Inhalt.
- I.
- Sophie G. Seite 1.
- II.
- Graf von L. Seite 61.
- III.
- Hanns K—, Bauer zu M—. Seite 179.
- IV.
- Das ſteinerne Brantbett; oder: Hugo
und Kleta. Seite 213.
Sophie G—.
Einer der beruͤhmten und bekannten Marg-
grafen zu B—, ſein Name thut nichts zur
Sache — war ein guter Fuͤrſt, ein kluger
Regent, und in mancher Ruͤckſicht ein Vater
ſeines Volkes und Landes. Wenn Tauſende
ihn lobten, und die Wohlthaten, mit denen
er ſie begluͤckte, erzaͤhlten, ſo faſſen nur we-
nige im zahlreichen Zirkel, welche nicht in
dies verdiente Lob einſtimmten. Auch der
Biogr. d. W. 4r Bd. A
[2] beſte Fuͤrſt iſt Menſch, auch der beſte Menſch
iſt nicht fehlerfrei! Eine Leidenſchaft, die
er liebte und pflegte, war oft Urſache, daß
einzelne Vaͤter uͤber ihn murrten, einzelne
Muͤtter ihn hart und grauſam nannten. Das
Siſtem der ſtehenden Kriegsheere ward da-
mals herrſchend in Deutſchland. Wilhelm, der
Preuſſen Koͤnig, war das groſſe Urbild, wel-
ches kleinere Fuͤrſten ihrem Verhaͤltniſſe ge-
maͤß, nachzuahmen ſuchten. Der erſtere ſamm-
lete in ganz Europa die groͤßten Koloſſen des
menſchlichen Geſchlechts, um ſich ein Gnarde-
regiment zu bilden. Der Marggraf durch-
ſpaͤhte ſein ganzes Land, um aͤhnliche Rieſen
zu finden, welche als Granadiere vor ſeinem
Schloſſe und in den Gemaͤchern deſſelben Wa-
che ſtehen mußten. Keiner ſeiner Untertha-
nen entging den Forſchern, wenn ſein Koͤrper
die erforderliche Groͤſſe erreichte; daher kams,
daß oft die freien Buͤrgersſoͤhne, die noch
freiern Kandidaten des Prieſterſtandes wider
[3] Gewohnheit zur Annahme der Waffen gezwun-
gen wurden.
Zu eben dieſer Zeit lebte in der Haupt-
ſtadt ein nicht reicher, aber auch nicht ganz
armer Buͤrger, welcher einen einzigen Sohn
hatte. Als dieſer, gleich einer Pappel am
waſſerreichen Fluſſe empor wuchs, prophezei-
ten ihm ſchon ſeine Freunde und Verwandte
mit kummervollem Blicke, daß er einſt als
Granadier im fuͤrſtlichen Schloſſe Wache ſte-
hen wuͤrde. Dem ſorgloſen Juͤnglinge war
dieſe Weiſſagung ſehr gleichguͤltig, weil er nur
das Gegenwaͤrtige zu genuͤſſen ſuchte, und der
Zukunft nie gedachte; aber dem liebenden
Vater, der zaͤrtlichen Mutter verbitterte ſie
oft manche frohe Stunde. Der Wohlſtand
des erſtern hing ganz allein vom thaͤtigen
Betriebe ſeines Handwerks ab, er hofte in
ſeinem Sohne einen Gehuͤlfen zu erziehen,
ihm in ſeinen alten Tagen alles zu uͤberge-
A 2
[4] ben, und, ernaͤhrt von ihm, ein ruhiges Al-
ter zu genuͤſſen. Dieſe ganze Ausſicht ſchwand,
wenn er ſich das kuͤnftige Schickſal ſeines Soh-
nes dachte.
Da dieſes noch nicht ganz beſtimmt war,
da er durch hundert gluͤckliche Zufaͤlle der dro-
henden Gefahr entgehen konnte, ſo fuhr er
zwar fort, ihn in den Vortheilen ſeines Hand-
werks und des damit verknuͤpften Handels zu
unterrichten, aber er war auch gefaͤllig genug,
den Juͤngling nicht emſig zu Geſchaͤften anzu-
halten, ihm manche Freude zu goͤnnen, welche
er ihm ſonſt verweigert haͤtte, wenn ihn
nicht der Gedanke, es wird ihm als Soldat
doch nichts nuͤtzen, nachgebend gemacht haͤtte.
Wollte der arbeitſame Vater auch dann und
wann den allzu nachlaͤſſigen Sohn mit Stren-
ge zur Arbeit anhalten, ſo ward die zaͤrtliche
Mutter Fuͤrbitterinn, und ſuchte den erſtern
zu uͤberzeugen, daß es hart und grauſam ſei,
[5] wenn man dem Jungen izt ſchon jedes Ver-
gnuͤgen rauben wolle, da ſein hoͤchſt wahr-
ſcheinlicher, kuͤnftiger Stand ihn ohnehin zum
Sklaven machen wuͤrde. Dieſe ſtraͤfliche Nach-
ſicht weckte in dem Herzen des Juͤnglings
immer mehr den Hang zum Muͤſſiggange und
zum Vergnuͤgen, der mit ſeinem Koͤrper im
aͤhnlichen Verhaͤltniſſe wuchs, und bald die
Grundlage ſeines Karakters, der Fuͤhrer aller
ſeiner Handlungen ward. Er kannte alle Haͤu-
ſer, in welchen getanzt und geſpielt wurde,
er war immer einer der erſten, welche dahin
gingen, und einer der lezten, wenn die Ge-
ſellſchaft es verließ.
Wie er neunzehn Jahre alt war, und
gleich einer Roſe bluͤhte, lernte er einſt auf
einem Tanzſaale die ſchoͤne Tochter eines ſehr
armen Buͤrgers kennen, welche im Marg-
graͤflichen Schloſſe als Laufmaͤdchen diente, und
ſich durch ihre Reize, noch mehr aber durch
[6] ihr ſittſames Betragen unter allen uͤbrigen
Taͤnzerinnen aufs vortheilhafteſte auszeichne-
te. Er fuͤhrte ſie heim, geſtand ihr Liebe,
und erhielt von ihr die Erlaubnis, ſie dann
und wann beſuchen zu duͤrfen.
Eben hatte er zum Beweiſe ihrer Liebe
den erſten Kuß erhalten, und wandelte, ihn
noch fuͤhlend und genuͤſſend, uͤber den Schloß-
hof, als ſich ploͤzlich ein Fenſter oͤfnete, an
welchem der Marggraf ſtand, der ihn ruͤck-
waͤrts rief. Zagend erſchien der Juͤngling vor
ihm, langſam und trauernd ging er von dan-
nen, wie man ihn auf des Marggrafs Gebot
nach der Hauptwache fuͤhrte, und bald nach-
her die Granadiermuͤtze aufſetzte. Weinend
empfing ihn die Mutter, ſeufzend gruͤßte ihn
der Vater, wie er mit dieſem untruͤglichen
Kennzeichen ſeines kuͤnftigen Standes vor ih-
nen erſchien. Als aber beide vernahmen, daß
der Marggraf ihm, weil er der einzige Sohn
[7] war, eine kurze, nur drei Jahr dauernde Ka-
pitulazion zugeſtanden habe, auch nebenbei
noch verſichert hatte, daß ihm dieſe Zeit als
eine bei ſeinem Handwerke noͤthige Wander-
ſchaft angerechnet werden ſolle, ſo troknete
die Mutter ihre Thraͤnen, und der Vater
blickte wieder heiter in die Zukunft.
Wilhelm, ſo nannte ſich der Juͤngling,
liebte ſein Maͤdchen mit dem erſten Feuer der
brauſenden Jugend. Die Kaſerne der Grana-
diere ſtand nahe am Schloſſe, er konnte als
ein Liebling des Marggrafen — denn dies war
jeder Granadier — dort ungehindert aus und
eingehen, und ſein Maͤdchen oͤfters ſehen und
ſprechen. Schon dieſer Vorzug minderte die
Haͤrte ſeines Standes, und die Hofnung, daß
ſie nur eine kurze Zeit dauern werde, tilgte
ſeine Trauer bald ganz. Er war bald wieder
der froͤhliche Wilhelm, und troͤſtete ſein Maͤd-
chen, wenn ihr thraͤnender Blick auf ſeinem
[8] Rocke haͤngen blieb, oder ſie ihm den Kuß
verweigerte, weil er leicht eben ſo flatterhaft
wie ein gewoͤhnlicher Soldat werden koͤnne,
denn dieſe ſtanden ſchon dazumal in dem Ru-
fe, daß ſie mit jedem Standquartiere auch ihr
Maͤdchen verwechſelten.
Als er ſeine Sophie uͤber dieſen Gegen-
ſtand vollkommen beruhigt, ihr ewige Treue
geſchworen, ſie nach Verlauf ſeiner Dienſtzeit
zu heurathen gelobt hatte, langte am Hofe
des Marggrafen die einzige Tochter deſſelben
zum Beſuche an. Sie hatte den Erbprinzen
von K — geheurathet, lebte mit dieſem in
der gluͤcklichſten Ehe, und fuͤhrte die Frucht
derſelben eine dreijaͤhrige Prinzeſſinn an der
muͤtterlichen Hand, als ihr der entzuͤckte Va-
ter zum frohen Willkomme entgegen eilte.
Der Marggraf war ein groſſer Kinder-
freund, wenn er auf ſeinen Spaziergaͤngen
[9] irgend einen Haufen ſpielender Kinder antraf,
ſo trat er mitten unter ſie, und beſchenkte
oft alle, wenn ſein Anblick ſie nicht zerſtreute,
und ſie ungehindert fortſpielten. Der Anblik
der kleinen Prinzeſſin, die ſuͤſſe Ueberzeugung,
daß ſie ſeine Enkelin, das Ebenbild der gelieb-
ten Tochter ſei, vermehrte daher ſeine Freu-
de um ein groſſes, er nahm den kleinen En-
gel auf ſeine Arme, und jubelte hoch, wie die
Holde ihre kleinen Arme um ſeinen Nacken
ſchlang, und ihn ohne Furcht freundlich kuͤß-
te. Sein Herz hing von dieſem Augenblicke
an ganz an ihr, er ſchrieb dem Vater, er bat
die Mutter, und beide mußten ihre Liebe zum
Kinde dem Wunſche des ehrwuͤrdigen Vaters
opfern, ihm verſprechen, daß ſie wenigſtens ei-
nige Jahre die Tochter an ſeinem Hofe laſſen,
und ihm die Freude goͤnnen wollten, ſich ih-
res Umganges zu freuen, ſie groß zu erziehen.
Die zaͤrtliche Mutter verbarg ihre Thraͤ-
nen, als ſie ſich bald hernach von ihrem Kin-
[10] de trennen, und in die Arme ihres Gatten
ruͤkkehren mußte, der Marggraf verſprach dieſe
Ueberwindung hoch zu lohnen, und jubelte
aufs neue, als die kleine Prinzeſſin durch den
Abſchied der Mutter nicht bekuͤmmert ſchien,
ſondern munter und froͤhlich zu ſeinen Fuͤſſen
ſpielte. Er ordnete ihr itzt einen vollkomme-
nen Hofſtaat, ernennte eine der verehrungs-
wuͤrdigſten Damen ſeines Landes zur Obriſt-
hofmeiſterinn der kleinen Prinzeſſin, und uͤber-
ließ es ihr, die uͤbrigen Diener und Dienerin-
nen nach Gefallen zu waͤhlen.
Dieſe Dame ſah bei ihrer Wahl vorzuͤg-
lich auf Treue und Redlichkeit. Sophie war
unter denen, welche ſie zum Kammermaͤdgen
der Prinzeſſin beſtimmte. Dieſer neue Dienſt
brachte ihr viel hoͤhern Lohn und Gewinn,
aber die Pflicht, ſtets bei der Prinzeſſin, oft
ſo gar ihre Fuͤhrerin zu ſein, verhinderte ſie,
ihren geliebten Wilhelm zu ſprechen und zu
[11] ſehen. Oft verfloſſen Tage, ſo gar Wochen,
in welchem ſie ihn nur von weiten gruͤſſen;
hoͤchſtens nur im Voruͤbereilen ein paar Wor-
te der Liebe zufluͤſtern konnte.
Zwang und Hinderniß ſind aͤchtes Unkraut
im fetten, fruchtbaren Akker, je mehr man
dieſes zu vertilgen ſucht, je ſtaͤrker und viel-
faͤltiger keimt es empor. Auch Wilhelm und
Sophie empfanden dieſe Wahrheit, ſie glaub-
ten ſich ehe ſchon innig und zaͤrtlich zu lieben,
ſie ſahen itzt ein, daß ſie ſich, getrennt von
einander, noch weit ſtaͤrker, noch weit heftiger
liebten.
Sophie ſuchte die Sehnſucht nach ihrem
Geliebten durch treue Erfuͤllung ihrer Pflicht,
durch raſtloſe Beſchaͤftigung zu mindern, Wil-
helm, dem die Wache die Woche nur einmal
traf, der unter dieſer Zeit ganz geſchaͤftlos
umher wanderte, konnte dies Mittel zur Til-
[12] gung ſeiner bangen Sehnſucht nicht waͤhlen,
Muͤſſiggang und Zeit zum Nachdenken ver-
mehrte ſeine Marter um ein Groſſes, ſie ward
ihm oft unausſtehlich, er ſuchte — wenn er
ſtundenlang auf einen Blick ſeiner Geliebten
gelauert hatte — Zerſtreuung, Erholung, und
fand ſie im Trink- oder Spielhauſe.
So lange es ihm vergoͤnnt war, ſeine
Sophie oft zu ſehen, und zu ſprechen, hatte
er dieſe Haͤuſer aͤuſſerſt ſparſam beſucht, die
maͤchtigſte Leidenſchaft des Menſchen, die all-
maͤchtige Liebe hatte jede andere Leidenſchaft
beſiegt, itzt raͤchten dieſe den Sieg, und
keimten durch liſtige Vorſtellung, daß ihr Ver-
gnuͤgen die Qualen der Liebe mindere, wie-
der maͤchtig empor, Wilhelm trank und ſpiel-
te bald ſtaͤrker als vorher. Um dieſen Auf-
wand zu beſtreiten, langte ſeine Loͤhnung nicht
zu, die Eltern gaben ihm freilich eine mo-
nathliche Zulage, aber auch dieſe ward oft in
[13] einem Abende verſpielt, und diente daher nur
zur Vergroͤſſerung ſeiner Liederlichkeit. Seine
Spielſucht mehrte ſich taͤglich, um ſie zu be-
friedigen, machte er fuͤr ſeinen Stand nahm-
hafte Schulden, die ihn quaͤlten und aͤngſtig-
ten, aber auch in der Hofnung, daß er gluͤck-
lich ſpielen wuͤrde, ſtets zu neuem Spiele ver-
leiteten.
Als er eben wegen einer Schuld von zehn
Gulden aͤuſſerſt gedraͤngt wurde, Klage bei
ſeinem Hauptmanne befuͤrchtete, und doch nicht
wußte, wie er bezahlen ſollte, traf ihn die
Reihe zur Wachtparade. Er mußte an der
Thuͤre des Saals Wache ſtehen, in welchem
der Marggraf mit den Groſſen ſeines Hofes
ſpeißte, und ſeinen Geburtstag feierte. Wil-
helm war ſo gluͤcklich an dieſem Tage ſeine
Sophie einigemal zu ſehen und ſogar im Vor-
uͤbergehen zu ſprechen. Dies machte ihn hei-
ter und froͤhlich, wenn er aber ſeiner Schul-
[14] den gedachte, ſo ward er wieder duͤſter und
traurig. Der Marggraf ſpielte ſelten, aber
wenn er ſpielte, ſo ſpielte er gerne hoch, ver-
lohr und gewann dann namhafte Summen.
An eben dieſem Tage fand er Abends Ver-
gnuͤgen am Spiele.
Wilhelm ſah mit gierigem Blicke zu, wenn
auf einer Karte oft ein Haufe Goldes ſtand.
Dieſer reizende Anblick wekte ſeine ganze Spiel-
ſucht, und endete immer mit der Vorſtellung,
daß eine einzige dieſer Karten ihn gluͤklich
machen, ganz aus aller Verlegenheit retten
koͤnne. Er ward abgeloͤßt, und dieſe Vorſtel-
lung war die ganze Ruhezeit hindurch die ein-
zige Beſchaͤftigung ſeiner erhitzten Einbildungs-
kraft. Wie er wieder zur Wache an die Thuͤ-
re des Saals gefuͤhrt wurde, ſpielte der
Marggraf noch immer, obgleich die Mitter-
nachtsſtunde begann. Erſt als dieſe geendet
hatte, ſtand er auf, wikkelte ſein Gold, wel-
[[15]] [...][[16]] [...]
Der Marggraf verließ erſt ſpaͤt am an-
dern Tage das Bette, ſchon hatten andere
Granadiere die Wache bezogen, als die klei-
ne Prinzeſſin, welche jeden Morgen in ſei-
nem Schlafgemache erſcheinen mußte, zu ihm
eintrat. Wie er dieſe erblikte, gedachte er
erſt ſeines geſtrigen Gewinns, den er zu ei-
nem Geſchenke fuͤr ſie beſtimmt hatte, er ſuchte
und fand ihn nicht, er erinnerte ſich endlich deut-
lich, daß er das Gold in ſein Schnupftuch faßte,
und dieſes im Geſpraͤche auf einen Tiſch legte.
Er ging ſelbſt nach dem Saale, durchſuchte
alles und fand nichts.
Nun war's erwieſen, daß das Gold ge-
ſtohlen ſei, nun begann die Unterſuchung.
Alle Diener, welche gegenwaͤrtig waren, alle
Granadiere, welche am Saale Wache ſtanden,
wurden arretirt. Unter den leztern befand
ſich auch Wilhelm, er war ſchon von der
Hauptwache nach ſeinem Quartiere zuruͤckge-
Biogr. d. W. 4r Bd. B
[18] kehrt, und wurde von dort in den Arreſt ge-
fuͤhrt. Man unterſuchte ſogleich die Wohnun-
gen und Sachen aller Arretirten, und fand
nicht das geringſte, man viſirte ihre Schub-
ſaͤcke, und fand bei Wilhelmen kein Gold, aber
das Schnupftuch des Marggrafen, welches da-
durch unverkennbar wurde, weil es mit einer
Krone und ſeinem Namen gezeichnet war.
Wilhelm geſtand ſogleich die That, und
zeigte den Ort an, wo er das Gold hinter
einem Holzſtoſſe in einem alten Topfe vergra-
ben hatte. Er konnte in der Folge ſelbſt nicht
ſagen, wie es geſchah, daß er das verraͤtheri-
ſche Tuch nicht vernichtete, nicht von ſich warf,
er ſchuͤttete das Gold aus dem Tuche in den
Topf, und ſteckte es, ohne die Folgen zu be-
denken, in einer wahrſcheinlich mechaniſchen
Bewegung in den Sack.
[19]
So wahr, als ich Marggraf bin! der
Kerl muß haͤngen! ſprach der Marggraf zor-
nig, als man ihm meldete, daß der Thaͤter
entdeckt, und ein Granadier ſei. Er befahl,
Standrecht uͤber ihn zu halten, und einige
Stunden nachher verſammlete ſich dies wuͤrk-
lich, um uͤber Wilhelmen den Tod auszu-
ſprechen. Erſt um dieſe Zeit erfuhr die lie-
bende Sophie das Verbrechen und das unver-
meidliche Schickſal ihres Geliebten. Verzweif-
lung kennt keine Schranken, uͤberſpringt ſie
alle, wenn ſie jenſeits Huͤlfe erblickt. Sie
eilte, als ein Raub derſelben, zu den Eltern
des ungluͤcklichen Wilhelms, ſie geſtand die-
ſen, was ihnen vorher noch ein Geheimniß
war, daß ſie ihren Sohn aufs innigſte liebe,
und von ihnen Rath, Huͤlfe und Troſt er-
warte.
B 2
[20]
Die Ungluͤcklichen konnten ihr nicht ge-
ben, was ſie ſelbſt nicht beſaſſen, ſie jam-
merten troſtlos mit ihr, ſuchten Freunde,
Huͤlfe und Rath, und fanden keins von bei-
den. Vater und Mutter knieten bald nach-
her an der Schloßtreppe, welche nach dem
Garten fuͤhrte, ſie flehten um Erbarmen,
als der Marggraf dieſe herabſtieg, aber er
winkte mit ernſtem Blicke, und die Troſt-
loſen wurden weggefuͤhrt. Sie eilten von
einem Miniſter zum andern, und erhielten
uͤberall die toͤdende Verſicherung, daß ſolch
ein Verbrechen kein Mitleid verdiene, daß
nichts in der Welt den Marggrafen bewegen
wuͤrde, ſeinen theuern Schwur zu brechen.
Unter dieſer Beſchaͤftigung nahte der
Abend, ſie wankten nach ihrer Wohnung,
und brachten die Gewißheit heim, daß das
Standrecht uͤber ihren einzigen Sohn den Tod
ausgeſprochen habe, daß er ihn morgen in der
[21] zehnten Stunde unter der Hand des Henkers
dulden wuͤrde. Sophie hatte dieſe lange Zeit
hindurch ihrer geharrt, ihr Jammer war
ohne Grenzen, als ſie dieſe ſchreckliche Nach-
richt hoͤrte, ſie eilte nach der Hauptwache,
ſie wollte wenigſtens ihren Wilhelm noch ein-
mal ſehen, aber ein Prieſter bereitete ihn
eben zum nahen Tode, ſie ward nicht vor-
gelaſſen. Mit zerrauftem Haare, mit ſtar-
rem Blicke und blutig gerungnen Haͤnden er-
ſchien ſie izt im Zimmer der Obriſthofmeiſte-
rin, die ſchon lange ihre ungewoͤhnliche Ab-
weſenheit bemerkt, vergebens nach ihr gefragt
hatte.
Sophiens Schmerz war keiner Worte faͤ-
hig, die Obriſthofmeiſterin brauchte viele
Muͤhe und Geduld, ehe ſie die Urſache ihres
ſchrecklichen Zuſtandes erfahren konnte. Sie
war eine aͤuſſerſt ſanfte und menſchenfreund-
liche Dame, Sophiens Jammer ruͤhrte ihr
[22] Herz maͤchtig, ſie ſuchte ſie zu troͤſten, durch
Gruͤnde der Religion zu uͤberzeugen, daß
Gottes Wege unerforſchlich, aber ſtets weiſe
und gerecht waͤren, als aber die verzweif-
lungsvolle Sophie ſie dreuſt verſicherte, daß
ſie an Gottes Barmherzigkeit zweifle, wenn
er nicht Huͤlfe und Rettung ſende, ſo ſuchte
ſie ſolche mit der Vorſtellung aufzurichten, daß
auch dieſe noch zu hoffen, noch moͤglich ſei.
Sophie ergrif dieſen ſchwachen Stab des
Troſtes mit Begierde, ſie warf ſich zu den
Fuͤſſen der Troͤſterin nieder, und flehte um
Huͤlfe und Erbarmen. Ich will thun, was
ich kann und vermag, ſprach die Holde, nur
die Gnade des Marggrafen kann dem Ungluͤck-
lichen das Leben retten, ich ſehe ein, daß
meine Bitte bei ihm nichts vermag, aber ich
hoffe, eine Fuͤrbitterin zu finden, die er hoͤ-
ren wird. Sie deutete bei dieſen Worten auf
die kleine Prinzeſſin, welche neben ihr mit
[23] einer Pnppe ſpielte, und ſchon oft theilneh-
mend gefragt hatte: Warum die liebe Sophie
ſo ſehr weine?
Sophie ſprang hoffend und ahndungsvoll
empor, als ſie dieſe Worte des Troſtes hoͤr-
te, ſie kannte die Liebe des Marggrafen zu
dieſem Kinde, ſie glaubte uͤberzeugt zu ſein,
daß er ihr nichts verſagen wuͤrde. Gewoͤhn-
lich ſtand der Marggraf ſchon um ſechs Uhr des
Morgens auf, ſobald die Prinzeſſin erwach-
te, welches gemeiniglich um acht Uhr geſchah,
mußte die Obriſthofmeiſterin ſolche zu ihm brin-
gen. Die muntere Kleine blieb dann oft einige
Stunden in ſeinem Kabinete, und zwang ihn,
manchmal gar mit ihr zu ſpielen.
Es ward nun verabredet, daß man die
Prinzeſſin am folgenden Morgen fruͤher wek-
ken, und dann zum Marggrafen fuͤhren woll-
te, wo ſie ſogleich um Wilhelms Leben bitten
[24] ſollte. Die Ausfuͤhrung war aber ſchwerer,
als man anfangs glaubte. Die noch nicht drei
Jahr alte Prinzeſſin plauderte zwar ſtets, aber
meiſtens nur einzelne, abgebrochne Woͤrter,
konnte viele derſelben gar nicht ausſprechen.
Indeß Sophie mit dem wahrſcheinlichen Troſte
zu Wilhelms Eltern eilte, auch dieſe der zer-
ſtoͤhrenden Verzweiflung entreiſſen, und neue
Hofnung in ihrem toden Herzen wecken wollte,
verſuchte die gutherzige Obriſthofmeiſterin, ih-
ren kleinen Eleven die Worte zu lehren, mit
welchen ſie zu Gunſten des ungluͤcklichen Wil-
helms das Herz des Marggrafen ruͤhren ſollte;
aber ſo ſehr ſie ſich auch muͤhte, die Bitte abzu-
kuͤrzen, und nur durch wenige Worte auszu-
druͤcken, ſo mengte doch eben oft die kleine
Plauderin dieſe wenigen untereinander, und
erregte die gegruͤndete Furcht, daß der Marg-
graf ihre Bitte nicht verſtehen, und daher
auch nicht achten wuͤrde. Doch hofte ſie das
Beſte, und trug die Prinzeſſin bald ins Bette,
[25] um ſie am andern Morgen fruͤher wecken, und
die Lekzion wiederholen zu koͤnnen.
Sophie, deren Augen ſich nicht ſchloſſen,
wachte die ganze Nacht am Bette des Engels,
der ihr Erloͤſer werden ſollte, ſie betete in-
bruͤnſtig zu Gott, damit er dieſen ſtaͤrken,
und ihren Worten Kraft verleihen moͤge.
Schon um ſechs Uhr weckte man die Prinzeſſin,
aber ſie war noch ſchlaftrunken, weinte anhal-
tend, und ſchlief bald aufs neue. Man den-
ke ſich das Leiden der armen Sophie, die den
einzigen moͤglichen Retter ſchlafend erblickte,
indeß der Geliebte ihres Herzens nahe Todes-
angſt duldete, die jeder Glockenſchlag mehrte.
Schon wars acht Uhr voruͤber, als die
Prinzeſſin munter und froͤhlich erwachte. Es
war ruͤhrend anzuſehen, mit welcher haſtigen
Eilfertigkeit die zitternde Sophie ſie anzuklei-
den ſuchte, und aus allzu groſſer Eile den An-
[26] zug nur verzoͤgerte, haͤtte die gutherzige
Obriſthofmeiſterin ihr nicht Beiſtand gelei-
ſtet, ſie wuͤrde dies kleine Geſchaͤft lange nicht
vollendet haben. Nun begann neuer Unter-
richt, und wie die Prinzeſſin ihre Bitte nur
mit halben Worten ſtammlen konnte, ſo
ergrif die Obriſthofmeiſterin ihre Hand, und
fuͤhrte ſie zum Kabinete des Marggrafen.
Sophie folgte vom weiten mit gefalteten Haͤn-
den, jedes ihrer Glieder zitterte der nahen
Entſcheidung entgegen.
Die Obriſthofmeiſterin oͤfnete izt die Thuͤ-
re des Kabinets, und ließ die Prinzeſſin allein
eintreten, ſie lehnte die Thuͤre nur langſam
an, und horchte an der ofnen Spalte der
Wuͤrkung entgegen. Sophie draͤngte ſich naͤ-
her hinzu, und hob ihre Haͤnde zu Gott em-
por. Der Marggraf ſaß an ſeinem Schreib-
tiſche, und blickte auf die Kommende. Sie
ging bis in die Mitte des Kabinets, kniete
[27] nieder, und hob ihre kleinen Haͤnde bittend
empor. Liebe Großpapa, ſtammlete ſie,
Ganadirle ſchenken! Liebe Großpa-
pa, wiederholte ſie noch einmal, Ganadirl
ſchenken! Der geruͤhrte Marggraf ſtand
haſtig auf, hob die Prinzeſſin empor, und
ſchloß ſie in ſeine Arme. Du verlangſt viel,
ſprach er, indem er ſie kuͤßte, aber es iſt
deine erſte Bitte, ich muß ſie erfuͤllen! Der
Granadier hat: Gnade! — — Er hat Gnade!
fluͤſterte die horchende Obriſthofmeiſterin der
harrenden Sophie zu. Er hat Gnade! ſchrie
dieſe laut [auf], daß es im Vorgemache wie-
derhallte, und ſtuͤrzte fort, um die erſte Ver-
kuͤndigerin derſelben zu werden.
Ich wage es nicht, den Jubel der Eltern
zu ſchildern, als die athemloſe Sophie mit
dieſem allmaͤchtigen Worte des Troſtes vor
ihnen erſchien, ihr flehendes Gebet, ihre
ſtammlende Bitte zum Ewigen mit dieſem
[28] freudigen Zurufe unterbrach, und ihnen noch
nebenbei erzaͤhlte, daß ein Kammerjunker,
wie ſie bei der Hauptwache vorbeieilte, dieſe
Gnade bereits dem armen Wilhelm im Na-
men des Marggrafen verkuͤndigt habe. Der
groſſe Jammer hatte bereits ihre wenige Le-
benskraft maͤchtig geſchwaͤcht, die ſchnelle Freu-
de ſchien den Ueberreſt ganz zu rauben. Man
mußte die ungluͤcklichen Alten aufs Bette le-
gen, alle ihre Glieder durchbebte ein hefti-
ger Fieberfroſt, ſie waren dem Tode nahe,
naͤherten ſich ihm bald noch mehr, als ſie
kurz hernach hoͤrten, daß der Marggraf zwar
ihrem Sohne das Leben geſchenkt, ihn aber
doch zur Verſoͤhnung der Gerechtigkeit auf
drei Jahre zur Zuchthausſtrafe verurtheilt
habe.
Damals achtete man jeden, der in die-
ſem Hauſe dulden mußte, fuͤr unehrlich.
Keiner unter den Buͤrgern ſprach mit dieſen
[29] ungluͤcklichen Opfern der Gerechtigkeit. Auch
wenn die Strafe geendet hatte, und man den
Erloͤſten wieder in jeder buͤrgerlichen Geſell-
ſchaft und Innung dulden mußte, ſo blieb ſie
doch immer als ein unvertilgbarer Fleck zuruͤck,
der den reinen Glanz einer ganzen Familie
verdunkelte, ihr bei jeder Gelegenheit zum
geheimen, oft gar oͤffentlichen Vorwurf dien-
te. Dieſe Vorſtellung, und wahrſcheinlich auch
das Bewuſtſein, daß ihr Sohn die Strafe
mehr als doppelt verdient habe, verbitterte
die Freude ſeiner gluͤcklichen Rettung um ein
Groſſes. Die Folgen des ausgeſtandnen
Schreckens und Jammers, der finſtere, truͤbe
Blick in die Zukunft nagte an ihrem morſchen
Koͤrper, ehe zwei Monden verfloſſen, ſchlum-
merten beide im Grabe. Das ganze Erbe,
welches ſie ihrem Sohne hinterlieſſen, ward
in gerichtliche Verwahrung genommen, und
zum Beſten des Duldenden, weil er es izt
[30] nicht genuͤſſen, nicht verwalten durfte, in ein
zinsbares Kapital verwandelt.
Sophie liebte — liebte mit warmen Ju-
gendfeuer, mit inniger, wahrer Zaͤrtlichkeit.
Niemand wirds ihr daher verdenken, oder es
wenigſtes ganz natuͤrlich finden, wenn ſie nicht
gleich den Buͤrgern der Stadt, nicht wie Wil-
helms Eltern dachte. Der Allgeliebte war ge-
rettet, mußte zwar harte Strafe, aber nicht
immer, nicht ewig dulden. Ihre Einbildungs-
kraft uͤberhuͤpfte mit ſeltner Fertigkeit dieſen
kurzen Zeitraum, ſie ſah ihren Wilhelm wie-
der kettenlos unter den Menſchen umher wan-
deln, er arbeitete emſig und anhaltend, er
fand Unterſtuͤtzung und Nahrung in einer frem-
den Stadt, die ſein ehemaliges Verbrechen
nicht kannte, er kam als Buͤrger derſelben,
um ſich eine Gattin zu waͤhlen, er reichte ihr
die Hand, und ſie ſank woune- und freude-
fuͤhlend in ſeine Arme. Dies war die ange-
[31] nehme Vorſtellung, mit welcher ſie ſich zu
troͤſten ſuchte, wenn Wehmuth ſie ergrif, und
ſchwarzer Tiefſinn an ihrem Herzen nagen
wollte.
Wilhelm hatte ein ſchweres Verbrechen
veruͤbt, die Gelegenheit war reizend und ein-
ladend, aber lange nicht hinreichend genug,
um den aͤchten Rechtſchafnen in die Falle zu
locken! Dieſer Gedanke haͤtte ſie ſchrecken, we-
nigſtens bange Sorge fuͤr die Zukunft in ihr
erregen ſollen, aber nichts verzeiht, nichts
entſchuldigt ſtaͤrker, als die Liebe. Sie hat
zwei Maͤntel, welche ſie abwechſelnd traͤgt,
einer iſt lang, weit, und dem Auge undurch-
dringbar, der andere iſt klein, enge und vom
duͤnſten Flore gewebt. Mit dem erſtern be-
deckt ſie die Maͤngel und Fehler des geliebten
Gegenſtands, wenn ſie ſich naht, in den lez-
tern huͤllt ſie dieſen, wenn ſie Abſchied nehmen
will, oder einen Reizendern findet.
[32]
Wie Wilhelm zur Prinzeſſin gefuͤhrt wur-
de, um ihr auf Befehl des Markgrafen fuͤr
ihre Fuͤrbitte, fuͤr ſein Leben zu danken, ſtand
Sophie im Gemache derſelben. Ihr rothge-
weintes Auge, ihr noch thraͤnender Blick uͤber-
zeugte ihn deutlich, daß ihr Leiden, ihr Jam-
mer groß war, er ſah zugleich ein, daß ſie
die Retterin ſeines Lebens war, und ohne ihre
Mitwuͤrkung die Prinzeſſin ſchwerlich fuͤr ihn
gebeten haͤtte. Dieſer große Beweis ihrer
Liebe ermunterte ihn zur Dankbarkeit, er trat
naͤher zu ihr. Wenn ichs je vergeſſe, fluͤ-
ſterte er leiſe, was ich ihnen zu verdanken
habe, ſo ſoll mir Gott ſchnell wieder rauben,
was er mir ſo wunderbar ſchenkte. Vergeſſen
ſie indeß den Ungluͤcklichen nicht ganz, er
iſt ihres Mitleids wuͤrdig. Sophie konnte
nicht antworten, aber ihr Blick ſprach um ſo
ſtaͤrker, Wilhelm ging mit der Gewißheit von
dannen, daß ſie ihn noch liebe, und ſeiner
harren wuͤrde.
Die
[33]
Die Obriſthofmeiſterin hatte das kurze
Geſpraͤch bemerkt, und Sophiens redenden
Blick geſehen, ſie achtete es fuͤr noͤthig, die
letzere fuͤr unangenehmen Folgen zu warnen.
Liebes Kind, ſprach die Gute, ohne zu un-
terſuchen, ob der ungluͤckliche, aber auch
ſtrafbare Juͤngling deiner Liebe noch wuͤrdig
ſei, will ichs nicht hindern, wenn du ihm in
ſeinem kuͤnftigen Zuſtande nach deinen Kraͤften
Wohlthaten erzeigſt, aber ich muß es dir
bei Verluſte deines Dienſtes und meiner Gnade
ſtreng verbieten, ihn im Zuchthauſe zu be-
ſuchen, oder mit ihm auf der Gaſſe zu ſpre-
chen. Es wuͤrde deinen Ruf kraͤnken, wenn
du meinen Befehl uͤbertreten wollteſt, und
ſchwarzen Schatten auf mich werfen, wenn ich
es duldete. Ich fordere daher dein feſtes
Verſprechen, damit ich ruhig ſeyn, und mit
Recht ſtrafen kann, wenn du es doch nicht er-
fuͤllteſt.
Biogr. d. W. 4r Bd. E
[34]
Sophie ſah die Billigkeit ihrer Forderung
ein, ſie verſprach, ſtreng zu gehorchen, nur
bat ſie flehend, ihr die einzige Erlaubniß zu
goͤnnen, ihm dies Verbot kund zu machen,
damit es der Ungluͤckliche nicht fuͤr Verachtung
von ihrer Seite halte, und dadurch zur Ver-
zweiflung gereizt wuͤrde. Obgleich die Obriſt-
hofmeiſterin dieſen Schritt nicht billigen
konnte, ſo war ſie doch großmuͤthig genug,
ihn nicht zu verbieten, doch forderte ſie aus-
druͤcklich, daß es nicht durch Sophien ſelbſt,
ſondern durch einen dritten geſchehen muͤſſe,
und fuͤr die Zukunft kein Briefwechſel ſtatt ha-
ben duͤrfe.
Sophie dankte, und eilte noch am nem-
lichen Tage zu Wilhelms Mutter, welche ſie
um ihrer Theilnahme willen izt innig liebte,
und herzlich gerne als Schwiegertochter um-
armt haͤtte. Dort ſchrieb ſie ihrem Wilhelm
alles, und fuͤgte noch manches, was ihn
[35] troͤſten und erquicken konnte, hinzu. Eine
alte Frau, welche von der Mutter an Wil-
helmen geſandt wurde, brachte muͤndlichen,
innigen Dank zuruͤck, weil es ihm nicht ver-
goͤnnt war, Antwort zu ſchreiben.
Die Arbeit aller Verbrecher im Zuchthau-
ſe war ſchwer und anhaltend, aber noch ent-
kraͤftender und haͤrter war die ſchmale, aͤuſſerſt
ſchlechte Koſt, welche ihnen gereicht wurde.
Die Ungluͤcklichen, welche nicht Freunde und
Anverwandte hatten, nicht Wohlthaͤter in
der Stadt fanden, mußten oft hungrig ſchla-
fen gehen. Dieſe ſchlechte Koſt war nicht
Strafe, wahrſcheinlich nur eine Folge der
Habſucht der Vorſteher, weil es allen, die in
dieſem Hauſe duldeten, erlaubt war, ſich beſ-
ſere Speiſen zu kaufen, wenn ſie Geld von auſ-
ſen erhielten.
E 2
[36]
So lange Wilhelms Eltern lebten, ſand-
ten ſie ihrem ungluͤcklichen Sohn taͤglich Spei-
ſen, als aber beide in ſo kurzer Zeit ſtarben,
da fuͤhlte Wilhelm durch einige Tage die volle
Laſt ſeines Schickſals in ſeiner ganzen Groͤſſe.
Er war von Jugend auf beſſerer Koſt gewohnt,
ein unuͤberwindlicher Ekel hinderte ihn izt,
das Wenige zu genuͤſſen, was man ihm reich-
te. Matt und kraftlos taumelte er umher,
bekam Schlaͤge, weil er die vorgeſchriebne Ar-
beit nicht vollenden konnte, und hofte eben,
daß der Tod ſeine Marter bald enden wuͤrde,
als ein altes Weib erſchien, und ihm nahr-
hafte und gute Speiſe brachte. Sie ſchuͤzte
ſtrenges Verbot vor, wenn er nach dem Na-
men ſeines neuen Wohlthaͤters fragte, ſie
laͤchelte geheimnißvoll, wenn er bald dieſen,
bald jenen ſeiner Anverwandten nannte. Erſt
nach einigen Wochen gab die Alte, welche von
nun an taͤglich mit Speiſe erſchien, ſeiner
dringenden Bitte Gehoͤr, und geſtand ihm,
[37] daß Sophie ſeine Wohlthaͤterin ſei, ihre Koſt
mehr als mit ihm theile, ſich ſtets nur mit
einer Speiſe ſaͤttige, und alle uͤbrigen ihm
ſende. Dankbare Thraͤnen rollten bei dieſer
Nachricht uͤber ſeine Wangen, er blickte gen
Himmel, und ſchien Gott zu fragen: Wie er
ſolch eine Liebe lohnen und vergelten koͤnne?
