüllung solcher Gemüthszustände anrichtet, ist die Erweckung einer unbestimmten Sehnsucht, welche nun, wie ein irrer und wirrer Traum, in das friedliche, glücklich unwissende Leben [126] der Kindesseele eintritt und dasselbe trübt und stört. Von dem noch schlimmern Erfolg, der zumal in vorgerückterm Jugendalter und bei lebhafterer Phantasie selten ausbleibt, will ich gar nicht Erwähnung thun, daß nämlich die vorzeitig aufgeregte Lust nun blind eifernd dichtet und trachtet, um das so reizend geschilderte Luftgebilde in die Wirklichkeit herabzuziehen und an dessen Genusse sich zu ersättigen.«

»Du scheinst mir die Sache zu ernst, zu streng zu nehmen – versetzte der Onkel. – Der kindliche Geist fasset alles auch auf eine kindliche Weise auf, und er denkt nicht von ferne an jene Absichten, Gründe, Zwecke und Folgen, die der Erwachsene, der Lebenserfahrne sich aus dergleichen Geschichten abzieht. Versetzen wir uns nur selbst in Gedanken in unsere Jugend zurück, und entsinnen wir uns, was Erzählungen dieser Art, z.B. von der schönen Magelone, auf unser Gemüth für einen Eindruck gemacht haben. Wir konnten aufrichtig mitempfinden, wir mußten herzlich weinen; aber es war und blieb eben ein Mitgefühl, eine Liebe, wie wir sie gegen Bruder und Schwester empfinden, an deren Schicksal wir großen Theil nehmen. Das kindliche Gemüth ist ein durchaus rein dichterisches; es hält sich an die Form, ohne in die Sache einzugehen. Und darum mag es zwar allerdings nicht passend [127] seyn, Kindern dergleichen Liebsgeschichten zu erzählen, aus dem einfachen Grunde, weil sie so etwas überhaupt nicht verstehen; aber ärgerlich war jene Geschichte doch auch nicht für die Kinder, aus demselben Grunde, und weil sie doch nur das Aeußerliche, die Begebenheit, die Intrigue wahrzunehmen im Stande seyn mochten. Und freilich, da einmal an Ort und Stelle von Volkssagen die Rede war, so müssen wir jene Erzählung des Freundes auch als passend anerkennen.«

»Eifere ich denn überhaupt gegen Liebsgeschichten, oder gegen solche Erzählungen, deren Inhalt Hinneigung des Geschlechtes zum Geschlechte ist? – erwiederte die Tante. – Keineswegs! Liebe ist Liebe, sie mag unter einer Form erscheinen, in welcher sie wolle. Auch bin ich selbst gar wohl überzeugt, daß sie unverdorbenen Kindern sich rein darstelle, nur unter der Form als Liebe zwischen Bruder und Schwester, zumal in den bessern Mährchen, wo sie als heldenmütige Kraft als edelmüthige Aufopferung, als anmuthige, wahrhaftige Liebe sich erzeigt. Anders aber verhält es sich mit jenen Liebsgeschichten, wie sie uns in den gewöhnlichen Romanen dargeboten werden, und von welcher Art namentlich auch jene Erzählung des Freundes ist. Hier tritt die Liebe mit ihren Schönheiten und Tugenden [128] zurück, und vornan drängt sich die Intrigue, die Zweizüngigkeit, die Hinterlist, der Betrug.«

»Es ist dieß, versetzte der Onkel, die List der Schwäche gegen die Gewalt, der Kampf des Witzes gegen die Plumpheit und Rohheit, der Sieg der Unschuld und der Liebe über Eigensinn und Eigennutz. So haben es gewiß auch die Kinder angesehen, wenn sie überhaupt zu einer Ansicht gekommen sind.«

»Nein! – sagte die Tante fast ärgerlich – es ist doch recht unartig von dir, so etwas vertheidigen zu wollen! Das geschieht nun wieder aus purer Lust zur Rechthaberei.«

»Es ärgert sie nur darum – wendete sich der Onkel zur Mutter, die sich ihnen angeschlossen hatte – weil wieder einmal ein Onkel über das Eis geführt worden ist, befürchtend, es könnte dieß einer Tante bei Gelegenheit ebenfalls geschehen. Sie eifert für die Autorität der Onkel und Tanten; und das ist natürlich und lobenswerth.«

»Ich selbst – erwiederte die Mutter – kann meinen Abscheu nicht genug ausdrücken gegen jene frivole, wahrhaft unsittliche Unart, womit in so vielen neuen Romanen und Bühnenstücken das Verhältniß, der Charakter, das Ansehen der Onkel und Tanten verdächtigt und verhöhnt werden. Sie sind einmal die nächsten, ehrenwerthesten Blutsverwandten; [129] sie sind die Brüder und Schwestern der Eltern, die Schützer, Berather und Wohlthäter der Kinder. Ziemt es sich da wohl, ist es nicht wahrhaft lästerlich, daß sie in jenen schlechten Schriften als Repräsentanten des Eigennutzes und Eigensinnes, des Uebermuthes und der Tyrannei dem Hohne und Hasse bloß gestellt werden? Ich habe diese Schlechtigkeit von jeher als einen jener Kniffe angesehen, womit jene Leute jede Autorität, jedes geheiligte Ansehen zu untergraben suchen. Sie wagen es zwar nicht, geradezu die höchsten Autoritäten und die ehrwürdigsten Persönlichkeiten verächtlich und lächerlich zu machen, aber wohl geben sie dafür Junker und Pfaffen dem Spotte und Hasse Preis, und Onkel und Tanten, um ihre Büberei nicht an den Eltern selbst zu üben. Sie erreichen aber damit denselben Zweck; sie untergraben Ehrfurcht, Zutrauen, Liebe, Gehorsam, jegliche Tugenden, die die Grundfesten der Familien, der einzelnen, wie der größern, der Kirche und des Staates, ausmachen.«

»Ich möchte dich küssen, holde Schwester – sagte der Onkel – für diese deine köstliche Apologie der Onkel und Tanten, und all der hohen und niedern Sippschaften, die damit zusammenhängen. Aber was geht das, sag' mir, unsere Volkssage an?«

[130] »Ich glaube – antwortete die Mutter – man sollte solche Mißverhältnisse des sittlichen Lebens in Gegenwart der Kinder nicht einmal berühren und nennen, es wäre denn im Zusammenhang, und wo eine höhere, sittlich religiöse Idee alles vermittelt und ausgleicht; z.B. im Vortrag der Geschichte. – Indessen bin ich mit dir einverstanden, daß die Kinder bei Erzählung jener Sage, wie sie gelegentlich und unbefangen vorgetragen worden, durchaus keinen Anstoß gefunden haben. Und darum möchte ich dein Benehmen (fuhr sie fort, zu der Tante sich wendend) mindestens unklug nennen, daß du durch deine plötzliche Entfernung, so viel an dir lag, auf das Verfängliche in der Erzählung aufmerksam gemacht hast. Es gibt Fälle, wo man den Kindern die Gefahr, die ihnen etwa drohen möchte, nicht merken lassen soll; denn indem man sie davon abzuwenden sucht, ruft man gewissermaßen erst recht die Gefahr hervor, weil man ihren Sinn dahin lenket. Vertrauen wir auch etwas, ja das Meiste, auf die Schutzengel, die sie bewachen und leiten und führen.«

[131]

VII. Die Erzählung der Tante: Der böse Fritz oder der Thierquäler.

Man hatte die Verabredung getroffen, den schönen Nachmittag bei dem (sogenannten) Riesbauern zuzubringen. Die Lage dieses Bauernhofes war von dem Onkel, der auf seinen Streifzügen mit den Kindern schon dort gewesen, als eigenthümlich reizend geschildert worden, und der Zugang dahin auf dem freilich etwas weitern Fahrwege ward so befunden, daß er auch den Großeltern, die man doch nicht allein lassen wollte, ohne besondere Beschwerlichkeit offen stände.

Die Caravane langte auch nach einer guten Stunde wohlbehalten auf dem Hügel an. – Eine sonderbare, so recht idyllische Erscheinung trat vor allen den Ankommenden hier entgegen. Vor dem Hause, mitten zwischen den grünen Matten, unter dem schattigen Obdach eines Baumes, saß eine Dame mit ihrem Kinde, an einem Tische, mit Erfrischungen sich erlabend. Unfern [132] von ihnen lag ein junges Reh, ruhig das Auge, wie es schien, auf seine Herrin gewandt. – Es erregt der Anblick eines, zumal so scheuen und zarten Thieres, das seiner Art nach nur der Natur vertraut, und die Gesellschaft der Menschen flieht, in einer so seltsamen Annäherung und Verbindung eine ganz eigenthümliche, höchst wohlthuende Empfindung. Man erinnert sich dabei fast unwillkürlich an jenen ursprünglichen, überseligen Zustand, wo der Mensch, indem er Gottes Herrschaft über sich anerkannte, die Herrschaft selbst gewann und ausübte über die Natur und alle Geschöpfe. Indem die Angekommenen die Dame begrüßten und Anstalten trafen, um sich bequem niederzulassen, entstand plötzlich Lärm und Verwirrung. Das Reh war entsprungen, aufgescheucht durch den lebhaften Fritz, der nun hetzend ihm nachrannte. Die Gesellschaft war sehr verstimmt. Man bat um Verzeihung. Die Dame begütigte, und bemerkte, daß das Thier auf ihren Ruf, und wenn Ruhe eingetreten, sicher wieder herbeikommen werde. – Karl sollte den Fritz zurückholen, der immer noch in vollem Athem nachlief. Als er kam (die Anstrengung und noch mehr das böse Bewußtseyn hatten ihn über und über roth gemacht und sehr erhitzt), fuhr ihn der Vater streng an, und sagte: »Dummer Junge, was hast du denn wieder getrieben?[133] Fritz wußte, daß, wenn der Vater schalt, die Sache ernst und wichtig war. Es trat ihm eine Thräne ins Auge, und er fand kein Wort zur Begütigung. Aber das Herz hat eine eigene Sprache. Er nahte sich dem Kinde, und überreichte ihm stillschweigend einen Büschel von Feldblumen, den er sich auf dem Herweg gesammelt. Die Dame errieth und erkannte die Zartheit des schönen Knaben, und drückte ihm den Versöhnungskuß auf, den wohl auch der Vater und die Uebrigen als vollgültig annehmen mußten. – Als hierauf die Dame sich entfernen wollte, um das flüchtige Reh herbei zu locken, kam dieses bereits schon entgegen, und lagerte sich wieder, etwas scheu, in einer größern Entfernung zwischen den Matten.

Die Gesellschaft fand bald wieder die vorige Heiterkeit, die durch den unangenehmen Zwischenfall etwas gestört worden; nur die Tante schien von dem Vorfalle stärker und nachtheiliger ergriffen zu seyn, als die übrigen. – Man blickte hierauf in die nächste, in die entfernte Umgegend. Da sah man sich nun, wie mit Einem Male, aus einer großen, unüberschaubaren Welt versetzt, mitten in eine friedlich begränzte, häuslich genügsame, freundliche Heimath. Die einsame Bauernhütte, die grünen Matten umher, die Bäume, welche die Aussicht in die Ferne [134] nehmen und doch wiedergestatten – gleich der Liebe, die zugleich eifert, und nachsieht – es ist hier alles unaussprechlich traut, heimlich und gemüthlich. Die schroffen Gebirge gen Süden sind hier verdeckt; man sieht zunächst nur die grünen Vorgebirge gen Norden, inzwischen die üppigen Fluren des niedern Thales, und genießt die Aussicht zwischen den Bergen entlang, gegen die Hochebene zu, die, wie ein Traum in unser Wachen sich hineinzieht, und die Wirklichkeit noch mehr verschönert und hervorhebt.

Der verdächtige Wind, der sich bald mit seinen Wolken einstellte, mahnte die Gesellschaft, früher aufzubrechen, als es die Absicht gewesen war. Man traf noch zu rechter Zeit zu Hause ein, ohne vom Regen, welcher erfolgte, überrascht zu werden. Der Plan des Tages war zum Theil vereitelt; man war verlegen, wie man den langen Abend angenehm zubringen wollte. Um so willkommener war die Meldung der Tante, daß sie, um der, allen auferlegten Verbindlichkeit zu genügen, eine ›Geschichte‹ in Bereitschaft habe und noch an diesem Abende vorzutragen gedenke. Die Jüngern, wie die Aeltern, vermutheten sogleich – aus dem Benehmen, das die Tante auch auf der Rückkehr gezeigt – es dürfte ihre Geschichte durch das unvorsichtige Betragen [135] Fritzens veranlaßt worden seyn, und daß sie als eine nachträgliche, übrigens wohlverdiente Strafpredigt gelten möge. Man wollte sie also, freilich mit gemischter Empfindung, doch nicht ungern vernehmen, und man lud sie zur Zeit ein, dieselbe vorzutragen.«

Sie erzählte:


* * *


Die Kinder des Herrn von Arnheim waren eines Tags auf Besuch bei der Frau von Fallner, welche sie selbst auf ihr Schloß abgeholt hatte, und wieder zum Vater zurückbrachte. Da wußten sie denn allerlei zu erzählen von dem, was sie während der Zeit gesehen und gethan, und sie wiesen dem Vater die Geschenke, welche ihnen die Frau von Fallner und ihre Kinder gegeben.

August, der ältere Sohn, sagte: »Wir waren auf dem Schmetterlingsfang; und sehen Sie, Vater, den schönen Todtenkopf 1, den Fritz gefangen und mir geschenkt hat.« Das Thierchen zuckte noch an der Nadel, womit es durchstochen war. »Gib [136] doch her!« sagte der Vater, und er nahm die Nadel heraus und zerdrückte das Thierchen, daß es sogleich todt war. »Ach, sagte August, nun ist der Schmetterling zerquetscht, und hat an der Schöne verloren.«

Indessen hatte Ludwig, der zweite Sohn, einen Maikäfer an einem Faden fliegen lassen, und sagte: »Sieh doch, Vater! wie das so lustig fliegt, dieß Vögelein, und hör', wie es summt.« Der Vater nahm ihm den Käfer, zog ihm den Faden heraus, und ließ ihn zum Fenster hinausfliegen. »Hast du Freude daran, so was zu sehen und zu hören, sagte der Vater, so geh' nur hinaus ins Freie; da fliegt und summt es zu Hunderten.« – Der Knabe war verdutzt; aber, da der Vater seine Kinder gewöhnt hatte, auf das Wort zu gehorchen, so unterdrückte Ludwig den Schmerz über den Verlust des Käfers.

»Hast du vielleicht auch so ein Geschenk erhalten?« – fragte der Vater den kleinen Wilhelm. – Dieser holte ein Schächtelchen herbei, das die Gestalt eines Häuschens hatte. »Mach's nicht auf, Vater, sagte Wilhelm, sonst fliegen sie davon.« Es waren Johanniskäferchen darin. »Was willst du denn damit thun?« fragte der Vater. »Ei nun, sagte der Knabe; ich will sie eben drinn haben.« »Aber den Thierchen ist die Freiheit lieber, sagte der [137] Vater; oder laß einmal sehen, ob sie wieder zurückkommen in dein Häuschen, oder ob sie das Freie suchen.« Er öffnete das Thürchen, stellte das Häuschen ans Fenster (es war aber schon dunkel geworden), und die Käferchen flogen lustig davon. »Ach, sieh doch, sagteWilhelm, wie sie glänzen, gleich Lichtlein! ach, hätte ich sie doch wieder!« Er wollte schier zu weinen anfangen.

Indessen kam Lottchen herbei mit einem Käfig; sie schlug die Augen traurig nieder, weil sie erwartete, daß der Vater ihr ein Gleiches thun werde. Sie sagte: »Mir schenkte die Frau von Fallner ihre Nachtigall; denken Sie, lieber Vater, sie singt Tag und Nacht beinahe in Einem fort, und wie schön! Ach, lassen Sie mir doch das liebe Vögelein!« Der Vater nahm das Thierchen aus dem Käfig, und betrachtete es am Fenster näher, worauf er mit Unmuth denKopf schüttelte. »Weißt du auch, sagte der Vater, daß ihr die beiden Augen ausgestochen sind?« Lottchen that einen lauten Schrei. »Böse und habsüchtige Menschen machen es so (fuhr der Vater fort), damit eine Nachtigall ohne Unterlaß fort singe, im Wahne, es sey immer Nacht 2; und es ist auch für ein so armes [138] Thier kein Tag mehr, sondern nur ewige Nacht! Könntest du, Lottchen, um eines solchen Vergnügens wegen dem lieben Vogel die köstlichen Augen rauben? oder es auch nur zulassen, daß er des Gesichtes beraubt würde?« »O, gewiß nicht, lieber Vater!« sagte Lottchen, und es stand ihr eine Thräne im Auge.

»Da es nun aber einmal geschehen ist, fuhr der Vater fort, und da die arme Nachtigall wegen Blindheit im Freien nicht mehr fortkommen könnte, so liegt uns ob, ihr das Daseyn so leicht und angenehm zu machen, als möglich. Darum behalte sie immer, weil sie dir geschenkt worden. Aber bedenke, daß ihr Leben in deine Hand gelegt ist. Trage also Sorge, daß sie immer ihre Nahrung habe, und der Käfig reinlich erhalten und dem Licht und der Luft ausgesetzt sey.«

Lottchen versprach alles; und sie und ihre Geschwister waren froh, daß sie nun ein Thierchen hatten, welches sie hegen und pflegen konnten. –

Fritz, der Sohn der Frau von Fallner, war einer der grausamsten Thierquäler. Das wußte Herr von Annheim nicht, sonst hätte er gewiß seine Kinder nicht in seine Gesellschaft gelassen. Durch Umgang mit schlimmen Buben im Dorfe hatte er diese böse Neigung sich angewöhnt; so zwar, [139] daß er kein Thier ungeneckt lassen konnte, und desto mehr Freude hatte, je mehr er ihm Schmerz verursachte. Wenn er in den Maierhof seiner Mutter kam, da jagte er das Geflügel herum, daß die Federn von ihnen flogen, und manche Ente beinahe todt niederfiel vor Angst und Müdigkeit. Ging er über das Feld, so zertrat er alles, was er lebend fand, aus purem Muthwillen. Im Walde störte er die Ameisenhaufen aus einander, daß die armen Thierchen Tage lang zu thun hatten, bis sie den Haufen wieder zusammen schleppten, und sich und ihre Brut in Sicherheit hatten. Wo er ein Vogelnest wußte, da hob er die noch nackten Jungen aus; und da er weder den Willen hatte, noch auch im Stande war, für sie zu sorgen, so starben sie meistens alle vor Hunger und Blöße. Am schlimmsten waren die Hunde daran, die ihm seine Mutter zum Vergnügen hielt; er ersann alle möglichen Possen und Qualen, um sie zu necken und zu martern und sie zu Künsten abzurichten, die gegen ihre Natur waren. Die Frau von Fallner sah ihm meistens nach, und meinte, es sey dieß ein Zeichen eines aufgeweckten Gemüthes. Zwar wenn sie bemerkte, daß er's gar zu arg machte, bat sie ihn oft, er sollte das nicht thun; aber er hielt dann nur einige Zeit inne, um es bald darauf und hinter dem Rücken der Mutter [140] noch ärger, als zuvor zu machen. An dem Tage, wo August bei ihm auf Besuch war, ließ er seiner bösen Neigung freien Lauf. Einen großen Theil des Tags brachte er mit ihm auf dem Fange von Schmetterlingen und Maikäfern zu. Wenn er einen fing, der ihm nicht besonders gefiel, so riß er ihm die Flügel aus, und warf ihn weg. Anfangs wollte das unserm August, der noch ein unverdorbenes Herz hatte, nicht recht gefallen; aber er gewöhnte sich in der Hitze der Unterhaltung allmählich daran, daß er zuletzt selbst mitmachte, und die Thierchen muthwillig verstümmelte und tödtete.

Als daher der Vater ihm den Schmetterling nahm, und ihn lieber tödtete, als daß er ihn noch länger leiden ließ; und als er, bei dem Anblick der geblendeten Nachtigall, mit so ernstem Tadel, von den gewinnsüchtigen und boshaften Menschen sprach, die sich solche Grausamkeiten gegen Thiere erlaubten: so regte sich sein böses Gewissen, und es ging ihm, wie man zu sagen pflegt, ein Stich ins Herz, als einem, der sich tüchtig getroffen fühlte. Doch konnte er sich noch nicht so recht vorstellen, warum denn der Vater sich gar so sehr der unvernünftigen Thiere annehmen, und die Menschen so strenge tadeln und richten könne, die sich einen Spaß mit ihnen erlauben. – Er ging mit unruhigem Herzen zu Bette. –

[141] Des andern Tags, als die Kinder mit dem Vater das Frühstück einnahmen, sagte Ludwig: »Lieber Vater, erzähle uns doch wieder von dem Capitän – weißt, der die große Seefahrt um die Welt gemacht hat.«

»Das will ich gern, sagte der Vater. Ehe ich aber in der Geschichte fortfahre, muß ich euch von dem traurigen Schicksale eines Schiffes Meldung thun, welches im Sturm, den ich euch letzthin geschildert, verschlagen wurde. Das Schiff scheiterte nämlich an den Klippen einer Insel, und nur wenige aus der Mannschaft retteten sich ans Ufer. Und diese waren noch unglücklicher daran, als die Gefährten, welche ertrunken sind.«

»Die Inselbewohner waren gewiß Menschenfresser, fiel Wilhelm ein, und sie wurden von ihnen getödtet.«

»Das wäre noch eine Wohlthat für sie gewesen, sagte der Vater; es ging ihnen aber noch schlimmer. Es wohnten auf dieser Insel Riesen von fürchterlicher Größe und abscheulicher Gestalt; nach aller Beschreibung waren es keine Menschen, sondern Unthiere. Denn als sie diese Geschöpfe, unsere verunglückten Seefahrer, wahrnahmen, so fielen sie über sie her, banden sie mit Stricken und – soll ich euch die Martern [142] alle schildern, die sie ihnen anthaten? Dem Einen zogen sie die Haut ab bei lebendigem Leibe; dem andern legten sie ein schweres Felsstück auf die Brust, daß er unter Stöhnen seinen Geist aushauchte; den dritten spießten sie bei lebendigem Leibe, und hatten ihre Freude daran, wie er unter furchtbaren Schmerzen zuckte, und wimmernd verschied.« –

»O stille! sagte Lottchen. Das ist doch gar zu gräßlich.«

»Kurz, sagte der Vater, sie thaten ihnen ungefähr alle die Qualen an, womit böse Buben arme, unschuldige Thiere aus purem Muthwillen plagen und martern und tödten.«

August wurde über und über roth im Gesichte vor Scham; denn er merkte wohl, daß die Erzählung nur erdichtet sey, um die Schändlichkeit des Thierquälens zu zeigen. Das hatte auch der Vater beabsichtet, und es freute ihn, daß die Geschichte auf ihn Eindruck gemacht hat.

»Das ist doch abscheulich, sagte Lottchen, daß Menschen einander so plagen können.«

»Abscheulich ist es immer, versetzte der Vater, es mag nun ein Mensch einen Menschen, oder ein anderes lebendiges Geschöpf muthwilliger Weise martern. [143] Mensch oder Thier – beide haben Leben, und fühlen Wohl und Weh, und sind empfindlich für Freuden und für Schmerzen. Mensch oder Thier beide sind Geschöpfe Gottes, des allgemeinen Vaters im Himmel, der alles erhält und ernährt, was da lebt auf Erden; der da will, daß jedes Geschöpf an dem großen Tische, den er ihnen auf Erden gedeckt, Theil nehme, und in dem großen Garten, den er gepflanzt, frei seines Daseyns sich freue. Mensch oder Thier – um so schlimmer, wenn ein Mensch diesen Willen des himmlischen Vaters nicht ehrt, ihn verhöhnet; wenn er seine Vernunft, seine Macht nur dazu mißbraucht, um Tyrannei zu üben über die unvernünftigen schwächern Mitgeschöpfe; wenn er Freude hat an den Qualen der armen Thiere und an ihren Wehelauten und Zuckungen und an ihrem schmerzhaften Tode. Verdient der noch ein Mensch genannt zu werden? ist er nicht ein Unthier?«

Hier brach der Vater ab, und er hieß die Kinder an ihre Arbeit gehen; welches der beschämte August mit schwerem Herzen that. –

August wurmte es im Herzen; und, wie es zu geschehen pflegt, wenn man ein böses Gewissen hat, er dachte an Entschuldigungen, an Einwürfe und Zweifel, womit das Thierquälen beschönigt werden könnte.

[144] Als die Familie Mittags bei Tische saß, so nahm er daher das Wort, und sagte: »Ich begreife nicht, lieber Vater, daß Sie die Thiere so sehr, wie die Menschen, in Schutz nehmen, und ihre Qualen und ihren Tod so hoch anschlagen. Die Thiere sind uns ja, wie Sie selbst einmal gesagt haben, von Gott in unsere Hände gegeben; wir können uns ihrer bedienen, wie wir wollen; der Mensch ist der Herr der Natur!«

Der Vater erwiederte: »Was du mir da nachsagst, ist zum Theil wahr, zum Theil falsch. Der Mensch ist allerdings der Herr der Natur; aber nur unter der Bedingung, daß er die Natur gebrauche nach Gottes bester Absicht und seinem heiligsten Willen. Und so sind uns zwar auch die Thiere in unsere Hände gegeben; aber nur dazu, daß wir sie gebrauchen, nicht, daß wir sie mißbrauchen. Wir können und dürfen allerdings von ihnen naturgemäße Dienste verlangen, aber wir müssen dann auch für ihren Unterhalt und ihr Leben sorgen. So z.B. beraubte der Mensch das edle Roß, welches sonst lieber in der freien Natur lebt und gedeiht, der Freiheit; er zähmt es, indem er ihm Gebiß anlegt, und lenkt und treibt es, nach seinem Belieben, reitend oder fahrend, zum Vergnügen, zur Bequemlichkeit, zur Nothdurft. Auch darf er dessen Kräfte bis [145] zum Uebermaß anstrengen, wenn es äußerste Noth thut zu seiner und seiner Mitmenschen Rettung; ja, er darf es mit in die blutige Schlacht und in den gewissen Tod treiben, wenn es höhere Pflicht gebietet, und des Vaterlandes Wohl. Aber es ist unrecht und grausam, auch nur mit Einem muthwilligen Geißelhieb, mit Einem zornigen Spornschlag es zu quälen; es ist grausam und bübisch, das edle Thier um der bloßen Lust willen bis zur Ermüdung, bis zur Stockung des Athems spornstreichs zu jagen; es ist endlich grausam, dem dürstenden Thier das labende Wasser, dem hungrigen das nöthige Futter vorzuenthalten, dem müden die Ruhe zu mißgönnen und zu stören, ohne Noth. Das alles leuchtet dir doch ein?«

»Ich verstehe Sie, sagte August; und ich möchte ein so edles und nützliches Thier nimmermehr so plagen und schinden, wie es wohl rohe Menschen zu thun pflegen. Aber meinen Zweifel haben Sie doch noch nicht ganz gelöset. Denn, daß es uns erlaubt sey, Thiere zu quälen und zu tödten, das sehen wir ja täglich. Sie selbst, Vater, lesen im Frühjahr die Raupen fleißig vom Baum, und tödten sie. Und neulich, wie uns der Herr Lehrer gesagt hat, ist der Befehl ergangen: es sollte jedermann auf die Maikäfer Jagd machen; und man hat sogar eine Belohnung ausgesetzt für die, welche am meisten [146] einbringen. Warum sollte man auch Ratten und Mäuse und andere dergleichen schädliche Thiere nicht ausrotten dürfen?«

»Niemand wird das in Abrede stellen, erwiederte der Vater; wir dürfen, wir sollen sogar schädliche Thiere ausrotten; wie die Thiere selbst unter einander, nach Gottes weiser Anordnung sich bekriegen und tödten, sey's zur Nahrung oder zur Sicherstellung. Wir dürfen sie tödten, sage ich; aber nicht morden. Wir tödten die Mäuse, die Hamster, andere Thiere, weil sie unserm Eigenthum Schaden zufügen; wir tödten junge Katzen und Hunde, wenn wir schon deren mehr als genug haben, und sie uns daher keinen Nutzen bringen; wir tödten Hühner, Gänse, Enten, weil sie uns zur Nahrung dienen; so auch alles, was im Wasser, in der Luft, im Wald, auf dem Felde lebt, weil uns der liebe Gott darauf angewiesen hat, dem wir für alle Gaben dankbar seyn wollen. Aber, wie gesagt! wir dürfen sie nicht morden; es mordet aber derjenige, der aus böser Lust tödtet, ohne Noth und ohne Absicht, ohne einen erlaubten Nutzen daraus zu ziehen oder Schaden abzuwenden. Wer, aus bloßer Lust ein Eichhörnchen vom Baume schießt, ohne sein Fleisch oder Fell gebrauchen zu wollen, der mordet; wer eine Eidechse, die vor ihm quer über [147] den Weg läuft, mit den Füßen zertritt, der mordet; wer auch nur einen Wurm zertritt, weil er eben Freude hat am Zertreten, am Tödten, der mordet. – Und dieß merket: wer einmal Thiere zu quälen und zu tödten gewohnt ist, aus bloßer Lust dazu, der ist oder wird auch ein Menschenquäler. Das ist eine Lehre, deren Wahrheit sich im Leben immer bestätigt. Es verräth immer ein böses Herz und einen tückischen Sinn, dieser blutdürstige Trieb eines Menschen.«

August fand sich in seinem Innersten getroffen; und er erinnerte sich sogleich an Fritzen, von dem er gesehen hatte, wie er nur so im Gange durch das Dorf einem Knaben, der ruhig vorbeiging, die Kappe vom Kopf schlug; wie er einem Mädchen, das auf der Bank saß, und strickte, den Knäuel nahm, und im Laufen den Faden auflösete; und wie er einem andern Kinde, das von Lehm ein Häuschen sich baute, das Gebäude mit dem Fuße zertrat, worüber das Kind bitterlich zu weinen anfing. Darum ward er auch im Dorfe allgemein der böse Fritz genannt. – August erschrack über dem Gedanken, daß er schon auf dem Wege sich befunden hatte, welchen böse Buben gehen. –

Nach Tisch ging der Vater, von den Kindern begleitet, in den Garten. Es war ein sonnenheller [148] Nachmittag; die Vögel sangen in den Zweigen, die Bienen wiegten sich auf den Blumen, alles lebte und regte sich in freudigem Wohlbehagen.

