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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht.

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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht
oder
Vor fünfzig Jahren.


Vaterländiſcher Roman



Erſter Band.


Berlin.:
Verlag von Carl Barthol.

1852.

[[IV]][[V]]

Dr. Jonas Cenarius fragte Dr. M. Luther um Rath:
Es wäre ein Schulmeiſter in Schleſien, nicht ungelehrt, der
hatte ihm fürgenommen, eine Comödie im Terentio zu
agiren und zu ſpielen. Viel aber ärgerten ſich daran,
gleich als gebühre einem Chriſten-Menſchen nicht ſolch
Spielwerk aus heidniſchen Poeten. Was er, Dr. Luther,
davon hielte? Da ſprach er: Comödien zu ſpielen ſoll
man um der Knaben willen in der Schule nicht wehren,
ſondern geſtatten und zulaſſen. Erſtlich daß ſie ſich üben
in der lateiniſchen Sprache. Zum andern daß in Co¬
mödien fein künſtlich erdichtet, abgemahlt und fürgeſtellt
werden ſolche Perſonen, dadurch die Leute unterrichtet,
und ein jeglicher ſeines Amts und Standes erinnert und
vermahnt werde, was einem Knechte, Herrn, jungen Ge¬
ſellen und Allen gebühre, wohl anſtehe und was er thun
ſoll. Ja, es wird darinnen fürgehalten und für Augen
geſtellet, aller Dignitäten Grad, Aemter und Gebühr, wie
ſich ein jeglicher in ſeinem Stande halten ſoll im äußer¬
lichen Wandel, wie in einem Spiegel. Zudem werden
darin beſchrieben und angezeigt die liſtigen Anſchläge und
Betrug der böſen Bälge. Desgleichen was der Aeltern
und jungen Knaben Amt ſei: wie ſie ihre Kinder und
[VI] jungen Leute zum Eheſtande ziehen und halten, wann es
Zeit mit ihnen iſt, und wie die Kinder den Eltern ge¬
horſam ſein und folgen ſollen. Solches wird in Comödien
fürgehalten, welches denn ſehr nützt und wohl zu wiſſen
iſt. Denn Polizeien und weltliche Regimenter können
nicht beſtehen, noch erhalten werden, denn durch den Ehe¬
ſtand. Und Chriſten ſollen Comödien nicht ganz und gar
fliehen, darum daß bisweilen Buhlerei und grobe Zoten
darinnen ſeien, da man doch um derſelben willen die
Bibel nicht dürfte leſen. Darumb iſts nichts, daß ſie
ſolches fürwenden, und um der Urſach willen verbieten
wollen, daß ein Chriſt nicht ſollte Comödien leſen und
ſpielen.


Dies zu Nutz und Troſt derjenigen Leſerinnen, die
vor Einigem in dem folgenden Roman auf den erſten
Blick zurück ſchrecken dürften. Denn wären zu Luthers
Zeiten ſchon Romane geweſen, würde er daſſelbe über ſie
geſagt haben. — Es war unerläßlich. Unternimmt die
Dichtung eine Zeit, die nicht mehr iſt, in ihren großen
Lineamenten darzuſtellen, ſo wird ſie erſt klar und ver¬
ſtändlich, wenn ſie zugleich das bürgerliche, das Familien¬
leben, die Sitte in den Palläſten und Hütten zur An¬
ſchauung bringt. Der Zuſtand moraliſcher Zerrüttung
und Verweſung, der Preußens Niederlage möglich machte,
ſeiner Erhebung voranging, wird erſt verſtändlich, wenn
wir die damaligen ſocialen Zuſtände unverhüllt ins Auge
faſſen. Noch lebende Zeugen geben dem Dichter das
Zeugniß, daß er nicht das Dunkle ſchwarz gemalt, daß
er aus den hiſtoriſchen Geſtaltungen, welche der alte
Blücher in ſeiner Kernſprache „eine boshafte Rotte nie¬
derer, verfluchter und an Leib und Geiſt kranker Faul¬
[VII] thiere“ titulirte, nur Schlaglichter aufnahm, welche den
wirklichen Zuſtand ahnen laſſen, nicht ihn conterfeien.
Und ſeit der Roman geſchrieben iſt — ſeine Conception
datirt von weit früher, die Ausarbeitung iſt das Werk
von Jahren — iſt ein vielgenanntes Buch erſchienen,
welches Aktenſtücke, Zeugniſſe von Zeitgenoſſen, über ein¬
ander ſchichtet, deren Wahrheit von einer Art iſt, daß die
Dichtung, ohne Verſündigung gegen ſich ſelbſt, nicht wagen
dürfte ſie unverhüllt vorzuführen.


Ueber dieſen Vorwurf — der aus dem Vergleich mit
ſeinen früheren vaterländiſchen Romanen entſpringt, —
glaubt der Verfaſſer unbekümmerter hinweggehn zu dürfen,
(die Leſerinnen mögen es, wenn ſie den erſten Theil über¬
ſchlagen) als über einen andern, den dieſe Vergleichung
vielleicht hervorruft. Jene heitern zufrieden ſtellenden
Bilder aus unſerer Vorzeit erwarte man nicht in einem
Gemälde aus der Zeit vor fünfzig Jahren. Nicht den
Abendſonnenſtrahl der durch die hohen Kieferwälder auf
eine grüne Oaſe fällt und beim Geſang der Vögel die
Steppe umher uns vergeſſen läßt, nicht jenes heimiſche
Gefühl, wo die Sitte die Roheit gebändigt, die gemüth¬
liche Häuslichkeit die Unwirthlichkeit verbannt hat. Der
moraliſche Flugſand hat über die Cultur eine andere
Wildniß und Steppe gebreitet, eine Verſumpfung der
fließenden Gewäſſer, mit einer ſchillernden, bunten Decke.
Wir dürfen hier nicht mehr nach Bildern „aus dem Volke“
ſuchen, ſondern ſind auf Bilder „aus der Geſellſchaft“
hingewieſen, wenn wir nicht in völliger Mißkennung der
Verhältniſſe ein gänzlich falſches Bild der Zeit entwerfen
wollen. Da mag denn das Gefühl, das keinen andern
Leiter in ſich findet, nicht im Zurückblick auf eine hellere
[VIII] Vergangenheit, nicht in dem Hinausblick auf eine reinere
Zukunft, in dem Miasma wohl manchmal ein Unbehagen
empfinden. Es iſt nun einmal nicht anders; auch die
Dichtung darf die Atmosphäre der Geſchichte nicht anders
machen als ſie war. Diejenigen aber, die nicht den Muth
haben von einer trüben Vergangenheit den Schleier gelichtet
zu ſehen, entbehren auch des Troſtes, der uns andre in
der Gegenwart aufrecht erhält, daß wieder eine Zukunft
unſerm Vaterlande kommen wird, wo wir auf das Jetzt
in der ſittlichen Ruhe und Faſſung zurückblicken können,
wie wir es ehegeſtern konnten auf das vor fünfzig Jahren.


Berlin. Im März 1852.


W. H.

[[1]]

Erſtes Kapitel.
Die Kindesmörderin.


„Und darum eben,“ ſchloß der Geheimerath.


In ſeiner ganzen Würde hatte er ſich erho¬
ben und geſprochen. Charlotte hatte ihn nie ſo
geſehen. Der Zorn ſtrömte über die Lippen, bis vor
dem Redefluß des Kindermädchens allzeit fertige
Zunge verſtummte. Sie war erſchrocken zurückgetre¬
ten, bis ſie ſich ſelbſt verwundert an der Thüre fand;
aber der Geheimerath ſchritt noch in der Stube auf
und ab.


Charlotte hatte leiſe zu weinen angefangen:
„Aber Herr Geheimerath, um ſolche Kleinigkeit!“


„Eine Kleinigkeit die Angſt beſorgter Eltern um
ihre Kinder! — Fünf Stunden von Hauſe fort ohne
eine Sterbensſylbe mir zurückzulaſſen, und die Klei¬
nen mitgenommen, ohne um Erlaubniß zu fragen!“


„Herr Geheimerath, ſchluchzte ſie, haben nie
nach gefragt, ich weiß auch gar nicht warum jetzt!“


„Schweige Sie! fuhr der Hausherr fort. Sie hat
kein Einſehen, keine Moralität. Sie mißbraucht
I. 1[2] meine Güte. Sie muß aus meinem Hauſe. Es
haben ſich ſchon Viele gewundert, daß ich Sie noch
behielt. Aber Sie ſchlägt mit Ihrer Unverſchämtheit
den Boden aus dem Faß. Verſteht Sie mich! Ein
Glück noch, daß wir vom Viertelcommiſſar erfuhren,
daß Sie zur Execution hinaus war, wir hätten ſonſt
gar nicht gewußt, wo Sie geblieben war.“


„Wenn das die ſelige Frau Geheimräthin wüßte,
ſchluchzte das Mädchen, das war eine ſeelensgute
Frau. Und wie oft hat ſie geſagt: wenn wir nicht
wären, mein Mann kümmert ſich gar nicht um die
Kinder. Ja das hat ſie geſagt, nicht einmal, hun¬
dert
Mal. Und haben Herr Geheimrath jetzt auch
nur einmal nach den Kindern gefragt? Das eben
aber ſagten die ſelige Frau Geheimräthin: er hat kein
Herz für ſie! und es war eine Frau, ſo ſanft wie
die himmliſche Güte, und viel zu gut für dieſe Welt,
und wer nur ihre ſtillen Thränen geſehen hat, die
ſie Nachts vergoß, und darum nahm der liebe Gott
ſie zu ſich, und ſie würde ſich im Sarge umdrehn,
wenn ſie wüßte, daß Herr Geheimerath mir darum
ſolchen Affront anthun.“


Charlotte mußte die ſchwache Seite des Haus¬
herrn kennen. Er wandte ſich um, und fuhr mit
dem Taſchentuch über das Auge, ob, um eine Thräne
abzuwiſchen oder die Verlegenheit zu verbergen, laß
ich ungeſagt. An der Wand hing das Bild der
Verewigten, in ſehr abgeblaßten Waſſerfarben ge¬
mahlt, ein eben ſo abgeblaßter Immortellenkranz
[3] darum. Darunter hing eine andere Schilderei, eine
Urne, mit einer Trauerweide. Ein Genius ſenkte
eine Fackel. Das Bild war auf Pappe gezogen, und
wenn man näher hinzuſah, bemerkte man, daß in der
Urne ein Medaillon angebracht war, in welchem ei¬
nige blonde Haare zu einem Namenszuge ſich ver¬
ſchlangen. Der Geheimerath nahm es heraus und
drückte es an ſeine Lippen.


„O du Unvergeßliche! ſagte er, noch einmal mit
dem Tuch über die Augen fahrend. Sein Zorn war
gewichen; in weicherem Tone fuhr er fort: Aber
Charlotte, wie oft habe ich Ihr geſagt, Sie ſoll mich
nicht immer daran erinnern. Ein Mann in meiner
Stellung darf ſich nicht den Gefühlen hingeben. Aber
Sie weiß das wohl, Sie braucht mich nur an die
ſelige Gute zu erinnern, ſo tritt mir's in die Augen.
Sie führt ſich auf, als wenn Sie die Hausfrau wäre
— und iſt doch nur eine — Sie iſt eine —“


Dem Geheimerath war jetzt wirklich etwas in
die Augen getreten, was er daraus fortzuwiſchen
ſuchte, und darüber in Heftigkeit gerieth. Es war
der dicke Staub aus der Schilderei, als er das Me¬
daillon mit Gewalt wieder in ſeine Umfaſſung zu
drücken bemüht war. Je mehr er im Aerger drauf
ſchlug, ſo dichter puderte es ihm um's Geſicht. „Aus
dem Haus muß Sie, daß Sie's weiß,“ ſchloß er,
mit den Augen beſchäftigt, aus denen jetzt wirkliche
Thränen, aber nicht der Rührung, ſich preßten.


„Ja, Herr Geheimerath, das werde ich auch,
1*[4] ſobald Sie es befehlen, ſagte Charlotte, die ihrerſeits
die Ruhe wieder gewonnen hatte. Denn ich kenne
meine Schuldigkeit. Aber erſt werde ich vors
Halleſche Thor gehen, aufs Grab der ſeligen Frau
Geheimräthin, und die Kinder nehme ich mit. Da
werde ich mit ihnen weinen, und ſie ſollen die klei¬
nen Hände falten und ihre Mutter bitten, daß ſie
ihnen einen lieben Engel vom Himmel ſchickt, der ſie
in Schutz nimmt. Denn wiſſen Sie noch, Herr
Geheimrath, wie die ſelige Frau Geheimräthin auf
dem Todtenbette lagen! Kreideweis das Geſicht!
Ach Jeſus was wird nun aus meinen Kindern! ja
das hat ſie geſagt!


„Charlotte! ſagte der Geheimerath, Sie weiß,
daß ich meine ſelige Frau innigſt geliebt habe, aber
die Welt gehört den Lebendigen, ſagt der Dichter,
und die Todten ſoll man ruhen laſſen.“


„Die ſelige Frau Geheimräthin ſollen wohl Ruhe
haben, wenn Sie aus dem Grabe ſehen, wie's hier
oben zugeht! Die Frau Geheimräthin, Ihre Schwä¬
gerin, kommt auch nicht umſonſt wieder ſo oft ins
Haus. Aber ich werde mich wohl hüten, und mir
die Zunge verbrennen wie damals, und ſagen was
ich denke. Aber was die ſelige Frau Geheimräthin
denkt, wenn die Geheimräthin Schwägerin den Klei¬
nen Zuckerbrod bringt und ſie über den Kopf ſtrei¬
chelt, das weiß ich.“


„Meine Schwägerin iſt eine ſehr reſpectable
Frau, Charlotte.“


[5]

„I Herr Jeſus, wer redt denn auch gegen ſie! Aber
den Blick vergeß ich nicht, auf ihrem Todtenbett, wie
die ſelige Frau zurückſchauerte: Ach wie ſieht ſie die
Kinder an! ſagten Sie, nämlich die Frau Geheim¬
räthin auf dem Todtenbett. Und ſo riß Sie die
Kinder an ſich und dann ſagten Sie: Ach ſie hat ſo
ſpitze Finger!“


„Das waren Viſionen, ſie war im hitzigen
Fieber.“


„Aber die Frau Geheimräthin Schwägerin ver¬
kniffte ordentlich den Mund und ſagten: Mein Gott,
als ob ich mich um die Bälger riſſe! Und dann
ſagte die Sterbende, und da war ſie nicht mehr im
Fieber: die Charlotte, die hat wenigſtens ein wei¬
ches Herz! — Und da hatte die Selige recht, und
ich habe die Kinder lieb gehabt, als wenn's meine
eignen wären, und wenn's nicht die Kinder wären,
i da wäre ich ja ſchon längſt aus dem Hauſe, wo
man ſo mit mir umgeht.“


Dem Geheimerath ſchien unangenehm zu Muthe
zu werden, da Charlotte in einen Thränenſtrom aus¬
brach, der nicht mehr zu ſtillen ſchien.


„Es war auch nicht ſo gemeint, ſagte er endlich,
— Sie ſoll ja nicht auf der Stelle fort, — ich meinte
nur —“


„Es werden ſich ſchon Andre finden, — o das
weiß ich, — ich weiß auch wer. Und wenn die
Selige das von oben ſieht, wie die Schwägerin mit
ihren ſpitzen Fingern die Kleinen liebkoſt, dann wird
[6] ſie Nachts vor Herrn Geheimeraths Bette treten, und
was ſie ihn dann fragen wird —“


„Halte Sie doch das Mau —! Charlotte —
liebe Charlotte, Sie iſt echauffirt.“


Das Kindermädchen war echauffirt, es ließ ſich
nicht in Abrede ſtellen. Es waren auch Gründe dafür.


Aber der Geheimrath liebte nichts Echauffirtes,
nämlich wenn es ihn in ſeiner Ruhe incommodirte.
Er ſuchte ſie zu beruhigen; er erklärte die Kündigung
für eine Aufwallung, ein Echauffement. Indem er
ſagte, ſolche Dinge müſſe man bei kaltem Blute über¬
legen, ſchob er den Stein des Anſtoßes etwas weiter
auf den Weg.


Da ſchien ein Friede geſchloſſen, wenigſtens ein
Waffenſtillſtand; Charlotte weinte nur noch ſtill, der
Geheimrath ſeufzte und mochte wieder an anderes
denken, als er ſich erkundigte, was denn die Kinder
machten? Gleich darauf fiel ihm noch etwas an¬
deres ein.


„Aber, Charlotte, ſage Sie, wie kam Sie nur
darauf, und mit den Kindern! vor's Thor zu laufen,
dahin! Eine Hinrichtung iſt ein unmoraliſches Ver¬
gnügen, habe ich Ihr das nicht oft vorgeſtellt, es
iſt gegen die Humanität, ein Schauſpiel, woran nur
der rohe Pöbel Vergnügen finden kann.“


„Sie haben ſchon ganz Recht, Herr Geheimrath,
aber Sie hätten die Perſon ſehen ſollen, die Mariane;
ganz ſchlooweiß war ſie, vom Kopf bis zum Fuß,
und wie ſie die Augen niederſchlug, die Hände hielt
[7] ſie ſo vor ſich gefaltet! Und der Herr Prediger ſaß
neben ihr, und noch oben ſprach er mit ihr, und
dann küßte ſie ihm die Hand und knixte noch einmal
vorher gegen uns Alle. Und die vornehmſten Herren
in Thränen. Ach Herr Geheimrath, es war Ihnen
etwas, ich ſage Ihnen, es ging Einem durch Mark
und Bein, und manche dachten, ach wenn du doch
auch ſo ſterben könnteſt, ſo den Herrn Prediger neben
ſich und ganz weiß, und Blumen, und die Putz¬
macherin, Mamſell Guichard an der Stechbahn, hatte
ihr ein Tuch mit Spitzen geſchenkt, und die vor¬
nehmſten Perſonen weinten. Und ich habe ſie auch
gekannt die Mariane, und ehedem war ſie keine
ſchlechte Perſon.“


„Sie hat mir davon erzählt. Aber nun iſt ſie
eine Kindesmörderin.“


„Und das iſt ſchlecht von ihr, Herr Geheimrath;
das wird auch kein Menſch abſtreiten. Und wir
haben's ihr alle vorhergeſagt. An ſolchen Kerl ſich
zu hängen! Er war noch nicht einmal königlicher
Stallknecht, da konnte er noch lange dienen. Und
wenn er's geworden, ob er ſie dann geheirathet hätte!
Wenn's denn doch einmal ſein ſollte, wär's nur ein
anſtändiger Herr geweſen, ſagte ihre Tante. Der
hätte doch für's Kind bezahlt, und wenn er nicht
wollte, da iſt das Stadtgericht. Das weiß ich ja
von meiner Couſine. Heirathen oder bezahlen! ſagten
der Herr Präſident. Da hat er auch gezahlt, jeden
Erſten, der Herr Hoflackirer, und wenn's bis zum
[8] Dritten nicht da war, auf der Stelle Execution, jeden
Monat. Beim zweiten hat er ſich gar nicht erſt ver¬
klagen laſſen. Gleich gezahlt, o 's iſt ein ſehr repu¬
tirlicher Herr, das muß man ihm nachſagen, und
wenn's dritte kommt, wer weiß, ob ſie dann nicht
ſchon unter der Haube iſt. Denn ſeine Alte wird's
ja nicht mehr lange machen, die hat er nur mit dem
Geſchäft geheirathet. Und warum ſollte er ſie nicht
in's Haus nehmen? Iſt ja ſein purer Profit. Er
kommt viel wohlfeiler fort, als wenn er Alimente
zahlen muß. Aber ein Begräbniß wird er ſeiner
Alten ausrichten — na, da könnte ſich mancher Ge¬
heimrath ſchämen. Nein das muß man ihm nach¬
ſagen, lumpen läßt ſich der Herr Hoflackirer nicht;
iſt ein ſehr reputabler Herr. — Und, wie geſagt,
hübſch war die Mariane, ſo blaß und ſchön, und
das Kind, blutroth hat's wie 'ne Schnur um den
Hals gehabt.“


„Und meine Kinder hat Sie mitgenommen. Die
unſchuldigen Würmer! Sie Perſon Sie!“


„Aber Herr Geheimrath, ich weiß auch nicht,
wie Sie mir vorkommen. Es iſt ja nur, daß die
Kinder es einmal geſehen haben. Das iſt ja für's
ganze Leben. So was kriegen ſie nicht wieder zu
ſehen. Es ſoll ja kein Menſch mehr hingerichtet werden.“


„Wer hat Ihr das wieder vorgeſchwatzt?“


„Sie können's mir ganz gewiß glauben, Herr
Geheimrath. Das iſt die letzte Hinrichtung, hat der
König geſagt. Und ſie haben ihn beinah zwingen
[9] müſſen, daß er nur die Feder in die Hand nahm.
Die junge ſchöne Königin hat geweint. Und da hat
er ſie gefragt: Aber Louiſe warum weinſt Du denn?
Denn unter ſich ſagen ſie immer Du; und es kommt
Einer zum Andern, ohne daß die Kammerherren an¬
klopfen und ſie melden, und darüber iſt die Hofmar¬
ſchallin, die alte Gräfin Voß ganz aufgebracht. Aber
das thut nun nichts. Es wird Alles noch ganz anders
werden, ſagen ſie; und gar nicht wie beim Dicken.
Die Livreen werden auch anders. Und alle Men¬
ſchen ſollen Brüder ſein, und alle Frauenzimmer
Schweſtern . . .“


Der Geheimrath intonirte, wie durch eine Er¬
innerung geweckt, plötzlich das Lied, indem er mit
den Fingern auf dem Knie den Takt ſchlug:


„Wir Menſchen ſind ja alle Brüder,

Vereinigt durch ein heilig Band,

Du Schweſter mit dem Leinwandmieder,

Du Bruder mit dem Ordensband!“

Das Kindermädchen warf einen ſchlauen Blick:
„Geſtern hinterm Gitterfenſter auf dem Hofe — da
ſangen's Herr Geheimrath viel lauter.“


Die Erwähnung ſchien dem Geheimrath unan¬
genehm: „Das verſteht Sie nicht. Es iſt allerdings
gegen die Humanität einen Menſchen um's Leben zu
bringen. Aber, wie geſagt, das verſteht Sie noch
nicht, und das iſt nur unter uns, und wie ſollten
wir denn die Spitzbuben los werden und die atrocen
[10] Menſchen. Laß Sie ſich alſo ſo was nicht einbilden,
und die Königin —“


„Ja, Herr Geheimrath, die Königin, das weiß
ich expreß von Jemand, der es weiß, vom Commiſſar
die Köchin, die hat beim Doctor, der die Hoflakaien
curirt, vorher gedient, und da hat ſie's von der
Mamſell, die beim Hofmarſchall iſt, mit eigenen
Ohren gehört, zum König hat ſie's geſagt, die Kö¬
nigin, ſie könnte ihm ja keinen Kuß geben, weil
ſeine Hände voll Blut wären, und nur diesmal hat
er geſagt, hätte er's thun müſſen, weil's eine Kindes¬
mörderin wäre, nämlich von wegen des Beiſpiels,
weil's ſonſt Alle thäten. Aber dann ſoll keiner mehr
geköpft werden, und dies iſt das letzte Mal, und
darum verdienten's wohl die Kinder, daß ich ſie hin¬
führte, denn es ſoll auch gar kein Blut mehr fließen,
und kein Krieg mehr ſein, auf der ganzen Welt nicht,
und der König hat's geſagt.“


„Aber ſage Sie mal, Sie iſt doch ſonſt eine
vernünftige Perſon“ — der Hausherr war aufge¬
ſtanden, um ihr zu beweiſen, daß ſie diesmal unver¬
nünftig ſei. Das iſt überall eine ſchwierige Aufgabe,
wo die Perſon, welcher man es beweiſen will, ſich
für vernünftig hält. Sie mußte überdem eine gute
Royaliſtin ſein; denn auf die Vorſtellung des Ge¬
heimrathes, daß ſo etwas gar nicht in des Königs
Macht ſtehe, ja nicht in des Kaiſers, auch nicht in
der Macht des großen Feldherrn und Conſuls der
Franzoſen, erklärte ſie, wozu denn ein König wäre,
[11] wenn er das nicht mal könne! Der König könne
aber noch weit mehr, wenn er nur wolle; es gäbe
jedoch Perſonen, die viel klüger ſein wollten, als der
König, und alles beſſer wiſſen und machen, und ſie
wiſſe auch, was ſie gehört, und könnte manches ſagen
was Mancher nicht gern hörte. Und wer nur geſtern
Abend ſein Ohr aufgehabt hätte im hinterſten Hofe,
und unterm Gitterfenſter gehorcht, was die Gefan¬
genen geſungen. Davon könnte manches Vögelchen
Lieder ſingen, die Mancherman gar häßlich klingen
würden!


„Sie unverſchämtes — ich glaube gar Sie hat
getrunken!“


„Ich getrunken! Habe ich das um den Herrn
Geheimrath verdient, als ich geſtern Abend gar nicht
ſah, wie Sie die Treppe heraufkamen, die kleine
Hintertreppe, und nicht wußten, wo die Thüre war.
Ich getrunken! Ein Glas Weißbier ſetzten mir der
Herr Wachtmeiſter von Prinz Louis-Dragonern vor,
und das trank ich, der Kinder wegen, denn wir
waren außer Athem, weil die Leute ſo grauſam dräng¬
ten, und ſo hob der Herr Wachtmeiſter die Kinder
über die Lyciumhecke, und ich quetſchte mich durch die
Hecke, und da ſagte der Wachtmeiſter ich ſollte erſt
einen Pomeranzen mit ihm über die Lippen nehmen,
weil ich ſo echauffirt wäre. Das kann der Wirth im
blauen Himmel bezeugen; der ſagte, wir zerträten
ihm ſeine Hecke, und er war betrunken. Aber wo
wären wir alle, und die lieben Kinder, die ſchrien,
[12] daß es ein Gotts Erbarmen war; aber der Wacht¬
meiſter gab's dem Wirth, daß er mäuschenſtill ward.
Ich hätt's ihm nicht gerathen, mit dem anzufangen.
Er hat die Rheincampagne mitgemacht und trägt noch
eine Kugel in der Schulter, Alles für ſeinen König!
ſagt er und wenn Friede bleibt, kriegt er eine Civil¬
anſtellung.“


Es war eine Veränderung in dem Geheimrath
vorgegangen. Von Zorn keine Spur mehr in ſeinem
Geſichte, als er aus der emaillirten Doſe eine lange
Priſe Spaniol nahm, und mit dem Battiſttuch den
Taback, der ſich ausgeſtreut, von den Kleidungsſtücken
abklopfte, und „Ja, ja, ſo geht's in der Welt!“
ſagte. Man ſah, zwiſchen beiden hatte ein langer
Verkehr eine Verſtändigung hervorgebracht, die ge¬
wiſſermaßen in hieroglyphiſchen Ausdrücken ſich Luft
machte. Und jeder verſtand den andern. Offenbar
war er an etwas erinnert worden, was er nicht liebte,
und ebenſo offenbar, daß Charlotte auf einen andern
Gegenſtand übergeſprungen war, entweder, um ihm
die Verlegenheit abzukürzen, oder weil dieſer Gegen¬
ſtand für ſie einen Zweck hatte.


„Wie iſt's denn nun mit dem Unteroffizier von
Möllendorfs Grenadieren?“ ſagte der Geheimrath
wie in vertraulicher Weiſe, nachdem er verſchiedenes
andere gefragt, z. B. wie viel Menſchen wohl
draußen geweſen, und welche Equipagen darunter,
und ob die Kinder auch ordentlich geſehen hätten?


„Dieſer Menſch hat nicht meiner Erwartung
[13] entſprochen, entgegnete Charlotte, und Herr Ge¬
heimrath wiſſen auch, was ich immer geſagt habe
von der Infanterie. Er ſtellte ſich ſonſt ganz repu¬
tirlich an, denn Wahrheit muß Wahrheit bleiben,
aber er hatte kein Herz für die Kinder, und war
von Profeſſion, wie ich jetzt erfahren mußte, ein
Schneider. 'S iſt wahr, er hat eine Civilanſtellung
erhalten, aber was iſt das, ein Nachtwächterpoſten!
Wenn er mir das früher geſagt hätte, ich hätte ihn
ſchön angeſehen. Nein, Herr Geheimrath hatten ganz
recht, wenn Sie mich warnten. So wegwerfen werde
ich mich nicht, und ich ſehe ihn auch gar nicht mehr
an, wenn ich ihm begegne. Dieſer Wachtmeiſter aber
hat ein wirkliches Gemüth für die Kinder, und er
iſt ein Wittwer. Prinz Louis Ferdinand hat zu ihm
geſagt, er ſollte ſich tröſten, der Soldat wäre ſo
beſſer accommodirt; und das iſt wahr, ſagt er, wenn's
wieder losgeht, iſt der Pallaſch die beſte Braut für
den Dragoner. Aber wenn Friede bleibt, ſagt er,
will er den Pallaſch hinter die Thür hängen und ſich
nach einer Frau umſehen. Und, ſagt er, eine die
treu ihrem Herrn gedient hat, die iſt ihm lieber, als
eine, die noch nicht gedient hat, denn da weiß er nicht,
was er kriegt. Und eine, die ihre Jugend ihrem
Herrn geopfert hat, die wird der Herr doch nicht
ohne gute Ausſteuer fortlaſſen, das müßte ja ein
ſchmutziger Herr ſein. Und das kann ich wohl von
meinem Herrn ſagen, ſagte ich, er wird ſich nicht
lumpen laſſen; der Herr Geheimrath haben's mir oft
[14] verſprochen, wenn ich mich mal veränderte, dann
wollten Sie dafür ſorgen, daß es ſchmuck und blank
in meinem Hauſe ausſehen ſollte. Und da hat er
die Malvine auf dem langen Wege hergetragen, und
ſie ſchlief gleich auf ſeiner Schulter ein. Der Fritz¬
chen, der ſchrie und hatte ſich ungebärdig, den haben
wir zwiſchen uns genommen, das war wirklich ein
Elend mit dem Jungen, weil er ſich auf die Erde
warf und wir mußten ihn an den Schultern rutſchen,
bis der Herr Wachtmeiſter ihm für einen Dreier Ro¬
ſinen kaufte und da ging's denn, und Sonntag,
wenn's Herr Geheimrath erlauben, wird er mich nach
den Zelten abholen und ſich dem Herrn Geheimrath
präſentiren und mich mit Waffeln traktiren.“


Der Herr Geheimrath ſchien nicht recht zu wiſſen,
was er ſagen ſollte, indem er mit einem Finger um
den andern ein Rad ſchlug. „Ja, ſieht Sie, Charlotte,
ſagte er, wer das wüßte, ob Friede bleibt, oder 's
wieder losgeht. — Und hat ſie auch das bedacht, ein
Cavalleriſt riecht immer nach dem Stall —“ wollte
er ſagen, oder hatte es geſagt —


[[15]]

Zweites Kapitel.
Die Geheimräthin mit den ſpitzen Fingern.



— Als die Seitenthür aufging, und die Ge¬
heimräthin Schwägerin hereinrauſchte.


Rauſchte ſage ich, denn ihr hellſeidenes Kleid,
obgleich die Schleppe abgeſchnitten, bauſchte noch
immer in reichen Falten hinter ihr.


„Ich hoffe doch nicht zu derangiren,“ ſagte die
Dame, als der Geheimrath in einiger Verlegenheit
aufſprang, und die Spanioldoſe auf die Erde fiel.
Wenn Charlotte ſich in Verlegenheit gefühlt, fand ſie
die Gelegenheit, ſie zu verbergen, indem ſie die Doſe
auflangte und mit dem zuſammengefegten Taback in
der Schürze das Zimmer verließ.


„Wie kann meine theure Frau Schwägerin mich
überraſchen!“ ſagte der Ueberraſchte.


„Die Ueberraſchung iſt nicht ganz meine Schuld,
denn der Herr Schwager hörten in dem confiden¬
tiellen Geſpräch, was ich zu meinem Bedauern ſtören
mußte, nicht mein Klopfen. Da mußte ich endlich,
ohne auf die Invitation zu warten, eintreten, denn
ich liebe nicht das Lauſchen.“


[16]

Er drückte in verbindlicher Weiſe ihre Finger
an die Lippen und führte ſie auf das Canapé.


Ob die Finger beſonders ſpitz waren, kann ich
für jetzt nicht ſagen, denn ſie waren in Tricothand¬
ſchuhen verſteckt, und während die eine Hand an den
Lippen des Geheimraths ruhte, umfaßte die andere
den Fächer, um das Spiel zu beginnen, was bei
einer Converſation auf dem Canapé nothwendig iſt.


Aber das ganze Geſicht war, was man ſpitz
nennt. Vielleicht hätte man auch die kleine Geſtalt
der Dame ſo nennen mögen, indeß war ein Etwas
darin, entweder nenne ich es Anmuth oder Elaſti¬
cität, was dieſen Eindruck verwiſchte. Alabaſterarbeit
hätte ein Dichter oder Künſtler geſagt, der erſt der
Hauch des Gedankens oder Gefühls Farbe und Be¬
wegung giebt. Weder jung noch alt, weder ſchön,
noch eigentlich hübſch, konnten doch ihre dunkeln kleinen
beweglichen Augen, wenn ſie aus den blonden Augen¬
braunen beſondere Blicke ſchoſſen, anziehen. Es war
ſchwer zu ſagen, wovon dieſe Blicke ſprachen, ob von
Verſtand, Gefühl, Sinnlichkeit, ob ſie ſtachen, ſuchten,
lockten, ob ſie aus einer beglückten, oder zerriſſenen
Bruſt kamen. Sie konnten einen ſehr verſchiedenen
Glanz annehmen, nur nicht den der urſprünglichen
Wahrheit, jenen Glanz, der auf den erſten Blick ein¬
nimmt und überzeugt. Man ſah in dieſen Augen,
daß ſich die Gedanken und Gefühle erſt ſammeln mußten,
um ihren Blicken den Ausdruck zu geben, den ſie
wollte. Es war überhaupt etwas Beſonderes in der
[17] Frau; es lag in ihrem Weſen Ruhe und Unruhe.
Man konnte ſie in dieſem Augenblick für ſehr bedeu¬
tend, im nächſten für ein gewöhnliches Weib halten.
Ihre Kleidung war einfach aber geſucht; zwiſchen der
zu Grabe getragenen Roccocomode und dem grie¬
chiſchen Ideal, das Mode geworden. Kurze eng an¬
ſchmiegende Aermel, ein weit ausgeſchnitten Kleid
mit kurzer Taille, die eine roſaſeidne Chärpe noch
mehr hervorhob, aber ein Ueberwurf um die Schultern
und die langen Handſchuhe ſuchten die Entfaltung
der griechiſchen Nacktheit wieder zu verbergen.


Der Geheimrath entſchuldigte ſich wegen ſeiner
Toilette. Er hatte Urſach. Die Geheimräthin ſagte
lächelnd, ſie hätte für dieſes Aeußerliche keinen Sinn.
Aber während er ſeine Füße in den Pantoffeln zu
verſtecken ſuchte, ohne ſich doch der Bemerkung ent¬
halten zu können, daß er ſich von ihnen nicht trennen
könne, weil ſie noch von ſeiner ſeligen Frau geſtickt
wären, verbarg die Geheimräthin keineswegs ihre
ſehr zierlichen Füße auf dem Schemel, als ſie mit der
ſanften, faſt ſüßen Stimme, durch die nur zuweilen
ein feiner, ſchneidender Ton fuhr, ſagte:


„Man muß geſtehen, daß der Herr Schwager
die Treue gegen die ſelige Geheimräthin bis zum
Exceß cultiviren.“


„Und wie geht es denn meinem theuern Bruder,
dem Geheimrath, ſeufzte er. Wir haben uns ſo lange
nicht geſehen. Ach Gott, wir Geſchäftsmänner!“


„Er iſt in ſeinen Büchern vergraben.“


I. 2[18]

„Er cultivirt nicht das Leben, fiel der Hausherr
ein. Ich hatte immer gehofft, daß eine ſo ſpirituelle
Frau ihm einen Elan geben würde.“


„Passons là-dessus, ſagte die Geheimräthin, mit
einer eigenthümlichen Bewegung des Fächers. Ich
begreife freilich zuweilen nicht, warum eigentlich
Männer auf der Welt ſind, die ſich nichts aus ihr
machen. Aber ich bin gewiſſermaßen in ſeinem Auf¬
trage hier.“


„Von einem Gelehrten wie er weiß ich dieſe
Attention zu ſchätzen. Warum mußte er aber neulich
wieder ablehnen? Zu einer einfachen Suppe, à la for¬
tune du pot,
ein Paar gute Freunde nur.“


„Lupinus ſagt, er verdirbt ſich immer bei Ihnen
den Magen.“


„Scherz, Scherz! Spartaniſche Suppen kann ich
freilich nicht vorſetzen, auch iſt mein Malaga, mein
Hochheimer; kein Falerner. Nichts als was ein armer
Mann bieten kann. Müſſen uns Alle nach der Decke
ſtrecken, aber herzlich gegeben und — gut gekocht.“


„Wenn Ihre Charlotte will, kocht ſie vortrefflich,
ſagte die Geheimräthin mit einem jener Blicke, von
denen wir ſprachen. — Sie werden ſich ſchwer von
ihr trennen können, ſetzte ſie langſam hinzu. Sie
werden ſich vielleicht nie von ihr trennen wollen.“


Der Blick und die Beobachtung hatte für den
Geheimrath etwas, was ihn aus ſeiner Ruhe brachte.


„Liebſte Schwägerin, in meiner Lage, — in
meinen Dienſtverhältniſſen, begreifen Sie, muß ich
[19] dann und wann kleine Dinés arrangiren — man
muß ſich Freunde — man muß die Gönner warm halten.
Einer hilft dem Andern. Es geht einmal nicht anders.“


„Das begreife ich vollkommen, ſagte die Schwä¬
gerin mit dem gedehnteren Tone, aber zu Ihren
Dinés beſtellen Sie ja die Schüſſeln beim Koch
Corſika.“


„Das wohl, in der Regel wenigſtens, — in¬
deſſen — “


„Eſſen Sie auch gern zu Hauſe gut. Und damit
Sie immer gut gekocht bekommen, iſt Ihnen darum
zu thun, daß Charlotte immer bei guter Laune iſt.
Der Calcul iſt richtig, nur verdenken Sie es Ihrer
Familie nicht, wenn ſie einen andern macht —“


„Welchen, meine verehrteſte Schwägerin?“


„Mon beau-frère, ſagte die Geheimräthin mit
dem Fächer einige kurze, bedeutungsvolle Schläge
durch die Luft führend, die Familie hofft, daß ſie ihr nicht
den Chagrin anthun werden, die Perſon zu heirathen.“


Der Geheimrath wurde roth, aber nicht ſehr, er
klatſchte mit beiden flachen Händen auf die Knie und
ſeufzte: „Ja — man wird doch auch mit jedem Jahr
älter. Und eine Pflege wie ich ſie nur wünſchen kann.“


„Herr Geheimrath, aber eine Mesalliance!“


„Mais, ma belle-soeur! Adam war unſer Aller
Vater. Neulich am Klavier, ich hätte meine Schwä¬
gerin embraſſiren mögen, Sie ſangen es zu allerliebſt:


Als Adam grub und Eva ſpann

Wer war denn da — der erſte Geheimrath?

2*[20]

Er begleitete es durch ein angenehmes Gelächter.


„Es iſt alſo vollkommener Ernſt!“


„Ernſt, theuerſte Schwägerin! Ich hielt es für
einen deliciöſen Scherz, wenn es von der Kanzel
ſtürzte: Der königliche Herr Geheimerath Lupinus mit
der ehrſamen Jungfrau Charlotte Philippine, Catha¬
rine, Tochter des ehrbaren —, was weiß ich, wer
ihr Vater war, wenn ſie einen hat. Ma belle–soeur,
wie hätten ſie die Köpfe zuſammen geſteckt, wie wä¬
ren ſie aus dem Dom geſtürzt! Dieſe Gruppen
unter den Pappeln, Nachmittags die Kaffeeklatſché's.
Und nun denken Sie ſich, Schwägerin, Charlotte
und ich im Wagen und unſre Vorfahrviſiten!
Vierzehn Tage kein ander Geſpräch. Und das Hoch¬
zeitsmenuett! Sanft gebannt— an ihre Hand durchs
Leben — ſchweben!“


Die Dame war ſehr ruhig geworden: „Mais, mon
beau–frère
, warum haben Sie es aufgegeben?“


Mon Dieu, wer ſagt Ihnen, daß ich es aufgab!“


„Ein witziger Einfall, über den man nachdenkt,
iſt keiner mehr.“


„Es geht doch nichts über einen ſublimen Ver¬
ſtand. Ich werde mich hüten ſie zu heirathen.“


„Ich bin jetzt ganz getröſtet, wenn Sie es thun.
Wirklich lieber Schwager. Die Perſon hat gute
Eigenſchaften und Ihre Erziehung —“


„Wenn ich ſie heirathe, iſt die Erziehung aus,
ziſchelte er ihr laut ins Ohr. Sobald der Hoch¬
muthsteufel in ſie ſchießt, kocht ſie nicht mehr, pflegt
[21] mich nicht mehr, kurzum ſie iſt nicht mehr was ſie
iſt, und darum müßte mich ja der — Excüs! wenn
ich meine gute Charlotte aufgäbe, um eine ſchlechte
Geheimräthin draus zu machen. — Man wirft ſo
gemüthliche Redensarten hin, möglich, es könnte ſein
— wenn nur nicht das und das wäre, wünſcht ihr
den beſten Mann, aber klopft ihr auf die Schulter,
ſich nicht zu übereilen, es würde ſich wohl noch alles an¬
ders und beſſer finden, als mancher denkt. Et caetera.“


Nach einer Pauſe während ſie auf ihre ſpitzen
Finger geſehen, ſagte die Geheimeräthin: „Aber die
Perſon iſt auch klug. Sie merkt es. Lieber Schwa¬
ger, kein Mann iſt ſo klug, daß nicht eine Frau, die
er beſtändig um ſich hat, ihm die ſchwache Stunde
abmerkt. Schlingen ſind nun einmal die Waffen
unſerer Schwäche; es iſt in der Natur. Entweder
entſchließen Sie ſich und heirathen ſie, oder brechen
Sie ſchnell.“


„Das kann ich nicht, c'est absolument impos¬
sible
! 'S iſt wahr, Corſika kocht gut, 's kocht keiner
ſo in Berlin. Das heißt en generalmais — !
Was hilft mir das, wenn die Gäſte fortgehen und
ſagen: es war alles recht fein, aber man weiß von
nichts beſonderm zu ſprechen, nichts hat einen Ein¬
druck hinterlaſſen. Das iſt gleichſam ein verlorner
Tag. In der Charlotte, verzeihen Sie mir, iſt ein
Genie. 'S iſt nicht zu leugnen, Manches verdirbt
ſie, aber plötzlich mit einem Elan hat ſie eine Com¬
poſition gefunden, parbleu. Erinnern Sie ſich noch
[22] des Rebhühnerfricaſſé's mit farcirten Trüffeln! Da
war doch nur eine Stimme. Noch acht Tage drauf,
als wir bei Excellenz Schulenburg Kehnert am Tiſch
ſaßen, ſprach Lombard davon. Sein Koch hats ver¬
ſucht, der Engliſche Geſandte auch, es ſchickten noch
mehre ihre Köche. Warten Sie — ça ne fait rien. Es
hat's keiner rausgekriegt. Und wärs auch nur um Lom¬
bards Willen. Es war ein glücklicher Tag als er
mir beim Abſchied die Hand drückte. Ich weiß es,
Lombard hat viele Feinde, aber in der Freundſchaft
und — und in gewiſſen Ideen hat er eine gewiſſe
constance, persévérance. Man kann wohl ſagen,
's iſt ein Mann von einem nobeln Esprit, ein Mann
comme il faut.“


„Schade, daß Lombard verreiſt iſt, ſagte die Ge¬
heimeräthin, ich meine ſchade für Sie.“


Es war wieder ein ſo eigner Ton, eiskalt und
bitter wie der Blick, der den Geheimerath traf —
und ſie brach ſo ſcharf ab, daß die Wärme und Ge¬
müthlichkeit, welche die Erinnerung der Trüffeln und
Rebhühner angeregt, plötzlich gedämpft war.


„Mein Gott, belle-soeur, ſie kommen —“


„Von meinem Mann geſchickt. Was iſt denn
das mit den Gefangenen in der Vogtei, und den
eingeſchmiſſenen Fenſterſcheiben? Mein Mann hofft,
daß Sie dabei außer dem Spiele ſind.“


Wir wiſſen, daß dieſe Erinnerung für den Ge¬
heimrath zu den unangenehmen gehörte. Die Ro¬
ſenlinien der Freude verzogen ſich auf ſeinem Geſicht
[23] in graue Runzeln. Er ſchlug auch etwas die Augen
nieder.


Ma belle–soeur wiſſen, daß ich immer ein Herz
habe für die Leiden der Menſchheit. Was an mir
iſt, thue ich, um das Schickſal der armen Gefange¬
nen zu erleichtern.“


„Unter denen auch der abſcheuliche Bankeruttier
iſt, der ſo viele Leute um ihr Alles gebracht.“


„Er iſt ein Menſch wie wir, meine Schweſter.“


„Ganz doch nicht, ſagte die Schwägerin und
zog den Arm etwas zurück, auf den er ſeine Hand
gedrückt. Man ſagt es ſind ſehr viele ſchlechte Men¬
ſchen grade jetzt in der Vogtei.“


„Wenn Einer nicht bezahlen kann, hat er darum
aufgehört mein Bruder zu ſein?“


„Die Gefangenen ſollen unerhörte Freiheiten
genießen. Neulich bei Präſident Kircheiſen ward
behauptet, ſie kämen Abends frei zuſammen und
ſpielten Hazardſpiele, ja Einer hielte förmlich Bank.“


„Um die Humanität zu fördern drücke ich ein
Auge zu. Die innern Thüren laſſen ſie ſich zuwei¬
len aufſchließen. Es iſt nicht gut, daß der Menſch
allein iſt, und unter Gottes Himmel ſind wir Alle —“


„Und zwiſchen den Mauern der Vogtei! fiel die
Geheimräthin ein. Geſtern Abend —“


„Sehn Sie, theuerſte Schwägerin, da hatte ich
eine rechte Freude. Sie ſchickten eine Deputation an
mich mit der Bitte ihnen eine kleine, gewiſſermaßen
religiöſe Celebration zu geſtatten. Da morgen, als
[24] heute, ein menſchliches Mitweſen, eine irrende Schwe¬
ſter, gewaltſam aus dieſer Welt geriſſen werden
ſollte, wollten ſie den Abend nicht ohne ſtille, ich
möchte ſagen ſympathetiſche Betrachtung hingehen laſſen.
Ich war wirklich gerührt über dieſes Zeichen edler
Empfindung unter meinen Kindern, wie ich ſie gern
nenne.“


„Sie waren alſo ſelbſt bei dem — ſogenannten
Feſtin?“


„Sie erzeigten mir die Ehre, mich einzuladen.
Ach aber ſo beſcheiden. Und ich verſichere Sie, ich
fand eine Stimmung, die einer Kirche Ehre gemacht.
Und die Arrangements ſo ſinnreich und einfach. Der
Regimentsquartiermeiſter, der bei der Lichtenau da
im Marmorpalais als Decorateur und Maſchiniſt
gearbeitet hatte — ein unglücklicher Menſch, er mag
geirrt haben, wer irrt nicht! — konnte um lumpige
10,000 Thaler die Quittungen nicht aufweiſen! —
Lieber Gott, wenn man für Alles Quittungen ver¬
langte, was zur Zeit der Comteß Lichtenau ausge¬
geben iſt! Ein charmanter Mann ſonſt, ſage ich Ih¬
nen, von ſo philoſophiſcher Ruhe. — Das kleine
Zimmer war griechiſch drappirt, et aussi un peu
gothique
. Hinten ein Opferaltar; in Spiritus brann¬
ten die Flammen empor zu dem Triangel, aus wel¬
chem das Auge der Allwiſſenheit auf uns herabblickte.
Der Rendant vom Salzſteueramt —“


„Der in Hamburg ergriffen ward, als er ſich
einſchiffen wollte?“


[25]

„Ein Opfer der Mißverſtändniſſe. Er hatte die
beſte Abſicht, von London aus den kleinen Irthum
auszugleichen, — ſonſt ein Mann von Charakter,
ſublimen Ideen, iſt auch Maçon. In einem weißen
Talar, eine Binde um die Stirn, hielt er eine Rede;
ich wünſchte, Sie hätten ſie gehört; wie ließ er die
irrende Schweſter beten! Ach aber, wie das kleine
Kind, das der Mutter voraufgegangen, die Arme
ausbreitete und im Namen der Allmacht ſprach:
Mutter dir iſt vergeben! die Seligen warten auf
Dich! — da blieb kein Auge trocken.“


„Und nachher haben ſie getrunken?“


„Die Geſellſchaft hatte einige Flaſchen beſorgt.
Das Herz ſchloß ſich unwillkürlich auf. Man durfte
ſich doch nicht lumpen laſſen. Ich ließ ein Dutzend
Hochheimer bringen. Ich ſage Ihnen, dieſe Empfin¬
dungen, die ſich da aufſchloſſen! Da war doch kein
böſer Gedanke, nichts als die reinſte allgemeine
Menſchenliebe, und wäre nicht der verlorne Menſch,
der Sohn des Geheimraths Bovillard, dazwiſchen
gekommen, ſo wäre auch alles ganz gut abgelaufen.“


„Läßt ihn der Vater noch immer einſperren?“


„Nein, er ſitzt jetzt wegen des letzten Scandals mit
dem Gensdarmerieofficier. Dieſer Taugenichts ver¬
dirbt mir eigentlich die Harmonie in meiner Geſell¬
ſchaft. Indeſſen man hat doch Rückſichten wegen des
Vaters.“


„Gewiß und ſehr ernſte.“


„Und unſer Hofrath Süßring, Sie kennen
[26] den excentriſchen Kopf. — Bös iſt er nicht, nur wenn
er etwas im Kopfe hat. Ich vergaß Ihnen zu ſa¬
gen, man war ſo froh geworden, man ſah das Opfer¬
feuer brennen. Man wollte ſich daran wärmen. Man
machte den Vorſchlag an der Flamme das Getränk
der Freiheit zu brauen, das aromatiſche der Eng¬
länder, das unſer Schiller ſo herrlich beſungen hat —


Vier Elemente, innig geſellt!“

„Man kochte eine Bowle Punſch, das weiß ich
auch, und ſehr ſtarken.“


„Süßring, der eigentlich in Glatz ſitzen ſoll, aber
er iſt kränklich und kann die freie Bergluft nicht ver¬
tragen. Belle-soeur wiſſen ja, durch welche Con¬
nexionen — und er iſt auch eigentlich unſchuldig.
Es war nur der Punſch. Sprang er plötzlich auf
den Tiſch —“


„Und hielt eine ſeiner bekannten republikaniſchen
Reden.“


„Es ſollten keine Kerker und Feſtungen mehr
ſein, die Eiſenſtäbe ſollte man zerbrechen und die
Schwerter auch, und als er das Lied ſang und wir
einfielen:


Allen Sündern ſoll vergeben

Und die Hölle nicht mehr ſein!

„Da ſchmiſſen Sie mit den Gläſern die Fen¬
ſter ein.“


„Nein da ſprang Bovillard erſt auf den Tiſch.
Den eigentlichen Zuſammenhang weiß ich wirklich
nicht mehr, aber in ſeiner Barockſprache rief der tolle
[27] junge Menſch: wenn wir die Hölle zerſtörten, wo
wir denn bleiben wollten! Nun ich ſage Ihnen, einen
Galimathias plein de romantique, daß uns Hören
und Sehn verging.“


„Ich glaube Ihnen wirklich, daß Sie beides
nicht mehr konnten.“


„Durch die Unart dieſes einen einzigen Men¬
ſchen ward uns ein Abend geſtört — meine Schweſter,
das Menſchenleben iſt nicht reich an ſolchen Abenden
voll Harmonie der Seelen. Und der Mond ſtand
draußen und ſchien ſo friedlich durchs Gitterfenſter.“


„Der Mond wird auch vermuthlich ſtehen ge¬
blieben ſein, ſagte die Geheimräthin aufſtehend, wo
blieben denn aber der Herr Schwager?“


„Sie machte Miene zum Gehen und er beugte ſich,
um wieder ihre Hand an die Lippen zu führen: Homo
ſum, nil humani a me alienum puto,
ſagt Terenz,
theuerſte Schwägerin. Fragen Sie meinen Bruder,
was das heißt. Im Uebrigen — abgeſchüttelt!“


„Meinen Sie, Geheimrath? In der Stadt iſt
man andrer Meinung. Man ſpricht davon, daß Sie
die Ihnen obliegende surveillance über die Gefangenen
ſchlecht beobachtet.“


„Man hat ſchon viel über mich geſprochen.
Qu' importe!“


„Wenn man aber auch bei Hofe davon ſpricht!
Auch im Palais. Auch wenn der König entrüſtet
iſt. Auch wenn Kabinetsrath Beyme auf der Stelle
an den Juſtizminiſter ſchreiben müſſen, daß die Sache
[28] unterſucht wird. Herr Schwager es iſt kein Spaß,
warum ich hier bin, es handelt ſich um Ihre Exiſtenz.“


Der Geheimrath war zuſammengefahren wie die
Sinnpflanze bei der menſchlichen Berührung. Sein
Geſicht war blaß, ſeine Vollmondswangen ſchienen
wie welk herabgeſunken. Er öffnete die Lippen und
wollte ſprechen, aber die Zähne, die in eine unwill¬
kürliche Berührung geriethen, ſtammelten nur die
Formel: „Mein allerdurchlauchtigſter König, mein
allergnädigſter König und Herr!“


„Iſt eine Natur, die wir Alle eigentlich noch
nicht kennen, aber in gewiſſen Dingen hat er ſich
außerordentlich ſtreng gezeigt.“ So ſagte die Ge¬
heimräthin Schwägerin, die ruhig vor dem Zerknick¬
ten ſtand.


Der Geheimrath ſtammelte noch etwas von ge¬
heimen Feinden und nachdem er einige Schritte
gethan, fiel er auf ſeinen Armſeſſel.


„Von Feinden weiß ich nichts, ſagte die Schwä¬
gerin, im Gegentheil Sie haben ſich viele Freunde
durch Ihre Diné's gemacht, und es trifft ſich nur
ſehr unglücklich, daß Lombard nach Frankreich iſt.
Aber ſich in den Sorgenſtuhl zu werfen, iſt nicht
Zeit, mon beau-frère! Ihre Freunde können wenig,
Sie müſſen ſelbſt etwas thun, und auf der Stelle.
Ihr Zopf iſt noch gut, die Friſur paſſirt für den
Abend. Werfen Sie ſich in Ihr Habillement.“


„Mein Gott doch nicht zu Seiner Majeſtät!“
rief er aufſpringend und rang die Hände.


[29]

„Auch nicht zum Juſtizminiſter. Ich rathe Ihnen
auch nicht Haugwitz zu incommodiren. Aber zu
Bovillard müſſen Sie. Schnell, ſchnell Herr Ge¬
heimrath. Er vertritt Lombard beim Miniſter. Mein
Mann hat ſchon etwas vorgearbeitet.“


„Zu Bovillard! ja zu Bovillard! Aber mein
Gott, was wird er ſagen!“


„Wenn Sie von ſeinem Sohne ſprechen, wenn
Sie auf ihn die Schuld ſchieben wollen, würden Sie
alles verderben. Sie müſſen ihn ganz ignoriren.
Verſtehen Sie mich; dieſe Schonung kann nur den
Vater gewinnen, denn Vater bleibt er. Daß er
von ihm erfahren ſoll, überlaſſen Sie andern. Sie
exculpiren ſich nur für ſich. Das wie überlaß ich
Ihrem Genie, wie Sie jetzt Ihrer Toilette.“


Sie war hinausgerauſcht und der Geheimerath
wankte nach ſeinem Kleiderſchrank.


[[30]]

Drittes Kapitel.
Eine Heimfahrt.


Die Geheimräthin ſtieg die Hintertreppe hinab,
auf der ſie gekommen. Sie ging langſam, oft, ſchien
es, in Gedanken verſinkend.


Auf dem Podeſt blieb ſie ſtehen, von wo man
einen Blick durch ein Wandfenſter in die Küche hat.
Charlotte ſpielte mit den Kindern, oder vielmehr die
Kinder ſpielten mit Charlotte. Sie zupften ſie vom
Heerde fort. Malwine wollte ihr etwas ins Ohr
ſagen, derweil kletterte das Fritzchen heimlich auf den
Heerd und ſchüttete die Salzmetze in die Kaſſerolle.
Malwine fing plötzlich an zu lachen und ätſchte das
Mädchen aus, Fritzchen war mit einem Satz vom
Heerde auf ihrem Rücken und umſchlang ihren Nacken
mit den Armen. Sie ſträubte ſich, ſchimpfte und ſuchte
den Alp loszuwerden, die Kinder tobten, ſie ſchlug.


Eine charmante Erziehungsſcene, dachte die Ge¬
heimräthin und unwillkürlich entſchlüpfte es ihren
Lippen: „Es wäre eigentlich nicht ſo übel, wenn der
liebe Gott die Kinder zu ſich nähme!“


[31]

„Warum den incommodiren!“ ſagte eine Stimme
dicht hinter ihr. Ein Fremder in ſeinen Mantel ge¬
ſchlungen, der vom Regen triefte, ſtand auf der Stufe
neben ihr. Sie hatte ihn nicht bemerkt, als er vom
Hofe die Treppe heraufkam. Auch erlaubten ihr die
hereinbrechende Dunkelheit und der Mantelkragen nicht,
das Geſicht zu ſehen, als er im Vorbeigehen den
Hut lüftete. Es lag etwas Unheimliches für ſie in
der Begegnung. Wer läßt ſich gern in ſeinen Ge¬
danken belauſchen.


„Wenn nur keine ſchädliche Subſtanz in dem
Gefäß war,“ ſetzte der Fremde hinzu.


„Wie meinen Sie das?“


„Der Muthwille der Kinder könnte unſchuldige
Perſonen in Verdacht bringen.“


„Das einzige Unglück wäre doch nur, daß er
heut Abend eine verſalzene Suppe auf den Tiſch
bekommt,“ bemerkte die Geheimeräthin, die, ſchnell
zu ſich gekommen, ihre Unruhe nicht merken ließ.


„So treffe ich den Geheimerath zu Hauſe, was
mir ſehr angenehm iſt,“ entgegnete der Fremde, noch
einmal den Hut anfaſſend um die Treppe hinaufzuſteigen.


„Dies iſt nicht der eigentliche Weg zu ihm,
konnte die Geheimeräthin ſich nicht enthalten zu be¬
merken. Auf der Vordertreppe begegnen Sie der
Bedienung, um ſich melden zu laſſen.“


„Meine Botſchaft kommt wohl gelegener über
die Hintertreppe.“


„Auch, wenn er zu Hauſe wäre, zweifle ich, daß
[32] ihm überhaupt ein Beſuch gelegen kommt, da er ſelbſt
im Begriff iſt einen zu machen.“


„Ich weiß es, entgegnete der Fremde, und wenn
auch nicht mein Beſuch, wird ihm doch mein Rath
nicht ungelegen kommen. Ich habe die Ehre, mich
der Frau Geheimeräthin gehorſamſt zu empfehlen!“


„Seltſam! ſprach die Geheimeräthin für ſich, als
der Fremde mit ſichern, leichten Schritten die Treppe
hinaufgeſtiegen war. Er kennt mich. Wer iſt er?
Er kommt gewiß in der Angelegenheit — was kann
er aber für Rath bringen!“


An der Hofthür ſtürzte ein heftiger Platzregen
ihr entgegen. Ihre Kutſche hielt auf der Straße vor
der Hausthür. Sie überlegte, ob ſie einen Verſuch
machen ſollte, durch die wahrſcheinlich ſchon ver¬
ſchloſſenen Bureaus ſich einen trockneren Weg nach
dem großen Hausflur zu ſuchen, als ihr Bediente
mit einem Regenſchirm ihr entgegen trat. Auf ihr
Befremden darüber, da ſie beim Ausfahren keinen
mitgenommen, antwortete der Diener, der fremde Herr,
welcher eben durchgegangen, habe ihm den ſeinen
zurückgelaſſen, mit der Bemerkung, ihn für die Frau
Geheimeräthin zu benutzen, damit ſie über den Hof
in ihren Wagen könne.


„Kennt Er den Herrn?“ fragte ſie beim Ein¬
ſteigen.


„Ich habe ihn nie geſehen.“


Seltſam! wiederholte die Geheimeräthin nach¬
denkend. Nicht alle Gedanken drücken ſich auf dem
[33] Spiegel des Geſichts aus, und in einer dunkeln
Kutſche, nur erhellt vom ungewiſſen Laternenlicht,
wenn der Regen gegen die Fenſter ſchlägt, läßt ſich
auf dieſem Spiegel noch weniger leſen. Dem Dichter
iſt es indeß zuweilen vergönnt, eine andre Sonde in
die Bruſt zu ſenken, wie er ja auch Geiſter und
Träume citirt, wo er der Vermittler zwiſchen dem
Reich des Unſichtbaren und des Sichtbaren bedarf.


Sie ſann dem Fremden nach. Seine äußern
Umriſſe waren ihr verwiſcht, nur war es ein blaſſes
Geſicht mit ſcharfen, tiefliegenden Augen, deſſen konnte
ſie ſich entſinnen. Sie hatte ihn noch nie geſehen.
Doch es waren damals viele Fremden in Berlin;
auch hatte der Ton ſeiner Stimme etwas Ausländiſches.
Aber was wollte er bei ihrem Schwager? Wirklich
einen guten Rath geben? Wenn auch der Geheime¬
rath nicht eben perſönliche Feinde hatte, waren doch
Viele, die auf ſein einträgliches Amt lauerten. Wes¬
halb ſollte ein Fremder ſich gedrungen fühlen gerade
ihrem Schwager zu helfen! Aber ſie vertiefte ſich im
Aufzählen, wer wohl ihm auf den Dienſt lauern
könnte, bis ein leiſes Gelächter aus ihren feinen
Lippen brach.


Die Geheimeräthin fragte ſich, woher denn ihr
eigner Antheil an dem Geſchick des Geheimerathes
kam? — Achtete ſie ihn? liebte ſie ihn? Oder weil
er der Bruder ihres Mannes war? Was war ihr
ihr Mann? — Ein Mann, der ſich in ſeiner Bücher¬
ſtube vergrub, wo die Welt umher für ihn lachte!


I. 3[34]

Man hätte jetzt eine Röthe ſehn können über
ihr blaſſes Geſicht ſteigen. Und um eine ſolche
Familie Sorge und Anſtrengung, darum Intriguen,
damit eines ihrer Mitglieder nicht zu Schaden komme!
Sie kam ſich ſelbſt in dem Augenblick ſo ordinair vor.


Die Kutſche hielt vor ihrem Hauſe. Der Diener
öffnete den Schlag. Er ſchien aus ihren Mienen
ihre Beſtimmung leſen zu wollen. Sie warf einen
Blick auf die erleuchteten Fenſter: „Herr Geheimrath
erwarten Frau Geheimräthin zum Piquet.“ — Sie
hatte ſchon einen Fuß auf dem Tritt und blieb einen
kurzen Augenblick ſtehen als thue der Regen, der in
unverminderter Heftigkeit fiel, ihr wohl, dann warf
ſie ſich in den Wagen zurück und befahl: „In die
Komödie!“


Die Stadt war noch immer aufgeregt von dem
Schauſpiel am Mittage. Es war ſeit lange keine
Hinrichtung vorgefallen. Die Heimgekehrten kehrten
erſt jetzt aus den Schenken zurück, es gab mancherlei
Unruhe, kleine Aufläufe, Verhaftungen. Der Kutſcher
zog es, der tobenden Menſchenſchwärme wegen, vor,
durch eine der Quergaſſen zu fahren, welche herr¬
ſchaftliche Equipagen ſonſt vermeiden. Auch hier ſtopften
ſich die Fuhrwerke, und die Dame hatte Gelegenheit
durch die Kutſchenfenſter ein Schauſpiel zu betrachten,
was Frauen ihres Standes ſonſt nicht aufſuchen —
an den hell erleuchteten und grell drappirten Fenſtern
der kleinen Häuſer die Schönheiten, welche ſich den
Vorübergehenden zur Schau ſtellen.


[35]

Sie ſchlug die Augen nicht nieder und wandte
den Blick nicht ab. Sie fühlte auch kein Mitleid mit
den armen Geſchöpfen: Sie ſchlürfen des Lebens
Gluth in vollen Zügen, aus einem Taumel in den
andern geſtürzt, kaum dazwiſchen erwachend, bis ſie
verwelken, und man ſie fortwirft. Und das iſt unſer
Aller Loos — ob früher, ob ſpäter? Was kommt
es drauf an. Wer nur ſagen kann: er hat ſein Leben
genoſſen!


Sie recitirte in ihrem Selbſtgeſpräch die Verſe
des Breslauer Dichters Bürde, der, damals in Ber¬
lin, ſeine Ueberſetzung des Milton herausgab. Dichter
ſorgen am väterlichſten für ihre Gedichte, wenn ſie
ſich ſelbſt in der Societät zeigen. Um der Väter
willen nimmt man ſich der Kinder an. Die Geheim¬
räthin Lupinus würde die Verſe:


Ach es ſind die gleichen Todeslooſe,

Die das Schickſal allen Weſen zieht!

Früher nur entblättert ſich die Roſe,

Später nur verwittert der Granit,

die ſie zweimal mit Empfindung wiederholte, ſo wenig
gekannt haben, als die Mehrzahl unſerer Leſer ſie
kennen wird, wenn ſie nicht die Bekanntſchaft des
Sekretair Bürde in den Geſellſchaften gemacht hätte,
wo der ſchleſiſche Miniſter, Graf Hoym, in deſſen Ge¬
folge er angekommen, ihm einen Ehrenplatz verſchaffte.


Das Komödienhaus war nicht gefüllt. Die Ge¬
heimräthin ſaß allein in ihrer Loge. Ihr ſchien
das Haus dunkel. Es war nicht dunkler als ge¬
3 *[36] wöhnlich. Die Talglichter, die der Lampenputzer vor
den Augen des Publikums anſteckte, duldeten auch
keinen entfernten Vergleich mit dem Glanz der Theater
von heut. Man ſah wohl damals ſchärfer, denn man
ſah mehr, aber das Licht kam aus der Darſtellung,
verſichern uns die, welche aus jener Zeit das deutſche
Theater kennen. Für die Geheimräthin aber blieb
es dunkel, obgleich Fleck als Odoardo ſeine ganze
adlige Kraft entfaltete, die ſpätere Händel-Schütz als
Orſina das Publikum entzückte. Leſſings Meiſter¬
werk ſchien ihr an einem Etwas zu lahmen, das ſie
ſich nicht erklären konnte; der jungen Schauſpielerin,
welche die Emilie zum erſten Male gab, hätte ſie
nachhelfen mögen. Wenn ſie ſich Rechenſchaft gab,
war es aber nicht die Schauſpielerin, ſondern ſie
hätte ihrer Rolle, ihrem Character eine andere Rich¬
tung geben mögen. Ihre Phantaſie beſchäftigte ſich,
eine welche andere Rolle Emilie ſpielen können, ſelbſt
glücklich und beglückend, glänzend und Glanz um ſich
verbreitend, wenn ſie den Pulſen folgte, die für den
Prinzen ſchlugen. Eine welche andere Herrſchaft über
ihn blühte ihr als der ſtolzen Orſina, vermöge ihres
Liebreizes, ihrer geiſtigen Vorzüge. Sie hatte es in
ihrer Macht, auch dieſes Prinzen Wankelmuth zu feſſeln,
und Tauſende, ein ganzes Land glücklich zu machen.
Und alles das vernichtet ein plumper Dolchſtoß, der
Alle unglücklich macht und — die Thörin bat ſelbſt
darum!


Die Geheimräthin war gewohnt in ihrer Loge
[37] Beſuche zu empfangen. Entweder zeigte ſich heut kein
Bekannter, oder ſie hielten ſich entfernt. In einer
Loge gegenüber, wo eine neu angekommene Schau¬
ſpielerin von Ruf ſaß, hörte das Klappen der Logen¬
thüre nicht auf. Ihr war dieſe Störung unangenehm,
das Schauſpiel fing an ſie zu langweilen. Sie be¬
ſann ſich, daß ſie zwar die Einladung zu einer Ge¬
ſellſchaft heut Abend nicht angenommen, aber auch
nicht abgelehnt hatte. Sie hatte nur geſagt, ſie
fürchte einer Migraine wegen nicht erſcheinen zu
können. Sie hatte, oder wollte jetzt keine Migraine
haben und verließ die Loge.


Der Bediente hielt ſchon im Corridor ihre En¬
veloppe bereit.


„Er zittert ja.“


Sie hätte kaum nöthig gehabt ſich nach dem
Grund zu erkundigen, der Bediente war ja noch in
denſelben ganz durchnäßten Kleidern, in [welchen] er
auf dem langen Doppelwege aufgeſtanden. Der zu¬
gigte Corridor hinter den Logen war nicht geeignet
die Naßkälte zu vertreiben. Johann ſagte, das Fieber
ſei noch immer nicht ganz fort. Die Geheimräthin
erwiederte nicht unfreundlich, er müßte endlich etwas
dazu thun.


Der Regen goß noch immer in Strömen, als
ſie wieder in die Kutſche ſtieg und Johann hinten
auf. Der arme Menſch! dachte die Geheimräthin.
Seltſam, daß es ſo ſein muß! Es mußte ſo ſein;
über dieſen Damm kam ſie nicht hinweg, ja ſie
[38] lächelte über den närriſchen Gedanken, daß ſie Johann
auffordern könnte, ſich in den Wagen zu ſetzen. Aber
ſie dachte über die Zukunft des Menſchen nach. Er
litt nicht vom Regen, ſondern an einer innern Krank¬
heit, deren gelegentliche Ausbrüche nur in Fieber¬
anfällen ſich zeigten. Sie glaubte etwas von der
Arzneikunde zu verſtehen, und den Schluß ziehen zu
dürfen, daß er nie vollſtändig geneſen werde. Was
wird nun aus ſolchem Menſchen? Eine Zeitlang hält
man es noch mit ihm aus. Wenn er aber immer
wieder zurückfällt, muß man ihn entlaſſen. Dann
findet er wohl noch einen Dienſt. Aber auf wie lange?
Die neuen Herrſchaften werden nicht ſo lange Ge¬
duld mit ihm haben. Er wandert ins Krankenhaus,
vielleicht ins Spital, vielleicht auf die Gaſſe. Und
wäre es ihm nicht beſſer, wenn er durch einen Blut¬
ſturz, eine radicale Erkältung, ein raſches Ende fände.
Er iſt auch eine verfehlte Exiſtenz!


Sie ſchauderte und verfiel in ein Sinnen, dem
die Ausdrücke fehlten, bis der Wagen vor dem er¬
leuchteten Hauſe hielt.


[[39]]

Viertes Kapitel.
Hier politiſch,dort poetiſch.


Der Eintritt der Geheimräthin in die Geſell¬
ſchaft erregte einen allgemeinen Aufſtand; es ſchien
ein froher. Man hatte ſie nicht mehr erwartet. Die
Wirthin und einige Damen embraſſirten ſich; die ältern
Herren bemühten ſich ihr die Hand zu küſſen: „Nein
das iſt hübſch und liebenswürdig von Ihnen, uns
doch noch zu überraſchen!“ — „Es wäre ein halber
verlorener Abend geweſen, ohne die Frau Geheim¬
räthin,“ ſagte der Wirth. Ein Dritter: „je ſpäter
der Abend, ſo ſchöner die Gäſte.“ Es war eine an¬
ſehnliche, aber etwas bunte Geſellſchaft, vielleicht eine, wo
die Wirthe auch ſolche Verwandte und Bekannte ge¬
beten haben, welche ſonſt ſagen könnten: „Zu ſo
etwas werden wir nicht eingeladen!“ Die Geheim¬
räthin war von der zuvorkommenſten Freundlichkeit.
Man konnte auf den erſten Blick annehmen, daß ſie,
wenn nicht an Stand und Vermögen, doch von Natur
und Bildung von feinerer Art, ein Weſen war, was
man ſo gewöhnlich ein höheres nennt, wenn es in
[40] Kreiſe tritt, die ſich ihrer Gewöhnlichkeit bewußt ſind.
Der Neid, den es hervorruft, zeigt ſich in der Regel
erſt dann, wenn dies vornehme Weſen ſeine Eigen¬
ſchaften geltend machen will. Dies war bei der Ge¬
heimräthin nicht der Fall. Sie konnte nicht liebens¬
würdiger, beſcheidener, gewiſſermaßen harmoniſcher
zur Geſellſchaft auftreten; ſie bedauerte ſo ſehr den
Aufſtand, den ſie erregt.


„Aber warum iſt Ihr lieber Mann nicht mit¬
gekommen? Wir ſind ihm zwar unendlich verbunden,
daß er ſich entſchloſſen, unſre Frau Geheimräthin uns
zu gönnen, aber es wäre doch hübſch geweſen, wenn
er ſich ſelbſt entſchloſſen. Das hätte erſt unſre Freude
vollkommen gemacht.“


„Sie thun meinem Manne unrecht, entgegnete
die Angekommene. Wenn es nach ihm gegangen,
wäre ich längſt hier. Er kann es nicht ſehen, wenn
ich ein Vergnügen ſeinetwegen entbehre. Aber liebe
Frau Geheimräthin, — die Wirthin nämlich war
auch eine Geheimräthin — Sie glauben nicht, wie
er jetzt mit Arbeiten überhäuft iſt, und ich ſehe mit
wahrer Angſt, wie er ſich dabei anſtrengt, daß ſein
Kopfleiden wieder heraustritt. So machte ich mir
ein Gewiſſen daraus, ihn heut zu verlaſſen. Aber
er hatte keine Ruhe. Wir wollten Piquet ſpielen;
da legte er mit dem freundlichen Blicke, dem man
nicht wiederſtehen kann, die Karten weg, ſtreichelte
mir über die Backe und ſagte: Liebe Ulrike, ich
werde viel mehr Ruhe haben, wenn ich dich in heitrer,
[41] lieber Geſellſchaft weiß. Du mußt Dich aufheitern
nur um meinetwillen. Da kann man denn nicht
widerſtehen.“


„Man muß geſtehen, unſre Frau Geheimräthin
Lupinus iſt das Muſter einer Hausfrau, ſagte der
Wirth, und dieſe Ehe eine exemplariſche. Man wird
nicht viele in Berlin ſo finden.“


„Mit Ausnahme doch!“ ſagte die Geheimräthin
Wirthin, und die Geheimräthin Gaſt ſchlang ſanft
den Arm um ihre Schulter: „Ich kenne eine Aus¬
nahme. Was unſere Ehe betrifft, ſo möchte ich ihr
nur darin einen kleinen Vorzug beimeſſen, daß wir
uns ſo innig verſtehen, ohne es auszuſprechen. Wir
gehen eigentlich jeder ſeinen eigenen Weg, was ge¬
wiß zu Mißdeutungen Anlaß giebt, aber jeder fühlt
für den andern mit, er verfolgt ihn ſtill in den Ge¬
danken, jeder iſt unſichtbar beim andern. Wir wiſſen
oft nicht, woher dieſe Sympathie kommt, doch ſie
iſt da. So in dieſem Augenblick. Das Vergnügen
in dieſer liebenswürdigen Geſellſchaft zu ſein, iſt mir
geſtört, weil ich weiß, mein Mann hat nicht die Augen
geſchloſſen und ruht nicht, wie er mir verſprach, im
Lehnſtuhl aus, ſondern er hat wieder ſeine Folianten
vorgenommen, er vergleicht zwei alte Handſchriften,
er bückt ſich über, er drückt die Feder, während der
Angſtſchweiß ihm von der Stirne träuft, weil er ſich
die Abweichung in einer Lesart nicht erklären kann.
Ich ſehe das alles ſo deutlich vor mir wie den Piqueas
in Ihrer Hand —“


[42]

Sie fuhr ſich leicht über die Stirn, und erſchrak
über den Eindruck, den ihre Rede gemacht. Dabei
kam ihr zu Sinn, daß die Geſellſchaft ja durch ſie
vom Spieltiſch zurückgehalten werde. Sie bat um
Entſchuldigung wegen ihrer unzeitigen Herzenseröff¬
nungen.


