[][][][][][][]
Deutſche Bibliothek.

Sammlung
auserleſener
Original-Romane.

IV.
Der „Sonnenwirth“.

Frankfurt a. M.:
Verlag von Meidinger Sohn \& Cie.
1855.
[]

Druck von Aug. Oſterrieth
in Frankfurt a. M.

[[I]]
Der
„Sonnenwirth“.

Schwäbiſche Volksgeſchichte
aus dem vorigen Jahrhundert.

Frankfurt a. M.:
Verlag von Meidinger Sohn \& Cie.
1855.
[[II]]

Druck von Aug. Oſterrieth
in Frankfurt a. M.

[[III]]

Die Quellen, welche den Gegenſtand der nachfolgenden
Erzählung behandeln, ſind:


Acta von dem inn und außer Lands bekannten Ertzbößwicht
Friderich Schwahn, einem Sohn des Sonnenwirth Schwahnen
allhier. (Amtliche Protokolle und Aufzeichnungen, oberamtliche
Erlaſſe, mit Beſchlag belegte Privatbriefe ꝛc., von 1750—57,
auf dem Rathhauſe des vormaligen herzoglich wirtembergiſchen
Amtsfleckens Ebersbach, Göppinger Stabs, aufbewahrt, von dem
jetzigen Schultheißenamte daſelbſt dem Erzähler zur Durchſicht
verſtattet. Sehr lückenhaft; die für die Erzählung bedeutendſten
Acten fehlen. Auch das noch vorhandene Gerichtsprotokoll aus
jenen Jahren bietet nicht die geringſte Ausbeute dar.)


Actum den 26. Junii 1750 in Praesentia der Ordinari
Censur
richter. (Verhandlung, enthalten in einem Kirchencon¬
vents-Protokollbuch der Pfarramtsregiſtratur ebendaſelbſt, welches
die Zeit vom Mai 1750 bis December 1775 umfaßt. Der vor¬
hergehende, für die Erzählung wichtigere Band iſt nicht mehr
vorhanden.)


(Acta, den Joh. Fr. Schwan von Ebersbach betreffend, ſind
in dem Inhaltsverzeichniß der Regiſtratur des jetzigen Oberamts¬
gerichts Göppingen angegeben, haben ſich aber in der Regiſtratur
ſelbſt nicht mehr gefunden.)
[—IV—] Inquiſitions-Protocollum, betreffend den ſogenannten Son¬
nenwirthle, 7. März – 20. Juni 1760. (Geführt von dem
Unterſuchungsrichter Oberamtmann Abel in Vaihingen an der
Enz, und aufbewahrt auf der Kanzlei des jetzigen dortigen
Oberamtsgerichts. Dabei befindet ſich noch eine eigenhändige,
mit Bleiſtift gefertigte Aufzeichnung des Inquiſiten ſelbſt, Ergän¬
zungen ſeiner Ausſagen enthaltend.)


Wöchentliche Anzeigen von Neuigkeiten, die das ganze Land
betreffen. 1750 – 57. Wöchentliche Nachrichten von allerhand
Sachen, deren Bekanntmachung dem gemeinen Weſen nützlich
und nöthig ſind. 1758 – 59. (Amtliche Zeitung für das Her¬
zogthum Wirtemberg, auf der Staatsbibliothek in Stuttgart auf¬
bewahrt, unter Anderem auch die Juſtizanzeigen u. dgl. enthal¬
tend. Der Jahrgang 1760, der für die Erzählung von Bedeu¬
tung wäre, fehlt.)


Friedrich Schiller's Verbrecher aus verlorener Ehre. (Ge¬
ſchrieben zu Dresden 1786 und zuerſt in der „Thalia“ erſchienen.
Die Eigenſchaft einer „wahren Geſchichte“, die der Dichter
dieſer von ihm wenig beachteten Nebenarbeit beilegte, kommt
ihr in ſo fern zu, als ihr Inhalt ſich möglicher Weiſe im Leben
ereignet haben könnte; in dem gewöhnlichen Sinne aber, den
man unter dieſer Bezeichnung verſteht, iſt ſie gerade nicht wahr,
ſondern von Anfang bis beinahe zu Ende Roman, d. h. Erfin¬
dung ohne geſchichtliche Grundlage. Zu bemerken iſt auch, daß
der durch Schiller's Novelle in der Leſewelt eingebürgerte Titel
„Sonnenwirth“ der Geſchichte wie dem ſchwäbiſchen Sprachge¬
brauche nicht entſpricht und vielmehr „Sonnenwirthle“, d. h.
der Sohn des Sonnenwirths, heißen ſollte. Wie aber ein großer
Dichter, zumal wenn ſein Ruhm die amtlichen Kreiſe erfaßt
hat, nicht nur große Wahrheiten, ſondern auch kleine Irrthümer
verbreiten kann, das erhellt aus der „Beſchreibung des Ober¬
[—V—] amts Göppingen, herausgegeben von dem Königlichen ſtatiſtiſch-
topographiſchen Bureau, Stuttgart und Tübingen 1844“, in
welcher bei der Ortsbeſchreibung von Ebersbach auf Treu' und
Glauben geſagt wird: „Auch iſt bemerkenswerth, daß es der
damalige Beſitzer der hieſigen Gaſtwirthſchaft zur Sonne, Chr.
Wolf, war, welchen Schiller in ſeinem Verbrecher aus verlorener
Ehre pſychologiſch dargeſtellt hat.“ Gewiß würde Schiller, wenn
er als Flüchtling geahnt hätte, daß dereinſt eine Staatsbehörde
einer Heimath aus ſeiner Novelle ſtatiſtiſche Angaben ſchöpfen
würde, dieſelbe nicht „eine wahre Geſchichte“ betitelt haben.)


Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erſcheinungen aus
dem menſchlichen Leben, von Jakob Friedrich Abel, Profeſſor
der Philoſophie an der hohen Carls-Schule. Zweiter Theil.
Geſchichte eines Räubers. Geſchichte einer Räuberin. Stutt¬
gart 1787. (Der Verfaſſer war der Sohn des vorhin genann¬
ten Oberamtmanns von Vaihingen und Schiller's Lehrer an der
Carls-Akademie. Seine Darſtellung iſt pſychologiſch-moraliſch,
ſein philoſophiſcher Standpunkt, der Zeit gemäß, ein Verſuch
einer Vermittlung zwiſchen Aufklärung und Orthodoxie. Ein
leiſes Ankämpfen gegen die ein Jahr zuvor veröffentlichte unge¬
ſchichtliche Behandlung des Stoffes durch ſeinen berühmten
Schüler und Freund iſt unverkennbar, beſonders da, wo der Ver¬
faſſer ſeinen Vater und ſeine auf den Fang des gefürchteten
Räubers ſtolze Geburtsſtadt Vaihingen, welche beide bei Schiller
nicht ungerupft weggekommen ſind, in das verdiente Licht der
Wahrheit ſtellt. Die Ordnung, die er den Begebenheiten an¬
weist, ſtimmt nicht immer genau mit den Acten, die hierin allein
maßgebend ſein können, überein; an einer Hauptſtelle iſt er,
durch Schiller verführt, halb von dem geſchichtlichen Pfade ab¬
gekommen; aber die perſönliche Bekanntſchaft mit dem Gegen¬
ſtande ſeiner pſychologiſchen Darſtellung und die humane Ge¬
[—VI—] ſinnung, die ihm bei derſelben die Feder gelenkt, machen ſein
Werk zu der einzigen Quelle, welche neben der äußerlichen
Richtigkeit der Thatſachen auch Beſtandtheile innerer Wahrheit
hat. — Den Hergang des Mordes im „Kirnbach“ erzählt er aus
dem Munde des Thäters ſelbſt, hat ſich aber dabei in der
Zeitfolge geirrt.)


Der Sonnenwirth. Hiſtoriſches Urbild des poetiſchen Seelen¬
gemäldes: der Verbrecher aus verlorener Ehre, von Schiller.
Aus den Acten von Heinrich Ehregott Linck. Vaihingen, 1850.
(Eine vollſtändige und treue Bearbeitung der oben aufgeführten
Vaihinger Acten und eines Theils der Volksſage, wie ſie ſich in
Vaihingen fortpflanzte, ohne Zuziehung der Ebersbacher Urkunden
und der Vorarbeit Abel's, daher zwar eine richtige Kritik der Schil¬
ler'ſchen Novelle, ſo fern dieſe ſich als thatſächlich geben will, aber
ſelbſt nur in bedingtem Sinne geſchichtlich, weil die Benutzung
ſich, neben einer vielfach getrübten Sage, bloß auf criminali¬
ſtiſches Material, und zwar aus dem letzten Lebensabſchnitt ihres
Helden, beſchränkt. Die oben erwähnte Aufzeichnung deſſelben
iſt im Anhang vollſtändig mitgetheilt.)


Zur Bezeichnung der Aufgabe, welche dieſer Erzählung vor¬
lag, mag es dienlich ſein, den Schluß des Vorworts, womit der
Verfaſſer eine Veröffentlichung der vier erſten Abſchnitte derſelben
im Stuttgarter Morgenblatt 1846 einleitete, hier zu wiederholen:


„Die (aufgezählten) Urkunden enthüllten meinem Auge in
und zwiſchen ihren Zeilen ein Lebensbild, grundverſchieden von
dem bisher gekannten, aber belebender Darſtellung gewiß nicht
minder werth. Indem ich eine ſolche verſuchte, mußte ich aller¬
[—VII—] dings die Erfindung zu Hilfe rufen, jedoch keine willkürliche,
ſondern diejenige Art von Erfindung, welche die vorhandenen
geſchichtlichen Züge, eine trockene zerſtreute Maſſe, zu verbinden
und zu erklären unternimmt. Meine Erzählung iſt keine bloß
thatſächliche; ſie iſt Dichtung, aber innerhalb gegebener geſchicht¬
licher Grenzen.


„Ich glaube, daß die Geſchichte, deren Wiſſenſchaft zu einem
Cultus zu werden beginnt, der Dichtkunſt denſelben Dienſt zu
leiſten berufen iſt, welchen einſt die Kirche den bildenden Künſten
leiſtete: durch Zwang und Beſchränkung zu innerer Freiheit und
geſteigerter Kraft zu führen. War uns doch auch hierin ſchon
ſo lange Shakſpeare ein Vorbild, er, der nie das Gerippe einer
Fabel erfand, aber immer das Fleiſch und Blut dazu.


„Mag ſie etwas Kleines oder Großes unternehmen, das
Conterfei eines einzelnen ungebärdigen Menſchenkindes oder ein
breites und hohes Gemälde des verſchlungenen Weltlaufes —
immer ſoll die Dichtung durch eine nicht allzu kurze, doch unzer¬
reißbare Kette an die Geſchichte gefeſſelt ſein. Die urkundlichen
Zeilen bilden dieſe Kette; zwiſchen ihnen iſt Freiheit, Erfin¬
dung, Offenbarung. Wenn aber das Schaffen ſo leicht wäre
wie das Erkennen, ſo feierten wir ſchon längſt die neue Zeit,
deren Schwelle wir wagend und zögernd, ſchreitend und ſtrau¬
chelnd betreten: die Einheit von Dichtung und Geſchichte, die
wahre hiſtoriſche Poeſie.“

[[VIII]]

1.

Nun, Meiſter Schwan, für diesmal iſt Er chriſtlich durchgekommen,
ſtraf' mich Gott! Ohne Willkomm und Abſchied! Herr Gott von
Dinkelsbühl, thut mir faſt leid, daß ich Ihm nicht ein Paar aus dem
ff auf ſein geſundes Leder aufmeſſen darf, aus purer Freundſchaft.
Und dazu bloß ein halb Jahr! Aber ich hoff', ſo ein heißgräthiger
Burſch' wie Er wird bald wieder das Heimweh nach unſerer luſtigen
Karthauſ' bekommen. Auf's Frühjahr ſpäteſtens, wenn die Bäum'
ausſchlagen, werden wir wieder die Ehre haben. Ich will derweil
ein paar tüchtige Haſelſtöcke ins Waſſer legen, damit ſie den gehörigen
Schwung und Zug kriegen zum Willkomm, wenn's heißen wird: „des
Ebersbacher Sonnenwirths ſein Gutedel iſt wieder da.“ Adjes, Mei¬
ſter Schwan, glückliche Reiſe und nichts für ungut.


Es war unter dem Thore des Ludwigsburger Zucht- und Arbeits¬
hauſes, wo einer der Aufſeher einem jungen Menſchen dieſes ſpöttiſche
Lebewohl ſagte. Dem unterſetzten ſtämmigen Burſchen konnte Niemand
im Ernſte den Meiſtertitel geben, denn er ſchien kaum zwanzig Jahre
alt zu ſein. Auch ſah er ſehr ſauer zu der Ehrenbezeugung, die nicht
gerade aus wohlwollendem Herzen kam; ſein breites rothwangiges Ge¬
ſicht ſpannte ſich zu einem trotzigen Ausdruck, den eine tiefe Schramme
auf der Stirne noch erhöhte. Er hielt die Augen wie aus Verachtung
zu Boden geheftet, aber dann und wann ſchoß er ſeitwärts einen
Blick hervor, der wie ein bloßes Meſſer funkelte. Der Aufſeher gab
ihm ſtatt des „Abſchieds“, den er ihm gerne zugedacht hätte, einen
derben Schlag auf die Schulter, und ging lachend hinweg. Der ent¬
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 1[2] laſſene Sträfling ballte die Fauſt und ſah ihm mit ingrimmigen
Blicken nach.


Eben wollte er mit einer Geberde, welche ein nichts weniger als
anſtändiges, aber um ſo aufrichtigeres Geſinnungsbekenntniß enthielt, dem
Zuchthauſe den Rücken kehren, als er, noch einmal umſchauend, einen
Gegenſtand gewahrte, der den Haß auf ſeinem derben lebhaften Ge¬
ſichte plötzlich in das entſchiedenſte Widerſpiel verwandelte. Es war
ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über
den Hof gegangen kam; er trug ſchwarze Kleidung, und die beiden
weißen Ueberſchlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf
der Bruſt ſpielten, bezeichneten ſeinen geiſtlichen Stand. Seine Er¬
ſcheinung machte einen ſichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die
ausgelaſſenſten Züchtlinge verſtummten, als er im Vorübergehen einen
Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufſeher wich ihm von Wei¬
tem aus. Jedem bot er ſeinen zuvorkommenden Gruß; er war immer
der Erſte, der das ſchwarze Käppchen über den ſpärlichen weißen
Haaren lüpfte, und doch ſollte es ihm offenbar dazu dienen, ſein greiſes
Haupt vor der Herbſtluft zu ſchützen; denn neben dem Käppchen trug
er den dreieckigen Hut unter dem Arm.


Der junge Menſch war unter dem Thore des Zuchthauſes ſtehen
geblieben. In ſeinen Mienen zuckte es wie Gewitter und Regen¬
ſchauer; aber zum Weinen ſchienen dieſe Züge zu derb. Unwillkürlich
bewegte er den Fuß, um dem alten Geiſtlichen entgegen zu laufen; er
beſann ſich jedoch wieder und blieb ſchüchtern ſtehen. Als jener näher
kam, zog er die Mütze und trat ihn mit einer linkiſchen Verbeugung
an. Man konnte denken, wenn er ein Hund geweſen wäre, ſo wäre
er mit freudigem Winſeln an ihm emporgeſprungen und hätte ihm
Geſicht und Hände geleckt. So aber war er ein Weſen, um das der
Zuchthausaufſeher ſchwerlich ſeinen Pudel hergegeben hätte, ein ent¬
laſſener Sträfling, ein unbändiger Menſch, voll Trotz und Rohheit;
und doch regte ſich in ſeinem Herzen etwas, das wir auch in den
winſelnden Thieren ahnen, und das die Bibel mit den Worten be¬
zeichnet: das Seufzen der Creatur.


Mit Verlaub — ſtammelte er — ich wollte nur dem Herrn Waiſen¬
pfarrer Adieu ſagen, weil der Herr Waiſenpfarrer immer ſo gut ge¬
gen mich geweſen iſt — ich hätt' ja nicht fortgehen können ohne das.


[3]

Der Waiſenpfarrer — denn dieſer war es, dem die Seelſorge im
Zuchthauſe oblag — neigte ſich mit freundlichem Lächeln zu ihm. Er
hatte aus den verlegenen, halbverſchluckten Worten des ſonſt ſehr an¬
ſtelligen Burſchen den rechten Kern herausgehört. So iſt Er denn
alſo jetzt frei, Friedrich? ſagte er zu ihm. Ich wünſch' Ihm von
Herzen Glück. Nun gebrauche Er aber auch ſeine Freiheit ſo, wie
man eine Gottesgabe gebrauchen muß.


Ich verſteh ſchon, Herr Waiſenpfarrer! erwiderte der Jüngling, der
mit der erſten Anrede ſeine Beengung weggeſprochen und ſich in ei¬
nen Ton beſcheidener Zutraulichkeit hineingefunden hatte. Ich ver¬
ſteh ſchon. Das iſt wie mit dem Wein. Der iſt auch eine Gottesgabe.
Wenn man aber ſolche Gottesgabe zu hart ſtrapazirt, ſo wirft ſie
den Menſchen hin, daß er gleichſam wie vierfüßig wird. Dagegen
wenn man ſie mit Maß genießt, ſo erfreut ſie das Herz und macht
helle Gedanken im Kopf. Grade ſo iſt's auch mit der Freiheit. Wenn
man von der über Durſt trinkt, ſo kann ſie Einen auch wohin werfen,
wo zum Beiſpiel keine Freiheit mehr iſt.


Bei dieſen Worten wies er mit dem Daumen über die Schulter
nach dem Gebäude, das er ſo eben verlaſſen hatte, und ſeine weißen
Zähne blinkten lachend zwiſchen den kirſchrothen Lippen hervor.


Ja, ſo iſt's, mein Freund, verſetzte der Geiſtliche. Man pflegt wohl
zu ſagen: ich nehme mir die Freiheit, das und das zu thun. Das
iſt nur ſo eine höfliche Redensart. Mancher aber nimmt ſich mehr
Freiheit, als er einem Andern gönnt, und thut einem Andern etwas,
was er ſich ſelbſt nicht angethan wiſſen will. Das aber iſt zu viel
Freiheit, und Er weiß wohl, was zu viel iſt, das iſt vom Uebel.
Eigentlich ſollten wir unſere Freiheit bloß dazu anwenden, um einan¬
der lauter Liebes und Gutes zu thun; denn wenn die Menſchen alle
einander dienen würden, dann wäre ja ein Jeglicher ſo wie ein Die¬
ner auch wieder ein Herr, und dann wäre die wahre Freiheit in
der Welt.


Ja, wenn Alle ſo wären, wie der Herr Waiſenpfarrer, dann wär's
keine Kunſt, ihnen zu dienen. Aber ſo iſt's nicht in der Welt. Da
iſt viel Herzenshärtigkeit und Schlechtigkeit, nicht bloß ſolche, die den
Nebenmenſchen übervortheilt, ſondern auch Bosheit, die ihm ohne allen
Grund die Milch ſauer macht, und wenn man auf ſo einen Gift¬
1*[4] michel trifft, ſo meint eben die Fauſt gleich, ſie müſſe ein Wörtlein
mit ihm reden.


Mein Sohn, ſagte der alte Geiſtliche, man hat den Verſtand
dazu, daß man der Fauſt nicht ihren Willen läßt. Und es kommt
nur darauf an, daß man einem Menſchen ſeine gute Seite abgewin¬
nen lernt. Eine gute Seite hat auch der Schlimmſte. Wenn man
aber einmal dieſe gefunden hat, ſo iſt's als hätte man den Schlüſſel
zu einer ſonſt verſchloſſenen Thüre, und wenn man hineingeht, ſo
trifft man oft auf Dinge, die man gar nicht hinter dieſer Thüre ge¬
ſucht hätte. Da iſt zum Exempe ein gewiſſer Friedrich Schwan.
Den hat man mir geſchildert als einen rohen verworfenen Burſchen,
deſſen Herz keiner guten Regung fähig ſei — Fauſt in Sack! die
Leute urtheilen eben nach der Außenſeite — und wie ich Ihn nun
ſelber kennen lernte, da fand ich in Ihm einen Menſchen, deſſen Herz
wie ein wild aufgeſchoſſenes Reis iſt, trotzig und aufrühriſch gegen
jedes rauhe Lüftchen, weich und geſchmeidig gegen jeden freundlichen
Sonnenſtrahl, einen Menſchen, der gegen harte Worte und Behand¬
lungen ſtörriſch bleibt, und den man mit Güte um den Finger wickeln
kann. Iſt's nicht ſo?


Ja, ſo iſt's, Herr Waiſenpfarrer, antwortete der junge Menſch ver¬
legen und gerührt.


Nun das iſt aber auch keine Kunſt, gegen Gute gut zu ſein. Wenn's
weiter nichts wäre als das, ſo würden wir ja durch die breite Pforte
in den Himmel eingehen, ſtatt durch die ſchmale.


Das iſt wahr, Herr Waiſenpfarrer, erwiderte der junge Menſch
bedenklich. Aber wenn alle Menſchen unterdienſthaft gegen einander
waren, wie Sie vorhin geſagt haben, ſo wäre es gerade daſſelbe Ding.


Allerdings. Aber da die Menſchen im Allgemeinen bis jetzt nicht
geneigt ſind, uns die Himmelspforte ſo breit und bequem zu machen,
ſo dürfen wir deßhalb der ſchmalen nicht untreu werden. Wir müſ¬
ſen gegen unſere Nebenmenſchen gerade ſo liebreich und dienſtfertig
ſein, wie ſie eigentlich gegen uns ſein ſollten, unangeſehen ob ſie es
ſind oder nicht. Vielleicht gewinnen wir ſie dadurch und bewegen ſie,
unſer Beiſpiel nachzuahmen.


Ja, ja, Herr Waiſenpfarrer, fiel der junge Menſch lebhaft ein,
das iſt gerade wie wenn ein ungebautes Stück Feld umgebrochen wer¬
[5] den ſoll. Da kommt es nur drauf an, daß einmal ein Anfang ge¬
macht wird, der für den Fortgang und für's Fertigwerden Bürgſchaft
gibt, und iſt alſo ein kleines umgepflügtes Flecklein faſt ſchon ſo
wichtig, wie das ganze künftige Neubruchland.


Er hat mich gar wohl gefaßt, verſetzte der alte Herr mit freund¬
lichem Lächeln. Wenn das Reich Gottes auf Erden erſcheinen und
ihm die Stätte bereitet werden ſoll, ſo thut es zuerſt Noth, daß ein
Kern von guten Menſchen gezogen wird, von welchen die Güte und
der Segen allmählich auf die Andern übergehen kann. Die müſſen
aber feſthalten wie ein Häuflein Streiter, von denen der Ausgang
einer Schlacht abhängt. Ja, mein Sohn, fuhr er fort und legte ihm
die abgemagerte Hand auf dieſelbe Schulter, welche vorhin der Aufſeher
ſo unſanft berührt hatte: da muß man den Pflug über das trotzige
Herz gehen laſſen, da muß man eine Beleidigung nicht mit Thätlichkeiten
erwidern, die in's Zuchthaus führen. Vielmehr wer zu jenen Kern¬
truppen geboren will, der muß gegen ſeinen Feind gar noch ein gu¬
tes Wort und ein freundlich Geſicht aufzuwenden haben, und was
noch weit mehr heißen will, es muß ihm ſogar von Herzen gehen.


Der Jüngling, der irgend einen Widerſacher im Geiſte vor ſich
ſtehen ſehen mochte, trat bei dieſer Zumuthung betreten einen Schritt
zurück. Die Große der Aufgabe war ihm augenſcheinlich ſchwer auf's
Herz gefallen. — Aber, ſagte er, da wird Mancher denken wie es im
Evangelium heißt: „das iſt eine harte Rede, wer kann ſie hören?“


Der Greis lächelte. Mein junger Freund iſt ſehr bibelfeſt, ver¬
ſetzte er: ich bemerke das heut nicht zum erſtenmal. Die beſten Kern¬
ſprüche, die ſchönſten Liederverſe hat er feſt im Kopfe behalten, aber
ob auch in einem feinen Herzen? Das iſt nun die Frage. Dieſe
ſchönen Stellen, welche die Jugend in den Schulen auswendig lernt,
und oft recht gedankenlos daherſagt, ſind Samenkörnern zu vergleichen.
Nun iſt es zwar um ein Samenkorn ein edles Ding, aber der auf¬
gewachſene Baum und ſeine Früchte ſind doch noch etwas ganz An¬
deres. O mein lieber Friedrich, ich fürchte, — bei dieſen Worten
hob er liebreich den Finger gegen ihn auf, — ich fürchte, dieſes
trotzige Gemüth muß noch durch Leiden gebeugt und recht umgebrochen
werden, wenn es ein Boden werden ſoll, darin der Same zu Früchten
aufgehen kann. Mein Sohn, habe Er immer Den vor Augen, von
[6] dem wir jene Sprüche überkommen haben, der nicht ſchalt, da er ge¬
ſchlagen ward, und nicht dräuete, da er litt. Ich will Ihm aber
nicht mit Einem Mal ein Werk auflegen, das für manche zartere
Seelen noch zu ſchwer iſt. Fange Er im Kleinen an, mein lieber
Sohn. Strebe Er ſanftmüthig zu werden. Denke Er immer zur
rechten Zeit daran, den aufquellenden Zorn zu bezähmen; denn der
Zorn hat einen böſen Urahn, den Mörder von Anbeginn, und wenn
man ihn herausläßt, ſo gleicht er der Kugel, von der das Sprichwort
ſagt: „wenn ſie aus dem Rohr iſt, ſo iſt ſie des Teufels.“ Vor
Allem aber will ich Ihm Eines an's Herz legen. Er iſt vermöglicher
Leute Kind, und in einem Wirthshauſe fallen manche Brocken ab.
Benütze Er dieſe Gelegenheit, um Gutes zu thun und nach Seinen
Kräften den traurigen Unterſchied, der in der Welt iſt, ein wenig
auszugleichen. Er kann, ohne Seinen Vater zu übervortheilen, — und
das darf er ja nicht thun! — manchem armen Schlucker etwas zu¬
fließen laſſen. Ich ſage das nicht, daß Er meinen ſoll, Er könne ſich
ein Verdienſt vor Gott damit erwerben. Aber der rechte Glaube wird
auch immer die rechten Werke gebären, und hinwiederum, wer die
rechten Werke thut, der ſetzt zugleich ſein Inneres in die rechte Ver¬
faſſung, wie ſie vor Gott ſein ſoll; denn Gutes thun macht ein ge¬
lindes Herz. Deßhalb, mein Sohn, beſchloß er mit einem unbeſchreib¬
lich heitern und ſcherzhaften Lächeln, will ich Ihm, da Er noch ſo
jung iſt, nicht zumuthen, daß Er gleich als Flügelmann unter jene
Kerntruppen tritt, von denen ich geſprochen habe. Suche Er nur
zuerſt als Marketender bei ihnen anzukommen, dann kann Er ſich
allmählich weiter aufdienen, bis —


Ein Geräuſch unterbrach ihn, das ihm den frommen Scherz auf's
Kläglichſte verbitterte. Unzweideutige Schläge hallten von dem untern
Stockwerk her, dem der Geiſtliche und ſein aufmerkſames Beichtkind
nahe ſtanden. Sie folgten mit unerbittlicher Regelmäßigkeit auf ein¬
ander, ſo daß der Greis die ſchwache Hand ausſtreckte, als ob dieſe
abwehrende Geberde der Grauſamkeit ein Ende machen könnte. Man
hörte kein Geſchrei, ſondern nur ein dumpfes Knurren, in welchem
jedoch der menſchliche Ton zu unterſcheiden war. Dieſes Knurren, das
ſich in Zwiſchenräumen wiederholte, machte den Vorgang weit unheim¬
licher als wenn die lauteſten Wehklagen ihn begleitet hätten.


[7]

Der junge Friedrich ballte die Fauſt gegen das Gebäude. Dieſe
Prügelhunde! rief er: es iſt ihnen nur wohl, wenn ſie zuſchlagen
können.


Der Waiſenpfarrer legte ihm wieder die Hand, die aber diesmal
zitterte, auf die Schulter. Mein Sohn, ſagte er, die Menſchen haben
es mit der Sünde verdient, daß der Schmerz und das Wehthum in
die Welt gekommen iſt. Wo aber Strafe iſt, heißt es, da iſt Zucht,
und wo Friede iſt, da iſt Gott.


Die Schläge hallten dazwiſchen fort. Der Greis brach mit einem
tiefen Seufzer die Unterredung ab. Nun lebe Er wohl, mein lieber
Friedrich, ſagte er. Gott ſei mit Ihm auf allen Seinen Wegen. Denke
Er an das, was ich Ihm geſagt habe, damit wir uns fröhlich und
eben darum niemals mehr an dieſem Orte wiederſehen.


Er drückte ihm die Hand und wankte, ſo eilig als er es ver¬
mochte, an ſeinem Stabe dahin. Zwar hatte auch er die Meinung
ſeiner Zeit ausgeſprochen, daß durch grauſame Züchtigungen der Wille
Gottes erfüllt und ſein Kommen vorbereitet werde, aber er ſchien doch
nicht gern dabei zu ſein und hatte es in dieſem Augenblick wohl tief
empfunden, daß das Reich Gottes, ſo wie er es verſtand, noch ſehr
ferne ſei.


Der junge Friedrich aber blieb unter den Fenſtern des Zuchthauſes
ſtehen und lauſchte dem Geräuſch der Pein, vor welchem ſein ehr¬
würdiger Beichtiger entflohen war. Er fühlte zwar nicht geringe Ent¬
rüſtung über die Gewalt, die hier einem Menſchen angethan wurde,
aber der Schmerz des Armen verurſachte ihm, der ſelbſt ſchon manchen
derben Puff ausgehalten hatte, kein beſonders zartes Mitgefühl.


Die Schläge hörten endlich auf. Bald hernach öffnete ſich die
Thüre, und von einer unſichtbaren Hand geſchleudert, kam ein Menſch
herausgeflogen. Der Stoß war nicht eben ſanft geweſen, doch hielt
der Hinausgeworfene ſich wie eine Katze auf den Füßen. Sein Ge¬
ſicht zeigte trotz der zigeuneriſchen Farbe die Spuren überſtandener
Anſtrengung, es war dunkelroth, und ein ſchielendes Auge gab dieſen
jugendlichen Zügen einen furchtbaren Ausdruck. Der junge Zigeuner,
der ſo eben einen rauhen Abſchied durchgemacht hatte, ſchüttelte ſich am
ganzen Leibe, er kehrte ſich gegen das Zuchthaus um, ſtreckte die Zunge
ſo lang er konnte heraus, und ging dann gemächlich ſeiner Wege.


[8]

Ich glaub', ſie haben dich mit ungebrannter Aſche gelaugt, und
das ſcharf, ſagte Friedrich, als er an ihm vorüber kam.


Ich glaub' auch, war die trockene Antwort des Zigeuners, der
einen Blick aus ſeinem ſcheelen Auge über den Frager hinlaufen ließ
und ſich von dannen machte.


Friedrich, der auf den Burſchen neugierig geworden war, folgte
ihm von weitem nach. Aber erſt als ſie Ludwigsburg mit ſeinen
vornehmen regelrechten Straßen hinter ſich hatten, wagte er die Ge¬
ſellſchaft des verachteten Zigeuners aufzuſuchen. Dieſer ſchien nach¬
läſſig vor ſich herzuſchlendern, und doch hatte er Mühe, gleichen
Schritt zu halten und ihn endlich einzuholen.


He, wohinaus, Landsmann? ſchrie er ihn an.


Dem Hohenſtaufen zu, antwortete der Zigeuner ſeitwärts herüber,
ohne ſich in ſeinem Gange aufhalten zu laſſen.


Dann haben wir ja ſchier gar Einen Weg, ſagte Friedrich an
ſeiner Seite gehend. Der meinige führt nach Ebersbach.


Da können wir wenigſtens eine Strecke weit beiſammen bleiben,
erwiderte der Zigeuner.


Die beiden jungen Burſche gingen nun mit wackern Schritten
durch die Ebene und dann jenſeits des Neckars über die Anhöhen
hin, welche zwiſchen dieſem und der Rems liegen, und machten nach
einer tüchtigen Wanderung bei einem einſamen Wirthshäuschen Halt,
wo Friedrich ſeinen Gefährten zu Gaſte lud. Eine Flaſche vom Saft
des Apfels und ein Rettig, der den Sommer überlebt hatte, war
Alles, was ihm ein paar geſparte Pfennige aufzutiſchen erlaubten. Die
vorgerückte Jahreszeit ließ ſich ſo mild an, daß die beiden Wanderer
im Freien auf der verwitterten Bank unter dem alten Apfelbaum ihr
Mahl verzehren konnten. Hungrig und durſtig griffen ſie zu und
ließen ſich's nach der Weiſe der Jugend ſchmecken.


Wie luſtige Sperlinge genoßen ſie der wieder erlangten Freiheit,
ſchalten auf das Gefängniß, von dem ſie herkamen, ſpotteten über die
Schwachheiten der Aufſeher und erzählten ſich loſe Streiche, womit
ſie deren Wachſamkeit umgangen hatten. Unter Plaudern und Lachen
war die Flaſche nur allzubald geleert. Sie kehlten alle Taſchen um,
bis ſie in der erdenklich kleinſten Münze, aber auch mit dem erdenk¬
[9] lich größten Jubel die nöthige Summe zuſammengebracht hatten, um
eine zweite zu beſtellen.


Wie biſt du denn eigentlich, fragte Friedrich unter dem Einſchenken,
in den Gaſthof zur Kardätſche gerathen? Mit bloßem Vagabundiren
haſt doch ſo jung nicht ſo hoch in die Wolle avanciren können.


Nein, erwiderte der Zigeuner unbefangen, ich hab' krumme Fin¬
ger gemacht.


Pfui, rief Friedrich, Stehlen, das iſt was Hundsgemeines, heißt
das, wenn —


Von z'wegen was ſeid Ihr hineingekommen? unterbrach ihn der
Zigeuner etwas raſch. Ungeachtet des Aergers über die biderbe Be¬
merkung vergaß er nicht, daß ſein Genoſſe der herrſchenden Nation
angehörte und daß er den größeren Theil der Zeche bezahlt hatte:
Grund genug, ihn in der majeſtätiſchen Mehrzahl anzureden. — Man
wird Euch auch nicht bloß um der Koſtbarkeit willen hinter Glas
und Rahmen aufgehoben haben.


Ich hab' Einen durchgeprügelt und das leder-windelweich. Der
Heuchler gab dann vor, er könne den Arm nicht mehr gebrauchen.
Es war aber erlogen, und ſo ſchickten ſie mich eben auf ein halb
Jahr an das Oertchen, von dem man nicht gern red't.


Der Zigeuner machte ein unbefriedigtes Geſicht. Und habt Ihr
Euch niemals an fremdem Eigenthum vergriffen, fragte er, daß Ihr
da ſo auf den höchſten Gaul ſitzen könnt? Seid Ihr niemals einem
Andern in die Aepfel gegangen, oder in die Kirſchen? Denn, ſetzte
er eifrig hinzu, Stehlen iſt Stehlen, das ſag' ich.


Ja, meinem Vater bin ich wohl über die Kirſchen gegangen und
auch über die Geldlade. Aber das iſt was Anderes, das geht ja
vom Eigenen und heißt eben vor der Zeit geerbt. Das iſt nicht
geſtohlen. Stehlen heißt, wenn man fremden Leuten das Ihrige
nimmt, und das iſt eine Schmählichkeit.


Wenn bei uns Einer, verſetzte der Zigeuner höhniſch, ſeine
Eltern beſtehlen würde, ſo könnte ſeines Bleibens nicht mehr ſein;
der ärgſte Spitzbube würde ihn verachten und anſpeien. Bei
uns iſt es Sitte, daß man die Eltern ehrt und liebt und daß
man ihnen eher zubringt, als daß man ſie beſtiehlt. Dafür
laſſen ſie es aber auch an ihren Kindern nicht fehlen, ſie geben ihnen
[10] den letzten Biſſen vom Munde weg, und deßhalb iſt es gar nicht
möglich, daß ſo etwas bei uns vorkommt. Iſt mir auch eine ganz
beſondere Lebensart, daß ich einen Fremden ſchonen ſoll, der mich
nichts angeht, und ſoll mich dagegen an meinem Vater vergreifen,
der mir der Nächſte iſt in der Welt. Das bring' mir ein Anderer
in den Kopf, mir iſt es zu hoch. Kommt mir gerade vor, wie wenn
im Krieg einer ſich von den Feinden abwenden wollte und auf ſeine
Freunde ſchießen.


Friedrich war betroffen. Sein geſunder Verſtand ſagte ihm, daß
etwas Wahres an dieſer Anſicht ſei, und doch konnte er ſie nicht zu¬
geben, da ſie den Sitten und Gewohnheiten, unter denen er aufge¬
wachſen, völlig widerſprach. Die beiden jungen Leute ſtritten eifrig
und konnten ſich lange nicht verſtändigen. Darin waren ſie zwar
Einer Anſicht, daß auf die „Herrſchaft“ keine ſtrengen Begriffe
von Eigenthum anzuwenden, daß die Thiere im Walde, die
Fiſche im Waſſer eigentlich Gemeingut ſeien; aber über den Reſt
des großen Kapitels vom Mein und Dein konnten ſie nicht einig
werden.


Stehlen und Stehlen iſt zweierlei, rief Friedrich zuletzt. Geh du
nach Ebersbach und frag' von Haus zu Haus, ob die Leut' nicht
einen Unterſchied machen, und die Leut' müſſen doch auch wiſſen was
ſie thun. Ueberall gilt's für eine größere Schande, wenn Einer einem
Fremden was ſtiehlt, als wenn er's den Eigenen nimmt; denn da
bleibt's ja in der Familie.


Dann ſollte man ihn auch in der Familie abmurreln, ſagte der
hartnäckige Zigeuner, und Jedem davon ein Stück zum Kochen geben,
wenn eure Geſetze ſo ſchlecht ſind, daß ſie bloß den einen Diebſtahl
ſtrafen, den andern aber nicht.


Oha, ſagte Friedrich, umgekehrt iſt auch gefahren. Selbiges iſt
anders. Die Geſetze, die ſind ſo überzwerch wie du, die behaupten
auch, Stehlen ſei Stehlen. Wie es herauskam, daß ich meinem Va¬
ter ein paar hundert Gulden genommen hatte, die er mir nicht gut¬
willig geben wollte, um in die Fremde zu gehen, da thaten ſie mich
geſchwind nach Ludwigsburg zum Wollkardätſchen, ob ich gleich erſt
ein unverſtändiger vierzehnjähriger Bube war. Damals hab' ich auch
gelernt, was der Willkomm und Abſchied für höfliche Complimente
[11] ſind, und hab' empfunden wie es patſcht, wenn Haſelholz und Hirſch¬
leder zuſammenkommen.


Der Zigeuner ſchlug ein luſtiges Gelächter auf. Aber nicht wahr,
rief er triumphirend, mit einem ſolchen Leibſchaden noch ſtundenlang
d'rauf los marſchiren und dann auf einem hölzernen Bänkchen her¬
umrutſchen, das könnt auch nicht ein Jeder.


Nun, nun, entgegnete Friedrich, man merkt's deſſen ungeachtet
wohl, wo du dermalen deine ſchwache Seite haſt. Du ſitz'ſt ja ſo
windſchief da, als wenn das Bänkchen unter dir brennte, die armen
Seelen in der Hölle, die auf dem Glufenhäfelein ſitzen, können nicht
öfter wechſeln und nicht poſſierlicher den Fuß an ſich ziehen. Aber
das muß man dir laſſen: mannlich haſt du dich gehalten. Wenn ich
nur noch ein paar übrige Kreuzer hätt', ſo ließ ich dir einen Kirſchen¬
geiſt zum Einreiben kommen.


Einreiben! wer wird auch die Gottesgabe ſo ſündlich verſchwenden!
Den Kirſchengeiſt muß man innerlich brauchen, von innen heraus
curirt er noch einmal ſo ſchnell.


Das glaub' ich dir! lachte Friedrich. Ueberhaupt hab' ich ſchon
oft gedacht, ihr Zigeuner müſſet ein gutes Fell haben, ſtich- und
kugelfeſt. Man könnt's, ſchätz' ich wohl, zum Ueberzug für ein
ſchwaches Gewiſſen brauchen.


Es dient oft auch dazu. Ja, eine gute Haut, die muß der Zi¬
geuner haben, und hartgeſotten muß er ſein, wenn er ſolch mühſeliges
Leben aushalten ſoll. Froſt und Hitze muß ihm gleichviel gelten.
Halbnackt muß er gehen können, wenn ihm der gefrorene Schnee un¬
ter den Füßen kracht, und die ſchwerſte Bürde muß ihm wie ein
Flaum ſein, wenn ihn die Sonne Mittags auf die Glieder ſticht.
Sein Lager iſt unter Gottes freiem Himmel, und in böſer Nacht hat
er's nicht immer ſo gut, daß er auch nur im Hüterhäuschen unter¬
kriechen kann. Oft hat er nur einen Baum zum Obdach, unter dem
ſchläft er zufrieden, wenn der Sturm durch die Aeſte fährt und die
Blätter ſchüttelt, daß ihm der kalte Regen auf die Stirne tropft.


Herr Gott, rief Friedrich mit rauher Rührung, ich kann doch
auch was vertragen, aber ſo ein Leben muß ja den beſten Mann
umbringen! Mußt du nicht ſelber ſagen, daß es vernünftiger wäre,
wenn ihr das Heidenleben aufgäbet, eine chriſtliche Ordnung anfinget
[12] und ließet euch mit andern ehrlichen Chriſtenmenſchen in Handel und
Wandel ein? Wer ein paar tüchtige Arme hat und einen Kopf, der
ſie regiert, der wird nicht ſo bald mit leerem Magen ins Bett gehen
und nicht im kalten Regen ſchlafen dürfen.


Wir ſind ſo gute Chriſten wie ihr, verſetzte der junge Zigeuner
eifrig: es mag ſich fragen ob wir nicht beſſer ſind? Aber wie wollten
wir denn mit euch leben? Ihr ſtoßt uns ja aus, und wollt keine
Gemeinſchaft mit uns haben. Wie kann der Zigeuner, dem ihr mit
Verachtung die Thüre weiſet, ſein ehrlich Brod bei euch verdienen?
Ich bin aus einer Familie, die ſchon ſeit zweihundert Jahren hier im
Würtembergiſchen, dann im Deutſchherriſchen drunten und in den
beiden Markgrafſchaften am Rheine drüben hin und wider zieht.
Nun fehlt es uns zwar dort nicht an Bekanntſchaften, aber ich möchte
doch auch in all dieſen Landen einen einzigen Menſchen ſehen, wenn
Unſereiner z. B. käme und ihm ſagte: Ich will ein ander Leben
führen und ein ordentliches Weſen anfangen, da bin ich, nimm mich
auf, theile dein Haus und dein Brod mit mir, ſo viel als dir meine
Dienſte werth ſein mögen — den Menſchen möcht' ich ſehen, der
darauf ſagen würde: Tritt ein und bleibe bei mir. Auch unter den
Unſrigen möcht' ich den Menſchen ſehen, dem es im Schlaf einfallen
könnte, eine ſolche Bitte zu thun. Denn jeder weiß die Antwort im
Voraus und weiß wie man beiderſeits von einander denkt. Das iſt
jetzt eben einmal von Anbeginn ſo, und wird auch nicht mehr anders
werden. Ich weiß wohl, ein mancher von den Meinigen iſt eines
böſen Todes geſtorben, und wie könnte es auch anders ſein? Das
Element, in dem Einer lebt, iſt natürlicher Weiſe auch zuletzt ſein Tod.
Das iſt allenthalben ſo. Wer ſein Leben lang im Hanfſamen ſitzt,
wie ein freier Spatz, der find't wohl auf die Länge auch ein hänfenes
Ende. Man thät's wohlfeiler nehmen, wenn man's haben könnte.
Ein paar fette Capitälchen verzinſen, eſſen und trinken was gut
ſchmeckt, mit vier Schweißfuchſen fahren oder auch nur mit zweien, —
meint Ihr, der Zigeuner habe zu einem ſolchen gemächlichen Leben
nicht ſo viel Genie, als irgend jemand in der Chriſtenheit?


Mir zweifelt's gar nicht! lachte Friedrich. — Aber jetzt kann ich
auch auf einmal begreifen, warum du es für ſo ſchandhaft hältſt,
wenn von euch einer ſeinem eigenen Vater etwas nehmen würde, und
[13] an dieſem Beiſpiel wird mir's klar, daß du eigentlich Ehr' im Leibe
haſt. Denn die Moral iſt bei euch im Grund die nämliche wie bei
uns, nur daß ſie natürlicherweiſe umgekehrt iſt.


Mit dieſen Worten, die zwar keine klare Anſchauung des Stand¬
punkts, aber doch eine gewiſſe Ahnung deſſelben verriethen, ſuchte er
die obſchwebende Streitfrage zu löſen. Aber es wird ſpät, fuhr er
fort, und wenn wir die Butell' auch auswinden, wie ein Leintuch in
der Wäſche, ſo preſſen wir doch keinen Tropfen mehr 'raus. Weißt
was? Komm du mit mir über Ebersbach, ich will dir einen heiden¬
mäßigen Kirſchengeiſt einſchenken zur inwendigen Cur. Ob du links
am Staufen vorbeigehſt oder rechts, das iſt gehopft wie geſprungen.


Ja, es iſt am End' Ein Ding, entſchied ſich der Zigeuner, und
auf eine Stunde ſoll mir's nicht ankommen.


Die beiden jungen Burſche erhoben ſich und ſtiegen die gelinden
Anhöhen hinab, an deren Fuße das Filsthal ſich gegen den Neckar
öffnet. Wohlgemuth ſchlenderten ſie die Straße an dem Flüßchen
aufwärts; der Zigeuner pfiff gellende Weiſen, Friedrich aber ſchwieg
ſtill, und unter ſeiner breiten Stirne ſchien ein mächtiger Gedanke zu
arbeiten. Die Worte des Waiſenpfarrers gingen ihm im Sinne herum;
das Vertrauen des ehrwürdigen alten Mannes hatte ihn ſtolz gemacht
und es war ihm zu Muthe, als ob er gar nichts nöthig hätte als
ein bischen guten Willen, um ein großes Werk zu Stande zu bringen.


Sie waren wohl eine gute Stunde ſo zugeſchritten, ohne ein Wort
mit einander zu reden, als Friedrich auf einmal ſtehen blieb und ſei¬
nen Gefährten kräftig am Arme faßte. Und ich ſag' dir, rief er, du
bleibſt bei mir! Ich will dir zeigen daß ich auch ein guter Chriſt bin.
Wenn ich dein armes verſtoßenes Volk in das Erbe einſetzen könnte,
das von Gott und Rechts wegen einem ſo gut gehört wie dem an¬
dern — mit Einem Schlag wollt' ich das thun. Nun kann ich aber
weiter nichts, als an einem Einzelnen, der mir unter die Hände
kommt, ein chriſtlich Werk verrichten. Du gehſt mit mir, da iſt keine
Widerrede, die Sonne von Ebersbach hat Raum für Viele! Da wird
ſich ſchon ein Plätzlein für dich finden im Haus, und ein Stuhl am
Tiſch und ein Brocken in der Schüſſel. Zu thun gibt's auch immer
etwas, du dienſt meinem Vater als Knecht, wie ich, und ſollſt es nicht
ſchlechter haben als ich. An Froſt und Schneepatſchen, an Laſt und
[14] Hitze wird's zwar nicht fehlen, je nachdem die Jahreszeit iſt; aber das
Schlafen im kalten Regen und alles Andere, was dazu gehört, das ſoll
und muß ein Ende haben. Komm her, ſchlag ein.


Der Andere hatte ihn anfangs mit ſeinem ſcheelen Auge verwun¬
dert angeſehen; die Zuverſichtlichkeit ſeiner Rede ſchien aber jedes Be¬
denken bei dem Zigeuner verwiſcht zu haben, und er that wie ihn ſein
Gefährte hieß. Friedrich erwiderte ſeinen Handſchlag mit einem noch
kräftigeren, und zufrieden wie wenn ſie einen guten Markthandel ab¬
geſchloſſen hätten, ſetzten ſie ihren Weg mit einander fort. Der Tag
begann ſich eben zu neigen, da breitete ſich das Ziel ihrer Reiſe, ein
beträchtlicher Flecken, in angenehmer Thalweite zwiſchen den Anhöhen
wohlgelegen, freundlich und heimatlich vor ihren Augen aus.

2.

Frau Sonnenwirthin, jetzt iſt's an mir! rief der Aeltere von zwei
Männern in hellblauen Wämſern, die am Wirthstiſche ſaßen. Bringt
nur gleich zwei Bouteillen auf Einen Streich. Und wenn das Ver¬
mögelein drauf gehen ſollte, der Friede muß ſtet und feſt ſein. Man
ſagt ja, ein Proceß ſei etwas Fettes. Nun gut, auf etwas Fettes
muß man brav trinken, damit's Einem den Magen nicht verdirbt.


Nach Befehl! erwiderte die Wirthin, eine große ſchlanke Frau, aus
deren gelblichem Geſichte ſtarke Knochen hervortraten; und die Fla¬
ſchen auftragend fuhr ſie fort: G'ſegn's Gott, ihr zwei Müller, Ober
und Unter! Das iſt das wahre Waſſer auf eure Mühlen und wird
ſie beſſer treiben als das Haderwaſſer, dem ihr einige Zeit her den
Zugang verſtattet habt. Ja ja, ich gratulir'! Ein fetter Vergleich iſt
beſſer als ein magerer Proceß. Das Sprichwort ſagt's zwar umge¬
kehrt, aber ich hab' doch recht. Auch iſt's geſcheider, das Geld in die
Sonne zu tragen als zum Advocaten, denn bei dem wär't ihr doch
nicht ſo 'ring durchgekommen wie mit ſo ein paar Bouteillen Zehner.


Die beiden Zunftgenoſſen, welche einen über ihre Gerechtſame ent¬
ſtandenen Streithandel noch bei Zeit geſchlichtet hatten, ließen ihrer
[15] guten Laune vollen Lauf. Sie ſaßen ſchon den halben Nachmittag
hinter ihrer Friedensflaſche und hatten, wie das in ſolchen Fällen zu
geſchehen pflegt, die ſtreitigen Punkte, ſo wie die Gründe, die zur Bei¬
legung riethen, mehr als ein Dutzendmal umſtändlich durchgeſprochen.
Lachend trank der Jüngere der Wirthin zu, der Aeltere aber bedachte
ſie mit einer derben Liebkoſung. — Was die Sonnenwirthin noch ein
feſter Kerl iſt! rief er: ich glaub', die wär' Manns genug, um noch
Zwillinge zu bringen.


Die Frau ſchoß einen ſcharfen Blick aus ihren grauen Augen auf
den Necker, ſtieß ihn mit einem halb ſcherzhaft halb ernſtlich gemeinten
Scheltwort zurück und verließ ihren Geſchäften nachgehend das Wirths¬
zimmer.


Ich glaub', Euch juckt's ſchon wieder nach einem Proceß, Vetter!
ſagte der jüngere Müller lachend. Paßt nur auf, die da verſteht
keinen Spaß. Ihr werdet wohl wiſſen, daß man ihr kein gebrannteres
Herzeleid anthun kann, als wenn man ſie an ihre Kinderloſigkeit
erinnert.


Weiß wohl, entgegnete der Andere, und eben darum hab' ich's ge¬
than, weil ich die neidige, gelbe, giftige Kröte noch gelber ſehen will,
als unſer Herrgott ſie geſchaffen hat. — Komm her, Peter, unter¬
brach er ſich, einem Eintretenden zurufend: Du haſt treulich mit zum
Frieden gerathen, nun iſt's billig, daß du auch mit uns trinkſt. Ihr
werdet nichts dagegen haben, Vetter, wenn ich meinem Knecht ein¬
ſchenke? Hol' dir ein Glas und geh' her.


Der Knecht that wie ihm geheißen wurde und ſetzte ſich dann
hinter einen andern Tiſch auf die Bank, die vor'm Ofen längs der
Wand hinlief. Von dort aus nahm er ſeinen wohlberechtigten An¬
theil am Geſpräch, ſtellte ſich auch in ſeinem Reden und Benehmen
völlig auf den Gleichheitsfuß mit ſeinem Herrn und deſſen Gefährten;
nur dadurch, daß er nicht unmittelbar bei ihnen Platz nahm, beobachtete
er den Standesunterſchied.


Der gelbe Neidteufel! fuhr der obere Müller fort. Man darf
nur den Sonnenwirth vergleichen, was er unter ſeinem erſten Weib
für ein Mann war, und was er unter dem dürren Rippenſtück für
einer geworden iſt. Damals war er aufgeweckt und kameradſchaftlich
und gar nicht b'häb in Handel und Wandel und Geldſachen. Jetzt
[16] iſt er ſchwach und hat keinen eigenen Willen mehr, dabei aber gegen
andere Leute ein wahres Unthier an Geiz und Hochmuth. Der alte
Kerl, er trägt den Kopf wie ein Edelmann, und meint wahrhaftig,
er ſei aus anderem Teig gebacken als wie Unſereiner.


Das macht eben der Reichthum, ſagte der Knecht von ſeiner
Bank herüber.


Ja, er iſt grauſig reich, verſetzte der untere Müller. Der Holz¬
ſchlegel rindert ihm auf der Bühne. Er wird wohl auf zwölftauſend
Gulden geſchätzt. Aber freilich, wie Ihr ſagt, Vetter, ſo verhält ſich's:
er iſt b'häb, und faßt das Tuch an fünf Zipfeln.


Ja und guckt in neun Häfen zumal, fiel der Andere ein.


Wo der gedroſchen hat, darf man kein Korn mehr ſuchen, er¬
gänzte der Knecht.


An all' dem iſt das vortheilhaftige böſe Weibsbild ſchuldig! Sie
will alleweil oben hinaus; ſie möcht's gern der Pfarrerin und der
Amtmännin gleich thun, ſchmeichelt ſich auch bei ihnen an und ver¬
läſtert andere Leute, denn das hören ſolche Frauen immer gern. O die
iſt falſch wie Galgenholz. Und wie iſt ſie nur mit ihren Stiefkindern
umgegangen! Die hat ſie von Anfang an zurückgeſetzt und verkürzt,
in der Meinung ſie werde eigene bekommen, und wie das nicht einge¬
troffen iſt, ſo hat ſie's ihnen aus Mißgunſt noch ärger gemacht. Die
älteſte Tochter hat den kahlköpfigen, trockenen Krämer da drüben ge¬
heirathet, um nur aus der Hölle los zu werden. Die andere, die Mag¬
dalene, thät', ſchätz ich wohl, mit einem Froſch vorlieb nehmen, wie
die Prinzeſſin im Märlein.


Ihr trefft den Nagel auf den Kopf, Vetter! rief der jüngere
Müller mit mürriſchem Lachen. Wie? oder wißt Ihr's nicht? Hat
ein blindes Schwein eine Eichel gefunden?


Nun was iſt's denn?


Habt Ihr den Laubfroſch noch nie aus und ein gehen ſehen?
Wißt Ihr denn nicht, was man für Werg an der Kunkel hat?


Der Andere ſchüttelte den Kopf.


Das Ausrufungszeichen in dem froſchgrünen Rock! fuhr der Jün¬
gere hitzig fort. Er ſieht accurat aus, wie Ihr ihn geſtempelt habt.
Seid Ihr denn heut' ganz auf den Kopf gefallen?


[17]

Was, der Bartkratzer, der ſogenannte Herr Chirurgus, der Heuchler,
der Kopfhänger, die magere Kuh Pharaonis? Jetzt wird mir's an¬
ders! jetzt hab' ich eine Stärkung vonnöthen! Kommt, Vetter, ich
will's an Euch hinlaſſen.


Damit erhob er ſein Glas. Ich will's ausſtehen, erwiderte der
Andere mit ſauerſüßer Miene, kam ihm mit dem ſeinigen entgegen und
ſie ſtießen mit einander an. Nachdem der Knecht durch einen Wink
beſchieden worden war, den Dreiklang voll zu machen, lehnte ſich der ältere
Müller in ſeinen Stuhl zurück und fuhr verwundert fort: Ei ſo guck
Einer! Der Alte ſchlägt ſeine Mädchen doch recht unter'm Preis los,
denn die paar Fuß breit Grundherrſchaft, die der grüne Darmfeger
beſitzt, werden juſtement einen Sack Erdbirnen ausgeben, und was er
Jahraus Jahrein mit ſeiner Raſierklinge aus den hieſigen Schweins¬
borſten und Igelsſtacheln herausſticht und ſchabt, das wird ihn auch
nicht gerade fett machen. Die Figur gibt's. Aber der Alte trifft
zwei Fliegen mit Einem Schlag. So ein Schlucker darf kein groß
Heirathgut fordern; da behält der Schwäh'rvater ſeine Kronenthaler
brav in der Truhe, und hat noch den Profit, daß ihm der fromme
Schwiegerſohn, ſo oft er den Morgen- und Abendſegen lieſt, um ein
baldſanftſeligs Ende betet. Seine erſte Tochter wird auch nicht viel
mitbekommen 'haben, wie er ſie hinausgegeben hat; denn ich ſeh' juſt
nicht, daß ihr Eh'krüppel ſonderlich ſtark ſpeculirt, weder in Käs noch
in Schwefelhölzlen. Econträr, im Gegentheil, ſeine Firma geht
einen ſehr bedächtlichen Gang und blüht wie die ſpäten Obſtſorten; ich
glaub', er hat's auf's langſam reich werden angelegt. Aber er iſt doch
ein Herr Handelsmann, in Stuttgart heißen ſie's gar Commercienrath,
und das iſt Numero Zwei. Den neuen Schwiegerſohn kauft er viel¬
leicht noch wohlfeiler, und das iſt noch ein koſtbarerer Artikel, das iſt
gar ein halber Doctor. Die Frau Chirurguſſin wird ſich natürlicher
Weiſe Flügel an die Haube machen laſſen müſſen, wenn ſie mit der
langen froſchgrünen Stange ranggemäß über die Straße rudern will. Schad'
iſt's übrigens um die Magdalene. Sie gäb' grad' ſo einen Arm voll für
einen wackern Junggeſellen, wie Ihr z. B., Vetter. Aber ſo weit gibt ſich
der Hochmuth nicht herunter, Unſereiner iſt ihm nicht gut genug; ſo eine
Raſierklinge ohne Handhab' ſchneid't ihm immer noch beſſer. O blinde
Welt! Die Hand vom Butten, Vetter, 's ſind Weinbeeren drin.


D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 2[18]

Meinthalben Roſinen und Cibeben! fuhr der Jüngere auf. Habt
Ihr mich auf der Muck'? Wollt Ihr mich in's Gered' bringen? Ihr
ſchwätzt mir da recht hinterfür heraus, wie ein Mann ohne Kopf!
Was will ich von dem Mädle? Habt Ihr wo läuten hören? Bin ich
dem Sonnenwirth auf irgend eine Art oder Weiſe zu Hof geritten?
Zwar es fragt ſich noch, wenn er einen wohlfeilen Schwiegerſohn fin¬
den will, ob ihm nicht einer ſo gut iſt wie der andere. Wenn's im
Abſtreich geht, darf auch der Bettelmann zur Auction kommen, und
das iſt doch juſt nicht meine Nummer, wie Ihr ſelber am beſten wißt.
Uebrigens kann mir die ganze Sippſchaft geſtohlen werden. Macht
mir nichts vor! In dem Punkt verſteh' ich keinen Spaß.


Na wollen den Geiſt ruhen laſſen, verſetzte der Aeltere. Aber
ſo viel iſt gewiß: wenn die erſte Frau, die rechte Mutter, noch am
Leben wär', ſo fiel' die Ausſteuer ein wenig größer aus und der Hoch¬
muth ein wenig kleiner.


Ja und mancher böſe Auftritt wär' unterblieben und mancher
Lärm und Spektakel bei Tag und auch bei Nacht, der die Sonne
mehr in Finſterniß als in Glanz brachte bei der Gemeinde. Und die
Hauptſonnenfinſterniß wär' gewiß auch nicht ſo ſchwarz ausgefallen
unter dem linden Regiment der rechten Mutter.


Was meint Ihr damit? Ja ſo, jetzt geht mir auf einmal ein
Licht auf. Ihr ſprecht vom Gutedel, vom jungen Sonnenwirthle.
Mag leicht ſein, daß der mit Verſtand und Güte gradgebogen worden
wäre, der knorrige Hagbuchenſtock. Zwar iſt es ſchwer zu ſagen, ob
das Mutterherz den rechten Weg gefunden hätte nachmals, wie es
nöthig wurde; denn die ſelige Sonnenwirthin war eben die gute Stunde
ſelber, und den Stab Wehe hat ſie nimmermehr zu führen verſtanden.
Der Sonnenwirth ſah dem Früchtlein auch in allweg zu viel durch
die Finger, ſo lang ſie lebte und ſo lang der Erbprinz die Nüſſe
noch mit den Milchzähnen knackte. Er hielt ihn zwar fleißig zur
Schule an, und ſah auch ſonſt zum Rechten; aber ich weiß nicht, es
hat eben doch an etwas gefehlt.


Ja, lachte der jüngere Müller, wohlgezogen, aber übel gewöhnt,
das war er von Anfang an.


Iſt denn ein Sohn da? fragte der Müllersknecht von ſeiner Bank
herüber?


[19]

Sein Dienſtherr ſah ihn verwundert an. Ja ſo, ſagte er nach
einer Weile, du haſt dich ſchon ſo bei mir inſinuirt, daß ich ſchier
gar gemeint hätte, du ſeieſt ſeit Jahr und Tag in meinem Haus, und
biſt doch erſt eine Woche da. Freilich auf die Art haſt du den jungen
Sonnenwirthle noch nicht zu Geſicht kriegen können. Wundert mich
übrigens, daß du in deinem Deizisau nichts von ihm gehört haſt; denn
er iſt ein Gewaltiger vor dem Herrn und wenn man ihm nicht den
Krattel bei Zeiten vertreibt, ſo kann er, ſchätz' ich wohl, im ganzen
Land bekannt werden.


Wo iſt er denn? fragte der Knecht.


Er iſt an einem Oertlein, wo du nicht gern hinkämſt, war die
Antwort, und die beiden Müller brachen in ein Gelächter aus. Jetzt
rath' einmal.


Die Thüre ging abermals auf und ein Menſch in hohen Waſſer¬
ſtiefeln trat herein. Er trug einen Kübel, den er vorſichtig auf ei¬
nen Stuhl ſetzte. Iſt die Frau nicht da? fragte er.


So, du biſt's, Fiſcherhanne? rief der obere Müller. Was haſt
denn da? Du gehſt ja mit dem Kübel ſo ſachte um, wie wenn du
Perlen in der Fils gefunden hätteſt.


Guten Abend, ihr Mannen, ſagte der Fiſcher. Thut's ſo? iſt's
ſchon Feierabend? Nein, die Perlen gerathen nicht hier zu Land, außer
in der Glasfabrik. Forellen ſind's, friſch aus dem Bach, ich hab' ſie
nur geſchwind im Kübel hergetragen.


Was meint Ihr, Vetter? Wie wär's, wenn wir ſo ein paar Silber¬
fiſchlein in die Küche ſchicken thäten? Der Wein ſchmeckt noch ſo gut
dazu. Wie, Fiſcherhanne, gib her, laß einmal ſehen, was haſt für
Waar' ?


Ich kann keine davon hergeben, ſagte der Fiſcher. Die Alte thät'
mich mit dem Beſen zum Haus hinaus jagen. Sie hat morgen ein
Pfarrerskränzlein und da braucht ſie die Fuſch alle.


So, ſo, die hochwürdigen Herren begnügen ſich nicht mit dem
geiſtlichen Fiſchzug und wollen daneben auch leibliche Gräten beißen?


Ihr lebet ja auch nicht vom Waſſer allein, obgleich Ihr Müller
ſeid, erwiderte der Fiſcher, indem er trotz ſeiner abſchlägigen Antwort
den Kübel herüberholte und mit ſeinen zappelnden Inſaſſen auf den
Tiſch ſetzte.


2 *[20]

Pflanz' dich nur her, ſagte der Andere. Du gehörſt ja in Ein
Element mit uns. Ein Glas Wein für den Fiſch! Willſt nicht?
Und meinethalb noch einen Freitrunk drüber, daß der Weinkauf
richtig iſt.


So macht nur geſchwind, daß die Alte nicht dazu kommt, erwi¬
derte der Fiſcher. Aber mehr als einen auf den Mann kann ich
nicht hergeben und hier könnet ihr ſie auch nicht eſſen, denn die Sonnen¬
wirthin darf beileib nichts davon wiſſen.


Freilich, 's iſt ein halber Kirchenraub! rief der ältere Müller
lachend, fuhr in den Kübel, griff mit ſicherer Hand eine große ſchöne
Forelle heraus, zu welcher der Fiſcher gewaltig ſauer ſah, ſchlug ſie
mit dem Kopf gegen die Tiſchecke, und ſteckte ſie eilig in die Taſche.
Der Jüngere war eben ſo ſchnell ſeinem Beiſpiel gefolgt.


So, Fiſcherhanne, ſagte der Aeltere, nachdem ſie den Handel be¬
endigt hatten, wir wollen das Element leben laſſen, das unſere gemein¬
ſchaftliche Nahrung iſt. Nahrung wohlverſtanden! denn für den Hunger
iſt's zwar gut, aber nicht für den Durſt. Der Eulenſpiegel hat's
allezeit den ſtarken Trank geheißen; es treibe Mühlräder, ſagte er,
und deßhalb ſei es ihm zu ſtark für ſeine Natur.


Er klingelte am Glaſe, um noch eine Flaſche zu beſtellen. Aber
jetzt iſt's recht, rief er, als die Thüre aufging: jetzt kommt auch ein¬
mal die Oberkellnerin, die Magdalene. Komm her, du Hübſche und
du Feine, da gibt's ſchmachtende Herzen zu laben.


Das Mädchen, das auf den Ruf der durſtigen Sturmglocke er¬
ſchienen war, konnte man nicht anſehen ohne ihr freundlich geſinnt zu
werden. Sie trug auf einem wohlgewachſenen Körper ein rundes,
unſchuldiges, gutmüthiges Geſichtchen, ein weiblich mildes Abbild von
den derben Zügen ihres Bruders, und zugleich eine Bürgſchaft, daß
auch hinter dieſer rauhen Schale ein guter Kern verborgen ſein
könnte.


Hab' ich's nicht geſagt? rief der ältere Müller: und es verlohnt
ſich der Müh', es zweimal zu ſagen, wiewohl wir nicht in der Mühle
ſind! Das Mädle gäb' einen ſtaatsmäßigen Arm voll, nicht zu viel
und nicht zu wenig, für einen braven Junggeſellen.


Er blickte dabei mit einer Spaßvogelsmiene auf den Andern. Wenn
Ihr ſie zu Eurer Käther hin heirathen wollt, ſo müßt Ihr eben ein
[21] Türk' werden, erwiderte dieſer trocken. Aber jetzt iſt's wieder an
mir! Eine Butell' für mich! rief er barſch, auf die Flaſche deu¬
tend, dem Mädchen zu und konnte es doch nicht laſſen, ihr nachzu¬
blicken, bis ſie in der Thüre verſchwand. Sie war feuerroth geworden
und hatte die Flaſche mit niedergeſchlagenen Augen vom Tiſche ge¬
nommen.


Und wie ſie ſo leibhaftig geht und ſteht! rief der Erſte, der nicht
müde werden konnte. O du Milch und Blut!


Magdalene erſchien nicht wieder. Statt ihrer kam die Hausfrau,
ſtellte die gefüllte Flaſche auf den Tiſch und nahm die Forellen, die
der Fiſcher indeſſen auf den Stuhl zurückgebracht hatte, mit hinaus.


Da trink', Fiſcher! rief der jüngere Müller einſchenkend. Der
treibt die Seelenmühle, vielleicht treibt er dir auch ein wenig Blut in
die farbloſen Backen.


Ja, das iſt wahr, du ſiehſt aus, wie wenn du's mit einer Waſſer¬
jungfer hatteſt, ſagte der Aeltere.


Und ſo alt biſt du geworden, Kerl! fügte der Jüngere hinzu.
Wenn man ſich tagtäglich im Waſſer hetzen und verkälten muß, und
hat magere Biſſen dabei, entgegnete der Fiſcher unmuthig, ſo iſt's kein
Wunder, wenn der Firniß abgeht.


Wie alt biſt denn, Fiſcherhanne? Du ſiehſt aus, wie wenn du
ſchon das Schwabenalter erreicht hätteſt, und biſt doch glaub' ich mit
dem Sonnenwirthle aus der Schul' gekommen.


Ja, den hat man aber auch ſorgfältiger aufgehoben als mich, da
iſt's kein Wunder, verſetzte der Fiſcher mit hämiſchem Tone, und ein
Strahl leuchtete flüchtig in ſeinen todten grauen Augen auf. Der iſt
ja ſo gut verwahrt, daß ihn kein rauhes Lüftle anwehen kann. Wie
lang ſitzt er denn noch im Zuchthaus?


Er wird ſeine Zeit jetzt ſo ziemlich abgeſeſſen haben.


Was, der Sonnenwirth hat einen Sohn im Zuchthaus? rief der
Müllerknecht aus voller Lunge herüber. Er hatte die frühere Antwort
nicht recht begriffen.


Sachte, Peter, ſachte mit der Braut! ſagte ſein Herr und hielt ihm
die Flaſche hin, um einzuſchenken. Mußt nicht ſo laut ſchreien. Im
Haus des Gehenkten iſt nicht gut vom Strick reden.


[22]

Aber wie iſt ſo was möglich? Guter Leute Kind im Zuchthaus!
ſagte der Knecht leiſe, auf den äußerſten Rand ſeiner Bank vorrückend,
die Hände auf den Knieen und den Kopf ſo weit als möglich vor¬
geſtreckt.


Es iſt juſt kein Wunder, verſetzte der Fiſcher.


Er iſt eben ein heißgrätiger unbändiger Burſch', ſagte der jüngere
Müller.


Ei, du kennſt ihn ja am beſten, Fiſcherhanne, rief der Aeltere.
Gib Acht', Peter, der kann's dir ſagen, der iſt mit ihm in die Schul'
gangen.


Da wirſt du wenig Gut's von ihm zu hören bekommen, lachte
der jüngere Müller. Wenn der Sonnenwirthle am jüngſten Tag
dem Fiſcherhanne gegenüber geſtellt werden thät', und es käm' auf
ſein alleiniges Zeugniß an, wie ſein Urtheil in der andern Welt lau¬
ten ſollt', ich glaub' der Frieder müßt' in die unterſte Hölle fahren.


Wahr iſt's, ſagte der Fiſcher, ich kann ihn nicht leiden, und hab'
ihn nie leiden können. Wir ſind einander von Anfang an ſpinnen¬
feind geweſen. Ich weiß eigentlich ſelbſt nicht recht wie's gekommen
iſt, 's iſt weiter nichts Beſonderes zwiſchen uns vorgefallen. Die Bu¬
ben hadern und raufen viel mit einander und werden doch nachher oft
die beſten Freunde. Aber bei uns hat der Haß immer tiefer ge¬
freſſen; es iſt als ob's uns von Natur eingepflanzt geweſen wäre.
Das erſte Mal, daß wir einander zu Geſicht kriegten, ſah er mich mit
böſen Augen an, und ich war wider ihn und er wider mich.


Da iſt auch kein Wunder dran, meinte der untere Müller. Ob
ſeine Augen, die er an dich hingemacht hat, ſo bös geweſen ſind, das
weiß ich nicht, er iſt nicht gerade beſonders gezeichnet in den Augen.
Aber er war ein Mutterſöhnchen, hatte immer was zu beißen und
zu knacken; mit den Gröſchlein und Sechſerlein von den Döten und
Dotinnen konnte er allzeit den großen Hanſen machen; und in der
Schule ſaß er beſtändig obenan, denn das Spruchbuch und den Ka¬
techismus lernte er wie's Waſſer.


Ich weiß ſchon wo du hinaus willſt, Georg, verſetzte der Fiſcher,
ohne Geſicht oder Augen zu erheben. Es iſt wahr, ich bin ein armer
Teufel, und ein Bub', der im Wachſen iſt, hat einen ſtarken Appetit,
und es mag ſein, daß mir die überflüſſigen guten Biſſen, die man
[23] bei ihm ſah, manchmal zu ſchaffen machten; aber ſo gar mißver¬
günſtig bin ich doch nicht, und werd's auch damals nicht geweſen
ſein. Seine Gelehrſamkeit hat mir's auch nicht angethan. Der Ehr¬
geiz hat mich nie geſtochen; meine Vorfahren ſind arme Fiſcher ge¬
weſen, ſo weit man hier in Ebersbach zurückdenken kann, und darum
hab' ich auch weder Vogt noch Profeſſor werden wollen.


Aber womit hat er dir's denn angethan?


Warum ſtellen ſich Hund und Katze wider einander, wenn ſie
einander anſichtig werden? Warum gibt's Leute, die manche Thiere
nicht leiden können? Gerade ſo geht's auch dem Menſchen mit dem
Menſchen. Ein Geſicht gefällt Einem, ein anderes iſt Einem zuwider.
Uebrigens hat er's nicht an thätlichem Anlaß fehlen laſſen. Er war
ein ſtolzer übermüthiger Bub', der Keinen was neben ſich gelten ließ.
Beim Soldätlesſpiel war er der General, und wenn man Räuberles
ſpielte, mußte er der Hauptmann ſein. Commandiren und die An¬
dern herumpudeln, das war ſein Pläſir. Die ihm recht unterthänig
waren, denen ſpendirte er, was er nur aufbringen konnte. Mir hat
er nie was geſchenkt.


Das muß man ihm laſſen, ſagte der ältere Müller, gutherzig
und freigebig iſt er allezeit geweſen.


Ja, aber da hat der Fiſcherhanne doch recht, fügte der Jüngere
hinzu, am gutherzigſten war er eben gegen ſolche, die ſeinem Stolze
am beſten hofiren konnten.


Gutherzig? rief der Fiſcher. Eine eigne Art von Gutherzigkeit
hat er von jeher gehabt. Er war noch nicht acht Jahre alt, ſo
jagte er den Nachbarn zum Spaß die Hühner fort, aus purer guter
Laune ſchlug er ihnen die Gänſe todt, hetzte die Hunde auf Weiber
und Kinder, und lachte wie ein kleiner Teufel über ihre Angſt. Und
wie er dann zu ſeinem Namenstag eine Flinte bekam, da hieß es
erſt: Hellauf! Da ſchoß er mitten im Ort auf Hühner, Enten,
Gänſe, was er erwiſchen konnte, und der Sonnenwirth bezahlte den
Schaden und war ſtolz darauf, daß er ihn zahlen konnte!


Und noch mehr darauf, daß die Blitzkröte ſchon ſo ein guter
Schütz war, fiel der jüngere Müller ein. Das war's ja eben! Durch
die Nachſicht, die man ihm ſchenkte, und durch den Beifall der
Speichellecker, die bei den Eltern einen Stein im Brett gewinnen
[24] wollten, wurde er immer noch mehr verhetzt, und ſo kam er von
einem Schabernack zum andern. Die ärgſten Streiche erfuhr der
Alte gar nicht, die ſind von der Mutter vertuſcht worden. Da iſt
mancher Sechsbätzner, mancher Krug Wein als Schmerzengeld hinter
ſeinem Rücken aus der Sonne gewandert.


Wenn man dem Ding nachdenkt, ſagte der obere Müller, ſo hat
es mit ſo einem verzogenen Söhnle eigentlich nicht anders kommen
können. Ich glaub', ein Anderer wär' auch ſo geworden.


Vielleicht lauft er ſich die Hörner noch ab, verſetzte der Jüngere.
Wiewohl, es wird ſchwer halten. Er iſt eben einmal an die Ge¬
waltthätigkeit gewöhnt. Wenn man ihm irgendwie einen Riegel
vor die Thür' ſchiebt, ſo muß er mit dem Kopf durch die Wand,
das thut er nicht anders.


Ja und ſein Hochmuth wird ihn auch nicht anders werden laſſen,
ſagte der Fiſcher: denn das iſt der Hauptteufel, der ihn reitet.


Der ſteckt in der ganzen Sippſchaft. Iſt die Magdalene vorhin
wieder hereingekommen? Nein, weil man ſich einen kleinen Spaß
mit ihr herausgenommen hat, ſo hat ſie den Wein durch die
Mutter geſchickt.


Aha! ſagte der ältere Müller leiſe, dem Fiſcher zuwinkend: haſt
ihn hören trappen?


Immer hat er ſich für was Beſonderes gehalten, fuhr dieſer fort,
ohne auf die Bemerkung Acht zu geben. Ha, wenn ich nur daran
denke, was er mir einmal für eine Zumuthung gemacht hat! Das
war das einzige Mal, daß ich was Apartes in die Schule mitbrachte,
wo ich mir was drauf zu gut thun konnte. Der Herzog war eben
vorher durch den Flecken gefahren, und da fand meine Mutter auf
der Straße ein kleines Stück hellblauen Sammet, Gott weiß, woher
und wie er auf den Boden gefallen war. Meine Mutter wußte
nicht was damit thun, nun zerſchnitt ſie's in Läpplein und machte
mir eine Windmühle, wißt ihr, wie's die Buben an Stecken haben;
wenn ſie damit ſpringen, ſo dreht ſich's herum. Das Ding ſah hof¬
färtig aus und die ganze Schule hatte Reſpect davor. Den Sonnen¬
wirthle aber verdroß es, daß er mir's zum erſten Mal nicht gleich thun
konnte; er ließ ſich aber nichts anmerken, ſondern verſpottete mich
und ſchalt mich den herzoglichen Windmüller. Da war's auch bei den
[25] Andern aus: ich konnte mich allein an meiner Windmühle ergötzen;
ſie ſahen mich nicht mehr darum an. Ein paar Tage drauf iſt meine
Windmühle weg. Ich hatte Niemand anders im Verdacht als den
Frieder, und ſagt's auch den andern Buben. Wie der's aber hört, ſo
ſpeit er Gift und Galle, paßt mir auf, und an der Rathhausecke
ſtellte er mich, wie ich mich unterſtehen könne, ihn zu bezichtigen, daß
er mich beſtohlen habe. Jetzt, was meinet Ihr, daß er mir zuge¬
muthet hat? Ein Meſſer nahm er in die Fauſt, und mir bot er
ein anderes dar, und ſagte, ich ſolle mich wehren. Natürlich hab' ich
mich dafür bedankt, und dann fiel er über mich her und prügelte
mich durch; denn er war weitaus der Stärkſte von uns Allen.


Und hatte er wirklich die Windmühle geſtohlen?


Nein, ich fand ſie hernach wieder; ich hatte ſie nur verlegt. Auch
hätt' ich's nicht ſo ſchwer genommen, nicht einmal die Prügel be¬
kümmerten mich, wiewohl er immer eine harte Tatze hatte. Nein,
aber der Hochmuth, daß er den fürnehmen Herrn ſpielen wollte und
ſich duelliren, wie ein Edelmann, das hat mir ihn zuwider gemacht.
Und er war dazumal ein Bub' von zehn Jahren. Wenn das am
grünen Holz ſo iſt, wie wird's am dürren werden?


Duelliren hat er ſich wollen, wie ein Offizier? rief der Knecht.
Ei ſo verreck!


Da hat ſich das adelige Blut frühzeitig geregt, ſagte der jüngere
Müller lachend.


Wenn die ſelige Sonnenwirthin nicht ſo ein kreuzbraves Weib
geweſen wär', verſetzte der ältere Müller, ſo könnt' man auf allerlei
Gedanken kommen.


Und was iſt denn ſein Vater Großes? fuhr der Fiſcher eifrig
fort. Er mag meinethalb für ſeine paar Batzen hochmüthig ſein,
aber Alles hat ſeine Grenzen. Er iſt Wirth, muß den Leuten für
ihr Geld Kratzfüße machen; er iſt Viehhändler, patſcht jedem Ro߬
kamm in die Hand; er iſt Metzger, muß den Ochſen und Säuen im
Gedärm herumfahren.


Es müßt's nur das Metzgerhandwerk machen, ſagte der ältere
Müller: damit übt er eine Art von Blutbann aus, und das iſt doch
was Adeliges.


[26]

Ja, rief der Andere, und darin ſtehſt du ihm nach, Fiſcherhanne.
Denn du und die, über deren Leben und Tod du Gewalt haſt, haben
kein Blut.


Oder nur weißes. Die Andern lachten.


Sorget nur nicht für mich! ſagte der Fiſcher etwas ärgerlich.
Meine Unterthanen haben auch Blut.


Ja, und Galle.


Ja, und beißen können ſie auch.


Aber der Ochs hat Hörner.


Wenn er zu hitzig ſtoßt, ſo brechen ſie ab.


Wenn ſie nur ſchon abgebrochen wären! ſagte der ältere Müller.
Aus dem Burſchen könnt' noch was Tüchtig's werden. Ich wollt' man
that ihn mir anvertrauen, ich zög' ihn durch's Kammrad, daß er ge¬
ſchlacht würde.


Nichts Gewiſſes weiß man nicht, heißt's im Sprichwort, erwiderte
der Jüngere.


Ja, es iſt nicht ſo leicht mit ihm fertig zu werden, ſagte der Fi¬
ſcher. Er iſt ein böſer Bub'.


Wenigſtens muthwillig und unbändig, verſetzte der ältere Müller.
Unter allen Streichen, die ich von ihm weiß, hat mir einer immer
am beſten gefallen. Da war vor ein Jahr ſieben oder achten ein
Hausknecht hier in der Sonne, wißt ihr, der Mathes — ich ſeh
ihn heut noch vor mir, s'iſt ſo ein perſönlicher langer Kerl geweſen,
und etwas langſam im Geiſt. Der wollte geſcheider ſein als der
Frieder, und das konnte mein Frieder nicht vertragen. Was thut er
alſo? Um Mitternacht ſchleicht er aus dem Bett, die Stiege hinunter,
bricht den Fuhrleuten in die Güterwagen vor dem Haus auf der
freien Straße ein, und bringt den Raub ſeinem Vater über's Bett.
Der Knecht, den andern Tag, der iſt natürlich ſchön ausgelacht wor¬
den ob ſeiner Wachſamkeit. Und das hat der ſtolze Bub' mehr als
einmal gethan, und der gute Mathes konnt' ihn nie erwiſchen. Das
Ding hat ihm das Leben ſo ſauer gemacht, daß er's nicht in der
Sonne aushalten konnte. Es trieb ihn aus dem Dienſt, ich glaub'
er dient jetzt in Beutelsbach drüben, das alte Beutelthier.


Der Müllerknecht hatte Mund und Augen aufgeſperrt. Ver¬
fluchter Bub'! ſagte er endlich. Das hat der Sonne gute Kundſchaft
[27] bringen können. Ich wär' auch eingekehrt und hätt' mich zum Spaß
berauben laſſen, pur aus Fürwitz.


Es iſt doch eine gefährliche Uebung, ſagte der Fiſcher. Wenn die
Katze das Mauſen verſchmeckt hat, ſo läßt ſie nicht mehr davon, und
was eine Diſtel werden will, das fängt zeitig an zu brennen. Es iſt
nicht lang angeſtanden, daß er ſeine G'ſtudirtheit an einer Geldkiſte
ausgelaſſen hat.


Was? rief der Knecht. Iſt er im Ernſt eingebrochen?


Pſt, Peter, ſchrei leis! erwiderte ſein Herr. Ja, aber nur bei
ſeinem Vater, und der hat's ja.


Vierhundert und dreißig Gulden ſind doch keine Kleinigkeit, ſagte
der Fiſcher.


Vierhundert und dreißig Gulden! rief der Knecht. Da wundert's
mich nicht, daß er im Zuchthaus ſitzt. Und ſein eigener Vater hat
ihn hineinſperren laſſen?


Er konnte es nicht vertuſchen, wenn er auch gewollt hätte.
Uebrigens iſt's nicht ſeine diesmalige Zuchthausſtrafe, denn das iſt
ſchon die zweite. Damals aber war er erſt vierzehn Jahr' alt.


Das iſt aber doch auch hart, meinte der Knecht, einen vierzehn¬
jährigen Buben ins Zuchthaus zu ſchicken.


Laßt mich reden, ihr Mannen! ſagte der jüngere Müller: ich
kann am beſten erzählen, wie die Sach' zugegangen iſt, ich hab' ja
auch einen Spieß in ſelbigem Krieg getragen. Wahr iſt's, und was
wahr iſt, das muß wahr ſein, dem Frieder hat ſich das Blättlein
übel gewendet, wie ihm Gott ſeine Mutter nahm. Von der Stund'
an hatte Alles was er that eine andere Farbe.


Das iſt eben der Unterſchied, fiel der ältere Müller ein, ob man
etwas mit Liebe anſieht oder mit Haß. Und den Haß, den hat das
Ripp, die jetzige Frau, ins Haus gebracht; die Liebe aber iſt mit der
erſten ins Grab gegangen.


Verzogen war er, das iſt richtig, fuhr der Jüngere fort. Aber es
kommt nur drauf an, was man dem Kind für einen Namen gibt.
Vormals hieß man's artig, witzig, aufgeräumt; nachher hieß man's
übermüthig, tückiſch, boshaft. Und wo man früher Anzeichen von
Mannhaftigkeit gelobt hatte, da ſah man jetzund nichts mehr als den
hellen lautern Teufelstrotz.


[28]

Mir iſt's von Anfang an ſo vorgekommen, ſelbiges Kind, ſagte
der Fiſcher.


Da ſind deine Augen juſt für die Stiefmutter recht geweſen,
Fiſcherhanne. Ich glaub' auch, ſie hat dir die Augen abgekauft; ich
will davon ſchweigen, aber du haſt immer einen Stein bei ihr im
Brett gehabt, und ich weiß nicht, ob die Fiſche, die du ihr zugetragen
haſt, immer aus dem klaren Waſſer gekommen ſind.


Selbige Augen, unterbrach ihn der andere Müller, hat ſie dann
auch dem Sonnenwirth eingeſetzt, und da hat der alte Eſel ſeinen
Sohn gleich in einem andern Licht geſehen.


Freilich, weil er immer ärger geworden iſt, ſagte der Fiſcher.


Mach' kein' ſo krummen Kopf! Narr, er iſt ärger geworden, weil
man ihn ärger gemacht hat. Und das muß man ſagen, für ſeine
Schweſtern hat er ſich ritterlich gewehrt, und hat nicht leiden wollen,
daß man ſie wie Stallmägd' behandle.


Ja, und dann hat's eben wüſte Auftritte gegeben.


Ja, und dann hat er ſeine Mutter geprügelt, ſagte der Fiſcher.


Wenn er ihr doch nur ein Dutzend Rippen eingeſchlagen hätte!
verſetzte der ältere Müller. Brauchſt's ihr aber nicht wieder zu ſagen,
Fiſcherhanne, ſetzte er etwas erſchrocken hinzu, oder 'siſt aus mit der
Freundſchaft. Du weißt, ein Menſch hat allezeit den andern nöthig.


Wie kam er denn aber zum Stehlen? fragte der Knecht.


Ich will's dir ſagen, fuhr der jüngere Müller fort. Wie er ſah,
daß er doch immer den Kürzeren zog, weil ſein Vater auf Seiten
der Stiefmutter war, ſo wollte er in die Fremde gehen, und begehrte
einen Zehrpfennig nach Amerika.


Nach Amerika? rief der Knecht. Das iſt ja ein Weltskerl!


Der Alte aber, fuhr der Müller fort, war dazumal ſchon b'häb
geworden und behielt die Schlüſſel zur Geldtruhe feſt im Sack; auch
meinte er, der Bub', der erſt vierzehn Jahr alt war, ſei noch zu
jung zum Reiſen, und darin hatte er gänzlich Recht, denn der Bub'
iſt nachher richtig auch nicht gar weit gekommen, und nicht gar lang
fortgeblieben. Der aber meinte, was man ihm nicht gutwillig gebe,
das könne er ja mit Gewalt nehmen, und beerbte ſeinen Vater vor
der Zeit, noch eh' ihm der Alte aus der Helle gegangen war.


[29]

Oder aber, ſagte der ältere Müller, er hat als ſein eigener Rich¬
ter ſeine Jahr' und ſeine Taſchen vollgemacht und eben ſein Mütter¬
liches eingeſackt.


Es iſt juſt wie man's anſieht. Ueber's Geld zu kommen und
die Schlöſſer aufzumachen, war dem G'ſtudirten, wie ihn der da heißt,
eine Kleinigkeit; er hatte ja dem Alten ſchon mehrmals den Spaß
gemacht. Kurz und gut, er nahm ihm vierhundert Gulden, brachte
ſie ihm aber nicht über's Bett.


Vierhundert und dreißig! fiel der Fiſcher ein.


Mein'twegen vierhundert und dreißig, wenn das Sündenregiſter
voll ſein muß. Du mußt's ja wiſſen, denn du biſt der Erſte ge¬
weſen, Fiſcherhanne, der ihn des Einbruchs zieh.


Hab' ich gelogen? fragte der Fiſcher.


Ja, die Wahrheit haſt du gelogen.


Dann iſt er durchgegangen? fragte der Knecht.


Ja, aber er kam nicht nach Amerika, ſondern bloß bis Heilbronn.
Dort ließ er ſich bei den kaiſerlichen Huſaren anwerben, als Frei¬
williger. Pferd und Montur bezahlte er flott von ſeinem eigenen
Geld. Wenn er nur bei ihnen geblieben wär'!


Iſt erſt noch wahr! rief der ältere Müller. Der Kerl hätt's zu
was bringen können. Der? der hätt' General werden können.


Iſt er denn deſertirt? fragte der Knecht.


Nein, aber nach zehn Wochen ſtach ihn der Fürwitz, ob man ihn
zu Ebersbach vergeſſen habe, und da kam er mit einem Urlaubſpaß
als Huſar angeritten. Das war ein Aufſehen! Dem Amtmann
trotzte er ein Atteſtat ab, daß er von ehrlichen Leuten geboren ſei.
Beweiſen konnte man ihm nichts, wiewohl das Geſchrei und der
Verdacht wegen der vierhundert Gulden allgemein war, und Niemand
wagte ihn zu greifen, den kaiſerlichen Huſaren, bis er im Hecht bei
der Zeche ſchwediſche Ducaten, auch halbe Gulden blicken ließ. Dieſe
verriethen ihn, denn ſie waren von ſeines Vaters Geld. Nun gab's
Lärm im Ort. Der Frieder aber ſprang in den Sattel, jagte den
Flecken auf und ab mit gezogenem Degen — den Fiſcherhanne hätt'
er ſchier gar erritten; er hieb nur einen Zoll zu kurz, ſo hätt' man
ſehen können, ob du weißes Blut haſt oder rothes — und drohte
mit ſechszehn andern Huſaren, mit denen er den Flecken beſetzen wolle.
[30] Die kamen aber nicht. Dem Amtmann ritt er vor's Haus, klopfte
auf den Schenkel, höhnte und drohte. Von da ging's vor die Sonne,
wo er's eben ſo machte. Kurz er trieb allen erdenklichen Uebermuth,
wie ein losgelaſſener Eber; denn natürlich, er war betrunken. Wie
er nun vollends ſeine Piſtolen losſchoß und niemand ſeines Lebens
mehr ſicher war, da mußte die Bürgerſchaft ein Einſehen haben. Ich
geſteh's, und es reut mich jetzt noch nicht: ich lud meine Flinte mit
Schrot, der Zeiger Frank und der Spanner Eberhard, des Chirurgen
Bruder, thaten deßgleichen — wer ihn eigentlich getroffen hat, weiß
ich nicht. Aber er ſtürzte vom Gaul, wie ein Mehlſack. Das Pferd
war hin, er ſelbſt hatte den linken Fuß voll Schrot, und alſo war's
leicht mit ihm fertig werden.


Das iſt ja ein Mordkerl! rief der Knecht. Aber hat es Euch
und den andern Schützen keine Angelegenheit gemacht, fragte er
weiter, daß ihr der Obrigkeit ſo mir nichts dir nichts ins Handwerk
gegriffen habt?


Bewahr'! lachte der Müller. Obrigkeit und Bürgerſchaft waren
froh, daß ſie die Belagerung überſtanden hatten, und der Amtmann
hat, glaub' ich, dem Vogt nichts davon berichtet, auf was Art der Sturm
abgeſchlagen worden ſei.


Und ſeitdem, fragte der Knecht, ſitzt er im Zuchthaus?


Ich hab' dir's ja geſagt, erwiderte ſein Herr, daß er jetzt zum
zweitenmal drin iſt.


Was? Iſt er ſeinem Vater abermals über den Geldkaſten gegangen?


Nein, in dem Fach hat er ein Haar gefunden und hat ihm
abgeſagt.


Man kann ihm nichts Böſes nachſagen, verſetzte der Fiſcher, bis
auf das, was man nicht weiß. In einem Wirthshaus läßt ſich
Manches verſchleppen, man kann da nicht ſo nachrechnen, wo die Sachen
hinkommen. Ich möcht' doch auch wiſſen, aus welchem Beutel er auf
dem Tanzboden immer ſo dick gethan hat.


Ich glaub', er hat dem Herzog hier und da einen Hirſch wegge¬
büxt, ſagte der jüngere Müller.


Ja, ja, rief der Fiſcher, die Flinte, die er als Bub' von ſeinem
Vater kriegte, hat ihre Früchte getragen. Das iſt die zweite ge¬
[31] fährliche Kunſt, die er ſchon gelernt hat, eh' er hinter den Ohren
trocken war.


Nu, wenn's weiter nichts iſt, ſagte der ältere Müller, ſo wollt'
ich nur, er thät' alles wegbüren, was mit Geweih und Hauer
in Wald und Feld ſpaziert. Das wär' ein Verdienſt, für das man
ihm, weiß Gott, bei allen Gemeinden im Ländle das Bürgerrecht
geben dürfte.


Freilich, ſtimmte der Knecht ein, Wildern iſt keine Sünd', nur
darf's nicht herauskommen.


Und gegen dieſen feſten Glaubensſatz wagte ſelbſt der hartnäckig
grollende Fiſcher nichts einzuwenden.


Was hat ihn denn zum zweiten Mal in das Ding da, das man
nicht gern beim Namen nennt, gebracht? fragte der Knecht weiter.


Seine Gewaltthätigkeit, antwortete der Fiſcher.


Eine Prügelei, erwiderte der jüngere Müller gleichmüthig.


Was die Prügelei betrifft, da kann ich nicht wider ihn ſein, ſagte
der Aeltere. Gib Acht, Peter, das mußt dir erzählen laſſen, das iſt
ein Staatsſtückle. Der Kreuzwirth — den kennſt du ja, er hat ſei¬
nen Namen nicht umſonſt, denn er iſt gar ein frommer Kreuzträger
und eine wahre Kreuzſpinne dabei — der hatte von jeher ein ſcheeles
Aug' auf den Frieder gehabt.


Auf den Alten auch. Der verzeiht's ihm heut' noch nicht, daß
er ihn beim Kirchenconvent angebracht, weil er einen Ochſen ge¬
ſchlachtet hatte am Sonntag. Der Sonnenwirth wurde damals um
ein Pfund Heller geſtraft.


Auch den Frieder, fuhr der ältere Müller fort, hat er einmal
bei ſeinem Vater verſchwätzt, ſo daß er Hiebe von ihm kriegte. Der
Alte hat nachher ſelber eingeſtanden, er habe dasmal ſeinem Sohn
Unrecht gethan.


Ja, fiel der Jüngere ein, ich hab's mit meinen eigenen Ohren
gehört, und ich war dabei, wie er zum Frieder ſagte, er ſolle es nur
dem Kreuzwirth bei Gelegenheit wieder eintränken.


Und die iſt auch gekommen, fuhr der Aeltere fort. Denn ſo eine
Teufelsgelegenheit bleibt niemals aus. Nun, was geſchieht? Auf dem
Heimweg vom Kirchheimer Markt trifft der Frieder mit dem Kreuz¬
wirth zuſammen, und der fängt an ihn zu hänſeln und zu rätzen,
[32] denn ſo gottſelig er ſich ſtellt, das Necken und das Kratzen kann er
nicht laſſen. Zuletzt, wie er noch nicht genug hatte, kommt er auch
auf die Zuchthausſtrafe, die der Frieder durchgemacht hatte, und ſagt
zu ihm: Du biſt ein ganz geſchickter Kerl, dir kann's nicht fehlen, du
verſtehſt ja zwei Handwerk', das Metzgen und das Wellkardätſchen;
wenn dir's in einem fehlſchlägt, ſo kannſt du dich auf das andere
werfen. — Er das ſagen, und der Frieder ihn am Kragen nehmen
und zu Boden werfen, das war eins. Der hat Prügel gekriegt!
Nun, der Fiſcher weiß ja, was der Bub' für eine Tatze hat.


Es iſt ihm Recht geſchehen, ſagte der jüngere Müller. Einen
Gefallenen muß man aufheben und nicht noch tiefer niederdrücken.


Paß nur auf, Peter, jetzt kommt erſt der Hauptſpaß, fuhr der
Aeltere fort. Wie er ihn genug geprügelt hatte und ausſchnaufen
mußte, ſo ſagt' er zu ihm, er ſolle ihm jetzt verſprechen, daß er deſſent¬
wegen nicht klagbar werden wolle. Der Kreuzwirth, am Boden, ver¬
ſpricht's mit Ach und Krach, und ſchwört's ihm hoch und theuer. Der
Frieder aber, wie er den Schwur hört, fällt er abermals mit neuer
Kraft über ihn her. Sieh, meineidige Canaille, ſagt er, ich weiß,
daß du doch nicht Wort hältſt, und dafür will ich dich gleich im
Voraus prügeln.


Das iſt ja ein Fetzenkerl! rief der Knecht mit ungeheuchelter Be¬
wunderung aus.


Der Kreuzwirth klagte auch richtig beim Amt, und da kam eben mein
Frieder noch einmal auf ein halb Jahr nach Ludwigsburg.


Es heißt von ihm, wie vom Eſau, ſagte der Fiſcher: „Seine
Hand war wider Jedermann und Jedermanns Hand wider ihn.“


Haſt das fromme Sprüchle vom Kreuzwirth gelernt? ſpottete der
jüngere Müller. Nein, fuhr er fort, dem haben ſeine Prügel gebührt,
und ich bin dem Frieder nicht Feind darum. Wenn nur die Schand'
nicht wär', denn Zuchthaus iſt eben einmal Zuchthaus.


Meint Ihr, Vetter? rief der Aeltere. Es kommt auch darauf an,
von wegen was man in's Zuchthaus kommt. Und wenn Einer ſonſt
guter Leute Kind iſt, ſo kann man ſo einen Unſchick wieder vergeſſen.
Wenn er jetzt unter eine tüchtige Hand käm' und gehobelt würde —
in zehn Jahren könnt' er der angeſehenſte Mann ſein und thät' kein
[33] Hahn mehr darnach krähen, daß er in ſeinen jungen Jahren hat das
Wollkardätſchen erlernen müſſen.


Ein raſcher Hufſchlag unterbrach das Geſpräch. Der jüngere
Müller trat ans Fenſter. Was der Sonnenwirth noch ſtet auf dem
Gaul ſitzt, bemerkte er. Er muß einen guten Handel gemacht haben;
er ſitzt ſo aufrecht und trägt die Naſe ſo hoch.


Nun kam die Hausfrau herein mit einem weißen Tuch auf dem
Arm. Ihr folgte Magdalene mit dampfenden Schüſſeln. Ein Tiſch
in der andern Ecke des Zimmers wurde gedeckt und das Eſſen auf¬
getragen. Das Geſinde erſchien, Knechte und Mägde. Draußen
hörte man die befehlende Stimme des Hausherrn. Endlich trat er
ſelber ein, unterſetzt und etwas beleibt, in Geſtalt und Angeſicht ſei¬
nem Sohne ähnlich. Aus ſeinen Geſichtszügen ſprach derſelbe Trotz,
derſelbe Eigenſinn, nur daß dieſer Ausdruck bei ihm, dem gebietenden
Herrn des Hauſes, mehr das Bewußtſein der anerkannten Rechtmäßig¬
keit und eben darum auch mehr herriſche Strenge hatte. Wenn man
jedoch ſein Geſicht näher prüfte, ſo fand man, daß die innere Natur¬
kraft nicht ſo groß war als das Anſehen, das er ſich geben zu müſſen
glaubte. Er grüßte die Gäſte kurz und ſetzte ſich ohne viele Um¬
ſtände mit ſeinen Hausgenoſſen zu Tiſche. Für ihn wurde beſonders
aufgetragen und ein Teller mit Beſteck lag vor ihm, während die
andern alle, die Hausfrau nicht ausgenommen, gemeinſam aus der
Schüſſel ſpeisten.


Unter dem Geklirr der Löffel flüſterten die Gäſte zuſammen, und
manche bittere Bemerkung, manche boshafte Spottrede wurde den
Eſſenden, ohne daß ſie es hörten, als Tiſchſegen zugeworfen.


Der Sonnenwirth meint, man müſſe es für eine Gnad' halten,
wenn man nur in ſeinem Haus noch trinken dürfe, ſagte der ältere
Müller.


Wenigſtens ein anderer Wirth, erwiderte der Jüngere — wenn
er auch noch ſo hungrig und durſtig iſt, ſetzt er ſich ein Vaterunſer¬
lang zu den Leuten hin, und wenn er auch weiter nichts ſagt als
„Auch hieſig?“ und „Thut's ſo bei einander?“ und „Wohl bekomm's!“
ſo ſieht man doch, daß er Lebensart hat, und dann kann er ja wieder
aufſteh'n und ſeinem Geſchäft nachgehen. Aber der! Ja, wenn wir
Pfarrer wären oder Schreiber, ſo würd' er ſich eine Ehr' d'raus
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 3[34] machen. Aber wir ſind eben nicht weit her, wir ſind ja bloß ſeine
Mitbürger.


Seht nur die Alte, Vetter! ſagte der Aeltere, und ſtieß ihn an.
Seht, wie ſie ihren Leuten auf die Mäuler guckt, wie ſie ihnen die
Biſſen zählt, wie ſie dem Löffel, der aus der Schüſſel kommt, mit
den Augen nachfolgt. Was ſie für ein Geſicht macht, wenn ſie meint,
es hab' eins zu voll geladen oder komm' zu oft angefahren.


Halt, jetzt iſt die Sippſchaft erſt vollſtändig, jetzt kommt der Freier!
unterbrach ihn der Jüngere, verſtohlen mit dem Finger auf einen
Mann mit ſpitzem, knochigem Geſichte deutend, der, mit einem hell¬
grünen Leibrock angethan, in's Zimmer trat und ſich nach einer ſtatt¬
lichen Begrüßung an einen Tiſch zunächſt dem Speiſetiſche ſetzte.


Schau, ſchau! der grüne Chirurg! erwiderte der Andere. Der
macht Kratzfüß'! Was die Alte ihr Spinnengeſicht umwandelt, als ob
ſie Honig und Marzipan gefreſſen hätt'. Sogar der Sonnenwirth
nickt ihm freundlich zu, die Sache muß richtig ſein. Aufgepaßt, Vetter!
Seht Ihr, wie ihm die Alte ein Tellerlein füllt und zwar von des
Sonnenwirths eigenem Eſſen. Ja, ja, mit Speck fängt man Mäuſe.
Was er Complimente macht! Er will's nicht annehmen, aber die
Eſſensſtunde hat er ſich wohl gemerkt, der Schmarotzer.


Er will eben von der Gelegenheit profitiren, ſo lang ſie da iſt.
Er weiß wohl, daß nicht alle Tag' Kirchweih' iſt. Wenn er einmal
ernſtlich angebiſſen hat, ſo wird man ihm das Gaſthütlein ſchon her¬
unterziehen und dann kann er die Finger darnach lecken.


Ihr könnt die Leute recht heruntermachen, ſagte der Fiſcher. B'hüt'
Gott bei einander, ich will nur heimgehen, ſonſt werd' ich noch an¬
geſteckt.


Gut' Nacht, Fiſcherhanne, und halt' reinen Mund.


Weſſ' Brod ich eſſ', deſſ' Lied ich ſing'! verſetzte der Fiſcher etwas
zweideutig, und wandte ſich mit einem „G'ſegn' Gott“, das er dem
Speiſetiſche zurief, nach der Thüre.


In dieſem Augenblick ging die Thüre auf und herein trat der
Sohn des Hauſes. Aus ſeinem von der Wanderung gerötheten Ge¬
ſichte leuchtete das verklärende Gefühl einer guten That, einer That,
welche dem Himmel die erſte Genugthuung für bisher begangene
tritte darbieten ſollte. Dieſer Ausdruck gab ſeinem Geſicht eine auf¬
[35] fallende Aehnlichkeit mit den Zügen ſeiner Schweſter. Da ſtieß er
unter der Thüre auf den Fiſcher, der ihm wie ein böſes Vorzeichen
entgegen trat, und ſein Geſicht verfinſterte ſich. Einen Augenblick
maß er ihn ſchweigend mit den Augen. Du auch da, Giftmichel?
ſagte er, indem er an ihm vorüberging. Der Fiſcher fletſchte die Zähne
gegen ihn und machte ſich hinaus.


Friedrich blieb ein wenig ſtehen, um ſich zu ſammeln; dann nä¬
herte er ſich dem Tiſche und trat zu ſeinem Vater, der bereits durch
einen Wink der Frau auf ihn aufmerkſam gemacht worden war und
ihm ſchweigend entgegen ſah.


Grüß' Gott, Vater! redete er ihn an. Da bin ich wieder, und
verſprech' Euch, daß es mit Gottes Hilfe nun anders werden ſoll,
denn ich bin nun kein Kind mehr, und wenn ich Euch bisher oft
durch meinen Unverſtand betrübt habe, ſo hab' ich mir jetzt vorge¬
nommen, Euch hinfüro ein treuer gehorſamer Sohn zu ſein.


Mach' nicht ſo viel Redensarten! ſagte der Alte. Wenn dir's
Ernſt iſt, ſo thu's, ohne davon zu reden; aber verſprich nichts, was
du nicht halten kannſt. Setz' dich und iß.


Ja, Vater, aber ich hab' zuvor eine großmächtige Bitte, fuhr
Friedrich fort, ohne ſich durch den Empfang irre machen zu laſſen.
Ich möcht' eine Seele vom Verderben retten, und das kann ich nicht,
wenn Ihr mir nicht dazu helft.


Der Alte erhob ſein Geſicht. Die Stiefmutter ſah ihn mit ge¬
ſpannter Neugier und finſterer Miene an. Er hatte ſie noch nicht
begrüßt, er hatte nur für ſeinen Vater Augen gehabt.


Ihr meint gewiß, Vater, ſprach er weiter, da wo ich herkomme,
hab' ich nur lauter ſchlechtes Zeug gelernt. Aber ſo iſt's nicht, viel¬
mehr bin ich in gute Hände gerathen und hab' Chriſtenthum gelernt.
Ich hab' gelernt, daß jeder gute Chriſt und redliche Menſch ſeinen
verachteten Mitbrüdern aufhelfen müſſe. Weil das aber nicht einer
für alle thun kann, ſo mein' ich, es ſei genug, wenn ein Menſch oder
eine Familie ſich eines Einzigen annimmt.


Wo will denn das hinaus? fragte der Alte barſch.


Vater, ich hab' Euch einen Menſchen mitgebracht, der keine Hei¬
math hat, eine vater- und mutterloſe Waiſe; denn das iſt er, und
wenn auch ſeine Eltern noch leben. Und ich bitt' Euch, ſo lieb Euch
3 *[36] Euer Sohn ſein mag, der Euch freilich ſchon Kummer und Verdruß
genug gemacht hat — ſo lieb es Euch ſein mag, daß der ungerathene
Sohn noch was Ordentliches in der Welt werde, ſo hoch bitt' ich Euch,
Vater: laßt den Menſchen, den ich mitbringe, als Euren Knecht in
Eurem Hauſe ſein.


Wo iſt er denn? fragte der Alte ungeduldig.


Er wartet hinterm Haus am Garten.


Die Stiefmutter gab dem Chirurgus einen Wink und er ſchlich
ſich unbemerkt hinaus.


Wer iſt er denn? fragte der Alte weiter.


Friedrich ſchwieg eine Zeitlang in ſichtlicher Verlegenheit; die ſieges¬
frohe Zuverſicht, die er bei ſeinem Eintreten gezeigt hatte, war allmäh¬
lich von ihm gewichen. Vater, hob er endlich an, Ihr werdet in Eu¬
rem Herzen nicht ſogleich die Stimme finden, die für ihn ſpricht. Man
hat gegen dieſe Leute Manches einzuwenden, und das iſt auch kein
Wunder, denn man behandelt ſie auch darnach.


Mach's kurz und gut, rief der Alte und ſchlug, auf den Tiſch
Was iſt das vor eine Manier? Wenn's was Rechtes iſt, ſo ſag's
frei heraus, und iſt's was Dummes, ſo halt' das Maul! Was brauchſt
du mir durch die Ränkeleien da das Eſſen zu verderben.


Indeſſen war der Chirurg wieder eingetreten. Es iſt ein Zigeuner,
ſagte er langſam und nachdrücklich, indem er zu dem Tiſch trat.


Ein Zigeuner? rief die Stiefmutter und ſchlug ein gellendes Ge¬
lächter auf. Die beiden Müller und der Knecht, welche aufmerkſam
zugehört hatten, lachten aus vollem Halſe mit. Auch das Geſinde
am Tiſche ſtimmte in das Gelächter ein, doch nur allmählich und ſchüch¬
tern, da der Sonnenwirth nicht mitlachte, ſondern die Stirne in dräu¬
ende Falten gelegt hatte. Magdalene war mit einem wehmüthigen
Blick auf den Bruder hinausgegangen.


Ich weiß wohl, Vater, daß es eine Zumuthung iſt, fuhr Friedrich
unerſchrocken fort. Aber ſoll's denn der arme Teufel büßen, daß
ſeine Eltern Zigeuner geweſen ſind?


Der Chirurgus unterbrach ihn. Das hängt vielleicht, ſagte er mit
etwas näſelnder Stimme, das hängt vielleicht mit der Prädeſtination
zuſammen, die der Herr Pfarrer predigt.


[37]

Ich red' mit meinem Vater und nicht mit Ihm! warf Friedrich
ſtolz von der Seite dem Chirurgus zu. Wie kann man denn ver¬
langen, daß dieſe Leute ehrlich werden ſollen, wenn man nicht endlich
einen Anfang mit ihnen macht? Und wie kann man denn anders
anfangen, als mit dem chriſtlichen Zutrauen, das man in einem chriſt¬
lichen Hauſe einem von dieſen armen Leuten ſchenkt? Wenn man dann
in Einem Haus angefangen hat, ſo machen's die andern nach, und
eben darum ſprech' ich zu Euch, Vater, weil Ihr ein angeſehener Mann
ſeid, und ein Beiſpiel geben könnt.


Die Stiefmutter hatte inzwiſchen Blick und Winke mit dem Chi¬
rurgus ausgetauſcht. Wie ſieht er denn aus? fragte ſie jetzt mit dem
Tone der Neugier.


Er ſchielt auf einem Aug' und ſieht aus wie ein leibhaftiger
Galgenvogel, antwortete der Chirurgus.


Was will denn Er? fuhr Friedrich erzürnt herum. Wenn man
Ihn auf ein Erbſenfeld ſetzen thät', ſo könnt' man vor den Spatzen
ſicher ſein.


Der alte Sonnenwirth fuhr auf und verſetzte ſeinem Sohne eine
derbe Ohrfeige: Ich will dir unartig gegen meine Gäſte ſein. Man
muß dir die Aeſte abhauen, wenn du zu krattelig wirſt. Halt's Maul
jetzt und pack' dich. Ich will dich heut' nicht mehr vor Augen haben.
Das käm' mir geſchlichen, einen Zigeuner in's Haus zu nehmen. Das
wär' eine Geſellſchaft für dich.


Friedrich ſah ſeinen Vater an. Einen Augenblick hatte ſeine Hand
gezuckt; dann aber wandte er ſich ruhig nach der Thüre. Ich glaub',
ich wollt', ich wär' wieder im Zuchthaus, ſagte er, während er hin¬
aus ging.


Die beiden Müller zahlten ihre Zeche und ſtanden auf. Der
Sonnenwirth, der ſich ebenfalls erhoben hatte, wünſchte ihnen, freund¬
licher als zuvor, gute Nacht. Der Burſch iſt doch ziemlich mürb ge¬
worden, ſagte er zu dem Aelteren: er hat nicht gegen die Ohrfeige
rebellirt, und es hat den Anſchein, als ob er jetzt das vierte Gebot
in Ehren halten wollte.


Der Müller, geſchmeichelt durch dieſe vertrauliche Anrede, blieb
etwas zurück, während der Jüngere nebſt dem Knechte die Wirthsſtube
verließ. Ja, ſagte er zum Sonnenwirth, der Frieder iſt nicht ſo un¬
[38] recht, man wird's noch erleben. Was, die Zigeunergedanken werden
ihm ſchon vergehen. Um den iſt mir's gar nicht Angſt. Man muß
ihn eben jetzt noch ein wenig kurz aufzäumen, dann wird er ſchon
gut thun. Und das biſle Ungelegenheit, das er in ſeiner unver¬
ſtändigen Jugend gehabt hat, wird ihm unter vernünftigen und chriſt¬
lich denkenden Leuten in's Künftige nicht aufgerechnet werden. Er
iſt ja guter Leute Kind. Ja, ja, Herr Sonnenwirth, der kann ſich
einmal ſeine Frau holen, wo er will. Wofern aber jemals eins ſo
thorecht ſein wollt' und wollt' ein Haar in der Partie finden, ſo will
ich nur ſo grob ſein und will's frei herausſagen, Herr Sonnenwirth:
für mein Gretle wär' er mir immerhin gut genug. Jetzt habt Ihr ge¬
hört, wo Ihr anklopfen könnt, wenn Ihr keine beſſere Schmiede
wiſſet.


In dem Geſicht des Alten, das erſt ganz wohlgefällig ausgeſehen
hatte, zog allmählich der Ausdruck unendlichen Spottes auf. Er ſah den
Müller mit halb zugekniffenen Augen an, ſo daß dieſer in Verlegen¬
heit gerieth und die Hände aus den Wamstaſchen, wo ſie während
ſeiner Rede geſteckt hatten, hervorholte. So, meint Ihr? erwiderte er
trocken und ſtieß dann ein hochmüthiges Gelächter aus.


Nichts hab' ich gemeint! rief der Müller wüthend. Ihr konnt
meinethalben Euren Galgenſtrick verknöpfeln und verbandeln, wo Ihr
wollt. Er ging und ſchlug die Thüre hinter ſich zu, daß das Haus
davon erdröhnte.


Indeſſen war Friedrich zu dem Zigeuner hinabgegangen, der, ver¬
abredeter Maßen ſeines Beſcheides harrend, an dem Gartenzaune lehnte.
Er reichte ihm ein Fläſchchen, ein Brod, eine Wurſt und ein Stück¬
chen Geld. Das letztere hatte er ſich unterwegs von ſeiner Schweſter
geben laſſen; bei den Lebensmitteln mochte ihm in etwas uneigentlicher
Form die Lehre des Waiſenpfarrers vorgeſchwebt haben. Da nimm, iß
und trink, ſagte er mit einer ſonderbaren Haſt und Heftigkeit: und
dann mach', daß du zum Teufel kommſt.


Der Zigeuner griff gleichmüthig zu, dann heftete er ſein ſcheeles Auge
auf den Wohlthäter. Was, und mit dem Dienſtle iſt's nichts? ſagte er.


Schweig' ſtill und mach' mich nicht ſcheu! Ich bin ſo ſchon wild
genug. Trink' deinen Kirſchengeiſt! Sieh, ich hab' dir Wort gehal¬
ten, ſo viel an mir geweſen iſt.


[39]

Der Zigeuner ſchnitt eine höhniſche Fratze: Blitz und Mord! rief
er, ſo wohlfeile Verſprechen kann mir ein Jeder thun und mich ein
paar Stunden um führen. Ich ſeh' ſchon wie's ſteht. Das Chriſten¬
thum hat, ſcheint's, auf einmal ein Loch gekriegt und, nach dem einen
feurigen Backen zu ſchließen, gar noch einen Plätz auf das Loch.


Friedrich ſtieß einen Schrei aus, wie nur der tollſte Jähzorn ihn
eingeben kann, warf ſich über den Zigeuner her und ließ ihn ſeine
Fauſt aus Leibeskräften fühlen. Der Zigeuner war bloß darauf be¬
dacht, ſein Fläſchchen vor Schaden zu hüten, übrigens wehrte er ſich
nicht gegen die Schläge, die er in reichlichem Maße bekam, ſondern
brach ſtatt deſſen in ein ſchallendes Gelächter aus.


Bei dieſem Lachen hielt Friedrich betroffen inne. Hund, was
lachſt? fragte er zornig.


Der Zigeuner ſchüttelte ſich. Herzensbruder, ſagte er, ich muß
lachen, daß dich das Mitleid und der Jammer zum Prügeln treibt.
So was iſt mir noch nie vorgekommen.


Er leerte das Fläſchchen auf Einen Zug, ſchleuderte es mit einem
Juhu hoch empor, und während es klirrend zu Friedrich's Füßen nie¬
derfiel, ſchallte das Jodeln des Zigeuners ſchon aus einiger Ferne
herüber. Verblüfft ſtarrte ihm Friedrich nach.

3.

Es war inzwiſchen dunkel geworden. Friedrich wollte eben in's
Haus zurückkehren, als er eine Geſtalt herausſchlüpfen ſah, in der er
ſeine Schweſter Magdalene erkannte. Sie ging in das Gärtchen und
er hörte ſie dort am Brunnen Waſſer pumpen; denn es iſt eine un¬
löbliche Gewohnheit der Leute, das Waſſer, das ſie Morgens friſch
haben könnten, Abends zu holen und über Nacht ſtehen zu laſſen.
Bald aber hielt ſie in dieſer Verrichtung inne und fing leiſe zu weinen
an. Er wollte zu ihr treten, da kam jemand aus dem Hauſe nach¬
gegangen, horchte eine Weile umher, fuhr, ohne ihn zu be¬
merken, in's Gärtchen hinein, und die gellende Stimme der Stief¬
[40] mutter rief: Wo bleibſt du denn, lahmes Menſch? Was dröhnſeſt da
ſo lang'?


Magdalene antwortete mit ſtockender und gedrückter Stimme.


Was? Ich will nicht hoffen, daß du heulſt! fuhr die Stiefmutter
ſie an.


Das Mädchen ſchwieg.


Was haſt du denn? fragte die Alte hart und lieblos weiter. Als
das Mädchen abermals keine Antwort gab, rief ſie: Das muß was
Beſonder's ſein. Der Herr ſuche mich nicht ſo ſchwer heim, und laſſe
mich's nicht erleben, daß du dich am End' gar vergangen haben wirſt.


O, Mutter, rief Magdalene, die hier plötzlich ihre Stimme fand,
wie könnt Ihr mich ſo verſchänden! Ihr ſolltet Euch der Sünde
fürchten, ſo etwas ſo laut vor der Nachbarſchaft zu ſagen, da Ihr
doch wißt, wie ungerecht Euer Gerede iſt. Ihr müßt's ja ſelber am
Beſten wiſſen, daß ich Euch niemals aus den Augen gekommen bin.


Nun, nun, ich will ja weiter nichts geſagt haben, als daß das
Heulen und Aunxen überflüſſig iſt, wenn man ein gut Gewiſſen hat.


Mein Gewiſſen iſt gut, erwiderte Magdalene unmuthig. Wenn
nur auch alles Andere ſo gut wäre.


Ei was, es ſteht Alles gut. Mach' jetzt nur, daß du in's Bett
kommſt. Du mußt morgen mit hellen Augen und rothen Backen auf¬
ſtehen, weißt wohl warum.


O, Mutter, ſeid barmherzig und bringt den Vater auf andere Ge¬
danken! Auf meinen Knieen wollt' Euch anflehen, wenn ich wüßte,
daß es bei Euch anſchlüge.


Still mit den Narretheien da!


Mutter, ich hab' einen Abſcheu vorm Heirathen. Ich will Euch
bei den höchſten drei Namen ſchwören, ledig zu bleiben mein Leben lang.


Damit wär' mir gedient! rief die Stiefmutter mit höhniſchem Lachen.
Was ein recht's Mädle iſt, das hat eine wahre Begier auf's Heira¬
then, und kann nicht bald genug eine eigene Haushaltung überkommen
wollen, um darin thätig und fleißig zu ſein nach eigenem Sinn. Ein
recht's Mädle ſucht ſeinen Eltern vom Hals zu kommen, ſobald es
kann, und will nicht als eine unnütze Brodeſſerin zu Haus auf der
faulen Haut liegen.


[41]

Lieg' ich auf der faulen Haut? entgegnete Magdalene vorwurfsvoll.
Werd' ich nicht gepudelt vom frühen Morgen bis in die ſpäte Nacht?
Hab' ich das bisle Eſſen nicht ſo gut verdient, wie wenn ich Eure
Magd wär'?


Nun, ſo ſei froh, daß du jetzt beſſere Tage kriegſt.


Ich will keine beſſere Tage, ich bin ja zufrieden. Ich will noch
härter arbeiten, will Euer Kehrbeſen ſein und Eure Ofengabel, will
ſchlumpen und pumpen, nur laßt mich bleiben wie ich bin.


Das wär' ein Kunſtſtück! Bin ich eine Hex'? Kann ich dich
halten, daß du bleibſt heut' wie geſtern, und morgen wie heut?
Kann ich's verhindern, daß du eine alte Jungfer wirſt?


Eine alte Jungfer kann auch in Himmel kommen.


Ja, aber durch's Nebenthürle. Und jetzt hör' auf mit dem Ge¬
ſchwätz. Es iſt eine Ehr' für dich, daß dich der Chirurgus nehmen
will, ſo ein Herr! Wart', wenn du an ſeinem Arm daher ſtratzen
kannſt, das wird eine Hoffärtigkeit ſein! Du verdienſt's gar nicht, daß
es ſo hoch hinaus ſoll mit dir!


Freilich verdien' ich's nicht! Er ſoll eine Andere nehmen, meinet¬
wegen die verwitwete Herzogin, die thät vielleicht beſſer für ihn paſſen.


Was haſt du gegen den Chirurgus? rief die Sonnenwirthin zornig.
Was kannſt du wider ihn ſagen?


O Mutter, begann das Mädchen nach einer Weile mit bebender
Stimme, denkt an Eure eigene Jugend zurück — er iſt ſo alt —
und ſo —


Du wüſte Strunz du! rief die Sonnenwirthin. So, da liegt der
Haſ' im Pfeffer? Der Ehſtand iſt eine chriſtliche Anſtalt, dem Herrn
zum Preis, und nicht für Ueppigkeit und Fleiſchesluſt. Wenn du ſo
lüderliche Gedanken haſt, ſo bet' daß ſie dir vergehen, oder behalt ſie
wenigſtens bei dir und ſchäm' dich. Wenn die Leut' wüßten, daß du
ſo fleiſchlich denkſt, ſie thäten mit Fingern auf dich zeigen.


Magdalene ſchluchzte: O Mutter, Mutter!


Ja, Mutter! ſpottete jene. Ich weiß wohl was Jeſus Sirach
einer Mutter einſchärft im Sechsundzwanzigſten: „Iſt deine Tochter
nicht ſchamhaftig, ſo halte ſie hart, auf daß ſie nicht ihren Muthwillen
treibe, wenn ſie ſo frei iſt. Wie ein Fußgänger, der durſtig iſt,
[42] lechzet ſie, und trinkt das nächſte Waſſer, das ſie krieget, und ſetzet
ſich wo ſie einen Stock findet, und nimmt an was ihr werden kann.“


Paßt das auf mich? Ich will ja lieber gar Keinen! rief Magda¬
lene laut weinend.


Ohne ſich irre machen zu laſſen, fuhr die Sonnenwirthin fort:
Ich bin auch jung geweſen, aber in der Furcht Gottes, und ſo fre¬
ches Zeug iſt mir nicht im Schlaf eingefallen, geſchweige daß es mir
über die Lippen gekommen wäre. Dein Vater, wie ich ihn genommen
hab', iſt auch kein heurig's Häsle mehr geweſen. Im Gegentheil,
dein Bräutigam iſt dir noch näher im Alter. Wo iſt der Menſch,
dem's in der Welt nach ſeinem Kopf geht? Ein Chriſt muß ſich
in das ſchicken, was unſer Herrgott über ihn verhängt. Jetzt heul',
ſo viel du willſt, heul' mein'thalben die ganze Nacht da unten. Aber
morgen hat's ein Ende mit dem Heulen, oder wenn's dich zu ſauer
ankommt, ſo wird dir dein Vater ſchon ein freundlich's Geſicht heraus
bringen helfen, du weißt, er hat Mittel und Wege. Jetzt gut' Nacht,
Jungfer Braut.


Die Alte ſchoß aus dem Gärtchen in das Haus zurück, wie ein
unheimlicher Nachtvogel. Friedrich eilte ſich zu ſeiner Schweſter zu
geſellen, denn, dachte er, die kann's brauchen. Sie war in der Dun¬
kelheit leicht zu finden; er durfte nur dem Schluchzen nachgehen, das
ihren jungfräulichen Buſen zu zerſprengen drohte. Stillſchweigend
faßte er ihre Hand.


Sie hatte ihn nicht kommen hören; erſchrocken und zornig riß ſie
die Hand weg und rief: Wer iſt da?


Gut Freund, Schweſterle. Hat der gelbe Drach' wieder Gift ge¬
ſpieen? Was iſt denn das für ein Bräutigam, dem du die alten
Knochen wärmen ſollſt?


Ach Gott, der Chirurg!


Was! Der Zaunſtecken? — und nun folgte eine Fluth von
Scheltwörtern, die immer drolliger wurden, ſo daß das arme Mäd¬
chen zuletzt ſelbſt darüber lachen mußte. Plötzlich aber fiel ſie in das
vorige Weinen und Schluchzen zurück und warf die Arme um den
Hals des luſtigen Tröſters: O lieber Bruder! rief ſie — ſie mochte
nicht Frieder ſagen, wie die Andern, und Friedrich klang ihr zu vor¬
nehm, zu gewagt — lieber Bruder, ich wollt' ich wär' bei unſerer
[43] Mutter! Sieh, ich bin dir die ärmſte Creatur auf der ganzen Got¬
teswelt! Morgen ſoll der Verſpruch ſein, und das iſt mein Tod. Ich
kann ihn nicht anſehen, er iſt mir zu arg zuwider!


Soll ich ihn zerbrechen? fragte er grimmig durch die Zähne.


Um Gotteswillen, fang keine Händel an! Du würdeſt mich nur
aus dem Regen in die Traufe bringen. Sie ſchwieg eine Weile und
fuhr dann verzagend fort: Es gibt nur ein einziges Mittel, um aus
dem Jammer hinaus zu kommen.


Vermuthlich. Was denkſt du?


Ich ſpring' in die Fils, und das noch heut' Nacht.


Friedrich lachte überlaut. Du arm's Närrle! Das müßteſt du
künſtlich angreifen bei dem niedern Waſſerſtand. Nein, das iſt nicht
der Weg. Ich weiß einen andern — und der wär' ganz ſicher, ſo
bald man ſich feſt darauf verlaſſen könnte.


Du biſt ein leidiger Tröſter.


Ja ſieh, Kind, es ſteht ganz bei dir und du haſt's in der Hand,
ob das Mittel zuverläſſig ſein ſoll oder nicht. Kannſt du dich auf
dich ſelbſt verlaſſen?


Er ſprach dieſe letzten Worte mit beſonderer Stärke, und es lag
dabei etwas Geheimnißvolles in ſeiner Stimme, ſo daß ſeine Schweſter
ihn verwundert anſah. Ich weiß nicht, wo du hinaus willſt, ſagte ſie.


Der Menſch kann Alles was er will, hob er an. Heißt das, ich
hab' mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Der Menſch kann nicht
Alles, was er will, denn ich mag wollen ſo viel ich will, ſo kann ich
z. B. nicht Tag aus Nacht machen. Er ſchwieg eine Weile, um ſeine
Gedanken auf der ungewohnten Spur zu ſammeln.


Ja, das kann ich auch nicht, ſagte Magdalene dazwiſchen, mit
einem Tone, welcher deutlich verrieth, daß ihr das eine brodloſe Weis¬
heit dünke.


Wart' nur, ich bin noch nicht auf dem rechten Trumm. Ich hätt'
eigentlich ſagen ſollen: der Menſch kann Alles, was er nicht will.


Jetzt hör' auf! rief Magdalene unwillig. Du biſt dem Narren
über's Säckle kommen. Wenn du mir keinen beſſern Rath weißt als
ſolches Kauderwelſch, ſo muß ich ungetröſtet ins Bett gehen.


Ich ſchwitz' wie ein Magiſter, ſagte er. Ich möcht' dir das
Ding recht glatt eingeben und bring's nicht richtig heraus. Aber halt,
[44] jetzt geht's. So hätt' ich ſagen ſollen: was der Menſch nicht haben
will, das kann er ſich vom Leib' halten.


Da, halt' uns den Regen vom Leib, weil du ſo ein überſtudirter
Kopf biſt, ſagte Magdalene ſpottend. Es fing nämlich ſo eben zu
tröpfeln an.


Gegen den Regen ſind Schirme gewachſen, oder auch zum Bei¬
ſpiel die Laube dort. Komm, wollen uns d'rin bergen, denn es macht
nicht bloß naß herunter, ſondern auch recht kühl, und ich bin noch
lang' nicht fertig.


Die beiden Geſchwiſter gingen mit einander nach der Laube. Sie
war noch ſommerlich genug überrankt, um vor dem Regen zu ſchützen,
der jetzt in größern Tropfen auf die Blätter niederſchlug.


Den Regen kann man ſich allerdings vom Leib halten, wenn
man irgendwo unterzuſtehen vermag, fuhr Friedrich fort. Aber ich
ſeh' jetzt doch, daß mein Gleichniß nicht auf Alles paßt. Denn, wenn
mich zum Beiſpiel ein Blitz trifft, ſo kann ich ihn nicht —


Behüt' uns Gott! unterbrach ihn ſeine Schweſter. Unberufen, un¬
berufen, unberufen! — Nachdem ſie ſich beeilt hatte, dieſe Zauber¬
formel gegen böſe Einflüſſe und Vorbedeutungen dreimal auszuſprechen,
machte ſie ihm lebhafte Vorwürfe wegen ſeiner ſündlichen Rede.


Das iſt nur ſo figürlich geſagt, erwiderte er. Ich hab' dir bloß
zeigen wollen, daß es Dinge in der Welt gibt, die man ſich nicht
vom Leib halten kann, wo man conträr wollen muß, man mag
wollen oder nicht. Jetzt kann ich dir aber auch um ſo beſſer be¬
weiſen, daß es dafür andere gibt, die man ſich vom Leib halten kann,
wenn man nur recht tüchtig will. Zum Beiſpiel den Chirurgen —


Gott Lob und Dank, endlich kommſt du doch auf den rechten Text.
Aber ſag' nur einmal wie?


Du nimmſt ihn eben nicht.


Und wenn der Vater ſagt: du mußt?


Dann ſagſt du: ich will nicht.


Kann ich mir dann auch die Streich' vom Leib' halten?


Ja, ſieh, lieb's Kind, das iſt's eben, darauf hab' ich von An¬
fang an hinaus gezielt und jetzt iſt der Text vollſtändig. Vogel friß
oder ſtirb! das iſt der Text. Wenn aber das Vögele nicht freſſen
will, und es will eben um keinen Preis nicht, ſo muß es zwar
[45] ſterben, aber die Sach' iſt doch nach ſeinem Schnabel gegangen.
Das Leben iſt der höchſte Preis, den ein Vogel oder ein Menſch ein¬
ſetzen kann, und mehr als das Leben kann man Einem auch nicht
nehmen. Wenn Einer nun ſeinen Sinn feſt darauf richtet, daß er
denkt: die und die Nuß will ich nicht beißen! ſo muß ihm zum
Allererſten das Leben wohlfeiler ſein als der Schnabel. Dann wird's
aber auch ganz gewiß nach ſeinem Schnabel gehen, und wird oft
nicht einmal das Leben koſten. So ſagſt du jetzt, du mögeſt den
Dürren nicht.


Für mein Leben nicht! rief das Mädchen leidenſchaftlich.


Juſt, wie ich ſagen wollte! Du bekennſt alſo ſelber, daß dir dein
Leben nicht ſo lieb iſt, als es dir lieb wär', des dürren Stecken ohne
zu ſein, und vorhin haſt du ja geſagt, du wollteſt lieber in die Fils
ſpringen. Damit preſſirt's übrigens gerade nicht ſo ſehr, nur muß
es dein völliger Ernſt ſein, und zwar ſo, daß du dich lieber todt
ſchlagen ließeſt. Sieh, dein Leben wird dir doch lieber ſein, als eine
trockene Haut, oder ein heiler Rücken. Was ein heiler Rücken werth
iſt, das weiß ich aus Erfahrung, und ich kenn' auch des Vaters
ſchwere Hand.


Ja, ich auch.


Du wirſt ſie aber doch nicht ſo fürchten, wie den Tod.


Nein, das gerade nicht.


Nun ſieh, jetzt kannſt du an dir ſelbſt die Probe machen, ob's
ein Ernſt iſt oder eine bloße Redensart mit dem was du geſagt haſt.
Die Menſchen brauchen viel leere Redensarten. Da ſagt Einer:
Das und das laſſ' ich mir um's Leben nicht gefallen! und nachher,
Wenn's drauf und dran kommt, läßt er ſich's gefallen um des Eſau's
Linſengericht oder auch noch um weniger, oder weil er einen Buckel voll
Schlag' fürchtet. Nimm dir einmal die Sach' genau in Augenſchein.
Was kann dir der Vater thun? Umbringen wird er dich nicht, du biſt
ja ſein eigen Fleiſch und Blut. Aber puffen wird er dich, deſſen
kannſt du gewiß ſein, und mach' dir nur keinen blauen Dunſt darüber.


Magdalene ſeufzte.


Auch ſonſt wird's dir übel gehen; du wirſt ein wahres Hunde¬
leben haben, mehr noch als bisher. So leib mir's thut, dir das für
[46] gewiß zu ſagen, ſo müßt' ich ja doch ein ſchlechter Rathgeber ſein,
wenn ich's verſchweigen wollte.


Magdalene ſeufzte abermals.


Ich glaub's gern, fuhr er fort, daß es dir ſchwer eingeht, aber
dennoch mußt du's recht genau in's Aug' faſſen. Uebrigens kannſt
du dir dabei voraus denken, wie du bei jedem ſcheelen Blick, bei jedem
Streich, an jedem Hungertag ſagen wirſt: iſt mir doch lieber, als
wenn ich bei dem Zaunſtecken ſein müßte, den ich nicht mag. Und
dann, wie lang wird's dauern? Nur ſo lang, als ſie meinen, daß
ſie dich zwingen können. Wenn deine Geduld größer iſt als ihre
Bosheit, ſo wird ihre Bosheit zu nichte. Der ſchlanke Freiersmann
macht am Ende den Kuhhirten von Ulm, oder es find't ſich unter¬
deſſen eine andere Gelegenheit, die dem Vater in die Augen ſticht, ſo
daß er ihm ſelber den Laufpaß gibt. Zeit gewonnen, iſt Alles ge¬
wonnen. Mit dem Theil Ungemach, das du dir nicht vom Leib
halten kannſt, kaufſt du dein junges Leben los von größerem Unge¬
mach und behältſt es unverſchandirt, ſo daß dir der grüne Schleicher
ſein Lebtag nicht in's Bett kommen kann. Ich ſag' dir, Magdalene
was ich da geſprochen habe — es iſt zwar gar nichts Neues, und
Viele reden desgleichen, aber ſie wiſſen nicht, was ſie ſagen; denn
es iſt ein Geheimniß! Wer's aber recht verſteht, der kann Wunder
damit thun, und Wunder ſind auch ſchon damit gethan worden! Mit
drei einfältigen Wörtlein: Ich thu's nicht! und ich thu's eben nicht!
damit kann ein rechter Kerl — Mannskerl oder Weibskerl, gilt
gleich viel — einen Güterwagen ſperren, und wenn ſechs Dutzend
Mecklenburger vorgeſpannt wären. Jetzt wirſt du verſtehen, warum
ich geſagt hab': Das Mittel iſt ſicher, wenn man ſich darauf ver¬
laſſen kann. Frag' dich nun ſelber, ob es ſicher iſt.


Die Schweſter trat feſt und aufrecht vor den Bruder hin. Und
ich thu's eben nicht! rief ſie, ſeinen Ton nachahmend, indem ſie
dabei auf den Boden ſtampfte.


So gefällſt du mir, ſagte er lachend. Komm, ſetz' dich wieder.
Sei nur ſtandhaft und laß dir weiter ſonſt keine graue Haar'
wachſen. Ich bin ja um den Weg. Wenn ſie dir den Futterkaſten
gar zu arg verſperren, ſo will ich dein Rabe ſein, und wenn des Alten
Hand zu ſchwer wird über dir, ſo will ich dazwiſchen ſpringen und
[47] die ſchwerſten Streiche auffangen. Du weißt ja, er iſt leicht ab¬
zuleiten: wenn er Hiſt töbert, ſo braucht man ihm nur mit einem
ungäben Wort zu kommen, dann läßt er Hiſt fahren und tobt Hott.
Laß mich nur machen, ich will dir den Regen mit dem Dachtrauf
vom Leib halten, ich hab' ja ein dickes Fell.


Magdalene wurde vollends ganz zuverſichtlich, während ſie dieſes
Schutz- und Trutzbündniß verabredeten. Verlaß dich nur auf mich,
ſagte ſie, ich will zäh ſein wie eine Katze.


Recht ſo! erwiderte Friedrich. Was will das bißle Ungemach
heißen, wenn die Alte ſich dafür das Gallenfieber an den Hals är¬
gert. Es iſt doch ein wüſt's Weibsbild, und was ſie für abſcheuliche
Reden führt!


Ach, ich hab' mich ſo geſchämt, ſagte Magdalene, indem ſie wieder
zu weinen begann und den Kopf auf ihres Bruders Schulter legte.
Sie hat mir das Herz im Leib herumgedreht mit ihren böſen Wor¬
ten. Ich will ja dem Mann ſonſt nichts Schlimmes nachgeſagt
haben, aber warum ſoll er mir denn mit's Teufels Gewalt gefallen?
Es iſt ja doch wahr, daß er alt iſt und häßlich, und ſoll ich denn
das nicht ſagen dürfen?


Freilich darfſt du's ſagen, und ein recht's Mädle darf wohl ein
Aug' auf ein Mannsbild haben und lugen ob was Wohlgefälliges
an ihm iſt oder nicht. Die Heuchlerin, die! Glaub' mir nur,
wenn Eine ſo verdammlich und augenverdreheriſch redet und ſo den
Willen Gottes vom Zaun bricht, die iſt gewiß ein fauler Apfel.


Ach geh, du wirfſt das Beil auch gleich zu weit hinaus. Nachſagen
kann man ihr nichts, und ſie hat dem Vater immer genau Haus
gehalten, nur gar zu genau.


Meinetwegen, aber was ſie da von ihrer Jugend ſchwätzt, das iſt
die lautere pure Heuchelei, und eh' ich's ihr glaube, eher glaub' ich
daß ſie ein Hufeiſen verloren hat. Für was braucht ſie bei dir gleich
auf ſo ſchandliche Gedanken zu kommen? Es ſucht Keiner den andern
hinter'm Ofen, er ſei denn ſelber dahinter geſteckt. Bleib' du bei
deiner Art und ſchäm' dich nicht. Der lieb' Gott hat nichts dawider,
wenn dir ein friſchgrüner Apfelbaum beſſer gefällt als eine dürre
Pappel. Was, Dummheit! Gleich und gleich geſellt ſich gern.


Ja, du ſcheinſt mir auch ein feiner Hecht zu ſein!


[48]

Mit den Alten werd' ich's niemals halten, ſo viel iſt gewiß.
Jetzt möcht' ich nur mein Schweſterle recht anſtändig verſorgt ſehen.
Wart' einmal, wir haben ja die Auswahl unter den jungen Burſchen,
wollen geſchwind Muſterung halten.


Ach, ſchwätz' nicht ſo überzwerch heraus.


Mit welchem ſoll ich denn gleich anfangen? Ja, da iſt zum
Exempel heut Abend der untere Müller da geweſen, der Georg.


Er bemerkte ein leichtes Zucken an ſeiner Schweſter und drehte
ihr Geſicht zu ſich herum. Was? rief er, hab' ich gleich auf den
rechten Buſch geklopft? Es iſt nur ſchad', daß ich in der Dunkel¬
heit nicht ſehen kann, wie du dazu ausſiehſt.


Laß mich zufrieden, ſagte ſie. Ich hab' was Nöthigers zu thun
jetzt, als nach den jungen Burſchen auszuſchauen. Behalt' deinen
Spott bei dir.


Wenn dir's Ernſt mit ihm iſt, morgiges Tages bring ich ihn
herbei, und wenn ich den Kälberſtrick dazu nehmen müßte! Ich bin
ihm ohnehin noch eine Rache ſchuldig. Er hat mich einmal helfen
liefern, und wiewohl ich ihm das nach Geſtalt der Sachen nicht ſon¬
derlich nachtrage, ſo wär' mir's doch zweimal recht, ihn zur gnädigen
Straf' an eine lebenslange Kette zu legen.


Still, ſtill! rief ſie und hielt ihm, übrigens erſt nachdem er aus¬
geſprochen hatte, die Hand auf den Mund. Komm, es iſt ſchon ſo
ſpät, wir müſſen in's Bett. Der Vater könnt' lärmen.


Sie gingen leiſe in das Haus zurück und ſagten einander gute
Nacht. Friedrich aber wartete bis ſeine Schweſter in ihre Kammer
hinauf gehuſcht war, und ſagte: Ich muß doch probiren, ob man heut
noch Wind und Wetter beobachten kann. Er ſchlich über den Oehrn,
klinkte unhörbar die Thüre zum Wirthszimmer auf, wo ein Knecht in
der Ecke ſchnarchte, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten, aber
ſo lautlos, daß ihm kaum der Sand unter den Füßen kniſterte, ging
durch ein zweites kleineres, und legte dort das Ohr an die Thüre,
die in's Schlafgemach ſeiner Eltern führte. Er hatte ſich nicht ge¬
täuſcht, ſie waren noch in einer Gardinenunterredung begriffen.


Auch wider den untern Müller hätt' ich eigentlich nichts einzu¬
wenden, hörte er ſeinen Vater ſagen.


[49]

Wie kommſt du denn auf den? fragte die Sonnenwirthin dagegen.


Mir däucht's ſeit einem Vierteljahr oder ſo etwas her, daß er
ein Aug' auf das Mädle hat. Er hat mir ſchon ſo eine Art Wink
gegeben, freilich nicht mit dem Holzſchlegel, denn er hat gar einen
beſonderen Stolz. Aber er iſt ordentlich, bringt ſein Sächle vorwärts,
und thät auch ſonſt beſſer für ein jung's Mädle paſſen, als ſo ein
alter Krachwedel.


Ei, Alterle, wie thuſt du doch ſo jung! erwiderte die Sonnen¬
wirthin. Uebrigens hab' ich ebenmäßig nichts wider den Müller, und
dem könnteſt du außerdem einen großen Gefallen erweiſen. Ich hör',
er will bauen, und da werden ihm ein paar tauſend Gulden eine
Frau erſt recht werth machen.


Das geht nicht! brummte er dagegen. Von der Sonne kann ich
nichts weggeben. Die iſt und bleibt der Grundſtock in der Familie,
die darf nicht einen Strahl von ihrem Glanz einbüßen.


Dann wird er wenig Luſt haben, ſagte ſie. Zum Bauen hat
er das Geld nöthig. So wacker er iſt, ſo iſt er doch noch zu
jung, als daß ihm jemand ſo viel leihen thät'! Alſo muß er's er¬
heirathen.


Soll anders wohin gehen.


Der Chirurgus dagegen ſagt, es ſei eine Schande für einen
Mann, wenn er beim Heirathen auf's Geld ſehe. Er begehrt nichts
dazu, er ſagt, deine Tochter wär' ihm lieb, und wenn ſie nackt und
bloß zu ihm käme, er wolle ſie ſchon ernähren.


Nu, wenn ſich kein Anderer meldet, ſo kann er ſie haben.


Ja ſieh', aber er preſſirt eben, und wird auch nicht grad warten
wollen, bis es uns gefällig iſt. Mit dem Probiren iſt's ſo eine Sach'.
Die Mannsleut' ſind nicht ſo unintereſſirt heutzutag. Wenn nun
kein Anderer käm', und der Chirurgus ging' ſonſt wo auf die Braut¬
ſchau, ſo blieb' eben das Mädle ſitzen, und das wär' doch ein Spott
und eine Schand'.


Hm! brummte der Sonnenwirth.


Der Habich iſt beſſer als der Hättich, fuhr die Frau fort, und
wenn man einmal etwas thun will, ſo thut man's beſſer gleich, da¬
mit's nachher nicht zu ſpät iſt. Mir kann's zwar ſoweit einerlei ſein;
es iſt dein Kind und nicht mein's. Was geht's mich an, wenn ſie
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 4[50] eine alte Jungfer werden will? Meinetwegen kann ſie in der Wirth¬
ſchaft bleiben, ſo lang ſie mag. Deßhalb iſt mir's am liebſten, wenn
ich dabei ganz aus dem Spiel bleiben kann. Nichts Schwereres für
eine Stiefmutter, als ſolcherlei Pflichten zu erfüllen; denn wenn ich
noch ſo gut ſorge, ſo bin ich doch eben die rechte Mutter nicht, und
wird mir mein Sorgen noch obendrein verdacht. Mach' du die Sach'
mit deiner Tochter ab. Sprich mit ihr und frage ſie, was ihr ge¬
fällig ſei.


Fragen! brauſte der Sonnenwirth auf. Man wird ſo ein Ding
noch lange fragen. Sie ſoll froh ſein, wenn man ſie verſorgt. Nun
ja, der Haue muß ein Stiel gedreht werden. Alſo, wenn kein Andrer
um den Weg iſt, ſo mag's mein'thalben der Chirurgus ſein. Aber da ſoll
er ſich nur das Maul abwiſchen: baar Geld kriegt er keins von mir.


Sei ganz ruhig. Bis wann ſoll denn die Sach' jetzt richtig werden?


Das laſſ' ich dir über.


Sieh, Schwan, hob die Sonnenwirthin mit einem freundlichen
und überzeugenden Tone an, ich hab' das ſchon voraus bedacht, denn
ich muß ja doch an Alles denken. Weißt, morgen iſt ja der Monats¬
tag, da kommen die geiſtlichen Herren wieder zuſammen.


Hm, brummte der Sonnenwirth.


Der Amtmann wird auch dabei ſein, vielleicht ſogar der Vogt von
Göppingen.


Hm, ja.


Und weil unſer Haus eigentlich doch auch ein wenig über den
Leiſten geſchlagen iſt, ſo könnte man dem Ding einen Anſtrich geben,
daß es ein recht geſellſchaftliches fürnehmes Ausſehen bekäme. Weißt,
auf ſo was verſtehſt du dich! Wenn die Herren dann aufſtehen müſſen
und Geſundheit trinken, ſo wird der Verſpruch zur Hauptſach' und
die Herren mögen wollen oder nicht, ſie ſind dann eigentlich nur um
des Verſpruchs willen da.


Der Sonnenwirth hatte immer beifälliger gebrummt. Dabei ſoll's
bleiben! ſagte er endlich. Aber jetzt laß mich ſchlafen, haſt mir die
Zeit lang genug gemacht.


Auch Friedrich hatte genug gehört. Leiſe wie er gekommen war,
ſchlich er hinaus und begab ſich auf ſeine Kammer, wo er lange
nicht ſchlafen konnte.


[51]

Als er in der Frühe ſeiner Schweſter auf der Treppe begegnete
und ſie ihm guten Morgen ſagte, klang ihre Stimme gar nicht ſo
entſchloſſen, wie vergangene Nacht. Du machſt ja ein Geſicht wie die
Katz wenn's donnert, raunte er ihr zu; ſtell' dich krank, Magdalene,
ſtell' dich krank, und mach', daß du nur über den Tag hinüberkommſt.


Es wär' keine Verſtellung, erwiderte ſie, wenn ich mich wieder
legte.


Thu's, thu's! rief er und ſprang die letzten acht Staffeln mit
Einem Satz hinab.


Er ging den Fußweg am Bache hin, der mitten durch den Flecken
läuft. Die Gänge der Mühle klapperten ihm eifrig entgegen. Von
der Brücke aus ſah er den jungen Müller im Hofe beſchäftigt, allerlei
Holz zuſammen zu ſägen. Er blieb unſchlüſſig ſtehen, als aber jener
aufblickte, ſetzte er ſich in Bewegung, als ob ihn der Weg zufällig
hier vorüberführe.


Guten Morgen, rief er in den Hof hinein.


Schön' Dank.


Treibſt's gut um?


So ſo, la, la, war die verdroſſene Antwort.


Ich glaub', an dir iſt ein Zimmermann verloren gangen, ſagte
Friedrich, indem er näher trat und ſich gegen die Mauer lehnte.


Hm, 's iſt nur ſo ein wenig geboſſelt.


Man ſagt ja, du wolleſt bauen, Georg?


Willſt mir dabei an die Hand gehen, Frieder?


Ja ich! Was hätt'ſt du von mir? Soll ich dir Steine zutragen?


Hm, ja, aber ſolche, wo der Karl Herzog drauf geprägt iſt.


Oder der alt' Kaiſer? Du haſt's gut vor, Brüderle, ſolche Bauſteine
ſind mir zu ſchwer, die muß ich liegen laſſen.


Die Beiden ſahen einander an und ihre ſcheinbar gleichgiltigen
Mienen ſpielten ein langes ſtummes Frag- und Antwortſpiel.


Ich muß eben ſehen wie ich ein Ducatenmännle in's Haus krieg',
ſagte der Müller endlich. Vielleicht wiſſen mir die Zigeuner eins.


Oder ein Bettelmädle mit ein paar tauſend Gulden, entgegnete
Friedrich, den Stich verbeißend.


Weißt mir eine? fragte der Müller und ſah ihn forſchend an.


4 *[52]

Friedrich ſchlug die Augen nieder und wühlte mit dem Fuß im
Sägmehl, das am Boden lag. Iſt denn das Bauweſen ſo nöthig?
fuhr er endlich in ſeiner Verlegenheit heraus.


Juſtement ſo nöthig, als dein Geſchwätz unnöthig iſt, war die
Antwort.


O ich will nicht lang mit dir ränkeln, du zuckerig's Bürſchle du.
Bau du mein'twegen ſo hoch wie der babyloniſch' Thurn geweſen iſt.


Dieſes brummend nahm er einen verdeckten Rückzug, das heißt,
er ſetzte den eingeſchlagenen Weg an der Mühle vorüber fort, um in
einem weiten Bogen wieder nach Hauſe zu kommen.


Der junge Müller ſah ihm verwundert und ärgerlich nach. Ich
glaub', der hat Maulaffen feil, brummte er, indem er wieder zur
Säge griff.


Die Katz' maust links, die Katz' maust links! ſagte Friedrich zu
ſich, mit bedenklichem Geſichte ſeine Schritte fördernd. Ich wollt' nur,
daß der Tag im Kalender durchgeſtrichen wär'.


Von Noth und Eifer getrieben rannte er dahin, obgleich er eigent¬
lich nicht wußte, warum er zu eilen habe; es war eine Aufregung
in ihm, die ſeinem Geſicht in dieſem Augenblick ein beſonders kräfti¬
ges Ausſehen gab. Die Leute, die auf der Straße oder an den
Fenſtern waren, mußten ihn unwillkürlich mit Wohlgefallen betrachten,
und ein Mädchen, das ihm begegnete, grüßte ihn auf eine Weiſe,
die trotz ſeiner gedankenvollen Selbſtvergeſſenheit nicht unbemerkt von
ihm blieb. Es war ein ſchlankes Mädchen mit gelben Zöpfen, noch
ſehr jung und von auffallend hellen Geſichtszügen; in ihren Mienen
lag eine eigenthümliche Miſchung von Zutraulichkeit und Unſchuld.
Sie grüßte ihn mit dem gebräuchlichen Bauerngruße, das heißt, ſie
„wünſchte ihm die Zeit“, aber mit einem Blicke, der, ſo ſchnell und
ſchüchtern er vorüberglitt, eine Freundlichkeit, eine gewiſſe Theilnahme
und Hingebung ausſprach, die nur in einem Blicke ſo ausgeſprochen
und eben deßhalb nicht weiter beſchrieben werden kann. Genug, ihm
war als hätte ſich das junge Mädchen mit dieſem Blicke ganz und
voll und warm in ſeine Arme gelegt, und er, für einen ſolchen Ein¬
druck nichts weniger als unempfänglich, fühlte ſich hingeriſſen, obgleich
er ſich erſt einige Secunden nach der Begegnung bewußt ward, daß
er gegrüßt worden ſei, daß er einen Blick dabei wahrgenommen, und
[53] daß dieſer Blick ihm gegolten habe. Jetzt erſt blieb er ſtehen und
ſah ihr nach. Sie war ſchon ziemlich weit entfernt, und ihre Zöpfe
flogen luſtig hinter ihr her. Ich kenn' doch jedes Kind hier, ſagte
er: iſt's vielleicht eine Fremde? Sie trägt ſich übrigens ganz Ebers¬
bachiſch. Aber das iſt ein blitznett's Schelmengeſicht! — Er wäre
ihr gerne nachgegangen, aber er ſcheute die Mühle. Auch fiel ihm
nur allzubald die Sorge wieder auf's Herz, die ihn aus dem Hauſe
getrieben hatte. Er wandte ſich, durchmaß einige Gäßchen, ging
weiter oben über das Waſſer zurück, und kam unverrichteter Dinge
nach Hauſe, wo ihm ein vielſagender Duft aus der Küche entgegen¬
ſtrömte.


Nach dem Eſſen, als er Gelegenheit fand, einen Augenblick mit
ſeiner Schweſter allein zu ſein, fragte er ſie: Iſt dir's noch wie
geſtern ?


Magdalene verſuchte zu lachen; es wollte ihr aber nicht recht ge¬
lingen. Ich thu's eben nicht! flüſterte ſie, indem ſie in der geſtrigen
Haltung auf den Boden ſtampfte; aber ihre Stimme klang wie eine
ohnmächtige Einſprache gegen das Schickſal und über ihre Augen flog
ein Nebel hin. Die Geſchwiſter hörten des Vaters Tritt; da ſtoben
ſie auseinander.


Friedrich's Beklemmung ſtieg immer höher. Der Geiſt der Ge¬
waltthätigkeit begann in ihm wach zu werden. Er ging unruhig durch
das Haus und ſuchte ein Brett, das ihm gerecht wäre. Dann ſtieg
er auf den Boden, um Erbſen zu holen. Er wollte dem Chirurgus
einen halsbrechenden Empfang bereiten. Wenn ſie mich auch wieder
nach Ludwigsburg ſchicken, dachte er, was thut's! Als er aber mit
ſeinen Vorbereitungen fertig, war, fiel es ihm ein, daß die geiſtlichen
Herren, die heute ihr „Kränzchen“ in der Sonne hatten, mit nächſtem
anrücken würden, und er entſagte ſeinem Attentat. Vor der Kleriſei
hatte er einen wohlbegründeten Reſpekt. Denn, dachte er in ſeiner
rohen Weiſe, ſtatt des Chirurgen könnt' mir auch einer von den
Pfarrern abe hageln, und das thät' mir ſchlimmer gedeihen, als wenn
ich meinem Vater einen Strick um den Hals gemacht hätt' und hätt'
ihn an den Schild hinaus gehenkt. Nicht lange, ſo erſchienen die Er¬
ſten der erwarteten Ankömmlinge. Von ihren weitſchößigen ſchwarzen
Röcken umrauſcht, ſtiegen ſie ernſthaft die Treppe empor, und ihre weißen
[54] Bäffchen oder Ueberſchlägchen, wie man dieſes geiſtliche Würdezeichen
in Süddeutſchland heißt, begleiteten ihre Unterredung, indem ſie, beim
Sprechen von den Halsmuskeln in Bewegung geſetzt, taktmäßig über
der Bruſt auf und nieder klappten. Arglos überſchritten die Paſtoren
die verhängnißvolle Staffel, die, wenn Gedanke und That Ein Ding
wären, ihnen ein Stein des Anſtoßes und gewiß auch nicht geringen Aerger¬
niſſes geworden ſein würde. Dem Chirurgus hatte es ſein guter
Geiſt eingegeben, daß er die Nachhut bildete, und ſo gelangte auch
er wohlbehalten unter den Fittigen der geiſtlichen Macht herauf. Die
Herren verfügten ſich in ihr beſonderes Cabinet. Die übrigen Mit¬
glieder der Geſellſchaft ließen nun auch nicht länger auf ſich warten;
als die Allerletzten kamen, um keine unſchickliche Eile zu beweiſen, der
Pfarrer und, Saul unter den Propheten, der Amtmann des Orts.
Mittlerweile fanden die dampfenden Schüſſeln ihren Weg aus der
Küche in's Cabinet. Die Sonnenwirthin und Magdalene trugen ſie.
Letztere hatte, als einen ſchwachen Verſuch ſich mit Krankheit zu ent¬
ſchuldigen, ein Tuch um den Kopf gebunden, das ihr aber noch un¬
terwegs von der ſorgſamen Mutter abgeriſſen wurde. Morgen kannſt
Kopfweh haben, ſo viel du willſt, ſagte ſie, aber heut darfſt nicht
wehleidig ſein. Der Sonnenwirth begnügte ſich, die Herren zu em¬
pfangen, in's Cabinet hinein zu complimentiren, und von Zeit zu Zeit
nachzuſehen, ob nichts fehle. Der Chirurgus durfte die Flaſchen auf¬
tragen helfen, was dem Amtmann und dem Pfarrer Anlaß gab, ein
wenig zu ſticheln. Nachher hatte er die Ehre, einem von den Herren
Schnupftabak zu beſorgen, und zuletzt, als man nichts mehr von ihm
wollte, zog er ſich mit einer feinen Wendung zurück. Mit dem Haupt¬
auftritt mußte man natürlich warten, bis die Herren ihre nächſte
Aufgabe, nämlich die theils gebackenen, theils blau abgeſottenen Forellen
vom Tiſche verſchwinden zu machen, bereinigt haben würden.


Friedrich war mit der Aufwartung im gewöhnlichen Wirthszimmer
bei den Fuhrleuten betraut worden, erhielt aber nach einiger Zeit
durch Vermittlung ſeiner Mutter, die ihm doch nicht recht traute,
vom Vater den Befehl, in den Stall zu gehen und die Pferde zu
füttern. Die unſchuldigen Thiere mußten ſich dabei manchen Puff
gefallen laſſen. Als er wieder herauf kam, ſah er, was ihm ſein
Verſtand ſchon geſtern Abend hätte vorausſagen können, ſeine Schweſter
[55] als „glückliche Braut“. Der Vater hatte ſich inzwiſchen die Freiheit
und die Ehre genommen, ſie als ſolche im Cabinet vorzuſtellen, das
man, um der Sache mehr Oeffentlichkeit und Anſehen zu geben, gegen
das Wirthszimmer offen gelaſſen hatte. Die Herren wünſchten Glück,
ſtießen mit den Gläſern an und machten etliche verſteckte ſcurrile
Witze, Alles das, wie es bei ſolchen Gelegenheiten zu geſchehen pflegt.
Magdalene knixte mit ängſtlichem Lächeln und zwang die Thränen
zurück, die freilich ſehr nahe waren, aber wie hätte ſie vor ſo ge¬
waltigen Herren wagen können, einen Willen geltend zu machen?
Der Chirurgus ſtand neben ihr, ganz grün vor Seligkeit. Die Son¬
nenwirthin freute ſich, daß ſie den niederdrückenden Einfluß, den die
Herrengeſellſchaft auf das Mädchen üben würde, ſo ſicher voraus be¬
rechnet hatte. Der Sonnenwirth ſchmunzelte und ſchwamm in Wohl¬
behagen über die honoratiorenſchaftliche Haupt- und Staatsaction.
Friedrich ſeinerſeits ließ im Wirthszimmer ſeine feſtliche Bewegung
an einer Flaſche aus, die, als ſie mit lautem Klirren am Boden zer¬
brach, die allgemeine Stimmung durch Schrecken, Lachen, Zorn und
Scheltworte hindurch in das gewöhnliche Geleiſe zurückbrachte. Die
Thüre des Cabinets ſchloß ſich wieder, die Wirthſchaft ging ihren
Gang, und als die Herren Abends ihre Sitzung aufhoben, blieb es
ein Geheimniß, was der Gegenſtand ihrer Unterhaltung geweſen war,
ob die Ewigkeit der Höllenſtrafen oder die Aufbeſſerung der Beſol¬
dungen. Nur Eines hatte ſich entſchieden und unabänderlich feſtge¬
ſtellt, nämlich, daß Magdalene jetzt das war, was ſie vergangene
Nacht um keinen Preis, ſelbſt nicht um den Preis ihres Lebens, hatte
werden wollen.


Friedrich redete den ganzen Abend kein Wort mit ſeiner Schweſter.
Als ſie ihn einmal lange ſchüchtern und bittend anſah, antwortete er
mit einem Blick, der ihr deutlich ſagte, daß er, wenn er Gelegenheit
hätte, ſeinen tollen Jähzorn thätlich an ihr auslaſſen würde. Sie
vermied es deßhalb, allein mit ihm zuſammenzutreffen. Da man ihr
jetzt keinen Zwang mehr anthat und ihr Bräutigam, geduldig auf
beſſeres Wetter wartend, ſich bei Zeiten nach Hauſe gemacht hatte, ſo
ging ſie noch vor dem Abendeſſen zu Bette.


Auch dieſe Nacht konnte Friedrich die Augen lange nicht ſchließen.
Es war ihm ſehr übel zu Muthe. Der Zorn über das feige Benehmen
[56] ſeiner Schweſter hatte ſich in eine ſeltſame Bangigkeit verwandelt.
Er fühlte ſich ganz im Stich gelaſſen und begann zu ahnen, daß ihm
das Leben noch harte Nüſſe zu knacken geben werde. Daß die Men¬
ſchen nicht ſeien, wie ſie ſein ſollten, das war ihm klar geworden;
wie er aber ſelbſt unter ſolchen Umſtänden eigentlich ſein ſollte, das
wußte er ſo wenig, daß es ihm nicht einmal einfiel, auch nur die
Frage an ſich zu ſtellen. Mitleid, Angſt, Empörung wechſelten auf
die wunderlichſte Weiſe in ihm ab, und das Heimweh nach der ſichern
Umfriedigung des Zuchthauſes kehrte ihm aber und abermals zurück.
Er hatte es mit angeſehen, wie neben den Verbrechern auch arme
Waiſen zu nicht ſchimpflicher Arbeit in daſſelbe aufgenommen wurden,
und ihr Loos wollte ihn wie ein neidenswerthes Glück bedünken.
Aber mitten unter dieſen verſchiedenen Regungen fand er noch Raum
genug in ſeinem Herzen, um mit vielem Behagen an das hübſche Mäd¬
chen zu denken, das ihn heute auf der Straße gegrüßt hatte.

4.

Der Jüngling, deſſen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu ver¬
folgen unternommen haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder
betrat, über eine jener unſichtbaren Grenzen geſchritten, welche ſich
durch die Geſellſchaft und durch den einzelnen Menſchen ſelbſt hin¬
durchziehen. Er empfand vor ſeinem Vater, wo nicht Achtung, denn
zu dieſer gehört ein ausgebildeteres Bewußtſein, ſo doch eine unbe¬
ſtimmte Scheu, ja ſogar unter rauher Decke einen Reſt kindlicher Zu¬
neigung; und dennoch ſagte ihm ein unbeſtechliches Gefühl, daß er
durch den bloßen Rücktritt aus dem Kreiſe des Waiſenpfarrers in
den Kreis des Sonnenwirthshauſes um eine Stufe gefallen ſei. Das
Leben war hier ein ganz andres und wies mit ſeinen alltäglichen
und doch gebieteriſchen Zwecken ſo manche Forderung der reifenden
Seele zurück, welche dort, obwohl unter dem einförmigen Frohndienſt
des Wollekrämpelns, von einem Geiſte, den ſeine Zeitgenoſſen apoſto¬
liſch nannten, geweckt worden war; aber die fortgeſetzte Berührung
[57] mit dem Alltagsleben mußte auch zugleich die Wirkung haben, daß die¬
ſes Gefühl allmählich wieder in ihm abgeſtumpft wurde. Sein blutiges
Handwerk, wie es das unendliche Weh, das aus den ſtummen Augen
der Thiere jammert, zum Schweigen brachte, ſo ſchlug es auch die
verwandte Stimme in der Menſchenbruſt nieder. Daneben waren die
Gäſte, mit denen er täglich in der Wirthsſtube zu thun hatte, gewiß
lauter „ehrliche Leute“, aber wahrhaftig keine Tugendſpiegel, und er
hatte nur zu viele Gelegenheit, die mehr oder minder klare Betrach¬
tung anzuſtellen, daß Achtbarkeit und guter Ruf in dieſer Welt ſehr
oft weniger von einem ſtreng ehrlichen und ſittlichen Weſen als von
Klugheit und zufälligen Umſtänden abhängen. Je minder klar aber
dieſe Betrachtung in ihm aufſtieg, deſto gefährlicher war ſie ihm.
Ueberhaupt wußte ſein Kopf nichts von Nachdenken, ſondern nur von
raſchen Eindrücken, die ſich unter lärmenden Zechgenoſſen und auf dem
Tanzboden entweder befeſtigten oder eben ſo raſch wieder verdampften.
Dieſes Bedürfniß, eine immer rege mißbehagliche Unruhe zu verjubeln,
ſöhnte ihn auch wieder mit ſeiner Schweſter aus, bald nachdem ſie
dem aufgedrungenen Bräutigam angetraut worden war. Denn da ſie
von ihrem Manne ziemlich leidlich behandelt wurde, ſo hatte ſie dann
und wann den Troſt, dem geliebten Bruder einen auf die Seite ge¬
brachten Groſchen zuſtecken zu können, und Friedrich, den der Vater
ſehr kurz zu halten für gut befand, verſchmähte die klingenden Be¬
weiſe der Schweſterliebe nicht.


Während er auf dieſe Weiſe theils gleichgiltig, theils in dumpfer
Luſtigkeit dahin lebte, kehrten auch ſeine äußeren Umſtände ganz in
das gewöhnliche Geleiſe zurück. Zu Hauſe ging er unangefochten aus
und ein, und ſtand mit der Stiefmutter in jenem mürriſchen Verkehr,
wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in der Gemeinde
war er geduldet; Niemand zeigte ſich ihm widerwärtig, Mancher blickte
ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, ſchien nicht
gedacht zu werden. Ihm ſelbſt war nicht wohl und nicht wehe; mit
dem Zuchthauſe hatte er auch den Waiſenpfarrer vergeſſen. Ein
ſtrenges Geſicht machte ihm Niemand mehr als der Amtmann. Aber
dies hatte wenig zu ſagen, denn der Amtmann galt perſönlich nicht
ſehr viel bei der Gemeinde und zu Hauſe gar nichts; auch nahm der im
Grunde gutmüthige und ſchwache Mann eigentlich nur deßhalb eine
[58] Amtsmiene gegen ihn an, weil er ihn einmal in Unterſuchung gehabt
hatte, und ihn nun, wo nicht mit Worten und Werken, ſo doch mit
Geberden polizeilich überwachen zu müſſen glaubte. Dagegen war er
bei der Frau Amtmännin ſehr gut angeſchrieben, und zwar, zu ſeiner
eigenen Verwunderung, beſſer als er es verdiente, denn er hatte ſich
ſchon manche boshafte Bemerkung über ihr Pantoffelregiment erlaubt.
Vielleicht war ihr nichts davon zu Ohren gekommen; genug, die ſtolze
kräftige Frau empfand eine gewiſſe Theilnahme für den jungen Bur¬
ſchen, der ſchon ſo früh über die Schranken der bürgerlichen Ordnung
geſprungen war. Es ſchien ihr nicht unangenehm zu ſein, wenn ſie
ihren Fleiſchbedarf von ihm in's Haus getragen bekam, und der alte
Sonnenwirth, der keine Art von Gnadenſchimmer aus den Augen
ließ, ſorgte alsbald dafür, ſeinem Sohne dieſes Ehrenrecht auf dem
Wege des Herkommens zu überweiſen. Die geſtrenge Frau pflegte
ihn dabei ſehr huldvoll zu behandeln, ſie reichte ihm manchmal ein
Glas Wein, ermahnte ihn zu vernünftiger Aufführung, ergötzte ſich
aber beſonders gerne an ſeinen eigenthümlichen freimüthigen Aeuße¬
rungen. An ſolchen ließ es Friedrich ſelten mangeln; denn wenn er
einmal ſeine Schüchternheit gegen Vornehmere überwunden hatte, ſo
that er ſeiner Zunge, zumal wenn aufgemuntert, keine Gewalt mehr
an. Die Gunſt der Amtmännin ebnete ihm auch ſonſt noch ſeinen
Pfad; der Schütz und die Schaarwächter, welche die Polizei im Flecken
handhabten, ließen dieſe Stimmung ihrer Gebieterin nicht unbeachtet
und drückten bei manchen Unregelmäßigkeiten des jungen Burſchen,
bei manchen kleinen Verſtößen gegen die öffentliche Ordnung alle ihre
Augen zu.


Unter dieſen Umſtänden war er eines Morgens mit ſeinem Korbe
ins Amthaus eingetreten. Die Amtmännin prüfte den Inhalt und
ſagte wohlgefällig: Das gibt ein ſchönes Brätchen, ich hab' alle Con¬
ſideration vor Seines Vaters Geſchmack, ſag' Er ihm einen Gruß und
ich ſei wohl zufrieden.


O, ich hab's ſelber ausgewählt, Frau Amtmännin, erwiderte Friedrich.


Um ſo beſſer, ſo darf Er's auch ſelber in die Küche tragen. Geh'
Er, mein Sohn, und bring' Er's der Kathrine hinaus. Daß Er ſich
aber nicht unterſteht, dem Mädchen zu flattiren; ich habe mir ſagen
laſſen, daß Er ein galanter Junker ſei.


[59]

Friedrich lachte und trug das Fleiſch in die Küche. Da, Jungfer,
ſagte er, und die Frau hat mir einen Kuß aufgetragen als Zugabe.


Das Mädchen ließ mit einem leiſen Schrei den Korb fallen und
flüchtete ſich hinter den Herd. Sie hatte etwas Demüthiges und
Gedrücktes in ihrem Weſen und ſah, obwohl noch jugendlich und nicht
unſchön, doch blaß und verblüht aus. Sie war eine Verwandte der
Amtmännin, die ſie unter dem Namen einer Hausjungfer, eigentlich
aber als Dienſtmagd zu ſich genommen hatte.


Es iſt nicht ſo ernſtlich gemeint, Jungfer, lachte Friedrich. Nur
ſachte mit der Braut! Das Fleiſchle da hätt' ſo ſauber bleiben kön¬
nen, wie Ihre Tugend von meinetwegen bleiben ſoll.


Er hob das Fleiſch vom Boden auf, warf es ihr auf den Herd
und verließ die Küche, indem er brummte: Was ſich die nicht einbil¬
det, und iſt nur ſo ein Flügel.


Als er wieder in's Zimmer kam, um zu fragen was die Frau
Amtmännin auf morgen zu befehlen habe, fand er ein Glas Wein
eingeſchenkt, zu dem er ſich nicht lange nöthigen ließ.


Hat's draußen was abgeſetzt? fragte ſie. Ich meinte einen Fall
zu hören.


O der Jungfer iſt nur ein kleiner Poſſ' paſſirt. Darauf hab' ich
weiter gar nichts geſagt als „Sachte mit der Braut!“ und da iſt ſie
gleich ganz ſchiefrig geworden.


Die geſtrenge Frau lachte recht gnädig. Es kommt ja nur auf
den Mosje Friedrich an, ſagte ſie, ob er aus dem Sprichwort Ernſt
machen will. Das Mädchen iſt aus einer ſehr guten, aber während
der Minderjährigkeit des Herzogs unterdrückten und herabgekommenen
Familie. Nun, dafür hat ſie ſich deſto beſſer in der Welt fortbringen
gelernt; das iſt auch eine Ausſteuer. Sie iſt ſchon bei einem adeligen
Geheimenrath in Dienſten geweſen, und weiß was Mores ſind. Das
gäb' eine Wirthin, die den vornehmſten Gäſten gewachſen wäre.


Sie ſagte dies Alles auf eine ſcherzhafte Weiſe, in welcher gleich¬
wohl etwas Aufmunterndes lag. Aber freilich, fügte ſie hinzu, Wirthe
ſehen mehr auf äußeres als auf inneres Metall, und bei Wirthsſöhnen
wird man ohne Zweifel den gleichen Gout antreffen.


Conträr, im Gegentheil, verſetzte der junge Menſch, ich ſeh' bei
einem Mädle auf's Herz, und nicht auf die Batzen. Liebreich iſt
[60] über hübſch, und hübſch iſt über reich. Aber Excüſe, Frau Amt¬
männin, mein Sinn ſteht darauf, daß wenn ich einmal heirathen thu',
ſo muß es ein freies Mädle ſein. Ich will mein Weib nicht aus
der Dienſtbarkeit holen. Arm darf ſie wohl ſein, aber keine ſolche, die
ſchon auf der Adelsbank herumgerutſcht und in vornehmen Häuſern
herumgepudelt worden iſt.


Die Amtmännin fuhr aus dem Armſeſſel auf, und ihre Contuſche
von Perſe rauſchte wie eine Windsbraut durch das Zimmer. Er Fle¬
gel, der Er iſt! ſchrie ſie, meint Er denn, ich werde meine Perlen
vor ſolche Schweine werfen! Eine Zigeunerin wird er noch kriegen,
oder des Seilers Tochter, wenn's hoch kommt, wozu alle Auſſicht
vorhanden iſt! Reiſ' Er ſich auf der Stelle, und laß Er ſich's nicht
beigehen, mir wieder unter die Augen zu treten.


Friedrich hatte eben das Glas ergriffen, um zur Bekräftigung
ſeiner Rede einen herzhaften Schluck zu thun, als dieſer unerwartete
Sturm bei vermeintlich heiterem Himmel ausbrach. Er ſetzte verblüfft
das Glas auf den Tiſch, ergriff ſeinen Korb und machte ſich rücklings
gegen die Thüre, wobei er den eben eintretenden Amtmann empfind¬
lich auf den Fuß trat. Dieſer neue Fehltritt war nicht geeignet, ihm
ſeine Faſſung wieder gewinnen zu helfen; vielmehr gelangte er ſtrau¬
chelnd und taumelnd zur Thüre hinaus, von grimmigen Blicken und
unfreundſchaftlichen Segenswünſchen verfolgt.


Aber die kann Einem den Marſch machen! ſagte er verwundert
zu ſich, als er auf der Straße war. Er trug langſam ſeinen Korb
nach Hauſe, ohne ſich recht erklären zu können, wodurch er die Frau
ſo plötzlich gegen ſich aufgebracht habe. Deſto deutlicher ſtand ihm
die doppelte Thatſache vor Augen, daß er um eine nicht zu verach¬
tende Gönnerſchaft ärmer und um einen furchtbaren Feind reicher ge¬
worden ſei. Er verabredete hinter dem Rücken ſeines Vaters mit ei¬
nem Knecht, daß dieſer künftig ſtatt ſeiner das Fleiſch in's Amthaus
tragen ſolle; aber trotz dieſer Auskunft machte ihm der Vorgang nicht
wenig zu ſchaffen. Verſchüttet Oel iſt nicht gut aufheben, ſagte er den
ganzen Tag bedenklich mit dem Sprichwort zu ſich.


Was konnte er unter dem Gewichte dieſer Betrachtung Beſſeres
vornehmen, als die Flaſche aufzuſuchen, in welcher der Deutſche, der
Jüngling wie der Greis, der gemeine Mann wie der vornehme, ſchon
[61] ſo manche Verlegenheit erſäuft oder erſt recht groß gezogen hat! Sein
Vater war ausgeritten, Ochſen zu kaufen, und wurde erſt in ſpäter
Nacht zurück erwartet; die Stiefmutter aber ſtand nicht in ſo hohem
Anſehen bei ihm, um ihretwegen die Hausordnung einzuhalten. Er
erlaubte ſich das Nachteſſen zu umgehen und beſuchte dafür ein Bäcker¬
haus, wo er gerne einzuſprechen pflegte.


Die Stube war halbdunkel, als er ſie betrat. Auf einem Ofen¬
bänkchen dämmerte der Bäcker, wie es ihm ſchien; die Wärme des
Ofens ließ ſich bei der vorgerückten Jahreszeit recht behaglich empfin¬
den. Hinter dem erhellten Fenſter, das in die Küche ging, bewegte
ſich eine Geſtalt, die er für die Bäckerin hielt. Duſelſt, Beck? ſagte
er, dem Manne im Vorübergehen einen freundſchaftlichen Rippenſtoß
verſetzend; 'n Schoppen Grillengift, Beckin! rief er dann gegen die
Küche gewendet, und ſchlug ein paarmal mit der Fauſt auf den Tiſch.
Dann ſetzte er ſich und ſtützte verdrießlich den Kopf auf die Hand.


Ein Licht wurde gebracht und vor ihn geſtellt, ohne daß er den
Kopf erhob. Gleich darauf ſtellte dieſelbe Hand den begehrten Wein
im Schoppenglaſe vor ihn auf den Tiſch. Ohne aufzuſehen wurde er
doch der Hand gewahr, die mit dem Glaſe vor ſeinen Augen erſchien.
Sie hatte, trotzdem daß ſie nichts weniger als glatt und geſchont aus¬
ſah, etwas Zartes; die wohlgedrechſelten Fingerchen ſchlangen ſich aller¬
liebſt um das Glas, und an die Hand ſchloß ſich ein zierlicher, run¬
der, voller Arm. Ehen wollte er verwundert fragen, wie die beleibte
Bäckersfrau zu ſo anmuthigen Gliedmaßen komme, als ein fremdes
feines Stimmchen das in den Wirthshäuſern übliche „Wohl bekomm's“
dazu ſprach. Er that die Hand von den Augen, ſah hin, ließ den
Arm auf den Tiſch fallen, hob den Kopf und ſtarrte mit freudigem
Schrecken die Erſcheinung an. Es war Niemand andres als das hübſche
Mädchen mit den gelben Zöpfen, das ihm neulich bei ſeinem unglück¬
lichen Werbungsverſuch begegnet war, und das er ſeitdem nicht aus
dem Sinn verloren hatte.


Ei, ſagte er luſtig, heut' hätt' ich eigentlich einen ſchwarzen Strich
in den Kalender machen ſollen, jetzt mach' ich aber einen rothen da¬
für. — Was iſt denn das, Beckin? rief er der eintretenden Frau
entgegen. Habt Ihr Euch eine Kellnerin aus dem himmliſchen Reich
verſchrieben?


[62]

Das iſt keine Kellnerin, entgegnete ſie: es iſt mein Dötle (Path¬
chen), das mir ein bißle im Haushalt und in der Wirthſchaft aushilft.


Wie heiß'ſt denn, du Herzkäferle? fragte er.


