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Meister Timpe.
Sozialer Roman.
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Berlin,:
S. Fiſcher Verlag.
1888.
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Meister Timpe.
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Meiſter Timpe.

Sozialer Roman.

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Berlin,:
S. Fiſcher Verlag.
1888.
[][[1]]

I.
Früh morgens, wenn die Hähne kräh'n —

Berlin ſchlief noch, aber es lag in jenem leiſen Schlummer,
der dem Erwachen vorhergeht. Eingelullt in ſüße
Träume, ahnte es nichts von den Sorgen und
Kämpfen des kommenden Tages, von dem unerwarteten Glück,
den zermalmenden Schlägen des Schickſals. Nur an einzelnen
Stellen ſtieß der tauſendköpfige Koloß ſeinen Athem aus.
Dunkler zu gewaltigen Ringen geballter Qualm entſtieg von
Feuergarben begleitet den geſchwärzten Schloten; wie der
Gigantenlunge eines unſichtbaren Ungeheuers entſtoßen, ſtrömte
er dem graublauen Aether zu, verwob er ſich allmählich mit
der Dunſtwolke, die den Horizont noch verſchleierte.


Es war zwiſchen drei und vier Uhr an einem der letzten
Tage des Monats April — in jener Stunde, wo die Straßen
plötzlich menſchenleer erſcheinen, als hätte ſelbſt der letzte
Kneipenſchwärmer das Bedürfniß gefühlt, noch vor dem jähen
Wechſel von Nacht und Tag im Schutze des Dunkels ſein
Heim zu erreichen. Hinter dem äußerſten Häuſerring tauchte
der erſte fahle Schein der Morgendämmerung auf, der wie
das geiſterhaft bleiche Antlitz eines Rieſen aus dem Dunkel
Kretzer, Meiſter Timpe. 1[2] ſich erhob und immer höher und höher ſtieg. Die Häuſer
erſchienen wie bleigetränkt, die Perſpektive der Straßen ver¬
kürzte ſich: Berlin glich einer todten Stadt, in der jeder
Tritt, jedes leiſe Geräuſch ein Echo abgiebt, das weit ver¬
nehmbar die Luft durchzittert.


In dieſem Zwielicht taumelte Franz Timpe durch die
Straßen, dem Hauſe ſeines Vaters zu, um Ruhe für ſeinen
ſchweren Kopf zu ſuchen. Die Augen fielen ihm faſt zu,
ſein Gang war unſicher, ſodaß er ſich mit Gewalt beherrſchen
mußte, um auf den Beinen zu bleiben. Auf dem jugend¬
lichen, nicht unſchönen Antlitz zeigten ſich die Spuren einer
durchzechten Nacht: jene Merkmale der Ueberanſtrengung,
welche ein ſchwacher Körper noch nicht zu überwinden ver¬
mag. In der eigenthümlichen Beleuchtung des heran¬
brechenden Morgens, hervorgerufen durch den Kampf der
letzten Schatten der Nacht mit dem grün-gelben Luftſchein
am Horizont, erſchien ſein Geſicht fahl und grau, hatte es
harte, ausdrucksloſe Linien angenommen. Den Paletot loſe
um die Schultern gehängt, den Hut in den Nacken gerückt,
das Pincenez ſchief auf die Naſe geklemmt, fuchtelte er mit
dem dünnen Spazierſtöckchen in der Luft herum, verſuchte er
jedem Laternenpfahl ſeine Fechterkünſte zu beweiſen.


In ſeiner Phantaſie ſtanden die Häuſer ſchief, machten
ſie einen fremdartigen Eindruck auf ihn, trotzdem ihm jedes
einzelne durch die Firmenſchilder, die an ihm klebten, die
Eigenthümlichkeiten, die ihm anhafteten, genau bekannt war.
In dieſem Stadtviertel war er geboren, hatte er die Tage
ſeiner Kindheit verlebt, war er zum Knaben und zum Jüng¬
ling gereift. Selbſt jetzt, wo das Fehlen der fluthenden
Menge und raſſelnden Wagen, die herabgelaſſenen Rouleaux
[3] und geſchloſſenen Jalouſien den Gebäuden eine veränderte
Phyſiognomie gaben, waren ihre Abſonderlichkeiten ſeinem Ge¬
dächtniſſe eingeprägt, denn es war nicht das erſte Mal, daß
er ſpät nach Mitternacht an ihnen vorüberſchritt. Seit bei¬
nahe einem halben Jahre, ſeitdem ihn der Weg von der Schule
direkt ins Comtoir der Firma Ferdinand Friedrich Urban
geführt hatte, war faſt keine Nacht vergangen, während wel¬
cher er nicht das nächtliche Leben Berlins durchkoſtet hatte.


Die friſche Morgenluft wirkte endlich wohlthuend auf ihn
ein. Seine Haltung wurde ſicherer, ſein Gedankengang klarer,
nur die Müdigkeit wollte nicht von ihm weichen. Um ſich
munter zu erhalten, begann er halblaut ein Lied zu ſummen,
das er aber wieder abbrach, weil die Kehle ihren Dienſt
verſagte.


Er befand ſich in jenem Gewirr enger Straßen des
Oſtens von Berlin, die ſich wie ein Ueberbleibſel aus
alter Zeit bis heute noch erhalten haben. Altehrwürdige
Giebeldächer mit Manſardenfenſtern blickten auf ihn
herab. Unregelmäßig ſtanden die Gebäude am ſchmalen
Trottoir, hier eines von ſchiefer Haltung, wie von der Laſt
der Jahre vornübergebeugt, dort eines weit hinter die Front
gerückt, geziert mit einem kleinen Vorgarten, deſſen Epheu
die ſchmalen Fenſter umrankte und bis zum Dache hinauflief.
Nur vereinzelt überragte ein vierſtöckiger Steinkaſten, wie ein
ſchlank gewachſener Jüngling zuſammen geſchrumpfte Greiſe,
die vorväterlichen Wohnſtätten, um einem ſtummen Wahr¬
zeichen gleich den Segen der neuen Zeit zu verkünden. In
der Stille dieſes patriarchaliſchen Viertels vernahm man
weiter nichts, als die ſchallenden Schritte des jungen Mannes
und das ſchrille Pfeifen eines Bäckerjungen, das wie die
1*[4] erſten Mißtöne des erwachenden Tages aus der Entfernung
herüberklang.


Als Franz Timpe um die nächſte Ecke bog, erblickte er
endlich das Haus ſeines Vaters. Wie von Angſt und Reue
erfüllt, bannte er ſeine Schritte und drückte ſich an die
Häuſer. Er befürchtete geſehen zu werden und ſchämte ſich
ſeines Nachhauſekommens um dieſe Stunde. Beim Weiter¬
ſchreiten richtete er den zaghaften Blick auf die gegenüberliegenden
Fenſter, hinter welchen noch friedliche Ruhe herrſchte; dann
rechts und links die Straße entlang. Er verſuchte den
Nachtwächter zu erſpähen, der ihm wie gewöhnlich das Haus
öffnen ſollte.


Kruſemeyer, ein bereits alter Beamter, deſſen kugelrundes
Geſicht von einer ſilbergrauen Bartfraiſe umrahmt wurde, hatte
auf ihn gewartet. Er ſtand mit einem Schutzmann plaudernd
unter dem Thorbogen eines neuen Gebäudes auf der anderen
Seite der Straße und beobachtete das Näherkommen des
jungen Mannes. Seit fünfzehn Jahren verſchloß er die Häuſer
in dieſem Revier, konnte ſich aber nicht entſinnen, jemals
einen beſſeren Kunden gehabt zu haben, als Franz Timpe
es war. Er hielt ſich daher mit Vorliebe in dieſem Theile
der Straße auf, um ſich das übliche Zehnpfennigſtück nicht
entgehen zu laſſen. Der Länge der Zeit, während welcher er
hier ſeinem nächtlichen Berufe obgelegen, hatte er es zu ver¬
danken, daß er mit den Geheimniſſen der Hausbewohner ver¬
traut war, ihre Tugenden und Sünden, Freuden und Leiden
kannte. Wenn er hätte ſprechen dürfen, was würde man da
vernommen haben! Vormittags holte er den verlorenen Schlaf
der Nacht nach. Nachmittags betrieb er ſein Geſchäft als
Flickſchuſter, bis die Zeit zum Abendappell ihn rief. Auf
[5] den einſamen Gängen durch die dunklen Straßen hatte
ſich mit der Zeit ein Philoſoph aus ihm gebildet, der,
in des Wortes beſter Bedeutung, ſein Licht nur im Dunkeln
leuchten ließ. Und da ein Philoſoph mindeſtens einen ver¬
trauten Abnehmer ſeiner Ideen haben muß, ſo hatte ſich denn
auch im Laufe der Jahre ein ſolcher in einem gleichaltrigen,
bereits mit einer ſtattlichen Zahl Dienſtjahre befrachteten
Schutzmann des Reviers gefunden, welcher den ſeltenen und
merkwürdigen Namen Liebegott führte.


Herr Alexander Liebegott erfreute ſich eines behäbigen
Körperumfanges, der den Neid ſeiner ſämmtlichen
Kollegen und die Freude aller derjenigen zweifelhaften
Individuen bildete, welche in nächtlicher Stunde auf
der Flucht vor ihm begriffen waren, und denen er niemals
auf den Ferſen zu bleiben vermochte. Auf den Schultern
ruhte ein Rieſenkopf, in deſſen kürbisfarbenem Geſichte eine
etwas großgerathene Naſe in ſanfteſtem Violett erſtrahlte und
ein mächtiger Schnurrbart traurig ſeine ungedrehten Spitzen
hängen ließ, ſo daß das würdige Antlitz dem eines See¬
löwen glich.


Kruſemeyer und Liebegott waren, ſoweit die
Gelegenheit ſich darbot, auf ihren nächtlichen Gängen
ein unzertrennliches Paar, deſſen Hang zu philo¬
ſophiſchen, höchſt ſonderbaren Geſprächen eben ſo groß
war, wie die uneigennützige Freundſchaft zu einander und die
Liebe zu gewiſſen alkoholduftenden „Erheiterungstropfen“, die
in kalten Winternächten dazu dienen mußten, das Geſpräch
über die großen Vorgänge dieſer Welt zu gleicher Zeit mit
der Wachſamkeit anzufeuern. Im Uebrigen waren ſie zwei
pflichtgetreue Beamte, welche die Achtung ihrer Vorgeſetzten
[6] genoſſen und beim Publikum allgemein beliebt waren. Die
Autorität, die ſie in den Augen ihrer Kollegen beſaßen, war
bereits eine derartige, daß ein Streit unter ihnen mit dem
vielbedeutenden Schlußworten: „So ſagt Kruſemeyer“, oder:
„So ſagt Liebegott“, zu Gunſten des dieſe Behauptung Auf¬
ſtellenden als beendet betrachtet werden durfte.


Wenn die Anſichten der Beiden zeitweilig auseinander¬
gingen, ſo geſchah es über die Frage nach dem höchſten Ziele
ihrer Wünſche. Liebegott hegte nur den einen Wunſch:
während ſeines nächtlichen Dienſtes von Niemandem beläſtigt
zu werden, um ſeine theure Haut nicht zu Markte tragen zu
brauchen; Kruſemeyer's höchſter Wunſch ging dahin: durch
eine ſeltene Heldenthat ſich diejenigen Lorbeeren zu erwerben,
die unbedingt nöthig waren, um ſeine ſoziale Stellung nach
Kräften aufzubeſſern. Er hatte es beſonders auf nächtliche Ein¬
brüche abgeſehen, lebte daher in der Einbildung, eines Nachts
irgend einen Juwelier oder einen reichen Fabrikanten durch
ſeine Aufmerkſamkeit vor einem Verluſt bewahren zu können,
wodurch ihm dann eine reichliche Belohnung zu Theil werden
würde; ganz abgeſehen von der amtlichen Belobung und Aus¬
zeichnung, die zu erwarten waren. Seine Phantaſie hatte ſich
während der Jahre ſo ſehr mit dieſer dereinſtigen Heldenthat
beſchäftigt, daß ſein Spürſinn in jedem, einigermaßen ver¬
dächtig ausſehenden Paſſanten jene gefährliche Perſon witterte,
deren verbrecheriſches Treiben ihn endlich zum Helden ſeiner
Umgebung machen ſollte. Da er obendrein ein arger Bücher¬
wurm war, der die geringe freie Zeit, die ihm am Tage
während der Pauſen beim Eſſen zur Verfügung ſtand, redlich
dazu benutzte, abenteuerliche Romane zu leſen, in denen das
Verbrecherthum eine Hauptrolle ſpielte, ſo war ſein Kopf mit
[7] den Erinnerungen an allerlei grauſige Dinge erfüllt, die in
einſamen Nachtſtunden erſt recht ihre Wirkung thaten.


„Ich erreiche es doch noch“, ſagte er mit Bezug auf die
größte Zukunftsthat ſeines Lebens.


Liebegott ſchüttelte das ſchwere Haupt und erwiderte:


„Ich glaube es nicht. Hier in dieſer Gegend, wo jeder
darauf wartet, daß man ihm etwas ins Haus trage! Laß
den Gedanken daran fallen. Und bedenke nur: Wenn der
Kerl ausrückt und Du laufen müßteſt, verſtehſt Du? Ich ſage
laufen — —“


Alexander Liebegott beendete den Satz nicht. Es war
ihm ſchon entſetzlich genug, nur an die Möglichkeit einer
ſchnellen Fortbewegung zu denken. Er ſtarrte vielmehr vor
ſich hin, lächelte dann im Gefühle ſeiner Sicherheit und klopfte
leiſe mit der flachen Hand auf den wohlgenährten Bauch,
während Kruſemeyer liſtig die Augen zuſammenkniff und ſagte:
„He, he, dann rufe ich Dich, Du fängſt ihn gewiß.“


„Keine Anſpielung“, brummte Liebegott mit komiſchem
Ernſt.


Die Annäherung Franz Timpe's gab dem Geſpräch eine
andere Wendung. Das laute Krähen eines Hahnes ließ ſich
in der Nachbarſchaft vernehmen. Aus der Ferne klang ſchwach
die Antwort eines zweiten und dritten herüber.


„Recht ſo, melde Dich, alter Junge“, begann Kruſe¬
meyer wieder. „Die Stunde muß angezeigt werden, in
welcher der hoffnungsvolle Sohn nach Hauſe kommt . . . Sage
mal, Liebegott, haſt Du es auch ſo in Deiner Jugend ge¬
trieben, he?“


„Wäre ſo etwas geweſen, Kruſemeyer! Birke und Weide
hätten einen Walzer auf meinem Buckel aufgeführt, und mein
[8] Alter wäre der Tanzmeiſter geweſen, der die Hände dabei be¬
wegt hätte“, erwiderte der Angeredete mit unterdrücktem Lachen.

„Meiſter Timpe muß einen Narren an ſeinem Jungen
gefreſſen haben, daß er ſo etwas duldet; aber das machen die
Kneipmädels, die den Bengels die Köpfe verdrehen und das
Geld aus der Taſche ziehen“, philoſophirte Kruſemeyer, als
er ſich anſchickte, dem Rufe des jungen Mannes Folge zu
leiſten. Bevor er über den Damm ging, wandte er ſich noch
einmal an den Genoſſen.


„Hörſt Du nichts, Liebegott? Mir war's, als knarrte
hier hinter uns eine Thür. Sollte vielleicht ein Dieb —“


„Beruhige Dich nur, es iſt nichts. Du wirſt es nicht
erreichen, verlaß Dich darauf,“ erwiderte Liebegott und ſchritt
dann bedächtig die Straße nach der anderen Seite hinunter,
um ſeinen Genoſſen an der nächſten Ecke zu erwarten.


Das Schlüſſelbund des Wächters knarrte, die ſchwere
Thür drehte ſich in ihren Angeln und ſchloß ſich dann leiſe
hinter Franz Timpe, der horchend ſtehen blieb. Im Hauſe
war noch Alles ruhig. Durch die geöffnete Hofthür fiel ein
fahler Schein auf die rothen Steinflieſen des Flurs, der ſich
ſchmal und lang, gleich einer Kegelbahn, durch das alter¬
thümliche Haus zog. Links befand ſich die Werkſtatt des
Vaters, rechts die Wohnung der Eltern. Auf dieſer Seite
führte eine ſchmale, gebrechliche Stiege zum einzigen Stockwerk
des Hauſes empor, in dem zwei kleine bewohnbare Stuben
ſich befanden. In der einen ſchlief Franz, in der anderen
Gottfried Timpe, der Großvater.


Der Großvater! Bei dem Gedanken an ihn erzitterte
der junge Mann, denn der Greis pflegte mit den Hühnern
[9] aufzuſtehen, war begabt mit einem wunderbar feinen Gehör und
der einzige Feind, den er im Hauſe beſaß.


Franz Timpe lauſchte noch eine Weile, dann zog er be¬
hutſam die Stiefel von den Füßen und ſchlich mit an¬
gehaltenem Athem die leiſe ächzende Treppe empor. Oben
angelangt, tappte er die Wand entlang, denn hier herrſchte
noch völliges Dunkel. Er mußte bei der Thür des Gro߬
vaters vorüber, um zu der ſeinigen zu gelangen. Lautloſe
Stille umgab ihn. Er athmete auf. Als er aber in
ſeinem Zimmer angelangt war, vernahm er durch die dünne
Wand deutlich das laute Huſten des Großvaters: die ihm
längſt bekannte Begrüßung, welche in aller Frühe zu ertönen
pflegte, als ein Zeichen, daß der ſteinalte Mann das Nach¬
hauſekommen ſeines Enkels gehört habe.


Franz Timpe preßte vor Aerger die Lippen feſt auf¬
einander; dann ſuchte er todtmüde ſein Lager auf, um ſich
während einiger Stunden für den kommenden Tag zu
ſtärken. Durch das dünne Rouleaux drang das Licht des
immer mehr heraufziehenden Morgens gedämpft herein und
ließ in dem Halbdunkel nur das bleiche Geſicht des Schläfers
leuchten.


[[10]]

II.
Drei Generationen.

Ja, ja, das waren noch andere Zeiten . . . . damals!
Das Handwerk hatte einen goldenen Boden und wurde
geehrt. Voll Stolz band man ſich frühmorgens die Schürze
vor und ſchämte ſich nicht der Arbeit der Eltern. Aber das
ſcheint ſich geändert zu haben, ſeitdem ich nicht mehr ſehen
kann. Heute will ſo ein Grünſchnabel von Junge den großen
Herrn ſpielen, mit gefüllter Taſche und weißen Händen
umherlaufen und klüger als wir Alten ſein. . . . Aber die
Zuchtruthe fehlt, die Zuchtruthe — das iſt meine Rede!“


Auf dieſe wohlgemeinten Worte Gottfried Timpes,
die ſich ſeit einem Jahrzehnt täglich zu wiederholen
pflegten, blieb Johannes Timpe gewöhnlich die Ant¬
wort ſchuldig, ſobald es ſich um die Anklage gegen
ſein einziges Kind, ſeinen Sohn, handelte. Aber ſein Blick
voll Liebe richtete ſich mit dem Ausdrucke tiefſten Mitleids
nach dem Fenſter auf die hinfällige Geſtalt des dreiundacht¬
zigjährigen Greiſes, der ſeit einem Jahrzehnt ein Daſein in
ewiger Nacht führte und in der Welt des vergangenen Jahr¬
hunderts lebte, die ſeine Erinnerung ihm vor das geiſtige
Auge zauberte.


[11]

Ja, der Großpapa, ſein Zorn über die Neuerungen! Es
war ſchwer ſich beiden zu widerſetzen, denn man ehrt die
Ruine, der man ſeine Exiſtenz zu verdanken hat und betrach¬
tet ihre Abſonderlichkeiten wie etwas Heiliges, Ueberliefertes.
Und Johannes Timpe hatte ſeinem Vater Alles zu verdan¬
ken: ſeine Kunſtfertigkeit als Drechſler, die Zähigkeit und Aus¬
dauer, die man ihm nachrühmte, und auch dieſes kleine, un¬
ſcheinbare Haus, in dem er geboren und erzogen worden war.
Schon ſein Aeußeres verrieth die längſt vergangene Epoche,
in der es entſtanden war. Ueber den vier Fenſtern des
Parterregeſchoſſes zeigten ſich in Stein gehauen, geflügelte
Engelsköpfe, von denen nur zwei noch völlig erhalten waren,
während von je einem der anderen Naſe und Flügel fehlten.


Die drei ausgetretenen Steinſtufen führten zu der bohlen¬
artigen, mit großen Nägelköpfen gezierten Thür, über welcher
reliefartig das Sinnbild des Drechsler- und Kunſtdrechsler¬
gewerbes prangte: ein Taſter, auf dem über Kreuz Meißel
und Röhre lagen; darunter eine Kugel, flankirt von zwei
Schachfiguren.


Was dem Hauſe als ein beſonderes Merkmal anhaftete,
war ſeine außergewöhnliche Lage. Es ſtand mit der Front
ſchräg hinter der Straße, ſo daß vor ſeinen Fenſtern zwiſchen
der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbar¬
hauſes ein ſpitzwinkliger Vorderhof entſtanden war, der von
der Straße durch ein Holzgitter getrennt wurde. Dieſer ab¬
ſonderliche Umſtand hatte auch an der Schmalſeite des Ge¬
bäudes, an deren äußerſter Ecke das andere Nachbarhaus
hervorragte, einen zweiten, kleineren Winkel geſchaffen, der
durch eine Bretterwand bis zur Höhe des Giebelfenſters den
Blicken verdeckt wurde. Man hätte das ganze Häuschen wie
[12] einen ſteinernen, nach Fertigſtellung der Straße in dieſelbe
hinein getriebenen Keil betrachten können, wenn nicht ſein
Alter dem widerſprochen haben würde. In Wahr¬
heit war es bereits vorhanden geweſen, als vor
einem halben Jahrhundert die Nothwendigkeit zur
Anlage einer Straße an dieſer Stelle ſich geltend gemacht
hatte und man das Häuschen rechts und links zu
umbauen begann, weil ſein bisheriger Beſitzer, Ulrich
Gottfried Timpe, nicht die geringſte Neigung zeigte, ſeine Rechte
zu veräußern.


Wenn der Großvater ſeine ewigen Rückblicke mit den
Worten einleitete: „Ja, ja, das waren noch andere Zeiten . .
damals!“ — ſo ſprach er das in der Erinnerung an jene
Jahre, wo das Häuschen hier noch wie ein einſamer Vor¬
poſten an der Peripherie der Stadt lag und den Blicken ſeiner
Bewohner die weitmöglichſte Ausſicht über freie Felder und
über das Bett der Spree geſtattete.


Als Ulrich Gottfried Timpe im Jahre 1820 vermöge
eines kleinen Kapitals, das ſein Vater, der Kunſtdrechsler
Franz David Timpe, ihm hinterlaſſen, ſich hier angebaut hatte,
war von dem großen Stadttheile, der ſich heute von der
Frankfurter Straße bis zur Spree hinzieht, noch wenig zu
ſehen. Vereinzelt ſtanden die Häuſer zwiſchen Gärten, Bau¬
ſtellen und Getreidefeldern. Selbſt innerhalb der Stadt¬
mauern zeigten ſich lange Strecken öder Felder, unterbrochen
bis zu den Thoren durch Königliche Magazine, durch ein rieſi¬
ges Familienhaus, das dazu beſtimmt war, armen Handwerker¬
familien ein billiges Obdach zu gewähren, und hin und wieder
durch eine der vielen Gärtnereien, deren blühende Obſt- und
Blumenanlagen das damalige Köpnicker Feld, auf dem heute
[13] ein Meer von Häuſern ſich erhebt, zu einem eigentlichen
Fruchtfeld geſtaltet hatte. Die Straßen glichen ländlichen
Fahrwegen, auf denen man hin und wieder tief im Sande
verſank; und die ein- und zweiſtöckigen Häuſer, welche ſich mit
der Zeit zu Straßenzügen an einander gekettet hatten, waren
zum größten Theil von armen Handwerkern bevölkert, die
nothdürftig ihr Daſein friſteten. Untergeordnete Gaſt¬
höfe und unanſehnliche Wirthſchaften tauchten überall auf
und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der
Stadt, die vereinzelt ſtehenden Häuſer auf freiem Felde, hatten
ein höchſt zweifelhaftes Geſindel geſchaffen, das in Spelunken
aller Art ſeine Zufluchtsſtätte fand, die Sicherheit bedrohte
und die Gegend in einen argen Ruf brachte.


Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit,
denn inmitten von Armuth und Elend, die damals eben ſo
vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte
Berlins, die ſich von dem Schleſiſchen- bis zum Roſenthaler-
Thor hinzog, bevölkerten, hatte ſein Handwerk geblüht, wurde
es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch
etwas, beſtrebte ſich nicht der Sohn des Meiſters das Arbeits¬
gewand des Vaters zu verachten, um über ſeine Verhältniſſe
hinaus zu wollen. Allerdings wußte man auch damals noch nichts
(nach der Anſicht Ulrich Gottfried Timpes!) von einer gewiſſen
Affenliebe, mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken, um
dieſelben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wachſen zu ſehen.


Gewiß, die Affenliebe! Johannes Timpe hätte über den
Gebrauch dieſes Wortes von Seiten des erblindeten Greiſes
ein Liedchen ſingen können; denn der, dem die übertriebenen
elterlichen Zärtlichkeiten galten, war Franz, ſein und ſeines
Weibes einziger Stolz.


[14]

Der heutige Beſitzer des kleinen Hauſes hatte erſt ſpät
geheirathet. Nachdem ſeine zwei Brüder, die ebenfalls in
der Werkſtatt des Vaters thätig geweſen waren, das Zeitliche
geſegnet hatten, und ſeine Stellung im Hauſe eine völlig
andere geworden, war der Entſchluß in ihm gereift, ſeine
langjährige Braut heimzuführen. Als das geſchah, zählte er
bereits ſechsunddreißig Jahre. Sein erſtes Kind war ein Mädchen
geweſen, das aber gleich nach der Geburt geſtorben war. Dann
war ſein Sohn gekommen und nach dieſem abermals ein Mäd¬
chen, welches das zehnte Jahr erreicht hatte und dann eben¬
falls den Eltern entriſſen wurde. Der Schmerz Johannes
Timpes und ſeiner getreuen Gattin war ein unausſprechlicher
geweſen. Als ſie aber ſahen, wie ihr Sohn zu einem hüb¬
ſchen Knaben heranwuchs und vortrefflich gedieh, faßten ſie
ſich allmälig und übertrugen die Liebe, die ſie für die blühende
Tochter an den Tag gelegt hatten, auf ihn allein. Sie über¬
ſahen ſeine Schwächen, die ſich im Hange zu allerlei Unarten,
zum Verleugnen der Wahrheitsliebe, zur Ränkeſüchtelei und
zur Trägheit ausprägten; tröſteten ſich mit der Selbſt¬
lüge, daß dieſer böſe Keim ſich dereinſt beim Empor¬
ſchießen in die Frucht verlieren werde. War Franz doch ihr
Stolz, der Träger des Namens ſeines Vaters, die Verwirk¬
lichung ihrer ganzen Zukunftspläne!


„Handwerker darf der Junge nicht werden, er ſoll ſich
ſein Brod leichter verdienen“, pflegte Johannes Timpe in den
Stunden nach Feierabend zu Frau Carolinen zu ſagen. Und
die getreue Ehehälfte ließ die klappernden Stricknadeln auf
ein paar Augenblicke ruhen, blickte im Zwielicht ſinnend auf den
kleinen Winkel vor dem Fenſter hinaus und erwiderte ſtolzbeſeelt:
„In dem Jungen ſteckt etwas, der muß 'was Großes werden.“


[15]

Dieſe elterlichen Träume hatten bereits begonnen, als
Franz anfing, die Schule zu beſuchen, der Großvater nach
dem Heimgange ſeiner Frau über mangelndes Sehlicht klagte
und Haus und Geſchäft ganz in die Hände ſeines Sohnes
legte. Und als eines Tages dem Alten durch eine Entzündung
ſeiner Augen das Sehvermögen gänzlich entſchwunden, er
ganz und gar auf die liebende Pflege Johannes und Caro¬
linens angewieſen war, ein Leben aus ſich heraus führte und
nur noch mit ſeiner Erinnerung an die alte Zeit und mit
ſeinen Rathſchlägen nützen konnte; als Johannes Timpe der
Werkſtätte ganz allein vorſtand, er das Schickſal ſeines Vaters
tagtäglich vor Augen hatte — wurde umſomehr der Wunſch
in ihm rege, ſeinem einzigen Kinde Erziehung und Bildung
zu Theil werden zu laſſen, die ihm die Fähigkeiten zu geben
vermöchten, eine beſſere ſoziale Stellung einzunehmen und ſich
mit weniger ſaurem Schweiß durchs Leben zu ſchlagen.


„Er ſoll Kaufmann werden“, hatte er dann eines Tages
mit einer Beſtimmtheit geſagt, an welcher nichts mehr zu
ändern war. Und mit dieſem Ausſpruch verbanden ſich merk¬
würdige Ideen, die in innigſtem Zuſammenhange mit ſeinem
Gewerbe ſtanden. Er hatte acht Geſellen in ſeiner Werkſtatt,
verlegen, ſein Wohlſtand ſchien nach und nach zu reifen, ſeit¬
dem der induſtrielle Aufſchwung im Viertel immer größer
wurde; ein kleines Kapital war zur Reſerve angelegt worden
— weshalb ſollte er alſo nicht darauf ſinnen, aus einem
Handwerker zum Handeltreibenden zu werden, ſeine Be¬
ziehungen zu erweitern und auf eigene Fauſt zu ſpekuliren?
Dazu bedurfte er eines gewiegten Berathers, den er dereinſt
in ſeinem Sohn zu erblicken gedachte.


[16]

Als Johannes Timpe in der Dämmerung eines Winter¬
tages, wie gewöhnlich mit Frau Karoline am Fenſ[t]er des
Wohnzimmers ſitzend, die Zukunft ſeines Sohnes fe[ſ]tgeſtellt
hatte, war auch ſofort der Widerſpruch be[m]erkbar
geworden.


„Kaufmann iſt Laufmann“, hatte die Stimme des Gro߬
vaters ſich vernehmen laſſen. „Mach' den Jungen zu einem
ordentlichen Handwerker, erziehe ihn zu harter Arbeit, dann
wird er auch ſtets ſein Brod finden, und Euch nicht über die
Köpfe wachſen. Ich will Euch nicht wehe thun, aber der
Junge hat ſchlechte Seiten. Und was ein Häkchen werden
will, das krümmt ſich bei Zeiten.“


Damals bereits war das harte Wort von der Zuchtruthe
gefallen, das ſich wie eine ewige Mahnung aus dem Munde
des Alten Jahre hindurch fortſetzen ſollte.


Hätte Johannes Timpe ſeinen Vater nicht ſo lieb gehabt,
nicht das Bewußtſein ſeiner ewigen Dankbarkeit gegen ihn
mit ſich herumgetragen, ſo würde er über die Hartnäckigkeit,
mit welcher der Greis die wohlmeinenden Pläne des Ehe¬
paars bekämpfte, ernſtlich böſe geworden ſein; aber eingedenk
des Sprichworts, welches alten Leuten eine gewiſſe Wunder¬
lichkeit zuſpricht, verlor er niemals ſeine Ruhe, verſuchte er
ſo viel als möglich Ulrich Gottfried Timpe milder zu ſtimmen
und ihn dem Knaben geneigter zu machen. Zum Schluß
brachte er denn immer etwas hervor, was ſeiner Meinung
nach das Recht auf ſeine Seite bringen mußte.


„Franz hat eine ſchwache Bruſt, er wird ſchwere Arbeit
nicht ertragen können; für die Drehbank iſt er ganz und gar
nicht geſchaffen.“

[17]

Das war ein Punkt, der allerdings zu denken gab und welcher
auch Karolinens Redſeligkeit entfeſſelte. Was hätte Gottfried
Timpe wohl gegen die Mutterliebe einzuwenden vermocht!
In einer derartigen Situation lauteten ſeine letzten Worte:
„Ihr werdet's ja ſehen.“ Dann ſank das Haupt wieder auf
die Bruſt, hüllte der Greis ſich in tiefes Schweigen.


So waren denn die Jahre vergangen. Franz hatte die
obere Sekunda-Klaſſe der Realſchule erreicht und wurde dann
bei Ferdinand Friedrich Urban in die Lehre gebracht. Das
war bereits im Oktober des vergangenen Jahres geſchehen.
Während dieſer Zeit hatte er vielfach Gelegenheit gefunden,
ſeine Anlagen zum Leichtſinn auf's Gründlichſte zu beweiſen,
die Freiheit des Willens, die man ihm ſeit ſeiner früheſten
Jugend gelaſſen hatte, nach Kräften auszunützen. An
Bildung und Wiſſen ſeinen Eltern weit überlegen, inmitten
der Weltſtadt groß geworden, gewöhnt mit gleichaltrigen Ge¬
noſſen in Berührung zu kommen, deren Eltern eine andere
Lebensſtellung einnahmen, als die ſeines Vaters war, von
dem brennenden Ehrgeize beſeelt, in eine andere Sphäre der
Geſellſchaft hineinzukommen — hatte er ſich mit der Zeit
Neigungen zugewendet, die ihm unzertrennbar von den
Paſſionen eines jungen Mannes ſeiner Bildung und ſeiner
Zukunft ſchienen.


Meiſter Timpe verweigerte ſeinem Sohne nichts. Er
kleidete ihn nach der neueſten Mode, er gab ihm zu dem
kleinen Monatsgehalt ein reichliches Taſchengeld und empfand
einen gewiſſen Stolz darin, von wohlmeinenden Nachbarsleuten
die elegante Erſcheinung ſeines Sohnes, der wie ein
„junger Graf“ dahinſchreite, gelobt zu wiſſen. Dabei überſah
er denn auch gern die „kleinen Seitenſprünge“ Franzens,
Kretzer, Meiſter Timpe. 2[18] wie er die abenteuerlichen Kneipereien des jungen Mannes
zu nennen pflegte. Das kam ſelten vor; legte ſich doch der
„gute Junge“ faſt regelmäßig um 9 Uhr ſchlafen, um des
Morgens rechtzeitig munter zu ſein. Als der Großvater
eines Vormittags ſeinem Sohne berichtete, daß Franz einige
Mal nach Mitternacht nach Hauſe gekommen ſei, lachte Jo¬
hannes Timpe ihm laut ins Geſicht. Sein Sohn, der um
9 Uhr bereits nach ſeiner Stube hinaufgegangen war, ſollte
am frühen Morgen nach Hauſe gekommen ſein? Er fand
das äußerſt ſchnurrig und ſprach von „wunderlichen Träumen“
und „Geſpenſterſehen trotz der Blindheit.“ Der Greis aber hatte
ſich nicht getäuſcht. Eines Abends vernahm er, wie ſein Enkel
kurz vor zehn Uhr leiſe die Thür verſchloß und die Treppe hin¬
unterſchlich. An den geſchloſſenen Fenſterläden vorüber konnte
Franz unbemerkt die Straße erreichen. Das wiederholte ſich
mehrmals in der Woche. Er täuſchte und belog eine Eltern
zu gleicher Zeit.


Der Alte war ſtarr bei dieſer Entdeckung, behielt ſie
zuerſt für ſich, nahm aber ſeinen Enkel bei Gelegenheit in's
Gebet, um ihn zu beſchämen, Timpe junior leugnete; und
als er inne ward, daß das nichts helfe, wurde er von einem
unbezwingbaren Haß gegen den Alten erfaßt — einem Haß,
der eigentlich nur das helle Aufflackern einer von ſeiner Kind¬
heit an in ihm ſchlummernden Abneigung gegen den Gro߬
vater war.


Ulrich Gottfried Timpe aber mußte nach ſeiner Mittheilung
erleben, daß Johannes zuerſt ein ſehr ernſtes, überraſchtes
Geſicht zeigte, dann zu lachen anfing und ſagte: „Ein toller
Junge! Der hat richtigen Mutterwitz. Ich weiß Vater, daß
Du Dich nicht gut mit ihm ſtehſt; überlaß' mir nur die Ge¬
[19] ſchichte. Das iſt mehr Leichtſinn als Schlechtigkeit. Du darfſt
nicht vergeſſen, daß die jungen Leute von heute anders über
die Moral denken, und daß die Welt mit der Zeit eine andere
geworden iſt. Das verſtehen wir Beide nicht mehr. Du
noch weniger als ich.“


Als Franz Timpe von dieſer Unterredung erfahren hatte,
verſuchte er ſeinen Großvater auf das Gründlichſte anzu¬
ſchwärzen: Der Alte gönne ihm nicht das liebe Leben. Wenn
er wirklich einmal des Nachts ſpät nach Hauſe gekommen, ſo
ſei das nicht ſo ſchlimm und nicht dazu angethan, eine große
Klatſcherei darüber zu machen. Das ganze Beſtreben des
Großpapas ginge nur darauf hinaus, ihn mit den Geſellen
auf eine Stufe zn ſtellen, wie es früher vielleicht Mode
geweſen ſein mochte. Könne er wohl etwas dafür, wenn der
Geſchäftsführer ihm die Ehre erweiſe, mit ihm länger zu
kneipen, als es ſonſt der Fall zu ſein pflegt? Er ſei eben
ſehr angeſehen im Geſchäft und ſeine Kollegen hielten große
Stücke auf ihn.


Damit hatte Franz ſein Ziel erreicht; denn Johannes
Timpe, erfreut über das Anſehen, das ſein Sohn, der Stolz
ſeiner alten Tage, genoß, wiſchte die Hände an der blauen
Schürze ab, zog ſeinen Stammhalter an ſich und ſagte leiſe,
indem er ſich verlegen umſah, als befürchte er, von dem Gro߬
papa gehört zu werden:


„Ich weiß, wie das iſt, mein Junge . . . Alſo der Ge¬
ſchäftsführer verkehrt mit Dir? Hm — das läßt ſich
hören . . . Verſprich mir nur, nicht länger als bis Mitter¬
nacht wegzubleiben, dann bin ich ſchon zufrieden. Du mußt
doch ſchlafen. Wenn das nicht wäre . . .“


Franz Timpe wendete ſein hübſches Geſicht ab, denn er
2*[20] wollte dem Vater ſeine Verlegenheit nicht zeigen. Und
während Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ſich mit
dem Flaum der Oberlippe beſchäftigten, erwiderte er: „Ich
verſpreche es Dir!“


„Ich wußte, daß Du es thun würdeſt, mein Sohn.“


Meiſter Timpe hatte ſeinem Jungen vergnügt auf die
Schulter geklopft und ihn dann (es war in der Mittagsſtunde
beim hellen Sonnenſchein eines trocknen Wintertages) durch
den langen Flur nach dem Garten hinaus genöthigt, der ſich
hinter dem Häuschen ausdehnte.


Mit dieſem Fleckchen Erde hatte Johannes Timpe ſeine
beſonderen Pläne, über welche er nur zu gern
mit ſeinem Sohne ſprach. Da ſchwirrten die Worte:
„Anbauen . . . . Kleine Fabrik errichten . . . Das Geſchäft
kaufmänniſch betreiben . . . Seinen Sohn zum Kompagnon
machen ... Neues Vorderhaus errichten . . .“ durch die Luft,
ſo daß Franz ſeinem Vater mit dem größten Intereſſe zu¬
hörte; denn man ſchilderte ihm das Element, in dem er ſich
einſt zu bewegen gedachte. Befehlen, herrſchen, Fabrikbeſitzer
ſpielen — gewiß, das war das Ziel, dem er zuſtrebte.


Während aber Johannes Timpe das ſeinem Sohne ent¬
wickelte, vergaß er niemals den Kopf nach dem Großpapa zu
wenden, der in der Mittagsſtunde in dem Rahmen der Hof¬
thür zu ſtehen pflegte, um die Tauben zu füttern, die girrend
auf ſeinen Pfiff heran geflogen kamen. Der Drechslermeiſter
fürchtete ſeinen Vater, wie Franz ihn haßte.


Was würde er wohl ſagen, wenn er Kenntniß von
dieſen tollen Plänen bekäme? Er, der ſich einen Handwerker
nicht anders vorſtellen konnte, als mit zwei oder drei Gehülfen
in der Werkſtatt, arbeitend gegen baare Bezahlung, im Beſitze
[21] eines einzigen Geſchäftsbuches, in dem die Ausgaben und
Einnahmen gewiſſenhaft verzeichnet wurden; beſcheiden und
anſpruchslos lebend, nur darauf bedacht, ohne jede Speku¬
lation zu einem ſoliden Wohlſtande zu gelangen.


Großvater, Vater und Sohn bildeten in ihren An¬
ſchauungen den Typus dreier Generationen. Der dreiund¬
achtzigjährige Greis vertrat eine längſt vergangene Epoche:
jene Zeit nach den Befreiungskriegen, wo nach langer Schmach
das Handwerk wieder zu Ehren gekommen war und die
deutſche Sitte auf's Neue zu herrſchen begann. Er lebte
ewig in der Erinnerung an jene glorreiche Zeit, die nach
Jahren voller Schrecken und Demüthigung den deutſchen
Bürger zu einem beſcheidenen Menſchen gemacht hatte.


Johannes Timpe hatte in den Märztagen Barrikaden
bauen helfen. Er war gleichſam das revoltirende Element,
das den Bürger als vornehmſte Stütze des Staates direkt
hinter den Thron ſtellte und die Privilegien des Handwerks
gewahrt wiſſen wollte.


Und ſein Sohn vertrat die neue Generation der
beginnenden Gründerjahre, welche nur darnach trachtete, auf
leichte Art Geld zu erwerben und die Gewohnheiten des
ſchlichten Bürgerthums dem Moloch des Genuſſes zu opfern.


Der Greis ſtellte die Vergangenheit vor, der Mann die
Gegenwart und der Jüngling die Zukunft. Der Erſte
verkörperte die Naivität, der Zweite die biderbe Geradheit
des Handwerkmannes, der ſich ſeiner Unwiſſenheit nicht ſchämt,
ſich ſeines Werthes bewußt iſt; und der Dritte die große
Lüge unſerer Zeit, welche die Geiſtesbildung über die Herzens¬
bildung und den Schein über das Sein ſtellt.


[[22]]

III.
Die Nachbarſchaft.

So winklig wie Timpes Haus nahm ſich auch das
Gärtchen aus. Eine in doppelter Mannshöhe empor¬
ragende Mauer umſchloß es von drei Seiten und
trennte es vom Nachbargrundſtück. Dieſe Mauer hatte ihre
beſondere Geſchichte.


Vor zehn Jahren ſtand an ihrer Stelle ein niedriger
Staketenzaun. Die Handwerkerfamilie konnte an ſchönen
Sommertagen, war ſie hinten in einer kleinen Laube ver¬
ſammelt, einen herrlichen Anblick genießen, wenn die Augen
ſich nach den uralten Bäumen, grünenden Raſenflächen
und künſtlichen Blumenanlagen des Nachbargrundſtückes
richteten. Daſſelbe gehörte einer reichen Kaufmanns-
Wittwe, die mit ihren Töchtern in der nächſten Quer¬
ſtraße ein villenartiges Haus bewohnte. Die drei Kinder im
Alter von 7 bis 12 Jahren hatten ein beſonderes Vergnügen
daran gefunden, vom niederen Zaune aus dem Treiben in
der Werkſtatt, deren große Fenſter nach dem Gärtchen hin¬
[23] ausgingen, zuzuſchauen. Das Schnurren der Drehbänke und
das Sprühen der Schnitzel übten einen großen Reiz auf ſie aus.


Mit der Zeit waren ſie mit Franz ſo vertraut geworden, daß
er ſich nicht ſcheute, den Zaun zu überklettern, um ſich nach
Herzensluſt mit den Mädchen in dem großen Garten zu tummeln.
Dabei blieb es jedoch nicht. Sein Hang zu allerlei üblen
Streichen trieb ihn öfters dazu, in der Dämmerung auf eigene
Fauſt dem Nachbargrundſtücke Beſuche abzuſtatten, um die
Obſtbäume zu plündern.


Als er eines Abends dabei geſehen worden war, hatte es
eine Auseinanderſetzung zwiſchen der Wittwe und Johannes
Timpe gegeben. Der Drechslermeiſter war ſehr betrübt über
die Diebereien ſeines einzigen Kindes und verſprach der Wittwe,
den Knaben zu züchtigen und Sorge dafür zu tragen, daß
man ihr zu weiteren Klagen keine Veranlaſſung geben würde.
Johannes Timpe hätte vielleicht die verſprochene Züchtigung,
zum erſten Male in ſeinem Leben, energiſch vorgenommen, wenn
er nicht bemerkt haben würde, wie ſein Vater bereits auf den
Moment wartete, wo das Geheul des Jungen ihm endlich
den Beweis für die Umſetzung ſeiner Lehre von der Zucht¬
ruthe ins Praktiſche geben werde. Er unterließ alſo die
Züchtigung und beſchränkte ſich auf einen Verweis, der be¬
ſchämend auf ſeinen Sprößling wirken ſollte. Seine über¬
große Gutmüthigkeit aber that nicht die geringſte Wirkung;
denn nach acht Tagen hatte Franz die gute Lehre vergeſſen.
Er ließ ſich abermals auf friſcher That im Nachbargarten
ertappen. Diesmal ſchlug die Wittwe einen anderen
Weg ein.


Eines Tages wurden Fuhren neuer Steine hinter dem
kleinen Zaune abgeladen; Arbeiter mit ihren Geräthſchaften
[24] erſchienen und errichteten in wenigen Tagen die mit Glas¬
ſcherben gekrönte Mauer.


Johannes Timpe [und] Frau Karoline waren natür¬
lich ſehr aufgebracht darüber. Der Meiſter ſetzte
eine Beſchwerde auf, des Inhalts, daß die Mauer
der Werkſtatt das Licht nehme. Es kam auch eine
Kommiſſion, um ſich an Ort und Stelle davon zu über¬
zeugen, gelangte aber zu dem Reſultat, daß der Abſtand der
Mauer vom Hauſe ein zu großer ſei, um die Beſchwerde zu
rechtfertigen. Sie mußten ſich alſo in das Unvermeidliche
fügen. Nur der Großvater fühlte ein geheimes Behagen an
der Rache der Nachbarin. Er konnte ohnehin nicht ſehen, der
Garten war ihm alſo völlig gleichgültig.


„Das habt Ihr Eurem lieben Söhnlein zu verdanken,“
ſagte er mehrmals. Johannes Timpe und ſein Weib mußten
darauf ſchweigen, denn ſie konnten ihm nicht Unrecht geben.


Es wurde dem Drechslermeiſter und ſeiner Ehehälfte ſchwer,
ſich daran zu gewöhnen, den Vorgängen jenſeits der Mauer
keine Aufmerkſamkeit mehr ſchenken zu dürfen, wie es voraus¬
zuſehen war, daß Franz ſich am wenigſten in das Unvermeid¬
liche fügen würde. Eines Tages konnte er es ohne eimen
Einblick in den Nachbargarten nicht mehr aushalten. Er kam
auf eine glückliche Idee. In der Ecke, wo die Mauer an das
Häuschen ſtieß, ſtand ein mächtiger Lindenbaum, der ſeine
Zweige weit über das Dach des Hauſes ſtreckte und an heißen
Sommertagen einen vortrefflichen Schutz gegen die Strahlen
der Sonne gewährte. Hoch oben in der Krone des Baumes
erblickten die Eltern eines Abends den Sohn, Er war durch
eine Dachluke direkt auf den Baum geſtiegen, hatte auf zwei
Aeſte ein Brett gelegt, und guckte vergnügt in die Welt hinaus.


[25]

„Von hier aus kann man weit ſehen“, hatte er herunter¬
gerufen. Und Johanens Timpe, der über die Waghalſigkeit
ſeines Einzigen erſt erſchrocken war, dann aber lachen mußte,
war ebenfalls zum Dachboden emporgeſtiegen, hatte ſeinen
behäbigen Korpus mit Mühe durch die Luke gedrängt und
neben ſeinem Sprößling Platz genommen.


Wahrhaftig, der Junge hatte Recht. Hier oben konnte
man ſich über den Verluſt der früheren Ausſicht vortrefflich
tröſten.


Dem Sohne zur Liebe wurde die Dachluke erweitert.
Die Geſellen mußten eine Art Brücke vom Dache bis zum
Baume ſchaffen; und zur Sicherheit wurde hoch oben in der
Krone rings um den Stamm ein Sitz mit Geländer an¬
gebracht und dieſer Auslug, zu Ehren ſeines Entdeckers,
„Franzen's Ruh'“ getauft. Johannes Timpe aber nannte
ihn ſeine „Warte“. Der Aufenthalt zwiſchen Himmel
und Erde war eine vortreffliche Abwechſelung in der Eintönig¬
keit der langen Abende und gab Veranlaſſung, ſich noch wochen¬
lang darüber zu unterhalten.


Als der Großvater das Sägen und Hämmern über
ſeinem Kopfe vernahm, erkundigte er ſich im Geheimen bei
den Geſellen nach der Urſache des Zimmerns, da man ihm
aus ſehr bekannten Gründen wohlweislich von den Vorgängen
der neueſten Zeit nichts geſagt hatte. Er ſchwieg tagelang.
Eines Abends aber, als Meiſter Timpe vergnügt plaudernd
neben ſeinem Sohne auf der Warte ſaß, konnte der Greis
ſich doch nicht enthalten, in einem Geſpräche mit ſeiner
Schwiegertochter unten in der Laube die abſichtlich laut ge¬
thane Bemerkung zu machen, daß zu ſeiner Zeit die Eltern
den Jungen die Hoſen ſtramm gezogen hätten, wenn
[26] dieſelben ſo vermeſſen geweſen wären, auf dem Bäumen her¬
umzukriechen, um ſich der Gefahr auszuſetzen, Arme und Beine
zu brechen. Heute aber ſchiene es, als ſtrebten die Eltern
danach, ihren Kindern mit böſem Beiſpiele voran zu gehen:


„Ja, früher, wer dachte früher an ſo etwas!“


Mit den Jahren hatte ſich dann auch der älteſte Timpe
an die Kletterluſt von Vater und Sohn gewöhnt und ſogar
einmal lebhaft bedauert (das geſchah natürlich ganz verſtohlen),
daß ſein Alter und ſeine Blindheit es ihm nicht möglich
machten, ebenfalls von dort oben den Leuten in die „Suppen¬
terrine zu ſpucken.“


In der Mittagsſtunde des Tages, in deſſen erſten Stunden
Kruſemeyer und Liebegott ihre Anſichten über die Nacht¬
ſchwärmerei Franz Timpe's zum Beſten gegeben hatten,
ſuchte dieſer ſeinen Vater in dem Gärtchen auf. Er war
ſoeben aus dem Geſchäft gekommen, und da das Eſſen noch
auf ſich warten ließ, wollte er die Neuigkeit, die er mitgebracht
hatte, dem Alten ſofort mittheilen.


Meiſter Timpe war bei ſeinen Beeten, die er eigenhändig
zu umgraben und zu beſäen pflegte. Den einen Zipfel der
Schürze hoch geſteckt, die Schirmmütze etwas ſchräg auf die
noch wohlerhaltenen grauen Haare gerückt, ſtand er über ſeine
Schaufel gebeugt und muſterte den Boden. Dieſer kleinen
Beſchäftigung im Garten, die ihm neben ſeinem Handwerk
wie eine Erholung dünkte, pflegte er in den Morgen- und
Mittagsſtunden nachzugehen. Den ganzen Winter hindurch freute
er ſich bereits auf den Frühling, der ihn in den Stand ſetzen
würde, ſeine Liebhaberei für Blumen und Gemüſe zu
bethätigen.


[27]

Die Aprilſonne lag erwärmend auf den Bäumen und
Sträuchern, an denen bereits das erſte Grün ſich bemerkbar
machte; und ein friſcher Erdgeruch entſtieg dem keimenden
Boden und würzte die Luft. Nur wie ein leiſes Brauſen
drang das Branden und Wogen des Berliner Lebens über
die Dächer hinweg in dieſe abgeſchloſſene Idylle hinein.


Wenn Johannes Timpe ſeinen Sohn zu Geſicht bekam,
galt ſeine erſte Frage den Fortſchritten im Geſchäft. In
den ewig ſich gleichbleibenden Worten: „Nun wie war's
heute — ſind ſie zufrieden mit Dir?“ lag die ganze Zärtlich¬
keit, die er für ſeinen Sohn ſtets in ſo reichem Maße übrig hatte.


Franz überhörte heute die Frage ganz; dafür aber ſagte
er ſofort:


„Weißt Du noch Vater, wie meinetwegen die Mauer
errichtet wurde?“


Meiſter Timpe blickte bei dieſer merkwürdigen Frage auf.


„Gewiß, mein Junge, aber wie kommſt Du darauf?“


Franz ſchwieg ein paar Minuten, denn es fiel ihm ein,
daß er zuvor etwas Nützlicheres zu thun habe, als ſogleich
die Frage ſeines Vaters zu beantworten. Er zog eine Haar¬
bürſte hervor, muſterte ſich eine Weile aufmerkſam in dem
Stückchen Spiegel derſelben, glättete ſeine nach der neueſten
Mode in der Mitte kokett geſcheitelte Friſur, verſuchte den
Spitzen des keimenden Schnurrbartes eine ſymmetriſche Form
zu geben, pfiff leiſe vor ſich hin, ſtellte ſich mit den Händen
in den Hoſentaſchen breitbeinig vor ſeinen Vater hin und er¬
widerte dann erſt:


„Wer hätte jemals daran gedacht, daß ich doch noch über
die Mauer hinwegkommen würde. Denke Dir nur: Herr
Urban hat die Wittwe da drüben geheirathet und zwar ganz
[28] im Stillen auf einer Reiſe, die er kürzlich gemacht hat.
Selbſt das Geſchäftsperſonal hat jetzt erſt davon erfahren.
Es ſoll nämlich extra eine Feſtlichkeit für uns veranſtaltet
werden. Meine alte Feindin wird meine Frau Chef — iſt
das nicht ein Hauptſpaß?“


Johannes Timpe war dieſe Enthüllung ſo unerwartet
gekommen, daß er zuerſt ſtumm blieb, nur an ſeiner Mütze
rückte und mit den Fingern der linken Hand über den kurz¬
geſchorenen Kinnbart fuhr. Es war das immer ein Zeichen
großer Nachdenklichkeit. Dann erſt ſagte er langſam:


„Sieh, der Schlauberger! Ein ſchönes Grundſtück da
drüben und was die Hauptſache iſt, Frau Kirchberg, jetzt
Frau Urban, ſoll viel Geld beſitzen. Es iſt die
alte Geſchichte: wo Viel iſt, kommt Viel hinzu.“


Meiſter Timpe faßte unter den Bruſtlatz ſeiner Schürze,
holte eine mächtig-runde, bemalte Doſe hervor und nahm mit
einem „hm, hm“ bedächtig eine Priſe.


Das ſei aber noch nicht alles, berichtete Franz weiter.
Man habe die Abſicht, den größten Theil des Gartens zu
Bauterrain umzuwandeln und eine große Fabrik mit den
neueſten Verbeſſerungen zu errichten.


„Die ſchönen alten Bäume!“ warf Meiſter Timpe im
Tone des Bedauerns ein, bei dem Gedanken, eines Tages an
Stelle des herrlichen Laubſchmuckes kahle Backſteinmauern und
rieſige Schornſteine emporragen zu ſehen.


„Alſo Dein Chef will im eigenen Hauſe fabriziren“, ſagte
er dann auf's Neue, indem er die Arme über den Knauf des
Spatens kreuzte und vor ſich hin blickte. Im Geiſt vernahm
er bereits das Ziſchen des Dampfes, das Schnurren und das
Summen der Treibriemen — jenes eigenthümliche, die Erde
[29] erzitternd machende Geräuſch, das die Nähe großer, in Be¬
wegung geſetzter Maſchinen verkündet.


Wenn er nur genau gewußt hätte, wann das Bauen
drüben ſeinen Anfang nehmen ſollte. Er war nicht umſonſt
plötzlich ſo ſtill geworden. Ihm fielen ſeine alten Pläne
wieder ein, welche ſich um die Vergrößerung ſeines eigenen
Geſchäftes drehten. Wenn an Stelle dieſer Mauer eine
ſchwindelhohe Wand erſtünde, wenn man ihn immer mehr
umſchlöſſe, um ihm das Licht des Himmels zu nehmen? Er
hatte nie daran gedacht, daß die Verhältniſſe jenſeits der
Mauer ſich jemals ändern würden. Etwas wie Traurigkeit
überkam ihn, eingedenk der Möglichkeit, daß ſein Gärtchen
eines Tages einem jener dunklen Höfe gleichen könne, über
welche die Sonnenſtrahlen nur auf Minuten dahinhuſchen,
ohne jemals ganz die Tiefe zu erreichen.


Als er ſich umwendete, um an ſeinen Sohn noch eine
Frage zu richten, war dieſer bereits verſchwunden; die Mutter
hatte ihm vom Flur aus einen Wink gegeben, dem er ge¬
folgt war.


Es war nahe an ein Uhr. In der Werkſtatt hatten die
Geſellen ſich nach eingefunden, um die Arbeit wieder
aufzunehmen. An dem geöffneten Flügel des einen Fenſters
ſaß Thomas Beyer, der älteſte Gehülfe Timpe's. Seit fünf¬
zehn Jahren ſtand er bereits an ein und derſelben Drehbank.
Er war ein hagerer, ſtarkknochiger Mann von etwa 40 Jahren
und wohnte mit einer Schweſter zuſammen, die ihm die
Wirthſchaft führte. Er lebte ſehr mäßig, beſuchte ſehr
häufig populäre Vorträge und benutzte jede Gelegenheit, ſeine
Beleſenheit zu beweiſen. Dadurch war er zu einer gewiſſen
Autorität bei ſeinen Kollegen in der Werkſtatt gelangt, die
[30] ihn wie ein lebendes Auskunftsbureau betrachteten, das auf
Alles Antwort geben müſſe. Die ergötzlichſten Anſichten
wurden dabei zu Tage gefördert. Da er überdies mit allen
Verhältniſſen des Hauſes vertraut war, in Abweſenheit ſeines
Arbeitgebers die Geſchäfte deſſelben wahrnahm, ſo wurde er
von dieſem mehr wie ein Kamerad als wie ein Untergebener
betrachtet.