Indem sie durch den Garten gingen, rief Lottchen plötzlich: »Eine Eidechse! eine Eidechse!« und sprang furchtsam auf die Seite. Die Knaben fragten: wo? und verfolgten das Thierchen mit ihren Augen, und gingen ihm nach. Der Vater sagte zuLottchen: »Närrisches Mädchen, wer wird sich denn vor einer Eidechse fürchten?« »Ja, sie ist giftig,« sagte Lottchen. »Giftig? sagte der Vater, es ist das unschuldigste Thierchen von der Welt. Komm, betrachten wir es einmal näher!«

Sie gingen zu den Knaben, welche dem fliehenden Thierchen nachgeeilt waren. »Sieh doch, Vater, sagteWilhelm, wie das Thierchen so herrlich schimmert im Sonnenschein. Und jetzt lauft's wieder, so geschwind und geschickt durch die hohen Gräser, daß man's kaum mit den Blicken verfolgen kann!« »Fang's einmal, sagte der Vater, aber thue ihm kein Leid,« Wilhelm sah den Vater verlegen an; auchLudwig rührte sich nicht. August versuchte es zwar; aber da er doch nicht den rechten Muth hatte, und das Thierchen seine Zickzack beschleunigte, so konnte er's nicht erwischen. »Laß! [149] sagte der Vater, du ängstigest das Thierchen nur durch deine Jagd. Laß es mich versuchen. Bleibt aber ruhig stehen.«

Und der Vater hatte es sogleich gefangen. Er hielt es auf der flachen Hand und streichelte und beruhigte es mit der andern. Die Kinder drängten sich hinzu, und eines wollte es besser sehen, als das andere. »Welche schöne Farbe!« sagte Ludwig. »Wie Smaragd,« sagte Lottchen; »und so schön gezeichnet! kein Maler könnte es so zart, so glänzend machen.« »Der liebe Gott, sagte der Vater, hat gar gut für das Thierchen gesorgt, indem er es mit diesem grünen Kleide anthat und zierte. Denn da es sich gern aus dem dunkeln Gebüsch ins Grüne herauswagt, und dort seine Nahrung sucht, so wird es in dieser Farbe weder von den Thieren so leicht bemerkt, welchen es nachstellt, noch von dem Storche entdeckt, der ihm selber aufs Leben geht.«

Nun hatten die Kinder den Muth, die Eidechse noch genauer zu besehen und zu befühlen; und der Vater belehrte sie über dieß und jenes, und sagte: wie das Thierchen Athem hole, und sehe und fühle, gleich den Menschen; und daß es empfindlich sey für Wohl und Wehe. »Man kann zwar, sagte er, einer Eidechse den Schweif abhauen, und sie läuft doch noch fort und lebt, und es wächs't ihr der [150] Schweif wieder nach. Ja, man erzählt von einer Eidechse, der man den Kopf abgehauen hat, und sie kroch doch noch die Mauer hinauf bis zu ihrem Loch. Wenn es euch eine Freude macht – fuhr der Vater fort, die Kinder versuchend – so wollen wir die Probe machen; hauen wir einmal dem Thierchen den Schweif ab.« Die Kinder schrien alle zusammen: »Nein! nein! es wäre Jammerschade!« Der Vater lächelte, und er freute sich des guten Herzens seiner Kinder. Er setzte die Eidechse wieder ins Gras, und im Hui war das Thierchen aus ihren Augen entschwunden.

Wilhelm sagte: O hättest du's mir gelassen, ich hätte es in einen Vogelkäfig gesperrt. »Hättest du aber auch, fragte der Vater, täglich die Mücken für dasselbe fangen wollen? und meinst du, es wäre ihm im Käfig so wohl gewesen, wie hier im Freien?« »Aber im Winter! sagte Wilhelm, da wäre es ihm doch lieber in der warmen Stube, als draußen im Frost und Unwetter. Da muß es ja erstarren und verhungern.« »Auch dafür hat der liebe Gott gesorgt, sagte der Vater. Die Eidechsen haben Wärme genug in sich, um den Winter über auszuhalten. Sie verkriechen sich daher, und bringen die rauhe Jahreszeit im Schlafe zu. Ohne Kalender wissen sie ihren Monat. Aber wie im Frühjahr das [151] Volk der kleinen Mücken lebendig wird, und alle Keime in Gras und alle Knospen in Laub aufgehen, ruft die tiefer dringende Frühlingssonne auch dieses Geschöpf aus seinem Schlaf und Winterquartier, und wann es erwacht, ist schon für alles gesorgt, was zu seines Lebens Nahrung und Nothdurft gehört.«

»Wie wunderbar ist doch Gottes Güte und Weisheit!« rief August, aus tiefbewegtem Gemüthe.

»Und solche Geschöpfe, sagte der Vater, für die Gott so väterlich sorgt, sollen wir Menschen muthwilliger Weise quälen und tödten können?«

»Nimmermehr!« sagte August, und er fiel dem Vater um den Hals, und weinte still an seiner Brust. –

Als die Kinder aus der Schule kamen, sagte der Vater, er wolle noch mit ihnen einen Spaziergang machen nach dem Halderhof, dessen Besitzer sich durch Bienenzucht auszeichne; der Mann werde ihnen Wunder zeigen.

»Doch, ehe wir gehen, sagte der Vater, muß ich euch eine traurige Nachricht mittheilen. So eben erhalte ich einen Brief von der Frau von Fallner, worin sie mir meldet, daß ihr Fritz jämmerlich Schaden gelitten habe; er sey bei einem Bauer des Dorfes einem Bienenstocke zu nahe gekommen –[152] wahrscheinlich, sagte der Vater, hat er sie geneckt und in ihrem Neste gestört – und da hätten sich die Bienen in solcher Anzahl an ihn gemacht, und sein Gesicht so arg zerstochen, daß er, wie ein Wahnsinniger, schreiend nach Hause gekommen sey. Das Gesicht sey stark geschwollen, und er leide furchtbare Schmerzen.«

Die Kinder hatten Bedauern mit ihm. August sagte: Man werde wohl recht haben, wenn man vermuthe, daß Fritz die Thierchen geneckt habe. Und er erzählte nun, wie es Fritz getrieben, als er bei ihm gewesen; und er verschwieg dem Vater nicht, daß auch er mitgeholfen habe. Er werde es aber nie mehr thun, setzte er reumüthig hinzu.

»So hat er denn, sagte der Vater, die wohlverdiente Strafe erhalten, die unausbleiblich dem folgen wird, der muthwilliger Weise die Thiere zu mißhandeln gewohnt ist.«

Als sie im Halderhof angelangt waren, empfing sie sogleich der Besitzer mit Höflichkeit; und nachdem er den Kindern mit des Vaters Einwilligung einige Erfrischung gereicht hatte, führte er sie zu seinen Bienenstöcken.

Wilhelm sagte schüchtern dem Vater ins Ohr: »Aber stechen uns die Bienen nicht, wie sie es Fritzen gethan?« Der Vater antwortete: »Wer [153] sie nicht reizet, und in ihrer Arbeit stört, dem thun die Thierchen nichts zu Leide. Auch führt uns der Mann an einen Ort, wo wir den Bienen und ihren Arbeiten unbemerkt zusehen können.«

Der Mann führte sie wirklich in einen verschlossenen Gang, der hinter den Gestellen, wo die Bienenstöcke standen, sich hinzog. Da, wo ein Stock sich befand, war ein Fensterchen angebracht, durch welches man mitten in den Stock hineinsehen konnte. O, wie erstaunten die Kinder, als sie den herrlichen Bau sahen, den die Bienen da aufgeführt hatten; die unzählig vielen Zellen von Wachs, worin köstlicher Honig war; dann die Emsigkeit, womit die Bienen hin und her flogen, und die Geschicklichkeit, womit sie alle ihre Arbeiten verrichteten. Und wie groß war ihr Verwundern, als ihnen nun der Mann erzählte von der schönen Einrichtung ihres kleinen Staates; von der großen Ordnung, die in allen ihren Verrichtungen herrscht; von dem Ansehen ihrer Königin, und der Huldigung, die sie genießt von allen; besonders von der Geschäftigkeit der Arbeitsbienen, welche den ganzen lieben Tag umherschwärmen, um auf Blumen und würzigen Kräutern Stoff zu sammeln, woraus dann das künstliche Wachs und der köstliche Honig bereitet wird.

Die Kinder konnten sich nicht satt sehen, und [154] verließen ungern den Ort, als der Vater zum Aufbruch mahnte. Im Nachhausegehen erzählte er ihnen noch Vieles von dem wunderbaren Triebe dieser Thierchen; wie sie sich z.B. stundenweise von der Heimath entfernten und doch ohne Wegweiser und Landkarte nach Hause finden; wie sie, wenn ein Sturm sie überrascht auf ihrer Reise, Steinchen zwischen die Füße nehmen, damit sie nicht vom Winde fortgerissen werden; wie sie geschickt den Nachstellungen der Feinde ausweichen, oder auch, wenn's nicht anders seyn kann, muthig kämpfen, und Leib und Leben lassen in ihrem Berufe.

»Wenn man dieß alles so hört und sieht, sagteAugust, so bekommt man ordentlich Respect vor den Thieren und ihren Kunstfertigkeiten.«

»Und noch größern Respect, sagte Lottchen, bekommt man vor dem, der sie so geschaffen, und mit so wunderbaren Trieben ausgestattet hat.«

»Setzen wir den Fall – sagte der Vater nach einer Pause – ein Vater schenkt seinem Kinde eine künstliche Maschine; sie ist von einem gefälligen Aeußern, und ihr Inneres, das Getriebe, ist so zweckmäßig eingerichtet, daß genau die Zeit angedeutet wird bis auf Stunden und Minuten. – Du weißt doch, Wilhelm, wie eine solche Maschine heißt.«

[155] »Eine Uhr, sagte Wilhelm, wie du eine besitzest. Du hast sie uns oft gezeigt und ihr Inneres erklärt.«

»Das Kind nun, statt die Maschine zu lassen, wie sie ist und geht, zerret und ziehet daran so lange mit dem Schlüssel, bis die Kette oder die Feder entzwei springt, oder es bricht ein Rädchen heraus, oder spielt mit ihr, wie mit einem Balle, bis sie zu Boden fällt und zerbricht. Wie würdest du ein solches Kind nennen?«

»Dumm, sagte Wilhelm; denn wenn es die Einrichtung der Maschine kennen würde, und ihren Nutzen, so würde es nicht also handeln.«

»Es wäre aber noch mehr als dumm, sagte der Vater, es wäre auch boshaft.«

»Freilich, sagte Ludwig, denn der Vater hat es ihm ja zum Geschenke gegeben, und es wäre sehr undankbar, wenn es das Geschenk des Vaters nicht in Ehren hielte, oder gar zu Schanden richtete.«

»Sieh! sagte der Vater, und hier, diese Mücken, die uns umsummen, diese Würmer, die vor uns da kriechen, alle diese, auch noch so unansehnlichen Geschöpfe sind mehr, unendlich mehr, als die künstlichsten Maschinen, welche eines Menschen Hand hervorbringen könnte. Und sie alle sind Geschöpfe unsers himmlischen Vaters, der uns damit [156] erfreuen, uns damit nützen wollte, oder der sie doch dazu erschaffen hat, daß sie sich ihres Daseyns erfreuen, und zu andern uns oft verborgenen, aber gewiß immer weisen und gütigen Zwecken dienen sollen. Es wäre daher gewiß der größte Undank, wenn wir diese weisen und gütigen Zwecke, die der himmlische Vater mit den Thieren vorhatte, mißkennen oder gar diese Geschöpfe selbst, dem Schöpfer gleichsam zum Trotze, auf muthwillige und grausame Weise mißhandeln wollten.«

Indem sie noch so sprachen, sahen sie einen ganzen Schwarm Bienen vorbeifliegen, daß fast die Sonne vor der Menge verdunkelt wurde. 3 Sie setzten sich in einen hohlen Baum, der in der Nähe stand. Von demHalderhof aus kamen aber schon Leute herbei, mit einem leeren Bienenkorbe; diesen stellten sie dem Baume gegenüber auf; und einer unter ihnen schlug mit einem Hammer auf eine Sense, um sie durch die Töne in den Korb zu locken. Das geschah denn auch endlich; alle kamen herbei, keine blieb zurück, und die Leute trugen den vollen Korb zu dem Hofe zurück. – Die Kinder hatten an allem dem eine große Freude, zumal da [157] ihnen der Vater erklärte, wie es sich mit diesem Auswandern eines Bienenstammes verhalte und wie die Menschen den Trieben dieser Thierchen es abgelauscht hätten, um sie in die Heimath zurück zu locken und das Besitzthum zu vermehren. – –

»Ob der böse Fritz sich gebessert habe – schloß die Tante ihre Erzählung, wobei sie ihren Blick fest auf den gegenüber sitzenden Fritz heftete – oder ob er ein unbarmherziger Thierquäler geblieben, und ein noch unbarmherzigerer Menschenquäler geworden sey, darüber habe ich keine weitern Nachrichten. Die letztere Vermuthung hat jedoch die Wahrscheinlichkeit für sich. Denn wo einmal der Schelm im Herzen sitzt, da ist er schwer abzutreiben, und er übt nur um so mehr Gewalt aus, als er an Alter zunimmt. Einzelne Unarten dagegen, die aus Mangel an Ueberlegung, nicht aus Bosheit des Herzens hervortreten, können freilich verbessert und abgethan werden; nur muß sogleich, wenn sie sich zeigen wollen, die Zucht hintenher auftreten, und Ermahnung, Warnung, Strafe der schlimmen Neigung wehren und der bessern Bahn machen. Und so hat man denn von Arnheim's Kindern nie mehr vernommen, daß sie irgend ein Thier gequält, oder sonst lieblos gegen ein Geschöpf Gottes sich benommen hätten. Die ernste Lehre des Vaters hatte [158] auf dieselben, zumal auch auf August, den lebhaftesten Eindruck gemacht; und das bedenkliche Wort, das zu ihren Herzen gesprochen worden, trat jederzeit, mahnend und warnend, aus dem Innern hervor, so oft sie veranlaßt wurden, eine Probe ihrer Gutmüthigkeit in der Behandlung der Thiere abzulegen.«

Fußnoten

1 Eine Art Schmetterlinge, die auf dem Rücken die gelblich weiße Zeichnung eines Todtenkopfes haben.

2 Dieser Vogel heißt darum Nachtigall, d.h. Nachtstimme, weil er nur zur Nacht zu singen pflegt.

3 Gewöhnlich schwärmen die Bienen um die Mittagstunden.

VIII. Die Pathengeschenke. – Des armen Waisen Leben und Tod. – Das Mährchen von der neugierigen Frau. – Das muthige und listige Schneiderlein. – Sankt Antonius und der Schwabe. – Dummrian.

Fritz kündigte eines Abends an, daß sie, die Kinder, wieder »geladen« seyen mit allerlei Geschichten, und daß sie dieselben je eher desto lieber vorbringen möchten. Der Antrag wurde angenommen, und das junge Völklein gleich aufgefordert, ihre Waaren auszulegen.

Dießmal begann Malchen, und erzählte folgendes Mährchen:


* * *

Die Pathengeschenke.

Es war einmal ein Mädchen, die verlor noch sehr jung Vater und Mutter. Da nahm sich der [160] armen Waise ihre Pathe an, eine alte Frau, welche am äußersten Ende des Dorfes ein kleines Häuschen bewohnte, und sich vom Spinnen, Weben und Nähen kümmerlich nährte. Die Frau erzog das Mädchen in aller Zucht und Frömmigkeit, und hielt sie fleißig an zur Arbeit und Reinlichkeit und zu einem freundlichen und feinen Wesen. Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt war, starb ihre Pathe. Auf ihrem Todbette sagte diese: Sieh, liebe Tochter, ich hinterlasse dir außer diesem leeren Häuschen nichts, als Spindel, Spule und Nadel. Damit magst du dich aber genugsam ernähren, wenn du dich fleißig zur Arbeit hältst. Dieß aber merke: Willst du, daß Segen in dein Werk komme, so theile den Armen aus, was du an Ueberfluß hast. Gott wird dich dann darum belohnen.

Nach diesen Worten verschied die Pathe, und das Mädchen vergoß bittere Zähren, und konnte sich nicht trennen von der Leiche, bis sie begraben wurde. Nun saß sie allein und traurig in ihrer Hütte, und verweinte manchen Tag in der Einsamkeit. Doch endlich, als sie so fleißig sich zum Rocken, zum Webstuhl und zum Nähtisch hielt, da verging ihr allmählich die Schwermuth, und sie gewöhnte sich immer mehr an ihre einsame Lage. Auch ruhte der Segen Gottes sichtbar auf ihrer Arbeit; denn als [161] sie nach Verlauf eines Monats ihre Arbeiten verkaufte, lösete sie so viel Geld, daß sie wohl ein Jahr davon hätte leben können. Eingedenk aber der Worte ihrer verstorbenen Pathe, theilte sie alles Geld, was sie entbehren konnte, unter die Armen aus, und ging dann wieder neuerdings frisch und froh an die Arbeit. So geschah's auch am zweiten und in den folgenden Monaten; und es war wunderbar, daß sie immer mehr und schönern Flachs in ihrer Vorrathskammer fand, als sie doch von den Leuten jederzeit angekauft zu haben vermeinte.

Um diese Zeit war der Königssohn ausgegangen, um sich unter den Töchtern des Landes die würdigste als Braut zu suchen und heimzuführen. Er erklärte dabei, er könne keine arme, er wolle aber auch keine reiche wählen; sondern diejenige, welche zugleich die ärmste und die reichste wäre, die sollte seine Frau werden. Nun kam er auch in die Gegend und in das Dorf, wo das Mädchen wohnte. Da ließ er, wie er jederzeit zu thun pflegte, nach der reichsten und nach der ärmsten fragen, die im Orte sey. Die Leute nannten die Mädchen, und rühmten besonders die ärmste, wie sie gar arbeitsam sey und eingezogen lebe, und wie sie sich so wohlthätig erweise gegen die Armen. Das Haus der Reichen ritt der Königssohn vorbei, ohne anzufragen; aber zur Hütte [162] der Armen lenkte er sein Roß, und hielt stille vor demselben, und schaute ins ärmliche Stübchen hinein, wo das Mädchen emsig spann. Als diese den stattlichen Jüngling ersah, im Gefolge vieler Herren vom Hofe, da wurde sie ganz roth im Gesichte, und ihr Herz pochte gewaltig; sie wendete aber sogleich die Augen züchtig ab, und spann emsig fort Der Königssohn dachte bei sich: Habe ich doch nie ein so schönes und sittsames Mägdlein gesehen im ganzen Lande! Wenn sie nicht gar so arm wäre, würde ich sie, wahrlich! heimführen als Braut. Dann ritt er davon.

Das Mädchen sah im sehnsüchtig nach, und als sie erfahren, daß es der Königssohn sey, so wollte ihr schier das Herz brechen vor Wonne und Sehnsucht. Indem fiel ihr ein Lied ein, das sie schon in früher Zeit von der Pathe erlernt, und das ihr seither nicht mehr eingefallen; und sie sang:


Spindel sein, Spindel schon, 1

Begrüße mir den Königssohn.


Und sieh! alsogleich entschlüpfte ihren Fingern die Spindel und spann auf dem Boden fort, zur Thüre hinaus, ins Weite, den Weg, den der Königssohn gezogen. Dieser verhoffte nicht wenig, als er die Spindel daher kommen sah, die einen ganz zarten [163] Goldfaden spann, und sie surrte dabei so lieblich, daß es mit dem schönsten Gesang nicht zu vergleichen war; und es klang fast, wie: Komm mit! Komm mit! Der Königssohn kehrte um, und folgte der tanzenden und singenden Spindel, die ihn des Wegs führte. –

Inzwischen hatte sich Mädchen zum Webstuhl gesetzt; sie schaute aber von Zeit zu Zeit zum Fenster hinaus, begierig was da kommen werde. Da sah sie von ferne den Königssohn herankommen, und vor freudigem Erschrecken hielt sie still mit dem Weben, und sang, was folgt im Liede:


Spule sein, Spule schon,

Geleite mir den Königssohn!


In dem Augenblick entfiel ihr die Spule, und sie wob und wob also geschwind einen Teppich von der Thürschwelle an, die Hausflur entlang, und weiter ins Freie, daß man kaum mit den Augen folgen konnte; und das Gewebe war so schön und reich an Gold und Silber, daß nichts Kostbareres gefunden werden mag in allen Königspalästen. Sobald der Königssohn näher herangekommen, so stieg er vom Rosse, und ließ die Seinigen warten; er selbst aber ging zu Fuß der Hütte zu, auf der Tapete, die ihn so leicht, wie auf Flügeln zu tragen schien.

[164] Während dieß vorging, hatte sich das Mädchen an den Nähtisch begeben, und das Nähzeug und die Nadel ergriffen; es wollte aber mit der Arbeit nicht mehr recht fortgehen, denn sie konnte nicht umhin, ein und das andere Mal hinaus zu blicken nach dem schönen Königssohn, der sich ihrer Hütte nahete. Ihr Herz klopfte immer stärker, die Hand versagte ihr den Dienst, es flimmerte ihr vor den Augen. Da sang sie mit leiser, beklommener Stimme das Lied weiter:


Nadel sein, Nadel schon,

Empfange mir den Königssohn!


Sogleich lief die Nadel zur Thüre hinaus, und holte Spindel und Spule herbei. Und nun ging's drinnen an ein Spinnen und Weben und Nähen, daß dem Mädchen schier Hören und Sehen verging. In wenigen Augenblicken war das ärmliche Stübchen, wie durch Zauber, verwandelt; es legten sich an die Wände und auf den Fußboden die schönsten, reichsten Tapeten an, die mit prächtigen Schildereien aus Gold und Silber geschmückt waren, und es überzogen sich eben so bald Tisch, Bank und Stühle mit kostbarem Zeug, daß nichts mehr von der vorigen Armuth zu sehen war, sondern alles und jedes im höchsten Glanze prangte.

Nur sie selbst, das holdselige Mädchen, stand [165] unverändert da in ihrem einfachen, reinlichen, schneeweißen Kleide, mit den Rosen und Lilien im Antlitz, und mit dem tiefen Himmelblau ihrer Augen.

Der Königssohn trat ein .... Aber wer vermöchte zu beschreiben, was da in beider Herzen vorging! Nach dem er sie eine Weile mit Wohlgefallen betrachtet, wobei das Mädchen kaum die Augen zu erheben wagte, so nahm er sie bei der Hand, und sagte: »Nun habe ich gefunden, was ich gewünscht. Du bist das ärmste Mädchen; aber wie ich seh', zugleich das reichste. Willst du, so komme mit mir, und werde meine Gemahlin.« Meint ihr, daß sie eingewilligt habe? Ja wohl! Sie überließ das Häuslein, sammt allen Kostbarkeiten, den Armen, nahm die Pathengeschenke mit sich, und folgte dem Königssohn in seinen Palast, wo sogleich Hochzeit gehalten wurde. Lange Zeit lebten sie in Ehren und Freuden zusammen; und die Königin hielt sich emsig, wie vorher, zur Arbeit, und blieb eine Mutter der Armen. Spindel und Spule sind späterhin im Königspalaste verloren gegangen, aber die Nadel ist dort bewahrt worden bis auf unsere Zeiten; daher noch heut zu Tage die Königinnen und Prinzessinnen ein Nadelgeld erhalten.


* * *

[166]

Des armen Waisen Leben und Tod.

Das Mährchen, wie es Malchen vorgetragen, fand Beifall. Es wurde hierauf Karl aufgefordert, seine Erzählung vorzutragen. Er begann:

Es ist ein großes Unglück für ein Kind, das eine Waise und vater- und mutterlos ist; und welches seine Eltern noch hat, das kann Gott nicht genug dafür danken alle Tag.

Der arme Waise, nachdem seine Eltern gestorben, kam in das Haus eines geizigen Mannes, dem er, mit des Vaters Hab und Gut, von dem Richter zugesprochen ward. Der harte Mann und sein Weib sahen den armen Waisen mit schelen Augen an; und da der Knabe von schwachem Kopf und kleinmüthigem Herzen war, so verbrach und erduldete er gar vieles, und er kriegte wenig Brod, aber desto mehr Schläge.

Erstlich mußte der arme Waise die Henne hüten, zusammt den Küchlein, und er sollte wohl Acht haben, daß keinem ein Leid geschehe. Aber eines Tages verlief sich die Henne mit den Küchlein durch einen Heckenzaun, und in demselben Augenblicke schoß ein Raubvogel aus den Lüften herab, und entführte die Henne von der Brut. Der arme Waise schrie ihm freilich nach: Du Hennendieb! du Spitzbub! Aber das waren Worte in den Wind geredt, und die Henne war weg. Ueber dem Lärm kam der Bauer; [167] und wie er hörte, was geschehen, schlug er den armen Waisen zu Boden, daß er schier kein Zeichen mehr gab. – Nun hatte der arme Waise die jungen Hühnlein allein zu hüten; und das gab große Mühe und Noth; denn das eine lief dahin und das andere dorthin. Um sie daher zusammen zu halten, und zu verhindern, daß nicht der Raubvogel wieder eines entführe, so band er sie alle zusammen an einer langen Schnur, und hütete sie. Aber einsmals schlief er während des Hütens ein (denn er war sehr hungrig und matt), und indeß kam wieder der Raubvogel, und ergriff eines der kleinen Piphühnchen, und trug sie alle, weil sie an einander hingen, auf einen Baum, wo er sie auffraß. Als der arme Waise aufwachte, o! wie erschrack und erzitterte er, da er kein Hühnlein mehr sah! Indem kehrte der Bauer vom Felde heim, und da er hörte, was vorgegangen, so schlug er den armen Waisen noch ärger, als zuvor, so daß er mehrere Tage das Bett hüten mußte.

Nachdem der arme Waise wieder gesund geworden, so mußte er botenweise gehen. Der Bauer schickte dem Richter ein Körblein voll Trauben, mit einem Briefe, den er dazu legte. Unterwegs hungerte und dürstete den armen Waisen gar zu sehr, und er aß zwei Trauben, und brachte die übrigen [168] dem Richter. Der Richter, als er den Brief gelesen, sagte: daß zwei Trauben fehlten; und der arme Waise bekannte, daß er sie gegessen vor lauter Hunger und Durst. Der Richter forderte durch ein kurzes Schreiben noch einmal so viel Trauben. Da dachte der arme Waise, als er die Trauben überbringen sollte: Ich will dieses Mal den Brief unter einen Stein legen, und darüber sitzen, daß der Brief es nicht siehet, wenn ich wieder von den Trauben esse. Und es hungerte und durstete ihn wieder sehr, und er aß wieder zwei Trauben. Der Richter, sobald er den Brief überlesen, fand wieder weniger Trauben im Körbel, und er stellte den armen Waisen darob zur Rede. Dieser bekannte, daß er zwei Trauben gegessen vor Hunger und Durst; er wundere sich aber, sagte er, wie der Brief dieß habe verrathen können dem Herrn Richter, da er ihn doch unter einen Stein gelegt habe, indem er von den Trauben gegessen. Der Richter lachte ob der Einfalt des armen Waisen; und er empfahl ihn in einem Schreiben dem Bauern, daß er den armen Waisen milder halten, und mit Speis und Trank wohl versorgen, und ihn lehren möge, was recht und unrecht sey.

»Das werd' ich thun,« sagte der harte Mann zornig; »und willst du essen, so mußt du arbeiten, [169] und thust du Unrecht, so schlage ich dich zu Tode.« Und schon an dem folgenden Tage stellte er ihn an eine sehr schwere Arbeit; er sagte, daß er für die Pferde Futter schneiden müsse, und er gab ihm daher etliche Büschel Stroh, und etwas Heu dazu, und drohte ihm mit dem Todtschlagen, wenn er nicht alles in fünf Stunden aufschneiden werde. Der Bauer ging unterdessen sammt der Bäurin, dem Knecht und der Magd auf einen Jahrmarkt, und hinterließ dem armen Waisen nicht mehr zur Speise, als ein Stücklein Brod. Der arme Waise that sein Möglichstes, um ja zur Zeit fertig zu werden; er arbeitete, daß er keuchte und schwitzte; und um behender seyn zu können, zog er sein Leiblein aus, und warf's in den Strohstuhl; und er schnitt, und schnitt, und, ach! zerschnitt unvermerkt das Leiblein mit dem Stroh. Der arme Waise bemerkte das zu spät; er ließ vor Angst das Eisen fallen, und klagte: »O Jammer! jetzt ist's aus mit mir! Nun werde ich todt geschlagen! Ach, sagte er, wenn ich doch sterben muß, so will ich mir lieber selbst das Leben nehmen, als daß ich von dem harten Manne Schläge erleiden soll bis zum Tode.«

Nun hatte er oft von der Bäurin gehört: daß sie Gift habe in dem Hafen unter der Bettstätte. Es war aber Honig darin. Der arme Waise langte [170] nach dem Hafen, und ließ sich das süße Gift wohl schmecken. Er seufzte etliche Mal: »O wie ist der Tod so süß! Kein Wunder, daß sich die Bäurin so oft den Tod wünschet! Ach, daß ich nur schon todt wäre!« Der Hafen wurde geleeret, und sein Leben ward gestärket. Da sprach er zu sich selber: »Ei, ich mag mich geirrt haben; es ist noch ein Gift im Hause, das Mückengift, welches der Bauer auf seinem Kleiderkasten gestellt hat.« Dieß war aber ein Branntwein oder Kirschenwasser. Der arme Waise trank das Fläschlein aus, und wurde davon so rauschig, daß er seiner selbst nicht mehr mächtig war. »Ach, sagte er, nun fühle ich, daß ich sterben muß. Der Tod ist schon im Kopfe. Ich will nur gleich hinaus auf den Freithof, und selber ins Grab gehen, damit der karge Mann die Kosten erspare.« Er ging dahin, und taumelte schon; und er legte sich bei der unschuldigen Kinder Gräbniß auf die Erde. Es däuchte ihm, als höre er Musik, und glaubte, es wäre hier das Paradies. Es war auch Musik, bei einer Hochzeit im nächsten Wirthshause. Also entschlief der arme Waise auf dem Gräbniß der unschuldigen Kinder, und starb auch in der folgenden Nacht.

Am andern Morgen wurde der arme Waise entseelt gefunden. Ob der Nachricht hatte der karge [171] Bauer so großen Schrecken, daß es ihm übel wurde; denn er fürchtete, das Gericht werde ihn des Todtschlags zeihen und ihn streng bestrafen. Er fiel zur Erde, und in Ohnmacht; und indem ihm sein Weib zu Hülfe eilte und ihm beistand, schlug das Feuer in die Pfanne, in welcher Schmalz war; das Haus gerieth in Brand, und nach wenig Stunden lag es in der Asche. Sie beide retteten kaum ihr Leben. Also wurde von Gott das große Unrecht bestraft, welches die bösen Leute an dem armen Waisen verübt hatten.


* * *


Karls Erzählung, so einfältig sie lautete, erregte doch durch die seltsame Mischung von Heiterkeit und Wehmuth, die sich darin aussprach, die Theilnahme der Zuhörer. Der Knabe bemerkte bescheiden: »Er habe die Geschichte in einem alten Buche gelesen, das ihm der Großvater zugestellt; und er habe sie nur auf seine Weise ausgestattet und vorgetragen.« – »Buch? (unterbrach die Mutter); wie ist der Großvater zu dem Buch gekommen?« fragte sie, sich an diesen wendend. Der Großvater lächelte, und sagte: »In jenem bewußten Winkel, den der Vater ausgekundschaftet, lag eben noch eine andere, in Schweinsleder gebundene [172] Schartecke, eine überaus köstliche, –Ostermährlein enthaltend. Diese habe nun ich mir zugeeignet, und manche Stunde darin geblättert, welche die Frauen beiläufig auf ihren Putz verwendet.« – Man scherzte noch eine Weile; dann wurdeMinchen eingeladen, ihre Erzählung vorzutragen. »Ach, sagte sie, mein Mährchen ist ganz kurz.« »Wenn es nur gut ist,« sagte der Vater. »Die Großmutter hat mir's erzählt,« bekannte die Kleine, »und ich geb's so, wie ich's gehört habe.« Sie erzählte:


* * *

Das Mährchen von der neugierigen Frau.

»Es war einmal ein Mann und eine Frau, die lebten recht gut mit einander; und eines wußte, was das andere that. Aber alle Mittwoch mußte sie am Rad spinnen, und er schloß sich daneben in ein Zimmer ein. Da wollte die Frau wissen, was er drinn mache; aber er sagte ihr das nicht. Eines Tages, wo er wieder im Zimmer war, und sie am Rädchen spann, da konnte sie die Neugierde nimmer unterdrücken; und sie sprang auf, und guckte durchs Schlüsselloch, zu sehen, was ihr Mann drinn mache. Da sah sie mit Grauen, wie seine Haare brannten, gleich feuriger Lohe, und seine Augen funkelten, wie [173] Glas, und zwischen den Fingern hatte er einen blutigen Knochen, an dem nagte er, und spielte Ball mit eisernen Kugeln an Ketten, die klirrten. Da wurde es ihr anders, und sie konnte nicht mehr das Rädchen treiben vor lauter Schrecken. Jetzt kam der Mann heraus, und fragte: Warum spinnest du nicht? Da konnte sie sich nimmer verstellen, und sagte: Ach, Mann, ich habe durch das Schlüsselloch gesehen. Es fragte der Mann weiter: Warum bist du so blaß und zitterst so? Sagte sie: Ach, Mann, ich habe gesehen, wie deine Haare brannten, gleich feuriger Lohe, und wie deine Augen funkelten, wie Glas; und ich sah, wie du einen blutigen Knochen zwischen den Fingern hattest, und an ihm nagtest. Da holte der Mann aus dem Zimmer den Knochen, und schlug damit die neugierige Frau todt.«


* * *

Das muthige und listige Schneiderlein Sankt.