Chriſtine, antwortete das Mädchen mit ſchüchternem Lächeln und
trat einige Schritte von ihm weg, indem ſie zugleich jenen hingeben¬
den Blick auf ihn fallen ließ, der ihm ſchon einmal durch die Seele
gedrungen war.


Biſt du von hier?


Ja wäger iſt ſie von hier, ſagte die Bäckerin: ſie iſt ja des Hirſch¬
bauern Tochter.


Daß dich der Strahl! rief er. Ich hätt' geglaubt, ich ſollt' Kind
und Kegel im Flecken hier kennen. Ja, dort hinaus bin ich freilich
in Jahr und Tag nicht kommen.


Arme Leut' ſind unwerth, verſetzte die Bäckerin, denen läuft Nie¬
mand nach.


O Beckin, redet nicht ſo! Ihr wißt wohl, daß es mir anders um's
Herz iſt. Aber, wandte er ſich zum Mädchen, wo ſteckſt denn du,
du Zuckerſtengele, daß ich dich noch kein einzig's Mal in's Aug' ge¬
faßt hab'? Man ſollt' dich ja wahrhaftig für eine Fremde halten.


Sie iſt nie viel unter die Leut' kommen, antwortete ihre Pathin
für ſie. Sie iſt von Kind auf immer ſo ein Dürftele geweſen.


Es iſt heut' nicht das erſt' Mal, ſagte Chriſtine leiſe und
freundlich.


Ja, gelt? erwiderte er lebhaft: neulich ſind wir einander auch
begegnet?


Das iſt wiederum nicht das erſt' Mal geweſen.


Ja, das Mädle hat Euch noch einen Dank abzuſtatten von lang
her, für etwas, da Euer Herz nicht mehr dran denkt. Geh, erzähl's
ihm, Chriſtinele.


Ich nicht! rief das Mädchen und zog ſich kichernd hinter den
Ofen zurück. Erzählet Ihr's, Dote!


Muß ich das Maul für dich aufthun, du Dichele? ſagte dieſe.
Nun alſo! Ich will anfangen wie man ein Märlein anfängt. Es iſt
einmal ein klein's Mädle geweſen, hat Bäcklein gehabt wie Milch und
Blut, das Spruchbuch hat's unter'm Arm getragen, und ein großer
Apfel, ſo rothbackig wie es ſelber, der hat ihm aus dem Schürzen¬
[63] täſchle herausgeguckt. So ein Apfel unter der Schulzeit — Ihr
werdet's wohl noch wiſſen — das iſt für ein Schulkind ſo viel oder
noch mehr als für einen jungen Burſchen ein Schoppen Wein im
Beckenhaus. Kommt ſo ein baarfüßiger Flegel daher, ein paar Jahr
älter als das Kind, und ſagt: Gleich gibſt mir dein' Apfel, oder ich
ſchlag' dir ein paar Zähn' in Hals! Mein Chriſtinele ſchreit und
rennt, was gilt's, was haſt! Aber der Bub' hintendrein und faßt ſie
am Fittig und ſchüttelt ſie, und will ihr den Apfel nehmen. Da
kommt aber einer über ihn, und wer anders als der Sonnenwirthle,
der Frieder, der nie kein Unrecht mit müßiger Fauſt hat anſehen
können. Der faßt den groben Zolgen und ſchüttelt ihn ebenmäßig
und ſteckt ihm ein Paar, aber nicht wie's die Buben austheilen, ſon¬
dern wie's die Buben von einem Mann kriegen, wenn ein Markſtein
geſetzt wird.


Gott's Blitz! rief er fröhlich lachend, jetzt geht mir ein Licht auf.
Das iſt ja der Fiſcherhanne geweſen, ja, ja, den hab' ich einmal
durchgeliedert, weil er ein Kind mißhandelt hat, wie ein Räuber und
Buſchklepper.


Ja, und dann habt Ihr dem Kind noch ein Brod dazugegeben.
Da, nimm, habt Ihr geſagt, damit dir der Apfel kein' öden Magen
macht.


Kann ſein, ſagte er, das weiß ich nicht mehr, jedenfalls iſt's
gern geſchehen. Was, und das Kind biſt du geweſen, du Engele,
du goldig's? rief er hinter den Ofen.


Freilich, erwiderte die Bäckerin. Aus Kindern werden Leute und
ſo weiter, Ihr wißt ja wie das Sprichwort ſagt. Aber die Gutthat,
die hat Euch mein Chriſtinele in einem feinen Herzen nachgetragen,
Beides, das Brod und daß Ihr meinen Apfel vertheidigt habt, —
denn von mir iſt er geweſen.


Er hatte nicht mehr ganz ausgehört. Iſt's wahr, rief er, indem
er das Mädchen, das ſich ſträubte und anmuthig lachte, hinter dem
Ofen hervorzog, iſt's wahr, daß du mich noch kennſt und haſt ſelbi¬
ges Stück im Herzen behalten?


Ja, es iſt wahr, antwortete ſie, und ich hätt' gern —


Was hätt'ſt gern? Wieder ein Stück Brod?


Sie lachte überlaut. Heimgegeben hätt' ich's gern.


[64]

So, du möchteſt mir die Laib' heimgeben? Er ſchlang den Arm
um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verſtehen, daß jetzt
die beſte Gelegenheit zu einer ihm anſtändigen Belohnung wäre. Die
Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann ſchlief auf der Ofenbank.
Er drückte ſie an ſich, und ſuchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie
wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm
abzuwenden, und wie er ſie am Kinn faſſen wollte, um das unbot¬
mäßige Köpfchen in feſten Verwahrſam zu nehmen, kam ſie ihm plötz¬
lich mit den Lippen zuvor. Sein Wunſch war in Freiheit gewährt,
ehe er zu Zwangsmitteln ſchreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht
voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend war ihm an den Mund
geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten
nur einen Augenblick; im ſelben Augenblick war ſie ihm unter dem
Arm durchgeſchlüpft und huſchte in die Küche hinaus.


Mit dieſem Kuſſe war der Würfel über ſein künftiges Schickſal
geworfen.


In der erſten Aufwallung ſeiner Leidenſchaft wollte er dem Mäd¬
chen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte
in dem hellen, freundlichen Geſichte, obgleich es faſt noch unmündig
ausſah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen
ließ, und beſorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen ſeit
den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte,
leicht verſcherzen könnte. Dieſe Betrachtungen hüllten ſich jedoch in
das Gewand des Stolzes. Was, ſoll ich den Küchemichel machen?
ſagte er zu ſich und ſetzte ſich trotzig wieder an den Tiſch.


Die Stube füllte ſich allmählich mit Gäſten. Was auf dem Dorfe
Wirthshausbeſucher ſind, die bilden ſo ziemlich denſelben unveränder¬
ten Kreis und wechſeln nur den Ort. Heute findet man ſie in der
Sonne, morgen geben ſie dem Dreikönig etwas „zu löſen“, übermor¬
gen ſind ſie beim „Becken“, über-übermorgen in der Krone, Don¬
nerſtags gehen ſie zum „wüthigen Eſel“, Freitags kriechen ſie zum
Kreuz und am Sonnabend thut ihnen die Wahl weh zwiſchen dem
Dutzend von Wirthshäuſern, die noch übrig ſind.


Friedrich nahm ſich den Abend zuſammen, um ſeinen Herzenszu¬
ſtand nicht zu verrathen. Er verrieth ihn aber jeden Augenblick. Er
trank ein Glas um das andere, um Chriſtinens Gegenwart zu genie¬
[65] ßen und etwa ihre Hand beim Darreichen zu berühren. Hierzu mußte
er jedesmal den Augenblick wählen, wo ſie gerade im Zimmer anwe¬
ſend war, und dies nöthigte ihn, oft einen ſtarken Reſt mit einem
einzigen Zuge zu leeren. Die Andern hatten ſein Treiben ſchnell durch¬
ſchaut und gaben ihr muthwilliges Ergötzen bald durch einen Augen¬
wink, bald durch ein ſchiefgezogenes Maul zu erkennen. Die Gläſer,
die er aus Chriſtinens Hand empfing, ſtiegen ihm nach und nach in
den Kopf. Er ſang, lachte, ſchwatzte viel und ließ ſeine gute Laune
an Einem und dem Andern der Anweſenden aus, endlich aber auch an der
abweſenden Frau Amtmännin, die er ſich nicht entblödete eine alte Kupplerin
zu ſchelten. Wer weiß welch' thörichtes Zeug er noch angerichtet haben
würde, wenn nicht Chriſtine, vielleicht abſichtlich zu ſeinem Beſten, den
klugen Einfall gehabt hätte, die Magnetnadel nach dem entgegengeſetzten
Pol zu drehen. Sie wiſchte auf einmal mit einem Gut' Nacht, das
wenigſtens deutlich auf ſein Ohr berechnet war, zur Thüre hinaus.
Er wagte ihr nicht ſeine Begleitung anzubieten, aber nun war auch
ſeines Bleibens nicht länger mehr. Allen Neckereien und Herausfor¬
derungen der Andern zum Trotz machte er ſich ſo ſchnell als möglich
los; er hoffte ſie noch unterwegs einzuholen. Da er aber bei all
ſeiner Aufregung doch ſo viel Rückſicht genommen hatte, um einiger¬
maßen den Schein zu meiden, ſo gelang ihm ſein Vorhaben nicht.


Er ging mit eiligen Schritten ans Ende des Fleckens, wo etwas
abgeſondert das Häuschen ihres Vaters lag. Seine Tritte hallten
durch die Nacht. Er umging das Haus, aber kein Licht war zu ſehen.
Er lehnte ſich lange an den Backofen, der wie ein großer Bauch aus
dem Hauſe hervorragte. Dann ſetzte er ſich auf die Deichſel des
Wagens, der unter dem Schupfe ſtand. Im Hauſe war Alles ſtille,
nirgends ein Laut, weder ein Tritt in einer Kammer, noch das Kra¬
chen einer Treppenſtufe zu vernehmen. Du leichtfüßig's Vögele du,
ſagte er, biſt ſchon in's Bett geſchlupft und ſchlafſt. Gut' Nacht,
Chriſtinele, gut' Nacht, Schatz! Mein mußt du werden, und wenn
ich die Stern' vom Himmel reißen müßt'!


Seine Zechgenoſſen, als er die Stube verlaſſen hatte, ſahen ein¬
ander erſt ſtillſchweigend an, dann machten ſie allerlei Bemerkungen,
ſowohl über den unerhörten trunkenen Freimuth, mit dem er die
Maria Thereſia des Fleckens anzutaſten gewagt, als über das plötzliche
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 5[66] Feuer, das ſich durch Flammen und Rauch verrathen hatte, und zwar
kreuzten ſich die Bemerkungen über dieſe beiden Gegenſtände.


Ich glaub', der hat 'n Leibſchaden unterm Hut, fing einer an.


Schätz' wohl, und unterm Bruſttuch deßgleichen, ſagte ein
Anderer.


Der hat dem Dr— 'n Ohrfeig' 'geben! verſetzte ein Dritter.


Reitet der das Maul ſpazieren, oder das Maul ihn?


Ja, der reitet ſich ſelber hinein.


Und die Augen ſind auch mit ihm durchgegangen.


Ich glaub', die hat's ihm angethan.


Beckin, ich glaub', Euer Dötle kann hexen. Sie gäb' übrigens
eine zierliche Sonnenwirthin, heißt das, wenn ihm der Alte, nach Ge¬
ſtalt der Sachen, die Regierung übergibt.


O, ihr Leut', redet doch nicht ſo gottlos! ſagte die Bäckerin
lachend dazwiſchen.


Der wird ankommen, wie die S— im Judenhaus.


Er iſt und bleibt halt des Sonnenwirths ſein Frieder.


Ja, ja! riefen Alle zuſammen, und nachdem ſie in ſolchen ſprich¬
wörtlichen Redensarten dem „Geiſt“ Luft gemacht hatten, gingen ſie
heim, um denſelben für dieſesmal „ruhen zu laſſen“.

5.

Der trotzigſte Burſche in ganz Ebersbach war mit Einem Schlage
ſo umgewandelt, daß ihn ſein eigener Vater nicht mehr erkannte. Er
zeigte ſich demüthig, dienſtfertig und zu Allem willig; ſeine angeborene
Gutherzigkeit brach ſiegreich hervor, wie wenn nach langem Unwetter
der Himmel wieder blau erſcheint. Sein Vater wurde täglich zufriede¬
ner mit ihm: denn einmal erſparte ihm Friedrich ein paar Knechte,
ſo fleißig und anſtellig war er jetzt; dann that er der Kundſchaft
ſichtlichen Vorſchub, ſowohl in der Metzig, wo der weibliche Theil
des Fleckens die Fleiſcheinkäufe am liebſten bei ihm beſorgte, als auch
in der Schenke, wo ſeine heitere Laune an die Gäſte, während er
[67] ſelbſt ſich des Schlemmens enthielt, manche Flaſche mehr abſetzte; und
endlich konnte es dem Alten doch auch nicht ganz gleichgiltig ſein,
den einzigen Sohn, in deſſen Hände dereinſt die Sonne kommen ſollte,
ſo einſchlagen und in ſich gehen zu ſehen. Von dem Vorfall mit der
Amtmännin erfuhr er nichts, denn dieſe hatte ihre Pille ſtillſchwei¬
gend verſchluckt; und als es ihm nach einiger Zeit auffiel, daß Frie¬
drich kein Fleiſch mehr ins Amthaus trug, ſo entſchuldigte dieſer ſein
Wegbleiben damit, daß die Amtmännin nicht undeutlich die Abſicht
blicken laſſe, ihm ihre Köchin zu kuppeln, worauf der Alte ſein Be¬
tragen höchlich billigte. Er ließ ſchon in der Stille ſein Auge unter
zwei oder drei Poſthalterstöchtern in der Gegend umherſchweifen, denn
wie die alten Grafen von Würtemberg auf den Herzogshut, ſo war
der Sonnenwirth mit allen erdenklichen Mitteln darauf bedacht, der
Sonne durch Verbindung mit einer Poſtgerechtigkeit, die durch Hei¬
rath am wohlfeilſten zu erlangen war, einen höheren Aufſchwung zu
geben. Noch immer zwar blieb er in Mienen und Worten ſtreng
gegen ſeinen Sohn, denn er hielt es, wie er ſagte, für gerathen, den
Burſchen „in der Stange zu reiten“; aber wenn er ſich von ihm un¬
beachtet glaubte, ſo ſchmunzelte er oft recht behaglich hinter ihm her.
Unter dieſen Umſtänden mußte auch die Stiefmutter zu einer berech¬
neten Freundlichkeit aufthauen, denn bei eintretenden Veränderungen
wurde Friedrich, ob es ihr nun gefallen mochte oder nicht, eine
bedeutende Perſon für ſie. Uebrigens dauerte dieſe Conſideration, wie
die Frau Amtmännin es genannt haben würde, nur kurze Zeit: nach¬
dem ihr der Fiſcher eines Tages ſeinen heimlichen Bericht abgeſtattet
hatte, begann auf ihrem Geſichte ein zweideutiges Lächeln ſtehend zu
werden, welches hinter Friedrich's Rücken oft eben ſo höhniſch als das
ſeines Vaters wohlgefällig war. Dieſem hatte ſie längſt ſeine Plane
abgelauſcht und wußte ihn durch gelegentlich hingeworfene Reden eifrig
darin zu beſtärken. Zu dem Fiſcher ſagte ſie bei jener Gelegenheit:
Ich hab' mir's von Anfang eingebild't, daß der Bub' nicht gut thun
wird, es iſt ſeine Art nicht. — So einem reichen Söhnlein, erwi¬
derte der Fiſcher, hätt' man Zuchthaus und Alles verziehen. Ich
möcht' nur auch ſehen, wie man ſelbigenfalls mit unſer Einem um¬
ging'; da wär' kein Aufkommen mehr. Wiewohl, der begehrt doch
den Berg abe, er kann eben das Glück nicht vertragen.


5 *[68]

Inzwiſchen waren Friedrich's Verſuche, Chriſtinen in den nächſten
Tagen nach jener Begegnung im Bäckerhauſe wieder anzutreffen, ver¬
geblich geweſen, und nach einem unangenehmen Auftritt mit dem obern
Müller, der aus Groll, daß er ihn nicht unter ſeine ſchwiegerväter¬
liche Aufſicht bekommen konnte, ſich einige Anzüglichkeiten gegen ihn
erlaubte, gab er dieſe Verſuche völlig auf. Nicht daß er das Feld
als Beſiegter geräumt hätte, denn der Müller war ſowohl mit der
Zunge als mit der Fauſt zu kurz gekommen, aber er vermochte es
nicht zu ertragen, ſeine Herzensangelegenheit zum Gegenſtand roher
Scherze gemacht zu ſehen. Er hätte der ganzen Welt verbieten mö¬
gen, ein Wort davon zu reden; wußte er doch nicht, daß es für die
menſchliche Zunge, wie ſie nun einmal bei Vielen ſeiner Nachbarn
beſchaffen war, keinen köſtlicheren Genuß gab als eine Liebſchaft zu
verarbeiten, und daß ihr ſolch ein Feſtmahl um ſo ſüßer ſchmeckte, je
mehr Gift und Bitterkeit ſie beimiſchen konnte.


Da er Chriſtinen nirgends zu Geſicht bekam, und die Entfernung
von ihr nicht länger aushalten zu können meinte, ſo beſchloß er end¬
lich geradezu in die Familie ſeiner Geliebten einzudringen, ein Unter¬
nehmen, das auf dem Lande meiſt mit mehr Schwierigkeiten und
Verlegenheiten verbunden iſt als in der Stadt, weil der Bauer den
Dingen ohne Umſchweif auf den Grund geht und über den Zweck
eines Beſuches nicht in entfernten Anſpielungen und Feinheiten, ſon¬
dern ganz rund und glatt und grob belehrt ſein will. Auch wird
auf dieſem Wege nicht leicht eine Liebſchaft, ſondern nur eine ſchon
vorher fertig abgemachte Werbung ins Werk geſetzt. Nun würde
zwar der Eintritt in das Haus des Hirſchbauern nicht ſo viel Kopf¬
brechens erfordert haben als anderwärts ein ſolcher Verſuch, denn die
Leute waren bitterlich arm und hatten ſogar ſchon während einer
Krankheit des Hausvaters Unterſtützungen aus dem Kirchenſäckel genoſſen,
der in den Gemeinden für Kirchenzwecke und Armenfürſorge geſtiftet iſt,
und gewöhnlich „der Heilig'“ genannt wird. Man konnte deßhalb ohne
große Scheu vorausſetzen, daß ſie einen Zuſpruch aus der Sonne wohl
auch nicht verſchmähen und die Ueberbringung desſelben durch den
Sohn des Hauſes, ſtatt durch einen Knecht, als eine beſondere Ehre
aufnehmen würden; allein der junge Menſch war trotz der Rohheit,
in welcher ihn die herrſchende Sitte ſeiner Umgebung erhielt, zumal
[69] wo es ſich um das Betragen des Vermöglicheren gegen den Armen
handelte, zartfühlend genug, ſich die Thüre zu dem Mädchen ſeines
Herzens nicht mit einem unumwundenen Almoſen eröffnen zu wollen.
Er erdachte ſich vielmehr einen andern Weg, der ihn ohne Demüthi¬
gung derſelben, aber doch mit einer kleinen Strafe für ihre Zurück¬
haltung, zu dem erſehnten Ziele führen ſollte. Neben einer Kuh und
einer Ziege, die dem Hirſchbauer als Ueberreſte eines ohnehin gerin¬
gen Viehſtandes geblieben waren, und ſo kümmerlichen Unterhalt ge¬
währten, daß der Backofen am Hauſe nur noch wie ein Spott über
die Nahrungsloſigkeit ausſah, beſaß die Familie ein Lamm, das aber
eigentlich Chriſtinen gehörte, welche es einſt als krank, aufgegeben und
werthlos vom Schäfer zum Geſchenk erhalten, durch ihre mitleidige
Pflege jedoch ſich ſelbſt und ihrem kleinen Bruder zur Freude davon¬
gebracht hatte. Alles dieſes war von Friedrich ausgekundſchaftet
worden, und ſo trat der junge Bewerber eines Tages mit dem gleich¬
giltigſten Geſichte unter dem Vorwande eines Handels in das Haus.
Chriſtine, die ihn vom Fenſter aus kommen ſah, begab ſich geſchwind
aus der Stube, um ihre Beſtürzung nicht merken zu laſſen; aber ſie
müßte kein Mädchen geweſen ſein, wenn ſie nicht, nachdem der erſte
Schrecken vorüber war, das Herz in die Hände genommen und ſich
wieder an ihre Kunkel geſetzt hätte. Gleichwohl konnte ſie es nicht
wehren, daß, als ſie eintrat und mit demüthig leiſem Gruße an dem
Beſuch vorüberging, eine helle Röthe ihr ins Antlitz ſchoß. Dieſelbe
wich jedoch ſchnell, als das Mädchen gewahr wurde, daß ihr Schäflein
dem jungen Metzger verkauft ſei, daß ſie es verlieren und an die
Schlachtbank abgeben müſſe. Das Geld lag ſchon blank auf dem
Tiſche, ein lockender Preis, dem die Armuth nicht wohl widerſtehen
konnte. Chriſtine erblaßte und hob kindlich zu weinen an; ſie richtete
ihre Augen mit einem ſo ſchmerzlichen Blick auf den Beſchützer ihrer
Kindheit, der ihr jetzt Das anthun konnte, daß dieſer, dem der Stachel
des ſtummen Vorwurfs durch das Herz ging, ſein Spiel beinahe be¬
reute und es ſchneller, als er ſich vorgenommen hatte, zu Ende führte.
Es ſcheint, ſagte er, der Jungfer thut es and nach dem Thierlein; ich
würd' mich ja der Sünde fürchten, ihr ſo ins Herz zu ſchneiden; nun
iſt's aber einmal gekauft und bezahlt und da beißt die Maus keinen
Faden davon; alſo wird's, ſchätz' ich, das Beſte ſein, ich geb's ihr der¬
[70] weil in Verwahrung und laſſ' ihr's anbefohlen ſein, bis ich's einmal
nöthiger hab', als juſt heut; mir iſt's nicht ſo eilig damit, und bei
ihr kommt vielleicht einmal eine Zeit, wo ſie ihr Herz von dem Thier¬
lein losmacht und an etwas Anders hängt. — Er blickte ihr dabei liſtig
lächelnd ins Geſicht, wo durch die Regenſchauer wieder ein Sonnen¬
ſchein geſchlichen kam, und da dem Hirſchbauer die Sache weder lieb
noch leid zu ſein ſchien, die Mutter aber beifällig lachte, ſo fuhr er
fort: So wärm wir alſo Handels eins, aber das muß ich mir aus¬
bedingen, daß ich unterzwiſperts nach meinem Lamm ſchauen darf,
ob's auch in guter Wartung ſteht, denn es iſt und bleibt mein Eigen¬
thum, und ich will's hier nur eingeſtellt haben; alſo von Zeit zu
Zeit werd' ich ſo frei ſein und anfragen, ob's brav gedeiht. Dabei
krabbelte er kunſtgerecht an dem Lämmchen herum, wartete keine Ant¬
wort ab, ſondern ſprang gewandt, wie ein Cavalier, auf andere Dinge
über, ſchwatzte von dem und jenem, ſtreichelte und neckte den kleinen
Wollkopf, der, dem Aeußern nach noch glücklicher als Chriſtine, ſein
gerettetes Lamm feſthielt, fragte nach den beiden ältern Söhnen, welche
ja ſeine Schulkameraden ſeien, und als die Mutter nicht ermangelte,
dieſelben herbeizurufen, ſo lud er ſie kurzweg ein, den „Weinkauf“
über den abgeſchloſſenen Handel zu trinken, denn derſelbe müſſe ſtät
und feſt ſein. Dabei faßte er die beiden Burſche, die ungefähr in
ſeinem Alter ſein mochten, an den Armen, trieb ſie zur Thür hinaus,
ohne ihnen Zeit zu einer Widerrede zu laſſen, nahm Abſchied und
war mit ihnen fort, ehe Jemand etwas zu thun oder zu ſagen wußte.
Die Hirſchbäuerin allein war gefaßt genug ihm nachzurufen, er möchte
ſo frei ſein, ihnen bald wieder die Ehre zu ſchenken.


Der Hirſchbauer ſah ſein Weib eine Weile in ſtiller Verwunderung
an, während Chriſtine ſich wieder auf die Seite machte, um wenig¬
ſtens dem erſten Anlauf etwaiger Erörterungen auszuweichen, wobei
ſie jedoch wohlweislich die Thüre ein wenig offen ließ.


Das hätt'ſt du auch können bleiben laſſen, ſagte er endlich ver¬
drießlich: es kommt mir grad vor wie wenn man dem Marder den
Schlüſſel zum Taubenſchlag ausliefert.


Wenn du dich nur nicht auf Geſichter verſtehen wollteſt, entgeg¬
nete ſie. Haſt ihm denn nicht in die Augen geſehen? Der meint's
ehrlich.


[71]

Ein Sohn aus einem fürnehmen Haus!


Ei, hat nicht auch der reiche Boas die Ruth geheirathet, die
arme Aehrenleſerin?


Man lebt jetzt nicht mehr im alten Teſtament. Und wenn auch
er aus der Art geſchlagen wär', was wird der Sonnenwirth dazu
ſagen? Wart, du wirſt eine Ehr' aufheben.


Kommt Zeit, kommt Rath.


Die Zeit bringt nicht bloß Roſen, ſie bringt auch Diſteln.


Je nachdem man's pflanzt. Das Sprichwort ſagt: Mädchen
müſſen nach Einer Feder über drei Zäune ſpringen. Von den armen
gilt das zweimal.


Ich will mein Kind Keinem nachwerfen, fuhr er auf.


Davon iſt auch nicht die Red', ſagte ſie. Nachwerfen und Verſorgen
iſt nicht einerlei. Wenn du das aber ſo ſicher haſt wie den Weck auf'm
Laden, ſo kannſt du freilich ſitzen und warten bis ein Freier aus Schlaraffen¬
land angeritten kommt, um ſich die vollen Kiſten und Kaſten zu beſehen.


Schwätz' du dem Teufel ein Ohr weg, ſagte er, der Thüre zugehend.
Ich aber will keine Unehr' und keinen Unfrieden von der Sach' haben.


Du biſt kurz angebunden, warf ſie ihm nach, und aber was du
ſagſt, gibt auch noch kein' langen Faden. Denk' nur auch dran, daß
das fürnehm' Füllen einen großen Fleck hat, der's nicht ſchöner macht.
Der Sonnenwirth muß ja ſelber wiſſen, daß er nicht mehr den höch¬
ſten Preis daraus löſt. Aber was zum Reitpferd verdorben iſt, gibt
oft noch ein gutes Ackerpferd, und einem geſchenkten Gaul guck' ich
nicht in's Maul.


Der Alte blieb in der Thüre ſtehen. Die letzten Bemerkungen
ſeines Weibes ſchienen ihm doch einigermaßen einzuleuchten. Er ant¬
wortete nichts darauf, dachte aber eine Weile nach und ging dann
mit einem halb mürriſchen halb zufriedenen Brummen hinaus.


Die Mutter rief Chriſtinen, die gar nicht weit geweſen war. Mach'
daß du an die Kunkel kommſt, Sonnenwirthin, ſagte ſie. Meinſt du,
es ſei ſchon ſo weit und du könneſt Feierabend machen?


Mutter, erwiderte das Mädchen, auf die grobe Füllung der Kun¬
kel deutend, ich weiß wohl, das gibt kein Hochzeitkleid.


Unſer Herrgott hat die Welt aus nichts erſchaffen und den Men¬
ſchen aus einem Erdenkloß. Die Amtmännin iſt, juſt wie ihre Ka¬
[72] thrine, eine arme Hausjungfer geweſen bei einer großen Herrſchaft,
und jetzt iſt ſie eine allmächtige Frau, die einen ganzen Flecken regiert,
und wie! Laß du nur den lieben Gott walten. Aber das ſag' ich
dir, rief die alte Bäuerin mit erhobener Stimme, indem ſie dicht vor
ihre Tochter trat und ihr die geballte Fauſt vor das Geſicht hielt, das
ſag' ich dir, daß du mir keinen dummen Streich machſt, ſonſt laß
ich kein ganzes Glied an dir.


Chriſtine antwortete nichts, ſie ſpann emſig fort und ließ die
Spindel nur leiſe auf dem Boden tanzen.


Während dieſer Zeit war es ihren Brüdern im Bäckerhauſe, wo¬
hin Friedrich ſie geführt, nicht wenig wohl gegangen. Wein war eine
ſeltene Koſtbarkeit für ſie, und die Kameradſchaft des Sonnenwirths¬
ſohnes ſchmeichelte ihnen, unerachtet des Makels, der ihm anklebte,
ſo ſehr, daß ſie den Mund kaum zuſammen brachten und jeden Spaß,
den er auftiſchte, mit lautem Gelächter begrüßten. Chriſtinens wurde
mit keinem Wort erwähnt, aber beim Aufbruch gab er ihnen eine
Flaſche von ſeinem „Grillengift“ mit, damit die zu Hauſe, wie er
ſich ausdrückte, auch etwas davon hätten. Ohne Zweifel hatte er
damit nicht bloß die beiden Alten gemeint. Zur Steuer der Wahr¬
heit und Vollſtändigkeit der Geſchichte muß noch geſagt werden, daß
er die Zeche ſchuldig bleiben und ſich von der ſchmunzelnden Wirthin
eine Borgfriſt von etlichen Tagen erbitten mußte; denn der Schaf¬
handel, ſo große Vortheile er ihm auch in der Zukunft verſprach,
hatte für den Augenblick ſeine Baarſchaft völlig erſchöpft.


Im Weggehen wandte er ſich an den einen von ſeinen beiden
neuen Freunden. Thäteſt mir einen Gefallen, Jerg?


Zwei für ein', Frieder.


Ich hab' eine ſchöne Pirſchbüchſe, ſagte er lächelnd, die mir un¬
werth geworden iſt. Sei ſo gut und trag' ſie morgen nach Rechberg¬
hauſen zum Krämerchriſtle; der wird dir dafür geben was recht und
billig iſt. Erinnere ihn, daß er mir verſprochen habe ſie wieder
zurückzunehmen, wenn ich ſie nicht mehr wolle. Ich muß morgen
meinem Vater einen Gang nach Eßlingen thun und kann's alſo nicht
ſelbſt beſorgen. Auf die Nacht, wenn's dunkel iſt, geb' ich dir das
Gewehr, und morgen Abend, wenn ich von Eßlingen komm', könnteſt
draußen an der Ruhbank auf mich warten.


[73]

Gern.


Der dreiäugig' Spitzbub'! rief er am andern Abend, als er das
Geld zählte, mit welchem ihn ſein Freund vor dem Flecken an der
Straße erwartete: der nimmt ja einen Heidenprofit und milkt mich wie
eine Kuh, aber ich will ihn ſchon dafür kriegen. Was hat er denn
geſagt?


Er hat geſagt, er hab' dir freilich verſprochen, er wolle die Büchſe
wieder nehmen, aber nur für den Fall, daß ſie dir nicht gut genug
ſei, und das könneſt du ſelbſt nicht ſagen; aber daß die Katze je vom
Mauſen laſſen könnte, das hab' er nicht geglaubt, und auch kein
Verſprechen darauf gethan.


Friedrich lachte überaus luſtig. Der Galgenſtrick! ſagte er: ſo,
der will mich noch dafür ſtrafen? Nun, ſetzte er mit ernſtem Tone
hinzu, ich hoff' das ſoll meine letzte Strafe geweſen ſein. Auf dem
Weg, den ich geh', kann ich keine Strafe mehr brauchen.


Es war ein doppelter Zweck, den er mit dieſem Geſchäfte erreichen
wollte. Erſtens hatte er nun wieder etwas Klingendes in der Taſche,
denn es wäre ihm unerträglich geweſen mit leeren Händen zu lieben.
Zweitens aber — und das war der Grund, warum er Chriſtinens
Bruder mit dem Verkauf des Jagdgewehrs beauftragt — hatte er
ſein Mädchen in verdeckter Weiſe wiſſen laſſen, daß er um ihretwillen
nicht bloß auf den Pfad der Tugend zurückkehren, ſondern auch jeden
andern Weg meiden wolle, der, wenn auch nicht gerade bürgerliche
Verabſcheuung darauf ruhte, doch anderswohin als zu der Verbin¬
dung mit ihr führen konnte.

6.

Immer häufiger wurden die Beſuche und heimlichen Berichte, die
der Fiſcher der Sonnenwirthin abſtattete und für die er nicht nur
manche Gutthat aus Küche und Keller nach Hauſe trug, ſondern auch
das Verſprechen erhielt, daß es ihm dereinſt, wenn ſie durch allfällige
Ereigniſſe zur ausſchließlichen Herrſchaft im Hauſe gelangen würde
[74] noch viel beſſer gehen ſolle. Denn wer hinderte ſie zu hoffen, daß,
wenn der einzige Sohn aus der Art ſchlüge und ſich ſelbſt um die
Erbſchaft betröge, ſie durch ein Teſtament ihres Mannes, dem ſie im
Alter ziemlich weit nachſtand, in die Führung der Wirthſchaft einge¬
ſetzt werden könnte, zu welcher ſie ſich für tüchtiger erkannte als die
beiden Tochtermänner, den Chirurgus und den Handelsmann.


Aber auch unter den Mitbürgern des jungen Mannes erregte das
neue Leben, das ihm aufgegangen war, ein großes Gemurmel. Man
konnte der Familie des Hirſchbauern nichts vorwerfen als ihre Ar¬
muth, allein dieſe Eigenſchaft genügte, um den Umgang eines Wohl¬
habenden mit ihr für die öffentliche Meinung des Fleckens, und zu¬
mal in den Augen des ſtädtiſch gekleideten Theils deſſelben, höchſt ver¬
werflich zu machen. Geſtern hatte man ſie noch mit einer Miſchung
von Mitleid und Geringſchätzung arme Leute genannt, heute hieß man
ſie ſchon Geſindel, das mit Preisgebung der eigenen Ehre ein unge¬
rathenes Früchtlein aus gutem Hauſe einziehe; und Friedrich ſelbſt,
dem man ſeine bisherigen Jugendſtreiche beinahe ſo gut wie vergeben
hatte, kam nun als Genoſſe dieſer Verachtung nur um ſo ſchlimmer
weg, indem man alles Vergangene auffriſchte, um zu beweiſen, daß er
von jeher nur Zuneigung zu ſchlechtem Volke und Hang zu ſchlechten
Streichen gehabt habe. Ihm wurde es als Verbrechen geachtet, daß
er ſich zu ſo geringen Leuten herunter gab; Chriſtinen und den Ihri¬
gen wurde es als Schimpf angerechnet, daß ſie ſich mit einem gewe¬
ſenen Sträfling einließen, der doch ſo Manchem, wenn er ſeine Nei¬
gung anders wohin gewendet haben würde, gut genug geweſen wäre.
Das Gerücht von abermaliger übler Aufführung des jungen Sonnen¬
wirthle drang bald zu der Frau Amtmännin, die es nach Kräften
verbreitete und in den nächſten Tagen der Frau Pfarrerin, als dieſe
auf einen Nachmittagsbeſuch zu ihr kam, erzählte. Dieſe wußte es
ſchon, obgleich nicht ſo vollſtändig wie die Frau Amtmännin. Beide
Frauen ließen die Sonnenwirthin holen und empfingen ſie mit einem
Strom von wetteifernden Zurufen: Denk' Sie doch, Frau Sonnen¬
wirthin — und: Ei, was denkt Sie denn, daß Sie Ihrem unge¬
rathenen Sohn ſo freien Lauf läßt — Weiß Sie denn auch — ? Das
ſollt' Sie ſeinem Vater ſagen, damit er dem Unfug ein Ende macht!
Die Sonnenwirthin, als ſie endlich das Wort ergreifen konnte, ver¬
[75] ſicherte zum größten Verdruß der beiden vollgeladenen Erzählungs¬
haubitzen mit Seufzen, daß ſie von Allem bereits vollſtändig unter¬
richtet ſei; dem Vater, ſetzte ſie kopfhängeriſch hinzu, habe ſie bisher
nichts ſagen mögen, theils um ihm einen ſo ſchweren Herzſtoß, theils
um dem Sohn, den ſie vergebens in Güte herumzubringen gehofft,
böſe Tage zu erſparen; ſie ſehe aber wohl ein, daß ſie endlich, obgleich
ungern genug, den Mund aufthun müſſe. In dieſem löblichen Vor¬
ſatze mit vereinten Kräften von ihnen beſtärkt, ging ſie in die Sonne
zurück, und machte ihrem Manne die ſchon längſt für eine paſſende Stunde
aufgehobene Eröffnung, daß ſein Sohn mit einem Lumpenmädchen, mit
einem Bettelmenſch ſich in eine Liebſchaft eingelaſſen habe. Sie hatte aber
nicht den rechten Augenblick gewählt, denn der Sonnenwirth antwor¬
tete ganz trocken: Das iſt ſeine Sache, Jugend will vertoben, man
kann nicht nach allen Mucken ſchlagen, die Kuh muß auch dran den¬
ken, daß ſie ſelbſt ein Kalb geweſen iſt. — Ich weiß gar nicht, wie du
mir vorkommſt, ſagte die Sonnenwirthin, man ſollt' ja meinen du
ſeieſt in deiner Jugend ärger geweſen als der Herzog ſelbſt. Der
Sonnenwirth lachte pfiffig vor ſich hin, denn es ergötzte ihn, ſeine
Frau an derartigen Vorſtellungen, die ſie ärgerten, kauen zu ſehen;
dann ſagte er im Fortgehen: Ich will ihm übrigens bei Gelegenheit
ein wenig den Marſch machen, damit er nicht meint, es werde ihm
durch die Finger geſehen; wenn's einmal Frühling iſt, ſo kann man
nicht alle Kräutlein hüten, aber man muß davor ſein, daß nicht der
ganze Salat ſchießt; auch würd' ich mich dafür bedanken, nachher ei¬
nen Schaden zu haben und noch einen Spott dazu. — Die Sonnen¬
wirthin ſah ihm, als ſie allein war, mit ſtarkem Kopfſchütteln nach
und ſagte giftig hinter ihm drein: Du mußt mir ein ſauberes Kraut
geweſen ſein in deinem Frühling. Sie brachte es auch mit wieder¬
holten Vorſtellungen nicht weiter, als daß der Alte einmal gegen ſei¬
nen Sohn im Vorübergehen einige Worte hinwarf. Sieh dich vor,
du! bemerkte er ihm: du weißt, das Sprichwort ſagt, an rußigen
Keſſeln wird man ſchwarz; wenn's zu Dummheiten kommt, ſo hoffe
nicht, daß du an mir einen Helfer in der Noth haben werdeſt. Die
Bemerkung war eine von denen, die keine Antwort verlangen, und
Friedrich ließ ſie auch unerwidert, denn er konnte ſich wohl denken,
daß er durch eine Darlegung ſeiner wahren Abſicht den Vater nicht
[76] ſonderlich begütigen, ſondern eher einen Kampf mit ihm herbeiführen
würde, den er ſo lang als möglich hinauszuſchieben geſonnen war.
Uebrigens ſchien das Sprichwort, das jener angeführt, ſeinen Inhalt
an ihm bewähren zu wollen, denn Friedrich wurde um dieſe Zeit in
einen verdrießlichen Handel verwickelt. Der obere Müller, der ohne¬
hin nachgerade einen großen Haß auf ihn geworfen hatte, vermißte
eines Morgens einen Bienenkorb. Es hing von der Perſon und den
Verhältniſſen des Thäters ab, ob man dieſe Entwendung als eine
That bübiſchen Muthwillens oder als einen gemeinen Diebſtahl be¬
trachten wollte. Der Verdacht fiel auf einen der Söhne des Hirſch¬
bauern, deſſen Armuth und neuerliche Verrufenheit für die niedrigere
Auffaſſung der jedenfalls unſaubern Handlung entſchied, und es fan¬
den ſich Augenzeugen, welche an dem der Entdeckung vorhergegangenen
Abend ſpät geſehen haben wollten, wie Friedrich auf der Brücke un¬
weit der Mühle ſeinem Geſellen pfiff. Es konnte jedoch nichts be¬
wieſen werden und die Sache mußte beruhen bleiben; aber das Ge¬
rücht ruhte nicht und die aus vorſichtiger Ferne geſchleuderten Schimpf¬
reden des Müllers gaben dem Verwerfungsurtheil über die Wahl des
jungen Mannes neue Nahrung. Dieſer hat übrigens, als er zehn
Jahre ſpäter über ganz andere Dinge die umfaſſendſten und rückhalts¬
loſeſten Bekenntniſſe ablegte, jede Theilnahme an jenem verhältni߬
mäßig geringen Vergehen ſtandhaft in Abrede gezogen.


Die Sonnenwirthin würde zweifelsohne nicht unterlaſſen haben,
von dieſem Vorfall in täglichen und nächtlichen Geſprächen mit ihrem
Manne erſchöpfenden Gebrauch zu machen, allein ſie mußte es bei
einer kurz und hart hingeworfenen Mittheilung der Neuigkeit bewen¬
den laſſen, welche auf den Sonnenwirth dießmal einen beinahe nur
oberflächlichen Eindruck machte, weil ihm ſelbſt ein viel ſchlimmerer
Handel auf den Hals gekommen war, in Folge deſſen zwiſchen den
beiden Eheleuten Wochenlang außer dem Nöthigſten nur wenig und
auch dieſes Wenige nicht in Güte geſprochen wurde. Gegen den Son¬
nenwirth hatte nämlich eine jener liebreichen Baſen, die es überall
gibt, und die niemals reichlicher blühten als in der ſogenannten guten
alten Zeit, natürlich nur aus den höchſten und reinſten Beweggrün¬
den, nichts Geringeres als eine Ehebruchsanzeige vor das geiſtliche
Gericht gebracht. Die Denunciation war, ihrer Urheberſchaft gemäß,
[77] von der Angabe zahlloſer Einzelheiten und haarkleiner Umſtände be¬
gleitet, ſo daß der an ſich unwahrſcheinliche Verdacht gegen einen
Mann in den Sechzigen und eine zwar „röſche“ (noch friſche), aber
wohlberufene Wittwe, denn eine ſolche war der Mitgegenſtand der
Anklage, doch etwas Fleiſch und Blut erhielt. Eine lange und widrige
Unterſuchung wurde eingeleitet, bei welcher eine Reihe von Zeugen
erſcheinen mußten, ohne daß jedoch der Bezicht zu jenem Grade er¬
härtet wurde, der das Gericht genöthigt hätte an eine Verſchuldung
zu glauben. Auch die beiden Angeklagten geſtanden nicht das mindeſte
Verdächtige ein, und die Angeberin, da ſie ſah, daß ſie ihre Klage
nicht beweiſen konnte, zog dieſelbe zurück. Sie glaubte mit einem
Widerrufe davon zu kommen, allein der Sonnenwirth verlangte für
ſich und ſeine mitangeklagte Gevatterin Satisfaction, und ſo wurde
ſie wegen Lügens und falſchen Denuncirens zu einer übrigens mäßigen
Geldſtrafe, in welche ſich die Herrſchaft (der Staat) und der „Heilige“
theilten, ſo wie zur Abbitte verurtheilt. Aus Rückſicht auf den dem
Honoratiorenthum verwandten Stand des Sonnenwirths wurde die
Sache nicht auf dem Rathhaus, ſondern im Amthauſe verhandelt, auch
in das Kirchenconventsprotocoll nur ein kurzer Auszug aufgenommen
und die Unterſuchung ſelbſt in einem Separatprotocoll niedergelegt,
welches man jedoch, um aller Verantwortung enthoben zu ſein, an
das Oberamt einſendete, wo ſodann, da die Acten keine beſtimmten
Verdachtsgründe ergaben, die Angelegenheit ohne weitere Folgen
liegen blieb. Wie es jedoch in allen ſolchen Fällen zu geſchehen pflegt,
ſo blieb genug davon an den Betheiligten hängen, und in der Sonne
ſchienen die Flecken über den Glanz Meiſter zu werden, zumal die
Geiſtlichkeit in ihrer Abneigung vor jedem Skandal das Monatskränz¬
chen, das überhaupt nur unter einem ſehr nachſichtigen Vorgeſetzten
im Wirthshauſe gehalten werden konnte, eingehen ließ. Denn der
Specialſuperintendent, dem ſie untergeben war, ſtand ſeinerſeits unter
einem Conſiſtorialrath, der das im Evangelium erzählte Erſcheinen
ſeines oberſten Kirchenherrn auf der Hochzeit zu Kana mit den Wor¬
ten verurtheilte: „Hätt's auch können bleiben laſſen!“ Unter allen
Nachwehen aber, die den Sonnenwirth trafen, plagte ihn am em¬
pfindlichſten die Eiferſucht ſeiner Frau; denn dieſe wollte ihn nicht
frei ſprechen wie die Conventsrichter ihn freigeſprochen hatten. Ihr
[78] Schweigen und Trutzen veranlaßte ihn, ſie geradezu zu fragen, ob ſie
denn etwas von der Verleumdung glaube; worauf ſie ſeufzend erwi¬
derte, ſie ſtelle die Sache Gott anheim, der in's Verborgene ſehe.
Auf dieſe Weiſe wußte ſie jedem unmittelbaren Wortwechſel auszuwei¬
chen, quälte aber ihren Mann theils durch finſteres Stillſchweigen,
theils durch abgebrochene Redensarten, die ihn von weitem her trafen
und wehrlos ſtachen, weil er ſie nach dem Wortlaut nicht auf ſich beziehen
mußte, und doch dem Sinne nach auf niemand Anderes beziehen konnte.
So erzählte ſie ihm ſpöttiſch, ſein Sohn habe auch wieder einmal einen
kleinen Verdruß gehabt, es ſei nur Schade, daß die Sache werde weltlich
vom Amt allein abgemacht werden, denn wenn ſie geiſtlich gerichtet würde,
ſo könnte man immerhin hoffen, daß die Conventsherren ein Einſe¬
hen haben würden von wegen der Süßigkeit des Honigs; dann
ſchimpfte ſie auf den Hirſchbauer und ſeinen Sohn, und bemerkte da¬
bei, der Apfel falle eben nicht weit vom Stamme, es ſei gemeiniglich
einer ſo lüderlich wie der andere! Durch dieſes Betragen, bei welchem
die Leidenſchaft ihr Salz dumm gemacht hatte, trieb ſie den Vater
auf die Seite des Sohnes und verſäuerte ihm die Neigung, gegen
etwaige Irrgänge deſſelben einzuſchreiten. Friedrich hatte in dieſer
Widerwärtigkeit von Anfang an feſt die Partei ſeines Vaters genom¬
men. Zu Hauſe ſchwieg er über den kitzlichen Gegenſtand, wie Jeder¬
mann dort darüber ſchwieg. Auswärts aber wachte er über jedes
Wort, das die Leute redeten, und wehe dem, der ſich die geringſte
Anſpielung erlaubte! Die Ohrfeigen und Püffe, die er, oft nur im
Vorübergehen auf der Straße, austheilte, wurden ſprichwörtlich; denn
ſein Eifer bedachte auch manchen Unſchuldigen, der mit ſeiner Rede
etwas ganz Anderes gemeint hatte. Durch dieſe beſtändige Kriegsbe¬
reitſchaft wurde die Zahl ſeiner Freunde nicht vermehrt. Sein Vater
aber ſchien ihm, ohne jedoch viel mit Worten merken zu laſſen, ſo
gewogen, daß Friedrich oft dachte, er könne kaum eine günſtigere Zeit
finden, um ſich die väterliche Einwilligung zur Heirath mit der Toch¬
ter des Hirſchbauers zu erbitten.


Vielleicht wäre ſie ihm zu Theil geworden und hätte den Wildbach
ſeines Schickſals in ein fortan friedliches Bette geleitet. Doch wer
kann dies ſagen? Vielleicht wäre es auch dem Vater in dieſer milden
Stimmung gelungen, den Sohn, der guten Worten ſo zugänglich war,
[79] andern Sinnes zu machen, bevor er ſich unwiderruflich gebunden
hätte. Allein der Sonnenwirth berührte den Gegenſtand nicht mehr,
weil er nach ſeiner Sinnesart nicht daran dachte, daß es ſeinem
Sohne mit dieſer Liebſchaft Ernſt ſei, und dieſem fehlte immer noch
die Hauptbedingung, die ihm die Zunge löſen konnte, nämlich das
Jawort des Mädchens, das er liebte. Er hatte von der Erlaubniß,
nach ſeinem Lamm zu ſehen, möglichſt fleißigen Gebrauch gemacht, er
hatte Chriſtinen durch Vermittlung ihrer Brüder, denen er das Geld
dazu gab, in den Lichtkarz und auf den Tanzboden gebracht, er hatte
keine Gelegenheit verſäumt, mit ihr zuſammen zu treffen, aber ſeine
Wünſche waren noch weit von ihrem Ziel. Beim Heimgehen von
einem Tanze, wo er ſie begleitete und eine Strecke hinter ihren Brü¬
dern blieb, flüſterte er ihr alles Liebe und Schmeichelnde zu, was ihm
ſein Herz zu dieſer Stunde eingab; ſie ging ſtill und vor ſich blickend
neben ihm her, und als er heftig betheuerte er müſſe noch ihr Schatz
werden, er thue es nicht anders, oder er gehe weit fort nach Amerika,
antwortete ſie lachend: Mein Schatz, das kannſt du ſchon ſein, aber
damit bin ich der deine noch nicht; nach Amerika mußt aber nicht ge¬
hen, denn da geht Niemand hin, der was Recht's iſt. Mit einem
Sprung war ſie bei ihren Brüdern und neckte ihn, daß er ſo langſam
nachkomme. Wie ſie ihm aber an ihrem Hauſe gute Nacht ſagte,
traf ſie ihn wieder mit einem Blicke, wovon ihm das Herz wirbelte.
So hielt ſie ihn und ließ ihn doch nicht näher kommen. Wenn ſie
allein mit ihm war, benahm ſie ſich ſcheu, und vor den Leuten war
ſie ſchnippiſch gegen ihn. Er ſagte ſich, daß ſie als ein armes Mäd¬
chen gegen ihn, den Sohn wohlhabender Leute, die ſie nicht mit gün¬
ſtigen Augen anſehen würden, doppelt auf ihre Freiheit zu halten
berechtigt ſei; deßhalb ertrug er ihr Weſen mit ungewohnter Geduld
und begnügte ſich mit der halben Gunſt, daß ſie unter vier Augen
Du zu ihm ſagte. Wenn er bei einer ſolchen Gelegenheit einen Kuß
begehrte, ſo konnte ſie ihm den Beſcheid geben: Ich will mich noch
beſinnen, bleibenlaſſen iſt gut dafür. Wurde er dringender, ſo ſagte
ſie: Soll ich mich zu meinem Schafknecht ſo heruntergeben? und
entſprang ihm lachend. Ihre Augen aber fuhren fort das Gegentheil
von ihren Worten zu reden, und dies gab ihm wieder Zuver¬
ſichtlichkeit, die ſie zu beleidigen und zu nur um ſo übermüthigeren
[80] Zurückweiſungen zu reizen ſchien. Ja, ja, man darf nur knallen und
ausfahren! pflegte ſie bei ſolchen Anläſſen ſpöttiſch zu ſagen. Endlich
aber erwachte der ungeſtüme Zorn in ihm, den er ſo lange gebändigt
hatte. An einem ſonnigen Decembernachmittage kam er an ihrem
Haus vorbei; ſie hatte ihn den Fußweg kommen ſehen und ſtand hin¬
ter dem Hauſe, wo das freie Feld ſich öffnete und die Berge der
Alb herunter ſchauten. Er that als führe ihn der Weg nur ſo vor¬
bei; denn er hatte ſich aus Unmuth ein paar Tage nicht blicken laſſen.
Als er ſie ſah, grüßte er und lud ſie zum Mitgehen ein, ſie ſchlug
es ab, fragte aber warum er „nirgends hinkomme“. Biſt brav? fragte
er dagegen. Freilich, erwiderte ſie. Gib mir einmal deine Hand, ſagte
er. Sie ließ ihm die Hand und er verſuchte ihr ſchnell und verſtoh¬
len einen Silberring an den Finger zu ſtecken. Du thuſt mir ja ſo
weh! ſchrie ſie, denn ſie fühlte bloß einen Druck und Schmerz am
Finger, ohne zu wiſſen woher: wer wird Einem auch ſo weh thun!
Indem ſie ſich ſträubte und ihre Hand aus der ſeinen zu ziehen ſuchte,
fiel das Ringlein zu Boden. So! ſagte er in ausbrechendem Grimme,
ich hab's nicht hingeworfen, ich brauch's auch nicht aufzuheben, und
wenn du nicht anders wirſt, ſo kann meinetwegen der Handel zu Ende
ſein. Komm, Hanſele! rief Chriſtine dem Lamme zu, das frei um¬
herging, und in dieſem Augenblicke zu ihr geſprungen kam: komm,
dein Herr will dich mitnehmen, der Handel, ſagt er, reue ihn. Fried¬
rich gab dem armen Thiere einen Stoß, daß es an die Wand flog,
und ging ohne Abſchied fort. Bin ich mit dem Puff gemeint gewe¬
ſen? rief ihm Chriſtine nach. Er hörte es nicht mehr, wenigſtens
gab er keine Antwort. Sie ſetzte ſich zu dem Lämmchen, das jämmer¬
lich ſchrie, auf den Boden, ſtreichelte und unterſuchte es; es hinkte
ein wenig, hatte aber ſonſt keinen Schaden genommen. Nachdem ſie
es beruhigt, ſuchte ſie nach dem Ringlein, das ſie bald im Graſe
fand; ſie ſteckte es an den Finger und ſah eine Weile ſeufzend hinter
dem Trotzkopf her, dann zog ſie es wieder ab und verbarg es ſorg¬
fältig an ihrer Bruſt.


Friedrich ſtrafte ſie mit achttägigem Wegbleiben. Es kam ein
großer Markttag und mit ihm der letzte Tanz vor der geſchloſſenen
Zeit, die von Weihnachten bis Neujahr dauert. Sonſt hatte er im¬
mer dafür geſorgt, daß ſein Mädchen zum Tanze kam; diesmal that
[81] er keinen Schritt. Auch er war entſchloſſen, nicht hinzugehen; als er
aber von Weitem die bekannten Töne des Ländlers vernahm, ſpiegelte
er ſich vor, er wolle ſeinen Unmuth vertanzen und vertrinken. Ge¬
ſagt, gethan; aber das Erſte, was ihm beim Eintritt in die Augen
fiel, war Chriſtine, die anſcheinend ſehr wohlgemuth mit einem jungen
Burſchen tanzte. Er hätte laut aufſchreien und dreinſchlagen mögen,
aber er bezwang ſich und wählte ſchnell eine Tänzerin. Chriſtinen
zum Trotz tanzte er unaufhörlich, ohne ſie ein einziges Mal aufzu¬
fordern. Aber auch ſie blieb nicht verlaſſen ſitzen, denn die Buben,
wie man die jungen unverheiratheten Männer nennt, kümmerten ſich
wenig um das, was man im Flecken über ihre Familie ſprach, und
hatten Wohlgefallen an ihrer Jugend und Schönheit. Sie war jedoch
darauf bedacht, mit Keinem zweimal nach einander zu tanzen, und auch
er wechſelte ſeine Tänzerinnen fleißig, denn ſo gerne er ihr einen eifer¬
ſüchtigen Verdruß bereitet haben würde, ſo fand er doch Keine, mit
der er durch längeres Zuſammenhalten in den Ruf einer Liebſchaft
hätte kommen wollen. Sonſt hatte er, wie es bei verbundenen Paa¬
ren Sitte iſt, nur mit ihr und ſie nur mit ihm getanzt; heute mach¬
ten ſie jedes für ſich die Runde durch die ganze junge Welt, ſo weit
ſie nicht verliebt oder verlobt, verbandelt oder verhandelt war. Ein¬
mal kamen ſie beim Ausruhen neben einander zu ſtehen. Thut's ſo?
fragte Chriſtine freundlich und gelaſſen zu ihm herüber. Ich mag
mich nicht am Narrenſeil herumführen laſſen, ſchnaubte er zu ihr hin¬
über und riß ſeine Tänzerin von Neuem in die Reihe. Sein Herz
kochte, das Tanzen war ihm entleidet und er ſetzte ſich zum Wein,
den er mit Heftigkeit in ſich goß. Gleichgiltig und düſter ſah er von
hier aus der Luſtbarkeit der Andern zu, oder vielmehr, er ſah nur
Chriſtinen, die zwar keinem Einzelnen beſondere Gunſt erwies aber
ſich von Jedem ſchön thun ließ, und ſich gar nicht um ihn zu küm¬
mern und ihn durch ihre Munterkeit und ihr helles Lachen, das ihn
unſäglich beleidigte, für ſeine Gleichgiltigkeit ſtrafen zu wollen ſchien.
Da das Betragen der Beiden allgemein auffiel, deren Vereinigung
ſchon zu ſo vielem Geſchwätz Anlaß gegeben hatte, ſo mußte er über
die Trennung allerlei Bemerkungen und Neckereien hinnehmen, die
ihn innerlich wüthend machten, und der Abend würde ohne Zweifel,
wie ſo oft auf dem Lande geſchieht, mit Raufhändeln geendet haben,
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 6[82] wenn die jungen Männer, die ihn um ſeiner Leutſeligkeit willen lieb¬
ten, ſich nicht zu mäßigen gewußt hätten, und wenn nicht Chriſtine,
die ſich ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt zu ſein ſchien, plötz¬
lich vom Tanzboden verſchwunden wäre. Als er ſie nicht mehr ſah,
gab er zwar den Gedanken ihr nachzugehen mit ſtolzer Ueberwindung
auf, aber die Luſtbarkeit hatte allen Reiz für ihn verloren und die
eintönige Tanzmuſik klang ihm wie ein ewig wiederkehrender Spott.
Er blieb noch eine Weile in dumpfem Brüten ſitzen, machte einige
vergebliche Verſuche mit den Luſtigen luſtig zu ſein, und entfernte
ſich dann, um einen ſchweren Kopf und ein noch ſchwereres Herz zur
Ruhe zu legen.


Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beſchieden. Er zerbrach
ſich vergebens den Kopf, was die Urſache dieſer Vorladung ſein möge.
Der Pfarrer, ein dürres kleines Männlein, kanzelte ihn heftig ab,
daß er ſich der Kinderlehre entziehe, und dadurch ſo göttliche als fürſt¬
liche Gebote übertrete; bis ins vier und zwanzigſte Jahr habe ein ledi¬
ger Burſche die Kinderlehre zu beſuchen, ſchärfte er ihm ein, und er¬
öffnete ihm, es ſei von löblichem Kirchenconvent beſchloſſen worden,
künftig ſtrenger auf die Befolgung der Vorſchrift zu halten und jedes
Wegbleiben unnachſichtlich mit einem Sechſer „in den Heiligen“, bei
längerem verſtocktem Beharren aber ſogar mit Einſperrung ins „Zucht¬
häuslen“ zu beſtrafen; wenn er ſich wieder beigehen laſſe, die Kinder¬
lehre zu ſchwänzen, ſo werde er, der Pfarrer, ihn unfehlbar auf¬
ſchreiben laſſen, und bei dem Herrn Amtmann und den Conventsrichtern
den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er ſeinen Beſcheid und
durfte gehen. Kaum vermochte er ſich zu halten, daß er nicht aufbrauste.
Bei ſeinem Stolz und vollends in ſeiner jetzigen Stimmung konnte
ihm nichts ſo quer in den Weg kommen, als die Zumuthung, in ſei¬
nem Alter, noch drei Jahre lang, zur Kinderlehre zu gehen und das
tonloſe Poltern des Pfarrers über die Rechtfertigung durch den Glau¬
ben anzuhören, während doch jetzt ſein Dichten und Trachten darauf
gerichtet war, durch die Liebe von allem Uebel erlöst zu werden. Das
kommt mir geſchlichen! ſagte er zu ſich, im Pfarrhofe noch einmal
grimmig nach dem Fenſter emporblickend, wo ihm gepredigt worden
war. Eben ſo gut hätt' man mir die Ruthe andictiren können, wenn
ich noch ein Kind ſein ſoll. Nun, ich geh' eben nicht hin und zahl'
[83] jedesmal die Straf'. Freilich wird ſich's damit auf die Länge nicht
abthun laſſen: wenn er einen verſtockten Sünder in mir erkennt, ſo
gibt's wieder eine Predigt und zwar vor'm Convent, und dann legt
ſich auch der Amtmann drein. Man iſt doch wie in einem Netz, aus
dem man nicht heraus kommt. Am Beſten wär's eben, ich käm'
ſchnell unter den Pantoffel; wenn's mit dem dummen Ledigſein aus
iſt, ſo hat das Kinderlehrgeläuf von ſelbſt ein End'.


Hiemit war er in der Reihenfolge ſeiner Gedanken auf einen
Gegenſtand gerathen, der ihm, ſo wie die Sachen zwiſchen ihm und
Chriſtinen ſtanden, wenig Troſt einflößen konnte.

7.

Friedrich hatte traurige Feiertage, obgleich es ihm äußerlich gar
nicht übel ging. Sein Vater bedachte ihn am Weihnachtſabend mit
einem ſtattlichen Geldgeſchenk, zum ſichern Zeichen, daß Alles wieder
im alten Geleiſe ſei. Er war nie ſo reich geweſen, aber gerade dies
machte ihn unglücklich, denn das Geld erinnerte ihn nur daran, daß
er es jetzt nicht mehr zu dem Zwecke brauchen konnte, zu welchem
allein es ihm früher erwünſcht geweſen wäre, nämlich Chriſtinen ſeine
Liebe durch Geſchenke zu beweiſen.


Er würde ſich wohl ſchnell über die Geſinnung des Mädchens
beruhigt haben, wenn er ein Geſpräch angehört hätte, das eines
Abends zwiſchen ihr und ihrer Mutter ſtattfand, während er eben auf
dem Wege von Hohenſtaufen her, wohin ſein Vater ihn geſchickt hätte,
auf das Haus zugeſchritten kam.


Jetzt hab' ich aber die ſtillen Seufzer überlei, ſagte die Mutter.
Du biſt ſelber ſchuldig, greif 'ſt dein' Sach' ganz verkehrt an.


Mutter, habt Ihr nicht geſagt — ?


Weiß wohl, was du meinſt, aber man muß Alles mit einer Art
thun, nicht oben 'naus und nirgends 'nein. Wenn Eine arm iſt, wie
du, ſo ſoll ſie nicht die hochmüthig' Jungfer machen, ſondern die
kluge im Evangelium, die ihre Lampe mit Oel füllt und dem Bräu¬
6 *[84] tigam entgegen geht. Sie muß ſich 'runtergeben können und muß
ſich etwas gefallen laſſen, aber freilich mit Maß. Zu lützel und zu
viel verderbt allzeit das Spiel. Narr, ich hab' deinen Vater am
Schnürle geführt, er hat mir nicht weiter gucken dürfen, als ich ihm
verſtattet hab'. Aber du biſt eben ſo ein Zimpferle, weißt dich nicht
umzuthun, meinſt, die gebratenen Tauben müſſen dir ins Maul fliegen.


Was ſoll ich denn thun? fragte Chriſtine.


Thu' was du willſt, ſagte die Mutter zornig, ſteck' mein'twegen
der Katz' das Heu auf, dumm genug wär'ſt dazu, nur geh', daß
ich das Geſeufz und Geheul nicht länger hören muß.


Chriſtine verließ die Stube und trat ſchauernd vor das Haus in
die Nacht hinaus, wo ſie im gleichen Augenblick zu ihrem freudigen
Schrecken beim Schein der Sterne, die in der Kälte hell funkelten,
den Gegenſtand der Unterredung und ihres Kummers auf ſich zu¬
kommen ſah. Sie glaubte, es ſei ſeine Abſicht, in ihrer Nähe um¬
herzuſtreichen und zu ſpähen, und eine frohe Hoffnung zog in ihr
Herz ein. Wie er aber näher kam, ſo ſchien es, als ob ihn bloß
der Zufall dieſen Weg führe, denn er ſah ſich nicht einmal um. Sie
rief ihm einen Gruß zu und fragte, eingedenk der Lehre, die ihr ſo
eben die Mutter gegeben: Willſt nicht auch einmal wieder nach deinem
Lamm ſehen? — Da der Schatz, wie ſie ihm erlaubt hatte ſich zu nennen,
keine Antwort gab, obwohl er unſchlüſſig ſtehen geblieben war, ſo fuhr
ſie etwas vorſchnell fort: Oder magſt's nicht wenigſtens holen, wenn
du nichts mehr von uns willſt?


Friedrich hörte aus dieſen Worten nichts als ſpöttiſche Ablehnung
heraus. Es iſt ſchon ſo gut wie abgeſtochen! erwiderte er, indem er
den Fuß zum Weitergehen hob.


Dieſer ſtarre Trotz verdroß ſie und ſie rief ihm nun mit nicht
ſehr glücklichem Spotte nach: Da wird man dem Herrn wenigſtens
das Fell herausgeben müſſen und die Wolle.


Sein Blut kochte, denn er glaubte eine Anſpielung zu vernehmen,
an die das Mädchen entfernt nicht dachte. Von der Wolle hörte er
nun einmal gar nicht gerne reden. Das Fell behalt' Sie, Jungfer,
ſagte er, und die Wolle kann Sie an die vielen Dörner ſtecken, an
denen Sie letzt hangen blieben iſt. Damit ging er fort. Sie lehnte
ſich an den Thürpfoſten und blieb noch lange bitterlich weinend und
[85] vor Kälte zitternd ſtehen, bis die Tritte ihres Vaters und ihrer Brü¬
der, die von einem Geſchäft nach Hauſe kamen, ſie vertrieben.


Mit den beiden Letzteren ſetzte Friedrich den gewohnten Umgang
fort. Wie aber zwiſchen ihm und ihnen von der Herzensangelegen¬
heit nie geſprochen worden war und ſelbſt die Verabredungen, wonach ſie
ihre Schweſter da oder dorthin bringen ſollten, immer in gleichgiltiger
Form gemacht worden waren, ſo wurde auch der Störung des Ver¬
hältniſſes nicht erwähnt. Nur einmal ſagte Friedrich mit deutlicher Be¬
ziehung: Ich merk's eben wohl, man vergißt mir meine Strafen
nicht, man ſieht mich für gezeichnet an. Worauf Jene ruhig ant¬
worteten: Wird doch das nicht ſein.


Unmuth und Unruhe trieben ihn umher, und auch in ruhigeren
Stunden, wenn dann und wann der Schmerz der vermeintlich ver¬
ſchmähten Liebe ihn zu quälen abließ, empfand er eine drückende Leere
und das Leben kam ihm ſchrecklich arm und öde vor. Er fühlte es, ohne
es klar zu erkennen, daß die Menſchen um ihn her wie Schatten wa¬
ren, daß Keiner ihm etwas ſein konnte, daß Niemand in ſeiner ganzen
Umgebung ſeinem wie in der Wildniß und Irre ſchweifenden Gemüth,
ſeinem hungernden Geiſt eine Heimath und Erquickung zu geben
vermögend war. Was er aber hell bewußt in ſich trug, war eine
maßloſe rebelliſche Bitterkeit darüber, daß er ſtatt ins Ehebett in die
Kinderlehre wandern ſollte. Einen grauſameren Hohn über ſeine
verunglückte Bewerbung meinte er ſich nicht erdenken zu können. Dazu
fühlte er ſich nicht bloß alt genug und den Kinderſchuhen entwachſen,
um vom Leben noch eine andere Schule zu verlangen, als die Ein¬
trichterung von Bibelſprüchen und Geſangbuchverſen, ſondern er hatte
auch dieſe Sprüche und Verſe ſammt der ganzen Schulbildung, worin
er ſelbſt Höhergeſtellten wenig oder nicht nachſtand, ſo vollkommen
inne, daß die Wiederholung des Unterrichts ihn nicht einmal in dieſem
Fache mehr fördern konnte. Für die Bildung ſeines „innern Men¬
ſchen“ aber, woran die Religionsſchule, die dieſen Ausdruck gern ge¬
brauchte, ſich hätte erproben laſſen können, war das bürgerliche
und geſellſchaftliche Leben, in deſſen Schoße er ſich tummelte, ſo in¬
haltsleer und ſo ſehr in die blinde Unterwerfung unter eine gewiſſen¬
los ſchwelgende „Herrſchaft“ hineingepredigt, daß es zu den Glücks¬
fällen gerechnet werden mußte, wenn eine über das gewöhnliche Maß
[86] ausgeſtattete Natur in dieſem Weſen eine wohnliche Hütte fand, oder,
was noch beſſer, auf gelindem Wege hinausgedrängt wurde. Eine
Hütte aber, wohnlich nicht bloß, für den Leib, ſondern auch für die
Seele, war kaum anderswo zu finden als bei den Pietiſten, welche
auf einem noch ungebrochenen Glauben fußten, deſſen kindliche Kraft
noch nicht durch die Ausbreitung der Bildung und Wiſſenſchaft ver¬
loren gegangen war, auf einem Glauben, der ihnen in körperlicher
Wirklichkeit vormalte, wie ſie dereinſt nach der Erlöſung aus dieſem
Thal des Jammers und der Sünde in den Wohnungen der Seligen
über dem blauen Himmelsgewölbe mit Kronen auf den Häuptern und
in weißen Gewanden einherwandeln würden, der aber in ſeinen Be¬
ziehungen zum irdiſchen Leben die dürre ſtreit- und herrſchſüchtige
Kirchenlehre, mit welcher er nur über das Jenſeits einverſtanden war,
weit hinter ſich ließ und eine Liebe und Gleichheit der, Kinder Gottes
predigte, woran trotz der Demuth dieſer Predigt die Inhaber von
Thron und Altar großes Aergerniß nahmen. Allein es war nicht
Jedem gegeben, ein Pietiſt zu werden, und nicht Jeder, dem es gege¬
ben geweſen wäre, hatte das freilich ſauer erworbene Glück, ſein Leben¬
lang unter den Flügeln eines Mannes wie der Waiſenpfarrer im
Ludwigsburger Zuchthauſe geborgen zu ſein.


In dieſer Verlaſſenheit und Vernachläſſigung mußten alle Rich¬
tungen einer ſo kräftig angelegten Seele in einen unbezähmbaren
Willensdrang verſchmelzen, der in ſeiner dumpfen Ungeduld überall
auf eben ſo dumpfe Hinderniſſe wie auf Mauern ohne Fenſter ſtieß
und ziellos zwiſchen Antrieben bald des Wohlwollens, bald der Wider¬
ſpänſtigkeit umherirrend, zuletzt an einem einzigen Gegenſtande haften
blieb, von welchem dieſer noch durch den Stachel beleidigter Eitel¬
keit geſpornte Wille Befriedigung aller Sehnſucht und Heilung aller
Schäden für das ganze Leben forderte. Die Verſagung dieſes höch¬
ſten Wunſches, an den er zumal die beſten Vorſätze für ſein künftiges
Verhalten geknüpft hatte, machte den Jüngling an ſich und der Welt
verzweifeln, und abermals wollte der wilde Geiſt über ihn kommen,
den er ſchon ſo manches Unheil hatte vollbringen laſſen.


Das Jahr ging zu Ende. Am letzten Tage ſaß Friedrich in einer
müßigen Stunde am runden Tiſche in der großen Wirthsſtube und
las in der Bibel, die mit ihren Heldenſagen und Abenteuern der
[87] Phantaſie des Volkes eine von der Kirche erlaubte Unterhaltung und
einen Erſatz für die verſchütteten heimiſchen Ueberlieferungen bot. Er
las eigentlich nicht, ſondern blätterte nur, denn er wußte alle dieſe
Geſchichten auswendig, die in der Predigt und Kinderlehre geiſtlich
gedeutet wurden, beim unbefangenen Leſen zu Hauſe aber mit ihren
guten und böſen Beiſpielen einen ganz natürlichen Eindruck machten.
Da waren Geſchichten von Erzvätern, die ſich betranken, Kebsweiber
hielten und verſtießen, durch Schelmenſtreiche reiche Familienhäupter
wurden oder in fremdem Hofdienſte ſich gegen das Volk zu Finanz¬
künſten hergaben, welche einen Würtemberger ſehr an den erſt zwölf
Jahre zuvor in Stuttgart gehängten „Jud Süß“ erinnern mußten.
Liebliche und heldenmäßige Züge wechſelten da mit gar unheiligen:
ein Volk zog aus einem Lande auf das Geheiß ſeines Führers, der
einen Todtſchlag begangen, wie eine Zigeunerbande fort, indem es die
entlehnten ſilbernen und goldenen Geräthe behielt; ein kühner Hirt
und Räuber, durch treue Freundſchaft ewig im Lied zu leben würdig,
ſtahl als Hauptmann einer Schaar loſer Leute ſeinem König einen
Zipfel des Mantels vom Leibe weg ſammt Speer und Becher,
diente als Ueberläufer dem Reichsfeind und mißbrauchte, als er ſpäter
daheim die Krone trug, ſein königliches Amt zu Lüſternheit und
Meuchelmord, wobei er ſich von jenen Erzvätern, wie auch von ſpä¬
teren Landesvätern, doch wenigſtens dadurch unterſchied, daß er über
ſeine That nachher Leid und Reue trug. Bedenkliche und zweifelhafte
Fragen über dieſe Erzählungen, die beinahe die einzige geiſtige Speiſe
des Volkes waren, konnte der junge Menſch, das wußte er wohl,
keiner Seele in ſeiner Umgebung vorlegen. Hatte doch ſelbſt der
Waiſenpfarrer einmal einen leiſen Verſuch mit den Worten abgewie¬
ſen, man müſſe nicht gar zu viel grübeln, Gott wähle oft ſeine eigen¬
thümlichen Wege und Werkzeuge, um ſeine Plane auszuführen. Am
liebſten aber ſchlug er die beiden Bücher von den ritterlichen Thaten
der Makkabäer auf und oft mußte er unwillkürlich nach der nahen
Alb hinüberſehen, wenn er las wie dieſe Helden ſich in das Gebirge
warfen, um von dort aus die Freiheit und das Geſetz ihres Landes
zu vertheidigen. Eben las er wieder, wie ſie beſchloßen, ſich durch die
Heiligung des Sabbaths nicht vom Kampfe abhalten zu laſſen, gleich
ihren Brüdern, die ſich wehrlos in der Höhle ſchlachten ließen, da er¬
[88] tönte in der Straße die Schelle des Ausrufers, und er öffnete das
Fenſter, um zu hören was es gebe. Das löbliche Amt ließ durch den
Fleckenſchützen ausſchellen, die jungen Burſchen ſollen ſich bei Strafe
nicht beigehen laſſen, in der kommenden Neujahrsnacht zu ſchießen, ein
Verbot, das jährlich eingeſchärft und übertreten wurde. Die können
nichts als verbieten! brummte Friedrich, indem er das Fenſter zu¬
ſchlug: das Schießen iſt nun einmal ein alter Brauch, wiewohl, wenn
man's dem Ungeſchick überließ', die Jugend durch Verluſt von je und
je ein paar geſunden Fingern zu curiren, was ja ſo wie ſo geſchieht,
ſo wär's wahrſcheinlich längſt mit dem Knallen vorbei. Aber der
Reiz des Verbotenen zieht eben viel ſtärker als die Furcht vor Schaden.
Es iſt mir als ob der Schütz beim Ausrufen ein Aug' zu mir hätt'
herauflaufen laſſen. Umſonſt hat er wohl auch nicht g'rad' vor meinem
Haus geſchellt. So? meint ihr? Dein Amtmann und du, ihr habt,
ſcheint's, ein beſonderes Zutrauen zu mir? Ich will euch Ehre machen.
Wartet einmal, ob ihr mich kriegt.


Er dachte nicht daran, wie oft er zu ſich geſagt, daß er die Kna¬
benſchuhe vertreten habe, ſondern ſchlich ſich, als es dunkel wurde, zu
einem Invaliden, der nicht weit von der Sonne auf Leibgeding wohnte
und dem er ſchon manchen Biſſen und Trunk geſpendet hatte. Von
dieſem entlehnte er ſein altes Schlachtgewehr, das ſchlecht ſchoß aber
um ſo mächtiger knallte, und bald unterſchied man aus den Schüſſen,
die im Flecken und um denſelben losgingen, einen der alle anderen
überdonnerte. Er hatte die Sylveſternacht eröffnet und krachte regel¬
mäßig in kurzen Pauſen durch das Geknatter des jugendlichen Muth¬
willens hindurch. Da und dort geſchah ein Unglück, da und dort
fiel einer der Lärmmacher den hin und her rennenden Wächtern in
die Hände und ſein Puffer verſtummte; aber den Donnerknall hörte
man ununterbrochen beinahe die ganze Vormittnacht und jedesmal
weit entfernt von dem Orte, wo der vorhergehende Schuß gefallen
war und die Wächter angelockt hatte. Wer feuert denn ſo kartaunen¬
mäßig? fragten die Leute im Flecken. Wer ſonſt als der Sonnen¬
wirthle, antworteten Andere: er iſt am beſten an dem zu erkennen, daß
ihn keiner von den Schaarwächtern erwiſcht. Für den Eingeweihten
war das ſicherſte Wahrzeichen wohl das, daß der unſichtbare Donnerer
überall, nur nicht an des Hirſchbauern Haus ſich hören ließ. Das
[89] hätte ihm der Stolz und der Groll nicht zugelaſſen. Doch lobte er
die alte Muskete und verglich ſie in ſeinem Sinn mit David's
Saitenſpiel, vor welchem der böſe Geiſt von Saul entwich; denn mit
jedem Schuſſe, der aus dem ſchwergeladenen Laufe fuhr, meinte er
um einen Theil ſeines Unmuths erleichtert zu ſein, und es war ihm
als ob er alle Hinderniſſe, die ſich ihm in dieſer ſchnöden Welt entge¬
genſtellten, über den Haufen ſchieße.


Dazwiſchen ging er einmal in die Sonne, um nachzuſehen, ob man
ſeiner nicht bei der Bedienung der Gäſte bedürfe. Die Einkehr war
dieſen Abend nicht ſo ſtark wie ſonſt, weil ſich die Neujahrsnachtgäſte
in die vielen Wirthshäuſer des Fleckens vertheilten, und weil man
wußte, daß der Sonnenwirth auf eine zeitige Ruhe mehr hielt als
auf eine lange Sylveſterfeier. Derſelbe war jedoch heute ungewöhn¬
lich aufgeräumt, er trank, ſchwatzte, lachte und kneipte abwechſelnd
ein paar junge Weiber, die mit ihren Männern zum Weine gekommen
waren, in die Backen, ſo daß einer der Anweſenden dem Wirthsſohne
zuflüſterte: Du, dein Geſtrenger hat 'n Sturm. Da braucht's keine
Brille um das zu ſehen, erwiderte Friedrich. Die Sonnenwirthin,
die vor den Leuten gute Miene zum böſen Spiele machen mußte,
ſuchte ihrem Manne ſein Betragen, womit er vielleicht bloß den um¬
laufenden Gerüchten zu trotzen beabſichtigte, durch Spottreden zu ver¬
leiden: Du biſt ſo alt, ſagte ſie, daß die Männer da nicht einmal
mehr eiferſüchtig auf dich werden. Es iſt auch ziemlich lang her,
entgegnete der Sonnenwirth lachend, daß du ein junger Drach' gewe¬
ſen biſt, und euer Gift iſt doch nur ſüß, ſo lang die Drachen jung
ſind. Ich weiß nicht, ſetzte er gegen die Geſellſchaft gewendet hinzu,
meine Alte iſt das Leben ziemlich gewöhnt, ſie iſt verhärtet, aber
wenn ſie unſer Herrgott oben hielt' und ich an den Füßen, ich glaub',
ich ließ' ſchnappen und nähm' mir eine Junge. Ich wollt' auch, rief
die Sonnenwirthin, unſer Herrgott nähm' Eins von uns Beiden zu
ſich, dann ging' ich wieder nach Strümpfelbach. Das Gelächter, womit
dieſe Reden aufgenommen wurden, bezeugte, daß an und für ſich
nichts Feindſeliges damit geſagt ſein ſollte, wie man denn auch wußte, daß
die Sonnenwirthin nicht von Strümpfelbach gebürtig war; es waren
uralte landläufige Witze, die man im Scherze von den verträglichſten
Ehepaaren hören konnte. Hier aber war ihnen viel geheime Galle
[90] beigemiſcht, und Friedrich nahm wahr, daß ſich zwiſchen dem Vater
und der Stiefmutter eine Kluft zu öffnen beginne, die, wenn ſie auch
nicht die belachte Ortsveränderung zur Folge hatte, doch den Vater
bald ganz auf die Seite des Sohnes bringen konnte. Jetzt wär's gut
Wetter für mich, dachte er unwillkürlich, jetzt würd' ich vielleicht
meine Rechnung nicht ohne den Wirth machen. Der Fehler iſt nur,
daß ich gar keine zu machen habe. Die Hauptnummer, die Glücks¬
nummer will nicht her, die mit den gelben Zöpfen und dem verſtock¬
ten trotzigen Herzen; was helfen mich alle Anſchläge ohne ſie? Drauf!
drein! Schlagt an! Feuer! drunter und drüber!


Und abermals krachten die ſchweren Schüſſe, in welchen der thö¬
richte Knabe ſeinen Unmuth und ſein Pulver verſchoß.

8.

Eben hatte er wieder ſeine Davidsharfe brummen laſſen und eilte
in ſchnellen Wendungen durch Zwiſchengäßchen vor den Wächtern da¬
von; da führte ihn ſein Weg an dem Bäckerhauſe vorbei, wo er
Chriſtinen zuerſt geſehen hatte. Er hörte luſtige Stimmen hinter den
Läden und blickte durch eine Spalte in die Stube, wo er ſeinen In¬
validen und andere Bekannte am Wirthstiſche ſitzen ſah. Chriſtine
war nicht zu ſehen, alſo konnte ihm ſein trutziges Ehrgefühl den Ein¬
tritt nicht verwehren. Während er ſich noch ein wenig beſann, wo er
das Gewehr unterbringen ſollte, ſah er in der ſchneehellen Nacht einen
Mann nicht mit den ſicherſten Schritten daherkommen, in welchem er
den Fleckenſchützen erkannte. Der hat ſchon einen Stich, ſagte er zu
ſich, und will noch die Sicherheit des Orts bewachen; da wird's heut
Nacht noch zum Durchbruch kommen; ich will ihm einſtweilen eins
aufſpielen, damit er munter bleibt. Er ſchlich ſich auf die Seite und
gab in der Geſchwindigkeit ſeinem Gewehr eine verdoppelte Ladung;
dann kam er leiſe hinter den Schützen herangeſchlichen. Dieſer hatte
das Geräuſch des Ladſtocks gehört und lauſchte vorgebeugt mit dem
Finger an der Naſe, ohne recht zu wiſſen wohin er ſich wenden ſolle;
[91] auf einmal that es hart an ſeinem Ohr einen Knall, daß er der
Länge nach mit der Naſe in den Schnee fiel und ſein dreieckiger Hut
weit hinausflog. Im Nu hatte der Thäter das Gewehr verſteckt und
ſaß drinnen in der Wirthsſtube neben dem Invaliden, der ihn mit ei¬
nem pfiffigen Blinzeln bewillkommte. Nicht wahr, meine alte Liſe
iſt noch gut bei Stimm'? flüſterte er ihm in's Ohr: ich hab' jeden
Knall herausgehört und bei jedem hat mir das Herz im Leib' ge¬
lacht. Dann fuhr er in einer angefangenen Geſchichte vom Prinzen
Eugen zu erzählen fort, unter welchem er es bis zum Profoßen ge¬
bracht hatte. Friedrich wußte ſeine Geſchichten alle auswendig, verſah
ihn mit Wein und ließ ihn erzählen, und unterhielt ſich indeſſen leiſe
mit dem uns ſchon bekannten Müllersknecht, der ihm ſeit jener Schil¬
derung ſeiner Jugendbegegniſſe eine Art von Bewunderung zollte, ſeine
Bekanntſchaft theils in der Sonne, theils an andern Orten pflegte und
auf den Haß ſeines Meiſters gegen den mannhaften jungen Burſchen
ſo wenig Rückſicht nahm, daß er ſelbſt durch den Verdacht des Müllers
wegen des Bienendiebſtahls, nachdem Friedrich ihm mit der aufrichtig¬
ſten Miene ſeine Unſchuld verſichert hatte, ſich nicht im geringſten
gegen ihn einnehmen ließ. Der Alte ſollte jedoch ſeine Geſchichte
nicht zu Ende bringen, denn kaum war er durch Friedrich's Eintritt
unterbrochen worden, ſo erhob ſich eine neue Störung. Die Thür
wurde heftig aufgeſtoßen und der Schütz kam in einer bogenförmigen
Linie hereingeſchoſſen. Da muß er herein ſein, der Mordthäter, der
mir nach dem Leben getrachtet hat! ſchrie er, indem er die glühenden
Augen von Einem zum Andern laufen ließ. Die ganze Geſellſchaft
verſicherte, ſich mit den Augen zuwinkend und durch einander ſchreiend,
hier ſei Niemand, der ihm etwas gethan habe, und Alles fragte, was
ihm denn geſchehen ſei. Er erzählte ſein Abenteuer, wobei er den
Oberkörper wiegte und dann wieder einen Schritt vorwärts oder rück¬
wärts gerieth; dieſes Schwanken wurde noch dadurch vermehrt, daß er
in ſeiner ohnehin nicht feſten Stellung beſtändig argwöhniſch in der
Geſellſchaft umherſah, ob er nicht an irgend einem Merkmal ſeinen
Angreifer erkennen könne. Das Gelächter, die Spottreden und ſchalk¬
haft verkehrten Fragen der ergötzten Zechbrüder machten ihn noch wil¬
der; er ſchimpfte und fluchte und beſtand darauf, hier oder wenigſtens
in der Nähe herum irgendwo müſſe er verſteckt ſein, der keinnützig'
[92] Lump, der ſich ſogar an ſeiner ihm von Gott vorgeſetzten Obrigkeit
vergreife.


Jetzt haſt genug haſſelirt, Schütz! rief ein Mann mit verwogenem
und zugleich verfallenem Geſicht, das den Ausdruck einer grämlichen
Luſtigkeit hatte und blutige Spuren trug, als ob es auf irgend eine
Weiſe zerſchunden oder zerkratzt worden wäre. Komm, ſchwenk' dir
die Gurgel aus, haſt dich ja ganz heiſer geſchrieen. Hier hältſt vor
der unrechten Schmiede: von denen, die hier ſitzen, iſt ſeit mindeſtens
einer Stunde keiner aus der Stube kommen. Biſt aber auch ein
rechter Leichtfuß, heißt das, du mußt nicht beſonders feſt auf den
Füßen ſein, daß dich ein blinder Schuß gleich zum Purzeln bringen
kann. Da ſieh den Profoßen an, der iſt ein anderer Kerl, den haben
ſie um einen Fuß kürzer gemacht und doch ſteht er auf ſeine andert¬
halb anders hin als du auf deine zwei ganze. Den ſchmeißt keiner
ſo leicht um, weder mit einer blindgeladenen Kanone noch mit einer
ſcharfgeladenen Butell'. Laß das Haſſeliren ſein, ſag' ich, und komm
her, ich bring' dir's. Es vertreibt dir den Schnapsgeruch.


Der Invalide, der an der Tiſchecke ſaß, hatte alsbald zum Beweis
für das Geſagte den Stelzfuß auf dem Tiſch und trommelte damit
nach Wein. Zugleich machte er Anſtalt, ſeine Geſchichte wieder aufzu¬
nehmen, aber es glückte ihm nicht.


Dein gut's Wohlſein, Küblerfritz! ſagte der Schütz, das darge¬
botene Glas annehmend und auf Einen Zug leerend, mit einer Mi¬
ſchung von Freundlichkeit und Spott: es ſcheint du machſt jetzt Feuer¬
kübel und verlegſt dich auf's Löſchen. Wünſch' Glück dazu. Löſch'
aber nur zuerſt den Brand in deinem eigenen Haus, du Mann im
Feuerofen. Wiewohl, dein Feuerteufel, deine Marget, iſt heut' abge¬
kühlt worden; ſie hat ganz krumme Finger gehabt und hat laut ge¬
ſchnattert, wie ich ſie wieder aus dem Häusle herausgelaſſen hab',
wegen der großen Kälte iſt ſie nur auf ein paar Stunden dreinge¬
ſprochen worden.


Was? iſt dein Weib heut eingeſperrt worden, Kübler? fragte der
Invalide.


Der Kübler nickte mürriſch. Ihr wiſſet ja, wie ſie iſt und wie ſie
mein Mädle von meinem erſten Weib plagt und den Waiſen, den
ich aus dem Heiligen in der Koſt hab'. Zu dem ſagt ſie immer:
[93] Du Bettelhund! du Herrenhund! du ſchlappohriger Hund! und ſchlägt
ihn zwiſchen die Löffel, zwiſchen die am Kopf, mein' ich, wenn er den
Löffel in der Schüſſel zu voll macht. Er ißt freilich ſchier mehr als
er einträgt, das Koſtgeld iſt ſo mager. Ihr könnt auch in meinem
Geſicht ſehen wie ſie mich dieſe Feiertage gezeichnet hat. Vor Weiber¬
nägeln iſt auch der Stärkſte nicht ſicher. Ich hab' ſie aber durchge¬
walkt, daß ihr die Knochen heut' noch mürb' davon ſind, und hätt'
eigentlich keine Hilfe nöthig gehabt vom Kirchenconvent; ich kann
Gottlob allein mit ihr fertig werden.


Hat ſie dich denn verklagt?


Nein, das läßt ſie wohl bleiben. Der Pfarrer hat eben von
irgend einer guten Nachbarſchaft gehört, daß es wieder einmal Händel
bei uns gegeben hat, und hat dann die Sach' vor Kirchenconvent
gebracht. Sie haben gemeint, ſie müſſen heut' noch eine Sitzung
halten, die Herren, und das ganze Kutterfaß vom alten Jahr aus¬
leeren. Es ſind noch Viele vorgeladen geweſen.


Haben ſie dich geſtraft?


Nein, wiewohl ich die Schläg' nicht abgeleugnet hab', aber meines
Weibes Bosheit iſt eben Gott und der Welt bekannt. Doch bin ich
auch nicht ungerupft davon gekommen. Sie hat über mich geklagt,
ich ſei ein Faullenzer und verdiene nichts in's Haus. Jetzt ſagt ſelbſt,
ihr Mannen, ob das wahr iſt?


Nein, nein! riefen Alle zuſammen, das kann man dir nicht nach¬
ſagen.


Ich weiß wohl, fuhr der Kübler fort, es geht knapp bei uns her,
und Armuth iſt eine Haderkatz'. Wenn man vollauf hat, ſo kommt
man viel leichter mit einander im Frieden aus. Aber meine Schuld
iſt's nicht, wenn's manchmal ſogar am Kreuzer fehlt. Mein Weib
mit ihrem abſcheulichen Fluchen, wegen deſſen ſie geſtraft worden iſt,
und mit dem Spektakel, den ſie immer mit meinem Kind hat, ſchreckt
die Leut' ab, daß ſie nicht gern in's Haus kommen und lieber ihr'
Sach' wo anders machen laſſen. Aber man darf den Herren nur
etwas an die Kunkel ſtecken und wenn's eitel Alteweiberfäden wären,
gleich machen ſie ein Geſpinnſt daraus. Mein Weib hat mit keinem
Wörtle beweiſen können, daß ich faul ſei, und die Herren haben ihr ei¬
gentlich auch nicht geglaubt; und doch hat mir da der Pfarrer eine
[94] lange Predigt und Vermahnung geben, ich ſolle fleißig arbeiten, damit
mein Weib keine Gelegenheit habe, über mich zu klagen. Iſt das auch
recht? Statt daß er mich in Schutz nimmt oder wenigſtens meinem
Weib aufgibt, ſie ſolle beweiſen, was ſie wider mich ſage, hilft er noch
auf eine gewiſſe Art dazu, als ob das Geſchwätz einen Grund hätt',
und er weiß doch ſelber keinen.


Ja, lachte Friedrich, wer vor Kirchenconvent kommt, kriegt immer
eine Vermahnung auf den Weg und eine Salbung, wenn ſie auch
gar keine Heimath hat. Für was wären denn die Herren da?


Das Ding hat mich ſo erzürnt, ſagte der Kübler, daß ich's gar
nicht los werden kann. Ich wär' vielleicht heut Abend zu Haus ge¬
blieben, denn ich hätt's wohl nöthig, bin nicht mehr der luſtig' und
durſtig' Küblerfritz, der ich in meinen ledigen Jahren und bei meinem
erſten Weib geweſen bin. Aber der Pfarrer hat mir's angethan, der
iſt Schuld daß ich die Batzen im Wein aufgehen laſſ', anſtatt zu
ſparen. Ich ſpür's in allen Gliedern, heut' Nacht muß noch ein
Rauſch getrunken ſein. Juhu! Komm, Frieder, ſtoß' mit mir an.
Du biſt auf eine Art auch im gleichen Spittel krank mit mir.


Friedrich ſtieß an. Alle böſen Weiber ſollen mit dem alten Jahr
hinfahren! rief er.


Du biſt übrigens heut' noch nicht am ſchlecht'ſten wegkommen,
Kübler, ſagte der Schütz, der inzwiſchen, von dem Invaliden und dann
von Friedrich gleichfalls mit einem Glaſe Wein begrüßt, ſich am Tiſche
ſeßhaft gemacht hatte, theils weil es ihn bedünken mochte, hier ſei's
gut Hütten bauen, theils weil er im Sitzen ſeine angehende Trunken¬
heit beſſer verbergen zu können glaubte. Dies gelang ihm auch und
er wurde ſehr geſprächig, wobei er freilich zuweilen ſtark mit der
Zunge anſtieß, auch ſeine Amtsſtimme über die Gebühr anſtrengte,
was jedoch auf dem Lande, wo Jeder im Reden ein wenig ſchreit,
nicht beſonders aufzufallen pflegt. Dem Küfer da drüben iſt's nicht
ſo gut gegangen, fuhr er fort: den werdet ihr heut' Abend noch nir¬
gends geſehen haben.


Nein, er iſt ein ſtiller Mann, ſagte der Bäcker, der ſein Glas
ſtehend am Ofen trank und ſeine Frau dann und wann ein wenig
in der Bedienung ablöſte: man ſieht ihn nie außerm Haus, als wenn
[95] ihn das Geſchäft hinausführt, und am Fenſter läßt er ſich auch ſelten
blicken. Er iſt eingezogen, wie nicht leicht Einer.


Abſonderlich heut'! lachte der Schütz. Da wär's eine Kunſt für
ihn, ſich an ſeinem eignen Fenſter ſehen zu laſſen, und wo er jetzt
iſt, wird er freilich nicht gern ans Fenſter gehen.


Was? Ich will nicht hoffen! rief der Invalide. Iſt er denn —?


Eingezogen, wie der Beck bereits geſagt hat.


Der Küfer iſt eingeſteckt? riefen Alle zuſammen.


Ach, er ſitzt eben ein wenig bei mir im Hauszins, ſagte der
Schütz, und frieren thuts ihn nicht, denn ich hab' ihm einen guten
warmen Ofen gemacht; ſonſt thät' er's nicht aushalten die vier und
zwanzig Stunden im Thurn.


Der Küfer im Thurn! rief Alles. Was hat er denn gethan?
fragte der Bäcker. Der thut ja keinem Hühnle weh und iſt ſo ein
ruhiger Mann, daß es viel iſt, wenn man nur in der Nachbarſchaft
merkt, ob er zu Haus iſt oder nicht.


Was hat er gebosget? fragte der Kübler.


Er muß ſein Weib doch ſehr leis geſchlagen haben, wenn Ihr
nichts davon gehört habt, Beck, ſagte der Schütz.


Ja was, ſo hab' ich's nicht gemeint, ſagte der Bäcker: natürlich,
Stuß gibts überall, auch in der ſtillſten Haushaltung.


Ein Weib prügeln, das iſt doch keine ſo beſondere Sach', riefen die
Andern durch einander. Und die Küferin, meinte Einer, hat's eben
auch dann und wann nöthig.


Die Weiber, bemerkte der Bäcker, müſſen iebott (zuweilen) Streich'
han', ſonſt meinen ſie, man hab' ſie nicht lieb.


Aha, Beckin, riefen die Gäſte, hat er Euch ſeine Liebe auch ſchon
bewieſen?


Nein, der Mein' macht nur Spaß, ſagte ſie: mich hat er noch
nie geſchlagen.


Und deſſentwegen iſt der Küfer in Thurn kommen? fragte der
Müllerknecht.


Bewahre! antwortete der Schütz, bloß vor Kirchenconvent. Sein
Schwäher, der Schneider, hat ihn beim Herrn Pfarrer verklagt, daß
er, wie der Herr Pfarrer mir erzählt hat, ſein Weib um nichts¬
würdiger Urſachen willen jämmerlich tractiret hab'. Alſo hat mich
[96] der Herr Pfarrer zum Herrn Amtmann geſchickt. Der hat aber gleich
geſagt, da werde es etwas ſetzen, denn der Küfer ſei zwar in ſeinem
Handwerk fleißig und kein übler Haushälter, aber ſonſt ein eigen¬
ſinniger hartnäckiger Geſell. Es ging auch ſo, wie der Herr Amt¬
mann geſagt hatte, denn obwohl man mich zweimal zu ihm ſchickte,
denn ich muß eben Alles ausrichten, weil der Herr Amtmann den
Amtsknecht faſt ganz ins Haus braucht als ſeinen Leibdiener, ſo kam
er doch nicht, ſo daß ich ihn zuletzt mit zwei Männern hab' holen
müſſen. Das hat er aber wohlweislich vorausgeſehen und ſich ins
Sternwirths Keller etwas zu ſchaffen gemacht, damit ihm der Spek¬
takel nicht in ſeinem Haus über den Hals käm'.


Und darum iſt er in Thurn kommen? wiederholte der Müllerknecht.


Nein, er hat dann böſe Reden geführt, denn ſo ſtill er ſonſt ſein
mag, ſo hat er vor Convent das Maul weit aufgethan. Wie man
ihm fürgehalten hat, warum er ungehorſam geweſen ſei, hat er ge¬
ſagt, er habe vor dem Kirchenconvent nichts zu ſchaffen, es ſei ihm
ſolches ein Schimpf, ſein Weib hab' die Schläg' nöthig, der vorige
Pfarrer und Amtmann haben ihm ſelber geſagt, er ſolle ſie nur
ſchlagen, wenn ſie's brauche. Wenn ihn der Herr Amtmann für ſich
citire zum weltlichen Amt, ſo komme er und man brauche ihm nicht
mit dem Holzſchlägel zu winken, aber auf kirchenconventliche Citation
komme er nicht, ſonderlich wenn man ihm den Büttel ſchicke — da¬
mit hatte er mich gemeint; — man ſolle ihm ein geſchworen Weib
ſchicken oder die Hebamme, das ſeien des Pfarrers ſeine Amtsboten.


Alles lachte zuſammen.


Zuletzt iſt's dann vollends fauſtdick kommen, fuhr der Schütz fort.
Da hat er ſich vernehmen laſſen, es geh' hier viel Unordnung vor,
ſo nicht geſtraft werd', der Pfarrer melier' ſich mit hieſigen Weibern,
die Leute reden ihm viel nach. Ich hab' vor der Thür nicht Alles
verſtanden, denn vorher hat er ein wenig geſchrieen, das Schärfſt'
aber hat er nicht mehr ſo laut geſagt, er wird gedacht haben, es
ſchalle auch ſo noch deutlich in die Ohren. Den Herr Pfarrer aber
hat man nachher verſtehen können, der hat ihn angeſchrauen, er ſei
ein lüderlicher Geſell, was er denn von ihm ſagen könne? und man
müſſe die Sache an's löbliche Oberamt nach Göppingen berichten. Der
Herr Amtmann aber hat ihn einſtweilen in Thurn ſperren laſſen.


[97]

Wenn er da bleiben muß bis von Göppingen Beſcheid kommt,
ſagte Friedrich, dann kann er lang ſitzen.


Wird nicht ſo gefährlich ſein, ſagte der Schütz: er behält ſein
frei Logis ein' Tag oder zwei, bis die Sache ein wenig verſaust iſt,
und dann darf er heraus und abwarten was vom Oberamt kommt.


Was kann ihm denn blühen? fragte der Müllerknecht.


Ich wollt' eine Wette drauf eingehen, antwortete der erfahrene
Diener der Obrigkeit, er kriegt nicht mehr denn einen Ordinari-Frevel
und natürlich muß er depreciren. In Göppingen ſieht man eben drauf,
daß es am Gehorſam und ſchuldigen Reſpect nicht mankirt, aber auf
das Geſchwätzwerk ſelber läßt ſich der Vogt nicht ein, er nimmt's nur
ſo überhaupt, wie der Teufel die Bauern.


Alle lachten über dieſe Bemerkung, welche beſagen ſollte, daß der
Oberbeamte derlei Dinge in Bauſch und Bogen abzumachen pflege.


Vielleicht, äußerte Friedrich, denkt er auch, das Geſchwätz habe ei¬
nen Grund; denn um drei Gulden fünfzehn Kreuzer wär's billig ge¬
ſchimpft. Iſt denn was dran? Ich hab' doch nie gehört, daß man
dem Pfarrer mit Weibsbildern etwas nachſagt.


Nein, verſetzte der Kübler, das hat auch der Küfer nicht ſagen
wollen von dem alten Krattler. Aber das iſt wahr, daß er ſich
Schwätzereien zutragen läßt von jeder Magd am Brunnen und von
jedem böſen Weibermaul. Die ſtecken ſich hinter die Pfarrerin und
ſchleichen zu ihr in die Küche; von ihr erfährt's dann er und auf die
Art iſt's eine beſtändige Spionerei im Flecken, durch die eine Menge
nichtsnutziges läppiſches Zeug an die Obrigkeit gebracht wird und
Vieles, was eher der Müh' werth wär', unbeachtet bleibt. So iſt ei¬
gentlich die Obrigkeit in der Gewalt von etlich böſen Zungen, denn
der Pfarrer meint, er müſſ' nach allem ſehen, und weil er das nicht
kann, auch überhaupt die Natur bei ihm zu kurz iſt, ſo behilft er ſich
mit dem Geſchwätz. Und der Amtmann, der läßt ſich dann in jeden
Lauf laden, aus dem einer ſchießen will, ohnehin wenn der Pfarrer
den Finger am Drücker hat oder auch die geſtrenge Frau Amtmännin.
Die andern Conventsmitglieder aber, die drin ſitzen, ſind der Garnichts,
das weiß man ja. Dann braucht man nur bei den Herren was an¬
zubringen, abſonderlich wenn man beim Pfarrer ein paar gottſelige
Redensarten mit unterlaufen läßt, dann ſehen ſie nicht aus die Sache
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 7[98] ſelber, ſondern daß etwas angebracht iſt, das iſt ihnen der Haupt¬
punkt, und daraus machen ſie dann ein Protokoll und ein Geſchäft,
wie wenn ſie dabei geweſen wären und alles beſſer wüßten als der
den's doch angeht. — Mit dieſen Worten reichte er ſein Glas dem
Schützen, der ſich auch gleichmüthig, während über ſeine Vorgeſetzten
losgezogen wurde, den Mund ſtopfen ließ.


Zu was wären ſie denn ſonſt da? bemerkte Friedrich.


Der Invalide ſtieß ihn an und flüſterte: Sei Er doch politiſch
und laß Er den Kübler allein das Maul brauchen. Der ſteckt in
Schuhen, woran nichts mehr zu flicken iſt. Aber Ihm könnt's
Schaden bringen, denn der Schütz iſt ein Kalfakter; er ſchmarotzt ſo viel
man ihm gibt, und nachher trägt er Alles, was er dabei gehört hat,
ſeinen Herren wieder zu.


Was liegt mir dran? entgegnete Friedrich trotzig.


Und was iſt denn noch mehr heut' vorgekommen bei der Kirchen¬
cenſur? fragte der Invalide den Schützen, um das Geſpräch abzulenken.


O mehr als viel, ſagte dieſer: die Sitzung hat noch nie ſo lang
gedauert, es iſt mir ganz ſchwach worden vom langen Warten im
Oehrn. Zuerſt, begann er mit einer Amtsmiene, ſind Kirchenſtuhlſtrei¬
tigkeiten unter den Weibern abgemacht worden; das iſt ja ein ſtehen¬
der Artikel bei allen Conventsſitzungen. Dann hat man junge Bur¬
ſche vorgefordert, die aus der Kinderlehre weggeblieben ſind, und hat
ſie mit Vermahnung wieder ſpringen laſſen.


Friedrich biß ſich auf die Lippen, ſagte aber nichts, um nicht den
Spott der Geſellſchaft gegen ſich herauszufordern.


Dann hat man eine Separatiſtin fürgehabt, die in Jebenhauſen
drüben bei der gnädigen Frau in die Stund' gangen iſt.


Der Geſellſchaft war dies ſo gleichgiltig, daß ſie nicht einmal nach
dem Namen fragte.


Ferner hat man die alte Anna fürgenommen, die mit dem krum¬
men Fuß, die mit ihren drei Waiſen dreißig Kreuzer wöchentlich hat.
Der iſt fürgehalten worden, daß ſie als ein altes baufälliges Weib
gleichwohl etlichmal nach Zell hinunter in die Kirche gegangen ſei mit
Verachtung des hieſigen Gottesdienſtes, und habe ſich deshalb die
Bürgerſchaft über ſie beſchwert.


Ja, die Bürgerſchaft! rief der Kübler. Ein paar alte Weiber
[99] werden zum Pfarrer geloffen ſein und vielleicht der Kreuzwirth, und
werden ihm nach dem Maul geredt han.


Was iſt ihr geſchehen? fragte der wohlwollende Invalide, in der Abſicht,
ſeinen Liebling nicht auch wieder in dieſen Ton verfallen zu laſſen.


Sie hat ſich verantwortet, ſie hab's nur drei oder viermal gethan
und ſei ſie allweg von andern Leuten hinuntergeſchickt worden, weil
ſie eben unerachtet ihrer Gebrechlichkeit ſehen müſſe wie ſie etwas ver¬
diene, und dann ſei ſie, um wenigſtens das Wort Gottes zu hören, dort
in die Kirche gegangen. Man hat dann beſchloſſen, daß man ihr von
den dreißig Kreuzern, die ſie aus dem Almoſen hat, zehn nehmen und
künftig nur noch zwanzig geben wolle, und ihr bedeutet, wenn ſie
ferner nach Zell in die Kirche gehe, ſo werde man ihr das Almoſen
gar nehmen. Sie hat mich gedauert, denn ſie hat ſchrecklich geheult.


Predigt man denn in Zell ein anderes Wort Gottes als hier? rief
Friedrich, indem er wild mit der Fauſt auf den Tiſch ſchlug. Das iſt
doch überaus, wenn ſo ein — er beſann ſich vor dem Schützen
einen Augenblick - wenn ſo ein Pfarrer meint, man dürf' keinen
Anderen hören als ihn und nimmt einem armen alten Weib darum
das Brod! Und was man in den Kirchen hört, das iſt doch meiſtens nur
um der Einkünfte willen gepredigt. Wenn ſie's umſonſt thun müßten
wie im Evangelium, und dem Volk noch Brod dazu geben, ei wie
geſchwind ſtünden die Kanzeln leer!

Ein Gemurmel durchlief die Geſellſchaft; es ſchien aber keinen
Widerſpruch anzudeuten. Der Invalide fragte ſchnell: Was hat's
noch weiter geben? und ſchob ſein Glas dem Schützen hin, der ihm
bereitwillig Beſcheid that, ohne den rebelliſchen Reden ſichtliche Auf¬
merkſamkeit zu ſchenken.


Allerlei Sabbathentheiligungen ſind abgerügt worden, fuhr er fort.
Einer iſt am Sonntag in's Feld gangen, ein Anderer hat gedro¬
ſchen, und des Küblers ſein Bruder iſt auch vorgeweſen, der hat am
Sonntag eine Bettlade angeſtrichen, und ſo noch Andere mehr. Die
ſind ein Jedweder um ein halb Pfund Heller in Heiligen geſtraft worden.


Nächſtens wird man am Sonntag nicht einmal mehr einen Biſſen
zu ſich nehmen dürfen, murrte Friedrich.


Ja, rief der Kübler, du haſt vielleicht gar nicht weit daran
vorbeigeſchoſſen, denn der Pfarrer in Hattenhofen drüben hat ſich7 *[100] bereits verlauten laſſen, man ſollt' eigentlich den Tag des Herrn mit
Faſten zubringen.


Die Geſellſchaft lachte unwillig.


Die Obrigkeit macht aber doch auch billige Ausnahmen, ſagte der
Schütz zu Friedrich. Wie Sein Vater verwichenes Jahr um Oſtern
angebracht worden iſt, daß er am Sonntag mit einem Wagen Haber
nacher Stuttgart gefahren ſei, da iſt ihm nichts geſchehen, weil er ſich
hat verantworten können, der Haber gehöre der Herrſchaft und habe
zur Gottesdienſtzeit in Stuttgart ſein müſſen.


Ja wohl! lachte Friedlich bitter, wenn's für die Herrſchaft iſt,
dann iſt's keine Sünd'! Ich hab' geglaubt, vor Gott ſei Alles gleich.
Aber der Herzog jagt auch am Sonntag, wenn's ihn ankommt, und
fragt nach keinem Pfarrer nichts. Ich hab ihn ſelber ſchon am Sonn¬
tag hier durchreiten ſehen.


Und letzten Sommer hat man Seinen Schwager auch entſchuldigt,
weil er an einem Sonntag Garben eingeführt hat, die von den wil¬
den Schweinen übel zugerichtet geweſen ſind. Da hat der Convent
ein Einſehen gehabt und hat judicirt, es ſei ein Nothwerk geweſen.


Ja, was! ſagte ein Bauer, bei ſo fürnehme Leut' hat man frei¬
lich ein Einſehen.


Ich will doch nicht hoffen, rief ein Anderer, daß der Kirchencon¬
vent auch noch den wilden Säuen den Kopf heben ſollt', die uns
das Feld verderben und die beſte Frucht wegfreſſen! Unſereins muß
ſich das ganze Jahr hindurch ſchinden und plagen, damit man in
Stuttgart in Saus und Braus leben kann, und man ſollt' nicht ein¬
mal ſeine Frucht einthun dürfen, eh die Beeſter ſie vollends ruinirt haben?


Man hat nicht bloß mit dem Sonnenwirth und ſolchen Leuten
ein Einſehen, bemerkte der Schütz dem vorigen Redner, ſondern auch
mit dem gemeinen Mann. Wie im Heuet das Gewitter auf unſere
Markung geſchlagen hat Göppingen zu und ein Hochwaſſer zu befürch¬
ten geweſen iſt, hat nicht da der Herr Amtmann am Sonntag früh
ausſchellen laſſen, die Leute ſollen und müſſen ihr Heu ſogleich heim
thun, daß und damit es nicht vom Waſſer fortgenommen werde?


Ei, ich wollt', er hätt's draußen gelaſſen, erwiderte der Angere¬
dete, das Waſſer iſt nicht ſtärker worden, wie man hat vorausſehen
können, und mit dem Heu hat man nachher ſeine liebe Noth gehabt.
[101] Hätt' man's liegen laſſen dürfen, ſo wär's auf dem Feld trocken
worden.


Das war dazumal, ſagte einer aus der Geſellſchaft lachend, wo
der Blitz dem Käsbalthes ſein Paar Ochſen erſchlagen hat. Ich ſeh'
ihn noch immer, wie er da geſtanden iſt und eine Fauſt gegen den
Himmel gemacht und geſchrieen hat: jetzt ſoll aber auch unſerm Herr¬
gott ſein beſtes Paar Engel verr—.


Ein ſchallendes Gelächter folgte auf dieſe Erzählung. Das dürft'
auch nicht beim Kirchenconvent vorkommen, bemerkte einer.


Ei ſo ſchlag! rief der Müllerknecht, immer von neuem in Lachen
ausbrechend und das verpönte Wort in unſchuldigerer Wendung wie¬
derholend: ſo, unſrem Herrgott ſoll ſein beſtes Paar Engel capores gehn?
Ja, und dem Herzog ſein ſchönſtes Paar Tänzerinnen! knirſchte
der Kübler, indem er das Glas auf den Tiſch ſtieß.


In der Wirthsſtube wurde es plötzlich ſo ſtill, daß man eine Fliege
ſummen hörte, die ſich in der Tag und Nacht gleichen Wärme des
Bäckerhauſes lebendig erhalten hatte.


„O daß ich könnte ein Schloß an meinen Mund legen und ein feſt
Siegel auf mein Maul drücken!“ ſagte die Bäckerin mit bibliſcher Betonung.
Was! rief der Kübler wild, iſt denn eine zerbrochene Fenſterſcheib'
in der Stub', daß man ſeine Wort' hüten muß?
Friedrich ſah unwillkürlich nach dem Schützen hin.
Vor Kirchenconvent wenigſtens dürft' ſo etwas nicht bekannt
werden, ſagte der Müllerknecht, der ſo eben noch eine Verwünſchung
der Engel Gottes weit minder verfänglich gefunden hatte als einen
Fluch über die Tänzerinnen des Herzogs.


Der Schütz, dem der Blick des jungen Burſchen nicht entgangen
war, verſetzte: Ich denk', der Herr Amtmann und der Herr Pfarrer
werden froh ſein, wenn ſie nichts davon erfahren. Es iſt beſſer, eine
ſolche unverſtändige Red' bleibt in der Gemeind', denn wenn ſie weiter
käm', ſo könnt' ſie Einen an Leib und Seel' zeitlebens unglücklich machen.


Der Kübler, dem der Wein mehr und mehr in den Kopf ſtieg,
brummte einiges dagegen, und der Schütz, etwas ſteif von Trunkenheit
und Autoritätsbewußtſein, ſchien nicht geneigt, ihm eine Antwort ſchuldig
zu bleiben, ſo daß der Invalide ſich abermals in's Mittel legen zu müſſen
meinte. Ich hab' die Kirchenconventsgeſchichten ſatt bis oben herauf,
[102] ſagte er leiſe zu Friedrich, und doch weiß ich dem Kerl das Maul
nicht anders zu ſtopfen, denn daß ich ihn aus der Schul' ſchwatzen
laſſ'; das kitzelt ſeinen Hochmuth. Und zum dritten Mal fragte er
ihn, was ſonſt noch verhandelt worden ſei.


Ein Huſarentanz, ſagte der Schütz.


Was? riefen die Andern und ſperrten Maul und Augen auf.


Die Conventsherren werden doch nicht getanzt haben, ſagte der
Müllerknecht.


Dummes Geſchwätz! entgegnete der Schütz. Dem Herrn Amt¬
mann war angezeigt worden, daß in einem Lichtkarz bei der kropfigen
Liſabeth Kuchen gegeſſen worden ſeien und daß des Xanders Bäsle,
die bei ihm dient, den Huſarentanz dabei getanzt habe, wobei auch
ledige Burſche zugegen geweſen ſeien. Die Tänzerin und die Liſa¬
beth, weil die den Karz ohne Erlaubniß gehalten, ſind jede ein paar
Stunden ins Häusle geſprochen und mit einem Weiberfrevel geſtraft
worden, und von dem Weibsgeziefer, das im Karz Kuchen geſſen
hat, iſt jede um elf Kreuzer geſtraft worden, ſo auch der Beck, der
neben der Liſabeth wohnt und die Kuchen backen hat.


Friedrich horchte hoch auf: dies war der Karz, in welchen Chri¬
ſtine durch ſeine Vermittlung eingeführt worden war. Er hütete ſich
aber wohl zu fragen, ob Chriſtine unter den Geſtraften geweſen ſei.


Der Huſarentanz? fragte der Müllerknecht: was iſt denn das für
ein Tanz?


Kein beſonders anſtändiger, antwortete ihm Friedrich.


Der Huſarentanz, ſagte der Schütz, nun, das iſt eben der Hu¬
ſarentanz. Wer wird denn den nicht kennen?


Der Schütz, rief der Kübler, ſtellt ſich doch als ob er Alles
wüßt'! Ich bin euch gut dafür, daß er ihn ſelber nicht kennt.


Was, ich? erwiderte der Schütz und richtete ſich ſtolz empor, ich
ſoll ihn nicht kennen?


Nein, ich wett' was du willſt.


Eine Flaſch' Wein!


Eingeſchlagen!


Und ohne an ſeine Amtswürde zu denken, ſprang der Schütz vom
Stuhl auf, ſetzte den Hut verkehrt auf den Kopf, nahm die Rock¬
zipfel zwiſchen die Zähne und führte einen ſeltſamen Tanz mit plum¬
[103] pen Sprüngen auf, die ſich um ſo abſcheulicher ausnahmen, da er im
wachſenden Rauſche ſeines Körpers nicht mehr mächtig war. Wenn
das Mädchen, von dem er erzählte, nur zum zehnten Theil ſo häßlich
getanzt hatte, ſo hatte Friedrich mit ſeiner Bezeichnung vollauf Recht
gehabt. Die Geſellſchaft brüllte vor Lachen, aber in den Augen der
Männer malte ſich zugleich die Verachtung, welche die Bäckerin noch
deutlicher ausdrückte, indem ſie, ohne lachen zu können, mitleidig nach
dem Luſtigmacher hinſah. Da tanzt unſere Obrigkeit! ſagte der Kübler.


So, das iſt der Huſarentanz! keuchte der Schütz, indem er athem¬
los auf ſeinen Stuhl zurückfiel. Jetzt eine Halbe dem Küblerfritz!


Das Gelächter dauerte noch lange fort, während er ſich ſchon den
Preis ſeiner Schauſtellung ſchmecken ließ. Er wurde mit zweideutigen
und ſpöttiſchen Lobſprüchen überſchüttet, und der Invalide ſagte ihm,
er ſollte ſich beim Ballet in Stuttgart anſtellen laſſen, da würde er
am Beſten hintaugen.


Dieſe Aufnahme ſeiner künſtleriſchen Production machte ihn wieder
ein wenig nüchtern. Aber das Schönſte hab' ich noch gar nicht er¬
zählt ! rief er, um den ihm allmählich klar werdenden Eindruck des
Poſſenſpiels, das er ſo eben aufgeführt hatte, zu verwiſchen. Ein
Hexenproceß iſt heut' noch zu guter Letzt verhandelt worden!


Ein Hexenproceß? Was? Wird wieder einmal eine Hex' verbrennt?


Nein, dazu bietet die Obrigkeit nimmermehr die Hand. Aber
doch iſt's ein Hexenproceß geweſen und das ein ſaftiger. Ich hab'
ſchon gemeint, die Sitzung geh' zu End', die Herren haben nur noch
ein wenig von wegen der Kirche und Schule discurirt — der Wetter¬
hahn iſt lahm worden und die Schulmeiſterin will eine Küche und
mag ſich nicht mehr mit dem ſchlechten Verſchlag zum Kochen behelfen
— da kommt auf einmal der Franzos den Gang herangeſtiegen, wie
ein welſcher Hahn, und den Hut hat er ganz ſchief aufgehabt, ſo daß
ich gleich gedacht hab', da ſei bös Wetter im Anzug.


Wer iſt der Franzos? fragte der Müllerknecht


Man heißt ihn ſo, weil er ein Jahr im Elſaß das Sattlerhand¬
werk gelernt hat und davon ein wenig welſcht. Er hat eine Ham¬
melayin zum Weib. Ich hab' ihn gleich müſſen bei Convent an¬
melden, und weil ich neugierig geweſen bin, hab' ich die Thür ein
wenig offen gelaſſen. Da hat er ſchrecklich gethan und immer mit
[104] den Händen dazu gefochten, und hat den Schmidhannes verklagt, daß
er heut' in Gegenwart des ganzen löblichen Magiſtrats, juſt vor der
Conventsſitzung, in einem Streit wegen eines Gartenzaunes die Ham¬
melayiſchen insgeſammt Hexen geſcholten habe. Das ſei ein Schimpf
und eine Schande für ihn und ſeine Gefreundten und er klage im
Namen der ganzen Hammelayiſchen Familie, man möchte den Schmid
zur gebärenden Strafe ziehen und ihm eine chriſtliche Abbitte auf¬
erlegen. Ich hab' gleich den Schmidhannes holen müſſen, und der
hat auch ohne weiters bekannt, daß er dieſe Rede vor geſeſſenem Ge¬
richt ausgeſtoßen hab', und es ſei wahr, er bleibe dabei, denn die
alte Hammelayin ſei ihm ſchon vor fünf Jahren einmal in aller Früh'
ohne Haub' im Hemd und Rock begegnet, hab' auch eine ſchwarze
Katz' bei ſich gehabt, die ſo groß als ein Kalb geweſen ſei. Der
Herr Amtmann hat ihm drauf die Sach' ausreden wollen, er hab'
vielleicht einen ſtarken Morgenſchnaps getrunken gehabt und die Katz'
durch eine zu große Brill' angeſehen. Er aber iſt dabei beharrt,
daß er keinen Rauſch gehabt habe, und wie ihm der Herr Amtmann
zugeſetzt hat, ſo iſt er zornig worden und hat ſich verſchworen, der
Teufel ſolle ihn zu Sägmehl verreißen, wenn er weiter als für ſechs
Kreuzer getrunken gehabt hab'. Auf das iſt der Herr Pfarrer aufge¬
fahren und der Herr Amtmann hat ihm gleich zwei Pfund Heller an¬
dictirt, weil er ſich mit Fluchen vermeſſen hab', abſonderlich in Gegen¬
wart des Herrn Pfarrers. Das hat ihn dann etwas mürber gemacht
und endlich hat er ſich zureden laſſen, daß er den Hammelayiſchen
ſolche Gottloſigkeiten nicht beweiſen könne, ſondern aus Zorn und Un¬
verſtand geredt hab'. Er hat dann dem Franzoſen für die Hamme¬
layiſchen Abbitte thun müſſen und iſt als ein ſchlecht bemittelter
Mann, den die zwei Pfund Heller ſchon ſauer ankommen, auf zwei¬
mal vier und zwanzig Stund' in Thurn geſprochen worden, heißt das,
erſt wenn das Quartier vom Küfer frei wird.


So was muß man eben auch nicht auf ſeine Nebenmenſchen brin¬
gen, wenn man's nicht beweiſen kann, bemerkte der Müllerknecht: das
iſt doch das Allerärgſt', was man Einem nachſagen kann.


Die Obrigkeit nimmt ja ſo etwas gar nicht mehr an, ſagte einer
der Bauern, die in der Geſellſchaft ſaßen, verdrießlich. Da können
alle Greuel geſchehen, man fragt nichts darnach, und wenn Einer das
[105] Maul drüber aufthut, ſo wird er noch geſtraft. Die Herren glauben's
nicht oder thun wenigſtens ſo, und man ſagt, auch der Herzog hab's
nicht gern. Wer weiß, was dabei im Spiel iſt, daß man dem Teufel
ſo den freien Lauf läßt. Vor Zeiten iſt das anders geweſen.


Alſo wenn's nach Euch ging', ſagte Friedrich, ſo müßt' man die
alten Weiber wieder ſchwemmen und an der Leiter aufziehen und ver¬
brennen. Saubere Zeiten ſind das geweſen! Wenn ich irgend etwas
an der Obrigkeit lob', ſo iſt es das, daß ſie ſolchem dummen Ge¬
ſchwätz kein Gehör mehr gibt.


Was? ſchrieen die in der Geſellſchaft anweſenden Bauern zuſam¬
men: das ſoll dummes Geſchwätz ſein? Heißt's nicht in der Bibel:
„Die Zauberer und Greulichen ſollt du mit Feuer verbrennen?“ Und
das ſoll ein dummes Geſchwätz ſein? Soll's denn keinen Teufel mehr
geben? Wer das nicht glaubt, der glaubt auch nicht an die Ewigkeit
und glaubt nicht, daß es ſelige und verdammte Geiſter gibt.


Ich hab' wenigſtens noch keinen geſehen, bemerkte Friedrich kalt.


Der glaubt gar nichts! rief Einer, und die Andern ſahen den
Gegenſtand dieſes Verwerfungsurtheils mit einem gewiſſen Abſcheu an.
Oder, ſagte ein Anderer, iſt er vielleicht —? Ich weiß nur nicht
wie ich's angreifen ſoll, denn man wird ja gleich geſtraft, wenn man
ſeine Wort' nicht auf die Goldwag' legt.


Soll ich vielleicht ſelber ein Hexenmeiſter ſein? lachte Friedrich.
Nur herzhaft 'raus mit der Farb'! Ich lauf' deswegen nicht ſo gleich
vor Kirchenconvent, ich bin nicht ſo empfindlich, auch hat man ſeiner
Lebtag keinen Eſel einen Hexenmeiſter geſcholten, denn dumme Leut'
kann der Teufel, ſcheint's, nicht brauchen.


Was die alte Hammelayin betrifft, ſagte der Invalide, um das
Geſpräch von dieſer Klippe ab wieder in ruhigeres Fahrwaſſer zu lei¬
ten, ſo iſt es gewiß und wahrhaftig, daß ſie eine mächtige Raffel
unter der Naſ' ſitzen hat.


Ja, ſagte ein Anderer, ſie hat aber nicht bloß ein bös Maul,
ſondern es ließ' ſich ſonſt noch allerlei über ſie ſagen. Wißt ihr noch,
wie ihre ältere Tochter, die jetzt den Schneider hat, wie die mit
dem Diegelsberger hat Hochzeit gehabt? Die Hochzeit iſt im Hecht an¬
geſtellt worden, und der Bräutigam, dem's ſchon um acht Uhr weh
geweſen iſt, Nachts um Zwölfe will er noch einen Tanz thun, —
[106] plötzlich ſtürzt er nieder und iſt in Zeit einer Minut' maustodt. Es
iſt ſo ſchnell gangen, daß ein tanzendes Paar über ihn zu Fall kom¬
men iſt; die haben einen Gräuſel davon getragen, daß ſie's ein paar
Tag' lang geſchüttelt hat. Man hat viel drüber geſprochen.


Nun ja, was wird's geweſen ſein? ſagte Friedrich: ein Steck-
und Schlagfluß.


Ja, ſo hat man bei Amt auch geſagt und hat ihn mit einer
Leichenpredigt auf dem Kirchhof begraben. Ich weiß noch, wie ſie
angefangen hat: „Hui, hui, ſagt der Tod, der ſtarke Held, ich kann
auch mittanzen.“ Aber es gibt Leut', die wollen's beſſer wiſſen, die
ſagen — Nun, ich will nichts geſagt haben, aber ſo viel iſt gewiß,
daß der Alten die Heirath von Anfang an nicht nach ihrem Guſto
geweſen iſt. Die Junge hat erſchrecklich gethan und hat ſich nicht
tröſten laſſen wollen. Nachmals aber hat ſie den Schneider genommen;
ich weiß noch, auf ihrer Hochzeit iſt grad' die Nachricht ankommen,
daß ihr Schwager, der Goldſtein, der ſein Weib mit drei Kindern
hier hat ſitzen laſſen, in Speier die Religion ſchangſchirt hab' und eine
Katholiſche geheirathet und ſei mit ihr nach Pennſylvanien gangen.


Von der Alten erzählt man ein feines Stücklein aus ihren jungen
Jahren, wo ſie bei Seines Pflegers Vater im Dienſt geweſen iſt, hob
ein Anderer zu Friedrich gewendet an. Damals hat ſie's mit einem
Balbierersgeſellen gehabt aus Adelberg. Er hat ihr zu Familie ver¬
holfen, eine Tochter iſt's geweſen, ich glaub', eben die Schneiderin,
die ſo unglücklich hat Hochzeit gehabt. Sie hat ihn aber verſchont und
hat ihn nicht angegeben, daß er der Vater zu ihrem Kind ſei. Er
hat's ihr nachher ſchlecht gedankt und iſt von ihr weg blieben. Jetzt,
was hat das leichtfertig' Menſch gethan, das nichtsnutzig'? Ueber
einmal, wie ihr Herr in die Küche kommt, ſieht er ein Paar Strümpf'
im Kamin hängen. Was ſind denn das für Würſt', fragt er, ſollen
denn die geräuchert werden? Die Magd nicht faul, reißt die
Strümpf' geſchwind herunter und gibt vor, die Strümpf' gehören ihr,
ſie hab' ſie ſchnell wollen trocknen, weil ſie naß geworden ſeien. Er
aber eben ſo flink, reißt ihr noch einen aus der Hand und ſieht daß
es ein Mannsſtrumpf iſt. Wie er ihr nun das fürgehalten hat und
ſie hat nicht wollen weichgeben, ſo hat er ſie beim Pfarrer angezeigt,
und da hat ſie endlich nach vielem Leugnen geſtanden, ein Schäfer
[107] hab' ihr gerathen (ſie wird aber keinen dazu braucht haben), ſie ſolle
ſehen, daß ſie ein Kleid oder etwas, das der Menſch mit Salvene
auf'm bloßen Leib getragen hab', zur Hand kriegen könne, und ſolle es
in den Rauch hängen, dann werd's dem Thäter warm werden und
immer wärmer und werd' keine Ruh' haben, bis er wieder zu ihr komme.


Die Frag' iſt nur, ob der Barbier auch richtig wieder kommen iſt,
bemerkte Friedrich.


Nein, kommen iſt er nicht mehr, ſagte der Erzähler.


Dann will ich's gern glauben! rief Friedrich mit hellem Lachen. So
kann ich auch hexen. Ich ſag' nur: Kurrle, Murrle, dann muß der
Krug dort auf dem Schrank tanzen. Aber wenn ich nicht dazu den
Schrank mit den Händen ſchüttle, ſo tanzt der Krug eben nicht.
Hexenwerk mag ſchon Mancher und Manche probirt haben, das
will ich zugeben, aber die Frag' iſt nur, ob was dabei herausge¬
kommen iſt.


Vielleicht iſt der Balbierer doch innerlich verbronnen, ſtammelte
der Schütz.


Friedrich lachte ihn aus. Ja, ſagte er, wenn er Schnaps geſof¬
fen hat.


Mir hat doch einmal ein Zimmermann erzählt, fiel der Müller¬
knecht ein, es hab' ihn Nachts eine Hex' gedrückt und gepeinigt, daß
er ſchier erſtickt ſei. Er ſei dann aufgewacht und hab' die Unholdin
in Geſtalt einer ſchwarzen Katz' auf ihm liegen ſehn. Da hab' er
mit der letzten Kraft nach der Axt neben ſeinem Bett gegriffen und
hab' nach der Katz gehauen. Die ſei mit einem lauten Schrei da¬
von gefahren und hab' ein Stück von der Vorderpfot' dahinten gelaſſen.
Morgens ſei zwar nichts mehr davon dageweſen, wohl aber Blut
auf'm Bett und an der Art. Drauf hab' er ſeine Gedanken auf ein
altes Spittelweib geworfen und ſei in den Spittel gangen, um nach
ihr zu ſehen. Man hab' ihm aber geſagt, er könn' ſie nicht ſehen,
ſie liege todtkrank im Bett. Er ſei aber dennoch zu ihr gedrungen
und hab' ſie mit Gewalt aufgedeckt, und da habe ſich's gezeigt, daß
ihr die linke Hand gefehlt habe, die ſei ihr von ſeiner Art abgehauen
geweſen.


Hu, mir gräuſelt's! rief Einer um den Andern von der Geſell¬
ſchaft, die ſehr andächtig zugehört hatte.


[108]

O Peter, glaub' doch kein ſo Ding! ſagte Friedrich. Was wird
ſich denn ein Weib in eine Katz' verwandeln können? Wenn du dir
von jedem Zimmermann ſolche Spän' aus'm Verſtand hauen läßt,
ſo wirſt bald ſo dumm, daß man Riegelwänd' mit dir hinausſto¬
ßen kann.


Der Streit gegen den hartnäckigen Ungläubigen brach abermals
aus, und dieſe Leute, die ein derbes Wort über Pfarrer und Kirche
ertrugen, wurden ganz wild darüber, daß es mit Hexen und Geſpenſtern
nichts ſein ſollte, und vertheidigten mit einer wahren Glaubenswuth
ihr Dogma, daß der Teufel böſen Menſchen die Macht verleihe, auf
wunderbare Weiſe Schaden zu thun, und daß Gott abgeſchiedenen
Geiſtern, guten wie böſen, von Zeit zu Zeit aus dem Grabe an die
Oberfläche der Erde heraufzuſteigen erlaube.


Nun ja, ſagte Friedrich endlich einlenkend, ich will ja nicht dawi¬
der ſein, daß ſich's andrer Orten vielleicht ſo verhält, wie ihr ſaget,
denn das weiß ich ja nicht. Aber hier bei uns gibt's keine Hexen und
keine Geiſter, das behaupt' ich.


Und warum denn nicht? rief Einer.


Weil mir noch keine Hex' beikommen iſt, und es gibt doch ganz
gewiß Solche, die mich zu todt drücken thäten, wenn ſie könnten, aber
ſie können eben nicht.


Und warum keine Geiſter? fragte ein Anderer.


Weil ich noch keine geſehen hab'! Und was ihr von euch erzählet,
daß euch ſchon vorgekommen ſei, das muß mir ſelber erſt auch wider¬
fahren ſein, bevor und daß ich's glaub'; denn ich kann doch nicht
einſehen, warum ich ein anderer Menſch ſein ſoll als Andere.


Andere Leut' ſind aber doch anders beſchaffen, ſagte der Müller¬
knecht. Es gibt Sonntagskinder.


Ich bin auch am Sonntag geboren, erwiderte Friedrich, und hab'
Zeit meines Lebens nie was geſchaut. Ich weiß ganz gewiß, fuhr
er mit wachſender Wärme fort, denn der Wein ſtieg ihm nach und
nach in den Kopf, wenn ein Verſtorbenes wieder zu den Menſchen
kommen könnt', ſo wär ich ſo gut ein Geiſterſeher wie irgend Einer
in der Welt.


Warum das? Wo ſo?


[109]

Meine Mutter, ſagte der junge Menſch, indem er trotz ſeiner Leb¬
haftigkeit die Stimme dämpfte, meine Mutter würde ſich's nicht nehmen
laſſen, nach mir zu ſehen, wenn das ihr geſtattet würde. Und warum
ſollt' ihr's nicht verſtattet ſein, wie den andern Geiſtern? Aber eben
das, daß ſie nicht zu mir kommt, iſt mir ein Beweis, daß die anderen
auch nicht können.


Narr, ſie will dich eben nicht erſchrecken, lallte der Kübler, deſſen
Augen allmählich gläſern wurden.


Sie weiß recht gut, daß ich nicht an ihr erſchrecken kann, mit
welchem Ausſehen ſie mir auch erſcheinen mag. Oft, fuhr er nach¬
drücklich fort, nachdem er einmal die Scheu überwunden hatte, von die¬
ſem Gegenſtande zu reden, oft hab' ich um Mitternacht, wenn ich ganz
allein geweſen bin, ihren Geiſt beſchworen, leis und laut, und hab'
ſie gebeten, wenn es ihr möglich ſei, ſo möcht' ſie den Himmel auf einen
Augenblick verlaſſen und zu mir kommen. Aber es hat ſich nichts
darauf ereignet, ich bin allein geweſen nach wie vor, und hab' auch
nichts um mich vernommen als das ſtille Sauſen der Nacht, das aber
nicht von Geiſtern kommt, ſondern von der Luft, weil die Nacht gar
gehörſam iſt.


Gott ſteh' uns bei! hatten die Andern während dieſer Erzählung
gerufen, die ihnen fremd und ſeltſam däuchte.


Das iſt ein grauſamer Menſch! ſagte der Eine, womit er die
Grauenhaftigkeit dieſes Treibens bezeichnen wollte.


Der glaubt an gar nichts! wiederholte der Andere. Der kommt
einmal in den Himmel, wo die Engel ſchwarz ſind und Wauwau ſingen.


Jetzt ſoll einmal die Beckin erzählen, ob sie ſchon einen Geiſt ge¬
ſehen hat! rief der Invalide, fortwährend bemüht, das Geſpräch in
einem ungefährlichen Gange zu erhalten.


Ja, die Beckin soll erzählen! riefen ihm mehrere Stimmen nach.


Die Bäckerin richtete den Kopf im Sorgenstuhle auf. worin sie
den ganzen Disput verſchlafen hatte. Man mußte ihr erſt erklären,
um was es ſich handle. Ha, daß es Hexen und Geiſter gibt, ſagte
ſie gähnend, das leidet keinen Zweifel, aber zu mir iſt noch keine
Her' gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht, und keinen Geiſt hab'
ich auch noch nie geſehen.


[110]

Ihr habt eben ein ruhiges Gemüth, Baſ', ſagte Friedrich lachend,
auf Euch könnt', glaub' ich, eine Her' die ganze Nacht reiten, Ihr
thätet nichts davon inn' werden. Uebrigens iſt's nicht recht, in der
Neujahrsnacht zu ſchlafen und Eure Gäſt' mit Gähnen anzuſtecken.
Morgen iſt ja Kirch', da könnt Ihr's 'reinbringen, was Ihr heut'
Nacht am Schlaf verſäumet.


Ja, ja! rief der Müllerknecht. Letzten Sonntag hab' ich mich
auch an der Beckin ihrem ruhigen Gemüth erbaut unter der Predigt.
Der Herr Pfarrer hat geſchrauen, daß man's in Reichenbach hätt'
hören können, aber die Beckin hat ſich nicht verrührt, ſie hat ganz
klein ausgeſehen in ihrem Stuhl und der Kopf iſt ihr zwiſchen den
Achſeln eingeſunken geweſen wie ein Schnitz der oben in einem
Hutzelbrod ſteckt.


Ach was! entgegnete die Frau unſchuldig, man muß ſich die ganz
Woch' leiden, wenn man auch noch das bisle Kirchenſchlaf nicht
hätt', ſo wär's ja nicht zum Präſtiren.


Die Geſellſchaft brach in ein wieherndes Gelächter aus, das lange
kein Ende nehmen wollte, bis endlich der Bäcker ſeine Frau aufmerk¬
ſam machte: Du, Weib, da klopft's am Küchenfenſter. Sie horchte
hin, ohne daß etwas zu hören war; nach einer Weile aber klopfte es
wiederholt und vernehmlich.


Aha, das iſt ein Geiſt! rief der Müllerknecht.


Machet mir nicht Angſt, rief die Bäckerin. Ich will's übrigens
mit ihm aufnehmen, ſetzte ſie hinzu und ging in die Küche.


Ich glaub' auch nicht an Hexen, ſagte der betrunkene Schütz.


Warum nicht? ſchrieen die Bauern eifrig.


Weil mein Glas ſchon eine ganze Ewigkeit leer da ſteht und ſich
nicht füllen will. Wenn's Hexenwerk gäb', ſo müßt's von ſelber
voll werden.


Der Kübler, der kaum mehr die nöthige Kraft zum Reden beſaß,
obgleich er unermüdlich zu trinken fortfuhr, ſchob dem Nimmerſatt
ſein Glas hin.


Jetzt möcht' ich aber doch nächſtens aus der Haut fahren über
die Hungermuck', die Einem da den ganzen Abend hinhockt! ſagte der
Invalide leiſe zu ſeinem jungen Nachbar. Wenn ich doch nur auch
ein Mittel wüßt', wie man ihn fortbringen könnt', den Hallunken.


[111]

Da wird bald geholfen ſein, flüſterte Friedrich und wußte ſich
vom Tiſch und zur Stube hinaus zu machen, ohne daß ſein Weg¬
gehen Jemand in die Augen fiel.


Der Invalide, der nichts von ſeinem Vorhaben ahnte, erdachte
inzwiſchen gleichfalls einen Kunſtgriff, um den beſchwerlichen Schma¬
rotzer fortzubringen. In der Sonn' iſt's heut' luſtig, ſagte er, der
Sonnenwirth hat die Spendirhoſen an und läßt eine Flasch' um die
andere ſpringen; ich hab' gehört, er hab' einen Fahnen auf'm Hut
wehen. — Friedrich hatte ihm anvertraut, daß ſein Vater den Wein
etwas ſpüre und guter Dinge ſei.


Das kommt ſelten vor, daß der Sonnenwirth 'n Spitzer hat,
ſagte der Müllerknecht. Wahr iſt's aber: wenn er angeſtochen iſt,
dann ſpendirt er. Außerdem thut er's nicht.


Auf den Schützen wirkte die Mittheilung ſichtbar beunruhigend.
Er wußte nicht recht, wie er es angreifen ſolle, um alsbaldigen Ge¬
brauch von ihr zu machen. Endlich siegte doch die Lockung über die
Furcht, daß man ſeine Abſicht merken könnte. Er behauptete ſtot¬
ternd, er müſſe im Flecken nachſehen, ob keine Ungebür vorgehe,
wünſchte umſtändlich gute Nacht und ſchwankte zur Thüre hinaus, wäh¬
rend der Invalide und der Müllerknecht einander heimlich anlachten.


Der hat auch ſchwer geladen, ſagte der Müllerknecht hinter ihm
drein. Der hätt' nicht noch mehr nöthig.


Kaum war er draußen, ſo kam Friedrich wieder herein. Alle
Teufel! flüſterte er dem Invaliden zu, indem er ſich geſchwind wieder
zu ihm ſetzte, warum habt Ihr ihn fortgelaſſen? Wo iſt er hin?


Iſt er Ihm denn nicht begegnet? fragte der Invalide, der das
ſonderbare Benehmen ſeines jungen Freundes nicht begriff.


Ich hab' mich hinter die Thür' verſteckt. Wo iſt er denn hin?


Rechts hinunter, der Sonne zu.


Ruft ihn, ruft ihn zurück! sagte Friedrich mit größter Haſt, ohne
zu bedenken, daß dazu ein hölzernes Bein nicht das tauglichſte war.
Es iſt zu ſpät, murmelte er in kalter Beſtürzung: gebt Acht, jetzt
fliegt er.


Dem Invaliden ging ein Licht auf. Es war aber keine Zeit
mehr, etwas zu erſinnen, das die Gefahr abwenden konnte, ohne den
Thäter zu verrathen, denn in demſelben Augenblick erfolgte auf der
[112] Straße ein furchtbarer Knall, der das Haus erſchütterte. Alle ſpran¬
gen vom Tiſch auf, ausgenommen den Kübler, der ſtumm verwundert
um ſich ſah. Friedrich war der Erſte, welcher hinausſtürmte, da er
glaubte, unmittelbar nach dem Knall, deſſen Urſache ihm nur zu gut
bekannt war, einen Schrei von einer weiblichen Stimme vernommen
zu haben, der ihm das Mark durchſchnitt. Draußen ſtand der Schütz
unbeweglich wie eine Salzſäule. Er überließ es den Andern, ſich mit ihm
zu beſchäftigen und eilte mit klopfendem Herzen weiter. Obgleich es
hell war, ſah er Niemand und wollte eben wieder umkehren, als er
nicht weit von ſich ſchluchzen hörte. Er ging dem Tone nach. Im
Schatten eines Hauſes ſtand ein Mädchen angelehnt, das die Hände
vor's Geſicht hielt und heftig zitterte. Um Gottes Jeſu Willen!
ſagte er, iſt ein Unglück geſchehen? Er eilte auf ſie zu und zog ihr
die Hände vom Geſicht. Es war Chriſtine.


Hat's dir etwas gethan? fragte er verzweiflungsvoll.


Nein, es iſt nur der Schreck, antwortete ſie. Es iſt mir in alle
Glieder gefahren und hat mich ſo angegriffen, daß ich weinen muß.


Gott ſei Lob und Dank! flüſterte er. Da hätt' ich eine ſchöne
Dummheit anrichten können.


So? ſagte ſie, noch immer weinend, jetzt weiß ich, wer mir das
gethan hat; für ſolche Streich' bedank' ich mich. Vor ſo einem Muth¬
willen iſt man ja ſeines Lebens nicht ſicher.


Der Brauskopf, der ſo eben noch bereit geweſen wäre, ſie fu߬
fällig um Verzeihung ſeiner unſinnigen Thorheit zu bitten, war plötz¬
lich umgewandelt. Du thuſt ja wie wenn's dich mitten aus einander
geriſſen hätt', ſagte er kalt. Sei du froh, daß dir's nichts gethan
hat, und lauf' nicht 'rum bei der Nacht, dann widerfährt dir nichts.


Ich kann ja heimgehen, erwiderte ſie tiefbeleidigt. Den Gang
hätt' ich mir erſparen können. Ich will mir's merken. Gut' Nacht!
Sie bog um das Haus und war verſchwunden.


Er wandte ſich trotzig und ging zurück. Die Geſellſchaft hatte
indeſſen den Schützen wieder in die Wirthsſtube gebracht. Auch an
ihm war die Gefahr glücklich vorüber gegangen, und nur der Knall
hatte ihn Anfangs bis zur Sinnloſigkeit betäubt. Doch führte er noch
etwas verwirrte Reden und verſicherte, er habe einen Geiſt geſehen,
einen weiblichen Geiſt, der ihn durch den Blitz des Feuers mit großen
[113] Augen angeſtarrt habe. Es wurde lebendig in der Wirthſchaft. Die Schaar¬
wache kam, um vergebliche Unterſuchungen nach dem Urheber der gefähr¬
lichen Mine anzuſtellen; auch hatte der Lärm Gäſte aus anderen Wirths¬
häuſern hergelockt. Friedrich ließ Wein heraufſchaffen, zunächſt für den
Schrecken, wie er ſagte, den der Schütz gehabt; aber es fanden ſich auch noch
andere Abnehmer. Man ſprach und ſchrie über den Vorfall; die Einen
ſchimpften auf den Thäter, die Andern lachten. Der Invalide ſpottete,
daß man über einen Mordſchlag ein ſo großes Aufheben mache; in
ſeinen Schlachten habe es anders gedonnert, ſagte er und machte einen
neuen Verſuch, ſeine Kriegsgeſchichten zu erzählen; aber die Leute waren
zu aufgeregt, um ihm zuzuhören. Gegen Friedrich wurde kein Ver¬
dacht laut; die Wenigen, die den wahren Thäter errathen hatten,
wußten zu ſchweigen.


Mitten im Tumult zupfte ihn die Bäckerin am Arm und gab ihm
ein Zeichen. Er folgte ihr in die Küche. Es iſt ein abſonderlicher
Briefträger dageweſen, ſagte ſie und gab ihm einen Brief: Das Chriſtinele
hat geſagt, es hab' den ganzen Abend keinen Menſchen finden können,
der ihm den Brief fortgetragen hätt', und in die Sonne hab' es nicht
mit ihm gehen mögen; da hab' es eben verſucht, ob das Briefle nicht
hier an ſeinen Mann zu bringen wär', und richtig, es hat keinen
Metzgergang gethan. Ich bin nur froh, daß dem Kind nichts ge¬
ſchehen iſt; denn kaum iſt es fortgeweſen, ſo iſt der teufelhäftig' Knall
losgegangen. Die Jugend wird immer ſchlimmer. Ich wollt', man
thät' den Malefizkerl, der den Mordschlag gelegt hat, an den Ohren
kriegen und tüchtig ſchütteln, das wär' ihm geſund.


Dem Mädle iſt nichts widerfahren, ſagte Friedrich etwas verlegen:
ich hab' draußen nachgeſehen, es iſt kein Menſch verunglückt. Was
ſteht denn in dem Brief?


Weiß ich das? entgegnete ſie mit ſchlauem Lächeln: kann ich wiſſen, was
ihr für Geſchäfte mit einander habt? Nun, ich will nicht neugierig ſein.
Sie ging in die Stube. Friedrich erbrach mit bebender Hand
den Brief und las ihn bei der trüben Küchenampel. Chriſtine bat
ihn um Verzeihung und rief ihn zu ſich zurück! In ſeinem Ent¬
zücken dachte er nicht daran, daß ſeit der Ankunft dieſes Briefes ſchon
wieder eine neue Wolke zwiſchen ihn und ſie getreten war, er ſtand
wie von einer Flamme umgeben, drückte den Brief an's Herz und
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 8[114] jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erſcholl auch in der Stube ein
Jauchzen und Gläſergeklirr. Die Glocke vom Thurm hatte den neuen
Zeitabſchnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Se¬
cunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl ſich mit ihm
verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menſchen macht, und nach
alter Sitte ſtießen die Leute mit den Gläſern an und riefen einander Glück¬
wünſche auf das neue Jahr mit ſeinen noch verſchleierten Geſchicken zu.


Friedrich eilte in die Stube, ergriff ſein Glas und ſtieß mit an.


Proſit's Neujahr! rief ihm der Invalide zu. Es lebe das Jahr
Siebenzehnhundert neun und vierzig! antwortete er.


Siebenzehnhundertfünfzig! ſchrie man ihm von allen Seiten ent¬
gegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurecht¬
gewieſen. Der will das Neujahr leben laſſen und kann nicht hinein!
ſpottete Einer. Fünfzig ſchreibt man jetzt, und das zehn Jahr' lang,
mußt dich d'ran gewöhnen, ſagte ein Anderer. Kannſt nicht aus der
Zahl heraus, wo das Jahrhundert in ſein Schwabenalter gekommen
iſt? fragte ein Dritter.


Mag leicht ſein, ſagte Friedrich halblaut, ſo daß nur der Inva¬
lide es hören konnte: in dem Jahrzehnd, das ſich mit Vierzig ſchreibt,
hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da iſt es wohl zu begreifen,
daß mir die Zahl wie eine alte Heimath iſt, aus der man nicht gern
heraus mag. Alſo das Jahr Siebenzehnhundertfünfzig ſoll leben!
rief er, nochmals das Glas erhebend, und in ſeinem Herzen ſetzte er
hinzu: das Jahr, das mir Erſatz geben ſoll! Es war ihm, als ob
er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Ge¬
ſellſchaft mehr aus. Es war ſtill und ſanft in ihm geworden und
dieſe innere Glückſeligkeit taugte nicht zu dem was um ihn her vor¬
ging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um ſo
ungeſtörter, als die Polizei ſelbſt ſich daran betheiligte. Der Schütz,
der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue
Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte ſchon wieder
Rieſenfortſchritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von ſeinen
fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beiſammen und beluſtigte die
Geſellſchaft durch die grunzenden Laute, die er von ſich gab. Bringet
die Noten im Kübel her, die S— will ſingen! rief der Schütz, aber
während er ſich über ſeinen Genoſſen luſtig machen wollte, ſtürzte er
[115] auf einmal mit ſammt dem Stuhl zu Boden und ſtand nicht mehr
auf. Das wilde Gelächter über dieſen Auftritt ſchallte noch lange
hinter dem Flüchtling her, der die Herrlichkeit hinter ſich ließ, ohne
gute Nacht geſagt zu haben.


Zu Hauſe fand er ſeinen Vater noch wach und noch immer von
Geſellſchaft umgeben. Er brummte über ſein langes Ausbleiben, doch
mehr, wie es ſchien, aus väterlichem Wohlwollen, daß er ſich ihm
an einem ſo heitern Abend entzogen hatte, als aus Mißmuth darüber,
daß er ſeiner Pflicht nicht nachgekommen war. Noch in ſpäter Stunde
waren Fuhrleute angelangt; ſie fluchten wacker über den langen Auf¬
enthalt, der ihnen durch verſchiedene Zufälle und am meiſten durch
den Eßlinger Zoll verurſacht worden war. Friedrich widmete ſich mit
Eifer ihrer Bedienung und ihre Scherzreden bewieſen, daß er von
lange her bei ihnen wohl angeſchrieben ſei. Er geht ſo leichtfüßig
einher als ob er in der Luft wandeln thät', ſagte Einer derſelben von
ihm, und die Bezeichnung war richtig, denn das Gefühl, das ihn
ſeit dem Empfang von Chriſtinens Brieflein beſeelte, hatte ihm gleich¬
ſam Flügel an die Sohlen geheftet.


Er ging als ein glücklicher Menſch zu Bette, trunken von Liebe
und auch ein wenig vom Wein. Da er nicht ſogleich einſchlafen
konnte, ſo hörte er noch den Neujahrswunſch der armen Kinder, die,
mit Lichtern umherziehend, vor den Häuſern zu ſingen pflegten. Es
war ein einziger Vers, der für jedes Mitglied der Familie, und wenn
ſich ihre Zahl noch ſo hoch belief, beſonders wiederholt wurde Zu¬
erſt traf die Reihe den Hausvater, dann die Mutter, die Kinder, ſo
viel ihrer waren, wurden jedes einzeln angeſungen, dann kamen die
Mägde, dann die Knechte und ganz zuletzt, wenn der Gratulationszug
vor einem Wirthshauſe hielt, die bekannteren Gäſte, die darin wohnten.
Sie ſangen, als die Reihe an Friedrich kam:


Jetzt wünſchen wir auch dem Herrn Johann Frieder gut's neu's Jahr,

Ein geſundes Jahr,

Ein glücklich's Jahr,

An Fried' und Freud' ein reiches Jahr.

Gott mach' es wahr!

Gott gebe, daß es werde wahr!

Gott gebe, daß es werde wahr! ſprach Friedrich in ſeiner Kammer nach.
8 *[116]

9.

Der erſte Gegenſtand, mit welchem er ſich bei ſeinem Erwachen
am Neujahrsmorgen beſchäftigte, war der Brief, der ihn geſtern Nacht
ſo glücklich gemacht hatte. Er zog ihn unter dem Kopfkiſſen hervor und
las ihn aber- und abermals. Dabei konnte er freilich eine Wahrnehmung,
die ihm im erſten Jubel ſo gut wie entgangen war, nicht ganz unterdrücken.
Der Brief war ziemlich abſcheulich geſchrieben, ſowohl was die Handſchrift
als was die Rechtſchreibung betraf; jene ſtellte in Unbehilflichkeit und
Verworrenheit das gerade Gegentheil von der zierlichen Geſtalt der
Schreiberin dar, und die Geſetze der Rechtſchreibung hatte ſie erbar¬
mungslos mißhandelt, mit ganzen Buchſtaben gegeizt und andere am
unrechten Orte verſchwendet, ſo daß man, um den Sinn des Schrei¬
bens zu verſtehen, mehr dem Laut als den Schriftzeichen nach leſen
mußte. Friedrich hatte, wie bereits bemerkt, Alles gelernt, was ihm
die Schule bieten konnte; ſein Vater hatte ihn nach der Confirmation
noch ein Jahr lang im Hauſe des Schulmeiſters untergebracht, um
den durch den Tod ſeiner Mutter meiſterlos gewordenen und im Wirths¬
haustreiben der Verwilderung anheimfallenden Knaben unter eine
gleichmäßige Zucht zu bringen; und er ſchrieb ſeinen Brief oder Auf¬
ſatz, der Bildung der Zeit gemäß, ſo gut als irgend ein Anderer.
Ohne Zweifel erblickten der Pfarrer und Amtmann zwiſchen ihrer und
ſeiner Bildung eine breite Kluft: wenn man aber auf der heutigen
Bildungsſtufe das, was von ſeiner Hand aufbewahrt worden iſt, mit
den Bildungsurkunden von der Hand ſeiner Vorgeſetzten vergleicht, ſo
merkt man kaum einen Unterſchied; denn man findet bei ihm nicht
häufig Fehler, und auch ſie ſchreiben keineswegs ganz fehlerfrei. Da¬
gegen war ſeine Art zu ſchrieben und Chriſtinens Brief wie Tag
und Nacht oder wie eine Hühnerpfote von einer menſchlichen Hand¬
ſchrift abſticht; und ſo gewiß ein warmer Körper, wenn man ihn mit
kaltem Waſſer übergießt, von einer unangenehmen Empfindung be¬
fallen wird, ſo gewiß iſt es, daß ein Liebender, der einigermaßen ſchul¬
[117] gerecht ſchreiben kann, im höchſten Feuer ſeiner Neigung wenigſtens
für einen Augenblick abgekühlt wird, wenn der Gegenſtand derſelben,
den er doch bewußt oder unbewußt als etwas Vollkommenes verehrt,
die Erwiderung nur in eine unſchöne und ſtümperhafte Form zu klei¬
den vermag. Aber die Liebe führt auch eine gewaltſame Begeiſterung
mit ſich, welche derlei ungleiche Gefühle, ſo wie ſie aufſteigen wollen,
raſch wieder zu unterdrücken weiß, zumal wo die Liebe die Blüthe ei¬
nes rauhen und kräftigen Willens iſt, der ohnehin keinen Widerſpruch
duldet. Doch auch das Gewand der Demuth muß ſich dazu hergeben,
den Mißton einzuhüllen: wenn der Liebende entdeckt, daß ſein Inbe¬
griff aller Vollkommenheit auch einige Unvollkommenheiten in ſich mit¬
begreift, ſo beruhigt er ſich bei dem Zugeſtändniß, daß ja auch er nicht
ganz untadelhaft ſei und folglich nicht das Recht habe, von ſeiner Ge¬
liebten vollendete Mangelloſigkeit zu verlangen; und dieſe Beruhigung
dauert mit beſonderer Feſtigkeit ſo lange als die Sehnſucht nicht er¬
füllt iſt, ſo lange das friſche Geſicht und die reizende Geſtalt noch
als etwas Vorenthaltenes vor der Seele des Sehnenden ſchweben.
Zudem liest ein Liebender nicht bloß den Schriftzeichen und dem
Laute nach, er liest vornehmlich auch mit dem Herzen, und dieſem
ſagte das hübſche junge Mädchen in ſeinem armen ſchlechten Briefe
ſo herzliche und liebreiche Worte, daß die kleine Abkühlung bald wie¬
der der zurückkehrenden erſten Flamme weichen mußte.


Chriſtinens Brief iſt in Folge von Begebenheiten, zu welchen wir
bald gelangen werden, noch jetzt vorhanden; er lautet in verſtändliches
Deutſch umgeſchrieben ſo:


„Geliebter Schatz, es iſt mir von Herzen leid, daß ich dich ſo er¬
zürnet habe, ich bitte dich, verzeihe es mir wieder, ich will's nimmer
thun. Wenn es ſein kann, ſo komm du noch einmal zu mir, daß ich
mündlich mit dir reden kann. Weiter weiß ich nicht zu ſchreiben, als
daß du ſeieſt von mir zu tauſendmal gegrüßt und in den Schutz Got-
tes befohlen. Ich verbleibe dein getreuſter Schatz bis in den Tod.
Meinen Namen will ich nicht nennen, wenn du mich lieb hast, wirſt
du mich wohl kennen. Datum dieſen Tag. Nehme fürlieb mit dieſer
ſchlechten Handſchrift, ich kann vor Traurigkeit nicht beſſer ſchreiben.“


„Gelieder Satz, du ſeie von mir zu tauſendmal geſchriet und in
den Sutz Gottes befohlen!“ wiederholte Friedrich halb entzückt halb
[118] lachend, als wär' das Mädchen gegenwärtig und müßte ſich wegen
ihres ſchülerhaften Schreibens von ihm necken laſſen. Dabei machte er
eine Bewegung, wie wenn er ihre gelben Zöpfe faſſen wollte, einer
Glockenſchnur ähnlich, an der man läutet, damit oben jemand zum
Fenſter herausſehe, um nachbarlichen Verkehr zu Pflegen oder ein
Almoſen zu ſpenden.


Mitten in dieſen zärtlichen Träumereien fiel es ihm jedoch ein,
daß er die Schreiberin des Briefes für ihre doppelte Mühe gar ſchlecht
belohnt habe. Er hatte ihr mit harten Worten ihr nächtliches Um¬
herſtreichen vorgeworfen, deſſen Zweck doch nur der geweſen war, ihre
ſchlechte Handſchrift an den rechten Mann zu bringen, und während
ſie alle ihre wirklichen oder vermeintlichen Sünden durch ein Entgegen¬
kommen, das ihn zu Dank verpflichten ſollte, gut zu machen bemüht
war, hatte er das ſo vielen Störungen ausgeſetzte Verhältniß plötzlich
wieder auf den alten Traurigkeitsfuß zurückgeſchleudert. Und zwar
hatte er ſich dies zu Schulden kommen laſſen in einem Augenblick, wo
er durch einen unverzeihlichen Knabenſtreich, der gar nicht zu ſeinen
auf ein ehrbares Hausvaterthum gerichteten Abſichten paßte, das Leben
ſeiner Geliebten in Gefahr gebracht hatte. Seine Reue war eben
ſo ungeſtüm wie der Ausbruch ſeines Zornes geweſen war, und er
ſchlug ſich mit Macht vor die breite Stirne, hinter welcher der Wein
von geſtern Abend eine dumpfe Wolke zurückgelaſſen hatte, ſo daß die
zwiefache Buße des Leibes und der Seele zuſammentraf. Nachdem er
ſein ſchuldhaftes Ich mit einer Fluth nicht eben gelinder Schimpf¬
worte überſchüttet, tauſend Gelübde der Beſſerung wiederholt und auf
dieſe Weiſe in figürlichem Sinn ſich ſelbſt den Kopf gewaſchen hatte,
ging er in den Hof hinab, um dieſes Bad am Brunnen in körperlicher
Handlung zu wiederholen. Bald fühlte er ſich auch ſo erfriſcht, daß
er ganz munter mit den Knechten und Mägden ſcherzte.


Kaum hatte er ſich aber dieſe Selbſterleichterung von der Beſchwerde
des Körpers und den Vorwürfen der Seele verſchafft, ſo überfiel ihn
das Bedenken, ob auch Chriſtine ihn ſo ſchnell zu abſolviren geneigt
ſein werde. Alle Zurückweiſungen, die er von ihr hatte erdulden müſſen,
kamen ihm wieder in den Sinn, und der Gedanke, daß ſie ihn heute
heimgehen heißen könnte, wie er ſie geſtern heimgeſchickt hatte, erfüllte
ihn, nach der kurzen Anwandlung von Heiterkeit, plötzlich mit Wuth
[119] und Verzweiflung. Im erſten Augenblick entſchloß er ſich trotzig zum
Dableiben, als ob ſie ihm den gefürchteten Schimpf bereits angethan
hätte; im nächſten trieb ihn ſein kochendes Herz wieder zum Gehen
an. Aus dieſen blitzſchnell und gewaltſam abwechſelnden Empfindun¬
gen der heftigſten Leidenſchaft und des mißtrauiſch aufgeregten Stolzes
entſprang endlich eine Liebeserklärung, die keiner Anleitung zur Kunſt
des Liebens entnommen war, auch keineswegs ein Muſter in derſelben
genannt zu werden verdient, aber als eine glaubwürdig überlieferte
und ihren Helden ſcharf zeichnende Begebenheit nicht verſchwiegen wer¬
den darf.


Daß er Chriſtinen dieſen Vormittag allein zu Hauſe finden würde,
hatte ihm ihr Brief klar geſagt, obgleich es nicht mit Worten darin
zu leſen ſtand: denn wozu würde ſie ſich geſtern Nacht ſo viele Mühe
gegeben haben, den Brief noch in ſeine Hände zu bringen, wenn ſie
nicht ſicher geweſen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeſte alle in
die Kirche gehen würden.


Die Glocke hatte ſchon das zweite Zeichen geläutet, als er die
Sonne verließ und mit einer Bedächtigkeit, welcher man ſeinen innern
Zuſtand nicht angeſehen haben würde, verſchiedene Seitengäßchen ein¬
ſchlug, um möglichſt wenigen Kirchengängern zu begegnen. Und doch
konnte er ſich überall ſehen laſſen: in dem neuen Rock von dunkelblauem
Tuch mit großen Knöpfen und in den kurzen Beinkleidern von ſchwarzem
Sammt — die hirſchledernen, über die er gegen den Zigeuner geſcherzt
hatte, waren ſeit Weihnachten verbannt — trat ſeine gedrungene Geſtalt
ſtattlich hervor; das ſcharlachene Bruſttuch (Weſte) paßte zu dem Stahl
und Meſſer, die er in den Gürtel geſteckt; der Dreiſpitz auf dem Kopfe gab
dem jugendlich kräftigen Geſicht ein unternehmendes Ausſehen, und die
weißen Strümpfe über den Schnallenſchuhen umſchloßen ein derbes Paar
Beine, auf welchen der Mann im Vollgefühl der Jugend wie auf fe¬
ſten Säulen wandelte. Er wandte' ſich dem Felde zu, wo er zu dieſer
Stunde auf niemand treffen konnte und wo die dicht fallenden Schnee¬
flocken die Spuren ſeiner Tritte ſchnell wieder ausfüllten. Die Glo¬
cken läuteten zuſammen; als ſie ſchwiegen und die Orgel einfiel, die
man bis auf's Feld heraus hörte, lenkte er die Schritte zu des Hirſch¬
bauern Haus. Er fand die hintere Thür angelehnt, verſchmähte es
aber, ſich derſelben zu bedienen, ſondern ſtieg die außen an der Seite
[120] emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins
Haus gewährte. Im Hinaufſteigen konnte er durch das Fenſter ſehen,
und ſeine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht ge¬
täuſcht, denn Chriſtine ſaß allein in der Stube und las, ſo ſchien es
wenigſtens, ganz vertieft im Geſangbuch, auf deſſen aufgeſchlagener
Seite ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durch¬
ſtochenen Herzen eingelegt war.


Sie mußte jedoch nicht ſo vertieft geweſen ſein als ſie ſcheinen
wollte, denn als er zur Thüre eintrat, ſaß ſie nicht mehr am Tiſch,
ſondern ſtand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein ſo eifrig ſie
darin zu leſen ſchien, ſo zeigte ſich doch in ihren Mienen eine Span¬
nung und Bewegung, welche deutlich verrieth, daß ihre Gedanken ganz
anderswo als bei einem geiſtlichen Liede waren. Sie war ihm nie ſo
ſchön vorgekommen: ihr helles Geſicht, obgleich heute nicht ſo roth¬
wangig wie ſonſt, blinkte von Morgenfriſche, und die gelblich blonden,
ſtreng geſcheitelten Haare umſchloßen es mit einem freundlichen Rahmen;
ein feuchter Schimmer ſchwamm in den niedergeſchlagenen Augen;
durch das ſchwarze Geſangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte,
erhielt das gleichfalls ſchwarze Wamms, das ſonſt ein alltäglicher An¬
blick iſt, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erſcheinung
dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen
Schürze beinahe ganz zugedeckt.


Sein Herz klopfte, während er im langſamen Eintreten die lieb¬
reizende Geſtalt mit den Augen verſchlang. Iſt's erlaubt? ſagte er,
an der Thüre ſtehen bleibend.


Ich kann's nicht verwehren, antwortete ſie und ihre Augen ver¬
irrten ſich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand
des Buches.


Sie trutzt mit mir, dachte er.


Beide ſchwiegen geraume Zeit ſtille, dann begann er wieder: Ich
hab' glaubt, wenn man Einen einlade, ſo vergönne man ihm auch ein
gutes Wort. Wird ja Einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man
ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen iſt.


Das iſt auch meine Abſicht geweſen, ſagte Chriſtine, aber wie ich
den Brief geſchrieben hab' und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine
Brüder nicht hab' drum wiſſen laſſen wollen, und hab' nicht früher
[121] fortkommen können als bis Alles im Bett geweſen iſt, da hab' ich
nicht gewußt, daß es mir ſo aufgenommen wird und ſo ausgelegt.
Es iſt mich ſauer genug ankommen, denn ich hab' mir wohl ſagen
können, daß ſich ſo etwas nicht ſchickt. Deswegen bin ich nun auch
bitter geſtraft dafür, und ſeh's jetzt vollends ganz ein, daß ich's hätt'
nicht ſollen thun.


Der Brief gilt alſo nichts? fragte er.


Sie ſah in ihr Geſangbuch ohne zu antworten. Abermals folgte
ein langes Stillſchweigen.


Wenn's ſo ſteht zwiſchen uns, hob er wieder an, ſo hätt' ich auch
können daheim bleiben.


Sie legte das Buch auf den Tiſch. Es iſt nicht meine Schuld,
ſagte ſie. Ich hab's ja nicht ſo haben wollen. Aber ich möcht' mich
an Keinen hängen, der ſchlecht von mir denkt und mich eine Nacht¬
läuferin heißt. Ich hab' noch Niemand Anlaß geben, etwas Unrecht's
von mir zu glauben, am allerwenigſten — Sie ſtockte, denn das Du
wollte ihr nicht über die Lippen.


Hab' ich denn wiſſen können, daß du meinetwegen unterwegs biſt? rief er.


Das iſt gleichviel, erwiderte ſie. Niemand hat das Recht, wenn
er mich auch bei der Nacht antrifft, mir das 'Rumlaufen vorzurücken,
und das auf eine Art, daß man wohl verſteht, wie's gemeint iſt. Ich
bin noch Keinem nachgelaufen und werd' auch Keinem nachlaufen mehr.


Nun ja, verſetzte er, wenn ich gewußt hätt', was für einen Boten¬
gang du thuſt, ſo hätt' ich ja gewiß nichts dergleichen geſagt.


Das glaub' ich, bemerkte ſie, unmuthig über dieſe leichte Ent¬
ſchuldigung.


Jetzt laſſ' es aber gut ſein! rief er auf ſie zugehend. Bis du
austrutzt haſt und auspredigt, iſt der Pfarrer mit der Predigt auch
zu End'.


Nicht ſo geſchwind! rief ſie und wich raſch vor ihm zurück.


So? da kann ich alſo heimgehen? ſagte er, erbittert über den
ernſtlichen Ton, mit dem ſie ihn zurückgewieſen hatte.


Sie gab keine Antwort.


So kann's nicht zwiſchen uns fortgehen! rief er, allmählich wild
werdend. Jetzt ſag's grad' 'raus und laſſ' mich nicht lang warten:
wie haſt's mit mir?


[122]

Ich weiß nicht, ſagte ſie, ich glaub', wir taugen nicht recht zu¬
ſammen, wir zwei Beide. Ich will nicht von den vielen Haken reden,
die die Sach' hat und die mich ſchon oft traurig gemacht haben.
Aber wer mein Schatz ſein will, der darf mich nicht ſo anfahren und
darf mich nicht gleich beſchuldigen, daß ich auf unrechten Wegen ſei,
eh' er ſich nur Zeit nimmt die Augen aufzuthun. Wenn Einer auf
ſeinen Schatz nichts hält, ſo thut's nicht gut zwiſchen ihnen. Mein
Vater und meine Mutter ſind oft hart gegen mich; wenn mein Schatz
auch ſo wär', was hätt' ich dann gewonnen? Mit meinem Schatz
will ich ein beſſeres Leben führen oder lieber will ich bleiben wie ich
bin. Es iſt mir ohnehin nicht ſo beſonders drum zu thun; ich kann
allein ſein, und ich glaub', ich will's auch.


Obgleich er ſich geſtehen mußte, daß das Mädchen vollkommen
Recht habe, und obgleich ſie ihm in dieſem Augenblicke mit ihrer gan¬
zen Art zu denken und zu reden unſäglich gefiel, denn das war nicht
mehr das ſchüchterne kindiſche Weſen, das andere Leute für ſich reden
ließ, ſo geſtattete ihm doch ſein ſtarrer Trotz nicht, aus ihren Worten
etwas Anderes als einen bittern Beſcheid herauszuleſen. Wenn man
mir ſo ausbietet, ſagte er, dann will ich nicht überläſtig ſein.


Sie ſchwieg ohne aufzublicken.


Es iſt alſo Ernſt? wiederholte er. Ich ſoll gehen?


Wer mir's ſo macht, den werd' ich nicht bleiben heißen, ant¬
wortete ſie entſchloſſen, aber zugleich drangen ihr die Thränen in
die Augen.


Nein! rief er wild und die ſeinigen rollten, während er das Meſſer
zog. So geh' ich nicht fort! Hier auf dem Platz muß es ſich zwi¬
ſchen uns entſcheiden. Sag' Ja oder Nein, willſt du mich oder willſt
mich nicht? Wenn du mich willſt, ſo verſprech' ich dir, daß dergleichen
Dummheiten, wie geſtern Nacht, von nun an nicht wieder vorkommen
ſollen, du biſt ohnehin ganz allein Schuld daran geweſen, weil du
mich ganz wild und falſch gemacht haſt die Zeit daher, und unartig
will ich auch nicht mehr gegen dich ſein, will dich vielmehr auf den
Händen tragen und ein Leben mit dir führen, daß ganz Ebersbach ein
Exempel dran nehmen ſoll. Willſt du mich aber nicht, ſo verzeih'
mir's Gott, du kommſt nicht lebendig von der Stell'. Sieh' das
Meſſer hier, das bis jetzt bloß unvernünftigen Geſchöpfen den Lebens¬
[123] faden abgeſchnitten hat, das ſoll dann ein edlers Blut trinken. Sag'
Nein, und ich ſtech' dir's ins Herz, ich treff' gut, darauf kannſt dich
verlaſſen, und das auf den erſten Stoß. Der zweite dann, der gilt
mir, denn wenn du nicht mein werden willſt, ſo ſoll dich auch kein
Anderer haben, und wenn du todt biſt, ſo will ich auch nicht mehr
leben. Dich will ich, auf der ganzen weiten Welt nur dich, und
wenn das nicht ſein kann, ſo iſt es zu dieſer Stunde mit uns bei¬
den aus.


Chriſtine war einen Augenblick ſtarr und bleich vor Schrecken da¬
geſtanden, wie er mit dem funkelnden Meſſer auf ſie zuſchritt. Bald
aber änderte ſich ihr Geſicht. Im Gegenſatz zu ihm, der in ihren
Reden nur Bitterkeit fand, ſog ſie aus den ſeinigen nur den Honig
heraus. Aufgelöſt durch das Uebermaß von Feuer und Liebe, das
aus dieſer fürchterlichen Liebeserklärung hervorbrach, und ohne ſich
durch die rohe, gewaltthätige Beimiſchung von neuem abſtoßen zu
laſſen, warf ſie ſich ihm, als er geendet hatte, ſo heftig an den Hals,
daß ſie ihm kaum noch Zeit ließ, die Spitze des Meſſers zu wenden.
Er ſchleuderte es raſch zu Boden, während ſie ihn mit beiden Händen
umklammerte. Stich zu, wenn du das Herz haſt! rief ſie laut weinend.
Er ſchlug die Arme um ſie und drückte ſie feſt ans Herz. Sie machte
die eine Hand los und hielt ſie ihm vor die Augen. Da ſieh, du
blinder Heſſ', du ungläubiger Thomas, ſagte ſie unter dem Weinen
lachend, wie kannſt du ſo an der Wand hinauffahren und ſo ruchlos
Zeug machen, ſiehſt denn nicht, daß ich deinen Ring am Finger hab',
ſeit du da biſt? Ich hab' dir doch vorher müſſen ein wenig ſchandlich
thun, du unartiger Bub' du!


Iſt's wahr? rief er. Willſt mein ſein? Sag's noch einmal.


Meinſt du's auch ehrlich mit mir? fragte ſie, indem ſie den Kopf
aufhob und ihm in die Augen ſah.


Er ſchwur es mit tauſend Eiden, wovon einer den andern an
Kraft und Derbheit übertraf. Biſt jetzt mein? fragte er dann
abermals.


Ja! ſchrie ſie unter dem Druck ſeiner Arme, die ſie wie eiſerne
Klammern preßten.


Ganz mein?


Ganz! Du kannſt mich ſieden oder braten, nur erſtick' mich nicht.


[124]

Er ließ ſie einen Augenblick los, aber nur um ſie im nächſten
deſto feſter in die Arme zu faſſen, und die Sinne vergingen ihr un¬
ter dem Ungewitter der Leidenſchaft, das über ſie losbrach. Es war
als ob der Pfarrer mit den Liebenden im Bunde wäre, denn ſeine
heutige Neujahrspredigt ſchien die längſte werden zu wollen, die er je
gehalten hatte.


Jetzt will ich gern ſterben, ſeufzte Friedrich, als er aus dem
Rauſche des Entzückens endlich wieder zu ſich kam. Noch einmal will
ich dir's geſchworen haben, daß ich nimmer von dir laſſen will, was
auch kommen mag, und will dir treu ſein bis in den Tod.


Du mußt jetzt nicht vom Sterben reden, ſagte ihm Chriſtine leiſe
ins Ohr, indem ſie den Kopf verſchämt an ſeine Schulter lehnte,
ich hab's jetzt doppelt nöthig, daß du für mich lebſt.


Ja, ich will, und Müh' will ich mir geben, daß ich immer den
richtigen Weg geh' und daß du keine Unehr' von mir haſt und keine
Sorgen um mich. Gelt, das iſt doch eigentlich Urſach' geweſen, daß
du dich ſo lang beſonnen haſt? Geſteh's nur frei heraus, ich nehm's
dir nicht übel.


Nein, ſagte ſie, ich hab' mich nie zum Richter über dich aufge¬
worfen, und hab's ja wohl gewußt, wie gut du biſt, und daß in dei¬
nem Herzen kein fauler Butzen iſt und kein falſcher Blutstropfen in
deinen Adern. Meinſt du denn, ſonſt hätt' ich dir ſo getraut?


Warum haſt du mich dann aber ſo lang zappeln laſſen und haſt
mir ſo viel böſe Stunden gemacht?


Ei, bin ich's nicht werth, daß du dich ein wenig um mich haſt
verleiden müſſen?


Freilich biſt du's werth. Ich mein' nur, wenn du ſo große Stück'
auf mich hältſt, wie ich's in meinen Augen nicht verdien', und haſt
zugeſehen, wie ich mich verleiden muß, ſo haſt du ja dir auch eine
Qual mit angethan. Und haſt du nicht ſelber geſchrieben, du ſeieſt
ſo traurig, daß du vor lauter Leid ſchier nicht ſchreiben könneſt?


O du! ſagte ſie und ſchlug ihn mit dem Finger auf die Lippen.


Ich will den Baum nicht loben, der auf den erſten Streich fällt,
aber du haſt mir's doch ein wenig gar zu arg gemacht, haſt mich ja
am ewigen Feuer braten laſſen. Hätteſt's dir ſelber nicht zu Leid
[125] thun ſollen. Jetzt ſag's nur: warum biſt ſo unbarmherzig geweſen
gegen mich und dich?


Ich kann's nicht ſagen, kicherte Chriſtine wie damals, als ſie ſich
im Bäckerhauſe hinter dem Ofen verſteckte.


Ich küſſ' dich ſo lang bis du's ſagſt, denn ich merk' jetzt ſchon,
daß es was zu bedeuten hat.


Da kannſt lang küſſen.


Oder ich drück' dich bis dir der Athem ausgeht.


Dann ſterb' ich in deinem Arm.


Wart', ich will dir ſchon zeigen, wer Herr iſt. Willſt du Daumen¬
ſchrauben kennen lernen?


Kaum hatte er ihre Finger etwas zwiſchen den ſeinigen gepreßt, ſo
ſchrie ſie: Halt! laß nach! ich will ja Alles geſtehen! Sie legte den
Mund an ſein Ohr und ſagte: Sieh, meine Mutter hat zu mir ge¬
ſagt, wenn ich einen dummen Streich mache, ſo ſchlage ſie mir alle


Glieder entzwei, und —


Ja? Und?


Ach, du brauchſt nicht Alles zu wiſſen.


Er erhaſchte ihre Finger und wiederholte die vorige Folter. Und
damit's nicht zu dem kommen ſoll, was mir meine Mutter gedroht hat,
bekannte ſie ſtöhnend und lachend zugleich, hab' ich dich und mich ſo
plagen müſſen.


Er lachte aus vollem Herzen. So? ſagte er, du haſt alſo ſo ein
gut's Zutrauen zu mir gehabt, daß du gleich gedacht haſt, du werdeſt
dich bei mir vor einem dummen Streich nicht behüten können?


Ach, ich hab' dich eben von Anfang an ſo lieb gehabt, du böſer
Bub' du!