Sophie hofte, Wilhelms Strafe durch
neue Fuͤrbitte abzukuͤrzen, ſie wandte ſich da-
her, wie ein Jahr ſeiner Strafzeit verfloſſen
war, aufs neue an die Obriſthofmeiſterin, al-
lein dieſe konnte nicht mehr helfen und nuͤtzen,
weil der Marggraf es ihr ausdruͤcklich und
bei Verluſt ſeiner Gnade unterſagt hatte, die
Prinzeſſin nie mehr zu einer aͤhnlichen Bitte
aufzufordern, und dadurch den Lauf der Ge-
rechtigkeit zu hemmen. Dieſe Nachricht that
ihrem liebenden Herzen aͤuſſerſt weh, nur die
Hofnung, daß die uͤbrigen zwei Jahre gleich
dem erſten ſchwinden muͤßten, war der ſuͤſſe
[38] Troſt, wenn ſie das Schickſal des Ungluͤckli-
chen im Verborgnen beweinte. Noch mehr als
dieſer Gedanke troͤſtete ſie die Vorſtellung, daß
ſie dieſe ganze Zeit hindurch ihres Geliebten
Wohlthaͤterin ſeyn, und das harte Loos deſ-
ſelben um vieles erleichtern koͤnne, ſie ſandte
ihm nicht allein taͤglich die mehrſten der Spei-
ſen, welche fuͤr ſie beſtimmt waren, ſondern
ſie legte auch jede Woche etwas Geld bei, weil
ſie wußte, daß Wilhelm gerne Tobak rauche,
und ſie ihm dies Vergnuͤgen nicht rauben
wollte.
So verfloſſen auch die zwei lezten Jahre
der Strafzeit. Schnell und anhaltend klopfte
Sophiens Herz, als der lezte Monden, die
lezte Woche, und endlich auch der lezte Tag
derſelben nahte. Noch roͤthete ſich ihre Wan-
ge, reine Freude glaͤnzte in ihrem Auge, wie
Wilhelm ihr durch die Ueberbringerin der
Speiſen nochmals aufs waͤrmſte fuͤr die groſſe
[39] Wohlthat danken, und zugleich melden ließ,
daß er morgen das Haus der Strafe verlaſſen
wuͤrde. Er wird, fuͤgte die Alte hinzu, zu
einer alten Muhme ziehen, und wenn er ſich
anſtaͤndig gekleidet hat, es wagen, ſie dahin
einzuladen, um ihnen muͤndlich danken zu
koͤnnen.
Sophie harrte dieſer Nachricht mit der
Ungeduld der Liebenden entgegen. Sie hatte
ihren Wilhelm wuͤrklich durch drei volle Jahre
nicht geſehen, er mußte immer im Hofe des
Zuchthauſes arbeiten, ſie konnte ſich nicht da-
hin wagen, weil man jedem jungen Maͤdchen
den Zutritt dahi[n] verweigerte, und der Ver-
luſt ihres Dienſtes ganz ſicher erfolgt waͤre,
wenn nur ein Verſuch dieſer Art waͤre verra-
then worden. Man denke ſich nun die Sehn-
ſucht, das peinigende, heiſchende Verlangen
des liebenden Maͤdchens!
[40]
Eben wars ein Sonntag, eben kam ſie
aus der Kirche zuruͤck, in welcher ſie andaͤch-
tig gebetet, aber auch mit ſuchendem Auge
oft und lange umher geblickt hatte, als ein
kleines Maͤdchen im Schloßhofe ihrer harrte,
und ihr einen Brief uͤberreichte. Wilhelm,
der dankbegierige Wilhelm hatte ihn geſchrie-
ben, er enthielt eine Einladung auf den fol-
genden Nachmittag zu ſeiner alten Muhme,
welche ihn nicht allein liebreich aufgenommen,
ſondern auch wider Vermuthen ſein und So-
phiens Gluͤck zu gruͤnden verſprochen hatte.
Sophie eilte um die beſtimmte Stunde zu
ihrem Wilhelm. Als ſie zitternd die Thuͤre
des Gemachs oͤfnete, wankte er ihr mit Thraͤ-
nen im Auge entgegen, das Ungluͤck und wahr-
ſcheinlich noch der Kummer hatte ſeine Wangen
gebleicht, aber ſein Auge glaͤnzte um ſo feu-
riger, ſein Mund ſprach zwar wenig, aber
das Wenige bewies deutlich, daß er ſein Ver-
[41] gehen innig bereue, und ewig dankbar ſeyn
werde. Die alte, geſchwaͤtzige Muhme ſtoͤhrte
das Gefuͤhl der Liebenden um ein groſſes, ſie
lobte Sophiens Wohlthaten, welche ſie ſo lan-
ge Zeit hindurch ihrem Vetter erwieſen hatte,
mit vielen Worten. Ich muß aufrichtig geſte-
hen, ſprach ſie, daß ich den gottloſen Buben,
der ſeine Eltern ins Grab geſtuͤrzt, mir und
allen ſeinen Freunden ſo viel Schande gemacht
hat, ganz vergeſſen wollte. Wie ich aber
hoͤrte, daß ein fremdes Maͤdchen nicht allein
ſein Leben gerettet, ſondern ihn auch drei Jah-
re lang ernaͤhrt habe, da dachte ich: Du han-
delſt doch zu hart, du mußt vergeben und ver-
geſſen! Auch will ich mein Geluͤbde halten,
will ſein kuͤnftiges Gluͤck zu gruͤnden und zu
vermehren ſuchen, wenn er nur kuͤnftig auch
keine luͤderliche Streiche mehr begeht, und
ſeinem treuen Maͤdchen ihre Liebe lohnt.
[42]
Sie ſprach noch lange in dieſem Tone fort,
wie aber auf dem nahen Thurme die Glocken
zur Nachmittagspredigt ruften, da ergrif ſie
ihr Geſangbuch, eilte fort, und goͤnnte den
Liebenden das ſeltne Gluͤck, ungeſtoͤrt ſprechen,
ungehindert kuͤſſen zu koͤnnen. Der Bund der
ewigen Treue und Liebe ward in dieſer weni-
gen Zeit erneuert, ſogar Plaͤne zur kuͤnftigen
Erfuͤllung entworfen.
Wilhelm erzaͤhlte ſeiner Sophie, daß ſein
vaͤterliches Erbe nahe an zweitauſend Gulden
betrage, wenn er nun, fuͤgte er hinzu, was
er hoffen und erwarten koͤnne, von der weit
reichern Muhme noch eine aͤhnliche Summe
erhalten wuͤrde, ſo ſei dieſe Summe hinlaͤng-
lich, ſich in einem Staͤdchen eines benachbar-
ten Fuͤrſtenthums als Handelsmann zu etabli-
ren, und dort gluͤcklich und vorwurfsfrei zu
leben. Sophie, welche innig liebte, und ſich
daher ſo gerne eine gluͤckliche Zukunft traͤumte,
[43] billigte den ganzen Plan vom Herzen, bat
ſogar, ihn nur recht bald auszufuͤhren. Sie
beſuchte nun ihren Wilhelm oͤfters, kam vor-
zuͤglich alle Sonntage, um den Nachmittag
deſſelben in ſeinen Armen zu durchleben.
Wilhelm, den mehr die Schande und die
Sorge eines kraͤnkenden Vorwurfs als aͤchte,
wahre Reue an ſein Zimmer feſſelte, und an
jedem geſellſchaftlichen Vergnuͤgen hinderte, ge-
wann bald dadurch das volle Zutrauen der gut-
herzigen Alten, ſie wollte eben ſeine Bitte er-
fuͤllen, und ihm mit einer hinlaͤnglichen Sum-
me unterſtuͤtzen, als ſie ein jaͤher Schlagfluß traf,
und ihr nur noch ſo viel Lebensfriſt goͤnnte,
um bei vollem Bewuſtſein und reifer Vernunft
ihren Vetter zum Univerſalerben einzuſetzen.
Wilhelm war nun ein reicher Mann, ſein
Vermoͤgen graͤnzte nahe an funfzehn tauſend
Gulden, es beſtand in lauter ſichern Kapita-
lien, die er jederzeit aufkuͤndigen und erhe-
[44] ben konnte. Er that das erſtere, und wand
ſich nun aus Sophiens Armen los, um ſich
einen Ort zu ſuchen, wo ſie kuͤnftig ruhig le-
ben, und das Gluͤck der Liebe genuͤſſen koͤnn-
ten.
Ehe er ſchied, forderte er ſchlechterdings,
daß Sophie ihrem Dienſte entſagen, und bei
ihren Eltern ſeine Ruͤckkunft erwarten ſollte.
Die armen Eltern, welche nur auf das zeit-
liche Gluͤck ihres Kindes ſahen, billigten So-
phiens Wahl und Entſchluß, nur forderten
ſie, daß Wilhelm ſich mit ihr vor ſeiner Ab-
reiſe verloben ſollte, er war willig, dieſe
Forderung zu erfuͤllen, und Sophie verließ
das Schloß noch einige Tage vor Wilhelms
Abreiſe. Er war mit ihr verlobt, als er
ſchied, er verſprach, binnen Mondensfriſt
wieder zu kehren, und ſie dann ſogleich zu heu-
rathen. Wer kanns dem liebenden Maͤdchen
verdenken, wenn ſie bei ſo voller Gewißheit
[45] ihres nahen Gluͤcks dankbar zu ſeyn wuͤnſchte,
minder ſtreng eine kleine Freiheit verweigerte,
und dadurch unvermerkt in die Fluthen des
brauſenden Stroms gerieth, der alles mit ſich
fortreißt, was ſich ſeinen Wellen naht. Als
endlich Wilhelm wuͤrklich ſchied, ſo miſchten
ſich in die Thraͤnen des Abſchiedes auch Thraͤ-
nen der Reue, der verlohrnen Unſchuld, wel-
che nur die Hofnung der baldigen Wiederkehr
trocknen konnte.
Es war zwiſchen den Liebenden verabredet
worden, daß Wilhelm mit jedem Poſttage
ſchreiben, ſeine Geſundheit und den Erfolg ſei-
nes Unternehmens berichten ſolle. Er erfuͤllte
ſein Verſprechen ſtrenge, Sophie erhielt jede
Woche zweimal Nachricht von ihm, nur trauer-
te ſie, wenn ſie in ſeinen Briefen laß, daß er
immer weiter reiſe, und es ihm nirgends beha-
gen wollte. Wie ein Monat verfloſſen war,
und er von Frankfurt aus zum leztenmale ge-
[46] ſchrieben hatte, erfolgte kein Brief, keine Nach-
richt mehr.
Sophiens Kummer ward bald groß, ward
in der Folge unertraͤglich, weil ſie ſich ſchwan-
ger fuͤhlte. Vier Monate harrte ſie vergebens
auf weitere Nachricht, als aber ihre Eltern
uͤber Wilhelms Stillſchweigen ebenfalls traurig
wurden, ihr Vorwuͤrfe zu machen begannen,
weil ſie ſich mit einem ſo ſchlechten Menſchen
in ein Liebesverſtaͤndniß eingelaſſen, und ihrem
guten Dienſte ſo leichtſinnig entſagt habe, da
rang ſie ingeheim nach Troſt und Huͤlfe. Sie
erinnerte ſich izt erſt, daß Wilhelm kurz vor
ſeiner Abreiſe einem ſehr rechtſchafnen Advoka-
ten die Verwaltung ſeines Vermoͤgens anver-
traut habe, ſie eilte zu ihm, um zu erfahren,
ob Wilhelm ihm dieſe lange Zeit hindurch eben-
falls nicht geſchrieben habe, und wollte ihn
dann erſt als tod beweinen, wenn er, da er
nicht mehr als funfzig Dukaten mit ſich ge-
[47] nommen hatte, unter dieſer langen Zeit kein
Geld verlangt haͤtte. Todesblaͤſſe verbreitete
ſich uͤber ihre Wangen, ſie zitterte und bebte,
als der ehrliche Mann ihr ſogleich erzaͤhlte,
daß Wilhelm dieſe Zeit uͤber ihm ſtets geſchrie-
ben, nun aber wohl nicht mehr ſo oft ſchreiben
wuͤrde, weil er ihm eben mit lezter Poſt den
lezten Reſt ſeines ganzen Vermoͤgens nach
Frankfurt uͤberſandt habe. Er wird ſich dort,
fuhr er fort, wie ich aus allem erſehe, etabli-
ren und ein reiches Maͤdchen heurathen. Je
nun, ſezte er hinzu, ich goͤnne ihr und ihm
das Gluͤck herzlich gerne, und wuͤnſche nur,
daß es von Dauer ſei. Hier kennt man den
Vogel, hier waͤre es ihm nicht gelungen, eine
ſo reiche Braut heimzufuͤhren.
Sophie konnte die zentnerſchwere Laſt,
welche der Erzaͤhler ſo ſchnell, ſo unbarmherzig
auf ſie waͤlzte, nicht ertragen, ſie ſank kraftlos
zu Boden. Als der Alte ſie geweckt und ge-
[48] labt hatte, forſchte er nach ihrem Namen und
der Urſache ihres Schreckens, als ſie den er-
ſtern ſtammlete, errieth er ſogleich die Urſache
des leztern. Er erinnerte ſich, daß Wilhelm
ihn in einem ſeiner Briefe ſehr dringend gebe-
then hatte, ſeinen Aufenthalt zu Frankfurt
vor jedermann, vorzuͤglich aber vor einem ge-
wiſſen Maͤdchen, welches ſich Sophie G — nen-
ne, geheim zu halten. Sie koͤnnen ſich, ſchrieb
der Undankbare, die Urſache meiner Bitte leicht
denken, ich wurde, als ich noch Granadier war,
mit ihr bekannt, das Maͤdchen hieng kletten-
maͤßig an mir, ſie gewaͤhrte, und ich genoß al-
les. Habſucht und Eigennuz koͤnnte ſie izt
leicht reitzen, dem ehmaligen armen, izt reichen
Liebhaber nachzulaufen, nach Art dieſer kuͤhnen
Kreaturen entweder ſeine aͤußerſt vortheilhafte,
ihm ganz gluͤcklich machende Heurath zu hin-
dern, oder wenigſtens ihr Stillſchweigen nur
fuͤr eine namhafte Summe zu verkaufen.
Der
[49]
Der Advokat, welcher in dieſem Falle Wil-
helms ſchaͤndlichen Luͤgen vollen Glauben bei-
maß, auch izt noch muthmaßte, daß ihre Nach-
frage aͤhnliche Urſache zur Abſicht habe, war of-
fenherzig genug, der leidenden Sophie dies
alles mit trocknen Worten kund zu machen, ihr
nebenbei wohlmeinend zu rathen, daß ſie ſeines
Klienten Gluͤck nicht hindern moͤge, weil ſie in
jedem Falle zu ſpaͤt kommen, wohl ſeinen Zorn,
aber durch ſolche Mittel nie ſeine Großmuth
reizen wuͤrde.
Sophiens Zuſtand war ſchrecklich, war er-
barmungswuͤrdig. Ihr Blick hatte immer
hoffend und feſt an der Zukunft gehangen, izt
verfinſterte ſich dieſe gluͤckliche Ausſicht, ein Ab-
grund oͤfnete ſich zu ihren Fuͤßen, ſie ſchauderte
zuruͤck, und ein noch graͤßlicherer lag vor ihr.
Sie fuͤhlte ſich verſtoßen, und verlaſſen; ſie ſah
nirgends Troſt, nirgends Hofnung, noch Huͤl-
fe; ihre Sinne ſtarrten wuͤrkungslos umher;
Biogr. d. W. 4r Bd. D
[50] das Rad ihrer [Einbildungskraft] ſtockte, die im-
mer thaͤtige Seele konnte es nicht drehen,
nicht wenden. Undank und Grauſamkeit hatten
ſie toͤdlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte
jede Nerve, durchzitterte jede Faſer des ver-
laßnen Maͤdchens. Mit jedem Tropfen Blu-
tes rollte der zentnerſchwere Gedanke langſam
durch ihre Adern, und ſtroͤmte wieder haſtig
nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu
ſuchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken,
ſie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne
es verlaſſen zu wollen, ſie irrte in den Gaſſen
der Stadt umher, ohne zu wiſſen, wohin ſie
gehen wolle.
Am Abende fand ſie die ſuchende Mutter
in einem Garten der entlegenſten Vorſtadt, ſie
ſaß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete
ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein
kleines Maͤdchen, welches ſie hinauf klettern
ſah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter
[51] ſtaunte mit Recht uͤber dies ſeltne Unterneh-
men, aber ſie ſtaunte bald noch mehr, als die
Tochter zwar ihr aͤngſtliches Rufen hoͤrte,
willig herabſtieg, aber auch nur zu deutlich be-
wies, daß ihre Vernunft ſchlummere, wohl gar
ein Raub des Wahnſinues geworden ſey: Die
Folge beſtaͤtigte dieſe traurige Gewißheit voll-
kommen, lange bliebs den jammernden El-
tern ein Geheimniß, welch ein ſchreckliches Un-
gluͤck ihr armes Kind in dieſen Abgrund ge-
ſtuͤrzt habe, endlich entdeckten ſie durch Zufall
den Beſuch, welchen ſie bei dem Advokaten ge-
macht hatte, und erfuhren durch dieſen den
graͤßlichen Meineid des treuloſen Wilhelms.
Die wahnſinnige Sophie hatte mit ihrer
Vernunft auch den Gebrauch ihrer Sprache
verlohren, ſie beantwortete keine Frage, uie-
mand hoͤrte mehr ein Wort von ihr. Sie
ging, wenn ſie daheim war, mit gefalteten
Haͤnden, mit geſenktem Auge langſam auf
D 2
[52] und nieder, und verſuchte ſtets durch tiefe
Seufzer, die druͤckende Laſt ihres Herzens
zu loͤſen. Schon am andern Morgen umguͤr-
tete ſie ihren Koͤrper mit einem langen Flore,
und heftete auf ihre linke Bruſt, unter der
ihr verlaßnes Herz ruhte, einen ſchwarzen
Fleck. Sie zitterte und bebte, ſie wuͤthete
und raßte, wenn man ihr dieſen Zierrath
rauben wollte, ſie ſchuͤttelte langſam und
traurig den Kopf, wenn man ſie troͤſten
wollte. Oft entwiſchte ſie der Aufmerkſamkeit
ihrer Eltern, und eilte ins Freie. Die ſu-
chende Mutter war dann gewiß, daß ſie ſol-
che auf der hohen Linde wiederfinden wuͤrde;
immer traf ſie ſolche im Gipfel derſelben, wo
ſie mit hocherhabnen Haͤnden zu beten ſchien.
Wehmuth fuͤllt mein Herz, theilnehmen-
de Thraͤnen treten in mein Auge, wenn ich
mir das Leiden der Ungluͤcklichen denke, wenn
ich der Urſache nachforſche: Warum ſie eben
[53] die hohe Linde erſtieg, und dort ſo andaͤchtig
betete? Wahrſcheinlich wollte ſie ihren unend-
lichen Schmerz, ihren uͤbergroßen Jammer
dem Ewigen klagen; wahrſcheinlich glaubte
ſie in ihrem Wahnſinne, daß ſie im Gipfel
der Linde ihm naͤher ſey, daß er ſie in dieſer
Hoͤhe beſſer hoͤren wuͤrde. Ach, es iſt ein
ſchaudernerregendes Bild, wenn der Ungluͤck-
liche, der nirgends Huͤlfe, nirgends Troſt
auf der weiten, großen Erde findet, einen
hohen Baum erklettert, um von ſeiner Hoͤhe
zum Ewigen zu rufen, da er ſein Flehen aus
der Tiefe nicht zu hoͤren ſcheint. Es iſt ein
Beweis des hoͤchſten Dranges, des groͤßten
Jammers, des fuͤhlbarſten Schmerzes!
Erſt einen Monat ſpaͤter ſahen die ungluͤck-
lichen Eltern des ungluͤcklichſten Kindes, daß
ihr Jammer noch kein Ziel erreiche, daß er ſich
in der Folge noch um ein großes mehren
muͤſſe, ſie erkannten deutlich, daß Sophie
[54] ſchwanger ſey. Ihre gerechte Klagen uͤber den
ſchaͤndlichen und meineidigen Verfuͤhrer, wur-
den nun lauter, man ſprach in der ganzen
Stadt von Sophiens Ungluͤcke; die Obriſthof-
meiſterin erfuhr es, und durch dieſe der Marg-
graf ſelbſt. Er ſtaunte uͤber den ſchrecklichen
Undank des Juͤnglings, er ging am Nachmit-
tage ſelbſt nach Sophiens Wohnung, um ſich
von der Wahrheit der Geſchichte zu uͤberzeu-
gen. Er ſah die Ungluͤckliche, und Thraͤnen
traten in ſein Auge, er beſchenkte ihre Eltern
ſehr reichlich, und verſprach noch mehr zu
thun.
Eine Stunde nach ſeiner Ruͤckkunft ins
Schloß, ging ein Kourier nach Frankfurt ab,
welcher den gemeßnen Auftrag hatte, Wilhelms
Heurath wo moͤglich zu hindern, und ihm un-
ter den fuͤrchterlichſten Drohungen zur Ruͤck-
kehr und zum Erſatze der leidenden Unſchuld
zu bewegen. Der Abgeſandte fand Wilhelmen
[55] nicht mehr in Frankfurt, er hatte in einem
benachbarten Staͤdtchen eine ſchoͤne, reiche
Kaufmannstochter geheurathet, und lebte
dort mit einem Aufwande, der nach Zeugniß
der Sachkundigen, ein weit groͤſſeres Vermoͤ-
gen bald verſchlingen wuͤrde.
Ohne zu bedenken, daß nun keine Heu-
rath mit Sophien moͤglich ſey, reiſte der Ab-
geſandte nach dieſem Staͤdtchen, und machte
dem in Freuden lebenden Wilhelm die Schrek-
kenspoſt des Marggrafen kund. Sie ſchien
ihn ſehr zu erſchuͤttern, er zitterte und bebte,
verſprach dem Abgeſandten am andern Morgen
eine ſchriftliche Rechtfertigung und eine Sum-
me Geldes zur Unterſtuͤtzung der leidenden So-
phie zu uͤberbringen. Wie aber der Abgeſand-
te bis am Mittag des andern Tages vergebens
auf beides harrte, und nun wieder nach Wil-
helms Wohnung ging, fand er dort alles in
groͤßter Beſtuͤrzung, und erfuhr, daß Wil-
[56] helm ſchon am Abende vorher aus dem Hauſe
verſchwunden, den mitgenommeuen Sachen
nach zu urtheilen, ganz entflohen ſey.
Wenn der treuloſe Undankbare mein Land
jemals betritt, ſprach der Marggraf, als er
dieſe Nachricht hoͤrte, ſo harrt ſeiner ewige
Zuchthausſtrafe! Der menſchenfreundliche Fuͤrſt
ward nun ſelbſt Vater der Verlaßnen, er ſezte
ihr eine jaͤhrliche Penſion von zweihundert Tha-
lern aus, er verſprach, das Kind zu verſor-
gen, und gebot den Eltern, die Ungluͤckliche
nicht durch Vorwuͤrfe zu kraͤnken, ihr viel-
mehr durch ſorgfaͤltige Pflege den ſchrecklichen
Zuſtand auf alle moͤgliche Art zu erleichtern.
Oft ſandte er ihr Speiſen von ſeiner Tafel,
und ſchuͤttelte immer nachdenkend den Kopf,
wenn er ſich die ſeltne Liebe des Maͤdchens,
den ſchrecklichen Undank des Juͤnglings dachte.
Die fuͤrſtliche Fuͤrſorge reizte die nun we-
nigſtens von Nahrungsſorgen befreiten Eltern
[57] zur groͤſſern und mehrern Aufmerkſamkeit.
Um Ungluͤck zu verhuͤten, welches in ihrem Zu-
ſtande ſo leicht und moͤglich war, verhinderten
ſie es ſtrenge, daß Sophie nicht mehr nach dem
Garten gehen, nicht mehr die hohe Linde be-
ſteigen konnte, aber eben dieſe gute Meinung
war die Urſache des ſchrecklichen Todes ihres
ungluͤcklichen Kindes. Sophie wollte beten,
ihr Ungluͤck, das keiner aͤuſſern Linderung faͤ-
hig war, forderte dieſen innern Troſt mit
Heftigkeit, ihr Wahnſinn verleitete ſie zu den
Gedanken, daß ſie nur auf einem erhabnen
Orte beten koͤnne. Als ihr alter Vater, noͤ-
thiger Geſchaͤfte wegen, abweſend war, und
ihre Mutter mit einer Nachbarin an der Haus-
thuͤre ſprach, verließ Sophie das Zimmer,
eilte auf den Boden des Hauſes, erkletterte
ein Dachfenſter, und wollte durch dieſes bis
au den Fenſtern des Hauſes empor klim-
men. Die Nachbarn ſahen es, ehe ſie aber zn
Huͤlfe eilen konnten, verlohr ihr Koͤrper das
[58] Gleichgewichte, ſie ſtuͤrzte von der Hoͤhe her-
ab, und lag zerſchmettert vor dem ſtarrenden
Auge der bebenden Mutter.
Ich wende mein naſſes Auge von dieſer
ſchrecklichen Szene; als ſie dem Marggrafen
bekannt wurde, ſeufzte er tief, und legte die
Hand auf ſein fuͤhlendes Herz. Bald nachher
machte er es bekannt, daß er die Leiche ſelbſt
zu ihrer Ruheſtaͤtte begleiten wuͤrde, ſeinem
Beiſpiele folgte der Hof und die ganze Stadt.
Es war ruͤhrend zu ſehen, wie der lange Zug
durch alle Gaſſen in krummen Linien dem Sar-
ge der Ungluͤcklichen nachwallte. Der Hofpre-
diger mußte die Leichenrede halten, er waͤhlte
den Text: Er hat mich verlaſſen, aber
der Herr nahm mich auf! Aller Augen
thraͤnten, als er begann, und manche wan-
kende Tugend des luͤſternen Maͤdchens ward
durch ſeine vortrefliche Rede zum ſtaͤrkern und
ſiegenden Kampfe ermuntert. Der Marggraf
[59] ließ das Grab der Ungluͤcklichen mit einem
Leichenſteine zieren, und zahlte den trauern-
den Eltern die zweihundert Thaler bis an ih-
ren Tod.
Zwanzig lange Jahre nachher, als der
Koͤrper des redlichen Fuͤrſten ſchon in der
Gruft ſeiner Vaͤter ſchlummerte, langte am
Rathhauſe der Stadt eine ſogenannte Bettel-
fuhre an. Ein Sterbender aͤchzte darinne auf
einem Bunde Stroh. Die Schriften, welche
der Fuhrmann dem Rathe uͤberreichte, uͤber-
zeugten den leztern ſogleich, daß der Ster-
bende der undankbare, treuloſe Wilhelm ſei.
Er war als ein Bettler im benachbarten Lande
an der Straſſe krank gefunden, und gemaͤß
ſeiner Auſſage, nach ſeinem Geburtsorte zur
noͤthigen Verſorgung abgeſandt worden. Wie
man ihn nach dem Spitale tragen wollte, hatte
er ſeinen fuͤrchterlichen Todeskampf ſchon vol-
lendet, er ward auf dem Gottesacker des
[60] Zuchthauſes beerdigt, niemand ging mit ſei-
ner Leiche, niemand weinte an ſeinem Gra-
be. Er ruht izt dort, wo er haͤtte dulden und
buͤſſen ſollen! O wie gerne moͤchte ich den Vor-
hang luͤften, und in das unendliche Jenſeits
blicken, um jeden Verfuͤhrer, jeden Meinei-
digen mit Gewißheit zurufen zu koͤnnen: Er
buͤßt auch dort, was er hier verbrach!
[61]
Graf von L—.
Selten, ſagt man im gemeinen Spruͤchwor-
te, ſind die Ehen der Groſſen und Vorneh-
men gluͤcklich, weil ſie ſelten aus aͤchter Liebe
und Neigung, meiſtens nur aus Eigennutz
und Nebenabſichten die Gehuͤlfin waͤhlen, wel-
che mit ihnen Hand in Hand durchs Leben wan-
dern, Kummer und Freude, Gluͤck und Un-
gluͤck mit ihnen theilen ſoll. Graf L— war
unter den Wenigen, welche blos aus Nei-
gung und Liebe waͤhlten, der gluͤcklichſte! Als
ſein ſterbender, ſehr reicher Vater von dem
jammernden Sohne die Erfuͤllung des einzigen
Wunſches, ihn vor ſeinem Ende verheurathet
zu ſehen, mit Wehmuth heiſchte, da fuͤhrte
der Gehorſame ein ſehr armes, aber ſchoͤnes
und tugendhaftes Maͤdchen vor ſein Sterbe-
[62] bette. Nur wenige Stunden hatte der Alte
noch zu leben, ſie waren ihm zu wichtig, um
ſie zur Unterſuchung des Stammbaums der
Braut zu verwenden, er ſegnete die Verlob-
ten, und genoß in der lezten Stunde ſeines
Lebens die Freude, ſeinen einzigen Sohn ver-
heurathet zu ſehen.
Der zahlreiche Adel der ganzen groſſen
Hauptſtadt ſtaunte uͤber dieſe ſeltne und ſchnel-
le Heurath. Viele Muͤtter hatten bisher Ur-
ſache, zu hoffen, daß der ahnen- und geld-
reiche Graf eine ihrer Toͤchter zur Gemahlin
waͤhlen wuͤrde, viele Vaͤter glaubten mit Zu-
verſicht, daß er den Glanz ihrer zahlreichen
Ahnen erkennen, und die durch ihre Ver-
ſchwendung arm gemachte Tochter wieder reich
und gluͤcklich machen wuͤrde. Aller Ausſichten
waren nun vernichtet und verſchwunden, ein
unbekanntes, armes Maͤdchen, das nie in
einer Aſſemblee erſchienen war, war Graͤfin
[63] geworden, konnte nun alle an Glanz und
Pracht verdunkeln!
Man achtete damals noch ſtreng auf Eti-
kette und Ahnenprobe, der zankſuͤchtige Neid
wuͤrkte noch ſtaͤrker, als dieſe Achtung, alle
Damen beſchloſſen daher, daß keine unter al-
len, nach damaliger Sitte und Gewohnheit,
die junge Graͤfin in irgend einer Geſellſchaft
auffuͤhren wolle, wenn ihr Gatte nicht vorher
im Zirkel der Maͤnner deutlich und klar erwie-
ſen haͤtte, daß ſie vom aͤchten Adel abſtamme,
und apartementmaͤſſig ſei. Sie kannten
die Geſinnungen des Grafen aus Erfahrung,
ſie wußten, daß er ſich oft ſchon uͤber den Stolz
des Adels luſtig gemacht hatte, ſie hoften,
daß er aus dieſer Urſache, wenn er es auch
vermoͤge, die Probe nicht leiſten wuͤrde, und
wollten ſich dann herrlich an ihm raͤchen.
Graf L— war erſt acht und zwanzig Jahr
alt, als er ſich vermaͤhlte, ſein groſſer Reich-
[64] thum berechtigte ihn, frei und unabhaͤngig auf
ſeinen ſchoͤnen Landguͤtern zu leben, aber ſein
thaͤtiger Geiſt verachtete Muͤſſiggang und laͤ-
ſtige Ruhe, ſchon im achtzehnten Jahre ſeines
Alters trat er in die Dienſte ſeines Monar-
chen, ſtieg durch Verdienſt, nicht durch Fuͤr-
ſprache, immer hoͤher, und ward nach zwei
Monaten, nach dem Tode ſeines Vaters, zum
Praͤſidenten der Landesregierung ernannt. Er
hatte bisher mit ſeiner ihn aͤuſſerſt liebenden
Gattin in ſtiller, haͤußlicher Ruhe gelebt, er
war der Trauer wegen mit ihr an keinem oͤf-
fentlichen Orte erſchienen, und wuͤrde wahr-
ſcheinlich nie dort erſchienen ſeyn, wenn ihm
ſein neues Amt nicht neue Pflichten auferlegt
haͤtte. Er empfing als Praͤſident vom Mo-
narchen ſogenannte Tafelgelder, mußte dafuͤr
taͤglich an gewiſſen Tagen eine oͤffentliche Tafel
geben, und — wahrſcheinlich im Namen des
Monarchen — den hoͤhern Adel bewirthen.
Ehe ein Monat verfloß, erſchien einer dieſer
Tage,
[65] Tage, er ſandte die gewoͤhnlichen Einladungs-
billets umher, und ſtaunte, als er eben ſo
viele Entſchuldigungen zuruͤck erhielt. Er
glaubte die Urſache zu errathen, und ging am
andern Morgen zum Monarchen. Mein Fuͤrſt,
ſprach er im offnen Tone, ich bitte, mir die
Tafelgelder nicht mehr auszahlen zu laſſen,
denn ich kann ſie nicht benutzen, man hat mir
alle meine Einladungsbillets mit leeren Ent-
ſchuldigungen zuruͤckgeſendet.
Fuͤrſt. Zuruͤckgeſendet? Aus welcher Ur-
ſache?
Graf. Ausdruͤcklich vermag ich ſie nicht
anzugeben, aber hoͤchſt wahrſcheinlich iſt's
dieſe, daß ich ein armes Maͤdchen heurathete,
daß ich nur ihre Tugend, ihre vortrefliche Den-
kungsart bewunderte, und aus Bewunderung
uͤber dieſe ſeltnen Vorzuͤge zu fragen vergaß:
Ob ſie auch einen gemahlten, mit ſechszehn
Biogr. d. W. 4r Bd. E
[66] Namen beſchriebnen Baum von ihrem Vater
geerbt habe?
Fuͤrſt. (laͤchelnd) So iſt's alſo wuͤrk-
lich wahr, was man bisher nur im Geheim
munkelte, daß der Graf L—, einer der ange-
ſehenſten Kavaliere meines Landes, eine Buͤr-
gerliche geheurathet habe?
Graf. (mit warmer Empfindung)
Der Adel ihrer Seele iſt noch groͤſſer, als
die Schoͤnheit ihres Koͤrpers! Ich ſehe alſo
gar nicht ein, was fuͤr ein Unterſchied zwi-
ſchen ihr und andern Damen ſtatt finden koͤn-
ne, da ſie des Grafen L—s, des fuͤrſtlichen
Praͤſidentens Gattin iſt.
Fuͤrſt. Sie ſprechen mit Waͤrme.
Graf. Und ich glaube, auch mit Wahr-
heit.
[67]
Fuͤrſt. Wer war der Vater ihrer Gat-
tin?
Graf. Er nennte ſich —, ſtand als
Hauptmann im Dienſte des Koͤnigs von —,
und ſtarb auf dem Schlachtfelde zu L—.
Fuͤrſt. Eine kurze, aber ehrenvolle Bio-
graphie.
Graf. Wuͤrklich ruhmvoller, als die Le-
bensgeſchichte manches Domherrn, manches
deutſchen Ritters mit zwei und dreiſig doku-
mentirten und ſtiftsmaͤßigen Ahnen.
Fuͤrſt. (lachend) Lieber Graf, ſie ſind
ein Sonderling, aber ich habe Sonderlinge die-
ſer Art gerne zu Praͤſidenten, weil ſie nur auf
Verdienſt, nicht auf Geburt und Zufall ſe-
hen.
E 2
[68]
Graf. Dieſe Antwort machte Euer Durch-
laucht zum Fuͤrſten, wenn ſie es nicht ſchon
waͤren.
Fuͤrſt. Ich danke, lieber Graf, und
nehm's nicht als Schmeichelei, ſondern als
reine Empfindung ihrer Wahrheitsliebe. Aber,
was werden wir nun machen? Die Tafel muß
doch wie gewoͤhnlich gegeben werden.
Graf. (laͤchelnd) Ohne Gaͤſte?
Fuͤrſt. O dieſe werden nicht ausbleiben!
Doch warten ſie — — Ich will die Sache an-
ders ordnen! Ich werde die Tafel ſelbſt ge-
ben, meine Einladungsbillets wird wohl nie-
mand mit Entſchuldigung zuruͤckſenden?
Graf. O ganz gewiß nicht.
Fuͤrſt. Alſo auch ſie nicht, denn ſie muͤſ-
[69] ſen nebſt ihrer mir izt noch unbekannten Ge-
mahlin mein Gaſt ſeyn.
Graf. Wenn ich mich nicht abermals hoch
an der Etikette verſuͤndigte. Mein Weib be-
trauerte bis izt mit mir den Verluſt eines ge-
liebten Vaters, der kurz vor ſeinem lezten
Augenblicke ihre Hand in die meinige legte,
und unſre Verbindung kraͤftig ſegnete. Sie iſt
bei unſrer durchlauchtigſten Fuͤrſtin noch nicht
vorgeſtellt worden, ſie darf alſo ohnedies bei
Hofe nicht erſcheinen, wenn nicht uͤberdies
noch — —
Fuͤrſt. O ich weiß, was ſie ſagen wollen!
Das alles entſchuldigt ſie nicht, ich werde mit
meiner Fuͤrſtin ſprechen, und ſie erſcheinen mit
ihrer Gattin am beſtimmten Tage um zwoͤlf
Uhr im Kabinete der Fuͤrſtin. Keine Ausrede
findet ſtatt! Sie muͤſſen erſcheinen!
[70]
Graf. Wenn Euer Durchlaucht ausdruͤck-
lich befehlen!
Fuͤrſt. Ja, ich befehle es! Bis dahin
leben ſie recht wohl!
Der Graf ging, und machte ſeiner Gattin
den Befehl des Fuͤrſten kund, er war ihr laͤſtig,
denn ſie liebte Einſamkeit und Ruhe, und
fuͤrchtete Hohn und Verachtung der hoffaͤrtigen
Damen, doch fuͤgte ſie ſich dem Willen des
Gatten, dem Befehle des Fuͤrſten. Indeß
dieß alles geſchah, war in allen Geſellſchaften
und Aſſembleen das Geſpraͤch uͤber die leere Ta-
fel des Praͤſidenten in der Tagesordnung. Je-
der Wizling, und dieß will ja ſtets jeder junge
Kavalier ſeyn, erſchoͤpfte ſich an luſtigen Ein-
faͤllen. Alles lachte, wenn ſie ſprachen, ſogar
die aͤlteſten Damen billigten vom ganzen Her-
zen die Rache, welche man an dem Praͤſidenten
uͤbte, weil ſonſt das uͤble Beiſpiel leicht Fol-
[71] gen nach ſich ziehen, und mancher unerfahrne
Junker das buͤrgerliche, reizende Geſicht ſchoͤ-
ner, als das ahnen- aber auch fleckeureiche Geſicht
einer ſtiftsmaͤßigen Fraͤulein finden, und ſo die
Zahl der ſchreckensvollen Meßallianzen vermeh-
ren koͤnne.
Der Rachetriumph mehrte ſich um ein
großes, als allen am andern Tage kund ward,
daß der Fuͤrſt aus wichtigen Gruͤnden bewogen
worden ſey, die Tafel, welche ſonſt der Praͤſi-
dent in ſeinem Namen geben mußte, ſelbſt zu
geben, und aus dieſer Urſache wuͤrklich ſchon die
Einladung gemacht hatte.
Seht ihr nun die Folgen der ſchrecklichen
Meßallianz! ſprachen die Alten, und blickten
mit warnendem Auge ihre Soͤhne an, die dann
und wann nach einem Buͤrgerhauſe ſchlichen,
und die haͤußliche Ruhe und Gluͤckſeligkeit
deſſelben zu zerſtoͤhren ſuchten. Stolzer und
[72] freier blickten die ahnenreichen Fraͤulein umher,
und dankten ingeheim Gott, daß er ſie in einem
Stande auf die Welt ſezte, der appartement-
maͤßige Tafeln geben, Heiducken halten, und
bei oͤffentlichen Aufzuͤgen mit ſechs Pferden fah-
ren konnte.
Gebt acht, riefen die alten Raͤthe aus;
welche unter dem Vorſitze des jungen Praͤſiden-
ten fleiſſiger im Rathe erſcheinen, und thaͤtiger
arbeiten mußten, er verliert naͤchſter Tage ſei-
ne Praͤſidentenſtelle! Nichts gewiſſers als die-
ſes, antworteten die Damen, da er ſeine vor-
nehmſte Pflicht nicht erfuͤllen, nicht Tafel ge-
ben kann, bei welcher wir ohne Kraͤnkung unſe-
rer Ehre erſcheinen koͤnnen. Der arme, durch
die unſeligen buͤrgerlichen Reize verfuͤhrte
Graf wirds am Ende bereuen, wenn er verach-
tet und verlaſſen von allen aufs Land ziehen,
und dort in unertraͤglicher Langenweile, in Ge-
ſellſchaft roher Bauern ſeine jungen Tage ver-
[73] leben muß. Die Rache iſt ſchrecklich, aber er
hat ſie verdient, ſein kuͤhner Schritt beleidigte
die Geſezze der Natur, die ausdruͤcklich gebieten,
daß ſich gleich und gleich verbinden ſoll, die Fol-
gen koͤnnen nicht ausbleiben!