Die Großmutter nickte dem Kinde, nachdem es geendigt, Beifall zu. Nun trat Fritz auf den Plan, und erzählte lebhaft in Ton und Gebärde:

Wer kennt nicht die Geschichte vom Schneiderlein, der Sieben auf Einen Schlag getödtet hat? Es sind dieß bekanntlich zwar nur sieben Fliegen gewesen; aber der Schlag hat doch gegolten; [174] und der Streich weckte seinen Heldenmuth, daß er beschloß, auf Abenteuer auszugehen, und sich irgend eine Königstochter zu erobern. Darum machte er sich alsogleich einen Harnisch aus Goldpapier, und schrieb darauf mit großen Buchstaben: Sieben auf Einen Schlag, und ging fort, in die weite Welt hinaus, Helden-Abenteuer aufzusuchen und, so Gott will! auch muthig und glücklich zu bestehen. Nun wissen wir alle, wie das Männlein an den Hof eines Königs gekommen, und dort um die Hand der Königstochter geworben; und wie er den Bären geschraubt und gefangen, und das Wildschwein und das Einhorn getödtet hat; was ihm denn alles auferlegt worden zur Probe seines Heldenmuths und ritterlichen Sinnes. Schon dachte sich Jäcklein, nachdem er dieß alles verrichtet: Jetzt gehört sie mein, die schöne Königstochter! Da sprach der König zu ihm: »Du hast bisher drei Unthiere getödtet, mit mannhaftem Muthe; und du verdienst deßhalb alles Lob. Aber nun sollst du es auch mit Unmenschen aufnehmen, mit drei großmächtigen, fürchterlichen Riesen, die in dem Walde gen Osten zu hausen, allen Reisenden zum Schrecken. Wenn du auch diese erlegst, so will ich dir alsogleich meine Tochter zur Frau geben.« Jäcklein sagte: Das will ich thun, Herr König! Und er ging fort, [175] nachdem er das Nöthige mitgenommen; und, als er in den Wald kam, legte er sich nieder unter einer großen Buche, und that, als ob er schlafe. Bald kamen die drei Riesen herbei; und wie sie das Männlein liegen sahen, und die Inschrift auf dem Harnisch:Sieben auf Einen Schlag, so lachten sie drob, und sagten: Dieß wär' uns ein Held! Jäcklein aber sprach: Nehmt's mit mir auf, ihr Bengel, wenn ihr Muth habt! Darob lachten die Riesen noch mehr, und sie sagten: Das wollen wir, kleiner Butzel! Jäcklein sprach weiter: »Nun, so laßt uns denn drei Proben machen, wer der stärkste sey; und wer in allen dreien gewinnt, der ist Sieger; und wer verliert, der muß sich gefangen geben.« Den Riesen gefiel der Spaß, und sie sagten, daß es ihnen so recht sey; und er sollte nur die Proben bestimmen. Da sagte der Schneider: Zum ersten, wer einen Stein zum Höchsten wirft, der soll Sieger seyn. Die Riesen nahmen sogleich einer nach dem andern große Felsstücke, und warfen sie in die Höhe; und es dauerte bei eines jeden Wurfe ein', zwei bis drei Minuten, bis der Stein zurück fiel auf den Boden, den er jedes Mal tief aufwühlte, daß die Erde umher stäubte. Zuletzt hob auch Jäcklein ein Steinlein vom Boden auf, und sagte zu den Riesen: Nun fangt an zu zählen, [176] wenn ich werfe; und daß ihr euch ja nicht verzählet! Wie er nun warf, und sie das Ding fliegen sahen über die Bäume hin, da zählten sie: eins, zwei, drei bis tausend; und wiederum eins, zwei, drei bis zwei tausend; und der Stein wollte immer noch nicht zurückkommen; und also gaben sie sich für dieß Mal gefangen. – Nun müßt ihr aber wissen, daß das kein Stein gewesen ist, den der Schneider geworfen, sondern ein Vögelein, das er im Vorschuß des Aermels verborgen hatte; und das Vögelein ist davon geflogen, und ist freilich nicht mehr zurückgekommen. – Nun gab Jäcklein die zweite Probe auf, und sagte: Wer einen Kieselstein zerdrückt, und am meisten zermalmt, der soll zum anderten Mal Sieger seyn. Die Riesen ließen sich herbei zum Probestück; und der eine zerdrückte den Stein in lauter Brocken, der andere zermalmte ihn zu kleinem Schrot, der dritte so, daß es aussah, wie feiner Streusand. Da waren sie nun begierig, was der kleine Held mehr verrichten wollte. Dieser hob, ohne ein Wörtlein zu sagen, einen Kieselstein auf, und er zerdrückte ihn so, daß Wasser davon floß. Also mußten ihm die Riesen zum zweiten Male den Sieg zugestehen. – Ihr werdet wohl denken, daß auch dieses Mal eine Schelmerei des kleinen Schalks dahinter gesteckt sey. Und es war auch so; [177] denn er hatte einen Topfen oder Milchkäs im Aermel verborgen gehabt, und ihn dem Steine untergeschoben und zerdrückt; was die plumpen Riesen nicht gesehen noch errathen haben. – Daraus ist zu lernen, wie viel mehr Witz vermöge, als Stärke. – Nun aber, da es zur letzten Probe kommen sollte, da dachte Jäcklein: Was ist es, wenn ich sie auch jetzt wieder besiege? Sie werden mir kein Wort halten, sondern mich auslachen, und wohl gar auffressen zum Dank. Da fiel's ihm noch zur rechten Zeit ein, und er sprach: Zum dritten und letzten Mal, wer am weitesten und besten fliegen kann, der ist Sieger ein für alle Mal. Die Riesen dachten: So weit, als der kommt mit seinen kurzen Armen und Beinen, so weit mögen wir auch kommen. Und sie sagten: es sey ihnen recht, und er sollte nur gleich den Anfang machen. Also kletterte Jäcklein an einer hohen, hohen Buche hinauf bis zum Gipfel; dann, flugs! machte er einen Sprung, hupfte aber, wie ein Eichhörnlein, von Ast zu Ast, und hielt sich an Zweig zu Zweig, bis er endlich, zwar etwas unsanft, auf dem Boden angekommen. Da machte er sich gleich wieder auf die Beine, schrie: Juhe! und that einen Burzelbaum. Die Riesen droben, wie sie sahen, daß der drunten so frisch und wohl angekommen, säumten nicht lange; und der erste wagte sogleich den [178] Sprung, und plumpfte mit gewaltiger Last zu Boden, daß ihm alle Rippen enzwei brachen, und sogleich den Geist aufgab. Da riefen ihm die zwei zu: Wie ist's? Jäcklein verstellte seine Stimme, und antwortete statt des Riesen in tiefer, grober Stimme: Recht gut! Dann sprang auch sogleich der zweite nach, und fiel maustodt, wie der erste. Da fragte der droben: Warum steht ihr denn nicht auf? Jäcklein nahm wieder die Stimme des Riesen an, und sagte: Wir liegen gut. Also hupfte auch der dritte nach, und brach sich Hals und Bein, daß er kaum mehr röcheln konnte, und bald darauf auch verschied. Jäcklein, wie er nun alle drei todt vor sich liegen sah, zog sein Schwert, das so groß war, wie ein Transchiermesser, und schnitt in guter Weile allen dreien die Köpfe ab. Sodann knüpfte er eines ihrer Häupter mit den Haaren an einen großen Stecken, und ging freudigen Muthes zurück in das Schloß des Königs. Zu dem sagte Jäcklein: Hier bringe ich Euch einen Riesenkopf; wollt Ihr die andern zwei auch haben, so laßt sie selbst holen. Da nun der König sah, welche Heldenthaten der kleine Mann verrichtet (Jäcklein sagte ihm aber nicht, welche Kunstgriffe er angewandt) – so konnte er seinen Heldenmuth nicht genug bewundern und preisen, und er nahm nun keinen Anstand mehr, ihm seine[179] Tochter zur Frau zu geben. In wenigen Tagen drauf war Hochzeit, und beide lebten zusammen in Frieden und Freuden gar viele Jahre, bis an ihr seliges Ende.


* * *


Fritz, nachdem er auserzählt hatte, flog auf die Großmutter zu, ohne das Urtheil der Uebrigen zu beachten. Die streichelt' ihm die langen Haare aus dem Gesichte und legte und putzte sie zurecht, was sie so oft zu thun pflegte, als sie mit ihrem Liebling besonders zufrieden war. »Großmutter, sagte Fritz, der ihre gute Laune zu benutzen suchte – geh! und erzähl' uns doch nochmal die lustige Geschichte, weißt! von dem Schwäble, der das Leberle gessen hat.« »Schelm! – sagte die Großmutter, und gab ihm einen Backenstreich – du möchtest wieder einmal die Schwaben ausspotten.« »Nein, gewiß nicht! sagteFritz. Und hör', Großmutter, wenn du die Geschichte erzählst, so will ich dir auch noch eine erzählen, und zwar eine gar lustige.« Die Großmutter ließ sich herbei, und begann:


* * *

Antonius und der Schwabe.

Als zu einer Zeit der liebe Herr Sankt Antonius über Land zog, um Gottes Wort und Heil zu spenden [180] allen Bedürftigen, da kam des Weges einher gegangen ein Schwäblein, und sprach zum Heiligen: Laß uns zusammen reisen. Das war der liebe Herr wohl zufrieden, und also reiseten beide zusammen weiter. – Nun kamen sie eines Tages an zwei Dörfer, die nahe an einander lagen, und in beiden Dörfern wurde geläutet mit den Glocken. »Was wird denn da geläutet?« fragte das Schwäble. Der Heilige antwortete: »Das will ich dir sagen. Siehst du! in dem einen Dorfe läuten sie zu einer Hochzeit, und in dem andern ist eine Leiche, die sie wollen hinaus tragen.« »Ei! da geh ich in das Hochzeithaus, spricht der Schwab; da gibt's einen guten lustigen Tag mit Essen und Trinken.« Und damit geht er ins Hochzeithaus, juheiset dort mit, wartet aber den Gästen auch fein mit auf, trägt Fisch und Braten auf und langt selbst keck zu, schenkt die Becher voll und trinkt tapfer mit aus; dabei macht er lustige Schwänke und Schnurren, und treibt mancherlei possierliches Wesen, daß die Gäste lachen mußten. Und als die Hochzeit aus war, da schenkten sie ihm ein Paar Kreuzerle, die er für ein groß Gut hielt. Es waren ihrer an drei Stück. – Sankt Antonius aber war derweil ins Leichenhaus gegangen; und weil der Todte ein guter Mann gewesen war, der von allen Leuten beweint und beklagt [181] wurde, so befiehlt der Heilige dem Todten im Namen Gottes, er solle wieder lebendig werden, und wieder aufwachen; welches denn der Todte auch that. Da war große Freude bei allen Leuten, und sie verehrten dem lieben Herrn an hundert Goldgulden, die er denn auch annahm, weil man auf Reisen mit Geld immer besser fortkommt. – Auf dem Wege kamen die beiden bald wieder zusammen, und der Schwab thut gar groß und breit mit den Paar Kreuzerle, die er verdient hatte, und hätte gegessen und getrunken dazu nach Herzenslust. Da sagt ihm Sankt Antonius, er habe auch etwas verdient, denn er habe den Todten wieder lebendig gemacht, und zeigt dem Schwaben die hundert Goldgulden. Da wirft das kluge Schwäble flugs seine Paar Kreuzer in des Heiligen Säckel, und spricht: »Alles für uns beide! Alles gemein! Gleich viel mir und dir!« welches denn Antonius auch gar wohl zufrieden ist. – Sie waren etwa ein Paar Tagreisen weiter gezogen, und haben unterwegs eben nichts Rechtes zu essen gehabt, da sehen sie am Walde einen Schäfer mit seiner Heerde, und Sankt Antonius schickt den Schwaben hin, daß er ein Lämmle kaufen sollte; welches der Schwab auch brachte und zubereitete, während der heilige Mann ein wenig im Walde sich erging und dem Gebete oblag. Als nun der Schwab kochte, [182] schwamm die Leber vom Lämmle oben auf; und obschon er dieselbe gar oft ins Wasser hinunter drückte mit dem Kochlöffel, so kam sie doch immer wieder herauf, und schwamm oben auf dem Wasser, und sie roch dem Schwäble so lieblich in die Nase, daß er sein Messer zog, und die Leber entzwei schnitt. Das eine Stück aß er sogleich als einen Imbiß, und wollte das andere dem Heiligen aufbewahren; weil es aber gar so wohl schmeckte, so aß er auch das andere auf. – Als nun Sankt Antonius wieder kam, und nun zu essen anfing, vermißt er sogleich die Leber, und fragt den Schwaben, ob er sie gegessen hätte? Das läugnete dieser hartnäckig zweimal und dreimal; und als der Heilige ihm recht ernst und liebreich vorhält, daß er doch nur bekennen möge (denn er sey ja ganz mutterseelenallein beim Kessel gewesen), da wird mein Schwäble ganz trotzig und ungebärdig, und spricht sogar (und bleibt dabei), die Lämmer hätten gar keine Leber; und der Heilige kann gar nichts dagegen bei ihm ausrichten, schweigt daher lieber still, und zieht mit dem trotzigen Gesellen weiter. – Bald darauf kommen sie wieder auf zwei Dörfer, in welchen beiden geläutet wird; und es war wieder, wie das erste Mal; das eine Geläut galt einem Todten, das andere einem Hochzeitpaar. Da wollte denn der Schwab sich hundert Goldgulden[183] verdienen, und sagt zum Heiligen: er wolle dieß Mal ins Leichenhaus; und fragt gar freundlich den Heiligen, wie er es denn gemacht habe, als er den Todten erweckt? Da antwortete der Heilige: Er habe die Hand auf den Todten gelegt, und habe demselben mit rechtem Ernst im Namen Gottes befohlen, wieder lebendig zu werden. Da wäre der Todte wieder lebendig geworden. »Nun, da will ich's denn wohl eben so gut ausrichten, als Ihr,« sagt unser Schwäble; und der Heilige antwortete ihm: Ja, so du die rechte Kraft und den rechten Sinn dazu hast, so magst du es wohl ausrichten. Das Schwäble vermeint: die Kraft und den Sinn habe er denn wohl auch, und geht ins Leichenhaus, wo alles wehklagt und weint; und er spricht: wenn sie ihm hundert Goldgulden gäben, möcht er den Todten leicht wieder erwecken. Aber die Leute wollten ihm das nicht glauben; denn er sah nicht darnach aus, daß er Todte erwecken könne. Da aber vermaß und verschwor er sich, daß er's wohl ausrichten wolle, wenn er nur hundert Goldgulden bekäme, und wo er's nicht vollbrächte, sollten sie ihn an den nächsten Baum aufhenken. Da verhießen sie ihm denn das Geld. – Das Schwäble machts nun gerade so, als ihm gesagt ward, aber der Todte blieb todt. E versucht es noch einmal, und auch zum dritten Mal; aber der [184] Todte rührte sich nicht, und konnte nicht zum Leben kommen. Da war das Schwäble recht tollköpfig und unwirsch, und sprach: Nun, wenn du denn nicht wieder ins Leben willst, so bleib' in des Guggers Namen todt, und lieg', so lang du willst. Und damit wollte er sich auf und davon machen; aber die Leute waren schneller als er, hielten ihn fest, und holten eine Leiter herbei, die sie an einen hohen Baum lehnten, und thaten ihm einen Strick um den Hals, und er mußte die Leiter hinauf. – Es war eben die höchste Zeit, als Sankt Antonius daher kam, und dem Schwaben verhieß, er wolle ihn erlösen, und statt seiner den Todten gewißlich lebendig machen, nur solle der Schwab bekennen, daß er das Leberlein gegessen habe. Das wollte der aber auf der Leiter nicht, und wie hoch und sehr der liebe Herr ihn auch bat, half's doch nicht, und das Schwäble blieb dabei: er hätte das Leberle nicht gessen, und die Lämmle allzumal hätten kein Leberle. Da sollte der arme Schwab nun gehenkt werden. Aber der heilige Mann konnte das doch nicht über's Herz bringen, sondern ging hin, und machte den Todten lebendig, und bekam die hundert Goldgulden und erlös'te das Schwäblein, und zog mit demselben weiter. – Als sie nun einen Tag oder zwei wieder mitsammen gegangen waren, setzt sich der Heilige [185] auf einen schönen grünen Hügel, und ruht aus, und der Schwab setzt sich neben ihn, und ruht auch aus. Da hebt der Herr an, und spricht zu dem Schwaben: »Hör', du lieber Gesell, es ist nun an der Zeit, daß jeder von uns seines eigenen Weges ziehe; denn wo ich hin muß, kannst du nicht hin.« Und der fromme Mann zog den Säckel hervor, und theilte das Geld in drei Häuflein, die alle ganz gleich waren, und auf jedes Häuflein kam eins von dem Kreuzerle des Schwaben. Und der Heilige nahm ein Häuflein, und gab es dem Schwaben, und sagte: Das ist dein. Eins aber nahm er für sich, und that es in das Säcklein, und sprach: Das ist mein! Da fragte das Schwäble: »Aber, lieber Gesell, wem soll denn das dritte Häuflein zukommen?« Denn er hätte es gern haben mögen. Da sprach Sankt Antonius: »Das soll der haben, der das Leberlein gegessen hat, und gewißlich kein anderer.« Da sprach das Schwäble: »Herr! das Leberle hab ich dennoch wahrhaftig gessen.« Und so that das Geld, was der Galgen nicht hatte vermocht.


* * *

Dummrian.

Die Kinder wurden ungemein ergötzt durch diese Geschichte. Der Großvater bemerkte: er erinnere sich, daß er diese Geschichte, ungefähr in derselben [186] Art, schon vor gar vielen Jahren in irgend einem alten Buche gelesen habe. »Das mag seyn – versetzte die Großmutter –; jener Schreiber mag sie dann, wo nicht von mir, doch von andern gehört haben, von denen ich sie eben auch weiß.« »Das ist ungefähr die Geschichte aller Geschichten,« sagte der Vater; »setze man bei, auch der Gedichte. Alles ist Ueberlieferung.«

Es wurde nun Fritz aufgefordert, seine versprochene Geschichte zu erzählen. Der postirte sich alsogleich in die Mitte des Zimmers, und fing an, lebhaft declamirend und gesticulirend:

»Bons dies, Hans!« »Dei Grats, Hans!«

Alle lachten. »Nun, was bringst du denn da kauderwälsches Zeug vor?« fragte der Vater.

Fritz antwortete, man werde es schon verstehen, wenn es aus sey, und zu Ende. Er habe es auch verstanden. Er fing wieder an:

»Bons Dies, 2 Hans!« »Dei Grats, 3 Hans!« »Wie viel brauch Tuch zum Rock?« »Siebe Elle.« »Wann soll dann kreye?« 4 »Uf Sonntag.« – Sonntag kam. Hans kam. Bons Dies, Hans! Dei Grats, Hans! Ist Rock [187] fertig? Nit satt Tuch. Siebe Elle Tuch nit Rock? Was soll denn wern? 5 Wamms. Wann soll kreye? Uf Sonntag. – Sonntag kam. Hans kam. Bons Dies, Hans! Dei Grats, Hans! Ist Wamms fertig? Nit satt Tuch. Siebe Elle Tuch, nit Rock, nit Wamms? Was soll denn wern? Paar Hose. Wann soll denn kreye? Uf Sonntag. – Sonntag kam. Hans kam. Bons Dies, Hans! Dei Grats, Hans! Ist Hose fertig? Nit satt Tuch. Ei, siebe Elle Tuch, nit Rock, nit Wamms, nit Hose. Was soll denn wern? Paar Strümpf. Wann soll kreye? Uf Sonntag. – Sonntag kam. Hans kam. Bons Dies, Hans! Dei Grats, Hans! Ist Strümpf fertig? Nit satt Tuch. Ei, siebe Elle Tuch, nit Rock, nit Wamms, nit Hose, nit Strümpf? Was soll denn wern? Paar Händsche. 6 Wann soll kreye? Uf Sonntag. – Sonntag kam. Hans kam. Bons Dies, Hans! Dei Grats, Hans! Ist Händsche fertig? Nit satt Tuch. Ei, siebe Elle Tuch, nit Rock, nit Wamms, nit Hose, nit Strümpfe, nit Händsche? Was soll denn wern? Däumling. Wann soll denn kreye? Uf Sonntag. – Sonntag kam. Hans kam. Bons Dies, Hans! Dei Grats, Hans! Ist Däumling fertig? Nit [188] satt Tuch. Ei, siebe Elle Tuch, nit Rock, nit Wamms, nit Hose, nit Strümpf, nit Händsche, nit Däumling? Du Spitzbart!


* * *


»Bravo, Fritz!« sagte der Onkel, als der Knabe geendigt hatte. Alle bezeigten Beifall, nur die Tante schien zu schmollen. –

Es war unter diesen Erzählungen spät Abend geworden. Die Stunde war da, wo die Kinder zu Bette gingen.

Fußnoten

1 Schon (alt) statt schön.

2 Bona dies! guten Tag!

3 Deo gratias. Gott Dank!

4 kreyen: fertig seyn.

5 werden.

6 Handschuhe.

IX. Die Erzählung des Onkels: Die Volkssagen vom Untersberg.

Der Onkel benutzte die folgenden schönen Tage zu Ausflügen in die höhern Gebirgsgegenden. Er bestieg den Grotenkopf, einen der höchsten Vorberge, auf dem sich ein weites, unübersehbares Panorama ringsum entfaltet, hier in die Ebene hinaus mit ihren Wasserspiegeln, ihrem Wald- und Wiesengrün und den, gleich Edelsteinen zwischen inne zerstreuten, blitzenden Thürmen, Dörfern und Städten; dort in das Gebirge hinein, das sich wie ein wogendes Meer, unabsehbar ausdehnt, und in den nahen und fernen Gletschern, wie eine erstarrte Brandung, empor ragt. Er besuchte das Rheinthal, wie die, mehrere Stunden lange Schlucht genannt wird, durch welche die Partnach sich die Bahn gebrochen, ein Labyrinth von [190] himmelanstrebenden Felsstücken, die, gleich Riesen, einander gegenüber stehen, drohend und trotzend; – die Blöcke, die da unten aufgehäuft liegen, sie scheinen Spuren des ewigen Kriegs zu seyn, den jene Gewaltigen gegen einander führen, und der übermüthigen Zerstörungslust einer wilden Natur. Er wanderte von Alpe zu Alpe, und wo eine tiefe Schlucht sich aufthat, wie z.B. jenes Höllenthal, wohinein man wie in einen Himmel von Hölle zu blicken vermeint, oder wo, über Felszacken, über Eisfelder hin, der menschliche Tritt noch gefahrlos hingleiten mag, um irgend einen erhabenen Standpunkt zu gewinnen: da folgte er seinem wegkundigen Führer, und hatte seine Lust an der Besiegung der Hindernisse, welche die Natur hier entgegen thürmet, gleichsam als wollte sie es nicht dulden, daß der Menschüber ihr stehe.

Er erzählte von seinen Wanderungen nur weniges, wenn er nach Hause kam; denn er wußte aus eigener Erfahrung, daß auch die wahrsten und lebhaftesten Schilderungen einer außerordentlichen Natur doch nur unklare, farblose, verworrene Schemen seyen; zudem wollte er in den Zuhörern besonders in den Kindern, keine vor- und unzeitige Sehnsucht nach Genüssen erregen, die doch nur dem kräftigen Manne zukommen, und deren Werth [191] und Würde er auch nur allein ganz zu erkennen und zu fühlen vermag.

Wohl aber that er auf einen der folgenden Tage den Vorschlag, eine gemeinschaftliche Partie nach demEibsee zu machen. »Wir, Tante und ich, sagte er, brechen mit den Kindern Morgens auf, und kommen Mittags nach Grünau zurück, wo wir sodann mit euch übrigen, die ihr zu Wagen nachgekommen, unser Mittagmahl halten, und Abends gemächlich wieder nach Hause kehren.« Der Antrag ward von den Eltern einstimmig angenommen, und der Ausflug sogleich auf den andern Tag beschlossen.

Der Eibsee erhält durch die Einsamkeit, die Oede, die große, wilde Natur, die ihn umgibt, einen eigenthümlichen, höchst anziehenden Charakter. Seine Wellen bespülen den Fuß der Zugspitze, deren westliche Wand in kühnen Massen sich empor hebt. Rings um, und nahe bei, gebirgige Umgegend. Keine menschliche Wohnung weit umher, außer einer ärmlichen Fischerhütte. Um so anziehender das Grün, die Bewegung, das Leben, das sich hier in einem beschränkten, abgelegenen Raume erhält und hervorthut. –

Die Gesellschaft war noch frühe genug angekommen, um eine kurze Wasserfahrt zu machen. Die[192] Tante überwand ihre Scheu vor dem Wasser, aus Sorge für die Mädchen, die sie nicht allein lassen wollte; und sie hielt sich auch während der ganzen Fahrt so unbefangen, daß der Onkel selbst ihr späterhin alles Lob ertheilte. – Die Frauen, wenn es gilt, entwickeln eine Kraft der Selbstbeherrschung, wovon wir Männer, die wir jenes Geschlecht das schwache nennen, keine Ahnung haben. Man möchte solche Kraftäußerungen nicht bloß übernatürliche, man möchte sie widernatürliche nennen – wenn nicht eben das gewaltigste Gefühl hier überall die Trieb- und Springfeder wäre, die Liebe.

Man nahm den Morgenimbiß auf einer der bebuschten Inseln ein. Die Sonne schien hell; die Luft wehte erfrischend; die Wellen kreiselten sich geschäftig, und plätscherten dahlend an den Rasenrand. Es war ein eigener Anblick, ein sonderliches Gefühl, fröhliche Menschen zu sehen, gesellige Freude zu empfinden inmitten einer Gegend, wo die Natur, in bizarrer Sprödigkeit, einen düstern, menschenscheuen Charakter trägt.

Zur rechten Zeit, um die verabredete Stunde, waren die Wanderer auf ihrer Rückkehr in Grünau angekommen, wo man sich dann alsobald zu dem schon bereiteten Mittagsmahle setzte. Die Kinder wußten genug zu erzählen, absonderlich der redselige[193] Fritz, dem man wohl sein vorlautes Wesen in der Freudigkeit seines Herzens in etwas nachsah. Der Großvater, um ihn doch an Bescheidenheit zu mahnen, fragte ihn mit verstellter ernster Miene: Da er so viel vom Eibsee zu erzählen wisse, so solle er ihm doch sagen, ob das Wasser des Sees auch, gleich dem übrigen, die Eigenschaft habe, daß es naß mache?Fritz war besonnen und vorsichtig genug, eine bestimmte Antwort zu geben, die ihn jedenfalls lächerlich gemacht hätte. »O mein!« antwortete er, was er jedesmal zu sagen pflegte, wenn er fühlte, daß man ihn foppen wolle.

Nach eingenommenem Mittagmahle beschloß man den Nachmittag wieder in Hammersbach zuzubringen, wohin der schattenreiche Garten, die grüne Matte, und der erfrischende Bach, der vorbei rauscht, die Großeltern besonders einlud.

Die Kinder waren müde von dem mehrstündigen Gange, und bezeigten keine Lust an Spiel und Bewegung. Da wandte sich Fritz an die Großmutter, und sagte: »Ei, liebe Großmutter! erzähl' uns wieder so ein schönes Mährchen, wie damals, als wir hier gewesen!« Die Großmutter erwiederte: »Er möge sich nur einmal an den Onkel wenden; es sey an ihm die Reihe, und er wisse gewiß manches, was ihm auf seinen Wanderungen kund [194] geworden.« Der Onkel versetzte: »Er habe die Bemerkung des Freundes bestätigt gefunden, daß diese Gegend, so reich an Naturschönheiten, ganz arm sey an Poesie und an Volkssagen. Um jedoch sämmtlichen Anwesenden, Alt und Jung, zu Willen zu seyn, so gedenke er, eine Reihe von Volkssagen aus einer andern, vaterländischen Gegend vorzutragen, die, wie er hoffe, nicht minder die Aufmerksamkeit und die Theilnahme der verehrlichen Zuhörer sammt und sonders verdienen werde.« Er zog ein Büchlein hervor, und las: »Wunderbarliche Geschichte vom Untersberg, genannt der Wundersberg.«

Die Frauen protestirten, und sagten, es dürfe nichts vorgelesen, sondern es müsse alles frei erzählt, wo nicht, erfunden werden. Der Onkel erwiederte: »Es sey auch nicht seine Absicht, bloß vor- und abzulesen; aber das Document müsse er vor Augen haben, damit er nicht in seiner Erzählung Mängel und Fehler begehe; denn er glaube, daß eine Volkssage, auch als Dichtung betrachtet, auf dieselbe Treue Anspruch mache, wie die wirkliche Geschichte. Sie sey eben auch eine Thatsache.«

Er begann:


* * *


Das Gebet nach dem Abendessen war vollendet. Es schlug acht Uhr. Die Mutter räumte den Tisch [195] ab; die Magd ging in die Küche, um das Geschirr zu reinigen; der Vater sah im Stalle nach, ob das Vieh gefressen; der Knecht hatte noch einiges in der Tenne und im Hofraum zu ordnen. Die Großmutter blieb bei den Kindern in der Stube, und brachte die Kunkeln herbei, um den langen Winterabend zu spinnen; die Kinder setzten sich hinter den Tisch neben der Großmutter.

»Großmutter! sagte Gottlieb, gelt! du erzählst uns heute wieder so etwas von den Bergmännlein und den wilden Frauen und den Riesen des Unterbergs?«

»O ja doch! sagte Christine, ich bitte! – Erst heut Nacht hat's mir ordentlich davon geträumt. Soll ich's erzählen? – Ein Bergmännlein – es war aber gar schön, in einem schneeweißen Kleide und mit freundlichem Antlitz – das trat zu mir, und sagte: ›Willt du mit? willt du mit?‹ Und es nahm mich bei der Hand, und führte mich in den Berg, und wir gingen durch lange Gänge, die kein Ende zu haben schienen. Zuletzt standen wir vor einem Thor, und ich blickte in einen großen, schönen Saal. Ei, was war da für eine Pracht! Wie ich aber so schaute, um jedes zu sehen, da fing es an vor meinen Augen zu flimmern, alles durch einander; und es stand nun vor mir, mit dem Lichte, die Mutter, die mich aufgeweckt.« [196] »Da hast du gewiß, sagte die Großmutter, gestern Abend vor dem Einschlafen noch fromm gebetet, und darum ist dir das Bergmännlein so freundlich erschienen.«

Christine nickte still mit dem Kopfe, und legte ihn dann leise an die Brust der Großmutter.