O du mein lieb's Weible du! rief er, indem er ſie in ſeine Arme
zog und ihren Kopf an ſein Herz legte.


Aber das hör' ich gern! rief ſie. Das thut mir wohl! O, ſag'
noch einmal ſo!


Mein lieb's Weible! Und jetzt will ich dich auch recht um Ver¬
zeihung bitten, daß ich dir's ſo wüſt gemacht hab', abſonderlich geſtern
Nacht, wo du meinetwegen ausgeweſen biſt und ich dir noch ſchnöde
Reden dafür geben hab'. Gelt, du verzeihst mir's? Sieh, es iſt mir
von ganzem Herzen leid.


[126]

So, jetzt kommſt endlich, du Hinterfürhühnle? Haſt Urſach' ge¬
nug gehabt, das gleich zu ſagen, aber der hochmüthig' Herr hat ſich
nicht 'runtergeben wollen.


Ja ſieh, um Verzeihung bitt' ich niemand als einen recht guten
Freund, und von dir hab' ich vorhin noch nicht gewußt, ob du Freund
oder Feind mit mir biſt.


O geh' du! du haſt wohl gewußt, daß ich dir nicht feind bin.
Aber gelt, jetzt glaubſt, daß du den beſten Freund auf der Welt an
mir haſt?


Er betheuerte ihr dieſen Glauben mit wiederholten Liebkoſungen.


Was haſt denn zu meinem Brief geſagt? fragte ſie nach einer
Weile. Gelt, du haſt gewiß geſagt: jetzt kriecht ſie endlich zu Kreuz?


Ich hab' denkt: ſo, jetzt iſt ſie endlich in ſich gangen und bereut's,
daß ſie ſo unchriſtlich geweſen iſt und ſich und mir das Leben ſo ſauer
gemacht hat.


Was nicht ſauret das ſüßet auch nicht. Aber was haſt du denkt,
daß ich ſo wüſt geſchrieben hab'? Ich hab's ſchier im Finſtern thun
müſſen.


Schreib du wie du willſt, mir iſt Alles recht, was du ſchreibſt.
Wirſt's ſchon noch beſſer lernen bis du Sonnenwirthin biſt, und die
Rechnungen und Geſchäftsbriefe kann ich ja einmal ſelber ſchreiben.


Ja, das glaub' ich, daß es noch eine gute Zeit anſtehn wird, bis
ich Sonnenwirthin bin.


Nun ja, du wirſt doch meinem Vater nicht um den Tod beten.


Gott behüt' und bewahr' mich! rief Chriſtine eifrig. Gelt, das
iſt nicht dein Ernſt? Nein, ich gönn' ihm und wünſch' ihm noch ein
langes Leben —


Und Enkel genug?


Sie ſchlug ihn auf den Mund. Ich hab' nur ſagen wollen, es
wird noch manches Wäſſerlein den Bach hinunter laufen, bis man uns
zuſammenläßt. Ach, ich bin eben ein gering's Mädle und von armen
Eltern, und die deinigen ſind reich und hoffährtig; du kannſt's dir
ſelber ſagen, daß es da nicht ſo ganz glatt gehen wird. Mir ſelber
geht auch viel ab, was zu dem Stand gehört. Wiewohl, ich will
dir verſprechen, daß ich's an nichts fehlen laſſen will, und nichts ver¬
ſäumen, was ich noch lernen kann. Aber wenn auch du vielleicht mit
[127] einem ſolchen Verſprechen zufrieden biſt, ſo iſt's dein Vater noch lang
nicht, denn der ſieht noch auf ganz andre Eigenſchaften.


Er ging mit ſtarken Schritten vor ihr in der Stube hin und her.
Ich will dir nichts vormachen was nicht wahr iſt, ſagte er. Ich kann
zwar im jetzigen Augenblick, glaub' ich, viel auf meinen Vater bauen,
aber ſo leicht wird's nicht gehen, daß ich ſagen kann: ich darf nur
blaſen. Er wird vielleicht ein wenig aufgucken, wenn ich ihm ſag'
was ich vorhab'; ſein Leibſtückle iſt's nicht, denn das hat einen andern
Klang. Wir müſſen uns alſo darauf gefaßt machen, daß man uns
ein paar Berg' in Weg wirft, und falſche Zungen können auch da¬
zwiſchen kommen. Aber, wie geſagt, ich ſteh' jetzt mit meinem Vater
ſo, daß ich hoffen kann, wenn er meinen Ernſt ſieht, ſo gibt er nach.
Die Hauptſach' aber iſt: ich hab' dich lieb, und will dich, und mir
biſt du recht, und darum mußt auch allen Andern gut genug ſein.
Ich will doch ſehen, wer mir das über den Haufen wirft, was ich mir
einmal fürgenommen hab'. Ich bin feſt überzeugt und weiß ganz
gewiß, wenn ein Menſch ſeinen Willen ernſtlich auf etwas ſetzt, und
es iſt nichts Unrecht's, ſo führt er's auch durch. Ich aber hab' mei¬
nen Sinn feſt darauf gerichtet, daß du mein Schatz und mein Weib
werden ſollſt, und wie ich meinen Willen bei dir erreicht hab', ſo
werd' ich ihn bei meinen Eltern und bei den deinigen erreichen.


Chriſtine beruhigte ſich oder beſchwichtigte wenigſtens ihre Unruhe
im Anſchauen und Anſchmiegen an ihren Freund. Er gefiel ihr gar
zu gut; er kam ihr ſo männlich vor und war unter dem zuverſicht¬
lichen Reden gleichſam gewachſen.


Nun haſt du mein Herz und meine Hand und meinen Eid, fuhr
er fort. Jetzt mußt du mir aber auch verſprechen, daß du mir treu
ſein willſt, denn ich muß dir nur geſtehen, das 'Rumſchwanzen und
Luſtigthun mit den ledigen Burſchen auf'm Tanzboden, das muß
jetzt ein End' haben, und die Huſarentänz' im Karz ſtehen mir auch
nicht an.


Was, Huſarentänz'? Ich weiß nicht, was du willſt. Seit wir
nicht mehr gut mit einander geſtanden ſind, bin ich gar nicht in Karz
kommen, und daß ich ſelbigsmal auf den Tanzboden gangen bin, da s
hätt' dir doch dein Herz ſagen ſollen, warum das geſchehen iſt.


Du haſt ja aber gar nichts mit mir gemacht.
[128] Hätt' ich kommen und vor dich hinknieen ſollen?


Aber gelacht und geſchwätzt haſt mit den Andern, wie wenn ich
gar nicht da wär'.


Ich hab' doch nicht ſchreien und heulen können, wiewohl mir das
nah' genug geweſen iſt; es iſt mich ſchwer ankommen, mich ſo zu ver¬
ſtellen, nachdem ich hingangen bin bloß um dich zu ſehen, und du gar
nichts von mir gewollt haſt.


Und unter den Karzgängerinnen, die geſtraft worden ſind, biſt
du nicht?


Sie wußte von nichts. Er mußte ihr den Vorgang erzählen.
In ihrem abgelegenen Häuschen hatte ſie von der Geſchichte gar nichts
gehört.


Jetzt iſt's recht, ſagte er lachend. Aber jetzt möcht' ich erſt ein¬
mal den Huſarentanz von dir ſehen. Wie, mach' mir ihn einmal vor.


Sie ſah ihn mit großen Augen an. Sag' das nicht noch ein¬
mal, entgegnete ſie ernſthaft. Es wär' mir leid, wenn's dein Ernſt wär'!


Nein, ſagte er und nahm ſie in die Arme, ich hab' dich bloß ein
wenig necken wollen. Ich hab' dich lieb und werth, und verlaß dich
drauf, daß ich dich immer in Ehren halten werd'. Aber das mit den
ledigen Buben, das haſt du mir noch nicht verſprochen.


Du wirſt mich noch bös machen! ſagte ſie. Was will ich von den
ledigen Buben! Aber ich will dir's ſchwören, damit die arm' Seel'
Ruh' hat. Da, ſieh, ich ſchwör's! und jetzt wollen wir ſehen, wer
ſeinen Eid am längſten hält, du oder ich.


Auch er gab ſich nun ſeinerſeits zufrieden. Sie plauderten zu¬
traulich mit einander und malten ſich ihr künftiges häusliches Leben
aus, wobei es nicht an Scherzen und Neckereien fehlte. Während ſie
ſo Arm in Arm in der Stube herumgingen, rief Chriſtine auf ein¬
mal: Hu, wie kalt geht's an mich hin! was iſt denn das? Auch er
empfand jetzt den kalten Luftſtrom und beide unterſuchten woher der¬
ſelbe komme. Eine von den runden Fenſterſcheiben fehlte und durch die
offene Lücke drang die kalte Winterluft ins Zimmer. Das iſt vor¬
hin nicht geweſen! rief Chriſtine erbleichend. Sieh' nur, da liegen
die Glasſcherben auf der Bank! Herr Jeſus, da iſt Jemand vor dem
Fenſter geweſen und hat uns zum Schabernack die Scheib' eingedrückt.
Ich hab' doch nichts gehört. Ich auch nicht, ſagte er, den Thatbeſtand
[129] in ſtummer Beſtürzung prüfend. Wir ſind verrathen! rief ſie wei¬
nend und verbarg das Geſicht an ſeiner Bruſt. Sei ruhig, der Wind
wird's gethan haben, ſagte er; aber er ſelbſt war keineswegs ſo ruhig
als er ſchien, denn er hatte noch eine andere Entdeckung gemacht, die
Chriſtinens Argwohn nur zu ſehr beſtätigte. Auf den Staffeln der
Außentreppe waren im Schnee friſche ſcharfe Fußſtapfen wahrzunehmen.
Dies konnten nicht ſeine eigenen ſein; denn zur Zeit ſeines Kommens
hatte es ziemlich ſtark geſchneit und ſeine Tritte mußten daher bald
wieder verwiſcht worden ſein. Es war ihm kaum zweifelhaft mehr,
daß, nachdem es zu ſchneien aufgehört, jemand ſich die Stiege herauf¬
geſchlichen und die Scheibe eingedrückt habe, worauf der Thäter wahr¬
ſcheinlich in der Meinung, durch das Klirren der Gläſer in der Stube
einen Schreck erregt zu haben, ſchnell wieder entflohen war. Von
dieſer Wahrnehmung aber theilte er Chriſtinen nichts mit; vielmehr
ſuchte er ſie, als ſie ihn darauf aufmerkſam machte, daß ja gar kein
Wind gehe, auf den Glauben zu bringen, die Katze werde es gethan
und vielleicht von außen durch das Fenſter hereingewollt haben.
Dies war jedenfalls ein annehmbarer Grund, wenn die Eltern bei
ihrer Heimkunft der Sache nachfragten, und er hieß ſie inzwiſchen
das Loch mit einem Tuch verſtopfen.


Sie waren noch im Reden und Rathen über den Vorgang be¬
griffen und Chriſtine hatte ihre Verſtörung noch keineswegs überwun¬
den, als die große Glocke auf dem Thurme anſchlug. Horch, die
Betglock'! rief ſie, die Kirch' iſt aus, jetzt mach' daß du fortkommſt!


Sie küßten und herzten einander, während Chriſtine ihn beſtändig
forttrieb.


Heut' Abend kommen wir zuſammen, nicht wahr? ſagte er.


Ja, ſobald meine Leut' im Bett ſind, und das iſt ziemlich früh.


Ich treff dich hinterm Haus und dann ſpazieren wir ins Feld [...]


Der Boden iſt beſtreut. Meinſt nicht, es werd' dir
zu kalt ſein?


Mich friert's nicht, wenn ich bei dir bin, aber jetzt mach' dich fort.


Sie wollte ihn bereden, das Haus durch die hintere Thüre zu
verlaſſen. Nein, ſagte er, vorn wo ich herein bin, da will ich auch
wieder hinaus. Ich red' ohnehin nächſter [...]Tag' ganz frei und offen
mit deinen Eltern.


D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 9[130]

Laß' es nur noch ein wenig anſtehen, ſagte ſie, es iſt mir ſo angſt.


Und wenn ſie fragen ob jemand unter der Kirch' bei dir geweſen
ſei, ſo ſag'ſt ohne Weiters ja, ich ſei dageweſen.


Sie verſprach Alles und trieb ihn wiederholt zur Eile an, ſo daß
er, als ſie ſich von einander losrißen, noch lange nicht genug geküßt
zu haben meinte.


Er hatte ſeinen guten Grund, das Haus auf der Vorderſeite zu
verlaſſen. Es ſollten nicht doppelte Fußſtapfen hinterbleiben, die viel¬
leicht ein endloſes Gewirr von Vermuthungen wach gerufen haben
würden. Er trat ſorgfältig in die vorhandenen Spuren und folgte
ihnen, um auf dieſe Weiſe etwa herauszubringen, wer vor dem Fen¬
ſter geweſen ſein möchte. Die Spuren führten an den äußerſten
Häuſern des Fleckens hin und dann kreuz und quer durch einige Gä߬
chen, wo ſie ſich aber bald mit andern Fußſtapfen vermiſchten. Er
mußte ſeine Nachforſchung als fruchtlos erkennen und ging kopfſchüt¬
telnd ſeines Weges. Die Leute kamen eben aus der Kirche. Er
konnte es nicht vermeiden, manchem verwunderten und neugierigen Blick
zu begegnen; da er ſich aber ruhig in den Zug miſchte, ſo brachte
dies Viele, die ſich mehr mit Anhörung der Predigt als mit Muſterung
der Zuhörer beſchäftigt hatten, auf den Glauben, daß er gleichfalls
aus der Kirche komme.

10.

In der Sonne wurde der Neujahrstag mit einem Familieneſſen
gefeiert. Die beiden Schwiegerſöhne hatten ſich mit ihren Frauen nach
der Kirche zur Gratulation eingefunden und blieben nach hergebrachter
Weiſe zu Tiſche da. Als Friedrich nach Hauſe kam, fand er ſchon
die ganze Familie verſammelt. Da muß irgendwo ein Rädle gebro¬
chen ſein, dachte er, denn der Empfang war in der That ein ſehr
wunderlicher. Der Chirurg wußte ſeinem Geſicht einen gewiſſen
verlegenen Ausdruck zu geben; der Handelsmann, ein kugelrundes
Figürchen in hellgelbem Rock, himmelblauer Weſte und mit lang
[131] herabfallenden weißen Halstuchzipfeln, drückte ſeine kleinen Aeuglein
liſtig zuſammen und ließ dabei die vorſpringenden wulſtigen Lippen
offen ſtehen, ſo daß ſie gleichſam einen ſtummen, aber ſichtbaren
Seufzer eines ehrbaren Verwerfungsurtheils bildeten; die beiden Frauen
ſchlugen die Augen nieder und ſchienen ſich kaum entſchließen zu können,
dem Bruder die Hand zu geben, als dieſer mit einem treuherzigen
„Proſit's Neujahr!“ auf ſie zugegangen kam. Der Sonnenwirth ſah
dieſer gezwungenen Begrüßung etwas verwundert zu; er kannte augen¬
ſcheinlich den Grund derſelben noch nicht, mochte aber denken, ſein
Sohn werde es bei der Verwandtſchaft durch irgend ein nicht gar zu
bedeutendes Ungeſchick verſchüttet haben; wenigſtens ließ er das, was
vor ſeinen Augen vorging, geſchehen, ohne ſich mit Fragen darein zu
miſchen. Friedrich aber hatte ſogleich an dem zuverläſſigſten Wetter¬
glaſe erkannt, daß etwas Schweres gegen ihn im Werke ſein müſſe,
nämlich an dem gelben Geſichte ſeiner Stiefmutter, welchem ein offe¬
ner triumphirender Hohn eine Art von Blüthe verlieh. Es war ihm
übrigens jede Verlegenheit erſpart, denn die Kinder des Krämers, die
dieſer mitgebracht hatte, deckten mit ihrem jubelnden Empfange alle
Lücken in der Liebe der Erwachſenen zu: ſie hatten dem Großvater
geſchriebene Neujahrswünſche überreicht und als Gegengeſchenk neue
Kreuzer nebſt mürbem Gebäck erhalten; jetzt ſprangen ſie im vollen
Jubel ihres Glückes an dem kinderfreundlichen jungen Oheim empor
und nahmen ihn in Beſchlag, bis das Eſſen aufgetragen war.


So lange das Geſinde, das diesmal an einem beſondern Tiſche
ſpeiste, ſich in der Stube befand, wurde von der Witterung und von
der heutigen Predigt geſprochen, welche ſich der mit einem guten Ge¬
dächtniß begabte Chirurg ſehr ausführlich anzueignen gewußt hatte.
Nachdem aber Knechte und Mägde ſich entfernt und auch die Kinder
auf Befehl ihres Vaters, jedes ein Stückchen Kuchen in der Hand
die Stube verlaſſen hatten, begann dieſer mit muthwilligem Blinzeln:
Iſt der Schwager heut' auch in der Kirche geweſen?


Friedrich wurde roth. Ich hab' Gott anders gedient, ſagte er.


Vielleicht zu Haus eine ſchöne Predigt geleſen, [...]oder ein Stück in
Arndt's Wahrem Chriſtenthum?


Friedrich ſchwieg, der inquiſitoriſche Ton, aus welchem eine ge¬
9 *[132] heime Bosheit ſprach, machte ihm das Blut, aber jetzt nicht aus
Scham, nach dem Kopfe ſteigen.


Der Sonnenwirth, der noch mächtig am Braten arbeitete, hielt
einen Augenblick inne, um zu ſchauen wo die Sache hinaus wolle,
und ſah bald den Tochtermann, bald den Sohn mit fragenden
Blicken an.


Die Sonnenwirthin hatte dem Erſteren, der den Laufgraben mit
ſo viel Geſchick eröffnet, einen Blick der Zufriedenheit zugeworfen.
Nun rückte ſie ſelbſt in's Feld, um ihm zu Hilfe zu kommen. Wenn
er's nicht ſagen will, wo er geweſen iſt, ſo muß ich das Maul für
ihn aufthun, ſagte ſie. Des Hirſchbauern ſeiner Jungfer Tochter
hat er den Morgenſegen vorgebetet, juſt unter der Kirch'. Nun gibts
zwar Freigeiſter, die Alles auf die leicht' Achſel nehmen — (dabei
ließ ſie einen Blick an ihrem Manne hinſtreifen) — und Spülwaſſer
löſcht auch den Durſt, wie das Sprichwort ſagt; aber noch ſagen,
man hab' Gott gedient, das iſt eine Sünd', die unſer Herrgott ge¬
wißlich zu den anderen Miſſethaten mit aufhaſpeln wird. Ich hab'
mich's von deinem Hab' und Gut koſten laſſen, ſetzte ſie gegen ihren
Mann hinzu, daß die Perſon, von der ich die Sach' weiß, nichts
weiter ſagt, damit's nicht vor den Pfarrer kommt, was dein chriſtlich¬
geſinnter Sohn unter Gottesdienſt verſteht.


Der Krämer kicherte und riß einige Witze, die Friedrich beinahe
außer ſich brachten; aber er ſchwieg noch, denn die plötzliche Entdeckung,
daß er nicht bloß, wie ihm ſchon zuvor klar geweſen, verrathen, ſon¬
dern daß ſein Geheimniß in die ſchlimmſten Hände überliefert ſei, hatte
ihn etwas ſeiner Faſſung beraubt.


Wer hat dir denn die Sach' hinterbracht? fragte der Sonnenwirth
ſeine Frau.


Das darf ich nicht ſagen, antwortete ſie, ich hab' Stillſchweigen
angeloben müſſen, kannſt dir wohl denken warum, aber die Perſon iſt
zuverläſſig.


Und doch möcht' ich rathen, ſagte der Chirurg mit einem wohl¬
wollenden Blicke auf ſeinen jungen Schwager, ſolchen unbekannten
Perſonen nicht allzu viel zu trauen. Man muß Einen nicht gleich
auf eine bloße Delation hin verdammen. — Der Chirurg war
weltklug: er wollte es mit der angegriffenen Partei nicht verderben;
[133] auch hatte er, ſeit ſein Ziel erreicht war, ſeiner Schwiegermutter mehr¬
fach gezeigt, daß er nicht ganz und gar in ihr Hörnlein zu blaſen
geſonnen ſei. Dabei mochte er ein wenig von der Abneigung ſeiner
Frau angeſteckt worden ſein, gegen welche er ſich oft über die Unſelbſt¬
ſtändigkeit und Unterthänigkeit des Krämers luſtig machte.


Die Sonnenwirthin hatte inzwiſchen in dem Geſichte ihres Stief¬
ſohnes geleſen. Was brauchen wir weiter Zeugniß? rief ſie. Er
leugnet's ja ſelber nicht, daß er ſich mit dem ſchlechten Menſch einge¬
laſſen hat.


Der Sonnenwirth hatte eben die Gabel mit einem Stücke Braten
erhoben; es war aber in Gottes Rathſchluß vorgeſehen, daß er daſſelbe
nicht in den Mund bringen ſollte, denn Friedrich fuhr auf, durch das
böſe Wort aus ſeiner Befangenheit herausgeriſſen, und rief: Ueber
mich kann man ſagen was man will, das will ich Alles geduldig
tragen, aber auf das Mädle laſſ' ich nichts kommen, denn das Mädle
iſt brav, und wer ſchlecht von ihr reden will, der kann ſich vor mir
in Acht nehmen; ich leid's von Niemand, ſelbſt von Vater und Mut¬
ter nicht! Es iſt mir leid, Vater, daß die Sach' ſo vor Euch ge¬
bracht worden iſt, denn ich hab's ganz anders fürgehabt, wie Ihr Euch
wohl ſelber einbilden könnt. Aber nun es einmal ohne meine Schuld
heraus iſt, will ich's Euch frei bekennen: das Mädle iſt mein Schatz,
und ich hab's treulich und ehrlich mit ihr, und will keine Andere
heirathen als das Chriſtinele allein. Ich hab' mir Eure Einwilligung
zu einer gelegeneren Zeit erbitten wollen, aber jetzt iſt eben die Ge¬
legenheit vom Zaun gebrochen.


Ein ſtarres, ſprachloſes Staunen hatte ſich der Familie auf dieſes
unumwundene Geſtändniß bemächtigt; der Sonnenwirth hatte die
Gabel mit dem Braten auf das Tiſchtuch fallen laſſen, wo ſie, über
den Rand hinausragend, keinen Halt fand und, der Sonnenwirthin
unterwegs das Taffetkleid beſchmutzend, ihren Fall auf den Boden
fortſetzte. Die Anſtifterin des Auftrittes konnte deßhalb an dem erſten
Geräuſche der Exploſion keinen Antheil nehmen; ſie ſchoß mit einem
wüthenden Blicke auf ihren ungeſchickten Eheherrn hinaus, um die
Flecken an ihrem Kleide wo möglich zu vertilgen. Nachdem die be¬
ſtürzten Geiſter ſich wieder etwas geſammelt hatten, machten ſich die
Gefühle über das unerhörte Unterfangen des jungen Menſchen in
[134] verſchiedener Weiſe Luft. Der Krämer ſtieß ein ſchrillendes Gelächter
aus, das dem Geheul eines jungen Hundes nicht unähnlich klang,
und ſeine kleinen Aeuglein verſchwanden in den Fettbergen, womit ſie
umgeben waren. Seine Frau, Friedrich's älteſte Schweſter, ſchlug die
Hände über dem Kopfe zuſammen und lamentirte. Der Chirurgus
bewegte den ſeinigen gravitätiſch hin und her und begnügte ſich, durch
dieſe ſtumme Gebärde ſeine ernſte, aber unvorgreifliche Mißbilligung an
den Tag zu legen, während ſeine Frau ſchmerzlich ausrief: Ach
Bruder, wirſt denn gar nie geſcheid werden?


Der Sonnenwirth hatte gleichfalls einige Zeit gebraucht, um aus
einer Art von Erſtarrung zu ſich zu kommen. Als er ſich erholt
hatte, ſtreckte er den Finger gebieteriſch gegen ſeinen Sohn aus. Laß
dir im Hirn verganten! rief er: vor Allem aber reiſ' dich, daß
ich dich heut nicht mehr ſehen muß, und hörſt? komm mir ein paar
ganze Tag' gar nicht vor's Angeſicht.


Friedrich ſtand gelaſſen auf, um dem Gebote ſeines Vaters zu ge¬
horchen. Ihr werdet noch beſſer von der Sach' denken lernen, Vater,
ſagte er, indem er ſich zum Gehen anſchickte.


Still! rief der Alte, ſei ganz ſtill, red' gar nichts, denn jedes
Wort, das aus deinem Mund geht, iſt ein Nagel zu meinem Sarg.


Der Sohn ſchwieg und ging ſchnell zur Thüre hinaus.


Es iſt doch ſchrecklich, jammerte die Krämerin, daß ſich der Bub'
gar nicht geben will. Kaum meint man, man hab' ihn auf dem
rechten Weg, ſo kommt wieder ein ärgerer Streich.


Ja, ſagte der Krämer, das gäb' eine Eh', die man aus dem Hei¬
ligen verhalten müßt'.


Freilich, wie die Lumpenſippſchaft, aus der das lüderlich' Ding
abſtammt, ergänzte ſeine Frau.


Ach Gott, ich will ihr ja ſonſt weiter nichts nachgered't haben,
ſagte ihre jüngere Schweſter, die ſich zur Heirath mit dem Chirurgen
bequemt hatte: aber ſie hat eben gar nichts als 'n Gott und 'n Rock.


Eine ſchöne Partie für uns! rief die Krämerin. Der Bub' iſt
einmal im Kopf nicht richtig. Bei ſeiner Tauf' iſt der vorig' Amt¬
mann zu Gevatter geſtanden, und jetzt will er uns ein ſolches Bauern¬
menſch in die Familie bringen.


[135]

Ich möcht' nur wiſſen, mit was ſie ihm's angethan hat! ſeufzte
die Chirurgin, die bisher ſeine Lieblingsſchweſter geweſen war.


Pah! lachte der Krämer, ſie handelt mit kurzer Waar', und da
beißt ſo ein Unverſtand gleich an.


Ja, ſagte ſeine Frau, Schwarz iſt auch eine Farb'.


Für den Liebhaber! fiel die Sonnenwirthin ein, die eben wieder
in die Stube getreten war. Der Geſchmack verbirgt ſich nicht. Es
heißt nicht umſonſt: Sage mir, mit wem du umgehſt, ſo will ich dir
ſagen, wer du biſt. Dieſe Liebſchaft bringt's einmal recht an den
Tag. Da kann man wohl auch ſagen: Hudel find't Lumpen, Hutſch
find't ſein Hätſch.


Der Sonnenwirth, dem es bei all ſeinem eignen Verdruſſe doch
durch die Seele ſchnitt, ſeine Frau in ſeiner Gegenwart ſo von ſeinem
Sohne reden zu hören, ſagte unmuthig zu ihr: Das Zeugniß
muß ich dir geben, daß du mir da ein ſchönes Zugemüſ' angerichtet
haſt. Hätteſt's nicht beſſer anbringen können, als juſt überm Eſſen.
Wem du den Neujahrsſchmaus bereiteſt, von dem darfſt nicht fürchten,
daß er nichts übrig laſſen werde.


Da muß ich freilich ſehr um Verzeihung bitten, entgegnete ſie:
wenn ich gewußt hätt', daß dir das Eſſen wichtiger iſt als der Le¬
benswandel deines Sohns, ſo hätt' ich geſchwiegen; aber ich hab' eben
gemeint, ich müſſ' reden, ſo lang's noch Zeit iſt und eh' er vollends
ganz in den Abgrund taumelt. Wiewohl, ich hab's auch früher nicht
an Ermahnungen fehlen laſſen, und die Sach' iſt dir ſchon lang ſehr
nah' gelegen; wenn's ein Wolf geweſen wär', er hätt' dich gefreſſen.


Der Sonnenwirth trommelte am Fenſter. Hab' ich mir denken
können, ſchnauzte er nach einer Weile herum, daß der Bub' ſo aus
der Art ſchlagen und mit der dummen Liebſchaft Ernſt machen würd'?
Jetzt muß man freilich mit ihm Ernſt machen, fuhr er gegen den
Chirurgen fort, dem er noch am liebſten ein Wort gönnen mochte:
und wenn man zu den ſchärfſten Mitteln greifen müßt', ſo iſt das
Unglück nicht ſo groß, als wenn man der Sach' den Lauf läßt. Hier
muß man mit der Katz' durch den Bach.


Der Chirurgus, der bis jetzt das Reden den Andern überlaſſen
und ſich dadurch ſeine Meinung frei behalten hatte, räusperte ſich und
erwiderte: Das iſt gar kein Zweifel, Herr Vater, dieſe Liebſchaft iſt
[136] ein Uebel, eine Art Geſchwür, das man um keinen Preis aufkommen
laſſen und im Nothfall mit Schneiden oder Brennen beſeitigen müßte.
Jedennoch möcht' ich unmaßgeblich rathen, nicht alſofort zum Aeußer¬
ſten zu ſchreiten, ſondern erſt gelindere und wo möglich auflöſende
Mittel zu verſuchen. Der Schwager iſt zwar — hm, hm — kann's
nicht in Abrede ziehen — er iſt ein wenig ein Springinsfeld, aber
er hat doch, mit Salvenia zu reden, kein ſo ungattiges Temperament,
daß man gleich die Beinſäge bei ihm in Anwendung bringen muß.
Ich ſchmeichle mir, bereits eine Arznei ausfindig gemacht zu haben,
welche ſich als probat erweiſen dürfte. Für jetzt wäre es wohl nicht
angemeſſen, den Herrn Vater länger mit dem fatalen Handel zu be¬
helligen, der, wie ich zu ſagen mir erlauben muß, nicht zu ganz rich¬
tiger Zeit an ihn gebracht worden iſt; denn bei Reden und Mitthei¬
lungen, inſonderheit wenn ihnen etwas Bitteres beigemiſcht iſt, ſollte man,
wie bei den Latwergen aus der Apotheke, immer die paſſende Stunde
beobachten. Zur Eſſenszeit beigebracht aber kann eine unverhoffte und
widrige Nachricht leicht eine Indigeſtion effectuiren, woraus dann, je
nach Beſchaffenheit der Leibesconſtitution, vielfache Infirmitäten fließen
können. Aus dieſem Grunde würde ich dem Herrn Vater rathen, ſich
jetzo eine kleine Bewegung in der friſchen Luft zu machen, damit die
etwas geſtörten Lebensgeiſter wieder erwecket werden. Was aber den
Schwager anbelangt, ſo muß man ihn mehr wie einen Patienten, denn
wie einen Delinquenten anſehen, und wenn man den rechten Punkt bei
ihm trifft, ſo hoffe ich, er werde noch zu curiren ſein. Man muß ihn
nicht ganz wegwerfen.


Ja, ſetzte ſeine Frau mit einem Seitenblick auf die Krämerin
hinzu, und ſeine Schweſtern ſollten's doch nicht ſo leicht vergeſſen,
wie er ſich ihrer angenommen hat und ihnen immer ein guter Bruder
geweſen iſt.


Die Sonnenwirthin hatte die anzüglichen Bemerkungen ihres ab¬
trünnigen Tochtermannes mit einem giftigen Lächeln verſchluckt und ei¬
nen Blick mit dem Krämer zu wechſeln verſucht, der aber, in der Er¬
kenntniß, daß er es aus zu großer Dienſtbarkeit gegen die Schwieger¬
mutter mit dem Schwiegervater verſchüttet habe, die Augen verlegen
zu Boden ſchlug. Als jedoch ihre Stieftochter daran zu erinnern
wagte, daß Friedrich ſeine Schweſtern gegen ſie in Schutz genommen,
[137] fuhr ſie auf. So? rief ſie, das ſoll ihm noch als eine Tugend an¬
gerechnet werden, daß er den häuslichen Frieden untergraben hat und
Hader angeſtiftet und hat ſeine ruchloſe Hand gegen ſeine Mutter auf¬
gehoben? Und darob lobt man mir ihn in's Geſicht, wie wenn ich
nicht die Frau im Haus mehr wär'?


Still jetzt! rief der Sonnenwirth auf den Tiſch ſchlagend: ich hab'
genug an dem Neujahrsſchmaus, will nicht auch noch einen Nach¬
tiſch dazu!


Die Familie ging mit einem ſauren Abſchied aus einander. Der
Sonnenwirth lehnte eine Einladung des Krämers ziemlich trocken ab,
nahm ſeinen Hut und ſchloß ſich im Weggehen dem Chirurgen an,
der ihn in's Freie zu begleiten verſprach.

11.

Abends zur verabredeten Zeit traf Friedrich mit Chriſtinen zu¬
ſammen. Hat's was gegeben? fragte er. Sie verneinte es. Bei
mir hat's ſchon eingeſchlagen! ſagte er und erzählte ihr den Auftritt,
den es über Mittag abgeſetzt hatte, wobei er jedoch die grellen Farben
deſſelben ſehr zu mildern Sorge trug. Chriſtine weinte und ſagte:
Ich hab's wohl vorausgeſehen, daß ich den Deinigen nicht recht ſein
werd'. Ach Frieder, wie wird's mir gehen? Da liegen viel Berg'
und Thäler dazwiſchen, bis wir Zwei zuſammenkommen.


Reut's dich? fragte er. Mich reut's nicht.


So lang du ſo gegen mich biſt wie jetzt, reut's mich auch nicht.
Aber wir werden eben viel zu leiden haben mit einander, das gibt
ſchon der Anfang. Es iſt kein gut's Zeichen, daß es uns gleich am
erſten Tag ſo hinderlich gehen muß. Ich möcht' nur auch wiſſen,
was für ein Neidhammel uns bei deiner Mutter verrathen hat.


Das möcht' ich auch herausbringen, ſagte er. Hat dich vielleicht
einer von den ledigen Buben geſehen geſtern Nacht, wie du den Brief
in's Beckenhaus tragen haſt?


[138]

Mit deinen lebigen Buben! ſpottete ſie. Du meinſt immer, das
ganz' ledig' Mannsvolk ſei hinter mir auf dem Strich.


Ich ſag's nicht aus Eiferſucht, entgegnete er. Aber es iſt ja wohl
möglich, daß dich einer auskundſchaftet hat und hat dich vielleicht mit
mir reden ſehen. Du ſagſt ja ſelber, der Neid werd' ihn getrieben
haben.


Ich bin keinem begegnet, ſagte Chriſtine, und wenn mich je einer
geſehen hätt', hätt' er mich nicht erkannt, ſo flink bin ich geweſen.
Nur Einer fällt mir ein, der hat mir ins Geſicht geſehen und könnt'
mich möglicher Weiſ' erkannt haben. Den rechnet man aber kaum
zu den ledigen Buben und er wird dich nicht eiferſüchtig machen.
Der Fiſcherhanne iſt's geweſen; der iſt vor ſeinem Haus geſtanden
und hat, ſcheint's, auf das Schießen gehorcht, hat aber dabei geſchnat¬
tert vor Kälte.


Der Fiſcherhanne! rief Friedrich. Jetzt weiß ich wo ich dran bin.
Der weißblütig' Neidteufel hat mich von jeher verfolgt. Da iſt gar
kein Zweifel, der iſt dir geſtern Nacht nachgeſchlichen — wenn ihn
nur der Mordſchlag troffen hätt'! — und hat auch heut meinem Gang
nachgeforſcht. Dem möcht' ich jetzt für die zerbrochene Scheib' eins
von ſeinen Geſichtsfenſtern ausſtoßen oder ein Eck von ſeinem ſieben¬
eckigen Kopf wegſchlagen.


Nein, du wilder, gewaltthätiger Bub'! ſagte Chriſtine, laß du
ihn lieber in Frieden, ſonſt würdeſt nur aus Uebel Aerger machen.


Es iſt auch wahr, erwiderte er. Und zudem ſeit du mein biſt,
iſt mir's ſo wohl, daß ich der ganzen Welt in Fried' und Freundſchaft
die Hand geben möcht'. Ich muß mich eigentlich zwingen, dem Fiſcher¬
hanne gram zu ſein, wie er's ja doch verdient. Auch meinem Vater
hab' ich heut kein bös Wort geben können, wiewohl's nicht recht von
ihm iſt, daß er ſich gegen unſer Verhältniß hat einnehmen laſſen und
hat mich gar nicht anhören wollen.


Bleib' du immer ſo, ſagte Chriſtine, und wie du lieb gegen mich
biſt, ſo ſei's auch gegen deine Nebenmenſchen. Wir müſſen die Hinder¬
niſſe, die man uns in den Weg wirft, durch Liebe zu überwinden ſuchen.


Aber dem Racker thu' ich doch noch einmal einen Tuck, bemerkte
Friedrich. Es gibt Menſchen, mit denen man in Liebe und Güte nicht
fertig wird, ſonſt freſſen ſie Einen auf'm Sauerkraut.


[139]

Du ſollteſt eher auf das denken, wie du ihn gewinnſt, damit er
uns nicht weiter verſchwätzt.


Dafür iſt ſchon geſorgt: meine Frau Mutter hat zu verſtehen
geben, ſie hab' ihn abgefunden, damit er dem Pfarrer nichts zutrage.
Der ſchreit ſchon, wenn Einer am Sonntag eine Bettlad' anſtreicht.
Wie würd' er erſt einen Lärm machen, wenn er erführe, was wir für
einen Gottesdienſt mit einander gehalten haben.


Red' doch nicht ſo gottlos heraus! unterbrach ihn Chriſtine. Es
iſt ja eine Sünd' und eine Schand', wie du ſchwätzſt!


Was? wenn ein Bub' ſein Mädle in Arm nimmt, die unſer Herr¬
gott für einander geſchaffen hat? Da müßteſt du ja Reu' und Leid
tragen für jeden Kuß, den du mir heut unter der Kirch' geben haſt!


Ach, Gott verzeih' mir's! ich hab' dich eben ſo lieb, und darum
hab' ich's gethan. Aber recht iſt's doch nicht, und ſo davon zu reden,
das iſt ſündlich.


Du Annemergele du! Aber wir wollen nicht ſtreiten. Komm,
wollen lieber küſſen.


Mein'twegen, die Kirch' iſt ja ſchon lang aus.


Sie gingen, ſich küſſend und umſchlingend, weit ins beſchneite
Feld, ohne dem Froſt eine Gewalt über ihr Jugendfeuer zu gönnen;
ja ſie warfen einander, wenn ſie ſich müde geküßt hatten, mit Schnee¬
ballen, und traf er ſie mit einem gar zu derben Wurfe, ſo gab dies
wieder Anlaß zu Söhnungsbitten und neuen Liebkoſungen. Dazwiſchen
zerſtreute er ihre ſtets auftauchenden Beſorgniſſe wegen der Zukunft
durch die bündigſten Verſicherungen und Schwüre. Der Mond ſank
erblaſſend gegen Weſten hinab und die erſten Schauer der Morgenkälte
wehten über die Flur, als ſie ſich endlich trennten. Immer ſpäter
kam in den nächſten Nächten die abnehmende Sichel auf den Schau¬
platz und immer noch traf ſie das Paar und beleuchtete eine Glück¬
ſeligkeit, die ſich um die Welt nichts kümmerte. Wenn aber je Chri¬
ſtine wieder zu ſorgen und zu zagen begann, ſo wußte Friedrich ſie
zugleich zu necken und zu tröſten. Ich glaub', der Muth verfriert
dir, ſagte er, wir werden uns in der Hüterhütte bergen müſſen. Sieh',
du biſt mein Weib vor Gott, ich werd' nicht von dir laſſen und nicht
eher ruhen, bis du es auch vor den Menſchen biſt. Ich hab' einmal
geſagt: Ich will! und das Wollen in eigner Sach' iſt viel ſtärker,
[140] als das Nichtwollen in fremder Sach'. Wenn ich eher den Kopf
hergeb' als meinen Willen und mein Herz, und das darfſt mir zu¬
trauen, ſo wird das Nichtwollen ſchon mürb' werden. Merk' dir nur
Eins und laß dir's geſagt ſein: Will' und Lieb', die ſtiehlt kein Dieb.

12.

Zu dem Gantverfahren, das der alte Sonnenwirth ſeinem Sohne
angerathen hatte, ſchien er ihm volle Zeit und Muße verſtatten zu
wollen; denn er ließ ihn ſeine Tage und Nächte ungeſtört nach ſeinem
Gutdünken hinbringen. Friedrich befolgte das Gebot ſeines Vaters,
ihm nicht vor's Angeſicht zu kommen, buchſtäblich, und obgleich ſeine
Stiefmutter täglich über die geſtörte Hausordnung ſeufzte, wenn er
ſich das Eſſen durch die Dienſtboten auf ſeine Kammer bringen ließ,
ſo wußte ſie doch nichts dagegen einzuwenden, weil er ſich auf den
unmittelbaren Ausſpruch des Familienoberhauptes berufen konnte.
Dabei ließ er ſich's jedoch angelegen ſein, mit ſeinen Dienſtverrichtun¬
gen immer da einzugreifen, wo er den Vater nicht gegenwärtig wußte.
Die Nächte widmete er den Zuſammenkünften mit ſeiner Geliebten,
und da er mit allen Gängen und Schlichen vertraut war, ſo machte
es ihm keine Schwierigkeit, beim Heimgehen wieder in das verſchloſſene
Haus zu kommen. Es ſchien ihm beinahe, als ob ſein Vater, nach¬
dem er einmal ſeine Willensmeinung ausgeſprochen, den Dingen ohne
weiteres Einſchreiten den Lauf laſſen wollte.


Hierin täuſchte er ſich aber ſehr. Der Sonnenwirth hatte, nach
reiflicher Berathung mit dem Chirurgen, ſeinen Plan und Entſchluß
gefaßt, und wenn die Ausführung deſſelben ſich gerade ſo lange ver¬
zögerte, um einen bereits geſponnenen Schickſalsfaden vollends unab¬
änderlich zu befeſtigen, ſo war ja dies einer von den Fehlſchlägen,
welche die kurzſichtigen Rathſchläge der Menſchen ſo häufig treffen.
Der Sonnenwirth wollte ſicher gehen und ſeinen Plan gründlich durch¬
ſetzen. Er ſchickte ſeine Frau, mit einem Brätchen aus der Metzig, in's
Amthaus, um durch ſie der Amtmännin zunächſt mittheilen zu laſſen,
[141] was er mit ſeinem Sohne vorhabe. Hierzu hatte er einen doppelten
Grund. Einmal beanſpruchte die Obrigkeit dieſelbe unbedingte Gewalt
über den Bürger, welche dieſer über das Thun und Laſſen ſeiner
Kinder, ſelbſt in ihren eigenſten Angelegenheiten und noch im erwach¬
ſenen Alter, auszuüben ſich berechtigt glaubte, und es wäre ſehr übel
vermerkt worden, wenn man in einem Hauſe auch nur eine Familien¬
ſache ins Werk zu ſetzen gewagt hätte, ohne ſich vorher den Rath des
geſtrengen Herrn unter der Leitung ſeiner noch geſtrengeren Frau zu
erbitten oder ihnen wenigſtens der äußeren Form nach die Ehre der
Gutheißung zu laſſen. Außerdem aber wollte der Sonnenwirth durch
dieſe Unterwürfigkeit für den Fall, daß ſein Sohn den Widerſpänſtigen
machen würde, ſich des amtlichen Beiſtandes verſichern.


Die Amtmännin nahm das Geſchenk und die Mittheilung der
Sonnenwirthin mit Wohlgefallen auf. Sie geſtand ihr offen, daß es
ihr jedesmal übel werde, wenn ſie den ungeſchliffenen Flegel nur von
weitem ſehen müſſe. Auch war ſie der Anſicht, daß für die Ruhe
des Fleckens nicht beſſer geſorgt werden könne, als durch ſeine gänz¬
liche Entfernung auf immer oder doch auf möglichſt lange Zeit; denn,
meinte ſie, ein ſo gewaltthätiger Menſch, der kein Geſetz achte, könnte
am Ende, wenn nicht Alles nach ſeinem Kopfe gehe, wohl noch im
Stande ſein, Mord und Todtſchlag zu verüben oder gar den Leuten
die Häuſer über dem Kopfe anzuzünden. Sie verhehlte der Sonnen¬
wirthin nicht, daß gar mancherlei über ihn gemurmelt werde. Man
ſage, er habe an Sylveſter nicht nur beinahe die ganze Nacht auf
höchſt gefährliche Weiſe im Flecken geſchoſſen, ſondern auch ſeinen Fein¬
den einen Mordſchlag gelegt, der ſo Menſchen als Gebäuden einen
erheblichen Schaden hätte bringen können; anderer Greuelthaten zu
geſchweigen. Alles dieſes werde mit leichten Stücken zu beweiſen ſein,
ſo wie man ihm nur ernſtlich zu Leibe gehen wolle, und das Amt
halte alſo bereits wieder neue Blitze gegen ihn in der Hand. Es ſei
ſonach eine wahre Wohlthat für den ungerathenen Jungen, wenn man
ihn dieſen Blitzen noch zu rechter Zeit entziehe, und möge er dann fortbleiben,
oder, was ſie zwar nicht hoffe, ſpäter geſchult und gebeſſert zurückkehren,
ſo ſei jedenfalls die Sonne vor dem Unglück behütet, durch eine ſo
unanſtändige Heirath zu einem Pöbelwirthshauſe zu werden, aus wel¬
chem ehrbare Leute wegbleiben müßten. Die Sonnenwirthin ſtimmte
[142] allen ihren Reden aus mütterlichem Herzen bei und brachte dieſelben,
nachdem ſie mit der Amtmännin viel darüber geſpottet, welch' eine
Wirthin das Bauernmenſch geben würde, freigebig mit Zuſätzen ver¬
mehrt ihrem Manne heim.


Nach dieſer vorläufigen Verläſſigung begab ſich der Sonnenwirth mit
dem Chirurgus zum Amtmann, dem er mit Hilfe des Letzteren vortrug, er
habe, wie dem Herrn Amtmann wohl bewußt ſein werde, einen Sohn, der
unerachtet aller väterlichen Bemühungen und trotzdem daß er viel Geld
auf ſeine rechtliche und chriſtliche Erziehung verwendet, bis jetzt nicht
habe einſchlagen wollen und ihm nun gar noch das Kreuz mache, in
ſeiner Minderjährigkeit an eine ganz ungleiche Heirath mit einer Bauern¬
tochter, die nichts ſei und nichts habe, zu denken. Da nun das
Sprichwort mit Recht ſage: „Wohl aus den Augen, wohl aus dem
Sinn“, ſo habe er ſich reſolvirt, ihn in die Fremde zu ſchicken. Er
habe in Frankfurt oder vielmehr in Sachſenhauſen, welches gleich da¬
neben über'm Mainſtrom liege, einen leiblichen Bruder, der daſelbſt
gleichfalls Wirth zur Sonne und in jungen Jahren durch eine Glücks¬
heirath mit einer Wittwe in den Beſitz derſelben gekommen ſei. Dem
wolle er ſeinen Sohn zuſchicken, in der Hoffnung, daß derſelbe unter
einem fremden Himmel und bei andern Leuten ſeine Thorheit ver¬
geſſen und ſich vielleicht den Kopf auf eine zuträgliche Art verſtoßen
und die Hörner ablaufen werde. Er habe ſich nun die Freiheit neh¬
men wollen, zu fragen was der Herr Amtmann von der Sache denke.
Der Amtmann erwiderte, der Gedanke habe ſeinen ganzen Beifall,
denn fremde Städte und fremde Menſchen ſehen, das putze den Kopf
aus. In dem Frankfort, ſagte er, bin ich auch ſchon geweſen, worauf
der Sonnenwirth und der Chirurgus ihre unterthänige Verwunderung
ausdrückten, daß der Herr Amtmann ſchon ſo weit gereiſet ſei. Die
Amtmännin, welche ſich ungeſäumt im Rathe eingefunden hatte, ſprach
davon, wie wohlthätig es überhaupt wäre, wenn man alle ungeſchlachte
junge Leute ein wenig in die weite Welt ſchicken könnte, um dort
gehobelt zu werden. Als ſodann der Sonnenwirth die Möglichkeit
zur Sprache brachte, daß ſein Sohn es etwa an der gewünſchten
Reiſeluſt fehlen laſſen könnte, hieß ihn der Amtmann ganz außer
Sorgen ſein, denn er werde jedenfalls mit ſeiner vollen Autorität
dazwiſchen fahren und gedenke mit einem jungen Trotz- und Querkopf
[143] ſchon noch fertig zu werden; er ſchreibe ohnehin heute noch einen Be¬
richt über Mehreres nach Göppingen, und wolle in denſelben einflie¬
ßen laſſen, daß der junge Menſch, der dem löblichen Oberamt auch
ſchon mehr als billig zu ſchaffen gemacht, mit ſeiner Erlaubniß in
die Fremde gehe.


Darauf empfahl ſich der Sonnenwirth nebſt ſeinem Schwiegerſohne
unter vielen Dankſagungen und berief zu Hauſe ſogleich ſeinen Sohn
zu einer Unterredung in Ernſt und Güte, nach welcher Friedrich mit
väterlicher Einwilligung in das Haus des Hirſchbauern ging, um von
Chriſtinen Abſchied zu nehmen. Nur unter dieſer Bedingung hatte er
ſich dem Willen ſeines Vaters gefügt. Bei dieſer Fügſamkeit waren aller¬
dings die Drohungen des Amtmanns, von welchen ihn ſein Vater in
Kenntniß zu ſetzen für geeignet befunden hatte, der natürlichen Gutmüthig¬
keit ſeiner vom Glück der Liebe befriedigten und deßhalb auch für die
Mahnungen der Kindespflicht zugänglichen Seele zu Hilfe gekommen;
aber keine Rückſicht hatte ihn zur Nachgiebigkeit gegen den Wunſch
ſeines Vaters bewegen können, ſogleich und ohne Abſchied von Chri¬
ſtinen abzureiſen, und der Sonnenwirth war genöthigt geweſen, von
dieſem Begehren abzuſtehen, wenn nicht ſein ganzes Vorhaben daran
ſcheitern ſollte. Friedrich erklärte ſeinem Vater, daß er morgen früh
vor Tag den Stab ergreifen wolle, und ſagte ihm deshalb auf der
Stelle Lebewohl. Von der Stiefmutter nahm er keinen Abſchied. Da¬
gegen verabſchiedete er ſich freundlich vom Chirurgen, welchem er bei
ſeiner Bewerbung und nachher ſeine Abneigung mehr als einmal in
nicht gar feiner Weiſe gezeigt hatte, und in welchem er nun einen
gutgeſinnten Schwager gefunden zu haben glaubte. Derſelbe geſtand
ihm zwar nicht, daß er der Urheber dieſer Trennung ſei, in welcher
er das auflöſende Mittel erblickte, das er dem Sonnenwirth empfohlen
hatte; doch ſagte er ihm offen, er ſei mit dem Entſchluſſe ſeines Va¬
ters einverſtanden und halte dieſe Reiſe für die beſte Art von einer
Sache los zu kommen, die nun eben einmal nicht ſein könne, worauf
Friedrich erwiderte, es ſei ihm zwar leid, daß ſeine Standhaftigkeit
auf dieſe Probe geſetzt werde, aber es freue ihn auch wieder, weil er
hoffe, daß er die Probe beſtehen werde. Der Chirurgus und ſeine
Frau ſchüttelten über dieſe Erklärung den Kopf, ließen es aber hie¬
bei bewenden, weil ſie der jugendlichen Feſtigkeit in Durchführung
[144] gefaßter Vorſätze, vielleicht eigener Erfahrung zufolge, kein großes Ver¬
trauen ſchenkten. Wirſt du auch den weiten Weg finden? fragte
Magdalene mit Thränen in den Augen. Bis nach Heilbronn, ant¬
wortete er düſter lachend, kenn' ich ihn ſchon, und das wird ungefähr
halbwegs ſein. Der Chirurgus holte mit Wichtigkeit eine Homann'ſche
Karte des deutſchen Reiches, die er beſaß, und demonſtrirte ihm mit
dem Zirkel, daß das noch nicht ganz den dritten Theil der Reiſe be¬
trage. Dann muß ich eben noch ein wenig weiter gehen, ſagte Fried¬
rich: das Frankfort wird ja nicht aus der Welt liegen; ich geh' eben
der Naſ' nach; und die Leut' an dem Main da drunten werden die
Naſ' auch grad' überm Maul tragen, juſtement wie wir hie. Dann
ſchüttelte er ſeinen Verwandten die Hände und ging. Bei dem Schwa¬
ger Krämer klopfte er nur im Vorübergehn an's Fenſter und rief
ſeiner Schweſter einen kurzen Abſchiedsgruß zu, lockte aber ihre Kinder
eine Strecke weit mit ſich und entließ ſie geküßt und beſchenkt.


Nachdem er dieſe gleichgiltigeren Angelegenheiten abgethan hatte,
trat er den ſchweren Gang zu Chriſtinen an. Diesmal ſuchte er keine
Nebengäßchen, ſondern ging den geraden Weg bis ans Ende des Fleckens
und ſah dabei allen Begegnenden herzhaft und freundlich in's Geſicht.
Als er aber die Treppe ſo weit unter ſich hatte, um im Hinaufſteigen
einen Blick durch das Fenſter werfen zu können, ſtieß er einen Fluch
aus, ſprang den Reſt der Stufen mit zwei Sätzen hinauf und ſtürzte
wüthend in die Stube, wo der alte Hirſchbauer ſeine Tochter ſo eben
an den Zöpfen ergriffen hatte und die Hand aufhob ſie zu ſchlagen.
Halt! rief Friedrich, warf ſich zwiſchen Beide und riß die Tochter von
dem Vater weg: Wenn Euch Euer Leben lieb iſt, rief er, ſo unter¬
ſteht Euch nicht, ihr ein Haar zu krümmen! Mir allein kommt das
Recht zu, ſie zu ſchlagen, wenn ſie etwa gefehlt hat.


Das könnt' ich brauchen, polterte der Hirſchbauer, daß mir einer
meine Tochter verführt und noch dazu in meinem Haus den Meiſter
ſpielen will. Weiß wohl, wo die Häglein niedrig ſind, da drüber
ſteigt man gern; aber mich ſoll Armuth und Niedrigkeit nicht ſo weit
bringen, daß ich Muthwillen mit mir und den Meinigen treiben laſſ'.


Es iſt von keinem Muthwillen die Red', ſagte Friedrich, und ich
bin kein Verführer. Ich will Eurer Tochter alle Ehr' und alle Treu'
[145] erweiſen, und meine Abſicht iſt auf nichts Anders gerichtet, denn daß
wir als Ehleut' zuſammen kommen.


Und dazu geht man in die Fremde? rief die Bäuerin mit zorni¬
gem Lachen. Ja, ja, weit davon iſt gut fürn Schuß!


So, das iſt auch ſchon ausgeſchwätzt? ſagte Friedrich. Wer hat
Euch denn das hinterbracht?


Seine Mutter iſt dageweſen, erwiderte die Bäurin, Er braucht
nichts zu leugnen.


Ich will auch nichts leugnen, begreif's aber wohl, daß Unſamen
hier ausgeſtreut worden iſt. Wahr iſt's, daß ich gehen muß, weil mein
Vater für jetzt nicht gut zu dieſer Heirath ſieht, und weil er vielleicht
meint, in einer andern Luft wachſe mir auch gleich wieder ein anderer
Kopf. Aber Alles hat ſeine zwei Seiten. Mein Vater kann mir
nichts befehlen, was für mein ganzes Leben gelten ſoll, denn über
die Zukunft muß ich ſelber Herr ſein, und ſein Vater ſpringt auch
nicht mehr hinter ihm drein, um ihm die Fliegen abzuwehren oder
ihn zu hüten, daß er den Fuß nirgends anſtoßt. Aber wenn er mir
jetzt in die Fremde zu gehen befiehlt, ſo gehorch' ich ihm und glaub'
ihn auch damit beſſer herumzubringen, als mit Ungehorſam und Trotz.
Er wird dann ſchon ſehen, daß ich in dem, was meine eigene Sach'
iſt, mein Herz nicht ändere, und zuletzt wird er mit ſeinem einzigen
Sohn ein Einſehen haben und wird uns zuſammen laſſen. Damit
jedoch mein Schatz und die Ihrigen nicht an mir zweifeln, deswegen
bin ich herkommen, um den Verſpruch vor meinem Fortgehen richtig
zu machen und mit Euch darüber zu reden.


Der Hirſchbauer und ſein Weib ſahen einander an; dieſe
Erklärung lautete ganz anders als das, was die Sonnenwirthin ihnen
geringſchätzig und ſpöttiſch vorgeſagt hatte, um ſie gegen ihre Tochter
und deren Liebhaber aufzureizen.


Seine Mutter, hob der Hirſchbauer wieder an, hat uns geſagt,
daß Er mit leichtem Herzen fortgeh' und ſelber froh ſei, der Feſſel
wieder ledig zu werden. Und wenn nun das auch nicht ſo iſt und
Er andere Abſichten hat, ſo wird Er mir doch nicht zumuthen wollen,
daß ich meine Tochter einer Familie aufdringen ſoll, die nichts von
ihr wiſſen will.


Laßt das gut ſein, Vetter, ſagte Friedrich. Die Sach' iſt nicht
D. B. IV. Sonnenwirth 10[146] mehr anders zu machen. Das Mädle will mich und ich will ſie; uns
zwei reißt niemand mehr aus einander. Alſo handelt wie ein recht¬
ſchaffener Vater an ſeinem Kind handeln ſoll, und tretet nicht auch
noch zu unſern Feinden.


Die beiden Alten eiferten und ſchalten heftig über dieſe eigen¬
mächtige Art, eine Liebſchaft anzufangen, und namentlich meinte die
Hirſchbäuerin, ihre Tochter hätte wohl eine Züchtigung dafür verdient.
Auch betheuerte ſie, ſie habe nie daran gedacht, daß er darum in ihr
Haus gekommen ſei, um durch ein Liebesverhältniß mit ihrer Tochter
ſeinen Eltern Verdruß zu machen, und wälzte jede Verantwortlichkeit
dafür feierlich von ſich ab. Allein ungeachtet des polternden Tones
waren Beide ſichtbar beſänftigt durch die Offenheit, mit welcher der
junge Mann ſeine Geſinnung ausgeſprochen hatte. Sie gaben ſich
jedoch Mühe, dies nicht merken zu laſſen, und der Hirſchbauer ſagte:
Man ſpricht auch, daß Er ſo gewaltthätig ſei und daß man von Ihm
nichts als Ungelegenheit haben werde; Er ſoll ja haben verlauten
laſſen, wenn Er Seinen Willen nicht durchſetze, ſo werde Er Alles
über Einen Haufen ſtechen und den Flecken anzünden.


Das iſt nicht wahr! rief Friedrich entrüſtet, es iſt kein ſolches
Wort aus meinem Mund gangen. Wer hat das geſagt? Er ſoll
ſich ſtellen und mich überführen.


Der Hirſchbauer ſchwieg.


Ich weiß ſchon, fuhr Friedrich fort. Meine Stiefmutter — Ihr
müßt ſie nicht meine Mutter heißen — die ſucht mich auszurotten,
ſie gönnt mir das Schwarze unterm Nagel nicht. Aber ſaget ſelber:
wie ſtimmen ihre Reden zuſammen? Wie kann ſie denn behaupten,
ich möcht' über alle Berg' und aus dieſen Banden los ſein, wenn ſie
hinwieder von mir ſagt, ich ſei auf meinen Willen ſo verſeſſen, daß
ich ſengen und brennen woll', wenn ich Eure Tochter nicht krieg'?
— Ohne die hätt' ich bei meinem Vater ein leichters Spiel. Wenn
meine Schweſter und ihr Mann, der Chirurgus, nicht wären, ſo
ging' ich gar nicht fort, denn ſie thät' mich in meiner Abweſenheit
vollends ganz untergraben, aber ich hoff', die zwei werden mich
vertheidigen.


Vielleicht, ſagte der Hirſchbauer nach einigem Beſinnen, ließ' ſich
ein Wort mit Seinem Herrn Schwager reden und auch mit dem Herrn
[147] Pfarrer. Wenn die beiden Herren etwas bei Seinem Vater ausrichten,
ſo könnt' man ja noch einmal von der Sach' reden. Aber ſo, wie's
jetzt ſteht, kann ich nicht nur ſo ohne Weiters meine Einwilligung
geben, denn ich will mir nicht nachſagen laſſen, daß ich mich mit den
Meinigen in eine Familie eingedrungen hab', wo wir überläſtig ſind.


Redet mit dem Pfarrer und dem Chirurgus, wenn ich fort bin,
ſagte Friedrich, denn fort muß ich jedenfalls auf einige Zeit, das thut
mein Vater nicht anders. Und füget mir's dann zu wiſſen, wie die
Unterredung ausgefallen iſt. Jetzt aber bin ich die längſt' Zeit da¬
geweſen, und Ihr werdet es nicht anders als billig finden, daß ich
von meinem Schatz unter vier Augen Abſchied nehm', denn mein
Schatz iſt und bleibt ſie, und wenn der Himmel einfällt. Nun behüt
Euch Gott, Vetter und Baſ', und geb', daß ich bald Schwährvater
und Schwieger zu Euch ſagen kann. Haltet mir mein' Schatz gut;
ich will nicht, daß ſie Euch zur Laſt fallen ſoll, und werd' das Koſt¬
geld für ſie bezahlen ſo lang ſie bei Euch im Haus iſt, denn ich
ſeh' ſie als mein Eigenthum an, und will ſie bei Euch eingeſtellt
haben, wie das Lamm, das ihr gehört. — Hiermit legte er lachend einen
guten Theil des Reiſegeldes, das ihm ſein Vater gegeben hatte, auf
den Tiſch; denn er hatte unter dem Reden wahrgenommen, daß ſich
die zerbrochene Scheibe noch in dem Zuſtande wie ſie von Chriſtinen
verſtopft worden war befand, und daraus den Schluß gezogen, daß
die Armuth der Leute nicht einmal geſtattet habe, den Glaſer zu holen.
Ihr zwei aber, ſagte er zu den beiden Söhnen, die ebenfalls in der
Stube anweſend waren, ſich aber ſo wenig wie Chriſtine in's Geſpräch
miſchten, ihr zwei kommt in einer Stunde in's Beckenhaus, wir müſſen
den Abend noch einen Abſchiedstrunk mit einander thun.


Er gab dem Bauer und der Bäuerin die Hand zum Lebewohl und
ſie ließen es ſchweigend geſchehen, daß er ſein Mädchen am Arme
nahm und mit ſich aus der Stube zog. Ein Seufzer der Bäuerin
den man verſchieden auslegen konnte, und ein Kopfſchütteln des Bauern,
das ſchon nicht ſo viele Deutungen zuließ, war Alles was nach
ſeinem Weggehen geäußert wurde.


Chriſtine fiel ihm draußen laut weinend um den Hals. Wenn
mich nur mein Vater geſchlagen hätt', ſchluchzte ſie, vielleicht wär'
mir's leichter geworden. Sieh, es hat mir Stich aus Stich durch's
10 *[148] Herz geben, wie ich gehört hab', daß du fort gehſt; mein Herz hat
ſich ganz zuſammengezogen, und ſeitdem thut mir's fortwährend weh.
Ach Gott, was ſoll aus mir werden, wenn ich dich nicht mehr hab'!


Mach' mir das Herz nicht ſchwer, ſagte er. Sieh, es iſt mir
ja ſchrecklich, daß ich von dir gehen muß, aber es kann nicht anders
ſein, und ich bin bei dir und du bei mir, wo ich auch ſein mag in
der Welt. Es iſt wohl weit weg, aber doch nicht ſo gar weit, daß
wir nicht einander ſchreiben oder ſogar zu einander kommen könnten,
wenn's Noth thut. Denk' dir alle Möglichkeiten der Reih' nach, ſo
muß es uns doch zuletzt nach Wunſch und Willen gehen. Entweder
gibt mein Vater nach, wenn er unſere Beſtändigkeit ſieht, dann iſt
ja Alles recht und gut; oder wir müſſen warten bis er das Zeitliche
ſegnet, dann iſt's zwar ſchlimm, aber doch beſſer als gar nichts;
oder er verſtoßt mich, wenn er mir den Sinn nicht brechen kann, dann
kann er mir aber auch nichts mehr verbieten, und heißt's eben: Mann,
nimm deine Hau', ernähr' deine Frau; oder find' ich vielleicht in der
Fremde bei meinem Vatersbruder oder ſonſt wo eine Heimath, man
kann ja nicht wiſſen wie's geht in der Welt, dann laſſ' ich dich nachkom¬
men; wenn's vielleicht für's Erſt' nur ein Dienſt wär', den ich dir da
drunten verſchaffen könnt', ſo wären wir doch näher bei einander und
könnten's nach und nach weiter bringen. Kurzum, ich mag mir aus¬
denken was ich will, das End' vom Lied iſt eben immer, daß wir
Mann und Weib werden.


Ja, aber da drunten gibt's gewiß ſchöne Jungfern, die mich bei
dir ausſtechen.


Sorg' du nicht für mich, hab' du vielmehr Acht, daß du mich
nicht von den Ebersbacher Buben aus deinem Herzen vertreiben läßt.


Ei ſo laß doch endlich das Geſchwätz mit den Buben ſein! ſagte
ſie ſchmollend.


Was dir recht iſt muß mir billig ſein, erwiderte er. Such' du
mich nicht hinterm Ofen, dann guck' ich auch nicht, ob du dahinter
ſteckſt. Jetzt laß uns aber die letzten Stunden nicht mit Zank und
Trutz verderben, es iſt ja doch keinem von uns beiden Ernſt damit.


Nachdem ſie noch längere Zelt in ſolchen Wechſelreden verbracht,
ſagte Friedrich: Ich muß jetzt gehen, ich hab' noch Geſchäfte mit mei¬
nem Pfleger. Ich nehm' aber jetzt nicht Abſchied von dir, denn ich
[149] thu's nicht anders, ich komm' heut zu dir in deine Kammer, nach¬
dem's jetzt mit deinen Eltern ſo gut wie richtig iſt.


Sei aber vorſichtig, ſagte ſie, und mach' kein Geräuſch, ſonſt
könnteſt bald ſehen, daß es nicht ſo richtig iſt wie du meinſt.


Hab' du keine Angſt, erwiderte er.


Er begab ſich zu ſeinem Vormund, einem im Flecken angeſehenen
Rathsherrn, um ihm einen Abſchiedsbeſuch zu machen und zugleich
aus ſeinem mütterlichen Vermögen einen Zuſchuß zu ſeinen Reiſemitteln zu
verlangen, welche ſo eben einen beträchtlichen Ausfall erlitten hatten.
Der Vormund aber ſchlug ihm ſein Anſinnen rundweg ab; er wußte
ihm haarklein vorzurechnen, was er von ſeinem Vater zu Weihnachten
und was er heute von ihm als Reiſegeld erhalten habe, ſchärfte ihm
die Tugend der Sparſamkeit ein, machte ihm derbe Vorwürfe über
die dumme Liebſchaft, die ihn aus dem Vaterhauſe treibe, und ermahnte
ihn ſchließlich, ſein Hab' und Gut nicht „an Menſcher zu hängen.“
Ich wär' nicht zu Ihm gekommen, wenn ich nicht Geld braucht
hätt'! ſagte Friedrich und wetterte im Fortgehen die Thüre hinter ſich
zu. Mit tauſend Verwünſchungen kehrte er dem Hauſe des Vormun¬
des den Rücken und ſagte dann zu ſich: Ich darf mich wohl zuſam¬
men nehmen, wenn ich bis zu meinem Ziel kommen ſoll, ohne unterwegs
zu betteln oder zu ſtehlen; und zu meinem Vetter ſollt' ich doch we¬
nigſtens auch noch ein paar Batzen mitbringen, ſonſt iſt's ja eine
Schand'; und meiner Chriſtine muß ich doch auch was ſchicken, denn
leerer Gruß geht barfuß. Der Teufel hol' den Hornabſäger, den
Kümmichſpalter, der mir mein eigen Geld vorenthält. Ich darf weiß
Gott auf dem Weg kein einzigmal was Warm's eſſen, wenn ich
mit meinem Zehrpfennig langen ſoll.


Er ließ aber im Bäckerhauſe nichts von ſeiner Verlegenheit merken,
ſondern plauderte treuherziger und fröhlicher als es ihm eigentlich um
das Herz war, mit ſeinen Schwägern, wie er ſie offen vor den
Leuten nannte, und als die Bäckerin theilnehmend bemerkte, ſie ſei
nur noch begierig, was dieſe Geſchichte für ein Ende nehmen werde,
die ſich in ihrem Haus angeſponnen habe, rief er leichtfertig lachend:
Das wird eine ſchöne Eh' geben, wo der Mann die Häfen verbricht
und das Weib die Schüſſeln!


[150]

Lachend gingen ſeine Geſellen mit ihm fort. Auf dem Wege er¬
öffnete er ihnen, daß er dieſe Nacht in ihrem Hauſe bei ihrer Schwe¬
ſter zuzubringen geſonnen ſei. Sie fanden das in der Ordnung und
ließen ihn mit ſich ein.

13.

Und nun den letzten Kuß! ſagte Friedrich, als kaum der Morgen
graute. Das Scheiden und Meiden iſt ein ſchlechtes Handwerk, und
der böſ' Gott woll's dem behüten, dem's zuerſt eingefallen iſt, aber
es muß nun einmal ſein.


Wenn ich nicht Sorg' hätt', mein Vater oder Mutter könnt' auf¬
wachen, ſo ließ' ich dich noch nicht fort, ſagte Chriſtine unwillkürlich
ſeinen Arm umklammernd. Es hat ſich ja noch nicht einmal ein
Hahnenſchrei hören laſſen.


Sie werden bald krähen, und dann währt's nicht lang mehr, ſo
wird's lebendig im Ort und ich kann nicht mehr unbeſchrieen fort¬
kommen, was mir unlieb wär', weil ich des Geſchwätzes mit den
Leuten überdrüſſig bin und nicht jedem auf die Naſ' binden mag,
warum ich in die Fremde ſoll. Fort muß ich ja doch einmal, und ſo
iſt's eins, ob wir den bittern Kelch jetzt trinken oder ein wenig ſpäter.
Denk' dir, wir ſeien verheirathet, was wir ja auch eigentlich ſind,
und ich müſſ' verreiſen auf längere Zeit. Wie Mancher hat ſchon
von Weib und Kind weg in Krieg müſſen, und iſt gar nicht wieder
kommen.


Wann wirſt auch du wieder zu mir kommen? ſeufzte Chriſtine.


Am Sanct Nimmerlestag, wo die Eulen bocken. Frag' nicht ſo
ſchäckig, weißt ja doch ſelber wohl, daß ich komm', wenn ich kann
und darf. Soll ich dir denn Alles wieder herleiern, was ich dir ge¬
ſagt hab' und worauf unſre Hoffnung ſteht? Ich müßt' mich ja
heiſer predigen.


Chriſtine ſchluchzte überlaut. Mein Herz ſagt mir, wir ſehen ein¬
ander nie wieder und ich werd' in Schand' und Noth verlaſſen ſein.


[151]

Und mir ſagt das mein' das Gegentheil. Welches hat nun Recht?
Da bleibt nichts übrig als daß wir die zwei Herzen gegen einander
wetten. Gib Acht, auf die Art kannſt kein'sfalls in Nachtheil kom¬
men. Gewinn' ich's, ſo ſehen wir uns wieder; wenn ich aber die
Wett' verlier', ſo bleibt dir doch mein Herz, und dann kannſt auch
nie verlaſſen ſein.


An dir iſt ein Advocat verloren gangen, ſagte Chriſtine, du machſt
daß ich in all meinem Jammer wieder lachen muß.


Zieh du dein Herz beſſer, erwiderte er, dann wird's dir auch
beſſere Reden geben. Und wenn du nicht aufhörſt mich betrübt zu
machen, ſo geh' ich hinunter und verklag' dich bei deiner Mutter.


O Jemine! rief Chriſtine kichernd, die thät' mir das Fell
ſchön vergerben!


Jetzt aber genug, verſetzte er. Alles hat ſeine Zeit, ſagt Jeſus
Sirach, und Alles muß ein End' haben, ſag' ich. Lachen und Wei¬
nen, Reden und Küſſen, Alles hat ſein geſetztes Maß und Ziel, und
wenn ich jetzt nicht endlich von dir geh', ſo kann ich ja auch nicht
wieder zu dir kommen. Alſo b'hüt' dich Gott, herztauſiger Schatz!


Wart' noch ein wenig! ſagte ſie. Wir müſſen erſt noch einen
Denkzettel von einander haben. Haſt dein Meſſer nicht bei dir?


Willſt mich abſchlachten und einſalzen, daß ich gleich ganz bei
dir bleib'?


Nein. Ich hab' vor etlich' Wochen im Karz gehört, wie man's
machen muß, wenn Eins dem Andern aus der Ferne ein Zeichen ge¬
ben will, daß man an einander denkt. Komm', ſtreif' dein' linken
Arm auf.


Er entblößte den Arm. Sie machte ihm mit dem Meſſer eine
kleine Wunde daran und ſagte: Jetzt laß mir geſchwind an meinem
Goldfinger ein wenig Blut heraus.


Das kann ich nicht, ſagte er, ich kann dir nicht weh thun.


Es iſt kein Wehe ſo groß als Herzeleid, ſagt dein Jeſus Sirach,
erwiderte ſie. Wenn du aber nicht willſt, ſo muß ich's eben ſelber
thun. Sie that's und tropfte ihm ihr Blut in ſeine Wunde, die ſie
alsbald ſorgfältig verband. Dann ritzte ſie ſich gleicherweiſe an ihrem
linken Arm, gab ihm das Meſſer und ſagte: Gib mir auch Blut von
deinem Goldfinger — mach's aber nicht ſo arg, ſei doch nicht ſo grob
[152] gegen dich, ein paar Tropfen ſind genug. Nachdem ſie ſich ſein Blut
angeeignet, verband ſie gleichfalls eilig ihren Arm.


Jetzt ſind wir ja ganz blutsverwandt, bemerkte er.


Das iſt's nicht allein, erwiderte ſie. Wenn's wieder verheilt iſt,
ſo brauch' ich nur mit der Nadel drin zu ſtüren, dann gibt's dir einen
Stich in Arm, da wo du mein Blut drein empfangen haſt, und
ebenſo umgekehrt, wenn ich einen Stich da ſpür' in meinem Arm,
ſo weiß ich, daß du mir an dem deinigen ein Zeichen gibſt, und ſeh'
daraus, daß mein Schatz in dem Augenblick an mich denkt.


Er lachte. So lang die Narben friſch ſind, ſagte er, mags wohl
ſein, daß ſie hie und da ein wenig ſtechen. Aber ich werd' auch ohne
das oft genug an dich denken.


Wenn's nun aber ſein muß, verſetzte Chriſtine, ſo mach' in Got¬
tes Namen daß du fort kommſt, und geh' recht leiſ' mein Katzenſtiegle
hinunter, damit niemand im Haus aufwacht.


Sie herzten und küßten einander, daß Friedrich's Ausſpruch, Alles
müſſe ein Ende haben, beinahe darüber zu Schanden geworden wäre,
und nachdem er manchen vergeblichen Verſuch gemacht, den Strom ihrer
Thränen durch Abtrocknen zu hemmen, ſchlich er ſo leiſe, daß man kein
Geräuſch hören konnte, die ſchmale ſteile Treppe hinab und kam mit
Hilfe des hölzernen Riegels, der anſtatt eines Schloſſes diente, leicht
durch die hintere Thüre aus dem Haus.


Nachdem er ſich noch mehrmals umgekehrt und manchen Blick nach
dem Schauplatze ſeines Glücks zurückgeſendet hatte, ging er der Sonne
zu, um ſein Reiſebündel zu holen. Alles ſchlief noch; ungehört betrat
und verließ er ſein väterliches Haus. Aber auch von dieſem, ſo we¬
nig Gutes er in letzter Zeit daſelbſt erlebt zu haben meinte, fühlte
er ſich noch eine geraume Weile feſtgehalten und ſtarrte mit feuchten
Augen nach den Fenſtern hinauf, hinter welchen ſeine Mutter ihn
geboren und mit ſo unendlicher Liebe aufgezogen hatte, hinter welchen
der Mann waltete, der doch immer ſein Vater war. Sein rauhes
Herz war von einer unſäglichen Wehmuth ergriffen, in welcher die
innerſte Seele des Volksſtammes, dem er angehörte, ſich ſpiegelte.
Der Schwabe, obgleich er eines der unſtäteſten Völker iſt und viel¬
leicht ſogar ſeinen Namen vom Schweben und Schweifen hat, iſt doch
darum dem Heimthum nicht minder als dem Wandertriebe verfallen.
[153] Während Viele Jahraus Jahrein entlegene Länder durchziehen, kleben
Andere an ihrer Heimſtätte feſt, als ob ſie mit ihr verwachſen wären,
— ja‚ man erzählt von einer alten Frau, die in Tübingen auf der
Ammerſeite wohnte, ſie habe nie in ihrem Leben den Neckar geſe¬
hen — und ſelbſt von Jenen reißt ſich Mancher erſt nach
vergeblichen Verſuchen und nur um den Preis des bitterſten Heimwehs
von der heimiſchen Scholle los, mag aber auch freilich, wenn
einmal das Heimweh überwunden iſt, an ſich erleben, daß die Hei¬
math, die er nicht entbehren zu können glaubte, Jahre lang fern und
todt und ſeinem Herzen etwas Fremdes hinter ihm liegt. Doch wird
es kaum einen geben, den nicht wenigſtens im Alter wieder die Sehn¬
ſucht nach den heimiſchen Bergen, Thälern und Gewäſſern beſinge.
Freilich werden dieſe widerſprechenden Triebe der Wanderluſt und der
Heimſeligkeit, die bei dem Schwaben nur mit beſonderer Stärke her¬
vortreten, in jedem Menſchenſchlage wahrzunehmen ſein.


Friedrich wiſchte ſich die Augen mit der Hand aus, ſtieß ſeinen
Wanderſtecken hart auf den Boden und ging in entſchloſſenem Reiſe¬
ſchritt die Straße hinab; da räuſperte ſich Jemand über ihm und eine
Stimme rief: Wo 'naus ſchon, Frieder, wo 'naus?


Er blickte ärgerlich in die Höhe und erkannte ſeinen Invaliden,
der nach der Weiſe alter Leute nicht lange ſchlafen konnte und zu
dieſer frühen Stunde aus ſeinem Ausgedingſtübchen zum Fenſter her¬
ausſah. In die Fremde! antwortete er, einen muthigen Ton in ſeine


Stimme legend.


Weiß ſchon, erwiderte der Invalide, und weiß eigentlich auch
warum.


Ja freilich! entgegnete Friedrich lachend, es gibt kein Warum,
das nicht auch ſein Darum hätt'. Uebrigens ſagt man: die Fremde
macht Leut'.


Ich ſtreit's nicht. Wer nie hinaus kommt, kommt auch nie hin¬
ein. Und was das Heimweh betrifft, ſo hat ſelbiger Schwab' in der
Fremde geſagt: „Schwaben iſt ein Land‚ ich will aber nit wieder
heim: grob Brod, dünn Bier und große Stunden!“


Friedrich lachte und ſchlug ein paarmal mit dem Stab in die
hartgefrorne Schneebahn; dann machte er eine Bewegung um ſeinen
Weg fortzuſetzen.


[154]

Er hat aber doch 'n curioſen Zwilch an Seinem Kittel, hob der
Invalide wieder an. Läßt ſich da um ein Weibsbild von Haus und
Hof fortſchicken. Iſt ſie denn auch ſo viel werth?


Friedrich ſchwang den Stecken um ſeinen Kopf, daß es durch die
ſcharfe Morgenluft pfiff. Profoß, ſagte er, wenn ich Euch gut zum
Rath bin, ſo redet mit mehr Reſpekt von ihr, denn ich verſteh' kein'
Spaß in dem Punkt. Oder könnt Ihr vielleicht etwas von ihr ſa¬
gen, das nicht recht wär'?


Das kann ich nicht und will's auch nicht, erwiderte der Invalide.
Nur nicht ſo hitzig! Das Mädle kann brav ſein, ich will ihr gar
nichts thun, aber darum fragt ſich's doch noch zehnmal, ob ſie zu Ihm
taugt. In meinen jungen Jahren, ach, was hab' ich mich nicht ver¬
leiden müſſen um mein Weib, bis ich ſie gehabt hab', und nachher,
wiewohl ich nichts weniger als ſchlecht mit ihr gehauſet hab', hab' ich
oft denken müſſen, ich hätt' grad' eben ſo gut eine andere nehmen
können. Wenn man einander einmal innen und außen kennt, dann
ſieht man erſt ein, daß man nicht bloß für die Kürze, ſondern auch
für die Länge hätt' ſorgen und auf Das und Jenes hätt' ſehen ſollen,
was nicht bloß in die Augen ſticht; denn die Schönheit vergeht und
die Jugend mit, und das Leben iſt oft ſo gar lang.


Aber das Sprichwort ſagt doch: Frühe Hochzeit, lange Liebe.


Das Sprichwort hat nicht immer recht, ſonderlich je nachdem die
Hochzeit geweſen iſt.


Friedrich grub nachdenklich mit dem Stecken im Schnee.


Wenn ich Er wär', fuhr der Invalide fort, ſo würd' ich da drau¬
ßen die Zeit und die Vernunft walten laſſen und meinem Vater nach¬
geben; auch blieb' ich nicht zu lang in der Fremde, denn viel
macht böſe Hoſen, das ſieht Er an meinem Fuß.


Ihr, ein alter Soldat, werdet mir doch nicht zumuthen, daß ich
mein Wort breche? fuhr Friedrich aus. Ich hab' mich mit heiligen
Eiden verſchworen, und dabei bleibt's.


Wenn's ſo ſteht, erwiderte der Invalide, ſo will ich weiter nichts
geſagt haben als: 's wär' eben gut, wenn alle junge Leut' könnten
vor alt werden, eh' ſie jung würden.


Das mag ſein, entgegnete Friedrich, weil's aber unſer Herrgott anders
[155] hat haben wollen, ſo kann ich nicht wider ihn ſtreiten und muß eben
der Natur ihren Lauf laſſen.


Damit verabſchiedete er ſich von dem Invaliden, der ihm noch
lange voll Theilnahme nachſah, wie er ausſchritt und der Schnee un¬
ter ſeinen kräftigen Tritten krachte.


Er hatte die letzten Häuſer hinter ſich und meinte nun recht ein¬
ſam in die Welt hinaus zu wandern, als ihn auf einmal ein Wurf,
nicht ganz ſanft, an die Schulter traf, daß der Schnee ihm am Ge¬
ſicht vorüberſtäubte. Er kehrte ſich zornig um; da war es Chriſtine,
die ihn geworfen hatte.


Ei! rief er, ich hätt' gute Luſt mit dir zu zanken. Ich hab' ge¬
glaubt, du ſteckeſt tief im warmen Neſt, und jetzt laufſt hinter mir
drein, erkälteſt dich und verbitterſt mir das Scheiden noch einmal.


Schiltſt ſchon wieder auf mein Geläuf? ſagte ſie, ſich an ſeinen
Arm hängend. Sei ruhig, ich kann nicht mehr weinen, die Kälte
treibt mir die Thränen zurück. Ich werd' doch auch mein' Schatz
noch ein wenig begleiten dürfen.


Ein paar Schritt' mein'twegen. Dann aber machſt links um und
läßt mich „in den Schutz Gottes befohlen ſein“.


Du Spottvogel! Ja, erſt noch will ich dich in unſers Herrgotts
Schutz empfehlen und all' Stund' für dich beten, daß dir's gehen
mög', wie dem Handwerksburſchen, der in der Fremde ſo wunderbar
behütet worden iſt.


Wie iſt denn das geweſen?


Haſt nie was davon gehört? Mir iſt's einmal im Karz erzählt
worden. Ein Handwerksburſch iſt, weit von ſeiner Heimath weg,
Abends ſpät in eine fremde Stadt kommen und hat nach der Herberg'
gefragt. Er iſt arg müd' geweſen und in den vielen krummen und
buckligen Gaſſen hat er ſich auch noch die Füß' auf dem Pflaſter ver¬
ſtoßen müſſen. Gelt? ach Gott, ſo wird's dir auch gehen auf deiner
Wanderſchaft.


Mach' nur fort.


Bis er zur Herberg kommen iſt, iſt's ſchon ganz Nacht geweſen.
Wie er nun durch den finſtern Hausgang an der Wand hin tappt,
da kommt plötzlich etwas wie ein ſtarker Mann über ihn her und
packt ihn feſt um den Leib —


[156]

Donnerwetter! unterbrach er ſie, da hätt' ich aber dreingeſchlagen!


Nein! wart' nur, 's kommt ganz anders, du G'waltthätle du!
Der Handwerksburſch' hat vielleicht auch geflucht oder wenigſtens im
Schrecken einen Laut von ſich geben; denn auf einmal ſieht er einen
Lichtſchein vor ſich in der Tiefe, und eine Stimme ruft von unten
herauf: Um Jeſu Chriſti willen, gehet keinen Schritt weiter oder Ihr
ſeid des Todes! Wie nun das Licht näher kommen iſt, da hat er erſt
geſehen, daß er vor der Kelleröffnung ſteht, und tief unter ihm ſteht
der Wirth mit dem Licht in der Hand und heißt ihn warten bis er
herauf komme und die Fallthür' zumache. Drauf hat er ſich umge¬
ſehen nach dem Freund, der ihn vor dem jähen Sturz bewahrt hat,
aber da iſt Niemand weit und breit geweſen. Wer kann's alſo anders
geweſen ſein, als der Engel, der ihn zu ſeinem Schutz begleitet hat?
Sieh, und einem ſolchen Engel möcht' ich dich auch anempfohlen haben,
daß er keinmal von dir wiche und ließe dir kein Leid geſchehen.


Wie der, der mit dem jungen Tobias auf die Wanderſchaft gangen
iſt? Ich ließ mir's auch gefallen, wenn du der Engel wärſt.


Ach wenn ich mit dir könnt'! Ich wollt' gewiß nie über Müdig¬
keit klagen.


Das wär' ein luſtig's Reiſen und ein tröſtlicher Reiſ'kamerad.
Aber —


Weil's aber nicht kann ſein,

Nicht kann ſein, nicht kann ſein,

Bleibſt du allhier.

O wenn ich dran denk', rief Chriſtine von einem plötzlichen Schauer
ergriffen, daß ich dich nimmer ſäh' — und Alles was dann über
mich käm' — ich thät mir einen Tod an.


Wie meine Schweſter? Die hat auch geſagt, ſie ſpring' in die
Fils, und den Tag drauf hat ſie meinen Schwager genommen. Da¬
mit jedoch die arm' Seel' Ruh' hat, will ich dir jeden Troſt und jede
Hoffnung und jeden Schwur, Alles von A bis Z noch einmal 'runter¬
ſagen. Nachdem er dies unter wiederholten Liebkoſungen gethan, ſchob
er ſie ſanft einige Schritte in rückwärtsgekehrter Richtung auf der
Straße fort und ſagte dann: Jetzt thu' mir's zu lieb und ſieh dich
nicht mehr um; ich will mich auch nicht mehr umſehen.


[157]

Er wandte ſich und ſchlug raſch ſeinen kräftigen Wanderſchritt
wieder an. Kaum hatte er ſich ein wenig entfernt, ſo rief ſie: Frieder,
nur noch ein' einzigen Blick!


Er blieb ſtehen.


Nur noch ein einzig's Wort! rief ſie. Will' und Lieb', die ſtiehlt
kein Dieb. Nicht wahr?


Ja, lieb's Weible, antwortete er. Will' und Lieb', die ſtiehlt kein
Dieb. Jetzt aber geh heim. Der Morgen kommt, es wird empfindlich
kalt. Willſt gleich machen, daß du fortkommſt? wiederholte er und
bückte ſich, als ob er den harten Schnee zu einem Wurfe ballen wollte.


Sie lief lachend eine Strecke weit davon. Als ſie Halt machte
und ſich nach ihm umſehen wollte, war er ſchon hinter der nächſten
Biegung der Straße verſchwunden, und ſchluchzend deckte ſie die Augen
mit der Schürze zu.

14.

Selten wohl hat ein deutſcher Hausknecht dem Fürſten Reichserb¬
poſtmeiſter in ſo kurzer Zeit ſo viel zu verdienen gegeben, als der
junge Schwabe, der in der Sonne zu Sachſenhauſen eingetreten war.
In Ebersbach fragte man ſich noch, ob er jetzt wohl ſein Reiſeziel
erreicht haben werde, da kam ſchon ein Brief von ihm „An die ehr¬
bare und beſcheidene Jungfer Jungfer Chriſtina Müllerin, in beliebi¬
gen Händen zu eröffnen, in Ebersbach, cito, cito, franco.“


Der Brief lautete ſo: „Gott zum Gruß und Jeſum zum Bei¬
ſtand. Heißgeliebter Schatz, ich muß Dich mit einem betrübten Hertzen
beſchreiben, und dieſe Zeilen werden Dich, wie ich in meinem Hertzen
glaub, betrübet antreffen. So will ich Dein Hertz erleichtern und Dich
mit ernſthaftem Hertzen berichten: Liebe Chriſtina, glaube Du daß mein
Hertz nicht wanckhen wird und Dir noch jeder Zeit getreu verbleiben,
ſo lang noch Gott eine Ader in meinem Leib laßt. Wann Du andere
Buben entlaßſt und Dich ihrer entläßſt, und ich erfahre daß Du Dich ſo
haltſt wie es einem braven Menſchen gehört, ſo ſoll mir keine Andere
[158] mehr an meine Seite kommen. Ich wollt Dir gern was ſchicken, ich
forcht, Du möchteſt in dem Eberſpächer Markt zu dem Tanz gehen und
Dich mit Einem einlaſſen; ſo will ich jetzt Dir noch nichts ſchicken, ſon¬
dern auf Deine Aufführung warten. Wann Du Dich hältſt, ſo will ich
Deiner nicht vergeſſen und Dich auch nicht laſſen. Sollteſt Du Dir Dein
Leben verkürzen, wie Du geſagt haſt, ſo ſchreibe ich mich aus der
Schuld und gib es Dir und den Deinigen über. Was ich geſagt hab,
das halt ich Dir und laß Dir Deinen Willen. Ich wünſche daß Gott
der Allmächtige Dein Hertz regiere, und führe Dich zu allem Guten,
und gebe Dir Glück und Segen, und regiere Dein Hertz, daß es nicht
fallen noch irr gehen kann. Das wünſch ich Dir aus getreuem Hertzen.
Noch Eins: Ich verlange eine Nachricht von Dir. Ich will Dir die
Ueberſchrift ſagen, wie Du an mich ſchreiben ſollſt. Weiter kann ich
Dir nicht ſchreiben, als Du ſollſt mir nicht übel nehmen, weil ich ſo
ſ—mäßig geſchrieben hab. Die Nacht iſt mir auf den Halß gekom¬
men, und vor Betrübnus hats nicht ſein können. Du und die Deinige
ſeynd tauſendmahl gegrüßt und in den Schutz Gottes befohlen, und
bleibe Dir getreu bis in den Tod. Joh. Fr. Schwan. — Dieſer Brief
zukomme an Joh. Friedrich Schwahn, Hausknecht bei der Sonne in
Sachſenhauſen bei Frankfort a. M.“


Noch ehe Chriſtine ſich zu dem großen Unternehmen entſchließen
konnte, einen Brief von der Fils nach dem Main zu ſchreiben, der
doch auch die Poſtgebür durch ſeine Länge rechtfertigen mußte, oder
ehe ſie vielleicht den Unmuth ganz überwunden hatte, den ihr ohne
Zweifel das fortgeſetzte Mißtrauen in ihre Treue verurſachte, ſchickte
er einen zweiten Brief, zwar kürzer als der erſte, aber dafür um ſo
zärtlicher und leidenſchaftlicher, auch obendrein von einem Geſchenke
begleitet, aus welchem ſie bei einigem Nachdenken ſchließen konnte, daß
er über ihre „Aufführung“ an dem gefürchteten Markttage, den erſt
die nächſte Woche brachte, ſchwerlich ſo unruhig war, als er ſich ge¬
ſtellt hatte, um, freilich nicht eben unter einem feingewählten Vor¬
wande, den bekannten Zuſtand ſeiner Baarſchaft zu verbergen, den er
in ſeinem erſten Briefe einzugeſtehen ſich geſchämt hatte und der ſich
ſeitdem in etwas gebeſſert haben mochte.


In dieſem zweiten Briefe ſchrieb er: „Gottes Segen zum Gruß
und Jeſum zum Beiſtand. Hertzgeliebter Schatz, hertzgeliebte Chriſtina,
[159] ich kann es nicht unterlaſſen, vor lauter Sorgen und Bekümmernus
und Gedanken Dich zu beſchreiben, und ich kann Tag und Nacht nicht
ruhen bis ich eine Antwort von Dir hab. Bitte Dich um Gotteswillen,
ſchreibe Du mir wie es Dir geht und wie es mit Dir ſey. Ich kann
Tag und Nacht nicht ruhen vor lauter Seuftzen und Sorgen. Wann
Du mir etwas zu melden haſt ſo ſchreib mir es gleich, ich will Dich
nicht verlaſſen ſo lang ich leb. Uebrigens ſchick ich Dir hier einen
kleinen Gruß; wann Du mir ſchreiben thuſt, ſo will ich Dir ein Meh¬
reres ſchicken. Ich hab nicht Zeit, Dir mein gantzes, mein gantzes
Hertz zu ſchreiben; ich will Dich berichten wann Du mir wieder ſchreibſt.
Brich, den Brief an Deinen Vater auf. Du biſt tauſendmal grüßt.
Ich verbleibe Dein getreuer Schatz bis in den Tod.“


Der eingelegte Brief an den alten Hirſchbauer, den ſie leſen ſollte,
erhielt Verſicherungen ſeiner unwandelbaren Geſinnung, wie folgt: „An
meinen Vetter Müller. Ich kann nicht unterlaſſen an Euch zu ſchrei¬
ben, weilen Er ſo viele Müh an ſich genommen und unterſchiedliche
Sachen wegen Seiner Tochter Namens Chriſtina mit mir geredt hat:
ſo will ich Ihm redlich ſchreiben wie ichs gegen ihr meine, daß ich
keine Andre mehr begehre als ſie, und ich ſo bald ihrer nicht vergeſſen
kann. Wann es ſeyn kann, wie Er mit mir geredt hat, daß Er mit
dem H. Pfarrer und mit dem Chirurgus reden könnt, daß man uns
zahmen (zuſammen) laſſen will, ſo bin ich gleich reſolvirt ſie zu neh¬
men, denn ſo leicht kann ich Sie nicht laſſen, und Sie mich nicht.
Ich laſſe auch mein Leben eh ich ſie entlaſſen oder verlaſſen will: ſo bitte
ich Ihn nur herzlich, die Chriſtina ein halb Jahr bei Ihm zu behalten.“


Auch der Invalide erhielt einen Brief „in beliebigen Händen zu
eröffnen“, welcher ſeine Zweifel wegen des Verhältniſſes zu Chriſtinen
nicht ſo wohl widerlegen als einfach in folgenden Schlußworten nieder¬
ſchlagen ſollte: „— — So lang ich einen Blutstropfen im Leib hab,
ſo will ich mich ihrer annehmen. Hiemit will ich beſchließen und
ſchließe Euch in die Vorſorg Gottes.“


Der Hirſchbauer ſagte nach dem Empfang ſeines Briefes zu der
glücklichen Chriſtine: Er hat doch ein beſtändiges Gemüth. Ich wollt's
dir ja gern gönnen, daß ihr zuſammen kämet, aber ich beſorg' mich
eben, wenn er ſeinen Vater merken läßt, wie es ihn, um's Herz iſt,
ſo läßt ihn der nicht zurück. Ich will jetzt doch einmal in's Pfarr¬
[160] haus gehen, oder vielleicht noch lieber vorher zum Chirurgus. Ich
weiß nicht, wo ich zuerſt hin ſoll. — Chriſtine wußte es auch nicht.
Ihre Gedanken waren allein darauf gerichtet, wie ſie es angreifen ſolle,
um einen recht großen Brief zu ſchreiben, mit dem ihr Schatz zufrie¬
den ſein müßte, obgleich ſie ihn darin für ſeinen unmanierlichen Arg¬
wohn recht heruntermachen wollte. Sie dachte aber, ſie wolle erſt
den Markttag vorübergehen laſſen, um ihm dann ſchreiben zu können,
daß ſie nicht zum Tanze gegangen, ſondern den ganzen Tag und Abend
daheim geblieben ſei.


Der Invalide ſchüttelte zu Friedrich's Betheuerungen hartnäckig
den Kopf und ſagte beim Wein zu der Bäckersfrau: Wenn ſo ein
junger Menſch verliebt iſt, ſo meint er, es gebe in der Welt nichts
als ſeinen Gegenſtand, und wenn er einmal zehn Jahr' und drüber
verheirathet iſt, ſo kann er oft gar nicht begreifen, warum er grad
die genommen hat, da's doch ſo viel Andere gegeben hätte.


Beſtändigkeit iſt doch eine Tugend, erwiderte die Bäckerin. Aber
arg iſt mir's einmal, daß der erſte Funke zu dem Brand in meinem
Haus hat angehen müſſen. Wenn ich das vorausgeſehen hätt', ſo
hätt' ich mich lieber ohne mein Dötle beholfen, und dann wär' ſie
ihm vielleicht in Jahr und Tag nicht vor's Aug' kommen. Mir
ſchwant's, das Ding geht zu keinem guten End'.


Wider das Schickſal iſt kein Kraut gewachſen, verſetzte der In¬
valide. Das iſt im Leben wie in der Schlacht: an Einem fährt's
vorüber, und den Andern trifft's.


Es kamen noch weitere Briefe von Friedrich, die ſich alle um ei¬
nen und denſelben Angelpunkt drehten. Von ſeinem eignen Ergehen ſchrieb
er kein Wort, auch nicht von dem, was er im fremden Lande zu ſe¬
hen und zu hören bekam. Dagegen zeigten ſeine Briefe die Merk¬
würdigkeit, daß er fortwährend mit der Jahrszahl auf geſpanntem
Fuße ſtand. Seine Hand ſchien einen unbezwinglichen Widerwillen
gegen dieſelbe zu empfinden. In allen dieſen Briefen hatte er immer
zuerſt die falſche Zahl hingeſchrieben, dann ausgeſtrichen und die rich¬
tige darübergeſetzt; in einem war ſogar das falſche Datum unbe¬
ſichtigt ſtehen geblieben. Allerdings ein unerheblicher Umſtand für
ein Mädchen, das kein andres Datum kannte als „dieſen Tag,“ an
welchem ſie ihrem Liebſten ſchrieb.


[161]

15.

Chriſtinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater
hatte den Weg zum Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht ge¬
funden, da verbreitete ſich eines Tags im Flecken das Geſchrei, des
Sonnenwirths Frieder ſei wieder da oder wenigſtens im Anzuge be¬
griffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit ſelbſt zu dem
entlegenen Hauſe des Hirſchbauers, und einer von Chriſtinens Brü¬
dern machte ſich ſogleich auf, um Kundſchaft einzuziehen. Es verhielt
ſich wirklich ſo, wie das Gerücht ſagte. Ein Fuhrmann, der in der
Sonne einkehrte, hatte den Erben derſelben unterwegs, und zwar in
ziemlich abgeriſſenem Zuſtande, angetroffen; zur Beſtätigung, daß er
die Wahrheit ſage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer
mitgegeben hatte, um es an denjenigen ſeiner beiden Schwäger, zu
welchem er noch das meiſte Vertrauen hatte, zu beſtellen. Es ging
ſo eben ſehr lebhaft in der Sonne zu, weshalb die Neuigkeit wie ein
Lauffeuer ſich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den
Frieder aufſitzen heißen; derſelbe habe ſich aber geweigert, da er nicht
nach Hauſe kommen wolle, bis er wiſſe wie er aufgenommen werde.
Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinüber
trug. Dieſer ließ nach einer Weile dem Sonnenwirth ſagen, es ſei
endlich Nachricht von ſeinem Sohne da; wenn der Herr Vater aufge¬
legt ſei, ſie zu hören, ſo wolle er mit dem Briefe herüberkommen.
Der Sonnenwirth antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll
zu thun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen ſei auch
ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.


Auf den andern Tag wurde in der Sonne ein Familienrath zu¬
ſammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief ſeines jungen Schwa¬
gers vorlas. Derſelbe lautete gleich Eingangs ſo über alle Maßen
niedergeſchlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirthin einmal über
das andre in ein triumphirendes Gelächter ausbrach. „Geliebter
Schwager“, las der Chirurg, „ich weiß mir nicht mehr zu helfen, ſo
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 11[162] will ich Ihn um Gottes Willen gebeten haben, mir einen Rath zu
ertheilen, dann ich laufe in der Irr, als wie ein verlornes Schaf; ſo
rufe ich zu Gott, er möchte mir einen Hirten ſenden, der mich wieder
auf den rechten Weg bringen ſollte. Meine Reiſe iſt nicht beſtanden,
wie ich geglaubt hab: mein Herr Vetter hat des Gerichtsſchreibers
Sohn von Boll zum Knecht, und hat ihn nicht fortſchicken können,
weil er auch ein Freund von ihm ſei. So bin ich dieſesmal in mich
ſelber gangen, und mußt erſt erkennen was ich bei meinem Vater vor
gute Tag gehabt hab und ihm nicht gefolgt, ſo bitt ich nur noch dieſes¬
mal zu helfen und mich nicht zu verlaſſen. Meine Eine Bitt an die
Meinen iſt, mir nur noch ſo viel zu helfen, daß ich nur einer von
ſeinen Taglöhnern ſein möchte. Ich werde gewiß meinem Vater in
allen Stücken gehorſam ſein; wann ich es nicht thue und ihm im Ge¬
ringſten was anſtelle, ſo ſprich ich das Urtel wider mich und ſchreibe
meine eignige Hand unter, daß ich auf den ewigen Arreſt ſoll geſetzt
werden. Ich weiß wohl, ich hab es gegen den Herrn Schwager nicht
verdient, weil ich Ihn ſchon in vielen Stücken erzürnt und beleidiget
hab, es iſt mir aber herzlich leid, es wird inskünftige nicht mehr ge¬
ſchehen. So mein ich nun ob der Schwager nicht eine Bitte vor
mich bei dem Herrn Amtmann thun möchte. Man redt wider mich
in Eberſpbach, es ſollte einen Heiden erbarmen über ſolche Reden: ich
ſoll geſagt haben, ich wolle alle Häuſer in Brand ſtecken und den
und jenen todt ſtechen. Mein Hertze hat noch niemal daran gedacht.
Geliebter Herr Schwager, ich gedenke auch noch an Gott, und gedenke
bei mir ſelbſt, ich möcht hinkommen wo ich wollt, und Gott möchte
mich auf das Krankenbette legen, ich gewiß mein Vaterland durch ſolche
Streich nicht verſchertzen will. So bitte ich den Schwager mich auf
dieſesmal nicht zu verlaſſen und mir einen Rad zu geben und zu
helfen“ —


„Rad“ ſchreibt er, unterbrach ſich der Chirurg im Leſen: er kann
doch ſonſt beſſer ſchreiben und hat das Wort weiter oben auch richtig
geſchrieben.


Seine Hand weiß mehr als er und hat das Rechte troffen, be¬
merkte die Sonnenwirthin: der Weg, den er geht, führt wohl noch zu
Galgen und Rad.


Iſt der Brief aus? fragte der Sonnenwirth.


[163]

„Ich hab das Vertrauen zu Ihm“, fuhr der Vorleſer fort, „und
glaub in meinem Herzen, daß Er des Herrn Amtmanns ſein Hertze
am beſten erweichen kann. Mein Vater ſchickt einen Knecht fort auf
Faſtnacht; er erbarmet ſich meiner gewiß und nimmt mich wieder an,
wann ich befreit bin von dem Herrn Amtmann. Ich hab nicht längere
Weil gehabt; wann ich mich ſehen darf laſſen, ſo will ich mündlich
mit Ihm reden. Er iſt von mir viel tauſendmal gegrüßt und ſchließe
Ihn in die Vorſorg Gottes. Sein getreuer Schwager bis in den
Tod.“


Es muß ein wenig confus in ſeinem Kopf hergehen, fügte der
Chirurg hinzu, denn er lebt mit dem Datum noch im vorigen Jahr.


Er kann eben in gar nichts ordentlich ſein, bemerkte die Sonnen¬
wirthin.


Jetzt, was iſt zu thun? fragte der Chirurg.


Der Krämer, der nicht wieder die Mißgriffe von neulich begehen
wollte, half ſich mit Achſelzucken, Händereiben und Lächeln nach allen
Seiten hin.


Die Sonnenwirthin ſagte: Entweder iſt er der Landſtreicherei ob¬
gelegen, hat ſein Geld verthan und iſt gar nicht bei dem Vetter ge¬
weſen, oder hat er drunten gleich zum Einſtand ſchlechte Streich' ge¬
macht und iſt wieder fortgejagt worden. Wenn ſein Gewiſſen gut
wär', that' er nicht ſo erbärmlich und ſo unterthänig ſchreiben. Das
iſt ſonſt ſein' Sach' nicht.


So viel iſt richtig, ſagte der Sonnenwirth nach einigem Nachden¬
ken, daß der Gerichtsſchreiber in Boll drüben einen Sohn in die
Fremde geſchickt hat, und das erſt ganz kürzlich, denn ich hab's erſt
vor ein paar Tagen gehört, nur hab ich nicht ſagen hören wohin.
Weil er aber allerdings zu unſrer Gefreundtſchaft gehört und mein
Bruder in Sachſenhauſen alſo auch ein Vetter von ihm iſt, ſo iſt's
wohl möglich, daß er ihn dorthin gethan hat; denn ſeine Buben ſind
dickköpfig und haben wenig Beruf für die Schreiberei.


Es kommt natürlich Alles darauf an, ob die Angabe wahr iſt,
bemerkte der Chirurg.


Wenn's wahr iſt, ſagte der Sonnenwirth, ſo müſſen die Beiden
ſchier mit einander bei meinem Bruder drunten angekommen ſein.


Man muß eben hinunter ſchreiben, meinte Magdalene.


11 *[164]

Ja, aber was fangt man derweil mit dem Buben an, bis Ant¬
wort kommt? fragte die Krämerin. In Plochingen, von wo er ſchreibt,
kann man ihn doch nicht liegen laſſen, daß er dort eine rechte Zech'
hinmacht.


Und wenn man ihn ohne Weiters wieder in's Haus nimmt, ſagte
die Sonnenwirthin, ſo ſetzt er ſich feſt und fangt das alt' Lied wieder
an, und iſt dann nicht mehr fortzubringen, wenn's auch zehnmal von
Sachſenhauſen kommt, daß all ſein Vorgeben verlogen ſei.


In dieſem Augenblicke hörte man ein Poſthorn und gleich darauf
den Knall einer Peitſche. Der Poſtreiter hält vor'm Haus, der Haus¬
knecht ſoll ihm das Pferd halten, ſagte der Sonnenwirth, der an's
Fenſter getreten war. Es freute ihn jedesmal, wenn Briefe für den
Flecken in der Sonne abgegeben wurden oder wenn Poſtpferde zur
Einkehr genöthigt waren, weil er den Beweis darauf zu gründen hoffte,
daß eine Zwiſchenpoſt hier errichtet werden ſollte. Nach einer Weile
kam der Poſtknecht herein und überreichte ihm einen Brief: „An Herrn
Herrn Hans Jerg Schwan zur löblichen Sonne in Eberſpbach“. Der
Sonnenwirth befahl einen Schoppen und las den Brief bedächtig, wäh¬
rend jener den Wein ſtehend trank; denn in ſeinen hohen ſteifen Stie¬
feln würde ihm das Sitzen eine Arbeit gekoſtet haben, die ſich für
einen kurzen Aufenthalt nicht verlohnte.


Der Sonnenwirth hatte den Brief erſt zu Ende geleſen, als der
Poſtknecht ſchon wieder zu Pferde ſaß und blaſend gen Göppingen
weiter ritt. Der Bub' hat nicht gelogen, ſagte er, es verhält ſich
vielmehr Alles ſo wie er behauptet. Mein Bruder ſchreibt mir da,
er hätt' ihn gern behalten, aber er habe dem Gerichtsſchreiber in Boll
für deſſen Sohn bereits zugeſagt gehabt. Als Gaſt wär' er ihm will¬
kommen geweſen, ſo lang er hätte bleiben mögen, auch habe Alles im
Haus den Vetter gern gehabt; der aber habe ſich nicht halten laſſen,
ſondern ſei nach etlichen Tagen wieder fort.


Und hat ſich Gott weiß wie lang in der Welt herumtrieben, ſagte
die Sonnenwirthin.


Nicht gar lang, dem Datum nach, entgegnete der Chirurg, dem
der Sonnenwirth den Brief hingereicht hatte.


Es iſt zwar dumm von dem Buben, verſetzte der Sonnenwirth,
daß er auf die Einladung nicht länger blieben iſt; man hätt' ſich
[165] unterdeſſen für ihn umſehen und ihn anderswo unterbringen können.
Aber verdenken kann ich's ihm doch grad auch nicht, daß er ſeinen
Verwandten nicht als unnützer Brodeſſer hat hinliegen wollen, nach¬
dem man ihn nicht zum Schaffen angenommen hat.


Ja, bemerkte Magdalene, das Sprichwort ſagt: Zwei Tag' ein
Gaſt, den dritten ein Ueberlaſt.


Von ſeiner Liebſchaft ſchreibt er gar nichts, ſagte die Sonnen¬
wirthin. So viel gute Wörtlein er ſonſt gibt, ſo ſpricht er doch nicht
mit einer Silbe davon, daß er in dem Stück nachgeben wolle.


Er ſchreibt aber, er wolle in allen Stücken gehorſam ſein und
nicht das Geringſte mehr anſtellen, entgegnete der Chirurgus. Man
kann ihn alſo beim Wort nehmen und ihm beweiſen, daß er auch das
verſprochen habe.


Recht degenmäßig ſchreibt er, das muß man ſagen, bemerkte die
Krämerin. Ich hätt' gar nicht glaubt, daß der Strobelkopf, der ſtör¬
rig', ſo mürb' werden könnt'.


Der hat ſich in der Fremde die Hörner verſtoßen, ſagte der Son¬
nenwirth behaglich lachend: das ſieht man jedem Wort an, das er
ſchreibt. Jetzt weiß er nimmer wo aus und wo ein. Ja, ja, es iſt
eben ein ganz ander's Leben da drunten, als bei uns. Die Leut'
ſind dort viel alerter und aufgeweckter, und wenn auch bei Manchem
nicht viel dahinter iſt, ſo iſt's eben doch Unſer einem, wie wenn er
der Garnichts dagegen wär'.


Das glaub' ich, ſagte der Chirurg, das kann ſolch einem trotzigen,
ſtutzigen Schwabenkopf ſpaniſch vorkommen.


Ich bin ja ſelbſt auch ſchon drunten geweſen, fuhr der Sonnen¬
wirth fort. Ja was! Bis Unſereiner ſich nur beſinnt, was er ſagen
ſoll, haben die dem Teufel ein Ohr weggeſchwätzt. Es mag ſein,
daß wir im Schreiben und ſonſt in mancherlei Solidität mehr ſind als
ſie, wenigſtens gibt man ſich bei uns in der Schul' mehr Müh', aber
nachher müſſen wir ihnen weit nachſtehen, ſie ſind viel zu geſchwind für
uns. Mein Sohn iſt gewiß keiner von den Langſamen im Geiſt,
aber ich ſteh' dafür, und kann ganz in's Feuer ſehen, daß ſie ihm
gleich über den Kopf gewachſen ſind. Und dann machen ſie gar keine
Umſtänd', wie man's bei uns macht. Sie ſind eigentlich doch auch
wieder fadengrad wie wir, und noch mehr als wir. Bei uns, da thut
[166] man einen Beſuch jeden Tag, den er da iſt, gleichſam mit dem Seil¬
ſtumpen anbinden, damit er ja ſieht, daß man ihn nicht fortlaſſen
will. Mein Bruder aber, der gar kein Schwab' mehr iſt und in dem
Klima ganz die Art angenommen hat, wie die Andern auch ſind, der
hat wahrſcheinlich ein einzigsmal geſagt: Du biſt willkommen, Vetter,
und bleib' ſo lang du magſt; und dann hat der Bub' natürlich bald
gemeint, man ſei ſeiner überdrüſſig, weil man's ihm nicht zehn und
zwanzigmal geſagt hat. Es hätt' aber nichts zu ſagen gehabt, denn
wenn ſie Einen los werden wollen, ſo wiſſen ſie ſchon den Schnabel
aufzuthun. Nun, jetzt hat er auf einmal einſehen gelernt, daß die
Welt größer iſt als ſein Kopf, und kommt aus der Fremde wie der
Schneck, wenn er die Hörner einzieht und wieder in ſein Haus zu¬
rückgeht.


Der Herr Vater iſt alſo der Meinung ihn wieder anzunehmen?
fragte der Chirurg.


Was bleibt ſonſt übrig? antwortete der Sonnenwirth. Ich wüßt'
nicht, wo ich ihn in der Geſchwindigkeit hinſchicken ſollt'.


Dann kann er gleich den alten Tanz wieder anfangen, ſagte die
Sonnenwirthin.


Dafür kann man ihm thun, entgegnete er. Eh' er nicht aus¬
drücklich verſprochen hat, daß er ſich mit der Perſon weder mündlich
noch ſchriftlich mehr einlaſſen will, kommt er mir nicht in's Haus.


Ich will ihm das nach Plochingen ſchreiben, erbot ſich der Chirurg.


Braucht nichts zu ſchreiben, verſetzte der Sonnenwirth. Zuerſt
muß man ja doch mit dem Amtmann reden, daß der ſeiner Heimkunft
keine Schwierigkeit in Weg legt, nachdem er nun einmal die Hand in
der Sach' hat. Dann iſt's überhaupt beſſer, man gibt dem Buben
gar keine Antwort und läßt ihn zappeln, er wird dadurch nur um
ſo mürber.


Wart', du wirſt eine ſchöne Rechnung vom Plochinger Bärenwirth
kriegen, lachte die Sonnenwirthin.


Ich hab' ihn nicht heißen in den Plochinger Bären hinliegen.


Irgendwo muß er aber doch ſein, bemerkte die Frau des Chirurgen
ſchüchtern.


Warum iſt er nicht gleich hieher gekommen? entgegnete der Sonnen¬
wirth. Wenn ich ihn auch nicht ohne Weiter's angenommen hätt',
[167] ſo hätt' man doch dafür ſorgen können daß er eine Weile wo unter¬
kommen wär'.


Mir ſcheint's auch das Nöthigſte, daß man ſich zuerſt mit dem
Amt verſtändigt, ſagte der Chirurg. Das Uebrige wird ſich finden.
Er hat Verwandte hier und in der Gegend, und wird nicht im Bären
bleiben, denn er weiß, daß das den Herrn Vater verdrießen muß.


Wenn nur auch der Herr Amtmann ſeinen Conſens gibt, bemerkte
der Krämer, der die Nothwendigkeit fühlte, im Familienrath endlich
etwas, das einer eigenen Meinung glich, zu äußern.


Es liegt ja nichts Sonderlichs wider ihn vor, verſetzte der Son¬
nenwirth.


Wenn's dem Herrn Vater geliebt, ſagte der Chirurg, ſo bin ich
erbötig in's, Amthaus mitzugehen. Ich muß nur erſt einen andern
Kittel anziehen, damit ich ein wenig amtsmäßiger ausſehe.


Ja, wir wollen die Sach' lieber gleich abmachen, erwiderte der
Sonnenwirth.


Als der Chirurg mit ſeiner Frau nach Hauſe ging, um ſich „amts¬
mäßig“ anzuziehen, ſagte dieſe zu ihm: Wenn du nichts dagegen haſt,
ſo will ich meinem Bruder nach Plochingen ſchreiben, will ihm auch
etwas Geld ſchicken, daß er ſeine Rechnung dort zahlen kann, und
will ihn nach Hattenhofen hinüber zum Vetter gehen heißen; der be¬
hält ihn ſchon etliche Zeit, und dort iſt er auch mehr abſeits, daß
ihn nicht ſo viele Menſchen ſehen.


Thu das meinetwegen, ſagte ihr Mann.


Die beiden Männer gingen in's Amthaus und trugen dem Amt¬
mann ihr Anliegen vor. Derſelbe machte ein bedenkliches Geſicht und
ſagte: Ich hätte rebus sic stantibus nichts Erhebliches dagegen einzu¬
wenden, daß der halb und halb exilirte junge Menſch, ſelbſtverſtänd¬
lich unter der Bedingung künftigen Wohlverhaltens und radical ge¬
beſſerter Aufführung, wie auch völliger Vermeidung aller Turbulenzen
und Extravaganzen, aus dem Quaſi-Exil in ſein elterliches Haus zu¬
rückkehre; allein da ich nun einmal über ſeine Entlaſſung an das
Oberamt berichtet habe, ſo habe ich auch über ſeine Wiederannahme
die amtliche Entſcheidung nicht mehr in der Hand. Ich will jedoch
an den Herrn Vogt in Göppingen ſchreiben und wohldemſelben vor¬
ſtellen, daß der junge Menſch gleichſam als verlorner Sohn und reuiger
[168] Sünder unter die ihm von Gott verordnete Autorität ſich wieder zu¬
rückfügen wolle. Vielleicht dürfen wir uns eines günſtigen Beſcheides
verſehen. Sobald ſolcher an mich herabgelangt, werde nicht ermangeln
davon Meldung zu erlaſſen.


Nach einigen Tagen kam der Amtsknecht, um den Sonnenwirth
zum Amtmann zu berufen. Der Sonnenwirth ſchickte nach ſeinem
Beiſtand. Der Schwager hat ſchon wieder geſchrieben, ſagte dieſer,
als ſie mit einander nach dem Amthauſe gingen. Diesmal ſchreibt er
aus Hattenhofen, wohin er von Plochingen gegangen iſt.


Ich hab' mir's wohl gedacht, daß er ſich's nicht getrauen wird,
zu Plochingen im Wirthshaus liegen zu bleiben, verſetzte der Sonnen¬
wirth lächelnd. Was ſchreibt er denn?


Er ſchreibt beinahe noch lamentabler als das letztemal. Uebrigens
ſcheinen ihm unterm Warten curioſe Gedanken aufgeſtiegen zu ſein
und er traut dem Landfrieden nicht recht; denn er ſchreibt im Ver¬
lauf des Briefes: „Ich glaube, der Herr Schwager wird mich nicht
nur herzulocken, damit ich möchte in Arreſt geſetzt werden, ſondern der
Herr Schwager hat's noch jederzeit redlich und getreu mit mir ge¬
meint.“


Der Sonnenwirth lachte äußerſt behaglich. Er hat Angſt, ſagte
er, und da wird, hoff' ich, auch die Zucht Eingang bei ihm finden.


Gott geb's, erwiderte der Chirurg. Diesmal hat er auch das Da¬
tum richtig geſchrieben; vielleicht iſt das ein Omen, daß er auch ſonſt
wieder in die Ordnung kommen wird.


Gott geb's, ſagte der Sonnenwirth.


Nun, Sein Gutedel iſt ja wieder da, Herr Sonnenwirth, begann
die Amtmännin, welche diesmal zugegen war, mit ſaurem Geſicht.
Der hat nicht lang' gut gethan.


Es iſt bei meinem Bruder kein Platz für ihn geweſen, mit Ihrem
Wohlnehmen, Frau Amtmännin. Der hat einen halbſtudirten Haus¬
knecht angenommen. Will auch ſehen, was da noch draus wird.
Aber was will ich jetzt machen? Es iſt doch mein eigen Fleiſch und
Blut, das ich nicht in der Irre laufen laſſen kann. Ich nehm' ihn
aber nicht eher an, als bis er verſprochen hat, daß er die unverſtän¬
dige Liebſchaft aufgeben will.


Meinetwegen, ſagte die Amtmännin. Aber mir ſoll der Grobian
[169] nicht wieder in's Haus kommen, ich will mir keine Unverſchämtheiten
mehr von ihm machen laſſen, und wenn ich nicht eine Wäſche gehabt
hätte an dem Tag, wo mein Mann nach Göppingen ſchrieb, ſo wäre
die Sache vielleicht nicht ſo ſchnell gegangen.


Der Sonnenwirth verlor einen guten Theil ſeiner Behaglichkeit
beim Anblick dieſer fortdauernden Ungnade der Amtmännin gegen ſei¬
nen Sohn, obgleich er die Urſache dieſes Grolls in ſeinem Herzen
gebilligt hatte.


Die Antwort vom Herrn Vogt iſt angekommen, ſagte der Amt¬
mann, der dieſelbe als eine Art Schutzwaffe gegen ſeine Frau betrach¬
ten mochte. Er nahm den Brief zur Hand, entfaltete ihn langſam,
räuſperte ſich mit Wichtigkeit, und las, während der Sonnenwirth und
ſein Schwiegerſohn eine ehrerbietige Haltung annahmen, mit nachdrück¬
licher Betonung, wie folgt: „Wohledler, inſonders vielgeehrter Herr
Amtmann. Weilen mit einem jungen Menſchen ich jedesmal viel
lieber überflüſſige Geduld haben als mit der äußerſten Strenge für¬
gehen will, ſo lang noch Hoffnung vorhanden ſein kann, es werde ei¬
ner in ſich gehen, mithin in beſſere Wege und ſo obrigkeitlichen als
väterlichen Gehorſam zurücktreten: ſo will ich nicht darwider ſein, daß
den jungen Schwahnen ſein Vater wieder auf- und annehme. Es iſt
aber Jenem mit allem Ernſt zu bedeuten, daß, ſo der geringſte neue
Fehltritt wider ihn werde herauskommen, man ſolchenfalls Alt- und
Neues zuſammennehmen und wider ihn mit aller Schärfe verfahren
werde. Ich verharre damit unter göttlichen Schutzes Erlaſſung des
Herrn Amtmanns dienſtwilligſter“ et cetera. Alſo wonach ſich zu
achten! fügte der Amtmann der Vorleſung bei. Da nun meine Frau
Seinen Sohn nicht gern im Hauſe ſieht, ſo will ich's unterlaſſen
Solchen zu citiren, muß aber dem Herrn Sonnenwirth die Verpflich¬
tung aufgeben, Selbigem auf's ernſtlichſte einzuſchärfen, unter welcher
Bedingung einzig und allein ihn wieder zu admittiren beſchloſſen wor¬
den iſt, und daß ich bei dem geringfügigſten neuen Vorfall unverweilt
gegen ihn einzuſchreiten mich bemüßigt ſehen würde.


Der Sonnenwirth verſprach ſeinem Sohn das Nöthige zu ſagen,
ſowie auch dafür zu ſorgen, daß er das Amthaus meide, es wäre
denn, daß er beſonders vom Herrn Amtmann vorgeladen würde. Der
Amtmann pries die Milde und Menſchenfreundlichkeit des Vogts, wobei
[170] die Amtmännin einfließen ließ, die gutmüthigſten Menſchen ſeien ge¬
meiniglich diejenigen, die ſich nicht gern viel zu ſchaffen machen. Hier¬
auf hielt der Chirurg in redneriſcher Unterſtützung des Sonnenwirths
eine lange und wohlgeſetzte Dankſagung für die große Mühewaltung,
welche der Herr Amtmann auf ſich zu nehmen die Güte gehabt. Die
Amtmännin ermahnte den Sonnenwirth, künftig den Stab Wehe zu ge¬
brauchen, damit man von ſeinem Früchtlein nicht noch mehr Mühe habe.
Der Sonnenwirth verſprach das Beſte und die beiden Männer empfah¬
len ſich in Unterwürfigkeit.


So, ſchon Alles im Reinen? ſagte die Sonnenwirthin, als ſie
Bericht über ihren Gang erſtatteten. Nun ja, da kann man jetzt gleich
den Verſpruch mit der Jungfer Hirſchbäurin folgen laſſen.


Das hat gute Weg', entgegnete der Sonnenwirth. Wie ich ge¬
ſagt hab', dabei bleibt's. Wenn der Bub' wieder mein Haus betreten
will, ſo muß er zuerſt heilig verſprechen, daß er weder mündlich noch
ſchriftlich mehr etwas mit ihr zu ſchaffen haben will.


Soll ich nach Hattenhofen ſchreiben? fragte der Chirurg.


Wie wär's denn? ſagte die Sonnenwirthin, die ihm zum Schaber¬
nack wenigſtens eine kleine Ungemächlichkeit aufladen wollte. Der
Herr Sohn hat ja heut ſeinen Schabes nicht. Wie wär's, wenn Er
des Schuhmachers Rappen vorſpannen thät' und thät' ſich ſelber nach
Hattenhofen auf den Weg machen? Er kann's ja doch nicht erwarten,
bis Er Sein räudig's Schaf wieder in der Cur hat. Uebrigens den¬
ket an mich, ihr Beide: ſo lang man ſingt, iſt die Kirch' nicht aus.
Ihr werdet's noch erleben, daß ich Recht behalt'.


Ich hab' ohnehin ein Geſchäft draußen, erwiderte der Chirurg, der
ihr die Befriedigung nicht gönnte, daß er bloß auf ihre Veranlaſſung
einen Weg von ein paar Stunden machen ſollte. Ich muß eine Weibs¬
perſon dort ſchneiden, die ein Geſchwür im Munde hat. Für böſe
Mäuler gibt's kein probateres Mittel, als unſre Inſtrumente.


Der Sonnenwirth lachte und nahm ſein Erbieten an, perſönlich
mit dem Flüchtling zu reden, ihm förmlich das von dem Vater aus¬
bedungene Verſprechen abzunehmen und ihn dann gleich aus ſeinem
Zufluchtsorte mitzubringen.


Du biſt doch recht brav, ſagte ſeine Frau zu ihm, als er ſich zu
[171] Hauſe anſchickte über Feld zu gehen. Sieh, es freut mich von gan¬
zem Herzen, wie gut du gegen meinen Bruder biſt.


Quod medicamenta non sanant —, murmelte der Chirurg vor
ſich hin und hielt wieder inne. Dann wandte er ſich zu ſeiner Frau:
So lang man ſingt, iſt die Kirche nicht aus, hat deine Mutter geſagt,
und mir hat ein Vögelein gepfiffen, ſie werde wohl Recht haben.
Zwar, wenn dein Bruder jetzt Vernunft annimmt, ſo will ich ihm
alles Gute gönnen, und will gerne dazu geholfen haben. Aber die
Kugel, die bergab geht, rollt gemeiniglich ſo fort ohne Aufenthalt.
Ohnehin, wenn dein Vater heut ſtirbt, ſo nimmt er morgen ſein
Bauernmenſch. Meinſt du, du würdeſt nicht beſſer zu einer Sonnen¬
wirthin taugen? Und ſollt' ich zum Wirthſchaften nicht ſo gut Geſchick
haben als zum Raſiren? Deine Mutter iſt ſo giftig und höhniſch,
daß ſie meinen Raſirtag meinen Schabes heißt. Ei, mir ſtände es
gar wohl an, einen Ruhetag aus ihm zu machen, wenigſtens was das
Bartſchaben betrifft.


Er ging, und Magdalene ſah ihm ſeufzend nach. Dieſer Seufzer
mochte wohl Mancherlei zu bedeuten haben.

16.

Kaum war es am nächſten Tage Abend geworden, als im Bäcker¬
hauſe Jemand eilfertig in die Stube herein ſchlüpfte. Die Bäckerin
war allein; ſie ſaß im Großvaterſtuhle und hatte die Hände ſchlaff
in den Schoß gelegt. Sie blickte den Eintretenden ſcharf durch die
Dämmerung an. Wer iſt's? fragte ſie endlich, da ſie ihn nicht er¬
kannte.


Grüß' Gott, Baſ', ſagte eine bekannte Stimme.


Herrjeſes, der Frieder! rief ſie. Was, ſchon wieder aus der Fremde
da? Was iſt denn das? Wie geht denn das zu?


Schrecklich iſt's, erwiderte der Ankömmling, wenn man Alt und
Jung, Kind und Kegel immer auf die nämlich' Frag' Antwort geben
ſoll. Wo ich geh' und ſteh', greift man mich mit Fragen an und
[172] verlangt Rechenſchaft von mir, warum ich ſchon wieder da ſei. Ich
will's Euch nachher Alles haarklein ſagen, aber zuerſt hab' ich eine
Bitt' an Euch. Thut mir die Liebe, Baſ', und gehet, ſo groß und
ſchwer Ihr ſeid, den Abend noch hinaus zum Hirſchbauer und ſaget
einem von der Chriſtine ihren Brüdern, am liebſten dem Jerg, denn
der ander' iſt hinter den Ohren nicht trocken, daß ich nothwendig mit
ihm zu reden hab'. Ich kann mich keinem Menſchen ſonſt anvertrauen
als Euch, denn der Profoß hat's in den Gliedern, heißt das, ſo weit
ſie nicht hölzern ſind.


Ach Friederle, ſeufzte die Frau, ich that's gewiß gern, aber bei
mir iſt's auch mit dem Springen vorbei. Ich kann dem Profoßen
mit ſeinem Gliederweh Geſellſchaft leiſten: ſeit ein paar Tagen weiß
ich, warum ich immer ſo müd bin, ich hab' geſchwollene Füß'.


Wird doch das nicht ſein. Sollen denn meine beſte Freund' in
ſo kurzer Zeit preſthaft werden?


Meine Mutter iſt an der Waſſerſucht geſtorben, ſagte ſie, und ich
weiß jetzt auch was mir blüht. Eure Hochzeit erleb' ich ſchon nicht
mehr; wenn ihr aber zuſammen kommet und vergnügt mit einander
lebet, ſo ſoll mich's noch unterm Boden freuen. Dem Jerg will ich
durch den Beckenbuben entbieten, daß er zu mir herkommt; denn wenn
ich auch die Füß' nicht recht mehr brauchen kann, ſo iſt das Mundſtück
noch gut im Gang. Was ſoll ich ihm denn ausrichten?


Ach, Baſ', Ihr machet mir das Herz ſchwer. Es wird doch ſo
ſchlimm nicht ſein.


Wie Gott will. Wo ſoll ſich der Jerg einfinden?


Man paßt mir auf jedem Schlich auf. Saget meinem Schwager,
und vergeſſet ja nicht, ihn ſo zu heißen, morgen um Verſperzeit oder
etwas ſpäter, wenn der Tag ſich neigt, woll' ich ihn unter den Linden
an der Schießmauer treffen. Den Grund, warum ich nicht zu ihm
in's Haus kommen kann, und alles Andere will ich ihm mündlich
ſagen.


Kann mir's ſchon denken. Es ſoll pünktlich ausgerichtet werden.
Heut Abend muß er noch zu mir kommen.


Hierauf erzählte er ihr, wie ſeine Reiſe abgelaufen und unter wel¬
cher Bedingung er in ſein väterliches Haus zurückgekehrt ſei. Dann
ſprach er ihr von den Vorſätzen, an welchen er gleichwohl in Betreff
[173] ſeiner Liebſten feſthalten werde, unterbrach ſich aber bald mit den
Worten: Ich ſeh' wohl, Ihr habt Ruh' nöthig, und ich darf nicht
lang ausbleiben. Gott tröſt' Euch, Baſ', ich dank' vielmals für die
Freundſchaft, und will bald wieder nach Euch ſehen.


Die beiden Schwäger, wie ſie ſich nannten, begrüßten ſich den
folgenden Abend an dem verabredeten Orte aufs Herzlichſte.— Wir
haben ſchon gewußt, daß du wieder da biſt aus der Welt, ſagte Chri¬
ſtinens Bruder, der nach Bauernart nicht ſogleich den eigentlichen
Zweck der Zuſammenkunft berührte. Das Chriſtinele hat vor Freu¬
den geweint. Jetzt ſag' mir nur auch, wie iſt's dir denn gangen da
draußen?


So ſo, la la, antwortete Friedrich. Die Leut' wären ſchon recht,
aber 's iſt eben Alles ganz anders als bei uns. Da ſchnurrt Jeder¬
mann nur ſo an Einem vorbei und läßt Einem das Nachſehen; und
wenn einer ſo im Vorbeiſchießen was an dich hinwelſcht, — bis dir
eine Antwort eingefallen iſt, iſt der ſchon über alle Berg'. Dann
können ſie doch auch wieder recht geſellſchaftlich ſein, ſonderlich die
in Sachſenhauſen; und wenn ſie dich gern haben, ſo geben ſie dir
die gröbſten Schimpfreden, über die's bei uns zu Mordhändeln käm'.
Bei ihnen aber iſt das aus Freundſchaft gered't, und wenn ſie dich
ein ſchlecht's Luder heißen, ſo iſt das lauter Liebe und Güte. Die in
Frankfort, die auch viel 'rüber kommen ſind, und wir zu ihnen 'nüber,
die ſind feiner, aber ſie hänſeln und föppeln Einen gern, und in ihrer
ſchnellen, ſpitzigen Sprach' kann dir das in die Naſ' fahren wie ein
Pfeil. Wiewohl, ich bin ihnen auch nichts ſchuldig blieben. Einmal
haben ſie mich gefragt, wie man denn im Schwabenland die Holder¬
küchle — Holderküchelche ſagen ſie — macht. Ich hab' aber gleich
gemerkt, daß ſie bloß ihren Spott mit mir treiben wollen, und hab'
ihnen erzählt, man mach' das Feuer und den Teig grad unter dem
Holderbaum an, und zieh' dann einen Zweig um den andern mit dem
Bluſt nur in den Teig 'runter und laſſ' wieder ſchnappen, dann
hängen die Küchelche am Baum, wie wenn ſie dran gewachſen wären.


Jerg lachte unmäßig. Wenn ſie das glaubt haben, ſo müſſen ſie
rechtſchaffen dumm ſein.


Nein, dumm ſind ſie grad nicht. Sie haben eben arg drüber ge¬
lacht. Jetzt wollen wir aber von andern Dingen reden, Jerg, denn
[174] wir ſind hier nicht zuſammen kommen, daß ich dir Späß' vormach',
ſondern mir iſt's Ernſt, und das bitterer. Sieh, ich bin noch ganz
der Nämlich' gegen euch, wie da ich gangen bin, aber die Sach' iſt
ein wenig anders worden. Zuerſt und vor allem andern muß ich dir
ſagen, daß ich der Chriſtine mein Wort halt', der Schein mag ſein
wie er will.


Das kannſt ihr ja ſelber ſagen, Frieder, ſagte Jerg mit ſchlauem
Lächeln.


Nein, Jerg, das iſt's ja eben. Sich, ich will und muß dir's frei
heraus bekennen, daß ich hab' verſprechen müſſen, mit deiner Schweſter
weder mündlich noch ſchriftlich etwas zu haben.


Das iſt freilich ein ander Ding, ſagte Jerg.


Hör' mich vor aus. Wenn ich nichts mehr von ihr wollt', ſo
hätt' ich mir's erſparen können mit dir zu reden; aber darum grad'
hab' ich dich ja hieher beſtellt, denn mit dir iſt mir's nicht verboten.


So red', daß man weiß, wie man mit dir dran iſt.


Sieh, Jerg, wie ich die Stell' bei meinem Vetter beſetzt gefunden
hab', und iſt meines Bleibens nicht geweſen, da iſt mir die Welt auf
einmal vorkommen, wie ein groß Waſſer, in das ich geſtoßen bin und
untergeſunken bis an Hals. Ich hab' auch die Welt erſt kennen
lernen und hab' jetzt eingeſehen, daß es nicht ſo leicht iſt in dem
Waſſer zu ſchwimmen, als ich vorher gemeint hab', und hab' keine
Gelegenheit hinausgelaſſen, mit verſtändigen Leuten drüber zu reden,
die in der Welt herumgekommen ſind. Sieh, überall iſt Alles zünftig,
und da kann man nicht ſo hinein ſitzen wie man will. Das kann
nur der, der ein Geſchäft ererbt oder ſo viel Geld hat, um ſich eins
zu kaufen. Andere ſchlupfen hinein, indem ſie eine Meiſterstochter
oder Wittwe heirathen, und dabei muß man oft ein Aug' zudrucken
und dem Teufel ein Bein brechen, auch oftmals einen krummen Buckel
machen, bis man Allen recht iſt, die ein Wort mitzureden haben, oder
man muß gar zum ſchlechten Kerl werden, ſeinen Eid brechen und
ſeinen Schatz ſitzen laſſen, vielleicht mit dem Kind dazu. Wieder
Andere kommen gar nicht hinein und bringen's ihr Lebtag zu nichts.
Ich hab' glaubt, wenn ich die Chriſtine nachkommen ließ' und thät'
ihr einen Dienſt verſchaffen, ſo könnten wir, jedes in ſeinem Dienſt,
nach und nach einiges erübrigen und einander zuletzt heirathen. Aber
[175] Kutz Mulle, blaſ' Gerſten, da könnten wir dienen und ledig bleiben
unſer Leben lang. Ja, wenn mein Vetter mich hätt' bei ſich behalten
können und hätt' mich vielleicht lieb gewonnen, der hätt' mich auf die
ein' oder ander' Art verſorgen können, ſo daß ich gar nicht mehr zu¬
rückgekommen wär' und die Chriſtine auswärts geheirathet hätt'. So
aber iſt das nichts geweſen, und ich bin auf einmal rath- und hilflos
dageſtanden in der weiten Welt. Mein Vetter hat mich zwar liebreich
gehalten und hat mich heißen als Gaſt bleiben; aber ich bin mir
eben fremd vorkommen und hab' ihm nicht in die Länge beſchwerlich
ſein wollen. Ich ſag' dir, Jerg, ich bin dir ganz verzagt geweſen
und hab' nicht mehr gewußt, wo aus noch wo ein, grad' wie ein Kind,
das aus ſeinem Bett gefallen iſt und tappt in der Nacht herum und
kommt nicht mehr zurecht, oder wie Einer, der das Waſſer am Kinn
ſpürt und keinen Boden unter den Füßen mehr, und in der Angſt
nach einem Strohhalm langt. Du magſt vielleicht denken, ich hätt'
doch verſuchen ſollen, anderswo in der Fremde in einem Dienſt unter¬
zukommen. Aber ich hab' kein Glück; das hab' ich gleich geſehen,
wie's bei meinem Vetter nichts geweſen iſt. Und wenn ich bei frem¬
den Leuten in Dienſt gangen wär', ſo hätt' ich damit eine große
Scheidewand zwiſchen mir und meinem Vater aufgerichtet und hätt'
ihm gezeigt, daß ich ihm Trotz bieten will; wenn mir's nachher in
der Welt nicht geglückt wär', wie's wahrſcheinlich iſt, ſo wär' mir die
Heimath zugeſchloſſen geweſen und ich hätt' der Chriſtine zweimal
nicht Wort halten können, was mir doch die Hauptſach' iſt. Auch iſt
mir's durch den Kopf gefahren, beweiſen kann ich's freilich nicht, daß
des Gerichtsſchreibers Sohn von Boll, der mich bei meinem Vetter
verdrängt hat, weil er ſchon vor mir Anwartſchaft gehabt hab', daß
der vielleicht meinem Vetter einen Floh in's Ohr geſetzt hat —


Er ſtockte. Von wegen deiner Liebſchaft? meinte Jerg.


Nein, ſagte Friedrich und ließ die Stimme ſinken: er hat's ihm
vielleicht geſteckt, ich ſei nicht ganz hautrein und ſei ſchon in Ludwigs¬
burg geweſen.


Das wär' aber lüderlich, das wär' ſchlecht! ſagte Jerg.


Ich trau' ſo einem Schreibersſöhnle nicht viel Gut's zu; er hat
vielleicht beſorgt, ich könnt' ihm doch vielleicht noch den Rang ablaufen,
und das wär' auch keine Kunſt für mich geweſen. Kurzum, ich bin
[176] auf einmal wie an der Welt End' geſtanden, wo ſie mit Brettern
vernagelt iſt, und hab' mir ſagen müſſen, daß da eben nichts übrig
bleibt, als umkehren und gute Wort' geben. Wie ich dann vollends
bedacht hab', was das einen Spott und ein Gelächter geben wird,
wenn ich ſchon wieder komm', und hab's doch nicht anders machen
können, wenn ich nicht alle Brücken zwiſchen mir und meinem Schatz
hab' abwerfen wollen, da iſt mir der Muth ganz und gar geſunken
und hab' nichts mehr vor Augen geſehen, als daß ich eben jetzt alle
Schmach muß auf mich nehmen und zu Kreuz kriechen. Herr Gott,
wie ich noch ein Bub' geweſen bin und hab' Schläg' kriegt, da hab'
ich nicht gemuxt und hab' ſagen können: ich will noch mehr! daß
mein Vater ſchier verzweifelt iſt. Und jetzt, wo ich groß bin, hab'
ich dir Brief' nach Haus geſchrieben — Brief' — ich ſag' dir, Jerg,
der jämmerlichſt' Bettler ſchreibt nicht erbärmlicher und demüthiger.
Aber ich hab' eben gar nichts anders mehr gewußt, und — die Hei¬
math iſt halt doch das Beſt' in der Welt. Doch hab' ich bloß Ge¬
horſam verſprochen. Aber das hat mich nichts genutzt. Wie man
einmal geſehen hat, daß ich gehörig mürb' bin, und das iſt kein Wun¬
der, denn ich hab' den Amtmann auch noch auf'm Hals gehabt, da
hat man mich noch weiter trieben. Ich bin nicht eher angenommen
worden, als bis ich buchſtäblich verſprochen hab' — ich hab' dir's ja
ſchon geſagt und will's nicht wiederholen.


Und was ſoll ich ihr jetzt ſagen? fragte Jerg.


Was ich meinem Vater verſprochen hab', das halt' ich ihm, aber
ich halt' auch, was ich deiner Schweſter verſprochen hab', und das
geht vor, denn es iſt ein älteres Verſprechen. Auch hab' ich keines¬
wegs geſchworen, daß ich ſie in alle Ewigkeit nicht mehr ſehen, noch
ihr ſchreiben wolle, und noch weniger hab' ich geſagt, ich wolle mein
Herz von ihr abziehen und ihr mein Wort brechen. Zwiſchen uns
bleibt Alles im alten Recht. Sag' ihr nur, ſie ſolle etliche Zeit Ge¬
duld haben, wie ich mich auch gedulden muß. Ich muß erſt wieder
feſten Boden unter den Füßen haben, damit ich in Ruh' ſehen kann,
wie Has lauft, und kann Zeit und Gelegenheit walten laſſen. Viel¬
leicht wächſt der Art von ſelber ein Stiel. Sag' ihr, jedenfalls nehm'
ich keine Andere, und wenn ich Haus und Hof dahinten laſſen müßt'
oder müßt' alt und grau mit ihr werden, bis wir vor den Altar kommen.
[177] Das muß ihr für jetzt genug ſein. Und deinem Vater ſag', es bleib'
bei unſrer Abred', und er ſoll' ſie bei ſich behalten, wie wir ausge¬
macht haben, bis etliche Zeit verſtrichen iſt; ſowie ich wieder ein wenig
zu Kräften komm', will ich ihn dafür ſchadlos halten. Du aber ver¬
ſprichſt mir, daß wir uns je und je im Beckenhaus treffen, damit ich
Nachricht von meinem Schatz hab'; denn du biſt jetzt mein Münd¬
lich's und mein Schriftlich's mit ihr.


Bleib's dabei, ſagte Jerg.


Und jetzt ſag' mir noch eins, offen, Aug' in Aug': glaubſt du
meinen Worten und willſt du dich bei den Deinigen und bei deiner
Schweſter für mich verbürgen, daß ich's noch ſo treulich mein' wie
ſonſt, trotzdem daß der Schein gegen mich iſt? Die Hand drauf,
Schwager, Bruderherz?


Ja, ich glaub' dir, da haſt meine Hand.


So, jetzt geh' ich mit leichterem Herzen heim. Gut' Nacht, und
grüß' mir mein' Schatz viel tauſendmal.

17.

Bald genug ſollte Friedrich's Ahnung, daß der natürliche Gang
der Dinge von ſelbſt zwiſchen zwei widerſtreitenden Verſprechen ent¬
ſcheiden werde, in Erfüllung gehen.


In der Stellung des dienenden Sohnes, in die er zurückgetreten,
waren ihm ein paar Monate leer und trüb dahingegangen, ohne daß
ſeine Herzensangelegenheit einen weiteren Zuſammenſtoß zwiſchen ihm
und ſeinem Vater verurſachte. Dieſem genügte es, ſeinen Sohn der
herrſchenden Sitte gemäß ehrlich und chriſtlich, wie die ſtehende
Redeweiſe der Zeit ſich ausdrückte, erzogen zu haben, und er meinte
ſeine ganze Verantwortlichkeit abgethan, wenn er einem Irrweg deſſel¬
ben die einfache Schranke des väterlichen Verbotes entgegenſetzte. Er
glaubte ihm weder die Gründe, durch welche ein älterer Freund die
unerfahrene Jugend manchmal von einem Fehlgriff abzuhalten vermag,
noch die Achtung vor der Freiheit des menſchlichen Willens ſchuldig
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 12[178] zu ſein, der über ſich ſelbſt zu verfügen berechtigt iſt, und wenn er
auch den Einſatz mit dem Preiſe der ganzen Zukunft bezahlen müßte.
Was Wunder, wenn der Sohn für dieſes ſtarre Nein, das er von
Anfang an vorausgeſehen, ein eben ſo ſtarres Ja in Bereitſchaft hatte,
deſſen zeitweilige Hintanhaltung eben jenen Waffenſtillſtänden glich,
die man im Kriege nur deßhalb ſchließt, um bei einer vortheilhaften
Gelegenheit wieder losſchlagen zu können. Er hielt buchſtäblich Wort
und vermied in dieſer ganzen Zeit jedes Zuſammentreffen mit Chri¬
ſtinen. Auch beſuchte er keinen Tanz, denn er wußte wohl, daß er
ſie daſelbſt nicht finden würde. Ich will ſie lieber ſo lang gar nicht
ſehen, ſagte er zu Jerg, denn einander ſehen und nichts von ein¬
ander haben, das thut viel weher; ſag' ihr nur, ſie ſoll' derweil
fleißig an mich denken, ich werd' das im Arm oder noch beſſer im
Herzen ſpüren. Er traf häufig mit ihm im Bäckerhauſe zuſammen;
das einemal ſprach er luſtig mit ihm dem Grillengifte zu und be¬
kannte, daß er erſt jetzt einſehe, wie richtig er es getauft habe; das
andremal ſah man die Beiden lange Zeit mit einander flüſtern, wobei
Chriſtinens Bruder Nachrichten von bedenklicher Art zu bringen ſchien,
welche Friedrich gelaſſen aufnahm und, nach ſeiner Miene zu ſchließen,
mit ermuthigenden Zuſicherungen beantwortete. Die Bäckerin, die
kränkelnd im Sorgenſtuhle ſaß, beobachtete ſolche Unterredungen mit
Kopfſchütteln und ſprach gegen ihren Mann die nämliche Vermuthung,
die der Chirurg in einem lateiniſchen Citat angedeutet hatte, mit deut¬
ſchen Worten aus.


Allmählich begann auch im Flecken ein neues Gemurmel umzu¬
laufen, das zuerſt von den jungen Mädchen aufgebracht und bald auch
durch die Pfarrmagd vom Brunnen in den Pfarrhof überliefert wurde.
Man ſtichelte und ſpottete, daß Chriſtine nicht mehr aus dem Hauſe
zu gehen wage, woran ſie doch ſehr klug that, denn ſie hatte, als ſie
ſich zuletzt auf der Straße blicken ließ, bemerkt, daß man mit Fingern
hinter ihr her deutete. Der Fiſcher aber hatte niemals ein ſo reiches
Geſchenk aus der Sonne heimgetragen, als an dem Tage, wo er der
Sonnwirthin berichtete, was über die Tochter des Hirſchbauers ge¬
ziſchelt und gemunkelt wurde.


Eines Abends kam der Bäckerjunge zu Friedrich in die Sonne
und hinterbrachte ihm heimlich, der Jerg ſei im Bäckerhauſe und laſſe
[179] ihm ſagen, daß er doch gleich hinkommen möchte, denn er habe etwas
Dringendes mit ihm zu reden.


Du, 's iſt Feuer im Dach — mit dieſen Worten empfing ihn
ſein Geſelle, als Friedrich ſich zu ihm ſetzte — meine Schweſter iſt
auf morgen vor Kirchenconvent geladen.


Gottlob! rief Friedrich, jetzt kommt's doch endlich zum Treffen!
Sag' ihr nur, ich werd' noch heut bei ihr ſein.


Er trank ſchnell aus und eilte nach Hauſe zurück. Da er ſeinen
Vater mit Eſſen beſchäftigt fand, ſo ſetzte er ſich in eine dunkle Ecke,
wo er wartete, bis derſelbe fertig ſein würde.


Was haſt? Was guckſt? Haſt Hunger? fragte dieſer, den ſeines
Sohnes auf ihn gerichteter Blick beunruhigte.


Nein, Vater, ich muß Euch etwas ſagen, und will Euch nicht
über'm Eſſen ſtören, weil ich weiß, daß Ihr das nicht leiden könnt.


Der Alte, der etwas neugierig war, beſchleunigte ſeine Mahlzeit.
Nun, was iſt's? fragte er dann, vom Tiſch aufſtehend.


Friedrich ſtand gleichfalls auf. Vater, ſagte er, ich hab' Euch
verſprochen, mit der Chriſtine keinen Verkehr mehr zu haben, weder
ſchriftlich noch mündlich, und hab' das auch ſtreng gehalten bis daher.
Jetzt aber iſt an der Sach' ein ander's Trumm aufgangen, die Chri¬
ſtine iſt vor Kirchenconvent citirt —


Lüderlicher Hund! ſchrie der Alte und hob die Hand auf, ließ ſie
aber alsbald wieder ſinken, da er gewahrte, daß ſein Sohn, ohne ei¬
nen Schritt vor dem Schlage rückwärts zu weichen, in drohender, ent¬
ſchloſſener Haltung vor ihm ſtand. Es kam ihm erſt jetzt klar zum
Bewußtſein, daß er eigentli immer eine geheime Furcht vor ihm ge¬
habt habe.


Incommodirt Euch nicht, Vater, ſagte Friedrich, über das bin ich
hinausgewachſen, und was das Schimpfen betrifft, ſo weiß ich, daß
Ihr auch jung geweſen ſeid — Ihr werdet mich verſtehen.


Sprichſt du ſo mit deinem Vater? ſchrie der Sonnenwirth, der
wüthend und zugleich in einiger Verwirrung durch die Stube hin und
her lief. Seine Frau hatte ihm von ihrer ausgekundſchafteten Neuig¬
keit nichts mitgetheilt, ſei es, daß ſie eine für den Stiefſohn beſonders
ungünſtige Gelegenheit abwarten oder, daß ſie ihren Mann von dem
amtlichen Verlauf der Sache überraſchen laſſen wollte.


12 *[180]

Mein Sprechen, ſagte Friedrich, hat keine weitere Abſicht, als daß
mein Vater ein billig's Einſehen haben ſoll, und wenn auch nur in
dem Punkt, daß ich nothwendig mit dem Mädle reden muß, eh' ſie
vor die Herren kommt, denn ſonſt weiß ich ja gar nicht, was ſie dort
ausſagt.


Der Alte hielt in ſeinem Toben inne. Wenn du das Menſch da¬
hin bringen kannſt, daß ſie nicht auf dich ausſagt, verſetzte er, ſo
kannſt mit ihr reden, ſo viel du willſt. Aber das wiederhol' ich dir,
und will dich erinnert haben, daß ich dir's ſchon einmal geſagt hab',
glaub' nur nicht, ich hätt' einen Kreuzer übrig, um dir aus ſolchen
Streichen herauszuhelfen. Find' du ſie ab wie du kannſt und friß
aus was du mit ihr eingebrockt haſt, — ich helf' dir nicht dabei.


Für's Abfinden wär' ja noch mein Mütterlich's da, erwiderte Friedrich,
und ſo braucht' ich Euch nicht zur Laſt zu fallen.


Da wird viel übrig ſein, höhnte der Alte, wirſt weit damit ſpringen
nach ſolchen Sprüngen, die du ſchon gemacht haſt.


Ich will jetzt nicht darüber ſtreiten, ſagte Friedrich, ich bin zu¬
frieden, daß Ihr mir mein Wort zurückgegeben habt und daß ich mit
dem Mädle reden kann, ohne wortbrüchig zu werden.


Er brach ſchnell ab, um weitere Erörterungen zu vermeiden. Als
er ſich entfernt hatte, erzählte der Sonnenwirth ſeiner Frau, die aus
der Küche kam, was zwiſchen ihm und ſeinem Sohn verhandelt wor¬
den war.


Du haſt den Gaul am Schwanz aufgezäumt, ſagte ſie, daß du
ihm ſein Wort zurückgibſt. Jetzt geht das alt' Luderleben wieder an.
Und dazu den Schimpf und die Schand'! — Sie wußte ſo gut zu
lamentiren, wie er vorhin zu toben gewußt hatte.


Er hat verſprochen, das Mädle 'rumzubringen, daß ſie nicht auf
ihn ausſagt, erwiderte der Sonnenwirth.


Seine Frau trat voll Verwunderung einen Schritt zurück. Sie
hatte beſſer von ihrem Sohne gedacht und fühlte ſich durch dieſe Mit¬
theilung ſonderbar überraſcht. Wär's möglich? ſagte ſie. Aber ſieh
zu, das ſind am End' faule Fiſch'.


Gelogen hab' ich nicht, murmelte Friedrich bei ſich, während er den
lange nicht betretenen Weg zu Chriſtinen einſchlug. Was kann ich da¬
für, daß mein Vater mit ſo ſchlechten Gedanken umgeht.


[181]

Es war als ob er in ein Trauerhaus käme, als er in die Stube
des Hirſchbauers trat. Die Alte heulte bei ſeinem Anblick laut auf
und fuhr ſich in die Haare, als ob ſie ſie ausraufen wollte, und der
kleine weißköpfige Bube, der ſich an ihrem Rocke hielt, heulte vor
Angſt mit, ohne von dem Vorgang etwas zu verſtehen. Der Bauer,
ohnehin von Alter und Mangel erſchöpft, ſaß ganz gebeugt und ge¬
brochen auf einem ſchadhaften Stuhl am Ofen; ſeine beiden älteren
Söhne lehnten ernſthaft, doch ohne ſichtbare Betrübniß neben ihm an
der Wand. Chriſtine aber flog, gleichfalls lautweinend, dem Ankömm¬
ling entgegen. Mein Frieder, mein Frieder! ſchrie ſie an ſeinem
Halſe. Biſt endlich da? Sieh, ich kann mein Elend auf keinem
Berg überſehen!


So bleib' im Thal, erwiderte er.


Jetzt treibt er noch ſein Geſpött' mit uns, ſagte der Alte mit
dumpfer, ſinkender Stimme.


Nein, alter Vater, erwiderte Friedrich, indem er Chriſtinen um
den Leib haltend zu ihm trat und ſeine Hand mit Gewalt faßte, 's
iſt mir jetzt nicht eben ſpöttiſch zu Muth, aber ich ſeh' nur nicht ein,
was es für ein Jammer ſein ſoll, daß ich jetzt endlich vor den Her¬
ren und vor der ganzen Gemeinde erklären kann, daß ich mich mit
der Chriſtine in allen Treuen verſprochen hab' und ſie heirathen will.
Und das ſagſt du morgen vor Kirchenconvent, Chriſtine, und gibſt
Alles an, wie's wahr iſt, und ſagſt unverhohlen, ich ſei der Vater zu
dem Kind, das du unterm Herzen trägſt. Heulet doch nicht ſo, wandte
er ſich zu der Alten, die bei dieſen Worten wieder in ein lautes Ge¬
ſchrei ausbrach, das iſt eine natürliche Sach', wer A geſagt hat, muß
auch B ſagen, und mich wundert's nur, daß die Leut' noch ſo ein
Zetermordio drüber verführen können, da es doch ſo oft und allerorten
vorkommt. Es iſt nur bis das Kränzle verſchmerzt iſt. Sehet ein¬
mal die Kinder an, die das Kyrie nicht abgewartet haben, und ver¬
gleichet ſie mit den andern, die rechtmäßig kommen ſind. Iſt ein
Unterſchied zwiſchen ihnen? Und macht man noch einen Unterſchied zwi¬
ſchen einer Frau, die vor zehn, zwanzig Jahren am Mittwoch hat vor
den Altar ſtehen müſſen, und einer, die ihr Kränzlein in Ehren, wie
ſie's heißen, vor den Menſchen, aber vielleicht nicht vor Gott getragen
hat? Wenn einmal Gras drüber gewachſen iſt, ſo verzollt Jedermann
[182] die Ein' für ſo gut wie die Ander', und denkt Keine mehr dran; ja es iſt
ſchon oft gnug vorkommen, daß Eine, ſtatt an ihre Vergangenheit
zurückzudenken, ihre jüngeren Leidensſchweſtern auf's bitterſte verfolgt
hat und iſt noch liebloſer mit ihnen umgangen, als Eine, der man
nichts hat vorwerfen können. So darfſt du's einmal nicht machen,
Chriſtine, ſonſt halt' ich dir einen Spiegel vor, in dem du etwas
ſchauen kannſt, was dir ſolch ein unchriſtlich's Betragen verbieten ſoll.


Er iſt doch ein ſündhafter Menſch, ſagte der Hirſchbauer, den
übrigens Friedrich's Reden ſichtlich aufgerichtet hatten. Die Alte aber
verharrte in ihrer Troſtloſigkeit und ſchalt ihn heftig, daß er es mit
einer ſo wichtigen Sache, wie das Ehrenkränzlein, ſo leichtfertig nehme.


Von wem hab' ich das gelernt? entgegnete er. Bei armen Leuten
freilich, die das Strafgeld nicht aufbringen können, iſt's etwas Wich¬
tig's, weil ſie dann einen Schimpf auf ſich nehmen müſſen, der nicht
ſo bald wieder von ihnen abgeht. Von den Vermöglicheren aber ſteckt
die Herrſchaft das Geld dafür ein, und was ich mit Geld bezahlen
kann, das kann ich doch nicht ſo ſchwer nehmen. Jetzt ſaget ſelber,
wer handelt und redet leichtfertig, die Herren oder ich?


Ja, wenn mein Kind ſchellenwerken müßt', ſagte der Bauer, das
thät' mich vollends unter den Boden bringen.


Dafür bin ich noch da, verſetzte Friedrich. Ihr werdet doch nicht
glauben, ſo lang ich noch einen Kreuzer hab', werd' ich's zulaſſen,
daß mein künftig's Weib die Straf' mit dem Karren abverdienen muß.


Wenn Er nur auch auf Seinem Sinn bleibt! ſeufzte die Alte, die
ſich nach und nach gleichfalls ein wenig zufrieden gab.


Er that ſeine reiche Schatzkammer von Schwüren und Betheurun¬
gen auf und ſpendete nicht karg daraus. Sein zuverſichtliches Weſen
beruhigte die Familie allmählich, wie ſeine Erſcheinung Chriſtinen
ſchon längſt beruhigt hatte. Ungeſcheut zog er ſie zu ſich nieder und
ſaß am Tiſche, als ob er nach längerer Abweſenheit ſich mit ſeinem
Weibe auf Beſuch bei den Schwiegereltern befände. Er ließ Wein
kommen und ſteckte mit Hilfe deſſelben Alle durch ſeine muntere Laune
an. Der alte Hirſchbauer, wenn er auch noch von Zeit zu Zeit den
Kopf ſchüttelte, ließ ſich doch durch ſeine unbefangene Art, die Dinge
anzuſehen und anzufaſſen, einmal über's andre zum Lächeln bringen;
die beiden Söhne aber, durch Friedrich's herzhaftes Auftreten ganz und
[183] gar gewonnen, erfüllten die Stube mit Gelächter über die luſtigen
Einfälle, die er zum beſten gab. Die Bäuerin, nachdem ſie den pein¬
lichen Theil des Geſprächs einmal überſtanden und hinter ſich liegen
hatte, ſuchte ihre Neugier zu befriedigen und ließ ſich von ſeiner wei¬
ten Reiſe erzählen, wobei der kleine Wollkopf an ſeinen Lippen hing
und mit aufgeriſſenem Munde in die zunehmende Heiterkeit einſtimmte,
die er ſo wenig begriff, als er zuvor den Jammer begriffen hatte.
Chriſtine aber lehnte ſich ſelig und durch kein elterliches Verbot ge¬
ſtört an ihren Liebſten an; es war ihr wie ein Traum, daß er ihrer
Unglücksahnung zum Trotze ſo bald wieder zurückgekommen und den¬
noch ſo lange für ſie nicht auf der Welt geweſen war. Jetzt aber
war er ihr auf einmal wie ein Stern gerade in der ſchwärzeſten Nacht
aufgegangen, und ſie vergaß das Elend, das ihr vorhin ſo unüberſeh¬
bar gedäucht hatte, vergaß, daß ſie morgen vor dem geiſtlichen Gericht
erſcheinen ſollte, um ſich zu verantworten wegen der Miſſethat, die ſie
aus Liebe zu ihm begangen hatte.

18.

Morgens in aller Frühe war Friedrich ſchon wieder bei Chriſtinen,
um ihr die Stunden der Angſt bis zu dem Gange, den ſie dieſen
Vormittag anzutreten hatte, zu vertreiben, noch mehr aber um vor
der öffentlichen Erklärung, welche er zu geben beabſichtigte, jeder Un¬
terredung mit ſeinem Vater auszuweichen, der wirklich zu glauben ſchien,
er werde, in den Lauf der Welt ſich fügend und von der Unmöglich¬
keit einer andern Handlungsweiſe übermannt, ſein Mädchen die ganze
Verantwortlichkeit für das Geſchehene allein tragen laſſen.


Die gefürchtete Stunde war endlich angebrochen. Er nahm Chri¬
ſtinen an der Hand und führte ſie mit tröſtlichen Worten von ihren
Eltern fort. Arm in Arm ging er mit ihr durch den Flecken, und
die lachende Frühlingsſonne, die zu dem Gange ſchien, beſtärkte ihn
in dem Glauben, daß die himmliſchen Mächte ob dieſer Liebe nicht
zürnten. Er trat aufrecht wie ein Sieger neben Chriſtinen einher, die
[184] mit niedergeſchlagenen Augen an ſeiner Seite ging, und die Leute, die
ihnen begegneten, machten zwar verwunderte Geſichter, wagten aber
doch erſt, nachdem das Paar vorüber war, die Köpfe zuſammenzuſtecken
und einander ihre ſpöttiſchen Bemerkungen mitzutheilen. Am Rath¬
hauſe ließ er ihren Arm los: So, jetzt mußt dein' Strauß allein
ausfechten, ſagte er, aber wenn ich gleich nicht dabei ſein darf, ſo hab'
nur guten Muth, du weißt ja, daß ich nicht weit bin und dir nach¬
her im Protokoll beiſpringen werd'; hier unten will ich deiner war¬
ten. — O Frieder, wie iſt mir das Herz ſo ſchwer, und ich ſchäm'
mich ſo vor den Herren, erwiderte ſie. — Hätt' faſt was geſagt! rief
er und trieb ſie die Treppe hinauf: ſchämt ſich eine Braut auch zur
Hochzeit zu gehen? Sei du froh, daß wir endlich einmal wenigſtens im
Kirchenconventsprotocoll mit einander copulirt werden!


Er wartete lange unter dem Rathhauſe. Da er ſich den neugie¬
rigen Blicken der Pfarrerin ausgeſetzt ſah, die von ihrem Fenſter auf
ihn herabſchaute, ſo wechſelte er ſeinen Standort, doch ſo, daß er immer
die Thüre des Rathhauſes im Auge behielt. Allein er mußte von
manchem Vorübergehenden neugierige Fragen aushalten, denn auf dem
Lande ſteht man nicht ungeſtraft an einer Ecke ruhig ſtill, und beinahe
hatte er die Geduld verloren, als nach einer vollen Stunde Chriſtine
auf der Rathhausſtaffel erſchien und ſich nach ihm umſah. Er winkte
ihr. Du haſt aber lang gemacht, ſagte er verdrießlich, ich glaub', du
haſt Alles, was ſich ſeit deiner eigenen Geburt zugetragen hat, ge¬
beichtet. — Was kann denn ich dafür? erwiderte ſie. Halt' dich nur
parat, der Büttel folgt mir auf'm Fuß, ich hab's noch gehört, wie er
Befehl erhalten hat, dich vorzuladen. — Wart' am Bach drüben auf
mich, ſagte er, da gehen nicht ſo viel Leut'. — Sie eilte von ihm
weg, froh, aus der Nähe des Rathhauſes zu entkommen. Kaum war
ſie verſchwunden, ſo kam der Schütz heraus und winkte ihm. Er er¬
ſpart mir einen Gang, ſagte er. — Und einen Schoppen? lachte
Friedrich. — In der Sonne, erwiderte der Schütz grinſend, hätt' ich,
ſchätz' wohl, heut' keinen bekommen, das Geſchäft trägt's nicht aus.
Uebrigens iſt hier keine Zeit nicht zu verlieren, Er iſt vor löbliches
Kirchenconvent citirt und hat ohne Aufenthalt zu erſcheinen. — Das
kann geſchehen, erwiderte Friedrich und ging die Treppe hinauf.


Als er an der Thüre des Rathhauszimmers auf ſein Klopfen keine
[185] Antwort erhielt, trat er muthig ein und wünſchte einen guten Mor¬
gen, blieb jedoch an der Thüre ſtehen. An dem Tiſche mit geſchweiften
Füßen, über welchem ein neugemaltes Bild der Juſtitia hing, ſaß der
Pfarrer obenan, neben ihm der Amtmann, dann der Anwalt, der als
Untergeordneter des Amtmanns die Schulzenſtelle verſah, nach dieſem
ein Mitglied des Gemeindegerichts und zuletzt der Heiligenpfleger.
Dieſe zuſammen bildeten das gemiſchte Collegium der Kirchencenſur,
deſſen vorherrſchend geiſtlicher Charakter, ungeachtet der weltlichen Bei¬
miſchung, in ſeinem Namen und im Vorſitze des Pfarrers zu erkennen
iſt. Das Magiſtratsmitglied, das über dem Heiligenpfleger ſaß, blickte
den Eintretenden beſonders finſter an: es war ſein Vormund, der ſich
nicht wenig ſchämte, ſeinen Pflegeſohn unter ſolchen Umſtänden im
Verhör zu erblicken. Der Pfarrer räuſperte ſich. Tret' Er näher
daher, ſagte er. Friedrich trat einige Schritte vor. Es iſt mir, be¬
gann der Pfarrer, von chriſtlich denkenden Leuten, welchen Aergerniß
in der Gemeinde leid iſt, fürgebracht worden, wie daß die Chriſtina,
des Hans Jerg Müller's, Bauren, Tochter, im Geſchrei ſei, daß ſie
mit einem Kinde gehe. Als ſie daher vor dieſes löbliche Cenſurgericht
fürgeladen worden, hat ſie ihre Schwangerſchaft nicht leugnen können,
und auf Befragen, mit wem ſie ſich göttlichen und menſchlichen Ge¬
ſetzen zum Trotz vergangen, hat ſie Ihn als Vater zu ihrem Kind
angegeben. Iſt das wahr?


Ja, Herr Pfarrer und ihr Herren Richter! ſagte Friedrich mit
feſter Stimme, ſo daß Alle einander betroffen anſahen und dann mit
Abſcheu auf den jungen Menſchen blickten, der mit einem ſo unerhörten
Tone ſeine Schuld bekannte. Die Freudigkeit, die aus ſeiner Stimme
klang, wurde von dieſen Männern, die in den herkömmlichen Bräu¬
chen und Sitten aufgewachſen waren, als eine ſchamloſe Frechheit
angeſehen.


Hat Er keinen Verdacht, fuhr der Pfarrer fort, daß ſie vielleicht
noch mit andern Burſchen zugehalten hat?


Nein, Herr Pfarrer, das hat meine Chriſtine nicht gethan.


Seine Chriſtine! ſagte Friedrich's Vormund unwillig und höh¬
niſch zum Heiligenpfleger.


Sie gibt an, fuhr der Pfarrer fort, Er habe ihr die Ehe ver¬
ſprochen. Iſt das wahr?


[186]

Ja, Herr Pfarrer, und mit heiligen Eiden.


Saubere Eide! ſagte der Pfarrer und las aus dem vor ihm lie¬
genden Protokoll: „Er habe ihr die Ehe mit vielen Verpflichtungen
verſprochen; wenn er ſie nicht behalte, ſo ſolle das erſte Nachtmahl
ihm das Herz abſtoßen.“ Iſt dem ſo?


Ja, Herr Pfarrer, accurat ſo hab' ich geſagt, antwortete Friedrich
ganz vergnügt, daß Chriſtine durch dieſe Ausſage ſeine redliche Abſicht
ſo klar dargelegt hatte.


Er Gottesläſterer! fuhr der Pfarrer auf, heißt das ein heiliger
Eid, wenn man den Namen Gottes oder ſeines heiligen Sacramentes
ſo unnütz und ruchlos führt? Ich muß es dem Herrn Amtmann an¬
heimgeben, ob er es nicht ſeines Amtes hält, gegen dieſen offenbaren
Frevel vorzufahren.


Für Sein Fluchen und Schwören, nahm der Amtmann gegen
Friedrich gewendet das Wort, iſt Ihm hiemit ein Pfund Heller ange¬
ſetzt, unangeſehen der andern Strafe, die Ihn für Sein Vergehen
trifft.


Der Pfarrer beeilte ſich, den Strafſatz in's Protokoll einzutragen
und dem Heiligenpfleger aufzugeben, daß er das Geld von dem Contra¬
venienten richtig einziehe.


Ich muß es leiden, ſagte Friedrich gelaſſen, aber mein Herz hat
nichts Böſes dabei gedacht, ich hab' nicht fluchen und nicht ſchwören
wollen, ſondern blos ein recht feſtes Verſprechen ablegen.


Das thut man nicht in ſo ruchloſen Ausdrücken, die Gott betrü¬
ben müſſen, verſetzte der Pfarrer.


Wie kannſt du, Lump, fuhr jetzt ſein Vormund gegen ihn auf,
wie kannſt du ein Verſprechen geben und ein Eh'verlöbniß eingehen
ohne Einwilligung deines Vaters, da du doch minderjährig biſt?


Das wird ſich auch bei der Strafe finden, Herr Senator, bemerkte
der Amtmann. Wenn sponsalia clandestina geweſen ſind oder ein
minderjähriger Burſche ſich vor erlangter Dispenſation verlobt, ſo iſt
laut Reſolution vom — er blätterte eine Weile in den umher lie¬
genden Geſetzen, Reſcripten und Normalien, und fuhr dann ärgerlich,
die Stelle nicht gleich zu finden, fort: ſo iſt laut hochfürſtlicher Reſo¬
lution, die vor kaum vier Jahren emaniret, das Vergehen nicht als
[187] ein zwiſchen Verlobten vorgefallenes, ſondern als ein gemeines delictum
carnis
anzuſehen und demgemäß mit höherer Strafe zu belegen, und
zwar ſelbſt dann, wenn nachträgliche legitime Verlobung und Heirath
erfolgt, was hier Alles noch im weiten Felde ſtehen dörfte.


Friedrich, der den Sinn dieſer Rede ungeachtet der eingeſtreuten
lateiniſchen Brocken gar wohl verſtanden hatte, nahm das Wort und
ſprach: Ihr Herren, man kann mich ſtrafen ſo viel und hoch man
will, darum laſſ' ich doch nicht von meinem Schatz, und wenn man
uns auch anſieht, als ob wir wie unehrbare und verrufene Perſonen
wider das ſechſte Gebot geſündigt hätten, ſo weiß ich doch, daß nichts
deſto weniger mein Schatz ein ehrlich's Mädle iſt und ſo ſittſam wie
nur einem von den Herren ſeine Frau ſein kann.


Die Conventsrichter hatten eine Weile ihren Ohren nicht getraut
und ihn deßhalb ruhig ſprechen laſſen, dann aber entſtand ein Aufruhr
am Rathstiſche. Will Er ſchweigen? rief der Pfarrer. Man hat
Ihn vorgeladen, damit Er ſich verantworte, herrſchte ihm der Amt¬
mann zu, und nicht, damit Er Sein böſes Maul brauche. Ich möcht'
dich zerbrechen, ſchrie ſein Vormund: biſt noch nicht hinter den Ohren
trocken und ſchwätzſt ſo frech's und ungeſalzen's Zeug. So Einer iſt
mir noch gar nie vorkommen, ſo lang ich im Kirchenconvent ſitz', ſagte
der Heiligenpfleger: die Andern wagen die Augen kaum aufzuſchlagen
und ſchämen ſich der Sünd', der aber pocht und will noch gut haben.
Und läſtert göttliche Gebote, hob der Pfarrer wieder an. Und fürſt¬
liche Verordnungen, fügte der Amtmann hinzu. Der Anwalt ſagte
gar nichts, der unerhörte Auftritt hatte lähmend auf ſeinen Geiſt
gewirkt.


Friedrich wollte abermals ſprechen. Still! riefen der Pfarrer und
der Amtmann. Still! ſchrieen die andern Mitglieder hinterdrein.


Friedrich biß die Zähne über einander und ſchwieg.


Wie kannſt du's vor deinem rechtſchaffenen Vater verantworten,
fuhr ihn ſein Vormund an, daß du dich hinter ſeinem Rücken in eine
ſolche Lumpenliebſchaft eingelaſſen haſt, und was glaubſt du, daß er
dazu ſagen wird, daß du ohne ſein Wiſſen dich mit einem Ehverſpre¬
chen gebunden haſt, und willſt jetzt behaupten, du laſſeſt nicht davon?
Das will ich von dir hören.


Es iſt mir ja verboten zu reden, erwiderte Friedrich ſtörriſch.


[188]

Nein, nein! befahl der Pfarrer, darüber darf und ſoll Er ſich
verantworten, daß Er den kindlichen Gehorſam ſo gänzlich hintangeſetzt
und ſich eigenmächtig in eine Verbündniß eingelaſſen hat, die ein junger
Menſch, wenn der Segen Gottes dabei ſein ſoll, nur unter ausdrück¬
lichem Conſens ſeiner Eltern nach deren reiflicher Erwägung und in
der Zucht Gottes ſchließen ſoll.


Herr Pfarrer, antwortete Friedrich, meine Meinung iſt, wenn ein
Menſch heirathen ſoll, ſo kann's ſein Vater nicht für ihn verſehen,
ſondern jeder muß ſelber wiſſen, was ſich für ihn ſchickt. Wenn ich
meinen Vater für mich wählen ließ' und es thät' nachher übel aus¬
fallen, ſo kann ich ihm doch die Waar' nicht heimſchlagen, ſondern
muß ſie behalten. Darum, weil ich die Verantwortlichkeit dafür mein
ganzes Leben lang, oder bis Gott anders verhängt, tragen muß, ſo
halt' ich's auch für recht und billig, daß es dabei nach meinem
Kopf geht und nicht nach einem fremden. Hab' ich mich dann ver¬
griffen in meiner Wahl, ſo muß ich's haben und geſchieht mir Recht,
wenn ich's mein ganzes Leben durch büßen muß, darf mich auch über
keinen Andern beklagen; muß ich aber einen fremden Fehler büßen, ſo
widerfährt mir groß Unrecht und hilft mich all' mein Klagen und
Schelten doch nichts mehr.


Das ſind ſündliche, eigenwillige, aufrühreriſche Reden! rief der
Pfarrer: Er wird's noch an Galgen bringen, wenn Er ſo fortfährt,
nach Seinem Kopf zu leben und elterliche, obrigkeitliche und göttliche
Autorität zu verachten.


Herr Pfarrer, was werden wir uns lange mit dem rechthaberiſchen
Thunichtgut herum ſtreiten? ſagte der Amtmann. Die Obrigkeit gibt
ſich viel zu ſehr herunter und büßt an ihrem Anſehen ein, wenn ſie
ſich mit den Unterthanen in Disputationen einläßt, abſonderlich mit
einem Buben, der der Ruthe noch nicht entwachſen iſt. Hier liegen
die Geſetze und Verordnungen. Unſere Sache iſt es, ſie auszuüben,
ſeine, ſich in das Geſetz und in die Welt zu fügen. Wenn er das
nicht in den Kopf bringt, ſo mag er dahinfahren.


Ich glaube auch, daß es verlorene Worte ſind, die man an ihn
verſchwendet, verſetzte der Pfarrer.


Ja, ich hab' das öd' Geſchwätz ganz ſatt, ſagte der Anwalt, wel¬
cher ſchwerlich damit die Reden des Pfarrers und des Amtmanns
[189] meinte, es aber doch im Dunkeln ließ, wem dieſe verdrießliche Bezeich¬
nung galt.


Fort mit ihm! Fort! ſchrieen der Richter und der Heiligenpfleger.


Einen Augenblick Geduld noch! rief der Pfarrer: Seine Aus¬
ſage iſt alſo, daß Er der Chriſtina Müllerin die Ehe verſprochen
habe und ſie heirathen wolle, wenn Sein Vater das Jawort dazu gibt?


Ja, antwortete Friedrich, mit der Einwilligung gleich jetzt und
ohne die Einwilligung ſpäter, wenn ich mein eigner Herr bin.


Der Pfarrer wiederholte die vorigen Worte murmelnd, während
er ſie ins Protokoll ſchrieb. Er kann gehen, herrſchte er dann und
klingelte. Den Sonnenwirth! rief er dem eintretenden Schützen zu.


Chriſtine ſtand am Bach und weinte, aber ihr Geſicht klärte ſich
alsbald auf, als ſie ihren Freund kommen ſah. Es hat den Kopf
nicht gekoſtet, ſagte er lachend. Sie haben mir zwar ſchandlich ge¬
than und zuletzt haben ſie mich gar fortgejagt, weil ſie nicht Meiſter
über mich worden ſind, aber ſie haben mir's eben doch Schwarz auf
Weiß zu Protokoll nehmen müſſen, daß es zwiſchen uns Beiden richtig
iſt, und das iſt die Hauptſach'.


Als er ihr dann erzählte, daß er wegen ſeines Schwures noch
extra geſtraft worden, war ſie ſehr betreten und ſagte: Ach Gott,
wenn ich das gewußt hätt', ſo hätt' ich dich nicht verrathen.


Sei nur zufrieden, entgegnete er, ſie wiſſen jetzt um ſo gewiſſer,
daß ich dir Wort halt'.


O du biſt brav, ſagte ſie, ſich an ihn anſchmiegend. Sieh, das
richtet mich immer wieder auf, wenn mich das Elend zu Boden drücken
will. Aber das ſind wüſte Leut', die Herren, fuhr ſie fort: ich hätt'
gar nicht glaubt, daß es ſo herging' bei ihnen. Hat der Pfarrer
auch ſo wüſt's Zeug an dich hingeſchwätzt?


Dumm's Zeug gnug, aber nichts wüſt's. Was hat er denn
geſagt?


Sie drückte ſich noch näher an ihn an und wagte ihm nur ins
Ohr zu flüſtern. Denk' nur, ſagte ſie: „Wann iſt die böſe That
geſchehen? Wo iſt die böſe That geſchehen? Wie iſt die böſe That
geſchehen?“ das hat er mich Alles nach einander gefragt, und es hätt'
Noth gethan, daß ich ihm noch mehr geſagt hätt' als ich gewußt hab'.
Ich bin ſchier in Boden geſunken, ſo hab' ich mich geſchämt. Auch
[190] hat er wiſſen wollen, ob's an einem Sonntag geſchehen ſei? Du kannſt
dir aber wohl denken, was ich darauf geantwortet hab'.