„Was kann eine ſchöne Seele ſchöneres thun,
als Andere ihre Empfindungen mitempfinden laſſen,“
lispelte eine Seele, die ſich wohl ſelbſt für ſchön hielt.


„Nennen Sie es lieber eine Schwäche, ſchüttelte
die Geheimräthin den Kopf. „Die Welt will nicht,
daß wir uns geben, wie wir ſind, und die Welt
hat im Grunde Recht.“


Nun aber hatte ſie auch keine Ruhe, als bis
die Herrſchaften ſich niedergeſetzt. Ein heiteres Ver¬
gnügen zu ſtören erſchien ihr immer wie eine Todſünde.


Sie hatte recht. Wer die Karte zur Whiſtpartie
in der Hand hält, läßt ſich ungern ſtören, am we¬
nigſten durch Herzensergüſſe einer ſchönen Seele.


Einige hatten die Geheimräthin ſchon immer für
eine Clairvoyante gehalten; die Clairvoyance war in
der Mode. Andere meinten, ſie ſei nur von einer
außerordentlich reizbaren nervöſen Complexion. Man
bedauerte ſie, es gab wohl auch andre, die ſie darum
beneideten. Hier lobte man ſie, wie ſchonend ſie das
Verhältniß zu ihrem Ehemann darzuſtellen wiſſe, da
jedermann bekannt ſei, ein wie eigenſinniger Stuben¬
gelehrter der Geheimrath wäre. Sie ſei gewiſſer¬
maßen eine Märtyrin ihres feinen Sentiments. Er
[43] bereite und gönne ihr kein Vergnügen, was ſie ſich
nicht abſtehle. Eine andere rief: „Und wie unrecht
von ihm, denn von ihr kommt doch das Geld!“


Es war eine glänzende Geſellſchaft aus den
höhern Kreiſen des mittlern Lebens. Aber man muß
an eine Geſellſchaft aus dem Anfang dieſes Jahr¬
hunderts ebenſowenig den Maaßſtab des Glanzes
von heut legen, als an die Komödienhäuſer von
damals den unſerer Theater. Der Vergleich geht
vielleicht noch weiter. Die Kleiderſtoffe und Geſchirre
waren koſtbarer, gediegener und dauerhaltiger, aber
im künſtlichen Ausbeuten und geſchickten Zerlegen des
Stoffes, damit jeder Theil ſeine Wirkung erhalte,
haben wir es weiter gebracht. Trifft das vielleicht
auch auf die Unterhaltung zu? — Aber gar keinen
Vergleich duldeten die Räumlichkeiten. Unſere Bürger¬
häuſer werden Palläſte. Dieſe hohen Räume, die ge¬
waltigen Fenſter und Flügelthüren, welche den Zim¬
mern die Wände ſtehlen, fand man zu Anfang dieſes
Jahrhunderts nur in den wenigen ariſtokratiſchen
Häuſern der neuen Stadt. Die vornehmen Bürgerhäuſer
in den Vierteln der Friedrichsſtadt aus Friedrichs Zeit
geben zum Theil anſpruchsvolle Façaden, aber im Innern
iſt alles klein und zugemeſſen. Die niedrigern Zimmer
liefen eines in das andere; dennoch blieb der Woh¬
nung etwas wohnliches, weil Flügelthüren und Fenſter
nicht die Räume unnatürlich verkürzten und der Menſch
Platz für ſich und ſeine Sachen an den Wänden fand
und trauliche Winkel ſich zu verlieren.


[44]

In Zimmer an Zimmer konnte die Geſell¬
ſchaft ſich ausbreiten. Wenn aber die Geheim¬
räthin das Theater dunkel fand, weil ihr Auge
in eine künftige Zeit drang, ſo konnte ſie auch hier
trotz der vielen Wachskerzen auf ſchweren Silber¬
leuchtern den flimmernden Schein des Lampenlichtes
vermiſſen, das die Nacht zum Tage macht. Unter
den Möbeln, zum großen Theil noch vom ſpätern
Roccoco, gewundenen weiß lackirten Stühlen und
Tiſchen mit dem verbleichenden Schimmer von Gold,
ſah man ſchon den Uebergang zur antiken Welt in einigen
glatten, ſcharf eckigten Stücken, deren Modelle dem
Tiſchler wenn auch nicht als aus Pompeji doch an¬
geblich aus Hetrurien zugewieſen waren. Sie konn¬
ten ſo wenig als die Schildereien und die paar
plaſtiſchen Stücke an den Wänden die Schnörkeleien
des Roccocothum durch edle Einfalt beſchämen.


Wovon man ſich unterhielt? — Wer faßt die
zückenden Irrlichter zuſammen, die von Mund zu
Munde hüpfen. Und in einer gemiſchten Geſellſchaft!


Hier politiſch, dort poetiſch,

Regelrecht wie ein Lineal,

Philoſophiſch und äſthetiſch

Krümmend hier ſich wie der Aal,

Sprudelnd wie der Dampf vom Theetiſch

Aber überall trivial.

hat ein ſpäterer Dichter ſie beſchrieben.


Ob die Geheimräthin ſie auch ſo fand! Sie
wechſelte oft die Gruppen. Hier der ewige Streit,
ob Goethe oder Schiller ein größerer Dichter ſei? In
[45] dieſen Kreiſen war es längſt entſchieden. Welcher
Mann von Bildung hätte zarten Lippen widerſpro¬
chen, welche dem Dichter, der geſungen:


Ehret die Frauen, ſie flechten und weben

Himmliſche Roſen ins irdiſche Leben.

den Preis zuerkannten! Es war nur ſeltſam, daß
der Streit, trotz der Entſcheidung, immer wieder von
Neuem aufgeworfen werden konnte. Eine Geheim¬
räthin — es war aber eine dritte Geheimräthin —
ſtellte ſogar die Behauptung auf, während jede Seite
in Schiller wenigſtens ein nobles Sentiment enthalte,
wiſſe ſie keine einzige Sentenz in Goethe, welche
die Seele rührt und erhebt. Dies fand doch Wider¬
ſpruch, und man citirte aus der Iphigenie die Verſe:


Weh dem der fern von Eltern und Geſchwiſtern,

Ein einſam Leben führt, ihm zehrt der Gram

Das nächſte Glück von ſeinen Lippen weg.

Ihm ſchwärmen abwärts immer die Gedanken

Nach ſeines Vaters Hallen, wo die Sonne

Zuerſt den Himmel vor ihm aufſchloß, wo

Sich Mitgeborne ſpielend feſt und feſter

Mit ſanften Banden aneinander knüpften.

Ein junger Mann mit blaſſem ernſten, aber et¬
was eingefallenen Geſicht recitirte die Verſe mit
Ausdruck. Man ſchwieg eine Weile. Als die Ge¬
heimräthin ſie ſchön fand, drückten Alle ihre Bewun¬
derung aus. Eine Dame hatte bis da geglaubt, ſie
rührten von Schiller her, ſie hatte die Erhabenheit
des Gefühls Goethe nicht zugetraut. Doch bemerkte
ſie, die Verſe ründeten ſich nicht ſo wie bei Schiller,
[46] und bei aller Schönheit fehlte ihnen der ſchmeichelhafte
Klang des Gefühls. „Aber er liegt in unſrer Seele,
und fühlt das Weh, das uns in der einſamen Bruſt
verzehrt“ hatte die Geheimräthin geſagt, als ſie ſich
abwandte. Man ſchien ſich zu fragen, was ſie damit
meine? Ein alter Hofrath antwortete ſeiner etwas
ſchwerhörigen Nachbarin: „Sie iſt eine Adlige von
Geburt, und mags nun doch nicht recht verſchnupfen,
daß ſie einen Bürgerlichen geheirathet hat. Darum
hält ſie wohl das von „ſeines Vaters Hallen“ auf
ſich anzüglich. Aber Schloß Wuſtenau ſtand ſchon
1762 ſub hasta und ſie iſt auch gar nicht mal drin
geboren; ſie bildets ſichs nur ein.“ — Die Dame,
vor kurzem erſt nach Berlin gekommen, war zufällig
ſelbſt eine adlige Officiersdame, was der Hofrath
vermuthlich nicht gewußt. „Wenn er ihr ein Sort
gemacht hätte, erwiderte ſie, das paſſirt wohl, aber
wie ich höre, iſt das Vermögen von ihr, et voilà qui
est bien curieux.“
— „Ja, meine gnädigſte Frau,
erklärte der Hofrath, als ſie ihn heirathete, war ſie
ein blutarmes Fräulein, man hielts für ein großes
Glück, daß ſie ihn kriegte. Erſt nachher machte ſie
die große Erbſchaft.“ — „Ah! c'est ça.“ ſagte die
gnädige Frau, und ſagte nichts weiter.


„Wie kommt es, daß man den Einſiedler einmal
in Geſellſchaft ſieht, ſagte die Geheimräthin im Vor¬
übergehen zu dem jungen Manne, der die Verſe ge¬
ſprochen. Und noch mehr, wie kommt es, daß Sie
Goethe noch für werth achten, ihn auswendig zu ler¬
[47] nen? Wer ſo in transcendentalen Regionen der
neuen Poeſie ſchwebt, gäbe auf die alten Dichter,
dachte ich, nichts mehr. Aber nehmen Sie ſich in
Acht, daß mein Mann nichts davon erfährt, Herr
van Aſten! Für ihn, wie Sie wiſſen, ſind ja ſchon
Goethe und Schiller Neuerer.“


Ohne eine Antwort abzuwarten, war ſie vorüber¬
geſchwebt. In einem Kreiſe, wo man über Politik
ſprach, ſtritten ſie ſich wer ein größerer Feldherr ge¬
weſen: Moreau oder Napoleon Bonaparte? Die
Parteien ſtanden ſcharf geſondert. Der Geheimräthin
kam das ſonderbar vor; den Grund wußte ſie ſich
nicht recht anzugeben. Das Geſpräch ward ihr
langweilig. Sie hatte ſich auch einmal für Bona¬
parte intereſſirt, und auch für Moreau. In dieſem
Augenblick waren die Feldherren ihr gleichgültig. So
gleichgültig als die Geſpräche über die Tagesgeſchich¬
ten und Stadtklätſchereien, die in jeder Geſellſchaft
ihr unverwüſtliches Recht beanſpruchen, auch wenn
man ſie vorher grundſätzlich ausſchloß, wie es heut
Abend mit der Geſchichte der Kindesmörderin ge¬
ſchehen war. Aber wer wußte nicht einen pikanten
Zug zu erzählen, wer fühlte nicht den Zug in ſich,
aus eigner Wiſſenſchaft das Erzählte zu berichtigen,
und ehe man es ſich verſah war der verbotene Ge¬
genſtand überall der des lebhaften Geſprächs.


Es gab aber noch einen andern Gegenſtand.
Man berührte ihn nicht in ihrer Gegenwart. Die
Geheimräthin ſah nicht allein in die Ferne, ſie konnte
[48] auch dahin hören. Sie wußte genau, was geſprochen
wurde, und daß ſie, ihr Mann, deſſen Bruder, das
fatale Ereigniß der vorigen Nacht, den Stoff abgab.
Vielleicht daß ſie eben darum die Geſellſchaft beſucht
hatte, um zu zeigen, daß ſie ohne Beſorgniß war,
oder — darüber hinweg.


Aber es gefiel ihr nicht länger, daß das Geſpräch
verſtummte, wo ſie ſich näherte. Wer ſpielt gern die
Vogelſcheuche! Bei einer Whiſtpartie fehlte durch einen
Zufall der vierte Mann. Sie zeigte ſich bereitwillig,
die Karte zu übernehmen. Man erkannte das ganze
Opfer, welches ſie brachte. Sie verſicherte, wenn ſie
durch ihr ſchlechtes Spiel das Vergnügen ihrer Mit¬
ſpieler ſtöre, ſo ſei ihre Schuld doch nicht ſo groß
als ihre Genugthuung, in ſo angenehmer Geſellſchaft
eine Stunde zu verbringen.


Das Spiel prosperirte in der That nicht durch
ihren Eintritt, aber wie die Mücken um den hellſten
Lichtſchein, ſammelte ſich um dieſen Tiſch die ambu¬
lirende Geſellſchaft. Wer fühlte ſich nicht geehrt der
Geheimräthin Rath zu geben, die bei ihren Fragen
vielleicht mehr Unſchlüſſigkeit verrieth, als in ihrem
Character lag. Und wie liebenswürdig nahm ſie ihn
hin. „Sie iſt die charmanteſte Frau!“ flüſterten die
andern. Die Geheimräthin zankte auch nicht um
die Points.


„So aufgeräumt, Herr v. Dohleneck?“ ſagte ſie,
die Karten prämelirend zu einem Cavallerieofficier, der
ſich neben ihr etwas brüsk auf einen Stuhl warf, den ein
[49] Civiliſt eben für eine junge Frau hingeſtellt zu haben
ſchien. Die Dame warf dem Officier einen böſen
Blick zu, den er aber nicht bemerkte, oder bemerken
wollte, und der Civiliſt beeilte ſich ihr einen andern
Stuhl hinzuſetzen, den ſie aber nicht annahm, ſondern
ins Nebenzimmer eilte. „Sie irrten Sich, ſagte die
Dame, ich wollte mich gar nicht ſetzen, ich ſuchte
meinen Mann.“


Möglich daß nur zwei Augen, vermittelſt einer
vorgehaltenen Lorgnette dieſen Auftritt bemerkt, der
wie ein Lüftchen über den Waſſerſpiegel der Societät
hinkräuſelte, um am Ufer zu verſchwinden. Aber am
Ufer trieb und wühlte das Lüftchen weiter im aufge¬
lockerten Sande.


Der ihn bemerkte war ein Herr etwas über die
mittleren Jahre hinaus, welcher eben eingetreten war
und mit der Lorgnette die Geſellſchaft erſt zu muſtern
ſchien, ehe er ſich ihr zeigte. Wir werden ihn näher
kennen lernen.


Der ſich auf den Stuhl warf war — nur ein Ab¬
druck von Hunderten oder von Tauſenden. Das
wohlgeformte, volle Modell eines Kriegsgottes, den
man vielleicht ſchön nennen können, wenn die Ueber¬
fülle der Geſundheit und Kraft in dem beinahe
ſechsfüßigen Körper etwas mehr Elaſticität, und das
volle rothe Geſicht unter den blonden Haaren und
dem blonden Stutzbart weniger Sorgloſigkeit und
weniger Gutmüthigkeit verrathen hätte. Er war ein
Mann, der ſeinem Mann ſtand, aber der militairiſche
I. 4[50] Grimm, der auch den Mann herausfordert, welcher
Miene macht nicht ſtehen zu wollen, fehlte ihm.


„'S iſt um ſich todt zu lachen, wenn Feder¬
fuchſer über Dinge ſchwatzen, die nicht in ihren Bü¬
chern ſtehn.“


„Beſſer todtlachen, als todt ärgern, lieber Ritt¬
meiſter! bemerkte die Geheimräthin. Was hat Sie
denn in die Rage gebracht?“


Der Officier kam aus der politiſirenden Ecke.


„Stellen Sie ſich vor, ſchöne Frau, der Profeſſor
da, oder was er iſt, Sie kennen ihn ja wohl —
er zeigte auf den jungen Mann von vorhin, jedoch
mehr durch ein Augenblinzeln, indem er ſich den
Schnurrbart ſtrich — der junge Herr meint, wenns
mit den Franzoſen losgeht, wäre es doch ſehr zwei¬
felhaft, wer Sieger bleibt.“


Man blickte verwundert und halb erſchrocken auf
den Redner oder auf die glücklicherweiſe entfernte
Geſtalt des Mannes in Rede.


„Na, auf Ehre, 's iſt wahr, ſetzte der Officier
hinzu. Er raiſonnirt von Bonapartes Genie als
Feldherr; nun das mag er haben, wir laſſen's ihm.
Und 's wäre auch zweifelhaft, ob ſelbſt Friedrichs
Genie im Stande wäre ihm überall zu pariren, wie
er Daun und Laudon gethan. Nu, darüber kann
man nur lachen. Aber als ich ihn fragte, was er denn
zu unſrer Armee meinte, wiſſen Sie, was er ſagte —“


„Es iſt mir etwas ganz Neues, daß Herr van
Aſten ſich mit Politik beſchäftigt.“


[51]

„Ich dachte, er würde nach der Rheincampagne
retiriren, da hätte ich ihm mit 'ner Antwort gedient.
Nein, er ſagte, hören Sie, ich hab's des Spaßes
wegen behalten: uns ſtehe ein Heer gegenüber, das
aus dem jugendlichen Volksbewußtſein ſtets neue
Kräfte ſchöpft, wie der heidniſche Rieſe, ich weiß nicht
wie der Kerl heißt, der zu jedem neuen Kampfe ſeine
Mutter-Erde küßte. Ob wir denn mit unſern ge¬
ſchloſſenen Phalangen von altem Ruhme, aber ohne
den Genius, der ewig zeugt, uns getrauten eine Kraft
zu werfen, die ewig neu wächſt? Ich ſage Ihnen,
es war zum Berſten. Gut, daß keiner meiner Ca¬
meraden es gehört. Ich ſagte ihm nur: Mein lieber
Herr, wer die Erde küßt macht ſich das Maul ſchmutzig,
und hol mich der und jener wenn wir unſern Sol¬
daten nicht die Propreté eingefuchtelt haben.“


Der Verlegenheit über die Rede zu lächeln oder
ſich zu äußern wurden die Zuhörer durch den Wirth
überhoben, der plötzlich mit einer Stimme die eher
auf die Kanzel als an den Whiſttiſch gehörte, laut
ſprach:


„Aber, meine verehrte Herren und Damen, Gott
ſei Dank, daß wir der Beantwortung dieſer Frage
durch die Weisheit unſrer Staatsmänner [überhoben]
ſind, welche es nicht dahin kommen laſſen werden,
daß der Degen des großen Friedrich aus der Gruft
geholt wird, um mit dem Degen des großen Mannes
ſich zu kreuzen, und die es nicht dulden werden, daß
die beiden ruhmwürdigen und erleuchteten Nationen in
4*[52] andern Streit gerathen, als den, aus welchem für
die Civiliſation die ſchönſten Früchte entſpringen.
Wozu alſo dieſer Dispüt, der uns nichts angeht?
Die weiſen und humanen Männer, denen unſre Re¬
gierung anvertraut iſt, werden immer für unſer Beſtes
ſorgen und was ſie erſinnen, iſt gut und wird zu
unſrer Aller Ruhe beitragen.“


[[53]]

Fünftes Kapitel.
Der vornehme Gaſt.


Der Grund dieſer ſeltſamen Anrede war, daß
der Wirth in dem Augenblicke den Gaſt in der Thür
bemerkt hatte, welcher vorhin mit der Lorgnette die
Geſellſchaft muſterte und jetzt mit einer raſchen
Vorwärtsbewegung den nächſten Gruppen zueilte.
Und doch ſchien er, als der Geheimerath Bovillard
ihn im Vorübergehen mit einem freundlichen Hände¬
druck begrüßte, von dieſer unerwarteten Gegenwart
nicht wenig überraſcht und erſchreckt.


MesdamesMessieurs! ſagte der wirkliche
Geheimerath mit einer verbindlichen Neigung gegen den
Spieltiſch, ich hoffe daß ſich Niemand derangiren läßt,“
und war durch die nächſte Gruppe, auch durch eine
zweite und dritte, ohne ſich um die Perſonen zu
kümmern, geeilt, bis er die Wirthin fand, deren Hand
er an die Lippen führte, und ſeine verſpätete Erſcheinung
mit vielen ſchmeichleriſchen Worten und einer höchſt
wichtigen Conferenz entſchuldigte.


Es war ein Funke in die Geſellſchaft gefahren,
[54] die zu ermatten anfing; und der Funke hatte gezündet.
Einen liebenswürdigern, einen freundlicheren Mann
als dieſen vornehmen Gaſt konnte man ſich nicht
denken. Wie wußte er jedem, der ihm vorgeſtellt ward,
etwas Angenehmes zu ſagen, wie wandte er ſich mit
Theilnahme und Herablaſſung zu ganz unbedeutenden
Perſonen. Für jeden hatte er ein verbindliches Wort.


Die Taſſe in der einen Hand, den Biscuit in
der andern, wie gerieth er plötzlich in's Feuer und
erzählte mit hinreißender Lebendigkeit irgend ein gleich¬
gültiges Ereigniß, das er am Hofe erlebt. Der ſub¬
alterne Zuhörerkreis war in Entzücken über die
Vertraulichkeit eines ſo hochgeſtellten Mannes. Ebenſo
plötzlich konnte er freilich einen andern am Arm er¬
greifen, und ohne ſich zu kümmern um die, welche
er eben an ſeine Ferſen gebannt und um ſich als
Trabanten gezaubert, ihn mit einem: à propos, wiſſen
Sie ſchon? beiſeit ziehen. Er flüſterte ihm etwas
in's Ohr, er ſetzte die Taſſe fort, die Hand vor dem
Munde ſprach er noch leiſer, aber mit fauniſchem
Lächeln; nein er lächelte nicht mehr, er lachte, er
kicherte, wenn ſich das für einen wirklichen Geheime¬
rath geſchickt hätte. Der Andere natürlich lächelte
auch, er lachte, er verſuchte zu kichern.


Die Lorgnette am Auge, und das Geſicht halb
über die Schulter gewandt, konnte man glauben, daß
er nach dem Gegenſtande ſuche, den ſein beißender
Witz eben getroffen. Aber er lorgnettirte nur ein
hübſches Geſicht und ſprach ſeine Admiration aus,
[55] daß die Kleine, die er nannte, ſich ſo ausgewachſen;
er hätte es nicht erwartet. Wenn man ihm beſcheiden
bemerkte, daß er die Perſonen verwechſele, fand er
ſich nicht in Verlegenheit, ſondern ſtellte das Paradoxon
auf: die Liebe ſolle zwar nicht wechſeln, aber alle
wahre Liebe beſtände aus Verwechſelungen: „Unſere
Phantaſie ſchafft ſich ein Ideal. Das lieben wir.
Je öfter wir nun in einer beauté dies Ideal wieder¬
zufinden glauben, um ſo glücklicher ſind wir, und
um ſo mehr andere beglücken wir. Nicht wahr, Herr
Geheimerath, die Fabel vom Amphytrio iſt das Chef
d'Oeuvre in der Mythologie?“


Der in den Kreis getretene Geheimerath war
nicht allein ein ernſthafter Mann, ſondern er ſtand
auf einer amtlichen Stufe, die der eines wirklichen
ſehr nahe kam. Es hatte ſich die Nachricht in der Geſell¬
ſchaft verbreitet, daß ein Courier, der heut Nachmittag
wichtige Nachrichten gebracht, den Geheimerath ſo
lange zurückgehalten. Er glaubte ein Recht zu haben
ſich bei dieſem danach zu erkundigen.


„Beſter Freund, ſagte letzterer in der Fenſter¬
niſche, wohin ſie ſich zurückgezogen, wann verging
ein Tag, wo nicht ein Courier an einen Miniſter
kam, und wenn ich ihre Wichtigkeit, nämlich
unſerer Miniſter, danach abwägen ſollte, ſo wüßte
ich wirklich nicht, wo vor Reſpect bleiben. — Aber
Gott weiß, mich hat nie danach gelüſtet, ihre Geheim¬
niſſe früher zu erfahren, als ſie an den Tag kamen.
Denn was hilft mir's, ob der Kurfürſt von Heſſen
[56] ſeiner jüngſten Maitreſſe einen ſo koſtbaren Hut ge¬
ſchenkt hat, daß die nächſtältere darüber in einen
Wuthkrampf verfallen iſt. Oder wenn die Fetzen des
heiligen Römiſchen Reichs ſich darüber ſtreiten, ob
der Profeſſor Fichte ein Deiſt iſt oder keiner? Und
dieſe Bagatellen, Sie glauben nicht, wie man uns
damit überſchüttet. Dieſe Geſchichte mit . . . . . . .
er flüſterte einen Namen, Sie kennen ſie doch? der
halbe Mulatte aus Holland, — wie hieß er doch
gleich! — ließ ihm auf dem Sopha zwei Rollen, jede
mit hundert Friedrichsd'or, zurück. Als unſer Freund
es ſah, rief er ihn zurück: Sie haben etwas vergeſſen!
Unterſtehen Sie ſich nicht, mir noch einmal vor die
Augen zu treten. Konnte der Graf nobler handeln?
— Eine Woche darauf kommt der Baron, der in
Batavia, wie Sie wiſſen, einmal Gouverneur war,
zu ihm, und fragt ihn, ob er nicht ſeine Schimmel
verkaufen wolle! Sie erinnern ſich doch der Wagen¬
ſchimmel! Blind und lahm, ein wahrer Scandal, ein
Spott der Kutſcher. Unſer Freund ſagt Nein. Wie
kommen Sie darauf? Excellenz, ſagt der, ich zahle
jeden Preis. Ich muß ſie haben. Ein verrückter
Lord hat ſeinen Sinn darauf geſetzt, ein Achtgeſpann
gerade von ſolchen Thieren zu beſitzen. Einem Thoren
und Nabob kommt es nicht auf's Geld an. Ich
habe alle Roßtäuſcher in der Provinz in Acquiſition
geſetzt; ſie können mir nur fünf auftreiben, und mir
geht dadurch ein großer Gewinn verloren. Ich ſähe
es daher als eine große Gefälligkeit von Ew. Excellenz
[57] an, wenn Sie mir zu Hülfe kämen. — Ich bin kein
Kaufmann, ſagte unſer Freund, und weiß keinen
Preis zu ſetzen, laſſen wir die Sache fallen. — Der
Baron überſchlägt ſich: Hundertfünfzig Friedrichsd'or
für jedes kann ich geben, Summa dreihundert, Zug
um Zug. Mein Kutſcher wartet unten. Unſer Freund
ſah ihn ernſt an: Man ſoll auch zuweilen den Narren
gefällig ſein; aber Ihnen ſoll der Neukauf frei bleiben.
— Nun geſteh ich Ihnen zu, der Schinder gab nicht
zwanzig Thaler für beide Beſtien, — nun, wir haben
es Alle verſtanden, es war ein Witz, nichts als ein
Witz! Aber können Sie glauben, liebſter Geheimerath,
wie man uns bombardirt mit anonymen Denunciationen.
Wir ſollten Lärm ſchlagen, dem Könige die Sache
hinterbringen. Soll man ſich um ſolche Bagatellen
die Finger verbrennen! Beyme ſchmunzelte neulich:
Ich hätte die Pferde wohl nicht verkauft, aber Sie
wiſſen doch, der Pferdehandel unterliegt andern
Geſetzen, als die im Landrecht ſtehen. Darin ſoll
der Bruder dem Bruder nicht trauen. Und, ich bitte
Sie, der König hat für andre Dinge zu ſorgen.
Haugwitz ſagte: ſollen wir etwa darum Einen ver¬
lieren, der ſich nicht um Politik kümmert. Sehen Sie,
liebſter Geheimerath, je weniger wir ſind, die ſich
um die Dinge nach außen kümmern, um ſo beſſer
wird alles gehen.“


Der Geheimrath wußte nun wenigſtens, daß
Bovillard ihm nicht ſagen wollte, was er wußte.
Doch wußte er darum noch nicht, ob er etwas wußte.


[58]

Seltſam, derſelbe vornehme Mann ging gleich
darauf mit einem angeſehenen Kaufmann aus der
Brüderſtraße Arm in Arm durch die Zimmer, und
wenn wir recht gehört, vertraute er demſelben, was
er dem Geheimrath nicht für gut gefunden mitzutheilen:


„Sie kennen meine Amtspflicht, aber einem
Freunde, wie Ihnen, kann ich die Verſicherung geben,
unſere Sachen ſtehen gut. Phantaſten, unpraktiſche
Köpfe, Schwärmer, die an Krieg denken! Idealiſten,
liebſter Splittgerber! Vor denen müſſen wir uns vor
allem hüten. Es taucht jetzt hier ſolche Claſſe von jun¬
gen Strudelköpfen auf, die von Deutſchland, deutſchem
Weſen, deutſcher Sprache, Art, ſprechen. Man kann
darüber lachen, aber man muß Achtung geben. Die
Ideen können viel Unheil in der Welt anrichten. Er¬
innern Sie ſich an Frankreich! Da iſt hier der junge
Profeſſor Fichte! O es ſind ihrer mehre. Ein ſublimer
Kopf — aber ſie ſehen den Wald vor den Bäumen
nicht. Auf das Praktiſche, auf das, was uns noth
thut, den Sinn gerichtet! Das Hemde iſt uns näher
als der Rock. Der Kaufmann iſt eigentlich der wahre
Philoſoph für die Welt. Er weiß, was uns noth thut.
Sie geben mir Recht, lieber Splittgerber. Wenn
wir ein Trauerjahr vor uns haben, werden Sie nicht
Cochenille verſchreiben. Das heilige Römiſche Reich,
als es exiſtirte, brauchte freilich vielerlei Nürnberger
Waare, unter andern auch einen Kaiſer. Brauchen
wir das? Wir ſind das Reich du grand Frédéric!
Sie werden mir darin Recht geben. Eine Weltkata¬
[59] ſtrophe hat alle Verhältniſſe umgeworfen. Was ſind
Nationalitäten? — Irrlichter! Laterna Magicabilder!
Wenn man eine anders gefärbte Glasſcheibe vorſchiebt,
ſehen ſie anders aus. Wie Preußen ſich ſelbſt ge¬
funden hat in ſeinem großen Könige, ſo haben die
Franzoſen ſich in ihrem Bonaparte gefunden. Wie
Friedrich das Genie der Franzoſen erkannte, erkennt
Napoleon den Genius, der in unſerer Monarchie
lebt. Sie glauben gar nicht, wie man uns erkannt!
Wir ſind, wie beſtimmt von dem Geiſt über dem
Sternenzelt, brüderlich, Hand in Hand im Völker¬
bunde neben einander zu ſchreiten. Und da wollen
Querköpfe eine tudesque Idee dazwiſchen ſchieben.
Ich bitte Sie, ich wiederhole es, was ſind Natio¬
nalitäten? Fragen Sie, wenn Sie Pfeffer kaufen,
von wem Sie ihn kaufen? Der billigſte Verkäufer iſt
der beſte. Und wenn Sie verkaufen, wer den höchſten
Preis dafür zahlt, der iſt der beſte Käufer; nicht ob
er Italiener iſt, Franzos oder Ruſſe.“


Dem Kaufmann aus der Brüderſtraße ſchien
der Ideengang des Staatsmannes denn doch nicht
ganz geläufig. Er handelte nicht mit Pfeffer: „Herr
Geheimrath beliebten von einem Courier zu ſprechen —“


Bovillard legte die Hand auf ſeinen Arm und
mäßigte die Stimme: „Nur Ihnen, und unter dem
Siegel des tiefſten Geheimniſſes. Bovillard's Ge¬
ſicht glänzte — alle Mißverſtändniſſe gehoben, alle
Schwierigkeiten ausgeglichen, der König und unſer
Vaterland können ſich glücklich ſchätzen, daß ſie Diplo¬
[60] maten haben, welche es verſtehen Krieg zu führen
ohne den Degen zu ziehen.“


Zufällig aber begegnete dem wirklichen Geheim¬
rath, als er ſich an der Thür umwandte, Jemand,
zu dem er dieſes Geſpräch nicht geführt hätte, Jemand,
der gern den Degen gezogen hätte. Der Rittmeiſter
würde ſich nicht dem Staatsmanne genähert haben,
den er nicht leiden konnte, wenn dies nicht der ein¬
zige Ausweg geweſen wäre, um einer Dame nicht
noch einmal zu begegnen, die er ebenfalls nicht leiden
konnte. Es war dieſelbe, welcher er vorhin den Stuhl
vor der Naſe fortgenommen. Wenn er aber darin
ungalant gehandelt, was zweifelhaft bleibt, da es
möglich iſt, daß er ſie nicht bemerkt hatte, ſo war er
diesmal eher galant, indem er der Dame nicht in
den Wurf kommen wollte, die ihm eben mit einer
Miene den Rücken gedreht, beredt genug um ihre
ganze Nichtachtung auszudrücken.


„Held und Sieger! rief der Geheimrath ihm
entgegen mit der Phraſe aus einer damals gang¬
baren Oper:


Auf Deiner Stirne, Jüngling, glüht der Muth,

Dein Auge dürſtet nach der Feinde Blut,

Doch Palmen ſeh' ich ſtatt der blut'gen Speere,

Mit Friedenszweigen kehren unſre Heere

Geſchmückt nach Haus vom Felde ihrer Ehre.“

„Geheimrath irren ſich, entgegnete der Officier,
das Feld gehört zu den Domänen, wo uns die Ge¬
heimen- Kriegs- und Kabinett- Räthe nicht mehr
[61] exerciren laſſen. Oder haben Sie etwa den Schlüſſel
in der Hand?“


Doch Mavors zorn'ger Sohn gedulde Dich ein wenig,

Fortuna iſt ein Weib, und Launen unterthänig,

Sie tändelt ehe ſie die ehernen Würfel ſchüttelt,

Und bis Bellona erſt am Thurm den Widder rüttelt.

Die iſt ein Weib und die. O lern' mit Weibern tändeln,

Und biſt Du Sieger da, wirſt Du's in ernſtern Händeln.

Es wird ſchon noch ein Mal losgehen, ſchloß
der Geheimrath die Citation aus einer vergeſſenen
Tragödie, und hielt mit treuherziger Miene die Hand
dem Officier hin.


„Einſchlagen, Geheimrath? antwortete dieſer,
den Arm langſam hebend. Aber ich ſchlage ucker¬
märkiſch ein.“


Er ſchlug ein. „Alſo aufs Losgehen!“ Der
Geheimrath zuckte unwillkührlich mit dem linken Knie.


„Und meine Mutter war aus Pommern,“ ſetzte
der Officier hinzu, als er die Hand aus der Preſſe
ließ und ſich entfernte.


„Es geht doch nichts über eine deutſche Kraft¬
äußerung, bemerkte der Geheimrath. Und ich glaube,
die war noch aus der Sturm und Drangperiode.“


An der Thürpfoſte gelehnt lorgnettirte er noch
einmal ins Zimmer, nur ſtand neben ihm nicht mehr
der Kaufmann aus der Brüderſtraße, ſondern ein Herr
mit dem Kammerherrnſchlüſſel und einem Krückſtock.


„Parbleu, comme elle est belle — belle et bête!
N'est-ce pas?“


Die Bemerkung galt der Dame, vor der der
[62] Rittmeiſter ſeinen Rückzug angetreten. Eine faſt ju¬
noniſche Geſtalt, aber mit ausdrucksloſem Geſicht,
ſtand ſie in der Mitte des andern Zimmers — zu¬
fällig allein.


„Iſt denn Niemand da, ihr die Cour zu machen?“


„Hier!“ ſagte der Kammerherr mit verächtlichem
Blicke ſich umſehend.


„Wir befinden uns allerdings in einer etwas
gemiſchten Geſellſchaft. N'en parlons pas! Wer iſt
denn ſonſt ihr Amoroſo?“


„Wiſſen Sie denn nicht, Bovillard, ſagte der
Kammerherr verwundert, ſie iſt ohne Paſſionen.“


Tant mieux! ſo müßte man ſie ihr einjagen. Ich
bitte Sie, Kammerherr, ſehen Sie dieſe Formen an!
Vielleicht ein Tugenddrache! Liebt ſie ihren Mann?“


„Sie ſind ſechs oder acht Jahre verheirathet.“


„Der Baron ſpielt, ſie ſtellt ſich neben ihn!“


„Um eine Poſition zu haben.“


„Wie ſie den Arm aufhebt! Sehen Sie — ſehen
Sie, ganz die Attitude der Lichtenau! Die Lichtenau
war auch nicht immer, was ſie iſt —“


„Sie wollten ſagen, was ſie war.“


„Wäre die Lichtenau nicht in Paris erzogen
worden — Sehen Sie jetzt wieder — täuſchend!
Aus der Baronin kann etwas werden.“


„Nur keine Lichtenau, ſeufzte der Kammerherr.
Dieſe Zeiten ſind vorüber.“


Les temps changent, mais pas les hommes.
Mon cher baron, die Welt iſt rund, et tout ça re¬
[63] viendra
. Aber das Leben entflieht, die Jugend ver¬
blüht, es wäre wirklich ein mildthätiges Werk die
ſchöne Frau verliebt zu machen. Schaffen Sie mir
einen Gegenſtand, ich unternehme es.“


„Ich will Prinz Louis noch einmal aufmerkſam
machen; er ſcheint aber nicht darauf zu reflectiren.“


„Was, Prinzen! Den erſten beſten, es gilt ja
nur die Gaben der ſchönen Frau an den Mann
bringen. Wir wollen ſie etwas ins Gebet nehmen,
und ſehen, wo in der Converſation der Stahl den
Feuerſtein berührt.“


Als ſie ſich der Thür näherten, ſchwenkte indeß
der Geheimrath, den Kammerherrn unterfaſſend, ſchnell
wieder zurück. Die Dame in Rede ſtand hinter dem
Stuhle ihres Gatten, und dieſem gegenüber ſaß unſre
Bekannte, welche uns in dieſe Geſellſchaft geführt.


„Ein Andermal! ſagte Bovillard leis zu ſeinem
Begleiter. Da ſitzt die Geheimräthin.“


„Die Lupinus! — Sind Sie Feinde, oder —
es iſt doch keine alte Liaiſon?“


„Bewahre mich der Gottſeibeiuns. Ich weiß
nicht, die Frau hat für mich etwas — je ne sais
quoi
. Lombard lacht mich immer aus. Aber wer
kann für Sympathieen und Antipathieen.“


„Sie iſt eine geſcheidte Frau.“


„Gewiß, aber heut muß ich doppelt ihre Diſtance
wünſchen. Habe mich zwei Mal vor ihrem Schwager
verleugnen laſſen. Was dieſe verdammten Kindes¬
mörderinnen für Anhängſel haben!“


[[64]]

Sechſtes Kapitel.
Der ſpäte Gast.


Zwei Sonnen vertragen ſich nicht am Himmel.
Der Spieltiſch, an dem die Geheimräthin Lupinus
ſaß, war ſehr einſam geworden; die Vögel, die nach
dem Licht flatterten, blieben aus ſeit das Licht des
wirklichen Geheimrathes durch die Zimmer flackerte.


„Aber, meine beſte Frau Geheimräthin! rief ihr
Partner, der Ehemann der ſchönen Frau, wir hätten
die Tric's gewiß gemacht, wenn —“


„Die ſchönen Augen der Frau Baronin haben
mich geblendet. — Sie haben da eine Hülfe bei ſich,
Baron, die eigentlich unerlaubt iſt.“


Die Geheimräthin war am Geben. Sie vergab
ſich. Es war der Augenblick, wo ſie den Wirklichen
zur Thür hereinblicken und ſich raſch wieder ent¬
fernen ſah.


„Die Frau Geheimräthin ſind wohl unpäßlich,“
bemerkte die ſchöne Frau.


„Ich! meine liebe Baronin? — Ach nein. Die
Seele muß immer Herr ſein über den Körper. Das
[65] ſagt mein guter Lupinus ſo oft. Dadurch erhält er
ſich in ſeinen anſtrengenden Arbeiten. Und ich —“


Sie hatte ſich wieder vergeben.


Die andern Partner ſahen ſich verlegen an. Der
Baron zeigte die Karten ſeiner Frau: „Jammerſchade,
daß man ſolches Spiel fortwerfen muß.“ Die Lu¬
pinus hielt ſich das Taſchentuch an's Geſicht: „Es iſt
nichts, nur ein heftiges Herzklopfen, es wird gleich
vorüber ſein. Wirklich, liebe Baronin, ſagte ſie zu
dieſer, welche von Hoffmannstropfen geſprochen —
der Schmerz iſt gar nichts, wenn nur der Verdruß
nicht wäre, daß mein Unwohlſein die Geſellſchaft
ſtört. — Sehen Sie, jetzt habe ich nicht vergeben.
Was iſt Atout, wenn ich fragen darf? Coeur oder
Pique? Es flimmert mir nur vor den Augen.“


— „Frau Geheimräthin haben kein Atout mehr.“
Sechs Augen ſtarrten die Spielerin in gläſerner Ver¬
wunderung an. Die ſchöne Baronin öffnete ihre
Lippe weiter als nöthig war, um ihre Perlenzähne
bewundern zu laſſen. Die Spielerin hatte noch eine
Hand voll Trumpf.


Stumm hatte die Geheimräthin die Karten nieder¬
gelegt. „Sie ſind ein Engel voll Güte, ſagte ſie
zur Baronin, als dieſe die Karten nahm. Und
nun um Gotteswillen kein Derangement.“


Sie entſchlüpfte — nur um einen Augenblick
ſich zu erholen. „Ein Glas Waſſer wird es thun.“
Aber die Wirthin betraf ſie, als ſie ihr Umſchlage¬
tuch nahm, um fortzugehen.


I. 5[66]

„Liebſte Geheimräthin, Sie werden uns das
nicht anthun. Ich führe Sie in die Schlafſtube,
ein halb Stündchen Ruhe, ich kenne ja Ihre Seelen¬
ſtärke, und Sie haben ſich erholt, wenn Sie uns
gut ſind.“


„Beſte Geheimräthin, erwiederte die Lupinus,
ich erkenne Ihre himmliſche Güte, aber glauben Sie
mir, die Luft erdrückt mich.“


„Im Speiſeſaal iſt ſie ganz anders. Es iſt ge¬
deckt. Wir warten nur auf den intereſſanten Fremden,
den Legationsrath v. Wandel, Sie haben doch ſchon
von ihm gehört, er iſt ſehr begütert in Thüringen.
Mein Mann ſagt, ein Mann von eminenten Gaben.
Ich hatte es mir ſo hübſch vorgeſtellt, er ſollte Sie
zu Tiſch führen. Wo konnte ich ihm eine geiſtreichere
Nachbarin verſchaffen. Er iſt nur zu einer Audienz
bei Prinz Louis Ferdinand plötzlich beſchieden, aber
er muß den Augenblick hier ſein.“


„Ich einen Mann von Geiſt unterhalten! Sie
ſpotten meiner. Ach, aber es iſt nicht das. — Mein
armer Mann — er ſitzt noch bei der Studirlampe —
ich ſehe ihn wieder — verzeihen Sie, theuerſte Freun¬
din, es preßt mich, es ſprengt mir die Bruſt — ja
mir iſt, als wenn jetzt ein großes Unglück zu Hauſe
geſchähe. Nicht mir, meines guten Mannes wegen
verzeihen Sie die Störung.“


„Es iſt recht ſchade, daß die Frau Geheimräthin
an Viſionen leidet, bemerkte die Hofräthin am
Spieltiſch, der man die Zufriedenheit anſah, daß die
[67] Baronin die Karten übernommen hatte. Es iſt doch
mit dem Nervenſyſtem etwas Singuläres. Und es
ſtört mancherlei.“


C'est le temps! bemerkte Bovillard, der inzwiſchen
hinzugetreten. Un peu mystique, un peu clair-obscur,
un peu de clairvoyance et un peu de vérité, voilà tout.

Es iſt wie mit dem Schnupfen. Man glaubt ihn
los zu ſein, da kommt er wieder.“


„Herr Jemine, rief die Baronin, als ſie aus¬
ſpielen ſollte. Ich kann ja nicht, ich habe meinem
Manne ſeine Karten geſehen.“


Das ſah jeder ein. Die Hofräthin öffnete vor
Schreck den Mund, faſt wie vorhin die junoniſche
Frau. Die Partie war wirklich zerſtört. Da über¬
nahm der wirkliche Geheimrath die Karten. Er blieb
der Gott des Abends. Man ſprach noch nach Wochen
in den Kreiſen von der Liebenswürdigkeit dieſes
Staatsmannes. — Er iſt ſpäter geſtürzt; die Hof¬
räthin hielt feſt am Glauben. Sie verſicherte noch
nach langen Jahren, es ſei nur die ſchwärzeſte Ca¬
bale, die einen ſolchen Mann ſtürzen können.


Unten im Hausflur wartete Johann. Er zitterte
noch immer. Indem er der Geheimräthin die En¬
veloppe umgab, ging die Hausthür auf, ein ver¬
ſpäteter Gaſt trat ein. Als er den Mantel ab¬
warf und ſeinem Diener Anweiſungen wegen des
Abholens gab, erkannte ſie in ihm den Fremden, dem
ſie vorhin auf der Hintertreppe begegnet war. Die
Bläſſe ſeines Geſichts war durch die ſchwarze, feine
5*[68] Hoftracht nicht gemindert. Ein Mann in mittlern
Jahren und ſtattlicher Figur, ſtieg er leicht mit den
Bewegungen vornehmer Sicherheit die Treppe hinauf.
Ein Ordensband und Kreuz ſchien unter der Hals¬
binde verſteckt. Ein Band am Knopfloch deutete auf
ein anderes Ehrenzeichen.


Der Fremde hatte die Geheimräthin, die im
Schatten der aufgehenden Thür ſtand, nicht geſehen.
Einen Augenblick ſchien ſie im Zweifel, ob ſie nicht
umkehren ſolle. Sie fühlte ſich wieder wohl. Die
friſche Luft im Flur hatte wahrſcheinlich gut gewirkt.
Aber — es ſchickte ſich nicht.


Sie ſaß im Wagen. Die Thür ſchlug zu. Sie
lehnte ſich in die Ecke und — weinte. Weil es ſich
nicht ſchickte! — Darum? — Und das heißt leben,
fuhr ſie auf, unter dieſen langweiligen, nüchternen,
abgeſchmackten Puppen wandeln, ſich kleiden, ſprechen,
die Gefühle und Gedanken zuſammenhalten, damit
ja nichts entſchlüpft, was ſich nicht ſchickt. Und —
darum leben wir!


Der Herr Geheimrath ſind noch auf, hörte ſie,
im Hauſe angelangt, aber Sie haben befohlen, es
ſoll Sie Niemand ſtören, Sie ſind in einer wichtigen
Unterſuchung.


Zum erſten Mal, ſeit wie langer Zeit! fühlte
die Geheimräthin ein Verlangen ihren Mann zu ſehen.
Er war doch etwas anders als die Larven in der
Geſellſchaft. Er liebte die Menſchen in ſeinen Büchern;
im Vergleich mit jenen war er ein freier Mann,
[69] denn von dem Geſetz des Sichſchickens, was dieſe
tyranniſirte, hatte er ſich losgemacht. Hatte er doch
auch, als ſie vor langen Jahren nach Italien reiſten,
geſchwärmt, wie er es konnte, wenn nicht für Kunſt
und Natur, doch in dem reichen Trümmerlande für
die Wege, welche Horaz geſchildert, für die Ruinen,
welche die Sage nach ihm nennt.


Das waren nun längſt vergangene Dinge. Die
Geheimräthin ſchwärmte nicht mehr für Italien. Sie
wäre einmal gern nach London oder Paris gereiſt; jetzt
auch vielleicht nicht mehr. Berlin war ihr unaus¬
ſtehlich, aber ſie wußte nicht, wohin ſich wünſchen.


Sie wollte ihren Mann ſehen, irgend etwas mit
ihm ſprechen, was ſie nicht an die Geſellſchaft er¬
innerte. Vielleicht traf ſie doch auf einen Ton,
wo ihre Seelen zuſammenklangen.


Er ſah nicht auf als ſie eintrat. Er hörte auch
nicht die leis geöffnete Thüre, nicht das Rauſchen
ihres Kleides. Den Lichtſchirm vor den Augen, die
Feder im Munde, ſaß er zwiſchen zwei Folianten,
in denen ſeine Finger als Zeichen lagen, um die
Varianten in jedem Augenblick aufſchlagen zu können,
und ſeine Augen flogen von der einen zur andern
Stelle. Sie trat näher; auch da keine Regung. Mit
unterſchränkten Armen betrachtete ſie ihn. — Iſt das
ein Menſch, oder eine Pagode? — Sie ſchritt lang¬
ſam im Kreis um ihn, ohne ſich zu ſehr Mühe zu
geben, leis aufzutreten; aber die mit Heu dicht unter¬
ſtopfte Decke verrieth ſie nicht. In einem Moment
[70] war es ihr, als ob ſie auflachen müſſe; im nächſten,
als müßten die Thränen ihr aus den Augen ſtürzen.
Sollte ſie ihn anreden? Das hieße einen Nacht¬
wandler aus ſeinem Traum aufrufen. Erſt als ſie
ſich wandte, um hinauszugehen, wehte er mit der
Hand. Es war als ob inſtinktartig eine Ahnung
ihn überkommen, daß ein Weſen in der Nähe ſei,
daß ihn ſtören könnte.


Leiſe hatte ſie die Thür wieder zugedrückt. Durch
das Flurfenſter ſchien der Mond auf die Rumpel¬
kammer, durch die der Weg nach ihrem Schlafzimmer
führte. Die wunderlichen Ecken und Spitzen der
alten Möbel ſtarrten ſie im Mondenlicht eigenthüm¬
lich an. Es überfuhr ſie ein Schauer, ſie lachte um
ſich Luft zu machen, hell auf. Aus den Winkeln
ſchien es ihr zu antworten.


Die Jungfer hatte die Nachtlampe in ihrer
Schlafſtube hingeſtellt. Der Geheimräthin war es
zu dunkel. Sie mußte die Kerzen auf dem Arm¬
leuchter anzünden. Die Geheimräthin war beim
Entkleiden ungehalten, ſie behauptete, die Jungfer ver¬
fahre mit Abſicht ungeſchickt. Sogar entfuhr der
ſanften Frau der Vorwurf: ſie ſteche ſie aus Bosheit.
Die Jungfer weinte. Die Geheimräthin hielt ihr
eine ernſte Vorhaltung, ob das ein Grund ſei, um
Thränen zu vergießen? Sie erinnerte ſie an die vie¬
len leidenden Creaturen, denen der Schöpfer nicht
einmal eine Stimme gegeben, um zu klagen. Wenn
jeder klagen wollte, was ihn drückte, ob es in der
[71] Welt vor Gewimmer und Thränen auszuhalten ſei!
Die Jungfer ſagte: ſie ſei ein armes Mädchen, und
wiſſe nicht, wie ſie dazu komme. Die Geheimräthin
antwortete ihr mit Würde, ob ſie glaube, daß die
armen Mädchen weniger litten als die vornehmen
Damen, die ihre Schmerzen verhalten müßten? Sie
ermahnte ſie zur Duldung, zum Gehorſam, zur Tu¬
gend, und entließ ſie.


Die moraliſche Vorhaltung ſchien auf die Pre¬
digerin ſelbſt keine Rückwirkung geübt zu haben. Sie
ſaß entkleidet an ihrem Bett, das Geſicht im Ellen¬
bogen geſtützt, und ſtarrte in die Lichtſchnuppen der
Kerze. Da fiel ihr Auge, den Lichtſtrahlen folgend,
auf ein Spinnengewebe am Winkel der Zimmerdecke.
Es war Freitag. Das Reinigungsgeſchäft ſollte erſt
am Sonnabend erfolgen. Die dicke Spinne, die ſie
heut nicht zum erſten Male bemerkt, lag ſchlafend in
der Mitte des Raubnetzes, das ſie ausgeſpannt, ge¬
ſättigt und erſchlafft ſchien es von dem Mordgeſchäft,
worauf die todten Fliegen im Netz deuteten. Die
Geheimräthin ſtand auf und nahm den Armleuchter.
Ihre Augen waren ſcharf, ihr Arm aber reichte nicht
bis an die Decke. Ein Kitzel die Nemeſis zu ſpielen
überkam ſie. Die Bäume im Hofe, vom Winde be¬
wegt, ſchlugen gegen das Fenſter. Das war doch
keine warnende Stimme! Es war ja kein Unrecht,
ein ſolches mörderiſches Ungeziefer zu vertilgen, das
ſelbſt ſeine Netze ausſpannt zur Vertilgung ſeiner
Mitgeſchöpfe. Sie holte einen Stuhl. Auch der
[72] war zu niedrig. Sie ſchleppte mit Anſtrengung einen
Tiſch heran. Warum that ſie es mit angehaltenem
Athem, warum bemühte ſie ſich, ja kein Geräuſch zu
machen? Warum ſchlich ſie auf den Zehen, da ſie
ſchon in bloßen Füßen ging? Warum pochte ihr
Herz, als ſie auf den Stuhl und vom Stuhl auf
den Tiſch ſtieg? Die Spinne regte ſich nicht. Nur
das Gewebe ſchaukelte etwas, wie eine Hangematte
vom Hauch des Lichtes angeregt. Draußen rauſch¬
ten wieder die Aeſte. Hätten ſie die Spinne geweckt,
vielleicht hätte die Geheimräthin ſie geſchont. Was
ſchonen! Morgen vollbrachte es der Beſen der Magd.


Wer ihr ins Geſicht geſehen, wie die Augen
glänzten, die Lippen ſich krampfhaft verzogen! Jetzt
war's geſchehen. Ein Kniſtern. Die Spinne zu¬
ſammenglühend, ſchien ſich noch einmal zu krümmen,
dann flackte das Netz in leichten Flammen auf und
der verkohlende Körper ſchwebte nieder. Die Ge¬
heimräthin ſchloß, krampfhaft zurückfahrend, die Au¬
gen, als ſie einen heftigen Schmerz empfand. Die
ſchief gehaltene Kerze hatte einen heißen Wachstropfen
auf ihren bloßen Fuß geſpritzt.


Die Aeſte rauſchten zum dritten Mal. Es war
der Grabesgeſang. „Die hat ausgelitten! Sie empfin¬
det keinen Schmerz mehr! Und wie leicht und ſchnell!“
ſagte die Geheimräthin. Ihr Fuß mußte ſie ja noch
morgen bei der zarten Complexion ihres Körpers
empfindlich ſchmerzen.


Jetzt aber ſchmerzte er ſie nicht. Sie empfand
[73] ein Wohlbehagen, das der Empfindung eines Rau¬
ſches verwandt war. Sie hatte eine Creatur, die
doch zum Tod verdammt war, raſcher aus der Welt
geſchafft, als es morgen der ſtumpfe Beſen der ge¬
fühlloſen Magd gethan hätte. Und im Schlaf! Sie
hatte ihr einen ſeligen Tod bereitet.


Sie ſuchte noch mehr Spinnen; aber im Zimmer
war keine mehr zu entdecken. Dagegen hingen an
den Wänden unzählige Fliegen, die der regneriſche
Tag hineingetrieben. Noch vorſichtiger ſchlich ſie auf
den Zehen heran, und es glückte ihr, die erſte, zweite,
auch eine dritte durch das ſchnell angehaltene Licht
zu tödten. Morgen würden ſie langſam, unter furcht¬
baren Qualen am Fliegenſtock verenden; jetzt im
Lichtſchein, im Taumel, waren ſie einen Augenblick
erwacht und verglüht.


So mußte auch Semele in einem Moment
glückſelig und todt ſein, angeleuchtet von Zeus Licht¬
glanz und verbrannt von der Wonne — dachte die
Geheimräthin.


Aber nicht alle Fliegen wollten dieſen ſeligen
Tod ſterben. Als ſie der einen die Flügel angeſengt,
und das Inſect ſummend aufflog, löſte ſich allmälig
der Schwarm von den Wänden. Sie ſummten um
das Licht, um ihren Kopf, und die Geheimräthin
ſtand wieder athemlos in der Mitte des Zimmers,
mit dem freien Arm die aufgeſtörten Thiere abweh¬
rend. In dem Augenblick war ihr nicht wohl zu
Muthe. Die Thiere wurden ſo groß und ſchwarz
[74] und mit feurigen Augen; ſie kamen ihr wie die
Erynnien vor. In dem Augenblick wünſchte ſie, ſie
hätte nicht angefangen.


Sie wollte das Licht auslöſchen, ſich ins Bett
vergraben und die Decke über den Kopf ziehen, aber
ſie fürchtete ſich ohne Licht. Da hörte ſie die Stimme
ihres Mannes, der draußen die Thüre öffnete: „Jo¬
hann, ich will zu Bett gehn.“ Aber Johann hörte
nicht, auch nicht auf den wiederholten, verſtärkten
Ruf. Johann hatte ſich auf ihr Geheiß zu Bett
gelegt, um zu ſchwitzen. Es war ihr lieb, daß Jo¬
hann nicht hörte; er ſchlief alſo wahrſcheinlich. „Dem
thut es mehr Noth, dachte ſie, und Lupinus kann
ſich ſelbſt helfen.“


Der Geheimrath ſchlug brummend die Thür zu,
und mußte ſich wohl ſelbſt geholfen haben. Sie hörte
nichts mehr. Auch die Fliegen hatten ſich wieder zur
Ruhe begeben. Aber nach einer Weile ſchellte ſie
nach der Jungfer. Sie ſchellte immer ſtärker und
die Jungfer mußte aus dem Bette.


Als ſie ins Zimmer kam, war die Geheimräthin
eigentlich in Verlegenheit. Sie wußte nicht, warum
ſie nach ihr verlangt.


„Befehlen Frau Geheimräthin vielleicht Cremor
Tartari? Oder ſoll ich Kamillenthee kochen?“


„Nein, mir iſt ganz wohl, ſagte die Geheim¬
räthin. Aber im nächſten Augenblick, ſagte ſie, Mor¬
gen früh ſolle zum Hofrath Heym geſchickt werden:
„Und ganz früh. Hört Sie Liſette. Damit ſie ihn
[75] noch zu Hauſe treffen. Und ich ließe ihn dringend
erſuchen mich zu beſuchen, ehe er zur Prinzeß Fer¬
dinand fährt. Die hält ihn immer ſo lange auf.
Ja, hört Sie, es ſoll ihm recht dringend gemacht
werden, denn ich fühle, ich werde ſehr krank werden.
Und er kann auch für den Johann gleich ein Recept ver¬
ſchreiben, die Sache muß doch endlich zu Ende kommen.“


Wenn ängſtliche Träume ein Zeichen der Unge¬
ſundheit ſind, mußte die Geheimräthin ſehr krank
ſein. Es waren nicht mehr Fliegen und Spinnen,
ſondern lauter Marionetten die ihr keine Ruhe ließen.
Da kam der fieberkranke, blaſſe Johann und ſprang
mit zuſammengehaltenen Beinen und fragte ſie, ob
es nun nicht bald mit ihm zu Ende ginge? Dann
füllte ſich die Schlafſtube mit der ganzen Geſellſchaft
vom vorigen Abend, lauter Gliederpuppen, die an
Drähten vom Schornſtein aus geführt wurden. Sie
tanzten und das Holz klappte unangenehm. Wenn
ſie am Bette vorbei kommen, gähnten ſie und frag¬
ten: ob es nicht bald Schlafenszeit wäre? Gern
hätte die Geheimräthin geſehen, wer den Draht führte,
aber ſie konnte, wie ſie auch ſich anſtrengte, den Kopf
nicht in den Schornſtein zwängen, und wenn es ihr
einmal gelang, ſchoß eine neue Figur herunter und
ſchreckte ſie zurück. Dazu klappte ihr Mann als
Pantalone immerfort durch die Stube, und hauchte
ſich in die Hände und ſagte, ihn fröre, und wer ihn
nur heiß machen könne! Da rief eine Stimme aus
dem Schornſtein, deren ſie ſich nicht entſann, aber
[76] gehört hatte ſie dieſelbe ſchon ein Mal: Wenn's weiter
nichts iſt, man braucht ja nur alle die Puppen zu
verbrennen, das giebt ein gutes Kaminfeuer. Und
dann war es ihr, als ob alles um ſie her verbrenne.
Sie gerieth in Angſt, daß ſie mit verbrennen könne
und hüllte ſich in ihr Bette, bis eine wohlthätige
Transpiration ihrer Natur zu Hülfe kam, und ſie in
einen tiefen, ruhigen Schlaf einhüllte, der ſo lange
andauerte, daß ſie erſt aufwachte, als das freundliche
Geſicht des Hofrath Heym mit den durchdringenden
blauen Augen ſie anſchaute und er mit ſeiner etwas
kreiſchenden Stimme ihr den Morgengruß bot: „Na
da leben Sie ja noch, Frau Geheimräthin; hab ich
doch wirklich nicht anders geglaubt, wie das Mädchen
reinſtürzte, als Sie wären ſchon maustodt.“


[[77]]

Siebentes Kapitel.
Der Staatsmann


Wir überlaſſen die Geheimräthin Lupinus und
den Hofrath Heym ihrem tête-à-tête, welches für den
letztern minder intereſſant geweſen ſein muß, als für
die erſtere, denn ſchon nach zehn Minuten nahm er
ſeinen Stock — den Hut ließ er immer im Wagen
zurück — und ſagte: „Hören Sie mal, Frau Ge¬
heimräthin, Ihre Krankengeſchichte erzählen Sie mir
wohl ein ander Mal; denn hohl mich der Teufel,
wenn ich nicht geglaubt hätte, es ginge auf Leben
und Tod, ſo mußte ich zur Prinzeß Ferdinand, die
iſt wirklich krank.“ — Aber auch die Prinzeſſin Fer¬
dinand mußte nicht ganz ſo krank ſein, denn er machte
noch verſchiedene andre Beſuche bis er durch den Sand
des Wilhelmsplatzes vor ihrem Palais vorfuhr, und
auch da ward er nicht ſogleich vorgelaſſen, weil die
Prinzeſſin noch mit ihren Kammerfrauen einige drin¬
gende Toiletten-Geſchäfte hatte. Etwa zehn Minuten
ſpielte der Hofrath mit dem großen Rohrſtocke und
dem goldenen Knopfe, indem er ihn ſanft in der
[78] Hand gleiten und ſanft auf den Boden fallen ließ,
während der Kammerherr ihn mit Bemerkungen über
das Wetter und Anekdoten aus der kleinen Hofge¬
ſchichte unterhielt. Dann aber ließ er den Stock
etwas ſtärker auf das Parquet fallen und faßte den
Kammerherrn am Knopfe: „Hören Sie mal, Baron,
ſagen Sie Ihrer Königlichen Hoheit, ich will erſt
zum Scharfrichter Brand vors Hamburger Thor.
Da wird die Kindesmörderin ſecirt, ein prächtiger
Cadaver. Wenn ich zurück bin, wird die Prinzeſſin
wohl fertig ſein.“ Es verging keine Minute, ſo
ward Heym vorgelaſſen. Wir wiſſen nicht, ob er
auch hier eine Krankheitsgeſchichte hören mußte; aber
er brauchte ſeitdem nie mehr in der Antichambre zu
warten.


Wir führen lieber unſere Leſer in die Wohnung
und die Geſchäftszimmer des vornehmen Mannes,
deſſen flüchtige Bekanntſchaft wir in der Geſellſchaft
gemacht. In ſeinem Hauſe, unter ſeinen Untergebe¬
nen, war der wirkliche Geheimrath ein andrer Mann.
Man könnte ſagen, er ſei um einige Zoll gewachſen;
der von den vielen huldreichen Verbeugungen ge¬
krümmte Rücken war hier grade geworden. Er war
aber um deswillen kein großer und auch kein grader
Mann.


Im Vorzimmer warteten Expectanten. Die trü¬
ben Mienen verriethen, daß nicht jeder Hoffnung
hatte, vorgelaſſen zu werden. Sie wandten ſich an
die durchpaſſirenden Beamten. Wie viele große
[79] Männer hätte ein Neuling da zu entdecken geglaubt,
wenn ſie freundlich zuhörten, ſich an der Binde zupf¬
ten oder die Schultern zuckten. Und doch waren es
nur Schreiber und Boten. Ob einer von ihnen ſich
in den Winkel ziehen und zu einer vertraulicheren
Verſtändigung hinreißen ließ, will ich nicht verrathen
haben.


Das Zimmer, wo der Geheimrath empfing, war
geräumig, halb mit Aktentiſchen und Repoſitorien, halb
mit den Bequemlichkeiten und dem Luxus eines rei¬
chen Lebens ausgeſtattet. Auf den Fauteuils und
kleinen Tiſchen lagen zerſtreut in elegantem Einband
die neueſten Werke der franzöſiſchen Literatur. Am
Ende des Aktentiſches ſaß ein jüngerer Rath, in den
eingegangnen Schriftſtücken blätternd und ſie zum
Vortrag ordnend. Im entferntern Winkel ſtand der
Geheimrath und hatte einer Dame Audienz ertheilt,
die ſich ſehr beſcheiden in der Ecke zwiſchen Fenſter
und Hinterthür hielt. Es war eine Tapetenthür, durch
welche ſie auch vermuthlich der Kammerdiener einge¬
laſſen, denn nach Beendigung der Audienz ſchlich ſie
durch dieſe Thür hinaus. Ihre vielen Ringe, eine
Garderobe, aus den koſtbarſten und auffällig moder¬
nen Stücken, und der prachtvolle Shawl darum
ſchienen ihr eher ein Anrecht auf einen Platz auf dem
Sopha zu geben, wenn nicht die Haltung der ſehr
wohlbeleibten Frau verrathen hätte, daß die Hülle
nicht recht zum Körper, oder der Körper zur Hülle
ſich ſchickte. Einem Pſychologen hätte vielleicht
[80] ſchon ein Blick auf ihre groben Füße angezeigt, daß
die feine Kleidung ihr nicht angeboren war. Wer ihr
aber ins Geſicht ſah, wo trotz aller Sanftmuth und
Glätte die urſprüngliche Gemeinheit ſich nicht ver¬
bergen konnte, begriff, warum der Geheimrath in
einer Art ihr Audienz gab, wie es in der Regel
auch ein noch vornehmerer Mann keiner Dame gegen¬
über übers Herz bringen würde. Er ſtand, die Hände
in den Seitentaſchen, halb ſeitwärts, halb ihr den
Rücken kehrend, wodurch ſie freilich Gelegenheit ge¬
wann, ihr Anliegen auf dem nächſten Wege ihm ins
Ohr zu flüſtern. Sie ſprach leiſe. Er hatte mehr¬
mals den Kopf geſchüttelt. Dann ſprach er, gleich¬
falls mit gedämpfter Stimme: „Gedulden Sie ſich
alſo bis Lombard kommt; er kann die Sache allein
arrangiren. Und bis dahin hüten Sie ſich, daß keine
Klage einläuft. Keinen Scandal! In dem Fall wol¬
len wir die Sache ſchon hinhalten.“


Die Supplicantin verbeugte ſich tief. Er klopfte
ihr freundlich auf die Schultern. Sie wollte ihm die
Hand küſſen. Das litt er nicht.


Der junge Rath las von einem Zettel den Na¬
men der nächſt zur Audienz aufgeſchriebenen Perſon.
Der Geheimrath machte eine Bewegung mit der Hand
und warf ſich, die Beine übereinander, auf's Sopha;
ein Zeichen, daß er ſich erholen wolle, vielleicht glaubte
der Vortragende darin eines für ſich zu erkennen,
daß Bovillard ſich über die vorige Audienz auszu¬
laſſen Luſt hatte.


[81]

„Was wollte denn die Schubitz? fragte er,
zwiſchen den Papieren kramend. Eine Eingabe von
ihr iſt nicht da.“


„Man will ſie in der Behrenſtraße nicht länger
dulden. Sie ſoll ihr Haus verlegen — in eine
minder anſtändige Straße,“ ſetzte der Geheimrath mit
ſarkaſtiſcher Miene hinzu.


„Wer will denn das, wenn ich fragen darf?“


„Erinnern Sie ſich, was le grand Frédéric dem
alten Spalding antwortete? Der beklagte ſich auch über
eine Nachbarſchaft, die ihn in ſeinen Meditationen
ſtörte, und Friedrich ſchrieb nur auf den Rand des
Memorials: Mon cher Spalding, ni vous ni moi . . . .
pourquoi donc gêner d'autres . . . . Unter Friedrich
hätte die Behrenſtraße petitioniren können, bis ſie
aſchgrau ward.“


„Auch unter —“ der Rath verſchluckte es, denn
der Geheimrath unterbrach ihn.


„Das muß man Wöllnern laſſen. Er wußte
chriſtlich ein Auge zuzudrücken, wenn — es die Schwäche
ſeines Nächſten galt.“ Er betonte die letzten Worte.


Der junge Rath hatte vorhin die Aufforderung
zum Lächeln überſehen. Er lächelte jetzt. „Aber wer
kann es ſein?“


„Wer! Wer? Mon cher! Haugwitz vielleicht, oder
Luccheſini, Schulenburg oder Beyme der Cato Cen¬
ſorinus. Vielleicht iſt auch Prinz Louis Ferdinands
ſittliches Gefühl beleidigt.“


Der Geheimrath gefiel ſich ſo, daß er aufſtand
I. 6[82] und mehrmals durch die Stube ſchritt: „Ja, ja, es
hat ſich manches in Preußen geändert.“


„Und wird noch manches anders werden“ ſetzte
der Rath hinzu.


„Gewiß, wenn man uns in Ruhe läßt, wenn
man verſtändig denkt und handelt; wenn man auf
die Kläffer nicht hört, wenn, wenn — was liegt noch
vor, lieber Rath?“


Das Vorliegende ſchien den Wirklichen nicht ſehr
zu intereſſiren. Er ging noch immer auf und ab:
„Der Freiherr Hardenberg iſt ein gentiler Mann,
das iſt nicht zu leugnen, und ich verdenke ihm auch
nicht, daß er lieber in Berlin iſt, als in Anſpach
und Baireuth, aber — —.“ Der Wirkliche fand es
für gut, den folgenden Gedanken zu verſchlucken.
Nach einer Weile fand er es wieder für gut, einige
Gedanken über die Lippen zu laſſen: „Auf dieſe
Sprudelköpfe gebe ich gar nichts. Eine Partei, die
nur dampft und lodert, iſt nicht gefährlich. Sie
kennen, lieber Freund, die Natur des Königs noch
nicht, wenn Sie glauben, daß ſolches Feuer auf ihn
Eindruck macht. Im Gegentheil, die Genialitäten ſind
ihm zuwider. Dieſe Herren von Sturm und Drang,
die uns aus unſrer Haut jagen möchten, weil unſre
Aiſance ihnen nicht gefällt, kommen mir vor wie die
modernen Kraftgenies, dieſe ſogenannten Romantiker,
über die der Vernünftige lächelt. Man macht es mit,
weil es Modeſache iſt. Ja, wir langweilten uns;
dieſe jungen Leute bringen etwas Pikantes ins Leben,
[83] Paradoxien, Raketenfeuer, was einen Augenblick an¬
genehm praſſelt. So muß man es auffaſſen. Ein
Thor wer es für mehr nimmt. Oder glauben Sie,
daß aus dieſen jungen Herren je etwas wird, vor¬
ausgeſetzt, daß ſie ſich nicht bekehren, was übrigens
bald genug eintritt. Der extravagante Herr Bern¬
hardy giebt ſchon jetzt klein bei, und unterhandelt beim
Magiſtrat um eine Anſtellung an der Schule. Ach
mein Freund, das praktiſche Leben bildet die Menſchen,
und wenn der Brodkorb hochhängt, ſo lernt auch der
Lahme ſpringen. Der Wackenroder hat einen braven
Vater, er wird ſchon zu ſich kommen. Ich bitte Sie,
halten Sie es für möglich, daß dieſe Herren Schlegel
jemals nur auf einer Univerſität zugelaſſen werden!
Und dieſer junge Menſch, der Monſieur Tic oder
Tique, der mit ſeinen krauſen Phantaſien die Welt
verkehrt machen will, glauben Sie, daß nach zehn
Jahren noch ein Hahn nach ihm kräht? In einem
Menſchenalter iſt ſein Name vergeſſen. Gönnen wir
ihnen das Vergnügen, ſich ein wenig ſonnen in der
Gunſt des Augenblicks und gaffen wir's an wie einen
Sonnenaufgang in der Oper. Mais mon cher, le
classique est éternel!
Racine und Corneille, welche
dieſer Monſieur Schlegel wie Schulknaben traktirt,
seront pour toujours les délices du genre humain,
und könnte ich einen Blick in das Elyſium werfen,
möchte ich le grand Voltaire ſehen, wie er mit dem
grand Frédéric ſich über dieſe deutſchen Kritiker mo¬
quirt, die an ſeinem Piedeſtal von Granit mit einem
6*[84] Schuſterpfriemen feilen. Der Kotzebue, an dem ſie
auch häkeln und mäkeln, er iſt nicht eminent, aber
ich ſage Ihnen, und dazu gehört keine Clairvoyance,
daß er ſie um ein siècle überlebt.“


Der Rath ſagte: „Wer in den Spiegel der Zu¬
kunft ſähe!“


C'est plus que ridicule, fuhr der Redner fort,
daß in der Capitale Friedrichs, wo Voltaire das
Pflaſter betreten hat, oder eigentlich iſt er nur in
der königlichen Kutſche gefahren, wo wir doch ganz
reſpectable Gelehrte haben, die Herren Nicolai, Bieſter,
und wie ſie heißen, daß hier eine école mystique ſich
aufthun konnte.“


„Sie findet nicht großen Anhang.“


„Wer redet davon! Haben Sie das Sonnet auf
die Jungfrau von dem Judenjungen neulich geleſen?
C'est charmant! Das lob ich mir. Man glaubt draußen
allen Ernſtes, ſie könnten uns über Hals und Kopf
convertiren, und wenn wir eines Morgens aufſtänden,
wären wir katholiſch geworden, wir wüßten nicht wie!“


„Die Brandenburger würden ſich ſchwer dazu
acclimatiſiren.“


Acclimatiser! ein hübſcher Einfall. Aber meinet¬
halben! Je mehr Schaumblaſen, die das Publikum
beſchäftigen und Phantome, die es ins Bockshorn
jagen, deſto beſſer für uns. Aber dieſe Herren ſollten
ſich nur nicht mit politiſchen Ideen abgeben. Die
tudesquen Vorſtellungen, die hie und da auftauchen,
doppelt lächerlich in Friedrichs Hauptſtadt! Je vous
[85] prie, mon cher, qu'est-ce que c'est donc que l'Alle¬
magne?
Allerlei Manſch, allerlei Menſchen, bunt
durcheinander. Ce terrible Goetz de Berlichingen,
wenn er in dem eiſernen Ofen über die Bretter knackt,
et les ravissements et les larmes du public! Claſſiſche
Bildung! en vérité! Da iſt ein junger Herr v. Kleiſt,
höre ich, der möchte den großen Arminius auf die
Bretter bringen. Den Hermann ſollten ſie doch ruhig
auf ſeiner Bärenhaut ſchlafen laſſen, wo Klopſtock
ihn eingeſungen hat. Wo gehört denn der Deutſche
beſſer hin, als auf die Bärenhaut, um zu meditiren.
Aber ſo ſind wir Idealiſten! Mit nichts wiſſen ſie
umzuſpringen, für nichts zu arbeiten, für nichts ſich
zu ſchlagen, — als für Ideen.“


„Geſchlagen haben ſich die Deutſchen doch und
wenn ſie ſich nicht ſo ſchlugen wie ſie ſollten, war es
eben nur wie ich meine, weil ihnen die Idee fehlte,
für die ſie ſich ſchlugen.“


Der Einwand ſchien dem Geheimrath unbequem
zu kommen. Von Untergeordneten läßt ſich ein vor¬
nehmer Mann ungern aus dem Felde ſchlagen. Er
fiel plötzlich dem Gegner in die Flanke, da wo er
es wirklich nicht erwartete:


„Sagte ich es Ihnen nicht! Ganz richtig Ihre
Bemerkung, die Ideen fehlen ihnen, weil nur das Genie
Ideen hat, und kein Genie da iſt. Wo ſollten ſie
denn zu Tage gefördert werden? In der freien Reichs¬
ſtadt Dinkelsbühl, in Nürnberg, oder bei der Reichs¬
ritterſchaft des oberſächſiſchen Kreiſes? Wenn dieſe
[86] Miſere, die nie gelebt hat, die nur das faule Fleiſch
war, die Schwiele und Hornhaut vom Körper, welche
ſeinen geſunden Blutumlauf hindert, ich bitte Sie,
wenn dieſe Miſere jetzt prätendirt, wo der Rieſe von
Corſika ſie mit einem Fußtritt zerquetſcht, Ideen eines
Geſammtlebens zu haben!“


„Sie prätendiren es auch kaum,“ ſagte mit
ernſtem Tone der Rath.