Ich ende das Geſchwaͤz des ſtolzen Un-
ſinns, ich eile zu wichtigern, und ſchoͤnern Be-
gebenheiten: Der Graf erſchien zur beſtimmten
Zeit mit ſeiner ſchoͤnen Gattin im Kabinete der
Fuͤrſtin. Sie war gnaͤdig und gut, ſie liebte
ihren Fuͤrſten mit Leidenſchaft und Waͤrme, er
hatte es ausdruͤcklich gefordert, und die Fuͤr-
ſtin eilte mit offnen Armen der jungen Graͤfin
entgegen. Sie mußte Plaz an ihrer Toilette
nehmen, die beſcheidne Art, mit welcher ſie das
unerwartete Gluͤck annahm, und zu verdienen
ſuchte, die Richtigkeit, mit welcher ſie ſprach,
die Waͤrme, mit welcher ſie im Geſpraͤche je-
de Wahrheit vertheidigte, die vielen Kennt-
niſſe, welche ſie in ihrem Geſpraͤche verrieth,
[74] erwarben ihr bald die wuͤrkliche Achtung und
Freundſchaft der Fuͤrſtin. Gute Seelen finden
ſich bald, und wiſſen ſich noch ſchneller zu
ſchaͤtzen. Der Dank der Fuͤrſtin war daher
aufrichtig, als endlich der Fuͤrſt ins Kabinet
trat, und laͤchelnd fragte: Wie ihr die neue
Geſellſchaft behage? Sie iſt meine Freundin
worden, antwortete die Fuͤrſtin, und ich hof-
fe noch manche angenehme Stunden in ihrer
Geſellſchaft zu genuͤßen. Die Wahl macht alſo
ihrem Herzen und Verſtande gleich große Ehre,
ſprach der Fuͤrſt mit vergnuͤgtem Blicke zum
Grafen, reichte der Graͤfin den Arm, und
ging voran, um ſie nach dem Speiſeſaal zu
fuͤhren; die Fuͤrſtin folgte am Arme des Gra-
fen.
Der ganze hohe Adel der Hauptſtadt war
im Speiſeſaale verſammlet, die Thuͤren oͤfue-
ten ſich, und manches Geſicht bleichte, ver-
zog ſich in maͤchtige Falten, als es die ver-
[75] haßte Buͤrgerin am Arme des Fuͤrſten erblickte.
Viele kannten ſie noch nicht, ehe ſie aber for-
ſchen und fragen konnten: Wer die fremde
Dame ſey? Ergriff die Fuͤrſtin die Hand der
Graͤfin, und fuͤhrte ſie bei allen Damen des
Hofs mit der Bemerkung auf, daß dies die
wuͤrdige Gemahlin des Herrn Praͤſidenten Gra-
fen von L— ſey, und daß ſie ſich gluͤcklich ſchaͤtze,
ihre Bekanntſchaft gemacht zu haben.
Es war des Mitleids wuͤrdig, wie die
ſtaunenden Damen ihre Faſſung zu erhalten
ſuchten, nicht freundlich ſeyn wollten, und
doch freundlich ſeyn mußten. Der Fuͤrſt ſah
zu, und laͤchelte. Man nahm Platz an der
Tafel, die Graͤfin ſas an der Seite des Fuͤr-
ſten, der Graf neben der Fuͤrſtin. Alles
ſchwieg, nur dieſe ſprachen, und die Graͤfin,
welche izt ihren innern Werth zu fuͤhlen be-
gann, zeichnete ſich bald auf eine aͤuſſerſt vor-
theilhafte Art aus. Jeder der Tafelnden ſuch-
[76] te ſich nun in ſein Schickſal zu fuͤgen, die
Wunde, welche der Stolz eines jeden empfing,
war groß und fuͤhlbar, aber man eilte auch,
ſie eben ſo geſchwind, als ſie fuͤhlbar wurde, zu
verbinden und zu verheelen.
Viele der anweſenden Kavaliere ſtammle-
ten der neuen Graͤfin nach aufgehobner Tafel
ihre Verehrung, und manche Dame ſtahl ſich
hin zu ihr, und ihr ingeheim zufluͤſtern zu
koͤnnen, daß ſie ſich gluͤcklich ſchaͤtzen wuͤrde,
wenn ſie ſich bald ihres Beſuches erfreuen
koͤnnte. Als man noch an der Tafel ſaß,
ſprach der Fuͤrſt mit einmal: Apropos! lie-
ber Praͤſident, eben faͤllt mirs bey, daß ich
ſie heute des Vergnuͤgens beraubte, den groͤß-
ten Theil meiner angenehmen Geſellſchaft in
meinem Namen zu bewirthen, ich kann und
will ſie dieſer Pflicht nicht entbinden. Beſtim-
men ſie alſo, da wir alle beiſammen ſind, deu
Tag, an welchem ſie ſolche erfuͤllen wollen.
[77]
Der Graf. Ich uͤberlaſſe die Beſtim-
mung Euer Durchlaucht.
Fuͤrſt. So ſey's der kuͤnftige Montag,
weil an dieſem eben meine Frau ihren Geburts-
tag feiert, ich hoffe, daß ſie mich und ſie
auch laden werden, wir werden willig erſchei-
nen, und dieſen ſchoͤnen Tag in ihrer Geſell-
ſchaft gewiß recht angenehm zubringen. Die
Wahl der uͤbrigen Geſellſchaft uͤberlaſſe ich ih-
nen, und bin dann gewiß, daß ſie nur ihre
und meine Freunde waͤhlen werden!
Dieſe Donnerworte wuͤrkten maͤchtig, je-
der wuͤnſchte herzlich an der Tafel Theil zu
nehmen, um fuͤr einen Freund des Fuͤrſten
geachtet zu werden, daher kams, daß ſich die
Verachtung in ſo ſchnelle Verehrung verwandel-
te, daß man izt mit groͤßter Begierde die
Freundſchaft des Grafen und ſeiner Gattin
ſuchte. Beide waren großmuͤthig genug,
[78] nicht Gegenrache zu uͤben, ſie genoſſen den
verdienten Triumph im Stillen, und kamen
jeden, der ſich ihnen nahte, mit Freundlich-
keit entgegen. Jeder, welcher geladen zu
werden wuͤnſchte, wurde geladen, und dies
verpflichtete wenigſtens alle zur aͤußerlichen
Hochachtung, zum innerlichen Danke.
Fuͤrſt und Fuͤrſtin bemuͤhten ſich, am be-
ſtimmten Tage die Graͤfin aufs neue unter al-
len Damen auszuzeichnen, und dieſe Bemuͤ-
hung war die Urſache, daß man ganz zu ver-
geſſen ſchien: Wer ſie einſt war? nur darauf
achtetete: Was ſie izt ſey? Der Graf genoß
als Praͤſident das volle Zutraun ſeines Fuͤrſten,
ſeine Tafel ward immer zahlreich beſucht, und
die Graͤfin erſchien nun, ohne aufgefuͤhrt zu
werden, an allen oͤffentlichen Oertern, und
in allen Geſellſchaften bei Hofe, wurde uͤberall
hoch geſchaͤzt und geehrt, weil die Fuͤrſtin ſie
als Freundin liebte. Freilich wurde im gehei-
[79] men, vertrauten Zirkel noch oft der Name der
guten Graͤfin eitel genannt, und bitter uͤber
das allzu leutſelige Betragen des fuͤrſtlichen
Paars gloſſirt! Freilich gabs noch viele hoch-
adliche Herren und Damen, welche dieſe Hand-
lung als eine Verlezzung der theuer beeideten
Landesverfaſſung, als einen Eingriff in die
Rechte des Adels, als einen despotiſchen
Machtſpruch ſchilderten, aber alle kamen doch
darinne uͤberein, daß man dem reiſſenden
Strome nicht widerſtehen koͤnne, und auf ge-
legnere Zeit harren muͤſſe, bis man dieſe un-
verdiente, hoͤchſt kraͤnkende Demuͤthigung raͤ-
chen koͤnne.
Es verfloſſen acht lange Jahre, und die
ſo oft gewuͤnſchte, ſo ſehnlich erwartete Gele-
genheit zur Rache erſchien nicht. Immer
mehrte ſich das Vertrauen des Fuͤrſten gegen
den Grafen, die Freundſchaft der Fuͤrſtin ge-
gen die Graͤfin. Man hatte geduldig zuſehen
[80] muͤſſen, wie der Fuͤrſt zwei der unadlichen
Baſtarden, mit welchen die Graͤfin ihren Gat-
ten erfreute, auf eigner Hand zur Taufe trug,
und ſie durch ſeinen Namen hoch adelte. Man
haͤtte gerne den Ruf der Graͤfin durch den Ver-
dacht befleckt, daß der Fuͤrſt ſeine Urſachen zu
dieſer ſo auszeichnenden Handlung haben muͤſſe,
wenn nur er oder die Graͤfin irgend einen moͤg-
lichen Scheingrund zu dieſer Vermuthung gelie-
fert, die leztere nicht ſelbſt durch ihre auſſer-
ordentliche, uͤberall hervorleuchtende Liebe
gegen ihren Gatten derſelben geradezu wider-
ſprochen haͤtte. — — Kurz zu ſeyn: Man be-
muͤhte ſich wuͤrklich ſchon, das eingebildete,
geduldete Unrecht zu vergeſſen, als mit einmal
die ſo ſehnlich erwartete Gelegenheit zu nahen
ſchien, die ſchlafende Rache weckte, und die
Kaͤmpfer zum allgemeinen Kampfe vereinte.
Ein fremder Kavalier erſchien um dieſe
Zeit bei Hofe, er und ſeine wuͤrklich ſehr ſchoͤne
und
[81] und reizende Schweſter ſuchten bei dem Fuͤrſten
die Wohlthat zu erlangen, einen in einer rei-
chen Erbſchaft nach aller Form Rechtens ver-
lohrnen Prozeß wieder zu erneuern, und durch
groͤſſere, neue Beweiſe zu ihrem Vortheile zu
lenken. Der Fuͤrſt begegnete in jeder oͤffent-
lichen Geſellſchaft dem fremden Kavalier, noch
mehr aber ſeiner ſchoͤnen Schweſter mit beſon-
derer Achtung, und gab endlich, ungeachtet
der Praͤſident es wiederrieth, und die neuen
Beweiſe als geringfuͤgig verwarf, die ausdruͤck-
liche Erlaubniß, daß der Prozeß vom Neuen
beginnen, und die voͤllige Entſcheidung ihm
ſelbſt vorbehalten ſein ſolle.
Schon dieſe ſonſt ganz ungewoͤhnliche Ent-
ſcheidung des Fuͤrſten gab Urſache zum Nach-
denken, dies vermehrte ſich noch weit ſtaͤrker,
als man deutlich gewahrte, daß der Fremde
ſamt ſeiner Schweſter ſehr groſſen Aufwand
mache, da es doch allgemein bekannt war, daß
Biogr. d. W. 4r Bd. F
[82] beide wirklich ſehr arm waͤren, nur von der
Hofnung des neuen, unſichern Prozeſſes lebten.
Man ſpuͤrte eifrig der Quelle des ſo unerwar-
teten Aufwands nach, und eilte, als man ſie
entdeckt zu haben glaubte, mit groͤßter Be-
gierde zur anſcheinenden Favoritin, um theils
aus ihrer Bekantſchaft kuͤnftigen Nutzen zu zie-
hen, theils aber auch Gelegenheit zu finden,
ſich durch dieſen ſo maͤchtigen Kanal an dem
Praͤſidenten und ſeiner Gattin nachdruͤcklich zu
raͤchen. Die fremde Dame ſchien ganz in das
Komplot einzuſtimmen, weil ſie auf der wei-
ten, groſſen Erde bisher nichts auszeichnendes
und kein anderes Eigenthum als ihren ahnen-
reichen Adelsbrief beſeſſen hatte, dieſen einzigen
Reichthum daher uͤber alles ſchaͤtzte, und bei
jeder Gelegenheit von ihren glorreichen Vor-
fahren ſprach.
Als die Fremde ſich lange genug mit Be-
weiſen erſchoͤpft hatte, daß der Adel ihres
[83] Vaterlauds ſo etwas nicht dulden wuͤrde, als
ſie mit vielem Witze beigefuͤgt hatte, daß man
nun wohl die Urſache einſehen koͤnne: Warum
der Praͤſident einer ſo uralten, anſehnlichen
Familie die reiche Erbſchaft ab, und einer weit
geringern, weit ahnenaͤrmern Familie zuge-
ſprochen habe? trat ihr Bruder in den zahl-
reichen Zirkel, welcher ſich um ſie verſammelt
hatte. Aber ſagt mir nur, ſprach er im bra-
marbaſirenden Tone, ihr Herrn und Damen
insgeſamt: Ob denn keiner unter euch allen
den edlen Stolz beſaß, dieſe groſſe Beleidi-
gung zu ahnden und zu raͤchen.
Einige. Sollten, konnten wir gegen
den Willen des Fuͤrſten handeln?
Der Fremde. Nicht gegen dieſen, ſon-
dern gegen das Buͤrgermaͤdchen, welches ſich
ſo gewaltſam in eure geſchloßnen Geſellſchaf-
ten eindraͤngt, und jeden ehrliebenden Aus-
F 2
[84] laͤnder verhindert, daran Theil zu nehmen.
Haͤtte ich von der abſcheulichen Meßallianz nur
ein Wort erfahren, ich haͤtte an des Praͤſi-
denten Tiſche nie einen Biſſen gegeſſen, in ſei-
nem Hauſe keine Karte angeruͤhrt. Wo Ge-
walt nichts vermag, da muß Liſt ſiegen! Waͤre
ich ein Mitglied eures Bundes, ſchon laͤngſt
haͤtte die Buͤrgerliche aus der Geſellſchaft wei-
chen, und daheim es tief fuͤhlen muͤſſen, daß
man eine hohe Treppe nicht uͤberſpringen, ſon-
dern nur Stufenweiſſe erſteigen muß. (Alle
Anweſende zukten die Achſeln.) War-
tet, nur wartet, ich wills euch lehren, wie
man in dergleichen Faͤllen handeln muß. Mor-
gen iſt Spiel bei Hofe, iſts moͤglich, daß ich
mich zum Tiſche der Frau Buͤrgerin draͤngen
kann, ſo ſollt ihr alle eure Freude erleben,
wie ich blos durch Witz und treffende Anſpie-
lungen das ſtolze Ding demuͤthigen will. Ich
wette, was ihr wollt, ſie wird, ſie muß es
fuͤhlen, und ſollte die buͤrgerliche Haut fuͤr
[85] feine Stiche nicht reitzbar genug ſein, ſo wie-
derholt man ſie ſtaͤrker, bis ſie's fuͤhlt, und
ſich demuͤthiglich in ihr Schneckenhaus zuruͤck-
zieht!
Alles lachte, alles freute ſich auf dieſe
herrliche Szene, nur einige wenige gaben ab-
ſichtlich dem Fremden den wohlmeinenden Rath,
zu uͤberlegen und zu bedenken, daß ſolch ein
Scherz leicht die Ungnade des Fuͤrſten und der
Fuͤrſtin nach ſich ziehen koͤnne, als aber der
Fremde mit einem ſehr bemerkbaren Seiten-
blick auf ſeine Schweſter verſicherte, daß der
Fuͤrſt eines ſolchen Bagatells wegen, ihm ſeine
Gnade nicht entziehen wuͤrde, und die Schwe-
ſter uͤberdies impertinent genug war, ihres
Bruders Behauptung mit einem geheimnißvol-
len Laͤcheln zu beſtaͤtigen, ſo wußte man, was
man wiſſen wollte, und war nun uͤberzeugt,
daß die Rache gelingen wuͤrde.
[86]
Aller Augen ruhten auf dem Fremden,
als er am andern Tage ſich kuͤhn zum Spiel-
tiſche der Praͤſidentin draͤngte, und von der
Gefaͤlligen ſogleich die Erlaubniß erhielt, an
ihrem Spiel Theil zu nehmen. Wider Ge-
wohnheit wnrde an den benachbarten Tiſchen
aͤuſſerſt zerſtreut geſpielt, man ſprach kein
Wort, weil man gerne hoͤren wollte, wie der
ſtolze Fremde ſein Wort erfuͤllen wuͤrde. Das
Tarokſpiel war dazumal noch nicht in die Buͤr-
ger- und Bierhaͤuſer verbannt, man ſpielte es
haͤufig bei Hofe, und die Praͤſidentin ſpielte
es eben mit ihrer Geſellſchaft. Nach einigen
ſtill durchſpielten Parthien ereignete ſich der
Zufall, daß die Praͤſidentin eben eine ſ[k]iſirte
Kavallerie anſagte, als der Fremde eine wirk-
liche und natuͤrliche beſaß.
Um Verzeihung, ſprach dieſer im laͤcheln-
den Tone, als ſie ſolche vorzeigte, diesmal
muß mir ihr Bruder der Monſieur Skis den
[87] Vorzug goͤnnen, denn ich habe eine natuͤrli-
che Kavallerie.
Die Praͤſidentin. (im laͤchelnden,
unſchuldigen Tone) Seit welcher Zeit iſt
denn der Skis mein Bruder geworden?
Der Fremde. (ſeine Karten ord-
nend im hingeworfenen Tone) Seit
acht Jahren Madam!
Die Praͤſidentin. Wie ſo?
Der Fremde. (im gleichen Tone
fortſprechend) Der Monſieur Skis iſt ein
rechtkuͤhner Kerl, er mengt ſich in alles, giebt
ſich izt eben fuͤr eine Dame aus, und iſt doch
weiter nichts als ein ganz gemeiner Geſelle,
den man nur im Nothfalle dazu brauchen kann.
Es iſt mir herzlich lieb, daß ich eben den
Hoffaͤrtigen demuͤthigen, und ihm beweiſen
[88] kann, daß eine wirkliche Dame weit mehr ſei,
als eine ſkiſirte Dame. (die Praͤſidentin
anblickend) Madam, ſie ſpielen aus!
Sie thats, ohne ein Wort zu ſprechen.
Ihre Wangen waren hoch geroͤthet, ihr nie-
dergeſchlagnes Auge ruhte auf den Karten.
Dies vermehrte den Triumph der Anweſen-
den, welche das Geſpraͤch deutlich gehoͤrt hat-
ten, und es nun mit ſtillem Hohngelaͤchter von
einem Tiſche zum andern verbreiteten. Die
Praͤſidentin ſpielte noch einige Zeit fort, end-
lich endigte ſie das Spiel unter einem Vor-
wande fruͤher als gewoͤhnlich. Wie ſie die
gebrauchten und verlohrnen Marken gegen Geld
auswechſeln wollte, entfiel ihrer merkbar zit-
ternden Hand ein Dukaten, ſie buͤckte ſich dar-
nach, und ſuchte ihn unter dem Tiſche. Der
Fremde, welcher aus Prahlſucht einen groſſen
Pack Bankuoten herausgezogen hatte, um ſeine
kleine Spielſchuld zu bezahlen, ergrif ſogleich
[89] eine Banknote von hundert Thaler, drehte
ſie in Gegenwart vieler hinter ihm ſtehenden
Kavaliers in die Geſtalt eines Fidibus zuſam-
men, zuͤndete ſolche behende an der Wachs-
kerze an, und leuchtete damit der ihren Du-
katen ſuchenden Graͤfin.
Alles ſchrie und lachte, man war ſogar
ſo kuͤhn, der Graͤfin am Ende den herrlichen
Gedanken zu erzaͤhlen, und das Noble und
Erhabne deſſelben zu loben.
Die Praͤſidentin entfernte ſich ſtillſchwei-
gend, und eilte nach Hauſe. Wie ihr Gatte,
dem eine laͤngere Parthie am Spieltiſche gefeſ-
ſelt hatte, auch heimkehrte, wiſchte ſie die
Thraͤnen aus ihren Augen, und ging ihm mit
der gewoͤhnlichen Freundlichkeit entgegen. Du
ſuchſt mir, ſprach dieſer im ernſten Tone,
vergebens deine Thraͤnen zu verbergen, ſie
flieſſen gerecht, und mein iſt die Pflicht, ſie
[90] zu ſtillen, und den Schimpf zu raͤchen. Unge-
achtet ſich die Graͤfin alle Muͤhe gab, ihren
Gatten zu beſaͤnftigen und zu bewegen, daß er
um ihrer willen nicht Zank und Streit ſuchen,
nicht Genugthuung fordern moͤge, ſo beſtand
er doch hartnaͤckig auf lezterer, nur verſchwieg
er ihr die Art, wie er ſie fordern wuͤrde.
Wie der Tag anbrach, verließ er ſein La-
ger, auf welchem er die Nacht ſchlaflos durch-
wacht hatte, und ging unter dem Vorwande,
daß er wichtige Geſchaͤfte habe, nach ſeinem
Kabinete. Er ſchrieb einen Brief, und ſandte
den Kammerdiener damit fort, der erſt nach
einigen Stunden die Ruͤckantwort uͤberbrachte.
Er las ſie mit merkbarem Vergnuͤgen, blieb
einige Zeit im Kabinete allein, und wollte
eben ſeine Kinder beſuchen, als ein Leibhuſar
des Fuͤrſten erſchien, und ihn ſchnell nach Hofe
berief. Der Fuͤrſt empfing ihn mit ernſtem
[91] Blicke. Sie haben, ſprach er, den fremden
Grafen R— herausgefordert?
Graf. Ja, Euer Durchlaucht! (mit fe-
ſtem Tone) Ich kanns nicht laͤugnen!
Fuͤrſt. Er hat verſprochen zu erſcheinen?
Graf. Ja, Euer Durchlaucht.
Fuͤrſt. Aber ich habe es ihm verboten,
und verbiete es auch ihnen bei groͤßter Ungna-
de, bei ſchaͤrfſter Ahndung! Dem Fremden
verdenke ich es nicht, daß ers zuſagte, wie man
ihn forderte, aber ihnen — ihnen muß ichs
doppelt verdenken. Kennen ſie die Geſetze mei-
nes Landes nicht? Ich wuͤrde es nicht wagen,
den Chef und Vertheidiger derſelben auf dieſe
Art zu fragen, wenn er es nicht ſelbſt geſtan-
den haͤtte, daß er ſie mit ſo feſtem Vorſatze
verletzen wolle. Nur ihr unbedingter Gehor-
[92] ſam kann die That vergeſſen machen, ſonſt
muͤßte ich ſie ahnden und raͤchen.
Graf. Euer Durchlaucht haben recht, ich
fuͤhls, daß ich die Wuͤrde meines Amtes kraͤnk-
te, und mich deſſen ganz unwuͤrdig machte.
Ich bitte daher Euer Durchlaucht unterthaͤ-
nigſt, mich meines Amtes zu entlaſſen.
Fuͤrſt. (zornig) Iſt das ihre ernſtli-
che Bitte?
Graf. Noch nie bat ich ſo dringend, ſo
ernſtlich!
Fuͤrſt. Sie ſei ihnen gewaͤhrt.
Graf. Ich danke innigſt und demuͤthigſt.
Fuͤrſt. Aber glauben ſie nicht etwan,
daß dieſe ſtolze Entſagung meines Dienſtes ſie
[93] berechtigt, nur den Gedanken eines Duelles
auszufuͤhren. Ich unterſage es ihnen aufs
neue, und verſichere ſie auf Wort und Ehre,
daß ich ernſte Maasregeln ergreifen, daß ich
ſie zeitlebens auf eine Feſtung ſetzen wuͤrde,
wenn ſie nur Mine machen wuͤrden, mein ſtren-
ges Verbot zu uͤbertreten.
Graf. Ah, das iſt hart! Ah, das hat
der raſtloſe Eifer im Dienſte meines Fuͤrſten
nicht verdient!
Fuͤrſt. Ich ſpreche izt nicht mit dem wuͤr-
digen Praͤſidenten meines Landes, ſondern mit
dem Kuͤhnen, der meine Geſetze mit Fuͤſſen tre-
ten will. Als dieſer muß es ihnen angenehm
ſeyn, wenn der Fuͤrſt nur warnt, wenn er ſtra-
fen koͤnnte. Was hat ihnen denn der Graf ge-
than, daß ſie zu einer ſo verwegnen Rache
ſchreiten wollen?
[94]
Graf. Er hat meine Gattin beleidigt.
Fuͤrſt. Wer weiß — —
Graf. Er hat meine Gattin tief belei-
digt.
Fuͤrſt. So wie ich von allen gegenwaͤrti-
gen Zeugen, denen ich glauben kann und glau-
ben muß, erfahren habe, ſo wars mehr Be-
gierde, durch Witz zu glaͤnzen, als eigentliche
Abſicht, ihre Gattin zu beleidigen. Schon aus
dieſer Ruͤckſicht verdient die ganze Sache Ver-
geſſenheit, die ich ihnen dringend anempfehle.
Graf. So etwas kann, darf ich nicht ver-
geſſen. Meine Ehre erlaubt es nicht.
Fuͤrſt. Ein wahres Vorurtheil!
Graf. Sei's ein Vorurtheil, aber die
Welt achtet einmal darauf, und ich will nicht
der einzige ſeyn, der's zu vernichten wagt.
[95]
Fuͤrſt. Sie ſind ein Sonderling! Ver-
zeihen ſie, daß ich es ſagen muß, ſie ſind ein
Undankbarer! Sie haben ſich kuͤhn uͤber ein
weit ſtaͤrkeres Vorurtheil hinweggeſezt, als ſie
heuratheten; es koſtete mir Muͤhe und Arbeit,
ihren Schritt zu vertheidigen, und izt, da ich
ein billiges Vergeltungsrecht, die Ueberwin-
dung eines weit kleinern und obendrein ſtraͤf-
lichen Vorurtheils fordere, beſtehen ſie auf ih-
rem Vorſatze.
Graf. Darf ich mich entfernen?
Fuͤrſt. Nein! ſie muͤſſen mich weiter hoͤ-
ren.
Graf. Der Fuͤrſt ſpreche, der treue Un-
terthan hoͤrt.
Fuͤrſt. Ich erwarte dies. Koͤnnen ſie es
dem fremden Grafen wohl verdenken, wenn
[96] auch er auf ſein Vorurtheil ſtolz iſt, und es zu
vertheidigen ſucht?
Graf. O ich verdenke es ihm gar nicht,
und hoffe gleiche Billigkeit von ihm.
Fuͤrſt. Sie wandeln wieder auf einem
verbotnen Schleichwege.
Graf. Euer Durchlaucht zwangen mich
dazu.
Fuͤrſt. (mit Guͤte) Ich will ſie auf die
grade Straſſe zuruͤckfuͤhren, will vergeben und
vergeſſen, will ſelbſt Gelegenheit zur [Verſoͤh-
nung] machen. Werden ſie ſolche ausſchlagen?
Graf. Nein! Wenn Graf R— in eben
der zahlreichen Geſellſchaft, in welcher er meine
Gattin beleidigte, mich und ſie oͤffentlich um
Vergebung bittet. — —
Fuͤrſt. O ſie verlangen Unmoͤglichkeiten!
Graf.
[97]
Graf. Eine ſehr leichte Moͤglichkeit,
wenn ihm anders ſein Leben nicht gleichguͤltig
iſt.
Fuͤrſt. (ſehr zornig) Genug und
uͤbergenug! Binnen einer Stunde werden ſie
die Reſidenz verlaſſen, ihre Frau wird ihnen in
ſo viel Tagen folgen. Sie werden nie da, wo
ich bin, nie mehr vor meinem Angeſicht erſchei-
nen! Gehen ſie, und wenn ihnen Reue anwan-
delt, ſo bedenken ſie, daß ſie dieſe Strafe durch
ihre Hartnaͤckigkeit verdienten.
Graf. Ich danke! Ich danke! Darf ich
mich izt entfernen?
Fuͤrſt. Gehen ſie! Gehen ſie auf im-
mer!
Der Graf ging. Unterdruͤckter, gehemm-
ter Zorn und Begierde nach Rache leitete ſeine
Biogr. d. W. 4r Bd. G
[98] Schritte, wurde Meiſter ſeiner Vernunft, wel-
che die ſchrecklichen Folgen nicht mehr erwaͤgen
konnte. Ohne eigentlichen Vorſatz, ohne es
ſelbſt zu wollen, trat er in die Wohnung des
fremden Grafen, in deſſen Zimmer ſich eben
eine zahlreiche Geſellſchaft befand, welche ge-
kommen war, ihm Gluͤckwuͤnſche uͤber ſeine
heroiſche That, uͤber ſeinen glaͤnzenden Witz
zu machen, und zu fernern Thaten anzufeuern.
Eben ſchwur er hoch und theuer, daß er nicht
raſten, nicht ruhen wuͤrde, bis er die buͤrger-
liche Praͤſidentin aus allen Geſellſchaften ver-
draͤngt habe, als der Praͤſident ins Zimmer
ſtuͤrmte. Der ſtolze Bramarbas erbleichte,
und ſeine eben ſo niedrig denkenden Schmeich-
ler zogen ſich zuruͤck.
Graf L—. Haben ſie meinen Brief er-
halten?
Graf R—. Ich habe, ich habe auch geant-
[99] wortet, allein der Fuͤrſt hat's ausdruͤcklich un-
terſagt, und ich — —
Graf L—. Und ſie ſind ein feigherziger
Schurke, der wohl wehrloſe Weiber beleidigen
kann, aber dem Manne nicht Rede ſtehen
will.
Graf R—. Herr Graf! Herr Praͤſident!
Graf L—. Sie haben meine Ausforde-
rung abſichtlich bekannt gemacht, damit der
Fuͤrſt ſie erfahre und verhindere. Sie ſind ein
zaghafter Bube: Raͤchen ſie dieſen Schimpf,
wenn ſie Muth haben.
Graf R—. (zu den Gaͤſten) Meine
Herren, verhindern ſie Ungluͤck — —
Graf L—. Schurke! zieh!
G 2
[100]
Er drang mit dem Degen auf ihn ein, Graf
R— zog den ſeinigen, aber er vertheidigte ſich
nur ſchwach, furchtſam und ungeſchickt, ehe die
Anweſenden Muth faßten, die Streitenden zu
hindern, ſank Graf R— roͤchelnd zu Boden,
ein Stich durch die Lunge raubte ihm in zwei
Stunden das Leben. Niemand wagte es, den
wuͤthenden Grafen L— anzuhalten, als er ſich,
wie Graf R— zu Boden ſank, eilend ent-
fernte.
Wie das Blut aus der Wunde des Ermor-
deten hervorſtroͤmte, entfloh hohnlachend die
geſaͤttigte Rache, Zorn und Wuth folgten,
und uͤberlieſſen den Thaͤter der ruͤckkehrenden
Vernunft. Dieſe rieth zur ſchnellen Flucht, er
hatte, ehe er zum Fuͤrſten berufen wurde, zu
ſatteln geboten, er erinnerte ſich izt dieſes
Befehls, eilte nach Hauſe, ſchwang ſich auf
das bereitſtehende Roß, und jagte unaufhalt-
ſam von dannen. Er liebte ſein Weib aufs
[101] innigſte, er war der zaͤrtlichſte Vater ſeiner
Kinder, aber Furcht, Angſt und Reue erlaub-
ten ihm nicht, beide noch einmal zu ſehen [u]nd
an ſein Herz zu druͤcken, er war uͤberzeugt,
daß er ſich nicht von ihnen trennen koͤnnte,
wenn er ihr Flehen hoͤrte; er wußte, daß der
Rabenſtein ſein Todenbette werden muͤſſe,
wenn er bliebe; er eilte fort, um ſich vor die-
ſem ſchmaͤhlichen Tod zu retten, und ſeinem
Weibe groͤſſern Jammer, ſeinen Kindern
Schande zu erſparen.
Erſt nach zwei Stunden erfuhr der Fuͤrſt
die That und des Grafen R—s Tod mit ein-
mal. Er wuͤthete und raßte, er ſchwur hoch
und theuer, daß er beides ſtreng raͤchen wuͤrde.
Nicht allein Gerechtigkeitsliebe, ſondern auch
eine heftige Leidenſchaft war die Urheberin die-
ſes Schwurs. Die Spaͤher ſeiner Handlungen
hatten gut und weiſe geurtheilt; er liebte die
fremde Graͤfin innig und zaͤrtlich, er ſuchte
[102] ihre Gegenliebe durch praͤchtige Geſchenke,
durch noch groͤſſere Verſprechungen zu gewin-
nen. Sie nahm beides, aber ſie widerſtand,
und fachte dadurch die Flamme noch heller an.
Als er ſich am Morgen nach ihrer Woh-
nung ſchlich, durch neue Geſchenke nur einen
Kuß erbetteln wollte, trat ihr Bruder, der
Graf R—, mit bleichem Angeſichte ins Zim-
mer, ſprach heimlich mit ihr, und uͤbergab ihr
das ſchreckbare Ausforderungsbillet des Grafen
L—. Sie verſprach den Furchtſamen Vermitt-
lung, und er ging mit leichtem Herzen von
dannen. Als er fort war, erzaͤhlte die Liſtige
dem verliebten Fuͤrſten alles, verſprach ihm
ſechs freiwillige Kuͤſſe, ließ ihn noch mehrere
hoffen, wenn er die Sache ſo vermittle, daß
der Praͤſident ſchweigen muͤſſe, und ihr Bru-
der ſeines Scherzes wegen der Todesgefahr
entriſſen wuͤrde.
[103]
Der Fuͤrſt gab ſein Wort, glaubte es durch
die Entfernung des Praͤſidenten ganz erfuͤllt zu
haben, und wollte eben wieder zur Graͤfin ei-
len, um die Fruͤchte ſeiner Bemuͤhung zu ernd-
ten, als ihm dieſe ſchreckliche Nachricht ward.
Um ſeine Unſchuld zu beweiſen, um darzuthun,
daß er ſein Wort getreu erfuͤllte, und endlich die
betruͤbte Schweſter zu troͤſten, fuhr er zum er-
ſtenmale oͤffentlich nach der Wohnung der Graͤfin.
Sie weinte, als ſie aber den Fuͤrſten erblickte, ſtock-
ten ihre Thraͤnen, ſie ergrif ſeine Hand, und
fuͤhrte ihn ſtillſchweigend nach dem Zimmer des
Ermordeten. Dies war, ſprach ſie im furcht-
baren Tone, mein Bruder, der Praͤſident war
ſein Moͤrder. Wenn dieſer auf dem Raben-
ſteine geblutet hat, wenn ſein Weib ſammt
ihrer verfluchten Brut an fremden Thuͤren um
Brod bettelt, dann. Fuͤrſt, ſpreche ich wieder
mit ihnen, dann bin ich ganz die Ihrige.
Wenn aber der Ruchloſe nicht blutet, wenn ſein
Weib und ſeine Kinder nicht betteln, ſo ſei das
[104] Wort, welches ich mit ihnen ferner ſpreche,
das lezte, welches mein Mund auszuſprechen
vermag. Ich ſchwoͤrs bei der Leiche des gelieb-
ten Bruders, ich wills halten all mein Lebe-
lang! Mit dieſen Worten entſchluͤpfte ſie der
Hand des Fuͤrſten, und war nicht mehr zu be-
wegen, die Thuͤre ihres verſchloßnen Kabinets
zu oͤfnen.
Der ſonſt ſo guͤtige, ſo menſchenfreundliche
Fuͤrſt liebte innig, liebte aͤuſſerſt heftig. Dieſe
Leidenſchaft, die zwar oft ſchmachtet, aber auch
raßt und wuͤthet, wenn ſie Widerſtand findet,
leitete izt ſeine Handlungen, die uͤberdies in
Eile und Hitze ausgeuͤbt wurden. Noch ſaß die
arme Gattin, unbekannt mit allen, in ihrem
Zimmer, ſah dem Spiele ihrer Kinder zu, als
Abgeſandte des Fuͤrſten eintraten, ihr ohne
Schonung die raſche That ihres Gatten, und
zugleich den ſtrengen Befehl des Fuͤrſten be-
kannt machten, daß ſie das ganze Haus durch-
[105] ſuchen, den Thaͤter ohne Schonung arretiren,
und in jedem Falle ſein ganzes Haab und Ei-
genthum verſiegeln ſollten.
Die Arme zitterte und bebte, ſie hatte
kurz vorher geweint, weil der Graf ſo lange
nicht heimkehrte, und ſie ſeinen Vorſatz ahnde-
te; izt bat ſie innig Gott, daß er ſeine Schrit-
te von ihr entfernen moͤge, und dankte ihm
inbruͤnſtig, als ihr ein treuer Diener, der ihre
Sorge errieth, heimlich zufluͤſterte, daß der Graf
ſchon zwei Stunden vorher auf ſeinem ſchnell-
ſten Reitpferde ausgeritten, und wahrſcheinlich
entflohen ſei. Man unterſuchte ſtrenge, und
erſtattete, wie man ihn nicht fand, Bericht.
Die Wuth des Fuͤrſten ward dadurch hoch ge-
reizt, alle ſeine Huſaren mußten aufſitzen, und
mit Steckbriefen in der Hand das Land durch-
jagen. Die Poſt hatte nicht Pferde genug, um
alle Kuriere zu foͤrdern, welche mit den drin-
gendſten Erſuchſchreiben in die benachbarten
[106] Staaten abgeſandt wurden, um den Moͤrder
anzuhalten und auszuliefern. Alle Haͤuſer der
groſſen Stadt waͤren ſtreng durchſucht worden,
wenn nicht Zeugen aufgetreten waͤren, und
ausgeſagt haͤtten, daß man den Grafen durchs
Thor jagen ſah. Ehe eine Stunde verfloß,
erſcholl in der ganzen Stadt die Nachricht, daß
man den Ungluͤcklichen, welcher eine halbe
Stunde vor der Stadt mit ſeinem Pferde ſtuͤrz-
te, und ſich den Fuß verrenkte, in einer Bau-
ernhuͤtte, wo er ſich verbergen wollte, ent-
deckt und nach dem Gefaͤngniſſe zuruͤckgefuͤhrt
hatte.
Schrecklich war dieſe Nachricht fuͤr ſeine
Freunde, noch ſchrecklicher fuͤr ſeine Gattin,
die nur deswegen aus einer Ohnmacht geweckt
wurde, um in eine neue und ſtaͤrkere ſinken zu
koͤnnen. Alle Buͤrger liebten den gerechten
Praͤſidenten, viele vom Adel mußten ihn ver-
ehren, und bemitleideten ihn izt wuͤrklich, da
[107] da es ſo weit mit ihm gekommen war. Trau-
er und ſtiller Ernſt war daher in der Stadt
allgemein, nur der Fuͤrſt, welcher doch ehe-
mals ſein Beſchuͤtzer, ſein Freund war, jubelte,
als er ſeine Gefangenſchaft vernahm, vergaß
alles andere, und verließ die Tafel, an der er
eben ſaß, um zur Schweſter des Ermordeten
zu eilen, und ihr den Erfolg ſeiner Bemuͤhung
kund zu machen.
Er ward wider Vermuthen vorgelaſſen.
Im ſchwarzen Kleide, das ihre Schoͤnheit um
vieles erhoͤhte, ſaß ſie auf dem Sopha, hoͤrte
ſeine Erzaͤhlungen ſtillſchweigend an, ſchien zu
laͤcheln, beantwortete aber keine ſeiner Fra-
gen, und war nicht zu bewegen, nur ein Wort
mit dem verliebten Fuͤrſten zu ſprechen. Ob
ich gleich nur ein Weib bin, ſchrieb ſie, als er
anhaltend flehte, auf ein Stuͤckchen Papier,
ſo werde ich doch gleich dem ſtaͤrkſten Manne
meinen Schwur halten und treu erfuͤllen.
[108] Mehr konnte der Fuͤrſt nicht erhalten, er eilte
mit dem feſten Vorſatze fort, um dieſe Erfuͤl-
lung nach Kraͤften zu befoͤrdern.
Mit einer Eile, die ganz der heftigſten
Rache, aber nicht der aͤchten Gerechtigkeits-
liebe aͤhnlich ſah, ward von ihm noch am nem-
lichen Tage eine beſondere Kommiſſion nie-
dergeſezt, welche den ernſten Auftrag erhielt,
die That des Ungluͤcklichen nach aller Strenge
zu unterſuchen, und wuͤrde ſie wahr befun-
den, das Todesurtheil und die Konfiska-
zion ſeines ganzen Vermoͤgens ſogleich auszu-
ſprechen. Alle Mitglieder dieſer Kommiſſion
waren als Feinde und Neider des Grafen all-
gemein bekannt, nur Vorſatz, nicht bloſſer
Zufall konnte ſie vereint haben, und da der
Fuͤrſt ausdruͤcklich erklaͤrt hatte, daß man nur
die Wahrheit der That unterſuchen, ſich
nicht an Formalien binden ſolle, ſo wars ſehr
leicht zu begreifen, wie die Kommiſſion ſchon
[109] binnen drei Tagen dem Fuͤrſten nebſt den ge-
ſchloßnen Akten auch das Todesurtheil und den
Befehl zur Vermoͤgenskonfiskazion vorlegen
konnte.
Der ungluͤckliche Graf hatte die Unterſu-
chung durch ſein freiwilliges Geſtaͤndniß ſehr
erleichtert, er appellirte an die Gnade ſeines
Fuͤrſten, aber ſie ward verweigert, und To-
desurtheil und Befehl ſogleich unterſchrieben.