Man ſollt's nicht glauben, ſagte Friedrich, was ſo ein alter geiſt¬
licher Hirt vor ſeinen Lämmern Sprüng' machen kann. Spricht der
von der böſen That, wie er's heißt, mit einem Geſicht — ſo —
gelt, voll Abſcheu?


Freilich, ein Geſicht hat er dazu gemacht, als wenn's ihm recht
übel wär'.


Ja, aber protokollirt eine ganze Stund' fort und kann gar nicht
loskommen von der böſen That, und wärmet ſich dran wie der König
David an der jungen Dirne, von der in der Bibel geſchrieben ſteht.
Wenn er's für eine Sünd' und ein Laſter hielt', ſo blieb' er nicht ſo
lang' dabei ſtehen. Mich hätt' er ſo was fragen ſollen! Ich, hätt'
ihn an ſeine Frau verwieſen: die ſoll's ihm erzählen, wenn er's nicht
mehr wiſſe. Etwas Aehnlich's hab' ich ihnen ohnehin geſagt.


Du biſt aber keck! verſetzte Chriſtine. Haſt du denn nicht auch
Abbitt' thun müſſen?


Ich, abbitten? ich will nicht hoffen, daß du ſo ſchmählich geweſen biſt.


Was hab' ich denn machen können? Der Pfarrer hat immer auf
mich hineingefragt, ob mir die böſe That nicht leid ſei. Anfangs
hab' ich darauf geſchwiegen, dann hat er geſchimpft und gepredigt,
und zuletzt hab' ich eben zu Allem Ja geſagt. Dann hat er unterm
Protokollſchreiben vor ſich hingebrummelt: „Sie ſagt, ſie trage Reue
und Leid vor Gott und den Menſchen, und ſolle ihr gewiß nicht
wieder fürkommen, und bitte Gott und die liebe Obrigkeit um Ver¬
zeihung und um eine gnädige Straf'!“ Du weißt ja, er ſagt das
was er ſchreibt immer vor ſich hin, es iſt dann ſo gut wie vorgele¬
ſen. Aber meine eigene Wort' ſind's nicht, ſondern er hat ſich's
eben aus meinem Ja herausgenommen, und Ja hab' ich geſagt, nur
daß es einmal ein End' nimmt, denn ſonſt wär' ich gar nicht fort¬
kommen, und dir ſelber hat's ja ſo ſchon zu lang gedauert, ich hab'
gemeint, du wolleſt mich freſſen, wie ich kommen bin.


Geh, ſagte er, das gefällt mir nicht, daß du dich haſt ſo 'runter¬
thun laſſen. Hätteſt beſſer hinſtehen ſollen.


Du darfſt mich auch noch ſchlecht machen, maulte ſie. Wie du
biſt aus der Fremde kommen und deines Vaters Haus iſt dir ver¬
[191] ſchloſſen geweſen, gelt, da haſt dich auch 'runterthun laſſen und haſt
brav verſprochen, du wolleſt nichts mehr von mir?


Das hab' ich nicht verſprochen, entgegnete er, und der heutig'
Tag kann's dir am beſten beweiſen, daß ich's weder verſprochen noch
gehalten hab'.


Ja, das iſt wahr, ſagte ſie und ſtreichelte ihn.


Recht hab' ich aber doch, fuhr er fort, das ſpür' ich in meinem
Herzen. Die's trifft und die vor Convent kommen, müſſen Buße
thun und Strafe leiden, und ſind doch um nichts ſchlechter als die
Andern. Ich weiß gewiß, die Wenigſten ſind ſauber, und Viele, die
nicht vorgeladen und nicht geſtraft werden, haben noch viel ärgere
Sachen auf'm Gewiſſen, und wenn vollends unſer Herrgott Umgang
hält und ſieht nach den Gedanken, ſo möcht' ich doch auch wiſſen, wer
vor ihm beſteht. Wenn ich dann vollends an die Offizier' und Hof¬
cavalier' und an den Herzog ſelber denk' — der treibt, was der Welt
Brief ausweist, vor dem ganzen Land, und das ganz' Land weiß, wer
ſeine Damen ſind, denn ſo heißen ſie's bei Hof', wenn ſie aber mit
uns deutſch reden, dann erfahren wir wie das Kind getauft iſt. Und
zudem geht er noch manchem ehrlichen Mann in's Revier, abſonderlich
in Stuttgart, wo man ſich aber oft noch eine unterthänige Ehr'
draus macht. Der gemeine Mann denkt anders drüber. Ganz kürzlich
iſt mir noch erzählt worden, wie's ihm ein Bauer gemacht hat auf der
Jagd. Da hat er eine italieniſche Tänzerin, ſeine Hauptliebſchaft, bei
ſich gehabt, die iſt als ein Bub' verkleidet geweſen, Page heißen ſie's,
und iſt ihm hinausgekommen, daß er vielleicht geglaubt hat, ſie woll'
ein wenig ſchwärmen, denn am Hof geht's her wie in der Arch' Noä,
und wie er ſo im Wald 'rum jagt, um ſie zu ſuchen, trifft er einen
Bauer und ſchreit ihm zu: Bauer, haſt du den Pagen nicht ſehen
reiten in Sammt, blau und weiß? Ja, ſagt der Bauer, eben iſt
ſie da abe. Drauf lacht der Herzog was er nur kann und jagt den
Berg hinunter, wie ihn der Bauer gewieſen hat. Und ſo Einer will
Reſolutionen erlaſſen, daß zwei Leut', wie wir, die's ehrlich mit einander
haben, nach den Ehrennamen, die ſie uns geben, ſollen geſtraft werden.
Und ſeine Mutter, die alt' Herzogin, die er in Göppingen droben gefangen
hält, die ſagt von ihm aus, er ſei nicht einmal ſeines Vaters rechter Sohn.
Und ſolche Leut', die ſich ſelber des Ehbruchs beſchuldigen, wollen ihre
[192] Unterthanen wegen Uebertretung des ſechsten Gebots ſtrafen. Da
ſoll doch ein ſiedig's Donnerwetter!


Bitt' dich um Gotteswillen! ſagte Chriſtine, die ihm, obgleich ſie
ganz allein waren, ſchon mehrmals den Mund zu ſtopfen geſucht
hatte: du red'ſt dich in's Unglück!


Ich ſag's ja nur dir, entgegnete er, und der Bach da wird's auch
nicht ausſchwätzen. Aber der Pfaff ſoll einmal vor den Herzog treten
und ihn fragen, was er zu der böſen That ſage und ob er nicht Gott
und die liebe Obrigkeit um Verzeihung bitten wolle.


Ich muß jetzt heim, ſagte Chriſtine, begleit' mich noch ein wenig.


Komm, Frau Friederin. Wenn du jetzt auch noch nichts weiter
biſt als das, ſo biſt du doch viel mehr als des Herzogs Damen alle
mit einander. Rebsweiber ſagt die Bibel, wenn ſie's noch gnädig
macht. Aber der Salomo iſt ein Judenkönig geweſen, und kein Herzog
Karl zu Wirtemberg und Teck ſammt ſeinen Reſolutionen.

19.

Lausbub', lüderlicher! ſchrie der Sonnenwirth ſeinem Sohne bei
deſſen Heimkunft entgegen: lügſt mich an als ob du bemüht wärſt
Schimpf und Schand' von mir abzuwälzen, und thuſt in der gleichen
Zeit das Gegentheil, machſt ſchlechte Anſchläg' mit deiner Perſon
zuſammen, gibſt bei Kirchenconvent vor, du habeſt ein Eh'verlöbniß
eingegangen, um mich dadurch, wie du vermeinſt, zu meiner Ein¬
willigung zu zwingen, und ſprengſt mich ſelber vor die Herren, daß
ich deine Schandthaten ausbaden ſoll.


Nur gemach, Vater, erwiderte Friedrich dem Wüthenden, von Lü¬
gen kann gar nicht die Rede ſein, denn wie ich's mit der Chriſtine
hab', das hab' ich Euch ja von Anfang an ohne Umſchweif' und
ganz unverränkelt geſagt, und ausgemacht hab' ich mit ihr nichts
anders, als daß wir bei der Wahrheit bleiben wollen. Habt Ihr
aber gemeint, ich werd' ſie überreden, daß ſie ſich ſelber zum Nach¬
theil und zur Schmach eine Lüge ſagen ſolle, ſo ſeid Ihr eben ſchief
drangeweſen, denn ich hab' Euch nichts dergleichen verſprochen. Deſſen
[193] iſt Euer Sohn nicht fähig. Zur Zeit Eurer Jugend mag's vielleicht
Mode geweſen ſein, ein arms Mädle mit ſammt ihrem Kind ins Elend
zu ſtürzen und ſich von ihr rein zu ſchwören. Jetziger Zeit aber
hält man ſo etwas für eine Schlechtigkeit, ich wenigſtens halt's dafür,
und ein rechtſchaffener Vater ſollt's auch dafür halten und ſollt' ſeinem
Sohn nicht zureden, daß er's thue, ſondern wenn er damit umgeht, das
Mädle zu verrathen, das ihn lieb hat und auf ihn vertraut, und das un¬
ſchuldig' Würmle — ſein eigen Fleiſch und Blut, Vater! — zu
verleugnen, ſo ſollt' er ihm väterlich ins Gewiſſen reden und ihm
vorſtellen, daß ein Menſch, der das thut, ſein Lebenlang, und ob's
ihm noch ſo gut ging', keine ruhige Stund' mehr haben kann.


Der Sonnenwirth tobte und ergoß ſich in Verwünſchungen über
die Zuchtloſigkeit und dazwiſchen in Klagen über die unehrerbietige
Aufführung ſeines Sohnes. Die Sonnenwirthin, welche zugegen war,
freute ſich innig über dieſe Stichelreden und ſchürte den Zank, ſo daß
es beinahe zu Thätlichkeiten kam. Der Sonnenwirth brach jedoch
endlich ab und ſagte: Ich will nicht länger mit dir ſtreiten, aber das
erklär' ich dir rundweg und hab's auch vor den Herren geſagt, mein'
Conſens geb' ich nun und nimmer dazu.


Dann ſteh' ich wenigſtens vor aller Welt gerechtfertigt da, wenn's
ein Unglück gibt, antwortete Friedrich.


Und was das Rabenkind Geld koſtet! wandte ſich der Sonnen¬
wirth zu ſeiner Frau. Denk' nur auch, der Amtmann thut's nicht
anders als daß die Straf' in Geld bezahlt werden ſoll. Fünfund¬
zwanzig Gulden fordert er für den Fehltritt. Ich hab' gebeten, man
ſoll's den Burſchen abverdienen laſſen, wie andere ſeines Gelichters
auch, die man in die herzoglichen Gärten nach Stuttgart und Lud¬
wigsburg zum Arbeiten ſchickt; Schimpf und Spott iſt er ja ſchon
gewohnt. Aber der Amtmann hat geſagt, es ſei nicht zu machen,
und hat mir eine Verordnung vorgeleſen, worin es heißt, die Beam¬
ten ſollen beſſer auf das herrſchaftliche Intereſſe ſehen und wo möglich
die Delinquenten künftig an den Beutel hängen, ſtatt ſie ihre Strafen in
öffentlichen Arbeiten abverdienen zu laſſen; ja wenn auch nur die
Terz, Quart oder die Hälfte der Strafe in Geld bezahlt werden könne,
ſo müſſe das geſchehen und könne dann der Reſt, wenn es abſolut
nicht anders herauszuſchlagen ſei, in eine Arbeitsſtrafe verwandelt
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 13[194] werden; ſogar wenn einer nur eine Erbſchaft zu erwarten habe, ſo
müſſe darüber an die Regierung berichtet und der Beſcheid abgewartet
werden; und wenn je die Beamten ſich nicht danach achten und dadurch
das fürſtliche Intereſſe Noth leiden laſſen ſollten, ſo werde man ſich an ſie
ſelbſt und an ihr eigenes Vermögen halten. Das, hat der Amtmann
geſagt, könn' ich ihm nicht zumuthen.


Da iſt's kein Wunder, bemerkte die Sonnenwirthin, daß die
Zucht immer mehr aus der Welt verſchwindet. In der guten alten
Zeit, wo man noch auf Sittſamkeit und Gottesfurcht gehalten hat,
hat man die Sünder zu einer ſchimpflichen Haft, ja bei Waſſer und
Brod, verurtheilt, damit ſie auch gewußt haben wie's thut, und nur
in Ausnahmsfällen bei gebrechlichen Perſonen hat man die Verwand¬
lung der Straf' in Geld verſtattet. Jetzt aber iſt die Ausnahm' zur
Regel worden, und auch wer nicht zahlen kann, der muß wenigſtens
der Herrſchaft den Vortheil durch Arbeiten einbringen, damit ſie ja
nichts verliert. Lieber Gott, was iſt das für eine Welt! Der Reich'
legt das Geld hin und lacht dazu, und der Herzog, als ob's an den
Steuern nicht gnug wär', lebt noch von den Sünden ſeiner Unterthanen.


Und geht ihnen mit einem guten Beiſpiel voran, lachte Friedrich.
Zürnen wird er ohnehin Keinem drüber, denn es trägt ihm ja Geld
ein, woran's ihm immer fehlt.


Schweig' du ſtill! gebot der Sonnenwirth. Ich hab' dann den
Amtmann bitten wollen, fuhr er gegen ſeine Frau fort, er ſolle dem
Buben atteſtiren, daß er abhängig ſei und über kein Vermögen zu
verfügen hab'. Der Amtmann aber hat mich ausgelacht und hat mir
geantwortet, da müßte man allen Kindern bei Lebzeiten ihrer Eltern
Armuthsatteſtate ausſtellen, und überdies ſei dies grad' bei dem Buben
nicht wahr, da er ja ſein Mütterliches beſitze, wenn er auch nicht
frei darüber verfügen könne.


Und von dem Mütterlichen, ſagte Friedlich, wird die Strafe be¬
zahlt, dann könnt Ihr Euch nicht beklagen, Vater, daß ich Euch Un¬
koſten verurſach'.


Du wirſt dein Mütterlich's bald eingebrockt haben, du Lump, wenn
du ſo fort machſt, verſetzte der Sonnenwirth.


Vater, ſagte Friedrich, gebet mir die Chriſtine und gebet mir mein
Mütterlichs dazu, daß ich n' Anfang hab', dann will ich's Euch
[195] ſchriftlich geben, daß ich Euch nicht bloß mit keiner weiteren Anforde¬
rung beſchwerlich fallen will, ſondern will auf alles Erbtheil an
Euch verzichten.


Du haſt ohnehin kein Recht darauf, erwiderte der Sonnenwirth.
Ich kann erben laſſen wen ich will, und wenn du dich nicht beſſerſt,
ſo laſſ' ich dich ganz aus meinem Teſtament.


Vater, verſetzte Friedrich, wenn's durch Eure Härte dahin kommt,
daß ich vielleicht noch vor Euch ſterben muß, dann wird Euch gewiß
dieſes Wort gereuen.


Es wär' dir vielleicht beſſer, du führſt noch bei guter Zeit in die
Grube, eh' das Unglück größer wird, entgegnete der Alte. Du kannſt
dich ja doch in nichts ſchicken. Mach' nur ſo fort und verſchenk' Erb¬
ſchaften, eh' du ſie haſt. Du ſcheinſt mir's mit dem Eigenthum
leichter zu nehmen als billig iſt. Freilich, du haſt ja ſchon Proben
davon gegeben und hältſt dich lieber nach Zigeuner- als nach Chri¬
ſtenart.


Friedrich fuhr auf und der Zank drohte noch heftiger auszubrechen,
als man über die Straße ein großes Geſchrei vernahm, das demſelben
ein Ende machte. Es war ein Lärm und ein Zuſammenlaufen, deſſen
Urſache man bald erfuhr. Während in der Sonne Vater und Sohn
in böſem Wortwechſel begriffen waren, hatte ſich in der Nachbarſchaft
noch ein ärgerer Auftritt zugetragen. Der Kübler hat ſich leiblos
gemacht! rief man von allen Seiten. So war es auch. Der Küb¬
ler, der ſchon lange mit ſeinem Weibe im Unfrieden gelebt, hatte ihr
zum Abſchied Arnd's Wahres Chriſtenthum ein paarmal um den
Kopf geſchlagen und ſich dann mit einem ſtumpfen Meſſer den Hals
abgeſchnitten. Da ſolche extreme Begebenheiten unter der zahmen Be¬
völkerung ziemlich ſelten waren, ſo gerieth der ganze Flecken in Auf¬
regung und jeder andere Handel ſchwieg über dem unehrlichen Grabe
des Selbſtmörders, den man nach Vorſchrift bei Nacht in einer
Waldklinge verſcharrte.


13*[196]

20.

Wenige Tage nach dieſem Vorgang traf Friedrich, der ſich nun
an kein Verbot mehr gebunden fühlte, die Familie Chriſtinens in
großer Beſtürzung an. Chriſtine und ihre Mutter weinten laut als
er eintrat, und der Alte, der ſein häusliches Mißgeſchick mit leidlichem
Gleichmuth ertragen hatte, ſchien heute ganz zerſchmettert zu ſein.
Auf Friedrich's Befragen erzählte er, er ſei vom Pfarrer und auch
vom Amtmann vorgefordert worden. Der Pfarrer habe ihm eine recht
bibelmäßige Predigt gehalten wegen der Sünde, daß er die ſtandeswid¬
rige Liebſchaft ſeiner Tochter geduldet, und ihn vermahnt, nunmehr
in chriſtlicher Demuth das Unglück derſelben als eine Strafe Gottes
für ſeinen Hochmuth hinzunehmen, auch ihm eröffnet, daß, wenn er
nicht ſeine Einwilligung zu ihrer Heirath mit dem Sonnenwirthsſohne
entſchieden verſage, er in allen künftigen Fällen von Noth oder Krank¬
heit auf eine Unterſtützung aus dem Heiligen nicht mehr rechnen dürfe.


Das kommt von meiner Frau Stiefmutter her, die hat ſich hin¬
ter den Pfarrer geſteckt, ſagte Friedrich bitter. Aber wartet nur,
Vetter, es kommt gewiß noch eine Gelegenheit, wo ich's dem Höllen¬
pfaffen eintränken kann, daß er einem Vater zumuthen will, er ſolle
dazu mithelfen, ſeine eigene Tochter um ihre Ehre zu beſtehlen.


So lang 's am Sonnenwirth fehlt, verſetzte der Hirſchbauer, iſt's
eigentlich gleichgiltig, ob ich meine Einwilligung geb' oder nicht, und
das hab' ich auch dem Pfarrer geſagt. Aber es hat mir ſchier das
Herz aus einander geriſſen, daß man arme Leut' ſo unterdrückt. Ich
ſoll aus Hochmuth Ihm die Thür' zu meiner Tochter offen gelaſſen
haben, ich ſoll auf unrechten Wegen eine vornehme Verwandtſchaft
geſucht haben, während ich von Anfang an gegen die Sach' geweſen
bin! Ich will Ihm jetzt keinen Vorwurf mehr machen, ſeit Er ſich
geſtern vor'm Kirchenconvent ſo wacker gehalten hat und hat Gott und
der Wahrheit die Ehr' geben, was nicht ein Jeder thut; aber das
kann ich Ihm ſagen, Er iſt ein Nagel zu meinem Sarg, und wenn
das Ding ſich nicht bald anders wendet, ſo wird man ſehen, wie tief
[197] mir's in's Herz gefreſſen hat. Armuth und Niedrigkeit kann ich tra¬
gen, aber der Schmach und Verachtung bin ich mein Lebenlang aus
dem Weg gangen, und ich ſpür's am Verfall in meinen morſchen
Knochen, daß mich auch diesmal zuletzt der Senſenmann drüber weg¬
führen wird.


Ich hoff' vielmehr, Ihr ſollt auf die Trübſal noch Freud' an uns
erleben, ſagte Friedrich, dem die Worte des alternden, gebeugten
Mannes in's Herz ſchnitten.


Da müßt's gar anders kommen, erwiderte der Hirſchbauer. Für
jetzt iſt ein Tag ſchwärzer als der ander'. Nach dem Pfarrer hat
mich der Amtmann erfordert und hat gefragt, wie es denn mit der
Chriſtine ihrer Straf' ſteh'.


Die zahl' ich! unterbrach ihn Friedrich. Das verſteht ſich von
ſelbſt. Das Geld kann ich freilich jetzt nicht geſchwind herhexen, aber
der Amtmann muß eben ein Einſehen haben.


Der thut arg preſſant, ſagte der Hirſchbauer. Daß ich das Geld
nicht aufbringen kann, hat er gleich von ſelber anerkannt und geſagt,
ich müſſe eben ohne Verzug um Strafverwandlung einkommen, damit
ſie's abverdienen könne, und wenn ich vernünftig ſein und verſprechen
wolle, dem Sonnenwirth nicht mit ungeſchickten Heirathsbegehren für
ſie zur Laſt zu fallen, ſo wolle er ſehen, daß die Strafe, weil es das
erſtemal ſei, glimpflich ausfalle. Nach dem, was er mir zu verſtehen
geben hat, ſoll's auf das hinauskommen: der Schütz und ſein Weib
ſind, ſcheint's, faul, und da ſoll meine Tochter bei Amt Alles thun
was ſie nicht verrichten mögen, Botengänge, Ausputzen, den Gefange¬
nen ihr Sach' beſorgen —


Das ſind appetitliche Geſchäfte zum Theil, bemerkte Friedrich.


Und außerdem ſoll ſie dem Amtmann oder vielmehr der Amt¬
männin im Feld und Garten ſchaffen.


Hat er das geſagt? rief Friedrich ganz erfreut.


Wenn's nicht anders ſein kann, fuhr der Hirſchbauer fort, ſo wär'
das freilich nicht das Schlimmſt', wiewohl mich's hart ankommt, das
Mädle gleich von jetzt an, ſechs Wochen lang, denn ſo lang will's
der Amtmann, in meinem bisle Feld entbehren zu ſollen, ſo daß ich
mit meinen Buben nicht ſo viel wie ſonſt im Taglohn verdienen könnt'.


Jetzt hab' ich ihn! rief Friedlich voll Freude. Dem will ich's
[198] vertreiben, aus meiner Chriſtine einen Fleckenſträfling zu machen, der
den Gefangenen ausmiſten ſoll. Habt nur ein wenig Geduld, die
Trübſal ſoll ſchnell vorübergehen!


Er ſtürmte fort, ohne der erſtaunten Familie zu erklären, was er
vorhabe. Hierauf begab er ſich zu ſeinem Vormund, um das Geld
zur Bezahlung ſeiner Strafe von ihm zu fordern. Es iſt Nothſach',
ich kann's dir nicht verweigern, ſagte das Gerichts- und Kirchencon¬
ventsmitglied, aber nimm dich in Acht, ich ſchick' hinter dir drein, ob
du's auch gewiß auf's Rathhaus trägſt und nicht anderswo verthuſt.


Ich hab' Ihm noch nichts unterſchlagen, Herr Vetter, bemerkte
Friedrich.


Sollſt's auch wohl bleiben laſſen, erwiderte der Richter.


Friedrich blieb einen Augenblick ſtehen und beſann ſich. Zwar
ſagte er ſich voraus, daß ein Verſuch, auch das Geld zur Bezahlung
von Chriſtinens Strafe zu erlangen, ein ganz vergeblicher ſein würde,
aber doch meinte er ihn machen zu müſſen. Der Unglaube, mit dem
er ſeine Bitte vorbrachte, wurde jedoch vollkommen gerechtfertigt, denn
der Vormund hielt ihm eine derbe Strafrede und meinte, es werde
für ſie ganz geſund ſein, wenn ſie auf einige Zeit nach Ludwigs¬
burg komme, um ſich alldorten alle dummen Gedanken vergehen zu
laſſen. Friedrich wünſchte ihm einige tauſend Teufel auf den Hals
und empfahl ſich.


Mit dem Gelde verſehen, ging er in das Amthaus, wo er den
Amtmann allein in ſeinem Zimmer traf. Hier, ſagte er, indem er
das Geld auf den Tiſch legte, will ich dem Herrn Amtmann das
Strafgeld für mein' Schatz überbringen.


Der Amtmann lachte. Und wo iſt denn das Seinige? fragte er.


Dazu hat's nicht gereicht, ich will's abverdienen.


Er iſt ein Querkopf, ſagte der Amtmann, die Stirne ſchnell wie¬
der in Falten legend. Das ſind Flauſen, man kennt Seine Vermö¬
gensumſtände und die ihrigen. Das iſt ja, fuhr er ſehr verdrießlich
fort, das Geld aus einander legend, das ſind ja dieſelben Sorten,
die ich Seinem Pfleger heut geſchickt habe. Es ſcheint, dem iſt mein
Geld nicht gut genug, daß er die erſte Gelegenheit benutzt, es mir
wieder zurückzuſchicken; mit ein wenig Geduld und Umſicht hätt' er's
wohl los werden können. Nun ja, das iſt alſo die Strafe für Ihn,
[199] die Er ritterlicher Weiſe für Seine Amaryllis hat einſetzen wollen.
Für dieſe hatte es nicht ſo viel ausgemacht, ich taxire ſie nicht ſo hoch.
Er zählte das Geld und ſagte: Sein hochwohlweiſer Herr Vormund
muß den Beutel noch einmal aufthun, er hat im Rechnen manquirt.
Das iſt nur die Strafe; dazu gehört aber noch das Surplus, von
jedem Gulden drei Kreuzer für das Zuchthaus in Ludwigsburg, ferner
drei Kreuzer Tax vom Gulden und endlich von zehn Kreuzern ein
Kreuzer Schreibgebür.


Friedrich erbot ſich, das Fehlende gleich zu holen. Das ſind Blut¬
igel! ſagte er unterwegs zu ſich. Aber es ergötzte ihn, obgleich der
Spaß auf ſeine eigenen Koſten ging, das lange Geſicht ſeines Vor¬
mundes zu ſehen, als derſelbe ſich eines Irrthums in der Rechnung
überführt ſah und noch einmal in die Kaſſe greifen mußte, was ihm
ſogar bei fremdem Gelde ſchwer zu fallen ſchien.


Als Friedrich den Nachtrag gebracht und der Amtmann das Geld
gezählt hatte, nahm jener das Wort: Und jetzt, mit des Herrn Amt¬
manns Wohlnehmen, möcht' ich fragen, wie es mit der Chriſtine
werden ſoll.


Was geht das Ihn an? ſagte der Amtmann.


Wir gehen einander nun doch einmal näher an, erwiderte Friedrich,
und da wird man's nicht anders als billig und chriſtlich finden, wenn
ich mich um ſie bekümmere. Ich hab' gehört, der Herr Amtmann
wolle ſie ihre Strafe hier bei Amt und mit Feld- und Gartenarbeit
abverdienen laſſen.


Und wenn dem ſo wäre? ſagte der Amtmann, nach und nach
aufmerkſam werdend.


Es wär' mir nicht lieb, wenn ſie vor dem ganzen Flecken Straf¬
arbeit verrichten müßt' —


Wer fragt denn darnach, ob's Ihm lieb iſt oder nicht?


Und zudem, Herr Amtmann, ſind das keine herrſchaftlichen Ge¬
ſchäfte.


Der Amtmann richtete ſich hoch auf und ſein ſonſt gutmüthiges
Geſicht nahm einen bösartigen Ausdruck an. Ich glaub', Er will den
Advocaten machen! ſagte er.


In dem Punkt wär' ich nicht ganz untauglich dazu, antwortete
Friedrich. Es gibt nichts in der Welt, Herr Amtmann, das nicht
[200] ſeine gute Seite hätte. So auch das Zuchthaus. Dort bin ich mit
Einem zuſammen geweſen, der hat mir erzählt, ein Amtmann habe
ihn, wie er einmal zum Schellenwerken verurtheilt geweſen ſei, ſtatt
deſſen in ſeinen eignen Privatgeſchäften arbeiten laſſen; es ſei jedoch
herausgekommen und man habe ihn, was ihm übrigens nicht willkom¬
men geweſen ſei, zu öffentlichen Arbeiten abgeführt, der Amtmann
aber — hierbei ſah er dem Amtmann ſcharf in die Augen — ſei um
zwanzig Reichsthaler geſtraft worden.


Der Amtmann wurde blauroth im Geſicht, ſo daß man bei ſeiner
nicht eben magern Geſtalt einen Augenblick einen gefährlichen Anfall
befürchten konnte. Es ging aber vorüber und er ſagte verächtlich:
Ihm, einem Züchtling, einem vielfältigen Facinoroso, wird man viel
Glauben ſchenken, wenn Er etwas wider mich vorbringen will.


Der Herr Amtmann, erwiderte Friedrich, vergißt, daß ich nicht
allein darum weiß.


Es iſt wahr, verſetzte der Amtmann, ich habe aus gutem Herzen
dem alten Müller angeboten, ſeine Tochter die Strafe auf eine leichte
und gelinde Art abbüßen zu laſſen. Dabei war es nicht ſowohl mein
als meiner Frau Gedanke, ſie in unſrer Privatökonomie nebenher zu
beſchäftigen; es iſt aber nicht mit einem Wort die Rede davon ge¬
weſen, daß ſie das im Strafwege thun ſolle, ſondern ſie hätte Geld
dabei von uns verdient, das wir jetzt Würdigeren zukommen laſſen
werden. Die Amtsgeſchäfte aber, die ich ihr zur Abverdienung ihrer
Strafe habe auferlegen wollen, ſind allerdings herrſchaftliche Geſchäfte.
Doch darüber brauche ich mit Ihm nicht zu ſtreiten. Das Geſindel
iſt es nicht werth, daß man humane Abſichten mit ihm hat. Sein
Weibsbild kommt jetzt nach Ludwigsburg in den Herrſchaftsgarten, muß
dort ſechs Wochen lang arbeiten, wird mit Waſſer und Brod geſpeiſt,
was ſie jedoch abermals abverdienen muß, Nachts in's Blockhaus ein¬
geſchloſſen, damit ſie nicht dem Bettel und der Lüderlichkeit nachziehen
kann, und außerdem muß ſie den von Neuem wieder eingeführten
**karren ziehen. Das hat Er mit Seiner ritterlichen Protection
für ſie herausgeſchlagen.


Es iſt mir immer noch lieber, als wenn ſie vor dem ganzen Fle¬
cken Strafarbeit verrichten ſoll, erwiderte Friedrich trotzig. Was in
Ludwigsburg vorgeht, ſieht man in Ebersbach nicht. Uebrigens hat
[201] ihr Vater doch noch Freund', daß er vielleicht die Straf' in Geld
aufbringen kann. Und auch in dem Punkt bin ich wieder ein Ad¬
vocat: Ich weiß, daß der Herr Amtmann das Geld nicht zurückweiſen
darf, weil er für das fürſtliche Intereſſe beſorgt ſein muß.


Es ſteht aber bei mir, wie lange ich zuſehen will, entgegnete der
Amtmann. Meine Nachſicht wird nicht lange dauern. Und nun ſorg'
Er, daß Er mir aus den Augen kommt. Es geht mir wie meiner
Frau mit Ihm. Laſſ' Er ſich nicht wieder im Amthaus betreten,
ohne daß ich Ihn verlangt habe.


Den andern Abend ſpät erſchien Friedrich beinahe athemlos in
der Stube des Hirſchbauern. Hier iſt das Geld für die Straf', ſagte
er, die blanken Münzen auf den Tiſch legend.


Wie kommt Er zu dem Geld? fragte der Hirſchbauer: Sein Vater
hat's ihm gewiß nicht gegeben.


Nein, antwortete Friedrich, aber ich hab's auf eine Art erworben,
daß ich's verantworten kann, das heißt, zwiſchen mir und dem, von
dem ich's hab', iſt offene ehrliche Sach'.


Er war nicht zum Geſtändniß zu bewegen, wie er zu dem Gelde
gekommen ſei, ſondern wiederholte beharrlich ſeine vorige Verſicherung,
ſchärfte jedoch dem Hirſchbauer ein, er ſolle, wenn der Amtmann frage,
nicht angeben, von wem er das Geld habe, weil das nur neue Weit¬
läufigkeiten zur Folge haben würde; er ſolle ſagen, es ſei ein für
den äußerſten Nothfall geſpartes Schatzgeld, oder was ihm ſonſt Ge¬
ſcheides einfalle.


Als der Hirſchbauer aus dem Amthauſe zurückkam, erzählte er mit
bedenklicher Miene, der Amtmann habe das Geld zwar genommen,
dabei aber bemerkt, das ſei ein bedenklicher Reichthum, nach deſſen
Quelle er bei Gelegenheit forſchen wolle.


[202]

21.

Von der Sonne war aller Friede und alle Freude gewichen. Bei¬
nahe täglich gab es zwiſchen Vater und Sohn ſtachlige Reden, Wort¬
wechſel, Geſchrei und heftige Auftritte, und wenn Handlungen ver¬
mieden wurden, die das letzte Band der Liebe in einer Familie zerreißen,
ſo kam dies blos daher, daß der Sonnenwirth die entſchiedene Er¬
klärung ſeines Sohnes, ein herabwürdigendes Schimpfwort gegen
Chriſtinen werde ihn zu den äußerſten Schritten treiben, ſich zu
Herzen genommen hatte. Auch würde er der Achtung, welche der
Mann dem Manne durch unbeugſames Beharren auf ſeinem Willen
und ſeiner Wahl einflößt, ſchwerlich in die Länge widerſtanden und
vielleicht würde mit der Zeit ſeine mürriſche Einſprache die Eigenſchaft
einer jener unangenehmen Gewohnheiten angenommen haben, die man
auszurotten oder wenigſtens unſchädlich zu machen vermag. Gibt es
ja doch Eltern, die noch immer über die Heirath eines Kindes brum¬
men, während ſie ſchon die Enkel auf den Armen tragen. Aber die
Sonnenwirthin war mit Aufbietung aller ihrer Mittel bemüht, die
mildernde Kraft der Zeit und der vollendeten Thatſache zu bekämpfen
und keine gelindere Wendung des Zwieſpaltes aufkommen zu laſſen.
Man konnte darüber ſtreiten, ob ihre Stelle — denn ſie galt in ihrer
Umgebung für eine vorzügliche Wirthin — von Chriſtinen jemals
würdig ausgefüllt werden könne, ein Zweifel, der ſie wenig kümmerte,
außer inſofern ſie ihn als ein Mittel gegen dieſe Heirath brauchen
konnte; was jedoch für ſie als unzweifelhaft feſtſtand, war die Gewi߬
heit, daß ſie ſich mit dieſer Schwiegertochter nimmermehr vertragen
würde. Sie war in ihrer Verfolgung gegen ſie zu weit und zu offen¬
kundig vorgegangen, als daß ſie, nach ihrer Sinnesart, eine Verſöh¬
nung je für möglich halten konnte. Nach menſchlicher Berechnung
mußte ſie dereinſt ihren Mann geraume Zeit überleben, und wenn ſie
jetzt dieſe Heirath ſeines Sohnes gütlich oder durch Ertrotzung zu
Stande kommen ließ, ſo glaubte ſie, da der Sonnenwirth dann
nicht leicht zur Abfaſſung eines ſeinem Sohne feindſeligen Teſtamentes
[203] zu bringen war, vorausſehen zu müſſen, daß ihr nach ſeinem Tode
das Schickſal bevorſtehen würde, von dem jungen Paare aus dem
Hauſe getrieben oder, was noch ſchlimmer, im Hauſe mit Füßen ge¬
treten zu werden. Friedrich konnte ihr vielleicht vergeben, Chriſtine
aber nie; dieſe Ueberzeugung mußte ſie deßhalb hegen, weil ſie ſich
ſagte, daß ſie an Chriſtinens Stelle eben ſo handeln würde. So trieb
ſie denn täglich den Keil tiefer, um das Band zu ſprengen oder gar die
Enterbung des Stiefſohnes durchzuſetzen. Sie ging oft in's Pfarrhaus
und Amthaus, um dort die herrſchende Ungunſt zu ſchüren und dann
ihrem für Eindrücke von oben empfänglichen Manne wieder zu berich¬
ten, was man daſelbſt über die ungleiche Partie ſpreche; auch war
ſie nicht ſparſam, ihm Drohungen und Schmähungen, die ſein Sohn
ausgeſtoßen, anmaßende und verletzende Reden, die Chriſtine geführt
haben ſollte, zuzutragen. Hierbei war ihr der Fiſcher, der ſie fleißig
mit der faulen Waare ſeiner Berichte verſorgte, von großem Nutzen,
und er ſelbſt zog aus dem Familienzerwürfniß nicht geringen Gewinn.


Da die Sonnenwirthin ſowohl ihren Mann als ſeinen Sohn
ſehr genau kannte, ſo wußte ſie auch beſſere Regungen, die eine end¬
liche Ausgleichung des Zwiſtes hätten herbeiführen können, zu ihren
Zwecken auszubeuten. So war es ihr gar nicht unwillkommen, als
ihr Mann eines Tages zu ihr ſagte: Es iſt mir doch nicht lieb, daß
er mich drum anſieht, als ob ich ihm ſein Mütterlich's vorenthalten
wollt'. Wenn der dumm' Bub' abſolut in ſein Unglück rennen
will, ſo weiß ich am End' nicht, ob ich ihn halten ſoll. Es iſt mir
nur um die Sonne. Ich hab' mich eben in Gedanken ganz drein
hineingelebt, daß er einmal eine Poſthalterserbin heirathet und die
Sonne vollends recht in Flor bringt.


Sie werden ſich um ihn reißen, bemerkte ſie, er iſt ein guter
Brocken, verſchreit wie er iſt.


Ach was! entgegnete er, das wär' bald vergeſſen, wenn er nur
einmal nicht mehr ſo überzwerch wär'. Aber ich geb' allmählich die
Hoffnung auf, daß er wird wie ein anderer Menſch. Er hat eben
gar keine Ehr' im Leib. So einem Lumpenmenſch zu lieb auf ſein
Eigenthum verzichten wollen und eine Zukunft in die Schanz' ſchlagen,
um die ein Anderer tauſend Stunden weit auf'm Kopf lief' — ich
kann's nicht begreifen. Aber wenn er mit Gewalt vom Herren zum
[204] Knecht werden will, ſo kann ich ihn nicht anders machen. Des
Menſchen Will' iſt ſein Himmelreich.


Ja, ſagte ſie, man kann freilich am End' nicht wiſſen, was unſer
Herrgott mit ihm vor hat. Was einmal Gottes Will' iſt, da kann
man nicht wider den Stachel lecken. Und wenn er nun einmal durch¬
aus drauf verſeſſen iſt, ſich mit ſeinem Mütterlichen abfinden zu laſſen,
wie er ſagt, und dir und Andern als Knecht zu dienen, unter der
Bedingung, daß du ihm ſeine herzige Hirſchkuh gibſt, ſo wär' grad'
jetzt eine gute Gelegenheit vorhanden, wo man ſie mit einander hin¬
einſetzen könnt'. Du weißt ja, des Küblers Häusle will kein Menſch,
und ſein Weib ſitzt im Elend da und thät's ſchier umſonſt' hergeben.


Ja, die hat auch nicht geruht bis ſie ihn unter dem Boden ge¬
habt hat, und jetzt hat ſie das Nachſehen. Das Häusle, ja, das
wär' freilich billig zu haben, ſie wird noch lang vergeblich auf einen
Käufer warten, und das Waſſer geht ihr an den Hals. Aber meinſt
du, er werd' keinen Abſcheu davor haben? Das Haus iſt doch arg
verſchrieen, neben dem daß es klein und ſchlecht iſt.


Was, der? Das iſt ja ein Aufgeklärter. Der macht ſich nichts
draus und wenn der Teufel ſelber drin gehauſet hätt'.


Friedrich ſchien auch Anfangs mit dem Vorſchlage nicht unzufrieden
zu ſein, als er, wie dies in ſolchen Fällen häufig geſchieht, aus dem
Munde der Nachbarsleute erfuhr, mit welchem Gedanken ſein Vater
umgehe. Aber eine Unterredung mit Chriſtinen änderte ſeinen Sinn.


So! rief ſie, als er ihr den Plan mitgetheilt: ich ſoll in ein
Haus ziehen, wo ſich Einer den Hals abgeſchnitten hat und als Geiſt
laufen muß!


Dummes Geſchwätz! erwiderte er, der Küblerfritz ſchläft ruhig im
Kirnberg draußen und iſt froh, daß er vor ſeiner böſen Ripp' Ruh'
hat. Der lauft nimmer.


Das mag ſein, wie's will, aber mir graust's davor. Und das
Haus iſt eben einmal unehrlich. Was meinſt, was die Leut' ſagen
werden, wenn wir drin wohnen ? Da wird's heißen: die Beiden hat man
hineingeſetzt, weil das Haus für Jedermann ſonſt zu ſchlecht geweſen
iſt und weil man glaubt, daß es mit ihnen ein gleiches End' neh¬
men wird.


Du haſt den rechten Zipfel erwiſcht, ſagte Friedrich. Jetzt ſeh'
[205] ich auf einmal in die Sach' hinein. Das iſt ein giftiger Gedank'
von der Frau Stiefmutter und der ganz' Vorſchlag ſoll gar nichts
als ein Pasquill auf mich ſein.


Seit dieſem Augenblicke ſprach Friedrich von dem Gegenſtande
ganz anders. Die wilden Reden, die er gegen die Nachbarn, wenn
ſie denſelben berührten, fallen ließ, wurden ſeinem Vater alsbald wie¬
der hinterbracht, und die Stiefmutter ſorgte dafür, daß ſie eher ge¬
mehrt als gemindert wurden. Hieraus erfolgten neue Auftritte zwi¬
ſchen Vater und Sohn, die ſich um ſo bitterer entluden, da die
Verachtung, die der letztere gegen den U heber ſeiner Tage hegte, ſeit
er ihn auf der Zumuthung betreten ha te, ſein Mädchen mit ihrem
Kinde im Stich zu laſſen, durch den ſeinem Gefühl nach in herab¬
würdigender Abſicht gemachten Vorſchlag, das Haus des Selbſtmörders
zu beziehen, noch geſchärft worden war. Auch wurde er in ſeiner
Auffaſſung dieſer elterlichen Abſicht durch die öffentliche Meinung im
Flecken beſtärkt, obgleich dieſelbe, nach der Weiſe einer unter jahr¬
hundertelangem Drucke lebenden Bevölkerung, ſich nur heimlich zu ſei¬
nen Gunſten ausſprach. Einer um den Andern ließ ſich verlauten:
Es iſt doch nicht recht vom Sonnenwirth, daß er ſein' eigenen Sohn
in die Hütte des Halsabſchneiders ſetzen will, aber ich will nichts
geſagt haben. Gleichwohl war ein halbes Dutzend von denen, die ſo
geſprochen hatten, nachher gleich bei der Hand, um über die unbeſon¬
nenen Reden des Jähzorns, die er bei ſolchen Anläſſen ausgeſtoßen,
Zeugniß gegen ihn abzulegen.


Es war wieder einmal Kirchenconventsſitzung, und die Mitglieder,
die etwa insgeheim Freude am Skandal hatten, konnten diesmal ihre
Luſt wirklich büßen. Vor dem Convent ſtanden der Sonnenwirth als
Kläger und ſein Sohn als Beklagter. So weit hatte es die Stief¬
mutter durch ihre Verhetzungen gebracht. Beide wurden confrontirt.
Der Pfarrer als Vorſitzender des Gerichts hielt dem Sohn in Beiſein
des Vaters vor: Sein Vater klagt wider Ihn, daß, nachdem er,
wiewohl ungern, ſich erklärt, daß er Ihm die Chriſtina Müllerin, mit
der Er ſich vergangen habe, laſſen wolle, und vermeint, er könne bei
Ihm dadurch etwas Gutes zuwegbringen, ſo ſei Er nur immer
ärger, brauche gegen ihn die allerſchnödeſten und ſchimpflichſten Reden,
ſtoße allerhand gefährliche Drohworte gegen ihn, Seinen Vater, wie
[206] auch gegen Seine Mutter und andere Leute aus, alſo daß er niemals
in ſeinem eigenen Haus ſicher ſei.


Kann mein Vater ſagen, daß ich mich an ihm vergriffen habe?
wendete Friedrich ein.


Schweig' Er ſtill, befahl der Pfarrer, ich werde die Punkte der
Ordnung nach vornehmen. Er kramte, durch die Einrede etwas aus
dem Concept gebracht, eine Weile in ſeinen Notizen und fuhr dann
fort: Pro primo, ſo ſagt Sein Vater, Er habe Geld von ihm gefor¬
dert, und da er Ihm geſagt, Er habe ja erſt ein Jahrmarktstrinkgeld
bekommen, ſechszehn Batzen, warum er es vertrunken? ſo habe Er
geſagt, er habe recht gethan, und wenn er ein größeres Trinkgeld be¬
kommen hätte, ſo hätte er's auch verthan. Iſt dem ſo?


Ich muß mich wundern, ſagte Friedrich, daß mein Vater ſo elende
Händel vor Kirchenconvent bringt. Er weiß wohl, daß ich mehr Geld
von ihm verlangt hab' und nicht zum Trinken; ſtatt deſſen hat er
mich mit einem Trinkgeld abfinden wollen, und dem hab' ich dann
mit guten Freunden ſein Recht angethan und hätt's mit einem größe¬
ren auch ſo gemacht, weil mich ein Lumpengeld nichts geholfen hätt'.


So ſagen alle Verſchwender, bemerkte der Vormund halblaut.


Item, fuhr der Pfarrer fort, wie Er erfahren hat, Sein Vater
wolle Ihm des Küblers Häusle kaufen, habe Er geſagt, der Donner
ſolle Ihn erſchlagen, wenn er's Ihm kaufe, ſo zünde Er es an, ſollten
auch der Nachbarn Häuſer mit verbrennen, und wenn Sein Vater
Ihm nicht dazu helfe, daß Er das Weib bekomme, ſo wolle Er noch
einen größeren Tuck thun. Das gibt nicht blos Sein Vater an, ſon¬
dern ich kann Ihm eine ſtattliche Reihe von Zeugen ſtellen, die ich
habe kommen laſſen und die mir ſolches bezeuget haben.


Es ſind vermuthlich die Nämlichen, die mich aufgeſteift haben, ich
ſoll' mir's nicht gefallen laſſen, antwortete Friedrich. Was ich im
Zorn geſagt hab', weiß ich nicht mehr. Die Reden, die der Menſch
im Zorn führt, muß man nicht aufleſen, ſondern liegen laſſen, dann
ſind's Funken, die ſchnell wieder auslöſchen. Man hat mich ſchon viel
böſe Reden führen laſſen. Schon damals, wie ich als ein junger
Bub' vom Gaul heruntergeſchoſſen worden bin, hat man zur Ent¬
ſchuldigung nachher geſagt, ich hab' dem Flecken mit Mord und Brand
[207] gedroht, und letzten Winter iſt wieder ſo ein Geſchrei gangen, und
iſt beidemal kein wahr's Wort dran geweſen. Dasmal wird's viel¬
leicht auch nicht viel beſſer ſein. Sollt' ich aber je im Weindampf von
den ſechszehn Batzen, die mir mein Vater hier vor Convent vorrechnet,
ein ſolches Wort haben ausgehen laſſen, ſo iſt's von da bis zur That
noch ein weiter Weg. Mein Vater hat mir des Küblers Häusle
noch nicht kauft und ich hab's noch nicht anzünd't. Wenn jedes un¬
nütz' Wort, das Einer im Zorn fallen läßt, bei Kirchenconvent ange¬
bracht würd', ſo ſtünd' am End' der ganz' Kirchenconvent da wo ich
jetzt ſteh'.


Frecher Bub', fuhr ſein Vormund auf, du ſollteſt froh ſein, daß
dein Vater hat für dich ſorgen wollen. Des Küblers Häusle iſt
noch viel zu gut für dich.


So klein und ſchlecht es iſt, ſagte Friedrich, ſo wär' ich für
meine Perſon damit zufrieden geweſen. Aber der Herr Vetter weiß
wohl, in welchem Geruch das Häusle bei dem ganzen Flecken ſteht
und daß ich mit meiner Chriſtine nicht hineinziehen kann. Ja, wenn
mir die Herren den Küblerfritz im Wald wieder ausgraben laſſen und
laſſen ihn auf'm Kirchhof in ein ehrlichs Grab legen, dann will ich
in ſein Häusle einziehen. Das wär' zudem ein Werk, das die Herren
verantworten könnten, denn was er auch mit Gottes Zulaſſung ge¬
than hat, er iſt fürwahr kein ſchlechter Menſch geweſen.


Natürlich! rief der Vormund: gleiche Brüder, gleiche Kappen. —
Der Anwalt und der Heiligenpfleger brachen in ein Gelächter aus, das
ſie erſt nach einem Blick auf den Pfarrer und Amtmann wieder dämpften.


Der Herr Vetter zeigt den richtigen Weg an, verſetzte Friedrich.
Wenn ich in das Häusle einzög', ſo thät' mich Mancher, wie jetzt
der Herr Vetter, dann den neuen Kübler heißen. Nun bleib' ich zwar
dabei, daß er beſſer geweſen iſt als man ihn ausgibt, aber darum will
ich doch nicht mit meiner Chriſtine in dem Häusle wohnen und ſo an¬
geſehen ſein wie der Kübler mit ſeinem Weib. So wird's gewiß
jedem Andern auch gehen, und daran können die Herren abnehmen
ob's mein Vater ehrlich mit mir meint, wenn er ſagt, er woll' mir
das Häusle kaufen. Wiewohl, ich glaub' gar nicht, daß der Gedank'
in ſeinem Kopf gewachſen iſt.


[208]

Item, hob der Pfarrer wieder an, ſoll Er geſagt haben, Sein
Vater henke ſein Geld lieber an die Stallmägde, als daß er Ihm
helfe.


Das iſt verlogen! fuhr Friedrich auf. Mein Vater ſollt' ſich ſchä¬
men, daß er ſich ſolche Flöh' in die Ohren ſetzen läßt, da er doch
recht gut wiſſen könnt', woher ſie kommen.


Item, fuhr der Pfarrer fort, habe Er mit Gewalt von Seinem
Vater Geld haben wollen, daß Er Dispenſation wegen Seiner Mino¬
rennität bekomme.


Ja, das hab' ich von ihm haben wollen, fiel Friedrich ein, und
deßwegen iſt mir das Trinkgeld, mit dem er mich hat abſpeiſen wollen,
viel zu wenig geweſen. Ich weiß nicht, wie's mein Vater und mein
Pfleger mit einander haben: wenn ich von dem Einen Geld will, ſo
ſchickt er mich an den Andern. Das aber weiß ich, daß ich das Recht
hab', meine Minderjährigkeit abzukaufen, damit ich nicht mehr bei mei¬
nem Vater um Heirathserlaubniß zu betteln brauch'; und wenn ich
die Dispenſation mit meinem eignen Geld bezahl', ſo wird Niemand,
hoff' ich, was dawider haben.


Er ſoll dabei geſagt haben, wenn Er nur Geld habe, ſo brauche
Er keinen Pfarrer und keinen Amtmann dazu. Summa Summarum
klagt Sein Vater, Er folge ihm nicht, ſchaffe ihm nichts, gehe nur
müßig, ſei in der Nacht draußen, und erſt am Sonntag habe Er ge¬
ſagt, der Teufel ſolle das Geſchäft holen, Er wolle ihm keine Arbeit
mehr thun, er helfe Ihm ja nicht. Es bittet anbei Sein Vater,
weil er vor Ihm niemals, weder Tag noch Nacht, ſicher ſei, ſo möchte
man ihm Sicherheit verſchaffen vor Ihm und Ihn alſo verwahren,
daß Er ſich an niemand vergreifen und niemand ſchaden könne.


Mein Vater iſt kein Mann, wenn er das behauptet, erwiderte
Friedrich. Ich hab' noch nie in meinem Leben Hand an ihn gelegt,
ich hab' mich nicht einmal, ſeit ich aus den Bubenjahren herausge¬
wachſen bin, ſo viel ich auch Urſach' hätt', an meiner Stiefmutter
vergriffen. Vom Schaffen ſag' ich gar nichts.


Wie kannſt du ſagen, dein Vater ſei kein Mann! rief der
Vormund.


Er iſt kein rechter Mann, ich behaupt's noch einmal. Er hat mir
zugetraut, ich werd' mein Mädle betrügen und mein leiblich's Kind
[209] verleugnen. Das thut kein rechtſchaffener Mann. Dann iſt er in
der Hand meiner Stiefmutter, wie ein Rohr, das im Wind hin und
her ſchwankt: das einemal ſagt er, er gebe nie ſeinen Conſens zu mei¬
ner Heirath, das andermal will er mir des Küblers Häusle dazu
kaufen.


Hat Er das vierte Gebot ganz vergeſſen, rief der Pfarrer, daß
Er im Beiſein Seines Vaters und vor uns ſo verächtliche Reden
wider ihn ausſtößt und den kindlichen Reſpect ganz hintanſetzt? Aber
freilich, Er macht's der Obrigkeit auch nicht beſſer, Er ſagt ja, wenn
Er Geld habe, ſo brauche Er keinen Pfarrer und keinen Amtmann,
um Seinen Kopf durchzuſetzen.


Friedrich warf einen Blick ingrimmiger Verachtung auf den Pfar¬
rer. Der Herr Amtmann, ſagte er, wird wohl wiſſen, daß ſeine Macht
nicht über die ganze Welt reicht und daß auch noch eine Obrigkeit
über ihm iſt. Was aber Sie, Herr Pfarrer, anbelangt, ſo haben
Sie meinem Schwäh'rvater mit Drohungen das Verſprechen abgepreßt,
daß er ſeiner Tochter und mir die Einwilligung verweigere. Sie
nennen das, was zwiſchen zwei jungen Leuten vorgeht, die einander
lieb haben, eine böſe That. Iſt ein Seelſorger nicht dazu da, daß
er böſe Thaten in der Gemeinde gut machen hilft? Iſt er nicht dazu
da, daß er die Gefallenen wieder aufrichtet? Iſt er nicht dazu da,
daß er den unterſtützt, der den guten Willen hat, das Geſchehene un¬
geſchehen oder doch wenigſtens wett und eben zu machen? Sie wiſ¬
ſen von Amtswegen, daß ich geſchworen hab', meiner Chriſtine mein
Wort zu halten und ſie zu heirathen, und Sie wollen dahin arbeiten,
daß ein Schaf aus Ihrer Heerde mit Gewalt meineidig gemacht wer¬
den ſoll? Sie ſchärfen von der Kanzel und in der Kinderlehre die
Pflichten zwiſchen Eltern und Kindern ein, und Sie muthen einem
Vater zu, daß er ſeine Tochter ſoll zur ** werden laſſen?


Er wollte fortfahren, aber der allgemeine Tumult übertäubte ihn.
Mit Ausnahme des Amtmanns, der behaglich ſitzen blieb, war der
ganze Convent aufgeſtanden und donnerte auf den frechen Redner
hinein. Beſonders heftig eiferte der Pfarrer, deſſen kleine magere
Geſtalt ſich ſeltſam von dem wohlbeleibten Umfange ſeines weltlichen
Mitbeamten neben ihm unterſchied. Da er in dem Geſchrei der übri¬
gen Mitglieder, welche ihn gegen die Läſterungen des Angeklagten in
D. B. lV. Kurz, Sonnenwirth 14[210] Schutz nehmen zu müſſen glaubten, mit ſeiner Stimme nicht durch¬
dringen konnte, ſo ſetzte er ſich ſchnell wieder, ergriff die Feder und
ſchien ſich heftig ſchreibend im Protokoll Recht verſchaffen zu wollen.


Als der Tumult verſtummte, ſagte der Amtmann zum Pfarrer:
Haben Sie auch im Protokoll angemerkt, Herr Pfarrer, wie recht¬
fertig er iſt?


Ja wohl, Herr Amtmann, antwortete der Pfarrer mit großer Be¬
friedigung, und zeigte ihm das Protokoll. Sehen Sie, hier ſteht's
ſchon geſchrieben: „Bei aller ſeiner äußerſten Bosheit will er immer
noch Recht haben.“


Ich hoff', es iſt noch eine Gerechtigkeit über uns, verſetzte Friedrich,
Ebersbach iſt noch nicht die Welt, ich will mich ſchon vor dem Herrn
Vogt und Special verantworten, Euer Protokoll und Bericht, Ihr
Herren, iſt nicht nöthig.


Schweig' Er nur jetzt ſtill, ſagte der Amtmann ruhig, Sein Maß
wird nachgerade ziemlich voll ſein. Uebrigens bin ich der Meinung,
Herr Pfarrer, daß der Kläger zum Schluß aufgefordert werden ſolle,
zu erklären, ob er denn ſeinen Conſens zu der Heirath noch nicht
geben wolle.


Ja wohl, ſagte der Pfarrer, die Frage iſt der Form wegen noth¬
wendig und ich ſtelle ſie hiermit an den Herrn Sonnenwirth.


Der Sonnenwirth war beſtürzt darüber, daß die beiden Vorgeſetz¬
ten, deren Anſichten er doch hauptſächlich bis jetzt gefolgt war, ſich
gegen ihn einer Frageſtellung bedienten, die ihn gleichſam im Stiche
ließ. Er kratzte ſich hinter dem Ohr und ſtotterte endlich: Ich weiß
nicht, was ich thun ſoll, ich ſehe eben nichts Anderes voraus, als daß
es ſein Verderben iſt.


Gut, ſagte der Pfarrer. Es können nunmehro beide abtreten,
und wird das Alles an's Oberamt berichtet werden.


Vater und Sohn gingen mit einander vom Rathhauſe fort und
nach Hauſe, ohne unterwegs ein Wort mit einander zu reden.


Sie waren nicht mehr weit von der Sonne entfernt, als eine
Stimme über ihnen rief: Herr Sonnenwirth, ſchämt Er ſich nicht,
Seinen Sohn vor Kirchenconvent zu verklagen, wo die alten Weiber
hinlaufen?


[211]

Sie blickten in die Höhe. Es war der Invalide, der ſich ſeit
langer Zeit zum erſtenmal wieder am Fenſter ſehen ließ.


Auch wieder einmal unter's Gewehr getreten? rief Friedrich
hinauf.


Und Er, ſagte der Invalide zu ihm, hätt's auch nicht ſo weit
kommen laſſen ſollen. Ich hab's Ihm ſchon einmal geſagt.


Damals war's ſchon zu ſpät, lachte Friedrich. Auf Wiederſehen!


Sein Vater war, ohne dem Invaliden zu antworten, voraus ge¬
gangen. Unter der Hausthüre wartete er auf ihn. Willſt du dein
Mütterlich's nehmen und nach Amerika gehen? ſagte er zu ihm.


Ich will mit meiner Chriſtine drüber reden, antwortete Friedrich
und machte ſich unverweilt auf den Weg.


Nach einer halben Stunde kam er heim und brachte die Antwort.
Sie will nicht, ſagte er, ſie erklärt, ſie wolle ſich in Ebersbach nicht
nachſagen laſſen, ſie habe ſo unrechte Dinge gethan, daß ſie habe nach
Amerika gehen müſſen, wo bloß die ſchlechten Leute hinwandern. Ihr
Wahlſpruch ſei: Bleibe im Lande und nähre dich redlich.


Es ſteht geſchrieben, das Weib ſoll dem Mann folgen, ſagte der
Sonnenwirth.


Das müßt' ſie auch, wenn mir's Ernſt wär', erwiderte Friedrich.
Aber ich bin mit mir ſelber nicht im Klaren, wie's mit dem Amerika
iſt, ich weiß nicht, ob's Balken hat oder ob ich drin ſchwimmen kann.
Wenn ich allein wär', ging' ich ſchon; ſo aber laſſ' ich's auf die
Chriſtine ankommen, weil ich ſelber nicht weiß was beſſer iſt.


Da ſiehſt du's: ſie hängt wie ein Radſchuh an dir und hindert
dich überall am Fortkommen.


Und wenn ſie mir jetzt ſchon ganz verleidet wär' — ich hab' ihr
mein Wort gegeben und das halt' ich ihr.


14 *[212]

22.

Heu und Frucht waren eingethan und Alles ging ſeinen gewöhn¬
lichen Gang, nur in Friedrich's Heirathsangelegenheit wollte keine
Bewegung kommen. Alles, was er bisher gethan hatte, um dieſelbe in's
Werk zu ſetzen, war wie ein Schlag in's Waſſer geweſen. Längſt
hatte er ſeine Supplik an die Regierung eingereicht und als Minder¬
jähriger um Heirathserlaubniß gebeten. Damals war er ſehr ver¬
gnügt von Göppingen zurückgekommen und hatte Chriſtinen erzählt,
der Vogt, dem er die Schrift zum Beibericht gebracht, habe ihm zwar
ſcharfe Vermahnungen gegeben, aber den Ausſpruch gethan, wenn ein
Burſche ſein Mädchen ehrlich machen wolle, ſo müſſe man ihn eher
aufmuntern als abſchrecken. Er hatte alſo nicht mit Unrecht darauf
vertraut, daß die höhere Behörde ſein Anliegen nicht aus dem engen
Geſichtskreiſe der Fleckenregierung betrachten werde. Leider aber wurde
der Vogt bald hernach auf ein anderes Oberamt verſetzt und ſein
Nachfolger ließ die Schrift liegen. Da braucht's nichts als Geld,
ſagte Friedrich, man muß eben ſeine Schreiber ſchmieren, damit ſie
ihm die Sach' im Andenken erhalten; wenn nur das Geld nicht ſo
rar wär'! Die Zeit rückte immer näher, wo ſein Kind unehlich zur
Welt kommen ſollte, um nach der herrſchenden Meinung ſein Leben
lang einen Makel zu behalten, und Chriſtine jammerte darüber ſo, daß
ſie oft mit ihren Klagen ſeine eigene Verzweiflung betäubte. Ihr
Vater war bettlägerig geworden; zwar verdienten ſeine herangewachſenen
Söhne über die Sommerszeit durch Taglohn ſo viel in's Haus, daß
er nicht wie früher bei dem Pfarrer um Unterſtützungen nachſuchen
mußte, aber bei jedem Biſſen ließ ſich die Armuth mitſchmecken, und
Chriſtine, die nach dem ordnungsmäßigen Gang der Dinge, ſtatt
dem elterlichen Hausweſen zur Laſt zu fallen, einem eigenen hätte
vorſtehen ſollen, wurde von den Ihrigen ſcheel angeſehen. Sie
machte ſie ſich ihnen ſchon dadurch als eine Bürde fühlbar, daß
[213] ſie durch Arbeiten wenig und zuletzt nichts mehr zur Erhaltung
der Familie, der ſie doch zehren half, beitragen konnte. Macht
man ja doch nicht bloß in jenen Kreiſen des Lebens, welchen
man das Vorrecht der Rohheit zugeſteht, die Erfahrung, daß die
Noth die Zartheit der Geſinnungen leicht verwiſcht und der gefähr¬
lichſte Prüfſtein für alle Liebe und Freundſchaft iſt. Chriſtine hatte
ein Recht, ihr Elend am Halſe des Einzigen auszuweinen, der ihr zu
Troſt und Hilfe verpflichtet war, und ſie machte von dieſem Rechte
fleißigen Gebrauch; auch war es natürlich, daß die Beſchwerden eines
Zuſtandes, der ſelbſt eine im Schoße des ungetrübten Glückes lebende
Frau zur Schwermuth reizen kann, das oft von den nothwendig¬
ſten Hilfsmitteln entblößte Mädchen maßlos unglücklich machten. All
dieſer Jammer ſtürmte auf Friedrich herein, der dem Gefühle ſeiner
Hilfloſigkeit bald in ſtumpfem Hinbrüten, bald in Ausbrüchen einer
wahnſinnigen Wuth gegen die herzloſe Zähigkeit der Welt den Lauf
ließ. Auf den Schwager, dem er einſt vertraut hatte, konnte er
ſchon längſt nicht mehr rechnen; derſelbe hatte ſich von ihm losgeſchält
und ihm erklärt, er wolle es nicht durch Parteimachen für eine Sache,
die er von Anfang an getadelt, mit ſeinem Schwiegervater verder¬
ben, auch hatte er ſeiner Frau unterſagt, ſich ihres Bruders ferner
anzunehmen.


Um dieſe Zeit lief die, Sonnenwirthin eines Tages in's Amthaus
um der Amtmännin zu erzählen, daß ihre älteſte Tochter, die Krä¬
merin, wenn der Herr Amtmann ſie nur vernehmen wollte, Greuel¬
dinge von dem ungerathenen Böſewicht ausſagen könnte. Der Amt¬
mann verſammelte, von ſeiner Frau angetrieben, ſeine beiden Urkunds¬
perſonen und ließ die Krämerin rufen, welche weinend vor ihm erſchien.
Ihr Bruder, gab ſie zu Protokoll, habe drei Gulden gefordert, damit
er ſein Memorial und Bericht zu Göppingen bekomme. Darauf habe
ſie ihm geſagt, ſie wolle nicht zum Vater gehen, weil ſie wiſſe, daß er
ſich bloß darüber erzürne; er ſolle ſeinen Pfleger ſchicken. Nun habe
er aber angefangen zu toben: er ſehe wohl, daß er's verloren habe,
morgen wolle er einen Rauſch trinken und ſein Meſſer ſchleifen, in
ſeines Vaters Haus hingehen und das Geld fordern, und wenn er's
nicht gebe, ihn niederſtechen, und wenn ſeine Mutter etwas ſage, ihr's
auch ſo machen. Dann habe er Geld genug, und nehme Alles was
[214] vorhanden ſei. Dieſes Alles habe er mit einem recht unmenſchlichen
und beſtialiſchen Grimm und Eifer ausgeſprochen: das Donnerwetter
ſolle ihn in die Ewigkeit hinüberſchlagen, wenn er das nicht thue;
weßhalb ihr ſo angſt geworden, daß ſie nicht ruhig habe zum heiligen
Abendmahl gehen können.


Nachdem der Amtmann das Protokoll aufgenommen und die An¬
geberin entlaſſen hatte, ſagte einer der beiden Gerichtsbeiſitzer: Es
wird doch nöthig ſein, daß man den Frieder auch verhört.


Wozu? verſetzte der Amtmann. Ich weiß ſchon zum Voraus, was
der ſagen würde, der Advocat. Ich ſchicke eben einfach den Bericht
nach Göppingen, und wenn von dort wieder nichts kommt, wie auf die
Kirchenconventsverhandlung, ſo kann mir's gleichgiltig ſein. Wiewohl,
der neue Vogt wird es vielleicht mit dergleichen comminatoriſchen und
calumniöſen Redensarten etwas ſchärfer nehmen. Vielleicht läßt er
auch die Sachen ad cumulum zuſammen kommen; denn mir ahnt's,
daß noch mehr bevorſteht und daß ich noch weitere Protokolle und
Berichte ſchreiben muß.


Indeſſen ſchien es doch, daß Friedrich's Drohungen nicht auf un¬
fruchtbaren Boden gefallen ſeien, denn unerwartet gab ihm ſein Vater,
der etwa unruhig geſchlafen haben mochte, das Geld zu ſeiner Wer¬
bung in Göppingen, und bald hatte er es dahin gebracht, daß ſeine
Supplik bei der fürſtlichen Regierung lag. Nachdem aber ſeine An¬
gelegenheit dieſen Schritt vorwärts gethan hatte, erfolgte wieder ein
langer Stillſtand und jeder vorüberfliehende Tag mehrte ihm das
Gewicht der Klagen Chriſtinens, die in der Ungeduld ihres Jammers
meinte, wenn ſie nur einmal rechtmäßig die Seinige wäre, dann würde
allen andern Sorgen auf immer abgeholfen ſein.


Abermals liefen die Weiber im Flecken zuſammen und erzählten
ſich von gräßlichen Reden, die er ausgeſtoßen haben ſollte; ja man
legte ihm die Verſicherung in den Mund, er wolle den Nächſten Be¬
ſten, der ein paar Gulden im Sack habe, über den Haufen ſtechen,
um mit dem Geld nach Stuttgart gehen zu können. Allein ungeach¬
tet dieſer rohen Worte waren und blieben die Straßen ſicher vor
ihm, und er gelangte auf dieſem Wege ſo wenig in den Beſitz des
unentbehrlichen Geldes, als er es diesmal von der unſtet hin und her
ſchwankenden Geſinnung ſeines Vaters herauszubekommen vermochte.


[215]

Chriſtine rieth ihm, ſich in dieſer Verlegenheit an die Bäckerin zu
wenden; ſie ſelbſt hatte nicht das Herz dazu. Mit der Geduld, welche
eine fortwährende Vereitlung eines fieberhaft betriebenen Planes manch¬
mal einflößen kann, begab er ſich zu Chriſtinens Baſe, deren Krank¬
heit ſo weit fortgeſchritten war, daß ſie den ganzen Tag regungslos
im Lehnſtuhle ſaß, und ſprach ſie um ein Darlehen an. Die Bäcke¬
rin, die der leidvollen Entwickelung des Liebesverhältniſſes ſtets mit
großer Theilnahme folgte, antwortete ſchmerzlich ſeufzend: Ich
thät's gewiß gern, aber der Mein' läßt mir den Schlüſſel zum Geld¬
käſtle nicht über, und Ihr wiſſet ja ſelber, wie b'häb er iſt. Sie
ſprachen noch miteinander, als der Knecht des obern Müllers in die
Stube trat. Er hatte im Vorbeigehen durch das Fenſter Friedrich's
Anweſenheit bemerkt und kam herein, um einen Schoppen mit ihm
zu trinken. Da, der Peter könnt' vielleicht aushelfen, ſagte die Bäcke¬
rin: der hält ſein' Lohn zuſammen und hat doch auch zur rechten Zeit
wieder eine offene Hand; was gilt's, der thut ſein Sparhäfele auf?
Der Knecht ließ ſich erklären, um was es ſich handle, und ſagte, ja
wohl, die paar Gulden gebe er gerne her. Friedrich konnte ſich ohne
Beleidigung nicht weigern ſie anzunehmen, und doch drückte es ihn,
daß er, der Sohn des reichen Sonnenwirths, zu einem Knechte, ob¬
wohl es ſein guter Bekannter war, durch ein Darlehen von erſpartem
Lohne in Verpflichtung und Abhängigkeit treten ſollte; und zwar drückte
es ihn um ſo mehr, weil er wußte, daß der Knecht ſelbſt, bei ſeiner
gutmüthigen aber beſchränkten Sinnesart, ſich über dieſe Betrachtung
nicht erheben konnte.


Da er aber nun einmal die Mittel in der Hand hatte, ſeine
Sache in Stuttgart zu betreiben, ſo verſäumte er es nicht, davon
ſchleunigen Gebrauch zu machen. Chriſtine war ihm an dem Abend,
wo ſie ihn zurückerwartete, einige Schritte vor den Flecken entgegen¬
gegangen. An derſelben Stelle, wo ſie auf beſchneitem Wege einſt
von ihm Abſchied genommen, ſaß ſie nun unter einem Baume, von
welchem ſchon einzelne herbſtlich rothe Blätter zu fallen begannen,
und erhob ſich, als ſie ihn die Straße daher wandern ſah. Er
war ſehr befriedigt von dem Erfolge ſeiner Reiſe und erzählte ihr,
man habe ihm verſprochen, die Reſolution auf ſein Memorial ſolle
ihm auf dem Fuße nachfolgen. Du weißt ja, ſagte er, Schmieren und
[216] Salben hilft allenthalben. Ohne Trinkgeld richtet man in Stuttgart
nichts aus. Aber ſie brauchen's auch redlich. Das iſt dir ein Wohl¬
leben in den Tag hinein, daß ich dir's gar nicht beſchreiben kann.
Ich möcht' nur wiſſen, wer das ganz' Neſt verhält, ich glaub', das
Land muß ſie eben verhalten, denn ſchaffen ſieht man keinen Menſchen,
als höchſtens die Wirthe und die Putzmacherinnen. Schon am frühen
Vormittag liegen die Männer im Wirthshaus oder ſpielen in den
Kaffeehäuſern, und denk' nur, die Weiber, hab' ich mir ſagen laſſen,
laufen des Nachmittags zu einander in die Kaffeeviſit' und bleiben bis
Abends acht Uhr und drüber bei einander ſitzen, und mit was meinſt daß
ſie ſich die Zeit vertreiben? Mit Kartenſpielen, und das ſo hoch, daß
erſt vorgeſtern eine, wie ich gehört hab', mehr als hundert Gulden
verloren hat. Und dabei treiben ſie einen Luxus, daß es nicht zum
ſagen iſt: Atlaskleider tragen ſie und goldene Uhren, goldene Arm¬
bänder, eine Menge Ringe mit koſtbaren Steinen, und Perlen um
den Hals anſtatt der Granaten.


Chriſtine ſeufzte.


Und der Herzog vollends, fuhr er fort, der lebt wie der Vogel
im Hanfſamen. Er iſt grad ſo alt wie ich, hab' ich mir in Stutt¬
gart ſagen laſſen. 's iſt doch eine confuſe Welt. Ich muß bei ihm
einkommen und meine Minderjährigkeit wegſuppliciren, damit ich hei¬
rathen und ein Hausweſen führen kann: und er iſt im gleichen Alter,
höchſtens ein Jahr älter, und iſt ſchon zwei Jahr' verheirathet und
regiert ſeit ſechs Jahr' ein ganz Land, daß es blitzt und kracht.


Verſteht er denn ſein Handwerk? fragte Chriſtine.


Was weiß ich? Aber herrlich und in Freuden lebt er und Andern
verbietet er was ihm ſelber ſchmeckt. Denk' nur, ich hab' auch die
Herzogin geſehen. Aber die iſt ſchön, und noch ſo jung, aber mächtig
ſtolz. Mich wundert's nur, daß ſie die ** leidet, die er neben ihr
hält, und was meinſt, die baden im Burgunderwein.


Pfui, ſagte Chriſtine, da möcht' ich nicht davon trinken.


O es gibt Leut', die ihn nachher kaufen, weil man ihn natürlich
wohlfeil haben kann. Und vor acht Tagen hat er in Ludwigsburg
ein Feuerwerk geben und hat dabei für fünfmalhunderttauſend Gulden
in die Luft aufgehen laſſen. Man ſpricht noch heut' in Stuttgart
[217] in allen Wirthshäuſern davon, aber ſie ſchimpfen, weil's in Ludwigs¬
burg geweſen iſt. Ich hätt's doch auch ſehen mögen.


Ich nicht, ſagte Chriſtine. Es iſt ſündlich, das Geld ſo hinaus¬
zuſchmeißen. Rechne nur auch einmal aus, wie lang arme Leut' davon
hätten leben können. Aber ich kann dir auch eine Neuigkeit ſagen:
Denk' nur, dein Vater hat uns heut' eine Schüſſel Mehl geſchickt.


So, mein Vater? Es iſt zwar nicht viel, aber es freut mich
doch an ihm. Hat er ſie dir geſchickt?


Nein, er hat eben ſagen laſſen, da ſchick' er's. Es iſt mir um
der Meinigen willen lieb, denn du haſt keinen Begriff davon, was ich
von ihnen ſchlucken muß. In deiner Gegenwart laſſen ſie's nicht ſo
heraus, aber du wirſt doch auch ſelber ſchon gemerkt haben, was wir
ihnen werth ſind. Beſonders meine Mutter und mein Hannes, die
haben gemeint, ſie werden Ehr' und Vortheil von uns ernten, und
ſtatt deſſen haben ſie mich eben immer noch auf'm Hals. Meine
Mutter hat gleich zu brotzeln und zu backen angefangen, du weißt ja,
wie ſie iſt; ſie hat geſagt, ſie mach's für meinen Vater, aber der hat
nichts davon geſſen und dann hat ſie's für ſich behalten und hat
denkt: ſelber eſſen macht fett.


Hab' noch die paar Tag' Geduld, ſagte er. Jetzt kommt ja die
Reſolution, und dann hat alles Jammern ein End! Dann werden wir
zuſammen getraut, und das iſt die Hauptſach', wenn's auch ohne
Kränzle und am Mittwoch geſchieht. Der Mittwoch iſt auch ein Tag.
Und wenn ich mein Mütterlichs hab' und Händ' und Füß' für meine
eigene Haushaltung regen kann, dann will ich dich ſchon wieder 'raus¬
füttern, dich und dein Kind.


Ja, ſagte Chriſtine, und unſer Herrgott wird weiter ſorgen.

23.

Tag um Tag verging, aber keiner brachte die erſehnte herzogliche
Reſolution. Die Tage wurden zu Wochen und eine reihte ſich an die
andre, ohne dem Harrenden das Verſprechen zu erfüllen, das er ſich
in Stuttgart mit fremdem Gelde erkauft hatte. Träg und eilig zu¬
[218] gleich ging ihm die unbarmherzige Zeit: während ſie ihn endlos auf
die Gewährung, die er von der Menſchenwelt forderte, warten ließ,
zeigte ſie ihm jeden Tag den unaufhaltſamen Fortſchritt, welchen die
Natur machte, um ihm ein Geſchenk zu bringen, das jener Gewährung
nicht zuvorkommen durfte, wenn es nicht den Stempel des Unglücks
und der Schande tragen ſollte.


So kann die Sach' nicht fortgehen, ſagte Chriſtine eines Tages
zu ihm. Ich möcht' 'naus, wo kein Loch iſt. Die Meinigen haben
mir ausgeboten, der Sommerverdienſt ſei zu End' und mit dem Winter
geh' das Hungerleiden vollends ganz an. Sogar mein Jerg, der
mir immer noch ein wenig den Kopf gehebt hat, ſagt, es ſei in der
ganzen Welt der Brauch, wer die Gais angebunden hab', der mög'
ſie auch hüten.


Weiß wohl, bemerkte er finſter, der Bauer thut Alles gern, wenn
er muß.


Aber bedenk' auch, wie ſie auf'm dürren Bäumle ſind. Ich ſelber
ſchäm' mich, daß ich ihnen fort und fort hinliegen muß, und du ſollteſt
dich auch ſchämen. Ich weiß was ich thu': wenn meine Zeit kommen
iſt, ſo trag' ich dein Kind in deines Vaters Haus und leg's ihm vor
die Thür. Da, er ſoll's ſäugen, denn ich werd' ihm nichts geben
können.


Dieſer bittere Spott der Verzweiflung ſchnitt ihm glühend in's
Herz. Hat er ſeitdem nichts geſchickt, fragte er, kein Brod, nicht ein¬
mal eine Schüſſel Mehl?


Nichts, erwiderte ſie, kannſt dir wohl denken daß ich dir's ge¬
ſagt hätt'.


Er knirſchte mit den Zähnen. Wohl, wenn er's nicht ſichtbar
geben will, ſo ſoll er's unſichtbarlich geben. Ruf deinen Jerg, er
muß uns behilflich ſein, ich will mit ihm deines Vates Wagen rüſten,
und du ſchaffſt Säck' her, wenn's dran fehlt, ſo entlehnſt du in der
Nachbarſchaft.


Was willſt denn auf dem Wagen führen? fragte ſie ſchüchtern.


Die Säck'! rief er noch barſcher als zuvor.


Und was willſt in die Säck' thun?


Freſſen! antwortete er. Seine Augen funkelten, die Narbe in
[219] ſeinem Geſicht war blutroth geworden und ſein ganzes Ausſehen er¬
ſchien ſo wild, daß ſie nicht weiter zu fragen wagte.


Jerg, der kein Mann von vielen Worten war und ſich unbedingt
an ſeinen natürlichen Schwager anſchloß, ſowie er dieſen thatkräftig
auftreten ſah, half ihm den Wagen zurecht machen, während Chriſtine
unter der hintern Thüre ſaß und die Säcke flickte, wo ſie Löcher an
ihnen entdeckte. Niemand fragte, was dieſes Vorhaben bedeuten ſolle.
Der Vater lag oben im Bett und ſah meiſt ſtillſchweigend an die
Wand oder nach der Decke hinauf, und die Mutter befand ſich bei
ihm. Der kleine Bube tummelte ſich um den Wagen herum und ſah
den beiden jungen Männern zu.


Als es Nacht wurde, mußte Jerg die Kuh aus dem Stalle füh¬
ren und Friedrich half ihm ſie an den Wagen ſpannen. Dann befahl
er Chriſtinen eine Laterne anzuzünden und mitzunehmen. Sie kam
mit der Laterne, blieb aber ſtehen und ſagte: Um Gotteswillen, Frie¬
der, was haſt vor? Mir iſt's als ſei's nichts Gut's.


Hörſt den Teufel ſchon Holz ſpalten? ſagte er. So gut du dein
Kind in meines Vaters Haus tragen kannſt, ſo gut kann ich ihm auch
Futter draus holen.


Ach Gott, ſeufzte ſie, das iſt eine unrechte und gewagte Sach'.
Ich will nichts davon.


Du läßt mir ja keine Ruh! rief er und der Grimm klang aus
ſeiner gedämpften Stimme heraus. Vorwärts!


Er ergriff ſie am Zopfbändel und zog ſie fort. Sie verbarg die
Laterne unter der Schürze und folgte willig. Der Wagen fuhr lang¬
ſam durch den Flecken. Es war überall ſtill, kein Menſch begegnete
ihnen. Vor der Sonne hielten ſie an. Auch dort lag Alles im
Schlafe. — Ihr beide bleibt da unten, ſagte Friedrich, für euch iſt's ein
fremdes Haus, man ſoll euch keinen Einbruch vorwerfen können. Ich
bin hier in meinem Eigenen, das weiß ſogar der Hund, die unver¬
nünftig' Creatur, denn ſehet, er rührt ſich nicht.


Er öffnete einen Laden und verſchwand mit einem Sack, den er
bald ſchwerer als er zuvor geweſen war, wiederbrachte. So trug er
mit ſtarker Hand einen Sack um den andern herab und bot ihn zu
dem Laden heraus, wo ihn Jerg in Empfang nahm und auf den
Wagen lud. Ohne durch einen Laut im Hauſe geſtört zu werden,
[220] brachte er endlich den letzten Sack. Nachdem das nächtliche Geſchäft
beendigt war, gab er Jerg einen Wink, mit dem Wagen umzukehren,
wobei er die in Eile geladenen Säcke hielt, damit keiner herunterfiel.
Vorwärts, marſch! commandirte er dann und der Wagen ſetzte ſich
wieder in Bewegung.


Chriſtine, die ſich in das Unternehmen gefunden zu haben ſchien
und dem ſeltſamen Tone Friedrich's entgegenwirken zu müſſen meinte,
bemerkte ſcherzend: du kommſt mir vor, wie ein Räuberhauptmann,
der über ſeine Bande hinein befiehlt.


Was nicht iſt, kann noch werden, murmelte er dumpf.


Als ſie den Wagen abluden, überzählte er die ungleich gefüllten
Säcke. Es werden circa ſechs, ſieben Scheffel ſein, ſagte er mit der
Sicherheit des Kenners.


Was iſt's für Frucht? fragte Jerg.


Dinkel und Haber.


Da wär' ja für Menſchen und Vieh geſorgt.


Es iſt an dem für die Menſchen genug. Den Haber betracht' ich
als baar Geld.


Hab' mir's wohl vorgeſtellt.


Wollen's gleich aus einander thun. Die Säcke da enthalten Dinkel,
die ſchlachtet ihr in's Haus, ihr brauchet nicht alle, könnt mir noch
ein' oder zwei davon laſſen.


Ja, iſt denn die Frucht für uns? fragte Jerg.


Nein, aber für eure Mäuler. Zu was meinſt denn, daß ich ſie
da 'rausgeführt hab'? Mach' mir nur keine Umſtänd'. Den Reſt
davon und den Haber will ich in etwas Anders verwandeln, das noch
mehr Brod geben ſoll.


Jerg lachte verſchmitzt.


Merkſt was? fragte Friedrich.


Mir iſt's immer, als müßt' ich wieder einen Gang für dich nach
Rechberghauſen thun, ſagte Jerg.


Haſt's troffen.


Zufällig weiß ich, daß der Chriſtle morgen 'runter kommt.


So nimm ihn zu dir da 'raus. Ich will dann auch kommen,
daß wir mit ihm Handels eins werden.


[221]

Wenn nur dein Vater nicht erfährt, was du ihm für einen Be¬
ſuch gemacht haſt! ſeufzte Chriſtine, die nachgerade wieder unruhig
wurde.


Der erfährt's freilich, erwiderte er. Der Knecht, der neben der
Frucht liegt, iſt aufgewacht, hat ſich ein wenig auf'm Ellenbogen auf¬
gerichtet und hat mich anglotzt. Der ſchweigt nicht.


Jeſus, Jeſus! und das ſagſt du erſt jetzt.


Es kommt immer noch früh genug. Gut iſt's auf alle Fäll', wenn
die Sach' mit dem Chriſtle morgen gleich in's Reine kommt. Jetzt
aber fort in's Bett und laſſ' dir von vollen Schüſſeln träumen.


Am folgenden Morgen gab es in der Sonne, ſobald der Sohn
des Hauſes ſich blicken ließ, einen jener ſtürmiſchen Auftritte, welche
der Nachbarſchaft ſo oft verriethen, wie es um den Frieden deſſelben
ſtand. Sein Vater empfing ihn mit einer Fluth von Schimpfworten,
warf ihm den nächtlichen Diebſtahl vor und drohte ihn alsbald wieder
in's Zuchthaus zu bringen. Der Knecht hatte ihn angegeben, ſchon
deßhalb, um, wie er nachher entſchuldigend zu ihm ſagte, für den Fall
der Entdeckung ſich ſelbſt von dem Verdachte zu reinigen; doch wollte
er ihn nur einen kleinen Sack mit Getreide haben fortſchleppen ſehen.


Wenn Ihr mich in's Zuchthaus bringen wollet, Vater, ſo ſteht's
Euch frei, ſagte Friedrich. Ihr habt's ja ſchon einmal gethan. Frei¬
lich haben die Leut' verſchiedentlich drüber geurtheilt, daß Ihr Eurem
eigenen und einzigen Sohn zum Ankläger worden ſeid.


Das iſt nicht wahr, entgegnete der Sonnenwirth. Die Sach' iſt
damals ohne meine Schuld offenkundig worden und ich hab's nicht
hindern können, daß ſie vor Amt kommen iſt.


Alſo wollt Ihr jetzt nachholen, was Ihr damals verſäumt habt?


Gib 'raus, was du mir geſtohlen haſt.


Es iſt weit fort, Ihr findet's nicht, und wenn Ihr alle Eure
Stalllaternen anzündet. Laßt mich majorenn werden und gebt mir
mein Mütterlich's heraus, dann will ich mit Euch abrechnen und will
Euch den Schaden erſetzen, daß nicht ein Kreuzer dran fehlen ſoll,
und wenn der Fruchtpreis derweil anzieht, ſo ſoll der Gewinn Euer
ſein. Dann könnt Ihr von Stehlen ſagen, ſo viel Ihr wollt, 's glaubt's
Euch Niemand.


Haſt du deinem Weibsbild davon gebracht?


[222]

Ihr könnt in und unterm Bett bei ihr ſuchen, Ihr findet nichts.
Es iſt aber eine rechte Schand' für Euch, Vater, daß ein reicher Mann,
wie Ihr, dem kranken Hirſchbauer ein einzigsmal eine Schüſſel Mehl
ſchickt.


Was? fuhr der Sonnenwirth auf: ich hab' ſchon öfter geſagt, daß
man hinaus ſchicken ſoll.


Dann iſt's unterwegs in irgend ein Loch gefallen, verſetzte Friedrich.
Der Sonnenwirth ſchwieg unſchlüſſig. Es machte ihn betroffen,
obwohl er es ſich bei den bekannten Geſinnungen ſeiner Frau leicht er¬
klären konnte, daß ſeine Befehle nicht vollzogen worden waren, und
unter dieſen Umſtänden glaubte er, bei ſeinem reichen Fruchtvorrathe,
den von dem Knecht angegebenen Verluſt ohne Geſchrei ertragen zu
ſollen. Er ging zur Stube hinaus und ließ ſeinen Sohn in Unge¬
wißheit, was er thun werde.


Haſt dein' Hausdieb im Verhör gehabt? fragte ſeine Frau draußen.
Woher weißt du's denn?


Du ſchreiſt ja ſo laut, daß man's in Göppingen hört. Und jetzt
willſt immer noch in deiner Langmuth zuſehen?


Der Alte kratzte ſich hinter dem Ohr. Das Stehlen will ich ihm
vertreiben, ſagte er. Du aber ſagſt mir weder im Pfarrhaus noch im
Amthaus ein Wort davon, ſonſt iſt's zwiſchen uns aus, und ich laſſ'
ihn morgen heirathen und nehm' alle Beide in's Haus zu mir.
So hitzig? maulte ſie.


Erſtens, erklärte er, hätt' ich ihn zwar gern in Numero Sicher,
aber nicht im Zuchthaus, und zweitens möcht' ich mir nicht nachſagen
laſſen, daß ich dem Hirſchbauer nichts als ein Schüſſele mit Mehl ge¬
ſchickt hab'. Was ſie jetzt haben, das ſollen ſie behalten.


Der Tag verging ruhiger als er begonnen hatte. Friedrich wußte
zwar immer noch nicht, weſſen er ſich zu verſehen habe; auch ließen
ihn gewiſſe Anſpielungen ſeiner Stiefmutter, welche von der Noth¬
wendigkeit ſprach, Schlöſſer und Riegel ausbeſſern zu laſſen, nichts
Gutes ahnen; doch meinte er aus dem Betragen ſeines Vaters ſchlie¬
ßen zu dürfen, daß ſeine eigenmächtige Pfändung ohne Folgen blei¬
ben werde.


Zur verabredeten Stunde ging er in des Hirſchbauern Haus. Der
Erwartete war bereits da, ein Mann mit rundem, ſchelmiſch lächeln¬
[223] den Geſicht und einem ſogenannten Horn auf der Stirne, das in der
Mitte über beiden Augen ſaß und ſo groß war, daß Friedrich es im
Scherz ein drittes Auge nennen konnte. Biſt ſchon da, Dreiäugiger?
ſagte er, ihm die Hand bietend. Die Alte hieß ihn ſehr freundlich
willkommen und bedankte ſich bei ihm für den ſtolzen Küchengruß, den
er geſandt habe; ſie vermied es klüglich zu fragen, wie er eine ſo be¬
deutende Beiſteuer aufgebracht. Man ſchwatzte eine Weile von gleich¬
gültigen Dingen, ohne daß der Hirſchbauer, der in der Stube zu
Bette lag, ſich in das Geſpräch miſchte. Dann gingen die Drei mit
einander fort, um unter dem Hauſe ihr Geſchäft mit einander ab¬
zumachen.


Was meinſt, Chriſtle? ſagte Friedrich. Der Jerg iſt doch ein
ſcharfſinniger Kopf, der hat's von ſelber gemerkt, daß ich wieder einen
Handel mit dir machen will.


Es iſt gut merken geweſen, Frieder, ſagte Jerg. Seit einiger
Zeit haſt du immer das link' Aug' von Zeit zu Zeit zugedrückt und
haſt mit dem rechten grad' vor dich hingeſehen, ſo daß ich immer hab'
denken müſſen: der thut in Gedanken zielen. Es iſt mir dabei ein¬
gefallen, was der Krämerchriſtle von dir geſagt hat: die Katz' läßt
das Mauſen nicht.


Alle Drei lachten. Ich will dir beweiſen, daß ich noch ein ſcharf¬
ſinnigerer Kopf bin als der da, ſagte Chriſtle. Thut's dir nicht and
nach deiner ſchönen Büchſ'?


Ja, wenn ich die wieder haben könnt'! rief Friedrich.


Bruderherz, kannſt ſie haben! Ich hab' dir ſie aufgehoben, weil
ich wohl gewußt hab', daß du wieder nach ihr fragen wirſt.


Sie lachten noch ſtärker. Heißt das, ſetzte Chriſtle hinzu, bei der
Hand hab' ich ſie nicht, ſondern ich hab' ſie in Gmünd verſetzt, aber
dort kann ich ſie jeden Augenblick wieder haben. Und damit du ſiehſt,
daß ich nicht bloß ſcharfſinnig, ſondern auch ehrlich gegen dich bin —
wie? unterbrach er ſich, zu Jerg gewendet, was hat er denn zu dem
Geld geſagt, das ich ihm für das Gewehr geſchickt hab'? Hat er mich
nichts geheißen?


Ei ja, 'n dreiäugigen Spitzbuben.


Siehſt, um das nämlich' Geld kannſt dein Gewehr wieder haben.
Jetzt geh' und heiß' mich noch einmal 'n Spitzbuben.


[224]

Biſt ein Biedermann, ſagte Friedrich.


Was, du, der beſt' Schütz' weit und breit, haſt dich zur Ruh'
ſetzen wollen? Du könnteſt's ja vor den Bauern nicht verantworten.
Und ein paar Fährten hab' ich dir ausgewittert, ich ſag' nichts, aber
das Herz wird dir im Leib' lachen. Nun, du kommſt doch zu mir
und holſt die Büchſ', dann gehen wir mit einander.


Aber Geld hab' ich keins, ſagte Friedrich. Kannſt Haber brauchen
und etwas Dinkel?


Das führ' ich nach Gmünd, freilich, und bring' gleich das Gewehr
mit zurück.


Da beim Jerg kannſt die Frucht faſſen, je eher je lieber, aber in
der Stille muß es ſein.


Heut' Abend noch will ich ſie holen. Auf Wiederſehen, du ver¬
lorner und wiedergefundener Sohn.


Der hat gut uneigennützig ſein, ſagte Friedrich, nachdem jener ſich
verabſchiedet hatte. Wenn ich eine glückliche Hand hab', ſo hat er
den Vortheil davon und keine Gefahr. Er weiß die beſte Schlich'
im Wald und die beſte Schlich' im Handel, aber den gefährlichen
Theil überläßt er Andern, und wenn's zum Klappen kommt, ſo hat
er nichts gethan. Aber wo iſt denn meine Chriſtine?


Im Beckenhaus, antwortete Jerg. Der Beckenbub' hat ſie in aller
Eil' geholt. Ich weiß nicht, was dort los iſt. Da kommt ſie ja!


Chriſtine kam athemlos herbei. Weißt was Neu's, Frieder? rief
ſie ſchon von weitem.


Nu, was denn?


Die Reſolution iſt da, du biſt ſchon ſeit vierzehn Tag' majorenn,
und weißt nichts davon.


Was Teufel! Wie kommt denn das, und woher haſt denn du's?


Von der Dote; die hat mich holen laſſen. Aber von wem's die
hat, das bringſt du nicht 'raus, und wenn ich dich rathen laſſ', bis
die Kuh 'n Batzen gilt.


Nu, ſo ſag's.


Die Kathrine aus dem Amthaus iſt's.


Was! Das wär'!


Ja, die Kathrine iſt zu der Dote geſchlichen und hat ſie um's
[225] Tauſendgott'swillen bittet, ſie ſoll' ſie nicht verrathen, aber ſeit vier¬
zehn Tag' ſei der Beſcheid von Stuttgart da und lieg' auf des Amt¬
manns Schreibtiſch. Es hab' ihr ſchier das Herz abdruckt, daß wir
nichts davon wiſſen ſollen. Du könneſt herzhaft auftreten und die
Proclamation verlangen. Aber wenn's 'rauskäm', daß ſie's ausge¬
ſchwätzt hat, ſo wär' ſie unglücklich.


Nein, nein, da muß man ganz ſtill ſein. Brav iſt's von dem
Mädle, das muß ich ſagen. Aber ſo viel ſeh' ich auch bei der Ge¬
legenheit, daß es Keine Einem nachträgt, wenn man ſie einmal hat
küſſen wollen.


So, du Lümple, was muß ich hören? Iſt's beim Wollen blieben?
Hat ſie dich heißen um ein Haus weiter gehen?


Ich hab' mir nicht Müh' gnug geben. Aber was denkt der Amt¬
mann? Getraut ſich der, fürſtliche Reſolutionen zu unterſchlagen?
Da ſteckt gewiß die Frau Sonnenwirthin mit unter der Decke. Ich
möcht' nur wiſſen, ob mein Vater auch etwas davon weiß.


Ja, ja, ſagte Jerg vergnügt, man ſpricht's ganz' Jahr von der
Kirbe (Kirchweih), endlich iſt ſie. Er ging und ließ die beiden allein.


Wenn ich geſtern gewußt hätt', was ich heut weiß, ſagte Friedrich,
ſo hätt' mein Vater ſeinen Dinkel und Haber noch. Jetzt darf ich
mein Mütterlich's fordern und brauch' dich keine Noth mehr leiden zu
laſſen. Wiewohl, ich will's ihm bei Heller und Pfenning zahlen.
Aber hätt'ſt dein Geheul auch noch ein paar Tag' unterwegs laſſen
können.


Wenn man eben Alles wüßt', dann wär' man reich, verſetzte
Chriſtine.


Und hätt' ich's nur eine Stund' früher gewußt, fuhr er fort, dann
hätt' ich den Handel mit dem Chriſtle nicht gemacht.


Was haſt denn mit Dem gehandelt?


Meine Büchſ' will ich wieder von ihm zurückkaufen. Um deinet¬
willen hab' ich ſie von mir gethan und um deinetwillen nehm' ich ſie
wieder an mich. Es iſt auch ſo noch immer möglich, daß ich ſie ein¬
mal brauch', um Weib und Kind zu verhalten. Doch iſt's nur für
den äußerſten Fall, und beſſer wär's, ich hätt' ſie ihm noch gelaſſen,
denn ſo ein Teufelshirſch kann Einen bis in's Zuchthaus führen.


Laß du das Wildern ſein, ſagte Chriſtine, und denk' auf andere
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 15[226] Weg', wie du Weib und Kind ernähren willſt. Wiewohl, es geht
nicht immer ſo ſchlimm aus. Hab' ich dir's nie von unſrem Haus
erzählt? Es iſt ein altes Sagen in unſrer Familie, ich hab' meinen
Vater ſchon davon reden hören, daß ſein Urururgroßvater ein arger
Wilderer geweſen ſei. Den hat der Herzog gefangen und hat ihn
wollen auf einen Hirſch ſchmieden laſſen, hat ſich aber anders be¬
ſonnen, wie er ſchon halb angeſchmiedet geweſen iſt, und hat ihn be¬
gnadigt, weil ihm ſeine Antworten ſo gefallen haben, hat ihm auch
das Haus da baut und ihn hergeſetzt, um den Wilderern aufzupaſſen,
weil ihm alle ihre Schlich' und Weg' wohl bekannt geweſen ſind.
Nach ihm iſt ſein Sohn auf dem Haus geſeſſen und dann wieder
deſſen Sohn und ſo immer fort, ſo daß das Haus ſeit Urgedenken
unſrer Familie angehört. Sie hat ſogar dem Herzog eine beſondere
Steuer draus zahlen müſſen, die erſt unter meinem Vater in Abgang
kommen iſt.


So? ſagte Friedrich. Da kommt wahrſcheinlich auch der Nam'
Hirſchbauer her?


Mag ſein, ich weiß nicht, erwiderte ſie.


Jetzt aber laß uns drauf denken, wie wir unſer Haus bauen.
Majorennitätserklärung, Proclamation, Copulation, das muß wie Blitz
und Donner auf einander gehen. Voran, voran, eh's der Teufel er¬
fährt und Unſamen ſtreut!

24.

Gleich noch am nämlichen Abend ging Chriſtine in das Pfarrhaus,
um im Auftrag ihres Verlobten, der auf ſie wartete, den Herrn Pfar¬
rer zu bitten, daß er ſie am nächſten Sonntag proclamiren möge.
Sie kam aber bald wieder zurück und erzählte, der Pfarrer habe ge¬
ſagt, er wiſſe nichts von Majorenniſation und Regierungsreſolutio¬
nen, ſei auch nicht verpflichtet den Amtmann zu fragen, ob etwas
Derartiges eingelaufen ſei; ſo könnte ihm Jeder kommen.


[227]

Gleich morgen gehſt zum Amtmann, ſagte Friedrich, denn jetzt iſt
er auf der Jagd. Es iſt beſſer du gehſt, weil er mir geſagt hat,
ich ſoll' nicht ungebeten vor ihn kommen.


Ja, ſagte ſie, und wenn du kämſt, könnt's leicht Häupeleien ge¬
ben, weil du ſo ſtrobelig biſt. Wir müſſen jetzt trachten, daß wir
vollends im Frieden durchkommen. Lieber geh' ich, ich fürcht' mich
nicht mehr ſo vor den Herren. Aber was ſoll ich denn dem Amt¬
mann ſagen, woher wir wiſſen, daß die Reſolution da iſt? Die
Kathrine dürfen wir nicht verrathen, die iſt unſer guter Engel.


Sagſt, ich wiſſ' es von Stuttgart her, daß die Reſolution vor
einigen Wochen ſchon abgangen ſei. Gib Acht, das wird ihm Füß'
machen.


Das iſt der Red' noch einmal werth, rief Chriſtine und lachte:
jetzt meint er, du habeſt ihn verklagt, und kriegt Angſt.


Laß ihn nur nicht ſchlupfen, weder links noch rechts, ſagte er.
Bekennen muß er. Morgen iſt Samſtag, und am Sonntag müſſen
wir das erſt'mal proclamirt ſein.


Mit lachendem Munde kam Chriſtine den andern Morgen aus dem
Amthauſe. Ich hätt' nicht glaubt, ſagte ſie, daß ſo ein rundes Ge¬
ſicht ſo in die Länge gehen könnt'. Sieh, ſo lang iſt's worden, wie
ich mein Sprüchlein aufgeſagt hab'. Er hat ſich dann aber gleich
gefaßt und hat geſagt, die Reſolution ſei allerdings da und er würd' ſie
dir ſchon noch eröffnet haben, es ſei ja nichts Preſſantes.


So, nichts Preſſantes? Ich wollt', das Waſſer ging ihm
einmal bis an Hals und ich ſtünd' dabei und könnt' ſagen: 's preſ¬
ſirt gar nicht, Herr Amtmann, mit Ihrem Wohlnehmen.


Es hat ihm aber doch rechtſchaffen preſſirt, fuhr ſie fort. Sieh,
da iſt die Schrift, die ſoll ich dem Pfarrer bringen, daß es mit dem
Proclamiren weiter kein Anſtand hab'.


Lauf, Chriſtinele, lauf tapfer! Du arm's Weib du, mußt
dich halb todt ſpringen um unſere Heirath, und trägſt doch den Eh'¬
contract mit Brief und Siegel an dir.


Ich wollt', du müßteſt ihn tragen, maulte ſie, damit du auch
wüßteſt wie das beſchwerlich iſt.


Hält's der Pfarrer auch nicht für preſſant? fragte er, als ſie
wieder kam.


15 *[228]

Er hat geſagt, es ſei eine Sünd' von dir, daß du deinem Vater
nicht gehorcheſt, und er ſag' mir's in's Geſicht, daß ſo eine ungleiche
Heirath eine rechte Dummheit ſei und auch ein bös End' nehmen
werd', aber er hab' jetzt ſein Gewiſſen ſalvirt und uns gewarnt: mor¬
gen werd' er uns proclamiren.


Er ſoll' uns ausrufen und einſegnen, nachher mag er ſchwätzen ſo
viel er will. Jetzt iſt's gewonnen.


Als er von ihr wegging, begegnete er ſeiner Schweſter Magdalene,
die eben über die Gaſſe ging. Du, ſagte er ſeelenvergnügt, morgen
werd' ich von der Kanzel 'runtergeſchmiſſen. Du gehſt doch auch in
die Kirch'?


Ach Gott, iſt's ſo weit? rief ſie. Ja, wenn ich kann, will ich
gehen.


Können! ſagte er, ich hab' noch nie gehört, daß die Weibsleut'
nicht in die Kirch' gehen können, ſonderlich wenn's Neuigkeiten
drin gibt.


Weißt's denn der Vater ſchon? fragte ſie. Grad' will ich zu ihm.


Er erfährt's jetzt gleich. Wir haben Einen Weg.


So, du biſt alſo jetzt majorenn und ich hab' dir nichts mehr zu
befehlen? ſagte der Sonnenwirth, als ſein Sohn ihm die Neuigkeit
angekündigt hatte. Nun, jetzt kannſt du freilich thun, was du willſt,
aber ich bin jetzt auch nicht mehr verantwortlich dafür.


Vater, ſagte die Chirurgin, der Bruder fragt, ob ich morgen in
die Kirch' geh'. Gehet Ihr?


Es wär' ſchon Noth, daß man für ihn beten thät', ſagte die
Sonnenwirthin, die ſich der Antwort bemächtigte: aber ich ſorg' nur,
die Leut' könnten's ſo anſehen, als ob wir unſre Billigung dazu gäben,
und der Vater wälzt ja ſelber alle Verantwortung von ſich ab.


Ich ſag' nicht, du ſolleſt daheim bleiben, antwortete der Sonnen¬
wirth ſeiner Tochter, und dein Mann kann's dir auch nicht verbieten
in die Kirch' zu gehen. Auch wär's chriſtlich, wenn's einmal ſein
ſoll, daß wenigſtens Eins von der Familie dabei wär'. Aber ich
kann mich nicht dazu entſchließen, ich thät' mich ja ſelber auf's
Maul ſchlagen.


Aus Chriſtenpflicht ging' ich auch gern dazu, nahm wieder die
Sonnenwirthin das Wort, aber ich könnt's nicht präſtiren, den
[229] Blicken ſo ausgeſetzt zu ſein, denn natürlich, die ganz' Gemeind' guckt
uns an, wenn wir gegenwärtig ſind. Ich weiß nicht, mit was ich
die Straf' verdient haben ſollt', ich hab' mich nicht vergangen.


Das iſt wahr, ſeufzte die Chirurgin, ich könnt' die Augen nicht
aufthun und thät's doch ſpüren wie ich die Zielſcheib' wär', und alle
Andacht wär' mir verdorben.


Die Thüre ging auf und der Krämer trat mit ſeiner Frau herein.
Ich muß um Entſchuldigung bitten, ſagte er, daß ich in meinen Haus¬
pantoffeln komm', aber es läßt mir keine Ruh'. Weißt's denn der
Herr Vater ſchon? Es iſt im ganzen Flecken herum, daß der Schwa¬
ger morgen mit ſeiner Jungfer Chriſtine proclamirt werd'. Iſt's
denn wahr? Was, und die Familie erfährt ſo was zuletzt?


Das wird aber morgen ein Geläuf ſein! rief die Krämerin. Mein
Mann, der loſ' Vogel, hat geſagt, wir könnten einen hübſchen Pro¬
fit machen, wenn wir unſern Kirchenſtuhl vermiethen thäten. Gebt
Acht, morgen gibt's am heiligen Ort Händel, denn's fehlt an Platz.


Wir reden eben davon, ob wir auch gehen ſollen, ſagte die Son¬
nenwirthin, aber die Chirurguſſin und ich, wir meinen, wir könnten's
nicht aushalten, wenn Einen Alles ſo anſieht.


Herr meine Sünd'! ſchrie die Krämerin. Ich weiß nicht was
mir für ein Unglück paſſiren könnt', wenn Alles um mich 'rum druckt
und guckt und murmelt! Da könnt' mich ja was ankommen, wovon
man in Ebersbach noch nach hundert Jahr' reden thät'.


Schad' iſt's aber doch, wenn wir drum kommen, ſagte der Krämer.
So ein Paar ſieht man nicht alle Tag'. Er iſt ſo mager und ſie
ſo dick.


Sie wirb mich ſchon pflegen, daß ich wieder zu Kräften komm',
verſetzte Friedrich, der alle dieſe Stiche mannhaft verbiß. Doch war
er froh ſich mit einem Scherzwort loskaufen zu können, und beur¬
laubte ſich von der Familie, ohne die Bitte, die er an ein ſonſt ge¬
liebtes Mitglied derſelben gerichtet hatte, bei den andern zu wiederholen.


Er brachte den Reſt des Tages bei ſeiner Braut und den Ihrigen
zu, wo es ungeachtet des Mangels und der ungewiſſen Ausſicht in
die Zukunft ſehr heiter zuging. Der Hirſchbauer ſprach an dieſem
Tage zum erſtenmal wieder ſeit langer Zeit und konnte aufrecht im
Bette ſitzen. Aus jedem Worte aber, das der Bräutigam redete, gab
[230] ſich das befriedigte Selbſtgefühl zu vernehmen. Er konnte jetzt ſeinem
Mädchen und ihrer Familie Wort halten.


Als er Abends heimkam, nahm ihn ſein Vater auf die Seite.
Laß mit dir reden, ſagte er. Jetzt haſt du Alles noch in der Hand.
Ein Wort beim Pfarrer und die Proclamation unterbleibt. Ich will
dir was ſagen: wenn du zurücktrittſt, ſo ſoll dein Diebſtahl ungeſche¬
hen und begraben ſein. Bis jetzt iſt nicht davon geſchnauft worden,
das hab' ich in der Hand.


Schwätzet doch nicht immer von Diebſtahl, ſagte Friedrich. Was
ich aus meinem Mütterlichen erſetzen kann, das iſt mein'twegen ge¬
nommen, aber nicht geſtohlen.


Wie meinſt du, daß man's vor Amt anſehen werd'?


Weiß ich das? Ich hab' das Geſetz nicht gemacht, und Ihr
auch nicht.


Du haſt's, ſcheint's, vergeſſen, wohin dich dein Huſarengriff ge¬
führt hat.


Nein, ich weiß noch recht gut, daß man mir damals eröffnet hat,
das Einſacken könnt' man vielleicht meiner Jugend und Unverſtand
nachſehen, aber nach einem alten Reſcript — ich weiß nicht mehr,
die Jahrszahl iſt noch aus dem vorigen Jahrhundert geweſen — ſollen
ungerathene unartige Kinder, bei denen der Eltern Zucht nicht an¬
ſchlage, in Sprengen und eiſernen Banden zu öffentlichen Arbeiten
angehalten werden, und ſonach ſei das Zuchthaus eigentlich eine Be¬
gnadigung für mich. Wenn Ihr es alſo meint, ſo könnt Ihr mich
beim Amtmann und Vogt verklagen, wie Ihr mich beim Kirchencon¬
vent verklagt habt. — Du ſchreckſt mich nicht, dachte er bei dieſen
Worten, mit feſtem Auge den unſichern Blick ſeines Vaters feſthaltend.


Sind das artige Kinder, fragte dieſer, die ihren Eltern das Korn
im Sack aus dem Haus tragen?


Wiſſet Ihr nicht, Vater? der Criſpinus hat Leder geſtohlen, um
den Armen Schuh' draus zu machen, und hat's doch zum Heiligen
gebracht, wiewohl er's, glaub' ich, ſogar bei Fremden geſtohlen hat.


Wir ſind lutheriſch. Da gelten keine ſolche Späß'.


Nun, ſo machet doch endlich Ernſt und bringet mich in's Zucht¬
haus. Dann muß eben die Hochzeit aufgeſchoben werden, bis ich wieder
'rauskomm'.


[231]

Ich ſag' noch einmal, tritt zurück, ſo lang's noch Zeit iſt.


Nein, eher will ich mich ſtöcken und blöcken laſſen. Entweder
ſetzet mich in's Zuchthaus, wenn Ihr nichts Beſſers wiſſet, oder gebet
mir mein Mütterlichs heraus, damit die Sach' auf ein' oder die
ander' Art endlich in Ordnung kommt.


Zu deinem Hochzeitstag kannſt's haben, wenn du von deinem Tu¬
gendſpiegel nicht laſſen willſt, und kannſt dann gleich auch Tauf' davon
halten. Ich möcht' nur auch wiſſen, was du an ihr find'ſt. Ich will
nicht weiter mit dir ſtreiten, ob du dich mit dem Criſpinus vergleichen
kannſt, aber wenn du das ſein willſt, ſo ſag' nur ſelber, was du von
deiner Criſpina hältſt, die ſich geſtohlene Sachen zutragen läßt; denn
das leid't kein Zweifel, da machſt mir nichts weiß.


Angenommen, es ſei ſo, wiſſet Ihr denn, ob ſie's weiß woher
ich's hab'?


Sie wird wohl denken, es ſei dir in der Hand gewachſen?


Vater, wenn ſie reich wär', ſo möcht' ſie thun was ſie wollt',
Ihr würdet anders von ihr denken. Jetzt iſt ſie einmal mein, und
das Kind, das ſie unterm Herzen trägt, iſt mein Kind, und muß zu
ſeiner Mutter einen Vater haben, wie ich zu meinem Vater eine Mut¬
ter haben ſollt'.


So renn' in dein Verderben, wenn du nicht anders willſt, ſagte
der Alte, nahm das Licht und ging in ſeine Kammer.

25.

Richtig, das muß man ſagen, hatte die Krämerin prophezeit. Nie
war ſeit Jahren in dem doch ſo chriſtlich geſinnten Flecken die Kirche
ſo gefüllt geweſen wie an dem Sonntag, an welchem Friedrich mit
Chriſtinen proclamirt wurde. Außer den Kranken und Gebrechlichen
blieb niemand zurück, von den Geſunden fehlte nur die Familie des
Sonnenwirths. Der alte Hirſchbauer hatte alle die Seinigen in die
Kirche geſchickt: die Mucken werden mich derweil nicht freſſen, hatte
er geſagt. Selbſt der kleine Wollkopf hatte in dem Weiberſtande
[232] neben ſeiner Mutter und Schweſter Platz gefunden und hörte andächtig
der Predigt zu. Wohl gab es ein Ziſcheln und Murmeln und Alles
ſteckte die Köpfe zuſammen, als der Pfarrer vor dem Segen die Ver¬
leſung der Paare, die in den heiligen Stand der Ehe treten wollten,
begann, aber Friedrich blickte muthig nach der Kanzel und zugleich aufmerk¬
ſam, ob der Pfarrer in ſeiner Verkündigung nicht vielleicht irgend
ein Zeichen ſeiner Abgunſt einſtießen laſſen werde. Es geſchah jedoch
nichts dergleichen und er konnte es höchſtens auffallend finden, daß
der Pfarrer unter den zu verkündigenden Paaren ihm und ſeiner Braut
die letzte Stelle angewieſen hatte; dieſe Ordnung konnte aber der
Reihefolge der Anmeldung entſprechen, ſomit eine zufällige ſein. Der
Pfarrer ertheilte den Proclamirten und der Gemeinde den kirchlichen
Segen, und Orgel und Choral beſchloßen den Gottesdienſt.


Beim Herausgehen aus der Kirche ſtieß Friedrich auf den Invali¬
den. Was, Ihr ſeid auch in der Kirch' geweſen, Profoß? Hätt'
nicht glaubt, Eure mürbe Knochen thäten Euch ſo weit tragen. Aber
's iſt mir eine Freud' und eine Ehr'. Nur wundert's mich, denn
Ihr habt ja auch Mäuſ' dagegen gehabt.


Es bleibt dabei, daß Er nicht recht geſcheidt iſt, ſagte der Inva¬
lide. Aber zu Seiner Hochzeit ſoll nichtsdeſtoweniger meine alte Liſe
krachen.


Friedrich drückte ihm die Hand und begab ſich zu den Seinigen,
die vor der Kirchenthüre warteten. Er führte ſeine Braut am Arme,
reichte dem kleinen Buben die andere Hand, und die neue Familie
ſetzte ſich, die Mutter und beide Söhne voraus, das Brautpaar hin¬
ter ihnen, in Bewegung. Wer von der Gemeinde den gleichen Weg
hatte, ging ſpöttiſch lächelnd an ihnen vorbei: auch konnten ſie aller¬
lei Bemerkungen hören. Doch ſchienen die Leute wenigſtens das in
der Ordnung zu finden, daß das Paar ſich heute am Arme führte;
daß er, ohne giltig verlobt zu ſein, Arm in Arm mit ihr durch den
Flecken zu der Kirchenconventsverhandlung gegangen war, hatte bei
der herrſchenden Sitte noch größeren Anſtoß gefunden, als ihre vor¬
zeitige Mutterſchaft.


So langſam ſie wegen dieſes Zuſtandes gingen, ſo gingen doch zwei
von den andern proclamirten Paaren noch langſamer hinter ihnen drein,
um ſich über ſie luſtig zu machen. Das iſt ein Schwanenpaar! ſagte
[233] der eine Bräutigam. Im Ludwigsburger Schloßgarten, im See, hab'
ich auch einmal eins geſehen, die ſind grad' ſo geweſen, nur anders,
ſäuberer.


Die da ſind weiß wie ein Ofenloch, ſagte ſeine Braut.


Es gibt auch ſchwarze, fuhr der Bräutigam fort. Ich hab's ein¬
mal von einem Reiſenden gehört, dem ich den Weg auf den Staufen
hab' zeigen müſſen. Iſt ein curioſer Herr geweſen und hat viel
Kauderwälſch durch einander geſchwätzt. Sie ſeien aber eine große Ra¬
rität, hat er geſagt.


Es wird gut für den Flecken ſein, bemerkte die Braut, wenn die
da gleichfalls eine Rarität bleiben.


Kann denn der Schwan auf trockenem Boden laufen? fragte der
andere Bräutigam.


Freilich, verſetzte der erſte, aber es macht ihm Müh', er wackelt
ſchier gar ſo ſchwer daher, wie die da. Er deutete auf Chriſtinen und
alle Vier brachen in ein rohes Gelächter aus.


Friedrich machte ſeine Arme los und kehrte ſich um. Ihr Spitz¬
ruthen, ſagte er, iſt ein Ehrentag ein Tag zum Gaſſenlaufen? Aber
gut, wenn ihr's nicht anders wollet, ſo möget ihr's haben. Du Mi¬
chel, grüner Tralle, wandte er ſich an den Einen, du biſt ſo dumm, daß
man Riegelwänd' mit dir 'naus ſtoßen könnt' und daß dein Mädle zu
dir hat in die Scheuer kommen müſſen ſtatt du zu ihr, aber wenn
man euch erwiſcht hätt', ſo hätt's noch eine ganz andere Convents¬
verhandlung geben als bei uns. Verſtanden? Und du Lorenz, ſagte
er zu dem andern, du ſpitziger Gſcheidle, ſo pfiffig du biſt, ſo weiß
ich doch, daß du dich in Zebedä' drüben haſt Nachts von den ledi¬
gen Buben müſſen in Brunnentrog tunken laſſen, zur Abkühlung, wie
ſie gemeint haben, jedoch ohne alle Noth, denn an dir iſt nichts
Hitzig's als dein Geiz, der dich verführt hat, vom Herrn Vicarius
drüben, dem reichen Prälatenſohn, ſein ausbraucht's Spielzeug um ein
Draufgeld einzuhandeln, nachdem dein voriger Schatz geſtorben iſt,
man weiß nicht einmal recht an was. Ich will's an Dem gnug ſein
laſſen, denn ich ſeh', daß eure Bräut' roth worden ſind, und 's wär'
gut, ſie thäten ſich der Heuchelei und Splitterrichterei noch mehr ſchä¬
men als der Sünd'. Euch zwei Lumpen aber hätt' ich gute Luſt über
einen wackern Stecken tanzen zu laſſen, wenn ich heut' nicht ſo vergnügt
[234] wär'. Wiewohl, ihr brauchet mir nicht viel gute Wort' zu geben, wenn
ich euch ſoll den Gefallen thun.


Die Hirſchbäuerin, die mit ihren Söhnen etwas vorausgegangen
war, kam eilig zurück um abzuwehren; aber weder ihre Ermahnung
noch das vielleicht kräftigere Einſchreiten der beiden Söhne war von¬
nöthen, denn die Getroffenen zogen mäuschenſtille ab und wagten erſt
in weiter Entfernung wieder zu ſchimpfen und zu ſpotten.


Friedrich aber ſagte zu ſeiner Braut: Chriſtine, bleib' ſtandhaft
und mach' mir kein' Streich. Du kannſt mein'twegen Hochzeit und
Kindbett am gleichen Tag halten, aber nur fein nach einander, damit
nicht ein Segen zu früh kommt und der ander' zu ſpät.


Sei doch ruhig, erwiderte ſie, das hat keine Noth.


Der Kukuk hat's geſehen, fuhr er fort, daß man ſich dreimal
proclamiren laſſen muß. Gleich das erſt'mal ſollt' man von der
Kanzel vor den Altar kommen, damit Einem die Welt keinen Prügel
mehr in den Weg werfen könnt'.


Das wär' doch nicht gut, meinte Chriſtine dagegen. Da könnt'
ja kein arm's Mädle mehr Einſpruch thun, wenn ihr Schatz ſie ſitzen
ließ' und ließ' ſich mit einer Andern zuſammengeben.


Iſt auch wahr, ſagte er. Um der Untreu' der Menſchen willen
müſſen die Treuen mitleiden. Uebrigens möcht' ich nichts mehr von
Einem, der mich einmal verkauft und verrathen hätt', und was den
Einſpruch betrifft, ſo wird eine Arme wunderſelten dadurch ihr Recht
erlangen, weil gleich Alles zuſammenhilft, daß ſie geſchweigt wird.


Darum iſt's eben das Beſt', wenn man ſich auf einander verlaſ¬
ſen kann, ſagte Chriſtine, dann ſind die drei Wochen Aufſchub auch
nicht zu lang.


Gott geb's, erwiderte er, aber ich wollt', ſie wären vorbei.


Die zweite Proclamation, die am nächſtfolgenden Sonntage ſtatt
fand, machte ſchon nicht mehr ſo viel Aufſehen wie die erſte; denn
die Menſchen fügen ſich in Vieles, und manche neue Erſcheinung, die
ſie im erſten Augenblick mit Keulenſchlägen empfingen, iſt ihnen im
Lauf der Zeiten vertraut und befreundet oder, oft richtiger geſagt, zur
Gewohnheit geworden.


An dieſem Tage begehrte Friedrich von ſeinem Vater eine Unterredung,
die er die ganze Woche ſchüchtern aufgeſchoben hatte. Er ſtellte ihm
[235] vor, daß es jetzt höchſte Zeit ſei, an die Einrichtung eines kleinen
Hausweſens zu denken, und daß er zu dieſem Zwecke ſein mütter¬
liches Vermögen heraushaben müſſe.


Nun, nun, ſagte der Alte, es hat ja noch Zeit. Ich ſeh' über¬
haupt nicht ein, wozu du ſo viel Geld brauchſt. Du haſt ja ſelbſt
geſagt, du wolleſt froh ſein, wenn du mir als Knecht dienen dürfeſt.


Ich bin's zufrieden, entgegnete der Sohn, aber ich muß doch we¬
nigſtens eine Stube haben, wo ich mit meinem Weib drin wohnen kann.


Als Knecht kannſt du bei mir wohnen, wie bisher.


Ja, wollt Ihr denn mein Weib auch zu Euch in's Haus nehmen?
fragte der Sohn mit einem Freudenſchimmer in den Augen.


Das kommt noch auf's Wohlverhalten an, antwortete der Vater
mit einem ſpöttiſchen Blick. Am End' wär's freilich das Beſt', ich
nähm' euch Beide unter Aufſicht; ihr könntet's vielleicht brauchen.


Der Alte ging ſeinen häuslichen Verrichtungen nach, ohne ſich zu
einer beſtimmten Erklärung bringen zu laſſen. Ein paar weitere Ver¬
ſuche ſeines Sohnes liefen eben ſo ab und er erhielt nichts als aus¬
weichende, räthſelnde, ſtichelnde Antworten, wobei der Alte jedesmal
ein Geſchäft oder einen Beſuch zu benutzen wußte, um das Geſpräch
abzubrechen. Friedrich verging beinahe vor Unmuth und Ungeduld,
aber er hatte Chriſtinen verſprechen müſſen, dieſe letzten Tage der
Prüfung vollends in Ruhe auszuharren. — Sieh, ich hab' Eſels¬
geduld, ſagte er oft zu ihr.


Unterdeſſen war die Sonnenwirthin nicht müßig geweſen, im Wege
der Gunſt wie des Haſſes auf ihre Gönnerin, die Amtmännin, und
durch dieſe auf den Amtmann einzuwirken. Es wäre ja doch ſchreck¬
lich, ſagte ſie, wenn ſo ein eigenſinniger, gewaltthätiger Trotzkopf ver¬
nünftige Leute abzwingen könnte. Der Amtmann, der ſich gleichfalls
von ihm überrumpelt ſah, hatte, nachdem die erſte kirchliche Handlung
durchgeſetzt war, doppelte Luſt gewonnen, die Heirath doch noch am
Ziele zu hintertreiben. Er ſchalt auf die Regierung, welche viel zu
liberal ſei und das junge Volk, wenn es nur brav Dispensgelder
bezahle, in's Blaue hinein heirathen und den Gemeinden zur Laſt
fallen laſſe; übrigens, meinte er, der Sonnenwirth brauche nur den
Taugenichts aus dem Hauſe zu jagen und jede Verbindung mit ihm
abzubrechen, dann habe er allen Boden unter den Füßen verloren,
[236] und wenn ihn die Regierung zehnmal für volljährig erkläre, ſo nehme
ihn eben die Gemeinde nicht an. Dafür laß Sie nur mich ſorgen,
Frau Sonnenwirthin.


Wenn nur mein Mann nicht ſo ſchwach wär'! erwiderte die Son¬
nenwirthin hierauf. Er will ſich's nicht nachſagen laſſen, daß er ſei¬
nen Sohn, der ihm als Knecht zu dienen erbötig iſt, von ſich geſtoßen
hab', und doch kränkt's ihn auch wieder, daß er ihm ſein Mütterlich's
hinauszahlen ſoll, denn die Zeiten ſind eben gar ſchwer. Die Eve
Marget und die Magdalene haben ihren Antheil auch ſtehen laſſen
müſſen, mit Vorbehalt, daß ſie nachher am Vater mehr erben ſollen.
Nun beſorgt er, wenn der Bruder ſein Sach' ganz 'rauskriegt, und
auf einmal, ſo könnten die Schweſtern auch rebelliſch werden. Er
glaubt, er hab' eigentlich die Nutznießung davon ſein Leben lang, aber
er weiß nicht gewiß, ob man ſie ihm nicht vielleicht ſtrittig könnt'
machen.


Jedenfalls, bemerkte der Amtmann, ließe ſich dieſer Streit in die
Länge ziehen, ich ſehe jedoch nicht ein, zu was das in der Hauptſache
führen ſollte, denn wenn der Sonnenwirth ſeinem ungerathenen Sohne
die Exiſtenz garantirt, ſo kann ihn Niemand am Heirathen hindern.
Uebrigens will ich mir die ganze Sachlage noch einmal in Reviſion
nehmen und ſehen, ob noch etwas zu machen iſt.


Unter ſolchen Berathungen war die zweite Proclamation vorüber¬
gegangen, und der Vortheil des unabänderlichen Laufes der Dinge
ſchien ganz auf Friedrich's Seite zu ſein, als der Amtmann die Son¬
nenwirthin rufen ließ. Gratulire, Frau Sonnenwirthin, ſagte er, zur
leibeigenen Schnur!


Was? leibeigen? rief die Sonnenwirthin. Und davon hat das
ſchlecht' Geſindel gar nichts geſagt? Das hebt ja alle Verpflichtun¬
gen auf!


Vielleicht haben ſie es ſelbſt nicht mehr recht gewußt, ſagte der
Amtmann, denn die Sache iſt etwas in Vergeſſenheit gerathen. That¬
ſache aber iſt es, daß der Hans Jerg Müller und die Seinigen zu
gnädigſter Herrſchaft im Verhältniß der Leibeigenſchaft ſtehen.


Dann, rief die Sonnenwirthin mit einem Strahl von Hoffnung, iſt's
doch möglich, daß der ſtolz' Bub' ſein' Kopf noch ändert. Eine Leib¬
eigene wird er nicht zur Frau haben wollen.


[237]

Dieſe Verhältniſſe ließen ſich ja mit Geld abkaufen, bemerkte der
Amtmann, denn dazu iſt gnädigſte Herrſchaft ſtets geneigt. Ohnehin
beſtund es, in neuerer Zeit wenigſtens, aber ſchon ſeit lange, in einer
jährlichen Geldabgabe. Früher mögen ſchwerere körperliche Leiſtungen
erfordert worden ſein; da es mich nicht intereſſirt hat, ſo habe ich
auch nicht nachgeſchlagen. Die präſtirende Abgabe wurde dem Hans
Jerg Müller ſchon vor geraumer Zeit ob summam paupertatem,
wie er ja auch ſchon von der Gemeinde ex pio corpore Unterſtützung
genoſſen hat, auf ſein unterthänigſtes Anſuchen nachgeſehen, daher es
leicht möglich, daß er ſich der Verhältniſſe ſelbſt nicht klar erinnert.
Das einfältige Volk weiß ja niemals wie es dran iſt, noch auf welchen
Füßen es ſteht: die Beamten müſſen es ihm ſagen, was es zu leiſten
ſchuldig iſt, und müſſen ihm zur Noth noch Bittſchriften machen, wenn
es einige Linderung ſeiner Lage erzielen möchte. So habe ich auch Dieſem
die betreffende Supplik aufgeſetzt, um ihm das Geld zu erſparen, das er
einem Advocaten für die Schrift hätte geben müſſen, und ihn vor den En¬
tenmaiern zu bewahren, den Winkeladvocaten, die der Leute Verderben ſind.
Es iſt recht undankbar von dem alten Habenichts, daß er, indirect wenig¬
ſtens, Ihren Stiefſohn in deſſen Unfug und übler Aufführung ſteift;
aber auf Dank darf man ja bei dieſem Volke nicht rechnen. Ich ſelbſt
muß freilich von mir auch geſtehen, daß ich die Sache bei mir mit den
Jahren habe in Vergeſſenheit kommen laſſen; derlei verwickelte Ma¬
terien tauchen Einem allemal erſt wieder auf, wenn man die Acten
nachſchlägt. Summa Summarum iſt jedoch ſo viel gewiß: der ſoge¬
nannte Hirſchbauer iſt nebſt ſeinen Deſcendenten leibeigen, und zwar
haftet die Leibeigenſchaft auf dem Haus. Ob nun, wie es bei dieſem
Volke nicht ungewöhnlich, die Vererbung des Beſitzes ſammt der darauf
haftenden Laſt ſeit Generationen direct vom Vater auf den Sohn
ſtattgefunden hat, ob dabei Töchter hinausgegeben worden ſind und ob
ſelbige durch die bloße Emancipation vom väterlichen Heerde in Folge
des eingegangenen matrimonii — wobei ſie ja bloß den Herren wech¬
ſeln, wie der Frau Sonnenwirthin ſelbſt wiſſend ſein wird, ha, ha! — ob
ſie ſchon hiedurch auch von der Leibeigenſchaft emancipiret ſind, oder
ob ſie erſt noch specialiter mit Gelde abgelöſet werden müſſen, ja,
darüber könnte man einen langen Prozeß führen, und wehe dem, der
die Koſten davon zu bezahlen hätte. Für mich iſt jedenfalls ſo viel
[238] klar, daß, wenn auch die fürſtliche Regierung dieſem jungen Menſchen
die Majorennität und die Heirathserlaubniß gnädigſt bewilligt hat, ich,
im fürſtlichen Intereſſe ſelbſt, vorderhand auf der baaren Leibeigen¬
ſchaftsablöſung ſeiner, wenn auch proclamirten, doch immer nur erſt
prätendirten sponsa beſtehen muß, muß demnach Namens gnädigſter
Herrſchaft ſowohl, als auch Seitens dieſer Commune, deren Gericht
und Rath ich mit thunlichſter Beförderung des Näheren inſtruiren
werde, beharren, daß ein giltiger Ehevollzug des Johann Friedrich
Schwanen mit der Chriſtina Müllerin nicht eher in's Werk gerichtet
werden kann, als bis und bevor gedachter Ablöſungsſchilling entweder
in Baarem erlegt oder eine durchaus ſatisfacirende Caution dafür ge¬
leiſtet iſt; wobei, bewegender Gründe halber, überhaupt zu erfordern
ſein dürfte, daß ſothane Caution ſich auf den geſammten Nahrungsſtand
des Nupturienten zu erſtrecken habe, denn wenn auch, aus Rückſicht
auf die beſondern Verhältniſſe und die bei Gericht und Amt notoriſche
Vermöglichkeit des Sonnenwirths, hievon Umgang genommen werden
könnte, falls er ſeinem Sohne zur Seite zu ſtehen geſonnen iſt, ſo
muß doch im vorhandenen Zweifelsfall für den Nupturienten, uner¬
achtet er ein hieſiger Bürgersſohn, genügende Sicherheit verlangt wer¬
den, daß er erſtlich ſeine ihm von gnädigſter Herrſchaft auferlegende
praestationes richtig zu erfüllen im Stande ſei, und zweitens, daß er,
wo ihn ſein Vater eventualiter außer Brod ſetzen ſollte, gemeinem
Flecken nicht mit einem penuriöſen und armuthſeligen Hausſtande, mit
Anſprüchen an das pium corpus und endlich gar mit einem Heere
von mangelhaften Kindern, die um Brod und Kleidung ſchreien, und
deren wir hier ſchon genug und übergenug haben, nicht wiſſend wo ſie
unterzubringen, beſchwerlich fallen werde.


Der Amtmann wiſchte ſich den Schweiß von der Stirne; ſeine
Auseinanderſetzung ſchien ihn etwas angegriffen zu haben. Doch lächelte
er zufrieden, denn der Vortrag war nunmehr hinlänglich zu Faden
geſchlagen, um mit der nöthigen Geläufigkeit vor dem Magiſtrat ge¬
halten werden zu können. Die Sonnenwirthin hatte zwar, trotz der
Andacht, mit der ſie der Rede zugehört, ſchon der eingeſtreuten latei¬
niſchen Brocken wegen, ſehr viel davon nicht verſtanden; doch begriff
ſie vollkommen, daß der Heirath ihres Stiefſohnes noch ein Riegel
vorgeſchoben werden könne. Sie ließ ſich über die beiden Hauptpunkte,
[239] auf die es ankam, noch einmal belehren, und verließ das Amthaus
in vollem Triumphe, nachdem ſie es übernommen hatte, ihrem Manne
und ihrem Sohne die amtliche Eröffnung, welche der Erſtere ſich zu
holen aufgefordert wurde, im Voraus mitzutheilen. Ihren Stiefſohn,
rief ihr der Amtmann nach, laſſe Sie mir nur aus dem Haus, mein
alter Anwalt ſagt immer von ihm, und mit Recht, er führe eben ein
ödes Geſchwätz, das gar keine Heimath habe.


Aus dem Munde der Stiefmutter erfuhr denn Friedrich, welches
neue Gewitter gegen ihn heraufbeſchworen worden war. Zuerſt nahm
er die Nachricht, daß Chriſtine leibeigen ſei, mit Gleichmuth auf und
erklärte, dies ändere nichts in ſeinen Geſinnungen; als er vollends
hörte, daß dieſe Abhängigkeit mit Geld gelöst werden könne, machte
er ſich gar keine Sorge mehr; aber er war wie aus den Wolken ge¬
fallen, als er ſehen mußte, wie ſein Vater die Sache nahm.


Was! rief der Sonnenwirth, ich ſoll Bürgſchaft ſtellen für die
Bezahlung einer Abgab', die mich mit Haut und Haar nichts angeht?
Ich bin froh, wenn ich meine eigene Schuldigkeit abgetragen hab', bin
hoch genug beſteuert, kann mich nicht auch noch um anderer Leut' ihre
Abgaben annehmen.


Vater, ſagte Friedrich, den dieſe Aeußerung zuerſt nur ärgerte, ich
glaub', Ihr werdet altersſchwach. Es handelt ſich ja gar nicht drum,
daß Ihr vom Eurigen etwas zahlen ſollet. Gebt mir mein Mütter¬
lich's heraus, dann leg' ich das Geld dem Amtmann ſelber hin.


Du thuſt immer als ob du von deinem Mütterlichen die halb'
Welt kaufen könnteſt, und haſt doch ſchon genug davon verthan. Du
wirſt dich wundern, wenn ich einmal mit dir abrechne.


Nun, ſo rechnet ab, und wenn Ihr ſo viel Zeit brauchet, bis Ihr
wiſſet, was Ihr Alles in die Rechnung ſchreiben wollet, ſo müſſet Ihr
eben derweil die Bürgſchaft leiſten.


Ich nicht. Das Sprichwort ſagt: den Bürgen ſoll man würgen.
Und wie kann man denn von mir verlangen, daß ich noch einen weiteren
Revers ausſtellen ſoll von wegen deines Fortkommens? Ich hab' dir
zwar wohl verſprochen, daß ich dich bei mir behalten will, und ich
will auch dabei bleiben, wenn du dich hältſt wie's recht iſt, nämlich
beſſer als bisher. Aber Hand und Fuß will ich mir durch einen
Revers nicht binden laſſen, denn ſonſt wäreſt ja du der Herr und ich
[240] müßt' mir Zeitlebens gefallen laſſen, was dir anſtändig wär'. Nein,
der Sklav' in meinem eigenen Haus will ich nimmermehr werden.


Friedrich legte den Kopf eine Weile auf beide Hände, die er auf
dem Tiſche liegen hatte. Als er das Geſicht wieder erhob, war alle
Farbe daraus gewichen. Jetzt ſeh' ich erſt, daß es eine abgekartete
Sach' iſt, ſagte er mit einem Blick auf die Stiefmutter und verließ
die Stube.


Chriſtine weinte bitterlich über dieſes neue Hinderniß. Das iſt
eine Welt! ſagte der Hirſchbauer und kehrte ſich nach der Wand.
Die Bäuerin heulte und ſchrie, daß man arme Leute ſo unterdrücke,
die Söhne fluchten, und der kleine Weißkopf, der heute die Welt gar
nicht verſtand, ſaß beſtürzt und furchtſam in der Ecke. Friedrich aber
glaubte zu bemerken, daß der abermals in Zweifel geſtellte Erfolg
ſeiner ehrlichen Bemühungen auf die Würdigung ſeiner Abſicht oder
wenigſtens auf die Schätzung ſeiner ſelbſt zurückwirke. Die Hirſch¬
bäuerin wenigſtens ſchien ihn bereits mit minder günſtigen Augen an¬
zublicken; als ſie ausgeheult hatte, machte ſie ein Geſicht und gönnte
ihm beim Abſchiede kaum ein Wort. Chriſtine aber nahm ihm wie¬
derholt das Verſprechen ab, auch dieſe Prüfung wo möglich durch
Geduld und Gehorſam zu überwinden.


Schon die folgenden Tage zeigten ihm, daß er ſich in ſeinen Be¬
rechnungen völlig getäuſcht habe und für den nächſten Sonntag auf
die letzte, beſtätigende Proclamation verzichten müſſe. Er ſprach
nichts, war in ſeinen Verrichtungen fleißiger denn je, aber ſeine wund¬
gebiſſenen Lippen, ſeine mit Blut unterlaufenen Augen verriethen den
Sturm, der in ihm arbeitete. Die Narbe auf ſeiner Stirne trat oft
blutroth hervor. Die Leute ſteckten bei dieſem Anblick die Köpfe zu¬
ſammen und murmelten einander zu, das ſei ein Kerl, von dem
man ſich des Aergſten gewärtigen dürfe.


[241]

26.

Raſſelnd und donnernd fuhren eines Vormittags mehrere Jagd¬
equipagen die Straße herauf. Mitten im vollen Jagen hielt die vor¬
derſte vor der Sonne und nöthigte dadurch die andern zu einem eben
ſo plötzlichen Halt. In der Sonne gab es ein Rennen und Jagen
Trepp' auf und ab. Der Herzog Karl ſelbſt war es, der in der erſten
Kaleſche ſaß und im raſchen Vorbeijagen nach dem Schurwald einen
Trunk vom Beſten begehrte. Die Ehre war groß, noch größer aber
die Eile, mit welcher der Befehl ausgeführt werden mußte, denn es
war bekannt, daß der Herr nicht gern wartete und weder im Großen
noch im Kleinen ein Hinderniß ſeines Willens gelten ließ. Der
Sonnenwirth flog daher wie ein Jüngling von achtzehn Jahren, und
wenig fehlte, ſo wäre er die Treppe hinabgefallen; doch brachte er den
alten Familienpokal glücklich an den Wagen. Sein Sohn ſah vom
Fenſter aus zu, wie ihn der Herzog in Empfang nahm und nach ei¬
nem guten Zuge wieder zurückgab; er ſah, wie der junge Fürſt gnä¬
dig, aber immer haſtig mit ſeinem Vater ſprach, wie dieſer unter tau¬
ſend freudigen Bücklingen ſich weigerte die Zeche zu machen, aber von
dem bei dem Herzog im Wagen ſitzenden Hofherrn einen mit einem
gebieteriſchen Wink begleiteten Silberthaler annehmen mußte. Neu¬
gierig betrachtete er den von Jugend und Jagdluſt ſtrahlenden Landes¬
herrn, deſſen Allmacht ihm die Zahl ſeiner Jahre voll machen und
doch den Wunſch ſeines Herzens nicht erfüllen konnte: das vornehme,
freie Geſicht mit den herriſch umherſchweifenden hellblauen Augen
drückte eine machtbewußte Sorgloſigkeit aus, welche die Freuden des
Lebens in vollen Zügen ſchlürfte und ſich dabei um keinerlei Bedenken
zu kümmern hatte. So mußte es wenigſtens einem jungen Menſchen
erſcheinen, dem die Kehrſeite ſolcher Herrlichkeit verborgen blieb. Nur
ein Scherflein von dieſer Freiheit und Ungebundenheit! ſeufzte er: ich
wollt' es ja nur dazu benutzen, um an meinem Weib und Kind ein
rechtſchaffen Werk zu thun!


D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 16[242]

Wer wird denn da ſtehen und gucken, wenn's alle Händ' voll zu
thun gibt! rief eine Magd, die in die Stube ſtürzte. Die Herren in
den andern Kutſchen wollen auch Wein. Fort! im Hausgang drunten
ſtehen ſchon Butellen g'nug, 's fehlt nur an Händen, um ſie 'naus¬
zutragen.


Er eilte hinunter, ergriff mechaniſch ein paar Flaſchen und trug
ſie vor das Haus, wo ſein Vater ſo eben, trunken vor Glück, von
dem Wagen des abfahrenden Herzogs zurücktrat und, beſtändig compli¬
mentirend, ſeinem Sohne rücklings in die beladenen Arme taumelte.
In dieſem Augenblick erhob ſich ein Angſtgeſchrei. Das vordere Pferd
am herzoglichen Wagen, durch die neugierig umherwogende Menge oder
vielleicht durch irgend eine muthwillige Unthat der lieben Jugend ſcheu
gemacht, bäumte ſich ſo unverſehens und heftig, daß der Jagdpoſtillon
die Meiſterſchaft zu verlieren in Gefahr war und die andern Pferde
gleichfalls unruhig wurden. Das Geſchrei der Menſchen, beſonders
aus den hintern Kaleſchen, ſteigerte die Verwirrung der Thiere, der
Poſtillon ſchwankte im Sattel, die umſtehenden Männer, die zufällig
keine Helden waren, wichen zurück und verſperrten kräftigeren Händen
den Platz, ſo daß nachgerade die Sicherheit des Herzogs an einem
Haare hing. Da ließ Friedrich ſeine Flaſchen fallen, daß ſie klirrend
am Boden zerbrachen, mit einem Sprung hatte er ſich des ungebär¬
digen Roſſes bemächtigt, das ihn auf und nieder ſchleuderte, endlich
aber ſeiner markigen Hand ſich fügen mußte. Als der ſtärkſte Wider¬
ſtand des Thieres gebrochen war, ſprang noch ein Knecht herbei, der
es vollends bändigen half, und nun kam Alles was Hände hatte, um
die überwundene Gefahr noch einmal zu überwinden. Der Herzog,
ärgerlich, daß ſeine Allgewalt vor den Augen der Sterblichen einen
kleinen Eintrag erlitten hatte, rief: Hat nichts zu ſagen! Vorwärts!
Keine Umſtände weiter! nickte aber im Fortfahren dem jungen Men¬
ſchen, der ihm dieſen Dienſt erwieſen, gnädig zu, griff dabei in die
Weſtentaſche und warf ihm ein Goldſtück hin, während der vordere
Poſtillon, ſeine wiedergewonnene Haltung mit verbiſſenem Grimm be¬
hauptend, die Peitſche gegen die herzudrängende Menge aufhob und
der Jagdzug in donnerndem Laufe davonbrauste. Ein Gelächter folgte
den unglücklichen Hofherren, die über dem Abenteuer ihres Gebieters
nichts zu trinken bekommen hatten und ſich ohne Zögern anſchließen
[243] mußten, um ihren Durſt im Schatten der Wälder oder vielleicht im
Blute des Ebers zu kühlen. Noch ein Augenblick, und die ganze ſtolze
Erſcheinung war verſchwunden, und die Straße mit den ſtädtiſch gro¬
ßen, aber einförmig grauen Gebäuden ſah wieder ſo werktäglich aus,
als ob ſich gar nichts zugetragen hätte.


Friedrich war ſogleich in das Haus zurückgekehrt, während ſein
Vater noch im Vollgenuß der gehabten Ehre mit den Nachbarn ſprach,
wobei er nicht unterließ ſie darauf aufmerkſam zu machen, daß der
Flecken früher eine Poſt gehabt habe, von welcher er behauptete, daß
ſie mit der Sonne verbunden geweſen ſei.


Wo haſt dein' Goldvogel? fragte er ſeinen Sohn vergnügt, als er
mit dem Knechte heraufkam, um zu Mittag zu eſſen. Der Johann
ſagt, es ſei ein Goldſtück geweſen, was dir der Herzog zugeworfen hab'.


Ich hab's nicht aufgehoben, antwortete Friedrich.


Was? Biſt von Sinnen? ſchrie der Sonnenwirth.


Ich hab' eine Menſchen- und Chriſtenpflicht gethan, ſagte Friedrich,
und dafür laſſ' ich mich nicht mit Geld auszahlen. Zudem weiß man
wohl, für was der Herzog die Ducaten in der Weſtentaſch' trägt —
fürs' Weibervolk. Das iſt kein Geld für mich.


Haſt's ſo übrig? fragte der Vater, indem er den Löffel niederlegte,
den er mit dem beſten Appetit zu handhaben begonnen hatte. Das
Eſſen wollte ihm nicht mehr recht ſchmecken. Du biſt mir der Recht'
zum Obenausſein, ſetzte er hinzu.


Dann hätt' das Geld wenigſtens mir gehört, maulte der Knecht,
denn ohne mein' Beiſtand kann man nicht wiſſen wie das Ding aus¬
gangen wär'.


Warum haſt's nicht genommen? ſagte Friedrich. Ich hätt's dir
nicht mißgönnt.


Such', Johann, ſuch'! rief der Sonnenwirth. Aber der Knecht
war ſchon aufgeſprungen und man hörte ihn die Treppe hinunter¬
poltern. Nach einer guten Weile kam er finſter zurück und ſagte:
Ich hätt' mir's ſchon denken können, daß ſo was nicht lang liegen
bleibt. Wer's aber genommen hat, iſt ein Dieb. Der ſoll mir kom¬
men. Ich werd's ſchon 'rausbringen, wer den gelben Vogel im Käfig
hat. Der Fiſcherhanne, der iſt, glaub' ich, am dabei geſtanden.
Dem waſſergrünen Spitzbuben werd' ich aufpaſſen.


16 *[244]

Schäm' dich, Johann, ſagte Friedrich, daß du dein' Nebenmenſchen
ſchlecht machſt, eh' du weißt ob er's iſt. Der Fiſcherhanne iſt nicht
mein Freund und wird's auch nicht werden, aber ich thät' mich doch
zweimal beſinnen, eh' ich ihn einen Dieb hieß' ohne allen Grund und
Beweis. Und dir hat er nie was zu Leid gethan. Eſel, warum haſt
das Geld nicht gleich aufgehoben?


Der Knecht ſah ihn giftig an und murmelte halblaute Flüche in
ſeine Suppe hinein.


Das Aufheben wär' an dir geweſen, du hochmüthiger Herr,
ſagte der Sonnenwirth zu ſeinem Sohne. Du nimmſt wo du nichts
anrühren ſollt'ſt, und läßt liegen was dein iſt.


Friedrich ſchwieg. Er hatte einem Advocaten in Göppingen ge¬
ſchrieben, ob er ſich nicht ſeiner annehmen und ſeine Sache gegen
ſeinen Vater führen wolle. Inzwiſchen gedachte er jeden unnützen
Streit mit dieſem zu vermeiden und ſich, ſo lange er ihm ſein mütter¬
liches Erbe nicht herausgab, als Kind von ihm ernähren zu laſſen,
was er ihm durch ſeine Dienſte hinlänglich zu vergelten glaubte; denn
wenn er auch mitunter, von Zorn und Ueberdruß ergriffen, in ſeiner
Arbeit nachließ, ſo meinte er ſich doch das Zeugniß geben zu dürfen,
daß ſein Vater mit Unrecht über ſolche Unterbrechungen klage, die im
Vergleich mit ſeinem ſonſtigen Fleiß und Eifer kaum in Rechnung zu
bringen ſeien.


Der Sonnenwirth ſchwieg gleichfalls und beſchäftigte ſich wieder
mit dem Eſſen. Im Ganzen hatte er doch keinen Grund, ſich den Appetit
vergehen zu laſſen. Sein Sohn hatte dem Herzog einen nicht unbe¬
deutenden Dienſt geleiſtet, der jedenfalls der Sonne zu Statten kom¬
men mußte. Konnte dieſes Ereigniß aber nicht vielleicht auch das
Glück des jungen Menſchen machen und ihn ſogar aus ſeiner ver¬
kehrten Richtung herausreißen? Der Herzog war gegen ſeine Ge¬
wohnheit weggefahren, ohne ein Wort zu verlieren; denn wenn er
auch das Land wenig ſchonte, ſo pflegte er doch den Leuten ein gut
Geſicht zu machen und konnte mit dem Geringſten im Volke
freundlich reden. Nach einigen Tagen, auf der Rückfahrt, oder auf
einer ſpäteren Durchreiſe, falls er diesmal einen andern Rückweg einſchlug,
fragte er gewiß nach dem Jüngling, deſſen kräftiger Arm ihn vor ei¬
ner Gefahr bewahrt hatte, und je kleiner dieſer ſein Verdienſt machte,
[245] deſto höher konnte er in der Gunſt des Herrn ſteigen. Poſthalter von
Ebersbach! Der Alte konnte dieſen Gedanken nicht aus dem Kopfe
bringen. Da war aber freilich immer wieder dieſe fatale Liebſchaft
im Wege.


Während der Sonnenwirth ſolchen Gedanken nachhing und dazwi¬
ſchen wieder dem Eſſen zuſprach, dachte ſein Sohn an nichts als daß
morgen der dritte Sonntag ſei, an welchem er hätte proclamirt wer¬
den ſollen, und daß heute die Antwort auf ſeinen Brief aus Göp¬
pingen eintreffen müſſe. Um dieſelbe geheim zu halten, hatte er nicht
die Poſt, ſondern einen Bekannten benützt, der in Geſchäften droben
war und zu dieſer Stunde zurückkommen ſollte. Er ſtand vom Eſſen
auf und ging die Straße hin, um den Brief in Empfang zu nehmen,
mit welchem er ſodann unter die Erlen an dem Flüßchen eilte. Der
Advocat ſchrieb, er miſche ſich nur höchſt ungern in Händel zwiſchen
Kindern und Eltern, zudem ſcheine ihm die Sache ſehr verwickelt, der
Ausgang ungewiß, und ohne einen Vorſchuß könnte er ſich nicht in
dieſe Geſchichte einlaſſen. Abermals eine vereitelte Hoffnung! Er
knirſchte mit den Zähnen, ſchüttelte einen alten Weidenbaum, daß er
in den Wurzeln krachte, und ging kranken Herzens, denn jetzt wußte
er nicht mehr womit er Chriſtinens tägliches Wimmern ſtillen ſollte,
in das väterliche Haus zurück.


Er war dort heute nichts weniger als überflüſſig. Dieſelbe Straße,
auf welcher des Herzogs leichte Kaleſchen den Staub aufgewirbelt
hatten, kamen jetzt ſchwere Frachtwagen langſam vor die Sonne daher¬
gefahren. Friedrich half die Pferde ausſchirren und verſorgen. Dann
ging es an die leibliche Pflege der Fuhrleute, die keine geringen An¬
ſprüche machten und mehr Geld ſitzen ließen als der Herzog ſammt
ſeinem ganzen Hof. Hier war die Sonnenwirthin an ihrem Platze.
Sie wußte nicht bloß das Bedürfniß und den Geſchmack der Gäſte zu
befriedigen, ſondern auch eine Unterhaltung mit ihnen zu pflegen, bei
welcher wenigſtens der Verſtand nicht zu kurz kam, ſo daß einſt ein
Fuhrmann zu ſeinen Gefährten ſagte: So lieb mir Herz und Nieren
ſind, ſo möcht' ich doch der Sonnenwirthin ihr Herz nicht freſſen, denn
warum? Sie hat eben kein Kalbsherz, aber ihr Hirn, das thät' mir,
glaub' ich, ſchmecken, und bin doch dem Kalbskopf feind.


Kaum waren die Fuhrleute bedient und zum Theil nach ihren
[246] Roſſen zu ſehen gegangen, ſo kamen abermals Gäſte, und zwar dies¬
mal zu ungewohnter Stunde aus dem Flecken ſelbſt. Es war der
junge Müller Georg, den wir kennen, mit einem Mädchen von nicht
ungefälligem Ausſehen, das er als ſeine Braut vorſtellte, und einem
Schwarm von Sippſchaft aus benachbarten Orten hinterdrein, worunter
ſich auch der Knecht des andern Müllers befand. Er gehörte, wie
ſich aus dem Geſpräch ergab, zur Verwandtſchaft, und hatte als Unter¬
händler dieſes Verlöbniß zu Stande bringen helfen, daher er billig
beim Brauttrunke ſich mitfreuen durfte. Die vergnügte Miene des
Müllers verrieth es, und derbe Andeutungen der andern Verwandten
ſagten es noch lauter, daß die Braut „Batzen“ habe. Ehe die Gäſte
ſich ſetzten, fand eine lange Begrüßung ſtatt, bei welcher der Sonnen¬
wirth in ehrerbietigerem Tone als gewöhnlich und die Sonnenwirthin
mit ſauerſüßem Geſichte dem Müller Glück wünſchten. Ja ja, ſagte
dieſe, jetzt habt Ihr das recht' Waſſer auf Eure Mühle gefunden;
der Silberbach, nicht wahr, der wird ſie beſſer treiben, als der Ebers¬
bach? Die ganze Verwandtſchaft lachte ſehr geſchmeichelt zuſammen.
Nun trat auch Friedrich zu dem jungen Manne, den er trotz jener
Huſarenjagd wohl leiden konnte, obgleich er in letzter Zeit mit ihm,
der ſehr eingezogen lebte, nur ſelten in Geſellſchaft geweſen war. Er
ſchüttelte ihm die Hand, begrüßte die Braut gleichfalls, und brachte
ſeinen Glückwunſch mit wenigen aber herzlichen Worten an. Jetzt
thu' Wein her, Frieder, und das nur g'nug! ſagte der Müller. Heut
laſſ' ich alle Gäng' los! Du mußt auch mitthun, wir haben ſchon lang
nicht mehr mit einander getrunken.


Ja, ich will ſo frei ſein, erwiderte er freundlich und eilte in den
Keller.


Ihr habt heut 'n Glückstag gehabt, Herr Sonnenwirth, begann
der Bräutigam, als die Geſellſchaft, den Wirth und ſeine Frau mit
eingeſchloſſen, an dem runden Tiſche Platz genommen hatte. Ich bin
nicht dabei geweſen, hab's aber gehört. Und der Frieder, das iſt ja
ein Kerl wie ein Löw'! Nun, der hat die Wurſt nach der Speckſeit' ge¬
worfen; der Herzog wird ſich's hinter die Ohren geſchrieben haben.


Der Sonnenwirth erzählte unmuthig, wie ſein Sohn das ihm zu¬
geflogene Goldſtück verſchmäht habe. Die Geſellſchaft hörte mit Ver¬
wunderung und Kopfſchütteln zu. Die junge Braut lachte überlaut.
[247] Dies ärgerte zwar den Sonnenwirth ein wenig, doch glaubte er darin
ein Zeichen von vielem Menſchenverſtand erkennen zu müſſen.


Ja, er iſt ſein Lebtag ein beſonderer Kopf geweſen, ſagte der
Bräutigam. Aber das muß man ihm doch laſſen, hilfreich iſt er und
meint's vielmals gut. Denkt's Euch noch, wo er die Schramm' her
hat, die man immer noch auf ſeiner Stirn ſieht? Da iſt einmal
der Todtengräber mit ſeinem Weib und ſeinem Mädle am Burggarten
'runtergefahren, haben ein Wägele mit Heu, glaub' ich, geführt, und
wie eben die Leut' vergeßlich ſind, oder vielleicht auch aus Armuth
haben ſie keine Kette bei ſich gehabt, und ein mageres Kühle vorge¬
ſpannt, und haben die Weibsleut' den Radſchuh machen müſſen, wie's
auch ſonſt im Leben oft vorkommt.


Die Geſellſchaft lachte. Iſt auch oft nöthig, rief eine rüſtige
dicke Frau, die für die Braut den Mund aufthat. Wenn ein Mann
Kopf über Kopf unter bergabe will, ſo thut's ihm wohl Noth, daß
er ein tüchtigs Weib hat, das ihm den Rappen anhält und den
Wagen ſperrt.


Ueber das, fuhr der Müller fort, iſt das Wägele in Schuß kom¬
men, das Kühle hat's nicht mehr verheben können, und wer weiß wie's
gangen wär', da kommt auf einmal der Frieder des Wegs daher,
ſieht den Unſtern und ſpringt bei, er iſt ſchier kaum ſechszehn Jahr'
alt geweſen. Anhalten hat er das Wägele auch nicht mehr können,
aber 'rum hat er's ſammt dem Kühle geriſſen, ſo daß das Rad am
Mäuerle aufgefahren iſt und am Vorſprung feſtgeſeſſen. Kuh und
Wagen und Leut', keinem hat's was gethan, aber den Frieder hat's
mit der Stirn an die Mauer hingeſchlenkert, daß man ihm hätt' mit
einer Latern' in Kopf hineinzünden können.


Ja, ich weiß wohl noch, wie man mir den gottloſen Buben halb¬
todt in's Haus 'bracht hat, ſagte der Sonnenwirth.


Die Thüre ging auf und Friedrich erſchien mit den Flaſchen. Der
Müller, der ſich entweder ſehen laſſen oder auch vielleicht das Geſpräch
noch länger fortſetzen wollte, rief: Was, das iſt Alles? Gleich wieder
in Keller! Der ganz' Tiſch muß vollgepfropft ſein. Kann dir nicht
helfen, Friederle, heut muß ich dir müde Füß' machen.


O ich thu's ja gern, rief Friedrich und eilte wieder in den
Keller.


[248]

Ich hab' oft zu mir geſagt, hob der Müller wieder an, aus dem
Buben kann noch was werden.


Im Guten oder im Böſen, erwiderte der Sonnenwirth. Ich hab's
auch ſchon gedacht, daß er nichts Halb's werden will. Seit einiger
Zeit aber hat er ſich ganz auf die eine Seit' geneigt. Ihr wiſſet's
ja ſelber, wie er mir Verdruß und Bekümmerniß macht.


Darin will ich ihm den Kopf nicht heben, ſagte der junge Müller,
indem er ſeine Braut zärtlich anſah. Beſſer iſt beſſer, das weiß ich.
Aber wenn die Sach' eben einmal ſo weit iſt, wie bei dem Frieder
— ich ſag's ganz unmaßgeblich, Herr Sonnenwirth, ich red' bloß von
mir — wenn ich 'n Sohn hätt', und er ging' in ſolchen Schuhen
und wollt' eben um Gottes oder's Teufels Willen ſeinem Schatz Wort
halten und ſein Kind vor Elend bewahren — ich weiß nicht, was
ich that, aber ſo viel müßt' ich mir doch immer ſagen: das Kind,
das iſt dein Enkel.


Unſer Herrgott wird davor ſein, daß dir ſo was zuſtoßt, ſagte die
dicke Frau, welche die Sprecherin machte, mit ſcharfbetonter Mißbilli¬
gung. Hätt'ſt wenigſtens gleich dazu ſagen ſollen: Unbeſchrieen! An
einem Tag, wie der heutig', mußt kein ſo Ding reden.


Der Bräutigam wurde gewahr, daß er einen großen Bock geſchoſſen.
Er wandte ſich zu ſeiner Braut, welche blutroth geworden war, und
flüſterte ihr unausgeſetzt gute Worte zu, ohne weitern Antheil an dem
Geſpräch zu nehmen. Anfangs ſchien ſie etwas ſcheu und widerwillig
zu ſein, auch zog ſie den Arm weg und rückte ein wenig, wenn er
ſie berühren wollte; nach und nach aber ließ ſie ſich wieder begütigen.


Das wär' mir eine neue Erziehung, nahm die Sonnenwirthin nach
der Tadlerin das Wort, wenn des Menſchen Eigenſinn Gottes Will'
heißen müßt'. Des Teufels Will', ja, das iſt recht geſagt. — Sie
ſah ſich im Kreiſe um und begegnete, wenigſtens bei den weiblichen
Mitgliedern deſſelben, lauter beifälligen Geſichtern.


Herr Sonnenwirth! begann ein alter Fuhrmann, der beinahe un¬
beachtet in der Ecke am andern Fenſter ſaß und dem Geſpräche ſehr
aufmerkſam zugehört hatte: Laſſet ein Wort mit Euch reden und gebet
Eurem Sohn das Mädle, daß das Geſchrei unter den Leuten einmal
aufhört. Bei Kanſtatt drunten hab' ich einen ähnlichen Fall erlebt.
Da hat auch ein Wirthsſohn eine arme Taglöhnerſtochter geheirathet,
[249] und die ganz' Verwandtſchaft iſt dagegen geweſen, aber er hat's durch¬
geſetzt, warum? Weil er Herr im Haus geweſen iſt nach ſeines Vaters
Tod. Es iſt aber ganz gut gerathen. Anfangs, freilich, hat man
auch dem Teufel ein Bein brechen müſſen, denn die jung' Frau hat
ein wenig hochmüthig ſein wollen auf ihr fein's Geſicht und ihren
neuen Stand, und hat dabei natürlich von der Wirthſchaft nichts
verſtanden und der Schwieger nicht folgen wollen; aber der Mann iſt
geſcheid geweſen und hat zu ſeiner Mutter gehalten und ſein Weib
links und rechts hinter die Ohren geſchlagen, bis ſie parirt hat. Jetzt
geht's, und die Einkehr bei der, ſchönen Wirthin iſt groß, und die
Mutter, die früher am ärgſten gegen die Heirath geweſen iſt, ja, die
trägt jetzt ihre Tochter ſchier auf den Händen.


Das paßt wie eine Fauſt auf ein Aug', lachte die Sonnenwirthin.
Freilich, wenn ein Vater todt iſt, da kann ihm ſein Sohn ſein' Sach'
und ſeinen Namen verſchimpfiren, und Niemand fragt darnach. Aber
ſo lang der Vater am Leben iſt, wird er doch auch noch dreinreden
dürfen, wenn ihm der Sohn Schimpf und Schand' in's Haus brin¬
gen will.


Herr Sonnenwirth! ſagte der hartnäckige Fuhrmann, ohne die
Einrede der Frau zu beachten, Ihr müſſet ja doch einmal abfahren
und dann kutſchirt Euer Sohn. Wollet Ihr ihm auf dem Bock ſitzen
bleiben und ihn ſein Leben lang ſpazieren führen? Das geht ja doch
nicht an, drum gebet nach, ſo lang's noch Zeit iſt und eh's zum
Aeußerſten kommt. Denn ich kenn' Euch Beide: 's hat Jeder von
Euch ein Sperrholz im G'nick.


Recht ſo! ſagte die Sonnenwirthin, alſo ſoll der Sohn dem Vater
das G'nick brechen!


Der Sonnenwirth, der eine Weile etwas unſchlüſſig dreingeſchaut
hatte, fuhr auf. Vom Sterben hörte er gar nicht gern reden, eine
Rüge war auch nicht nach ſeinem Geſchmack, und der etwas herbe
Ton des alten Mannes, den er zwar ſeit vielen Jahren kannte, reizte
ihn ſo, daß es nur einer kleinen Nachhilfe von ſeiner Frau bedurfte,
um ihn in Harniſch zu jagen. Ick brauch' das Geſchwätz nicht, ſagte
er kurz angebunden, brauch' mir in meinem Haus nichts befehlen zu
laſſen. Hier bin ich Herr.


Adje, Herr Sonnenwirth, antwortete der Alte, indem er ſich mit
[250] gemeſſener Eile erhob und der Thüre zuging: 's gibt noch mehr
Wirthshäuſer in Ebersbach.


Mein'twegen! rief der Sonnenwirth.


Der Alte ging hinaus, nachdem er der Geſellſchaft Adje beiſammen!
zugerufen hatte. Draußen traf er auf Friedrich, der die Treppe lang¬
ſam und nachdenklich heraufkam. Frieder, ſagte er zu ihm und legte
ihm die Hand auf die Schulter, wir kennen einander ſchon lang, ich
hab' dich oft 'rumtragen, wie du noch klein geweſen biſt, und hab'
dich auf meine Gäul' ſitzen laſſen.


Ha freilich, Bot'! erwiderte Friedrich aufgeheitert. Wir ſind immer
gut Freund' geweſen. Wißt Ihr's nimmer? Ich hab' Euch ja ein¬
mal den Wagen ausplündert, dem langen Mathes, dem Knecht, zum
Torten.


Weiß wohl, Friederle, dir iſt aber auch mancher Tort geſpielt
worden, und mein kleiner Finger ſagt mir, es ſtehen dir noch ärgere
bevor. Komm, Frieder, komm du mit mir. Alt bin ich, kein Kind
hab' ich nicht, mein Handwerk kennſt du — ich will dich annehmen.
Ich ſpür's, deines Bleibens iſt nicht mehr in dem Haus da, es thut
nicht lang mehr gut. Komm mit mir, ſag' ich. Du kennſt mich: ich
halt' dich rauh, wie ich ſelber bin und wie's bei meinem Weſen her¬
geht, aber ich halt' dich wie ein Vater.


Botenjakob! ſtammelte Friedrich betreten und zögernd, das iſt ein
Wort, das alles Danks werth iſt — aber Ihr werdet mir's gewiß
nicht verargen, wenn ich ſag': es will überlegt ſein. Was ſollt' denn
aus meiner Chriſtine werden?


Mein Fuhrweſen, ſagte der Alte, trägt dich und mich, aber ein
Haus voll Kinder trägt's nicht mehr, ſeit die Straß' durch's Rems¬
thal verbeſſert iſt, und du kannſt mir nicht zumuthen, daß ich in mei¬
nem Alter noch Hunger leiden ſoll.


Wie könnt' Ihr mein Fragen ſo auslegen? unterbrach ihn Friedrich
tief verletzt. Haltet Ihr mich im Ernſt für ſo undankbar und un¬
verſchämt?


Nein, nein! verſetzte der Alte mit ſanfterer Stimme. Mußt
nicht gleich ſo auffahren, wie dein Vater. Man red't ja nur. Deine
Chriſtine wirſt freilich nicht mitnehmen können, aber wenn ich einmal
[251] ſterb', ſo ſitz'ſt in meinem ganzen Brod und kannſt ſie holen. Sag'
dir's ſelber, ob du hier auch nur ſo viel vorausſehen kannſt.


Friedrich hielt ſeine Flaſchen krampfhaft feſt. Es arbeitete mäch¬
tig in ihm. Der Vorſchlag, das erkannte er wohl, war ein rettender
Ausweg, aber er wurde ſo plötzlich und unvorbereitet damit überraſcht,
daß ſein ſonſt ſchneller Geiſt wie gelähmt war. Wohl hatte er mit
leichter Zunge von Verzicht auf ſeines Vaters Haus und Erbe ge¬
ſprochen, aber jetzt, wo die Wirklichkeit ihn auf die Probe ſtellte, ſchien
ihm der Schritt doch ziemlich ſchwer.


Der Alte, der ſeinen Kampf beobachtet hatte, fuhr fort: Wenn
du nicht willſt, ſo hilf mir wenigſtens meine Gäul' aus dem Stall
bringen.


Die ſind aber noch lang nicht ausgeruht, ſagte Friedrich, ſie wer¬
den noch nicht einmal ganz gefreſſen haben.


Ich bleib' auch noch im Ort, murrte der Alte.


Was? rief Friedrich, der erſt jetzt den Sinn der Rede begriff, Ihr
wollet die Sonne aufgeben, wo Ihr mehr als zwanzig Jahr' lang
Gaſt geweſen ſeid? Wer vertreibt Euch denn?


Die Sonne ſcheint mir zu heiß für meine alte Tag', ich will's
im Stern probiren. Mach' nur vorwärts, ich will mir nicht zum
zweitenmal ausbieten laſſen in dem Haus da. Ich ſchwätz' viel zu
lang, hab' in acht Tag' nicht ſo viel Wort' gemacht.


Nein, Jakob, ſagte Friedrich, ſo gern ich Euch in Allem zu Willen
wär', das thu' ich nicht. Hat mein Vater Euch beleidiget oder gar
Euch das Haus verboten, und vielleicht um meinetwillen, denn ſo was
ſchwebt mir vor, ſo will ich wenigſtens keinen Finger dazu rühren,
daß mein Haus um einen Freund ärmer wird. Wenn Ihr durchaus
fort wollet oder müſſet, was Ihr ſelber am beſten verſtehen werdet,
ſo müſſet Ihr den Knecht zu Hilf' nehmen. Ich führ' Euch keinen
Gaul aus'm Stall — und Ihr werdet mir glauben, daß mir's dabei
nicht um den Nutzen iſt.


Der Alte fuhr ſich mit dem rauhen Rücken der Hand über die
Augen. So eine abſchlägige Antwort, ſagte er, muß ich mir gefallen
laſſen. Aber ich wiederhol's noch einmal: komm mit mir, und komm
gleich. Nicht daß mich's nachher reuen könnt', aber ich ſpür', 's iſt
ein Unglück im Anzug. Du weißt, in mir iſt ein Geiſt, der mir
[252] ſchon manchmal etwas vorausgeſagt hat. Es kann auch nicht anders
ſein: wenn's der Ein' hebt und der Ander' nicht fahren läßt, ſo muß
es zuletzt ein Unglück geben. Schmeiß' deine Butellen hin, ſetzte er
haſtig drängend hinzu, und geh' mit, wie du gehſt und ſtehſt. Komm,
nimm die Hand, die ich dir biet', ſo eine Gelegenheit kommt nicht
zum zweitenmal.


Friedrich lächelte ein wenig, denn er glaubte ſich zu erinnern, daß
nicht alle Unglücksprophezeiungen des Alten eingetroffen ſeien. Auch
glaubte er kaum zweifeln zu können, daß zu der guten Geſinnung,
die derſelbe gegen ihn ſelbſt hegte, ſich einige Racheluſt gegen ſeinen
Vater geſellt habe. — Jakob, ſagte er, in Stern mit Euch zu gehen,
daraus würd' ich mir unter andern Umſtänden gar nichts machen,
denn der Stern iſt mir ein ganz honnett's Haus. Aber bedenket: wenn
ich Euch, nach dem was zwiſchen Euch und meinem Vater vorgefallen
ſein muß, gleichſam aus der Sonne in den Stern ausziehen hülf' und
vom Stern aus mit Euch fortzög', um meinem Vater und Vaterhaus
gleichfalls Valet zu ſagen — wie arg thät' man mir das 'rumdrehen!
Euer Anerbieten, ich ſag's noch einmal, iſt tauſend Danks werth und
verdient alle Ueberlegung, und daß ich gern bei Euch bin, das wiſſet
Ihr ja ſchon lang. Aber ſo im Hui kann ich nicht mit. Ich kann
den Wein nicht auf den Boden ſchütten, wie ich heut ſchon einmal
gethan hab', denn ich hätt' jetzt nicht ſo viel Geld um ihn zu zahlen,
und möcht' Euch doch auch nicht gleich zum Anfang für mich in un¬
nöthige Koſten bringen. Und dann, wenn ich jetzt fortlief', während
noch der Georg mit ſeiner Braut da iſt, ſo thäten die Leut' natürlich
ſagen, ich hab' mich dran geſpiegelt und geſchämt und hab's nicht
ausgehalten neben ſo einem vernünftigen, braven, rechtſchaffenen, rei¬
chen Paar, und was dergleichen Zeugs iſt. Ich ſeh' Euch ja fort¬
fahren, denn wenn Ihr auch aus'm Stern abfahret, ſo müſſet Ihr
doch da vorbei, und dann geb' ich Euch auf alle Fäll' das Geleit',
wie einem Vater, und wir reden weiter mit einander. Darum ſag'
ich Euch jetzt auch nicht Adje.


Er thut's nicht, brummte der alte Mann, während er die Treppe
hinunterſtieg. Der Stolz läßt's ihm nicht zu. Es iſt Einer wie der
Ander'.


Es war hohe Zeit, als Friedrich mit den Flaſchen in die Stube
[253] geeilt kam; denn der Vorrath von vorhin war bereits ausgetrunken.
Doch fand er die Geſellſchaft in munterer Unterhaltung begriffen.
Sein Vater hatte den Familienpokal geholt, aus welchem der Herzog
heute getrunken; derſelbe ging von Hand zu Hand und mußte dann
noch einmal gefüllt die Runde machen, da Jedes einen gewiſſen Reiz
dabei empfand, das Gefäß, das die landesherrlichen Lippen berührt
hatten, an den Mund zu ſetzen. Von dem Herrn ſelbſt ſprach man
in verdeckten Wendungen und halben Andeutungen, wie jung er noch
ſei und wie lebensluſtig, und wie viel man noch von ihm hoffen könne,
wenn er einmal älter ſein werde; denn die Menſchen bauen ja ſtets
auf die Zukunft: bei der Jugend bauen ſie auf das Alter und beim
Alter auf die Jugend Derer, die dem folgenden Geſchlecht angehören
werden. Aber auch von der Gegenwart wurde geſprochen, von den
Frucht- und Brodpreiſen und ähnlichen Gegenſtänden, die Keinem ge¬
ring ſcheinen dürfen, weil bei der allgemeinen Ernährung Alle be¬
theiligt ſind. Gleichwohl zeigte der Sonnenwirth, der ſich um dieſe
Dinge ſonſt oft mehr bekümmerte, als um manche andre noch wich¬
tigere, heute auffallend wenig Sinn dafür. Die Brautſchaft des jungen
Müllers und die Vergleichung derſelben mit der Liebſchaft ſeines Soh¬
nes war es, was ihm beſtändig im Kopfe herumging. Die Braut
gefiel ihm über die Maßen wohl. Der herrſchenden Sitte gemäß
ſprach ſie äußerſt ſelten, beinahe nur wenn ſie gefragt wurde; und es
däuchte dem Sonnenwirth früh genug, wenn Eine erſt als verheirathete
Frau „das Maul brauchen lerne“. Was ſie ſprach, das ſchien ihm
„eine Heimath zu haben“; und es klang auch mitunter ſo rund wie
ein harter Thaler. Bei luſtigen Anläſſen brach ſie in ein ſchallendes
Gelächter aus, das ihm zu ihren weißen Zähnen und derbrothen
Wangen ganz prächtig zu ſtehen ſchien. Von der Braut mußte er
wieder auf den Bräutigam blicken, der in der Fülle ſeines Glückes
neben ihr ſaß und das einemal leiſe Liebesworte mit ihr wechſelte,
das andremal wieder lebhaft zu der Unterhaltung der Geſellſchaft bei¬
trug, deren Bewirthung er übernommen hatte. Der Sonnenwirth er¬
innerte ſich, daß er dieſem jungen Manne einſt ſeine Tochter vorent¬
halten, und konnte gar wohl ermeſſen, daß in der Ehre, die er ihm
mit ſeinem Beſuch anthat, auch eine kleine Bosheit verborgen ſein
mochte, daß er da, wo man ihn einſt, wenn auch in noch ſo leiſer und
[254] unbeſtimmter Weiſe, verſchmäht hatte, ſich jetzt als „gemachter Mann“
zeigen wollte; ja, die Zärtlichkeiten, die er ſeiner Braut erwies,
gaben manchmal dem Sonnenwirth einen Stich durch's Herz, als ob
ſie wie ein Spott auf ihn gemünzt wären. Er dachte aber nicht
daran, um wie viel beſſer er ſeine Tochter verſorgt haben würde, wenn
er ihr dieſen nach ſeinem eignen Geſtändniß ſo wackern, fleißigen und
angenehmen jungen Mann hätte zu Theil werden laſſen, und welch'
ein gutes Beiſpiel für ſeinen Sohn ein Schwager geweſen wäre, der,
gleichfalls jung und der Lebensfreude nicht abhold, doch das Erfreu¬
liche im Nützlichen zu ſuchen und bei ſeiner Wahl, wie es wenigſtens
ſchien, Liebreiz mit Verſtand und Reichthum vereinigt zu finden wußte.
Er dachte nur daran, daß ſein Sohn in allen Stücken das Gegentheil
von dieſem jungen Manne, daß deſſen Braut, ſo ſehr ſie ihm und
eben weil ſie ihm gefiel, ein wahres Spottbild auf die Wahl ſeines
Sohnes vorſtelle. Friedrich indeſſen dachte an gar nichts als an ſeine
und Chriſtinens verzweifelte Lage, an den niederſchlagenden Brief des
Advocaten, von dem er kaum hoffen konnte, daß er reinen Mund
halten würde, und an den liebreichen Antrag des alten Boten, der
ihn ſo ſeltſam beſtürmt hatte. Während ihn dieſe Gedanken unauf¬
hörlich beſchäftigten, mußte er dazwiſchen, von Georg aufgerufen, der
ihn durchaus heiter ſehen wollte, mit der Geſellſchaft ſchwatzen, einmal
über das andre Beſcheid thun, auf das Geheiß des ſplendiden Bräu¬
tigams Wein aus dem Keller holen, wieder ſchwatzen und lachen und
immer wieder trinken, ſo daß er zuletzt kaum mehr wußte, ob er ſei¬
nen Kopf oder das Mühlrad ſeines Freundes auf den Schultern habe.


Wie es gerade in lebhafteren Geſellſchaften nicht ſelten vorkommt,
war nach einer Reihe ernſthafter Geſpräche und luſtiger Späße auf
einmal die Unterhaltungsſpule abgelaufen, und es entſtand jene Stille,
während welcher jedes Mitglied ſich den Kopf zu zerbrechen pflegt, um
wo möglich einen neuen Stoff zur Verarbeitung aufzutiſchen. Der
Sonnenwirth, der den Wein gleichfalls ſpürte, hielt ſich vor Allen als
Wirth und Hausherr verpflichtet, in die Lücke zu treten, und der An¬
laß zu einer Aeußerung lag ihm nur allzu nahe. Hatte ihm der
Bräutigam vorhin, wohl mehr aus Höflichkeit als Ueberzeugung, wie
ihn däuchte, ſeinen Sohn gelobt, ſo glaubte er dieſe ſchmeichelhaften
Reden jetzt im entgegengeſetzten Sinne erwidern zu müſſen. Das
[255] muß ich ſagen, begann er, ſo ein fein's Brautpaar hab' ich lang
nicht an meinem Tiſch gehabt; da muß Einem ja das Herz im Leib
drob lachen! Dann ſprach er die vortheilhafte Meinung aus, die er
von den beiden jungen Leuten hegte, und ſpendete beſonders der Braut
ein derbes Lob, das ſie mit Erröthen, jedoch keineswegs unwillig, hin¬
nahm. Nun aber wendete er ſich gegen ſeinen Sohn. Da kannſt
jetzt ſehen, ſagte er zu ihm, wie viel Freud', anſtatt ſo viel Verdruß,
du mir hätt'ſt machen können, wenn du mir ſo ein brav's Weibsbild
in's Haus bracht hätt'ſt, ſtatt dem Menſch, mit dem du dich ver¬
gangen haſt.


Jetzt kommt's! dachte Friedrich, aber er hielt an ſich und ſah finſter
ſchweigend vor ſich hin.