„Meiſter“, rief er zum Garten hinaus, „wir haben noch
nicht genug Schornſteine in der Nähe, es müſſen noch einige
hinzukommen. Aber ich habe es immer geſagt: die Ueberproduktion
wird die Menſchen zu Grunde richten. Die großen Fabriken freſſen
das Handwerk auf und zuletzt bleibt weiter nichts übrig, als
Arbeiter und Fabrikanten, zweibeinige Maſchinen und Dampf¬
keſſel. Wie ſoll das enden!“


„Diesmal haben Sie Recht, Beyer“, erwiderte Johannes
Timpe, während von der Hofthür her, wo die Tauben ſich
vor dem Großvater verſammelt hatten, die alte Litanei des
Greiſes ertönte:


„Ja, ja, das waren noch andere Zeiten . . . damals!
Das Handwerk hatte einen goldenen Boden . . . Die Schorn¬
ſteine müſſen geſtürzt werden, denn ſie verpeſten die Luft;
aber die Handwerker haben ſelbſt daran Schuld. Sie ſollten
ihre Söhne nicht Kaufleute werden laſſen, die nur noch
ſpekuliren und nicht arbeiten wollen“.


Er hatte ſeinem Ingrimm wieder einmal Luft gemacht,
drehte ſich um, faßte nach der Wand und ſchritt, auf ſeinen
Stock geſtützt, den Oberkörper gebeugt und den Athem kurz
hervorſtoßend, den langen Flur entlang, begleitet von dem
Geräuſch der klappernden Hauspantoffeln.


[31]

Durch das Geſpräch aufmerkſam geworden, hatten ſämmt¬
iche Geſellen ſich an den Fenſtern verſammelt. Da drüben
ſollte alſo eine Fabrik errichtet werden? Das war eine
Nachricht, über welche man ſprechen mußte. Johannes Timpe
war es ſelbſt angenehm, mit den Arbeitern ſeine Anſicht aus¬
zutauſchen; und ſo eiferte denn ein Jeder, ſeine Bemerkungen
zu machen.


Urban ſei ein ganz geriebener Junge, meinte Leineweber
aus Braunſchweig, ein kleiner, ſchmächtiger Menſch, der ſich die
Bruſt an der Drehbank ruinirt hatte, aber ſich immer in
Träumen darüber erging, was er anfangen würde, wenn er
einmal einen Batzen in der Lotterie gewönne. Er habe bei
einem Meiſter gearbeitet, der für Urban geliefert habe. Wenn
dieſer anfange, auf eigene Fauſt zu fabriziren, ſo würde er
wohl ſeinen guten Grund haben. Jedenfalls mache er hundert
kleine Meiſter todt.


Und Leitmann, ein bereits graubärtiger Geſelle, der früher
einmal ſelbſtſtändig geweſen war und durch das viele Treten
der Drehbank einen hinkenden Gang ſich angeeignet hatte,
kannte ihn ſchon ſeit der Zeit, als ſein ganzes Geſchäft aus
zwei winzigen Zimmern beſtand und er, einen mächtigen Karton
unter dem Arm, ſeinen eigenen Reiſenden ſpielte, der durch
die Straßen Berlins keuchte, oder hoch oben auf dem Omni¬
bus von einem Thor zum andern fuhr. Das ſei vor zwanzig
Jahren geweſen, als die ovalen Bilderrähme zum erſten Male
auf der Drehbank hergeſtellt wurden. Dadurch habe er ſein
Glück gemacht.


Fritz Wieſel, ein blutjunger Berliner, hatte, als er noch
Lehrling war, im Komtor von Ferdinand Friedrich Urban zu
thun gehabt. Sein Geiz ſei ſprichwörtlich, meinte er. Er
[32] habe einmal einem Droſchkenkutſcher in der Zerſtreutheit ein
Zehnpfennigſtück zu viel gegeben und ſich darüber ſo ſehr ge¬
ärgert, daß er befürchtete, bankerott zu werden.


Meiſter Timpe wurde durch die eintretende Heiterkeit
mit fortgeriſſen, bis er endlich ſagte:


„Ihr macht ihn ſchlechter, als er in Wirklichkeit iſt, Kinder.
Ich habe ihn kennen gelernt, als ich meines Sohnes wegen
mit ihm Rückſprache nehmen mußte, und ich kann ſagen, daß
er mir wie Jemand vorgekommen iſt, der die Welt und die
Menſchen kennt.“ —


„Und ſie deshalb gehörig ausbeutet,“ fiel Thomas Beyer
brummend ein.


Meiſter Timpe zuckte die Achſeln und erwiderte:

„Ein Kaufmann muß rechnen, ſonſt geht er zu Grunde“,
ſagt mein Franz immer. „Es iſt nun einmal in der Welt
ſo, lieber Beyer, daß jeder ſeinen Vortheil ſucht.“


„Aber der liebe Herrgott hat die Erde nicht dazu ge¬
ſchaffen, Meiſter, daß die Einen Alles haben und die Anderen
Nichts,“ gab der redſelige Altgeſelle zurück. „Da habe ich
neulich einen Vortrag gehört —“


Johannes Timpe unterbrach ihn mit einer Handbewegung.


„Weiß ſchon, weiß ſchon, lieber Beyer! — Sie be¬
rufen ſich immer auf die Vorträge . . . Sie ſcheinen übrigens
in der letzten Zeit gefährliche Gedanken bekommen zu haben.“


Meiſter Timpe drohte lächelnd mit dem Finger und fuhr
dann fort:


„Laß Jeden thun und Jeden haben, was er will. Der
Werth des Lebens beſteht nicht darin, zu ſagen, ich bin das
und das und ich beſitze das und das, ſondern darin, daß der
Menſch ſagt: Ich bin zufrieden. Liebe zur Arbeit, Neidloſig¬
[33] keit dem Nächſten gegenüber und der Glaube an einen
ewigen Gott — das ſind die drei Dinge, die wir zuerſt be¬
herzigen müſſen, wollen wir uns eines wirklichen, innern
Glückes erfreuen. Denn, daß das Glück von außen kommt,
ſagen nur Diejenigen, die es in ihrem Innern nie empfunden
haben.


„Das ſind alte Anſchauungen, Meiſter“, ſagte Thomas
Beyer wieder, indem er ſeine Drehbank in Bewegung ſetzte.
„Sie ſind nicht fortgeſchritten in Ihren Anſichten; aber Sie
werden einmal anders denken.“


Johannes Timpe kannte die Unterhaltungsſucht ſeines
Altgeſellen über derartige Dinge und wußte, daß es ſchwer
war, ein Ende mit ihm zu finden. Deshalb drehte er dem
Fenſter den Rücken und ſchritt der Wohnung zu, um ſein
Mittagsmahl einzunehmen.


Die Gehilfen aber konnten noch nicht zur Ruhe kommen.
Während ſie Anſtalten machten, um an ihre Arbeit zu gehen,
wurde das Geſpräch fortgeſetzt.


Theobald Spiller, genannt Spillerich, gebürtig aus einer
kleinen Stadt, des Königreichs Sachſen, war der Luſtigmacher
der Werkſtatt. Er war ein kleiner rund gebauter Mann mit
glatt geſchorenem Haar und bartloſem Geſicht, in dem der
breite Mund ſelten zur Ruhe kam. Selbſt beim Drechſeln
erzählte er ſeine Schnurren, und lachten die Anderen nicht,
ſo erlaubte er ſich dieſes Vergnügen allein. Er hatte oft die
tollſten Einfälle, war aber ſonſt ein durchaus harmloſer
Menſch, der nur die üble Angewohnheit hatte, regelmäßig des
Dienſtags bereits Vorſchuß zu nehmen, was ſich im Laufe der
Woche zwei- bis dreimal zu wiederholen pflegte. Er aß näm¬
lich ungemein ſtark und hatte eine beſondere Vorliebe für extra¬
Kretzer, Meiſter Timpe. 3[34] ſeinen Liqueur, durch den er ſich die Einſamkeit ſeines Jung¬
geſellenlebens troſtreicher zu machen verſuchte.


Er ſchlug vor, den Verſuch zu machen, Ferdinand
Friedrich Urban von der Errichtung der Fabrik abzubringen,
ſchon des Freikonzertes wegen, welches die Nachtigallen im
Sommer zum Beſten gäben, worauf der Berliner dieſen guten
Gedanken mit einem: „Det ſtimmt“, beſtätigte — ein Stich¬
wort, das er den Tag über unzählige Mal anzuwenden wußte.


Man erging ſich nun in den verſchiedenſten Plänen, die
jedoch alle als nicht beſonders wirkungsvoll verworfen wurden,
bis endlich Theobald Spiller, genannt Spillerich, den Vogel
abſchoß, indem er ſagte, man müſſe das Gerücht verbreiten,
der Geiſt von Frau Urbans erſtem Manne ginge im Garten
umher, um ſich gegen die beginnende Verwüſtung zu ver¬
wahren.


„Wenn Ihr mir ein Leichengewand beſorgt, mich dabei
nicht verhungern läßt und ſofort bei der Hand ſeid, wenn ich
um Hilfe rufen ſollte, ſo mache ich die Geſchichte“, ſagte der
kleine Sachſe zum Gaudium der Uebrigen, indem er die
Spähne von ſeinem in der Form einer Kugelakazie geſtutzten
Haar entfernte.


Man hätte dieſe Pläne jedenfalls noch ins Ungeheuerliche
geſponnen, wenn nicht Franz Timpe vor den Fenſtern wieder
ſichtbar geworden wäre. In der Werkſtatt konnte ihn Nie¬
mand ſeines Hochmuths wegen leiden. Er hatte die Manier,
äußerſt herablaſſend zu thun und auf einen Gruß kaum einen
Dank zu finden; dagegen verlangte er äußerſt herriſch die
Erfüllung ſeiner Wünſche. Vernahm er den freundlichen
Ton, in welchem der Drechslermeiſter mit den Geſellen ver¬
kehrte, ſo fühlte er ſich dadurch unangenehm berührt. Es
[35] paſſe ſich nicht, mit Arbeitern kameradſchaftlich zu verkehren,
meinte er zu ſeinem Vater; denn es ärgerte ihn, nicht ſo
reſpektirt zu werden, wie er es wünſchte. Nur Thomas
Beyer gegenüber pflegte er beſcheiden aufzutreten, denn er
hatte es nicht vergeſſen, wie dieſer ihm einſt, als er noch
Schuljunge war, für eine arge Unverſchämtheit eine Ohrfeige
verſetzt hatte, die noch lange Zeit hindurch eine Genugthuung
für den Großvater bildete. Es hatte damals zwiſchen dem
Meiſter und ſeinem älteſten Geſellen eine heftige Szene ge¬
geben, in welcher aber ſchließlich der Gerechtigkeitsſinn Jo¬
hannes Timpe's zu Gunſten ſeines Gehilfen ſiegte. Erblickten
die Geſellen den angehenden Kaufmann, beobachteten ſie die
geckenhaften Manieren, die er ſich angeeignet hatte, ſo wurde
er zur Zielſcheibe geheimer Spöttereien, die ſeine Ohren nicht
angenehm berührt hätten, wenn er ſie vernommen haben
würde.


„An dem Zierfuchs hat ſich der Meiſter eine Ruthe für
ſeine alten Tage gezogen“, pflegte Thomas Beyer zu ſagen
und wiederholte es auch heute.


„Det ſtimmt“, fiel Fritz Wieſel ein. „Er müßte ſich
einmal vierzehn Tage lang an der „Bank“ die Beine aus¬
treten, vielleicht würde er dann etwas zahmer werden.“


„Das hilft alles nichts“, meinte der kleine Sachſe. „Er
muß vier Wochen lang im Schaufenſter eines Friſeurs ſtehen,
oder zu Caſtan ins Panoptikum kommen. Da gäbe es
etwas zum Lachen.“


Oftmals wurden die Bemerkungen ſo laut ge¬
than, daß Franz Timpe etwas von ihnen auffing.
Er ſchäumte dann vor Wuth, ſchwieg jedoch, weil er
fürchtete, ſich noch lächerlicher zu machen; oder er ſchlug den
3*[36] alten Weg ein: ſuchte ſeinen Vater auf und klagte die
Gehülfen der Faulheit und anderer Dinge an. Dadurch
machte er ſich nur noch verhaßter bei den Leuten in der
Werkſtatt. Sein Troſt blieb dann die Zukunft, die Erfüllung
der Pläne ſeines Vaters, die ihn in den Stand ſetzen
würden, dereinſt über die Arbeiter zu herrſchen und ſich für
die erlittenen Verhöhnungen zu rächen. ... Wie ſchön war
nicht die Ausſicht! Das Geſchäft würde blühen und gedeihen,
er ſich emporſchwingen, wie Urban es gethan hatte; man
würde ihn Chef nennen, eine reiche, ſchöne Frau würde ſich
finden, dazu Pferd und Wagen und eine Villa, wie Herr
Ferdinand Friedrich Urban ſie beſaß. Und warum den Ge¬
dankenflug nicht noch höher erheben? Schon mancher hatte
es bis zum Kommerzienrath gebracht, der wie er, in jungen
Jahren begonnen hatte. ...


Den Kopf voll dieſer Träumereien, mit denen ein Heer
von Arbeitern, rieſige Schornſteine, doppelthürige Geldſchränke
und Unſummen Geldes ſich verbanden, die wie Phantome an
ihm vorüber jagten und ſeine Phantaſie belebten, enteilte er
auch diesmal der Hörweite der Geſellen und machte ſich auf
den Weg zum Komtor.


[[37]]

IV.
Das Loch in der Mauer.

In den Morgenſtunden des anderen Tages — die Ge¬
ſellen ſaßen gerade beim Frühſtück — ließen plötzlich
jenſeits der Mauer heftige Meißelſchläge ſich vernehmen,
deren heller Klang die Luft durchdrang. Gerölle von Steinen
und Mörtel folgten; hin und wieder wurden Stimmen laut.
Man ſchien etwas abzumeſſen und ſeine Meinung darüber
auszutauſchen. Die Gehülfen wurden aufmerkſam, und Thomas
Beyer ſagte zu Johannes Timpe, der die Werkſtatt betreten
hatte:


„Hören Sie nur, Meiſter, da drüben fängt man ſchon
an zu bauen. Urban hat es ſehr eilig.“


Der Alte war ebenſo überraſcht wie ſeine Leute. Das
ging in der That ſehr raſch, wenn Beyer Recht hatte. Timpe
ſchritt nach dem Garten hinaus, um etwas von dem Geſpräch
aufzufangen und ſeine Beobachtungen in der Nähe zu machen.
Die Schläge richteten ſich gegen die Mauer. Nach einer
Viertelſtunde bewegte ſich ein Stein in derſelben; die Spitze
eines Meißels wurde ſichtbar. Es dauerte nicht lange, ſo
[38] konnte man eine Oeffnung erblicken, die ſich nach einer
weiteren Viertelſtunde ſo vergrößert hatte, daß das bärtige
Geſicht eines Maurers ſich zeigte. Der Mann blickte neu¬
gierig durch das Loch und nickte dem Meiſter wie zum
Gruße zu. Schlag auf Schlag folgte dann wieder, Stein auf
Stein verſchwand; die Oeffnung erweiterte ſich bis zum
Boden, bis ſie endlich ſo groß war, daß ein Menſch in ge¬
bückter Haltung bequem hindurchſchlüpfen konnte.


Meiſter Timpe wollte gegen den Maurer ſeinem Unmuth
über den herniedergefallenen Kalk, der ſeine Beete bedeckte,
Luft machen, als durch die Oeffnung eine laute Stimme er¬
ſchallte:


„Guten Tag, mein lieber Herr Timpe! Alſo hier
wohnen Sie!“


Und Herr Ferdinand Friedrich Urban, ein kleiner, hagerer
Mann mit einem ſchmalen bartloſen Geſicht, auf deſſen
langer, ſpitzer Naſe eine goldene Brille thronte, präſentirte ſich
den erſtaunten Blicken des Drechslermeiſters.


Dieſer Begrüßung folgte ein Wortſchwall von Ent¬
ſchuldigungs- und Erklärungsgründen: „.. Ohne Beläſtigung
für den Nachbar ginge ſo etwas nicht ab. ... Der Schutt
ſolle ſofort weggeſchafft werden. ... Man wolle die Mauer
durchaus nicht abreißen, müſſe aber eine Wurzel des Baumes
da hinten, die bis unter das Fundament führe, durchſchneiden,
um Unheil zu verhüten. ... Sämmtliche Bäume ſollten
fallen ..“ und ſo weiter.


„Wenn Sie erlauben, überſchreite ich die feindliche
Grenze.“


Bevor noch der verlegene Meiſter Timpe ein zuvor¬
kommendes: „Bitte, bitte recht ſehr,“ ganz zu Ende bringen
[39] konnte, hatte Herr Ferdinand Friedrich Urban ſich bereits
mit der größten Rückſicht auf ſeinen Zylinderhut durch die
Oeffnung gezwängt und mit einem Sprunge die Beete über¬
ſchritten. Dann verſtieg er ſich ſo weit, Johannes
Timpe die Hand entgegenzuſtrecken, die dieſer erſt ergriff, nachdem
er die ſeine mit der Schürze in Berührung gebracht hatte,
um ſie reinlicher zu machen. Ueberhaupt merkte man ihm
an, wie außerordentlich geehrt er ſich durch dieſen Beſuch
fühlte. Er lüftete mehrmals hinter einander die Mütze und
ſetzte ſie ſchließlich in der Zerſtreuung äußerſt ſchief wieder
auf, ſo daß der Schirm über das eine Ohr ragte. Endlich
verſuchte er doch einige zuſammenhängende Worte hervor¬
zubringen, die der Ehre, welcher er durch dieſen plötzlichen
Beſuch theilhaftig wurde, Ausdruck verleihen ſollten.


Herrn Ferdinand Friedrich Urban's lange und ſpitze
Naſe ſchnüffelte eine Weile in der Luft herum, als wollte ſie
die Atmoſphäre dieſes kleinen Handwerkerheims in ſich auf¬
nehmen; die waſſerblauen Augen glitten über die Brille
hinweg, nach rechts und links prüfend im Kreiſe herum, dann
ſagte er, während die dürren Finger der rechten Hand eine
abwehrende Bewegung machten:


„Schon gut, ſchon gut, mein lieber Herr Timpe!“


Dabei klopfte er dem Meiſter auf die Schulter, wie es
Jemand zu thun pflegt, der einem Menſchen ſeine Herab¬
laſſung beweiſen will. Dann fuhr er mit ſeiner hellen
Trompetenſtimme, die ſich wie die eines Knaben anhörte, fort
zu ſprechen, die Sätze kurz hervorſtoßend:


„Die ganze Geſchichte dort drüben gehört jetzt mir. Sie
werden wohl ſchon davon gehört haben. . . . Frau Kirchberg
iſt erſt kürzlich meine Frau geworden. . Sie haben einmal
[40] einen kleinen Streit mit ihr gehabt. Weiß ſchon, ſchadet
nichts! So etwas wird vergeſſen. ... Ihr Sohn wird trotz
ſeiner frühen Vorliebe für verbotene Früchte ein tüchtiger
Kaufmann werden. Gewiß, gewiß, ohne Frage!“


Meiſter Timpe's Geſicht leuchtete, während Herr Urban
von Neuem anhub:


„Ich will eine große Fabrik da drüben errichten, eigent¬
lich zwei, aber es wird nur ein Gebäude werden, weil Alles
ineinandergreifen ſoll. ... Ich ſehe ja nicht ein, weshalb
ich nicht in meinem eigenen Hauſe fabriziren ſollte. ... Man
muß heute Alles großartig, mit Dampf betreiben, um
billig liefern zu können. Die Konkurrenz iſt zu groß.
Die Knopf- und Stockfabrikation iſt zwar bereits ſehr
heruntergekommen, aber ich werde die Geſchichte ſchon anfaſſen,
es einmal mit meinen eigenen Ideen verſuchen. Die Elfen¬
beinbranche werde ich hinzunehmen, vielleicht auch die grobe
Holzdrechslerei mit Dampf betreiben. Die Geſchichte wird
ſchon gehen ... Uebrigens wäre mit Ihrem Artikel noch
etwas Großes zu machen, wenn —“


Er brach plötzlich ab, als empfände er, zu weit gegangen
zu ſein, fragte dann aber plötzlich:


„Sagen Sie doch, mein lieber Herr Timpe, wollen Sie
Ihr Grundſtück verkaufen?“


Der Meiſter hatte eine derartige Frage nicht erwartet.
Kurze Zeit ſchwieg er, dann erwiderte er ſehr beſtimmt:


„Niemals, wenigſtens ſo lange ich lebe, nicht. Ein halbes
Jahrhundert befindet ſich das Haus bereits in unſerem
Beſitz und, ſo Gott will, ſoll mein Sohn, und bekommt er
einſt Kinder, ſollen dieſe es noch länger behalten. ...“


[41]

Er nahm bedächtig eine Priſe; dann fügte er in ſeiner
ruhigen, gemeſſenen Sprechweiſe hinzu:


„Ich will ebenfalls bauen und meine Werkſtätten ver¬
größern.“


Ferdinand Friedrich Urban blickte überraſcht auf und maß
den Meiſter mit einem Seitenblick, dann ſagte er mit ge¬
zwungener Gleichgültigkeit: „So, ſo, alſo ebenfalls im Großen
fabriziren, he?“


Während die Hände ſich mit der dicken, goldenen Uhr¬
kette beſchäftigten, vergaß er nicht, mit leicht geſenktem
Haupte über die Brille hinweg das Antlitz des Gefragten
zu ſtudiren.


Und Johannes Timpe, erfreut darüber, in dieſem an¬
geſehenen Kaufmann einen Mann gefunden zu haben, der ſo
leutſelig mit ihm über ſeine geſchäftlichen Pläne ſprach, wußte
nichts Beſſeres zu thun, als mit gleichem Vertrauen ent¬
gegenzukommen und ſein Herz auszuſchütten.


Seines Sohnes, ja nur ſeines einzigen Sohnes willen
würde er das thun. Natürlich ſei vorläufig noch nicht daran
zu denken. Der Junge müſſe erſt etwas Ordentliches lernen,
ein tüchtiger Kaufmann werden, ſich Fachkenntniſſe aneignen;
dann, ja dann könne er wohl der Sache näher treten. Lange
werde das ja nicht dauern, denn ein paar Jahre ſeien bald
herum. Ein Handwerker würde er trotzdem immer
bleiben, aber heute, wo Alles rechne und die Zahlen bei
den Menſchen die größte Rolle ſpielten, ſei es jedenfalls von
Vortheil, auch ein wenig direkt mit dem Handel in Verbindung
zu treten.


Herr Ferdinand Friedrich Urban hatte dieſen Herzens¬
ergüſſen aufmerkſam und ohne Unterbrechung zugehört; nur
[42] daß er hin und wieder ein halblautes „So, So!“ vernehmen
ließ, das man aber mehr als Ausdruck ſeiner Ueberraſchung
denn einer Zuſtimmung betrachten konnte. Endlich ſagte er
überzeugungsvoll:


„Die Geſchichte wird gehen, aber wenn ich Ihnen einen
Rath geben dürfte, ſo wäre es der: Seien Sie vorſichtig,
ehe Sie Ihr Geld verpulvern. Wem nicht viele Mittel zur
[Verfügung] ſtehen, der ſollte hübſch ſeinen alten Weg gehen,
ehe er einen neuen betritt. . . . In meinem Geſchäft ſtecken
bereits Hunderttauſende, und doch habe ich noch Tag und
Nacht zu arbeiten, um mich über Waſſer zu halten. Einer
macht den Anderen todt. Wer es am längſten aushalten kann,
der bleibt Sieger. . . . Mit dem Geldhineinſtecken iſt's bald gethan,
bekomme es Einer nur erſt wieder heraus! Thäte man nicht beſſer,
ſein Geld zu einem ſoliden Zinsfuß anzulegen? Aber leicht
geſagt bei einem Kaufmann! Hat er einmal angefangen mit
dem Hineinſtecken, dann muß er ſeinen Geldſack immer auf's
Neue bluten laſſen. Er muß, verſtehen Sie, er muß! —
ſonſt verſchlingt ihn das große Thier Nimmerſatt, das man
Konkurrenz nennt. . . . Aber die Geſchichte wird eines
Tages gehen, ſage ich mir, darum werde ich noch einmal mit
den Hunderttauſenden anfangen.“


Er machte eine Kunſtpauſe, dann ſagte er wieder:


„Sie ſollten Ihr Grundſtück doch verkaufen, und zwar
an mich. Ich zahle Ihnen den doppelten Preis des Werthes.
Sehen Sie, ich kann dieſe Ecke hier gebrauchen; ſie würde
ſich vortrefflich zu meinem Kontorgebäude eignen. Ich
könnte daſſelbe dann direkt an die Straßenfront bauen. Ihre
Nachbarn zur Rechten und Linken ſind mir bereits entgegen¬
gekommen. Die Geſchichte wird gehen, wie?“


[43]

Johannes Timpe kam aus der Ueberrumpelung nicht
heraus. Einige Augenblicke blickte er ſinnend vor ſich hin und
überlegte ſich die Sache äußerſt reiflich. Das Angebot war
ein verlockendes. Da fiel ſein Blick auf die hinfällige Geſtalt
ſeines Vaters, der ſein Leben auf dieſer Scholle Erde zu
beſchließen gedachte. Sein Entſchluß war ein für allemal gefaßt.


„Nein, ich thue es nicht,“ ſagte er feſt und beſtimmt.


„Ich lege noch tauſend Thaler baar hinzu —“


Timpe machte eine abwehrende Handbewegung.


„Nun dann mein letztes Gebot, weil mir durchaus an
dieſer Ecke etwas liegt: Ich zahle Ihnen den dreifachen Werth,
und zwar in baarem Gelde, Schlagen Sie ein und ſeien Sie
nicht thöricht.“


Es war dieſelbe Situation. Johannes Timpe wurde
ſchwankend, die Ausſicht auf leichten Gewinn lockte, das baare
Geld lachte ihn im Geiſte an. Er hatte ſich niemals träumen
laſſen, daß aus ſeinem Grund und Boden über Nacht Reich¬
thümer zu ſchlagen ſeien. Abermals richtete er den Blick
nach der Hofthür, von woher im ſelben Augenblick die Worte
ſchallten: „Das Haus verkaufen wir nicht. Dabei bleibts!“


Der ſtarrſinnige Greis, deſſen feinem Gehör die Unter¬
haltung nicht entgangen war, drehte ſich kurz um und ließ wieder
den Dreiklang ſeiner Pantoffeln und der Stütze vernehmen.


„Da haben Sie es gehört“, ſagte Timpe lachend, un¬
gemein vergnügt darüber, in dem Großvater einen Befreier
aus ſeiner Pein gefunden zu haben. „Das iſt die letzte
Inſtanz, und dagegen iſt nichts zu machen. Reden wir nicht
mehr darüber, Herr Urban.“


„Merkwürdige Menſchen, die Sie ſind! Sie werden es
eines Tages bereuen.“


[44]

Etwas wie Unmuth drückte ſich auf Urban's Zügen aus.
Die Naſe ſchien ſpitzer geworden zu ſein, die ausdrucksloſen
Augen warfen über die Brille hinweg empörte Blicke auf das
Häuschen, als wollten ſie die halbe Ruine für das erlittene
Fiasko verantwortlich machen.


Herr Ferdinand Friedrich Urban zog ſein rothſeidenes
Taſchentuch hervor und entfernte einige Kalkſpritzer von
ſeinem tadellos ſchwarzen Gehrock. Dann fragte er mit er¬
zwungener Liebenswürdigkeit:


„Darf ich vielleicht einmal die Gelegenheit benutzen, Ihre
Werkſtätten kennen zu lernen?“


Und da er ſich einmal vorgenommen hatte, ohne einen
Profit dieſen Ort nicht zu verlaſſen, ſich aber Johannes Timpe,
gegen welchen ihn ein plötzliches Mißtrauen gepackt hatte,
beim Beſchauen der Arbeitseinrichtung äußerſt geneigt machen
wollte, ſo erfaßte er deſſen ſchwache Seite und kam auf
Franz zu ſprechen.


„Ja, mein lieber Herr Timpe — damit ich auch einmal
ernſtlich von Ihrem Sohne rede: ein Prachtjunge mit einem
Wort! Er hat Manieren, ſo daß er die Zierde des beſten
Hauſes bilden könnte; beſitzt eine wundervolle Handſchrift,
rechnet ungemein ſchnell und hat ſich Kenntniſſe der engliſchen
und franzöſiſchen Sprache angeeignet, was man nicht unter¬
ſchätzen darf. Etwas zum leichten Leben geneigt, aber du
mein Gott — das ſind die allgemeinen Fehler der Jugend,
die ſchließlich auch nothwendig zur Kenntniß des Lebens
ſind. . . . Er wird Karrière machen! Ja, ja . . .“


Johannes Timpe zeigte eine Miene, als wenn er den
zehnfachen Preis für ſein Grundſtück empfangen hätte; denn
was konnte ihn wohl glücklicher ſtimmen, als das Lob ſeines
[45] Einzigen aus dem Munde des Mannes, der die guten Eigen¬
ſchaften Franzens am Beſten erkannt haben mußte. So
ſchritt er denn bereitwillig dem großen Kaufmann voran und
öffnete ihm zuvorkommend die Werkſtattthür — wie ein Mann,
der einen ausgezeichneten Beſuch empfangen hat, dem er die
größte Aufmerkſamkeit erweiſen muß.


Die Geſellen ſteckten die Köpfe zuſammen und ſetzten
auf kurze Zeit die Drehwerkzeuge ab, um das betäubende
Geräuſch zu vermindern; dann ſahen ſie ſich an, als wollten
ſie fragen: Was will denn der hier? Wieſel und Leitmann
erinnerten ſich ſeiner ſofort und nannten ſeinen Namen.


Der Chef des Hauſes Ferdinand Friedrich Urban ent¬
wickelte ein ſichtliches Intereſſe ſelbſt für die kleinſten Dinge
— gleich einem Fachmanne, der jede Gelegenheit wahrnehmen
möchte, um ſeine Kenntniſſe zu bereichern. Sein Geſicht
neigte ſich bald hier- bald dorthin, oder beugte ſich tief auf
die Gegenſtände; und die lange Naſe, die ſich wie ein Steuer
abwechſelnd nach rechts und links wendete, blieb fortwährend
in Bewegung, als bildete ſie ein nöthiges Beſtandtheil zur
allgemeinen Prüfung. Er unterſuchte Alles: die Drehbänke
die Werkzeuge, die angefangene Arbeit; ſtellte ſechs Fragen
auf einmal, ſo daß Johannes Timpe Mühe hatte, die Neu¬
gierde ſeines Nachbarn zu befriedigen.


„Ja, Sie ſind noch Einer, der zu beneiden iſt! Ihnen
iſt die Konkurrenz noch nicht über den Kopf gewachſen. So
ſagte erſt neulich der alte Heinicke — Sie kennen ihn ja,
ſeine Firma iſt eine der älteſten am Platze, — daß Ihre
Horn- und Elfenbeinkrücken berühmt ſeien, und daß Niemand
es beſſer verſtehe, ſolider zu arbeiten und eine ſchönere Zeich¬
nung zu erfinden, als Sie. Wer zu gleicher Zeit die Mo¬
[46] delle macht, der hat eben den größten Vortheil. Und doch
iſt dieſer Artikel noch viel zu theuer. Neue Maſchinenerfin¬
dungen werden auch hier noch eine große Rolle ſpielen
müſſen. . . . Wollen Sie mir nicht einmal Ihre Modelle zeigen?“


Meiſter Timpe zögerte einen Augenblick. Sein Blick
glitt prüfend über den Fabrikanten, der anſcheinend gleich¬
gültig den Arbeiten Thomas Beyer's zuſah. Ein gewiſſes
Mißtrauen ſtieg in ihm auf, aber es verſchwand auch ebenſo
ſchnell. Lächerlich das, woran er eben dachte! Wenn dieſer
Mann, der in einem vortrefflichen Renommee ſtand, um ſein
Vertrauen bat, ſo würde er daſſelbe jedenfalls auch zu achten
verſtehen. Und dann: man ſtiehlt nicht gleich mit den Augen,
man prägt ſich in wenigen Minuten nicht Dinge ein, deren
Herſtellung manchen harten Tages, deren Erfindung noch
längerer Zeit bedurfte.


So ſagte er denn höflich: „Wollen Sie die Güte
haben —?“ und führte den reichen Kaufmann in das
Allerheiligſte ſeines Hauſes: in ſeine Arbeitsſtube, die ihm
zugleich zur Aufbewahrung der Modelle diente. Hier ſtand
ſeine Drehbank, pflegte er allein zu ſinnen und zu ſchaffen.
Selbſt die Geſellen hatten hier keinen Zutritt; ſie mußten
vorher anklopfen, wollten ſie den Meiſter ſprechen. Wenn
mit Thomas Beyer eine Ausnahme gemacht wurde, ſo geſchah
es nur, weil deſſen Treue und Ehrlichkeit ſeit langer Zeit er¬
probt waren.


Urbans Blick glitt voll unverkennbaren Entzückens die
Wände entlang, wo an Bindfaden befeſtigt und mit Nummern
verſehen, unzählige Holzgegenſtände hingen, die in alen
Formen und Geſtalten aus Meiſter Timpes kunſtgeübter
Hand hervorgegangen waren.


[47]

„Die Geſchichte macht ſich“, ſagte er ein über das andere
Mal. Nach dieſer ſtehenden Redensart folgten Worte des
Lobes und der Bewunderung, ſo daß Johannes Timpe von
einem gewiſſen ungekünſtelten Stolz beſeelt wurde, ſchweigend
dabei ſtand und ſich befliſſen zeigte, den beſonderen Wunſch
ſeines Nachbarn nach näherer Beſichtigung irgend eines
Gegenſtandes zu erfüllen.


„Heinicke hat nicht zu viel geſagt: Sie ſind ein tüchtiger
Mann!“


Als Ferdinand Friedrich Urban ſich mit den üblichen
Dankesworten verabſchiedet und den Weg wieder durch die
Oeffnung der Mauer genommen hatte, rief er noch einmal zurück:


„Aber wie geſagt, der Artikel iſt noch viel zu theuer,
viel zu theuer.“ . . .


Nach einer Stunde kam Franz Timpe zum Abendbrod
nach Hauſe.


„Wißt ihr das Neueſte?“ ſagte er zu ſeinen Eltern,
„die Stadtbahn ſoll hier durchgelegt werden. Die ganze
Gegend wird dadurch gewinnen.“


Johannes Timpe führte vor Erſtaunen den Happen
Brot nicht dem Munde zu. Ihm fiel plötzlich etwas ganz
Merkwürdiges ein, ſo daß er fragte:


„Weiß Dein Chef ſchon davon?“


„Ei freilich; er ſelbſt hat es unſerem Geſchäftsführer
erzählt.“


„Potz Blitz, jetzt iſt mir Alles erklärlich! Er wollte
nämlich zu einem dreifachen Preiſe unſer Haus kaufen, um
vielleicht das Zehnfache herauszuſchlagen. Dieſer Schlau¬
berger, dieſer Schlauberger. . . .“


[[48]]

V.
Fräulein Emma.

Eine Woche ſpäter, man ſchrieb den 4. Mai, befand ſich
Franz in der Laube des Gärtchens, wo er allein ſein
Eſſen einnahm. Der Flieder ſtand in voller Blüthe.
Knospe auf Knospe hatte ſich aufgethan und eine ſeltene
Wärme der Luft ließ die Pracht des nahenden Sommers
ahnen. Die Drehbänke ſtanden bereits ſtill, friedliches Schweigen
herrſchte in dem Häuschen. Sieben Uhr war kaum vorüber,
der Himmel hell und durchſichtig, ſo daß dem Blick eine weite
Ausſicht geſtattet wurde.


Die Mauer zeigte noch immer ihre klaffende Oeffnung,
denn es war nun fraglich geworden, ob man ſie nicht ganz
niederlegen ſolle, um eine elegante, architektoniſch verſchönerte,
an ihre Stelle zu ſetzen.


Da Meiſter Timpe auf eine Stunde ſeine alte Stamm¬
kneipe, drüben auf der anderen Seite der Straße (Vater
Jamrath's Weißbier war im ganzen Viertel berühmt) auf¬
geſucht hatte, ſo war in Franz die alte Luſt erwacht, die ſeit
Jahren in ihm nicht mehr rege werden durfte: dem Nach¬
[49] bargrundſtück einen Beſuch abzuſtatten. Er hielt dieſen Gang
heute nicht mehr für ſo gefährlich wie früher; ja glaubte
ſogar berechtigt zu ſein, ſich an Ort und Stelle von der be¬
ginnenden Umwandlung des Parkes überzeugen zu dürfen.
Sollte doch auch er dereinſt ſeine Thätigkeit auf dem feind¬
lichen Gebiete fortſetzen.


Er war eben im Begriff, ſich zu erheben, als eine helle
Mädchenſtimme ganz in der Nähe laut und vernehmlich ſagte:


„Papa Timpe's Haus ſieht immer noch ſo häßlich aus
wie früher.“


Als die Sprecherin, die ſich in dem Durchbruch der
Mauer wie in einem Rahmen präſentirte, den jungen Mann
erblickte, zog ſie verlegen den Kopf zurück; Franz aber, be¬
reits außerordentlich geübt in Galanterien Damen gegenüber,
lüftete ſehr höflich den Hut und gebrauchte einige zuvor¬
kommende Redensarten, die ihre Wirkung nicht verfehlten;
denn alsbald zeigten ſich die Locken wieder und dieſelbe
Stimme ſagte:


„Ach, Sie ſind's, Herr Timpe! Man kennt Sie gar
nicht mehr wieder“ ...


Es war Fräulein Emma Kirchberg, die jüngſte Tochter
der jetzigen Frau Urban, ein ſchlank gewachſenes Mädchen
von nahezu ſiebzehn Jahren, das ſich noch in der körperlichen
Entwickelung befand und etwas zu groß gerathene Hände
beſaß, die ihren größten Kummer bildeten, und welche ſie
daher ſo wenig als möglich zu zeigen verſuchte. Ihr läng¬
liches, geſund ausſehendes Geſicht enthielt regelmäßige Züge,
deren Harmonie nur durch einen etwas breiten Mund, der
beim Lachen zwei Reihen geſunder Zähne zeigte (und das
geſchah oft, denn ſie lachte gern), geſtört wurde.


Kretzer, Meiſter Timpe. 4[50]

Dafür entſchädigten ein paar große, ſchwärmeriſch
blickende Augen, die ſehr keck in die Welt blickten und zeit¬
weiſe die Starrheit von zwei durchſichtigen Waſſertropfen an¬
nahmen, auf welche das Grün der Bäume ſeinen Reflex
wirft. Das röthlich blonde Haar fiel in Ringeln über die
Schulter und verlieh dem Antlitz den Schimmer von gefärbtem
Alabaſter.


Sie war nicht allein; eine Freundin, Thereſe Ramm,
die etwas kränklich ausſehende Tochter eines Dachpappen¬
fabrikanten aus der Köpnickerſtraße war bei ihr. Thereſe ſtand
in gleichem Alter mit Emma und war deren ſtete Geſell¬
ſchafterin, ſoweit ſich das mit der Zeit und den Umſtänden
vertrug. Da ſie hinter der Mauer ſtand, ſo blieb ſie Franzen
noch verborgen, der ſie ſeit jener Zeit kannte, als an Stelle
der Mauer das kleine Zäunchen ſtand und er ein guter Spiel¬
kamerad der Mädchen war.


„Ja, damals!“ dachte er in dieſem Augenblick mit dem
Großvater. Jene Tage tauchten vor ſeinem Geiſte auf: wo
er mit dem jetzt ſo großen Fräulein Emma als Kind Hand
in Hand den Nachbargarten durchtollte, ſie verwegen auf
ſeine Arme nahm und die Drohung ausſtieß, ſie in den
Waſſergraben zu werfen, falls ſie ihr lautes Rufen nach der
Mutter nicht laſſen würde. Allerlei phantaſiereiche Aus¬
geburten ſeines Gehirns ſchloſſen ſich dem an: er würde ſie
des Nachts aus ihrem Bette rauben und in ein dunkles Ge¬
wölbe werfen laſſen, wo ſie bei Waſſer und Brod ſo lange
ſitzen müſſe, bis ſie alt und grau geworden ſei und kein
Menſch mehr ſie zur Frau haben wolle. Die kleine magere
Emma fing dann an bitterlich zu weinen und bat ihn, ſeinen
fürchterlichen Plan nicht auszuführen. Sie wolle auch ganz
[51] artig ſein und ſich von ihm durch den Garten tragen laſſen.
Und nun ſtand dieſes kleine, zierliche Ding von damals als
furchtloſe, elegant gekleidete Dame vor ihm und redete ihn
mit „Herr Timpe“ an. Was die Jahre und die Entfremdung
doch Alles zuwege bringen!


Fräulein Emma hatte ſechs Jahre bei einer Tante auf
dem Lande zugebracht, da ihre Mutter von jeher für ihren
ſchwächlichen Körper gefürchtet hatte und es eines Tages für
nöthig fand, dem Verlangen des Arztes nach einem Ortswechſel
nachzugeben. Im vergangenen Winter war das Mädchen
wieder nach Berlin zurückgekehrt, um von nun an inmitten
der Familie zu verweilen. Die ganze Nachbarſchaft
hatte ihre Größe angeſtaunt und ſich über die ländlichen
Manieren gewundert, die ſie ſich angeeignet hatte. Ihre beiden
älteren Schweſtern aber fanden alle Augenblicke Veranlaſſung,
ſich über ſie zu ärgern und ihren trockenen Humor, mit dem
ſie ſich über Alles luſtig machte, und mehr noch ihre Unge¬
nirtheit im Geſpräche zu bemängeln und unausſtehlich zu
finden. Binnen wenigen Monaten war ſie zum enfant ter¬
rible
geworden, das ſchließlich anfing, eine gewiſſe Ausnahme¬
ſtellung im Hauſe einzunehmen. Thereſe Ramm allein er¬
klärte ſie für entzückend, denn ſie fand mannigfache Be¬
rührungspunkte mit ihrer Freundin, da ſie als einziges Mädchen
unter fünf Brüdern ſehr zu leiden hatte; außerdem fühlte
ſie ſich in ihrem ganzen Denken und Trachten innig mit
Emma verwandt, zumal dieſelbe trotz ihrer Fehler eine große
Herzensgüte beſaß, die in der Schlichtheit, mit der ſie zu
Tage trat, doppelt für ſie einnahm.


Fräulein Kirchberg hatte kaum Franz erblickt und begrüßt,
als ſie erklärlicherweiſe von denſelben alten Erinnerungen heim¬
4*[52] geſucht wurde; und da ſie die Empfindung hatte, als müſſe
ſie ihrem vorlauten Gruße etwas hinzufügen, um nicht in
Verlegenheit zu gerathen, ſo ſagte ſie ſehr luſtig:


„Bitte, zeigen Sie mir doch einmal das unterirdiſche
Burgverließ, in das Sie mich früher zu werfen drohten,
wenn ich Ihnen nicht pariren wollte. Entſinnen Sie ſich noch,
Herr Timpe?“


„Ich habe im Augenblick daran gedacht, mein Fräulein,
und freue mich, daß Sie mich bei unſerer erſten Begegnung
auf etwas aufmerkſam machen, wofür ich nachträglich vielmals
um Verzeihung bitten muß. Aber ich war damals ein ſehr
ungezogener Junge, wie das oftmals in ſolchem Alter vor¬
kommen ſoll.“


„Und jetzt ſind wir Beide ſehr vernünftig geworden,
wenigſtens Sie, wie es ſcheint, denn von mir will man das
durchaus nicht behaupten. Schweſter Bertha nennt mich eine
loſe Range, wenn ich das Gebahren meines Hauslehrers in
Urfeld, des ſpindeldürren Kandidaten Knothe, nachahme; und
Schweſter Alwine beſitzt die große Freundlichkeit, ſehr anzüg¬
liche Redensarten von einer Landpomeranze fallen zu laſſen,
falls ich einmal die Verwegenheit beſitze, bei Tiſch in Gegen¬
wart von Gäſten gewiſſe Schicklichkeiten nicht zu beobachten,
die mir ſehr albern vorkommen ... Aber es iſt ſo, wie Tante
Julie zu ſagen pflegt: Wir ſind allzumal Sünder.“


Die Stimmung wurde durch dieſe im größten Uebermuthe
geſprochenen Worte eine ſo anheimelnde, daß die beiden
jungen Leute ſich plötzlich ſo vertraut wie früher vorkamen
[und] ſozuſagen zwiſchen Thür und Angel eine launige Plau¬
derei begannen, in der eine Erinnerung die andere jagte.
Franz mußte von ſeinen Ungehörigen erzählen: Ob der
[53] Großvater noch lebe und ſeine alte Bärbeißigkeit beibehalten
habe; ob Herr Beyer noch ſeinen alten Platz da links am
Fenſter inne habe und das alte traurige Geſicht beim Drech¬
ſeln mache; ob der kleine dicke Geſelle aus Sachſen immer
noch viel Wurſt und Käſe eſſe; ob die Tauben noch lebten,
und ob man noch immer auf den Lindenbaum ſteige, um
neugierige Blicke über die Mauer zu werfen? Und ſo weiter.


Alles das wurde ſehr ſchnell hintereinander gefragt, und
als die Neugierde erſchöpft war, ſagte Emma plötzlich:


„Steigen Sie doch hier durch und kommen Sie in unſe¬
ren Garten. Es iſt mir durchaus nicht angenehm, mich fort¬
während um Ihretwegen bücken zu müſſen. Es iſt Niemand
weiter hier, als Fräulein Thereſe Ramm, ein liebes gutes
Schäfchen, das keinem Menſchen etwas zu Leide thut . . . .
Ich ſtelle ſie Ihnen hiermit feierlichſt vor.“


Jetzt erſt erblickte Franz die andere junge Dame und zog
zum zweiten Male ſehr tief ſeinen Hut. Eine Weile zögerte
er, der Aufforderung Folge zu leiſten; dann aber ſiegte ſeine
Abenteuerluſt und die alte Neugierde. Nach einigen land¬
läufigen Redensarten, aus welchen die Worte „Dank“, „große
Ehre“, „liebenswürdige Einladung“ vernehmbar waren, trat
er näher und ſchlüpfte durch die Oeffnung.


Oben am geöffneten Dachfenſter zeigte ſich das weiße Haupt
des Großvaters. Vor wenigen Minuten war er erſchienen und hatte
einen Theil des Geſpräches mit angehört. Ingrimmig darüber,
Niemanden in ſeiner Nähe zu haben, den er ſeinen Hader
mit der Welt fühlen laſſen konnte, ſtieß er kräftig mit dem
Stock auf die Diele und murmelte halblaut vor ſich hin:
„Der und die Sippe da drüben, die paſſen zuſammen. Die
werden uns einen Brei einrühren, von dem wir Zeit unſers
[54] Lebens eſſen können, ohne ſatt zu werden. Dieſer Burſche,
dieſer Ueberläufer!“ . . Die Fauſt ballte ſich, und das Fenſter
wurde unſanft zugeſchlagen.


Jenſeits der Mauer ſchritt Franz neben den beiden
Mädchen langſam dahin. Zuerſt war er ſehr zerſtreut und
gab verkehrte Antworten auf die Fragen Emmas, denn
ſein Intereſſe wurde durch die Umgehung in Anſpruch
genommen. An einzelnen Stellen hatte man bereits Erde
aufgeworfen, um den Grund und Boden zu prüfen. Me߬
ſchnüre waren ausgeſpannt, eine Arbeitsbude zeigte ſich. In
der Nähe der Mauer zeugte entwurzeltes Strauchwerk von
dem Ernſte, mit dem man die Neugeſtaltung zu beginnen ge¬
dachte. Alles deutete darauf hin, daß demnächſt hundert
rührige Hände ihre Arbeit beginnen würden, um das, was
hier ſtand und die Allmacht der Natur verkündete, dem Boden
gleich zu machen.


Als Franz ſtehen blieb und ſich eine darauf bezügliche
Bemerkung erlaubte, zeigte Emma ein ſehr trauriges Geſicht,
in dem ſich der Ernſt allerdings etwas komiſch ausnahm.
Da ſie aber ihren Groll nicht zu unterdrücken vermochte und
ſchon längſt die Gelegenheit herbeigeſehnt hatte, ihrem Un¬
muth über die neueſten Wandlungen der Dinge einmal gründ¬
lich Luft zu machen, ſo ließ ſie nun den Worten des Aergers
freien Lauf.


Vorerſt geſtand ſie ein, nicht zu begreifen, wie ihre Mama,
die ſie ſo ſehr liebe und welche ſie immer für außerordentlich
vernünftig gehalten habe, es über ſich habe gewinnen können,
auf ihre alten Tage noch einmal zu heirathen; und obendrein
einen ſo häßlichen, wenig ſympathiſchen Menſchen, wie Herr
Urban es ſei! Dann ſah ſie ſich zu der Erklärung genöthigt,
[55] daß ſie niemals ihren Stiefvater als ſolchen anerkennen werde
und ſich vorgenommen habe, allen Ernſtes barmherzige
Schweſter zu werden, falls Herr Urban es jemals wagen
ſollte, irgend welche väterlichen Rechte über ſie ausüben zu
wollen. Und zum Schluß brach ſich der ganze Jammer ihrer
Mädchenſeele über die Verwüſtung im Parke Bahn.


„Ich werde es Mama'n niemals verzeihen können, daß
ſie den Namen meines Vaters einem Vandalen geopfert hat,
der keinen Reſpekt vor dem Allerheiligſten und keinen Sinn
für Natur hat. Alle Menſchen haben uns um dieſen
ſchönen Garten inmitten der Stadt beneidet, Mama hat oft
betheuert, ſie werde ihn niemals veräußern, und nun ſoll hier
alles wie Kraut und Rüben ausgeriſſen werden. Es iſt ein¬
fach ſchändlich!“


Sie ballte die Hände, die Lippen zuckten und ihre
Augen wurden feucht, ſo daß Thereſe ganz ergriffen wurde,
ihren Arm um Emmas Taille legte und Neigung zeigte, ſich
aus alter Anhänglichkeit demſelben Schmerze hinzugeben. Um
ihr Mitgefühl zu beweiſen, drückte ſie das Taſchentuch mehr¬
mals gegen das Antlitz.


Franzen's Sinn für Romantik war niemals bedeutend ausge¬
prägt geweſen. Seitdem er ſich dem Kaufmannsſtande
widmete, ſuchte er eine gewiſſe Force darin, über Alles
äußerſt nüchtern und praktiſch zu denken und bei jeder Ge¬
legenheit ſeinen Cynismus hervorzukehren. Er fand daher
das Gebahren der beiden Mädchen äußerſt komiſch, lachte und
ſagte ſehr altklug:


„Das verſtehen Sie Beide nicht, meine Damen.“


Er machte eine Pauſe der Ueberlegenheit, beſchäftigte ſich
einige Augenblicke mit den Spitzen ſeiner erſten Mannes¬
[56] würde über der Oberlippe, ordnete dann mit einer eben ſo
ſchnellen als koketten Handbewegung den Zipfel des weißen
Taſchentuches, der aus der äußeren Bruſttaſche ragte, zupfte
den Rock mehrmals glatt, drückte beim Gehen zu gleicher Zeit
die Bruſt und die Knie heraus und wendete ſich dann direkt
an Fräulein Kirchberg, und zwar mit einem Tone, der nur
zu deutlich ſein Beſtreben kennzeichnete, bereits für einen
erfahrenen Mann zu gelten, der die Welt nach allen
Richtungen hin kennt. So ſagte er denn mit Würde:


„Seien Sie verſichert, Fräulein Kirchberg, daß ich Ihren
gerechten Schmerz zu würdigen weiß. Jedoch dürfen „wir“
nicht vergeſſen, daß der Kaufmann die Welt regiert und daß
er nur mit dem Verſtande rechnet. Die Sentimentalität
müſſen „wir,“ die „wir“ uns daran gewöhnt haben, den
Nutzen einer Sache nur vom praktiſchen Standpunkte aus
zu beurtheilen, allen denen überlaſſen, die niemals einen Be¬
griff davon gehabt haben, daß die größten Dinge dieſer Erde
ihr Entſtehen nur dem Handel zu verdanken haben. Die Zahl
macht heute Alles; nur wer rechnen kann, hat Ausſicht zu
etwas zu kommen und ſein Leben zu genießen. „Wir“ Kauf¬
leute ſind die eigentlichen Macher — Pardon, wenn ich mich
zu ſehr geſchäftsmäßig ausgedrückt habe — ich wollte ſagen,
die einzigen Erlöſer der bedrängten Menſchheit. „Wir“
bauen mit unſerem Gelde Leuchtthürme, Paläſte, ganze Städte,
„wir“ geben der Armuth Brod, „wir“ verhelfen den Bürgern
zum Wohlſtande, an „uns“ wenden ſich Könige und Kaiſer,
wenn ſie in Noth ſind und Geld gebrauchen. Ja, meine
Damen, „wir“ Kaufleute regieren die Welt . . .“


Er machte abermals eine Pauſe.


[57]

Die beiden Mädchen waren bei den raſch hinter¬
einander herausgeſchnarrten, mit Pathos geſprochenen Worten
ſtarr geworden und blickten mit dem Ausdruck unverhohlener
Bewunderung auf ihren Begleiter. Emma konnte ſich nicht
enthalten zu ſagen:


„Sie ſind ja ein furchtbar großer Redner geworden,
ſeitdem wir uns nicht geſehen haben, Herr Timpe“.


Und Thereſe drückte ihrer Begleiterin den Arm und
flüſtertte leiſe: „Ein netter Menſch, nicht wahr?“


Franz Timpe aber, geſchmeichelt durch die Anerkennung
Emmas, und im Gefühle der großen Rolle, die er hier ſpielte,
ordnete mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand
abermals den Modezipfel der Bruſttaſche, ſpielte eine Weile
mit den Glaceehandſchuhen, die er aus Rückſicht gegen die
Damen hervorgelangt hatte, und fuhr fort:


„Herr Urban, Ihr Stiefvater, mag Ihnen perſönlich
nicht gefallen, mein verehrtes Fräulein, aber er iſt mein
Chef, ein bedeutender Induſtrieller, und aus dieſem Grunde
ſehe ich mich genöthigt, eine Lanze für ihn zu
brechen . . . Er iſt derjenige Mann, der die
ganz überflüſſige Exiſtenz dieſer Bäume und dieſes Gartens
hier zuerſt erkannt hat. Dieſes Lob gebührt ihm . . . Be¬
denken Sie nur, was für ein Verdienſt er ſich dadurch er¬
wirbt: er wird an dieſer Stelle prächtige Fabriken erbauen,
hunderte von Menſchen in ihnen beſchäftigen, — Leute, die
durch ihn vielleicht vor dem Hungertode gerettet werden.
Herr Urban wird dadurch zu gleicher Zeit zu einem
großen Menſchenfreude, denn er giebt den Leuten Arbeit
und Brod. Aber nicht nur das: die Induſtrie wird ihm
äußerſt dankbar ſein müſſen, ja ich behaupte kühn: die ganze
[58] Menſchheit, weil er vermöge ſeines Geldes und ſeiner
Intelligenz ſeine Fabrikate von nun an zu einem ſo billigen
Preiſe herzuſtellen vermag, daß ſie Jedermann zugänglich
ſein werden. Bedauern wir alſo die Bäume nicht, freuen
wir uns vielmehr darüber, daß ſie fallen, denn ſie ſind ſtumme,
unthätige Weſen, die der Menſchheit mit nichts Anderem
nützen können, als mit ihrem Holze; und auch aus dieſem
Grunde müſſen ſie ihr Daſein aufgeben. ... Das iſt ſo
meine Theorie, meine Damen, die ich mir erlaubte, Ihnen
in wenigen aber großen Zügen zu entwickeln.“


Er ſteckte den Daumen der rechten Hand zwiſchen zwei
Knöpfe ſeines Rockes und ſchlug mit den übrigen Fingern den
Takt zu der Melodie, die er leiſe zu pfeifen begann. Es
war unleugbar: er kam ſich im Augenblick wie ein Held vor,
der eine große That verrichtet hat und das Bewußtſein
empfindet, die Situation völlig zu beherrſchen.