„Deſto thöriger wenn andere für ſie denken und
prätendiren, wenn Phantaſten und Nebelmenſchen
Vorſtellungen erwecken wollen, die durch die Weltge¬
ſchicke glücklicherweiſe applanirt ſind. Solch ein Dunſt¬
bild einem Genie wie Bonaparte gegenüber! — Sie
ſind noch jung, Herr von Fuchſius. Ich trug auch
Ideen aus den Hörſälen ins Leben über. Ach aber,
Theuerſter, wie ſchnell curirt uns das Geſchäflsleben.
Mich kümmern auch nicht im Geringſten dieſe Schwär¬
mer, ſie ſind ſo unpraktiſch, unbedeutend, daß man
ihnen nicht einmal irgend ein Spielzeug hinzuwerfen
braucht. Verdrießlich iſt nur, daß Bonaparte, durch
falſche Zuträger, durch Zeitungsartikel getäuſcht, davon
Notiz nimmt. Lombard hat alle Mühe ihm zu be¬
weiſen, daß dieſer Furor Teutonicus nichts iſt als
eine Seifenblaſe, mit der ſich einige Profeſſoren be¬
luſtigen.“


„Der Beweis wird ihm nicht zu ſchwer fallen,
ſagte der Rath aufſtehend. Herr Geheimerath ließen
geſtern fallen, daß Ihnen eine Notiz im Hamburger
Unpartheiiſchen, bezüglich auf Lombards Depeſche, nicht
[87] unangenehm wäre. Wir wurden unterbrochen. Meine
Feder und mein Wille ſtehen zu Ihrer Dispoſition.“


Bovillard ſetzte ſich halb auf den Tiſch, indem
er vertraulich den Arm auf die Schulter des Rathes
legte; die Runzeln ſeines Geſichtes verzogen ſich in
ein wohlgefälliges Lächeln:


„Mich hat ſeit lange kein Brief ſo erquickt!“


„Lombard muß wichtiges berichtet haben, be¬
merkte der Beamte. Nach den Aeußerungen des
Herrn Geheimeraths geſtern zu mehreren Geſchäfts¬
männern herrſcht unter den Kaufleuten eine ſehr
frohe Stimmung.“


„Dürfte ich Ihnen den Brief zeigen! Bonaparte
hat ihn empfangen nicht wie einen Abgeſandten, ſondern
wie einen alten lieben Bekannten, den er endlich von
Angeſicht zu Angeſicht ſieht. Er ſaß auf dem Sopha
und las. Was denken Sie? Den Oſſian. Nachdem
er Lombard die Hand gereicht, recitirte er ihm eine
Stelle voll der tiefſten Empfindung für Menſchenwohl.
Er fragte ihn, ob er Oſſians Gefühle theile? Lombard
war nicht ganz vertraut, da las er ihm ſelbſt die
Scene vor, wo Malvine im Mondenſchein über das
Schlachtfeld eilt, und ſüße Betrachtungen ausgießt
darüber, daß Mord und Schlachten die Geſchicke der
Menſchheit reguliren. Bonaparte ſchlug das Buch
zu und wandte ſich ſchnell ab, um ſeine eigene Be¬
wegung zu verbergen. Und dieſen Mann gefallen ſich
unſere Fanatiker einen Blutmenſchen zu nennen! Wer
gebietet der Parteienwuth! Das warf auch Bonaparte
[88] im Geſpräch hin. Sire, erwiederte Lombard, Europa
kennt den Sieger des 18ten Brumaire. Der Kaiſer
ſchüttelte mit geſenktem Blick den Kopf: Ach das war
für die Straßen von Paris, für Frankreich vielleicht,
aber der Genius muß noch geboren werden, der
Europa wieder in ſeine Fugen richtet. Lombard
citirte eine Stelle aus einer Schrift des jungen
Ancillon. Napoleon ſchien ſie zu kennen, aber mit
einem ſchlauen Augenaufſchlag fiel er ein: „Mich
dünkt, der Sinn iſt weit ſchlagender in den Worten
ausgedrückt — Und was citirte er? Eine Stelle aus
einem von Lombards Traité's!“


„Sollte Bonaparte Lombards Schriften geleſen
haben?“ rief der junge Rath mit einem ungläubigen
Lächeln.


„Dieſelbe Frage ſtellte Lombard, natürlich nur mit
andern Worten, und ſein Geſicht mag auch dabei
geglänzt haben, denn, wir wollen es nicht leugnen,
er iſt etwas eitel. Eitel ſind wir Alle, lieber Fuchſius.
Napoleon ſah ihn mit ſeinen ſchönen klugen Augen
vielſagend an, und griff dann nach einem Buche,
das neben ihm auf dem Tiſche lag. Es war Pariſer
Druck und Band, Sie werden es ſehen. Kaum,
daß er darin geblättert, ſchlug er eine Seite auf und
reichte ſie dem Geſandten. Es war Lombards Dictum.
Unverdiente Ehre, wenn mich ein franzöſiſcher Schrift¬
ſteller citirt hat. — Sie ſind es ja ſelbſt, lächelte
Napoleon, und wies ihn auf den Titel. Kurzum,
es waren Lombards Traité's, in einer Pariſer Aus¬
[89] gabe, prachtvoll gedruckt. Und mit einem Wort, es
kam heraus: Der Kaiſer hat Lombards Abhandlungen,
weil ſie ihm ſo ſehr zuſagen, in einer Prachtausgabe
für ſich und ſeine vertrauten Freunde drucken laſſen.
Napoleon Bonaparte, ſage ich Ihnen, der Genius
des Jahrhunderts, kann ſich von Lombards Schriften
nicht trennen, er führt ſie mit ſich in ſeinem Feld-
Neceſſaire, er blättert täglich, er findet Zerſtreuung,
Erholung, Erquickung darin, wenn die Sorgen ihn
drücken. Mit franzöſiſcher Artigkeit bat er ihn um
Entſchuldigung wegen des Nachdrucks, den er in
ſeinem Reiche ſtreng beſtrafen würde, denn jeder
Arbeiter müſſe die Früchte ſeiner Arbeit genießen
können. Aber die deutſche Typographie ſei noch ſo
weit zurück, es thue ſeinen Augen wehe, einen ſchönen
Gedanken grob auf deutſchem Papier zu ſehen. Ach,
fügte er hinzu, was könnte aus Deutſchland, ich
meine aus Ihrem Preußen werden, wenn ein Genius
die Induſtrie belebte! Lombard erwiederte in galanter
Weiſe die Artigkeit: er fühle ſich in ſeinem Intereſſe
durch den Nachdruck ſo lädirt, daß er auf eine große
Entſchädigung Anſpruch mache. Er fordere nicht
weniger als das Exemplar, welches durch des Kaiſers
Hand geweiht ſei. Ich gebe es ungern, es iſt mir
lieb geworden, ſagte der Kaiſer, aber Sie ſind im
Recht, und nun iſt es nicht mehr meines. Er hatte
raſch ſeinen Namen mit einer verbindlichen Zeile
hinein geſchrieben.“


[90]

Der Geheimerath war nach dem verſchloſſenen
Schrank geeilt, von wo er einen in ſaubere Hüllen
verſchloſſenen Band holte, und auf dem Tiſche ent¬
hülſte: „Lombard hat ihn voraus geſchickt. Doch das
iſt nur für uns. Um Himmels Willen davon keine
Mittheilungen. — Da iſt ſein Name. Schöne, feſte
Züge, der Charakter des Genius. Ex ungue leonem.
— Hier iſt auch mein Bericht, den Lombard die
Güte hatte in ſeinem Traité aufzunehmen, mit ab¬
gedruckt.“


Der Geheimerath umhülſte das Buch wieder
mit einer Geſchicklichkeit, die einem Buchbinder Ehre
gemacht, und ſtellte es auf ſeinen Ort zurück: „Was
ſagen Sie nun. Iſt der Mann, wie ſeine enragirten
Feinde ihn uns darſtellen wollen?“


„Das ſind allerdings überraſchende Combi¬
nationen.“


„Sie haben an eine Attrappe gedacht. Sehen
Sie, wie Sie ſich durch Ihr Vorurtheil täuſchen
ließen. Ueberhaupt da war nichts Affectirtes in Bona¬
parte's Benehmen, nichts von der Herablaſſung eines
Emporkömmlings. Er verhandelte mit unſerm Freunde
wie der Gleiche mit dem Gleichen. Lombard wollte
diplomatiſch Schritt um Schritt mit ſeinen Miſſionen
herausrücken. Napoleon unterbrach ihn raſch: Ich
bin Frankreich, die Welt fängt an es zu erkennen,
und Sie ſind Preußen, die Welt erkennt es noch
nicht, aber ich. Ueberlaſſen wir doch das anderen,
ſich untereinander zu täuſchen, ſetzte er mit dem
[91] durchdringend freundlichen Blicke hinzu. — Das bleibt
natürlich unter uns, und Lombard that natürlich das
Seinige dagegen zu proteſtiren und auf ſeine unter¬
geordnete Stellung zu weiſen. — Wie Sie wollen,
ſagte Napoleon lächelnd, ich nehme die Menſchen wie
ſie ſind, reſpectire aber auch den Schein, den ſie her¬
vorzukehren für nöthig halten. — Und nun floß das
Geſpräch anmuthig hin, wie zwiſchen Zweien, die,
wie Schiller ſagt, auf der Menſchheit Höhen ſtehen,
und parteilos und affectlos das Getriebe tief unter
ſich betrachten.“


„Und bei dem Geſpräche blieb es?“


„Lombard kann nicht genug ſein Entzücken über
den reichen Geiſt ausdrücken. Er ſchüttete ſeine An¬
ſchauungen über die Weltverhältniſſe wie eine Fee
aus ihrem Füllhorn. Unſer Freund ſagt, er hat in
dieſer einen Stunde viel gelernt.“


„Dazu ward er indeß nicht hingeſchickt. — Und
noch gar keine poſitiven Reſultate?“


„Wir können ganz beruhigt ſein. Bonaparte hegt
eine Achtung vor Preußen, die mich wirklich über¬
raſcht hat. Wenn er von Friedrich ſpricht — nun
das verſteht ſich von einem Genius, wie ſeiner von
ſelbſt. Er mahlte ſeine Schlachten; als er die von
Hochkirch ſchilderte, gerieth er in eine wahre Begeiſte¬
rung: „Die gewonnenen Schlachten wolle er dem
großen Todten laſſen, rief er aus, aber er gebe drei
ſeiner eigenen Siege für den Rückzug von Hochkirch.“


„Lombards Miſſion war aber doch nicht eigent¬
[92] lich ſich Unterricht über den ſiebenjährigen Krieg geben
zu laſſen?“


„Spötter! wiſſen Sie was Napoleon über den
Baſeler Frieden ſagte?“


„Die erſte Wunde unſerer Ehre!“ ſeufzte der Rath.


„Das gab er ſelbſt zu. Erkennen Sie die Größe
des Mannes. Aber nach dieſem Frieden ſei es
Preußens Aufgabe geweſen die demarkirten Theile
von Deutſchland, die unter ſeinen Schutz gegeben
waren, ſich zu unterwerfen. Ein kleines Unrecht, rief
er, kann in der Politik nur gut gemacht werden durch
ein großes Unrecht. Was wäre Preußen jetzt, es
ſtände da, eine Europäiſche Macht, die nicht nöthig
hätte, Sie, mein lieber Lombard, zu mir zu ſchicken,
um mich zu ſondiren. Es wäre an mir geweſen,
zu Ihnen zu ſchicken, ich hätte aber freilich ſchwer
einen Lombard gefunden. Er that einige Schritte
im Zimmer auf und ab. Aber es thut nichts, hub
er wieder an. Preußen iſt ohnedem was es iſt. Der
Genius Friedrichs ſchwebt über ihm, und die Fittiche
ſeines Adlers rauſchen ſtark genug, daß ſich ſo leicht
kein Feind heranwagt.“


„Und weiter berichtet Lombard nichts?“


„Sie bleiben ein ungläubiger Thomas. Der
Kaiſer iſt nicht allein weit entfernt von einer feind¬
lichen Abſicht, ſondern eine innige Verbindung mit
uns wäre ſein Wunſch. Wohl verſtanden eine Alli¬
ance, welche die Zügel der Welt in die Hand nimmt.
Civiliſation, Cultur, wahre Aufklärung, das Glück
[93] des Menſchengeſchlechts und ewiger Friede wären
ihr Ziel. Wer zwingt ihn denn immerfort das
Schwert wieder zu ziehen als die Manövres des
Herrn Pitt, der jetzt Oeſtreich, jetzt Neapel, nun
Rußland, Schweden, und die Kleinen, warum nicht
auch Spanien und die ganze Welt aufhetzt. Was
ſind dieſe Subſidien, die das monopoliſirende Eng¬
land verſchwenderiſch auswirft, als das Blutgeld,
womit es den Ruin der Länder erkauft, die ſich ver¬
führen laſſen? England wäre es recht, wenn der
ganze Continent zur Wüſte würde, wenn er nur da¬
mit der Markt wird, wo die Bettelvölker, um ihre
Blöße zu kleiden, ſeine ſchlechteſten Waaren kaufen
müſſen. Das iſt ſein Ziel, und jedesmal, wenn
Bonaparte ſeinen Degen gegen einen neuen Feind
ziehen muß, thut er es mit Seufzen; er weiß, er
kriegt nicht gegen die armen Neapolitaner, Heſſen und
Schwaben, die ſind nur die Schlachtopfer; ſeine eigent¬
lichen Gegner, die reichen Kaufleute an der Themſe,
ſitzen ruhig hinter ihren Wollſäcken und trinken ihren
Oſtindiſchen Thee, derweil die mit ihren Taſchengel¬
dern zu ihrem Vergnügen, zu ihrer Speculation er¬
kauften Völker in die franzöſiſchen Kanonen getrieben
werden. Darum iſt ſein Grimm gegen Pitt und die
andern unbeſchreiblich. Wenn ihm die Landung ge¬
länge, wenn er England ſeinen Degen ins Herz
bohrte, ſo würde er vielleicht der Blutmenſch, den
man aus ihm macht. Aber ſeine Vernunft regelt
ſeine Begierden. Seine Pläne ſind andre. Könnte
[94] er den ganzen Continent mit einem Netz gegen die
fremde Waare umſpannen, daß kein Ballen ihrer
Manufacte eindringt, könnte er den Gewerbfleiß unter
den Continentalen anſtacheln, daß wir gezwungen
würden für uns ſelbſt zu erfinden, ſchaffen, könnte
er die Britten aushungern, daß ſie ſich den Tod
eſſen an ihren Schlauderwaaren, dann hätte er ge¬
ſiegt, wie er wünſcht, nicht für ſich, für die ganze
europäiſche Menſchheit. Dann würden wir alle reiche,
glückliche, ſelbſtſtändige Völker. Aber er allein, ein
wie großes Genie auch, kann das nicht. Er braucht
einen Bundesgenoſſen. Rußland kann es nicht ſein,
Oeſtreich iſt des Gedankens nicht fähig, Preußen
allein ſteht auf der Höhe der Civiliſation und In¬
telligenz, mit Preußen Hand in Hand könnte er den
Weltgedanken ausführen. Begreifen Sie nun, warum
es in ſeinem Intereſſe iſt, mit uns Freund zu
bleiben?“


„Lombard hat die Propoſitionen zur Alliance ver¬
muthlich ſchon in der Taſche?“


„Bonaparte kennt uns, und darum giebt er faſt
die Hoffnung auf. Er kennt die Hinderniſſe. Ich
verſichere Sie, mit erſchreckender Genauigkeit kennt
er die Coterien an unſerem Hofe, er weiß, was bei
der Radziwill, in den Kreiſen der Prinzeß Wilhelm
über ihn geſprochen, wie er titulirt wird. Er weiß
die Ausdrücke, das Treiben in den Umgebungen des
Prinzen Louis Ferdinand auf ein Haar, ja er lieſt
die Gedanken, die der Prinz unterdrücken muß. Die
[95] Discourſe in unſern Wachtſtuben, die freien Unter¬
haltungen unſrer Garde du Corps liegen aufgezeichnet
in ſeinen Akten. Soll ihm das Vertrauen und Hoff¬
nung auf uns einflößen?“


Der Rath war ernſthaft geworden: „Das iſt
ſchlimm. Man ſagt, ſeine Spione koſten ihm viel.
Preußen ſoll ihm überhaupt viel koſten, und das iſt
noch ſchlimmer.“


„Ich ſage Ihnen, jene Phantaſten und Gelehr¬
ten ſind Bagatell; dieſe ſogenannte Kriegspartei aber
wird uns ruiniren. Sie bohrt und drängt und ſtürmt,
bis ein Mal der Widerſtand der wahren Staats¬
männer zu ſchwach wird, und das gute Herz des
Königs nachgiebt.“


„Und wir ſtänden allein,“ fiel der Rath ein.


Prenez garde, mon cher, das auszuſprechen.
Man muß dieſen Fanatikern gegenüber vorſichtig ſein.
Es freut mich, daß Sie den Wahn nicht theilen, als
wären wir allein ſtark genug, gegen den Strom zu
ſchwimmen. Doch beſſer, daß man dies für ſich be¬
hält. Um ſo mehr, als, denken Sie, auch Napoleon
zweifelt. Wie hübſch er das auffaßt. „Ich bin ja
nicht ſo thörigt, ſagte er zu Lombard, um nicht zu
wiſſen, daß wenn Preußen bei Valmy, Pirmaſens,
wenn es am Rhein ernſtlich gewollt hätte, Frankreich
nicht mein Frankreich, und ich nicht ich wäre.“ Das
iſt nun allerdings zu viel Artigkeit, indeſſen erſehen
Sie daraus, wie hoch er auch unſre Armee ſchätzt. Ich
weiß, ſagte er, Ihres Königs Herz ſchlägt für Menſchen¬
[96] und Völkerglück, wie nur meines, aber ich würdige
vollkommen ſeine Lage, er iſt jung, befangen, zu
gewiſſenhaft, er weiß ſich nicht zu helfen zwiſchen den
guten und böſen Rathgebern. Zu viel Blutsbande
verknüpfen ihn mit den Ungeſtümen, Raſenden, und
man kann ſich keines Augenblicks verſehen, daß nicht
eine Mine auffliegt und die Feinde der Humanität ſiegen.“


„Und wird Mortier Hannover räumen? fragte
der Rath mit ſcharfer Betonung. Wird die Sperrung
der Weſer- und Elbemündungen, auf die Preußen
beſtehen muß, aufgehoben werden? Unſer Handel geht
zu Grunde, wenn das nicht geſchieht. Das iſt ſchlimm,
aber es giebt ſchlimmeres. Wir verfeinden uns Eng¬
land. Das iſt aber noch nicht das Schlimmſte. Ganz
Deutſchland aber blickt ſehnſüchtig und erwartend auf
Preußen, als die einzige Macht, die ungebrochen
daſteht, frei noch von Frankreichs Einfluß, als die
einzige Macht, welche die Ehre des Vaterlandes retten,
der übermüthigen Gewaltthat eine Schranke entgegen¬
ſetzen kann. Wenn wir dieſe Aufgabe nicht erfüllen,
nicht rettend einſchreiten, atteſtiren wir unſre Ohn¬
macht, und wir laden die Schmach auf uns, daß
eine Coalition fremder Mächte, die nicht ausbleiben
kann, dieſe Aufgabe übernimmt. Ich wiederhole nur
was die Tauſende täglich ſagen, die man Bieder¬
männer nennt, mich ſelbſt, wie ſich verſteht, jedes
Urtheils begebend.“


„So! ſagte der Geheimrath gedehnt. Dieſe
Biedermänner werden ſich gedulden müſſen, bis Lom¬
[97] bard aus Brüſſel zurück iſt. Die Specialitäten ſeines
Auftrags wird er mündlich Sr. Majeſtät vortragen.“


Die Geſchichte und auch die Memoiren der Zeit
erzählen nichts von dieſem Geſpräch und dem, was
es hervorrief; der Dichtung aber iſt es erlaubt, auch
aus der Tradition zu ſchöpfen, wo ſie noch die Worte
lebendiger Zeugen belauſcht hat, die es glaubten.
Was einmal geglaubt ward iſt ein Factum, das auch
der Geſchichte angehört. Uebrigens mag der Geheim¬
rath Bovillard Verhandlungen und Geſpräche anders
aufgefaßt haben, als die, welche geſprochen und ver¬
handelt hatten; er war ein Mann von lebhafter Ima¬
gination.


„Und der Artikel für den Hamburger Corres¬
pondenten?“ ſagte nach einer Weile der Rath Fuchſius.


„Sie werden das ſelbſt am beſten combiniren.
Ihre feine Feder weiß die Fäden zu verſchlingen, daß
man nicht ahnt, woher es kommt. De haut en bas
etwas, mit einem gelinden Achſelzucken die kriege¬
riſchen Herren behandelt. Es verſteht ſich, die hohen
Perſonen, die ich nannte, bleiben unerwähnt, auch
die Generale, namentlich Rüchel, Blücher. Nur mit
der höchſten Diſtinction von ihnen geſprochen! Zu
ihrer Einſicht habe das Publikum die feſte Zuverſicht,
daß ſie die verderblichen Rathſchläge von des Königs
Ohr abhalten würden. Die Seitenhiebe werden Sie
eben ſo geſchickt appliciren. Es bleibt wie geſagt
Alles ganz Ihrem Ermeſſen überlaſſen. Es iſt Ihr
Dafürhalten.“


I. 7[98]

„Dann bleiben nur die Gensd'armerie-Officiere
übrig.“


„Mit dieſen Herren komm ich nicht gern in Conflicte.
Man begegnet ſich doch täglich in Geſellſchaften.“


„So könnten nur die deutſchen Gelehrten, die
Romantiker, die Zielſcheibe ſein.“


„Ganz richtig.“


„Die Herr Geheimrath eben für unſchädlich erklärt.“


„Sie verführen die anderen mit ihren abſtracten
Ideen. Ja, ſetzen Sie es recht ins Licht, die Lächer¬
lichkeit dieſer Theoretiker, die ſich einbilden, über
Dinge mitſprechen zu können, von denen ſie nichts
verſtehen. Geben Sie's ihnen recht ſtark, legen Sie
auch Napoleon einige pikante Phraſen in den Mund
über die deutſchen Ideologen. Sie wären das ein¬
zige Hinderniß des Friedens, nach dem alle Welt
ſich ſehnt. Ich weiß, ſie ſinds nicht. Darauf kommt
es aber nicht an. Sie ſchlägt man, die Kriegspartei
meint man. Die Herren vom Militair erfreut es
inniglich, wenn man gegen die Profeſſoren- und
Schreiberweisheit loszieht. Sie ſchlucken die Invec¬
tiven mit Heißhunger herunter und merken nicht, daß
es Schläge für ſie ſelbſt waren. — A propos, wenn
Sie auch einige ſcharfe Seitenhiebe gegen den Herrn
von Stein geſchickt anbringen könnten. —“


„Rechnen Herr Geheimrath den Freiherrn zu den
Ideologen, zu den Romantikern oder der Kriegspartei?“


Qu'importe!“


„Viele richten ihre Blicke gerade jetzt auf ihn.“


[99]

„Um ſo ſchlimmer. Der Mann wäre im Stande —“


Der Geheimrath hielt plötzlich, wie durch eine
Erinnerung geſtört inne.


Ein Secretair unterbrach das Geſpräch in einem
Augenblick, wo der Geheimrath ſelbſt im Begriff
ſtand es zu enden, vielleicht weil ihm Gedanken
aufſtiegen, für die Fuchſius ihm nicht der geeignete
Vertraute ſchien.


„Ich kann heut Niemand mehr empfangen, rief
er dem Secretair zu: Mein Gott, wenn man doch
wüßte, wie ich überlaufen bin. Ich kann mich doch
nicht verdoppeln und verdreifachen.“


Der Secretair nannte einen Namen. Das Ge¬
ſicht des Wirklichen verzog ſich merklich in die Länge.


„Diesmal werden Herr Geheimrath ihn wohl
nicht abweiſen können, ſagte der Rath. Sie ließen
ihn durch mich auf dieſe Stunde beſcheiden.“


Aufgähnend und mit einer franzöſiſchen Phraſe
fand ſich der Geheimrath in ſein Schickſal.


Der Rath beurlaubte ſich, das nächſte Geſpräch
würde wohl — beſſer ohne Zeugen geführt.


Ein Anderer, dachte der Wirkliche, würde in
ſeiner Stelle die Laſt mir abzunehmen verſtanden
haben. Aber das Inſinuante, entweder das Geſchick
oder die Neigung, ſich ihren Oberen gefällig zu zeigen,
fehlt den jungen Männern von heut. Er hat Kopf,
Talent, Geſchick, Kenntniſſe, auch Gewiſſenhaftigkeit
— nur zu viel. Während zu unſerer Zeit der An¬
fänger es ſeine erſte Aufgabe ſein ließ, nachzuſinnen.
7*[100] abzulauſchen, wie er ſeinen Vorgeſetzten gefällig
werde, ſchießen in der jüngern Generation eigen¬
thümliche Begriffe von der Staats-Carriere auf.
Wie ſoll mit dieſer Neigung, die Dinge ſelbſt zu
beurtheilen, eine eigene Meinung zu haben, die Dis¬
ciplin künftig beſtehen. — Wäre er eben nicht ein ſo
geſchickter Arbeiter —! Ja, dieſer Legationsrath aus
Thüringen, wenn ich ihn für unſern Staatsdienſt
gewinnen könnte —


[[101]]

Achtes Kapitel.
Der wirkliche und der nichtwirkliche Geheimrath.


Die Gedanken des Wirklichen wurden durch die
Erſcheinung des Geheimrathes unterbrochen, mit dem
unſere Geſchichte anfängt. Auch Lupinus war ein
anderer in ſeinem Hauſe als — wir ihn hier wieder¬
ſehen. Die ſüßeſten Falten glätteten ſein volles Ge¬
ſicht und die Glätte ging über die ſanft gepuderte
Stirn bis an den Schopf. Lächelnd der Mund, das
Auge, den Hut in der Hand, hatte er an der Thür
ſeine reſpectvolle Verbeugung gemacht, um, den
Dreiecker an die Bruſt gedrückt, mit einer Bewegung,
welche an die der Maus erinnern konnte, auf den
Wirklichen zu ſich in Bewegung zu ſetzen:


„Mein theuerſter Gönner!“


Der Wirkliche hatte die Bewegung vorausgeſehen,
und vor dem Händedruck, der ihm drohte, ſich hinter
einem Lehnſtuhl verſchanzt, den er mit der Linken
faßte und bewegte, um ſich gelegentlich darauf zu
ſtützen, während er mit der Rechten ſich auch gelegent¬
lich bewegte. Der wirkliche ſchien während dieſes
[102] Auftritts um einen Kopf größer als der andere Ge¬
heimrath. Ob er es war, laß ich ungeſagt:


„Mein Herr Geheimrath, ich hatte nicht erwartet,
daß wir uns ſo begegnen ſollten.“


Lupinus war um einen Schritt zurückgeprallt.
Den Hut noch feſter an die Bruſt drückend, verneigte
er ſich noch tiefer: „Mein Herr Geheimrath, wer hat
keine Feinde!“


„Um das kurz abzuſchneiden, von Ihren Feinden
weiß ich nichts, aber ich weiß doch Alles. Ich bin
nicht Ihr Richter, das wiſſen Sie. Wie Sie ſich
vor dem weiß brennen wollen iſt Ihre Sache, zu
mir kommen Sie aus andern Gründen. Einem Ad¬
vocaten muß man Alles ſagen.“


„Soll ich ſagen, daß mich dieſe edle Geſinnung
überraſcht? Nein! Justice et humanité, voilà le
patrimoine de la famille de Bovillard! Si mon ami
Bovillard est mon avocat, je suis l'homme le plus
heureux.“


„Herr, raſen Sie! Von Ihrer Caſſation iſt die
Rede! Um des Himmels Willen plagte Sie denn
der Teufel! Lauern uns denn nicht genug auf den
Dienſt, wiſſen Sie nicht, wie man uns auf die Fin¬
ger ſieht, wie man die unſchuldigſten Handlungen
verdächtigt, und Sie müſſen uns mit ſolchen Stänke¬
reien kommen! Herr Geheimrath, Sie verdienten
ja ſchon darum —“


„Meine Intentionen waren die reinſten von der
Welt —“


[103]

„Zum Geier mit Ihren Intentionen. Wiſſen Sie,
wie der König in die Lippen biß, wie die Königin blaß
ward, wie ein Jemand, den ich nicht nennen will,
die Achſeln zückte und zu Ihrer Majeſtät flüſterte:
das ſind die Freunde des Herrn Lombard! wie Seine
Majeſtät, die Hände auf dem Rücken, ſtumm durchs
Zimmer gingen: das muß anders werden! — heißt
das Ordnung! Das nennt man Humanität, daß
man Gottes Ordnung umkehrt und die Verbrecher
Saufgelage feiern läßt. — Es muß, es ſoll anders
werden! ſchloſſen Seine Majeſtät. Beyme hat ihn noch
nie ſo geſehen. Die Cabinetsordre an den Juſtiz¬
miniſter war ihm noch nicht ſtark genug, er mußte
ſie umſchreiben. Was ſagen Sie nun?“


Lupinus wußte nichts zu ſagen. Er kaute mit
den trockenen Lippen und rieb mechaniſch die Hände
über den Hut bis der Wirkliche ihm zu Hülfe kam:
„Erleichtern Sie Ihr Herz und ſchenken mir reinen
Wein, aber verſtehen Sie ganz reinen, und bis auf
den Grund.“


Ob der Wein ganz rein war, laſſen wir auf
ſich beruhen. Es war ſo ziemlich derſelbe, den wir
in Lupinus Geſpräch mit ſeiner Schwägerin gekoſtet.
Nur blieb der tolle Sohn des Geheimraths aus dem
Spiele. Der Zuhörer, welcher beſonders am Schluß
aufmerkſam den Kopf wiegte, ſchien einigermaßen befrie¬
digt, denn er ſagte, als der Andere zu Ende war: „Kön¬
nen Sie nun mit gutem Gewiſſen behaupten, daß Sie
nichts hinzugethan, noch davon genommen haben; ich
[104] meine, daß, wenn Sie vor dem Richter ſtehen, Sie
ebenfalls nichts mehr, noch weniger ausſagen würden?“


„Wir ſind Menſchen, Herr Geheimrath, wir ſind
alle Menſchen, und unſer Loos iſt irren.“


„Beamte ſind aber eine beſondre Klaſſe von
Menſchen, die nicht irren ſollen; ſonſt jagt man
ſie fort.“


„Seine Majeſtät der König kennt gewiß meine
Loyalität.“


„Der Hochſelige kannte ſie freilich durch Herrn
Rietz. Ich möchte Ihnen nicht rathen, ſich darauf
zu berufen. Ueberhaupt ſcheinen mir Ihre Erinne¬
rungen und Kenntniſſe etwas antediluvianiſcher Art.
Wenn man ein Beamter iſt Ihres Ranges, die ge¬
bildete Geſellſchaft beſucht, iſt es erſte Pflicht, daß
man ſich um die Verhältniſſe und Anſichten kümmert.
Vielleicht liegt das in Ihrer Familie —“


„Herr Geheimrath meinen meinen Bruder in der
Jägerſtraße. Ja um die Dehors kümmert er ſich
allerdings wenig. Sollte er ſich vielleicht bei irgend
einer Gelegenheit einen Verſtoß haben zu Schulden
kommen laſſen! Gott er hat ein gewiſſermaßen kind¬
liches Gemüth, er kann kein Waſſer trüben. Aber
Gelehrte — Gelehrte mein theuerſter Gönner, ach der
Vers iſt wie auf ihn gemacht:

Er weiß wie man in Rom gegeſſen

Und zu Athen ſich gab den Kuß;

Darüber hat er ganz vergeſſen,

Wie man die Gabel halten muß.

[105] Wie oft habe ich freundſchaftlich mit dem Trefflichen
geſprochen, daß er ſich doch etwas in die Verhält¬
niſſe ſchicken möchte.“


„Hätten Sie ſich die Predigt doch lieber ſelbſt
gehalten! fiel der Wirkliche wieder verdrießlich ein.
Mein Herr Geheimrath, es iſt ganz unbegreiflich, wie
Sie die Veränderungen überſehen haben, die ſich in
unſern Sitten zutrugen. Ja, ja in unſern Sitten!
Sehn Sie denn nicht ein, daß und wie ſich alles
geändert hat. Ein junger tugendhafter König iſt
unſer Staatsoberhaupt, eine ebenſo tugendhafte und
ſittſame junge Königin an ſeiner Seite. Ihr Haus¬
halt iſt ein wahres Exempel von Moralität, von wirk¬
lich rührender Häuslichkeit. Fühlen Sie denn nicht,
wie dies Beiſpiel ſchon auf das Publicum einwirkt.
Anfangs war man etwas frappirt, man verſtand es
nicht, man glaubte nicht, daß es dauern könne, man
ſah mehr darin ein idylliſches Schauſpiel, manche
fürchteten ſogar, daß die Königliche Autorität ver¬
lieren würde, ohne den Gold- und Silberapparat.
Aber es war anders. Wird dieſer König weniger
geliebt, als der höchſtſelige? Ja ich wage zu be¬
haupten, der große Friedrich ward nicht ſo venerirt.
Wenn dieſer jugendliche Monarch, mit zwei Rappen,
die ſchöne Königin an ſeiner Seite durch die Linden
kutſchirt, wie ſchlagen alle Herzen! Hören Sie die
Bemerkungen der Leute. Das ſind Symptome, mein
Lieber, auf die man achten muß.“


„Herr Geheimrath! rief der andre, ſich auf die
[106] Bruſt ſchlagend, wie mein kleiner Fritz neulich, den
Sie die Güte hatten aus der Taufe zu heben, die
Verſe von Gleim herſagen ſollte:

Und die Tugend, ſie iſt kein leerer Wahn,

Erzeugt in dem Hirne des Thoren!


drängte ſich die ſtille Thräne des Mitgefühls auch
aus meinen Augen. Wer erkennt nicht dieſes ſu¬
blime Beiſpiel des erhabenen Königspaares! Ich er¬
laubte mir daher auch neulich in der Loge —“


„Mit freimaureriſchen Redensarten iſt es nicht
mehr gethan. Man ſoll auch en vérité die Tugend
executiren. Bemerken Sie denn nicht, wie die Dinge
in Berlin ſchon jetzt ein andres Anſehn gewinnen.
Man muß ſich fügen, mein Lieber, man muß mit
dem Strome ſchwimmen, man muß ſich kleiden wie
die andern, wenn uns auch die Mode nicht gefällt.
Ou voulez-vous être un original, qui ne se désori¬
ginalisera jamais.
Glauben Sie mir, es gefällt
manchem am Hofe nicht, ich muß manche Klagen
hören, aber — man fügt ſich. Manche Liaiſons ſind
ſtadtkundig, wer hatte bisher Arges daran, aber —
man genirt ſich jetzt, man fährt nicht mehr zuſam¬
men in den Thiergarten. Ich könnte Ihnen — aber
n'en parlons pasà propos — man ſagt mir, Sie
beſuchen noch immer das Haus der Schubitz.“


Der Nichtwirkliche blickte ihn verwundert an.


„Mein hochverehrteſter Gönner, auch das“ —
Offenbar wollte er, was man nennt mit etwas heraus¬
platzen, vielleicht aus der Defenſive in die Offenſive
[107] übergehen, aber raſch ſich beſinnend fuhr er in dem
vorigen ſüß flötenden Tone fort:


„Wenn ich ſagen dürfte, wie anſtändig es dort
hergeht! Ich kann betheuern, daß alles Unmoraliſche
davon entfernt iſt. In den untern Zimmern ver¬
ſammelt ſich abendlich, gelegentlich eine Geſellſchaft
von frohen Menſchen. Man trinkt Thee, man läßt
ſich eine Bowle brauen; in heitern Geſprächen ver¬
gehen die Stunden. Wie mancher Geſchäftsmann,
erdrückt von der Laſt des Tages, der keine Familie
hat, oder in ihrem Kreiſe nicht das rechte Soulagement
findet, ſucht die Zerſtreuung, die nothwendige Erholung,
um ſich wieder zu erfriſchen für die Sorgen und die
Arbeit des nächſten Tages. Der Staat fordert von
uns ungeheure Opfer, er muß uns doch auch etwas
Erholung gönnen. Einige machen auch ein Spielchen,
die Räume ſind ſo gemüthlich und hell. Muß man
denn immer Arges denken! Dieſe leichten, anmuthigen
Kinder der Natur — ich will im entfernteſten nicht
für ihre vertu ſonſt einſtehen — aber in dieſen Reunions,
wenn doch auch nur ein Mal etwas Unſittliches vor¬
gefallen wäre! Hüpfende Gazellen, Hebe's mit der
rauchenden Schaale, miſchen ſie ſich in das Geſpräch,
man hält ſie feſt, wenn ſie entſchlüpfen wollen, man
richtet Fragen an ſie, und freut ſich ihrer ſchalkhaften
Antworten. Sie wiſſen oft den Nagel auf den Kopf
zu treffen. Ich will auch nicht dafür einſtehen, daß
man nicht einmal, überraſcht von einer naiven Ant¬
wort, den loſen Schalk auf den Schooß zieht, und
[108] ihn dafür mit einem Kuß auf die Lippen belohnt
oder beſtraft. Aber, wie geſagt, il n'y a rien là
d'immoral, Monsieur le conseiller!
Man findet immer
achtungswerthe Geſellſchaft, die höchſtachtungwertheſte
zuweilen. — Herr Geheimerath würden erſtaunen,
wenn Sie hörten, welche Equipagen vor dem Hauſe
halten — oft die ganze Behrenſtraße hinauf bis zur
Friedrichsſtraße. Man trifft ſich auch mit den Künſtlern,
den Genie's unſerer Stadt. Wie oft hat Herr
Friedrich Gentz ſeine brillanteſten Gedanken in dieſen
Kreiſen zuerſt saillant ausgeſprützt. Da iſt der be¬
rühmte Bildhauer, das Genie, — wie heißt er doch
gleich — der macht Studien zum Basrelief für das
neue Schauſpielhaus. Der tiefſinnige Herr Adam
Müller, ce génie mystique, las den Damen aus
ſeinen Schriften vor, s'il m'est permis de m'exprimer
ainsi pour les convertir.
Reine pſychologiſche Studien!
Der Herr Hofrath Hirt verſichert, bei den Bewegungen
der einen Nymphe würde er doch immer erinnert an
ein pompejaniſches Wandgemälde, was der Lichtenau
ſo gefallen hatte, er hat es im Marmorpalais contre¬
feien müſſen. Da ſagte auch neulich Fleck — doch
das erinnern ſich Herr Geheimerath, — von der
Auguſte könnte die Schick agiren lernen, wenn ſie die
Dido ſingt. Enfin, je vous assure, mon génie
protecteur, on n'y va que pour faire ses études
artistiques, philosophiques, psychologiques


Et physiologiques, unterbrach Bovillard. Und
was ſtudirten Sie, Herr Geheimerath?“


[109]

„Menſchenkenntniß, Herr Geheimerath. Lernt
man in der Schwäche ſich nicht ſelbſt am beſten kennen?“


„Das will ich gelten laſſen. Darum ſchickte
ein gewiſſer Jemand auch wohl ſeine Pantoffeln in
das Haus.“


Der Geheimerath ſenkte den Blick: „So viel mir
bekannt, ſind dieſe ſchon vor Monaten wieder abgeholt.“


„Das iſt ſehr klug von dem Jemand gehandelt.
Denn, merken Sie noch etwas, eine Polizeiordre iſt
unter der Feder, in dieſen Häuſern ſoll künftig eine
Präſenzliſte geführt werden. Wer aus- und eingeht,
muß ſeinen Namen einſchreiben. An jedem Morgen
wird der Polizeipräſident wiſſen, wer ſie beſucht hat,
und die Beamten werden höhern Orts gemeldet.“


Die beiden Geheimeräthe ſahen ſich unwillkürlich
mit einem wunderbaren Blicke an. Es entſtand eine
Pauſe. Eine vertraulichere Stimmung ſchien zwiſchen
dem Wirklichen und dem Nichtwirklichen eingetreten,
als jener nach einem kurzen Ambuliren ſeine ver¬
ſchanzte Stellung im Stich laſſend, ſich mit über¬
kreuzten Beinen auf das Sopha ſetzte. Der Nicht¬
wirkliche nahm beſcheiden in der andern Ecke Platz.


„Und dann, warum müſſen Sie mit jeder Schürze
auf der Straße Converſation anfangen, und jedes
hübſche Dienſtmädchen in die Backen kneifen?“


„Mon Dieu, auch das ein Verbrechen, wenn das
Herz uns treibt, unſere Mitmenſchen zu uns zu er¬
heben! Je vous proteste, ce n'est rien que l'inspi¬
ration d'un coeur humain.“


[110]

„Genialität, mon ami! Ces beaux temps sont
passées
. Sie werden mich gewiß nicht zu den
Rigoroſen rechnen, aber man muß doch auch mit
einem gewiſſen Ernſt, der unſerer Stellung und un¬
ſerem Alter ziemt, die Verhältniſſe betrachten. Es
mußte anders werden. Das ſittliche Gefühl des
jungen Monarchen war durch ſo viel Affröſes ver¬
letzt. Man hätte ſich nicht wundern dürfen, wenn
er ſelbſt mit rigoroſer Strenge dazwiſchen fuhr.
Aber in ſeiner milden, beſcheidenen Weiſe zieht er
es vor, nur durch ſein Beiſpiel zu wirken. Und es
iſt überraſchend, wie es ſchon gewirkt hat. Wie me¬
nagiren ſich jetzt die Damen am Hofe! Hört man
noch das disguſtirende Geplauder von ſonſt! Ein
Wort, ein ſtrafender Blick der Königin, und wie der
Nebel beim Sonnenſchein wird es rein — die choc¬
quirenden Confidenzen verſtummen. Kennen Sie die
alte Voß wieder? Ganz die Airs einer würdigen
Matrone! Wenn es auch noch nicht überall einklingt,
ſo macht man doch Efforts. Selbſt Conteß Laura,
geht ſie wohl noch ſo ausgeſchnitten wie ſonſt? Und
wenn man auch noch die Redouten in Bergers Saal
beſucht, mit welcher Decenz geſchieht es. Da kennt
keine die andere, ſo tief maskirt! Ihre Wagen laſſen
ſie ſchon an der Ecke der Dorotheenſtraße zurück. Nein
die Progreſſen in der öffentlichen Moral ſind un¬
verkennbar. Und die Miniſter! Was kann denn er¬
hebender ſein, als wie der unſere den Glanz des
Weltmannes von ſich abgeſtreift hat, und wie ein
[111] Patriarch unter den Seinen lebt. Die Frau Mi¬
niſterin, wenn ſie das ſchlichte Häubchen auf dem
Kopf, die Schürze vor, als Hausfrau in Küch und
Keller waltet! Ein Fremder könnte glauben, daß
er in eine gewöhnliche Bürgerwirthſchaft geräth. Ein
herzlicher Händedruck würde ihn begrüßen, ein Trunk
Bier ſteht immer auf dem Tiſche.“ —


„Trinken Excellenz jetzt Bier? fiel Lupinus raſch
ein. — Wahrſcheinlich von dem, was mein Freund,
der Hofrath Fredersdorf in Spandow braut. Ein
treffliches Bier, aber ſollte es ganz nach Excellenz
Geſchmack ſein?“


„Das thut wohl nichts zur Sache. Ich meinte
nur — “


„Vielleicht nur des Magens wegen — Excellenz
leiden an Indigeſtionen — da würde ein bitteres
Magenbier, zum Exempel das Zerbſter — der Ma¬
gen eines Miniſters iſt etwas koſtbares für das Land
— ich habe da eine gute Quelle. Meinen Herr Ge¬
heimrath vielleicht, daß Excellenz es nicht ungütig
nehmen würden, wenn ich mir erlaubte ein Fäßchen —“


„Sorgen Sie lieber für Ihren eigenen Magen,
ſagte Bovillard aufſtehend, denn Sie haben viel Ver¬
dorbenes gut zu machen!“ — Aber der Alp auf der
Bruſt des Geheimrath Lupinus ſchien ſich doch all¬
mälig gelöſt zu haben, als er die Theilnahme ſeines
Gönners bemerkte. Die Sache war nicht durch einen
Scherz zu beſeitigen. Man ſprach auch von einem
Dritten, der ſeine Vermittlung ſchon angeboten.
[112] „Wenn man dem nur ganz trauen kann“ ſagte Lu¬
pinus. Der Wirkliche lächelte leichthin: „Das zu prü¬
fen iſt meine Sache. Ihre, Anſtand, Ernſt, Moralität
zu zeigen — und vorſichtig zu ſein. Denn mir iſt
gar nichts darum zu thun, daß Sie mit blauem Auge
davonkommen und durch eine Hinterthür ſchlüpfen,
ſondern Ihre Ehre ſoll ganz fleckenlos daſtehen. Ver¬
ſtehen Sie mich, mein Herr Geheimrath? Es han¬
delt ſich um Ihre vollkommene Rechtfertigung, weil
unſer Intereſſe damit zuſammenhängt. Verſtehen Sie
mich! Wiſſen Sie auch, daß der Juſtizminiſter ſchon
einen Candidaten für Ihren Poſten in petto hat?“


„Womit habe ich das verdient!“ Beinahe ent¬
fiel ihm der Hut, als er mit der Hand über die
Stirn fuhr.


„Das machen Sie mit ſich ſelbſt aus. Dann
kann ich Ihnen auch nicht verbergen, daß das Ver¬
hältniß mit Ihrer Köchin Seine Majeſtät choquirt.
Sie thäten beſſer ſie wegzuſchicken, oder wieder zu
heirathen.“


„Wenn ich die Ungnade Seiner Majeſtät damit
abwenden könnte — mein Gott, ich bin ja zu allem
bereit — jeden Augenblick.“


„Warten Sie's doch noch ab, — entgegnete der
Wirkliche, wirklich von dieſem Zeichen der Devotion
überraſcht. Es kann ſich manches wieder ändern.
Ueberhaupt müſſen wir warten, ſetzte er hinzu, denn
ich beſinne mich, daß der Miniſter morgen wegen des
Geburtstags Seiner Majeſtät nicht zu ſprechen iſt.“


[113]

Mit etwas erleichtertem Herzen nahm Lupinus
ſeinen Rückzug. Bovillard ſchien ſchon einer Reihe
anderer Gedanken gefolgt, als er die Hand an der
Thür, ihm ein à propos nachrief:


„A propos wiſſen Sie nicht, was aus der Jenny
geworden iſt?“


Lupinus, halb ſchon aus der Thür, war im
Augenblick zurückgeſchnellt, und mit derſelben Elaſticität
verklärte ſich ſein Geſicht zu einem Ausdruck, der das
grade Gegenſtück zu dem während dieſer peinlichen
Unterhaltung war. Es war die allmächtige Natur,
welche die Folterbande geſprengt hat.


„Die ging ja nach Leipzig — nach dem Vor¬
fall —“


„Das weiß ich. Aber von da?“


„Man ſagte, nach Paris. Ah! ces souvenirs!“
Der Geheimrath von der Voigtei küßte ſeine Finger.


„Wie eine Gazelle,“ ſagte der Wirkliche.


„Und eine Taille!“


„Quand elle pirouettait autour d'elle-même —.“


„En petit comité viel raviſſanter als hinter den
Lampen. Dieſe Grazie!“


„Augen wie eine étincelle.“


„Et son esprit!“


„Witzig! Sie konnte fünf Mann todt machen.“


„Et ses délicieux petits pieds! Erinnern ſich
Herr Geheimrath noch an jenen Abend, wie ſie auf
den Tiſch ſprang!“ —


„N'en parlons pas! Bovillard wehrte mit der
I. 8[114]
Hand. Mit einem eigenthümlichen Blick ſetzte er hinzu.
Mon cher conseiller, c'est à vous de vous taire —
et surtout à présent!“


„A moi! Lupinus ſenkte die Augen, die Hand
auf der Bruſt. D'ailleurs ces souvenirs dureront plus
que ma vie.“


„Ja, ſie hat manche Erinnerungen hinterlaſſen,“
ſchmunzelte Bovillard.


„Und man kann ſie ordentlich hiſtoriſch verfolgen,
ſetzte der andre hinzu. So was kommt doch nicht
wieder. Sind Herr Geheimrath nicht auch der Mei¬
nung, es verſchlechtert ſich alles in der Welt.“


„Es kann aber auch Einiges beſſer werden, ſagte
Bovillard. Noch einmal rief er dem Scheidenden
nach: Alſo, un peu plus de morale et — de modé¬
ration.“


[[115]]

Neuntes Kapitel.
Der dritte Auguſt.


Der dritte Auguſt fing in Berlin an ein Feier¬
tag zu werden. Die Bürger freuten ſich, daß ſie
einen guten König hatten. Sie hatten lange keinen
guten König gehabt; denn der alte Fritz war wohl
ein großer König, aber er war ein Fürſt geweſen,
den eine tiefe Kluft des Reſpects von ſeinem Volk
trennte. Es verehrte, es bewunderte ihn, aber den
Bürger ſchauerte, wenn er dachte, daß er mit ihm
auf einer Diele, unter einem Dache ſtehen ſollte. Der
Müller von Sansſouci war ein einzelner Mann. Und
zuletzt war der alte Fritz ſehr alt geworden und
grämlich, und ſeine Kaffeeriecher drangen in die
Häuſer und die Hütten. Wenn er durch die Linden
ritt auf ſeinem alten Schimmel liefen ihm die Kin¬
der nach und ſchrieen und waren glücklich, wenn ſie
die Sohle ſeines Stiefels, den Saum ſeines Rockes
anfaſſen konnten, auch leuchtete ſein Auge noch immer
groß und durchdringend, und die Bürger erſtarrten
in Ehrfurcht vor dem großen Könige, aber Liebe hat
I. 8*[116] der matte Strahl des großen Auges nicht mehr
geweckt.


Und als der große Mann im Sterben lag, durch¬
ſchauerte es auch wohl die guten Bürger, daß ſo ein
großer Mann wie der kleinſte unter ihnen von dieſer
Welt ſcheiden müſſe. Aber an ſeine großen Schlach¬
ten und was noch größer, ſeine Thaten für den Staat,
und daß er die Seele dieſes Staates geweſen, und
ob eine andre Seele und welche, in dieſen verlaſſe¬
nen Körper fahren werde, daran dachten ſie nicht.
Den guten Bürgern fiel es überhaupt nicht ein, daß
der Staat ein Leib ſei, der eine Seele braucht. Sie
dachten vielmehr — ganz ſtill — wenn der Alte todt
iſt, hören die Kaffeeriecher auf, und vielleicht auch
die Tabacksregie. Unter dieſen Gefühlen der guten
Bürger, die man ſpäter die Gutgeſinnten nannte,
entſchlief der größte Mann ſeines Jahrhunderts.
Wenn er's gewußt, vielleicht hätte ſein letzter Seuf¬
zer geklungen: das hatte ich nicht verdient! Und
darum jubelten die guten Bürger dem neuen, güti¬
gen Könige entgegen, der auch wirklich die Kaffee¬
riecher fortjagte, aber ſpäter und ſehr bald ward er
kein guter König. — Er ſtarb in ſeinem Marmor¬
palais am heiligen See, einſamer als der große
Friedrich in Sansſouci. Die Kluft war noch
tiefer geworden zwiſchen dem Könige und dem
Volke.


Und nun hatte man wirklich einen guten König.
Durch viele Jahre war er derſelbe geblieben; es war
[117] Friede im Lande, keine Kaffeeriecher, den Taback kaufte
man zu mäßigen Preiſen, die Geiſterbanner und
Frömmler waren fortgeſchickt, Handel und Gewerbe
blühten, die Soldaten waren zwar noch Soldaten,
aber man konnte ſich ja vor ihnen hüten, und der
König und die ſchöne Königin fuhren ſo bürgerlich
geſchmückt, ſo herzlich und zutraulich durchs Volk.
Keine Läufer, ſelten ein Vorreiter, oft in einer ein¬
fachen zweiſpännigen Kutſche. Das Volk fing an
dieſe Annäherung zu verſtehen und zu würdigen, und
— es liebte ſeinen König.


Darum war bald der dritte Auguſt, des Königs
Geburtstag, ein Feiertag geworden. Sie gingen vor's
Thor, in die Schenkgärten, ſie ſtrömten aufs Land,
in die Dörfer, die glücklichen Familien, welche die
Sorgen abwerfen konnten, um einen ſorgenfreien Tag
unter Gottes freiem Himmel zu feiern.


Auf dem Hochplateau, ſüdlich von Berlin, lag
damals ein ländliches Dorf mit hohen ſchönen, dicht
umwipfelten Bäumen, mit moosbewachſenen Schilf¬
dächern und einer alten gothiſchen Kirche von Gra¬
nitquadern. Nur eine halbe Meile von der Stadt,
verſank doch das Dorf faſt unter den hohen Korn¬
feldern, wo die Aehre im Lehmboden üppig wucherte.
Von all dem iſt nur die Kirche von Granit geblie¬
ben, einſt eine Beſitzung der Tempelherren, von de¬
nen das Dorf den Namen trägt. Dieſe ſind vor
alten Zeiten ſchon von der märkiſchen, und von der
Erde überhaupt verſchwunden, und das Feuer, das
[118] ihre Edelſten verſchlang, hat auch allmälig die ſchönen
Linden und Ulmen der Dorfſtraße verſengt und die
Schilfdächer der Häuſer verzehrt.


Heut ſieht das Dorf aus wie eine mit Bäumen
unterſprengte Stadt. Aber auf dem üppigen Raſen,
unter den prachtvollen Baumreihen war zu unſrer
Zeit noch ein Spielplatz für ländliche Luſt, wie man
ihn nur wünſchen mochte. Wo konnte man freiere
Luft athmen, wo, hingeſtreckt im Grün, dem Spiel
des Laubes, dem Geſang der Vögel ungeſtörter lau¬
ſchen! Wo wölbte ſich ein prächtigeres Dach von
Aeſten, um den Mittagstiſch darunter aufzuſchlagen!
Noch prangten die Dörfer um die Stadt nicht mit
blauen und goldenen Wirthshausſchildern, noch lauer¬
ten die Kellner nicht am Eingang der Gitter mit
der Speiſekarte. Die Schenke war eine Trinkſtube
und Kegelbahn, weiter nichts, die Familien kehrten
bei den Bauern ein, die ſie vom Markte kannten.
Und noch ſtrömte nicht Alles hinaus, was an Sonn-
und Feiertagen die Werkſtätte ſchließt, um das Ge¬
räuſch der Straßen draußen durch neuen Lärm zu
erſetzen und den Staub, den ſie hinter ſich gelaſſen,
durch wilde Spiele wieder aufzuwühlen.


Es war eine Pilgerfahrt der Familien. Sie
brachten eine ſonntägliche Stimmung mit. Man hatte
ſie lang vorher beſprochen. Man freute ſich, einmal
unter Gottes freiem Himmel einen Tag zu feiern.
Wie wenige waren gereiſt und hatten ſchönere Ge¬
genden geſehen, und wie viele hatten die Dichter ge¬
[119] leſen und konnten auswendig ihre Lieder zum Preiſe
der ſchönen Natur. Auch wer das Theater beſuchte,
was damals in den gebildeten Mittelſtänden viel
häufiger geſchah, als jetzt, hörte und ſah, wenn er es
glauben wollte, daß die Menſchen in den Dörfern
andere und beſſere wären, als die in der Stadt,
weil ſie Gott und ſeiner Natur näher ſind. Wenn
auch nicht bei den Schäfern, doch in der Hütte, die
der Fliederſtrauch überſchattet, ſollte der Friede und das
Glück des Lebens zu ſuchen ſein. Bei aller Blaſirt¬
heit der vornehmen Welt konnte ſie dieſer Stimmung
durch Spott nicht wehren, ja ſie erwehrte ſich ſelbſt
ihrer nicht. Man mußte idylliſch ſein.


Wir ſehen eine ſolche glückliche Familie den langen,
beſchwerlichen Weg hinaus wandern. Sie ſteigen über
den Sand des Templower Berges, dann ſuchen ſie
den feſteren Fußſteig, der neben der durchwühlten
Straße, faſt baumlos nach dem Dorfe führt. Die
Sonne brennt am wolkenloſen Himmel, und ihre
Schritte ſind nicht leicht; außer der Sonntagsſtim¬
mung bringen ſie ja in Körben und Pompadouren
mit, was zur Erheiterung dieſer Stimmung dienen
ſoll. Oft muß der Familienvater das Taſchentuch
herausziehen um den Schweiß zu trocknen und oft
hält er ſtill und ſieht, ob die andern nachkommen.
Da verſtummt wohl das Geſpräch, aber ſie bleiben hei¬
ter. Unter den ſchattigen Ulmen, welche die Avenue des
Dorfes bilden, hält endlich die Mutter und ſetzt ihren
Beutel nieder, während der Vater ſich umſieht: „Aber
[120] wo iſt denn Adelheid?“ — „Ach du mein Gott, ruft
die Mutter, da trägt das Kind doch den ſchweren
Korb der Jette. Hab ich's ihr nicht verboten?“ Die
Adelheid aber hüpft heran und ſetzt den Korb zu
ihren Füßen nieder: „Mütterchen er war gar nicht
ſchwer.“ Die Gluthröthe, die ihr Geſicht überzieht,
ſtraft ſie Lügen. Sie ſteht einen Augenblick athem¬
los. „Aber engliſches Mädchen wie konnteſt Du
das thun!“ Der Vater ſchüttelt den Kopf. Aber
als ihre Röthe verſchwindet, weiſt die Tochter auf
das Mädchen, das noch röther gefärbt herankeucht:
„Die Jette konnte ja nicht mehr.“ Der Vater mur¬
melte: „Dafür iſt ſie im Dienſt“, doch es ſchien ihm
nicht Ernſt; er klopfte der Tochter auf die leuchtenden
Schultern: „Knüpfe Dein Tuch zu, Du biſt echauffirt,
und wir ſind gleich im Dorf.“ Der Wind wehte in
die alten Ulmen, als wollte er die kleine Dishar¬
monie weghauchen; die Jette nimmt wieder den
ſchweren Korb auf die Hüfte und im Schatten der
Bäume geht der Zug munter weiter. Die Jette
ſtimmt einen damals ſehr beliebten Gaſſenhauer an,
und die Kinder fallen jubelnd ein:


Mein Guſtchen, mein Guſtchen,

Komm mit mir aufs Dorf,

Da ſingen die Vögel,

Da klappert der Storch;

Da tanzet die Maus,

Da fiedelt die Laus,

Da kukket der Kukkuk

Zum Fenſter hinaus.
[121]

Nun fängt der Feſttag an. Die Hunde klaffen
als ſie das leichte Gitterthor in der Lyciumhecke ge¬
öffnet. Adelheid kennt ſie, und ſie kennen Adelheid;
ſie ſtreichelt ſie und ſie wedeln zu ihren Füßen. Aber
es iſt tiefſtill im Gehöft. Die Flurthür iſt nicht
verſchloſſen, doch auch im Innern des Hauſes kein
menſchliches Weſen. Nur der graue Kater ſpringt
über den Heerd, und im Zimmer ſchnattert der Staar
in ſeinem Käfigt, indeß die Wanduhr monoton tikt.
— Ach ſie ſind Alle auf dem Felde! Und das Feld
iſt weit. — Dadurch ſcheint die Luſtbarkeit geſtört.
Soll man die Jette wieder im Sonnenbrande hinaus¬
ſchicken? Nein, der graue Kater, der vor den Ein¬
dringlingen durch die angelehnte Kammerthür ent¬
flohen iſt, zeigt ihnen ein anderes Auskunftmittel.
Da liegt ja die alte Großmutter im Bette. Sie iſt
ſchon etwas närriſch und kann kaum mehr ſprechen,
aber Adelheid hat es ja neulich zu Pfingſten ver¬
ſtanden, ihr Töne und Verſtändniß zu entlocken. Ja,
die Alte liegt noch da, ſtumpfſinnig lächelt ſie, wie
zu allem auch den Eintretenden zu, ihre Anrede iſt
ihr nichts anderes als das Ticken der Uhr. Aber
ſie gafft Adelheids Geſicht an, ihr Grinſen wird zum
Lächeln; ſie muß ſich neben ſie ſetzen, ſie ſtreichelt
ihre Locken mit der dürren Hand und wie durch die
Berührung allmälig electriſirt, kommen Töne hervor,
minder kreiſchend. Es leuchtet auch etwas wie Be¬
ſinnung im Auge. Sie verſtändigen ſich, ein Wort, ein
Blick und ſie wiſſen, daß die Hausfrau im Kuhſtall iſt.


[122]

Bald fährt Frau Bröſicke vom Melken auf, denn
ein ſeltſames Kikeriki ſchallt ihr aus der Wandluke.
Wetter! Wo kommen denn die Hühner her! und
als ſie ſich umwendet, blitzen ihr zwei wunderblaue
Augen entgegen unter einer blonden Lockenfülle, und
die kirſchrothen Lippen öffnen ſich, um zwei Reihen
Perlenzähne zu zeigen und ein: „Angeführt mit Löſch¬
papier, Frau Bröſicke!“ ihr zuzurufen. „I ſo ſoll
doch!“ ruft die Bäuerin und läßt den Melkeimer fallen,
aber ihre Ueberraſchung iſt keine unangenehme: „Ach
die ſeelenhübſche Mamſell Adelheid vom Gensd'armen¬
markt!“ Auf dem Hofe aber hat eine andere Ueber¬
raſchung Platz gegriffen, die nicht ſo angenehmen
Eindruck hinterläßt. Das Dienſtmädchen hatte eben
vom Schöpfbrunnen den vollen Eimer an die dur¬
ſtigen Lippen geſetzt, als eine heftige Ohrfeige, die
aus der Luft zu ſchwirren ſchien, ihre brennenden
Backen noch röther machte. Der Eimer ſchnellte aus
ihrer Hand, und das Waſſer, was ſie nicht trinken
ſollte, überſchüttete ſie aus den Lüften. „Es geht
doch nichts über die Unvernunft ſolcher Leute. Zu trin¬
ken, wenn ſie erhitzt ſind!“ — Das Mädchen weint,
aber ſie beklagt ſich nicht. Der Hausherr hat das
Recht. Auch die Hausfrau widerſpricht nicht; nur
flüſtert ſie ihrem Alten zu: „Alter! Solchen Leuten
ſchadet es nicht. Das liebe Vieh trinkt auch, wenn
es Luſt hat und frägt nicht, ob's die Doctoren ver¬
boten haben.“


Nun iſt alles helle Thätigkeit inner und außer
[123] dem Hauſe. Jeder hilft mit, denn mitarbeiten an
der Herrichtung zur Tafel, zum Mittagstiſch, iſt ein
Theil der Freude. Jeder, nur der Vater nicht. Ihm
wird der erſte Schemel unter die Linde geſetzt, daß
er in Ruhe ſeine Pfeife rauchen kann. Die Bäuerin
will dem Herrn Kriegsrath ſelbſt die Kohle bringen,
aber Adelheid nimmt ihr die Zange ab. Und nach¬
dem er mit dem Finger nachgeſtopft, und einige Züge
verſucht, kräuſelt es ſanft aus dem Meerſchaumkopf,
und aus den Lippen ſchießen Rauchwirbel regelmäßig
hervor. Die Pfeife zieht, alles iſt in Ordnung, der
Vater nickt freundlich der Tochter zu, und ſie flieht
vergnügt ins Haus.


Was ſoll man zuerſt ergreifen! Die Bäuerin
eilt ans Heck, auf den kleinen Hügel, und pfeift durch
die hohle Hand nach dem Felde. Sie mußten es
wohl gehört haben, denn bald wimmelt es von kleinen
Semmelköpfen in Flur und Küche, die ihr zur Hand
ſind. Da knarrt der Ziehbrunnen, das Reiſig praſſelt
auf dem Heerde, bald lodern und knallen auch die
Scheite friſchen Holzes, die der älteſte Knab noch
eben im Hofe geſpalten, und die Mutter aus der
Stadt packt in der Stube aus den Körben und Beu¬
teln und vertheilt und beſpricht mit der Hausfrau.
Aber eben ſo ſchnell tragen die Knaben und die Magd
Tiſch, Schemel und Bänke aufs Grüne unter die
Linde. Es fügt und ſchichtet ſich, wenn auch nicht
ganz regelrecht. Wie kann ein winklich gezimmerter
Tiſch grad auf der Erde ſtehen, die ja rund iſt! Das
[124] Tiſchtuch fliegt hinauf, die irdenen Schüſſeln und
Teller halten es feſt, wenn ein Luftzug die Zipfel
überſchlagen will, und die Schüſſeln füllen ſich ſchon,
nicht vom Reis, der noch über dem Feuer ſiedet, aber
von den Lindenblüthen, die der Zephyr von den
Zweigen ſchüttelt.


Es war ein goldiger Tag. Die Hitze war nicht
gering, aber auf den Körper des Familienvaters,
der ausruhen ſollte, von der Arbeit einer Woche,
ſchien ſie wie ein Balſam ſich zu ſenken. Seine Frau
zog ſich einen Schemel neben ihn. Drinnen war
alles geordnet, ſie konnte es den andern überlaſſen,
und den Strickſtrumpf vorholen, um auch der Ruhe
zu pflegen.


„Es hat Dich aufgeheitert, Du warſt heut Morgen
anders, ſagte ſie; noch als wir zum Thor hinaus¬
gingen, ſahſt Du vor Dich hin, daß ich wunders
dachte, was es wäre.“


„Und Du eilteſt ſo aus dem Thor, daß ich auch
dachte, wunders was es wäre.“


Sie ließ den Strickſtrumpf ſinken: „Ja ſieh mal,
ich hätte es nicht gern gehabt, wenn uns Einer be¬
gegnet wäre. Denn eigentlich, es iſt doch nicht, was
ſich für uns ſchickt, ich meine nämlich für Dich. Ja
als Du noch Subalterner warſt — aber nun, und
wer weiß was Du noch wirſt, da der Juſtizminiſter
es mit Dir ſo gut meint.“


Der Ehemann blies einen langen Dampf in die
Luft und ließ die Pfeife am Fuße ruhen: „Das iſt
[125] nicht immer ein Glück. — Schickt ſich Gottes Natur
nur für die Subalternen, für die Vornehmen aber
nicht?“


„Wie Du wieder biſt, Mann! Iſt nicht Gottes
Natur auch in den Zelten und im Hofjäger? — In's
Freie raus iſt recht hübſch, ja, und ich ſage gar nichts
dagegen, aber ſo zu Fuß mit Sack und Pack! —
Das ſchickt ſich doch nicht mehr.“


Er war bei guter Laune: „Nächſtes Mal wollen
wir einen Wagen nehmen.“


Sie nahm die gute Laune wahr: „Es iſt mir
auch ſchon recht, daß Du lieber hier raus wollteſt,
als nach Charlottenburg, denn da ſind immer unter¬
wegs die Soldaten und die Gensd'armenofficiere flan¬
kiren in den Gärten nach hübſchen Geſichtern, und
Du haſt ſchon recht, hier heraus kommen ſie nicht
geritten, weil's zu ſandig iſt und die vornehmen
Equipagen nicht her fahren, aber ſieh mal, unſre
Kinder werden doch jetzt größer, beſonders die Adel¬
heid — Was ſiehſt Du denn ſo beſonders dahin?“


„Ich freue mich, daß die Adelheid ſo groß ge¬
worden iſt.“


„Iſt Dir ſonſt was beſonderes?“


„Ja ich habe Luſt nach was Beſonderm, nickte
er, denn ich bin durſtig.“


Die Erklärung des Beſonderen ſchwebte ſchon
heran. Adelheid kam aus dem Kruge mit einem
Glaſe Weißbier. Wer ein Glas Weißbier, das ber¬
liner große Glas, welches in der populären Sprache
[126] nicht mit Unrecht eine Stange heißt, geſehen hat, wie
der Schaum, wenn es gut eingegoſſen, noch einige
Zoll über dem Rand ſteht, und der Porzellandeckel
mit ſeinem Knopf am Rande des Glaſes ſchweben
muß; — und wer die Unebenheit des Weges und
die Entfernung erwägt vom Kruge bis zur Linde,
der konnte ſich über Adelheids Geſchicklichkeit wundern,
ein Künſtler aber würde ſich gefreut haben, mit
welcher Grazie ſie das Glas trug. Die ſchönen For¬
men des Mädchens entwickelten ſich bei jedem
Schritt, und mit jedem trat ſie, zuerſt vorſichtig aus¬
ſchreitend, ſicherer auf. Als ſie aber die Anhöhe
unterm Baume hinaufſteigend, das Glas mit beiden
Armen erhob und dem Vater zulächelte, glich ſie doch
dem Meiſterwerk eines griechiſchen Meißels, der Hebe,
die den Göttern die Schaale reicht.


„Daß Dir's gut bekommt, Papachen!“


Der Vater ſetzte an und leerte ein gutes Viertel
in einem Zuge. Er reichte es der Tochter, weil ſie
als Botenlohn das nächſte Recht habe. Sie nippte
und reichte das Glas der Mutter.


„Ich mag nichts,“ die Mutter mußte ja ſtricken.


„Alte, trinke. Schluck runter, was Dich verdrießt.“


Sie durſtete auch. Sie wollte nur gezwungen
nippen, aber ſie trank. — Den Unmuth hatte ſie
nicht ganz hinuntergeſchluckt, als ſie das Glas
zurückgab.


„Die Adelheid in den Krug zu ſchicken! Das
ging wohl an, ſo lange ſie die Flechten im Nacken
[127] trug. Und weißt Du denn, ob nicht Soldaten im
Kruge ſind!“


Der dritte Auguſt, oder die warme Sonne, oder
das Spiel des Lindenlaubs mußte auf der Bruſt des
Kriegsraths das Erz geſchmolzen haben. Er fuhr
die Frau nicht an, worauf ſie doch gefaßt war, er
ſagte nicht, ſie ſolle ſich um das bekümmern, was ſie
anginge, — er gab ihr Recht. Ausſprach er es
nicht, aber er zupfte der Lieblingstochter am Ohr:
„die Clara ſoll das Glas nachher zurückbringen und
das Pfand einlöſen.“


„Vater, es ſind im Krug keine Soldaten. Aber
den alten Major Rittgarten traf ich da mit dem ſteifen
Beine. — Der läßt Dir ſagen, nach Tiſch will er
uns auf eine Taſſe Kaffe beſuchen. Er freute ſich,
mich zu ſehen, und freut ſich noch mehr, mit Dir
ein halb Stündchen zu plaudern.“


„Ich will gar nichts damit geſagt haben, Alter,
daß Du durſtig warſt und mal einen guten Trunk
Dir machen wollteſt, ſagte die Frau, als die Tochter
fortgehüpft war, auch meinethalben mochteſt Du ſie
ſchicken, aber thue doch die Augen auf; ſie wächſt ja
aus den Kleidern raus, und wir thun noch immer
als ob ſie ein Kind wäre.“


„Iſt geboren in der Nacht, wo der Gensd'armen¬
thurm einſtürzte, ſagte der Kriegsrath. Das vergißt
ſich nicht und läßt ſich leicht ausrechnen.“


„Nun ja, ſiehſt Du, für uns kann ſie immer
noch ein Kind ſein, aber was ſollen die Leute draußen
[128] agen! Die kurzen Röckchen, das paßt doch wirklich
nicht mehr.“


Nach einer kurzen Pauſe ſagte der Vater: „Soll
andere Kleider bekommen, hab's ſchon in meinem
Etat mir zurecht gelegt.“


In ſolcher nachgiebigen Laune war er ſeit Jahren
nicht geweſen. Ein Eiſen muß man ſchmieden ſo
lange es heiß iſt.


„Sie ſpricht auch noch manchmal wie ein Kind.“


„Iſt Dir das wieder nicht recht? Soll ich das
auch anders machen.“


„Du nicht, Alter, nein, aber die Erziehung.
Die Nähſchule und die andre, nun ja ſo lange ging
es, aber wir ſind doch nun was andres. Das Bis¬
chen franzöſiſch, das iſt ja gar nichts. Sieh mal
des Inſpectors Töchter, die über uns wohnen, wie
parliren die ſchon! Und wovon ſprechen ſie nicht wenn
ſie in Geſellſchaft ſind, von römiſcher Geſchichte und
Bonaparte und Afrika, und von dem Dichter Schiller
wiſſen Dir die Tiſchlertöchter drüben ganze Gedichte
auswendig. Mir iſt da oft zu Muthe, als müßte
ich mich verkriechen, weil ich davon nichts gelernt.
Nun ich bin eine alte Frau, oder werde's doch werden,
aber um die Adelheid thut's mir oft in der Seele
weh, wenn ſie ſo gar nicht mitſprechen kann. Nicht
einmal einen Roman hat ſie geleſen und ein einziges
Mal iſt ſie in der Komödie geweſen. Gott ſei Dank
ſie hat Mutter-Witz, daß ſie's ihnen geben kann, und
darum behält ſie Reſpect. Aber, lieber Mann, fran¬
[129] zöſiſch muß ſie lernen und ein Bischen auf dem Kla¬
vier klimpern und vor allem tanzen.“


Der Vater paffte drei Mal heftig, und ſchlug
ſich auf den Schenkel: „Tanzen ſoll ſie nicht lernen!
Und Romane und franzöſiſch parliren und klimpern
auch nicht. Daß Dich! Ich werf's zum Fenſter hin¬
aus, wenn ich was attrappire. Und — in die Tanz¬
ſchule ſchicke ich ſie abſolut nicht.“


Sie ließ ihn ſich erholen: „Da haſt Du auch
ganz recht, Alter, hub ſie, ihre Maſchen zählend,
wieder an und ſie wird ſchon ohnedem tanzen lernen,
denn ſie hat ein Geſchick dazu, und wenn ſie nur
erſt in einem guten Hauſe iſt. Aber ſie wird doch
älter, und ein Mal wird ſie heirathen müſſen.
Der Sohn vom Hofbronceur, der möchte ſie gern
haben. Die Eltern ſind reich. Nun ja, wenn Du
ſie dem geben willſt, da braucht ſie nicht mehr zu
lernen.“


Der Vater ſchwieg wieder: „Sie konnte ihn ja
nie leiden.“


„Und weißt Du, was die Jette ſagt? Sie hätte
doch bei vielen Herrſchaften gedient. Aber eine ſolche
Mamſell wäre ihr noch nicht vorgekommen. Die ſtäche
manches Fräulein aus; auch manche Gräfin hätte
nicht ſo feine Art. Du biſt doch nun einmal Kriegs¬
rath, und wir müſſen in Geſellſchaften. Sollen wir
die Adelheid immer zu Haus einſchließen? Du ſiehſt
es freilich nicht, wie ſie zu uns rauf gaffen, wenn
ſie am Fenſter ſtrickt, und ich hab's Dir nicht ſagen
I. 9[130] wollen, vom Bäcker nebenan, oben auf dem Boden
kann man in unſre Schlafſtube ſehen. Da ſteigen
die jungen Herrn vom Kammergericht, die Referen¬
dare, die beim Bäcker wohnen, und ſehen runter,
wenn wir Licht anmachen. Seit ichs weiß, darum
hab ich Dir die dicken Vorhänge abgeſchwatzt. Aber
willſt Du ſie immer behüten?“


Der Kriegsrath antwortete nicht.