Indeß der Fuͤrſt zu ſeiner Geliebten eilte, um
fuͤr dieſe Nachricht einen guͤnſtigen Blick zu
erndten, eilten die Kommiſſairs in das Haus
der ungluͤcklichen Praͤſidentin. Hofnung, den
Theuern zu retten, hatte ſie aus ihren Ohn-
machten geweckt, Begierde, ſein Leben zu fri-
ſten, hatte ſie durch dieſe angſtvollen Tage
aufrecht erhalten. Sie ließ unter dieſer Zeit
nichts unverſucht, um ihren edlen Zweck zu
erreichen; ſie flehte bei dem Fuͤrſten um Au-
dienz, er verweigerte ſie ſtrenge, ſie ſuchte oft
[110] in ſeine Gemaͤcher zu dringen, aber die auf-
merkſame Wache vereitelte jede ihrer Bemuͤ-
hungen, ſie wollte zu ihrer Freundin, zur
guͤtigen Fuͤrſtin eilen, aber auch hier verſagte
ihr die Wache den Zutritt, und ob ſie gleich
taͤglich auf Gelegenheit lauerte, die Fuͤrſtin
auf einem ihrer gewoͤhnlichen Spaziergaͤnge
zu ſprechen, ſo ward ihr doch am Ende die
traurige Nachricht, daß der Fuͤrſt ſeiner Ge-
mahlin ſehr ſtreng begegne, und jeden Spa-
ziergang unterſagt habe. Eben ſah ſie mit
groͤßtem Verlangen einer Antwort auf einen
Brief entgegen, den eine alte Kammerfrau,
durch ihre Thraͤnen erweicht, der Fuͤrſtin
heimlich zu uͤbergeben, verſprochen hatten,
als die Kommiſſaͤre in ihr Zimmer traten,
und der Ungluͤcklichen ohne Schonung bekannt
machten, was der Fuͤrſt kurz vorher unter-
zeichnet hatte.
[111]
Ihre Kraͤfte wichen, ſie ſank leblos zur
Erde, aber Angſt und nahende Verzweiflung
riß ſie wieder auf ihre Knie empor, ſie ſtreck-
te ihre Arme fuͤrchterlich in die Hoͤhe, und
flehte mit zitternden Lippen, mit ſtammeln-
den Worten Gottes Allmacht und Barmher-
zigkeit zu ihrer Rettung herab. Sie ſchiens
nicht zu achten, nicht zu fuͤhlen, als man
auch noch das Wenige, was man anfangs fuͤr
ihr Eigenthum erkannte, mit Siegeln beleg-
te, ſie folgte willig, wie man ihr kund mach-
te, daß ſie ein Haus, welches auf fuͤrſtlichen
Befehl konfiszirt ſey, verlaſſen muͤſſe.
Einer ihrer alten, aber auch treuſten
Diener, leitete ſie nach ſeiner elenden Woh-
nung, ſie fuͤhrte ihre Kinder am Arme, und
blickte mit ſtarrem Auge zum Himmel empor.
Eine Menge Volks folgte der Leidenden mit
thraͤnendem Auge, mit geruͤhrtem Herzen.
Schon waͤhnte der treue Diener, daß ihre
[112] Vernunft ein Raub des Jammers geworden
ſey, als ſie nach einer langen Stunde aus
ihrer Starrſucht erwachte, und ihn dringend
bat, zur alten Kammerfrau der Fuͤrſtin zu
eilen, und anzufragen: Ob noch Hofnung
fuͤr ſie auf Erden gruͤne? Der Greis eilte
fort, und kehrte athemlos mit einem Briefe
zuruͤck, welchen er von der Kammerfrau er-
halten hatte. Es war die einzige Hofnung,
an der ihr Herz hing, die ſie noch auf Erden
erwarten konnte, ſie grif ſehnſuchtsvoll und
haſtig darnach, und las folgendes:
„Erſt izt, theure Freundin und Gefaͤhr-
din des Jammers, fuͤhle ich mein eignes Un-
gluͤck vollkommen, da es mich ſo deutlich
uͤberzeugt, daß ich nicht einmal mehr faͤhig
ſey, anderer Thraͤnen zu ſtillen, da ich nur
die meinigen mit den ihrigen vermiſchen kann.
Schon ehe ihr Flehen zu meinen Ohren drang,
und mein Herz ſchrecklich preßte, wagte ich
es,
[113] es, den Fuͤrſten dringend zu bitten, Gnade
fuͤr Recht ergehen zu laſſen, den armen Wai-
ſen einen Vater, der jammernden Gattin ei-
nen geliebten Gemahl zu erhalten, aber ich
bat, ich flehte vergebens! Freundin! Es iſt
ſchrecklich, aber es iſt eben ſo wahr! Ich ha-
be die Liebe meines Gatten verlohren, eine
andere feſſelt ſein Herz, und fuͤllt es mit Ra-
che. Wie kann, wie ſoll der Ueberſatte die
Bitte ſeines Weibes hoͤren, wenn die Allge-
liebte, die immer ſtaͤrker reizende Schweſter
des Ermordeten unaufhoͤrlich nur blutige Ra-
che heiſcht! Ich trage mein hartes Schickſal
mit Geduld und Standhaftigkeit, kein Sterb-
licher ſoll ſich ruͤhmen, meine Thraͤnen zu ſe-
hen, ſollten ſie in Zukunft mein empfindſames
Auge zu hart preſſen, ſo werden ſie nur in
Gegenwart des Allwiſſenden ſtroͤmen, der
mein Leiden kennt, der entſcheiden mag: Ob
mir dort dafuͤr Lohn gebuͤhrt? Ich wuͤrde ih-
nen gleichen Rath ertheilen, wenn ihr ſchreck-
Biogr. d. W. 4r Bd. H
[114] liches Ungluͤck einer ſolchen Standhaftigkeit faͤ-
hig waͤre! Ich blicke vergebens nach Rettung
umher, ich ſehe nur einen Weg, der dahin
leitet. Es faͤllt meinem Stolze hart, ſie
darauf zu fuͤhren, aber es gilt das Wohl und
Leben guter Menſchen, und der Stolz muß
weichen. Ein Wort der Schweſter des Getoͤd-
teten, welches nur einer Bitte aͤhnlich lautet,
wird den Fuͤrſten zur Gnade bewegen. Sie
iſt ein Weib, ſie muß auch ein Herz haben.
Wird dies dem Flehen der Gattin, dem Wim-
mern der unſchuldigen Kinder widerſtehen
koͤnnen? Verſuchen ſie dies Mittel, vielleicht
harrt die zur Rache gereizte Schweſter auf die-
ſen Schritt, ſie ſind ſchuldig, ihn zu thun,
da ihr ungluͤcklicher Gatte ihr wuͤrklich einen
geliebten Bruder raubte, der wohl Strafe,
aber nicht Tod verdiente. Laſſen ſie mir in
jedem Falle die Wuͤrkung meines Raths durch
den bekannten Kanal erfahren, damit ich —
wenn allzugroßes Ungluͤck ihre Kraͤfte mindert,
[115] wenigſtens den Troſt genuͤße, fernere Huͤlfe
zu ſuchen, wenn Huͤlfe noch moͤglich iſt.“
Der Anfang dieſes Briefs raubte dem
Herzen der Leidenden allen Troſt, das Ende
deſſelben fuͤllte es mit neuem, auch ſie hofte,
daß ihr Flehen das Herz der Rachbegierigen
erweichen, und zur Fuͤrbitte bewegen wuͤrde.
Sie ergriff ihrer Kinder Hand, und eilte nach
der Wohnung der Graͤfin. Ihr muͤßt flehen,
ihr muͤßt fuͤr euern Vater bitten! ſprach ſie
zu jenen, als ſie dieſe betrat. Ein Bedien-
ter, den ihre Thraͤnen ruͤhrten, fuͤhrte ſie
ins Vorgemach, und meldete ſie. Ich will,
ich mag die Frau des Moͤrders, die Urhebe-
rin meiner Thraͤnen nicht ſehen! erſcholls
durch die halbe ofne Thuͤre ins Ohr der Leiden-
den.
Haben ſie Erbarmen mit der Ungluͤcklich-
ſten ihres Geſchlechts! rief dieſe im verzweif-
H 2
[116] lungsvollen Tone aus, und drang ins Ge-
mach der Graͤfin. Sie hatte im Gehen die
Worte geordnet, mit welchen ſie das Herz
derſelben erweichen wollte, izt hemmte die
Groͤſſe ihres Leidens die Organe der Sprache,
ſie ſtuͤrzte wimmernd zu den Fuͤßen der Graͤ-
fin nieder, ſie umklammerte ihre Knie, ſie
wollte ſprechen, und vermochte es nicht. Die
armen Kinder knieten hinter ihr, hoben ihre
Haͤnde in die Hoͤhe, und weinten laut. Weg
von mir, Schlange! Weg von mir! Nat-
terbrut! ſchrie die Graͤfin, entriß ſich den
Haͤnden der Bittenden, und entſchluͤpfte in
ihr Kabinet, das ſie feſt hinter ſich verrie-
gelte.
Einige Bedienten ſchleppten die Jam-
mernde ins Vorgemach, und uͤberließen ſie
dort der Verzweiflung zum Raube. Bald
hernach wankte ſie heim, ſchrieb einige zit-
ternde Zeilen an die Fuͤrſtin, und wollte
[117] eben — was ihr bisher noch nie gelungen war
— aufs neue verſuchen: Ob ſie nicht wenig-
ſtens ihren ungluͤcklichen Gatten noch einmal
ſehen und ſprechen koͤnne? als ein Kommiſ-
ſaͤr des Fuͤrſten erſchien, ſie ſammt ihren
Kindern nach einem Wagen fuͤhrte, und mit
ihr nach dem Rathhauſe fuhr, wo man ihr
zwar auf ſeinen Befehl ein anſtaͤndiges Zim-
mer oͤfnete, aber auch zugleich kund machte,
daß ſie bis auf weitere Entſcheidung eine Ge-
fangne ſey.
Die rachſuͤchtige Graͤfin R — war die Ur-
ſache ihres neuen Kummers, dieſe Furie
beobachtete noch immer in Gegenwart des
Fuͤrſten ein ſtrenges Stillſchweigen, aber,
wenn ſie etwas von dem Verliebten erhalten
wollte, ſo ſchrieb ſie ihm, und war dann des
Erfolgs gewiß. Der lezte ihrer Briefe, ent-
hielt die Drohung, daß ſie augenblicklich ab-
reiſen werde, wenn man die Frau des Moͤr-
[118] ders nicht hindere, ſie ferner plagen zu koͤn-
nen, und die Aermſte wurde ſogleich arretirt,
um die Moͤglichkeit eines neuen Verſuchs zu
hindern. Hier duldete und ſchmachtete ſie dem
ſchrecklichen Tage entgegen, an welchem ihr
Gatte auf dem Rabenſteine bluten ſollte.
Sein Urtheil war unwiderruflich, man mach-
te es ihm am Morgen des andern Tages kund,
und er bereitete ſich ſtandhaft zum nahen To-
de. Seine Miene war, oder ſchien wenig-
ſtens heiter und ruhig, nur dann truͤbte ſie
ſich, und einige Thraͤnen rollten unaufhalt-
ſam uͤber ſeine Wangen herab, als man ihm
die ſchreckliche Nachricht brachte, daß ſeine
lezte Bitte nicht erfuͤllt werden, daß er ſeine
Gattin nicht mehr ſehen und ſprechen koͤnne.
Alſo dort, wo keine Trennung mehr moͤglich
iſt! ſprach er ſeufzend, und trat ans Fen-
ſter, um neue Kraͤfte zur Standhaftigkeit zu
ſammeln.
[119]
Die zahlreichen Buͤrger der großen Reſi-
denzſtadt liebten den gerechten Praͤſidenten,
keiner hatte, gleich ihm, ſo willig einen je-
den gehoͤrt, keiner ſo anhaltend die Sache des
Unterdruͤckten vertheidigt, ihr Herz nahm da-
her Antheil an ſeinem ungluͤcklichen Schickſale,
ſie verſammelten ſich und beſchloſſen einſtim-
mig, nach Hofe zu gehen, und den Fuͤrſten
anzuflehen, daß er ihm wenigſtens das Leben
ſchenken moͤge. Aller Augen weinten, wie ſie
am andern Tage wuͤrklich in ſchwarzen Maͤn-
teln und mit traurendem Blicke nach der Burg
zogen, und Audienz forderten. Der Fuͤrſt
trat willig unter ſie, er hoͤrte ihre Bitte ge-
duldig an, aber er verſicherte ſie eben ſo ſtand-
haft, daß er Gerechtigkeit in ſeinem Staate
uͤben muͤſſe, und denjenigen nicht begnadigen
koͤnne, der ſeine Haͤnde in unſchuldiges Blut
getaucht, nach einſtimmigen Beweiſen vor-
ſezlich gemordet habe. Er blickte geruͤhrt um-
her, er ſeufzte tief, als die ganze Menge
[120] mit einmal nieder kniete, und abermals
Gnade! Gnade! rief, aber er faßte ſich
ſchnell, winkte den Knienden mit der Hand,
und eilte in ſein Zimmer.
Viele nahmen dieſen Wink als einen Be-
weis der Erhoͤrung, aber mehrere meinten,
daß den Ungluͤcklichen nur Gott retten koͤnne,
und bei dem Fuͤrſten keine Gnade zu hoffen
ſey. Ihre Meinung ward durch die Folge be-
ſtaͤtigt; noch am nemlichen Tage wards all-
gemein kund, daß der ungluͤckliche Graf am
folgenden Morgen unwiderruflich auf dem Ra-
benſteine bluten muͤſſe. Jeder, der es hoͤrte,
weihte ihm eine neue Thraͤne, und blickte
dann betend zu Gott empor, damit ſein To-
deskampf kurz und ſtandhaft ſeyn moͤge.
Es war eben hoch im Sommer, ſchon
um vier Uhr fruͤh ging die Sonne auf. Mit
ihrem Aufgange verſammelten ſich auch die
[121] Soldaten, welche den Verurtheilten in zahl-
reicher Menge aus dem Thurme, in welchem
er ſaß, nach dem Richtplaze begleiten ſollten.
Tauſende und Tauſende, welche ihn noch ſe-
hen und bemitleiden wollten, wurden nur
mit Muͤhe vom Eingange abgehalten. Lange
harrten alle, endlich erregte die Ankunft und
ſchnelle Abfahrt einiger fuͤrſtlichen Deputirten,
deren verſtoͤhrtes Geſicht ein Ungluͤck zu ver-
kuͤndigen ſchien, die Aufmerkſamkeit des
Volks. Man fragte, forſchte und erfuhrend-
lich, daß der Verurtheilte in der verfloßnen
Nacht ſamt dem Kerkermeiſter entflohen ſey.
Viele bezweifelten anfangs dieſe unerwartete,
und ganz unmoͤglich ſcheinende Nachricht, als
man aber gewahrte, daß abermals die Huſa-
ren Stadt und Land durchſpaͤhten, Kuriere
uͤber Kuriere abreiſten, und einzelne Depn-
tirte jedes verdaͤchtige Haus emſig durchſuchten,
da begann man zu glauben, was man wuͤnſch-
te, da vereinigten ſich aller Herzen zum
[122] Gebete, daß der Ungluͤckliche ſchnell und ſicher
uͤber die Graͤnze entfliehen moͤge.
Graf L — war wuͤrklich aus ſeinem Ge-
faͤngniſſe verſchwunden. Um zehn Uhr Abends
verließ ihn der Prieſter, weil er zu ruhen
wuͤnſchte. Kurz nachher entließ der Kerker-
meiſter die Waͤchter mit der Verſicherung,
daß er allein bei dem ſchlafenden Grafen wa-
chen, ſie im noͤthigen Falle ſchon rufen werde.
Sie gingen nach der Wachtſtube, und ruhten
dort bis an den Morgen. Als der Prieſter
wieder erſchien, fuͤhrten ſie ihn hinauf, da
aber die Thuͤre des Zimmers feſt verſchloſſen
war, und man vermuthete, daß er noch ru-
he, ſo weilte der Prieſter im Gange, bis
die Kommiſſaͤrs erſchienen, welche den Ver-
urtheilten nach dem Richtplaze begleiten ſoll-
ten. Auf ihren Befehl ward an der Thuͤre
geklopft, nach dem Kerkermeiſter geſand,
und wie man ihn nirgends fand, die Thuͤre
[123] erbrochen. Alle Anweſende erſtaunten, als
man im Zimmer den Verurtheilten nirgends
erblickte; Verrath und Flucht war nun er-
wieſen, alles eilte fort, um den erſtern zu
entdecken, die letztern zu verhindern.
Wie Engelsruf im ſchweren Todeskampfe,
wie ſanfter Floͤtenton im brauſende Stur-
me und Ungewitter drangs ins Ohr der lei-
denden und betenden Gattin, als ein mit-
leidiger Gerichtsdiener ihr die Nachricht zu-
fluͤſterte, daß der Verurtheilte wirklich und
wahrſcheinlich auch gluͤcklich entflohen ſei. Ueber-
ſpannung der Kraͤfte, und Raub des Wahn-
ſinns war nahe, als dieſer lindernde Troſt
ihr ſchmachtendes Herz erquikte. Sie wuͤrde
die Stunde ſeines Todes wohl ſchwerlich, we-
nigſtens nur mit dem Verluſte ihres Ver-
ſtandes uͤberlebt haben, izt konnte ſie wieder
hoffen, und Hoffnung iſt das einzige Labſaal
des Leidenden. Sie erregt Begierde nach
[124] laͤngerer Duldung im Herzen des Menſchen,
und wenn dieſe Begierde herrſcht, da muß
Verzweiflung und Wahnſinn weichen.
Der Fuͤrſt war hoch entruͤſtet, als er
dieſe unerwartete Nachricht hoͤrte. So nahe
am Ziele, und nun mit einmal ſo entfernt
davon zu ſein, ſchien ſeinem liebenden Her-
zen eine unertraͤgliche Pein. Er ſuchte und
fand Linderung in dem Gedanken, daß er
Verrath und Flucht ganz gewiß entdecken
wuͤrde, aber ſeine Hofnung ward nicht erfuͤllt;
alle Huſaren, alle Kuriere, alle Spaͤher kehr-
ten leer zuruͤck, keiner brachte nur die ge-
ringſte Spur, die auf Entdeckung leiten konnte,
es blieb und ſchien erwieſen, daß der Flie-
hende gluͤcklich entkommen ſei, daß an ſeiner
Befreiung niemand als der ungetreue Ker-
kermeiſter Antheil nahm, und nun das Loos
der Verbannung mit ihm theile.
[125]
Anfangs beſtand die rachſuͤchtige Graͤfin
R — hartnaͤckig auf der Erfuͤllung ihres Ge-
luͤbdes, als ihr aber der liebende Fuͤrſt deut-
lich bewies, daß er nicht allwiſſend ſei, nicht
ſtrafen koͤnne, wenn der Verurtheilte entflo-
hen ſei, da berechnete die Eigennuͤtzige den
Vortheil der Verſoͤhnung, den Nachtheil der
Rache, und fand, daß die Erſtere die Letztere
um vieles uͤberwiege. Sie heiſchte den Schwur
des Fuͤrſten, daß er den entflohenen Thaͤter
nie begnadigen; ihn, wenn er entdeckt wuͤrde,
nach aller Strenge ſtrafen wolle, der Fuͤrſt
leiſtete dieſen Schwur, und bald wards am
Hofe und in der Stadt bekannt, daß die Graͤ-
fin R — die erklaͤrte Geliebte des Fuͤrſten
ſei.
Als ſie zum erſtenmale wieder bei Hofe
erſchien, und jeder das Betragen der Fuͤr-
ſtin gegen ſie beobachtete, erſtaunten alle,
als dieſe ſie aufs freundlichſte empfing, und
[126] mit ihr anhaltend ſprach. Die Großmuͤthige
wollte gerne eine gute Handlung uͤben, und
achtete den ſchweren Pfad nicht, der ſie allein
zum Ziele leiten konnte. Wie der Fuͤrſt eben
mit einem Miniſter ſprach, fuͤhrte die Fuͤr-
ſtin die Graͤfin ans Fenſter. Ich weiß, ſprach
die Gute, daß ihnen der Fuͤrſt Erſatz fuͤr das
Leiden ſchuldig iſt, welches ſie durch den Ver-
luſt eines geliebten Bruders in ſeiner Reſi-
denz erdulden mußten. Sein Herz iſt bieder
und gut, es wird ihnen daher eine Bitte
nicht abſchlagen, die ich ſelbſt nicht an ihn wa-
gen wollte, weil er mit Recht befuͤrchten
muͤßte, daß er ſie durch Erfuͤllung derſelben
aufs neue kraͤnken wuͤrde. Wenn ſie aber
ſolche wagen, da faͤllt der gegruͤndete Ein-
wurf weg, da iſt die Erhoͤrung gewiß. Wol-
len ſies thun, wenn ich ſie bitte — —
Graͤfin. Euer Durchlaucht befeh-
len — —
[127]
Fuͤrſtin. Nein, das vermag ich nicht!
Aber es wuͤrde ihren Karakter in meinem
Augen um ein groſſes erhoͤhen, es wuͤrde
den Lohn meiner Freundſchaft nach ſich zie-
hen.
Graͤfin. O um ſolch einen Gewinn
unternehme ich alles!
Fuͤrſtin. (ſanft laͤchelnd) So will
ich dann ſogleich verſuchen: Ob ihre Ver-
ſicherung mehr als Schmeichelei war? Die
Gattin des Grafen L — verzeihen ſie, daß
ich ſie an dieſen erinnern muß — ſchmachtet
mit ihren Kindern noch immer im unver-
dienten Gefaͤngniſſe. Sie hatte keinen Theil
an der That, die er uͤbte, und muß doch ſtreng
dafuͤr buͤſſen, da man ihr Freiheit und Ver-
moͤgen raubt. Ein Wort von ihnen wuͤrde
ihr ſicher beides wieder geben! Man will
mich verſichern, daß ſie hoch geſchworen haͤt-
[128] ten, nur dann verſoͤhnt zu ſein, wenn die
unſchuldige Frau ſamt ihren Kindern am Bet-
telſtabe umher wanken muͤſſe. Ich kann mirs
ſehr leicht vorſtellen, daß der wuͤthende Schmerz
eines ſolchen Schwures faͤhig ſei, aber ich
kanns nicht glauben, daß er im Herzen des
ſanften Weibes Wurzel faſſen, und Fruͤchte
tragen ſollte. (ihre Hand faſſend, und
ſanft druͤckend) Nicht wahr, ich habe
mich in meinem Glauben an ihre Großmuth
nicht betrogen?
Graͤfin. (mit hocherroͤthenden
Wangen) Ich kanns nicht laͤugnen, daß ich
dieſen ſchrecklichen Schwur leiſtete, ich geſtehe
es auch eben ſo offenherzig, daß nur Euer
Durchlaucht, (ſehr bewegt) nur die Art,
mit der ſies fordern, mich bewegen kann,
ihn zu brechen und zu vernichten. Ich will,
ich werde eifrige Fuͤrbitterin werden, aber
eins
[129] eins ſei auch mir bedungen, und hoch ge-
lobt — —
Fuͤrſtin. Fordern ſie!
Graͤfin. Daß Euer Durchlaucht mich
nicht in einem aͤhnlichen Falle, auf eine aͤhn-
liche Art zur Fuͤrbitterin waͤhlen; nicht for-
dern, daß ich einſt auch um Gnade fuͤr den
Moͤrder flehen ſollte. Und wuͤrde es mir ih-
ren Zorn, ihre Verfolgung zuziehen, ſo
fuͤhle ichs doch deutlich, daß ich dieſer Ver-
laͤugnung nicht faͤhig waͤre. Ich liebte mei-
nen Bruder innig, moͤglich daß er den Gra-
fen beleidigte, aber dieſe Beleidigung ver-
diente doch keinen Mord. (weinend) Wenn
ich mir ſein ſchreckliches Ende denke, ſo ruft
immer noch eine innere Stimme laut und
anhaltend Rache uͤber den Thaͤter aus, ich
wuͤnſchte — —
Biogr. d. W. 4r Bd. I
[130]
Fuͤrſtin. (Ihr ins Wort fallend)
Ich verſpreche es ihnen aufs heiligſte, daß
ich ihre Trauer uͤber den Verluſt eines guten
Bruders ehren, ſie nie an ſeinen Moͤrder
erinnern will. Ich weiß zu gut, daß er Strafe
verdiente. Er entfloh dem Tode gluͤcklich,
der Verluſt ſeines Weibes, ſeiner Kinder,
und ſeines ganzen Vermoͤgens iſt zwar eine
Strafe, die den Empfindſamen oft haͤrter als
jener duͤnkt, aber er hat ſie ſelbſt gewaͤhlt,
er mag ſie auch tragen, ich werde nie fuͤr
ihn bitten. Nur lege ich ihnen nochmals
meine erſte Bitte ans Herz.
Graͤfin. Der Erfolg wirds lehren,
daß ich eifrig zu bitten verſtehe.
Fuͤrſtin. (Ihre Hand druͤckend)
Dann koͤnnen ſie auf meinen Dank — in je-
dem Falle auf Wiedervergeltung ſicher rech-
nen.
[131]
Am andern Tage erſchien bei der gefang-
nen Graͤfin ein Abgeſandter des Fuͤrſten. Er
machte ihr in ſeinem Namen kund, daß zwar
nach den Geſetzen des Landes das ganze Ver-
moͤgen eines vorſezlichen Duellanten der ſtren-
gen Konfiskazion unterliege, jedoch diesmal
Gnade fuͤr Recht ergehen ſolle, und daß der
Fuͤrſt ihr und ihren Kindern den Genuß des
Vermoͤgens noch ferner gnaͤdig verleihen wolle,
wenn ſie ſogleich die Reſidenzſtadt verlaſſe,
das Hoflager ſtets meide, und ſich nicht durch
ein neues Verbrechen dieſer hoͤchſten Gnade
verluſtig mache.
Die Trauernde dankte, und verſprach
den Befehl des gnaͤdigen Fuͤrſten ſtreng zu
erfuͤllen. Weil das Haus, welches ſie bis-
her bewohnt haben, fuhr der Abgeſandte fort,
und der ſchoͤne Garten, den ſie in der Vor-
ſtadt beſaſſen, ihnen nichts mehr nuͤtzen kann,
I 2
[132] ſo behaͤlt ſich der Fuͤrſt beides nach den Ge-
ſetzen bevor.
Graͤfin. Sein Wille iſt mein Geſetz, er
belohne damit den wuͤrdigſten ſeiner Diener,
und ich werde in meiner trauernden Einſam-
keit Ruhe in den Gedanken finden, daß ein
anderer mit Vergnuͤgen genießt, was ich ſo
willig entbehre.
Ehe der Abgeſandte ſchied, berichtete er
ihr, daß ihr Verhaft zwar in dieſem Augen-
blicke geendet habe, aber doch bis zu ihrer
Abreiſe dauern muͤſſe, weil der Fuͤrſt aus-
druͤcklich uͤberzeugt ſein wolle, daß ſie nicht
nach Hofe komme, und auch niemanden durch
einen Beſuch in Verlegenheit ſetze. Jedoch
ſtehe es ihr frei, nicht allein die Anſtalten
zu ihrer Abreiſe zu treffen, ſondern auch ihre
Diener zu berufen, um durch dieſe ihr Haus
[133] raͤumen und das noͤthige Gepaͤcke herbei ſchaf-
fen zu laſſen.
Als die Graͤfin allein war, ſank ſie auf
ihre Knie, und dankte Gott innig, daß er
das Herz des Fuͤrſten zur Gnade gelenkt habe.
Der dunkle Vorhang, der bisher jede Aus-
ſicht deckte, oͤfnete ſich, ſie blikte in die Zu-
kunft, und ſah im Hintergrunde ihren ent-
flohenen Gatten zu den Fuͤſſen des Fuͤrſten
knien, wie er ihm fuͤr ſein Leben dankte, und
dann in die ofnen Arme der Gattin und Kin-
der eilte. Wer kanns der Leidenden wohl
verdenken, wenn ſie ſah, was ſie wuͤnſchte,
wenn ſie hofte, was freilich nicht moͤglich
war, ihrem liebenden Herzen aber doch ſo
leicht moͤglich ſchien!
Sie ſande nun in haſtiger Eile nach eini-
gen ihrer treuſten Diener und Dienerinnen,
ſie erzaͤhlte ihnen ihr Gluͤck, und traf An-
[134] ſtalten zur noͤthigen Abreiſe. Ehe die Sonne
untergieng, ſas ſie ſchon im Reiſewagen und
athmete freier, als die Stadt hinter ihr lag,
in welcher ſie ſo ſchrecklich geduldet und ge-
litten hatte. Noch vor ihrer Abreiſe, ſchrieb
ſie der Fuͤrſtin, und dankte ihr innig, weil
ſie ſolche mit Grunde fuͤr die Urheberin ihres
Gluͤckes achtete. Sie bat am Ende, ſich ihres
ungluͤcklichen Gatten einſt auf aͤhnliche Art an-
zunehmen, und das groſſe Werk zu vollen-
den, zwei hoͤchſt Ungluͤckliche ganz gluͤcklich
gemacht zu haben.
Die großmuͤthige Fuͤrſtin antwortete ſo-
gleich, daß die edle That ganz ein Werk des
Fuͤrſten ſei, daß ſie keinen Theil daran habe,
ihn aber durch innige Freude daran nehme.
Ob es uͤbrigens, ſchrieb ſie am Ende, gleich
izt noch unmoͤglich ſcheint, daß ihr entfloh-
ner Gatte jemals Gnade hoffen koͤnne, ſo muß
die Linderung ihres Schickſals ihnen doch der
[135] deutlichſte Beweis ſein, daß Gott nichts un-
moͤglich ſei, daß auch er einſt in ihre Ar-
me ruͤkkehren koͤnne. Dies ſei ihr Troſt, wenn
ſie nach ihm bangen! Dies ihre Ausſicht,
wenn ſie trauern! Nur muß ich ſie dringend
bitten, daß ſie nicht durch unvorſichtige Nach-
forſchung nach dem Aufenthalte ihres Gatten
die Aufmerkſamkeit des Fuͤrſten erregen. Den-
ken ſie, daß ſie beobachtet werden, daß des
Fuͤrſten Herz noch nicht zur Vergebung ge-
neigt ſei, daß ein unvorſichtiger Schritt leicht
Argwohn wecken, ſeine Rache reizen, ſie und
ihren Gatten, ſelbſt ihre Kinder ungluͤcklich
machen koͤnne. Nuͤtzen ſie den Rath ihrer
wahren Freundinn, es iſt der einzige, den
ſie ihnen bei ihrem Abſchiede zu geben ver-
mag.
Hofnung iſt eine Biene, welche aus je-
dem Gegenſtand Honig ſaugt, und es zum
ſuͤſſen Genuſſe ins menſchliche Herz traͤgt.
[136] Daher kams, daß auch in dieſem Briefe die
ungluͤckliche Graͤfin Stof zum Troſte fand.
Er hat mein Schickſal gelindert, dachte ſie,
er wird einſt das ſeinige auch lindern! Die-
ſer frohe Gedanke war auf der Reiſe ihre
Beſchaͤftigung, war in der Folge aͤchtes Lab-
ſal, wenn ihr liebendes Herz ſich nach dem
Gatten ſehnte, nur einmal eine troͤſtende
Nachricht von ihm zu hoͤren wuͤnſchte.
Sie lebte auf dem entlegenſten Landgute
des Grafen in haͤußlicher Einſamkeit, in ſtiller
Trauer, ſie weihte ſich ganz der Erziehung ih-
rer Kinder, und fand nur in dieſer Beſchaͤfti-
gung Troſt fuͤr ihr Leiden. Die Einkuͤnfte al-
ler Guͤter des Grafen waren groß und anſehn-
lich, die Leidende empfing ſie immer mit Thraͤ-
nen, weil der Gedanke, daß ſie ſammle, indeß
der Geliebte darbe, ihr Herz maͤchtig engte,
und ſie unfaͤhig machte, das Vergnuͤgen zu
genuͤſſen, ihrer Kinder Gluͤck durch Sparſam-
[137] keit zu mehren, und durch reichliche Wohltha-
ten die Thraͤnen der Armuth zu trocknen. Sie
ward bald in der ganzen Gegend als eine wohl-
thaͤtige Gottheit verehrt, weil ſie reichlich gab,
weil ſie jedem zu helfen ſuchte, aber ſie em-
pfand die Wonne, gluͤcklich zu machen, nie in
ſeiner vollen Groͤſſe, weil ſie in jedem Bitten-
den ihren nothleidenden Gatten erblickte, ihn
eben ſo duͤrftig und huͤlflos dachte, und eben
dadurch zu neuer Trauer gereizt wurde.
Drei lange Jahre verfloſſen auf dieſe
Art — — Doch ehe ich weiter erzaͤhle, muß
ich zuvor das Schickſal des entflohnen Grafen
enthuͤllen, und meinen Leſern kund machen:
wie er entfloh? wie er entfliehen konnte? —
Schwer ruhte der Gedanke, daß der Fuͤrſt
nicht edel, nur durch blinde Rache irre gelei-
tet, handle, auf dem Herzen der menſchen-
freundlichen Fuͤrſtin. Sie kannte ſeinen Bieder-
ſinn, ſeinen Edelmuth, ſie war uͤberzeugt, daß
[138] Reue der raſchen That folgen, ſehr wahr-
ſcheinlich einſt die ſpaͤtern Tage ſeines Lebens
verbittern wuͤrde; ſie liebte den Ungetreuen
noch immer mit inniger Zaͤrtlichkeit, und war
daher aͤuſſerſt fuͤr ſeine kuͤnftige Ruhe beſorgt.
Jeder Schritt, ihm dieſe zu ſichern, ward von
ihr vergebens verſucht. Er wies die Bittende
mit Haͤrte ab, er ſuchte nur Befriedigung ſei-
ner Leidenſchaft, und, weil der Gegenſtand
derſelben blutige Rache heiſchte, den Tod des
Ungluͤcklichen. Als ſie auch den lezten Ver-
ſuch, die Rachbegierige durch den Anblick der
verzweifelnden Gattin, der jammernden Kin-
der zu verſoͤhnen, vergebens gewagt hatte,
und durch die leztere die Nachricht erhielt, daß
ſie mit grauſamer Haͤrte zuruͤckgewieſen ward,
rang ſie nach neuen Mitteln, die That zu hin-
dern. Nur moͤgliche, nur ſchleunige Flucht,
rief ſie aus, kann ihn vom Tode retten, und
meinen Gatten fuͤr kuͤnftiger Reue ſchuͤtzen.
[139]
Von dieſem Augenblicke an war dieſer Ge-
danke ihre einzige Beſchaͤftigung. Sie wußte,
daß der Kerkermeiſter, welcher die adlichen
Staatsgefangnen in einem beſondern Thurme
verwahrte, ehemals als Heiduke der Murter
des Fuͤrſten diente, und mit Widerwillen den
eintraͤglichen Dienſt eines Kerkermeiſters zur
Belohnung ſeiner treuen Dienſte annahm; ihr
war ferner bekannt, daß er kein Weib, kein
Kind, keine nahen Freunde habe, und daher
durch nichts ans Vaterland gefeſſelt werde.
Auf dieſe Gruͤnde baute ihre Hofnung die
Moͤglichkeit der Ausfuͤhrung. Sie eilte nach
ihrem Garten, wo ſie oft ſtundenlang verweil-
te. Eine vertraute Kammerfrau war ihre
einzige Begleiterin, dieſe mußte ſich im Gar-
tenhauſe verkleiden, und durch eine Neben-
thuͤre entſchluͤpfen, um dem Kerkermeiſter mit
dem Auftrage der groͤßten Verſchwiegenheit
dahin zu berufen und zu leiten.
[140]
Er erſchien ſogleich, aber es ward der Fuͤr-
ſtin aͤuſſerſt ſchwer, ihn zur Entfuͤhrung des
Gefangnen zu bereden, weil ers fuͤr Verletzung
ſeiner Pflicht, ſeines Schwurs achtete, und
die wenigen Tage ſeines Lebens nicht durch
Meineid beflecken wollte. Nur die Verſiche-
rung, daß der izt allzu zornige Fuͤrſt ihm einſt
ſelbſt die That lohnen wuͤrde, daß die Fuͤrſtin
im moͤglichen Falle alle Verantwortung auf
ſich nehmen wolle, machte ihn bereitwillig, die
That zu verſuchen. Sie verſprach ihm uͤber-
dies lebenslange und gute Verſorgung im
Staate einer benachbarten Fuͤrſtin, wohin ſie
ihn ſicher und ohne Gefahr ſenden wolle.
Aber dies Verſprechen war es nicht, was dem
redlichen Alten zur Theilnahme bewog, nur
die Ueberzeugung, daß er eine gute That uͤbe,
nur der Widerwille, mit welchem er den trau-
rigen Dienſt eines Kerkermeiſters verrichtete,
beſtimmte ſeine Handlung.
[141]
Es ward nun verabredet und beſchloſſen,
daß der Kerkermeiſter ſobald als moͤglich ſei-
nen Gefangnen von allem unterrichten, zur
Nachtszeit alle laͤſtige Zeugen entfernen, und
mit ihm durch eine Seitenthuͤre des Thurms,
welche nicht bewacht wurde, weil ſie nur zur
Wohnung des Kerkermeiſters fuͤhrte, nach dem
Garten der Fuͤrſtin entfliehen ſollte. In die-
ſem Garten hatte ſich die Fuͤrſtin eine Enſiede-
lei erbauen laſſen, zu welcher nur ſie den
Schluͤſſel bei ſich trug. Dieſer ward dem Ker-
kermeiſter mit dem Auftrage uͤbergeben, daß
er durch ſolchen die Gemaͤcher der Einſiedelei
oͤfnen, und ſich mit dem Grafen nach einer im
Hintergrunde angebrachten Grotte begeben
ſolle, wo kein menſchliches Auge ſie ſehen und
entdecken konnte. Genaͤhrt und gepflegt durch
die Hand der Fuͤrſtin, ſollten ſie dort ſo lange
verborgen leben, bis der Fuͤrſt jede Nachſpaͤhe
geendet habe, und ſie unter einer unkennba-
[142] ren Verkleidung mit ſichern Paͤſſen verſehen,
ohne Gefahr das Land verlaſſen koͤnnten.
Dieſer aͤuſſerſt vorſichtige Plan ward durch
den Kerkermeiſter mit Klugheit ausgefuͤhrt. Als
die Mitternachtſtunde nahte, huͤllte er ſich und
ſeinen Gefangnen in weite Maͤntel, und fuͤhrte
ihn gluͤcklich nach der Seitenthuͤre des Gar-
tens, zu welcher er ebenfalls den Schluͤſſel er-
halten hatte. Mit bangen und unruhigen
Herzen erwartete indeß die Fuͤrſtin den Aus-
gang ihres Wagſtuͤcks in der fuͤrſtlichen Reſi-
denz, wohin ſie ſogleich ruͤckgekehrt war. Sie
ſandte ſchon fruͤh ihre Vertraute auf Spaͤhe,
und genoß die Fruͤchte einer edlen That in gan-
zer Fuͤlle, als ihr dieſe die ſichere Nachricht
brachte, daß alles wohl gelungen ſei, weil
man den Entflohnen ſchon mit groͤßtem Eifer
ſuche.
[143]
Da die Fuͤrſtin jeden moͤglichen Argwohn
hindern wollte, ſo ging ſie die erſten Tage
nicht nach dem Garten, nur die vertraute Kam-
merfrau ging dahin, und trug den Verborg-
nen, unter dem Vorwande, daß ſie fuͤr die
Fuͤrſtin Buͤcher aus der dort befindlichen Bi-
bliothek hole, Speiſe und Trank zu. Staͤrker
ſchlug dann allemal das Herz der Edlen,
wenn die ruͤckkehrende Kammerfrau ihr er-
zaͤhlte, daß es den Gefangnen wohlergehe,
daß der Graf in den ruͤhrendſten Ausdruͤcken
der Retterin ſeines Lebens danke. Als die
Fuͤrſtin gewahrte, daß niemand etwas ahne,
ging ſie, wie gewoͤhnlich, nach dem Garten,
beſuchte die Verſteckten allemal, ſprach troͤſtend
mit ihnen, und erſchien ſtets mit Wohlthaten
in der Hand. Bald brachte ſie ihnen die noͤ-
thige Speiſe, bald wieder Waͤſche und andere
unentbehrliche Dinge, die des Lebens Noth-
durft erforderte.
[144]
Da der arme Graf ſein kuͤnftiges Schick-
ſal in der Hand einer ſo großmuͤthigen Fuͤrſtin
ſah, ſo zagte er nicht mehr fuͤr die Zukunft,
aber das weit ungluͤcklichere Schickſal ſeines
verlaßnen Weibes, ſeiner unerzognen Kinder
quaͤlte ſein Herz doppelt. Er empfahl ſie der
Vorſorge der gnaͤdigen Fuͤrſtin aufs dringen-
de, und verleitete ſie dadurch zu dem unerwar-
teten Schritt, bei der Geliebten ihres Gatten
die Fuͤrſprecherin der Ungluͤcklichen zu werden.
Der heiſſe Dank des Grafen, die Ueberzeu-
gung, daß ſie edel gehandelt habe, lohnten
ihr dieſe Ueberwindung reichlich, welche ganz
natuͤrlich dieſer Schritt ihrem Herzen gekoſtet
hatte.