Emma, die ihn während ſeiner letzten Rede aufmerkſam
betrachtet hatte, ärgerte ſich im Geheimen, daß er ihren Stief¬
vater ſo außerordentlich lobte; andererſeits berührte es ſie
ſehr ſympathiſch, daß er die Intereſſen des Mannes, dem er
zum Danke und zum Gehorſam verpflichtet war, ſo energiſch
wahrnahm und hinter deſſen Rücken mit Anerkennung und
Achtung von ihm ſprach. Um ihm aber zu beweiſen, daß ſie mit
ſeinen praktiſchen Grundſätzen nicht übereinſtimme, begann ſie:


„Wenn Sie die Bäume für ſtumme, unthätige Weſen
halten, ſo kann ich nur mein Bedauern darüber ausdrücken,
daß Sie niemals ihre Sprache vernommen und verſtanden
haben. Ich hätte gewünſcht, daß Sie gleich mir bei Tante
Julie geweſen wären, um mutterſeelenallein durch den Wald
zu ſtreifen und das Rauſchen der Bäume zu vernehmen.
[59] Wie oft habe ich an ſchönen Sommertagen im Graſe
gelegen und den ziehenden Wolken am Himmel nachgeblickt,
Es war weiter nichts zu vernehmen, als das Raſcheln und
Säuſeln der Blätter in den Baumkronen. Da dachte ich an
Mama, Alwine und Bertha, habe laut ihre Namen in die
Luft gerufen und dann vernommen, wie die Blätter über
mir flüſternd die Antwort gaben. Das war oft eine wunder¬
ſchöne Muſik. Erſt fing es leiſe an zu tuſcheln,
ſo daß es ſich anhörte, als ſpiele im Finſtern eine Maus
mit einem Stückchen Papier; dann rauſchte es lauter,
kam klagend wie eine Windsbraut daher gezogen, pfiff und
flötete in allen Melodieen und brauſte dann mächtig
wie ein Poſaunenchor durch die Wipfel, ſo daß ich glaubte,
mich in einer großen, großen Kirche zu befinden, in der
eine Rieſenorgel ertönt . . . . Das mag vielleicht für
Manchen eine überflüſſige Sprache ſein, ich aber habe mich
an ihr erbaut und ſie oft im Stillen geſegnet. . . . . Ich
hatte mich ſo ſehr darauf gefreut, ſie in dieſem Sommer
auch hier zu vernehmen und muß nun erleben, daß aus
reiner Spekulation alle Poeſie verſchwinden ſoll. Das iſt
wirklich ganz abſcheulich! Weil die Bäume nicht rechnen
können, ſollen ſie fallen! Es thut mir weh', Herr Timpe,
daß auch Sie ſo denken gelernt haben, trotzdem Sie früher,
wenn wir uns hier herumtummelten, ſo oft ausriefen: Ach
die ſchönen Bäume, ſie werfen ſo prächtigen Schatten! Was
würden Sie nun ſagen, wenn man Ihnen Ihren ſchönen
Lindenbaum da drüben nähme?“


Franz war nahe daran geweſen, von der Schwärmerei
Emmas gerührt zu werden, ſchämte ſich aber jetzt ſeiner In¬
konſequenz und erwiderte daher kurz und trocken:


[60]

„Er könnte fallen, denn ich benutze ihn nicht mehr.“


„Alſo nur was Ihnen gefällt und nützlich erſcheint, hat
bleibenden Werth — nicht wahr, ſo meinen Sie? Das wäre
dann ſehr egoiſtiſch von Ihnen.“


„Gewiß, das muß auch jeder Menſch ſein, mein Kind,
falls er zu etwas kommen will im Leben. Immer hübſch
praktiſch denken, und nicht ſchwärmen und mit den Beinen
am Monde kleben. Dann wird die Geſchichte ſchon gehen.“


Der das ſehr laut ſagte und mit dieſen Worten wie mit
helltönenden Gewitterſchlägen in die Unterhaltung fuhr, war
nicht Timpe junior, ſondern Herr Ferdinand Friedrich Urban,
der am Arme ſeiner Frau Gemahlin gemüthlich aus einem
Seitenweg daher gebummelt kam und die letzte Rede ſeiner
jüngſten Stieftochter vernommen hatte.


Die jungen Leute waren außerordentlich erſchrocken, am
meiſten Franz, der beim Anblick der früheren Frau Kirchberg
das Gefühl eines Menſchen verſpürte, der plötzlich an einem
Orte entdeckt wird, wo er eigentlich nicht hingehört. Jedoch
zog er mit einer Verbeugung ſehr tief den Hut und behielt
ihn in der Hand, denn er wagte nicht, ihn ſogleich wieder
aufzuſetzen. Dabei zeigte er ein Geſicht, das wenig mit ſeiner
ſonſtigen Keckheit harmonirte.


Bevor er noch irgend etwas zu ſeiner Entſchuldigung
hervorbringen konnte, hatte ihn ſein Chef bereits aus der
Situation gezogen.


„Na Timpe, Sie auch hier? Alte Freundſchaft wieder erneuert,
he? Die Geſchichte macht ſich! Laſſen Sie ſich nur nicht
ſtören. Tüchtige Leute weiß ich immer zu ſchätzen. Bin
neulich auch über die feindliche Grenze geſchritten, alſo Wurſt
wider Wurſt! . . . . . Uebrigens, liebe Agathe, — kennſt
[61] Du ihn noch, den Obſtdieb? . . . Na, ſchadet nichts, alles
vergeſſen! Er gehört zu unſerem Geſchäft.“


Frau Kirchberg, eine ſtattliche Dame mit ſehr ausdrucks¬
vollen Zügen, die ſehr langſam zu ſprechen pflegte und jedes
Wort, das ſie ſprach, mit der Lorgnette in der Hand beglei¬
tete, lächelte gnädig und erkundigte ſich in ihrer monotonen
Weiſe nach den Eltern des jungen Mannes. Und da ſie inne
ward, daß Franz, der nach dieſem unerwarteten Empfang ſofort
den Kopf wieder in die Höhe ſtreckte, ſich überſtürzte, äußerſt
aufmerkſam gegen ſie zu ſein (er hatte ſofort ihr nieder¬
gefallenes Spitzentuch aufgehoben und es
beugung zurückerſtattet), ſo verſchwand allmählich ihre alte
Antipathie gegen ihn, verſtieg ſie ſich nach fünf Minuten be¬
reits, während welchen ſie neben einander dahin geſchritten
waren, zu der ihrem Manne zugeraunten Aeußerung, daß
man es anſcheinend mit einem ſehr wohl erzogenen jungen
Manne zu thun habe, der durchaus nicht den Eindruck mache,
als ſtamme er aus einer einfachen Handwerkerfamilie.


Und Urban, der wie immer, ſeitdem er das junge Ehe¬
glück genoß, äußerſt gut gelaunt war, und der ſchon längſt
ſeine beſonderen Pläne mit dem einzigen Sohne Meiſter Timpe's
hatte, fühlte ſich durch dieſe unerwartete Gnade ſeiner Frau
ſo erfreut, daß er ſich ſofort an die Seite ſeines ihn um
Haupteslänge überragenden Lehrlings begab, und, fortwährend
mit ſchiefem Kopfe zu Franz aufblickend, ein Geſpräch be¬
gann, das ſich um die neue Fabrik drehte. Er vergaß dabei
nicht, hin und wieder auf die geſchäftliche Thätigkeit ſeines
Nachbarn zu kommen, über die er jedenfalls von dem Sohne
die beſte Auskunft empfangen mußte.


Dann, wenn Franz, geehrt durch dieſe Würdigung ſeiner
[62] Perſon ſeitens ſeines Chefs, bereitwillig Antwort gegeben
hatte, beeilte ſich Urban mit einem ſehr plötzlich hinge¬
worfenen „Wie?“ .... „So, ſo“, ... „Ach!“ ſeine Vor¬
liebe für Anwendung von Interjektionen zu beweiſen. Nach
einer erhaltenen Auskunft fuhr dann verſtohlen ein blitz¬
artiges Lächeln über ſeine Züge, die rechte Hand rückte nervös
an der Brille und die Naſe beſchrieb die bekannten Kreiſe
und Linien in der Luft.


Einige Schritte hinter ihnen gingen Arm in Arm neben
Frau Urban deren Tochter und Thereſe. Auf Emma hatte
das plötzliche Dazwiſchentreten ihres Stiefvaters einen wenig
günſtigen Eindruck gemacht, wie immer, wenn ſie ihn erblickte
und er ſeine Ungenirtheit hervorkehrte.


„Wie Dein Mann dazu kommt, mich nach unſerer ſo
kurzen Bekanntſchaft als „mein Kind“ anzureden, iſt mir un¬
verſtändlich, Mama“, ſagte ſie malitiös, und doch mit einem
Anflug von Humor, der ihrer Freundin Veranlaſſung gab,
leiſe zu kichern.


Frau Urban jedoch fand dieſe Aeußerung nicht paſſend.
Sie liebte ihre jüngſte Tochter mehr wie die anderen Kinder,
mußte aber nur zu oft erleben, daß dieſelbe ſich durchaus
nicht in Dinge fügen wollte, deren Anerkennung zum allge¬
meinen Hausfrieden nöthig war.


Sie ſagte daher wohlmeinend:


„Ich habe Dich bereits mehrmals gebeten, wenn Du von
Herrn Urban zu mir ſprichſt, die ganz unſchicklichen Worte
„Dein Mann“ nicht mehr anzuwenden. Du wirſt Dir auf
die Dauer die Bezeichnung „Papa“ trotz Deiner Abneigung
aneignen müſſen.“

[63]

„Niemals, Mama! Ich werde mich nie daran ge¬
wöhnen können. Ich kann ihn nun einmal nicht leiden. Wie
gut war dagegen unſer wirklicher Papa — Du weißt, ich war
ſechs Jahr alt, als er ſtarb, und kann mich ſeiner noch ſehr
gut erinnern.“


Frau Urban zog ihre Tochter an ſich, legte den Arm
um ihre Schulter und ſagte ſanft:


„Es giebt gewiſſe Dinge im Leben, die man durchaus ſo
nehmen muß, wie ſie ſind, will man ſich nicht ſelbſt das Da¬
ſein erſchweren. ... Mir zu Liebe wirſt Du es thun, Kind¬
chen, nicht wahr?“


Einen Augenblick drohten bei Emma die Thränen hervor¬
zubrechen; ſie unterdrückte dieſelben aber, weil ihr Stiefvater
ſie nicht weinen ſehen ſollte. Dann ſagte ſie, indem ſie ihre
Mutter plötzlich mit beiden Armen umſchlang:


„Mama, ich habe Dich von Herzen lieb! Ich will es
thun, weil Du es wünſcheſt. Aber nie und nimmer werde
ich dieſe Liebe auf Herrn Urban ausdehnen können. Ich ver¬
ſtehe garnicht, wie Alwine und Bertha ſo gleichgiltig darüber
denken können.“


„Sie ſind eben vernünftige Mädchen,“ warf Frau
Urban ein.


„Alſo dann bin ich unvernünftig! Es ſcheint ſich hier
viel geändert zu haben, ſeitdem ich nicht mehr unter Euch
weilte und nicht nach dem Rechten ſehen konnte.“


Ihre Mutter brach in ein lautes Lachen aus, das ihrer
ſonſtigen Ruhe ganz widerſprach. „Siehſt Du, ſo gefällſt Du
mir wieder“, ſagte ſie dann; „daran erkenne ich meine luſtige
Plaudertaſche. Du beſitzeſt Humor und der iſt nicht jedem
[64] Menſchen beſchieden; man kann ſich mit ihm vortrefflich zu
tröſten verſuchen.“


Emmas Stimmung hätte wohl nicht ſo ſchnell gewechſelt,
wenn ſie nicht die Vertraulichkeit, mit welcher ihr Stiefvater
mit Franz verkehrte, bemerkt haben würde. Das erweckte
eine gewiſſe Befriedigung in ihr, denn ſie konnte ſich nicht
verhehlen, daß ihr einſtiger Jugendfreund trotz ſeiner proſaiſchen
Anſchauungen und ſeines ſtutzerhaften Auftretens, deſſen
Komik ihr nicht entging, ein hübſcher, junger Mann von
Manieren geworden ſei, der, was das Aeußerliche betraf,
einen ſehr günſtigen Eindruck auf ſie gemacht hatte. Da ſie
auf ihrem Landaufenthalt nur mit einigen jungen Leuten zu¬
ſammengekommen war, Söhnen von Lehrern, Pächtern und
Paſtoren, die zum Theil ſehr blöde und beſchränkt thaten und
jede Keckheit vermiſſen ließen, ſo hatte Franzen's furchtloſes,
elegantes Auftreten ſofort ihre Anerkennung errungen. Da¬
durch wurde ihre günſtige Meinung von ihm nur noch be¬
ſtärkt; und nicht minder durch den freundlichen Ton, mit
welchem er hier empfangen worden war.


Im Laufe des Geſpräches mußte ſie ihrer Mutter
beichten, wie und wo ſie die Bekanntſchaft des jungen Mannes
erneuert hatte. Bei dieſer Gelegenheit hielt ſie ſich für verpflichtet,
auf den kleinen Streit zwiſchen ihr und Franz zurückzukommen
und die Lobeshymne deſſelben auf ihren Stiefvater zu er¬
wähnen.


„Siehſt Du“, ſagte Frau Urban, „da haſt Du gleich
Einen, der anderer Meinung über Deinen neuen Papa iſt.
Daß die Bäume fallen müſſen, thut mir ebenſo leid wie
Dir, aber wir haben Erſatz dafür: Urban beſitzt in Steglitz
eine ſehr ſchöne Villa, zu der ein prächtiger Garten ge¬
[65] hört. Da kannſt Du Deine Träumereien fortſetzen, ſo lange
bis — —“


„Ihr mich losgeworden ſein werdet,“ fiel Emma er¬
gänzend ein, da ihre Mutter zögerte, den Satz zu beenden.
„Oh gewiß Mama, ich will bald dafür ſorgen. Ich werde
Schullehrerin werden, mir eine blaue Brille anſchaffen und
darnach trachten, ſo häßlich zu erſcheinen, daß alle Menſchen
auf den erſten Blick ſagen werden: Das iſt Herrn Urban's
Tochter, das ſieht man ſofort.“


„Aber Kind, willſt Du denn ewig ungezogen bleiben!“


Die würdige Dame gab ihrer Tochter einen leichten
Schlag. Und Thereſe, die ſonſt eine große Neigung zur
Schweigſamkeit beſaß, ſah ſich jetzt ebenfalls genöthigt, mit
beredten Worten ihre Freundin auf das Unſchickliche ihrer
Bemerkung aufmerkſam zu machen.


Sie waren in einiger Entfernung von Herrn Urban und
Franz zurückgeblieben. Als ſie dieſelben auf der Seite des
Gartens, die an der Straßenfront lag, erreichten, fanden ſie
den Erſteren bereits wieder in voller Thätigkeit, ſeinem Lehr¬
ling die großartigen Pläne der neuen Fabrikanlage
in die Luft zu zeichnen. Der lange Zeige¬
finger der rechten Hand beſchrieb Linie auf Linie, Kreis
auf Kreis, bis er endlich kerzengerade gen Himmel ragte, be¬
gleitet von den vielbedeutenden Worten:


„Das wird der Schornſtein, verſtehen Sie? Er wird
an Höhe alles überragen, was jemals in dieſer Gegend ge¬
ſehen worden iſt.“


Dieſes „Verſtehen Sie?“, zeitweilig unterbrochen von
dem Stichwort „die Geſchichte macht ſich“, ließ ſich überhaupt
nach jedem Satze vernehmen, ſo daß es ſich wie das
Kretzer, Meiſter Timpe. 5[66] „Werda“ eines Poſtens anhörte, auf das unter allen Um¬
ſtänden eine Antwort erfolgen muß. Und Franz ſtand ſteif
und gerade wie ein Gardiſt dabei, der ſich auf dem Parade¬
felde befindet und eine feierliche Miene zeigt, gab ſich alle
Mühe bei dem jedesmaligen Angriff von Herrn Urban's
Zeigefinger auf ſeine Bruſt nicht zu wanken, und beantwortete
jede Kardinalfrage mit den Vertrauen erweckenden Worten:


„Großartig“ . . . . „Ausgezeichnet . . . . „Das wird
'was werden!“


Herr Ferdinand Friedrich Urban war glücklich; und er
konnte nicht leugnen, daß ſeine Sympathie für den Sohn
ſeines Nachbarn bedeutend geſtiegen und daß er auf dem
beſten Wege ſei, immer mehr gute, wohlthuende Seiten an
ihm zu entdecken. Dieſer junge Mann beſaß das richtige
Verſtändniß für ſeine Pläne, denn er war groß geworden in¬
mitten von Artikeln, die er, Urban, dereinſt ebenfalls zu pro¬
duziren gedachte. Das leuchtete ihm ein.


„Wir machen Alle todt,“ ſagte er zum Schluß, während
die flache Hand wie die Schneide eines Schwertes durch die
Luft fuhr, als ſollte dieſe Bewegung die Symbolik ſeiner
Worte bilden. Mit dieſem „Alle“ meinte er die Konkurrenten.


„Keine Frage, Herr Urban, wir machen Alle todt“, be¬
ſtätigte der junge Mann mit einem Ernſte, der eine er¬
ſchütternde Tragikomik enthielt.


Unbewußt glitt ſein Blick nach dem kleinen Häuschen
des Vaters hinüber, aus deſſen Schornſtein blauer Rauch
kerzengerade wie eine Segnung des Friedens zum Himmel
ſtieg; und ebenſo gleichgültig ahnungslos glitt ſein Blick
wieder zurück zu ſeinem Chef, der den herankommenden
Damen entgegentrat.


[67]

Ferdinand Friedrich Urban war durch ſeine anhaltenden
Geſtikulationen ſo erſchöpft geworden, daß er zu ſeinem
Leidweſen die Lektion mit den Damen nicht von Neuem be¬
ginnen konnte. Und da ſeine Frau durchaus keine
Neigung verrieth, wie er und ſeine Stieftochter es be¬
reits gethan hatten, den Kopf durch das Loch in der
Mauer zu ſtecken, ſo machte man wieder Kehrt und ſchritt auf
dem breiten Mittelweg zurück, den man gekommen war, die
Damen diesmal voran und Franz mit ſeinem keuchenden Ge¬
bieter hinterdrein, da er es noch immer nicht an der Zeit
hielt, ſich zu verabſchieden.


Herrn Urbans rothſeidenes Taſchentuch fuhr fortwährend
über das Geſicht und zur Abwechſelung einigemal über die
Gläſer der goldenen Brille. Da er die Angewohnheit hatte,
die Arme niemals ſtill zu halten und beim Gehen fortwäh¬
rend zu tänzeln, ſo bemühte Franz ſich ſoviel als möglich,
einen gewiſſen Abſtand von ihm einzuhalten, um eine Karam¬
bolage der Füße zu verhindern.


Sie waren vor der hinteren Veranda des Wohnhauſes
angelangt. Allmälig war der Himmel dunkler geworden, ſo
daß die Abenddämmerung den Baumſtämmen die ſcharfen
Konturen nahm. Jetzt endlich wollte Franz ſich verabſchieden,
da ſagte plötzlich Urban:


„Ach was, bleiben Sie! Haben Sie ſchon Wein ge¬
trunken, zum Beiſpiel echten Rüdesheimer Berg? —
Kommen Sie nur, wir haben noch zu reden, Ihr Vater muß
nachgeben!“


Und zum grenzenloſen Erſtaunen ſeiner Frau, und zum
heimlichen Vergnügen Emma's und Thereſen's, faßte der kleine
5 *[68] Chef ſeinen großen Lehrling unter den Arm und ſtieg mit
ihm die Stufen empor.


Franz wußte nicht wie ihm geſchah; aber ſein erſter
Gedanke war: Das müßten die Leute im Komtor ſehen!
Ja, ja, wenn man Eindruck zu machen verſteht . . . . .


[[69]]

VI.
Franzens-Ruh.

Franzens-Ruh war lange nicht ſo zu Ehren gekommen,
wie in den nächſten Wochen und Monaten. Tag für
Tag beſtieg Johannes Timpe die Warte, um ſich von
dem Fortſchritt jenſeits der Mauer zu überzeugen.


An klaren Sommerabenden, wenn das abſterbende Leben
Berlins ſich bereits bemerkbar machte, der letzte Dunſt der
heißen Straßen verſchwunden war und eine allgemeine Er¬
mattung in der Luft lag, durch welche das zweite Erwachen
der Rieſenſtadt zum Vergnügen nach den Laſten des Tages,
nur in gedämpften Lauten herübergeführt wurde, ſaß es ſich
oben in den Zweigen am Schönſten.


Ueber die Dächer der niedrigen Häuſer hinweg konnte
der Meiſter ſeinen Blick in die Ferne ſchweifen laſſen. Wendete
er den Rücken, ſo ſchaute er in das Treiben der Holzmarkt-
Straße hinein, die ſich längs der Spree hinzog. Rechts am
diesſeitigen Ufer tauchte das langgeſtreckte, ſchwarze Gebäude
einer Eiſengießerei auf; links davon in einiger Entfernung
die Rieſen-Gaſometer einer Gasanſtalt, die ſich wie Feſtungs¬
[70] bollwerke ausnahmen; und hinter ausgedehnten Holzplätzen
eine Zementfabrik, deren ewig aufwirbelnde weiß-gelbe Staub¬
wolken die Luft durchzogen und einen ſcharfen Kontraſt zu den
ſich aufthürmenden Kohlenbergen der Gasanſtalt bildeten.


Und geradeüber, jenſeits des Waſſers zeigte ſich ein
großes Mörtelwerk, im Hintergrunde begrenzt von den Rück¬
ſeiten hoher Miethskaſernen, die aus der Entfernung be¬
trachtet, den Eindruck rieſiger Bauklötze machten, an denen
ſchwarzgemalte Fenſter prangen.


Das ganze Bett der Spree aufwärts lag zwiſchen einem
bunten Panorama aneinander geketteter Bilder: Lange Reihen
Wohnhäuſer, deren Gärten bis zur Spree hinunterliefen und
kleine Oaſen bildeten, wechſelten mit Zimmer- und Holz¬
plätzen, Abladeſtellen der Flußkähne und Färbereien ab, deren
Waſchkaſten wie ſchwimmende Holzhäuſer im Waſſer lagen.
Hin und wieder zeigte ſich eine Schiffswerft, die langgeſtreckte
Halle einer Badeanſtalt und eine auf Pfählen gebaute, in
den Fluß ragende Landungsbrücke. Dann die Stätteplätze
der Ziegeleibeſitzer mit ihrem rothgefärbten Boden, der wie
blutgetränkt erſchien, die Trockenplätze mit ihren friſch ge¬
fallenem Schnee gleichenden Bleichen und die Alles über¬
ragenden Schornſteine der Fabriken, die den Rauch immer
ſchwächer und ſchwächer entſteigen ließen, bis ſie gleich „Obe¬
lisken der Arbeit“ dunkel und ſchweigſam zum Himmel
ſtarrten.


Herrſchte an den Ufern Ruhe, ſo begann das Leben ſich
auf dem Waſſer zu regen. Unzählige Luftfahr-Boote ſchwebten
gleich Nußſchaalen auf dem mattblauen Spiegel, ließen ſich
gemächlich vom Strome treiben oder ſchoſſen pfeilſchnell über
die Fläche, um in das Fahrwaſſer eines Dampfers zu ge¬
[71] rathen, der dichtbeſetzt mit einer buntſchillernden Menge daher¬
gebrauſt kam und mit ſeinen Wellenſchlägen den Strand er¬
zittern machte.


Aus der Ferne klang der Geſang eines Liebespärchens
herüber. Waghalſig ſchaukelte es das Boot, ſo daß der
Rand deſſelben das Waſſer berührte. Das helle Kleid
des Mädchens leuchtete wie das Gefieder eines Schwanes.
Der männliche Begleiter aber lag ausgeſtreckt an ihrer
Seite, wiegte den Körper nach rechts und links, ſo daß das
Fahrzeug ſchwankte und ließ ſich und ſein Liebchen ſorglos der
Stadt zutreiben.

„Ich weiß nicht, was ſoll es bedeuten,

Daß ich ſo traurig bin,“


ließ ſich deutlich vernehmen, als ein Beweis dafür, daß das
Berliner Volk die ernſteſten Lieder zu ſingen pflegt, wenn es
am luſtigſten iſt.


War die Luft beſonders rein, ſo erlangte Timpe's Blick
eine unbegrenzte Weite. Ueber die Schillings-Brücke
hinweg, auf welcher in der Feierabendſtunde, begleitet von
den vorüber rollenden Pferdebahnwagen und hundert
anderen Gefährten, Ameiſen gleich ein Strom von Menſchen
ſich bewegte, da, wo das Waſſer der Spree wie ein
gewundener Silberbarren ſich dahinzog, erreichte ſein Auge
die Oberbaum-Brücke und hinter ihr die erſten Pappeln der
Chauſſee, die nach Stralau führte. Und über dieſe Welt¬
ſtädtiſche Szenerie, die in Zickzacklinien ins Unendliche ſich
zu verlängern ſchien, breitete ſich das letzte matte Roth der
herniedergeſunkenen Sonne aus und hüllte Natur und Men¬
ſchen in einen warmen, zarten Purpurflimmer.


[72]

Wie oft hatte ſein Auge ſich an dieſem Bilde gelabt‚
und wie oft waren die Eindrücke gleich Schemen entſchwun¬
den, wenn er ſein Geſicht dem Nachbargrundſtück zugewendet
hatte. Dort der lachende Sonnenſchein, die unbegrenzte
Freiheit des Blickes, der Reiz einer eigenthümlichen Land¬
ſchaft und hier Hand in Hand mit dem Zerſtörungswerk der
Menſchen der Aufbau ſteiler Wände, die das Licht des Him¬
mels nahmen.


Im Juli ragte bereits das Fundament der neuen Fabrik
über den Erdboden empor. Baum auf Baum war gefallen
und mit dem Sturze eines jeden und dem Krachen ſeiner
Aeſte, das ſich in der Phantaſie Timpes wie das Aechzen
eines Sterbenden angehört hatte, war den Meiſter die
Empfindung überkommen, als ſchwände jedes zurückgelegte
Jahr ſeines Lebens nochmals dahin.


Was dort fiel, war das alte Berlin, der ſtete Anblick
ſeiner Kindheit, der Märchenduft ſeiner Knabenjahre. Und
jeder Spatenſtich, jeder Axthieb und Hammerſchlag bereitete
ſeinem Herzen eine Wunde, die ihm brennende Schmerzen
verurſachte.


Es ſchien faſt, als wäre Meiſter Timpe der eigentliche
Beſitzer der neu entſtehenden Welt dort drüben — ſo leb¬
haft war der Antheil, den er an dem Wachſen und Werden
der Fabrik nahm. Mit der Zeit überkam ihn eine Art
Idee: er bildete ſich ein, daß ſeine ganze Zukunft von der
Vollendung des Rieſengebäudes abhängen werde, er fürchtete
die Mauern würden, je höher ſie rückten, ihn, ſeine ganze
Familie und das Häuschen nach und nach erdrücken. Oefters
befiel ihn eine große, ihn unthätig hin- und hertreibende
Unruhe. Er vermochte die Zeit nicht zu erwarten, wo die
[73] Feierabendſtunde ſchlug und er ſeinen Auslugplatz auf dem
Baume einnehmen konnte.


Und ſchließlich drehte ſich den ganzen Tag über, ſobald
ſeine Gedanken nicht mit Gewalt von anderen Dingen in
Anſpruch genommen wurden, ſein Intereſſe [nur] um den Bau
Ferdinand Friedrich Urban's.


Die Fabrik, die Fabrik und immer wieder die Fabrik!


Er fand ein beſonderes Vergnügen daran, bei jeder
Gelegenheit während der Arbeit das Geſpräch darauf zu
bringen und freute ſich, wenn die Geſellen das Thema auf¬
griffen und mit ihm und ſeinen Urtheilen über des Nach¬
bars Pläne übereinſtimmten. Zuletzt erklärten das die Leute
in der Werkſtatt für etwas wunderlich und raunten ſich zu,
daß der Meiſter ſich gegen früher merkwürdig geändert habe
und daß ihm „die Geſchichte da drüben“ im Kopfe herum¬
gehe. So kam es denn, daß das neue Unternehmen Urban's
ſchließlich wie eine weltgeſchichtliche That betrachtet wurde, die
immer auf's Neue angeſtaunt, bewundert und beſprochen
werden müſſe.


Das Leben der Bewohner des kleinen Häuschens, das
ſich mit der Gleichmäßigkeit eines Perpendikelganges abſpann,
hatte ſeine Ruhe eingebüßt und einer fortwährenden Auf¬
regung Platz gemacht, die nur die eine Parole kannte: Herr
Urban und ſeine Fabrik.


Hatte Johannes Timpe lange genug auf ſeiner „Warte“
geſeſſen, ſich allerlei merkwürdigen Gedanken hingegeben, war
er dann langſam und bedächtig hinabgeſtiegen, ſo wurde in
der kleinen Laube des Gärtchens das Geſpräch von Neuem
aufgenommen und ins Unendliche geſponnen.


Da ſaß hinten in der Ecke auf einem Rohrſeſſel Frau
[74] Karoline, angethan mit einer durchbrochenen Haube an
welcher breite Bänder von zarter Lilafarbe prangten, und
einer ſauber geplätteten, geſtreiften Schürze, auf deren
Nettigkeit die Lebensgefährtin des Drechslermeiſters ſehr viel
gab. Das bereits graue Haar war in der Mitte geſcheitelt
und zog ſich wellenförmig bis hinter die Schläfe, ſo daß
das milde Geſicht dem einer ehrſamen Matrone glich, die ge¬
wohnt iſt, auch noch im Alter den beſten Eindruck zu machen.
Die Stricknadeln klapperten eifrig und nur hin und wieder
ruhten die Hände im Schoß. Dann erhob der Kopf ſich die
Brille wurde feſter gedrückt und die Frage erſchallte:


„Kommſt Du bald herunter, Vater?“ Sie ſagte zu ihrem
Manne nur noch „Vater“, ſeitdem der Großpapa für den
„Alten“ galt. Neben ihr in ſeinen ausgedienten ſchwarz¬
ledernen Lehnſtuhl verſunken, den man ſeinetwegen jeden Tag
in's Freie transportirte, ſaß der dreiundachtzigjährige Greis,
theilnahmslos und ſchweigſam wie immer, aber lauſchend auf
jedes Wort und Geräuſch und nur zum Reden aufgelegt,
wenn die Nothwendigkeit ihn dazu zwang.


Regelmäßig des Donnerſtags geſellte ſich auch noch
Thomas Beyer zu der Familie. Seit vielen Jahren bereits
mußte der älteſte Geſelle an einem Tage in der Woche ſein
Abendbrod bei dem Meiſter einnehmen. Es war das eine
ſchöne Sitte aus jener Zeit, wo der Geſelle noch Koſt und
Wohnung im Hauſe des Arbeitgebers fand und dadurch zur
Familie mitgezählt wurde.


Oftmals auch wurde der kleine Kreis durch Kruſemeyer
vermehrt, der, bevor er ſeinen Dienſt antrat, auf ein Viertel¬
ſtündchen mit heran kam. Es muß hier gleich bemerkt werden,
daß der würdige Beamte ſeit beinahe zwanzig Jahren zu
[75] Johannes Timpe in einem geſchäftlichen Verhältniß ſtand;
nicht in ſeiner Eigenſchaft als Hüter der Nacht, ſondern
als Fußbekleidungskünſtler, dem das Aufbeſſern und
Neugeſtalten des Schuhwerks der ganzen Familie auvertraut
worden war. Und da er eine hübſche Tochter beſaß, mit
welcher Thomas Beyer durch eine merkwürdige Verkettung
von Umſtänden bekannt geworden war, um ſchließlich ſein
Herz an ſie zu verlieren, ſo benutzte auch er mit andauernder
Zähigkeit den Donnerſtag zu ſeinen Beſuchen, um lebhaften
Antheil an der ſchwebenden Kardinalfrage des Tages zu nehmen.
Sein Hauptbeſtreben ging jedoch darauf hinaus, den auf¬
geklärten Thomas Beyer durch eingehende Beobachtung und
plötzlich angeſtelltes Kreuzverhör einer Prüfung zu unter¬
werfen, die es ihm ermöglichte, endlich den Tag zu
erfahren, an welchem der Altgeſelle Fräulein Helene
Kruſemeyer als getreue Gattin heimzuführen gedenke.
Drehte dagegen das Geſpräch ſich um Politik, ſo war es er¬
götzlich zu vernehmen, mit welcher Glaubensſtärke Herr Kruſe¬
meyer ſich auf die Unfehlbarkeit ſeines Beamtenthums berief.
Seine ſtändige Redensart war dann: „Liebegott und ich ge¬
hören zur Polizei, und die weiß alles.“


Johannes Timpe ſah in der letzten Zeit den Beſuchen
des Hausſchuſters und Nachtwächters mit einer gewiſſen Er¬
wartung entgegen, die ihre Erklärung in den Neuigkeiten fand,
mit denen Kruſemeyer ſtets aufzuwarten pflegte; wußte dieſer
doch mancherlei über den Bau von Urban's Fabrik zu be¬
richten, da er in einem der kleinen Häuſer, welche den Bau¬
platz am anderen Ende der Straße umſchloſſen, wohnte und
tagtäglich die Vorgänge auf dem Terrain verfolgen konnte.
Den Drechslermeiſter intereſſirte nun einmal jede Kleinig¬
[76] keit, die ſich mit dem Namen des großen Konkurrenten
verband.


Timpe hätte jedenfalls ſeine Erkundigung viel beſſer bei
Franz einziehen können, aber dieſer war ſeit jenem Tage, an
dem ihm die große Ehre zu Theil wurde, in der Familie ſei¬
nes Chefs beim Weinglaſe ſitzen zu dürfen, merkwürdig ſchweig¬
ſam geworden. Wollte ſein Vater die Neugierde bei ihm be¬
friedigen, ſo kamen allerlei Ausreden zum Vorſchein. Er that
ſehr wichtig, zuckte mit den Achſeln und wiederholte immer
ein und dieſelbe Phraſe: „Das iſt Geſchäftsgeheimniß, Vater. „Wir“
Kaufleute haben unſere Prinzipien, von denen wir nicht abweichen
dürfen. Ich kann Dir nur ſagen, daß große Dinge vorgehen.“


Johannes Timpe drang dann nicht weiter in ihn, freute
ſich vielmehr in ſeinem Innern darüber, daß Franz ſo brav
die Intereſſen Urbans wahrnahm. Es war auch ein gewiſſes
Schamgefühl, das ihn abhielt, immer wieder ſeinem Sohne
gegenüber auf das alte Thema zurückzukommen.


Was ihn am Meiſten ſchmerzte, war, daß Franz jetzt
faſt jeden Abend außerhalb der Familie zubrachte. Kam er
nach Hauſe, ſo verzehrte er in aller Haſt ſein Eſſen und
machte ſich wieder auf den Weg. Er gebrauchte dann immer
die alte Ausrede, Rückſichten gegen den Geſchäftsführer und
die anderen Kollegen zwängen ihn, mit dieſen die Bierlokale
aufzuſuchen. Oftmals kam er zum Abendeſſen garnicht nach
Hauſe. Er habe über die Komtorſtunden hinaus arbeiten müſſen
und es vorgezogen, gleich ſeine Freunde aufzuſuchen, meinte er
dann zur Entſchuldigung. Mit der Zeit gewöhnten Vater und
Mutter ſich ſo ſehr an ſein unregelmäßiges Leben, daß ſie es
ganz ſelbſtverſtändlich fanden, wenn er gleich nach dem Abend¬
brod ſeinen Hut ergriff und verſchwand.


[77]

Vier Wochen lang ſchwieg der Großvater, dann aber
gab es eines Abends einen böſen Auftritt. Der Greis ſtrengte
ſeine Lunge derartig an, daß man ſeine Stimme auf der
Straße vernehmen konnte. Er wüthete förmlich. Der Stock,
der mit ſeiner Krücke ſtets am Lehnſtuhle hing, fuhr mit der
Spitze ſo raſch und nachdrücklich gegen die Diele, daß er einen
förmlichen Wirbel ſchlug.


Das ſei nicht mehr auszuhalten! Was denn auf die
Dauer daraus werden ſolle, wenn ein Menſch in ſo jungen
Jahren in's Bummeln gerathe und den ganzen Abend über
bis tief in die Nacht hinein in den Kneipen ſich herum¬
drücke? Man wiſſe nicht einmal, in was für einer
Geſellſchaft! Das würde nicht der erſte verlorene
Sohn ſein, der ſeinen Eltern eines Tages ſchrecklichen Kum¬
mer bereite. Ob man vielleicht glaube, daß ein derartiges
Leben einem Körper dienlich ſei? Ein Wetter müſſe drein¬
ſchlagen, wenn da nicht eine Aenderung geſchaffen werde.
Wenn ſo ein Bengel nicht gutwillig gehorchen wolle, dann
müſſe man den Rohrſtock nehmen und ihn mit einigen wohl¬
gemeinten Hieben auf die Pflicht des Gehorſams aufmerkſam
machen ... Sein letztes Wort in dieſer Angelegenheit ſei
das: entweder ſorge man dafür, daß Franzens Lebensweiſe ſich
ändere, oder er, der Großvater, verlaſſe noch auf ſeine alten
Tage das Haus.


Nach jedem Satze war der Stock gegen den Boden ge¬
ſauſt, als ſollten die Worte einzeln feſtgenagelt werden.


Timpe und ſein Weib zitterten vor Schreck und wurden
blaß. In einer derartigen Verfaſſung hatten ſie den Alten
noch niemals geſehen. Mit halb geöffnetem Munde ſtarrten
ſie zu ihm hinüber. Ein lebendes Bild des Jammers bot ſich
[78] ihnen dar: der Kopf war auf die Bruſt geſunken, der Athem
ging ſtoßweiſe und röchelnd, Hände und Beine bewegten ſich
wie im Fieber, die ganze Geſtalt ſchien kleiner, zuſammen¬
gedrückter geworden zu ſein. Und dieſer gebrechliche, in ſeiner
Hülfloſigkeit einem Kinde gleichende Mann ſollte das Haus
verlaſſen? O nein, nein . . . Johannes Timpe fand dieſen
Gedanken des Großvaters fürchterlich. Von nun an ſollten
alle Wünſche des Atten erfüllt werden.


Während einiger Minuten vernahm man nur die Athem¬
züge des Greiſes. Plötzlich zuckte ſein Mund . . . Und der ganze
Widerſtreit der Gefühle, die dieſen merkwürdigen Menſchen im
Augenblick durchtobten, kam in den Worten zum Ausbruch: „Mein
einziger Enkel!“ Langſam rollten große Thränen über ſeine
hageren Wangen. Es war zum erſten Male, daß er hindurch¬
blicken ließ, wie unter der eiſernen Strenge, die er Franzen gegen¬
über an den Tag legte, eine tiefe Liebe ſchlummerte.


Meiſter Timpe war tief bewegt, und Frau Karoline
nicht minder. Sie überboten ſich gegenſeitig in Zärtlichkeiten
gegen den Alten, ſtreichelten ſeine welken Hände und ver¬
ſuchten ihn zu beſänftigen.


„Rege dich nicht auf, Vater! Ich verſpreche Dir, es
ſoll eine Aenderung eintreten“, ſagte Johannes und zog den
Kopf des Alten an ſich.


Dieſe Aenderung beſtand darin, daß Johannes ſeinem
Sohne das Taſchengeld entzog und ihm nur den kleinen
Monatsgehalt beließ, den er von Urban bekam. Eine ganze
Woche hindurch blieb Franz des Abends zu Hauſe, aber er
ſprach während dieſer Zeit kein Wort und that ſo, als exiſtire
für ihn Niemand im Hauſe. Das vermochte ſein Vater nicht
zu ertragen.


[79]

„Ich weiß, was Dich drückt“, ſagte er eines Mittags zu
Franz. „Ich ſehe ein, daß der Großvater Dir abermals bittres
Unrecht gethan hat. Du biſt ein anderer Geiſt, wie er und
ich, Du gebrauchſt die Geſellſchaft, um nicht zu verbauern.
Hier haſt Du Dein Taſchengeld wieder, aber wir wollen die
Geſchichte jetzt anders machen. Du wirſt von jetzt ab in
der guten Stube ſchlafen, da hört der Großvater Dein Nach¬
hauſekommen nicht“.


Damit kam man wieder in's alte Geleiſe. Der Meiſter
hatte wiederum bewieſen, daß er ſeinem Stammhalter zu
Liebe ſelbſt nicht vor einer Lüge ſeinem Vater gegenüber
zurückſchreckte. Ja, er ſpielte eine förmliche Komödie, um
Großvater und Enkel das Leben ſo angenehm als möglich zu
machen, ließ den Alten in dem Glauben, daß in Franzens
Lebenswandel wirklich eine Aenderung eingetreten ſei, rühmte
deſſen Solidität über die Maßen und wußte es gar ſo weit
zu bringen, daß Gottfried Timpe Franz freundlicher geſinnt
wurde, und in der Herzensfreude darüber, daß man diesmal
ſeine Autorität reſpektirt habe, hin und wieder mit ſeinem
Enkel ein längeres Geſpräch anknüpfte und zum Erſtaunen
Aller ihn ſogar aufforderte, zur Abwechslung einmal die alte
Geſellſchaft aufzuſuchen.


Als dies Wunder geſchah, fühlte Johannes Timpe ſich
dadurch außerordentlich gerührt. Er wendete ſich ab und ver¬
ließ das Zimmer. Es war ihm peinlich, das ſpöttiſche Lächeln
ſeines Sohnes zu beobachten, das fortwährend zu ſagen ſchien:
Wenn Du wüßteſt, Alter!


Durch ſeine ewige Nachgiebigkeit erreichte Johannes Timpe
weiter nichts, als daß Franz immer mehr den Reſpekt vor
ihm verlor und ſich ſchließlich wie ein ſelbſtändiger Mann
[80] vorkam, der thun und laſſen kann, was er will. Eines
Tages trug er ſehr auffallend ein Stück bunten
Bandes an ſeiner Uhrkette, einen ſogenannten „Bierknoten“.
Er war nämlich einer Vereinigung von jungen Leuten bei¬
getreten, deren Mitglieder neben vielem Biertrinken das
hauptſächlichſte Beſtreben zeigten, ſtudentiſche Manieren nach¬
zuahmen. Den Rock weit zurückgeſchlagen, die Hände in den
Hoſentaſchen haltend, ſchritt er in der Mittagsſtunde prahleriſch
vor den Fenſtern der Werkſtatt auf und ab, ſo daß die Ge¬
ſellen eine neue Veranlaſſung gefunden hatten, ihre Witze
über ihn zu machen.


„Hausaffen tragen gewöhnlich bunte Bänder“, ſagte der
kleine Sachſe ſofort, als er ihn erblickte, worauf der Berliner
ſeinem unvermeidlichen „Det ſtimmt“, diesmal hinzufügte:
„Und was für welche!“ — eine Bemerkung, aus der man
nicht genau entnehmen konnte, ob ſie ſich auf die Bänder
oder Affen beziehe.


Selbſt der ernſte Thomas Beyer konnte ſich eines Lächelns
nicht erwehren. Franz aber fand durchaus nicht, daß er ſich
lächerlich mache, ſondern blähte ſich wie ein Pfau und zog
alle zwei Minuten die Uhr hervor, um das Abzeichen ſeiner
neuen Würde erſt recht in's Auge fallen zu laſſen. Meiſter
Timpe theilte das Urtheil ſeiner Leute nicht. Als ſein Sohn
ihm die Bedeutung der Farben auseinanderſetzte und dabei
fortwährend die Worte „Student“ und „Kommilitonen“ im
Munde führte, hörte er aufmerkſam zu und freute ſich dar¬
über, daß ſein Einziger in ſolch' „gute Geſellſchaft“ ge¬
rathen ſei.


„Das Schönſte dabei iſt, Vater, daß man mich immer für
einen jungen Offizier hält. Sehe ich denn wirklich ſo aus?“


[81]

Johannes Timpe hatte niemals an einen derartigen
Vergleich gedacht, nun aber ließ er ſeinen Blick mit einer
ganz anderen Aufmerkſamkeit als ſonſt über die Geſtalt ſeines
Sohnes gleiten und erwiderte ſchmunzelnd:


„Ein ſtattlicher Kerl biſt Du für Dein Alter, das wird
ſelbſt Moltke nicht beſtreiten können. Du Tauſendſaſſa, Du!“


Franz Timpe, ſtolzerfüllt, zog ſeine beiden Haarbürſten
hervor und begann ſeine Toilette zu erneuern, diesmal mit
einer ganz beſonderen Aufmerkſamkeit.


An einem Donnerſtag war man wieder im Garten
verſammelt.


„Ich werde heute früh ſchlafen gehen,“ ſagte Franz und
entfernte ſich, während Meiſter Timpe nickte und ſeinem
Sohne einen vielſagenden Blick zuwarf. So pflegte Timpe
junior nämlich in der letzen Zeit immer zu ſagen, wenn er
in Gegenwart des Großvaters einen Vorwand ſuchte, um das
Haus verlaſſen zu können. Als er fort war, bemerkte Gott¬
fried Timpe:


„Er ſcheint wirklich in ſich zu gehen. Er iſt auch gar
nicht mehr ſo vorlaut wie früher. Heute namentlich ſchien
es, als könne er den Mund nicht aufthun. Schadet auch
nichts! Leute, die wenig reden, denken mehr.“


Es hatte nur dieſer Anregung bedurft, um Frau Karoline
ſofort auf das Thema näher eingehen zu laſſen,


„Haſt Du nicht bemerkt, Vater, wie blaß er ausſah?“
ſagte ſie zu ihrem Manne. „So habe ich ihn noch nie ge¬
ſehen. Ich glaube gar, der arme Junge arbeitet zu viel im
Geſchäft“.


Der Großvater wollte von dieſer Beſchäftigung nichts
wiſſen und fiel ein: „Da haben wir's ja! Das iſt die
Kretzer, Meiſter Timpe. 6[82] moderne Welt: Wenn ſo ein junger Menſch heute mal ernſt¬
lich arbeitet, dann heißt es gleich: er iſt krank; und ſeine
Mutter möchte am liebſten ſofort nach dem Doktor ſchicken:
Die Sache kommt mir verdächtig vor: wenn er Euch nur
nicht geſtern Abend ein Schnippchen geſchlagen hat und Heidi!
zu ſeinen Freunden gegangen iſt“.


Meiſter Timpe begann laut zu huſten und verſuchte,
dieſen Verdacht mit gut geheuchelter Entrüſtung von Franz
abzuwehren. Um in ſeinen Bemühungen einen Bundesgenoſſen
zu haben, trat er Thomas Beyer [auf] den Fuß, machte eine
Pantomime und fragte: „Nicht wahr, Sie glauben das
auch nicht?“


„Niemals würde ich das, Meiſter. Ich glaube nur das,
was ich ſehe und weiß. Ueber Glauben und Wiſſen ließe ſich
überhaupt ſo manches ſprechen. Da habe ich neulich einen
Vortrag gehört —“


Der aufgeklärte Altgeſelle ſaß mit dem Geſicht der Haus¬
thüre zugewendet und erblickte nun Kruſemeyer, der mit einem
„Guten Abend, Herrſchaften!“ den Garten betrat und bedächtig
einen Fuß vor den anderen ſetzend, langſam herankam, als
befände er ſich auf einem nächtlichen Patrouillengang der
keine Uebereilung dulde. So kam es denn, daß Thomas
Beyer ſeinen Satz nicht beendete, ſondern ſofort aufſprang,
um dem Weißbart ein Plätzchen zu verſchaffen.


Johannes Timpe zeigte ſich plötzlich ſehr wohlgelaunt.
Er hatte dem Hausſchuſter, der die ausgebeſſerten Stiefel,
die er mitgebracht hatte, noch einmal mit Wohlgefallen
prüfte, kaum ein Glas Bier vorgeſetzt, als er auch ſchon
fragte:


„Nun, was giebt's Neues?“

[83]

Kruſemeyer antwortete nicht, machte aber eine leicht ver¬
ſtändliche Geberde: man ſolle den Großvater entfernen. Das
Ehepaar ſah ſich beſtürzt an; denn wenn Kruſemeyer dieſes
Verlangen ſtellte, ſo mußte etwas ganz Beſonderes paſſirt
ſein. Zum Glück war die Zeit gerade herangerückt, wo der
Alte ſein Bett aufzuſuchen pflegte. Als Frau Karoline ihn
fragte, ob man nicht Anſtalten machen wolle, in's Haus zu
gehen, erhob er ſich denn auch, ſagte den Uebrigen gute
Nacht und wankte, geſtützt von der Frau ſeines Sohnes, der
Thür zu.


Johannes wurde während deſſen von der Neugierde ge¬
peinigt. Kruſemeyer befriedigte dieſelbe aber erſt, als die
Meiſterin zurückgekehrt war. Dann ſagte er plötzlich:


„Wann iſt er denn nach Hauſe gekommen, oder iſt er
ganz fortgeblieben?“


„Wer?“


„Nun, Euer Franz —“


Da die drei Anderen ein merkwürdig erſtauntes Geſicht
zeigten und augenblicklich keine Worte fanden, ſo führte der
Beſchirmer der Bürgerruhe das Geſpräch allein weiter, und
das geſchah mit einer Ueberlegenheit, die nur zu deutlich ver¬
rieth, wie erhaben er ſich in ſeiner augenblicklichen Rolle finde.


So ſagte er denn auf's Neue:


„Die Sache iſt mit wenigen Worten die: Man hat in
der vergangenen Nacht eine Anzahl junger Leute, die lärmend
und ſingend durch die Straßen zogen, dabei überraſcht, wie
ſie allerlei Unfug trieben: an den Klingeln der Aerzte und
Hebeammen zogen, die Bewohner aus dem Schlafe klopften
und zuletzt ſich nicht ſcheuten, Schilder von den Häuſern zu
reißen, auf welche ſie mit ihren Stöcken paukten, daß es eine
6*[84] Höllenmuſik abgab . . . Na, das war ein netter Skandal!
Die Ohren mußte man ſich zuhalten! Es geſchah in meinem
benachbarten Revier. Ich konnte von der Straßenecke den
Vorgang deutlich mit anſehen, dachte aber bei mir: was wirſt
du dich um die Stunde noch hineinmiſchen! Es war nämlich
bereits drei Uhr; und außerdem ſagte Liebegott zu mir:
„Laß die nur laufen, denn ehe wir dorthin kommen, ſind die
längſt über alle Berge!“


„So ſtehen wir Beide denn an der Ecke und ſehen dem
Indianertanz zu und fragen uns gegenſeitig immer nur das
Eine: Wo mag nur Wenzel ſtecken? So heißt nämlich
mein Kollege aus dem Revier. Endlich kommt er ange¬
ſchlurft und gebietet Ruhe. Ja, da war gut Ruhe bieten.
Die ganze Geſellſchaft umringte ihn, nannte ihn „Herr
Wachtmeiſter“, „Herr Lieutenant“ und „Herr Polizei-Präſi¬
dent“; zuletzt wollten Alle mit ihm eine Weiße trinken gehen.
Dann fragte ihn einer nach ſeinem Namen und er, gemüthlich
geworden durch die Ausſicht auf die Weiße, ſagte wie er
heißt. Nun fingen ſie alle an das Lied zu ſingen: „Der
Wenzel kommt, der Wenzel kommt, der Wenzel iſt ſchon
da!“ Einige pfiffen dabei auf ihren Stöcken, zwei trompe¬
teten laut gen Himmel und die Anderen paukten ruhig weiter
auf ihre Schilder. Das war denn doch dem Wenzel zu viel.
Er drohte mit dem Arretiren, und als die jungen Herren
nun ſahen, daß ſelbſt die Anrede „Herr Oberbürgermeiſter“
nichts helfe, da wurden ſie wieder ſehr ungemüthlich, pfiffen
und lärmten noch lauter, nannten ihn einen „Nachtwächter
von Mottenburg“, der niemals in ſeinem Leben anſtändig be¬
trunken geweſen ſei, und verlangten durchaus von ihm, er
ſolle ihnen den Ort angeben, wo er ſeinen Spieß gelaſſen
[85] habe, denn ein richtiger Nachtwächter dürfe ohne Spieß nicht
ausgehen . . . In ſeiner Herzensangſt ließ der kleine Wenzel
— denn er iſt nämlich ſehr klein und hat bei den
„Maikäfern“ gedient — die Nothpfeife ertönen, und nun
konnten wir nicht länger den Dingen ruhig zuſchauen. Ich
alſo vorwärts, und Liebegott immer langſam hinterdrein.
Von allen Seiten kamen nun die Nachtwächter und Schutz¬
leute herbei, und die ganze Geſellſchaft mußte nach der Revier¬
wache. Keiner von ihnen konnte gerade ſtehen, alle aber
wollten durchaus ganz nüchtern ſein und immer Recht haben.
Dabei berief ſich Jeder darauf, daß er Student ſei und kein
Menſch ihm etwas anhaben könne. Die Titel der Väter
ſpielten dabei auch ein: große Rolle. Wer aber am wenigſten
nüchtern war und am lauteſten ſchrie, war Herr Franz.
Fortwährend ſagte er: haben mir garnichts zu ſagen ...
Ich bin der zukünftige Schwiegerſohn von Herrn Urban,
dem reichen Fabrikbeſitzer, verſtehen Sie? . . . Der wird
Ihnen das ſchon beſorgen“ . . . Ich habe lachen müſſen!
Der „Schwiegerſohn“ mußte alle Augenblicke herhalten. Ich
habe dann Ihrem Sohne ſehr gut zugeredet, aber es half
nichts. Im Gegentheil — er fuhr auch mir über den Mund
und geberdete ſich wie ein Unſinniger. Das hat mir am
weheſten gethan. Wie lange er mit den Anderen auf der
Wache blieb, das weiß ich nicht; denn Liebegott und ich ſind
wieder unſerem Berufe nachgegangen. Vielleicht war's nicht
recht, daß ich dies alles erzählt habe; aber ich ſagte mir:
Kruſemeyer, thue es lieber, es kann mehr nützen als ſchaden“.


Während Kruſemeyer erzählte, hatte das Ehepaar ſeine
Heiterkeit nicht verbergen können. So ſehr auch der Meiſter
und ſein Weib beſtürzt waren, als ſie vernahmen, daß ihr
[86] Einziger ſich unter den Arreſtanten befunden hatte, ſo mußten
ſie doch über die übermüthigen Späße lachen. Was den
Meiſter ſelbſt betraf, ſo ſagte er ein über das andere Mal:
„Dieſe Teufelskerle! Ja, das iſt ſo Studentenmanier“.


Erſt als der redſelige Beamte ſeinen Bericht beſchloſſen
hatte und ſehr ernſt geworden war, zeigte auch Timpe eine
bedenkliche Miene und kratzte ſich hinter dem Ohr. „Was
wohl aus der ganzen Geſchichte werden könne?“ fragte er
ſchließlich.


„Eine kleine Ordnungsſtrafe, damit wild die Sache er¬
ledigt ſein,“ erwiderte Kruſemeyer. Damit war Timpe
beruhigt.


Thomas Beyer war der Einzige, der während der Unter¬
haltung ſeinen Ernſt bewahrt hatte. Nur hin und wieder war
ein Lächeln über ſeine Züge geflogen, doch hatte das mehr der
drolligen Erzählungsweiſe Kruſemeyers, als den Vorgängen der
vergangenen Nacht gegolten. Ein ewiger Grübler wie er
war, verſuchte er nach ſeiner Weiſe allen Dingen auf den
Grund zu gehen, fand auch das Leben viel zu ernſt, um ſich
durch äußerliche Nichtigkeiten täuſchen zu laſſen. Als Timpe
nun ſagte, er werde die „Lappalie“ ſehr gern bezahlen, denn
ſein Sohn habe ſich jedenfalls gut amüſirt, konnte er nicht
mehr an ſich halten.


„Meiſter“, begann er, „ich ſtehe ſeit fünfzehn Jahren
bei Ihnen in Arbeit, ſeien Sie mir daher nicht böſe, wenn
ich einmal ein offenes Wort ſage. Frei heraus: Sie ſind zu
nachgiebig gegen Ihren Sohn, er wird Ihnen das dereinſt
ſchlecht belohnen . . . . . Ihr Herr Vater hat nicht
ſo ganz Unrecht, wenn er den Segen der Zucht¬
ruthe predigt und ſich immer verſchloſſener und mi߬
[87] trauiſcher giebt, weil er ſich bewußt wird, daß all' ſein
Reden nichts hilft.“


Meiſter Timpe nahm vor Erſtaunen die kurze Pfeife
aus dem Munde. Frau Karoline aber, die immer noch
emſig ſtrickte, ließ aus Verſehen einige Maſchen fallen und
warf über die Brille hinweg einen unmuthigen Blick auf den
Sprecher.


„Soo, ſoo, ſoo —“ ſagte Timpe ſehr gedehnt, machte
eine kurze Pauſe, als müſſe er ſich zuerſt für dieſen un¬
erwarteten Angriff ſammeln und ſetzte dann hinzu:


„Alſo Sie ſtoßen in daſſelbe Horn wie der Alte und
wollen ebenfalls Moral predigen! die Moral kennt
man! Die iſt nicht weit her. Wenn es nach euch ginge,
müßte die Jugend weiter nichts thun, als arbeiten, beten und
ſich kaſteien.“


„Das nicht, Meiſter, aber ſie ſollte etwas thun, was nicht
nur bei den Menſchen, ſondern auch in der ganzen Natur noth¬
wendig iſt, um alles vortrefflich gedeihen zu laſſen ...“


„Und das wäre, mein kluger Herr Beyer?“


„Maaß halten, Meiſter . . . Die Bäume würden nicht
mehr ſchön ausſehen, wenn ſie bis in den Himmel ragten,
und die Wolken wären keine Wolken, wenn ſie hier unten
bei unſeren Füßen vorbeizögen. Ein altes Sprüchwort ſagt:
Vater und Mutter können zehn Kinder ernähren, aber ſelten
thun das zehn Kinder mit ihren Eltern. Meiſter Timpe,
ich will von Herzen wünſchen, daß dieſes Sprüchwort für
Sie nur Sprüchwort bleibt, aber denken Sie an Thomas
Beyer, wenn es eines Tages ſich bewahrheiten ſollte. Und
wenn Sie mich auf der Stelle ablehnen, ich kann's nicht
ändern, Meiſter: die Dinge liegen ſo.“

[88]

„Sehr gut geſagt, ſehr gut geſagt, Beyer“.


Als nach einer Pauſe Johannes Timpe dieſe Worte
hervorbrachte, geſchah es ungefähr in dem Tone eines
Menſchen, deſſen Gefühl berührt worden iſt, der aber die
Wahrheit der vernommenen Lehrpredigt noch nicht zugeben
will. Sicher aber iſt, daß der Drechslermeiſter mit Auf¬
merkſamkeit ſeinem Geſellen zugehört hatte und ſehr bewegt
geworden war; nicht minder ſeine getreue Ehehälfte. Sie
hatte mehrmals ſtumm vor ſich hingenickt und einmal ſogar
einen Seufzer ausgeſtoßen, der mehr als viele Worte ſagte.


Und wenn man die Empfindung Kruſemeyers ſchildern
wollte, ſo würde man dieſelbe am beſten mit derjenigen eines
Leichenbitters vergleichen, der an einer offenen Gruft ſteht
und ſoeben ein über Erwarten hohes Trinkgeld bekommen
hat, das ſeine ganze Herzensfreude bildet, jedoch nicht zuläßt,
im Augenblick dem Geſichte eine andere als eine traurige Miene
zu geben. Um aber durch irgend etwas ſeine Sympathie für
den Sprecher Ausdruck zu geben, brachte er mehrmals die
Sohle ſeines rechten Stiefels ſehr kräftig mit der Spitze von
Beyers linken in Berührung — eine Aufmunterung, die in
Worten übertragen, ungefähr gelautet haben würde: Immer
tüchtig drauf los, ſo iſt's recht, Junge!