»Auch ich habe von einem Bergmännlein geträumt, sagte Gottlieb, und zwar etwas recht Lustiges. Ich stand ganz oben auf dem Untersberg, beim Kreuz – weißt du, Großmutter? – und ich schaute nach Salzburg hin und auf Gredig herab, und die Häuser schienen mir ganz klein, und euch konnte ich gar nicht sehen. Da bekam ich schier das Heimweh, und es graute mir, wie ich da wieder hinunter kommen sollte über das steile Gestein. Und in dem Augenblicke trat ein Bergmännlein zu mir, das hat ganz drollig ausgesehen, mit einem gar großen Kopf und mit einem dicken, dicken Bauch, und mit Beinen, wie Spindeln so dünn, gerade so, wie man sagt, daß sie gewöhnlich aussehen. Der sagte zu mir: Hock auf, ich will dich hinunter bringen. Das that ich denn. Und nun fing das Bergmännlein an, mit mir kopfunter, kopfüber den Berg hinunter zu burzeln; und ich glaubte, es ginge wie über einen Bühel, über lauter Matten hin, ganz [197] sanft; zuletzt that ich noch einen Fall, und dabei erwachte ich; denn der Vater hatte geklopft.«

»Was man den ganzen Tag treibt, sagte die Großmutter, davon träumt man bei Nacht. Du laufst alleweil im Freien herum, und kannst nie zu Hause bleiben. Wart, daß dich nicht einmal eine wilde Frau ertappt und dich fort nimmt!«

Gottlieb sah die Großmutter lächelnd und zweifelnd an.

»Du glaubst das nicht?« sagte die Großmutter. Ist es doch nicht gar so lange her, daß ein Knabe unweit der Kugelmühle von den wilden Frauen fort genommen worden; denn er ist plötzlich verschwunden, und wurde vergebens viele Tage gesucht. Ueber ein Jahr sahen ihn die Holzknechte auf einem Stock des Berges sitzen, in einem grünen Kleide, laut jammernd und rufend: Holt mich heim! Holt mich heim! Als aber des andern Tages die Eltern kamen, um ihn aufzusuchen und abzuholen, da kam er nicht mehr zum Vorschein, und ist sein Lebtag nicht mehr gefunden worden. –

Gottlieb, als er dieß gehört, sah bedenklich drein, und sagte kein Wort.

Die Großmutter fuhr fort: »Ohne Gottes Zulassung, und ohne die Schuld der Kinder und ihrer Eltern kann jedoch so etwas nicht geschehen, wie folgende [198] Geschichte beweiset. Es führte eines Tags ein Knabe die Pferde, mit welchen sein Vater das Feld umackerte. Da kamen auch die wilden Frauen hervor aus dem Untersberg, und wollten den Knaben mit Gewalt hinweg nehmen. Sein Vater aber, der wohl wußte, daß sie frommen Christen nichts thun können, ging ihnen ohne Furcht entgegen, und nahm ihnen den Knaben mit den Worten ab: Was erfrechet ihr euch, mir meinen Buben zu nehmen? Was wollt ihr mit ihm machen? Die wilden Frauen sagten: Er wird bei uns bessere Pflege haben, als zu Hause; es soll ihm kein Leid widerfahren. Allein der Vater ließ seinen Knaben nicht aus den Händen, und die wilden Frauen gingen bitterlich weinend von dannen.«

»Warum weinten denn die wilden Frauen?« fragteChristine.

»Im Grunde haben sie die Kinder gern, sagte die Großmutter; und es ist auch eine köstliche Freude und eine wahre Gottesgabe um Kinder, wenn sie fromm und brav sind. Da nun die wilden Frauen das Glück entbehren, eigene Kinder zu haben, so suchen sie fremde anzulocken, und führen sie in ihre Wohnungen ein, die sie auf den Höhen und in Höhlen haben. Da pflegen sie nun dieselben freilich auf eine gar zärtliche Weise; sie putzen und zwagen und [199] strehlen an ihnen den ganzen Tag, und ziehen ihnen schöne Kleider an und aus, wie die Mägdlein ihren Docken, und nähren sie mit lauter Lebzelten und Meth und andern Gutselen, wie unverständige Mütter es machen. Aber die Kinder werden von Tag zu Tag schwächer, und sie werden um kein Haar größer, und ihre Gesichtsfarbe verbleicht allmählich, und zuletzt sehen sie aus, wie Wachspuppen, und müssen bald sterben.«

Christine war bei den Worten der Großmutter ganz furchtsam geworden, und sie schmiegte sich enger an sie. Die Großmutter fuhr fort: »Frommen Kindern können sie nichts anhaben, wie ich schon gesagt, die brav bei Hause bleiben, und nicht ohne Wissen und Willen der Eltern ins Freie gehen. Mein Großvater hat mir erzählt: wie er mit andern Kindern von hier, aus Gredig, das Vieh geweidet nächst dem Loch innerhalb Glanegg, da seyen oft wilde Frauen aus dem Berg gekommen, und haben ihnen Brod zu essen gegeben, was sie denn auch dankbarlich angenommen; und es ist ihnen kein Leid widerfahren.« –

Indessen waren die Leute alle nach einander in die Stube zurückgekommen; die Mutter setzte sich zur Kunkel; die Magd deßgleichen; Hans, der Knecht, nahm auf der Ofenbank Platz. Der Vater, [200] der die letzte Erzählung vernommen, sagte, halb im Scherze: »Werden schon wieder Mährlein erzählt? Ihr verrückt noch ganz die Köpfe der Kinder.«

Die Großmutter erwiederte: »Damit hat's gute Wege. Hören sie's nicht gern? Und was soll man ihnen sonst erzählen, wenn nicht etwas Geistliches? was aber an Sonn- und Feiertagen und mit Andacht geschehen soll.«

»Treibt's meinethalb mit ihnen, wie ihr wollt, sagte der Vater; aber macht mir keine Fürchtlinge aus ihnen, das sag' ich euch.«

»Geh nur zu deinem Glas Bier, sagte die Mutter, und laß dir etwas von Welthändeln vorerzählen. Gib aber Acht, daß sie dir nicht auch Mährlein aufheften.«

Der Vater lachte; er zog seine Jacke an, setzte den Hut auf, und im Weggehen sagte er: Macht's nicht zu lang.

»Bis du wieder kommst, antwortete die Mutter. Und mach', daß es bald geschieht.«

Nachdem der Vater fortgegangen, sagte die Großmutter: »Wo bin ich denn gestern stehen geblieben? Ich glaub' in der Geschichte von dem Bergmännlein, der vor etlichen Jahren zu Glaß im Dorf einer Hochzeit beigewohnt? Richtig! Mit gar sittigen Gebärden trat er unter die Hochzeitleute, [201] und begrüßte sie; dann verlangte er, mittanzen zu dürfen, und, als es ihm bewilligt worden, tanzte er mit der Braut und andern Jungfrauen je drei Tänzlein, mit solcher Zierlichkeit, daß man sich nicht genug darob verwundern konnte. Nach dem Tanze schenkte er jedem der Brautpersonen drei kleine Silbermünzen von unbekanntem Gepräge, wobei er sie ermahnte, sie sollten in Frieden und Eintracht hausen, und ihre Kinder gut erziehen. Die Münzen aber, sagte er, sollen sie zu ihrem Geld legen, damit sie in keinen Mangel kommen. Und dieses Bergmännlein ist bei ihnen bis zur Nachtszeit geblieben, und hat von Jedermann Speis und Trank angenommen. Alsdann bedankte es sich, und begehrte einen Schiffmann, der ihn über die Salzach gegen den Berg zu überschiffen sollte. Der Schiffmann aber hieß Johann Ständl. Während des Ueberfahrens begehrte dieser seinen Lohn. Das Bergmännlein gab ihm in Demuth drei Pfenninge. Der Schiffmann hatte mehr gehofft, weil er wußte, daß die Bergmännlein gar große Schätze hätten; und er verschmähte den schlechten Lohn. Das Bergmännlein gab ihm aber zur Antwort: Er solle damit nur zufrieden seyn; wenn er die drei Pfenninge behielte, so würde er an seiner Habschaft nie Mangel leiden.«

»Das hat seine gute Bedeutung, sagte die Mutter.[202] Denn wer den Pfenning spart, der kommt zu einem Gulden; und der ersparte Gulden ist jedenfalls der Anfang, um reich zu werden.«

»Etwas ist doch dran, sagte Lise, die Magd, an solchen Pfenningen. Ich habe selbst ein Weib gekannt, in Waging, die viel Geld gewonnen hat mit einem solchen Heckpfenning. Ob sie ihn von einem Bergmännlein erhalten, oder woher sie ihn sonst bekommen habe, das weiß ich nicht. Die Leute nannten sie gewöhnlich nur die alte Lene. Sie wohnte in einem kleinen Stüblein, und that nichts, als spinnen. Und doch fehlte es ihr nie an Nahrung, und sie theilte sogar den Armen mit, so daß sich jedermann darob verwunderte. Wenn man sie nun fragte, woher sie das Geld nähme, so sagte sie, und bekannte es öffentlich, daß sie einen Heckpfenning habe, der mache, daß das Geld nie weniger werde, sondern mehr. Nach ihrem Tode fand man bei ihr manches unbekannte Schatzgeld, das sie der Kirche vermacht; aber der Heckpfenning war nicht zu finden. Und darum glaub' ich, daß etwas dran sey.«

»Mir wär's ganz recht, sprach Hans, wenn mir einmal so ein Bergmännlein begegnete, und gäbe mir eine Hand voll Goldstücke. Denn reich sind sie, das ist ausgemacht; und der Berg ist voll [203] von Minern und Erzen, wie erfahrne Leute sagen; nur wer sie eben finden soll, muß ein Glücks- oder Sonntagskind seyn. Mir ist von einem Holzmeister erzählt worden, der, als er sich eines Tags in seinen Verrichtungen verspätete, seine Nachtruhe in einer Höhle nehmen mußte. Da bemerkte er des andern Tags, daß an der Steinklippe ein glänzend schwerer Goldsand herunter rieselte. Weil er nun kein Geschirr bei sich hatte, ging er ein anderes Mal hinauf, und setzte ein Krüglein unter, und, wie es angefüllt war, nahm er's mit nach Haus, und gewann aus dem Sande viel Goldes, und das wiederholte er in der Folge so oft, als er Geld brauchte, und hatte keinen Mangel sein Leben lang. Nach seinem Tode aber, sagt man, ist an diesem Geld kein Segen gewesen.«

»Das ist mir leicht glaublich, sagte die Mutter. Wie gewonnen, so zerronnen.«

»Etwas Aehnliches wird von einer Kräutelbrockerin erzählt, sagte Lise, die Magd. Als sie eine Zeit lang auf dem Untersberg herumging, kam sie zu einer Steinwand. Dort lagen Brocken, grau und schwarz wie die Kohlen. Sie nahm von diesen etliche zu sich, und da sie nach Hause gekommen war, merkte sie, daß drinn klares Gold vermischt war. Sie ging alsbald wieder hinauf auf den Berg, um [204] mehreres dergleichen zu holen; aber alles Suchens ungeachtet konnte sie den Ort nicht mehr finden.«

»Die Bergmännlein, sagte die Mutter, wollen es wohl den Menschen nicht gar zu bequem machen; auch hassen sie den Geiz und alle Habsucht. Mein Vater erzählte mir von einem Knecht, Namens Paul Mayr, der beim Hofwirth zu St. Zeno in Dienst gestanden. Dieser kam, unfern dem Brunnenthal, auf der halben Höhe des Bergs, zu einer Steinklippe, worunter ein Häuflein Goldsand lag. Sogleich füllte er alle seine Taschen damit an, und ging freudig davon. Aber da stand plötzlich ein fremder Mann vor ihm, der sprach zum Paul Mayr: Was tragst du da? Vor Furcht und Schrecken blieb der Mayr stumm vor ihm stehen. Jetzt ergriff ihn der Fremde, und leerte ihm alle seine Taschen aus, und sagte: Pack dich alsogleich von dannen, und laß dich nie mehr dieses Weges sehen, wenn dir anders dein Leben lieb ist. Und das ist ihm recht geschehen.«

»Einem Christenmenschen ist es überhaupt nicht räthlich – sagte die Großmutter – bei Geistern und andern gespenstischen Wesen Hülfe zu suchen. So gutmüthig sie auch seyn mögen, so sind sie doch mitunter tückisch, und bringen den Menschen Schaden. Kommen sie einem freilich selbst entgegen, so [205] hat man nichts zu fürchten von ihnen, falls man ein gutes Gewissen hat. Gott schickt oft dem Menschen wunderbare Boten zu. Zu meines Großvaters Zeiten kamen einmal mehrere Riesen aus dem Untersberg herunter nach Gredig. Sie sahen aus in ihren langen, weiten, grauen Kleidern, wie die Nebelsäulen, die aus dem Berge aufsteigen; und sie lehnten sich an die Kirche an, und ihre Häupter reichten bis an den Dachstuhl, und waren unheimlich anzusehen. Aber was sie sprachen, war sehr erbaulich; sie redeten mit Manns-und Weibspersonen, und ermahnten sie zu christlichem Lebenswandel, und daß sie ihre Kinder in Frömmigkeit erziehen sollen; denn, sagten sie, es werden schwere Zeiten kommen für Leib und Seele, und nur die Gottesfürchtigen werden bestehen im Glauben und im Vertrauen auf Gott.«

»Das kann der Herr Pfarrer eben so gut sagen, versetzte Hans, der Knecht. Wenn mir einmal so ein Riese begegnete, so würde ich ihn um ganz andere Dinge fragen, die kein Mensch weiß, und die aber ich wissen möchte.«

»Du, Johannes, versuche Gott nicht – sagteLise. – Was wir von zukünftigen Dingen zu wissen brauchen, das wissen wir; alles Uebrige ist vom Uebel.« [206] »Es könnte dir wohl sonst ergehen, sagte die Großmutter, wie dem Michael Holzögger, von dem die Geschichte Meldung thut. Diesen schickte eines Tags sein Bruder, der Jäger, auf den Berg zur Nachsicht. Er blieb aber drei, sechs, acht Tage aus, ohne daß man von ihm Nachricht bekommen. Also glaubte der Jäger sicherlich, er habe sich auf dem Berge verstiegen und sey in irgend eine Schlucht oder von einer Klippe in die Tiefe gefallen; wie denn dieß schon vielen geschehen, die auf den Untersberg sich gewagt haben. Nach acht und zwanzig Tagen, als nichts mehr von ihm zu finden und zu hören war, ließ er für seinen Bruder eine Todtenmesse halten auf derGmain, wo eine Wallfahrt ist. Und sieh da! während des Gottesdienstes kommt der Michael selbst in die Kirche zum Vorschein, des Willens, Gott zu danken wegen glücklicher Zurückkunft. Beiderseits erstaunte man nicht wenig: der Michael, als man ihm sagte, daß für ihn, als einen Todtgeglaubten, die Messe gelesen werde; und die Leute, als sie ihn bei Leben sahen und bei Gesundheit und in so saubern Kleidern, wie er vor vier Wochen aus dem Hause gegangen war. Jedermann drängte sich nun zu ihm, und wollte hören, wie es ihm ergangen. Aber der Jägerknecht war ganz in sich verschlossen, und wollte nichts bekennen.« [207] »Ei, das ist Schade! sagte Gottlieb; der hätte gewiß schöne, wunderbare Dinge zu erzählen gewußt.«

»Warum denn, fragte Christine, hat er nichts gesagt?«

»Es werden's ihm wohl die Leute drinnen streng verboten haben, sagte die Großmutter; und wer etwas ausschwätzt, was ihm als Geheimniß anvertraut worden, der leidet Schaden an Leib und Seele. – Man sagt auch, daß dieser Holzögger von der Zeit an ganz trübsinnig und leutscheu geworden. Und als er dem Erzbischof von Salzburg, der ihn um das Geheimniß befragte, dasselbe in der Beicht offenbarte, so ist auch dieser Herr in Trübsinn verfallen, und hat sich von der Stadt wegbegeben nach Leopoldskron, wo er fortan in Einsamkeit lebte bis zu seinem Tode. Es müssen also schon ganz fürchterliche Dinge gewesen seyn, welche der Jägerknecht erfahren, von Theurung, Krieg und Pest, oder vom Abfall der Christenheit, oder andern Unglücksfällen, die das Land betreffen sollten. Gewiß ist es, daß einige Jahre darauf, wie die Chronik von Salzburg erzählt, viele Häuser in der Steingasse von losgebrochenen Felsen des Kapuziner-Bergs überschüttet worden, und viele Menschen dabei jämmerlich zu Grund gegangen sind. – Und darum hatte die Lise recht, wenn sie sagte, es sey gut, [208] daß wir von zukünftigen Dingen nichts zu wissen verlangen sollen; denn es kommt nichts Besseres nach; und es wird alles schon offenbar werden, wenn es Zeit ist und Gottes heiliger Wille.«

»Ei nun, sagte Hans, muß es denn gerade allzeit etwas Böses seyn, das wir erfahren sollen?«

Die Mutter erwiederte: »Auch das Gute vorher zu wissen, ist nicht alleweil gut. Wüßtest du z.B., daß du ein reicher Mann würdest – –«

»Nu ja, sagte Hans; so nähm' ich die Lise heut noch zum Weib.«

»Und ich nähme dich nicht, sagte Lise; denn da würdest du vielleicht faul werden, und ein Trinker und Spieler und ein Wilddieb, und ich hätte die liebe Noth zu Haus bei allem Reichthum.«

Die Großmutter lachte. »So denkt halt das junge Blut, sagte sie, und es trachtet immer nach höhern Dingen, als den Menschen beschieden ist.«

»Ich muß gestehen, sagte Hans, daß ich von Jugend auf so meine Neigung hatte zu geheimnißvollen und wunderbaren Dingen, und daß mir noch immer so ist, als müßte mir etwas Absonderliches begegnen vom Wunderberg her. Bin ich nicht von Unterstein gebürtig? Und lieben nicht diesen Ort die Bergmännlein, und kommen oft dahin ins Kirchlein, um der heiligen Messe beizuwohnen? Und [209] wissen nicht meine Eltern und Großeltern vieles zu erzählen, was dort und anderwärts Wunderliches geschehen? Das aber sag' ich euch, und ich lasse mir's nicht ausreden: im Frühjahr, wenn alles wieder grün wird auf dem Berge, und sanfter der Wind weht, und lustig der Himmel danieder schaut, da nehme ich Abschied auf acht Tage, und laß mich nicht halten, und gehe fort auf den Berg –«

»Du nimmst mich doch auch mit, Hans?« sagteGottlieb.

»Ein anders Mal, wenn du um vieles größer bist, antwortete der Knecht. Denn es ist kein Leichtes, die steilen Felsen hinan zu steigen, und an tiefen Abgründen vorbei zu gehen, und über Spalten und Felsritzen zu springen, und auf gähen Abhängen hinunter zu rutschen, und in Höhlen zu übernachten, und allein von Brod und Wasser zu leben.«

»Und was hast du dann davon, sagte Lise, daß du deine Gesundheit und dein Leben einsetzest?«

»Was ich davon habe? sagte der Knecht. Sehen will ich, und selbst erfahren, was die Jäger Seltsames erzählen von dem Berge. Hat er nicht seine zwölf Stunden im Umfang? Und wer hat seinen Rücken vollends abgeschritten, und die Gemsen gezählt, die sich dort nähren, und die Gewächse alle kennen [210] gelernet, die drauf wachsen? Hei! wie lustig und schön muß es da oben seyn! Wände steigen empor, wie marmorne Paläste, und Felsen stehen an Felsen, wie die Gebäude einer Stadt; und in den Abgründen drunten liegt ein ewiger Schnee, und in die tiefen, engen Klüfte scheint kein Sonnenstrahl; und wilde Gewässer rauschen weit unten im Bauch des Berges, und graben sich durch die Klüfte, in die kein Menschenauge gesehen, brausend einen Ausweg. Oft auch, sagen die Jäger, hört man von der Tiefe herauf ein Geklirre von Waffen, ein Wiehern der Rosse, und lautes Getrommel, als werde eine Schlacht geliefert. –«

»Das ist Kaiser Karl und seine Ritter, die in dem Berg drinn hausen,« fiel die Großmutter ein.

»So erzählen die Leute, fuhr der Knecht fort. Und es geht die Sage, die auch sehr glaublich ist, daß der ganze Berg, wie ein Sarg, über die Behausung des Kaisers gelegt sey. Habt ihr nie die Grabmäler gesehen der Pröpste von Berchtesgaden in der Hofkirche, wie sie drauf abgebildet liegen in Stein? Also, wenn man vom Unterstein aus nach dem Berge schaut, sieht man deutlich das Gesicht des alten Kaisers abconterfeit mit Stirn, Nase, Mund und Kinn – eine wundergroße Erscheinung, zumal im Morgen-oder Abendlichte [211] gesehen; der übrige Theil aber des Körpers ist unkenntlich und verfallen, von dem Ungemach der Zeiten und des Gewitters.«

»Gesehen hat ihn noch Niemand seit Menschengedenken, sagte die Großmutter; aber weil's alle Leute sagen, so muß es wohl wahr seyn. Es ist aber dieser Kaiser Karl, wie die Chroniken erzählen, ein großmächtiger Fürst gewesen, der das Christenthum im Abendlande in Aufnahme gebracht, und sonst viele ansehnliche Kriegsthaten verrichtet hat. Und darum hat ihn Gott ausersehen und aufbewahrt auf das Ende der Zeiten, auf daß er das fromme Häuflein der Gläubigen schütze gegen den wilden Andrang der Ungläubigen, und die Ehre Gottes wieder herstelle auf Erden bis auf den jüngsten Tag. Es wohnt aber dieser Kaiser Karl mitten im Berg, in einem großen, weiten Thronsaal; die Wände des Saals sind aus polirtem Granitstein erbaut, und dessen Decke ist aus eitlem Erz geschmolzen; und ringsum ist er behängt mit Harnischen und Schwertern und Pickelhauben, wie schier der Waffensaal im Schloß zu Salzburg. Er aber sitzt mitten inne an einem marmorsteinernen Tisch, eine große majestätische Gestalt, in einen reichgestickten Kaisermantel gehüllt; in der Rechten trägt er das Scepter, zur Linken hängt ihm sein Schwert; sein Haupt schmückt eine Krone; sein Antlitz [212] ist, wie das eines schlummernden Greises; und ein langer, schneeweißer Bart, mit Perlen durchflochten, wallet von seinem Kinn herab, und windet sich um den steinernen Tisch herum; und die Sage geht, daß, wenn sich sein Bart dreimal um den Tisch geleget, der Welt Ende nahe sey, und er werde aufwachen und neu erstehen und das Werk verrichten, wozu ihn Gott ausersehen. Es halten aber an den vier Thoren, durch welche man zum Saale kommt, je zwei und zwei Ritter Wache Tag und Nacht; und wenn die Zeit kommt zum Ablösen, was alle sieben Jahre geschieht, dann rühren sich die Trommeln, dann schmettern die Trompeten; dann wachen alle Ritter zugleich auf, die um den Saal herum im weiten Palaste schlafen, und greifen zu den Waffen, und fragen, ob es Zeit sey.«

»Ich habe die Geschichte oft gehört, sagte Hans, und allzeit mit Verwunderung. Gewiß ist es, daß der Berg innerhalb bewohnt ist, und daß lebendige Wesen drinn sind – ob Menschen, wie wir, oder Geister? das weiß man freilich nicht. Wer kennt nicht die Geschichte von dem Lazarus Gitschner? Ich will aber eine andere Sage erzählen, von einem Fuhrmann, der auf eine wunderbare Weise in den Untersberg gekommen. Ich weiß diese Geschichte von einem alten Jäger, dessen Vater ihn [213] selbst gekannt haben soll. Dieser Fuhrmann kam aus Tyrol, und wollte nach Hallein mit einem Wagen voll Weins, um ihn dort zu verhandeln. Als er nun neben St. Leonhard bei der Almbrücke zu Niederalm gefahren, kam ein Bergmännlein hervor aus dem Untersberg, und fragte den Fuhrmann, woher er komme, und was er da führe. Das sagte ihm der Fuhrmann. Da sprach das Bergmännlein: Fahre mit mir; ich will dir gute Münze dafür geben, und zwar noch mehr, als du zu Hallein dafür bekommen wirst. Der Fuhrmann wollte dieß aber nicht thun, sondern erwiederte, daß er den Wein jenem Herrn zuführen müsse, der ihn bestellt hat. Da nun das Bergmännlein wahrnahm, daß der Fuhrmann nicht wollte mitfahren, so fiel das Bergmännlein plötzlich den Pferden an die Mähnen, und sprach: ›Fuhrmann! weil du nicht willst mitfahren, so will ich deine Augen also verblenden, daß du nicht weißt, wo du bist; und ich will dich so führen, daß du dich nicht mehr auskennst.‹ Auf diese drohenden Worte gerieth der Fuhrmann in viele Aengsten, und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen; doch besann er sich, und hielt es für besser, mit gutem Willen zu folgen, als alles zu verlieren. Er fuhr deßwegen mit dem Männlein, und dieses führte die Pferde [214] fleißig am Zaum dem Wunderberg zu. Da sie näher gegen den Berg zu kamen, däuchte es dem Fuhrmann, als sey er auf einer ganz neugemachten Straße, und er erkannte die Gegend nicht mehr; und als sie nächst des Berges waren, überfiel den Fuhrmann ein Schlaf; und da er wieder erwachte, so sah er, daß er zu einem wohlgebauten Schloß fahre, das mitten in einer schönen und lustigen Ebene stand. Es war aber das Schloß von lauter rothem und weißem Marmor hoch erbauet; und in dessen Mitte stand ein hoher, mit Kupfer gedeckter Thurm, und die Fenster waren von purem Krystall. Um das Schloß herum zog sich ein, etliche und zwanzig Klafter tiefer Graben. Außerhalb war eine Mauer 30 Klafter hoch und 10 Klafter dick. Das Schloß selbst aber stand auf einem abgehauenen und abgeputzten Felsen. Bevor man zum Schloß kommen konnte, mußte man über sieben Aufzugbrücken, durch mehrere Thore und Schlußgitter.«

»Gehört hab' ich schon auch von diesem Tyroler Fuhrmann, sagte die Großmutter; aber nicht alles so genau und umständlich.«

»Es ist alles gerade so geschehen, wie ich's euch erzähle, sagte der Knecht; auch steht's so im Büchlein, das zu Brixen in Tyrol gedruckt worden in diesem Jahre, und wo ich diese Geschichte, wie so [215] viele andere, gelesen habe. In dieses Schloß mußte der Fuhrmann hinein fahren. Sobald ihn aber ein Diener, der von einem Fenster herabsah, bemerkt hatte, sagte er es sogleich allen Andern in dem Schloß; und es liefen nun alle zu den Fenstern, und bezeigten laut ihre Freude. Es waren dieß aber lauter Bergmännlein in ihrer sonderheitlichen Tracht. Einige von ihnen kamen auch vor das Schloß heraus; unter diesen besonders der Kellermeister, der ein etwas stärkeres Männlein war, mit vielen Schlüsseln und großen Taschen versehen; sein Bart reichte ihm über seinen Bauch, und seine Haupthaare hingen ihm über die Mitte des Leibes herab. Als sie in die Mitte des Hofes hinein kamen, waren eilends einige vorhanden, welche die Pferde ausspannten, und sie in den Stall führten, um sie zu füttern; die andern machten sich dran, die Weinfässer abzuladen, und es wimmelte um den Wagen herum, wie in einem Ameisenhaufen.«

»Ei wie konnten denn, fragte Gottlieb, so kleine Männlein ein großes Weinfaß bewegen und abladen?«

»Viele Hände vermögen gar viel, sagte die Mutter. Und hast du's nicht gehört, daß das Bergmännlein Roß und Wagen aufgehalten hat?«

Hans, der Knecht, fuhr fort in seiner Erzählung:[216] »Der Kellermeister führte nun den Fuhrmann vorerst in den Keller, der sehr wohlgebaut und mit Weinfässern voll angefüllt war, schier wie der Felsenkeller bei St. Peter in Salzburg; aber noch viel größer und schöner. Auch standen in der Mitte viele Tische, mit köstlichen Speisen aller Art bedeckt. An einen davon hieß der Kellermeister den Fuhrmann sich niedersetzen, und stellte ihm zu essen und zu trinken auf, so viel er zu sich nehmen wollte. Und die Bergmännlein, die zugegen waren, redeten ihm zu, und suchten ihm die Zeit zu verkürzen durch ihre Anreden. Der Fuhrmann aber wollte doch nicht fröhlich seyn; und er aß und trank zwar, aber es schmeckte ihm nicht; und er dachte bei sich: Wär' ich nur wieder draußen, und hätte mein Geld. Als er nicht mehr essen wollte, so kam ein schön geputztes Bergmännlein herbei, und sagte, daß er ihm nun auch das übrige Schloß zeigen wollte. Der Fuhrmann, obwohl er lieber zu seinen Pferden gegangen wäre, ließ sich die Einladung gefallen, und ging mit. Da führte er ihn über eine Stiege hinauf, die 25 messingene Staffeln hatte. Dann kamen sie in einen prachtvollen Saal. Er war mit lauter kostbarem Marmor gepflastert; die Seitenwände waren von klarstem Gold aufgerichtet; die Decke war ebenfalls mit Gold überzogen, und die Fenster, 20 Schuh[217] hoch und 7 breit, waren von hellstem Krystall. In der Mitte des Saals aber sah man vier, aus Metall gegossene große Riesen, 18 Schuh hoch, die gar zierlich und fein gearbeitet waren. Diese Riesen hatten große goldene Ketten an ihren Armen, als ob sie gefangen wären; und oben an der Mitte der Decke war ein geformtes Bergmännlein mit einer goldenen Krone, welches diese Riesen gleichsam geschlossen hielt. Neben herum in diesem Saal hingen lauter Kürasse, Harnische, Pickelhauben, Schwerter und andere unbekannte Geschosse, alle reich mit Gold verzieret.«

»Was mögen doch wohl die vier Riesen und das Bergmännlein bedeuten? fragte die Großmutter; denn eine Bedeutung müssen sie doch haben.«

»Der Fuhrmann fragte auch deßhalb seinen Führer, fuhr der Knecht fort, aber dieser verschwieg es ihm. Bei vielen ist die Meinung, daß entweder sich Krieg erheben werde in allen vier Welttheilen, oder daß die vier größten Monarchen in unserm Erdtheil abhängig werden von dem kleinsten; oder, was die beste Auslegung ist, daß die vier größten Weltmonarchen und ihre Reiche, Cyrus und Alexander und Augustus und Karl der Große unterthänig gewesen seyen einer Macht, welche den Menschen zwar unansehnlich erscheint, aber unbezwinglich und sieghaft ist. Nichts Gewisses weiß [218] man nicht. – Von jenem Saale aus stiegen sie nun auf vielen hundert Staffeln hinab, und sie kamen, tief unter der Erde, in ein großes, weites Gewölbe, in welches keine Taglichte schien. An den Wänden herum sah es aus, als wenn lauter Schmied- und Hammer-Oessen da wären, und die Flammen zuckten nach allen Seiten, wie glühende Schlangen empor, und man konnte es schier vor Hitze drinnen nicht aushalten. Es waren hier aber gar viele Bergmännlein beschäftigt, die das glühende Erz aus den Oessen schöpften, und Münzen daraus bildeten; und ganze Ladungen von Fässern, voll von Gold und Silber, lagen im weiten Gewölbe aufgehäuft. Der den Fuhrmann begleitete, führte ihn jetzt zu einem Bergmännlein, das in einer Ecke saß, und Geld in ein Faß zählte; es war ein eisgraues Männlein, und auch um vieles größer, als die andern, und es sah sehr mürrisch aus. Dieser gab dem Fuhrmann hundert achtzig Dutzend Ducaten, alle nagelneu, so daß er alle seine Taschen damit anfüllen konnte, und überaus schwer zu tragen hatte. Dieß sey die Bezahlung für seinen Wein, sagte der Alte; und er solle sich nun aber sogleich fortpacken und nimmer kommen. Der Fuhrmann stieg also mit seinem Begleiter wieder hinauf in den Speissaal, und er ließ sogleich anspannen, und trank und aß nur noch [219] weniges. Dann fuhr er fort, und es begleiteten ihn drei Bergmännlein, welche schwarze Kleider, grünsammetne Hütlein und rothe Federn drauf hatten. Zuletzt, als sie ihn eine geraume Strecke Wegs begleitet, und ihm dabei viele fromme Lehren gegeben hatten, sagten sie zu ihm: ›Dieß merke noch: da man anfangen wird, weiße und rothe Hütlein zu tragen, da wird die Noth aller Orten ihren Anfang nehmen, und der Segen Gottes sich wenden nach dem Leben der Menschen.‹ Der Fuhrmann sah sich drauf plötzlich, er wußte nicht, wie ihm geschehen, an demselben Orte, wo das Bergmännlein zuvor zu ihm gekommen war; und daß er nicht geträumt, sondern alles wirklich sich zugetragen habe, davon überzeugten ihn die schönen, blanken Ducaten, die er in den Taschen hatte. Und man sagt, daß dieß sein Geld nie mehr und nie weniger geworden bei seinem Weinhandel, den er fortan gepflogen. Auf Befehl des Bergmännleins behielt er jedoch diese wunderlichen Geheimnisse und Erscheinungen alle bei sich bis nahe an seinen Tod, der in einem späten, glückseligen Alter erfolgte.«