Nun war der ſehnlichſte Wunſch des Gra-
fen erfuͤllt, nun blieb ihm keiner uͤbrig, als
ſeiner Wohlthaͤterin nicht laͤnger laͤſtig zu fal-
len, und in irgend einem Winkel der Erde
ſeine kummervollen Tage zu vertrauern. Die
Fuͤrſtin
[145] Fuͤrſtin hatte ſchon lange vorher alles zur Er-
fuͤllung dieſes Wunſches vorbereitet. Eine be-
nachbarte Fuͤrſtin, welche als Vormuͤnderin
ihres unmuͤndigen Sohnes das kleine Laͤndchen,
welches ſein Vater beſaß, regierte, war ehe-
mals ihre Jugendfreundin geweſen, immer
fand noch eine vertraute Korreſpondenz zwi-
ſchen beiden ſtatt. Sie entdeckte ihrer gepruͤf-
ten Freundin ſogleich die ganze Sache, und bat
um Rath und Beiſtand.
Die regierende Fuͤrſtin ſchrieb zuruͤck, daß
ſie der genauen Verbindung wegen, in welcher
beide Hoͤfe miteinander ſtaͤnden, nicht faͤhig
waͤre, dem Grafen, wenn er nach ihrem
Lande entfliehe, oͤffentlichen Schutz zu verlei-
hen, doch wolle ſie, der theuern Freundin zu
gefallen, alles wagen, alles unternehmen, was,
wenn er im Verborgnen kaͤme, die moͤgliche
Entdeckung hindern, und ihn, wenn er ein
einſames Landleben nicht ſcheue, fuͤr jeder Ge-
Biogr. d. W. 4r Bd. K
[146] fahr ſchuͤtzen koͤnne. Zur Befoͤrderung dieſer
Abſicht ſandte ſie ihr zwei Paͤſſe, welche auf
zwei ihrem Fuͤrſtenthume unterthaͤnige Schaͤ-
fer ausgeſtellt waren, die den Auftrag hatten,
in den naͤchſtgelegnen Staaten die merkwuͤr-
digſten Schaͤfereien zu beſuchen, und ſich die
Vortheile derſelben zur Verbeſſerung der in-
laͤndiſchen Schafzucht eigen zu machen. Dein,
ſchrieb nun die Freundin weiter, ſei nun die
Sorge, die Fluͤchtlinge der Eigenſchaft ihres
Paſſes gemaͤß zu kleiden, ihre Geſichtszuͤge ſo
unkennbar als moͤglich zu machen, und ſie dann
geradezu nach meinem Lande zu ſenden. Ein
neuer Brief von dir wird mich unterrichten,
wenn ſie abreiſen, wenn ſie eintreffen koͤnnen.
Sie nehmen dann ihren Weg nach der von mir
neu errichteten fuͤrſtlichen Schaͤferei zu—m, im
Gebuͤrge F—. Ich werde um dieſe Zeit auf
einem benachbarten Jagdſchloſſe wohnen, und
werde dann ſchon Gelegenheit finden, den
Grafen zu ſprechen. Ehe dies aber geſchieht,
[147] gehen die Fluͤchtlinge ohne Aufenthalt nach der
beſtimmten Schaͤferei, und melden ſich bei
dem Vorſteher derſelben. Er hat den gemeß-
nen Auftrag von mir erhalten, ſie in ſeine
Dienſte aufzunehmen, und ob ſie gleich der
Abſicht, die ich ihm erzaͤhlte, keinesweges ent-
ſprechen werden, ſo iſt der gute Alte doch viel
zu demuͤthig, als daß ers wagen ſollte, ihre
verborgnen Kenntniſſe zu bezweifeln. Dies iſt,
nach reifer Ueberlegung, die einzige Art, durch
welche ich den Grafen ſichern Aufenthalt in
meinem Lande gewaͤhren kann, er muß es ſich
ſchlechterdings gefallen laſſen, wenigſtens durch
einige Zeit meine Schaafe zu huͤten, weil er
ſich nur in dieſer einſamen Gegend dem wach-
ſamen Auge aller meiner Beamten entziehen
kann, die durch mich den ernſten Befehl er-
hielten, nach dem Entflohnen umher zu ſpaͤ-
hen. Ein Befehl, den ich auf dringendes Er-
ſuchen deines Fuͤrſten ergehen ließ, und nun
K 2
[148] nicht widerrufen, nur durch Nichterinnerung
ſchwaͤchen kann.
Der arme Graf war ganz mit ſeinem Looſe
zufrieden, als ſeine fuͤrſtliche Freundin ihn
fragte, ob er Verlaͤugnung genug beſitze, ſich
dieſer noͤthigen Einrichtung einige Zeit hindurch
zu fuͤgen. Mein neuer Stand, ſprach er, iſt
meiner innern Lage ganz angemeſſen, ich kann
mich ungehindert, wenn ich meiner Heerde
folge, meinen Gedanken uͤberlaſſen, die einſa-
men Gegenden, in welche ſie mich fuͤhren wird,
werden Labſal fuͤr mich ſeyn, ich kann mich
dort dem Andenken meines Weibes, meiner
Kinder weihen, und ihren Verluſt betrauren.
Nur ſchmerzt es mich aͤuſſerſt, daß ich den
Retter meines Lebens nur darum der Ruhe
entriſſen habe, damit er in ſeinem hohen Alter
in wuͤſten Gegenden umher irren, und eine
Koſt genuͤſſen ſoll, die ſeinen Kraͤften nicht an-
gemeſſen iſt.
[149]
Die Fuͤrſtin ſuchte ihn uͤber dieſen Gegen-
ſtand zu beruhigen, und verſicherte ihn, daß
eine gute und dauerhafte Verſorgung des red-
lichen Kerkermeiſters ihre Pflicht ſey, die ſie
auch nach Moͤglichkeit leiſten werde. Er kann,
ſprach ſie, wenn er einmal der Gefahr ent-
ronnen iſt, nach Belieben weiter wandern,
und in einer entfernten Gegend ruhig die Sum-
me genuͤßen, welche ich ihm beim Abſchiede
uͤbergeben will. Sie wird hinreichen, ihn
zeitlebens zu ernaͤhren, es wird noch genug
uͤbrig bleiben, um ſeinen treuen Waͤrter am
Ende ſeiner Tage damit belohnen zu koͤn-
nen.
Der ſeltne Kerkermeiſter dankte innig,
aber er verſicherte auch eben ſo ernſtlich, daß
er ſich nie von dem Grafen trennen, Gluͤck
und Ungluͤck, Kummer und Freude mit ihm
theilen, und, waͤre es irgend moͤglich, durch
treue Dienſtleiſtung ſein hartes Schickſal er-
[150] leichtern wolle. Die Tage, welche er in der
Grotte mit ihm durchlebt hatte, waren dem
guten Alten ſo angenehm verfloſſen, hatten
ihn ſo deutlich uͤberzeugt, daß der Graf ei-
ner der beſten Menſchen ſei. Dieſe Ueber-
zengung war die Urſache, daß er ſich nie von
ihm trennen wollte, durch keine Ueberre-
dungskraft zu einem andern Entſchluſſe zu
bewegen war. Aber der Menſch denkt, und
Gott lenkt!
Eben als alles Noͤthige zur Abreiſe an-
geordnet war, und ſie ſchon am andern Tage
ihren Zufluchtsort verlaſſen, und ſich dem
Schutze des Allmaͤchtigen uͤbergeben wollten,
ward der arme Kerkermeiſter krank, eine hef-
tige Augenentzuͤndung endete in fuͤnf Tagen
ſein Leben, weil man ihm der groͤſſern Ge-
fahr, der moͤglichen Entdeckung wegen keine
Huͤlfe leiſten konnte. Er ſtarb als Chriſt,
ruhig und gelaſſen, und ging mit der Gewiß-
[151] heit hinuͤber, daß der Barmherzige ihm ſei-
nen Meineid verzeihen, die Abſicht ſeiner
edeln That lohnen wuͤrde.
Den Grafen druͤckte der Verluſt eines
Freundes, das Bewuſtſeyn, daß er Schuld
an ſeinem Tode ſey, aͤuſſerſt ſtark, machte
ihn mißmuthig und im hoͤchſten Grade traurig.
Vergebens muͤhte ſich die Fuͤrſtin, ihn zu
troͤſten, er faßte den Gedanken, und hielte
ihn feſt, daß Gott ihn ganz verlaſſen habe,
nur immer empfindlicher ſtrafen, nie verge-
ben wolle! Man verdenke dem Grafen ſein
Murren nicht! Er glich einem mit dem reiſ-
ſenden Strome Kaͤmpfenden, der lezte ſchwa-
che Aſt, von dem er wo nicht Rettung, doch
Verlaͤngerung ſeines Lebens hofte, brach
mit einmal, und alle Ausſicht zu beiden
ſchwand.
Damit der Koͤrper nicht entdeckt werde,
muſte er in der Grotte begraben werden. Die
[152] vertraute Kammerfrau entwendete dem Gaͤrt-
ner Hakke und Schaufel, und der Graf
brauchte zwei volle Naͤchte, um dem treuen
Freunde eine Grabſtaͤtte im harten Boden der
Grotte auszuhauen. Dieſe traurige Beſchaͤf-
tigung, der fortdauernde Anblick des Todten,
mehrte die Empfindungen ſeines Herzens, er
wuͤnſchte ſehnlichſt gleich ihm vollendet, gleich
ihm ausgerungen zu haben.
Nachdem er am dritten Abende geruht,
und am vierten von ſeiner fuͤrſtlichen Wohl-
thaͤterin mit Thraͤnen des waͤrmſten Danks
Abſchied genommen hatte, ihrem fernern
Schuze ſein Weib und Kinder empfahl, von
ihr eine große Summe und zugleich die Verſi-
cherung erhielt, daß ſie einen Brief von ihm
richtig an ſein Weib beſtellen wolle, trat er
in der folgenden Nacht ſeine Wanderung an.
Er entkam durch die Seitenthuͤre gluͤcklich aus
dem Garten, eben ſo gluͤcklich aus der Stadt,
[153] weil dieſe zwar Thore hatte, aber mit keiner
Mauer umgeben war, und man durch einige
Nebenwege ungehindert in die Vorſtadt, aus
dieſer ins Freie gelangen konnte. Wie die
Sonne aufging, lag die Reſidenz ſchon mei-
lenweit hinter ſeinem Ruͤcken. Er trug die
Kleidung eines Schaͤfers, ſein Haar war ver-
ſchnitten, Haͤnde und Geſicht unmerklich gelb
gefaͤrbt. Das leztere und der ungewoͤhnlich
ſtarke Bart verſtellte ſeine Phyſionomie voll-
kommen, niemand achtete auf ihn, er wan-
derte auf ſelbſt gewaͤhlten Seitenwegen unge-
hindert nach der Graͤnze, welche er ſchon am
zweiten Tage erreichte. Eben ſo gluͤcklich,
und ohne nur einmal nach einem Paſſe befragt
zu werden, langte er auf der beſtimmten
fuͤrſtlichen Schaͤferei an.
Sie lag mitten im hohen Forſte, in ei-
ner unbewohnten, wilden Gegend. Die hie
und da vom Holze entbloͤßten Berge, die
[154] grasreichen Thaͤler hatten die oͤkonomiſche Fuͤr-
ſtin bewogen, die erſtern zu einer Sommer-
weide, die leztern zum Heu fuͤr einige tau-
ſend Schaafe zu benuzen, welche dort herrlich
gedeihten, und weit mehr Nuzen brachten,
als das wenige Wild, welches ihre Vorfahren
ſonſt in dieſer Gegend gehegt hatten. Der
Vorſteher dieſer Schaͤferei, ein alter, aber
biederer und redlicher Mann, empfing den
Grafen mit baͤuriſcher, aber traulicher
Freundlichkeit. Er hatte ihn ſchon laͤngſt er-
wartet, und deswegen ſchon einen ſeiner
Knechte des Dienſtes entlaſſen, um dem Er-
warteten ſeinen Plaz ſogleich anweiſen zu koͤn-
nen. Noch am nemlichen Tage uͤbergab er ihm
daher vierhundert Stuͤck ſchoͤne Schaafe, die
er leiten, fuͤhren und pflegen ſollte.
Die Empfehlung der Fuͤrſtin erregte ganz
natuͤrlich bei dem Alten den Gedanken, daß
der Fremde ſeltne Kenntniſſe in der Schaaf-
[155] zucht beſitzen muͤſſe, er ſchwaͤzte daher beſtaͤn-
dig mit ihm uͤber die Vortheile und Hinder-
niſſe der Leztern, um die Erſtern zu pruͤ-
fen. Ein Gluͤck fuͤr den Grafen, daß er ſtets
die Oekonomie leidenſchaftlich liebte, wenn er
auf ſeinen Landguͤtern einig Wochen Erholung
von ſeinen Geſchaͤften ſuchte, ſich in den vor-
nehmſten Zweigen derſelben praktiſch uͤbte,
und daher wenigſtens mit den allgemeinen
Regeln einer guten Schaafzucht nicht unbe-
kannt war, freilich in der Folge nicht leiſtete,
was der Alte hofte, aber doch auch nichts ver-
darb, und wegen ſeines ſtillen und eingezoge-
nen Lebenswandels endlich der Liebling deſſel-
ben ward.
Die Fuͤrſtin beſuchte bald hernach die
Schaͤferei, und hatte Gelegenheit, mit dem
Grafen troͤſtend zu ſprechen. Er dankte innig
fuͤr ihren Schuz, und dankte noch inniger,
als ſie ihm kund machte, daß ſein Weib, ſei-
[156] ne Kinder geſund lebten; aber traurig ſank
ſein hoffendes Auge zur Erde, wie ſie ihm
erzaͤhlte, daß ſeine wohlthaͤtige Fuͤrſtin den
Brief, welchen er ihr an ſeine Gattin hinter-
laſſen hatte, noch nicht abgeſchickt habe, auch
nicht abſchicken koͤnne, weil ſie als gewiß er-
fahren habe, daß ein heimlicher Spaͤher des
Fuͤrſten die Graͤfin genau beobachte, alle ihre
Korreſpondenz ingeheim unterſuche, und
durch die geringſte Spur auf Entdeckung gelei-
tet werden koͤnne. Der arme Verbannte
fuͤhlte bei dieſer Nachricht das Leiden der ver-
laßnen Gattin, er flehte aufs neue, daß man
ihr nur von ſeinem Leben, von ſeiner Geſund-
heit Nachricht geben ſolle, und ging izt trau-
riger, tief leidend hinter ſeiner Heerde,
weil ihn auch der einzige Troſt, einige Zeilen
von der geliebten Gattin zu leſen, geraubt
wurde.
[157]
Auch dem Ruhigen und Gluͤcklichen macht
Einſamkeit und Entfernung von aller menſchli-
chen Geſellſchaft traurig und mißmuthig, um
ſo mehr den Leidenden und Ungluͤcklichen.
Kein Freund erquickt ſein ſchmachtendes Herz
mit Troſt, keine unerwartete Gelegenheit
zerſtreut ſeinen Kummer, er kann ungehin-
dert die Groͤſſe ſeines Leidens meſſen, und
ſich mit jedem Tage aufs neue uͤberzeugen,
daß ſie unendlich, und daher immer dauernd
ſey. So ergings auch dem Grafen, er ward
ſtets trauriger, ſtets melancholiſcher, und
erregte dadurch das Mitleid ſeines gutherzi-
gen Meiſters, der ihn unter allen Knechten
auszeichnete, oft an ſeinem eignen Tiſche
ſpeiſen ließ, und ſich hoch wunderte, wie der
Leidende dieſe Ehre nicht hochſchaͤzte, ſie viel-
mehr auf alle moͤgliche Art zu vermeiden
ſuchte.
[158]
Den uͤbrigen Bewohnern war der Graf
ein gleiches Raͤthſel, ſeine gefaͤllige, freund-
liche Art zog jeden an ſich, aber ſein Hang
zur Einſamkeit, zum tiefen Nachdenken,
ſtieß alle gleich ſtark wieder zuruͤck. Ohne es
ſelbſt zu wollen, gewann bald die von Jugend
auf ſorgfaͤltig gepflegte Gewohnheit den Rang
uͤber die ſchwere Verſtellung, er ſuchte ſich,
geleitet durch jene, ſeine harte Laſt dadurch
ertraͤglicher zu machen, daß er ſich reinlicher
und beſſer als alle uͤbrige Schaͤfer kleidete.
Die wenigen Maͤdchen, welche in dieſer Ein-
oͤde wohnten, oder ſie Geſchaͤfte wegen beſuch-
ten, blickten daher oft luͤſtern nach ihm, und
nannten ihn nur den ſchoͤnen und galanten
Schaͤfer, als aber dieſer, oft in ſeiner Ge-
genwart ausgeſprochne Name keinen Eindruck
auf ihn machte, da nannten ſie ihn in der
Folge den traurigen Schaͤfer, und blickten
ihm mitleidig nach, wenn er mit geſenktem
Auge hinter ſeiner Heerde ſchlich.
[159]
Nach drei durchſchmachteten Jahren, hat-
te finſtere Melancholie in ſeinem Herzen fe-
ſten Sitz genommen, er ſah mit wahrer Be-
gierde dem Tod entgegen, er wuͤnſchte ſehn-
lichſt, daß er bald nahen, bald ſein namlo-
ſes Leiden enden moͤge. Schon im zweiten
Jahre hatte ihm die beſuchende Fuͤrſtin zu ver-
ſtehen [gegeben], daß ſo tiefe und erniedri-
gende Verſtellung izt nicht mehr noͤthig ſei,
daß er in einem entferntern Lande, unter-
ſtuͤtzt durch ſeine Wohlthaͤterin, angeneh-
mer und beſſer leben koͤnne, aber die Ein-
ſamkeit war ſeinem Schmerze ſchon unent-
behrlich geworden, er flehte, daß man ihn
laͤnger hier dulden moͤge, und verſicherte
dreuſt, daß ihn noch weitere Entfernung,
wo er gar keine Nachricht mehr von ſeiner
Gattin erhalten wuͤrde, zum Wahnſinn rei-
zen werde. Die Fuͤrſtin ehrte ſeine Gruͤnde,
und verſprach ihm, durch oͤftere Nachrichten
von ſeiner Gattin zu erfreuen, aber ſie
[160] vermochte nicht Wort zu halten, weil ſie
nur jaͤhrlich einmal in dieſe Gegend kam,
und durch Boten die ohnehin geſpannte Auf-
merkſamkeit der dortigen Bewohner nicht
noch mehr reizen wollte.
Eben fragte die gleich ſtark leidende und
duldende Graͤfin den Ewigen: Ob denn ihr
Leiden nie enden, ihr Jammer hienieden
keinen Lohn hoffen koͤnne? Als ungewoͤhn-
liches Geraͤuſch im Hofe ihres Schloſſes ſie
aus ihrem Tiefſinn weckte, und ans Fenſter
zog. Sie blickte hinab, ſah einige Reiſe-
wagen an der Thuͤre ſtehen, und eine in
Trauer gehuͤllte Dame aus dem erſten der-
ſelben herausſteigen. Sie eilte hinab und
ſank in die Arme der Fuͤrſtin, welche ſie zu
beſuchen kam. Ihre Trauer verkuͤndigte der
Graͤfin ſchon im Voraus die Urſache der Moͤg-
lichkeit dieſes ſeltnen Beſuches, ſie ahndete
des
[161] des Fuͤrſten Tod, welcher auch wirklich aͤuſ-
ſerſt ſchnell und unvermuthet erfolgt war.
Er hatte ſich auf einer damals ſo ge-
woͤhnlichen Parforce-Jagd aͤuſſerſt erhizt, ein
unvermutheter Gewitterregen durchnaͤſſete ſei-
ne Kleider. Ehe er noch die Reſidenz er-
reichte, ſank er vom Schlage getroffen tod
vom Pferde. Die ihn immer noch liebende,
und ſeinen Tod innig bejammernde Fuͤrſtin
ward nun Regentin des Landes, weil ihr
einziger Sohn erſt das eilfte Jahr ſeines
Alters erreicht hatte. Man huldigte ihr
ſogleich, als die Aerzte vergebens alle Mit-
tel verſucht hatten, den Toden zu wecken.
Die Graͤfin R—, welche noch immer die
erklaͤrte Geliebte des Fuͤrſten war, bisher
oft Land und Leute regiert hatte, erſchrak
aͤuſſerſt, als ſie den Tod des Fuͤrſten und
die Huldigung ſeiner Gemahlin in einem Au-
genblicke vernahm. Sie fuͤrchtete die Rache
Biogr. d. W. 4r Bd. L
[162] der letztern, und ſande ihr ſogleich folgen-
den Brief:
Durchlauchtigſte Fuͤrſtin! Sie koͤnnen
auf Wiedervergeltung rechnen! ſprachen ſie
einſt zu mir, als ich die Fuͤrbitte in der
Graͤfin L— zu werden verſprach. Die Zeit
dieſer Wiedervergeltung iſt da! Ich hoffe,
daß Sie großmuͤthig handeln, und mir er-
lauben werden, mit meinem Haabe ein Land
zu verlaſſen, deſſen Monarch bisher mein
einziger Beſchuͤtzer war.
Die tief gebeugte Fuͤrſtin vermochte nicht
ſogleich zu antworten, ſie ließ der Graͤfin
nur ſagen, daß die Antwort ſicher und bald
erfolgen werde. Dieſe ſah mit banger
Sehnſucht und zitternd der Antwort entge-
gen, aber ſie ſtaunte, und heiſſe Thraͤnen
fuͤllten ihr Auge, als ſie ihr am andern Ta-
ge ward, als ſie folgendes las:
[163]
Meine liebe Graͤfin! Sie ſind aͤuſſerſt
billig, da ſie zur Wiedervergeltung einer
That, die ich bisher immer noch mit dank-
barem Herzen ehre, eine Sache fordern, die
ihnen die ſtrengſte Gerechtigkeit nicht einmal
verweigern koͤnnte. Es ſteht ihnen vollkom-
men frei, ferner in dieſem Lande zu woh-
nen, oder es zu verlaſſen. Im erſtern Fall
wird meine Hochachtung gegen ſie fortdauern,
im letztern werden ſie ſolche ungetheilt mit
ſich nehmen. Aber dann hoffe ich ganz ſicher,
daß ſie nicht ohne Abſchied ſcheiden, daß ſie
durch eine neue, und groͤſſere Bitte mich in
Stand ſetzen, ſie nicht mit dem Bewuſtſein
entlaſſen zu muͤſſen, daß ich ihre groſſe
Schuldnerin bleibe. Kommen ſie, weun ſie
wollen, unter uns findet keine Etikette ſtatt,
wir haben beide am meiſten verlohren, uns
muß es auch erlaubt ſein, ungehindert mit
einander weinen zu koͤnnen.
L 2
[164]
Alle Hofleute ſtaunten, als ſich kurz
nachher die Graͤfin R— bei der Fuͤrſtin mel-
den ließ, aber alle ſtaunten noch weit mehr,
als ſie ſogleich vorgelaſſen wurde, und nach
einer kurzen Unterredung, die Fuͤrſtin mit
ihr Hand in Hand aus dem Kabinete trat,
ſie in aller Gegenwart Frenndin nannte; mit
aͤchter Zaͤrtlichkeit umarmte, ihr die gluͤcklich-
ſte Reiſe, und fuͤr die Zukunft die ruhigſten
Tage wuͤnſchte. Dieſe auſſerordentliche Leut-
ſeligkeit der Fuͤrſtin war nicht Verſtellung,
war aͤchter Lohn, welchen ſie der Graͤfin
zollte.
Als dieſe zu ihr ins Kabinet trat, dankte
ſie ihr mit einer Waͤrme, die ihr Herz ruͤhrte,
und bat nochmals, daß ſie das Land verlaſ-
ſen duͤrfe. Die Fuͤrſtin gewaͤhrte ihr ſolches
aufs neue, forderte aber ausdruͤcklich, daß ſie
ſich eine groͤſſere Gefaͤlligkeit von ihr erbit-
ten moͤge. Wohl dann, ſprach die Graͤfin,
[165] ich will ihre Gnade nutzen. (auf ihre Knie
ſinkend) Izt, da meine eingebildete Groͤſſe
ſinkt, fuͤhle ich es deutlich, daß ich den Tod
meines Bruders zu hart raͤchte, daß ich den
armen Grafen L— zu hart verfolgte. Euer
Durchlaucht ſind izt Regentin geworden,
Euer Durchlaucht koͤnnen izt ſtrafen, aber
auch vergeben und vergeſſen. Mir ward
eine Bitte erlaubt, mir ward Gewaͤhrung
derſelben zugeſichert, ich bitte, daß Euer
Durchlaucht dem Grafen unbedingt vergeben,
ſeine That vergeſſen, und ihm erlauben, ſeine
uͤbrigen Tage ruhig in den Armen des ge-
liebten Weibes zu durchleben. Ich bins von
ihrem edlen Herzen uͤberzeugt, daß dieſe
Verzeihung auch ohne meine Bitte erfolgen
wuͤrde, aber ich achtete es fuͤr Pflicht, ſie
daran zu erinnern, und aufs neue zu bitten,
daß dieſe Gnade die erſte edle Handlung der
kuͤnftigen Regentin ſein moͤge. — — Sie
ſoll, ſie wirds ſein! rief die geruͤhrte Fuͤr-
[166] ſtin aus, aber ſie muͤſſen auch die Verſiche-
rung mit ſich nehmen, daß ich ſie um dieſer
Bitte willen ewig hochſchaͤtzen und lieben
werde.
Die Trauer uͤber den Tod des Fuͤrſten
erlaubte, gebot ſogar der Fuͤrſtin einige Zeit
Entfernung aus der Reſidenz. Als ſie daher
alle fuͤrſtliche Beamte in ihrem bisherigen
Dienſte beſtaͤtigt hatte, heiſchte ihr Schmerz
dieſe Linderung, ſie hofte ſie im Wohlthun
zu finden, und reiſte zur Graͤfin L—, um
in ihrer Geſellſchaft und im ſtrengen Iukog-
nito nach dem benachbarten Fuͤrſtenthum zu
reiſen, dort den Grafen zu uͤberraſchen, und
die namloſe Freude der erſten Umarmung,
der Wiedervereinigung mit genuͤſſen zu koͤn-
nen. Als ſie dieſen wohlthaͤtigen Vorſaz
der Graͤfin entdeckte, da — — O wer iſt
faͤhig die Simptomen einer ſolchen Freude,
einer ſolchen Seligkeit zu ſchildern, ſie
[167] gleicht vollkommen der uͤberirdiſchen, die
nicht einmal der Dollmetſcher Gottes zu ſchil-
dern, die keines Sterblichen Mund auszu-
ſprechen vermag. Die Uebergluͤckliche war
ganz einem Kinde aͤhnlich, ſie taumelte won-
nevoll umher, hob jeden Gegenſtand in die
Hoͤhe, und legte ihn eben ſo ſchnell wieder
von ſich, ſie traͤumte wachend, und ſprach
nur immer von dem Gluͤcke, das ſelbſt ihrer
erhitzten Einbildungskraft nur ein Traum
ſchien.
O wie unendlich langſam floſſen ihr izt
die Stunden voruͤber, die ſie von der Er-
fuͤllung ihres heiſſen Wunſches trennten! Kein
Schlaf erquickte das Auge der Hoffenden,
immer ſtarrte es ſehnſuchtsvoll in die Zu-
kunft, und ſah den geliebten Gatten mit
ofnen Armen vor ſich ſtehen. Die Fuͤrſtin
hatte beſchloſſen, einige Tage auf dem Land-
gute der Graͤfin zu ruhen, als ſie aber
[168] ihre Sehnſucht ſah, da warf ſie ſich ſchon
am andern Morgen mit ihrer Freundin in
einen leichten Reiſewagen, und eilte mit
ihr der unnennbaren Freude entgegen. Um
ſchneller reiſen zu koͤnnen, hatte die Fuͤr-
ſtin aller gewoͤhnlichen Begleitung eutſagt,
nur eine Kammerfrau ſas mit den Kindern
der Graͤfin in einem zweiten Wagen, nur
zwei Bediente begleiteten ſie. Es ging raſch
vorwaͤrts, aber es ging der Harrenden doch
viel zu langſam, jede Schaafheerde, die
oft auf den nahen oder fernen Bergen um-
her kletterte, machte den ſtaͤrkſten Eindruck
auf ihr Herz, ſie ſtrekte dann immer ihre
Arme aus, und glaubte, in dem Hirten
ihren Gatten zu erblicken.
Endlich lag die wuͤſte, oͤde Berggegend
vor ihrem Blicke. Endlich ſahen ſie zwiſchen
den hohen Buchen und Eichen die Schaͤferei
vom Ferne glaͤnzen, endlich ſtand der Wa-
[169] gen am Hauſe des Vorſtehers derſelben. Der
gute Alte kam mit der Muͤtze in der Hand
den hohen, fremden Gaͤſten entgegen, er
ſtannte mit Recht, als die Graͤfin haſtig
fragte: Wie es ihrem Gatten, wie es dem
Graf L— gehe? Wo er ſei? Wo ſie ihn
ſehen und ſprechen koͤnne? Er ſchuͤttelte be-
daͤchtlich den Kopf, und wollte den Frem-
den eben beweiſen, daß kein Graf hier woh-
ne, als die ruhigere Fuͤrſtin den Irrthum
bemerkte, und nach dem fremden Schaͤfer-
knecht fragte, der ſeit einigen Jahren die
fuͤrſtlichen Schaafe huͤte. Ach dieſer, rief
der Alte aus, dieſer mag freilich mehr ſein,
als er ſein will, aber kein Graf iſt er doch
wohl nicht!
Fuͤrſtin. Daruͤber wollen wir nicht laͤn-
ger ſtreiten. Sei er nur ſo gefaͤllig, uns
zu ſagen, wo wir ihn treffen, dann wird
ſich alles aufklaͤren.
[170]
Der Alte war ſogleich bereit und willig,
ſie nach dem Berge zu fuͤhren, wo er ſeine
Schaafe weidete. Er ging voraus, und
der Wagen folgte. Am Fuße des Bergs
mußten ſie ausſteigen, weil ſich nur ein en-
ger, von Schaafen getretner Pfad aufwaͤrts
ſchlaͤngelte. Die Graͤfin ergrif die Hand ih-
rer Kinder, und zog ſie haſtig hinter ſich
her. Einzelne Schaafe, welche am Gipfel
umher kletterten, beſchaͤftigten ihr Auge,
zogen ihre ganze Aufmerkſamkeit magnetiſch
an ſich, ſie konnte nicht denken, nicht ſpre-
chen. Nahes Gefuͤhl der Wonne, des ent-
zuͤkkenden Wiederſehens tobte ſtuͤrmend in al-
len ihren Adern, Nerven und Fibern, es
hemmte ihren Athem, ſie mußte oft ruhen,
und blickte dann mit naſſem, ſehnſuchtsvol-
lem Blicke in die Hoͤhe.
Die Fuͤrſtin folgte ſtillſchweigend, auch
ihre hochgeregte Empfindung beſchaͤftigte Herz
[171] und Einbildungskraft gleich ſtark. Nur eini-
gemal war ſie vermoͤgend, die Graͤfin fuͤr
allzuhaſtiger Eile zu warnen, aber die Ent-
zuͤckte war unfaͤhig die Warnung zu faſſen,
das allzugroſſe, wonnevolle Ziel riß ſie mit
Allmachtsſtaͤrke empor, weckte jede Lebens-
kraft, ſpannte jede Sehne, um es nur bald,
nur ſchneller erreichen zu koͤnnen. Endlich
war der Gipfel erſtiegen, eine alte Eiche,
deren Stamm der wuͤthende Sturm oft gebo-
gen, aber nicht gebrochen hatte, ſtand un-
fern von ihnen. Unter ihrem Schatten ruhte
der verbannte Graf, er lag ausgeſtreckt am
Boden, die Rechte unterſtuͤtzte ſein nach-
denkendes Haupt, ſein Auge ſtarrte in die
ferne Gegend. Der Alte wollte ihn aus ſei-
nem Traume wecken, aber die Sehnſucht der
liebenden Gattin uͤberfluͤgelte ſeine Schritte.
Mein Karl! Schrie ſie wonnetrunken,
als ſie ſich nahte. Mein Vater! riefen die
[172] Knaben, welche ihr folgten. Der Denken-
de ſchauderte empor. Mein Karl! wieder-
holte die Gattin. Mein Vater! lallten die
Kinder athemlos: Gleich dem Wetlaͤufer,
der alle ſeine Kraͤfte verſchwendet hat, ſank
izt die Graͤfin am Ziele ihrer Wuͤnſche kraft-
los nieder, die Kinder umfaßten die Knie
des Staunenden. Die Fuͤrſtin vermochte
nicht zu ſprechen, Thraͤnen der Freude, der
innigen Theilnahme hemmten ihre Sprache.
Der Alte grif haſtig nach ſeiner Muͤzze, und
blikte mit entbloͤßtem Haupte zu Himmel.
Lange dauerte die Szene der ſtummen
Empfindung, des Sturmes der namloſen
Gefuͤhle, als ſie aber endete, da wards —
O daß ich diesmal nur das freudenvolle Ge-
fuͤhl meiner Leſer durch Dichtung taͤuſchen
koͤnnte! — Da wards allen nach und nach
zur traurigen, zur ſchrecklichen Gewißheit,
daß die ſchnelle Ueberraſchung, der jaͤhe
[173] Sprung der entfernteſten Hofnung zur uͤber-
zeugenden Gewißheit dem armen Grafen ſeinen
Verſtand geraubt, wenigſtens verwirrt hatte.
Als der ſtrenge Richter ihm ohne Schonung
das Todesurtheil verkuͤndigte, als zum letz-
tenmal die Sonne ſeinem Auge entſchwand,
als er, zwar gerettet vom ſichern Tode,
aber immer verbannt vom geliebten Weibe,
vom liebenden Kinde, fortwandern mußte,
da blieb ſein Muth ſtandhaft und unerſchuͤt-
tert, wie aber das unerbittliche Schickſaal
ſeiner zu ſpotten, ihn durch Truggeſtalten
zu taͤuſchen ſchien, da ſchwand Muth und
Standhaftigkeit, da klagte er laut uͤber die
ſtrenge Haͤrte des Barmherzigen, der ihn
gleich einem Tantalus ſtrafen wolle, und war
nicht zu bewegen, dasjenige fuͤr Wahrheit
zu halten, was ſeine erhizte Einbildungs-
kraft nur fuͤr Taͤuſchung, fuͤr Traum ach-
tete.
[174]
Es iſt ein Traum! Es iſt ſchreckliches
Blendwerk! rief er ohne Unterlaß aus. Die
Liebkoſungen der Gattin, die ſchmeichelnde
Bitte der Kinder, die ermahnende Stimme
der Fuͤrſtin war nicht vermoͤgend, die ein-
mal gefaßte Idee zu vernichten, er waͤre
entflohen, wenn ihn nicht auf den Wink der
Fuͤrſtin die Bedienten ergriffen, und mit
Gewalt nach der Schaͤferei gefuͤhrt haͤtten.
Anfangs hoften alle, daß Zeit und Ge-
wohnheit ſeinen Irrwahn tilgen, ihn von
der Gewißheit uͤberzeugen wuͤrde, aber kei-
ne Zeit, keine Arzenei, keine Ueberzeugung
war faͤhig, das ſtokkende Rad der Einbildungs-
kraft zu wenden. Es ſtand, und in dieſem
das Bild des Traumes und Truges. Nur
ein aͤhnliches, noch weit ſchrecklicheres Bild
geſellte ſich noch zu dieſem. Er glaubte in
der Folge, daß ſein Weib, ſeine Kinder,
ſelbſt die wohlthaͤtige Fuͤrſtin geſtorben waͤ-
[175] ren, ihm nun als Geiſter erſchienen. Dieſer
Gedanke vermehrte den Wunſch des Todes
in ſeinem Herzen, er wuͤnſchte ſehnlich mit
den Geliebten vereinigt zu ſein, und nur
die ſorgfaͤltigſte Aufmerkſamkeit ſeiner treuen
Diener konnte es hindern, daß er nicht oft
den Tod fand, den er ſo ſehnlich ſuchte.
Man denke ſich das Leiden der guten
Gattin, es iſt keiner Beſchreibung faͤhig!
Sie liebte heiß, zaͤrtlich und innig. Ihr
ſchmachtendes Herz zog ſie ſtets hin zum
Gatten, der ſie immer mit dem Ausrufe
zuruͤck ſchreckte: Holder Geiſt! Warum
kommſt du mich zu quaͤlen? Verjage die
Waͤchter, und du ſollſt ſehen, wie ſchnell
ich dir folge!
Die Zahl der Leiden des Menſchen iſt
ungeheuer, iſt eben ſo wenig zu zaͤhlen, wie
der Sand am Meere, aber jedes gefuͤhl-
[176] volle Herz wird beiſtimmen muͤſſen, daß
das Leiden der Graͤfin unter der unzaͤhlbaren
Zahl das groͤßte und ſtaͤrkſte war. Wer hier
nicht die Gewißheit eines ewigen Lohns uͤber-
zeugend fuͤhlt, der verdient zu leiden wie ſie,
und ohne Ausſicht, ohne Hofnung eines Lohns
verzweifelnd zu ſterben.
Ich muͤßte das Herz meiner Leſer nur mit
groͤſſerer Trauer fuͤllen, wenn ich fortfahren
wollte, ſo umſtaͤndlich zu erzaͤhlen, ich will
mich daher ſo kurz als moͤglich faſſen: Da der
Anblick der Graͤfin und ihrer Kinder dem wahn-
ſinnigen Grafen nur Quaal und Pein verur-
ſachte, ſo mußte man ihn im zweiten Wagen
allein fahren laſſen. Immer hofte man da-
mals noch auf Beſſerung, verſuchte ſtets neue
Mittel zur Ueberzeugung, aber vergebens.
Der Ungluͤckliche ließ ſich zwar willig nach ſei-
nem Schloſſe fuͤhren, aber der Anblick deſſel-
ben, der Willkomm ſeiner treuen Diener und
Bauern
[177] Bauern machte keinen Eindruck auf ihn, er
ſchien keinen zu kennen, aber wenn ſich ſeine
Gattin, ſeine Kinder nahten, da bebte er ſtets
erſchrocken empor, und rief aus: Seht ihr,
ſeht ihr den Geiſt! Er winkt mir, ich ſoll fol-
gen!
Sehnſuchtsvoll ſah die liebende Gattin in
der Folge jedem Arzte, den ſie aus der Naͤhe
und Ferne holen ließ, entgegen, wie aber viele
derſelben ihre Kunſt fruchtlos an dem Pazien-
ten verſchwendeten, und endlich alle einſtim-
mig erklaͤrten, daß keine Huͤlfe mehr moͤglich
ſei, da ward die Wunde ihres Herzens zum
freſſenden Krebſe, unheilbare Abzehrung nagte
an ihrem Koͤrper, nach drei langſam durch-
ſchmachteten Jahren endete der Tod ihr nam-
loſes Leiden. Als ſie begraben wurde, fuͤhrte
man den ungluͤcklichen Wahnſinnigen nach dem
Rathe des Arztes zu ihrem Sarge. Er hofte
wahrſcheinlich, daß dieſer Anblick ihn erſchuͤt-
Biogr.d. W.4r Bd. M
[178] tern ſolle, aber der Endzweck ward nicht er-
reicht, er ſchien die Tode nicht mehr zu ken-
nen, er blickte traurig nach dem Sarge, aber
er war auch der Einzige unter den Anweſen-
den, welcher der Verklaͤrten keine Thraͤne
weihte. Wie ſeine Kinder im ſchwarzen Trau-
erkleide ſich nahten, da floh er unaufhaltſam
fort, und verſank wieder in ſeine gewoͤhnliche
Schwermuth.
Er ward ſiebzig Jahre alt, er verließ ſein
Zimmer aͤuſſerſt ſelten, und kannte in den lez-
ten zehn Jahren ſeines Leidens ſeine Kinder
nicht mehr. Man fand ihn an einem Morgen
todt im Bette, ein Schlagfluß hatte ſein Le-
ben, ſein Leiden geendet. Er ruht an der
Seite ſeiner Gattin, und wird izt dort — wo
kein Zufall, kein Wahnſinn die Freude truͤbt —
den Lohn ſeiner Leiden in Fuͤlle genuͤſſen.
[179]
Hanns K—, Bauer zu M—.
Als noch finſtrer Aberglaube das —ſche Land
deckte, Aufklaͤrung nur auf den Zinnen und
Anhoͤhen ſchwankend umherwandelte, lebte in
einem Dorfe deſſelben ein junger, aber reicher
Bauer. Er lebte ruhig und zufrieden, weil
ihm Gott ein Weib beſchert hatte, das ihn
innig liebte, alle Jahre ein geſundes Kind ge-
bahr, und die groſſe Haushaltung emſig und
klug fuͤhrte. Er ſah, und jeder ſeiner Nach-
barn ſahs mit ihm, wie ſich jedes Jahr ſeine
M 2
[180] Einnahme durch den reichern Ertrag ſeiner
Felder vermehrte, ſeine Ausgabe durch die
kluge Wirthſchaft ſeiner Frau verminderte.
