Sie beklagt die verfallenen Augen Jesu Christi
1
Ihr keuschen Augen, ihr, mein allerliebstes Licht,
Das meinem Bräutigam und Heiland jetzo bricht!
Ihr Augen voller Huld,
Voll himmelischer Lust,
Was habt denn ihr verschuldt,
Daß ihr verbleichen mußt?
2
Ihr habt ja euren Strahl von Gott nie abgewendt,
Noch auf die Kreatur, wie ich, je angelendt.
Wie muß denn euer Glanz,
Der nie gesündigt hat,
Sich nun verbergen ganz,
Ohn alle Missetat?
3
Ich hatte meinen Trost auf euren Schein gesetzt,
Weil meine Seel ihr Licht verdunkelt und verletzt.
Wo soll ich jetzt nun hin,
Weil in so kurzer Zeit
Entweichet meinem Sinn
Der Glanz der Herrlichkeit?
4
Mein Augen werden blöd und alle Geister schwach,
Der Mund spricht schon nicht mehr als ein geseufztes Ach!
[108]Hat auch der Mond ein Licht,
Wenn seiner Sonnen Schein
Entweicht und ihm gebricht,
Wie soll denn mir nun sein?
5
O Jesu, all mein Licht, du ewger Freuden Strahl,
Komm wiederum hervor, benimm mir diese Qual!
Erleuchte meine Seel,
Daß sie verderbe nicht,
Wenn ihr in ihrer Höhl
Die Lebensflamme bricht.