„Du haſt ſchon ganz recht. Wenn wir ſie in
Geſellſchaft führen, da wird's ein großes Gaffen
geben, und die Herren werden um ſie ſchwenzeln.
Aber ich weiß doch nicht Alter, ob ſie da beſſer dran
iſt, wenn ſie nicht franzöſiſch kann und nicht Klavier
ſpielen, und wenn die Leute endlich merken, ſie iſt
ein Gänschen, mit der kann man ſchon was auf¬
ſtellen, oder —“


Der Kriegsrath war aufgeſtanden. Die Pfeife
ſtellte er an den Baum, ſeine Frau nahm er unter
den Arm. Sie gingen unter den Linden langſam
auf und ab, und er klopfte ihr auf den Arm: „Du
biſt ſchon eine kluge Frau.“ Sie hatte geſiegt. Sie
waren einig, daß Adelheid eine Erziehung erhalten
müſſe, um in der Welt aufzutreten. Weniger einig
waren ſie über das wie? „Davon ein ander Mal,“
ſagte der Kriegsrath. Aber ſie hielt plötzlich inne
und ſah ihn groß an: „Alter dahinter ſteckt noch
was andres. Geſtern Abend kamſt Du nachdenklich
nach Haus und Du fragteſt nach der Pfeife und
hielteſt ſie ſchon zwiſchen den Beinen und heute Mor¬
[131] gen auch Alter, da iſt was los. Sonſt hätteſt Du
auch nicht ſo ſchnell nachgegeben.“


Der Kriegsrath ſah ſeine Frau ſcharf an, aber
nicht unfreundlich: „Chriſtine es iſt was los, —
eigentlich ſoll man Frauen ſo was nicht ſagen, bis
es gewiß iſt, aber ich weiß, Du plauderſt nicht. Der
Geheimrath Lupinus von der Vogtei —“


„Wird caſſirt, fiel ſie ein, weil die Gefangenen
die Fenſterſcheiben eingeſchlagen haben.“


„Es iſt möglich, daß er ſein Amt verliert, oder
ſeine Entlaſſung nehmen muß, corrigirte der Kriegs¬
rath. In dieſem Falle gedenkt Seine Excellenz, der
Herr Juſtizminiſter — “


„Dir — Dir, Mann! rief ſie verwundert. Siehſt
Du wohl, was Connexionen machen! Ich weiß es
von mehr als Einem, wie Dir der Herr Juſtizmi¬
niſter gewogen ſind.“


„Ich verdanke ihm meine Stellung, das weiß
ich. Eigentlich wäre das nun nicht meines Amtes,
noch iſt's meine Carriere; aber Excellenz haben die
gute Meinung von mir, daß ich der rechte Mann
wäre, um dort die Zucht und Ordnung herzuſtellen.“


„Und Du nimmſt ſie doch an?“


„Still! gebot ein faſt drohender Blick. Die Sache
mit Lupinus iſt noch nicht entſchieden. Und wenn,
ſoll ich mir wieder neue Neider und Feinde machen?
Denn wie Viele, Würdigere, würden um mich zurück¬
geſetzt!“


Die Frau Kriegsräthin wußte ſehr viel Gründe,
9*[132] warum er annehmen müſſe; ſie wußte, daß er ganz
zu dem Poſten befähigt ſei, denn daran zweifeln hieße
ja an der Autorität ſeines hohen Vorgeſetzten zweifeln,
der werde es doch am beſten wiſſen, wozu er tauge.
Und um die andern kümmere ſie ſich gar nicht. „Und,
ſchloß ſie, Du würdeſt dann auch Geheimer — Sie
erſchrak und verſchluckte das Wort. Aber —“


Aber einig wurden ſie doch. Die Adelheid ſollte
franzöſiſch lernen, und ein Lehrer im Hauſe ange¬
nommen werden, für Geographie und Geſchichte und
was ſonſt ſo nöthig iſt, damit man nicht dumm in
der Geſellſchaft iſt. Dazu gab der Vater die Ein¬
willigung. Klavierſpielen — auch das — aber Aeſthe¬
tik! Ja, Gellert und auch Bürger und vor allem der
treffliche Gleim! Er konnte alle ſeine Preußenlieder
auswendig. — „Mann! Mann! ſagte die Mutter,
da lächeln ſie über uns. Sie ſprechen immer nur
über Schiller und Goethe und Tiedge! Die muß ſie
kennen lernen.“ Gegen Schiller hatte der Kriegsrath
nichts einzuwenden; die Königin liebte dieſen Dichter,
und er hatte erfahren, daß auch der König ſich ein¬
mal günſtig über ihn geäußert. Und Goethe ließ er
paſſiren, ſein Götz von Berlichingen hatte ihm wun¬
derbar um's Herz geklungen. „Solche eiſerne Hand
thäte unſerer Zeit noth!“ Aber Tiedge, der ſollte ja
extravagante Ideen, und die ganze junge Schule
unſittliche Grundſätze predigen. Darüber wußte die
Mutter nicht Auskunft zu geben, ſie hatte nur gehört,
daß er ein frommes und himmliſches Gedicht geſchrieben,
[133] was Orania heißt, und ein anderes, was die Ver¬
kehrte Welt heißt. Das wäre nicht ſo gut; dafür
wäre er aber der Verfaſſer von ſehr hübſchen und
moraliſchen Kindermärchen. Im Uebrigen, meinte
ſie, was ſich für junge Mädchen ſchickt, werde wohl
der Lehrer am beſten wiſſen.


Damit war auch der Vater einverſtanden, auch
daß Adelheid in beſſere Geſellſchaft gebracht werden
ſollte. Nur über die Familien, wo man ſie einführen
ſollte, war man in Streit. Endlich ſchloß der Vater:
„Meinethalben, wo Du willſt, denn Du kennſt die
Frauen beſſer als ich; nur nicht wo ſie Romane findet
und Officiere.“


[[134]]

Zehntes Kapitel.
Die alte Zeit.


Mit einem Schlag auf die Schulter, rief eine
Stimme hinter ihm: „Und warum keine Offiziere,
alter Schwede! — Willſt am Ende auch mit mir
nicht mehr umgehen? Meinſt, ich könnte Deine Toch¬
ter verführen! So ſeid ihr Menſchen am grünen Tiſch
und hinter den Büchern, laßt Euch einen Schreck vom
erſten Beſten einblaſen und weil Ihr nicht die Augen
aufzuſchlagen wagt, um dem Ding in's Geſicht zu
ſehen, vermeint Ihr es ſei Wunder was. Ich ſage
Dir, wer nicht der Gefahr entgegen geht, der iſt ſchon
halb verloren. Was wäre Preußen, wenn wir ab¬
gewartet hätten, bis die Oeſtreicher und die Fran¬
zoſen und Ruſſen den ſiebenjährigen Krieg anfingen?
Daß wir nicht die Hände in den Schooß legten, daß
wir nicht abwarteten, bis der liebe Gott es ſo ſchickte,
daß wir in ihr Geſpinnſt drein ſchlugen eh's zum
Netze ward, das hat uns Glück gegeben und
ſtark gemacht und groß. Wäre der alte Fritz ein
Duckmäuſer geweſen, und hätte gewartet und gelauert,
[135] bis die anderen angriffen, dann hätte der liebe Gott
ihm auch nicht beigeſtanden, und was aus unſerem
Preußen geworden, das weiß der Teufel.“


Ein herzlicher Händeſchlag folgte dem Schulter¬
ſchlag. Auch mit der Frau Kriegsräthin: „Reden
Sie meinem Manne nur ein Biſchen ins Gewiſſen
rein; Herr Major, 's thut zuweilen Noth, wenn er
gar zu zipp iſt. Sonſt iſt's ein guter Mann. Und
zu Tiſch bleiben Sie doch unſer lieber Gaſt? Es
wird gleich angerichtet.“


„Danke ſchönſtens, Frau Kriegsräthin, habe
meinen Speckeierkuchen ſchon im Kruge verzehrt, aber
ein Gläschen Wein, da ich ſo was im Korbe flim¬
mern ſehe, und auf des Königs Geſundheit, das
ſchlägt ein guter Soldat und Unterthan niemals aus.“


Der Invalide konnte doch nicht lange ſtehen,
zum einen Schemel unter der Linde war ein zweiter
gerückt, und als die Wirthin ſich empfahl, um in
der Küche nachzuſehen, dampften ſchon zwei Pfeifen.


„Es kann doch nicht Dein Ernſt ſein, ſagte der
Kriegsrath. Denn wer kennt beſſer unſere Officiere
als Du!“


„Freilich kenne ich ſie, ich habe ſie jedoch auch
gekannt, als ſie noch andere waren. Aber das weiß
ich auch, je mehr Ihr Euch von ihnen zurückzieht,
ſo ſchlimmer wird's. Auch die Soldaten waren nicht
ſo arg, als Friedrichs Auge noch über ſie wachte.
Doch das thut's nicht allein. Wenn Ihr nicht vor
ihrem Anblick liefet und die Thüren zuſchlügt, wo
[136] einer nur von fern ſich blicken läßt, wenn Ihr ihnen
offen entgegenträtet, ein ernſt Wort mit ihnen
ſprächet, ſo würdet Ihr manches anders finden, als
Ihr denket. Sie ſind auch Menſchen, aber wenn
Ihr ſie nur als Vogelſcheuche betrachtet, das macht
ſie wild und boshaft.“


„Aber Du giebſt mir doch recht, daß man ein
jung Frauenzimmer vor den Officieren wahren muß.
Vor allem eins, das noch unerfahren iſt?“


„Da ſchlägſt Du dich ſelbſt. Ein jung Frauen¬
zimmer, das ſich zu benehmen weiß, läuft weit we¬
niger Gefahr als eins, das ſchon vor Schrecken
aufſchreiet, wenn's einen Federbuſch ſieht, weil die
Mama ihm geſagt, es ſoll ſich davor in Acht nehmen,
wie vor einem Raubthiere. Denn das ſind unſere
jungen Officiere, wenn's auch nicht mehr dieſelben
ſind, doch nicht. Ich ſag's grad heraus, Ihr Herren
von der Feder und die anderen, Ihr habt ſie ver¬
derben helfen. Warum macht Ihr ihnen überall
Platz und weicht vor ihnen zurück, wo Ihr's nicht
nöthig hattet. Iſt's nicht eine Schande, wenn ein
alter Kriegsrath oder ein ehrenwerther Kaufmann
mit grauem Haar vor einem Lieutenant oder gar
einem Fähnrich ausweicht. Wo ſteht's denn ge¬
ſchrieben, daß es ſo ſein ſoll. Wenn Ihr ihnen nicht
immer das Feld ließet, und das Maul ſchlöſſet, ſon¬
dern grad 'raus den jungen Herrchen die Wahrheit
ſagtet, nun je Einer oder der Andere würde ein Mal
anlaufen, aber im Ganzen würde es anders, wenn
[137] ſie wüßten, daß ſie unter den Civiliſten auch ihren
Mann fänden. Darum dominiren jetzt die Uniformen
wo ſie mit den Fracks zuſammen kommen, und die
trennen ſich immer mehr, die doch beſtimmt ſind, zu¬
ſammen zu halten als Brüder und Glieder eines
Volkes.“


„Es iſt ſeltſam, einen alten Officier ſo reden
zu hören.“


„Es war nicht alles gut unter dem großen König,
aber es war anders. Sein Auge war ein Etwas,
was das träge Blut in Bewegung brachte. Es war
allüberall, wenn er auch nicht zugegen war. Man
ſtellte ſich vor, wenn man etwas that oder unterließ,
daß der König es geſehen haben könnte, man fragte
ſich, was er wohl dazu geſagt, wie er geurtheilt
hätte, und das gab eine Disciplin, die kein Com¬
mando macht. Er war ungerecht. O ja, er iſt es
oft geweſen. Aber wer von ihm litt, der ſetzte einen
Stolz darin, daß er litt; er dachte ſich, eigentlich
weiß es wohl Friedrich jetzt, daß er dir unrecht ge¬
than, aber er kann's oder mag's nicht ändern, um
der Autorität willen, oder aus Eigenſinn. Das Ge¬
fühl that dann wohl, wie das pour le merite Kreuz
auf der Bruſt. Man litt um ſeinen König und durch
ſeinen König, und der König weiß es auch, und trägt
vielleicht noch ſchwerer daran.“


„Den Orden trägſt Du auch.“


„Den, daß ich ein Bürgerlicher war. Ein Leiden
läßt ſich ſchon tragen, was viele Hunderte mit uns tragen.“


[138]

„Bei Torgau war es ja wohl!“


„Da fiel der Major, der mein Regiment komman¬
dirte, und ſchon der dritte, der mir vorgezogen war.
Fiel auf den erſten Schuß. Ich kommandirte, es war
nun mal kein anderer da, und nahm das Fichten¬
wäldchen. Die Herren gratulirten mir ſchon: dies¬
mal komme ich doch nicht zu früh, Herr Major? ſagte
der alte Ziethen, der an mir vorüber ritt. Kam doch
zu früh. Der junge Capitain — was ſoll ich in
meinem Groll einen Ehrenmann nennen! — der
noch Page beim König war, kurz vor Ausbruch des
Krieges, ward Major auf dem Schlachtfeld, und
erhielt nachher als Obriſt das Regiment, hatte es
gewiß verdient, und was konnte er dafür, daß die
Uebermacht auf ihn fiel und ihn aus der Schanze
trieb. Friedrich wußte es, hatte ihn vom Pferde
ſtürzen ſehen, überreiten und wieder aufſitzen; ſo
war er blutend zu den Seinen zurückgekehrt.“


„Jedermann giebt Dir das Zeugniß, daß Du
es auch verdient hatteſt, Rittgarten. Ich habe viele
brave Officiere geſprochen.“


„Wer ſagt denn, daß es Friedrich nicht auch
dachte. Aber er hatte mich zwei Mal übergangen.
Wenn er es nun zum dritten Mal anders machte,
ſtrafte er ſich ja ſelbſt. So wird der König gedacht
haben, und darum avancirte ich nicht auf dem Schlacht¬
feld und erhielt nicht das Regiment. Er ließ mich
nachmalen fragen, ob ich nicht ein Paar Freibataillons
commandiren wolle, die ſich damals über der Elbe
[139] bildeten; und hatte wohl die Abſicht, daß ich dann
avanciren ſollte. Ich ließ gehorſamſt mich bedanken
für die gnädige Attention, mein ganzes Leben aber
wäre regulair geweſen, und ſo möcht ich's auch gern
zu Ende bringen. Da hat Friedrich gelacht, ich weiß
es, und hat geſagt: „Der iſt ein Starrkopf, ſo ſoll
er's haben! —“ Siehſt Du, das war ſo viel für mich
als ein Orden! — Nachher hat er mich wohl ver¬
geſſen. Aber ich habe noch einen Orden von ihm.“


„Du!“


„Es war ſein Sterbejahr. Mir ahnte es. Da
hatte ich keine Ruhe mehr. Wenn ich ihn noch ein
Mal ſehen könnte! Hatte längſt meinen Abſchied, wie
Du weißt. Jetzt war ich nun Major, ein Invaliden¬
major. Reiſte nach Potsdam und ging nach Sans¬
ſouci hinaus. Das Glück wollte mir wohl. Ein
alter Kammerdiener, den ich kannte, ließ mich auf
die Terraſſe. Es war ein ſonniger, ſchöner Nach¬
mittag, wie heut; nur noch ſchöner, es ſpielte ſo was
wie der Duft in den Orangenbäumen, die Sperlinge
zwitſcherten. Der König ſaß an der offenen Glas¬
thür in ſeinem Lehnſtuhl, den Pelz übergedeckt. Sie
wollten ihn zum letzten Mal die Luft dieſer Erde
recht friſch koſten laſſen. Vor ſich ſah er nun, was
er geſchaffen hatte, und darüber hinaus den blauen
Himmel, den der liebe Gott geſchaffen hat. Die
Kieferwälder in der Ferne bewegten ſich. Mir
war's als hätt' ich beten mögen. Und ich muß auch
wohl die Hände gefaltet haben. Wollte ſtehen bleiben
[140] da in dem Winkel, wo die Hunde begraben liegen.
Da klopfte der Wachthabende, der's mir wohl anſah
an dem blauen Ueberrock, daß ich auch Soldat ge¬
weſen — oder hatte es ihm der Kammerdiener ge¬
ſagt? — er klopfte mir leis auf die Schulter: „Gehn
Sie nur immer vor, und ſehn ſich Ihren König
noch einmal an, er ſchläft feſt. Wer weiß, ob er
wieder erwacht.“ Er ſtieß mich ſanft vor. — Das
war ein eigen Gefühl. Mir klopfte das Herz, wie
da ich zum erſten Mal ins Feuer kam; aber zugleich
war mir ſo ruhig, ſo ſonntäglich zu Muth. — Nun
ſtand ich vor ihm, nicht zehn Schritt entfernt, die
Sonne wollte hinter die Bäume ſinken. Gott weiß,
was ich dachte! Einmal war's mir, als würde er,
wenn ſie ſinke, auch die Augen ſchließen, und dann
würde es Nacht werden, und Alles, was er geſchaffen,
mit ihm unterſinken. — Und das Geſicht des Schla¬
fenden! — Was lag darin! Herr du mein Gott,
was konnte Einer darin leſen! Die Lippen bewegten
ſich ganz leis, als ſpräche er im Traume. Nun ſchlug
er plötzlich das große Auge auf. Er ſah mich. Ich
ſtand wie eingewurzelt, den Hut preßt ich in der Hand,
und hätte mögen in die Erde verſinken. Da öffnete
er die Lippen: „Ihn kenne ich auch — bei Torgau
— vergeß er mich nicht!“ Sah mich wohl, wie auch
im Traum, der vor ihm gaukelte, denn er ſchloß
ſie wieder. Nur die Finger machten eine leiſe
Bewegung. War's ein Wink für mich, oder was
war es? Da hub das Glockenſpiel in Potsdam an,
[141] die Sonne war hinter die Bäume geſunken, der
Schatten fiel auf den großen König, und ich weiß
nicht mehr wie ich fortkam.“


Der alte Major hatte etwas mit dem Finger
am Auge zu thun; der Kriegsrath ebenfalls. Es
entſtand eine Pauſe. Auch ſchienen ihre Pfeifen in
Unordnung gerathen, denn beide Herren zogen ſehr
eifrig, und benutzten den Reſt der Pauſe dazu, dicke
Wolken in die Luft zu blaſen. Und dann war alles
wieder in Ordnung.


„Einem außerordentlichen Manne muß man
ſchon manches nachſehen, hub der Major an, was
man einem gewöhnlichen Menſchen nicht verziehe.
Dafür iſt er ein großer Mann. Und wenn Friedrich
heut lebte, ſo würde er wohl anders urtheilen, und
nicht noch meinen, daß ein Bürgerlicher nur unter
den Huſaren gut iſt, und unter der Artillerie zum
Officier taugt. — Und daß er dem jungen Herrn,
der ſein Page geweſen, mein Regiment gab, daran
hat er ganz recht gethan, oder meinſt Du anders?
Iſt er nicht ein General geworden, der dem Staat
Ehre gebracht hat. Warum ward der Bonaparte ein
großer Feldherr, warum hat er um ſich eine Schule
guter Generale? Weil er's mit der Anciennetät nicht
genau nimmt, weil er die Tüchtigen ſich herausgreift,
wo er ſie findet, weil er auf dem Schlachtfelde avan¬
ciren läßt, wie's ihm grad zu Muth iſt. Da iſt
Salz, da iſt Blut im Heere, er fragt nicht nach
Glauben und Herkommen und alten Anſprüchen. Jeder
[142] hat Ausſicht, daß er's bis zum General bringt, und
noch weiter, wenn er ſeine Schuldigkeit thut, oder
noch mehr. Wenn das nicht gute Soldaten machen
muß! Fort mit den Steifen und Alten, in die Ma¬
gazine und in den Train; vorwärts mit den Jungen!“


Der Kriegsrath ſah ihn verwundert an: „Damit
tadelſt Du ja Friedrich; er that es nicht.“


„Der alte Fritz wußte, was ſich ſchickte und
was er brauchte. Er hatte es mit einem Daun zu
thun; und ſeine Ziethen und Seidlitze wußte er wohl
zu brauchen, wo andere Feinde ſich zeigten. Und
wie ich dir ſagte, es war ſein Auge, ſeine Preſence,
die das Blut wieder umrührt, wo es ſtockig ward.
Seitdem iſt's ſchrecklich ſtockig geworden, ſonſt wären
wir nicht im Lehm feſtgeklebt in der Champagne, und
ſeit dem Baſeler Frieden iſt's noch ärger.“


Der alte Major wollte noch mehr ſagen, aber
er that's nicht mit Worten, er klopfte mit dem Meer¬
ſchaumkopf ſo ſtark gegen ſeinen hohen Stiefel, daß
die Pfeife ausging. Es war auch nicht mehr Zeit
zum Rauchen und zur Converſation, die Magd trug,
begleitet von den jubelnden Kleinen die rauchende
Schüſſel Milchreis auf den Tiſch. Clara ſprach das
Gebet, und die Mutter ſtreute einen Staubregen von
Zimmt und Zucker über die Schüſſel. Ein Ah! der
Verwunderung und Freude ging durch den Kreis der
Kleinen. „Das iſt ein Sonntag! Das iſt ein Feſttag!“
Sie blickten den Major verwundert an, nicht einmal
Milchreis mit Zucker und Zimmt wollte er genießen!


[143]

Als die Bauerfrau mit beiden Armen einen
Napf mit dampfenden Kartoffeln in der Schaale auf
den Tiſch trug, die, aufgeſprungen, ihre würzige
weiße Fülle entfalteten, ward das Ah noch lauter.
Aber wie erſchrocken blickten ſie auf den Vater, als
dieſer plötzlich die Hand auf die Schüſſel legte:
„Halt Kinder! Iſt es denn ſchon polizeilich erlaubt?
Mich dünkt, das iſt erſt vom funfzehnten Auguſt ab.“


Die Bäuerin gab die Verſicherung, ſie dürften
jetzt ſchon vom erſten Auguſt ab friſche Kartoffeln zu
Markte bringen, und ſie meinten, es werde künftig
noch früher erlaubt werden, weil die Cultur fortſchreite.


„Dann ſchreiten wir doch in einem Ding fort!
ſagte lächelnd der Major. Hab's mir auch ſo ge¬
dacht, wenn ich bedenke, wie ſie jetzt die Kriege füh¬
ren. Ach, die Küchenwagen die wir mitſchleppen
mußten, und die Magazine, die der große Friedrich
anlegte! Das koſtete ein Heiden-Geld und ein Fuhr¬
weſen! Der Bonaparte beſtellt ſeine Magazine in
Feindes Land, ohne daß es ihm einen Groſchen koſtet; und
eher fängt er den Krieg nicht an, als bis ſie fertig ſind.“


„Wie meinſt Du das?“


„Er läßt nicht früher ausmarſchiren, als bis die
Kartoffeln reif werden. Da finden ſeine Soldaten
ihre Magazine überall auf dem Felde. Aber ſie
butteln und kochen ſie auch im Juli, ja wenn ſie
Hunger haben ſchon im Juni. Kriegsrath! nicht wahr
das iſt abſcheulich, ſo gegen die Polizeiordnung han¬
deln, wenn man hungert.“


[144]

„Ich finde es nur einem guten Patrioten contrair,
Herr Obriſtwachtmeiſter, wenn man immer den Feind
im Munde hat, und ihn lobt.“


„Was, Feind! Kriegsrath! er iſt unſer Alliirter,
bedenke das Landrecht, da ſteht was von Landes¬
verrath drin, wenn man gegen alliirte Mächte rai¬
ſonnirt. Und ein wie großmüthiger Alliirter! For¬
dert nichts von uns, ſie ſagen, er ſchickt ſogar recht
viel in's Land. Und rings um uns her ſtäubt er
und fegt, und macht uns los von anderen läſtigen
Alliancen, bis wir mutterſeelen allein auf der Welt
daſtehen. Da wird er uns dann um's Herz fallen
und drücken: Du liebes Preußen, nun hindert mich
nichts mehr Dir zu ſagen, wie ich Dich ſo recht
herzinnig und ganz beſonders geliebt habe!“


Der Frau Kriegsräthin ward bange bei dem
Geſpräch. Sie verſtand es nicht, aber der Inſtinkt
ſagte ihr, es ſei anders gemeint als geſprochen, und
ſie ſah eine häßliche Falte auf der Stirn ihres
Mannes. Da ſah ſie auch plötzlich die Bienen, die
ſie übrigens viel früher hätte ſehen können, denn ſie
ſummten unverſchämt um Gläſer und Teller: „Jemine,
Herr Obriſtwachtmeiſter! da iſt ſie in Ihrem Glaſe.
Schütten Sie aus, das ganze Glas — friſch zu —
Sie müſſen mit reinem Weine des Königs Geſund¬
heit trinken.“


„Der ſchöne alte Franzwein!“ ſagte der Major,
als er das Gläschen auf die Erde tröpfeln ließ.
Der gährte gewiß ſchon im Faß, als ich bei Roßbach
[145] die Schärpe verdiente.“ Er hielt plötzlich inne, als
er die Wespe mit dem Finger hinausgeworfen.
„Alter Freund! ein friſch Glas auf den jungen Kö¬
nig, aber jetzt ſtoß an mit dem Reſtchen: daß Preußen
noch ein Mal ein Roßbach erlebt!“


Es war die Verſöhnung. Der Kriegsrath ver¬
ſtand es, er fuhr aber ſo heftig gegen das Glas des
Major, daß es einen Sprung bekam: „Thut nichts!
Ein neues Roßbach, wenn ich's auch nicht erlebe.“


Um nicht aus einem zerſprungenen Glaſe des
Königs Geſundheit zu trinken, mußte ein neues her¬
beigeſchafft werden. Dazu kamen andere Unter¬
brechungen. Die Jette trug lachend eine verhüllte
Schüſſel auf. Die Mutter hob das Tuch, und als
die Kirſchkuchen ſichtbar wurden, war die Ordnung
am Tiſche nicht mehr zu erhalten. „Gieb ihnen die
Kuchen und laß ſie laufen, ſagte der Vater, ſie haben
doch keine Geduld mehr, und ſtören uns nur.“ Dazu
erſchallte Trompeten- und Paukenmuſik vom einen
Dorfende. Es war lebhafter im Dorf geworden, Equi¬
pagen fuhren vor, aus der Schenke tönte mili¬
tairiſche Muſik.


„Mein alter Deſſauer! ſagte der Major. Ver¬
zeihung, meine Freunde, wenn ich da zu meinen alten
Cameraden muß.“


„Aber vorerſt das Glas auf den König, Alter.“


Der Major erhob ſich. Er ſammelte ſich zu
einem Spruch, indem er in die Wipfel ſah. Sie
ſtrahlten nicht mehr, das Gold der Mittagsſonne im
I. 10[146] Laube. Eine ſchwarze Wolke fuhr gerade über den
Horizont. Es war ſehr heiß, der helle Schweiß
perlte ihm auf der Stirn. Indem er ihn abtrocknete,
verweilte er an den Augen. Er mußte auch da etwas
zu trocknen haben.


„Du helle Sonne, die Du auf ihn ſcheinſt, den
Einzigen, Herr Gott, wenn Du untergeſunken wärſt
mit dem Licht ſeiner Augen, und es wäre wirklich
Nacht geworden —“


Er ſprachs mit feierlicher, aber zitternder Stimme;
es war nicht was er ſprechen wollte. Darum hielt
er wohl inne, das Glas in ſeiner Hand zitterte. Der
Kriegsrath ſah ihn ängſtlich an, die Kriegsräthin
nach der Flaſche, ob er zu viel getrunken.


Da ſchmetterte heiter und luſtig das Reiterlied
aus dem Kruge. Er fuhr fort:


„Nein — nein — es wird wieder Tag werden.
Das alles kann nicht untergegangen ſein — es kann
nicht, es kann nicht. Es ſchläft nur eine Weile.
Und wir werden aufwachen, und andre Augen werden
ſtrahlen. Unſer junger, lieber, bürgerfreundlicher
König, meine Freunde, daß die Sonne Preußens
vor ihm aufgehe, daß ſein Auge hell aufgehe, das
Gute vom Böſen zu unterſcheiden, daß ſein Sinn
ſich kräftige und ſtählern werde gegen die Rathſchläge
der Weichherzigen, der Schmeichler und Böſen, unſer
guter junger König ſoll leben hoch in aller Preußen
Herzen!“


Man ſtieß an, und die Gläſer klangen auch ziem¬
[147] lich hell, aber die innere Bewegung des Invaliden
hatte ſich den andern mitgetheilt, es war kein fröh¬
licher Gläſerklang, wo man den Becher mit vollem
Herzen ausſtößt. Auch ward es laut im Dorf; eine
ſpaniſche Reitermuſik miſchte ſchon ihre bizarren Töne
mit den ſchmetternd kecken des Deſſauer Marſches.
So war eine kleine Disharmonie.


Der Major nahm kurz mit einem Händedruck
Abſchied, die Bäuerin deckte raſch den Tiſch ab. Es
konnte ein Gewitter kommen, und es war eine Reiter¬
bande im Dorf. Man mußte ſich vorſehen.


Im Staube ſah man auch ſchon eine bunte Fahne
ſchwingen und ein Reiter im ſogenannt ſpaniſchen
Coſtüm ritt mit einem Trompeter durch das Dorf,
in gebrochenem Deutſch zu einem nie geſehenen Schau¬
ſpiel, erpreß zu Ehren Sr. Majeſtät des Königs
einladend, und umwogt von einer zahlloſen Menge
großer und kleiner Zuſchauer trottete ein Kameel
heran, einen Affen mit rother Jacke auf dem Sattel,
und ein Bär in Ketten marſchirte hinterher, zum un¬
endlichen Jubel der Jugend, dann und wann ſich
aufrichtend und im Kreiſe ſich wirbelnd.



10 *
[[148]]

Eilftes Kapitel.
Die Frau Obriſtin.


„Herr Gott, wo ſind die Kinder!“


Kaum aber war der Angſtruf heraus, als die
Verſchwundenen ſchon unter den Bäumen zum Vor¬
ſchein kamen; doch nicht allein. Eine fremde Dame
führte Klara an der Hand, zwei junge Mädchen die
andern beiden Kinder, dem Tiſche der Familie zu.


„Da ſind gewiß die lieben Eltern, rief ſchon
von fern eine Dame halb im Reiſekleide, aber doch
in einer ſehr geſchmackvollen Toilette. Entſchuldigen
Sie nur meine Herrſchaften, daß ich mich ſo unan¬
gemeldet eindränge. Aber die engliſchen Kleinen
gingen mir an's Herz, und ich weiß, was ein Mutter¬
herz leidet, wenn es in Angſt iſt um ſeine Kinder.
Da liebe Kleinen ſind Eure Eltern. Habt ſie nun
auch recht lieb, und lauft ihnen nie mehr fort.“


„Mein Gott, was iſt es!“ rief die Kriegsräthin.


Die fremde Dame gab eine Erklärung, die wir
kurz zuſammenfaſſen. Sie war von einer Reiſe mit
ihren Nichten zurückgekehrt und hatte am Eingang
[149] des Dorfes die ihr ſchon ſonſt bekannte Reiterbande
getroffen. Um nicht mit ſolchen Menſchen zuſammen
zu kommen und auch des gräßlichen Staubes wegen,
war ſie ausgeſtiegen und auf einem Fußwege durch
die Felder ins Dorf gegangen, aber ſie traf doch
wieder auf der Dorfſtraße die Geſellſchaft und hatte
mitten im Gedränge der Zuſchauer die allerliebſten
Kinder, die offenbar von guten Eltern waren, be¬
merkt. Da war es ihr wie durchs Herz geſchoſſen,
daß die Kleinen ſich verlieren und den Reitern nach¬
laufen könnten, und einer der Reiter hatte die Clara
gefragt, ob ſie zu ihm aufs Pferd wollte, und da
hätte ſie es für Gewiſſenspflicht gehalten, das Kind
an ſich zu reißen und die anderen auch, um ſie nach ihren
Eltern zu fragen, und da ſie's erfahren, hätte ſie
dem lieben Gott gedankt, daß ſie noch zu rechter Zeit
hinzugekommen, um die Kinder vor der Gefahr zu
retten und ihren lieben Angehörigen zuzuführen.


Die Kleinen aber ſchienen anderer Anſicht. Der
jüngſte Knabe namentlich zankte mit dem hübſchen
jungen Mädchen, welches ihn an der Hand noch
immer feſthielt und ſchrie, er wollte zu den Affen.


Der Kriegsrath hatte ſich von ſeinem Schreck
erholt und freute ſich, daß es weiter nichts auf
ſich habe.


„Ach, mein ſehr geehrter Herr, den ich noch
nicht die Ehre habe zu kennen, ſagte die Dame, aber
gewiß ſind Sie ein Patriot, denn das ſehe ich an
den Weingläſern, und wer unſeres guten Königs
[150] Geburtstag trinkt, den erlauben Sie mir ſchon, daß
ich ihn als meinen Freund anſehe. Aber Sie meinen,
das hätte nichts auf ſich! Die Reiter ſtehlen ja die
Kinder wie die Raben. Man kann ſich vor ihnen
nicht genug in Acht nehmen. O du mein Gott, ich
könnte Ihnen davon Geſchichten erzählen, daß einem
das Haar zu Berge ſteht. Sehn Sie, ich fuhr mit
meinen Nichten nach Leipzig, damit ſie ihren Vater
ſehen ſollten. Wir haben ihn nicht mehr getroffen.
Nun, das ſchadet nichts, der Wille war doch gut,
und Leipzig iſt eine ſchöne Stadt, und zur Meſſe.
Sie hätten die Freude der Kinder ſehen ſollen bei
den bunten tauſend ſchönen Sachen. Na, ich gönnte
ſie den armen Dingern. Und als wir zurückfuhren,
brach ein Rad am Wagen. Ich ſagte zum Kutſcher,
der ſonſt ein recht verſtändiger Menſch iſt, i kann
er's nicht zuſammenbinden, daß wir noch nach Berlin
kommen vor Königs Geburtstag. Er ſagte partout
nein. Der Wagen müßte zum Schmied, wir riskirten
ſonſt auf der Landſtraße liegen zu bleiben. Nun können
Sie denken, das wollte ich doch auch nicht, drei ein¬
zelne Frauensperſonen, und ſo kamen wir in das
Dorf drüben, wie heißt es doch gleich, wo die Schmiede
iſt. Ja da hieß es, machen könnte er ihn, aber nicht
vor heute früh, und wir hätten auf der Streu liegen
müſſen in der Schenke, unter all dem Bauervolk in
der Wirthsſtube. Nun ſie können meinen Schreck
denken, wenn nicht der Herr Prediger davon gehört
und der invitirte uns in ſein Haus. Sage ich Ihnen,
[151] war das ein charmanter Mann, und ſagte: „Unglück¬
lichen helfen iſt Chriſtenpflicht!“ Und die Frau Pre¬
digerin und ihre Töchter. Es ward uns heut Mor¬
gen recht ſchwer uns von ihnen zu trennen, und die
Töchter und meine Nichten, die konnten gar nicht
von einander los und haben Brüderſchaft getrunken.
In Himbeerſaft nämlich. Gott bewahre, daß Sie
denken ſollten in Wein! Die Herren Prediger auf
dem Lande haben auch wohl immer einen Weinkeller!
Lieber Gott, ſie ſind recht ſchlecht geſtellt. Ja, wenn
man ſo über alle Ungerechtigkeit in der Welt nach¬
denken wollte! Aber ein Mann wie ein Mann Gottes!
An den Augen ſah er uns alles ab. Und wie wir
heut ſchon im Wagen ſaßen, brachten ſie der Jülli
und der Caroline die Vergißmeinnichtſträuße, die ſie
am Herzen tragen. Sage ich doch, man findet in
der Welt überall gute Menſchen, und wo man gute
Menſchen findet, iſt die Welt gut. Wir werden uns
auch wiederſehen, und vielleicht ſehr bald. Denn der
Herr Prediger hat vom Könige eine Vocation nach
Berlin. Der König hat ihn mal predigen gehört,
wo war es doch, — auf einem Schloſſe, und hat
geſagt: das iſt ein Mann, der zum Herzen predigt,
ſolche Prediger möchte ich in meiner Reſidenz haben,
die nicht das Wort Gottes auslegen, wie's ihnen
gefällt, ſondern wie's in der Bibel ſteht. Ja wir
haben ſchon einen frommen König, der alle Menſchen
glücklich machen will, und der vorige hatte auch ein
frommes Gemüth, wer ihn nur gekannt hatte, und
[152] das ſind eigentlich neidiſche und ſchlechte Gemüther,
die ihn ſchlecht machen. Mein König iſt mein König,
und das ſage ich grade raus, wer das nicht ſagt,
der iſt nicht mein Mann. Sehn Sie, mein Herr
Geheimrath, oder was Sie ſind — “


„Kriegsrath,“ ſagte der Kriegsrath.


„O Sie werden auch noch Geheimrath werden,
das ſeh ich Ihnen an der Stirne an. Alſo mein
Herr Kriegsrath, ſind Sie nicht auch der Meinung,
daß die jetzigen jungen Leute gar nicht mehr ſind wie
ſonſt? Nein, was raiſonniren ſie, und Alles wollen
ſie beſſer wiſſen. Ich bin eine gute Royaliſtin, ich
liebe meinen König und ſein Haus, und wer das
nicht thut, der kann mir zu Hauſe bleiben. Da
waren wir doch ein Herz und eine Seele, der Herr
Prediger und ich, alle Obrigkeit kommt von Gott,
und wenn er nach Berlin kommt, wird er bei mir
logiren. Und wie gern wäre ich geſtern ſchon rein
gefahren, denn man richtet doch gern ſein Haus ein
zu ſolchem Feſttage. Nun ſchadet es aber nicht. Wir
tranken ſchon geſtern bei Predigers auf ſeine Ge¬
ſundheit, und nun ward mir wieder das Glück unter
ſolcher charmanten, lieben Familie dieſen ſchönſten
Feſttag für jeden Preußen zuzubringen.“


Der Kriegsrath war anfänglich nicht ganz gut
geſtimmt; dieſe Stimmung war überwunden. Er
pfropfte die letzte Flaſche auf: „Erlauben Sie mir
auch, meine verehrte Madam, ehe der Kaffee kommt,
[153] mit Ihnen anzuſtoßen auf die Geſundheit Seiner
Majeſtät.“


„Mein Herr Kriegsrath ſind die Gütigkeit ſelbſt.
Wie ſollte ich das ausſchlagen.“


„Wenn ich auch nicht die Ehre habe, Sie zu
kennen, wird es mir doch zur beſonderen Ehre gereichen,
mit einer ſolchen Patriotin ein Gläschen zu leeren.“


„Obriſtin Malchen, ſagte die Dame. Mein
Mann iſt in holländiſchen Dienſten und ſteht in Pa¬
tavia. Ein grauſam heißes Land, er wird aber heut
auch hierher denken. Ach er iſt ein Patriot!“


„Und doch in fremden Dienſten!“


„Ja ſehn Sie, verehrteſter Herr Kriegsrath, da
ließe ſich mancherlei von ſagen. Er war auch in
preußiſchen Dienſten ehedem, aber Sie glauben nicht,
was draußen die preußiſchen Militairs in Reſpect
ſtehen. Und unſre Disciplin, und der große Fried¬
rich. Wenn's heißt, der hat unter ihm gedient. Nu,
lieber Gott, Schwächen haben wir Alle, da werden
mir Herr Kriegsrath Recht geben, aber ſonſt iſt er
— und hat mir erſt voriges Jahr ein rothſeiden Um¬
ſchlagetuch geſchickt, was die Mamlucken oder Malayen
weben, ich ſage Ihnen, von Berlin rede ich gar nicht,
aber auch in Leipzig hat's kein Menſch für möglich
gehalten.“


„Die gnädige Frau werden uns doch die Ehre
auf eine Schaale Kaffee erzeigen,“ ſagte die Kriegs¬
räthin, die wohl Luſt hatte, das rothe Umſchlage¬
tuch zu ſehen, aber es war tief im Wagen verpackt.


[154]

Der Kaffee dampfte in der großen braunen
Bunzlauer Kanne, wie ſie vom Feuer gekommen,
auf dem Tiſch, aber die Kinder dampften auch — vor
Ungeduld. Die Beckenmuſik dröhnte verführeriſch
aus dem Kruge herüber, und die Kleinen blickten
erwartungsvoll bald auf den Vater, bald auf die
Mutter.


„Das iſt ein Kaffee, ſo ſchön, wie nur mein Mann
ihn mir mal geſchickt hat, direct aus Patavia, ſagte
die Obriſtin.“


„Die Cichorien ſind auch aus Herrn Rimpler
ſeiner Fabrik,“ ſagte die Mutter. Aber die Kleinen
wurden weder vom bataviſchen Kaffee, noch von den
Cichorien aus Herrn Rimplers Fabrik gelockt. Der
kleine Junge ſchrie vielmehr: „Ich will zu den
Affen!“


Die Mutter warf einen fragenden Blick auf den
Vater. Die Frau Obriſtin fing ihn auf: „Um
Gottes willen, Sie werden doch nicht!“ Der Kriegs¬
rath meinte: ob denn in einem bevölkerten Orte, und
wo ſo viel anſtändige Leute beiſammen, Gefahr ſei?
und die Mutter ſetzte hinzu: wenn ſie die Kinder
an der Hand führten?


„Meine allerbeſte Frau Kriegsräthin, erlauben
Sie mir zu ſagen, ich weiß davon. Solche Bande
iſt ärger als der Gott ſei bei uns. Die ſtibitzen
Ihnen die Kinder vor den Augen weg, und Sie
merken es nicht. Hinter die Hecke, ein Pechflaſter
ſchnell aufs Geſicht, und dann wenn ſie's in der
[155] Scheune haben, beſchmieren ſie's, und färben's, und
ziehn ihm Lumpen an, und in einer Viertelſtunde
kennt's die eigne Mutter nicht wieder. Ja, was ich
Ihnen ſagen wollte, im Dorfe beim Herrn Prediger,
da hatte der Oberſte von der gottvergeſſenen Bande
einer Wittwe Sohn, ein hübſches Kind, gefragt, ob
er nicht mit ihnen wollte, er ſollte eine bunte Jacke
kriegen und auch immer auf dem Pferde ſitzen, und
der Junge hatte Luſt, aber ſie haben ihn gottsjäm¬
merlich geprügelt, der Schulz und die Bauern, da
iſt ihm die Luſt vergangen. Solche Bande ſind ja
gar keine Chriſtenmenſchen nicht, das ſind Zigeuner
und Juden und Spanier, und wo kriegten ſie denn
ihre Leute her, wenn ſie nicht Chriſtenkinder ſtählen!
Eltern können gar nicht vorſichtig genug ſein, denn
Sie glauben nicht, wie ſie die Kinder maltrai¬
tiren. Hungern laſſen ſie die Kleinen und durſten,
und Schläge kriegen ſie, daß Gott im Himmel ſich
erbarmen müßte, und ihre Glieder werden gereckt,
daß ſie die Purzelbäume ſchießen lernen. Und Nachts,
mit Reſpect zu melden, ſperren ſie ſie in den Stall
zu den Affen und Kameelen, wo eine Unreinlichkeit
iſt, die erſchrecklich iſt. Nein, für Reinlichkeit bin
ich, das iſt die erſte Tugend, und erhält den Körper
geſund. Wer reinlich iſt und ſeine Mitmenſchen liebt
und den Armen Almoſen giebt, der iſt ein guter
Menſch und Gott wohlgefällig, das ſage ich oft mei¬
nen Nichten. Aber wie die Bären werden ſie abge¬
richtet, und lernen Vater und Mutter vergeſſen. Wenn
[156] ich ſo einen armen Jungen ſehe oben krabbeln an
der Stange wie 'ne Fliege an der Decke, nein meine
Herrſchaften ſagen Sie, was Sie wollen, das kann
ich nicht anſehn, das heißt ja die unſterbliche Seele
verlieren, und was mich nur wundert, iſt, daß die
Könige ſolche Seelenverkäufer dulden. Die müßten
mir alle auf die Feſtung und in's Zuchthaus, und
mit der Peitſche aus dem Lande gepeitſcht, denn es
ſind alles Ausländer und Spione.“


„Iſt's die Möglichkeit!“ ſagte die Mutter, die
es kalt überrieſelte.


„Nu bitte ich Sie allerbeſte Frau Kriegsräthin,
wenn Sie einmal ſo einen Pajazzo ſehen, wenn er
auf dem Strick ſpringt und die Fahne ſchwenkt, und
Sie erkennten, daß er Ihr kleiner Theodor wäre,
alles andre iſt ja gar nichts, pure Spielerei, gegen
eine ſolche Empfindung. O du mein himmliſcher
Vater, wer möchte eine ſolche Mutter ſein!“


Die Kriegsräthin nahm ihren Knaben von der
Hand des jungen Mädchens auf den Schooß: „Lie¬
ber Theodor, das wirſt Du mir nie anthun!“ Der
Junge aber ſchrie nach wie vor, er wolle zu den Affen.


„Und mit den Jungens ginge es noch, fuhr die
Frau Obriſtin fort, aber bei der Bande iſt auch ein
Frauenzimmer, eine ganz hübſche junge Perſon, un¬
gefähr ſo groß, wie — ich habe doch die Ehre Ihre
Fräulein Tochter vor mir zu ſehen.“


„Wir ſind nicht von Adel, ſagte der Kriegsrath.
Meine Tochter Adelheid!“


[157]

„Nein du, mein himmliſcher Vater, wenn ich
dächte, daß ſo ein himmliſches Mädchen mit dem
Bären tanzen ſollte und dem Vieh einen Kuß geben!
Und dann ſpringt ſie aufs Pferd, in Hoſen und
Stiefelchen, und reitet, nicht ſitzend, ſondern ſie ſteht,
und in Carrière, die Zügel ſo in der Hand, und
die Röcke flattern nur ſo. Nein, wie die Polizei das
zugeben kann! Das, erlauben Sie mir, iſt ganz
unweiblich.“


Darin waren Vater und Mutter einig. Auch
darin, daß man nicht zu den Seiltänzern gehen ſollte,
worüber aber nicht allein die Kleinen unglücklich,
ſondern auch die Nichten der Obriſtin nicht ganz zu¬
frieden waren. Jene ſuchte die Obriſtin durch Zucker¬
brode zu beſchwichtigen, die ſie aus dem Pompadour
holte, und erklärte, ſie hätte ſie für artige Kinder
aus Leipzig mitgebracht. Karoline ſchien aber gar
nicht zu begreifen, warum ſie das hübſche Schauſpiel
nicht mit anſehn ſolle, und auch die ernſtere Julie
ſah die chere tante verwundert an, warum ſie grad
heut ſo ſtrenge war.


„Mes cheres nièces, ſagte ſie, weil man nicht
weiß, wen man im Gedränge findet. Wer wird im¬
mer nach Vergnügungen aus ſein, wenn die Eltern
ſagen, daß es ſich nicht ſchickt! Da ſeht Euch die
Mamſell Kriegsräthin an, und nehmt Euch an der
ein Muſter. Sie ſähe auch gern die Reiter ſpringen,
aber wo fällts ihr ein darum zu bitten; ſie ſieht, daß
ihre lieben Eltern es für unanſtändig halten. Ja
[158] die Predigerstöchter ſtürzten mit Euch nach der Schenke,
das ſind gute Mädchen, aber wilde Hummeln. Nein,
Mamſell Adelheid iſt ein ſittſam Kind, wie es ſein
muß, die ihren Eltern Freude macht. Der könnt Ihr
Vieles abſehn. Seht nur, wie ſie ganz roth wird.
Ach, wenn Ihr auch noch ſo roth werden könntet!“


Die Mädchen ſenkten die Köpfe. Adelheid war
ſchnell zwiſchen beide geſprungen und umfaßte ſie
traulich, ſie ſollten nicht drauf hören. Die Tante
ſcherze nur. Sie ſelbſt wäre auch manchmal eine
wilde Hummel und würde auch recht gern die Seil¬
tänzer ſehen, aber es wäre auch ſonſt viel hübſches
im Dorf und im Freien, was ſie zuſammen beſehn
könnten, und ſie hoffte, daß ſie noch hier bleiben, und
die Tante ihnen erlaube, mit ihr ſpazieren zu gehen.
Dabei könnten ſie plaudern, ſingen, Blumen pflücken,
und Kränze winden. Vor allem aber würde ſie ſich
freuen, wenn ſie ihr von Leipzig erzählen wollten
und den tauſend ſchönen Sachen, die ſie da geſehen.
Das wären alles Wunderdinge für ſie, denn ſie ſei
noch mit keinem Fuß aus Berlin geweſen. Papa
und Mama hätten wohl davon geſprochen einmal eine
Reiſe nach Potsdam zu machen, aber es ſei immer
was dazwiſchen gekommen, und ſie glaube auch gar
nicht, daß es noch dahin kommen werde, denn der
Gedanke ſei doch gar zu ſchön.


Die Obriſtin ſagte, Mamſell Adelheid ſei ein
prächtiges Mädchen und ihre Eltern würden viele
Freude an ihr erleben, und um der guten Geſellſchaft
[159] willen, wolle ſie noch bis Abend bleiben; dann hoffte
ſie, die beiden Familien könnten Compagnie machen
in ihrem Wagen. Die Kriegsräthin, der das län¬
gere Beiſammenſein mit einer ſo vornehmen Dame
natürlich nur ſchmeichelhaft war, fand ſich doch dadurch
etwas in Verlegenheit, von der wir nachher reden
wollen.


Einſtweilen riß die Obriſtin ſie daraus, die auf¬
ſtand, um die Jugend, wie ſie ſagte, eine Strecke zu
begleiten. Sie wollte die Spiele der Kinder arran¬
giren, damit ſie nichts unſchickliches trieben, und zu¬
ſehen, ob die Gegend auch ſicher wäre. Der Lärm
und die Menſchenmenge hatte ſich aber nach dem
anderen Theil des Dorfes gezogen.


Die Kinder fanden bald auf den grünen Rainen
den herrlichſten Platz zu ihren Spielen, denen die
freundliche Obriſtin rathgebend zuſah, bis es ihr zu
heiß ward, die drei jungen Mädchen aber verloren
ſich in den hohen Kornfeldern.


[]

Zwölftes Kapitel.
Schwanenjungfrauen.


In den hohen Kornfeldern wuchs nicht überall Korn.
Der ebene Boden wird noch jetzt durch viele Vertiefun¬
gen unterbrochen, ehemals waren es Seen, dann wur¬
den es Moräſte; ſeit die Cultur fortgerückt ſind es nur
noch Tümpel geblieben. Doch ladet ein heller klarer
Waſſerſpiegel wohl zum Baden ein. Der Bauer,
der dich trifft, warnt dich aber, denn nach der Sage
ſind einige dieſer trichterförmig ſich ſenkenden Löcher
unergründlich. Außerdem gab es ehemals eine Britzer
Heide, ein übelberüchtigter Wald, deſſen Buſchwerk
geſprenkelt in die Kornfelder hinein wuchs. Und
endlich ſchnitten viele Wege und Fußſteige durch dieſe
Felder. Das Auge aus der Ferne ſah nichts von den
Unterbrechungen, es dünkte ihm eine unermeßliche,
goldene Aehrenfläche, darin die Kornblumen und der
rothe Mohn über die Einſamkeit klagten.


An einem dieſer kleinen Seen lag auf dem grü¬
nen abſchüſſigen Rande ein junger Mann auf dem
Rücken hingeſtreckt. Er hatte ſich gebadet. Ob das
[161] Waſſer unergründlich, danach hatte er nicht gefragt,
es auch wohl nicht unterſucht; er war ein guter
Schwimmer, der ſich im Waſſer nach Luſt getummelt.
Er ruhte jetzt von der Anſtrengung und um die
Kühle abzuwarten, vielleicht auch um ſich mit der
Einſamkeit zu unterhalten. Nach der Waſſerſeite zu
verbarg ihn ein großer Hagebuttenſtrauch. Die Hände
unter'm Kopfe ſah er dem Zuge der Wolken nach,
der Flucht der Vögel. Vielleicht horchte er auch auf die
Lieder, welche die rauſchenden Aehren ihm ſangen.


Ein Geräuſch, was ſich näherte, ſtörte ihn auf.
Den Fahr- oder Reitweg, der in einer Krümmung
eine Seite des Tümpelrandes berührte, hatte er beim
Herkommen durch die Felder nicht bemerkt. Ein
ſchaumbedecktes Pferd ſchoß aus dem Aehrenfelde.
Noch zwei Sätze, und es konnte ſich auf dem ab¬
ſchüſſigen Rande nicht mehr halten und ſtürzte ſich
und den Reiter in die Tiefe. Dieſer ſah die Gefahr
nicht, er ließ dem Roß die Zügel; der Inſtinct des
Thieres bewahrte beide. Im Augenblick, wo es galt,
bäumte es und warf den Reiter ab. — Oder er
gleitete aus Sattel und Bügel, die er längſt ver¬
loren, denn er ſtrauchelte nur etwas und ſtand gleich
wieder auf ſeinen Füßen. Vielleicht aus einem
Traum erwachend, denn ohne ſich um das Pferd zu
kümmern, das ſeinen eignen Weg ſuchte, ſtand er
und hielt ſich mit den Händen das Geſicht.


Entweder ein Raſender oder ein Betrunkener,
hatte der Liegende geſchloſſen, denn durchgegangen
I. 11[162] war das Pferd nicht. Es war ein ihm wohlbekannter
friedfertiger Gaul aus dem Stall eines Pferdever¬
leihers. Der Reiter hatte nachläſſig, aber ſicher ge¬
ſeſſen, und die blutenden Seiten des Thieres ver¬
riethen deutlich genug die Behandlung, welche es
außer ſich gebracht. Walter war an dieſer Geſell¬
ſchaft gar nichts gelegen, aber die ſeltſame Stellung
des Ankömmlings fiel ihm auf. Durch die Hände
ſchielte er auf das Waſſer, und ſeine dunklen Augen
glänzten ſeltſam.


„Plagt Dich — — wenn Du's biſt?“ Er
hatte die Hand auf die Schulter des Reiters ge¬
legt. Dieſer war nicht ſehr erſchrocken, als er ſich
umſah und den andern erkannte:


„Vielleicht — Eigentlich aber nicht. Ich dachte
nur an ein Bad. — So aus dem Gluthofen in die
kühle Tiefe!“


„Was hier daſſelbe wäre! entgegnete der zuerſt
Dageweſene, und faßte heftig ſeinen Arm. Kommſt
Du aus dem Gefängniß, Louis? Ward'ſt Du heut
entlaſſen?“


„Um meine Freiheit zu genießen, jagte ich den
Gaul faſt todt, und ward ſelbſt wieder unfrei und
matt wie eine Fliege. Und wenn ich wieder auf¬
flattere, ſteht doch tauſend gegen eins, daß ich wieder
gegen etwas anſtoße. Wär's nun nicht ein wunder¬
ſchönes Ende, um gar keinen Anſtoß mehr zugeben, wenn
ich, erhitzt, durſtend, an eines Felſens Rande in der
Mittagsſonne eine Flaſche Champagner auf einen
[163] Zug ausſtürzte und dann Kopf über in's Meer! —
Uebrigens gebe ich Dir mein Wort, es war kein
Ernſt, wenigſtens hätte ich mir eine andre Pfütze
ausgeſucht. 'S war nur ein aufſteigender Gedanke.“


„Aber keine Lerche, die in den Aether ſteigt,“
ſagte Walter, als beide ſich auf dem Raſen ge¬
lagert. Der Ankömmling ſog, hingeſtreckt, die Luft ein.


„Nur nichts von Aether in dieſem Schwefel¬
dampfe, ſagte er nach einer Weile. Wenn die Welt
beſtimmt wäre unterzugehen, ich glaube nicht mehr,
daß es in Waſſer oder Feuer geſchieht, ſondern Gott
Vater läßt ſie erſticken in den Dünſten ihrer eigenen
Gemeinheit. Es wäre eigentlich ein recht paſſendes
Ende für ſie.“


„Mitgebrachte Gefängnißgedanken!“


„Grillen, Schrullen, oder Ungeziefer, wenn
Du willſt, denn als ein vernünftiger Menſch
glaubſt Du doch nicht, daß ich in dieſer Societät
eximirter Lumpen einen Gedanken aufgefangen hätte.
Ja hätten ſie mich an eine Karre geſchmiedet, unter
den Baugefangenen giebt's vielleicht noch Menſchen.“


„Du ſollteſt ins Gebirg, Dich baden in der
Morgenluft, im Felsbach — Du ſollteſt auf lange
Zeit aus der Stadt.“


„Alles Selbſttäuſchung, Betrug, Walter! Frei¬
lich wenn Tieck uns Abends in dem verſchloſſnen
halbdunkeln Kämmerchen ſeine Mährchen vorlas,
mochte ich den Waldduft herunter ſchlürfen, der Nixe
mit den langen Haaren um den Nacken fallen, und
11*[164] die Allmutter Natur an meine Bruſt preſſen; aber
in natura iſts anders. — Bin ich nicht umherge¬
ſtürmt! Die Sohlen hab ich mir abgelaufen, aber
keine Nixe, nicht mal eine Hexe gefunden. Beim
Morgenroth rufſt Du Ah, und findeſt Dich in Oden¬
ſtimmung, und Abends wirſt Du empfindſam und
könnteſt Matthiſſon mit ſeinem Zopf an die Bruſt
drücken. Alles Illuſionen! Sei redlich gegen Dich
ſelbſt. — Die Wahrheit ſucht man doch, wo die Sonne
am höchſten ſteht, und ich habe ſie geſucht, recht¬
ſchaffen. Schlürfte alle Ausſichten und meine An¬
ſichten wurden immer enger. Am Ende kamen mir
die zackigen Felſen da hinter Dresden, die wir beide
einmal bewunderten, nicht anders vor, als die gepu¬
derten Köpfe unſerer Kriegsräthe. Und mehr haben
ſie auch nicht zu ſchaffen mit dem Weltgeiſt, als daß
ſie roth werden im Morgenlicht und Abends Schat¬
ten werfen. Roth werden können unſre Puderköpfe
freilich nicht mehr, aber wenn ſie uns im Lichte ſtehen,
kann man ſie wegſchuppſen. Dieſe verfluchten todten
Felſen bleiben aber immer ſtehen. Nein, Theuerſter,
die Romantik in Ehren, die Menſchen bleiben doch we¬
nigſtens Puppen, mit denen man Schach ſpielen kann.“


„Wenn wir nur fliegen könnten! Wenigſtens
wie die Lerche hoch.“


„Und ich möchte ſie immer mit dem Puſtrohr
runter blaſen. Da fliegt das Bieſt hinauf, ſchmettert
uns Wunderklänge vor und kommt doch nie weiter
als ins leere Blaue. — Ja, Walter, wenn man's
[165] recht beſieht, kommen wir auch noch zum Schluß, daß
die Natur nicht mehr iſt als eine alte Vettel, Mor¬
gens und Abends geſchminkt. Und weil ſie ſich bei
Tag nicht beſehen laſſen will, ſticht und brennt die
Sonne.“


„Nur daß die Schminke immer friſch bleibt, heut
wie am Tag der Schöpfung.“


„Wer ſagt Dir das! Es hat keiner gelebt, als
Gott Vater auf den Einfall kam, dieſen Spielball
Erde zu erſchaffen, und in das Uhrwerk Univerſum
zu ſchleudern, damit er zu Ehre des Höchſten ſeinen
Parademarſch um die Sonne kreiſt.“


Der Ankömmling zog mechaniſch die Gräſer
und Kräuter, die ſeine Hand ablangte, mit der
Wurzel aus.


„Suchſt Du nach der Alraunwurzel?“


„Könnt ich ſie finden! Den aller tiefſten Schmerz
aus der Tiefe herausziehen, vielleicht würden uns
die andern Schmerzen dann wie Bagatellen er¬
ſcheinen.“


„Der tiefſte Schmerz müßte doch tödten. Darum
verbarg ihn die Natur. Was wühlen wir denn nun
tiefer und tiefer — “


„Und ſpielen nicht lieber am Bach mit Vergi߬
meinnicht und Veilchen! Nicht wahr das iſt viel
geſcheiter. Wollen wir nicht etwa nach Halberſtadt
zum Vater Gleim, im Freundſchaftstempel uns ge¬
genſeitig anräuchern und anſingen, Du mein Ana¬
kreon, ich Dein Tibull.“


[166]

„Der höchſte Schmerz wäre Selbſtvernichtung,
und zum Selbſtmord ſchuf uns nicht die Natur! rief
Walter, ohne auf den Spott des Freundes zu achten.“


Louis hatte ſich aufgerichtet und verbarg wieder
das Geſicht in beiden Händen: „Ein Stück von der
Alraunwurzel zog ich doch ſchon raus. — Wenn ich
nur wüßte, ob der Wunſch Sünde wäre?“


„Welcher?“


„Wäre meine Mutter keine tugendhafte Frau
geweſen!“


Es folgte eine Pauſe: „Dein Vater iſt nicht
ſchlimmer als Tauſende.“


„Iſt das ein Troſt, daß ich eine Partikel bin
von einer Partikel aus der allgemeinen Erbärm¬
lichkeit.“


„Er läßt Dir Freiheit.“


„Er läßt aller Welt die Freiheit, ſo niederträch¬
tig zu ſein, wie ſie Luſt hat, damit er nicht ſcham¬
roth zu werden braucht.“


„Das iſt ein hartes Wort, dachte Walter, und
auch Louis mußte es denken, denn er war raſch auf¬
geſprungen und reichte dem Freunde die Hand:
„Adieu!“


Walter umfaßte ſeinen Arm, er wollte ihn in
der Aufgeregtheit nicht von ſich laſſen: „Du ver¬
wüſteſt Dich ſelbſt. Ich bin nicht zum Moralprediger
geboren, aber — Du warſt es zu beſſerem.“


„Was kann man denn beſſeres thun in dieſer
Geſellſchaft, als ſich ſelbſt verwüſten! Trinken, und
[167] wenn man erwacht, wieder trinken. Sind nicht alle
Edleren dazu bei uns verdammt. Tadelſt Du den
Prinzen, daß er den Schaumbecher nicht von der
Lippe läßt, daß er wenigſtens den Jammer nicht mit
anſehn will, wo er nicht helfen darf. Lieber doch berauſcht
untertauchen und raſch, als nüchtern zuſehen, wie wir
Zoll für Zoll im Moraſt verſinken. Oder wo iſt
denn die Kraft, die nach Beſſerem ringt, wo nur
ernſter Wille! Der gute zahme beſcheidene da, der
ſich nicht mehr ganz von den Schlechten von ehemals
will leiten laſſen, aber auch nicht ganz mit ihnen zu
brechen wagt! Die beſchränkte duckmäuſerige Tugend,
die ſich den Himmel mahlt an ihre vier Wände, aber
der Himmel draußen iſt ihr zu friſch und kühl.
Sturmwind ringsum, nur aufſpannen, nur zuſteuern
brauchten wir, und mit vollen Segeln triebe das
Kriegsſchiff — proſt Mahlzeit! Man kettet das Steuer
an, umwickelt die Ruder und lavirt. Das iſt eine
berauſchende Kunſt. Soll ich mich auch anlernen
laſſen? Bei wem? Bei meinem Vater? Staats¬
dienſt! Herrliche Menſchenbeſtimmung! Dein Vater
predigt es Dir ja wohl auch täglich: laß Dich an¬
ſtellen. Wollen wir uns polniſche Krongüter ſchen¬
ken laſſen? Die ſind ſchon weggeſchnappt. Wollen
wir mit den Juden und Domainenräthen die Ritter¬
güter taxiren und Hypotheken verſchreiben, die ihren
Werth im Monde haben? 'S iſt auch ſchon zu viel
drin gepfuſcht. Lieferanten für die Armee, aber es
giebt keinen Krieg! Oder uns üben, ſolche ſüßgänſe¬
[168] ſchmalzhonigduftenden Cabinets- und Humanitäts¬
decrete ſchreiben, die beweiſen, daß Gott, der König,
ſeine Miniſter und ſeine Regierungsräthe alles mit
Weisheit und Verſtand gemacht haben? Himmel
und Hölle! wem nun andres Blut in den Adern
pulſt! — Die ſchönen Verſe, die hochedlen Charac¬
tere des großen Dichters aus der Menſchheithöhen!
Schlugen wir ihnen nicht oft in mitternächtlicher Luſt
den Schädel ein und ſahen, daß es nur Masken waren!
Gieb, zeig, ſchenke mir was, wofür ich mich begeiſtern,
was ich ans warme Herz drücken kann, wofür es
in Flammen aufſchlägt, wofür ich mich in die Schanze
oder in den Tod ſtürze. Fähndrich Piſtol iſt mein
Philoſoph, wenn er die Welt doch noch für eine Auſter
hält. Leider fehlt aber das Schwert jetzt ſie zu öffnen.
Laß mich raſen.“


„Ich hätte gar nichts dagegen, wenn Du ein
raſender Roland würdeſt und dich einmal zum Toll¬
werden verliebteſt. Du bedarfſt einer Radicalkur.“


Louis Bovillard lachte: „In dieſe Mücken! —
Schaff' mir was andres. Schaff' mir ein Vaterland.
Das, das! Vielleicht wär ich ein anderer!“


Er ſpuckte, und ohne ſich noch einmal umzu¬
drehen ging er ſein Pferd ſuchen, das gemüthlich im
Kornfelde ſeinen verzehrenden Meditationen nachhing.


Ein Vaterland! wiederholte Walter. Es war
ein Funken, der viele Gedanken zündete, aber es
waren nicht die Gedanken, um die er heut die Ein¬
ſamkeit geſucht. Er ſtand mit unterſchlagenen
[169] Armen, ſeine Augen ſchienen die Würmer im
Graſe zu verfolgen, und er hörte nicht, wie ſein
Freund zurückgekehrt war, diesmal den Gaul am
Halfter, und ihn vorſichtig um den Rand des Sees
führte. Er hörte erſt, als Louis ſeinen Namen rief:


„Was ſinnſt Du? Bei Dir hat die Romantik
noch nicht einmal ganz durchgeſchlagen, während ich
ſie abſchüttele. Du weißt den Zerbino auswendig,
und ich wette, Du ſchwärmſt wieder für den Kiefer¬
buſch drüben auf dem Sandhügel.“


„Und warum nicht! Tieck hat Unrecht, wenn
er die Luſt ſchilt, die ſich auch aus dem Unbedeu¬
tenden Nahrung ſaugt. Gerade das führt uns zur
Vaterlandsliebe, die Du ſuchſt. Aber was führt Dich
zurück?“


„Der Anblick einiger Herren von der Gensd'ar¬
merie, die mein ſcharfes Auge vom Gaule aus in
der Ferne entdeckte. Um nicht ihnen zu begegnen,
ſtieg ich ab, und will mich durch einen Fußſteig
ſchlängeln. Auch auf die Gefahr hin, daß der
Bauer uns pfändet. Nun, bewunderſt Du nicht
meine Vernunft?“


„Wenn ich nicht wüßte, daß Du bei nächſter
Gelegenheit doch wieder mit ihnen zuſammenſtößeſt.“


„Das iſt mein Fatum. Konnte Mercutio für
ſeine Natur!“


„Wenigſtens ſpielt wieder Humor auf deiner
Stirn.“


„Und in deinen Augen glänzt ein Gedicht.“


[170]

„Ich habe das Versmachen verſchworen! Du
weißt es.“


„Aber, Walter, in ſolcher Natur! Ich müßte
Dich ja nicht kennen. Ein tiefer See mit roman¬
tiſchen Ufern! Vielleicht kommen die Schwanen¬
jungfrauen angepflogen, entkleiden ſich, ihre Schleier
hängen ſie an die Hagebutten. Huſch haſt Du einen
weggeſtohlen, und erwarteſt als frommer Siedler im
Korn die Schöne, die als mediceiſche Venus um Gottes
Willen um ein kleines Stückchen Bekleidung bittet.“


„Wir irrten darin, daß wir das Wunderbare
immer in der Ferne ſuchten:


Willſt Du immer weiter ſchweifen,

Sieh' das Gute liegt ſo nah!

Lerne nur das Glück ergreifen,

Denn das Glück iſt immer da.“

„Wie ſchon Goethes anderer guter Mann, der
nach Schätzen gräbt:


Und froh iſt, wenn er Regenwürmer findet.“

„Wer den Sinn für ſie mitbringt, dem ſchwebt
ihr Geiſt entgegen auch vom Thautropfen, der am
Grashalm hängt, er wiegt ſich in den Aehren, über
die der Wind hinſpielt.“


„Er glitzert auch im Miſtkäfer, warum gähnt
er nicht auch in dem Froſch, der da unvernünftig
weit über der Mummel das Maul aufſperrt. Sieh ihn
an, welche tiefe Weisheitsſprüche die Padde krächzt —
Und welche Weisheit bläht ſich eben auf Deiner Bruſt!
[171] Es muß heraus, ich ſehe es, und Du brauchſt einen
Zuhörer. Friſch losgelegt! Gleichviel, ob die Na¬
turandacht als Predigt oder als Rhapſodie rausbricht.
Die Gensd'armen ſind noch im weiten Felde. Heraus
denn, ein verſchluckter Gedanke iſt Gift.“


Walter van Aſten ſchien wirklich nur der Auf¬
forderung zu bedürfen, den Gedankenſtrom, der in
ihm arbeitete, auszugießen:


„Weil wir zu viel tranken, und ſeine üblen
Wirkungen empfanden, ſollen wir darum den Wein
ſelbſt ausgießen! Sollen wir zur Nüchternheit, zur
Correctheit zurückkehren? Thut der Gärtner recht,
der lauter exotiſche Gewächſe in ſeinem Garten
ziehen wollte, und ſie kamen nur zum Theil
oder verkrüppelt fort, der darum alle ausreu¬
tet, und meint, der Boden tauge nur zu Kar¬
toffeln! Legen wir doch das Geſtändniß ab, daß wir
im Uebermuth, gelangweilt und aus Verdruß über
die ekle Schaalheit der Poeſie, wie ſie getrieben wird,
uns in kecker Laune oft auf den Kopf ſtellten, und
vom Publikum verlangten, es ſolle es mit uns thun.
Wir fanden Anhänger und es ging eine Weile, wie
alles Neue. Nun finden ſie die Stellung unbequem.
Iſt das zu verwundern? Sollen wir aber alles darum
als Viſionen fahren laſſen, was wir in der Begeiſterung,
in dem ſeeligen Rauſche ſahen. Hörten wir die
Wälder, die Bäche nicht anders rauſchen als der
Prediger in Werneuchen, blieben uns nicht andere
Anſchauungen in Natur und Kunſt zurück, nicht die
[172] Schauer der Ahnung, das Weſen der Wunder, welche
die Welt erfüllen. Wir kommen nicht fort ohne den
Glauben daran, auch wenn wir uns mathematiſch
beweiſen, daß es keine Hexenmeiſter giebt und keine
Geſpenſter um die Grüfte ſchweben. Haben wir nicht
Geiſter citirt, von denen unſere Väter nichts wußten!
Wie anders, lebensfriſch ſchau'n uns ſchon jetzt die
Alten an, als die Philologen mit den Perücken ſie
ſahen! Lebt nicht der brittiſche Rieſe unter uns, ein
geharrniſchter Geiſt, der unſere Theatermiſére zertritt!
Citirten wir nicht Dante, nicht Calderon aus ſeinem
vergeſſenen Grabe? Dieſe können ſie nie wieder todt
machen, ſie werden leben, und noch vieles mit ihnen,
und wir mit Stolz ſagen, wir wurden ihre zweiten Väter!“


„Das iſt alles recht ſchön, entgegnete Louis.
Wenn die Geiſter nur Mark und Bein bekämen, wenn
ſie unſeren Geheimeräthen und Miniſtern einen
Rippenſtoß geben könnten, und einen Feuerhauch
durch die Seelen unſerer Philiſter jagen. Da's aber
nicht iſt, bin ich doch der Meinung Deines Gärtners,
daß unſer Boden nur zu Kartoffeln taugt. Sind
ſie nicht ein herrliches vaterländiſches Gewächs, und
Vetter Michel ein dito Menſch? Er grämt ſich nicht,
er ſchämt ſich nicht, erträgt Fußtritte und Prügel wie
der Eſel, wenn er nur Kartoffeln hat; und item:


Sag' mir nichts von gutem Boden,

Nichts von Magdeburger Land,

Selig ruhen unſ're Todten

In dem leichten kühlen Sand.“
[173]

„Vaterländiſch! fuhr Walter auf. Und hat die
Schule nicht grade auch unſre eigenſten, zertretenen,
vergeſſenen Schätze deutſcher Vorzeit aus dem Staub
und Roſt an's Licht gezogen! Was kannten wir davon?
Einzelne Aeolharfentöne der Minneſänger. Ging
nicht eine deutſche Urwelt uns auf im Nibelungen¬
liede! Du lächelſt, weil die Thoren lachen. Wir er¬
fuhren, unſer Volk hat gelebt, wie die Griechen
durch die Iliade wußten, daß ſie gelebt, daß ihre
Väter groß und herrlich waren, ehe es eine Geſchichte
gab. Das wiſſen wir nun auch, daß Chrimhilden
und Siegfriede, daß Günther und Hagen unſerer
Geſchichte vorangingen! O welchen Born der Sage
die Romantik uns erſchloß! Jetzt verſtehen wir erſt,
nicht aus den nüchternen Chroniſten, ein welch' Volk
wir waren unter den Hohenſtaufen. Im alten Kyff¬
häuſer ſchläft nur der Kaiſer ſeiner Herrlichkeit, und
die Raben krächzen um ſeine Trümmer, und die
Geiſter warten auf ſeine Erweckung. Das, Louis,
hat uns die Romantik enthüllt, der Du einen Fu߬
tritt geben willſt, weil ſie nur Trugbilder zeigte, und
Du willſt Realitäten. Was hatten die Juden mehr
von Paläſtina als ein Traumbild! Das Traumbild
weckte einen Moſes. Laß einen Moſes erweckt ſein
und wir haben wieder ein deutſches Volk, eine deutſche
Herrlichkeit. — Vielleicht, daß wir's darin verſahen,
ſchloß der Aufgeregte, wir machten aus der unge¬
heuren Sage nur für uns ein Spielzeug; aber an¬
dere mögen nach uns kommen, die unſerm Volke
[174] dieſe gewaltigen Bilder anders hinhalten, einen co¬
loſſalen Spiegel, vor dem unſre Erbärmlichkeit er¬
ſchrickt — und ſie können ſich ermannen, ſie können
beſſer werden, wenn —“


„Wenn ein Moſes geboren wird!“ fiel Louis ein,
drückte raſch Waltern die Hand und riß ſein Pferd in
den Fußſteig. „Da liegt es! tönte noch ſeine Stimme
aus dem Korn. Einen Moſes! Nur einen Moſes!
Die Juden und die Ziegelſtreicherknechte ſind im¬
mer da.“


Walter lag wieder unter der Hagebutte.