»Das ist eine gar wunderschöne Geschichte, sagte die Großmutter, und man kann Vieles draus lernen.«

»Das Liebste daraus, sagte der Knecht, wären mir schon die Ducaten.« [220] »Wie du eben bist und denkst, sprach die Großmutter. Das junge Völklein hat nur Gelüste nach Geld und Reichthum. Aber woher kommt's, daß alles Schatzgeld verschwunden ist aus Kisten und Kasten? Von der Liederlichkeit kommt's her, weil die Weiber alles verputzen und verschmieren an schöne Kleider und eitle Trachten, und weil die Männer ihr Geld ins Wirthshaus tragen, und ans Spiel setzen. Meine Mutter – Gott hab' sie selig! – hat solcher unbekannten Münzen noch viele gehabt, die wohl alle aus dem Wunderberg gekommen seyn mögen; aber sie war zu gut gegen andere Leute; und es gab schier kein Kind im Dorfe, das nicht sein Tauf-oder Firm-Gothe gewesen wäre, und einen solchen Schaupfenning zum Geschenk bekommen hätte. Nun, Gott hat sie vielleicht deßhalb besonders gesegnet; wie sie uns denn ein schönes Vermögen hinterlassen hat. – Aber, Hans, erzähle uns nun die Geschichte von dem Lazarus Gitschner.«

»Muß ich diese Geschichte nicht am besten wissen, sagte die Mutter, da in Reichenhall, wo ich her bin, noch Leute leben, die mit jenem Gitschner verwandt sind, und die es jedem Kinde erzählen, wie es sich wirklich zugetragen? – Dieser LazarusGitschner stand in Diensten beim Herrn Stadtschreiber zu Reichenhall. Eines Tags beredete er seinen Herrn und den Herrn [221] Stadtpfarrer, Namens Martin Elbenberger, dazu auch einen Bürger von Reichenhall, mit ihm den Wunderberg zu besteigen. Es ist dieß aber geschehen im Jahre 1529. Da sie nun eine gute Weile fortgegangen, so kamen sie zu einer Klamm, der hohe Thron genannt. Da war auf einer großen Steinplatte eine Schrift mit silbernen Buchstaben in einen Stein eingehauen. Nachdem sie dieselbe einige Zeit angeschaut haben, ohne sie lesen und verstehen zu können, so gingen sie davon, und stiegen weiter auf dem Berg herum, und gingen dann wieder nach Haus. Als sie aber zu Haus angekommen, redeten sie von dieser Schrift, und der Herr Stadtpfarrer befahl dem Lazarus Gitschner, er sollte zurückgehen, und die Schrift auf dem Papier zurück bringen; wie er denn des Schreibens gar wohl kundig war. Lazarus bestieg also gleich den andern Tag den Berg – dieß war am letzten unserer lieben Frauen Tag im Herbst –. Indem er aber im Begriffe war, die Inschrift abzuschreiben, ist es Abend geworden; und da er sohin nicht mehr nach Haus gehen konnte, so blieb er bei dieser Klamm über Nacht. Dieß geschah an einem Mittwoch. Am Donnerstag in der Früh, als er erwachte, und daselbst ein wenig aufwärts ging, um sich umzusehen, da sah er einen barfüßigen Mönch vor sich stehen, der las in einem Buch,[222] und trug einen Bündel Schlüssel auf der Schulter. – Ich erzähl' es euch ganz genau, wie ich's gehört. Dieser Mönch sprach zum Lazarus Gitschner: Wer bist du? woher kommst du? und was willst du? Lazarus dachte bei sich selbst: Jetzt werd' ich mit Geld aufkommen und ein reicher Mann werden. Und er erzählte dem Mönch mit aller Vertraulichkeit, wer er sey, und weßhalb er hieher gekommen. Dann sagte der Mönch zum Lazarus: Komm auf eine Weile zu uns herein, du sollst es nicht bereuen; und ich werde dir zu essen und zu trinken geben; und zuletzt sollst du auch vernehmen, was die Schrift für eine Bedeutung hat. Sie gingen hierauf von dem Orte, wo sie geredet hatten, wieder zum hohen Thron. Da kamen sie zu einer eisernen Thür, welche der Mönch aufmachte; kurz darauf gingen sie durch ein Thor, wo eine steinerne Bank war. ›Hier, sagte der Mönch, auf diese Bank lege deinen Hut; denn an eben diesem Orte wirst du wiederum herauskommen. So lange du darinnen bist, so sprich zu Niemand ein Wort, es mag einer zu dir sagen und fragen, was er nur will; mit mir aber kannst du sprechen, was dir beliebt und recht ist. Und nun gib wohl Acht, und merke dir alles wohl, was du da sehen und hören wirst.‹«

Die Mutter steckte frischen Flachs auf. Alles [223] war still. Die Kinder spitzten die Ohren, und merkten auf, als wollten sie die Wanderung selbst mitmachen.

»Als sie durch das Thor gekommen waren, fuhr die Mutter fort, da sah Lazarus einen großen Thurn mit einer Uhr, die mit Gold verziert war. Der Mönch sagte: ›Siehe, auf welcher Stunde der Uhrzeiger stehet.‹ Und es war 7 Uhr. Sie gingen weiter, und Lazarus sah nun vor sich ein herrliches Gebäude mit einem doppelten Glockenthurn, wie ein ansehnliches Kloster. Das Kloster lag auf einer schönen und weiten Wiese, die von einem dichten Walde bekränzt war. Auf der Wiese standen viele Obstbäume mit allerlei seltsamen Früchten; und es rannen lautere Quellen hindurch, die sich vor dem Kloster in einem marmorsteinernen Grander sammelten. Das Taglicht aber, das darinnen leuchtete, war das nämliche, wie in der äußern Welt; jedoch sah man keine Sonne. – Nun führte der Mönch den Lazarus in dieses Gebäude, und er kam vorerst in die Kirche; die war so weit und tief, daß er von der hintern Kirchenthür kaum bis zum Chor hin sehen konnte; und es vergingen ihm schier die Augen vor all dem Pracht und dem Glanz, der da zu sehen war. Diese Kirche, sagte der Mönch, hat mehr als 200 Altäre, auch über die 30 Orgeln; und an[224] Silber und Gold einen Reichthum, daß es nicht zu sagen ist. Vor dem Choraltar hieß ihn der Mönch beten; und auch er kniete nieder und betete. Dann führte er ihn hinunter in einen Stuhl, nahe bei einer Stiege, da die andern Mönche in die Kirche herab kommen sollten. Und er sagte: Bleibe da, Lazarus, bis ich wieder zu dir komme und dich hinweg führe. Also blieb Lazarus an dieser Stelle, und es kamen alsbald herab alte und junge Mönche, an die 300 Paar, alle in hölzernen Schuhen. Und sie gingen auf den Chor, und hielten den Kirchgebrauch, und sangen die Horas, wie es in der Domkirche zu Salzburg zu geschehen pflegt. Hernach hat man mit allen Glocken geläutet zum Gottesdienst; und diese Glocken hatten einen so schönen und lieblichen Ton, daß einem das Herz aufging. Da hub man an auf allen Altären Messe zu lesen und das Hochamt zu singen; und die Orgeln spielten alle zusammen, nebst andern musikalischen Instrumenten, daß es dem Lazarus nicht anders dünkte, als wäre er in dem Himmel; so lustig und lieblich ist es ihm vorgekommen. Wie nun der Gottesdienst vollbracht war, so verließen die Mönche den Chor, und gingen wieder die Steige hinauf, von dannen sie gekommen waren.

Daß sie drinnen auch Amt halten und Messe [225] lesen, sagte Lise, das will mir nicht recht einleuchten.

Was wissen wir, was alles in der Welt geschieht? sagte die Mutter. Und Gott dienet man überall, wo man Gott lobt. Drauf fuhr sie in der Erzählung fort: Ueber eine Weile kam der Mönch wieder, und sagte zum Lazarus: Bleib noch eine Weile da; man will jetzt zu essen gehen; ich komme dann, um dich abzuholen. Und wie es 12 Uhr schlug, da kam der Mönch, und führte ihn die Steige hinauf, 80 Staffeln hoch, und darauf durch einen langen Gang ins Speisezimmer. Dasselbe war oben gewölbt und mit Fenstern wohl versehen; und es stunden lange Tische an den Wänden umher, und an einen derselben, der aufgerichtet war, hieß ihn der Mönch sich setzen. Darauf brachte er ihm zu essen, Fleisch, Kraut und Gersten und ein Laibel Brod; dazu einen Becher Wein. Der Becher aber, woraus er getrunken, und die Schüssel, aus welcher er gegessen, war von Zinn. Hernach hieß er ihn: er sollte Dank dem allmächtigen Gott dafür sagen, und führte ihn alsdann wieder in die Kirche zur Vesper. Da war auch wieder die Kirche voll mit Volk, wie in der Frühe. Nach der Vesper führte er ihn in die Liberei, wo die Bücher standen. Es war ein großer Saal, mit hohen, hellen Kirchenfenstern; [226] die Bücher aber, die er darinnen sah, waren nur von Rinden der Bäume und aus Häuten gemacht, auch mit gar alten unbekannten Buchstaben geschrieben. Der Mönch las ihm Einiges vor, und verdolmetschte es ihm; es handelten die Bücher aber von alten Geschichten und zukünftigen Weissagungen, und wie es dereinst in der Welt sich zutragen sollte mit Krieg, Hunger, Kummer, großem Sterben und Pestilenz; und wie der Widerchrist aufstehen werde, und die ungläubigen Schaaren um sich versammeln, und die Gläubigen verfolgen mit Feuer und Schwert; und wie das Häuflein der Gläubigen so gar werde klein werden, daß man es, so zu sagen, mit einer Wanne wird zudecken können.

Wann wird die Zeit wohl kommen? fragte Gottlieb.

Das fragte der Lazarus Gitschner auch den Mönch, sagte die Mutter; aber dieser gab ihm eine solche heftige Maulschelle, daß er sie sein Lebtag empfunden hat. ›Was bedarfst du die Geheimnisse Gottes wissen? sagte der Mönch. Es steht bei Gott allein, wem er's offenbaren will.‹ Hierauf führte ihn der Mönch wieder in den Speisesaal, und setzte ihm Einiges zu essen und zu trinken auf. Nachher gingen sie in die Complett, und dieselbe ward [227] auch also begangen, wie die Vesper. Da die Complett vollendet war, da reiheten sich die Mönche je Paar und Paar, und jeder hielt sein Buch und hatte seine Laterne. Drauf gingen sie gegen den hohen Thurn, durch den Lazarus hineingegangen war in den Untersberg. Daselbst war eine eiserne Thür, auf beiden Seiten wohl beschlagen; zu jedweder Seite aber 6 Thüren, zusammen 12 Thüren gerechnet. Und der Mönch sagte: Durch diese Thür gehet man zu St. Bartholomä auf Berchtesgaden, durch diese nach Salzburg in die Domkirche, durch diese nach Reichenhall, durch diese nach Feldkirchen; durch diese auf die Gemain zu Unser lieben Frauen; durch diese auf Traunstein gen Mariä Egg. Und so nannte er zwölf Gotteshäuser, wohin die Mönche abwechselungsweise zu wallfahrten pflegten. Dieselbige Nacht gingen die Mönche nach St. Bartholomä bei Berchtesgaden, um allda die Mette zu singen; und Lazarus wurde von dem Mönch auch dahin geführt durch einen schönen Gang, der so weit und breit war, daß ihrer drei und drei neben einander gehen konnten. Und als sie eine Weile gegangen waren, da sagte der Mönch im Gehen: Schau, Lazarus, jetzt gehen wir tief unter dem See. Hierauf kamen sie zu der Kirche, wo [228] die Mönche, hinter dem Altar, die Mette sangen. Nach gesungener Mette gingen sie wieder zurück in den Untersberg. Also ist es einen Tag wie den andern zugegangen mit den Kirchengebräuchen. Lazarus aber blieb volle sieben Tage in dem Berg, und verrichtete bei Tag seine Andacht in der großen Kirche, und des Nachts in den Orten, wo die Mönche ihre Mette hielten. – Am siebenten Tag sagte der Mönch: Lazarus, nun ist es Zeit, daß du wieder hinaus gehest; oder willst du hierinnen verbleiben, so magst du es auch thun. Lazarus sprach: Ich will hinaus gehen. Also gab ihm der Mönch noch zwei Laiblein mit auf den Weg, und geleitete ihn sodann bis zu dem Thurm, durch den er eingegangen war. Im Gehen sprach aber der Mönch: ›Höre, Lazarus, was ich dir noch sagen will. Dieser Berg, siehst du, ist ein gar wunderbarer Berg, und in allen seinen Theilen von unzählbarem Volke bewohnt. In dem obersten Theile sind die Mönche, welche Tag und Nacht beten für die Christenheit. In dem mittlern Theile sind die Ritter mit dem glorwürdigen Kaiser Karl, und die sind alle bereit, zu jeder Stunde, wenn es Gott will, zu fechten für den christlichen Glauben. In dem untern Theil, im Erdgeschosse, da wohnet das Völklein der Bergmännlein; die wärmen und heizen[229] die Erde, daß sie alljährig Früchte brigen mag, und sie bereiten das Metall, dessen ihr da draußen bedürfet. Also wird hier, auf Gottes Anordnung, Sorge getragen für euer geistiges und leibliches Wohl, und ihr müßt deß Dank haben.‹ Darauf, als sie vor dem Thurm stunden, sprach der Mönch: ›Nun schau auf die Uhr, auf welcher Stunde der Zeiger ist.‹ Und es war eben 7 Uhr, wie damals, als Lazarus hinein gegangen war. Drauf, als sie zum Thor gekommen waren, sprach der Mönch: Hier liegt dein Hut; setz' ihn auf, so kannst du wieder den Weg weiter gehen. Wie sie aber an dem Ort noch stunden, verdolmetschte er ihm die Inschrift, die auf der steinernen Wand stand. ›In den letzten Tagen wird der Antichrist mit seinen heidnischen Schaaren sich lagern auf demWalserfeld; und es wird eine zahllose Menge seyn von geharnischten Reitern und Lanzenknechten. Die gläubigen Christen aber, klein an Zahl, werden sich mit ihrem Bischof in Salzburg sammeln, und in den Klüften sich verbergen, wie ehedem St. Rupertus mit seinen Gesellen, aus Furcht vor dem gewaltigen Feinde. Da, wie nun die Noth am größten ist, erwacht der glorreiche Kaiser Karl und seine gesammte Ritterschaar; und er schickt einen Herold hinaus, der das Wappen des Kaisers aufhängt, [230] Angesichts des Feindes, an dem großen ausgedorrten Birnbaum, der an dem Walserfeld steht, und der um diese Zeit frische Zweiglein ausschlagen wird. Und, sieh! es thut sich plötzlich der Berg auf, und aus dessen offenen Thoren schreiten hervor, den alten Kaiser an der Spitze, 10000, Ritter und 100000 Lanzenknechte, alle zum Kampfe gerüstet. Da wird sich denn eine Schlacht anheben, wie die Welt noch nie eine gesehen hat; und der Heiden Blut wird in so reichlichem Maße vergossen werden, daß Einem das Blut rinnen wird bis an die Schenkel; und der Antichrist wird zuletzt selber fallen im Gemetzel, und er wird sein eigen Blut gen Himmel spritzen, und sprechen: Der droben hat gesiegt. Drauf, als die Schlacht geschehen, wird Ruhe seyn und Friede auf Erden unter den Menschen, bis der Herr kommen wird zum letzten Gerichte.‹ Also sprach der Mönch; und darauf entließ er den Lazarus Gitschner, der wieder heimkehrte zu den Seinigen.«

Als die Mutter die letzten Worte sprach, trat eben der Vater in die Stube, der aus dem Wirthshaus gekommen. Er langte weiß Brod aus der Tasche und theilte es unter die Kinder, daß sie davon äßen. Drauf, indem er den Hut und die Jacke ablegte, sagte er zur Mutter: Hast ihnen [231] das Mährlein aufgetischt von demLazarus Gitschner?

Nun, sagte die Großmutter, ein Glaubensartikel ist's eben nicht; und darum magst du davon halten, was du willst.

Was bringst denn du für neue Mähren nach Haus? fragte die Mutter.

Nichts weiter, sagte der Vater, als daß die Franzosen wieder unruhig werden.

Gott bewahre uns vor denen! sagte die Großmutter. Die sind ärger, als die Türken.

Laßt sie nur kommen! erwiederte Hans. Wir werden schon wieder fertig mit ihnen, auch ohne Kaiser Karl und seine Ritter.

Aber nicht ohne Gottes Hülfe, versetzte Lise.

Nun wurden die Kunkeln bei Seite gesetzt; denn es war schon spät geworden. Die Magd räumte in der Stube auf; der Knecht ging noch in den Stall; die Mutter sah in der Küche nach, der Vater, ob alles im Hause geschlossen sey; und die Großmutter bereitete die Kinder zum Schlafengehen, und ließ sie das Abendgebet beten, und: »Heiliger Schutzengel mein, laß mich dir empfohlen seyn.« Draußen aber auf der Gasse sang der Nachtwächter:


[232]
Meine lieben Herrn, laßt euch sagen,
Der Hammer, der hat zehn Uhr g'schlagen,
Wohl zehn Uhr!
Gelobt sey Gott und Maria!
[233]

X. Das Zaunköniglein, eine Fabel. – Der Teufel und der Bauer, ein Schwank. – Die zwei Brüder, ein Mährchen.

Die Kinder hatten bereits den Tisch verlassen, um auf dem weiten und breiten Söller zu spielen; denn das unfreundliche Wetter hielt sie ab, sich im Freien herum zu tummeln. Die übrige Gesellschaft saß noch beisammen; der Großvater nahm sein Pfeifchen zur Hand, die Frauen ihr Näh- und Strickzeug.

Da nahm der Vater das Wort und sagte: »Die Mutter mag sich nun Zeit nehmen, um auf eine Geschichte zu sinnen, die sie uns heut Abends vortragen mag. Denn ohne irgend eine Erzählung darf wohl der Tag nicht vorbei gehen, und die Natur, die uns heute von ihren Freuden ausschließt, gemahnt uns selbst an die Freuden, welche die gesellschaftliche Unterhaltung verschafft. An der Mutter ist nun aber die Reihe, und sie wird sich von der Verbindlichkeit, [234] die wir alle eingegangen, um so weniger ausschließen können, da sie mehr Zeit als wir übrigen gehabt hat, auf etwas Anziehendes und Zweckmäßiges zu denken, und auch mehr Gelegenheit, an fremden Mustern abzusehen, wie für Kinder erzählt werden solle.«

Die Mutter erwiederte: »Ihr alle wißt, wie viel mir die Haushaltung auch auf dem Lande hier zu schaffen macht, und daß ich nicht, wie ihr übrigen, die ihr den lieben Tag hindurch nichts zu thun habt, auf Fabeln und Mährlein denken kann. Die Muse ist nur der Muße günstig. Darum erlaßt mir nur lieber gleich immerhin die Verbindlichkeit, die ihr mir auferlegen wollt, und bedenkt, daß eine arme bedrängte Frau nicht zugleich für körperliche und geistige Nahrung sorgen kann.«

Diese Einrede wurde aber weder von den Frauen noch von den Männern angenommen, sondern entschieden zurück gewiesen. Der Onkel erinnerte insbesondere, daß so viele, wohl auch wackere Hausfrauen Zeit genug gefunden hätten, durch Schriften sich fühl-und achtbar zu machen, geschweige denn durch mündliche Unterhaltungen, zu denen die, den Frauen angeborne, geläufige Zunge immerhin noch Stoffes genug zu finden pflege.

Des Onkels neckende Bemerkung vereinigte die[235] Frauen zu einem Schutz- und Trutzbündniß, und die Tante erwiederte lebhaft: »Was von unserer Seite bisher vorgebracht worden, hat doch das Verdienst eigener Erfindung oder lebendiger Ueberlieferung, während das, was wir von den Männern gehört, laut ihrem eigenen Geständnisse, nicht ihnen und ihrem Geiste angehört, sondern den Büchern, woraus sie bettelnd geschöpft.«

»Rühme dich nur nicht – versetzte der Onkel – deiner Erzählung wegen; sie hat bereits eine ganz gerechte Recension gefunden.«

»Wohl von dir! – entgegnete die Tante –. Denn ich weiß, leider! daß du gar so gern alles tadelst, was ich in dergleichen Dingen für die Jugend zweckmäßig finde.«

»Von mir wahrlich nicht – versetzte der Onkel –; es war aber, sag' ich dir, eine ganz angemessene, klare, wahre, unbefangene, kurz gefaßte, derb ausgedrückte Recension – – Der Fritz, auf den deine Erzählung eigentlich gemünzt war, er fing an, während derselben einzuschlafen, und vernahm das Wenigste, und vollends von der Nutzanwendung gar nichts.«

»Der Range! rief die Tante aus: Er ist eingeschlafen, sagst du?« [236] »Das wohl nicht – entschuldigte die Großmutter – er nickte bloß ein wenig, – so so« ...

»Aber gewiß nicht zum Beifall, versetzte der Onkel. Um es kurz zu sagen: die Erzählung machte ihm Langeweile; und unter solchen Umständen ist freilich der Schlaf eine wohlthätige Erquickung, ein wahres Labsal, ein unschätzbares Geschenk der Natur.«

»Deine Erzählungen freilich – sagte die Tante, indem sie die Neckerei lebhaft fortsetzte – sie halten wohl leicht den Buben wach, weil sie seinen Unarten schmeicheln, und seinem Aberwitz Nahrung verschaffen. Deine alberne Geschichte von gestern z.B. hat ganz seinen Kopf eingenommen, und er lebt, glaub' ich, träumend und wachend in ihr.«

»Das wäre allerdings die günstigste Recensionfür dieselbe,« unterbrach der Onkel.

»Heut Morgens – fuhr die Tante fort – statt mir einen guten Morgen zu wünschen, was thut er? er kommt mir muthwillig mit dem Gruß entgegen: Bons Dies, Hans!«

»Nun, sagte der Onkel, und du hast ihm doch höflich erwiedert: ›Dei Grats, Hans?‹«

»Ich kann dich wahrlich nicht begreifen – sagte die Tante, fast ärgerlich – wie du in solcher Mähre etwas Lehrreiches für Kinder finden magst.« [237] »Lehrreiches? – erwiederte der Onkel – muß denn alles eben lehrreich seyn? Ist denn das Ergötzliche nicht eben so viel werth, unter gewissen Umständen, und noch mehr werth, als das Lehrreiche? Hat nicht alles seine Zeit, das Weinen und das Lachen, so auch der Ernst und der Scherz, die Lehre und die Posse? – Lehrreich soll alles seyn? sagst du. Wohlan! meine Geschichte ist allerdings lehrreich, (fuhr er mit verstelltem Ernst fort). Erstens übt und stärkt sie die Auffassungskraft und das Gedächtniß, zwei Seelenvermögen, die nicht vernachlässigt werden dürfen, will man anders, nach achtbarer Philosophen Meinung, den Menschen zum Menschen erziehen. Zweitens wird an solchen Exempeln der Sprachunterricht unglaublich befördert! wie mir jeder praktische Philolog Recht geben wird; denn eben das Regelgerechte, wo könnte es klarer nachgewiesen werden, als in dem Fehlerhaften? Drittens – –«

»Schon genug! – unterbrach die Mutter. – wenn die Männer ins Kritisiren und Spintisiren gerathen, so finden sie kein Ende, und wollen trotz allen vernünftigen Widerreden, zuletzt doch immer Recht behalten. –«

»Gerade so, mit Vergunst! wie die Frauen« – sagte der Onkel.

»Fahrt ihr aber so fort – sagte die Mutter, – [238] unsere anspruchlosen Geschichten nach eurem strengen literarischen Maßstabe zu messen, so werde ich mich wohl hüten, euch etwas zum Besten zu geben, aus Furcht ihr möchtet mich, wohl gar hinterrucks, zum Besten halten. Denn – woran ich wohl schon nebenbei gedacht habe – was würdet ihr zu einem Mährchen sagen, das zugleich eine Legende in sich faßte? Müßte es euch, gestrengen Kunstrichtern, nicht als ein Gräuel, als eine poetische Mißgeburt erscheinen?«

»Es würde uns – sagte der Onkel verbindlich – als ein goldener Ring erscheinen, der einen Demanten in sich trägt.«

»Dieses vorläufige Urtheil eines sonst eben nicht sehr nachsichtigen Kritikers – erwiederte die Mutter – gibt mir Muth, der Sache weiter nachzudenken, und das Gebilde, so viel in meinen Kräften liegt, ganz auszuführen, und wohl zu gestalten. Dermalen aber noch, und schon heute, bin ich nicht im Stande, den Anmuthungen der herausfordernden Gesellschaft zu entsprechen. Wohl aber glaube ich, man könnte füglich die Männer in Anspruch nehmen, daß sie die Kinder während der Abendstunde mit Histörchen unterhalten, denn es bedarf ja von ihrer Seite nur eines Blickes in die Bücher, die sie, meineidiger [239] Weise, sich angeeignet, um mehr als hinlänglichen Stoff für die Abendunterhaltung zu finden.«

»Eines Blickes – sagte der Vater – hast du dich doch auch erst heute Morgens gewürdigt, in die kostbare Legende, die ich in jenem Winkel aufgefunden.«

»Ich will es nicht läugnen – versetzte die Mutter – und der Moder, der mich daraus anroch, steckt mir noch in der Nase.«

»Ermesset denn, ihr Frauen – sagte der Onkel – welche Ueberwindung, welche Aufopferung es von unserer Seite kosten mag, Fremdes uns anzueignen, während ihr alles dieß, und noch mehreres, so gar leicht, ohne Anstand und Widerstand, als Eigenes erfindet und darstellet, wie z.B. eine Geschichte vom Thierquäler.«

Nachdem man sich so einige Zeit lang in scherzhaften und neckenden Reden und Widerreden erheitert hatte, so haben sich zuletzt, auf Zudringen der Frauen, die Männer doch herbei gelassen, für die Abendunterhaltung Sorge zu tragen. – Der Großvater sagte: Er wolle sich der gnädigen Erlaubniß der Damen bedienen, und wieder aus dem, in Schweinsleder gebundenen Buche eine Erzählung, ein Ostermährlein, auslesen und vortragen, etwa – [240] damit doch wieder auch eine Fabel aufs Tapet komme – die Geschichte »vom Zaunköniglein, oder: wie die Vögel einen König wählen.« – Der Vater sagte: Dieß Mal wolle er sich eines Plagiats enthalten, obwohl er freilich nicht wisse, ob es doch nicht etwa ein Plagiat sey, denn die Menschen von Heute hätten doch das Meiste, wo nicht Alles von den Menschen von Gestern, und das Neue sey eben immer das Alte, wie Salomon sage. Der Held seiner Geschichte aber sey niemand anders, als der Teufel, der von einem Bauern überlistet wird; übrigens ein ganz dummer Teufel, der also weder Frauen noch Kindern einen besondern Respect, geschweige eine Furcht einflößen könnte. – Der Onkel endlich sagte: er habe ein Mährchen im Sinne, das er, an verschiedenen Orten, auf verschiedene Art gehört, und nun, nach eigner Weise, zusammen zu stellen und vorzutragen sich vorgenommen hätte.

Am Abend, zur festgesetzten Stunde, indem die ganze Familie versammelt war, schickten sich die Männer an, ihre Geschichten, der Reihe nach, zu erzählen.


* * *

[241]

Das Zaunköniglein.

Der Vögel muntere Schaar entschloß sich einsmals, ein Oberhaupt zu wählen, und einen aus ihrer Zahl zum König zu machen. Sie versammelten sich demnach in einer einsamen Gegend, um da Rath zu halten; und, damit sie um so ungestörter verhandeln könnten, stellten sie an allen Orten Wachen aus; die Raben mußten die Wege und Straßen besetzen, die Störche auf den Thürmen der Dörfer und Flecken in die Ferne sehen, die Schnepfen in den Wäldern auf guter Hut seyn, und sogar die Spatzen auf einzelnen Bauernhöfen Wacht halten. Bei der Nacht schrie der Hahn die Stunden aus, die Nachteule machte die Runde bei Hecken und Stauden, und der wachtbare Guckuck stand auf der verlornen Schildwacht.

Drei Tage verstrichen, bis die ältern und verständigern Vögel dieses Ratherkenntniß faßten: Derjenige sollte zur königlichen Hoheit erhoben werden, den die freigebige Natur mit dem schönsten Kleid angethan hätte. Da hätte man nun sehen sollen, mit welcher Sorgfalt sich die Vögel beeifert, sich schön heraus zu putzen und ihre Gestalt zu verherrlichen. Sie flogen wechselweise an den Fluß, der an ihrem Wahllager vorbei floß, und wuschen und badeten [242] sich, und fiederten ihre Flügel, und suchten alle Federlein an ihrem Leibe aus, und tauchten wieder ins Wasser, und trockneten sich an der Sonne, und reinigten und putzten sich wiederum, bis sie kein Fehl mehr an sich sahen. So dauerte es drei Tage; und sie traten in den Kreis, und jeder hoffte, daß er zum Könige erwählt werde. Am ersten Tage konnte man glauben, daß der Pfau den Preis davon tragen würde; denn wenn er sein Gefieder ausspreitete, so verlugten sich schier Aller Augen in den strahlenden Augen seines Schweifes. An dem andern Tage trat der indianische Rabe auf, und ließ sein purpurnes Gefieder an der Sonne spielen; und es schien, als wenn er allen obsiegen werde wegen seiner schönen Gestalt.