„Die erfolgreichſte Erziehung beim Menſchen wird immer
die Selbſterziehung bleiben“, hub Johannes Timpe wieder
an zu ſprechen. Oft werden die beſten Menſchen diejenigen,
die durch Thorheit und Leichtſinn dereinſt zur Erkenntniß
kommen. Jugend hat keine Tugend und muß austoben.“


„Wer ſich aber ſelbſt erziehen will, Meiſter, muß vor
Allem ein Charakter ſein. Er muß beweiſen, daß er nicht zu
Grunde gehen würde, auch wenn er ganz allein daſtünde.
[89] Hat das Ihr Sohn ſchon bewieſen? Er weiß, daß er Vater
und Mutter im Rücken hat, und da laſſen ſich die Pläne gut
ſchmieden. Sehen Sie mich an, Meiſter: Mit dreizehn Jahren
kam ich unter fremde Leute, denn ich hatte Niemanden mehr
von meinen Angehörigen, als meine Schweſter; und die war
viel jünger als ich. Fünf Jahre war ich in der Lehre, denn
ich habe mich freilernen müſſen. Manchesmal hat es mehr
Hiebe gegeben, als Eſſen, denn mein Meiſter war ein roher
Patron; aber trotzdem, oder gerade deswegen, bin ich den
geraden Weg gegangen.“


„Und weil Sie alles das durchgemacht haben und ein ſo
tüchtiger, braver Kerl geworden ſind, mein lieber Beyer, will
ich manches Wort, das Sie heute über meinen Franz geſagt
haben, nicht auf die Wagſchale legen. Laſſen Sie ihn nur
wie er iſt, mit den Jahren kommt der Verſtand.“


„Da hätten wir ſehr viele weiſe Menſchen in der Welt,
Meiſter; aber man hört wenig von ihnen.“


„Das liegt nicht an den weiſen, ſondern an den tauben
Leuten, mein lieber Beyer . . . Im Uebrigen wird die Welt
immer dieſelbe bleiben, ſolange die Sonne nicht 'mal zur Ab¬
wechſelung im Weſten aufgeht und im Oſten unter.“


„Da ſind wir wieder auf unſer altes Thema gekommen,
Meiſter, und ich muß auf's Neue wiederholen, Sie ſind nicht
fortgeſchritten in Ihren Anſchauungen; aber Sie werden ein¬
mal anders denken.“


„Da kommt ihr immer mit eurem großen Fortſchritt!
Als ob das nicht der beſte Fortſchritt wäre: ewig in ſeiner
Geſinnung gleich zu bleiben! Thue Recht und ſcheue Nie¬
mand — ſo ſage ich und ſo ſoll's bleiben. He, Alte, habe
ich Recht?“


[90]

„Jawohl, Vater, Du haſt immer Recht; aber was den
Franz anbetrifft, ſo möchte in manchen Dingen Herr Beyer
doch nicht ſo ganz —“


„Unrecht haben. Gewiß, gewiß! Verlaß auch Du noch
meine Fahne! Hier fehlt nur noch der Großvater, um mich
zum todten Manne zu machen. Aber Johannes Timpe läßt
ſich noch nicht begraben. Werde dem da drüben hinter der
Mauer gerade den Gefallen thun!“


Und der Meiſter lachte vergnügt und erhob ſich zum
Zeichen, daß er die Sitzung beſchließen wolle.


Als Kruſemeyer langſam hinter dem Altgeſellen dem
Häuschen zuſchritt, nahm ihn Timpe noch einmal bei Seite,
hielt, ihn auf einige Augenblicke zurück, that erſt ſehr verlegen
und ſagte dann leiſe, aber mit großer Wichtigkeit:
„Hm — ja, was ich gleich noch ſagen wollte: Hier das
Geld für die Stiefel . . . . . und ja, Hm — — der
Junge hat alſo wirklich ganz offen behauptet, er
würde der Schwiegerſohn von Urban werden? — Hm
— verſtehen Sie nur: es ſind ja Worte eines dummen
Jungen, aber ich möchte das nur beſtätigt wiſſen, um dafür
zu ſorgen, daß er nicht noch einmal ſo etwas öffentlich
ſchwatze —“


„Sehr in der Ordnung, Herr Timpe . . . Mein Wort
darauf: zehn Mal mindeſtens hat er es geſagt . . .“


„Hier, Kruſemeyer, trinken Sie eins auf mein Wohl, und
forſchen Sie einmal bei Ihrem Freunde, dem Schutzmann,
wie die Radaugeſchichte des Jungen ſteht.“


„Nichts leichter als das, Herr Timpe. Liebegott und
ich gehören zur Polizei, und die weiß Alles.“ Damit ver¬
ſchwand auch er.


[91]

Während Frau Karoline bereits in der Wohnſtube ſaß,
ſchritt Johannes, behaglich aus ſeiner Pfeife rauchend, noch
im Gärtchen auf und ab. Die eindringlichen Worte des
Altgeſellen gingen ihm durch den Kopf; nicht minder die
nächtliche Heldenthat ſeines Sohnes. Zum erſten Male hatte
er die Ueberzeugung, daß ſich Franz nicht auf dem rechten
Wege befinde. Etwas wie eine dunkle Ahnung ſtieg in ihm
auf, daß ſein Stammhalter ihm noch großen Kummer be¬
reiten werde. Jener unbeſchreibliche Zwieſpalt der Empfin¬
dungen, der die Vernunft mit dem Herzen ſtreiten läßt, kam
über ihn. Sein väterlicher Stolz bäumte ſich auf bei dem Ge¬
danken, daß alle ſeine und ſeines Weibes Liebe für ſeinen
Einzigen umſonſt geweſen ſein könne, daß er dereinſt nicht die
Dankbarkeit finden werde, die er erwartete. Mißtrauen gegen
ſich ſelbſt erfüllte ihn, er kam aus einer Stimmung in die
andere. Aber weshalb zerbrach er ſich den Kopf, trug er ſich
mit peinlichen Gedanken? War der Zukunft nicht alles
vorbehalten? Und wer konnte ſie entſchleiern? . . . Das
vermochte weder der Großvater, Thomas Beyer, noch er . . .
Dann trat dieſe Zukunft wieder ſonnig vor ſein geiſtiges
Auge. Wie kam ſein Sohn dazu, ſich ſolchen Hirngeſpenſten
hinzugeben, die in der Behauptung enthalten waren: er
würde der Eidam Urbans werden? Gewiß war das nur ein
Ausfluß der Bierlaune; und doch, konnte er, Johannes Timpe,
wiſſen, was hinter ſeinem Rücken vorging? War Franz
nicht ein ſtattlicher Menſch, hatte er nicht eine ausgezeichnete
Schulbildung erhalten, hatte Urban ihn nicht ſo außerordent¬
lich gelobt?


Johannes Timpe lächelte ſtill vergnügt vor ſich hin, wie
ein Mann es zu thun pflegt, der ſich in roſigen Träumen
[92] wiegt. Plötzlich fiel ihm ein, daß er heute „Franzens-Ruh“
noch nicht beſtiegen habe. Das mußte nachgeholt werden.


Nach fünf Minuten ſaß er oben in den Zweigen und
ſtarrte in den hellen Abend.


Es war Mitte Auguſt, der Tag heiß geweſen. Und nun
hatte ſich ein leiſer, wohlthuender Wind erhoben und trieb
ſeinen Luftzug Johannes Timpe kühlend ins Geſicht. Der
Vollmond ſchwamm wie eine ſilberne Rieſenmotte am Himmel,
überzog die Dächer der Häuſer mit ſeinem weißen Lichte und
färbte die leiſe liſpelnden Blätter der Bäume und Sträucher
mit einem ſmaragdfarbenen Schimmer, der ſie wie durch¬
leuchtet erſcheinen ließ. Selbſt die überall gähnenden
Schatten der Häuſer nahmen ſich wie ein durchſichtiger,
blauſchwarzer Schleier aus, der jeden Gegenſtand am
Erdboden deutlich erkennen ließ. Die Roſen durch¬
würzten mit ihrem letzten Duft die Luft, und auf dem
einzigen, jenſeits der Mauer ſtehengebliebenen Baum ſaß eine
Nachtigall und ſchlug ſchmelzend ihre herzbewegenden Triller.
Es war, als klage ſie über den Verluſt des herrlichen Natur¬
ſchmuckes, der ehemals hier ihr Reich gebildet hatte. Ein
großer Nachtfalter umſchwirrte den Meiſter, ſummte ihm
einige Sekunden lang die Schmetterlingsſprache vor und ent¬
wich dann mit glänzenden Flügeln. Er nippte an den gol¬
digen Blüthen eines Akazienbäumchens und verlor ſich dann
im Dunkel.


Dieſe märchenhafte Stille wurde nur zeitweilig von den
Wellenſchlägen des Berliner Lebens unterbrochen, die wie
das Murmeln eines leiſe grollenden Meeres in ſanften
Rhythmen Johannes' Ohr berührten.


Lange ließ der Meiſter wie traumverloren ſeinen Blick
[93] über die Umgebung ſchweifen. In gleichmäßigen Abſätzen
blies er den Rauch ſeiner Pfeife von ſich, während ein Aus¬
druck ſtiller Zufriedenheit ſich über ſeine Züge breitete.


Geſpenſterhaft, grell vom Lichte des Mondes beſchienen,
ragten die fenſterloſen Mauern der neuen Fabrik in den
Aether. Eine Viſion überkam ihm: Hundert geſchäftige
Hände begannen ſich drüben zu regen. Es klapperte, ſchnurrte
und walzte; ziſchend ſtieg der Dampf zum Himmel empor,
ſchrill ertönte der Pfiff der Pfeife. Und plötzlich ſtieg blutig¬
rother Qualm vor ſeinen Augen auf. Tauſend Arme
ſtreckten ſich ihm entgegen, rieſige Hämmer wurden über
ſeinem Kopf geſchwungen, und aus unzähligen Kehlen hallten
die fürchterlichen Worte: „Meiſter, wir ſchlagen Dich todt,
Du biſt uns im Wege.“ Er wehrte ſich mit Rieſenkräften;
aber allmälig hagelten die Schläge ſo dicht auf ihn her¬
nieder, daß er ſchwächer und ſchwächer wurde und mit einem
Schrei der Verzweiflung, dem ein langer Seufzer folgte, zu
Boden ſank.


Johannes Timpe wankte wirklich, aber auf ſeinem Sitze,
ſo daß er ſich mit einem ſchnellen Griff an einem Aſt feſt¬
halten mußte. Dann rieb er ſich die Augen, denn die Lider
waren ihm von dem balſamiſchen Duft der Nacht ſchwer ge¬
worden. Er war nahe daran geweſen, mit halb offenen Augen
zu träumen.


Da war es ihm, als vernähme er jenſeits der Mauer
flüſternde Stimmen. Er richtete den Blick nach dort, ſah ein
helles Kleid leuchten, und Arm in Arm mit einem jungen
Mädchen, voll und ganz in Mondeslicht getaucht, ſeinen Ein¬
zigen koſend und ſchäkernd dahin ſchreiten.


„Potz Blitz, der Junge!“

[94]

Und als Johannes ſeine Augen aufs Neue anſtrengte,
erkannte er in der jungen Dame Fräulein Emma Urban, die
ſich gar innig an ſeinen Sohn anſchmiegte und ſelig zu ihm
emporblickte.


Der Meiſter blickte ſo lange mit halbgeöffnetem Munde
den Dahinwandelnden nach, bis ihm die Pfeife ausgegangen
war.


„Ei, ſieh' dieſen Tauſendſaſſa an! So alſo ſtehen die
Dinge —“


Und als er von ſeiner Warte herabgeſtiegen war, trat
er zu Frau Karoline mit den Worten ins Zimmer:


„Denk' Dir nur, Alte, unſer Junge hat eine Braut!“


„Träumſt Du, Vater . . .?“


„Kruſemeyer hat nicht zu viel geſagt; er wird wahr¬
haftig noch Herrn Urban's Schwiegerſohn. Da ſoll mir der
Thomas Beyer noch einmal kommen! Ich will ihm heim¬
leuchten.“


„Ja, ja, Vater — ich habe es immer geſagt: aus dem
Jungen wird was.“


Du Alte? Ich glaube, ich war Dir in dieſer Behaup¬
tung weit voraus.“


Und die Alten kamen ſich vergnügt wie Brautleute vor
und plauderten noch luſtig bis ſpät in die Nacht hinein.


[[95]]

VII.
Große Toilette.

Den ganzen Winter hindurch, der von ſeltener Strenge war,
mußte der Bau der Fabrik ruhen. Zu Herrn Ferdinand
Friedrich Urban's großem Kummer! Da die rauhe Jahres¬
zeit es nicht geſtattete, die „Warte“ zu beſteigen, ſo ſtreckte
Johannes Timpe von nun an jeden Tag den Kopf durch
die Bodenluke, um ſeine Neugierde zu befriedigen.
Wenn er bei dem fahlen Licht der Abenddämmerung
ſeinen Blick zu dem bereits fertigen Rohbau hinüber¬
ſandte, ſo war es ihm, als grinsten ihn die dunklen Fenſter¬
höhlungen der ſchneebedeckten Brandmauer wie eben ſo viele
Augen eines Ungeheuers an. Seine ſtark ausgeprägte Phantaſie
begann ihre Wirkung zu thun.


Sobald der erſte Sonnenſtrahl ſich wieder zeigte, erſchien
Urban auf dem Bauplatz und erhob ſeine Naſe zum Himmel,
als wolle er dieſen für die Unterbrechung der Arbeit an¬
klagen. In einen bis zur Erde reichenden Pelz gehüllt,
einen Shwal mehrmals um den Hals geſchlungen, eine eng¬
liſche Stoffmütze weit in die Stirn gedrückt, ſchnüffelte er in allen
[96] Ecken herum. Man ſah von dem ganzen Menſchen eigentlich
weiter nichts, als die ewig geröthete Naſenſpitze, welche der weit
heruntergerutſchten Brille als letzter Halt diente. Selbſt die
Hände waren tief in den Aermeln des Pelzes vergraben. Er
befreite ſie nur dann von ihrer Hülle, wenn er zu ſeinem
ſeidenen Taſchentuch greifen mußte, oder den Verſuch machte,
mit dem Knöchel des Zeigefingers die Güte der Steine zu
probiren.


So lief er denn behende wie ein rieſiges Wieſel zehn
Mal um das ausgedehnte Gebäude herum, reckte den Hals,
als müſſe er die Höhe ermeſſen, und verſchmähte es nicht,
hin und wieder die Leitern im Innern des Gebäudes zu be¬
ſteigen, um plötzlich ſeine würdige Geſtalt im Rahmen eines
Fenſters im erſten Stockwerk darzubieten. Dann ſchielte er
zum kleinen Häuschen Timpe's hinüber und ſchüttelte ſtill
vor ſich hin mit dem Kopf, als könne er irgend etwas nicht
begreifen. An einem dieſer Inſpektionstage erblickte er den
Meiſter im Gärtchen. Sofort ſtieg er die Leiter hinunter und
erſchien in der Oeffnung der Mauer. Da es immer noch unent¬
ſchieden war, ob die letztere ganz niedergelegt werden ſolle, ſo
hatte man das große Loch mit einigen ſtarken Bohlen verſperrt.


Die eine derſelben wurde nun bei Seite geſchoben und
in dem engen Spalt zeigte ſich Herrn Urban's von der Kälte
blau angelaufenes Geſicht.


„Nun, Meiſter Timpe, haben Sie ſich immer noch nicht
beſonnen? Sie wiſſen doch, was ich meine —“ rief er nach
einem kurzen Gruß Johannes zu. Dieſer rückte an ſeiner
Mütze und erwiderte: „Es wird nichts daraus, Herr Urban.
Wenn die Stadtbahn das Grundſtück kaufen ſollte, kann ich
den Profit auch allein in meine Taſche ſtecken.“

[97]

Urban zog die ſpitze Naſe zurück und gab ſeiner Wuth
einen vorläufigen Ausdruck, indem er die Bohle mit einem
kräftigen Ruck auf ihren alten Platz beförderte.


Timpe lachte leiſe vor ſich hin bei dem Gedanken, mit
ſeinen Worten den Aerger des reichen Nachbars einmal gründ¬
lich zu Tage gefördert zu haben. Plötzlich klaffte die Oeffnung
abermals und Herrn Urban's glänzende Brillengläſer richteten
ſich wiederholt drohend auf Johannes.


„He, Sie wollen alſo nicht?“ ſchrie er diesmal wie ein
zornig gewordener Knabe. „Wiſſen Sie, was ich dann thue?
Ich laſſe die Mauer herunterreißen und verbaue Ihnen hier
das ganze Licht. Wurſt wieder Wurſt! Adieu, Adieu! Bis
morgen können Sie mir ſchreiben.“


Ein Stoß und die Bretter klapperten wieder.


Johannes Timpe lachte diesmal ſehr laut auf und ſagte,
unangenehm berührt durch die Anmaßung des Fabrikbeſitzers:


„Sie ſind ein Narr.“


Zum dritten Male zeigte ſich die geröthete Naſe des
Nachbars.


„Was erlaubten Sie ſich ſoeben zu ſagen?“


„Morgen iſt Sonntag und heute friert's wieder ſtark,“
erwiderte der Meiſter gelaſſen.


„Ach ſo, das iſt etwas anderes! . . . Was geht's Sie über¬
haupt an, wenn es friert! Mein Bau wird doch fertig —
zum Aerger gewiſſer Leute.“


Sein Grimm war diesmal unverkennbar, als er den
Blicken Timpe's entſchwand.


„Sie ſind ein kleiner Mann mit einem großen Munde,“
rief der Drechslermeiſter ihm nach.


„Wie?“ ſchallte es über die Mauer zurück.

Kretzer, Meiſter Timpe. 7[98]

„Sie ſind ein großer Geiſt,“ meinte ich.


„Das können Sie einem Anderen vorreden! Ich habe
wohl gehört, was Sie geſagt haben! Der kleine Mann wird
Ihnen eines Tages nach eine Nuß aufzuknacken geben . . Wir
kennen uns nicht mehr.“


„Mir ſehr angenehm.“


Nach dieſer Unterhaltung war das bisherige geheime
Mißtrauen, das Timpe und Urban gegen einander hegten,
zum erſten Male zur offenen Feindſchaft ausgeartet. Und
wenn dieſe leichte Plänkelei vorerſt auch eines humoriſtiſchen
Anſtrichs nicht entbehrte, ſo war doch vorauszuſehen, daß der
Riß ſich immer mehr und mehr erweitern werde. Meiſter
Timpe namentlich hatte dieſes Gefühl. Er kam ſich plötzlich
ſehr erleichtert vor, freute ſich ſogar, daß endlich die Stunde
gekommen war, wo er eine beſtimmte Haltung dem Nachbar
gegenüber einnehmen konnte. Ein plötzlicher Trotz, der ſeine
bisherige Sanftmuth nicht wieder erkennen ließ, war über ihn
gekommen. Sein ſtilles Philoſophiren, dem er ſich ſo oft in
einſamen Stunden hoch oben auf der „Warte“ hingegeben
hatte, durfte ſich nun in eine praktiſche Bethätigung ver¬
wandeln. Die ewige Ahnung, die ihm zuraunte, daß ihm
von dem Nachbar in geſchäftlicher Beziehung noch großes
Unheil drohen werde, hatte er bisher ſtumm mit ſich herum¬
tragen müſſen. Nun konnte er wenigſtens ein freies Wort
führen, ſeinem Herzen einmal gehörig Luft machen. Dieſer
geriebene Herr jenſeits der Mauer hatte ihm heute ſehr
deutlich zu verſtehen gegeben, daß hinter ſeiner Höflichkeit
und Herablaſſung nur die Sucht nach geſchäftlichem Vortheil
ſich verborgen halte. In dieſen Minuten der Erregung vergaß
er ſogar ganz das Verhältniß ſeines Sohnes zu Urban,
[99] dachte er gar nicht daran, daß dem Erſteren irgend welcher
Nachtheil erwachſen könne.


Als er die Werkſtatt betrat, platzte er gleich hervor:


„Die Menſchen werden immer unverſchämter in der
Welt. Habt Ihr den Streit gehört zwiſchen mir und Urban?
Er will an Stelle der Mauer noch ein hohes Gebäude er¬
richten laſſen, damit wir hier womöglich den ganzen Tag über
Licht brennen müſſen“.


„Det laſſen wir uns nich jefallen, Meeſter“, rief Fritz
Wieſel ſofort, und mehrere der anderen Geſellen fielen
mit ein.


„Das darf er Sie weeß Gott nicht duhn,“ bemerkte
der kleine Sachſe. „Dafür giebt’s noch den hohen Ge¬
werberath.“


Und Leitmann ſagte äußerſt kampfesmuthig: „Wenn das
geſchieht, machen wir einfach Revolution.“


Meiſter Timpe zeigte Angeſichts dieſer allgemeinen
Sympathie wieder das alte vergnügte Geſicht, konnte ſich aber
doch nicht enthalten, ſeinen Worten hinzuzufügen:


„Wenn er es thut, werden wir ſchließlich nichts dagegen
ausrichten können, und wenn wir hier wie in einem Käfig
ſitzen müſſen. Geld giebt Macht.“


„Aha,“ bemerkte Thomas Beyer, der bisher kein Wort geſagt
hatte. „Meiſter, Sie beginnen fortzuſchreiten.“


Timpe erwiderte nichts, ſondern ging in ſeine Arbeits¬
ſtube, um ſich ebenfalls an die Drehbank zu ſtellen. Als er
am Abend Franz zu Geſicht bekam, lautete ſeine erſte Frage:


„Wie hat ſich Dein Chef heute Nachmittag gegen Dich
benommen?“


„Sehr gut, Vater, trotzdem Du ihn mehrmals beleidigt
7*[100] haben ſollſt. Er hat mir den Vorgang zwiſchen Euch Beiden
erzählt. Und um Dir zu beweiſen, daß er dem Sohne das
nicht entgelten laſſen will, was der Vater ihm angethan hat,
hat er mich heute Abend zu einer kleinen Geſellſchaft, die
bei ihm ſtattfindet, eingeladen. Von unſerem Per¬
ſonal iſt außer dem Geſchäftsführer nur noch mir
dieſe Ehre zu Theil geworden . . . Es iſt kein Frackzwang,
wie man zu ſagen pflegt; ich werde in meinem ſchwarzen
Gehrock erſcheinen und wie ich glaube, ſehr gut ausſehen.
Ich bitte Dich daher, jetzt nicht ſo viele Fragen zu ſtellen,
da ich noch mancherlei Vorbereitungen zu treffen habe. Ich
bin ohnedies ärgerlich darüber, daß gerade heute dieſe Zänkerei
zwiſchen Euch ſtattfinden mußte. Daß die Eltern niemals
einſehen wollen, wie ſehr ſie ihre Kinder ſchädigen, wenn ſie
mit dem moderen Bildungsgang nicht gleichen Schritt halten.
Die Kleinen müſſen den Großen hübſch nachgeben . . . .
Sei ſo freundlich und gieb mir etwas klein Geld, vielleicht
ein Zwanzigmarkſtück. Es fehlen mir noch Kravatte, Hand¬
ſchuhe und andere Kleinigkeiten.“


Timpe war wie umgewandelt: der Vaterſtolz beſeelte
ihn wieder. Sein Sohn in einer Geſellſchaft bei Urban —
das genügte! Er ging ſofort nach dem altmodiſchen Schreib¬
ſekretär und langte in die Kaſſette, dann ſagte er:


„Hör' mal, ich glaube wirklich, daß ich etwas übereilt
gehandelt habe. Sieh' nur zu, daß Du die Geſchichte wieder
ins rechte Geleiſe bringen kannſt . . . Soll ich Dir vielleicht
den Gang abnehmen und Kravatte und Handſchuhe ſelbſt be¬
ſorgen? . . . Es iſt nicht weit.“


Franz machte ſeinem Vater die nöthigen Angaben und
ließ ihn gehen. Nach einer Viertelſtunde bereits kehrte der
[101] Alte, beladen mit mehreren Kartons zurück. Er war ſo ge¬
laufen, daß ihm trotz der Kälte der Schweiß auf der
Stirn ſtand.


„Hier, mein Junge — da kannſt Du Dir nach Belieben
ausſuchen. Ich habe Pfand gelaſſen, um es Dir bequemer zu
machen.“


Während der nächſten halben Stunde wurde die Welt
vergeſſen, um der Toilette Franzen's willen. Johannes bür¬
ſtete eigenhändig den ſchwarzen Gehrock ſäuberlich ab, und
Frau Karoline prüfte zehn Minuten lang die aufgeſchichteten
Plätthemden, ehe ſie eins auswählte, das ihrer Meinung nach
am tadelloſeſten war. Was in den ſeltenſten Fällen vorkam,
das geſchah heute: außer der Tiſchlampe mußten noch die bei¬
den großen Kugellampen, die auf dem Spinde ſtanden, ihr
Licht in der guten Stube leuchten laſſen; denn um dem
Großvater nicht wieder Veranlaſſung zu allerlei Bemerkun¬
gen zu geben, mußte die Toilette in dieſem Zimmer vor ſich
gehen.


Timpe und ſein Weib überboten ſich förmlich in Aufmerk¬
ſamkeiten ihrem Einzigen gegenüber. Alle Augenblicke klang
es an Franzen's Ohr:


„Brauchſt Du auch noch etwas? ... Kann ich Dir noch
behülflich ſein? ... Vergiß nur nichts ...“


Die Kravatte wollte nicht recht ſitzen; ſofort waren vier
Hände bereit, den lang herabfallenden weißen Knoten in die
gehörige Lage zu bringen; und der Meiſter zog die Binde
hinten am Stehkragen ſo feſt zu, daß ſeinem Sohne förmlich
der Hals zugeſchnürt wurde. Und während der ganzen An¬
kleidungsſcene ſtand Franz wie ein junger Gott vor dem
großen altväteriſchen Trumeau und betrachtete ſich mit Wohl¬
[102] gefallen. Die Friſur und der ſproſſende Bart nahmen ſeine
ganze Theilnahme in Anſpruch; namentlich lagen ihm die
Spitzen des letzteren ſehr am Herzen. Zuletzt glaubte er
ohne Pomade ihnen nicht die gehörige Steifheit geben zu
können, deren ſie dringend bedurften, um ihre Wirkung
vollendet zu machen. Als er darüber kaum eine Bemerkung
fallen gelaſſen, griff ſein Vater auch ſchon wieder zum Hut
und entfernte ſich ſchleunigſt, um das Gewünſchte vom nächſten
Barbier zu holen.


Endlich war die Toilette fertig, warf Franz den letzten
prüfenden Blick in den Spiegel. Vater und Mutter ſtanden
hinter ihm mit emporgehobenen Lampen und waren nicht
minder entzückt von ihm, als er ſelbſt von ſich. Und wenn
die Blicke der beiden Alten ſich zufällig begegneten, ſo konnte
man aus ihnen die Worte leſen: Ein Prachtjunge, nicht
wahr, Vater? . . . Er wird alle jungen Männer in den
Schatten ſtellen, Alte, he? . . .


Als er dann den Hut aufgeſetzt und den Ueberzieher an¬
gezogen hatte, vermochte Frau Karoline nicht mehr zu
ſchweigen. Sie gab ihm mit der flachen Hand einen Schlag
auf den Rücken und ſagte zärtlich: „Du biſt ein ſchöner
Menſch.“ Und auch ihr Mann fiel ein: „Ein ſtattlicher
Kerl! Du haſt wahrhaftig ſchon das Gardemaß.“


Franz wollte gehen, als ihm einfiel, daß er etwas ver¬
geſſen habe. So holte er denn noch ein Fläſchchen wohl¬
riechenden Waſſers hervor und beſpritzte damit ſein Taſchen¬
tuch. Das ganze Zimmer wurde ſofort von dem durchdringen¬
den Duft angefüllt. Die Naſenflügel der Eltern erweiterten
ſich merklich, denn ſeit langer Zeit hatte man einen derartigen
Wohlgeruch in dem ſchlicht-bürgerlichen Hauſe nicht verſpürt.


[103]

Als Franz noch bemüht war, dem Ehepaar die Unzer¬
trennbarkeit dieſes echt franzöſiſchen Odeurs von der „guten
Geſellſchaft“ (er betonte dieſe Worte ausdrücklich) ausein¬
ander zu ſetzen, ſchreckten ſie leicht zuſammen, denn ſie ver¬
nahmen wie im Nebenzimmer der Stock des Großvaters auf
die Erde geſetzt wurde und das Geräuſch ſeiner Tritte näher
kam. Gleich darauf trat der Alte ein. Er hatte bereits
längſt gemerkt, daß man ihm wieder etwas zu verheimlichen
verſuche, und von Groll erfüllt ſeinen Sorgenſtuhl verlaſſen,
um ſich zu überzeugen, was man vorhabe. Bei ſeinem Her¬
eintreten merkte er an der Lichtfülle, die auf ſeine Augen¬
lider eindrang, daß etwas Außergewöhnliches vorgehen müſſe.
Als er die Thür geſchloſſen hatte, blieb er ſtehen, hob den
Kopf, blähte die Naſe und ſagte:


„Das riecht ja hier wie in einer Apotheke. Dieſe ewige
Geheimthuerei paßt mir nicht mehr! Ich gehöre mit zur
Familie; was hier im Hauſe vorgeht, kann ich ebenfalls er¬
fahren. In früheren Zeiten hatte man ſich gegenſeitig
nichts zu verbergen, ſprach offen und ehrlich mit einander,
wenn es auch einmal ein paar Grobheiten gab. Heutzutage
aber ſcheint die Welt nur noch verlogen zu ſein und Jeder¬
mann darauf auszugehen, ſeinen Nächſten zum Narren zu
haben ... Geht nur mit eurem Söhnlein zum Balle,
präſentirt ihn wie einen Modeaffen: ihr werdet doch die
Drechslermeiſter Timpe'ſchen Eheleute bleiben. Es ſchenkt
euch Niemand einen Dreier.“


Man merkte nur zu ſehr: er hatte wieder einen Anfall
von Gallſucht bekommen, der ihn über die Fliege an der
Wand ſich ärgern ließ. Franz wollte aufbrauſen. Seit langer
Zeit bereits hatte er den Entſchluß gefaßt, dieſem, ſeiner An¬
[104] ſicht nach zänkiſchen Alten, der weiter nichts verſtand, als von
früh bis ſpät Moral zu predigen, einmal gehörig die Wahr¬
heit zu ſagen. Er, der bereits angeſehene Franz Timpe, dem
heute die große Ehre zu Theil werden ſollte, in einer der
wohlhabendſten Fabrikantenfamilien mit ſeiner Anweſenheit zu
glänzen, der an geſellſchaftlicher Bildung und an Kenntniß
des modernen Lebens dieſer lebenden Ruine weit überlegen
war, ſollte ſich immer noch wie ein Schuljunge behandeln
laſſen? Dagegen mußte einmal gründlich Oppoſition gemacht
werden. Ich werde einmal eine „Szene“ machen, dachte er
bei ſich, als er nach vielen Mühen endlich den letzten Knopf
der Handſchuhe zugeknöpft hatte.


Johannes und Karoline, die ſchon an ſeiner unwilligen Be¬
wegung die kommenden Dinge vorausſahen, gaben ihm einen Wink,
ruhig zu ſein und ſich zu entfernen. Dann verſuchte der
Meiſter ſeinem Vater jedes Mißtrauen zu nehmen.


„Du thuſt uns Unrecht, Vater,“ ſagte er ſanft. „Franz
hat ganz plötzlich eine Einladung von ſeinem Chef bekommen
und da er ſich ſchnell ankleiden mußte, wollten wir Dich nicht
ſtören —“


Im nächſten Augenblick fiel Franz hochmüthig ein:

„Ich weiß nicht, Vater, daß Du Dich noch entſchuldigſt;
Du biſt doch hier Herr im Hauſe. Wenn alte Leute wunder¬
lich ſind, ſo iſt damit noch nicht geſagt, daß ſie das Recht
haben, ihre Naſe in alle Dinge zu ſtecken. Es iſt gerade,
wie mit den Bären: ſie halten ihren langen Winterſchlaf,
und wenn ſie erwachen, wundern ſie ſich darüber, daß in¬
zwiſchen das junge Grün hervorgekommen iſt . . . Ich laſſe
mir eine derartige Behandlung nicht mehr gefallen! Ich ge¬
höre bereits einer Studentenverbindung an und werde mich
[105] bald verloben. . . . In den Kreiſen, in denen ich verkehre,
ſchätzt man mich als einen gebildeten, jungen Mann, ich bitte
mir daher ein- für allemal aus, das nicht zu vergeſſen.“


Timpe und ſeine Frau waren über dieſe Rede ſo entſetzt,
daß ſie zwiſchen Großvater und Enkel traten, als befürchteten
ſie einen Angriff des Greiſes. Dieſer regte ſich nicht von der
Stelle, brach aber plötzlich in ein helles Gelächter aus, das
ſich unheimlich anhörte. Dann ſagte er ein über das an¬
dere Mal:


„Der grüne Junge will ſich verloben, verloben will
er ſich! Und iſt hinter den Ohren noch nicht trocken ge¬
worden!“


Nachdem er ſeinem Spotte genügend die Zügel hatte
ſchießen laſſen, zeigte er ſein altes ernſtes Geſicht. Die er¬
loſchenen Augen hatten ſich nach der Stelle gerichtet, von wo
aus er die Stimme ſeines Sohnes vernommen hatte. Vorn¬
übergebeugt, die beiden knochigen Hände auf die Krücke des
Stockes geſtützt, ſtand er unbeweglich da, gleich einer Statue.
Es war einige Sekunden lang ſo ſtill im Zimmer, daß man
vermeinte, ſein leiſes Athmen zu hören. Er ſchien auf etwas
zu warten.


„Nun, Johannes, Du giebſt Deinem alten Vater keine
Genugthuung?“


Der Meiſter antwortete nicht, aber Karoline glaubte
vermitteln zu müſſen. „Großvater“, ſagte ſie, „Sie ſind auf¬
geregt. Es iſt ſpät, gehen Sie zu Bett. Er iſt doch unſer
Sohn, er hat Ihnen nichts gethan.“


Der Alte rührte ſich noch nicht, aber ſein Geſicht war
immer noch nach Johannes gerichtet. Endlich ſagte er lang¬
ſam, mit erhobener Stimme:

[106]

„Du ſollſt Deinen Vater und Deine Mutter ehren, auf
daß es Dir wohlgehe und Du lange lebeſt auf Erden. ...
Ihr habt vergeſſen, ihm die Zuchtruthe zu geben — wehe
Dir, Johannes, wenn der Tag kommt, wo er, der da ſteht,
vergißt, was Du an ihm gethan haſt. ... Gute Nacht!“


Er drehte ſich um und verließ das Zimmer nach dem
Flur hinaus, wo er leiſe ſtöhnend die Treppe erklomm.


Und auch Franz ging mit kurzen Abſchiedsworten.
Meiſter Timpe aber wiſchte ſich verſtohlen eine Thräne aus
den Augen, wußte aber ſelbſt nicht, wem ſie gelte: dem
Vater oder dem Sohne.


[[107]]

VIII.
„Erſt mein Chef, dann ich.“

Ah, da iſt er ja!


Mit dieſen Worten Urbans wurde Franz empfangen,
als er das Haus in der Nachbarſtraße betreten hatte.
Die ganze Familie war im großen Balkonzimmer verſammelt,
deſſen Kryſtallkrone im Lichterglanze funkelte. An jedem erſten
Mittwoch im Monat während der Winterzeit pflegte Frau
Urban ihrer Töchter wegen eine kleine Geſellſchaft zu geben.
Die heutige war die erſte, ſeitdem ſie ihren Wittwenſtand auf¬
gegeben hatte. An ſolchen Abenden wurden nur der Familie
naheſtehende Perſonen eingeladen, unter denen ſelbſtverſtänd¬
lich die jungen Männer nicht fehlen durften. Es wurde
muſizirt, geſungen, ein kleiner Scherz arrangirt; man aß und
trank gut (eine Beſchäftigung, die gewöhnlich am längſten aus¬
gedehnt wurde), klatſchte ein wenig, verabredete größere ge¬
ſellſchaftliche Zuſammenkünfte, wagte zum Schluß ein kleines
Tänzchen und trennte ſich erſt nach Mitternacht mit der gegen¬
ſeitigen Verſicherung, ſeit langer Zeit ein derartiges Amüſe¬
ment nicht genoſſen zu haben — eine Redensart, die jeder ſo
[108] nachdrücklich äußerte, als wollte er das Recht ihrer Erfindung
für ſich in Anſpruch nehmen.


Seitdem Urban Herr im Hauſe war, hatte er die Ab¬
ſicht, die Geſellſchaften zu jener Höhe zu erheben, die ſeiner
Meinung nach der Klang ſeines Namens erforderte. Die
ſchlicht-bürgerlichen Familien, mit denen ſeine Frau ſeit vielen
Jahren eng befreundet war, behagten ihm nicht mehr. Mit
dem Gelde, das die neue Ehe gebracht hatte, war ein kleiner
geſellſchaftlicher Größenwahn bei ihm eingezogen. Baute er
nicht eine rieſige Fabrik, hoffte er nicht alle kleinen Konkur¬
renten todt zu machen, Reichthümer auf Reichthümer zu
häufen? Was konnte ihm alſo dereinſt fehlen! Gleich ſeinem
langen Schlingel von Lehrling träumte er bereits mit offenen
Augen von einem Kommerzienrathstitel, diverſen Orden und
einem ewigen Denkmal in der induſtriellen Entwicklung ſeines
Landes.


Es war überhaupt merkwürdig, wie in vielen Dingen Herr
Ferdinand Friedrich Urban, deſſen Schädel bereits hin und wie¬
der die lichten Stellen der Erkenntniß durch das Haar ſchimmern
ließ, mit dem kaum flügge gewordenen Franz Timpe ſympa¬
thiſirte. Der kluge Geſchäftsmann hätte keine Welterfahrung
beſitzen müſſen, um nicht zu bald das Streberthum in dem
angehenden Kaufmanne zu entdecken. Aus manchem gewitzten
Einfall, den Franz im Komtor bekam, ſprach ſo viel geſunder
Menſchenverſtand, daß der Fabrikant mit der Zeit vor dem
jungen Manne eine gewiſſe Achtung bekommen hatte, die
noch dadurch geſteigert wurde, daß Franz an guten Manieren
und Bildung den meiſten ſeiner Kollegen weit überlegen war.
Und nicht zuletzt fühlte er ſich durch die hübſche Erſcheinung
Timpe's junior gefeſſelt. Mit wenig Worten: es war ein
[109] gewiſſes inſtinktives Gefühl der Zuſammengehörigkeit,
das den kleinen Chef und ſeinen in die Höhe geſchoſſenen
Lehrling leitete, bei jeder Gelegenheit ihre Weisheit
auszutauſchen und wie zwei Menſchen zu verkehren, deren
Zuneigung den Unterſchied der Jahre und den Abſtand ihrer
ſozialen Stellung vergeſſen macht.


So war es denn erklärlich, wenn Urban Franzens Ein¬
treten mit einem kleinen Artilleriefeuer von Worten begrüßte,
das hauptſächlich darauf hinauszielte, aus dem jungen Manne
eine gewichtige Perſon zu machen. Das rothſeidene Taſchen¬
tuch wie eine Flagge in der Hand ſchwingend, eilte er ihm
ſofort entgegen, nahm ihn unter den Arm und ſchritt auf die
fremden Herrſchaften zu, um ihn vorzuſtellen. Und Franz,
der dieſe Auszeichnung zu ſchätzen wußte und dadurch ſicher
gemacht wurde, verbeugte ſich vor den Damen ſehr galant,
lächelte verbindlich und küßte der Frau vom Hauſe die Hand.
Jedesmal, wenn er wieder zurückſchnellte und ſich
emporgerichtet hatte, betrachtete er kokett die Spitzen
ſeiner glattſitzenden Handſchuhe und gab ſich die
möglichſte Mühe, mit einer Augenverrenkung die Wieder¬
ſpiegelung ſeines eigenen Ich's in einem Kryſtalltrumeau
zu erhaſchen, der hinter ihm das Bild des Abends zurück¬
ſtrahlte.


Sämmtliche Anweſende ſaßen zerſtreut in dem großen
Salon umher; die jungen Leute etwas entfernt in den
äußerſten Ecken und die älteren im Halbkreis um Frau
Urban, die ganz in ſchwarze Seide gekleidet, äußerſt im¬
ponirend ſich ausnahm. Zu ihrer Rechten ſitzend, in eine
bauſchige, blaßrothe Robe gehüllt, die den Lehnſtuhl förmlich
vergrub, machte ſich Frau Ramm, die Gattin des Dachpappen¬
[110] fabrikanten in der Köpnickerſtraße bemerkbar. Ihr auffallend
kleines Geſicht zeigte ſo geſunde, rothe Wangen, daß man
es erſt mit einiger Mühe aus dem Gewirr von gleich¬
farbigen Spitzen und Buſenſchleifen heraus erkennen
konnte. Wenn ſie ſprach, liſpelte ſie nur, ſo daß die
meiſten ihrer Worte verloren gingen und ſie aus alter
Angewohnheit, ohne daß ſie gefragt wurde, jeden Satz,
dreimal wiederholte. Der große, mit Federn beſetzte
Atlasfächer bewegte ſich ſchwirrend wie ein Rieſenſchmetter¬
ling auf und ab, wobei in den weiten Aermeln ein ſehr
knöcherner Unterarm ſich zeigte, der den ſtillen Kummer
ihres Gemahls bildete. Dieſer ſelbſt, ein hagerer, langer
Herr, der, bevor er in das Geſpräch ſich miſchte, ſeine Frau
ausreden ließ, ſtand hinter ihr, auf die hohe Lehne eines ge¬
ſchnitzten Stuhles geſtützt, und nickte ſehr verbindlich nach
jedem Worte, das Frau Urban zu ihm ſprach, ſodaß auf die
Dauer die Aehnlichkeit mit einem rieſigen Spaßvogel des
Berliner Weihnachtsmarktes nicht ausgeſchloſſen bleiben
konnte. Er hielt ſich äußerſt zurück und wagte ſelten eine
eigene Meinung. Eingeweihte behaupteten, dieſe Neutralität
hinge mit der Thatſache zuſammen, daß Frau Kirchberg, ge¬
wordene Frau Urban, eine erſte Hypothek auf ſeinem Grund¬
ſtück beſitze, deren Kündigung jeden Tag erfolgen könne.


Außerdem gehörten zu dieſem Cercle noch drei andere
Ehepaare: ein ſehr vermögender Weingroßhändler nebſt
Frau, dem man ſein Gewerbe ſehr deutlich an der Naſe anſah.
und welcher bei jeder neuen Zuſammenkunft die heilige Ver¬
ſicherung bereit hatte, daß Paris, wo er einige Jahre gelebt
hatte, unbeſtreitbar die großartigſte Stadt der Welt ſei; ein
korpulenter, ſehr für Kunſt ſchwärmender Rentier mit einer
[111] Gattin, die in Verzückung gerieth, wenn ihr Mann ſprach,
und ein reicher Tuchhändler aus der Königsſtadt, deſſen viel
jüngere Ehehälfte ihm an Bildung weit überlegen war und
daher jeden günſtigen Moment benutzte, bei geiſtreichen
Geſprächen für ihren Mann das Wort zu ergreifen. Dieſer
gab dann den Kampf ſehr bald auf und zog ſich in eine
ſtille Ecke zurück, wo er in Geſellſchaft des Weingroßhändlers
über die Verfälſcher des edlen Rebenſaftes das
Todesurtheil fällte und ein Glas nach dem andern
leerte. Der letztere glaubte dann den Augenblick
gekommen, der eine Ueberreichung ſeines Preiskourantes
nothwendig mache. Der Tuchhändler verſprach zu
beſtellen, that es aber niemals. Er beſaß bereits
eine ganze Kollektion derſelben Karten. „Soll ich einmal
meiner Frau imponiren und eine Rede halten?“ ſagte er
dann in ſeliger Stimmung. — „Thun Sie es lieber nicht.
Die Wirkung dieſes Weines, der aus meinen Kellern ſtammt,
iſt unberechenbar. Sie könnten in Schwung kommen und
heute nicht mehr aufhören“, rieth der Weinhändler ihm ab.
Man trank dann ruhig weiter.


Intereſſant für den Schönheitsenthuſiaſten war jeden¬
falls nur die jüngere Generation, die größtentheils in enger
Beziehung zu der älteren ſtand. Fräulein Thereſe Ramm,
die intime Freundin Emma's, pflegte an ſolchen Abenden ge¬
ſprächiger zu ſein und den jungen Männern gegenüber viel
von ihrer Schüchternheit zu verlieren. Ihre Mutter hegte
in derartigen Minuten die größten Hoffnungen und verfolgte
ſie mit leuchtenden Blicken, ſobald ſie wahrnahm, daß einer
der jungen Männer ein längeres Geſpräch mit ihr angeknüpft
hatte.


[112]

„Sehen Sie nur meine Liebe“, ſagte ſie dann leiſe zu
Frau Urban, „ſieht meine Thereſe nicht reizend aus? Sie
wird gewiß noch einmal eine glänzende Partie machen“.


Der Weingroßhändler hatte ſeinen Sohn mitgebracht,
einen ſehr liebenswürdigen, blondgelockten jungen Mann,
der in einem Konſervatorium Muſik ſtudirte, den ganzen
Abend über von Beethoven ſchwärmte und ſehnſüchtig
auf den Augenblick wartete, wo die Damen ihn auffordern
würden, ſich an's Piano zu ſetzen, um von ſeiner Kunſt¬
fertigkeit etwas zu hören. Ramms glänzten ebenfalls durch
einen Sohn, der Komtoriſt im Geſchäfte ſeines Vaters
war, eine ausgezeichnete Kenntniß der Dachpappenfabri¬
kation beſaß und die Angewohnheit hatte, fortwährend an
ſeinem Schnurrbart zu kauen — eine unausſtehliche Be¬
ſchäftigung, der er bereits den Verluſt eines Theiles
ſeiner Manneszierde zu verdanken hatte. Die jungen
Damen fanden das abſcheulich, während Frau Ramm es
mit ſeiner Nervoſität entſchuldigte. Die Eltern brachten ihn
nur um deswegen mit, weil ſie der Hoffnung lebten, es
könne ſich zwiſchen ihm und Fräulein Bertha Kirchberg, der
zweiten Tochter Frau Urbans, ein zur Ehe führendes Ver¬
hältniß entſpinnen — ein wohlüberlegter Plan, der aber an
der Abneigung der am meiſten betheiligten Perſonen zu
ſcheitern drohte. Fräulein Bertha hatte ihn nämlich im Ge¬
heimen mehrmals für einen „Gräſſel“ erklärt. Trotzdem gab
Herr Ramm junior ſeine erneuerten Anläufe nicht auf,
ſchwamm vielmehr ſchon beim bloßen Anblick der Still¬
geliebten in jenem ſeeligen Wonnemeer, aus dem der un¬
glücklich Liebende nur durch eine rauhe Hand oder einen
kalten Waſſerſtrahl gerettet werden kann.


[113]

Alwine, das älteſte Fräulein Kirchberg durfte ſich bereits
glückliche Braut nennen. Ihr Verlobter, ein ſehr begabter
Architekt, von einnehmender, echt männlicher Erſcheinung,
ſtammte aus einer ſehr wohlhabenden Familie, die durch lang¬
jährige Freundſchaft mit Frau Urban verbunden war. Da
man es hier mit einer tadelloſen, glänzenden Partie
zu thun hatte, in der beide Theile „gleich ſchwer wogen“, ſo
erregte das junge Pärchen den geheimen Neid aller derjenigen
Mütter, die ſich bisher einer derartigen glücklichen Ausſicht
für ihre Töchter nicht erfreuen durften. Und da Fräulein
Alwine mehr durch Erziehung und Bildung, als durch Schönheit
glänzte, ſo war es von Allen Frau Ramm, welche oft zu der
Frau des Rentiers die Meinung äußerte, daß der „Herr
Architekt“ auch noch „eine Andere“ bekommen könnte. Es
war wohl nur der reine Zufall, wenn nach dieſen Worten
ihr Blick zu Thereſen hinüberglitt.


Unter den jungen Leuten, die ſonſt noch die Gunſt der
Hausfrau zuſammengeführt hatte, dürfte außer dem Geſchäfts¬
führer Herrn Urbans nur noch Herr Knispel erwähnenswerth
ſein: ein blutjunger Mann von faſt mädchenhafter Zierlichkeit,
deſſen Humor keine Grenzen kannte, der jede Minute bereit ge¬
weſen wäre, aus Aufmerkſamkeit gegen die Damen ſein Leben
zu laſſen und in Folge deſſen bei dieſen ſehr beliebt war,
wenn ſchon man ihn wie einen kleinen luſtigen Kobold be¬
handelte, dem gegenüber man glaubte ſich alles erlauben zu
dürfen.


Urban ſorgte dafür, daß ſein Lehrling mit den anweſen¬
den, ihm fremden Perſonen ſehr raſch vertraut wurde; und
Franz verſtand es auch, ſich ſo artig zu benehmen, ſo wohl¬
geſetzte Komplimente zu machen, das Vortheilhafte ſeines
Kretzer, Meiſter Timpe. 8[114] Aeußeren ſo vortrefflich in das gehörige Licht zu bringen, daß
Frau Häberlein, die junge und geiſtreiche Gattin des Tuch¬
händlers, zu der Gaſtgeberin die inhaltſchwere Bemerkung
machte: „Man ſieht doch bei einem jungen Manne auf den
erſten Blick, was die Erziehung macht. Ein liebenswürdiger,
netter Menſch!“


Wenn das Timpe, der Aelteſte gehört hätte!


Die Lebensgefährtin des Weingroßhändlers. Frau Roſé
(ihr Mann hatte, als er aus Paris zurückgekehrt war, es für
vortheilhafter gehalten, ſeinen echt deutſchen Namen durch
das Hinzufügen eines Zeichens in einen franzöſiſchen zu ver¬
wandeln), lobte ſeinen ſchönen Wuchs. Zum Schluß ver¬
mochte auch die Frau Rentiere mit ihrer Bewunderung nicht
zurückzuhalten.


„Er ſieht wie ein junger Fähnrich aus“, ſagte ſie zu
Frau Urban gewendet.


Frau Ramm lachte bei dieſer Bemerkung hörbar hinter
ihrem Fächer.


„Er ſtammt gewiß aus gutem Hauſe, nicht wahr meine
Liebe?“ fragte Frau Häberlein, worauf ſich hinter dem
Rieſenfächer ein diesmal verſtärkteres Lachen vernehmen ließ.
Da Frau Ramm durch ihre Tochter Thereſe bereits erfahren
hatte, welche Begünſtigung Franzen in dieſem Hauſe zu Theil
wurde und ſie ſich dabei der Zurückſetzung ihres Sohnes von
Seiten Berthas erinnerte, ſo brachte ſie Timpe junior gerade
keine Sympathie entgegen.


„Er iſt weder das Eine, noch das Andere“, erwiderte
Frau Urban. „Seine Eltern ſind einfache Handwerksleute,
die es mit der Zeit zu einem gewiſſen Wohlſtand gebracht
haben und in Folge deſſen alles aufwenden, um ihrem ein¬
[115] zigen Sohn den Weg in die beſſeren Kreiſe der Geſellſchaft
zu bahnen . . . . Der junge Mann iſt Lehrling in unſerem
Geſchäft.“


Frau Häberlein war nun ſehr enttäuſcht darüber, daß
ſie mit dem „Fähnrich“ nicht das Richtige getroffen hatte;
und Frau Roſé ſagte ſehr naiv: „Wie man ſich doch manch¬
mal täuſchen kann! Faſt hätte ich behauptet, er wäre ein
angehender Referendär.“


Nach dieſen Worten ließ ſich zum dritten Male das
kichernde Lachen der Frau Dachpappenfabrikant vernehmen,
dem dann die Bemerkung folgte:


„Es wird noch gute Weile haben, ehe er das erreicht
haben wird, was mein Arthur iſt . . . Die jungen Leute von
heute legen allen Werth auf das Aeußerliche, wogegen doch
der innerliche Menſch das Maßgebendſte iſt. Mein Arthur
zum Beiſpiel giebt auf dieſen Firlefanz nichts; dafür iſt er
aber ein tüchtiger Kaufmann, der ſeine Frau glücklich machen
wird. Er liebt das Gediegene“.


„Ein tüchtiger Kaufmann wird der junge Mann dereinſt
auch werden, meine liebe Frau Ramm; und durch ſeine
äußerlichen Vorzüge wird er Jedermann doppelt willkommen
ſein“, erwiderte Frau Urban ſehr verſtändnißvoll für die
kleine Dame im mattrothen Kleide, um dem unleidlichen
Thema eine andere Wendung zu geben.


Franz geſellte ſich zu den jungen Leuten, die ihm ſehr
freundlich entgegen kamen; ausgenommen Arthur Ramm.
Dieſer hatte bemerkt, daß der junge Timpe auch von Bertha
ſehr herzlich begrüßt worden war und begann daher ärger
als ſonſt an ſeinem Schnurrbart zu kauen. Erſt als er ſah,
daß Franz und Emma in ein Nebenzimmer ſich zurückzogen
8*[116] und ſie verſtohlen außerordentlich zärtlich thaten, änderte ſich
ſeine Stimmung, vertrieb die alte Hoffnung die aufgeſtiegene
Eiferſucht.


Emma fühlte ſich glücklich, als ſie mit Franzen die
erſten Liebesworte an dieſem Abend austauſchen konnte. Da
Thereſe in ihr Geheimniß gezogen war, ſo hatte dieſelbe das
Amt einer Beſchützerin übernommen. Sie ſtand mit aus¬
geſtreckten Armen mitten in der Thür, drehte dem Pärchen
den Rücken zu und ſchaukelte ſich hin und her. Sie glaubte
ſo Jedermann den Eingang verwehren zu können.


„Es hat doch bis jetzt Niemand etwas von unſerem
Verhältniß bemerkt?“ fragte Franz.


„Ich traue Alwine nicht“, erwiderte Emma; „ſie macht
hin und wieder ſo ſonderbare Anſpielungen, daß ich befürchte,
ſie hat uns einmal in der Konditorei geſehen oder meine
Schreibmappe durchkramt.“


„Nun gedulde Dich nur, mein ſüßes Schäfchen,“ ſagte
Franz darauf mit der ganzen Würde, die ihm zu Gebote
ſtand; „die Zeit wird auch kommen, wo ich mich Deiner
Mutter in aller Form erklären werde.“ Mit der ganzen
Keckheit ſeiner jungen Jahre drückte er ſie herzhaft an ſich
und brachte ſeine Lippen mit den ihrigen in Berührung.


In demſelben Augenblick ertönte ein leiſer Zuruf Thereſens,
begleitet von einem Wink; aber beides war nutzlos und ohne
Wirkung, denn der kleine Herr Urban hatte ſich bei Fräulein
Ramm vorbei durch die Thür gedreht und den herzlichen Ge¬
fühlsaustauſch ſeiner Stieftochter und ſeines Lehrling mit an¬
geſehen.


Sein Geſicht erweiterte ſich zu einer eigenthümlichen
Grimaſſe, die ungefähr den Mittelpunkt zwiſchen Weinen und
[117] Lachen hielt. Einige Augenblicke ſtand er regungslos auf
einem Fleck und blickte, das linke Auge liſtig zuſammen¬
gekniffen, mit ſchräg geſenktem Haupte über die Brille hinweg
zu Beiden hinüber. Die rechte Hand bewegte ſich mit dem
rothſeidenen Taſchentuche hin und her. Dann kicherte er
leiſe, erhob den Kopf mit einem plötzlichen Ruck nach hinten,
ſo daß die Naſe den Höhepunkt des ganzen Menſchen bildete
und ſchritt auf das Fenſter zu.


„So weit ſeid Ihr ſchon? Die Sache iſt ja recht feier¬
lich, wenn die Geſchichte ſich auch machen wird . . . . Wer
gab Ihnen das Recht, Herr Timpe, die Güte Ihres Chefs
auf ſo hinterliſtige Art und Weiſe zu mißbrauchen? Sie
haben wirklich den Muth, ſehr hoch hinaus zu wollen.“


Er verſuchte, ſehr ernſt zu erſcheinen; es gelang ihm
aber um deßwillen nicht, weil er in einer derartigen Ver¬
faſſung komiſcher als ſonſt wirkte. Franz wurde ſehr ver¬
legen und ſchwieg wie ein Schuljunge, der beſchämt vor
ſeinem Lehrer ſteht. Emma aber war ſehr roth geworden und
wandte ſich ab, um ihr Antlitz zu verbergen. Daß ihr
Stiefvater es gerade ſein mußte, der zuerſt ihr Herzens¬
geheimniß entdeckte! Sie ärgerte ſich mehr darüber, als ſie
Furcht empfand. Und da ſie aus ihrer Abneigung gegen den
zweiten Mann ihrer Mutter niemals ein Hehl gemacht,
und längſt den Augenblick herbeigeſehnt hatte, wo ſie dieſer
Antipathie einmal gehörig Luft machen könne, ſo drehte ſie
ſich plötzlich um und ſagte mit einem Trotz, der auf Urban
geradezu verblüffend wirkte:


„Jawohl, wir ſind ſchon ſo weit, um uns gern zu haben!
Sie werden davon gehört haben, daß Herr Timpe mein
Jugendgeſpiele war, und da wird Ihnen Manches erklärlich
[118] erſcheinen. Was mich betrifft, ſo will ich es von jetzt ab
Niemand verſchweigen, daß ich Herrn Timpe ſehr zugethan
bin. Gewiſſe Leute aber haben ſich gar nicht darum zu
kümmern, am allerwenigſten alte wunderliche Herren, die
auf Gummiſchuhen herangeſchlichen kommen, um den Spion
zu ſpielen.“


Franz war entſetzt über dieſe Worte; während ſeine Augen
von dem jungen Mädchen zu ſeinem Chef irrten, ſagte er:


„Aber Fräulein Emma, Sie vergeſſen ſich!“


Urban aber ſchien den Groll ſeiner jüngſten Stieftochter
nicht beſonders tragiſch aufzufaſſen.