„Wenn er einen andern Vater hätte, ein ander
Vaterland!“ Waren das nicht Streiflichter des ewi¬
gen Schmerzes, für den es keine Heilung giebt? Walter
ſtarrte auf den Waſſerſpiegel. Auch die Fröſche lagen wie
matt von der Hitze auf den breiten Blättern der Waſſer¬
lilie, regungslos. „Ein Moſes!“ Wo ſollte der Moſes
herkommen, wenn auch über den Waſſern nicht mehr
der Athem Gottes ſchwebte! Wenn die Verſtockung
auch auf dem Element, das die Erde umgürtet, ſich
niedergeſenkt!“ Nein, es war nur die ſchwüle Luft.
Die Augen fielen ihm zu, und die Natur übte ihren
beſchwichtigenden Zauber über die finſteren Gedanken.
Die Falten verzogen ſich um ſeine Brauen, der Mund
fing wieder an zu lächeln, und man konnte denken,
daß Traumbilder aus einer glückſeligen Welt um ſeine
Schläfe ſpielten.


Waren das auch Erſcheinungen ſeiner Phantaſie
die blühenden Mädchenköpfe im Korn? Schoſſen Elfen
[175] auf zwiſchen den Aehren? Der Hagebuttenſtrauch im
Korn, der grüne Rain, der die Felder trennt, iſt ja
ihr Spielplatz. Hier führen ſie Reigentänze, hier
ſtampfen ihre zierlichen Füßchen die Ringelkreiſe, die
der Landmann am Morgen findet, und der Abend¬
thau fiel noch auf friſches Gras. Aber ſchnell, wenn
ein Späherauge ſie entdeckt, verſchrumpfen ſie, hängen
ſich an den Ginſterſtrauch, ſie klettern in die Hage¬
butte. Der Wind ſcheint in den Blättern und Zweigen
zu ſpielen, aber es ſind ihre leichten Körper, die ſich
daran ſchaukeln.


Dieſe verſchwanden nicht.


Die Eine, eine ſchmächtige Brünette von dunkeln,
aber etwas umflorten Augen, mit einem getrübten
Blick. Die rothen Mohnblumen, die ihre loſen
Blätter im ſchwarzen Haar flattern ließen, paßten zu
der Geſtalt, dem melancholiſchen Geſicht. Eine Elfe,
die den Einen unwiderſtehlich anziehen mochte, den
Andern zurückſtoßen. Die andere, kleinere, rundliche,
ein nußbraunes Mädchen, mit Schelmengrübchen um
die Wangen und lachenden Schelmenaugen; wie wohl
ſtand ihr der Kranz von Kornblumen, Aehren und
Mohn im Haar.


Aber die Dritte, die Elfenkönigin. Wie frei
ſchaute ihr blaues Auge, blau wie die Kornblumen,
blau wie der Himmel, aus der freien Stirn. Wie
leicht bewegte ſie ſich, wie anders athmete ſie die Luft
ein; nicht als gehöre die Welt ihr, aber als nehme
ſie freudig ihren Tribut hin von Licht und Luft, von
[176] Farbe und Athem. Und wie hatten die andern, das
konnte ſie nicht ſelbſt gethan haben, die Felder ge¬
plündert, um die eine auszuſtatten! Ein dichter Korn¬
blumenkranz war auf ihr blondes Lockenhaar gedrückt,
und eine Mohnblume, aber keine rothe, die hätte
nicht hierher gepaßt, eine ſeltene volle weiße, glänzte
als Diamant über ihrer Stirn. Eine andere Guir¬
lande von Kornblumen hing wie eine Schärpe um
ihren Nacken, und auch den Abwurf des Kleides
hatten ſie mit allen bunten Blumen, die als ſcheckiges
Unkraut zwiſchen den Aehren blühen, beſetzt. Eine
Hochzeit mit der Natur?


So traten die Elfen aus dem Korn auf den
kleinen freien grünen Platz, drüben am Rande. „Ach
wie hübſch! rief die Königin! Da iſt Waſſer!“ und
breitete die Arme aus, indem ſie ſich Luft nach der
Bruſt fächelte. Das nußbraune Mädchen umfaßte
ſie plötzlich und ergriff die Hand der Brünette: „Faß
ſie an, hier wollen wir tanzen — Ringel-Ringel-
Roſenkranz.“


Die Elfen ſchwebten im Ringeltanz bis es ihnen
zu heiß ward. Sie lagerten ſich auf den Abhang,
die Königin in der Mitte. Sie ſcherzten und plau¬
derten wie neckiſche Kinder.


„Ich muß mich eigentlich ſchämen, ſagte die
Königin, wie habt Ihr mich ausgeputzt, und ich bin's
doch nicht werth.“


„Schäme Dich nicht!“ ſagte die ſchmächtige Elfe
mit dem ſchwarzen Haare, die ganz auf dem Boden
[177] ausgegoſſen lag, und drückte die Hand der Königin
an ihre Lippen.


„Herr Gott, rief die Königin, Du küſſeſt mir
die Hand, und ich glaube gar Du weinſt.“ Sie zog
erſchrocken die Hand zurück.


Die Nußbraune lachte auf: „Die Jülli iſt immer
närriſch, und ich bin immer luſtig. So ſind wir,
wir bleiben aber doch gute Freunde. Nicht wahr?“


„So wollen wir's alle drei ſein, ſagte die Kö¬
nigin. Ich komme mir nur ſo dumm unter Euch
vor, Ihr ſeid in Leipzig geweſen. Das will mir
gar nicht aus dem Kopf. Und Euer Onkel iſt ein
vornehmer Officier und gar in Indien. So was
hätte ich in meinem Leben nicht geträumt.“


Die Schwarzbraune ſchüttelte den Kopf: „Der
iſt nicht mein Onkel.“


„Na, meiner auch nicht,“ lachte die Nußbraune.


Die Elfenkönigin bat die Geſpielinnen nun ihr
Wort zu halten und ihr recht viel, ſo viel ſie könnten,
von Leipzig zu erzählen. Die Nußbraune hatte auch
Luſt dazu, nur brachte ſie die Herrlichkeiten, die ſie
geſehen, etwas confus heraus, und man wußte oft
nicht, ob ſie von den Menſchen oder den Waaren
ſprach. Aber alles war herrlich dort geweſen, die
Affen und die Seiltänzer, die Komödianten und die
Buden auf den Straßen. Ueber die Griechen und
die polniſchen Juden und die Türken hätte ſie ſich
bucklicht lachen mögen, und vor ihren langen Bärten
hätte ſie ſich zuerſt grauſam gefürchtet, aber dann
I. 12[178] hätte ſie geſehen, daß es alle reiche und generöſe
Herren wären, mancher hätte mit den Ducaten um
ſich geworfen, wie mit Zahlpfennigen, und alle hätten
geſagt, ſolche gute Meſſe hätten ſie lange nicht erlebt
und ſie wünſchten alle ihre Lebtage auf der Leip¬
ziger Meſſe zu ſein.


Die Schwarzbraune ſenkte ihren Kopf: „Mir
iſt's hier viel lieber. Hier iſt's hübſch.“


„Wenn man nur Geſellſchaft hätte!“ rief die
Nußbraune.


Ein ſtummer Blick der andern ſchien ſie zu ſtrafen.
Auch die Königin ſah ſie verwundert an und ſagte:
„Sind wir uns nicht genug! Wir plaudern ja ſo aller¬
liebſt zuſammen, und wenn's nur nicht ſo heiß wäre.“


„Wir könnten uns baden! rief plötzlich die Mun¬
tere. Ja baden, baden! Kinder, das iſt prächtig.“


Der Gedanke zückte wie ein Blitz. Der Ort
war ſo ſtill und einſam, ein tiefer Keſſel, geſchützt
durch einen Rand von über Mannshöhe, und darüber
ſtand noch wie eine Ringmauer das Aehrenfeld. Wo
ſollte da ein Lauſcherblick herkommen! Selbſt die Vö¬
gel flogen nicht mehr. Im Strauche regten ſich die
Blätter, die Kornähren wiegten ſich nur durch ihre
Schwere.


Die Karoline war plötzlich aufgeſchnellt und
machte eine Bewegung, als wolle ſie mit einem Ruck
ihre Kleider abwerfen. Jülli, die Schwarzbraune,
ſah fragend auf die Elfenkönigin, ob ſie Luſt habe?
— Luſt hatte ſie wohl, aber — aber ſie machte die
[179] Bemerkung, man wiſſe ja nicht, ob das Waſſer nicht
zu tief ſei? Darauf wandte Karoline ein, ſie wollten
am Rande bleiben, und es zuerſt verſuchen. Adelheid
erröthete jetzt, ſie fühlte, daß ſie nicht ganz die Wahr¬
heit geſagt, ſie wußte nicht, und zweifelte ſogar, ob
ihre Eltern es erlauben würden. Jülli ſagte: „So
laſſen wir es lieber; wer weiß, ob es chère tante auch
recht iſt!“


„Wer wird denn ma chère tante fragen, wenn
ſie nicht bei iſt!“ lachte Karoline, aber der Blick, den
ihr Jülli zuwarf, ſchien ſie doch unſchlüſſig zu machen.


Man unterhandelte und kam überein, daß man
ſich nur die Strümpfe ausziehen wolle, und ein
wenig die Füße baden, das gebe Erfriſchung für
den ganzen Leib, und ſei auch gar nicht gefährlich.
Die Füße ſich waſchen, ohne die Eltern zu fragen,
ſei doch wohl erlaubt, dachte Adelheid. Nur ihren
kleinen Bruder hatte die Mutter einmal geohrfeigt,
als er beim Regen ſich die Strümpfe ausgezogen
und durch den ausgetretenen Rinnſtein gewatet war.
Die Züchtigung hatte er indeß ausdrücklich nur er¬
halten, weil das die Straßenjungen thäten, weil
es ſich in einer Stadt nicht ſchicke, und weil der
Rinnſtein ein ſchmutziges Waſſer ſei.


Dieſe drei Gründe griffen ja hier nicht Platz.
Die Strümpfe und Schuhe flogen auf den Raſen,
und ſechs zierliche Füße plätſcherten im Waſſer. Die
Mädchen faßten ſich an, um die Kühlung gemein¬
ſchaftlich zu genießen. Karoline zog die andern unmerk¬
12*[180] lich etwas weiter: „Hier können wir bis am Knie
ſtehen, ach das thut wohl!“ — „Herr Gott, Karo¬
line, was willſt Du?“ rief Jülli, die ſah, daß Ka¬
roline Miene machte, ihre Kleider abzuſtreifen und
auf's Ufer zu werfen. — „Ich bin ja vom Kietz in
Spandau, ich ertrinke nicht.“


In dem Augenblick fuhr ein Ton durch die Luft.
War's das Gekreiſch eines Reihers, wars ein Pfeifen,
der Warnungsruf einer menſchlichen Stimme? Er¬
ſchrocken ſahen die Mädchen ſich um. Das war ein
Moment. Im nächſten waren ſie es, die laut auf¬
ſchrien, und, mit einem Sprunge am Ufer, nach
Schuh und Strümpfen griffen. Ein dritter Moment:
ein helles Gelächter vieler Männerſtimmen, Säbel
klirrten in der Scheide, Pferde wieherten. Mehre
Cavallerieofficiere preſchten durch den Feldweg und
Einer rief: „Huſſa! richtig geſehen! Badende Mäd¬
chen; da wollen wir helfen.“ Zwei machten Miene
vom Roß zu ſpringen, während der Vorderſte ſich
zwiſchen Rand und Kornfeld einen Weg zu bahnen
ſuchte, ohne dabei auf die Aehren zu viel Acht zu
haben. Aber das Pferd ſcheute vor einer Unebenheit
und die Elfen gewannen den Vorſprung. Sie klet¬
terten, ſprangen, ſchwebten in athemloſer Haſt um
den Rand des Sees, nach einem Ausweg ſuchend.
Der, auf dem ſie [gekommen], war ihnen ſchon durch
den Reiter verſperrt. Sie fanden ihn in der Nähe
des Hagebuttenſtrauches. Den Lauſcher hinter dem
Buſche hatten ſie nicht entdeckt, aber die Unordnung
[181] in den ſchwankenden Aehren verrieth noch lange die
Richtung, in der ſie verſchwunden waren.


„Echappirt! rief der vorderſte Reiter, die Terrain¬
ſchwierigkeiten als guter Cavalleriſt erwägend, und ließ
den Daumen und Mittelfinger in die Luft knallen.“


„Wollen wir ſchwenken, nachpreſchen, Dohleneck!“
fragte der zweite.


„Müßten ein ganzes Kornfeld niederreiten, ſagte
der Rittmeiſter, und das käm' wieder zu des Königs
Ohren. Ihr wißt, wie er die Bauern protegirt.“


„Jammerſchade!“ Der zweite ſchlug vor abzuſitzen,
die Pferde anzubinden, und ihnen zu Fuß nachzueilen.


„Die ſind fix wie der Wind.“


„Aber barfuß. Die Füßchen würden ihnen doch
zu weh thun, ſo über Stock und Block. Und werden
ſie mit blanken Beinen ins Dorf laufen zu Papa
und Mama? Irgendwo im Korn verpuſten ſie ſich,
und ziehen die Strümpfe an, da attrapiren wir ſie,
und probiren, ob ſie die Strumpfbänder nicht zu feſt
binden. Das iſt ſchädlich, ſagt Hufeland.“


Der Rittmeiſter ſtrich den Bart und ſagte:
„Meine Maxime ſei, nie was ſuchen, aber die Ueber¬
raſchung hinnehmen. Das iſt ſoldatiſch. Und wenn
wir ſie bei Nahe beſehen, wer weiß, ob wir uns nicht
ſchämen, ihnen nachgelaufen zu ſein.“


Hexen wären es nicht, meinte der zweite, und
der dritte: er müſſe die eine ſchon geſehn haben;
auch die andre kam ihm bekannt vor, aber er wußte
nicht, wo ſie hinbringen. Man beſchloß endlich, beim
[182] Rückwege durchs Dorf zu reiten, „wo man ſie doch wohl
wieder zu Geſicht kriegen wird.“ — Sie ſprengten fort.


Es war ſtill, wie vorher. War's ein Traum!
dachte Walter, der ſich hinter dem Strauche aufrich¬
tete und über die Stirn fuhr. Die eingeknickten
Aehren ſprachen dagegen. Unfern von der Stelle,
wo er gelegen, lagen Kornblumen, die ſich von einem
Strauß aufgelöſt. „Das hatte ſie an der Bruſt.“
Er raffte die Blumen raſch auf. An einer halb ge¬
knickten Aehre flatterte ein blauſeidenes Strumpfband.
„Das hat ſie verloren.“ Er ergriff es und ſchlang
es um die Kornblumen zum Bouquet.


„Und die Thoren wollen ſagen, es gebe keine
Romantik!“


Er blieb zaudernd ſtehen. Sollte er auch ins
Dorf. „Die Erſcheinung war ſo ſchön, warum denn
die Wirklichkeit aufſuchen, welche in einem Augen¬
blick vielleicht den ganzen Zauber löſt.“ Dazu erin¬
nerte er ſich, daß er dem Geheimrath Lupinus ver¬
ſprochen, ihm bei der Collationirung zweier Ma¬
nuſcripte heut Abend zu helfen. Und Lupinus hatte
geſagt, daß er ihm einige Privatſtunden verſchaffen
zu können hoffe.


Walter ſchlug vergnügt den Rückweg ein. Er
war es, der bei Annäherung der Reiter das War¬
nungszeichen aus dem Buſch gegeben, welches die
jungen Mädchen vor einer Scene bewahrt, in welcher
er unmöglich den ſtillen Lauſcher ſpielen durfte. Aber
welche Rolle hätte er ſpielen ſollen!


[[183]]

Zwölftes Kapitel.
Das Gewitter.


Auch die Sonne hat Flecken, und auch in der
glücklichſten Ehe giebt es Familienſcenen.


„Ach, daß ein ſo ſchöner Tag ſo ausgehen muß!“
ſeufzte die Hofräthin, aber der Kriegsrath blieb uner¬
bittlich. Es war doch wie vom Himmel gefügt, daß
ſie mit einer ſo vornehmen liebenswürdigen und freund¬
lichen Dame Bekanntſchaft gemacht. Die Herzens¬
güte ſah man ihr an den Augen ab. Was konnte
ihre Tochter davon profitiren! Sie war ganz gewiß,
daß die Obriſtin die Adelheid zu ſich einladen würde,
und wer weiß, wenn die Nichten mit ihr Freundſchaft
ſchlöſſen, ob ſie nicht an ihren Privatſtunden Theil
nehmen könnte. Ja es wäre wohl möglich, daß die
Obriſtin ihre Tochter ins Haus nähme, in Penſion
wollte ſie gar nicht ſagen, denn ſie hätte wohl be¬
merkt, mit welchem Wohlgefallen ſie die Adelheid
immer angeſehen. Und alle dieſe Vortheile und Aus¬
ſichten wolle er muthwillig von ſich ſtoßen. Und
warum?


[184]

„Weil wir keine Equipage halten können,“ re¬
capitulirte der Kriegsrath.


„Wie Du auch biſt, Mann! Wer redet denn
davon. Aber den Chriſtian von der Bröſicke könnten
wir heimlich in die Stadt ſchicken, daß er uns eine
Lohnkutſche holt, von Herrn Verdrieß, dem Fuhrmann,
er wohnt ja gleich am halleſchen Thor. Für einen
Groſchen thut's der Junge, ach er thut's umſonſt aus
Plaiſir, daß er zurückkutſchiren kann. Dann fährt
der Kutſcher vor, wir kommen mit Anſtand in die
Stadt zurück, und ſie denken 's iſt unſer Wagen.“


„Sie ſollen nichts denken, was nicht wahr iſt.“


„Alter verſtehe mich nur, 's iſt ja auch gar nicht
darum, daß wir was ſcheinen, was wir nicht ſind.
Für 'nen Regiſtrator ſchickte ſich's auch, aber — wenn
Du nun Geheimrath wirſt!“


„Kommt Zeit, kommt Rath.“


„Und bis dahin kommſt Du ins Gerede, und
wirſt am Ende gar nicht Geheimrath.“


„Dann bleib ich Kriegsrath.“


„Und Deine Tochter bleibt ſitzen. Sie kommt
ins Gerede. Wenn wir nun mit Sack und Pack
unterm Arm trotten, liebſter, beſter Mann, und die
Obriſtin kommt gerollt in der ſchönen Equipage, und
die Adelheid trägt wohl gar wieder den Korb — ach
wird ſie denken das ſind ſolche Leute! und Du biſt's,
der das Glück Deiner Kinder verſcherzt haſt, aus
Eigenſinn!“


„Da können wir ja gleich die Frau Obriſtin fragen.“


[185]

Sie kam. Und ehe das Wort: „Du wirſt doch
nicht?“ von ihren Lippen war, mußte die arme Frau
hören, was ſie doch nicht von einem Manne, der auf
Reputation hält, für möglich gehalten. Er mußte
entweder ſehr bös, oder bei ſehr guter Laune ſein.


„Ach Du meine Güte! rief die Obriſtin. Liebe
Frau Kriegsräthin, mein Mann war auch nicht im¬
mer Obriſt. Und ich habe auch nicht immer den Mantel
von Sammet getragen. Ein Korb am Arm, auch ein gro¬
ßer Korb, iſt keine Schande; wenn man ſich nur nicht mit
jedem abgiebt, der gelaufen kommt, da kann man auch
im blauen Kattunſpencer ein honetter Menſch ſein.
Es iſt ſchon recht, daß man auf Diſtinction hält, und
ich halte gewiß darauf, davon können Ihnen meine
Niecen was erzählen; aber pfui, wenn man darum
einen Menſchen nicht äſtimiren wollte, wenn er nicht
mit Vieren fährt! Ich könnte Ihnen von Prinzen
erzählen, haben den Stall voll Kutſchenpferde, und
gehen zu Fuß aus, im Surtout bis über die Ohren
zugeknöpft, und wenn ſie anklopfen, man hört das
gleich raus. So treten ſie in die Hütten der Ar¬
muth, und wie mancher, der hungert, wird von ihnen
ſatt. Strecke jeder ſich nach ſeiner Decke, das iſt
meine Maxime. Wer ſeine Nebenmenſchen nicht achtet,
den achte ich auch nicht. Meine liebe Frau Kriegs¬
räthin, was iſt aller Glanz dieſer Erde! Eitelkeit
ſagt der Herr Prediger, und wer ſolide handelt, der
kommt am beſten noch fort in dieſem irdiſchen Jam¬
merthal. Und wenn ich nur Platz hätte in meinem
[186] Wagen, mein Gott, ich würde es mir ja zur größten
Ehre rechnen, wenn ich eine ſo ſolide Familie mit¬
nehmen könnte. Einen Platz haben wir noch; der
ſtuckert aber ſo ſehr. Und als wir Abſchied nahmen,
ſo legte der Herr Prediger die Hand auf meine
Schultern und ſagte: „Eigentlich wollte ich bei keinem
einkehren in dieſer gottloſen Stadt; aber Sie ſind eine
rechtſchaffene, eine ſolide Frau, Frau Obriſtin, zu
Ihnen komme ich, bis ich mir ein Quartier gemie¬
thet habe.“ Na den Herrn Prediger ſollen Sie ken¬
nen lernen, wenn Sie mir die Ehre erzeigen, auf
eine Schaale Kaffee. In ſeiner Jugend hat er in
Leipzig ſtudirt, da haben wir geplaudert von — Ich
ſage Ihnen ein charmanter Mann.“


Der Kriegsrath ſeufzte: „Ach Leipzig! Sie
wiſſen nicht was mich das gekoſtet hat.“


„Ja 's iſt ein theures Pflaſter, und gar in der
Meſſe. Na, das freut mich aber, daß Herr Kriegs¬
rath auch dawaren.“


„Mich gar nicht, liebe Frau Obriſtin, ſagte der
Kriegsrath, der gemüthlich ſeine Pfeife ausklopfte.
Es koſtet mich meine Carriere. Ich ließ mich, da ich
in Halle ſtudirte, verführen, mit andern meiner äl¬
tern Commilitonen, einmal nach Leipzig hinüber zu
reiten. Nur einen Tag; am nächſten kehrten wir
zurück. Als mein Vater es erfuhr, bekam ich einen
Brief. Das war ein Brief, nicht mit Dinte, mit
Feuer geſchrieben und Pech und Schwefel darauf!
Der verlorne Sohn in der Bibel wird keinen ſolchen
[187] Brief erhalten haben, ſonſt wäre er nicht verloren
gegangen. Ich mußte auf der Stelle zurück. Da
ſtanden ſchon die Pedelle, vom Rector geſchickt, und
brachten mich auf die Poſt, und der Herr Poſtver¬
walter hatte mir einen Platz beſtellt, neben dem Schir¬
meiſter, daß er auf mich Acht habe. Und als ich
nun ins älterliche Haus kam! Meine arme Mutter
in Thränen und meine Schweſtern! Acht Tage ward
ich in eine Kammer geſperrt, faſt bei Waſſer und
Brod und mußte die Pſalmen auswendig lernen.
Aber das war noch gar nichts dagegen, wie mein
Vater mir da am achten Tage ſelbſt die Thür öffnete,
und mich ſo mit unterſchlagenen Armen anſah, ein
Blick, daß mir das Herz im Leibe zu Stein ward,
und mir ankündigte, daß es nun mit meinem Stu¬
diren aus ſei. Nun verſuche, Du ungerathener Sohn,
ſprach er, ob Du durch dein ferneres Leben es wie¬
der gut machen kannſt, daß Du Deines Vaters
Schweiß und Deiner Mutter und Schweſter ſaure
Händearbeit zu ſolchen Extravaganzen vergeudet haſt.
Der Bauerwagen ſtand vor der Thür, der mich in
eine kleine Stadt brachte, wo ich als unterſter
Schreiber in einer Packkammer meine neue Carriere
anfangen mußte. Sehn Sie, das koſtet mich Leipzig!“


Die Kriegsräthin war erſtaunt, aber nicht ganz
unzufrieden, daß ihr Mann durch die Obriſtin zu
ſolchen vertraulichen Mittheilungen ſich hinreißen ließ.
Dieſe machte ihm ein Compliment: „wer weiß,
wozu es gut geweſen. Die Studirten kämen oft
[188] nicht weiter, und wer klein anfinge, der hörte oft
groß auf.“


„Mein Vater war ein ſtrenger Mann, aber ein
braver Mann, und er hatte Recht, ſagte der Kriegs¬
rath. Denn meine Eltern mußten ſich's ſchwer ver¬
dienen, daß ſie nur durchkamen. Und was hatte ich
in Leipzig zu ſuchen!“


Das gefiel der Kriegsräthin wieder nicht, daß
er zu erzählen anfing, wie knapp es in ſeinem äl¬
terlichen Hauſe zugegangen. Die Obriſtin horchte
aber ſehr theilnehmend.


„Lieber Herr Kriegsrath, wir müſſen uns Alle
durch's Leben ſchlagen, Einer ſo, der Andere ſo. Und
nicht Jedermann, der ein Sonntagskleid anhat, hat
darum einen Braten auf dem Tiſch, ja ich weiß
Manchen im Seidenkleid, der oft nicht ſatt zu eſſen
hat. Und was koſten die Kinder den Eltern! Er¬
ziehen muß man ſie, anziehen doch auch, daß ſie uns
nicht zur Schande 'rumlaufen, und wenn ſie wachſen,
was haben ſie für einen Appetit. Ich weiß manchen
königlichen Herrn Geheimerath, der einen Livreebedien¬
ten hat — und er muß ihn haben — und fährt in
ſeidenen Strümpfen aus, aber Sonnabends, wenn
die Köchin auf den Markt ſoll, da kratzen ſie aus
allen Schubladen die Groſchen. Und, lieber Gott,
die jungen Demoiſelles will man doch auch ver¬
heirathen. Da müſſen die lieben Eltern ſie auf die
Bälle führen, daß die Mannsperſonen ſie zu ſehen
kriegen; denn die Katze im Sack will keiner mehr
[189] kaufen. Das koſtet auch Geld. Und das Ballkleid
und die Blumen und Schleifen. Lumpig will man
das Fleiſch von ſeinem Fleiſche auch nicht gehn laſſen.
Und beißt ein junger Herr an, da muß man Geſell¬
ſchaften geben, Spazierfahrten, wieder neue Kleider.
Koſtet alles Geld. Und dann kommen die Ver¬
wandten, und erkundigen ſich unter der Hand nach
der Ausſteuer und Mitgift. Nu bitt ich Sie, von
ſeinen achthundert Thalern, oder zwölfhundert Tha¬
lern, oder kommts hoch fünfzehnhundert, ſoll er eine
Mitgift geſpart haben! Ein guter Vater muß ja
alle ſeine Kinder ernähren. Und nun heirathen ſie
ſich. Pure Liebe heißt es. O ja, aber Schmalhans
iſt Küchenmeiſter. Und nun kommen Kinder, [eins]
übers andere, und wollen getauft ſein. Da kommt
die junge Frau zur Frau Mama und weint ihr das
Herz voll, und die Frau Mama weint dem Vater
das Herz voll. Geld ſoll er ſchaffen. Ja wovon!
Die andern Töchter ſind auch 'ran gewachſen. Die
haben auch Sponſaden, möchten auch unter die Haube.
'Ne Haube koſtet noch nicht alle Welt, aber das andre.
Na, ich ſage doch, ein Vater mit vielen Töchtern und
'nem knappen Einkommen, das iſt erſchrecklich. Da
iſt doch beſſer, er bringt ſie unter, gute Menſchen¬
herzen ſchlagen überall, und wer weiß, was den
Kindern da blüht, daß der Vater nicht mehr nöthig
hat für ſie zu ſorgen. 'S iſt manche vornehm ge¬
worden, und hat ein ſchönes Sort gemacht, und am
Ende ſich noch ſehr anſtändig verheirathet, die ihr
[190] Leben lang 'ne alte Jungfer geblieben wäre, wenn
ſie nicht aus ihres Vaters Hauſe kam.“


Der letzte Theil ihrer Rede wurde wohl über¬
hört, denn die jungen Mädchen kamen jetzt zurück.
Sie hatten unter ſich ausgemacht, nichts von dem
Abenteuer zu erwähnen. Jülli und Karoline ſpran¬
gen als wäre nichts vorgefallen, Adelheid ging lang¬
ſamer und bückte ſich oft. Schlug ihr das Gewiſſen,
daß ſie etwas nicht Erlaubtes gethan, oder daß ſie
darauf eingegangen, es zu verſchweigen? Die Auf¬
forderung, für das Abendeſſen zu ſorgen, war ihr
willkommen. Im Hauſe ſchlüpfte ſie raſch in die
dunkle Hinterkammer und ſetzte den Fuß auf den
Schemel, um mit einigen Flachsfäden aus dem
Spinnrocken den Strumpf feſt zu binden. War es
die alte Wanduhr oder ihr Herz, das ſo laut ſchlug?
Ein heiſeres Gelächter ſchallte plötzlich hinter ihr.
Die Alte hatte ſich aufgerichtet, und ſtierte ſie mit
dem unheimlichen Geſichtsausdruck an: „Verloren —
Strumpfband verloren! — hi! hi! hi! Das bedeutet
was. — Der's fand, wird ſich freuen. Hi, hi, hi!“ —
Das junge Mädchen floh, wie vor dem Spottgeſang
böſer Geiſter.


Die Satte mit dicker Milch fand kein ſo frohes
Publikum um ſich verſammelt als der Milchreis zu
Mittag. Die Kinder waren müde, die jungen Mädchen
in Gedanken, die Aelteren hatten ſich ausgeſprochen.
Alle drückte die Schwüle des Tages, der zum Abend
geworden.


[191]

Aus dem Kruge ſchallte Tanzmuſik. Reiter gal¬
loppirten auf dem Fahrwege heran, es waren Gens¬
d'armerieofficiere. Sie hielten plötzlich an, und lorg¬
nirten die Geſellſchaft. Mit einem häßlichen Gelächter
gab der eine ein Zeichen. Die Frauen ſchrien, ſie
glaubten, die Reiter wollten den Tiſch umreiten; ſie
ritten nur um den Tiſch, einer hinter dem andern
im Kreiſe, oft ſo nahe, daß die Pferde die Stuhl¬
lehnen berührten. Die Kriegsräthin ward blaß vor
Schreck, der Kriegsrath vor Unwillen, die jungen
Mädchen ſenkten die Köpfe, die Kinder waren ängſt¬
lich vor den Pferden. Die Obriſtin faßte den Arm
des Kriegsraths unter dem Tiſch, und flüſterte ihm
zu: „es ſind junge Leute.“ Die jungen Leute aber
beugten ſich ſeltſam im Sattel, ſie warfen Kußhände
zu mit den Fingern, mit beiden Händen, ſie miauten,
ſchnalzten, krähten. Endlich waren ſie wie der Sturm¬
wind verſchwunden, nachdem ſie ein: „Auf Wiederſehn,
allerliebſte Engelchen!“ der Geſellſchaft zugerufen.


Der Schemel hinter ihm fiel auf die Erde, als
der Kriegsrath aufſprang und der Aufbruch war
damit gemacht. „Gerechter Gott! rief er, den Stock
auf die Erde ſtampfend, wann wird das endlich mal
ein Ende nehmen! Giebts denn keinen Fleck auf der
Erde, wo man ſeine Töchter ruhig hinführen kann!
Giebts denn Niemand, der dem Könige das ſagt,
denn er iſt gütig und gerecht.“


Die Frau Kriegsräthin wehrte ſtill die Obriſtin
ab, die beruhigende Worte auf der Lippe hatte, von
[192] Jugend und Tugend. „Um Gottes Willen, Frau
Obriſtin, jetzt keine Sylbe, ſonſt bricht es los.“


Es ſchien aber ſchon jetzt loszubrechen, wenn
auch nicht in Worten, als er den Hut aufſtülpte,
den Rock zuknöpfte und rief: „Nun, marſch nach
Haus!“


Wir ſehn die Familie auf dem Marſche. Es
hatte jeder ſeine eignen Gedanken, darum war es
heut Abend ſo ſtill als es an manchem laut geweſen.
Vergnügt war eigentlich nur die Kriegsräthin. Sie
baute Schlöſſer in die Zukunft, und war ihr Wunſch
nicht erfüllt, als ihr Mann der Obriſtin die Hand
gedrückt und geſagt hatte: „Sie ſind eine brave und
praktiſche Frau. Ich freue mich, Ihre Bekanntſchaft
gemacht zu haben.“ Eigentlich war das etwas un¬
ſchicklich zu einer ſo vornehmen Frau geſprochen, aber
ſie hatte es nicht übel genommen. Sie hatte die
Hoffnung auf nähere Bekanntſchaft ausgeſprochen,
aber nicht in der ordinairen Weiſe, daß ſie gleich
zum Kaffee gebeten, ſondern ſie hatte geſagt, das
würde ſich ja ſchon alles finden und der liebe Gott
es fügen, daß die zuſammen kämen, die zuſammen
gehörten. Aber beim Abſchied — denn ſie wollte noch
am Krug vorfahren und einen Blick hinein thun,
weil ſie Freunde ihres Mannes unter den Officieren
zu ſehen geglaubt — hatte ſie noch von dem rothen
Umſchlagetuch aus Malaya ein Wort fallen laſſen,
und daß ſie nur wünſche, daß die Mamſell Adelheid
es einmal um die Schultern nehme. Das Tuch
[193] würde ihr doppelt lieb ſein, wenn es dem engliſchen
Kinde gut ſtände.


Der Weg ward ſo ſchwer, die Luft ſo drückend.
Die Kinder waren müde. Nur der Kriegsrath ſchritt
ſtramm voran. Da ging ein Lüftchen durch die Ulmen,
aber kein erfriſchendes, es war der Vorbote eines
nahenden Sturmes. Vom Templower Berge kamen
dicke Gewitterwolken. „Wenn uns das noch träfe!“
ſagte die Kriegsräthin. Es fielen die erſten Tropfen,
einzelne, aber ſehr ſchwere. „Herr Jeſus, Mann,
ob's nicht beſſer wäre, wenn wir umkehren ins Dorf?
Die Stadt erreichen wir nicht mehr.“ — Der Kriegs¬
rath wies ſchweigend mit dem Stock zurück: „Ich
kehre nicht um.“ Hinter ihnen war die dunkle Wetter¬
wand aufgeſtiegen, von Blitzen ſchon durchzuckt und
am ſternenflimmernden Horizont näherte ſich die Wand
den beiden Wolken. „Wenn das zuſammenſtößt!“
— „Wenn das uns träfe.“ — „Es trifft uns ſchon!“
Der erſte Donner rollte dumpf über die Fläche. Der
zweite, dritte war ſchon näher. Jetzt tröpfelte es
nicht mehr, es praſſelte. „Unter die Bäume! Dicht
unter die Bäume!“ rief die Mutter. Die Bäume
halfen wenig, und bald hatten ſie die letzte der breit¬
wipfligen Ulmen erreicht, von wo ab das freie, weite
Blachfeld vor ihnen lag, und kein Schutz vor dem
Regen, der nicht mehr ſtrömte, es ſchoß und goß.


Sie ſtanden unter der letzten Ulme, die dicht
um ihren Stamm noch ein Wetterdach vor dem Wolken¬
bruch von oben gewährte, aber nicht vor dem Regen,
I. 13[194] den der Wind heranſchlug. Sie ſtanden auf den
vom Erdreich losgeſpülten Wurzeln, um nicht im
puren Waſſer zu ſtehen, das ſchon über den Boden
wallte; Jette hatte ſich im Gehen Strümpfe und
Schuhe abgeſtreift, ihr Sonntagszeug nicht zu ver¬
derben. Die Frauen ſchürzten ihre Kleider; ſchickte
es ſich aber auch für ſie, die Schuhe auszuziehen? —
„Die Kinder aufgenommen!“ rief der Vater. Jette
hatte den Kleinſten auf die Schulter gepackt, Adel¬
heid dafür den von ländlichen Einkäufen ſchweren
Korb aufgenommen. Der Vater wollte die Clara
aufheben, das Waſſer, das aus ſeinem dreieckigen
Hute, wie aus einer Rinne goß, überſchüttete das
Kind. Das dritte nahmen ſie zwiſchen ſich.


Es waren furchtbare Minuten. Das Waſſer
klatſchte, mit blauen Blitzſtrahlen gemiſcht, auf die
Erde, vor ihnen nur ein wellender Spiegel vom
Winde gepeitſcht. Ein Todtenſchweigen, nur durch
das Gewimmer der Mutter einmal unterbrochen:
„Und alles das, um acht Groſchen zu ſparen. Du
rechneſt auch nicht, was die verdorbenen Kleider werth
ſind!“ Die Antwort des Vaters übertäubte ein Auf¬
ſchrei aus Aller Munde. Der Regen von den höher
gelegenen Feldern zur Rechten ergoß ſich in einen
Graben, der in der Regel ganz trocken und verſchüttet iſt.
Das aufſchwellende Waſſer brach den Damm und wühlte,
ein breiter Bach, den Fußſteg auf, dicht vor der Ulme,
und ein immer tieferer und rauſchender Strom ſchnitt
der Familie den Weg nach der Stadt ab.


[195]

„Seht nicht in die Blitze, das verdirbt die
Augen!“ rief der Vater. „Wenn's nur nicht ſo
gräßlich donnerte! jammerte die Magd. Und unſre
beſten Sonntagskleider ſind hin!“ — „Uns erwartet
ein trocknes Haus und warme Betten, ſagte der
Vater. Denk Dir unſre armen Soldaten im Kriege,
die haben kein Haus und keinen Mantel.“ — „Aber
ihre Monturen muß der König bezahlen, entgegnete
die Kriegsräthin. Wer bezahlt der Adelheid das
neue Kleid. Und wenn ſie's Fieber kriegt!“ — „O
Gott, wir gehn Alle unter, ſchluchzte wieder die
Magd, als ein ſtärkſter Donnerſchlag dicht über der
Erde hinzurollen ſchien. Wär' ich doch nie in den
Dienſt gegangen!“


Da ſchien das ſtärkſte Gewitter ſich entladen zu
haben. Die zuſammengekeilten Wolken brachen. Es
rauſchte noch vom Himmel und er ſchien ſein blaues
Licht niederzugießen, aber man hörte auch ſchon wieder
die Bäume rauſchen und der Donner ward dumpfer.
Man hörte auch einen Wagen. Die Pferde ſtampften
im Waſſer. Es war die Obriſtin mit ihren Nichten.
Ein heller lang andauernder Blitz — ein Schrei der
Freude und des Schreckens.


Hätte die Frau Kriegsräthin doch mögen in die
Erde verſinken, als der Kutſcher hielt. Ach es war
weder Zeit, ſich zu ſchämen, noch Toilette zu machen.
Die gute Obriſtin hätte ſo gern Alle mitgenommen!
Was an Platz war in der Kutſche, ſie ſollten nur
commandiren; die Kleinen wollten ſie ſchon auf den
13 *[196] Schooß nehmen. „Mann, um Gottes Willen, Du
wirſt doch nicht jetzt Bedenklichkeiten machen!“ Hin¬
ſichts der drei Kinder machte er auch keine, ſie waren
raſch hineingehoben. Aber wer ſollte den leeren Eck¬
platz einnehmen! Die Kriegsräthin hätte ſich ja nim¬
mermehr hineingedrängt. Sie war ſo ſtark und naß,
und in ſolchem Aufzuge! „Väterchen Du,“ rief Adel¬
heid. Konnte er Mutter und Tochter allein in Nacht
und Regen laſſen! „Kommen Sie, Adelheidchen, Sie
verkälten ſich ja ganz die Füßchen, rief die Obriſtin.
Wenn für die Kinder geſorgt iſt, für die Eltern ſorgt
der liebe Gott.“ Der Kutſcher entſchied in letzter
Inſtanz über alle Bedenklichkeiten. Er ließ mit einem
Donnerwetter, wenn's nicht bald würde! die Peitſche
knallen, und ich glaube, er hätte ſein Wort gehalten.


[[197]]

Dreizehntes Kapitel.
Wie es im Hauſe ausſieht.


Weshalb der Kriegsrath endlich nachgab, war,
daß er in der Ferne die Gensd'armerieofficiere gal¬
loppiren hörte. Aber die Wagenthür klappte noch
in der Luft, ſie hatten ſich noch keinen Abſchied zu¬
gerufen, als die Räder ſchon durch den fluthenden
Giesbach rollten.


Entweder wollte er die Wagenthür zuſchlagen,
oder war es, um ſeiner Tochter Anweiſungen zu
geben, weshalb der Vater nachſtürzte. „Der Herr Kriegs¬
rath ertrinken!“ ſchrie die Jette, aus der Kutſche
wehten ſie, er möge zurückbleiben.


„An den Tag werden wir lange denken!“ ent¬
fuhr es dem Kriegsrath. Seine Frau drückte ver¬
ſtohlen ſeine Hand, er drückte ſie wieder. „Und Mam¬
ſell Adelheid werden auch bald warm werden, tröſtete
die Jette, ſie ſitzen ſo eng zuſammen.“


Die Officiere ritten vorüber ohne von der Fa¬
milie Notiz zu nehmen. Das Waſſer war ſchon im
Ablaufen und man verſuchte die Paſſage. Sie gelang
[198] endlich nach der richtigen ſtrategiſchen Maaßregel, daß
ein Fluß leichter an der Quelle als am Ausſtrömen
zu forciren iſt. Forcirt mußte er aber doch werden;
und man verſank nicht allein im Moor und Waſſer,
ſondern auch im trocknen Sande, da ein Platzregen
in ſandigen Gegenden das Eigene hat, daß er nur
die Oberfläche durchnäßt.


Die Sterne ſchienen wieder auf einen langen
und ſauren Weg. Der Kriegsrath ging, Arme und
Stock auf dem Rücken, vorauf, er ſchien in die Sterne
zu ſehen.


Auf dem Berge erwartete er Frau und Magd.
Sie gingen eine Weile neben einander, ohne zu
ſprechen; ihre Gedanken ſchienen ſich zu begegnen:
„Wir kennen ſie eigentlich nicht.“ — „Wenn Du
nur gefragt hätteſt, wo ſie wohnt? ſagte nach einer
Pauſe die Frau. Aber die Adelheid weiß, wo wir
wohnen, und ſie iſt ja kein Kind mehr.“


Eine neue Pauſe. Sie näherten ſich ſchon dem
Thore: „Wenn wir ſie nun nicht zu Hauſe finden!“


Die Kriegsräthin hatte keine Antwort darauf.
Es preßte ſie etwas auf der Bruſt. Sie ſtrengte
ſich an mit ihrem Manne Schritt zu halten. Da
mußte am Thor noch die Schildwacht ihnen Stillſtand
gebieten und der Thorſchreiber den Korb der Jette
unterſuchen. Der Kriegsrath mußte ſeine Börſe ziehen,
um einige Groſchen Acciſe zu zahlen, und die Sohlen
brannten ihnen unter den Füßen. Selbſt über den
ſchönen Stern in der Mitte des Platzes, der ſeine
[199] Strahlen von großen und kleinen Pflaſterſteinen aus¬
gießt, eilten ſie, ohne einen Blick dahin zu werfen,
was der Jette unbegreiflich ſchien, denn es war doch
die größte Merkwürdigkeit von Berlin, die jeder Hand¬
werksburſche geſehen haben mußte; ſonſt war er nicht
in Berlin geweſen.


Der ſchöne Stern iſt längſt verſchwunden. Auf
ſeinem Kernpunkt ſteht die Friedensgöttin, die man
aufgerichtet, als der Friede anfing aufzuhören.
Auf einer ſpitzen Säule flattert ſie in der Luft, wie
der Vogel, der mit einem Fuß auf der Dachfirſte
Poſto gefaßt, und ſich umſchaut, ob es drüben ge¬
heuer iſt.


Die große Friedrichsſtraße war ihnen nie ſo lang
vorgekommen; und doch eilten ſie, daß der Kriegs¬
räthin der Athem verging. Die Jette dachte mit dem
ſchweren Korb: Ich bin doch auch ein Menſch! —
An den Fenſtern zählten ſie die Lichter. Würden ſie
ihre Wohnung dunkel finden? Wenn's um dieſe Ecke,
das Haus da, hell iſt, ſagte ſich die Mutter, dann
finden wir's auch bei uns hell. Einmal war es
dunkel, dann wieder hell. Man muß an ein Orakel
nicht zu oft dieſelbe Frage ſtellen. Der Vater dachte
an die Schwalben, die Schüſſe gehört und Brannſt¬
geruch gerochen, und mit geſtreckten Flügeln ſchießen,
ob ſie ihr Neſt noch finden. Aber er hatte keinen
Schuß gehört, und keinen Brannſtgeruch empfunden.
Die Frau Kriegsräthin beruhigte ſich auch: wie ſchreck¬
lich hatte nicht die Obriſtin die Angſt und das Un¬
[200] glück der armen Eltern gemalt, denen die Seiltänzer
ihre Kinder ſtehlen.


Beide ſagten ſich, ſie wären beruhigt, aber beider
Herz klopfte, daß jeder das des andern hätte können
ſchlagen hören, als ſie um die letzte Ecke zum Gens¬
d’armenmarkt bogen. — Zwei Herzen und ein Schlag,
ein freudiges Ah! Ihre Fenſter waren hell, ſehr hell.
— Die Hausthür offen. Die Magd des Wirthes
kam ihnen entgegen: „Na Gott ſei Dank, daß Sie
da ſind. Die Mamſell und die Kinder haben ſich
ſchon zu Tode geängſtigt.“ — Auf der halben Treppe
ſprang ihnen Adelheid entgegen: „Ach, mein lieber
Vater, meine liebe Mutter! Gott ſei Dank.“ — Der
Vater drückte ſie an ſeine Bruſt, die Mutter riß ſie
an ſich. „Ach und ihr ſeid ganz durchnäßt. Schnell,
ſchnell, oben liegt Alles ſchon bereit.“ Die Kleinen
waren ſchon umgezogen in trocknen Kleidern. „Das
hat alles die Adelheid gethan!“ — „Nicht alles,
Mütterchen, die Jülli und die Karoline halfen, ach
und die gute Frau Obriſtin hat für uns geſorgt, wie
eine Mutter.“


„Hat Euch im Wagen hergebracht?“


„Und war auch ſo naß und müde von der Reiſe.
Aber Gott bewahre! Anvertrautes Gut muß man
eher zurückliefern, als man an ſeines denkt, ſagte ſie.
Und Euer Vater iſt ein guter Diener ſeines Königs.
Und der König geht vor allem, und heut iſt ſein Ge¬
burtstag. Denkt Euch, als wir ausgeſtiegen waren,
wollte ſie die Kutſche zurückſchicken, um Euch holen
[201] zu laſſen. Aber der Kutſcher war ein garſtiger Menſch.
Er fluchte, um ſolches Rackerzeug ſollte er auch wohl
noch ſeine Pferde ruiniren. Die gute Obriſtin wurde
ganz erſchrocken, und ſteckte ihm noch Geld zu, daß
er nur ruhig wäre, denn es wäre ja des Königs
Geburtstag und darauf ſolle er trinken.“


„Unverſchämtes Volk!“ rief der Kriegsrath, ſeinen
Stock erhebend.


„O, das iſt noch nicht Alles, ſagte Adelheid,
kommt nur herein und ſeht!“


Sie traten in das helle Zimmer. Eine Punſch¬
bowle dampfte über einem Kohlenbecken.


„Das hat alles die Obriſtin für Euch beſorgt,
damit Euch die Erkältung nichts ſchadet. Die Ka¬
roline mußte ſelbſt zum Kaufmann, die Citronen und
den Rum kaufen, und die Guſtel unten kochte das
Waſſer, und dann erſt gingen ſie, und wollten nicht
bleiben, um Euch nicht zu ſtören. Und ſo herzliche
Grüße haben ſie mir aufgetragen, daß ich ſie gar
nicht beſtellen kann.“


Mann und Frau ſaßen noch um Mitternacht am
Tiſch ſich gegenüber, der Kriegsrath in ſeinem ge¬
blümten Schlafrock und Pantoffeln, die Kriegsräthin
in ihrer Dormeuſe. Die Kinder waren längſt im Bett,
die Bowle bis auf einen kleinen Reſt geleert. Den
goß der Kriegsrath, redlich theilend, in die Gläſer:
„Es wird zu viel, Alter!“ ſagte die Frau.


„Wir müſſen doch auf ihre Geſundheit anſtoßen!“


Der Mann ſetzte die Pfeife fort.


[202]

„Mann, da ſieht man, wie man ſich täuſchen kann.“


„Aber 's iſt gut, wenn man's wieder gut machen
kann.“


Gläſer mit Punſch klingen nicht ſo hell wie mit
Wein, aber die Herzen klangen. Der Kriegsrath
ging ſehr vergnügt, aber nicht ſo kerzengrad wie
am Tage, nach ſeinem Bett. Die Kriegsräthin leerte
noch den Reſt ihres Glaſes im Stillen. Sie trank
auf das Glück ihrer Familie und auf die Ausſichten,
die ſich mit einem Male ihr ſo reich und wunderbar
eröffneten. „Uns kommt alles unverhofft!“ ſagte ſie
und wiſchte eine Thräne der Rührung aus dem Auge.
Im Bette hatten die Eheleute ſich beſprechen wollen,
was ſie thun müßten, um es der Obriſtin zu ver¬
gelten. Es hatten ſich darüber Anſichtsverſchieden¬
heiten gezeigt, die in Güte beigelegt werden ſollten,
aber man hörte bald nur eine vollkommene Har¬
monie — im Schnarchen.


Die Gefühle der Dankbarkeit waren am andern
Morgen nicht erloſchen, aber etwas abgekühlt. Geſtern
wollte der Kriegsrath, ſobald er aufgeſtanden, der
Obriſtin ſeine Aufwartung machen. Heute fand die
Frau, daß eine Viſite ſo früh am Tage bei einer
vornehmen Dame ſich nicht ſchicke. Der Mann aber
dachte, daß er ja ins Bureau müſſe, und Herren¬
dienſt geht ſogar dem Gottesdienſt vor, ſagen die
Geſchäftsmänner. Es war aber noch ein Grund,
weshalb es nicht ging; ſie wußten ja nicht, wo die
Obriſtin wohnte. Wohnungsanzeiger gab es noch
[203] nicht. Der Kriegsrath wollte ſich im Bureau danach
erkundigen.


Der Kriegsrath kam heute ſpät nach Hauſe.
Seine Nachforſchungen nach der Obriſtin waren nicht
glücklich geweſen. Man glaubt wohl den Namen
gehört zu haben, wußte aber nichts Gewiſſes. Uebri¬
gens hatte das nichts Auffallendes, denn es hielten
ſich jetzt viele vornehme Familien aus der Fremde in
Berlin auf. Da wäre eine ruſſiſche Fürſtin hier,
und Damen und Herren vom höchſten Stande aus
Frankreich und England, von denen man wohl wiſſe,
daß ſie andere Namen führten, als ihnen zukämen,
aber die Polizei kümmere ſich nicht um ihr Incognito,
oder drücke ein Auge zu, weil ſie mit dem Hofe und
den Miniſtern ins Geheim verkehrten, damit andre
Mächte nicht aufmerkſam würden, und plötzlich würde
aus einem oder dem andern, der in einer Winkel¬
gaſſe wohnt, der außerordentliche Ambaſſadeur eines
hohen Potentaten. Denn ganz Europa blicke jetzt
erwartungsvoll auf Preußen, „und wie es ſich jetzt
entſcheidet, das giebt den Ausſchlag.“


Die Kriegsräthin hatte mit ſichtlicher Ungeduld,
ihm auch etwas mitzutheilen, zugehört, aber die
Nachricht ſchien ſie einzuſchüchtern: „Ach Gott, das
wäre ja viel zu vornehm für uns!“


„Die Allervornehmſten ſind oft die Allerleut¬
ſeligſten.“


„Ja, und das war ſie, brach es heraus, ihr
Geſicht ſtrahlte von Freude. Männchen, wir ſind
[204] glücklicher geweſen als Du. Als wir eben daſaßen,
die Adelheid und ich, und überlegten, was wir an¬
ziehen ſollten, wenn wir ſie beſuchten, klingelte es,
und wer trat ein? — Sie ſelbſt. Wir waren beide,
daß wir uns nicht ſehen laſſen konnten, aber ſie ſagte,
ſie müßte uns ſehen, und ſie hätte die ganze Nacht
keine Ruhe gehabt, ob's uns auch bekommen wäre?
Ich ſage Dir, nein, es war eine Liebenswürdigkeit,
als wenn wir alte Freunde wären.“


„Da ſeid Ihr gewiß ſchon heut zum Kaffee
invitirt!“


„Nein, das bedauerte ſie eben ſo ſehr, daß ſie
uns in den erſten Tagen nicht bei ſich ſehen könnte,
denn ſie hätte das Haus voll Unruhe gefunden.
Nichts wäre gemacht, wie ſie's beſtellt und ſie müßte
Tapeten runter reißen laſſen und Gott weiß was.“


„Aber wo wohnt ſie?“


„Wir ſollen's gar nicht jetzt wiſſen, bis ſie in
Ordnung iſt. Aber bei uns wird ſie ein Mal an¬
ſprechen und mit 'ner Taſſe Kaffee verlieb nehmen.
Doch ganz unter uns, wie wir ſind, ohne Umſtände,
und wir ſollten Niemand dazu bitten. Oder ſie wird
auch mal vorfahren und anfragen, ob Einer von uns
mit ihnen ſpazieren fahren will? Alter, weißt Du,
ſie meint, Du ſäßeſt zu viel, Du müßteſt Dir mehr
Bewegung machen. Solche gute Staatsdiener wie
Du, müßten ſich ihrem Könige erhalten, das wäre
ihre Pflicht und Schuldigkeit, und ſie hätte ſo viel
zu Deinem Lobe gehört, was ſie in der Seele erfreut,
[205] und ſie wiſſe auch ſchon, daß Dein Avancement vor
der Thür ſteht.“


„Da hat ſie zu viel gehört, unterbrach der Kriegs¬
rath und ging auf und ab. Damit iſt es vorbei.
Ich hörte —“


„Hat ſie auch gehört, Du ſollſt Dir aber keine
grauen Haare darum wachſen laſſen. Ein vornehmer
Graf aus Schwaben oder Schweiz, oder was er iſt,
der möchte den Geheimrath Lupinus aus der Patſche
ziehen, und es ſoll ihm ſchon gelungen ſein, daß er
die andern Gefangenen dazu rum gekriegt, eine Schrift
zu unterſchreiben, daß ſie ſchuld wären und nicht er.“


„Die Frau Obriſtin weiß ſehr viel.“


„Aber wenn's mit dem einen Poſten nicht wäre,
ſo wär's ein anderer, und wenn's nicht ſo, ginge es
ſo. Und wenn ein vornehmer Herr einmal ſich was
in den Kopf geſetzt, da ließe er nicht nach, bis er's
durchgeſetzt. Aber Du thäteſt doch nicht recht, daß
Du Dich gar nicht um Connexionen bekümmerteſt,
denn die Welt wäre nun mal ſo, die gebratenen
Tauben kämen uns nicht in den Mund geflogen, und
Connexionen und Freundſchaften machten am Ende
Alles. Eine Hand wäſcht die andere und eine Hand
drückt der andern das Auge zu, ſagte ſie. Und wenn
Du nur wollteſt, ſo würde ſie Dir Connexionen ver¬
ſchaffen, daß Du Dich wundern ſollteſt, denn ſie kennt
viele Herren vom Hofe, die bei ihr aus- und ein¬
gehen, und jeder hätte ſeine Schwächen, und wenn
jeder dem andern ſeine aufmutzen wollte, wär's in
[206] der Welt nicht zum Aushalten. Wir alle ſollten
brüderlich und chriſtlich nur die guten Seiten der
andern uns merken, dann wär's eine Welt voll Liebe
und Freundſchaft.“


„Und im Grunde ſolls mir auch lieb ſein,“ ſagte
der Ehemann, der nicht genau zugehört, von wegen
ſeines Bruders in der Jägerſtraße. „Die Brüder
Lupinus lieben ſich zwar nicht ſehr, es wäre aber
doch immer häßlich, wenn es hieße, daß ich ihn aus
dem Dienſt verdrängt. — Und wegen des Lehrers
habe ich auch heut mit dem Herrn Geheimrath ge¬
ſprochen. — Er iſt ein junger Mann, aber wir ſollten
uns daran nicht ſtoßen, ſagte der Geheimrath. Er
kennt ihn ſeit Jahren, und er hilft ihm bei ſeiner
Bibliothek. Ein Mann von admirablen Kenntniſſen,
und treibe grade das, was ein junges Mädchen braucht,
um in den Geſellſchaften nicht den Mund zuzuhalten.
Und wir würden ſchon zufrieden ſein. Er wird ſich
heute Nachmittag uns präſentiren.“


Dieſe Erwartung gab in der ſtillen Häuslichkeit
wieder einige Unruhe. Adelheid hatte die meiſte Be¬
ſorgniß, ſie fürchtete das erſte Examen, und daß ſie
der Lehrer doch gar zu dumm finden würde.


Die Unruhe nahm mit Verlauf des Tages zu.
„Die Adelheid ſtellt ſich wirklich vor, ſagte die Mutter,
als würde er ſie mit dem Lineal auf die Finger
klopfen.“


Endlich klingelte es, kurz vor der Dämmerſtunde,
der Lehrer trat ein. Der Eindruck, den er auf den
[207] Vater machte, war ein guter. Er hatte ſich einen
excentriſchen jungen Mann gedacht, laut und viel
ſprechend, wie ihm die jungen Männer von der Schule
geſchildert worden, zu der er gehören ſollte. Aber
er war von beſcheidenem, ernſtem, gehaltenem Weſen.
An ſeinem Benehmen ſah man, daß er die Welt
kannte. Seine Anrede war beſtimmt, feſt und kurz.
Auch der Mutter mißfiel er nicht, aber die Frau
Kriegsräthin glaubte ſich doch einem ſolchen bloßen
Privatlehrer gegenüber ein Air geben zu müſſen, und
ſie fragte ihn, womit er ſeine Lectionen anzufan¬
gen denke?


„Dazu gehört, daß ich meine künftige Schülerin
kenne,“ entgegnete er, die Handſchuhe leicht in den
Hut werfend, um den Stuhl einzunehmen, den der
Vater ihm präſentirt.


Aber die Schülerin präſentirte ſich ſchon ſelbſt.
Adelheid, die bei ſeinem Eintritt abwärts geſtan¬
den, war unbefangen vorgetreten, und ohne die
Vorſtellung der Mutter abzuwarten, ſprach ſie, ſich
leicht neigend: „Ihre Schülerin iſt ſchon hier, ich
bin es.“


Die Mutter wunderte ſich über die plötzliche
Dreiſtigkeit ihrer Tochter; aber ſie bemerkte, daß der
Lehrer erſchrak. Er wich einen halben Schritt zurück
und erröthete. Adelheid meinte ſpäter, die Mutter
könne ſich wohl getäuſcht haben, da es ſchon anfing
dunkel zu werden. Als die Jette das Licht gebracht,
ſetzte man ſich, und Herr van Aſten ſchien ſo unbe¬
[208] fangen als beim Eintritt. Man ſprach über dies und
jenes, Tagesereigniſſe und Naturerſcheinungen, man
ward über die Stunden einig, über die Bedingungen
war man es ſchon vorher durch den Geheimrath. Er
hatte gar nicht examinirt und doch ſagte er beim Ab¬
ſchied zur Mutter: er wiſſe nun genau, wo er an¬
fangen ſolle. Adelheid nahm das Licht vom Tiſch
und leuchtete ihm hinaus. Vom Treppengeländer
aus wünſchte ſie ihm eine gute Nacht.


Die Mutter begriff ihre Tochter nicht; noch eben
ſo bang und plötzlich ſo unbefangen. Adelheit er¬
klärte, der Herr van Aſten komme ihr gar nicht wie
ein Lehrer vor, ſondern wie ein gewöhnlicher Menſch.
Er ſpräche ja ſo, daß ein Kind ihn verſtehen könnte.
— Das aber grade machte die Mutter bedenklich, ob
ihr Mann auch an den rechten gerathen. Sie hatte
Achtung gegeben, ob er nicht ein Mal einen Dichter
oder einen berühmten Schriftſteller citiren werde.
Aber wenn ſie das Geſpräch darauf lenkte, brach er
ab, oder vielmehr er lenkte es auf Dinge, die jedem
geläufig, und wenn nicht, gab er ſolche Erklärungen
davon, daß ſie jedem verſtändlich wurden. Ein Lehrer
muß doch da ſein, um zu belehren, und doch wenig¬
ſtens zuweilen in ſchönen Redensarten ſprechen, dachte ſie,
die nicht Jedermann verſteht, die aber ſo ſchön klin¬
gen, daß man neugierig wird und zum Lernen Luſt
bekommt. Ihr Mann meinte, wenn die Stunden
anfingen, werde er wohl gelehrter ſprechen. Die
Kriegsräthin aber wollte ihre Freundin, die Obriſtin,
[209] bitten, einmal bei dem Unterricht zugegen zu ſein,
um ihr aufrichtig zu ſagen, ob der neue Lehrer
was tauge.


Nur über eins war ſie beruhigt. Bei dieſem
Manne war für ihre Tochter keine Gefahr, auch
wenn ſie einmal nicht in der Stunde zugegen wäre.
Er war ja viel älter, als ſie gedacht und blaß und
hatte auch einige Pockennarben, und tanzen konnte er
gewiß nicht. Sie meinte, es ginge ihm wohl küm¬
merlich, obſchon ſie ſich entſann, daß er einen feinen
Rock trug; und, um ihm etwas Gutes zu erzeigen,
dachte ſie daran, ihm einen Freitiſch anzubieten.


„Das würde ſich nun nicht ſchicken,“ ſagte der
Kriegsrath, der andern Tages von Erkundigungen
heim kam, die er im Intereſſe ſeines Kindes einge¬
zogen. Zuerſt hatten ihn die geſcheiteſten Leute ver¬
ſichert, der Herr van Aſten wiſſe mehr als in tauſend
Büchern ſteht, aber er habe den Tik, daß er das
Sprichwort zu ſchanden machen wolle: der ſpricht ja
wie ein Buch. Das wäre überhaupt jetzt Mode, daß
die gelehrten Leute nicht merken laſſen wollten, daß
ſie gelehrt wären.


Aber weit mehr verwunderte ſich die Kriegsräthin,
als ſie erfuhr, Herr van Aſten habe einen angeſehenen
Vater, den Principal des alten Handlungshauſes in
der Spandauer Straße. Weil er jedoch zu der jungen
äſthetiſchen Schule halte, die man Romantiker nennt,
habe er ſich mit ſeinem Vater überworfen, und ſei
aus deſſen Hauſe gezogen, und nehme keine Unter¬
I. 14[210] ſtützung von ihm an, ſondern er habe ſich vorgeſetzt,
ſich ſelbſt fortzuhelfen. So knapp es ihm gehe, ſchlage
er ſich durch, und es könne ihm Niemand etwas
nachſagen, als daß er ſtolz ſei und Andere nicht in
ſeine Angelegenheiten blicken laſſe.


Die Kriegsräthin ſah den jungen Mann ſchon
ganz anders an, als er zur erſten Stunde kam. Er
hatte neben dem feinen Rock auch ein feines Weſen.
Nur gefiel es ihr auch heute nicht, daß er die Adel¬
heid ſo viel ſprechen ließ und ſelbſt wenig ſprach.
Sie nahm ſich vor, nachher ihre Tochter zu rügen,
daß ſie ihre Unwiſſenheit ſo blos gegeben, aber wie
war ſie verwundert, als van Aſten ſie beim Fort¬
gehen verſicherte, daß Adelheid weit mehr aus ſich
heraus wiſſe, als er geglaubt, und daß ſie ſich ſelbſt
am beſten unterrichten werde. Der Lehrer brauche nur
wenig hinzuzuthun.


Und wie unbefangen reichte ſie ihm beim Ab¬
ſchied die Hand: „Auf Wiederſehn, Herr van Aſten.“
Das ſchien der Mutter gegen den Reſpect und nicht
ſchicklich. Adelheid ſah ſie aber groß an: „Wenn ich
ihm nun gut bin, ſoll es ſich nicht ſchicken, daß ich
ihm die Hand ſchüttele!“


Die Stunden hatten ihren Fortgang und Adel¬
heid reichte jedes Mal beim Abſchied dem Lehrer die
Hand, als an einem ſchönen Tage die Obriſtin mit
ihren Nichten vorfuhr, und die Mutter oder Adelheid
auffordern ließ, mit ihnen einen kleinen Abſtecher in's
Freie zu machen. Die Kriegsräthin entſchied auf der
[211] Stelle für Adelheid. Mutter und Tochter wechſelten
jetzt die Rollen, indem die letzte fragte, ob es ſich
auch ſchicke, während die erſte ſagte, wenn ihre Toch¬
ter ein Vergnügen habe, ſei es als ob ſie ſelbſt es
genoſſen, und was ſie denn für Bedenken haben könne?


Als Adelheid am Abend zurückkehrte, waren alle
Bedenken verſchwunden. In der Aufregung der
Freude floſſen ihre Lippen über. Liebenswürdiger
konnten Nichten und Tante nicht ſein. Wie an¬
muthig war die Unterhaltung gefloſſen während der
Spazierfahrt, wie raſch der Wagen dahin gerollt
durch den Thiergarten. Als ſie nach Hauſe fuhren,
hatten die Nichten ſie ſo dringend gebeten, einen
Augenblick bei ihnen hinaufzuſpringen. Die Tante
meinte, es ſei noch nicht alles eingerichtet. Aber die
Nichten ſagten: „Chère tante, ſie muß doch dein
rothes Shawl ſehen.“ Und oben die Zimmerchen,
es war ſo niedlich und fein, wie ſie es nie geſehen,
man fühlte den Fußboden nicht, ſolche weiche Decken
lagen, und Sophas an allen Wänden, und ſchwere
bunte Gardienen machten die Stuben dunkel, daß ſie
vor der Zeit Licht anzünden mußten. Keine Talg¬
lichte, ſondern eine Lampe mit gedämpftem Glaſe,
die an der Decke hing. Da hätte das Zimmer erſt
wunderbar ſchön ausgeſehen. Leider war der Schlüſſel
verlegt zum Kaſten, wo das rothe Tuch lag, und die
Tante hatte gemeint, ſie müſſe es zuerſt ein Mal bei
Tage ſehen, weil die Farben bei Licht ganz andere
würden. Auch war ein Beſuch gerade eingetreten,
14*[212] ein vornehmer Herr, vor dem es doch nicht ſchicklich
war, Toilette zu machen. Der Herr hatte ihr zuerſt
nicht ſehr gefallen, er war klein und hüftenlahm und ging
an einem Stock, der ihm als Krücke diente. Auch
ſein geröthetes Geſicht mit vielen Pickeln, war häßlich.
Aber ſie hätte bald auch da eingeſehen, wie der
Schein trügen kann. Er war ein Kammerherr vom
Hofe, der Herr von St. Real, den ſie ſchon nennen
gehört, der eine gelegentliche Vorfuhrviſite bei der
Obriſtin machte. Er war die Artigkeit ſelbſt gegen
die Damen und auch gegen ſie. Er ſprach ſo fein
und verbindlich, wie ſie noch keinen Herrn ſprechen
gehört, und ſchien alles zu wiſſen, denn er Iächelte
fein zu allem, was ſie ſagte, und machte dann eine
Bemerkung, woraus ſie ſah, daß er die Sache kannte.
Sie hatte nie geglaubt, daß die vornehmen Herren
ſo freundlich gegen Bürgerliche wären.


Er hatte ſich erkundigt, ob ſie Klavier ſpiele und
ſingen könne, und was ihre Lecture ſei, was ſie zuerſt
nicht verſtanden. Dann hätte er ihre Eltern ſehr
gelobt, daß ſie ihr keine Romane in die Hände
gäben, denn das ſei alles nicht wahr, was darin
ſtehe, und verwirre die Phantaſie.


„Und denkt Euch, fuhr ſie auf, er kennt auch
Herrn van Aſten! Denn er fragte, bei wem ich
Unterricht hätte? Und als ich ihn nannte, ſagte er,
er hätte von ihm gehört, daß er ein ſehr verſtändiger
junger Mann wäre. Und den Beweis ſähe er jetzt
vor Augen. Ich wurde roth. Aber er fuhr fort,
[213] das Gute komme doch wohl nicht alles vom Lehrer,
ſondern das Beſte von den Eltern. Ich war wie
übergoſſen, als er Deinen Namen nannte, Väterchen,
und in meiner Verlegenheit fragte ich ihn, ob er
Dich denn kennte? Ich ſelbſt habe nicht die Ehre,
antwortete er, aber der Name ihres Herrn Vaters iſt
bei Hofe wohl bekannt und ſehr gut angeſchrieben.“


Sie ſprang auf, und fiel dem Vater um den
Hals: „Väterchen, man kennt Dich bei Hofe!“


Die Mutter wiſchte eine Thräne aus dem Auge.
Der Vater meinte, man müſſe auch nicht alles glau¬
ben, was die Leute uns in's Geſicht ſagen.


Nachher hatte ſich der Kammerherr empfohlen,
ſo höflich und faſt reſpectvoll, daß ſie ſich wieder ge¬
ſchämt, denn gegen die Nichten war er gar nicht ſo
fein. Er hoffe ſie ein andermal wieder zu ſehen,
und die Obriſtin hatte geſagt, das ſolle nächſtens
geſchehen, auf eine Taſſe Chocolate, wenn ihre Woh¬
nung erſt ganz in Ordnung ſei, und darauf war ſie
mit dem Kammerherrn fortgefahren, in die Oper.
Ein Bediente ſollte Adelheid nach Hauſe bringen,
aber die Nichten hätten es ſich nicht nehmen laſſen,
ſie ſelbſt zu begleiten. Der Rückweg ſei nun nicht
ſo angenehm geweſen, denn ſie wären oft angeſprochen
worden von unverſchämten jungen Männern. Aber
die Nichten hätten ſie ſchön zurecht gewieſen: „Schä¬
men Sie ſich nicht, anſtändige Damen zu attaquiren!“
Da hätten die Herren gelacht, aber die Nichten hätten
ſie um Gottes Willen gebeten, es der Tante nicht
[214] wieder zu ſagen, denn ſie würde ſehr böſe ſein, weil
ſie die Adelheid wie ihren Augapfel liebte, aber ſie
hätten es ja auch nur gethan, weil ſie ſie noch mehr
lieb hätten.


Die Adelheid hatte in ihrer Aufregung und ihrer
Freude, daß ihr Vater bei Hofe bekannt ſei, das
Haus und die Straße vergeſſen. So wußte man
noch immer nicht, wo die Frau Obriſtin wohnte.


[[215]]

Vierzehntes Kapitel.
Auch eine Idylle.


Der Miniſter ſaß in ſeiner Laube. Die Laube
hatte die Ausſicht auf den ſehr großen Garten, von
dem nur der kleinere Theil von Gärtners Hand in
Blumenbeete und Weingelände geordnet war. Auf
durchſchnittnen Wieſen weideten Kühe mit Schweizer¬
geläut.


Vor dem Miniſter ſtand ein Tiſch mit Akten und
Schreibzeug. Neben ihm ſaß die Frau Miniſterin.


Der Miniſter ſaß in einer hellen linnenen Jacke,
und groben Haus- oder Gartenſchuhen. Das Akten¬
ſtück lag ſchon lange aufgeſchlagen vor ihm, die Dinte
in der Feder war eingetrocknet, und der Kanzleibote
hinter der Laube wartete eine halbe Stunde auf die
Unterſchrift des Citissime — denn der Miniſter horchte,
den Kopf im Arm, auf das Schweizergeläut.


Die Miniſterin, in einem ſo einfachen Haus¬
kleide, daß man ſie für eine einfache Bürgerfrau ge¬
halten hätte, wenn nicht ihre Haube mit Brüſſeler
Spitzen beſetzt geweſen, und ein Mullumwurf den
[216] bloßen Hals bedeckte, ſtrickte eifrig. Sie ſtrickte blau
wollene Strümpfe, und erzog ihre kleinen, die an
der Laube ſpielten. Wenn ſie ſich mit Sand warfen,
ſollte ſie den Streit ſchlichten, und doch dabei auch
auf die älteſte Tochter horchen, die auf ihrem Knie
Voſſens Louiſe ihr vorleſen mußte. Das Kind kam
mit den Hexametern ſelten zurecht und gähnte oft.


Der Miniſter richtete reſpirirend den Blick auf¬
wärts nach den reifenden Trauben am Laubendach.


„Du haſt wohl recht ſchwer zu arbeiten, ſagte
die Miniſterin. Du ſollteſt Dich ſchonen.“


„Mir war es eben, als wäre ich noch in Flo¬
renz. So ſchwebten auch die Trauben von unſrer
Veranda. Und dieſer Wieſenhauch! Als wehte es
von Fieſole her, und der Arno plätſcherte unter mir.“


„Ich weiß nicht, ob mir nicht dieſer Heugeruch lie¬
ber iſt als der Duft der Orangen. Iſt es überhaupt
Recht, daß Du ſo oft dahin zurückdenkſt? Solche
Vergleiche ſtören die Heiterkeit der Seele. Wir ſind
doch ein Mal in dieſem Lande, es iſt auch hier ſchön,
und wir ſind zufrieden und glücklich, und —“


„Und, fiel er ein, ihr die Hand reichend:


Süße heilige Natur

Laß uns gehn auf deiner Spur,

Leite uns an deiner Hand

Wie ein Kind am Gängelband.“

Die Miniſterin accompagnirte die Stollbergſchen
Verſe durch eine ſtumme Lippenbewegung, indem ſie
andächtig in die Luft ſchaute. Dann zählte ſie die
[217] Maſchen, ſie hatte eine verloren. Der Kanzleidiener
räusperte ſich umſonſt. Das Ehepaar war in ſein
ſtilles Glück verſunken, und in Betrachtungen, warum
Leopold Stollberg katholiſch geworden.


Die Frau Miniſterin wußte diesmal nicht, wa¬
rum der Miniſter reſpirirend ſchwer den Blick nach
den Trauben gerichtet; warum er das Citiſſime drei
Mal durchleſen hatte, ohne zu wiſſen, was darin
ſtand; warum er wie ein Träumer auf das Schwei¬
zergeläut hörte; kurz, warum er in der elegiſchen
Stimmung war.


Vor einer Stunde hätte man ihn in ſeinem Ar¬
beitszimmer in einer ganz andern gefunden. Eine
Nachricht hatte ihn aus ſeiner Ruhe gebracht. Er
hatte laut für ſich gerufen: „Dann iſt Alles aus!
Dann gehn wir Alle unter!“ Er hatte — nach ſeinem
Kammerdiener und Jäger geſchellt: „Anſpannen und
Ankleiden!“ Er wollte an den Hof fahren, ſelbſt der
Majeſtät die dringendſten Vorſtellungen zu Füßen
legen. Er hatte ſchon die Hofbeinkleider an und der
Kammerdiener neſtelte die Schnallen, als er ihn wie¬
der hinaus ſchickte; er wollte ſich einen Augenblick
ausruhen. Auf das Sopha ſich niederlaſſend, löſte
er unwillkührlich die Bundſchnalle. Es war ſo heiß!
„Wozu ſich denn auch perſönlich den Aerger bereiten!“
Es wäre doch möglich, daß er mit dem Könige an¬
einander gerieth. Das fruchtet ja zu nichts! Er konnte
ſchriftlich ſeine Gründe aufſetzen, warum der Mann,
deſſen Name ihn ſo erſchreckt, nicht zum Miniſter tauge.


[218]

Er hatte wieder geklingelt, und der Kammer¬
diener ihn entkleiden müſſen. „Und die Equipage,
Excellenz?“ — „Ausſpannen!“ Der Secretair hatte
die Schreibmaterialien zurecht legen müſſen, der beſte
und fertigſte Copiſt in Bereitſchaft ſtehen. Der Co¬
piſt hatte eine Stunde mit eingetauchter Feder bereit
geſtanden, es ſtanden aber erſt zwei und eine halbe
Zeile auf dem Conceptbogen.