Niemand hatte mehr Lust, einen Wettstreit einzugehen, als die geschwätzige Aelster, aber ihr Federkleid hatte gar keinen Geschmack von der Welt. Doch was vermag die Arglist nicht und die Eitelkeit? Am dritten Tag ging sie an den Fluß, und nahm die Geiwitze (Kibitz) mit sich. Hier suchte sie mit allem Fleiße die schönen Federlein zusammen, welche die andern Vögel abgelegt; und die Geiwitze mußte ihr als Kammermädchen dienen, und ihr die raresten, in weißem Pech eingetaucht, an ihrem Leib ankleben. Zur Belohnung versprach sie derselben einen sichern [243] Dienst in ihrem Reiche, wenn sie die Krone erhalten sollte wegen ihres Aufputzes. Also geziert und geschmückt kehrte sie ins Lager zurück, und spazierte mit bedachten Schritten einher, daß sie von allen gesehen werden konnte, und fast jeder bewunderte die Pracht ihres Gefieders, und meinte, daß nichts Schöneres gedacht werden könnte. Denn sie war auch mit aller Kunst herausgeputzt; auf ihrem Kopfe trug sie eine Krone, welche aus grünen, rothen, gelben und bläulichen Federn, gleich den kostbarsten Juwelen, gebildet war; die Flügel und der Rücken war bedeckt mit purpurfarbenen Federlein, der vordere Leib aber mit goldfärbigen, mit weißen und röthlichblauen unterlegt, welches wie eitel Silber und Gold schimmerte; an dem Halse bis auf die Brust hing die allerschönste Halszierde, welche aus Pfauenaugen zierlich gebildet und gerundet war; der Schnabel sah aus, wie Elfenbein, weil sie ihn aus ihren eigenen schneeweißen Federlein bedeckt hatte; endlich ihre Füßchen waren mit hellgelben Federlein des Canarienvogels überzogen, und ihr Schweif glich dem des Papagei's. So geschah es denn, daß, als am vierten Tage die Wahl vor sich ging, die Aelster fast einstimmig zur königlichen Würde erhoben wurde. Nur der Papagei machte eine Einrede und widersetzte sich; er sagte, daß weder in Afrika, noch[244] in Asien, noch in Europa ein solcher Vogel je gesehen worden wäre; er zweifle stark, ob nicht ein Betrug dahinter stecke; wenn man die Probe ihm überlassen wolle, so werde er es schon zu machen wissen, daß die Wahrheit an den Tag komme. – Als nun am Morgen des fünften Tages sich alle Vögel einfanden, um ihre Huldigung darzubringen, so stellte der Papagei das ganze Federvolk in einer flachen Ebene in Ordnung, und wies dem neuerwählten König einen kleinen Grashügel zum Platze an, von wo aus er alle Vögel übersehen konnte; und der Papagei selbst, der ein kluger Hofmann war, hielt eine zierliche Rede an die versammelte Vögelschaar, von der Macht des Herrschers und vom Gehorsam der Unterthanen; und er zog seine Rede so aus einander, bis endlich die schwüle Sonnenhitze zu wirken anfing, und, nach geschmolzenem Pech, die Federchen der Aelster, wie Schweißtropfen, herab fielen. Welch ein Spektakel! Die Aelster stund ganz beschämt da; der Betrug lag vor Augen; sie mußte allen Schimpf und Spott ertragen. Drauf wurde Standrecht über sie gehalten, und das Urtheil fiel dahin aus: Es sollte von nun an bis auf alle ewigen Zeiten die Aelster verwiesen seyn, und keine Stadt mehr betreten, und in einem Trauerkleid, schwarz und weiß, auf dem Lande umher fliegen im Elend. Die Mitschuldige, [245] die Geiwitze, erhielt den Bescheid: Sie sey sofort verdammt und verwiesen auf das nasse Ried und auf das öde Moos; Trauerkleidern soll sie auf ewig ihre Schuld beweinen, und Tag und Nacht mit kläglicher Stimme seufzen: Wehe mir! wehe mir!

Nachdem das Urtheil an der Aelster und an ihrer Mitschuldigen vollzogen war, und der Habicht und der Geier sie hinaus gejagt hatten in die Wildniß, so schritten die Vögel zu einer neuen Wahl. Anfangs waren sie der Meinung, man solle demjenigen die Krone aufsetzen, der die andern alle in der Stimmkunst übertreffen werde. Allein es erhoben da mit Einem Male alle Singvögel ihre Stimme, und sangen so laut und grell durch einander, daß man keines Vogels Stimme mehr unterscheiden konnte; die Nachtigall selbst mußte schweigen, und entfloh in einen fernen Busch, um dort ungehört fort zu singen; und zuletzt, nachdem sie sich alle heiser gesungen, ließ nur noch der Gimpel seine Stimme hören, und das Spötterlein, das ihn ausspottete. Wer wollte aber diese zu Königen haben? Da nahm der schlaue Papagei das Wort wieder, und sagte: Es hätten die Singvögel von der langen Herreise den Strauchen oder Schnuppen gekriegt: und überhaupt könne man keinen gewissenhaften Unterschied zwischen den kleinen allerliebsten Zuckerfressern machen.

[246] Also wurde letztlich der einhellige Entschluß gefasset, daß man jenen zum König machen wolle, der mit seinen Flügeln zu höchst gegen die Sonne sich erschwingen könne. Indem sich nun alle Vögel zurichteten, um in die Wette zu fliegen, und ein großes Geflatter und Gedräng wurde im Lager: da mußte sich das kleine und verächtliche Zaunschlüpferlein gar sehr ducken und schmucken, daß es nicht von den größern Vögeln zertreten oder von ihren Flügeln zerschlagen ward. In des Herzens Angst nahm es seine Zuflucht auf den Rücken des Adlers. Jetzt wurde von den Lerchen, wie von Trompetern, das Zeichen gegeben; und sieh! mit Einem Male, daß schier die Sonne verfinstert wurde, rauschten nach Hunderten die Vögel durch die Luft in die Höhe. Aber die wenigsten konnten den Zuschauern aus den Augen kommen, so ermatteten sie schon. Der Adler allein rang mit dem Falken um die Krone. Gähling fing auch der Falk an zu sinken; darauf sich der Adler zu dreien Malen in einem Kreis herum schwang, als wollte er die Sonne begrüßen, und flog dann, wie ein schneller Pfeil, zur Erde nieder. Das Zaunschlüpferlein aber, das auf des Adlers Rücken sich verborgen hatte, nahm erst recht seine Kräfte zusammen, und schwang sich weit über den Adler zu allerhöchst gegen die Sonne, und ließ sich dann ganz [247] sanft aus den Lüften herunter. Das hatte allein der Falk mit seinen scharfen Augen bemerkt. Wie nun im Vogellager ein großer Jubel sich erhob, und alle den Adler als ihren König begrüßten: da stürzte sich, wie ein Blitz, der Falk aus der Höhe herunter, und brachte die unerwartete Botschaft, daß dem kleinsten aus allen die Krone gebühre von Rechts wegen; und er erzählte den seltsamen Hergang der Sache. Die Vögel verwunderten sich drob, und erklärten zuletzt: daß zwar dem Adler die Krone gebühre, als dem, der den gewaltigsten und höchsten Flug habe, daß aber billigerweise das Zaunschlüpferlein, weil er zu höchst geflogen, den Titel führen, und von nun an Zaunköniglein heißen soll. Diese Nachricht hinterbrachte ihm alsogleich der Falk; und wie das kleine Vögelein jetzt näher kam, so flogen ihm die Singvögel alle freudig entgegen, und priesen ihn mit ihren klingenden Stimmlein, und huldigten ihm als ihrem König und Herrn. Hierauf, nach diesem prächtigen Vorgang, machte sich alles Federvolk aus einander; denn es war an der Zeit, daß jeder seine Sommerfrist beziehen mußte.


* * *

[248]

Der Teufel und der Bauer.

Den Teufel hat einmal ein Bauer schön dran gekriegt und zum Narren gehabt. Wenn ihr die Geschichte hören wollt, so will ich sie euch erzählen. – Dieser Bauersmann war eines Tags bis zum späten Abend noch beschäftigt mit dem Anbau seines Ackers, und mit der Aussaat des Weizens. Wie er nun zuletzt – es war schon dunkel – sich rüsten will zur Heimfahrt, da erblickt er plötzlich mitten auf seinem Acker eine feuerrothe Stelle, wie von glühenden Kohlen. Er geht hinzu, und sieht da ein kleines Teufelein sitzen auf dem Gluthhaufen. Der sagt zu ihm: »Du sollt diesen Schatz haben, und er soll dein werden, wenn du mir jährlich die Hälfte von dem gibst, was dir dein Acker hervor bringt und einträgt.« – Der Bauer meinte: auf so einen Pakt könne er sich einlassen, und er dachte wohl sogleich daran, wie er den dummen Teufel überlisten werde. Er sagte daher, und schlug ein: »Topp! Ihr sollt die Hälfte haben von allem, was ich baue. Und damit kein Streit zwischen uns entstehe bei der Theilung, so soll euch alles gehören, was unter der Erde ist, und mir, was über der Erde ist.« Dem Teufel war dieß ganz recht; denn er hatte gesehen, wie fast alles Saatkorn unter die Erde geegget worden; [249] und so, dacht' er, könne es ihm nicht fehlen. – Als nun die Ernte herbei kam, so erschien der Bauer mit seinen Leuten, und anderseits auch der Teufel mit seinen Gesellen. Jene fingen an, das Korn zu schneiden, und diese rauften fein die Stoppeln aus der Erde. Der Bauern drosch sein Korn auf der Tenne aus, worfelt's, lud's in Säcke, und führt's zu Markt, wo er's theuer verkaufte. De Teufel ebenfalls, setzte sich neben dem Bauer auf dem Markt hin, und bot da seine Stupfeln feil; niemand aber kaufte ihm sein Zeug ab, sondern er ward vielmehr von den Marktleuten brav ausgelacht und heim geschickt. Als der Markt zu Ende war, so sprach der Teufel zum Bauern: »Hör, Kujon! dieß Mal hast du mich betrogen; ein ander Mal gelingt dir's nicht. Bei der nächsten Aussaat und Ernte wollen wir die Sach umkehren; ich nehm', was über der Erde ist, und du kriegst, was unter der Erde ist. So geht's gleich auf.« Dem Bauern war das auch recht, und er sagte: Wie Ihr wollt, Herr Teufel, also gescheh' es. – Der Bauer säete nun auf seinem Acker Rübsamen aus, der sein gutes Gedeihen und Wachsthum hatte. Als nun die Zeit der Ernte gekommen, so erschien sogleich der Teufel mit seinen Helfern, und schnitten gar emsiglich die Rübenblätter ab, vom Boden weg, und sammelten [250] sie ein. Hinter ihnen grub der Bauer gemächlich die Rüben aus, lud's in Säcke, und führt's nach Haus. Beim nächsten Markt verkaufte der Bauer seine Rüblein um guten Preis; der Teufel aber lösete für sein Blättericht nichts. »Ich seh wohl, Lump, sprach drauf der Teufel zum Bauern, daß du mich wieder betrogen hast. Weißt du was? um der Geschichte ein End zu machen, so wollen wir einen Pakt eingehen: wer am meisten Hitz und Schwitz aushalten kann, der soll des andern Theil gewinnen, ich dein Feld, du meinen Schatz.« Der Bauer sprach: »Drauf will ich's ankommen lassen. Kommt nur gleich! Wir lassen des Baders Badstüble heizen, so lang der Ofen halten mag. Ein Schwitzbad thut mir ohnehin schon längst Noth.« Sie gingen also beide ins heiße Badstüblein. Der Teufel setzte sich frischweg hinter den Ofen, auf die Hölle; der Bauer dagegen hielt sich nahe am Fenster, durch welches ein Lüftlein herein strich; denn es war drinnen doch gar zu mörderisch heiß. Zuletzt konnte er's schier nicht mehr aushalten; er suchte daher am Fenster eine Scheibe auszulösen, um etwas Luft zu bekommen. Da fragte ihn der Teufel: Was machst du denn dort? was treibst du, Kalfakter? Der Bauer antwortete: »Ich vermache und verstopfe nur hier die Löchlein und Ritzlein all, durch welche die[251] Luft herein dringt. Sonst kann's ja nicht warm werden im Stüble. Mich friert wenigstens noch. Wie ist's Euch?« »Daß du in der tiefsten Höll' bratest, du verdammter Racker!« – sagte der Teufel voll Zorn; und indem er sich für überwunden hielt, nahm er sogleich Reißaus durchs Kamin, und ließ sich vor dem Bauern nimmer sehen. –

»Hat also der Bauer den Schatz richtig gekriegt?« fragte Fritz. »Darüber magst du ihn selbst fragen,« antwortete der Vater.


* * *

Die zwei Brüder.

Ein Vater hatte zwei Söhne; der ältere hieß Jörg, der jüngere Hans. Als sie groß und stark geworden, so sagte der Vater eines Tags zu ihnen: »Ziehet nun fort in die Fremde, und suchet euch selbst zu ernähren. Und bleibt einträchtig, und liebet einander; und wer mehr hat, der theile mit; und, wenn einer aus euch krank oder elend wird, so stehe ihm der andere bei, und helfe ihm.« Also schieden die beiden Brüder vom Vater, und gingen desselben Weges fort mit einander. Als sie aber an einen Scheideweg kamen, da sagteJörg, der ein böses Herz hatte, zu seinem Bruder: »Gehe [252] jeder von uns seines Weges, und sorge für sich. Und das sage ich dir: wenn wir uns wieder begegnen, du arm, und ich reich, so schlage ich dich todt, damit ich nicht für dich zu sorgen habe, wie der Vater gewollt. Und du magst mir deßgleichen thun, wenn ich arm geworden und du reich.« Ueber dieser Rede erschrack Hans sehr, der von guter Gemüthsart war. Doch tröstete er sich, und dachte: Gott wird's recht fügen; und nahm vom Bruder Jörg Abschied.

Es war ungefähr ein Jahr vergangen, als Hans eines Tags in einem fremden Lande die Straße zog ohne Brod und Geld und in schlechtem Anzuge; denn er hatte nirgendwo Arbeit gefunden. Da sah er eine Kutsche herbei kommen, worin ein vornehmer Herr saß in reichem Kleide und von gutem Aussehen. Den sprach er um einen Zehrpfenning an. Es war sein Bruder Jörg, den er aber nicht kannte. Dieser hatte durch Diebstahl und Wucher in kurzer Zeit großen Reichthum erworben, so daß er nun in einer eigenen Kutsche fahren, und ein Wohlleben führen konnte, während sein Bruder betteln mußte. Der Reiche erkannte sogleich in dem Bettler seinen Bruder. Zornig sprang er aus dem Wagen, packte ihn, und sprach: »Kennst du mich? Ich bin Jörg, dein Bruder. Du mußt nun sterben, wie wir's [253] verabredet haben.«Hans in seines Herzens Angst bat, er möchte ihn doch beim Leben lassen. »Beim Leben will ich dich lassen, sagte Jörg; aber die Augen muß ich dir durchstechen, damit du mich nie mehr erkennest, und mir fortan zur Last fallest.« Das that er denn auch. Drauf schleppte er ihn zu einem Galgen, und band ihn dran fest. Da ließ er ihn, und fuhr sodann davon.

Der arme, geblendete Hans wußte aber nicht, an welchem schlechten Orte er sich befand. Er fühlte um sich, und merkte, daß er unter einem Holzbalken saß. Da meinte er, es wäre ein Kreuz, und sprach: »Dank dem Himmel, daß er mich wenigstens unter ein Kreuz gebunden habe; Gott ist bei mir, und von ihm wird mir Hülfe kommen.« Wie es nun anfing, Nacht zu werden, hörte er etwas über sich flattern. Das waren aber drei Krähen, die ließen sich auf dem Balken des Galgens nieder. Da fingen sie zu reden an, und die eine sagte: Woher kommst du, Schwester? Diese antwortete: »Ich komme aus Norden.« »Was bringst du Neues?« »Des Königs Sohn hat seine beiden Augen ausgefallen, und der König gäbe dem gern sein halbes Königreich, der helfen könnte. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich – sagte die andere – hier unter dem Galgen wächs't ein Gras; auf das fällt [254] von Zeit zu Zeit ein Thau; und wer damit die Augen eines Blinden bestreicht, dem werden sie wieder sehend.« – Drauf geschah die Frage an die zweite: »Und woher kommst du, Schwester?« »Ich komme aus Süden.« »Was bringst du Neues mit?« »Ein reicher Edelmann hat in seinem Garten einen Baum, der trägt silberne Birnen; aber wenn sie anfangen, reif zu werden, so fallen sie ab, und werden zu Staub und Asche. Er gäbe gern die Hälfte davon in jedem Jahr dem, der wüßte, wie dem Uebel abzuhelfen sey. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich, sagte die dritte. Unter dem Baum liegt eine garstige Kröte; man darf sie nur heraus graben, und zu Asche verbrennen, und die Asche nach allen vier Winden zerstreuen.« – Nun wurde die dritte gefragt: »Woher kommst du, Schwester?« »Von Westen.« »Was bringst du Neues?« »In einem dichten Walde, zwischen vier Bergen, liegt ein gläserner Sarg; darin schläft eine Prinzessin schon viele Jahrhunderte; es liegt auf ihrer Zunge ein Schnitz von einem giftigen Apfel; und wer den heraus nehmen könnte, der würde sie wieder zum Leben bringen. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich, sagte die erste. Man müßte von dem Vogel Greif drei Federn holen, und mit diesen der Prinzessin [255] den Mund streichen. Der Vogel Greif würde aber wohl für jede Feder eine silberne Birn verlangen.« – Wie die drei Krähen das gesprochen, hörte er es wieder flattern, und sie flogen da fort. Hans aber machte sich allmählich von seinen Banden los, und dann bückte er sich, und brach ein paar Gräslein ab, und bestrich damit seine Augen. Alsbald ward er wieder sehend, und Mond und Sterne leuchteten ihm wieder, und er dankte dafür Gott. Darauf sammelte er in einen Scherben von dem köstlichen Thau, so viel er zusammen bringen konnte, und ging fort, gerades Weges nach Norden, um den König aufzusuchen, dessen Sohn blind geworden.

Er war noch nicht gar viele Tage gegangen, als er einen Herold ausrufen hörte: Wer des Königs Sohn wieder das Gesicht gibt, der soll das halbe Königreich haben. Nun wußte er, daß er recht gegangen sey. Er ließ sich sogleich in des Königs Schloß führen, und meldete, daß er des Königs Sohn zu heilen gedenke. Das wurde mit Freuden vernommen. Er bestrich darauf dessen Augen mit dem Thau, und alsobald wurde jener sehend. Der König hielt sein Wort, und trat ihm sein halbes Königreich ab. Dieser wollte es aber nicht sogleich antreten, sondern [256] verlangte, daß man es ihm aufbewahre, bis er wieder käme.

Drauf zog er weiter, und ging gerades Weges nach Osten. Da hörte er bald von dem reichen Edelmann, und von dem Baum, der silberne Birnen trug. Er meldete sich bei ihm, und sagte, was zu thun sey. Die Kröte wurde ausgegraben und verbrannt, und sodann ihre Asche nach allen vier Winden zerstreut. Drauf, wie eine reife Birn gepflückt wurde, blieb sie eitel Silber, und zerfiel nicht in Staub. Der Edelmann wollte alsogleich die Früchte mit ihm theilen; dieser aber las nur drei Birnen aus, die schönsten, und zog weiter, um den Vogel Greif aufzusuchen.

Da zeigte man ihn des Weges nach Osten; und wie er viele Tage gegangen war, so kam er vor zwei Berge, die gingen immer zusammen, und er sollte doch durch. Da rief er: Laßt mich durch! laßt mich durch! »Das wollen wir, wenn du den Vogel Greif bittest, daß wir wieder ruhig stehen dürfen.« Hans versprach es, und drauf ließen sie ihn ungehindert durch. – Als er wieder eine Weile gegangen war, kam er an einen großen See, und drüben lag des Vogels Greif sein Schloß. Da kam in einer Nußschale ein kleines, altes, häßliches Weib heran geschwommen. »Fahr mich über,« rief Hans. [257] »Das will ich thun, sagte das Weib; aber fragen mußt du den Vogel Greif, wie lange ich hier noch überfahren soll.« Das versprach Hans zu thun, und stieg ein, und ließ sich hinüber fahren. Als er ins Schloß trat, war Vogel Greif eben nicht zu Haus; doch bald rauschte es von ferne her, wie ein Sturm, und der Greif nahete und verdeckte mit seinem breiten Gefieder die Sonne, daß es ganz dunkel wurde. Da ward es Hansen doch bange ums Herz, und er versteckte sich. Vogel Greif aber, als er sich aus der Luft niedergelassen, sagte: Ich riech, ich riech Menschenfleisch. Das wiederholte er öfter, und schnupperte umher. Da kroch Hans aus seinem Winkel hervor, und sprach: Mächtiger Vogel Greif! wenn ihr mir drei Bitten gewähren wollt, so will ich euch diese drei silbernen Birnen geben. Vogel Greif sagte: Ich gewähre sie dir; sag' an. Da sprachHans: Für's erste, wie lang müssen die zwei Berge zusammen und auseinander gehen? – »Bis sie einen Menschen erdrücken.« – Fürs zweite: »wie lange muß die alte Hexe noch die Leute überfahren?« – »So lange sie lebt.« – Aber nun zum dritten, so bitte ich, daß ich euch drei Federn ausziehen darf aus dem Schweif. Der Greif sagte: »Du verlangst viel; doch will ich dir Wort halten. Wenn du aber bei eine Feder zweimal [258] ansetzest, so fress' ich dich.« – Drauf zwängte sich Vogel Greif zwischen zwei Felsen ein, undHans zog nun, was er ziehen konnte. Der Vogel Greif zermalmte vor Schmerz die Felsen, und soff einen ganzen See aus. Wie Hans die drei Federn hatte, bedankte er sich, und gab die drei Birnen her. Drauf ging er des Weges zurück, den er gekommen.

Als er wieder zu dem See kam, schwamm die Alte in ihrer Nußschale heran. Die rief ihm gleich zu: Sag an, wann darf ich aufhören, überzufahren? Hans sprach: Ich darf es dir erst sagen, wenn ich drüben bin. Als sie ihn nun ans Land gesetzt hatte, sagte er: Du mußt so lange fahren, als du lebst. Da erhob die Alte ein großes Geschrei; sie sprang aus ihrer Nußschale ins Wasser, wo sie so lange tobte, bis sie ertrank. Von ihrem Toben war aber die See so ausgetreten, daß Hans bis an den Hals im Wasser ging, und beinahe ertrunken wäre; und das dauerte fort, bis er an die Berge kam. Die fragten ihn sogleich: Sag an! wann dürfen wir still stehen? Hans sprach: Ich darf es euch erst sagen, wann ich durch bin. Als er durch war, sagte er: Ihr dürft nicht eher still stehen, als bis ihr einen Menschen erdrückt habt. Da ergrimmten die Berge; es tosete und wüthete [259] in ihrem Innern, so daß sie in Stücke zersprangen, die weit umher flogen. Aber Hans duckte sich, und kam glücklich davon.

Nachher zog er gen Osten, und fand den Wald, und die drei Berge, und den gläsernen Sarg, und das Mädchen, das darin lag. Das war aber eines Königs Tochter, und die Geschichte hat sich also begeben: Ihre Mutter, die Königin, war viele Jahre kinderlos. Eines Tages saß sie traurig am offenen Fenster und nähete. Es war aber zur Winterszeit. Da fiel ihr eine Schneeflocke auf den Schoß, und auf die Schneeflocke fiel ein Blutstropfen; denn sie hatte sich in den Finger gestochen. Da seufzte sie gar innerlich: Ach hätte ich doch ein Mägdlein, so weiß wie Schnee und so roth, wie Blut! Nach einiger Zeit gebar sie auch ein Mädchen, so weiß wie Schnee, und so roth, wie Blut. Und das Mädchen wurde Schneeweißchen genannt, und wuchs, und wurde groß und schön und fromm, und sie war der Mutter einzige Freude. Aber ein böses, altes Weib mißgönnte der Königin ihr Glück; und sie gab eines Tags dem Schneeweißchen einen vergifteten Apfel, und als das Mädchen einen Schnitz davon in den Mund nahm, so fiel sie als todt hin, und erwachte nicht mehr. Und weil sie nun gar so schön war, und roth blieb, wie Blut, und weiß, [260] wie Schnee, so thaten es die Eltern in einen gläsernen Sarg, und stellten den Sarg zwischen die drei Berge. Die Eltern starben, aber Schneeweißchen blieb unverändert. – Zu dem trat nun Hans, und, nachdem er den Deckel abgehoben, so strich er mit den mitgebrachten Federn des Mägdleins Mund. Der that sich auf, und alsobald fiel der Apfelschnitz heraus. Da that das Mägdlein die Augen auf, und, als erwachte sie aus einem langen, schönen Traum, sah sie den Jüngling, der vor ihr stand, mit ihren holdseligen Augen an. Der war, wie ihr leicht denken könnt, voller Freuden, und er nahm das Mägdlein gleich mit in sein Königreich, das er gut aufgehoben fand.

Als er nun Hochzeit machte, war der Hof voll von Armen. Die saßen in zwei Reihen, und Schneeweißchen vertheilte unter sie das Almosen. Der junge König ging aber hinten drein, und freute sich über sein schönes und frommes Weib. Da bemerkte er plötzlich unter den Armen und Siechen seinen BruderJörg, der gleichfalls die Hand ausstreckte nach einer milden Gabe. Als der junge König ihn sah, und so elend, da dachte er nicht an das Unrecht und an Rache, sondern er nahm ihn aufs Schloß, wo er ihn speis'te und tränkte; und er erzählte ihm alles, wie es ihm ergangen, von [261] Anfang bis ans Ende. Und zuletzt sagte er: Jetzt bleib bei mir, daß ich dir wohl thun möge, wie es der Vater gewollt hat. Aber Jörgs böses Herz ließ das nicht zu, in welchem Neid und Zorn und Stolz war; und er sprach: Willst du mir nicht thun, gleichwie ich dir gethan, so laß mich ziehen; denn ich mag nicht bei dir bleiben. Also zog er vom Hofe, und er dachte bei sich: »Die Krähen werden mir so gut weissagen, wie diesem Hans; und, da ich klüger bin, als er, so werde ich nicht bloß ein halbes, sondern ein ganzes Königreich bekommen. Dann werde ich ihn bekriegen, und einfangen, und ihn wiederum blenden, und noch elender machen, als vor her.« Als er zu dem Galgen gekommen, da blies ihm der Neid ein, und rieth ihm: Raufe alles Gras aus, das da ist, damit dein Bruder nicht wieder das Gesicht bekommen kann, wenn du ihn blendest. Das that er denn auch, und er legte sich dann auf den Rücken, und erwartete so die Krähen. Bald kamen sie; und die erste sprach: Das letzte Mal muß uns ein Mensch behorcht, und unsere Geheimnisse verrathen haben. Drauf die andere: Seht! da unten liegt wiederum einer. Der dritte sagte: Hacken wir ihm die Augen aus. Und sogleich flogen sie herab, saßen ihm auf den Kopf, und hackten ihm die Augen aus, und [262] hackten weiter im Gesicht, so lange, bis er ganz todt war. Da blieb er liegen unter dem Galgen. Wäre er nicht so neidisch gewesen, und so dumm, und hätte das Gras stehen lassen, so hätten ihn die Krähen nicht gesehen, und hätten ihm auch geweissagt.

Hans aber lebte als König lang und glücklich, und Schneeweißchen auch.

[263]

XI. Scenen aus der Geschichte.

Auf wiederholtes Zudringen der Frauen ward beschlossen, einen Ausflug nach Ettal zu Wagen zu machen. Es lockte dieselben weniger noch die Neugierde, den schönen Tempel zu sehen, den ihnen der Freund nicht genug zu rühmen wußte, als vielmehr die Frömmigkeit und der Wunsch, ihre Andacht bei der Gnadenmutter zu verrichten. – Der Freund selbst wollte sie dahin begleiten.

Von der Straße, die über Eschenlohe nachPartenkirchen führt, zweigt sich, ungefähr in der Mitte des Weges, gen Westen ein Fahrweg ab, der einen steilen Berg hinauf in ein enges, von hohen Bergen umgebenes Thal führt. Hier wird man nun angenehm überrascht durch den Anblick eines, auch schon von Außen durch Größe und Gestalt imponirenden Tempels, und des daran stoßenden im neuern Styl erbauten Klosters; und es bilden diese [264] Gebäude einen wunderlichen Contrast mit der abgelegenen Wildniß, obwohl sie doch auch wieder wohl zusammen stimmen mit der großen Natur, die sie umgibt. – Im Vorhofe der Kirche liegen noch die marmornen Trümmer umher, die zum Ausbau der Façade bestimmt waren, und der Gedanke, daß dieser Tempel, durch die Unbill der Zeit, von vorn herein eine Ruine geworden, erwecket eine ganz eigne, wehmüthige Empfindung. Betrittst du nun die Kirche selbst, so siehst du dich umgeben von einer großen, freundlich erhellten Rotunde, und, wo du den Sinn hinwendest, begegnen dir bedeutsame Gemälde und andere heilige Bilder. Aber aus der Tiefe des Tempels lockt dich bald der, in schönen Formen, aus Marmor erbaute Choraltar näher, und Maria, wie sie, von Engeln umgeben, gen Himmel aufgenommen wird. Du stehst nunmehr in einer zweiten, kleinern Rotunde, deren Wände mit mannichfaltig gefärbtem Marmor durchaus getäfelt und geziert sind, und an deren Decke ein Fresco-Gemälde das Wunder jener frommen Sage in anderer Gestaltung entfaltet. Der Meister, scheint es, hat sich hier in beiden Arten von Malerei als Meister zeigen wollen.

Bei überraschenden Scenen dieser Art ist es merkwürdig, wie, in demselben Moment und vor demselben [265] Gegenstande, verschiedene Charaktere sich auf verschiedene Weise aussprechen und benehmen. Eine einzige flüchtige Beobachtung führt da weiter, als eine jahrlange Erfahrung. Die Frauen waren schon auf ihren Knien, andächtig betend, und die Mädchen folgten sogleich, von dem Ansehen des Beispiels bewältigt. Des Vaters Auge ruhte unbewegt am Altar- und dann wieder am Deckengemälde. Des Onkels Aufmerksamkeit schien mehr auf das Ganze, und die architektonischen Massen hingelenkt. Karl betrachtete und überschaute meist nur das bunte, marmorne Getäfel. Fritz schweifte mit Füßen und Augen hin und her, und alles schien seine Aufmerksamkeit zu erregen, und nichts. Der Freund bestrebte sich zu erklären, zu commentiren; ward aber so viel wie nicht gehört. – Endlich beschwichtigte und versammelte sich die Familie zu gemeinschaftlicher Andacht am Fuße des Altars.

Die Frauen verharrten länger im Gebete, als es den Männern genehm seyn mochte. Diese entfernten sich mit den Knaben, um die ehemaligen Klostergebäude im Innern anzusehen. Da machte denn der Freund wieder den geschäftigen, gefälligen Interpreten. »Das ist das Refectorium, der Speisesaal gewesen – und das ist die Wohnung des Prälaten gewesen – und das ist das Zimmer gewesen, [266] wo Ludwig der Bayer gewohnt hat, so oft er hieher gekommen« – – Es erregt schon das bloße Wort »gewesen« ein beengendes niederschlagendes Gefühl in uns, auch ohne unmittelbare Anschauung der verwitterten Ruine, des zerstörten Heiligthums, des modernden Leichnams ... Man eilte sehr, um recht bald aus diesen Gemächern zu kommen.

Als die Gesellschaft wieder im Vorhof zusammen getroffen, erzählte Malchen: »es sey indessen während sie noch gebetet hätten, der Meßmer gekommen, und habe ihnen das Gnadenbild zum Kusse dargereicht. Es sey eine gar schöne Madonna.«

»Man sagt – erwiederte der Freund – daß es ursprünglich eine Juno gewesen. Die Antike verläugnet sich nicht.«

Die unbesonnene Aeußerung des Freundes fiel zu sehr auf, als daß sie nicht eine Widerrede hätte hervorrufen sollen. Der Vater nahm das Wort: »Es scheint also hier Sage gegen Sage zu streiten. In solchen Fällen halte ich es mit dem Satze: Der Gläubige hat Recht. Ein Gnadenbild ist sie aber sicherlich, diese Statue; denn seit Jahrhunderten ist es wohl zu unzähligen Malen geschehen, daß in diesem Bildniß, wie in einem Brennpunkte der Bitte der bedürftigen Creatur die Gnade, das Licht von Oben, begegnete, Herzen entzündend, verklärend [267] und beseligend. Die wunderthätige Kraft, die so aus dergleichen Bildnissen als sinnlichen Medien fließet, gibt dem Gläubigen allerdings das Recht, dieselben als Unterpfänder göttlicher Liebe zu halten und zu verehren.«

Man hatte beschlossen, das Mittagmahl in Ober-Ammergau einzunehmen. – Man lenkt nach einer kleinen Viertelstunde um die felsige Ecke herum, aus dem beengten, düstern Thale; und nun öffnet sich plötzlich, nach Norden zu, ein offenes, weites, begrüntes Gebäude, längs welchem zu beiden Seiten mäßig erhöhte Berge sich hinziehen, und in dessen Schooße gewerbsame Ortschaften sich lagern.