Es muß eben auch Schatten in der Welt geben, bemerkte die
Sonnenwirthin ſpöttiſch, ſonſt thät' man ja — bei dieſen Worten
deutete ſie auf die Braut — das Licht nicht ſehen.


Laſſet's gut ſein, Herr Sonnenwirth und Frau Sonnenwirthin!
ſagte der Bräutigam begütigend. Wir ſind ja ſo vergnügt bei einan¬
der. Komm, Frieder, ſtoß' an mit mir: dein Wohl und unſer Leben
lang lauter gut Ding!


G'ſegn' dir's Gott, Georg! erwiderte Friedrich. Obwohl du ein
Kind des Lichts biſt, ſetzte er bitter lächelnd hinzu, ſo will ich doch
in meiner Finſterniß auf dein und deiner Braut Wohl trinken und
will dir wünſchen, daß ſie dir immer ſo lieb bleiben mög', wie meine
Chriſtine mir.


Die Braut machte ein ſaures Geſicht. Die Sonnenwirthin ſtieß
ein grelles Gelächter aus, in das der weibliche Theil der Geſellſchaft
halblaut einſtimmte, indem ſie einander unwillig anſahen.


Ich laſſ' meine Gäſt' nicht beleidigen! fuhr der Sonnenwirth
zornig auf.


Ich hab' Niemand beleidiget, erwiderte ſein Sohn mit kalter
Stimme, während ſeine blauen Augen immer wilder blitzten.


So eine Vergleichung, rief die Sonnenwirthin mit aufreizendem
Tone, die ſoll keine Beleidigung ſein! Die Weiber nickten ihr lebhaft
zu. Der Bräutigam ſchwieg verlegen: er ſah ein, daß er den Freund,
mit dem er ſo eben noch angeſtoßen, nur auf Koſten ſeiner Braut
vertheidigen könnte.


[256]

Was! ſchrie der Sonnenwirth, ſo eine rechtſchaffene Perſon ver¬
gleichſt du in meinem Haus mit einer —


Vater! unterbrach ihn Friedrich mit dem Tone der Verzweiflung
und ſtand auf: ich bitt' Euch um Gotteswillen, ſeht Euch vor und
hütet Eure Zung'! Ich hab's einmal für allemal erklärt und ge¬
ſchworen, daß ich ſie nicht 'runterſetzen und ſchlecht machen laſſ', weder
von Vater noch Mutter. Sie iſt mein Weib vor Gott, und was ich
geſchworen hab', das halt' ich, müßt' man auch in Ebersbach etwas er¬
leben, dergleichen ſeit Menſchengedenken nicht geſchehen iſt.


O du blutrünſtiger Heiland, er droht ſeinem leiblichen Vater! rief
die Sonnenwirthin, indem ſie die Hände zuſammenſchlug. Die Weiber
ſtießen Laute des Grauens und Entſetzens aus.


Der Sonnenwirth, der ſich gleichfalls erhoben hatte, ſtand in un¬
gewiſſer Haltung an die Stuhllehne angeklammert, ſchoß aber wüthende
Blicke nach ſeinem Sohne. Er fürchtete ihn, weil er ihn zu Allem
fähig glaubte, und eben dieſe Furcht erhöhte ſeine Wuth.


Vater, begann Friedrich wieder, nach der Wand deutend, wo neben
dem Bilde des jungen Herzogs das Bild des Gekreuzigten hing, und
ſeine Stimme, die er zu mildern ſuchte, zitterte: Vater, ſehet Ihr Ihn,
der nicht ſchalt, da er geſchlagen ward, und nicht dräuete, da er litt?
Ich will ihm ja gern nachfolgen, ſo gut ich's kann. Wälzet Berg'
auf mich von Schimpf und Schmach, ich will nicht widerbellen, will's
tragen als Euer Sohn. Aber auf mein Weib laſſ' ich nichts kommen,
eh' mag das größt' Unglück draus entſtehen. Und leſet im Teſtament,
Vater: hat Er nicht ſeine eigene Verwandtſchaft verleugnet und geſagt,
die ſeien ſeine Eltern, Brüder und Schweſtern, die ſein Wort hören
und den Willen Gottes thun? Iſt aber das Gottes Will', die Ar¬
muth verachten und unterdrücken? Und iſt er nicht auch ſcharf ge¬
weſen? Hat er nicht mit der Geißel ausgefegt? Hat er nicht die
ewig' hölliſch' Verdammniß ausgegoſſen über die, ſo ſein Volk betrübt
und den Armen und Wittwen ihre Häuſer gefreſſen und langes Gebet
vorgewendet haben? Und was hat er geſagt, wie ſie die Eh'brecherin
vor ihn bracht haben, die doch gewiß eine größere Sünderin geweſen
iſt, als mein Weib? Wer unter euch ohne Sünde iſt, hat er geſagt,
der werfe den erſten Stein auf ſie.


[257]

Der kann predigen! ziſchelte die Braut mit unterdrücktem Kichern
gegen ihren Bräutigam hin. Friedrich, der es gehört hatte, warf ihr
einen Blick der Verachtung zu.


Man ſollt' ſchier gar glauben, ſagte die Sonnenwirthin mit äzen¬
dem Spott, wir haben da den lieben unſchuldigen Heiland in unſrer
Mitte — verzeih' mir Gott die Sünd'. Ich hab' aber nirgend in
der Bibel geleſen, daß er ſo zu ſeinem Vater geredt hat.


Der Sonnenwirth war eine Zelt lang ſprachlos und außer ſich.
Die Anrufung der Religion, als Anklägerin wider ihn, machte ihn
raſend; gleichviel ob ſein Sohn mit Recht oder Unrecht zu dieſem
Mittel gegriffen — es erſchien ihm als Bruch der letzten Schranke
kindlicher Scheu. Ich brauch' weder 'n Hauspfaffen, noch 'n Haus¬
dieb! ſchrie er: wenn ich eine Predigt brauch', ſo will ich ſie in der
Kirch' vom Pfarrer hören, und nicht von ſo — ſo —. Die Stimme
verſagte ihm. Der Bräutigam und die andern Männer, die an der
Haltung von Vater und Sohn erſahen, daß es Ernſt wurde, ſprangen
dazwiſchen und ſuchten zu vermitteln, indem Alles zu gleicher Zeit
zuſammenſchrie. Aber bei dem Vater hatte Wein und Wuth über
die Furcht geſiegt und vielleicht gab ihm auch das Dazwiſchenſpringen
der Männer, das ihn von ſeinem Sohne trennte, ein Gefühl der
Sicherheit. Er fuhr in den höchſten Kehltönen, blauroth im Geſicht,
zu toben und zu ſchimpfen fort, und durch den ohrzerreißenden Lärm
der Andern drang von Zeit zu Zeit ſeine Stimme vernehmlich durch.
Ich laſſ' mir in meinem eigenen Haus von Niemand befehlen — —
ich ſag' was ich mag — und was ich ſag' iſt wahr — — — ſie iſt
ein ſchlecht's Menſch — er hatte ſich Bahn zum Tiſche gebrochen und
ſchlug mit der Fauſt darauf, daß Flaſchen und Gläſer tanzten und
umfielen — ein ſchlecht's Menſch, ſag' ich — ein ganz ſchlecht's,
ſchlecht's, ſchlecht's —


Seine Stimme überſchnappte und zugleich erſtarb ihm noch aus
einer andern Urſache das Wort im Munde, denn mit weit geöffneten
Augen zurückbebend ſah er, daß ſein Sohn das Meſſer gezogen hatte,
und ihm mit der funkelnden Klinge gegenüber ſtand. Die Weiber
kreiſchten fürchterlich, die Männer wogten hin und her und wichen
theils zurück. Mit wild rollenden Augen war der Unglückliche vor¬
getreten, die Spitze des Meſſers nach ſeinem Vater gekehrt: — wenn
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 17[258] man der Leidenſchaft in ihrem vollen Ausbruche zutrauen darf, daß
ſie noch einen Reſt von Beſinnung in ſich birgt, ſo kann man wohl
nicht zweifeln, daß er froh geweſen wäre, ſich durch irgend ein da¬
zwiſchenplatzendes Hinderniß die Haltung ſeines blinden Eides unmög¬
lich gemacht zu ſehen. Auch wurde ihm dieſer Wunſch, wenn er vor¬
handen war, erfüllt. Der Müllerknecht, hinter welchem die Andern
allmählich zurückgewichen waren, ſprang ohne Weiteres auf ihn zu
und packte ihn kräftig am Arme, um ihn zurückzuhalten. Meſſer weg!
ſchrie er, gleichfalls entbrannt, mit zornig gebietender Stimme und wildem
Blick — aber ehe er vollenden konnte, hörte man aus dem Munde
des Wüthenden einen tollen Schrei, ſah ſeinen Arm mit dem Meſſer
zucken, und das Blut ſchoß dem zurücktaumelnden Knechte am Arme
herab. Die Sonnenwirthin ſtürzte aus der Stube: Feurio! Mordio!
Feurio! ein Dieb! ein Mörder! hörte man ſie nach einem Augenblick
auf der Straße ſchreien, daß es durch die ganze Nachbarſchaft gellte.
Unten und oben erſchallte verworrenes Geſchrei. Die Gäſte, den
Sonnenwirth in der Mitte, ſtürzten der Frau vom Hauſe nach. Die
Braut ließ ſich, an ihrem Bräutigam hängend, von dieſem mit fort¬
ſchleppen und weinte überlaut über die böſe Vorbedeutung dieſes Un¬
glückstages. Der Bräutigam wollte den Getroffenen mit ſich ziehen,
aber dieſer riß ſich los und blieb ſteif und ſtarr vor ſeinem Angreifer
ſtehen, während ihm das Blut fortwährend vom Arme niedertroff.


Friedrich kam wie aus einer langen Betäubung zu ſich und ge¬
wahrte, daß er mit dem Knecht allein in der Stube war. Er hatte
das Meſſer noch immer in der Hand. Da nimm's, ſagte er zu dem
Opfer ſeines Jähzorns, und ſtich mich über den Haufen, du thuſt ein
gut's Werk.


Der Knecht wies das dargebotene Meſſer zurück. Ich bin kein
Mörder wie du, ſagte er, während ſeine gläſern gewordenen Augen
ſich nach und nach wieder belebten.


Peter! um Gotteswillen! hat's dir was gethan? rief Friedrich,
dem ſeine That erſt jetzt zum klaren Bewußtſein kam. Laß mich ſehen,
komm, ich will dich verbinden, du verblut'ſt dich ja.


Der Knecht ſtieß ihn zurück. Iſt ſchon recht, murmelte er, 's iſt
recht, ja, ja — ſein' Wohlthäter ſtechen — iſt eine neue Art ſeine
Schulden zu zahlen — 's iſt aber recht — ich will dich finden —
[259] ja, ja! 's iſt recht, iſt ganz recht. — Er wiederholte dieſe Worte
wohl ein Dutzendmal, während er langſam aus der Stube ging und
erſt jetzt daran dachte, ſeinen verwundeten Arm mit der andern Hand
zuſammenzuhalten.


Friedrich blieb allein und wie verhext in der Stube zurück. Er
blickte auf den Tiſch, der ſo eben noch voll Menſchen geweſen war,
dann auf das Meſſer in ſeiner Hand, dann auf das Bild des Ge¬
kreuzigten, zu dem er vorhin emporgedeutet und dem er nachzufolgen
gelobt hatte. War das eine Nachfolge? ſagte eine Stimme in ihm.
Er hatte gelobt, jede Schmähung zu dulden, die nur über ihn ſelbſt
ausgeſchüttet würde, und dieſer Arme hatte nicht einmal ihn, geſchweige
Chriſtinen geſchmäht. Wenn auch ſeine Zunge vielleicht Schmähworte
beherbergt hatte, die nur durch den Stoß des Meſſers abgeſchnitten
worden waren, wenn auch der herausfordernde überlegene Ton, womit
er ihm Entwaffnung geboten, ſich, wie ſeine nachherigen Worte zu zei¬
gen ſchienen, auf eine Gefälligkeit berufen wollte, die zwar eine Ver¬
pflichtung, aber keine Abhängigkeit begründet, wenn auch ein chriſtliches
Verzeihen ihm fremd und fern zu ſein ſchien — was war das Alles gegen
einen Mörderſtreich? Stolz und Zorn — dies ſagte ihm die innere
Stimme mehr oder minder klar — hatten ihn in einem Augenblicke
zu dem Gegentheil von dem gemacht, was er den Augenblick vorher
zu ſein ſich vermeſſen hatte.


Indeſſen blieb ihm wenig Zeit, ſolchen Gedanken nachzuhängen.
Der Lärm vor dem Hauſe wurde ſtärker und die Anzahl der Stim¬
men mehrte ſich. Er hörte den Knecht, deſſen Betäubung allmählich
in Wuth überzugehen ſchien, aus den andern Stimmen heraus brüllen:
Er iſt nicht bloß ein Mörder, er iſt auch ein Dieb! ſein eigener Vater
hat ihn 'n Dieb geheißen! — Ja, ſchrie die gellende Stimme der Sonnen¬
wirthin, er hat ſeinem Vater Frucht geſtohlen und an ſein Menſch
gehängt. — Man muß ſeiner habhaft werden! rief eine neue Stimme,
an welcher er den Amtmann erkannte. — Ja! gellte die Stimme der
Sonnenwirthin, kriegen muß man ihn, und wenn man das Haus an¬
zünden müßt'! — Bald konnte er auch durch die offen gebliebene Thüre
Tritte im Hausgang und auf dem untern Treppenabſatz vernehmen.
Die Verfolger kamen. Das Bewußtſein, daß er es mit aufgebrachten,
wüthenden Menſchen zu thun habe, entflammte auch in ihm, der kaum
17 *[260] zuvor einem Strahl der Wahrheit und Demuth Raum gegeben hatte,
von neuem die mörderiſche Wuth, zu welcher ſich nun ein unbeſtimm¬
ter Trieb, bevorſtehenden Uebeln zu entgehen, geſellte. Er flog die
obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er ſich rücklings auf einen
Kaſten legte, ſein Meſſer in eine daneben ſtehende Bettlade ſteckte, und
in dieſer Verfaſſung die Verfolger erwartete. Er muß auf der Bühne
ſein! rief's unten und die Schaar drang herauf. Die Vorderſten
waren der Amtsknecht, der Fleckenſchütz und der Fiſcher; hinter ihnen
drängte es ſich auf der Treppe Kopf an Kopf. Komm mir keiner zu
nah! rief der tolle Burſche und griff nach dem Meſſer. Sie ſtutzten
und wichen zurück. Holet ein Gewehr! rief einer. Da iſt ſchon eins!
antwortete es vom Fuß der Treppe. Her da! rief's oben: man muß
nach ihm ſchießen, bis ihm der Krattel vergeht! Er fuhr von ſeinem
Lager auf, ließ das Meſſer ſtecken und ſtürzte nach einem Dachladen,
durch den er alsbald verſchwand. Ein Geſchrei von unten erſcholl.
Er hat ſich hinuntergeſtürzt! ſchrie der Amtsknecht. Die Einen war¬
fen ſich auf das Meſſer, um ſich deſſelben zu bemächtigen, die Andern
rannten nach dem Dachladen. Der Fiſcher war der Erſte, der daſelbſt
ankam und den Kopf hinausſtreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück
und rief: Nein, er ſchiebt ſich das Dach hinauf und hat mich mit ei¬
nem Ziegel auf den Kopf ſchlagen wollen. Das Dach aufgehoben!
ſchrieen Einige und machten Anſtalt am Sparrenwerk hinaufzuklettern;
da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar Keinen traf, aber
Alle von dem vorgeſchlagenen Unternehmen abſchreckte. Fluchend und
ſchreiend verließen ſie den obern Boden und gingen auf die Straße
hinunter, von wo ſie nun ſehen konnten, wie des Sonnenwirths Frieder,
dem ganzen Flecken zum Schauſpiel, auf dem Dachfirſt ſeines väterlichen
Hauſes ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuſchauen,
obgleich er ſich feſt wie im Sattel eines Pferdes hielt, ſeine Verfolger
höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus
war voll Menſchen, und aus den anſtoßenden Gaſſen drängten ſich
immer neue Zuſchauer herbei. Was gibt's? was gibt's? riefen die
Einen; — 's iſt e' Kuh fliegig worden! — nein, e' Stier! ſchrieen
Andere. — Dem Sonnenwirth ſitzt ein fremder Vogel auf'm Haus! —
Schießet ihn vom Dach abe! — Holet ihn mit der Feuerſpritz' 'runter! —
ſo ging das Geſchrei und Gelächter durch einander. Ein Wagen, der
[261] auf der Straße herausfuhr, mußte Halt machen, weil ihn das Ge¬
dränge nicht durchließ. Bei den Pferden ſtand der alte Fuhrmann
und blickte, traurig den Kopf ſchüttelnd, nach dem verwahrloſten Jüng¬
ling hinauf, den er hatte retten wollen. In ſeinen gefurchten Zügen
malte ſich eine trübſelige Befriedigung; er nickte ein paarmal und
ſagte vor ſich hin: Hab' auch wieder einmal eine richtige Vorahnung
gehabt.


Der Sonnenwirth, der ſich halbtodt ſchämte, hatte ſich mit dem
verwundeten Knechte zu ſeinem Schwiegerſohne, dem Chirurgen, zurück¬
gezogen, und ſchickte dieſen, ob er dem ſchmählichen Auftritte nicht auf
irgend eine Weiſe ein Ende machen könne. Der Chirurg, nachdem
er die Wunde des Knechts unterſucht und verbunden, drängte ſich durch
die Menge, wurde von dem Amtmann, der rathlos, was er befehlen
ſollte, in der Hausthür der Sonne ſtand, herbei gewinkt und mit ei¬
nem heimlichen Auftrage verſehen, drängte ſich wieder in die Straße
durch und gab Zeichen nach dem Dache, um die Aufmerkſamkeit ſeines
jungen Schwagers auf ſich zu ziehen. Friedrich, der ihn mit ſeinen
Falkenaugen ſchon längſt bemerkt und angerufen hatte, ohne in dem
Tumult vernommen zu werden, ſchrie mit einer Stimme, die Alle
übertönte: Still da drunten! Ein zorniges Gelächter der Menge ant¬
wortete ihm. Der Chirurg aber bat und beſchwor die Umſtehenden
ſo lange, bis wenigſtens in der Nähe der Lärm ſich etwas legte und
eine nothdürftige Stille entſtand. Herr Schwager! rief jetzt Friedrich
herab: was macht der Peter?


Er iſt den Umſtänden nach ganz wohl! antwortete der Chirurg
durch die vorgehaltenen Hände, mit welchen er das etwas ſchwache
Erzeugniß ſeiner Lunge zu verſtärken ſuchte: die Wunde iſt gar nicht
gefährlich!


Gott ſei Lob und Dank! rief Friedlich und ſchlug die Hände er¬
freut zuſammen.


Gib doch Acht! ſei nicht ſo frech! ſchrien Einige von denen, die
ihm wohlwollten.


Das hat kein' Noth! antwortete er und drehte ſich wie der Blitz
herum, ſo daß er, die Kniee ſchnell wieder an das Dach anſtemmend,
nach der entgegengeſetzten Seite gerichtet ſaß. Das tolldreiſte Kunſt¬
ſtück, das er in der Freude ſeines Herzens machte, rief bei der Menge
[262] einen Schrei des Entſetzens hervor, welchem ein ſchallendes Gelächter
folgte. Grad' wie ein Aff' auf einem Kameel! ſchrieen ſie.


Schwager, geh' Er herunter! rief der Chirurg.


Wenn mir der Herr Schwager ſicheres Geleit' verſpricht! ant¬
wortete Friedrich: ſonſt thut ſich's ganz wohl da oben!


Ich gebe Ihm mein Ehrenwort, daß Ihm nichts zu Leid geſchieht!
rief der Chirurg hinauf.


Sein Ehrenwort?


Mein Ehrenwort!


Er verließ ſeinen luftigen Sitz mit einem leichten Ruck, der unten
von einem Schrei des Schreckens und zugleich der Bewunderung be¬
gleitet wurde. Der ſitzt vom Dachgrath ab wie ein Reiter von ſeinem
Gaul! ſchrie die Menge. Im nächſten Augenblick hatten ſie Urſache
ihn mit einer Katze zu vergleichen, ſo leicht ſah man den behenden
Burſchen auf Händen und Füßen am Dach herab rutſchen, bis er den
Laden wieder erreicht hatte, durch welchen er im Nu verſchwand, noch
einmal mit einem Fuße hinauszappelnd, gleichſam zu Ehren des ver¬
ſammelten Publicums, das hierüber in ein wieherndes Gelächter
ausbrach.


Nach wenigen Secunden verrieth eine Bewegung der in und vor
der Hausthüre ſtehenden Leute, daß in dem verlaſſenen Hauſe ſich etwas
Lebendiges regte und die Treppen herunter kam. Der Amtmann
flüchtete ſich in den dichteſten Schwarm heraus. Der Burſche hat
heut' Vormittag ſchon gezeigt, was er für ein gefährlicher Kerl ſein
kann! ſagte er und verſammelte alsbald eine Schaar handfeſter Männer
um ſich, worunter der obere Müller nicht fehlte, der durch das Ge¬
ſchrei, daß des Sonnenwirths Frieder ſeinen Knecht geſtochen habe,
herbeigezogen worden war. Jetzt erſchien der Held des Tages, von
Niemand um ſeinen Lorbeer beneidet, in der Hausthüre. Ruhig, als
ob er nicht begreifen könne, warum die Leute ſo zuſammengelaufen,
kam er heraus und ſuchte mit den Augen ſeinen Schwager, auf den
er ſodann zuging. Man ließ ihn vorbei. Da bin ich, ſagte er zu
dem Chirurgen: ein Mann, ein Wort. — Ich halte, was ich ver¬
ſprochen habe, entgegnete der Chirurg mit ſchlauem Lächeln. — Du
biſt kein Mann, du biſt ein Bub'! ſchrie ihn der dabeiſtehende Richter
an: dir braucht man nicht Wort zu halten! — Greift ihn! befahl
[263] der Amtmann, und ehe der zuverſichtliche Burſche ſich's verſah, befand
er ſich unter der Gewalt von mehr als zehn Fäuſten. Er wehrte ſich
wie ein Eber, ſchimpfte, tobte, ſchlug um ſich, aber zuletzt erlag er der
Uebermacht und wurde zu Boden geſchlagen. In dieſem Kampfe, der
lange dauerte, und an welchem ſeine Widerſacher ſich wetteifernd be¬
theiligten, erhielt er jeden böſen Gruß, den er in Worten oder Werken
unter ſeinen Mitbürgern ausgetheilt hatte, mit Wucherzinſen heimbe¬
zahlt. Zuletzt banden ſie ihn mit Stricken, ſo daß er ganz zuſammen¬
gerollt am Boden lag und ihnen zu den vielen Thierbildern, die ſie
heute ſchon an ihm erſchöpft hatten, auch noch die Vergleichung mit
dem verachteten Igel auf die Zunge legte. — Etwas hat ihm ge¬
hört, ſagte der gleichfalls anweſende Heiligenpfleger, der ſich als Zahl¬
meiſter auf volle Summen verſtand: jetzt wär's aber gnug. — Kuh!
Narr! jetzt geht's erſt recht an, erwiderte der Richter lachend ſeinem
Collegen, den er, im Range etwas höher ſtehend, dieſer vertraulichen
Anrede würdigte. — Fort mit ihm auf's Rathhaus! rief der Amt¬
mann. — Der Gebundene wurde aufgehoben und fortgetragen. Ein
Theil der Menge folgte. Andere blieben zurück und redeten noch lange
mit einander über die Begebenheit, welche die alltägliche Ruhe des
Fleckens völlig unterbrochen hatte.


Das iſt aber ein Menſch, Kreuzwirth! ſagte eine der auswärtigen
Frauen von der Brautgeſellſchaft, die ſich jetzt dem Schauplatze näher
wagte, zu einem dort ſtehenden leibarmen Manne mit kleiner ſpitzer
Naſe, den wir aus der Unterredung der beiden Müller bei ihrem
Friedenstrunke als den geſchlagenen Urſächer von Friedrich's zweiter
Zuchthausſtrafe kennen. Das iſt ein Menſch, ſag' ich! Hat der ſei¬
nem Vater eine Predigt gehalten und hat ihm die Bibel ausgelegt,
wie wenn er der Pfarrer wär'! Es iſt mir ganz kalt aufgangen und
ich hab' mich ganz drüber vernommen. Und kaum iſt die Predigt aus
geweſen, ſo hat man geſehen, wer ihn regiert: der Teufel, der Mörder
von Anbeginn!


Ja, ja, Adlerwirthin, antwortete der Angeredete mit näſelnder
Stimme, das hat man damals auch geſehen, wie er mich auf ſeines
Vaters Anſtiften, recht wie ein Erzſpitzbub' und Mörder, auf dem
freien Feld ohne eine einzige Urſach' angefallen hat und ſo behandelt,
daß ich außer Stand bin, Lebenslang einen Batzen zu verdienen.
[264] ohne meine tägliche viele Schmerzen, wodurch ich und mein Weib
und Kind in die äußerſte Armuth verſetzt und ſamtlich verderbt wor¬
den ſind.


Nu, nu, Kreuzwirth, ſagte die Adlerwirthin aus der Nachbarſchaft,
ſo gar arg iſt's doch grad nicht, wenn man die Leut' hört. Weiß
wohl, die Zeiten ſind hart; man kann ſich auch ein bisle verſpeculiren,
wenn man den Nagel gar zu b'häb auf den Kopf treffen will. Und
mit der Breſthaftigkeit iſt's auch nicht ſo ſchlimm: Ihr ſeid von jeher
ein dünn's Pappelbäumle geweſen, und 's kann ja auch nicht Jeder
ein Eichenbaum ſein.


Ja, aber mein Arm! klagte der Kreuzwirth. Der Mordbub' hat
mir ihn halb auseinander geſchlagen. Da ſehet ſelber, Adlerwirthin,
wie er mir geſchweint (geſchwunden) iſt.


Die Frau ſtreifte ihm ohne Umſtände den ſchlotternden Rockärmel
auf und beſah ſich den Arm mit prüfendem Blicke. Das iſt nicht die
Schweine, ſagte ſie, ſeid nur ganz ruhig, das hat nicht viel zu bedeu¬
ten. Der Arm iſt eben ein wenig dürrer als der ander'. Das kommt
oft vor, auch ohne Schläg'. Waſchet ihn fleißig mit ein wenig Wein
oder auch mit Kirſchengeiſt, daß er wieder zu Kräften kommt. Hunds¬
ſchmalz drauf gebunden, ſoll auch gut ſein; ich hab's aber nie probirt.


Ihr ſeid ja ein ganzer Docter, ſagte der Kreuzwirth. Ja, ja,
lenkte er wieder in das vorige Geſpräch ein, der Sonnenwirth hat heut'
einen ſauren Tag erlebt. Dem ſitzt gewiß kein Storch mehr auf's
Dach. Aber die Zuchtruth' iſt ihm geſund, er ſoll nur fein demüthiger
werden, er hat's nöthig. Das iſt mir ein Chriſtenthum, wenn man
durch eigennützige Conceſſion im Metzgerhandwerk ſeinen Mitmenſchen
das Brod vom Maul wegnimmt, durch Geld und Argliſt mehr Frei¬
heit im Handwerk an ſich reißt als ein anderer ehrlicher Meiſter. Nun
zeigt ſich's was das fruchtet. Der Gewinner, ſagt das Sprichwort,
muß einen Verthuner haben. Das Auge Gottes ſiehet Alles, höret
Alles, ſtraft Alles zu ſeiner Zeit. Das Wort des großen Gottes ge¬
ſchahe zu dem Propheten Eli: Darum daß du nicht ſauer geſehen haſt
zu dieſer deiner Kinder Bosheit, ſo ſoll die Miſſethat an dem Hauſe
Eli nicht verſöhnet werden, weder mit Speisopfer noch Rauchopfer
ewiglich, im erſten Buch Samuelis, im dritten. An den Früchten
erkennet man den Baum. Kann man auch Trauben leſen von den
[265] Dornen, oder Feigen von den Diſteln? Jetzt hat er's und muß zu¬
ſehen, wie der Sohn ſeines Vaters ruhmwürdiges Wirthshaus blamirt.
Iſt's nicht ſo, Adlerwirthin?


'S iſt eben e' Welt, antwortete dieſe, welche ſich nicht näher in
kitzliche Erörterungen einlaſſen wollte. Jetzt kann ich mich aber nicht
länger aufhalten, denn es will Abend werden, heißt's im Evangelium,
und der Tag hat ſich geneigt. Meine Leut' werden ungeduldig, ſie
wollen fort. Ja, ja, ich komm' ja! winkte ſie gegen ein Häuflein der
Umſtehenden hin, worunter ſich die Ihrigen befanden. B'hüt' Gott,
Kreuzwirth, Ihr wiſſet ja, der Menſch will eben heim.


Unterdeſſen hatte man den gefangenen Wildling in das Rathhaus
geſchleppt, wo man ihn gebunden, wie er war, in ein Gelaß warf
und liegen ließ. Der Burſche ſcheint mir ziemlich betrunken zu ſein,
ſagte der Amtmann: er mag ſeinen Rauſch ausſchlafen, dann will ich
ihn morgen Vormittag verhören. Der Herr Pfarrer wird nichts da¬
gegen haben, wenn man einmal am Sonntag Juſtiz ausübt und ein
nöthiges Exempel ſtatuirt. Nun wollen wir aber gleich heute noch
mit dem Allernöthigſten beginnen. — Er ließ zwei Urkundsperſonen ru¬
fen und begann ſofort eifrig zu amten; denn wie der Staat im Für¬
ſten, ſo war in ihm die Gemeinde aufgegangen, ja noch weit mehr.
Gleichwie ein abſterbender alter Baum, deſſen Stamm nach unten ſchon
mürbe und hohl geworden iſt, doch in manchem Frühling durch ſeinen
grünen Wipfel zeigt, daß die Wurzel noch friſchen Saft nach der
Krone zu treiben vermag, ſo war von der alten wirtembergiſchen,
aus ſchwäbiſch-deutſchem Recht erwachſenen Verfaſſung an der Spitze
des Staatslebens ein Reſt zurückgeblieben, der, neben argem Scheinholz
zwar, noch lebendige Beſtandtheile enthielt und dem giftigen Pfropf¬
reiſe der fürſtlichen Alleinherrſchaft empfindliche Hinderniſſe zu bereiten
wußte, während das Gemeindeleben beinahe völlig vom Wurm zer¬
freſſen und ertödtet war. Die Gemeindebehörde, beſtehend in Gericht
und Rath, den morſchen Ueberreſten des altdeutſchen Gleichgewichts
von Gewalt und Beſchränkung, war, in den größeren Ortſchaften we¬
nigſtens, unter das Regiment eines fürſtlichen Beamten geſtellt; ſie
hatte zwar nicht ganz nichts, aber doch herzlich wenig zu ſagen, und
war von der Wurzel des Gemeindelebens losgeriſſen, denn ſie pflanzte
ſich, wie der dem Fürſten zur Aufſicht beigegebene ſtändiſche Ausſchuß,
[266] — aber nicht ſo wie dieſer von dem noch nicht ganz zugefallenen öffent¬
lichen Auge überwacht — auf dem verrotteten Wege der Selbſtergänzung
fort, welche noch obendrein in den meiſten Fällen ungeſcheut von dem
Beamten ſelbſt in die Hand genommen wurde. Von dieſem alſo, der
die fürſtliche Herrſchaft bei der Gemeinde und die Gemeinde bei der
Herrſchaft zu vertreten hatte, hing es beinahe ausſchließlich ab, welche
der beiden Vertretungen, die nur eine geſunde Zeit im Gleichgewichte
halten konnte, er bei ſich überwiegen laſſen wollte. Die eine verſprach
ihm von einem Volke, dem ſein eigenes Rechtsleben fremd geworden
war, beinahe mehr Verwirrung als Dank: die andre trug ihm von
einem Hofe, der ſeinen Dienern unbedingt befahl und bald ſo weit
kommen ſollte, daß er ſich ihre Stellen abkaufen ließ, ja ſogar Ge¬
meindedienſte, über die er gar nicht verfügen durfte, bis auf den nied¬
rigſten herunter um Geld vergab, — lockenden Lohn oder wenigſtens
Ruhe vor Verfolgung ein. Wenn es in ſolcher Zeit doch immer noch
einzelne Beamte gab, die ihre ſchwere Doppelſtellung gegen Oben zu
kehren und dem ſtändiſchen Widerſtande wider die fürſtliche Willkür
Nachdruck zu geben vermochten, ſo mußte dies dem Lande, deſſen Ge¬
ſchichte ihre Namen zum Theil aufgezeichnet hat, ein tröſtliches Zeichen
ſein, daß die alte gute Wurzel noch nicht völlig erſtorben ſei und in
beſſeren Tagen den kranken Baum vielleicht wieder zu erneuern ver¬
mögen werde. Für einen wilden Schößling aber findet ſich in einem
ſelbſt faulen Gemeindeleben nicht immer ſo leicht ein Gärtner, der
ihn durch Strenge und Milde zugleich in ein geſundes Reis zu ver¬
wandeln verſteht. Statt die wilden Triebe, die ſie mit ſchlimmen
Thiernamen brandmarken, einzudämmen, und die Kraft, die ſie mit
dem Bilde des Löwen bezeichnen, für das kleinere oder größere Ge¬
meinweſen brauchbar zu machen, eilen ſie, weil jeder mit ſich ſelbſt
genug zu thun hat, ihn als einen ſchädlichen Knorren auszureißen
und in's Feuer zu werfen. So war es und ſo oder ähnlich wird
es immer ſein, wo — nicht ohne Schuld der Glieder, doch mehr noch
durch die zum Tode oder zu einer reicheren Zukunft führende Ent¬
wicklungskrankheit — in dem Baume ſelbſt die ſchaffende und heilende
Lebenskraft für eine Zeit verkümmert iſt.


Die Nämlichen, die in ihrem Feuereifer für das Geſetz ihren ver¬
haßten Gegner geſchlagen, niedergeworfen und gebunden hatten, drängten
[267] ſich jetzt bereitwillig in das Verhör, um anzugeben, was ſie Böſes
von ihm zu ſagen wußten oder was ihnen an ihm zuwider war. Jedes
ungeſchickte Wort, das er im Zorne ausgeſtoßen, wurde zum Ankläger
gegen ihn, und die gefährliche Geſinnung, die in dieſen unbedachten
Worten zu liegen ſchien, erhielt ihre ergänzende Beſtätigung durch die
Gewaltthat, welcher er ſich heute ſchuldig gemacht hatte. Der ge¬
ſtochene Knecht, obgleich ſeine Wunde ſich als unbedeutend erwies,
ſchnaubte unverſöhnliche Rache und war über die Abſicht, die er der
That unterlegte, noch weit mehr aufgebracht, als über dieſe ſelbſt.
Schon auf der Straße hatte ſein Geſchrei zu vernehmen gegeben, daß
gegen den Gefangenen noch eine weitere Unthat vorliege, und auf Be¬
fragen des Amtmanns erzählte er nun, die eigenen Eltern deſſelben
haben ihn mehr oder weniger unverblümt eines Diebſtahls bezichtigt.
Hierauf verhörte der Amtmann den Sonnenwirth. Dieſer entſchuldigte ſich,
daß er die Thatſache theils um der Schande ſeines Hauſes willen, theils
wegen der Geringfügigkeit des Betrages habe vertuſchen wollen, gab aber,
durch das heutige Betragen ſeines Sohnes und durch das Zureden ſeiner
Frau vollends aufgeſtachelt, zu verſtehen, daß nach den neueren Ausſagen
des Knechtes der Diebſtahl wohl beträchtlicher geweſen ſein möge. Der
Amtmann ließ ſogleich den Knecht aus der Sonne rufen, welcher, dem
Strome des allgemeinen Unwillens folgend, angab, der Beſuch auf
dem Kornſpeicher ſei in jener Nacht mehrmals wiederholt worden und
ein größerer Abmangel zu verſpüren, ſodann auch noch, nach der Auf¬
führung des Angeklagten überhaupt gefragt, zur Vermehrung ſeiner
Schuldhaftigkeit erzählte, er ſei einmal in die Worte ausgebrochen,
wenn man ihm kein Geld gebe, ſo wolle er ſolches nehmen und ſeine
Stiefmutter während der Kirche an das Ofengeräms hinhenken. Auf
dieſe Anzeige ſchickte der Amtmann Gerichtsmitglieder ab, um in der
Sonne und zugleich bei dem Hirſchbauer Hausſuchung zu halten.
Friedrichs Vormund, der die erſtere vorzunehmen hatte, kam bald wie¬
der ; er brachte ein Brieflein und ein bemaltes Blatt, von der Art der
Heiligenbilder, ein mit einem Schwert durchſtochenes Herz darſtellend.
Außer dem Helgle, ſagte er, iſt nichts aufzutreiben geweſen, was eine
Auskunft gäb', als vielleicht der Brief da. Dem Inhalt nach iſt er
von einem Weibsbild, ſchätz' wohl, von der Jungfer Ohnekranz. Iſt
mir eine neue Mode, daß ein Mädle einem Mannskerl etwas Schrift¬
[268] lichs ſchreibt; das thut auch kein recht's Menſch; aber die Welt wird
alle Tag' ärger und die Jugend immer verdorbener. — Nun kam
auch der „Augenſchein“ vom Hirſchbauer zurück, in deſſen Hauſe man
jedoch gar nichts gefunden hatte, als Noth und Jammer ohne Ende.
Der Lärm des öffentlichen Schauſpiels mochte den flinken Jerg bei
Zeiten auf etwaige Gefahren aufmerkſam gemacht haben. Das iſt ein
Heulen und Schreien, daß Einem Hören und Sehen vergeht! ſagte
der Heiligenpfleger, der zu dieſer Verrichtung beordert worden war:
wenn ſo ein leichtfertiger Bub' nur auch bedenken thät', was er für
Unglück ſtiften kann, ſo ging' er vielleicht vorher in ſich und auf beſſere
Weg'. Da iſt ein Büſchel Brief' von ihm, die Alt' hat's gleich 'raus¬
geben; die Jung' liegt auf'm Bett und iſt ganz weg; und der Vater
wird's auch nimmer lang treiben.


Der Amtmann nahm die Briefe und legte ſie zu den Acten, um
hiemit ſein heutiges Tagwerk zu beendigen, welches mit einem Verhör
der Sonnenwirthin ſchloß oder vielmehr zu einer vertraulichen Unter¬
redung mit derſelben in Gegenwart der Amtmännin überging. Die
Sonnenwirthin hatte es jetzt ganz in der Hand, die Wetterwolke, die
ihr Stiefſohn über ſein Haupt heraufbeſchworen, in der gewünſchten
Richtung zu entladen, und ſie benutzte die Gelegenheit ſo eifrig, daß
ſie darauf beſtehen wollte, auch gewiſſe verfängliche Reden, die ihr
Sohn gegen den jungen Herzog geführt haben ſollte, in's Protokoll
zu bringen.


Hier machte jedoch der Amtmann ein ſehr ernſthaftes Geſicht. Na,
na, Frau Sonnenwirthin, ſagte er, man muß doch nicht ganz alle
Bonhommie hinter ſich werfen. Zum cumulus brauchen wir das
nicht, es iſt cumulus genug da, ein Berg, an dem er mindeſtens ein
paar Jahre abzutragen haben wird. Die Sache hat aber noch eine
andere Seite. Wenn ich in meinem Bericht an die Herrſchaft, denn
vom Oberamt geht er nach Stuttgart ab, dieſes delicate Sujet be¬
rühre, und wenn der Herr ſelbſt etwas davon erfährt, ſo macht er ſich
Gedanken. Bei einem jungen Menſchen gilt der Grundſatz: leben
und leben laſſen! Wenn daher ein junger Menſch auf anzügliche Weiſe
moraliſirt, ſo ſagt man ſich gleich: das hat er nicht aus ſich, das hat
er von Andern aufgegabelt. Da entſteht nun die Frage: woher hat
er's? von Vater oder Mutter? oder ſollte gar der Amtmann oder der
[269] Pfarrer, ich will nicht ſagen, in eigener Perſon unvorſichtige oder
mißverſtändliche Ausdrücke gebraucht, aber vielleicht bei den Unter¬
gebenen gewiſſem einfältigem Geſchwätz nachgeſehen haben? Wenn
man ſich aber einmal Gedanken macht, ſo kommt man an allem Mög¬
lichen und Unmöglichen herum, und da kann Niemand wiſſen, was
zuletzt noch für Calamitäten draus entſtehen mögen. Wollen's ſtecken
laſſen, Frau Sonnenwirthin, wollen's ſtecken laſſen. Beruht!


Und da wir juſt unter uns Pfarrerstöchtern ſind, wie man zu
ſagen pflegt, ſetzte die Amtmännin hinzu, ſo will ich erſt noch den
Herzog in Schutz nehmen. Wenn eine Frau meint, ſie habe ſich über
ihren Mann zu beklagen, ſo fragt ſich's oft, ob nicht ſie den erſten
Anlaß gegeben hat. Die Hoffahrt, ſagt das Sprichwort, muß etwas
leiden. Man mag von ihm ſagen, was man will, er hat etwas, das
ihn von vielen andern großen Herren unterſcheidet: er neigt ſich zur
Landesart, hat etwas Populäres in ſeinen Manieren, und ſchämt ſich
nicht, mit dem Unterthan auf einer espèce von gleichem Fuß zu ſtehen.
Gerade das geht aber ihr völlig ab, ſie hält es für gemein und wird
ſich nie darein finden. Da iſt's nun kein Wunder: wenn ſich die
Köpfe nicht in einander fügen, ſo bleibt auch zwiſchen den Herzen eine
Kluft. Dann hat ſie an ihrem Baireuther Hof ſich an den hohen
Ton, den feinen Gout, an Oper und Ballet gewöhnt, und er hat, ih¬
rem Geſchmack zu Lieb', Hofdamen, Sänger und Sängerinnen aus
Italien, Tänzer und Tänzerinnen aus Paris, Alles hat er ihr ange¬
ſchafft. Nun haben wir die Beſcheerung. Die Damen und Demoi¬
ſellen ſind hübſch, ſie iſt vornehm, er leutſelig und nicht von Stein —
da hat man leicht prophezeien können, wie es kommen wird.


Jetzt ſeh' ich erſt, ſagte die Sonnenwirthin liſtig lächelnd, welch'
ein groß' Zutrauen die Frau Amtmännin zu ihrem Herrn haben muß,
denn die Kathrine wär' doch kein ganz übler Biſſen.


Die Amtmännin lachte aus vollem Halſe. Ich bin nicht eifer¬
ſüchtig, rief ſie. Mein Mann iſt ein großer Jäger vor dem Herrn,
ein Nimrod, der hat ein Herz von Marmor und geht lieber auf was
Wildes als auf was Zahmes aus.


Dem Amtmann kam die Wendung des Geſpräches gleichfalls
höchſt ſpaßhaft vor, und unter lautem Gelächter wurde die Sonnen¬
wirthin entlaſſen.


[270]

Am Sonntag Morgen berief der Amtmann, innerlich vergnügt
über dieſe gute Gelegenheit, die Predigt ſeines geiſtlichen Mitbeamten
zu ſchwänzen, ſeine beiden Scabinen oder Gerichtsbeiſitzer, welche als
amtliche Zeugen bei dem Unterſuchungsverfahren, das ſie bewachen
ſollten, aber häufiger beſchliefen, den faulſten Ueberreſt der alten
Volksgerichtsbarkeit bildeten. Er befahl dem Schützen, den er als
Diener der Gemeindebehörde benutzte, den Gefangenen vorzuführen.
Der Schütz fand denſelben auf einer Bank ruhig ſchlafend und mußte
ihn mit einigen Stößen wecken. — Er hat, ſcheint's, Alles vergeſſen, was
geſtern vorkommen iſt, brummte er ihn an. — Nein, ſagte Friedrich, die
Augen ausreibend, es fällt mir Alles wieder ein, auch daß Ihr mich
losgebunden habt und ich Euch mein Wort gegeben hab', über Nacht
nicht durchzugehen. — Sein Wort hat er gehalten, das muß ich Ihm
laſſen, verſetzte der Schütz: jetzt muß ich Ihn aber wieder handfeſt
machen, damit's der Herr nicht merkt, daß Er über Nacht frei geweſen
iſt, ſonſt bin ich um den Dienſt. — Friedrich ſtreckte gutwillig die
Hände hin und der Schütz legte ihm Feſſeln an, worauf er ihn nach
dem Amtszimmer führte.


Er iſt von der ganzen Bürgerſchaft wie auch von Seiner eigenen
Familie wegen gemeingefährlicher Aufführung, dann auch wegen mör¬
deriſchen Attentats gegen einen Seiner Nebenmenſchen und wegen Dieb¬
ſtahls an Seinem leiblichen Vater angeklagt und hat ſich allhier zu
verantworten, begann der Amtmann, nachdem er den Eingang des
Protokolls geſchrieben hatte.


Friedrich blickte auf ſeine Ketten und ſchwieg.


Der Amtmann, der ihn eine Weile aufmerkſam betrachtet hatte,
hielt ihm in Kürze die Hauptpunkte der Anklage vor und fragte: Was
hat Er hierauf zu erwidern?


Der Gefangene verharrte in ſeinem ſtörriſchen Schweigen.


Muß ich Ihn durch Prügel zum Geſtändniß bringen? fuhr der
Amtmann auf.


Ein Zucken lief über den Körper des Gefangenen, ſo daß ſeine
Kette klirrte, aber er that den Mund nicht auf.


Dich ſollt' man im Mörſer zerſtoßen! rief Friedrich's unvermeid¬
licher Vormund, der neben einem kleinen Spezereigeſchäft allerlei mehr
[271] oder minder einträgliche Aemtchen bei der Gemeinde und darunter auch
das eines Gerichtsbeiſitzers verſah.


Friedrich blickte ihn verächtlich an.


Laſſ' Er mich nur machen, ſagte der Amtmann verweiſend zu der
eifrigen Urkundsperſon. Dann hielt er eine eindringliche Rede an
den Gefangenen. Er fragte ihn, wie er es vor ſeinem Vater, vor
ſeiner Mutter, die ſich im Grab umkehren müſſe, vor ſeiner ehrbaren
Verwandtſchaft, ja vor ihm ſelbſt, dem Nachfolger ſeines Pathen, ver¬
antworten könne, ſo viel Unruhe über die Gemeinde zu bringen und
noch obendrein dem Gerichte durch ſeine Halsſtarrigkeit zu ſchaffen zu
machen. Und was ſoll ich Seiner hochfürſtlichen Durchlaucht antworten,
fuhr er fort, wenn Hochſelbige ſich herabläßt, ſich nach dem jungen
Menſchen zu erkundigen, der vor den höchſten Augen eine unleugbare
Bravour bewieſen hat? Wenn die Antwort lautet, er habe Verbrechen
auf Verbrechen gehäuft, endlich ſogar ſeinem Richter die ſchuldige Ehr¬
erbietung verweigert, und durch bösartigen Trotz ſich ſelbſt noch tiefer
in Schaden geſtürzt, muß dann nicht der Herr, der ſonſten das Ver¬
dienſt zu belohnen geneigt iſt, ſich beeilen, einen ſolchen Namen wieder
aus dem fürſtlichen Gedächtniß auszulöſchen?


Ich hab' kein' Lohn begehrt, erwiderte der Gefangene trotzig. Es
waren die erſten Worte, die er ſprach.


Nun, ſo vergrößere Er wenigſtens Seine Strafe nicht, ſagte der
Amtmann, der das Eis gebrochen ſah und raſch auf der gewonnenen
Bahn fortfuhr. Er hat es in der Hand, vielleicht ſchwerere Bezichte
von ſich abzuwälzen. Mir geſchieht es ſauer genug, ein hieſiges Bur¬
gerskind criminaliter prozeſſiren zu müſſen. Aber ſo viel wird Er
ſelbſt einſehen: wenn die ganze Burgerſchaft klagt, ſo kann ich doch
die Sache nicht vor Ohren gehen laſſen.


Friedrich lächelte bitter. Es mögen wohl Viele hier ſein, ſagte er,
die mich gern am Galgen ſehen möchten, aber Alle nicht. Wenn's
aber doch mit mir aus ſoll ſein, und ich ſoll kein ehrlicher Mann
werden können — vor dem Flecken draußen ſteht ja das Hochgericht,
alſo machen Sie vorwärts, Herr Amtmann! Je kürzer der Prozeß,
deſto beſſer iſt's für mich.


Der Amtmann lachte. So kurzen Prozeß kann ich nicht machen,
ſagte er. Stock und Galgen haben wir wohl noch, aber der Stab iſt
[272] etwas abgekürzt. Der Oberſtab iſt in Göppingen, wo Er Sein Ur¬
theil empfangen wird. Deshalb will ich Ihn in Güte darauf hinge¬
wieſen haben, daß Er ſich nicht das Protokoll durch weitere Hartnäckig¬
keit ſelbſt verdirbt. Denn das Sprichwort ſagt bekanntlich: wie man
berichtet, ſo richtet man. Uebrigens ſeh' ich nicht ein, wie Er behaup¬
ten kann, man wolle Ihn nicht ehrlich werden laſſen. Wer verwehrt
Ihm denn das? Im Gegentheil, es handelt ſich ja darum, Ihn auf
den rechten Weg zurückzubringen.


Ich hab' meinem Schatz verſprochen, daß ich ſie und ihr Kind zu
Ehren bringen will, murrte Friedrich mit einigem Unmuth, daß er
nicht verſtanden worden war. So lang' ich mein Wort nicht halt',
bin ich auch kein ehrlicher Mann, und man leid't's ja nicht, daß ich's
halten ſoll.


Ja ſo, das iſt's, verſetzte der Amtmann. Das ſcheint die Urſache
geweſen zu ſein, nicht wahr, daß Er die verſchiedenen Redensarten
ausgeſtoßen hat, die ich Ihm jetzt vorhalten muß?


Mit dem befriedigenden Bewußtſein, durch ſeine Bonhommie dem
trotzigen Delinquenten das Band der Zunge gelöſt zu haben, zählte
ihm der Amtmann die Sünden dieſer Zunge auf, welche ſeine Anklä¬
ger zu Protokoll gegeben hatten. Friedrich gab einige als möglich,
andere als wirklich zu, wieder andere zog er in Abrede. Das ſind
mir Klagen! ſagte er. Dergleichen Redensarten kann man von jedem
Kind in Ebersbach hören. Aber man ſollt' meinen, der ganz' Flecken
red' franzöſiſch und ich allein ſchwätz' deutſch.


Der Amtmann protokollirte, während ſeine Beiſitzer gähnten und
der Gefangene gelangweilt das Bild der Juſtitia betrachtete. Nachdem
der Amtmann kunſtgerecht das Gebäude der Ausſagen zuſammengetra¬
gen hatte, aus welchen die Bosheit der Geſinnung hervorleuchtete,
nahm er eine neue Priſe und ging ſodann zu dem Meſſerſtich über,
in welchem der thätliche Ausbruch dieſer Geſinnung erblickt werden
konnte.


Es thut mir leid, ſagte Friedrich, daß der Peter ſo verbost auf
mich iſt. Ich hab' ihn um Verzeihung gebeten, wiewohl vergeblich,
und würd's gern noch einmal thun, wenn ein gut's Wort eine gute
Statt bei ihm fänd'. Ich ſeh' wohl ein, daß es nicht recht geweſen
iſt, aber ich hab's, weiß Gott, nicht ſo bös gemeint, ich hab's eben in
[273] der Hitz' aus Unvorſichtigkeit und Uebereilung gethan, und wie ich
gehört hab', daß ihm's nichts geſchad't hat, ſo iſt mir's geweſen, als
wär' ich aus Ketten und Banden erlöſt. Er ſollt' aber jetzt auch
keinen ſolchen Keſſel überhängen. Was! das bisle Aderlaß iſt ihm
geſund geweſen, er iſt ja ein Kerl wie ein Ochs.


Nun ja, Er darf freilich Gott danken, daß die Sache ſo gut ab¬
gelaufen iſt, ſagte der Amtmann etwas zutraulich: mit Blutvergießen
iſt nicht zu ſpaßen, da geht's gleich um den Kopf. Aber, fügte er
hinzu, wenn Er in der Rage zugeſtoßen hat, ſo hat Er doch nicht ſo
gewiß wiſſen können, ob der Stoß nicht tiefer oder bis an's Leben
gehen werde.


Ich bin freilich in der Rage geweſen, antwortete Friedrich, aber
ich hab' ihm doch nicht viel thun können, denn er hat mich ja am
Arm gepackt gehabt, und alſo hab' ich eigentlich gar nirgends anders
hinſtoßen können als nach ſeinem Arm.


Glaubt Er, forſchte der Amtmann, Er habe das ſo ſicher berech¬
nen können? Es iſt doch nicht wohl anzunehmen, daß man im Zorn
zugleich kalt und beſonnen zielt. Man ſtoßt eben zu, und dann kann
der Stoß eben ſo wohl am Arm vorbei und in den Körper gehen.


Ja, gezielt hab' ich freilich nicht, erwiderte Friedrich, und hab' mir
auch nicht fürgenommen, wie tief es gehen ſoll. Ich hab' ja ſchier
nicht gewußt, daß ich nur geſtochen hab'. Wenn ich kein Meſſer in
der Hand gehabt hätt', ſo hätt' ich ihm eben die Fauſt zu Gemüth
geführt.


Da hätte Er ja aber auch das Meſſer vorher weglegen können,
ſagte der Amtmann.


Ja was! wenn man im Zorn iſt, ſo denkt man an nichts und
ſtoßt eben zu. Wenn man je was denkt, ſo denkt man höchſtens im
Unſinn: Kerl, hin mußt ſein!


Hin? fragte der Amtmann, die Gerichtsbeiſitzer anblickend und
raſch der neuen Fährte folgend.


Das iſt Einem aber nicht Ernſt, verbeſſerte der Gefangene, dem
es nachgerade ſchien, er ſei im Begriffe, zu viel zu ſagen. Man iſt
nachher heilig froh, wenn's nichts gethan hat.


Der Amtmann protokollirte fleißig drauf los, während dem Ge¬
fangenen eine dunkle Ahnung verrathen mochte, ſeine Vorſicht komme
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 18[274] zu ſpät und er habe wohl ſchon viel zu viel geſagt. Auch reichte ſeine
Vernehmlaſſung vollkommen hin, um die Anklage wegen eines Atten¬
tats zu begründen, bei welchem er eine Tödtung wo nicht beabſichtigt,
ſo doch auch nicht gefliſſentlich vermieden, jedenfalls aber eine mehr oder
minder lebensgefährliche Verwundung vorausgeſehen habe.


Zufrieden mit dem bisherigen Erfolge der Unterſuchung, legte der
Amtmann die Feder nieder und nahm das Verhör wieder auf. Jetzt
kommen wir an den Fruchthandel, ſagte er: Er wird nicht in Abrede
zu ziehen gemeint ſein, daß es ein etwas einſeitiger Handel iſt, wenn
man Frucht einſackt, ohne Bezahlung dafür zu leiſten. Pro primo
aber, um die Ausſagen unter ſich in Einklang zu bringen, muß ich
fragen: wie viel iſt's denn eigentlich geweſen?


Herr Amtmann, antwortete Friedrich, ich hab' meinem Vater gleich
im erſten Augenblick erklärt, daß er durch den Handel um keinen
Kreuzer kommen ſolle, und wenn's jetzt an dem iſt, daß er aus mei¬
nem Mütterlichen ſchadlos gehalten werden ſoll, ſo will ich kein Körnle
verſchweigen. Natürlich hab' ich's in der Nacht und in der Eil' nicht
ſo accurat abzählen können, auch iſt in einem Sack mehr geweſen und
im andern weniger, aber ich thu' meinem Vater gewiß nicht Unrecht,
wenn ich's im Ganzen auf ein Scheffel ſechs oder ſieben ſchätz', Din¬
kel und Haber, ungefähr zu gleichen Theilen — ganz genau kann ich
das natürlich jetzt nicht mehr ſagen.


Sechs bis ſieben Scheffel Dinkel und Haber, ſagte der Amtmann,
den Kopf auf die Hand ſtützend. Ja, ja, das müſſen wir ſo praeter
propter
berechnen. Wo ſind die pretia rerum? fragte er, in den
auf dem Tiſche liegenden Acten kramend. Ja ſo, meine Frau wird
die Zeitung haben. Herr Senator, geh' Er geſchwind zu meiner Frau
hinüber: ich laſſe ſie auf einen Augenblick um die Wöchentlichen An¬
zeigen bitten.


Der Richter ging und brachte das amtliche Landesblatt, auf deſſen
Rückſeite die Frucht-, Wein-, Holz- und Salzpreiſe verzeichnet waren.
Der Amtmann nahm das Folioblatt, legte es vor ſich auf den Tiſch,
ſtärkte ſich zuvor durch eine Priſe und ſuchte dann mit dem Finger im
Schrannenzettel. Da ſteht's, ſagte er: Göppinger Schranne, Dinkel
drei Gulden dreißig, Haber zwei Gulden dreißig.


Ja, ſagte der andre Gerichtsbeiſitzer verdrießlich, ſeit der Ernt'
[275] hat der Dinkel um dreißig Kreuzer abgeſchlagen, im Auguſt hat er
noch vier Gulden koſt't.


Der Amtmann rechnete mit dem Bleiſtift auf einem Stück Sudel¬
papier. Vier Scheffel Dinkel, murmelte er, thut vierzehn Gulden;
drei Scheffel Haber, thut ſieben Gulden dreißig, beides nach jetzigem
Preis. Zuſammen alſo einundzwanzig Gulden und dreißig Kreuzer.
Iſt er mit der Taxation zufrieden?


Herr Amtmann, antwortete Friedrich, ich hab' zu meinem Vater
geſagt, wenn der Fruchtpreis bis zur Abrechnung anziehe, ſo ſolle das
ſein Nutzen ſein; alſo ſollt's eigentlich mir zu gut kommen, wenn der
Preis unter der Zeit gefallen iſt, weil mein Vater ja doch damals
nicht hat verkaufen wollen. Aber ich bin nicht ſo intereſſirt. Machen
Sie nur das Ungerade voll und rechnen Sie zweiundzwanzig Gulden,
daß die Zahl rund iſt.


Ich weiß nicht was Er will, ſagte der Amtmann. Ich habe ja
nach dem heutigen Preis, alſo zu Seinen Gunſten gerechnet.


Richtig, Herr Amtmann, erwiderte Friedrich, aber Sie haben vier
Scheffel Dinkel und drei Scheffel Haber angenommen, und es können
eben ſo gut vier Scheffel Haber und drei Scheffel Dinkel geweſen
ſein, oder auch gradaus halb und halb.


Iſt mir das eine Strohhalmſpalterei! rief der Amtmann verdrie߬
lich. Die beiden Gerichtsbeiſitzer lachten. Wenn's hoch kommt, ſo
macht's 'n Gulden Unterſchied, und 'n halben Gulden will er ja ſel¬
ber drein geben, ſagte der eine. Kommſt endlich in's Rechnen? rief
Friedrich's Vormund: 's wär' wohl Zeit,'daß du dran dächteſt; hätt'ſt
aber ſchon früher anfangen ſollen.


Damit Er ſieht, daß Ihm kein Unrecht geſchieht, ſo will ich's Ihm
vorrechnen, ſagte der Amtmann und griff wieder zum Bleiſtift.


Ach, mir iſt's ja nicht um's Geld! ſagte Friedrich zugleich ärger¬
lich und beſchämt. Ihn hatte bloß das verdroſſen, daß man von den
möglichen Grundlagen der Berechnung die ungünſtigſte angenom¬
men hatte.


Während der Amtmann noch rechnete, hörte man vor der Thüre,
die der Schütz aus Neugier ein wenig offen gelaſſen hatte, einen ſchwe¬
ren Tritt, der von wiederholtem Räuſpern des Kommenden begleitet
war, dann einen Wortwechſel mit dem Schützen, welcher endlich ſagte:
18 *[276] Wenn Er mit Gewalt 'nausgeſchmiſſen ſein will, ſo probir' Er Sein
Glück. Darauf klopfte es an der Thüre erſt leiſe und demüthig, dann
etwas lauter. Der Amtmann ließ einen grimmigen Blick nach der
Thüre hinlaufen, rechnete aber ſtillſchweigend fort. Es klopfte wieder.
Daß dich das Wetter! rief der Amtmann und warf den Bleiſtift hin:
was iſt das für ein unverſchämter Lumpenkerl? Einer der Gerichts¬
beiſitzer ging auf den Zehen nach der Thüre und öffnete. Ein halb
ſtädtiſch, halb ländlich gekleideter Mann ſtand davor, der, da er ſich
auf einmal dem Amtmann gegenüber ſah, ein paar tiefe Kratzfüße
machte. Mit Ihrem Wohlnehmen, Herr Amtmann! wollte er be¬
ginnen. Zugleich rief der Gefangene, der ſich neugierig umgeſehen
hatte: Das iſt ja der Vetter aus Hattenhofen! Grüß' Gott, Vetter!


Still! gebot der Amtmann. Hab' jetzt keine Zeit! rief er dem
Ankömmling zu. Sieht Er denn nicht, daß hier etwas Dringendes
verhandelt wird? Und wie kann Er ſich unterſtehen, am Sonntag zu
kommen?


Excüſe, Herr Amtmann, ſagte jener, ſchon halb auf dem Rückzuge
begriffen, 's iſt ja eben wegen der Sach'.


Halt! rief der Amtmann. Herein da! Hat Er etwas wider den
Angeklagten vorzubringen?


Ach nein, Herr Amtmann, wenn Sie's erlauben, antwortete der
Mann etwas weinerlich, ich verklag' ihn nicht, gewiß nicht, und was
er von mir hat, das hat er aus gutem freien Willen, und ich will
aber auch hoffen, daß ich wieder zu meinem Sach' komm'.


Alſo eine Schuldklage! rief der Amtmann enttäuſcht. Dazu iſt
jetzt keine Zeit, das iſt nachher vorzubringen. Fort!


Der iſt pfiffig! ſagte der Gefangene lachend: der weiß den Pelz
zu waſchen ohne ihn naß zu machen. Ich möcht' aber nicht haben,
daß er in der Sorg' wär', er könnt' durch mich um etwas kommen,
und weil wir ohnehin juſt an der Abrechnung von meinem Mütter¬
lichen ſind, ſo iſt mir's lieber, wenn das auch gleich dazu geſchrie¬
ben wird.


Ich hab's ihm aus gutem freien Willen gelaſſen, Herr Amtmann,
wiederholte der Vetter, erfreut über die Willfährigkeit des Gefan¬
genen, indem er ſich zugleich, dem Befehl des Beamten gehorchend,
[277] aber ſo langſam, daß er jeden Augenblick zurückgerufen werden konnte,
nach der Thüre zurückzog.


Gelaſſen? aus gutem Willen gelaſſen? ſagte der Amtmann ſtutzend.
Was iſt denn das?


Der Mann zuckte die Achſeln verlegen lächelnd und blieb an der
Thüre ſtehen.


Der Amtmann ſah den Gefangenen ſcharf an. Ich hab's ihm
von meinem Mütterlichen zurück verſprochen, ſagte dieſer.


Halt! rief der Amtmann. Er bleibt da! Bring' Er Seine Sache
vor! Ich muß wiſſen wie es ſich damit verhält.


Ich will's ſelber ſagen, nahm der Gefangene das Wort. Ich hab'
ja gleich mit 'rausrücken wollen, ſobald ich meinen Vetter geſehen
hab'. Alſo, wie ſich's um das Strafgeld für meine Chriſtine gehan¬
delt hat, und der Herr Amtmann hat mir die Höll' heiß gemacht und
all die Unehr' und Schmach fürgeſtellt, die über ſie hätt' ergehen
ſollen, da hab' ich nicht gewußt wo hinaus und wo hinein, und weil
der Herr Amtmann mit dem Geld ſehr preſſirt hat, ſo bin ich noch
in der nämlichen Nacht gen Hattenhofen geſprungen und hab' bei mei¬
nem Vetter da einen Beſuch gemacht.


Und iſt der Vetter bei dem Beſuch auch ſelbſt zugegen geweſen?
fragte der Amtmann, immer aufmerkſamer werdend, den Vetter von
Hattenhofen.


Neinle, neinle, Herr Amtmann, ich bin nicht dabei geweſen, ant¬
wortete dieſer mit ſeinem verlegenen Lächeln.


Das iſt aber ein Galgenvogel! ſchrie der Richter auf. Alſo noch
ſo ein Stück! Wenn man dem die Schublad' aufmacht, ſo ſpringen
lauter Einbrüch' 'raus!


Still! befahl der Amtmann. Kann Er behaupten, daß Sein
Vetter Ihn eingeladen oder aufgenommen habe, und was hat Er bei
Nacht in dem fremden Haus gethan?


Es iſt mir kein fremdes Haus geweſen, Herr Amtmann, ſagte der
Gefangene, und wenn mich auch mein Vetter ſelbigsmal nicht hat ein¬
laden können, weil er juſt zu der Zeit geſchlafen hat, ſo hab' ich doch
von früher gewußt, daß er ſein Haus nicht vor mir verſchließt.


Ja freile, freile! ſagte der Mann von Hattenhofen eifrig bekräf¬
[278] tigend. Mir iſt ja die Sonne auch nicht verſchloſſen und ein' Ehr'
iſt der andern werth.


Und was hat Er in dem Haus gethan? wiederholte der Amtmann.


Die Straf' für meine Chriſtine geholt, wie ich ja ſchon von An¬
fang hab' ſagen wollen! antwortete der Gefangene etwas gereizt.


Alſo hat er Ihm Geld genommen? fragte der Amtmann den
Mann vom Lande.


Beileib net, Herr Amtmann, b'hüt uns Gott! ſagte dieſer: bloß
e' biſſele Zwetſchgen und e' biſſele Trilch und e' biſſele Garn und e'
biſſele Flachs, und aber über alles das hat er mir eine Quittung
geben.


Hat Er die Quittung da?


Ha freile, Herr Amtmann, rief der Nichtkläger, dem die Freude,
ſein Anliegen ſo geſchickt anbringen zu können, aus den Augen blin¬
zelte, und reichte die Quittung mit weit vorgebeugtem Leib und aus¬
geſtrecktem Arm dem Amtmann hin.


Hat Er die Quittung in jener Nacht zurückgelaſſen? fragte der
Amtmann den Gefangenen.


Nein, Herr Amtmann, damals hat mir's zu arg preſſirt. Ich
hab' dann gleich den Tag darauf das Sach' verhandelt und das Geld
meiner Chriſtine gebracht, damit's mit der Straf' in Richtigkeit kom¬
men ſoll. In etlichen Tagen hernach bin ich aber wieder hinaus und
bin meinem Vetter abermals ins Haus kommen und hab' ihm die
Quittung ehrlich und redlich auf den Tiſch gelegt, er kann's ſelber
nicht anders ſagen. Und wiewohl ich rechtſchaffen Hunger gehabt hab',
ſo hab' ich doch für mich nichts angerührt.


Ja, der Frieder iſt recht, das muß man ihm laſſen, ſagte der Vetter
unter fortwährendem leiſen Gelächter der beiden Gerichtsbeiſitzer. Ich
wär' auch zufrieden geweſen mit der Quittung, denn ſein Wort iſt
mir ſo lieb wie baar Geld, trag' ihm auch gar nichts nach, und aber
nur weil ich geſtern Nacht gehört hab', daß er in Ungelegenheit
kommen ſei, ſo hab' ich gemeint, ich müſſ' doch ſehen, daß ich wieder
zu mei'm Sächle komm', eh' jemand anders die Hand drauf deckt.


Der Amtmann ſelbſt konnte das Lachen kaum verbeißen. Hat Er
denn nach dem erſten Beſuch Sein Haus nicht beſſer verwahrt, daß
Ihm der ungeladene Gaſt noch einmal hat hineinkommen können? fragte er.


[279]

Freile, antwortete der Vetter vom Lande. Aber wo Der 'nein
will, da hilft kein Verwahren nichts. Dem iſt nichts zu hoch und
nichts zu tief, er kommt eben hin.


Ein ſchönes Prädicat! bemerkte der Amtmann. Darauf fragte er
Beide, ob ſie mit der Quittung und der darin enthaltenen Schätzung
der auf ſo ungewöhnliche Weiſe entlehnten Gegenſtände einverſtanden
ſeien. Friedrich erwiderte, er habe mehr angeſetzt, als er bei dem
Verkaufe, mit dem es geeilt, erlöst habe. Auch der Vetter ließ ſich
die Preiſe ſehr gerne gefallen und erklärte: Wenn mir's der Frieder
abkauft hätt', ich hätt's ihm grad ſo geben. Wir ſind ja immer Ein
Kuch und Ein Muß geweſen, gelt du, Friederle?


Es will mir auch ſo vorkommen, ſagte der Amtmann mit einer
gewiſſen Strenge: Er ſucht mir da Seinem Conſorten behilflich zu
ſein und dem Streich den Nimbus eines freiwilligen Anlehens zu geben.
Weiß Er, daß ich Ihn beim Eſſen behalten und etwan in puncto
stellionatus
prozeſſiren könnte?


Der Mann von Hattenhofen erſchrack in's Herz hinein: er glaubte
ſeine Sache unübertrefflich gut gemacht zu haben, und ſah ſich jetzt dennoch
in der Gefahr, von einem der vielen Rädchen der Juſtizmaſchine, dem
er vielleicht zu nahe gekommen, erfaßt zu werden. Doch nahm er ſich
zuſammen und erwiderte: Wenn's der Herr Amtmann nicht ungütig
nehmen will, mein Herz weiß nichts davon und ich verſteh' auch kein
Wörtle, warum ich geſtraft werden ſoll.


Dafür, ſagte der Amtmann, daß Er Schleichereien macht und die
Leute, ja ſelbſt die Obrigkeit, irre führen hilft.


Mit Verlaub, Herr Amtmann, hob der vormundſchaftliche Gerichts¬
beiſitzer an, der einen Stein im Brett zu haben glaubte, während der
Beamte ihm vielmehr die Zurückſendung ſeiner Geldſorten nachtragen
mochte: wenn man fragen darf, woher hat denn das Ding ſeinen
Namen? Das Wort lautet ſo gar curios und kommt Einem ſo oft
vor. Ich hab' ſchon etlichemal fragen wollen.


Der Amtmann wurde etwas roth. Ich kann's Ihm ſchwarz auf
weiß zeigen, wenn Er zweifelt, ſagte er und ging nach einem Acten¬
ſtänder, auf welchem mehrere ſeinen Incipienten gehörige Bücher aufge¬
ſtellt waren.


Ich hab' ja kein' Zweifel, gewiß nicht! rief der Gerichtsbeiſitzer
[280] in wahrer Verzweiflung Ich glaub' ja Alles auf's Wort, wie mir's
der Herr Amtmann ſagt.


Dieſer aber, dem mit ſolcher Bereitwilligkeit im vorliegenden Falle
nicht ſehr gedient ſein mochte, zog ein Buch heraus und blätterte
ſchnell darin. Beſtie! fluchte er halblaut, da er das Gewünſchte nicht
fand, ſtieß das Buch wieder hinein, riß ein dickeres heraus, ſchlug es
auf, zeigte mit dem Finger auf die Stelle und ſagte beruhigt: Da
ſteht's, da kann Er ſelber ſehen! Stellio, eine Art Eidexe, welches
ein ſehr liſtiges und ränkevolles Thier, daher stellionatus, das Ver¬
brechen, wo einer ränkevoll handelt, ſonderlich mit Schleichereien in Geld¬
ſachen, und das Verbrechen doch keinen Namen hat, daher extra ordinem
und secundum arbitrium zu beſtrafen iſt. Da übrigens Inquiſit
geſtändig iſt, wandte er ſich an den bange harrenden Vetter, und da
Er mehr eine Art Gerechtmacherei als einen eigentlichen Vortheil be¬
zweckt hat, ſo will ich nicht den ſtrengſten Maßſtab anlegen, ſondern
die Sache für dieſesmal hingehen laſſen! Merk' Er ſich's aber für die
Zukunft, damit Er gewitzigt iſt.


Der Amtmann, dem eine ſtille Ahnung ſagen mochte, daß er mit
ſeiner Geſetzesanwendung denn doch bei den eigentlichen Juriſten durch¬
fallen könnte, protokollirte nun ein Langes und Breites, ließ dann
den von Hattenhofen unterſchreiben und ſchickte ihn fort. Da dieſer aus
Reſpect das Thürſchloß nicht in die Klinke fallen zu laſſen wagte,
ſo hörte man, wie er draußen im Weggehen leiſe vor ſich hinpfiff.
Denn dies iſt die Art des Landbewohners: wenn er zu einer Ver¬
handlung mit Herren oder ſonſt zu einem wichtigen Handel kommt, ſo
räuspert er ſich, als ob er einen Stein vom Herzen weghuſten müßte,
und wenn er fortgeht, ſo pfeift oder ſummt er bald mehr bald minder
zufrieden, entweder weil es nach ſeinem oft ſehr ſchlauen Kopfe ge¬
gangen iſt oder weil er denkt, es habe doch wenigſtens den Kopf nicht
gekoſtet und hätte ja noch ſchlimmer gehen können als es gegangen ſei.


Wir kommen nun auf das vorige Chapitre zurück, begann der
Amtmann wieder. Er iſt alſo geſtändig, außer dem hier verhandelten,
bei Seinem Vater einen Diebſtahl, den Er auf zweiundzwanzig Gulden
anſchlägt, begangen zu haben?


Herr Amtmann, ſagte der Gefangene, ich kann mir's nicht gefallen
laſſen, daß man das einen Diebſtahl heißt. Ich bin in meinem Ei¬
[281] genen geweſen und hab' ja meinem Vater gleich geofferirt, daß ich's
ihm aus meinem Mütterlichen wieder erſetzen will.


Davon nachher, erwiderte der Amtmann. Wer ſind Seine Hel¬
fershelfer geweſen und wo hat Er das Geld hingebracht?


Ich hab' die Frucht ganz allein auf meines Vaters Bühne geholt,
es iſt kein Menſch mit mir droben geweſen, antwortete der Gefangene,
den Sinn der Frage durch den Wortlaut ſeiner Ausſage umgehend.


Man hat Verdacht, daß Seine Perſon und einer ihrer Brüder
Ihm dabei behilflich geweſen ſein werden, inquirirte der Amtmann.


Friedrich wiederholte ſeine Verſicherung und erbot ſich einen Eid
zu ſchwören, daß keines von den beiden auf ſeines Vaters Speicher
gekommen ſei. Der Amtmann belehrte ihn, daß ein Angeklagter nicht zum
Eide zugelaſſen werden könne, und hielt ihm dann jenen bei dem Müller
begangenen Bienendiebſtahl vor, deſſen ſich der eine ſeiner angeblichen
Schwäger mehr als verdächtig gemacht habe; es ſei beinahe ſo gut wie
erwieſen, daß er ſelbſt bei jenem Vergehen mit im Complott geweſen
ſei, und man müſſe jenen mit allzu großer Nachſicht bei Seite geſetz¬
ten Fall jetzt hervorziehen, weil er auch auf den neueren Vorgang ein
Licht zu werfen ſcheine. Friedrich war nicht wenig froh, den Ver¬
dacht von ſeinem Lieblingsſchwager auf deſſen für ihn wie für die
Familie unbedeutenderen Bruder abgelenkt zu ſehen, betheuerte jedoch,
er habe demſelben an dem Abend, an welchem er den Diebſtahl be¬
gangen zu haben beſchuldigt ſei, unwiſſentlich und zufällig auf der
Brücke gepfiffen und ſich lediglich hiedurch verdächtig gemacht. Der
Amtmann ſetzte ihm ſcharf mit Kreuz- und Querfragen zu, brachte
aber nichts aus ihm heraus, was einen Anhalt zum Einſchreiten gegen
ſeinen Mitbeſchuldigten darbieten konnte. Eben ſo wenig war ihm über
das aus der Frucht erlöſte Geld ein Geſtändniß abzupreſſen. Da er
weder den dritten Genoſſen verrathen, noch ſich einer Hilfe, die ſeinem
Mädchen in der Noth zu Statten kommen konnte, entſchlagen wollte,
ſo blieb er beharrlich dabei, er habe das Geld vollſtändig ausgegeben und
ſein Vater ſolle es eben an ſeinem eigenen Vermögen abziehen.


Wie hat Er das Geld verwendet? fragte der Amtmann, immer
ſchärfer in ihn dringend.


Ich hab's verthan, antwortete er, um der Unterſuchung jeden Weg
abzuſchneiden.


[282]

Wie hat Er's verthan? rief der Amtmann wild.
Verſoffen! antwortete er trotzig.


Du Hallunk! ſchrie ſein Vormund, während der Amtmann erſchöpft
in den Seſſel zurückſank. Nachdem dieſer etwas Athem geſchöpft, rich¬
tete er ſich wieder auf und ſagte gleichmüthig: Ich muß und will an¬
nehmen, daß Er die Wahrheit ſagt; in dieſem Fall kommt eben zu
Seinen andern Reaten auch noch der Punkt des aſotiſchen Lebenswan¬
dels hinzu. Ich hab's ihm ja erklärt, daß es ganz bei Ihm ſtehe,
wie Sein Protokoll ausfallen werde.


Der Amtmann war im Ganzen nicht unzufrieden mit dem Er¬
gebniß der Unterſuchung, das ihm ziemlich ausgiebig erſchien. Er
hielt dem Gefangenen ſeine Hauptvergehen vor und ging ſchließlich
in den Ton der Rüge und Ermahnung über. Hat Er denn ganz
vergeſſen, rief er, was ich Ihm damals ſo eindringlich geſagt habe,
als Er das erſtemal auf Seinen böſen Wegen betreten wurde, und
was ich Ihm dann wieder gepredigt habe, als Er von Seiner erſten
Strafe zurückkam?


Nein, Herr Amtmann, ich weiß es noch, antwortete der Gefangene:
Sie haben geſagt, das Zuchthaus ſei eine Schule des Laſters, und
ich ſolle mich wohl in Obacht nehmen, daß ich nicht wieder hinein¬
komme.


Und was hat Er von ſich ſelbſt denken müſſen, daß Er doch wie¬
der hineingekommen iſt, und was muß Er heute von ſich denken, daß
Er abermals, und zwar tertia vice bei ſolcher Jugend, reif dafür
geworden iſt?


Ich hab' gedacht und denk', für einen jungen Menſchen, an dem
noch nicht Alles verloren ſein kann, ſei es doch hart, wenn er in die
Schule des Laſters gethan wird, wie Sie's ja ſelber nennen.


So? rief der Amtmann zornig: wenn Ihm das Zuchthaus nicht
gut genug iſt, ſo kann man Ihn ja für Seine Mord- und Diebsthaten
auf die Schandbühne und von da auf die Galeere bringen, vermit¬
telſt des Vertrags, den gnädigſte Herrſchaft mit der Republik Venedig
geſchloſſen hat!


Den Gefangenen überlief es, daß ſeine Kette klirrte. Ich muß
freilich auseſſen, was man mir kochen will, ſagte er, ich bin ja ſchon
[283] mehr dabei geweſen und weiß jetzt wie man's macht, aber ich hab'
weder eine Mordthat noch einen Diebſtahl begangen.


Diebſtahl mit nächtlichem Einbruch! rief der Amtmann, mit der
Spitze des Fingers auf das Protokoll klopfend.


Da drinnen ſteht's vielleicht ſo, entgegnete Friedrich, aber in mei¬
nem Herzen heißt's anders, wenn ich Weib und Kind mit dem, was
mir mein Vater ſchon als Vater ſchuldig wär', vom Hungertod er¬
retten muß.


Der Amtmann milderte ſeinen Ton etwas. Wenn Er mit dieſer
Auslegung durchzudringen hofft, ſo gratulir' ich Ihm dazu, ſagte er.
Bei Gericht aber nimmt man die Dinge nicht nach der Auslegung,
ſondern wie ſie ſind. Angenommen, es habe Einer einen Prozeß mit
einem Andern, und es ſei auch das Recht ganz auf ſeiner Seite, ſo
darf er darum doch nicht in ſeiner eigenen Sache den Executor machen,
oder den Erretter, wie Er's heißt, und ſich ſelbſt am Hab' und Gut
des Andern regreſſiren.


Dawider will ich nicht ſtreiten, Herr Amtmann, erwiderte Friedrich,
's hat Alles Händ' und Füß', was Sie ſagen. Aber nicht wahr?
wenn ich meinen Vater bei Ihnen verklagt hätt', daß er meiner Chri¬
ſtine nichts zu ihrem Unterhalt gibt, ſo hätt' ſie lang verhungern
können, bis ich hätt' Recht bei Ihnen gefunden.


Halt' Er Sein Maul, Er ewiger Rechthaber! ſchrie der Amtmann
entrüſtet. Er ſteht als Angeklagter hier und nicht als Advocat!


Er griff wieder zu der Feder und ſchrieb eifrig und zornig fort.
Friedrich ſah ihm eine Weile zu. Ich ſeh' wohl, was Sie ſchreiben,
ſagte er dann: „Unerachtet ſeiner äußerſten Bosheit will er immer
noch Recht haben.“


Der Amtmann fuhr zurück, daß ein Theil der Acten zu Boden
fiel. Iſt der Kerl vom Teufel beſeſſen? murmelte er vor ſich hin.
Die Gerichtsbeiſitzer ſahen ihn erſchrocken an. Friedrich lächelte: ich
kann mir's nämlich denken, fügte er hinzu, da er die Worte von der
Kirchenconventsverhandlung her im Gedächtniß behalten hatte.


Heb' Er mir die Acten auf, befahl der Amtmann dem einen Ge¬
richtsbeiſitzer. Den Schützen! rief er dem andern zu. Er führt den
Arreſtanten vorläufig in ſein Loch zurück und holt mir den Johannes
Müller! wies er den eintretenden Schützen an. — Wo der Teufel nicht
[284] hinkommt, ſchickt er die Obrigkeit, murrte der Gefangene halblaut,
während er abgeführt wurde. — Wird gleichfalls zu Protokoll genom¬
men! rief ihm der Amtmann nach.


Das auf Grund der Acten von dem Vogt zu Göppingen einge¬
leitete Verfahren war bald abgethan und endigte damit, daß eine ein¬
geholte hochfürſtliche Reſolution dem jugendlichen Uebertreter der Ge¬
ſetze wegen ſeiner verſchiedenen Verbrechen — puncto diversorum
criminum
, hieß es in der amtlichen Anzeige — eine anderthalbjährige
Zuchthausſtrafe gnädigſt zuerkannte, wobei er allerdings die Wahl
hatte, ob er ſich unter dem Centnergewicht der Anſchuldigungen für
die gnädige Strafe bedanken oder in dieſer eine Verurtheilung der
Anklage erblicken wollte. Zugleich mit ihm wurde der ältere Bruder
Chriſtinens nach dem Zuchthauſe gebracht, bei welchem der halberwieſene
Verdacht des Bienendiebſtahls und der unerwieſene Verdacht der Theil¬
nahme an dem Fruchtdiebſtahl zu einer Strafe von einigen Wochen
hingereicht hatte. Die Bewohnerſchaft des Zuchthauſes aber beſtand
nach den gleichzeitigen öffentlichen Bekanntmachungen theils in „frei¬
willigen Armen“ ohne Strafe, theils in Züchtlingen und Sträflingen,
und die Geſellſchaft der beiden letzten Ordnungen bildeten Räuber,
Diebe, ſo viel ihrer nicht gehenkt oder gerädert waren, Falſchmünzer,
Fälſcher, Betrüger, Aſoten, Verſchwender, Vaganten, Heiligenſtürmer,
verunglückte Selbſtmörder, Ehebrecher, Mädchen, die ſich zum dritten¬
mal vergangen, Calumnianten, Einer „wegen übler Aufführung und
irreſpectuoſen Bezeigens gegen Ober- und Unterbeamte“, Einer „wegen
enorm ruchloſer und ſündlicher Reden“, Einer „wegen Soldatendebau¬
chirens“, einer „puncto lasciviae“, eine Magd wegen feuergefähr¬
licher Verwahrloſung des Lichts, und endlich Mehrere „wegen verſchie¬
dener Vergehen“.


Auf dem Wege nach Ludwigsburg benutzte Friedrich einen Augen¬
blick, wo der bewaffnete Begleiter, ein armer Bürger von Göppingen,
der einen Fluchtverſuch der beiden rüſtigen jungen Burſche zu ver¬
hindern unfähig geweſen wäre, ein wenig dahinten blieb. Häng' kein
ſo dumm's Maul 'runter, ſagte er zu ſeinem Unglücksgefährten: was
kann denn ich dafür, daß dich die Immen hintendrein geſtochen haben?
Immenvater biſt ja doch geweſen, das kannſt nicht leugnen. Und be¬
denk' auch, Schwager, daß die Deinigen dich leichter ein paar
[285] Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber miſſen, denn Der
iſt doch am kleinen Finger mehr, als du am ganzen Leib.


Der Andre ſchwieg ſtöckiſch. Der Wächter kam wieder herbei und
die Wanderung wurde fortgeſetzt.


Als ſie in Ludwigsburg einzogen, und ſich dem Zuchthauſe näher¬
ten, fanden ſie den Weg durch eine große Menſchenmenge geſperrt.
Ein Leichenzug kam daher, umgeben von zahlreichen Zuſchauern und
Zuſchauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde blicken ließen.
Hinter dem Sarge ging zunächſt eine Schaar von Waiſenkindern in
ihrer grauen Tracht; ihnen folgte eine lange Begleitung von Män¬
nern, geiſtliche und weltliche Beamte an ihrer Spitze; nach einem
größeren Zwiſchenraume kam noch ein Zug Strafgefangener in der
Zuchthauskleidung, von Aufſehern bewacht. Alle hatten die Haltung
von Leidtragenden, und ſelbſt in den Reihen dieſer vom Leben halb
ausgeſtoßenen Männer ſah man naſſe Augen.


Wen begräbt man hier? fragte der Führer der beiden einzulie¬
fernden Sträflinge eine ſich herzudrängende Frau.


Den alten Waiſenpfarrer, war die Antwort.


Friedrich drückte die Hände gegen die Bruſt. So manchmal, wenn
es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er ſich nach dieſer
Heimath, die man in der Welt eine Schule des Laſters nannte, zurück¬
geſehnt, und nun war der gute Geiſt, der darin waltete, auf immer
dahin. Die Welt ſchien ihm ausgeſtorben. Er kehrte ſich ab und
weinte bitterlich. Niemand ſah dieſen Schmerz, welchen er bei ſeinem
Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an ſein Weib
und ſein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen
Gleichgiltigkeit verbarg.


[286]

27.

Ein ſtiller Herbſtabend breitete ſeinen Frieden über die Welt.
Vom Brunnen, wo ſie ſich ſatt getrunken, wurden Pferde und Kühe
heimgetrieben, wobei einige Füllen und Kälber munter um ſie her
ſprangen und wohl auch hie und da eine Kuh, deren Alter ein ge¬
ſetzteres Betragen erwarten ließ, zu ein paar Bocksſprüngen verführten.
Nachdem das Vieh den Trog verlaſſen hatte, kamen Weiber und Mäd¬
chen, um ihre Waſſergelten unter dem Rohr zu füllen; ſie plauderten
und lachten unter ſich oder mit den Leuten, die vor den Häuſern
Feierabend machten. Allmählich wurde es am Brunnen und auf der
Straße leer, die Menſchen gingen in die Häuſer, da und dort hörte
man das Vieh in den Ställen brüllen, aber immer tiefer ſank das
Dorf, ſchon während der Dämmerung, in die Stille der Nacht, ſo
daß endlich der geſellige Brunnen für ſich allein murmelte, doch nicht
ganz von den Stimmen des Lebens verlaſſen, denn ihn begleitete das
Plätſchern des vorüberziehenden Flüßchens und das Rauſchen des Ne¬
ckars, der unfern über ſeine Kieſel dahinzog. Die Schatten verdich¬
teten ſich mehr und mehr, da kam noch eine Nachzüglerin zum Brunnen,
um Waſſer zu holen; entweder hatte ſie ſich über häuslichen Geſchäften
verſpätet, oder ſcheute ſie die Geſellſchaft, die zu einer früheren Stunde
am Brunnen nicht zu vermeiden war, denn ihre Tracht, die von der
Tracht des Dorfes abwich, bezeichnete ſie als eine Fremde, die ſich
vielleicht unter den Andern nicht heimiſch fühlte; das um den Kopf
geſchlungene dunkelblaue Tuch ließ nicht errathen, ob ſie ein Weib
oder Mädchen ſei. Sie ſtand mit dem Leib über die nachläſſig ge¬
falteten Hände übergebeugt am Brunnen, und wartete in dieſer gedul¬
digen Haltung, welche meiſt von überſtandenen Leiden zeugt, auf das
Vollwerden ihres Gefäßes. Ein tiefer Seufzer ſprach es aus, daß ſie
in ihrem Innern nicht unbeſchäftigt war. Während ſie ſo am Brun¬
nen träumte, erſcholl ein raſcher, zuverſichtlicher Schritt durch das
ſchlummernde Thal. Er ſchien ſich zu verlieren, wenn die Straße ſich
[287] ſenkte; dann ſchlug er wieder deutlicher an das Ohr. Bald hatte der
Wanderer das Dorf erreicht; er ging langſamer, verweilte hie und da,
und ſetzte dann ſeine Schritte wieder fort. Wie er näher kam, ein
kräftiger, unterſetzter Mann, entdeckte er die Geſtalt am Brunnen und
trat, wie um ſie zu fragen, auf ſie zu. Kaum aber hatte er ſie voll
in's Auge gefaßt, ſo umſchlang er ſie und drückte ſie heftig an ſich.
Mit einem leiſen Schrei des Schreckens und Unwillens ſuchte ſie ſich
loszumachen, da ſagte er mit unterdrückter Stimme: Chriſtine! Sie
ſah ihm in das Geſicht und ſtürzte mit einem zweiten Schrei an ſeine
Bruſt, die Arme um ihn ſchlagend. Nach einer langen Umarmung,
in welcher ſie zuweilen tief Athem holte, ſagte ſie weinend: Mein
Frieder, mein Frieder! Was für ein Engel führt dich zu mir? Wo
kommſt denn her?


Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefäng¬
niß, aus der Welt, aus der Heimath, — woher du willſt! antwortete
er fröhlich.


Daß du von Hohentwiel entkommen biſt, ſagte ſie, iſt das Letzt',
was ich von dir weiß. Das hat einen ſolchen Lärmen durch's Land
geben, daß ich's ſogar im Zuchthaus erfahren hab'. Kannſt dir vor¬
ſtellen, wie mich's gefreut hat.


Im Zuchthaus! verſetzte er. Ich weiß, daß ſie dich dorthin ge¬
than haben. O 's iſt ſcheußlich! ſcheußlich!


Sie haben geſagt, ſonſt werd' Eine erſt beim dritten Kind ſo ge¬
ſtraft, mir aber müſſ' man's ſchon beim zweiten andictiren, für mei¬
nen Umgang mit dir, weil du dich ſo aufgeführt habeſt, daß man
dich lebenslänglich hab' auf die Feſtung ſperren müſſen.


Er lachte wild.


Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann ſah ſie ſich ſcheu um,
ob niemand ihr Thun bemerkt habe. Hierauf fragte ſie haſtig: Und
von Ebersbach kommeſt, ſagſt? Was machen meine Kinder?


Sie ſind ganz wohl, antwortete er: das Kleine hat all' ſeine
Zähn', du mußt's ja geſehen haben, wie du letzt dort geweſen biſt,
und lauft ganz allein; und der Groß' hat vorgeſtern zum erſtenmal
in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich ſolle
die Mutter ſchön grüßen.


Sie ſchluchzte. Aber ich vergeſſ' mich ganz, ſagte ſie dann er¬
[288] ſchrocken. Meine Herrſchaft iſt im Pfarrhaus, ſie ſind oft nach'm
Nachteſſen dort, und die Kinder ſind allein. Die Schulmeiſterin thät'
mir's nicht verzeihen, und ich möcht's ihr auch nicht zu leid thun, daß
einem von den Kindern etwas geſchäh'.


Hat die Kathrine Kinder? fragte er, ſie aufhaltend.


Ha, was meinſt? antwortete ſie, drei, und das Aelteſt' davon iſt
ſchier fünf Jahr' alt.


Was man nicht erleben kann! ſagte er: iſt mir's doch, als hätt'
ſie erſt geſtern noch im Ebersbacher Amthaus gedient, mit ihrem Bleich¬
ſchnäbele und ihrer ſchmächtigen Geſtalt, und jetzt hat ſie ſchon ein
fünfjähriges Kind.


Es iſt auch in die ſechs Jahr', daß ſie den Schulmeiſter hier ge¬
heirathet hat. O Frieder, das Weib hat den Himmel an mir ver¬
dient. Aber jetzt laß mich, nur 'n Augenblick laß mich, ich komm
wieder! Sieh, wenn den Kindern etwas zuſtieß', die ſie mir anvertraut
hat, es wär' mein Tod.


Gleich laſſ' ich dich gehen, ſagte er und faßte ſie an der Hand.
Wenn du aber wieder kommſt, bleibſt dann bei mir und ziehſt mit
mir fort? Ich leid's nicht, daß mein Weib im Dienſt iſt. Sieh',
bloß um deinetwillen bin ich von Frankfurt hergewandert, um dir zu
halten, was ich dir verſprochen hab'. Meines Bleibens iſt im Ländle
nicht, kannſt dir wohl denken warum, aber draußen können wir das
und jenes probiren, werden uns ſchon durchſchlagen, und das ehrlich,
hoff' ich. Auch iſt jetzt leichter in der Welt fortzukommen: es iſt
Krieg, und der bringt manchen Verdienſt unter die Leut'. Der König
von Preußen iſt in Sachſen eingefallen, es geht alles drunter und
drüber.


Ja, man ſpricht hier auch davon, verſetzte ſie. Ach Gott, was iſt
das für eine Welt!


Gehſt mit mir? und das gleich? fragte er dringender.


So weit ich ſeh! rief ſie, ihm noch einmal um den Hals fallend.
Aber von meiner Schulmeiſterin muß ich Abſchied nehmen, ſie meint's
ſo gut mit mir.


Sie griff nach ihrer Gelte. Er wollte dieſelbe tragen, aber ſie
gab es nicht zu. Geh' zwiſchen den Häuſern da den Fußweg 'naus,
daß dich niemand bemerkt. Bei den drei großen Bäumen ſtoß' ich
[289] wieder zu dir. Die Kathrine will ich von dir grüßen; ſie ſpricht oft
von dir, aber was hätt' ſie davon, wenn du in ihrem Haus gefangen
würdeſt?


Sie eilte mit dem Waſſer fort. Er trank in gierigen Zügen am
Brunnen, ging dann den Fußweg hin und wartete an dem bezeichneten
Orte. Nach einer Viertelſtunde kamen haſtige Schritte. Sie war's;
an ihrer Hand ſchwankte ein kleines Bündelein, das er ihr ſogleich ab¬
nahm. Ich hab' nicht Abſchied nehmen können, ſagte ſie: ſie ſind
noch im Pfarrhaus, es iſt Beſuch ankommen, und da wird der Schul¬
meiſter immer eingeladen, denn er gilt beim Pfarrer viel. Weil du
nun ſo preſſirſt, ſo hab' ich die Kinder einer Nachbarin übergeben und
hab' meiner Frau ſagen laſſen, meine Mutter ſei plötzlich krank wor¬
den, der Bot' hab' mich am Brunnen troffen und ich hab' ohne Ver¬
zug mit ihm fort müſſen. Sie wird wohl von ſelber drauf kommen,
wie ſich's in Wahrheit verhält, und damit ſie's um ſo eher errathen
kann, ſo hab' ich mit dem Griffel auf die Schieferplatt' im Tiſch ge¬
ſchrieben : „Will' und Lieb, die ſtiehlt kein Dieb.“


Das iſt die rechte Parole, ſagte er. Das hat mich auch wieder
in's Land geführt.


Jetzt aber erzähl' einmal, ſagte ſie. Wenn wir immer ſo durch
einander ſchwätzen, ſo erfährt keins vom andern was Recht's.


Zuerſt müſſen wir den Marſch antreten, Frau Landfahrerin, ent¬
gegnete er. Geh' du voran und führ' mich den Weg auf die Straße
hinaus. Dort können wir neben einander gehen und erzählen nach
Herzensluſt. Hier, ſo nah' am Dorf, iſt's doch nicht recht geheuer.
Ja, wo 'naus willſt du, Herr Landfahrer? fragte ſie.
Das verſteht ſich doch: nach Ebersbach und die Kinder holen,
denn ohne die ziehen wir nicht in die Welt hinaus.


Jetzt freut mich mein Leben erſt! rief ſie entzückt und ſchritt rüſtig
in der Dunkelheit voran. Er folgte. Mir iſt's als wärſt du kräftiger
worden, ſagte er hinter ihr her, du trittſt ja auf wie eine Burge¬
meiſterin, auch kommſt du mir viel runder vor wie ehedem.


Ich hab' auch ein beſſeres Leben gehabt in der letzten Zeit, ant¬
wortete ſie, immer vorwärts eilend: kann ſein, daß ich mich wieder ein
wenig 'rausgemacht hab'. Aber wenn du mich morgen bei Tag ſiehſt,
da wirſt finden, daß ich nicht mehr das glatt' Geſicht von ehedeſſen hab'.
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 19[290] Ach Frieder, Sorgen und Noth machen den Menſchen alt vor der
Zeit. Ich fürcht', ich werd' dir nicht mehr ſo gut gefallen.


Schwätz' mir nicht ſo verkehrt 'raus! erwiderte er. Daß du nicht
ſiebzehn Jahr' alt bleiben kannſt, das hab' ich gewußt, wie ich dich lieb¬
gewonnen hab', und hab' mir's auch ſagen können, wie ich, gleichfalls aus
dem beſten Leben 'raus, fort bin, um dir das Wort zu halten, das
ich dir zugeſchworen hab'. Haſt übrigens gar nicht ſo alt ausgeſehen
vorhin am Brunnen, wie ich zu dir kommen bin. Ich hab' dich juſt
fragen wollen: Jungferle, wo iſt das Schulhaus? da ſeh' ich auf ein¬
mal, daß du's ſelber biſt.


Sie hatten unter dieſen Geſprächen ein Gewirr ſich kreuzender
Feldwege, welchen ſie oft eine Strecke folgen mußten, längs des Dor¬
fes hin durchſchritten. Hie und da bellte ein Hund, aber ſie verfolg¬
ten unangefochten ihren Weg. Von einem Rain, an welchem der
Fußſteig ſteil emporkletterte, flog ſie mit einem leichten Sprung auf
die Straße hinab und er ihr nach. Er faßte ſie eng um den Leib,
ſie ihn desgleichen, und ſo wanderten ſie in der Nacht zuſammen hin.
Sie drückte ihn noch einmal feſter an ſich: ſo, jetzt erzähl'! ſagte ſie.


Alſo! begann er. Wie ich vor drei Jahren nach Hohentwiel kom¬
men bin, das weißt du. Ich wär' aber doch begierig, ob du auch
weißt, was dein Hannes, mein hochachtbarer Herr Schwager, dazu bei¬
tragen hat. Gelt, das wird er dir nicht geſagt haben?


Ich weiß gar nichts, ſagte ſie, als daß du den Tag nachdem wir
uns das letzt'mal geſehen haben, in der Sonne biſt gefangen genom¬
men worden, und daß es da wieder einen Kampf und ein Getümmel
geben hab', wie vor ſechs Jahr', wo du vom Dach in's Zuchthaus
geflogen biſt, und daß man dich dann weit fortgebracht hat nach
Hohentwiel. Kannſt dir ſelber ſagen, was mir das geweſen iſt, daß
ich dich Zeitlebens nicht mehr ſehen ſoll, und dazu zwei unverſorgte
Kinder, von denen eins noch nicht einmal auf der Welt geweſen iſt.
Aber von meinem Hannes weiß ich nichts.


Der hat eine Pique auf mich gehabt, von damals her, wo er mit
mir in's Zuchthaus kommen iſt, und du weißt doch ſelber am beſten,
wie unſchuldig ich daran geweſen bin. Wie's nun Lärm geben hat
wegen der Dummheit im Pfarrhaus —


[291]

Da ſagſt recht, unterbrach ſie ihn: freilich iſt's eine Dummheit
geweſen. Weißt noch was ich zu dir geſagt hab', wie du mir Nachts
mit den Sachen über's Bett kommen biſt? Biſt denn immer noch ein
Bub'? willſt denn gar nie kein Mann werden? hab' ich geſagt.
Und warum haſt denn nicht, wie du mir doch verſprochen haſt, den
Kelch gleich wieder in's Pfarrers Garten geworfen? Ich hab' dir
doch geſagt, das ſei ja der Krankenkelch, werd' wohl hundert Gul¬
den werth ſein, und wenn's auf dich bekannt werd', ſo kommeſt an
Galgen.


Sei doch vernünftig! ſagte er. Ich hab' ja nicht können. Wie
ich mich wieder gegen das Pfarrhaus hingeſchlichen hab', hat mich der
Nachtwächter geſehen und da hab' ich nimmer trauen dürfen. Ich
hab' dann eben die Sachen zu Haus im Stroh verſteckt, und da hat's
am Morgen der Knecht gefunden und meinem Vater bracht, und der
hat in der Todesangſt Alles dem Pfarrer geſchickt. Er hat gemeint,
man könnt' ihn ſelber als Hehler beim Kopf nehmen, und die Frau
Stiefmutter hat ihm natürlich die Höll' noch heißer gemacht.


Hätt'ſt aber auch den Spaß können bleiben laſſen! eiferte ſie.
Wenn du nur ein klein bisle Grütz im Kopf gehabt hätt'ſt, ſo hätt'ſt
doch wiſſen müſſen, daß ein Einbruch in einem Pfarrhaus, ſonderlich
wenn Kirchenſachen dabei wegkommen, ſo laut ſchallt wie die Poſaun'
von Jericho. Und wenn nur auch was dabei 'rauskommen wär'! aber
der ganz' Vettel iſt ja des Einſteigens nicht werth geweſen.


Das iſt wahr, verſetzte er, außer der ſilbernen Sackuhr, dem gol¬
denen Ring und den paar Batzen Geld, iſt an der ganzen Lumperei
nichts ächt geweſen. Das andre Uehrle war von Meſſing und zer¬
brochen, und dein koſtbarer Nachtmahlskelch, den du haſt auf hundert
Gulden taxiren wollen, was iſt er geweſen? von Kupfer und ein
wenig verguld't.


Drum eben! ſagte ſie noch eifriger. Und doch haſt bei der Lum¬
perei nicht bedacht, daß es um den Hals gehen, oder, wie ſich's nach¬
her auch zeigt hat, eine Lebenslänglichkeit dabei 'raus ſpringen kann.
Du haſt gut reden, entgegnete er verdrießlich. Bin ich darum
aus meiner ſichern Freiſtatt zu dir kommen, um mir gleich von dir
vopredigen zu laſſen? Du haſt, ſcheint's, ganz vergeſſen, wie man's
uns gemacht hat —


19*[292]

Das hätt' freilich den beſten Mann verzürnen können, unterbrach
ſie ihn begütigend.


Zuerſt, fuhr er heftig fort, ſtecken ſie mich um nichts und wieder
nichts auf anderthalb Jahr in's Zuchthaus. Wie ich das überſtanden
hab' und in's bürgerliche Leben zurückkehren will, ſo nimmt kein Hund
mehr ein Stück Brod aus meiner Hand. Da hab' ich erſt geſehen,
daß meine beide frühere Zuchthausſtrafen für nichts geachtet worden
ſind; aber die dritte, die hat dem Faß den Boden ausgeſchlagen. In
meines Vaters Haus hab' ich mehr wie ein Vagabund auf dem Heu
und Stroh als wie ein Kind im anererbten Bett geſchlafen. Mein
Mütterlich's, hat mir mein Pfleger mit Lachen geſagt, ſei über den
Prozeß-, und Erſatz- und Zuchthauskoſten drauf gegangen, und ſo hat
mir meine Volljährigkeit nichts mehr geholfen. Rechnung hat man
mir gar nicht abgelegt und mein Vater hat mich dabei im Stich ge¬
laſſen: mein Pfleger, hat er geſagt, ſei eben einmal ein Herr auf dem
Rathhaus, und mit dieſem müſſe man delicat verfahren. Ich hoff'
ihm noch eine beſondere Delicateſſe anzuthun. Die Metzger, bei denen
ich als Knecht hab' herum ſchaffen wollen, haben mehr oder weniger
deutlich das Kreuz vor mir geſchlagen. Weil man mir nun von Haus
aus gar keinen Vorſpann geleiſtet, vielmehr immer noch Fußangeln in
den Weg geworfen hat, ſo hab' ich um ſo mehr drauf preſſirt, daß
es zwiſchen uns Beiden endlich zum Heirathen käme; denn abgeſehen
davon, daß mir's ohnehin angelegen geweſen iſt, ſo hab' ich gedenkt,
wenn die Leute ſehen, daß ich gegen meinen Schatz ehrlich bin und
dem ledigen Leben mit ſeinen Lumpenſtreichen Valet ſage, ſo werden
ſie mir nach und nach auch wieder Vertrauen ſchenken. Aber ich brauch'
dir ja nicht lang vorzumalen, wie uns das fehlgeſchlagen hat. Der
alte Pfarrer, der Eiferer und Polterer, ſteht mir jetzt vergleichsweiſe als
ein Ehrenmann da: der neue aber, den ich bei meiner Zurückkunft
von Ludwigsburg angetroffen hab', iſt vollends der ganz gemeine
Kanzelmelker, der bloß rechnet, wie viel Gulden und Kreuzer ihm das
Evangelium trägt und was er aus ſeinen Verrichtungen für Profit
herauspreſſen kann. Die dritte Proclamation haben wir mit Leichtig¬
keit von ihm erlangt — um Geld und gute Worte; nur daß ich um
des ſpöttlich mitleidigen Tones willen, mit dem er unſre Namen ablas,
ihm das Geſangbuch hätt' an den Kopf werfen mögen. Dann aber
[293] hat wieder Alles dran getrieben, daß die Sache rückgängig worden iſt,
Vater und Mutter, Amtmann und Pfarrer, und der Pfarrer hat
meinem Vater noch ganz anders zugeredet, als ſein Vorgänger, welch'
eine Thorheit es für ihn ſei, eine Schwiegertochter ohne Vermögen in's
Haus zu nehmen. Weißt noch, wie wir vier Wochen lang herum¬
gezogen ſind zwiſchen dem Staufen und der Teck, von einem Pfarr¬
hof zum andern, ob wir nicht einen Geiſtlichen fänden, der uns um
Gotteswillen und aus chriſtlichem Herzen copulirte? War aber Alles
vergebens, und wie wir heimkommen, ſo ſtecken ſie uns wegen Ent¬
führung und Landſtreicherei vierzehn Tage lang ein und bringen mir
dann eine Verzichtleiſtung von dir, die mich ſo rappelköpfig macht,
daß ich erklärt hab', jetzt wolle ich auch nichts mehr von dir wiſſen!
Wie wir dann frei wurden, war's leicht, ſich über die falſche Vor¬
ſpiegelung zu verſtändigen. Drauf klag' ich in Göppingen, und der
Vogt ſagt ſelber, das ſei keine Art, eine angefangene Copulationsſache
nach dreimaliger Proclamation alſo zu hintertreiben, und gibt einen
Beſcheid für den Pfarrer, daß er fortfahren ſolle. Wie ich dich nun
damit in's Pfarrhaus ſchicke und der Pfarrer an dich hin zankt und
ſchimpft, das Oberamt ſolle ihm zuvor die Tar' bezahlen, wenn es
ihm mit ſolchem Bettlerpack beſchwerlich fallen wolle, was haſt du
dann zu mir geſagt, du Biedermännin, die mir jetzt predigen will?
Haſt du nicht geſagt, der Geizhals von einem Pfaffen hab' Uhr und
Ring an der Wand hängen, man ſollt's ihm nur nehmen, dann hätt'
ich Geld und könnte nach Stuttgart gehen, um ihn zu verklagen und
die Copulation zu erzwingen?


Ach freilich hab' ich's geſagt, ſeufzte ſie, aber ich bin eben auch
ganz außer mir geweſen vor Jammer und Verzweiflung und vor
Zorn über ſo ein ungeiſtlich's Betragen gegen die Armen. Aber mein
Herz hat nicht dran denkt, daß du das thun würdeſt, was ich im
Zorn 'rausgeſchwätzt hab'. Vom Gedanken bis zur That iſt doch noch
ein weiter Weg, und beſſer hätt'ſt doch gethan, wie du jetzt ſelber
einſiehſt, wenn du noch einmal an's Oberamt gangen wär'ſt.


Geh' mir weg mit dem Oberamt! murrte er. Das einemal hören
ſie Einen an und das andremal jagen ſie Einen fort, ſonderlich wenn
man oft kommt. Was du gedacht und geſagt haſt, das hab' ich ge¬
than; 's iſt juſt ſo weit, wie der Weg vom Weib zum Mann. Um
[294] Geld und Geldswerth iſt mir's weniger zu thun geweſen, als um dem
hartherzigen Pfaffen zu zeigen, daß ich mehr kann als er, und daß er
keine Stunde in ſeinem eigenen Haus ſicher iſt, wenn ich's nicht haben
will. Er mag ſeine Thüren und Läden ſo feſt verſchließen, als er
will, Angſt ſoll er vor mir haben, ſo lang er lebt, und wenn's mich
einmal gelüſtet, ſo ſchieß' ich ihn von ſeiner Kanzel 'runter, wie den
Vogel vom Aſt. Ich hab' ihm noch ein paar Hoſtien mitgenommen,
bloß um ihm zu zeigen, was ich auf ſein Handwerk halte, wenn's Ei¬
ner um des bloßen Gewinns willen treibt.


Ich weiß ja wohl, ſagte ſie, immer ihn zu beſänftigen bemüht,
daß das Alles iſt, was man dir aus der ganzen traurigen Zeit vor¬
werfen kann. Du haſt leben müſſen, wie der Vogel auf'm Zweig,
nur mit dem Unterſchied, daß der Vogel leicht ſein Futter findet, und
ich möcht' wohl auch ſehen, wie Viel' ſich in ſo einer Lag' ehrlich durch¬
ſchlügen, ohne ſich am Eigenthum des Nächſten zu vergreifen. Denn das
bisle Gewildſchießen mit dem Krämerchriſtle kann dir kein Menſch als ein
Verbrechen andichten, und 's iſt ja auch nicht 'rauskommen. Der einzig'
Streich mit dem Pfarrer hat dir den Hals brochen. Aber daß mein Bruder
dabei gegen dich mitgeholfen haben ſoll, das will mir nicht ein. So viel
denkt mir allerdings noch, daß er dazumal juſt in Ebersbach geweſen
iſt. Weißt, er hat ſich ja gleich vom Zuchthaus aus unter's Militär
anwerben laſſen und iſt nicht mehr heimkommen, bis unſer Vater ge¬
ſtorben iſt — ach Gott, wenn ich an den Tag denk'! — und vor
drei Jahr', um die Zeit wo man dich geſetzt hat, iſt er wieder im
Urlaub dageweſen.


Komm, ſagte er, du wirſt doch nicht im Freien über Nacht blei¬
ben wollen. Ich weiß auf unſrem Weg einen kleinen Weiler, wo
wir ſicher ſein werden. Wenn die Leut' noch auf ſind, ſo müſſen ſie
uns ein Nachtquartier geben, wir ſind ja Mann und Weib, und wenn
ſie ſchlafen, ſo weiß ich auch zu helfen.


Sie verließen die harte, unebene Straße und ſchlugen einen ge¬
mächlichen Waldpfad ein, auf welchem ſie in der bisherigen Weiſe
ſich umſchlingend neben einander gehen konnten. — Wie mein Vater am
andern Morgen dem Pfarrer ſeine Sachen wieder geſchickt hat, fuhr
er fort, da hab' ich gleich gemerkt, daß Mohren iſt — ja ſo, das
lautet böhmiſch für dich — ich will eben ſagen, ich hab' gemerkt, daß
[295] Feuer im Dach iſt, daß das Ding Lärm macht, hab' mir alſo den
Kopf nicht lang zerbrochen, ſondern hab' ihn zwiſchen die Füß' ge¬
nommen und mich in der Sonne verborgen, bis ich etwas Luft hätt',
um durchzukommen. Das war ein Rennen und Laufen den ganzen
Tag, ich hab' Alles von meinem Verſteck aus angehört und mich nicht
gerührt. Möglich iſt's, daß die Frau Sonnenwirthin in ihrem witzi¬
gen Hirn draufkommen iſt, hinter den alten Fäſſern und dem Rumpel¬
zeug im hundertjährigen Staub könnt' was Lebendiges ſtecken aber
gradaus iſt ſie mir nicht zu Leib gegangen, das iſt überhaupt ihr
Genie nicht. Gegen die Nacht, während ich eben denk', jetzt könnt' ich
bald entſchlüpfen, hör' ich an meinem Verſteck herumtappen, klopfen
und Frieder! rufen. An der Stimm' erkenn' ich deinen Hannes, geb'
aber nicht gleich Antwort. Drauf fährt er fort, ich ſolle mich doch
nicht ſo verſtellen, er ſei mit etlichen Kameraden im Urlaub da, ſie
haben von meinem Malheur gehört und meinen's gut mit mir, ich
ſolle nur herfürkommen, ſie wollen mich in die Mitte nehmen und mir
durchhelfen; auch hab' er mir von dir etwas Nöthiges auszurichten.
Was hätt' ich ihm nicht trauen ſollen ? Mir iſt's im Schlaf nicht ein¬
gefallen, daß er mir von früher her etwas nachträgt, was mich gar
nicht einmal betrifft. Wie ich aber gutsmuths herausſteige, ſo faſſen
mich die Soldaten und ſchreien: Arretirt! Ich hätt' mich vor denen
pappeten Herrgöttern mit ihren Krautmeſſern und ihren gemalten
Schnurrbärten nicht geforchten, ich hätt's mit allen aufgenommen, aber
ich ſtand dir da, ganz ſteif und ſtarr über die Verrätherei, wenn man
mich geſtochen hätt', ich hätt' kein Blut geben, und ſo bin ich regungs¬
los von ihnen gefangen und gebunden worden. Wenn ſie alſo nach¬
her behauptet haben, es hab' einen Kampf und ein Getümmel gekoſtet
ſo haben ſie ſchmählich gelogen, um ihre Heldenthat deſto größer zu
machen.


Großer Gott! rief ſie jammervoll: alſo mein eigener leiblicher
Bruder hat dich an's Meſſer geliefert, und ich hab' kein Wort davon
gewußt! Es iſt mir nur lieb, daß er jetzt weit weg in Garniſon liegt.
Und an mir willſt du's nicht auslaſſen, daß mein Bruder ſo eine
Schlechtigkeit an dir begangen hat?


Wär' ich ſonſt ſo weit her zu dir kommen? antwortete er.


Sie gab ihm ihre Dankbarkeit durch warme Liebkoſungen zu er¬
[296] kennen. Aber gelt, ſagte ſie, ich hab' auch nicht lang gefragt, wie
ich dich geſehen hab'? Du haſt nur ſagen dürfen: Geh mit! und
gleich bin ich gangen.


So iſt's recht, verſetzte er. Wir ſind ja Mann und Weib. An
Gottes Segen iſt Alles, an der Pfaffen Segen gar nichts gelegen.


Jetzt erzähl' weiter, drängte ſie.


Auf Hohentwiel, fuhr er fort, hab' ich keine gute Zeit gehabt.
Harte, ſchwere Arbeit und lüderliche Koſt Tag aus Tag ein, immer
das nämliche Leben zwei Jahre lang, und dazu die Ausſicht, daß es
in alle Ewigkeit ſo bleiben ſoll. Da kann einem der Spaß vergehen.
Ich hab' aber den Muth nicht ſinken laſſen, und gleich ein paar Wo¬
chen nach meinem Eintritt hab' ich mich zu ſalviren verſucht. Das
iſt aber nicht ſo leicht wie im Zuchthaus, von wo mir's ein Kinder¬
ſpiel war, dich ein paarmal zu beſuchen. Sie haben mich zum Feſtungs¬
bau gebraucht, denn an ihrer unüberwindlichen und unüberſteiglichen
Feſtung, wie ſie's heißen, bauen ſie beſtändig fort, wie am Thurn zu
Babel, um ſie immer noch unüberwindlicher und unüberſteiglicher zu
machen. Wenn ich eine Armee gegen ſie zu führen hätte, ich wollt'
ihnen ventre à terre im Neſt ſitzen, eh' ſie's merkten, denn ich weiß,
wo ihr berühmtes Kleinod ſchadhaft iſt. Das erſtemal iſt mir's aber
ſchlecht gerathen, da hab' ich noch im Bubenunverſtand und im Deſpe¬
rationsfieber gehandelt, bin nur grad' mitten in die Freiheit hineinge¬
ſprungen, wo ſie am breitſten und aber auch am tiefſten war, von
einer großen Höhe herunter, aber dann auch keinen Schritt weiter
mehr. Die Wachen haben gleich nach mir geſchoſſen, aber von oben
her trifft man nicht ſo geſchwind, und das Schießen war unnöthig,
denn ich blieb ganz ruhig liegen, weil ich den Fuß gebrochen hatte.
Nachdem ich geheilt war, mußte ich wieder arbeiten, und bei Nacht
ſperrten ſie mich allein in ein Käfig, wo ich von lauter Quadern
umgeben war. Nun war ich ſchon ſo gewitzigt, um zu wiſſen daß
das Verzweifeln zu gar nichts hilft, fraß alſo allen Grimm und allen
Jammer um dich und allen Durſt nach Befreiung in mich hinein,
Tag und Nacht, und hielt mich ſtill, als ob ich ganz zufrieden wär'
und hätte die Welt vergeſſen. Geduld, ſagt das Sprichwort, Geduld
überwindet Sauerkraut; aber freilich, man darf dabei nicht müßig
gehen. Zum Glück hatte ich ſchon im Ludwigsburger Zuchthaus einige
[297] Brocken von der jeniſchen Sprache aufgeſchnappt, und die konnte ich
auf Hohentwiel fürtrefflich brauchen.


Jeniſch? unterbrach ſie ihn. Was iſt denn das?


Paſſ' auf! ſagte er. Die Kochem ſcheften grandig in Käfer
Märtine, ſchaberen bei der Ratte in Kitteren, fegen Schrenden, Kla¬
minen und Hanſel, holchen auf Gſchock, tſchoren Sore, zopfen Kies
aus Rande, kaſperen Gaſche, achlen und ſchwächen toff mit nickligen
Schickſen, joſten im Flach um Jack, ſchmuſen und ſchmollen, aber kiſtig
holchen Nieſcher, zopfen ſie krank, kiſtig ſchupfen ſie Schiebes, wenn
ſie aber in der Leke ſcheften und ihre Maſſematte maker werden, be¬
ſtieben ſie Makes Makoles, holchen kiſtig capore, werden talcht, an
die Nelle geſchniert, gekibeſet oder getelleret.


Hör' auf, hör' auf! ſagte ſie. Da wird's ja Einem ganz dumm
davon. Das iſt rothwälſch, da verſteh' ich kein einzig's Wort.


Wie kannſt du denn ſagen, es ſei rothwälſch, wenn du's nicht
verſtehſt?


Grad deswegen! Was man nicht verſteht, das heißt man ſo.


Du weißt nicht, daß du ein wahres Wort geſprochen haſt, denn
rothwälſch und jeniſch, das iſt die nämliche Zunge.


Du mein Heiland! ſagte ſie betreten, das ſprechen ja aber nur
die —


Kochem! ergänzte er, da ſie ſtockte. Wenn du willſt, kannſt du
ſie auch Jauner, Diebe, Spitzbuben und dergleichen heißen, denn das
ſind ihre Namen bei den andern Leuten; ſie ſelbſt aber nennen ſich
Kochem. Dies iſt die Geſellſchaft, in die man mich zu Ludwigsburg
und auf Hohentwiel gethan hat.


Ach Gott, ach Gott! ſeufzte ſie. Ich bin doch auch im Zuchthaus
geweſen, aber ich hab' Gottlob keine Gelegenheit gehabt, das Jeniſche
zu erlernen. Ich hab' meiſtens bei einer Aufſeherin arbeiten müſſen,
die mich zu ſich genommen hat, und da hab' ich, ich kann nicht an¬
ders ſagen, manches Nützliche gelernt, was ich vorher nicht gewußt hab'.


Das iſt Glücksſache, ſagte er. Früher hat man mich in Ludwigs¬
burg auch etwas apart gehalten, der ſelige Waiſenpfarrer hat's damals
nicht anders gelitten; das drittemal aber bin ich unter den großen
Troß geſtoßen worden. Wiewohl, es war mein Glück, denn hätt' ich
nicht Jeniſch gelernt, ſo ſäß' ich heut noch auf Hohentwiel.


[298]

Was heißt denn das, was du da hergeſagt haſt? fragte ſie.


Es iſt nur eine Probe, ſagte er, und bedeutet ſo viel als: die
Kochem ſind groß an Mannſchaft im Schwabenland, brechen bei Nacht
in die Häuſer, leeren Stuben, Kammern und Käſten, gehen auf Märkte,
rapſen Waare, ziehen Geld aus Taſchen, ſchnellen die Leute, eſſen
und trinken gut mit ihren hübſchen tanzluſtigen Weibsbildern (denn
daran rühmen ſie ſich reich zu ſein), liegen auf dem Feld um's Feuer,
ſchwatzen und lachen, aber oft kommen Streifer, nehmen ſie gefangen,
oft machen ſie ſich davon, wenn ſie aber in's Gefängniß gerathen und
ihre Sachen an Tag kommen, kriegen ſie Schläge und Prügel, müſſen
auch oft ſterben, werden gemalefitzt, an den Galgen gehenkt, geköpft
oder gerädert.


B'hüt' uns Gott! rief ſie, und ſolche Reden gehen aus ihrem ei¬
genen Mund?


Das ſind Dinge, von denen ſie täglich reden, um ſich recht an den
Gedanken zu gewöhnen, gleichwie der Amalekiter König Agag zu
Samuel ſprach: Alſo muß man des Todes Bitterkeit vertreiben.


Für 'n Amalekiter mag das ſchon recht ſein, aber es ſind doch
ſchreckliche, gräuliche Ding', und man kann's nicht verantworten, daß
man dich ſo jung mit ſo Leut' zuſammengepfercht hat. Ach Frieder,
ich bitt' dich, laß du ſie links ziehen und halt' dich nicht zu ihnen.


Nein, ſagte er, ich hab' allen Reſpect vor ihnen und will mich
auch nicht mit ihnen einlaſſen. Deswegen gehen wir ja außer Lands,
wo auch gut Brod eſſen iſt und wo mich keiner von ihnen kennt.


Bei der Flucht von Hohentwiel alſo ſind ſie deine Kameraden ge¬
weſen? Ich kann mir's jetzt ſchon denken.


Mit Hilfe des Jeniſchen, fuhr er in ſeiner Erzählung fort, brachte
ich bald heraus, welche von den Gefangenen die tauglichſten waren
und meinem Gefängniß am nächſten lagen. Zum größten Glücke hatte
ich zwei Nachbarn, ganze Kerls, mit denen ich den Teufel aus der
Hölle ſchlagen wollte. Uns zu verſtändigen, das war uns eine Klei¬
nigkeit. Im Vorbeigehen etwas hingemurmelt oder im Sprechen mit
der Schildwacht oder dem Aufſeher ein paar jeniſche Brocken einge¬
ſtreut und dabei dem eigentlichen Adreſſaten den Rücken zugekehrt —
das iſt für einen Kochum ſo viel wie ein ganzes Buch; aus zwei, drei
Worten, die von einem Andern faſt ohne Mundbewegung an ihn herge¬
[299] ſäuſelt kommen, ſtudirt er ſich Alles 'raus, was er nöthig hat. Frei¬
lich braucht's auch manchmal längere Verſtändigungen. Da kommt
man dann am beſten mit Singen fort. Ein Geſetzlein aus einem
Gaſſenhauer, wenn die Schildwacht gutmüthig und ſelber luſtig iſt,
oder wenn man nicht trauen darf oder gar einander ein Langes und
Breites zu ſagen hat, ein Kirchenlied, das hilft Einem weit. Wie
hab ich's nicht meinem alten Schulmeiſter gedankt, daß er mir die
Choräle ſo ferm eingetrichtert hat! Die Soldaten haben oft ganz an¬
dächtig zugehört, wenn ich ein langes Bußlied nur ſo halblaut vor
mich hingeſumſet und dabei den Text zwiſchen den Zähnen zerdrückt,
nur hie und da ein deutſches Wort deutlich herausgehoben hab'. Das
Undeutliche aber war Alles jeniſch und für meine beiden Leidensge¬
noſſen deutlich genug. Das hat dann dazu dienen müſſen, noch eine
zweite Sprache mit einander zu verabreden, die unſre Hauptſprache
werden mußte. Die Quader nämlich waren viel zu dick, als daß wir
uns bei Nacht hätten unterreden können, und daran war uns natürlich
am meiſten gelegen. Nachdem wir aber ein bequemes Alphabet fertig
gebracht hatten, ſo klopften wir einander ganze Nächte fort, und was
wir klopften, das waren lauter Worte und Sätze. Gelt, du mußt
lachen? Aber die Klopfſprache war mir damals die liebſte in der
Welt und hat ſich auch viel beſſer bewährt, als die Blutſprache, die du
mir einmal im Arm auf die Wanderſchaft haſt mitgeben wollen. Zu
allem andern Glück kam dann noch ein koſtbarer Fund, ein Nagel
nämlich, der mir eines Tags in die Hände gerieth, und dieſes kleine
Werkzeug hat den Grund zu unſrer Freiheit legen müſſen.


Was biſt du für ein Menſch! rief ſie. Man ſollt' oft meinen,
du ſeieſt mehr als ein Menſch.


Du kannſt dir denken, wie oft mir da die Finger geblutet haben
und dann hab' ich's ſehr gefühlt, daß ich ein Menſch bin, und wenn
ich an's Freiwerden und an dich und unſre Kinder gedacht hab' da
hab' ich auch wieder gewußt, daß ich einer bin. Um es kurz zu machen,
nach einer vierteljährigen ſchweren Nachtarbeit, neben den ſchweren Tages¬
arbeiten, war ein Loch durch die Mauer glücklich gebrochen, das Nie¬
mand entdeckte, aber dann dauerte es noch lang bis alle günſtige Um¬
ſtände zuſammentrafen. Was irgend zum Knüpfen und Binden tauglich
war, das hatten wir in den zwei Jahren wie die Hamſter zuſammen¬
[300] geſcharrt und das kleinſte Flöcklein Hanf war uns nicht zu ſchlecht ge¬
weſen. Keine Seele kann ſich eine Vorſtellung machen, was das ein
Stück Arbeit geweſen iſt und welche Attention, Diebsgeſchicklichkeit und
Spitzbüberei es erfordert hat, nach und nach die nöthigen Stricke zu¬
ſammen zu bringen. Das war faſt noch mehr als die Arbeit an
der Mauer. Viele Stunden lang müßt' ich erzählen, wenn ich dir
Alles ausführlich ſagen wollte; aber wer dieſe Werke und dieſe Felſen
und dieſen ſpitzen Wolkenkegel nicht geſehen hat, dem kann man doch
keinen Begriff von den Schwierigkeiten einer ſolchen Flucht beibringen.
Ich würd's auch Keinem übel nehmen, wenn er's nicht glaubte; aber
die Thatſache ſteht nichtsdeſtoweniger feſt, denn ich war lebenslänglicher
Gefangener und bin nicht freigegeben worden, und geh' jetzt dennoch
hier an deiner Seite durch den freien grünen Wald, und hab' ihnen
den Stolz auf die Unüberwindlichkeit ihrer ſtarken Feſte Hohentwiel
zu Schanden gemacht. Und nun frag' dich, wenn ich das zu Stand
gebracht hab', ob ich nicht auch im Stand ſein müſſe, dich und deine
Kinder durch Fleiß und Geſchick irgendwie durchzuſchlagen.


O, du kannſt Alles was du willſt, ſagte ſie mit ſchmeichelndem
und zugleich neckendem Tone: biſt ein halber Hexenmeiſter worden,
und ich weiß gar nicht, du red'ſt auch nimmer wie ſonſt in Ebersbach,
dein Reden hat ſo eine fürnehme Art, und brauchſt Ausdrück', wie
ich's nie früher an dir gehört hab'.


Natürlich! lachte er, drum bin ich in der Welt drein geweßt, und
das doppelt. Einmal am Main und Rhein drunten lernt man einen
ganz andern Schick, und bei meinem Vatersbruder, obgleich in ſeinem
Haus nichts Neumodiſches zu finden iſt, kehren gar ſtattliche Kunden
ein, weil er den Wein noch nach der alten Mode ſchenkt, ungeſtritzt
und wohlbehandelt und dabei billig, ſo daß Wirth und Gäſte beſtehen
können. Da kommen dir Leute von Welt hin, feine Köpfe, und wenn
man auf ihre Reden aufpaßt, ſo bleibt was an Einem hängen. Sie
haben mich freilich auch manchmal ein wenig in's Gebet genommen
und mir zu verſtehen gegeben, man merke mir den Schwaben an, eh'
ich nur den Mund aufthue; aber aus welchem Käfig der Vogel aus¬
geflogen war, das haben ſie mit all ihrem Witz doch nicht ergründet.
Dann aber iſt auch das Zuchthaus und die Feſtung eine Welt, die
ihre Leute bildet, nicht bloß, wie du meinſt, zum Stehlen und Rau¬
[301] ben — ei nein, jedes Handwerk, ob es gut oder ſchlecht ſei, erfordert
Fertigkeiten und Kenntniſſe, die dem Menſchen Ehre machen. So ein
Stromer oder Jauner, der in den Landen umherzieht, Fuchs und Has
zugleich iſt, der weiß und kann dir Dinge, die einem gewöhnlichen
Ofenhocker nicht im Traum vorkommen. Wenn's eine gute Gelegen¬
heit gegeben hat, daß man hat eine Stunde ungeſtört ſich unterhalten
können, da hat man Neuigkeiten gehört, daß Einem die Welt noch
einmal ſo groß und weit vorkommen iſt, und daß ſogar die Schmieren
oder Launiger — will ſagen, die Aufſeher oder die Soldaten, die die
Wache gehabt haben — mit aufgeriſſenen Augen und Mäulern dabei
geſtanden ſind und das Abwehren vergeſſen haben. Sie wiſſen dir
von jedem Land, groß oder klein, ſeinen Regenten und wie er geſinnt
iſt, ſeine Geſetze und Einrichtungen, die Nahrungsweiſe des Volks, den
Wohlſtand, die Eigenſchaften faſt jedes einzelnen Beamten, die Ver¬
hältniſſe zu andern Ländern und ihren Regenten und Beamten, Alles
das wiſſen ſie dir wie am Schnürle herzuſagen, denn es ſind lauter
Dinge, die zu ihrem Handwerk gehören und nach denen ſie ihr Thun
und Laſſen abmeſſen müſſen. Ich hab' aber oft denken müſſen, wie
nützlich es wär', wenn die Bürgersleute, die ſich doch zum Theil mit
Handel und Wandel zwiſchen ſo vieler Herren Gebiet, das abſonderlich
in unſerem Land unzählbar iſt, fortbringen müſſen — ich will nur
zum Beiſpiel von den Wirthen reden — ſage, wenn ſie ſolche noth¬
wendige Wiſſenheiten in den Schulen und dafür meinetwegen ein paar
Sprüch' und Verſ' weniger lernen würden. Aber auch in vielen an¬
dern Dingen trifft man die ſchönſten Kenntniſſe bei ihnen an. Da
ſtehen beſonders die Felinger im erſten Rang, und unter dieſen wie¬
derum die ſogenannten Staatsfelinger. Das ſind dir Leute, die für¬
nehm gekleidet in Sammt und Seide, oft in eigenen Caroſſen mit
Pferden und großer Dienerſchaft als Bergleute oder Doctoren das
Reich durchziehen, treiben ihr Handwerk meiſtens in den Städten, führt
mancher gar ein Privilegium von kaiſerlicher Majeſtät mit ſich, und
weiß ſich eine Manier und ein Anſehen zu geben, daß jeder Reichsgraf
ihn für Seinesgleichen erkennen muß. Aber auch die geringeren Fe¬
linger, die das dumme Volk mit Quackſalberkünſten, Schatzgräbereien
und dergleichen kaſpern und brandſchatzen, haben bei allem Betrug oft
manche gute Wiſſenſchaft in ihrer Kunſt. Wir ſelber haben einen
[302] Solchen auf Hohentwiel gehabt, der in Krankheiten ſehr erfahren war,
und nicht nur mir und manchem Andern geholfen, ſondern auch den
Feſtungsdoctor ſelbſt mehr als einmal ausgeſtochen hat. Der hat ihm
freilich die Ehre nicht gönnen wollen, als wenn es recht kritiſch her¬
gangen iſt, aber juſt dann iſt auch der Ruhm deſto größer geweſen.


Wenn aber ſo Leut' ſo geſchickt ſind, wendete ſie ein, dann ſollt's
ihnen ein Leicht's ſein, ſich ehrlich und redlich zu nähren.


Iſt bald geſagt, erwiderte er. Dieſe Leute ſind meiſtentheils von
Kindesbeinen auf heimathlos, gehören zu einem verachteten, verwor¬
fenen Menſchenſchlag, und würden zu ehrlichen Hanthierungen im bür¬
gerlichen Leben gar nicht angenommen, ſind auch, was ich zugeben
will, theils ſchon durch ihre Eltern dazu verdorben, oder ſie ſind mit
und ohne ihre Schuld aus dem bürgerlichen Leben hinausgeſtoßen
worden — denk' nur dran, wie's uns gangen iſt — und müſſen
froh ſein, daß ſie da draußen doch noch eine Welt finden, in der ſie
leben können. Das ſind Leute, wie zu David's Zeit, da er vor dem
König Saul in die Höhle Adullam fliehen mußte und ſich allerlei
Männer zu ihm verſammelten, von denen die Schrift ſagt: Männer,
die in Noth und Schuld und betrübtes Herzens waren. Jetzt iſt's
freilich nicht mehr Mode, daß Einer aus einem Oberſten über ſolche
Männer ein König werden kann, und es däucht mir ſelber unbe¬
greiflich, wenn ich dem Ding nachdenke, zumal daß von allen Kanzeln
ſein Lob gepredigt wird, da er doch Stücke gethan hat, die heutzutag
mit Galgen und Rad beſtraft würden. So ſchickt er zu dem Nabal
hin und läßt ihm ſagen: gib mir und meinen Leuten, was deine Hand
findet; wie aber der Nabal Fauſt in Sack macht, ſo heißt er einen
Jeglichen ſein Schwert um ſich gürten, und zieht, vierhundert Mann
ſtark, gegen ihn, juſt ſo wie ſie jetziger Zeit manchmal aus den böh¬
miſchen Wäldern hervorbrechen. Und wiewohl die Abigail ſich in's
Mittel gelegt hat, daß es nicht zum Aeußerſten kommen iſt, ſo hat er
Speiſ' und Trank genug ohne Zeche und Kreide gefaßt, und hat ei¬
gentlich doch den Nabal umgebracht, denn der hat aus Schrecken über
den Anmarſch der vierhundert betrübten Herzen den Geiſt ausgeblaſen,
und hat ihm erſt noch ſeine Wittwe zum Weib laſſen müſſen. Die
Schrift ſagt wohl von ihm, der Mann ſei hart und boshaftig in ſei¬
nem Thun geweſen; aber gibt's darum keine Seinesgleichen mehr,
[303] die, wie er, faſt großen Vermögens ſind und viele Schafe und Ziegen
haben? Ich möcht' ſehen, wenn ihnen Einer heutigs Tags ſo was
thät', was weltliche und geiſtliche Obrigkeit dazu bemerken würden.
Von den Zigeunern ſagen ſie, ſie betteln zuerſt, und wenn man's
ihnen nicht gutwillig gebe, ſo nehmen ſie's mit Gewalt. Aber das
hat noch kein Pfarrer als Muſter aufgeſtellt. Vielmehr hat mir ſchon
in Ludwigsburg Einer, der bei einem Generalſtreif aufgefangen wurde
und in Geſetzen ſehr bewandert und ein halber Gelehrter war, der
hat mir geſagt, es ſei erſt vor wenigen Jahren ein Kreispatent aus¬
gegangen, daß man das gottloſe und verruchte Jauner- und Zigeuner¬
volk, auch wenn man es nicht auf einer Miſſethat ergreife, — ich
weiß den gelehrten Ausdruck nicht mehr, aber der Sinn iſt: ohne ei¬
gentliches Verhör und Urtel, alſo daß man eben ſo gut einen Un¬
ſchuldigen treffen kann — ſage, ohne alle Umſtände ſolle man ſie auf's
Rad legen, und ſolle dabei nur das unbenommen ſein, daß man ſie
zum Schwert oder Strang begnadigen könne.


Das iſt freilich ſchrecklich, ſeufzte ſie. Es iſt eben eine arge Welt
und eine böſe Zeit. Aber ſo froh ich bin, daß du mit ihnen von
der Feſtung entkommen biſt, ſo iſt mir's doch noch viel lieber, daß
du dich wieder von ihnen losgeſchält haſt. Iſt's auch gewiß wahr?


Freilich iſt's wahr, ſo gewiß, als es von Hohentwiel einen Weg
nach Sachſenhauſen gibt. Ich hab' freilich nicht immer den gradſten
genommen; 's iſt mir gangen wie bei der Erzählung da, wo du mich
fort und fort auf Um- und Nebenwege drängſt.


Ich will dich nicht weiter unterbrechen. Erzähl' gradaus.


Wie wir mit unſern Vorbereitungen endlich fertig geweſen ſind,
haben wir uns an den ſteilen, rothen Felſen hinabgelaſſen. War
aber wenig davon zu ſehen, denn wie du dir denken kannſt, haben
wir eine ſtürmiſche Regennacht gewählt. Einer voran, ich in der
Mitte und einer zuletzt, wie wir eben drangekommen ſind, ſo ſind wir
an unſrem armſeligen Seil hinuntergerutſcht. Wir zwei Vordern ha¬
ben uns nicht lang beſonnen, haben's auch nicht geachtet, daß unſre
Hände halb durchgeſchnitten wurden, ſondern ſind hinabgeſaust wie der
Teufel, wenn er mit einer armen Seel' zur Hölle fährt. Dem Letzten
aber ging's nicht ſo gut. Hat er ſich zu ſchwer gemacht, die Hände
zu ſehr geſchont, oder iſt das Seil durch uns ſchon abgenutzt geweſen,
[304] ich weiß es nicht: kurz, auf einmal kracht's, bricht, und neben uns
geſchieht ein mächtiger Fall. Es war ein Glück, daß er uns nicht
auf die Köpfe fiel. Ob er ſich den Hals abgeſtürzt hat, weiß ich
heut noch nicht. Gott tröſt' ihn! aber für uns war keine Zeit zu
verlieren. Der Fall hatte die Wachen oben rebelliſch gemacht, man
hört zuſammenſchreien, und kaum ſind wir einen halben Büchſenſchuß
ſeitwärts, ſo brummt ſchon die Lärmkanone durch die finſtre Nacht.
Die ſtand uns aber treulich bei und wir ſagten lachend: Kanonirt und
trommelt ihr ſo viel ihr da droben wollt, Gott befohlen Hohentwiel!
Die Ausſicht iſt übrigens ſchön für den Liebhaber, beſonders wenn er
ſich nur ein paar Tage zu ſeinem Vergnügen droben aufzuhalten
braucht, wie ein Schwager des Commandanten, ein Profeſſor, den wir
einmal die herrliche Perſpective, wie er's nannte, loben hörten. Wir
hatten ſie uns jedoch gleichfalls zu Nutz gemacht und wie eine Land¬
karte ſtudirt, das Hegau mehr als den Bodenſee. Das Hegau iſt gar
keine üble Gegend zur Flucht, das muß man ihm laſſen. Mit waldi¬
gen Köpfen oder kleinen Anhöhen, Kopf an Kopf, beſät, ſo liegt es
um die Feſtung da. Sie ſind uns nachher oft doch etwas höher vor¬
kommen, als man von oben meint; aber nichtsdeſtoweniger ein präch¬
tiges Revier für Gäſte, die aus dem Luftſchloß zur ſchönen Ausſicht
abgereist ſind; denn es reicht ein Wald dem andern die Hand. Dazu
hatten wir juſt die Zeit abgewartet, wo das Laub ausſchlägt; es deckt
Einen doch beſſer, und der Wald ſieht ſo traurig aus, wenn er nackt
und kahl iſt. Mein Kamerad — ja ſo, von dem hab' ich dir noch
gar nichts geſagt; hab' ich dir nie von dem jungen Zigeuner erzählt,
den ich einmal aus dem Zuchthaus mit nach Ebersbach gebracht hab'?


Ja, ſagte ſie, du haſt ihn bei deinem Vater als Knecht anbringen
wollen und der hat dir dafür eine Ohrfeig' hingeſchlagen.


Richtig, und der war mein Kamerad beim Ausfliegen. Ich hab'
ihn auf der Feſtung wieder gefunden. Der iſt aber unter der Zeit
flügg worden; das iſt ein ganz Ausgelernter. Wiewohl, er war ſchon
damals viel ſchlimmer, als ich ihn dafür angeſehen hab'. Was meinſt,
daß er zu mir geſagt hat? Es hab' ihn hölliſch verdroſſen, daß es mit
dem Dienſtle nichts worden ſei; er wär' ein paar Wochen dageblieben,
hätt' unterdeſſen etliche Freunde herbeigezeiſelt und in einer ſchönen
Nacht das Ebersbacher Sonnenwirthshaus ausgeplündert.


[305]

Das iſt aber ein ſchlechter Kerl! rief ſie zornig. Dem haſt mit
deiner Bärenfauſt eins geſteckt, gelt?


Lieb's Weib, ſagte er bedächtig, wenn man mit einander aus
Numero Sieben fortwill, ſo nimmt man's nicht ſo ſtreng mit dem
Glauben; da denkt man: du hilfſt mir und ich helf' dir. Ich hab'
gelacht und hab' ihm geſagt, den Gedanken mit der Sonne ſoll' er
ſich vergehen laſſen, da ſeien viel Leute drin und viel Leute in der
Nachbarſchaft, und an großen ſtarken Hunden ſei auch kein Mangel —
ich hab' noch ein paar dazu gemacht. Der ſcheele Chriſtianus, ſo
heißt man ihn, hat's in ſeiner Art gut mit mir gemeint und hat mich
mit Gewalt mitnehmen wollen, hat mir auch das beſte Leben verſpro¬
chen und hat's nicht begreifen können, daß ich nach Ebersbach wolle,
wo ich ja vogelfrei ſei; aber ich bin feſt dabei blieben, und ſo hat er
mich zuletzt, ich muß ſagen, recht ungern ziehen laſſen, hat mir auch
guten Rath und Anleitung geben zum Fortkommen, was ohne einen
Zehrpfennig keine Kleinigkeit iſt, und endlich hat er mir noch ſeinen
Zinken, das heißt, ſein Wappen oder Wahrzeichen, dergleichen jeder
von ihnen ſein eigenes führt, anvertraut. Es könnte ja doch ſein, daß
wir einmal einander brauchten, hat er gemeint, hat mir auch geſagt,
wo ich ihn und die Seinen am leichteſten finden könne; und daran
hab' ich geſehen, daß er's treulich mit mir meint und auch mir von
ganzer Seele traut, denn mit dem Zinken, wenn er ihn nicht ändert,
hab' ich ihn in der Hand und könnt' ihn jeden Augenblick verrathen.
Das werd' ich aber nie thun, obgleich ſeine Wege nicht meine Wege
ſind. Intereſſiren ſollt's mich aber doch, einmal ſein Wahrzeichen zu
ſehen. Sie ſchneiden's in Bäume, ſelbſt in Balken an den Häuſern,
wo ſie vorbeiziehen, zeichnen's auch in den Staub oder in den Schnee;
mit einem Strich dahinter zeigen ſie ihren nachkommenden Kameraden
den Weg an, den ſie nehmen wollen, und mit kleineren Strichlein
über oder unter dem großen bezeichnen ſie, wieviel ihrer ſind, Männer,
Weiber und Kinder.


Das iſt ſinnreich, ſagte ſie, aber lieber iſt mir's doch, du guckſt
nicht nach den Wahrzeichen.


Sei ruhig, erwiderte er, er wird nicht ſo leicht wieder in's Land
kommen, der Geſchmack an Ludwigsburg und Hohentwiel iſt ihm ver¬
gangen. Nachdem wir aus einander waren, hab' ich mich nach und
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 20[306] nach Ebersbach zu geſchlagen, um zu hören wie es um dich ſteht. Vom
ſcheelen Chriſtianus hatte ich Unterweiſung, daß ich ſo viel möglich
bloß in einſamen Höfen und Häuſern einkehren ſolle, denn dort ſeien
ſie gutwillig gegen fahrende Leute, fürchten den rothen Hahn von ih¬
nen auf's Dach gepflanzt. Ich hab' aber nicht nöthig gehabt, ihnen
ſonderlich zuzuſetzen, denn ſie haben mir überall gern gegeben, und
nur mit dem Nachtlager haben ſie ſich ein wenig in Acht genommen;
aber es iſt nirgends beſſer ſchlafen, als im Wald zur Frühlingszeit.


Weiß nicht, ſagte ſie.


Hab' nur noch ein wenig Geduld, verſetzte er, wir ſind bald am
Ziel. Daß ich auf Lebenszeit verurtheilt und von der Feſtung ent¬
ſprungen ſei, hab' ich den Leuten natürlich nicht ſagen können, hab'
auch gedacht, ſie werden's nicht grad wiſſen wollen. Ich hab' ihnen
geſagt, ich ſei am See in Arbeit geſtanden, hab' wieder heimgewollt,
ſei von Spitzbuben ausgeraubt worden und müſſe jetzt eben ſehen, wie
ich nach Weilerſtadt zurückkomme, wo ich bürgerlich ſei; dort ſind ſie
nämlich auch katholiſch. Das hat gezogen, und bis ich in's Ländle
kommen bin — das Hohentwiel liegt nämlich mitten in fremdem Ge¬
biet, was auch ſehr bequem zum Entkommen iſt — da hab' ich ſo
viel Geld und Lebensmittel im Tuch gehabt, daß es gereicht hat bis
Ebersbach. Dort bin ich vierzehn Tag' in der Sonne gelegen und
hab' leider gehört, jetzt ſeieſt du in Numero Sieben.


Was? rief ſie. In der Sonne? Hat man dir denn dort Unter¬
ſchlauf geben?


Ich hab' mit dem Herrn Sonnenwirth Deutſch geſprochen und
Fractur mit der Frau Sonnenwirthin, denn ſolches iſt nöthig bei ei¬
nem Weib, das kein Kind hat und nicht weiß, wie man ſich gegen
ſeine Kinder verhalten ſoll. Mitten in der Nacht bin ich ihnen vor'm
Bett geſtanden, daß ſie vor Schrecken ſchier geſtorben ſind, und hab'
ihnen geſagt, wo ſie ein Geräuſch machen oder mich verrathen würden,
ſo ſollten ſie meinen Ernſt kennen lernen. Das hat denn auch ge¬
fruchtet, denn du kannſt dir gar nicht vorſtellen, wie mir das Herz
übergegangen war, zuerſt aus Freude, daß ich wieder in Ebersbach
bin, und dann vor Zorn. Daß mir vollends Hohentwiel nicht zu hoch
geweſen iſt, wo ſie mich ſo ſicher verwahrt glaubten, wie das Kind in
der Wiege, das hat ſie ganz mürb und demüthig gemacht. In der
[307] erſten Nacht haben ſie ſich in eine kleine Kammer verkrochen und ich
hab' mich dann gutsmuths an ihrer Statt in's warme Bett gelegt,
das mir, offen geſtanden, doch ein wenig beſſer geſchmeckt hat, als das
Moos im Wald, und hab' dem Teufel ein Ohr weggeſchlafen bis in
den lichten Morgen hinein. Wie ich aufwach', iſt mein Vater ganz
ſchüchtern in die Kammer hereinkommen und hat ſich zu allem Guten
offerirt: er wolle mich in einem mir anſtändigen Verſteck behalten,
bis ich ausgeruht ſei, denn ich war faſt hin vor Mühſeligkeit und
jahrelanger Entbehrung und meine Hände waren übel zugerichtet; daß
ich in die Länge nicht bleiben könne, werde ich ſelber einſehen, weil's
für mich nicht ſicher ſei; aber er wolle mir Geld geben zur Auswan¬
derung nach Pennſylvanien, er hab's nur juſt nicht parat — du weißt,
er hat's nie parat, wenn's an's Blechen gehen ſoll, mir hat's aber
auch nicht preſſirt, weil ich ohne dich doch nicht gangen wär'; ich ſolle
inzwiſchen nach Sachſenhauſen zu ſeinem Bruder gehen, der mich ſchon
einmal gut aufgenommen habe und gern behalten hätte; unter der Zeit
könne man ja weiter ſehen. Dabei ließ er einfließen, wenn er mit
beſſerem Bedacht gehandelt hätte, ſo wäre Manches anders ausgefallen.
Du kennſt mich: wenn man mir gute Wort' gibt, ſo bin ich wie
Butter. Zwei Wochen, wie ich dir ſag', bin ich zu Haus ſtill gelegen
und iſt mir nichts abgangen. Dann hab' ich aber ſelber dem Land¬
frieden und der Frau Stiefmutter nicht mehr recht getraut, hab' auch
gedacht: und wenn ein Menſch das Fliegen lernte, ſo würd' anfangs
Alles vor ihm niederknieen und ihn anbeten, aber in vierzehn Tag'
wär's ihnen Allen ein gemeines Wunder, um das ſie nicht mehr viel
gäben; hab' mich alſo auf den Schrecken über meine Hohentwieler
Flucht nicht zu ſehr verlaſſen mögen. Mein Vater hat mir etwas
Geld geben nach Frankfurt, und ſo bin ich fort, ohne daß meines
Wiſſens der Amtmann nach mir gefragt hat. Wie ich bei deiner
Mutter und den Kindern geweſen bin, das haſt du nachher zu Haus
ſelbſt gehört. In Sachſenhauſen iſt mir's über die Maßen wohl ge¬
gangen, ich bin bei meinem Vetter wie das Kind im Haus geweſen,
hab' ihm geſchafft, halb als Hausknecht, halb als Metzgersknecht, halb
als Kellner, wie und wo man mich hat brauchen wollen, und wenn
kein Ebersbach in der Welt wär', ſo hätt' ich mir gar keine beſſere
Heimath wünſchen mögen. Aber es hat mir fort und fort am Herzen
20 *[308] genagt: daß mein Vater von ſeinen Anerbietungen gar nichts mehr
hören ließ, hat mich verdroſſen, und endlich hab' ich von einem
Landsmann erfahren, daß deine unfreiwillige Badreiſe jetzt zu Ende ſei.
Ueber das fügt ſich's einmal, daß ich Gäſte bedienen muß, und wie
ich ihrem Geſpräch aus der Ecke zuhöre, ſo braucht einer zufällig das
Sprichwort: Ein Mann, ein Wort, oder ein Hundsfott! Sieh', Chri¬
ſtine, wie ich das gehört hab', bin ich eigentlich ſchon ſo gut wie fort
geweſen. Mein Vetter hat ſich ein wenig vor den Kopf geſtoßen gezeigt,
daß ich nicht gut thun wolle; ich hab' ihm aber geſagt, es reiße mich
wie mit eiſernen Haken nach Ebersbach, er ſolle mich in gutem An¬
denken behalten und mir den Platz nur ein Tag' acht offen laſſen,
denn ich möchte gern wieder kommen. In Ebersbach aber war der
Wind gänzlich umgeſchlagen. Mein Vater hat mich gar nicht vor
ſein Angeſicht kommen, ſondern durch ſeine Frau bedeuten laſſen, ich
ſolle mich fortmachen, ich würde ihn nur um Hab' und Gut bringen.
Was ich mit ihm für ein Abkommen treffen will, darüber muß ich
mich noch beſinnen. Bei deiner Mutter hab' ich dann erfahren, du
ſeieſt wirklich frei und im Schulhaus zu Neckardenzlingen im Dienſt.
Darauf hab' ich gleich den Stab weiter geſetzt. Wie ich geſtern Abend
über die Brücke gehe, ſeh' ich Kinder da ſpielen. Ich will freundlich
auf ſie zugehen. Sie aber mich erblicken und mit dem Geſchrei: Der
Sonnenwirthle! der Sonnenwirthle! wie das Mutisheer an mir vor¬
überſtäuben, das war eins. Es hat mir weh gethan, ich kann's nicht
leugnen, zu ſehen, wie mein Name den Weg vor mir fegt; aber ich hab's
wieder abgeſchüttelt. Meine Lagerſtatt hab' ich im Wald genommen,
bin heut im Zickzack durch die Wälder herübergewandert, und da bin
ich jetzt bei dir. Und hier iſt auch unſer Nachtlager, ſieh, da tauchen
die paar Häuſer im Halblicht auf. Es regt ſich nichts mehr, nicht
einmal ein Hund, die Leut' ſind arm und haben nichts zu bewachen.
Jetzt fallen wir ſtill und ſäuberlich in die Scheuer ein und da ſollſt
du im Heu ganz fein gebettet ſchlafen. Morgen iſt dann das Erzählen
an dir, denn für heut iſt genug erzählt.


[309]

28.

In der erſten Frühe weckte Friedrich Chriſtinen und las ihr das
Heu aus den Kleidern und aus den Haaren, wohin es da und dort
unter dem Kopftuche eingedrungen war. Nachdem er mit ihrer Hilfe
ſein Aeußeres gleichfalls etwas in Ordnung gebracht hatte, ermunterte
er ſie zum Fortgehen, ehe die Hausbewohner erwachten; denn, ſagte er,
wenn man den Leuten Nachts in die Scheuer einbricht, und wär's
auch nur um ein wenig Nachtruh' zu erbeuten, ſo hat man gleich den
Credit bei ihnen eingebüßt. Sie verließen den kleinen Weiler, der
aus einigen ärmlichen Häuschen beſtand, und ſchlugen einen ſchmalen
Waldſteig ein. Der thaufeuchte, friſche Herbſtmorgen machte Chriſtinen
vor Kälte zittern. Friedrich ſuchte einen freien Platz im Walde und
hatte bald aus Reiſern und dürrem Holze, das er hin und wieder
abbrach, ein behagliches Feuer angemacht, neben welchem er das Weib
ſeines Herzens auf ſeine Knie zog und ſo ihr ein bequemes Lager
bereitete. Das Frühſtück, ſagte er, müſſen wir uns freilich hinzudenken;
ich hab' vor lauter Eifer und Heimweh nach dir vergeſſen, für Mund¬
vorrath zu ſorgen. Sie verſicherte, ſie ſei nicht hungrig, und auch er
meinte, er habe ſich in Sachſenhauſen hinlänglich herausgegeſſen um
jetzt ein wenig faſten zu können.


Laß dich einmal beſehen, ſagte ſie aufſchauend und munter wer¬
dend. Siehſt ja ganz proper aus, man ſollt' dich für 'n zünftigen
Meiſter in irgend einem Handwerk halten, das ſein' goldenen Boden
hat. Mußt die ſchönen Kleider ſchonen und nicht in Scheuern über¬
nachten.


Das kommt anders, verſetzte er, wenn wir einmal zum Land
draußen ſind.


Und recht mannhaft biſt worden, fuhr ſie fort. Haſt ein gut's
Geſtell, ſo poſtirt und voll und dabei doch nicht zu breit. Dem Ge¬
ſicht freilich ſieht man an, daß Manches drüber hin gangen iſt, wie
ein ſchwerer Pflug. Man ſollt' dich für viel älter halten als du biſt.
Wenn ich nicht wüßt', daß du kaum über Siebenundzwanzig ſein kannſt,
[310] ich thät dich mindeſtens auf Sechsunddreißig ſchätzen. Schad' iſt's,
daß du oft auf einmal ein bisle wild und bös ausſehen kannſt, ſo
daß man ſich ſchier fürchten könnt'. Aber ich darf freilich gar nichts
ſagen. Sieh' mich an, was ich alt worden bin. Ach, ich muß oft
denken, du könneſt an meinen Runzeln keinen großen Gefallen mehr
haben.


Er hatte ſie bereits betrachtet und in der Stille die Veränderun¬
gen wahrgenommen, die Zeit und Schickſal an ihr hervorgebracht hatten.
Nicht eben Runzeln, aber hart eingegrabene Furchen zogen ſich unter
dem nicht mehr ſo weichen und hellgelben Scheitel quer über die
Stirne und eine ſenkte ſich wie ein tiefer Einſchnitt zwiſchen den Augen
hinab. Doch lag in dieſen Spuren nicht die eigentliche Verwüſtung,
die in dem einſt ſo freundlichen Geſichte vorgegangen war. Auch ſah
es an ſich ſelbſt nicht auffallend gealtert aus und in den treugeblie¬
benen Zügen hatte keine häßliche Entſtellung, wie ſie oft mit den Jah¬
ren kommt, ihren Wohnſitz aufgeſchlagen; aber die jugendliche Friſche,
die lieblich malende Zuverſicht und Lebensluſt war aus ihnen ver¬
ſchwunden und hatte ſie verwandelt hinterlaſſen, wie das Morgenlicht,
wenn es von einer Landſchaft Abſchied nimmt, dieſelbe Gegend zwar
in unveränderter Geſtalt, aber arm, nüchtern und verkümmert hinterläßt.


Du biſt die Mutter meiner Kinder, ſagte er, kannſt nicht ewig
jung bleiben. Dieſe Furchen ſind mein Werk, denn du haſt viel um
mich leiden müſſen; aber du ſiehſt nicht ſo alt aus, wie du meinſt,
und wenn du einmal eine glückliche Hausmutter biſt, ſo wirſt du wie¬
der jünger werden.


Gott geb's, erwiderte ſie, denn ſo wie ich jetzt bin, bin ich doch
zu alt für dich. — Ach, wenn ich dran denk', wie der Friederle auf
die Welt kommen iſt, 's ſind jetzt bald ſechs Jahr', wie bin ich da¬
mals in Einem Umſehen ſo elend und wieder ſo reich geweſen! Wie
ich gemerkt hab', daß mein Stündle kommen will, hab' ich meinem
Jammer kein End' gewußt, bin allein auf der Bühne gelegen, mein'
Mutter hat geſagt, ſie könn' vom kranken Vater nicht weg, und mein
Jerg hat ſich verdingt gehabt nach Faurndau zum Dreſchen. Ueber
einmal hör' ich auf'm Stiegle 'n Mannstritt, ſo gibt's bloß Ein' in
der Welt, und wer kommt mir vor's Bett und nimmt mich in Arm,
während ich ihn im Zuchthaus gemeint hab'? Und wie du mir die
[311] Hebamm' haſt geholt und die eine Kraftbrüh' für mich verlangt hat,
weil's hart gehen werd' und ich ſo von Kräften ſei, weißt noch? da
hat mein arm's Lämmle dran glauben müſſen, mit dem unſre Bekannt¬
ſchaft angefangen hat. Ich hab' nicht einmal um das Thierle weinen
können, und du haſt recht prophezeit gehabt, es werd' eine Zeit kom¬
men, wo mir etwas Anders mehr am Herzen lieg'. Und hart iſt's
auch gangen, ich will's nicht vergeſſen, aber wie's geheißen hat: Vater,
hier iſt dein Sohn! ach Frieder, was iſt das eine Seligkeit geweſen!
Und nachher iſt die Kathrine kommen und hat geſagt, ſie ſei jetzt mit
einem wackern Mann verſprochen und mach' ſich nichts mehr aus der
Amtmännin ihrem Zorn, und hat mich treulich gepflegt —


Ja, ſagte er, darum hab' ich auch ruhig wieder in mein Ludwigs¬
burger Heimweſen zurückkehren können. Aber heut noch reut's mich,
daß ich mich in Göppingen geſtellt hab'! Berichtet der Vogt nach
Ludwigsburg, er habe den mittelſt Ausbruchs echappirten Gefangenen
wiederum gefänglich zur Hand gebracht und ſchicke ihn hier wieder ein.
Ausgebrochen war ich allerdings, das iſt wahr, denn man hat mir
keine Brücke gebaut; aber daß ich mich freiwillig bei ihm geſtellt hab',
davon hat er kein Wort geſchrieben, ſondern hat die Ehr' allein haben
wollen. So ein Vogt! was bild't ſich der ein! es gibt auch Bettel¬
vögte. Deswegen hab' ich mich nach meinem zweiten Ausflug nicht
mehr bei ihm, ſondern unmittelbar in Ludwigsburg beim Kammerrath
ſelbſt geſtellt. Der iſt zwar rauhbauzig, wie man's von einem Zucht¬
hausverwalter nicht anders erwarten kann, aber er hat doch gelacht
und hat mir nun auch für meine frühere Verſicherung Glauben ge¬
ſchenkt, ſo daß mir weiter nichts geſchehen iſt, als daß ich eben die
paar Tag' länger hab' ſitzen müſſen.


Dein zweiter Beſuch, verſetzte ſie, ach, der iſt traurig geweſen.


Ja, ſagte er, ſchon wie ich das Thal heraufkommen bin, bei Reichen¬
bach, ich weiß nicht, ob du's einmal bemerkt haſt, da iſt in den An¬
höhen eine Lücke, durch die der Staufen hereinſchaut, und der hat
damals ſo grau und trüb ausgeſehen, daß ich gedenkt hab': Alter,
biſt auch traurig und haſt mir eine Trauermär' zu verkünden? Wie
ich aber nach Ebersbach kommen bin, hab' ich deinen Vater wenigſtens
noch am Leben gefunden, und das wird mir wohl thun, ſo lang ich
leb'. Chriſtine! Reſpect vor dem Mann! Der iſt geſtorben wie ein
[312] Patriarch! Er iſt ſein Leben lang in Armuth und Demuth und im
Staub dahergangen und hat ſelber nicht gewußt, was in ihm ſteckt,
aber in der Todesſtunde iſt ihm der Geiſt mächtig auf die Zunge
getreten.


Weißt noch, wie er uns geſegnet hat, rief ſie, und dich abſonder¬
lich, weil dein Will' vor Gott gut ſei und dein Herz aufrichtig, und
wie er dir Alles vergeben hat, was ihm Leid's durch dich geſchehen iſt?
Und dann ſeine letzten Worte! rief er. Wo hat man vom alten
Pfarrer, der zu gleicher Zeit mit ihm geſtorben iſt, je etwas Aehn¬
liches gehört! Und vollends vom jetzigen! Ja, wenn er nur ein ein¬
zigmal aus ſeinem Mund einen Hauch hätte gehen laſſen von jenem
Geiſt, ich hätte ihn und ſeinen Kelch und ſeine Hoſtien ungekränkt
gelaſſen!


Nicht bloß im Sonnenwirthshaus — ſo verſuchte Chriſtine aus
der Erinnerung nachzuſprechen — auch unter der großen Weltſonn'
iſt nicht Alles wie es ſein ſollt', und Gottes unerforſchlicher Rathſchluß
läßt es zu, daß ſein Will' auf Erden nicht geſchieht. Neid und Stolz
regiert die Welt und das Gericht wird hereinbrechen —


Sie nennen ſich ſeine Kinder — unterbrach er ſie, um die Er¬
innerung voller wiederzugeben — und ſind doch nicht Brüder und
Schweſtern unter einander. Neid und Gewalt, Stolz und Habſucht
regiert die Welt, und Gottes Ebenbild wird in der Armuth unter¬
drückt. Die Welt liegt im Argen und ihr Maß ſteigt auf bis zum
Rand, und unverſehens wird ein Gericht hereinbrechen, das den Un¬
ſchuldigen ſammt dem Schuldigen trifft, wie zur Zeit der großen Fluth,
wo der Menſchen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und
Trachten ihres Herzens nur böſe war immerdar.


Ich aber — fiel Chriſtine mit den Schlußworten ihres Vaters
ein — ich fahr' in meiner Arch', die mir der Schreiner zimmert, nach
meinem Berg Ararat zu meinem Vater und zu eurem Vater, und
will ſchauen was jetzt dunkel und verborgen iſt, und will ihm ſagen:
Vater, ſegne die hie nach mir bleiben, und führ' ſie endlich einmal
ſänfter, wenn dir's möglich iſt, und laß ſie deinen Frieden ſchmecken. —
Er hat das Wort nicht mehr ganz ausgeſagt, fügte ſie hinzu, iſt zu¬
rückgeſunken und entſchlafen.


Eine übermächtige Rührung überkam das ſo vieler Verwilderung
[313] preisgegebene Gemüth des Mannes, der ſich nicht geſcheut hatte, heilig
gehaltene Geräthe des Gottes, zu dem er betete, anzutaſten. Er ließ
ſein Weib zur Erde gleiten, erhob ſich in die Kniee und rief, die
Arme gegen den blauer werdenden Morgenhimmel ausgebreitet, unter
ſtrömenden Thränen: Himmliſcher Vater, gib uns deinen Segen um
jenes Gerechten willen! Du biſt ja mit den unvernünftigen Geſchöpfen,
die unter deiner Sonne wimmeln, und gibſt ihnen Nahrung und Klei¬
dung auf ihre Zeit. Trag' und erhalt' auch uns, die wir deine Kinder
ſind, und gib uns unſer Brod, uns und unſern armen Kleinen. Führ'
uns aus dieſem Land, wo Vater und Mutter hart ſind, in ein mil¬
deres, das du uns verheißen mögeſt, laß uns vor dir wandeln und
behüte uns, daß wir nicht mehr in Anfechtung fallen.


Chriſtine kniete neben ihm und ſchluchzte laut. Nachdem er ge¬
endet hatte, blieben beide noch lange auf den Knieen liegen. Das
Feuer ſank allmählich in Kohlen und Aſche zuſammen und durch die
Gipfel der Bäume lächelte das Geſtirn des Tages, das Wärme und
Leben bringend über den Bergen aufgegangen war.


Jetzt komm, Chriſtine, wollen aufbrechen, die Sonne iſt herauf und
die Kälte läßt nach, ſagte Friedrich, ihr Bündel ergreifend. Sie zogen
ſchweigend und voll Gedanken durch die Wälder hin, die vom Fuße
der Alb zwiſchen dem Neckar- und Filsthal in das Land hineinlaufen.
Hie und da führte ihr Pfad an einem einſamen Hofe vorüber, ſchlängelte
ſich aber gleich wieder dem Walde zu. In einem dieſer abgelege¬
nen Gehöfte wagten ſie ſich mit geſtandener (ſaurer) Milch und
etwas Schwarzbrod zu erquicken, hielten ſich aber, da ſie von den
Leuten mißtrauiſch angeſehen wurden, nicht lange auf. Als ſie wieder
auf der Wanderſchaft waren, ſagte er endlich: Jetzt iſt das Erzählen
an dir, Chriſtine.


Das iſt kurz bei einander, verſetzte ſie, mir iſt nicht ſo viel vor¬
kommen, wie dir. Nach deiner Gefangennehmung, wo du nach Hohent¬
wiel kommen biſt, hat man mich auch ein wenig einthürmt.


Aber nichts auf dich bringen können, das weiß ich ſchon von dei¬
ner Mutter.


Nachher iſt's eben wieder das alt' Lied geweſen. Sie haben mich
vor Kirchenconvent citirt und haben mich gefragt, wer der Vater zu
dem Kind ſei, mit dem ich geh'.


[314]

Dann haſt du geſagt, dein Mann?


Durch ſolche Reden hätt' ich ſie nur noch mehr wider mich in
Harniſch bracht, und 's iſt mir ſo ſchon ſchlecht gnug gangen. Mein
Jerg, das muß ich ihm nachſagen, hat wie ein Vater an mir gehan¬
delt; er hat immer gegen mein' Mutter geſagt, wenn du da wärſt,
ſo wär's dein' Sach', für mich zu ſorgen, aber wenn einer lebendig
begraben ſei, ſo könn' man ihm nichts mehr zumuthen. Das Waſſer
iſt ihm aber ſelber oft bis an Hals gangen, und dann iſt er oft fort
geweſen, um ſein Brod auswärts zu ſuchen. Ich hab' vor Kirchen¬
convent kaum ſtehen können, ſo ſchwach iſt mir's geweſen. Der Schütz
hat mich nachher mitgenommen, und er und ſein Weib haben mir
ein bisle zu eſſen geben; ich hab's auch angenommen, denn ich hab'
vielmals denkt, ich werd' das Kind nicht lebig zur Welt bringen.


Er iſt ein verſoffener Lump, ſagte Friedrich, aber er iſt doch beſſer
als Mancher, der in der Tugend und in der Wolle ſitzt. Wie's dem
Armen zu Muth iſt, das begreift doch nur wieder der Arme, aber
eben darum können ſie einander nicht viel helfen. Ich glaub', der
Schlucker hat ein paar unerzogene Kinder.


Viere! ſagte Chriſtine. Er hat aber geſagt, du habeſt ihm hie
und da einen Schoppen eingeſchenkt, und das werd' er dir gedenken.
Die Herren haben mir nichts geben als böſe Wort'. Sie haben mir
bedeutet, ich dürf' mich nicht aus dem Flecken entfernen, weil die Sach'
an's löbliche Oberamt berichtet werden müſſ', von wegen deines böſen
Lebens. Dort ſind ſie auch bald mit mir fertig geweſen. Ich hab'
mein Kind vor dürfen zur Welt bringen und ein paar Wochen pflegen,
und dann hab' ich eben in's Zuchthaus wandern müſſen.


Auf zwei Jahr'!


Nein, denk' nur, auf unbeſtimmte Zeit, bis die Aufſeherin mir
das Zeugniß geben hat, ich ſei jetzt ſo, daß man mich entlaſſen könn',
und das iſt bloß daher kommen, daß ich gehört hab', du ſeieſt von
Hohentwiel ausgeflogen, denn unartig bin ich zwar nie gegen ſie ge¬
weſen, aber immer ſtill, bis die Freud' über mich 'reinbrochen iſt, und
dann hab' ich ihr Alles gethan, was ich ihr an den Augen abgeſehen
hab', und zuletzt iſt ſie für mich gut geſtanden, daß man mich hat
ſpringen laſſen, weil ich jetzt ganz 'beſſert ſei.


Die Art gefällt mir erſt noch, bemerkte er. Würd' im Zuchthaus
[315] immer väterlich und mütterlich regiert, ſo daß das Haus ſeinen Namen
verdiente und die Leute darin zur Zucht gebracht würden, ſo wär's
das Beſte, ſie auf unbeſtimmte Zeit hinein zu thun, bis der Zucht¬
vater oder die Zuchtmutter ſie wieder freiſprechen würden, und bekam'
das vielleicht Manchem gut, der jetzt Andere zum Zuchthaus verdammt.
Und dann möcht' man Einen, der nicht gut thut, meinetwegen auf
lebenslänglich drin laſſen; nur weiß ich keinen Menſchen, dem ich ein
ſolches Urtheil anvertrauen möchte, als höchſtens meinen ſeligen Waiſen¬
pfarrer. Aber die gewöhnliche Art von Zuchthausſtrafen — für das
und das Vergehen ſo und ſo viel Wochen oder Monate oder Jahre —
das kommt mir immer vor wie ein Schneider, der Einem ſo und ſo
viel Ellen zu ſeiner leiblichen Länge anmißt, oder auch, weil ich grad'
vom Wirthſchaften herkomm', wie ein Speiszettel: Kalbsbraten thut
ſo und ſo viel, Hammelsbraten ſo und ſo viel, Schweinsbraten ſo und
ſo viel, Wein, Nachtlager, Mittag-, Abendeſſen und Frühstück, Alles
zuſammen einen Gulden und dreißig Kreuzer. Dann gibt's auch wie¬
der gelindere Richter, die machen's wie ein ſanftmüthiger Wirth, der
den Gaſt nicht mit einer runden Summe erſchrecken will und ſtatt
des Guldens bloß neunundfünfzig Kreuzerle ſagt. Bei einem Wirth
iſt das ſchon recht und er mag zuſehen, wie er eins ins andre rechnet
und fertig wird, aber die Rechnung in Jahren, Monaten und Wochen
nicht am Beutel, ſondern an der lebendigen Seele eines Menſchen
ausgemeſſen — das iſt eine Vermeſſenheit und kann ich weder Sinn
noch Verſtand drin finden.


Wie ich wieder aus'm Zuchthaus kommen bin, fuhr Chriſtine fort,
hab' ich gehört, du ſeieſt dageweſen, aber ſeieſt wieder fort in die weit'
Welt. In der Sonn' hat man nicht davon geſchnauft wo du biſt.
Ich hab' ſelber einmal angefragt, da hat mir die Sonnenwirthin ein
Stückle Brod hingelegt und hat geſagt, du ſeieſt ganz verſchollen, und
's that' für mich und Alle das Beſt' ſein, du bliebeſt's auch. Ich
hab' das Brod liegen laſſen und bin fort. Mein Jerg iſt grad' da¬
zumal wieder nicht zu Haus geweſen, und mein' Mutter hat mich
nicht behalten wollen, weil ich ihr eine unnütze Brodeſſerin ſei, wie¬
wohl ſie eigentlich uns ihr Brod verdankt, denn ſie ißt's eben mit
unſern Kindern, die man ihr in Verpflegung geben hat.


Aus dem Heiligen?


[316]

Nein, ſo ſpendabel iſt der Heilig' nicht. Da hat's geheißen: Herr
Sonnenwirth, Er iſt ein reicher Mann und die Commun' kann da
nicht eintreten, alſo zahlt Er das Koſtgeld für Seine Enkel.


Iſt wahr, er hat mir einmal geklagt, die Kinder koſten ihn ſo
viel Geld und deswegen könne er das Geld zur Auswanderung nicht
ſo geſchwind aufbringen.


So lang mein Jerg dageweſen iſt, hat's den Kindern an nichts
gefehlt, ſeit der aber mehr und mehr fort iſt, hat man anders für ſie
ſorgen müſſen. Wie nun mein' Mutter mir hat zu verſtehen geben,
daß ich ihr überläſtig ſei, hab' ich meine Kinder mit tauſend Schmerzen
küßt und hab' das Herz in beide Händ' genommen und bin nach
Denzlingen gangen zur Schulmeiſterin. Die iſt zum Glück grad' in
der größten Verlegenheit geweſen und hat geſagt, ich hätt' ihr nicht
geſchickter kommen können, ſie hab' eben eine Magd aus'm Dienſt ge¬
jagt, die ihr geſtohlen hab'. Drauf hat ſie zu ihrem Mann geſagt:
Sieh, mit der äußerlichen Frömmigkeit ſind wir angeführt geweſen,
jetzt folg' mir und hilf mir's auch einmal mit dem Weltkind da pro¬
biren; die iſt kein' Heilige und hat viel durchgemacht, aber vielleicht
wird ihr auch viel verziehen, und ehrlich iſt ſie auf alle Fäll'. Er
iſt's dann zufrieden geweſen. Ob ſie ihm Alles von mir geſagt hat,
weiß ich nicht, es iſt nie zwiſchen uns die Red' davon geweſen, aber
ich hab' in dem Haus gelebt wie im Paradies. Die Leut' ſind fromm,
nicht bloß mit Morgen- und Abendſegenleſen, ſondern reden auch den
ganzen Tag von frommen Sachen, wie's eben das Geſchäft erlaubt,
denn darin verſäumen ſie nichts; aber — ich weiß nicht recht wie ich
mich ausdrücken ſoll — in ihrem Chriſtenthum iſt ſo etwas Gegen¬
wärtig's, das nicht bloß hoch im Himmel droben oder weit fort im
jüdiſchen Land, ſondern mitten in Denzlingen drin iſt und immer dem
heutigen Tag und der jetzigen Stund' gilt, ganz anders als man's
ſonſt in der Kirch' und im Leben trifft. Und grad' ſo ſind des Pfar¬
rers auch, drum halten ſie auch zuſammen, wie man's ſelten bei Pfar¬
rer und Schulmeiſter ſind't. Dabei ſind ſie allweil guter Ding' und
oft ſogar recht luſtig und zum Lachen aufgelegt, beſonders der Pfarrer
macht gern allerlei Späßle, und der Schulmeiſter antwortet ihm drauf,
laſſen ſich auch nichts abgehen, wiewohl ſie gar nicht dick thun und
ihr' Sach' reichlich mit der Armuth theilen. Aber freilich, ſie haben's
[317] auch, und wer bei ihnen iſt, wird alle Tag' ſatt. Ich hab' oft Nachts
vor'm Einſchlafen dran denken müſſen, wie mir's ſo gut geht, und wo
du jetzt auch umirren werdeſt, und ob meine arme Kinderle ſatt in's
Bett gangen ſeien, denn ich ſag' dir's ungern, aber 's iſt hohe Zeit,
daß wir nach ihnen ſehen: meiner Mutter iſt das Tiſchtuch lieber als
das Hungertuch, ſie hat zwar nie viel gehabt, aber je ärmer ſie wird,
deſto ſchleckiger iſt ſie, ſie verſchleckt Alles was ſie kann.


Das muß aufhören, ſagte er. Heut Abend ſind die Kinder da, wo
ſie hingehören: bei uns. Jetzt iſt nur noch die Frage, wie ich mich
mit meinem Vater aus einander ſetzen ſoll. Seine Antwort hat mich
wenig kümmert, ich hab' vorher mit dir einig ſein wollen. Hätteſt du
jetzt eher Luſt, aus deinem Paradies heraus mit mir nach Pennſylvanien
zu gehen?


In den Mond, wenn's nicht anders ſein kann, erwiderte ſie. Die
Hauptſach' iſt, daß wir bei einander ſind, wir und die Kinder, drum
hat's mir auch kein' Augenblick zweifelt, was ich thun ſoll. Aber
hör', wenn's dein Vetter ſo gut mit dir meint, wie du ſagſt, könnten
wir denn nicht bei dem ein Plätzle finden oder thät' er uns nicht zu
einem verhelfen, daß wir nicht ſo weit ſtiegen müſſen und unterwegs
vielleicht die Flügel verſtauchen?


Ja ſieh, antwortete er, der Vetter hat's freilich gut mit mir vor,
aber Welt iſt überall Welt, er ſieht auch auf's Greifbare und fragt
nicht darnach, ob's Motten und Roſt freſſen. Darum hätt' ich ihm
nicht meine ganze Abſicht anvertrauen mögen, weil er mir mit einem
einzigen Wort dazwiſchen hätt' fahren können. Wenn ich aber mit
dir und den Kindern da bin, ſo kann er auf keinen Fall verlangen,
daß ich euch wieder heimſchicken ſoll; und wenn alle Sträng' brechen,
nun, dann ziehen wir eben weiter, bringen uns im Krieg mit Mar¬
ketendern fort, oder gehen über's Meer.


Sie ſah ihn zweifelhaft an und ſchwieg, aber der heitere Schimmer
von Hoffnung, der ihr Antlitz neu zu beleben begonnen hatte, wich
allmählich wieder aus ihm, und jener Zug leidender Geduld und Ent¬
ſagung, der den Frauen aus dem Volke einen ſo mitleiderregenden
Geſichtsausdruck geben kann, nahm ſeine alte Stelle ein.