Der Miniſter ſaß auch gar nicht mehr am
Schreibtiſch, er ſaß zurückgelehnt auf dem Sopha.
„Entweder es iſt, oder es iſt nicht, dachte Seine
Excellenz. Wenn es nicht iſt, ſo iſt es gut, wenn
es iſt, ſo iſt es vielleicht auch gut, — gähnte er, von
der Hitze im Zimmer übermannt — dann iſt doch
das Ende vom Liede, daß wir unſere Entlaſſung
nehmen müſſen.“ Weshalb ſich für dieſe Eventualität
noch mit einem ſchwierigen und kitzlichen Memoire be¬
faſſen, es kann der Griff in ein Wespenneſt werden,
und an ſtechenden Inſecten fehlte es ohnedies nicht.
Eine unverſchämte Bremſe ſchwirrte unermüdlich um
ſeine heiße Stirn.


Der Secretair hatte ſich lächelnd von der Thür,
an der er gelauſcht, an ſein Pult begeben, und der
Copiſt auch lächelnd ſeine Feder ausgewiſcht, als man
den Miniſter endlich ſah, mit dem Battiſttuch ſich Luft
wedelnd, ins Freie begeben. Beim Durchgehen hatte
er verordnet, die Akten ihm in die Laube zu tragen.


Die ſtille Scene glücklicher Häuslichkeit, in wel¬
cher die Sorgen von vorhin ſchon verſchwunden
[219] ſchienen, hatte aber noch einen Beobachter. Der Ge¬
heimrath Bovillard ſtand unfern von dem Eingang
der Laube, den Hut im Arm, und die Arme gekreuzt.
Eine Pauſe benutzend, trat er mit einigem Ge¬
räuſch vor:


„Sie haben uns wohl belauſcht, lieber Bovillard,
ſagte die Miniſterin. Das iſt nicht recht; wer zur
Familie gehört, der muß nie zu ſtören fürchten.“


Er wollte ihre Hand an die Lippen führen, ſie
zog ſie unwillig zurück: „Wir ſind Deutſche. Einen
ehrlichen Handſchlag.“


„Ich bewundere Ihren Fleiß Excellenz.“


Der Handſchlag war weit ſanfter als den der Ge¬
heimrath neulich Abend mit dem Rittmeiſter tauſchte.


„Häusliche Angelegenheiten, ſagte die Excellenz,
gehen der Freundſchaft vor. Halte mir mal Deinen
Fuß her, lieber Chriſtian!“


Sie probirte den Strumpf am Fuße des Mi¬
niſters: „Sie lächeln wohl über mich, Bovillard.
Das genirt mich aber gar nicht. Ehe wir's uns verſehen,
kommt der Winter ins Haus, und da muß eine gute
Hausfrau bei Zeiten geſorgt haben. Setzen Sie ſich,
und plaudern mit meinem Mann von Staats- und
gelehrten Dingen, ich werde Sie nicht ſtören.“


„Und keinen Handſchlag für mich?“ ſagte der
Miniſter, ſeine Hand über den Tiſch ihm entgegen
haltend!


„Frauendienſt geht vor Herrendienſt.“


Der Geheimrath nahm mit anſcheinender Behag¬
[220] lichkeit Platz auf dem Gartenſchemel. Lieber hätte er
in einem Fauteuil geſeſſen.


„Ach wer auch eine Frau hätte, die uns Strümpfe
ſtrickte!“


„Iſt Ihre Schuld, Bovillard. Warum haben
Sie nicht wieder geheirathet?“


„Wo jetzt Frauen finden, die wie Excellenz nur
für das Glück ihres Mannes leben.“


„Wenn man ſie ſuchte, würde man ſie ſchon
finden.“


„Alles will jetzt äſthetiſch ſein.“
„Und Sie, wenn Sie eine Frau hätten, die
Ihnen Strümpfe ſtrickte, würden franzöſiſche Spott¬
verſe auf ſie machen. Im Ernſt, Geheimrath. Beſ¬
ſern Sie ſich ein Bischen.“


„Soll ich katholiſch werden, wie Graf Stollberg?
Wenn Excellenz befehlen tout à vos ordres.“


„Pfui über den Spötter und Atheiſten! Da
ſitzen ſie nun wieder mit dem Rücken gegen die Natur.“


„Ich kann Excellenz doch nicht den Rücken kehren.“


„Sinn für Häuslichkeit einem ſo eingefleiſchten
Admirateur der franzöſiſchen Literatur beizubringen,
müſſen wir wohl aufgeben, aber rührt Sie denn gar
nicht die Natur, hat nie eine Nachtigall Sie ergriffen?“


„Nein, Excellenz! Aber ich hätte beinahe mal
eine ergriffen. Sie flatterte nur wieder fort.“


„Incorrigibler Flattergeiſt! Sehn Sie, meine
Angelique laß ich Voſſens Louiſe leſen, und freue
mich wie das Kind immer mehr Sinn dafür bekommt.“


[221]

„Ach wer wieder ein Kind werden könnte!“


„Und wer kein Staatsmann geworden wäre!
ſeufzte der Miniſter. Ich war eigentlich zum Herrn¬
huter geboren. Warum mußte man mich hinausreißen
an die Höfe, ins Feld der Intriguen. Ich hätte ein
Vater unter meinen Unterthanen gelebt, ſie beglückend,
ſelbſt beglückt.“


„Und nun beglücken Excellenz ein ganzes Volk.
Voilà la différence!“


„Das mich verunglimpft, weil ich — ſolche gute
Freunde habe.“


„Wir wollen uns Alle beſſern, Excellenz! Dieſe
Laube ſei der Tempel der Tugend, wo wir ihr Ge¬
horſam geloben, und die Frau Miniſterin die erha¬
bene Prieſterin, welche unſre Schwüre empfängt.“


A propos, hub die Miniſterin an, wiſſen Sie
denn den Vorfall von geſtern bei Hofe?“


Der Geheimrath kannte ihn noch nicht.


„Der König und die Königin hatten eine Land¬
partie verabredet, nach Pichelswerder. Sie laden die
alte Voß ein, daran Theil zu nehmen. Aber ganz
ländlich heißt es. Wird das unſrer lieben Gräfin
auch anſtehen? Sie fühlt ſich unendlich geehrt, an
einem Vergnügen Theil zu nehmen, was Ihro Ma¬
jeſtäten nicht verſchmähen, und in voller Galla rauſcht
ſie die Treppen hinunter, worüber die Majeſtäten
ſchon kaum ihre Luſt zurückhalten. Denn mit Schrecken
ſieht die Gräfin die Mütze des Königs, und die Kö¬
nigin in dem Morgenrock, der ihr ſo reizend ſteht.
[222] Aber unten im Charlottenburger Hofe! Was ſteht
vor der Thür? Ein Leiterwagen mit Stroh! — Sie
fragt nach der königlichen Kutſche? — Dies iſt ſie,
ſagt der König, wir werden uns etwas behelfen
müſſen, ländlich, ſittlich. Die alte Voß iſt erſtarrt,
aber noch entſetzter, als ſie ſieht, wie der König die
Königin hinaufhebt. Die andern Hofdamen helfen
ſich ſelbſt. Der König bietet endlich der alten Dame
ſeine Dienſte an, aber ſie erklärt feierlich: ſo lange
ſie ihr Amt als Ober-Ceremonienmeiſterin nicht ver¬
wirkt oder verloren, werde und könne ſie ſich dazu nicht
entſchließen. Und, ſetzte ſie hinzu, wenn ich auch ſo
unglücklich wäre, darüber die Gnade Ihro Majeſtäten
zu verlieren! — Der König ſagte freundlich: „Um
des Himmels willen, liebe Voß, wenn Sie nicht
mitwollen, bleiben Sie zurück, aber meine volle Gnade
bleibt bei Ihnen. Und hinauf ſprang er und der
Wagen rollte fort.“


Der Geheimrath ſchnalzte auf: „Délicieux! die
alte Voß allein am Thor wie die Henne am Teich!“


„Ich glaube Comteß Laura, fuhr die Miniſterin
fort, und zog ihren Strumpf — ich glaube, die hat
auch nicht ſehr vergnügte Mienen auf dem Leiterwagen
gemacht. Es iſt erſchrecklich, welche Airs ſie ſich giebt.“


„Ich finde ſie nicht mal ſchön,“ ſagte Bovillard
am Halstuch zupfend. Er fand ſie nicht ſchön, weil
auf dem Geſicht der Miniſterin etwas ſtand, was
ihm ſagte, daß die Miniſterin eine ſolche Findung
wünſchte.


[223]

„Sie fiſcht ihn auch nicht weg,“ ſprach der
Miniſter.


„Und wenn, meine weiſe Herren — fiel die
Miniſterin ein, was hätten Sie gewonnen! Hat ſie
den Esprit, um ihn zu gouverniren? So wenig als
die Fromm, die Pauline, und die andern. Er iſt
zu impetuös. Ueberdies, erlauben Sie mir, ich finde
es von ſo klugen Leuten unverantwortlich, eine ſolche
Perſon in ihre Confidence zu ziehen.“


Der Miniſter meinte, ſie hätte wohl neulich beim
thé dansant zu ſcharf geſehen. Als Frau ſei die
Comteß ein gutmüthig Geſchöpf.


„Daß ſie ſich mir da vordrängte, will ich ihr
vergeben haben, ſagte die Miniſterin, ſie hat keinen
Takt; aber ich bitte Sie, wenn auch Comteß Laura
ſich unterſtehen will, das Mulltuch um den Hals zu
binden, wie unſre tugendhafte Königin, ſo finde ich
das rebutant, ja geradezu rebutant, meine Herren,
und ich wenigſtens mit meinem ſchwachen Verſtande
begreife nicht, wie man das hingehen laſſen kann.
Aber die Herren werden wohl Gründe dafür haben. — Die
Herren haben auch zu ſprechen, was ich nicht hören
ſoll, ſetzte ſie, das Strickzeug weglegend, hinzu, und
ich will Sie nicht ſtören. Aber das ſage ich Ihnen,
ich bin keine Freundin von Intriguen. Schlicht und
grad, damit kommt man am weiteſten. Geben Sie
es auf, den Prinzen einzufangen. Er bricht durch
alle ihre Netze. Und was hätten Sie am Ende ge¬
fangen! Er hat eine Partei, aber dieſe Partei wird
[224] nie an's Ruder kommen, ſo lange er und der König
ihre Natur nicht changiren, und die klugen Herren
klug handeln. Umſtellen Sie Seine Majeſtät, ſein
Sie auf der Hut, daß keine zweifelhafte Perſon
in ſeiner Nähe ſich feſtniſtet, laſſen Sie ihm alle
Extravaganzen des Prinzen zu Ohren kommen, auch
immerhin ſeine genialen Streiche, die in einem ge¬
wiſſen Publikum ſo viele Bewunderer finden. Deſto
beſſer, der König kann nun einmal geniale Streiche
nicht leiden. Das Uebrige macht ſich dann von ſelbſt.“


Der Miniſter hatte ſeine Gemahlin umarmt:
„Mir aus der Seele geſprochen. Nichts von Intri¬
guen! Den geraden Weg.“


Der Geheimrath und der Miniſter hatten aller¬
dings ein Geſchäft.


„Excellenz hatten die Eingabe vor ſich, wie ich
zu ſehen glaubte,“ ſagte der Geheimrath als ſie durch
ein Weinſpalier gingen, wo der Miniſter die Trauben
mit Luſt befühlte, und weit mehr Luſt zu haben ſchien,
ein naturhiſtoriſches Geſpräch zu führen, als über die
Angelegenheit, um die der Begleiter gekommen war.


„Und geleſen, ſeufzte der Miniſter, als er nicht
mehr ausweichen konnte. Aber ich bitte Sie, Freund,
Sie laſen ſie doch auch.“


„Ich finde die Angelegenheit ſehr klar dargeſtellt.“


„Ja, klarer kann es kaum ſein, daß man die
Gefangenen beſchwatzt hat, etwas zu unterſchreiben,
was ein handgreifliches Märchen iſt. Sie atteſtiren,
daß ſie unter ſich, in der Freude ihres Herzens zur
[225] Vorfeier des königlichen Geburtstags einen ungebühr¬
lichen Lärm gemacht, daß ſie dadurch den Voigt in
ihr Gefängniß gelockt, daß ſie die Thür hinter ihm
verſchloſſen, und ihn gezwungen, an ihrem Gelage
Theil zu nehmen, bis es ihm zu arg geworden. Ich
bitte Sie, was conſtirt denn ſelbſt aus dieſer Er¬
zählung? Selbſt wenn die Fabel Wahrheit wäre, hat
ein Menſch, der ſo wenig ſeine Autorität zu erhalten
weiß, ſein Amt verwirkt. — Wer iſt dieſer Herr v. Wan¬
del? fragte er mit verändertem Tone. Warum inte¬
reſſirt ſich dieſer Legationsrath ſo lebhaft für die Sache?“


„Es iſt nicht die erſte, Excellenz.“


„In die er ſich miſcht. Ich weiß es. Er tritt
auf wie der „Alte überall und nirgends.“ Dieſe Ge¬
fliſſentlichkeit, ſich in Dinge zu miſchen, die ihn nichts
angehen, gefällt mir nicht!“


„Was kann er davon haben, daß Lupinus los
kommt? — Excellenz halten ihn für einen Aventurier.
Aber er ſpielt nicht, macht keinen übermäßigen Auf¬
wand, er beſchäftigt ſich mit den Naturwiſſenſchaften.“


„Darum kommt man wohl jetzt nach Berlin!
Darum drängt man ſich in alle Geſellſchaften, macht
den Affairirten, weiß um alle Secrets, macht ſich bei
Prinzen und Damen beliebt, ſpielt hier den Weiſen,
dort den Liebenswürdigen, und für uns Alle den
Räthſelhaften.“


„Er iſt ein Mann des Friedens,“ lächelte Bo¬
villard.


„Aber unſeres Friedens! Er iſt zu klug, um
I. 15[226] zu ſchwärmen, alſo was will er? Ich liebe nicht die
räthſelhaften Menſchen. Wäre er nur ein Kund¬
ſchafter, ein Agent von Napoleon oder Kaiſer Alexander,
von wem es ſei, gleich viel, ich wüßte mich mit ihm
zu ſtellen, aber der Abgeſandte einer unbekannten
Puiſſance, der hat etwas — bleiben Sie mir mit
ihm vom Halſe, ich geſtehe, mir wird unwohl, wenn
ich in das gläſerne Geſicht ſehe.


Bovillard lächelte nicht, er erlaubte ſich zu lachen:
„Excellenz! er iſt ein Schwärmer. Zudem ein Phi¬
loſoph. Er hat ein Syſtem. Männer mit Ideen
pflegt keine Puiſſance zu Spionen zu wählen.“


Der Einwand frappirte den Miniſter: „Jeden¬
falls muß man mit ſolchem Menſchen vorſichtig ſein.“


Er blieb am Ausgange der Wein-Allee ſtehen:
„Bovillard, wozu denn der Embarras, um einen
Menſchen zu retten, der ſein Schickſal verdient hat!
Seine Dinés ſind doch, dünkt mich, zu erſetzen.“


„Excellenz, ein Ring heraus und eine Kette iſt
entzwei. Seine Familienverbindungen!“


„Man darf nicht ſchonen, wo es an den eigenen
Ruf geht. Sie haben es nicht zu vertreten, aber ich,
wenn es am Hofe heißt: das iſt Einer von der Lom¬
bardſchen Klicke! Grade wenn wir ihn ſpringen
laſſen, befeſtigen wir unſeren Ruf.“


„Er hat mir ſo aufrichtig Beſſerung gelobt.“


Der Miniſter ſah ihn mit kaum unterdrücktem
Lächeln an. „Und dann der König! Es geht nicht,
er iſt diesmal ſelbſt Partei!“


[227]

„Ich weiß, ich weiß. — Indeſſen ſollten Excellenz
— ich meine, wenn Sie ſich der Sache annehmen
wollten, wenn Sie das Loos der armen Kinder
des Geheimeraths mit aller Ihrer Humanität er¬
wögen, ſollte es Excellenz nicht möglich ſein, vor der
königlichen Huld und Gnade die Sache in einem
Lichte — aber — mein Gott wie ſchön iſt die Aus¬
ſicht! Welch ein wunderbares Licht!“


Sie waren aus dem Weingang in's Freie ge¬
treten, und der Geheimerath blieb wie verloren in
der Anſchauung ſtehen. Ein Eiſen muß man ſchmieden,
wenn es heiß iſt, aber an eine Thür, die man ver¬
ſchloſſen findet, nicht klopfen bis das Haus in Auf¬
ruhr geräth. Wenn man wartet, öffnet ſie ſich wohl
von ſelbſt.


„In dieſer Verdure glaubt man doch die Alpen¬
friſche wieder zu ſehen. Wie geſchickt Excellenz die
Stadtmauer da mit Gebüſch verſteckt haben.“


„Der Garten war ſehr moraſtig, ſagte der Mi¬
niſter, als ich das Grundſtück kaufte, es war mein
Vergnügen, das Waſſer in Gräben zu leiten, die ſich
aber wie natürliche Bäche ſchlängeln. Hält man die
ſchilfigte Krümmung dort wohl für gegraben?“


Der Geheimerath fand, die Lorgnette im Auge,
nichts als Natur: „Da auch Mummeln im Teich —
ich wollte ſagen in dem kleinen See. Il faut avouer,
que c'est plus qu'imiter la nature. C'est la nature
prise sur le fait.“


Er wollte ſich auf einen abgehauenen Baum¬
15*[228] ſtamm am Ufer des künſtlichen Baches ſtellen, um
ſich im Waſſer zu ſpiegeln. Der Miniſter hielt ihn
am Rockſchooß zurück: „Um Gottes Willen, er kippt
über. Mein Gärtner hat ihn erſt heut Morgen aus
Treptow eingefahren.“


„En verité! ſagte der Geheimerath, die Täuſchung
iſt mir lieb, denn ich wollte ſchon mit Ihnen zürnen,
einen ſolchen Kernbaum umzuhauen!“


„Wo ſollte ein Baum von ſolchen Dimenſionen
auf dieſem Boden fortkommen, entgegnete der Mi¬
niſter, über die Täuſchung doch nicht ganz unzufrieden.
Wenn ich auf etwas mir zu Gute thue, iſt es nächſt
meinem Weinbau, von dem Sie ja wohl ſchon ge¬
leſen haben werden, ſetzte er lächelnd hinzu, auf
meine Kühe. Es iſt holſteiniſche Zucht. Beyme will
in Steglitz auch den Verſuch machen, ich zweifle aber,
daß ſie ihm fortkommen. — Und mit welchen Vor¬
urtheilen ich zu kämpfen hatte! Zwei Kuhhirten mußte
ich entlaſſen. Der eine hielt das Schweizergeläut den
Kühen für ſchädlich! Wohin ſehen Sie dort?“


„Was iſt das blendende Weiß da?“


„Meinen Sie das Stückchen Stadtmauer, worauf
die Sonne ſcheint. Der Theil iſt neu geweißt.“


„Sollt' ich mich ſo getäuſcht haben! — Richtig!
Sie ſpringt da grade über die Büſche. Wiſſen, Ex¬
cellenz, es iſt eine Thorheit — aber die Phantaſie
geht oft mit uns durch — in dem Augenblick dacht'
ich an Schnee. Man könnte der Illuſion zu Hülfe
kommen. Ich meine —“


[229]

Der Miniſter fiel ein, er ſei kein Freund der
Spielereien im Wörlitzer Styl: „die Natur und nichts
als die Natur! Da hatte ich auch einen Waſſerfall
angelegt, ich habe aber die Steine wieder heraus¬
nehmen laſſen. Man erreicht weder ihre Größe, noch
ihre Einfachheit.“


Der Geheimrath empfand in dem Augenblick
eine unangenehme Berührung auf dem Rücken. Der
Miniſter zückte ſogar ſchmerzhaft zuſammen, denn eins
der Kieſelſteinchen, mit denen beide beworfen wurden,
hatte ihn in dem Nacken getroffen.


[[230]]

Fünfzehntes Kapitel.
Von Urmenſchen und groſsen Menſchen im
Schlafrock
.


„Verfluchter Junge! entſchlüpfte es ihm, indem
er ſich umdrehend die Hand erhob. Jean, oder warſt
Du es, Jacques! Du ſiehſt doch, ich bin nicht
allein.“


Statt der Antwort flog ein neuer Steinhagel.
Er kam aus den Aeſten einer der Ulmen, die in
einiger Entfernung durch ein ſeichtes Waſſer von
ihnen getrennt in einer Gruppe Buſchwerk ſtanden.
Bovillards Lorgnette entdeckte in den Aeſten einen
der Knaben des Miniſters, einen andern am Ufer
als wilder Mann coſtumirt. Dieſer ſchrie, auf ſeine
Keule geſtützt, in unartikulirten Tönen, deren leicht
verſtändlicher Sinn war, daß ſie Rieſen oder Wald¬
menſchen wären, denen dieſer Wald gehöre, und daß
kein Fremdling aus der feigen, ſchwächlichen Menſchen¬
race ſich in ihr Territorium ungeſtraft verirren dürfe.


[231]

„Da werden wir wohl unterhandeln müſſen, lieber
Bovillard.“


„Ah, Dero Herren Söhne — ſpielen Ritter“


„Die Paſſion iſt vorbei, ſie wollen nichts als
Menſchen, Urmenſchen ſein. Na, Jean Jacques,
ſagt, was wollt Ihr denn von uns?“


„Jean Jacques! Sind ihnen ihre Taufnamen
Hugo und Buſſo nicht urmenſchlich genug?“


„Eine Paſſion meiner Frau.“ Der Miniſter
verneigte ſich: „Alſo Ihr großmächtigen Herren
der Inſel und Gebietiger des Waldes, was for¬
dert Ihr von uns armen Menſchenkindern, damit
wir unter Eurer Gnade einen ungehinderten Durch¬
weg haben.“


Während die Knaben dies „freche Anſinnen,“
wie ſie es nannten, in Ueberlegung ziehen wollten,
und dazu der eine Waldmenſch vom Baume herab¬
rutſchte, hatte Bovillard Zeit die Inſel zu betrachten,
von deren Exiſtenz er noch nichts wußte. Sie war
ſichtlich erſt vor kurzem gegraben, ſo wie die künſt¬
liche Höhle aufgeſchüttet von Erdreich, Aeſten und
Moos mit rohem Tiſch und Bänken, und ein ſchad¬
haftes Bärenfell, das am Eingang hing, verrieth
an ſeiner Furnitur, daß es von irgend einem Lieb¬
habertheater ſtammte.


Der Rieſe, indem er den Blätterkranz auf der
Stirn zurecht rückte, während der Andere das Bären¬
fell auf die Erde breitete und ſich in maleriſcher Po¬
ſition hinwarf, ſtellte nun in einer ſchwulſtigen Knaben¬
[232] rede an die jämmerlichen Wichte und elenden Creaturen
der Civiliſation ſeine Forderungen und Vorſtellungen:
daß ſie, die auf Lotterbetten lägen und den Gaumen
kitzelten mit feinen Weinen und Speiſen, ihnen, den
Waldmenſchen, die auf Wurzeln ſchliefen und von
Eicheln lebten, ihr Trank das klare Quellwaſſer, ihr
Becher die Hand, nicht einmal ihr letztes Aſyl, die
Waldwildniß gönnten. Wohl kennten ſie, die Ur¬
menſchen, die Argliſt ihrer Verfolger, die ihnen die
Erde entriſſen, und ſie wilde Männer ſchälten, und
daß ſie nur kämen, um ſie auszukundſchaften und
durch gleisneriſche Worte zu betrügen. Eigentlich
ſollten ſie nun zu ihrer Rettung die verrätheriſchen
Spione der Culturmenſchen vernichten, aber die Wald¬
menſchen wären großmüthiger, ſie wollten ihre Hände
nicht mit ihrem Blute beſudeln, denn Allvater rauſche
in den Eichen über ihnen: Laßt ſie noch diesmal
laufen! Darum möchten ſie noch diesmal laufen,
mit geduckten Köpfen, die Hände auf dem Rücken,
laufen, was ſie könnten, denn wenn ſie bis zwölf
gezählt, würden ſie Felsſtücke auf ihre Schädel nach¬
ſchleudern.


„C'est bien joli!“ ſagte der Geheimerath und
klopfte den Staub von den Füßen, als ſie außer
Athem die Büſche erreicht.


„Ein prächtiger Junge!“


„Aber wie kamen Sie auf die Idee?“


„Ganz ihre eigene. Das iſt es eben, was mich
freut. Auf einem Spaziergange im Thiergarten
[233] ſprach meine Frau beim Anblick der Urne auf der
Rouſſeau-Inſel einige gefühlvolle Wort[e]. Die Jun¬
gen ſchnappten es auf; wir mußten ihnen erklären,
wer Rouſſeau geweſen, es kam dazu, daß ſie vor
Kurzem den Robinſon geleſen — kurz die Jungen
wollten als Einſiedler auf einer Inſel leben. Sie
glauben nicht, mit welchem Scharfſinn ſie argumen¬
tirten. Wir riskirten, daß die Kinder uns eines
Morgens fortliefen und nach der Rouſſeau-Inſel
wateten. Um den Scandal zu verhindern, ließ ich
ihnen dieſe hier graben. Es gab eine angenehme
Beſchäftigung, und jetzt muß ich wirklich ihre Per¬
ſeverence admiriren, mit der ſie ſich auf der Inſel —


„Ennuyiren,“ fiel der Geheimerath ein.


Es trat eine Pauſe ein. Der Miniſter hub
wieder an: „Ich gebe Ihnen zu, Bovillard, wir er¬
ſcheinen als Kinder, indem wir dies unterſtützen.
Ich gebe Ihnen noch mehr zu, meine ganze in einer
großen Stadt hervorgezauberte Ländlichkeit iſt auch
nur ein Kinderſpiel; wer aber hielte es aus ohne
ein Spiel der Phantaſie! Nur darin iſt der Unter¬
ſchied, daß die Einen es wie ein joujou de la Nor¬
mandie
in die Hand nehmen, um es aufzurollen und
wieder fallen zu laſſen. Wir Andere vertiefen uns,
glücklich wenn wir in dem Spiel uns ſelbſt vergeſſen.“


„Die Tiefe Ihrer Sentiments, Excellenz, wird
Ihnen Niemand abſtreiten.“


„Sagen Sie lieber Innigkeit, Zärtlichkeit, wie
Sie wollen. Ich empfinde es tiefer als Viele, was
[234] uns Alle abmattet. Wie es um uns her grau iſt, ab¬
gelebt ausſieht, wie auf einem Stoppelfelde! Was
ging nicht unter! Unſere Adelsherrlichkeit, unſere
Schlöſſer und Burgen! Der Lüſtre unſerer Salons!
Das heilige Römiſche Reich folgte unſerem Glauben
an ſeine Herrlichkeit. Was iſt unſere Philoſophie,
unſere Gelehrſamkeit, ſelbſt unſere Poeſie und Lite¬
ratur, die kaum aufgeblühten, die kaum das Aus¬
land zu obſerviren ſchienen — ils sont passés ces
jours de fête,
denn ſelbſt dem vergötterten Schiller
zupfen die jungen Romantiker ſeine Schwanen¬
federn aus.“


„Excellenz ein anderer Matthiſſon! Elegieen auf
die Ruinen einer verfallenen Welt!“


„Durchrieſelt uns nicht Alle das Gefühl eines
inneren Zerfalls der Dinge! Unſere Cultur, unſere
Induſtrie, Politik, vielleicht ſelbſt unſere Population,
alle zu weit getrieben, ſchmachten nach einer Re¬
creation.“


„Um Rouſſeau'ſche Ourangutangs zu werden?“


„Rouſſeau ging zu weit, ich gebe auch das zu.
Wie ſie in Neapel auf der Lava Weingelände
bauen, mögen wir um die Ruinen Gärtchen pflanzen.
Das iſt unſere Aufgabe. Sehn Sie dieſe Stadt¬
mauer, wie weit hinaus über das Bedürfniß hat ſie
Friedrichs coloſſales Genie geſtreckt. Die Häuſer
kommen ihnen nicht nach, welche immenſe Maſſen
Ackerfeld liegen darinnen. Nun iſt es an uns, die
Natur wieder mit der Kunſt zu verbinden. So be¬
[235] trachte ich meine Gartenanlagen, der Park vermittelt
das Feld mit dem Garten, der Garten, als Gemüſe-,
Obſt-, Ziergarten, den Park mit der Stadt.“


„Ja wer das Vermitteln wie Excellenz verſteht!“


„Die Haushaltung unſeres jungen Königs, ich
gebe auch das ihnen zu, erſcheint wie ein zu ſchroffer
Gegenſatz gegen die vorige. Auch damals wollte
man die Natur, aber es war ein zu voller bunter
Blumengarten, ein Gewächshaus mit Tulpen, Nel¬
ken, Lilien, Levkoyen, deren Duft und Farbenpracht
uns eblouirte. Mit dem erſten Froſt ſenkten ſie die
Köpfe und die ganze Herrlichkeit war welk. Was
nun natürlicher als daß unſer junger Herr es anders
anfängt. Er will wieder das natürliche Grün, den Klee,
die Wieſenblumen, die keiner Heizung, keiner Glasſchei¬
ben bedürfen, die immer wieder aufblühen, auch wenn
noch ſo viel Füße den Raſen zertreten, denn dieſe Natur
iſt ewig, dieſe beſcheidene, ſich ſelbſt genügende, die nicht
prunken will vor der Welt. Dies iſt meine Recreation, und
ſehen Sie, Bovillard, darum iſt mir der Hang mei¬
ner Kinder ſo rührend. Niemand hat ihn eingeflößt,
ganz von ſelbſt kehren ſie zum Natürlichen zurück.
Ich will ſie nicht zu Anachoreten und wilden Män¬
nern erziehen. Aber die Jugend muß den Ueber¬
muth abſchäumen, ihre Inklinationen klären ſich dann
von ſelbſt, und als Jünglinge werden ſie in edler
Einfalt der Sitten das Maaß und die Genügſam¬
keit bewahren, die ſie auf dem Pfad der edlen und
rechtſchaffenen Menſchen zu ihrem Ziele führt.“


[236]

Durch den Buſchweg, den ſie nach dem Hauſe
einſchlugen, kam ihnen der Kammerdiener mit einem
verdeckten Korbe entgegen: „Ah Recreationen, die
uns die Frau Miniſterin ſchickt!“ rief Bovillard, der
hungrig geworden, und ſchlug die Serviette zurück.
Die friſchen Kirſchkuchen und das Gelée in Gläſern
blickte ihm nicht unangenehm entgegen, aber der Kam¬
merdiener zog den Korb entſchieden zurück: „Ver¬
zeihn Sie, gnädiger Herr, das iſt für die Herren
Urmenſchen auf der Inſel. Ich habe mich etwas
verſpätet.“


„Gedulden Sie ſich etwas, lieber Bovillard.
Für Ihren Geſchmack ſind doch nicht dieſe idylliſchen
Fruchtgenüſſe. Aber ich will Ihnen eine allerliebſte kleine
Straßburgerin vorſetzen, lächelte die Excellenz. Wenn
auch nicht ganz Unſchuld, doch ſehr pikant, und eben
friſch angekommen.“


„Die Damen bleiben doch die Blüthen der Na¬
tur, entgegnete der Geheimrath, ich meine aber die
in der Mitte zwiſchen Gänſeblumen und verwelkten
Tulpen.“


Bei einer Oeffnung der Büſche hatten die Spa¬
ziergänger einen Blick auf die Rückſeite der ſogenann¬
ten Inſel. Der Kammerdiener hatte auf einer Stange
den Erfriſchungskorb hinüber gereicht. Die [Urmen¬
ſchen]
hielten es für naturgemäß, ſich darum zu
balgen. Der ſtärkere ſtemmte den Kopf gegen den
Bauch des andern und hob ihn durch einen gym¬
naſtiſchen Schwung auf die Schultern.


[237]

Bovillard lachte, der Miniſter glaubte eine Er¬
klärung oder Entſchuldigung geben zu müſſen. Die
Kinder glaubten nur, es den wilden Thieren nachthun
zu müſſen, wenn ihnen das Freſſen vorgeworfen
wird; übrigens liebten ſie ſich als Brüder und wür¬
den nachher ſchon gerecht theilen.


„Ich lache nicht darüber, mir kam nur eine
Scene bei Rietz in den Sinn.“


„Bei Rietz,“ wiederholte der Miniſter nach¬
ſinnend.


Um des Geheimrathes Lippen ſchwebte ein fau¬
niſches Lächeln: „Excellenz werden ſich vielleicht noch
der Jenny erinnern. Sie ſang uns da die Mar¬
ſeillaiſe entzückend ſchön. Während wir klatſchten,
rief ſie mit einem Mal: ça ira! und mit einem Satz
vom Stuhl auf den Tiſch. Schenkt ein! rief das
delicieuſe Weſen, und nur auf einem Zeh ſchwebend,
hob ſie das ſchäumende Glas: Vive la liberté! Ohne
einen Tropfen zu vergießen, trank ſie's aus. Eine
Grazie, wie eine Göttin, wie ſie zwiſchen den Fla¬
ſchen ſchwebte, das leichte Mouſſelinkleid in antiken
Falten, der Roſazephyr um ihren Nacken, und ihr
Teint von der Freude, vom Wein angeröthet. So
tanzte ſie, nein es war kein Tanz, es war doch ein
Hinſäuſeln der ätheriſchen Freude über die Tafel.
Kein Glas fiel um. Die ganze Geſellſchaft außer
ſich, wir mußten ihre Füße küſſen.“ Der Miniſter
hatte unwillkührlich den Kopf geſenkt. Bovillard fuhr
fort: „Einer unſerer verehrten Freunde, erinnere ich mich
[238] noch ſehr wohl, war ſo benommen von olympiſcher Luſt,
daß er ſich die Weſte aufriß und das Füßchen an ſein
pochendes Herz drückte. Darüber verlor die Grazie
das Uebergewicht, und ehe wirs uns verſahen, um¬
faßte er ſie, und trug ſie fort.“


Bovillard ſah nicht, wie der Miniſter mit der
Hand abwehrend winkte. „Wie die Najade ſich ſchalk¬
haft ſträubte, ihr Zephyr flatterte, eine Attitüde
Excellenz, ich wünſchte, Sie hätten es ſehn können.
Das war doch ein Jubel, eine Admiration! „Der
Sabinerinnen Raub!“ wie aus einem Munde ſcholls.
„Ein leibhafter Johann von Bologna!“


„Was öffnen Sie die Gräber der Vergangen¬
heit, Bovillard! Ich ward ein ſchlichter Hausmann.“


„War's denn was Böſes?“


„Eine Verirrung doch wohl, liebſter Freund.
Das müſſen wir zugeben, aber die edelſten Empfin¬
dungen lagen zum Grunde. Es war mir oft ſo wie
in der Brüdergemeinde. Aller Schein, aller Stan¬
desunterſchied, das Drückende unſrer Verhältniſſe
ſinkt wie ein Schleier. Der Bruder- und Schweſter¬
kuß drückt das Siegel der Humanität der edlen Gleich¬
heit auf unſre Lippen, und nun fallen mit den Ti¬
teln alle beengenden Rückſichten fort. Man fühlte ſich
wieder in der Natur, dem Urſprünglichen näher ge¬
rückt, das Herz geht auf, man ſchließt es unwillkühr¬
lich weiter auf, vielleicht weiter als man ſollte —
aber es iſt ja eben dieſer Drang, der uns glücklich
macht.“


[239]

Der Geheimrath blieb einen Augenblick ſtehen:
„Ich beſorge, daß Excellenz an jenem Abend Ihr
Herz zu weit aufgeſchloſſen haben. Die Jenny war
ein pfiffiges Ding.“


„Ich wüßte doch nicht —“


„Das glaube ich gern. Der Champagner bei Rietz
war immer première qualité. Aber erinnern ſich Excellenz,
daß damals die hannöverſche Geſchichte ſpielte — man
ſchickte einen Courier nach, um eine gewiſſe Depeche coûte
que coûte
zurückzuholen. Die Jenny, wenn ſie noch
lebt, wird das freilich längſt vergeſſen haben, aber — “


„Wem könnte ich ſonſt —“


„Nicht Excellenz, aber die Jenny. Als Sie nach
Hauſe fuhren, ſtahl ſich Lupinus zu ihr. Ich bin
nicht bei ihrer Entrevue geweſen, noch habe ich,
Gott bewahre, mein Ohr ans Schlüſſelloch gelegt,
aber ich weiß nur, daß auch ſie von allen beengenden
Rückſichten ſich frei, ſich wieder in der Natur fühlte,
dem Urſprünglichen näher gerückt, daß ſie ihr Herz
auch aufſchloß — “


„Dem Lupinus! Pfui!“


„Der Schweſterkuß drückt das Siegel der edlen
Gleichheit Allen auf. Ich will auch nicht verſchwören,
daß nicht die undankbare Schelmin Ew. Excellenz
etwas raillirt hat. Der Sillery hatte ſie wie geſagt
auch animirt, und ſtatt die Myſterien der ſüßen
Stunde in ihrer Bruſt zu verſchließen, machte ſie
ſich über den Miniſter luſtig, der ihr zu Füßen ge¬
ſtürzt, ihre Knie umfaßt, und geſchworen hatte, vor
[240] ſolcher Huld und Grazie etwas Geheimes auf der
Bruſt zu behalten, wäre Sünde. Wie die Sonne
die Knospe entfalte, müſſe das Herz ſich erſchließen
vor der Schönheit. — Excellenz, ſolche Geſchöpfe
ſind launenhaft, unberechenbar. Sie hatte ſich viel¬
leicht bei den politiſchen Herzensergießungen etwas
ennuyirt. Nun mußte ſie gegen den Erſten Beſten,
den ſie ſah, auch ihr Herz und ihr Lachen ausſchütten.
Wie geſagt, was die Jenny betrifft, ſie hat alles
ausgeſchüttet, aber — ich weiß nur aus manchen ge¬
legentlichen Redensarten, daß der Geheimrath manche
dieſer Reminiscenzen eingeſchachtelt hat.“


Es folgte eine lange Pauſe, in welcher im Mi¬
niſter Vielerlei vorging: „Sie ſind ein Quälgeiſt,
Bovillard, ſagte er endlich. Haben Sie denn keine
beſſern Gegenſtände zu protegiren.“


Mit einiger Emphaſe ſagte der Geheimrath:
„Die Tugend und das Verdienſt helfen ſich ſelbſt
fort, das lieſt man in jeder Erziehungsſchrift; den
Lumpen aber muß man unter den Arm greifen. Ex¬
cellenz, welch ein ſüßes Gefühl, ſo manche Vogel¬
ſcheuche in Amt und Würden zu ſehen! Der ehrbare
Bürger bleibt reſpectvoll ſtehen und zieht tief den
Hut, und wir — wir lachen in uns, wir wiſſen,
welcher Hauch, welche Laune, welcher Zufall ſie auf¬
ſchwellte. Nur den Athem brauchen wir anzuziehen,
und ſie fallen auf den Müllhaufen zurück, und ſchrecken
keinen Sperling mehr. Es iſt eine kleine Erholung
dies Protegiren, eine Entſchädigung für die ſaure
[241] Aufgabe, unſre beſten Kräfte dem Dinge zu widmen,
was ſie Staat nennen.“


„Ihre Rechnung iſt nur nicht ganz richtig, ent¬
gegnete der Miniſter. Dieſe Figuranten und Stehauf¬
männer, deren jeder Staat bedarf, bleiben es nicht
immer, ſie bekommen nur zu oft eignes Leben und
eignen Willen, und rebelliren dann gegen die, welche
ihre Schöpfer waren. Passons là dessus!“


Sie ſetzten ſich auf eine beſchattete Bank, mit
der Ausſicht auf einen Wieſenplan und das Haus.
Ihr Geſpräch war noch nicht zu Ende; das fühlte
ſich von beiden Seiten heraus, wenn gleich jeder den
Anfang zu machen ſcheute. Der Miniſter ſaß nach¬
denkend, den Kopf im Arm geſtützt.


„Bovillard, hub er endlich an, will Ihr Pro¬
tegé ſich rächen, vergeſſene Dinge ausplaudern, ſo
trifft es nur mich! Was iſt der Einzelne dem Staat
gegenüber!“


„Excellenz, auf der Goldwaage, auf der Lupinus
zu leicht wiegt, müßten Viele ſpringen.“


„Und wer ſagt Ihnen, daß ſie nicht ſpringen
werden, — wenn ein Changement eintritt.“


Bovillard ſah den Miniſter groß an: „Nach
Lombards Depeſchen! Die Radziwill hat ſich vor
Aerger krank melden laſſen, die ſchöne Princeß Wil¬
helm ſchreitet wie eine heilige Katharina in ſtummem
Zorn durch ihre Gemächer, die Garde du Corps —
was weiß ich, was ſie thun. Prinz Louis hat, glaube
ich, ein Pferd todt geritten, und bei der Mamſell
I. 16[242] Rahel Levin ein Collegium Philoſophicum aus Ver¬
zweiflung ſich beſtellt.“


„Sind damit Ihre Novitäten zu Ende?“


„Der Einfluß der auswärtigen Mächte iſt damit
paralyſirt.“


„Wer denkt an das! — Im Innern droht der
Feind, Bovillard — Stein wird ins Miniſterium
treten.“


„Der Freiherr von Stein!“


„Stein vom Stein!“


Der Geheimrath war ein Mann, der ſich nicht
leicht aus der Faſſung bringen ließ. Der Miniſter
konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er ſein ver¬
längertes Geſicht ſah.


„Wer hätte es noch vorgeſtern erwartet! Man
hat dem Könige ſeine außerordentlichen Verdienſte in
Weſtphalen, ſeine Rechtſchaffenheit, ſeinen graden
Sinn, ſeine hohe Geburt unterbreitet, man hat —“


„Wer?“


„Ein guter Freund von uns, Bovillard. Wer
anders als Beyme.“


„Iſt Beyme toll?“


„Man ſagt, er hätte zuweilen Gewiſſensſcrupel,
daß er ſich uns ſo unbedingt anſchließt.“


„Die Schrullen vom Kammergericht. Was habe
ich mir Mühe gegeben, ihn davon los zu bringen.“


„Es iſt mit den Juriſten, wie mit Ihren Puppen
und Vogelſcheuchen, Bovillard. In der Regel ſind
ſie trefflich zu nutzen, wenn man ihr Formelweſen
[243] ſich zum Panzer ajuſtirt, wenn ſie aber widerborſtig
werden, ſind ſie Stacheln in unſerm Fleiſch. Beyme
hat den Vortrag an den König aufgeſetzt.“


„Und hinter ihm dictirte —? Wer, beſter Freund,
könnte unſre Aufmerkſamkeit ſo getäuſcht haben! Har¬
denberg?“


„Wird ihn vielleicht nicht grade wünſchen, aber
noch mehr fürchten, daß er ihn zu fürchten ſcheinen
könnte. Hardenberg iſt ein Speculant auf die
Zukunft, der ſich um deswillen den Genuß der
Gegenwart nicht will trüben laſſen. Er möchte gern
aus der Vogelperſpective die Dinge betrachten, um,
wenn ſeine Zeit gekommen, auf ſeine Beute herab¬
zuſchießen. Daß die Zeit jetzt für ihn noch nicht da
iſt, ſieht er ein.“


„Aber wer in aller Welt ſteckt hinter Beyme?“


„Wir müſſen höher ſuchen. Einer ſehr tugend¬
haften Frau am Hofe ſind wir nicht tugendhaft genug,
lieber Bovillard.“


Der wird der Hecht im Karpfenteich,“ rief der
Geheimrath.


„Ja, wenn er hier agirt wie in ſeinem Weſt¬
phalen! Ich beſtreite durchaus nicht Stein's Verdienſte.
O, er hat charmant adminiſtrirt, was Steine anbe¬
trifft und Wege und Metalle. Nur mit den Menſchen
hat er eine eigenthümliche Art umzugehen.“


„Der Herr Oberpräſident waren ja ein kleiner
König von Weſtphalen.“


„Und er wird ſich hier nicht degradiren wollen.
16 *[244] Ich ſehe ſchon, wie er ſein Bureau reformirt; das
möchten wir ihm immerhin laſſen, aber von ſeinem
Finanz-Caſtell aus wird Invectiven, Aggreſſionen,
Blitze nach allen Seiten ſchleudern. Der Hitzkopf
kann nun einmal nicht aus ſeiner Natur.“


„Mit dem feinen Ton unſerer Societé iſt's aus.
Wie war der Brief an den Herzog von Naſſau, an
ein regierendes Haupt! Excellenz, ich weiß Geſchichten
von ſeiner Grobheit.“


„Ich kenne ſie auch und ſeinen Ungeſtüm. Er wird
mit dem Könige ſelbſt aneinander gerathen.“


„Deſto beſſer!“


„Sagen Sie das nicht, Bovillard. Der König
hält allerdings auf ſeine Würde. Es iſt aber eben
ſo möglich, daß er ſich in ſeine Art fügt. Hat er
einmal ſich darin gefunden, eine gewiſſe Eſtime für
ſeinen Character empfangen, und ſieht er, daß das
Staatsſchiff ſo leidlich dabei fortſteuert, ſo kennen
Sie ja des Monarchen Natur, die vor jeder durch¬
greifenden Aenderung eine Scheu hat. Selbſt ihm
unliebſame Perſonen läßt er in ihren Aemtern und
am Ende gewöhnt er ſich auch an das Toben ſeines
Premiers; denn daß Stein das wird, wenn er erſt
einen Fußtritt im Miniſterium hat, können Sie
glauben.“


„Was haben wir da zu thun!“ ſagte der Ge¬
heimrath aufſpringend.


Der Miniſter erhob ſich langſam, es ſchien wie
von einer ſchweren Sitzung.


[245]

„Wir! Nichts, Bovillard. Wir fügen uns als
Philoſophen in das, was nicht zu ändern iſt. Mich
perſönlich kümmert es nicht. Bedarf der König meiner
Dienſte nicht mehr, ſo danke ich ihm aufrichtig für
das mir ſo lange geſchenkte Vertrauen, und ſinge
mit ebenſo aufrichtigem Herzen mein: beatus ille, qui
procul negotiis
und die paterna rura ſollen mir doppelt
willkommen ſein.“


„Aber der Staat, Excellenz!“


Der Miniſter ſah ihn mit einem ſchlauen Blick
unter den herabgezogenen Augenbrauen an: „I der
wird auch wohl ohne uns beſtehen.“


Es trat eine neue Pauſe ein; ſie gingen lang¬
ſam dem Hauſe zu.


„Sie, und unſre Freunde allein thun mir leid.
Er iſt jeder Zoll ein Reichsfreiherr. Seine Majeſtät
Diener wird er empfinden laſſen, daß ein Unterſchied
iſt zwiſchen Dienern und Dienern. Er hat gar kein
Hehl, daß er Lombard nicht leiden kann; ja er hat
eine recht reichsfreiherrliche Verachtung gegen den
Sohn des Perückenmachers.“


„Da werden ſich ja unſre kurmärkiſchen Edel¬
leute in die Hände reiben.“


„Ich zweifle, ob ihnen mit dem Changement
gedient iſt. So ein ehemals Reichsunmittelbarer ſieht
mit einer eignen Verachtung auf unſre wendiſchen
Krautjunker herab. Ich ſage Ihnen in dem Mann
iſt alles Ariſtokrat, und die Autorität, die er am
Rhein verloren, muß er ſuchen an der Havel wie¬
[246] der zu gewinnen. Von der ſüßen Illuſion laſſen Sie
ab, daß das Kabinet bleibt, was es war. Die Fic¬
tion, daß die bürgerlichen Herren Kabinetsräthe die
Volkstribunen ſind, wird er mit einem Hagelwetter
auseinander treiben. Er kann ſein geweſenes Deutſch¬
land auch als Preuße nicht vergeſſen, er wird ein¬
greifen, durchgreifen, reformiren, bis — doch ich
mache keine Anſprüche auf Clairvoyance. Aber, lie¬
ber Bovillard, Sie ſehen ein, der Augenblick, wo
Stein an's Ruder kommt, iſt nicht angethan, um
Ihren Geheimrath zu retabliren.“


[[247]]

Sechszehntes Kapitel.
Das Citissime!


„Scheint doch einem Staatsmann auch kein Au¬
genblick ruhiger Naturgenuß vergönnt!“ ſeufzte der
Miniſter, als der Kanzleibote mit ſeinem Citiſſime
ihnen wieder entgegen kam. — Zugleich meldete ein
Diener den Kammerherrn von St. Real. Man
hörte den Wagen in den Hof fahren.


„Unterzeichnen Sie für mich, lieber Bovillard,
hier gleich in der Laube. Im Auftrag, es wird ge¬
nügen —“


„In welcher Angelegenheit.“


„Ich weiß es wirklich nicht. Der Kammerherr
verſprach mir, im Vorüberfahren vom Palais an¬
zuſprechen, wenn etwas Neues paſſirt. Auf Wieder¬
ſehen im Pavillon — bei der Straßburgerin.“


Der Geheimrath ließ die ſchon eingetauchte Fe¬
der fallen, als er einen Blick in die Reinſchrift ge¬
worfen. Er durchlas ſie mit gekniffenen Lippen —
ein Bericht des Miniſteriums auf Specialanfrage in
Belang des den Königlichen Geheimrath Lupinus
[248] betreffenden Amtsvergehens. Der Miniſter ertheilte
ſein Gutachten dahin, daß nach ſeinem beſten Er¬
meſſen der Fall mit unnachſichtiger Strenge zu be¬
behandeln ſei, und daß jede Schonung zum unver¬
windlichen Schaden des königlichen Dienſtes aus¬
ſchlagen müſſe. Er drang ſelbſt im Intereſſe des
Staatsdienſtes auf eine ſtrenge Ahndung und augen¬
blickliche Suspenſion des Angeſchuldigten.


Es war nicht in Bovillards Art, alles, was er
unterſchrieb, durchzuleſen. Er las dieſe Schrift zwei
Mal und murmelte: „Sieh da die feine Feder meines
jungen Freundes. Nicht zu verkennen. Ei, ei, Herr
v. Fuchſius, wollen Sie ſich ſchon ſo wichtig machen
und unentbehrlich! Und auch dieſe feinen Anſpie¬
lungen auf uns! Daran wollen wir uns gelegentlich
erinnern.“


Der Kanzleidiener hätte noch lange auf die Unter¬
ſchrift warten müſſen, wenn ihm der Geheimrath nicht
die Weiſung gab, die Sache bedürfe noch einer Re¬
gulirung mit Seiner Excellenz. Die Regulirung
ſchien aber dem Geheimrath ſelbſt einige Sorge zu
machen, denn den Kopf im Arm, ſtierte er lange in
die Luft, bis allmälig ein ſardoniſches Lächeln über
die Lippen ſpielte, und er mit einem ganz eigen¬
thümlichen Blick ausrief: „Wenn es denn doch ein¬
mal ſein muß, wollen wir etwas gründlicher an¬
faſſen.“


Er ſchrieb ſehr ſchnell. Zwei Seiten waren ge¬
füllt, mit Schmunzeln überlas er das Concept: „hätte
[249] ich doch ſelbſt kaum gedacht, daß der Menſch ſo ver¬
worfen iſt! Und dieſer Schluß: „„Demnächſt kann
ich nicht umhin, es gerade in dieſem Augenblick als
eine dringendſte Pflicht Eurer Königlichen Majeſtät
zu Füßen zu legen, die Angelegenheit nur von dem
angegebenen höheren Geſichtspunkte zu betrachten,
und den Rückſichten der Humanität und Gnade, denen
höchſt Ihr Herz ſo gern ſich erſchließt, diesmal nicht
nachzugeben. Ja ich muß für ſtrengſte Handhabung
der Gerechtigkeit nicht allein im Intereſſe des all¬
gemeinen Staatswohles und zur Erhaltung der Mo¬
ralität unter Dero Dienern ſtimmen, ſondern auch in
ſpecieller Rückſicht auf die Männer und erprobten
Staatsdiener, denen Eure Majeſtät höchſt Ihr Ver¬
trauen beſonders zuzuwenden geruht. Leider ſteht die
betreffende pflichtvergeſſene Perſon durch entfernte
Verwandſchafts- und frühere geſellſchaftliche Bande
mit einem oder einigen dieſer gedachten Männer in
einer gewiſſen Relation, und es iſt gewiſſen ihrer
Feinde und Neider eine willkommene Aufgabe, aus
dieſem zufälligen Annex Verdächtigungsgründe zu
ſchöpfen, ich wiederhole es, gegen Männer, die
der Verdacht nicht berühren kann, weil ihr Character
und ihr Verdienſt von Euer Majeſtät gewürdigt ſind.
Deſto mehr wird es zur Pflicht, gerade im Intereſſe
des Thrones, auch vor dem Publikum dieſe Männer
zu ſchützen. Eure Majeſtät können ihnen keine will¬
kommenere Rechtfertigung gewähren, als wenn Sie
das Recht, und nur das Recht walten laſſen. Was
[250] iſt ein Staat ohne Moralität ſeiner Bürger, was
ein[e] Monarchie, wo der Beamte nicht in Unbeſchol¬
tenheit und ſittlicher Würde wenigſtens nachzueifern
ſtrebt, dem erhabenen Exempel, welches ſein Ober¬
haupt dem Lande und Volke täglich giebt.““


„Wunderſchön!“ Es entfuhr unwillkührlich den
Lippen des Geheimeraths und er ſteckte das Concept
in die Bruſttaſche. „Die Excellenz wird ſich wenig¬
ſtens eingeſtehen müſſen, daß ſie Räthe um ſich hat,
die auf ihre Ideen einzugehen wiſſen. Das kann
man auch dem Herrn von Stein unter die Naſe
halten.“


Welcher Glanz leuchtete auf der Stirn des Mi¬
niſters. St. Real ſtand hinter dem Lehnſeſſel und
wiegte ſich in Wohlbehagen, während der Hausherr
auf- und abging. Als er den Geheimerath eintreten
ſah, hielt er ihm die Hand entgegen: „Wiſſen Sie
ſchon Bovillard?“


„Nichts Excellenz, als daß Ihre Anſichten mich
überführt haben.“


„Laſſen Sie ſich's von St. Real ſagen.“ Er
warf ſich in den Fauteuil, überſchlug die Beine und
rieb die Hände.


„Seine Majeſtät haben in Gnaden die Anſtellung
des Herrn von Stein abgelehnt.“


„Stein wird nicht Finanzminiſter,“ wiederholte
der Miniſter.


„Da fällt uns alſo ein Stein vom Herzen!“
Bovillard's Bonmot, ſo leicht es war, fand
[251] empfängliche Herzen. Gut, daß kein Lauſcherauge in
den Pavillon drang. Es hätte Mienen, Bewegungen
und Geſten geſehen, ſchwer verträglich mit der mi¬
niſteriellen Autorität eines Großſtaates. Nur der
Geheimerath hatte raſch eine Flaſche entkorkt, um ein
Glas hinunterzuſtürzen, aber die Phyſiognomien er¬
innerten einen Augenblick an die fauniſchen Geſichter,
welche Rubens Pinſel ſo unvergleichlich auf die Lein¬
wand warf. Belauſchte Augenblicke der cannibaliſchen
Natur im Menſchen, die nun ewig geworden ſind
durch die Kunſt. Wenn Jemandem, wem darf man
es weniger verargen als einem Staatsmann, wenn
er im unbelauſchten Augenblick die geglättete Maske
fallen läßt, um einmal wenigſtens in der urſprüng¬
lichen ſich vor ſich ſelbſt zu ſehen.


„Nun heraus! Wie war's?“ rief der Geheime¬
rath am Tiſche, indem er einen tief aushöhlenden
Schnitt in die Leberpaſtete that. Ich vergaß zu
ſagen, daß man die Thüren vorher verſchloſſen, und
auch noch die Gardinen vor die mit Weinreben feſt um¬
rankten Fenſter gezogen, — der Kühlung wegen, hieß
es. Es war allerdings ein ſehr heißer Tag geworden!
Vorher aber war der Haushofmeiſter auf beſondere
Ordre des Miniſters ſelbſt in die Keller geſtiegen,
und ein Korb mit Flaſchen, ſtaubig, kalkigt, mit
Spinneweben umwoben, ſtand in Folge deſſen am
Tiſche. Auf demſelben hatten ſich aber neben der
Straßburgerin noch Schüſſeln des verſchiedenſten In¬
halts aus verſchiedenen Weltgegenden eingefunden,
[252] „ein Frühſtück, wie's ein ſchlichter Mann guten Freunden
eben vorſetzt, die nach dem Herzen ſehen, nicht auf
den Werth“ hatte der Miniſter geſagt. Was bedurfte
es der Aufwartung unter ein Paar traulich beiſam¬
men ſitzenden Freunden! Darum ſollte Niemand ge¬
meldet, Niemand eingelaſſen werden, und der gütige
Wirth ſelbſt nahm den Pfropfenzieher zur Hand.


„Die Geſchichte iſt eigentlich ſehr einfach, ſagte
St. Real. Geſtern Abend war der König noch dafür
geſtimmt. So nahmen wir's wenigſtens an. Sie
mögen ſich das Geflüſter in den Vorzimmern denken,
die Fragen, die man hören mußte. Die Damen
wollten wiſſen, ob der Herr v. Stein noch ein junger
Mann wäre? Ob er ein Haus mache? Ob er äſthe¬
tiſch iſt? Ob er lieber Jean Paul lieſt oder Lafon¬
taine, und Schiller oder Goethe vorzieht? Die Herren
ſteckten die Köpfe zuſammen. Es wußte eigentlich
Niemand, woher der Wind blies, denn, wenn man
auch ſagte, Beyme hat Lombards Abweſenheit be¬
nutzt, ſo erklärte das wieder nicht, warum Beyme
gegen ſeinen Freund intriguiren ſollte. Andre cal¬
culirten gar, die ganze Sache ginge von Lombard
ſelbſt aus, er wünſche ſolchen Mauerbrecher in des
Königs Nähe, entweder um andre damit aus dem
Weg zu räumen, oder er wünſche, daß die höchſte
Perſon es einmal empfinde, wie angenehm der Um¬
gang mit einem deutſchen Degenknopf iſt.“


„Thorheit!“ ſagte der Miniſter.


„Und doch vielleicht nicht übel ſpeculirt.“


[253]

„Nichts, meine Freunde, entgegnete jener, lernt
ſich leichter an Höfen, als das Vergeſſen ehemaliger
Freunde. Nur die Kränkungen vergißt man dort nie.“


„Die alte Voß ließ für mich keinen Zweifel, fuhr
St. Real fort. Sie rühmte gegen Comteß Laura die
alte Familie der Stein; von Männern ſolcher Ab¬
kunft könne man ſich verſprechen, daß ſie wieder
die nöthigen Dehors auch an den Hof bringen
werden.“


„Charmant!“ Man ließ bei Gläſerklang die alte
Voß leben. Der weiße, prickelnde Burgunder ſchärft
die Zunge, man ſchärfte die Darſtellung von Anec¬
doten, die jeder kannte, aber jeder gern wiederhörte,
bis ſie für den haut goût appretirt waren, und unter
allen guten Eigenſchaften ihnen nur eine abging, die
Wahrheit.


„Aber wir kommen von der Sache ab. Was
erfuhren Sie von ihr?“


„Nicht mehr, als ſie mich errathen ließ, und ich
eigentlich ſchon wußte, daß die Königin dahinter ſteckte.
Geben Sie nur Acht, flüſterte ſie mir zu, wenn Ihro
Majeſtät herauskommt.“


„Und?“


„Ihro Majeſtät kamen bald heraus.“


„Und?“


„'S iſt doch eine wunderſchöne Frau! Ihr ſchwar¬
zes Atlaskleid rauſchte über die Schwelle, und, wars
Zufall oder Abſicht, die Thüre klappte hinter ihr, daß
mir's noch ins Ohr gellt. Die Oberlippe ein Bischen
[254] eingekniffen, keinen von uns anſehend, raus war ſie,
und winkte nur der Berg, ihr zu folgen.“


„Und das iſt alles?“


„Mich dünkt, genug.“


„Man kann ſich täuſchen.“


„Meine Ohren, Exellenz, ſind ſehr ſcharf. Wenn
ich im blauen Saal die Stiefeln Sr. Majeſtät im
rothen Zimmer knarren höre, weiß ich, was die Glocke
geſchlagen hat.“


„Ging alſo unruhig auf und ab!“


„Wir ſahen uns an und dankten Gott, daß nur
ein Stein gefallen war.“


„Er iſt alſo?“


Iſt! Bald kam Beyme heraus, dann auch
Köckeritz. Beyme fragte nach der Berg. Da ſie fort
war, wandte er ſich an die Voß und zückte die Achſeln:
Madame, j'ai fait mon possible! Zwiſchen den Zähnen
murmelte er: ultra posse nemo obligatur. Nachher
ſchenkte uns Köckeritz reinen Wein.“


„Excellenz, rief Bovillard bei einer neuen Flaſche,
dieſer St. Peray iſt gewiß reiner.“


„Hatte die Radziwill zu ſtark urgirt, ein neuer
Genieſtreich des Prinzen ihr verdroſſen? Der Mi¬
niſter ſetzte hinzu: Ehe ich die Motive nicht kenne,
bezweifle ich doch das Factum.“


„Was bedarf es noch der Motive! Natur, rien
que de la nature
! Er hatte ſich beſchmeicheln laſſen,
unter Händedrücken das halbe Verſprechen gegeben.
Dann gereute es ihn. War ſchon geſtern Abend
[255] umher gegangen, die Hände auf dem Rücken. Die
Berg hatte ein Selbſtgeſpräch belauſcht: „Man will
mir auch meine Miniſter machen!“ Leider hatte ſie
nicht mehr Gelegenheit die Königin davon zu aver¬
tiren. Heute morgen muß ihm ein Blatt in die
Hände fallen, worin die Kindesmörderin eine irrende
Schweſter genannt wird, ein Opfer der geſellſchaft¬
lichen Verhältniſſe. Es war etwas mit Emphaſe ihre
Geſchichte erzählt. Reſultat: Sie waren aigrirt, ſehr
aigrirt. Ob die gelehrten Herren auch die expreſſen
Worte Gottes fortcorrigiren wollten: Wer Menſchen¬
blut vergießt, deſſen Blut ſoll wieder vergoſſen werden?
Man antwortete, der Verfaſſer ſei kein Gelehrter,
ſondern eines von den jungen Genies. — „Die eine
verkehrte Welt machen wollen! brach es nun her¬
aus. Will aber keine verkehrte Welt aus meinem
Reiche machen; ſoll Alles in der Ordnung bleiben.
Leute waren doch ſonſt mit zufrieden. Sollen zu¬
frieden bleiben. Schöne Wirthſchaft würden die Herren
Genies anfangen, alles auf den Kopf ſtellen, Kinder¬
mörderinnen am Ende noch belohnen!“ Während ſie
ſich nun noch ſo expectorirten, kommt Beyme zum Vor¬
trag, der wirklich nichts davon wußte, und indem er
die Gründe für Stein's Anſtellung reſumirt, entfährt
ihm unglücklicherweiſe der Ausdruck: vor ſeinem Genie
würden auch die und die Vorurtheile ſich beugen. Da
war's um ihn geſchehen! Der König ſagte, er brauche
keine Genies, er wolle keine Genies und — das
Uebrige können Sie ſich ſelbſt erzählen.“


[256]

Bovillard goß den Reſt der zweiten Flaſche in
das Glas und erhob es: „Angeſtoßen, Freunde!
Auf das Andenken der Kindesmörderin! Selige ver¬
irrte Schweſter, dieſer Tropfen ſei Dir geweiht, daß
Du Preußen vor Miniſtern bewahrt haſt, die Genies
ſind! — Was ſtiert Excellenz Chriſtian ins Glas
und trinkt nicht? Suchſt Du im Wein nach einem
untergegangenen Genie? Verlorne Müh. Ertrunknes
lebt nicht wieder auf.“


„Mir kommt nur der Gedanke, ſagte der Mi¬
niſter nach einer Pauſe, ob eine Regierung denn über¬
haupt der Genies bedarf? Unſer Minos vom Kammer¬
gericht fertigte neulich einen Bekannten, der ihm einen
genialen Juriſten für das Collegium empfahl, mit
den Worten ab: Ich brauche nur zwei für die kniff¬
lichen Sachen, für die andern ſind Ochſen ausreichend.“


„Ochſen mögen eine Weile die Tretmühle trei¬
ben, wie Excellenz das ſelbſt am beſten wiſſen, im
Uebrigen meine ich, daß Ochſen noch nie eine Mühle
in Gang gebracht haben.“


„Woran ging Joſephs II. Schöpfung unter, fuhr
die Excellenz fort. Und was meint Ihr, daß aus
unſerm Staat würde, wenn irgend ein Zufall Prinz
Louis Ferdinand auf den Thron brächte?“


Nach einer kleinen Pauſe hub der Geheimrath
an, den Weinreſt in ſeinem Glaſe ſchüttelnd:


„Ich meine, zuerſt würde er unſern verehrten
Wirth zur Thür hinaus complimentiren. Dann gings
an Lombard, Beyme, Luccheſini, an uns alle. Es
[257] würde aufbrauſen wie tauſend auf ein Mal entkorkte
Champagnerflaſchen. Da man ſie aber nicht alle mit
einem Mal austrinken kann, würde der Wein bald
ſchaal werden. Und wie er ſeiner Maitreſſen ſatt
wird, würde er's auch der Genies. Dann kämen die
unermüdlichen Geſchöpfe dran, die man nun Zuträ¬
ger nennen mag, oder Sykophanten, oder Gelegen¬
heitsmacher, Kuppler, oder auch Ochſen, wie man
will, die immer für neue Stoffe in Wein, Ideen
und Liebe ſorgen. Dieſe bleiben endlich ſeine Geſell¬
ſchaft, eben weil ſie ſich zur Thür hinauswerfen laſſen
und immer wieder kommen. Endlich gewöhnt man
ſich an ſie, weil man ihrer bedarf, weil ſie zu Allem
zu brauchen, man verachtet ſie, aber ſie bleiben doch
unſer Umgang, weil ſie immer gefällig, unſre Freunde,
weil wir keine beſſeren finden, und ſchließlich — es
bliebe auch unter Louis Ferdinand Alles beim Alten.
Chriſtian, wir blieben auch!“


Der Miniſter drohte mit dem Finger.


„Ach was! wir ſind unter uns. Wein und
Wahrheit. Betrachten wir hier unſern würdigen Kam¬
merherren. Verzog er die Miene, ward er nur ein¬
mal roth, als ich von Kupplern ſprach.“


„St. Real kann ja nicht mehr roth werden.“


„Excellenz! Dieſer echte Philoſoph beſchämt uns.
Sein purpurn Antlitz brennt, wenn er ſo viel Fla¬
ſchen ausſticht wie nur Fleck und der Prinz, nicht
röther als wenn er eine Taſſe Thee nippt. Wenn
wir wankend aufſtehen, ſagen ſie: er hinkt ja immer.
I. 17[258] Er kennt die Liebe nicht mehr, aber ſein liebebedürftiges
Gemüth ſchafft ſie für andre. Wir kamen überein, daß
er, ohne Schmeichelei, unter uns das Minimum von
Verſtand hat, aber wie weiß er den Ueberfluß an
Mangel zu cachiren, daß Jemand, der jetzt durchs
Fenſter ſähe, doch ſchwören könnte, er hätte die meiſte
Raiſon. Und Excellenz ſehn Sie ſeine Lippen und
Manchetten, er hat immer noch etwas in petto uns
zu überraſchen.“


„Nein; er ſcheint mir melancholiſch, weil er die
Laura beim Prinzen nicht anbringen kann.“


A propos, St. Real, wie iſts mit der junoni¬
ſchen Gans?“


„Aha der ſchönen Eitelbach,“ ſagte der Miniſter.


Der Kammerherr ſchüttelte den Kopf: „Geben
Sie die Hoffnung auf, meine Herren. Königliche Ho¬
heit exprimirten ſich in draſtiſcher Kürze: ich ſollte
die Tugend nicht der Verſuchung ausſetzen. Uebri¬
gens wiſſe ich ja, daß Sie Gänſebraten nicht liebten.“


Glich der muntere Frühſtückstiſch doch auf Au¬
genblicke einem Secirtiſch. Alle Qualitäten derſchö¬
nen Frau wurden von Experten zergliedert und ab¬
gewogen, wobei der Witz die leichte Vergleichung mit
den Ingredienzien der Paſtete nicht verſchmähte. Das
Reſultat war, daß man alles in ihr fand, nur keine
Seele, keinen Verſtand, und keine Paſſionen. Ja es
ſei Hopfen und Malz verloren, erklärte der Kammer¬
herr, ihr eine Inclination beizubringen. „Es iſt nichts
unmöglich,“ trumpfte Bovillard.


[259]

Der Miniſter bemerkte, daß ſeine Augen von
einem eignen Feuer ſtrahlten. Das konnte allerdings
vom Weine ſein, er goß ſchon die fünfte Flaſche an,
als er die Stimme erhob:


„Jeder Humanitätsbürger hat die Pflicht das
Seine zu thun zur Vervollkommnung des Menſchen¬
geſchlechts, und iſt ein Weib, meine Freunde, voll¬
kommen, hat es eine andre Beſtimmung als die Liebe!
Seid Ihr denn Canibalen, oder habt Ihr Herzen
von Stein, daß Euch das ſchöne Weib nicht rührt,
das in ungeheurer Langenweile mit ihrer bête noire
von Mann ihre Roſentage verträumt. Chriſtian, und
Sie, St. Real, waren unſere Vorfahren nicht Ritter,
die ihre Lanze für die gefangene Schönheit einlegten!
Und iſt ſie nicht gefangen, gleichviel ob von einem
brutalen Ungeheuer, oder einem Alp von Apathie.
Welche Schätze liegen da wüſt in dem ſchönen Tem¬
pel und Ihr wollt zaudern Hand anzulegen! Nein,
Ihr Ritter, Schatzgräber, Maurer, ſinnt auf ein
Zauberwort, das ihren Bann löſt. Angefaßt, gehäm¬
mert, Funken geſchlagen, bis wir das [innere] Feuer
in der ſchönen Bildſäule entzündet. Seht doch den
dicken Iffland auf der Scene, wenn er als Pygma¬
lion Leben in ſeine Galathe ſchwatzt und klopft. Was,
ſollen wir ungeſchickter ſein? Gluth ſoll durch ihre
Adern ſtrömen, ſterblich ſoll ſie ſich verlieben, in¬
tereſſant werden, rührend, ſie ſoll uns Thränen entlocken!
Kinder könnt Ihr Euch denn ein pikanteres Schauſpiel
vorſtellen, als die Eitelbach in raſender Leidenſchaft!“


17*[260]

„Bovillard raſt!“


„Du willſt ſie doch nicht ſelbſt in Dich verliebt
machen?“ ſagte der Miniſter.


„Nichts davon, es muß etwas ganz Abſonder¬
liches dabei ſein.“ Er zog den Rock aus und warf
ihn auf die Erde. Auch das Halstuch folgte. Die
Toilette des Miniſters entſprach allenfalls dieſem
Négligé, nur der Kammerherr blieb zugeknöpft.


„Unſer Geheimrath iſt im Zuſtande der Divi¬
nation.“


„Etwas Frappantes, rief Bovillard, daß man drei
Tage vor lautem Gelächter die Glocken nicht hört —
Wenns irgend einen berühmten Kanzelredner gäbe —“


„Warum nicht gar!“


„Du haſt Recht! Da machte man ſie zu einer
Schwärmerin. Es muß gar keine Erklärung für die
Neigung geben. Etwas Originelles, ein Flügelmann
von der Garde oder ein Zwerg. Ein grundhäßlicher
Kerl, ein Bucklichter, ein Weiberfeind. Ein Trunken¬
bold, ein Weiſer. Wenn der alte Gundling noch
lebte, oder Moſes Mendelsſohn.“


„Ich ſchlage Johannes Müller vor.“


„Er müßte ſich doch auch in ſie verlieben
können.“


„Und am Ende hieße es, ſie hätte ſich nur in
ſeine Schweizergeſchichte verliebt,“ ſagte der Miniſter,
und mit niedergeſchlagenen Augen flüſterte er: „Ich
wüßte ſchon Jemand —“


Das ſtille Gelächter, die verkniffenen Lippen, die
[261] blinzelnden Augen der Andern bekundeten, daß der
Miniſter verſtanden war. In jovialen Kreiſen ſol¬
cher Freunde verſteht man ſich an Zeichen. Ein
„Schade, ſchade!“ ging wie der Hauch des Abend¬
windes über ein Aehrenfeld.


„Da uns hier eine höhere Magie entgegenar¬
beitet, beſcheide ich mich, wiewohl ich das Verdienſt¬
liche des Vorſchlags vollkommen würdige,“ ſchmun¬
zelte Bovillard.


St. Real ſchüttelte den Kopf: „Es kann doch
nicht immer ſo dauern.“


„Das Reich der Tugend! hört den grauen Sün¬
der, der es nicht mal von dem göttlichen Schiller
weiß: Und die Tugend ſie iſt kein leerer Wahn. Sein
Himmel hängt nicht voll Geigen, ſondern voll lauter
Pompadoure. Er iſt ein Kryptokatholik, ſein Heiligen¬
kalender fängt an mit der Sanct Agnes Sorel und
hört auf mit der heiligen Baranius.“


„Bovillard merkt nicht, daß St. Real einen Ein¬
fall hat.“


„Wenn wir den Witz ausgeſchüttelt, kraucht ihn
immer einer an. Heraus damit! Sollen wir etwa
Namen aufſchreiben und würfeln? Auch das; ich pa¬
rire jede Wette, wen das Loos trifft, in den will ich
die Eitelbach verliebt machen.“


Der Kammerherr ſpiegelte ſich im Glaſe, das er
dicht an's Geſicht hielt: „Herr v. Bovillard, ich zweifle,
wenn ich den nenne, der mir eben einfiel.“


„Nenne den Namen, ich will ihn beſchwören.“


[262]

„Daß er davon läuft, das will ich glauben, er
hat mehr Schulden als Haare auf dem Kopf.“


„Nein, auch er ſoll kleben wie eine Klette. Und
ſie verliebt ſein, wie — Na, wie denn? — Wie ein
verliebter Maikäfer. Das iſt das Einzige, was mir
aus einer tollen Tragödie kleben blieb, aus der Iff¬
land uns neulich zum Jocus vorlas, von dem ver¬
rückten Kleiſt.“


„Auch in den Herrn Rittmeiſter Stier v. Doh¬
leneck? Getrauen Sie ſich auch mit dem eine Liaiſon
zu Stande zu bringen?“


Der Geheimrath ſprang auf: „Was gilt die
Wette!“


„Bovillard, ſein Sie nicht unſinnig,“ ſagte der
Miniſter.


„Ich frage, wer wettet! fuhr der Erhitzte fort.
Aber dazu andern Wein, feurigern! Er ſchleuderte
das Glas hinter ſich. Vom Spaniſchen her, einen
Pedro Ximenes! Die Eitelbach und Dohleneck, eine
liaison tragique, eine liaison dangereuse, ein Turtel¬
pärchen, was Ihr wollt. Wer hält die Wette, auf
was es ſei! Chriſtian parire!“


„Bovillard weiß nicht —“


„Alles weiß ich, daß ſie wie Katze und Hund
ſind, eine Averſion fühlen, eine gegenſeitige Idioſyn¬
kraſie, die ſtadtkundig iſt. Deſto beſſer; je ſchwieriger
die Aufgabe, ſo ehrenvoller der Succeß. Va-t-en,
Chriſtian, wetteſt Du?“


„Meinethalben.“


[263]

„Auf was? Nicht Geld, nicht Champagner, etwas
Abnormes, was den Appetit reizt.“


„Excellenz könnten eine Geliebte abtreten,“ kicherte
der Kammerherr.