Man erging sich noch vor Tische in dem weitläufigen Flecken, und besuchte, unter der Anleitung des Freundes, die Niederlage jener Holzschnitzwaaren, die hier und in der Umgegend, wie anderswo, z.B. inBerchtesgaden, zahlreich verfertiget werden. Das war für die Kinder ein wahrer Christkindleins-Tag. Fritz gebärdete sich unmäßig im Auswählen; ein Stück um das andere gefiel ihm mehr. Der Vater fragte ihn: ob er etwa nicht gleich den ganzen Kram haben möchte? »Nein, sagte er sehr bescheiden; aber doch von allem etwas.« Eine Familie, wie die unsrige, fühlt sich in einer Bude dieser Art besonders wohlbehaglich. Der Gegenstände [268] gibt es eine unzählige Menge; die Preise sind wohlfeil; so manches Stück ist anziehend. Da kann man denn mit einem sehr geringen Aufwand dem und jenem ein Geschenk machen, das wohl gefällt und erfreut, so unbedeutend es auch an sich seyn mag. Denn merkwürdig ist es, wie die Einfachheit des Landlebens auch die Genügsamkeit, selbst derer, die in Städten leben, begründet und ausbildet, und wie unbedeutende und werthlose Sachen hier eben so zufrieden stellen, als dort Quincaillerien von edlen Metallen und Steinen. Der Mensch wünscht und verlangt und fordert immer und überall; aber das Maß ist verschieden nach Verhältnissen; und es besteht unser Glück nicht in dem, was wir haben, sondern nur, daß wir haben.

Der Vorrath der angekauften Waaren erinnerte zuletzt, daß vor allem – Schachteln nothwendig seyen, um sie zu packen. Die lebhafte Protestation der Männer wurde nicht angenommen, in Erwägung, daß auch sie, und zwar zuerst, sich jenes Versprechens ledig gemacht haben. Die Mutter beschwichtigte den Streit, indem sie, wie sie sagte, für das Verpacken und Aufpacken also sorgen wollte, daß keine Verlegenheit für die Männer entstehe.

Man schickte sich, nach eingenommenem Mittagsmahle, noch frühzeitig genug zur Rückfahrt an.

[269] Die Frauen mit den Mädchen bestiegen den einen Wagen, die Männer mit den Knaben den andern. Der letztere war vorn und hinten und über der Decke mit Schachteln bepackt. So hatte es die Mutter besorgt, und die Männer mußten sich's eben gefallen lassen.

Unter Wegs hatte der Freund mancherlei zu erzählen von der Betriebsamkeit der Ammergauer und derer, die in der Umgegend wohnten. »Die Natur, die sich hier eben so karg, als schwierig zeigt – sagte er – hat die Menschen zu besonderer Thätigkeit und Geschäftigkeit angeleitet und genöthigt. Die einen, denen besondere körperliche Kraft inne wohnt, lockt sie hinaus auf die Berge, in die Schluchten, zu den Tiefen, um Holz zu fällen, Gestein zu sprengen, Gemse zu jagen, Alpenweiden zu bauen und Vieh zu hüten; die andern hält sie zurück zu Hause, um zu spinnen, zu weben, aus Holz zu schnitzen, oder auf sonst eine ruhige Art Lebensunterhalt sich zu verschaffen. Indem nun aber die Waare ihren Verkäufer sucht und haben will, so bieten sich noch andere an, in die weite Welt zu wandern, beladen mit den künstlichen Erzeugnissen des Landes. Ehrlich, genügsam, heimathliebend, wie sie sind, ziehen sie von Land zu Land, ihre Paaren zudringlich anbietend und billig [270] verkaufend. Einige unter ihnen, die unternehmendern, knüpfen Verbindungen in entfernten Oertern an, bilden wohl selbst Niederlagen, treiben den Handel im Großen, nach Norden bis Rußland, nach Süden bis Spanien, sogar bis in das überseeische Amerika.«

»Sie sprechen doch wohl nur von einer frühern Zeit,« unterbrach der Vater.

»Ich spreche und erzähle allerdings – sagte der Freund – von einer frühern Zeit, wo durch Mauthen, Kriege, andere Umwälzungen dort draußen die Industrie dieser arbeitsamen Leute noch keinen Eintrag, keine Beschränkung erlitten hatte. Es begünstigte sie auch damals vorzüglich noch der Verkehr und der Handel zwischen Deutschland und Italien, der großentheils durch diese Gegend und dieses Weges ging. Unsere Leute waren dabei nicht bloß müßige Zuschauer, wie der Reichthum beider Länder vor ihren Augen vorbei zog, sondern sie verfolgten selbst die Straße bis zu ihrer Quelle hinauf und bis zu ihren Mündungen hinunter, und errichteten dort ihre eigenen Stapelplätze. Es ist aus amtlichen Urkunden bekannt, daß noch in den siebenziger Jahren die einzige Grafschaft Werdenfels sechzig Handelspatrone zählte, ihre Knechte (wie sie ihre Commis nannten) nicht mitgerechnet. Ueberhaupt [271] konnte man annehmen, daß je die fünfte Seele aus dem ›Landl‹ abwesend war. Denn Auswanderung konnte man diese Abwesenheit wohl nicht nennen, da die Entfernten fortdauernd in bürgerlichem und Familienband mit den Ihrigen blieben; wie denn auch wohl die meisten von Jahr zu Jahr auf einige Zeit die Heimath wieder besuchten, oder, nachdem sie ein stattliches Vermögen gesammelt, in ihrem spätern Alter sich in die heimathlichen Thäler auf immer zurück zogen. Noch vor einigen Jahren lebte in dem Dörschen Farchent einer aus jener frühern Zeit, der sein Hunderttausend wägen mochte.«

Karl, der mit großer Aufmerksamkeit zugehört, bemerkte, daß ihm so etwas unbegreiflich sey; und er wünschte, der Freund möchte Mehreres und Näheres von diesen Leuten und ihrer kaufmännischen Thätigkeit und Klugheit erzählen.

»Ein Beispiel – sagte der Freund – mag statt mehrerer dienen. Ein Ammergauer Bube, von ungefähr 14 bis 15 Jahren, verläßt, die wohlbepackte Krächse auf dem Rücken, seinen Vaterort. Sie ist beladen mit künstlichen Holzwaaren jeder Art, welche der Vater während des Winters fleißig und geschickt verfertigt hatte – Rosse und anderes Vieh, allerhand Hausrath, Pfeifen, [272] Trompeten, Rätschen, Hanswurste, Burzelmännlein – meist alles, oder doch das Gemeinste und Wohlfeilste dieses Krams trägt der junge Kaufmann mit sich – wobei er zudem noch mit jedem Weisen Griechenlands sagen kann, daß er all das Seine mit sich trage; denn dieser Kram ist ungefähr die Ausstattung, die sein armer Vater ihm auf den Weg, ins Leben mitzugeben vermag. Der Sohn empfängt dieß aber alles nur als Darlehen, mit dem er in der weiten Welt handeln und wuchern soll. Mit diesem Reichthum an geschnitztem Holz, nebst einigen Batzen im Baaren, die ihm die sorgsame Mutter noch insgeheim zugesteckt, begibt er sich auf die Wanderung. Er geht von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, und bietet seine Waare feil. Gelüstige Kinder gibt es überall, und gutmüthige Mütter auch; so geht er denn selten ohne Absatz weg, und ein und der andere Pfenning bleibt als Gewinnst hängen. Wo er Mittags oder Abends zuspricht in einem ansehnlichen Bauern- oder Bürgershause, da vergönnt man ihm gern einen Bissen, und ein Lager. Das Volk übt (ich rede von früherer Zeit) gern Gastfreundschaft, zumal gegen einen jungen Menschen von offenem Gesichte, freier Rede und von Mutterwitz, der ohnehin eine Mitgabe des Gebirgsvolkes ist. – So kommt denn unser [273] junger Wanderer nach einigen Wochen, ohne daß er etwas verzehrt, aber viel, vielleicht das Doppelte, ja das Dreifache des eigentlichen Werthes seiner Waaren, verdient hat, in der nächsten Niederlage und Commandite der Ammergauer Manufacturen, etwa in Augsburg oder Ulm an. Hier ist bereits der Patron durch ein Brieflein des besorgten Vaters in Kenntniß gesetzt von der Ankunft seines Sohnes, und dessen Gnade sattsam empfohlen durch die Nachschrift eines wohlhabenden, angesehenen Vetters. Der Junge wird aber schon wegen Landsmannschaft freundschaftlich aufgenommen; und nachdem man vollends Einsicht genommen von seinem Erwerb, und der dabei erprobten Redlichkeit und Geschicklichkeit, so läßt man sich, gegen baare Bezahlung – was der junge Kaufmann auch zu leisten vermag – gern herbei, seine Krächse mit neuen Waaren zu befrachten um den billigsten Preis. Dieser wandert nun weiter, nach Westen oder Osten oder Norden, je nachdem ihm da oder dorthin bessere Aussicht eröffnet worden, seine Waaren abzusetzen und neue Freunde und Gönner zu finden. – Während des Winters, wo die Wanderung gehemmt oder doch sehr beschwert ist, läßt er sich bei einem Patron nieder, und verdingt sich zur Ausbesserung der Waaren auf dem Lager, oder zu sonstigen Dienstleistungen, [274] wofür ihm, nebst Kost und Wohnung, auch ein mäßiger Lohn zu Theil wird. Mit dem Frühjahr tritt er nun wieder seine Wanderung an, und treibt seine Handelschaft immer mehr ins Weite, in die Ferne, und macht dabei, je seltner die Waaren, desto größern Gewinn. Nach ein Paar Jahren erlauben es ihm bereits seine Mittel, sich einen größern Waarenvorrath anzuschaffen, als seine Krächse zu fassen vermag. Er bezieht nun bereits die Märkte; er handelt en gros, das ist, zu Duzenden von Hanswursten und Burzelmännlein an Land- und Stadtkrämer, und gewinnt damit ungeheuer viel. Dabei ist und bleibt er der alte, genügsame und sparsame Bub' ausAmmergau, in Kleidung, in Kost, in allem. Er gewinnt viel und braucht wenig, und das ist der nächste, beste Weg zum Reichwerden. Reich ist er aber schon nach einigen Jahren; denn sein Waarenlager, das er in irgend einem Städtchen Oesterreichs oder des Elsaßes oder Sachsens und Brandenburgs aufgehäuft hat, beträgt an Werth mindestens ein Paar tausend Gulden, von denen er jedoch ungefähr die Hälfte noch schuldig ist. Der Credit des Kaufmanns ist bekanntlich so viel werth, wie baares Geld, und das erste Tausend ist schwerer zu erringen, als die nächsten zehn Tausend. Und so ist's denn zu erklären, [275] wie der zwanzigjährige Jüngling, mit einem nicht unansehnlichen Vermögen, in seine Heimath, das trauliche Ammergau, zurück kehrt, um eine Tochter irgend eines Mannes, der brav Batzen hat, zu ehelichen. Man kauft nun ein Haus, eine Heimath; man richtet sich ein; man knüpft Handlungsverbindungen an; – der alte Vater, der mit den übrigen Kindern fleißig fort arbeitet, ist der erste Kunde; es wird ihm sein Anlehen, Kapital und Zinsen, ehrlich und reichlich zurück bezahlt. Der Sohn geht wieder auf seinen Platz zurück, und erweitert sein Geschäft immer mehr; er legt sich bald Sachen von höherm Werthe und besserm Gehalte bei; kurz, er wird ein Kaufmann von ausgedehntem und einträglichem Geschäfte.«

»Diese Schilderung, die Sie da machen – sagte der Vater – paßt genau auf eine Classe von Menschen, deren Betriebsamkeit eben nicht als Muster aufgestellt werden kann, und welche, zumal in neuesten Zeiten, zu einer wahren Landplage geworden sind.«

»Ich verstehe Sie – sagte der Freund. – Aber der Unterschied zwischen jenen und unsern Leuten ist wesentlich, und ganz zum Vortheil der letztern. DerAmmergauer, der Gebirgsbewohner überhaupt, der sich in die Handelschaft begibt, er [276] hat sein Vaterland, und liebt es; er entfernt sich nur aus Drang, wegen Armuth von seiner Heimath, um mit Freiheit dahin zurück zu kehren, und in Selbstständigkeit da zu verbleiben. Das wandernde, handelnde Leben gilt ihm nur als Mittel, um seines Lebens, Thuns und Treibens letzten Zweck zu erreichen, ein ruhiges, friedliches, geachtetes Daseyn in seinen alten Tagen. So kehrte er denn, wie ich schon gesagt, gern in sein trautes Thal zurück; und, wenn Verhältnisse ihn daran verhindern, so lebte er doch in weiter Ferne ungeschieden von den Seinigen und von dem Vaterlande im Geiste und in dankbarer Erinnerung.«

Unter diesen Erzählungen des Freundes langten sie wieder in dem engern Thal an, welches Ettal umschließt. Die Abendsonne senkte sich bereits gegen die westlichen Berge; es schien, als wolle sie noch in überfließender Freude ihren Lichtstrom ausgießen auf diese heilige Einöde; die Kuppeln des schönen Domes erglänzten wie Gold; die Fenster blitzten; das ganze Gotteshaus stand in lichter, hehrer Verklärung. Die Gesellschaft verharrte eine Weile in stiller Andacht. Nun zog sich der blasse Schatten heran, und legte sich düster über das Heiligthum hin, und das Gold der Kuppeln verbleichte, und die diamantnen Blitze der Fenster erblindeten, und es schien, als [277] schwebe nur noch der Schemen des Domes vor, als wäre er von einer lichten, sonnigen Höhe plötzlich herabgesunken in eine nächtliche, öde, bodenlose Tiefe.

»Es war ein großer, des großen Kaisers würdiger Gedanke, die Stiftung dieses Klosters – sagte der Onkel. – Heimkehrend von dem gefährlichen Römerzuge, wo die deutschen Kaiser so oft bedroht waren von Gefahren aller Art, von offenen Aufständen und heimlichen Intriguen, von Dolchen und Giften und Meineiden – nun wieder nach langer Abwesenheit, den Boden des engern Vaterlandes betretend, und zum ersten Male wieder verweilend unter seinem biedern, treuen Volke: da gelobte er ein Kloster zu stiften für Mönche aus dem Orden des heiligen Benedikts, auf daß sein Dank gegen Gott aus dem Munde frommer Priester auf ewige Zeiten erschallen möchte. Zugleich aber auch, und in Verbindung mit der Zelle der Mönche, stiftete er Wohnung und Verpflegung für arme, gebrechliche und alte Ritter, und sorgte, daß es ihnen weder an der Gemächlichkeit des zurückgezogenen Lebens, noch auch an der Gelegenheit zu Fahrten zu Pferd, und zu dem gewohnten, edlen Waidwerk mangelte. So ehrte er, als ein frommer und tapferer Mann, die beiden ausgezeichneten Stände seines Volkes, Adel [278] und Geistlichkeit, deren Rechte und Würden er erkannte und schützte. Wie aber seine Sorgfalt sich auch dem dritten Stande zuwandte, oder vielmehr, wie er so recht erst diesen dritten Stand schuf und wahrte und mit Gnaden und Rechten beschenkte, davon zeugt ohnehin jedes Blatt seiner Regierungsgeschichte; und das Denkmal, das ihm einer seiner Ur-Enkel, der große Max, in München setzte, es ist ein Denkmal des ganzen deutschen Volkes, dessen Bürger er befreit und geadelt hat.

Die Männer, mit den Knaben, legten die Steig hinunter zu Fuß zurück. Plötzlich rief Fritz, dessen Augen überall waren: ›Schau, Vater, wie schön der Fels dort noch in der Sonne erglänzt, während die Berge überall umher schon im Schatten stehen.‹ ›Es ist dieß das Ettaler Mandl 1 – sagte der Freund.‹ – ›Warum nennt man's denn so?‹ fragte Fritz. Der Freund sagte: ›Ich erzähle, was mir einmal ein alter Gemsjäger erzählt hat, der die Geschichte von seinem Großvater gehört haben will: Es sey einmal ein Riese gewesen, ein gewaltiger Gemsjäger; der habe sich der höhern Reviere ganz bemächtigt, und der Gemse, die da oben geweidet. Und wenn er einen Jäger auf dem[279] Gebirge erblickt, so habe er ihn mit seinem weithin treffenden Geschosse erlegt. Und, um seine Heerde dort oben zu nähren und zu mehren, sey er immer des Nachts herunter gestiegen zu den Sennhütten, und habe das mühsam erarnte Heu geraubt, so daß Heerden und Menschen dahin gestorben vor Hunger. Endlich aber sey das Maß seiner Sünden voll geworden, nachdem er einen Raub an einer Wittwe mit sieben Kindlein begangen; und er sey plötzlich in einen Felsen verwandelt worden, dort hoch oben, wie auf einem Pranger, zum abschreckenden Beispiele aller derer, welche die Frucht des Fleißigen freventlich rauben und die Nahrung des Armen grausamlich verkümmern.‹

In der Niederung angekommen, bestieg man wieder den Wagen, dem der andere, welcher die Frauenzimmer führte, schon voraus geeilt war. Karl, von der schönen Beleuchtung der südlichen Gebirge angezogen, erbat sich, daß er seinen Sitz auf dem Bock nehmen dürfe. Fritz nahm den bequemen Platz zwischen dem Großvater und dem Vater ein, und wurde bald vom Schlafe überrascht. Die Männer unterhielten sich lebhaft während des Weges über Klöster, ihren Ursprung und Verfall, ihre Verdienste um Künste und Wissenschaften, um Landbau und Civilisation, und vorzüglich um das, [280] was von jeher vor allem Noth that, um Verbreitung und Erhaltung der Religion. Ueber Einzelnes und Einzelne im Widerstreit, waren sie doch im Ganzen und überhaupt Einer und derselben Meinung; und der Freund selbst, der für geistige Interessen weniger Sinn hatte, als für materielle, erinnerte zuletzt noch an Westenrieders, des bayerischen Justus Möser, unparteiisches Wort, welches er den scheidenden Mönchen in den Mund legt: ›Eine Wüste haben wir übernommen; ein Paradies euch hinterlassen.‹« –

Die Gesellschaft kam, nach einem angenehm verlebten Tage, wohlbehalten zu Hause an.

Fußnoten

1 »Mandl« im Dialekt, statt »Männlein.«

XII. Die Erzählung der Mutter: Marien-Kind.

Vor vielen Jahren lebte ein Ritter mit seiner Frau auf einer Burg am Rhein. Der Ritter hatte ein gar stattliches Ansehen, zumal wenn er auf hohem Rosse saß, den Falken in der Hand, um ihn auf die Tauben stoßen zu lassen. Aber er war eines leichten Sinnes und eines jähzornigen Gemüthes; die meiste Zeit brachte er auf der Jagd zu oder bei Banketten, und er ging nicht in die Kirche, und fürchtete weder Gott, noch schonte er der armen Menschen. Daher hatten die Eltern des Mägdleins einen Widerwillen gegen den Mann gefaßt, und der Tochter die Heirath mißrathen. Aber diese sah nur auf die Schönheit des Ritters und hörte nur auf seine Schmeichelworte; und eines Tags entfloh sie mit ihm aus der väterlichen Burg zu großem Leidwesen der Eltern. Ach! sie mußte dieß bald gar schwer büßen. Denn es verging kurze Zeit, daß der [282] Ritter sein wüstes Leben, welches er einige Wochen gelassen hatte, wieder von neuem anfing und bald noch ärger trieb. Da saß denn die junge Frau ganz allein zu Hause, wo sie von der Gnade und nach den Launen eines geizigen Burgvogtes leben mußte. Noch schlimmer aber war es, wenn der Ritter von einer Fahrt wieder heim kam; denn da brachte er immer mehrere Gesellen mit, die von gleich roher Gemüthsart waren, und sie zechten ganze Nächte durch und praßten von des Ritters Gut; und wenn die Rittersfrau, die eines stillen Gemüthes und der Ehren und Züchten gewohnt war, sich über den Lebenswandel beklagte, oder wenn sie sich von den lärmenden Banketten zurückzog, so schalt sie der Mann, und die übrigen Ritter verhöhnten sie, so daß sie alles Herzenleides genug hatte. O wie oft dachte sie da an das Sprüchlein: Des Vaters Segen baut der Kinder Häuser auf, aber der Mutter Fluch reißt sie wieder ein. Und sie vertrauerte ganze Tage und verweinte ganze Nächte, und wußte weder Hülfe noch Rath. Wenn nun ihres Herzens Noth am größten war, und ihr schier der Athem verging vor Schmerz, der ihre Brust beklemmte, so wandelte sie wohl ins Freie und in das nahe Eichenwäldchen, wo eine kleine Capelle stand, zu Ehren der seligsten Jungfrau erbaut. Hier betete sie denn oft inbrünstig [283] und unter vielen tausend Zähren, daß Gott, durch die Fürbitte Mariä, das Herz ihres Mannes bekehren möge, oder sie selbst recht bald aus ihrem Elende erlösen wolle. Ihr Mann aber ließ nicht ab von seinem wüsten Leben, sondern verwilderte noch mehr. Das fiel der Frau sehr schwer, zumal da sie der guten Hoffnung war, daß sie bald eines Kindleins genesen werde. »Ach! klagte und betete sie oft in der Capelle vor dem Bildniß der seligsten Jungfrau; ach, wenn mir nun auch die Gnade werden sollte, daß ich stürbe, wer wird alsdann für mein Kindlein sorgen! O seligste Jungfrau und Mutter Gottes, Maria! nimm du dich des armen Würmleins an, und vertritt Mutterstelle an ihm.« Es war an einem kalten November-Tage, als sie wieder einmal zum Kirchlein wanderte, um allda zu beten. Da, wie sie die Schwelle betrat, ergriffen sie schwere Aengsten und Nöthen. Sie rief aus dem Grunde des Herzens: »Hilf, Maria! hilf!« dann vergingen ihr die Sinnen, und sie sank in Ohnmacht. – Nachdem sie wieder zu sich kam, sah sie ein schönes Kind auf ihrem Schoße liegen, ein Mägdlein, und vor ihr stand eine erhabene Frau; ihr langes weites Gewand war weiß wie der Schnee; von ihrem Haupte wallte ein himmelblauer Schleier; ihr Antlitz leuchtete wie der sanfte Mond, und ihre Augen flimmerten [284] wie die lieblichen Sterne. Und die Frau sprach: »Ich bin Maria, die Himmelskönigin. Weil du mich angerufen hast in deinen Nöthen, so bin ich erschienen zu deiner Hülfe. Es soll, wie du's gewünscht, deines Elendes ein Ende seyn. An deinem Kinde aber will ich treulich Pathen- und Mutterstelle vertreten, so wahr sich Gott deiner erbarmt hat, in seiner Barmherzigkeit!« Indem sie noch sprach, da kam, wie durch Zufall, ein frommer Priester zur Capelle, und er taufte das Kind, und nannte es, wie die Pathe hieß, Maria. Dann reichte er auch der sterbenden Rittersfrau die heilige Wegzehrung, worauf diese ruhig im Herrn verschied.

Maria aber nahm das Kind mit sich von der Erde weg in den Mond, wo sie das Mägdlein in ihrer Burg nähren und pflegen ließ durch den Engel, der von Gott dem Kinde zugesellt ward von der Geburt an. Marien-Kind gedieh aber sichtbar unter der Pflege und Obsorge des Schutzengels; und es kamen oft die unschuldigen Kindlein vom Himmel herunter zu Marien-Kind, und brachten ihm schöne, glänzende Steine mit, und spielten mit ihm Stunden lang, und nannten es Schwesterchen, und liebkoseten das Mädchen. Auch Maria kam beinahe jeden Tag, um ihre Pathe heimzusuchen, und sie nahm das Kind auf ihren Schoß, und nährte es mit himmlischer [285] Speise und tränkte es mit himmlischem Trank. Und Marien-Kind wurde in wenigen Jahren so verständig und artig, wie kein so verständiges und artiges Kind hier auf Erden gefunden werden mag. Bald hatte es jedoch keine Freude mehr in dem bloßen Spiele mit den unschuldigen Kindern, und sie hatte nur darum noch Umgang mit ihnen, weil es ihre Pathe so wollte, und weil die goldgelockten Kleinen mit ihren klaren Aeuglein und freundlichen Gebärden gar so liebe Kinder waren. Desto lieber hörte sie aus dem Munde Maria's und von ihrem Schutzengel schöne Geschichten, und von dem lieben Vater im Himmel und von seinen Kindern auf Erden, den Menschen. »Ach, sagte Maria zu ihr, diese Menschen waren anfangs so glücklich und selig, wie du. Sie wohnten in einem überaus schönen Garten, und hatten alles Süße im Ueberflusse, und die Engel gingen mit ihnen um wie Brüder, und der himmlische Vater sah mit Wohlgefallen auf sie herab. Aber die Menschen erzeigten sich undankbar und ungehorsam gegen Gott; und sie wurden, zur Strafe, aus dem schönen Garten vertrieben und in eine Wüste hinaus gejagt, wo sie Mangel litten an allem, und zuletzt des Todes sterben mußten. Schrecklicher aber als Hunger und Durst, und der Tod selbst, war die Sünde, die, wie ein Wurm an [286] ihrem Herzen nagte, und das Bewußtseyn, daß sie die Gnade des himmlischen Vaters verloren hatten und nicht mehr würdig waren, seine Kinder zu heißen. Da erbarmte sich des himmlischen Vaters eingeborner Sohn, und er verließ den Himmel und kam herab zur Erden, um das Menschengeschlecht zu erlösen und mit Gott wieder zu versöhnen.« Und nun erzählte Maria, wie das Kindlein Jesus geboren ward in einem Stalle; wie es sich flüchten mußte vor der Grausamkeit Herodis, der die unschuldigen Kindlein tödten ließ; und wie der Knabe Jesus gehorsam war seinen Eltern, und gleichwie an Jahren, also auch an Weisheit zunahm. Weiter erzählte sie, wie späterhin Jesus, welcher genannt wird Christus, unter dem Volke, den Juden auftrat, und sie das Wort Gottes lehrte, und daß man Gott lieben solle aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüthe und aus allen Kräften, und den Nächsten wie sich selbst; – und wie der Sohn Gottes seine Freude hatte, mit den Menschenkindern umzugehen, und die Kranken heilte und die Todten erweckte und die Sünder bekehrte – und wie er endlich sich selbst als Opfer für ihre Sünden dahingab, und wie er litt und starb. – – Ach! wer könnte das alles so schön und rührend erzählen, wie es Maria that! Die Rede floß ihr wie Honig vom Munde, und in [287] ihrem Antlitz malte sich bald hohe Wonne, bald tiefe Wehmuth, je nachdem sie von den Freuden erzählte, welche die Mutter Gottes empfunden; oder von den Schmerzen, die sie bei den Leiden ihres Sohnes gehabt. »Darnach – schloß sie ihre Erzählung – ist Jesus Christus wieder auferstanden von den Todten, und ist aufgefahren zu den Himmeln, und sitzet nun zur Rechten Gottes des Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Todten.« – Also erzählte Maria, und Marien-Kind hörte dem allem mit sonderlicher Aufmerksamkeit und Andacht zu; sie kniete vor der Pathe, die Arme auf ihrem Schoße und mit gefalteten Händen, und sie wandte kein Aug' ab von ihrem Auge, und sie konnte sich recht wonniglich freuen bei den Freuden Mariä, und recht bitterlich weinen bei den Schmerzen Mariä. Und sie behielt alle Worte, die sie gehört, tief in ihrem Herzen.