Der Wald öffnete ſich und vor den beiden Wanderern lag die
Alb, an deren Fuße ſich eine ſchmale Straße hinzog. Wollen uns
[318] dem Bergſträßle da anvertrauen, ſagte er. Sie thaten es, indem ſie
die Ortſchaften, die ihnen in den Weg kamen, auf den durch die Felder
führenden Fußpfaden umgingen. Die Sonne begann für einen Herbſt¬
tag ungewöhnlich heiß zu brennen und ihre ſcheitelrechte Stellung zeigte
den Mittag an. Ich wollt', ich hätt' was zu trinken, ſeufzte Friedrich,
und wär's auch nur ein Schoppen Moſt oder Aeppelwein, wie ſie am
Main drunten ſagen.


Und mir thät ein Löffele Warm's noch nöther, ſeufzte Chriſtine
ebenfalls.


Gelt, arm's Weible, ſagte er, dir iſt's ungewohnt, mit langem
kaltem Magen zu wandern? Da haſt Geld, geh' du in das Ort da
hinein und laß dir eine Suppe geben, kannſt mir dann etwas zu
trinken und ein Brod dazu herausbringen, das genügt für mich. Das
Geld, das ich mir in dem halben Jahr zu Sachſenhauſen erſpart
hab', muß für uns und die Kinder reichen. Ich will mich derweil
unter den Baum in Schatten legen.


Meinſt, es hab' kein' Gefahr? fragte ſie.


Ich kenn' mich ſo weit in der Gegend aus, erwiderte er, daß der
Berg da über uns die Teck iſt. Da herum ſind wir ja ganz unbe¬
kannt. Du ſiehſt aus, wie wenn du aus der Nachbarſchaft wär'ſt,
und wenn ich in meiner ſtädtiſchen Tracht zurückbleibe, ſo fällſt du
niemand auf.


Er gab ihr Geld und ſeine leere Feldflaſche und ſtreckte ſich be¬
quem unter dem Baum aus, indem er ſein dreieckiges Hütchen neben
ſich legte. In dieſem Augenblicke kam ein Mann vorüber, der den
gleichen Weg mit ihnen zu haben ſchien. Er blickte das fremde Paar
mißtrauiſch an und mäßigte ſeinen Gang, ſo daß er Chriſtinen, die
jetzt auf das Dorf vor ihnen zuſchritt, immer auf dem Fuße folgte.
Friedrich ſah nach und die Begegnung wollte ihm nicht recht gefallen;
doch ſchien ſie auch keine ernſte Beſorgniß einflößen zu können. Seine
Augen begleiteten Chriſtinen, bis ſie in dem Dorfe verſchwunden war;
auch ihren Nachfolger verdeckten jetzt die Häuſer. Er legte ſich auf den
Rücken zurück, ſah in das falbe Laub und durch dieſes zum blauen
Himmel empor. Dabei vergegenwärtigte er ſich, wie Chriſtine auf ihre
Suppe wartete, wie ſie dann dieſelbe empfing, und wie ſie ſich end¬
lich mit der gefüllten Flaſche auf den Weg machte. Jetzt mußte ſie
[319] wieder an den äußerſten Häuſern erſcheinen: er ſah hin, aber er hatte
die Zeit zu kurz gemeſſen und ſich verrechnet. Er legte ſich wieder zu¬
rück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber end¬
lich däuchte es ihm doch ziemlich lang. Er ſah wieder hin: ſie kam
noch nicht. Nun zählte er bis auf eine beſtimmte Zahl, die er ſich
vornahm, und da er zu ſchnell gezählt zu haben glaubte, ſo wieder¬
holte er dieſes Geduldſpiel ein paarmal, jedoch umſonſt. Endlich zählte
er ununterbrochen und langſam, wie er meinte, bis auf Hundert fort:
Chriſtine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er
ſtand auf und ging ſachte auf das Dorf zu. Schon war er in die
Nähe deſſelben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter
Mannſchaft, welche bei der Unſicherheit der Zeit in jeder Gemeinde
ſchnell auf den Beinen war, herausdringen ſah. Die einen waren mit
Flinten, die andern mit Spießen oder Prügeln verſehen, und ihre
Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieſer Ausfall gelte. Während
ſie ſich raſch gegen ihn in Bewegung ſetzten, entſprang er in das
Feld. Sie vertheilten ſich und ſuchten ihn einzukreiſen, aber ſeine
Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teck¬
berge ihrer Verfolgung entzogen. Er ſchlug ſich die Kreuz und Quere
durch das Holz, bis er von einer ſichern Stelle auf den Boden, den
er hatte räumen müſſen, hinunterſpähen konnte. Nicht lange, ſo ſah
er jenſeits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und
Chriſtinen beabſichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte
nicht zweifeln, daß ſie es ſei, und konnte ſich's ausmalen, wie der
Mann, dem ſie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, ſie gehöre zu
einem verdächtigen Kerl, der ſich nicht ins Dorf herein traue. Seinen
Namen hatte ſie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Hei¬
math, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmann¬
ſchaft der andern übergeben.


Er knirſchte, biß ſich in die Finger, daß ſeine Zähne blutige
Spuren hinterließen, und blickte anklagend gen Himmel. Alſo keine
Ruh', keinen Frieden! rief er: wiederum haſt du mich in die Wüſte
geworfen! Dann machte er in Gedanken auch Chriſtinen Vorwürfe,
daß ſie ſo ungeſchickt geweſen ſei, ſich fangen zu laſſen. Endlich ſchüt¬
telte er ſich unmuthig, als ob er alle Gemüthsbewegungen, mit welchen
er ſich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewalt¬
[320] ſamen Kraft arbeitete er ſich durch die Gebirgswälder hindurch,
und das Geſtrüpp krachte unter ſeinen Händen und Füßen, bis er
endlich, halb erſchöpft, abgelegene Pfade einzuſchlagen wagte, die ihn
in weiten Krümmungen ſeinem Ziele näher führten.


Der Tag hatte ſich tief geneigt, als er auf dieſen verborgenen
Umwegen, todtmüde vor Hunger und Anſtrengung, auf einer vor¬
ſpringenden Höhe herauskam und unter ſich in der Breite des
Thals die Stadt liegen ſah, von wo aus er ſo oft in die Gefangen¬
ſchaft geſendet worden war, und wo nun auch Chriſtine abermals ihr
Schickſal erwarten ſollte. Ihr freundlicher Anblick ſtimmte ſchlecht zu
der Unglücksbedeutung, die ſie für ihn und die Genoſſin ſeines irren
Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erſchöpfung verſchleiert,
ſchweiften unſtät in die dämmernde Landſchaft hinaus. Plötzlich tau¬
melte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in
den Adern ſtocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen ge¬
treten war? Es ſah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Rieſen¬
fingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nie¬
der, rieb ſich die Augen aus und ſagte laut und zornig, während ihm
doch die Stimme bebte, vor ſich hin: Dummes Zeug, es iſt ja nichts
als der Staufen.


Der wunderſchlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgeſpenſt
geworden. Auch mit ihm glaubte er in ſeinem anklägeriſchen Wahne
rechten zu dürfen. Was willſt du mich warnen? fragte er; bin ich
denn auf böſen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und mei¬
nen Kindern ſein!


Er lachte verächtlich. Iſt juſt die rechte Zeit zum Geſpenſterſehen,
ſagte er. Geſpenſter hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Geſellſchaft zu
leiſten. Nur herzu, wenn's beliebt.


Er warf ſich zu Boden und rang mit der Empörung ſeiner Pulſe
und ſeiner Gedanken, bis endlich ein ſpäter Schlaf ſich des gehetzten
Wildes erbarmte.


[321]

29.

Der Amtmann von Ebersbach ſaß im Armſtuhl vor ſeinem Schreib¬
tiſch zurückgelehnt, ſo daß ſein Schlafrock von Damaſt mit großen
Blumen aus einander gefallen war und die lange goldbordirte Weſte
nebſt dem goldenen Uhrgehänge über dem ſtattlichen Leibe ſehen ließ.
Er war bis zu den ſeidenen Strümpfen und den Silberſchnallenſchuhen
herab ſo vollſtändig angekleidet, daß er nur den Schlafrock wegzu¬
werfen und in den Treſſenrock zu ſchlüpfen brauchte, um eine Staats¬
viſite zu machen oder zu empfangen. Dieſer Vorausſetzung widerſprach
jedoch ſein Haarbeutel, der, entweder nachläſſig gebunden, oder in
Folge unruhiger Bewegungen des Kopfes wieder aufgegangen, in
trauriger Unordnung über die Lehne herabhing und ſeinen Puder auf
den Boden verſtreut hatte, dabei aber vollkommen zu dem Geſichte
ſeines Trägers ſtimmte, in deſſen Zügen der äußerſte Verdruß zu
leſen war.


Die Amtmännin trat in der Hausjacke und Morgenhaube herein.
Schauderhaft! rief ſie und beeilte ſich, den anarchiſchen Haarbeutel
wieder in die Schranken der Ordnung zurückzubringen. Dann legte
ſie die Hand auf die Stuhllehne und blickte ihren Gatten aufmerk¬
ſam an. Du biſt nicht gut bei Laune, mein Schatz, begann ſie
endlich.


Man kann nicht immer bei Laune ſein, mein Schatz, erwiderte
der Amtmann, dem die Verbeſſerung ſeines Kopfputzes unbequem ge¬
weſen ſein mochte, obgleich er dabei ſtill gehalten hatte.


Und dein Geſicht, fuhr ſie fort, nimmt neuerdings eine gewiſſe
blauröthliche Färbung an, die mir Beſorgniß einflößt. Du ſollteſt
dir mehr Bewegung machen, du ſteckſt noch ſo tief in den Winter¬
gewohnheiten. Der Schnee iſt weg, das Wetter macht ſich leidlich:
ſoll ich dir nicht deine Jagdſtiefeln bringen laſſen?


Der Amtmann wendete ſich unmuthig ab. Du könnteſt mich
eben ſo gut vergiften, Sibylle, ſagte er, als mir einen ſolchen Rath
geben.


D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 21[322]

Ich kann dich nicht capiren, Daniel! erwiderte ſie befremdet und
ſcharf, denn ſie war dieſes Tons von ihrem Manne ungewohnt. Als
Leute, die mit der Zeit fortgeſchritten waren, liebten Beide die von ihren
altmodiſchen Eltern ihnen in der Taufe beigelegten Vornamen nicht
ſonderlich und pflegten ſich deßhalb nur dann bei dieſen Namen zu
nennen, wenn ſie von einer etwas ſtechenden Laune gegen einander
befallen waren.


Der Amtmann, der das Nachgeben mehr durch die Leitung als
durch das eigene Beiſpiel ſeiner Frau gelernt hatte, dämpfte ſeinen
Ton ein wenig und ſagte erläuternd: Du ſcheinſt nicht daran zu den¬
ken, daß der vermaledeite Burſche, der Sonnenwirthle, in den Wäldern
haust. Sonſt ſollte mich der Winter nicht von der Jagd abgehalten
haben. Mein ganzer Chagrin rührt ja einzig und allein von dieſem
Lotterbuben her.


Er hat noch Niemand angefallen, ſagte die Amtmännin. Er holt
ſich hie und da Victualien, wo er ſie findet. Das iſt Alles. Und
du kannſt ja Mannſchaft genug mitnehmen.


Du bedenkſt gar nicht, daß er auf mich eine ſpezielle Pique hat,
verſetzte der Amtmann.


Ich halte ihn nicht für ſo rachſüchtig, erwiderte ſie. Bei ſeiner
Kühnheit, Stärke und Verſchlagenheit hätte er ſonſt hier, wo er doch
Manchen haßt, ſchon das größte Unheil anrichten können.


Wer ſteht dir dafür, daß es nicht noch geſchieht? rief der Amt¬
mann. So lang ſeine Concubine in Göppingen gefangen ſitzt, wird
er ſich hüten, die Strenge des Geſetzes gegen dieſe Geiſel herauszu¬
fordern. Wenn ſie aber einmal frei iſt, und ewig behalten kann man
ſie nicht, weil ſie nichts Erweisliches peccirt hat, ſo wird er ſchon die
Hörner heraus ſtrecken. Ich ſeh' es kommen, daß er das Handwerk,
wenn's im Kleinen nicht mehr geht, ins Große ausdehnt und ſich in
den Orden der Jauner aufnehmen läßt.


Nun, dieſe gibt's wenigſtens in unſrer Gegend nicht.


Sie ſind überall und nirgends: wenn ſie heute ausbleiben, ſo ſind
ſie dafür morgen da. Dieſe politiſchen Blutigel, die ſich auf mehrere
Tauſende belaufen mögen, ſcheinen eine inerſtirpable Landescalamität
zu ſein. Sie koſten der Geſammtheit der verſchiedenen Dominien in
Schwaben jährlich Hunderttauſende von Gulden, theils an Erbetteltem
[323] und Geſtohlenem, theils an Unkoſten, die gegen ſie aufgewendet wer¬
den müſſen. Ich glaube auch nicht, daß man eher mit ihnen fertig
wird, als bis ſtatt der ohnmächtigen Generalſtreifen des ſchwäbiſchen
Kreiſes einmal das ganze Land in Maſſe wider ſie aufſteht, ſie auf
Einen Punkt zuſammentreibt und Alles über die Klinge ſpringen läßt.
Und ich habe eine Ahnung, dieſes Scheuſal von einem Menſchen wird
ſie uns noch auf den Hals ziehen, um ſein Müthlein an uns zu
kühlen.


So benutze die Zeit, eh' ſie kommen, zu einer Erholungsreiſe,
wenn dir kleinere Ausflüge nicht zuſagen.


Hat ſich was zu reiſen! rief er ärgerlich. Dieſer Auswurf der
Menſchheit hält mich ja wie einen Hund an der Kette feſt. Alles
zittert vor ihm: wenn ich fortginge, ſo liefe mir der ganze Flecken
nach. Und dennoch könnte ich mich bemüßigt ſehen, ein wenig nach
Stuttgart hinabzufahren und unſern Gönnern in der Regierung auf¬
zuwarten, um den üblen Inſinuationen des Vogts zu begegnen, der
ſeine Angſt vor dieſem Cartouche an mir Unſchuldigem auslaſſen will
und mich unaufhörlich mit Vorſchriften tormentirt und mit Vorwürfen
überhäuft. Fürwahr, der hat den Titel Expeditionsrath nicht umſonſt.
Er expedirt einen Erlaß um den andern daher und wird den Flecken,
wenn es ſo fort geht, noch an den Bettelſtab expediren, aber der
ganze Stoß — er warf bei dieſen Worten den Haufen der vor ihm
liegenden Ausſchreiben unwillig durch einander — hat bis jetzt keinen
Hund aus dem Ofen gelockt.


Er iſt ſeinerſeits in der nämlichen üblen Lage wie du, bemerkte
die Amtmännin: wenn der Wildfang ſich ſehen läßt, ſo ſchreit der
ganze Flecken zuſammen, dann biſt du genöthigt einen Bericht nach
Göppingen zu ſchicken, und das nöthigt dann wiederum den Vogt, ſich
den Kopf zu zerbrechen, um auf den Bericht mit irgend einer neuen
Maßregel zu dienen. Auf dieſe Weiſe macht man ſich gegenſeitig das
Leben ſauer.


Und wie! rief der Amtmann, der in ſeiner Erbitterung über den
Vorgeſetzten die vorübergehende Aufwallung gegen ſeine Frau vergaß
und wieder zutraulich wurde. Ich mag von den Wiſchen aufſchlagen,
welchen ich will, immer iſt ein Stich für mich darin.


Er gab ihr einen der Erlaſſe, und ſie las halb mit Lachen, halb
21*[324] ärgerlich: „Wohledler, vielgeehrter Herr Amtmann! Ich vernemme, daß
die Anſtalten, welche der Herr Amtmann bis dahero zur Beifahung
des von der Feſtung echappirten Böswichts Friedrich Schwanen ge¬
machet, nicht die beſte geweſen, und daß dardurch nur große Koſten
gemachet, in der Hauptſach aber nichts gerichtet werde, wie es auch
der Effect ſelbſt gegeben, da es zumalen gut geweſen wäre, wann die
Hausſuchung unterblieben und dagegen das Mülleriſche Haus ex im¬
proviso
überfallen worden wäre.“


Sapperment! rief der Amtmann dazwiſchen: wenn der Einfalts¬
pinſel von Fiſcherhanne ihm hinterbracht hätte, der Schurke ſtecke drin,
ſo würde er eben auch Hausſuchung gehalten haben, bis er ihn ge¬
funden oder — nicht gefunden hätte. Was hilft mich's aber das
Haus zu überfallen, wenn ich ihn nicht drinnen weiß?


„Es wolle dahero“ — fuhr ſie fort zu leſen — „der Herr Amt¬
mann die bisherige nächtliche Patrouille abgehen laſſen und dagegen
ein paar vertraute Mann als Spionen beſtellen, die etwan Nachbarn
von dem Mülleriſchen Haus und in der Stille auf des Schwanen
Aus- und Eingang Achtung geben, und alsdann in tempore davon
Anzeig machen laſſen. Da mir auch ferner bekannt, daß ſich der
Schütz faſt täglich berauſche“, — das iſt wahr, bemerkte ſie dazwi¬
ſchen — „mit verſoffenen Leuten aber nichts zu richten, ſondern durch
deren Ungeſchicklichkeit Alles, zumal bei einem ſolchen Böswicht, ver¬
rathen ſeie, ſo wolle der Herr Amtmann ihne Schützen zur Nüchtern¬
heit ermahnen, und ihme dabei bedeuten, daß, wann ich noch ein ein¬
igsmal höre, daß er ſich volltrinke, ich ihne ohne weiteres abſchaffen
werde.“ Mein Gott! bemerkte ſie: was ſchreibt der Mann mesquin!
Dein Geſchäftsſtyl athmet zwar auch nicht gerade Roſen und Lilien, aber
mit dieſer Diction da verglichen, liest er ſich wie ein franzöſiſcher
Roman.


Den Schützen habe ich tüchtig abgecapitelt, ſagte der Amtmann.
Bei einem ſolchen Geſchäft könnte übrigens der Solideſte aus der Art
ſchlagen lernen, geſchweige der alte Zapf von Haus aus. Da er noch
von Allen am meiſten vertragen kann, ſo wird er dazu gebraucht, in den
Wirthshäuſern umher zu ſpioniren, ob man's nicht irgendwo in der Stille
mit dem Verbrecher halte. Da muß er nun überall pro forma ſei¬
nen Schoppen trinken — ich ſelbſt hab' ihm ſchon Geld dazu gegeben —
[325] und ſo kommt er gewöhnlich in einem Sarras und rapportirt, der
Spitzbub' ſei juſt vor ihm dageweſen, er habe ihn aber nicht mehr
angetroffen.


Die Amtmännin nahm ſich die Freiheit, in den Ausſchreiben zu
kramen und einzelne Stellen halblaut zu leſen. „Um den Flecken
Poſten ausſtellen,“ las ſie, „ſämmtliche Metzger mit ihren Knechten
dazu beordern, mit Gewehren in Händen, wozu inſonderheit des Schwanen¬
wirths zu ziehen.“


Sie blickte den Amtmann fragend an. Freilich! lachte dieſer: weil
der Sonnenwirth Schwan heißt, ſo ſchreibt er immer: der Schwanen¬
wirth. — Er nahm einen Erlaß aus dem Fache und deutete auf eine
Stelle. Sieh, ſo ſchrieb er damals, als der Fleckenſchaden nach Hohen¬
twiel verurtheilt wurde: „Es iſt dem Schwanenwirth zu bedeuten, daß
er cum venia ein paar Schuh und etliche Kleidung ſchicken, übrigens
aber ſich getröſten ſolle, daß ſein boshafter Sohn ihme künftighin in
ſeinem Leben keinen Verdruß mehr machen werde.“


Darin iſt er kein Prophet geweſen, ſagte die Amtmännin lachend.
Sie las weiter: „Dafern ſie etwas Verdächtiges vermerken, die Hunde
laufen laſſen und mit Behutſamkeit anhetzen.“ Das iſt wirklich ko¬
miſch! rief ſie und beide brachen in ein ſchallendes Gelächter aus.
„Verſpreche mir übrigens wenigen Effect,“ las ſie weiter, und ſetzte
hinzu: Ich auch.


Natürlich, ſagte der Amtmann, ſchon deswegen, weil der abgefeimte
Schurke mit allen Hunden im Flecken auf dem beſten Fuße ſteht. Ich
weiß nicht, was er für Jaunerkünſte dabei anwendet.


Die Amtmännin griff nach einem andern Schreiben und las: „Bei
der geringſten Spur wiedermalen Sturm ſchlagen laſſen“ —


Das iſt nonsens! rief der Amtmann. Das thu' ich nicht! Das
brächte mir den Flecken vollends bei der ganzen Umgegend in Mi߬
credit. Sie kämen ja, weiß Gott, mit Spritzen angefahren, wenn ſie
die Sturmglocke hören würden, und wenn ſie dann erführen, daß es
ſich um den einzigen Höllenbrand handelt, ſo wäre des Gelächters
kein Ende.


„Allen Burgern“, las ſie weiter, „bei hoher und Leibesſtraf' in¬
jungiren, ſich ohne Widerſetzlichkeit dem Streif zu unterziehen, welcher
[326] Veranſtaltung der Herr Amtmann auch herzhaft vorangehen und zu
hoffentlich mehrerer Autorität ſelbſten beiwohnen ſolle.“


Sehr obligirt! bemerkte der Amtmann und ſah halb ſpöttiſch,
halb wehmüthig nach dem Fenſter, um welches milde Sonnenſtrahlen
ſpielten, die nach der Wintergefangenſchaft zum Genuß der Freiheit
einluden.


Du ſollteſt ihn auf eine Jagdpartie bitten, bemerkte die Amt¬
männin. Was ſchreibt er denn da? das ſcheint mir lateiniſch zu ſein:
more solito negligiret.


Er wirft mir vor, ſagte der Amtmann im höchſten Unmuth, als
hätte ich die Sache in gewohnter Manier gehen und liegen laſſen.
Das iſt nicht nur eine Unwahrheit, das iſt eine hämiſche Calumnie.
Er hat's nöthig, dergleichen Reprimanden einfließen zu laſſen. Wer
die Sache auf eine negligeante Art behandelt, das iſt er. Das eine¬
mal hat mir der Poſtillon geklagt, er ſei Abends vor ſechs Uhr in
Göppingen eingetroffen, habe aber zwei Stunden warten müſſen, bis
er vorgelaſſen worden ſei. Ein andermal hab' ich den Expreſſen um
zwei Uhr von hier abgefertigt und den Beſcheid erſt Nachts nach neun
Uhr erhalten. Ich habe mir aber alle dieſe more-solito-Negligenzien
in margine notirt, damit ich mich gegen ihn rechtfertigen kann, wenn
er mich zu Stuttgart ins ſchwarze Regiſter bringen will.


Da haben ſie jetzt an andre Dinge zu denken, ſagte ſie. Wie ich
höre, beginnt der landſchaftliche Ausſchuß ſehr ſchwierig zu werden
und wird ihnen wenig Zeit laſſen, ſich mit kleineren Händeln abzu¬
geben.


Nein, nein! rief der Amtmann. Das verſtehſt du nicht, ſo ſpitz¬
findig du biſt. Gerade dann ſind ſie am aufgelegteſten, einen einzelnen
Beamten als Sündenbock zu maſſacriren, um zu beweiſen, daß die
Schreier Unrecht haben.


Da würd' ich doch zuerſt trachten, mich mit dem Vogt in eine
beſſere entente zu ſetzen, ſagte ſie. Ein Vorgeſetzter behält gar zu
leicht das letzte Wort. Ich kann ihn durchſchauen und gebe dir völlig
Recht: hinter dem ganzen bruit von Regieren und Ordonniren ſteckt
nichts als die Angſt vor dieſem Teufelsbraten, dem Sonnenwirthle.
Es iſt ihm nicht wohl, ſo lange er ſeine Chloe in Verwahrung hat.
So ſoll er ſie ins Henkers Namen laufen laſſen! polterte der Amt¬
[327] mann, der in ſeinem Aerger ſich nicht bewußt war, wie ſehr dieſer
Rath ſeiner kaum zuvor ausgeſprochenen Beſorgniß widerſprach. Wenn
ich vorausgeſehen hätte, ſeufzte er dann, daß mir die Vereitelung dieſer
einfältigen Heirath ſolch maß- und zahlloſe Incommoditäten zuziehen würde,
ich hätte ſelbſt den Brautführer oder wenigſtens den Vermittler beim
Sonnenwirth gemacht. Vielleicht wäre der Burſche doch noch ein¬
geſchlagen.


Sie würden nie für einander gepaßt haben, verſetzte die Amt¬
männin mit entſchiedenem Tone. Sie iſt zu ſchwerfällig für ihn, und
hoch hinaus hätt' er jedenfalls immer gewollt.


Wenn er's nur ſchon ſo hoch gebracht hätte, wie ich's ihm wünſche!
ſeufzte der Amtmann.


Bei alle dem, fuhr die Amtmännin fort, hat die unüberwindliche
Anhänglichkeit an dieſe Perſon, die eigentlich das Unglück ſeines Lebens
iſt, etwas Chevalereskes. Ich muß oft denken: Schade um den Men¬
ſchen! unter andern Umſtänden würde vielleicht etwas Importantes aus
ihm geworden ſein. Geſtehen wir es uns nur: ein Burſche, der einen
ganzen Flecken ſammt Amtmann und Vogt im Schach hält, der ſich
nicht bloß in der Nacht, ſondern am hellen Tag, wenn's ihm con¬
venirt, im feindlichen Lager blicken läßt, in die Wirthshäuſer ſitzt,
und allen aufgewendeten Maßregeln zum Hohne in keine Schlinge
geht, der iſt kein gewöhnlicher Menſch, der hat etwas von einem
coeur de lion an ſich.


Wenn meine Frau Gemahlin jünger wäre, bemerkte der Amtmann
beißend, ſo könnte mich nahezu der Argwohn befallen, ſie wünſchte
ſeine Chriſtine zu werden, damit dann zwei hochſtrebende Geiſter bei
einander wären. Falls du übrigens Luſt haſt, den Löwen in ſeiner
Höhle zu beſuchen, ſo will ich nicht eiferſüchtig ſein, andererſeits aber
auch keine Verantwortung übernehmen.


Es fragt ſich, ob die Gefahr ſo groß wäre, erwiderte ſie ſcherzend.


Man hörte einen Hufſchlag und bald darauf trat der Amtsknecht
in das Zimmer und übergab ein Schreiben mit den Worten: Von
Göppingen, durch Erpreſſen.


Schon wieder! ſeufzte der Amtmann verzweiflungsvoll. Er erbrach
das Siegel und las ſeiner Frau, nachdem der Diener ſich entfernt
hatte, das amtliche Schreiben vor: „Wohledler, inſonders“ et caetera.
[328] „Da ich vernemme, daß der Erzböswicht Schwan immerhin um Ebers¬
bach herumſchwärme und den Flecken in Sorgen und Aengſten ſetze,
als wolle der Herr Amtmann, um einen Verſuch zu machen, ob er nicht
durch Fineſſen wiederum zur Hand zu bringen, deſſen Vater, den
Sonnenwirth“ — endlich ſchreibt er doch einmal den richtigen Titel —
„auf den Abend zu ſich berufen und ihm in der Stille die Anleitung
geben, daß er des Nachts die alte Müllerin zu ſich in ein beſonderes
Zimmer kommen laſſen und ſimuliren ſolle, als wann er aus großer
Angſt ſich reſolvirt, ſeinem Sohn die verſprochene vierhundert Gulden,
und zwar zweihundert Gulden baar, zweihundert aber, wenn er in
Pennſylvanien wirklich angekommen, zu geben, ihro auch wirklich, um
es ihm zu bringen, etlich Gulden behändigen, und täglich heimlich
vor die Kinder eſſende Waaren zu ſchicken, und mit dem Geld Gulden¬
weis zu geben, um ihn ſicher und in die Wirthshäuſer der Nachbar¬
ſchaft ſchwärmend und ihne vollſaufend zu machen, continuiren ſolle,
was ſich aber ſo ein als andernfalls von Zeit zu Zeit darauf ergebe,
um die Messures“ — beide lachten — „darnach nemmen zu können,
dem Herrn Amtmann zu hinterbringen. Sollte durch dieſen Modum
der Böswicht nicht zur Hand gebracht werden können, werde ich in¬
zwiſchen auf etwas andres raffiniren“ — raffinir' du und der Teufel!
bemerkte der Amtmann — „und nicht nachlaſſen bis ich deſſen habhaft
geworden. Unterdeſſen iſt Alles möglichſt geheim zu halten. Mit gött¬
lichen Schutzes Erlaſſung verharrend“ et caetera.


Das Raffinement iſt übrigens doch nicht ſo gänzlich aus der Luft
gegriffen, bemerkte die Amtmännin, welche aufmerkſam zugehört hatte.
Und zwar könnten wir vielleicht noch einen Schritt weiter gehen. Daß
er ſeine Kinder bei der Großmutter fleißig beſucht, obgleich es bis
jetzt nicht gelungen iſt, ihn daſelbſt aufzuheben, darüber kann nach
ſeinem ganzen Temperament und Charakter kein Zweifel ſein. Nun
käme es nur darauf an, ob man nicht das alte Muſter, ſtatt ſie
durch einen zweifelhaften Verſuch mißtrauiſch zu machen, in's Complott
ziehen ſollte.


Meinſt du? fragte der Amtmann überraſcht.


Natürlich müßte man da ſehr reſervirt zu Werke gehen. Wenn
es aber gelänge, ſo dürften der Herr Vogt und Expeditionsrath alle
ihre erlaſſenen Naſen wieder einziehen, und ſollte ihnen dero hohes
[329] Haupt darüber zu einem Gebirg anſchwellen. Ueber die Hauptfrage
kann vielleicht am beſten der Schwanenwirth, wie der geſtrenge Herr
ſich ſonſt auszudrücken beliebt, Auskunft geben.


So ſende nach ihm.


Auf den Abend.


Während ſie ſprach, klopfte es ſchüchtern an der Thüre. Herein!
rief der Amtmann gebieteriſch im Gefühl ſeiner Amtswürde und der
erlittenen Störung. Ah! ſagte er, als die Thüre aufging: wenn man
den Teufel an die Wand malt, ſo erſcheint er auch ſofort.


Der Eintretende ſah aber keinem Teufel, oder wenigſtens, wenn
das Bild auf ihn paſſen ſollte, einem armen Teufel ähnlich, nicht
nach ſeiner äußeren Erſcheinung, denn dieſe zeigte den wohlhabenden
Bürger und Meiſter, wohl aber nach ſeinem niedergeſchlagenen, ſorgen- und
kummervollen Ausſehen. Es war niemand anderes als der Sonnen¬
wirth ſelbſt. Er war alt, grau, dünnhaarig und gegen ſeine Oberen
wo möglich noch demüthiger geworden. Wenn's der Herr Amtmann
nicht ungütig nehmen, begann er nach einer tiefen Verbeugung und
angelegentlicher Erkundigung nach dem beiderſeitigen Wohlbefinden, ſo
hätte ich eine Beſchwerde wider den Kreuzwirth anzubringen. Es iſt
doch arg, wenn ſich ein rechtſchaffener Burgersmann von ſeinem Mit¬
burger und Mitmeiſter ſo unrechte und ungebürliche Sachen ſagen
laſſen ſoll, wie der Kreuzwirth in dem Brief da ſchreibt.


Der Amtmann überflog den Brief, den ihm der Sonnenwirth
reichte, und las halblaut murmelnd einzelne Stellen ab: „Es will
hiermit Unterzogener gegen den Sonnenwirth Schwanen nicht allein
ſeine Grauſamkeit erinnern, die er vor etlichen Jahren durch ſeinen
eigenen Sohn an meiner Perſon ausüben laſſen“ — Das alte Lied!
bemerkte der Amtmann dazwiſchen.


Er behauptet immer, er ſei damals zum Krüppel geſchlagen wor¬
den, ſagte der Sonnenwirth, und es iſt doch Alles nicht wahr.


„Solch gottlos Anſtiften“, las der Amtmann weiter, „legt ſich
deſto glaublicher wirklich an Tag, da der Vater aus einer ſonderbaren
Rachgier mich noch obligiren will, Poſt zu reiten, da ihme doch be¬
kannt, daß ich weder mir noch den Meinigen etwas zum Nutzen
ſchaffen kann, ſo ſucht er dannoch mir aufzubürden, was er zu thun
ſchuldig. Es iſt bekannt, daß nicht allein die Metzger wegen ſeines
[330] übel erzogenen Sohnes viele Poſten präſtiren müſſen, ſondern auch
neben dieſem mußte die ganze Burgerſchaft wegen einer ſolchen ſchönen
Frucht nicht allein fatigiret werden, ſondern auch noch großen Scha¬
den leiden. Der Schwan hat immerdar nach einer Poſt getrachtet
— — — jetzt hat er das Poſtreiten, aber nicht nach ſeinem Sinn
— — — eigennützige Conceſſionen im Metzgerhandwerk — — —
durch Geld und Argliſt ſeinen Mitmeiſtern das Brod aus dem Mund
genommen“ —. Ein unverſchämter Calumniant! unterbrach ſich der
Amtmann: was die Obrigkeit anordnet, das ſoll ihr durch Geld
und Argliſt abgedrungen worden ſein?


Das murmelt er beſtändig an alle Nachbarn hin, wie mir erzählt
worden iſt, ſagte der Sonnenwirth.


„Dieſes Poſtrittpräſtiren“, las der Amtmann weiter, „zeugt von
ſeines Herzens heimlicher Bosheit; der Sohn zeugt vom Vater; da
dieſer damals im Beiſein meiner ſagen dörfen, ſein Sohn habe mir
Recht gethan, ſo möchte ich nun wiſſen, ob er auch Recht gethan, da
er vor etlich Jahren ſeines Vaters Haus beſtiegen, ſich noch rühmte,
wie künſtlich und geſchickt er wäre, jedoch ein ſchlechtes Jubiläum von
den Zuſchauern erhielte, ſondern von männiglich als ein erſchreckliches
Exempel angeſehen wurde“ — und ſo weiter. Dummes Zeug! Ich
werde den Briefſchreiber für ſeine unverſtändigen Läſterworte um einen
kleinen Frevel ſtrafen. Iſt Er damit zufrieden?


Aufzuwarten, Herr Amtmann, ich ſag' meinen gehorſamen Dank,
antwortete der Sonnenwirth und verbeugte ſich.


Hat Er ihn denn zum Reiten beordert?


Da der Herr Amtmann befohlen haben, daß ein für allemal auf jeden
Tag in der Woche ein berittener Mann als Erpreßpoſtillion parat ſein ſolle,
ſo hab' ich als Obermeiſter dem Kreuzwirth den nächſten Ritt auferlegt.


Da er eine wenig erbauliche Figur zu Pferd machen wird, ſo iſt
er dieſer Präſtation zu entlaſſen, verfügte der Amtmann.


Wenn's der Herr Amtmann nicht ungnädig nehmen wollten, wagte
der Sonnenwirth einzuwenden, es iſt auch das eine von meinen vielen
Sorgen und Verlegenheiten. Die ganze Metzgerzunft wird mir auf¬
ſäſſig wegen des beſtändigen Reitenmüſſens, ſo daß ich nächſtens nicht
mehr weiß, wem ich den Tag anſetzen ſoll. Sie klagen, es koſte ſie
ſo gar viele Zeit und bringe ſie im Verdienſt zurück. Ein Mancher
[331] kommt gar nicht mehr zu mir zur Zech', und das iſt mir ein empfind¬
licher Verluſt.


Es iſt aber auch keine geringe Laſt für die Leute, ſagte der Amt¬
mann. Darin hat der Kreuzwirth Recht, daß Sein entarteter Sohn
dem Flecken einen horrenden Schaden zufügt. Wenn Alle leiden müſſen,
ſo darf Er am wenigſten zurückſtehen. Es wäre vielleicht doch ge¬
ſcheider geweſen, Er hätte Fünfe gerade ſein laſſen und die Mariage
zugegeben.


Der Sonnenwirth fühlte ſich wie zu Boden geſchmettert. Derſelbe
Mann der Autorität, der ſich ſo durchgreifend gegen dieſe Heirath er¬
klärt und ſeinen Arm zu ihrer Hintertreibung hergeliehen hatte, machte
ihm jetzt Vorwürfe, daß er ſeinem Sohne nicht den Willen gelaſſen
habe. Er ſah den Amtmann mit einer ſtehenden Jammermiene an,
verſtummte aber unter der Bürde, die ihn niederdrückte.


Die Amtmännin kam ihm zu Hilfe und erinnerte ihren Mann,
daß, wenn ſein Vorwurf begründet wäre, er ihn nach ſeinem eigenen Ge¬
ſtändniß eben ſo gut und noch ſtärker treffen würde, als den Sonnenwirth.


Ach Gott! ſagte dieſer, dankbar für den Beiſtand: wenn Sie er¬
lauben, Herr Amtmann und Frau Amtmännin, ich hab' überhaupt
ſchon lange Zeit keine gute Stunde mehr in meiner Familie. Seit
mein Sohn amtlich für einen Erzböswicht erklärt worden iſt und jetzt
natürlich nichts mehr an mir erben kann, wenn ich ihn auch einſetzen
wollt', ſeitdem iſt der Hader zwiſchen meinem Weib und meinen Tochter¬
männern los. Sie liegt mir immer an, ich ſoll' ein Teſtament zu
ihren Gunſten machen, und das müſſen die beiden andern, der Chirur¬
gus voran, gemerkt haben.


Sie hat ja keine Kinder, bemerkte der Amtmann.


Wohl 'geben, aber ſie hat Verwandtſchaft, die ſie auf die Sonne
bringen möcht'.


Da würde ich vor Allen den Chirurgus bedenken, rieth der Amt¬
mann. Der Mann hat savoir vivre, gibt einen gewandten Wirth
und wäre wohl am meiſten geeignet, die Sonne im Flor zu erhalten.


Der Sonnenwirth verſprach dieſen guten Rath in Erwägung zu
ziehen, gegen welchen die Amtmännin keine Einſprache that. Als er
ſich empfehlen wollte, hieß ihn der Amtmann noch bleiben und unter¬
redete ſich mit ihm über den Hauptzweck, wegen deſſen er ihn hatte
[332] rufen laſſen wollen. Er theilte ihm den Inhalt des oberamtlichen
Schreibens mit und forderte ihn auf, ſich zuvörderſt darüber auszu¬
ſprechen, ob die Hirſchbäuerin wohl dazu zu bringen wäre, einen Ver¬
rath an ihrem Schwiegerſohne zu begehen.


Die iſt eine Schmotzampel an Leib und Seel', antwortete der
Sonnenwirth, die verkauft ihren Herrgott, wenn ſie nur Geld ſieht.
Das iſt auch ein Grund geweſen, warum ich meinen Sohn nicht hab'
in die Familie heirathen laſſen wollen.


Mir kommt da ein guter Einfall, ſagte der Amtmann. Ich hatte
neulich in alten Acten und Urkunden zu ſtöbern und machte dabei zu¬
fällig die Entdeckung, wie es mit dem Leibeigenſchaftsverhältniß der
Hirſchbauernfamilie bewandt iſt. Der Erſte des Namens hat das
Haus als eine Art Wildhüter zu Lehen erhalten, mit der ausdrück¬
lichen Bedingung, Jagd auf die Wilderer zu machen. Da nun gar
kein Zweifel ſein kann, daß Sein Sohn neben andern ähnlichen Be¬
ſchäftigungen auch dieſem ehrſamen Gewerbe obliegt, ſo könnte man
es ihr als eine Servitut auferlegen, daß ſie die Hand zu ſeiner Beifahung
zu bieten habe, widrigenfalls die Herrſchaft berechtigt wäre, ſie von
Haus und Hof zu jagen.


Für den Nothfall, erwiderte der Sonnenwirth, kann dieſe Drohung
nichts ſchaden, aber ſie wird kaum vonnöthen ſein. Auf den Abend
will ich das alt' Weib zu mir kommen laſſen und hoff' in Kurzem
dem Herrn Amtmann erwünſchte Antwort zu bringen.


Er wünſchte einen glückſeligen Tag und ging, ohne ſich zu fragen, ob
das Vorhaben, das er der Hirſchbäuerin gegen ihren Schwiegerſohn zu¬
traute und um deſſen willen er ſie verurtheilte, ein anderes ſei, als das
Vorhaben, das er gegen ſeinen eigenen Sohn bereits auszuführen im
Begriffe war.


Auch der Amtmann und ſeine Frau dachten an eine ſolche Ver¬
gleichung nicht. Wenn der Sonnenwirth die Sonne dem Chirurgus
zuwendet, ſagte der Erſtere lachend, ſo ſtirbt die Sonnenwirthin, ſo¬
bald ſie etwas vom Teſtament erfährt, am Gallenfieber.


Das wäre dem Mann je eher je lieber zu gönnen, verſetzte die
Amtmännin. Er hat nicht zum beſten mit ihr gelebt, und ſie iſt auch
in der That, ſo wie man ſie näher kennen lernt, eine herzloſe, neidi¬
ſche, malitiöſe Creatur.


[333]

Der Himmel weiß, womit die ſonſt ſo kluge Sonnenwirthin es bei
der geſtrengen Frau verſchüttet haben mochte.


Schon am nächſten Morgen ritt eine Staffette nach Göppingen
mit der Meldung des Amtmanns an den Vogt, daß Alles ſich nach
Wunſch anlaſſe, und Mittags hatte der Amtmann vom Vogt die Wei¬
ſung, er ſolle, da die alte Müllerin verſprochen habe, den Böſewicht
in ihr Haus zu locken, genügſame Mannſchaft mit Gewehr und Prü¬
geln dahin verſtecken und denſelben achtzehn Gulden, der Müllerin
aber, wenn der Fang mit ihrer Beihilfe gelungen ſein werde, — zwei
Gulden als Belohnung ausbezahlen.

30.

Geſegnete Mahlzeit bei einander! Das iſt ja ſchön, daß man die
Ahne und die Kinder bei der Gottesgabe findet, die Leib und Seel'
zuſammenhält.


Mit dieſen Worten trat der Geächtete durch die Thüre ein, deren
Schwelle er ſo manchmal in Glück und Leid überſchritten hatte. Was
ſpeiſt man denn? fragte er heiter.


Rübelesſupp' und Grundbirn'! antwortete der Knabe, der mit der
Großmutter und ſeinem kleinen Schweſterlein zu Tiſche ſaß und mit
ſeinem Löffel der gemeinſamen Schüſſel wacker zuſprach.


Will Er's nicht mithalten? fragte die Hirſchbäuerin, ohne ſich in
ihrer eifrigen Beſchäftigung ſtören zu laſſen.


Danke! was für Drei gekocht iſt, iſt nicht für Vier; man muß
keine Deichſel an die Suppenſchüſſel machen. Im Gegentheil bring'
ich hier ein paar Brätlein. Wenn Ihr's nicht eſſen wollt, ſo könnt
Ihr's unter der Hand zu Geld machen. Er hielt ihr ein paar
Haſen hin. Bei dieſem Anblick legte ſie ſchnell den Löffel auf den
Tiſch, ergriff das Geſchenk und trug es in eine Ecke der Stube,
wo ſie einen leeren Korb darüber deckte.


Der Ankömmling ſetzte ſich an den Tiſch, holte einen hölzernen
Löffel aus der Schublade und fütterte das Kleine, das erwartungsvoll
[334] nach der Großmutter hinſtarrte, aus der Schüſſel, ohne ſich ſelbſt einen
Biſſen zu gönnen. Bei dem trüben Schein der armſeligen Ampel
blickte er abwechſelnd ſeine Kinder an und freute ſich, daß es ihnen ſo
gut ſchmeckte.


Wo iſt denn der Lobele blieben? fragte die Alte, ſich wieder an
den Tiſch ſetzend.


Mein weißköpfigs Schwägerle, erwiderte er, hab' ich in Rechberg¬
hauſen beim Chriſtle gelaſſen. Ich hab' einen weiten Umweg machen
müſſen — er warf einen Blick nach der Ecke, wo die Haſen lagen —
wo ich ihn nicht hab' mitnehmen wollen, und ihn allein herunter gehen
zu laſſen, dazu iſt mir's zu ſpät geweſen. Morgen früh iſt er wieder
da. Iſt's richtig, was er mir ausgerichtet hat? Mein Vater will
ſich alſo zu einem gütlichen Abkommen mit mir verſtehen?


Ja, ſagte ſie, er hat mich kommen laſſen und hat ſo mit mir ge¬
red't, daß ich glauben muß, es ſei ſein Ernſt. Vierhundert Gulden
will er Ihm geben, wenn Er mit der Chriſtine und den Kindern nach
Pennſylvanien geht, die Hälfte baar und die Hälfte drüben, aber das
Baare nicht eher, als bis mit der Abreiſ' Alles im Reinen ſei. Bis
dahin will er ſorgen, daß den Kindern nichts abgeht.


Wenn nur die Chriſtine frei wär', dann ging' ich gleich, verſetzte
er. Wißt Ihr nichts von ihr?


Nein.


Einundzwanzig Wochen ſind es jetzt, daß ich ihr Gefängniß um¬
ſchwärme, ſagte er. Was ich in dieſer Zeit durchgemacht hab', wird
nicht bald einem Zigeuner vorgekommen ſein, denn der hat doch noch
die Wahl, in welcher Gegend er ſein Nachtquartier nehmen will, und
wenn's auch nur in einer Höhle wär'. Ich aber bin wie ein böſer
Geiſt immer in das Revier da gebannt geweſen.


Die Alte lächelte ſchlau. Beim Krämerchriſtle, ſagte ſie, hat's
doch gewiß nicht an Loſchement gefehlt.


Beim Chriſtle, ſagte er, kann ich meinen kleinen Schwager unter¬
bringen, wenn er mir eine Botſchaft thut und ich ihn nicht in der
Nacht heimlaſſen will, und vom Chriſtle nehm' ich's an, wenn er,
wie ein paarmal geſchehen iſt, in meiner Abweſenheit meinem Weib
oder meinen Kindern etwas ſchickt, zumal wenn das — er ſah die
Alte ſcharf an — nicht für die Schleckerei, ſondern für die bittere
[335] Nothdurft iſt. Beim Chriſtle und ſonſt da und dort bin ich ſelber
auch ein paarmal über Nacht geweſen, wenn man ein gemeinſames
Geſchäft vorgehabt hat, bei dem der Nutzen zum kleinſten Theil auf
meiner Seite geweſen iſt. Aber wenngleich Rechberghauſen nicht dem
Herzog von Wirtemberg, ſondern dem Grafen von Preyſing gehört, ſo
hätt' ich doch dem Chriſtle nicht zumuthen mögen, einem vogelfreien
Menſchen, wie ich bin, nach dem man über jede Grenze ſtreifen darf,
einen beſtändigen Aufenthalt zu geben. Nein, Schwieger, ich bin in
dieſen einundzwanzig Wochen das wenigſtemal unter Dach und Fach
gekommen, und wenn ich nur in einer Scheuer hab' unterkriechen können,
ſo iſt das ein Feſttag für mich geweſen. Die meiſte Zeit aber hab'
ich tief im Wald, oft auch im freien Feld, auf dem Schnee geſchlafen,
ein paar harte Felle von geſchoſſenem Wild zur Decke, und den kalten
ſternglitzernden Himmel über mir. Wenn mir früher jemand behauptet
hätte, das ſei ein Menſch auszuhalten im Stand, ich hätt' ihm nichts
davon geglaubt. Aber ſeht nur meine Kleider an: die zeugen am
beſten von meiner Lebensart; im Herbſt ſind ſie noch ganz neu ge¬
weſen und jetzt hängen ſie halb in Fetzen an mir herum. Und wenn
mir nicht der große Bart gewachſen wär', ſo könntet Ihr ſehen wie
ich abgemagert bin — nichts als Haut und Knochen. Und faſten
hab' ich gelernt, wie kein katholiſcher Heiliger; ich bin ordentlich mit
dem Hunger auf Du und Du zu ſtehen kommen.


Der Knabe warf ſeinen Löffel auf den Tiſch und aß nicht weiter,
während ſein Vater unter dem Reden den Löffel fleißig nach dem
Munde des kleineren Kindes führte.


Da wär's in Pennſylvanien doch beſſer, bemerkte die Alte.


Meint Ihr nicht, der Jerg ging' mit? fragte er und ſetzte ſchnell
hinzu: daß wir Euch nicht allein zurückließen, verſteht ſich von ſelbſt.


O du mein Heiland, Er hat's gut mit mir vor, ſagte ſie. Sollt'
ich auf meine alte Tag' noch ſo weit über's Meer? Und der Jerg,
der iſt jetzt zu Stuttgart im Dienſt als Packer bei einem Kaufmann,
und meint, er könn's ſein Leben lang nicht beſſer kriegen. Nächſtens
will er mir all' Woch' ein Geldle ſchicken.


Das Land da drüben iſt ſo groß, wie ich mir hab' ſagen laſſen,
daß wir ein halbes Fürſtenthum in Beſitz nehmen könnten. Das wär'
doch ein ander Leben.


[336]

Mein' letzte Stütz' ſollt' ich hergeben oder gar ſelber mitgehen,
und vielleicht unterwegs, wie der Jonas, von einem Fiſch gefreſſen
werden?


Ahne, der Fiſch hat ihn ja wieder ausgeſpieen, bemerkte der Knabe
dazwiſchen.


Und das Reiſ'geld, fuhr ſie fort, ohne auf die Bemerkung zu
achten, wär' für uns Alle zuſammen nicht gnug.


Ob mein Vater die vierhundert Gulden auf einmal hergibt oder
auf zweimal, kann ihm gleichgiltig ſein, wenn's ihm überhaupt mit
dem Anerbieten Ernſt iſt. Glaubt Ihr wirklich, Schwieger, daß er's
ehrlich meint?


Daß er's anders thut als er geſagt hat, glaub' ich nicht, dagegen
das glaub' ich, daß ihm zu trauen iſt, denn warum? er möcht' Ihn
eben fort ha'n, weil er ſich vor Ihm fürchtet und weil der ganz' Fleck
in Aengſten vor Ihm iſt.


Der Geächtete lachte ſtolz.


Ich glaub' ferner auch, fuhr ſie zutraulich fort, daß der Amtmann
mit unter der Sach' ſteckt; denn dem wär's ebenmäßig wohl, wenn er
nichts mehr mit Ihm zu thun hätt'.


Der Amtmann? ſagte er. Wenn das der Fall iſt, ſo muß man
ſich vor Finten hüten. Der arbeitet an einem doppelten Plan. Mag
leicht ſein, daß er fürlieb nimmt, wenn er mich über alle Berg' weiß,
aber noch lieber iſt's ihm, wenn er mich wieder unter ſeine Klauen
kriegen und einliefern und eine Belobung davon tragen kann. Nein,
Schwieger, wenn ich gewußt hätt', daß der Amtmann im Spiel iſt —
ſeht ja zu, daß Ihr die Hand nicht zu einem falſchen Spiel bietet!


Ich vermuth's ja nur, ſagte ſie. Mein Herz denkt an nichts
Arg's. Wer wird denn auch gleich ſo ängſtlich ſein?


Aengſtlich! rief der Geächtete, und ſein ganzer Stolz ſtammte auf:
wer kann mir nachſagen, daß ich jemals Angſt hab' blicken laſſen?


Nu, nu, man red't ja nur. Eins iſt ſo wenig nutz, wie das
ander'. Wer alle Stauden will fliehen, kommt nie in Wald, und
hinwiederum, dem Trauwohl hat man den Gaul weggeritten. Für
heut' hat's jedenfalls kein' Gefahr, denn kein Menſch weiß, daß Er
da iſt.


Doch will ich nicht über Nacht bleiben.


[337]

Ja, und wenn ſie dann wieder mitten in der Nacht Hausſuchung
halten wollen, ſo läßt Er ihnen wieder das Nachſehen. Denn beſſer
in der Acht als in der Hacht, beſſer der Nam' als der Leib am
Galgen.


Wenn man durch meinen Vater mit dem Amtmann unterhandeln
könnt', daß die Chriſtine frei würd', unter der Bedingung, mit mir
nach Pennſylvanien zu gehen, ſo könntet Ihr mir ja an einen ſichern
Ort Meldung thun. Aber ohne den Jerg iſt's nur halb gelebt. Ein
Mann wie mein Schwager wär' mir mehr werth als ein Capital in
dem großen wüſten Land, wo man Wälder ausſtocken und mit den
Wilden kämpfen muß.


Wenn die Kinder im Bett ſind, ſo wollen wir weiter reden, ſagte
ſie und trug das Eßgeſchirr hinaus.


Vater, ſagte der Knabe jetzt, der lange auf einen Augenblick, wo
er auch etwas reden durfte, gewartet hatte, Vater, ich hab' mich ſo
lang drauf gefreut, bis Er auch einmal wieder kommt.


Die helle Stimme des Knaben that dem Geächteten tief im Herzen
wohl. So, Friederle, ſagte er, haſt dich auf den Vater gefreut?
Sieh', ich hab' euch auch was mitgebracht. Mit dieſen Worten zog
er aus der Taſche allerlei Spielzeug, das er in müßigen Stunden
künſtlich geſchnitzt hatte. Die Docken gehören deinem Chriſtinele, die
gibſt ihr morgen früh, wenn ſie aufwacht. Er legte das Kind, das
in ſeinem Arme eingeſchlafen war, auf das Bett und brachte aus ſei¬
nen andern Taſchen noch mehr der Herrlichkeiten hervor. Da ſind für
dich Soldaten, Fußvolk und Reiter, auch etliche Kanonen dabei, weil's
jetzt Krieg iſt, und damit deine Schulkameraden nicht ſagen können,
du habeſt nicht ſo ſchöne oder nicht ſchönere Spielſachen als ſie. Lernſt
auch brav? Erzähl' mir einmal, was heut' in der Schule vorge¬
kommen iſt.


Die Geſchicht' vom Simſon iſt geleſen worden, antwortete der
Knabe.


Haſt du mitleſen dürfen? fragte der Vater. Kannſt leſen?


Noch nicht ganz gut, ſagte der Knabe, 's kommt nur hie und da
ein kleiner Vers zum Leſen an mich. Aber die Geſchicht' hat mir
mächtig gut gefallen, wie der Simſon den Löwen zerriſſen hat, und
wie er mit dem Eſelskinnbacken tauſend Philiſter geſchlagen hat, und
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth 22[338] hat ihnen das Stadtthor in der Nacht fortgetragen und Füchſ' in ihre
Felder trieben mit brennende Schwänz', und wie er zuletzt das Haus
eingeriſſen hat, daß es auf ihn und alle Philiſter zuſammengefallen iſt.


Du gibſt ja recht Acht, ſagte der Vater freundlich. Möchteſt
vielleicht auch ein Simſon werden?


Der Knabe ſah ihn verwundert an.


Gelt, das verſtehſt du nicht? Was möchteſt denn werden?


Ich möcht' werden, was mein Vater iſt.


Was iſt denn dein Vater?


Der Knabe ſah ihn ſtarr an und antwortete auf wiederholtes Fra¬
gen: Ich weiß nicht.


Warum ſagſt du denn, du möchteſt werden was dein Vater iſt,
und weißt es nicht?


Ha, ſo ſagt jeder Bub', wenn man ihn fragt was er werden wöll'.


So! Wie heißen ſie denn deinen Vater?


Er ſei ſöllig ſtark, ſo daß Alles Angſt vor ihm haben müſſ'.


So? und was ſagen ſie ſonſt von ihm?


Der Knabe ſchwieg.


Wie gehen denn deine Kameraden in der Schule mit dir um?
Sag's, ich will's wiſſen.


Sie laſſen mich nicht in's Buch 'neingucken, ſo daß mir der Schul¬
meiſter ſchon oft eine beſondere Bibel geben hat, und einmal, wo ſie
wüſt gegen mich geweſen ſind, hat der Schulmeiſter zu ihnen geſagt,
ſie ſollen mich gehen laſſen, ich ſei ein unglücklich's Kind, ich könn'
nichts dafür.


Für was?


Der Knabe ſchwieg.


Ich befehl' dir's, ich will wiſſen, was ſie von deinem Vater ge¬
ſagt haben.


Er mußte ſeinen Willen im gebietendſten Tone geltend machen,
bis der Knabe endlich ſchüchtern und zögernd antwortete: Sie ſagen —
Er hab' — geſtohlen.


Und wenn das wahr iſt, ſo willſt du dennoch werden, was dein
Vater iſt?


Ja.


Was iſt Einer, der ſtiehlt?


[339]

Es bedurfte abermals der größten Anſtrengung, um aus dem Kna¬
ben die Antwort herauszubringen: Ein Dieb.


Ein Dieb alſo willſt werden?


Ja.


Wart', ich will dir einen Denkzettel geben! Ahne, wo iſt die
Ruthe?


Er gewahrte nicht, daß die Alte nach langer Abweſenheit erſt in
dieſem Augenblick wieder in die Stube trat und die Thüre ein wenig
hinter ſich offen ließ. Sie bat für den Knaben, als ſie hörte um was
es ſich handle, und ſuchte dem unglücklichen Vater bemerklich zu ma¬
chen, daß das Kind ſich nicht auszudrücken vermöge und daß er ihm
noch keine Unterſcheidung zumuthen dürfe. Nein, ſagte er unerbittlich,
man ſoll mir nicht nachſagen, daß ich den Buben zu ſolchen Gedanken
angeleitet oder ihm's auch nur zugelaſſen hab', und wenn ich keine
Ruthe haben kann, ſo thut's auch die Hand.


Er zog den Knaben zwiſchen die Kniee und patſchte ihn mit ſeiner
kräftigen Hand ſo nachdrücklich, daß derſelbe mit offenem Munde
ſchnaubte und ſchnappte; doch gab er keinen Laut des Schmerzes
von ſich.


Was heulſt nicht, du Krott'? fragte der Vater, in ſeinem wenig
überlegten Beſſerungsgeſchäfte inne haltend.


Ich hab' immer gehört, mein Vater hab' nie geheult, wenn man
ihn auch noch ſo arg geſchlagen hab', antwortete der Knabe, nicht tro¬
tzig, aber mit entſchiedenem Tone, und ſeinem Vater ruhig in's Auge
ſehend.


Dieſer ließ die Hand ſinken und zog den Knaben in ſeine Arme.
Ach Friederle, mein Kind, mein lieb's Kind, rief er, ich hätt' dich ja
gewiß nicht geſchlagen, wenn ich allezeit bei dir wär' und dich im Gu¬
ten unterweiſen könnt'. Aber ein Dieb ſollſt und darfſt du mir nicht
werden, das verbiet' ich dir hoch und theuer. Glaubſt du, daß ich's
gut mit dir mein' ?


Ja, ſagte der Knabe, indem er ihn mit ſeinen blauen Augen auf¬
tichtig anſah.


Willſt mir's nachtragen, daß ich dich geſchlagen hab' ?


Nein.


Willſt mir verſprechen — er drückte ihn immer heftiger an ſich
22*[340] und ſchrie ihm die Worte in's Ohr: werd' brav! werd' rechtſchaffen!
Du mußt nicht meinen, es müſſe dir auch gehen wie deinem
Vater! Es geht nicht Jedem ſo, es darf dir nicht auch ſo gehen!
Wenn du älter biſt und mehr weißt als jetzt, dann wirſt du einſehen,
daß du kein Dieb zu werden brauchſt, wenn du deinem Vater anhäng¬
lich ſein willſt. Dann wirſt du aber auch verſtehen, daß dein Vater
nicht ſo ſchlecht geweſen iſt, wie die Leut' von ihm geſagt haben. Und
deine Mutter, die du ſo wenig geſehen haſt, iſt eine gute Mutter, Kind,
und kann nichts dafür, daß ſie nicht öfter nach dir ſieht, und wenn
ſie wieder bei dir ſein kann — —


Die Stimme brach ihm, er ſchlug die Hände vor die Augen und
legte den Kopf auf den Tiſch. Es wurde ganz ſtill, nur daß man
tief aus ſeiner Bruſt herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte.
Die Alte ſah ſich einen Augenblick um, ſetzte ſich dann ſo, daß ſie
dem Tiſche und der Thüre den Rücken zukehrte und begann hierauf
mit einer Stimme, die abſcheulich lautete, das geiſtliche Lied zu ſingen:
„Valet will ich dir geben, du arge falſche Welt.“


Der Geächtete hatte ſeinen Empfindungen eine kurze Zeit freien
Lauf gelaſſen, da weckte ihn ein durchdringendes Geſchrei ſeines kleinen
Sohnes: Vater! Vater! Philiſter über dir, Simſon!


Er fuhr auf und ſtarrte, die Augen voll Thränen, in die Stube,
aber die Bewegung hatte nur dazu gedient, ſeinen Kopf einer Schlinge
preiszugeben, die im gleichen Augenblicke feſt um ſeinen Hals zugezogen
wurde. Die Stube war voll bewaffneter Männer. Er fuhr mit der
Hand nach dem Halſe, um ſich von der Schlinge frei zu machen. Da
ſchrie der Fiſcher, der unter den Vorderſten war: Hand weg, oder du
mußt verworgen! Zugleich wurde die Schlinge noch feſter angezogen,
ſo daß er taumelte. Er ließ ab vom Widerſtande und war nach kurzer
Zeit an Armen und Beinen ſo feſt geſchnürt, daß man ihn ohne Ge¬
fahr fortſchaffen konnte. Die Alte ſchickte ſich heulend und ſchreiend
an, mit ihrer trüben Ampel zum Haus hinaus zu leuchten, und be¬
theuerte ihm fortwährend, daß ſie an dem Unglück unſchuldig ſei. Mag
ſein, erwiderte er, ſie mit ungewiſſen Blicken meſſend, aber dir, Fiſcher¬
hanne, iſt's geſchworen — und wenn ihr mir auch die Arm' feſſelt,
die Schwurfinger kann ich doch noch bewegen — der nächſte Streich,
den du mir ſpielſt, iſt dein Tod. — Verhoffentlich wird kein weiterer
[341] nöthig ſein, ſagte der Fiſcher und Alle lachten zuſammen. Während
ein Theil der Wachmannſchaft den Gefangenen ſo eilig fortſchleppte,
daß er nur noch mit den Augen ſeinem Knaben ein Lebewohl zuwinken
konnte, ſtöberte ein anderer, den Fiſcher an der Spitze, in der Stube
herum. Die Alte, als ſie dies bemerkte, überließ den Fortgehenden
die Sorge, wie ſie ſich ohne Licht zurechtfinden wollten, und eilte in
die Stube zurück, konnte es aber nicht verhindern, daß die Haſen, als
offenbares Herrſchaftseigenthum, in Beſchlag genommen wurden.


Der Knabe war außer ſich, und die Nachbarn, welche halb theil¬
nehmend, halb neugierig hinter den Häſchern in die Stube gedrungen
waren, verſuchten ihn umſonſt zu tröſten. Nachdem die Alte ſich über
den Verluſt ihres ſoeben zum Geſchenk erhaltenen Wildprets einigermaßen
beruhigt hatte, ſchwatzte ſie ihm vor, ſein Vater werde nur ein wenig
zur Mutter nach Göppingen gebracht und werde bald wieder kommen.
Er ließ ſich nach und nach beſchwichtigen; über Eines aber konnte er
ſich nicht zufrieden geben: mein Vater, ſagte er, hat ſonſt nie geheult,
und jetzt haben ſie ihn grad' geholt, wo er geheult hat.


In dieſem Augenblicke kam der Schütz, zu ſpät, um an der Ge¬
fangennehmung, zu welcher er beordert war, theilzunehmen, aber früh
genug, um der Alten eine Nachricht zu bringen, die ſie ganz darnieder
ſchmetterte. Wiſſet Ihr auch, Hirſchbäurin, ſagte er, daß Euer zweiter
Sohn in Stuttgart hat Soldat werden müſſen? Er hat einem Sol¬
daten zur Deſertion geholfen, und der Oberſt Rieger, der dem Herzog
ſein Kriegsvolk zuſammenwirbt, hat darauf gemeint, er ſei ihm als
Stellvertreter eben ſo gut oder noch lieber.


Sie warf ſich zu Boden und raufte ihre Haare. Diesmal war
ihr Schreien und Heulen ernſtlich gemeint. Jetzt hab' ich mein'
und Stab verloren! jammerte ſie.


[342]

31.

Paſſ' auf, Beck! ſagte der obere Müller, mit ſeinem Knecht ein¬
tretend, im Hausgang zu dem Bäcker, der mit einem großen Kruge
Weins gelaufen kam: paſſ' auf, heut kriegſt das Haus voll Leut'!
Der halb' Fleck' iſt auf'm Marſch zu dir und will's probiren, ob
dein Keſſelfleiſch ſo gut iſt, wie's dein Weib ſelig hat machen können.
Wir ſind die Erſten und wollen gleich ein gut's Plätzle beſetzen.


Der Bäcker lachte und ſtieß ſtatt der Antwort die Thüre auf,
durch die man die Stube bereits überfüllt von Gäſten ſah. Der
Müller meint, er ſei der Erſt' zur Metzelſupp'! rief er dieſen zu.
Ein allgemeines Gelächter empfing den verſpäteten Gaſt. Mach' nur,
daß du herſitz'ſt! riefen Einige, indem ſie zuſammenrückten und ihm
und dem Knechte Platz machten: 's iſt eine Staatsſau geweſen, aber
kannſt froh ſein, wenn du nur noch das Schwänzle von ihr triffſt!


Ungeachtet dieſer Drohung, die nicht ſo ernſtlich gemeint war, lie¬
ßen ſich's der Müller und ſein Knecht trefflich ſchmecken, während die
Gäſte den Bäcker lobten, der ſeit dem ſchon lange erfolgten Tode ſeiner
Frau keine Metzelſuppe gegeben hatte, und ſich zugleich darüber freuten,
daß man bei den guten Ausſichten auf das heurige Jahr auch einmal
wieder einen billigen Wein trinken könne.


Nachdem der Müller ſeinen Magen gefüllt, ſah er ſich im Kreiſe
der Gäſte um. Was, der Profoß iſt auch da? rief er. Ich hab'
gemeint, Ihr lieget am Gliederweh' darnieder und könnet kein' Fuß
und nächſtens kein' Zahn mehr regen.


Die alten Knochen ſind's Leben gewohnt, erwiderte der Invalide.
Ich hab' auch glaubt, ich werd' der Beckin Quartier machen und jetzt
iſt ſie mir lang vorangegangen. Ich hab' eigentlich kein Gliederweh,
's ſind eben Flüſſ', die mir im Leib 'rumziehen, bald da, bald dort,
ich mein' manchmal, ſie fahren mir bis in die Krücken hinein, und
oft werfen ſie mich ſo bösartig in's Bett, daß ich ſchier nimmer auf¬
ſtehen kann.


[343]

Laſſet nur den Wein tapfer durch die Gurgel laufen, alter Kriegs¬
knecht, der wird Euch die Flüſſ' ſchon 'naus treiben. Daß dich! aber
jetzt muß ich mich verwundern, daß der Fiſcherhanne auch ſo viel Ku¬
raſche hat und in's Wirthshaus geht! Nun, du darfſt dir heut ſchon
was gonnen: haſt gewiß bei dem geſtrigen Fang etwas Schön's ver¬
dient, gelt?


Der Fiſcher ſchmunzelte. Wenn man ſich für den Flecken in Ge¬
fahr begibt, ſagte er, ſo könnt' man, denk' ich, mehr anſprechen, als
die paar Gulden, aber doch iſt's immer beſſer als gar nichts.


Die Gefahr muß nicht ſo groß geweſen ſein, bemerkte der Müller:
wie ich hör', habt ihr ihn mit der Schling' gefangen?


Ja! rief ein Anderer. Die Schling' iſt ein Einfall vom Fiſcher¬
hanne geweſen. Das iſt das ſicherſte Mittel: wenn Einer nicht weich
geben will, ſo zieht man eben zu, dann vergeht ihm die Kraft und er
wird zahm wie ein Lamm.


Ich hätt' zugezogen bis er hin geweſen wär', verſicherte der Fiſcher,
denn wenn der loskommen wär', ſo möcht' ich doch auch ſehen, wer
mir behaupten könnt', es hab' kein' Gefahr gehabt.


Gottlob, ſagte der Müller, daß der Kerl aufgehoben iſt. Jetzt
kann man doch wieder ruhig ſchlafen und ungeängſtigt leben. Ich
hoff', dasmal werden ſie ihn feſter verwahren, daß man endlich ſicher
vor ihm iſt. Warum ſchüttelt Ihr den Kopf, Profoß? Meint Ihr,
er werd' doch wieder auskommen, oder wär's Euch lieb?


Nein, erwiderte dieſer, für ihn ſelber wär's das Beſt', er blieb'
gefangen, wie er iſt. Was kann ihm die Freiheit werth ſein, wenn
die ganz' Welt immer mit Stecken und Stangen auf ihn aus iſt, um
ihn zu fangen? Ich mein' nur, 's iſt halt doch curios, daß ein ganzer
Flecken mit ſo viel ſtarken Männern vor dem einzigen Menſchen
zittert. Und was hat er eigentlich gethan?


Was er gethan hat? ſchrie Alles zuſammen. Iſt er nicht von
Hohentwiel ausbrochen?


Nun ja, ſagte der Invalide, das thät' Jeder von uns auch, wenn
ihm das Gefängniß entleidet wär', und er wär' ſo geſchickt wie er, um
eine halbe Unmöglichkeit zu vollbringen.
Und zweimal aus dem Zuchthaus! ſagte der Müller.


[344]

Und hat ſich beidemal freiwillig wieder geſtellt, entgegnete der
Invalide. Dazu gehört doch ein gutes Gewiſſen.


Ein unwilliges, höhniſches Gelächter war die Antwort auf dieſe
Bemerkung.


Der Profoß hat immer ein wenig zu ihm gehalten, bemerkte der
Fiſcher.


Er hat auch immer eine gute Seit' gehabt, verſetzte der Invalide.
Wenn man übrigens kein' andern Grund hat ihn zu fürchten, ſo
müßt' man eigentlich Jeden, der ſtark und verſchlagen iſt, umbringen,
damit er Einem nicht ſchaden kann, wenn's ihm etwa einfallen ſollt'.


Hat er denn ſonſt nichts gethan? ſchrie der Müller. Ich will die
Diebſtähl', die er bei ſeinem Vater begangen hat, nicht ſo hoch an¬
ſchlagen: aber iſt er nicht erſt kurz verwichen dem Lammwirth in
Metzig und Keller einbrochen und hat ihm Fleiſch, Brod und Wein
genommen?


Requirirt, ſagte der Invalide.


Was? ſchrieen die Andern.


Requiriren heißt man das bei den Soldaten, erläuterte der In¬
valide ruhig. In der Campagne, wenn's nichts zu beißen und zu
brechen gibt, kommt man zum Bauern in die Viſit' und holt ſich
Fleiſch, Brod, Wein, Hühner, Gänſ', Eier, kurz, was man finden
kann, und wenn das ein Verbrechen wär', ſo müßt' vom General
bis zum Gemeinen 'runter Alles gehenkt werden. Der fürnehmſt'
Offizier ſchämt ſich nicht dran. Und da geht's oft zu, daß mir's in
der bloßen Erinnerung weh thut. Der Frieder iſt noch beſcheiden,
nimmt nicht mehr als er für den Hunger und Durſt braucht, und
hat dem Lammwirth doch nicht das übrig' Fleiſch zu Fetzen verhauen
und den Wein in Keller laufen laſſen, wie's der Soldat oft und viel
thut. Es iſt jetzt ohnehin Krieg in der Welt; denket euch, der Feind
komm' in den Flecken, oder auch der Freund, denn 's macht's einer
wie der ander', dann thätet ihr die Hundert oder Tauſend gern gegen
den einzigen Marodeur, eintauſchen und thätet ſagen: der hat's doch
noch gnädig gemacht.


Das iſt was anders, ſagte der Müller. Der Krieg verlangt's
eben einmal ſo, er muß die Leut' ernähren.


Wenn man mich lebenslang auf die Feſtung ſetzt, und mich nach
[345] meinem Entkommen überall verfolgt, und mein Weib einſperrt, das
iſt auch eine Art Krieg. Sag' Jeder von euch, was er thät', wenn
er ſo 'nausgeſtoßen wär' wie ein wild's Thier. Man kann doch nicht
immer Rüben freſſen, und im Winter wachſen nicht einmal Rüben.
Und wenn er auch gar nichts nähm' als eure Rüben, ſo thätet ihr
doch auch ſagen, es ſei geſtohlen.


Seine Worte hatten, wenigſtens vorübergehend, einen unverkenn¬
baren Eindruck gemacht. Der Invalide fuhr, auf denſelben bauend,
fort: Es iſt, wie wenn die Leut' ein bös Gewiſſen hätten, das ſie an
dem Menſchen auslaſſen müßten. Er raubt nicht, er mordet nicht,
und doch hat der Fleck' eine Angſt vor ihm, daß es eine wahre Schand' iſt.
Noch eh' er jemand außer ſeinem Vater ein Stückle Brod genommen hat,
iſt ein Schreck von ihm ausgangen, und wenn's geheißen hat: der
Sonnenwirthle kommt oder er iſt da, ſo iſt Alles auf und davon, wie
man ſich vor einem wüthenden Thier ſalvirt. Und der Nam' iſt vor
ihm hergangen wie ein ſchwarzer Schatten, und mich ſollt's nicht
wundern, wenn er dem Schatten endlich folgt und in ſeine Fu߬
ſtapfen tritt.


In was für Fußſtapfen, fragte der Fiſcher, iſt er denn gangen,
wie er beim Pfarrer einbrochen iſt, und hat ihm den Kelch ſammt
den Hoſtien geſtohlen?


Für ſelbiges Stückle hätt' ich ihm das Fell recht brav vergerben
mögen, ſagte der Invalide, und dennoch hat ſich's anders damit ver¬
halten als man's nennt. Ich frag' jeden, der das Ding mit ſeinen
fünf Sinnen anſieht, ob etwas Abgefeimt's dran iſt, wie man's dafür
ausgeben hat. Der Pfarrer verweigert ihm die Copulation, weil er ſie
nicht zahlen kann. Darüber kann jeder andächtige, in Jeſu Chriſto
geliebte Zuhörer, wie man uns von der Kanzel anredet, denken wie
er will; ich find' in der Bibel nichts davon, daß das Reich Gottes
und ſeine Gerechtigkeit bloß gegen Bezahlung zu haben ſei und anders
nicht; aber, wie geſagt, das geht mich nichts an, das kann jeder mit
ſich ſelbſt ausmachen. Der Bub' drauf — denn ein Bub' iſt er ge¬
weſen, wie Mancher ſonſt, der im dreiundzwanzigſten Jahr heirathet,
ebenmäßig ein Bub' iſt und erſt von ſeinem Weib gezogen wird —
der Bub', ſag' ich, bricht in der nächſten Nacht dem Pfarrer ein, ohne
allen Schlachtplan, rafft zuſammen was er erwiſcht, natürlich Kleinig¬
[346] keiten, läßt auch noch den Kelch ſammt Hoſtien mitlaufen und ſteckt
die Sachen in ſeines Vaters Stroh, damit ſie gleich am andern
Morgen dem Knecht ganz gewiß in die Händ' fallen müſſen. Daß
er Grütz im Kopf hat, das leugnet ihm ſein ärgſter Feind nicht ab.
Heißt aber das Grütz, wenn man eine That thut, von der am andern
Tag jedes Kind ſagen muß: das hat niemand anders gethan als des
Sonnenwirths Frieder! Heißt das Grütz, wenn man den Raub ſo
verſteckt, daß in der nächſten Stund' Alles 'rauskommen muß? Ent¬
weder hat er's abſichtlich gethan, weil er lieber wieder im Zuchthaus
geweſen wär', als in der Welt haußen, oder er iſt ganz rappelköpfiſch
geweſen und hat gar nimmer gewußt was er thut. Ein wüſter Streich
iſt's geweſen, ja, das ſtreit' ich nicht, aber noch viel dümmer als wüſt.
Wo wird ein Dieb von Profeſſion ſo wüſt und dumm und buben¬
mäßig ſein' Muthwillen ausüben? Und doch hat man ihn zu einem
Dieb und Räuber von Profeſſion geſtempelt und hat ihn lebenslänglich
auf die Feſtung geſchickt. Hätt' man ihn mir geben, ich hätt' ein
paar Stecken an ihm verſchlagen, und dann noch ein' drüber, weil ich
immer auf den Burſch was gehalten hab'.


Auf die Art, bemerkte der Fiſcher mürriſch, kann man alles
Lumpenpack in Schutz nehmen, bis man zuletzt ſelber ihresgleichen
wird. Grad ſo hat der Sonnenwirthle auch angefangen: der hat zuerſt
ſei'm Vater 'n Zigeuner in's Haus ſchleifen wollen, und nachher hat
er ſich mit dem Hirſchbauren und ſeiner Tochter gemein gemacht, und
ſo iſt er von einem böſen Trappen auf den andern kommen.


Mir wird's ganz übel, rief der Invalide, wenn ich's mit anhören
muß, wie Einer, der ſelber arm iſt, arme Leut' verwirft. Wenn ein
paar Arme bei einander ſind, ſo klagen ſie, man laſſ' die Armuth
nicht gelten, und in der Kirch' ſingen Arm' und Reich' mit einander,
die Menſchen ſeien alle gleich; ſo wie einer aber einmal darnach leben
will, ſo fallen Arm und Reich über ihn her. Die Liebſchaft hätt' er
unangefangen laſſen können, ich hab's ihm mehr als einmal geſagt,
wiewohl das Menſch auch nicht ſo übel geweſen wär': aber daß er ſich
zur Armuth gehalten hat, grad das muß ihm einmal 'n Stuhl im Himmel
erwerben, mag's in der ſchnöden Welt noch mit ihm gehen wie's will.


Während der Invalide ſo die einzelnen Einwendungen, die ihm
gemacht wurden, niederſchlug, hörte er nicht, wie das Murmeln und
[347] Murren um ihn her immer ſtärker wurde. Von was für einem Aus¬
bund iſt denn da die Red'? rief der Müllerknecht erbittert: ſollt'
meinen, das wär' ein Muſter, nach dem ſich ein Jedes richten müßt',
und wenn man nach dem Namen fragt, ſo iſt's ein Mörder, der
ſeinem Nebenmenſchen ohne weiters das Meſſer in Arm ſticht!


Das iſt auch ein wüſter Streich geweſen, ſagte der Invalide, der
ſich nicht irre machen ließ: aber mit'm Zuchthaus iſt er doch, mein'
ich, hart genug abbüßt worden. Zum Meſſer greifen freilich nicht Alle,
denn da gehört ſchon ein wenig mehr Muth dazu, aber mit'm Prügel
oder mit'm Stuhlfuß iſt Jeder gleich bei der Hand, wenn der Wort¬
wechſel hitzig wird und es fällt ihm nichts Geſcheid's mehr ein, und
da ſchlagen ſie einander ſo über die Köpf', daß man ſich nicht wundern
darf, daß es ſo viel dumme Leut' gibt. Streit und Certat muß ſein
in der Welt, ſonſt iſt's langweilig, aber wohl wär's beſſer, die Men¬
ſchen thäten witzig mit einander fertig werden ſtatt ſpitzig, einander
tupfen ſtatt ſtechen, ſtriegeln ſtatt prügeln, mit dem Kamm lauſen ſtatt
mit dem Kolben. Wenn aber Einer thut, was Alle thun, und thut's
mein'thalb ein wenig ärger, ſo ſollt' man ihn doch nicht um 'n ganzen
Stock höher henken, wie wenn er was ganz beſonders gethan hätt'.


Es ſcheint, da muß ſich die Obrigkeit verantworten! warf der
Fiſcher biſſig dazwiſchen.


Ich hab' mein jährlichs Gratial vom Haus Oeſtreich, ſagte der
Invalide ſtolz: die Obrigkeit kann mir nichts geben und nichts nehmen.
Ich ſag' nichts wider ſie, aber ich red' wie mir der Schnabel ge¬
wachſen iſt.


Ja, für'n wild's Thier, das dem Flecken täglich mit Mord und
Brand droht hat! ſchrie der Müller, der den Wein zu ſpüren begann.


Um dieſer Reden willen hätt' ich auch wieder 'n Stecken für ihn
in Bereitſchaft, ſagte der Invalide, der nach langer Krankheit wieder
einmal ausgegangen war und ſich hinter dem Glaſe ſo behaglich
fühlte, daß er aufgelegt war, ſeine Meinung ſtandhaft gegen Feind
und Freund durchzufechten. Und zwar thät' ich ihn darum
weil er mit ſolchen Reden ſich ſelber am meiſten ſchad't. Aber er hat
ſich nicht ſchlecht dagegen verantwortet ſchon vor ſechs Jahr', wie der
Schütz einmal aus'm Verhör erzählt hat. Reden denn die Andern
franzöſiſch? hat er geſagt. Und das iſt die Wahrheit. Wo man
[348] hinhört, wie die Leut' von einander reden, ſo hört man: Den Kerl
mach' ich kalt, ich hau' ihm 'n Flügel vom Leib, hin muß er ſein,
nicht lebendig ſoll er mir vom Platz kommen, oder: die ganz' Famile
muß mir ausgerottet ſein, es ſoll Keiner übrig bleiben, der an die
Wand pißt, mit Reſpect zu melden, wie's in der Bibel heißt. Iſt's
denn viel ärger, wenn Einer droht, er zünd' den Flecken an, daß den
Leuten die Häuſer über'm Kopf abbrennen, und das Kind im Mutter¬
leib dürf' ihm nicht davon kommen? Iſt nicht ein Geſchwätz ſo dumm
wie das ander', und iſt aus'm einen mehr worden als aus'm andern?
Was hat er denn gethan? frag' ich.


Das Murren war allmählich zum Geſchrei geſtiegen, und einzelne
Stimme riefen bereits: Schmeißet ihn 'naus!


Redet ihr feiner? fuhr der Invalide mit erhobener Stimme fort.
Ihr ſeid auch grob wie ungeſpalten Holz, aber ihr wiſſet's nicht,
weil ihr euch ſelber vor eurem eigenen Schreien nicht höret. Ihn
aber höret ihr, weil er mit ſeiner Bärenſtimm' Manns genug iſt,
euch Alle in's Stroh zu ſchreien, und weil er noch trotziger und
wilder und wüſter als ihr reden kann, wenn er verzürnt iſt. Das
nehmet ihr dann als baare Münz', wiewohl er euch den Flecken noch
lang nicht anzünd't hat, aber was Gut's an ihm iſt, das wollet ihr
nicht für baar gelten laſſen.


Der Invalide blickte ruhig in den jetzt ausbrechenden Sturm, auf
nichts als ſeine Gebrechlichkeit vertrauend, obgleich wenig darauf zu
wetten war, ob er mit heiler Haut davon kommen würde; denn nicht
nur war das Geſchrei gegen ihn zum tobenden Gebrüll geworden,
ſondern es hatten ſich auch Fäuſte gegen ihn erhoben, und darunter
die beiden derben Schlagwerkzeuge des Müllerknechts, der es durchaus
nicht in ſeinen Kopf bringen konnte, daß man einen Menſchen in
Schutz nehme, der ihm, ſeinem Freund und Gutthäter, das Meſſer
in den Arm geſtoßen hatte.


Mir ſcheint's, man muß den Flecken noch beſſer ſäubern, ſchrie
der Fiſcher, deſſen Stimme nur noch in der nächſten Umgebung zu
verſtehen war. Wenn ein Fleckenräuber ſo Freund' im Ort ſelber hat,
ſo iſt's kein Wunder, daß er ſich bei Tag und Nacht ohne Gefahr
hier aufhalten kann.


Er iſt in der ganzen Zeit nicht ein einigsmal bei mir geweſen,
[349] entgegnete der Invalide, der ſich gleichfalls nur noch ſeinem Gegner
und den Zunächſtſitzenden vernehmlich machen konnte. Er weiß wohl,
daß ich ein alter hilfloſer Mann bin, und daß er mich nicht in Ver¬
legenheit bringen will, wiewohl er weiß, daß ich ihm nicht feind bin,
das iſt auch noch nobel von ihm.


Nobel! ſchrie der Fiſcher giftig. B'hüt uns Gott vor Gabelſtich',
dreimal gibt neun Löcher!


Der Aufruhr in der Geſellſchaft hatte den höchſten Gipfel erreicht,
als der Schütz eintrat und, durch ſein Erſcheinen wie ein Wetter¬
ableiter wirkte. Nicht der Anblick des Stückes Obrigkeit, ſondern ſein
Ausſehen war es, was den Sturm beſchwor. Die liſtig zuſammen¬
gekniffenen Augen, die blinzelnd auf der rothglühenden Naſe hafteten,
und die ſchalkhaft herausgepreßten Lippen verriethen es, daß ihn ein Ge¬
heimniß drückte, das neben einem Theil Verlegenheit viel Spaßhaftes ent¬
halten mußte. Die Blicke der Anweſenden richteten ſich erwartungsvoll auf
ihn, während er, zufällig neben dem Invaliden noch ein wenig Platz
findend, ſich einen Stuhl zu dieſem rückte, und ihm ein paar Worte
in's Ohr ſagte. Der Invalide ſchlug mit der Fauſt auf den Tiſch
und ſtieß ein herzliches Gelächter aus, das er zwei, dreimal raſch nach
einander die Tonleiter herabrollen ließ.


Was iſt's? Was gibts? ſchrieen die Andern.


Im Amthaus hat man's ſeit heut Vormittag ſchon gewußt, fuhr der
Schütz halblaut, doch ſo, daß die Andern es hören konnten, gegen den
Invaliden fort. Dort iſt ein Jubeln und Lachen drüber, daß dem
geſtrengen Herren ſo eine Eul' aufgeſeſſen iſt. Wer Naſen wachſen
ſehen will, der muß jetzt nach Göppingen gehen, da iſt eine ganze
Cultur davon, wie ein junger Wald, alle ſo lang. Dasmal hat man's
durch kein' Erpreſſen 'runter vermelden laſſen, ſondern durch eine ſtille
Gelegenheit.


Was iſt denn geſchehen? fragte der Müller, dem Schützen ſein
Glas anbietend, da er dieß für das geeignetſte Mittel hielt, ihn zum
Reden zu bringen.


Der Schütz trank es vergnüglich aus und antwortete dann: Man
darf's eigentlich noch gar nicht ſagen, das Oberamt hat's bei Kopf¬
abhauen verboten, denn dort ſchämen ſie ſich ſchwarz.


[350]

Andere folgten dem Beiſpiel des Müllers, da der Schütz ent¬
ſchloſſen ſchien, ſeine Neuigkeit ſo gut als möglich zu verwerthen.


Was iſt denn los? fragte endlich der Fiſcher den Invaliden.


Ein Vogel, antwortete dieſer lachend.


Der Schütz ſah den Fiſcher, der ſeinen Wein an ihm geſpart
hatte, eine Weile ſtillſchweigend an, gleichſam um die Wirkung ſeiner
Worte vorzubereiten. Er iſt durch! ſagte er dann geheimnißvoll.


Das blaſſe Geſicht des Fiſchers, der die Wahrheit bereits geahnt
haben mochte, wurde einen Augenblick kreideweiß. Die Andern be¬
griffen noch nicht recht, um was es ſich handelte, und ſtarrten den
Schützen mit aufgeriſſenen Augen an. Wer iſt durch? fragte der
Müllerknecht.


Wer? rief der Schütz. Gibt's denn Zwei ſo? Der von Hohentwiel
über alle Mauern und Felſen fortgeflogen iſt, hat dem Göppinger
Käfig die Ehr' auch nicht laſſen wollen. Wie er geſtern eingeliefert
worden iſt, ſchon ſpät in der Nacht, hat man ihn auf die Hauptwacht
geſetzt, hat ihm ein eiſern Halsband und den Hoſenträger angelegt
und hat ihn mit einer Kette an die Wand angefeſſelt, ſo daß er drei,
vier Schritt' hat in der Stub' 'rumgehen können. Auch hat man ihm
zween Mann beigeben, die ihn die ganz' Nacht hätten verwachen ſollen.
In der Nachmittnacht iſt der ein' Wächter fort und hat Eins ge¬
ſchrieen; wie er aber zurückkommt, ſind't er ſein' Kameraden einge¬
ſchlafen — der behauptet, es müſſ' ihm angethan worden ſein — und
kein Sonnenwirthle iſt nimmer dageweſen. Er hat den Göppingern
ihren Geſchmuck mit fort, Halsband und Hoſenträger, wahrſcheinlich
hat er's zum Andenken behalten wollen. Und ſein' Chriſtine wird jetzt
auch wieder bei ihm ſein. Ich glaub', er hat ſich extra deswegen fangen
und nach Göppingen liefern laſſen, um ſie dort abzuholen, aber er iſt
zu ſpät kommen, denn geſtern Abend, noch vor ſeiner Ankunft, hat
man ſie losgelaſſen, weil man nicht gewußt hat, was man eigentlich
mit ihr thun ſoll; und da wird er wohl denkt haben, er ſei jetzt
überflüſſig, und iſt alſo auch gleich wieder fort.


Wie's Teufels iſt er denn aber von der Kette kommen? fragte der
Müller.


Du haſt ſchon den rechten Namen genannt, ſchrieen ihm Mehrere
zu. Kannſt dir wohl denken, wer ihm allemal forthilft.


[351]

Jetzt muß wieder der Teufel im Spiel ſein! ſagte der Invalide
lachend.


Wiſſet ihr nicht mehr, rief einer der Gäſte, wie er in der Stub' da
— an dem Platz, wo jetzt der Peter ſitzt, iſt er geſeſſen — Der Knecht
rückte bei dieſen Worten etwas betreten den Stuhl — wie er da ge¬
ſagt hat, er glaub' an gar nichts? Ich hab' gleich bei mir denkt, es
werd ſein' guten Grund han, daß er nichts zugeben will. Denn ſich
aus Ketten und Banden nur ſo 'rausſchälen, und über Mauern und
Felſen 'runterkommen — Mannen! das ſind Ding' die nicht natürlich
zugehen.


Der Redner ſah ſich unwillkürlich um, ob nichts Unheimliches
hinter ihm ſei. Die Andern murmelten: Gott ſei bei uns!


Der Invalide hatte inzwiſchen dem Schützen zugehört, der ihm
erzählte: Man hat auf ſeiner Britſch' 'n Nagel gefunden, den er
draus 'raus gezogen haben muß, und an der Kette ein ſchadhaftes
Glaich, das er wahrſcheinlich mit dem Nagel vollends aufdruckt hat;
denn Dem iſt ein Nagel mehr als einem Andern ein ganzes Hand¬
werkszeug. So gibt's bloß Ein'.


Wer hätt' ſich's auch träumen laſſen, begann Einer, daß die
Metzelſupp' ſo ausging'! Sie hat ſo luſtig angefangen.


Es kann noch Blutwürſt' regnen, fiel ein Andrer ein. Jetzt kann's
der Fleck' büßen müſſen, daß man ihm ſo nachgeſtellt hat und erſt
noch vergeblich.


Es iſt auch nicht recht, ſagte ein Dritter, daß man einen Men¬
ſchen zu ſeinen Kindern lockt und bei ihnen überfällt. So was ſollt'
man ja dem unvernünftigen Thier nicht zu Leid thun.


Ja, 's iſt wider die Natur, ſagte ein Vierter. Ich will nichts
davon, und wenn ich auch drunter mitleiden muß, ſo weiß ich doch
wenigſtens, daß mich's unſchuldig trifft.


Er ſagte dies ſo laut, daß man es in jeder Ecke der Stube hören
konnte. Nun, wenn er etwa unſichtbar zugegen iſt, bemerkte der In¬
valide lachend, ſo hat er's ſicherlich gehört und wird ſich darnach richten.


Der Fiſcher, der bei der veränderten Lage der Dinge die öffent¬
liche Meinung von ſich abfallen ſah, ſagte ingrimmig: Die Göppinger
können warten, bis ich ihnen wieder Einen fang' und mir für ſie die
Finger verbrenn'.


[352]

Ja, verſetzte der Müller, und meinen ſie denn, ihr Unſchick ſei
dadurch ungeſchehen gemacht, daß man nicht davon reden ſoll?


Auf die Länge läßt's ſich natürlich nicht verbieten, ſagte der
Schütz. Der Befehl iſt aber, man ſolle vorderhand kein unzeitig Ge¬
ſchrei machen, wenn er aber ſo verwegen ſei, daß er ſich abermals in
die hieſige Gegend ziehe, ſo ſolle man unverweilt und mit der größten
Oeffentlichkeit einen Preis von hundert Gulden auf ſeinen Kopf ſetzen.


Hundert Gulden? rief der Fiſcher. Auf ſein' Kopf? rief der


Müller.


Hundert Gulden, wer ihn bringt, lebendig oder todt, antwortete
der Schütz.


Der Fiſcher ſchlug die flachen Hände auf den Tiſch. Den Preis
will ich verdienen, ſagte er.
Ich auch! rief der Müller.


Und ich! rief der Knecht, dem die Geſpenſterfurcht zu vergehen
ſchien, ſeinem Meiſter nach.


Die andern Gäſte tranken ſchweigend aus, und ihre langen Ge¬
ſichter verriethen, daß das Gelübde der Drei ſie nicht ſonderlich im
Glauben an die Sicherheit des Fleckens befeſtigt habe. Bei dem all¬
gemeinen Aufbruch waren der Invalide und der Schütz die Letzten.
Gelt, Beck, haſt auf eine größere Zech' abgehoben? ſagte dieſer zum
Bäcker, und jetzt iſt auf einmal ein Haar in dein' Wein gefallen.
Ich will dich wenigſtens einigermaßen ſchadlos halten. Gib mir ein
paar Schoppen mit, das Amt ſoll's zahlen. Es muß heut Nacht
etliche Mannſchaft auf'm Rathhaus wachen, für alle Fäll'. Der Herr
will ruhig ſchlafen können, denn 's iſt ihm doch nicht ganz wohl bei
der Sach'. Aber trotzdem bricht er einmal über's ander' in ein Lachen
aus, daß ihm der Bauch wackelt, und ſagt' vor ſich hin: Ich ver¬
nemme, daß die Anſtalten des Herrn Vogts nicht die beſten ſind.


Er empfing den verlangten Wein und ging mit dem Invaliden
fort. Der Bäcker, der jetzt allein war, zündete eine Küchenampel an,
löſchte die Lichter und ſetzte ſich in den hinterlaſſenen Lehnſtuhl ſeiner
verſtorbenen Frau, um hier die nahe Backſtunde abzuwarten, viel¬
leicht auch in der Hoffnung, an die Wachmannſchaft auf dem Rath-
hauſe noch etwas von ſeinem Wein abzuſetzen. Er ſchlief ein, glaubte
aber noch nicht lange geſchlafen zu haben, als er, durch ein Geräuſch
[353] oder eine innere Beunruhigung erweckt, die Augen aufſchlug. Mit
offenen Augen glaubte er zu träumen, denn am Wirthstiſche ſaß in
dieſer ſpäten Stunde eine Geſtalt, die den großen Krug vor ſich auf¬
gepflanzt, eine Flaſche daraus geſpeist hatte, und den Wein aus dem
gefüllten Glaſe bedächtig koſtete. Der Bäcker ſchloß die Augen und
öffnete ſie wieder, aber die Erſcheinung war noch immer da und ſchien
greifbare Wirklichkeit zu ſein. Durch den Wald von Kopf- und Bart¬
haaren, die das trotzige Geſicht beinahe ganz bedeckten und ihm für
einen unter lauter glatten Geſichtern aufgewachſenen Menſchen ein
fürchterliches Ausſehen gaben, erkannte er ihn bei dem armſeligen Schein
der Ampel, den Gefürchteten, den Schrecken der Gemeinde, des Amt¬
manns und des Vogts. Sein Blick ruhte mit ſpöttiſchem Ausdruck
auf dem Wirth. Haſt wieder einmal geduſelt, Beck? begann er. Dein
Wein iſt nicht beſonders. Wie dein Weib noch gelebt hat, haſt du
einen beſſern geführt. Gott hab' ſie ſelig, ſie war ein braves Weib,
ſchlecht und recht, betete wenig Sprüche, hatte aber Chriſtenthum im
Herzen, und hätte es für eine Sünde gehalten, einen guten Wein zu
verderben. Ich will nicht hoffen, daß du ihn ſchmierſt.


Er ſteht ſchon den ganzen Abend im Krug, ſagte der Bäcker
ſchüchtern. Ich will friſchen holen.


Thu' das und komm bald wieder, denn ich hab' eine Erquickung
nöthig.


Der Bäcker ging. So wie die Thüre ſich hinter ihm geſchloſſen
hatte, eilte der ſeltſame Gaſt hinzu und horchte. Bald hörte er, wie
die Hausthüre ging und der Schlüſſel langſam und leiſe darin umge¬
dreht wurde. Ich hab's von dem Schubjack nicht anders erwartet,
als daß er mich verrathen werde, ſagte er und ſah ſich in der Stube
um. Der große tiefe Wandſchrank ſchien ihm zu gefallen: er ſchloß
ihn auf, leuchtete einen Augenblick hinein und ſtellte dann die Ampel
wieder genau dahin, wo ſie geſtanden war. Schlechte Maus, die nur
ein Loch weiß, aber es wird genügen, ſagte er, ſchlüpfte in den Schrank
und zog die Thüre deſſelben hinter ſich zu. Er war noch nicht lange
darin, als die Hausthüre mit Geräuſch aufgeſchloſſen wurde die
Wachmannſchaft, den Bäcker an der Spitze, in die Stube ſtürzte. Sie
ſahen ſich um. Wo iſt er denn? ſchrieen Alle wie aus Einem Munde.
Da iſt er geſeſſen, ſagte der Bäcker beſtürzt. Geſchwind, das Haus
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 23[354] durchſucht! ſchrieen ſie und vertheilten ſich nach allen Richtungen. Die
Stube, die angrenzende Kammer und Küche wurden ſorgfältig durch¬
geſucht, aber an den Schrank dachte Niemand. Nachdem ſie hier und
in den andern Räumen des Hauſes mit den wieder angezündeten Lich¬
tern in jeden Winkel geleuchtet und nichts gefunden hatten, kamen ſie
zurück. Die Einen ſchalten, die Andern höhnten den Bäcker, daß er
ſie um eines leeren Traumes willen in Allarm gebracht habe. Derſelbe
ſchwur hoch und theuer, der Sonnenwirthle ſei in ſeinem Haus ge¬
weſen, auf dieſem Stuhle ſei er geſeſſen und aus dieſer Flaſche habe
er getrunken. Jetzt glaub' ich's auch, ſagte er, daß er mit dem Teufel
im Bund iſt, denn ſonſt könnt' ich nicht begreifen, wie er 'nauskommen
iſt, denn ich hab' die Hausthür' zugeſchloſſen, wie ihr ſelber wiſſet,
und einen andern Ausgang gibt's nicht. Daß er 'reinkommen iſt,
wundert mich weniger, denn es wär' möglich, daß ich vorher nicht zu¬
gemacht hätt', weil ich mir fürgeſtellt hab', ihr werdet doch noch mehr
Wein wollen.


Das iſt noch das Vernünftigſt', was dir den ganzen Abend durch
dein' Schädel gangen iſt, ſagte der Schütz. Und da wir einmal da
ſind, ſo wollen wir eben ſo frei ſein und des Sonnenwirthles ſein'
Wein verſuchen. Sein Wohl! Ich wünſch' ihm, daß er weit von hier
ſein gut's Brod finden und uns nichts mehr zu ſchaffen machen
möcht'.


Er trank und ließ die Flaſche weiter gehen. Du biſt gut laden,
wie lang's Heu, ſagte ein Anderer zu ihm.


Ja, du haſt deine beſte Züg' im Hals, bemerkte ein Dritter.
Nachdem die Flaſche geleert war, ſprachen ſie auch noch dem Kruge
zu, ſcherzten über die Geiſterſeherei des Bäckers und begaben ſich end¬
lich wieder auf ihren Poſten zurück. Der Bäcker begleitete ſie, ſchloß
die Hausthüre hinter ihnen ſorgfältiger als jemals ab, und ging wieder
in ſeine Stube. Aber wer vermag ſein Entſetzen zu beſchreiben, als
er ſeinen furchtbaren Gaſt an derſelben Stelle und in der gleichen Hal¬
tung wie vorhin am Tiſche ſitzen ſah. Langſam und ruhig, aber mit
dem ſtrengen Blicke eines Richters, wendete dieſer ſein Geſicht nach
ihm hin. Elender Hund, ſagte er, hab' ich dir je in meinem Leben
etwas zu Leid gethan? Kannſt du's vor deinem Weib verantworten,
daß du den Verräther an mir gemacht haſt? Sie würde dich nicht
[355] mehr anſehen, wenn ſie noch lebte. Geh', du biſt nicht werth, in
dem Stuhl zu ſitzen, der ſo oft ihr Schmerzenslager war.


Der Bäcker zitterte und hatte alle Faſſung verloren.


Der Gaſt ſchlug ein Gelächter auf, das dem Wirth durch Mark und
Bein ging. Was ſeid ihr doch für erbärmliche Dummköpfe! 'rief er.
Ihr habt mich geſehen, angerührt und in der Hand gehalten, und
habt mich doch mit allen euren Lichtern nicht gefunden.


Der Bäcker ſtarrte ihn mit irren Blicken an. Der Schreckliche erzählte
ihm haarklein Alles was vorgegangen, und wiederholte ihm jedes Wort,
das geſprochen worden war. Dem Bäcker wirbelte der Kopf.


Dummer Tropf! da, in der Bouteille bin ich geſteckt! rief Jener
endlich höhniſch.


Der Bäcker fiel auf die Kniee, ſtreckte die Hände, wie um Gnade
flehend, nach ihm aus, und war feig genug, zur Verminderung ſeines
eigenen Kerbholzes, ihm zu verrathen, welches Gelübde der Fiſcher,
der Müller und deſſen Knecht gethan.


Jetzt hol' mir friſchen Wein, haſt mich lang genug warten laſſen.
Ich will dich noch einmal auf die Probe ſtellen, aber ich folge dir
unſichtbar. Wenn du mir einen falſchen Tritt thuſt, ſo ſitz' ich dir
im Nacken und will dich reiten, daß du nach Gott ſchreien ſollſt.
Und miſch' mir den Wein nicht, Schuft, oder du ſollst mir keines
natürlichen Todes ſterben.


Diesmal brauchte er nicht an der Thüre zu lauſchen, denn der
Bäcker hatte ſie weit offen gelaſſen. Er hörte ihn den richtigen Weg
nach dem Keller einſchlagen, aus welchem er bald wieder zurückkam,
faſt wahnſinnig vor Angſt, die ſich erſt etwas legte, als er das Ge¬
ſpenſt nicht mehr unſichtbar hinter ſich vermuthen mußte, ſondern leib¬
haftig vor ſich am Tiſche ſitzen ſah. Der Unhold ſtellte ihm die mißliche
Aufgabe, ſich zu beſinnen, welche Strafe er durch ſeinen Verrath ver¬
dient habe, und trank, während der Bäcker alle Qualen der Todesangſt
ausſtand, ſeinen Wein langſam und behaglich aus. Dann erhob er
ſich mit den Worten: Wenn ich wiederkomme, ſo laß dir keinen ſolchen
Spaß mehr einfallen, ich könnt' ein andermal ernſthafter aufgelegt ſein.
Was ſchauſt denn ſo nach meinem Fuß? fuhr er ihn an: ja ſo, du
biſt neugierig, ob kein Pferdefuß zum Vorſchein komme. Nein, dum¬
mer Kerl, das Ding ſitzt nicht im Fuß. Sieh, da ſitzt's! Er klopfte
23 *[356] ihm mit dem Knöchel des Fingers an den Kopf, wie man an ein Faß
klopft, aber ſo ſtark, daß der Bäcker beinahe zu Boden fiel. Dann
verließ er das Haus und der Bäcker ſchloß abermals die Thüre, aber
ohne den beruhigenden Glauben, daß dieſe Maßregel ihm irgend eine
Sicherheit zu gewähren vermöge. Er dachte nicht mehr an das Backen,
ſondern löſchte ſchnell die Lichter und ſchlüpfte angekleidet, von Angſt
und Fieber geſchüttelt, in ſein Wittwersbett.


Der Geächtete ging nach der einzigen Heimath, die er noch in ſei¬
nem Vaterorte hatte, obwohl auch dieſe für ihn unzuverläſſig geworden
war. Er drückte den Riegel der Hinterthüre, den Finger durch die
Thürſpalte drängend, leiſe zurück, und nach wenigen Augenblicken ſtand
er vor dem Bette ſeiner Schwiegermutter. Auch dieſer drang ein
eiſiger Schreck durch die Gebeine, als ſie, plötzlich erwachend, in un¬
gewiſſem Sternenlichte eine geiſterhafte Geſtalt mit aufgehobenem Finger
vor ſich ſtehen ſah und alsbald ihren verrathenen Schwiegerſohn er¬
kannte.


Welchen Judaslohn habt Ihr für die Auslieferung gekriegt?
fragte er.


Sie vermaß ſich mit den höchſten Schwüren, daß ſie weder etwas
bekommen noch etwas verdient habe und daß der Ueberfall ihr ſelbſt
ganz unverſehens gekommen ſei. Er ließ den Verdacht, der mehr in
ſeinem Gemüth als an beſtimmten Beweiſen haftete, auf ſich beruhen,
und weckte ſeinen Knaben. Der Kleine lächelte ihn mit halboffenen
Augen wie im Traume an.


Da ſiehſt, Friederle, daß dein Vater frei iſt. Brauchſt dich nicht
zu grämen. Willſt mit?


Er wird doch nicht das Kind durch die Wälder 'rumſchleifen wol¬
len! rief die Alte lebhaft. Ein Vater kann ſein' Buben in dem
Alter noch nicht pflegen.


Er hat ja ſeine Mutter, antwortete er. Sie iſt frei und wohl
aufgehoben.


Gott ſei Lob und Dank! rief die Alte, ſei es daß eine menſchliche
Regung ſie erfaßt hatte, oder daß ſie ihn in guter Laune zu erhalten
trachtete. Aber wenn auch! fuhr ſie fort: das iſt kein Leben für ein
Kind, und mein Hühneraug' ſagt mir, daß noch einmal Schnee fällt.
Laſſ' Er mit nur den Buben da, ich geb' ihn nicht her.


[357]

Sie kannte ihn wohl und hatte die rechte Saite getroffen. Wenn
Ihr eine gute Ahne ſeid, ſagte er, ſo will ich Fünfe grad' ſein laſſen.
Aber fahret mir ſäuberlich mit den Kindern, das ſag' ich Euch. Wo
ich auch bin, mein Aug' zielt immer daher und ich weiß immer wie's
bei Euch ſteht, ſo gut als wenn ich gegenwärtig wär'.


Er küßte die Kinder, von welchen das kleinere ruhig fortſchlief,
und wandte ſich zum Gehen.


Ich will noch einmal mit dem Sonnenwirth wegen der Auswan¬
derung reden, rief ihm die Alte nach. Wo Er ſich mit der Chriſtine
aufhält, will ich nicht fragen, damit Er nicht wieder mißtrauiſch wird.
Er kann ſich ja von Zeit zu Zeit erkundigen oder durch vertraute
Leut' anfragen laſſen. Und halt' Er ſich nicht hier auf, das Klima
iſt nicht geſund für Ihn.


Schon recht, aber erſt thu' ich noch einen Tuck, antwortete er
und war verſchwunden. Die Alte fuhr unter die Decke und murmelte
ein langes Dankgebet für ihr glückliches Entrinnen.


Am andern Tage gerieth der Flecken in eine unausſprechliche Auf¬
regung, als man die Begebenheiten der verfloſſenen Nacht erfuhr.
Außer dem Beſuche bei dem Bäcker, der in Folge der erlittenen Schreck¬
niſſe krank darniederlag, hatte der Sonnenwirthle noch ein weit tolleres
Stück verübt. Er war auf unerklärliche Weiſe in das Haus ſeines
Todfeindes, des Fiſchers, eingedrungen, hatte dieſen nebſt deſſen Frau
aus ihrem zweiſchläfrigen Bette aufgeſcheucht, ſich's auf demſelben be¬
quem gemacht und das Ehepaar mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen,
ihm die ganze Nacht Geſellſchaft zu leiſten. Kochend vor Wuth hatte
der Fiſcher es gleichwohl nicht wagen dürfen, einen Fuß zu rühren
oder einen Laut von ſich zu geben, und war der Gewehrmündung des
ſchwergereizten Feindes, ſo wie ſeinem bitter höhnenden Witze eine end¬
loſe Nacht hindurch preisgegeben geweſen, während nicht weit davon
auf dem Rathhauſe für die allgemeine Sicherheit gewacht wurde.
Vor Tagesanbruch hatte der Eindringling das Haus unter den grä߬
lichſten Drohungen und mit feierlicher Wiederholung des Schwures,
daß er den nächſten Angriff unnachſichtlich mit einer Kugel beſtrafen
werde, verlaſſen, ohne jedoch dem Fiſcher ein Haar gekrümmt zu haben,
und zufrieden mit der Angſt, die er ihn hatte ausſtehen laſſen. Im
Fortgehen aus dem Flecken hatte er ſich ſodann noch dem obern
[358] Müller in's Andenken geſchrieben, indem er ihn mit einem Schuß
durch das Fenſter begrüßte, der aber, da er von unten nach oben
ging und in die Decke ſchlug, nicht in gefährlicher Abſicht verſendet
ſein konnte.


Von dieſem Tage an wurde der ausgeſtoßene Sohn des Sonnen¬
wirths von dem im Banne des tiefſten Aberglaubens befangenen Volk
zum Helden einer Sage erhoben, welche ſein wunderbares Entkommen
aus Mauern und Banden dem Bunde mit der Hölle zuſchrieb. Der
Amtmann war in Verzweiflung, da dieſer Hexenglaube vollends alle
Thatkraft lähmte und den zur Rache entflammten Flüchtling, deſſen
hellem Geiſte ſich hier ein neues Schreckmittel darbot, zum unum¬
ſchränkten Herrn des Fleckens zu machen drohte. Der Fiſcher und der
Müller, dem ſein Knecht blindlings folgte, erholten ſich zuerſt von den
Schrecken jener Nacht, indem bei ihnen die Wuth über den Aberglauben
ſiegte. Beſonders wurde der Fiſcher durch die Spöttereien des von
ihm herausgeforderten Invaliden aufgeſtachelt, welcher keine Gelegenheit
vorüber ließ, auf die heimlichen Gaſtfreunde, die der Sonnenwirthle
im Flecken habe, anzuſpielen; und er betheuerte ſich zu wiederholten
Malen, daß er einen Schuß an die ausgeſetzten hundert Gulden rücken
wolle, verſchwor ſich auch förmlich mit den beiden andern Theilhabern
ſeiner Rache, dem Verhaßten aufzupaſſen und ihn lieber todt als le¬
bendig dem Amte zu überliefern. Die übrigen Bürger aber fühlten
wenig Luſt, es mit einem Zauberer aufzunehmen, der vor ſeinen Ver¬
folgern ſich in eine Halbmaßflaſche verkriechen oder in Pudelgeſtalt
davonrennen konnte. So geſchah es einſt, daß zehn mit Schaufeln
bewaffnete Männer, die ihm nahe bei dem Flecken begegneten, unge¬
achtet des auf ſeinen Kopf geſetzten Preiſes ihn nicht anzugreifen
wagten. Sogar im Schlaf erweckte er Furcht, da man glaubte, daß
er mit geſchloſſenen Augen zu ſehen vermöge. Zwei Poſtknechte fanden
ihn neben der Landſtraße an einem Raine ſorglos eingeſchlafen; einer
hatte nicht das Herz ſich ihm zu nähern und ritt davon; der andere
aber wagte ihn zu wecken und ihm bemerklich zu machen, daß er hier
nicht ſicher ſei. Ob jedoch bei ſolchen Vorgängen nur die Furcht und
nicht auch eine menſchliche Theilnahme an dem Looſe des Unglücklichen
mitgewirkt habe, das iſt eine Frage, über welche das menſchliche Herz
wohl kaum einen Zweifel haben wird.


[359]

Aber auch dem Geächteten konnten ſelbſt ſeine erbittertſten Feinde
mildere Herzensregungen nicht abſprechen. Es war eben um jene Zeit,
daß ein Eßlinger Metzgerburſche, der auf den Einkauf von Schlachtvieh
in die Dörfer der Umgegend ausgeſandt war, Abends ſpät noch halb
todt vor Schrecken nach Ebersbach kam und ein im Walde erlebtes
Abenteuer erzählte. Er hatte in einer Dorfſchenke einen Unbekannten
getroffen, deſſen offenes Geſicht ihm gefiel und dem er beim Wein
vertraute, daß es ihm nicht wohl zu Muthe ſei, mit ſeinem vielen
Gelde Abends allein durch die Wälder gehen zu müſſen, wo der
Sonnenwirthle hauſe. Sogleich erbot ſich der Unbekannte ihm das
Geleite zu geben. Sie tranken noch ein Glas und machten ſich auf
den Weg. Als ſie im dichteſten Walde ganz allein gingen und trau¬
lich mit einander redeten, blieb der Führer auf einem öden Platze am
Saume eines finſtern Dickichts plötzlich ſtehen und hob an: So, jetzt
will ich auch ſagen, wer ich bin — ich bin der Sonnenwirthle. Der
Wanderer fuhr zuſammen, wie vom Donner gerührt. Nachdem ſich
der Geächtete eine Weile an ſeiner Furcht geweidet hatte, ſagte er:
Ich bin nicht ſo ſchlimm, wie die Leut' ſagen, ich hab' Euch mein
Wort gegeben und das halt' ich Euch als Mann von Ehre, ob ich
auch noch ſo reich werden könnt' durch Euer Geld; damit Ihr Euch
aber nicht unnöthig ängſtiget, ſo will ich den ganzen Weg vollends
vor Euch hergehen; folgt mir nur, Ihr kommt mit einer ganzen Streif¬
mannſchaft nicht ſicherer durch den Wald. Er ging voraus und der
Metzger folgte ihm heimlich zagend; aber nach einer Stunde ſah er
ſich wohlbehalten an der Filsbrücke bei Ebersbach. Dort kehrten beide
in einem einſamen Wirthshauſe noch einmal mit einander ein; der
Metzger wollte ſeinem redlichen Führer ein Trinkgeld aufdrängen, dieſer
aber wies es mit Stolz zurück.


Neben dieſer verbürgten Thatſache erzählt die Volksſage aus der
gleichen Zeit einen minder ſanften Zug von ihm. Auf der Landſtraße,
die er ungeſcheut zu betreten wagte, begegnete ihm einſt eine arme
Frau — die Sage behauptet, es ſei ſeine eigene Schwiegermutter ge¬
weſen — und klagte ihm ihre Noth, daß ſie nicht einmal im Stande
ſei, für ihre Kinder ein Spruchbuch zu kaufen. Er gab ihr ſogleich
das nöthige Geld und ſie entfernte ſich unter tauſend Dankſagungen.
Als ſie aber ſpäter den Weg zurückkam, ſah ſie ihn, als ob er der
[360] Wächter der Gegend wäre, an der alten Stelle ihrer warten, und er¬
ſchrack nicht wenig, als er nach ihrem Korbe griff, in welchem er ſtatt
des Spruchbuchs Eier fand, die ſie um das Geld gekauft hatte. Er¬
grimmt über den Mißbrauch ſeines Geſchenkes, ſchalt er ſie eine Freſ¬
ſerin und machte ſie zur Zielſcheibe für die Eier, indem er mit ſiche¬
rem Wurfe eines um das andre an ihr zerſchellte, ſo daß ſie über und
über triefend nach Hauſe kam.


Wie ein böſer Geiſt ſchweifte er um ſeinen heimathlichen Flecken
umher, und wenn er Leute traf, ſo verhörte er ſie, was man in
Ebersbach von ihm ſage, wobei er niemals unterließ, die grauſamſten
Drohungen auszuſtoßen, ſo daß ihm die Sage bereits eine Menge
Greuelthaten andichtete, ehe er eine einzige begangen hatte. Sein von
Groll und Rache umhergetriebenes Gemüth ſann die wildeſten Thaten
aus; aber das angeborne beſſere Gefühl hielt ſeine Hand zurück.


Auch der Vogt ermüdete in ſeiner Verfolgung und ſchrieb an den
Amtmann, da mit Streifen auf dieſes carcinoma doch nichts gethan
ſei, ſo ſolle man nur noch in der Stille Poſten ausſtellen und die
Eingänge der Häuſer, denen etwa ſein Beſuch bevorſtehe, hinlänglich
beſetzen.

32.

Der letzte Schnee des Winters war gefallen und wieder gegangen.
Der Frühling hatte den Wald mit dem Jauchzen der Vögel erfüllt
und das Feld mit dem lichten Meere ſeiner Blüthen überfluthet; die
Blüthen waren gefallen und der Waldgeſang war immer dünner ge¬
worden. Die Sonne brannte ſtärker und der anbrechende Sommer
verhieß der harrenden Welt die Fülle ſeines Segens, ſo daß es un¬
möglich ſchien, daß inmitten des überall aufſchießenden Reichthums
Armuth, Noth, Hunger und Gier nach der Habe des Glücklicheren
in der Welt vorhanden ſein ſollte.


Auf einem abgelegenen Hofe, der zwiſchen dem Hohenſtaufen und
dem Filsthal mitten in den Wäldern von einem ſpärlichen Stück
[361] Feldes umgeben lag, ſaß eines Tages der Erbe der Sonne von
Ebersbach bei dem Weibe, um deſſen Beſitz er ſo lange mit der Welt
geſtritten hatte, bis ihm ſelbſt jeder Anſpruch auf ein Eigenthum und
eine Heimath in der Welt verloren gegangen war. Mit Hilfe des
Krämerchriſtle, der nach ſeinem Vornamen und einem kleinen Kram¬
handel ſo genannt wurde, hatte er ſie bei einer hier verheiratheten
Schweſter deſſelben untergebracht, zahlte ein kleines Koſtgeld für ihren
armſeligen Unterhalt und kehrte von ſeinen Streifereien in der Ge¬
gend immer wieder zu ihr zurück. Die Hofbewohner waren ihren
Feldarbeiten nachgegangen und das Paar befand ſich allein. Chriſtine
ſaß am Tiſche, wo ſie ein paar rohe Lappen zuſammengenäht hatte,
und ſtützte den Kopf auf den aufgelegten Arm. Friedrich hatte ſich
in die Fenſterecke gedrückt, wo er mit gekreuzten Armen düſter vor
ſich hinbrütete. Die ärmliche Wohnung gewährte ihnen einen vorüber¬
gehenden Schein von Haus und Heimath, der aber freilich ſchnell
wieder verſchwand, ſobald Jemand von den wirklichen Inſaſſen in die
Stube trat.


Nach einem langen trüben Stillſchweigen warf ſie einen Blick
auf ſeinen abgenutzten Rock, ſah aufmerkſam hin und rief: Daß Gott
erbarm! Du haſt ja Blut am Aermel.


Kann ſein, erwiderte er, es hat dich ſchon einmal unnöthig er¬
ſchreckt.


Das iſt aber im Winter geweſen. Frieder, Frieder, ſag' mir's,
haſt du jemand erſchoſſen?


Juſt wie damals, wo du mich das erſtemal gefragt haſt. Damals
hab' ich geſagt: Dumme Seel', freilich hab' ich Einen erſchoſſen,
draußen im Wald liegt er, hat ein ledern Röcklein an und einen zackigen
Hut auf'm Kopf; und daſſelbe ſag' ich dir heut wieder.


Ja, iſt denn ſchon wieder die Zeit, daß man einen Hirſch ſchießen
kann?


Noth bricht Eiſen, ſagte er. Sie ſind noch erbärmlich dürr und
es gehört ein guter Hunger dazu, um das Fleiſch genießbar zu finden,
aber im ſchlimmſten Fall iſt wenigſtens die Haut zu brauchen. Das
Handwerk hat überhaupt ſtark nachgelaſſen, und ich ſeh' kaum hinaus,
wie's weiter werden ſoll. Ich hab' den Winter über das groß' und
kleine Gewild rudelweis geſchoſſen und die ganze Umgegend von Boll
[362] bis Gmünd damit verſorgt; und da führt mir der Teufel noch den Hof
daher, der mir nicht bloß die Jagd, ſondern noch viel mehr den Handel
verdorben hat, denn die machen dir in ein paar Tagen ein Schlacht¬
feld, daß man's ſchier verweſen laſſen muß. Wildpret iſt ſo wohlfeil
und ſo unwerth geworden, daß man mir einmal in einem Pfarrhaus
ein übergelaſſenes Stück Hirſch vorgeſetzt hat von meiner eigenen Hand.
Ich hatt's den Tag zuvor geſchoſſen und durch den Chriſtle dahin ver¬
kaufen laſſen, der's ihnen mit Müh' und Noth aufgeſchwätzt hat um
ein Bettelgeld. Wie ich den Tag drauf vorüberkomme, ruft mir die
Pfarrerin vom Fenſter, ob ich nicht um's Warme ein wenig Holz
ſpalten wolle. Ich hab's gern gethan, weil mich's gefroren und ge¬
hungert hat; und wie ich dann mit Hirſchbraten bin abgefüttert wor¬
den, hab' ich doch denken müſſen: die Waar' muß tief im Preis ſtehen,
wenn man ſie dem billigſten Taglöhner nachwirft. Hab' auch bald
meine Rechnung richtig gefunden, denn beim Grethmeiſter in Gmünd,
im dortigen Barfüßerkloſter, wo ſonſt immer ein gutes Geſchäft zu
machen war, und in allen Pfarrhäuſern weit und breit — nirgends
iſt mehr was anzubringen geweſen. Drüber iſt dann die Jagdzeit ohne¬
hin vollends zu End' gangen, aber ich beſorg' mich, wenn ſie auch
wieder anhebt, ſo werden die Leut' noch ſatt und voll vom Wildpret ſein,
und werden Rindfleiſch vorziehen, das ich ihnen nicht ſchießen kann.
Froh iſt freilich Alles in den Dörfern und auf den Höfen, wenn ich
das Wild wegſchieße, aber niemand zahlt mir ein Schußgeld dafür.


Schlechte Ausſicht! ſagte ſie. Und ich ſpür's hier wohl, daß du
nicht viel in's Haus bringſt.
Sind ſie wüſt gegen dich?


Das grad nicht, ſie ſind freundlicher als auf den andern Höfen,
wo du mich hinbracht haſt. Deine Verbindung mit dem Chriſtle thut
mir gut bei ihnen, aber doch laſſen ſie mich's merken, daß du das
Koſtgeld die Zeit her ſchuldig blieben biſt.


Mach' dich jetzt auf, Chriſtine, mußt mir die Hirſchhaut den
Wald hinunter tragen, abgezogen hab' ich ſie ſchon, und in der Teufels¬
kling' verſtecken, damit ſie der Chriſtle mitnehmen kann. Er kommt morgen
von Rechberghauſen aus dort hinab, und von da mußt du mit ihm
den Waldſteig nach Gmünd gehen.


Das geſchieht mir ſauer, wendete ſie weinerlich ein.


[363]

Du kannſt mir nicht vorwerfen, daß ich dich plage, entgegnete er.
Ich hab' dich ein einzigsmal dieſen Winter zur Jagd mitgenommen
und hab' gemeint, du könnteſt mir am Wald vorſtehen und das Wild
zurücktreiben. Wie du aber wehleidig gethan haſt, hab' ich dich gleich
gehen laſſen und nie wieder mitgenommen. Diesmal aber muß es ſein,
die Haut wird dich nicht zu Boden drücken, und in Gmünd mußt mit
beim Erlös ſein, damit mich der Chriſtle, der abgeführte Spitzbub',
nicht betrügt, denn ſonſt kann ich deine Schuld hier nicht bezahlen.
Die Haut trägt dir morgen der Chriſtle, heut aber mußt ſie ſelber
tragen, denn ich will derweil ſehen, ob ich nicht noch einen ſchießen
kann. Komm!


Sie ſeufzte. Du mußt dich aber vor raſiren, ſagte ſie verdroſſen.
Jetzt haſt ſchon wieder ein achttägigs Stoppelfeld, und ich leid's
nicht, daß du dir den Bart wachſen läßt, denn du ſiehſt ſo arg wild
drin aus, und wenn dir Jemand begegnet, ſo muß er Wunder was
von dir denken.


Meinetwegen! brummte er, griff ohne Umſtände nach dem Raſir¬
zeug des Hofbeſitzers und kam ihrem Begehren nach, worauf ſie den
Hof verließen und den Weg nach dem Walde einſchlugen.


Iſt denn gar keine Möglichkeit, aus dem Leben da fortzukommen?
fragte ſie im Gehen mit kummervoller Miene. Du haſt mir ver¬
ſprochen, du wolleſt mich nach Frankfurt mitnehmen, oder in den
Krieg, haſt auch von Amerika geſagt. Ich ging' überall mit dir hin,
wenn ich nur aus dem Leben draußen wär' und die Kinder bei
mir hätt'.


Warum haſt dich in Dettingen fangen laſſen! verſetzte er un¬
wirſch. Während deiner Gefangenſchaft iſt mein Erſpartes von Sachſen¬
hauſen draufgangen, mein Vater thut keinen Zug, um ſein Verſprechen
zu halten, und wie kann ich denn als ein vogelfreier Menſch etwas
erwerben, damit wir zu Reiſ'geld kommen? Sag', ich ſoll in Ebers¬
bach einen höflichen Beſuch machen, oder mit einem Roßjuden, be¬
ſchnitten oder unbeſchnitten, nach dem Markt ein Wort in Güte reden,
dann ſollſt du Geld genug haben.


Um Gott'swillen nur nichts ſo! rief ſie.


So ſagſt du immer, aber dabei willſt in Einem fort Geld und
Lebensmittel, und bekümmerſt dich nicht drum, wo ich's hernehmen
[364] ſoll. So haſt du mich auch gequält, bis ich meinem Vater die Frucht
geholt hab', und dann wieder bis ich dem Pfarrer in's Haus geſtiegen
bin, und hintennach iſt dir's dann doch wieder nicht recht geweſen.


Es iſt auch nicht recht, ſagte ſie.


Gelt, weil's zu böſen Häuſern führen kann? Wenn du das nicht
willſt, ſo ſchick' dich eben in die Zeit, nur mach' mir nicht den Kopf
mit deinem Lamento warm.


Ach! ſeufzte ſie, ich hab' mir eben ein ganz anders Leben für¬
geſtellt, wie wir von Neckardenzlingen mit einander fort ſind. Da
hab' ich ſchon gemeint, ich werd' wieder jung, und hab' Alles gern
dahinten gelaſſen.


Machſt mir das zum Vorwurf? Bin ich nicht auch im Rohr ge¬
ſeſſen und hätt' mir Pfeifen ſchneiden können, und hab' ich nicht um
deinetwillen auf Alles verzichtet?


Wär'ſt lieber blieben, bis ſich etwas für uns gemacht hätt'. Hätt'ſt
mir ja derweil ſchreiben können.


Man kriegt ja keine Antwort von dir. Und hab' ich gewußt, wo
ich hinſchreiben ſoll? Nach Ebersbach, wenn du nicht dort biſt? Hätt'
ich mir etwa ſelber einen Paß von Sachſenhauſen nach Hohentwiel
ſchreiben ſollen?


Ich will nichts mehr ſagen, verſetzte ſie, du wirſt gleich ſo wild.


Sie gingen lange Zeit ſtillſchweigend hin. Was ſiehſt du denn
immer auf den Boden? fragte ſie, da ihr ſein Benehmen auffiel.


Da iſt wieder einer! rief er, ſich bückend und etwas aufhebend.
Es war ein friſch abgebrochener gabelförmiger Zweig. Er betrachtete
ihn von allen Seiten, ſchüttelte den Kopf, da er nichts weiter daran
fand, und legte ihn ſorgfältig wieder auf den Boden. Dann ſah er
ſich an den Bäumen um, blickte ſcharf von Stamm zu Stamm,
ſchüttelte den Kopf abermals, als fände er nicht, was er erwartete,
und ſetzte den Weg wieder fort. Sie waren eine weitere Strecke ge¬
gangen, da lag ein neuer Zweig von gleicher Form, den er aufmerk¬
ſam betrachtete, worauf er den eingeſchlagenen Weg verließ und einen
ſchmalen Seitenpfad zur Rechten betrat. Chriſtine folgte. Mit zu¬
friedenem Kopfnicken fand er dort bald wieder einen Zweig von der
vorigen Art und weiterhin noch mehrere. Sie waren einer wie der
andre an der Seite des Weges ſchief hingelegt, ſo daß von den beiden
[365] Spitzen der Gabel, deren eine geknickt war, die andre unverſehrte in
gleicher Richtung mit dem Wege vorwärts deutete.


Das ſind Zeichen, bemerkte Chriſtine, welche den Zweigen und
ſeiner Beobachtung derſelben eine geſpannte Aufmerkſamkeit zugewendet
hatte. Gelt, geſteh's nur, da ſind deine Kocher, oder wie ſie heißen,
um den Weg, und dein ſcheeler Chriſtianus will dir was zu wiſſen thun.


Wenn er da wär', ſo hätt' er mir ſeinen Zinken irgendwo hinter¬
laſſen, verſetzte er, es iſt aber nirgends nichts zu ſehen.


Nachdem ſie noch ein wenig fortgegangen, kamen ſie auf einen
freien Platz, welcher ſich nach einem Waldabhang ſenkte und einen
weiten Blick über endloſe Waldung thun ließ, die in reicher Ab¬
wechslung von Höhen und Tiefen ſich um den Hohenſtaufen lagerte,
gegen das Remsthal abwärts und nach den jenſeitigen Hügeln ſtrich.
Die Zeichen, wenn es ſolche waren, ſchienen hier aufzuhören. Chriſtine
ſetzte ſich müde auf den Boden. Friedrich ſchaute achtſam in die Wald¬
gegend hinein, als ob er in der Ferne hinter jedem Buſch ein Wild
oder etwas Anderes aufſpüren müßte. Auf einmal blieb ſein Auge
an einer Waldecke unter dem Hohenſtaufen hängen. Ein leichter bläu¬
licher Rauch ging dort kräuſelnd aus den Spitzen der Bäume hervor
und ſchien ſich hinter einigen höheren Wipfeln zu verlieren. Er blickte
unverwandt hin; der Rauch verſchwand, kam wieder zum Vorſchein
und verſchwand wieder. Sein Entſchluß war gefaßt. Er rief Chriſtinen
vom Boden auf. Siehſt dort den Waldſpitzen herwärts von Wäſchen¬
beuren? ſagte er: dort kannſt mich nachher treffen oder auf mich
warten, dort will ich anſtehen, ob ich vielleicht noch einen glücklichen
Fang thue.


Er führte ſie hierauf zu der Stelle, wo er den erlegten Hirſch
gelaſſen hatte, packte ihr die Haut ſammt dem Geweih auf den Kopf,
gab ihr genaue Anleitung, wo ſie ihre Laſt zu verſtecken habe, und ging.


Chriſtine machte ſich ſchwer ſeufzend auf ihren Weg. Wie anders
hätt' ich's, wenn ich bei meiner Schulmeiſterin blieben wär'! ſagte ſie
zu ſich: und meine Kinder wären nicht ſchlechter verſorgt als jetzt auch.


Unterdeſſen hatte er ſich der erſpähten Stelle wieder zugewendet,
und bald fand er, daß ſeine Vermuthung richtig ſein müſſe. Der ein¬
geſchlagene Pfad führte ihn über einen rauhen Fahrweg, auf welchem
wieder ein Zweig von der beſchriebenen Gattung lag. Das Gabelende,
[366] das den Wegzeiger bildete, wies ſchief über die Straße nach einer Waldfurche
hin. Er folgte der Richtung und gewahrte nach wenigen Schritten bei
einem Durchblick, daß ſie gerade auf jene Waldecke zu führte, wo jetzt ein
ſtärkerer Rauch aus den Bäumen emporwirbelte. Nun ſuchte er nach keinem
weitern Zeichen am Boden mehr, ſondern ſchritt rüſtig waldein wald¬
aus nach der Stelle, zu der es ihn zog. Wenn er ſelbſt nicht da iſt,
ſagte er zu ſich, ſo treffe ich Seinesgleichen, die mir ſagen können,
wo er iſt; denn ſolche Zeichen hat weder ein Bauer noch ein Jäger
ausgeſtreut. Ich bin fertig mit der Welt, eine Staffel um die andre
haben ſie mich herabgeſtoßen, jetzt bin ich auf der letzten. Er hat
mir richtig prophezeit: wenn du keinen Aus- und Eingang mehr weißt,
ſo kommen wir ſchon von ſelber wieder zuſammen. Was bleibt mir
ſonſt übrig?


Die Sonne brannte glühend über den öden Gipfel des ſchlanken
Berges herab, als er an deſſen Fuß auf die Waldecke zuſchritt. Er
eilte in ihren Schatten. Das geladene Gewehr mit geſpanntem Hahn
für alle Fälle zum Anſchlagen fertig haltend, ſei es gegen ein Thier,
ſei es gegen einen Angriff von Menſchenhand, ſchlug er ſich langſam
durch die Bäume vorwärts. Bald hörte er Stimmen und Gelächter
und ging dem Schalle nach. Steck' mir vom Balo! hörte er ſagen,
als er näher kam, und zu gleicher Zeit drang der Geruch eines ge¬
bratenen Schweines zu ihm, um ihm den Ausdruck, wofern dies nöthig
geweſen wäre, zu verdolmetſchen. Er hatte keinen Zweifel mehr: wo
jeniſche Laute ſich vernehmlich machten, war weniger Gefahr für ihn,
als wo deutſch oder gar das römiſch-deutſche Rothwelſch des Geſetzes
geſprochen wurde. Wer auch die Schmauſenden ſein mochten, in ſeiner
verzweifelten Lage brauchte er weder ihre Feindſchaft noch ihre Freund¬
ſchaft zu fürchten. Er brachte den Hahn in Ruh', behielt aber die
Büchſe in der Hand und ging entſchloſſen vorwärts. Auf einmal ſtand
er, zwiſchen den Bäumen hervortretend, auf einer kleinen Waldwieſe,
wo eine luſtige Geſellſchaft um ein Feuer lagerte. Sie beſtand aus
drei Männern und drei Frauen, welche ſämmtlich ſo anſtändig ge¬
kleidet waren, daß er, ein Mißverſtändniß beſorgend, zurücktreten wollte.
Aber ſchon war er bemerkt worden und ſah ein paar Gewehrläufe
auf ſich gerichtet, als plötzlich ihm ſelbſt und einem von der Geſell¬
ſchaft der gegenſeitige Ausruf entfuhr: Da iſt er ja! Zugleich ſprang
[367] einer der Männer auf und lachend auf ihn zu. Das Geſicht des Zi¬
geuners, mit welchem ſich ſein Lebensweg heute zum drittenmal kreuzte,
hatte ſeit der erſten Ludwigsburger Bekanntſchaft Veränderungen er¬
litten, die ſeinem Feſtungsgenoſſen nicht unbekannt waren: die gelbe
welke Haut war in unzählige Runzeln und Falten zerſchnitten, die
beſonders an Mund und Augen das Gepräge einer lächelnden Ver¬
ſchlagenheit und großen Uebung in der Kunſt, die Leidenſchaften zu
verbergen, ausdrückten. Neu aber war ihm eine weitere Veränderung:
ein Auge, in deſſen Beſitz er ihn auf Hohentwiel noch geſehen, war
ihm in der Zwiſchenzeit abhanden gekommen; doch gereichte ihm dieſer
Verluſt nicht eben zum Nachtheil, da die Laune des Zufalls das
ſcheele Auge betroffen hatte, deſſen Blick äußerſt abſchreckend geweſen
war, ſo daß er jetzt als Einäugiger mit dem geſchloſſenen, von luſti¬
gen Fältchen umſpielten Augenliede nicht mehr ſo widrig ausſah wie
früher, da er geſchielt hatte.


Willkommen! rief er und ſtreckte ihm die Hand entgegen. Hab'
ich's nicht geſagt, wir ſehen uns wieder?


Grüß' dich Gott, Chriſtianus! erwiderte Friedlich und ſchüttelte
ihm die Hand. Hab' da auf einen Hirſch anſtehen wollen, und jetzt
treff' ich noch ein ganz andres Stück Hochwild. Du wär'ſt aber
ſchwer zu finden geweſen, wenn ich dich hätte ſuchen wollen, denn
deinen Zinken hab ich nirgends geſehen.


Der Zigeuner lächelte verſchmitzt. Ich bin nicht allein mit den
Meinigen, ſagte er, es haben ſich Freunde zu uns geſellt, die auch
wieder Nachzügler erwarten, und da hätten wir ja eine ganze Wappen¬
ſammlung in die Bäume ſchneiden müſſen.


Was iſt denn mit deinem Aug' paſſirt? fragte Friedrich weiter.


Ich hab' eine kleine Ungelegenheit gehabt, antwortete der Zigeuner
ausweichend, und da hab' ich den queren Scheinling eingebüßt. Aber
komm', unterbrach er ſich, ich muß dich der Geſellſchaft vorſtellen.


Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn gegen das Feuer, an
welchem ein ganzes Schwein briet und einen Duft ausſtrömte, der
einen Hungrigen wohl in Verſuchung führen konnte. Merkt auf, ihr
Männer, und ſpitzt die Ohren, ihr Weiber! rief er: hier bring' ich
euch einen Freund, nach deſſen Bekanntſchaft ihr euch ſchon lang ge¬
[368] ſehnt habt. Das iſt, fuhr er mit erhobener, beinahe feierlicher Stimme
fort, das iſt der Mann, deſſen Name in jedem Walde zwiſchen Rhein
und Donau mit Hutabziehen genannt wird, obgleich er ſeinen eigenen
Werth nicht kennt, der Mann, vor dem ein ganzes Amt zittert, der
Mann, deſſen Genie die Feſtungswerke von Hohentwiel zu einem
Kinderkartenhäuschen gemacht hat —


Ah! riefen die drei weiblichen Mitglieder der Geſellſchaft, die im
Begreifen den Männern vorauseilten.


Mit Einem Wort, vollendete der Zigeuner, indem er ſeinem Tone
noch ſtärkeren Nachdruck gab, es iſt der berühmte Sonnenwirth.


Mit einem Schrei der freudigſten Ueberraſchung ſprangen Alle
auf und umringten den Ankömmling, der kaum wußte wie ihm ge¬
ſchah. Er glaubte zu träumen. Ausgeſtoßen, gehaßt und verachtet, wie
er war, hatte er bis jetzt höchſtens die traurige Befriedigung genoſſen,
ſich gefürchtet zu ſehen, und durch ſeine Geſchicklichkeit im Wildern
hatte er ſich bei den Hofbeſitzern und Bauern eine gewiſſe eigennützige
Theilnahme erworben; aber die Freundſchaft, Achtung, Bewunderung,
ja Ehrerbietung, die ihm hier als einem jungen Manne, der ſchon
ſo Großes geleiſtet, erwieſen wurden, und zwar von Leuten, durch
deren, wie es ihm ſchien, ungewöhnliche Bildung und Redeweiſe er
ſich zugleich gehoben und gedemüthigt fühlte, dieſe Erzeigungen waren
ihm unbekannt, und während ſeine Beſcheidenheit ſich gegen das Uebermaß
des Lobes und Preiſes ſträubte, that doch die ungeheuchelte Anerken¬
nung, die ſich darin äußerte, nicht bloß ſeiner Eitelkeit, ſondern auch
ſeinem Herzen wohl.


Nun will ich dir die Geſellſchaft vorſtellen, fuhr der Zigeuner
fort. Er deutete auf einen großen Mann, deſſen freundliches Geſicht,
unterſtützt durch einen feinen weißblauen Rock, einen günſtigen Ein¬
druck machte, nur daß um den lächelnden Mund ein ſpöttiſcher Zug
lauerte und die etwas gemeine Barchentweſte weder zu den ſilbernen
Knöpfen, mit welchen ſie beſetzt war, noch zu dem feinen Rock recht
paſſen wollte. Das iſt mein Freund Bettelmelcher, ſagte er, ein ſehr
verſirter Kopf, deſſen glattem Geſicht man es nicht anſehen würde,
wie viel Raffinement dahinter ſteckt.


Der Mann mit dem abſtoßenden Namen reichte dem Gaſte die
Hand und bewillkommte ihn mit ſo zierlich geſetzten Worten, daß der
[369] widerſprechende Eindruck, den ſowohl ſein Geſicht als ſeine Kleidung
hervorbrachten, bei einem Neuling ſchnell ausgeglichen wurde.


Und dieſer, ſagte der Zigeuner, indem er den Andern am Arme
nahm, iſt mein Freund Schwamenjackel, ein ſehr ernſthafter Kerl,
wenn er anfängt, denn da heißt's bei ihm: Nix Pardon! aber ſeinen
Freunden treu und anhänglich; wenn er Einen einmal zum Freunde
angenommen hat, ſo geht er durch's Feuer für ihn — ein grund¬
ehrlicher Kerl!


Der alſo Geſchilderte zerdrückte dem Ankömmling die breite, ſtarke
Hand, daß dieſer das Blut in den Fingerſpitzen fühlte, und ſagte mit
heiſerer Stimme: Wollen gut Freund ſein. Dann räusperte er ſich,
als ob die paar Worte ihm die Kehle angegriffen hätten, und nickte
ſtumm dazu.


Er war eine kurze Geſtalt, noch etwas unter Friedrich's Größe, aber
dicker. Sein Geſicht war leſerlicher als das ſeines Gefährten, aber es
bedurfte einiger Ueberwindung, um darin zu leſen. Ein ſtarker ſchwarzer
Bart, an den untern Haaren in's Gräuliche ſtreifend, gab den groben
Zügen den Ausdruck einer ungeſchlachten Verwogenheit; hinter den
buſchigen Augenbrauen lagen ein paar bösblickende Augen wie in
tiefen Höhlen; die niedrige Stirne deutete auf eine harte Ent¬
ſchloſſenheit, die wenig nach Ueberlegung fragte, und das gleichfalls
in's Graue ſpielende ſchwarze Haar verrieth, mit dem noch nicht alten
Geſichte verglichen, ein Leben voll Mühſal und wilder Leidenſchaft.
Trotz dieſer Härte der Erſcheinung hatte der Mann nichts Bäuriſches
in ſeinem Auftreten; ſeine Bewegungen waren kurz und ſicher, und
ſein Anſtand blieb wenig hinter dem ſeiner gewandteren Genoſſen zu¬
rück. Seine Tracht aber war noch ungleichartiger als die des Bettel¬
melchers. Er trug ein graues Camiſol und gelbe hirſchlederne
die vollkommen zu ſeinem Geſichte, deſto weniger aber zu einer höchſt ſtatt¬
lichen braunſeidenen Camelotweſte paßten. Eine beſſere Uebereinſtimmung
zeigte der Anzug des Zigeuners: ſein grüner geſchloſſener Jagdrock
ſchickte ſich trefflich zu den weißen Beinkleidern und zu einem Hirſch¬
fänger, den er an der Seite trug; aber ein ſchärferes Auge konnte
auch an ihm eine Unvollkommenheit entdecken, denn der Schnitt der
Kleider wollte nicht ganz genau zu ſeinem Leibe paſſen. Der Gaſt
aber nahm es mit ſeiner Muſterung nicht ſo ſtreng, er dachte viel¬
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 24[370] mehr nur an den Gegenſatz, den er ſelbſt unter dieſen wohlgekleideten
Leuten bildete, und verglich beſchämt ſeinen abgeſchabten Rock, der
keine beſtimmte Farbe mehr hatte, ſeine nußfarbigen, einſt gelbledernen
Beinkleider, ſeine ſchwarzen Strümpfe, die noch die gute Eigenſchaft
hatten, daß ſie nicht ſo oft der Wäſche bedurften, und ſeine zerriſſenen
ſchmutzigen Schuhe mit den wohlhäbigen Kleidern, den friſchen weißen
Strümpfen und den blankgewichsten Schnallenſchuhen der Andern.


Hierauf ſtellte ihm der Zigeuner den weiblichen Theil der Geſell¬
ſchaft mit den Worten vor: Das iſt meine Mutter Anna Maria, eine
betagte Wittwe, die viel erlebt und erlitten hat, und das ſind meine
Schweſtern Margaretha und Katharina, die ſich dir ſchon ſelbſt zu
empfehlen wiſſen werden.


Der Gaſt machte einen verlegenen Kratzfuß; es war ihm in ſeinem
Leben noch nicht begegnet, daß er ſo förmlich einer weiblichen Ge¬
ſellſchaft vorgeſtellt wurde. Aber die Anweſenheit der beiden bild¬
hübſchen Mädchen, die er vom erſten Augenblick an unwillkürlich immer
wieder hatte anſehen müſſen, erhöhte den anziehenden Eindruck des
Empfanges nicht wenig für ihn. Sie waren, wie ihre Mutter, von
Kopf bis zu Fuß ſchwarz gekleidet, und trugen, während jene ein
buntes Tuch um den Kopf geſchlungen hatte, breitrandige Strohhüte
von geſchmackvoller Form, die ihnen ein freies, kühnes Ausſehen gaben.
Die Aeltere ſah gar nicht wie eine Zigeunerin aus, ſie hatte hell¬
braune Haare und ein Geſicht wie Milch und Blut, aus welchem ein
Paar hellgraue Augen keck und luſtig hervorblitzten; über ihrer vollen
Bruſt wogte eine ſilberne Kette auf und ab und ihre Finger ſtrotzten
von Ringen. Die Jüngere, die ihr Bruder Katharina geheißen, war
ohne allen Schmuck, bis auf ein brennend rothes Halstuch, das der
Farbe ihres Geſichts und Halſes verführeriſch zu Hilfe kam; denn
wenn ſie auch ſo wenig wie ihre Schweſter einer Zigeunerin gleich
ſah, ſo ließ doch ihre Färbung den zigeuneriſchen Urſprung verrathen;
ſie hatte dunkelbraune Haare und ihre Haut ſtach von dem hellen
Ausſehen ihrer Schweſter mächtig ab, war aber eben ſo weit entfernt
von jener ſchmutzigen Hautfarbe, die ihre Mutter und ihren Bruder
unverkennbar zu Zigeunern ſtempelte, ſondern näherte ſich dem reinen
Braun des Erzes, ſo daß das Blut lebenswarm, gleichſam von der
Farbe des Halstuches angelockt, durch die Haut hindurchſchimmerte.


[371]

Beide Schweſtern waren von Geſtalt untadelhaft. Auf den erſten An¬
blick ſchien die ältere, ſo lange ſie durch ihr entgegenkommendes Lächeln
bezaubern konnte, die ſchönere zu ſein; bald aber mußten einem un¬
verdorbenen Blicke ihre Augen, die ſie unnöthig zu erweitern ſuchte,
zu grell erſcheinen, und das ewige Lächeln, das ihren Mund in's
Breite zog, fand ebenfalls bald ſeine Erklärung: er war von Natur etwas
zu groß, und um dies zu verbergen, liebte ſie die Zähne zu zeigen,
die freilich ſo blendend weiß waren, daß man ihr das Auskunfts¬
mittel nicht verargen konnte. Die Mutter war eine alte häßliche Zi¬
geunerin mit unheimlich blitzenden Augen, einer vorſpringenden Naſe,
die das ganze Geſicht aufwog, und einem zahnloſen von tiefen Furchen
umgebenen Munde darunter. Die drei ungleichen Kinder, die ſie ihre
Mutter nannten, ein ächter Zigeuner, eine völlige Deutſche und eine
Halbzigeunerin, konnten unmöglich von einem und demſelben Vater
ſtammen.


Es iſt uns eine große Ehre, den Herrn Sonnenwirth bei uns
zu ſehen, ſagte die Alte, indem ſie die Vorſtellungsfeierlichkeit er¬
widerte: wir haben ſo mächtige Dinge von Ihnen gehört, daß wir
uns über Ihren Beſuch ſehr glücklich ſchätzen müſſen; und ich wünſche
nur, daß es dem Herrn Sonnenwirth bei uns recht lang gefallen
möchte.


Bitt' Ihnen! ſtammelte der Gaſt verlegen und beſcheidentlich. Ich
bin nicht Sonnenwirth. Mein Vater iſt immer noch auf der Wirth¬
ſchaft. Man hat mich in meinem Ort eben den Sonnenwirthle ge¬
heißen, wie man des Anwalts Sohn den Anwältle heißt, und wie
man des Amtmanns ſeinen, wenn der nämlich einen hätt', den Amt¬
mändle heißen würde. Weiter iſt's nichts.


Alle lächelten und ſelbſt der rauhe Schwamenjackel verzog den
Mund ein wenig.


Nun ſitz' dich endlich, Bruder Sonnenwirth! ſagte der Zigeuner
lachend. Wir ſind freie Leute; was kümmern uns Rang und Titel in
dieſer einfältigen Welt! Wenn's dir aber nicht genehm iſt, deines
Vaters Titel zu führen, nach dem du freilich kein großes Verlangen
verſpüren wirſt, ſo wollen wir dir ſeinen Namen geben. Reicht dem
Friedrich Schwan die Hände, Mädels, und das mit Reſpect, und nun
wieder zu unſerm Geſchäft!


24 *[372]

Die beiden Mädchen nebſt der Mutter gaben dem Gaſt die Hände,
wobei die ältere Schweſter ein warmes Fingerſpiel mit unterlaufen
ließ, die jüngere aber ſich auf einen kurzen Handſchlag ohne irgend
einen Druck beſchränkte. Er wurde zwiſchen die beiden Schönen ge¬
ſetzt, und die Mahlzeit nahm ihren Fortgang, wobei ein köſtlicher
Wein aus einem Fäßchen, deſſen Handhabung Bettelmelcher über¬
nommen hatte, fleißig die Runde machte. Friedrich konnte dem Reiz
der Speiſe und des Getränkes nicht widerſtehen, und entſchuldigte ſeine
durch lange Entbehrung geſteigerte Begierde mit einer auf dem An¬
ſtande durchwachten Nacht. Man ſprach ihm eifrig zu, und die beiden
Mädchen wetteiferten ihn zu bedienen, wobei die Aeltere ihn durch
Schnelligkeit zu gewinnen ſuchte, die Jüngere aber ihm ſeltener, jedoch
ausgewähltere Biſſen vorlegte. Mit Wein verſah ihn die Aeltere auf's
reichlichſte und bald kreiste das Blut raſcher durch ſeine Adern; die
Jüngere reichte ihm nur dann das Glas, wenn es längere Zeit nicht
an ihn gekommen war und die Aeltere ihren Dienſt im Schwatzen
vergeſſen hatte. Die Mahlzeit ging in munteren Geſprächen hin, die
ſich großentheils auf ihn ſelbſt bezogen und in welchen er bald mit
gröberen, bald mit feineren Schmeicheleien überhäuft wurde. Selbſt
ſeine Büchſe wurde gelobt, und er glaubte zum erſtenmal in einer
Welt zu ſein, die Alles an ihm vortrefflich fand. In dieſem behag¬
lichen Zuſtande ſtörte ihn nichts als das Benehmen der älteren
Schweſter Margaretha, das er auf die Länge auffallend zudringlich
fand: ſie ſetzte ihm mit mehr als herausfordernden Blicken und Reden
zu und wußte ſich dabei auf eine Weiſe an ihn anzuſchmiegen, die
ihn zugleich abſtieß und doch entzündete. Dies hatte zur Folge, daß
er das Feuer, das ſie in ihm anfachte, mehr und mehr ihrer jüngern
Schweſter zuwendete, die nicht bloß durch ihre Zurückhaltung gewann,
ſondern bei längerem Anſchauen nach und nach eine Schönheit ent¬
faltete, welche das Auge zu immer häufiger wiederholten Beſuchen
einlud. Dieſe Schönheit bot weit mehr ein Ganzes dar, als die zu¬
ſammengeſetzten Reize ihrer buhleriſchen Schweſter. Auch konnte der
ſtrenge Ernſt, der in dem dunkeln Geſichte mit der geraden wohl¬
gebauten Naſe vorzuherrſchen ſchien, einem warmen Lächeln weichen,
die feſtgeſchloſſenen Lippen konnten zu einem Scherzwort aufthauen,
das den freien Ton der Unterhaltung überbot, und wenn ihr ſchwarz¬
[373] braunes Auge einmal flüchtig über den Gaſt hinſtreifte, ſo war es
ihm, als ob ſie hinter dieſem ſtillen Blick eine Gluth verberge, die
ſie plötzlich verzehrend auflodern laſſen könnte. Er ſagte ſich vor, er
wolle ſie nur ein wenig auf die Probe ſtellen, indem er, durch Mar¬
garethens freches Strohfeuer erhitzt, ſein Knie an das ihrige drückte;
ſie rückte aber leiſe weg, und er beſchloß, den Verſuch nicht ſo bald
zu wiederholen.


Der „Balo“ war unter Scherzen und Erzählungen verſpeiſt, wo¬
bei die Geſchichte des Ausbruchs von Hohentwiel, der einem der drei
Kühnen das Leben gekoſtet hatte, den Hauptgegenſtand bildete, und
das auf einem Baumſtumpf aufgelegte Fäßchen war ſchon geneigt, als
der Zigeuner zum Beweiſe für die Schlechtigkeit der Welt die Lebens¬
geſchichte des neuen Freundes zu erzählen begann und ihn dadurch zu
Berichtigungen und Ergänzungen nöthigte. Die Mittheilung wurde
mit der lebhafteſten Theilnahme aufgenommen und ſelbſt Schwamen¬
jackel bemerkte, es ſei ſcheußlich, ſo mit einem Menſchen umzugehen.
Wie könnte es mir einfallen, ſagte die alte Anna Maria, meine Kin¬
der im Heirathen beſchränken zu wollen! ich hab' ihnen ſtets ihren
Willen darin gelaſſen, es iſt ja ganz ihre eigene Sache. Am ſtärkſten
aber verurtheilte die Geſellſchaft das Benehmen der Obrigkeit, die ſich
in Dinge gemiſcht habe, welche ſie gar nichts angehen. Dabei wurde
Friedrich's Standhaftigkeit mit Bewunderung hervorgehoben, und das
Gefühl des erlittenen Unrechts, das ſchon zuvor an ihm zehrte, immer
heftiger in ihm angefacht, bis es zuletzt ihm wie den Andern feſtſtand,
daß die Welt aus lauter Spitzbuben beſtehe, die man mit allen Waffen
zu bekämpfen berechtigt ſei. Die Weigerung des Pfarrers endlich,
eine Trauung ohne Trinkgeld, wie es Schwamenjackel nannte, vorzu¬
nehmen, rief eine Empörung hervor, welche, von Leuten dieſes Schlages
ausgeſprochen, einen beſondern Nachdruck erhielt und ſie ſelbſt wiederum
in den Augen des Neulings, beſonders wenn er ihre geſellſchaftliche Stel¬
lung mit der Amtswürde des habſüchtigen Geiſtlichen verglich, bedeutend
heben mußte. Sie bekannten ſich ſämmtlich für gute katholiſche Chriſten
und verſicherten mit nicht geringem Stolze, daß ihre Confeſſion an
ſolchen abſchreckenden Beiſpielen weit ärmer ſei.


Wißt ihr das Stückchen vom Lieutenant Löw und ſeinem Louis¬
d'or? fragte die Jüngere der beiden Zigeunermädchen, und auf Ver¬
[374] neinen der Andern erzählte ſie: Eine arme Frau mit einem Kind
ſteht weinend an der Kirche. Begegnet ihr ein Jud' und fragt warum
ſie weine. Der Pfarrer will mein Kind nicht taufen, ſagt ſie, weil
ich die Taufgebür nicht zahlen kann. Ei, ſagt er, da iſt bald ge¬
holfen, und gibt ihr einen Sonnenlouisd'or, ſie ſolle ihn dem Pfarrer
bringen und ſagen, eine Chriſtenſeele habe ihr aus der Noth geholfen.
Darauf geht ſie in die Sacriſtei, und wie die Kirche aus iſt, kommt
ſie ganz vergnügt heraus. Nun, wie hat's gegangen? fragt der Jude,
der auf ſie gewartet hat. Das Kind ſei glücklich getauft, ſagt ſie,
ſie hätte freilich geglaubt, der Pfarrer ſolle ihr auf das Gold heraus¬
geben, was ihm nicht eingefallen ſei; aber dennoch hat ſie dem Juden
tauſendmal gedankt. Gott's Wunder, ſagt der Lieutenant Löw, wenn
der Pfaff herausgegiben hätt', ſo wär' der Spaß freilich noch größer,
aber Dank's werth iſt's auf keinen Fall, denn der Luckedor war falſch.
Die Geſellſchaft brach in ein unbändiges Gelächter aus, in welchem
ſich Schwamenjackel's Stimme durch ein eigenthümliches Grunzen unter¬
ſchied. Bettelmelcher lachte, daß ihm die Thränen in den Augen
ſtanden.


Lieutenant Löw? fragte der Gaſt, als man ſich müde gelacht
hatte. Unter welchem Militär gibt's denn jüdiſche Offiziere?


Das Gelächter brach von neuem ſo heftig aus, daß er, in der
Ueberzeugung, ungeſchickt gefragt zu haben, mitlachen mußte.


Dieſe Art Militär, belehrte ihn der Zigeuner, iſt bei Mergenthal zu
Hauſe, ſteht aber nicht im Dienſte des deutſchen Ordens, obwohl unter
allen Ländern dort am beſten zu leben iſt, denn der Deutſchmeiſter
hat gelobt, nie Einen mit einer Todesſtrafe zu belegen und nie die
Auslieferung eines Flüchtigen zu verlangen, und alle ſeine Unterthanen
vom Schultheißen bis zum Nachtwächter halten's mit uns; dort iſt
kein Bub' und kein Mägdlein, das nicht Jeniſch verſteht. Darum
wird auch kein vernünftiger Kochum in jenem Gebiet etwas anſtellen,
aber es iſt ein ſehr günſtiges Terrain, um von da aus in der Um¬
gegend mit Unternehmungen aufzutreten. Drei Lieutenants haben dort
Geſellſchaften gegründet mit einer Einrichtung, die man ſonſt nirgends
trifft. Jeder hat ungefähr dreißig Mann unter ſich, meiſt Juden,
auch Zigeuner, und im Nothfall werben ſie auch ſonſt taugliche Leute
dazu. Wenn ein Koch unternommen werden ſoll, ſo wird zuerſt der
[375] Waldoberer ausgeſchickt, der die Gelegenheit auskundſchaftet und dafür
ſeine beſondere Belohnung erhält. Der kauft dann etwa einem Bauern
ein paar Ochſen ab und ſieht wo er das Geld hinthut, damit man's
wieder holen kann und weiteres dazu. Dann ſchickt der Lieutenant
ſeine Knechte aus und läßt ſeine Leute von Ort zu Ort — bei den
Judenſchulen trifft man ſie am ſicherſten — auf einen Sammelplatz
zuſammenbieten, reicht ihnen auch, bis die Sache ausgeführt iſt, was
oft acht Tage und darüber anſteht, Allen ihr regelmäßiges Taggeld
nebſt Unterhalt, und wenn das Unternehmen gut ausfällt, noch oben¬
drein Jedem ſeine Portion. Nach der Vertheilung der Beute ſtellt er
ſie in einen Kreis, lieſt die Namen ab und heißt ſie dann einzeln auf
verſchiedenen Wegen ſich fortmachen, nicht trinken, nicht ſpielen, bloß
bei den Juden über Nacht bleiben und ſtill zu Hauſe warten bis er
ſie auf einen andern Koch zuſammenberufen werde. Bei dem Unter¬
nehmen müſſen ſie ſtreng Ordre pariren, und es wird nicht Jeder an¬
genommen, ſondern ſcharfe Auswahl gehalten. Der Jägerkaſperle —
du wirſt ihn kennen lernen, wir erwarten ihn täglich hier — der hat
einmal mitgehen wollen, aber der Lieutenant Löw hat ihn bei der
Muſterung von oben herab angeſehen und geſagt, was man denn mit
dem kleinen ſchlechten Kerl thun wolle, es ſeien ohnehin Leute genug
da, man ſolle ihm etwas geben und ihn fortweiſen. Darauf hat ihm
ein Unterbefehlshaber einen Gulden geſchenkt; der Kleine iſt heut noch
wild darüber.


Das war auch nicht recht, bemerkte Bettelmelcher, denn der Jäger¬
kaſperle iſt zwar nicht groß, aber ein ſolch rahner, flüchtiger, gewandter
Burſch, daß er's mit dem Teufel aufnimmt, freilich mehr in Liſt als
Gewalt. Er lobt beſonders den Welzheimer Markt. Ich freue mich
ſehr auf den luſtigen Bürſten- und Kehrwiſchhändler, der ſich die
Leute durch ſo hohe Preiſe vom Leib zu halten verſteht, daß ihm ge¬
wiß Niemand ſeinen nöthigen Vorrath abnehmen wird. Auch auf
ſein kleines ſauberes Frauele freu' ich mich: ſie iſt eine treffliche Be¬
mutter und wird nicht leicht eine ſo geſchickt einen Beutel wegzu¬
ſtipitzen wiſſen.


Ja wohl, ſagte der Zigeuner. Dieſe Juden, fuhr er in ſeiner
unterbrochenen Rede fort, ſind ganz verfluchte Kerls. Sie haben ein
Regiment und Staat errichtet, dergleichen zwiſchen Rhein und Donau
[376] nirgends ein ähnliches exiſtirt, und die Sache wär' wohl der Nach¬
ahmung werth. Sie müſſen einen unbegreiflichen Profit davon haben,
denn ſie zahlen nicht bloß nobel aus, ſondern wenn ein Unternehmen
mißglückt, ſo fallen alle Koſten auf ſie allein. Und doch haben ſie
immer Geld genug, tragen goldene Uhren, gehen im feinſten Tuch
proper gekleidet, und die vornehmſten Juden halten es mit ihnen.
Wollen wir's nicht auch einmal probiren? ſetzte er lächelnd gegen den
Gaſt hinzu.


Da wird's für einen Anfänger nöthig ſein, ſich ein hebräiſches
Wörterbuch anzuſchaffen, bemerkte die alte Zigeunerin mit wohlmei¬
nendem Tone gegen denſelben, denn das Jeniſche reicht bei ihnen nicht
ganz aus, ſie miſchen mehr hebräiſche Wörter darunter. Uebrigens,
wendete ſie ſich gegen ihren Sohn, ſehe ich nicht ein, warum man den
Juden in ihren Sack arbeiten ſoll. Und wie lang werden ſie's noch
mit ihren Gewaltthaten treiben? Ich bin überhaupt nicht für dieſe
Art von Arbeit. Dieſe Einbrüche machen einen großen Lärm weit
umher, verderben das Terrain, mißlingen oft und tragen im beſten
Fall nicht viel ein, weil der Gewinn in zu viele Theile geht. Ich
lobe mir die ſtillen ſichern Marktunternehmungen, wie ſie in unſrer
Familie bisher gebräuchlich geweſen ſind. Kennt unſer Gaſt die Fuhre?
Ich denke, wir dürfen ihn als einen Kochum, das heißt, wenigſtens
als einen vertrauten Mann betrachten?


Ich bürge für ihn, rief ihr Sohn, während der Gaſt erwiderte,
daß die Fuhre ihm bis jetzt ein unbekanntes Weſen ſei.


Die Fuhre, belehrte ihn die alte Zigeunerin, iſt eine zweckmäßige
Kleidung für den Marktgang —


Ja, ſie gehört eigentlich in's Gebiet der Moden, unterbrach Bettel¬
melcher lachend.


Richtig, und iſt eine ſehr ſinnreiche Mode —


Für die Weiber, ſagte Schwamenjackel. Die jungen Leute lachten
zuſammen.


Für die Weiber, fuhr die Alte geduldig fort, indem ſie jedoch zu¬
gleich einen ſtechenden Blick nach dem Unterbrecher ſendete. Ober-
und Unterkleid, welche ſehr weit und faltig ſind, werden am untern
Saume rings mit einem Faden zuſammengezogen, der innen auf bei¬
den Seiten bis zu den hohlen Taſchenöffnungen heraufgeht. Auf dieſe
[377] Weiſe bildet das Kleid einen großen Sack, in den eine tüchtige Schotten¬
fellerin zwei, drei Ballen von je zwanzig Ellen und mehr nach ein¬
ander hineinprakticiren kann, ohne daß Jemand eine Spur davon ſieht.
Iſt das Gepolſter zu groß, ſo deckt man's mit dem breiten Strohhut
zu. Der Krämer muß ſich's gefallen laſſen, daß man vor ſeine Bude
tritt und ſeine Waaren prüft. In der Regel hütet er nur die klei¬
nerm Stücke und denkt nicht daran, daß ihm ſo ein großer Pack ver¬
ſchwinden kann. Wenn er aber etwas merkt, ſo zieht man nur den
Faden auf, daß die Waare durch die Säume auf den Boden fällt,
hebt ſie auf als ob man ſie zufällig vom Tiſch geſtreift hätte, und
überreicht ſie mit dem größten Anſtand von der Welt, ſo daß er noch
höflich danken muß.


Das Schottenfellen, bemerkte der Gaſt, ſcheint mir alſo bloß ein
Geſchäft für die Frauenzimmer zu ſein. Da haben ja die Männer
das Zuſehen.


Ein rechtes Frauenzimmer wird ſich's ſtets als ein Glück anrechnen,
für ihren Geliebten arbeiten zu dürfen, ſagte die Aeltere der beiden
Schweſtern zärtlich zu ihm.


Die Weiber ſind flinker und geſcheider als die Männer, bemerkte
die Jüngere ſtolz. Was die mit ihren plumpen Fingern bei einem
Einbruch davontragen, reicht oft nicht um einen Tag zu leben, wäh¬
rend ich auf einem guten Markt, wie ſie am Rhein drüben ſind, ein
paar hundert Gulden an einem einzigen Tag verdienen will.


Vom Weibsverdienſt zu leben, das wär' nicht nach meinem Ge¬
ſchmack, verſetzte der Gaſt.


Und ich, erwiderte ſie, möcht' mich nicht von einem Mann erhalten
laſſen. Lieber will ich ihn erhalten, wenn mir Einer gefällt.


Die Männer ſind nicht ſo müßig dabei, wie man meint, ſagte die
Alte. Sie haben auf dem Markt einen wichtigen Dienſt zu verſehen.
Einmal müſſen ſie ihren Schottenfellerinnen die Waaren in Sicherheit
bringen, damit dieſe, wenn gerade ein guter Tag iſt, wieder ihrer
Arbeit nachgehen können. Dann müſſen ſie den Markt bewachen,
nicht bloß gegen die Fleiſchmänner, die dort Aufſicht halten, ſondern oft
auch gegen Bekannte, die ſich einen Antheil vom Ertrag nehmen wollen
und vorgeben, man habe ihnen den Markt verderbt. Ein Mann hat
alſo oft alle Hände voll zu thun, wenn der Markt glücklich ausfallen
[378] ſoll, und Einer allein iſt nicht immer Manns genug, denn wenn's
Lärmen gibt, die Fleiſchmänner über die Weiber herfallen und ſie
gefangen nehmen wollen, ſo müſſen die Männer ſie oft mit Gefahr
ihres Lebens befreien.


Das läßt ſich eher hören, ſagte der Gaſt.


Ja, fiel der Zigeuner ein, da iſt im Pfälziſchen drüben ſo ein
vermaledeiter Kerl, der Kaſtor, der's mit der Koſtenbärbel und ihrer
Tochter hält. Der führt eine ſchöne Polizei auf den pfälziſchen Märkten,
läßt die beiden Canaillen unter ſeiner Aufſicht ſtehlen ſo viel ſie wollen;
aber andern ehrlichen Leuten, die ein Geſchäft machen wollen, paßt er
um ſo ſchärfer auf und jagt ihnen Alles wieder ab, nicht für das
Amt, ſondern für ſeinen eignen Sack. Auf dem Bruchſaler Markt,
weißt, Margarethe, wie wir einmal mit einander dort geweſen ſind,
da hat er mich auf einmal mit meinem Namen angeredet und hat mir
mit Verhaftung gedroht, wenn ich ihm nicht ſechs Carolin gebe. Unſer
ganzes Vermögen beſtand damals in einem Schwertthaler und einem
Stückchen Wollendamaſt. Das hat er uns Alles abgejagt und der
Margarethe noch obendrein ihre Haube mit feinen Spitzen, die nicht
einmal vom Markt und wenigſtens fünf Gulden werth war, und hat
uns verſprochen, daß er's uns auf dem Germersheimer Markt wieder
geben wolle, wenn wir uns gut halten und ihm die Hälfte unſres
dortigen Ertrages abtreten wollen. Hätt' ich einen einzigen entſchloſſe¬
nen Mann bei mir gehabt, wie ihr Drei ſeid, da hätten dem infamen
Kerl die Ohren ſauſen ſollen.


Bei einem Nachtgang, bemerkte Schwamenjackel, iſt doch mehr Mann¬
haftigkeit und auch mehr Spaß.


Die Mutter meint ja nicht, daß man die Branche ganz aufgeben
ſoll. Zur Abwechslung kannſt du dir immer wieder einen Spaß
machen. Aber Recht hat ſie: es kommt nicht viel dabei heraus und
macht ein Aufſehen, daß gleich eine ganze Gegend davon voll iſt und
daß man viel Berg' und Thäler zwiſchen ſich und den Ort ſchieben
muß. Warum haben wir Geld? Warum können wir herrlich und
in Freuden leben, heut und alle Tage? Weil wir auf den rheini¬
ſchen Märkten gute Geſchäfte gemacht haben. Es iſt nur Schade,
daß man nicht immerfort in der einen Gegend bleiben kann. Wenn
aber vier zuverläſſige Männer, wie wir, mit unſern Weibern zuſammen¬
[379] ſtehen, dann können wir alle Märkte im ſchwäbiſchen und fränkiſchen
Kreis beherrſchen, Keiner darf uns in's Handwerk pfuſchen, weil die
Andern nicht zuſammenhalten, und gehen wir nach einem feſten Plan
zu Werke, ſo daß immer eine gute Zeit verſtreicht, bis wir auf den
nämlichen Markt zurückkommen, dann können wir ungeſtört fortarbeiten
bis an unſer ſeliges —


Hänfenes Ende! ergänzte Bettelmelcher.


Das hat keine Gefahr, beim Schottenfellen am allerwenigſten, ent¬
gegnete der Zigeuner.


Nein, nein, das Project iſt gut, verſetzte Bettelmelcher.


Wo aber die Kunden herbekommen, an die man die Waaren ab¬
ſetzen müßte? fragte der Neuling. Den Kattun oder Damaſt kann
man doch nicht eſſen oder trinken.


Das laß deine geringſte Sorge ſein, erwiderte der Zigeuner lachend.


In ganz Franken und Schwaben, ſagte ſeine jüngere Schweſter,
gibt's Pfarrer, Schultheißen, Wirthe und ſonſt honnette Leute genug,
die bei einem wohlfeilen Einkauf ein Auge zudrücken. Alle Welt
verwünſcht die Krämer, die auf ihre Zunftrechte pochen, mit dem hundert¬
fachen Profit nicht zufrieden ſind und das Publicum mit ihren Sünden¬
preiſen betrügen. Wer dieſen Schelmen ihren Raub abjagt, iſt den
Käufern ſo lieb, wie den Bauern der Wildſchütz, der ihre Felder be¬
wahrt. Und da wir einmal von einer feſten Ordnung reden, ſo meine
ich, man könnte eben ſo gut einen planmäßigen Handel einrichten,
feſte Preiſe machen und vertraute Leute zum Wiederverkauf aufſtellen,
damit man nicht chriſtlichen und hebräiſchen Juden preisgegeben und
genöthigt wäre, jedes Stück gleich wieder zu verſchleudern.


Davon hab' ich eben reden wollen, verſetzte die Zigeunermutter,
aber meine Chriſt — meine Katharine — verbeſſerte ſie ſich — kommt
mir mit ihrem ſchnellen Geiſt zuvor. Dieſer Handel müßte jedoch
großentheils in Perſon betrieben werden, da man von den meiſten
Unterkäufern, wie wir aus Erfahrung wiſſen, doch nur betrogen wird
und ſich nicht hinlänglich gegen ſie ſchützen kann. Ihr könnt euch jetzt
ſchon denken, wo ich hinaus will. Wir müßten mit unſern Reiſen
zugleich einen wandernden Kramhandel für gemeinſchaftliche Rechnung
verbinden, der ſich ganz offen in die Karten ſehen laſſen und viel ehr¬
licher betrieben werden müßte, als es bei den honnetteſten Krämern der
[380] Fall iſt: überall Patente gelöſt, jedes Stückchen Waare auf's pünkt¬
lichſte verzollt, gegen das Geſetz und das kaufende Publicum durch und
durch reell, und dabei Preiſe, die jede Concurrenz ſchlagen müſſen!
Das können wir. Es fehlt gar nichts, als daß wir in der Geſellſchaft
ein Mitglied haben —


Und dazu iſt unſer Freund Schwan wie gemacht! rief ihr Sohn
dazwiſchen.


Das will ich ja gerade ſagen! rief die Alte eifrig. Man darf
unſern Freund nur anſehen. Wenn er Sonnenwirth wäre an ſeines
Vaters Statt oder ſonſt ein offenes Geſchäft hätte oder mit einer
Kramkiſte umherreiste, wie ja fürnehme Krämer mit den koſtbarſten
Waaren hauſiren — wer würde einem Mann von ſolch' aufrichtiger
Phyſionomie, von ſolch' leutſeligem und beſcheidenem Betragen nicht
ſein Vertrauen ſchenken?


Schönes Compliment! rief Bettelmelcher lachend. Das heißt mit
andern Worten: wir ſehen aus wie Spitzbuben und er wie ein
Biedermann.


Alles in ſeiner Art, ſagte die Alte, und Jeder an ſeinem Platz!
Was kann unſer Freund für ſein Geſicht? Er ſagt, er ſei um ſein
Mütterliches gebracht worden. O das iſt ein großer Irrthum! Sein
Mütterliches guckt ihm aus dem Geſicht heraus. Die meiſten Menſchen
ſehen bloß ihrem Vater ähnlich, und die Männer verhärten ſich im
Leben, das kann nicht anders ſein. Wenn aber Einer etwas von
ſeiner Mutter hat, ſo braucht man die Frau gar nicht gekannt zu
haben, man ſieht's auf den erſten Blick, und wenn er noch ſo finſter
und grimmig dreinſchaut. Ich verſtehe mich auf Phyſionomien. Das
iſt ein Geſicht, mit dem es Alle, die ſich ehrliche Leute nennen, gern
zu thun haben, denn man merkt ihm gleich den Deutſchen, und was
noch mehr ſagen will, den Schwaben an.


Die Augen der Alten ruhten bei dieſen Worten mit einer brennen¬
den Wärme auf ihm, als ob ihr altes Herz ſich noch von jugendlichem
Liebesfeuer durchglüht fühlte. Es beläſtigte ihn, es lächerte ihn, und
dennoch that es ihm wohl. Erſt als ihre ältere Tochter den Ausſpruch
der Mutter mit thätlichen Beweiſen der Zuſtimmung begleiten wollte,
fühlte er einen wirklichen Widerwillen und rückte von ihr weg, wie
die jüngere vorhin ſich von ihm entfernt hatte.


[381]

Die Mutter hat zwei Deutſche zu Männern gehabt, ſagte der Zi¬
geuner lächelnd zu ſeinen Geſellen. Das verbirgt ſich nicht. Aber
ihr Vorſchlag ſcheint mir gut.


Très bon, ſagte Bettelmelcher, das Project iſt inſidiös.


Schwamenjackel ſagte nichts, ſondern ſchaute gedankenvoll durch die
leere Flaſche, die er ſich vor die Augen hielt. Die ſtumme Kund¬
gebung bewog ſeinen Genoſſen, dem verſäumten Schenkendienſte ge¬
wiſſenhaft wieder obzuliegen.


Was ſagſt du zu dem Antrag, Bruder Schwan? wendete ſich der
Zigeuner an den Gaſt.


Ich rechne mir Euer Zutrauen zur Ehre, antwortete dieſer, aber
ich weiß nicht, ob ich auf den Poſten tauge.


Zweifel und Bedenken über deine Fähigkeit laſſen wir nicht gelten,
da gib dir nur gar keine Mühe, erwiderte der Zigeuner. Es fragt
ſich bloß, ob du Luſt und Liebe haſt, dich zu einem gemeinſamen
Geſchäftsbetrieb mit uns zu verbinden, und ich denke, die Antwort
ſollte dir nicht ſchwer werden. Du weißt, ich hab' dich ſchon von
Hohentwiel aus mitnehmen wollen, und es hat mir nicht gefallen,
daß du durchaus nach Ebersbach gewollt haſt. Jetzt ſeh' ich's noch
viel deutlicher ein, daß dein Herumhocken in dieſer Gegend zu nichts
Gutem führen kann. Deine Hartnäckigkeit bringt dich gewiß noch an
den Göppinger Galgen. Mach' daß du in eine andre Luft kommſt;
es iſt allenthalben etwas zu verdienen. Und was iſt das für eine
Exiſtenz, für Leben und Sterben hier und da ein Stück Fleiſch oder
Brod aus einem Haus zu holen und den Hals dabei zu riskiren,
oder einem Brenner aus Malice, weil er einen elenden Fuſel her¬
gegeben hat, den Brennhafen fortzuſchleppen, den man unterwegs liegen
laſſen muß! Das mag, wie geſagt, zur Abwechslung dann und wann
recht ſein, wenn nicht viel dabei auf dem Spiel ſteht, aber für einen
Mann von deinen Gaben — nimm mir's nicht übel, Schwan, du
weißt, ich pflege offen zu reden, und als dein Freund und Kriegs¬
kamerad brauch' ich kein Blatt vor den Mund zu nehmen — für
einen Mann, der, wie du, zu etwas Beſſerem beſtimmt iſt, iſt es ein
erbärmliches Handwerk. Ich ſag' dir, es iſt unter deiner Würde, und
wie viel du Seide dabei geſponnen haſt, wirſt du ſelbſt am beſten
wiſſen.


[382]

Der Gaſt warf einen unwillkürlichen Blick auf ſeine abgetragenen
Kleider, der dem Redner geſtand, daß er ihm Recht geben müſſe.


Hanf aber, fuhr dieſer fort, kannſt du dabei gerade ſo viel ſpin¬
nen, wie bei den ſchönſten Unternehmungen, die ſich der Mühe und
Gefahr wenigſtens verlohnen. Meinſt du, wenn ſie dich kriegen, ſo
werden ſie mit ihren lateiniſchen Ausdrücken, die auf Alles paſſen
müſſen, große Unterſcheidung machen? Mich wundert's nur, daß ſie
dich nicht ſchon längſt am Fittig haben, und es geſchähe dir Recht,
denn wie du ihnen unter der Naſe herumvagirſt, das iſt kein Muth,
das iſt Wahnſinn! Bei uns iſt ganz anders für deine Sicherheit ge¬
ſorgt. Wir wiſſen in aller Herren Ländern jedes Plätzchen, wo man
ſich ruhig niederlaſſen kann.


Iſt denn das zum Beiſpiel hier der Fall? unterbrach ihn der Gaſt.