„Sehen Sie, lieber Timpe,“ begann er ruhig, „da haben
Sie das Reſultat einer falſchen Erziehung; nehmen Sie ſich
ein Beiſpiel daran, wenn Sie dereinſt Kinder haben ſollten.
So etwas muß man ſich gefallen laſſen, wenn man drei er¬
wachſene Töchter mitgeheirathet hat, die einen um Kopfes¬
länge überragen. Ich ſoll ein Spion ſein, ſoll auf Gummiſchuhen
daherſchleichen, der ich in meinem Leben keine getragen habe!
... Was ſoll ich darauf erwidern? Soll ich mich ärgern?
Ich weiß wohl, daß viele Menſchen es gern ſehen würden,
aber ich thue ihnen nicht den Gefallen! Es iſt Prinzip bei
mir, mich nicht zu ärgern; denn ich habe in meinem
Leben keinen Pfennig dabei verdient; und ein ſehr
ſchlechter Kaufmann, der Zeit auf Dinge verwendet
die ihm nichts einbringen ... Ihnen bin ich nicht böſe.
Kommen Sie, ich habe mit Ihnen zu reden ... Un¬
verſtändige junge Mädchen überläßt man am beſten dem
Alleinſein.“


Und wie am heutigen Abend bereits einmal, erfaßte er
den Arm ſeines Lehrlings und zog dieſen mit ſich fort in
[119] das große Balkonzimmer, Emma in einer nichts weniger als
angenehmen Stimmung zurücklaſſend; denn ſie war durch die
Liebenswürdigkeit, mit der Urban Franzen immer aufs Neue
entgegentrat, entwaffnet. Um aber ihrem Stiefvater zu be¬
weiſen, daß ſie ſich durchaus nicht getroffen fühle, unterdrückte
ſie ihren Unmuth mit Gewalt und kehrte ebenfalls zu der
Geſellſchaft zurück.


Hier begann nach und nach die Gemüthlichkeit ſich
zu ſteigern. Herr Kniſpel, der Allerweltshumoriſt,
nahm auf einige Zeit die Aufmerkſamkeit der Herr¬
ſchaften in Anſpruch. Dem Drängen der Damen nach¬
gebend, hatte er ſich vor der Glasthür des auf
einen Rohrſeſſel geſtellt und deklamirte ein platt¬
deutſches Gedicht von Reuter mit einer ſolchen Ausdrucks¬
fähigkeit und Komik daß der Frau Roſé, die eine geborene
Mecklenburgerin war, vor Lachen die Thränen über die Wan¬
gen liefen, alles in die heiterſte Stimmung gerieth und ſelbſt
der lange, hagere Herr Ramm aus ſeiner Reſervirtheit her¬
austrat und die Behauptung wagte, Fritz Reuter ſei doch
wirklich ein bedeutender Humoriſt geweſen. Urban, der bei
jeder Gelegenheit beweiſen wollte, daß er für Alles Verſtänd¬
niß beſitze, rief mehrmals ſehr laut „Bravo! Bravo!“ und
klaſchte zum Schluß gewaltig in die Hände. Die jungen
Damen waren mit dieſem einen Vortrag nicht zufrieden. Sie
umringten den Deklamator und flehten in allen Tonarten:
„Ach noch etwas anderes, lieber Herr Knispel“ . . . . „Sie
haben ja ſoviel davon auf Lager, beſter Herr Knispel . . . .“


Frau Urban machte jedoch dem Zureden ein Ende, in¬
dem ſie zur Tafel ins Nebenzimmer bat. Es wurde den
Beſuchern an derartigen Abenden gewöhnlich mit Thee
[120] und kaltem Aufſchnitt aufgewartet; heute dagegen hatte man
auf Wunſch des Hausherrn die weitgreifendſten Vorbereitungen
getroffen, um den Gäſten einen würdigen Begriff von der
neuen Ehe zu geben. Man erhob ſich denn auch ziemlich laut
und geräuſchvoll, und konnte den leuchtenden Geſichtern der
Ehepaare anmerken, wie freudig die Mittheilung der Haus¬
frau aufgefaßt worden war. Der Weingroßhändler, von dem
es bekannt war, daß er gern den Galanten ſpiele, wurde von
Frau Urban um ſeinen Arm gebeten; der letzteren Gatte
hakte Frau Roſé unter; der kleine Herr Kniſpel engagirte
Fräulein Bertha, zum großen Aerger Herrn Ramm's und
ſeiner Gemahlin, welche die vergeblichen Bemühungen
ihres Sohnes um dieſe Ehre mitanſehen mußten. Sie
waren nur inſofern etwas beruhigt, als ſie die Freude er¬
lebten, ihre Tochter Thereſe von dem jungen Herrn Roſé, dem
angehenden Virtuoſen, zu Tiſch geführt zu ſehen. Emma
war glücklich am Arme Franzens zu hängen. Und ſo zog
man denn lachend und ſcherzend in einer langen Reihe durch
die geöffneten Flügelthüren. Zuletzt folgte der Rentier mit
ſeiner Frau, die beim Eintritt die Naſenflügel ſehr merklich
dehnte und leiſe flüſterte: „Es giebt Gänſebraten, Du weißt,
ich eſſe ihn ſo gern.“ — Es war das eine der vielen pro¬
ſaiſchen Bemerkungen, die ihren für Kunſt ſchwärmenden
Mann in Verzweiflung brachten. „Du verſtehſt auch über
nichts anderes zu reden, als über das Eſſen“, gab er ſehr
unmuthig zurück, worauf ſie die Naſe rümpfte, und ant¬
wortete: „Mein Gott, davon lebt man ja . . .“ Er war
wie ſo oft auch diesmal geſchlagen und bedauerte zum hun¬
dertſten Male, einen Fehlgriff bei der Wahl ſeiner Lebens¬
gefährtin gethan zu haben.


[121]

Während der Tafelei war die Fidelität ſo geſtiegen, daß
man nach ihrer Aufhebung in der roſigſten Laune ſich befand,
muſicirte, ſang und in dem ausgeräumten Balkonzimmer das
Tanzbein ſchwang. Herr Roſé junior wechſelte mit dem Ar¬
chitekten den Platz am Klavier. Das junge Volk drehte ſich
im luſtigen Kreiſe; und ſelbſt die Alten, die in den Neben¬
zimmern gemüthlich beiſammen ſaßen, verſchmähten es nicht,
hin und wieder ein Tänzchen zu wagen.


Urban war der ſeligſte von allen. Selbſt ſeine älteſten
Bekannten hätten den ehemaligen, verbiſſenen Junggeſellen
nicht wieder erkannt. Er lief von einem Zimmer ins andere,
ſorgte für neue Weinbatterien und gab ſich die redliche
Mühe, gegen ſeine Gäſte ſo aufmerkſam als möglich zu ſein.
Da er dem Glaſe tapfer zuſprach, ſo gerieth er ſchließlich in
jene Stimmung, in welcher ein Parvenü nicht mehr recht die
Grenze zwiſchen dem, was ſich ſchickt und nicht ſchickt, inne
zu halten weiß. Er lief bald zu Dieſem, bald zu Jenem,
machte derbe Witze, über die er am lauteſten lachte, und
welche Herr Ramm, der ſich ſeiner freundlichen Geſinnung
verſichern wollte, für äußerſt treffend und geiſtreich erklärte.


Endlich konnte man ihn in der entfernteſten Ecke eines
nur ſpärlich erleuchteten Zimmers mit ſeinem langen Lehr¬
ling an einem Tiſchchen ſitzend erblicken, wo er ſich nicht
ſcheute, mit dem jungen Manne wie mit einem intimen Be¬
kannten anzuſtoßen und auf das Wohl der zukünftigen Fabrik
zu trinken. Und Franz, der bereits einen kleinen Rauſch weg
hatte, erblickte in ihm ſchließlich einen väterlichen Freund,
deſſen Geſellſchaft man am beſten zu würdigen glaubt, indem
man ihm ein über das andere Mal ein „Proſit! Proſit!“
zuruft, zu allen ſeinen Behauptungen „ja“ ſagt, und ihn im
[122] Innern für einen der vortrefflichſten Menſchen erklärt, den
die Erde jemals getragen hat.


„. . . Das ſoll hier noch anders werden, viel gro߬
artiger, Timpe, verlaſſen Sie ſich darauf! . . . Dieſe ſpie߬
bürgerliche Geſellſchaft muß man ſich vom Halſe ſchaffen.
Das kommt nur her, um zu eſſen und zu trinken, und die
Naſe in alle Ecken und Winkel zu ſtecken. Sie beſitzen etwas
Gentlemanartiges, Sie werden mich verſtehen . . . Meine
Frau iſt leider zu gut und zu ſchwach, um dieſe [Leute] ab¬
zuſchütteln; aber ich werde es thun. Was haben wir über¬
haupt von der ganzen Sippſchaft? Der Eine kommt her
um ſeinen faulen Wein an den Mann zu bringen, der Andere
möchte die Hypothek nicht gekündigt ſehen, und der Dritte
moquirt ſich im Stillen über die ſchlechten Oelbilder an der
Wand . . . Die Leute kenne ich . . . Wenn ich den Wein
heute ſo überreich fließen laſſe, ſo hat das ſeinen guten
Grund: Ich will aufräumen mit der Sorte, die nach
dem Korken ſchmeckt . . . Wenn meine Fabrik fertig iſt,
dann ſollen Sie einmal ſehen, was für Menſchen ich zu dem
Feſte einladen werde. Das muß Chic und Nobleſſe beſitzen.
Man muß von den Leuten etwas profitiren, durch ſie empor¬
kommen, ſie ausnutzen, denn umſonſt iſt der Tod. Gebe
ich tauſend Thaler aus, ſo müſſen ſie mir das Dreifache
bringen . . .“


Er war ordentlich in Feuer gekommen, machte eine
Pauſe, während welcher ihm Franz ſeine Zuſtimmung zu
Theil werden ließ, und fuhr dann fort:


„Halten Sie ſich nur recht brav, lieber Timpe, nehmen
Sie nur meine Intereſſen wahr, dann ſollen Sie ſehen, was
Sie an mir haben . . . Wenn Sie dem Mädel, der Emma,
[123] gut ſind und die Liebe zwiſchen Euch Beiden hält an: mein
Gott, weshalb ſollte aus Euch Beiden nicht noch ein Paar
werden! Sie ſind jung, Sie können noch warten. Sie
müſſen vor Allem erſt ein tüchtiger Kaufmann werden, ſich
in meinem Geſchäfte bewähren, dann bin ich nicht abgeneigt,
Fürſprecher bei meiner Frau zu werden. Das macht ſich über¬
haupt nachher ganz von ſelbſt. Aber wie geſagt: meine Intereſſen
wahrnehmen, rückſichtslos als Kaufmann ſich zeigen, Zahlen¬
menſch durch und durch werden, immer denken: Erſt mein
Chef
, dann ich! Dann werden Sie auch zu etwas kommen.
Wer weiß, was im Leben noch alles geſchehen kann: ſchon
mancher Chef hat ſeinen Untergebenen zu ſich emporgezogen,
wenn er ſich der Treue deſſelben verſichert halten durfte.
Vertrauen entgegenbringen — ſo heißt das Band, das uns
zuſammenhält. . . .“


Franz hatte die weinumnebelten Augen groß aufgeriſſen
und ſeinen Chef angeſtarrt. Ein Paradies der Zukunft
entſtand in ſeiner Phantaſie und zauberte ihm lachende
Bilder vor das Auge, die ſeine kühnſten Hoffnungen über¬
trafen. Niemals hätte er ſich träumen laſſen, daß man in
dieſem Hauſe ſeine Abſichten ſo leicht verſtehen würde. Was
er da vernahm, war ein halbes Zugeſtändniß ſeiner geheimſten
Wünſche. Er wollte etwas ſagen, aber Urban, der in ſeiner
gewohnten Weiſe ihn mit einem liſtigen Blick über die Brille
hinweg fixirt hatte, ließ ihn nicht zu Worte kommen.


„ . . . Sehen Sie, Timpe, ich habe Sie in mein Herz
geſchloſſen“, begann er auf's Neue, mit lallender Stimme,
die Worte abgebrochen hervorſtoßend, aber doch den Sinn
jedes einzelnen berechnend. „Sie ſind ein ganz anderer Kerl,
als Ihr Vater. Der iſt bockig, ſtarrſinnig wie ein orthodoxer
[124] Jude, der am Glauben ſeiner Väter hängt. Wenn es nach
ſolchen Leuten ginge, ſo würde die Welt keine Neuerung er¬
leben. ... Rathen Sie ihm nur vom Bauen ab und ver¬
drehen Sie ihm den Kopf nicht noch mehr, indem Sie ihn
dazu bringen, ſeine Artikel kaufmänniſch zu vertreiben.
Bleiben Sie hübſch bei mir, kehren Sie nicht mehr in den
beſchränkten Dunſtkreis des Handwerks zurück: Sie, ſo ein
Menſch, dem die ganze Welt offen ſteht! . . . Was ich gleich
ſagen wollte —“


Er brach kurz ab, machte eine Pauſe erkünſtelter Ver¬
legenheit und ſteuerte dann direkt auf ſein Ziel los.


„Richtig: Lieber Timpe, eine Liebe iſt der anderen werth,
Sie könnten mir einen kleinen Gefallen erweiſen . . . Ihr
Alter hat da gewiſſe Modelle hängen, an deren näherer Be¬
ſichtigung mir ſehr viel liegt. Er würde mir dieſelben jeden¬
falls ſehr gerne leihen, ſagte ich ihm nur ein Wort. Aber
ſeit heute Mittag iſt mir das unmöglich . . . Wenn Sie
vielleicht die Liebenswürdigkeit haben wollten . . . Es ſind
die Nummern dreizehn, zwanzig und dreißig . . . Jedoch
möchte ich nicht gern, daß Ihr Vater etwas davon erfährt.
He, wollen Sie? Schlagen Sie ein. Proſit! Wir ſtoßen
noch einmal an auf das Gelingen der Fabrik und auf Ihre
Zukunft! . . . Verlaſſen Sie ſich darauf: Sie werden noch
ein großer Mann.“


Wenn Urban weiter nichts verlangte! . . . Franz ſchätzte
ſich unendlich glücklich, ſeinem Chef für all' die Liebenswürdig¬
keit, die ihm entgegengebracht wurde, einen kleinen Gegendienſt
leiſten zu dürfen. Wer konnte wiſſen, ob dieſe kleine Gefällig¬
keit nicht die erſte Staffel zu der einſtigen Compagnieſchaft
bildete . . .


[125]

Aus dem großen Balkonzimmer ſchallten die leiſen
Rythmen eines Walzers und das gleichmäßige Scharren der
Tanzenden herein. Ein eigenthümlicher Duft berührte Franz:
es war die Atmoſphäre der Wohlhabenheit und bürgerlichen
Genußſucht, die ihn zu berauſchen begann. Wohin er blickte,
ſah er die Früchte gediegenen Reichthums, die Macht des
Geldes, den Ueberfluß erkauften Glückes . . . Und vor ſeinen
ſchweren Augenlidern zog die beſcheidene Häuslichkeit ſeiner
Eltern vorüber: mit ihren vorväterlichen, abgenutzten Möbeln,
der Entbehrung jeglichen Luxus', der verkörperten Beſchränkt¬
heit gutmüthiger, aber in der Entwicklung der Geſellſchaft
zurückgebliebener Leute. Ein Geruch von Arbeit, von herab¬
fallenden Spähnen, Staub und Schweiß, der das ganze Haus
durchzog, ſtieg vor ihm auf . . . Und hier, wie anders die
Luft, wie rein, verheißungsvoll . . .


„Morgen, Herr Urban, mein Wort darauf!“


„Bravo, mein lieber Timpe, ich hatte das von Ihnen er¬
wartet . . . Wahrhaftig, man will ſchon aufbrechen, ſehen Sie
nur. Aber zuvor ſtoßen wir noch einmal an: auf das, was
wir lieben . . .“


Als Franz Timpe nach ungefähr zehn Minuten einen
herzhaften Händedruck von Emma empfangen und das Haus
verlaſſen hatte, begann in der Weinlaune ſeine Phantaſie ſich
mächtig zu entfalten, ſo daß er einmal halblaut vor ſich hin
ſprach: „Urban und Timpe! Hört ſich nicht ſchlecht an, wahr¬
haftig nicht! . . .“


[[126]]

IX.
Franz bekennt Farbe.

Der letzte Schnee war kaum von den Dächern ver¬
ſchwunden, die grimmige Kälte einer milderen Tem¬
peratur gewichen, als auf dem Neubau wieder emſig
gearbeitet wurde. Aber der große Maurerſtrike, der während
der erſten Sommermonate herrſchte, machte Urban einen argen
Strich durch die Rechnung.


Man ſchrieb das Jahr 1873. Ein induſtrieller Schwindel
hatte die geſammte Geſellſchaft erfaßt; die Gründungen auf
Aktien ſchoſſen wie Pilze aus der Erde. Kapital und Arbeit
ſtanden ſich ſchroff gegenüber. Die Koalitionsfreiheit der Ar¬
beiter feierte Triumphe, denn eine ſeltene Einigkeit beſeelte
die unteren Maſſen. Die Anſprüche der Niederen und Ent¬
erbten ſteigerten ſich mit dem Golddurſt der Reichen und Be¬
güterten. An Hunderten von Bauten Berlins wurde nur
zeitweiſe gearbeitet. Man ſtrikte einfach ſo lange, bis man
die Forderung bewilligt bekommen hatte. Zum Unglück war
die Nachfrage nach Arbeitskräften ſtärker als das Angebot.
So kam es denn, daß zu Urbans großem Verdruß das Bauen
[127] langwieriger wurde und mit größeren Opfern verbunden war,
als er erwartet hatte. Erſt im Frühjahr des folgenden Jahres
ſtanden die Fabrikgebäude vollendet da; und es bedurfte noch
des ganzen Sommers von 1874 zur Einrichtung und Aus¬
ſtattung der inneren Räume.


Die Mauer, die das Nachbargrundſtück getrennt hatte,
und an welche ſich ſo mannigfache Erinnerungen knüpften,
war niedergeriſſen worden. An ihrer Stelle ragte nun die
kahle Kehrſeite des Keſſelhauſes. Zwei Mal noch im Laufe
des vergangenen Sommers hatte Urban den Verſuch gemacht,
die Timpes zum Verkaufe ihres Grundſtückes zu bewegen.
Als er endlich einſah, daß jede fernere Mühe nutzlos ſei, ließ
er das Maſchinenhaus direkt an das Gärtchen bauen, obgleich
der urſprüngliche Plan ein anderer war. Er wollte wenigſtens
durch irgend etwas ſeine Rache beweiſen. Nur ein wenige
Fuß breites Stück des alten Gemäuers ließ er in gleicher
Höhe neu erſetzen, als wollte er ſymboliſch den Weg an¬
deuten, auf dem er ſich dereinſt Eingang in die verſchloſſene
Welt zu verſchaffen gedenke.


Was Meiſter Timpe anbetraf, ſo hatte gerade dieſe
Chikane einen tiefen Groll in ihm gegen den Nachbar er¬
zeugt: eine mächtig in ihm emporflammende feindſelige
Stimmung, die ſelbſt die Rückſicht auf ſeinen Sohn nicht mehr
umzuwandeln vermochte. Als der Bau wiederholt ruhen
mußte, konnte er ſeine Genugthuung nicht verſchweigen, und
als der Schornſtein des Keſſelhauſes in Angriff genommen
wurde, wartete er mit einer gewiſſen Schadenfreude auf die
Vollendung deſſelben.


„Wehe ihm, wenn er ihn nicht ſo hoch bauen läßt, daß
wir unter dem Qualm nicht zu leiden haben“, ſagte er
[128] wiederholt zu ſeinen Geſellen. „Ich will ſchon dafür ſorgen,
daß er ein neues Gerüſt bauen läßt und einige Längen
ſeiner Naſe zugiebt.“


Urban aber ließ ſich keinen Verſtoß gegen die Geſetze
der Nachbarſchaft zu Schulden kommen. Immer höher und
höher thürmte der Rieſenſchlot ſich von Tag zu Tag auf und
als die Gerüſtabnahme beendet war und Timpe zum erſten Mal
die ſteinerne Rieſenſäule klar und ſcharf zum Horizont ſich abheben
ſah, und mit weit hintenübergebeugtem Haupte zu dem Blitzab¬
leiter emporblickte, der ſie krönte, erſchien ſie ihm nun doppelt
ſo hoch, als er anfänglich angenommen hatte. Die erſte
Befürchtung wurde nun durch eine zweite verdrängt: daß der
Schornſtein eines Tages niederſtürzen könne, um das Dach
ſeines Hauſes zu zerſchmettern. Es kamen Tage, wo Timpe
fortwährend in dieſer Einbildung lebte. Und als eines Nachts
ein arger Herbſtſturm über die Dächer Berlins brauſte und
arge Verwüſtungen anrichtete, vermochte er nicht ruhig zu
ſchlafen. Er erhob ſich von ſeinem Lager, ging zum erſten
Stockwerk empor und blickte eine ganze Stunde lang zum
Flurfenſter hinaus, um das leiſe Schwanken des Schorn¬
ſteins zu beobachten — trotz des Regens, der ihm das Ge¬
ſicht peitſchte.


Noch vor Weihnachten wurde die Fabrik in Betrieb
geſetzt. Der Tag, an dem zum erſten Male der dunkle
Qualm aus dem Schlot zum Himmel ſtieg, war für Jo¬
hannes Timpe und ſeine Geſellen ein ereignißreicher. Es
dauerte lange, ehe ſie ſich an das Geräuſch der Dampf¬
maſchine gewöhnen konnten. Wie das ſtöhnte und ächzte,
ſurrte und ſummte! Selbſt das Schnurren der Dreh¬
bänke wurde übertönt. Es ſchien faſt, als könne ſich
[129] die mächtige Hauptwelle, die unter einer Bedachung zu der
Fabrik hinüberlief, um den ganzen Maſchinenapparat in Be¬
wegung zu ſetzen, noch nicht recht an ihre Rieſenarbeit ge¬
wöhnen; denn mit dem ſchwirrenden Geräuſch vermiſchte ſich
ein leiſes Pfeifen, das unheimlich das Ohr berührte. Der
ſchwarze Qualm wurde durch den Wind auf die Dächer ge¬
drückt und hinterließ einen unangenehmen Geruch von Ruß-
und Schwefeldampf.


Eine ganze Woche hindurch gab die Eröffnung der Fa¬
brik den Bewohnern der ehrwürdigen Häuſer Veranlaſſung zu
langen Geſprächen. Die Straßen hatten eine andere Phyſiog¬
nomie bekommen. Die Schaaren Arbeiter, die ſie belebten,
machten ſie zu einer Verkehrsader des Viertels. Das Portal
des Etabliſſements ragte wie ein Wahrzeichen induſtriellen
Sieges. Das neue Berlin hatte in's alte eine Breſche ge¬
ſchlagen und überfluthete mit ſeinem friſchen Leben die Ruinen.
Selbſt die ſchiefen Giebeldächer, die ſonſt mürriſch wie ver¬
ſchlafene Eulen auf die Menſchen herabblickten, nahmen ſich
freundlicher und heller aus. In den Schankwirthſchaften er¬
ſchallte bis in die Nacht hinein der Lärm der Zecher, und
alles, was durch die Arbeiter Geld zu verdienen hoffte, machte
ein vergnügtes Geſicht.


Am dritten Neujahrstage wurde die Einweihung der
Fabrik durch eine Feſtlichkeit begangen, die in den großen
Sälen eines Hotels in der Friedrichſtadt ſtattfand. An dieſem
Banket nahmen nur das Komtor-Perſonal und eine Anzahl
geladener Gäſte mit ihren Damen Theil. Die Werkführer
und Arbeiter hatten einen freien Tag bekommen, der ihnen
vom Lohne nicht abgezogen werden ſollte. In Anbetracht
deſſen, daß erſt wenige Wochen ſeit Eröffnung der Fabrik
Kretzer, Meiſter Timpe. 9[130] vergangen waren, hatte Urban dieſes Opfer mit ſchwerem
Herzen gebracht. Aber er fürchtete in dieſer Zeit die Launen
ſeiner Leute und verſuchte daher Alles aufzubieten, ſich als
entgegenkommender Chef zu zeigen. Bereits acht Tage vorher
hatte auch Meiſter Timpe eine Einladung zu der Feierlich¬
keit erhalten. Und Franz, der zum Oktober des ver¬
gangenen Jahres ſeine Lehrzeit beendet hatte und ſeit dieſem
Tage den würdigen Mann ſpielte, hatte noch extra im Namen
ſeines Chefs der ſchriftlichen Einladung eine mündliche hinzu¬
gefügt. Wohlweislich verſchwieg er dabei, daß Johannes dieſe
Auszeichnung eigentlich nur ſeiner Fürſprache zu verdanken
hatte, denn Urban hatte ziemlich deutlich zu verſtehen gegeben,
daß ihm ſeit der eingetretenen Zwiſtigkeit an der Anweſenheit
des Nachbars nicht viel liege.


„Sage Deinem Chef, daß ich mich ſehr geehrt fühle,
aber leider dankend ablehnen müßte,“ gab Timpe kurz zur
Antwort, und bereitete damit Niemandem mehr Freude als
ſeinem Sohne. Wenn Franz daran dachte, was für eine
Rolle ſeine Eltern mit ihrer beſchränkten Anſchauungs¬
weiſe inmitten der lebensluſtigen Geſellſchaft ſpielen
würden! Am meiſten ſeine Mutter, mit ihrer
Sucht, bei derartigen Gelegenheiten ſich mit dem unmodern¬
ſten Seidenkleide zu ſchmücken!


„Du verlierſt auch nicht viel, Vater, weil Du die meiſten
Menſchen nicht kennſt“, ſagte er zur Beruhigung. Trotzdem
wunderte er ſich über die plötzliche Umwandlung des Alten.
Wenn Timpe aber jetzt nur zu offen ſeine Antipathie gegen
Urban bekannte, ſo ſollte ſein Sohn doch nach wie vor nie¬
mals darunter leiden. So ſetzte er denn ſeinen erſteren
Worten ſofort die weiteren hinzu:

[131]

„ . . . Das heißt — ich möchte nicht gern, daß Dein
Chef meine Ablehnung übel auffäßt. Sage ihm alſo, daß ich
mich in der letzteren Zeit nicht wohl fühle, äußere ihm mein
ganz lebhaftes Bedauern, aus dieſem Grunde nicht erſcheinen
zu können.“


Wenn er nur gewußt hätte, wie angenehm den Fabrik¬
beſitzer die Ablehnung berühren würde!


Vierzehn Tage nach dem Einweihungsfeſt, das glänzend
verlaufen war und über welches ſogar einzelne Zeitungen be¬
richteten, machte Franz ſeinen Eltern eine Mittheilung, die
ihnen vor Erſtaunen zuerſt die Worte raubte.


„Ich bitte Euch herzlich“, begann er, „es mir nicht übel
zu nehmen, wenn ich zum erſten Februar Euer Haus ver¬
laſſe. Ich will mich irgendwo bei einer anſtändigen Familie
möblirt einmiethen. Es iſt mir bei Euch zu eng. Ich muß
ein anſtändiges Zimmer haben, wo ich einmal Freunde empfangen
und ſie bewirthen kann . . . Ich bin jetzt erſter Korreſpondent
bei Urban, genieße ſein vollſtändiges Vertrauen und habe vor¬
läufig ſoviel Salair, daß ich auszukommen gedenke, ohne Eure
Hülfe in Anſpruch zu nehmen. Nur bitte ich, Euch auch
fernerhin mit der Wäſche beläſtigen zu dürfen . . . Wenn Ihr
mein Streben und meine Stellung kennt, ſo werdet Ihr mein
Wegziehen nicht übel auffaſſen. Es geſchieht lediglich meiner
Zukunft wegen.“


Es war Timpe und ſeinem Weibe, als ginge nach dieſen
feierlich geſprochenen Worten ein Riß durch ihre Seele, als
wehte von ihrem Einzigen ein entkältender Froſt zu ihnen her¬
über, als gähnte plötzlich ein Abgrund zwiſchen ihm und
ihnen, der ſie für ewig trennen würde. Er, der kaum ſelb¬
ſtändig geworden war, deſſen Gehen und Kommen nach der
9 *[132] Minute berechnet wurde, wollte ihr Heim verlaſſen, um ſich
bei wildfremden Menſchen ein neues zu ſuchen . . . Und gewiß
nur, weil er plötzlich ein großer Herr geworden war, den
dies alte Haus nicht mehr fein genug dünkte. Oh, darüber
konnte er ſie nicht täuſchen!


Als die Blicke der beiden Alten ſich begegneten, las
Jedes von dem Geſicht des Anderen die gleiche Meinung ab.
Frau Karoline vermochte das Ungeheuerliche am wenigſten
zu begreifen. Sie dachte weniger an den Schmerz der
Trennung (war Franz doch nicht aus der Welt, konnte er
ſie doch nach wie vor jeden Tag beſuchen), als daran,
welchen leiblichen Gefahren er entgegen gehen könne. Wie
ſchlecht würde der Kaffee des Morgens ſein, wie mangelhaft
das Bett, wie unaufmerkſam die Bedienung, wie oft würde
man ihn die Zeit verſchlafen laſſen! Sie wurde erſt einiger¬
maßen beruhigt, als Franz die Verſicherung abgab, er würde
nach wie vor zum Mittagstiſch kommen.


Johannes Timpe faßte die Angelegenheit, nachdem der
erſte Schreck ſich gelegt hatte, weniger tragiſch auf. Kam
doch in erſter Linie dabei wieder die Stellung und das
Glück ſeines Sohnes in Frage. Der Junge hatte am Ende
nicht ganz unrecht: hier war Alles altmodiſch, eckig und
winklig, wenig geſchaffen zur Aufnahme von Beſuchen,
und zum luſtigen Beiſammenſein junger fröhlicher Leute.


So dauerte es denn nicht lange und man fügte ſich in
das Unvermeidliche. Der Großvater wurde erſt in der letzten
Stunde davon benachrichtigt. Der Sechsundachtzigjährige
lachte leicht auf und ſagte mit leiſem Spott:


„So muß es kommen, ſagt Neumann! . . . Jetzt iſt er
flügge geworden, kann ſich ſein Brod verdienen, da geht's
[133] heidi! Das iſt die Dankbarkeit der modernen Jugend, aber
ich hätte euch das vorherſagen können. ... Wenn Franz
Timpe einen neuen Streich begeht, ſo hat er ſeine beſonderen
Abſichten dabei, verlaßt Euch darauf. ... Aber meinen
Segen hat er, ſagt ihm das in meinem Namen.“


Der Tag des Umzuges Franzens hatte das Ehepaar in
eine traurige Stimmung verſetzt. Schon einige Tage vorher
hatte Flau Karoline in allen Kaſten und Schränken ge¬
kramt, damit das ihrer Meinung nach Nothwendigſte und
Beſte für den zukünftigen Chambregarniſten beiſammen ſei.
Ein neuer Reiſekorb war angeſchafft worden und
neben ihm, der vollgepfropft war mit Kleidungs-
und Wäſcheſtücken, ſtand ein halbes Dutzend Papp¬
ſchachteln und Kiſten, die das Uebrige enthielten. Es
war gerade, als handelte es ſich um eine Afrikareiſe des
Stammhalters. Selbſt ein Körbchen mit eingemachten Früchten
eine Leckerſpeiſe Franzens, hatte Frau Karoline dem Gepäck
hinzugefügt. Johannes aber hatte eine Kiſte Cigarren „extra
feine Sorte“, wie er ſchmunzelnd meinte, in einer der größten
Handlungen der Königſtraße gekauft und gedachte damit
ſeinem Sohne eine Ueberraſchung zu bereiten.


Als Franz nach Hauſe kam und die ganze Beſcheerung
erblickte, amüſirte er ſich über dieſe Vorbereitungen außer¬
ordentlich, ſo daß der Meiſter und ſein Weib verlegen wurden.
Als dann ein Stück nach dem andern in die Droſchke ge¬
ſchafft worden war, und der große Augenblick des Abſchieds
kam, erſchien die Meiſterin zum Ausgehen gerüſtet
auf der Bildfläche. Sie wollte es ſich nicht nehmen
laſſen, Ihren Sohn auf ſeiner weiten Reiſe nach
der kaum zehn Minuten entfernt liegenden Münzſtraße
[134] zu begleiten, um ſich von ſeiner glücklichen Ankunft zu über¬
zeugen. Franz verſtieg ſich ſo weit, das etwas lächerlich zu
finden, aber alles Gegenreden half nichts: Frau Karoline
zwängte ſich neben die Schachteln in die Droſchke hinein und
fort ging's.


Meiſter Timpe aber wurde erſt ruhiger, als die getreue
Ehehälfte zurückkehrte und die freudige Mittheilung von der
wohlgelungenen Landung Franzens, des Einzigen, überbrachte;
auch davon, daß derſelbe in eine Familie gerathen ſei, von der
man nicht zu befürchten habe, daß ſie ihn beſtehlen oder ihm gar
ein Leids anthun werde. Am Abend ſuchte Johannes, ſeit
längere Zeit zum erſten Male wieder, ſeine Stammkneipe
auf. Der Tag war zu ereignißreich, als daß er nicht mit
einem Meinungsaustauſch am Biertiſche beſchloſſen werden
ſollte.


Bei Vater Jamrath gaben ſich ſeit einem Vierteljahr¬
hundert die erſten Weißbierkenner des öſtlichen Stadttheils
ein Stelldichein. Das Lolal war ſo bekannt, daß es
ſogar der rothen Laterne entbehren konnte, welche dereinſt
vor vielen Jahren zuerſt auf ſeine Exiſtenz hingewieſen hatte. In
dem einzigen langgeſtreckten, verräucherten Parterregeſchoß
mit den weißgeſcheuerten Tiſchen und ſchweren hochlehnigen
Holzſtühlen, wo der an jedem Morgen friſch geſtreute helle
Sand den modernen eleganten Fußboden erſetzen mußte,
zeigte ſich noch das unverfälſchte Berlinerthum, hatte ſich
noch der Reſt einer alten Welt erhalten. Was für Phy¬
ſiognomien traf man da an, was für vorväterliche Geſtalten
beherrſchten allabendlich den großen runden Stammtiſch in
der äußerſten Ecke, in deſſen Mitte ein Baumſtumpf als
Schnupftabacksdoſe thronte und über dem an der Decke zum
[135] Schrecken aller Aufſchneider das aus Pappe nachgebildete
Rieſenmeſſer mit der Klingel hing!


Da erſchien mit dem Schlage ſieben Uhr der lange hagere
Brümmer, der jahrein, jahraus in einem langen braunen
Gehrock gekleidet ging und niemals eine andere Kopfbedeckung
trug, als eine große Schirmmütze. Er hatte ſich als wohl¬
habend gewordener Handſchuhmachermeiſter zur Ruhe geſetzt
und lebte nun als kleiner Rentier in dem vererbten Hauſe
ſeines Vaters, in dem er geboren worden war. Er trank
regelmäßig drei große Weißen, zu der letzten einen kleinen
Kümmel und erhob ſich Punkt zehn Uhr, um ſchweigſam, wie
er gekommen war, nach Hauſe zu wandern. Seit zehn
Jahren war er aus ſeinem Viertel nicht herausgekommen.
Er füllte ſein Daſein damit, um ſieben Uhr des Morgens
aufzuſtehen, die Zeitungen zu leſen, regelmäßige Mahlzeiten
zu halten und die übrige Zeit des Tages, die Pfeife im
Munde, zum Fenſter hinauszuſehen, bis die Kneipſtunde
ſchlug. Während zweier Jahrzehnte ſah man ihn denſelben
Platz einnehmen, und als er ſeinen Stuhl eines Abends von
einem ihm fremden Manne beſetzt ſah, kehrte er ſchweigend
um und ließ ſich acht Tage lang nicht ſehen, bis endlich
Vater Jamrath ihn perſönlich aufſuchte und das heilige Ver¬
ſprechen abgab, niemals mehr ein ähnliches Vergehen gegen
die Ordnung des Stammtiſches geſtatten zu wollen.


Das Gegentheil von Brümmers klaſſiſcher Schweigſam¬
keit und Ruhe bildete der behäbige Herr Wipperlich, ein kleiner
Kürſchnermeiſter aus der Langenſtraße, deſſen Sohn Subal¬
ternbeamter in einem Miniſterium war, und der daraus die
Berechtigung zog, über alle politiſchen Vorgänge am beſten
unterrichtet zu ſein. Er war der Schwadroneur am Tiſche,
[136] kam fortwährend auf die auswärtige Politik zu ſprechen, ge¬
rieth mit Jedermann in Streit, und bandelte ſchließlich als
letzter Gaſt ſpät in der Nacht mit dem Wirth an, wobei er
über deſſen Oppoſition ſo erregt wurde, daß er beim Hinaus¬
gehen laut zurückrief: „Ich betrete Ihr Lokal nicht mehr, ver¬
laſſen Sie ſich drauf!“ Am anderen Abend aber ſaß er wie
gewöhnlich kampfesluſtig auf ſeinem alten Platz.


Auch Baldrun, ein wohlhabend gewordener Schornſtein¬
fegermeiſter aus der Holzmarktſtraße, iſt zu erwähnen. Er
hatte ein reiches Wanderleben hinter ſich und als Geſelle den
Krimkrieg mitgemacht, wobei er ſich einen verkrüppelten Arm
geholt hatte. Bei jeder Gelegenheit ſchimpfte er furchtbar
über die Ruſſen, deren geſchworener Feind er war.


Die originellſte Erſcheinung war jedenfalls Anton Nölte,
ein in ſehr beſcheidenen Verhältniſſen lebender Klempner¬
meiſter, der vor Jahren ein Dutzend Geſellen beſchäftigt hatte,
nun aber mit einem Lehrling um die Exiſtenz ſeiner Familie
kämpfte. Sommer und Winter erſchien er ohne Kopfbedeckung
und verzehrte nicht mehr als eine kleine Weiße. Er ſetzte
ſich dabei niemals, ſondern ging von einem Tiſch zum an¬
dern, wo „Schafskopf“ geſpielt wurde, guckte Jedem eine
Weile in die Karten, theilte unentgeltlichen Rath aus,
wobei er gelaſſen die größten Grobheiten einſteckte, griff in
die fremden Schnupftabacksdoſen und verſchwand nach einer
Stunde in ebenſo gedrückter Stimmung, wie er gekommen
war, um in ſeinem Keller am Sperrhaken bis in die Nacht
hinein zu hämmern.


An jedem Donnerſtag war das ganze Philiſterium ver¬
ſammelt. An dieſem Abend gab es regelmäßig Pökelfleiſch
mit Erbſen und Sauerkohl, das Nationalgericht der Berliner.
[137] Die Tiſche waren dann vollbeſetzt und Vater Jamrath und
und Fritz, der einzige Kellner, der die Serviette am Arm
mit dem Geſicht eines alten Tragöden ernſt und gemeſſen
durch die Reihen ſchritt und ſich die möglichſte Mühe gab,
ſeinen abgenutzten Frack vor Fettflecken zu bewahren, hatten
alle Hände voll zu thun, um die Gäſte zu befriedigen. An
dieſem Abend blieb man auch länger zuſammen als ſonſt, nur
Herr Brümmer erhob ſich Punkt zehn Uhr kerzengerade, ließ
für ſeine Gattin ein beſonders ſchönes Stück Pökelfleiſch
einwickeln, ſuchte wie gewöhnlich ſehr lange nach einem Fünf¬
pfennigſtück für Fritz, und ſchritt gravitätiſch wie auf zwei
Stelzen von dannen.


Als Johannes eintrat, rief ihm Jamrath ſofort zu:


„Ei, Meiſter Timpe, ſieht man Sie auch mal wieder! Das
iſt hübſch von Ihnen.“ Und vom Stammtiſch, deſſen Runde
bereits geſchloſſen war, ſchallte ihm ein lautes „Halloh“ zur
Begrüßung entgegen. Kaum hatte man ihm Platz gemacht
und er ſich geſetzt, ſo gerieth er in nicht geringes Erſtaunen
über die Gratulation, die man ihm entgegenbrachte.


„Das nenne ich Glück, Timpe“, ſagte Baldrun, indem er
einen tiefen Griff in ſeine Schnupftabaksdoſe that. „Ihr Sohn
hat es weit gebracht.“


„Eine ausgezeichnete Partie, mehr kann man nicht
ſagen“, fiel Wipperlich ein. Und ſelbſt Herr Brümmer, der
wie eine Pagodenfigur nur zeitweilig mit dem Kopfe nickte,
brummte etwas vor ſich hin, was einer Zuſtimmung des
ſoeben Gehörten gleichkam. Neben ihm ſaß Deppler, ein
Stock- und Schirmfabrikant aus der Alexanderſtraße. Er war
ein kleiner verw [...]ner Mann, deſſen Rieſenkopf tief in die
Schultern hine[inge]zwängt ſaß, während die langen knochigen
[138] Hände fortwährend auf dem Tiſche ruhten und ſich mit dem
Bierglaſe beſchäftigten, als hoffte dadurch ihr Beſitzer größer
und gewaltiger zu erſcheinen. Sein Name beſaß in der Ge¬
ſchäftswelt einen guten Klang und ſeine Waare fand nament¬
lich bei den Kleinhändlern in der Provinz lohnenden Abſatz.
Seit vielen Jahren ſtand der Drechslermeiſter mit ihm in
Geſchäftsverbindung; er freute ſich daher ungemein, mit
einem ſeiner beſten Kunden gemüthlich beiſammen ſein zu
dürfen.


„Sagen Sie doch, lieber Herr Timpe“, ſagte der
Kleine, „wie iſt denn das ſo ſchnell gekommen mit Ihrem
Jungen? Man ſagte mir doch, daß Sie mit Urban ver¬
feindet ſeien.“


Timpe's Ueberraſchung ſteigerte ſich. Sein Blick glitt
von Einem zum Anderen, und ſeine Verlegenheit war ſo groß,
daß er zu alledem ein ſehr dummes Geſicht machte. Endlich
erhielt er die Aufklärung, die ihm anfänglich wie ein ſchlechter
Witz erſchien, deren Wahrheit er dann aber, um ſich nicht zu
blamiren und ſich ſeines Sohnes zu ſchämen, zugab. Man
reichte ihm ein Zeitungsblatt. Er traute ſeinen Augen nicht.
Da ſtand die Nachricht, daß Fränlein Emma Kirchberg mit
Franz ſich verlobt habe, angezeigt von Herrn Urban nebſt
Frau.


Gewiß, das mußte ſeine Richtigkeit haben! Vor drei
Tagen war Franz bereits des Morgens feierlich gekleidet
von dannen gegangen und erſt tief in der Nacht in feſtlicher
Stimmung nach Hauſe gekommen. Aber zum erſten Male
in ſeinem Leben freute ſich Timpe über das Glück ſeines
Sohnes nicht. In wenigen Minuten überkamen ihn
merkwürdige Gedanken, die er nicht zu bändigen vermochte.
[139] Langſam und ſchwer, aber um ſo entſetzlicher für ihn er¬
wachte das Mißtrauen gegen den Einzigen. Wie ein Glied
an das andere ſich reiht, damit nach und nach die
Kette ſich geſtalte, ſo fielen ihm jetzt hundert Dinge auf
einmal ein, die ihn in ſeinem Verdacht beſtärkten: das eigen¬
thümliche Benehmen Franzens in letzter Zeit, das ewige
Abrathen vom Bauen, die fortwährende Lobhudelei ſeines
Chefs, das ſtete Betonen der kleinlichen Anſchauung ſeiner
Eltern, ſein Hochmuth der beſchränkten Häuslichkeit gegen¬
über, der plötzliche Wohnungstauſch, alles, alles! O, er
hatte mit Abſicht die Verlobung verheimlicht, denn er fürchtete
die Gegenwart ſeiner Eltern bei dem Feſte. Der Stachel,
der ſich plötzlich in Timpes Herz bohrte, drang tiefer und
tiefer ein und machte es bluten. Wenn der Großvater und
Thomas Beyer doch Recht hätten ... ?


„Ja, ja,“ ſagte er endlich ſehr gezwungen, „ich glaube,
der Junge wird ſein Glück machen“ .... Und zu Deppler
gewendet: „Die Feindſchaft der Eltern ſoll den Segen der
Kinder nicht brechen.“


Und was er nie that, das that er in ſeiner jetzigen
Stimmung. Er beſtellte zu ſeiner Weißen einen großen Schnaps
und nahm einen herzhaften Zug.


Es dauerte nicht lange, ſo drehte ſich das Geſpräch nur
noch um Urban.


„Wenn Ihr Sohn erſt Kompagnon ſein wird, werden
Sie wohl nicht mehr nöthig haben zu arbeiten“, begann
Deppler wieder. „Die beſten Modelle ſcheint Urban Ihnen
ohnehin ſchon abgekauft haben. Sie ſind vor der Zeit ſchlau!
eines Tages wird er Ihnen ja doch alle Kunden vor der
Naſe weggeſchnappt haben.“

[140]

Timpe blickte groß auf. Er glaubte nicht recht verſtanden
zu haben und bat um nähere Aufklärung. Deppler langte in
die Taſche ſeines Paletots, der hinter ihm hing, zog ein
Päckchen hervor und wickelte es auf.


„Hier, ſehen Sie: Dieſe Viktoriakrücke, die ich früher
von Ihnen bezog, liefert mir jetzt Urban um fünfundzwanzig
Prozent billiger. Er könne ſich das leiſten, meinte er neulich
zu mir, weil er auf großen Abſatz rechne und die Maſſen¬
fabrikation die Fabrikate billiger ſtelle. Ja, ja, lieber
Timpe, das machen der Dampf und die neuen Maſchinenvor¬
richtungen.“


Die Viktoriakrücke zeigte eine beſonders ſchöne Zeichnung
und nahm ſich eben ſo einfach wie geſchmackvoll aus. Timpe
hatte ſie zuerſt eingeführt und ſie hatte reißenden Abſatz ge¬
funden. Namentlich an Damenſchirmen ſah man ſie überall
auftauchen. Sie wurde aus Elfenbein, Horn und Holz zu
gleicher Zeit hergeſtellt. Ein Hoflieferant, für den der Meiſter
arbeitete, hatte ſie ſo geſchmackvoll gefunden, daß er das
Modell Ihrer Königl. Hoheit der Kronprinzeſſin vorgelegt
hatte. Die hohe Frau ließ ſofort ein Exemplar in Elfenbein
ausführen, das hatte dem Griff die Benennung gegeben;
und ſchließlich hatte man auch den Schirm danach getauft,
der ſofort bei der tonangebenden Damenwelt Mode wurde.
Dieſe Krücken wurden noch immer ſehr begehrt, namentlich
von den kleinen Fabrikanten in der Provinz, die das ganze
Geſtell fertig bezogen und nur die Ueberſpannung machten.


Timpe erkannte ſofort ſein Modell, aber es war ver¬
ändert. Der Schwung der Linien, die Zeichnung war
dieſelbe, nur die Gliederung war eine andere geworden. Das
war eine gute Spekulation, das mußte man ſagen! Die
[141] Veränderung war eine ſo unweſentliche, daß das Gros der
Abnehmer ſich leicht täuſchen laſſen konnte.


Herr Auguſtus Deppler griff noch mehrmals in die weite,
einem Sack ähnliche Taſche ſeines braunen Kaftans und holte
einen Gegenſtand nach dem Anderen hervor.


„Und was ſagen Sie hierzu, mein lieber Meiſter
Timpe? Wer hätte früher daran gedacht, daß in Berlin
ein Fabrikant auftauchen würde, der ſeinen Abnehmern
dieſe Jonvillebüchſe um den dritten Theil billiger liefern
könnte als Sie. Aber ich renommire nicht: Urban hat
mir das Dutzend zu achtzehn Mark angeboten, während
ich bei Ihnen vierundzwanzig zahlen mußte. Das kommt
aber daher, weil Urban, wie er mir ſagte, eine neue Vor¬
richtung am Support erfunden hat, die es ihm möglich macht
die Zeit der Herſtellung zu vermindern.“


Dieſe Büchſe, von der man ſprach, war ein ſehr beliebter
Neceſſairegegenſtand für Damen, der aus einem Stück gedreht
wurde, inwendig hohl war und vermittelſt eines Federdruckes
in mehrere Theile ſich zerlegte. Ein Pariſer Händler,
Namens Jonville, hatte die Büchſe zuerſt in Deutſchland
eingeführt und Meiſter Timpe die erſte inländiſche Arbeit
danach gemacht. Er hatte mit der Zeit dem Artikel auch
andere Formen gegeben und dafür reichliche Abnehmer
gefunden. Nun mußte er erleben, daß die billige Kon¬
kurrenz Urbans ihm auch hierfür die Kunden wegzunehmen
drohte. Saß doch ihm gegenüber bereits einer von Denen,
die ihm nach und nach abtrünnig werden würden. Er
hatte ſich mehr als einmal gewundert, daß der kleine ſchief¬
gewachſene Herr Deppler, der ſeit einem Jahrzehnt zu ſeinen
[142] Auftraggebern gehörte, in den letzten Monaten mit ſeinen
Beſtellungen auffallend zurückhaltend war.


Johannes machte ſofort einen Ueberſchlag. Wollte er
denſelben Preis ſtellen wie Urban, ſo mußte er über kurz
oder lang zu Grunde gehen. Ja früher, das waren noch
andere Zeiten! Aber mit den Jahren, wo die Konkurrenz
ihm immer mehr zu Leibe gerückt war, war auch der Profit
immer tiefer und tiefer geſunken. Aus der einſtmaligen Kunſt
war ein allgemeiner Broderwerb geworden, und der Stück¬
preis von früher hatte ſich in einen Dutzendpreis ver¬
wandelt. Es wäre ſelbſt für Timpe ſchwer geweſen, ſeine
eigenen Empfindungen, die ihn in dieſen Minuten bewegten,
zu ſchildern. Alles, was ſein Gemüth bewegte, ſeinen
Gedankengang bannte, konzentrirte ſich in dem großen Etwas,
das er im Augenblick noch nicht zu würdigen verſtand, das
ihm aber unklar, wie im Nebel, vorſchwebte. Es war die
drohende Fauſt der Zukunft, die in der Phantaſie ihm rieſen¬
groß vor Augen ſtand: das inſtinktive Gefühl einer unab¬
wendbarn, über Nacht hereinbrechenden Gefahr, das ihn an
jenem Tage zum erſten Male überkommen war, als er von
Urbans Plänen erfuhr. Und dieſes Gewirr von Empfindun¬
gen betäubte ein tiefer Schmerz, hervorgerufen durch den
einen fürchterlichen Gedanken, der alle anderen überwog: daß
ſein einziger Sohn eines Tages mit dem verhaßten Konkur¬
renten Hand in Hand gehen könne, um ſeinen eigenen Vater
vernichten zu helfen womöglich gegen den eigenen Willen!
Aber er nahm ſich vor, ihn gleich am anderen Tage gründ¬
lich in's Gebet zu nehmen, und ihn auf die unwürdigen Ge¬
ſchäftskniffe ſeines ſauberen Herrn Chefs und zukünftigen
Schwiegervaters aufmerkſam zu machen.


[143]

Timpe beſtellte ſich einen Schnaps; das Zeug ſchmeckte
ihm heute, er wußte nicht aus welchem Grunde. Er wurde
aufgelegter zum Reden und fühlte, daß ein ſolcher Trunk
unter Umſtänden dazu angethan ſei, neuen Muth zu machen
und unangenehme Dinge weniger ſchwarz erſcheinen zu laſſen.


Die Unterhandlung am Tiſch wurde nun eine lärmende,
die Handwerkerfrage kam in Fluß, und Jeder bemühte ſich,
ſie von ſeinem Standpunkte aus zu beurtheilen, und glaubte,
daß ſeine Meinung die allein richtige ſei. Herr Wipperlich
ſchrie am lauteſten.


Die Handwerker trieben viel zu wenig Politik, meinte
er ſehr beredt. Beſäßen ſie politiſche Kenntniſſe, ſo würden
ſie ihre Schäden eher erkennen. Innungen, obligatoriſche
Innungen, darin beſtände die einzige Rettung! „Einigkeit
macht ſtark“, rief er laut und ſchlug mit der geballten Hand
auf den Tiſch. „Man muß einen Wall bilden gegen die
Schundkonkurrenz, nur ſolide Arbeit liefern und das Publikum
wieder zu geſunden Anſchauungen erziehen.“


Ja, das Publikum, das Publikum ... Da hatte man
den richtigen Eſel genannt, den man ſchlagen mußte, denn der
Fabrikant war doch der eigentliche Sack.


Das Publikum werde ſich niemals bekehren laſſen, fiel
Antonins Deppler ein, denn es laufe immer dahin, wo es
am billigſten kaufen könne.


„So meine ich auch“, ſagte Herr Brümmer, und Alle
ſchauten verwundert auf bei den erſten Worten des ſchweig¬
ſamen Mannes, als erwarteten ſie eine große Rede. Aber
der Rentier ſenkte das Haupt wieder und hüllte es nach
wie vor in große Tabakswolken. Zwiſchen Baldrun und
Timpe ſaß Herr Storch, ein Tiſchlermeiſter, der mit ſeiner
[144] langen blonden Mähne eher einem Künſtler glich. Aber
die erſten ſilbernen Fäden, die ſie durchzogen, zeugten von
frühen Sorgen. Vor fünf Jahren beſaß er ein eigenes
Möbelgeſchäft; aber die Großinduſtrie hatte ihn zu Grunde ge¬
richtet. Jetzt arbeitete er Jahraus Jahrein denſelben Artikel
für Händler. An Sonnabenden war es ihm oft nicht mög¬
lich, den Lohn für die Geſellen zuſammenzubringen. Dann
mußte er die Möbelſtücke um jeden Preis losſchlagen, wollte
er nur baares Geld ſehen.


„Ich meine“, begann er, „daß die Gewerbefreiheit an
Allem Schuld hat, denn ſie hat die freie Konkurrenz ge¬
ſchaffen und ruinirt die kleinen Leute, die nicht das nöthige
Betriebskapital beſitzen, um günſtige Einkäufe zu machen und
daher auch billiger zu produziren.


Herr Brümmer ſchüttelte den Kopf. Da er ſorgenlos
lebte, ſo konnte er dieſen ganzen Streit nicht begreifen.
Außerdem ließ er ſich nicht gern in ſeiner Ruhe ſtören. Zum
zweiten Male ergriff er das Wort. „Laſſen Sie doch alles
gehen, wie es will. Wir werden die Welt nicht beſſern“,
ſagte er voller Ueberzeugung . . . Die Unterhaltung wurde
nun immer erregter, die Anſichten unklarer und verwirrter.
Jeder wollte allein ſprechen und ließ den anderen nicht aus¬
reden.


„Nun Timpe, was ſagen Sie denn?“ rief der Schorn¬
ſteinfegermeiſter ihm zu. Der Drechsler hatte bisher kein
Wort geſagt, ſondern ſtill vor ſich hingeblickt. Die wüſte
Unterhaltung ſchien ihm zwecklos. Es waren die alten
Redensarten, die er ſchon ſo oft an dieſem Tiſche vernommen
hatte. Endlich erlaubte er ſich eine beſcheidene Meinung zu
äußern:

[145]

„Die großen Fabriken ſind der Ruin des Handwerks,
nur ſie ganz allein“, begann er. „Es wird eines Tages
keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter. Und das wird
der Untergang des Staates und des geſunden Bürgerthums ſein.
Wenn das Haus ſeine Hauptſtütze verliert, bricht es in ſich zu¬
ſammen. In unſerem Stande lernt heute Niemand mehr
etwas. Die Lehrlinge werden in den Fabriken nur zu Tage¬
löhnern herangebildet. Haben ſie ausgelernt, ſind ſie eigent¬
lich nur noch Arbeitsleute. Der Eine fertigt Jahr aus Jahr
ein dieſen Theil an und der Andere jenen, aber Keiner hat
eine Ahnung vom Ganzen. Das iſt gerade wie bei den
Spezialärzten, die eine Krankheitserſcheinung ſehr genau ſtu¬
dirt haben, ihr ganzes Leben lang ein und daſſelbe Gebrechen
kuriren, in anderen Fällen aber nicht vertrauenswürdig er¬
ſcheinen ... Und das wäre Alles nicht ſo, wenn die Maſchine
nicht die Handarbeit überflüſſig gemacht hätte. Wo früher
hundert Hände nothwendig waren zur Herſtellung eines
Gegenſtandes, genügen heute zwei, die nur nöthig haben in
mechaniſcher Weiſe das Material in die richtige Lage
zu bringen, das Andere thut das Räderwerk. In
acht Tagen lernt heute Einer das, wozu er in
früheren Zeiten Jahre bedurfte. Aber was noch ſchlimmer
iſt: die Maſchine ſchafft auf der einen Seite zehnfachen Reich¬
thum und auf der anderen tauſendfache Armuth . . . Du
mein Gott, wie Viele habe ich ſo zu Grunde gehen ſehen!
Da drüben der Hüttig . . . der Ortmann um die Ecke . . .
der Sippert jenſeits der Spree — ſie alle drei haben als
Leute mit grauen Haaren ihre Zuflucht zu der Fabrik nehmen
müſſen. Und was wird aus ihren Kindern? Sie werden
eines Tages daſſelbe, was ihre Väter heute ſind: Fabrik¬
Kretzer, Meiſter Timpe. 10[146] arbeiter, deren Nachkommen daſſelbe werden. So entſteht
das ungeheure Heer der Proletarier, das die Welt über¬
ſchwemmt und nur zweierlei Dinge kennt: den Kampf ums
Daſein und den Haß gegen die Reichen . . . . Was ſoll
daraus werden, wenn das ſo weiter geht? Daran denkt
Niemand!“


Der Wahrheit ſeiner Worte konnte ſich Niemand ent¬
ziehen. Seine Schilderung war nur zu ſehr aus dem Leben
gegriffen.