Eines Tages sagte Marien-Kind zum Engel, der sie geleitete: »Erzähle mir doch Mehreres von der Mutter Gottes Maria, was du von ihr weißt, von der Zeit an, da sie zur Welt gekommen, bis zur Zeit, wo sie zum Himmel aufgenommen worden von ihrem lieben Sohne. Mich geliebt's sehr, alles von Unserer lieben Frau zu erfahren, denn ich trage ja ihren Namen, und soll ihrem Beispiele folgen mein [288] Leben lang.« Der Engel sagte: Das will ich gern. Und er fing an zu erzählen: »Ihre Eltern waren gar fromme und heilige Personen; ihre Mutter hieß Anna und ihr VaterJoachim; und das Töchterlein wurde ihnen geboren, als sie schon in hohem Alter standen; und aus Dankbarkeit gelobten sie, daß sie das Mägdlein ganz dem Dienste Gottes weihen wollten, als eine reine Jungfrau. Als nun Maria drei Jahre alt war, däuchte es ihren Eltern Zeit zu seyn, ihr Gelübde zu vollziehen und ihre Tochter dem Herrn darzubringen in seinem Tempel. Also machten sie sich auf mit ihr und zogen gen Jerusalem. Als sie zum Tempel kamen, der auf einem Berge lag, also, daß er nicht anders erstiegen werden konnte, als vermittelst fünfzehn Stufen, siehe, da stieg das kaum dreijährige Töchterchen die fünfzehn Stufen ganz allein hinan, ohne einiger Menschen Hülfe, legte eigenhändig ihre Gaben auf den Altar, und stand vor den Priestern mit Freudigkeit und Zuversicht. Darüber wunderte sich jedermänniglich, und mancher sprach zu seinem Nachbarn: Was meinest du wird aus diesem Mägdlein werden? Die Eltern, nachdem sie ihr Kind den Priestern übergeben, nahmen Abschied mit weinenden Augen, doch innerlich fröhlich und zogen heim. Die Priester geselleten die Kleine zu den andern Jungfrauen, [289] die im Tempel waren. Solche waren sämmtlich aus dem Geschlechte Davids entsprossen. Allein Maria war von allen die alleredelste, hochbegabet an Leib wie an der Seele. Wiewohl die jüngste an Jahren, war sie dennoch die weiseste von Sinnen. Den Psalter lernte sie bald auswendig; die Bücher, die man ihr vorlegte, begriff sie ohne Mühe. Auch in mancherlei weiblicher Arbeit, das ist in Weben, Wirken, Sticken und Stricken war sie bei weitem die geschickteste, also daß auch die übrigen Jungfrauen sie von Herzen liebten und ehrten, und ihre Meisterin und Herrin sie nannten. Die Priester übergaben ihr des Tempels Zier und Reinigkeit, und dieses Amtes pflegte sie mit großem Fleiße. Alle ihre Stunden waren eingetheilt zwischen Gebet, weiblicher Arbeit und der Tempelpflege, und niemand sah sie müßig gehen. Auch ward sie so oft entrücket, und genoß keine andere Speise, als welche ihr der Engel brachte, der sie lehrte, wie sie solle Gott dienen, ihn von ganzem Herzen lieb haben, und sich vor der Sünde hüten. Es war auch Unsre liebe Frau aus der Maßen sittig und züchtig und geschämig; wo sie irgend ging, da neigte sie das Haupt, und schlug die Augen nieder, und sah sich gar nicht um; so sie jemand anredete, so antwortete sie auf das allerdemüthigste. Kurz, sie war ein [290] rechtes Tugendbild, und ist ein klarer Spiegel aller Tugenden nächst Gott dem Herrn, in welchem sich alle Menschen spiegeln sollen, wie nah und fern sie von ihm seyen an Sinnesart und Gemüthe.«

Ein anderes Mal erzählte der Engel, was mit der heiligen Jungfrau Maria weiter geschehen: »Als Maria vierzehn Jahre alt war, wollte man ihr einen Mann geben, nach der Weise der Juden. Sie aber sprach: Ich habe Gott gelobet, eine Jungfrau zu bleiben immerdar, und ich will mein Gelübde bewahren bis an meinen Tod. Die Priester sprachen: Solche Sitte ist bis jetzt nicht erhöret unter unserm Volke. Eingedenk jedoch des Wortes, das geschrieben steht: Was du gelobet, das halte! riefen sie Gott mit Inbrunst an, daß er ihnen seinen heiligen Willen offenbaren möge. Da erscholl die Stimme Gottes in dem Tempel und sprach: Alle Männer vom Geschlechte Davids, welche keine Frauen haben, sollen in den Tempel kommen, und ein jeder soll ein Reislein opfern; wessen Reislein nun grünen und blühen wird, derselbige ist der rechte Mann, dem soll man die Jungfrau geben. Da versammelten sich viele Männer, und jeder hoffte, daß sein Reislein blühen, und ihm die Jungfrau zu Theil werden würde; allein sie warteten vergebens, und keine Ruthe blühete von allen. Als nun das Volk darüber [291] irre ward, sprach die Stimme: Joseph von Bethlehem, aus dem Geschlechte David, ist nicht hier; dieser allein ist der Jungfrau würdig, allein aus großer Demuth ist er nicht erschienen. Da sandten die Priester hin, und hießen ihn kommen. Joseph that, wie ihm befohlen ward, kam und brachte sein Reis, welches alsbald anfing zu grünen und zu blühen und wie eine Lilie anzusehen war. Da geboten die Priester dem frommen Mann, daß er Maria zu seinem ehelichen Gemahl nehmen sollte. Er sprach: Ich bin's nicht werth; dennoch will ich thun, was Gott und ihr mich heißet; und wie ich mich bisher rein erhalten, so will ich auch dieser heiligen Jungfrau nur als Bruder nahen oder als Vater. Also ward Maria ihm verlobet, und Joseph führte sie heim und bereitete die Hochzeit. Mittlerweile erschien Maria der Engel Gabriel, und verkündigte ihr, daß sie Gott ausersehen habe, die Mutter seines Sohnes zu seyn! – Was sich dann weiter mit Maria begeben (sagte der Engel zu Marien-Kind), wie sie Jesum geboren zu Bethlehem, wie sie mit dem Kindlein in Aegyptenland geflüchtet, wie sie ihren lieben Sohn in der Furcht des Herrn auferzogen, wie sie ihn einst drei Tage gemißt, und endlich wieder gefunden im Tempel, wie sie unter seinem Kreuze gestanden mit Herzenleid, und wieder [292] getröstet wurde durch seine Auferstehung: das alles und noch mehreres hat dir deine Pathe selbst erzählet, und du hast wohl ihre Worte treu bewahret in deinem Herzen.«

Der Engel erzählte weiter: »Als nun Jesus Christus zum Himmel aufgefahren war, so baute sich die Jungfrau Maria am Fuße des Berges Sion eine Hütte unter einem fruchtbaren Oelbaum und zwischen schattigen Palmen, und verließ diese Wohnung nimmer, außer wenn sie die heiligen Oerter besuchte, wo ihr göttlicher Sohn geboren ward, wo er gelebt, gelitten und gestorben, und das heilige Grab, worin er gelegen, und die heilige Stätte, von dannen er aufgefahren gen Himmel. Also in Gebet und frommer Betrachtung, und mit immer wachsender Sehnsucht nach ihrem geliebten Sohne, lebte sie bis in ihr siebenzigstes Jahr. Da erschien ihr eines Tages derselbe Engel, welcher ehedem zu ihr gesandt worden war, um ihr zu verkünden, daß sie auserlesen sey, die Mutter Gottes zu werden; und er begrüßte sie wieder mit den Worten: Ave Maria; und er verkündete ihr, daß die Zeit gekommen sey, wo ihr göttlicher Sohn sie heimholen wolle zur ewigen Freude und Herrlichkeit. Und Maria sprach: Der Wille des Herrn geschehe! Und der Engel reichte ihr zum Zeugniß einen himmlischen [293] Palmzweig, und er breitete ein kostbares Brautgewand vor ihr aus, damit sie würdiglich den Sohn empfangen könne, wenn er käme, sie heimzuholen. Und alsbald eilte der Engel, auf Gottes Geheiß nach aller Welt Enden, und führte die Apostel herbei, auf daß sie Zeugen wären von der Heimfahrt Mariä, und der letzten Ehren, die ihr Sohn ihr auf Erden erweisen wollte. Und als sie alle versammelt waren um die Mutter Gottes, und Gott lobten in Psalmen, siehe! da stieg Jesus Christus, der ewige König, darnieder im Gefolge der Engel, und er trat vor Maria hin und küßte sie, und nahm ihre Seele von hinnen, die sich ohne allen Schmerz vom Körper lösete, und in die Arme des Sohnes flog mit unaussprechlichem Entzücken. Ein süßer Duft und ein heller Glanz umfloß den heiligen Leichnam, und die Apostel und die Jungfrauen, welche Marien gedient, verharrten mehrere Stunden lang im Gebete um die Bahre der Hochgebenedeieten. Dann aber erhoben sie die Leiche, und trugen sie in Procession und unter Psalmengesang ins Thal Josaphat zum Grabe, in welchem noch keines Menschen Leichnam gewesen. Und wunderbar! die Juden und die Heiden, welche in der Nähe weilten, vernahmen zwar den Gesang, aber sie gewahrten keines Menschen. Also unbeachtet von der Welt wachten [294] die Heiligen abwechselungsweise bei dem Grabe der seligsten Jungfrau drei Tage lang. Der Herr aber, eingedenk, daß der Leib Mariens ihn getragen und genährt, wollte nicht, daß die Verwesung über ihn komme, und er fuhr nach drei Tagen wiederum hernieder, im Geleite der heiligen Engel, und gleichwie er selbst nach drei Tagen wieder von den Todten auferstanden, also erweckte er den Leib seiner Mutter wieder zum ewigen Leben. Und im Angesichte der Apostel und der heiligen Jungfrauen erstand Maria aus dem Grabe, und von Engeln getragen, erhob sie sich, ihrem göttlichen Sohne nach, zum Himmel, wo sie, als Königin des Himmels und aller Heiligen, zur Rechten des Sohnes den Thron einnahm, der ihr bereitet war von Anbeginn.« – Hiemit schloß der Engel die Geschichte vom Leben Maria's, und Marien-Kind faßte von der Zeit an noch mehr Verehrung gegen ihre heilige Namens-Patronin, und beschloß in ihrem Herzen, ihre Tugenden nachzuahmen, um auch ihrer Freuden und Ehren theilhaftig zu werden. Zuletzt fragte sie noch den Engel: Mit welchem Gebete Maria vornehmlich geehrt werden möge? Der Engel antwortete: Maria mag mit keinem andern Gebete mehr geehrt werden, als mit dem Gruße des Engels, der ihr die Botschaft brachte, daß sie den Heiland der Welt gebären [295] sollte. Und er lehrte ihr das Ave Maria welches sie nun von diesem Tage an fleißig und andächtig betete.

Solche und andere schöne und fromme Geschichten vernahm Marien-Kind aus dem Munde Maria's und des Schutzengels. Und das Mädchen war auch von Jahr zu Jahr größer und schöner und frömmer, und sie arbeitete und spann fleißig mit Maria Marien-Fädchen; und wenn auch diese abwesend war, so folgte sie in allem dem Engel, der sie mahnte und warnte, und für sie wachte und sorgte, wie ein liebender Bruder. So wurde Marien-Kind vierzehn Jahre alt. Da sagte eines Tages Maria zu ihr: »Ich werde ich nun verlassen auf lange Zeit. Und weil du nun schon größer bist, und gescheidter, so übergebe ich dir die Schlüssel zu den drei Sälen der Burg, und du magst alle Herrlichkeiten besehen, die darin enthalten sind; und wenn du fromm und folgsam bleibest, so sollen wohl auch einstens alle diese Schätze dein werden. Nur zur Zinne der Burg darfst du nicht hinaufsteigen, und mein Gemach betreten, wo mein Bad ist, und viel weniger darfst du des Bades gebrauchen. Das verbiete ich dir ernstlich und bei schwerer Strafe.« Marien-Kind versprach alles, und weinte gar herzlich, als die Pathe Abschied nahm. – Schon des andern Tages trieb [296] die Neugierde das Mägdlein an, die Säle zu besuchen, obwohl der Engel sagte, es wäre besser, die Schau noch aufzuschieben bis auf spätere Zeiten. Das Mägdlein aber dachte: Unrecht sey es einmal nicht; und es war das erste Mal, daß sie den Rath ihres Engels nicht achtete. Mit freudig pochendem Herzen schloß sie den ersten Saal auf. Ei! was war da für eine Pracht! Die schönsten Kleider von den kostbarsten Stoffen hingen umher, so daß wohl hundert Hochzeitpaare damit auf das allerschönste hätten geschmückt werden können. Marien-Kind konnte es sich nicht versagen, eines der köstlichsten Kleider anzuziehen, und sie betrachtete sich in ihrem neuen Anzuge eitel genug, und besah sich in den spiegelhellen Wänden, und sie bemerkte mit Wohlgefallen, daß sie ein schönes Mädchen sey. Der Engel aber, welcher ferne stand und das Auge abwandte, däuchte ihr in seinem einfachen Kleide doch noch schöner, und das verdroß sie. – Des andern Tages schloß sie den zweiten Saal auf, und da war die Herrlichkeit noch größer. Denn in großen Kasten von Krystall glänzten die schönsten Edelsteine, goldene Geschmeide und kostbare Kleinodien. Sie besah eines nach dem andern, und hängte sich manchen Schmuck um, und ging stolz einher. Der Engel hatte sie wieder begleitet, stand aber wiederum fern [297] von ihr, und wandte das Auge ab. Das kümmerte aber das Mädchen nicht mehr; wohl aber, wie sie sah, daß der Engel sich ein Krönlein von Perlen aufsetzen wollte, litt sie das nicht, sondern sagte: Das Krönlein gehöre ihr, denn die Pathe habe ihr alles das versprochen. Und sie nahm das Krönlein dem Engel; aber im Augenblicke zerbrach es, und die Perlen fielen alle zu Boden, und zerflossen wie Thränen. Darob erschrack zwar das Mädchen, aber sie ließ sich's nicht zur Warnung seyn. – Am dritten Tage öffnete sie auch den dritten Saal, und da war die Pracht noch am allergrößten. Denn sie stand mitten in einem überaus schönen Garten; den Boden schmückten ganze Beete von den farbigsten und duftigsten Blumen und an den Wänden breiteten fruchtbare Bäume ihre Zweige aus, in denen die seltsamsten Vögel ihre Stimmlein hören ließen, so daß man vor dem schönen Gesang und dem Wohlgeruch schier in eine süße Betäubung fiel. Da pflückte nun das Mädchen von diesem und jenem Baume köstliche Früchte, und aß, und was sie nicht essen konnte, das steckte sie zu sich, und theilte nicht mit dem Engel. Ja, als dieser, der wieder in der Ferne stand, selbst einen seltenen, gar schönen Apfel abpflückte, so begehrte ihn das Mädchen mit Ungestüm; wie sie ihn aber anbeißen wollte, kroch ein häßlicher Wurm heraus; [298] sie ließ ihn vor Schrecken fallen, und der Apfel zerfiel alsogleich in Staub und Asche.

Von der Zeit an besuchte Marien-Kind täglich die drei Säle; sie kleidete und zierte sich alle Tage, und naschte in Einem fort, und die Eitelkeit und der Stolz und die Genußsucht und alle bösen Gelüste nahmen immer mehr in ihrem Herzen die Oberhand; sie hatte keine Freude mehr an der Arbeit, sondern liebte nur den Putz und den Müßiggang; und sie vergaß Gottes, und dachte nicht mehr an ihre Pathe, und betete nicht mehr das Ave Maria, das ihr der Engel gelehrt hatte. – Endlich wurde sie auch all der Herrlichkeiten satt, die in den drei Sälen vorhanden waren. Und es entstand in ihr nun der böse Gedanke, gegen das ausdrückliche Verbot ihrer Frau Pathe, auch die Zinne der Burg zu besuchen. »Gewiß, dachte sie – ist dort das Allerköstlichste zu schauen und zu schmecken; und das Bad macht mich zum schönsten Mädchen, das nur zu sehen ist.« Je mehr sie daran dachte, desto mehr gelüstete sie darnach. Und zuletzt beschloß sie, ohne dem Schutzengel etwas zu sagen, das Bad zu besuchen; und damit sie es allein thun könne, und ohne Zeugen, so wählte sie dazu die Nacht. Als sie aus dem Kämmerlein ging, da däucht' es ihr, als hörte sie den Engel leise weinen. Doch sie achtete nicht darauf, sondern ging fort. Auf dem [299] Wege dahin wollte sie ein paar Mal wieder zurückkehren, denn sie sah wohl ein, daß sie ein großes Unrecht beginge; aber das Gelüste war gar zu groß, und sie stand zuletzt vor der Pforte, die zur Zinne führte. Ihr Herz pochte heftig; sie hörte noch den Engel von ferne weinen; ihn selbst sah sie nicht. Da steckte sie den Schlüssel an: die Pforte sprang auf, es befiel sie ein Zittern am ganzen Leibe. Alsbald faßte sie sich jedoch wieder. – »Geschehen ist geschehen« – dachte sie; und da sie nun einmal die Pforte erschlossen, so däuchte es ihr gleichviel, wenn sie sich droben auch umsähe. Sie stieg hinauf, und sah um sich, und sah in eine weite, leere Nacht und Wüste hinaus; die Sterne flimmerten zitternd, wie weinende Augen, und wie ein drohendes Zeichen leuchtete am fernen Himmelsrande eine große, dunkelrothe Kugel hinter einem graulichen Gewölke, durch welches einzelne Feuerstreife, wie Schlangen, zuckten. Es schauderte dem Mädchen bei diesem Anblicke. Schon wollte sie wieder umkehren; da sah sie plötzlich eine Gestalt vor sich stehen, ähnlich dem Engel; aber sein Kleid war blutroth, und sein Antlitz brannte schier von den Flammen, die aus seinen Augen schossen. Aber der Fremde sprach mit einnehmendem Tone und mit schmeichelnden Worten: »Bist du endlich da, lieb's Töchterchen? Ich habe lang geharret auf dich, um [300] dich heimzuführen. Nun bist du selbst gekommen aus freien Stücken, und hast den Muth gehabt, herauf zu steigen zur Zinne, wo frische Lebensluft athmet und eine freie Aussicht sich eröffnet, und wo man sich erhaben fühlt über alles. Da unten aber ist's auch gar so eng und schwül; und du lebtest recht kümmerlich unter der Zucht deiner Pathe und unter der lästigen Aufsicht des Engels. Erhebe nun dein Haupt, und schaue hinaus in's Freie, und vernimm die Wunderdinge, die ich dir zeigen und sagen werde.« Und der Fremde zeigte nach der Kugel hin. Und, wunderbar! sie war nicht mehr so blutroth anzusehen, wie eine furchtbare Erscheinung, sondern sie glänzte in einem milden, sanften Lichte, wie der Mond in einer schönen Nacht mild und sanft auf uns nieder schaut. Und je länger das Mägdlein hinschaute, desto schöner ward die Kugel, und jenes schwere Gewölke lösete sich allmählich in buntfarbige Wölklein auf, die sich in tausendfaltigen Gestalten über die Kugel hinlegten, so daß diese, wie eine zauberische Landschaft, wie ein Feenreich, erschien. »Das ist – sagte der Fremde zum Mägdlein, welches ganz in Erstaunen aufgelöset war – das ist die Erde, dein Geburtsland. Aus jenem glücklichen Lande hat dich deine Pathe entrückt, und in diesen kalten, matten, stillen Mond versetzt. Dort lebt dein Vater, [301] und sehnt sich nach dir Eines Sehnens; dort findest du tausend Gespielen deines Alters und deines Geschlechtes; dort wartet auf dich dein Bräutigam, der dich heimführen wird in das Kämmerlein der Liebe.« Es wollte dem Mägdlein schier das Herz brechen vor nie gekannter Sehnsucht; und sie sagte: »O nimm mich fort – dahin, wo mein Vater lebet, wo ich die Gespielinnen finde, wo der Bräutigam meiner harret.« Der Fremde sagte: »Das steht bei dir. Bade dich nur dort in jenem Bade, dann hast du die Macht, dich jeden Augenblick hinwegzuheben von diesem Orte, und hinunter zu schweben nach der Erde. Dort wirst du mich wieder sehen.« Bei diesen Worten verschwand der Fremde, und ein Feuerstrahl zuckte in den Abgrund hinab.

Jetzt erst bemerkte Marienkind das Bad, welches, mitten auf der Zinne, in einem Becken von Porphyr eingeschlossen war. Sie schaute lange hinein, zögernd und zweifelnd, was sie thun sollte; denn die Pathe, das wußte sie, hatte es ihr doch gar zu streng und ausdrücklich verboten, und sie fühlte wohl, daß der Ungehorsam zugleich der schändlichste Undank sey. Aber da bedachte sie wiederum, daß dieß, nach des wunderbaren Fremden Aussage, das einzige Mittel sey, um hinunter schweben zu können zur geliebten Erde, zum Vater und zu den [302] Gespielinnen, und zum Bräutigam ihres Herzens. Endlich fiel ihr ein: »Baden will ich eben nicht, weil sie mir's einmal verboten hat, aber den Finger will ich doch ein wenig eintauchen, das hat sie mir nicht verboten, und vielleicht hilft's doch.« Das that sie denn auch, sie tauchte einen Finger in das Wasser; eben ging die Sonne auf, und sieh! wie sie ihn wieder herauszog, war er, so weit sie ihn ins Wasser gesenkt, mit Gold überzogen; weßhalb auch dieser Finger der Goldfinger heißt bis auf den heutigen Tag. Welcher Schrecken! Sie wollte fliehen, aber ihre Füße waren schwer wie Blei, und sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Sie wollte das Gold wegwischen, sie rieb und rieb, aber vergebens. Das Zeichen ihrer Schuld blieb ihr, und sie sah sich nun verrathen. Sie schlich weinend zu ihrem Kämmerlein zurück, und sah mit Bangigkeit auf die Stunde hin, wo ihre Pathe zurückkommen sollte. – Sie kam. Hätte Maria auch nicht schon aus der Ferne gewußt, was mit ihrem Pflegekind vorgegangen: so hätte ein einziger Blick auf ihr erröthendes Angesicht die Sünde verrathen, deren sie sich schuldig gemacht. Ach, wenn sie doch jetzt noch in sich gegangen wäre, und hätte ihren Fehltritt reumüthig eingestanden, und die Pathe um Verzeihung gebeten: es wäre ihr vielleicht nicht so übel [303] ergangen. Aber des Mägdleins Herz war schon so sehr von bösen Neigungen eingenommen, daß sie keiner Reue mehr fähig war und nur daran dachte, wie sie die gethane Schuld verdecken und abläugnen könnte. Als daher Maria ihr die Schlüssel abforderte, und sie fragte: ob sie etwa auch die Pforte zur Zinne aufgeschlossen hätte, sagte das Mägdlein kurzweg: Nein, und erröthete über und über. Maria fragte wiederum: Sag'! bist du nicht zur Zinne hinaufgestiegen? Das Mägdlein legte die Hand auf ihre Brust, welche sehr klopfte, und sie sagte wiederum: Nein! gewiß nicht. Maria hatte bei dieser Gebärde den vergoldeten Finger bemerkt, und indem sie bedeutsam auf ihn hinblickte, fragte sie zum drittenmale: Hast du nicht deinen Finger in das Bad getaucht? Das Mägdlein sah sich verrathen; aber dennoch, indem sie den Finger einzog, log sie keck und sagte: So wahr ich Maria heiße, nein! Da zog Maria ihre Stirn in düstere Falten, und sie sagte mit ernster, strenger Stimme: »Wisse, daß ich Maria bin, die Himmelskönigin, und daß ich dich auserlesen hatte zu großen Ehren und Würden, wenn du der Versuchung widerstanden und dem Gebote Folge geleistet hättest. Nun aber, da du ungehorsam geworden, so kannst du vor meinem Angesichte nicht mehr bestehen. Du mußt wieder zur Erde [304] hinunter woher du gekommen, und das sterbliche Leben mit den Sterblichen theilen. Wenn du jedoch Buße thust, und dein Geschick mit Geduld trägst und in Gottesfurcht wandelst, und fleißig mich anrufst, so werde ich dich auch in deinem Elende nicht verlassen, sondern dir beistehen, als eine Zuflucht der Sünder und eine Trösterin der Betrübten.«

Inzwischen, während Marien-Kind so viele Jahre unter der Pflege ihrer Pathe gelebt, hatten sich in ihres Vaters Haus große Veränderungen begeben. Der Priester, welcher der sterbenden Rittersfrau die heilige Wegzehrung gegeben, rief sogleich mehrere Landleute herbei; diese aber fanden sie schon todt, und sie legten die Leiche in der Capelle nieder und wachten und beteten für die Verstorbene, so lange bis der Ritter zurückkehrte von seinen Gejagen und Jagden. Als dieser nun vernommen, daß seine Frau eines so elenden Todes gestorben und sein Kind selbst verschwunden sey, da ergriff große Angst seine Seele, und er fühlte Reue über sein sündiges Leben, das er geführt, und er faßte den Entschluß, das Unrecht, so viel an ihm lag, gut machen und der Verstorbenen die Ehre zu beweisen, welche er der Lebenden entzogen – vielleicht wird Gott sich seiner erbarmen, und er auch einst sein Kind wieder finden möchte, das er verloren! [305] Und er ließ die Todte in einen köstlichen Sarg legen, und in der Mariencapelle vor dem Hochaltar begraben, und über der Capelle ließ er eine große, schöne Kirche erbauen zu Ehren Unserer lieben Frauen, und er stiftete zwei Klöster, eines für Jungfrauen, welche Gott dienen sollten in Reinigkeit des Geistes und des Leibes; und eines für Priester, daß sie Tag für Tag Messe lesen sollten für die Seele der Verstorbenen; und zum Abte dieses Klosters ward jener Priester gesetzt, der das Kind getauft und die sterbende Mutter getröstet hatte. Der Ritter selbst aber, nachdem er dieß alles verrichtet, zog von Haus weg ins heilige Land, und kämpfte dort gegen die Ungläubigen, und betete und büßte an den heiligen Stätten, wo Jesus Christus für uns gelebt und gelitten hat. Und er hatte schon beschlossen, nie wieder in die Heimath zurück zu kehren, sondern im Elend zu verbleiben bis an sein letztes Ende, um die Sünden seiner Jugend abzubüßen. Da ward ihm aber eines Tages ein Gesicht von Gott, daß er heim kehren sollte, begnadigt, und daß er werde Kunde erhalten von seiner verlornen Tochter. Also zog er heim. Und sieh! am Tage und in der Stunde, wo er angelangt, war ein großer Zulauf des Volkes zur Kirche; denn in der Capelle, auf dem Platze, wo der Sarg der Rittersfrau eingesenkt war, sah [306] man eine schöne Jungfrau liegen, in Schlummer hingegossen, mit geschlossenen Augen, aber mit rothen Wangen und mit athmender Brust. Und jedermann erstaunte über der Erscheinung. Und zu gleicher Zeit traten der Abt des Klosters und der Ritter in den Tempel, das Wunder zu schauen. Da erkannten sie sogleich beide das verlorne Kind; denn das Mägdlein war der Mutter ganz und gar gleich an Gestalt und Antlitz, nur noch um vieles schöner und jugendlicher. Drauf trat der Abt zum Mägdlein hin, und legte ihr die Hand aufs Haupt und sagte: »Marien-Kind, wache auf!« Und das Mägdlein schlug alsogleich die Augen auf, und siehe! in dem Augenblicke stieg eine lichte, himmlische Gestalt auf, und verschwand. Und Marien-Kind öffnete ihren Mund und sprach: Ave Maria!

Die Freude des bekümmerten Vaters, daß er seine Tochter wieder gefunden, kann nicht beschrieben werden. Er nahm sie auf seine Burg und pflegte ihrer dort in allen Ehren und Freuden. Auch verbreitete sich der Ruf von der wunderbaren Erscheinung des Mägdleins im ganzen deutschen Reiche, und es kamen Ritter und Fürstensöhne herbei aus allen Gegenden; und wie sie die außerordentliche Schönheit der Jungfrau sahen, so entbrannten sie in Liebe gegen sie, und jeder begehrte sie zur Braut. Aber [307] Marien-Kind weigerte sich dessen, und erklärte, daß ihr nun und nimmermehr nach dem streben wolle, wonach die Menschenkinder Verlangen tragen auf Erden. Und als ihr keine Ruhe werden wollte vor den Zudringlichen, so entdeckte sie eines Tages dem frommen Abte den ganzen Hergang ihrer wunderbarlichen Geschichte, und eröffnete ihm zugleich ihren Entschluß, daß sie in klösterlicher Einsamkeit ihr Leben Gott widmen wolle, und der Abt lobte ihren Entschluß, und auch der Vater ehrte den frommen Willen seiner Tochter. Also ging Marien-Kind ins Kloster, welches ihr Vater gestiftet hatte, und dieser vermachte noch zu seinen Lebzeiten all sein übriges Gut den beiden Klöstern, und ward selbst ein Mönch, und diente Gott in seinen letzten Tagen in Demuth und Frömmigkeit, bis er nach einem Jahre selig verschied, gerade an dem Tage, wo er seine Tochter gefunden. Marien-Kind aber lebte in ihrer einsamen Zelle, arbeitend, lesend und betend, und sie gedachte mit Wehmuth und Dankbarkeit an die schönen Tage, die sie bei ihrer Pathe verlebt, und mit noch größerer Wehmuth und Reue an die Sünde, die sie begangen, und den Undank, den sie verschuldet. Und allmählich kehrte in ihre Seele wieder Friede zurück, und sie sah oft in stillen, ruhigen [308] Nächten zum Monde hinauf, mit einer liebenden, frommen Sehnsucht, wie wohl keine Erdentochter zu thun pflegt. Einsmals, wie sie hinaus schaute zum Fenster in den aufgehenden Mond, da däuchte es ihr, als wandle auf einem Mondstrahl daher derselbe unheimliche Fremde, der vor ihr auf der Zinne der Marienburg gestanden. Und er war's und sprach: »Bist du endlich da, mein Töchterchen? Wie lange schon habe ich dich gesucht, und nicht gefunden! Aber warum sperrest du dich auch in diese dumpfe Zelle ein, und verkümmerst dir dein junges Leben in der freud- und trostlosen Einsamkeit? Komm heraus in die Welt, in die Freiheit! Da blühen und duften und tönen dir Freuden aller Art; da findest du frohe Gespielinnen; da harret deiner, ach! schon längst der ersehnte Bräutigam, der dich einführen will in das Kämmerlein der Liebe! Die Tage verschwinden, die Zeit enteilt, an jeder Minute hängt ein Thautropfen der Lust und der Liebe; schlürfe sie, ehe sie vertrocknen.« Marien-Kind, als sie den Versucher gewahrte, erschrack sehr; denn sie mißtraute sich und ihrer eigenen Kraft, eingedenk der Sünde und des Abfalls, wozu sie ehedem verleitet worden. Aber auch eingedenk des Versprechens, das ihr Maria gethan, warf sie sich [309] sogleich auf die Knie, und fing an mit rechter Inbrunst das Salve Regina zu beten, das ihr der Abt gelehrt hatte. Und sie betete: »Sey gegrüßt, o Königin! du Mutter der Barmherzigkeit! du unser Leben, unsere Süßigkeit und unsere Hoffnung, sey gegrüßt! Zu dir rufen wir elende Kinder Eva's! Zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Thale der Zähren.« Bei diesen Worten erstickten die Thränen ihre Stimme, und mit ringenden Händen und mit starrem Blicke sah sie aufwärts, nach oben, von dannen sie Hülfe in ihren Nöthen erhoffte. Nun fühlte sie sich getroster und ruhiger in ihrem Gemüthe, und sie fuhr fort: »Eia denn! unsere Fürsprecherin! wende deine barmherzigen Augen zu uns, und nach diesem Elende zeige uns Jesum, die gebenedeite Frucht deines Leibes.« Und als sie diese Worte so recht aus der Tiefe ihres gläubigen Gemüthes gesprochen, da ward sie im Geiste entrückt, und sie sah Maria niederschweben zu ihr, das Jesuskindlein auf dem Arme, das gar holdselig sie anlächelte. Und Marien-Kind, voll des Entzückens über diese Erscheinung, rief aus und betete: »O du gütige, du fromme, du süße Jungfrau Maria!« – Von der Zeit an war Ruhe in ihrem Herzen, und der Versucher vermochte nichts mehr über sie. Und so oft sie nun Morgens und Abends das Ave Maria [310] der das Salve Regina betete mit Andacht, so erschien ihr Maria, und tröstete sie in diesem Thale der Zähren, und zeigte ihr das Jesuskindlein, das sie immer holdselig anlächelte. Endlich nach drei Jahren brachte ihr eines Tages Maria die fröhliche Botschaft, daß das Ende ihres Elendes herannahe. Und als die Stunde kam, erschien ihr sichtbar ihr Schutzengel, und geleitete ihre Seele im Himmel.

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XIII. Rückkehr.

Es waren indessen die bestimmten Ferien-Tage beinahe verflossen. Den Vater riefen Geschäfte nach Hause zurück, und auch die Kinder sollten dem Haus- und Schulleben nicht länger entzogen werden. Man beschloß daher, die Rückkehr so bald anzutreten, als die Witterung sich günstig zeigen würde. Die Großeltern wollten nämlich, mit den beiden andern Frauen, noch einen Ausflug nach Innsbruck machen, und durch das Achenthal wieder zurückkehren; indessen der Vater mit dem Onkel und den vier Kindern überWalchensee durch die Jachenau, eine Fußpartie zu machen gedachte. In Tegernsee wollten sie alle wieder zusammen treffen, und dann, nach einem Aufenthalt von ein paar Tagen, gemeinschaftlich ihre Rückkehr nach der Heimath antreten. – An einem Morgen, der eine Reihe von schönen Tagen zu versprechen schien, [312] fuhren sie alle zusammen nachMittenwald, wo sie sich sodann trennten. Die Caravane zu Fuß begab sich desselben Tags nicht weiter, als bis Walchensee. Sie ergötzten sich des Nachmittags mit einer Fahrt auf dem See, dessen ewig düstere Gestalt wundersam abstach mit dem heitern Himmel, der über ihnen erglänzte. Des andern Tags, der sich ebenfalls freundlich anließ, wanderten sie durch das liebliche Alpenthal, die Jachenau. In einer schmalen, aber üppig wuchernden Niederung, die beiderseits von waldbewachsenen Bergen beherrscht und befruchtet wird, liegen die Häuser und Höfe und Fluren meist abgesondert und eingefriedet in kleinen Entfernungen. Man glaubt sich in eine Gegend versetzt, wo die ursprünglich patriarchalische Art und Sitte noch vorherrschend sey, und auch die Menschen und ihre Wohnungen tragen an sich die Spuren jener altväterlichen Einfalt, Kräftigkeit und Tüchtigkeit. – Unsere Wanderer langten noch denselben Tag in Tölz an. Die Männer bemerkten mit großem Wohlgefallen, daß die Kinder so tapfer aushielten. Man kann und soll der Jugend schon viel zutrauen; nur muß freilich immer und überall das ermunternde und erkräftigende Beispiel des Alters voran treten. Der Onkel fragte den Fritz, als er ihn zuletzt doch mit etwas trägem, unsicherm Schritt einhergehen [313] sah, ob er müde sey. »Müd' bin ich just nicht, antwortete der Knabe; aber die Füße thun mir weh.« Es zeigte sich auch im Nachtquartier, daß ihm die Ruhe nöthiger sey, als die Speise. – Am folgenden Tage hatte man nur einen Spaziergang vor sich bis nach Tegernsee, wo denn auch, an demselben Tage, die andern von Innsbruck her eintrafen. Man verlebte noch in der reizenden Umgegend ein Paar angenehme Tage zusammen, und fuhr dann nach München zu rück.

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Notizen
Erstdruck: Stuttgart/Tübingen/München (Cotta u.a.) 1834.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Büchlein für die Jugend. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1596-E