Freilich! rief der Zigeuner. Die Frage beweiſt, wie wenig du die
Welt noch kennſt. Hier ſitzen wir auf edelmänniſchem Boden und ſind
ſo ſicher wie das Kind im Mutterleib, während du in deiner Unkennt¬
niß mit ein paar Schritten in's Wirtembergiſche taumelſt, wo die
Leute dumm ſind und die Beamten, wie du ſelbſt erzählſt, ſich kein
Gewiſſen daraus machen, Einem ſeine eigenen Kinder als Lockwürmer
an die Angel zu ſtecken, um den Fiſch damit zu fangen. Auch haben
wir überall unſere vertraute Leute, die uns Nachricht geben, wenn
etwas gegen uns los iſt. Und wenn je einmal Eins von uns den Fuß
übertritt und in die unrechten Hände geräth, ſo gibt es auch Mittel
und Wege, ihm wieder aus der Falle zu helfen. Das Alles geht
dir ab, ſo lang du wie ein Irrlicht allein und auf eigene Fauſt
umherflackerſt. Und was für Ehre haſt du davon, dein kümmerliches
Leben immer und ewig um dein einfältiges Ebersbach herum zu friſten,
wo Alles ſchreit: der Dieb, der ſchlechte Kerl, der Sonnenwirthle iſt
wieder einmal dageweſen und hat dies und das geſtohlen! Wenn du
in unſre Geſellſchaft eintrittſt, ſo hörſt du ganz andre Titel, da biſt
du Allen ein lieber werther Freund, wirſt wegen deines Muthes,
wegen deines Verſtandes, wegen deiner Treue geliebt, geachtet, be¬
wundert, auf den Händen getragen. Du haſt einmal auf einen wun¬
derlichen Adjutanten zu Hohentwiel das Bibelwort angewendet: Es
iſt dem Menſchen nicht gut, daß er alleine ſei. Das paßt nicht bloß
darauf, daß er eine Gehilfin haben ſollte, es paßt auch auf das Hand¬
[383] werk, das er treibt, er muß auch darin Seinesgleichen um ſich haben,
bei denen er Beifall und Aufmunterung findet, denn ſonſt iſt's ein
Hundeleben.


Das iſt ſehr wahr! rief der Gaſt, von dieſer Bemerkung ergriffen.
Bei uns findeſt du keinen Brodneid, keine Unterdrückung, wie in
der honnetten Welt draußen. Du biſt uns mit deinem Kopf und Arm
willkommen und wir bedürfen deiner, wie du unſrer bedarfſt. Unſern
Ertrag theilen wir ehrlich und redlich, und wenn Einer vor den
Ändern eine beſondere Mühe auf ſich genommen hat, ſo wird ihm
ein verhältnißmäßig größerer Antheil zuerkannt. Einen Lieutenant, der
das Beſte an ſich reißt und die Andern als ſeine Untergebenen be¬
handelt, gibt es nicht bei uns. Wer die beſte Meinung geltend machen
kann, deſſen Anſchlag wird befolgt, und was gemeinſam beſchloſſen iſt,
wird in ſtrenger Ordnung ausgeführt. Außerdem aber leben wir als
freie Leute auf gleichem Fuß mit einander.


Und immer in Floribus! fiel Bettelmelcher ein, indem er die
Flaſche ſchwang und dem Gaſte reichte.


Leuchtet dir aber die Wahrheit deines Sprüchleins auch im an¬
dern Punkte ein, hob der Zigeuner wieder an, und möchteſt du eine
Gefährtin haben, die in deinen neuen Lebenslauf paßt, ſo haſt du,
ohne Ziererei geſprochen, zwiſchen meinen Schweſtern die Wahl. Du
wirſt ſie, denk' ich, beide nicht übel gefunden haben. Eine abſchlägige
Antwort haſt du nicht zu befürchten; ich bürge dir nicht bloß für die
Freundliche, ſondern auch für die Trutzige, die mir ein herbes Geſicht
für meine Rede macht. Auch findeſt du nicht einmal einen Neben¬
buhler, denn beide ſind frei, Freund Bettelmelcher aber iſt verſehen
und ſchwört nicht höher als auf ſeine Marianna, die zärtliche Taube,
die auch mit uns fliegen wird, und Freund Schwamenjackel macht
dir nicht die mindeſte Concurrenz. Der hat ſtatt des Herzens eine
zweite Leber, oder wenn's je ein Herz iſt, ſo iſt es für die Weiber
unzugänglich: keine Schottenfellerin wird es einſacken, keine Schrende¬
fegerin wird hineinſteigen.


Schwamenjackel grunzte und die Andern brachen in ein Ge¬
lächter aus.


Sollten jedoch beide keine Gnade vor deinen Augen finden, ſetzte
der Zigeuner hinzu, ſo dürfen ſie dir kein ſaures Geſicht machen,
[384] wenn du eine Andere wählſt. Ich hab' dir's ja ſchon früher geſagt:
in Bickesheim bei Raſtatt, am großen Wallfahrts- und Jahrmarkts¬
tage, da kannſt du Alles beiſammen finden, was zu unſerer Ver¬
wandtſchaft gehört, und noch viel Andere mehr, den Hannobel, den
Joſephle, den Tonele, den Friſchholz, die Bebe, das Suphile, die Liſa,
den Leopold, den Baron Stihl, den Buchdrucker und ſeine Hammel¬
ſchwänzin, den Peter Paul, den Jägerkaſperle, faſt Alle mit Familie
und Mädels genug. Da haſt du eine große Auswahl, und welche
dir gefällt, die muß uns recht ſein. Ich kann dir aber vorausſagen,
daß dir außer meinen beiden Schweſtern höchſtens noch die Liſa ge¬
fallen wird, denn dieſe Drei gelten bei Freund und Feind für die drei
größten Schönheiten zwiſchen Rhein und Donau. Die Marianna iſt
die vierte und ſticht vielleicht alle Drei aus, aber die läßt von ihrem
Herzblatt nicht. Die Liſa hat zwar einen Mann, dem ſie aber längſt
wegen ſeiner Schneidercourage den Laufpaß gegeben hat. Er iſt ein
Landsmann von dir, aus dem Maulbronner Oberamt gebürtig, und
bei uns unter dem Namen Schneidermichel bekannt.
Den kenn' ich von Ludwigsburg her, ſagte der Gaſt.
Ja, ſie haben ihn um etlicher Calamitäten willen in's Zuchthaus
geſteckt und ſeitdem, wie ich höre, unter ein Grenadierbataillon geſtoßen.
Die Mädchen lachten.


Der wird eine ſchöne Figur machen, ſagte die Jüngere.
Er hat freilich weder das Pulver erfunden, noch wird er's gern
riechen, bemerkte der Gaſt. Uebrigens iſt er ſonſt ein guter Kerl.


Die Aeltere begann über die abweſende Liſa, in der ſie eine Mit¬
bewerberin fürchten mochte, hämiſche Aeußerungen auszuſtoßen, die
aber von der Jüngeren kräftig abgewehrt wurden. Dieſer trat auch
die Mutter bei und erklärte mit Lebhaftigkeit, die Geſchmähte ſei ihre
Schweſtertochter, ſie habe ſie ſo lieb wie ihre eigenen Kinder, und
wünſche ſie ſo gut wie dieſe mit einem wackern Manne, wie Herr
Schwan, verſorgt zu wiſſen.


Das iſt brav, ſich der Abweſenden anzunehmen! ſagte dieſer, in¬
dem er ſeiner jüngeren Nachbarin auf den Nacken klopfte, wobei er
ſich beredete, daß er die viele Freundlichkeit, die ihm in Worten und
Werken erzeigt werde, doch auch in irgend einer Weiſe erwidern müſſe.
Die Zigeunerin aber ſchien nicht mit dieſer Art der Erwiderung
[385] einverſtanden zu ſein, ſondern ſtieß ihn heftig zurück, wozu ſie ſich
wohl noch mehr durch das zudringliche Betragen ihrer Schweſter als
durch ſeine Kühnheit herausgefordert fühlen mochte.


Hoho! rief ihr Bruder, auf einen Puff gehört ein Kuß, das iſt
in den Wäldern ſo gut wie in Städten und Dörfern Sitte, und
damit der Feuerteufel von einem Weibsbild keinen Ausweg hat, ſo
ſchlage ich vor, daß wir jungen Leute mit dieſem Gaſte Bruder- und
Schweſterſchaft trinken.


Der Vorſchlag fand allgemeinen Beifall, die Flaſche ging in die
Runde und der Freundſchaftsbund wurde von den Männern mit
einem Handſchlag, von den beiden Mädchen je mit einem Kuſſe be¬
ſiegelt. So feurig aber die Aeltere dieſe Gelegenheit benutzte, um ihre
Wünſche kundzugeben, ſo däuchte den Gaſt der raſche Kuß, mit wel¬
chem die Jüngere einen Augenblick ſeine Lippen zuſammenpreßte, weit
inniger zu ſein, und ein heißer Strahl aus ihren dunkeln Augen ſagte
ihm, daß ſie der Bezeichnung, die ihr Bruder ihr ſo eben gegeben, zu
entſprechen vermöge. Doch riß ſie ſich gleich wieder von ihm los und
ſetzte ſich ruhig auf ihren Platz.


Eine ſolche Buße, ſagte er, kann ich mir für die Sprödigkeit
wohl gefallen laſſen. Weil mir's aber doch ſcheint, daß es der Jungfer
ſchwer fallen will, dieſelbe gegen mich abzulegen, und weil ihr mich
alle vorhin wegen meiner Standhaftigkeit gelobt habt, ſo will ich nur
geſtehen, daß mein Weib zu dieſer Stunde vor dem Wald, wo ich ſie
hinbeſtellt habe, auf mich warten wird. Mein Weib heiß' ich ſie, ob¬
gleich wir's mit aller Mühe nicht dahin gebracht haben, mit einander
vor den Altar zu kommen. Somit weiß ich auf das liebreiche Aner¬
bieten weiter nichts zu antworten, als dieſes: wenn's in eurer Ge¬
ſellſchaft nicht vielleicht Sitte iſt, daß einer zwei und mehr Weiber
hat, wie die alten Erzväter in der Bibel, ſo muß ich eben danken
weil ich ſchon verſehen bin.


Er konnte es nicht unterlaſſen, dieſe Eröffnung mit einem ſpähen¬
den Blick auf ſeine Nachbarin zu begleiten, und hatte die Genug¬
thuung, zu ſehen, daß ſie ihr Geſicht nicht ſo völlig in der Gewalt
hatte, um die unwillkommene Ueberraſchung ganz verbergen zu können.
Das iſt freilich was anderes, verſetzte der Zigeuner. Bis jetzt iſt
ie Vielweiberei bei uns nicht im Schwang geweſen. Die Männer
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 25[386] würden ſich vielleicht gar nicht ungern dazu verſtehen, aber die Weiber
finden ſie nicht nach ihrem Geſchmack. Uebrigens iſt es Schade, daß
du uns nichts von der Ankunft deiner Frau geſagt haſt: wir haben
ja beinahe nichts mehr übrig, was man ihr anbieten könnte. Da du
unſer Gaſt biſt, ſo darfſt du dich nicht bemühen. Freund Bettelmelcher
iſt gewiß gern ſo galant, ſie abzuholen und in unſre Mitte einzuführen.


Wie ſieht ſie denn aus, damit ich nicht die Unrechte bringe?
fragte dieſer neugierig lächelnd, indem er ſich zum Fortgehen anſchickte.


Chriſtinens Freund empfand eine ſeltſame Verlegenheit. Sie ſieht
aus, wie die Leute aus der Umgegend, ſagte er, nachdem er einen
Augenblick vergebens nach einer paſſenderen Beſchreibung gerungen hatte.


Geh' nur, Schelm! rief der Zigeuner lachend. Meinſt du denn,
du werdeſt einen Markt voll Weiber vor dem Walde finden? — Wir
müſſen eben einmal die Probe mit ihr machen, wie ſie ſich bei uns
gefällt, fuhr er fort, nachdem Jener ſich entfernt hatte. Wir beweiſen
dir eine große Rückſicht, Bruder, und gehen weit von unſern gewohn¬
ten Grundſätzen ab, wenn wir deine Frau in unſre Geſellſchaft auf¬
nehmen. Was die Männer betrifft, ſo halten wir's nicht gar ſtreng
mit den Deutſchen, ſelbſt wir Zigeuner nicht, die wir uns noch am
meiſten abzuſchließen pflegen. Meine Mutter iſt, wie du weißt, mit
Deutſchen verheirathet geweſen. Unſre beiden Freunde hier ſind gleich¬
falls Deutſche, wenigſtens dem Ausſehen nach, denn ihr Stammbaum
iſt ihnen ſelbſt nicht recht bekannt. Welche Aufnahme du bei uns ge¬
funden haſt, das weißt du ſelbſt. Gegen die deutſchen Weiber aber
beſinnen wir uns dreimal, bis wir eine zulaſſen.


Aber nicht, weil wir eiferſüchtig ſind! rief ſeine jüngere Schweſter
trotzig dazwiſchen.


Nein, das ſind wir nicht! ſtimmte die Aeltere mit einem ſpöttiſchen
Gelächter ein.


Die deutſchen Weiber, ſagte die Alte, ſind nicht zu unſrem Leben
erzogen und taugen deßhalb ſelten dazu.


Sie ſind — ergänzte ihr Sohn, einen Augenblick aus dem Tone
guter Lebensart fallend — ſie ſind in der Regel dumme Hunde, die
zu nichts zu gebrauchen ſind.


Es rauſchte im Walde und man hörte das Zirpen einer Grille,
das der Zigeuner mit dem gleichen Laut beantwortete. Gleich darauf
[387] erſchien Bettelmelcher, eine Frau am Arme führend oder vielmehr
nach ſich ziehend. Es war Chriſtine, die ihm ängſtlich und mit ſicht¬
barem Mißtrauen folgte. Sie machte große Augen, als ſie ihren
Frieder zwiſchen den beiden Schönheiten ſitzen ſah, von welchen ihr
Begleiter vermuthlich nichts geſagt hatte. Dieſer rechtfertigte das Lob,
das der Zigeuner ihm zuerkannt hatte: er führte ſeine Anbefohlene
mit fratzenhafter Galanterie herbei und ſagte kratzfußend, indem ein
leiſes, aber unbeſchreiblich boshaftes Lächeln in ſeinen Mundwinkeln
ſtand: Habe die Ehre, Madame Schwan der Geſellſchaft zu präſentiren.
Chriſtine zog ihren Arm aus dem ſeinigen und trat zu ihrem
Manne. Wo ſteckſt denn ſo lang? fragte ſie weinerlich. Läßſt mich
eine geſchlagene Stund' vor'm Wald da warten, daß ich ſchier am
Umſinken bin.


Nun ſo ſetz' dich, erwiderte er etwas unmuthig, biſt ja jetzt bei mir.


Die jüngere Zigeunerin rückte zuvorkommend und zog Chriſtinen
zu ſich nieder, ſo daß ſie zu ihrem Manne zu ſitzen kam. Freilich
war der Platz nach der andern Seite hin nicht ſehr vortheilhaft für
ſie, ſofern ſie die Vergleichung mit ihrer jüngeren, ſchöneren und rei¬
zend gekleideten Nachbarin aushalten mußte. Friedrich wußte, daß
die Geſellſchaft ſtille Blicke unter ſich wechſelte, die das Ergeb¬
niß dieſer Vergleichung ausſprachen. Er ſah die Blicke nicht, aber er
fühlte ſie.


Aus Rückſicht auf den neuen Gaſt wurde die Unterhaltung, zu welcher
man ſich bisher der jeniſchen Miſchſprache untermengt mit modiſchen Brocken,
bedient hatte, nun ganz deutſch geführt, wollte aber nicht recht in Gang
kommen. Man bot Chriſtinen, deren ſchlaffe Züge Müdigkeit und Hunger
verriethen, von den Ueberbleibſeln des Eſſens an; ſie genoß einige Biſſen,
ſtieß aber bald die Speiſe zurück und klagte über Uebelkeit. Der dienſt¬
fertige Mundſchenk bot ihr die Flaſche; ſie trank gierig, fand aber
den Wein zu ſtark, lehnte ſich an ihren Mann und klagte, der Kopf
ſchwindle ihr. Der Zigeuner ſuchte ihr eine bequeme Lagerſtelle aus,
breitete ein Tuch zur Unterlage für den Kopf auf den Boden und
redete ihr zu, ſich zur Ruhe zu legen. Sie betrachtete den Pfühl mit
kaum verhehltem Widerwillen, entſchloß ſich aber doch, ſich ſeiner zu
bedienen, legte ſich hin und war oder ſchien bald eingeſchlafen.


Du haſt's alſo nicht zur Copulation bringen können, Bruder?
25 *[388] fragte Bettelmelcher, als die Geſellſchaft wieder vertraulich, wie nach
einer überſtandenen Störung, beiſammen ſaß.


Nein, antwortete der Gaſt und erzählte ausführlicher als vorhin
die Geſchichte ſeiner vergeblichen Bemühungen um den kirchlichen und
hiemit zugleich bürgerlichen Segen für ſein eheliches Band.


Dafür weiß ich Rath, ſagte ſein neuer Freund: wenn's dir immer
noch darum zu thun iſt, ſo kann ich dir einen Pfarrer angeben, der
dich um Geld und gute Worte ohne Anſtand copulirt. Er iſt ein
Schulkamerad von mir, du brauchſt ihm nur einen Gruß von mir
zu ſagen.


Wo iſt er? rief der Gaſt voll Feuer und Flamme. Das Wort
hatte bei ihm eingeſchlagen wie ein Blitz, und über der Ausſicht auf
ein Ziel, dem er ſo lange umſonſt nachgejagt, auf die Möglichkeit,
dem ganzen Flecken Ebersbach nebſt Pfarrer und Amtmann zum
Trotz den Eid zu halten, wegen deſſen er einſt vom Kirchenconvent
geſtraft worden war, und ſeine Heirath zu vollziehen, über dieſer Aus¬
ſicht vergaß er alle Reize, die ihn zum Eintritt in eine neue Welt
lockten und die unſcheinbar gewordene erſte Liebe verdunkelten. Wo iſt
der Pfarrer, Bruder? fragte er wiederholt den Freund, der durch ein
ſo nahes Verhältniß zu einem Manne von ehrwürdiger Stellung in
ſeinen Augen nicht wenig geſtiegen war.


Wurſt wider Wurſt! antwortete Bettelmelcher, den der Zigeuner
ſtill angeſehen hatte, mit ſchlauem Lächeln. Wenn du einmal der
Unſrige biſt, ſo hab' ich kein Geheimniß mehr vor dir.


Nein! rief der Zigeuner mit dem Tone der Billigkeit: man muß
einem Menſchen nicht Hände und Füße binden. Wir ſind freie Leute,
und wenn er zu uns treten will, ſo ſoll es ſein eigner freier Wille
ſein. Du mußt deinen Preis annehmlicher ſtellen.


Wohlan alſo, ſagte Bettelmelcher nach einem verſtohlenen Blick auf
Chriſtinen, die wirklich ſchlief, wenn du uns zu der erſten größeren
Unternehmung, die wir ausführen, deinen Kopf und deinen Arm ver¬
ſprichſt, ſo kannſt du über meine Zunge verfügen. Mehr verlang'
ich nicht.


Es gilt! rief der Gaſt aufſpringend: hier iſt mein Wort und
meine Hand!


Die drei andern Männer ſprangen ebenfalls auf die Beine und
[389] einer nach dem andern empfing ſeine dargereichte Hand zu einem kräf¬
tigen Druck.


Und ich, rief der Zigeuner, leiſte hiemit Bürgſchaft für ihn, daß
er ſein Wort halten wird. Wenn das geſchehen iſt, wandte er ſich
zu ihm, ſo biſt du nicht weiter gebunden und es ſteht ganz in deinem
Belieben, ob du bei uns bleiben willſt oder nicht. Auch ſollſt du dich
zu keinem Unternehmen verpflichtet haben, das nicht nach deinem
Sinn wäre.


Sie ſetzten ſich wieder und zur Beſiegelung des Gelübdes kreiſte
noch einmal die Flaſche mit der Neige aus dem Fäßchen, das nun
völlig auf dem Kopfe ſtand.


Den Pfarrer, von dem ich dir geſagt habe, vertraute nun Bettel¬
melcher dem Gaſte, als er bemerkte, daß dieſer ihn erwartungsvoll
anſah, den triffſt du in Dinkeltheim bei Schwäbiſch Hall.


Gut! Ich habe mit meinem Weib morgen einen Handel in Gmünd
zu machen, und von da wollen wir gleich den Stab weiter ſetzen.
So wie ich zurückkomme, ſteh' ich euch zu Dienſten. Ob's ein Markt¬
gang iſt oder ein Unternehmen, wo man das Fell einſetzt und die
Haar' davon fliegen, gilt mir gleich. Nur Eins beding' ich mir aus:
einem Unſchuldigen will ich nichts zu Leid thun, aber gebt mir eine
Gelegenheit, daß ich dieſer ſchnöden, falſchen Welt mit ihrem Geiz und
Hochmuth, mit ihrer Unterdrückung und verlogenen Ehrbarkeit das
Herz aus ihrem eigennützigen Leib herausreißen kann — und wenn's
den Kopf koſtet, ihr ſollt mich kennen lernen.


Bravo, Bruder Schwan! rief der Zigeuner. So denken wir auch!
Die Gelegenheit ſollſt du haben! rief Bettelmelcher. Meinſt du,
du ſeieſt allein unterdrückt? Ich könnte jetzt ſo gut Pfarrer ſein, wie
der Pfaff, der dir die Copulation abgeſchlagen hat, ich hatte ſchon ein
wenig zu ſtudiren angefangen, da hat mich ein betrügeriſcher Vormund
um all mein Hab' und Gut gebracht.


Ich hab' auch noch mit einem Solchen abzurechnen! rief das halb¬
geworbene Mitglied der Bande.


Was ſind Bedrückungen des Einzelnen gegen die Verfolgungen,
die mein ganzer Stamm erfahren hat! hob die alte Zigeunerin an.
Vor ein paar hundert Jahren ſind unſre Vorfahren aus fernen Landen
weit im Oſten durch Krieg und Noth in dieſes Land gekommen, wo
[390] eine bläſſere Sonne ſcheint. Sie haben ſich friedlich in den Wäldern
aufgehalten, haben von den Leuten geheiſchen, was ſie zu ihrer Noth¬
durft brauchten, und haben in guter Freundſchaft mit ihnen gelebt.
Dann haben böſe Menſchen Mißtrauen und Hader geſät, und ſeit
mehr als hundert Jahren wird unſer Stamm verfolgt, ſo daß keins
von uns ſein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes fried¬
liche Fortkommen iſt uns abgeſchnitten, als ob wir nicht auch Chriſten
und Kinder Gottes wären, die gelebt haben müſſen, und wir mögen
unſre Nahrung ſuchen wie wir wollen, ſo ſind wir dafür von Mutter¬
leib an zum Tod verurtheilt. Drei Männer hab' ich nach einander
gehabt, keinen lang: alle drei ſind am Galgen geſtorben. Zwei
Schweſtern und ein Bruder ſind den gleichen Todesweg gegangen; die
dritte Schweſter hat ſich zu Karlsruhe im Gefängniß erhenkt, denn
Freiheit iſt unſre Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schweſtern
iſt einer durch das Schwert, einer durch den Strang geſtorben. Ein
Sohn, zwei Schwiegerſöhne, eine Schwieger- und eine Schweſtertochter
ſind gehenkt, zehn Männer, mit mir verſchwägert oder verwandt, des¬
gleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundert und ein Jahr auf die
Galeere angeſchmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und
einen Tochtermann hab' ich mit eigner Hand vom Galgen geholt und
unter heißen Thränen und Gebeten begraben. Bei den Andern hat's
nicht ſein mögen. Und nun betrachtet mein Loos und wagt noch
über euer eigenes zu klagen.


Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz ſaß ſie
da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gaſt konnte kein
Auge von ihr wenden, wie ſie die Blicke vor ſich in den Boden bohrte.
Weit entfernt, in ihren Erlebniſſen ein abſchreckendes Beiſpiel zu ſehen,
fühlte er eine tiefe Theilnahme für ſie und die verwaisten Mädchen,
die ſchon ſo früh den verſengenden Froſt des Lebens kennen gelernt.
Freilich verſchwieg ſie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne eigene
Schuld in den deutſchen Landen Schutz und Gaſtfreundſchaft verwirkt
hatte; daß zwei ihrer Männer dieſem Volke nicht angehört, überging
ſie gleichfalls mit Stillſchweigen; und durch welche Thaten ſo viele
der Ihrigen von einer freilich rohen, aber zum Kampfe auf Leben und
Tod genöthigten Staatsgeſellſchaft ſich ein ſchauerliches Ende zugezogen,
das ſchien ſie gegen ihre Erlebniſſe nicht in die Wagſchale zu legen.


[391]

Laßt mich reden! rief Schwamenjackel, ſeine Worte mit heiſerer
Stimme kurz hervorſtoßend. Mein Vater, der mich erzogen und ge¬
boren hat —


Ungeachtet des furchtbaren Ernſtes, den die Unterredung ange¬
nommen, kämpfte ein unterdrücktes Lachen in der Bruſt der Mädchen,
die das Geſicht abwandten, und die Männer bißen ſich auf die Lippen,
um ihren Gefährten nicht durch einen unzeitigen Ausbruch zu ſtören.
Mein Vater, fuhr Schwamenjackel fort, iſt zu Alpirsbach auf dem
Schwarzwald gerädert worden, und ich hab' als ein zwölfjähriger Bube
hart dabei zuſehen müſſen und bin nachher in's Zuchthaus geſteckt
worden. In meinem ganzen Leben vergeſſ' ich's nicht und will's auch
nie vergeſſen. Ich übe mein Gedächtniß mit Fleiß, daß es mir die
Stöße des ſchweren, mit Blei ausgefüllten Rades und das Krachen
der Glieder immer wieder als gegenwärtig vorſtellen muß: erſt den
rechten Fuß und den linken Vorderarm, dann den linken Fuß und den
rechten Vorderarm, dann den rechten Schenkel und den linken Oberarm,
dann den linken Schenkel und den rechten Oberarm, und endlich, wenn
ſie's leidlich machen, den Gnadenſtoß auf die Bruſt. Meinem Vater
iſt's aber nicht ſo gut geworden: lebendig haben ſie ihn auf's Rad
geflochten, Stunden lang ächzen und ſtöhnen laſſen in der gräulichen
Marter, bis ſie ihm endlich den Kopf abgeſchnitten und auf den Pfahl
geſteckt haben. Und dabei haben die Pfaffen immerfort in ihn hinein¬
geſchrieen und ihm ihre Kreuze unter die Naſe geſtoßen. Das
halt' ich mir tagtäglich vor, damit mich kein dummes Mitleid über¬
mannt —


Ein entſetzlicher Schrei unterbrach ihn. Alle ſprangen auf und
ſahen ſich um. Es war Chriſtine, die unruhig geſchlafen, und, von
der rauhen Stimme Schwamenjackels erweckt, ſeine Worte noch halb gehört
hatte. Mein Herz! rief ſie, ihre Hände auf der Bruſt zuſammen¬
drückend, mein Herz! Das iſt ja zu gräßlich! es bringt mich um.


Sei ruhig, Chriſtine! rief Friedrich, der ſelbſt etwas bleich ge¬
worden war, und eilte zu ihr. Sie ſah ihn wild an und erholte ſich
erſt allmählich. Es iſt ja nur von vergangenen Dingen die Rede,
ſprach er ihr zu. Sieh, ich bin bei dir, und meine Freunde haben
mir einen Pfarrer genannt, der uns trauen will. Sei munter, jetzt
geht's endlich zur Hochzeit!


[392]

Hochzeit? ſagte ſie: ich hab' gemeint, es ſei — von etwas Andrem
die Rede. Hab' ich denn ſo ſchrecklich träumt?


Er wiederholte ihr, daß er gleich am nächſten Tage mit ihr zur
Trauung wandern werde. Ihr Angeſicht belebte und erheiterte ſich
nach und nach. Iſt's denn wirklich wahr? ſagte ſie: ſoll ich endlich
einmal mit dir vor den Altar kommen?


Sieben Jahre — ſo lang' wird's jetzt ſein, daß wir das erſtemal
mit einander vor Kirchenconvent geweſen ſind — ſieben Jahre hab'
ich mir's um dich ſauer werden laſſen müſſen, wie der Erzvater Jakob
um die Rahel, und jetzt iſt's endlich gewonnen.


Gelt, und darüber bin ich zur Lea worden? ſagte ſie, einen ſcheuen
Blick um ſich werfend. Sie ſtarrte die Geſellſchaft an, wie wenn ſie
ſie noch nie geſehen hätte, und drängte ängſtlich fort. Er erklärte
ſich bereit mit ihr zu gehen.


Wir wollen jetzt auch zur Ruhe, verſetzte die Alte.


Der Hitzling iſt hinab, ſagte ihr Sohn, gen Himmel deutend: die
Glanzer ſind aufgegangen.


Und der Jaim iſt geſchwächt, ſetzte Bettelmelcher hinzu, indem er
das Fäßchen mit einem Fußtritt auf den Boden ſchleuderte.


Beim Abſchied wurde der Gaſt in jeniſcher Sprache aufgefordert,
ſich bald wieder auf dieſer Stelle einzufinden, wo er die Geſellſchaft
noch eine Zeit lang gelagert finden werde. Er gab ſein Wort. Der
Zigeuner bot ihm Kleider an, da ihre Garderobe reich verſehen ſei
und er den kleinen Vorſchuß bei Gelegenheit wieder erſtatten könne.
Er nahm das Anerbieten an und wurde alsbald mit einer vollſtän¬
digen Kleidung verſehen, die ihm für die Hochzeitreiſe ſehr zu Statten
kam. Chriſtinen wurde nichts angeboten, und er ſcheute ſich, etwas
für ſie anzuſprechen. Bettelmelcher gab ihm noch genauere Anweiſung
über den Pfarrer, der ihn trauen ſollte; er nannte ihm ſeinen Namen
und beſchrieb ihm ſeine Wohnung ſo genau, daß er nicht fehlen konnte.


Als das Paar ſich mit einander entfernt hatte, blickte ſich die
Bande eine Zeit lang ſtillſchweigend an; dann ſagte der ſcheele Chri¬
ſtianus: Er iſt reif, und dir, Frau Schweſter, gratulir' ich zu der
Eroberung. Laß du ihn zur Hochzeit und Copulation gehen, er hält's
bei dem Bauernmenſch keine acht Tage mehr aus.


Woher weißt du denn, daß ich ihn will? fragte ſeine jüngere Schweſter.
[393] Er lachte.


Was er für einen großen Kopf hat! ſagte ſie.


Das Bild der Thatkraft! rief er. Verſtelle dich nur nicht, ich
hab' in deine Augen geſehen und auch in die ſeinigen. Du mußt das
Band werden, das ihn an uns feſſelt.


Eine Meſſe laſſ' ich leſen, wenn's gelingt und du wieder einmal
verſorgt biſt, ſagte die Alte.


Amen, erwiderte ihr Sohn und bekreuzte ſich andächtig.


Die Altmutter hat Recht, bemerkte Bettelmelcher: er hat etwas
Solides in ſeinem Ausſehen und könnte treffliche Geſchäfte für uns
machen.


Ich bin ihm nicht feind, verſetzte Schwamenjackel, und doch iſt in
ſeinem Geſicht etwas, das mir nicht ganz gefällt. Ich weiß nicht,
was in dem Mütterlichen für ein Vorzug liegen ſoll. Was die Deut¬
ſchen von ihren Müttern haben, das iſt in der Regel eine butterherzige
Dummheit, und ich will deßhalb nur wünſchen, die Altmutter möge
diesmal fehlgeſchoſſen haben. Habt ihr's nicht geſehen, wie er über
der Beſchreibung des Räderns erblaßt iſt?


Ich kenne ihn, erklärte der Zigeuner mit entſchiedenem Tone. Er
ſteht am Graben und beſinnt ſich. Wenn er nicht mehr rückwärts
kann, ſo ſpringt er und fragt nicht wie breit oder wie tief. Aber
aus den Augen dürfen wir ihn nicht mehr laſſen. An ſeinem Muth
iſt nicht zu zweifeln, er hat Muth wie der Teufel; aber auch der
Muth will geübt ſein.


Und ein tüchtiges Probeſtück, verſetzte Bettelmelcher, müſſen wir
ihm vorlegen, daß die Haar' davon fliegen, wie er ſelber ſagt. Ich
weiß nicht mehr, welcher König es war, der über Meer in ein fremdes
Land einfiel: als er gelandet hatte, verbrannte er ſeine Schiffe hinter
ſich, damit ſeinen Leuten das Heimweh verging.


Ja, auf dieſe Weiſe bringen wir ihn am beſten aus der Gegend
fort, dann wird er luſtiger anbeißen.


Um den Preis will ich mich zu einer Ausnahme von meiner Regel
verſtehen, ſagte die Alte. Hier herum werfen die Märkte ohnehin
nicht ſo viel ab, daß ich Luſt hätte, bald wieder zu kommen und Sohn
und Tochter zu riskiren, für die hier keine geſunde Luft iſt.


[394]

Während ſie ſo mit einander redeten, führte der Gegenſtand ihrer
Geſpräche Chriſtinen nach dem Hofe, wo er ihr einen Aufenthalt ver¬
ſchafft hatte. Er wußte ſie unterwegs nothdürftig über die Geſellſchaft,
in der ſie ihn getroffen, zu beruhigen, was ihm diesmal leichter ge¬
lang, weil die Ausſicht, endlich ſein rechtmäßiges Weib zu werden,
in ihr alles Andere überwog. Auch ihm gab dieſer Gedanke neue
Schwungkraft: er konnte endlich ſein Wort halten, ſeinen Willen durch¬
ſetzen. Aber freilich, um welchen Preis!

33.

Querfeldein über Berg und Thal ſchweifend, pilgerte gleich am
nächſten Tage das ſchon ſo lange verbundene und immer noch nach
dem Segen der Kirche dürſtende Paar dem Kocherthale zu, in deſſen
Umgebung ihm ſein Wunſch erfüllt werden ſollte. Wem man aber
geſagt hätte, daß die Beiden auf einem Brautgang begriffen ſeien, der
würde ſie verwundert angeſchaut haben: der Hochzeiter war, wenn
auch ſein Geſicht von den Mühſeligkeiten des Lebens zeugte, in der
Blüthe der Mannesjahre und ſchritt im blauen Rock, im roth, blau
und grün geſtreiften kalaminkenen Bruſttuch (Weſte), in den ſchwar¬
zen Lederbeinkleidern, weißen Strümpfen und neuen Schuhen mit
blanken ſtählernen Schnallen gar ſtattlich einher, während aus der
verſchoſſenen, von Hauſe aus farbloſen und ärmlichen Bauerntracht
der Hochzeiterin ein verblühtes, müdes Geſicht hervorſah. Bald
waren ſie wieder auf dem Rückwege von Thüngenthal, denn ſo
ſchreibt ſich der Name des Ortes, den der eigenſinnige Volksmund in
Dinkeltheim verwandelt hat, gleichwie ihm umgekehrt die Reſidenz des
deutſchen Ordens, welche Mergentheim geſchrieben wird, zu einem
Mergenthal geworden iſt. Am Abend des erſten Tages, da ſie wieder
in der Richtung nach der Rems wanderten, kehrten ſie in einem
Dorfwirthshauſe ein, um daſelbſt über Nacht zu bleiben. Sie waren
die einzigen Gäſte in der Wirthsſtube, wo der Wirth ab und zuging;
im Cabinet ſaßen drei geiſtliche Herren, die mit einander tranken und
[395] redeten, ohne ihnen Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Kaum hatten ſie das
Fleiſch, das ihnen der Wirth vorgeſetzt, gegeſſen, ſo trat ein anſtän¬
diger Mann in einem braunen Anzug ein, desgleichen die Gerber
trugen, grüßte ſie freundlich, ſetzte ſich an ihren Tiſch und verlangte
gleichfalls ein Nachtquartier. Chriſtine erwiderte den Gruß gleichgiltig;
Friedrich aber, nachdem er ihn angeſehen, mußte den Mund zum
Lachen verziehen. Der Andre gab ihm einen Wink, zu warten, bis
der Wirth die Stube verlaſſen; dann fragte er lachend: Nun, wie iſt
die Copulation abgelaufen?


Erſt jetzt blickte ihn Chriſtine näher an und erkannte mit Staunen
einen der Männer aus dem Walde von Wäſchenbeuren. Es war in
der That Bettelmelcher.


Ganz gut, antwortete Friedrich, aber ſehr einfach. Es war eine
Hauscopulation, die dein Pfaff in ſeiner Stube vorgenommen hat, er
wird wohl wiſſen warum, und der ganze Act beſtand darin, daß er
uns geheißen hat, wir ſollen einander die Hände darauf geben, daß
wir einander in Lieb und Leid nicht verlaſſen wollen.


Nun, iſt das nicht genug? verſetzte Bettelmelcher mit gerührter
Stimme und ſpitzbübiſchem Augenzwinkern.


Dann hat er uns einen Copulationsſchein ausgeſtellt, und hat ihn
auf mein Verlangen noch um ein Jahr weiter zurück datirt, ſo daß
unſre Ehe jetzt ſchier für achtjährig gilt. Der thut Alles, was man haben
will. Deinen Gruß hab' ich ihm ausgerichtet. Drauf hat er gelacht
und geſagt: So, iſt der Spitzbub' immer noch ungehenkt?
Bettelmelcher lachte.


Aber du! fuhr Friedrich fort, das iſt mir ein ſauberer Pfarrer,
den du mir recommandirt haſt, und mir kommen Bedenken, ob die
Handlung und der Trauſchein nur auch etwas werth ſind. Wir haben
zuerſt nach dem Pfarrhaus gefragt, aber da ſind wir ſchön ange¬
kommen.


Ich hab' dir ja ſeine Wohnung angegeben, unterbrach ihn Bettel¬
melcher immer noch lachend.


Ja freilich, dann hat ſich's herausgeſtellt, daß er nicht der rechte
Pfarrer iſt, ſondern ein abgedankter. Er hat mir ſelber erzählt, er
hab' nur ein klein's Späßle gemacht und ſei deswegen gleich weg¬
[396] geſchmiſſen worden. Nun möcht' ich doch wiſſen, ob ein abgedankter
Pfarrer auch noch copuliren kann.


Willſt du dich denn in Ebersbach häuslich niederlaſſen und dem
Amt deinen Trauſchein vorzeigen? fragte Bettelmelcher ſpöttiſch.


Nein, das juſt nicht.


Nun, ſo gib dich zufrieden und ſei froh, daß du's ſchwarz auf
weiß haſt. Das Papier kann dir unter Umſtänden viel nutzen, es
kann dir ſtatt eines Paſſes dienen, und wenn du dich mit deiner Frau
einmal in einem fremden Land irgendwo ſetzen willſt, ſo kannſt du
dich damit legitimiren. Meinſt du denn, man frage überall ſo genau
darnach?


Ja, wenn's nur ein bisle etwas iſt, bemerkte Chriſtine, die es als
eine große Genugthuung empfand, endlich einmal urkundlich, wie auch
die Urkunde beſchaffen ſein mochte, verheirathet zu ſein.


Friedrich beruhigte ſich. Sie zahlten ihre Zeche und gingen bald
darauf zu Bette.


Morgens fanden ſie ſich beim Frühſtück wieder zuſammen, wie
Gäſte, die ſich zufällig in der gemeinſamen Herberge kennen gelernt
haben. Der hinzugekommene Genoſſe machte dem Ehepaar keine
Schande: er ſah jetzt beim Tageslicht in ſeinem braun und blau
melirten Rocke ſehr ehrbar und wohlhabend aus, und benahm ſich
äußerſt geſetzt. Man ſpeiſte eine Milchſuppe, zu welcher der Wirth
ſilberne Löffel auflegte. Chriſtine ſchien ſich bei dieſer vornehmen Be¬
wirthung behaglich zu fühlen; ſie trat ihrem Manne auf den Fuß
und flüſterte ihm zu: Das iſt ein koſtbarer Wirth!


Beim Fortgehen ſchlug Bettelmelcher den entgegengeſetzten Weg
ein, geſellte ſich aber bald auf der Straße wieder zu ihnen. Nun muß
man doch auch auf ein Hochzeitsgeſchenk für die junge Frau mit dem
achtjährigen Copulationsſchein denken, ſagte er lächelnd. Was wär'
denn etwa nach ihrem Guſto?


Chriſtine lachte, nicht ungeſchmeichelt, und erwiderte, man dürfe
ſich ihretwegen nicht in Unkoſten ſtürzen. Als er aber freundlich in
ſie drang, zu ſagen, ob ſie in ihrem neuen Stande nicht irgend etwas
wünſche, verſetzte ſie, weniger gegen ihn als ihren Mann gewendet:
E Bißle erquickt en Aederle; ich brauch' nicht viel; wenn ich nur ein klein's
Pfännle hätt', daß ich mir hier und da etwas Warm's machen könnt'!


[397]

Das iſt ein beſcheidener Wunſch! erwiderte Bettelmelcher lachend,
und doch muß man, wenn man ſich auch nur beſcheidentlich fortbringen
will, die Augen offen haben und in viele Sättel gerecht ſein. Wer
träumt und dröſelt, kommt nicht weit. Mit ſilbernen Löffeln ſpeiſen,
iſt wohl angenehm, nicht wahr? aber das kann Jeder, deſſen Eltern
ſo geſcheid geweſen ſind, ihm ein gute Erbſchaft zu hinterlaſſen. Wer
keine ſo geſcheiden Eltern gehabt hat, der muß ſelbſt den Verſtand
brauchen. Ich möchte wohl wiſſen, ob die junge Frau in dem Wirths¬
haus da die Hälfte von dem bemerkt hat, was zu ſehen und zu be¬
obachten geweſen iſt. So ein Wirth meint Wunder, wie klug er ſeine
Sachen einrichte, und vergißt Alles drüber, wenn er drei Pfaffen im
Cabinet ſitzen hat.


O, ich hab' auch meine Augen, ſagte Chriſtine, die ſich durch den
Zweifel an ihrer Beobachtungsgabe verletzt fühlte; ich habe wohl ge¬
ſehen, wie der Wirth ſeine Löffel in ein Schublädle gethan hat, nach¬
dem ſie ausbraucht geweſen ſind, und wie er das Geld von uns und
von den drei Herren in ein Glas in dem nämlichen Schublädle ge¬
than hat, hab' auch geſehen, daß ein Goldſtück in dem Glas ge¬
weſen iſt.


Bettelmelcher ſah ſie erſtaunt mit einem gewiſſen Ausdruck von
Achtung an: Wahrhaftig, die Frau iſt nicht ſo — träumeriſch, wie
ſie ausſieht, ſagte er, ſie kann noch brauchbar werden. Er ſchlug bald
nachher einen andern Weg ein, um, wie er ſagte, ſeinen Geſchäften
nachzugehen.


Das Paar ſetzte ſeine Wanderung bis in den Nachmittag fort, da
ſtand ein alter Bettler mit weißem Bart und lang herabhängenden weißen
Haaren am Wege und bat um ein Almoſen. Wir haben ja ſelber
nichts! fuhr ihn Chriſtine verdrießlich an, während ihr Mann nach
einer Kupfermünze ſuchte. Wenn das der Fall iſt, ſagte der Bettler,
ſo ſoll mir's auf eine kleine Beiſteuer nicht ankommen. Mit dieſen
Worten zog er unter dem Wams eine kleine Pfanne hervor und über¬
reichte ſie ihr. Sie iſt zwar nicht mehr ganz neu, ſagte er, aber ein
Schelm gibt's beſſer als er's hat.


Du Spitzbub'! rief Friedrich lachend, diesmal haſt du mich ſelbſt
getäuſcht; ich hätte dich an keinem Zug erkannt, nicht einmal an
deinen nichtsnutzigen Augen.


[398]

Bettelmelcher ſtieß ein luſtiges Gelächter aus und ſprach dann
eine Weile jeniſch mit ihm, wobei Chriſtine verwundert auf die fremden
ſeltſamen Ausdrücke hörte. Hierauf entfernte ſich Bettelmelcher, und
die Beiden gingen weiter, bis ſie ein einſames Wirthshaus am Saume
eines Waldes erreichten, wo Friedrich etwas Eſſen und Trinken kom¬
men ließ. Chriſtine hatte ſich ſchon mehrmals über Ermüdung beklagt.
Nachdem er einige jeniſche Worte mit dem Wirth gewechſelt, er¬
öffnete er ihr, ſie könne hier der Ruhe pflegen, er werde die Nacht
über auf dem Anſtande ſein und ſie den andern Morgen wieder
abholen.


Ach Frieder! ſagte ſie erſchreckend, du gehſt auf kein' Hirſch aus.
Ich ſeh's wohl, du biſt nicht in den beſten Händen, du haſt dich mit
dem Spitzbuben, dem Bettelmelcher, in etwas eingelaſſen.


Wenn ich dir ſage, ich geh' auf den Anſtand, ſo haſt du nichts
weiter zu fragen, entgegnete er ſtreng. Ich werd' am beſten wiſſen,
was ich zu thun hab'.


Mein Herz ſagt mir, du haſt nichts Gut's vor!
Und wenn es auch ſo wär' — haſt du eine Glückshenne, die mir
goldne Eier legt? Oder kannſt du mir ein Haus oder Geſchäft in
Ebersbach kaufen? Glaubſt du, der Wirth da, obwohl du ſicher bei
ihm aufgehoben biſt, werde dich umſonſt beherbergen? Halt' mich nicht
unnöthig auf, ich kann die Zeit nicht mit Streiten verlieren. Bleib'
ruhig hier, bis ich wiederkomme.


Er trank ſein Glas aus und ging raſch fort.
Frieder! Frieder! rief ſie, ihm auf die Straße nachlaufend.
Er blieb unwillig ſtehen.


Frieder, ſagte ſie ihm in's Ohr, wenn du etwas thun willſt,
was dir Gott verzeihen mög', ſo thu' doch wenigſtens ſchwarze Strümpf'
an, deine weiße Strümpf' machen dich ſichtbar in der Nacht!


Er lachte, hieß ſie ohne Sorge ſein und entfernte ſich auf dem
Wege, den ſie hergekommen waren.


Den andern Vormittag erſchien er verſprochener Maßen wieder in
dem Wirthshauſe, zahlte die Zeche und führte Chriſtinen weiter. Meine
Freunde haben mir ein Hochzeitsgeſchenk für dich verehrt, ſagte er
unterwegs und überreichte ihr ein paar ſilberne Löffel nebſt einem
ſilbernen Beſteck.


[399]

Sie beſah die Löffel aufmerkſam. Die kenn' ich! rief ſie, das
ſind die Löffel, mit denen wir geſtern früh die Milchſupp' geſſen haben.
Du, für das Geſchenk dank' ich, das iſt nicht auf richtige Art in
deine Händ' kommen. O Frieder, du biſt bei dem Wirth zu Heſel¬
thal einbrochen!


Ich hab' ihm das Haus mit keinem Fuß betreten, erwiderte er.


Dann haben's deine Kameraden gethan, ſagte ſie, und die werden
ihm die Löffel nicht abkauft haben.


Heb' mir die Sachen auf, entgegnete er mit einem Tone, der jede
fernere Erörterung abſchnitt. Wenn du ſie nicht willſt, ſo gehören ſie
mir. Du meinſt gleich, der Teufel hole dich darüber; wenn du in
Ebersbach wäreſt, ſo ſprängeſt du ſchon dem Amtmann zu.


Sie nahm die Löffel und das Beſteck in Verwahrung und ſagte
nichts mehr. Nachdem ſie ſtillſchweigend bis gegen Mittag gewandert
waren, ſah Chriſtine einen Berg vor ihnen, auf deſſen Gipfel eine Kirche
ſtand, und nun fand ſie ſich wieder in bekannter Gegend. Es war der
Rechberg. Friedrich wandte ſich demſelben zu und ſchlug den Weg
nach der Höhe ein. Sie folgte ihrem Manne, ohne zu fragen. Als
ſie den Gipfel erſtiegen hatten, begaben ſie ſich in das der Kirche
gegenüber gelegene Pfarrhaus, mit welchem von jeher zum Beſten der
frommen Wanderer eine Wirthſchaft verbunden war. Beim Eintritt
rief Chriſtine überraſcht: Ei, da ſind ja — Er ſtieß ſie in die Seite
und bedeutete ſie zu ſchweigen. Um den runden Tiſch am Fenſter
ſaßen drei Mitglieder der Geſellſchaft vom Walde, Bettelmelcher,
Schwamenjackel und die jüngere Zigeunerin, welche in aller Ruhe mit
einander zehrten. Der Wanderer begrüßte ſie, wie man Fremde grüßt,
mit welchen man ſich an einem einſamen Orte zuſammengeführt ſieht,
und entſchuldigte ſein Weib, die ſich von irgend einer Aehnlichkeit habe
hinreißen laſſen, einen Augenblick Bekannte in ihnen zu ſehen. Sie
nahmen die Entſchuldigung mit gleichmüthiger Höflichkeit auf, erwiderten,
dergleichen Irrthümer kommen häufig vor, und boten den Ankommen¬
den Platz an ihrem Tiſche an. Dann fragte man ſich gegenſeitig
woher und wohin, und tiſchte einander beliebige Auskunft darüber auf.
Chriſtine hörte ſehr verdutzt auf dieſe Reden und konnte nicht begreifen,
wie ihr Mann ſich ſo ſchnell in das angenommene Betragen finden
konnte. Nach und nach wurde man immer bekannter, indem der Wein
[400] die fremden Herzen gegen einander aufzuſchließen ſchien; und als die
Geſellſchaft zuſammen aufbrach, um den zufällig gemeinſamen Weg
mit einander fortzuſetzen, hätte die Hauſerin des Pfarrers, welche die
Wirthſchaft führte, darauf ſchwören können, daß hier Leute, die ſich
in ihrem Leben zum erſtenmal geſehen, auf dem freundlichen Berge
recht heiter und vertraulich mit einander geworden ſeien.


Sie nahmen ihren Weg über den ſchmalen Grat, der, einem
Meſſerrücken ähnlich, vom Hohenrechberg nach dem Hohenſtaufen führt.
Friedrich und Chriſtine waren die Vorderſten in der wandernden Ge¬
ſellſchaft. Er zankte ſie tüchtig aus, daß ſie in dem Pfarrhauſe ſo
unvorſichtig herausgefahren ſei, und gebot ihr, in Zukunft ihre Zunge
beſſer zu hüten.


Wie hab' ich denn wiſſen können, daß ich die Leut' gar nicht
kennen darf! maulte ſie. Da weiß man ja gar nicht mehr, wie man
ſich betragen ſoll.


So ſei künftig ganz ſtill und wart' bis man dich reden heißt!
ſagte er zornig.


Sie verſchluckte die Antwort, die ſie im Unmuthe geben wollte,
und ſchritt immer ſtärker zu, während er ſich mit verdroſſenem Gleich¬
muth im bisherigen Gange hielt. Auf dieſe Weiſe gerieth ſie, ohne
ſich umzuſehen, ziemlich weit voraus. Als ſie eine Strecke von ihm
entfernt war, ſah er ſich von Bettelmelcher und Schwamenjackel ein¬
geholt.


Was? rief Bettelmelcher, ich will nicht hoffen, daß es gleich nach
der Hochzeit zu Ehediſſidien kommt.


Das iſt ſehr oft der Fall, erwiderte er lachend: wenn der Pfaff
einmal die Garantie übernommen hat, ſo meinen die Leute gewöhnlich,
ſie brauchen für ſich ſelbſt nichts mehr dazu zu thun. Uebrigens iſt's
bei uns nicht ſo gefährlich: ich hab' meiner Frau bloß ein wenig Be¬
hutſamkeit im Weltleben eingeſchärft, und jetzt ſcheint ſie ihren Ka¬
techismus ungeſtört lernen zu wollen.


Das wird ſehr gut ſein, verſetzte Bettelmelcher. Soll ich ihr nicht
ein wenig dabei helfen?


Kann nichts ſchaden.


Dir fehlt's indeſſen nicht an Geſellſchaft, ſetzte jener hinzu, auf
die herankommende Zigeunerin deutend, welche ganz allein die Nachhut
[401] bildete. Mit dieſen Worten ging er raſch ſeines Weges, und Schwamen¬
jackel folgte ihm, ſo daß Friedrich nur die Wahl hatte, auf ſeine
ſchöne Freundin vom Walde, die den Fingerzeig geſehen hatte, zu
warten, oder mit ſichtbarer Gefliſſenheit ihre Geſellſchaft zu meiden.
Er fand keinen Grund, ihr dieſe Beleidigung zuzufügen, wohl aber
hundert Gründe, das Gegentheil zu thun.


Komm, Katharina, ſagte er, am Wege ſtehen bleibend.
Ich heiße nicht Katharina, erwiderte ſie. Chriſtina iſt mein Name.
Du heißt alſo wie meine Frau? rief er erſtaunt. Warum haben
dir denn die Deinigen einen falſchen Namen gegeben?


Um meiner Sicherheit willen, antwortete ſie. Ich bin aller Länder,
außer Frankreich, Sachſen und Ungarn, verbannt, hab' überall Urphede
ſchwören müſſen, und wenn ich mich betreten ließe, ſo ging' mir's um
den Hals.


Noch ſo jung und ſchon ſo viel erlebt! ſagte er.
Von Kindesbeinen an bin ich in der Welt herumgehetzt und hab'
früh lernen müſſen auf eigenen Füßen ſtehen, denn meine Mutter kann
mir rathen, aber nicht helfen, ſie iſt eben eine uralte Frau.
Wo iſt ſie jetzt?


Sie betet ein Pater und Ave Maria um's andere, damit unſer
nächſtes Vorhaben gelingen möge.


Das kommt mir ſonderbar vor, bemerkte er. So gut ſtehen wir
Lutheraner nicht mit dem Himmel, daß wir ſo frei wären ihm zuzu¬
muthen, er ſolle uns bei — ſolchen Dingen behilflich ſein.


Warum denn nicht? verſetzte ſie ruhig. Deine honnetten Spie߬
bürger, die Ketzer wie die katholiſchen Chriſten, beten auch täglich zu
Gott, daß er ſie in ihrer Hanthierung ſegnen möge, und was iſt ihre
Hanthierung? Einander beſtehlen, betrügen, unterdrücken, den guten
Namen morden. Geh' in den Landen umher und zähle die Leute,
die im wahren Sinn des Worts ehrlich ſind und alſo allein zu beten
berechtigt wären. Du wirſt keine große Tafel zum Aufſchreiben brauchen.
Du haſt Recht, erwiderte er.


Sie gingen einige Zeit ſtumm neben einander, während welcher
er es nicht unterlaſſen konnte, wiederholt ihre Augen zu ſuchen.


Du ſcheinſt mir nicht recht aufgeräumt zu ſein, begann ſie nach
einer Weile. Es gefällt dir nicht bei uns.


D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 26[402]

Was das betrifft, erwiderte er mit einem mehr als freundſchaft¬
lichen Blicke, ſo glaubſt du wohl ſelbſt nicht, was du ſagſt. Aber
wahr iſt's, es hat mich verdroſſen, daß ich nur als Schmarotzer mit¬
laufen und außen Wache ſtehen ſoll, während die Andern die Gefahr
auf ſich nehmen. Das halbe Sündigen iſt mir in Tod zuwider: ent¬
weder ganz oder gar nicht! Auch liegt ein Mißtrauen drin: ich merk's
wohl, man will mich nur probiren.


Sie lächelte freundlich und zutraulich, mit einem Ausdruck von
Achtung, den er tief empfand. Du irrſt dich, verſetzte ſie. Es hätte
ſich nicht geſchickt, dich ſtärker in Anſpruch zu nehmen, wo es ſich
darum handelte, ein Geſchenk für dich aufzutreiben. Auch haſt du
dich ja nur zu einem einzigen Unternehmen anheiſchig gemacht, brauchſt
alſo das von heute Nacht nicht zu rechnen. Wenn du ſo ehrenhaft
denkſt, ſelbſt Hand anlegen wollen, ſtatt Andere für dich arbeiten zu
laſſen, ſo ſoll's dir nicht lang an Gelegenheit fehlen.


Nur zu! rief er, mit finſterer Entſchloſſenheit die Stirne faltend.


Du ſcheinſt mir aber doch nur mit halber Seele dabei zu ſein,
ſetzte ſie hinzu, denn du ſprichſt von Sündigen und nimmſt die Sache
ſchrecklich ernſthaft. Ich merke wohl, an was du klebſt. Thor! die
Menſchen ſind Alle von Einem Schlag, nur mit dem Unterſchied,
daß die Einen den Galgen andictiren und die Andern ihm davon¬
laufen. Wenn aber Stehlen todeswürdig iſt, ſo gehört den Einen ſo
gut wie den Andern der Strang. Daß die Spitzbuben mit Haus und
Hof über die heimathloſen Spitzbuben herfallen und ihnen von jeher
nichts haben gönnen wollen, das iſt eben eine ungerechte Verfolgung.


Der überlegene Ton, der ihn von einem Manne abgeſtoßen haben
würde, machte aus dieſem Munde einen mächtigen Eindruck auf ihn.
Er fühlte ſich gedemüthigt und angezogen zugleich.


Wenn du aber der Sünde, wie du's heißt, ganz abſagen willſt,
fuhr ſie lachend fort, ſo kann ich dir in meiner eigenen Familie ein
Muſterbild von Tugend und Ehrbarkeit aufſtellen. Lache nicht, es iſt
buchſtäblich wahr. Ich habe noch eine zweite Schweſter, die ſich am
Tode ſo vieler Verwandten ein Exempel genommen hat und ſich mit
ihrem Manne, einem Scheerenſchleifer, ehrlich und redlich fortbringt.
Sie iſt nicht beſonders ſchön, dabei etwas ſchmierig und ſchlampig,
wie es auch bei ihrer armſeligen Lebensart nicht anders ſein kann.
[403] Wir haben zwar keinen großen Geſchmack an einander, aber wenn du
eine Empfehlung willſt, um das Scheerenſchleifen zu lernen, ſo ſteh'
ich zu Dienſten.


Es hat wohl eine Zeit gegeben, ſagte er, wo mir dieſes verachtete
Handwerk gut genug geweſen wäre; aber jetzt bin ich freilich dazu
verdorben. Du haſt keinen Begriff, von was ich mich losreißen muß.
Du ſagſt ſelbſt‚ du ſeieſt von Kindesbeinen an hinausgeſtoßen geweſen
und habeſt dich gegen die Welt wehren müſſen. Aber denk' dir ein¬
mal, du ſeieſt der Sohn des vermöglichen Sonnenwirths in Ebersbach,
der nicht zu rauben braucht, weil er Geld genug hat, und ſeieſt von
einer liebevollen, ſorgſamen Mutter, die alle Tage zu dir ſagt: Mein
Kind, fliehe die Sünde! zur Frömmigkeit und Rechtſchaffenheit er¬
zogen — dann wird's dir nicht ſo leicht werden, den Rock völlig zu
wenden, und wenn du auch ſchon lang eingeſehen hätteſt, daß Fröm¬
migkeit und Rechtſchaffenheit in dieſer Welt nur Lug und Trug
ſind. Ihr unterſcheidet ja ſelbſt zwiſchen den Deutſchen und den —
Andern.


Ich bin auch zur Hälfte deutſch, erwiderte ſie. Mein Vater
Schettinger, den die deutſchen Mordhunde vor zwanzig Jahren in
Weingarten umgebracht haben, iſt ſo gut ein Deutſcher geweſen wie
ſie und wie du.


Nun, vielleicht iſt's ihm auch eine Zeit lang nachgegangen, ver¬
ſetzte er.


Du kennſt deine eigenen Landsleute nicht, ſagte ſie. Komm‚ ich
will dir ſie zeigen. Wir haben noch Zeit genug, zu den Andern
zu ſtoßen.


Sie winkte ihm und flog zur Linken den Berg hinunter. Er eilte
ihr nach. Als ſie im raſchen Laufe unten angekommen waren, ſagte
ſie, weiter eilend: Du mußt dir's aber gefallen laſſen, daß ich dich
für meinen Mann ausgebe, ſonſt findeſt du da, wo ich dich hinführe,
keinen Credit.


Das will ich gern annehmen! rief er luſtig, ihr nacheilend. Du
und keine Andre müßteſt mein Weib ſein, wenn ich nicht ſchon eins
hätte. Aber flieg' nicht ſo, damit ich mein Recht auch ausüben kann.


Laß das! ſagte ſie, da er den Arm um ſie zu ſchlingen ſuchte:
dazu iſt jetzt keine Zeit. Den Arm kannſt du mir geben, ſo, damit wir
26 *[404] wie ein Ehepaar ausſehen. Verheirathete Leute ſind bekanntlich nicht
ſo zärtlich mit einander, du ſcheinſt mir das bereits aus eigner Er¬
fahrung zu wiſſen.


Nachdem ſie eine Strecke im Walde zugeſchritten, erreichten ſie ei¬
nen der vielen dort hin und her zerſtreuten Höfe. Derſelbe war ihm
nicht unbekannt, denn er hatte ihm bei ſeinem Wilderersberufe mehr
als einmal günſtige Aufnahme gewährt. Wie erſtaunte er aber über
die Freudenbezeugungen, mit welchen ſeine Begleiterin von der ganzen
Familie aufgenommen wurde! Wie horchte er hoch auf, als er hier,
weit unverblümter, denn in ihrem eigenen Kreiſe, von dem Gewerbe
ſeiner neuen Freunde reden hörte! Die Leute drückten ihre Freude
aus, ſeine Begleiterin wieder verheirathet zu ſehen, und beſtürmten
ſie mit Fragen, ob ihr neuer Mann auch ſo viel Geſchick zeige, als
der vorige. Sie prangte mit ihm und ſeinen Thaten und bezeigte
ſich ſo glücklich in ſeinem Beſitz, daß ihm das Herz flammte, während
zugleich die letzten Reſte bürgerlicher Ehrbarkeit ſich in ihm empörten,
ohne in dem verwandten bürgerlichen Kreiſe, der ihn umgab, eine
gleichartige Stimme zu finden. Im Gegentheil ſah er bald ein, daß
er, was er früher nie geahnt, hier erſt in die rechte Jaunergegend ge¬
kommen ſei, denn die Frau des Hauſes zählte ihm geläufig eine Menge
berüchtigter Namen her, die zu verſchiedenen Zeiten das Jahr über in
dieſer von vielen Herrſchaften und Condominaten zerſchnittenen Land¬
ſchaft ihre Heimath fanden. So lange er ein bloßer Wilddieb ge¬
weſen, hatte er hier kein Vertrauen gefunden; jetzt erſt ſprach ſich der
Haß gegen die Obrigkeit und gegen die von Glück und Gunſt ge¬
tragene Minderzahl der Mitbürger offen vor ihm aus, und ſeiner un¬
belehrten Seele drängte ſich mehr oder minder klar die Wahrnehmung
auf, daß das Volk ſo weit gekommen ſei, den Druck der Herrſchaften
und der höheren Bürgerklaſſen durch Raub, Diebſtahl und Diebs¬
hehlerei zu bekämpfen! Das angebliche Ehepaar verließ den Hof, un¬
geſtüm von den Leuten aufgefordert, ihnen auch wieder einmal für
billiges Eſſen und billige Kleidung zu ſorgen.


Nun? fragte ſie auf dem Rückwege.


Es iſt mir als ob neben der Welt, die ich bisher gekannt habe,
noch eine andere Welt her ginge, und als ob dieſe Welt die wahre
wäre, antwortete er.


[405]

Du kannſt in dem Thal da, erwiderte ſie, von Hof zu Hof, von
Ort zu Ort hinunter gehen, du triffſt vertraute Leute genug, lauter
Deutſche, und keine Vagabunden, lauter ſeßhafte Leute.


Er ſprach lange kein Wort. Was er gehört und geſehen, hatte
ſich ihm offenbar tief eingeprägt, und ſie hütete ſich wohl, die ſtille
Arbeit dieſes Eindrucks zu ſtören.


Du haſt alſo ſchon einen Mann gehabt? fragte er nach einem
langen Stillſchweigen.


Ich hab' ihm den Laufpaß gegeben, antwortete ſie, weil's ihm an
Kopf und Herz gefehlt hat; nachher hat er ſich in ungeſchickte Diebe¬
reien eingelaſſen, die ihn an den Galgen gebracht haben. Wenn mir
je wieder einer gefiele, ſo würd' ich ihn vor einem ſolchen Schickſal zu
bewahren wiſſen.


Er ſchwieg. Die Entdeckung, daß ſie Wittwe ſei, war ihm nicht
ſehr nach ſeinem Sinn, und doch mußte er ſich geſtehen, daß dieſes
Weib durch Schönheit und Geiſteskraft einen mächtigen Zauber auf
ihn auszuüben beginne.


So, jetzt biſt du aus dem Ehejoch entlaſſen! ſagte ſie, als ſie den
Fuß des Berges wieder erreicht hatten, und flog lachend hinan, da ſie
ſah, daß er ſich Mühe gab ſie einzuholen.


Mir iſt's nicht ſo eilig mit der Scheidung! rief er hinter ihr drein
und gab ſich alle Mühe an ihre Seite zu kommen, aber ſie war im¬
mer einige Schritte voraus.


Und mir preſſirt's nicht mit dem Heirathen! rief ſie, als ſie die
Höhe erreicht hatte, luſtig gegen ihn hinab, und ihre Stimme ſpielte
dabei ſo leicht und ruhig, als ob die Anſtrengung ihren Athem gar
nicht bewegt hätte; aber ein ſprühender Blick aus ihren ſchwarzbraunen
Augen ſtrafte ihre Worte Lügen.


Mit einem heftigen Anſatz hatte er die letzte Höhe vollends er¬
ſtiegen und wurde dort von einem derben Gelächter männlicher Stim¬
men empfangen. Bettelmelcher und Schwamenjackel lagen auf dem
Boden und erwachten ſo eben aus einem Schlafe, den ſie ſich zur
Erholung von der überſtandenen Nachtwache gegönnt hatten.


Es ſcheint, Freund Schwan hat eine neue Hochzeitreiſe gemacht!
rief Bettelmelcher.


[406]

Und gleichfalls mit einer Chriſtine, antwortete er lachend, aber mit
einer ſchwarzen.


So, ſie hat dir ihren Namen geſtanden? rief Schwamenjackel.
Da muß es mit der Vertraulichkeit ſchon ziemlich weit gekommen ſein.
In der That, ſagte die Zigeunerin Chriſtine, wir ſind Mann und
Weib mit einander geweſen, aber nur vor den Leuten.
Wo iſt denn mein Weib? fragte Schwan.
Auf und davon! antwortete Bettelmelcher. Der Eiferſuchtsteufel
hat ſie ergriffen. Obgleich ich mein Aeußerſtes aufgeboten habe ſie
zu unterhalten, hat ſie ſich doch nicht feſſeln laſſen. Sie hat mir nicht
einmal bekannt, wo ſie zu finden ſei. Ich geh' dahin, wo ich her¬
kommen bin, hat ſie geſagt, und weg war ſie. Vermuthlich denkt ſie,
du werdeſt wiſſen, wo du ſie ſuchen müſſeſt.
Dummes Zeug! ſagte er ärgerlich.


Neuigkeiten! rief eine bekannte Stimme von Weitem und der
ſcheele Chriſtianus kam, den Andern wohl nicht unerwartet, von der
entgegengeſetzten Seite herbeigeeilt. Es hat eine Soldatenmeuterei ge¬
geben im Lager bei Geislingen, der Herzog von Wirtemberg iſt heut
früh ſelbſt hinaufgefahren und hat Achtzehn erſchießen laſſen.


Eine Meuterei! rief der Bürgersſohn von Ebersbach: das iſt ja
was Unerhörtes im wirtembergiſchen Militär.


Du haſt eben in den letzten Wochen nicht viel erfahren, was im
Land vorgeht, ſagte der Zigeuner. Es iſt ja ſchon neulich ein Auf¬
ruhr in der Kaſerne zu Stuttgart ausgebrochen und mit Mühe ge¬
dämpft worden.
Was Teufels!


Dein Herzog, ſagte die Zigeunerin, hat ſeine Soldaten an die
Krone Frankreich verkauft gegen den König von Preußen, und nun
wollen ſie nicht ziehen.


Ja, ſetzte ihr Bruder hinzu, man iſt den Leuten Nachts in die
Häuſer eingebrochen und hat ſie aus dem Bett geriſſen, um die Regi¬
menter voll zu machen, aber in Stuttgart ſind ſie alle wieder aus
einander gelaufen. Darauf hat ein General, ich weiß nicht wie er
heißt, einen Generalpardon ausgeſchrieben, und auf dieſen haben ſich
eine Menge Ausreißer geſtellt; aber der Herzog iſt auf die Nachricht
aus dem Feld zurückgeeilt, hat den Pardon nicht gehalten und Viele
[407] von ihnen henken laſſen. Jetzt iſt der Teufel bei Geislingen wieder
losgegangen und da hat er heut vor den Thoren anderthalb Dutzend
erſchießen laſſen. Es iſt Ein Schrei der Wuth im Lande.


So hält man Wort! So geht man mit den Leuten um! rief
Schwamenjackel.


Das geſchieht in deinem geprieſenen Wirtemberg, ſagte ſeine
Führerin.


Und uns heißt man Spitzbuben! ſetzte Bettelmelcher hinzu.


Ich beſorge nur, die Gegend könnte für uns unſicher werden, be¬
merkte Chriſtianus. Gewiß haben ſich viele Deſerteurs in die Wal¬
dungen da herum geworfen, und nach dieſen wird jetzt vom Militär
geſtreift werden.


Ich glaube nicht, daß uns das in Verlegenheit bringen wird, ver¬
ſetzte Chriſtine. Der Herzog muß eilen, ſein Volk außer Lands zu
bringen, denn wenn er mit ihnen liegen bleibt, ſo laufen ſie ihm wie
Queckſilber davon. Auf alle Fälle iſt es aber gut, wenn wir auch
nicht lange mehr da bleiben; es ſind ohnehin bloß noch ein paar
Tage bis zum Schorndorfer Markt!


Alſo nur nichts aufgeſchoben! ſagte der Zigeuner.


Ja, ich möchte gleich über das nächſte Neſt da herfallen und ihnen
die Hundeſeelen austreiben! rief Schwamenjackel, ſeinen kurzen dicken
Stock gegen das an dem Bergkegel vor ihnen liegende Dorf ſchwingend.


Das laß du bleiben! lachte Bettelmelcher. Das iſt das Dorf
Hohenſtaufen, wo ſie ſeit alter Zeit große Freiheiten haben und wie
Männer zuſammenſtehen. Wenn du Einen angreifſt, ſo haſt du gleich
den ganzen Schwarm auf dem Hals. Das iſt in den edelmänniſchen
Ortſchaften anders: dort wohnt meiſt Bettelvolk, das ſich die Haut
voll lacht, wenn einem vermöglichen Nachbar ein Malheur paſſirt.


In den alten Schlöſſern mag man doch ſicherer gewohnt haben, be¬
merkte der Zigeuner, nachdenklich auf die Steintrümmer blickend, die den
naheliegenden Gipfel des Berges bedeckten und die Abendſonne durch
ihre Riſſe und Lücken ſcheinen ließen. Das mag wohl auch ſchon
lang her ſein. Wer hat wohl vor Zeiten hier gehauſet?


Dieſe Frage war jedoch ſelbſt dem gelehrten Bettelmelcher zu hoch.
Ich weiß es nicht, ſagte er, vermuthlich Räuber, die, wie es in den
[408] alten Zeiten Mode war, von ihrem Berg in's Thal hinunterſpähten
und die vorbeiziehenden Kaufleute überfielen.


Blitz! das war kein übles Geſchäft! rief Schwamenjackel: da kann
man auf Einen Zug einen guten Fang thun. Möcht' wohl auch ein¬
mal dabei ſein.


Gelt, wenn die reichen Augsburger und Ulmer auf die Frank¬
furter Meſſe ziehen? fragte Bettelmelcher.


Oho! lachte der Ebersbacher Bürgersſohn. Da laß dir nur die
Luſt vergehen. Ich hab's oft mit angeſehen, wie die mit ihrem Ge¬
leite das Filsthal herunterziehen. Von Ulm werden ſie an Wirtem¬
berg überliefert und von einer ſtattlichen wohlbewaffneten Mannſchaft
in die Mitte genommen. Da könnteſt du dir die Zähne ausbeißen.


Ja, ja, ſo iſt es immer! bemerkte der Zigeuner. Den großen
Dieben iſt nicht beizukommen.


Es gibt auch mittlere, verſetzte Bettelmelcher. Komm, ſagte er,
den neuen Freund bei der Hand nehmend, und führte ihn auf die
andre Seite des Berges. Die Uebrigen folgten und ſammelten ſich
um ſie. Du ſiehſt das Dorf da drunten, links über Wäſchenbeuren
hinaus?


Wohl, das iſt Börtlingen.


Dort, fuhr Bettelmelcher fort, wohnt ein Schultheiß, den du in
dein Gebet einſchließeſt, ſo oft du über die Falſchheit der Welt fluchſt.
Er iſt ein Heuchler, ein Kopfhänger, ein Wucherer, und das iſt die
beſte Seite an ihm, denn er hat brav Geld. Von ſeiner Liebloſigkeit
gegen ſeine Nebenmenſchen kann ich ſelbſt Zeugniß ablegen, denn ich
hab' einmal bei ihm gebettelt, was die beſte Gelegenheit zum Aus¬
kundſchaften iſt, und bin von ihm mit dem Beſcheid weggewieſen wor¬
den, ich ſei ein fauler Tagdieb, ſolle ſehen, daß ich was zu arbeiten
bekomme. Biſt du dabei, wenn wir ihm heut Nacht einen Beſuch
machen?


Ich halte mein Wort, erklärte Friedrich mit entſchiedenem Ton,
die Stirn zuſammenziehend.


Das Haus ſteht in den Gärten, es ſind nur drei Perſonen drin,
er, ſeine Frau und ſeine Magd. Wenn man alert drauf losgeht, ſo
iſt wohl beizukommen. An Händen fehlt es nicht, für den Fall, daß
im Dorf Lärm entſtehen ſollte. Wir ſind unſrer ſieben Genoſſen, und
[409] einige Vornehme drunter, die du noch nicht kennſt. Ich darf dir nur
Einen verrathen, das iſt der Amtmann von Adelberg —


Was? rief der Angeworbene luſtig lachend. Den Börtlingern
bricht ihr eigener Amtmann ein? Das geht ja noch über den Pfarrer
von Dinkeltheim. Geh', es wird auch wieder ein abgedankter ſein.


Es iſt der abgekommene Amtmann Hallwachs von Adelberg, den
man wegen eines Reſts oder ſo was abgeſetzt hat. Du wirſt ihn mit
eigenen Augen ſehen.


Gleichviel, ich hab's einmal verſprochen und bin dabei, wenn auch
der Amtmann von Ebersbach ſelber dazu käme.


Um zehn Uhr heut Nacht wollen wir im Walde beim Wäſchen¬
ſchlößchen zuſammenkommen und von dort den Zug antreten, ſagte
Bettelmelcher zu den Andern. Iſt's euch recht?


Alle drei riefen: Ja! Der ſcheele Chriſtianus zog den Hut über
das blinde Auge herab und machte ſich zum Aufbruch fertig. Ich will
vorher noch ein wenig ſchlafen, ſagte er. Bettelmelcher und Schwamen¬
jackel ſprachen die gleiche Abſicht aus und redeten ihrem dritten Ge¬
noſſen zu, der Ruhe mit ihnen zu pflegen. Dieſer aber erwiderte, er
habe noch einen Gang zu thun.


Denk' doch dran, daß du die ganze Nacht aufgeweſen biſt, ſagte
die ſchwarze Chriſtine zu ihm. Gönn' dir doch ein wenig Schlaf.


Bettelmelcher witzelte über dieſen Zuſpruch.


O, ich weiß wohl, wo er hingeht! rief ſie.


Die Liebe brennt heiß, ſagte Bettelmelcher, aber das Feuer der
Eiferſucht iſt noch weit größer.


Ich, eiferſüchtig? rief ſie und war mit einem Sprung verſchwun¬
den. Man hörte ſie den Berg hinunter lachen.


Um zehn Uhr ſtoß' ich zu euch, ſagte er zu den drei Männern,
welche hierauf gleichfalls den Berg hinabſtiegen.


Er wählte einen Fußweg, der, ohne das unter dem Gipfel lie¬
gende Dorf zu berühren, am Hohenſtaufen hinführte und nach dem
Walde hinablief. Unterwegs mußte er von Zeit zu Zeit unwillkürlich
ſtehen bleiben und nach dem Orte hinblicken, der dieſe Nacht der
Schauplatz einer That ſein ſollte, welche ſich, das fühlte er wohl, von
allen ſeinen bisherigen Uebertretungen ſtark unterſchied. Das bedrohte
Dorf lag, von Obſtbäumen umgeben, wie im Schoße des Friedens
[410] zwiſchen waldigen Anhöhen, und der Rauch aus den Schornſteinen
ſtieg nach dem blauen Abendhimmel empor. Es war ein Bild ver¬
trauensvoller Ruhe, die nicht ahnte, daß ein Ungewitter der grauſam¬
ſten Art, von Menſchen gegen Menſchen entladen, im Anzuge war.


Er eilte am Berge hinab, durchmaß raſch den Wald und befand
ſich mit Anbruch der Nacht auf dem Hofe, wo er die blonde Chriſtine,
jetzt nicht mehr die einzige Chriſtine, wußte. An dem langen Wege,
den er heute ohne der Raſt zu bedürfen, gemacht, konnte er am beſten
die innere Unruhe ermeſſen, die ihn trieb.


Man war eben im Begriff zu Bett zu gehen, als er eintrat.
Chriſtine war da, wie er vorausgeſetzt hatte. Er zahlte das ſchuldige
Koſtgeld, welches mit freundlichen Augen angenommen wurde. Die
Gegenwart der Familie ließ keine vertrauliche Unterredung aufkommen.
Chriſtine war heiter, aber ihre Laune ſchien ihm erzwungen zu ſein.


Komm mit mir, ſagte er, ich bin da, um dich zu holen.


Sie entſchuldigte ſich mit Müdigkeit.


Dann muß ich allein wieder fort, entgegnete er.


Gehſt zu deiner Zigeunerin? fragte ſie.


Verſteht ſich, antwortete er.


Biſt ein Kerle wie ein Pfund Lumpen! rief ſie in ihrer volks¬
thümlichen Scherzweiſe und bemühte ſich zu lachen.


Die Frau vom Hofe ging gleichfalls in dieſen Ton ein und neckte
ſie, daß ſie als neuverheirathete Frau ſchon mit ihrem Manne eifere.


Wenn's ſo ſteht, ſagte er endlich, ſo muß ich mich deiner doch
verſichern. Unverſehens hatte er ihr Mütze, Halstuch und Schürze
weggenommen, die ſie neben ſich auf die Bank gelegt. Sie ſchrie und
griff darnach, aber er war ſchon entſprungen. Gute Nacht! rief er
unter der Thüre: wenn du deine Sachen wieder willſt, ſo weißt du,
wo du ſie finden kannſt und mich dazu.


[411]

34.

Schwan, kleb' an! ſagte Bettelmelcher pfiffig lächelnd zu Chriſtia¬
nus, als Jener mit der ſchwarzen Chriſtine den Waldverſteck verließ,
wo die ſogenannte Geſellſchaft lagerte. Die Bande hatte das Lager
im Walde unter dem Hohenſtaufen nicht mehr ſicher gefunden und
ſich tiefer in die Wälder zurückgezogen.
Chriſtianus nickte und lächelte ebenfalls.


Die Beiden gingen zuſammen fort, während Jedes gegen das
Andre that, als ob es nur zufällig um dieſe Zeit und nach dieſer
Richtung aufgebrochen wäre. Auch ſprachen ſie lange nichts mit ein¬
ander, bis endlich Friedrich, als es ihm ſchien, die Zigeunerin trachte
nach einem andern Wege abzubiegen, das Stillſchweigen brach. Gelt,
ſagte er, dich hat's erzürnt, daß ich deine Schweſter brav zerpeitſcht
habe?


Bewahre, antwortete ſie lachend, daran haſt du ganz Recht gethan.
Du mußt's ihr aber nicht nachtragen, daß ſie dich bei der Vertheilung
betrogen hat. Weißt, zuerſt hat ſie dich ganz haben wollen, und nun
ihr dies mißglückt iſt, hat ſie ſich auf andere Weiſe an dir ſchadlos
zu halten geſucht. Uebrigens thuſt du gut die Augen immer offen zu
haben, denn es iſt nicht Alles Gold, was glänzt.


Du auch?


Ich glänze ja nicht, ich bin dunkel. Meine Schweſter glänzt, aber
ich bin ihr nicht gram drum. Doch muß ich immer denken, daß ſie
gut zu dir paſſen würde, denn du haſt ein feines weißes Geſicht, wie ſie.


Sehr verbunden! Aber ſie kommt mir vor wie die liebe Sonne,
die offenbaret ihr Feuer bald und ſcheinet über Gerechte und Un¬
gerechte.


Sie lachte. Darin ſind doch die deutſchen Männer alle einander
gleich, ſagte ſie, daß ſie von einem Weib verlangen, ſie ſolle immer
zu Boden ſchauen, wie wenn ſie nicht auch von Fleiſch und Blut
wäre. Freie Augen wollen ſie keinem Weib verſtatten, die wollen ſie
für ſich allein behalten. Du Narr, ich kann auch frech ſein, frecher
[412] vielleicht als meine Schweſter — ſie gab ihm eine Probe, indem ſie
die Augen wie zwei Feuerſtröme, die aus dunklem Schlunde hervor¬
brechen, ſo bohrend auf ihn warf, daß es ihn fieberheiß durchzuckte —
aber, fuhr ſie fort, ich bin's nur gegen den Einen, der mir gefällt,
und beſinne mich lang, bis ich ſo ein nichtsnutziges Mannsbild in
mein Herz kommen laſſe.


Würdeſt du Einem trauen, der ein paar Tage nach der Hochzeit
ſein Weib verläßt, dir zu Gefallen?


Warum nicht, wenn ich ſehe, daß ſie nicht zuſammen taugen, und
beſonders wenn die Bekanntſchaft vorher ſieben acht Jahr gedauert hat.
Länger will ich auch nicht daß mir Einer Wort halten ſoll, denn in
ſieben Jahren, ſagt man, werde der Menſch mit Haut und Haaren
neu, dann iſt er alſo ein Anderer, als der, der das Wort gegeben hat.


Er lachte laut. Du wärſt im Stande, Einen bis in die Hölle zu
führen, ſagte er.


Warum nicht, wenn ich ihn der Müh' werth halte, erwiderte ſie.


Er blieb lange ſtumm. Wo willſt du denn eigentlich hin? fragte
ſie. Es ſieht ja aus als ob du wieder einmal nach Ebersbach wollteſt.


Ich hätte wohl Luſt dazu und zu fragen, was die Ebersbacher
von mir ſagen.


Da würdeſt du viel Schönes hören. Mein Weg führt übrigens
nicht dorthin, ich muß dich allein ziehen laſſen.


Nein, bleib' bei mir, wir wollen nur ein wenig umherſchweifen,
ich muß Geſellſchaft haben.


Haſt ja dein Gewehr, ſagte ſie, blieb ihm übrigens zur Seite,
während er haſtig längs einer Schlucht hinanſtieg.


Sie waren auf einem kleinen, tief im Dickicht fortlaufenden Pfade
lange gegangen, als Chriſtine in einer Vertiefung, durch die derſelbe
führte, den Schritt anhielt und ſich über die ſchwüle Luft beklagte.
Sie bog die Zweige aus einander und ging einem Plätſchern nach,
das ſich ſeitwärts hören ließ. Er folgte ihr. Ein Bächlein rieſelte
durch den Wald und bildete, etwa mannshoch über Felſen ſpringend,
wenige Schritte vom Wege, aber tief verborgen, einen kleinen Waſſer¬
fall, aus deſſen moſigem Becken es leiſe weiterfloß. An dieſer kühlen,
dunklen, heimlichen Stelle ließ ſich die Zigeunerin nieder und wühlte
[413] in dem Mooſe, unter welchem Tropfſteine hervorblinkten. Er ſetzte ſich
ihr gegenüber auf einen umgefallenen Baumſtamm.


Du biſt müd', deine Augen brennen vor Schlafloſigkeit, ſagte ſie.
Zwei Nacht haſt du jetzt nicht geſchlafen und den ganzen Tag nicht
geruht.


Woher weißt du das?


Ich hab' auf dich Acht gehabt. Leg' dich hier ſchlafen, hier iſt
Schatten und Friſche! ich will bei dir wachen, daß dich Niemand ſtört.


Ich kann nicht ſchlafen, ſagte er.


Sie ſpritzte ihm von dem Schaume des Waſſers in's Geſicht.


Das Waſſer thut mir wohl, ſagte er, und tauchte gleichfalls
die Hand ein, um ſich die Augen zu kühlen.


In dir geht etwas vor, ſagte ſie.


Wenn ſich der Menſch umkehren ſoll wie ein Handſchuh, erwiderte
er, ſo iſt das nicht auf einmal geſchehen. Er ſtützte den Kopf in die
Hand und brütete vor ſich hin.


Wie meinſt du das? fragte ſie.


Er richtete ſich wieder auf. Die Habſucht von ihrem Ueberfluß er¬
leichtern, hob er nach einer Weile an, gegen harte Menſchen ſtreng
auftreten, dazu kann ſich der Menſch mit Leichtigkeit entſchließen.
Aber die Leute quälen und martern, wie die Henker, das geht mir
wider die Natur. Es ſind dieſe Nacht bei dem Schultheißen Dinge
geſchehen, die mir am Herzen nagen und die ich nicht aus dem Ge¬
dächtniß bringen kann.


Du redeſt recht ſchultheißenmäßig, ſagte ſie. Möchteſt du jetzt viel¬
leicht noch Schultheiß von Ebersbach werden?


Nein, ich rede keinem Schultheißen das Wort, aber foltern ſoll
man ihn nicht.


Haſt du nicht ſelbſt geſagt, daß dieſe deutſchen Henker das
den Unſrigen thun?


Ich will's ihnen laſſen.


Was? und man ſoll's ihnen nicht vergelten, den Ungeheuern?
Weißt du nicht mehr, welche Reden du gegen deine Ebersbacher ge¬
führt haſt? Haſt du nicht geſagt, dein Herz werde keine Ruhe finden,
bis du den ganzen Flecken zuſammenbrennen ſeheſt, den Magiſtrat mit
Pfarrer und Amtmann an der Spitze möchteſt du hinſchlachten, deinen
[414] eigenen Vater nicht verſchonen und den ſchwangern Weibern den Leib
aufſchneiden? Nun, die ungebornen Kinder ſind doch gewiß unſchul¬
diger als der Schultheiß von Börtlingen.


Er ſtarrte unmuthig vor ſich hin.


Prahlſt du mit Worten, fuhr ſie fort, und ſchrickſt recht deutſch
und feig vor einem bischen Gequieck und Geſchrei zurück? Du Maul¬
held, geh' zu deiner Ebersbacherin und laß dich mit ihr in's Zucht¬
haus ſperren.


Er ſprang auf wie ein gereizter Tiger, und ſeine roth umſäumten
Augen funkelten. Weibsbild! ſchrie er, ändere deine Zunge, oder du
ſollſt den Maulhelden ſpüren, bis du mürb wirſt.


Sie war ebenfalls aufgeſprungen und blickte ihm feſt und keck
in's Geſicht. Glaubſt du, daß ich dich fürchte? rief ſie. Du kannſt
bloß drohen, du biſt ein Weib.


Mit einem Schrei der Wuth ſtürzte er ſich auf ſie und ſuchte ſie
zu ergreifen, aber mit Erſtaunen mußte er ſich bekennen, daß ihm
dieſes Weib gewachſen ſei. Sie zeigte ihm eine unerhörte Muskelkraft
und dabei eine Behendigkeit, mit der ſie ihm wie eine Flamme unter
den Händen durchſchlüpfte; dann hielt ſie ihm wieder beide Hände
feſt, daß er der äußerſten Anſtrengung bedurfte, um ſich loßzureißen
und den Kampf von Neuem zu beginnen, wozu ſie ihn durch ein
fortwährendes Hohnlachen reizte. Lange hatten ſie mit einander ge¬
rungen, bis er ſie endlich bemeiſterte und zu Boden warf, daß ihr die
Glieder knackten.


Willſt du degenmäßig werden? ſchrie er.


Nein! antwortete ſie und ſuchte ſich wieder empor zu ringen.


Willſt du mich für deinen Herrn erkennen?


Nein!


Pariren mußt du! ſchrie er, drückte ſie zwiſchen ſeine Kniee, daß
ſie nach Luft ſchnappte, und zog das Meſſer. Sie ſtöhnte, aber nicht
vor Angſt. Ihre Augen ſpieen Feuer, ihr heißer Athem durchglühte
ihm die Wange, und ihre braune Haut brannte von dem Blute, das
ihr die Anſtrengung in Geſicht und Hals hervorgetrieben hatte. Er
kämpfte bebend mit der Gewalt ihrer Schönheit, aber entſchloſſen
ſetzte er ihr das Meſſer auf die Bruſt und rief: Willſt du dich unter¬
werfen?


[415]

Sie ſah ihn mit großen Augen ruhig an. Vor einer Minute noch
wär' ich freiwillig dein geweſen, ſagte ſie, aber eher will ich ſterben,
als gezwungen einem Mann zu Willen ſein.


Was fällt dir ein? rief er ſtolz ſich zurückbeugend. Du trauſt
mir zu, an was mein Herz nicht denkt.


Was willſt du denn? fragte ſie.


Reſpect, ſonſt gar nichts! antwortete er mit ſeltſam ſtrengem Tone.
Du mußt verſprechen, daß du nie in deinem Leben mehr ſolche
Ausdrücke wider mich brauchen willſt.


Wenn's nichts weiter als das iſt! rief ſie lachend. Der Reſpect
iſt ſchon von ſelbſt da, und ich will thun, was du haben willſt. Aber erſt
ſteck' dein Meſſer ein, denn damit bringſt du mich zu nichts, ich hab'
im Gefängniß ſchon den erſten Grad der Tortur überſtanden, und ſie
haben nichts aus mir herausgebracht.


Er ſtand auf und ſteckte ſein Meſſer ein. Mit wunderbarer Schnell¬
kraft ſchoß ſie vom Boden auf: Ich habe meinen Meiſter gefunden,
rief ſie: ſo hätte keiner von den Andern gehandelt! Dafür will ich dich
auch achten und ehren und will dir leibeigen ſein und mit meiner
Hand dich ernähren mein Lebenlang. Sie ließ ſich zu Boden, umfaßte
ſeine Kniee und ſah zärtlich zu ihm empor.


Horch! ſagte er. Ein Donnerſchlag ging über ihre Häupter und
rollte langhin durch den Wald. Ein zweiter folgte und ſchwere Tropfen
klatſchten über ihnen auf die Blätter. Das ſchattige Plätzchen war
dunkel geworden; das Stück Himmel, das man ſehen konnte, zeigte
ſich mit ſchweren ſchwarzen Wolken behängt. Die Stelle gab guten
Schutz gegen das ausbrechende Gewitter; denn der junge Holzſchlag
drohte keine Gefahr vom Blitze, der Hochwald war fern, und unter
einem Felſen am Waſſerfall befand ſich eine leichte Vertiefung, wo
man vor dem Regen geborgen ſitzen konnte.


Das muſicirt drauf los! ſagte er behaglich, während das Gewitter
mit heftigen Schlägen ſich entlud und der Regen auf den Wald nieder¬
rauſchte. Haſt du Angſt? fragte er, als Chriſtine ſich beim grellen
Lichte eines Blitzes unwillkürlich bekreuzte.


Nein! ſagte ſie. Ueberhaupt hab' ich in meinem Leben keine
Angſt mehr als vor dir und um dich.


Sie ſchmiegte ſich an ihn wie ein Lamm. Ihre Augen ſuchten die
[416] ſeinigen und kehrten ſcheu in ſich zurück; denn er ſah unverwandt in
die Höhe und ſeine Seele ſchien ſich an dem Aufruhr in der Welt
umher zu laben.


Das Gewitter hatte endlich ausgetobt und der Regen hörte auf. Er
erhob ſich und kehrte auf den verlaſſenen Pfad zurück. Chriſtine ſchlich
mit geſenktem Kopfe traurig neben ihm her; noch geſtern hatte er ihr
leicht zu erkennende Beweiſe ſeiner wachſenden Zuneigung gegeben, und
heute war er ſtill und kalt gegen ſie. Da ſie ſeinen Jähzorn kennen
gelernt hatte, ſo wagte ſie es nicht, ihn durch neuen Trotz zu reizen.


Sie waren lange neben einander hergegangen, da getraute ſie ſich
endlich zu fragen: Wo gehſt du denn eigentlich hin?


Nach meinem Weibe ſehen, war die Antwort.


Glaubſt du, daß ſie mit dir zu uns gehen wird? fragte ſie weiter.


Ich zweifle, antwortete er, aber ich muß doch zuerſt wiſſen, wie ich
mit ihr dran bin. Das muß Alles ganz offen abgemacht werden.


Sie athmete auf und es fiel ihr wie ein Stein vom Herzen; denn
jetzt begriff ſie ſein Betragen.


Wenn ſie ſich drein fügt und mitgeht, ſetzte er hinzu, ſo muß es
Jedermann recht ſein, und ich werd's nicht leiden, daß man ihr etwas
zuwider thut oder ſagt.


Ich thu' ihr gewißlich nichts zu Leid, verſetzte ſie ſchüchtern. Wenn
ſie aber nicht will, und du wirſt doch auch nicht mit ihr nach Ebers¬
bach zurück wollen, ſo darfſt du ſie nicht nackt und bloß von dir
laſſen.


Wenn ſie von mir geht, ſagte er, ſo hat ſie mit ihren Kindern
nichts zu beißen und zu brechen.


Ich will dir für alle Fälle was ſagen, wendete ſie ſich zutraulich
zu ihm. Ich hab' ein paar hundert Gulden im Zins ſtehen bei einem
ſichern Mann im Fränkiſchen. Nun will ich dir weder zu- noch ab¬
reden: ob ſie zu uns taugt, das iſt deine und ihre Sache. Wenn's
aber, wie du jetzt ſelbſt für möglich hältſt, zwiſchen euch zur Trennung
kommt, ſo kannſt du Geld von mir haben, ſo viel du willſt, damit du
ſie nicht entblößt ziehen laſſen mußt und damit deine Kinder nicht in
Noth verlaſſen ſind.


Sein Geſicht verwandelte ſich und er blickte ſie ſo freundlich an,
daß es ihr durch das Herz ging. Mit der Theilnahme an ſeinen
[417] Kindern, welchen er nicht Vater ſein konnte, hatte ſie, mehr als mit
dem übrigen Anerbieten, das auf eine Abfindung ſeines Weibes hinaus¬
lief, eine Saite in ſeinem Herzen berührt, die alsbald klang. Doch
ſagte er nur: Davon können wir noch reden.


Sie kamen aus dem Walde heraus und hatten freies Feld vor ſich,
durch welches mehrere Wege führten. Da er ohne Aufenthalt vorwärts
ging, ſo legte ſie ihre Hand auf ſeinen Arm und fragte: Getrauſt du
dir den Weg zu machen? Ein kleiner Bogen durch den Wald wäre
beſſer. Die Gegend iſt nicht ſicher, und für dich am wenigſten.


Bleib' du zurück, ſagte er. Ich gehe grad auf dem Weg hier
fort nach dem Waldſaum da drüben.


Wo du dich hin trauſt, verſetzte ſie, da geh' ich mit. Ich begleite
dich bis an den Hof und überlaſſe dich dort deinem Stern oder deinem
Unſtern.


Sie gingen zuſammen weiter. Er befand ſich allerdings in einer
Gegend, die für ihn nicht ſicher war, die er ſehr gut kannte. Eine
kurze Wanderung auf der ſich gegen den Thalrand ſenkenden Anhöhe
würde ihm ſein Heimaththal gezeigt haben. Er erkannte es an dem
jenſeitigen Höhenzuge, von welchem der obere bewaldete Theil zu ſehen
war. Er warf einen finſteren Blick nach der Stelle, wo unſichtbar
für das Auge ſein Vaterort drunten lag, und wandte ſich zum Weiter¬
gehen, als er bemerkte, daß Chriſtine, jeder Beſorgniß Trotz bietend,
auf einer ſteinernen Ruhebank Platz genommen hatte. Ihre Augen
flogen wie trunken ins Weite. Er folgte mit ſeinem Blick und ſah
jetzt erſt den wundervollen Anblick, der ſich ihnen bot. Das Albgebirg
in ſeiner ganzen Ausdehnung ſtieg über die niedrigeren Höhen empor,
die ſich vor ihm lagerten. Das fliehende Gewitter hatte ſeine letzten
Wolken im Weſten geſammelt, wo die Sonne unterging. Man ſah
ſie nicht, aber durch die Wolken ſendete ſie nach dem Gebirge ein
zauberhaftes Licht, das nach und nach die ganze Kette heimzuſuchen kam.
Im äußerſten Weſten begann das Schauſpiel, und Achalm und Neuffen
mit ihren Mauern und Felſen glänzten auf. Dann lief das Licht am
Gebirg herüber und in die tiefſten Thaleinſchnitte hinein, die ſonſt
ununterſcheidbar im Ganzen verſchwammen, ſo daß jetzt in ihrem
Hintergrunde die fernſten Felſen wie Diamanten blitzten und das Grün
der Wälder wie in einem warmen Rauche leuchtete. Nach einigen
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 27[418] Augenblicken ſank die beleuchtete Stelle in Eine graue Maſſe mit dem
übrigen Gebirge zurück, während der wunderbare Strahl immer weiter
wanderte, bis er endlich im letzten Oſten der Bergkette erloſch. Nun
aber ſpiegelte ſich hinter dem Staufen und Rechberg das Dunſtbild der
unſichtbaren Leuchte, von welcher der Zauberſchein herkam, ſo daß
dort in einem dichten Purpurrauche eine zweite Sonne auf- oder unter¬
zugehen ſchien.


Er wußte nicht ob er wachte oder träumte; die Welt war ihm
neu und er glaubte ſie, obgleich kaum eine Stunde von ſeinem Ge¬
burtsorte entfernt, zum erſtenmal zu ſehen. Er heftete den Blick
wieder auf ſeine Genoſſin, durch deren Augen er dieſes Liebesſpiel der
Sonne mit einem Fleck der Erde, den er ſeine Heimath nannte, er¬
ſchaut hatte, und ſiehe, auch ſie hatte der Lichtſtrahl in ſeinen blendenden
Bereich gezogen. Er hing bewundernd an ihrem Anblick, da kehrte
ſie ihm das braune, in röthlichem Schimmer ſtrahlende Antlitz zu und
rief: Du biſt ja ganz von Glanz umfloſſen!


Auch ich? fragte er verwundert.


Wir ſind bei der Frau Sonne zu Gaſte, ſagte ſie, wir Kinder
des Waldes haben darin viel vor den andern Menſchen voraus. Aber
komm, es muß nun einmal ſein.


Sie gingen dem gegenüberliegenden Walde zu und verfolgten einen
durch denſelben gehenden Weg, bis ſie in der Nähe des Hofes angelangt
waren, wo er die blonde Chriſtine untergebracht hatte.


Hier ſcheiden ſich unſere Wege, ſagte die ſchwarze Chriſtine. Und
nun hör' noch Eins. Ich weiß, daß du mich lieb haſt und dein Herz
ſchwer von mir losreißen wirſt; deßhalb will ich dich nicht an mich
locken, wie ich wohl könnte. Aber dein Herz wird dir ſelbſt ſagen,
wie es um uns ſteht. In ihr haſt du nur dich ſelbſt geliebt, deinen
eigenen Willen, in ihr haſt du nur dir ſelbſt Wort gehalten. In
mir liebſt du etwas Anderes.


Ja, den Teufel! murmelte er. Und doch biſt du mir ſo eben wie
ein Engel des Lichts erſchienen.


Nenn's wie du willſt. Wenn du ſie zu uns mitbringſt, ſo wirſt
du bald ſehen, daß du auf mich vor Allen bauen kannſt. Folgt ſie
dir nicht in das neue Leben, deſſen Thüre du, wie dir ſelbſt bewußt
ſein wird, unwiderruflich aufgeſtoßen haſt, folgt ſie dir nicht, wie das
[419] Weib dem Manne folgen ſoll, und du gibſt deinem Herzen Gehör —
wohlan, du weißt genug und ich habe mich ſchon zu viel angeboten.


Unſere Tage hier ſind gezählt. Wenn du willſt, kannſt du uns finden.


Sie grüßte leicht mit der Hand und war im Walde verſchwunden.

35.

Chriſtine war nicht da. Sie ſei dieſen Nachmittag fortgegangen,
hörte er von ihrer Wirthin, und habe geſagt, ſie müſſe nach ihrem
Manne ſehen und ihre Kleidungsſtücke holen. Sie habe vorher eine
Zeit lang in der Bibel geleſen, und ſei dann auf einmal aufgebrochen.
Er ſetzte ſich verdroſſen vor das noch aufgeſchlagene Buch und las
mühſelig in der Dämmerung: „Ich ſuchte des Nachts in meinem
Bette, den meine Seele liebt; ich ſuchte, aber ich fand ihn nicht.“ Es
war das hohe Lied, das in dunkler, aber zündender Sprache von zwei
verbundenen Herzen, die ſich ſuchen und wiederfinden, erzählt. Obgleich
die von der Kirche hinzugefügten Ueberſchriften dieſem berauſchenden
Klag- und Jubelliede eine ganz andere Auslegung gaben, ſo ſchienen
doch ſeine Flammenworte Chriſtinens Herz in der Einſamkeit ergriffen
und mit jenem Weh angefüllt zu haben, von welchem das Lied ſelbſt
ſagt: „Liebe iſt ſtark wie der Tod, und Eifer iſt veſt wie die Hölle;
ihre Gluth iſt feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viel
Waſſer nicht mögen die Liebe auslöſchen, noch die Ströme ſie erſäufen.“
Er ſchlug unruhig die wohlbekannten zwei Blätter hin und her, die
auch für ihn ſo manches Wort enthielten, und das Herz klopfte ihm, als
die Stelle vor ſeine Augen trat, wo es heißt: „Ich bin ſchwarz, aber
gar lieblich, ihr Töchter Jeruſalem's, ſehet mich nicht an, daß ich ſo
ſchwarz bin, denn die Sonne hat mich ſo verbrannt.“


Er legte das Buch wieder hin, und ging um ſein Weib aufzuſuchen.
Er war in dem ſchon nächtlich dunklen Walde noch nicht weit gegangen,
als er eine weibliche Geſtalt gegen ſich kommen ſah, die bei ſeinem
Anblick zaudernd ſtehen blieb. Er erkannte ſie erſt als er ſich ihr
27 *[420] bis auf wenige Schritte genähert hatte. Es war die blonde Chriſtine,
die ihn vergebens im Walde geſucht hatte und nun auf der Rückkehr
begriffen war. Sie befand ſich aber in einer Laune, die nicht nach
den Würzgärten Salomo's ſchmeckte. Deine Zigeunerin hat mir ſchon
geſagt, wo du ſeieſt, warf ſie mürriſch hin, ſie iſt mir begegnet.


Sie wird dir geſagt haben, daß ich dich hab' beſuchen wollen.


Läßſt mich den halben Tag um dich 'rumlaufen.


Nun, jetzt haſt mich ja.


Biſt mit deiner Zigeunerin 'rumzogen?


Ja.


Gib mir nur mein Halstüchle, mein Müffle und mein' Schurz
wieder. Ich brauch's.


Gereizt durch ihren zänkiſchen Ton, öffnete er den Büchſenranzen
und gab ihr die gepfändeten Gegenſtände zurück. Ich hab' dir auch
einen getüpfelten Schurz mitgebracht, ſetzte er verdrießlich hinzu: wenn
du aber ſo widerwärtig biſt, iſt nichts mit dir anzufangen. Da!


Ich brauch' ihn nicht, ſagte ſie trutzig.


Nein, du mußt ihn nehmen, rief er. Man kann ja nirgends mit
dir hin in deinem ſchwarzen leinenen Schurz; wo du hinkommſt, ſehen
dich die Leut' für ein Baurenmenſch an.


Ich bin dir in meinen Kleidern lang gut gnug geweſen, ſagte ſie
und zog die Hand zurück.


Er warf ihr das Geſchenk über die Schulter.


Ich will nichts von deinen geſtohlenen Sachen haben! rief ſie und
warf es zu Boden.


Wart', ich will dir ſo unartig ſein! rief er zornig und hob die
Hand gegen ſie auf. Ich ſollt' dich nur —


Schlag' mich nur in dem Zuſtand, in dem ich bin! rief ſie, in
Weinen ausbrechend. Die Liebe iſt dir ja doch vergangen. Laß du
mich heim, ich kann ſchaffen und dienen, ich hab' nicht nöthig geſtohlen
Brod zu eſſen. Geh' du, wo dich dein Herz hin zieht, zu deinem
Zigeunermenſch.


Wenn du mir's ſo machſt, erwiderte er, ſo kann mir die Wahl
nicht weh thun. Aber bis jetzt haſt du keinen Grund zur Eiferſucht,
das kann ich dir ſchwören. Uebrigens iſt die Zigeunerin chriſtlicher
geſinnt als du. Sie ſagt, wenn du mit mir zu ihnen übertreteſt, ſo
[421] wolle ſie dich wie eine Schweſter halten, und nur, wenn du durchaus
nicht mit mir gehen wolleſt und nach Haus begehreſt, wolle ſie mir
Geld für dich geben, damit du nicht Noth leiden müſſeſt.


Ich will kein Geld von ihr, um mich abfinden zu laſſen, ſagte ſie
heftig, ich will mich und meine Kinder von meiner Hände Arbeit
ernähren.


So ſchimpf' wenigſtens nicht über ſie, denn ſie thut nichts um dich
zu verdrängen, und meint's ehrlich mit dir. Daß es aber zwiſchen
uns endlich zu einer Entſcheidung kommen muß, das wirſt du ſelbſt
einſehen.


Während dieſes unfreundlichen Wortwechſels ging Chriſtine ohne
Aufenthalt immer vorwärts, und er folgte ihr.


Biſt du heut Nacht mit dabei geweſen in Börtlingen? fragte ſie
nach einer Weile.


Woher weißt du was von Börtlingen?


Heut früh ſchon hat man's auf dem Hof gehört, es ſind Leut' dort
vorbeikommen, und heut Nachmittag ſind mir Leut' im Wald begegnet,
denn wenn ich allein bin, ſo brauch' ich mich nicht zu fürchten und
kann die Straß' gehen. In der ganzen Gegend iſt Ein Geſchrei:
eine Räuberbande ſei bei lichtem hellem Mondſchein zu Börtlingen ein¬
gefallen und der Sonnenwirthle ſei ihr Hauptmann geweſen und hab'
die Leut' ſchwer mißhandelt und den Schultheißen am Feuer geröſtet.


Und gefreſſen wie einen Schöps! ſetzte er lachend hinzu. So arg
iſt's nicht.


Alſo in der Hauptſach' iſt's wahr?


Dir leugn' ich's nicht, antwortete er.


Sie waren bei dieſen Worten wieder in der Nähe des Hofes an¬
gekommen. Wart' ein wenig, ſagte ſie, ich will nur geſchwind meine
Sachen holen, denn ich muß eilen, wenn ich noch nach Ebersbach
kommen will, vor's ganz Nacht wird. Begleiten wirſt mich wenigſtens
zu guter Letzt noch ein bisle.


Iſt dir's Ernſt? fragte er düſter.


Ich weiß mir kein' andern Weg.


Ich laſſ' dich nicht! rief er, und ſeine Stimme verrieth, daß es
in ihm zu kochen begann.


Wir können ja unterwegs ſtreiten, wenn du ſtreiten willſt, erwiderte
[422] ſie und ging hinein. Nach kurzer Friſt kam ſie mit ihrem kleinen
Bündel zurück und ſagte: Da drinnen meinen ſie auch, es ſei das Beſt'
für mich, ich geh' wieder heim. Sie ſind arg betrübt, daß der Chriſtle
heut Abend in's Ottenbacher Thal 'nüber iſt, um deine Kameraden
aufzuſuchen.


Das iſt das rechte Klima! verſetzte er. Wenn er ſie nicht an¬
trifft, ſo kann er ſie dort jedenfalls erfragen. Was willſt du aber
machen, wenn dich deine Mutter nicht behält, wie ſie ſchon einmal
gethan hat?


Dann probir' ich's wieder mit der Schulmeiſterin zu Denzlingen,
oder auch, wenn alle Sträng' brechen, mit meiner Zuchthausaufſeherin.
Es iſt hohe Zeit für mich, daß ich wieder in ein anders Leben komm'.


Sie ſchritt unaufhaltſam dahin, ſo daß er wohl oder übel mit¬
gehen mußte. Wie iſt's denn in Börtlingen gangen? fragte ſie.


Wir ſind ſieben Mann ſtark mit der Margarethe dem Schultheißen
in's Haus gedrungen. Einer, der eine dunkle Kappe mit Augen¬
öffnungen über das Geſicht gezogen hatte, iſt unſer Anführer geweſen;
ſie ſagen, es ſei der abgedankte Amtmann von Adelberg. Es war
noch ein zweiter Unbekannter dabei in einem ſchwarzen Camiſol und
weißen Zwilchkittel, mit ganz ſchwarz gefärbtem Geſicht. Der mit der
Kappe iſt dem Melcher auf die Achſel und durch einen Laden einge¬
ſtiegen und hat uns die Hausthür' aufgemacht und davor Wache ge¬
halten. Wir ſind hinein, haben bei fünfzehn Wachslichter theils unten
und oben an die Wand geklebt, theils in der Hand gehalten.


Und mit den Lichtern habt ihr den Schultheißen brennt?


Ich hab' ihm weiter nichts gethan als ihn binden helfen, hab' ihn
am Hals und um den Leib hart gehalten, einen alten Heuchler geheißen
und angeſchrieen, er ſolle geſtehen, wo er ſein Geld habe, oder er
müſſe ſterben. Zugleich iſt die Magd in ihrem Schrecken nackend die
Stege herunterkommen; der Chriſtianus hat ihr die Zöpfe abgeſchnitten,
die Hände und Füße damit zuſammen gebunden und ſie in der Frau
Bett geworfen, weil ſie geklagt hat, es friere ſie ſo. Denn die Frau
iſt auf dem Boden gelegen, der Melcher hat ein Deckbett über ſie ge¬
worfen. Die Magd hat gewimmert: hier ſtehe der Kupferhaf', ſie ſei
ein armer Waiſ', man ſolle ihr nichts thun. Zugleich hat der Schultheiß
geſagt, es ſei Geld genug in der Kammer drin. Die Andern aber haben
[423] aus der Kammer gerufen: Wir haben das Möges ſchon, nämlich das
Geld. Auf einmal hat die Margarethe, die vielleicht Leute auf der
Gaſſe gehört, Gaif! Gaif! gerufen und hat mir zugeſchrieen, ich ſolle
hinunter und Feuer auf ſie geben. Drauf hab' ich unter dem Haus
mit dem in der Kappe Wache gehalten und mich an nichts mehr
betheiligt.


Dann haben die Andern den Schultheißen mißhandelt?


Ja, erzählte er zögernd, ſie haben noch mehr Geld gewollt und
deßhalb Torturen angewendet. Der Jägerkaſperle, der dabei war, hat
die Frau an den Augenbrauen geritzt, und der Schwamenjackel, der
wüſte Kerl, hat den Schultheißen geſchlagen und mit einer am Licht
glühend gemachten Nadel unter dem Nagel in den Daumen geſtochen.


Jeſus! Jeſus! ſchrie Chriſtine. Das iſt ja ſchrecklich.


Sie haben aber nichts mehr von ihm bekommen, als den Nacht¬
mahlskelch nebſt Zubehör. Er hat alles Andere richtig angegeben und
nur dieſe Sachen hat er verheimlichen wollen, weil ſie ſeiner Ge¬
meinde gehören.


Wie iſt's denn bekannt worden, daß du dabei geweſen biſt? fragte
ſie. Hätteſt du dich nicht auch vermummen können?


Der Bettelmelcher, erwiderte er, hat immerfort geſchrieen: Kennt
ihr mich? ich bin der Sonnenwirthle.


Die Spitzbuben! rief ſie empört: damit haben ſie dich abſichtlich
'neinreiten wollen! Und ich ſteh' dafür, den gefährlichſten Theil vom
Raub, den Kelch, haben ſie ſicherlich dir geben.


Daß ſie alle Mittel anwenden, um mich völlig in ihre Geſell¬
ſchaft zu ziehen, iſt natürlich, erwiderte er. Ich kann ihnen das nicht
einmal übel nehmen. Und was bleibt mir ſonſt übrig?


In dieſem Augenblicke kamen ſie aus dem Walde auf das freie
Feld heraus, das noch vom letzten Tageslicht erhellt war. Sie ſah
ihm ſchmerzlich und ſchüchtern in das Geſicht, deſſen ſtarre Züge eine
finſtere Ergebung verkündigten. Mir gräuſelt's vor dir! ſagte ſie.


Du haſt's nöthig, ſo zu reden! rief er wild. Wer hat ſich denn Eſſen
und Trinken und Kleider von mir bringen und das Koſtgeld für ſich
bezahlen laſſen? Wer hat vom Melcher ein Pfännle verlangt? Haſt
du geglaubt, der Bettelmelcher werde es kaufen? Und wer hat dieſem
[424] Dieb und Räuber von Profeſſion die Gelegenheit in Heſelthal beſchrie¬
ben und ihm angegeben, wo der Wirth ſein Geld hingethan hat?


Ach Gott! rief ſie weinend, du haſt freilich Recht! Ich ſag' ja,
es ſei hohe Zeit für mich, in ein anders Leben zu kommen. Da
ſiehſt, wie man in der Geſellſchaft wird. Sie lachen Ein' ſo ſpöttiſch
aus und ſtellen Ein' ſo miſerabel hin, daß man's nicht aushält und
ihnen vor lauter Aerger zeigen muß, daß man auch Augen im Kopf
hat, ſo gut wie ſie. Ich glaub', wenn ich bei ihnen wär', ich thät' bald
mit ihnen wetteifern, nur nicht in Börtlinger Geſchichten, denn ſo viel
wird dir dein eignes Herz ſagen, daß das etwas ganz Anders iſt, als
Alles, was du früher gethan haſt. Die Leut' ſagen ſchon lang von
dir, du habeſt einen Bund mit dem Teufel. Ich hab's nie glaubt;
auch müßt' er nicht beſonders ſpendabel ſein, wenn's wahr wär'. Aber
bei ſo Unmenſchen mußt du dem Teufel verfallen.


Ich hab' nur mitgethan, weil mich ein gegebenes Wort gebunden
hat, erwiderte er. Ich thu's nicht mehr. Es gibt andere Mittel und Wege.


Sie waren an der Ruhebank angekommen. So ſehr Chriſtine
eilte, ſo erklärte ſie doch, ſie müſſe ein wenig ſitzen, denn die Kniee
zittern ihr vor Müdigkeit und Bekümmerniß. Nun ſaß ſie an derſelben
Stelle, wo kurz zuvor ihre Namensſchweſter geſeſſen. Welch ein ganz
anderes Bild bot ſich ihm jetzt in den grauen Schatten des Abends
dar! Die Wage mußte zu Ungunſten des armen, bleichen, vor der
Zeit alternden Weibes hoch emporſteigen, wenn er ſie mit jenem von
Schönheit und Jugend ſtrahlenden Geſchöpfe der Wüſte verglich.


Er fühlte dies und kämpfte dagegen an. Er wollte dem Weibe
ſeiner Jugend Wort halten und wenn er die Unmöglichkeit ſelbſt über¬
winden müßte. Leidenſchaftlich rang er mit ihrem Entſchluſſe, bat,
drohte, tobte, fluchte. Sie blieb feſt. Du kannſt mich erſchießen, ſagte
ſie, aber ich thu's meinem rechtſchaffenen Vater unter dem Boden nicht
zu Leid, daß ich zu dem Geſindel ging'.


Du weißt, ſagte er grollend, daß mir die Welt nach allen andern
Seiten hin verbaut iſt, und jetzt auf dem einzigen Wege, den ich
noch gehen kann, willſt du mich verlaſſen? Iſt das deine Liebe zu mir?


Sie fiel ihm laut weinend um den Hals und zog ihn auf die
Steinbank zu ſich nieder. O Frieder! rief ſie, ich hab' dich lieb ge¬
habt wie kein' Menſchen ſonſt in der Welt, und hab' dich heut noch
[425] lieb. Sieh, ich weiß wohl, ich bin dein Unglück geweſen von Anfang
an. Wenn ich nicht geweſen wär', ſo wär'ſt nie auf die Weg' kommen.
Aber deine Liebe und Treue zu mir hat dich in's Verderben geführt,
immer tiefer und tiefer. Wenn ich dir's damit lohnen könnt', daß ich
für dich ſtürb', o wie gern! Aber muth' mir nicht zu, daß ich mit
dir in die Welt gehen ſoll, thu's um deinetwillen nicht. Du kannſt
mich nicht brauchen, ich wär' auch da eine Sperrkette für dich, wie
ich's immer geweſen bin, und da noch weit mehr. Da wär's bald ſo
weit, daß du mich verſtoßen müßteſt und die Andere nehmen, die zu
ſo Sachen mehr Schick hat als ich.


Nie! rief er. Wenn du bei mir bleibſt, ſo ſollſt du ſehen, daß
mir keine Andere an die Seite kommt. Aber das erklär' ich dir offen:
wenn du von mir abfällſt, ſo ſchlag' ich mich zu der andern Chriſtine,
denn ſie heißt wie du und hat mich lieber als du.


Thu's nicht, Frieder, thu's nicht! rief ſie ihn umklammernd. Ich
ſäh' dich eben ſo gut in der Hand deiner Stiefmutter. Ich will nicht
ſagen, ſie mein's nicht in ihrer Art gut mit dir, aber wohin wirſt du an
ihrer Hand gerathen? Sieh, wenn du ein Schritt hundert oder zweihundert
von der Bank da vorgehſt, ſo ſiehſt ſo weit in's Thal, daß du den
Ebersbacher Galgen in's Aug' faſſen kannſt. Wie lang meinſt du
denn, daß du's auf die Art treiben könneſt? Eins, zwei, drei Jahr',
wenn's hoch kommt, und dann nimmt's ein ſchrecklich's End'. O
Frieder! Frieder! daß ich das vorausſehen muß! Gibt's denn gar
ſonſt kein' Ausweg mehr für dich?


Sie faßte ſeinen Kopf mit beiden Händen und küßte ihn unter
fortwährendem Schluchzen, das ihr die Bruſt zu zerſprengen drohte,
ſo inbrünſtig, wie er nie einen Kuß von ihr empfangen zu haben
glaubte, und ihre Thränen brannten auf ſeinen Wangen. Er war er¬
ſchüttert. Könnt' ich einen finden, ſagte er, ich thät's dir zu Lieb.
Er ſtarrte gegen das Gebirge hin, das jetzt nur noch als eine graue Linie
zu erkennen war. Verſuch's einmal, ſagte er endlich, den Büchſen¬
ranzen neben ſie auf die Bank legend, ob du nicht die Sachen da
drin verkaufen und mir einen Lehrbrief dafür anſchaffen kannſt, mit
dem ich mich ausweiſen könnte. Wenn ich unter eine Armee ginge,
ſo wäre vielleicht in etlichen Jahren Manches vergeſſen —


Drauf! drauf! ſchrie es hinter ihnen. Sie fuhren auf und ſahen
[426] ſich von Streifmannſchaft umringt, welche aus dem Walde hervor¬
gebrochen war, und rechts und links auf ſie eindrang. Halt' dich feſt
zu mir! rief er, hatte im Nu die ſchwächſte Seite der Angreifer, die
ihm nach dem Walde zu entkommen erlaubte, ausgeſpäht, und warf
ſich mit angeſchlagenem Gewehr ihnen entgegen. Sie wichen erſchrocken
aus einander und er ſtürzte mitten hindurch. Ein paar Schüſſe knallten
hinter ihm, die er verlachte. Als er aber den Schutz des Waldes er¬
reicht hatte und ſich umſah, war keine Chriſtine hinter ihm. Er brach
tollkühn wieder hervor und ſah ſie als leichte Beute in den Händen
der Streifer. Laßt ſie los, ſchrie er, oder — ! Ein Theil eilte mit
ihr geradeaus den Berg hinab, ſo daß ſie bald mit ihr verſchwunden
waren, ein andrer Theil ſtellte ſich gegen ihn auf. Und wenn der
Teufel ſelber bei ihm wär', rief die Stimme des Fiſchers, den er jetzt
erkannte, ſo wird man doch mit ihm fertig werden können. Abermals
blitzte ein Schuß gegen ihn durch die einbrechende Nacht. Er ſchlug
auf den Haufen an und drückte ab. Das Gewehr verſagte. Nun hatte
er keine andre Wahl, als wiederum ſein Heil in der Flucht zu ſuchen,
die ihm ſchon ſo manchesmal gelungen war. Sie gelang auch diesmal
wieder und nach wenigen Augenblicken befand er ſich, von keinem der
nachgeſendeten Schüſſe berührt, in dichter Waldesnacht geborgen. Aber
Chriſtine war in den Händen der Verfolger geblieben und wurde nun
mit Zwang dahin geführt, wohin ſie freiwillig gewollt hatte. Mit ihr
war auch ſein Büchſenranzen in Gefangenſchaft gerathen und hiemit
nicht nur der Ertrag der Unthat, die ſein Gewiſſen drückte, verloren,
nicht nur die Möglichkeit einer Rückkehr in die Schranken einer recht¬
mäßigen oder doch wenigſtens den Vorurtheilen der Zeit entſprechenden
Ordnung vernichtet, ſondern auch die ſchwerſte Inzicht gegen Chriſtinen
in die Hände ihres Richters geliefert.


[427]

36.

Als er ſich in Sicherheit wußte, ließ er es ſeine erſte Sorge ſein,
die treuloſe Begleiterin, die ihm den Dienſt verweigert hatte, wieder
in Stand zu ſetzen. Zu dieſem Behufe ging er nach dem Hofe
zurück, von wo er mit Chriſtinen gekommen war, weckte die Leute,
die ſchon zu Bette lagen, forderte Licht und erzählte mit verbiſſenem
Grimme was ſich zugetragen. Man war ihm ſchweigſam zu Willen,
wie man eben in abgelegenen Wohnungen ſolche Beſuche zu er¬
tragen pflegte. Nachdem ſein Gewehr ausgebeſſert war, ſchlug er in
ſeinem trotzigen Muthe den Weg ein, den die Streifer mit ihrer
Gefangenen genommen hatten, nicht eben denſelben Weg, aber den
Weg nach ſeiner für ihn verſchloſſenen Heimath, wohin ſie geführt
worden war. In ſinkender Nacht kam er im Thale unten an, durch¬
ſchnitt es und wählte ſich geradezu den gangbarſten Weg, die Göp¬
pinger Straße, weil er dachte, daß man ihn von dieſer Seite am
wenigſten erwarten würde. Er wollte mitten in den Flecken eindringen —
er wußte ſelbſt nicht recht was er wollte. Der Mond ging auf und
machte ſein Wageſtück um ſo gefährlicher. Eben kam er an der Ziegel¬
hütte vorüber, als plötzlich hinter einem dort liegenden Scheiterhaufen
hervor drei Schüſſe auf ihn fielen. Keiner hatte getroffen, doch war
ihm auf der rechten Seite ein Fetzen vom Rocke weggeſchoſſen. Auf
ihn! auf ihn! ſchrieen mehrere Stimmen und drei Männer ſprangen
hervor. Ich hab' ihn bezahlt, ich hab' ihm einen Flügel abgeſchoſſen!
rief der Eine. Es war abermals der hartnäckige Fiſcher, der durchaus
den ausgeſetzten Preis verdienen zu wollen ſchien. Faßt ihn, den
Fleckendieb, den Börtlinger Räuber! ſchrieen die beiden Andern, in
welchen er den ihm feindlichen Müller und deſſen Knecht erkannte.
Oho! ſchrie er und ſchlug an: ſo weit iſt's noch nicht. Bei dem An¬
blicke ſeiner aufgehobenen Büchſe flüchteten ſie ſich zurück, er ſchoß,
hörte aber die Kugel in das Holz einſchlagen. Wenn ihr mir ſo ernſt¬
lich nach dem Leben trachtet, ihr Wegelagerer! rief er, ſo könnt ihr
euch auf mich verlaſſen, daß ich den erſten, der mir von euch begegnet,
[428] über den Haufen ſchieße, und du, Fiſcherhanne, weißt ohnehin, was
dir geſchworen iſt! — Da er ſie jedoch hinter ihrer Bruſtwehr wieder
laden hörte, ſo zog er ſich zurück, um der Ueberzahl auszuweichen und
gleichfalls ungeſtört laden zu können.


Nach kurzer Zeit verſuchte er von anderer Seite her eine An¬
näherung an den Flecken. Nicht weit vom Hochgerichte, vor welchem
Chriſtine ihn gewarnt hatte, ging er zu der Hütte eines Feldhüters
und gebot dieſem herauszukommen. Es war ein Schulkamerad von
ihm, der als ein armer Mann das Amt übernommen hatte, bei Nacht
die Frucht zu hüten. Erſchrickſt du vor mir? fuhr er ihn an.


Nein, antwortete der Hüter, ich hab' nur ſo ſpät Niemand erwar¬
tet, es iſt ſchon zehn Uhr vorbei.


Wie ſteht's?


Nicht zum beſten. Der Hagel hat heut ſtark auf der Markung
geſchlagen. Wenn's ſo fortgeht, wird bald nichts mehr zum Hüten da ſein.


Weißt du nichts von meiner Chriſtine?


Ja, eh' ich heraus bin, hab' ich gehört, daß ſie gefänglich ein¬
gebracht worden ſei. Sie ſitzt auf'm Rathhaus und wird morgen mit
dem Frühſten nach Göppingen geliefert. Alles ſagt, ſie werd' in's
Zuchthaus kommen.


Er knirſchte mit den Zähnen.


Die alt' Müllerin hat doch recht Unglück mit ihren Kindern.
Weißſt du's mit dem Jerg?


Was?


Weißſt du nicht, daß bei Geißlingen ein Aufruhr geweſen iſt und
daß man achtzehn Soldaten erſchoſſen hat?


Freilich weiß ich's.


Nun, und da iſt deiner Chriſtine Bruder auch darunter geweſen.


Er ſtieß einen Schrei des ſchmerzlichſten Zornes aus und wüthete
gegen die ganze Welt, den Herzog an der Spitze.


Nimm dich doch in Acht! ſagte der Hüter, du kannſt dich mit
ſolchen Reden um den Kopf bringen.


Was liegt daran! erwiderte er.


Man hörte Schritte und im Mondlicht kamen Soldaten zum
Vorſchein.


[429]

Wer da? rief er mit wilder Stimme, hervortretend und das
Gewehr anlegend.


Die thun dir nichts, ſagte der Hüter, die ſind in Urlaub und
laſſen ſich's wohl ſein, weil man wegen der unruhigen Zeit dem Soldaten
ein wenig durch die Finger ſieht, haben den ganzen Tag viel getrunken
und wollen den Geiſt verluften; wenn ſie vielleicht auch geſagt haben,
daß ſie auf dich ſtreifen wollen, ſo iſt's ihnen nicht Ernſt damit.


Iſt des Jergs Bruder, der Hannes, unter ihnen?


Nein, ſagte der Hüter und nannte ihm ihre Namen.


Er trat den drei bewaffneten und mit Gewehren verſehenen Reichs¬
kriegern entgegen; mit der einen Hand hielt er ſein Gewehr, mit der andern
klopfte er auf die Lederhoſen und rief: Nur her da, ich hab' ſchon
lang auf euch gewartet, ich bin der Sonnenwirthle!


Dieſe Worte und Töne ſchlugen wie ein Kartätſchenhagel in die
Schaar der Helden ein, die vielleicht in nächſter Zeit gegen den
rebelliſchen König von Preußen in das Feld rücken ſollten. Sie machten
Kehrt und liefen ſo ſchnell davon, als ihre ſteifen Stiefeletten, die doch
recht eigentlich ein Mittel gegen das Fluchtfieber abzugeben geeignet
waren, es geſtatten wollten.


Er lachte unbändig hinter ihnen her. Ueber dem ſpaßhaften An¬
blick und über der Befriedigung ſeines Stolzes hatte er, für einen
Augenblick wenigſtens, Alles vergeſſen, was ihn drückte.


Hab' ich's nicht geſagt, die thun dir nichts? ſagte der Feldhüter.
Die könnt' man mit keinem Pferd mehr einholen.


Hol' mir Wein.


Gern, aber weißſt, damit ich vor Amt ſchwören kann, du habeſt
mich gezwungen, ſo mußſt mir's anders befehlen.


Gut. Er klopfte an ſein Gewehr. Du mußt mit mir da hinein
und zu trinken holen, und wenn du nicht willſt, ſo mußt du.


Sehr wohl.


Sie gingen zuſammen bis nahe an den Flecken. Dort gab er ihm
Geld und wartete mit angezogenem Gewehre auf ſeine Zurückkunft.


Der Hüter kam allein, denn er wußte wohl, daß eine Verrätherei
ihn außer Stand ſetzen würde, je wieder ſeinen Dienſt bei Nacht zu
thun. Hierauf gingen ſie in das Feld zurück. Der Hüter mußte den
Wein tragen und durfte dafür nachher mit ihm trinken.


[430]

Was reden ſie in Ebersbach von mir? fragte er, ſich bequem auf
den Boden ſtreckend.


Sie haben gottſträflich Angſt vor dir.


Er lachte und ließ nicht ab mit Fragen, bis ihm der Hüter die
gleiche Antwort wohl ſechsmal in verſchiedenen Wendungen wiederholt
gegeben hatte.


Aber die Börtlinger G'ſchicht' macht bös Blut, es wird allenthalben
nach dir geſtreift und es iſt da herum nicht mehr gut wohnen für dich.
Er lachte noch lauter und fing nun mit dieſem Einbruch, den er
vor wenigen Stunden mit manchem Gewiſſensbiß erzählt, heillos zu prah¬
len an. Dabei machte er ſich mit dem Amtmann von Adelberg und andern
vornehmen Perſonen groß, indem er ſo das Märchen, das vielleicht ſeine
Genoſſen zu ſeiner eigenen Aufmunterung erſonnen hatten, weiter ver¬
breitete. Indeſſen erreichte er ſeine Abſicht, denn der Hüter bemerkte,
wenn ſolche Leute mit in der Verſchwörung ſeien, ſo werde der Schrecken
in der ganzen Gegend um ſo größer werden. Hierauf befahl er ihm,
den Amtmann von ihm zu grüßen, er habe eine ſchöne Flinte, die
dem Herrn Amtmann gewiß anſtändig wäre, ſie ſei recht leicht; warum
er denn gar nicht mehr auf die Jagd komme? Zu dieſen Hohnreden
fügte er Drohungen gegen ſeine Verfolger, ſeinen Vormund und den
ganzen Flecken. Nach der Ernte, wenn die Scheuern voll ſeien, ſagte
er, ſei es beſſer die Häuſer anzuzünden, es brenne leichter und gebe
ein größere Freude. Der Hüter wagte beſcheidentlich einzuwenden,
er gehe ja ſelbſt nach Brod und werde doch der Gottesgabe nicht ſo
mitſpielen wollen. Ei was! erwiderte er kindiſch, ob ich's verbrenne
oder ob's der Hagel erſchlägt, das iſt Alles eins.


Zuletzt kam er wieder auf den Schultheißen von Börtlingen
zu ſprechen und ſich zu rühmen, wie er dieſen für ſeine Heuchelei
und Ungerechtigkeit beſtraft habe. So muß man's machen, ſagte er:
iſt's nicht recht ſo?


Unſer Pfarrer, ſagte der Hüter ausweichend, ſchimpft auch auf
ihn und ſagt, jetzt habe er's, daß er nicht mehr Vorſicht anwende
und Alles dem Himmel überlaſſen wolle; er verderbe dem geiſtlichen
und weltlichen Amt das Spiel, verſchmähe allen erlaubten Proſit, hänge
ſein Geld an die Armen, die dadurch nur immer begehrlicher werden, und
opfere ſich auf eine einfältige Art für ſeine Gemeinde auf, ſo daß
[431] ihm's kein Pfarrer und Niemand nachmachen könnte, der ſich nicht zu
Grund richten wollte.


So? ſagte der Räuber und verſank in ſtummes Nachdenken. So
verwandelt und entſtellt ſein urſprünglich gutes Gemüth war, ſo konnte
er ſich doch dem Eindringen der Wahrheit nicht entziehen, die aus
dieſen Worten hervorleuchtete: die erſtere größere Rachethat, womit er
die von der bürgerlichen Geſellſchaft erlittenen Unbilden zu vergelten
meinte, hatte einen Gerechten getroffen.


Er ſprach wenig mehr und überließ den Hüter bald der ohne
Zweifel willkommenen Einſamkeit, indem er ſich wieder in den Wald
aufwärts zog.

37.

Ruhig lag die Welt, wie ein eingewiegtes Kind. Das Gewitter
hatte den ſchwülen Druck des Sommers hinweggenommen, und in der
freundlichen Kühle athmete alles Weſen auf. Die Felder ruhten von
des Tages Hitze, und durch die Blätter des Waldes ging ein friſcher
ſanfter Hauch, daß ſie nur leiſe wie im Traume zitterten. Die Menſchen
ſchlürften in bewußtloſer Wonne den Segen dieſer milden Nacht, die ſelbſt
dem Fieberkranken wieder einmal Ruhe und Frieden ſchenken konnte.


Einer aber ſchlief nicht. Er bettete ſich unter dem dichteſten Ge¬
ſträuch, wo nicht einmal ein Wild hinkam, legte den Arm über eine
Baumwurzel und bereitete ſich ſo ſein Kopfkiſſen; aber der Schlaf,
den er hundertmal auf rauherem Lager gefunden hatte, wollte ihn
nicht beſuchen. Er drückte die brennenden Augen in das feuchte Moos,
aber ſein von langer Schlafloſigkeit gequälter Kopf hörte nicht
zu ſummen und zu dröhnen auf. Das Flüſtern der Blätter ſtörte
ihn; es war ihm, als ob ſie ſich etwas von ihm erzählten. Er brach
wie ein geſcheuchtes Wild durch die Zweige, floh aus dem Walde
heraus und irrte durch die Aecker und Wieſen, die am Abhang der
Anhöhe lagen. An einer Stelle ſetzte er ſich auf einen Markſtein, an
einer andern legte er ſich in das kühle Gras, wo es noch nicht von
der Senſe berührt war, denn ſeine Glieder waren von Ermattung wie
[432] zerſchlagen; aber ſein Körper fand die Ruhe nicht, die ſeiner Seele
fehlte. Er hörte vom Thale herauf den Schlag der Glocke und den
Ruf des Wächters in regelmäßigen Abſätzen, die den unerbittlichen
Gang der Zeit verkündigten. Er ſah den Mond über den Himmel
wandeln und ſeinem Ziele näher und näher ſinken; an ſeinem weiten
Wege konnte er ſehen, wie lange ſchon die Welt der Ruhe pflegte,
die ihn floh. Die Sterne glänzten in der herrlichen Sommernacht wie
eine goldne Schrift auf dunkelblauem Grunde; aber mit ſeinem
ſtumpfen Blick konnte er ſie nicht leſen, und kopfſchüttelnd ging er
nach dem Walde zurück.


Sein ganzes Schickſal zog in dieſer Nacht an ſeiner Seele vor¬
über; die Vergangenheit ſchmerzte, ſtachelte ihn, und die Zukunft hing
wie eine wetterſchwangere Wolke vor ſeinem Auge. Es ſah wüſt und
wild in ſeinem Innern aus. Vermöge ſeiner Anlagen und ſeiner Er¬
ziehung wußte er recht wohl zu unterſcheiden, was gut und böſe ſei,
und dieſe Erkenntniß redete zu ihm in der Sprache der überlieferten
Religion, die er mit der Muttermilch eingeſogen hatte. Obwohl er
mit der Kirche oder vielmehr mit dem Pfarrer haderte, und das
Maulchriſtenthum der Meiſten um ihn her verachtete, ſo war er doch
kein Freigeiſt; woher hätte er auch, der ungeſchulte Denker, das Zeug
dazu nehmen ſollen? Er glaubte feſt an ſeinen Heiland, wie Alles
um ihn her, und ſeine von Noth und Schuld gepeinigte Seele ſchrie
oft gen Himmel auf; aber er war das Kind eines aus hartem Stoffe
geſchaffenen Volkes, das oft das zarteſte Gebet und den roheſten Fluch
beinahe in Einem Athem auf die Lippen bringt. Ein beißender Witz,
ein Anreiz zur Lebensluſt oder eine Wallung des Zornes konnte die
erſchütterndſte Wirkung des Heiligen im Nu verwiſchen, und ſeine An¬
klage gegen die Welt, daß ſie nicht nach den Geboten des Glaubens
lebe, lieh auch ihm die Entſchuldigung, daß ein ächtes Chriſtenthum
die Kräfte des Menſchen überſteige. Dennoch brannten ihn jene from¬
men Lehren, welche ihm am eindringlichſten von ſeiner Mutter eingeprägt
waren, wie mit Flammenſchrift in ſeine Seele, die verzagend ihr Ver¬
dammungsurtheil in ihnen las. Er konnte es ſich nicht bergen, daß
er von einer verworfenen That herkam und einem verworfenen Leben
entgegenging, in welchem nicht mehr bloß augenblickliche Noth oder
Leidenſchaft vorübergehend das Schiffchen mit einem mißfarbigen
[433] Einſchlag durch das Gewebe trieb, nein, in welchem das Verbrechen als
alltägliches Handwerk in ſeiner kalten Gemeinheit waltete.


In dieſer ſchweren Nacht gedachte er an jene bibliſche Erzählung
von dem Erzvater, der im Traume eine Leiter auf der Erde ſtehen
ſah, die mit der Spitze bis an den Himmel reichte; die Engel ſtiegen
daran auf und nieder und Gott ſelbſt ſtand oben darauf. Ihm nahm
das Traumgeſicht die entgegengeſetzte Richtung: er ſah endloſe Stufen
in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr
abgeſchnitten; ſchon war er weit hinuntergeſtiegen, und jetzt reichten
ihm ſeine Genoſſen die Hände und tanzten luſtig lachend immer tiefer
mit ihm hinab. Die verführeriſche Geſtalt der Gefährtin ſeines Ver¬
derbens winkte ihm, die Tochter einer geſetzloſen Welt erſchien ihm
wie eine ſchöne Tigerin, die mit heißer Zunge an ſeinem Herzen leckte.
Mitten im Grauſen der Verworfenheit empfand er den Reiz, der
ihn zu ihr hinzog, und ſeine Sinne riefen ihm zu, die Luſt des
Lebens noch recht zu koſten, wenn er denn doch rettungslos verloren
ſein ſolle.


Er ſchweifte in weiten Kreiſen vom Felde in den Wald und vom
Walde in das Feld zurück; aber weder in Feld noch Wald wuchs das
Kraut, das den fieberiſchen Aufruhr ſeines Blutes heilen konnte.


Der Morgen kam und endlich ging auch die Sonne über den
Bergen auf. Höher ſteigend ſchien ſie in das breite Thal hinein und
trocknete den Thau von dem gemähten Heu, das in großen Haufen
auf dem Felde lag, ſo daß bald ein ſüßer Duft ſich mit den Morgen¬
lüften miſchte, jener Duft, der vor allen andern den Menſchen mit
heimathlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete ſog ihn gierig
ein und Thränen traten in ſeine müden Augen. Wie oft hatte er
da unten als Knabe mit andern Knaben, die jetzt ſich verabſcheuend
von ihm wandten oder mit der Mordwaffe ſeine Spur verfolgten, in
dem aufgeſchichteten Heu ſich gewälzt und vor Freude gejauchzt! Von
dem Vorſprung, auf dem er ſtand, konnte er in ſeinen Flecken hinein¬
ſehen und die Giebel der Häuſer erkennen, an welchen ſeine Erinne¬
rungen hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, ſtand
das Haus, das ihn geboren, das nach dem rechten Laufe der
Dinge ihn als Erben hätte behalten ſollen. Hier, am Ende des Fleckens,
ſtand das Haus der Armuth, wo ſeine Kinder waren, wo er den
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth 28[434] ſchwarzen Faden angeknüpft hatte, der ſich auf ſeinem Lebenswege
immer feſter um ſeine Füße wand. Und dort weiterhin ſah er den
Giebel des Rathhauſes, wo ihm aus dieſem Faden die Stricke gedreht
wurden, die ihn immer weiter von der bürgerlichen Geſellſchaft los¬
riſſen. Dort war ſeine erſte Chriſtine dieſe Nacht im Gefängniß ge¬
legen und befand ſich jetzt wohl ſchon auf dem Wege, zu ſtark ver¬
wahrt, als daß er ſie hätte befreien können. Und wenn ihm auch ein
kühner Streich gelänge, er konnte ja doch den Kindern nicht die Mutter
wieder geben, und der Vater war auf lange, vielleicht auf immer, von
ihrer Schwelle verbannt.


Doch war es nicht dies allein, was ſeinen Blick an die grauen
Giebel feſſelte: es war der wunderbare Zug nach der Heimath, den
ſeine heimathloſen Geſellen nicht verſtanden. Seltſamer Drang des
Herzens! Keine heimiſche Geſchichte, vom Mund des Großvaters auf
den Enkel fortgepflanzt, keine alte Volksſitte lebte in dieſem nüchternen
Orte, woraus das Gemüth des Knaben Nahrung und dankbare An¬
hänglichkeit hätte ſchöpfen können, und doch zog es den reifenden Mann
aus der Oede der Verbannung immer wieder nach der kargen Heimath
zurück. Sie hatte ihn ausgeſtoßen und von ſich geſpieen, ſie fürchtete
ſich vor ihm wie vor dem wilden Thiere, das aus den Wäldern her¬
vorbricht; er fluchte ihr und drohte ihr mit Mord und Brand: und
doch kam er immer wieder nach ihr zu ſchauen, und in ſeiner kindiſch
unverdauten Weiſe war er mehr als auf jede Kriegs- oder Friedens¬
neuigkeit darauf erpicht, zu wiſſen, was man in Ebersbach von ihm
ſage, obgleich er ſich die Antwort ſelbſt geben konnte, die ihn immer
wieder mit Wuth und Haß gegen die Menſchheit erfüllte.


Wuth und Haß traten auch jetzt wieder an die Stelle der Weh¬
muth; ohnmächtige Racheblicke ſendete er hinab, und ſein abgehetztes
Hirn begann zu wirbeln, ſo daß er ſich dem Wahnſinn nahe fühlte
und es gerathen fand, ſich mit der Jagd nach Wild eine Beſchäftigung
aufzuerlegen, um der Hetzjagd ſeiner Gedanken zu entgehen. Auch
war es Zeit für ihn, das Feld zu räumen, denn die Mäher kamen
da und dort aus dem Flecken gezogen, und ihre Senſen blitzten in
der Sonne. Bald gehörte die Welt mit Ausnahme der Waldwinkel
und Diebsherbergen wieder den Menſchen, die in den Schranken des
Lebens blieben und ſich unter das Geſetz beugten. Sein Platz war
[435] nicht mehr hier, und wenn er dem Lichte des Tages zu trotzen wagte,
ſo durfte er ſich bald wieder auf das wilde Geſchrei der Menſchenjagd
gefaßt halten.


Er ging in den Wald und zog aufmerkſam ſpürend einen großen
Bogen, der ihn zuletzt wieder, eine gute Strecke unterhalb ſeines Vater¬
ortes, gegen das Thal herausführte. Er befand ſich hier an einer
ſteilen Bergſeite über einem ganz engen Seitenthälchen, das in der
Urzeit nur eine Schlucht geweſen war. Ein dünnes Bächlein rieſelte
durch den Grund nach dem größern Thale hinaus und neben dem
Bächlein lief ein ſchmaler Weg hin, kaum für kleine Fuhrwerke be¬
fahrbar. Das Bächlein und der Weg füllten den Grund des kleinen
Einſchnittes völlig aus; über dem Bächlein hing der ſteile Bergwald,
wie eine beinahe gerade Wand, und von dem Rande des ſchmalen
Weges an ſtieg die entgegengeſetzte Wand, ſich ſanfter zurücklehnend,
nach der Anhöhe empor, die das größere Thal begrenzte. Auf dieſer
nicht ſo ſteil geneigten Seite zogen ſich Wieſenſtücke vom Thal herein
und von der Höhe herab bis an den Rand des Weges, aber von
Wald unterbrochen, der ſich an einzelnen Stellen von der ſteilen Berg¬
wand her über das Bächlein auch auf die andre Seite verbreitet hatte,
ſo daß der ſchmale Weg ſich oft im Walde zu verlieren ſchien. Das
Thälchen war ſo ſtill, daß das Wild hier oft bis an den Weg her¬
unterkam, um aus dem Bächlein zu trinken.


Er zog ſich an der ſteilen Bergſeite hin und gerieth in eine Ver¬
tiefung, die von oben nach dem Thälchen herablief, wie ſie, vom Volke
Klingen genannt, in den vielfach eingeſchnittenen Bergwäldern ſich
häufig finden. Ein Erdaufwurf, mit Moos und Waldgras bewachſen,
hinderte ſeinen Schritt. Er blieb ſtehen und beſann ſich. Richtig!
ſagte er: hier am Kirnberg, weit ab von ihrer Gemeinſchaft, haben
ſie dich eingeſcharrt, armer Küblerfritz! Wenn Einer des Wegs daher
kommt, ſo geht er gewiß ſcheu vorüber und denkt in ſeinem Herzen:
Herr, ich danke dir, daß ich kein Solcher bin. Bei Nacht wird ſich
vollends gar Keiner herwagen, und doch bleibſt du ſicherlich auf dei¬
nem trotzigen Ellenbogen ruhig liegen, denn der Kirnbach da drunten
iſt viel zu klein für deinen Durſt. Schlaf' du ruhig fort im kühlen
grünen Wald. Hier iſt dir's wohler, als auf dem Kirchhof neben den
Andern mit ihrem „Wahren Chriſtenthum“. Hätt' ich dran gedacht,
28 *[436] ſo wär' ich heut Nacht bei dir eingekehrt, alter Kamerad. Dafür
will ich dir jetzt ein wenig Geſellſchaft leiſten.


Er ſetzte ſich auf den verrufenen Hügel und pflog mit ſeinen
Gedanken Verkehr. Da ſie ihm aber zu wild wurden, ſtand er wieder
auf und ging weiter vorwärts, bis er zu einer alten Buche kam,
die ihm bequem zum Anſtand ſchien. Das Gewehr in den herab¬
hängenden Händen haltend, lehnte er ſich an den Baum und ſtarrte
in den blauen Himmel empor. Es war ſo ſtill, daß der Ton des Mähens
von draußen, wie er glaubte, in dieſe Einſamkeit zu ihm drang. Da
weckte ihn ein Geräuſch in der Nähe. Er blickte hin und erhob leiſe das
Gewehr. Auf einer kleinen Lichtung, unter der Stelle, wo er ſeinen
Stand genommen, war ein Hirſch herausgetreten, der lauſchend ſtehen
blieb. Er legte an, zielte und wollte abdrücken, zog aber in dieſem
Augenblicke das Gewehr zurück, da er die Urſache entdeckte, die den
Hirſch zurückgehalten und ihm ſo ſchußgerecht gebracht hatte. In der
Richtung des Schuſſes, auf einer Wieſe an der Bergſeite gegenüber,
ſah er zwei Männer mähen; das Rauſchen der Senſen hatte das
ſcheue Thier ſtutzig gemacht, ohne daß es vor dem zu dieſer Zeit ge¬
wohnten Tone floh. Die Wieſe war ſo nahe, daß ein Fehlſchuß den
Männern Gefahr bringen konnte. Er hielt das Gewehr unſchlüſſig
in den Händen und blickte hinüber — da ſpannten ſich auf einmal
alle ſeine Muskeln und ſeine Augen traten hervor: der eine der beiden
Mäher war der Fiſcher! Er dachte nicht daran, welche jämmerliche
Armuth dieſen Menſchen getrieben haben mußte, um eines elenden
Taglohnes willen ſich in dieſes abgelegene Thälchen zu wagen, während
er in jedem Winkel der Gegend ſeinen ſchwergereizten Feind, nach dem
er ſo eben noch geſchoſſen, zu vermuthen hatte — er dachte nur an
ſeinen wiederholten Schwur, den erſten der drei gedungenen Verfolger,
der ihm vor die Mündung kommen würde, zu bezahlen. Hab' ich dich,
Mordhund! ſagte er die Lippen lautlos bewegend. Er legte das
Gewehr wieder an und richtete es ſeitwärts von dem Hirſche, der noch
immer gegen die Wieſe hinab lauſchte, gegen das in ſeinen Schuß
gekommene Menſchenwild. Es bedurfte eines leichten Drucks und
ſeine Rache war gekühlt, der Eid, zu deſſen Sklaven er ſich machen
wollte, war eingelöst. Was hielt ihn zurück?


Er zog das Gewehr wieder an ſich und blickte lange auf den
[437] Menſchen, der ſo oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben,
der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier ſeine Kugel
auf ihn abgeſchoſſen hatte. In dieſem unbedeutenden Menſchen ſah
er Alle verſammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleiſe gedrängt
und endlich von der Bahn ſeiner rechtmäßigen Anſprüche hinabgeſtoßen hatten.


Er ſah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens ſchmauſen und
ſich ſelbſt in die Wildniß hinausgeſtoßen. Und waren die Unſchuldigen,
welche ſeiner rettungsloſen Verzweiflung noch zum Opfer fallen ſollten,
von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren ſie nicht
eines Schuldopfers werth? Hier ſtand Einer ſeiner Kugel preisgegeben,
der ſich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der
Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Menſch
ſich wünſcht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬
ſellſchaft eine gewiſſe Weihe erhalten ſollte, ſo winkte ihm hier an der
Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er ſich, um Recht und
Gerechtigkeit betrogen, ſo hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener
Sache zu ſein, daß er ſein neues Leben nicht beſſer einweihen zu können
meinte. Warum zögerte ſein Finger am Drücker?


Viermal zielte er und viermal ſetzte er wieder ab.


Der Menſch, wer er auch ſei, trifft Stunden in ſeinem Leben, wo
er tief in ſich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des
Wahnſinns in ihm ſchlummert, die zu Zeiten erwacht. Es ſteht Einer
im Gebirge an einer jähen, ſchwindelnden Felſenwand, da taucht plötz¬
lich die Stimme in ihm auf und ſagt ihm: Spring' da hinab.
Oder er hat einen Freund bei ſich, der ihm nie etwas zu Leid gethan,
der ſich ihm als feuerfeſt erwieſen hat; die Stimme ſagt: Gib ihm
einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menſchliche Geſellſchaft, die
für ihren Beſtand zu ſorgen hat, macht mit Recht den Menſchen ver¬
antwortlich, damit er dieſer Stimme nicht gehorcht. Wer in ſeiner
geſunden Kraft wandelt, der kämpft ſie leicht nieder und lächelt über
ſie, wie der Menſch über die Sprünge ſeines thieriſchen Zerrbildes
lächelt. Wo aber Leidenſchaft, wo Haß und Rache die Stimme
beflügeln, da wird der Kampf ſchwerer. Und doch wird Jeder,
der in den dunkelſten Stunden ſeines Lebens ſein menſchlich Theil
gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung
mit der Gewalt einer unſichtbaren Macht eingegriffen und ſeiner Hand
[438] ein Halt geboten hat. Selbſt im Kriege, beſonders wenn der Einzelne
dem Einzelnen gegenüber ſteht, wird es oft der mordgewohnten Hand
ſchwer, einen neuen Mord zu begehen. Nur die Henker ſind von jener
inneren Macht ſo fürchterlich verlaſſen, daß ſie mit kaltem Blute die
Rache der Geſellſchaft an einem rohen Verletzer einer rohen Ordnung
vollziehen können. Und oft ſelbſt dieſe nicht!


Kampf und Wuth und Schrecken umnebelten den Geiſt des aus¬
geſtoßenen Sohnes der Geſellſchaft, der ſich vergebens beredete, daß er mit
kaltem Blute in dem Kriege, welcher gegen ihn geführt wurde, ſeinen
Feind niederſchießen könne. Seine Rachegedanken waren ihm wüſt und
unklar durch die Seele gegangen; ſie ſchwanden hin und gänzliche Verwir¬
rung ſeiner Sinne blieb zurück, in welcher nichts von Haß und Rache,
nichts von Bewußtſein mehr war, in welcher nur jene dunkle Stimme
fort und fort flüſterte: Thu's! thu's! du mußt es thun!


Der Schuß krachte über das Thal hinüber, der Hirſch war mit
einem Satze verſchwunden, und der Rauch, der von dem Gewehr auf¬
ſtieg, verhüllte den friedlich blauen Himmel einen Augenblick. Obgleich
von oben nach unten verſendet, hatte der Schuß nicht gefehlt. Der
Mörder hörte und ſah, während der Rauch ſich verzog, wie ſein Opfer
aus der gebückten Stellung ſich aufrichtete, die Hand auf den Unter¬
leib drückte und ausrief: O du verfluchter Hund — er hat mich ge¬
troffen! Der Gefährte des Fiſchers eilte hinzu und riß ihn, noch er¬
ſchrockener als der Getroffene, mit ſich an den Weg hinab, auf welchem
er, beſtändig den Kopf geduckt haltend, mit ihm fortrannte. Der
Mörder ſchritt an ſeiner Bergſette weiter vor gegen das Thal hinaus
und ſah mit ſtumpfer Theilnahme, mit einer ſeltſamen Art von Neu¬
gier aus der Höhe zu, wie die Beiden gegen das offene Thal hinaus¬
liefen, wie der Fiſcher, den ſeine Eingeweide zu brennen ſchienen, von
ſeinem Genoſſen unterſtützt aus dem Bache trank, und wie den Zuſammen¬
ſinkenden ein draußen vorbeikommender Wagen aufnahm. Die Leute
liefen im Thale von den Feldern zuſammen und er hörte in ſeiner
waldigen Höhe das Geſchrei: Meuchelmord!


Es wurde ſtill in dem engen Thal des Todes, ſo ſtill, daß alle Hirſche
des Waldes ſich darin hätten verſammeln können. Nach einiger Zeit
kam eine Kuh langſam aus dem Walde den Weg daher. Sie mochte
ſich von einer nahen, im Walde gelegenen Weide hierher verloren
[439] haben. Sie lief auf die Wieſe, wo der Fiſcher den Todesſchuß er¬
halten hatte, und begann ſich an dem von der Senſe verlaſſenen Graſe
zu ergötzen.


Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des
Thälchens den ſchmalen Weg dahergegangen, eine von Alter gebeugte und
gebrochene Geſtalt. Es war der Sonnenwirth, der in dieſer frühen Stunde
auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeſchloſſen hatte und
jetzt dem Thale zuging, um auf den Wieſen im Vorübergehen nach
ſeinen Mähern zu ſehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes
Geſicht verrieth, daß ſeine guten Tage gezählt waren.


Er ſchritt kummervoll zu Boden blickend ſeinen Weg dahin. Da
rief eine Stimme über ihm, wie mit Donnerton: Sonnenwirth von
Ebersbach!


Er fuhr zuſammen und blickte in die Höhe. War das ſein Sohn
an dem ſteilen Waldabhange über ihm? Er ſtand auf einer Lichtung,
ſo daß die Bäume unter ihm nur bis an ſeine Bruſt reichten und ihn
als eine Geſtalt von übermenſchlicher Größe erſcheinen ließen.


Sonnenwirth von Ebersbach! rief er, auf ſein Gewehr geſtützt: wo
haſt du deinen Sohn?


Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.


Sieh her! fuhr die Erſcheinung fort, auf ein junges Bäumchen
deutend, das ohne Stütze überhing, und dann auf einen knorrig ver¬
krüppelten Baum daneben: ſieh, wenn ich den jungen Schößling in
die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, ſo wächſt er aufrecht und
luſtig fort, aber an dem alten Knorren, der in ſeiner Jugend verſäumt
worden iſt, iſt alle Kunſt verloren. Du haſt deinem Sohn geſagt,
du wolleſt ihm die Aeſt' abhauen, wenn er zu krattelig werde.
An dem alten verwachſenen Knorren kannſt du ſehen, wie weit du es
gebracht haſt. Du haſt deinen Schößling üppig aufwachſen laſſen,
da ihm ſtrenge Zucht nöthig war, und zur Zeit des freien Wachs¬
thums haſt du ihn zu Schanden geſchnitten. Dein Bub' iſt jetzt ein
Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. — Laß dein Weib nicht
für mich beten, wie ſie einmal geſagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft.
Wenn du aber glaubſt, alter Mann, daß du dir mit deinem Handel
und Wandel eine Anſprache im Himmel eröffnet habeſt, dann bete
du für mich. — Meine Zeit iſt um, Vater, Ihr braucht keine Angſt
[440] mehr vor mir zu haben, denn es riecht hier nach Blut. Der Ab¬
grund hat ſich aufgethan, und ich fühl's, wie ich zuſehends tiefer und
tiefer hineinſinke. Ich höre rufen: Komm! und ich komme. Lebt
wohl, Vater, mög' Euch Gott verzeihen — ich verzeihe Euch!


Die Kniee zitterten dem alten Manne und er mußte ſich an dem
Rande des Weges zu Boden ſetzen. Erſt nach langer Zeit wagte er
in die Höhe zu blicken. Die furchtbare Erſcheinung war verſchwunden.
Iſt das mein Sohn geweſen oder —? Was er predigen kann! —
Hätt' ich ihn denn vielleicht einen Pfarrer werden laſſen ſollen? Dum¬
mes Geſchwätz! Wenn er ein Räuber und Mörder iſt, wie er ſagt,
ſo iſt er ein ſchlechter Prediger. Aber ich hab's ja immer geſagt:
er iſt im Kopf nicht recht.


Mit dieſen Worten hatte er ſich wieder zurecht gefunden. Er
erhob ſich, ſchüttelte den Schrecken aus den Gliedern und ſchickte ſich
an, das Thälchen, in welchem er von demſelben überfallen worden
war, eilig zu verlaſſen, als er die Kuh bemerkte, die ſich auf dem
Eigenthum eines Mitbürgers gütlich that. Er jagte ſie aus dem
Graſe heraus und trieb das unvernünftige Thier ſorgfältig auf dem
Wege vor ſich her, während ſein verlorner Sohn ſich den Berg hinauf¬
zog, um unwiderruflich einem Leben zu verfallen, das ihm ſelbſt als
die Hölle erſchien.


[441]

38.

Obwohl frei ohne jedes andre Maß und Ziel, als das ſie ſelbſt
ſich ſetzt, folgt doch die Dichtung gern dem Gefangenen in die Kerkerzelle
und zum Schaffott, aber ſie verſtummt unter dem Geräuſche der
chriſtlich-deutſchen Juſtiz. Wie ſie es verſchmäht, ihm in die ſchmutzigen
Höhlen des gewerbsmäßigen Verbrechens zu folgen, ſo bleibt ſie auch
vor jenen verſchloſſenen Thüren ſtehen, hinter welchen das Leben des
Menſchen ſtückweiſe an die Paragraphen eines fremden, todten Rechts
gehalten wird. Sie läßt an ihrer Statt ihre Schweſter mit dem ſtil¬
len unbewegten Auge, die Geſchichtſchreibung, eintreten und in dem
Actenſtaube wühlen.


Drei Jahre waren ſeit dem Tode des Fiſchers verfloſſen, der den
Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den
Meuchelmörder in Bewegung geſetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr
im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel ertheilt,
weil man, wie er ſich in ſeinem Reſcripte ausdrückte, den vorgeſetzten
Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürſtlichen Rechte
und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Au¬
torität und zu ſolcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben
könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und
den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieſes vielmehr
in ſeinem Werth, beſonders gegen Fremde, um ein Großes herabſetze.


So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz ſeit einem
Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen
mit dem folgenden begann:


„Vayhingen. Actum den 7. Martii 1760, vor daſigem Oberamt,
in Gegenwart der beeden Gerichtsverwandten Matheus Brechten und
Joſeph Luipoldten, als Urkunds-Perſohnen. Geſtern Abends, um un¬
gefähr 5 Uhr, geſchahe es, daß von dem Brucken-Thorwart, Chriſtian
Freppe, ein unbekannter Kerl, nachdeme ihm jener vorher die Pässe
[442] abgefordert, auf dem Pferdt ſitzend, vor die Oberamtey geführt, und
als er anfänglich von dem Oberamtsſcribenten Heermann, und bald
darauf auch von mir, dem Oberamtmann ſelbſten, unter dem Hauß
gefragt wurde, wer er ſeye? wo er herkomme? und wohin er wolle?
darauff zur Antwortt gab: daß er ein Crämer: von Pforzheim komme:
bey daſigem Schwerdtwirth ein krankes Weib liegen habe, und nun,
um einen Doctor zu conſuliren, nacher Schozach oder Hofen reutten
wolle! da aber Oberamtmann, ſeiner ganz unverdächtig geſchienenen
Päſſe ohngeachtet, (deren 2 unter dem großen Stadtſigill von Stra߬
burg, under dem 10. April und 14. Sept. 1759, der dritte aber
von Comburg und unterm 16. Januarii 1760 datirt und ausgefert¬
tiget waren) eine gewieße Alteration an ihm wahrgenommen zu haben
glaubte, und ihm deßwegen in faciem befahl, daß er abſteigen und
mit ihm in die Amtsſtube heraufgehen ſolle, alſogleich das Pferdt
umwandte und in vollem Galopp gegen dem Enzweihinger Thor zu¬
ritt, unter dieſem Thor aber, auf das Rufen gedachten Scribentens,
der ihn durch einen nähern Weeg coupirt und mit ihm vor das Thor
kam, von dem Pferdt abſtieg, gegen den Schloſſer Mathäus Brechten
auf ſein Zurufen: daß er ihm den Schmidhammer in Kopf werfe,
wann er nicht halten würde! eines ſeiner 2 unter dem Rock-Futher
verſteckt - gehabt - ſcharffgeladenen Piſtohlen hervorzog, ſolches, nach¬
dem ihm Brecht hierauf auf den Leib ſprang, und von hinten her
umfaſſet, demſelbigen an den untern Leib drückete, auch, nach ſeiner
ungezweiffelten Abſicht, auf ihn abgefeuert haben würde, wo er nicht
den Hahnen zu ſpannen vergeſſen, und durch Hülffe des bald darauff
dazu geſprungenen Mezgersjungen, Schemels, und deſſen Meiſters,
Leonhardt Arlets, überwältiget worden wäre. Nach dieſem Vorgang
wurde er in die Oberamtey geführet, ſtellte ſich daſelbſt ganz betrunken,
beklagte ſich über das harte Tractament der Leuthe, die ihn bey¬
gefangen, und ließ weiter keine verſtändliche Antwortt von ſich kommen,
als daß er ſagte, er ſey ein kaiſerlicher Deserteur, heiße Johannes
Klein, die Päſſe und das Pferdt gehören einem Mann, der ihm letz¬
teres geliehen, etliche Stund vorausgegangen und heute frühe bey
Heilbronn Seiner erwartten werde; Weil man nun über alles dieſes
nichts als: Kugeln, Pulver, Schwefelhölzlen, Feuerſtahl, Stein, Zun¬
del, ein Fingerlanges Wax-Kerzlen und ein hebräiſches Wörter¬
[443] buch bey ihm gefunden; So wurde ſelbiger die Nacht über in dem
Blockhaus auf das ſchärffeſte geſchloſſen und angefeſſelt, anheute aber
vorgeführet, und ihm oberamtlich zu erkennen gegeben, Daß er, allen
Umſtänden nach, ein Räuber, Mörder, und einer der größeſten Spitz¬
buben ſeye, der den Händen der Obrigkeit nimmer entgehen, und
weiter nichts übrig haben werde, dann daß er, durch eine wahre Er-
und Bekanntnuß ſeiner begangenen groſen Miſſethaten, ſeine Seele
noch zu erretten ſuche, hisce præmissis aber befraget: Q. 1. Wie er
heiße, woher und wie alt er ſeye? — R. Er ſehe nun ſchon, daß er
in die Hände der Obrigkeit gefallen, wolle, durch Verläugnung ſeiner
Perſohn und begangenen Miſſethaten, ſeine Verſchuldung vor Gott
und der weltlichen Obrigkeit nicht noch gröſer machen, ſeine Sünden
unſrem Herrgott demüthiglich abbitten, den Landesfürſten um eine
gnädige Strafe anflehen, und hiemit frei bekennen, daß er der ſo¬
genannte Sonnenwirthle ſeye, eigentlich aber Friderich Schwahn
heiße, von Eberſpach, Göppinger Amts, gebürtig, 31 Jahr alt und
von Profeſſion ein Mezger ſeye, auch nicht nur an dem ſogenannten
Fiſcherhanne zu Eberſpach einen Mord begangen, ſondern auch ſich
ſonſten hie und da auff vielerley Arth ſchwehrlich verſündiget habe;
welches er alles gewiſſenhaft bekennen und darunter weder Seiner
ſelbſten, noch derjenigen im Geringſten verſchonen wolle, welche an
ſeinen Verbrechen Theil gehabt, und zum Theil in Carlsruhe und
Stein, Durlachiſcher Herrſchaft, wirklich in Verhaft genommen ſeyen,
und das um ſo mehr, als ihm ſein ſo ſündliches als elendes Leben
(bei dem er unterdeſſen wenig gute Tage gehabt, auch von Hunger,
Kälte, und ſeinen ſich dabei gemachten Strapazen entſetzlich viel er¬
litten) ſchon lange entlaidet, wie er dann aus dieſem Grund nicht nur
an den Durlachiſchen Beamten zu Stain, erſt vor 8 Wochen, mit
aigner Hand, unter dem Namen Gillch, ein weitläufiges Schreiben, ſo
ihm auch vermuthlich richtig werde belüfert worden ſeyn, des Inhalts
habe ergehen laſſen, daß wann man ihm Gnade verſprechen und er¬
theilen wolle, er ihme, dem Herrn Beamten, auf etlichen Jahrmärkten
eine damals in der Nähe geweßte Partie von ſechzig Mann, ſo lauter
Juden geweßt, und dann wiederum eine andere Partie Spitzbuben von
eben ſo groſ- oder noch gröſerer Anzahl, welche ſich dieß- und jenſeits
dem Rhein, bei Gannßheim, Moßhardt und Oberacherach, in den
[444] Wäldern auffhalten, und ihre beſondere Hüttinen darinn haben,
ohne allen Anſtand in die Hände lüffern, und dadurch die ganze Ge¬
gend von dieſem Geſindel reinigen wolle, ſondern auch, da er gehöret,
daß ſeine Herzogliche Durchlaucht in der Retour aus der letzten
Campagne durch Mergenthal paſſiren werden, er ſich zu dem Ende
in den Orth begeben habe, um ſich Höchſtdemeſelben zu Füßen zu
werffen, ſich zu erkennen zu geben und um Gnade zu bitten; Weil
aber Seine Durchlaucht die Stadt nicht paſſiret, ſo ſeye ihm die
Gelegenheit dazu abgeſchnitten worden. — Q. 2. Ob ſeine beede
Eltern noch im Leben? — R. Sein Vatter ſey noch im Leben, und
ohngefähr 75 Jahr alt, ſeine rechte Mutter aber ſchon vor 15 Jahren
geſtorben; Nach ihrem Tod habe ſich ſein Vatter wiederum an eine
Frau verheurathet, die wenig Liebe vor ihne und ſeine Geſchwiſtrigte
bezeugt, ſehr böß und vortheilhaftig, und eben deßwegen viel daran
ſchuld geweſen ſeye, daß, da er ſich in ihren Kopf nicht ſchicken kön¬
nen, ein Excess aus dem andern bei ihm darüber entſtanden, und er
zuletzt auf die unglückſeligſte Abwege gerathen. — Daß vorſtehende
Ausſage auf beſchehenes Vorleßen von dem Inquisiten nochmalen be¬
ſtätiget worden, Ein ſolches bezeugen die Urkunds-Perſohnen: Matheus
Brecht, Joſeph Luypoldt.“


Der wichtige Fang wurde von dem Oberamtmann ſogleich unter¬
thänigſt einberichtet und, da nach wenigen Tagen die Reſolution ein¬
lief, daß die Unterſuchung in Vaihingen, als in foro deprehensionis,
geführt werden ſolle, mit derſelben fortgefahren.


So war denn der Verbrecher aus verlorener geſellſchaftlicher Stel¬
lung nach kaum dreijähriger Laufbahn ein lebensmüder Gefangener
und Verräther ſeiner Mitſchuldigen geworden. Dieſer letztere Zug darf
am wenigſten übergangen werden, denn es handelt ſich hier nicht
darum, durch den Aufputz eines Helden der Vorſtellung des Leſers
zu ſchmeicheln, ſondern die innere Welt eines Menſchen aus dem
Volke darzulegen, damit, wer da will, ſich daran ſpiegeln möge.


Zum Glück iſt das Protokoll des Oberamtmanns von Vaihingen
nicht die einzige Quelle hiefür. Er war, im Geiſte ſeiner Zeit, ein
gewiſſenhafter Beamter, perſönlich ein Menſchenfreund und Ehrenmann,
deſſen Nachkommen noch heute ſtolz darauf ſind, daß er nicht, wie
faſt alle Regierungsdiener um ihn her, ſeine Stelle vom Herzog er¬
[445] kauft habe, ſondern eher den Dienſt aufgegeben als ſich zum „Scha¬
tulliren“ erniedrigt haben würde; aber eine innerliche Auffaſſung des
Lebensbildes, das die Unterſuchung vor ihm entrollte, in den Acten
niederzulegen, war nicht ſeines Amtes, und gleich das erſte Protokoll
zeigt, daß er Inquirent genug war, ſich das überraſchend freiwillige
Entgegenkommen ſeines Gefangenen — dem er nicht ſo leicht beigekom¬
men wäre, wenn dieſer nicht ſelbſt, gebrochenen Gemüths, ihm ſeine
Seele in die Hände gelegt hätte —nach den Quadrangeln des Inqui¬
ſitionsproceſſes zurecht zu machen; ein Verfahren freilich, das ihm
weniger als ſeiner Zeit und ſeinem Amte angehört.


Der Oberamtmann hatte einen Sohn, der den Verbrecher täglich,
wenn er in's Verhör geführt wurde, ſah, die allgemeine Theilnahme
der Stadt an den vielen freundlichen Seiten im Weſen des Unglück¬
lichen mitempfand und ſich häufig mit ihm unterhielt. Die Familien¬
ſage erzählt von ihm, daß er ſchon als Knabe, wie ſpäter noch im
Mannesalter, für Cato und Brutus, als die größten Männer, ge¬
ſchwärmt habe. Aus dem Munde dieſes Knaben erfuhr der gefallene
Sohn des Volkes ohne Zweifel zum erſtenmal in ſeinem Leben, daß
es in der Geſchichte Bürger gegeben habe, welche die Retter oder
Verderber ihres Vaterlandes wurden. Als der Knabe ein Mann ge¬
worden war und an der hohen Schule ſeines Herzogs junge Männer
bilden half, erinnerte er ſich des armen Friedrich Schwan und zeich¬
nete nach der Erinnerung ſeine Geſchichte auf, wie er ſie aus ſeinem
Munde und aus der Nacherzählung erwachſener Männer vernommen
hatte. Seine römiſchen Helden ſchwebten ihm auch bei dieſer Auf¬
zeichnung vor, und er beginnt die erſten Zeilen derſelben mit den
Worten, der junge Friedrich ſei mit außerordentlichen Anlagen des
Geiſtes ausgeſtattet geweſen, habe den Keim jeder großen Tugend
und jedes großen Laſters in ſich getragen, und nur von der äußer¬
lichen Lage habe es abgehangen, ob er Brutus oder Catilina werden
ſollte. Ach, die äußerliche Lage war, wie auch die Umſtände beſchaffen
ſein mochten, jedenfalls von der Art, daß er das Eine wie das Andere
nur in ſehr beſchränktem Sinne werden konnte. Auch in andern
Dingen iſt dieſe Geſchichte nach dem mangelhaften Geiſt und Ge¬
ſchmack der Zeit geſchrieben; doch verhält ſie ſich zu den Acten wie
ein farbiges Gemälde zu einem grauen Umriß; und nur aus beiden
[446] zuſammen iſt es möglich, ein Bild von den letzten Lebensjahren des
verlorenen Sohnes von Ebersbach zu geben.


Der ſcharfſinnige Plan, der an der Waldecke bei Wäſchenbeuren
gefaßt wurde, war nur ſehr unvollkommen ausgeführt worden. Das
Sprichwort, daß nicht Alles Gold iſt, was glänzt, hatte ſich auch bei
dem Eintritt Schwan's in die Genoſſenſchaft der Jauner bewährt. Es
iſt nicht wahr, daß die Spitzbuben ehrlich gegen einander ſind und
daß ſich auf dieſe Eigenſchaft eine feſte geſellige Ordnung unter ihnen
gründen ließe. Neid, gegenſeitiger Betrug und nie ruhender Verdacht,
ſelbſt unter Verwandten, verbitterten ihm das von Hauſe aus argloſe
Gemüth gegen dieſe neue Welt bald noch ſtärker als gegen die alte,
die ihn ausgeſtoßen hatte. Er zog meiſt mit der ſchwarzen Chriſtine,
die er ſich beigeſellte, allein in den Landen umher. Dieſes ungewöhnliche
Weib, von welcher der Geſchichtſchreiber „eines Räubers“ und „einer Räu¬
berin“ ſagt, ſie habe alle Gaben der Natur in reichem Maße beſeſſen und
mit einer ſehr ſchönen Körperbildung eine große Thätigkeit und Anlage
des Geiſtes verbunden, hing an ihm mit einer Leidenſchaft, wie ſie die
alten Sagen jenen Hünenweibern beilegen; aber ſie quälte ihn durch
eine unbändige Eiferſucht, und als die blonde Chriſtine, trotzdem daß
es ihr geglückt war in einem Dienſte unterzukommen, dem Zuge ihres
Herzens folgend ihn einſt beſuchte, ſo duldete die Zigeunerin ſie nicht,
ſondern trieb ſie gegen ſeinen Willen nach kurzem Zuſammenſein wie¬
der fort. Dem Scharfſinn und der Gewandtheit dieſes Weibes ver¬
dankte er ſeine glücklichſten Tage, wenn man es ein Glück heißen kann,
von geſtohlenem Gute zu leben. Aber man trifft nicht jeden Tag einen
Markt, um die Taſchen zu füllen, auch gelang nicht jeder Marktbeſuch.
Chriſtine wurde mehrmals gefangen; auch die Ehehändel trennten das
Paar oft Wochen lang. Wenn es gut ging, ſo zog er als Krämer
mit Paß und Kramkiſte durch das Land, verkaufte ſeine Waaren um
billige Preiſe von Haus zu Haus, mied jede verrufene Geſellſchaft,
herbergte in den beſten Gaſthäuſern und war, wie er in der Unter¬
ſuchung ſagte, auf der ganzen Straße von Mergentheim bis Stra߬
burg als der ehrlichſte Kerl bekannt, ſo daß die Wirthe, wie er hin¬
zufügte, ſich entſetzlich verwundern würden, wenn ſie erführen, daß ſie
unter dem Namen des ehrſamen Krämers Johann Sigmund oder auch
Hermann den Sonnenwirthle aufgenommen haben. Daß ſeine äußere
[447] Erſcheinung ihn hiebei auf's Beſte unterſtützte, geſtand ihm nicht bloß
der Spiegel, ſondern ſogar ein gedruckter Steckbrief, den zwei Schult¬
heißen einſt in der Schenke miteinander laſen, während er ſelbſt ihnen,
an ihrem Geſpräche über den Sonnenwirthle theilnehmend, gemüthlich
über die Schulter in das Papier blickte: „Und iſt vorgemeldter Erz-
Gauner,“ hieß es darin, „fünf Fuß, ſieben Zoll groß, gedrungener
Geſtalt, hat gelbliches Haar, dicken Kopf, feines weißes Geſicht, dicke,
runde Backen, volle Waden.“ Im Bewußtſein dieſes ehrbaren Aus¬
ſehens wagte er einſt einem pfälziſchen Schultheißen und zwei Jägern,
die ihn im Spiel betrogen und ihm ſeine Piſtolen nehmen wollten,
mit gerichtlicher Klage zu drohen und dem Schultheißen, als er ſich
hiedurch nicht ſchrecken ließ, den Hund, den dieſer an ihn hetzte,
niederzuſchießen. Aber nicht immer liefen die Abenteuer ſo luſtig ab.
Oft verſiegten alle Erwerbsquellen, oder er wurde von Diebshehlern,
welchen er auf ſeinen Irrfahrten um die gefangene Chriſtine ſeine
Kramkiſte anvertrauen mußte, um den Inhalt derſelben beſtohlen.
In ſolchen Zeiten mußte er Hunger und Kummer leiden und, wie
Jeder, der ſich dem Teufel ergibt, die Erfahrung machen, daß dieſer
ein Filz iſt, und daß man mit der Ehrlichkeit auch im ſchlimmſten Fall
ſo weit kommt als mit dem Gegentheil. Dann griff er zu gefähr¬
licheren Unternehmungen: er ließ ſich von den Judenbanden im Gebiete
des deutſchen Ordens anwerben oder ſammelte vorüberziehende Genoſſen
zu Einbrüchen unter ſeiner eigenen Hauptmannſchaft, welche aber nie
länger dauerte als das einzelne Unternehmen ſelbſt. Auf der Straße
hat er nie geraubt. Sein Geſchichtſchreiber ſagt, er habe ſich gegen
das Ende ſeiner Laufbahn Grauſamkeiten aus Raubſucht erlaubt; doch
habe er auch in ſeinen ſchwerſten Verbrechen Spuren übriggebliebener
Menſchlichkeit, Mitleiden gegen Arme und Unterdrückte gezeigt, den
Grundſatz, nie einen Dürftigen zu berauben, durchgeführt, ſehr große
Almoſen gegeben, und den Armen geſchenkt, was er den Reichen ge¬
ſtohlen habe. Von wirklichen Grauſamkeiten findet ſich aber nichts in
den Acten, die ſehr genau in ſeine Verbrechen eingehen. Wohl ſind
Grauſamkeiten von den Genoſſen ſeiner Thaten angeführt, nicht aber
von ihm. Auch verdient hervorgehoben zu werden, daß Einbrüche,
die ſeine Genoſſen ohne ihn unternahmen, mehrmals von ſcheußlichen
Mordthaten begleitet waren, wogegen bei Ueberfällen, die er leitete
[448] oder unterſtützte, nie ein Mord begangen worden iſt, mit einer einzigen
Ausnahme, an welcher er unſchuldig war, welche aber ſeine Heimath
noch einmal in Furcht und Schrecken ſetzen ſollte.