Selbſt, als in dem ungluͤcklichen ein
und zwei und ſiebenzigſten Jahre unſers bei-
nahe vollendeten Jahrhunderts allgemeiner
Mißwachs die allgemeine Klage aller Landwir-
the war, gaben ihm ſeine wohlgepflegten Fel-
der doch eine mittelmaͤſſige Erndte, er konnte
ſein Geſinde mit eignem Brode ſpeiſen, und
uͤberdies noch einen maͤſſigen Ueberfluß verkau-
fen. Wie im zweiten Hungerjahre die herr-
lich gruͤnenden Aecker die reichſte Aerndte ver-
ſprachen, lag wuͤrklich noch erſparter Vorrath
auf ſeinem Boden. Er widerſtand hartnaͤckig
dem immer hoͤher ſteigenden Anbote der Auf-
kaͤufer, welche damals alle Doͤrfer durchzogen,
um die noch kleinen Vorraͤthe aufzukaufen, und
[181] nach den Staͤdten zu fuͤhren, wo man aus
Noth zahlte, was die heißhungrige Gewinn-
ſucht forderte. Er hatte mit ſeinem Weibe
beſchloſſen, all ſein Getraide in den Graͤn-
zen des Dorfs an die armen Inſaſſen und
Tagloͤhner um einen niedrigern Preiß zu ver-
kaufen, er erfuͤllte ſein Geluͤbde, und beide
Eheleute hoften, daß dies gute Werk der Al-
lesbelohnende einſt reichlich vergelten werde.
Wie die Erndte ſich ſchon nahte, und tauſend
Hungrige den Tag der Reife mit banger Sehn-
ſucht erwarteten, hatte auch Hanns ſeinen
ganzen Vorrath auf dieſe Art verkauft, nur
noch zwei Scheffel Waizen lagen auf ſeinem
leeren Boden, welche die kluge Hausfrau nebſt
dem noͤthigen Beduͤrfniſſe noch zuruͤckgelegt
hatte, um in der Erndte die kraftloſen Lohn-
arbeiter mit guter und nahrhafter Mehlſpeiſe
ſtaͤrken zu koͤnnen.
Eben wollte Hanns aus dieſer Abſicht den
Waizen nach der Muͤhle fuͤhren, als ein be-
kanter Baͤcker bei ihm einſprach. Ich laufe
[182] nun, ſprach dieſer, ſchon drei Tage lang nach
einigen Scheffeln Waizen umher, und kann
keine Metze mehr auftreiben. Das Kloſter zu
L—, welches ich lange Jahre ſchon mit Sem-
meln verſah, fordert mit Ungeſtuͤm die Erfuͤl-
lung meines Kontrakts, ich habe dem Kloſter
mein ganzes Vermoͤgen zu danken, ich ſehe izt
nicht auf Gewinn, nur auf Erfuͤllung meines
Wortes, und wuͤrde mir gerne jeden Preis
gefallen laſſen, wenn ich nur einige Scheffel
erkaufen koͤnnte. Lieber Hanns, koͤnnt ihr mir
nicht helfen?
Hanns. Ich habe nur noch zwei Schef-
fel.
Baͤcker. Genug indeß, weil ich in eini-
gen Tagen Waizen aus H— erwarte.
Die Frau. Aber dieſen Waizen koͤnnen
wir nicht verkaufen, denn er iſt fuͤr unſre
Schnitter beſtimmt.
[183]
Baͤcker. Ob dieſe weiſſe oder ſchwarze
Kloͤſſe eſſen, ihnen gilts gleich, wenn ſie nur
ſatt werden. Verkauft mir den Waizen, ich
zahle euch zwanzig Thaler fuͤr den Scheffel.
Die Frau. Es kann nicht ſeyn. Der
arme Tagloͤhner ißt auch gerne etwas Gutes.
Wie ſoll man Arbeit von ihm fordern, wenn
man ihn nicht mit nahrhaften Speiſen ſtaͤrkt?
Baͤcker. Ich zahle den Scheffel mit fuͤnf
und zwanzig Thaler. Kauft den Schnittern
Fleiſch dafuͤr, das ſtaͤrkt kraͤftiger und beſſer.
Die Frau. Das ſind ſie nicht gewohnt,
das ſchadet mehr, als es nuͤzt.
Baͤcker. Laßt euch doch erbitten, ich ge-
be dreiſig Thaler! Denkt, daß es fuͤr Gott-
geweihte Menſchen gehoͤrt, die euer in ihrem
Gebete gedenken werden.
[184]
Der Preis, welchen der Baͤcker bot, war
auſſerordentlich, und die Vermuthung gewiß,
daß er in einigen Wochen zwanzig mal ſo viel
kaum ſo theuer zahlen wuͤrde. Hanns ſah bei
dem lezten Antrage des Baͤckers ſein Weib
fragend an, ſie nickte mit dem Kopfe, und
Hanns ging den Handel ein. Der Becker nahm
den Waizen, zahlte ſechszig Thaler, und dank-
te dem Verkaͤufer noch oft, daß er ihn aus
ſeiner Verlegenheit gerettet habe.
Um aber dem Kloſter zu beweiſen, wie
viel er aufofere, ihre Kundſchaft auf weitere
Jahre zu erhalten, ermaugelte er nicht, dem
Vorſteher deſſelben ſeinen Kauf zu erzaͤhlen,
und zur mehrern Bekraͤftigung den Verkaͤufer
zu nennen.
Hanns und ſein Weib lebten von jeher
ſehr gottesfuͤrchtig; beide erfuͤllten, weil ſie in
aͤchtet und wahrer Religion nicht unterrichtet
[185] waren, mit ſeltner Strenge alles auſſerordent-
liche Zeremoniel derſelben. Sie gingen jeden
Sonn- und Feiertag nach dem nahen Kloſter,
um dort nicht allein das groſſe, hohe Amt,
(eine geſungene Meſſe) ſondern auch die Predigt
zu hoͤren. Gluͤhende Roͤthe verbreitete ſich auf
ihrem Angeſichte, bleiche, angſtvolle Todten-
blaͤſſe folgte derſelben, als am folgenden Sonn-
tage der Prediger eben uͤber den Wucher ei-
ferte, welcher bei itziger Theuerung und Hun-
gersnoth die Herzen der Reichen fuͤlle, und zu
Suͤnden verleite, welche der barmherzigſte und
langmuͤthigſte Gott ſchrecklich ſtrafen muͤſſe.
Ein reicher Bauer, rief er aus, hat ſich
erſt vorige Woche erfrecht, die hoͤchſt noͤthigen
Beduͤrfniſſe unſers armen Kloͤſterleins auf die
gottloſeſte Art zu benuͤtzen. Den Dienern
Gottes, den Fuͤrbittern des Menſchen hat er
einen Scheffel Waizen fuͤr dreiſig Thaler ver-
kauft! Hat ſich durch die Vorſtellung, daß
[186] wir hungern, daß wir ſchmachten, nicht bewe-
gen laſſen, nur einen einzigen Pfennig weni-
ger anzunehmen! Der gottloſe Wucherer ver-
diente, daß ich ſeinen Namen hier oͤffentlich
nennte, daß ich ihn mit dem Banne der Kir-
che belegte, daß ich ihn gleich einem Zoͤllner aus
der Verſammlung der Glaͤubigen verjagte;
aber ich will Gott nachahmen, ich will barm-
herzig ſeyn, wie er, ich will vergeben und ver-
geſſen; nur iſt es meine Pflicht, ihn zu war-
nen, daß er verſoͤhne, daß er bereue, damit
er einſt nicht in den Hoͤllenpfuhl geworfen wer-
de, wo Heulen und Zaͤhnklappen ihn erwartet,
aus dem keine Erloͤſung zu hoffen iſt.
Haͤtten Hannſens Nachbarn und Freunde
nur irgend einen Verdacht des Wuchers gegen
ihn in ihrem Herzen geheegt, waͤren ſie nicht
vielmehr vom Gegentheile uͤberzeugt geweſen,
ſie wuͤrden ſeine That, die der Prediger ſo
hart ruͤgte, ſogleich in ſeinem Geſichte geleſen,
[187] aus ſeinem Betragen vermuthet haben. Er
wankte troſtlos aus der Kirche, ſein Weib
folgte eben ſo. Zu Hauſe weinten und beteten
ſie den ganzen Tag, und beſchloſſen in der fol-
genden ſchlafloſen Nacht ihre ſchreckliche Suͤnde
zu beichten, und die fuͤr den Waizen erhaltnen
ſechzig Thaler zur Verſoͤhnung dem Herrn zu
opfern. Ihre Beichte ward am andern Tage im
Kloſter angehoͤrt, des Suͤhnopfer angenommen,
und beiden Vergebung zugeſichert, wenn ſie in
der Folge auch durch neue Opfer beweiſen wuͤr-
den, daß ihr Vorſatz, ſich zu beſſern, wahrer
Ernſt ſei.
Noch immer aͤngſtigte Furcht und Angſt
das Gewiſſen der Aermſten, als aber am fol-
genden Sonntage der eigennuͤtzige Prediger
bewies, daß die Freude im Himmel uͤber einen
Suͤnder, der Buſſe thue, groͤſſer ſei, als uͤber
neun und neunzig Gerechte, die der Buſſe
nicht beduͤrfen, und nun die Reue, das Suͤhn-
[188] opfer des wucheriſchen Bauern oͤffentlich erzaͤhl-
te, ihn wieder aufnahm in den Bund der Gna-
de, in die Gemeinſchaft der allein ſelig machen-
den Kirche, da wich Furcht und Angſt, da
glaubte der arme Hanns zuverſichtlich, daß
auch Gott vergeben und vergeſſen werde. Mit
dieſer Ueberzeugung ging er wieder wohlgemu-
thet an ſeine Arbeit, und die gute Hausfrau
machte es ſich zur unverbruͤchlichen Regel, alle
Erſtlinge der Fruͤchte und des Viehs im Klo-
ſter dem Herrn zu opfern.
Im folgenden Winter bekamen Hannſens
Kinder die Blattern, zwei Knaben ſtarben,
die uͤbrigen entgingen dem Tode nur mit Muͤ-
he. Eines ſeiner beſten Pferde brach kurz
nachher den Fuß, und einen fetten Maſtochſen
fand man am Morgen tod im Stalle. Der
Tod der geliebten Kinder kraͤnkte das Herz des
Vaters, der Verluſt des Viehes machte den
ſonſt ſo gluͤcklichen Wirth aͤuſſerſt traurig. Er
[189] trug mit ſeinem Weibe haͤufigere Opfer nach
dem Kloſter, er betete mit ihr emſiger und
anhaltender in der Kirche deſſelben, und hofte
dadurch Gottes Zorn zu verſoͤhnen, als aber
im folgenden Sommer ein ſtarker Wolkenbruch
ſeine grasreichen Wieſen uͤberſchwemte, hoch
mit Stein und Sand bedeckte, da glaubte er
feſt und ernſtlich, daß die Fuͤrbitte des belei-
digten Kloſters nicht wuͤrken koͤnne, daß er
ſtaͤrkere und kraͤftigere ſuchen, und Gottes
Zorn durch ſtrengere Buſſe verſoͤhnen muͤſſe,
wenn er Haus und Hof erhalten wolle.
Sein Beichtvater, ein einfaͤltiger, dum-
mer Moͤnch, deſſen Rath er heiſchte, beſtaͤrk-
te ihn in ſeinem falſchen Glauben, und er-
theilte ihm den heilſamen Rath, nach einem
zwar entfernten, aber um ſo beruͤhmtern Klo-
ſter zu wallfahrten, wo man Macht und Ge-
walt habe, die groͤßten Verbrechen zu verſoͤh-
nen, und den ruchloſeſten Suͤnder ſo weiß zu
[190] waſchen, daß auch die ſtrenge Gerechtigkeit
Gottes keinen Flecken an ihm entdecken koͤnne.
Es wird euch, fuͤgte der fuͤrs Beſte ſeines Or-
dens ſorgende Moͤnch, zwar einige Thaler ko-
ſten, aber dafuͤr entgeht ihr auch ſtaͤrkerm
Verluſte und groͤſſerer Gefahr.
Hans, der nur Rettung, ſey ſie auch
noch ſo koſtbar, wuͤnſchte und ſuchte, gelobte
ſogleich die Wallfahrt. Ehe ich ihm aber dahin
folge, muß ich zuvor erzaͤhlen, durch welche
Huͤlfsmittel ſich dieſes Kloſter den ſo großen
Ruf erworben hatte, und wie die Moͤnche deſ-
ſelben handelten, um die Buͤſſenden in dem
ſchrecklichen Irrwahne zu beſtaͤrken, daß man
durch ein oft wiederholtes Gebet und durch
Opfer, welche man darbrachte, Mord und
Todſchlag verſoͤhnen, und die ſcheuslichſten
Verbrechen der ausgearteten Menſchheit ins
Meer der Vergeſſenheit ſenken koͤnne. Ich
werde mich bei dieſer Erzaͤhlung aͤuſſerſt beſ[er] [...]-
[191] den, den unbefangenen Geſchichtſchreiber nach-
zuahmen, der nur das erwieſene, hiſtoriſch
richtige Faktum darſtellt, es mit keiner
Schminke beſudelt, aber auch keine Schminke
duldet. Groß ſind oft die Thaten des Aber-
glaubens, aber auch eben ſo verheerend ſeine
Wuͤrkungen! Wollte Gott, ich koͤnnte mit
Gewißheit ſagen: Sie warens! Wollte Gott,
ich muͤßte nicht mit geſenktem Blicke geſtehen:
Sie ſinds noch!
In den angenehmen, ſo laut Gottes Groͤſ-
ſe und Allmacht verkuͤndigenden Thaͤlern des
T—Landes, liegt ein groſſes, ſehr ſchoͤnes
Kloſter. Es lehnt ſeine hohen und ſtolzen
Mauern an einen Berg, deſſen Gipfel ewiger
Schnee, ewiges Eis deckt, es blickt dem muͤ-
den Pilger einladend durchs enge Thal entge-
gen, es wuͤrde die Bewunderung eines jeden
Wanderers erregen, wenn nicht eben ſeine
Lage am deutlichſten bewieſe, daß des Men-
[192] ſchen groͤßtes Werk, die kleinſte Kleinigkeit
ſey. Alle die weitlaͤufigen Gebaͤude, alle die
hohen, glaͤnzenden Thuͤrme ſchwinden in einen
unmerkbaren Punkt zuſammen, wenn man ſie
mit der Allmachtsgroͤſſe des Schoͤpfers ver-
gleicht, wenn man ſie mit den ungeheuern
Bergen mißt, die ſeine ſtarke Hand hieher
ſezte. Der dumpfe, durchdringende Ton der
Glocken, welche des Kloſters Thuͤrme zieren,
fliegt dem horchenden Ohre unhoͤrbar voruͤber,
wenn der Donner zwiſchen den Felſen rollt,
oder die groſſen Eisklumpen ins wilde Thal
hinabſtuͤrzen, daß die Erde bebt, und der
Schall in den Kluͤften umherbruͤllt.
Vor fuͤnfhundert Jahren baute hier ein
Buͤſſender ſeine einſame Zelle, und ſtarb im
Rufe der Heiligkeit. Im ſpaͤtern Jahrhunder-
te gab dies einigen wandernden Moͤnchen Gele-
genheit, hier ein Kloͤſterlein zu ſtiften, wel-
ches nach und nach die ſterbenden Edeln des
Landes
[193] Landes reichlich begabten. Ehe die Haͤlfte ei-
nes neuen Jahrhunderts verfloß, wandelte
dieſe Vergrabung das hoͤlzerne Thuͤrmlein in
einen hohen Thurm um, deſſen Quaderſteine
weit ins Thal hinabglaͤnzten, die niedern Zel-
len der Moͤnche erweiterten ſich in hohe, lufti-
ge Gemaͤcher, die Raum genug hatten, ein
Duzend Zecher und luſtige Trinker zu faſſen.
Schon damals ging die Sage durchs Land,
daß man ſich in dieſem Kloſter von allen ſeinen
Suͤnden reinigen, die ſchwerſte Laſt von Herz
und Gewiſſen wegbeten koͤnne, weil der erſte
Stifter dieſes Kloſters, ein Erzgauner, ein
verruchter Boͤſewicht, hier nicht allein Verge-
bung erflehte, ſondern auch Kraft erhielt,
Wunder zu wuͤrken, Kranke zu heilen und
Teufel auszutreiben.
Dieſe Sage, welche manchen am Rande
des Lebens ſchaudernden Suͤnder zur neuen
Vergabung reizte, war ganz gewiß die Urſache,
Biogr. d. W. 4r Bd. N
[194] daß die immer ſich mehrenden, immer uͤppiger
lebenden Moͤnche ſich nach und nach in den Au-
gen der unwiſſenden Laien zu Heiligen erhoben,
die jedes Andenken der ruchloſeſten Miſſethat
tilgen, jedes Verbrechen verſoͤhnen koͤnnten.
Lange herrſchte dieſer blinde Glaube im Lande,
und naͤhrte die Moͤnche reichlich, als aber an-
dere Kloͤſter erbaut wurden, und ſich des nem-
lichen Vorzugs ruͤhmten, da ſuchte der Reuen-
de nicht mehr in der Ferne, was er in der Naͤ-
he fand, und die Einnahme des ſonſt ſo be-
ruͤhmten Kloſters verringerte ſich um ein
groſſes.
Damals theilten ſich bruͤderlich, in den ſo-
genannten Spekulationshandel, Moͤnche und
Juden. Beide betrogen wakker, nur mit dem
Unterſchiede, daß der Erſtere ſeinen treuherzi-
gen Kaͤufer immer nur kuͤnftiges Gut verkauf-
te, da der Leztere doch immer, wenn er auch
noch ſo viel gewann, etwas Reelles liefern
[195] muſte. Hoch geehrt wurde in jedem Kloſter
derjenige Moͤnch, welcher den Mechanismus
dieſes eintraͤglichen Handels vollkommen ver-
ſtand, und ſich in der lezten Lebensſtunde, wo
man ſo gerne fuͤr allen irrdiſchen Tand jenſeiti-
ge Gewißheit kaufen moͤchte, als ein geiſtlicher
Wucherer bewies. Dieſe Maͤkler konnten dann
ſicher auf Ehrenſtellen rechnen, aus ihnen ward
immer der geſchickteſte zum Abte erwaͤhlt.
Eben wie man aus Mangel des geiſtlichen
Wechſelnegozes im Kloſter zu T — taͤglich eine
Speiſe weniger auf die Tafel ſetzen muſte, nur
vier, ſtatt ſechs Becher Wein leeren konnte,
ſtarb der alte, unthaͤtige Abt, und einer der
geſchickteſten Maͤkler behauptete ſeinen Plaz.
Er unterſuchte mit Forſcherblick den Verfall der
kloͤſterlichen Einkuͤnfte, er blickte durchs lange
Thal hinab, ins tiefe Deutſchland hinein und
uͤberzeugte ſich deutlich, daß im fetten Boden
des Aberglaubens die Kloͤſter wie Pilze empor
N 2
[196] gewachſen, in jedem derſelben Wechſelbanken
errichtet waren, die von der paͤpſtlichen Kam-
mer gegen aͤuſſerſt billige Prozente privilegirt
wurden, unter eigner Firma Anweiſungen auf
den unerſchoͤpflichen Gnadenfond des ewigen
Jenſeits auszuſtellen. Er ſann nach, wie er
allen dieſen Nebenbuhlern den Rang abgewin-
nen, wie er den idealiſchen Gewinn des Kaͤu-
fers verſinnlichen, anſchauend darſtellen, und
dadurch die Kaufluſtigen aus der Naͤhe und Fer-
ne herbeylokken koͤnne.
Und ſieh da, ſein Wunſch gelang vollkom-
men, ſein Projekt uͤbertraf ſelbſt die kuͤhne
Erwartung eines jeden Moͤnches. Er baute,
um ſeinen Entzweck zu erreichen, in der Kir-
che des Kloſters ein neues Hochaltar, *)
[197] hinter dem Tabernakel deſſelben, ließ er eine
große, viereckichte Oefnung woͤlben, in welche
er nichts mehr und nichts weniger, als eine
ſimple Laterna magika ſtellte, deren Bilder
man nach Gefallen, ohne von dem Poͤbel geſe-
hen zu werden, in dem Innern des Altars
verwechſeln konnte. Ein Bild, welches den
ofnen Hoͤllenrachen mit allen ſeinen Attributen
à la Kochem vorſtellte, ein anderes, welches
den Heiland der Menſchen, wie er eben blu-
tend am Kreuze verſchied, und ein drittes,
welches die Seligkeiten des Himmels nach irr-
diſchen Ideen ſehr reizend abbildete, waren die
drei weſentlichſten Vorſtellungen, mit welchen
er dieſe Laterna magika auszierte.
Wenn nun in der Folge ein Suͤnder im
Beichtſtuhle erſchien, ſo war ſein Beichtvater
ſchon unterrichtet. Iſt deine Reue, ſprach er
dann zum Beichtenden, aͤcht und rein, ſo iſt
mir Gewalt gegeben, dich der Suͤnde und
[198] Strafe zu entbinden. Doch vorher will ich dir
Gelegenheit goͤnnen, dich von deinem jetzigen
Zuſtande zu uͤberzeugen. Geh hinter den ho-
hen Altar, ſteige fuͤnf Stufen in die Hoͤhe,
blicke ins Allerheiligſte, und bringe mir Nach-
richt: Was du ſahſt! — — Zitternd und be-
bend kehrte dann immer der Suͤnder zuruͤck,
denn es war ſchon feſt geſezt, daß er zum er-
ſtenmale den ofnen Hoͤllenrachen ſehen muſte,
in welchen eben einige feuerſpruͤende Teufel eine
arme Seele einfuͤhrten. Ja, ja! verlohren,
verdammt biſt du, entgegnete dann immer der
Beichtvater dem zagenden Buͤßer, muſt ſtracks
zur Hoͤlle wandern, wenn du nicht aͤchte Buße
thuſt, nicht eifrige Fuͤrbitter waͤhlſt! — —
Welcher Nothleidende und Huͤlfsbeduͤrfige
haſcht nicht gerne nach den Leztern, er heiſchte
ſie ſtets dringend, und da man ſich hienieden
nicht gerne vergebens bemuͤht, ſo ward allemal
der Vermoͤgensſtand des Bußfertigen ſorgfaͤltig
[199] gepruͤft, und dann das Opfer feſtgeſezt, wel-
ches er dem Kloſter darbringen muſte, wenn
es dagegen ſein eifriger Fuͤrbitter werden ſollte.
Der Buͤſſende ward, wenn er dies erlegte,
auf drei, ſechs, auch zehn und zwanzig Tage
zur Geduld verwieſen, muſte dieſe Zeit hin-
durch fleiſſig in der Herberge des Kloſters zeh-
ren, emſig in der Kirche deſſelben beten, und
genoß dabei die ſuͤſſe Hofnung, daß alle Gebe-
te, alle Meſſen, welche unter dieſer Zeit von
den Moͤnchen geſprochen und geleſen worden,
zu ſeiner Verſoͤhnung kraͤftiglich wuͤrken wuͤr-
den.
War nun die Pruͤfungszeit vollendet, ſo
erſchien der Suͤnder wieder im Beichtſtuhle,
und ward ſogleich zum zweiten Blicke ins Aller-
heilige verwieſen. Er ſah dann gemeiniglich
den ſterbenden Heiland am Kreuze. Frohlok-
kend rief alsdann der Moͤnch dem ruͤckgekehrten
Erzaͤhler zu: Gluͤcklicher Sterblicher, dein
[200] Heiland will dein Vermittler werden, will mit
ſeinem koſtbaren Blute deine Suͤnden abwa-
ſchen, will dich mit dem ſtrengen, vaͤterlichen
Richter verſoͤhnen. Halte an, im Gebete,
opfere noch mehr, und du wirſt gereinigt von
deinen Miſſethaten von hinnen ziehen!
Der Suͤnder befolgte den Auftrag puͤnkt-
lich, kehrte zur beſtimmten Zeit zuruͤck, ſah
zum leztenmale ins Allerheilige, und ſah
dann gemeiniglich den ofnen Himmel, zu wel-
chem eine weiſſe Taube empor flog, die viele
Engel mit ofnen Armen erwarteten. Die weiſ-
ſe Taube, ſprach nun der Beichtvater, iſt
deine von allen Suͤnden und Verbrechen gerei-
nigte Seele, ſo wird ſie ſchnur ſtracks gen
Himmel fahren, wenn du izt ſtirbſt, oder in
der Folge nicht mehr ſuͤndigſt! Gehe in Frie-
den, deine Suͤnden ſind vergeben und ver-
ſoͤhnt. Du biſt nun ein ſicherer und kuͤnftiger
Bewohner des Himmels!
[201]
Man ſetze ſich nun in die Lage des armen
Suͤnders, man denke ſich nun den feſten Glau-
ben deſſelben, und fuͤhle Freude und Wonne
mit ihm! Kein Gewiſſensbiß nagt mehr an
ſeinem Herzen, keine Laſt aͤngſtigt und quaͤlt
es mehr, er hat ſich mit eignen Augen uͤber-
zeugt, daß er gereinigt ſey von allen ſeinen
Suͤnden, daß er im Himmel mit ofnen Armen
erwartet werde. Ganz natuͤrlich wars nun,
daß er aus Dankbarkeit der Verkuͤndiger der
groſſen Wunder wurde, welche die Moͤnche zu
T — taͤglich uͤbten, daß er jeden, den ſein
Gewiſſen aͤngſtigte, zur vollkomnen Verſoͤh-
nung dahin verwies.
Ehe zwei Jahre verfloſſen, ſprach ſchon
halb Deutſchland von der wunderthaͤtigen
Macht des Kloſters, ehe das dritte endigte,
wallfahrteten ſchon alle, die mit ſchweren Suͤn-
den beladen waren, dahin, um gereinigt und
verſoͤhnt ruͤckkehren zu koͤnnen. Ueberfluß und
[202] Genuß aller Delikateſſen herrſchte bald in
dieſem Kloſter, und da der Abt klug genug
war, die Brodſamen, welche vom Tiſche ſei-
ner ſchwelgenden Moͤnche herabfielen, unter
die nahen und entfernten Kloͤſter ſeines Ordens
bruͤderlich zu vertheilen, ſo wurden dieſe aus
Dankbarkeit die Lobredner des unerſchoͤpflichen
Gnadenquells, welcher im Kloſter zu T —
zum Troſte und zur Erquickung der bußfertigen
Suͤnder entſprungen ſey, und ſtets reichlich
hervorſtroͤme. Das elende Kunſt- und Trug-
ſtuͤck des Abts ward mit dem Teiche Bethſaida
verglichen, und jenem der Vorzug noch uͤber
den lezten eingeraͤumt, weil man dort nicht
Jahre nur Tagelang harren mußte, um ge-
heilt und geſund heim zu gehen.
Da die Erfindung des Abts ſo herrliche
Fruͤchte brachte, ſo ward ſie in der Folge weit
ſtaͤrker vermehrt und verfeinert. Man ſtellte
[203] in dieſe Laterna magika noch viele andere Bilder,
welche, je nachdem der Spaͤhende reich oder
arm war, die Verſoͤhnung verzoͤgerten oder
befoͤrderten. Oft, wenn er vor dem ofnen Hoͤl-
lenrachen zuruͤckbebte, und wieder hinzutrat,
ſah er erſt die Quaalen des Fegfeuers, und
wenn er ſich durch neue Opfer aus dieſem erret-
tet hatte, fand er einen betenden Heiligen,
der fuͤr ihn mit erhabnen Armen zum Himmel
flehte. Neue Opfer brachten ihn dann endlich
dem Himmel naͤher.
Um Ordnung unter der Menge der Beich-
tenden zu erhalten, ward in der Folge der ſo
wunderthaͤtige Kaſten verſperrt, und der Suͤn-
der, welchem ein Blick darein vergoͤnnt wurde,
erhielt erſt aus der Hand ſeines Beichtvaters
den Schluͤſſel dazu. Aufmerkſame Beobachter
wollen [wahrgenommen] haben, daß ein gehei-
mer Glockenzug dann immer den Direktor der
[204] Maſchine unterrichtete: Welches Bild er dem
Kommenden darſtellen ſollte.
Wahr und gewiß iſt es uͤbrigens, daß
ſich dieſe Taͤuſchung bis in unſer Jahrhundert
erhielt, daß ſie noch vor einigen Jahren, oh-
ne Hinderniß, ohne Entdeckung zu befuͤrchten,
fortwuͤrkte!!! Der denkende Reiſende erſtaunt
mit vollem Rechte, wenn er dies Kinderſpiel
beherzigt, ſeine groſſe, oft auch ſchreckliche
Wuͤrkung uͤberdenkt. Die Pracht der Kirche iſt
groß, die Schazkammer derſelben, der Werth
der goldnen und ſilbernen Opfer uͤberſteigt alle
Erwartung. Pilger aller Nazionen verſam-
meln ſich dort, und finden in den haͤufigen
Beichtſtuͤhlen ihrer Sprache kundige Moͤnche,
die noch immer ungeſcheut das Spiel des finſter-
ſten Aberglaubens forttreiben. Es iſt unglaub-
lich, aber es iſt noch weit unglaublicher, daß
es wahr iſt!
[205]
Zu dieſem Kloſter wallfahrtete nun der
arme, geaͤngſtigte Hanns. Um fruͤher Verge-
bung ſeiner Suͤnde zu erlangen, um groͤſſere
Strafe von ſeinem Hauſe und Hofe abzuwen-
den, ſattelte er ſein beſtes Pferd, und trabte
anhaltend fort. Leicht und wohl wards ihm
ums Herz, als er von Ferne die Zinnen des
Kloſters erblickte, zagend und hoffend, fuͤrch-
tend und zweifelnd wankte er zum Hochaltar,
als ſein Beichtvater ihm den Schluͤſſel reichte.
Er oͤfnete zitternd die Thuͤre, blickte hinein,
ſah den ofnen Hoͤllenrachen, und die feuer-
ſpruͤhenden Teufel, welche ſeine Seele ohne
Barmherzigkeit in den Feuerpfuhl verſenkten.
Dieſer ſchreckliche, unerwartete Anblick raubte
dem Ungluͤcklichen auf der Stelle ſeinen Ver-
ſtand, er war mit der feſten Ueberzeugung hie-
her gereiſt, daß er nur hier Vergebung ſeiner
ſchweren Suͤnde erlangen koͤnne, er hatte mit
vollem Rechte Troſt, wenigſtens Hofnung er-
wartet. Der ſchreckliche Anblick raubte ihm
[206] beides. Du biſt ewig verdammt! ſchallte es
in ſein Ohr und drang durch alle Nerven. Ich
bin ewig verdammt! lallte ſein Mund, er
eilte aus der Kirche, und wie ſein Beichtva-
ter nach ihm fragte, war er ſchon aus der Ge-
gend verſchwunden.
Erſt nach ſechs langen Wochen, kehrte er
zur harrenden Gattin heim. Sein armes
Pferd, das matt unter ihm wankte, auf zwei
Fuͤſſen hinkte, und aͤuſſerſt mager war, er-
kannte wahrſcheinlich die nahe Heimath, durch
welche der arme Wahnſinnige eben ziehen woll-
te, und trug ihn zum Stalle, in welchem es
beſſere Pflege kannte. Hier fand es am Abende
der Knecht, und ſeinen Herrn auf dieſem, er
mußte ſich muͤhen, ihn fuͤr dieſen zu achten,
weil die wilden, ſtarren Blicke den Ungluͤckli-
chen aͤuſſerſt verſtellten. Sein Geſchrei: Der
Hauswirth iſt heimgekehrt! erregte anfangs
Freude im ganzen Hauſe, alle eilten ihm mit
[207] ofnen Armen entgegen, aber alle ſchauderten
zuruͤck, als er ſie mit fuͤrchterlichen Blicken an-
grinzte, als er ihnen zurief: Ich bin ver-
dammt, und ihr alle ſeyd verdammt!
Nur mit Gewalt konnte man ihn nach der
Stube ſchleppen, man mußte an ſeinem Lager
wachen, weil er immer entfliehen wollte.
Schon am dritten Tage raßte er fuͤrchterlich,
und die trauernde Gattin konnte es nicht hin-
dern, als man ihn mit Ketten feſſelte, weil
ſie fuͤr das Leben ihrer Kinder zagte, die er
einigemal erwuͤrgen wollte, um den hungrigen
Teufel damit zu fuͤttern, welcher ſeiner Ein-
bildung nach, ſtets mit ofnen Krallen vor ihm
ſtand. Das Bild der Hoͤlle ſtand feſt vor ſei-
ner Seele, ſein Weib und ſeine Kinder konn-
ten es nicht wegbeten, kein Arzt die Quaalen
lindern, welche der immer dauernde Anblick
ihm verurſachte. Ich bin verdammt! Dies
waren die einzigen Worte, welche er ſtets und
[208] endlich ſo ſchrecklich, ſo fuͤrchterlich ausſprach,
daß niemand ſich ihm mehr nahen, keiner ihn
pflegen wollte.
Vergebeus verſuchten es die Moͤnche, die
Wunde zu heilen, welche ſie ſelbſt geſchlagen
hatten. Wenn ſich einer ans ihnen dem Un-
gluͤcklichen nahte, ſo raßte er ſchrecklich, und
klammerte ſich feſt an ſein Lager an, weil er
wahrſcheinlich den Moͤnch fuͤr den Teufel nahm,
und waͤhnte, daß er ihn zur Hoͤlle ſchleppen
wolle. Dies gab in der Folge Gelegenheit,
den armen Wahnſinnigen fuͤr einen Beſeſſenen
zu achten, den kein Prieſter retten und erloͤ-
ſen koͤnne, weil er ſich durch ſtraͤflichen Wucher
zu ſchwer an ihnen verſuͤudigt habe. So fand
der Aberglaube ſelbſt in ſeiner ſchrecklichen Wuͤr-
kung neue Nahrung, und errichtete ſich einen
Thron auf dem Ruͤcken des Elenden, den er
vorher zu Boden getreten hatte.
Die
[209]
Die Anverwandten des Ungluͤcklichen er-
fuhren nie die eigentliche Urſache ſeines Wahn-
ſinnes, ſie waͤhnten nur, daß ſein Verbre-
chen ihm ſchon fruͤher den Verſtand verwirrt
habe, ehe er ſeine Wallfahrt vollendete, und
den Gnadenort erreichte. Die Moͤnche be-
ſtaͤrkten ſie in dieſer Meinung, und nahmen
ohne Scheu die haͤufigen Opfer an, welche
ihnen die arme Gattin darbrachte, um das
Leiden ihres Mannes zu mildern.
Er ſtarb erſt nach funfzehn Jahren, er
duldete hienieden noch ſchreckliche Pein, er
ſtarb in einem heftigen Anfalle von Raſerei,
und ging in eine beſſere Welt hinuͤber, wo
kein Moͤnchstrug das hellſehende Auge blendet,
wo er den gerechten, aber auch barmherzig-
ſten Richter fand, den haabſuͤchtige Prieſter
oft als den groͤßten Tirannen ſchildern.
Biogr. d. W. 4r Bd. O
[210]
O die Wuͤrkungen des Aberglaubens und
ſeines taͤuſchenden Trugs ſind ſchrecklicher,
ſind verheerender, als der Philoſoph glaubt,
und der Menſchenfreund waͤhnt. Wollte ich
nur die Biographien der Ungluͤcklichen liefern,
welche in der Hand eines harten Beichtvaters,
eines fanatiſchen Predigers ihren Verſtand
verlohren, mein Werk wuͤrde zu einer Groͤſſe
anwachſen, die ſelbſt der weite Arm der ſanf-
ten Duldung nicht umfaſſen koͤnnte. Ich ver-
ehre die Religion mit innigſter Ehrfurcht, ich
verehre die wuͤrdigen Diener derſelben, aber
ich haſſe den Hirten, welcher ſeine Heerde mit
Fantomen und Geſpenſtern ſchreckt, und ſie
hindert, die Weide zu genuͤßen, welche
Gott zu ihrem Genuſſe erſchaffen hat.
Wenn man zur Zinne der Wahrheit em-
por klimmt, und hinab blickt ins Thal, in
die Werkſtaͤtte des Aberglaubens, ſo muß
man uͤber ſeine Thaten erſtaunen. Hier baut
[211] er ſchwankende Bruͤcken uͤber die fuͤrchterlich-
ſten Abgruͤnde, dort ſtellt er warnende Zei-
chen am Graͤbchen aus, das der ſechsjaͤhrige
Knabe ohne Gefahr uͤberſchreiten kann. Er
laͤßt ſeine Diener am ſchroffen Felſen umher-
klettern, und ſpottet des Klugen, der auf
der breiten, gebahnten Heerſtraſſe wandelt.
Er entreißt der weinenden Witwe den ſchir-
menden Schild, und deckt damit den Moͤrder
ihres Gatten. Er reicht der frohen Buhldirne
ſeine Hand, und ſtoͤßt die tugendhafte Jung-
frau vom Pfade hinab, auf welchem er jene
leiten will. Er wirft Feuer in die friedliche
Huͤtte des Weiſen, und baut der Dummheit
vergoldete Pallaͤſte. Er ſtiehlt dem hungrigen
Armen ſein Brod, und maͤſtet damit die
Hunde der Reichen. Er handelt mit Fetzen
und Lumpen, und laͤßt ſich ſolche gleich Dia-
manten bezahlen. Er mißt die ewige Selig-
keit mit der Elle, und verkauft die Laͤnge ei-
nes Jahrtauſends fuͤr einen Pfennig! Er be-
O 2
[212] weiſt mit unumſtoͤßlichen Gruͤnden, daß der
Geizhals, Trunkenbold, Wolluͤſtling und
Moͤrder nicht in das Reich Gottes eingehen
koͤnne, und gibt jedem aus dieſen einen Frei-
brief, damit er auf einem Seitenwege hinein-
ſchleichen koͤnne. Er verflucht den Judas
Iſchariot, der ſeinen Meiſter um dreiſig Sil-
berlinge verrieth, und bietet im folgenden
Augenblicke um einen derſelben dem Unwuͤr-
digſten der Menſchen das Verdienſt des goͤtt-
lichen Heilandes zum Kaufe an. Er wuchert
mit Himmel und Hoͤlle, und ſchachert gleich
einem Juden mit dem Fegfeuer.
[213]
Das ſteinerne Brautbett;
oder
Hugo und Kleta.
(Fortſetzung.)
Wie Hugo am andern Morgen zu Edel-
drud eilte, um uͤber das, was ſie ihm am
vorigen Tag nicht entdecken wollte, Auf-
ſchluß zu erhalten, fand er dieſelbe tod. —
Die trauernde Kleta ſank ſchluchzend in ſeine
Arme, und ohne zu ſprechen, rannen haͤu-
fige Thraͤnen ihre Wangen herab. Nichts
[214] war im Stande, die Traurende zu beruhi-
gen. Hugo mußte, nach damaliger Sitte,
ſich entfernen, und durfte nur erſt, als
Edeldrud beerdiget war, zu Kleta wieder
kehren. Ihm duͤnkten dieſe wenigen Tage
eine Ewigkeit. Endlich verfloſſen auch dieſe,
und er ſah ſeine Kleta wieder.
Mein Hugo, ſprach ſie, der Fluch mei-
ner Mutter ruht auf mir, wenn ich dich
liebe! und doch — und doch! — hier ver-
barg ſie ſich an ſeinen Buſen; nur der Grund
des Verbots von Eldruden blieb ihnen ein
Geheimnis. Endlich erinnerte ſich Kleta des
Schmuckkaͤſtchens, wovon ihre Mutter ihr
geſagt hatte, und worinnen die Papiere der-
ſelben verwahrt lagen; allein ein Zeddel,
welcher daran befeſtiget war, mit dem Be-
fehle: Solches nicht eher als einen Monden
nach Kleta's Heirath zu eroͤfnen; vernich-
tete auch dieſe Hofnung.
[215]
Man dachte endlich an den Moͤnch, und
an den Eindruck, den derſelbe auf Edeldrud,
und dieſe auf ihn gemacht hatte: aber bei
der Kunde nach dieſem ward ihnen zur Ant-
wort, daß er an einem hitzigen Fieber dar-
nieder liege, und daß man an ſeinem Leben
zweifle. Alſo war auch hier keine Auskunft
zu erwarten.
Hugo, der dem Gluͤck ſeiner Liebe ſich
ſo nahe glaubte, ſah ſich immer weiter da-
von entfernt. Der Kaiſer Ludwig, den Re-
gierungsgeſchaͤfte nach Muͤnchen riefen, ließ
Zubereitungen treffen, um dahin aufzubre-
chen. Hugo war genoͤthiget, demſelben zu
folgen, allein Kleta unbeſchuͤtzt zuruͤck zu
laſſen, ſchien ihm unmoͤglich. Er verſuchte
alles, ſeine Kleta zu einer Verbindung mit
ihm zu bereden. Sie war es zufrieden,
wenn ein Prieſter den ſchrecklichen Fluch ih-
rer Mutter loͤſen wuͤrde. Sehr bald fand
[216] ſich ein dienſtfertiger Prieſter, der denſelben
aufhob; und Kleta eilte mit ihrem Gelieb-
ten nach Muͤnchen, wo nach Verlauf eini-
ger Monate die Hand eines Prieſters ſie
auf immer verband.