„Ich und eine Geliebte!“


„So ſinne etwas Sinnreiches aus, was Du gegen
Dein Gewiſſen thuſt.“


„Ich will Gentz hinterlaſſene Schulden bezahlen.“


Accedo! Und ich eine Abhandlung ſchreiben,
zum Lobe des Herrn v. Stein. Daß er uns unent¬
behrlich iſt, laß ich drucken. Ein Schelm giebt nur
was er kann. Ich habe mehr eingeſetzt. Topp, ein¬
geſchlagen.“


Der Kammerherr hielt ſeinen Arm dazwiſchen.
„Wozu Krieg, meine Herren, Depenſen, die keinen
Vortheil bringen? Warum denn überhaupt eine Wette,
warum nicht eine Allianz?“


„Was meinſt Du, Chriſtian?“


„Ich bin doch immer ein Mann des Friedens!“


„Topp! Alle drei eingeſchlagen, Männer des
Friedens, einen Rütlibund! Wir Alle gemeinſchaft¬
lich an das Werk. Aber Theilung der Arbeit! Du nimmſt
den Rittmeiſter auf Dich und ſträubt ſich die Excellenz
dagegen, wird der Kammerherr zum Dienſtthuenden.
Ich weiß ſchon meinen Helfershelfer für die Baronin,
übrigens jeder hilft dem andern, und bei dem er¬
habenen Geiſte, der aus dieſen Flaſchenmündungen
noch duftet, geloben wir Todesverſchwiegenheit!“


Während ſie ſich die Hände reichten, klopfte es.
[264] „'S iſt nichts; ein Hund ſchlug an die Thür,“ be¬
ruhigte der Wirth.


„Wer würde ſich auch unterſtehen, wenn wir in
Staatsangelegenheiten beiſammen, Excellenz zu ſtören!
Oder iſt's keine Staatsangelegenheit! Womit ſollten
wir uns amüſiren, da nun Friede bleibt? Das Leben
muß einen Zweck haben. Auch die beſten Kräfte er¬
matten ohne ein Ziel. Mit Hinderniſſen zu kämpfen iſt
unſre Beſtimmung. Je ſchwieriger, um ſo elaſtiſcher
ſtreckt ſich unſer Geiſt. Darum, gerade im Staats¬
intereſſe, wir müſſen unſre Kräfte an ſubtilen Auf¬
gaben üben, um zuverläſſig zu ſein in der Stunde,
die kommt.“


Es klopfte wieder: „Laß die Geiſter pochen, wir
antworten mit dieſem Gläſerklang. Auf den Amandus
und die Amanda.“


„Bravo, Einer, der da lieben ſoll und muß!“


„Noch Etwas: wenn etwa in Folge dieſes ſchönen
Seelenbundes ein Weltbürger das Licht dieſer Welt
erblicken ſollte, ſo —“


Ein klirrender Schall unterbrach ſie. Es pochte
Jemand mit Heftigkeit an's Fenſter. „Es brennt!“


Alle waren aufgeſprungen. Der Kammerherr
ſchien am feſteſten auf ſeiner Krücke zu ſtehen. Der
Geheimrath machte eine Bewegung nach ſeinem Rocke,
die damit endete, daß er auf den Stuhl zurückſank.
Der Miniſter hatte ſeinen zurückgeſchleudert, und mit
der Hand am Tiſche, machte er die Geſte des Riechens.
Aber die wohlbekannte Stimme ſeines Privatſecretairs
[265] rief draußen: „Halten zu Gnaden, Excellenz, das
Citissime! — Das Citissime, das Gutachten des Mi¬
niſteriums an Seine Majeſtät den König. Herr Ge¬
heime Kabinetsrath Beyme haben ſchon zwei Expreſſen
geſchickt. Heut Abend um ſechs iſt Vortrag bei Seiner Ma¬
jeſtät; ſämmtliche Gutachten der Miniſterien ſind in
des Herrn Kabinetsraths Händen, nur unſeres fehlt
noch. Der Bote ſteht auf Kohlen.“


Bovillard hatte mit einem glücklichen Griff ſeinen
Rock erfaßt und warf die Papiere auf den Tiſch:
„Da Excellenz — ein Bischen ſchmutzig. Schadet
nichts, die Sache iſt's auch. Unterſchreibe —“


„Zwei Papiere?“


„Iſt gleichgültig, er muß doch ſpringen.“


„Muß er abſolut!“


„Iſt ſehr geſund für ſein Podagra.“


Der Miniſter war in einen Seſſel geſunken:
„Muß er denn! Wir ſitzen ſo fröhlich beiſammen —
und Stein kommt ja nicht.“


„Hätte's beinah vergeſſen! Mais, ç'est bon!“


„Wozu Rigoroſität gegen einen Mitmenſchen, der
uns nichts gethan hat,“ ſprach St. Real.


„Alſo


Allen Sündern ſoll vergeben

Und die Hölle nicht mehr ſein!“

„Bovillard, Ihnen fließt es ja von den Fin¬
gern. Da an der Ecke auf dem Schreibtiſch, ein
anderes Gutachten. Kurz nur. Wegen der Förm¬
lichkeit weiß ja Beyme wie wir's halten. Trin¬
[266] ken Sie ein Glas Champagner um ſich aufzu¬
heitern.“


„Nicht nöthig Excellenz! hier das Concept,
brauche nur ein Paar Striche zu ändern.“


Mit Secretair und Bote war man in Ordnung,
natürlich, nachdem man es einigermaßen mit der
Toilette geworden, zwei Kryſtallflaſchen mit friſchem
Brunnenwaſſer ſtanden auf dem Tiſche und der Ge¬
heimrath ſchrieb an der Ecke, während der Miniſter
ein Geſpräch mit dem Kammerherrn führte. St. Real
hatte ſichtlich am wenigſten von dem ſüßen Trauben¬
ſaft genoſſen, oder es darin zu einer Virtuoſität ge¬
bracht, daß man die Wirkungen nicht merkte. Der
Miniſter hörte ihn, im Armſtuhl zurückgeſunken, mit
einiger Anſtrengung an, während der Kammerherr
halb vor ihm ſtand, halb auf dem Tiſche ſaß. Wir
hören, da das Geſpräch halblaut geführt wird, nur
einiges heraus.


„Malchen — Malchen? Der Name kommt mir
bekannt vor.“


„Erinnern ſich Excellenz vielleicht des Wald¬
kindes, das der Höchſtſelige auf einer Promenade
finden mußte?“


„Das iſt lange her — ſpielte ſie nicht die Gurly?
Die war freilich noch nicht geſchrieben.“


„Einer der hübſcheſten Züge von der Lichtenau;
wie überhaupt, es war doch eine ſeltene Frau. Der
Höchſtſelige hatte die erſten Bruſtbeklemmungen, und
empfand eine Sehnſucht nach etwas Natürlichem und
[267] Friſchem. Die Gräfin wußte auf der Stelle Rath.
— Im rothen Frießröckchen, bis an die Knie
aufgeſchürzt, barfuß huckte das Kind im Revier und
pflückte Erdbeeren, ohne ſich umzuſehen. Der König
winkte uns Stille zu, er wollte ſie überraſchen. Er
fuhr ſie an, was ſie in dem Walde zu thun, und
drohte ſie zu pfänden, denn das ſei verboten. Das
Mädchen ſpielte prächtig. Zuerſt erſchrack ſie und
bedeckte ihr Körbchen, dann lag ſie auf den Knieen,
der geſtrenge Herr möchte ſie nur diesmal noch gehen
laſſen. Der König befahl ihr barſch, die Erdbeeren
und den Korb zurückzulaſſen. Da ſtürzten ihr die
Thränen aus den Augen und ſie bat um Gottes
Willen, die möchte er ihr laſſen für ihre arme
Mutter, ſie wollte es lieber dem gnädigen Herrn
Förſter abarbeiten, was ſie Schaden gethan. Das
befremdete ihn doch von ſolchen Leuten. Ißt denn
deine Mutter ſo gern Erdbeeren? Und er ſprach
von Abkaufen. Die Kleine wehrte ſchnell mit der
Hand: Nichts verkaufen! Meine Mutter hat mir auf¬
getragen, die ſchönſten und reifſten Erdbeeren zu
ſammeln. Alles für den guten Herrn König. —
Den König! rief der König, wie kommt der dazu?
Für den König werden wohl andere denken und ſor¬
gen, die ihm näher ſtehen! — Das iſt's eben, was
Mutter ſagt, fiel das Mädchen ein, die denken und
ſorgen nicht ſo für ihn, wie er's verdient, und er iſt
ſo ſehr gut und jetzt krank. Die friſchen Walderdbeeren
werden ihn wenigſtens einen Augenblick erquicken,
[268] und jeder Augenblick, der dem guten König eine
Erquickung ſchafft, ſagt Mutter, das iſt ein geſegneter
vor dem Herrn. —“


„O weh! zückte der Miniſter auf. Da hätte er
etwas merken können!“


„Nein, Excellenz, er merkte nichts. Er drückte
die Thräne aus dem Auge: Lichtenau! ich werde doch
geliebt! Die Lichtenau hatte ihm etwas den Rücken
gedreht.“


„Richtig, ich ſehe ſie noch ſtehen.“


„Und wiſchte auch am Auge. Er ſtreichelte ſie
ſanft am Arm, und ſagte in ſeiner Herzensgüte:
Das Kind verſteht es nicht. Es ſind Viele um den
König, die für ihn ſorgen und ihn lieb haben! —
Wie das Kind ihn da groß und unſchuldig anſah:
Der König hat jeden lieb, ſagt Mutter, und das
wäre ein ſchlechter Menſch, der nicht ſein Alles für
ihn giebt. — Er mußte ſchnell weiter gehen, er fühlte
ſich erleichtert: Ich habe mal eine Stimme aus dem
Volke gehört! Die Lichtenau ſagte plötzlich: Ich
wünſchte, Euer Majeſtät hörten einmal die Stimme
Ihres ganzen Volkes. — Ach die iſt wohl anders!
— Nein, Sire, ſagte die Gräfin, das Tuch vor ihren
gerötheten Augen. Ueberall dieſelbe Liebe und Ver¬
ehrung; nur uns traut man nicht zu, daß wir ſie
theilen. Es iſt vielleicht recht gut ſo. — Ach es war
ein capitales Weib!“


„Es brachte ihr auch die Schenkung ein von
dem Gute — wie heißt es doch gleich — über das
[269] noch der Prozeß iſt. Aber die Malchen, jetzt entſinne
ich mich ihrer ganz deutlich. Ein anſtelliges Ding,
leichtſinnig, aber wohl zu leiden. War ſie nicht ſchon
früher zu den Genien gebraucht worden, auch in den
Kinderballets?“


„Und ſpäter bei den Geiſtererſcheinungen. Sie
war viel bei Biſchofswerder und Hermes. Vielleicht
erinnern ſich Excellenz auch, daß ſie nachher einen
Unterofficier von Lariſch Musquetiren heirathete.
Im Anfang ging's ihnen gut, aber der Mann
trank, es gab Unrichtigkeiten mit dem Montirungs¬
geſchäft im Lagerhauſe, die Frau konnte es nicht
mehr ausgleichen, ſie ward doch auch älter, und
eines Nachts waren ſie über Hals und Kopf ver¬
ſchwunden. Sonſt ein braver Mann, auch ſehr zu
brauchen, und ſoll jetzt holländiſcher Werbeofficier
ſein oder ſchon drüben in Oſtindien. Genug, ſie hat
ihn avanciren laſſen, was uns nichts angeht, und
iſt ſeit einigen Monaten als Frau Obriſtin in
Berlin. Ich verſichere, Excellenz, ſie iſt ein wahrer
Trüffelhund.“


Der Miniſter griff tief in ſeine Spanioldoſe:
„Wenn nur keine Klagen bei der Polizei eingehen!
Sie wiſſen nicht, lieber St. Real, was uns dieſe
Bagatellen oben zu ſchaffen machen.“


„Man ſucht ihr ein gewiſſes Lüſtre zu erhalten.“


„Der Name der neuen Schönheit?“


St. Real ſprach leiſe in's Ohr des Miniſters.


„Wie geſagt, durchaus keine beauté du diable,
[270] eine wie gemacht, um auf die Dauer zu feſſeln, und
eine Fraicheur, Excellenz, wie er es liebt.“


„Und ein halbes Kind!“


„Weil ſie noch nicht erzogen iſt. Aber mit einem
Elan, einer Vivacité für alle neue Eindrücke.“


„Languiſſant?“


Au contraire, eher un peu romantique, etwas
Spirituelles, soit disant Schwärmeriſches. Es kommt
nur darauf an, ihrer Phantaſie eine Richtung zu
geben.“


„Hoffen Sie eine Maintenon oder eine Pom¬
padour zu erziehen.“


„Warum nicht eine La Valliere!“


„Tugendhafte Maitreſſen helfen uns nichts.
Uebrigens wünſche ich, daß Ihnen kein Querſtrich
kommt.“


Der Kammerherr drückte mit einiger Heftigkeit
ſeine Krücke: „Das iſt es eben. Zwar thun wir
Alles die Dehors zu beobachten, auch iſt es nur ein
ganz kleiner, höchſt anſtändiger Societätskreis, der ſich
zur Erholung da zuſammen findet. Ganz anders als
bei der Schubitz; un petit circle von Gewählten.
Aber ſie iſt noch immer die alte; gutmüthig, leicht¬
ſinnig, unbeſonnen zum Raſendwerden. Ihre Zunge
geht mit ihr durch und um einen witzigen Einfall
ſetzt ſie ihre Exiſtenz aufs Spiel. Habe ich das
Wunderkind erſt in andre Kreiſe entrückt, mag ſie
der Teufel holen, aber ſie iſt jetzt meine einzige
Brücke. Stellen Sich Excellenz vor, da hat ſie den
[271] frommen Pfaffen, den Seine Majeſtät jetzt nach Ber¬
lin zieht, irgendwo auf einer Reiſe kennen gelernt,
ihn zu ſich invitirt, und jetzt hat ſie die Unverſchämt¬
heit, ihn und ſeine Töchter bei ſich einzulogiren. Bei
ſich in ihrem Hauſe! Ich erfuhr es erſt beim Her¬
fahren. Wenn das ruchbar wird, das giebt einen
Scandal und ich zittere vor den Folgen.“


„So eilen Sie, St. Real, den Ruf des from¬
men Mannes zu retten.“


„Er iſt gerettet!“ rief Bovillard aufſtehend, da
hören Sie nur den Schluß: „„Demnächſt kann ich
nicht umhin, es grade in dieſem Augenblick als eine
dringendſte Pflicht Euer Königlichen Majeſtät zu
Füßen zu legen, den Rückſichten der Humanität und
Gnade, denen Ihr Herz ſo gern ſich erſchließt, auch
diesmal nachzugeben. Ja ich muß daraufdringen, in ſpe¬
cieller Rückſicht auf die Männer und erprobten Staats¬
diener, denen Euer Majeſtät höchſt Ihr Vertrauen beſon¬
ders zuzuwenden geruht. Weil der unglückliche Mann,
der vielleicht in einem Augenblicke aus zu großer Güte
des Herzens gegen den Buchſtaben des Geſetzes gefehlt
— was aber noch keinesweges ermittelt iſt — mit einem
oder einigen jener gedachten Männer in einer gewiſſen
Relation geſtanden, iſt es eine willkommene Gelegen¬
heit für deren Feinde und Neider Verdächtigungs¬
gründe auch gegen ſie, dieſe Männer, zu ſchöpfen,
die freilich über den Verdacht hinaus ſind, weil ihr
Charakter und ihr Verdienſt von Euer Majeſtät ge¬
würdigt ſind, die aber eben um ihrer Pflichttreue und
[272] dieſer beſondern Verdienſte willen auch vor dem
Publicum gerechtfertigt zu erſcheinen Anſpruch haben.
Euer Majeſtät können ihnen keine willkommenere
Rechtfertigung gewähren, als indem Sie über die
Anſchuldigungen des Haſſes und des Neides mit
ſtummer Verachtung wegſehend, Ihre Gnade walten
laſſen.““


„Bravo, bravo!“ riefen die Zuhörer.


„O es kommt noch beſſer, dieſer Schluß muß
ſein Herz erweichen: „„Was iſt ein Staat ohne
Moralität ſeiner Bürger, was eine Monarchie, wo
der Unterthan und der Beamte nicht in Unbeſcholten¬
heit und ſittlicher Würde wenigſtens nachzueifern ſtrebt
dem erhabenen Exempel, das ſein Oberhaupt dem
Lande und Volke täglich giebt.““


„Braviſſimo! Er iſt gerettet!“ Noch einmal
wurden die Gläſer gefüllt und erklangen auf den
edlen Menſchenfreund, der über die Kabale geſiegt.
Das Concept wanderte in die Kanzlei, wo man ein
Citiſſime mit mehr Reſpect behandelte, und die Rein¬
ſchrift kam, wie wir aus dem Erfolg annehmen, noch
zur rechten Zeit an Ort und Stelle. Der Kammer¬
herr wollte abfahren, der Miniſter aber Lhombre
ſpielen. Der Kammerherr hatte Bedenken wegen des
Predigers, alle drei aber bedachten, daß man nach
der Arbeit ausruhen muß. Erſt in der Nacht wur¬
den die Karten weggelegt. Der Miniſter und ſein
Geheimrath warfen ſich in Surtouts, um die Küh¬
lung der Abendluft in den Straßen zu genießen.


[[273]]

Siebzehntes Kapitel.
Der rothe Shawl.


Karoline kam aus der Seitenkammer und drückte
die Thür leiſe zu: „Er iſt eingeſchlafen.“ — „Wenn
er nur nicht aufwacht bis ma chère tante in die
Komödie fährt,“ ſagte Jülli, die durchs Schlüſſel¬
loch ſah.


„Er verdiente es ſchon, meinte Karoline. Ich
liebe es gar nicht, wenn die Herren betrunken vom
Frühſtück kommen und glauben, ſie thun uns noch
eine Ehre an, wenn ſie in ein anſtändig Haus pol¬
tern. Schmeißt ſich da mir nichts, dir nichts, aufs
Sopha, gähnt, und eh' man ſichs verſieht, iſt er ein¬
geſchlafen. Da ſoll man ſich wohl aus der Conver¬
ſation bilden! Ma chère tante hat gut Reden.“


„Die vornehmen jungen Herren thuns Alle ſo,“
warf Jülli ein.


„Und er hat nie kein Geld, ſagt ma chère tante,
fuhr die Andre fort, und wenn ſie nur gewußt, wie
er mit ſeinem Vater ſteht, der ein ſehr anſtändiger
und vornehmer Herr iſt, hätte ſie ihn auch gar nicht
I. 18[274] in's Haus gelaſſen. Aber nun ſie's weiß, ſoll er
ſich nicht mauſig machen, und ſie wird ihm mal den
Stuhl vor die Thür ſetzen, daß er ſich verwundern
ſoll, hat ſie geſagt. Und vollends jetzt, wo die Pre¬
digers oben ſind. Still, ſie kommt runter.“


Jülli drückte ihr Geſicht an eine Scheibe, Karo¬
line hatte ſich ans andre Fenſter geſetzt und eine
weibliche Arbeit ſchnell ergriffen. Die Tante ſchalt.
Junge Frauenzimmer müßten nicht immer am Fen¬
ſter ſitzen. Das gäbe übel Gerede; die Stadt ſei
gottlos genug, daß ſie immer an Schlimmes denkt.
„Was haſt Du Dir wieder die Naſe platt gedrückt
an der Scheibe, fuhr ſie Jülli an? Siehſt Du, da¬
von kommt die Thräne ins Auge, und das habe ich
Dir geſagt, wenn eine erſt anfängt, ſich die Augen
roth zu weinen, dann iſt's mit uns aus. Siehſt Du
etwa die Karoline weinen? Die lacht den ganzen
Tag. Alles was recht iſt. In der Kirche, vor un¬
ſerm Herrgott, ſoll man weinen, und das Geſicht
lang ziehn wenn der Herr Prediger gerührt ſpricht,
und Niemand kann mir nicht ſagen, daß ich Euch
nicht in die Kirche führe, und Keiner, daß Ihr nicht
fein und anſtändig gekleidet ſeid, daß Ihr Euch mit
Ehren ſehn laſſen könnt, aber zuhauſe ſollt Ihr nicht
ſein wie in der Kirche. Die hat der liebe Herrgott
bauen laſſen, daß man da traurig ſein ſoll, aber die
Welt daneben, daß man luſtig ſein ſoll. Und die
Herrſchaften, die zu uns kommen, die wollens auch;
ſonſt würden ſie in die Kirche gehn und nicht zu uns.“


[275]

Karoline unterbrach die Rede, indem ſie hell
auflachte. Wenn ſie damit der eben ausgeſprochnen
Weiſung nachkam, ſündigte ſie doch ſogleich dagegen,
indem ſie das Fenſter aufriß. Der Lärm und das
Gelächter draußen rief indeß auch die Tante heran.
An der Ecke der Straße war ein Fiſchmarkt und es
war nichts Ungewöhnliches, daß der alt berühmte
Witz der Fiſchweiber gegen Käufer und Neugierige
eine Art Auflauf veranlaßte. Diesmal war eine be¬
ſtimmte Perſon der Gegenſtand der Luſtigkeit. Der
ältliche Herr hatte mit den ſämmtlichen Verkäuferinnen
ein Geſchäft angeknüpft, und nachdem er ſich aus
jedem Fiſchkaſten die fetteſten Karpfen und Aale zei¬
gen laſſen, alle befühlt und mit allen ihren Beſitze¬
rinnen wegen des Preiſes unterhandelt. Wenn das
ſchon nicht ohne beißende Bemerkungen von beiden
Seiten abgegangen war, ſo ſteigerte ſich das Gezänk
in das, was man in Berlin ein „Aufgebot“ nennt,
als der Käufer ſich endlich, wie ſich von ſelbſt ver¬
ſtand, für die Waare nur einer Verkäuferin entſchied.
Die übrigen erhoben ſich und überſchütteten mit einer
Fluth nicht ſchmeichelhafter Namen den Käufer, der
ſeinerſeits einen nicht gewöhnlichen Muth zeigte, denn
er harrte nicht allein aus, ſondern haranguirte ſeine
Feinde durch Gegenreden. Seine graciöſen Geſticu¬
lationen bewieſen, daß er der Höflichere war, und
man konnte bemerken, daß in das laute Gelächter der
Menge auch ſeine aufgebrachteſten Feindinnen ein¬
ſtimmten. Ein ſchärferer Beobachter hätte indeß darin
18*[276] keine Feindſeligkeit, ſondern nur ein Schauſpiel ent¬
deckt, was ſich gewiß ſchon oft ereignet, und zur
gegenſeitigen Herzenserheiterung noch oft wiederholen
ſollte. Diesmal mußten jedoch einige der Fiſchweiber
in ihre Klagen und Repliken noch andre Anzüglich¬
keiten eingemiſcht haben, welche die Köchin des ält¬
lichen Herrn veranlaßten, durch deutliches Zupfen am
Aermel ihn zu einem frühzeitigeren Rückzug zu veran¬
laſſen, als ihm lieb ſchien. Eines der Weiber, ob nun
im Scherz oder Ernſt, hatte ihm ein altes Fiſchnetz
nachgeworfen mit der Bemerkung: das wolle ſie ihm
ſchenken, damit ihm ſeine Fiſche nicht durchgingen wie
ſeine Gefangenen! Das Netz hatte unglücklicherweiſe
ſeinen Kopf getroffen und die Perücke heruntergeriſſen.
Während die Köchin ſich danach bückte, waren ihr
die Fiſche aus dem Korbe geglitten. Das Wieder¬
einfangen der Aale verurſachte allgemeine Luſtigkeit
und neuen Aufruhr, worüber man zuerſt nicht bemerkte,
daß ſie ihm in der Haſt die Perücke verkehrt aufge¬
ſtülpt hatte, was denn das Gelächter unwiderſtehlich
machte, und weder der Rückzug noch die Ajuſtirung
der Perücke halfen vor dem Troß begleitender Gaſſen¬
jungen und dem Gelächter der Neugierigen, welche
der Lärm an die Fenſter zog.


„Ach der Herr Geheimrath Lupinus! hatte die
Tante ausgerufen. Das iſt ein ſpaßiger Mann! Wie
niederträchtig er iſt, auch gegen die gemeinſten Leute.
Sieh mal, ſelbſt dem Apfelweib wirft er 'ne Ku߬
hand zu, und ſo gravitätiſch, wie zum Menuet!
[277] Seht Kinder, daran könnt Ihr Euch ein Exempel
nehmen; ſo wird mancher rechtſchaffene Menſch auf
Erden verleumdet von böſen Feinden, aber 's giebt
einen Gott im Himmel und einen König auf Erden,
und wer ehrlich ſein Brod erwirbt, und ein gefühl¬
volles Herz hat für ſeine Nebenmenſchen, der geht
nicht zu Schanden.“


Aber als die vorwitzige Karoline zum Fenſter
ſich hinausbiegen und dem Herrn Geheimrath zu¬
rufen wollte: „warum tragen Sie nicht die Fiſche
ſelbſt!“ drückte die Hand der Tante eine ſehr vernehm¬
liche Erinnerung auf ihre Backe: „Unterſteh' Dich!“
Das Fenſter flog zu. Die Scene hatte ſich verändert.
Karoline weinte. Nur war ſie keine ſo unterwürfige
Zuhörerin.


„Und 's iſt wahr, er hat immer die Fiſche vom
Markt getragen, mit 'nem Kapaun unter'm Arm hab'
ich ihn ſelbſt geſehen, und darum bin kein ſchlechtes
Mädchen nicht. Und das iſt Wahrheit.“


Die Obriſtin mäßigte ſich. „Der Herr Geheime¬
rath ſei eine obrigkeitliche Perſon, und mit genialiſchen
Herren müſſe man's anders nehmen. Und wenn er
keine Reſpectsperſon wäre, und nicht ſo viele vor¬
nehme Freunde und Verwandte hätte, dann ſäße er
jetzt, Gott weiß wo. Und das einzige, was man ihm
nachſagen könnte, wäre ſeine Köchin. Gegen die
Charlotte wäre ſchon ſonſt nichts zu ſagen, denn ſie wäre
ein braves Mädchen, aber für einen vornehmen Herrn
ſchicke ſich das nicht, ſo was im Hauſe zu haben.
[278] Außer dem Hauſe geht das Niemand was an, hatte
ihr ein ſehr angeſehener und tugendhafter Herr ge¬
ſagt. Daß er die Charlotte auf den Markt mitnähme,
wolle ſie nicht gerade gut heißen, aber der Menſch,
der's jedermann recht thäte, müßte erſt erfunden
werden.“


Die gute Tante hatte, je mehr ſie ins Reden
kam, deſto mehr auszuſetzen. Ja, die Predigers¬
töchter oben wären neugierig, wie ein neugeboren
Kalb, und wenn nur ein Wagen vorbeifährt, rutſchten
die Köpfe zum Fenſter raus. Das habe ſie ſich nun ein¬
mal aufgebunden, weil ſie ein ſo gutmüthig Herz
habe. Aber ihre Nichten ſollten doch bedenken, daß
ſie nicht aus dem Kuhſtall wären, und auf ſich was
halten. „Wie ich ſo alt war, als Ihr, da hielt
man mich für 'ne Gräfin, und ich hätte mal den
Kopf umdrehen ſollen auf der Straße, wie Ihr thut,
Und an guten Exempeln fehlt's Euch doch nicht; in
mein Haus kommen nur die feinſten Leute. Und wie
ſprecht Ihr mit dem Herrn Kammerherrn, der ſo
gütig iſt; ich werde manchmal purpurroth, wenn ich
denke, daß er's am Hofe wieder erzählt. Merkt Ihr,
dumme Lieſen, denn nicht, wie er ganz anders mit
der Mamſell Kriegsräthin ſich unterhält, wenn die
hier iſt. Die weiß ihm zu antworten, daß er oft
nicht weiß, was er ſagen ſoll, ſo frappirt's ihn.
Und das ſage ich Euch, wenn ſie heut zur Chocolate
kommt, daß Ihr Euch nicht wieder das Maul ver¬
brennt, Du vor allem Karline. So ein Trampel¬
[279] thier merkt auch gar nicht, wie ich ihr neulich auf
den Fuß trat. Denn ſie iſt zu ganz was anderm,
weil ſie ein feines ſittſames Mädchen iſt, und 's noch
weit mehr werden wird, und Ihr könntet mal froh
ſein, wenn Ihr ihr die Schuhbänder zumachen dürft.
Aber Mädchen, was haſt Du Dir wieder die Schuh
ſchief getreten! Bei dem Dinge hilft doch auch keine
Vernunft. Und wie breit der Fuß wird, das kommt
davon, wie Du beim Tanzen ranzeſt. Die Jülli hat
noch ein ganz ſchmales Füßchen; aber die hält auch
auf Anſtand. Und das neue Kleid, zu Weihnachten
erſt haſt Du's gekriegt, und wie ſieht's ſchon wieder
aus, daß Gott erbarm!“


Ma chère tante, wann krieg' ich das bombaſin
Kleid?“


„Ei was, laß' Dir's von den Herren ſchenken.“


„Die Herren ſind nicht ſo generös.“


„Wenn ſie Dich ſo mit den Beinen ſchlenkern
ſehen unter dem Stuhl, und ſo rekeln mit dem
Ellenbogen über die Lehne, da ſollen ſie ſich wohl
Wunder was vorſtellen, was Ihr ſeid. Zu meiner
Zeit, ſag' ich, kerzengrad ſaßen ſie auf dem Stuhl,
und ſo ſchlugen ſie die Augen nieder, wenn ein Herr
zu ihnen ſprach, aber da verſtanden ſie auch zu bitten
und da waren die Herren auch generös.“


„Man ſoll die Herren nicht rupfen. Das haben
ma chère tante immer geſagt. Na nu, iſt's nu
nicht wahr?“


„Sie unverſchämtes Geſchöpf! Was das für
[280] Reden ſind in meinen Apartements! Wenn's Ihr
nicht mehr gefällt, werd' ich Ihr 'nen Stuhl vor die
Thür ſetzen. Dann mag ſie ſehen, wo's Ihr beſſer
gefällt. Denn überhaupt ſoll's anders werden bei
mir. Ja, ja, meine Damen, das merken Sie ſich,
ich will keine Penſion, wo das pöbelhafte Weſen
nicht rausgeht. Ein Wort koſtet mich's, und Sie
wird nach Spandow zurückgeſchafft, Mamſell Kar¬
line, da wo ich Sie herholte, auf den Kietz. Wird's
Ihr beſſer gefallen, barfuß im Kahn und die Pletzen
ſchuppen, oder Winters beim Kienſpahn Netze flicken?
Ihre Finger ſahen ja aus, mit Reſpect zu ſagen,
wie Pfoten, roth und geborſten, und hab' ich das
für meine Mühe, daß ich ſie mit Mandelöl und
Kleie weich kriegte, und in Handſchuhen ſchlafen ließ!
Sag' ich doch, wer Dank ſäet, der wird Undank
erndten.“


Es klingelte, der Chocoladengaſt ſtand im Zimmer.
Ein Livreebedienter, der die verfeinerte Haushaltung
der Frau Obriſtin ſeit einigen Tagen repräſentirte,
hatte Adelheid abgeholt.


„Nein, ſage ich doch, nicht wie ein Fräulein,
wie eine Prinzeſſinn! Und mit jedem Tag, möchte
ich ſagen, gewachſen!“


„Das kommt nur vom langen Kleide,“ lächelte
Adelheid, und war mit raſchem, ſichern Schritt, nach
einer flüchtigen Begrüßung der Tante, zu den Nich¬
ten geeilt, die ſie mit der natürlichſten und zuvor¬
kommendſten Herzlichkeit küßte. Sie ſchalt und be¬
[281] dauerte, daß ſie gar nicht zu ihr kämen; die Nichten
waren verlegen. War's der ſcharfe Blick der Tante,
war's die überwiegende Erſcheinung des in der Fülle
ihrer Schönheit ſtrahlenden Mädchens. Aber der
Strahl aus dem klaren Auge goß in die getrübten
der unglücklichen Geſchöpfe von ſeinem Licht. Sie
fühlten ſich in einer andern Atmoſphäre, die etwas
von ihrem heilenden Balſam auch auf ſie träufte.


Die Obriſtin hielt es für gut, allein das Wort
zu führen. Ihre Lippen floſſen über vom Lobe der
braven Eltern, die wohl mehr zu thun hätten, als
ſolchen Beſuch zu empfangen. Sie wiſſe wohl, was
der Herr Kriegsrath und die Frau Kriegsräthin für
die Erziehung ihrer Tochter thäten, und da wäre es
ja ausverſchämt, ſich aufdrängen wollen. Aber um
ſo mehr ſchätze ſie es und rechne die Ehre ſich an,
daß ſie ihrem Lieblingskinde erlaubt, ein Stündchen
ſich in ihrem ſchlichten Hauſe zu gefallen. Sie wäre
nun eigentlich in rechter Verlegenheit, worüber mit
einer ſolchen feinen Dame ſprechen, die ſo viel ſchon
wiſſe, und noch viel mehr von ſolchen Lehrern lernen
würde.


Adelheid war ihrerſeits aber gar nicht mehr in
Verlegenheit. Sie, was man nennt „kappte“ die
Obriſtin durch kurze natürliche Antworten, und ſchon
vor der Chacolade war das Geſpräch im lebendigſten
Gange, denn es betraf das neue, feine Kleid, was
der Vater ihr geſchenkt und die größte Aufmerkſam¬
keit der Nichten erregte. Das Zeug, der Laden, wo
[282] es gekauft, der Kaufmann, ſeine Waaren, Preiſe, es
ward alles ausführlich behandelt, die Krone der Ver¬
wunderung aber blieb, daß Adelheid und ihre Mutter
es ſelbſt zugeſchnitten und genäht, „und ſitzt wie an¬
gegoſſen, rief die Tante, nu ſeht, wenn Ihr das
könntet! Und Mamſell Kriegsräthin thuts nur zum
Plaiſir. Denn ihr Herr Vater würde ihr ja gern den
erſten Schneider ins Haus ſchicken, und ſpäter werden
ihr ganz andere Leute Kleider machen laſſen. Ja, ja.“


Das Lächeln der Obriſtin gefiel Adelheid nicht,
auch mißfiel ihr, daß die Tante immer, um ſie her¬
auszuſtreichen, ihre Nichten demüthigte. Ohne ſie zu
beachten, erbot ſie ſich deshalb gegen Jülli, wenn ſie
ein neues Kleid bedürfe, es ihr zuzuſchneiden, auch,
wenn ſie es wünſche, ihr Unterricht im Schneidern
zu geben, ſo gut ſie es eben könne.


Die Tante war von dem Anerbieten ſehr gerührt,
bei der Jülli könnte es vielleicht noch anſchlagen,
aber die Karline wäre gar zu faul: „Wer den Unter¬
richt zu ſchätzen weiß, und was lernt, aus dem kann
alles werden, wie oft habe ich ihnen das geſagt.
Nun ſehen ſie es mal mit Augen vor ſich. Ja, mein
liebes Engelchen, — verzeihn Sie ſchon Fräulein
Adelheid, daß ich ſo zu Ihnen rede, aber ich kann
gar nicht anders, wenn ich Ihnen ins liebe Geſicht
ſehe, — ja das muß ich Ihnen auch ſagen, ſeit ich
die Ehre habe Ihre Bekanntſchaft gemacht zu haben,
da iſt mit Ihnen auch ſchon eine Veränderung vor¬
gegangen. Ach Sie haben einen vortrefflichen Lehrer.“


[283]

Adelheids Geſicht leuchtete auf: „Kennen Sie
ihn?“


„Habe nicht die Ehre, aber ich wollte wetten, er
heißt Cupido.“


„Nein, er heißt van Aſten. Und ſeine Stunden
ſind gar nicht wie Stunden. Es plaudert ſich ſo fort,
und ſie ſind immer zu Ende, ehe wir es uns ver¬
ſehen. Ich ſchäme mich zuweilen, wenn er fort iſt,
daß ich ſo wenig aufgeſchrieben habe, aber wenn ich
mich hinſetze, um es niederzuſchreiben, dann muß ich
oft einen ganzen Tag ſchreiben und noch mehr. Ich
thue es nun gar nicht mehr, denn ich behalte doch
alles auswendig.“


„Iſt's die Möglichkeit!“


„Manchmal iſt mir wie einem Vogel zu Muthe,
als ſchwebte ich hoch in die Luft und unter mir ſähe
ich Berge und Städte und Flüſſe. So weiß er das
alles klar zu machen, wenn er erzählt. Da iſt mir
oft, als müßte ich das Umſchlagetuch zuſammenziehen,
wenn er die kalten Länder beſchreibt, wo ewiger Schnee
liegt und Eis. Und wenn er die heißen ſchildert, da
wird mir's ſo heiß, ſo heiß — ach ich rede gewiß
recht dummes Zeug, es iſt nur gut, daß es Herr
van Aſten nicht hört.“


„Ach liebe Seele, Engelchen, das verſteh ich.
Wer das einmal gekoſtet hat, wie's draußen ſchön
iſt, in der Welt, der möchte immerfort fliegen. Na
nu verſteht ſich, fliegen kann keiner von uns, denn
wir haben keine Flügel. Aber zwei Füchſe vorge¬
[284] ſpannt vor den Wagen, oder noch beſſer viere, Extra¬
poſt, und nun Schwager ins Horn geſtoßen und ge¬
knallt, über Berg und Thal, und Sonnenſchein und
überall geputzte und frohe Menſchen. Das iſt ein
Leben mein Engelchen. Berlin iſt eine hübſche Stadt;
aber ach Gott was giebts noch für andere! Das zu
ſehen und ſich erklären zu laſſen! Und Herr van Aſten
müßte neben Ihnen im Wagen ſitzen! Na das wäre
doch ein Leben wie alle Tag Sonntag. Ihnen gönne
ich's. 'S kommt auch mal ſo. Was man ſich wünſcht,
das kommt.“


Adelheid ſchwieg betroffen. Hatte ſie ſich denn
das gewünſcht? „Nein, liebe Frau Obriſtin, daran
habe ich gar nicht gedacht. Neulich, da ſchämte ich
mich faſt, daß ich noch nicht in Potsdam geweſen,
und daß Sie aus Leipzig kamen, aber jetzt — jetzt
iſt mir gar nicht, als wenn das nöthig wäre. Wenn
Herr van Aſten mir von den fremden Ländern erzählt,
ſo brauche ich gar nicht zu reiſen.“


„Iſt das ein himmliſches Gemüth! — Und wie
ſie die Chocolade nippt, ſeht Euch mal das an. Wo
ſitzt auf ihren Lippen nur ein Tröpfchen, und wie
Ihr immer ſchlürft. Die Schaale faßt ſie doch an,
als hätte ſie's bei Hofe gelernt. — Nu müſſen Sie
auch mal in die Untertaſſe ſehn, das iſt ein Spiegel,
da ſieht Adelheidchen ſich ſelbſt.“


Adelheid ließ die Porzellantaſſe beinahe fallen.
„Die Venus! das iſt ja die Venus!“ kreiſchten die
Mädchen. Die Tante wollte über die Attrappe ſich
[285] ausſchütten vor Lachen, aber als ſie Adelheids Ver¬
legenheit bemerkte, nahm ſie raſch die Untertaſſe in
die Hand, und meinte, da müßte ſie ſich vergriffen
haben; denn ſie habe noch eine Taſſe, wo die Venus
ein Umſchlagetuch hat.


Adelheid hatte wohl von der Venus gehört, aber
in der Mythologie und Geſchichte ſollte der Unterricht
ſpäter anfangen, weil Herr van Aſten ſie zuvor die
Erde und ihre Bewohner wie ſie iſt und ſind, habe
kennen lernen wollen, ehe er zu den Menſchen über¬
ginge, die vormals gelebt, und was ſie geglaubt und
ſich vorgeſtellt. Dagegen entwickelte die Frau Obriſtin
in dieſer Wiſſenſchaft einige Kenntniß und ſchien ſie
mit Vergnügen auszukramen. Sie wußte namentlich
viel von Najaden und Dryaden, von den Metamor¬
phoſen, und ſogar von Ovid, der ein charmanter
Dichter geweſen, daß Adelheid über ihre Gelehrſam¬
keit erſtaunte. Sie hatte auch in ihrer Jugend
bei Hofe den kleinen Schauſpielen zugeſehen, wie
man die Götter und Göttinnen anzog und den Engeln
Flügel anband.


„Da könnte ich wohl manches von erzählen, was
Herr van Aſten nicht ſo wiſſen wird, denn er war
nicht dabei. Liebes Kind, Sie müſſen nur denken,
die Leute waren damals ſpaßiger als jetzt, das wird
auch Herr van Aſten wiſſen, und Böſes war nichts
bei. Denn die wurden blos ſo Heidengötter genannt,
wir kannten uns ja Alle, alles gute Chriſten, und
alles Tricots, pfui, wenn einer denken könnte, daß
[286] es was andres war. Der Herr Kammerherr könnte
Ihnen davon erzählen — ich weiß auch gar nicht,
wo er bleibt; er wollte noch mit einem vornehmen
Herrn vom Hofe zur Chocolate bei mir anſprechen —
nein, ſag ich Ihnen, der weiß die ganze Mythologie
auswendig. Venus das war die Mutter vom Cupido
oder Amor, und ihr Vater war Jupiter und ſie war
aus Meeresſchaum geboren, und die Kinder vom
Amor waren Amoretten. Wenn der Herr Kammer¬
herr die Amoretten anzog, das war zum Todtlachen;
Kinderchens nicht größer als ſo, mit Papierflügeln,
einem Gürtel um den Leib, und alle an einem langen
Strick gebunden, der ſo hing, und wenn ſie artig
blieben, und nicht zappelten, kriegte jede nachher einen
Honigkuchen. Ich ſelbſt war mal ein Cupido, na,
Engelchen, das war eine Geſchichte, wenn ich daran
denke! Sehn Sie, ſo ſtand ich mit einem ſilbernen
Pfeil und ſollte ihn Jemand ins Herz ſtoßen, verſteht
ſich, nur von Pappe und Schaumſilber; aber wenn
ich Ihnen den Jemand nennte, da würden Sie Augen
und Ohren aufſperren! Es war ein ſehr reicher und
vornehmer Herr, und wurde nachher noch vornehmer
und reicher. Ach und ein Herz und ein Gemüth, ſo
gut wie ein Kind. Da gab ein Jeder gern ſein
Liebſtes hin, wenn dem guten Herrn eine Freude
damit geſchah. Und wie generös! Da wurden die
Goldſtücke nicht gezählt; nur ſo in der Hand gewogen.
Und einmal, es war nämlich in einer kleinen, engen
Gaſſe, da neben der Spandauerſtraße, zwei Stock
[287] hoch, in einem finſtern Hauſe, Treppen ſo grade
rauf, wie 'ne Leiter, und ſtockduſter, daß man ſich
Hals und Bein bricht, da kommt der Herr eines
Abends rauf. Gott bewahre, er wird nicht allein
ausgehen, Einer in Livree vorauf, und zwei Herren
begleiten ihn, Alle in großen Mänteln. Nämlich er
hatte in Dresden ein Bild geſehn, von einem ge¬
wiſſen Titus oder Tilian, darauf kommts nicht an.
Es ſtellte eine Venus vor, die auf einem Kanapee
ruht. Und es hatte ihm ſo gefallen, daß er gar nicht
die Augen wegkriegen konnte. Da hatte Jemand zu
ihm geſagt: „Gnädiger Herr, ich weiß in Berlin ein
Original dazu; das hier iſt ihm wie aus den Augen
geſchnitten.“ Wie der vornehme Herr dazu den Kopf
ſchüttelte und meinte, das halte er für ganz unmög¬
lich, denn ſo was gebe es gar nicht lebendig, ſagt
der andre: „Wenn gnädigſter Herr ſich dafür inte¬
reſſiren, ſo käme es ja nur auf die Probe an. Ich
weiß, der Mann, dem es gehört, würde es ſich's
zur größten Ehre ſchätzen.“ Sehn Sie, ſo war der
Hergang.“


Adelheid wollte nach Hut und Handſchuhen greifen.
Warum, wußte ſie nicht, aber ſie war unruhig ge¬
worden. Die Obriſtin faßte ſie am Arm: „Engelchen
liebes, Sie ängſtigen ſich doch nicht? Das war nur,
was Sie lebende Bilder nennen, laſſen Sie ſichs
nur von Herrn van Aſten erklären, und der hat ſie
auch gar nicht geſehn, Gott bewahre, der Vorhang
iſt gar nicht aufgegangen von wegen der ſilbernen
[288] Leuchter, denn darin hatte ers verſehen. Die Stube
ſah Ihnen doch wie ein Paradies aus. Da hatte
er Blumen und Bäume von Winkel-Bouchés bringen
laſſen, und Wachslichter hinter die Büſche, und oben
hatte er ſich vom Theater eine Lampe geborgt, ganz
blaß, die ſah wie Mondenſchein aus, und hinten war
die rothe Gardine zum Zurückſchlagen, und davor
zwei große Bäume, das waren aber Tannen aus
dem Thiergarten, und da huckten oben zwei Amoretten,
ſie waren angebunden, aber nicht ganz feſt. Und
Räucherpulver war auf ein Kohlenbecken geſtreut, das
war ſo verdeckt, daß es wie ein Altar ausſah, und
die kleine Stube roch Ihnen ſüß und ſchön. Ich
mußte nun dahinter kauern, und wenn er einträte,
ſollte ich vorſpringen, und ihm den Pfeil auf die
Bruſt halten, und die Worte ſprechen:


O edler Menſchenfreund, Dein tugendhaftes Herz,

Wenn dieſer Pfeil es trifft, ſo ſei es nicht zum Schmerz.

Wenn dies ihr Tempel war, iſt er von jetzt ab Dein

Sei Du ſie Phöbus nun in dieſem Mondenſchein.

Nu können Sie ſich vorſtellen, Engelchen, wie mein
Herz ſchlug, als ich ihn die Treppe raufkommen hörte;
Herr Jeſus, ich glaubte doch, mir würde es in der
Kehle ſtecken bleiben. Und der Mann von der Frau,
der ſtand auch ſo und japſte an der Thür; er war
auch baumgroß mit einem Treſſenrock, und weißſei¬
denen Strümpfen. — Und die weißen Handſchuhe zit¬
terten nur ſo, wie er die Armleuchter hielt. Und wie
der Herr draußen die letzte Treppe rauf ſteigt, —
[289] wir hörten ihn huſten, — er nun, mit dem Fuß die
Thür zurückgeſchmiſſen, und raus, und da ſinkt er
beinah in die Knie und leuchtet runter: „Mein gnä¬
digſter Herr, das iſt zu viel Sonnenſchein in mein
armes Haus!“ Der Herr nun, der nicht weiß wie
ihm iſt, hält den Arm vor's Geſicht, und ſtolpert
juſt, wie er ruft: „Verfluchter Kerl!“ Das hab ich
ſelbſt gehört; das andre hab ich nicht geſehen, das
haben ſie mir geſagt. Nämlich darüber hat er die
Balance verloren, und drei Stufen rutſchte er, und
hätte ihn der andre nicht gehalten, wäre er gefallen.
Da ſchrie es: „Lichter aus!“ Aber da hatten ſie ſchon
auf den dritten geſtoßen, der helfen kam, und der
kriegte den Schuß. Das hörte ich poltern. Und da
riefen ſie von unten: „Licht! Licht!“ Aber dann ſchrieen
ſie wieder: „Nein, kein Licht!“ Der Bediente aber,
der oben gehuckt, war nun wie ein Satan zugeſprungen,
dem Mann hatte er die Kerzen ausgeblaſen und ſtieß
ihn, daß er in die Stube zurückfiel. Aber nun ſtellen
Sie ſich vor. Ich, wie ich meine, daß er reintreten
muß, war mit dem Pfeil aufgeſprungen und ſtoße
ein Bischen an's Kohlenbecken; derweil aber iſt ſie
ſchon rausgeſprungen, und eh ich michs verſehe, krieg
ichs um die Ohren: Du — die Schimpfworte will
ich gar nicht ſagen — das iſt ja zu früh! Darüber
purzelt der Altar um, und die Kohlen kullern. Nu
wärs noch alles gegangen, aber die kleinen Engelchen,
nämlich die Amoretten, ſind angeſtoßen von ihr, wie
ſie rausſpringt, nämlich die großen Tannenbäume,
I. 19[290] und wo ſie hinſchlug, wuchs kein Gras. Dieſe
Engelchen waren nun runter gerutſcht vom Aſt, aber
weil ſie angebunden ſind, konnten ſie doch nicht run¬
ter, alſo zappelten ſie Ihnen und ſchreien Ihnen
gottserbärmlich.“


„Ach Gott die armen Kinder!“ rief Adelheid.


„Und im ganzen Hauſe ſchrieen ſie, und das
war ein Thürenklappen: Herr Gott was iſt denn
los? — Da ſchreits mit ein Mal Feuer, und
der Nachtwächter tutet, und es war auch Feuer,
denn die Kohlen waren an die Gardine gekommen,
und die brannte hell auf. Na, der Mann, das muß
man ihm laſſen, ſchnell wie der Wind, runter die
Gardine, ausgetreten, aber auf der Straße hatten
ſie den Schein geſehen, und nun tutete es durch die
Stadt noch eine Stunde.“


„Aber die armen Kinder! Was ward aus denen?“


„I die haben ſie runter geſchnitten und links, rechts
ein Biſchen, dann nach Haus. Ich kriegte auch 'nen
Katzenkopf; da mußte man ſchon nicht drauf ſehn.
Aber der Mann und die Frau, nein, ich ſage doch
wenn gemeine Leute ohne Bildung in Rage ſind!
Einer auf den anderen los, daß er's verdorben
hätte. Mit dem ſilbernen Leuchter ſchlug er ihr ins
Geſicht; ſie hatte ihm aber vor den Bauch getreten,
das muß man auch wiſſen. Todt geſchlagen hätten
ſie ſich und Gott weiß was, wenn nicht die Polizei
kam; die riß ſie auseinander.“


„Die Polizei!“ Es überrieſelte Adelheid, ſie
[291] war ſchon aufgeſtanden. Sie hatte die Polizei nur
auf dem Markt geſehen, oder wenn ſie einen Dieb
einbrachte, aber ſie wußte doch, daß es etwas Schlim¬
mes war, wo die Polizei kam.


„Gott ſei Dank, die kam aber erſt, als der Herr
fort war. Das war noch ein Glück. Aber der Be¬
diente und der andre konnten kaum den Einen fort¬
ſchleppen, ſo war er auf die Hüfte gefallen. Hatte
ſich was gebrochen. Und der arme Herr trägts heute
noch —“


Sie verſtummte plötzlich. Im Eifer der Erzäh¬
lungsluſt hatte ſie nicht bemerkt, daß der Kammerherr
von St. Real im Zimmer ſtand.


Er verbeugte ſich ehrerbietig vor Adelheid: „Ver¬
zeihen Sie, mein Fräulein, wenn ich auf einige
Augenblicke die Frau Obriſtin Ihrer Unterhaltung
entziehe. Nur einige dringende Worte —“


Adelheid erklärte, ſie wolle nicht ſtören, ſie müſſe
nach Hauſe. Warum ſie das mußte, wußte ſie ſelbſt
nicht, aber ſie mußte, das war ihr klar. Den eigent¬
lichen Zuſammenhang der Geſchichte hatte ſie nicht
gefaßt; ihre Aufmerkſamkeit war bei den armen Kin¬
dern haften geblieben, die mit Stricken am Baume
hingen. Sie dachte an die unglücklichen Geſchöpfe,
welche die Seiltänzer ihren Eltern ſtehlen und die
auf immer verloren gehen. Wie herzergreifend hatte
das die Frau Obriſtin im Dorfe erzählt. Es war
der Gedanke des Verlorengehens, die Vorſtellung,
daß ja ein ganz unſchuldiger Menſch zufällig in dem
19*[292] Hauſe hätte ſein können. Mein Gott, wenn auch ſie
Jemand dahin geführt hätte um das Bild zu ſehn,
und dann der Feuerlärm, die Polizei! Es drückte ſie
centnerſchwer. Die Bilder an der Wand ſchielten
ſie ſo ſeltſam an, ſo herausfordernd, faſt alles mytho¬
logiſche Darſtellungen; ſie hatte ſie früher nicht genau
betrachtet, jetzt ſchlug ſie die Augen nieder. Wenn
ſie nur erſt hinaus wäre, wollte ſie die Mutter bit¬
ten, ſie nie wieder in das Haus zu laſſen.


„Ich kam in der Abſicht, ſagte der Kammerherr,
das Fräulein um die Ehre zu erſuchen, Sie in meinem
Wagen zu Ihren Eltern zurückfahren zu dürfen. Vor¬
hin begegnete ich Ihrem Herrn Vater, dem Kriegs¬
rath, und er erlaubte mir dieſe Bitte an Sie zu
richten. Wenn ich Ihre Zuſtimmung habe, vergön¬
nen Sie mir nur einige Momente mit Ihrer würdi¬
gen Wirthin.“


Das Zwiegeſpräch in der Fenſterniſche ward ſehr
leiſe geführt. Mit der ſüßeſten Miene flötete St.
Real der Frau ins Ohr: „Sie unverantwortliches
Plappermaul! Jetzt auf der Stelle, wiederhole ich
Ihr, ſchaff Sie die Predigerfamilie fort!“ Wie zu¬
traulich drückte er dabei ihre Hand, und wie war
ſie erfreut über dies Zeichen von Vertrauen, und bat
ihn, ihr ja dieſe gütige Geſinnung zu bewahren.
„Weiß Sie, was der König thut, wenn er's erfährt?“
Dabei klopfte er ihr zutraulich auf die Schultern. —
„Nur bis morgen, gnädigſter Herr, ich kann ſie ja
doch nicht auf die Straße ſchmeißen.“ — „Durch den
[293] Büttel läßt er Sie aus der Stadt peitſchen, und Sie
hats verdient, Sie unverſchämtes Menſch!“ — „Zu
gütig!“ — „Ihre Zunge müßte man Ihr mit glühenden
Zangen ausreißen, denn ſie geht mit Ihr durch, weiß
Sie, bis wohin — bis zum Galgen, und Sie hat
ihn verdient.“ — „Nein mein Herr Kammerherr ſind
doch die Obligance ſelbſt, und nun wollen Sie uns
auch die Mamſell Kriegsräthin entführen. Ganz
nach Ihrem Commando.“


„Man hat ſich kaum gefreut, ſo ſoll die Adel¬
heid ſchon wieder fort,“ ſagte Karoline. Jülli aber
ſagte, es ſei wohl gut, es ſcheine ihr ein Gewitter
aufzuſteigen, daß ſie das nicht noch überraſche. Sie
ſah dabei aber ängſtlich nach der Thür zum Seiten¬
zimmer. Der Kammerherr meinte, ein Gewitter wäre
nicht im Anzuge, es ſei dafür zu kühl, aber ein
Sturm und Regen. Er fragte, ob Adelheid nur das
dünne Umſchlagetuch habe? — „O wir leihen ihr
ein andres,“ ſagte Jülli. „Ach das rothſeidne der
chère tante!“ rief Karoline. Adelheid hat's ja
noch nicht geſehen. Das iſt ja wahr! — Wie
prächtig wird ſie darin ausſehen. Und das hält
warm! —“


Der Kammerherr nickte der Obriſtin zu, ſie möge
das Fräulein nur recht warm und ſchön anziehen.
Dann ging er hinaus, um nach dem Wagen zu
rufen, ſagte er. Es mochte aber auch ſein, um nicht
bei der Toilette zu ſtören, oder um ſich nach dem Lärm
zu erkundigen, den man auf der Straße hörte. Ein
[294] Reiterregiment ritt vorüber, aber es ſchien, als ob
ſie Halt machten, und man hörte Gelächter und
Rufen.


Die Obriſtin hatte das viel beſprochne Tuch
vom Malayenlande aus der Kommode geholt, als ſie
im Vorübergehen einen Blick aus dem Fenſter warf:
„Was das nun wieder iſt! Sind doch die Herren
Gensd'armen nur da, um Unfug mit ehrlichen Leu¬
ten anzufangen!“ Sie breitete das Tuch aus, und
es glänzte in ſo köſtlichem duftenden Roth, daß
Adelheid ſelbſt ein unwillkürliches Ach! ausrief.


Man hing es ihr um, man zog ſie vor den
Spiegel. Zuerſt als wallenden Talar. Die Obriſtin
ſchien darin wirklich geſchickt: „Du meine Güte,
wie eine Opferprieſterin!“ — „Wie eine Königin!“


Der Lärm draußen wurde lauter; kein Aufruhr,
aber ein wüſtes Gelächter. Man rief Spottnamen
hinauf; es ſchien, als ob von oben geantwortet würde.
Darauf ein noch ausgelaſſeneres Gelächter, und ein¬
zelnes gellendes Pfeifen. Die Tante beſchwor die
Nichten ſich vom Fenſter fern zu halten. Sie nahm
das Tuch wieder ab, um es anders zu drappiren,
als man jemand die obere Treppe haſtig herabkom¬
men hörte, und die Thür aufklinkte. Die Obriſtin
ſchien ein anderes Geſicht zu erwarten, als das etwas
ängſtliche, welches zur halb aufgeſtoßenen Thür her¬
einſah. Die Päffchen über der ſchwarzen Weſte ver¬
riethen einen Geiſtlichen. Der geblümte Schlafrock
und die lange Pfeife, welche die halbzugehaltene
[295] Thür verbergen ſollte, und doch nicht verbarg, hätten
ſich auch zu jedem guten Bürger geſchickt, dem häus¬
liche Behaglichkeit über alles geht.


„Haben Sie gehört, verehrteſte Frau Obriſtin?“


„Ach mein aller beſter Herr Prediger!“


„Bitte tauſend Mal um Vergebung, wenn ich
derangire inſonders wegen meiner Toilette. Aber
das iſt ja nicht zum Aushalten!“


„Iſt Ihnen was arrivirt?“


„Ich ſehe ja nur zum Fenſter hinaus, und meine
Töchter neben mir, und rauche ganz in Frieden mein
Pfeifchen, als Einer der Herren Officiere mit dem
Arm nach mir weiſt, ich weiß noch nicht warum,
und darauf ſtrecken alle die Hälſe und heben mit
einem Aha! ein ſchallendes Gelächter an. Sagen
Sie mir, was man da zu thun hat? Ich habe zwar
einige Worte an ſie gerichtet, ſehr freundlich und
zurechtweiſend, ſie antworten mir aber nur durch un¬
articulirte Laute, nachahmend den Geſang der Hüh¬
ner, durch ein Kikeriki! oder noch unbegreiflicher durch
ein ſogenanntes Kukuksgeſchrei.“


„Iſt's die Möglichkeit!“ rief die Obriſtin.


„Ja, von einem der Herren Officiere, bei denen
man doch Bildung annehmen ſollte, hörte ich den
unanſtändigen Ausdruck: „Pfaff' und Pfäffchen!“
Und Einer rief: „Gefällt's Dir im Kukuksneſte?“
Wird mir doch in der That bange, denn der Pöbel
fängt auch ſchon an mit zu krähen und die Nach¬
barn reißen die Fenſtern auf. Soll ich nun zur
[296] Polizei ſchicken oder erlauben Sie mir, daß ich hier
an's Fenſter trete, wo ſie mich beſſer hören können,
und ihnen recht eindringlich in's Herz rede, wie ihr
Betragen ſich beſſer für Sodom und Gomorrha ſchickt
als die Reſidenzſtadt unſeres Königs?“


„Sodom und Gomorrha! Da haben Sie recht,
das iſt das richtige Wort!“ rief die Obriſtin, erfreut,
an ein Wort ſich klammern zu können, das ſie für den
Augenblick aus einer Verlegenheit riß, die, wie man
an ihrem Zittern wahrnehmen konnte, ſchon peinlich ge¬
worden. Wie ſie ſich herausriß, war ihr gleichgültig.
Sodom und Gomorrha, Herr Prediger. O Sie
werden unſere Stadt noch anders kennen lernen.
Aber um Gottes Willen nicht die Polizei! Nicht
zehn rechtſchaffene Menſchen unter tauſend. Aber nicht
die Polizei. Wer ſich die auf den Hals ladet, ſehen
Sie —“ Sie hatte in ihrer Angſt das Tuch hin-
und hergewickelt, bis ſie's Jülli zuwarf mit dem Be¬
fehl, es ordentlich zu legen, daß es das Fräulein
umſchlagen könne, und hatte damit ſchnell einen neuen
Ausweg gefunden. — „Sehen Sie, Herr Prediger,
das iſt's, ein reines pures Mißverſtändniß. Sehn
Sie, das Tuch hier, weil's ſo kokliko roth iſt — hier
giebt's nicht ſolche — müſſen die Mädchen damit
'rum ſchmeißen, gegen's Fenſter — das haben ſie
für 'nen Affront angeſehen, die Herren Cavalleriſten
— warum, das weiß der liebe Himmel! Was ſehn
die nicht für 'nen Affront an, wenn ein ehrlicher
Bürgersmann was thut — Sie wiſſen ja vom Lande,
[297] man darf kein roth Tuch aufhalten, dann fliegt das
Federvieh — und rothe Federbüſche haben ſie —
alles, lieber Herr Prediger, nur nicht die Polizei!
Und die Herren Officiere ſind, im Grunde genommen,
ſeelensgute Menſchen. Nur Jugend! Jugend muß
man austoben laſſen. Aber nur nicht die Polizei!
Soll Ihnen auch keiner ein Haar krümmen, lieber
Herr Prediger, jetzt erlauben Sie, will Sie in ein
Dachſtübchen ſchaffen, hinten raus, und Ihre Mam¬
ſell Töchter, die lieben Mädchen, wie mögen ſich die
erſchrocken haben, da ſoll Sie auch keine Seele finden.
Denn das Soldatenvolk iſt grauſam, boshaft oft
gegen die Herren Geiſtlichen, ach und die Herren
Officiere auch, aber unſer herzensguter König wird
ſie ſchon beſſer machen. Und heut Abend kommen
ſehr vornehme Herren vom Hofe her; da wollen wir
Alles arrangiren, ganz nach Ihrem Belieben! Nur
nicht die Polizei!“


Der Herr Prediger fand ſich von der Frau
Obriſtin hinauscomplimentirt, er wußte ſo wenig
warum, als Adelheid den Zuſammenhang verſtand,
und noch weniger, warum die beiden Nichten, die
mit ihr allein geblieben, in ein Kichern ausbrachen.
Sie fragte nach dem [Grunde]. Karoline wollte vor
Lachen platzen und drehte ſich auf dem Hacken. Jülli
aber umarmte von hinten Adelheid und drückte einen
Kuß auf ihre Schulter: „Ach, 's iſt beſſer für Dich,
daß Du das nie erfährſt.“ — Adelheid ſchlang den
Arm um ihren Nacken und ſagte leiſe: „Das mußt
[298] Du mir das nächſte Mal ſagen, wenn wir uns
wiederſehen.“ — Jülli drückte haſtig einen Kuß auf
die ſchönen Lippen: „Du darfſt uns nie wiederſehen.
Adieu auf immer!“


Im ſelben Augenblick hatte Karoline das Tuch
um Adelheid's Nacken geſchlungen. Sie mußte eine
beſondere Geſchicklichkeit darin beſitzen. In antikem
Faltenwurf fiel es von der einen Schulter, während
die Kleine mit verſtohlener Schnelligkeit ihr das
Kleid von der andern herabzog: „Nu ſieh' Dich in
den Spiegel! Das iſt Venus, wie ſie leibt und lebt,
da auf dem Bilde!“


Adelheid ſah in den Spiegel und erröthete, als
ſie den kleinen Betrug entdeckte. Es war ein ſchöner
Anblick, ſie mußte es ſich ſelbſt ſagen. Sie hob eben
die Hand, um ihren Anzug zu ordnen, als — ſie noch
etwas anderes im Spiegel ſah.


[[299]]

Achtzehntes Kapitel.
Der Sturm bricht los.


Eine Thür ging auf, und ein junger Mann
trat ein. Sein wild ſchönes Auge, trüb und wüſt,
wie eines Trunkenen, der eben aus dem Schlaf er¬
wacht, die Haare verſtört. Die Halsbinde hing un¬
geknotet über die Weſte, den Rock hatte er nicht nöthig
gefunden, anzuziehen. Er blieb auf der Schwelle
ſtehen, und reckte die Arme, um den Schlaf zu ver¬
treiben.


Dies Bild ſah Adelheid im Spiegel. Sie blieb
athemlos ſtehen.


Jetzt ſah er ſie; nur ihre Geſtalt in der Wirk¬
lichkeit, ihr Geſicht im Glaſe. Sein Auge belebte
ſich, es ſchoß auch im Spiegel einen Blitz, vor dem
ſie erſchrack.


„Was habt Ihr denn da für eine neue Tugend!“


Raſch mit drei feſten Schritten war er vor¬
getreten, und ehe Adelheid ausweichen konnte, hatte
er ſie umfaßt und wollte ſie zu ſich umdrehen: „Tu¬
gend, ich will Dir in's Geſicht ſehen!“


[300]

„Louis, Du wirſt —! Um Gottes willen Louis!
ſie iſt nicht von hier!“ hatte Jülli geſchrieen, und riß
vergebens an ſeinem Arm. „Eure Larven kenn' ich.“
Im ſelben Augenblick war die andre Thür aufgeflo¬
gen, die Obriſtin hereingeſtürzt. Ihre ſonſt ſo gut¬
müthigen Augen funkelten: „Der wieder da! O das
mußte noch kommen! Für einen verlornen Sohn iſt
die zu gut! Reißt ſie dem Trunkenbold aus den
Armen!“ Es wäre nicht unmöglich geweſen, daß
ſie mit ihren Fingern einen Griff nach dem Geſicht
des jungen Mannes verſucht, wenn nicht Adelheid
ſich jetzt raſch umgewandt, die herabgefallenen Locken
aus dem Geſicht geſtrichen hätte und gerufen: „Mein
Herr! So ſehe ich aus.“


Es war etwas Ueberwältigendes in dem Blicke
der äußerſten Entrüſtung, was man nicht vergißt, im
Ton der Stimme ein Metall, das keiner bis da ge¬
hört; es tönte durch das Zimmer, und in den näch¬
ſten Secunden hörte man nichts anderes.


Er hatte ſie unwillkürlich losgelaſſen. Sie
ſtanden nicht einen Schritt von einander, und ihre
Blicke begegneten ſich. Sie wollte ſprechen, aber die
Stimme verſagte ihr. Thränen wären eine Wohl¬
that geworden, es überſtürzte ſie nur eine krankhafte
Hitze, der ſogleich eine fieberhafte Kälte folgte. Sie
wandte den Kopf ab, bedeckte das Geſicht, und, ein
Schrei der gepreßten Bruſt, ſtürzten die Worte heraus:
„O mein Gott, wo bin ich hingerathen! Was iſt
das mit mir!“


[301]

Sie wankte; aber ſie ſchauderte vor der Obriſtin, die
ſie auffangen wollte. Sie tappte mit aufgehobenen
Armen, als der junge Mann eine Bewegung machte,
war's, ſeine Beute wieder zu ergreifen, war's der
Ohnmächtigen beizuſtehen. Aber die Erſcheinung
eines andern fremden Mannes, der ein: „Halt, mein
Herr!“ ihm entgegen rief, veränderte die Scene.


Es war ein hochgewachſener Mann von leichtem,
vornehmen Anſtande. In ſeinem blaſſen, ausdrucks¬
vollen Geſicht, in dem man einen Philoſophen, Staats¬
mann, wenigſtens einen Denker erkennen mögen,
brannten auch zwei dunkle Augen, nicht groß, aber
bedeutend durch den Ausdruck edlen Zornes, der in
ihnen glühte. Ein Mann von mittleren Jahren, der aber
durch die Entrüſtung, den Stolz ſeiner Haltung, die
Elaſticität der Bewegung, um vieles jünger ſchien.
Es war ohne Zweifel das bedeutendſte, ausdruckvollſte
Geſicht im Zimmer, vielleicht was man überhaupt
in dieſem Räumen geſehen, ein Mann, in dem jeder
Muskelzug, jede Bewegung die Weltkenntniß und
Erfahrung ausdrückten und ein Mann, der geboren
ſchien, um zu imponiren. Den leichten Umwurf¬
mantel, mit dem er ins Zimmer getreten, hatte er
ſchon an der Thür abgeworfen und ſtand im ſchwar¬
zen Civilhofcoſtüm dem andern gegenüber.


Auf dem Geſichte dieſes Jüngern, dem die Lei¬
denſchaften viele Falten eingedrückt hatten, ſuchte
man indeß umſonſt nach einem Zuge, der eine Incli¬
nation verrieth, ſich imponiren zu laſſen. Mit einem
[302] verächtlichen Achſelzücken: „Das geht Sie nichts an!
Die Dame iſt ohnmächtig!“ wollte er an ihm vor¬
über. Ein: „Elender zurück!“ donnerte ihm entge¬
gen. „Ihr Arm darf die Unſchuld nicht berühren.“
Die Hand des Cavaliers hatte die Halsbinde des
jungen Mannes gefaßt, als dieſer auch auf dieſe
Worte nicht geachtet. Ein fürchterlicher Blick des
Jüngeren, während ſeine Arme krampfhaft zitterten,
ſagte dem Cavalier was er im nächſten Moment
erwarten konnte, wenn er nicht zuvor kam. Louis
war unzweifelhaft der Stärkere, aber er war in einer
ungünſtigen Stellung, des Angriffs nicht gewärtig,
noch vom wüſten Traumſchlaf ermattet. Der Ca¬
valier war auf einen Angriff gefaßt, eingetreten,
wahrſcheinlich ein gewandter Fechter, der die Schwäche
des Gegners zu nutzen weiß. Ihn kurz an ſich ziehend,
warf er ihn mit einem heftigen Stoß zurück: „Schla¬
fen Sie Ihren Rauſch aus!“


Louis fiel auf einen hinter ihm ſtehenden Stuhl;
doch ſo heftig gegen die Lehne geſchleudert, daß er
einen Moment beſinnungslos blieb. Ein fürchterli¬
cher Moment. Heulen, Schreien, Lärm jeder Art.


Es polterte von oben, es ſtürmte die Treppen
herauf, Leute waren eingedrungen ins Haus, ſchon
ſogar als ungerufene Zeugen ins Zimmer. Als
Adelheid, an die Wand gelehnt, ihre Beſinnung zu¬
rückkam, hatte auch der junge Mann ſie wieder ge¬
wonnen. Es war der entſetzlichſte Blick, den ſie
geſehen, ein Baſiliskenblick, die Zornader glühte auf
[303] ſeiner Stirn und die Bruſt hob ſich wie eine Meeres¬
welle als er aufſprang und nach einer Waffe griff.
„Mord!“ „Todtſchlag!“ „Polizei!“ — „Blut!“ ſchrieen
verwirrte Stimmen. Dem Stuhle, den der Raſende
wie eine Keule in der Luft ſchwang, hätte der Ga¬
lanteriedegen, den der andere raſch gezogen, nicht
parirt. Aber die Obriſtin faßte nach dem Stuhlbein,
als der Degen ſchon mit einem gefährlichen Parir¬
ſtoß nach der Bruſt zückte. Jülli ſah die Spitze fun¬
keln, ſie hing an Louis Bruſt, ſie umklammerte ſeinen
Hals, ein Schild, das ihn ſchützte, aber ihm die freie
Bewegung raubte: „Louis nicht Dein Blut!“ Der
Stoß des nur zur Vertheidigung gezückten Degens
hätte tödtlich werden können, wo der Feind in blinder
Wuth ſich auf den Gegner geſtürzt hatte, als Adel¬
heid dem Cavalier in den Arm fiel: „Um Gottes,
um Gottes Barmherzigkeit willen, kein Blut um
mich!“


Es war alles das Werk eines Momentes. Die
Degenſpitze hatte Jüllis Schulter geſtreift; es rieſelte
roth von ihrem Nacken. Im ſelben Augenblick trennte
ein dritter Fremder die Kämpfer. „Auch Mord und
Blut in dieſem Sündenhaus.“ Des Predigers Ge¬
ſicht war krampfhaft verzogen, er hob die zitternden
Arme gegen die Obriſtin, er drohte ihr. Aber die
Stimme ſchien auch ihm zu verſagen. Er griff in
die Taſche und warf ihr eine kleine Börſe zu Füßen:
„Weib mach Dich bezahlt mit meinem Sparpfennig.“


Der Lärm hatte inzwiſchen einen bacchantiſchen
[304] Charakter angenommen. Den Pöbel kitzelte die wilde
Luſt, hier die Nemeſis zu ſpielen, zerſtören zu können.
Die Träger der Effecten des Predigers, die er in
aller Haſt hinunterſchaffen ließ, fanden auf Treppen
und Thüren kaum Durchweg; man wollte unter¬
ſuchen, ob nichts Verdächtiges damit entſchlüpfe.
Rohe Witzworte begleiteten dieſe Improviſation; noch
ärgere Invectiven ſchallten von der Straße, denn das
Gerücht von dem, was im Hauſe ſich zugetragen,
wuchs natürlich je entfernter man davon ſtand. Die
Schwadronen zogen ab, und das von den Blaſein¬
ſtrumenten angeſtimmte Lied: „Ach du lieber Auguſtin,“
dröhnte als Parodie durch das Getöſe. Da hatte die
Obriſtin, die nicht nach dem Geldbeutel griff, denn
ſie ſah, es war hier mehr verſpielt, eine unbeſchreib¬
liche Wuth ergriffen. Die Larve der Sanftmuth und
Gleiſnerei war abgefallen, die innerſte Natur des
gemeinen Weibes hatte ſich herausgekehrt und ihre
funkelnden Augen und fletſchenden Zähne ſuchten
nach einem Gegenſtande der Rache. Sie hatte ihn
gefunden. Den Geiſtlichen hatte ſie mit dem Ellen¬
bogen und einem Schimpfwort bei Seite geſchoben,
die „Natterbrut an ihrem Buſen,“ die ihr ſo mit
Undank gelohnt, die den Störenfried verſteckt, ſollte
es entgelten. Aber ſtand der nicht ſelbſt vor ihr, der
all das Unglück angerichtet, — mit ſeinen böſen,
ſchönen Augen? Sprach ſie's aus, oder ſah ſie's an
ihren geſpitzten Fingern, an den gehobnen Armen,
die Hyäne auf dem Sprunge? Jüllis Augen blitzten
[305] auch dämoniſch: „An ſeinen ſchönen Augen Deine Hand,
Du ſchändlich Weib! Erſt über meinen Leib! den
zertritt nun vollends.“


„Die Weiber bringen ſich um!“ ſchrie es. „Po¬
lizei!“ Schon arbeitete ſich der Commiſſar durch die
Thür. Das Weib hatte das Mädchen an der Schulter
gepackt, wo der Degen geſtreift. Das Mädchen ſtieß
einen Schmerzensſchrei aus und ſank ohnmächtig nieder,
während von hinten ſchon eine andere Megäre die
Wüthende umklammerte. Auch hier eine abgefallene
Larve, auch hier die lang verhaltene Wuth einer ge¬
meinen Natur, die keine Rückſichten mehr kennt!