Faſt Jeder kannte mindeſtens Einen, der vor ſeinen
Augen von der Höhe des Wohlſtandes in die Tiefe des
Elends gefallen war. Es entſtand eine längere Pauſe.
Wipperlich belegte die Zuchthausarbeit und Abzahlungs¬
geſchäfte mit derben Bezeichnungen, der kleine Deppler
ſagte mehrmals: „Schrecklich, ſchrecklich, aber nicht zu
ändern,“ und der Schornſteinfegermeiſter äußerte ſeine
Freude darüber, daß man Gott ſei Dank die Kehrbeſen
noch nicht mit Dampfkraft in die Schlote ſenken könne. Herr
Brümmer aber erhob ſich, denn ſeine Stunde hatte geſchlagen
und ſagte abermals: „Laſſen Sie die Dinge gehen wie ſie
wollen . . . Gute Nacht.“


Es war ſpät geworden, als Timpe das Lokal verließ.
Die meiſten Gäſte waren bereits vor ihm gegangen, nur
Wipperlich und Baldrun ſtritten ſich noch um den Bart des
Kaiſers von Rußland und über den „kranken Mann“ fern
in der Türkei, wobei der Eine dem Anderen nach jeder Be¬
hauptung vollſtändige Unkenntniß vorwarf. Man wollte den
Meiſter noch zurückhalten, er aber hatte Sehnſucht nach der
friſchen Luft, denn ſein Kopf war ihm ſchwer geworden. Auf
der Straße wehte ihm ein ſcharfer Wind entgegen, der den
[147] loſen Schnee vom Trottoir fegte. Das that ihm
wohl, wie ſeit langer Zeit nicht. Die Uhr der
Andreaskirche ſchlug die Mitternachtsſtunde, und als Timpe
beim Dahinſchreiten die einzelnen Schläge zählte, wunderte
er ſich, ſo lange ausgeblieben zu ſein. Aber er wußte ſelbſt
nicht, wie das heute gekommen war. Den ganzen Abend über,
während der lauteſten Debatte hatte er nur an ſeinen Sohn
gedacht.


Und während er ſich geſenkten Hauptes langſam ſeiner
Wohnung näherte, die Hausmütze tief in die Stirn gedrückt,
den Kragen des Alltagsrockes in die Höhe geſchlagen, er¬
wachte der verletzte Stolz des Vaters, der an ihm nagte
und ihn innerlich tief empörte. So viel er auch nach Ent¬
ſchuldigungsgründen ſuchte — er fand keinen für Franzens
Verſchweigen ſeiner Verlobung. Er ſann hin und her, und
worauf er zurückkam, war immer daſſelbe: Franz wollte ſich
ſeinen Eltern nach und nach ganz entfremden, weil ſie in
die Kreiſe nicht hineinpaßten, denen er für die Zukunft an¬
gehören wollte. Er blieb ein paar Augenblicke ſtehen und
ſchüttelte mit dem Kopf, als könne er alles das nicht
begreifen.


Einige Häuſer weiter fand er die Kellerfenſter noch er¬
leuchtet. Die Außenthür war geöffnet, und als er hinunter¬
ſpähte, erblickte er durch die Glasthür Anton Nölte, der an
ſeinem Löthofen ſaß und emſig arbeitete. Das Feuer glühte
und der Kolben wanderte fortwährend aus der Hand in die
Kohlen. Der Klempner verfertigte ſeit Jahren Küchen¬
geräthſchaften, die äußerſt ſchlecht bezahlt wurden. Von früh
bis ſpät hämmerte und löthete er, und die ganze Erholung,
die er ſich geſtattete, war nach dem Abendbrod die Stunde
10 *[148] bei Jamrath. Timpe ſtieg die Stufen hinab und öffnete
die Thür.


„So ſpät noch auf!“ ſagte er nach einem Gruße, trat
ganz ein und reichte dem fleißigen Manne ſeine Schnupf¬
tabaksdoſe hin. Er habe Arbeit vor, die am nächſten Morgen
abgeliefert werden müſſe, erwiderte Nölte. Das Magazin,
für welches er arbeite, fackele nicht lange. Es kämen
genug Leute, die ſich noch billiger anböten. Zum
Unglück ſei ihm der Lehrling noch am Tage vor¬
her ausgerückt. Zwei Jahre lang habe er ſich mit dem
Bengel gequält, um ihm etwas beizubringen, und nun, da er
von ihm zu profitiren hoffte, ginge die Range heidi, um ſich
wahrſcheinlich in irgend einer Fabrik als Geſelle anzubieten.
Das Maß dazu beſitze er allerdings.


„Das war einmal richtig geſprochen von Ihnen, Herr
Timpe — ich meine da heute Abend bei Jamrath“, fuhr er
fort; „ich könnte ein Liedchen von der Fabrikarbeit ſingen,
aber ich wollte mich nicht gern in das Geſpräch miſchen.
Wozu auch? Am Biertiſch iſt das weiter nichts, als Dreſchen
leeren Strohes, die Köpfe erhitzen ſich unnütz, und den
einzigen Vortheil davon hat nur der Wirth . . . Es wird
für uns Handwerker nicht anders werden auf Erden, als
bis eine neue Sündfluth kommt und die Fabriken und
Schornſteine verſchlingt. Da wird der Werth der Menſchen,
die übrig bleiben, ſich erſt beweiſen. Jeder wird zu
zeigen haben, was er gelernt hat. Wir müſſen in den Ur¬
ſtand zurücktreten, habe ich geſtern geleſen, und das wird wohl
das Beſte ſein. Haben die Menſchen, die vor tauſend Jahren
ihren Acker bebauten und ſich die Dinge, die ſie brauchten,
ſelbſt anfertigten, nicht viel glücklicher gelebt? O, Meiſter
[149] Timpe, ich habe viel geleſen — früher, als ich noch meinen
Laden beſaß. Aber die Bücher ſind zum Teufel gegangen,
fragen Sie nur meine Gläubiger . . .“


Kindergeſchrei ertönte aus einem Nebenraum. Nölte
ſprang auf. „Einen Augenblick — der Junge hat die Flaſche
verloren“, ſagte er und verſchwand in der einzigen Wohnſtube,
wo ſeine Frau mit ſechs Kindern ſchlief.


Als er wieder zurückgekehrt war, ging die Thür abermals
auf. Es war Kruſemeyer, der ſeinen Kopf hereinſteckte. Er
wollte ſich ein wenig erwärmen und dem Klempner einen
Schluck anbieten


„Nun, Herr Timpe“, ſagte er nach der Begrüßung, „das
nenne ich ſchnell ans Ziel gelangen. Ihr Sohn hat doch
nicht zu viel geſagt, damals — ich meine in jener Radau¬
nacht“. Auch Meiſter Nölte kam auf die Verlobung zu
ſprechen, und Timpe gerieth nun zum zweiten Male in
Verlegenheit. Wie es ſchien, wußte die ganze Nachbarſchaft
bereits davon, nur er allein hatte es in letzter Stunde er¬
fahren. Er kam ſich wie ein großer Narr vor.


„Ja, ja — Sie ſind zu beneiden. Wer ſolch eine Ausſicht
für die Zukunft hat, der kann ſich ſchon getroſt ohne Sorgen
des Abends niederlegen“, ſagte Nölte. Kruſemeyer erwähnte
bei dieſer Gelegenheit, daß die Nachfeier drüben in der Raupach¬
ſtraße vor ſich gehe. Da ſpendirte Herr Franz inmitten ſeiner
Freunde ganz gehörig. Er habe ihn vor ungefähr zwei Stunden
hineingehen ſehen. Das Lärmen und Singen ſchalle durch die
ganze Straße, und die Kneiperei werde wohl bis zum frühen
Morgen dauern.


Timpe horchte auf. Als er mit dem Wächter auf der
Straße war, ließ er ſich das Reſtaurant näher beſchreiben
[150] und bat den würdigen Beamten um weitere Aufſchlüſſe.
Nach der Trennung ſchritt er unbewußt, halb wie im Traume,
der Raupachſtraße zu. Er hatte plötzlich den Entſchluß ge¬
faßt, in dem Stammlokale ſeines Sohnes noch ein Glas
Bier zu trinken. Bei dieſer Gelegenheit würde er ihn gewiß
ſehen und ſprechen können. Irgend eine Aufklärung mußte
er haben. Was ſollte auch ſeine Frau dazu ſagen, wenn
er ihr die Neuigkeit mittheilte, ohne etwas Anderes hinzufügen
zu können?


Das betreffende Reſtaurant gehörte einer behäbigen
Wittwe und war der Sammelplatz von jungen Leuten,
größtentheils Studenten. Es gab hier einen guten Trank,
die bedienenden Mädchen zeichneten ſich durch Schönheit und
Liebenswürdigkeit aus, und die Speiſen ſtanden in einem
vortrefflichen Rufe. Als Timpe den erſten großen Raum
betreten hatte, öffnete ſich gerade die Thür eines kleinen
Zimmers, aus dem lautes Stimmengewirr und fröhliches
Lachen hereinſchallte. Sein Blick fiel auf ſeinen Sohn, der
inmitten der langen Tafel ſaß und lebhaft mit der Schenk¬
mamſell ſprach, um deren Taille er den Arm gelegt hatte.


Der Meiſter ſetzte ſich. Rechts und links von ihm ſaßen
ſehr vergnügt dreinſchauende junge Männer, die ihn gleich
bei ſeinem Hereintreten mit einem Blick von oben nach unten
gemuſtert hatten, als wollten ſie fragen: Wie kommſt Du
denn hierher, Alter? Und Timpe, der einen dieſer Blicke
aufgefangen und ſeine Bedeutung wohl verſtanden hatte,
mußte ſich ſagen, daß es ſeinen grauen Haaren ſchlecht ſtehe,
zu ſo ſpäter Stunde an dieſem Ort zu ſitzen. Endlich fragte
er das ihn bedienende Mädchen, ob man hier den jungen
Herrn Timpe kenne?


[151]

„Den ſchönen Franz? — Ei verſteht ſich! Alle Welt
kennt ihn ja!“ erwiderte ſie lächelnd und zeigte ihre weißen
Zähne.


Ob ſie wohl die Freundlichkeit haben wolle, den jungen
Mann auf wenige Augenblicke herauszurufen? Er habe ihn
ſehr dringend zu ſprechen. Das Mädchen blickte den Alten
verwundert an. Gewiß war das Jemand aus Urbans Fabrik,
der eine Beſtellung auszurichten hatte. Er möchte nur dort
hineingehen, ſagte ſie dann. Der Meiſter aber beſtand auf
ſeinem Wunſch. Nach einigen Minuten öffnete ſich die Thür
wieder, und Franz trat herein, gefolgt von zweien ſeiner
Freunde, die ihre Neugierde befriedigen wollten. Beim An¬
blick der prächtigen Erſcheinung ſeines Sohnes, die noch gehoben
wurde durch eine leichte Röthe des Geſichts und durch den
Ausdruck des Frohſinns, hatte er im Augenblick nur noch Ver¬
zeihung für ihn. Er erhob ſich und trat ihm mit ausgeſtreckter
Hand entgegen.


„Mein Junge —“


Franz war betroffen. Sein Vater hier und im Werkel¬
tagsanzug? Das hatte er nicht erwartet. Im Augenblick
erfaßte er die Situation: die aufmerkſamen Blicke der Gäſte
ringsherum, ſeiner Freunde, namentlich der Mädchen, die ihn
immer für einen Sohn aus beſtem Hauſe gehalten hatten.
Nur eine Minute lang kämpfte er mit einer ſtummen Verlegen¬
heit, dann richtete er ſehr gleichgültig an ſeine Freunde die
Bitte, ihn auf einige Augenblicke zu entſchuldigen und ergriff
die Hand ſeines Vaters, wie man ungefähr die eines Menſchen
ergreift, dem man gezwungener Weiſe Freundlichkeit entgegen¬
bringen muß. „Vater“, ſagte er leiſe, „komm hinaus, dort
ſind wir ungeſtört“. Als der Alte die Mütze ergriffen hatte
[152] und ihm gefolgt war, athmete er auf und fragte, ob zu Hauſe
etwas Unangenehmes paſſirt wäre? Und als Timpe ihn be¬
ruhigt hatte und nun erklärte, weswegen er eigentlich hierher
gekommen ſei, überſchüttete ihn Franz mit einem Wortſchwall,
aus dem nur zu deutlich das Beſtreben hervorging, ſeinen
Vater ſo bald als möglich von hier fort zu bringen.


„Morgen, morgen, Vater, ſollſt Du Alles erfahren. Ihr
werdet zufrieden ſein ... Geh nur jetzt, ich bitte Dich!
Was ſoll die Mutter denken, wenn Du ſo ſpät nach Hauſe
kommſt.“


„Aber mein Bier iſt noch nicht bezahlt —“


„Das werde ich beſorgen.“


„Aber Deine Freunde — willſt Du mich nicht mit ihnen
bekannt machen?“


„Ein anderes Mal, Du ſollſt ſie alle kennen lernen,
verlaß Dich darauf ... Sie ſind heute zu bekneipt ...
Geh' nur jetzt ... Es iſt ſo ſpät ...“


Und Meiſter Timpe ſah das ein und ging. Wie ſonderbar
das Benehmen ſeines Sohnes war, wie unmuthig er über
die Störung erſchien, wie er ſich umblickte, als wünſchte
er nicht belauſcht zu werden! Plötzlich blieb der Alte
ſtehen und ſtarrte vor ſich hin. Ein entſetzlicher Gedanke
durchzuckte ihn. Es war nicht anders zu deuten. Franz ſchämte
ſich ſeiner. Er war ihm nicht fein genug gekleidet, zu gering
für ſeine Freunde. Und je weiter er ſchritt, je fürchterlicher
dämmerte ihm die Wahrheit, je mehr nahm der Gedanke
Form und Geſtalt an. Immer nebelhafter wurde das Ideal¬
bild Franzens, immer greifbarer das Zerrbild einer fremden
Kreatur. Timpe ſeufzte laut auf. Er ſpürte die Kälte
nicht, die Schneeflocken nicht, die der Wind ihm in's Geſicht
[153] trieb, ſondern nur das Feuer, das in ſeinem Gehirn loderte
und unzähligen Funken gleich Gedanken auf Gedanken ent¬
fachte. Und es war immer derſelbe, aber phantaſtiſcher und
wilder: Ein Sohn ſchämt ſich ſeines Vaters!


Als er nach Hauſe kam, ſchlief Frau Karoline bereits
feſt. Er wollte ſie wecken, ihr alle ſeine Empfindungen über
den Einzigen mittheilen, als er aber auf ihr mildes Antlitz
blickte, kam er davon ab. Weshalb ihren Frieden ſtören?
Vielleicht träumte ſie gerade von dem, der ihm heute ſo
großes Weh bereitet hatte! Leiſe legte er ſich nieder, aber
es dauerte lange, lange, ehe der Schlaf ihn umfing, der ihm
heute wohler that als je.


[[154]]

X.
Im Kampfe des Jahrhunderts.

Die Fabrikationsweiſe Urban's begann auf die Dauer
große Triumphe zu feiern. Er ging darauf aus, die
kleinen Konkurrenten durch alle nur erlaubten Mittel
todt zu machen. Mit dem weiten Blick des ausgezeichneten Ge¬
ſchäftsmannes erkannte er ſofort die Ausbeutung irgend eines
Artikels, deſſen Verbreitung bisher noch nicht genügend gewürdigt
worden war. Er ſtellte ſeinen Abnehmern die möglichſt beſten
Bedingungen, und ſelbſt ſolche Arbeiten, deren Herſtellung ihm
ebenſo theuer kam, wie den kleinen Fabrikanten, lieferte er
den Kunden billiger als dieſe, wenn auch der Profit ein ganz
geringer war. Er ging dabei von dem Grundſatz aus, daß
der Verluſt an dem einen Fabrikat durch den drei¬
fachen Gewinn am anderen gedeckt werden müſſe. Es
lag ihm hauptſächlich daran, die Abnehmer an ſich
zu feſſeln, ſeine Fabrik zum Monopol für den ganzen Bedarf
zu machen. Er beſaß genügende Mittel, das Rohmaterial im
Großen und zu den mäßigſten Preiſen einzukaufen, den ihm
als ſicher bekannten Kunden einen größeren und längeren
[155] Kredit zu gewähren, als die kleineren Konkurrenten, „Die
Maſſe muß es bringen“, ſagte er ſich. Das Geheimniß
ſeiner billigen Produktion lag in der ſchnellen Ausführung
ſeiner Entſchlüſſe: der Idee folgte ſofort die That. Er
wußte, daß das Publikum ſtets das Neue liebte. So war
er denn raſtlos in dem Beſtreben, ſeine Kunden von Zeit
zu Zeit mit irgend einer „Nouveauté“ zu überraſchen, die
er entweder nach ausländiſchem Muſter hergeſtellt oder ſelbſt
verfertigt hatte. Geſchickte Zeichner und Techniker ſtanden
ihm dabei zur Seite. Und die Reiſen, die er nach Paris,
Brüſſel und London machte, thaten das Uebrige, um ihn nie
dem Verlangen ſeiner Kunden gegenüber in Verlegenheit zu
bringen.


Nach einem halben Jahre bereits genoß ſeine Fabrik in
der ihm nahe ſtehenden Geſchäftswelt eines bedeutenden Rufes.
Nannte man die Firma Ferdinand Friedrich Urban, ſo ver¬
band ſich damit bei den Galanteriewaarenhändlern, Stock- und
Schirmfabrikanten und all' den Kaufleuten, welche mit der
Elfenbein- und feineren Holzbranche zu thun hatten, der Ge¬
danke an einen Großinduſtriellen, dem man bedeutende Vor¬
theile zu verdanken habe. Selbſt die ihm ebenbürtigen Kon¬
kurrenten lernten ihn fürchten, denn ſie ſahen ſich ſchließlich
aus Exiſtenzrückſichten gezwungen, ebenſo billig zu produziren
wie er. Ein allgemeiner Druck auf die Engros-Preiſe ging
von ihm aus, denn ein großes Betriebskapital, das noch durch
das Vermögen ſeiner Frau vermehrt worden war, ſtand ihm
zur Verfügung.


Mit der Zeit verſpürte dieſe gewaltige Konkurrenz Nie¬
mand härter als die kleinen Fabrikanten; in erſter
Linie die Meiſter, die mit wenigen Geſellen direkt für die
[156] Händler arbeiteten. Johannes Timpe gehörte zu
ihnen. Im Frühjahr deſſelben Jahres bereits mußte
er zwei Geſellen entlaſſen; und vor Weihnachten, zu
einer Zeit, wo er ſonſt außerordentlich viel zu thun
hatte, mußte der dritte folgen. Die Beſtellungen vieler
Kunden waren ausgeblieben. Traf er einen von ihnen zu¬
fälligerweiſe und forſchte nach der Urſache der geſchäftlichen
Zurückhaltung, ſo kam nach vielem Drehen und Wenden
endlich die Antwort; und ſie war immer dieſelbe:
Urban liefere billiger, das Hemde liege Einem näher als
der Rock.


Selbſt das Preisherabſetzen half nichts. Der Meiſter
mochte kalkuliren wie er wollte: es war unmöglich, mit dem
Fabrikbeſitzer zu konkurriren; oder aber er mußte das Ma¬
terial ſtehlen und den Gehülfen einen Hungerlohn oder
einen ſchmählichen Akkordpreis bezahlen. Aber auch das
blieb nicht aus. Eines Tages ſah er ſich gezwungen,
die Geſellen auf ſeine üble Lage aufmerkſam zu machen.
Als ehrlicher Mann rechnete er ihnen vor, wie gering
ſein Verdienſt ſei, daß er nicht länger beſtehen könne,
wenn er die Akkordpreiſe nicht herabſetzte. Ein Gehilfe blieb
nach dieſer Auseinanderſetzung gleich fort, während die anderen
ſich dadurch zu entſchädigen ſuchten, indem ſie ihre Arbeit
nicht mehr ſo ſolide ausführten, wie früher. Der Meiſter
drückte ein Auge zu, wenn die Sachen nur nicht zu leicht¬
ſinnig ausgeführt wurden. Er tröſtete ſich damit, daß es bei
Urban nicht beſſer gemacht werde. Einmal geriethen ihm
verſchiedene von dem großen Konkurrenten fabrizirte Artikel
in die Hände. Er reichte ſie in der Werkſtatt umher und
ließ ſie von Jedem prüfen. Man erſtaunte über die leichte
[157] Arbeit. Es ſah alles ſehr elegant und einnehmend aus, aber
von Solidität war keine Spur vorhanden.


„Schlecht und billig, — ſo wirds gemacht“, ſagte Tho¬
mas Beyer und warf den Kram gleichgiltig in die Ecke.


Timpe mußte ſich ſagen, daß der Altgeſelle mit ſeinen
Worten den Nagel auf den Kopf getroffen habe. Darin be¬
ſtand eben der große Erfolg Urbans: das Publikum ließ ſich
durch den äußeren Schein blenden und täuſchen. Es fragte
nicht mehr nach guter Arbeit, die Billigkeit gab den Ausſchlag.
Das war das betrübendſte Zeichen der Zeit: Menſchen und
Waaren ſanken im Werthe. Der redlichſte Arbeiter wurde
durch die Sorge um's Daſein gezwungen, zum Betrüger am
Publikum und ſeinem Nächſten zu werden. Es war der
große ſoziale Kampf des Jahrhunderts, in dem immer daſſelbe
Feldgeſchrei ertönte: „Stirb Du, damit ich lebe!“ Und
die beiden Rieſenarmeen, die ſich Tag für Tag ſchlagfertig
gegenüberſtanden, auf einander losſtürmten und die Schlacht
der Verzweiflung ſchlugen, nannten ſich Ausbeuter und Aus¬
gebeutete. Das Kapital war das Pulver, und wer es am
meiſten beſaß, der trug den Sieg davon. Die Heerführer
dieſer Armeen aber hießen Hand und Maſchine. Die Kraft
des Dampfes führte den Vernichtungskampf gegen die Kraft
des Menſchen. Und in dieſen fürchterlichen Strudel, der
rückſichtslos gegen die Geſetze der Weltmoral ſein Zerſtörungs¬
werk an den Stützen der Geſellſchaft beging, wurde auch
Meiſter Timpe immer mehr und mehr hineingezogen.


Wenn er jetzt den Blick durch das Fenſter nach der
Fabrik hinüberrichtete, ſo that er es mit geballter Fauſt und
dem Ausdrucke des Haſſes. Das Getöſe der Dampfmaſchine
kam ihm dann wie das dumpfe Aechzen hundert zu Tode
[158] getroffener Männer vor; und das leiſe Zittern des Erd¬
bodens wie das Nahen einer verderbenbringenden Gewalt,
die dereinſt das ganze Haus verſchlingen würde. Die Fabrik¬
pfeife, deren lang-gedehnter Ton gellend zu ihm herüber¬
klang, machte ihn zuſammenſchrecken. Und wenn der Wind
den heißen Dampf in den Garten ſchlug, ſo konnte er ſich
nicht enthalten, eine laute Verwünſchung auszuſtoßen.


Was Johannes am meiſten ſchmerzte, war, daß ſein
Vater noch dieſen geſchäftlichen Niedergang erleben mußte,
und er verſuchte Alles aufzubieten, dem Greiſe den wirklichen
Zuſtand der Dinge zu verſchweigen, um jegliche Aufregung
von ihm fern zu halten. „Es könnte ſein Tod ſein,“ ſagte
er zu ſeiner Frau.


Mit Gottfried Timpe ſtand es ſehr ſchlimm. Das Leben
ſchien ihm nur noch eine Laſt. Du lieber Himmel, was konnte
man auch von einem Greis, der ſeinem ſiebenundachtzigſten
Geburtstage entgegenging, noch anderes verlangen, als das
Abbild eines leibhaftigen Todeskandidaten. Die Beine waren
bereits ſo ſchwach geworden, daß er ſich ohne die kräftige Hilfe
ſeines Sohnes oder Karolinens nicht fortzubewegen vermochte
So kam es denn, daß er den ganzen Tag über den Lehn¬
ſtuhl am Fenſter drückte und förmlich ins Bett hineingetragen
werden mußte. Jeden Morgen befürchtete man, er könnte
während der Nacht ohne Schmerzen, friedlich und ſtill, wie
es ſein Wunſch war, zu einem beſſeren Daſein entſchlummert
ſein. Das war jedenfalls der ſanfteſte Tod, ſo an Altersſchwäche aus
dem Leben zu ſcheiden — wie eine Uhr, die langſam ſtehen bleibt,
wenn das Räderwerk ſeine Dienſte verſagt. Aber gerade der
Gedanke, daß dies einmal ohne Beiſein eines Zweiten ge¬
ſchehen könne, war für Johannes ein fürchterlicher. Man
[159] hatte das Nachtlager des Alten bereits ſeit längerer Zeit
unten in der guten Stube aufgeſchlagen, und jedesmal, bevor
der Meiſter ſich zur Ruhe legte, ſtattete er mit leiſem Tritte
dem Vater einen Beſuch ab, um ſich von ſeinem Wohlſein
zu überzeugen.


So gebrechlich aber auch der Körper Gottfried Timpes
war, ſein Geiſt blieb bei alledem friſch, ſein Gehör war noch
immer daſſelbe feine wie früher, und ſein Gedächtniß das¬
ſelbe ſtarke. Die Folge davon war, daß er die Stunden da¬
mit ausfüllte, ſich Erinnerungen an vergangene Zeiten hin¬
zugeben. Sein geiſtiger Blick war immer nur nach rückwärts
gerichtet. Und ſo glich er ſchließlich einem verlorenen Welt¬
körper, der abſeits von der großen Heerſtraße ſeine eigenen
Kreiſe zieht und das Leben aus ſich heraus geſtaltet.
Das Merkwürdigſte war, daß, ſeitdem er nicht mehr
im Hauſe herumgehen konnte, die Luſt zur Unterhaltung
bei ihm geſtiegen war. Er wollte von allem unterrichtet
ſein, was um ihn her vorging und Frau Karoline mußte
ſtundenlang bei ihm ſitzen, um ſeine Fragen ſo lange über ſich
ergehen zu laſſen, bis ihm der Athem ausging. Es bedurfte
nur der leiſeſten Andeutung, irgend eines Hinweiſes auf eine
neue Straße, eine neue Brücke u. ſ. w., um ihn vom Berlin
der alten Tage ſprechen zu hören. Dann feierte ſein Gedächt¬
niß Triumphe. Er erinnerte ſich irgend eines alten Hauſes,
eines Platzes, origineller Menſchen, mit denen er zu thun
gehabt hatte, und die nun nicht mehr zu finden waren. Auch
der Humor kam zum Vorſchein, wenn er von ſeinen Knaben¬
jahren ſprach und die Gewohnheiten von Nachbar Hinz und
Kunz beſchrieb. Dann ſagte er ungefähr Folgendes: „ ... Der
trug die Naſe auch 'mal bis zum Himmel und wußte nicht
[160] warum. . . . Na, die Krauſes, wenn ich noch daran denke!
Das Paar war luſtig anzuſehen. Die Frau war drei Köpfe
größer als der Mann, und Er trug immer die größte Angſt¬
röhre, die nur aufzutreiben war, um zu beweiſen, daß er der
Herr ſei. Aber da hatte ſich was! Die Frau kommandirte
nach dem Markt gehen und einkaufen, und er wurde von ihr
wieder retour geſchickt, wenn er nicht das Richtige gebracht
hatte. Die Jungens liefen hinter ihm her und nannten ihn
immer „Muttern's Schlafmütze“ . . . Da war auch noch der
alte Kantor Riez, Gott laß' ihn ſelig ruhen! Er war ſo
vergeßlich, daß er einmal ſein eignes Haus nicht finden konnte
und mich auf der Straße fragte, ob ich nicht wiſſe, wo der
Kantor Riez wohne. Na, ich habe lachen müſſen!“


Und das Endwort dieſer Erinnerungen Gottfried Timpe's
war immer das alte: „Ja damals — das waren noch andere
Zeiten!“


Viel Sorge hatte es dem Ehepaare gemacht, dem Alten
gegenüber einen Grund für die gänzliche Abweſenheit Franzen's
zu finden. Seit jenem Abend nämlich, an dem des Meiſters
Mißtrauen gegen ſeinen Sohn ſo plötzlich erwacht und be¬
ſtätigt worden war, hatte er dieſen nicht mehr zu Geſicht be¬
kommen. Am anderen Tage war, wie es ſchien, nachträglich,
eine gedruckte Verlobungsanzeige eingetroffen und einige Zeilen
Franzens, worin er anzeigte, daß er zum Mittagseſſen nicht
erſcheinen könne und die Eltern bat, das anfängliche Ver¬
ſchweigen ſeiner Verlobung nicht übel zu deuten. Da ſein
Vater auf Urban nicht gut zu ſprechen ſei, ſo habe er ge¬
glaubt, man würde ſein Glück nicht ſo auffaſſen, wie er es
wünſchte. Er würde ſeinen Eltern immer in Liebe zugethan
ſein, man ſolle es aber entſchuldigen, wenn er von jetzt ab
[161] ſeinen eigenen Weg, ginge und ſich ſelten mache. Er habe
jetzt eben große Verpflichtungen gegen die Familie Urban,
würde auch geſchäftlich ſehr in Anſpruch genommen.


Frau Karoline nahm nach dieſen Zeilen den „guten
Jungen“ in Schutz. Der Meiſter aber ſah tiefer, denn er war
plötzlich ſehend geworden. So groß die Zärtlichkeit war, die
er ſeinem Sohne ſtets entgegengebracht hatte, ſo unauslöſch¬
lich war jetzt der Groll gegen ihn in ſeiner Bruſt. Der
Einzige war aus ſeinem Herzen geriſſen; und wenn die
Wunde auch niemals zuheilen würde — es ſollte ſo bleiben!
So ſehr liebte Johannes ſeinen Vater, daß er ſich ſchämte,
ihm Mittheilung von dem Zerwürfniß zu machen. Man
erfand denn für den Greis und die Geſellen die Mär, daß
Franz für ſeinen Chef Reiſen machen müſſe und in Folge
deſſen ſich ſelten ſehen laſſen könne. Nur Thomas Beyer
ließ ſich nicht täuſchen. Er ahnte den ganzen Zuſammenhang,
wollte aber Timpe nicht wehe thun und enthielt ſich daher
jeglicher Bemerkung darüber.


War Gottfried Timpe auch über dieſen Punkt beruhigt,
ſo konnte man es doch nicht verhindern, daß er nach und
nach etwas von der geſchäftlichen Miſère erfuhr, wenn auch
nicht in ihrem ganzen Umfange. Nun wollte er alles vor¬
her geweiſſagt haben und kam daher jeden Tag mit einem
Dutzend Rathſchläge zum Vorſchein, die Johannes befolgen
ſollte. Der Meiſter half ſich auch hier mit allerlei Nothlügen
aus und belog ſich ſelbſt, indem er eines Tages dem Vater
die Mittheilung machte, daß die Beſtellungen ſich wieder
mehrten, trotzdem das gerade Gegentheil der Fall war.
Gottfried Timpe aber hatte auf Wochen hinaus neue An¬
regungen in ſeinen Unterhaltungen mit Frau Karoline
Kretzer, Meiſter Timpe. 11[162] gefunden und ſprach nun nur noch von den goldenen Tagen
des Handwerks.


Eines Abends ſuchte Timpe Jamrath wieder auf. Der
Stammtiſch war bereits beſetzt und die Wogen der Debatte
gingen hoch. Das Geſpräch drehte ſich um die Stadtbahn,
deren Bau vom Staate wieder aufgenommen worden war.
Seit Wochen behandelte man Abend für Abend dieſes
Thema. Einige Hausbeſitzer, welche die Runde zierten,
waren beſonders dabei intereſſirt, vor Allem der lange
Brümmer, deſſen windſchiefes Haus direkt von der
Linie berührt wurde, und der ſeit dem Tage, an dem
er das erfahren hatte, ſo geſprächig geworden war, daß der
Schornſteinfegermeiſter aller Welt erzählte, die Schweigſamkeit
des Rentiers wäre bis dato nur Verſtellung geweſen. Kam
die Rede auf die Stadtbahn, ſo hüpfte er förmlich auf ſeinem
Stuhl, und war, wenn er das Lokal betrat, noch Niemand
von den bekannten Gäſten anweſend, und ſelbſt Vater Jam¬
rath für ihn unſichtbar, ſo unterhielt er ſich mit dem Kellner
über das neueſte Wunder Berlins und ſuchte dieſem ſehr ein¬
dringlich zu beweiſen, was für einen Vortheil der Staat
durch den Ankauf ſeines Grundſtücks haben würde. Fritz, der
nie trauriger ausſah, als wenn er ein freundliches Geſicht
machen wollte, ſagte zu Allem „Ja“ und bekam ſeit dieſer
Zeit ein ganzes Nickelſtück als Trinkgeld.


Seit Monaten waren bereits die Strecken, welche die
Schienen zu nehmen hatten, öffentlich ausgelegt geweſen, und
das Verwaltungsgericht zu Potsdam als oberſte Entſcheidungs¬
behörde in dieſer Angelegenheit, hatte ſeine liebe Noth, um
allen einlaufenden Proteſten gerecht zu werden. Hinterhäuſer
mußten heruntergeriſſen, Vorderhäuſer durchſchnitten, ganze
[163] Grundſtücke durchtrennt werden, um dem Dampfroß einen
Weg durch das Steinmeer zu bahnen. Das erforderte Un¬
ſummen an Abſtands- und Entſchädigungsgeldern, denn jeder
Grundbeſitzer wollte die Gelegenheit wahrnehmen, ſoviel als
möglich bei dem Verkauf zu gewinnen. Und weſſen Forderung
zu hoch war, und wer ſich dem Gemeinſinn nicht fügen
wollte, gegen den mußte das Enteignungsverfahren eingeleitet
werden. Unangenehme Prozeſſe entſtanden dadurch; Fiskus
und Bürgerthum führten einen harten Kampf.


„Wiſſen Sie ſchon, Herr Timpe,“ rief Deppler dem Meiſter
zu, „es ſteht feſt, daß Ihr Haus oder wenigſtens der Giebel
deſſelben eines Tages fallen muß. Die Stadtbahn geht quer
über die Holzmarktſtraße und ſchneidet Ihren Vorgarten weg.
... Urban iſt wie immer auch diesmal der Schlaue geweſen;
er hat ſämmtliche alte Baracken hinter Ihrem Grundſtück be¬
reits vor Jahren angekauft und ſchlägt nun einen vierfachen
Werth heraus. Das nenne ich Spekulation! ... Er hat
einen Prophetenblick, das muß man ſagen. Uebrigens iſt er
auf Sie noch ſchlechter zu ſprechen als ſonſt. Sie würden
es eines Tages bitter bereuen, ſein Kaufgebot nicht ange¬
nommen zu haben, meinte er neulich zu mir ... Aufrichtig
geſtanden: ich begreife ſeine Feindſchaft gegen Sie nicht, wo
Ihr Sohn ihm ſo nahe ſteht.“


Sein Sohn! Oh, wenn man gewußt hätte, was er von
ihm zu erwarten haben werde! Der Meiſter ſchwieg ſich wie
gewöhnlich darüber gründlich aus und kam auf andere Dinge
zu ſprechen.


Im Frühjahr des folgenden Jahres wurde mit dem
Abbruch der alten Häuſer hinter Timpes Grundſtück be¬
gonnen; und wenn der Meiſter jetzt die „Warte“ beſtieg und
11*[164] ſeinen Blick nach rückwärts wandte, ſah er vor ſich weiter
nichts als halbabgetragene Mauern, herabhängende Tapeten¬
fetzen, große Haufen Steine und halbmorſche Balken, die
nur noch als Brennholz dienen konnten. Die ganze Straßen¬
ecke mußte fallen. Von früh bis ſpät hörte man das Häm¬
mern der Spitzhacken, Abbröckeln und Raſſeln der Steine,
wenn ſie ihren Weg durch die Holzbahn vom Dache her bergab
nahmen. Hin und wieder ſtürzte eine halbe Mauer ein und
der Staub, der den ganzen Tag über in der Luft lag, wurde
durch eine ungeheure Wolke vermehrt, welche die Arbeiter und
Mauerreſte wie in Pulverdampf einhüllte. Das hörte ſich
dann im Innern des Häuschen an, als wäre für die Be¬
wohner das letzte Stündlein gekommen. Der Großvater
hatte ſeinen ganzen Humor verloren und erfand fortwährend
neue Bezeichnungen für den „Skandal“ da draußen. Es
ſcheine, als wenn man halb Berlin abriſſe. Die Menſchen
würden immer unverſchämter und reſpektirten den Frieden
des lieben Nächſten nicht mehr, meinte er voller Ingrimm.
Nächſtens würden ſie noch ihren Beſuch durch den Schornſtein
machen, nur um die Ruhe zu ſtören.


Die größte Aufregung kam jedoch, als es an den Ab¬
bruch des Gebäudes ging, das die hintere Giebelſeite von
Timpes Haus begrenzte. Während dieſer Arbeit ſaß der
Meiſter ſtundenlang auf ſeinem Auslug, um rechtzeitig für
das Anbringen von Stützen zu ſorgen. Aber auch das ging
ohne Unglück ab. Nach einem Monat lag die Ecke frei und
die Ausſchachtung des Erdbodens begann. Timpe's Haus
nahm ſich nun wie ein ſtörender Punkt in der Umgebung
aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn
der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarkt¬
[165] ſtraße, und hinten die rothen Backſteingebäude der Fabrik,
überragt von dem Schornſtein, der Siegesſäule der modernen
Induſtrie.


Als Timpe eines Abends wieder auf den Baum ge¬
ſtiegen war, der die erſten Blüthen zeigte, erblickte er auf
der neu geſchaffenen Bauſtelle Urban, der mit einem
fremden Herrn, anſcheinend einem Bauführer, hinter dem
Bretterzaun auftauchte. Der große Konkurrent zeigte auf
das Haus des Drechſlers mit einer Geberde, als machte
er ſich über die Ruine luſtig. Der andere Herr lachte dazu,
und Johannes hörte deutlich, wie der Fabrikbeſitzer mit ſeiner
piependen Stimme ſagte: „Wie der Kaſten da jetzt ausſieht!
Gerade wie eine Wanze auf einer hellen Tapete. Aber ich
werde dieſe Wanze ſchon eines Tages wegbringen, verlaſſen
Sie ſich darauf! Die Geſchichte macht ſich. . . . Sind das
verrückte Menſchen dieſe Timpes! — bis auf den Jüngſten
natürlich, aber den kann man garnicht mehr zu ihnen rechnen.
Er ſieht das auch ein. . . . Mir den Weg auf dieſer Seite
hier zu verſperren, trotzdem ich zehnmal ſo viel geboten habe,
als die Jammerſteine werth ſind!


„Und doch freue ich mich jetzt, daß mir Widerſtand ent¬
gegengeſetzt wurde, denn ich hätte mich ſchön geärgert, da es
der Stadtbahn wegen nicht zu fallen braucht. Ich bekomme
es noch billiger, viel billiger, unter dem Koſtenpreiſe; ver¬
laſſen Sie ſich darauf. Wie ſchön kann ich da nicht die
Viadukte benutzen, die hier entſtehen werden! Wer dem Geiſte
der Zeit ſich widerſetzt, der muß beſtraft werden. Unſer Jahr¬
hundert verlangt Neuerungen, nur Neuerungen. Der Alte ſtürzt,
und neues Leben blüht aus den Ruinen! Wie meinen Sie?
Das Alte heißt es? Meinetwegen! Ich meine aber den Alten
[166] da drüben, und da habe ich wieder einmal Recht. Wer kann
überhaupt die Dichter alle kennen! Die richten nur Unheil
an in der Welt. Sprechen von Freiheit und Menſchenwürde
und hetzen die Arbeiter auf! Mir ſoll einer kommen! Ich
kann auch ohne ſie leben.“


Während er dieſen Erguß zum Beſten gab, ohne irgend
welche Oppoſition zu vernehmen, war er unwillkürlich dem
Hauſe ſeines Feindes näher gekommen, ſo daß die letzten
Worte immer deutlicher Timpes Ohr berührten. Plötzlich
erblickte er den Drechsler und machte erſchreckt Kehrt. Der
Meiſter hatte ſchon längſt von Wuth übermannt die Hand
geballt. Plötzlich rief er laut hinunter: „Trotz alledem bleiben
Sie doch ein kleiner Mann mit einem großen Mund! Sie —
mein Haus bekommen?! Sie komiſcher Knirps! Da müſſen
Sie früher aufſtehn!“


Urban's Begleiter drehte ſich überraſcht um. Der Fabrik¬
beſitzer aber zog ihn mit ſich fort und ſagte: „Laſſen Sie ihn
nur reden! Er ärgert ſich doch!“


Seit dieſem Abend war der Haß des Meiſters gegen den
Nachbar zum vollen Ausbruch gekommen. Schon die Nen¬
nung des Namens Urban genügte, um ihn herbe Worte ſprechen
zu laſſen. Frau Karoline ſtellte im Geheimen ihre Be¬
trachtungen darüber an und ſchreckte zuſammen, wenn Jo¬
hannes mit zuſammengezogenen Augenbrauen in die Stube
trat. Das war das Zeichen, daß wieder etwas Aergerliches
paſſirt war. Gewöhnlich hatte Timpe dann in Erfahrung ge¬
bracht, daß ein Kunde ihm abgeſprungen ſei, weil Urban ihm
billiger liefere. Der Meiſter kam dann aus einer Stimmung
in die andere. Er drohte mit der Fauſt nach der Fabrik hin¬
über und wurde dann wieder ſanft wie in früheren Zeiten
[167] ſetzte ſich zu dem Vater ans Fenſter, plauderte mit ihm und
erzählte luſtige Schnurren, um ſeine üble Laune vergeſſen zu
machen; oder er ging zu ſeinem Weibe nach der Küche hin¬
aus und ſcherzte mit ihr wie in jungen Jahren. Er wollte
ſich dadurch Muth machen. Und wenn Frau Karoline ſeine
Hände ergriff und herzlich ſagte: „Vater, es wird ſchon wieder
beſſer werden, nur den Glauben an Gott nicht verlieren“, —
dann erwiderte er vergnügt: „Mutter, Du haſt Recht“, und
verließ ſie mit geſtärktem Vertrauen, um aufs Neue an ſeine
Arbeit zu gehen.


Am Anfange des Sommers ſtanden bereits vier Dreh¬
bänke ſtill. Das brachte Timpe faſt in Verzweiflung, denn
wenn das ſo weiter ging, hatte er in abſehbarer Zeit auch
für die anderen Geſellen keine Beſchäftigung mehr und konnte
gleich dem langen Herrn Brümmer mit der Pfeife im Munde
den ganzen Tag zum Fenſter hinausſehen. Wollte er dieſer
ſchlimmſten Gefahr aus dem Wege gehen, ſo mußte er den
letzten Verſuch machen, den Kampf mit Urban aufzunehmen.
Er begann alſo von Neuem zu rechnen und ſtellte den
Kunden, die ihm noch übrig geblieben waren, denſelben Preis
wie der große Konkurrent. Sein ganzer Verdienſt wurde
dadurch eingebüßt, ſodaß eigentlich die Arbeit nur noch ins
Haus kam, um die Geſellen zu beſchäftigen; aber Timpe
blieb zähe. Es handelte ſich um ein Prinzip, das einmal
durchgefochten werden mußte. Dazu geſellte ſich der Haß des
Feindes, der ſich lieber ſelber wehe thut, ehe er dem Gegner
einen Triumph gönnt. Der Meiſter mußte ſchließlich das kleine
Kapital angreifen, das er ſich während vieler Jahre ſauer
erworben hatte, und das dereinſt für ſeinen Sohn beſtimmt
war; aber an dieſen dachte er nicht mehr, war Franz doch
[168] gut aufgehoben und bekümmerte ſich nicht um das Schickſal
ſeiner Angehörigen.


Aus dieſem Konkurrenzkampf mit ungleichen Mitteln er¬
wuchſen ihm nach nnd nach Unannehmlichkeiten, deren Folgen
er allein zu tragen hatte. Mehrmals kam partienweiſe die
Arbeit zurück. Die Kunden beklagten ſich, daß ſie nicht mehr
ſo ſolide wie früher ausgeführt ſei; ſie beſtanden auf Erſatz.
Das war der ſchwerſte Schlag, der den Meiſter treffen
konnte: daß er auf dem beſten Wege war, ſein während
eines Vierteljahrhunderts erprobtes Renommée zu verlieren.
Und doch mußte er ſich ſagen, daß ihn am wenigſten die
Schuld treffe, daß nur allein die Konkurrenz ihn zwinge,
zu denſelben Mitteln zu greifen wie ſein Gegner. Er ver¬
glich die Arbeit mit der aus Urbans Fabrik und fand nicht
den geringſten Unterſchied. Es war nur zu ſehr erſichtlich:
man glaubte, ſich ihm gegenüber das erlauben zu dürfen,
was man gegen den großen Fabrikanten, der einen längeren
Kredit gewährte, nicht wagte. Aber auch das ertrug er mit
Stillſchweigen. Er ſelbſt arbeitete bis in die Nacht hinein,
um den Schaden wieder gut zu machen und die Gehilfen
nicht leiden zu laſſen, die er ſelbſt zur leichteren Arbeit er¬
muntert hatte.


Zwei Monate lang befriedigte Timpe ſeine Kunden auf
dieſe Art; dann erfuhr Urban davon und ſetzte den Preis für
die Artikel, welche Timpe lieferte, noch niedriger. Der Meiſter
folgte auch dieſem Beiſpiel und verzichtete auf den letzten ge¬
ringen Gewinn, den er hauptſächlich nur ſich ſelbſt und den
Lehrlingen zu verdanken hatte.


„Bis aufs Meſſer ſoll es gehen“, ſagte er bei dieſer Ge¬
legenheit laut in der Werkſtatt, und die Geſellen, die ſeit
[169] Jahren ihre Plätze bei ihm inne hatten, konnten ihm ihre
Theilnahme nicht verſagen.


Eines Sonnabends bei der Löhnung, als der Meiſter die
Gehilfen nach einander in ſeine Arbeitsſtube rief und Thomas
Beyer an die Reihe gekommen war, zögerte der Altgeſelle,
das ihm hingezählte Geld einzuſtecken.


„Meiſter“, ſagte er, „Sie haben viel Unglück zu er¬
leiden. Wenn ich auch nicht viel rede, ſo ſehe ich doch Alles
und mache mir mein Bild zurecht. Ich werde nicht länger
bei Ihnen arbeiten, wenn Sie mir nicht den Akkordpreis um
ein Drittel herabſetzen. Und was Spiller, den Sachſen, an¬
betrifft, ſo ſage ich ebenfalls für ihn gut; er kann weniger
Schinken eſſen und weniger Liqueur trinken . . . Sie leiden
unſchuldig, und ein Lump, der dem Unſchuldigen nicht beiſteht“.


Dieſe ſchlichten Worte rührten Timpe bis zu Thränen.
Er wandte ſich ab, um ſeiner weichen Stimmung Herr zu
werden. Dann, als er ſich gefaßt hatte, ſtreckte er Beyer die
Hand entgegen und wies das Anſinnen mit Dank, aber
energiſch zurück. Beyer aber wollte nicht nachgeben. Er und
der Sachſe müßten auf ihrer Bitte beſtehen, und wenn der
Meiſter ſie nicht erfüllen wolle, ſo würden ſie einfach „Adieu“
ſagen.


Timpe blieb nichts Anderes übrig, als nach wiederholtem
Sträuben nachzugeben. An der Thür wandte ſich Beyer noch
einmal um; es war ihm ſchwer, ohne eine „Diskuſſion“, wie
er es nannte, von dannen zu gehen.


„Meiſter“, begann er daher wieder, „Sie wiſſen, ich bin
ein Bücherwurm und habe ſo meine eigenen Anſichten über
die Dinge und ihre Urſachen. Da habe ich neulich einen
Vortrag gehört, der nicht ſchlecht war.“

[170]

Und diesmal unterbrach ihn Timpe nicht mit ſeinen früheren
Worten: weiß ſchon, weiß ſchon, ſondern ließ den Altgeſellen
weiterreden und wandte ihm ſeine ganze Aufmerkſamkeit zu.
Und dieſer fuhr fort:


„Wir leben in einer Zeit, wo der Egoismus das Chriſten¬
thum immer mehr und mehr verdrängt. Es heißt nicht mehr
„Hilf Deinem Nächſten“, ſondern „Tödte Deinen Nächſten“;
nicht mehr, „Liebet euch unter einander“, ſondern „Fürchtet
euch vor einander“. Ich wollte nur fragen: Stehen Sie
immer noch auf Ihrem alten Standpunkt; denken Sie immer
noch nicht anders? glauben Sie immer noch, daß die Erde
mit ihren Schätzen nur für Wenige geſchaffen ſei und nicht
für Alle?“


„Mein lieber Beyer“, erwiderte Timpe, „das Unglück
hat angefangen mich zu verfolgen; aber trotzdem werde ich
mich nicht auflehnen gegen die Geſetze der Menſchen und
ihre Satzungen. Gehe ich zu Grunde, ſo werde ich das als
eine Nothwendigkeit der Ordnung dieſer Welt betrachten.
Aber ich werde mit Ehren zu Grunde gehen, und wer das
von ſich ſagen kann, der nimmt ein ſchönes Bewußtſein mit.
Ich glaube an einen Gott, und deſſen Fügungen ſind wunder¬
bar. Mein Wahlſpruch heißt: Thue Recht und ſcheue Niemand.
Ich weiß ſchon lange: die Sozialdemokratie hat Ihnen den
Kopf verdreht, aber ich will den meinigen gerade behalten.
Sie ſind einer von der beſſeren Sorte, lieber Beyer, denn
Sie ſind ein Schwärmer. Aber ſehen Sie: Ich habe einmal
geleſen, daß Kaiſer Karl der Fünfte ſein ganzes Leben lang
ſich damit gequält hat, zwei Uhren in die gleiche Gangart zu
bringen, ohne daß es ihm gelungen wäre. Gerade ſo iſt es
mit den Menſchen: nicht zwei von ihnen beſitzen die gleichen
[171] Eigenſchaften. Und die beſten Freunde ſind ſchon zu Tod¬
feinden geworden, weil der eine eines Tages mehr beſaß, als
der andere. Und was im Kleinen nicht geht, wollen Sie im
Großen vollführen? . . . . Die Monarchie ſoll ſich der
Schwachen und Bedrückten annehmen! Ich bin gut königs¬
treu — alſo reden wir nicht mehr darüber.“


Beyer ſchüttelte mit dem Kopf. „Ihre Glaubenstreue
iſt zu bewundern,“ ſagte er dann; „aber Meiſter, Meiſter,
ich ſage Ihnen, Sie werden einmal anders denken. Sie
gehem noch in unſer Lager über. Und die Ord¬
nung dieſer Welt, wie Sie es nannten, wird das zu Wege
bringen.“


Timpe machte eine abwehrende Bewegung. „Niemals!“


„Doch Meiſter —“ Mit dieſen Worten verſchwand der
Altgeſelle und ließ Timpe ſinnend zurück.


[[172]]

XI.
Schlimmer Verdacht.

Gegen Weihnachten deſſelben Jahres hob ſich das Geſchäft
Timpe's wieder ein wenig, ſo daß er nicht mit Verluſt zu
arbeiten brauchte; nach Neujahr aber ging es mit Macht
bergab, ein plötzlicher Stillſtand trat ein und der Meiſter
mußte den Geſellen das Geld förmlich aus der eigenen Taſche
zahlen, nur um ſie an ſich zu feſſeln. Im folgenden Som¬
mer ſah er ſich genöthigt, abermals einen Gehilfen zu ent¬
laſſen. Diesmal traf den luſtigen Berliner das Loos. Fritz
Wieſel bat den Meiſter voll Treuherzigkeit, ſeiner wieder zu
gedenken, wenn es beſſer gehen ſollte. Man trennte ſich
ungern von dieſer Werkſtatt, wo man ſich noch geſtatten
durfte, in Gegenwart des Meiſters einen derben Witz zu
machen und nichts von einer drakoniſchen Fabrikordnung zu
ſehen war.


Nach acht Tagen bereits ſprach Wieſel wieder vor. Er
hatte noch keine andere Beſchäftigung gefunden. In vielen
Fabriken und kleineren Werkſtätten war eine plötzliche Arbeits¬
ſtockung eingetreten, die eine Folge jahrelanger Ueberproduktion
war. Die erſten Schatten des großen induſtriellen Krachs
kamen drohend herangezogen. Die Papiere zahlreicher Aktien¬
[173] geſellſchaften ſanken über Nacht. Die Waaren ſtauten ſich,
denn die Nachfrage nach ihnen verminderte ſich von Tag zu
Tag. Nur diejenigen Firmen, die dem verlockenden Schwindel
der Zeit nicht gefolgt waren, denen ein genügendes Kapital
zur Verfügung ſtand, produzirten nach wie vor in gleichem
Umfange. Das Publikum fing an gegen die „goldene Aera“
mißtrauiſch zu werden und bangte um ſeine „gut angelegten“ Er¬
ſparniſſe. Es lag etwas in der Luft, das ſich wie das unheimliche
Murmeln einer aus weiter Entfernung herannahenden Fluth
ausnahm, die nach den Trümmern lechzte, welche die Ebbe
zurücklaſſen würde.


Fritz Wieſel erzählte, daß man ihm angeboten habe, bei
Urban einzutreten und daß er auch in der Fabrik geweſen
ſei, um mit dem Werkführer Rückſprache zu nehmen. Er
habe ſich die Sache aber noch einmal gründlich überlegt und
ſei davon abgekommen. Er würde es mit ſeinem Gewiſſen
nicht vereinen können, bei dem Manne zu arbeiten, der
Meiſter Timpe alle möglichen Chikane anthue. Ueberdies
lebe er bei ſeiner Mutter, die einen Kohlenhandel betreibe,
und da könne er es eine Weile aushalten.


Der ehemalige Kamerad wurde nach dieſer Mittheilung
ſofort umringt. Nur ein braver Kerl könne ſo von ſeinem
früheren Meiſter ſprechen, ſagte man ihm. Und Timpe, der
beim Hereintreten die letzten Worte Wieſel's gehört hatte,
ſtreckte ihm voll Dankes die Hand entgegen. Der luſtige
Fritz hatte dann verſchiedene Neuigkeiten aufzutiſchen. Ob
man ſchon wiſſe, daß man Urban angeboten habe, ſeine Fabrik
in eine Aktiengeſellſchaft umzuwandeln? Alle verneinten und
zeigten ſich erſtaunt. Timpe meinte, daß er ſchon längſt auf
dieſe Nachricht gewartet habe.


[174]

Mit der Mittheilung Wieſel's hatte es ſeine Richtigkeit
Vor einem halben Jahre hatte ein Konſortium von Speku¬
lanten Urban zu bewegen verſucht, die Fabrik durch ein
Aktienkapital zu erweitern; er hatte aber dieſes Anſinnen
ſehr beſtimmt zurückgewieſen. Sein ſcharfer Blick ließ ihn
nur zu ſehr den Rückſchlag der induſtriellen Gründungen vor¬
herſehen. Wolle er ſein Geſchäft vergrößern, hatte er ge¬
meint, ſo könne er es auch aus eigenen Mitteln thun. Und
um ſogleich den Beweis dafür zu liefern, eröffnete er ein
Vierteljahr ſpäter eine Knopffabrik, die er bereits längſt ge¬
plant hatte. Zu dieſem Zwecke hatte er bereits im vergan¬
genen Jahre einen Anbau an die hintere Seite der großen
Fabrik errichten laſſen; auch ein zweites Keſſelhaus gehörte
dazu.


Es war ihm namentlich um die Anfertigung von Stein¬
nuß-Knöpfen zu thun. Dieſelben waren von London zuerſt
eingeführt worden und ſchnell in Mode gekommen. Der Be¬
darf für die Konfektion war ein gewaltiger.


Urban bezog die Nüſſe in Maſſenlieferungen und brachte
die fertigen Knöpfe äußerſt billig auf den Markt. Das
Plattenſchneiden an der Dampfſäge war eine gefährliche Be¬
ſchäftigung. Gleich am erſten Tage wurden einem Arbeiter
die drei Finger der rechten Hand abgeſchnitten. Die ganze
Fabrik kam zuſammengelaufen und bedauerte den vor Schmerz
Heulenden. Es war ein bereits ergrauter Familienvater, den
das Unglück getroffen hatte. Der Blutverluſt hatte ihn ohn¬
mächtig gemacht. In dieſem Zuſtande trug man ihn nach
Bethanien. Urban zahlte der verzweifelten Frau den Lohn
für zwei Wochen aus und erklärte, ſeiner Pflicht damit ge¬
nügt zu haben. Nach ſeiner Meinung habe der Arbeiter
[175] durch eigene Fahrläſſigkeit ſich beſchädigt; für derartige Fälle
könne man ihn nicht verantworlich machen.


Als Timpe davon erfuhr, erging er ſich in Ausdrücken,
die nicht ſehr ſchmeichelhaft für den großen Konkurrenten
waren. Es wäre jedenfalls beſſer geweſen, wenn die Säge
einen Theil von Urban's langer Naſe mitgenommen hätte,
ſagte er voller Galgenhumor, ſo daß die Geſellen laut auf¬
lachten.


In den nächſten Tagen drehte ſich ſein ganzes Mitleid
um den Verunglückten. Er brachte es ſoweit, daß unter Be¬
rufsgenoſſen eine Geldſammlung abgehalten wurde. Es kam
eine Summe zuſammen, die neben der Unterſtützung aus der
Krankenkaſſe ausreichte, um die Familie des Invaliden wenig¬
ſtens vor der äußerſten Sorge zu bewahren.