Indeß Hugo und Kleta im Genuß ihrer
Liebe ſich gluͤcklich fuͤhlen, kehren wir nach
Regensburg zuruͤck. Nach einigen Monden
erholte ſich der Moͤnch, der bei dem Anblick
Edeldruds ſo betroffen war, von ſeiner
Krankheit. Er erkundigte ſich ſogleich nach
Edeldrud und Kleta, man berichtete ihm den
Tod der erſtern, und auch, daß Kleta mit
Hugo nach Muͤnchen gereiſet, und wahrſchein-
lich nun mit ihm vermaͤhlt ſei.
Haͤtte Edeldrud ihrer Tochter erlaubt,
ihre Lebensgeſchicke fruͤher zu eroͤfnen, ſo
wuͤrde ſie ihr einziges Kind nicht in graͤn-
zenloſes Elend geſtuͤrzt haben. Um dieſes
[217] zu verhindern, eilte der alte Moͤnch, der
niemand anders als Otto von Fahrwangen
war, nach Muͤnchen; Kleta aber war be-
reits mit Hugo nach ihrer muͤtterlichen Burg
in Boͤhmen abgereiſt, wohin auch er in ſchnel-
ler Eile folgte. Er fand dieſelben bei ſeiner
Ankunft in ihrem Garten. Sein fuͤrchter-
licher Blick ſchreckte beide, und ſie argwoͤhn-
ten den Sturm, der ihnen drohte.
Moͤnch. Ihr ſeid verheirathet?
Hugo. Seit einem Monden.
Moͤnch. Ungluͤckliche! und ihr ahndet
nichts — — Kleta iſt deine Schweſter, du,
Hugo, biſt ihr Bruder.
Bei dieſen Worten war der Greis einer
Ohnmacht nahe — Hugo wollte ihn zu einer
Raſenbank leiten —
[218]
Moͤnch. (auf Kleta zeigend) Ste-
he erſt dieſer bei, dann will ich weiter mit
dir ſprechen. Meine Nachricht war ihrem
Ohre zu ſchrecklich, ſie ſinkt, ſtehe ihr bei,
ich vermags nicht!
Erſt als Kleta wirklich ſank, eilte Hu-
go zu ihrer Huͤlfe herbei, die er ſelbſt noͤ-
thig hatte, weil die Schreckensworte des
Unbekannten all ſein Gluͤck, alle ſeine fro-
hen Ausſichten mit einmal vernichteten. Er
ſchlepte die Ohnmaͤchtige nach ihrem Ge-
mache, und eilte in den Garten zuruͤck,
[um] die ſchreckliche Nachricht beſſer zu pruͤ-
fen, ſie mit allen moͤglichen Gegengruͤnden
zu beſtreiten. Aber bald ward ihm volle
Gewißheit ſeines Ungluͤcks.
Sein ehemaliger Pflegvater, der Edle
von Immenthal, hatte ihn lange Zeit als
ſeinen eignen Sohn erzogen, wie er aber
[219] alt und ſiech wurde, da entdeckte er ihm,
daß er nicht ſein Kind, ſondern der Sohn
des Ungluͤcklichen Otto von Farwangen ſei,
den er einſt als Freund liebte, und der
ihm ſolchen, wie er noch nicht lallen konnte,
bei Nachtzeit uͤberbracht, und als das ein-
zige Pfand einer hoͤchſt ungluͤcklichen, aber
namloſen Liebe anvertraut habe. Ich weiß
nicht, ſprach der Greis damals zu Hugo,
ob dein Vater noch hienieden wallt, damit
du ihn aber, wenn dich Gott in ſeine Ar-
me fuͤhren ſollte, ſicher und gewiß erkennſt,
ſo verwahre dieſes Stuͤck eines zerbrochnen
Ringes mit moͤglichſter Sorgfalt. Derje-
nige, welcher dir die andre Haͤlfte zeigt,
iſt dein Vater, ehre ihn als dieſen, denn
er iſt hoͤchſt ungluͤcklich, leider aber auch
hoͤchſt unſchuldig. Sage ihm, daß ich alles
gethan habe, um Freundespflicht an dir zu
erfuͤllen. Sein Name iſt ausgeloͤſcht unter
den Namen der Edlen des Landes, ich habe
[220] es durch dringende Bitte beim Kaiſer erhal-
ten, daß du den Meinigen fuͤhren darfſt.
Wollte Gott, ich koͤnnte dir auch meine Veſte
zum Erbtheile hinterlaſſen, aber, ehe ich
dieſe zweite Bitte an den Kaiſer wagte, war
mit dieſer ſchon ein verdienter Krieger be-
lehnt worden, ich kann dir nichts als mein
Schwerdt hinterlaſſen, welches dir, wenn
du es gut fuͤhrſt, erſt eine aͤhnliche Beloh-
nung erwerben muß.
Hugo erinnerte ſich izt dieſer Worte.
Er trug die Haͤlfte des goldnen Rings ſtets
auf ſeiner Bruſt, er war ſtolz auf ſeinen
ungluͤcklichen Vater, dem der izt regierende
Kaiſer ſchon laͤngſt zu verzeihen geneigt war;
er wuͤnſchte oft ſehnlich, ihn zu ſehen und
zu umarmen, aber er waͤhnte nicht, daß
die Erfuͤllung dieſes Wunſches ihn hoͤchſt un-
gluͤcklich machen wuͤrde. Izt nahte er ſich,
[221] mit dem Ringe in der Hand, zitternd dem
Moͤnche.
Ha, ich verſtehe, ſprach dieſer, du willſt
pruͤfen: Ob ich dein Vater bin? Da nimm
(indem er ihm die andre Haͤlfte
reichte) und ſieh zu, ob ſie nicht eins aus-
machen. Hugo fuͤgte die Stuͤcke zitternd zu-
ſammen, und ſank uͤberzeugend zu des
Moͤnchs Fuͤſſen nieder. Wenn du mir auch
den Todesbecher reichſt, ſo ſoll dieſe Grau-
ſamkeit mich doch nicht hindern, dich als
Vater zu gruͤſſen und zu ehren. Der Moͤnch
ſank geruͤhrt an ſeine Bruſt hinab, ſie fuͤhl-
ten noch lange, ehe Hugo es wagte den wie-
dergefundenen Vater zu fragen: Ob ſein ge-
liebtes Weib wuͤrklich ſeine Schweſter ſei?
Ob Trennung von ihr ihn wuͤrklich graͤnzen-
los elend machen muͤſſe?
Moͤnch. Wollte Gott, ich koͤnnte dich
troͤſten! Wollte Gott, ich haͤtte deine un-
[222] gluͤckliche Heirath nie erfahren. Der Un-
wiſſende kann nicht ſuͤndigen, ihm wird da-
her ſichere Verzeihung, aber izt — — izt
muß ich reden, ich kann, ich darf meine
Suͤndenſchale nicht noch mehr belaſten, ſie
iſt ohnehin tief geſunken. Nur Vertrauen
auf die unendliche Barmherzigkeit des Ewi-
gen laͤßt mich hoffen, daß meine Reue ſie
heben wird. Um dich zu uͤberzeugen, muß
ich dir meine ganze Lebensgeſchichte erzaͤhlen.
Verachte mich nicht, wenn dein Vater dir
offen geſteht, daß er einſt ein ruchloſer Boͤ-
ſewicht war.
Ich diente, als ich vier und zwanzig
Jahr alt war, an Kaiſer Albrechts Hofe,
Rudolph von Palm war mein vertrauteſter
Freund, er verbuͤndete ſich mit Herzog Jo-
hann gegen das Leben des Kaiſers, und
fuͤhrte in ſeiner Geſellſchaft das Bubenſtuͤck
aus. Ich hatte keinen Theil an der That,
[223] ich muthmaßte ſie nur aus ſeinen zweideuti-
gen Reden, und war zu ſehr Freund, um
ihn durch Verrath ungluͤcklich zu machen.
Ich blieb, als die Thaͤter flohen. Wie
aber Albrechts Kinder das Rachſchwerdt er-
griffen, jeden, der mit den Thaͤtern ehe-
mals Gemeinſchaft pflog, vor ihr Gericht
fuͤhrten, und oft allzu ſtreng richteten, da
trieb auch mich Angſt und Furcht in die
Flucht.
Ich ward dadurch verdaͤchtig, uͤberall
geſucht und verfolgt. Ich floh bis an Boͤh-
mens Graͤnzen, irrte in ſeinen Waͤldern
umher, und machte endlich mit einer Raͤu-
berhorde Bekantſchaft, welche in den Hoͤh-
len des Forſtes ungeſtoͤhrt wohnte, und
mich in ihren Bund aufzunehmen verſprach.
Ich ſah nirgends Sicherheit, nirgends Hof-
nung fuͤr mich, und ergriff dieſe einzige,
um mein Leben zu friſten, nicht Hunger
[224] zu ſterben. Ich bekenne es dir offen, daß
ich in ihrer Geſellſchaft raubte, und mir
bald durch meine Tapferkeit Anſehen und
Hochachtung erwarb.
Um ihren maͤchtigen Bund fuͤr Entdek-
kung, und moͤglichem Verrath zu ſichern,
hatten ſie manche grauſame Geſetze unter ſich
errichtet. Eines der grauſamſten war, daß
zwar jedes Glied berechtigt war, ſich unter
den Toͤchtern des Landes eine Dirne zu rau-
ben, und ſie als ſein Weib heimzufuͤhren,
aber er mußte vorher ſchwoͤren, daß er es
nicht hindern wolle, wenn man der Ungluͤck-
lichen die Zunge abſchneide, damit ſie bei
moͤglicher Flucht oder Entdeckung nichts ver-
rathen koͤnne. Ich ſchauderte, als ich ſehr
viele ſolcher ungluͤcklichen Geſchoͤpfe in den
Hoͤhlen umherwandeln ſah, ich ſtaunte aber
noch mehr, als ich mich uͤberzeugte, daß
viele dieſer ſprachloſen Dirnen ihren Gatten
offen
[225] offen und innig liebten, ihre Kinder ſorg-
faͤltig, und als treue Muͤtter pflegten.
Nach einem Jahre ſtarb der Anfuͤhrer
der Horde, welche izt uͤber dreihundert
Glieder ſtark war. Alle erkannten mich als
den Tapferſten, und waͤhlten mich zu ihrem
Hauptmanne; ich mußte ſchwoͤren, daß ich
ihren Bund aufrecht erhalten, und jedes Ge-
ſetz mit Strenge ſchuͤtzen wollte. Wie ich
einſt mit einigen meiner Untergebnen von ei-
nem gluͤcklichen Raube zuruͤck nach unſerm
Forſte kehrte, begegnete mir die ſchoͤne Edel-
drud, ſie hatte wahrſcheinlich iu einer na-
hen Kapelle gebetet, ihr Schleier wallte frei
umher, ſie deckte erſt ihr Angeſicht damit,
als wir uns ganz nahten. Ihr Engelge-
ſicht, ihre reizende Geſtalt weckte Liebe in
mir, mein Herz flog ihr entgegen, und
folgte unwillkuͤrlich, als ſie nach der vaͤter-
lichen Veſte zog. Ich waͤlzte mich ſchlaflos
Biogr. d. W. 4r Bd. P
[226] auf meinem Lager umher, ich ſah nur ihre Ge-
ſtalt, innige Liebe zu ihr wallte durch mein
heiſſes Blut, durchdrang jede meiner Nerven,
und machte ſie kraftlos, ich glich einem Traͤn-
menden, einem Kinde, das emporſtrebt und
wieder zuruͤckſinkt.
Die Raͤuber achteten mich fuͤr krank, und
goͤnnten mir Ruhe, ich nuͤzte ſie, und verbarg
mich taͤglich nahe bei der Kapelle, um die
holde Dirne noch einmal zu ſehen. Sie kam
oft dahin, und meine Liebe mehrte ſich immer,
ſie heiſchte ſtuͤrmiſch Troſt und Rettung, ich
wallte verzweiflungsvoll umher, und wuͤrde
untergelegen ſeyn, wenn einige Raͤuber nicht
meinen Zuſtand geahndet, mir Ausſichten ge-
oͤfnet haͤtten, die ich vorher nie zu denken
wagte.
Sie riethen mir einſtimmig, daß ich die
Dirne entfuͤhren, und zu meinem Weibe ma-
[227] chen ſolle. Ich ergrif dieſen Rath mit ungeſtuͤ-
mer Freude, aber ich ſchauderte zuruͤck, als ich
uͤberlegte, daß ich ſie huͤlflos ungluͤcklich ma-
chen wuͤrde, wenn man das grauſame Geſetz
an ihr uͤben, ihr die Zunge abſchneiden werde,
die izt immer ſo andaͤchtig betete. Laßt mich
ſterben, ſprach ich zu den Raͤubern, ich liebe
nicht gleich euch, ich kann den Gegenſtand mei-
ner innigſten Liebe nicht verunſtaltet ſehen.
Die Raͤuber ſchienen mein Leid zu fuͤhlen, ſie
ſahen nebenbei ein, daß ich unthaͤtig verſchmach-
ten wuͤrde, ſie traten an mein Lager, und ver-
ſprachen mir, des Geſetzes Vollſtreckung nicht
zu fordern, aus aͤchter Neigung zu ihrem
Hauptmanne eine Ausnahme zu machen, und
meines kuͤnftigen Weibes Zunge nicht zu beruͤh-
ren. Dieſes Geluͤbde machte mich wieder froh
und thaͤtig, ich zog bald hernach mit den Ta-
pferſten meiner Gefaͤhrten auf Spaͤhe, lauerte
drei Tage lang bei der Kapelle, und raubte
P 2
[228] die Inniggeliebte gluͤcklich am Abende des drit-
ten Tages.
Wir trugen ſie ohnmaͤchtig in unſre Hoͤh-
len; als ſie erwachte, kaͤmpfte Verzweiflung
mit ihr, ſie haßte und verachtete mich als den
Urheber ihres Ungluͤcks, und fluchte mir, wenn
ich flehend Liebe von ihr heiſchte. Ihre Ge-
genwart mehrte dieſe bis zur Wuth, die ruch-
loſen Raͤuber weckten ſie noch mehr durch Spott
und Hohn, ſie lachten uͤber den ſo tapfern
Hauptmann, der ein ſchwaches Weib nicht
zwingen koͤnne. Verachte, verabſcheue deinen
Vater nicht, wenn er dir offen geſteht, daß die
Macht der heftigſten Leidenſchaft endlich ſiegte,
daß er mit Gewalt raubte, was man ſeiner
Bitte nicht gewaͤhrte. Gluͤcklicher Erfolg kroͤn-
te dies ſchaͤndliche Unternehmen; die kuͤhne,
oft raſende Dirne ward bald ein duldendes,
ſchmachtendes Weib, ſie ſchien ihr Ungluͤck tief
zu fuͤhlen, aber ſie raͤchte es nicht durch Schimpf-
[229] worte, nur durch Thraͤnen. Schon im erſten
Jahre gebahr ſie mir einen Sohn. Dieſer
warſt du! O ich hob dich dankend und frohlok-
kend in die Hoͤhe, als ich dich zum erſtenmale
in ihren Armen erblickte, ſie ſchien meine Liebe
zu fuͤhlen, und lohnte ſie zum erſtenmale mit
einem freiwilligen Kuſſe.
Als du erſt ein halbes Jahr alt warſt,
ward uns Nachricht, daß der boͤhmiſche Koͤnig
Johann ſeine Braut Eliſabeth als Weib nach
Prag gefuͤhrt habe, und dieſer in einigen Ta-
gen der koſtbare Schatz folgen wuͤrde, welchen
ſie von ihrem Vater Wenzel ererbt, und
bisher auf einer Veſte bewahrt hatte, die nur
eine Tagereiſe weit von unſern Hoͤhlen entfernt
lag. Meine Gefaͤhrden hatten ausgekundſchaf-
tet, daß nur zweihundert Lanzenknechte ihn
geleiten wuͤrden, und achteten den Raub deſ-
ſelben fuͤr leicht und moͤglich.
[230]
Ich ſtellte ihnen vergebens vor, daß der
kriegeriſche Koͤnig dieſen Raub — wenn er
auch gelinge — durch die ſtrengſte Spaͤhe und
ſtaͤrkſte Rache ahnden wuͤrde, aber die Verblen-
deten behaupteten, daß dieſer Schatz hinreiche,
jeden der Verbuͤndeten auf Lebenszeit gluͤcklich
zu machen. Wir weilen, ſprachen ſie, nur ſo
lange in unſern Hoͤhlen, bis wir ihn getheilt
haben, vernichten dann unſern Bund, und zer-
ſtreuen uns in der weiten Welt, um die
Fruͤchte unſrer Tapferkeit ruhig und ohne Ge-
fahr zu genuͤſſen. Dir ſoll vierfacher Theil
werden, du wirſt dann leicht auch einen Winkel
der Erde finden, wo du ihn mit deinem ge-
liebten Weibe eben ſo ruhig genuͤſſen kannſt.
Dies Verſprechen reizte mich, ich hatte
erfahren, daß der neuerwaͤhlte Kaiſer Heinrich
von Luxemburg die allzu ſtrenge Rache der al-
brechtiſchen Familie tadle, und zu hindern
ſuche. Ich hofte unter erborgtem Namen wie-
[231] der in der Welt mit dem noch immer innig ge-
liebten Weibe leben zu duͤrfen, und zog mit
allen Raͤubern aus, um mein Gluͤck zu foͤrdern.
Der Kampf war leicht, der Raub gluͤcklich, die
ſichern Lanzenknechte wurden in einem Thale
uͤberfallen, und meiſtens getoͤdtet. Wie wir
aber die groſſe Menge der Saumroſſe ſeitwaͤrts
leiten wollten, zog ein bairiſcher junger Her-
zog, ein Sohn des itzigen Kaiſers Ludewig mit
ſechshundert Reitern die Straſſe herauf, um
in Prag das Hochzeitfeſt des Koͤnigs feiern zu
helfen. Einige der entflohnen Lanzenknechte
hatten ihm vom Raube benachrichtigt, und um
Huͤlfe gebeten. Er ſtuͤrmte mit Uebermacht
auf uns ein, wir mußten fliehen, und die
Beute den Siegern uͤberlaſſen. Viele der
Raͤuber blieben verwundet auf dem Schlacht-
felde liegen, aus dieſen hatte er wahrſcheinlich
das Bekenntniß unſers Aufenthaltes erzwun-
gen, denn, wie ich am andern Tage mit we-
niger als zweihundert den Eingang des For-
[232] ſtes erreichte, ſah ich ihn mit ſeiner ganzen
Macht gegen uns anziehen. Ich gedachte mei-
ner Edeldrud und ihres Kindes, und ſandte
ſogleich dreiſig Reiter ab, damit ſie aufs eilig-
ſte Weiber, Kinder, und die in den Hoͤhlen
verborgnen Schaͤtze retten moͤchten. Ich be-
ſchied ſie nach einem andern, [uns] wohlbekann-
ten Forſte, und verſprach gegen die Sieger
wenigſtens ſo lange zu kaͤmpfen, bis ich alles
gerettet, und in Sicherheit zu ſeyn achten
wuͤrde.
Der Herzog naͤherte ſich wuͤrklich, er hatte
neuen Widerſtand nicht vermuthet, ſeine
Reiter wichen anfangs zuruͤck, wie wir uns,
beſchuͤzt von den Baͤumen, tapfer gegen ſie
wehrten. Bald faßten ſie aber neuen Muth,
und kaͤmpften mit Vortheil, ich mußte wei-
chen, aber ich leitete ſie abſeits, und erneuerte
immer den Kampf, um meinen Abgeſandten
Zeit zur Rettung zu goͤnnen. Wie ich alles in
[233] Sicherheit glaubte, und die Zahl meiner Kaͤm-
pfer ſich immer minderte, ſammlete ich ſie
ſchnell, und entſchwand bald mit ihnen dem
Auge des Siegers. Wir jagten raſtlos nach
dem beſtimmten Forſte, und harrten unter
ſeinen Felſen der geretteten Weiber, Kinder
und Schaͤtze.
Erſt am andern Tage meldeten die Spaͤher
auf den Felſenſpitzen, daß die Geretteten eben
im Thale heraufzoͤgen, ich eilte ihnen entge-
gen, ſuchte meine Edeldrud unter ihnen, und
fand ſie nicht. Wie ich angſtvoll nach ihr frag-
te, uͤberreichte mir ein Weib meinen Sohn,
dich, geliebter Hugo. Ich ſchloß dich dankend
in meine Arme, und forſchte aufs neue nach
Edeldrud. Ein Raͤuber trat zu mir. Haupt-
mann, ſprach er, ich rufe alle Gegenwaͤrtige zu
Zeugen auf, daß ich alles anwandte, um deine
Geliebte gleich dieſen zu retten, aber ſie achte-
te weder Ernſt noch Bitte, ſie wollte nicht
[234] weichen aus ihrer Hoͤhle, und widerſezte ſich
jeder Gewalt. Die Zeit war dringend, die
Horchenden hoͤrten ſchon von ferne Huftritte.
Du wirſts nicht ahnden und raͤchen, wenn ich
an unſre Sicherheit dachte, die Widerſtrebende
zuruͤckließ, ihr aber, nach dem einſtimmigen
Rath aller, die Zunge abſchnitt, damit ſie nicht
deine, nicht unſere Verraͤtherin werden koͤnne.
Ich wills nicht wagen, dir meinen Zuſtand
zu ſchildern, er war unnennbar wie mein
Schmerz. Ich durchbohrte die Bruſt des ruch-
loſen Thaͤters, ich raßte, und man war ge-
zwungen, mich zu binden, um neue Mord-
that zu verhuͤten. Erſt am dritten Tage konn-
te ich wieder fuͤhlen und denken, ich war matt
und kraftlos, bat und flehte, daß man mir
erlauben moͤge, bei den verlaßnen Hoͤhlen zu
kundſchaften, und wenigſtens meine arme Edel-
drud zu retten, wenn Rettung noch moͤglich
ſei.
[235]
Viele der Raͤuber liebten und ehrten mich,
ſie fuͤhlten Mitleid mit meinem Zuſtande, und
begleiteten mich nach den Hoͤhlen. Mein Jam-
mer, deſſen Groͤſſe ins Unendliche reichte, fand
dennoch Stof zur Vermehrung. Die Sieger
hatten unſte ſo verborgnen Hoͤhlen wuͤrklich ge-
funden, ſie im Zorne und Iugrimme mit Holz
und Reiſſern dicht angefuͤllt, [und] Feuer darein
geworfen. Noch glimmten Kohlen darinne,
und die ſchreckliche Hitze verwehrte uns den
Eingang. Ich konute nichts anders vermu-
then, als daß die ſo ſchwer verwundete, von
niemanden gepflegte Edeldrud, als ſie huͤlflos
auf ihrem Lager ſchmachtete, ein Raub der
Flammen geworden ſei. Ich raßte von neuen,
und haͤtten es meine Gefaͤhrden nicht gehin-
dert, ich wuͤrde mich in die gluͤhenden Hoͤhlen
geſtuͤrzt, und dort geendet haben.
Mein Gram, der raſtlos an meinem Her-
zen nagte, machte mich unfaͤhig, der Raͤuber
[236] Hauptmann zu bleiben, ſie hatten ſich neue Hoͤhlen
gewaͤhlt, und niſteten wieder, wie ehe, unter
den Felſen. Als ſie einſt auf Raub auszogen,
und ich wieder Kraͤfte in mir fuͤhlte, nahm ich
dich in meine Arme, und verließ die Hoͤhlen
mit dem feſten Vorſatze, nie mehr ruͤckzukeh-
ren, und all mein Lebelang in ſtrenger Aus-
uͤbung meine Verbrechen zu bereuen. Ich ge-
langte gluͤcklich bis zur Veſte meines ehemaligen
Freundes Immenthal, entdeckte mich ihm, und
ward wohl aufgenommen. Er verſprach, dein
Vater zu werden, mehr forderte und heiſchte ich
nicht. Im Pilgerkleide wanderte ich nach Avig-
non, beichtete meine Suͤnden, erhielt Verzei-
hung, ward endlich in ein Kloſter aufgenom-
men, und da ich mich mit Eifer den erforder-
lichen Wiſſenſchaften widmete, in der Folge
zum Prieſter geweiht.
Mein Ordensgeneral ſandte mich vor Jah-
resfriſt mit Auftraͤgen nach Deutſchland, ich
[237] erfuͤllte ſie gerne, weil ich mich nach meinem
Vaterlande ſehnte, und vorzuͤglich zu wiſſen
wuͤnſchte: wie es dir ergehe? Ich ſprach in
Immenthals Veſte ein, und erfuhr, daß er
todt, ſein geliebter Pflegſohn aber an des Kai-
ſers Hofe lebe, und ſein Liebling ſei. Eilend
floh ich nach Regensburg, ſah dich, in dir mein
Auge, mein ganzes Geſicht, und fuͤhlte zum
erſtenmale wieder reine Freude. Niemand
kannte mich, ich lebte einſam in meinem Klo-
ſter, ging nur aus, wenn ich dich ſehen konnte,
und ſaͤttigte mich mit der Ueberzeugung, daß du
ein edler, guter Sohn ſeiſt. Oft wollte ich mich
dir nahen, oft dir es zufluͤſtern, daß dein Va-
ter noch dulde und leide, aber ich zoͤgerte im-
mer und bald aus Vorſatz, weil ich dir die
Freuden des nahen Turniers nicht verbittern
wollte. Ich ſah dich oft im Kampfe, und war
auch zugegen, als die ſchoͤnſte, aber mir unbe-
kannte Jungfrau, dir den Preiß reichte, und
deine Wange kuͤßte. Damals ahndete ich noch
[238] nicht, daß dieſe Jungfrau dein Weib werden,
deine Schweſter ſeyn koͤnne.
Einige Tage nachher ward meine Sehn-
ſucht, dich zu umarmen, groͤſſer, ich wollte am
andern Tage dich beſuchen, und las aus dieſer
Abſicht ſchon ſehr fruͤh die Meſſe. Wie ich
ſchon geendet hatte, und das Volk ſegnen woll-
te, erblickte ich am Fuſſe des Altars deine Mut-
ter, meine noch immer unvergeßliche Edeldrud.
Sie ſtarrte fuͤrchterlich zu mir empor, und
ich ſtaunend zu ihr hinab, meine Fuͤſſe zitter-
ten, meine Sinne wichen, ich ſank ohnmaͤchtig
zu Boden, und lag auf dem Lager meiner Zelle,
als ich wieder denken und empfinden konnte.
Ihr Bild ſchwebte vor mir, Fieberhitze gluͤhte
in meinen Adern, [und] raubte mir bald wieder
den Verſtand. Zwei Monden kaͤmpfte ich mit
dem Tode, im dritten erholte ich mich erſt
langſam. Ich hatte keinen Freund, dem ich
mein Anliegen entdecken konnte, und harrte
[239] mit Ungeduld der Zeit, in welcher mir meine
Kraͤfte einen Ausgang geſtatteten.
Ich erfuhr ſogleich, daß du mit dem Kai-
ſer gen Muͤnchen gezogen ſeiſt, und die Tochter
einer edlen, aber ſtummen Boͤhmin heurathen
wuͤrdeſt. Ich zitterte und bebte, forſchte nach
ihrer Wohnung, und erfuhr dort, daß die
Tochter nach Muͤnchen gereiſt, die Mutter aber
an eben dem Tage geſtorben ſei, an welchem
ich ſie, und wahrſcheinlich ſie mich, erkannte.
Ich vergaß Pflicht und Geluͤbde meines Ordens,
eilte nach Muͤnchen, und hoͤrte, daß mein Un-
gluͤck vollendet ſei, der Bruder ſeine Schweſter
wuͤrklich geheurathet habe.
Die Schilderung des edlen Paares, welche
noch aller Zungen beſchaͤftigte, die Beſchreibung
der reinen, aͤchten Liebe deſſelben quaͤlte mein
Herz und reizte es zum Mitleid. Ich zoͤgerte,
ſo groſſes Gluͤck zu ſtoͤhren, achtete es fuͤr un-
[240] gerecht und grauſam, zwei der ſchuldloſeſten
Menſchen graͤnzenlos ungluͤcklich zu machen,
als aber mein Gewiſſen dieſem Mitleide laut
widerſprach, ich Rath und Troſt bei den gelehr-
teſten und wuͤrdigſten Prieſtern ſuchte, und
dieſe mir ſonnenklar bewieſen, daß ich abſicht-
lich Blutſchande foͤrdere, mich ganz der ſchreck-
lichen Folgen dieſes Verbrechens theilhaftig
mache, da mußte mein Mitleid weichen. Ich
ſtehe nahe am Grabe, ich wills ſo ſchuldlos,
als moͤglich, beſteigen. Meine Anklaͤgerin
harret meiner ſchon dort, ich zittre vor der
Verantwortung, ich darf ihre Anklage nicht
vergroͤſſern, ich muß Gott danken, daß er mir
Kraͤfte verlieh, euch bis hieher zu folgen, und
das Verbrechen zu enden. Folgt meinem vaͤ-
terlichen Rathe, weiht euch beide dem Himmel,
und verſoͤhnt Gott durch euer Gebet.
Hugo.
[241]
Hugo. (troſtlos jammernd) Gott
und Vater, ſteh mir, ſteh meiner Kleta
bei! Allmaͤchtiger, du gabſt uns namloſes
Gluͤck, aber du vergaͤllſt es durch noch groͤſſeres
Ungluͤck! Laß es wenigſtens eben ſo kurz, wie
dein Gluͤck, dauern! (ſich faſſend) Aber noch
daͤmmert Licht in der grauſen Finſterniß, noch
leuchtet in der Ferne Hofnungsſchimmer. Du
gedachteſt in deiner ganzen Geſchichte nicht
Kletas Geburt. Wie ward ſie deine Tochter
und meine Schweſter?
Moͤnch. Kleta iſt nicht meine Toch-
ter — —
Hugo. (frohlockend) Heil mir!
Moͤnch. Aber doch die Tochter deiner
Mutter, und folglich immer deine Schweſter!
Hugo. Weh! Weh mir!
Biogr. d. W. 4r Bd. Q
[242]
Moͤnch. Wahrſcheinlich rettete ſich die
Ungluͤckliche noch zur rechten Zeit aus den
Hoͤhlen, und wurde gluͤcklich geheilt! Wahr-
ſcheinlich heurathete ſie in der Folge einen ed-
len Gatten, dem ſie dieſe Tochter gebahr. Ich
achtete ſie fuͤr todt, und kenne die weitere Ge-
ſchichte ihres Lebens nicht. Nur ſo viel hat
mir die allgemeine Sage verkuͤndigt, daß Kleta
ihre Tochter ſei. — —
Hugo. Ha! O Dank dir, Allmaͤchtiger!
(ſeinem Vater in die Arme ſinkend)
Dank auch dir, theurer Vater, die lezte dei-
ner Nachrichten laͤßt mich noch hoffen! Ah,
wie die wohlthaͤtige Hofnung alle meine Adern
durchſtroͤmt, die kalten Nerven erwaͤrmt, und
zur Wiederempfindung reizt! Vater! Vater,
ich hoffe! Ach Vater, ich habe der Gruͤnde vie-
le — — Ja, ja! es wird wahrſcheinlich und
gewiß, daß Kleta nicht die Tochter meiner
[243] Mutter, nur ihr angenommenes, nur ihr
Pflegkind war!
Hoͤre und urtheile. (haſtig und ſchnell)
Als Kleta mir es erlaubte, den Tag zu
unſrer Hochzeit ſelbſt zu beſtimmen, und ich
wonnetrunken zum Wappenherold und zum
Prieſter eilte, jenem gebot, daß er ihr Wappen
zu dem meinen ſtellen, dieſen erſuchte, daß er
mich in drei Tagen mit ihr verbinden ſolle, da
forderte der erſtere ihres edlen Vaters Stamm-
baum, und der leztere das Zeugniß ihrer Ge-
burt, ich eilte zu ihr, aber ſie geſtand mir mit
ofner Unſchuld, daß ſie ihres Vaters Namen
nicht kenne, kein Zeugniß ihrer Geburt beſitze.
Ich verbarg ihr meinen Kummer, und irrte
eben trauernd und nachdenkend im Burggarten
umher, als der Kaiſer mir begegnete, und nach
der Urſache meines Kummers forſchte, ich er-
zaͤhlte ihm alles, er laͤchelte ſanft, und ſprach:
Q 2
[244] Sei ruhig, ich kenne ihren Vater, kein Edlerer,
als er, ſteht an meinem Throne, ich kenne den
Ort ihrer Geburt, und will mit dem Herold
und Prieſter ſprechen, damit ſie keine weitere
Hinderniß erregen. Ich dankte, und am zwei-
ten Morgen ſtand ein ſchoͤnes, aber mir unbe-
kanntes Wappen dem meinen zur Seite, und
der Prieſter forſchte nicht mehr nach dem Zeug-
niß ihrer Geburt. — — Komm, wir wollen
zu ihr eilen, wir wollen ſie mit dieſer Hofnung
troͤſten, und dann eilend dem Kaiſer nachzie-
hen, um Aufklaͤrung zu erhalten.
Der Moͤnch. Gebe Gott, daß deine
Hofnung zur Gewißheit wird! O es wuͤrde
mich kraͤftig troͤſten und ſtaͤrken, ich wuͤrde
dann dein Gluͤck nicht zerſtoͤrt haben, in deinen
Armen enden koͤnnen, und deinen Segen mit
in mein Grab nehmen. Noch einmal! Gott
gebe Erfuͤllung, ich hoffe mit dir!
[245]
Sie eilten nun beide zur ungluͤcklichen
Kleta, ſie war erwacht zum Gefuͤhle des
Jammers und Elends, ſie lag weinend und
Haͤnde ringend auf ihrem Lager. Ach, rief
ſie Hugo entgegen, meiner Mutter Fluch
geht in Erfuͤllung, ſchon druͤcken mich die
Pfuͤhle meines Lagers gleich Stein! Der
Prieſter log, als er den ſchrecklichen Fluch
loͤſte, er ruht noch ſchwer auf mir!
Hugo, dem dies alles unbekannt war,
verſtand den Sinn ihrer Worte nicht, und
forſchte auch nicht darnach, weil er ſie troͤ-
ſten und erquicken wollte. Er erzaͤhlte ihr
ſeines Vaters Geſchichte in Kuͤrze, und
fuͤgte am Ende ſeine Muthmaſſung hinzu,
um auch in ihrem Herzen Hofnung zur moͤg-
lichen Rettung zu wecken. Aber Kleta wi-
derſprach dieſer Hofnung laut. Ob ich gleich,
ſprach ſie, meinen Vater nicht kenne, ſo
weiß ich doch gewiß, daß Edeldrud mich
[246] gebahr, daß folglich deine Mutter auch die
meine ſei. Ich erinnere mich ja noch der
Zeit, in welcher ſie mit dem unbekannten
Vater auf einer ſchoͤnen Veſte lebte — —
Doch was bedarfs der Erinnerung, wo Ge-
wißheit entſcheiden kann? Reiche mir mein
Schmuckkaͤſtchen — — (haſtig) Reiche mirs
nicht, ich will nicht neuen Fluch auf mich
laden, will vorher wiſſen: Wie lange ich
dich ſchon als meinen Gatten erkenne?
Hugo. Geſtern endete der erſten Mon-
den — — —
Kleta. Dann gieb, ich will — ich muß
mich von meinem Ungluͤcke uͤberzeugen. Ah
dies alſo die Urſache ihrer Weigerung! Es
war Ahndung! Es war Erkenntniß der Zuͤ-
ge des Vaters im Geſichte des Sohnes! O
nun wirds helle, aber zu ſpaͤt — — O All-
[247] maͤchtiger zu ſpaͤt! Mir bleibt nur das
ſchreckliche Loos der Verzweiflung!
Hugo hatte indes das Schmuckkaͤſtchen
uͤberbracht, Kleta oͤfnete es mit zitternder
Hand, und nahm das verſiegelte Schreiben
heraus. Sie war kaum faͤhig es zu oͤfnen.
Weiche! ſprach ſie, als ſie die Siegel ab-
riß, weiche von mir, du ſchrecklicher Mutter-
fluch! Dich habe ich wenigſtens nicht ver-
dient, ich habe redlich einen Mondenlang
geharrt! — —
Sie wollte nun leſen, aber ſie ver-
mochte es nicht, und reichte es mit zit-
ternder Hand dem Moͤnche. Ihr ſeid, ſprach
ſie, bekannt mit ihrer Geſchichte, dieſe
Blaͤtter enthalten ſie, leßt laut, damit
wir heute noch unſers Ungluͤcks gewiß wer-
den, und nicht an falſcher Hofnung nagen.
Der Moͤnch weigerte ſich deſſen, aber der
[248] immer noch hoffende Hugo bat dringend, der
Vater vermochte dem wiedergefundenen Soh-
ne die erſte Bitte nicht laͤnger zu weigern,
und gelobte endlich Gewaͤhrung.
Gerechter Gott! rief er aus, ich ehre
deinen Willen, und achte es fuͤr eine ver-
diente Strafe, daß ich im Angeſichte mei-
nes Sohnes die ſchrecklichſte Anklage gegen
mich laut verkuͤndigen muß. Ich will ſie
ſtandhaft ertragen, und nicht murren, wenn
ſie im gerechten Zorne mir flucht.
Es wuͤrde ermuͤdend ſeyn, wenn ich
wiederholen wollte, was der Moͤnch ſchon
vorher ausfuͤhrlich erzaͤhlte, nur ſo viel
muß ich erwaͤhnen, daß ſie in ihrer Erzaͤh-
lung ſeiner ſehr ſchonend gedachte, ihren
namloſen Schmerz mit kraͤftigen Worten ſchil-
derte, aber auch offen geſtand, daß ſie die
graͤnzenloſe Liebe des Urhebers ihres Ungluͤcks
[249] einſah, am Ende Mitleid und ſogar das
Beginnen der Gegenliebe zu ihm fuͤhlte.
Der Moͤnch ſank dankend auf ſeine Knie,
als er dies Bekenntniß las, O nun ſterbe
ich zufrieden und vergnuͤgt, rief er aus,
nun kann ich Verzeihung von dir hoffen! —
Er zitterte aufs neue, als er zu der ſchreck-
lichen Szene kam, in welcher die Raͤuber
ihr die Zunge raubten, er glaubte mit Recht,
daß ſie vielleicht ihn als den Urheber dieſer
grauſamen That anklagen wuͤrde, aber die
Folge uͤberzeugte ihn eines andern.
„Der Ritter, ſchrieb ſie, war eben mit
allen ſeinen Gefaͤhrten ausgezogen, ich ſas
mit meinem Sohne auf dem Lager, fuͤhlte
Freuden der Mutter, und gedachte lebhaft
des Schmerzes der meinigen, die wahrſchein-
lich ihr Kind auf immer entbehren wuͤrde.
Dumpfes Geraͤuſch und jammerndes Wehkla-
gen ſchreckte mich aus meinen Gedanken em-
[250] por, zwei Raͤuber traten eilfertig in mein
Gemach, einer derſelben ergrif meinen Sohn,
der andere riß mich vom Lager auf, und
gebot mir ſchnelle Folge. Ich kannte die
aͤuſſerſte Bosheit dieſer rohen Leute, ich
waͤhnte, daß ſie ſich gegen den Ritter em-
poͤret, ihn vielleicht gar ermordet haͤtten,
und mich izt mit ſich fortſchleppen wollten,
ich widerſtrebte, klammerte mich ans Lager,
und ſchrie nach Huͤlfe. Andere Raͤuber
ſprangen herbei; Eilt mit ihr, ſchrien ſie,
ſonſt ſind wir verlohren! Dieſer Ruf ver-
mehrte meinen Argwohn, ich widerſtand
mit allen meinen Kraͤften, ſie wichen nicht,
mehrere ſprangen herbei, marterten, quaͤl-
ten mich ſchrecklich, und ſchnitten mir end-
lich den groͤßten Theil der Zunge ab.
Ich lag blutend und ohnmaͤchtig am Bo-
den. Wie ich wieder erwachte, ſtand ein
fremder, junger Ritter neben mir, er blickte
[251] huldvoll und mitleidig auf mich herab, kniete
neben mir nieder, und wiſchte das ſtroͤmende
Blut von meinem Angeſichte. Man hatte
mich ins Freie getragen, viele Reiter ſchlep-
ten Holz und Aeſte nach den Hoͤhlen, und
ſteckten das letztere in Brand. Ich hob fle-
hend meine Haͤnde zu dem Ritter empor,
er troͤſtete mich mit den liebreichſten Worten,
die Stimme des Mitleids drang lieblich in
mein Ohr, ich dankte mit Geberden, da
ichs mit Worten nicht vermochte. Verge-
bens forſchte er: Wer ich ſei? Wie ich
hieher gekommen? Ich konnte nicht antwor-
ten. Endlich gebot er vierzig ſeiner Leute,
daß ſie mich mit moͤglichſter Sorgfalt nach
Baiern zu einem Arzt, welchen er nannte,
geleiten ſollten. Er bat mich herzlich und,
innig, mein theures Leben zu ſchonen, mich
ſeiner Vorſchrift zu fuͤgen, und ſeines fer-
nern Schutzes verſichert zu bleiben. Ich ge-
lobte es, und dankte von neuen, in ſei-
[252] nen Augen glaͤnzten Thraͤnen, er ſchied
ſehr geruͤhrt, und verſprach, mich bald zu
beſuchen.