Der Polizeibeamte ſah nicht mehr des Cavaliers
gezückten Degen, er hatte ihn eingeſteckt, auch der
geſchwungene Seſſel war längſt aus Louis Händen
zu Boden gefallen; er ſaß, zurückgeſunken in einem
Stuhl und ſtarrte, Todtenbläſſe im Geſicht, auf das
zu ſeinen Füßen liegende Mädchen, ſeine Lebens¬
retterin. Der Polizeibeamte ſah nur die ringenden
Weiber, eine blutbedeckte Hand von der zuſammen¬
ſchnürenden Umarmung einer Wüthenden in die Luft
geſtreckt. Mit kräftigem Arm, mit dem Griff des
Säbels, der unſanft auf ihre Schultern fuhr, riß er
ſie aus einander. Die beiden Sergeanten ergriffen
die Obriſtin und Karolinen. Indem ſein Blick umher¬
ſtreifte, nach den übrigen Complicen zu ſuchen, fiel
er zunächſt auf Adelheid. Sie war, von Mitleid
fortgeriſſen, neben der Verwundeten hingekniet; aus
dem natürlichen Impuls ſich den Blicken zu verbergen,
I. 20[306] beugte ſie ſich tiefer über das unglückliche Mädchen
als nöthig war, in dem Augenblick vielleicht das
glücklichere; ſie wußte ja nicht, was um ſie vorging.
Auch Adelheid wußte es kaum, als die rauhe Hand
des Commiſſars ſie aufriß: „Aufgeſtanden! Marſch!“
— „Sie iſt unſchuldig!“ — rief eine Stimme. „Da
der Beweis ihrer Unſchuld!“ entgegnete der Com¬
miſſar, und zeigte Adelheids Hand, auch ſie blutig
von der Berührung. „Auf der Wache wird ſich alles
herausfinden, mein ſchönes Kind. Einſtweilen mit¬
gefangen, mitgehangen.“ — „Sie iſt unſchuldig!“
ſchrie Louis, aus ſeinem Starrſinn erwachend. Er
war aufgeſprungen. Der Beamte ſah ihn mit einem
höhniſchen Blicke an: „Wenn man Sie als Zeugen
aufrufen wird, iſt Zeit für Sie zu ſprechen. Oder
ſind Sie etwa auch unſchuldig? Die Perſon hier auf
eine Trage, und vorſichtig! Auf der Wache wollen
wir unterſuchen, wo ſie hin muß.“


Wie ſo viele Nadelſtiche bohrte das rohe Gelächter in
Adelheids Herz. An wen ſich wenden! Sie hatte keinen
Freund, keinen Bekannten hier. Der Kammerherr war
verſchwunden. Sollte ſie das Weib anrufen, das noch
vor Wuth kochte, und grimmige Blicke mit dem andern
Mädchen tauſchend, von neuen Thätlichkeiten nur durch
die Wache abgehalten ward! Und was hätte deren
Zeugniß in dieſer Lage ihr geholfen! Durfte ſie den
Namen ihres Vaters nennen?


Der Retter ſtand aber ſchon vor ihr: „Dieſe
Dame iſt an den Auftritten hier ſo unbetheiligt als
[307] ich ſelbſt,“ rief der Fremde; und ſchon ſein Koſtüm
und Anſtand brachte auf den Polizeimann ſo viel
Eindruck hervor, daß er unmerklich Adelheids Arm
losließ. „Ich bin der Legationsrath, Kammerherr
von Wandel aus Thüringen. Auf der Rückkehr von
der Tafel Seiner Königlichen Hoheit führte mich der
Zufall, ich meine der Spektakel, in dies Haus, und
ich kam glücklicherweiſe noch zu rechter Zeit um dieſes
junge Mädchen vor Beleidigungen zu retten, über die
ich, wenn es erfordert wird, Zeugniß ablegen kann.
Ich verbürge mich für den unbeſcholtenen Ruf der
Dame, deren Name und Familie mir bekannt ſind,
und die nur der Zufall oder die Bosheit hierher
locken konnte. Dieſem würdigen Geiſtlichen und ſeiner
Familie iſt es nicht beſſer ergangen. Daß ſie keinen
Theil an den Exceſſen dieſer Perſonen da hat, brauche
ich kaum auszuſprechen; das Blut an ihrer Hand
rührt, wie Sie ſehen, von der liebreichen Pflege, die
ſie jenem armen Geſchöpfe angedeihen ließ.“


Der Polizeicommiſſar verneigte ſich leicht vor
dem Fremden, nachdem dieſer ihm den Namen des
Vaters ins Ohr geflüſtert hatte: „Dieſe Demoiſelle
kann demnächſt auf Bürgſchaft des Herrn Legations¬
rathes entlaſſen werden.“


„Und ich erſuche Sie, mein Herr Prediger,
wandte ſich der Legationsrath an den durch das Ge¬
dränge noch immer feſtgehaltenen Geiſtlichen, das
junge Mädchen unter dem Geleit Ihrer Töchter aus
dieſem Hauſe zu bringen. Sie bedarf eines weiblichen
20*[308] Schutzes vor Neckereien und Brutalitäten, die Be¬
gleitung eines Mannes, wer es auch ſei, würde ſie
nur anlocken.“


„Bleiben Sie mir vom Leibe! Soll ich noch
von der Brut mir anhängen, wo ich kaum weiß,
wie ich mit meinen unſchuldigen Töchtern ohne
Inſulten davon komme.“


Dem Geiſtlichen diente die eigene peinliche Lage
gewiß zur Entſchuldigung, wenn er jetzt ſo hart er¬
ſchien, als er früher leichtgläubig geweſen. Auch die
Reden unter den Zuſchauern konnten ihn rechtfertigen,
denn man ziſchelte ſich zu oder ſagte es vielmehr ganz
laut: „Die Hübſcheſte wird losgebiſſen von dem vor¬
nehmen Herrn.“ „Das weiß man ſchon, an wem
nichts mehr zu verlieren iſt, den läßt man dem Galgen.“


Der Polizeicommiſſar, der mit dem Bleiſtift
einige Notizen gemacht, wies auf Louis: „Wollen
Herr Legationsrath auch etwa für dieſen jungen Herrn
bürgen?“


„Mich dünkt, ſein Zuſtand bürgt für ihn, ſagte
Wandel. Wenn er ernüchtert iſt, wird er ſelbſt am
beſten Rechenſchaft geben, welche Motive ihn in dies
Haus geführt. Ich, meinerſeits habe durchaus keine
Anſprüche an den Sohn des Herrn —,“ er flüſterte
wieder den Namen in das Ohr des Beamten —
„ſollte der Herr an mich Forderungen haben, ſo iſt
ihm meine Adreſſe bekannt,“ ſetzte er ſcharf betonend
und mit einem eben ſo ſcharfen als kurzen Blick auf
den Betreffenden hinzu.


[309]

„Demoiſelle, ſagte er dann, Adelheid ſeinen Arm
bietend, da ſich kein anderer Ritter findet, müſſen
Sie ſich meinem Schutz anvertrauen. Platz!“ Die
Menge machte ihn. Im Hinausgehen ſah Adelheid
unwillkürlich zurück. „Sie mögen ſich entfernen, Herr
v. Bovillard, hatte der Commiſſar dieſem zugeflüſtert,
indem er anſcheinend in ſeinem Taſchenbuche Bemer¬
kungen notirte. Doch erſt nachher, wenn die Menge
ſich verlief. Sie verdanken dieſe Berückſichtigung dem
Zeugniß des Herrn Legationsraths; Sie werden ſelbſt
am beſten wiſſen, daß die Polizei andere über Sie hat.“
Der junge Mann ſtand aufgerichtet, wie eine Bildſäule
regungslos; ſeine Hand wühlte krampfhaft in der
Bruſt, nur die Augen ſchoſſen noch einen Blick auf
Adelheid's Begleiter, deſſen Ausdruck ſich nicht be¬
ſchreiben läßt. Es war nicht mehr das Feuer des
Zornes, nicht das Aufpraſſeln eines Brandes, der
ſeinen Höhenpunkt erreicht, es war die Gluth des
Haſſes, die ſtill fortlodert, weil ſie unerſchöpflichen
Stoff unter der Aſche gefunden. Und doch zückte dies
ſtiere Auge als es dem des jungen Mädchens be¬
gegnete, und ſenkte unwillkürlich die Lider.


„Eilen Sie! rief ihr Begleiter. Draußen iſt
friſche Luft.“ Sie ſchwankte an ſeinem Arme, als
er ſie durch die Thür geriſſen.


„Nur einen — einen Augenblick nur! ſtöhnte
ſie im Vorzimmer — O Gott, mein Vater, meine
Mutter!“ Sie war in einen Seſſel im Vorzimmer
geſunken. Der Retter hatte ein Etui mit kleinen
[310] Eſſenzfläſchchen aus der Taſche gezogen und tupfte,
vorſichtig Tropfen davon auf den Finger gießend,
über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre
Gloſſen, es waren keine freundliche. Ein Glück für
die Ohnmächtige, daß ſie nichts davon hörte. Ihr
Begleiter hörte und verſtand ſie, aber keine Miene,
kein Blick verrieth eine innere Bewegung.


Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner
ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war,
lüftete er vorſichtig das Tuch, das ſie um ſich ge¬
ſchlungen: „In der That ein Prachtwerk der Schöp¬
ferin. Faſt zu ſchön, um es zu verſchwenden, ſetzte
er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verſchwen¬
deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer
Raritätenſammlung.“


Erſt die Tropfen aus dem letzten Fläſchchen, die
er noch behutſamer anwandte, brachten die Wirkung,
die er beabſichtigt, hervor. Es mußte eine ſehr
ſtarke, gefährliche Eſſenz ſein, denn nur, nachdem er
verdrießlich nach der Uhr und der Sonne geſehen,
und die Schläferin ohne daß ſie erwachte, ſtark am
Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapſel und
den Stöpſel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre
Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre
Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬
ven, die der Retter nicht beabſichtigt hatte. Sie er¬
hob ſich und ſprach in Extaſe. Es war das ſchöne
Metall der Stimme, das vorhin faſt berauſchend in's
Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein
[311] ſchneidender Laut der Todtenglocke, es klang und
wogte melodiſcher, wie ein Lobgeſang, als ſie ihrem
Retter ihren Dank ausſprach, ihn verſichernd, es werde
alles gelingen, alles gut werden, er ſollte nicht ſor¬
gen. Sie ſprach ſehr ſchnell. Der Legationsrath
kniff ſich ängſtlich in die Lippen, als ſie Schiller'ſche
Verſe recitirte, von der Tugend, die kein leerer Wahn;
von der Welt, die das Strahlende zu ſchwärzen liebe,
aber die edlen Herzen ſchlügen überall, auch im Hauſe
des Verderbens. O wie würde ſich ihr herrlicher
Lehrer freuen, welch ein Triumpf für ihn, daß ſein
Wort in Erfüllung gehe: nur durch die Leiden,
die großen Leiden, entwickele ſich die Seele. Und
wie erſt würde ihr Vater ſich freuen, wie ſehne ſie
ſich, ihm in die Arme zu ſinken. Da da! — ſie
zeigte an's Fenſter. Die Thürme auf dem Gens¬
darmenmarkt glühten in der Abendſonne, in jener
wunderbarer Pracht, wie ſie ein kalter nordiſcher
Abendhimmel zuweilen auf die Dächer und Spitzen
höherer Gebäude ausgießt; die gelben Streiflichter
am fernen Horizont deuteten aber dem Kenner, daß
dieſe ſchöne Röthe kein Vorbote eines ſchönen Tages
ſei. „Mein Vater ſieht ſie auch aus ſeinem Fenſter,
er freut ſich, und er darf ſich freuen, denn bald
werde ich auch in ſeine Arme ſtürzen, roth von dieſer
Sonne angeleuchtet.“


„Wickeln Sie ſich feſter in Ihr Tuch, Made¬
moiſelle. Sie ſind erhitzt, und es iſt ſehr kühl
draußen geworden.“ Das Gewitter, das ſich aus¬
[312] wärts entladen, hatte eine empfindliche Kälte ver¬
urſacht.


„In dies Tuch!“ rief Adelheid, als der Lega¬
tionsrath bemüht war, den ſeidenen Shawl feſter
um ihre Schultern zu ziehen. Sie riß es heftig ab,
und ſchleuderte es in den Winkel. Es iſt nicht meines.
Sie ſchauderte. Fort, fort! nach Hauſe.“


„Unmöglich, Demoiſelle! Sie ziehen ſich eine
gefährliche Krankheit zu. Wenn das Tuch nicht Ihnen
gehört, ſchicken wir es ſogleich zurück. Nur bis ich
Sie zu Ihrem Herrn Vater gebracht.“


„Mein Vater ſoll das Netz nicht ſehen, worin
ſie ſeine Tochter fangen wollten.“ Sie hing ſich mit
Ungeſtüm an ſeinen Arm. „Mich friert; aber nur
hier. Gewiß nur hier, draußen iſt es warm.“


Auch den Legationsrath fröſtelte. Er konnte die
Retterrolle, die er übernommen, bereuen. Die ent¬
ſchloſſenen Züge ſeines Geſichtes ſchienen dem zu
widerſprechen. Aber ſeine Lage war eine kitzlige
für einen vornehmen Mann, dem der Anſtand vor
der Welt allen Rückſichten voran geht. Oeffentlich
aus dieſem Hauſe eine Dame zu führen, deren auf¬
geregter, halb verwilderter Zuſtand den Vermuthungen,
die ſich von ſelbſt machten, nur zu ſehr Thor und
Thür bot. „Sie iſt ja offenbar betrunken,“ mußte
er im Vorbeigehen hören. „Die Schminke eben ab¬
gewiſcht,“ ſagte ein anderer. „Und in der Windfahne
auf offener Straße!“


Dies waren nicht mehr die Stimmen des Pö¬
[313] bels; es waren die Urtheile ruhiger Bürger. Es
waren dieſelben Perſonen, welche vorhin den Prediger
und ſeine Töchter vor den Inſulten der Buben ge¬
ſchützt. Denn dieſen Landmädchen ſähe man es ja
an, daß ſie nicht in das Haus gehörten, aber es ſei
doch eine Verhöhnung alles Anſtandes, wenn ein
Cavalier im Hofcoſtüm mit einer ſolchen frechen
Dirne ohne Scham und Scheu auf offener Straße
ſich zeigt. So etwas ſei ſelbſt zu den ſchlimmſten
Zeiten der Lichtenau'ſchen Wirthſchaft nicht vorge¬
kommen.


Zum Glück hörte davon Adelheid nichts.
Der Legationsrath hörte Alles, aber keine Miene
verrieth es. Die ruhigen Bürger blickten ihm kopf¬
ſchüttelnd, die Gaſſenbuben liefen ihm höhnend nach.
Er ſchwieg auch da, er beſchleunigte nicht einmal
ſeine Schritte. Er ſuchte nur nach etwas, vielleicht
nach einem Bekannten; nach einem Fiacker konnte er
ſich nicht umſehen, es gab deren in Berlin noch nicht.
„Wiſſen Sie die Wohnung meines Vaters?“ fragte
Adelheid. „Ich weiß ſie.“ Aber er nahm eine an¬
dere Richtung und beſchleunigte jetzt ſeine Schritte.
Als Adelheid ihn daran erinnern wollte, trat er an
eine offene Kutſche, welche in der Querſtraße vorüber¬
fuhr und gab dem Kutſcher ein Zeichen zum Halten.
Zum großen Befremden der Dame, welche darin ſaß;
zu ihrem noch größeren aber redete er ſie bei
ihrem Namen an, und bat ſie um einen Dienſt
der Menſchenfreundlichkeit. Er nannte ſeinen Namen.
[314] Eine leichte Röthe überflog die blaſſen Wangen der
Geheimräthin Lupinus. Sie neigte ſich anmuthig
über den Wagenrand, ſein Anliegen zu hören.


„Erlauben Sie, daß ich franzöſiſch ſpreche, ſagte
er, wegen der Zuhörer.“ Es blieb zweifelhaft, ob
er die Gaſſenbevölkerung meinte, die ſich ſchon um
den Wagen drängte, oder Adelheid, die noch an ſei¬
nen Armen hing. In einer fließenden kurzen Dar¬
ſtellung, mit einem Accent, in welchem die Geheime¬
räthin den Pariſer zu erkennen glaubte, erzählte er
die ſcandalöſen Vorfälle in dem Hauſe, ohne alle
Perſonen, die darin verwickelt waren, zu nennen,
und den wahrſcheinlichen Grund, wie das argliſtige
Weib das junge Mädchen in ihr Garn gelockt. „Sie
ſehen, Madame, ſchloß er, die ſchreckliche Lage, in
welche eine Verkettung von Umſtänden die Tochter
ehrbarer Eltern gebracht hat. Wenn es mir auch
dort mit meinem Degen gelang, ſie vor der Brutalität
zu ſchützen, ſo iſt der Stahl doch eine ganz unzu¬
längliche Waffe gegen böſe Vermuthungen und die
aufgeregte Populace hier. Ich rufe vertrauensvoll
Ihre Hülfe an. Meine Bitte, ſie in Ihrem Wagen
aufzunehmen und den Eltern zu überliefern, iſt nur
der geringſte Theil meines Anliegens. Die Ehren¬
rettung des jungen Mädchens erfordert einen offenen
Akt der Anerkennung. Wenn Sie ſich entſchließen
könnten, ſie hier öffentlich zu embraſſiren, ſo iſt ihre
Ehre wenigſtens vor dieſem Straßenpublikum reta¬
blirt. Denn wer kann zweifeln, wenn eine Dame
[315] vom Ruf der Frau Geheimräthin Lupinus ſie dieſer
Auszeichnung werth hält.“


Die Geheimräthin war durch die Vorſtellung
nicht unangenehm berührt. Sie fragte leiſe überge¬
beugt: „Wer iſt eigentlich die junge Perſon, ich hörte
den Namen nicht deutlich.“ — Der Name des Kriegs¬
raths mochte der Geheimräthin eine ſehr gleichgül¬
tige Bekanntſchaft ſein. Aber ſie ſtieß plötzlich den
Schlag auf und breitete ihre Arme dem jungen Mäd¬
chen entgegen, welches der Legationsrath raſch hin¬
einhob.


„Meine wertheſte Demoiſelle, mein liebes Kind,
wie konnte ich auch nicht gleich die Tochter meines
Freundes, des wackern Kriegsraths erkennen! Das
iſt ja abſcheulich, daß Ihre Gouvernante ſo wenig
Ortskenntniß hat und ſich in das Haus verirren
mußte! Aber wie ſind Sie in dieſem Jahre gewachſen,
ach und wie echauffirt! Johann, ſchnell den Mantel
aus dem Kaſten. Ich hoffe, das wird nicht von üblen
Folgen ſein. Wie ſie zittert! — Herr v. Wandel,
es giebt eine Juſtiz hier und einen König, der ſol¬
chen Affront, einer achtungswerthen Familie angethan,
ſtrafen wird!“


„Deſſen bin ich gewiß!“ rief der Legationsrath
ſeinen Hut abziehend.


„Mein Gott, Sie ſteigen doch auch ein?“


„Meine Gegenwart könnte ſtören.“


„Wie das! Wer verdient wie Sie den Dank des
erfreuten Vaters entgegen zu nehmen! O raſch ein,
[316] daß ich das Vergnügen habe, dem Manne den Wohl¬
thäter, den Retter ſeines Kindes zu präſentiren.“


„Erlauben Sie mir, ich bitte inſtändigſt darum,
Ihre gütige Einladung ablehnen zu dürfen. Es giebt
Erörterungen, welche das Gefühl verwunden; die
Wunde wird ſchmerzlicher, wenn ein fremder Mann
ſich in das Heiligthum des Familienkreiſes drängt.
Vermuthungen könnten aufſteigen, die, ſo empörend
ſie klingen, doch immer ihr Recht verlangen. Den
Dank, ach, mein Gott, wer denkt in dieſer Welt an
Dank! — Es iſt Ihr Schützling jetzt, tragen Sie
das ganze Wohlwollen Ihres edlen Herzens auf die
Arme über, und, wenn es anginge, verſchweigen Sie
meinen Namen. Ich übte nur die Pflicht eines jeden
Cavaliers, weiter nichts, Sie ſetzten Ihren guten
Namen an ein gutes Werk und auf die bloße Bitte
eines Ihnen fremden Mannes. Vergönnen Sie ihm
nur, dieſer Tage ſeine Aufwartung zu machen, um
ſich nach dem Wohlergehen Ihres Schützlings zu er¬
kundigen.“


„Ein Mann von ſeltener Delicateſſe,“ ſagte die
Geheimräthin, nachdem er ſich beurlaubt. Adelheids
Zuſtand erforderte ihre ganze Sorgfalt. Sie ſaß
wieder ſprachlos, in ſich verſunken, und ein heftiger
Fieberfroſt fing ihre Glieder zu ſchütteln an. Der
Kutſcher erhielt den Auftrag raſch zu fahren.


Gruppen von Bürgern ſtanden noch immer um
das Haus, das die Polizei bereits verlaſſen und ver¬
muthlich geräumt und verſchloſſen hatte, als der Le¬
[317] gationsrath auf ſeinem Rückweg die Straße paſſirte.
Man war jetzt ſchon beſſer von den Verhältniſſen
unterrichtet, man wußte, wer das junge Mädchen
war, man hatte auch Kunde von dem, was wir eben
erzählt: „Schade um ſie, die iſt auf immer verloren,“
ſagte ein ältlicher Mann, von der Haltung und dem
Geſichtsausdruck, woran man ſogenannte ſolide Bür¬
ger erkennt.


„Und warum das, mein Herr van Aſten,“ fragte
der Legationsrath, der heran getreten war und in dem
Kaufmann einen Geſchäftsfreund erkannte.


„Weil ſich gewiſſe Dinge nicht wieder repariren
laſſen, die ein Mal ſchadhaft geworden ſind.“


„Auch wenn ich Ihnen beweiſe, durch welche
Ränke und Intriguen ſie in dies Haus verlockt ward?“


„Mir werden Sie es vielleicht beweiſen, und
vielleicht auch dieſen Herren, welche uns zuhören.
Aber ſchon den beiden nicht, welche dort eben fort¬
gehen, noch weniger der ganzen Stadt, welche heut
Abend im Theater, in den Geſellſchaften, in den
Wirthshäuſern von dem Vorfall plaudern wird. Man
wird ſchon heut mehr erzählen, als ſich ereignet
hat, und morgen weit mehr wiſſen, als wir heut
geſehen haben. Man glaubt aber immer lieber
das Schlimmſte, weil es das Intereſſanteſte iſt.
Wollen Sie es durch den Ausrufer ausſchreien
laſſen, daß die Demoiſelle Alltag ein unſchuldiges
Mädchen iſt, oder an die Ecken es anſchlagen laſſen?
Das Uebel würde nur ſchlimmer. Sie könnten frei¬
[318] lich, wie man wohl jetzt thut, durch Artikel in den
Zeitungen der Sache den Anſtrich geben, den man
wünſcht, aber, mein Herr Legationsrath, ich weiß
doch nicht, ob das der jungen Dame, oder ob es
Ihnen von Vortheil wäre?“


„Was kann es mich betreffen?“ fragte raſch der
Cavalier.


„Man würde nach den Urſachen fragen, weshalb
Sie eines jungen Mädchens, das Sie als Fremder
in dieſer Stadt kaum kennen, ſich ſo beſonders an¬
nehmen? Schon dies beſondere Intereſſe würde aber
auch dem Mädchen ſchaden. Doch ganz davon
ſehen, frage ich Sie, was würde es einer Firma
helfen, die in der Meßwoche ihre Wechſel nicht zahlt,
und proteſtiren läßt, wenn ihre Freunde durch ein
Circular nachher bewieſen, daß das Haus eigentlich
ſolide ſei, und aus welchen zufälligen Umſtänden es
grade an dem Tage und in der Woche nicht zahlen
konnte! Unter ſeinen Bekannten möchte das Haus ſich
wohl wieder aufrappeln, ſein Credit aber in der
großen Handelswelt bliebe erſchüttert.“


„So muß man ſie verheirathen, dann iſt die
Sache vergeſſen,“ ſagte ein Dritter.


Der Legationsrath ſchwieg einen Augenblick vor
ſich hin. Wer ihn genau kannte, hätte vielleicht in
der Muskelbewegung um den Mund einen inneren
Kampf wahrgenommen: „Sie meinen alſo, daß ſei
ganz unmöglich? — Es iſt nichts unmöglich, ſage ich
Ihnen, was man will. Wenn man den Credit eines
[319] Hauſes ſchaffen und erſchüttern kann, warum nicht
auch ihn repariren!“


„Ein geflicktes Haus und meine Ehre iſt ver¬
loren,“ ſagte der Kaufmann.


„Was kommt es auf die eigene Werthſchätzung
an, fiel Herr v. Wandel nach einigem Nachdenken
ein, wo es ſich handelt um die Conſtellation zum
Allgemeinen. Die Ehre eines Handlungshauſes wie
eines Staates beruht auf der Meinung; die Meinung
auf Illuſionen. Herr über dieſe zu werden, iſt die
Aufgabe des Mannes, der überhaupt ſeine ver¬
ſteht. Und dieſer gebrechlichſte Schein aller ge¬
brechlichen Dinge, der Ruf eines Mädchens, ſollte
über dieſe Aufgabe hinaus liegen! Was wir mit
einem ſpöttiſchen Blick, einer Geſte, einem flüchtigen
Wort verrichten können, ſollte uns nicht gelingen,
mit aller Kraft unſres Geiſtes, allen Mitteln, die
uns die Natur gab, wieder herzuſtellen? Herr van Aſten,
was gilt die Wette, ich ſtelle den Ruf dieſes Mäd¬
chens ſo wieder her, daß die tugendreichſte Mutter
ihre Töchter mit Vergnügen ihr zuführt.“


„Er mag ein guter Cavalier ſein, aber kein
guter Kaufmann, ſagte der Begleiter des Andern,
als der Legationsrath ſich raſch entfernt hatte. Ein
guter Kaufmann ſetzt nicht ſo viel ein um etwas, was
ihm ſo wenig einbringt.“


„Und doch, entgegnete der Kaufmann, ſah ich
Niemand ſo glücklich ſpeculiren ſeit der kurzen Zeit,
daß wir in Geſchäftsverbindung ſtehen.“


[]

Neunzehntes Kapitel.
Abälino der große Bandit.


Als die Polizei die Thüren der Wohnung ver¬
ſchloſſen hatte, war manches in derſelben nicht mehr,
wie es vorher geweſen. Die Volksjuſtiz hatte geglaubt,
auch ihrerſeits für die gekränkte Sitte Rache nehmen zu
müſſen. Die Polizei hatte ihr Auge auf andere Dinge ge¬
habt, um ihren ungebetenen Helfershelfern überall auf
die Finger ſehen zu können, und dieſem Umſtande darf
man es zuſchreiben, daß, als ſie die Wohnung räumte, eine
Perſon, ganz von ihr überſehen, zurückgeblieben war.


Die Hände feſt auf die Stirn geſpannt, den
Kopf auf die Stuhllehne gedrückt, ſaß, ob ſchlafend,
träumend, in einen ohnmachtartigen Starrkrampf
verſunken, wir wiſſen es nicht, der junge Bovillard.
Die Ruhe um ihn her mochte ihn wecken. Er ſprang
auf. Sein dunkles Auge ſtierte nach der Stelle, wo
der Legationsrath zuletzt ſtand, wo er ſeinen Blick
aushalten mußte, und mehr als das, wo der Mann,
der ihn tödtlich beleidigt, als ſein Fürſprecher auf¬
trat. Ihm verdankte er ſeine Freiheit und — doch
[321] hätte er eine Wolluſt darin empfunden, wenn er mit
ſeinen Händen ihm die Kehle zuſchnüren, wenn er
ihn erwürgen können.“ Den Arm mit der geballten
Fauſt ſtreckte er aus — zum Zweikampf mit einem
Luftbilde? Aber indem er ihm in dem Augenblicke
einen tödtlichen Haß ſchwor, übergoß ihn die Röthe
der Scham. Wie vielen hätte er Todhaß ſchwören
müſſen, die alle Zeugen ſeiner Beſchämung geweſen.
Noch eine andere Erinnerung ſtieg auf, er drückte
mit der Fauſt gegen die Stirn und athmete ſchwer.
Dann ſuchte ſein Auge an der Wand drüben, nach
der Thür, durch welche Adelheid fortgeführt ward:
„Und von dem Schuft!“ Es war das erſte laute
Wort, und der Schall ſchien die neckiſchen Geiſter zu
wecken, die an der Stätte der Zerſtörung geſchlum¬
mert hatten.


Im letzten Sonnenſtrahl, der durch die obern
Scheiben drang, wirbelte der dichte Staub, der ſich
noch immer nicht geſetzt hatte. Es ſchwirrte in der
Luft von Fäſern und Federn, die Gardinen hingen
zerriſſen von den Fenſtern, der Spiegel war zerſchla¬
gen, Stühle und Tiſche, umgeſtürzt, den weiblichen
Figuren auf den Schildereien hatte man mit Kohle
große Bärte angemalt. Er ſtieß die Thür auf. Im
Vorzimmer war es ſtill und leer. Schien er doch zu
ſuchen, ob nicht jemand wie er zurückgeblieben wäre,
ob er nicht vielleicht ein ſtilles Schluchzen höre? Es
waren die Tauben auf dem Dache. Er ſah ſich noch
ein Mal um, ehe er die Wohnung verlaſſe, und
I. 21[322] aus dem gebrochenen Spiegel grüßte ihn ſein Bild,
ihn daran erinnernd, daß er ſo auf der Straße ſich
nicht zeigen dürfe. Er ging nach dem Seitenzimmer
zurück, ſeinen Rock zu holen. Die Luft wimmelte
wie von Schneeflocken. Von der Zugluft, welche die
aufgeſtoßene Thür verurſachte, wirbelten die Federn
aus den Betten, welche ſie in muthwilliger Zerſtö¬
rungsluſt aufgeſchnitten. Vergebens ſuchte er nach
Rock und Hut. Sie waren verſchwunden, geſtohlen.
Fort aus dieſer Höhle der Verwüſtung! Die ihm
wohlbekannte Hinterthür war verſchloſſen, der Schlüſſel
fehlte. Er eilte zurück nach dem Vorzimmer; auch
dieſe Thür war zu; er war eingeſchloſſen. Sollte er
Lärm machen? Nach ſo vielem Lärm? Er hatte
keinen Grund die Trommel des Aufruhrs zu rühren.


Indem er noch, unſchlüſſig was er thun ſolle,
aufmerkſam beobachtend umher ging, fiel ſein Auge
auf einen Kamin, der nach alter Art in einen wei¬
ten, aber nur kurzen Schornſtein führte. Er erinnerte
ſich aus fröhlichen Abenden, daß die heitere Unter¬
haltung oft durch das Brauſen des Windes geſtört
wurde, wenn es ſtark wehte, ſelbſt Regen und
Schneewirbel unter die luſtigen Kinder hier getrieben
wurden.


Indem er den Kamin unterſuchen wollte, ob
von da vielleicht ein Ausgang zu entdecken wäre,
entdeckte er etwas, was er nicht erwartet, einen Stock
und zwei Beine, die ſich vergebens in die Höhe zu
ziehen ſuchten. Als er ſie ergriff, ſtieß eine Stimme,
[323] die unzweifelhaft zu den Beinen gehörte, einen Angſt¬
ſchrei aus. Er zog einen vollſtändigen Menſchen
herunter, weit vollſtändiger und anſtändiger gekleidet,
als er, gefärbt wie er, nur nicht weiß vom Feder¬
ſtaub, ſondern ſchwarz vom Ruß.


„Ach Sie, Bovillard, ſagte der Geſchwärzte auf¬
athmend, Gott ſei Dank! Ich glaubte, es wäre der
Polizeicommiſſar.“


„Ich freue mich auch ungemein, grade den Herrn
v. St. Real zu begrüßen. Wie befinden ſich Herr
Kammerherr? Ein Anfall von Podagra feſſelte Sie
neulich zu meinem Bedauern an's Bette.“


„Sie ſehn, ich bin wieder paſſabel hergeſtellt.“


„Ja, wer ſchon gymnaſtiſche Uebungen machen
kann! Aber im Schornſtein iſt das doch etwas un¬
bequem. Da iſt hier ein junger Lehrer an einem
Gymnaſium, ein Herr Jahn, der will öffentlich Un¬
terricht in der Gymnaſtik geben. Wie ich höre, beab¬
ſichtigt er damit eine Verbeſſerung der deutſchen Na¬
tion und insbeſondere des Menſchengeſchlechts. Da
ſollten Sie ſich melden, beſter Kammerherr!“


„Peſtilenz! Wo kommen Sie her, Bovillard?“
rief der Kammerherr, ſich ſchüttelnd.


„Von einem Dejeuner bei Dallach. Ich ver¬
ſichere Sie, Kammerherr, der Mann perfectionirt
ſich. Auſtern, wie friſch aus der See, ein Caviar,
und ein Burgunder, der Miniſter kann ihn nicht
beſſer haben. Schade, daß Ihr Podagra den Bur¬
gunder, oder der Burgunder Ihr Podagra nicht ver¬
21*[324] trägt. Wir vertrugen uns vortrefflich, lauter Freunde
einer Geſinnung, alles Verehrer der Schick! Nein,
ſie hat doch eine Stimme, darüber geht nichts!“


„Ihre Stimme in Ehren, aber Ihre, Bovillard,
war mir lieber. Wenn der verfluchte Commiſſar
hier Wache gehalten hätte, bis ich erſtickt war!“


„Kommen Sie von oben da her, Kammerherr?
Oder wollten Sie oben hinaus?“


„Ich war hier hergerathen, ich weiß noch nicht wie.“


„Vermuthlich wie ich.“


„Damit der Rothkragen mich nicht finde, kroch
ich in der erſten Beſtürzung da hinein. Nun aber,
theuerſter Mann, können Sie mir nicht gelegener
kommen. Ich habe eine dringende Bitte an Ihre
Gefälligkeit.“


„Ich gleichfalls.“


„Schaffen Sie mir meinen Wagen, verſteht
ſich dort um die Ecke. Ich hoffe, der Kerl wird
ſich von ſelbſt retirirt haben, als der Scandal
los ging. Dann recognosciren Sie etwas Luft und
Terrain.“


„Mit dem größten Vergnügen.“


„Kann ich Ihnen einen Gegendienſt erzeigen,
rechnen Sie auf meine Bereitwilligkeit. Liebſter,
junger Mann, wenn Sie mir nur Ihr ganzes Vertrauen
ſchenkten, hoffe ich gewiß, die Differenzen mit Ihrem
Herrn Vater zu löſen.“


„Nichts von Frieden, ich will Krieg. Sie haben
hier gelauſcht, Sie erfuhren, Sie wiſſen Alles, hät¬
[325] ten Sie etwas vergeſſen, will ich Sie daran er¬
innern. Dem Herrn von Wandelſtern, oder wie er
heißt, will ich den Hals umdrehen, natürlich ganz in
legaler Weiſe, durch Piſtolen oder Stichdegen, wie
es ihm mehr Vergnügen macht, Sie ſollen mein
Cartellträger ſein. Die Sache eilt, weil man ſo
etwas leicht vergißt; und auf der Stelle, wenn Sie
los ſind, erſuche ich Sie, in eigener Perſon zu ihm
zu fahren, meine Herausforderung zu bringen und
das Nöthige mit ihm abzumachen.“


St. Real ſah etwas verblüfft den andern an
und wollte ſeine Hand faſſen: „Liebſter, junger Mann,
um ſolche Kleinigkeiten —“


„Da iſt nun der Geſchmack verſchieden, Herr
Kammerherr, ich behandle das Kleine groß, Andre
das Große klein. Da muß man Jeden ſeinem pen¬
chant
überlaſſen.“


„Mein Gott, theuerſter Freund, bei ſolcher Art
Conflicten muß man nicht mit gefärbten Gläſern
ſehen. Wo nichts zu gewinnen, muß man nicht ein¬
ſetzen. Sie begreifen, daß gewiß Niemand von dem
plaudern wird, was hier vorfiel. Unter Cavalieren iſt
es eine ſtillſchweigende Uebereinkunft, daß man an
ſolchen Orten ſich nicht kennt. Die Perſon iſt ja
nun auch verſchwunden, ſie wird über die Gränze
geſchafft. In ein Paar Tagen, wie geſagt, iſt der
Vorfall vergeſſen und verdampft wie ein Rauſch.
Stänkern Sie nicht darin, liebſter, beſter, junger Mann.“


„Die Perſon! Sie meinen die Frau Obriſtin
[326] Malchen. Das iſt ja eine höchſt reſpectable Dame.
Sie erfreut ſich wenigſtens einer Protection, die ihr
nur Ehre bringen kann.“


„Liebenswürdiger Schäker! Kennen Sie denn
aber den Herrn von Wandel?“


„Vermuthlich ein eben ſo reſpectabler Herr, wie
Ihre Freundin.“


„Theuerſter Bovillard, Sie irren ſich. Er iſt
ein intimer Freund Ihres Herrn Vaters; ich ver¬
ſichere Sie, einer der feinſten Köpfe, ein Mann der
Wiſſenſchaft, ein Gelehrter, ein Mann von ſtupenden
Kenntniſſen, ein Diplomat und von den liebens¬
würdigſten Eigenſchaften. Sie müſſen ſich kennen ler¬
nen. O Sie werden es mir danken. Und dabei ein
Gemüth wie ein Kind, unwiderſtehlich bei den Da¬
men. Ich ſage Ihnen, Sie werden Freunde werden,
wenn ich Sie bei ihm einführe, Sie werden ſehen,
er hat Alles vergeſſen.“


„Ich nicht, mein Herr! trumpfte Bovillard.
Entweder, oder — Wollen Sie nicht?“


„Sein Sie überzeugt, ich gleiche die Sache zu
Ihrer Zufriedenheit aus.“


Der Jüngere eilte an's Fenſter, um es aufzu¬
reißen.


„Bovillard! Was wollen Sie thun?“


„Die Polizei rufen. Wiſſen Sie nicht, daß
wir eingeſchloſſen ſind. In dem leeren Neſt habe
ich nicht Luſt die Nacht zu verbringen.“


„Sind Sie raſend! Man würde —“


[327]

„Uns auf die Wache bringen. Ganz in der
Ordnung. Wer bei einbrechender Nacht in einem
verdächtigen Orte betroffen wird, und ſich nicht aus¬
weiſen kann, daß er dahin gehört, wird zum Aus¬
ſchlafen auf die Wache gebracht. Das iſt das erſte
Erforderniß eines geſetzlichen Staates. Der Staat
muß auch ſeine Ruhe haben, wie jeder Menſch, wenn
er ſchlafen will.“


„Unſre Lage würde ja weit ſchlimmer.“


„Unſre? mein Herr, Sie bedenken nicht, welch
ein Unterſchied zwiſchen uns iſt. Sie haben einen
guten Ruf zu verlieren, ich gar keinen. Denn einen
ſchlechten verliert man nicht, wenn man auf die
Wache geſchleppt wird. Sie ſehen, daß ich gar nichts
dabei riskire.“


Der Kammerherr hatte ſich mit großer Gewand¬
heit zwiſchen Bovillard und das Fenſter gedrängt.
„Wenn Sie denn abſolut wollen! Ich will's arran¬
giren, aber — er ſchießt Ihnen — den Sperling
putzt er auf zwanzig Schritt mit dem Kuchenreuter
vom Zaune. Sie junger Hitzkopf, thun Sie's doch
lieber nicht, 's iſt gegen mein Gewiſſen!“


„Herr Kammerherr, Ihr Gewiſſen iſt mir zu
werth, Ihr Gewiſſen dürfen Sie nicht dran ſetzen.
Sie müſſen es mit gutem Gewiſſen thun, ſonſt ſchreie
ich: Polizei.“


„Monsieur de Bovillard fils est un original. Ganz
der Vater, nur in anderer Manier. Sie ſind be¬
leidigt, Sie müſſen Satisfaction haben, ich ſehe es
[328] ein. Mit ſchwerem Herzen, aber — ich ſehe es ein.
Nu ſuchen Sie mir aber meinen Kutſcher auf.“


„Ich ſagte Ihnen ja, wir ſind eingeſperrt.“


Va-t-en! Was ſoll draus werden! Wir müſſen
doch raus!“


„Belieben Herr Kammerherr hier die Fenſterhöhe
zu betrachten. Man erzählt ſich zwar, daß Herr
v. St. Real in ſeiner Jugend aus Loyalität einen
Sprung gethan, woran er ſein Leben lang denkt,
indeſſen, dieſer Abgrund iſt keine Treppe und ob die
Loyalität Sie jetzt tragen wird, das überlaß ich Ihrem
Ermeſſen.“


„Bovillard bringen Sie mich nicht außer mir.“


„Wenn ich Sie außer ſich ſetzte, was könnte ich
Ihnen jetzt beſſeres anthun?“


„Schaffen Sie Rath. Ihr Genie hat etwas
in petto.“


„Vermuthlich haben Sie ſchon unterſucht, daß
es durch den Schornſtein nicht geht. Indeſſen
kommt Zeit, kommt Rath, nämlich Dunkelheit, und
im Dunkeln findet ſich Manches beſſer, das werden
Sie aus eigner Erfahrung wiſſen. Aber Sie ſind
müde, ſetzen Sie ſich.“


Bovillards prüfender Blick hatte ſchon vorher
auf einem Wandbrett etwas geſehen, was die Tu¬
multuanten überſehen haben mußten, ſonſt würde
man es wahrſcheinlich jetzt nicht mehr geſehen haben,
ein Fläſchchen ſüßen Weins mit Spitzgläſern, dahin¬
geſtellt, um nach der Chocolate die Collation zu würzen.
[329] Er langte den Schatz ſchnell herunter, von dem er,
nachdem er ihn gekoſtet, verſicherte, es ſei ein ächter
alter Malaga, der ihnen eine wohlthätige Wärme
geben werde.


Der Kammerherr fühlte allerdings ein Bedürf¬
niß. Er war ſehr müde. Der kalte Angſtſchweiß
ſtand auf ſeiner Stirn.


„Ausgetrunken! Ein zweites Glas!“


„In der That eine ſeltſame Situation!“ In¬
deſſen er trank.


„Warum ſeltſam! Ein Weltmann muß ſich in
alle Situationen finden. Thun Sie ganz, als wären
Sie zu Hauſe.“


„Der Wein war doch nicht für uns beſtimmt.“


„Für mich nicht, aber für Sie.“


„Man muß auch im Scherz ein Maaß finden.“


„Was Scherz! Das Neſt iſt leer, aber die Er¬
innerungen ſind geblieben. Nicht wahr, Kammerherr?
Durch dieſe Dämmerung ſchweben die Grazien. Auf
den Wirth! Angeſtoßen!“


„Bovillard!“


„Beſter St. Real, wir ſind ja unter uns! Reden
wir denn zum profanum vulgus! Auf den Höhen der
Menſchheit, wie der Dichter ſie nennt, verlangt man
auch Freude, den ſchönen Götterfunken. Wer pour
les menus plaisirs
ſorgt, iſt ein Wohlthäter der höheren
Menſchheit. Oder ſind Sie traurig, daß die rauhe
Hand der Wirklichkeit eingriff? Sehn Sie, ich bin
Idealiſt; mich kümmert die Polizei nicht. Ich ſehe
[330] ſie noch immer ſchweben und tanzen die ſüßen Er¬
innerungen und Entzückungen, die Küſſe und Roſen.
Eine ſolche Wirthſchaft hat etwas ungemein Poeti¬
ſches; nur das Geld darf nicht fehlen. Hätten Sie,
Kammerherr, mit rechtem Eindruck zum Viertelscom¬
miſſar geſprochen — nun ich will dem Manne nichts
nachreden, er iſt gewiß ein ausgezeichneter Staats¬
diener — aber, aber, wenn man ſich nur verſtändigen
will, wird man verſtanden.“


Le père tout craché. Aber gehn Sie mir mit
Ihrer Poeſie, ich habe mit der Sache nichts zu thun.“


„Sie lieben die Realitäten. Ich lebe nur in
den Ideen, conſtruire mir meine Welt ſelbſt. Wenn
ich ſolch ein Haus betrachte und die Wirthſchaft drin,
werde ich unwillkürlich an unſern Staat erinnert.“


„Hüten Sie ſich aus einem mauvais plaisant zu
einem Calumnianten zu werden“


„Kennen Sie den Dichter Dante?“


„Bleiben Sie mir mit den Poeten vom Halſe,
ſage ich Ihnen, ſie müßten denn ſo allerliebſte fran¬
zöſiſche Verſe machen wie Ihr Herr Vater.“


„Dante hat nur italieniſche Chanſons gedichtet.
Aber eines dieſer wunderhübſchen Lieder ſollten Sie
kennen, die Melodie iſt reizend. Es fängt an:


Ah tutta l'Italia e un gran bordello
Da denk ich immer an Sie, an alle Ihre Freunde,
an dies ganze bezaubernde Freundſchafts-Liebes-Sipp¬
ſchaftsweſen —“


Er ſtürzte ein Glas aus und ließ ein zweites
[331] folgen. Der Kammerherr hatte den Inſtinct, daß
hinter dem wilden Scherz ein eben ſo wilder Ernſt
lauerte. Er konnte herausbrechen, und er hatte
nicht geirrt.


„Preußen iſt nicht Italien!“ ſagte er, um raſch
abzubrechen.


„Warum nicht! Sie buhlen um uns, ſie zahlen
Geld, ſchweres Geld um unſre Gunſt, Gott weiß
wo es bleibt. Was allein hat die Lichtenau gekriegt, um
den Baſeler Frieden zu hintertreiben! Andre müſſen
wohl mehr geboten haben. Dieſe Geſandten hier, die
geheimen und die öffentlichen, ihre blintzenden Augen,
ihre ſpitzen Ohren, ihre ſäuſelnden Worte, ihre ſüßen
Händedrücke! Nicht wahr, wunderhübſch, wenn wir
immer jung blieben! Aber, mein theuerſter Kammer¬
herr, ich fürchte, ſie merken ſchon, daß unſre Wangen
mit Karmin, unſer Hals mit Bleiweiß geſchminkt iſt.
Sie buhlen, um uns auszulachen, wenn ſie unſer
ſatt ſind, ſie zahlen um, wenn wir hungrig ſind und
am Fenſter winken, uns den Rücken zu drehen. O
ſie machen uns vielleicht noch eine Gegenrechnung!
Aber wir— wir leben fort, in dulci jubilo, taumeln
von der Bowle zur Bowle, vom Liebeskuß zum Liebes¬
kuß, die Jalouſien dicht vorm Fenſter, daß wir den Tag
nicht anbrechen ſehen. Aber er wird anbrechen, Kam¬
merherr, er bricht an, ſie werden uns herausreißen,
wie jene Dirnen, halb nackt, mit hängenden Haaren,
auf die Straße, in Regen und Wind, zum Geſpött
der Kinder.“


[332]

„Wie ein vernünftiger Menſch ſich in ſolchen
Phantaſien gefallen kann!“


„Wer ſagt, daß ich vernünftig bin! Wer bleibt
vernünftig in einem Tollhauſe!“ Er ſtürzte ein Paar
neue Gläſer hinunter. Es war ſchon dunkel geworden.
Die Lichter an den Fenſtern der gegenüberſtehenden
Häuſer warfen nur einen Sprenkelſchein in das
unheimliche Zimmer, durch den Kamin zückte dann
und wann ein heulender Ton, wenn der Wind in
den Schlott fuhr. Dem Kammerherrn ward es immer
unheimlicher.


„Citiren Sie keine Geiſter, ſagte er den Stuhl
näher rückend. Sinnen Sie lieber, wie wir raus¬
kommen.“


„Ich ſehe einen Geiſt! Da ſchreitet er, rieſen¬
groß, mit funkelndem Aug, und hebt die Krücke:
Wo habt Ihr meine Erbſchaft verpraßt? fragt er.
Daran hätten Generationen zehren können, wo iſt
mein Schatz, Ihr Herren Geheimräthe? Wo das An¬
ſehn, das ich Euch hinterließ? Hättet Ihr nur meinen
Hut auf eine Stange geſteckt, meinen Rock daran
gehängt, Ihr hättet ruhig ſchlafen können, ſie hätten
ſich nicht über meine Gränze gewagt. Das hinterließ
ich Euch, es war weit mehr als meine Schätze. Wo
iſt der Reſpekt vor meinem Reich? Ihr buhlt, ko¬
kettirt, ſchachert mit der Schuld um die Unſchuld;
meine großen Gedanken zerreißt Ihr wie ein koſtbar
Gewebe in Faſern, um die Bettelarmuth Eures Geiſtes
damit zu ſchmücken. Ihr reitet auf meinem Namen,
[333] aber gebt Acht, daß Euch das Pferd nicht abſattelt,
denn ein edel Roß will gute Reiter.“


„Beſter Herr v. Bovillard!“ rief der Kammerherr,
dem das Haar ſich zu ſträuben anfing, als der andere
im Selbſtgeſpräch fortfuhr, und dabei bald mit dem
Glaſe, bald mit der Flaſche auf den Tiſch ſtieß.


„Angeſtoßen, Kammerherr, ſchrie jener auf, auf
die große luſtige Wirthſchaft, wo Einer den Andern
betrügt, eine Hand die andere wäſcht. Angeſtoßen
auf den Kleiſter und Firniß der die Fäulniß zuſam¬
menhält bis — angeſtoßen!“


Der Zitternde ſtieß mit dem Glas gegen die
Flaſche, die Bovillard auf einen Zug leerte und dann
in den Kamin ſchleuderte, wo ſie in tauſend Stücken
zerbrach. „Bis dahin! Nicht wahr, — zu Waſſer,
bis er bricht, darin ſind wir einverſtanden, wie es
für vernünftige und geſetzte Leute ſich ſchickt.“


Er war aufgeſtanden und klopfte auf die Hand
des Kammerherrn, die er mit dem andern Arm an
ſeine Bruſt hielt: „Ja mein theuerſter Herr v. St.
Real, wenn Alle ſo verſtändig und geſetzt wären, wie
wir beide! Dieſe Tagesfliegen ſchwärmen ums Licht,
und wenn einer ſich verbrennt, lacht der andre ver¬
gnügt, daß es ihn traf. Wir aber ſehen die Nacht,
wir ſehen was hinter uns liegt, und ſehen was vor
uns kommt. A propos, was halten Sie denn von
Napoleon?“


„Sie belieben zu ſcherzen. Ein Genie! Ein
großes Genie! Machen Sie, daß wir fortkommen.“


[334]

„Wie er aus Aegypten. Wiſſen Sie wie? —
Er hat ſich dem Teufel verſchrieben; in einer Pyra¬
mide war's, eine Nacht wie dieſe! Ja, ich habe auch
meine diplomatiſchen Mittheilungen. Der Teufel hat
ihm die ganze Welt verſprochen, und weiter nichts
dafür gefordert als ſeine Seele. Kammerherr den¬
ken Sie, wenn Sie für ſolche Bagatell könnten Gro߬
mogul werden!“


„Das erzählen Sie mir alles weiter — aber
nachher.“


„Ein einziges Hinderniß nur muß er forträumen
— die Gruft in Potsdam. Darum — Sie verſtehn
mich. — Nun bitte ich Sie aber, als einen vernünfti¬
gen Mann, iſt das ein ſo unüberſteigliches Hinderniß?
Braucht es eines Krieges um einen Leichnam? —
Denn Sie werden mir wieder zugeben, es iſt jetzt
nur noch ein Leichnam. Sollen wir um ein point
d'honneur
ſo eigenſinnig ſein, darum Blut vergießen,
einen Krieg anfangen, der ſechszigtauſend Menſchen
koſten kann, darum das Wohl von Hunderttauſenden,
von Millionen aufs Spiel ſetzen. Unſre Seehand¬
lung, unſre Zuckerſiedereien, unſer Meſſingwerk in
Neuſtadt-Eberswalde? Ich bitte Sie, Ruh und Frie¬
den unſrer Bürger — was wirft die Porzellanmanu¬
factur nicht ab; wenn auch die Juden nicht mehr
kaufen müſſen zu ihren Hochzeiten, wir haben ja
ſchon die Meißner Fabrik überhohlt — das iſt auch
ein Ehrenpunkt! Und unſre Gold- und Silberfabrik,
und unſer Pfandbriefſyſtem; wir können ja Geld
[335] machen, ſo viel wir wollen, nur die Güter höher
abgeſchätzt als ſie werth ſind; und alles das ſollen
wir leichtſinnig hinopfern um einen ſogenannten
Ehrenpunkt! Das fordern gewiſſe Menſchen! Wiſſen
Sie, was ich glaube, daß der geheime Grund von
Lombard's Sendung iſt? — Er ſoll verſuchen, ob
Napoleon ſich nicht abfinden läßt mit Friedrich's Rock
und Hut. Ja, ich vermuthe noch etwas. Beſteht
der Kaiſer drauf, ſo geben wir auch die Krücke, aber
das wäre auch das Ultimatum — den Leichnam, nein,
nimmermehr! Wenigſtens für jetzt nicht. — Beſter
Kammerherr, ich leſe Ihre Gedanken, Sie wollen
ſagen, das ſei wieder nur ein halber Schritt, Na¬
poleon würde doch nicht eher ruhen, bis er das
Ganze, bis er Friedrichs Sarg in Paris hat, und
wir würden auch da nachgeben. Möglich, aber lieb¬
ſter Mann, wahren Sie Ihre Zunge, wer ſpricht
denn ſo was aus! Grade dieſen Vorwurf verträgt
man nicht: Halbes, immer Halbes! 'S iſt richtig,
aber es iſt nun mal ſo. Wer änderts: Zwei Halbes
macht ein Ganzes. Erſt geben wir den Rock, und
dann den Leib. Und wenn man mehr will, noch
mehr, Seele und Geiſt, wenn — wir noch davon ha¬
ben. Ein guter Unterthan, lieber St. Real, findet
ſich in Alles. Der liebe Gott wird's zum Guten fü¬
gen, und das Genie unſerer großen Staatsmänner,
und wir haben einen guten König; was will man
mehr! A propos, was halten Sie von unſerm
König?“


[336]

Der Kammerherr, der ſich ſchon zu beſinnen
anfing, ob nicht am Ende die Arme der Polizei
denen des Raſenden vorzuziehen wären, ſtammelte
etwas von ſeinem gränzenloſen Reſpect vor Seiner
Majeſtät.


„Das iſt mir ſehr lieb zu hören, ſagte Bovillard,
vielleicht wiſſen Sie auch, warum Seine Majeſtät
jetzt ſo betrübt ſind.“


„Wenn Seine Majeſtät in die Herzen ihrer Un¬
terthanen blicken könnten, würden ſie gewiß keinen
Grund finden,“ antwortete der Kammerherr, in der
Angſt des ſeinen, die Hand auf die Bruſt drückend,


Bovillard war um einen Kopf größer als der
Kammerherr. Mit unterkreuzten Armen und halb
geſenktem Kopf ſchien er mit den funkelnden Augen,
die durch die Nacht glänzten, in ſein Herz bohren zu
wollen: „Es iſt manches faul im Lande Preußen
und mancher, der auf der Stirn das Schild eines
ehrlichen Mannes trägt, ich ſage es Ihnen im Ver¬
trauen, iſt ein Schurke. Im Lagerhauſe in der Klo¬
ſterſtraße wird das Soldatentuch gewebt. Schön und
dicht ſieht es aus und blau, wenn der Appreturbügel
darüber fuhr, aber die Witterung verträgt es nicht.
Und ehe er drei Monden es auf dem Leibe trug
ſchrumpft es im Regen zuſammen, daß der Aermel
dem Soldaten am Ellenbogen ſitzt. Kann man jedem
Soldaten einen Regenſchirm in die Hand geben?
Kann man mit halb nackten Soldaten Krieg führen?
Wiſſen Sie nun, warum wir keinen Krieg führen
[337] können? Wiſſen Sie nun, warum Seine Majeſtät
betrübt ſind?“


„Ich habe nichts mit den Tuchlieferungsgeſchäf¬
ten zu thun! rief der Kammerherr aus. Ich bin
kaum ein Mal in meinem Leben im Lagerhauſe ge¬
weſen.“


„Sie haben mit andern Lieferungsgeſchäften
genug zu thun, ich weiß es. Aber Vorſicht, lieber
Kammerherr. Um Gottes willen, was ſoll der Mo¬
narch ſagen, wenn er wieder von dieſer Geſchichte
hört!“


„Bovillard, liebſter, beſter Freund, Sie werden
doch nicht!“


„Ich nicht, aber Sie können ſich doch leicht vor¬
ſtellen, daß Andre ihm davon ſagen werden, was er
wiſſen ſoll. Beim Frühſtück, ehe er die letzte Taſſe
geleert, weiß er alles, was am vorigen Tage paſſirt
iſt. Und wenn erſt alle Zeugen vernommen ſind, die
Polizei kreuz und quer fragt und ſpionirt, Hergang,
Wirkung, Urſach, 's iſt nichts ſo fein geſponnen, es
kommt an's Licht der Sonnen. Liebſter Kammerherr,
ich bin im Ernſt um Sie beſorgt. In dieſen Ange¬
legenheiten iſt der Monarch ſehr irascibel.“


„Wenn ich nur ganz gewiß ſein könnte — ſagte
gedehnt mit ſcharfem und ſchüchternem Blick auf den
Plagegeiſt der Kammerherr, — von unſern Freun¬
den
wird die Sache ſchon in dem rechten Lichte vor¬
getragen werden.“


Bovillard drückte ihn heftig an die Bruſt: „Wie Sie
I. 22[338] mich beruhigen! Offenherzig geſtanden, ich bedurfte
dieſer Beruhigung nicht, ich wollte Sie nur auf die
Probe ſtellen. Ein Thor, wer da ſagt, daß die Tu¬
gend von der Erde Abſchied nahm. Wer noch auf
Freunde ſein Vertrauen ſetzt, übt ſie. Und Ihre
Freunde werden ſie ebenfalls üben. O ich möchte
bei dem Vortrage ſein, ob nun ein Kammerdiener,
oder ein Kammerherr ihn übernimmt; wie ſie wei߬
brennen werden, was ſchwarz iſt, und vielleicht an¬
ſchwärzen, was weiß wie Schnee iſt. Ja, ſo beim
Kaffee, ſo unter der Hand, gelegentlich hingeworfen,
erfährt ein Fürſt die Wahrheit — von guten Freunden.
Sorgen Sie aber auch für einen Sündenbock. Denn
wenn nach dem Hofe der officielle Vortrag kommt,
muß er doch ergrimmt werden über die falſche Dar¬
ſtellung. Er weiß es ja alles beſſer, er hat es alles
wie ſelbſt erlebt. Wenn der Vortragende da erblaßt,
ſtockt, nicht vorbereitet iſt, keinen Zornableiter zur
Hand hat, dann wird es ſchlimm. Laſſen Sie den
Commiſſar opfern, mich, wen es ſei, retten Sie
ſich nur ſelbſt dem Vaterlande. — Na nu wollen wir
uns aber zuſammen retten.“


Der Kammerherr ſah mit einigem Befremden
auf das Meſſer, welches plötzlich in ſeiner Hand
blitzte: „Sein Sie ohne Sorge; nur im höchſten
Nothfall ſtoße ich es einem durch die Gurgel!“ Er
holte noch aus dem Kamin ein altes Ofeneiſen. Er
mußte ſchon vorher die Gelegenheiten geprüft haben.
In der alten Ausgangsthür des Vorzimmers war in
[339] der untern Füllung eine Ritze, er vergrößerte ſie durch
das Meſſer und lockerte die andern Fugen bis er das
Brecheiſen hineinpaſſen konnte. „Jetzt warten wir,
bis ein Wagen vorüberraſſelt, dann ein Krach und
wir haben ein Mauſeloch. Wollen Sie nun den
Durchbruch auf Ihre Kappe nehmen, Kammerherr?“
— „Ich?“ — „Verſteht ſich, nur wenn wir attrap¬
pirt werden. Der Unterſchied iſt, wenn Sie es auf
ſich nehmen, iſt es nur ein Ausbruch, Sie können
beweiſen, daß Ihnen die Wohnung und Sie in die
Wohnung gehören, außerdem ſind Sie ein anſtändiger
Mann, dem die Polizei aufs Wort glaubt. Wenn
es aber auf mich kommt, mir glaubt man nichts,
außerdem bin ich in Hemdsärmeln, die Polizei könnte
es daher leicht unter dem Geſichtspunkt eines Ein¬
bruchs
faſſen, und dieſe Faſſung unangenehme Fol¬
gerungen nach ſich ziehen, in Betracht deſſen, daß
man Vieles in dieſem Hauſe vermiſſen wird, was
dazu gehörte, ich meine nicht uns Beide, aber die
geſtohlenen Sachen.“


„Bovillard, machen Sie keine Faxen! Wie werde
ich denn einen Freund in der Noth verlaſſen!“


„Aber nur der Tod iſt umſonſt. Was krieg ich
für meine Arbeit? Ich friere, ſo kann ich mich nicht
auf der Straße ſehen laſſen. Leihen Sie mir
Ihren Rock.“


„Dann hab ich ja keinen.“


„Sie fahren in Ihrer Kutſche, ich gehe nach
Hauſe.“


22*[340]

Man einigte ſich, daß Bovillard mit dem Kam¬
merherrn fahren ſollte. Die Freunde würden ſich
ſchon warm machen. „Was geht über eine ächte
Freundſchaft!“ ſagte Bovillard, hatte aber ſchon mit
ſeinen ſcharf umherſpähenden Augen das weggewor¬
fene Umſchlagetuch entdeckt, das er jetzt ergriff, um
ſich damit, wie er ſagte, gegen die Kälte zu ſchützen,
bis ſie im Wagen ſäßen.


Ein Wagen rollte endlich über das ſchlechte
Straßenpflaſter, die Thüre krachte und Bovillard
war hinaus. Als St. Real, auf den Knien heran¬
rutſchend, den Kopf durch die Oeffnung ſtecken wollte,
drückte jener das halbe Brett wieder hinein: „Halt,
ſo iſt nicht gewettet. Was geben Sie Zoll!“


„Bovillard, nur jetzt keine Poſſen.“


„Es iſt mein feierlicher Ernſt. Ein Narr, wer
eine vortheilhafte Situation nicht nutzt.“


„Sie haben geſchworen, mich nicht zu verrathen.“


„Richtig! Und Ihren Kutſcher zu avertiren.
Weiter nichts. Ich klemme die Füllung wieder ein
— ſehn Sie ſo — Sie können nicht aufſtoßen, denn
ich ſtemme hier das Eiſen dagegen. Nun bedenken
Sie, wenn morgen die Polizei öffnen läßt!“


„Bovillard, Sie ſollen meinen Rock haben.“


„Pfui, es iſt nicht Eigennutz.“


„Meine Freundſchaft! Sie werden bei Ihrem
Lebenswandel noch oft der Fürſprache bedürfen, Sie
ſollen in jedem Fall auf mich rechnen können.“


„Ich will nichts für mich, ſage ich Ihnen ein
[341] für alle Mal. — Gehen Sie in ſich, St. Real,
werfen Sie einen Blick zurück, auf Ihr äußeres,
ach auch auf Ihr inneres Leben. Bedenken Sie, wie
oft Sie die Gelegenheit verſäumt, die ſich Ihnen
darbot, Gutes zu thun, und wie oft Sie dem Ver¬
ſucher in die Stricke gefallen ſind. Ach! Wurden Sie nicht
ſelbſt zum Verſucher? Legten Sie nicht ſelbſt Stricke,
ſtellten Sie nicht Netze! Schwirrt Ihnen nicht der
ſchauerliche Klagegeſang der unglücklichen Vögel in
dieſen Netzen um die Seele? Ich höre dieſe Anklage¬
ſtimmen. St. Real, noch iſt es nicht zu ſpät! Be¬
nutzen Sie wenigſtens dieſe Gelegenheit, hören Sie
auf die Stimmen und beſſern ſich. Ihr Haar wird
grau, Ihr Athem kurz, mit jedem Tage auch Ihr
Leben um einen kürzer; Sie hinken, ach das Podagra
kriecht ſo ſchnell als der Vogel fliegt, wenn das Ziel
das Grab iſt. Laſſen Sie ſich dieſen ſchauerlichen
Moment gemahnen, weit ſind die Pforten zur Hölle,
aber eng die zum Himmel, wie dieſes Loch. Geloben
Sie, St. Real, Sie wollen Ihr Daſein beſſern, wie
es Ihren Jahren, Ihrer Geburt, Ihrem Stande
entſpricht. O Sie wiſſen nicht, wie das Ihre Bruſt
erleichtern wird, Ihr Keuchhuſten wird nachlaſſen,
Ihr Bein flinker werden, der Burgunder Ihnen wieder
ſchmecken. Retten Sie ſich, ſich ſelbſt, Ihrem Könige,
dem Staate. Schwören Sie mir, Sie wollen tugend¬
haft werden.“


„Alles, was Sie wollen!“


„Hier, Ihre Hand darauf?“


[342]

„Ja, ja, ja — ziehn Sie mich nur raus!“


Es war zum Glück ſtill im Hauſe, und Niemand
begegnete ihnen bis ſie vor die Thür traten. St. Real
hielt es für angemeſſen hinter ſeinem Begleiter zurück¬
zubleiben, der zu theatraliſch den rothen Shawl um
die Schulter drappirt hatte. Ja er blieb um mehrere
Schritte zurück, als eine Patrouille die Gaſſe heraufkam.


Auf das Werda? des Gefreiten, welches dem
Manne in der rothen Toga galt, antwortete er ein
Gutfreund. Der Gefreite wollte Namen und Stand
der auffälligen Perſon wiſſen.


„Abälino, der große Bandit!“


Die Wache ſchien ſich zu beſinnen, was ein Bandit
ſei. Einer meinte, es ſei ein Komödiant.


„Ihr Geſchäft?“


„Die Tugendhaften retten, die Schurken ent¬
larven!“


„Auf die Wache!“


Abälino ſchlang den Mantel vornehm um die
Schulter, und ſchickte ſich an ſchweigend zu folgen.


„Da kommt noch Einer; der ſcheint zu ihm zu
gehören.“ — „Ein Hinkepeter.“ — „Verſtellung,“
ſagte der Gefreite, „nur raſch ran.“


Der Kammerherr klopfte ſich auf die Bruſt, weil
der Huſten ihm ſtecken geblieben war. „Kennen Sie
den?“ fragte der Gefreite den Rothmantel.


Der Rothmantel ſchien ihn ſcharf anzuſehen;
dann ſagte er: „Dieſer Mann trägt eine Larve,
reißen Sie ihm dieſelbe ab, mein Herr Corporal.“


[343]

Den Hut ließ der Kammerherr ſich abreißen,
aber er ſchwor Stein und Bein, das ſei ſein wahres
Geſicht. Die Wache ſchien unſchlüſſig.


„Schwere —, ich frage Ihn, rief der Corporal,
ob Er den hier kennt?“


„Dies iſt nicht ſein natürlich Geſicht. Abälino
ſchüttelte den Kopf. Das iſt keine natürliche Röthe.
Sehn Sie, mein Herr Wachtcommandant, jetzt wird
er blaß.“


„Potz Blitz Millionen, er hinkt. Iſt das auch
nicht natürlich?“


„Das iſt wohl ſeine Natur, ſagte Abälino
mit der größten Ruhe. Indeß meine Bande iſt
ſehr groß, es hinken Viele. Laſſen Sie ihn den
Mund aufthun. An ſeiner Sprache werde ich leichter
erkennen, ob er der iſt, den ich vermuthe. Fragen
ihn Herr Wachtcommandant gefälligſt, ob er mich
kennt.“


„Kennt Er — kennen Sie dieſen hier?“


Unter einem Guß von Angſtſchweiß platzte er
heraus: „Ich bin ſo — ich weiß — ich kenne ihn
ſo — ich kenne ihn ſo wahr nicht.“


„Jetzt kenne ich ihn, Herr Wachtcommandant,
ein ſehr gefährliches Subjekt. Wir in der Bande
nennen ihn Petrus vom Hahnenſchrei. In Wirklich¬
keit heißt er Judas Iſcharioth, iſt ein getaufter Jude
und handelt mit abgelegten Kleidern und Frauen¬
puppen.“


„Sie ſehen, meine Herren, er iſt ein Betrunkener.“


[344]

„Aber wo kamen Sie mit ihm zuſammen?“
ſagte der Corporal, deſſen Augen entweder für die
feine Kleidung des Kammerherrn aufgingen, oder
für die Bewegung ſeiner Hand in die Taſche.


„Bei einem Krankenbeſuch, ſtotterte St. Real —
eine unglückliche arme Kranke — im Auftrag einer
hohen Mildthätigkeit, die ihre Gaben nicht bekannt
wiſſen will. — Dort hält meine Equipage.“


Das war hervorgeſtoßen, während der Sprecher
noch mit ängſtlichen Blicken nach dem Banditen hin¬
aufſchielte, ob er nicht widerſprechen werde. Der
Bandit bewegte ſich nicht, er ſchenkte ihm Gnade.
Der Corporal, der ſich zwiſchen ihn und Bovillard
geſtellt, um die Colluſionen zu verhindern, hörte den
harten Thaler, der zufällig aus des Kammerherrn
Taſche glitt, auf das Pflaſter fallen. „Marſch! com¬
mandirte der Gefreite. Auf die Wache! Dies iſt ein
anſtändiger Herr vom Hofe.“


Stolz wie ein König ſchritt Abälino nach der
Wache. Der Kammerherr ſank faſt ohnmächtig
in ſeine Wagenkiſſen zurück und ſtöhnte: „Das
kommt davon, wenn man mit der Canaille ſich
abgiebt!“


Der Vorfall der Nacht hatte in Berlin, wie
man richtig vermuthet, Aufſehen und Entrüſtung
erregt. Um ſo beruhigender für alle gute Bür¬
ger wirkte ein Artikel, der einige Tage darauf in
den Zeitungen erſchien. Bovillard und St. Real
hatten auch richtig gerechnet, daß, wer nur guten
[345] Freunden vertraut, nicht verloren iſt. Der Artikel
lautete:


„Es iſt ein betrübendes Zeichen unſerer Zeit, wenn
der böſe Wille aus den geringfügigſten Ereigniſſen
Nahrung ſchöpft, um Mißtrauen gegen die Maa߬
regeln der hohen Obrigkeit zu verbreiten. Kaum iſt
vor einigen Wochen ein Ereigniß, das man dazu
benutzt, aufgeklärt und beſeitigt, als man böswillig
abermals einen ſehr unbedeutenden Vorfall benutzt,
diesmal um ein falſches Licht auf die Moralität
unſerer Stadt und ihrer Bewohner zu werfen, dabei
aber ſich nicht entblödend, den Verdacht auf höher
geſtellte Perſonen zu lenken, als begünſtigten ſie die
Immoralität. Damals war ein gewiß unter keinen
Umſtänden zu billigender Exceß in unſerer Vogtei
Anlaß, einen unſerer rechtſchaffenſten Staatsdiener
der Connivenz mit Verbrechern zu beſchuldigen. Dem
Scharfblick einer hohen Perſon, die hier zu nennen
der Reſpect uns verbietet, war es vorbehalten, die
Wahrheit von der Verläumdung zu unterſcheiden,
und den eigentlich Straffälligen das Bekenntniß ihrer
alleinigen Schuld zu entlocken. — In gleicher Weiſe
wird der traurige Exceß, welcher neulich in einer
unſerer belebteren Straßen ſtattfand, ſeine Aufklärung
finden. Einer wohllöblichen Polizei war es keineswegs
entgangen, daß das Haus einer jetzt viel genannten
Dame zu Verdacht Anlaß gab. Sie vigilirte viel¬
mehr auf daſſelbe, um beim erſten gegründeten
Anlaß einſchreiten zu können. Bei dem wirklichen
[346] oder angeblichen Stande der Bewohnerin, und den
unverdächtigen Atteſten, welche dieſelbe von aus¬
wärtigen Obrigkeiten mitgebracht, Staaten, mit
denen unſere Regierung in Frieden lebt, war es
indeß unzuläſſig, auf bloßen Verdacht hin ein¬
zuſchreiten. Wer dies doch für gerechtfertigt hielte,
theilt nicht unſre Anſicht von dem, was einer wohl¬
geordneten Staatsbehörde obliegt. Dieſem Umſtande
iſt's zuzuſchreiben, daß es der gedachten Frau gelang,
unbefangene Gemüther zu täuſchen, wir wiſſen
kaum, was wir mehr bedauern ſollen, daß es ihr
gelang, einen durch ſeinen ſtrengen religiöſen Sinn
und ſeine Kanzelberedſamkeit gleich ausgezeichneten
Geiſtlichen mit ſeiner Familie in ihrem Hauſe, unter
dem Schilde der Gaſtfreundſchaft aufzunehmen, oder
daß ſie die ſittſame Tochter höchſt verehrter Eltern,
und eines unſerer treuſten und bewährteſten Staats¬
beamten in ihr Haus zu verlocken wußte. Der trau¬
rige, oder wenn wir wollen, glückliche Vorfall, der
ſich hierauf ereignete, iſt bekannt. Uebrigens hätte
es dieſes Vorfalls nicht bedurft; denn, wie die Er¬
ſcheinung des Commiſſars im ſelben Augenblick, jeden
überzeugen ſollte, der Augen dafür hat, hatte die
Polizei ſchon die Beweiſe in der Stille geſammelt,
die jetzt ihr Einſchreiten rechtfertigten. Die Anweſen¬
heit einer oder mehrerer angeſehener Perſonen in dem
Hauſe giebt zwar für diejenigen, welche am Argen
Wohlgefallen haben, willkommene Nahrung. Wir
laſſen ihnen dieſes Vergnügen, theilen aber mit jedem
[347] Gutgeſinnten, der dieſe Herren kennt, die Ueberzeu¬
gung, daß ſie nur in dem löblichſten Zwecke ſich an
den Ort begeben hatten. Der eine dieſer Herren hat
ſeine edle Abſicht bekundet, indem er das Opfer der
Intrigue, unbekümmert um die Inſulten des Pöbels,
von dem man doch nicht fordern darf, daß er den
Schein von der Wahrheit unterſcheide, aus dem Hauſe
und ihren betrübten Eltern zugeführt hat. Wir
zweifeln gar nicht, daß auch dies zu böſen Nachreden
Anlaß geben wird, ebenſo der Umſtand, daß ein ge¬
wiſſer Herr in dem geräumten Quartier über Nacht
zurückblieb, um Colliſionen von außerhalb auf die
Spur zu kommen, wenn man gleich weiß, daß durch
ſeine aufopfernde Vermittelung diejenige Perſon end¬
lich arretirt wurde, welche den Unfug in dem Hauſe
veranlaßt, ja wir ſind auch davon überzeugt, daß die
in letzter Nacht erfolgte Flucht der verhafteten Dame
aus dem Gefängniß einer Intrigue wird zugeſchrieben
werden. Indem wir unſer Bedauern über derartige
Inſinuationen nicht verbergen und in der Leichtgläu¬
bigkeit, mit der das Publikum auf ſie horcht, eine
tiefere Immoralität als in der gerügten betrauern,
ſind wir doch des Glaubens, daß der größere und
beſſere Theil des Publikums ſich davon nicht täuſchen
laſſen und das Vertrauen ſich erhalten wird, daß Nie¬
mand beſſer als unſre Obrigkeit für unſre wahre
Wohlfahrt ſorgt, welche in der Ruhe und dem Frie¬
den aller rechtſchaffenen Menſchen beſteht. Die Arg¬
wöhniſchen und Böswilligen, das wiſſen wir, werden
[348] wir nicht damit zum Schweigen bringen, aber Heil
dem Staate, wo das Auge ſeines Oberhauptes über
das Wohl Aller wacht, wo vor ſeinem Throne der
Kleinſte wie der Größte nur Gerechtigkeit zu erwar¬
ten hat. Wo die Tugend auf dem Throne ſitzt,
kann die Immoralität keinen dauernden Wohnſitz im
Lande haben.“


Appendix A

Druck von Eduard Krauſe in Berlin.


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Alexis, Willibald. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bqd3.0