Während der ſchlechten Geſchäftszeit fand der Meiſter
genügend Zeit, dem Bau der Stadtbahn hinter ſeinem Häus¬
chen, der ſich immer mehr entwickelte, ſeine Aufmerkſamkeit
zuzuwenden. Oefter als ſonſt beſtieg er in dieſem Sommer
die „Warte“, für die er niemals mehr die Bezeichnung
„Franzen's Ruh“ gebrauchte. Saß er oben zwiſchen den
Zweigen und rauchte gemüthlich ſeine Pfeife, ſo vergaß er
beim Anblick des geſchäftlichen Treibens unter ſich ein Viertel¬
ſtündchen lang die Drangſale des Lebens, hatte er nur noch
Sinn für die neue Welt, die ſich vor ihm aufbaute und immer
gewaltiger und kühner emporſtrebte.


Bis zum Frankfurter Bahnhof war die Gaſſe freigelegt
worden, die dem Verkehre Spreeathen's einen neuen Weg
eröffnen ſollte. Eine eigenartige Perſpektive bot ſich dem
Auge dar. Es war gerade, als hätte eine Rieſenfauſt vom
Himmel ſich herniedergeſenkt und mit gewaltigem Hammer¬
[176] ſtreich eine Breſche durch die Häuſer geſchlagen, gleichgültig
darüber, ob das eine ſtehen bleibe oder die Hälfte des
anderen falle.


Dort blickte man in einen Hof hinein, dem bis vor
Kurzem noch Luft und Licht fehlte, und der nun die Geheim¬
niſſe der Hinterhäuſer verrieth; und daneben in einen kleinen
Garten, der bisher wie ein ſeltener Schatz inmitten der grauen
Mauern nur zur Freude ſeines Beſitzers gedient hatte und nun
gleich einer weithin ſichtbaren Oaſe das Auge entzückte. Aber nur
noch kurze Zeit, und der Dampf des Eiſenroſſes wälzte ſich über
ihn fort und raubte den herrlichen Roſen den Duft. . . . .
Und dazwiſchen freigelegte Ställe und Scheunen, Trocken- und
Holzplätze, zwei Seitengebäude ohne Vorderhaus, die Reſte
von durchſchnittenem Mauerwerk; und dort wo der Trümmer¬
weg eine Kurve machte, die offene Straße wieder mit ihren
vier- und fünfſtöckigen Miethskaſernen, in deren Fenſtern die
Sonne ſich blendend ſpiegelte.


Vom dunklen Grunde dieſer Gaſſe hoben ſich leuchtend
die hellen kalkbeſtäubten Jacken eines Heeres von Maurern
ab. Wie ſich das bückte, hinauf- und hinabſtieg, Stein an
Stein fügte, um das Fundament der breiten Pfeiler zu
geſtalten. Die rothen Steine leuchteten, die Hammer¬
ſchläge klangen hell herüber, und ein Fuhrmann trieb fluchend
die Pferde vor einem ſchwer mit Sand beladenen Wagen an.


Auch zu den Füßen Timpe's, wenige Schritte von ſeinem
Hauſe, erhoben ſich bereits die erſten Anfänge der Viadukte.
Einer ihrer Pfeiler berührte die hintere Giebelwand ſo dicht,
daß der Meiſter vermeinte, ihn mit der Hand berühren zu
können. Faſt gleichmäßig von Tag zu Tag, als wüchſen ſie
Fuß für Fuß aus der Erde, erhoben die Pfeiler ſich auf der
[177] ganzen Linie, bis ſie anfingen allmählich in die Rundung des
Bogens überzugehen. Und je weiter die Steinmaſſen ſich
rechts und links ausdehnten, um zu einem rieſigen Ringe zu
werden, je beengter fühlte ſich der Meiſter ſchwebend über
dem Dache ſeines Häuschens, je mehr überkam ihn das Ge¬
fühl einer gewaltſamen Erdrückung — gleich einem Menſchen,
der nach und nach in immer kleinere Räume geführt wird
bis er ſich im letzten befindet, in dem er nicht mehr zu
athmen vermag. Immer winziger und ruinenhafter erſchien
ihm ſein Häuschen Angeſichts des erſten kühnen Bogens, der
ſich von einem Pfeiler zum andern ſpannte.


Mit der Zeit flößte ihm der Wunderbau ſo großes Inter¬
eſſe ein, war er auf ſeine weitere Entwickelung ſo geſpannt,
daß er die Stunde kaum erwarten konnte, die ihm den alten und
doch neuen Anblick gewährte. Zuletzt kannte er jeden Arbeiter
von Angeſicht, hatte er ſich ihre Gewohnheiten eingeprägt,
wußte er, ob dieſer fleißig, jener faul ſei; und aus den Ge¬
ſprächen, die ſie mit einander führten, lernte er ſchließlich ihre
perſönlichen Verhältniſſe kennen. Mit einem der Maurer,
einem alten, ehrwürdig ausſehenden Manne mit langem weißen
Kinnbart, war er bereits ſo vertraut geworden, daß er ihn
des Morgens wie einen guten Bekannten begrüßte und ſeine
Meinung über das Wetter und andere für den Tag höchſt
wichtige Dinge mit ihm austauſchte. Dann redete man ſich
gegenſeitig nur mit „Meiſter“ an; und mehr als einmal
reichte Timpe dem Manne im weißen Kittel helles Feuer zu,
oder ließ ſich herab, ihm mit einer Hand voll Taback aus¬
zuhelfen.


Und war der letzte Arbeiter vom Gerüſt verſchwunden,
dann warf er noch einen langen Blick auf ſeine Umgebung
Kretzer, Meiſter Timpe. 12[178] und lauſchte eine Weile den gleichmäßigen Schlägen der Ramme,
deren dumpfer Knall von der Spree herübertönte. Hier
arbeitete man auch des Nachts bei Fackelſchein, um die Pfähle
ins Waſſer zu treiben, auf denen das Fundament der Via¬
dukte ruhen ſollte.


Bis in den Winter hinein hielt die Geſchäftsſtille an,
ſo daß der Verluſt, den Timpe in dieſem Jahre trug, für
ſeine Verhältniſſe ein geradezu unerſetzlicher war. Um dieſe
Zeit ſtellte ſich Deppler, der längſt abgeſprungene Kunde, bei
ihm wieder ein. Der Meiſter war nicht wenig erſtaunt,
freute ſich dann aber aufrichtig über den Beſuch. Schien
doch die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß die ſolide Arbeit
wieder zu Ehren kommen und die abtrünnigen Abnehmer
nach und nach zu ihm zurückkehren würden. Der Gedanke
des Meiſters an eine große Beſtellung ſchwand aber bald.
Deppler kam im Auftrage eines Andern, eines Amerikaners,
der ein Modell angefertigt haben wollte. Timpe konnte das
Anliegen nicht gut abſchlagen, um ſo weniger, da Deppler
durchblicken ließ, es gäbe vielleicht etwas zu verdienen, wenn
Timpe die Arbeit gut ausführe und der Artikel ſich nicht zu
theuer ſtelle.


Als Timpe den Auftrag in Arbeit nehmen wollte, fiel
ihm ein, daß er vor Jahren ähnliche Formen gedreht habe,
wie die Zeichnung aufwies. Er ſuchte alſo unter ſeinen zahl¬
reichen Modellen. Bei dieſer Gelegenheit machte er die Ent¬
deckung, daß ein Theil der beſten und werthvollſten fehlte.
Er traute erſt ſeinen Augen nicht, glaubte an einen Irrthum
und durchſuchte die ganze Arbeitsſtube; rückte mit Hülfe
eines Lehrlings Tiſche und Kaſten von der Wand, vergebens
— die vermißten Holztheile fanden ſich nicht. Selbſt die
[179] Pappſtreifen, auf denen die Nummern verzeichnet waren,
konnten nicht entdeckt werden. Man hatte ihn alſo beſtohlen.


Das ganze Haus gerieth bei dieſer Nachricht in Aufregung.
Der Großvater gab den Rath, ſofort nach der Polizei und dem
Staatsanwalt zu ſchicken, denn ſo lange er in dieſem Hauſe
lebe, ſei ſo etwas noch nicht paſſirt. Und Frau Karoline
war ſo erſchreckt, daß ſie Johannes auf das Inſtändigſte bat,
Keller und Boden durchſuchen zu laſſen, denn es käme oft
vor, daß Spitzbuben ſich tagelang im Hauſe aufhielten. Am
ſeltſamſten wurden die Geſellen durch die Entdeckung berührt.
Es leuchtete ihnen ſofort ein, daß die Gegenſtände nur von
Jemandem entwendet ſein konnten, der ſie für ſich zu ver¬
wenden wußte. Der Meiſter pflegte ſeine Stube niemals zu
verſchließen; ſtundenlang war er nicht zu ſehen. Sie arbeiteten
Tag für Tag in der Nähe, konnte nicht auf Jeden von ihnen
der Verdacht fallen?


Timpe hatte denſelben Gedanken, und doch lag es ihm
fern, auch nur im Geringſten an der Ehrlichkeit der alt¬
bewährten Arbeiter zu zweifeln. Als er die Werkſtatt betrat,
kam er ſeinen Gehülfen zuvor und gab ſofort mit aller
Offenheit eine dahingehende Erklärung ab. Und man wußte
ihm Dank für ſeine Worte; wurde doch Allen dadurch ein
Alp von der Bruſt genommen. Aber die Thatſache ſtand
trotzdem feſt, nur ein Hausdieb konnte ſeine Hand nach den
Modellen ausgeſtreckt haben.


Der Meiſter nahm ſich die beiden Lehrlinge vor und redete
ihnen voller Güte ins Gewiſſen. Es ſollte ihnen verziehen
werden, wenn ſie die Wahrheit ſagen würden. Die Jungen
waren Söhne armer, aber anſtändiger Eltern. Sie brachen
ſofort in Thränen aus und ſchwuren hoch und theuer, nichts
12*[180] von dem Diebſtahl zu wiſſen. Als ſie merkten, daß man
ihnen noch nicht glauben wollte, fielen ſie auf die Kniee und
baten mit gefalteten Händen, mit ihnen nach Hauſe zu ihren
Eltern zu gehen, um dort nachzuſuchen. Der Meiſter blickte
in die von Thränen umflorten Augen, in denen keine Spur von
Lüge zu finden war und glaubte ihnen. Er ſah nun ein, daß
er zu weit gegangen war, drückte Jedem die Hand und bat
um Verzeihung. Damit ſie ſich tröſteten, ſchenkte er ihnen ein
Markſtück.


Während das Geſpräch ſich immer noch um den heiklen
Punkt drehte, hatte Thomas Beyer ſtumm auf ſeine Arbeit
geblickt, plötzlich ſagte er:


„Meiſter, ich hab's!“


Die Drehbänke ſtanden ſofort ſtill. Jedermann blickte
erwartungsvoll auf den Altgeſellen, der fortfuhr zu ſprechen:


„Es kann nur Jemand geweſen ſein, der mit Urban in
Verbindung ſteht. Als ich die Viktoria-Krücken von drüben
ſah, wunderte ich mich gleich über einen Fehler im Griff, der
nur in unſerem Modell vorhanden war, bei den Arbeiten
aber verändert wurde. Urban glaubte natürlich, daß das zur
Zeichnung gehöre und ließ die Geſchichte ruhig mitdrehen.“


Timpe verſchwand ſofort und kam mit der Nachricht
zurück, daß auch dieſe beiden Modelle mit zu den Geſtohlenen
gehörten.


Als Deppler ihm ſeiner Zeit dieſe beiden Artikel Urbans
zeigte, nahm er an, daß der Fabrikbeſitzer ſie mit den üblichen
Veränderungen nach den Vorbildern in den Läden ange¬
fertigt habe. Nun leuchteten ihm die Worte Beyers nur zu
ſehr ein.


Wer war nun der Dieb und Verräther?


[181]

Man ließ die entlaſſenen Geſellen Revue paſſiren. Aber unter
ihnen war Keiner, auf den der Verdacht ſich mit Gewißheit lenken
konnte. Ja, wenn einer von ihnen bei Urban beſchäftigt wäre, ſo
hätte die Sachlage ſich geändert. Da ſagte der älteſte der
Lehrlinge, der mit immer noch zuckendem Munde und ge¬
rötheten Augen wieder an ſeine Arbeit gegangen war:


„Jetzt fällt mir ein, Meiſter — ich habe Ihrem Herrn
Sohn einmal die Leiter halten müſſen, als er noch Abends
ſpät an der Wand da drinnen etwas ſuchen wollte,“


Timpe wurde leichenblaß. Wie Schuppen fiel es ihm
von den Augen, aber er nahm ſeine ganze Kraft zuſammen,
um ſich ſeinen Leuten gegenüber zu beherrſchen. Während er
vor ſich auf die Diele ſtarrte, ſah er im Geiſte die erſtaunten
Blicke ſeiner Geſellen auf ſich gerichtet. Und er fühlte, wie
das Blut ihm heiß ins Geſicht ſtieg. Dann ermannte er ſich,
wendete ſich langſam nach dem Burſchen um und ſagte mit
unheimlicher Ruhe:


„Naſeweiſe Jungen machen naſeweiſe Bemerkungen.
Künftighin wirſt Du den Mund erſt aufthun, wenn Du ge¬
fragt wirſt .. Was mein Sohn damals ſuchte, das weiß ich
ſchon.“ Und zu den Geſellen gewendet:


„Zerbrechen wir uns nicht mehr die Köpfe um den
Dieb, der Zufall wird uns ſchon zu Hülfe kommen.“


Nach dieſen Worten verließ er gemeſſenen Schrittes
die Werkſtatt und verſchwand in ſeine Arbeitsſtube. Hier
aber verließ ihn die Kraft. Wie erſchöpft ließ er ſich auf
einen Stuhl am Fenſter und verbarg ſein Geſicht in die Hände.
So ſaß er lange, lange. Was ſeine Seele bewegte, kam
durch kein Wort zum Ausbruch, aber die ſchweren Athemzüge
zeugten für die fürchtlichen Kämpfe in ſeinem Innern.


[182]

Sein eigener Sohn ſollte ihn beſtohlen haben, um ſich
den Dank des Todfeindes zu verdienen? Der Gedanke war
zu fürchterlich, als daß er es wagen durfte, ihn laut zu
äußern, wäre es auch nur in einem Selbſtgeſpräche ... Als
er aber endlich das Haupt erhob, deſſen Haare Sorge und
Kummer der letzten Zeit früh gebleicht hatten, und er
hinausblickte auf das rothe Gemäuer der Viadukte, das das
Zimmer halb verdunkelte, ſah er verändert aus, als hätten
Minuten Furchen in ſein Antlitz gezeichnet. Er ſchüttelte den
Kopf, als wollte er mit Gewalt das nicht begreifen, was für
ihn ſchreckliche Wahrheit war. Ein langer Seufzer kam über
ſeine Lippen, in dem Alles lag: die Erinnerung an einen
ſchlanken Knaben, den er auf den Knien geſchaukelt hatte, die
unbeſchreiblichen Hoffnungen und Wünſche, welche ſich an ſeine
Zukunft geknüpft hatten, der Gedanke an viele Jahre harter
Arbeit, an Liebe und Pflege um den Einzigen, und an einen
betrogenen Vater ...


Plötzlich ſchreckte er zuſammen, wie jäh aus einem Traume
erweckt: die Meiſterin ſtand neben ihm und hatte ſeine Schul¬
tern berührt.


„Vater, Dich drücken wieder ſchwere Sorgen ... Und
wie Du ausſiehſt, mein Gott ...“


„Wie immer, Mutter.“


Er fand ein Lächeln und zog die Alte ſanft an ſich. Und
als ſie mit ihren Lippen ſeine Stirn berührt hatte, ging es
ihm wie ein Frühlingswehen durch die Seele, ſodaß er ſein
Weib herzhaft küßte. Sie betraten dann die gute Stube.
Sein Blick fiel auf das Bild ſeines Sohnes. Franz war
dargeſtellt als ein Jüngling von 16 Jahren. Meiſter Timpe
[183] konnte nicht an ſich halten; die Vaterliebe beſiegte den
Schmerz. Er nahm das Bild und küßte es. Als Frau
Karoline das ſah, drückte ſie den Zipfel der Schürze gegen
die Augen und verließ leiſe das Zimmer. Den Anblick konnte
ſie nicht ertragen.


[[184]]

XIII.
Ein entarteter Sohn.

Um dieſelbe Zeit ſaß Franz an ſeinem Pult und zeigte
ein ſehr mißvergnügtes Geſicht. Die Urſache dieſer
Stimmung war das lange Hinausſchieben ſeiner Hoch¬
zeit. Nichts lag gegen ihn vor; Emma's Liebe zu ihm war
noch die alte, Frau Urban kam ihm mit derſelben
Freundlichkeit entgegen, und der Vertrauenspoſten, den er
als Geſchäftsführer inne hatte, zeugte am beſten für
die Werthſchätzung ſeiner Perſon. Endlich, nach mancherlei
Andeutungen, die er ſich in Folge der Verzögerung erlaubt
hatte, war er zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Haupt¬
ſchuld lediglich an ſeinem Chef liege. Urban hatte in der
That darauf hingewirkt, daß man es ihm ganz überlaſſe, den
Tag des Ehebündniſſes feſtzuſtellen. Er hatte ſeinen ganz
beſonderen Grund dafür. Erſtens wollte er ſich für die un¬
veränderte Feindſchaft, die Emma ihm immer noch entgegen¬
brachte, rächen, und zweitens hatte ſeiner Meinung nach
Franz noch nicht die genügende Prüfung abgelegt, die ihn
völlig würdig machte, zu der Familie Urban-Kirchberg in ver¬
wandtſchaftliche Beziehungen zu treten. Und doch hatte
[185] Timpe junior bereits bewieſen, daß er vor nichts zurückſchrecke,
um ſich angenehm zu machen und erneuerte Dankbarkeit ent¬
gegen zu bringen.


Gewiß, wenn Urban aufrichtig ſein wollte, ſo mußte er
das anerkennen. Er hatte ihm alle Kunden ſeines Vaters
namhaft gemacht, ihre Eigenthümlichkeiten geſchildert, manches
Geheimniß der Fabrikationsweiſe des Meiſtes verrathen, ge¬
logen und geheuchelt, ſein Gewiſſen geopfert, mit rührender
Miene, thränenden Augen von dem Abſtand zwiſchen ſich und
ſeinen Eltern geſprochen, mehr als einmal das Mitleid er¬
weckt, nur um an das große Ziel zu gelangen, das ihm die
Verwirklichung ſeiner berückenden Träume bringen würde.


Das aber gerade war es, was Urbau mißtrauiſch gemacht
hatte. Er erblickte in Franzen's Charaktereigenſchaften ſo viele
Berührungspunkte mit den ſeinigen, daß es ihm leichter, als ſeiner
Frau und Emma wurde, den wirklichen Werth ſeines Procuriſten
zu taxiren. Was er an ihm allein zu würdigen wußte, waren die
großen Fähigkeiten; und wodurch er ſich immer auf's Neue be¬
ſtechen ließ, waren die einnehmende Erſcheinung und die
große Liebenswürdigkeit Franzens.


„He,“ ſagte er mehr als einmal zu ſich, „der hält mich
für dumm, aber er irrt ſich ... Ein Teufelskerl! Hat ſich
bei allen „liebes Kind“ gemacht, und man weiß eigentlich
nicht, wie das gekommen iſt. Solche Leute aber paſſen in
die Welt — die bringen es zu etwas.“


Aergerte er ſich dann über die „klaſſiſche Unverſchämtheit,“
mit der Franz ſich in ſeiner Familie „eingeniſtet“ hatte, ſo
ſehr, daß er daran dachte, die Verlobung aufzuheben und
Timpe junior die Thür zu weiſen, ſo verlor er wieder den
Muth dazu, wenn der Prokuriſt vor ihm ſtand und ihn mit
[186] einem bezaubernden Lächeln fragte: „Wünſchen Sie was,
Herr Urban? Womit kann ich dienen? Soll ich Ihnen
eine Arbeit abnehmen? Darf ich um die Auszeichnung
bitten, mir das geſtatten zu wollen?“


Urban war es dann jedesmal, als ſpräche aus dieſen
geſuchthöflichen Worten etwas wie Spott. Und wenn er mit
ſchief geneigtem Kopf zu dem großgewachſenen Nachbarsſohn
emporblickte, ſo bebte er ſtets in der Einbildung, als mache
ſein vertrauteſter Untergebener ſich über die „Lange Naſe“
eben ſo luſtig, wie ſämmtliche Arbeiter in der Fabrik. Er
war dann entwaffnet, verſuchte das Lächeln ſeines Prokuriſten
nachzuahmen, was ihm aber um deswegen ſchlecht gelang,
weil er mit ſeinen defekten Zähnen keinen Staat machen konnte,
drehte ſich kurz um und ſuchte das Komptor auf, um ſeinen
Zorn über das erlittene Fiasko an einem der Kommis aus¬
zulaſſen.


Einmal geriethen Beide doch ſehr ernſt zuſammen. Seit¬
dem Franz verlobt war, hatte er ſich gewiſſe Gewohnheiten
angeeignet, die inſofern denen Ferdinand Friedrich Urban's
ähnelten, als aus ihnen erſichtlich das Beſtreben hervorging,
zu herrſchen und zu befehlen: oder doch zum mindeſten An¬
ordnungen zu treffen, wie ſie aus den Rechten einer Autorität
herzuleiten ſind. Mit der Zeit hatten die Arbeiter in der
Fabrik ſich daran gewöhnt, ihn ebenſo zu reſpektiren wie
Urban; ja es kam oft vor, daß man den kleinen Fabrik¬
beſitzer ganz überſah und nur auf den großen Prokuriſten
hörte, der unter Umſtänden ſehr herablaſſend ſein konnte und
in ſeinen Manieren den gebildeten Mann zeigte, den man
bei Urban ſtets vermißte. Der Letztere beobachtete dieſe
Hintenanſetzung ſeiner Perſon mit ſtillem Ingrimm. Als
[187] aber einer ſeiner Befehle nicht befolgt worden war und man
ſich deswegen auf Franz berief, bot ſich ihm endlich die
Gelegenheit dar, den gereizten Löwen hervorzukehren. Es
gab unter vier Augen einen argen Auftritt.


„Sie thun ja gerade, als wenn Sie hier der Chef wären
und ich Ihr junger Mann!“ ſchrie er in voller Entrüſtung,
worauf dann ſofort die höflichſte aller Antworten kam:


„Es würde mir zur größten Ehre gereichen, Ihr Chef
zu ſein, Herr Urban, denn derartige vortreffliche Menſchen
findet man ſelten,“ ſagte Timpe junior.


Diesmal aber ließ der kleine Mann ſich nicht ködern,
trotzdem ihn die Erwiderung wie gewöhnlich verblüfft hatte.


„Wenn das noch einmal vorkommt, dann ſind wir ge¬
ſchiedene Leute, verſtehen Sie?“


Franz klappte ſein Buch zu und ſagte gleichgültig: „Da
das noch ſehr oft vorkommen wird, Herr Urban, ſo werde
ich ſogleich gehen. Ich werde meinem Vater zu Füßen fallen
und ihn um Verzeihung bitten. Sie wiſſen, daß Emma
großjährig und ihr Vermögen ſicher geſtellt iſt. Mein Vater
und ich werden dann ebenfalls eine Fabrik bauen, und damit
Sie ſich meiner ſtets erinnern, werden wir das in Ihrer
unmittelbaren Nähe, auf der anderen Seite der Straße
thun . . . Adieu!“


Er nahm kaltblütig ſeinen Hut und wollte verſchwinden.
Nach zehn Minuten aber konnte man ihn nach wie vor auf
dem alten Platz finden; denn Urban, vor Entſetzen bleich,
hatte ihn in ſein Kabinet gebeten, um „vorher noch ein paar
Worte“ mit ihm zu wechſeln. Man ſprach ſich ſehr ver¬
nünftig aus. Franz ſpielte auch hier den höflichen Mann
weiter, der alles nur aus Intereſſe für ſeinen Prinzipal thue.
[188] Urban bot ihm eine Cigarre an, die er ſelbſt nur in Aus¬
nahmefällen zu rauchen pflegte, reichte ihm ſelbſt, auf den
Zehen ſtehend, das Feuer zu, was ſich ſehr komiſch ausnahm,
drückte ihm warm die Hand und glaubte der Verſicherung
ſeiner Hochachtung nicht beſſer Ausdruck geben zu können, als
daß er ihn mehrmals hintereinander mit „mein junger Freund“
anredete. So erneuerte man denn das Bündniß und trennte
ſich als die alten Ehrenmänner.


Die Züge Urban's veränderten ſich erſt, nachdem die Thür
ſich geſchloſſen hatte. Aus dem liebenswürdigen Chef entpuppte
ſich der gefeſſelte Zwerg, der ſeine Ohnmacht fühlt und die
berechtigte Wuth nicht hervorkehren darf. Oh, das hätte ihm
noch gefehlt, daß dieſer große Schlingel ſich jetzt aus dem Staube
machte, nachdem er ihn in ſeine Geſchäftskniffe eingeweiht hatte;
und nur zu dem Zwecke, um den halbtodten Gegner jenſeits
der Mauer wieder lebendig zu machen. Wenn dann Vater und
Sohn ans Ausſprechen kämen, würden ſchöne Sachen zum
Vorſchein kommen, deren Folgen er allein zu tragen hätte.
Und überdies das ſchöne Geld ſeiner Stieftochter, das er
durch die dereinſtige Kompagnieſchaft ihres zukünftigen Mannes
für ſein Geſchäft zu kapern gedachte. Er hätte im Bewußt¬
ſein dieſes doppelten Verluſtes keine Nacht ruhig ſchlafen können
und ſich das Leben bis an ſein Ende verbittert.


Franz zeigte heute große Unluſt zum Arbeiten; er kam
aus dem Gähnen nicht heraus. Seine ganze Beſchäftigung
beſtand darin, nach der Straße hinunterzublicken, ſeine Nägel
zu putzen und an den Spitzen ſeines Schnurrbartes zu drehen,
der jetzt in üppiger Fülle ſein Geſicht zierte. Ueberhaupt
ſah er ſehr blaß und abgeſpannt aus. Die Augen erſchienen
trübe, als hätte er die Nacht wenig geſchlafen.


[189]

Im großen Komtor machte man durchaus kein Ge¬
heimniß daraus, daß er ein ſehr lockeres Leben führe und
Paſſionen nachgehe, die ihm viel Geld koſteten. Da man ihn
aber fürchtete, und ſeine Nobleſſe bei gewiſſen Gelegenheiten
bekannt war, ſo raunte man ſich die üblen Dinge, die man
über ihn erfuhr, nur leiſe zu. So kam es, daß weder Urban
noch deſſen Frau irgend etwas von ſeinem bedenklichen
Lebenswandel erfuhren und um ſo weniger Verdacht
ſchöpften, als er ſich thatſächlich niemals eine Unpünktlichkeit
oder Vernachläſſigung ſeiner geſchäftlichen Pflichten zu Schulden
kommen ließ.


Wenn Franz des Abends von ſeiner Braut Abſchied ge¬
nommen hatte, ſo ſuchte er die Bierkneipen auf oder die zahl¬
reichen Vergnügungslokale Berlins, in denen der jungen
Männerwelt Zerſtreuungen jeder Art geboten werden. Ja,
eines Abends nahe an Mitternacht wollte man ihn in Geſell¬
ſchaft von Fräulein Irma, einer bei den Studenten des Vier¬
tels ſehr beliebten Biermamſell im Café Bauer erblickt haben.
Als das einer der Kommis im Komtor erzählte, meldeten
ſich ſofort einige Kollegen, die ſchon längſt von dieſer Lieb¬
ſchaft Kenntniß haben wollten. Man fand das aber für einen
noch unverheiratheten jungen Mann in Berlin ſo ſelbſtver¬
ſtändlich, daß man ſich nur witzige Bemerkungen über dieſe
neueſte Entdeckung erlaubte und im Uebrigen den Glücklichen
um ſein ungebundenes Leben beneidete.


Durch dieſe Abwege gerieth Franz in Schulden, die er
ohne Bedenken bei einem Wucherer entrirte und die ſich immer
mehr anhäuften. Wußte man doch, daß er mit einem ver¬
mögenden Mädchen aus guter Familie verlobt war, und daß
er eines Tages die acceptirten Wechſel prompt werde ein¬
[190] löſen können. Was ihn ſelbſt anbetraf, ſo machte er ſich über
dieſen Punkt durchaus keine Vorwürfe. Der Tag der Hochzeit
ſtand vor der Thür, die Schuld würde dann rechtzeitig getilgt
werden. Der hohen Zinſen wegen, die er zahlen mußte,
wünſchte er aber die Eheſchließung ſobald als möglich herbei.


Er hatte ſoeben zum vierten Male einen kleinen Taſchen¬
ſpiegel hervorgeholt und ſich in ihm von allen Seiten be¬
trachtet, als der Komtorbote eintrat und ihm die Mittheilung
überbrachte, daß der „Herr Chef“ ihn zu ſprechen wünſche.


„Mein lieber Timpe“, redete ihn Urban an, als er
deſſen Arbeitszimmer, das an der anderen Seite des großen
Komtors lag, betreten hatte, „nehmen Sie gefälligſt Platz.
Ich kann Ihnen die angenehme Mittheilung machen, daß
meine Frau und ich beſchloſſen haben, den Hochzeitstag end¬
gültig auf den fünften Januar feſtzuſetzen. Freuen Sie ſich,
he? Die Geſchichte macht ſich, was?“


Er legte ſeinem Prokuriſten die Hand auf die Schulter
und blickte ihn über die Brille hinweg pfiffig an. Franz
freute ſich in der That; aber er war ſo überraſcht, daß er
zum erſten Male ſeit langer Zeit die halb ironiſchen Höflich¬
keitsphraſen anzuwenden vergaß und ganz verlegen ſeinen
Dank hervorbrachte.


Und Urban, dem dieſe Verlegenheit erſichtliches Amüſe¬
ment bereitete, fuhr fort:


„Wir werden keine große Hochzeit machen, ſondern ein
einfaches Diner veranſtalten. Wir haben dabei in erſter
Linie auf Sie Rückſicht genommen, um Ihnen manche Un¬
annehmlichkeit in Betreff Ihrer Eltern zu erſparen . . . Ich
liebe überhaupt dieſe großen Tafeleien nicht, wo Hinz und
Kunz ſich auf General-Unkoſten ſatteſſen. Wir werden ganz
[191] unter alten Bekannten ſein, von denen ſich nun einmal Frau
Urban nicht zu trennen vermag. Ich habe dieſe Leute ſozu¬
ſagen mitgeheirathet und muß hin und wieder ihre Gegenwart
über mich ergehen laſſen. Sie werden die Häberleins, die
Roſés und die Ramms vorfinden — Leute, die längſt in
Ihre Verhältniſſe eingeweiht ſind . . . Eine Hochzeitsreiſe
ſteht Ihnen natürlich frei, aber ich würde Ihnen rathen,
dieſelbe lieber im Sommer zu machen. Sie frieren dann
weniger. — Sie gehen dann meinetwegen nach der Schweiz
oder Süd-Tirol.“


Er ſchwieg eine Weile, klopfte dann dem glücklichen
Timpe junior abermals, und zwar etwas kräftiger als vor¬
dem, auf die Schulter und ſagte wieder:


„Und das Schönſte iſt, Sie werden mein Kompagnon
werden. Es iſt beſſer ſo, das Geld bleibt in der Familie . . .
Selbſtverſtändlich wenn Sie wollen. Die Geſchichte macht
ſich, he?“


Franz begnügte ſich Minuten lang mit einer ſtillen Ver¬
wunderung. Das plötzliche, greifbare Glück hatte ihn ſtumm
gemacht. Da lag die goldene Perſpektive vor ihm, mit all
ihrem märchenhaften Zauber, in dem er bereits als Jüngling
in Gedanken geſchwelgt hatte. Oh, was hatte das Schickſal
beſchloſſen, aus ihm zu machen! Er, der in der alten Ruine
da drüben geboren worden war, ſollte der Kompagnon von
Ferdinand Friedrich Urban werden? Und ganz von dieſem
Taumel ergriffen, vergaß er die reſervirte Haltung, die er in
der letzten Zeit Urban gegenüber angenommen hatte, ergriff
voller Unterwürfigkeit deſſen Hand und preßte einen Kuß
darauf.


„Sie werden mir ein zweiter Vater ſein, Herr Urban,
[192] nicht wahr?“ ſagte er mit bittendem Augenaufſchlag. „O,
wenn Sie wüßten, wie ganz anders es iſt, in einem Vater
den gebildeten Mann zu ſehen! Vielleicht verdammt man
mich, daß ich mich faſt ganz von meinen Eltern losgeſagt
habe, aber können die Kinder dafür, wenn die Verhältniſſe,
unter denen ſie geboren wurden, nicht gleichen Schritt mit
ihrer Erziehung und ihrer Bildung gehalten haben?“ . . .
O, Herr Urban, wenn Sie in mein Herz blicken könnten . . .“


Der kleine Chef fand dieſe Scene ſo rührend, daß er
das Geſicht abwandte, das rothſeidene Taſchentuch hervorzog,
und daſſelbe dem Auge zuführte. Als er ſich wieder um¬
drehte, ſagte er voller Theilnahme:


„Herr Timpe, Sie ſind ein Ehrenmann — ſeien Sie
verſichert, es giebt in der ganzen Welt keinen Menſchen, der
mehr mit Ihnen fühlte als ich. Nicht Sie ſind zu ver¬
urtheilen, ſondern Ihr Vater, der hartnäckig alte Prinzipien
vertritt. Das kommt davon, wenn man ſolche Jammerſteine,
wie die da drüben, mehr liebt, als Ruhe und Frieden. Wie
glücklich könnten wir Alle mit einander leben, mein lieber
Timpe . . . O, man ſollte es nicht glauben, aber es iſt ſo:
die Welt ſteckt voller Böſewichte.“


Nach zehn Minuten hatten Beide ſich über dieſe An¬
gelegenheit beruhigt und beſprachen dann rein geſchäftliche
Dinge. Wenn Urban Jemandem eine Freude bereitete, ſo
verlangte er regelmäßig einen Gegendienſt dafür; denn eine
der vielen Deviſen, die ſeinen praktiſchen Standpunkt beweiſen
ſollten, lautete: Eine Hand wäſcht die andere.


Es handelte ſich abermals um einige komplizirte Modelle
Meiſter Timpe's, die er ſehr zu beſitzen wünſchte. Natürlich
nur, um ſich auf eine halbe Stunde „an ihrem Anblick“ zu
[193] erfreuen, wie er beruhigend hinzufügte. Und um nun Franzen
gleich die richtige Rolle zu ertheilen, die er diesmal bei der
Ausbeutung fremden Eigenthums zu ſpielen haben werde,
redete er ihn mehrmals mit „lieber Kompagnon in spe“ an.
So hieß es denn hintereinander: „. . . Sie werden davon
überzeugt ſein, daß es in unſerem beiderſeitigen Intereſſe
liegen muß, die Modelle einmal in die Hände zu bekommen,
um zu ſehen, wie die Zuſammenſetzung iſt. . . Aber mein
„lieber Socius“ — ich will nicht in Sie dringen, wenn ſchon
„unſere“ Firma einen bedeutenden Vortheil davon hätte, und
ich der feſten Meinung lebe, daß es auf die Dauer gut ſein
wird, wenn „wir Chefs“ zuſammenhalten. . . . Ich ſtelle mir
die Sache nicht ſo ſchlimm vor. Sie beſuchen Ihre Eltern
unter irgend einem Vorwand und — — und — — Oder
thun Sie es lieber nicht! Nein, nein, der liebe Gott bewahre
mich vor einer Sünde!“


Gerade die letzten Worte hatten genügt, um Franzen's
Entſchluß zu befeſtigen. O, was für Rückſichten hat man nicht
als Geſchäftsmann auf ſeinen Kompagnon zu nehmen! War
man nicht moraliſch verpflichtet, deſſen Intereſſen zu den
eigenen zu machen?


Drei Tage lang dachte er darüber nach, wie er es an¬
ſtellen ſollte, den abermaligen Wunſch Urban's zu erfüllen.
Hundert Mal nahm er ſich vor, dem Hauſe ſeiner Eltern
frank und frei einen Beſuch zu machen, aber die Scham hielt
ihn davon ab; noch mehr die Furcht vor ſeinem Vater, die
gerade jetzt entſetzlich auf ihn eindrang. Wenn der Alte ihm
die Thür wieſe, ihn wie einen Schuljungen behandelte, an¬
geſichts der Geſellen . . .? Nein, . . . Sagte ihm
ſein Gewiſſen auch, daß er eine derartige Behandlung verdient
Kretzer, Meiſter Timpe. 13[194] habe, ſo wollte er ſich ihr doch nicht zur Freude Anderer
ausſetzen. Und doch, ſollte er jetzt davor zurückſchrecken, ſich
Urban erkenntlich zu zeigen, jetzt wo die Göttin des Glücks
ihr Füllhorn vor ihm ausgeſtreut hatte, um ihn doppelt zu
belohnen? ... Ein wahnwitziger Gedanke ſchreckte ihn aus
ſeinem Sinnen. Beſaß er nicht einen Schlüſſel zu ſeines
Vaters Haus, den er ſich in der letzten Zeit ſeines dortigen
Aufenthaltes hatte anfertigen laſſen? Wie — wenn er
mitten in der Nacht . . . ſeine Eltern hatten einen feſten
Schlaf . . . die Thür zur Werkſtatt war niemals ver¬
ſchloſſen . . . die Lehrlinge ſchliefen oben in der Boden¬
kammer . . .


Noch ſchlug ſein Gewiſſen laut genug, um ihm bei
dieſen Gedankenſprüngen den Schweiß auf die Stirn zu
treiben. Aber ſo oft er ſich mit Gewalt von ihnen wandte
— ſie kehrten zurück und peinigten ihn ſo lange, bis er ſich
an den Schmerz gewöhnte, gleichgültig und abgeſtumpft gegen
ihn wurde . . .


Zwei Tage ſpäter, nahe um Mitternacht, ſchritten Kruſe¬
meyer und Liebegott langſam die ſchmale Straße entlang, in
der Timpe wohnte. Es war Mitte November, der Himmel
ſternenklar, aber der Wind, der die dünne Schneeſchicht wie
einen durchſichtig-weißen Schleier in die Höhe trieb und gegen
die Häuſer fegte, von ſchneidender Kälte. Soweit das Auge
reichte, zeigte ſich kein menſchliches Weſen, außer den beiden
unzertrennlichen Beſchützern der Bürgerruhe. Liebegott hatte
die Hände in die weiten Aermel ſeines Mantels geſteckt, und
Kruſemeyer den breiten Kragen des Rockes über die Ohren
geſchlagen. So trotteten die Beiden gemächlich in größter
Seelenruhe ihres Weges dahin.


[195]

„Ich möchte wiſſen, wo heute der Wind herkommt. Das
iſt, als wenn einem das Meſſer an die Kehle geſetzt wird“,
ſagte der Schutzmann, worauf der Wächter erwiderte:


„Aus 'nem Bäckerladen kommt er nicht; verlaß Dich
d'rauf.“


Nach dieſem höchſt lehrreichen Geſpräche entſtand aber¬
mals eine längere Pauſe, denn der Schnee hatte ſich in die
Bärte geſetzt und die Kälte aus ihnen kleine Eiszapfen ge¬
bildet, die das Sprechen nicht gerade zur angenehmen Be¬
ſchäftigung machten. Selbſt die Philoſophie war heute einge¬
froren. Sie thaute auch nicht auf, als die beiden Kumpane
an einem einſamen Thore Halt machten, Kruſemeyer das
Fläſchchen mit den Erhohlungstropfen aus der Taſche zog
und jeder ein herzhaftes Schlückchen zu ſich nahm. Die ein¬
zige diesbezügliche Bemerkung Liebegott's war die, daß der
Winter immer ſchöner wäre, wenn er aus den Sommer¬
monaten beſtände.


Sie kamen bei des Drechslers Haus vorüber und be¬
merkten hinter dem Laden des letzten Fenſters noch Licht.


„Timpe noch auf, das wundert mich“, ſagte Liebegott.


„Der arme Meiſter! Er wird ſich noch an ſeiner Dreh¬
bank quälen“, fiel Kruſemeyer ein. „Wer hätte früher ge¬
dacht, daß es mit dem Alten in ſeinen ſpäten Tagen noch
bergab gehen würde! Aber der Urban macht ihn „alle“, ſo
wenigſtens ſagte mir Beyer. Und bei alledem komme ich am
Schlechteſten weg; denn Thomas iſt verſeſſen darauf, bei dem
Alten auszuharren, und wenn er ein Hundegeld verdienen
ſollte. Wie kann mein Mädel da aus dem Hauſe kommen?
Sie wird alt ſein, wenn er ſie heirathen kann, und da wird
ſie ihm nicht mehr gefallen. . . . Wäre ich an ſeiner Stelle,
13*[196] na —“ Er brach plötzlich ab, blieb ſtehen und ſpitzte die
Ohren.


„Hörſt Du nichts, Liebegott?“ fragte er leiſe. „Ich glaube
man ſchrie um Hülfe — da drinnen bei Timpe's. Sollte
das am Ende ein Dieb ſein, ſollte wirklich mein Tag ge¬
kommen ſein? . . .“


„Beruhige Dich, Du wirſt es nicht erreichen, verlaß Dich
darauf . . . Das ſind die Geſpenſter Deiner Phantaſie“,
ſagte Liebegott und ſetzte wieder den einen Fuß vor den
anderen. Aber der Wächter hielt ihn zurück, denn in dem¬
ſelben Augenblick ertönte ein lauter Schrei im Hauſe, dem die
Rufe folgten: „Hilfe, Diebe!“


Mit wenigen Sätzen war Kruſemeyer am Eingange.
Aber bevor er die Klinke ergreifen konnte, wurde die Thür
von innen geöffnet und eine dunkle Geſtalt ſtürzte
bei ihm vorüber und die Straße hinunter. Es
war Franz, der die Modelle in der Taſche, keine
Ahnung davon hatte, daß der Großvater in der guten Stube
ſchlief, von der aus eine Thür zum Arbeitszimmer des Vaters
führte. Ein Blick des Wächters hatte genügt, um in dem
Fliehenden den Sohn Meiſter Timpe's zu erkennen. Er
wollte ihn feſthalten, ihm nacheilen, aber wie vom Schrecken
gelähmt, ſtand er rath- und bewegungslos da. Das Einzige,
was er zu thun vermochte, war, daß er in ſeiner Herzens¬
angſt zu Liebegott ſagte:


„Wirklich ein Dieb, lauf' ihm nach, halt ihn feſt!“


Und des Schutzmanns ungeſchlachter Körper bewegte ſich
in möglichſter Schnelligkeit nach der Richtung zu, die Franz
genommen hatte. Jedoch konnte man mit ziemlicher Be¬
ſtimmtheit bereits vorherſagen, daß Liebegott's Verfolgung trotz
[197] beſtem Willen nicht von Erfolg gekrönt ſein werde. In
einiger Entfernung ertönte noch die Nothpfeife des Schutz¬
manns; dann war auch die letzte Spur von ihm ver¬
ſchwunden.


Im Hauſe ſchallten die Hülferufe Gottfried Timpe's,
wenn auch ſchwächer noch fort. Dazwiſchen wurde die Stimme
des Meiſters vernehmbar; und dann auch die Jammerlaute
Frau Karolinens, die jäh aus dem Schlafe erſchreckt worden
war und nicht wußte, worum es ſich handelte. Als der Wächter
laut an die Thür der Wohnſtube klopfte, öffnete ihm Johannes,
der nur nothdürftig bekleidet war.


„Haben Sie ihn? Wer war es?“ fragte er mit einer
Stimme, bei der der Wächter erbebte.


Kruſemeyer ſchüttelte mit dem Kopfe. Ein paar Augen¬
blicke überlegte er. Sollte er dieſen Vater tödten, wenn er
ihm den Namen ſeines Sohnes nannte — ihn, der Beſten
einen, dem die Ehrlichkeit das Haar gebleicht hatte? Eine
Minute lang kämpfte es in ſeiner Bruſt, dann hatte das Mit¬
leid geſiegt.


„Liebegott iſt ihm nach; es war ein „zerlumpter Kerl“,
ſagte er dann und athmete tief auf, als er die Worte hervor¬
geſtammelt hatte.


Er möge ſchnell zum Arzt laufen, bat ihn der Meiſter.
Der Großvater ſei aus dem Bette geſprungen und liege
drinnen auf der Diele. Kruſemeyer entfernte ſich eiligſt.


Als der Meiſter zurück ins Zimmer kam, erblickte er
Frau Karoline damit beſchäftigt, ihre ganze Kraft anzuwenden,
um die magere Geſtalt des Großvaters emporzurichten.
Er lag vor der halbgeöffneten Thür, die zur Modell¬
ſtube führte. Seitdem der erſte Diebſtahl im Hauſe
[198] bekannt geworden war, hatte er keine Nacht ruhig
ſchlafen können. Ueberall witterte er Diebe, und das leiſeſte
Geräuſch genügte ſchon, um ihn aus dem Schlafe zu ſchrecken
und laut nach Johannes oder Karolinen rufen zu laſſen. So
war es auch in dieſer Nacht. Als im Nebenzimmer die
Holzmodelle, die an der andern Seite der Wand hingen, wo
ſein Bett ſtand, gegen einander klapperten, war ſofort die
alte Furcht über ihn gekommen. Er hatte ſich aufgerichtet
und gelauſcht, dann mit der Kraft der Verzweiflung ſich aus
dem Bett erhoben und auf allen Vieren bis zur Thür ge¬
ſchleppt, als dieſe plötzlich geöffnet wurde und Lichtſchimmer
ihn blendete. Nun rief er um Hülfe. Seine Hände hatten
die Knie Franzens umſpannt und dann deſſen Hand er¬
griffen und ſie befühlt. Die Entdeckung, die ſein Taſtſinn
gemacht hatte, war für ihn eine grauenhafte. Noch einige
Male ſtieß er ſeine Rufe hervor, dann verſagte ihm die
Sprache.


Er bot einen jammervollen Anblick dar. Der Meiſter
und ſein Weib wollten ihn in ſein Bett tragen, er aber
wehrte ab, und ſo ſetzte man ihn auf einen Lehnſtuhl und
umhüllte ihn mit Decken. Johannes kniete vor ihm und
hielt die eine welke Hand, während Karoline die andere erfaßt
hatte. So ſaß er fünf Minuten lang da, ohne zu ſprechen,
aber kurz und ſchnell nach Athem ringend.


„Mein Vater“, ſagte der Meiſter ein über das andere
Mal, während Karolinens Hand ſanft über den kalten
Schädel glitt.


Gottfried Timpe verſuchte ſich emporzurichten, der Mund
öffnete ſich halb und ſeine erloſchenen Augen richteten ſich
ſtarr auf einen Punkt. Er wollte ſprechen. Johannes ver¬
[199] ſtand ihn. Er beugte ſich tief zu ihm hernieder. Mit An¬
ſtrengung deutete der Greis nach der Thür der Modell¬
ſtube.


„Dein Sohn — ein Dieb — die Zuchtruthe — —“,
flüſterte er in abgebrochenen Lauten, aber deutlich vernehmbar
für Johannes.


Dann fiel er wieder zurück; der Kopf neigte ſich weit
auf die Bruſt, und die Arme hingen ſchlaff herunter.


„Gott er ſtirbt!“ ſchrie der Meiſter laut auf; und dieſem
Schrei folgten die Verzweiflungsworte: „Vater, Vater, was
iſt Dir?“


Beide warfen ſich gleichzeitig über den Körper, fühlten den
Puls, drehten den Kopf nach allen Seiten, taſteten auf dem
mageren Körper nach dem Herzen — es war zu ſpät:
Gottfried Timpe war erlöſt von ſeinem Leben in ewiger
Nacht, Schrecken und Entſetzen hatten ihn getödtet.


Sie richteten das Haupt hintenüber und blickten ihm mit
verſchlungenen Armen lange in's bleiche Antlitz, dann löſte
ſich der grenzenloſe Schmerz Johannes' in heiße Thränen
auf, die durch keinen Laut entheiligt wurden. Die treue
Ehehälfte ſetzte ſich ſtill bei Seite und ſchluchzte leiſe hinter
ihren Händen.


Dann kam Kruſemeyer mit dem Arzt, der nun ſeines
letzten Amtes noch zu walten hatte. Und hinter den Beiden
zeigte ſich auch das behelmte Haupt Liebegott's, der unver¬
richteter Sache nach dem Orte der That zurückgekehrt war.
Und als er nach einer Viertelſtunde draußen auf der Straße
Kruſemeyer fragte, ob er ſich die Geſichtszüge des Diebes
eingeprägt habe, erwiderte dieſer kurz und bündig:

[200]

„Und wenn Du mich todtſchlägſt, Liebegott, ich kann es
Dir nicht ſagen. Es giebt Augenblicke, wo der Menſch blind
iſt und nichts ſieht. Und doch wünſchte ich, der Schuft hinge
am Galgen, denn er hat nicht nur geſtohlen, ſondern auch
gemordet ...“


[[201]]

XIII.
Timpe's Verſuchung.

Seit dieſer Nacht ging Johannes Timpe wie ein ver¬
ſchloſſener Menſch umher, der Jedermann ausweicht,
weil er befürchtet, nach Dingen gefragt zu werden, die
ihn in Verlegenheit bringen würden.


An dem Tage bereits, an dem man die irdiſche Hülle des
Großvaters zu Grabe getragen, hatten Jamrath, Deppler und
Anton Nölte, die den Meiſter erſt wenige Tage vorher ge¬
ſehen hatten, ſich gegenſeitig ihr Erſtaunen über ſein veränder¬
tes Ausſehen zugeflüſtert.


Er machte in der That den Eindruck, als wäre er plötz¬
lich um zehn Jahr älter geworden. Die entſetzliche Enthüllung,
die ihm die letzten Worte Gottfried Timpe's gebracht hatten,
laſteten wie das Bewußtſein eines ſelbſtbegangenen Verbrechens
auf ſeiner Seele. Am Tage des Begräbniſſes war die Nach¬
richt eingetroffen, daß Franz krank ſei und das Zimmer nicht
verlaſſen dürfe. Dafür hatte er einen großen Kranz geſandt,
der dem Großvater mit in die Gruft gelegt werden ſollte.
Nun fand Johannes erſt recht eine Beſtätigung der Anklage
[202] ſeines Vaters. Trotz der Trauer war eine ſtumme Wuth
bei ihm hervorgebrochen. Er hatte im Geheimen den Kranz
in Stücke zeriſſen und ihn mit den Füßen zertreten.


Die erſten Wochen, die dieſen Begebenheiten folgten,
waren die entſetzlichſten in des Meiſters Leben. Er ſchlich
faſt nur umher, betrat nur in den nothwendigſten Fällen die
Werkſtatt und ſchloß ſich ſtundenlang in ſeiner Arbeitsſtube
ein. Sprach ihn einer der Geſellen an, um ihn nach etwas
zu fragen, ſo ſchreckte er zuſammen; und es bedurfte erſt
einer Wiederholung der Frage, um ihn aus der halben Be¬
täubung, in der er ſich befand, zu erwecken. Alles in Allem
bot er das Bild eines an Körper und Seele gebrochenen
Menſchen. Thomas Beyer meinte eines Tages, der Meiſter
ſähe aus, als wäre er eine Weile lebendig begraben geweſen
und wieder zum Leben erweckt worden. Wenn die anderen
Gehilfen die Veränderung des Meiſters dem plötzlichen
Tode des von ihm ſo ſehr geliebten Vaters zu¬
ſchrieben, ſo war der Altgeſelle wie gewöhnlich an¬
derer Meinung und blickte tiefer. Timpe hatte keine
Silbe von dem nächtlichen Diebſtahle erwähnt, wohl aber
hatte Beyer von Kruſemeyer davon erfahren, wenn auch der
Wächter ihm ebenfalls die Geſchichte von dem „zerlumpten,
graubärtigen Kerl“ erzählt hatte. Am Auffallendſten war es
Beyer, daß über den nächtlichen Vorfall keine Anzeige er¬
ſtattet wurde. Als er Kruſemeyer ſeine Verwunderung dar¬
über ausſprach, meinte dieſer, Timpe wolle keine Scherereien
haben; umſoweniger, da er keinen Schaden erlitten habe,
denn es ſei nichts geſtohlen worden. Der Meiſter habe auch er¬
klärt, er könne an die Wirklichkeit des Vorganges gar nicht glauben,
er müſſe alles für eine Viſion oder einen böſen Spuk halten.


[203]

Und Viſionen hatte Timpe auch am hellen Tage. Wo
er ging und ſtand, ſah er den Großvater in ſeinen letzten
Augenblicken: wie er mit halberloſchenem Auge nach der
Thür deutete, vor der er zuſammengebrochen war — hörte er
ihn die fürchterliche Anklage ausſprechen: „Dein Sohn, ein
Dieb!“ Und dieſes letzte Wort gellte dem Meiſter in tauſend
verſchiedenen Tonarten entgegen: Früh, wenn er ſich von
ſeinem Lager erhob, den ganzen Tag über, des Abends, wenn
er ſich zur Ruhe legte und des Nachts, wenn er aus wildem
Traume erwachte. Einſtmals hatte er im Schlafe laut um
Hilfe gerufen, ſo daß Karoline beſtürzt Licht machte
und vor Furcht zitternd ihn weckte. Als er die Augen
aufſchlug, war er förmlich in Schweiß gebadet. Es war
ein ſchlimmer Traum geweſen: Die Polizeibeamten hatten
ſeinen Sohn gefeſſelt, um ihn als Verbrecher ins Ge¬
fängniß zu führen und er wollte ſich dem mit Gewalt
widerſetzen. Schließlich packte man auch ihn, um ihn weg¬
zuführen. Die Gewalt hatte ihm im Schlafe die Zunge
gelöſt.


Die Erinnerung an dieſes Traumgeſpenſt wirkte nur
noch niederdrückender auf ihn, denn es hatte ihm die ganze
Verworfenheit ſeines Sohnes verkörpert vor die Augen ge¬
führt. Was er am meiſten befürchtete, war, daß irgend
Jemand ſeinen Sohn in jener Nacht erkannt haben und daß
ſein Name dadurch öffentlich entehrt werden könnte. Im Ge¬
heimen horchte er überall herum, ob ſein Verdacht begründet
ſei. Faſt allabendlich ſuchte er den Stammtiſch bei Jamrath
auf und blieb länger als ſonſt beim Biere. Sämmtliche
Gäſte wußten vom plötzlichen Tode des alten Timpe und
auch von dem angeblichen Diebſtahl, denn Kruſemeyer und
[204] Liebegott hatten davon geſprochen. Kam dann das Geſpräch
zufälligerweiſe auf den Vorfall, ſo ſpielte der bekannte „zer¬
lumpte, graubärtige Kerl“, ſeine Rolle. Der Meiſter athmete
auf und ging befriedigt nach Hauſe. Auch Kruſemeyer und
den Schutzmann forſchte er noch einige Male aus; um ganz
ſicher bei ihnen zu gehen, ſprach er von ihren „Luchsaugen“,
ſo daß der Hüter der Nachtruhe ſich betroffen abwandte, um
ſeine Verlegenheit zu verbergen.


„Dieſer Spitzbube!“ ſagte er einmal zu Kruſemeyer.
„Schade, daß er Ihnen entwiſcht iſt. Es wäre doch ſchön
geweſen, wenn wir ihn auf friſcher That ertappt und ihm das
fünfte Gebot auf dem Rücken eingeprägt hätten . . . Alſo
einen grauen Bart hat er gehabt? Der iſt gewiß im Zucht¬
hauſe gereiſt. Ja, ja, lieber Kruſemeyer, wenn man wie Sie
noch geſunde Augen hat.“


Und während er das ſagte, blickte er den Wächter liſtig
an, um aus deſſen Mienenſpiel zu erſehen, wie ſeine Worte
aufgenommen wurden. Kruſemeyer machte zu dieſer
Schmeichelei das Geſicht eines Menſchen, der nicht weiß, ob
er weinen oder lachen ſoll und ſagte ſchließlich voller Ueber¬
zeugung: „Liebegott und ich gehören zur Polizei, und die
ſieht alles, auch wenn ſie die Diebe manchmal nicht be¬
kommt.“ Seine Gedanken aber lauteten: Wenn Du wüßteſt,
was ich weiß, armer Meiſter Timpe!


Es war ein richtiges Verſteckenſpiel, das ſie widerwillig
trieben.


Auch in der Nachbarſchaft ſpionirte Timpe, um ſchließlich
zu demſelben Reſultat zu gelangen. Niemand theilte mit ihm
ſein Geheimniß. Wenn auch in dieſer Beziehung Beruhigung
über ihn kam, ſo änderte das ſein Weſen doch nicht. Er wandelte
[205] noch ſcheuer als ſonſt umher. Das Bewußtſein, daß trotz alledem
ſein Sohn ein Dieb war, wich nicht von ihm; und der
Gedanke, daß er der einzige Menſch auf Erden ſei, der um
die That Franzens wiſſe, ſie aber um ſeines Namens willen
nicht zur Sühne bringen dürfe, ließ ihn in der Einbildung
leben, daß auch er theilhaftig an einem Verbrechen, daß auch
ſein Gewiſſen für ewige Zeiten belaſtet ſei. Und das erweckte
in ihm ein Gefühl der Furchtſamkeit, der Selbſterniedrigung,
ſo daß die leiſeſte Hindeutung auf die Unglücksnacht genügte,
um ihn in die größte Angſt zu verſetzen.


Eines Nachmittags betrat er die Werkſtatt, als gerade
der Name ſeines Sohnes genannt wurde. Thomas Beyer
war Franz begegnet, dieſer aber wie mit Abſicht nach der
anderen Seite der Straße gegangen, um ihm auszuweichen.
Der Meiſter zitierte vor Schreck, brauſte dann aber auf, ſo¬
daß die Geſellen zuſammenfuhren.