Seine Reiſige begegneten mir mit groſ-
ſer Ehrfurcht, die Schmerzen meiner Wunde
mehrten ſich, ich konnte des Roſſes Tritt
nicht ertragen, ſie legten mich auf eine breite
Decke, und trugen mich abwechſelnd raſtlos
fort. Ohnmacht und Bewußtſein wechſelte
in meiner Seele, die erſtere ſchien den Sieg
zu erringen, und dauerte oft lange. Wenn
ich erwachte, ſtand das Bild des Ritters
vor mir, ſeine mitleidige, huldvolle Mine
erweckte den Wunſch des Lebens in mir, ich
hatte ihm ganz mein Leben zu danken, oh-
ne ſeine Huͤlfe wuͤrde ich elend verſchmachtet
ſein. Der Verluſt meines Sohnes aͤngſtigte
mein Herz, ſeines Vaters gedachte ich izt
nur mit Schaudern, weil er der Urheber
all meines Ungluͤcks war.
[253]
Am andern Mittage brachte man mich
gluͤcklich in die Wohnung des Arztes. Ich
ſtaunte, als man mich im Namen des
jungen Herzogs ſeiner aͤuſſerſten Sorgfalt
empfahl, aber ich ſahs auch deutlich, daß
er an meiner Rettung verzweifelte; mich
duͤrſtete ſchrecklich, ich konnte keinen Labe-
trunk genieſſen, die geſchwollne Wunde drohte
mich zu erſtikken. Wie er mir Linderung
ſchafte, kann ich nicht ſagen, ich lag acht
Tage in einem betaͤubenden Fieber, das
mir alles Bewuſtſein raubte, aber bald beſ-
ſerte es ſich mit mir, ehe ein Monden ver-
floß, war ich der Gefahr entriſſen, und ehe
der zweite endete, fuͤhlte ich nur den Ver-
luſt meiner Zunge, aber nicht mehr die
Schmerzen deſſelben.
Des Arztes Tochter war meine treue
Waͤrterin, ſie pflegte mich mit einer Sorg-
falt, die innige Zuneigung verrieth. Ich
[254] ſah und hoͤrte es mit vielem Vergnuͤgen,
daß oft einige Reiter im Gemache des Arz-
tes erſchienen, und genau nach meinem Zu-
ſtande, nach meiner Beſſerung forſchten.
Sie brachten mir Kleider und Leinenzeug
in Menge, einige derſelben traten oft an
mein Lager, um ihrer Ausſage nach, ſich
durch den Augenſchein von meiner Beſſerung
zu uͤberzeugen, ſie forſchten: Ob ich ſchrei-
ben und leſen koͤnne? und bedauerten es im
Namen ihres Herrn, wenn ich dies vernei-
nen mußte.
Als ich ſchon mein Lager verlaſſen konnte,
im Gemache umher wandelte, und der Ver-
ſicherung meiner Waͤrterin gemaͤß, gleich
einer Roſe bluͤhte, hoͤrte ich an einem Mor-
gen groſſes Getuͤmmel vor dem Hauſe des
Arztes. Ich blickte hinab, und ſah mei-
nen Retter vom Roſſe ſteigen, er eilte
nach meinem Gemache, und blieb voll Ver-
[255] wunderung ob meiner wenigen Schoͤnheit an
der Thuͤre ſtehen. Euer herrliches Bild,
ſprach er, ſtand immer vor meinen Augen,
ich ſahs ſchlafend und wachend, aber eure
Gegenwart uͤberzeugt mich deutlich, daß mei-
ne Einbildungskraft ein armſeliges Ding war,
mir nur Daͤmmerung zeigte, wo helles Licht
herrſchte.
Meine Verwirrung war groß, haͤtte ich
auch ſprechen koͤnnen, ich wuͤrde doch nicht
geantwortet haben. Seine Freude uͤber mei-
ne gluͤckliche Rettung, uͤber meine bluͤhende
Geſundheit war aͤcht und rein, mein Dank
fuͤr ſeine Huͤlfe lebhaft und warm. Ich hatte
bisher noch nie geliebt, dem Ritter Otto,
der mich ſo ſchrecklich raubte, nur aus Mit-
leid geduldet, izt uͤberwaͤltigte dieſe gefaͤhr-
liche, aber auch ſuͤſſe Leidenſchaft mein Herz
mit einmal. Ich ſah, ich hoͤrte nur ihn,
den geliebten Retter, vergaß Vater, Mut-
[256] ter und Sohn, als er mir bald nachher ge-
ſtand, daß er zum Lohne ſeiner edlen That
nur Mitleid von mir forderte, und offen
geſtand, daß er ohne meine Liebe der Un-
gluͤcklichſte der Sterblichen ſein wuͤrde.
Er erzaͤhlte mir, daß er Kaiſer Ludwigs
zwar unaͤchter, aber zaͤrtlich geliebter und
anerkannter Sohn ſei, von ihm, als er
mich im Forſte fand, an den boͤhmiſchen Koͤ-
nig Johann geſandt wurde, um ihm zu ſei-
ner Vermaͤhlung Gluͤck zu wuͤnſchen, daß er
auf dieſem Zuge die Schaͤtze der Braut ret-
tete, als ſie ſchon in der Raͤuber Haͤnden
waren. Dieſe tapfere That, welche er ſeg-
nete, weil er mich fand, hatte ihm die
Liebe des Koͤnigs erworben, er mußte wi-
der ſeinen Willen laͤngere Zeit am Hofe deſ-
ſelben weilen, kam izt von Landshut, wo
er ſeinem Vater Bericht erſtattete, und wollte
nun nach ſeiner Veſte ziehen, die nahe an
Tirols
[257] Tirols Graͤnzen lag, und ihm vom Vater
als Erbtheil geſchenkt wurde. Er flehte, daß
ich mit ihm ziehen, die ſchoͤne Gegend in
ein Paradies wandeln ſollte; ich verſprachs,
und er frohlockte ſehr. Er forſchte emſig nach
meiner Geſchichte, nach meinem, nach meines
Vaters Stand und Namen, mit aller Muͤhe,
die ich anwande, konnte ich ihm doch nur be-
greiflich machen, daß mein Vater ein edler Rit-
ter ſei, daß die Raͤuber mich mit Liſt geraubt
hatten. Mehr forderte er nicht, und ich zog,
willig mit ihm.
Ehe wir noch die Veſte erreichten, hatte
ich ihn, und er mir ſchon innige Liebe ge-
ſtanden, als wir einige Tage dort angelangt
waren, trat er mit einem ehrwuͤrdigen Moͤnch
in mein Gemach, und heiſchte Erklaͤrung:
Ob ich ihm in Gegenwart dieſes Prieſters
meine Hand reichen, und ſein Weib werden
wolle? Ich gedachte zum erſtenmale der
Biogr. d. W. 4r Bd. R
[258] Verbindung mit dem Raͤuberhauptmanne, die
freilich kein Prieſter geſegnet hatte, die ich
ihm aber doch zu entdecken wuͤnſchte. Ich
kaͤmpfte anhaltend, Schaam und Gefuͤhl wi-
derſprach dem Bekenntniſſe, das ich ohnehin
nicht leiſten konnte, ich liebte ſtark und hef-
tig, ich widerſtand nicht laͤnger, und reichte
ihm am dritten Tage in der Burgkapelle mei-
ne Hand.
Er liebte mich als Gatte immer zaͤrt-
licher, ſtets inniger, und verließ mich nur,
wenn aͤuſſerſte Nothwendigkeit ihn zwang, am
Hofe ſeines Vaters zu erſcheinen. Mit ver-
mehrter Zaͤrtlichkeit und groͤßter Sehnſucht
kehrte er dann in meine Arme zuruͤck, und
genoß in meinen Armen das ſchoͤnſte Gluͤck
der reinen Liebe. Oft weinte ich, wenn
ich ſeine zaͤrtlichen Worte nur durch ſtumme
Blicke erwiedern konnte, oft wuͤnſchte ich
ſehnlich ſie durch deutlichere Zeichen ausdruͤcken
[259] zu koͤnnen, und wundere mich izt ſehr, daß
weder ich noch er der ſo edlen Schreibekunſt,
die mir izt ſtatt Worte dient, nicht gedachten,
da er ſie aber wahrſcheinlich auch nicht verſtand,
ſo erinnerte er ſich dieſes Huͤlfsmittels nie,
und behauptete immer, daß eben mein ſtum-
mer und doch ſo beredter Blick ſein Herz ſo
feſt und ſtark feßle. Erſt ein halbes Jahr
nach unſrer Ehe geſtand er mir, daß ſein Va-
ter von dieſer keine Kenntniß habe, daß er
aber hoffe, er werde ſie einſt billigen, und
ihm erlauben, mich im Triumphe nach Hofe
zu fuͤhren. Wie ein Jahr verfloſſen war, ge-
bahr ich ihm eine Tochter. — Dies warſt
du, geliebte Kleta.“ — — —
Der Moͤnch hielte hier inne, er ſtarrte
nach Hugo und Kleta hin, die vereint laut auf-
ſchrien, und voll Verzweiflung ihre Haͤnde
rangen. So ſchwindet endlich die lezte mei-
ner Hofnungen, jammerte Hugo. Habe ichs
R 2
[260] nicht geweiſſagt! wimmerte Kleta, und
verhuͤllte ihr Geſicht. Der Moͤnch rang nach
Troſt fuͤr die Ungluͤcklichen, und fand keinen.
Endlich heiſchte Kleta den weitern Erfolg der
Geſchichte, er wiſchte die Thraͤnen aus ſeinen
Augen, und las weiter:
„Ich bin unfaͤhig, dir die Wonne deines
Vaters zu ſchildern, als er von der Jagd
ruͤckkehrte, und meine Waͤrterinnen dich in
ſeine Arme legten. Er ſegnete dich kraͤftig,
er gelobte vor Gott und mir, dir Vater zu
ſeyn, ſo lange er lebe, dein Gluͤck auch nach
ſeinem Tode zu befoͤrdern und zu befeſti-
gen.
Gott ſchenkte mir in der Folge keine Kin-
der mehr, du warſt das einzige Pfand unſrer
Liebe, dein guter Vater liebte dich gleich ſei-
nem Augapfel, und eben ſo zaͤrtlich wie mich,
oft ward dir jeder Kuß, den ich von ihm er-
[261] hielt, doppelt. Vier Jahre — ach die
gluͤcklichſten meines Lebens! — verfloſſen
nun in ſtiller, genußreicher Ruhe. Wohl
zehnmal zog er unter dieſer Zeit aus der Ab-
ſicht nach ſeines Vaters Hofe, um ihm ſeine
Heurath zu entdecken, aber immer verſchwieg
er ſie, weil er den moͤglichen, boͤſen Ausgang
fuͤrchtete, und ſich keine Freude, kein Leben
ohne mich denken konnte.
Als ſein Vater den Zug nach Italien be-
ſchloſſen hatte, und ihn mit ſich nehmen woll-
te, da zwang ihn aͤuſſerſte Noth endlich zur
Entdeckung. Anfangs zuͤrnte der ſonſt ſo
gnaͤdige Vater heftig, wie er ihm aber alles
erzaͤhlte, ihn mein ehemaliges Schickſal aufs
lebhafteſte ſchilderte, meine Schoͤnheit, meine
Geiſtesgaben allzu reichlich lobpreißte, und
ihm ſein groſſes Gluͤck mit den ruͤhrendſten
Worten erzaͤhlte, da neigte ſich ſein Herz zur
Verzeihung, er vergab ihm den voreiligen
[262] Schritt, und verſprach auf ſeinem Heerzuge
in ſeines Sohnes Veſte einzukehren, und ſich
von ſeinem Gluͤcke zu uͤberzeugen; auch ent-
ließ er ihn des Zuges nach Italien. Ich habe,
ſprach er liebreich, auch einſt innig geliebt,
du warſt die Frucht dieſer Liebe, ich erinnere
mich noch wohl, daß gewaltſame Trennung
mir beinahe das Leben koſtete, ich will nicht
ſo hart, wie mein Vater ſeyn, will dich nicht
trennen von der geliebten Gattin, ſie nur ſe-
hen, und ſegnen.
Reichlicher Schweiß der haſtigſten Eile
triefte von ſeinen Wangen, als er mir dieſe
Bothſchaft brachte, ich genoß die goldnen
Fruͤchte derſelben mit ihm, und traͤumte mir
ſchon die heiterſte, gluͤcklichſte Zukunft. Mein
feſter Vorſatz wars, nach vollendeter Verſoh-
nung meinen Gatten zu bewegen, nach Boͤh-
men zu reiſen. Ich kannte die Gegend, in
welcher meines Vaters Veſte lag, hofte ſie
[263] zu finden, und durch den Seegen der theuern
Eltern mein Gluͤck zu vergroͤſſern. Ich hatte
in einſamen Stunden mir ſchon oft ihren Jam-
mer, und die Wonne des Wiederſehens ge-
dacht, aber ich konnte und durfte dieſe Bitte
nicht wagen, weil dem Vater meines Gatten
die Heurath nicht bekannt war, der Zug nach
Boͤhmen ſie ruchtbar gemacht haͤtte.
Acht lange Tage harrten wir der Ankunft
des Kaiſers entgegen, endlich langte ein Eil-
bote auf der Veſte an, und brachte die frohe
Nachricht, daß er vielleicht in der Nacht des
folgenden Tages, waͤre aber dies nicht moͤg-
lich, am andern Morgen ſicher anlangen
wuͤrde. Mein Gatte hatte mich ehe ſchon mit
praͤchtigen Kleidern, und den herrlichſten
Kleinodien beſchenkt, er forderte, daß ich
mich mit den ſchoͤnſten zieren ſollte, ich ver-
wande den folgenden Tag zu meinem Putze,
und harrte am Abende hoffend und ahndend
[264] der Ankunft des Kaiſers. Auch du, meine
Kleta, warſt ſchoͤn geputzt, und glichſt einem
Engel der Unſchuld. Vielleicht erinnerſt du
dich noch: Wie dein Vater dir einen ſchoͤnen
Willkommen lehrte, dirs emſig vormachte,
wie du dem vornehmen Gaſte entgegeneilen,
deine Arme gegen ihn ausſtrecken, und ſeine
Knie umfaſſen ſollteſt.
Als finſtere Nacht die Gegend ſchon lange
deckte, ſchwand unſre Hofnung, aber bald
weckte ſie des Waͤchters Ruf aufs neue, er
meldete kurz nachher, daß viele Reiſige im
Thal herauf zoͤgen. Dein Vater ließ Fackeln
anzuͤnden, und die Thore oͤfnen. Ich eilte an
ſeinem Arme die Treppe hinab, und vergaß
deiner in der Eile, weil du ſchon im Arme
der Waͤrterin ſchlummerteſt. Wie wir hinab
kamen, fuͤllten ſchon viele Reiter den Vorhof,
ich zitterte und bebte, als ich Schwerdtklang
und Jammergeſchrei der Diener hoͤrte. Mein
[265] Gatte drang vorwaͤrts, ich ſah Schwerdter
uͤber ſeinem Haupte glaͤnzen, und ſah ihn nie
mehr, denn ich ſank ohnmaͤchtig zu Boden.
Wie ich wieder erwachte, ſtand die Veſte
ſchon in hellen Flammen, verwundete Knech-
te und Diener winſelten unfern von mir.
Viele Reiter umgaben mich, bedeckten mich
mit einem Mantel, und hoben mich auf ein
Roß. Ich jammerte ſchrecklich, einer derſel-
ben war ſo barmherzig mir dich, meine Kle-
ta, aufs Roß zu reichen, du klammerteſt
deine Haͤnde um meinen Nakken, und ich hiel-
te mich mit aller Gewalt aufrecht, um dich
nicht ſinken zu laſſen. Der Zug begann nun
eilend und ſchnell, ich mußte in ihrer Mitte
traben. Meine Augen ſuchten in der Finſter-
niß meinen geliebten Gatten, und [fanden] ihn
nicht. Ich glaubte, daß dies Rache des nur
verſtellten aber nicht verſoͤhnten Vaters ſey,
und waͤhnte, daß man mich aus ſeinen Ar-
men geriſſen habe, um mich ewig einzuker-
[266] kern. Mein Leid war groß, aber es mehrte
ſich bis zur Rieſengroͤſſe, wie der Morgen an-
brach, und mir es nach und nach zur vollen
Gewißheit ward, daß ich mich in der Geſell-
ſchaft der Raͤuber befand, mit denen ich eini-
ge Jahre in den Hoͤhlen des Forſtes gewohnt
hatte. Viele gruͤßten mich hoͤniſch, nur we-
nige blickten mich mitleidig an.
Ich ahndete nun ſchreckliche Dinge, ich
waͤhnte, daß ihr Hauptmann, deſſen heftige
Liebe ich kannte, meinen Aufenthalt entdeckt,
mich meinem Gatten entriſſen habe, und nun
wieder zu ſeiner Buhlerin machen wolle. Ich
bin nicht faͤhig, dir das ſchaudervolle Ent-
ſetzen uͤber dieſen Gedanken zu ſchildern, er
erregte in mir den Vorſatz zum Selbſtmorde,
welchen ich gewiß ſchnell ausgefuͤhrt haͤtte,
wenn dein Anblick mich nicht abgehalten haͤtte.
Ich war noch ungewiß: Ob ich dich mit mir
[267] vernichten, oder in den Haͤnden ruchloſer
Raͤuber zuruͤcklaſſen ſollte?
Am Mittage raſteten wir in einem dun-
keln Forſte. Die Raͤuber lagerten ſich am Bo-
den, und ruhten bald ſanft, nur zwei der
Aelteſten ſetzten ſich wachend zu mir, und bo-
ten mir Trank und Speiſe, welche ſie mit ſich
fuͤhrten. Ich gedachte deiner nicht, und ver-
ſchmaͤhte alles, aber die Alten waren ſo
barmherzig, Mutterſtelle an dir zu vertreten,
und deinen Hunger zu ſtillen. Meine Augen
hatten mich nun uͤberzeugt, daß mein ehema-
liger Geliebter nicht in unſrer Mitte ziehe,
ich haͤtte ſo gerne nach ihm gefragt, um mei-
nes ſchrecklichen Schickſals gewiß zu werden,
aber der Verluſt meiner Zunge hinderte mich
daran. Der Aelteſte mochte wahrſcheinlich
meine Sehnſucht nach Aufklaͤrung in meinem
Geſichte leſen, er blickte mich mitleidsvoll
an.
[268]
Arme Frau, ſprach er, euch war die Ra-
che nicht vorbereitet, euch traf ſie allerdings
unſchuldig! — Ich war ſo gluͤcklich, ihm
durch Zeichen begreiflich zu machen, daß ich
Erzaͤhlung der ganzen Begebenheit zu hoͤren
wuͤnſche, ihm ſolche mit dem waͤrmſten Danke
lohnen wuͤrde.
Er achtete meine Bitte, und erzaͤhlte mir,
daß ſie nach dem ungluͤcklichen Raube, welchen
ſie an dem Schatze der koͤniglichen Braut uͤben
wollten, ihr Hauptmann, welcher mich einſt
liebte und raubte, verlaſſen habe. Es geſchah,
ſagte er, aus gerechtem Schmerze uͤber die
grauſame That, welche einer aus unſrer Ge-
ſellſchaft wider ſeinen Willen und Befehl an
euch geuͤbt hatte. Er vergalts ihm mit dem
Tode, ſuchte euch bei den Hoͤlen, fand euch
nicht, und verließ uns, um vielleicht in einer
Einoͤde eueren Tod zu betrauern. Wir waͤhlten
uns einen andern, und bereiteten uns in ei-
[269] nem andern Forſte neue Wohnungen, damit
wir aber die Boͤhmen nicht zur neuen Rache ge-
gen uns reitzen, ſie zur Entdeckung unſers
Aufenthalts zwingen moͤchten, ſo ward feſt
beſchloſſen, daß wir in dieſem Lande keinen
Raub mehr uͤben, ſondern in benachbarten
Laͤndern umherſtreifen, dort unſern Raub und
Unterhalt ſuchen wollten. Dieſe kluge Vorſicht
ſchuͤzte uns herrlich, uͤberall ſuchte man den
Aufenthalt der maͤchtigen Raͤuber auszufor-
ſchen, nur in Boͤhmen nicht, weil dort nie-
mand uͤber Raub klagte, keinen Raͤuber in der
Naͤhe waͤhnte.
Vor einem Monden vernahmen wir, daß
izt viele Edle mit reichen Koſtbarkeiten beladen
nach Italien zogen, um dort die Kroͤnung des
Kaiſers feiern zu helfen. Wir eilten in ge-
theilten Haufen nach Bayern, verlegten die
verſchiednen Straſſen, welche nach Italien
fuͤhrten, und ſuchten Beute zu machen. Wie
[270] unſer Hauſe im Forſte, der nahe an eurer Ve-
ſte liegt, lauerte, erfuhren wir durch einige
Bauern, daß des Kaiſers Sohn, welcher uns
einſt ſo ſchrecklich zuͤchtigte, dort hauſe, und
in den Armen einer Stummen ſchwelge, die
er einſt aus Boͤhmen mit ſich gebracht habe.
Begierde nach Rache ward im ganzen Hau-
ſe rege, die meiſten gelobten, das ehemalige
Unbild wo moͤglich an ihm zu raͤchen, ihm we-
nigſtens die geliebte Stumme zu entfuͤhren,
welche wir ſogleich fuͤr euch erkannten. Um zu
erfahren: Ob eure Veſte wohl bemannt und
bewacht ſey? zogen verſchiedne von uns auf
Spaͤhe aus, ſie brachten troͤſtende Nachrichten,
hatten als gewiß erfahren, daß nur wenige
Reiſige, meiſtens unbewafnete Maͤgde und
Diener dort wohnten. Schon war ein Sturm
auf die Veſte beſchloſſen, als uns Kundſchaft
ward, daß der Kaiſer mit einem ſtarken Zuge
ſich nahe.
[271]
Ihn anzutaſten, war unſer Wille nicht,
reichte unſre Kraft nicht, wir wollten uns da-
her eben von der Straſſe ab, tiefer in den
Forſt ziehen, als einige der Unſern die Nach-
richt brachten, daß der Kaiſer dieſe Nacht in
der Burg erwartet, aber dort ganz gewiß
nicht anlangen werde, weil er in einem nahen
Staͤdtchen in ihrer Gegenwart nur mit wenigen
ſeines Gefolgs Nachtherberge genommen, ſei-
ne Reiter und Reiſige aber auf einer andern
Straſſe gen Tirol vorwaͤrts geſandt habe.
Bei dieſem gluͤcklichen Umſtande, fuhren ſie
fort, kann ſchnelle Liſt unſre Rache foͤrdern.
Des Kaiſers Sohn erwartet noch immer den
Vater, dies erfuhren wir izt erſt von einigen
Dienern, welche auf der Straſſe ſpaͤhten, und
bei uns nach ihm forſchten; wir benuzten die
Gelegenheit, und verſicherten ſie, daß er im
Anzuge begriffen ſey. Kommt, Bruͤder,
kommt, laßt uns, wenns ganz dunkel iſt,
nach der Veſte ziehen, man wird ſicher glau-
[272] ben, der Kaiſer nahe, und uns die Thore oͤf-
nen. Wir haben dann volle Gelegenheit, Ra-
che an dem Sichern zu uͤben, und ihn zu uͤber-
zeugen, daß man uns nicht ungeahndet belei-
dige.
Das Wagſtuͤck war groß, aber eben des-
wegen auch Reiz fuͤr alle. Nur uns zweien
(auf ſeinen Gefaͤhrten deutend)
behagte es nicht, aber wir mußten dem Stro-
me folgen. Die Liſt gelang, und die Rache
ward vollendet. Dein Gatte oder Buhle, wel-
cher einſt viele der Unſern ermordet, und unſe-
re Hoͤlen zerſtoͤrt hatte, mußte mit der Ue-
berzeugung ſterben, daß wir Rache an ihm
uͤbten. Auch uͤber dich war Tod beſchloſſen
aber dein koſtbarer Anzug, deine Schoͤnheit,
blendete das Auge der meiſten, ſie wurden
andern Sinnes. Unſer neuer Hauptmann hat
noch keine Geliebte, ſie beſtimmten dich fuͤr
ihn, ich ſah dein Verlangen nach dem Kinde,
ich
[273] ich reichte es dir, um dich zu troͤſten. Schicke
dich in dein Schickſal, du warſt es ehe ſchon
gewohnt. Der Hauptmann iſt jung und ſchoͤn,
er erzaͤhlte uns oft, daß er dich ſchon ehemals
liebte, und ehrte; dies bewog uns vorzuͤglich
zum Entſchluſſe. Sey daher weiſe, es wird
dir bei uns wohlergehen. — —
Noch begreife ichs immer nicht, wo ich
Muth und Entſchloſſenheit ſammlete, um dieſe
ſchrecklichen Nachrichten mit Standhaftigkeit
anzuhoͤren. Die Gewißheit, daß der ſo innig
geliebte Gatte wuͤrklich ermordet ſei, drohte
mein Herz zu zerreiſſen, und doch verrieth
mein Geſicht dieſe ſchmerzhafte Empfindung
nicht. Ich laͤchelte aus Verzweiflung, aber
die Raͤuber nahmens fuͤr Empfindung der
Freude, und machten es den Uebrigen kund,
als ſie erwachten. Flucht oder Tod war izt der
einzige Gedanke, welchen meine Seele dachte
und faßte.
Biogr. d. W. 4r Bd. S
[274]
Um beides nach Gefallen auszuuͤben, muß-
te ich wenigſtens einige Freiheit genuͤſſen, um
dieſe zu genuͤſſen, wandte ich alle Mittel an,
die Raͤuber zu uͤberzeugen, daß ich gerne in
ihrer Mitte zoͤge, mich willig dem beſtimmten
Schickſale fuͤgen wuͤrde. Meine Liſt gelang, ſie
bewachten mich nicht mehr ſo ſorgfaͤltig, achte-
ten mich verwahrt genug, wenn ſie ſich rings
um mich lagerten und ruhig ſchliefen. Der
Zug ging ſtets durch Einoͤden und Waͤlder,
ging langſam, weil die Roſſe ſchwer mit Beute
beladen waren. Ich konnte oft entfliehen, aber
ich wagte die Flucht nicht, weil ich den Hun-
gertod ahndete, ihn um deinetwillen nur fuͤrch-
tete.
Nach einer weiten Reiſe lagerten wir uns
im Thale eines Forſtes, ich ſtaunte, ich konnte
kaum Thraͤnen der wehmuͤthigen Freude ver-
bergen, als ich hinter den Felſen die Kapelle
erblickte, in welcher ich ſo oft betete. Mein
Herz ſchlug aͤngſtlich und hoffend, wie mein
Auge endlich gar den Wartthurm der vaͤterli-
[275] chen Veſte gewahrte. Ich verſtellte mich mehr
als je, ſuchte zuerſt mein Lager, und ruhte,
wie die Raͤuber noch tranken. Ich hoͤrte es
deutlich, wie ſie ſich wunderten, daß ich die Ge-
gend nicht erkannt hatte, und frohlockte inge-
heim, als ſie ſich treuherzig verſicherten, daß
ich willig in den Armen ihres Hauptmanns ru-
hen, gerne in ihren Hoͤhlen wohnen wuͤrde.
Die gewiſſe Hofnung, ſchon am andern Tage
in ihren Hoͤhlen einzutreffen, ihre Weiber wie-
der zu umarmen, machte ſie ungewoͤhnlich hei-
ter, ſie tranken viel und ruhten feſt, wie ich
meine Flucht mit dir wagte und gluͤcklich vollen-
dete.
Nun folgten viele Lehren und mancherlei
Auftraͤge, welche die Mutter ans Herz ihrer
Tochter legte. Sollte, ſprach ſie, Otto von
Farwangen noch hienieden wallen, und du ihn
einſt finden, ſo verkuͤndige ihm meine volle
Verzeihung. Er hat mich einſt graͤnzenlos un-
gluͤcklich gemacht, aber ihm verdanke ichs doch,
S 2
[276] daß ich durch vier Jahre unbeſchreiblich gluͤck-
lich im Arme meines Gatten lebte, ich will da-
her nicht mit ihm hadern, und nicht ſeine An-
klaͤgerin bei Gott werden. Ruͤckerinnerung an
den ungluͤcklichen, unſchuldigen Sohn, den ich
mit ihm gebahr, quaͤlt noch immer mein muͤt-
terliches Herz. Ich konnte es nie erforſchen:
Ob er noch, und wie er lebe? Dein ſei izt die
Pflicht, dies Nachforſchen fortzuſetzen, ihn
reichlich zu unterſtuͤtzen, der Mutter Haabe
mit ihm zu theilen, wenn du ihn arm, ihn
als Bruder zu lieben, wenn du ihn reich und
wohlhabend findeſt.
Oft wollte ich mich dem Kaiſer nahen, und
ihm entdecken, daß ich die Leidende ſei, welche
ſein ermordeter Liebling einſt ſo gluͤcklich mach-
te, aber immer zitterte ich zuruͤck, wenn ich
dieſen Schritt wagen wollte, der dann nur erſt
zur Nothwendigkeit wird, wenn man Zweifel
wider deine edle Geburt erregen ſollte. Voll-
bringe du dies Vorhaben, wenn deine Mutter
ſtarb, ehe ſies vollbrachte, nahe dich mit dei-
[277] nem kuͤnftigen Gatten ſeinem Throne, beweiſe
ihm, daß du ſeine rechtmaͤſſige Enkelin ſeiſt, und
er wird dirs und deinen Kindern wahrſcheinlich
mit groſſen Wohlthaten lohnen.“
Lange ſaſſen die Ungluͤcklichen noch ſtumm
und trauernd, als der Moͤnch ſchon mit ſeiner
Vorleſung geendet hatte. Jeder hofte Stof
zur Ueberlegung in Fuͤlle. Hugo ſuchte noch
immer und emſig Rettung aus dem ſchrecklichen
Abgrunde, in welchen er ſich geſtuͤrzt fand.
Kleta ſah nun in vollem Lichte die Urſache,
warum ihre Mutter bei Hugos Anblick ſo er-
ſchrak, bei ſeiner Anwerbung zuruͤckbebte, und
ihr Erhoͤrung ſeiner Wuͤnſche unter dem ſchreck-
lichſten Fluche verbot. Ruͤckerinnerung an ihr
voriges Leiden, und allzu heftige Gemuͤthsbe-
wegung verhinderten ſie wahrſcheinlich an
ſchneller Entdeckung. Sie wollte erſt wieder
Kraͤfte ſammlen, und beſchied deswegen den
wiedergefundnen Sohn auf den andern Tag,
an deſſen Morgen neues Schrecken ihr Leben
endete. Kleta bereute izt innig, daß ſie der
[278] Mutter Fluch nicht geachtet hatte. Erfuͤllung
des ſchrecklichen Gebots, rief ſie laut aus, haͤt-
te mich aͤuſſerſt ungluͤcklich, aber doch nicht nam-
los elend gemacht!
Der Moͤnch, deſſen Herz vaͤterliches Ge-
fuͤhl fuͤllte, wuͤnſchte zu helfen und zu retten.
Es ſah als gewiß voraus, daß Trennung ihm
ſeinen wiedergefundnen Sohn rauben und toͤd-
ten wuͤrde, und ſuchte daher ſein Leben durch
wahrſcheinlichen, moͤglichen Troſt zu friſten.
Komm, mein Schmerzensſohn, ſprach er,
komm, und folge mir, ich will dich zu den
Fuͤſſen des heiligſten Vaters nach Avignon fuͤh-
ren, er allein kann vergeben, und eure fernere
Ehe, wenn er die Umſtaͤnde erwaͤgt, beſtaͤtigen
und billigen. Ihm ward Gewalt, zu loͤſen
und zu binden, er wird mich hoͤren, deinen
Jammer ſehen, und das Verbrechen loͤſen,
welches auf eurer Ehe ruht, das ihr nicht vor-
ſaͤtzlich uͤbtet, das ihr gerne vernichten wolltet,
wenns in eurer Macht ſtuͤnde.
[279]
Hugo ergriff dieſen Vorſchlag mit heftiger
Begierde, er hofte gluͤcklichen Erfolg, und
troͤſtete ſeine Kleta ſchon im voraus mit dieſer,
aber Verzweiflung hatte das Herz der Un-
gluͤcklichen ſchon vergiftet, ſein Troſt wuͤrkte
nicht, ſie widerrieth die Reiſe nicht, weil Tren-
nung doch unvermeidlich war, aber ſie verzwei-
felte ganz am gluͤcklichen Erfolge.
Wie Hugo am andern Morgen mit ſeinem
Vater reiſefertig an ihr Lager trat, glaͤnzte
keine Thraͤne in ihrem Auge, es ſtarrte ihn
angſtvoll an, ihre Seele fand keine Worte, den
Schmerz auszudruͤcken, der ihr Herz preßte.
Sie gelobte nur dem Gatten und Bruder
durch Minen, daß ſie nicht Hand an ſich legen,
nicht an Gottes Barmherzigkeit verzweifeln,
und ſeine Ruͤckkehr in Geduld abwarten wolle.
Sie verließ einen halben Monden lang ihr
Gemach nicht, ſprach aͤuſſerſt wenig, betete an-
haltend und lange. Oft fand man ſie haͤnde-
ringend und weinend. Der Mutter Fluch
druͤckt mich ſchwer! antwortete ſie dann immer,
[280] wenn ihre treue Waͤrterin nach der Urſache die-
ſer Thraͤnen forſchte. Einſt aͤuſſerte ſie hefti-
ges Verlangen, in der Kapelle zu beten, aus
welcher man ihre Mutter geraubt hatte. Der
Vogt, dem ſtrenge Obhut uͤber ſie geboten
war, begleitete ſie mit vielen Reiſigen dahin,
ſie betete lange, und ging ruhig und heiter von
dannen. In der folgenden Nacht entſtand
ſchrecklicher Gewitterſturm; ein heftiges Erd-
beben begleitete ihn, drohte die Veſte einzu-
ſtuͤrzen, und durch die Waſſerfluthen, welche
ſich in Stroͤmen vom Himmel herab waͤlzten,
alle lebende Geſchoͤpfe zu erſaͤufen. Auch der
Muthvollſte bebte, aber unter allen am meiſten
Kleta; jeder Blitz warf ſie auf ihr Lager zu-
ruͤck. Gottes Gericht iſt ſchrecklich, rief ſie im-
mer, die Wuͤrkung des muͤtterlichen Fluchs ver-
heerend; ich muͤhe mich vergebens, ich kann ſie
nicht wegbeten!
Schon am Morgen verlangte ſie wieder
nach der Kapelle, man erfuͤllte ihr Gebot, und
leitete ſie durch Umwege dahin, weil Erdbeben
[281] und Waſſerſtroͤme den gewoͤhnlichen Pfad ver-
nichtet hatten. Wie der Zug dort anlangte,
ſah man erſt, daß das Erdbeben auch ſeine
Macht an der Kapelle bewieſen habe; ſie ſtand
auf einer Felſenſpitze, die ihren Schatten von
der ſenkrechten Hoͤhe herab ins tiefe Thal warf,
von der andern Seite aber gemaͤchlich beſtiegen
werden konnte, weil des Felſens breiter Ruͤk-
ken ſich hier nur langſam erhob. Das Erdbe-
ben hatte die Grundveſte der Kapelle erſchuͤt-
tert, und der wuͤthende Sturm ſie ins Thal
hinab geſchleudert. Die Felſenſpitze, die man
wahrſcheinlich einſt durchgehauen hatte, theilte
ſich izt in zwei gleiche Theile, und bildete eine
Hoͤhlung, welche eine gereizte Einbildungskraft
fuͤr ein abſichtlich gemachtes Lager halten konn-
te. Kleta ſtarrte lange nach dieſer Oefnung
hin, endlich ſprang ſie raſch hinzu, und legte
ſich darein. Der Mutter Fluch, ſchrie ſie mit
wildem Gelaͤchter, iſt nun erfuͤllt! Mein Braut-
bette hat ſich in Stein verwandelt, bald wer-
den Schwefelflammen uͤber mich empor lodern!
Betet, betet, daß ich gluͤcklich ende!
Keine Worte des Troſtes fanden Eingang
in ihrem Herzen, keine Vorſtellung vermochte
[282] ſie, den Ort zu verlaſſen. Man mußte Gewalt
brauchen, und reizte ſie dadurch zur aͤchten Ra-
ſerei des Wahnſinns, die nur dann endete,
wenn man ihr verſprach, ſie bald wieder in ihr
Brautbette zu fuͤhren. Sie ſprach nur von
dieſem, alle ihre Ideen und Gedanken beſchaͤf-
tigten ſich einzig damit, man mußte ſie jeden
Tag dahin leiten, wenn man nicht toͤdliche Ra-
ſerei in ihrem Herzen erregen wollte. Sie ver-
gaß bald ganz ihres Hugos, gedachte ſeiner nie
mehr, und ſchien auch alle andere Begebenhei-
ten ihres Lebens vergeſſen zu haben.
Nach fuͤnf Monden kehrte Hugo mit ſeinem
Vater zuruͤck. Freude und Wonne glaͤnzte in
ſeinem Geſichte, der Pabſt hatte ſein Flehen er-
hoͤrt, ihm fernere Ehe mit ſeiner Stiefſchweſter
geſtattet, wenn er dagegen eine Kirche baue,
und eines ſeiner Kinder dem Herrn widme.
Freude und Wonne wandelte ſich aber bald in
Leid und Jammer, als er ſich uͤberzeugte, daß
ſeine Kleta ihn nicht mehr kenne, und ein Raub
des Wahnſinnes geworden ſey. Er hofte ver-
gebens daß ſeine Gegenwart, die Verſicherung
ihres Gluͤcks ſie heilen wuͤrde, ſie ſchien ſeine
Troſtgruͤnde nicht zu hoͤren, und war nie zu be-
[283] wegen, ihm nur die Hand zum Willkomm zu
reichen. Sie eilte, wie ehe und zuvor, jeden
Tag wenigſtens einmal nach ihrem Brautbette,
und duͤnkte ſich nur dann gluͤcklich, wenn ſie ei-
nige Stunden darinne ruhen konnte.
Hugo war immer ihr Begleiter, einſt
folgte er ihr auch dahin, und ſah traurend
zu, wie die arme Wahnſinnige, voll Ver-
gnuͤgen nach ihrem ſteinernen Brautbette
ſprang, aber auch voll Angſt den Ausbruch
der Schwefelflammen erwartete. Er nahte
ſich ihr troͤſtend, ſie ſchien diesmal ſeine
Worte zu hoͤren, und blickte ihn laͤchelnd an.
Mit einem Ausbruch der Freude rief ſie end-
lich aus: Biſt du nicht Hugo? Nicht mein
Braͤutigam? O ſo komm! lagere dich hie-
her! Das Brautbette iſt ſchon bereit! — —
Wie ſie dieſe Worte ausgeſprochen hatte,
wollte ſie den Erwarteten Platz machen, draͤng-
te ſich mit ihrem Koͤrper allzu weit vorwaͤrts,
und ſtuͤrzte durch die Oefnung des Felſens
ins tiefe Thal hinab. Ihr Koͤrper lag zer-
ſchmettert am Boden, ſie hatte ſchrecklich
und grauſam geendet. Hugo wuͤrde Nach-
folger geworden ſein, wenn ſeine Getreuen
[284] ihn nicht abgehalten haͤtten, er folgte bald
nachher ſeinem Vater ins Kloſter, weihte
ſich und ſein Haabe dem Herrn, und ſtarb
freudig, um von dieſem den Lohn ſeines
namloſen Jammers zu erhalten.
Wahrſcheinlich ſprach er vorher noch ein-
mal mit dem Kaiſer, und entdeckte ihm,
daß die Raͤuber, welche einſt ſeinen Sohn
mordeten, noch in Boͤhmens Forſten niſte-
ten; denn jener durchzog bald nachher in
Geſellſchaft des Konigs Johann die ganze
Gegend, fand die Raͤuber, ließ Feuer in
ihre Hoͤhlen werfen, und verbrannte alles,
was lebte. Noch ſieht man dieſe Hoͤhlen,
deren Waͤnde ganz ſchwarz gefaͤrbt, und hie
und da ganz ausgebrannt ſind.
Kleta ward an der Staͤtte, wo ſie en-
dete, begraben, Ein gothiſcher Leichenſtein
bezeichnete lange ihr Grab, izt iſt keine Spur
mehr davon vorhanden. Nahe dabei ent-
ſpringt aber ein Brunnen, welchen man all-
gemein das Fluchbruͤnnlein nennt, deſſen
Waſſer niemand trinkt, weil es Ausſatz ver-
urſacht, und ſtark nach Schwefel ſchmeckt.
Wenns daͤmmert, ſolls dort, nach Verſiche-
rung aller alten Muͤtterchen, nicht ſicher zu
wandeln ſein, und haͤufige Irrwiſche den
Wanderer irre fuͤhren.
Altar genannt, welches in der Mitte des Hin-
tergrundes der Kirche ſteht, und in deſſen Ta-
bernakel die geweihten Hoſtien (das Hochwuͤr-
digſte) aufbewahrt werden.
- Lizenz
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Spiess, Christian Heinrich. Biographien der Wahnsinnigen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bqdd.0