Ein Jahr nach dem Tode des Fiſchers, um Oſtern, wagte er ſich
wieder in die Gegend von Ebersbach, ſchickte die ſchwarze Chriſtine in die
Sonne und trug ihr auf, ſeinem Vater zu ſagen, ſie habe einen Un¬
bekannten auf der Straße getroffen, der ihn grüßen laſſe. Als er in
den folgenden Tagen wieder mit ihr zuſammentraf, erfuhr er von ihr,
daß ſein Vater ſeine Kinder zu ſich genommen habe. Inzwiſchen aber
hatte er ſich ſelbſt in Ebersbach zu Gaſte geladen und hiedurch den
Tod eines Menſchen veranlaßt, dem er nichts weniger als übel wollte.
In der Gegend umherſchweifend, war er am Rechberg hinter einer Hecke
hervor unvermuthet von einem Kameraden, dem ſogenannten Jäger¬
kaſperle, angeſchrieen worden, der ihm klagte, er habe keinen Kreuzer
hinter ſich und vor ſich, und ihn fragte, ob er keine Gelegenheit wiſſe.
Da fiel ihm ſein Vormund ein, mit dem er noch ein Hühnchen zu
pflücken hatte. Schon die nächſte Nacht fand die beiden Spießgeſellen
in deſſen Laden. Während aber Schwan die erſte Beute in einem
benachbarten Gäßchen abſetzte, kam der Fleckenſchütz zu ſeinem Unſtern
des Weges daher. Er hatte mit einem Bekannten bis über Mitter¬
nacht im Branntweinhauſe gezecht, ſah den Laden offen und taumelte
hinein, um zu ſehen, was es gebe. Der Räuber ſchrie ihn an, er
ſolle ſich packen. Da aber der Schütz ihn anſtarrte und noch näher
auf ihn zuging, ſo gab der Räuber, der ſeinen Stock für eine Flinte
hielt, ohne Weiteres Feuer und ſprang ſeinem Genoſſen zu. Ein Nach¬
bar, der von dem Schuß erwachte, ſah zum Fenſter heraus und rief,
da er Jemand im Gäßchen erblickte: Was iſt das für ein Schuß?
hat man nach des Sonnenwirths Frieder geſchoſſen? Ja, ja! ant¬
wortete dieſer und machte ſich mit dem Andern davon. Daß der
Getroffene der Schütz war, und daß die Kugel ihm das Leben gekoſtet,
erfuhr er erſt ſpäter, und prügelte ſeinen ungeſchickten Kameraden dafür
und für einen Einbruch bei einem Kaufmann in Winnenden, den er als einen
ehrlichen Mann nicht beſtohlen wiſſen wollte, tüchtig durch. Dieſer, der
die Schläge als verdient anerkannte, ließ den Verdruß darüber an einem
Dritten aus, der ihn zu dem Einbruch in Winnenden verleitet hatte,
und hieraus entſtand eine Feindſchaft, welche ſo tödtlich wurde, daß man
[449] einander mit Schüſſen zu Leibe ging, und daß der Verführer des
kleinen Kaſpars, als geſchworener Gegner des „Sonnenwirths“, von den
rheiniſchen Jaunern den Namen „Contrewirth“ erhielt. Der Tod des
Schützen aber wurde in Ebersbach als eine neue Meuchelthat der
ſchädlichen böſen Wurzel angeſehen, und der Vogt ließ Sturm ſchlagen
und alle Bürger unter das Gewehr rufen, als ob eine ganze Armee
von Jaunern im Anmarſch wäre. Der Kirchenconvent von Ebersbach,
unter dem Vorſitze des Pfarrers und Amtmanns, beſchloß dem jüngſten
Kinde des verunglückten Schützen eine kleine Unterſtützung auszuſetzen
und zu Gunſten der übrigen Hinterbliebenen deſſelben ein unter¬
thäniges Memorial bei der Herrſchaft einzureichen, ſtrafte aber zugleich
den Zechbruder des Erſchoſſenen um ein Pfund Heller, weil er dem¬
ſelben beim Schnaps Geſellſchaft geleiſtet und dadurch mittelbar
Gelegenheit zu dem Unfall gegeben habe.


Dennoch ſollte der Räuber, ſo ſehr er ſeine Hand rein von Blut
zu erhalten ſtrebte, noch einen dritten Mord, den zweiten und letzten,
den er ſelbſt beging, auf ſeine Seele laden.


Im Löwen zu Jöhlingen, einem Dorfe in der unteren badiſchen
Markgrafſchaft, hatte er einſt mit der ſchwarzen Chriſtine nebſt einem
Knecht und einer Magd, die das Paar bei ſich im Dienſte hatte,
Herberge genommen. So oft er ſeinen Stern mit Chriſtinens Stern
verband, konnte er im Wohlſtande leben. Der Knecht war ein gelernter
Jauner und in die Unternehmungen ſeiner Herrſchaft eingeweiht; die
Magd aber, die anfänglich als Wärterin für ein inzwiſchen wieder
geſtorbenes Kind Chriſtinens angenommen war, hatte bloß häusliche
Dienſte zu verrichten und alles eigenmächtige Stehlen war ihr von ihrem
Herrn ſtrengſtens unterſagt worden, weil ſie, wie er ſich ausdrückte,
als ein Menſch von ſchlechter Kleidung und Perſon leicht darüber ins
Unglück kommen könnte. Herrſchaft und Geſinde ſpeiſten ruhig mit
einander und achteten nicht darauf, daß zwei Männer in die Stube
traten, ſie eine kleine Zeit aufmerkſam beobachteten und ſich dann
einer nach dem andern wieder entfernten. Die Geſellſchaft war auf¬
gefallen, ſei es daß ihre jeniſche Sprache Verdacht erregt, oder daß
man ſie auf einem benachbarten Markte geſehen hatte. Plötzlich fiel
auf der Straße ein Schuß. Sie fuhren auf, aber zu gleicher Zeit
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 29[450] drangen die beiden Männer wieder in die Stube und auf ſie
ein. Schwan machte ſich von ihnen los und ſtürzte hinaus, ſah
aber die Treppe mit Bewaffneten beſetzt, unter welchen er den
Rathsſchreiber des Orts mit angelegtem Gewehr erblickte. Die Noth
gab ihm Kraft, eine Thüre auf dem Gange einzudrücken und ſich in
eine andere Stube zu werfen, die aber keinen Ausweg hatte. Einer ſeiner
Verfolger kam herein und faßte ihn an den Haaren. Er drohte ihn
niederzuſchießen, wenn er nicht gehe, und da Jener nicht abließ, ſo zog
er die im Rockfutter verſteckte Piſtole, die er ſtets vermittelſt einer
Schnur am Arme hängen hatte, und jagte dem Angreifer die tödtliche
Kugel in die Seite. Hierauf griff er nach der andern Piſtole und
erſchien an der Treppe mit dem Ruf, wer ihn anrühre, den ſchieße
er über den Haufen. Der Schuß und die drohende Haltung des
kühnen Räubers ſchüchterten die Bürgerwachen völlig ein. Sie drückten
ſich an die Wand und an das Treppengeländer, ſo daß er mitten durch
ſie hinunter kam. Erſt als er aus dem Hauſe hinausſtürzte, ſendeten ſie ihm
einige verlorene Schüſſe nach. Er war frei, aber Chriſtine blieb mit
der reichgefüllten Kramkiſte und mit Knecht und Magd in den Händen
der Gerichte zurück, und diesmal war ſie unter Umſtänden gefangen
worden, die ihn nicht zweifeln ließen, daß ſie einer ſchwereren Haft als
gewöhnlich entgegengehe. Auch ſah er ſie nicht eher wieder als in der
Vaihinger Gefangenſchaft, die er ſchon ein halbes Jahr nach dieſer
Verhaftung ſeiner Gefährtin betrat.


Arm an Hoffnung und bald auch an Baarſchaft ſchleppte er ſich
den Winter über hin und wagte während dieſer Zeit nur einige wenige
Unternehmungen, die ihm mehr Gefahr als Beute brachten. Er war
überall und nirgends, aber von ſeinen haſtigen Streifzügen kehrte er
immer wieder nach einem vertrauten Hofe in der Nähe des Amts¬
fleckens zurück, wohin Chriſtine abgeliefert worden war. Auf und bei
dieſem Hofe, der zugleich ein Vergnügungsort für die Honoratioren
der Umgegend war, hielt er ſich Wochen lang auf und erlauſchte eines
Tages von der Küche aus die Kunde, die der Amtsſchreiber den an¬
dern Gäſten im Wirthszimmer mittheilte, der Knecht und die Magd
werden bald loskommen, das Weib aber ſcheine ein tüchtiger Fang zu
ſein; neulich ſei ihr das Spiel von den Fleiſchmännern garſtig ver¬
ſalzen worden, ſie habe ausbrechen wollen und dann dem Amtmann
[451] auf ſeinen Vorhalt hierüber zur Antwort gegeben, ein grüner Wald
ſei ihr lieber als ein gemalter Thurm.


In dieſer Zeit wurde einſt zu Steinbach bei Baden in einer Scheune
eine nächtliche Jaunerverſammlung gehalten, zu welcher ſich die Zi¬
geuner, die in den niederelſäßiſchen Wäldern in Hütten hausten, von
dem Sohne eines Fergen über den Rhein herüber führen ließen, und
zu welcher auch Schwan geladen war. Der Lieutenant der über¬
rheiniſchen Zigeuner, Mockel, trat hier mit einem Vorſchlag auf, wobei
es ſich um nichts Geringeres handelte, als an dem Markgrafen Karl
Friedrich von Baden-Durlach ein Exempel zu ſtatuiren. Dieſer pflicht¬
eifrige Fürſt, deſſen Land den Angriffen der Jauner am meiſten aus¬
geſetzt und der durch einen empörenden Einbruch des Contrewirths in
Mühlburg (an dem nämlichen Orte, wo ein früherer badiſcher Fürſt,
der regierende Markgraf Eduard Fortunat von Baden-Baden, als
gemeiner Straßenräuber an einen weſtphäliſchen Roßkamm Hand ge¬
legt hatte) zu nachdrücklichen Maßregeln gegen das Geſindel heraus¬
gefordert war, hatte, ſehr im Gegenſatze gegen den Deutſchmeiſter und andre
Nachbarn, den Grundſatz gefaßt, nicht nur gegen Alle, die auf ſeinem
Boden betreten würden, auf's Schärfſte zu verfahren, ſondern auch die
Gefangenen von andern Herrſchaften, welche läſſiger verfuhren, um
Geld an ſich zu kaufen. In Folge dieſer Maßregel waren die Ge¬
fängniſſe von Karlsruhe mit ſelbſtgefangenen und eingehandelten Jau¬
nern überfüllt. Die Verſammlung, Männer und Weiber, brach in
die entſetzlichſten Drohungen gegen den Markgrafen aus, und wollte
auf Mockel's Antrag den Beſchluß faſſen, das ganze Land anzuzünden
und einen Schrecken zu erregen, der dem Fürſten die Luſt zur Aus¬
rottung der Kochemer vertreiben ſollte. Sein Geſtüt bei Reichenbach
ſollte nebſt den Orten Grötzingen und Wilfertingen den Anfang machen,
dann ein Einfall in das Frauenalbiſche folgen, und über den geeig¬
netſten Zündſtoff war man ebenfalls einig, als Schwan in dieſem
furchtbaren Parlament als Hauptſprecher gegen den Antrag auftrat
und es durch ſeine Beredſamkeit und durch ſein Anſehen unter den
Räubern wenigſtens dahin brachte, daß die Ausführung deſſelben ver¬
ſchoben wurde. Er bediente ſich eines Verwerfungsgrundes, der ſeine
Wirkung bei der Verſammlung nicht verfehlte, denn er machte geltend,
daß die Gefangenen zu Karlsruhe und ſeine in Stein liegende Frau
29 *[452] ſelbſt darunter leiden müßten und nur eine deſto härtere Todesſtrafe
zu gewarten haben würden. Aber er glaubte nicht, daß der Plan
aufgegeben ſei, und in ſeinem Verhör zu Vaihingen ſagte er, es werde
gewiß noch geſchehen, und man werde vielleicht deßhalb an ihn ge¬
denken, wenn er ſchon todt ſei. Es geſchah jedoch nicht, denn ſein
Verrath verbreitete unter den Räubern denſelben Schrecken, den ſie
dem badiſchen Lande zugedacht hatten, und die vielen Randzeichen des
Vaihinger Unterſuchungsprotokolls zeugen von den eben ſo vielen Mit¬
theilungen, welcher der thätige Oberamtmann an die benachbarten Aemter
und Gerichte ausgehen ließ, um ihre Arme gegen die noch auf freiem
Fuß befindlichen Genoſſen ſeines Gefangenen in Bewegung zu ſetzen.


Der Verbrecher, der ſeinen Vaterort täglich durch Drohungen mit
Mord und Brand geängſtigt hatte, verließ mit Abſcheu die Verſamm¬
lung, die der Ausführung ſolcher Thaten fähig war, und enthüllte in
dem Briefe, den wir bereits kennen, dem Amtmann von Stein den
verruchten Mordbrennerplan. Freilich war die gute Regung, die man
nach ſeiner ganzen Beſchaffenheit nicht an ihm bezweifeln kann, mit
ſehr menſchlichen Abſichten vermiſcht: er wollte Gnade für ſich, und
hatte unter den badiſchen Beamten den von Stein ausgewählt, weil
er durch ſeine Unterhandlung mit dieſem günſtig auf Chriſtinens
Schickſal einzuwirken hoffte. Dennoch würde ſelbſt im Falle ausſchlie߬
licher Eigenſucht ſeiner Enthüllung ein Verdienſt nicht ermangeln; denn
wenn jene politiſchen Blutigel, wie ein zeitgenöſſiſcher Beamter und
Schriftſteller die zu Tauſenden umherſtreifenden Jauner nannte, Raum
gefunden hätten, als geſchloſſene Macht aufzutreten, ſo wäre bei dem
Zuſtande des Reiches und der von den Preußen geſchlagenen Reichs¬
armee mehr als viel auf dem Spiele geſtanden.


Er erhielt jedoch von dem Amtmann keine Antwort, merkte aber
bald, daß derſelbe ihm auf der Spur ſei, denn als er nach dem Hofe
bei Stein zurückkehrte, vernahm er, daß das Gerücht von ſeiner An¬
weſenheit verbreitet ſei, und hatte Noth ſich durch die aufgebotenen
Streifwachen durchzuſchleichen. Unſtät und flüchtig irrte er nach an¬
dern Gegenden.


Nach dem vergeblichen Schritte bei dem Amtmann von Stein faßte
er den noch abenteuerlicheren Gedanken, in der Reſidenz des Deutſch¬
meiſters, auf neutralen Boden alſo, wie er meinte, vor ſeinem aus
[453] dem Felde heimkehrenden Herzog zu erſcheinen und zu verſuchen, ob
er nicht ſein Herz rühren könne. Dieſer Einfall verräth eine Treu¬
herzigkeit, die man einem Jauner und Räuber fürwahr nicht zutrauen
ſollte. Sereniſſimus kam aus der bekannten Schlacht von Fulda, die
ein Laufen, kein Schlachten zu nennen war, und in der er ſeinem auf
preußiſcher Seite fechtenden Bruder nicht bloß das Feld, ſondern auch
eine reich beſetzte Tafel nebſt einem Theile ſeiner Armee, während er
mit dem Reſt entrann, hinterlaſſen hatte. In der Laune, die er mit
dieſen Lorbeeren heimbrachte, wollte ihn der gefürchtetſte Böſewicht
ſeines Landes um den außerordentlichſten Sonnenſchein oberherrlicher
Gnade anſprechen! Der Zufall erſparte ihm eine Enttäuſchung, führte
aber dafür einen Sendling der jüdiſchen Lieutenants in ſeinen Weg,
der ihn zu einer neuen Unternehmung anwarb und eine halbe Zuſage
von ihm erhielt.


Zuerſt aber drängte es ihn wieder nach dem Hofe bei Stein. Die
Gegend ſchien ſicherer geworden zu ſein, und er blieb wieder einige
Zeit dort ſtille liegen, bis die Noth ihn aufſcheuchte, um das Aner¬
bieten der Juden bei herannahender Friſt anzunehmen. Von Chriſtinen,
nach welcher er ſich in Geſtalt eines Hanfhändlers erkundigte, war
nichts Tröſtliches zu vernehmen; vielmehr ſchien das Gericht Verdacht
gefaßt zu haben, daß ſie ſein Weib ſei, und in dieſem Falle mußte er
eine ewige Trennung von ihr gewärtigen. Seine geiſtige Kraft war
noch früher als die körperliche gebrochen, obgleich auch dieſe durch Ent¬
behrungen jeder Art auf eine harte Probe geſetzt war. Daß er ſich
der nahen wirtembergiſchen Grenze zuwandte, einer Gegend ſeines Vater¬
landes, die ihm unbekannt war und wo er ſicher zu ſein hoffte, be¬
weist, daß der trotzige Muth, mit dem er allen Gefahren ſeines Be¬
kanntſeins in der Markgrafſchaft die Stirne geboten hatte, von ihm
gewichen war.


Im großen Hagenſchießwalde, der ſich von Pforzheim in das Wir¬
tembergiſche erſtreckt, traf er unverſehens auf einem abgelegenen Holz¬
wege, wo ein einzelner Soldat nicht leicht zu marſchiren pflegt, einen
herzoglichen Grenadier, der noch überdies, um das Sonderbare der
Erſcheinung zu vermehren, zu Pferde ſaß und ſeine weiße Grenadier¬
mütze tief über das Geſicht gezogen hatte. Beide erkannten ſich ſo¬
gleich. Der Grenadier war ſein Landsmann durch Abſtammung und
[454] ſein Verwandter durch Wahl, der ſogenannte Schneidermichel, der eine
Baſe Chriſtinens ſich beigelegt hatte, von ihr aber wegen ſeines zu fried¬
liebenden Gemüthes verlaſſen worden war. Daſſelbe hatte ihn unter
dem zweiten Grenadierbataillon, in das man ihn aus dem Zuchthauſe
„geſtoßen“ hatte — der Ausdruck iſt amtlich —, in die ſogenannte
Fuldaer Schlacht begleitet, in welcher er keinen Vorwurf auf ſich lud,
da er das Schlachtfeld gleichzeitig mit der ganzen Armee, ſo weit ſie
nicht gefangen war, und mit dem Kriegsherrn verließ. Nur hatte der
Soldat der Reichsarmee, während ſeine Kameraden in den Winter¬
garniſonen unterkamen, bis zu dieſem Tage die Flucht nicht eingeſtellt.
Er bekannte ſeinem Freunde, daß er herzoglich wirtembergiſcher De¬
ſerteur ſei, zu ſeinem beſſern Fortkommen das Pferd, das er reite, dem
Adlerwirth in Flehingen aus dem Stall genommen habe, und ſich nach
Hechingen zu wenden Willens ſei. Dies redete ihm der Sonnenwirthle
aus und ſagte, er ſei zu Hechingen nicht ſicher, er ſolle lieber mit ihm
in das Deutſchherriſche gehen. Der Andere willigte ein; da er aber
als wirtembergiſcher Deſerteur ſich auf wirtembergiſchem Boden ſo we¬
nig ſicher fühlte, als ſein Freund auf badiſchem, ſo beredete er dieſen,
das Pferd zu nehmen, mit welchem er ſich gleichfalls nicht mehr durch
das Badiſche getraute, weil er es dort geſtohlen hatte, in einem kleinen
Orte oder auf einem einzelnen Hofe bei Enzweihingen über Nacht zu
bleiben und den andern Tag in Heilbronn mit ihm zuſammenzutreffen.
Mit dieſer Verabredung trennten ſie ſich. Eine Aufmunterung, in
Kriegsdienſte zu gehen, woran er manchmal in ſeinem Leben gedacht,
konnten die Erzählungen dieſes der Fuchtel entlaufenen Soldaten für
ihn nicht enthalten. Wenn dagegen der Grenadier den Räuber, wie
ohne Zweifel geſchehen iſt, nach dem Befinden der Bekannten fragte, ſo
konnte dieſer ihm eine lange Unglücksliſte eröffnen. In der kurzen
Zeit dieſer drei Jahre hatte der Tod eine reiche Ernte gehalten. Von
der Geſellſchaft, die er im Walde von Wäſchenbeuren getroffen und
mit der er ſich noch am beſten vertragen hatte, lebten nur noch die
weiblichen Mitglieder: der ſcheele Chriſtianus war gehängt, Schwamen¬
jackel geköpft, Bettelmelcher von den Streifwächtern erſchoſſen; und
von den Weibern war nur noch eine einzige frei, ſeine freche Schwä¬
gerin, denn Chriſtine ſaß in Stein und die alte Anna Maria in Steinbach
gefangen. Er ſelbſt hatte die Alte in Geſtalt des wandernden Krämers,
[455] der oft von ſolchen Marktdiebinnen betrogen worden, in ihrem Ge¬
fängniß aufgeſucht und die Gelegenheit benützt, ihr verſtohlen einen
Theil ſeiner Baarſchaft in die Hand gleiten zu laſſen.


Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus
Gutmüthigkeit angenommen, um dem Andern aus der Verlegenheit
zu helfen, gar nicht angeſehen hatte, denn ſonſt würde er es wohl
ſchwerlich beſtiegen haben. Seine ſonſt ſo ſchnellen Augen wachten
nicht für ihn, und er muß an dieſem verhängnißvollen Tage ganz in
ſchwere, tiefe Gedanken verſunken geweſen ſein.


In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas
Wein. Als er weiter ritt, neigte ſich die Hochebene und der Weg
theilte ſich in drei Pfade, die von keinem Wegweiſer bezeichnet waren.
Er wählte den mittleren geraden, der ihn ſteil in's Thal hinunter¬
führte. Eine Stadt mit Mauern und Thoren, von einem Schloſſe
überragt, lag vor ſeinen Augen als das Ziel des Weges, den er ritt.
Er kann ſie unmöglich geſehen haben, denn der erſte Blick hätte ihm
gezeigt, daß es vernünftiger ſei, ſie zu umgehen. Eine Brücke trug
ihn über die Enz — er befand ſich vor dem Thore. Nun ſtutzte er
freilich einen Augenblick, aber der Thorwächter, dem die Langeweile
an dieſem ſelten betretenen Thore den Blick geſchärft haben mochte,
hatte vom kleinen Fenſter aus ſein Stutzen bemerkt. Wäre er zu
Fuße geweſen, ſo würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten
und den Schritt gewendet haben. Des Reitens ſeit langer Zeit un¬
gewohnt, ließ er das Pferd gehen, und ſo wurde dieſes zum Werkzeug
ſeines Schickſals, deſſen Hand lähmend auf ſeinem Geiſte lag. Seine
Uhr war abgelaufen, das Pferd trug ihn blindlings durch das Thor,
hinter welchem ſich ein Gewirre von engen Gäßchen aufthat, das Gitter
fiel hinter ihm und der Mann mit dem ſpürenden Blicke trat aus dem
Thorhäuschen heraus.


Die Geſchichte der Verhaftung ſelbſt hat der Oberamtmann be¬
reits erzählt; aber ſein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die
in Verbindung mit dem, was aus ſonſtigen Stellen der Acten hervor¬
geht, aufbewahrt zu werden verdienen. Derſelbe erzählt, ſein Vater
habe die Päſſe des Fremden, an welchen der Thorwächter gezweifelt,
ganz richtig befunden, und Schwan ſei nun ſchon ſo gut wie frei geweſen,
aber ein kleiner Umſtand habe ihm Freiheit und Leben gekoſtet: er
[456] ſei nämlich auf einem ſehr elenden Pferde geſeſſen, das mit ſeinem
eigenen trotzigen und kühnen Anſtande — und, wie aus den andern
Quellen hervorgeht, mit ſeiner durchaus ehrbaren Kleidung — einen
höchſt lächerlichen Widerſpruch gebildet habe, und dieſer Umſtand ſo
wie das auffallende Geſicht des Mannes habe gemacht, daß der Ober¬
amtmann mit Aufmerkſamkeit bald auf dem Pferde, bald auf ihm ver¬
weilt ſei. Dieſe Aufmerkſamkeit ſei dem Reiter nicht entgangen, der
nun habe annehmen müſſen, das geſtohlene Pferd ſei bereits ſteckbrief¬
lich geſchildert, und deßhalb, da der Oberamtmann eine Veränderung
in ſeinem Geſichte zu erblicken glaubte und ihm abzuſteigen befahl,
die Flucht zu ergreifen geſucht habe.


Gleichwohl würden nach ſeiner Vergewaltigung durch einige muthige
Vaihinger Bürger, die, wie der Vorgang von Jöhlingen beweist, ihr
Leben dabei wagten, die Inzichten, die in ſeinem Benehmen und den
bei ihm gefundenen allerdings verdächtigen Gegenſtänden lagen, noch
nicht zu einem zuverſichtlichen Verfahren gegen ihn ausgereicht haben.
Er hatte ſich ſchon mehr in ſolchen Verlegenheiten befunden und wußte,
wie viel man der Obrigkeit, ſelbſt auf halbem Augenſchein von ihr
ertappt, durch hartnäckiges Leugnen abtrotzen konnte. Aber die erſte
Gefängnißnacht in Vaihingen vollendete die Umwandlung, die ſchon
lange in ſeinem Innern begonnen hatte und durch die Stürme des
Lebens, die Foltern des Gewiſſens ſo vorbereitet war, daß ſie nur
noch eines äußeren Anſtoßes bedurfte.


Wer ſeinen Mutterwitz und ſeine offenherzige Leutſeligkeit für die
einzigen von ſeiner Mutter ererbten Eigenſchaften hielt, hatte ſich gar¬
ſtig in ihm verrechnet, und theuer mußten die Genoſſen ſeiner Uebel¬
thaten dieſen Rechnungsfehler büßen. Das hauptſächlichſte Erbe, das
er von ſeiner Mutter überkommen, das heißt, vermittelſt ihres Ein¬
fluſſes ſich in ſein Herz eingeprägt hatte, war die Religion, wie ſie in
den Liedern ſeiner Landeskirche, in den Sprüchen der Luther'ſchen Bibel
und in den Fragen und Antworten des proteſtantiſchen Katechismus
niedergelegt war. Die Art, wie er dieſe Religion in der Welt aus¬
üben ſah, hatte ihn oft über ſie ſpotten machen, und der Beifall, den
ſeine Witze fanden, hatte ihn in ſeinen Spöttereien beſtärkt. Aber
was ſein Geſchichtſchreiber aus ſeinem Mund erzählt, beweist, daß ſie
dennoch die Heimath ſeines innerſten Gemüths geblieben war, und der
[457] nämliche Erzähler, dem es gar nicht einmal einfiel, an der Wahrheit jener
Mittheilung zu zweifeln, ſagt bei einer andern Gelegenheit von ihm, Auf¬
richtigkeit ſei, ſelbſt in ſeinen ruchloſeſten Jahren, ein Hauptzug in ihm ge¬
weſen. Oft, erzählt derſelbe bei der Darſtellung ſeines innern Zuſtandes
während ſeines Aufenthaltes unter den Jaunern, oft ſei er Nachts im
Traume aufgewacht, nachdem er vergebens durch Berauſchung ſein Gewiſſen
einzuſchläfern geſucht, habe geſchrieen, geweint, gebetet, bis ſein Weib an
ſeiner Seite ihn durch Spöttereien über ſeine Feigheit wieder zum Schwei¬
gen gebracht habe. Oft ſei er auf die Kniee gefallen und habe den Himmel
um Gnade zu ſeiner Beſſerung angefleht. Oft ſogar ſei er unter dem
Galgen niedergeknieet und habe Gott gebeten, ihn aus dieſem Leben
heraus zu führen. Dann habe er wieder ſein Weib genöthigt, auf die
Kniee zu fallen und mit ihm zu beten, in der Hoffnung, daß ihre,
wie er gedacht, noch weniger befleckte Seele eher Erhörung finden
würde. Oft ſei er mit Schrecken aus dem Schlummer aufgefahren,
habe geſeufzt und gebetet, und wenn ſein Weib gefragt, was ihm
fehle, ihr allemal geantwortet, er denke an den Waiſenpfarrer zu
Ludwigsburg. „O Weib“, habe er weinend und ſeufzend geſagt, „wenn
du wüßteſt, was das für ein Mann war, was er mich gelehrt, wie
er mich ermahnt hat — o Gott, wenn er Recht hat, ſo ſind wir
Beide verloren, und ach, gewiß, er hat Recht!“ Als er einſt zu
Offenburg gefangen gelegen, habe er mit einem von der Wand ab¬
gebrochenen Stückchen Speiß ein Crucifix gemalt, daſſelbe, um ſich
ſtets an den Gekreuzigten zu erinnern, beſtändig angeſchaut, geküßt
und mit Thränen benetzt. „Damals“ — dies ſind, ſagt ſein Geſchicht¬
ſchreiber, ſeine eigenen Worte — „verſprach ich vor dem Bilde meines
Heilandes Beſſerung, und nahm mir feſt vor, eher mein Brod zu
betteln, als ihn weiter zu beleidigen. Ich netzte dieſes Bild mit Thrä¬
nen, ich küßte ihm die Hände und bat um meine Befreiung. Sie er¬
folgte, ich war ſo glücklich, daß ich entrann, oder vielmehr ſo unglück¬
lich, daß ich Gelegenheit bekam, meine vorigen Sünden mit neuen zu
vermehren. Einige Tage that ich gut. Aber ich konnte keine böſen
Tage leiden. Nur allzubald war der vorige gute Vorſatz verſchwunden,
und ich war zu meinem Schaden klug genug, Entſchuldigung für
meine Sünden zu finden, und mich manchmal gar zu bereden, daß
Alles Thorheit ſei, was man vielleicht bloß um der Einkünfte willen
[458] in den Kirchen predige. Das ging nun freilich nicht ohne innerliches
Widerſprechen meines Gewiſſens ab, und überhaupt hatte ich beſtändig
quälende Gewiſſensbiſſe.“ Nichts aber, ſetzt ſein Geſchichtſchreiber
hinzu, habe ſeine Beſſerung ſo ſehr gehindert, als ſein Weib, die ſeine
Begierde nach derſelben als Zuckungen eines Feigen belacht, und
wenn Spotten nichts mehr half, ſeine Frömmigkeit bloß als einen
Vorwand, ſie zu verlaſſen und zu ſeiner lutheriſchen Chriſtine zurück¬
zukehren, angeſehen habe.


Die ſchwarze Chriſtine bekannte ſich zu der katholiſchen Kirche.
Sie hatte mit ihrem Geliebten gleich nach ihrer Verbindung eine
Wallfahrt zu der ſchwarzen Maria von Einſiedeln gemacht, um ſich
trauen zu laſſen, daſelbſt auch Bereitwilligkeit gefunden, die jedoch
nicht zur That werden konnte, da keines von beiden Brautleuten daran
gedacht hatte, ſeinen Taufſchein mitzubringen. Ihr erſtes Kind war
in einem badiſchen Orte, deſſen jaunerfreundlicher Schultheiß dabei zu
Gevatter ſtand, von einem Jeſuiten getauft worden. Ueber den Tod
dieſes Kindes, das ſie frühe wieder verlor, betrübte ſie ſich ſo über¬
mäßig, daß ſie in Verzweiflung verfiel und dem Wahnſinn nahe kam;
ſie wollte ſich durchaus nicht von dem Kinde trennen und trug die
verweſende Leiche in einem Käſtchen mit der größten Beſchwerde acht
Tage lang herum. Ueber ihr Verhältniß zu ihrer Religion ſagt der
akademiſche Geſchichtſchreiber dieſes Räubers und dieſer Räuberin:
„Niemand betete pflichtlicher das Pater Noſter. Niemand beſuchte die
Wallfahrten ſo fleißig oder wohnte den Prozeſſionen ſo häufig bei.
Schwan hat verſichert, daß ſie oft auf eine einzige ſolche heilige Feierlichkeit
mehr als dreißig Gulden aufgewandt, daß ſie aber auch öfters das
Geld dazu vorher geſtohlen habe.“ Uebereinſtimmend hiemit ſagt ein
Schriftſteller des vorigen Jahrhunderts, der über die Jauner ſchrieb
und ſich durch ſeine Sprache als Proteſtanten zu erkennen gibt, die
Religion, zu der ſich dieſe Menſchenklaſſe bekenne, ſei in der Regel
die katholiſche, man dürfe immer hundert Katholiken auf einen oder
zween Lutheraner, Reformirte oder Juden rechnen; dieſe Minderheiten
bilden die Ausnahme und ſeien allemal Ueberläufer aus dem Bürger¬
ſtande; die Religionswiſſenſchaft der Mehrheit beſtehe in einigen aus¬
wendig gelernten Formeln, in Legenden, in ungeſtalten Ideen von
Wallfahrten, Meſſeleſen, Roſenkranzbeten u. dgl., und mehr, fügt er
[459] mit proteſtantiſcher Härte hinzu, brauchen ſie als Jauner auch nicht
zu wiſſen, denn die Religion würde ihnen, wenn ſie ſie dem Weſen
nach kenneten, nur beſchwerlich ſein.


Die katholiſche Kirche, die ſich die allgemeine nennt und es zu
werden ſtrebt, macht dem Menſchen den Eintritt in ihre allezeit offenen
Tempel leichter und legt ihm kein ſo ſchweres Opfer auf wie ihre
Schweſterkirche. Da ſie Alles unter ihre Flügel verſammeln will, ſo
muß ſie wie eine gütige, nachſichtige Mutter verfahren, die dem Kinde
je nach dem Maße ſeiner Gaben nicht das Schwerſte zumuthet, ſondern
ſich mit der Andeutung des guten Willens begnügt. Daher erklärt es ſich,
daß ihre opferfreudigen Sendboten unter den kindlichen Völkern einer
jüngeren Welt, wie bei den aus Indien nach Europa eingewanderten
Zigeunern, welche großentheils den Grundſtock der Heimathloſen des vorigen
Jahrhunderts abgegeben haben, im Pflanzen und Ernten glücklicher geweſen
ſind, als ihre Nebenbuhler von der anderen Kirche. Dieſe ſtrengere Mut¬
ter weist die bloß äußerliche Andeutung zurück, ſie duldet es nicht, daß
der Menſch an ſeiner Statt Gott einen guten Mann ſein laſſe, ſon¬
dern legt ihm ſelbſt, unter Verheißung des göttlichen Beiſtandes zwar, die
Rieſenarbeit auf, ſich die Geheimniſſe des Glaubens anzueignen und
das eigne Ich zu überwinden. Da ſie ſelbſt die Größe dieſer Forde¬
rung ſich nicht verbergen kann, ſo ſagt ſie, es ſei nur Auserwählten
möglich, dieſelbe zu erfüllen, während ſie zugleich, da ſie ſo wenig wie die
andere Kirche ihren Kreis zu beſchränken gemeint iſt, hiedurch in den
Widerſpruch geräth, auch Nichtauserwählten ihr Joch auferlegen zu
wollen. Hiezu kommt noch, daß ihr ſeit mehr als hundert Jahren gerade
unter ihren begabteſten Söhnen Gegner aufgeſtanden ſind, die, ſtatt
ſich als Auserwählte zu zeigen, den Grund des Glaubens mit der
Schneide der Prüfung und Verneinung aufgewühlt und ihre unbe¬
gabteren Brüder beunruhigt haben, ſo daß die Kirche ſelbſt, im Kampf
mit ihnen, ſo wie andererſeits mit ihrer älteren Schweſter, genöthigt
worden iſt, um den Glauben zu ſtreiten, das heißt, die Breite, Höhe
und Tiefe der Gottheit auszumeſſen, was zwar den Weltkindern frei¬
ſtehen mag, der Kirche aber durch ihre heiligen Urkunden nicht
empfohlen iſt. So weiſen denn beide Kirchen an ihren Bekennern
Schattenſeiten auf, welche die Gefahren der einen wie der andern an¬
zeigen: dort Leichtſinn, hier Verwirrung. Beide aber, die nachſichtige
[460] wie die ſtrenge Mutter, geben dem Menſchen für das Leben die gleiche
Vorſchrift: Liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt; und wenn dieſe
Lehre befolgt würde, wenn mit dieſem Beiſpiel die Lehrenden ſelbſt
und unter ihnen die heißeſten Eiferer für ihre Kirche und ihren Glau¬
ben zuerſt vorangingen, ſo wäre unter den Flügeln der einen wie der
andern dem Menſchen eine gute Wohnſtätte bereitet. Daß auf der
einen wie auf der andern Seite von dieſer Liebe nicht gar viel zu
ſpüren iſt, das iſt wohl zunächſt die Schuld des einzelnen Menſchen,
noch weit mehr aber die Schuld und Noth des ganzen Kreiſes, aus
dem er ſtammt und in dem er lebt. Die Liebe, ob ſie ſchmeicheln
oder züchtigen mag, iſt ein Weib und kann nicht dem Haushalte vor¬
ſtehen, der neben der Mutter des Mannes, des Vaters bedarf; und
wenn das Volk, das in ſo vielen ſtolzen Söhnen ſich rühmt, das
zweite auserwählte der Weltgeſchichte zu ſein, wenn dieſes Volk am
Ziele ſeiner harten Arbeit und Mühſal die Geſetzestafeln findet, welche
den zerrütteten Haushalt der Völkerwelt von neuem ordnen, jedem ein¬
zelnen Kinde des Hauſes ſein Lebensrecht und ſeine Lebenspflicht in
ungezwungen menſchlichem Maße zuwägen, dann iſt der Vater zu
der Mutter gefunden, dann werden Recht und Liebe neben einander,
eins das andere beſchränkend, beſchirmend, verklärend, in dem neu er¬
bauten Hauſe walten.


Die ſchwarze Chriſtine that ſich auf ihre pflichtmäßigen Religions¬
übungen nicht weniger zu gut als die ehrbare Proteſtantin, welche ſonntäg¬
lich zur Kirche geht, um die Predigt zu hören, vielleicht auch in der
andächtigen Gemeinde geſehen zu werden, und das mit einem gewiſſen
Recht: denn unter den Leuten, welche nicht durch die Schulen der
Philoſophen, ſondern bloß durch ihre Confeſſionsſchule, unmittelbar oder
mittelbar, gegangen ſind, gilt es für eine Brandmarkung, keine
Religion zu haben, weil dieſe ihnen das unverſtandene, aber eben
darum deſto mehr mit der Ahnung feſtgehaltene Wahrzeichen iſt, daß
man einem Menſchen im Verkehr mit Seinesgleichen trauen könne.
So oft ſie auch ſich ſelbſt und Andere ſchon mit dieſem Wahrzeichen ge¬
täuſcht haben, ſie halten immer wieder daran feſt, nicht mit dem Verſtande,
der die geheimnißvolle Kammer der Glaubensſchätze als Prunkgemach
für hohe Feſte das ganze Jahr verſchloſſen läßt und vorſichtig ſeinen
Geſchäften nachgeht, ſondern mit dem Herzen, welches dunkel fühlt,
[461] daß die Religion mit der dem Leben zugekehrten Vorſchrift der Liebe
die Menſchen an einander bindet oder binden ſollte. Daß ſie nach
vollbrachter Religionsübung ſich mit ihrer Religion abfinden und dieſelbe
in den menſchlichen Verkehr nicht mitbringen, können ſie einander
von beiden Seiten mit gleichem Recht vorwerfen; nur wird, die gleiche
Innigkeit des Bekenntniſſes bei den Einzelnen vorausgeſetzt, die Ab¬
findung bei dem ſtrengeren Bekenntniſſe ſchwerer ſein. Und doch finden
ſich hüben wie drüben bis zu einer gewiſſen Grenze Alle ab: denn
wer befolgt die Vorſchrift des Evangeliums, Alles zu verkaufen, was
er hat, und es den Armen zu geben, oder nie für den kommenden
Tag zu ſorgen? Wer Rechtsverbindlichkeiten eingegangen hat, wer
Weib und Kind ernähren muß, wird, wenn er auch noch ſo kirchlich
religiös geſinnt iſt, ſich mehr oder minder deutlich geſtehen, daß er
ſolche Vorſchriften als unerfüllbar betrachte. Dann bleibt zwar aller¬
dings noch immer ein ſehr großer Unterſchied zwiſchen ihm und einer
Jaunerin, die das Geld zu einer Wallfahrt ſtiehlt, oder, wie eine
Andere ihres Ordens, ein berühmtes Marienbild von geſtohlenem
Zeuge kleiden, oder gar, wie gleichfalls vorgekommen iſt, für das
Gelingen eines Einbruchs eine Meſſe leſen läßt; aber die Nichtan¬
wendung wie die nichtswürdige Anwendung von Religionsvorſchriften
auf das Leben iſt immer eine Abfindung, mit welcher man bekennt, daß
die Religion das Leben nicht ganz zu leiten vermöge. Woher ſoll ihm
aber eine ganze Leitung kommen, ſo lang es an einem Rechte fehlt,
das Jedem ſeinen Platz am Tiſche des Lebens ſichert? Die Religion
hat noch ſelten einen chriſtlichen Staat oder Fürſten abgehalten, um
eines wirklichen oder vermeintlichen Rechtes willen einem anderen Menſchen¬
oder Chriſtenreiche den Krieg zu erklären und ſelbſt mit Grauſamkeit zu
führen, ja nach erfochtenem Sieg über blutigen Leichen und rauchenden
Wohnſtätten dem Herrn der Heerſchaaren, den dieſelbe Religion auch den
Vater der Liebe nennt, einen ſchrecklichen Lobgeſang anzuſtimmen.
Auf ein Recht aber glaubte auch die Tochter eines heimathloſen Stam¬
mes ſich berufen zu können, die über den Gräbern ihrer geſchlachteten Ver¬
wandten im Kriege mit der Geſellſchaft aufgewachſen war, und dieſen
Krieg mit dem gleichen Haſſe führte, mit welchem ein Naturvolk ſeine
Wälder und Gebirge unter Raub und Mord gegen die Waffen und
Geſetze des eingeborenen oder eingedrungenen Beherrſchers zu behaupten
[462] ſucht. Gerade hierin aber lag zwiſchen ihr und dem nicht von Kindes¬
beinen an, ſondern erſt in ſpäteren Jahren ausgeſtoßenen Sohne des
herrſchenden Volkes ein Gegenſatz, der immer eine Kluft zwiſchen ihnen
offen erhalten mußte. Zehnmal mochte er ihr in den Stunden der
Leidenſchaft beiſtimmen, daß die Geſellſchaft, die er verlaſſen, aus lauter
Spitzbuben, Heuchlern oder Tröpfen beſtehe: immer wieder ſagte ihm
ſeine unbeſtechliche Erinnerung, daß er auch ehrliche, geradſinnige
und verſtändige Leute darin gefunden habe, und daß das nächſte
Opfer ihrer Raubzüge zu dieſen gehören könne. Und dieſe lichten Er¬
innerungen und Eindrücke verbanden ſich bei ihm mit einer Religion,
die ihn in dem friedlich-frommen Kreiſe ſeiner Mutter mit dem
unvertilgbaren Bewußtſein erfüllt hatte, daß, wenn auch in der Bibel
und von ihren beſten Helden geſtohlen, geraubt und gemordet werde,
daß, wenn auch eine chriſtliche Obrigkeit ſich für die Führung ihres
Racheſchwertes auf die Bibel berufe, doch der wahrhaft gute Menſch
einen Abſcheu davor haben müſſe, das Eigenthum ſeines Nächſten an¬
zutaſten oder, unter welchem Vorwande es auch ſei, ſein Blut zu
vergießen.


Aber die innere Erkenntniß des Menſchen hat ohne eine Unter¬
ſtützung von außen nicht ſo leicht die Gewalt, ſein äußeres Leben
augenblicklich umzugeſtalten, ſchon deßhalb nicht, weil ſeinen ſchönſten
und edelſten Empfindungen immer wieder die menſchliche Schwachheit
ſich anhängt, und weil er die beſten Vorſätze ſehr oft in Stunden
äußerer Noth und Bedrängniß faßt, ſo daß, wenn dieſe vorüber ſind,
das frohe Gefühl des Glückswechſels ihm auch den guten Vorſatz nur
als ein Erzeugniß der ſchwachen Stunde erſcheinen läßt. Hiefür liefert
gerade die Geſchichte der Offenburger Verhaftung, wie ſie Schwan
ohne den religiöſen Zwiſchenvorgang zu den Acten gegeben hat, einen
ſo deutlichen Beleg, daß dieſelbe, die auch ſonſt merkwürdige Züge
darbietet, hier nicht übergangen werden darf. Nach verſchiedenen
Abenteuern mit eigennützigen Polizeimännern und nachläſſigen Obrig¬
keiten, welche ſich den Schutz der ihnen anvertrauten bürgerlichen Ge¬
ſellſchaft ſo ſchlecht angelegen ſein ließen, daß diejenigen, die dem
Markgrafen von Baden ihre etwaigen Gefangenen um Geld verkauf¬
ten, noch weitaus zu den beſſeren gehörten, hatte das Paar den Un¬
ſtern, auf dem Jahrmarkte zu Offenburg in ſeinen Geſchäften durch
[463] die Wachſamkeit dortiger Bürger geſtört zu werden, wie denn über¬
haupt in allen ähnlichen Geſchichten jener Zeit die Jaunerherrlichkeit
immer erſt da ein Ende hat, wo muthige und aufopfernde Bürger,
oft ſchmählich im Stich gelaſſen, der Obrigkeit zu Hilfe kommen. Dem
Räuber gelang es in eine Kapelle zu entſpringen, ſeine beiden Terz¬
rohre, wie der Sprachgebrauch der Zeit ſie nannte, unter dem Hoch¬
altar zu verbergen, und ſeine Baarſchaft von drei Carolins dem Chor¬
rector, der mit mehreren Geiſtlichen ſogleich herbeieilte, in die Hand
zu drücken. Der Chorrector verſprach ihn nicht eher auszuliefern, als
bis er vom Magiſtrat einen Salvusconduct in ſo bündiger Form aus¬
gewirkt habe, daß man ihm weder an das Leben gehen noch ein Glied verletzen,
ſondern, wenn er je eine Todesſtrafe verwirkt, ihn wieder hierher in die
Kirche ſtellen müſſe; für Schläge könne er ihm freilich nicht ſtehen. Der
Stadtmeiſter der katholiſchen Reichsſtadt lag nebſt einigen anderen Per¬
ſonen ſo eben in der gleichen Kirche ſeiner Andacht ob und ſah die
Unterhandlung zwiſchen dem Geiſtlichen und dem verdächtigen Flüchtling
mit an. Als nun die Kirche denſelben mit dem weiteren Verſprechen, daß
er das anvertraute Geld nach ſeiner Freigebung bei dem Pfarrer
eines benachbarten Ortes wieder abholen könne, der weltlichen Obrig¬
keit übergeben hatte, ſo wollte dieſe mit aller Gewalt wiſſen, was er
dem Geiſtlichen zugeſtellt habe. Drei Tage hinter einander erhielt er
jedesmal vierzig Streiche, bekannte aber nichts, ungeachtet er nach
ſeiner Erzählung unleidliche Schmerzen auszuſtehen hatte, und in der
Nacht des vierten Tages gelang es ihm, die Riegelwand von Backſtein
durchzubrechen und ſich am Leintuche herabzulaſſen, worauf er bei dem
bezeichneten Pfarrer ſeine drei Carolins wieder abholte. Die Kirche
hatte im Kampfe mit dem Staat ihr Recht um jeden Preis behauptet
und eher einem Räuber, deſſen Eigenſchaft ſie kaum bezweifeln konnte,
durchgeholfen, als ſich ihr Aſylrecht verletzen laſſen. Nach dieſem Her¬
gang darf man ſich jedoch nicht wundern, wenn Chriſtine über die Ge¬
ſchichte der dreitägigen Buße vor einem mit Speiß gemalten Crucifix,
welche ihm jeden Tag durch die Ausſicht, morgen wieder vierzig Schläge
zu erhalten, geſchärft worden war, den vierten Tag aber mit einem Aus¬
bruch geendigt hatte, in ein höhniſches Gelächter ausbrach und die lutheri¬
ſchen Anwandlungen um ſo unpaſſender fand, als ihre eigene Kirche
ihn ſo eben zu nicht geringem Danke verpflichtet hatte.


[464]

Dennoch ließen dieſe Anwandlungen nicht von ihm ab, und jetzt
wird es begreiflich, wie ſie in Vaihingen ſo plötzlich zum Durchbruch
kommen konnten. Zugleich aber lernt man auch deutlicher zwiſchen den
Zeilen des Vaihinger Protokolls leſen, wenn man ſich den Auftritt
von dem Sohne des Oberamtmanns erzählen läßt.


„Den zweiten Tag“, ſagt er, „erſchien Schwan wieder. Der Be¬
amte ſchlug nun den entgegengeſetzten Weg ein. Er wiederholte ihm
zwar noch einmal, daß er ihn für einen ausgemachten Böſewicht halte;
aber nun forderte er ihn nicht mehr durch Drohungen, ſondern durch
Darſtellung der ſchrecklichen Folgen des Laſters, durch Schilderung
des Glücks eines ruhigen Gewiſſens, durch Bezeugung ſeiner herzlichen
Theilnehmung an ſeinem Schickſal, und durch Verſpruch, ihm daſſelbe
durch alles, was nur in ſeiner Gewalt ſtehe, zu mildern, auf; kurz,
er verſuchte nun durch Religion und theilnehmende Güte ſein Herz zu
rühren. Der Verſuch gelang. Der trotzige Blick milderte ſich ſichtbarlich,
Traurigkeit trat an die Stelle der Wuth, eine Thräne floß in dem
wilden Auge. Ich habe meinen Mann gefunden, rief er gerührt, ich
bitte Sie, laſſen Sie dieſe Leute hinausgehen, und ich will Ihnen
Alles geſtehen. Der Oberamtmann, um dieſe Rührung nicht zu ſtören,
ließ alle nicht ganz nothwendigen Perſonen hinausgehen, und in dieſem
Augenblick ſtammelte Schwan mit bebendem Munde: Hören Sie in
Einem Wort alle meine Verbrechen: ich bin der Sonnenwirthle.“


Hiscepraemissis iſt das Bekenntniß des Räubers nicht mehr
ſo ſehr überraſchend, wie es in dem Protokoll des Oberamtmanns
überraſcht und wie dieſer ſelbſt, der freilich im Protokoll dies wenig merken
läßt, nebſt Stadt und Land davon überraſcht geweſen iſt. Hätte er
ſein Inquiſitionsſchema, wie er es in das Protokoll ſchrieb, angewendet,
ſo würde er wohl lange auf dieſe überfließende Offenheit haben warten
dürfen; denn dieſes Schema, das auch den redlichſten Beamten ohne
ſeine Schuld zu einer gewiſſen Unwahrheit zwingt, iſt dem Volke ſo
fremd wie die römiſche Advocatur es ſeinen zungenausreißenden Vor¬
fahren war. Dem Manne, der den Menſchen und den Oberamtmann
mit ſo gutem Erfolge für ſein Protokoll zu vereinigen wußte, ſoll
hieraus kein Vorwurf gemacht werden: er hat ſeiner Zeit einen wich¬
tigen Dienſt geleiſtet, und ſein Gefangener ſelbſt hat ihm die Abkür¬
zung einer Laufbahn voll Schmach und innerer Verachtung, deren
[465] Maß immer voller geworden wäre, in der ganzen Aufrichtigkeit ſeines
Herzens gedankt.


Mit dieſem Bekenntniß nun, das gleich in den erſten Worten den
Stab über ſein verwüſtetes Leben brach, hatte er ſich nicht bloß in
die Hand der Obrigkeit, ſondern auch in die Hand ſeiner Kirche er¬
geben, welche ihre Diener ſandte, um dieſes Leben zu einem bu߬
fertigen und ſeligen Ende zuzubereiten. Ohne Zweifel haben dieſelben
nach der Sitte der Zeit ausführliche Beſchreibungen dieſes geiſtlichen
Prozeſſes veröffentlicht; aber unter den vielen Schwarten von hoch¬
fürſtlichen Geburts-, Hochzeits- und Leichenfeierlichkeiten in dem öffent¬
lichen Bücherſchatze, den der Herzog ſpäter anlegte, als er für ein
gleichfalls verfehltes Leben Erſatz in der Erziehung der Jugend ſuchte,
haben jene Schriften keinen Platz gefunden, und das Lebensbild, aus
welchem nicht ein Zug hätte verloren gehen ſollen, muß auch auf
dieſer Seite halbvollendet bleiben. Doch hat einer der beiden Geiſt¬
lichen dem Sohne des Oberamtmanns einzelne Züge aus jenem Be¬
kehrungsgange mitgetheilt, welche uns in der Erzählung deſſelben auf¬
behalten ſind. Bei ſeinem erſten Beſuche begann dieſer Geiſtliche von
dem Zorne Gottes zu reden, der diejenigen verfolge, welche die Mittel
der Gnade zu lange verſchmäht, von einer traurigen Ewigkeit und von
den Schwierigkeiten einer aufrichtigen Beſſerung nach einem ſo ruch¬
loſen Leben. Hiemit hatte er zwar untadelhaft nach ſeinem Schema
gearbeitet, wie der Oberamtmann nach dem ſeinigen ein regelrechtes
Protokoll zu ſchreiben wußte; aber ſeine Bemühung fand den ent¬
gegengeſetzten Erfolg. Der Räuber rief ihm aufgebracht entgegen, ob
er nur gekommen ſei, ihn zu quälen? Der Geiſtliche bequemte ſich,
in die Schule des Oberamtmanns, der dieſen harten Stoff beſſer zu
kneten verſtand, zu gehen, und ſtellte ſich nun dem ſtolzen Verbrecher
als ein Bote des Friedens dar, der dem reuigen Sünder im Namen
Gottes — welcher ihm geboten habe, ihn in ſeinem Namen ſogar darum
zu bitten — Gnade antrug; dann ging er zum Gebet über, flehte
Gott um Vergebung ihrer Beider Sünden an und dankte ihm für
die Langmuth, die er dieſem ſeinem verirrten Schafe bewieſen habe.
Jetzt war die rechte Saite angeſchlagen: der Verbrecher war bewegt
von dem Gedanken an die Langmuth Gottes, ſah den Geiſtlichen wäh¬
rend ſeines Vortrags mit unverwandten Augen an und zerfloß in
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 30[466] Thränen; auch geſtand er, daß ihn dieſe Langmuth Gottes während
ſeines ruchloſen Lebens oft zu Thränen gerührt habe. Von dieſer
Zeit an ſchlug der Geiſtliche bloß dieſen Weg ein und führte ſeine
Aufgabe ſiegreich durch. Der ſtolze Wildling wollte auch von ſeinem
Gott und deſſen Dienern um die ſchwere Arbeit, die er auf ſich
nehmen ſollte, manierlich angeſprochen ſein. Es läßt ſich jedoch denken,
und wird auch ausdrücklich erzählt, daß dieſelbe nicht ohne Unter¬
brechung von Statten ging, wobei beſonders ſein Stolz immer wieder
den ſchwer zu brechenden Kopf erhob. Einſt beſuchten ihn, nach der
Art der Zeit, welche äußerſt neugierig auf Verbrecher war, zwei
Fremde in ſeinem Gefängniß. Der eine betrachtete die berüchtigte Ge¬
ſtalt und fragte, ob er der Unglückliche ſei, der ſo Viele unglücklich
gemacht habe? Meine Herren, antwortete er, den mächtigen Kopf in
den breiten Nacken werfend, wer iſt unglücklicher, Sie oder ich? Sie,
die vielleicht mitten in Ihren Sünden durch einen einzigen Schlag
dahingeriſſen werden, oder ich, der ich durch das Blut Jeſu mit Gott
verſöhnet bin? Indeſſen that er gleich wieder Buße und ſagte zu ſei¬
nem Beichtvater: Mein Gott, was bin ich für ein elender Menſch,
daß ich nicht einmal dieſe einzige Rede habe erdulden können! Aber
auch die luſtigen Farben des Lebens ſtörten ihm das ernſte Gewebe,
an dem er wirkte. Die unanſtändigen Witze und die Religionsſpötte¬
reien, die ſo oft den Beifall ſeiner Geſellen erregt hatten, kehrten
manchmal wieder zu ihm zurück und verdarben ihm durch irgend eine
unwillkürliche Gedankenverbindung das Gebet oder das Bibelwort,
durch welches er den glimmenden Docht ſeiner Leuchte anzufachen,
das zerſtoßene Rohr ſeines Lebens aufzurichten ſuchte. „Eben ſo wenig“,
ſagt ſein Geſchichtſchreiber, „verließ ihn ſeine rohe Luſtigkeit. Ein Glas
Wein und ein gutes Eſſen machte ihn auch in den letzten Tagen ſeines
Lebens ſo luſtig, daß er die ganze Geſellſchaft, die bei ihm war, mit
Scherzen unterhielt, und Henker, Tod, Bekehrung, Alles vergaß.“ Deſto
größer aber war nachher immer wieder ſeine Zerknirſchung, „ſo daß
er einſt, als er bei ziemlichem Durſte mehr Verlangen nach einem
Glaſe Wein, als nach geiſtlichen Geſängen empfunden, aus Reue
hierüber und aus Zorn über ſich ſelbſt das Geſangbuch auf den Bo¬
den warf, was ihm dann einen neuen eben ſo großen Kummer ver¬
urſachte“. Da im Menſchenleben zwiſchen dem Kleinſten und Größten
[467] Gleichungspunkte ſind, ſo drängt ſich bei dieſem Zuge von ſelbſt die
Erinnerung an die Kämpfe des großen Reformators auf, in deſſen
Geiſtesbande dieſer ſchwierige Zögling ſich gegeben hatte, und deſſen
rieſige Geſtalt die Nachwelt oft mit lächelndem Munde bewundert.
Gleichwie ſeine Kirchenänderung die leichtfertige Welt ſeiner Tage mit
Umſturz und Zerſtörung bedrohte, ſo geht auch der Lehrbegriff, den
er von einem verwandten Geiſte erbte, dem natürlichen Menſchen re¬
volutionär und terroriſtiſch zu Leib. Dieſe Lehre eines alten Kirchen¬
vaters, der nach einem weltlich durchſtürmten Leben durchgreifende
Buße und Selbſtentäußerung predigte, muß den Menſchen erſt an
allen Gliedern brechen, um ihn neu aufbauen zu können. Hieraus
ergibt ſich von ſelbſt, daß ſie bei der Jugend und bei allen jenen
weichen, freundlichen Gemüthern, die in Uebereinſtimmung mit ſich
durch das Leben gehen, ſeine Widerſprüche nicht empfinden oder bei
Seite zu ſchieben wiſſen, nur oberflächlich wirken kann. Wer aber
durch Schuld und Noth hindurchgegangen iſt, wer ſich in den Netzen
des Lebens verſtrickt und ſich ſelbſt darin verloren hat, bei wem jener
Entäußerung die grenzenloſe Selbſtverachtung vorgearbeitet hat, die ſich
nicht mehr mit dem Splitter im Auge des Nebenmenſchen zu ent¬
ſchuldigen vermag, und wer auf allen ſeinen Irrwegen zugleich, wenn
auch nicht ein geiſtesſtolzes Denken, doch ein geiſtiges Leben ſich be¬
wahrt hat, der iſt reif, um jene Lehre mit ihrer ganzen übermenſch¬
lichen Gewalt in ſich aufzunehmen. Auf dieſem Wege ſind vornehme
und gemeine Sünder, deren Lebensgeſchichten unentbehrliche Blätter
in den Jahrbüchern des menſchlichen Geiſtes bilden, zu einer Umwäl¬
zung gekommen, welche die Welt, die nach menſchlichem Maße leben
will, ja oft ſelbſt die Kirchenwelt mit Staunen wie ein verzehrendes
Feuer aufflammen ſah. Sie haben Heil geſtiftet, wo ſie auf verwandten
Boden ſäeten; Viele haben ihnen mit zerſtörtem Lebensglück geflucht: denn
ihr Werk war, ſich ſelbſt und Alles was ſie vorher liebten zu zerſchmettern.
An den Genoſſen eines verbundenen Lebens, wie es auch zu¬
gebracht worden ſein mag, zum Verräther zu werden, iſt ein Mal¬
zeichen, vor welchem ſelbſt der Leichtfertigſte ein wenig ſtutzt. Die
Rechtfertigung dieſer That wäre in dem Falle, der uns vorliegt, ſelbſt
für die natürliche Betrachtung gar nicht ſchwer; denn einer Bande,
die argloſen Menſchen Nachts in die Häuſer bricht, die Bewohner
30 *[468] aus den Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet,
iſt Niemand die Treue ſchuldig, die ſie der Menſchheit und ſich ſelbſt nicht hält.
Aber es handelt ſich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in ſo günſtiger
Beleuchtung aufzuſtellen, daß der geſchmeichelte Leſer darin ſeine eigene
Menſchenvortrefflichkeit erkennt. Vielmehr ſoll dieſes Menſchenleben
mit ſeinen Lichtern und Schatten, mit ſeinen Ehrenzeichen und Schand¬
malen ein Gleichniß ſein, in welchem Jeder ſich als gut und bös
erkennen mag. Denn fremd kann dem Menſchen nichts bleiben was
menſchlich iſt. Die wilden Thiere, welche ſeine Mitwelt in dieſem
Menſchen ſah, ſie hauſen alle in unſerer Bruſt, und alle haben wir
am Bache des Ebers getrunken. Wir verabſcheuen das Stehlen, Rau¬
ben und Morden, aber auch er hat es verabſcheut, und nicht erſt nach
der That; und, ſei es in den Bußliedern frommer Zerknirſchung oder
in der Alltagsſprache, müſſen wir uns ſchuldig bekennen, daß wir
oft unſerm Nächſten das volle Loth, das ihm gebührte, nicht zugewogen,
daß wir ſein Menſchenrecht gekränkt, ſein Menſchenherz verletzt haben.
Wer die Buße dieſes Verbrechers als einen Ausfluß der Geiſtesgröße
bewundert, wird ſich doch auch daraus die Wahrheit entnehmen, daß
es beſſer iſt einen Lebensweg zu meiden, der mit Abfall oder gar
Verrath an den Genoſſen enden muß; und wer ſie als die Schwäche
eines in der Bildung verwahrloſten Geiſtes, den ſeine Zeit keinen
Leſſing werden ließ, anſieht, der mag ſich ſagen, daß auch der unabhängigſte
Denker im Vollgefühle ſeiner Freiheit über Begriffe ſtraucheln kann,
die er mit der Muttermilch eingeſogen hat. Keiner ſteht ſo hoch, daß er
nicht fallen kann, und das einſeitige Wort der Menſchenliebe und Menſchen¬
würde in jenem Buche, worin ſich die Sehnſucht des Morgenlandes mit dem
Geiſte unſrer alten Sprache und Dichtung vermählt hat, iſt höher als Alle.
Der Kampf des Sünders, von welchem ſeine Kirche eine werk¬
thätige Reue forderte, die ſich nicht einmal um den Preis des eigenen
Lebens abfinden durfte, war groß und ſchwer. Dieſes zertrümmerte
Lebensſchiff hatte er mit raſchem Entſchluſſe preisgegeben, und doch
kam ihn auch bei dieſer Auslieferung das Aufzählen des Inhalts im
Einzelnen ſauer an. Die großen Verbrechen, welche den Kopf koſteten,
gingen ihm ohne Widerſtreben über die Zunge; aber die kleineren
Vergehen ſuchte er ſo lange als möglich zurückzuhalten, aus Furcht
vor einer ſchwereren Todesſtrafe, wie er nachher behaupten wollte, in
[469] Wahrheit aber aus Stolz und Scham, weil die Gemeinheit dieſer
kleinen Diebſtähle und Einbrüche ihm unauslöſchlich auf der Seele
brannte. Doch warf er endlich auch dieſen Stolz als ein verwerfliches
Ueberbleibſel ſeines alten Herzens weg. Der Oberamtmann, der die
weiche Seite dieſes Herzens kennen gelernt hatte, unterſtützte ihn mit
gutem Bedacht; „er ehrte ihn durch den offen kundgegebenen Glauben
an ſeine Aufrichtigkeit und Beſſerung, drückte ihm ſeine Freude aus,
ihn nicht durch Drohungen, Schimpf und gewaltſame Mittel zwingen
zu müſſen, ſprach auch mitunter von andern Gegenſtänden mit ihm,
hörte ſeine Meinung und ließ die Inquiſition den Ton einer vertrau¬
lichen Unterredung annehmen“, wovon freilich das Protokoll nichts
enthält. Zugleich ſchickte er ihm Eſſen und Trinken in's Gefängniß,
und daß er für dieſe freundliche Gabe in mehr als einem Sinn
empfänglich war, wiſſen wir bereits. Die Stadt ahmte das Beiſpiel
ihres Oberbeamten nach. Die Wächter ließen ſichs gleichfalls geſagt
ſein, ihn menſchlich zu behandeln; „ſie gingen ganz vertraulich mit ihm um
und lachten und beteten abwechſelnd mit ihm“. Wie viel dieſe guten
Tage dazu beigetragen, ihn auf dem eingeſchlagenen Wege zu erhalten,
läßt ſich nicht unterſcheiden; wohl aber iſt nicht zu leugnen, daß den
reinſten Geſinnungen immer menſchliche Schwäche anklebt. Indeſſen
hatte die Güte ihr ſtrenges Maß. Er war gleich anfangs ſo hart ge¬
ſchloſſen worden, daß er gar keine Bewegung machen konnte, und vier
Männer mußten beſtändig in ſeinem Zimmer, vier außerhalb deſſelben
wachen. Allein die Handlungsweiſe des Oberamtmanns, der das Menſch¬
liche mit dem Amtlichen zu verbinden wußte, gewann den Räuber völlig.
„Mit Thränen erklärte er“ — und der Gewährsmann fügt ausdrück¬
lich hinzu, daß dies ſeine eignen Worte ſeien — „der Oberamtmann
habe durch ſeine Güte mehr aus ihm herausgebracht, als tauſend
Foltern nicht hätten erpreſſen können. Er erklärte, er danke der Vor¬
ſehung, daß ſie ihm gerade in dieſer Stadt ſeinen Tod beſtimmt, und
er möchte um keinen Preis, auch wenn er könnte, mehr entwiſchen.
Weil er ſich aber ſelbſt nicht traute, ſo wünſchte er, bat ſogar, man
möchte ihn wie den ärgſten Böſewicht bewachen. Er nannte die Arten
des Schließens, die allein mit Sicherheit bei ihm angewendet werden
könnten, und zeigte andere, deren Nutzloſigkeit er bewies. Beſonders
erinnerte er, daß man an Markttagen wachſam ſein ſolle, weil da
[470] gewiß einige ſeiner Kameraden ſich einſchleichen würden, um ihn zu
retten“. In Folge dieſer Angaben mußte die ſtandhafte Erwartung des
Volkes, daß der Schützling des Teufels, wie in Hohentwiel und an¬
dern feſten Orten, eines Tages durch Rauchfang oder Schlüſſelloch ver¬
ſchwinden werde, unerfüllt bleiben. Dagegen rief der Tod des Amts¬
dieners, der plötzlich während der Unterſuchung ſtarb, die noch jetzt
im Munde des Volkes lebende Sage hervor, die verzweifelten Spie߬
geſellen des Gefangenen haben, um ſeine gefährlichen Geſtändniſſe, die
ſich wie ein Lauffeuer in alle Lande verbreiteten, abzuſchneiden, ihm
heimlich vergiftetes Backwerk zuzuſtecken verſucht, und die Confiscation
deſſelben ſei dem Diener des Geſetzes übel bekommen. Während aber
im Volke ſich geſchäftig eine Art Heldenſage über ihn bildete, ſtand
er demüthig vor ſeinem Richter und bekannte ſich für den „Verworfen¬
ſten aller Sterblichen“.


Die ſtrenge Folgerichtigkeit der Buße verlangte aber mehr von ihm.
Die ſchon in der Freiheit verſuchten Enthüllungen über die mordbren¬
neriſchen Plane der überrheiniſchen Zigeuner konnten ihm nicht beſonders
ſchwer werden, denn dieſes Geſindel ging ihn nicht näher an. Aber
wenn ſeine Beichte vollſtändig ſein ſollte, ſo mußte er nähere Genoſſen,
mußte er ſeine Nächſten in das Verderben, wenigſtens in das zeitliche,
mit hineinreißen. Nach ſeiner ganzen Beſchaffenheit mußte ihn dies
einen Kampf koſten, über deſſen Schwere man ſich durch die bei dem
Naturmenſchen in jeder Lage des Lebens möglichen Augenblicke der
Luſtigkeit nicht täuſchen laſſen darf. Die beiden Haupttriebräder ſeiner
ganzen Lebensentwicklung, Liebe und Stolz, mußten in dieſem Kampfe
überwunden werden. Er war ſein Leben lang ſeinen Freunden ein
treuer Freund nicht bloß geweſen, ſondern, zur vollſten Befriedigung
ſeines Selbſtgefühls, als ſolcher auch ſtets von ihnen anerkannt worden:
und nun ſollte er dieſen einzigen, letzten Ruhm, an dem er ſich im
Eisgange der Selbſtverachtung noch aufrecht gehalten, von ſich werfen,
ſollte auch noch den Seinen verächtlich werden, wie er der übrigen Welt
verächtlich war. Aber er war dem Buß- und Beſſerungsplan, welchen
das weltliche und geiſtliche Amt zuſammen entwarfen, ſchon in ſeinem
erſten Verhör vorausgeeilt, in welchem er erklärt hatte, er wolle ſeiner
Mitſchuldigen ſo wenig wie ſeiner ſelbſt verſchonen, und hatte damals
ſchon auf die Gefangenen in Stein, unter welchen ſeine zweite
[471] Chriſtine war, hingewieſen. Nur fand er bald, daß die Ausführung
eines Entſchluſſes nicht ſo leicht iſt, wie der Entſchluß ſelbſt, und in
den nächſten Verhören begann er zu Gunſten ſeiner beiden Weiber zu
lügen, ſo ſehr, daß er in der Erzählung von der Zuſammenkunft im
Walde bei Wäſchenbeuren eine Katharina ſtatt der ſchwarzen Chriſtine
nannte. Er hatte Beide mit der ganzen Kraft ſeines Herzens geliebt.
Wenn er ſie aber liebte, ſo mußte er ihnen ja die gleiche bitterſüße
Arznei reichen, der er ſeine Geneſung zu verdanken bekannte. Er
entſchloß ſich dazu, und daß dieſer Entſchluß der äußerſten Selbſt¬
überwindung aus redlicher Ueberzeugung floß, das haben ihm nicht
bloß ſeine weltlichen Richter und geiſtlichen Tröſter bezeugt, das bezeugt
ihm nicht bloß ſein Geſchichtſchreiber, welcher verſichert, daß er mit
der unabänderlich gleichen Geſinnung auf der Lippe geſtorben ſei, ſon¬
dern die menſchliche Natur ſelbſt bezeugt es ihm, welche weiß, daß
ein Menſch wie dieſer nicht mit einer Lüge aus dem Leben gehen kann.


Die Folge ſeiner Geſtändniſſe war, daß beide Chriſtinen an den
Sitz des Gerichts geholt wurden, die eine aus ihrer Gefangenſchaft,
die andere aus der Dunkelheit ihres Dienſtes, in welchem ſie ſich, wie
ihr Geſchichtſchreiber ſagt, ordentlich aufgeführt hatte.


Die ſchwarze Chriſtine, die ihn durch und durch kannte und ſich
ohne Zweifel ſagte, daß ſie verloren ſei, wenn es der Oberamtmann
verſtanden habe, ihn an ſeiner ſchwachen Seite zu faſſen, leugnete
hartnäckig, ſchalt über Ungerechtigkeit und drohte — aber der Ober¬
amtmann hatte ſein gezähmtes Wild bei der Hand und wußte es
zum Fang des ungezähmten zu gebrauchen. Er hatte ſeinen Gefan¬
genen hinter einer ſpaniſchen Wand verborgen und ließ ihn, da ſie
einen Sonnenwirthle jemals geſehen zu haben leugnete, plötzlich auf
ein gegebenes Zeichen hervortreten. „Seine ganze Seele,“ erzählt der
Geſchichtſchreiber, „ward bei ihrem Anblick bewegt, er zerfloß in Thrä¬
nen der Liebe und des Schmerzes. Auch ſie war bei ſeinem uner¬
warteten Anblick erſchüttert, doch faßte ſie ſich plötzlich wieder und
nahm die gleichgiltigſte Miene, wie gegen einen unbekannten oder kaum
einmal geſehenen Menſchen an. Schwan ließ ſich nicht abſchrecken. Er
näherte ſich ihr mit den zärtlichſten Liebkoſungen, die um ſo rührender
waren, da ſie ſich zum erſtenmal in einer ſo traurigen Lage und unter
noch traurigeren Ausſichten wiederſahen. Aber ſie verſchmähte mit
[472] Unwillen ſeine Zärtlichkeit und beſchwerte ſich über die Vertraulichkeiten
eines Unbekannten, da er noch überdies allem Anſchein nach ein großer
Böſewicht ſei und ſie ſelbſt in dieſen Verdacht bringen wolle. Noch
ließ er nicht nach. Er erklärte ihr, daß das Leugnen ihrer Verbrechen
nun zu ſpät ſei, daß er längſt Alles geſtanden, und daß ſie ſelbſt
auch durch viele Umſtände ſich ſchon verrathen habe. Er verſicherte
ſie, daß nun das Ende ihrer Frevelthaten gewiß gekommen, daß er
aber ſeinen gegenwärtigen Zuſtand, wo er in Ketten und Banden
ſchmachte und keine weitere Ausſicht als den Tod habe, dennoch für
viel glücklicher halte, als jenen, da er in der höchſten Freiheit Gottes
und der Menſchen geſpottet. Nichts rührte das boshafte und ver¬
härtete Weib; ſie antwortete ihm nur mit Unwillen und Verachtung.
Nun konnte ſich Schwan nimmer halten. Seine beiden großen Leiden¬
ſchaften, Zorn und Rachſucht, brachen plötzlich hervor, er tobte, raste,
fluchte, und wünſchte nichts mehr als die Verruchte mit eigener Hand
ermorden zu können. Doch auf dieſen Ausbruch erfolgte ſogleich
wieder Ergießung ſanfter Liebe und Zärtlichkeit; er bat, flehte, weinte;
aber auch ſeiner Bitten und ſeiner Thränen ſpottete ſie, bis er auf's
neue in Wuth ausbrach und ſo wechſelsweiſe jetzt der Wuth, jetzt der
Zärtlichkeit ſich überließ.“


So erzählt der Sohn des Oberamtmanns, der jenen Vorgängen
nahe ſtand. Der ſpätere Sammler der Vaihinger Ueberlieferungen
fügt aus unbekannter Quelle hinzu, die wirtembergiſche Behörde
habe es für zweckdienlich gefunden, ihr den neunwöchigen Säug¬
ling wegzunehmen, den ſie im badiſchen Gefängniſſe geboren und
geſtillt, worüber ſie in eine ſolche Raſerei gerathen ſei, daß ſie ſich
das Geſicht zerfleiſcht, das Holz des Fußbodens mit den Nägeln auf¬
geriſſen und Tage und Nächte lang mit gräßlichem Geheul nach
ihrem Kinde verlangt habe, bis ihre Stimme in einem heiſern Stöh¬
nen untergegangen ſei; hierauf ſei ſie in eine bedenkliche Krankheit
verfallen, von der ſie ſich erſt nach fünf Wochen wieder erholt habe.


Freilich hatte ihr Mitſchuldiger ſeinem Richter vorausgeſagt, daß
er einen ſchweren Stand mit ihrem verſtockten Herzen haben werde,
da ſie oft erklärt habe, daß ſie ſich lieber auf den Tod foltern, als
zum Spektakel der Welt durch den Henker hinrichten laſſen wolle.
Auch ließ er ſie durch die Wächter bitten, zu geſtehen und nicht ſich
[473] und ihm nutzlos die Leiden der Gefangenſchaft zu verlängern. Sie ließ
ſich endlich zum Geſtändniß der leichteren Fälle herbei, die ſie
ihrer Jugend und der Verführung ihres Mannes zuſchrieb; aber als
ſie zu geſtehen begann, war ſie bereits längſt überwieſen, und
die Wagſchale ihrer Verbrechen ſank unter dem Druck der gebrochenen
Urphede, welche das chriſtliche Geſetz ſeinem heimathloſen Feinde bei
deſſen erſter Betretung und Ausweiſung aufzuerlegen pflegte, um ihn
bei der Wiederbetretung, die ihn ja dann des Meineides ſchuldig zeigte,
deſto feſter faſſen und nöthigenfalls am Leben ſtrafen zu können.


Auch die blonde Chriſtine ergab ſich nicht gutwillig in das Schick¬
ſal, das ihr umgewandelter Geliebter ihr bereitete. Der Sohn des
Oberamtmanns beſchreibt das verhängnißvolle gerichtliche Wiederſehen
dieſer Beiden in ſeiner Weiſe ſo: „Müllerin war ſeine erſte Liebe,
lange war er bis zur Raſerei in ſie verliebt, und auch ſie hing mit
einem ſolchen Feuer an ihm, daß ſie Ehre, Freiheit und Alles ihm
aufopferte, und was für ihn vielleicht das Wichtigſte war, ſie war
die Mutter ſeiner Kinder. Seit zwei Jahren waren ſie gänzlich ge¬
trennt. Sie war die erſte Urſache ſeines Schickſals, und er des ihrigen.
Alle dieſe Empfindungen wachten in dem Augenblick des erſten Wieder¬
ſehens auf. Er zerfloß in Thränen, ſobald er ſie ſah, und, erſt lange
ſtumm, fragte er ſie endlich auf's zärtlichſte nach ihrem Schickſal, nach
ihren Kindern und Verwandten, bat ſie um Verzeihung, daß er ſie
unglücklich gemacht, und verſicherte ſie ſeiner heftigſten Reue. Müllerin
ward durch ſeinen Anblick und ſeine Rede in die ſonderbarſten Em¬
pfindungen geſetzt: innigſte Rührung und Begierde ungerührt zu ſchei¬
nen kämpften in ihr, ſie ließ jetzt, wie man aus ihrer Miene ſchloß,
ihren Empfindungen freien Lauf, jetzt zwang ſie ſich, eingedenk der
Folgen, ſie zurückzuhalten.“


Lange hatte er ſich gegen das Bekenntniß der Vergehen geſträubt,
an welchen die Genoſſin ſeines fruchtloſen Kampfes mit der Geſellſchaft
in der Halbheit ihres Umherſchwankens zwiſchen Rath und That An¬
theil genommen; aber ſeiner wachſenden Aufrichtigkeit kam der natür¬
liche Verlauf der Dinge zu Hilfe: denn nachdem das Gericht einmal
ſeinen Namen wußte, kannte es auch einen guten Theil ſeiner Ge¬
ſchichte und wurde durch Mittheilungen aus ſeiner Heimath in den
Stand geſetzt, die einſchlagenden Fragen an ihn zu ſtellen, welchen er
[474] in der Gemüthsverfaſſung, die wir kennen, nicht länger auszuweichen
vermochte. Nun begann er unumwunden und rückſichtslos zu geſtehen, und
die Arbeit der Ueberwindung, die er auf ſeine Weiber ausdehnte, wiederholte
ſich in jedem gemeinſchaftlichen Verhör. „Er redete ihnen zuerſt ſehr ſanft
und freundlich zu, gerieth dann in Wuth, tobte und drohte, klagte, daß er
nie ein Wort um ſeinet- ſondern nur um ihretwillen gelogen und daß
die Verruchten es ihm ſo vergelten, bat ſie dann wieder um Verzeihung
und flehte ſie liebreich an, ihre und ſeine Schuld vor Gott und den
Menſchen nicht noch ſchwerer zu machen.“ Die blonde Chriſtine ließ
ſich endlich erweichen, erklärte aber gleich nachher wieder, daß ſie, durch
ſein ſchmeichelhaftes Zureden, wie ſie ſich ausdrückte, bewogen, viel zu
viel eingeſtanden habe. Auch ſagte ſie, nicht aus Bußfertigkeit, ſon¬
dern aus kleinlicher Rache auf ihn aus, er habe einmal, wie ſie wiſſe,
ein paar Sägen geſtohlen. Bei dieſer Gelegenheit konnte der Inquirent
das Weſen ſeines Inquiſiten an einem neuen Zuge kennenlernen. Derſelbe
Mann, der ſeine todbringenden Geſtändniſſe ſo willig und todesfreudig
gemacht hatte, leugnete den kleinen Diebſtahl auf's hartnäckigſte, ſo
daß der Richter an ihm irre wurde. Als er endlich überwieſen war
und keinen Ausweg mehr finden konnte, ſo geſtand er das Vergehen
und zugleich die Urſache ſeines Leugnens: er habe, ſagte er, die Sägen
an einen ehrlichen, gewiſſenhaften Mann verkauft, der ſich lange nicht
dazu bequemen wollen, bis er ihn verſichert, ſie ſeien nicht geſtohlen,
und ſich auf Seel' und Seligkeit vermeſſen habe, daß ihm ſein Lebtag
nichts über den Handel aus ſeinem Munde kommen ſolle, weswegen
er auch ſo gewiß als etwas von der Welt wiſſe, daß er ſeiner Chri¬
ſtine nichts davon geſagt habe. Nun fand ſich der Richter wieder in
ihm zurecht, und ſchenkte ihm nach und nach ſo vollen Glauben, daß,
wie ſich aus dem Protokoll ergibt, der Unſchuldsbeweis hinſichtlich des
an dem Schützen zu Ebersbach begangenen Mordes lediglich auf ſeine
eigene Ausſage gegründet iſt. Das Urtheil wurde hiedurch freilich
in nichts abgeändert, doch blieb dieſer angebliche Meuchelmord, den
ihm die Ebersbacher aufbürdeten, aus der im Urtheil aufgeſtellten
Reihe ſeiner Verbrechen weg. Der kleinliche Groll, dem die blonde
Chriſtine in ihrem der Schwachheit ausgeſetzten Gemüthe Zugang ver¬
ſtattet hatte, ſchwand wieder, denn ſie kannte ſein Herz und glaubte
an die Aufrichtigkeit ſeiner Zerknirſchung, die ihm nicht anders zu
[475] handeln erlaubte, obgleich ſie ſich die Rechnung machen konnte, daß ſie
dieſelbe, nachdem es ihr geglückt war, aus dem Zuchthaus in einem
Dienſt unterzukommen, mit einer abermaligen Zuchthausſtrafe zu be¬
zahlen haben werde.


Allerdings ein harter Lohn für ſo viel Liebe und Aufopferung,
die in dem Protokoll mit dem amtlichen Kunſtausdruck praematurus
concubitus
abgefertigt wird! In zwei brandmarkenden Worten die
Geſchichte eines ſiebenjährigen Kampfes voll Weh und Treue erſchöpft!
Und dabei war der Oberamtmann noch billiger als das Geſetz, das
ein ohne elterliche Einwilligung geſchloſſenes Liebesband mit einem noch
härteren Ausdrucke brandmarkte. Sein Angeklagter muß ihm in jenen
Stunden, wo die Inquiſition „einen vertraulichen Ton annahm“, ergrei¬
fende Eröffnungen gemacht haben, die freilich nicht im Protokoll zu
leſen ſind, auf die man aber daraus ſchließen darf, daß das Protokoll,
das ja nicht die Geſchichte ſeines Schickſalsganges, ſondern nur die
Geſchichte ſeiner Verbrechen enthalten ſollte, die Anklage gegen Stief¬
mutter, Vater, Pfarrer und Amtmann, zwar kurz und dürr, aber doch
in wenigen Worten vollſtändig aufgenommen hat, die Anklage: „nach¬
dem er ſich ehlich mit ſeiner Geliebten verſprochen und ſeine Minder¬
jährigkeit bei der Regierung wegſupplicirt, habe ſein Vater, weil ſie
ihm nicht reich genug geweſen, durchaus nicht darein willigen wollen,
und es bei dem Pfarrer und Amtmann dahin zu bringen gewußt,
daß ihm aller Umgang mit derſelben verboten worden, ob man ſie
ſchon zum drittenmal mit einander ausgerufen gehabt, und daß hieraus
die Exceſſe entſtanden ſeien, die ihn nach und nach auf den Weg des
Verderbens geführt“. Auch die Weigerung des geiſtlichen Hirten, ſeinen
Schafen einen unentgeltlichen Dienſt zu leiſten, hat der Oberamtmann,
ohne Zweifel von dem ſtummen Gefühl des Ehrenmannes geleitet, ge¬
wiſſenhaft in ſein Protokoll eingetragen.


Aber die Rachſucht, mit welcher der Unglückliche ſo oft über dieſen
Erinnerungen gebrütet hatte, war mit ſeinem Stolze gebrochen. „Er ſelbſt“,
erzählt der Sohn des Oberamtmanns, „hielt die abgeſchlagene Heirath
mit Müllerin für die Urſache ſeines Unglücks, und brannte daher während
ſeines ganzen Lebens von Wuth und Rache gegen ſeinen Vater. Den¬
noch redete er zuletzt mit großer Mäßigung von ihm. Er hätte kön¬
nen anders mit mir verfahren, ſagte er einſt: doch es iſt auch wahr,
[476] daß mein Eigenwille allzu groß war; ich ſelbſt habe das Gute ver¬
worfen und das Böſe erwählet. Ich will dahero gern alle Schuld
auf mich allein nehmen. Aber wenn er ja auch Schuld ſein ſollte,
ſo gedenke doch Gott ſeiner Sünden nicht. Er hat auf dieſer Welt
Trübſal genug an mir erlebt. Der arme alte Mann, fuhr er ein andermal
fort, mein Vater, dauert mich. Ich will ihm keine Vorwürfe machen.
Ich wünſchte mir noch ſeinen Segen. Der Eltern Segen baut der
Kinder Häuſer. Das ſchickt ſich nun freilich nimmer auf mich. Aber
ſein Segen würde mir doch erquickend ſein. O, daß Gott ſeine Sün¬
den vergeben wollte, wie er mir die meinigen vergeben hat!“


Dieſem Hauche des Friedens entſprechend malt der Geſchichtſchreiber
ſeine ganze übrige Gemüthsſtimmung. „Nichts aber“, ſagt er, an das
Vorige anknüpfend, „war jetzt ſo lebhaft, als die niemals ganz ver¬
bannten Empfindungen der Liebe. Sein ganzes Herz hing an ſeinen
beiden Frauen, und vorzüglich an ſeinem Kind. Man ſchickte ihm
nichts zu eſſen, von dem er nicht dieſen mittheilte. Beſonders aber
war er für ihren Seelenzuſtand ſo bekümmert, daß er ihnen, wo er
nur konnte, auf das Nachdrücklichſte zuſprach, daß er ſtets ſich nach
ihren Geſinnungen erkundigte, und ſowohl dem Oberamtmann als den
Geiſtlichen die Methode anzugeben ſuchte, wie man ihren Herzen am
beſten beikommen könnte. Eine ſolche Gemüthsverfaſſung gab ihm
Muth in Augenblicken und unter Umſtänden, in denen ſich ſonſt Ver¬
zweiflung auch der Stärkſten bemächtigt; ja er erhob ſich durch die¬
ſelbe bis zu einem ſolchen Grad der Freudigkeit, die ihm ſelbſt bewun¬
dernswürdig vorkam, und die bisweilen ſo weit ging, daß er ſelbſt be¬
fürchtete, ob ſie nicht bloßer Leichtſinn ſein möchte.“


Unter allen dieſen Stimmungen aber ging die Arbeit ununter¬
brochen fort, nicht bloß jene Arbeit der Buße, ſondern die geiſtige
Arbeit einer treuen Zeichnung der Welt, in der er gelebt hatte. Dieſe
Zeichnung iſt in den Unterſuchungsacten niedergelegt. Wohl ſelten
iſt ein ſo dickes Protokoll in der Zeit von ſo wenigen Monaten voll¬
endet worden. So hohe Anerkennung man dem Fleiße und der Berufs¬
treue des Beamten ſchuldet, der der Verwaltung und Rechtspflege
ſeines Bezirks zugleich vorzuſtehen hatte, mit der Perſon ſeines Ge¬
fangenen eine in halb Süddeutſchland verzweigte Unterſuchung in die
Hände bekam, und neben den fortdauernden Verhören einen durch dieſe
[477] veranlaßten ſehr ausgebreiteten Verkehr mit einheimiſchen und aus¬
wärtigen Behörden führen mußte — ſo enthüllt ſich doch zugleich aus
dieſen Acten das Bild eines Angeklagten, der ungezwungen und in
raſch fließendem Vortrage, gleichſam als die leitende Seele der Unter¬
ſuchung, ſeine Angaben dictirt, ſo daß der Richter ſich zuſammen¬
nehmen muß, um mit dem Geiſte und mit der Feder zu folgen. Für
den prüfenden Leſer zerfällt das Protokoll ſomit in zwei Beſtandtheile
von nicht ganz gleichem Gehalte: der eine gehört — ſagen wir nicht,
dem Oberamtmann, ſondern dem Lebenskreiſe, dem er angehörte, und
der Urheber des andern iſt der begabte Verbrecher ſelbſt. Beſonders
verdient die lebendige Kraft hervorgehoben zu werden, mit welcher er
die Maſſe von Perſonen, um die ſich ſeine Ausſagen drehen, zu
ſchildern wußte: mit wenigen Worten, die wie breite Pinſelſtriche wir¬
ken, entwirft er ein Bild nach Geſtalt und Tracht, daß die geſchilderte
Perſon in anſchaulicher Leibhaftigkeit aus dem Protokoll vor das Auge
ſpringt und eben ſo gut dem Richter zu einem Steckbrief, als dem
Dichter, ſo weit dieſer Luſt hat unter die Räuber zu gehen, zu einem
Gemälde in Lebensgröße dient. Und damit man nicht glaube, daß
einem ungebildeten Menſchen aus dem Volke hiemit des Guten gar
zu viel geſchehe, ſo möge an dieſer Stelle in andern Worten und ande¬
rer Auffaſſung die Bürgſchaft des jüngſten Bearbeiters der Geſchichte des
„Sonnenwirths“ eintreten, der ihn nur aus dem Vaihinger Inquiſi¬
tionsprotokoll, alſo von ſeiner ſchwärzeſten Seite kennt, und gleichwohl
den Eindruck, den ihm die Perſönlichkeit des Inquiſiten in den Acten
machte, ſo wiedergibt: „Die Bekenntniſſe des Verbrechers drängten ſich
völlig frei und ungezwungen und in ſolcher Maſſe dem Verhörrichter
entgegen, daß der Bedarf inquiſitoriſchen Scharfſinns zu ihrer Er¬
hebung ſich ungleich geringer herausſtellte, als der Aufwand an Zeit
und Mühe für die juriſtiſche Digeſtion des reichen Materials. Die
Sprache, die er vor Gericht führte, war gewogen, anſtändig, zuweilen
edel, und zeugte im Allgemeinen von einem nicht geringen Maße
natürlichen Verſtandes, namentlich aber wenn es galt, dem unter¬
ſuchenden Beamten das Unlogiſche mancher Unterſtellungen verweiſend
unter die Augen zu halten; ja in Fällen, wo ſich der Richter dahin
vergaß, ungerechte Beſchuldigungen mit Hartnäckigkeit aufrecht erhalten
zu wollen, hatte die beſonnen kalte Rechtfertigung des Angeklagten
[478] etwas von der Ruhe eines Gerechten an ſich, und glich in keiner
Weiſe jenem hündiſchen Trotze verhärteter Böſewichte, die, niederge¬
drückt vom Gewicht gegründeter Beſchuldigungen, den kleinſten Bezicht,
der ſie unverſchuldet trifft, willkommen heißen, um darüber in die
Klagen beleidigter Unſchuld auszubrauſen.“


Er hat aber außer dieſen mündlichen Angaben noch ein ſchrift¬
liches Denkmal hinterlaſſen, wozu er ſelbſt die Feder oder vielmehr
den Bleiſtift in die Hand nahm und, unabhängig von dem Styl des
Oberamtmanns, ſich in ſeiner eigenen Weiſe gehen ließ. Er hatte
ſchonungslos die Genoſſen ſeiner Uebelthaten an's Meſſer geliefert, als
es ihm in der Einſamkeit ſeines Gefängniſſes einfiel, daß das Werk
nur halb gethan ſei, wenn er nicht auch die Hehler angebe, die das
Beſtehen einer ſo weithin gegliederten Kette von Feinden der Geſellſchaft
möglich machten und immer wieder ergänzten.


„Es treiben mich die Bewegungen meines Herzens“ — mit dieſen
Worten begann er in carcere, wie der Oberamtmann in ſeinem Pro¬
tokoll bemerkt, mit den ihm vergönnten Schreibmaterialien einen
mehrere Bogen langen Aufſatz, mit kräftiger klarer Handſchrift, nach
der Schreibweiſe ſeiner Zeit, in welcher ſich die Ungebildeten von den
Gebildeten darin unterſchieden, daß jene den ererbten Sprachſchatz der
Luther'ſchen Bibelüberſetzung mit mehrerem oder minderem Geſchick
handhabten, während dieſe ihrer nicht bei Luther erlernten Satzbildung
mit lateiniſchen Einſchwärzungen je nach dem dritten deutſchen Worte
auf die Beine zu helfen ſuchten. Dieſe Enthüllungen eines Jauners
und Jaunergenoſſen aus der Zeit, die man als die gute, alte, ſittliche,
fromme rühmen hört, ſtellen alle angenommenen Vorſtellungen von
jener Zeit auf den Kopf, laſſen es höchſtens begreiflich erſcheinen, daß
einzelne Enkel einzelner Familien, die inmitten der allgemeinen Ver¬
derbnis; ſich unter günſtigen Lebensumſtänden rein erhielten, auf ihre
Vorfahren ſtolz ſein können, zeigen aber die große Mehrheit des
Volkes, trotzdem, daß es ſehr fleißig in die Kirche ging, in einer
Fäulniß, die einen Lieutenant Mockel, wenn er ſich mit Seinesgleichen
zu dem Streiche, der ihm aufgedämmert war, erhoben hätte, auf
einige Wochen oder Monate — ſchwerlich viel länger — zum Herrn
von Süddeutſchland hätte machen können. Dieſe Enthüllungen ſagen
nicht bloß von Wirthen, Bauern, Hofbeſitzern, ja von ganzen Dörfern
[479] weit und breit umher: „hier iſt ein ſehr Aufenthalt für alle Räu¬
ber“ — nein, ſie nennen eine Maſſe von Ortsbehörden ſelbſt, die mit
den Jaunern im engſten Verſtändniß waren. Nicht von Huſaren,
Hatſchieren, und wie ſonſt die niedern Beamten der öffentlichen Sicher¬
heit hießen, zu reden, die Schultheißen ſelbſt, und in unglaublicher
Anzahl, waren mit den Feinden der öffentlichen Sicherheit förmlich
verſchworen. Da heißt es auf jeder Seite dieſer Denkwürdigkeiten, wo
von dieſem oder jenem Ort die Rede iſt: „Vom Herrn Schultheißen
iſt mir ſehr und wohl bekannt, daß er ein guter Mann gegen die
Diebe und Räuber iſt“, „und ſo viel weiß ich, wenn Einer verwahrt
iſt, er ſei ein Räuber ſo groß als er will, ſo wird Herr Schultheiß
ihm durchhelfen“, „und die Frau des Sohnes iſt wohl zu brauchen
auf den Märkten, wie ich ſelber aus ihrem Munde gehöret, ſie wolle
mit meiner Frau gehen, denn ſie halte man nicht für verdächtig; ſie
könne beſſer bei den Krämerſtänden brav zugreifen; wenn man ein
Bekanntes dabei habe, ſo ſei man nicht ſo im Verdacht.“ Wieder
gibt er in einem andern Orte den Schwager des Schultheißen an, als
einen Mann, „der beſtändig derlei Leute im Haus liegen und auch
mit ihnen zu ſchaffen hat“. „Dieſer Mann“, ſagt er. „iſt aber anzu¬
ſehen für einen frommen Mann, weil er fleißig in die Kirche gehet;
aber doch hat er und ſeine Frau ſchon lange und Vieles mit den
Räubern zu thun; der Schultheiß thut ihm Alles zu wiſſen, wann
eine Streife ergehen ſoll, denn er erhält zuerſt das Schreiben des
Oberamts, und wann eine ergehen ſoll, ſo thut man es den Räubern
gleich zu wiſſen, daß ſie fliehen ſollen.“ „Dieſer Schulze“, ſetzt er
ſofort in ſeiner ganzen Gewiſſenhaftigkeit hinzu, als ob er ſich nicht das
Recht zugeſtände, demſelben gerade zu Leibe zu gehen, „kommt mir auch
ſehr verdächtig vor: ich habe öfters mit demſelben getrunken in ſeines
Schwagers Wohnbehauſung, und er hat Alles von mir geſehen, Pulver
Blei und Piſtolen, hat mir auch ſelber ein Terzerol“ — im Inqui¬
ſitionsprotokoll ſagt er immer Terzrohr — „an Krämerwaaren ver¬
handeln wollen, was aber meine Frau nicht geſchehen ließ. Der
Schultheiß läßt es nur nicht ſo öffentlich an den Tag kommen, weil
er ein ſehr vermöglicher Mann iſt, aber nach ſeinen eigenen Reden,
die er gethan, iſt ihm“ — von den Spitzbuben nämlich — „wohl zu
trauen. Was aber ſeinen Schwager und Schweſter anbelangt, ſo hat
[480] es ſeine Richtigkeit. Das Ort iſt edelmänniſch.“ Wiederum heißt es
von einem dergleichen Orte: „Ich habe geſehen und aus ihrem Munde
vernommen, daß ihnen ſehr wohl gedient mit ſolchem Räubergeſind iſt;
ſie haben auch Viele mit Namen genannt, die mir ſelbiges Mal noch
nicht bekannt waren. Ferner haben ſie geſagt, man ſolle doch nur zu
ihnen kommen, man dürfe ja hier nichts fürchten, die Räuber gehen
viel mit den Leuten in die Kirche aus und ein, man lege Keinem
etwas in den Weg, wenn man nur das Geſtohlene wohlfeil von den¬
ſelben bekomme, ſo ſei Alles recht.“ Wieder in einem andern Ort
„hat mich der Wirth auch zu dem Bürgermeiſter hingeführet und da
geredet ſo offenbarlich vom Stehlen und Rauben, als wenn lauter
Räuber und Zigeuner bei einander wären, ſo daß ich mich ſelber
ſehr verwundern mußt', weil mir ſolche Orte und Gelegenheiten noch
nicht bekannt waren; habe auch gleich einen beſſern Muth zum Stehlen
bekommen, und da ſie auch ſelbſt die jeniſche Sprache reden, ſo gut
wie die Räuber ſelbſt, ſo gedachte ich gleich: den Leuten iſt zu trauen,
und müſſen ſchon dergleichen Leute gehabt haben, ſonſt kennten ſie die
Sprache nicht. Es iſt aber auch wahr, denn die Sprache iſt nicht
leicht zu lernen, und in den Schulen hat man ſie nicht dazu angehal¬
ten — ſo kann ich ja leicht vernehmen, daß dergleichen Leute öfters
dageweſen ſeien und es wohl zu trauen war. Wo mich meine Frau
hingeführet, in den Häuſern reden die Leute die Sprache beſſer als
ich, und ſie haben mich öfters ſehr ausgelacht und geſagt, wann ich
die Chriſtine ſo lang hab' als ſie ſie kennen, ſo werde ich ſchon beſſer
mit der Sprache fortkommen können.“ Feiner in einem Ort: „Beim
Kreuzwirth und ſeiner Tochter, der Straußwirthin, ſind die Räuber
bekannt, und man weiß auch Alles von denſelben, und ſie machen ſich
nichts daraus, da der Herr Stabsſchultheiß ein ſehr naher Freund zu
ihnen iſt, und ſie verlaſſen ſich darauf.“ In einem andern Ort: „Der
Schulz hat auch Vieles mit den Räubern zu ſchaffen und ich bin dem
Schultheißen wohlbekannt, er hat auch Alles von mir geſehen und ge¬
wußt, woher und wer ich bin, und iſt mein ganzer Lebenslauf dem¬
ſelben bekannt; aber er war ein Liebhaber ſolcher Leute und ſehr ver¬
ſchwiegen, ſonderbarlich ſeine Frau, die mit der alten Anna Maria
Vieles zu ſchaffen gehabt, ſich auch hat brauchen laſſen und ſich unter¬
ſtanden, da damals der Anna Maria ihr Sohn in Verhaft gekommen,
[481] und ſich die Schultheißin viel Mühe gegeben, wie möchte zu helfen
ſein, aber dabei gemeldet, um wenig Geld helfe ſie nicht dazu, aber
wenn man ihr gebe was recht ſei, ſo wolle ſie es in Stand bringen,
daß ſie gewiß hindurchkommen.“ Daß die Weiber, wenn ſie einmal
die Scheu überwunden haben, viel entſchiedener als die Männer auf
das Ziel losgehen, zeigen auch ſonſt noch manche Stellen dieſer Denk¬
würdigkeiten, wie er denn von einer andern dieſer Gelegenheitsmache¬
rinnen ſagt, ſie ſei eine ſolche ſchlimme Frau, daß er es ſelbſt nicht
genug beſchreiben könne, und habe ihm manchen Seufzer ausgepreßt,
weil ſie Einem keine Ruhe gelaſſen habe, bis man zum Stehlen fortgegan¬
gen ſei. Bemerkenswerth und ein Zeugniß für die ſchlechten Nahrungsver¬
hältniſſe iſt, daß die Leute den Räubern beſtändig in den Ohren liegen,
ſie ſollen ihnen doch Fleiſch verſchaffen; ſelbſt in das Wirthshaus
müſſen ſie, wenn ſie dort nicht Mangel daran leiden wollen, geſtohlene
Hämmel mitbringen. Die Enthüllungen umfaſſen einen beträchtlichen
Theil von Süddeutſchland, und beinahe in jedem der genannten Orte
iſt die Ortsbehörde in das Getriebe des Jaunerweſens mitverwickelt.
„Was den Herrn Schultheißen anbelangt“, heißt es bei ſolchen Ge¬
legenheiten, „ſo werden ſeine Umſtände bald am Tag ſein, wann man
ihm ſein Zollbuch abfordert, denn er hat mir ein Zollzeichen gegeben,
damit ich ſoll richtig mit der geſtohlenen Waare durchkommen, und
in dem Zollbuch wird ſtehen der Name Joſeph Klein oder Sigmund
Hermann.“ Andere Gemeindebehörden verhelfen den Räubern zu
Päſſen, mit welchen ſie die Lande unangefochten durchziehen können.
Da iſt gar ein Bürgermeiſter „ein ſolch ſchlimmer Mann: wenn eine
Streife ergangen, hat er die Räuber ſelbſt in ſein eigenes Bett hin¬
eingelegt, wie ich und meine Frau ſelbſt einmal darinnen in der Ver¬
wahrung geweſen.“ Es ergibt ſich aus dieſem Allem, daß die Zeit für
das Schwurgericht noch nicht reif war, weil auf der Anklagebank die
Stehler und auf der Geſchwornenbank die Hehler geſeſſen wären.
Aber nicht bloß das Bürgerthum bis zu ſeinen Vorſtehern hinauf, ſon¬
dern auch der Adel, der einen ſo großen Theil von Land und Leuten
in unbedingter Abhängigkeit hielt, hat in einzelnen Mitgliedern, aus
Furcht oder Vortheil, an der Begünſtigung dieſes Raubweſens Theil ge¬
nommen. Will man aber vollends mit ganzem Maße meſſen, ſo muß
man ferner nicht bloß das Gehenlaſſen der Regierungen, ſondern auch
D. B. lV. Kurz, Sonnenwirth. 31[482] den Zeitgeiſt ſelbſt mit zur Anklage ziehen, deſſen ſonderbare Vorliebe
für Erzählungen von Räuberabenteuern, deſſen krankhaft zärtliche Theil¬
nahme an den Helden derſelben beweiſt, wie verkehrt und widerſpruchs¬
voll der Geiſt des Menſchen werden kann, wenn er dunkel ſpürt, daß
ſeine Zeit in Haushalt und Menſchenrecht nicht wohl beſtellt iſt. Dieſe
Bildung ſchwelgte aasvogelartig in Lebensbeſchreibungen berüchtig¬
ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬
ten Räubergeſchichten, deren wirkliches Erleben ſie jeden Augenblick
in Haus und Hof ernſtlich zu befürchten hatte, und all dieſer Angſt
zum Trotze ſtellte ſie ſich dennoch, ſo oft ſie in ihren Romanen von einem
Kampfe der Räuber mit den Dienern des Geſetzes las, auf die Seite
der erſteren, und bekannte hiedurch den Zwieſpalt zwiſchen ihr und dem
Geſetz; ja als endlich ein zum Höchſten berufener Dichtergeiſt ſeine
Jugendkraft und ſeinen Jugendzorn über die Zeit, die er ſo erbärm¬
lich fand, in die Geſtalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte
faſt die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber
und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken ſie belehren konnte, daß
nicht jeden Tag ein verbrecheriſcher Reichsgraf durch die böhmiſchen
Wälder reiſt, um einen edlen Räuber als den Vollſtrecker einer
höheren Juſtiz zu ernähren, ſondern daß dieſer gar bald bei ehr¬
lichen und unſchuldigen Menſchen mit Liſt oder Gewalt ſein tägliches
Brod holen muß.


In dieſe Zeit, deren Sitte, Geiſt und Bildung ſich ſo gänzlich vom
Beſtehenden nicht nur, ſondern auch vom Rechten abgewendet hatte,
daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne
Geleiſe zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher
Bürgersſohnes wie ein Wetterſchlag — nicht in die Leſewelt, denn ſie
blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬
ſchen Leſehunger ſchlecht befriedigt haben, ſondern in die „alerte“
Welt des Verbrechens und in die ſchlaffe Welt des Geſetzes. Sie
haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund
aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können,
aber ſie haben ein Großes zur Herſtellung der öffentlichen Sicherheit
gethan, und beinahe ein Menſchenalter iſt vergangen, bis wieder eine
ſtärkere Bande zwiſchen dem Rhein und der Donau ſich zu ſammeln
wagte. Die Geſtändniſſe des Räubers gaben den Behörden nicht bloß
[483] die Mittel an die Hand, den erſten jener planmäßigen Schläge zu führen,
welchen die von der Hehlerei unterſtützte Jaunerei, wenigſtens in der hoch¬
gefährlichen Geſtalt, die ſie um die Mitte des Jahrhunderts angenom¬
men hatte, nach und nach erlag, ſondern ſie entdeckten ihnen auch
gewiſſe Fachgeheimniſſe des Räuberhandwerks, die ſie in Stand ſetzten,
ihre Angehörigen künftig zweckmäßiger zu ſchützen. Denn auch dieſes
Gewerbe hatte ſeinen Fortſchritt und ſeine Erfindungen, und die Acten
bewahren hievon Züge menſchlichen Scharfſinns auf, an dem man ſich
ergötzen könnte, wenn er beſſer angewendet worden wäre. Es iſt ein
hartes Urtheil, das man der Zeit nicht erſparen kann: dieſer Menſch
hat ihr dadurch, daß er ſchuldig geworden iſt, unendlich mehr genützt,
als wenn er in den Schranken des Geſetzes geblieben wäre. Die
eigenthümliche Art ſeines Verdienſtes mahnt zur Vergleichung mit
einem ähnlichen Verdienſte, das ſich ein Höhergeſtellter um die Zeit
erwarb, der Graf Schenk von Caſtell, der, vom Eifer des Markgrafen
von Durlach beſeelt, auf eigene Hand in Süddeutſchland umher und
bis nach Graubünden und Italien hinabzog, um das Raubgeſindel ein¬
zufangen, und den die Jauner um ſeiner Kühnheit und Strenge willen
fürchteten, als ob er vom Teufel gefeit und gefeſtet wäre, ſo daß einſt,
als er allein im Walde ritt, ein Räuber einem andern, der auf ihn
angeſchlagen hatte, zurief: Laß, es iſt der Graf von Caſtell! und es
nur eines Wortes von ihm bedurfte, um die Beiden als Spürhunde in
ſeinen Dienſt zu ziehen. Es iſt die Frage, wer mehr gethan hat, die
Wälder zu ſäubern und die Diebsherbergen auszufegen, der hohe Reichs¬
graf zu Diſchingen oder der in den Staub getretene Metzgerknecht von
Ebersbach. Ihm ſelbſt wenigſtens ſcheint ſein unbeſiegbares Selbſt¬
gefühl zugeflüſtert zu haben, daß er in ſeinem Gefängniß eine nicht
unwichtige Perſon geworden ſei, und er braucht in ſeiner Aufzeichnung
mitunter Ausdrücke gegen die Obrigkeit, wie ſie ein Vorgeſetzter ſich
gegen ſeine Untergebenen erlaubt. „Wiewohl ich weiß“, ſagt er an
einer Stelle, „daß viele Räuber gefangen zu Karlsruhe liegen, will
ich nur deſto eher zeigen, daß die Herren von Durlach oder Karlsruhe
eine ſehr liederliche Kenntniß von denſelben haben, und es ihnen ge¬
wiß nicht geoffenbart worden, wie ich es melden werde.“ Dann nimmt
er oft einen ganz befehlshaberiſchen Ton an. „Nur dieſe in Verhaft
genommen!“ ruft er, wo von einer Frau die Rede iſt, die er erſchrocken
31 *[484] und weichherzig im Gegenſatze gegen ihre hartgeſottene Familie nennt:
„von ihr kann man Alles herausbringen, wenn man derſelben nur mit
guten Worten begegnet.“ „Nur gefragt, wo er den blauen Mantel
hergenommen, den er habe!“ commandirt er gegen einen Hehler, der ſich
wahrſcheinlich mit der Furcht vor den Räubern entſchuldigen werde, was
man ja nicht gelten laſſen ſolle. Ein andermal ſchreibt er genau das
Verfahren vor, durch welches man einen jaunerfreundlichen Wirth zum
Geſtändniß zu bringen habe: „Man frage ihn auf Pflicht und Eid
— wofern er etwas ableugne, ſo ſolle er gewißlich auf die Galeeren
condemnirt — er ſolle redlich ſagen wie es mit dem Raub zu¬
gegangen, er ſolle ſagen woher er den Cattun, den er über ſein Bett
gezogen, genommen habe, er ſolle ſagen, was für Sachen der Jude,
der im Ort wohnt, in ſeinem Hauſe gekauft habe“ u. dgl. mehr. Auch
darf nicht verſchwiegen werden, daß ihn an einigen Stellen die Liebe
zum Leben mit vielleicht nicht ganz unbeſtimmten Hoffnungen beſchli¬
chen zu haben ſcheint. „Wann ich in das Amt komme, will ich die
Dörfer ſchon melden“, ſagt er an einer Stelle. Die Auslegung ſteht
Jedem frei. Gewiß aber ſchickt ſich Verrath um höherer Zwecke willen
am beſten für den Sterbenden, der keinen Lohn mehr nehmen kann,
und zum begnadigten Diebsfänger war wohl ein Konſtanzer Hans,
eine leichter angelegte luſtige Haut, gut genug. — Die Volksſage be¬
hauptet, der „ Karl Herzog“, wie ſie ihn nennt, habe auf der Durch¬
reiſe durch Vaihingen den vielbeſprochenen Räuber ſich und ſeinem
Gefolge vorſtellen laſſen, wie ſie auch verſichert, daß dieſer ſeinem
Fürſten einſt das Leben gerettet habe. Aber der alte Fürſtenbrauch,
wonach ein verfehmter Mann, den ſein Oberlehnsherr über Leben
und Tod vor ſich gelaſſen, das fürſtliche Antlitz nicht unbegnadigt
ſchauen durfte, war längſt abgekommen, und der Herzog konnte damals
auch nicht gnädiger geſtimmt ſein als zur Zeit der Schlacht von Fulda,
denn er war mit ſeiner Landſchaft in jenen verdrießlichen Streit ge¬
rathen, der ihn als Beklagten vor den Richterſtuhl des Kaiſers ſtellte,
und ſchon ſeit einem Jahre ſaß ihr ehrwürdiger Conſulent, in dem er
den Verfaſſer ihrer mißliebigen Schriftſätze vermuthete, ohne Urtel
und Recht in summo squalore carceris, wie die landſchaftliche Klag¬
ſchrift ſich ausdrückt, auf derſelben Feſtung, wohin einſt eine in ver¬
faſſungsmäßiger Form ergangene hochfürſtliche Reſolution den nächtlichen
[485] Beſucher des Ebersbacher Pfarrhauſes „puncto furti tertia vice
reiterati ad dies vitae
gerechteſt condemniret“ hatte.


Daß bei der Aufzählung jener ſchmutzigen Biedermänner, die den
Räuber ſeinen Hals wagen ließen und ſich an ihm bereicherten, hie
und da weltliche Anwandlungen den geiſtlichen Frieden ſeiner Seele
trübten, geht aus manchen Stellen unleugbar hervor. „Wann eine
chriſtlich geſinnte Obrigkeit“, klagt er an einer dieſer Stellen, „das
Böſe begehret abzuſtrafen und darinnen Ruhe zu ſchaffen, wann das
Böſe ſoll gedämpft werden, ſo muß man ſolche Leute zuerſt angreifen.
Denn ihr Zweck iſt: ſtehlen, ſo daß ein Mancher in ſolchen Orten
noch zum Stehlen angetrieben wird. Denn der Räuber hat manch¬
mal den wenigſten Nutzen vom Stehlen, weil er es ſolchen Leuten um
einen wohlfeilen Preis geben muß und nichts daraus löſet, und dieſer,
der es kauft, hat den beſten Nutzen. Der Räuber kommt darauf in
Verhaft, man nimmt ihm das Leben, er hat kaum die Hälfte genoſſen;
der Käufer bleibt ein ehrlicher Mann und hat den beſten Nutzen, und
gedenket: ob der Eine todt iſt — ich habe noch Viele an mir, die mir
geſtohlene Waaren bringen. Solche Leute machen ſich gar nichts dar¬
aus, ob ſie ſchon die größte Anleitung dazu geben, wenn ſie nur alle¬
zeit ſicher ſtehen bleiben. Aber Gott der Allmächtige ſoll mein Zeuge
ſein, daß ich, ſo viel ich weiß, ſolche Leute nicht zu verſchonen ge¬
denke; denn von meinen jungen Jahren an bin ich in ſolche Häuſer
verleitet worden und zum Stehlen angetrieben, daß mein Verſtand
noch nicht ſo weit gereicht hätte, wenn man mich nicht dazu verleitet
und angetrieben, und man mich nicht gleich in meiner blühenden Ju¬
gend in die verruchten Häuſer eingezogen hätte. Mein ganzer Lebens¬
lauf rührt davon her, bis in meinen Tod; ich kann nicht mit Ruhe
abſterben, bis ich mein Herz vor der Obrigkeit von ſolchen Leuten ge¬
nugſam ausgeleert habe, damit doch das Böſe recht geſtraft wird.
Man wird ſich verwundern, wie lang daß ſolche Leute mit den Räu¬
bern zu thun gehabt, und wie viel Erhenkte ihnen bekannt, und
wie viele dermalen noch am Leben, mit denen ſie noch zu thun haben.
Mit der Hilfe Gottes werde ich dieſelben ſo überzeugen, daß ſie ſich
nicht mehr verantworten können.“


Man wird dieſer Klage, welche auch auf der Nachtſeite der alten
Geſellſchaft — nach heutiger Weiſe geſprochen — die Arbeit vom
[486] Capital unterdrückt zeigt, und aus welcher man die Verwünſchungen
der Verfaſſer jener Räuberromane über ihre Verleger wiederklingen
zu hören meint, ihre menſchliche Berechtigung um ſo weniger abſprechen,
wenn man bedenkt, daß der Unglückliche aus ſeinem eigenen Beiſpiel
ſich die Aufforderung entnehmen mußte, ſo manchen Andern, der auf
Irrwegen wandelte, durch die Zerſtörung dieſer Diebsneſter vor ähn¬
lichem Verderben zu bewahren. Man wird zwar, ſeinen eigenen Wor¬
ten zufolge, nicht ganz unbedingt gelten laſſen, was er bei ſeinem
Geſchichtſchreiber, dem Sohne des Oberamtmanns, über dieſe Angaben
ſagt: „Gott weiß, daß nicht der geringſte Groll darunter verborgen
liegt, wenn ich jemand entdecke; ich habe im Gegentheil viele von
meinen Freunden, manche, die aus ihren Betten aufgeſtanden ſind, um
mich darin liegen zu laſſen, — nur um das Böſe zu verhindern, ver¬
rathen; ich geſtehe es, daß mir dieſes ſelbſt ſehr wehe thut.“ Es kann
kein Zweifel ſein, daß dieſe Stimmung vor und nach dem Schreiben
aufrichtig war; unter dem Schreiben ſelbſt aber, haben wir geſehen,
überkam ihn das Gefühl des leiblichen und geiſtigen Schadens, den
ihm dieſe Leute gethan, und war ſtärker als er. Ohne Rückhalt wird
man jedoch glauben, was er hinzuſetzt: „Wenn ich gedenke, daß da¬
durch ihre Kinder abgehalten werden, den böſen Exempeln ihrer Eltern
zu folgen, daß ſo viele Unſchuldige gerettet, daß manches Kind in
Mutterleibe werde erhalten werden, ſo bin ich überzeugt, daß ich hieran
Recht gethan habe.“ — Um die Zeitbeſtimmung nicht mißzuverſtehen,
wenn er klagt, daß er von ſeinen jungen Jahren an in ſolche Häuſer
verleitet, in ſeiner blühenden Jugend in die verruchten Häuſer ein¬
gezogen worden ſei, muß man ſich ſagen, daß dieſe Jugend zu der
Stunde, da er ſchrieb, noch blühte oder wenigſtens nach menſchlicher
Berechnung hätte blühen ſollen: denn er feierte ſeinen einunddreißigſten
Geburtstag in dem Gefängniß zu Vaihingen. Die eigentlichen Diebs¬
herbergen aber hat er nach ſeiner eigenen Angabe, wie ſogleich die
folgende Stelle zeigen wird, erſt durch ſeine Verbindung mit der
ſchwarzen Chriſtine kennen gelernt; und daß dieſe nicht früher als drei
Jahre vor ſeiner Vaihinger Verhaftung augefangen hat, geht unwider¬
leglich aus den Acten hervor. Dieſe nicht einmal vollen drei Jahre
müſſen ihm ſomit, als er die Klage niederſchrieb, in welcher er ſeine
Jugend fern und längſt Vergangen ſah, wie eine Ewigkeit erſchienen
[487] ſein. Wohl mag ihm auch eine Erinnerung an jenen Kramet in Rech¬
berghauſen vorgeſchwebt haben, deſſen Bekanntſchaft für ihn jedoch nur
eine Vorſtufe zu der Leiter in den Abgrund war. Auch hat er dieſen
ſowohl, als den Hof, auf welchen er der ſchwarzen Chriſtine folgte,
in ſeinen Enthüllungen genannt, ohne jedoch einen großen Verrath an
der Freundſchaft zu begehen, denn der gute Freund arbeitete bereits ſeit
zwei Jahren, wie aus dem Amtsbatt vom 28. Februar 1758 hervor¬
geht, puncto furti, receptationis et celationis facinorosorum mit
angehängter Kugel im Zuchthauſe. Bei dieſem Anlaſſe muß noch her¬
vorgehoben werden, daß durch die Enthüllungen des Verbrechers kein
eigentlicher Landsmann deſſelben betroffen worden iſt: denn die zuletzt
Genannten gehörten ritterſchaftlichem Gebiete an. Aus ſeiner Heimath
hat er Niemand verrathen, als die Genoſſin ſeines Unglücks von Anfang
an, die blonde Chriſtine. Wenn hienach das damalige Herzogthum Wir¬
temberg, obgleich ſein Zuchthaus ſtets gefüllt war, doch im Vergleiche
mit den umliegenden Herrſchaften und adeligen Beſitzungen als der ein¬
zige geſunde Kern von Süddeutſchland erſcheint, ſo kann man dies, da
die Nachbarn mit ihm das Chriſtenthum gemein hatten, nur dem Vor¬
züge zuſchreiben, daß dieſer Bruchtheil des ſchwäbiſchen Volkes, wenn
auch in ſehr verkümmerter Geſtalt, allein noch einen kleinen Reſt von
Freiheit und Selbſtherrlichkeit beſaß.


„Dermalen“ — ſo ſchließt die merkwürdige Aufzeichnung — „ſoll
nun die Obrigkeit betrachten, was ich in den kurzen etlichen Jahren
ſchon an Aufenthalten gemeldet habe, und das wird unter den tauſend
Aufenthalten kaum ein Theil ſein, was nämlich die, welche Zeit- und
Taglebens ſchon mitlaufen, ſagen könnten, wenn ſie eine beſtändige Er¬
kenntniß ablegen wollten. Ich ſage an: wie es denn möglich ſei, Schelmen
oder Diebe zu fangen, wenn man nicht ſolche Aufenthalte zuerſt ausrottet?
Es gehet etwa ein Schreiben aus von den gnädigſten Herrſchaften — ſo
ſind ſolche Leute da und machen es den Räubern zu wiſſen, oder verber¬
gen ſie ſelbſt gar. Wie will man dieſelben dann bekommen? Es iſt
keine Möglichkeit, wenn man ſolche Orte nicht verderbt; es entſpringt
der ganze Urſprung von Stehlen und Rauben aus ſolchen Häuſern.


„Nur um eine kleine Andeutung zu machen, wie mir's in denen
Häuſern ſelbſt gepaſſiret iſt: als meine erſte Frau, die Chriſtina Müllerin,
in Verhaft gekommen, und mich dieſe Chriſtina Schettingerin durch ihre
[488] liebliche Redensarten zu ſich gezogen und mir die Gelegenheiten und ſolche
Aufenthalte gewieſen, die mir nicht bekannt waren, und wie ich nun von
einem Haus in das andere gegangen, und zum Erſten kam, ſprach er:


„Hat Chriſtina wieder geheirathet? — Sie ſprach: ja!


„Iſt er aber auch ein ſo guter Räuber wie Euer erſter? — Sie
antwortete: ja!


„Hätte ſie geſagt: nein, ſo wär ich ſchon nicht wohl daran geweſen.
Sie ſprach im Haus herum: er hat bald eine Sau geholet, bald ein
Schaf, bald dies bald das.


„Er hat uns ſehr viel Guts gethan, wenn Ihr nur auch ſo gut
werdet. — Das Eine ſprach: ich bin heut über Feld geweſen, ich habe
da und dort was von Thierfleiſch geſehen; ich habe auch die Schäfer¬
pferche auf der Brache geſehen — holet das Fleiſch oder holt ein
Schaf, daß wir auch wieder Fleiſch eſſen dürfen! — ferner: habt
ihr nichts Geſtohlenes bei euch? Ich brauche was von Kleidern, mein
Mann hat nichts und meine Kinder haben auch nichts; wir müſſen
gekleidet ſein — machet, daß ihr was zu ſtehlen bekommet, und ſchaffet
uns was an! Ich bin nicht weit über Feld hinausgekommen, ſonſt
wollte ich euch etwas auserſehen haben, wo ihr was erwiſchen könntet,
aber bis ihr wieder kommet, will ich was auserſehen!


„Und ſo ſind alle dieſe Aufenthalte. Eine manche Weibsperſon,
die auf dem Lande gehet, hat ſchon bis Drei oder Vier am Galgen; ſie
führet noch Einen aus einem Dorf heraus, der nur ein Liebhaber
des ſchönen Frauenzimmers iſt; ſie bringt ihn an ſolche Oerter hin;
er höret ſolche Reden; was dieſes Menſch nicht Böſes genug an ihm
vollbringen könnte, das wird ihm da vollends eingepflanzt und er
mit Gewalt zum Stehlen gereizet und gelocket.


„Bei mir aber, da war ſchon ein kleines Fünklein zum Stehlen
aufgegangen geweſen; aber bei einem ſolchen Menſchen, die Zeit-
und Taglebens nichts anders gethan, und in ſolchen Häuſern, wo
nichts als von Rauben und Stehlen geredet und täglich an Einem gepflanzt
und geſchüret wird, da muß ein großes Feuer daraus werden, und nicht
mehr nachlaſſen, bis er dem Henker unter die Hände fällt. Und ſo
geht es mit einem Manchen. Das ſind die ärgſten Schelmen, die
Aufenthalt geben, und ſie bleiben doch ehrliche Leute, haben auch den
größten Nutzen und Genuß, und der Kleine wird gehenkt und die
[489] Großen läßt man laufen — man fürchtet, ſie möchten ausgerottet
werden. Wann man aber einem Vogel das Neſt nimmt, ſo kann er
keine Junge mehr hegen oder ziehen.


29. Juli 1760.


Arreſtant in Vaihingen:


Joh. Friedr. Schwan.“


Das gerichtliche Verfahren nahm unter dieſer Zeit beſtändig ſeinen
Gang, ja es wurde ſehr beſchleunigt, da man in Stuttgart fürchtete,
der Seelenzuſtand des Gefangenen möchte nicht für die Dauer halt¬
bar ſein. Nach geſchloſſener Unterſuchung trat jetzt eine andere Rechts¬
form ein, welche, in der Verfaſſung und im Tübinger Vertrage be¬
gründet, bei peinlichen oder ſehr ſchweren Fällen, deren ſich ein Lan¬
desangehöriger ſchuldig gemacht, angewendet wurde, und einen Schatten
der alten ſelbſtherrlichen Volksgerichtsbarkeit enthielt. Der in Stadt
und Amt allmächtige Beamte, nachdem er an die Regierung berichtet
und von ihr die nöthigen Weiſungen erhalten, verwandelte ſich jetzt
in einen beſcheidenen Ankläger, der bei der Stadtgemeinde, die er ſonſt
regierte, als Fiscal im Namen des Staates oder vielmehr des Herzogs
gegen ſeinen Inquiſiten Recht ſuchte. Als ſolcher mußte er den ge¬
wohnten Vorſitz in der oberſten Gemeindebehörde, dem Gerichtscollegium,
abtreten, und mit der Gemeinde, an die jetzt der Gerichtsſtab vorüber¬
gehend zurückgekommen war, erhielt auch ihr urſprünglicher Vorſteher,
der Bürgermeiſter, eben ſo vorübergehend ſeine alte Bedeutung wieder,
indem er als Stabhalter den Vorſitz im Stadtgerichte übernahm.
Dieſes lud nun die beiden ungleichen Parteien vor und beraumte
ihnen die Tagfahrt an. Da jedoch die „Dignität“ des Beamten durch
dieſe Stellung etwas gefährdet erſcheinen mochte und er als Regent,
Richter und oft auch Kellereibeamter des Bezirks, dazu als Haupt¬
vorſteher der Bezirksſtadt ſich mit Recht auf ſeine vielen Amtsgeſchäfte
berufen konnte, ſo war es ihm geſtattet, ſein Klägeramt einem Rechts¬
anwalt aus der Zahl der beeidigten Hofgerichtsadvocaten zu übertragen.
Dem gleichen verpflichteten und vorrechtlich befähigten Stande mußte
auch der Vertheidiger oder vielmehr Defenſor angehören, den ſich der
Angeklagte wählen durfte, oder der ihm, wenn er von dieſer Freiheit
keinen Gebrauch machte, ex officio ernannt wurde. Am Rechtstage
verſammelte ſich das peinliche Gericht im Gerichtsſaale des Rathhauſes.
Ein in der Gerichtstafel befeſtigtes bloßes Schwert, das aufrecht mit
[490] der Spitze nach oben ſtand, verkündigte, daß hier der Stab und ſeine
Gewalt ſich befinde. Oben an der Tafel ſaß der Stabhalter und neben
ihm, in der Perſon des Stadtſchreibers, der Gerichtsactuarius, der
das Protokoll führte, beide ſchwarz gekleidet. Die Gerichtsbeiſitzer (aus
deren Zahl der Oberamtmann bei der Unterſuchung ſeine zwei Sca¬
binen genommen) ſaßen innerhalb der Schranken auf ihren Sitzen,
alle in ſchwarzen Mänteln. Vor den Schranken rechts hatte der Ac¬
cuſator, links der Defenſor ſeinen Platz. In der Mitte, vor dem Ein¬
gang der Schranken, war eine ſchwarz angeſtrichene Schranne aufge¬
ſtellt. Der übrige Raum des Saales außerhalb der Schranken war
den Zuſchauern und Zuhörern überlaſſen. Der Stabhalter befahl dem
Gerichtsdiener, den Angeklagten aus dem Gefängniß vorzuführen, was
ſofort unter guter polizeilicher Bedeckung geſchah. Während dieſes
Ganges wurde auf dem Rathhauſe das Malefiz- oder Armeſünder¬
glöcklein geläutet. Bei ſeiner Ankunft im Gerichtsſaale wurde der An¬
geklagte in Feſſeln auf die ſchwarze Schranne geſetzt. Der Stabhalter
eröffnete die Verhandlung des accuſatoriſchen Proceſſes mit einer kur¬
zen Rede und forderte dann den Fiscal auf, die Anklage ſammt dem
Petitum vorzutragen. Dieſer verlas die Accuſationsſchrift mit der hin¬
ſichtlich der Straferkennung an das Gericht geſtellten Bitte. Dann
wurde dem Defenſor das Wort ertheilt. Dieſer bat zuvörderſt das
Gericht, den peinlich Beklagten ſeiner Feſſeln zu entlaſſen, damit er
auf freiem Fuße vertheidigt werden könne. Der Stabhalter entſprach
der Bitte und befahl dem Gerichtsdiener, dem Angeklagten die Feſſeln
abzunehmen, was außerhalb des Saales geſchah. Dann wurde er wieder
eingeführt und feſſelfrei auf ſeine ſchwarze Schranne geſetzt. Er befand
ſich nun als Freier vor ſeinem eigentlichen Richter, aber alles dies
nur ſcheinbar, denn der Angeklagte war mundtodt und ſein Urtheil
wurde ihm nicht von dem Richter geſchöpft. Der Defenſor las ſeine
Defenſionsſchrift ab, welche ebenfalls vorher, auf Grund der Anklage¬
ſchrift und etwaiger mit dem Gefangenen in Gegenwart zweier Sca¬
binen gehaltenen gütlichen Verhöre, ſchriftlich gefertigt worden war.
Nach Verleſung derſelben gab der Accuſator ſeine mündliche Replik
und der Defenſor duplicirte gleichfalls mündlich. Waren es, wie im
vorliegenden Falle, mehrere Angeklagte, ſo traten auch mehrere De¬
fenſoren auf, um die Verhandlung noch ſchleppender zu machen. Nach
[491] beendigter Accuſation und Defenſion eröffnete der Stabhalter Namens
des peinlichen Gerichts das ebenfalls im Voraus fertige Interlocuto¬
rium, daß der Richter ſich der Urtel Bedacht nehme und daß die
ſämmtlichen Acten ad consulendum an die Juriſtenfacultät in Tübingen
verſendet werden ſollen. Mit dieſem Zwiſchenbeſcheide war die ganze
leere Förmlichkeit der öffentlichen Rechtsverhandlung geſchloſſen, und
der oder die Angeklagten wurden aus dem Saal entlaſſen, außen
wieder gefeſſelt und in das Gefängniß zurückgeführt. Nunmehr wurden
die Unterſuchungsacten nebſt den vom Ankläger und Vertheidiger ge¬
wechſelten Schriften und dem ſtadtgerichtlichen Protokoll über den kur¬
zen mündlichen Reſt der Verhandlung an die Juriſtenfacultät in Tü¬
bingen zur Ertheilung eines rechtlichen Gutachtens eingeſandt. Dieſe
war ſomit, da es in der Regel bei ihren Gutachten ſein Verbleiben
hatte, der eigentliche Richter, der die peinlichen Proceſſe entſchied. Sie
ſandte ihr Gutachten unter Wiederanſchluß der Acten an das Stadt¬
gericht zurück; aber auch jetzt waren dieſem immer noch die Hände
gebunden, und es mußte das gutachtliche Erkenntniß nebſt den Acten
der Regierung einſchicken, welche es, mit ihrer Anſicht, dem Herzog
zur Beſtätigung oder begnadigenden Abänderung vorlegte. Wenn letz¬
tere eintrat oder der Spruch überhaupt nicht an das Leben ging, ſo
hatte das peinliche Gericht mit dem Proceſſe nichts mehr zu thun,
ſondern das Erkenntniß ging unmittelbar dem Oberamtmann zur Voll¬
ziehung zu. Erfolgte aber ein Todesurtheil, ſo wurde daſſelbe dem
peinlichen Gerichte zugeſendet und zugleich vorläufig dem Verurtheilten
im Gefängniß durch den Regierungsbeamten einige Tage vor der
Execution bei feierlicher Verſammlung angekündigt. Zur Einführung
in die chriſtliche Heilsordnung war ihm gleich im Beginne ſeiner Ge¬
fangenſchaft das zu dieſem Behufe von einem Stuttgarter Stiftsober¬
helfer verfertigte und laut allerhöchſter Vorſchrift vom 14. November
1753 durch den Buchbinder ſtark geleimte und dauerhaft gebundene
Maleficantengebetbuch in die Hand gegeben worden. Am Tage der
Hinrichtung wurde der zweite Rechtstag gehalten, bei welchem wieder
die Gemeinde als Richter in ihr Amt eintrat. Die Mitglieder des
peinlichen Gerichts erſchienen ſchwarz gekleidet mit Degen an der Seite
im Gerichtsſaale, das Schwert war aufgepflanzt, der Verurtheilte
wurde unter dem Läuten des Malefizglöckleins vorgeführt, der Stab¬
[492] halter, mit dem ganzen Gerichte ſich erhebend, trat vor und eröffnete
ihm das Todesurtheil mit dem Beifügen, daß der Herzog die Be¬
ſtätigung ertheilt habe, brach den Stab mit den Worten: „Gott ſei
deiner armen Seele gnädig!“ und übergab ſodann den armen Sünder
dem Regierungsbeamten, der die Vollſtreckung zu leiten hatte.


Das Urtheil, das die Juriſtenfacultät gefunden und der Herzog
beſtätigt hatte, verhängte über Friedrich Schwan die Todesſtrafe in der
ſchwerſten Form, welche die Zeit kannte, und ohne alle Milderung.
Chriſtine Schettinger wurde zum Strang verurtheilt. Die Magd, ein
bitterarmes Geſchöpf auf der unterſten Stufe der geſellſchaftlichen
Rangordnung, deſſen eigenmächtige Diebſtähle ſich auf zwei Hemden,
einige Tiſchmeſſer und Zinnlöffel und eine Semmel beſchränkten,
und das dem Richter auf die Frage nach Stand und Beſchäftigung
geantwortet hatte: „Schwefelhölzlen und Tragbäuſche machen, und bei
Gott und guten Leuten mein Brod ehrlich ſuchen“ — theilte das
Schickſal der Frau. Den Knecht erreichte der Arm des Richters nicht:
er war aus dem Vaihinger Gefängniß entflohen. Chriſtine Müller wurde
für ihre Theilnahme an einigen Diebſtählen, noch mehr aber wegen
ihrer Verbindung mit dem Erzböſewicht überhaupt, zur Ausſtellung
am Hochgerichte und hierauf zu erſtehender vierjähriger Zuchthaus¬
ſtrafe verurtheilt. Das Verhältniß beider Weiber zu dem Hauptange¬
klagten wurde im Urtheil ausdrücklich als Unzucht bezeichnet. Ueber
das Kind endlich, das Chriſtine Schettinger im Gefängniß geboren,
wurde verfügt, daß daſſelbe bis zum zuchthausfähigen Alter von neun
Jahren, das heißt, wie man es nicht anders deuten kann, bis zur
Aufnahme unter die ſogenannten freiwilligen Armen, auf öffentliche
Koſten untergebracht werden ſolle.


„Schwan“, ſagt ſein Geſchichtſchreiber über die Verkündigung im
Gefängniß, „hörte mit unveränderter Miene die ſchrecklichen Worte,
keine Thräne entfloß ſeinen Augen, kein unwilliger Seufzer ſeinem
Munde. Wenn ſie meine Beine in tauſend Stücke zerſtoßen, ſagte er,
ſo können ſie mich doch nicht von meinem Heiland reißen.“ Allein
dieſe Ermannung, fügte er hinzu, habe ihn die ganze Anſtrengung
ſeiner Kräfte, den ganzen Schwung ſeiner Seele gekoſtet, und ſobald
dieſe nachließen, ſei Furcht an die Stelle des Muthes getreten und er
habe ſich einige Stunden hernach beklagt, daß ſein Tod doch immer
[493] ſehr hart ſei. Man wird ihm nicht zu nahe treten, wenn man ver¬
muthet, er habe von ſeiner ſo wirkſam ausgedrückten Reue wo nicht
Begnadigung, doch wenigſtens Milderung der Todesart gehofft. Ob
und was er über die Verurtheilung ſeiner Mitangeklagten bemerkte,
iſt nicht aufgezeichnet; wenn er aber das Urtheil über die Magd in's
Auge faßte, ſo konnte er ſich ſagen, daß er aus einer Zeit von hin¬
nen gehe, die des Chriſtenthums und Rechtsbewußtſeins, deſſen Mangel
ſie an ihren armen Sündern beſtrafte, ſich ſelbſt nicht hoch berühmen
durfte.


Indeſſen fuhr er mit unveränderter Geſinnung in ſeinen Denk¬
würdigkeiten fort, die er an jenem Tage noch nicht beendigt hatte.
Bald auch, ſagt ſein Geſchichtſchreiber, habe er ſich ſelbſt wegen ſeiner
Zaghaftigkeit beſtraft und ſeine vorige Stärke wieder erlangt, und den
folgenden Tag habe er dem ihn gleich Morgens beſuchenden Geiſt¬
lichen zugerufen: „Nur noch einen einzigen Tag bis zur Ewigkeit,
und Gottlob zur frohen Ewigkeit! Lange habe ich nicht ſo ſanft ge¬
ſchlafen als in dieſer Nacht.“


An dieſem Tage erfolgte zwiſchen ihm und der ſchwarzen Chriſtine
ein Verſöhnungsauftritt, den ihr gemeinſchaftlicher Geſchichtſchreiber
ſehr rührend nennt. „Lange ſchon,“ erzählt er in ſeiner Geſchichte
des Räubers, „waren Schwan und ſein zweites Weib ſehr gegen
einander erbittert, lange ſchon hatte die letztere ihn der Liebloſigkeit,
der Lügen und der Verrätherei beſchuldigt, jetzt brannten ſie Beide
vor Begierde, ſich zu verſöhnen und dann auf ewig von einander
Abſchied zu nehmen. Es ward geſtattet und ſie wurden zuſammen¬
geführt. Voll innigſter Bewegung fielen ſie ſich nun in die Arme,
gaben ſich dann die Hände mit gegenſeitigem Verſprechen, alle Mi߬
helligkeiten, die bisher unter ihnen entſtanden, wechſelsweiſe zu vergeſſen,
und tröſteten ſich, daß ſie morgen in dem Ort der Seligkeit wieder zuſammen¬
kommen würden. So freudig ſich Schwan bezeugte, ſo verſicherte doch
ſein Weib, daß ſie ihn an Freudigkeit im Sterben noch übertreffen
wolle, und ſo ſchieden ſie, ſich Glück wünſchend zum Kampf und
Sieg, vergnügt von einander.“


Aber die Wahrheit des Sprichworts, daß nicht Alles Gold iſt, was
glänzt, bewährte ſich auch hier wieder an der Frage, ob Chriſtine ihm
in ſeinen Himmel folgen würde, wie er mit ihr in die Hölle gegangen
[494] war. Denn in ſeiner „Geſchichte einer Räuberin“ beſchreibt der Sohn
des Oberamtmanns das Verhalten der Zigeunerin vollſtändig ſo:
„Schrecken und Wuth durchdrang ſie, da ſie ihr Todesurtheil anhörte;
ſie ſtand eine Zeit lang ſtarr vor Entſetzen, dann brach ſie in die
fürchterlichſten Flüche aus und wüthete ſo lange bis ſich ihre Kräfte
gänzlich erſchöpft hatten. Man wird ohne Zweifel begierig ſein, wie
das boshafte Weib nun, da ſie ihrer Laſter überwieſen war und nichts
als gewiſſen Tod zu erwarten hatte, ſich betrug. Die katholiſchen ſowohl,
als die lutheriſchen Geiſtlichen ſuchten, jeder auf ſeine Art, Reue über
ihre Verbrechen ihr beizubringen und ſie auf beſſere Wege zu führen.
Schwan ſelbſt gab ſich die äußerſte Mühe, und verſuchte bald durch
die zärtlichſte Liebe, bald durch die heftigſten Drohungen ſie zu be¬
kehren; ſie blieb gänzlich ungerührt. Auf alle Ermahnungen ant¬
wortete ſie mit Vorwürfen, und verwünſchte ſich ſelbſt und alle
Menſchen. Oft, wenn ihr der Geiſtliche vorhielt, daß ſie mit dieſen
Geſinnungen gewiß zur Hölle verdammt würde, antwortete ſie, daß
es ihr gleichgiltig ſei, in den Himmel oder in die Hölle zu kommen,
ſie werde in beiden Kameraden finden. Oft freute ſie ſich ſogar darauf,
einſt in der Hölle gequält zu werden, weil ſie ſich ſelbſt Hoffnung
mache, daß auch ihre Richter mit ihr gequält würden. Als man ihr
das Beiſpiel ihrer Magd vorhielt, die ſich ſehr aufrichtig bekehrt hätte,
ſo ſpottete ſie darüber, und ſchrieb ihre Bekehrung ihrer Dummheit
zu, und als man ihr auch Schwan's Beiſpiel vorſtellte, ſo antwortete
ſie, daß Schwan das Leben beſſer genoſſen, als ſie, und alſo ſie ſich
nicht mit ihm vergleichen laſſen könne. Nur ſie allein, fuhr ſie fort,
ſei die unglücklichſte aller Menſchen, da ſie, noch ſo fähig die Freuden
der Welt zu genießen, ihnen ſchon entriſſen werde. So verhielt ſie
ſich mehrere Tage, aber auf einmal ſchien ihre ganze Seele verändert.
Sie geſtand, daß ſie jene verzweiflungsvolle Sprache bloß angenom¬
men, weil ſie geglaubt, daß man ſie nicht in ihren Sünden dahin
ſterben laſſen werde. Sie bekannte alle ihre Fehler, bezeugte die
herzlichſte Reue, und verſprach Schwan in der Freudigkeit beim Tode
zu übertreffen. Auffallend war es dabei, daß ſie ſich gegen die
lutheriſchen Geiſtlichen viel aufmerkſamer als gegen die katholiſchen
bezeugte, mit jenen viel williger und herzlicher betete, und dieſen
ſogar drohte, bei den lutheriſchen das Nachtmahl zu nehmen. Kurz,
[495] auch dieſe ſchnelle Bekehrung ſollte bloß zum Mittel dienen, Mitleiden
zu erwecken und ihr vielleicht das Leben zu retten. Aber auch dieſer
Kunſtgriff half nichts, der Tag ihres Todes erſchien, und nun zeigte
ſich bald, daß ihr letztes Betragen nur Verſtellung geweſen. Sie fiel
in plötzliche Ohnmacht, und erholte ſich aus derſelben nur, um in
Wuth gegen alle Menſchen, und ſelbſt gegen Schwan, der ihr Muth
einzuſprechen ſuchte, auszubrechen.“ Dieſes ihr wahres Geſicht behielt
die Unglückliche, ſtarr und wild, wie eine dem Volk der Ebene fremde
Gebirgswelt, von nun an unverändert bis zum letzten Augenblicke bei.


Ihr glücklicherer Genoſſe, der ſein altes Kindesherz wieder gefunden
hatte, um ſich in dieſen ſchweren Tagen daran aufzurichten, fühlte ſich
durch das Verlieren der kaum wiedergefundenen Geliebten in ſeinem
Glücke ſchmerzlich geſtört; allein ihm winkte nun der Pfad, den jeder
Menſch für ſich allein antreten muß, und er klammerte ſich mit ganzer
Kraft an den Stab, den er erwählt hatte, den ihm ſeine Kirche
reichte. Er nahm das Abendmahl, von dem er einſt, wie ſeine Hei¬
mathsbehörde von ihm aufgezeichnet, geſagt hatte, es ſolle ihm das
Herz abſtoßen, wenn er nicht Wort halte. Er war dabei auf's innigſte
gerührt und erklärte überhaupt dieſen Vormittag, wie ſein Geſchicht¬
ſchreiber erzählt, für einen der glücklichſten ſeines Lebens. „Ich kann
nicht ausſprechen, ſo drückte er ſich ſelbſt hierüber aus, welch einen
glücklichen Vormittag ich heute gehabt habe. Mein Herz wallete vor
Liebe zu meinem Heilande. Zu dem komme ich morgen, ſchon morgen.
Morgen um zwölf Uhr auf's längſte bin ich bei ihm. O, wenn
es doch nur ſchon morgen wäre! Der Geiſtliche Krippendorff, der
zugegen und durch dieſe Aeußerungen innigſt bewegt worden war, rief
voll Freude aus: O Tod, wo iſt dein Stachel? Hölle, wo iſt dein
Sieg? Gott ſei Dank, fiel Schwan ein, der mir den Sieg geben wird,
und ſchon gegeben hat.“


An dieſem chriſtlichen Heldenthum, das die Geſchichte in unſchul¬
digen Märtyrern wie in reuigen Verbrechern tauſendfach als unver¬
fälſchte Geſinnung aufgewieſen hat, ſoll Niemand mäkeln. Wohl
aber hat jedes Heldenthum, nicht bloß für die gemeine Anſchauung,
die es niedriggeſinnt in den Staub zu ziehen ſucht, ſondern auch für
eine würdigere Betrachtung, die aber nicht anders als mit menſchlichem
Maße meſſen mag, ſeine menſchliche Seite, und es kann der Menſchen¬
[496] würde des Bekehrten, den wir hier durch ſeine letzten Stunden be¬
gleiten, keinen Eintrag thun, wenn wir aus den Worten, die ſeinen
Beichtvater beſeligten, doch auch den menſchlichen Seufzer heraushören,
daß die ſcheußliche, auch ein frommes Herz mit den Krallen der Ver¬
zweiflung und der Hölle zerfleiſchende Marter, die in den erſten Früh¬
ſtunden beginnen ſollte, um die Zeit, wo glücklichere Menſchen ihrem
Schöpfer danken und ſeine Gaben genießen, doch hoffentlich überſtanden
ſein werde.


Man fühlt ſich unwillkürlich von ſeinem verwahrlosten, aber
darum nicht minder lebendig grübelnden Verſtande die Frage vorgelegt,
warum denn die Menſchen einem Mitmenſchen, der eine ſolche Höhe
geiſtlicher Vollkommenheit erreicht hat, daß ſein Beichtvater darüber
ein frommes Entzücken fühlt, in ſein Leben einbrechen? eben jetzt da
er reif wäre, der ſo bedürftigen Menſchenwelt die ſchönſten Früchte
zu bringen? Und wenn man aus dem Munde dieſes Beichtvaters
antwortet, es ſtehe im Evangelium, daß wer das Schwert ziehe, durch
das Schwert umkommen müſſe, ſo hört man ihn im Triumphe ſeiner
Bibelfeſtigkeit entgegenhalten, das Evangelium ſpreche dies nicht als
Vorſchrift aus, ſondern habe nur die jähzornigen Gemüther jener
Zeit warnend darauf aufmerkſam machen wollen, daß dies die beſtehende
jüdiſche Rechts- und Kirchenordnung ſei. Oder wenn der Geiſtliche
erwiderte, es geſchehe, damit der bereuende Sünder in dieſem Leben
nicht mehr rückfällig werde, ſondern drüben gleich zu noch höherer
Vollkommenheit fortſchreiten könne, ſo muß es dem grübelnden Verſtande,
den wir kennen und den das Evangelium nicht einſchläfern konnte,
weil es vielmehr die Geiſter weckt, ſchwer geworden ſein, die Fol¬
gerung zu unterdrücken, daß man aus dem gleichen Grunde jeden
Gerechten zeitig vom Leben zum Tode bringen müſſe, damit er nicht,
als ein Menſch, aus dem Stande der Gerechtigkeit falle. Da jedoch
über Aeußerungen oder Geſpräche dieſer Art ſich nichts angemerkt findet,
ſo kann man auch ſchließen, er habe das Abſcheiden aus einem ſolchen
Leben und einer ſolchen Zeit, nicht bloß im geiſtlichen, ſondern ſelbſt im
weltlichen Sinne des Wortes, für einen ſo großen Gewinn gehalten,
daß er über den weltlichen Preis deſſelben kein Wort verloren habe.


„Den Nachmittag,“ erzählt ſein Geſchichtſchreiber nach dem Auf¬
tritte zwiſchen ihm und dem Geiſtlichen weiter, „verlor ſich zwar dieſe
[497] Freudigkeit ziemlich, weil ihn, wie er ſelbſt ſagte, die zu große Menge
von geiſtlichen Zuſprüchen betrübt und zerſtreut hatte; doch kehrte ſie
Abends wieder zurück. Endlich erſchien der letzte Tag. Morgens früh
um fünf Uhr kam Krippendorf zu ihm, und traf ihn im Gebet an. Er
ſah friſch und munter aus; dennoch hielt er, weil ſeine Seele nicht ſo
hochgeſchwungen und furchtlos wie geſtern war, ſich ſelbſt für verſtockt,
ein Gefühl, welches jedoch durch Hilfe des Gebets ſich bald wieder verlor.“
So erfuhr auch dieſer Geiſt, was jeder Geiſt in ſeinem Ringen
nach Klarheit erfährt, daß die Seele den gewaltſam ergriffenen Beſitz nicht
ungeſtört feſtzuhalten vermag, daß ihr die Stunden räuberiſch in das
Gut einbrechen, das ſie ſchon ſicher geborgen zu haben glaubte. Denn
die Seele des Menſchen rollt beweglich mit ſeiner großen Mutter
dahin, die, wie uns die Himmelskundigen in ihrer Sprache gelehrt
haben, in beſtändiger Revolution begriffen iſt. Sie faßt, im Gebiet
des Geiſtes umherſpürend, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Er¬
kenntniß, die ihr plötzlich in blendendem Lichte auftaucht, und will
in alle Welt hinein jubeln, jetzt ſei die Wurzel gefunden, die alles
Verſchloſſene aufſprengen, alles Kranke heilen müſſe. Aber die Stun¬
den bringen und nehmen. Andere Erkenntniſſe, andere Wahrheiten
oder Irrthümer drängen ſich in die Seele ein und verdunkeln das
erſte Licht, und was die Seele feſtzuhalten glaubte, das wird ihr
ſo blaß und farblos, daß ſie ſich ermattet, bangend, zweifelnd davon
abwendet. Wieder erſcheint jene geiſtige Geſtalt vom Lichte der Er¬
leuchtung begleitet, ſie zeigt ſich der Seele von einer neuen Seite, und die
Hoffnung, der Glaube an die Sicherheit des Beſitzes wächſt. Aber
Licht und Schatten wechſeln, die Sehnſucht wird zur wilden Glut, die
das reine Licht der wahrheitſuchenden Seele mit Qualm verdüſtert,
und ſo zwiſchen Licht und Schatten, zwiſchen Glauben und Zweifel,
zwiſchen Höhe und Tiefe dahinſchwebend, gelangt die Seele unter im¬
mer neuen Erleuchtungen zu der Ueberzeugung, daß das erſte Licht
das richtige geweſen ſei, zur Gewißheit, daß die reine Wahrheit darin
wohne. Aber die Ueberzeugung des Menſchen, beſonders wenn er ſie
mit Heftigkeit ergriffen hat, wäre für ihn ſelbſt nicht echt, wenn er
ſie ſeinen Brüdern vorenthielte; denn weit leichter als ſeine Herzens-
oder Vorrathskammer thut er ihnen die Schatzkammer ſeines Wiſſens
oder Glaubens auf. Aber ſeine Brüder haben daſſelbe erlebt, wie er,
D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 32[498] auch ihnen ſind Lichter aufgegangen, auch ſie ſind zu Gewißheiten und
Ueberzeugungen gekommen. Dann gerathen die Geiſter an einander:
der Mann des Wiſſens ſtößt den Glauben des Frommen zurück, und
der Mann des Glaubens erſchrickt vor der Ueberzeugung des Denkers;
ja, unter den Gläubigen ſelbſt, und bis in ihre engſten Kreiſe hinein,
iſt Unterſchied und Zwieſpalt, weil Keiner die gemeinſame Wahrheit,
zu der ſie ſich bekennen, ganz im Lichte des Andern ſchauen kann.
Dieſer Kampf der Geiſter verwundet das Herz, das die ganze Welt
in Frieden wiſſen möchte, aber das Herz kann den Menſchen nicht allein
leiten, denn es würde ihn jeder herben Schule, die ihm nöthig iſt,
entziehen. Der Kampf der Geiſter iſt gut, auch wenn er ſchmerzt:
denn der Geiſt der Menſchheit, nicht ihrer bevorzugten Kinder nur,
iſt zur Erkenntniß berufen, und die Arbeit der Geiſter wird der Welt
eine Erkenntniß bringen, ſo hoch und tief, daß der ſtolzeſte Geiſt ſie nicht
durchſtiegen, ſo reich, daß der manigfaltigſte Geiſt nicht an ihr erlahmen,
ſo klar, daß der nüchternſte Verſtand ſie nicht antaſten, ſo einfach, daß die
kindlichſte Seele ſie erfaſſen, und ſo rein, daß das fromme Herz in ihr
ſeine Wohnſtätte finden kann. In der Schule dieſer Erkenntniß wird Friede
und Kampf, Ruhe und Bewewegung vereinigt ſein. Darum meiden wir
den Kampf der Geiſter nicht, wenn er auch die Lebenden durch Nacht und
Wunden zu dieſem Ziele führt! Aber den Sterbenden wird kein guter oder
weiſer Menſch durch die Menge ſeines Zuſpruches betrüben und zerſtreuen,
weder der Denker den Gläubigen, noch der Fromme den, der nicht in der
Form des Glaubens denkt: denn der Sterbende muß mit ſeinem Herzen
Zwieſprache halten, deſſen Schläge ihn im Laufe der Stunden beſeligt
und verwundet haben, bis der letzte die fliehende Zeit für ihn ſtille
ſtehen heißt. Tragt ihn ſanft aus der Schlacht, fernab vom Staube
und Gewühl der Kämpfenden, daß er am Rande des Hügels durch
die Abendröthe der Gegenwart hinausſchaue in das Morgenroth der
Zukunft, für die wir kämpfen. Für ihn verſtummt der Zank der
Meinungen und der Vorwurf der Einſeitigkeit: er fällt ab von dem
unvollkommenen Leben ſeiner Zeit und geht über zu dem großen Heere
der Vollendeten, die im Frieden ruhen.


Am Tage vor dem letzten hatte der Sterbende ſein weltliches
Vermächtniß für die Obrigkeit zu Ende geſchrieben. Kein Lohn, nicht
einmal mehr der arme Troſt einer Linderung winkte ihm, als er es
[499] hinterließ, und hierin liegt die Bürgſchaft, daß ihn, wenn auch unter
menſchlichen Schwächen, die reine Abſicht leitete, die Jugend künftiger
Tage vor ſeinem Looſe zu bewahren. Seine Blätter enthalten nichts
von ſeiner inneren Lebensführung, nichts von dem Gange ſeiner Seele
durch die Stürme des Lebens, aus Tag in Nacht; denn dies war
kein Gegenſtand für ſeine Obrigkeit. Wohl aber darf die Nachwelt,
die ſich an der Geſchichte eines rohen Mannes aus dem Volke oft
beſſer belehren könnte als an verwickelten Staats- und Fürſtengeſchich¬
ten, wohl darf ſie den Pfarrer ſeiner Heimath anklagen, daß er, dem
die Pflege der Geiſter vertraut war, keine Chronik ſeiner Gemeinde,
keine Aufzeichnung über den Lebensgang des Jünglings hinterlaſſen hat,
der, nach dem Zeugniß befähigter Zeitgenoſſen, außerordentliche Gaben
des Geiſtes und Herzens beſaß, keine Rechtfertigung der mit mehr
als väterlicher Gewalt ausgerüſteten geiſtlichen und weltlichen Be¬
hörde, wie es kommen konnte, daß ein ſolcher Menſch aus dem Schoße
der Geſellſchaft heraus ſo tief in Elend, Verbrechen, Schmach und
jede Erniedrigung der Seele ſtürzte. Und doch hat jener Pfar¬
rer ſein ganzes Lebensſchickſal mit angeſehen und hat ihn lange über¬
lebt. Er fand nichts aufzuzeichnen nöthig als die karge, ſchauerliche
Randbemerkung, die er auf einem Blatte des Taufbuches, wo der Name
des am 4. Juni 1729 gebornen Kindes Friedrich Schwan nebſt den
Namen ſeiner Eltern und Taufpathen eingetragen iſt, mit rother Dinte
hinzugeſchrieben hat: „Wurde den 30. Juli 1760 zu Vaihingen le¬
bendig auf das Rad gelegt. Gott ſei ſeiner armen Seele gnädig!“


Das war die Todesſtrafe, die ein chriſtlicher Staat unter dem
Beiſtande einer chriſtlichen Kirche an einem Menſchenbilde, das ſie
Gottes Ebenbild nannten, vollzog, indem er ſich für ſo arm an leib¬
lichen und geiſtigen Mitteln bekannte, daß er mit einem wenn auch
noch ſo tief gefallenen Menſchen nichts Menſchlicheres, nichts Chriſt¬
licheres zu thun wußte als ihm das Leben zu rauben, und für ſo
beſchränkt in Menſchenkenntnis daß er meinte, durch eine recht ausge¬
ſucht grauſame Strafe werde er Andere vom Wege des Verbrechens
abſchrecken. Und doch hätte gerade dieſer ihn vor tauſend Andern be¬
lehren können, wie irrig eine ſolche Vorausſetzung iſt. Er war vor
Andern mit Verſtand begabt, um ſich zu ſagen, wohin ſein Leben zu¬
letzt führen müſſe, und wenn er es je vergeſſen hätte, ſo ſagten es ihm
[500] ſeine ſchrecklichen Genoſſen, die ſich täglich auf den Gedanken an ein
ſolches Ende einübten, verkleidet den Hinrichtungen beiwohnten, einan¬
der den Hergang bei denſelben beſchrieben und bei ihren Gelagen ſich
gegenſeitig einen leichten Tod zutranken. Nicht einmal ſein Muth
machte ihn zu einer Ausnahme, an der die Abſchreckung verloren war,
denn ſein Geſchichtſchreiber ſagt ausdrücklich von ihm, bei aller natür¬
lichen Herzhaftigkeit habe er ſich durch dieſe abſchreckenden Gewohnheiten
ſo erſchüttert gefühlt, daß er gänzlich unfähig geweſen ſei, dieſelben
mitzumachen; und man kann überhaupt ſagen, daß auch die Feigheit
nicht hinlänglich abſchreckend wirkt, denn die Gerichtsverhandlungen zei¬
gen feige Verbrecher genug. So hat alſo weder ſein Verſtand noch
die Abſchreckung ſelbſt, die bei ihm nicht verloren war, ihn von dem
finſtern Pfade abgeſchreckt, hat weder ſeine zwar rohe, aber zur Er¬
kenntniß von Gut und Böſe, von Wohl und Uebel völlig genügende
Bildung, noch die vorſorgende Liebe der Geſellſchaft ihn vor dieſem
fürchterlichen Ende bewahrt. Es gibt keine andere Milderung für
ſeine Todesart, keine andere Beſchwichtigung für das empörte Gemüth,
als ſich zu ſagen, daß das Jahrhundert ſeitdem ſeine Speichen bei¬
nahe völlig umgewälzt hat, daß jene Mittagsſtunde, um die er voll¬
endet zu haben hoffte, längſt vorüber iſt, daß jene arme, kranke Zeit
ein beſſeres Jahrhundert, reicher an Geiſt und Herz und Erkenntniſſen,
geboren hat. Ja, ſo Vieles wir an unſerer Zeit mit Recht verwerfen,
wir können ihr das Zeugniß nicht verſagen, daß ein Menſch wie dieſer
beſſer von ihr durch das Leben getragen worden wäre, daß er keinen
Pfarrer, Amtmann und Vogt getroffen hätte, die ſeine blühende Ju¬
gend faſt gewaltſam unter die Räuber ſtießen, daß, wenn ihm auch
der Lieblingswunſch ſeines jungen Herzens verſagt geblieben wäre, das
Leben ihm Befriedigung für ſein Gemüth, für ſeinen Geiſt, für ſeine
Fähigkeiten nicht ſo ganz verſagt haben würde, wie die dürre Wüſte, mit
der ihn ſeine Zeit umgab. Wohl iſt noch eine ſchwere Arbeit zu vollbrin¬
gen, bis unſre Zeit aus dem dunklen Mutterſchoße jenes Jahrhunderts,
worin ſie mit ihren Tugenden und Fehlern, mit ihren Wahrheiten und Irr¬
thümern wurzelt, losgerungen iſt, und darum kämpfen wir. Aber die
Sonne, wie ſie von Oſten nach Weſten wandelt, ſieht das Volk in
der Mitte zwiſchen Oſt und Weſt täglich mehr im ſtillen Ringen nach
Licht und Recht begriffen, und ſie wird die Mühe ſeiner Geiſter nicht
[501] verloren finden, wenn ſie oft auch tief wie Grubenmänner in die
Schachte unſrer Geſchichte, unſrer Sprache, unſrer Dichtung ſich zu
verlieren ſcheinen, von wo dieſes Licht und Recht am reinſten zu
holen und nach dem Maße des heutigen Tages zu vertheilen iſt.
Denn jetzt gilt es ſich ſelbſt zu verſtehen in der allgemeinen Bewegung,
die ſchon mit wachſendem Getöſe an die Pforten noch immer ſo vieler
Schläfer pocht. Die Bewegung, die aus einem Theil des Weſtens
kam, hat uns verwirren müſſen, denn ſie bot uns Eigenes mit Frem¬
dem gemiſcht. Die Bewegung, die ſich aus einem Theil des Oſtens
ankündigt, wird uns aufklären helfen, denn man lernt ſich beſſer ſelbſt
erkennen in einem Spiegel, der uns gar keine Aehnlichkeit zeigt,
ſondern ein wildfremdes Geſicht. Dann wird der Kampf auch nicht
mehr verwandte Geiſter trennen, nicht mehr durch das einzelne Men¬
ſchenherz ſelbſt hindurchgehen: die Scheidung zwiſchen dem Wahren und
dem Falſchen, zwiſchen dem Guten und dem Böſen wird leichter ſein.
Wer aus der allgemeinen Betrachtung, zu welcher jeder Tag ſo
vielen Anlaß gibt, zu der hier erzählten Volksgeſchichte zurückkehrt und
vielleicht einmal, zufällig das freundliche Filsthal hinaufwandernd, nach
ihren Spuren fragt, der kann ſich die Mühe und den Staub der Acten
erſparen, denn er findet in der Erzählung jeden Zug, der aufbe¬
wahrt geblieben iſt. Und dennoch möge er nicht eine buchſtäblich
wahre Geſchichte in ihr ſuchen. Denn der geſchichtliche Buchſtabe iſt
unwahr, ſo lange nicht der Geiſt ihn lebendig macht und in das ge¬
brochene rückſtrahlende Licht des Gleichniſſes ſtellt. Selbſt das alte
Wirthshaus zur Sonne wird der Wanderer vergebens ſuchen, und da
ein ſolches Haus mit ſtattlichem Giebel nicht ſo leicht aus der Reihe
der Gegenſtände verſchwindet, ſo mag er vermuthen, daß er das Ebers¬
bach dieſer Volksgeſchichte anderswo zu ſuchen habe. Darin hat er
auch gewiſſermaßen Recht: der Flecken, der eine begabte Jugendkraft
nicht zu ihrer Entfaltung kommen ließ, erſtreckte ſich noch vor weit
kürzerer Zeit als vor hundert Jahren über ganz Deutſchland und be¬
ſonders über den Süden deſſelben, und der Berg unſres alten Reiches
mit ſeinem öden Gipfel wurde viel weiter im Umkreiſe geſehen als er
zwiſchen der Rems und Fils in die Landſchaft ragt. Der Erzähler,
der aus Erfahrung weiß, daß alte Häuſer nicht ſo ſchnell verſchwinden
und daß alte Wahrzeichen von einer neuen Zeit nicht ſo leicht auszu¬
[502] rotten ſind, hat in einem freundlichen Gaſthauſe eines anſehnlichen
Fleckens in jener Gegend, wo man die alte Sonne mit vielen Later¬
nen nicht finden würde, ein übriggebliebenes Wahrzeichen von ihr
entdeckt. Aber er wird ſeinen Fund hier nicht verrathen; denn der
Beobachter iſt nicht überall angenehm, und der Knabe, der nicht
weit davon im Zimmer an einem Tiſche, worauf eine Ruthe
lag, ſeine Aufgabe lernte, behauptete, das Rüthlein ſei nicht für
ihn. Angelegenheiten eines einzelnen Hauſes, die das öffentliche
Recht und Wohl nichts angehen, muß man beruhen laſſen. Der Be¬
ſitzer des Hauſes, der nicht Schwan heißt, ſondern einen andern guten
Namen führt, ohne ſich jedoch des armen Friedrich Schwan zu ſchä¬
men, mag dem Wanderer von der alten Sonne ſelbſt erzählen ſo viel
ihm beliebt. Daß der Schild des Hauſes geändert wurde, iſt ſchon
lange her, wohl fünfzig Jahre, und fällt dem damaligen Beſitzer nicht
einmal zur Laſt. Denke man ſich, er habe vielleicht einen Sohn ge¬
habt, den der Volkswitz — man weiß wie die Leute ſind und wie ſie
gar in früherer Zeit waren — nach jenem berüchtigt gewordenen
Namen den „Sonnenwirthle“ hieß: bei dem beſten Bewußtſein des
Sohnes und der Eltern konnte die Bezeichnung, wie ſie nun einmal
für den Flecken klang, der keine Ehrenkrone darin zu ſehen gewohnt
war, auf die Lange ſo unleidlich werden, daß man lieber den Namen
des Hauſes änderte. Eine beſchränkte Umgebung hindert ja auch den
Unbefangenſten, das Leben frei anzuſchauen und friſch hineinzugreifen.
In kleinen Verhältniſſen iſt dies nicht ſo leicht zu ändern. Ein Volk
aber ſoll ſeine Wahrzeichen nicht wegwerfen, und ein Wahrzeichen iſt
ihm nicht bloß ſein Liebling, auf den es ſtolz iſt, ein Wahrzeichen iſt
ihm auch der Verbrecher, deſſen es ſich ſchämt. Wir mögen ihn ver¬
wünſchen und verfluchen, wir mögen ihn aus der Geſellſchaft und aus
dem Lande ſtoßen, wir mögen ihn in der Gruft des lebenslangen
Kerkers begraben oder mit der Maſchine tödten, die uns ein wenig
von der Bildung und noch mehr von der ſelbſtthätigeren Kraft unſrer
Vorfahren unterſcheidet — Eines können wir ihm nicht nehmen, Ein
Gepräge können wir nicht an ihm vernichten. Wir müſſen bekennen:


Er war unſer.


Noch einmal den Vorhang auf und nun das letzte Bild.

[503]

39.

Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittſommertagen iſt,
wölbte ſich der Morgenhimmel über der alten winkeligen Stadt. Die
Sonne brannte ſchon in den erſten Morgenſtunden und verkündigte
einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem Rathhauſe ſtand
die Menge dicht gedrängt, in gedankenloſer Neugier ein trauriges
Schauſpiel erwartend, das ihr Erſatz für die geiſtigen Bedürfniſſe
bieten ſollte, die ſie durch die ſonntägliche Predigt und durch die ſpär¬
lichen bürgerlichen Vorkommniſſe nicht zureichend befriedigt fühlte.
Sie konnte nicht nach ihrer Weiſe hin und herwogen, denn es waren
ihrer zu Viele, die in feſtgekeilter Maſſe geduldig ausharren mußten
und nach den Rathhausfenſtern emporſahen. Endlich glaubte man
an den Fenſtern eine Bewegung wahrzunehmen und die Bewegung
theilte ſich alsbald der Menge mit, die nach der Thüre des Rathhauſes
drängte. Ein Bürger, der den Zuſchauern im Saale droben voraus¬
geeilt war, ſtürzte heraus. Es wird gleich angehen, antwortete er
auf die Fragen der Vorderſten, die ihn beſtürmten: aber das iſt ein
Menſch! Ihr hättet ihn ſehen ſollen, wie man ihm das Urtheil vor¬
geleſen hat. Alles hat gezittert, das ganze Gericht iſt erblaßt, nur
er iſt allein ruhig und unerſchrocken dageſtanden, und wie's im Urtheil
geheißen hat: der Erzböswicht! hat er mit lauter Stimme und lächelnd
geſagt: Der bin ich geweſen.


Eine noch ſtärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das
Geräuſch der Kommenden aus dem Innern des Rathhauſes vernahm.
Sie wich zurück, denn die Erſten, die herauskamen, waren Gerichts¬
diener, die ſie barſch und grob auf die Seite trieben. Auf dieſe folgte,
von Wachen umgeben, gefeſſelt und gebunden, der arme Sünder, der
aber nicht wie ein ſolcher ausſah. Sein Gang war ruhig, wie der
eines Bürgers, der ſeinen Geſchäften nachgeht, ſeine Haltung aufrecht,
aber nicht gezwungen, und nur die Bläſſe ſeines Angeſichts, und der
[504] eigenthümliche Glanz ſeiner Augen verrieth, daß etwas in ihm vorging,
wovon die Menſchenmenge, die ihn neugierig betrachtete, nach ihrer
Art kaum eine Ahnung haben mochte. Feſt und kühn blickte er in
die Augen der Kopf an Kopf geſchichteten Menſchen, durch deren
Reihen er den letzten düſtern Weg zur Freiheit gehen ſollte. Er blieb
ſtehen, um ſeine Schickſalsgenoſſen zu erwarten.


Wiederum machte ſich ein Geräuſch von der innern Rathhaustreppe
vernehmlich und die Blicke der Menſchen ließen von ihm ab, um über
die neue Beute, die für die Schauluſt kommen ſollte, herzufallen. Es
dauerte lange und die Ungeduld wuchs immer ſtärker an. Endlich
drängte es ſich heraus, und zugleich gab ſich die Urſache zu erkennen,
die das Schauſpiel ſo lange verzögert hatte. Es war die Zigeunerin,
die um ihr Leben kämpfte. Obgleich ihre Hände gebunden waren, ſo
ſtieß ſie doch die Schergen einmal über das andere zurück, ſuchte in
das Rathhaus zurückzukommen, als ob dieſes ihr Schutz gewähren
könnte, und noch unter der Thüre ſtemmte ſie ſich mit den Ellenbogen
an den Pfoſten an. Sie wurde aber immer wieder ergriffen und
endlich herausgebracht.


Chriſtine! rief Friedrich, dem bei dem jammerwürdigen Anblick
das Herz blutete, obgleich er Anlaß genug hatte, jetzt nur noch an
ſich ſelbſt zu denken: Chriſtine, klammere dich nicht ſo feſt an dieſe
ſchnöde Welt! wende dein Herz dem Himmel zu, der dir allein noch
helfen kann!


Sie fuhr zurück und ſah ihn mit einem Blicke an, für den es nur
dann eine Vergleichung gäbe, wenn irgendwo in der Welt, wie im
menſchlichen Herzen, wo die unmittelbarſten Gegenſätze neben einander
wohnen, glühendes Eis zu finden wäre. Verräther! ſagte ſie, finde
du dich mit deinem Himmel ab, wie du dich mit der Welt abgefunden
haſt. Ich hab' dich geliebt, und Alles für dich gethan, und das iſt
nun mein Lohn! Wenn ich's nur gewiß wüßte, ob du in den Himmel
oder in die Hölle kommſt! Sieh mich nicht ſo an mit deinen Augen —
ich wär' ſchwach genug, dir zu folgen, aber ich kann es nicht! Meine
Mutter hat ſich im Gefängniß erhenkt aus Verzweiflung über das
Schickſal, das du mir bereitet haſt, mir, der Mutter deines Kindes!
Mein armes, armes Kind! Aber es wird mich nicht lang überleben,
ich weiß, es hat den Tod in ſich, es wird dieſer dürren lutheriſchen
[505] Welt nicht in die Hände fallen. Schweig' ſtill! ich kann nicht mit
dir gehen. Die Unſrigen ſpeien deinen Namen an, jede ehrliche Seele
zwiſchen dem Rhein und der Donau verflucht dich, dein Name wird
der ſprichwörtliche Name eines Verräthers werden —


Auf einen Wink des Oberamtmanns, der indeſſen aus dem Rath¬
hauſe getreten war, rißen ſie die Henker herum.


Sie wehrte ſich. Iſt denn kein Pardon da? rief ſie.


Der Oberamtmann gab keine Antwort. Nein! rief ein Henker.


Wer hat denn nun Recht? rief ſie. Der Eine ſagt ſo, der Andere
anders. Ihr Auge bohrte in die Menge hinein, ob dort nicht be¬
freundete Hände bereit ſeien, ſie zu retten. Iſt denn kein katholiſcher
Chriſt da? rief ſie unter das Volk. Wenn Einer da iſt, ſo gebe er
mir doch ein Zeichen.


Niemand gab ein Zeichen. Sie ſank halb zuſammen und die
braune Farbe ihres Geſichts wurde immer gelber. Noch einmal raffte
ſie ſich empor, um mit der Wuth einer Tigerin, die ihre Freiheit und
ihr Leben nicht freiwillig hergibt, eine Kraftanſtrengung zu machen.


Fort! befahl der Oberamtmann, während man ihm ſein Pferd
vorführte, hinter welchem die ſtädtiſchen Richter in ihren ſchwarzen
Mänteln, vom Zwange ihrer Amtswürde befreit, geſchwind vorüber¬
ſchlüpften, um auf dem Hauptſchauplatze vor der Stadt noch zu rech¬
ter Zeit den ihnen vorbehaltenen Standort einzunehmen.


Die Henker griffen kräftig zu und eröffneten den Zug mit ihr.
Sie warf noch einen Blick auf ihren Todesgefährten und wurde mehr
geſchleppt und getragen als davongeführt.


Bitterer Kelch, geh' vorüber! ſagte er, in den Boden ſtarrend.


Frieder! rief eine ſanfte Stimme neben ihm.


Er blickte auf und ſah die blonde Chriſtine, die den Zug beſchließen
ſollte.


Die ganze Liebe ſeiner Jugend wallte in ſeinem Herzen auf.
Meine Chriſtine! rief er: haſt du mir auch gewiß verziehen?


Von ganzem Herzen und von ganzer Seel', antwortete ſie, und
ich hoff gewiß, daß wir einmal in einer ſchöneren Welt wieder zu¬
ſammenkommen, wo uns nichts mehr trennen wird. Sag' mir auch
noch einmal, daß du mir verzeihſt.


Soll ich dir verzeihen, daß du mich lieb gehabt haſt? Was hab'
32 *[506] ich dir denn außer Kleinigkeiten zu verzeihen? Die ſind alle längſt
vergeben.


Kannſt noch etwas von der Welt hö n?


Von unſern Kindern?


Ja. Die beiden Jüngſten nimmt die Magdalene, die deinem
Vater Haus gehalten hat, in ihren neuen Ehſtand mit. Sie heirathet
den Müller, weißſt, den Georg. Sie haben ja Beide früher ein Aug'
auf einander gehabt, aber es hat nicht ſein mögen, und Keinem von
Beiden iſt's gut gangen in der Eh'. Jetzt ſind ſie Beide frei. Den
Friederle haben ſie auch nehmen wollen, aber dein Vater gibt ihn
nicht her. Er ſagt, er ſei ſo einſam in ſeinem Alter, und es ſei ſo
ein aufgeweckter Bub'.
Und du?


Wenn ich's überleb', ſo ſoll ich deinem Vater Haus halten, und
wenn's der alt' Mann nimmer ſo lang macht, ſo will mich die Mag¬
dalene auch zu ſich nehmen.


Nun ſterb' ich gern! rief er, nun weiß ich doch dich und die
Kinder verſorgt. Sag' meinem Vater oder thu' ihm's zu wiſſen, ich
laſſ' ihn viel tauſendmal grüßen und um Gotteswillen bitten, er ſolle
dem Buben doch ſtreng ſein. Auch den Georg und die Magdalene
laſſ' ich grüßen, aber ſie ſollen darüber wachen, daß der Großvater
nicht zu viel in den Buben hineinſieht. Siehſt du die vielen Ebers¬
bacher, Chriſtine? unterbrach er ſich. Sie ſind heut herbeigeſtrömt,
wie damals zu unſerer Proclamation.


Und auch ich, auch ich ſoll zuſehen! rief ſie. Sie ſchlug die freige¬
laſſenen Hände vor das Geſicht und begann krampfhaft zu ſchluchzen.


Brich mir das Herz nicht vor der Zeit! gebot er ihr. Sei ſtark,
Chriſtine, und denke daran, daß die Trübſal zeitlich und die Freude
ewig iſt.


Sie nahm die Hände von dem Geſicht und machte eine Bewegung,
ihm um den Hals zu fallen. Die Stadtknechte traten dazwiſchen.


Friedrich ſuchte das Auge des Oberamtmanns, der ſich an dem
Zeuge ſeines Pferdes zu ſchaffen machte, um die flüchtige Zeitſpanne
dieſer letzten Unterredung zu verlängern. Der Oberamtmann verſtand
den Blick: Gebt einander die Hände, ſagte er, und wendete die Augen,
in welchen verrätheriſche Thränen blinkten, nach einer andern Seite.


[507]

Und nun vorwärts in Gottes Namen! rief Friedrich, als es ge¬
ſchehen war.


Auch er ſollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn
als einen Hauptverbrecher ſtand die Schleife bereit. Er legte ſich und
der Henker band ihn an. Nun, der iſt barmherzig, ſagte er. Er
hätte mich härter binden können — er erſpart mir doch einige Schmerzen.
Selig ſind die Barmherzigen.


Der Zug ſetzte ſich in Bewegung über den Marktplatz. Das
Opfer des Verbrechens und des Geſetzes blickte mit ſeinen hellen Au¬
gen in die Menge, welche der Zug durchſchnitt, und lächelte da und
dort einem bekannten Geſichte zu. Dann erhob er die Augen und
blickte ſtill in den blauen Himmel hinein, bis die zuſammentretenden
Häuſer und die mit Menſchen beſetzten Fenſter der ſchmalen Straße,
in welche der Zug einlenkte, ihn daran verhinderten. Ein menſchliches
Geſchrei oder vielmehr ein Geheul ſchlug an ſein Ohr. Er wußte,
was es bedeutete, und ſein Auge ward düſter. Als er die Stelle er¬
reichte, von wo der Ton zu vernehmen geweſen war, blickte er an
einem Hauſe empor, wo die Leute mit einem in das Tragkiſſen ge¬
hüllten Kinde am Fenſter ſtanden. Es war ſein Kind, das hier unter¬
gebracht war, und der Schrei von vorhin war der letzte Schrei des
Mutterherzens geweſen, das der verkümmernden kleinen Menſchenpflanze
jetzt entriſſen werden ſollte. Er blickte mit inniger Rührung zu dem
Kinde empor, rief ihm tauſend Liebkoſungen zu und ſegnete es.


Die Fahrt ging langſam weiter durch die endlos lange Straße, die
er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Maſſen von
Menſchen hindurch, die ſich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenſtern
ſahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Thor erreicht,
wo er gefangen genommen worden war. Er lächelte, da er es ſah, und
pries es gegen ſeine Begleiter als den glücklichſten Ort, den er in ſeinem Le¬
ben betreten, da hier ſeine Rettung aus Nacht und Grauſen begonnen habe.


Der Zug ging durch das Thor und jetzt ſah man die außerhalb
im Freien wogenden Menſchen, eine zahlloſe Menge, wie wenn das
ganze Herzogthum verſammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von
höchſtem Gewichte zu berathen und berathen zu ſehen.


Vor dem Thore ſtand ein alter Mann, auf ſeinen Krücken leh¬
nend. Die Thränen floßen ihm in den Stoppelbart, und er ſah
[508] dem Verurtheilten, der eben gegen ihn herankam, in das Geſicht.
Auch dieſer erblickte ihn jetzt und winkte freundlich mit den Augen.
Er hatte ſeinen Invaliden erkannt, von dem er ſich wohl ſagen konnte,
daß er nicht aus bloßer Neugierde den weiten und für ſeinen gebrech¬
lichen Körper auch im Fahren beſchwerlichen Weg hieher gekommen ſei.


O wo 'naus, Frieder, wo 'naus? rief der Alte traurig.


Dem Himmel zu! antwortete er mit der hellen Commandoſtimme,
die bei ſo manchem Einbruch erſchollen war.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Der Sonnenwirth. Der Sonnenwirth. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bqdq.0