„Sie haben ſich garnicht von meinem Sohne zu unter¬
halten, zumal hinter meinem Rücken,“ ſagte er erregt zu dem
Altgeſellen. „Ich verbiete Ihnen das ein- für allemal.“


Er drehte ſich kurz um und ſchritt wieder ſeinem Arbeits¬
zimmer zu. Thomas Beyer ſchwieg, blickte ihm aber kopf¬
ſchüttelnd nach. Nach einer Weile rief ihn Timpe zu ſich
herein, bat für ſeine vorherige Unhöflichkeit um Verzeihung
und forſchte nach verſchiedenen Dingen: wie Franz aus¬
ſehe, was er für einen Eindruck auf Beyer gemacht habe,
ob er hier bei ſeinem Hauſe vorübergegangen ſei u. ſ. w.


Dabei hafteten ſeine Augen auf des Altgeſellen Lippen;
und die Haſt, mit der er fragte, das nervöſe Zittern der
Hände, die ihre einſtige Ruhe verloren hatten, bewieſen Beyer
nur zu ſehr, wie krankhaft das Gebahren Timpe's war. Und
[206] als er von dem ſtattlichen Aeußern des Sohnes ſprach und
Timpe dabei langſam ſein Haupt ſenkte, als wolle er ſich in
ſüße Erinnerungen verſenken, zeigte ſich, wie ſehr das Herz
des Meiſters noch an ſeinem ihm fremd gewordenen Kinde
hing. Aber er ermannte ſich bald wieder. Er ſchämte ſich
ſeiner Weichheit nach all den Erfahrungen, die er mit Franz
gemacht hatte.


„Wenn Sie einmal einen Sohn bekommen ſollten, lieber
Beyer“, ſagte er rauh, dann vergeſſen Sie nicht, ihm früh¬
zeitig die Zuchtruthe zu geben, wie Großvater ſelig zu ſagen
pflegte. Und merken Sie bei Zeiten, daß der Junge Ihnen
eines Tages den Stuhl vor die Thür ſetzen könnte, dann
bitten Sie den lieben Gott, er möge das Kind lieber wieder
zu ſich nehmen. Beſſer, daß es ſtirbt, als daß es lebt zum
Hohne ſeiner Eltern.“


„Entſinnen Sie ſich noch Meiſter, was ich Ihnen vor
Jahren an einem Donnerſtag im Garten geſagt habe? Ich
meine die Geſchichte von den Sperlingskindern, die ſolange
mit den Stieglitzen verkehrten, bis ſie ſich ſelbſt für ſolche
hielten . . . Es iſt alles ſo eingetroffen: Sie ſind der kleine
Vater, auf den der lange Schlingel von Sohn herabblickt.
Ich will offen wie immer reden: Hätten Sie Ihren
Sohn ein Handwerk lernen laſſen, ſo wäre er
bei den einfachen Sperlingen geblieben und hätte ſich
nimmer ſeines ſchlichten Gefieders geſchämt. Die Sucht vieler
Eltern aus Ihrem Stande, die Kinder etwas Größeres
werden zu laſſen, als ſie ſelber ſind, trägt viel dazu bei, den
„goldenen Boden“ immer mehr zu durchlöchern, bis nichts
mehr von ihm vorhanden ſein wird . . . Sehen Sie, Meiſter,
da habe ich neulich einen Vortrag gehört über die Zuchtwahl.
[207] So iſt es auch mit dem Handwerk. Wenn die Meiſter ihre
Söhne zu guten Handwerkern machten und die Söhne dieſem
Prinzipe ihren dereinſtigen Kindern gegenüber treu blieben,
ſo würden immer wieder aufs Neue kräftige Generationen
entſtehen, die ein gutes Fundament unter den Füßen hätten.
Und wo das iſt, da iſt bekanntlich gut bauen.“


Er machte eine Pauſe, während welcher Timpe zuſtim¬
mend nickte. Dann begann er aufs Neue:


„Meiſter, Sie ſind einer der beſten Menſchen, die ich
kennen gelernt habe. Sie haben Niemandem etwas zu Leide
gethan, haben von früh bis ſpät fleißig gearbeitet, ſind gerecht
gegen Jedermann geweſen, und doch hat es den Anſchein, als
wären Sie auf der Welt überflüſſig, als würde die Gro߬
induſtrie eines Tages ſiegreich über Sie hinwegſchreiten. Meiſter,
Sie müßten blind ſein, wenn Sie nicht einſähen, daß das
Heil nur in der Sozialdemokratie liegt. Treten Sie zu uns
über, beſuchen Sie unſere Verſammlungen — heute Abend
ſchon! Geben Sie Ihre Stimme bei der nächſten Reichstags¬
wahl einem Manne aus dem werkthätigen Volke, der die
Leiden der Kleinmeiſter kennt, der mit beredten Worten Ihre
Rechte vertreten wird. Dann wird auch für Sie der Tag der
Vergeltung kommen — gegen den da drüben, der einen einzigen
Treibriemen höher ſchätzt, als die Exiſtenz von hundert Familien;
der Ihnen das letzte Stück Brod aus dem Munde wegnehmen
wird, ſo wahr ich Thomas Beyer heiße. Die Welt läuft
nicht rückwärts, denn ſie muß vorwärts gehen. Ich weiß, Sie
ſind ein gottesfürchtiger Mann, aber Gott will nicht, daß ein
Gerechter leide um hundert Ungerechter willen. Und ſelbſt die
Könige ſind doch demüthig vor Gott . . . Schlagen Sie ein
Meiſter — ſolche Leute können wir gebrauchen.“


[208]

Während der Altgeſelle ſprach, hatten die Wangen ſeines
männlichen Geſichts ſich leicht geröthet. Die Augen leuchteten,
das Antlitz hatte ſich verſchönert. Beyer hatte nichts von
einem Fanatiker. Es ſprach aus ihm die Anſchauung eines
ehrlichen Menſchen, der im Stande iſt, ſich bis zur
Schwärmerei zu verſteigen, wenn es ſich um die Vertheidigung
ſeiner Idee handelt. Seine Stimme klang weich, und in der
Ruhe, mit der er zu ſprechen pflegte, lag etwas Seltſames,
Beſtrickendes, dem Seinesgleichen nicht zu widerſtehen ver¬
mochten. Er gehörte zu den Leuten, deren Rede man
gern lauſcht, weil ſie immer etwas von Intereſſe zu ſagen
haben.


Er war auf Timpe zugetreten und hatte ſeine Hand
auf deſſen Schulter gelegt. Und nun zuckte der Meiſter, der
ihm ohne Unterbrechung zugehört hatte, zuſammen und trat
einen Schritt zurück. Es war ihm, als ſtände in dieſem
ſonderbaren Menſchen, den er ſeit mehr denn zwanzig Jahren
noch nie ſo geſehen hatte wie heute, plötzlich eine veränderte
Geſtalt vor ihm, ein böſer Dämon, der ihn in [Verſuchung]
führen wolle.


Sein ganzes Ich, ſein beſſeres Selbſt bäumten ſich auf
bei der Zumuthung des Geſellen. Er, der königstreue Hand¬
werker, der ſeine Liebe zur Monarchie und angeſtammten
Herrſcherhauſe während eines Menſchenalters nicht verleugnet
hatte, ſollte am Spätabende ſeines Lebens ſeiner tiefeinge¬
wurzelten Anſchauung untreu werden und zur Sozialdemo¬
kratie übertreten: jener blutrothen Fahne zuſchwören, die
dereinſt über die Leichenfelder der halben Menſchheit hinweg
dem Sturmſchritt der Maſſen als Siegeszeichen vorangetragen
werden ſollte? Er, ein Anhänger der Umſturzpartei der
[209] ſozialen Revolutionäre? Im Augenblick erſchien ihm ſchon
der bloße Gedanke an dieſe Möglichkeit wie ein Verbrechen.
Er dachte an die patriotiſche Geſinnung Gottfried Timpes
und wie oft ihm dieſer von Franz David Timpe
erzählt hatte, als von einem Manne, der zwei
Königen treu gedient hatte. Ganze Generationen ſeines
Stammes hatten Gott und den Herrſcher gefürchtet und ge¬
liebt, und nun ſollte er — — ? Er vollendete den Ge¬
dankenſatz nicht, denn ſein Entſchluß ſtand feſt trotz Schickſals¬
ſchlägen, beginnendem Ruin und dem Körnchen Wahrheit, das
in Beyer's Worten lag.


„Niemals, niemals!“ ſprach er mit der Stimme der
Ueberzeugung und wandte ſeinem Geſellen den Rücken.


Thomas Beyer aber begann aufs Neue auf ihn einzu¬
reden — mit der Zähigkeit eines Agitators, der alle Gründe
ins Gefecht führt, um zu ſiegen und zu triumphiren. Immer
röther färbte ſich ſein Geſicht, immer heller leuchteten die
Augen, immer beredter wurden die Lippen.


„Meiſter, jeder Menſch iſt das Produkt ſeiner Verhält¬
niſſe. Die moderne Geſellſchaft mit ihrem Produktionsſchwindel
hat Sie auf dem Gewiſſen ... Die Leute, die Sie zu
Grunde richten, ſind Ihre natürlichen Feinde, gegen welche
Sie ſich aufbäumen müſſen, um wieder zu Ihrem Rechte zu
gelangen. Gehen Sie, wohin Sie wollen — nur bei uns
wird man Ihnen die Hand reichen, denn wir ſind Ihre
einzigen wahren Freunde. Die Armuth kann niemals heucheln,
ſie giebt ſich immer wie ſie iſt. Meiſter, Meiſter, kommen
Sie zu uns und beten Sie den neuen Heiland an.“


Timpe war das zu viel. Man ſollte ihn nicht für ſchwach
halten. Außerdem war er hier noch Herr im Hauſe, der bei
Kretzer, Meiſter Timpe. 14[210] aller Rückſicht und Toleranz gegen ſeine Arbeitnehmer eine
derartige Propaganda nicht dulden durfte.


„Genug jetzt, Beyer,“ ſagte er mit leichtem Zorne. „Das
ſind Phraſen, weiter nichts als Phraſen, mit denen Sie die
Dummen fangen können, nicht aber aufgeklärte Männer. Sie
ſind mir ein tüchtiger Arbeiter und auch lieber Freund ge¬
worden, wenn Sie aber derartige Geſpräche nicht laſſen
können, ſo müſſen wir uns in aller Güte trennen . . .
Gehen Sie!“


Der Altgeſelle lächelte leicht und ſchien nicht im Ge¬
ringſten berührt von den letzten Worten.


„Ich habe mir gelobt, bei Ihnen auszuhalten, ſo lange
noch ein Stück Arbeit vorhanden iſt, Meiſter; dabei bleibt
es,“ erwiderte er, drehte ſich kurz um und entfernte ſich.
An der Thür aber blieb er wieder ſtehen und ſagte mit der
Stimme und Geberde eines Propheten: „Meiſter, Meiſter,
Sie werden einmal anders denken.“


Timpe war ärgerlich geworden, ſodaß er ein Selbſt¬
geſpräch eröffnete, worin die Worte „Narrenspoſſen“ —
„Seelenfängerei“ und „ſozialiſtiſcher Unſinn“ eine Hauptrolle
ſpielten. Das hatte gerade noch gefehlt, daß man ihm in
ſeinem ſeeliſchen und geſchäftlichen Elend noch mit der Politik
kam, um ihm den Kopf gänzlich zu verwirren. Und doch
mußte er ſich während der nächſten halben Stunde immer
wieder die Worte des Altgeſellen ins Gedächtniß zurückrufen.
Hatte er nicht dem Staate Jahrzehnte hindurch als treuer
Bürger gedient, ſeine Pflichten als ſolcher vollauf erfüllt?
Wo war nun der Schutz, der ihn vor dem ſicheren Verderben
bewahrte?


Zu dem tiefen Herzenskummer um ſeinen Sohn, zu den
[211] ſonſtigen Bekümmerniſſen des Lebens geſellte ſich nun auch
der Zwieſpalt zwiſchen Bürgerpflicht und dem Zweifel an der
Richtigkeit ſeiner bisherigen Ueberzeugung. Oft grübelte er
ſtundenlang nach, ohne jemals mit Beyer darüber ein Wort
zu wechſeln, denn der Stolz hielt ihn davon ab. Das Schlimmſte
war, daß ein bitterer Menſchenhaß anfing, nach und nach
ſeine Seele zu befruchten.


Gleich nach Weihnachten ſprach die ganze Nachbarſchaft
nur noch von der bevorſtehenden Hochzeit ſeines Sohnes mit
Emma Kirchberg. Ließ er ſich irgendwo ſehen, ſo ſtand die
erſte Frage, die man an ihn richtete, mit dieſem Ereigniß in
Verbindung.


„Nun, Herr Timpe, haben Sie Ihren alten Braten¬
ſtecher ſchon hervorgeholt?“ fragte ihn Nölte eines
Mittags, als er vor der Hausthür ſtand. „Da werden
Sie einmal wieder Staat machen und den Galanten
ſpielen können . . . Und Ihre Frau — wie werden
alte Erinnerungen bei ihr auftauchen! Ja, ja — ſo eine
Hochzeit unter feinen Leuten, die lobe ich mir. Wiſſen Sie
— wenn Sie ſo eine Pulle mit Wein bei Seite ſchaffen
können, dann denken Sie an mich. Du, mein Gott, ich würde
mich ſchon freuen, wenn ich nur einmal am Korken riechen
könnte. Und meine Minna erſt und die Kinder —“


Timpe gerieth in Verlegenheit. Dann lächelte er ge¬
zwungen und erwiderte: „Ja, das wird ſchön werden . . Ich
werde an Sie denken, lieber Nölte.“


Als er ſich wieder im Hauſe befand, mußte er an ſich
halten, um nicht laut aufzuſchluchzen. Es war immer noch
die weiche Stimmung, die ihn überkam, wenn er an das Glück
ſeines Sohnes dachte, dem er fern bleiben mußte.


14*[212]

Am erſten Neujahrstage traf ein ſeltenes Ereigniß ein.
Als der Meiſter, durch Frau Karoline gerufen, die gute Stube
betrat, fand er eine elegant gekleidete junge Dame vor, der
die Meiſterin den Ehrenplatz auf dem Sopha eingeräumt
hatte. Das ganze Zimmer duftete nach dem Parfüm der
Beſucherin. Es war Fräulein Emma Kirchberg, die er erſt
erkannte, nachdem ſie ihren Schleier gelüftet hatte. Timpe
traute ſeinen Augen nicht. Bis er ſich von ſeiner Ueber¬
raſchung erholt hatte, fragte er höflich aber gemeſſen nach
dem Begehr des „gnädigen Fräuleins“. Aus jedem Worte
klang der Groll gegen die feindliche Nachbarſchaft. Er polterte
die Frage ſo rauh hervor, daß Karoline, die ſich allem An¬
ſcheine nach ſehr freundlich mit Urban's Stieftochter unter¬
halten hatte, ein erſchrecktes Geſicht zeigte und ihn durch
Zeichen bat, ſeine Heftigkeit zu zügeln. Er aber nahm keine
Rückſicht. Gehörte Emma nicht zur „Sippſchaft da drüben“,
die ſein Unglück beſchloſſen hatte, mußte ſie nicht mit Franz
unter einer Decke ſtecken, alſo auch wiſſen, wie das Ver¬
hältniß zwiſchen Vater und Sohn lag? Was wollte ſie alſo hier?
War ſie gekommen, um ſich an ſeinen Qualen zu weiden?


Emma hatte ſich ſofort erhoben und ihm die Hand
entgegengeſtreckt. Sie glaubte dem unfreundlichen Auftreten
des Meiſters mit ſo größerer Liebenswürdigkeit begegnen zu
müſſen.


„Geſtatten Sie mir, Herr Timpe, Ihnen meine auf¬
richtigſten Glückwünſche zum neuen Jahre auszuſprechen“,
ſagte ſie mit der ganzen Herzlichkeit, die ihr zu Gebote ſtand.
„Wenn Ihre Meinung von mir nicht gar zu ſchlecht iſt, ſo
werden Sie von der Wahrhaftigkeit meiner Gefühle für Sie
überzeugt ſein. . . .“


[213]

Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber ſtutzte nun doch.
Timpe hatte ſich nicht vom Flecke gerührt, zeigte auch nicht
die geringſte Neigung, die dargereichte Hand zu ergreifen, ſo
ſeltſam er auch von dem Klange der weichen Stimme und
dem bittenden Ausdruck der Augen berührt wurde. Der
Kummer, der ſeit Jahren an ihm fraß, der unauslöſchliche
Haß gegen Urban und Alles, was zu ihm gehörte, hatten
ein krankhaftes Mißtrauen in ihm erweckt, das ihn in jedem
Menſchen außerhalb des Hauſes einen Feind erblicken ließ,
dem er nicht trauen dürfe. Wo war ſeine bei Jedermann
ſprichwörtlich geweſene Höflichkeit geblieben, wo die vielen
Verbeugungen, die er ſtets bereit hatte, wenn ein „feiner
Beſuch“, wie er zu ſagen pflegte, ihn beehrte? Wie er ſo
daſtand, die Arbeitsmütze in der linken Hand, die rechte im
Bruſtlatz ſeiner Schürze verborgen, war er nur noch der
eckige, rauhe Handwerker, der durch des Lebens Verdruß ge¬
ſtachelt, eine Genugthuung darin fand, herausfordernd zu er¬
ſcheinen.


Er hatte die Abſicht, kurz und bündig zu erklären, daß
er nicht die geringſte Gemeinſchaft mehr mit „Denen da
drüben“ haben wolle, als ſeine getreue Ehehälfte, die ihm
den Unmuth vom Geſichte abgeleſen hatte, ſich in's Mittel
legte.


„Johannes, das Fräulein hat Dir doch nichts gethan,
es meint es ja ſo gut. Wer wird denn einen Glückwunſch
zurückweiſen“, ſagte ſie vorwurfsvoll. Das milderte ſeine
Rauhheit.


„Ach ſo — Sie ſind nur gekommen, um uns Ihre
Neujahrs-Gratulation zu überbringen, Fräulein. — Das
ändert die Sache — gewiß. Das iſt 'was anderes . . . .
[214] Schönſten Dank alſo, und ich wünſche Ihnen von Herzen
daſſelbe, trotzdem Sie es wohl nicht gar ſo nöthig haben
werden.“


Und nun ſtreckte er ihr die Hand entgegen, die ſie mit
ihrer zart-umlederten ergriff und herzhaft drückte.


Es entſtand eine peinliche Pauſe. Timpe hatte ſich dem
Fenſter zugewandt, Frau Karoline blickte ſtumm zu ihm hin¬
über, und Emma glättete mit der Hand den Pelz ihres Muffs.
Sie ſah blaß aus; man wußte nicht, ob von dem Schein des
Schnees, der draußen luſtig wirbelte, oder von dem kalten
Empfange, der ihr hier zu Theil geworden war. Sie hatte
ſich ſehr zu ihrem Vortheil verändert. Ihre Geſtalt war
voller geworden und auch ihr Geſicht hatte ſich gerundet.


Endlich, als ſie vergeblich auf einige weitere Worte des
Meiſters gewartet hatte, begann ſie in der Unterhaltung fort¬
zufahren.


Verzeihen Sie, Herr Timpe, wenn ich trotz Ihrer Ab¬
weiſung, von der ich nicht weiß, ob ich ſie verdient habe, die
Sie mir aber deutlich genug zu verſtehen geben, mich nicht
gleich entferne. Ich bin aber gekommen, um etwas gut zu
machen, und wegen des ſchweren Unrechts, das man Ihnen
angethan hat, um Verzeihung zu bitten. Für meine Perſon
wenigſtens . . . . Ich bin hier erſchienen, um Ihre gute
Frau und Sie im Namen meiner Mutter zu unſerer Hoch¬
zeit einzuladen . . .“


Vom Fenſter her erſchallte ein lautes Lachen, das ſo jäh
hervorquoll, daß die Meiſterin beſtürzt einen Schritt vorwärts
that und Emma erbebte.


„Dachte ich's doch, dachte ich's doch — daß man noch
kommen würde, mich obendrein zu verhöhnen. Fehl gegangen,
[215] mein gnädigſtes Fräulein. Ich ſage, fehlgegangen! Alle
Hochachtung vor Ihnen — Sie ſind eine liebenswürdige Dame,
gewiß, das ſind Sie! Auch meinen ſchönſten Dank für Ihre
Freundlichkeit! Aber es iſt zu allen Zeiten immer daſſelbe
geweſen: Ein Vater kann nur von einem Sohne zu deſſen
Hochzeit eingeladen werden, wenn er einen ſolchen beſitzt.
Aber ich, ich habe keinen! Beſtellen Sie das gefälligſt
Ihrer gnädigen Frau Mama. Verſtehen Sie auch recht:
Ich habe keinen Sohn. ... Und wenn er ſelbſt hier vor
meinen Knieen läge und mit tauſend Schwüren es beeidete,
daß ich ſein Vater ſei, ſo ſage ich ihm in's Geſicht hinein:
Du lügſt! Denn das Blatt, das vom Baume losgetrennt iſt,
hat keine Gemeinſchaft mehr mit dem Stamm. So wahr ich
Johannes Timpe heiße und in Ehren grau geworden bin, ſo
iſt's und ſo ſoll's bleiben, ſo lange mir der liebe Gott das
Leben ſchenkt.“


Er zitterte am ganzen Leibe, das Antlitz war vor Er¬
regung fahl geworden, und die rechte Hand hatte ſich geballt.
Karoline war auf ihn zugetreten, um ihn ernſtlich zu be¬
ſchwichtigen. So hatte ſie ihn noch nie geſehen.


„Vater, Du gehſt zu weit. Er trägt unſern Namen ...“


Er dachte an den Diebſtahl und wollte ſich hinreißen
laſſen, das Wort „ehrlos“ zu gebrauchen; aber er bezwang ſich.
Das fürchterliche Geheimniß, um das er allein wußte, ſollte
mit ihm zu Grabe getragen werden. So ſagte er denn mit
erzwungener Ruhe:


„Das iſt nicht zu leugnen; aber er trägt den Namen
ſeines Vaters, nicht ſeinen eigenen. Und ſo wenig eine
Heerde von Hammeln dafür kann, wenn ein räudiger in ihr
ſich befindet, ſo wenig kann man es einer Familie zur
[216] Laſt legen, wenn eins ihrer Mitglieder aus der Art ge¬
ſchlagen iſt.“


Das Ehepaar hörte ein leiſes Schluchzen. Als ſich
Beide umdrehten, ſahen ſie Emma, wie ſie auf das Sopha
niedergeſunken war und die Augen mit ihrem Taſchentuch
bedeckt hielt. Die Meiſterin eilte ſofort auf ſie zu, legte die
Arme liebevoll um ihre Schulter und fragte:


„Was iſt Ihnen, Fräulein? Sie weinen? Um Himmels
willen!“


Statt der Antwort wurde das Schluchzen ſtärker. Die
ganze Geſtalt war gepackt von der Erſchütterung, die über ſie
gekommen war. Endlich brachte ſie die Worte hervor: „O,
laſſen Sie mich weinen, es thut mir wohl.“


Auch der Meiſter war nun beſtürzt, trat auf ſie zu und
ſagte ſo freundlich, als er es in dieſem Augenblick vermochte:
„Faſſen Sie ſich, gnädiges Fräulein. Wenn ich Sie durch
irgend etwas beleidigt haben ſollte, ſo bitte ich vielmals um
Entſchuldigung, vielmals . . . Aber ich bitte Rückſicht auf
den Vater zu nehmen, dem der Groll mit dem Herzen durch¬
geht. Nochmals: ich bitte vielmals um Verzeihung. Und
wenn ich meine letzten unſchicklichen Worte wieder gut machen
kann, ſo ſoll es geſchehen. Wohlverſtanden: ſoweit es in
meinen Kräften ſteht.“


„Sie können es, Herr Timpe.“


Sie hatte ſich plötzlich erhoben, war vor ihm auf die
Kniee gefallen und blickte mit von Thränen umſchleierten
Augen zu ihm empor. Und jedes Wort, daß ſie jetzt ſprach,
ſchien zugleich mit einem Schluchzen aus der Kehle zu
quellen.


„Mag Franz nicht recht an Ihnen gehandelt haben,
[217] mag er vergeſſen haben, was er Ihnen ſchuldig iſt, ich
kann darüber nicht richten, denn ich liebe ihn von ganzem
Herzen. Und ich ſchwöre Ihnen hier bei dieſer Liebe, daß
ich verſuchen will, gut zu machen, was er Ihnen wehe gethan
hat ... Ich will mit tauſend Zungen zu ihm reden, ich will
Tag und Nacht zu Gott beten, damit er Sie wieder vereinige.
Aber ich flehe Sie an, ich bitte inſtändigſt, wenn Sie auch nicht
zur Hochzeit kommen wollen, geben Sie mir für Ihren Sohn
Ihren Segen.“


Mit zuckenden Lippen blickte ſie zu ihm empor, riß den
Hut ab, neigte das Haupt und faltete die Hände krampfhaft
über das Taſchentuch. Bei dieſem Anblick konnte auch die
Meiſterin nicht mehr ihre Faſſung bewahren. Ihr weiches
Gemüth preßte auch ihr eine Thräne in's Auge. Und ſo
ſtand ſie hinter ihrem Manne, dem es ſeltſam zu Muthe
ward, und drängte ihn leiſe, den Wunſch der Knieenden zu
erfüllen.


Der Meiſter war wieder ein Anderer geworden. Er
legte die harten Hände auf den Scheitel Emmas und ſagte
halblaut: „Und der Herr ſegne Dich und behüte Dich, und
laſſe auch dieſen Segen Deinem zukünftigen Manne theil¬
haftig werden.“


Und kaum hatte er die letzte Silbe ausgeſprochen, ſo
fühlte er ſich von den Armen Emma's umſchlungen.


„Mein Vater, ich danke Ihnen.“


Auch der Meiſterin Hals umſchlang ſie und drückte einen
Kuß auf ihre Stirn. Dann ging ſie. Und als die Thür
ſich hinter ihr leiſe geſchloſſen hatte, war es dem Ehepaare,
als wäre der ganze Vorgang ein Spuk geweſen, hervorgerufen
durch die lichte Erſcheinung eines Engels. ...


[218]

Als nach einigen Tagen die Trauung des jungen Paares
in der nahen Andreas-Kirche ſtattfand und die Augen ſämmt¬
licher Anweſenden auf das Brautpaar vor dem Altar gerichtet
waren, zeigten ſich auch am äußerſten Ende der ſonſt menſchen¬
leeren Galerie zwei Köpfe, deren Blicke unverwandt an der
Geſtalt des Bräutigams hingen. Es war Timpe und ſein Weib, die
längſt vor Beginn der Ceremonie die Kirche aufgeſucht hatten,
um ungeſehen mitzubeten für das Heil des jungen Ehepaares.
Niemand hatte ſie kommen ſehen, Niemand bemerkte ſie von
unten. Es war ein eiſig kalter Tag, nur wenige Menſchen
füllten das Gotteshaus, denn, wie Urban es zu Franz geſagt
hatte, ſo war es geſchehen: Die Einladungen waren nur an
die bevorzugteſten Freunde des Hauſes erlaſſen worden.


Die Kirche hatte ſich langſam geleert; Wagen auf
Wagen rollte davon, und auch die wenigen Neugierigen, die
das Portal umſtanden, hatten ſich zerſtreut. Bis zur Naſe
in Kragen und Tücher gehüllt, traten Johannes und Karoline
wieder ins Freie. Noch tief bewegt von dem heiligen Akte,
ſchritten ſie neben einander ihres kurzen Weges dahin. An
einer Straßenecke begegnete ihnen Meiſter Nölte.


„Na, Alles vorüber, gut abgelaufen?“ redete er ſie an.
Und plauderhaft, wie er Timpe gegenüber immer war, ſprach
er ſofort weiter: „Ich wollte ebenfalls kommen, um mir das
Brautpaar anzuſehen, aber ich habe die Zeit verpaßt . . . .
Sie gehen jetzt wohl erſt nach Hauſe, um ſich für die Hoch¬
zeit umzukleiden? Vergeſſen Sie nur die Flaſche Wein
nicht; ich habe ſchon zu Hauſe davon erzählt.“


Johannes nickte und ſchüttelte ſich vor Kälte, was für
Nölte ein Zeichen war, ſich nicht lange aufzuhalten.


„Adieu, Frau Timpe, auf Wiederſehen, Herr Timpe.“


[219]

Nach fünf Schritten kehrte er noch einmal um.


„Wenn Sie vielleicht noch ein paar Stückchen Torte für
meine Mädchen ... Sie verſtehen mich ſchon.“ Er machte
eine Handbewegung im Bogen nach der Taſche.


„Soll beſorgt werden“, brachte Timpe brummend her¬
vor. Dann ſagte er beim Weiterſchreiten zu Frau Karolinen:
„Das haben wir einmal gut gemacht. Nun dauert es nicht
lange, und ganz Berlin weiß, daß wir in der Kirche waren
und die Hochzeit in allen Ehren mitmachen. Es koſtet zwar
eine Flaſche Wein und Kuchen obendrein, aber immer beſſer,
dieſes Opfer zu bringen, als allen Menſchen die Familien¬
verhältniſſe preiszugeben.“


Nach dieſen Worten mußten ſie trotz ihres herben
Wehes leiſe lachen.


[[220]]

XIV.
Verzweiflungskampf.

Als der Sommer wieder hereinbrach, ſah es trauriger als
je mit der Arbeit in Timpe's Werkſtatt aus. Beyer und
Spiller waren nun die einzigen Gehülfen, welche die
Drehbänke in Bewegung ſetzten. Die in Ausſicht geſtellte Be¬
ſtellung Deppler's traf nicht ein; wohl aber mußte der Meiſter
erleben, daß nach ſeinem für den Amerikaner angefertigten
Modell Urban tapfer fabrizirte. Als Johannes dem kleinen
und verwachſenen Deppler eines Abends bei Jamrath Vor¬
würfe über dieſen „Jeſuitenſtreich“ machte, zuckte des Schirm¬
fabrikant die Achſeln und gebrauchte einige Worte der Be¬
dauerns. Er habe es gut genug gemeint, vertheidigte er ſich;
aber es ſei eben die alte Geſchichte: Die Preisaufſtellung
Urbans habe ſich um fünfundzwanzig Prozent billiger heraus¬
geſtellt als diejenige Timpe's.


Nun bereute der Meiſter bitter, das Modell an den
Amerikaner, ohne Vorbehalt ſeiner Rechte, verkauft zu haben.
Er hatte ſich in dieſer Beziehung ganz auf Deppler verlaſſen.
So viele Anſpielungen er aber machte, und zwar in einer
[221] Art und Weiſe, die der Mißgeſtalt nur zu deutlich das
Gewiſſenloſe ihrer Handlung vor Augen führen mußte —
immer kam die gleichgültige Antwort: Man müſſe heute
zu Tage der Konkurrenz die Spitze zu bieten verſuchen;
wer das nicht könne, der ſolle lieber ruhig einpacken und als
Rentier leben.


Eines Abends wurde der kleine Herr ſogar wüthend.


„Sie können auch gar nicht genug kriegen!“ rief er Timpe
zu. „Sie haben doch gewiß ſchon ihre Reichthümer geſammen.
Wer ſo einen Sohn hat, dem kann es doch nicht fehlen . .
Uebrigens ſpricht ja alle Welt davon, daß Sie nach und nach
das Arbeiten ganz aufgeben wollen, um von ihren Renten zu
leben. Wie ich gehört habe, halten Sie ſich Ihre zwei Ge¬
ſellen nur noch, um mit den letzten Beſtellungen aufzu¬
räumen.“


Die ernſte Miene, mit der er das ſagte, ließ Timpe
erkennen, daß von irgend einer Verhöhnung keine Rede ſein
könne. Und da die traurigen Erfahrungen der letzten Jahre
ihn gelehrt hatten, nicht Jedermann ſeine innerſten Gedanken
preiszugeben, ſo nahm er eine reſervirte Haltung an und
lächelte ſtatt der Antwort nur, ſo daß man das als eine Zu¬
ſtimmung auffaſſen konnte.


Die Annahme Deppler's, daß die Vermögensverhältniſſe
des Drechslers vortreffliche ſeien, war nicht nur die ſeinige.
Da ſie die inneren Familienverhältniſſe nicht kannten, ſo
waren viele Leute, mit denen der Meiſter zu thun hatte,
der Anſicht, daß er durch ſeinen Sohn große materielle Vor¬
theile genieße, und nur ſeine und ſeiner Frau Anſpruchs¬
loſigkeit es verhinderten, aus der Beſcheidenheit herauszu¬
treten und ſich ein behaglicheres Leben zu verſchaffen. Schlie߬
[222] lich hielt man ihn für einen Duckmäuſer, der wohl wiſſe, wie
viel er in ſeinem Beutel habe, aber den Menſchen Sand in
die Augen ſtreue, um ihrer aufdringlichen Freundſchaft zu
entgehen. Gewiß würde ſchon die Zeit kommen, wo der
Säckel ſich öffnete, und Herr und Frau Timpe ſich der Welt
als wohlhabendes Ehepaar präſentirten, das bis an ſein
Lebensende aus den Fenſtern eines ſtattlichen Hauſes heraus¬
blickte. Ja, es kam ſo weit, daß neidiſche Nachbarsleute, die
es niemals verziehen, daß der Sohn des Handwerkers eine
glänzende Partie gemacht hatte, in unzweideutiger Weiſe
von einem Geizhalſe ſprachen und nur zu leicht durchblicken
ließen, wer damit gemeint ſei.


Johannes Timpe und ein Geizhals! Als der Meiſter
zufälligerweiſe von dieſer Bezeichnung erfuhr, mußte er trotz
ſeiner düſteren Stimmung laut auflachen. Es fiel ihm aber
nicht im Geringſten ein, dieſem theils ſchmeichelhaften, theils
wenig angenehmen Gerüchte entgegenzutreten. Trug alles
das doch dazu bei, über ſeine wirklichen Verhältniſſe hinweg
zu täuſchen und der Welt das traurige Schauſpiel, in dem
ein gewiſſenloſes Kind die Hauptrolle ſpielte, zu erſparen.


So führte er von nun an eine Art Scheinexiſtenz, durch
die er ſich genöthigt ſah, den Ruin im Hauſe durch das äußere
Renommee zu verdecken. Das ging ſoweit, daß er zuletzt ſich
ſelbſt betrog und an den vermögenden Vater des vermögen¬
den Sohnes glaubte. Und dieſe fixe Idee ſteigerte ſich in
demſelben Maaße, in dem ſeine Erſparniſſe zuſammen¬
ſchrumpften und das Geſpenſt des gänzlichen Unterganges
immer drohender heranzog und rieſiger vor ſeinen Augen auf¬
tauchte. Aber ſeine Gleichgültigkeit gegen die Vorkommniſſe
des Tages war bereit ſo groß, daß er ſich langſam vom
[223] Strome der Ereigniſſe mit fortziehen ließ. Er führte ein
halbes Traumleben. Um ſo ſchrecklicher mußte das Er¬
wachen ſein.


Eines Vormittags ſtellte ſich Anton Nölte bei ihm ein,
deſſen Familie ſeiner Zeit der erlogene Hochzeitswein und
-Kuchen gut bekommen war.


„Herr Timpe, Sie ſind ein braver Mann“, begann er ohne
Umſchweife. „Alle Welt erzählt davon, daß ſie ſich demnächſt ein
großes, vierſtöckiges Haus bauen werden. Ja, erſt geſtern
verſicherte man mir mit heiligem Eide, daß Ihr Sohn Ihnen
in Friedrichshagen eine Villa direkt am See gelegen gekauft
habe. Es wird alſo für Sie eine Kleinigkeit ſein, wenn Sie
mir auf ein paar Wochen fünfzig Mark leihen. Da hat ſich
noch ein alter Gläubiger gefunden, den ich längſt begraben
glaubte und der durchaus behauptet, ich ſei derſelbe Nölte,
der früher den ſchönen Laden in der Andreasſtraße beſaß ..
Was wollen Sie machen — ich kann es nicht beſtreiten.“


Timpe machte ein ſehr verdutztes Geſicht, ging dann
aber nach dem alten Schreibſekretär, wo die letzten Thaler¬
rollen ſeines Kapitals lagen. Wenn einer verdiente geholfen
zu werden, ſo war es der fleißige Klempnermeiſter, der ſechs
Kinder zu ernähren hatte.


Gleich am anderen Tage wartete Nölte abermals mit
ſeiner Perſon auf; das Geld habe nicht gereicht, er müſſe
noch Koſten bezahlen. Der Klempner blickte den Meiſter ſo
flehentlich an, daß dieſer nicht widerſtehen konnte. Er er¬
füllte auch die zweite Bitte.


Seit dieſer Stunde pries Nölte den Retter in der Noth
in allen Tonarten. Und ſelbſt für die Zweifler war es jetzt
eine ausgemachte Sache, daß Timpe's Vermögen ſeit der
[224] Verheirathung ſeines Sohnes bedeutend geſtiegen ſei. Er
durfte ſich ſomit nicht wundern, wenn Leute, denen er bisher
dieſe Höflichkeit niemals zugetraut hatte, bei einer Begegnung
auf der Straße den Hut ſehr tief zogen, und ihn ſo merk¬
würdig anblinzelten, als wollten ſie ſagen: Wir kennen
Dich ſchon, Du alter Schlaukopf! Uns das vierſtöckige
Haus und die Villa zu verheimlichen! Wenn Du erſt be¬
haglich eingerichtet biſt, dann wirſt Du Dich unſerer hoffent¬
lich erinnern.


Dieſes Selbſtbelügen war der einzige Spaß, den Timpe
ſich noch erlaubte. Seine Verſchloſſenheit, der Menſchenhaß,
der in einſamen Stunden immer mehr zum Ausbruch kam,
die ganzen Seelenleiden, die ihn gebeugt und alt gemacht
hatten, erhielten ihr Gleichgewicht durch den Galgenhumor,
der wie der Blitz am umwölkten Nachthimmel aufzuckte und
wieder verſchwand.


„Laßt ſie nur von dem vermögenden Timpe träumen,“
pflegte er zu ſagen. „Wenn ich auch nichts davon habe, ſo
ſehe ich doch an ihren Geſichtern, wie ſie ſich ärgern.“


Als Thomas Beyer einmal derartige Worte hörte, glaubte
er ebenfalls ſeine Meinung äußern zu müſſen.


„Sehen Sie, Meiſter, das iſt die große Lüge unſerer
Zeit: Nur der Schein blendet, der innere Werth ſpielt keine
Rolle mehr. Verbreiten Sie heute das Gerücht, daß
Sie völlig mittellos ſeien, gehen Sie morgen in Ihrem
ſchlechteſten Rock über die Straße — Sie ſollen dann
einmal ſehen, wie die Leute ſich nicht erinnern werden, Sie
jemals gekannt zu haben. Aus dem fleißigen Manne
wird dann über Nacht der Menſch geworden ſein, der ſein
Schickſal ſelbſt verſchuldet hat ... Nur die Armen werden
[225] gerecht urtheilen, weil ſie annehmen, daß Sie nun ebenfalls
zu ihnen gehören . . . Meiſter, unſere Partei iſt die einzige,
die ſich der Unterdrückten nnd Hülfsbedürftigen annimmt.“


Und dieſen Worten folgte dann die Propaganda, die um
ſo nachdrücklicher von ihm betrieben wurde, je ſchlechter die
Verhältniſſe ſich im Hauſe geſtalteten. Immer mehr empfand
Timpe den verführeriſchen Zauber, mit dem der Altgeſelle ihn
zu umſtricken verſuchte. Es war gerade, als wäre Thomas
Beyer ſein ſchlechteres Ich, das mit aller Gewalt das beſſere
zu tödten verſuche. Jede Gelegenheit nahm er wahr, um
den Meiſter zu „bearbeiten“, wie er ſich dem Sachſen gegen¬
über ausdrückte. Und wenn Johannes auch mit aller Energie
die Verſuchungen zurückwies, dem Geſellen ins Geſicht lachte, und
ihm ſagte, daß er ſeine Bemühungen nur als komiſch auffaſſen
könne — Beyer ſchien das nicht im Geringſten zu berühren. Sein
Geſicht blieb ernſt und kein Wort deutete darauf hin, daß er
ſeinem Brodgeber böſe ſei. Gleich einem Manne,
der von ſeinem endlichen Siege überzeugt iſt, begann er den
erneuerten Kampf mit der alten Hartnäckigkeit und trieb
ſeinen Gegner ſo in die Enge, daß Timpen ſchließlich keine
andere Waffe übrig blieb, als die Grobheit. Aber auch ihr
gegenüber büßte der Altgeſelle von ſeiner faſt demüthigen
Ergebenheit nichts ein. Es war dann immer daſſelbe, ſein
Geſicht verklärende Lächeln, das die Worte begleitete: „Meiſter,
und wenn Sie mich beſchimpfen, ich nehme Ihnen das nicht
übel, denn auf die Unwiſſenheit muß man immer Rückſicht
nehmen.“


Dieſe kecken Worte machten Timpe ſo ſtutzig, daß er ver¬
geblich nach einer paſſenden Erwiderung ſuchte, aber ſtärker
denn je ſeine Ohnmacht empfand. Mehr als einmal nahm
Kretzer, Meiſter Timpe. 15[226] er ſich vor, Beyer zu entlaſſen, dann aber ſchämte er ſich
ſeiner Furcht und ließ es beim Alten.


Eines Vormittags fand er auf dem Tiſche ſeiner Arbeitsſtube
einige Schriften liegen. Er wußte nicht, wie ſie dorthin ge¬
kommen waren. Als er, neugierig gemacht, eine von ihnen
aufſchlug, fand er, daß er Broſchüren ſozialiſtiſchen Inhalts
vor ſich hatte. Sofort ahnte er, wer der Beſitzer der Bücher
ſei. Sein Zorn kannte keine Grenzen. Voller Wuth packte
er die Schriften zuſammen, ſchritt nach der Küche und ſteckte
ſie in den Ofen, ſodaß die Flamme hell aufloderte. Dann
ging er wieder zurück, rief den Altgeſellen zu ſich herein, zog
ihn nach dem Kochherd und ſagte:


„Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie gut man mit Ihren
Hetzſchriften Kaffee kochen kann. Sehr viel Stroh in dem
Papier, das muß ich ſagen! Es brennt ausgezeichnet! So
etwas dürfen Sie mir nicht machen! Sie wollen wohl mich
alten Mann noch mit der Polizei in Konflikt bringen, indem
Sie verbotene Schriften in mein Haus ſchleppen? Sie waren
es doch, geſtehen Sie es nur ein!“


Frau Karoline war hinzugekommen und ſchlug entſetzt
die Hände zuſammen.


In des Altgeſellen Geſicht regte ſich keine Muskel; nur
etwas wie Mitleid leuchtete aus ſeinen Augen, als er die
fieberhafte Erregung Timpe's gewahrte.


„Ja, ich war es“, ſagte er dann ruhig. „Haben Sie
die Bücher vorher geleſen?“


Der Meiſter lachte auf und erwiderte:


„Das fehlte noch! Ich will meine Seele nicht ver¬
giften.“


Derſelbe traurige Blick des Altgeſellen traf ihn.


[227]

„Dann haben Sie die letzte Ihrer Hoffnungen vernichtet;
Sie ſind nicht mehr zu retten. Man ſoll erſt prüfen, ehe
man verdammt, erſt lernen, ehe man lehren will. . . .
Meiſter, ich muß Sie aufgeben. Leben Sie wohl, wir ſehen
uns nicht wieder . . . Aber Sie werden einſtmals anders
denken, und dann erinnern Sie ſich Thomas Beyer's.“


Die Mittagsſtunde hatte gerade geſchlagen. Der Alt¬
geſelle drehte ſich um, ſuchte die Werkſtatt auf und verließ
das Haus. Zwei Tage lang blieb er weg, ohnen ſeinen rück¬
ſtändigen Lohn zu holen, dann fand ihn der Meiſter
eines Morgens wie gewöhnlich an der Drehbank. Man that
ſo, als wäre nichts vorgefallen, wechſelte aber nur die noth¬
wendigſten Worte, die ſich auf die Arbeit bezogen.


Die Monate Juni und Juli erwieſen ſich ſo ſchlecht
in geſchäftlicher Beziehung, daß Timpe ſich mit dem Gedanken
vertraut machte, auch den kleinen Sachſen zu entlaſſen. Es
war weit gekommen. Trotzdem hoffte er von Tag zu Tag,
daß irgend eine unvorhergehende Kataſtrophe hereinbrechen
und dadurch mit einem Schlage eine Beſſerung eintreten
würde. Als dann für Spiller eines Sonnabends die
Trennungsſtunde ſchlug, hatten der Meiſter und ſein Weib
das Gefühl, als würde es für ihre Zukunft beſſer ſein, wenn ſie
auch den Altgeſellen entließen. Aber Thomas Beyer wich und
wankte nicht. Es kam eine Woche, in der wirklich kein
Stück Arbeit vorhanden war. Die Lehrlinge räumten gründlich
auf und drechſelten dann zu ihrem Vergnügen allerhand
Dinge, die für ihre Fortbildung nützlich waren. Der Alt¬
geſelle nahm dieſen Zuſtand mit völliger Gleichgültigkeit auf.
Er ſchärfte ſeine Drehſtähle, erſetzte die ſchadhaften Griffe und
pfiff dabei nach wie vor leiſe ſeine Lieblingsmelodie: „So
15*[228] leben wir, ſo leben wir, ſo leben wir alle Tage“. Als er
mit ſeinem Werkzeug fertig war, nahm er ſich auch dasjenige
des Meiſters vor und brachte es in Ordnung. Dann unter¬
richtete er die Lehrlinge und verfertigte ſchließlich einen kunſt¬
vollen Aſchbecher, den er Kruſemeyer zugedacht hatte.


Als der Sonnabend kam, verſchwand er eine Stunde
vor der Lohnzeit, traf dann aber am Montag wie gewöhnlich
pünktlich ein. Und als immer noch keine Arbeit anlangte,
begann er für ſich eine lange Bernſteinſpitze zu drehen, wozu
er das Material ſchon längere Zeit beſaß. Timpe hielt es
nun für nöthig, den Altgeſellen folgendermaßen anzureden:


„Mein lieber Beyer, ich ehre Ihre Anhänglichkeit und
erſehe aus ihr, daß Sie trotz Ihrer frevelhaften politiſchen
Anſchauung große und edle Eigenſchaften beſitzen, wie man
ſie ſelten findet. Aber ich muß Sie ſchon von Herzen bitten,
ſich von mir zu trennen, denn ich kann den Lohn für Sie
nicht mehr erſchwingen. Kommen beſſere Zeiten, was ich zu
Gott hoffe, ſo werde ich Ihrer zuerſt gedenken . . . Ich
weiß wohl, weßhalb Sie am Sonnabend ohne Löhnung fort¬
gegangen ſind, aber ſo ſehr ich Ihr Zartgefühl auch anerkenne:
ein jeder Menſch iſt ſeines Lohnes werth und Sie nicht
minder. Wenn keine Arbeit vorhanden war, ſo trifft die
Schuld nicht Sie.“


Nach dieſen Worten zählte er den rückſtändigem Lohn
in harten Thalern auf den Tiſch und wandte dem Geſellen
den Rücken.


Beyer hatte ruhig zugehört, ohne ein einziges Mal auf¬
zublicken. Dann ſagte er gleichgiltig:


„Meiſter, ſtecken Sie das Geld nur wieder ein, ich nehme
es nicht an . . . Ich werde an dieſem Prinzip ſo lange
[229] feſthalten, bis ich meinen Lohn wieder verdiene. Ich laſſe
mir nichts ſchenken.“


„Ich aber auch nicht“, gab Timpe zurück. „Sie be¬
leidigen mich, wenn Sie das Geld nicht nehmen.“ Sein
Antlitz war roth geworden, ein Sturm drohte heranzubrechen.


„Thut mir leid, Meiſter, aber es bleibt dabei.“


„Aber wovon wollen Sie denn leben?“


„Ich habe einige Erſparniſſe, die werden reichen, und
wenn es damit zu Ende iſt, dann — — o, beſter Herr
Timpe, meine Schweſter und ich werden nicht zu Grunde
gehen, wenn's an's Hungern geht. Die Genoſſen werden für
uns ſammeln . . . In unſerer Partei kommt Niemand um,
ſolange der Andere noch ein Stückchen Brot für ihn übrig
hat . . . Uns gilt noch das Wort etwas: hilf Deinem
Nächſten . . . Unter den Handwerksmeiſtern ſcheint das
anders zu ſein; denn ich habe bis jetzt noch nicht geſehen,
daß einer Ihrer Kollegen gekommen wäre und hätte das
erſte Gebot des Chriſtenthums erfüllt . . . Sie, Meiſter,
machen eine Ausnahme . . . Da hat mir geſtern der Nölte
drüben ſo eine Geſchichte von Barmherzigkeit erzählt. O,
Herr Timpe, Sie ſind zu ſchade für den Liberalismus.“


Bei dieſen letzten Worten warf er von der Seite einen
prüfenden Blick auf Timpe, um ſich von der Wirkung ſeiner
Worte zu überzeugen. Seit dem letzten Auftritt, den er
ſeiner Propaganda wegen gehabt hatte, erlaubte er ſich nur
noch indirekte Anſpielungen auf die politiſche Anſchauung des
Meiſters zu machen.


Eine innere Bewegung hatte Timpe gepackt, der er aber
in der nächſten Minute wieder Herr wurde. Er wollte ſich
nicht beſchämen laſſen. Das hätte noch gefehlt, daß ſein
[230] eigener Geſelle ihn die Armuth fühlen ließe! So ſagte er
denn trocken:


„Trotz alledem bleibt mir nichts übrig, als Sie dringend
zu bitten, meine Werkſtatt zu verlaſſen.“


„Ich bleibe.“


„Ich fordere Sie jetzt energiſch auf.“


„Hilft Alles nichts, Meiſter! Ich weiche nur der Gewalt.
Schicken Sie zur Polizei. Dann werde ich allen Menſchen
erzählen, wie ein Meiſter ſeinen Geſellen, der zweiundzwanzig
Jahre bei ihm gearbeitet hat, durch Schutzmänner auf die
Straße werfen ließ. Ein Hoch werden dann die Leute auf
Sie nicht ausbringen, verlaſſen Sie ſich darauf“.


Die beiden Lehrlinge ſchnitten ungeſehen luſtige Grimaſſen,
wählend Timpe die Zornader ſchwoll.


„Dann ſtehen Sie ſich meinetwegen die Beine in den
Hals hinein“, ſagte er wüthend gemacht und gab den Kampf auf.


„Ich kann mit meinen Beinen machen, was ich will,
Meiſter“, erwiderte Beyer.


Nach dieſen Worten fiel hinter dem Meiſter die Thür
krachend zu, ſo daß die Wände erzitterten.


Als nach ungefähr einer Viertelſtunde in der Werkſtatt
eine Rechnung präſentirt wurde, die durchaus bezahlt werden
mußte, beglich ſie der Altgeſelle mit dem Gelde, das noch
immer auf der Drehbank lag. Später erſt erfuhr Timpe von
dieſem Genieſtreich, der ſeiner Meinung nach an Boshaftigkeit
nichts zu wünſchen übrig gelaſſen hatte.


Nach drei Wochen blieb der eine Lehrling weg. Er
ſchlief in der letzten Zeit bei ſeinen Eltern, und da er bereits
zweiundeinhalb Jahr lernte, ſo hielt er es für angezeigt, in
eine Fabrik einzutreten, wo er bereits einen kleinen Geſellen¬
[231] lohn bekam. Der Vater gebrauchte nach einer Beſchwerde
die Ausrede, ſein Sohn habe ihm berichtet, daß ſelten etwas
zu thun ſei, und da könne er wenig lernen. Johannes faßte
die Sache trotz des Aergers, den er empfand, nicht ſo tragiſch
auf. Er hatte einen Eſſer weniger, und das wollte bei der
trüben Zeit ſchon etwas ſagen.


Als außer einigen Kleinigkeiten immer noch keine nennens¬
werthe Beſtellung eintraf, konnte Timpe den Anblick der
bewegungsloſen Drehbänke nicht mehr ertragen. Er zog
ſeinen Sonntagsſtaat an, legte einige Muſter zuſammen und
machte ſich auf den Weg zu den ihm fremden Händlern und
größeren Fabrikanten, um Arbeit zu verlangen. Man lobte
ſeine Kunſtfertigkeit, machte ihm das Kompliment, bereits von
ihm gehört zu haben und bat wie gewöhnlich um eine
Kalkulation. War man einmal mit derſelben einverſtanden
und nicht abgeneigt, ihm einen größeren Auftrag zu geben, ſo
ſcheiterte die Ausführung derſelben wieder an dem Umſtande,
daß er jetzt nicht einmal das nothwendige Kapital beſaß, um
Rohmaterialien einzukaufen. Obendrein verlangte man einen
Kredit von einem halben Jahre. Bei den Modeartikeln war
das durchaus der Fall. Hin und wieder bekam er die An¬
fertigung irgend eines einzelnen Gegenſtandes, der auf direkte
Beſtellung nach eingereichter Zeichnung ausgeführt werden
ſollte. Das war das Ganze. Zu allerletzt hielt ihn der Stolz
davon ab, ſich mit einem Artikel zu befaſſen, deſſen Preis
ſeiner einfach unwürdig erſchien.


„Lieber thuſt Du nichts und ſetzte das Letzte zu,“ dachte
er dann, wenn er den Ort verließ, wo man ihm ſoeben zu¬
gemuthet hatte, ſchlechte Arbeit für ein Spottgeld zu liefern.
Er dachte an ſeinen verſtorbenen Vater, an David Timpe und
[232] an die gute, alte Zeit, wo der Handwerker noch nicht nöthig
hatte, den Krämer zu ſpielen und von Thür zu Thür zu
gehen, um zu feilſchen und zu betteln.


Wenn er dann ſo mit ſeinem Packet unter dem Arm,
den grauen Cylinderhut auf dem Kopf, und mit einem etwas
altfränkiſchen, braunen Gehrock angethan, durch die Straße
irrte, kam er ſich wie Ahasverus vor, der ewig wandern muß,
ohne an ſein Ziel zu gelangen. Das betäubende Getöſe des
Berliner Straßenlebens, das Branden und Wogen der Menge,
in der er ſich wie ein ausgedientes Wrack in einem unruhigen
Meere ausnahm, machte ihn förmlich betrunken, ſodaß er
mehr taumelte als ging. Die fortdauernde Nutzloſigkeit ſeiner
Bemühungen wirkte ſchließlich ſo entmuthigend auf ihn ein,
daß er ſeiner Empfindung durch Selbſtgeſpräche Ausdruck
verlieh.


„Pack' ein, Timpe, und lege Dich ſterben, Du gehörſt
nicht mehr in dieſe Welt,“ ſagte er. Dann blieb er vor
einem mächtigen Schaufenſter ſtehen und betrachtete ſich kopf¬
ſchüttelnd in der großen Spiegelſcheibe. Einmal begegnete
ihm ein alter Herr, der ſich wie ein Doppelgänger von ihm
ausnahm. Er fand das ſo komiſch, daß er lachte und der
ſeltſamen Geſtalt nachblickte.


„Du pack' nur auch ein,“ murmelte er vor ſich hin.
„Wie kann man in unſerer aufgeklärten Zeit eine ſo lächer¬
liche Figur ſpielen. So ein alter Knopp ... ſieht aus,
als wenn er bereits zwanzig Jahre im Grabe gelegen
hätte und nun damit prahlen wollte, daß er ſich gut er¬
halten hat.“


Als er ſich aber ſelbſt wieder im nächſten Schaufenſter
erblickte, ſagte er wehmüthig: „Johannes, es ſcheint, als
[233] wenn Du Dich über Dich luſtig machen wollteſt. Alter
Eſel, Du!“


Was ihm bei dieſen Stadtreiſen äußerſt lächerlich vorkam, war
die Doppelrolle, die er auf ſich geladen hatte und noth¬
wendigerweiſe ſpielen mußte. Befand er ſich wieder in ſeinem
Viertel und begegnete ihm Jemand, der ihn kannte, ſo wurde
er wie ein Mann begrüßt und angeredet, der ſo glücklich ge¬
ſtellt iſt, den ganzen Tag ſpazieren gehen und ſchwere Ein¬
käufe machen zu können.


„Danke, danke“, pflegte er dann auf eine Frage nach
ſeinem Wohlbefinden zu erwidern. „Es geht ja ſo la-la, ich
kann gerade nicht klagen. Man lebt eben ſo lange, bis man
ſtirbt, und dann läßt man das Beerben Anderen . . . Adieu,
hat mich ſehr gefreut. Ich muß eilen . . . . ich habe da
meiner Alten eine Kleinigkeit mitgebracht . . . ich war unter
den Linden . . . theure Gegend da . . .“


Dieſes „traurige Komödienſpiel“, wie er es nannte, enthielt
ſo viel Scherzhaftes für ihn, daß er ſich immer neue Dinge aus¬
dachte, wenn er einen dieſer „liebenswürdigen Nächſten“ heran¬
kommen ſah. „Sachte nur, du ſollſt dran glauben“, ſagte er für
ſich und richtete ſich mit jedem Schritt ſtolzer empor, um
dem „wohlhabenden“ Meiſter Timpe die nöthige Würde zu
geben.


An einem Vormittag ſtieß er um eine Ecke biegend mit
dem langen Herrn Brummer ſo hart zuſammen, daß der
Rentier beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.


„Wie geht's, gut?“ redete ihn der ſonſt ſchweigſame
Hausbeſitzer mit großer Zungenfertigkeit an. „Habe letzten
Sonntag Ihre im Bau begriffene Villa in Friedrichshagen
geſehen. Nicht ſchlechter Geſchmack, das muß ich ſagen . . .
[234] Es freut mich, daß Sie ſich ſo gut mit Ihrem Sohne ſtehen.
Adieu, mein verehrteſter Herr Timpe. Ich beſuche Sie ein
Mal, wenn Sie erſt draußen ſind . . . Sehr ſchön da am
See.“


Herr Brümmer lüftete außerordentlich höflich den Hut
und lieferte dabei den Beweis, daß ſein Rückgrad nicht ſo
ſteif war, wie man allgemein behauptete. Nach einigen Schritten
rief er den Meiſter noch einmal zurück.


„Wiſſen Sie ſchon? Mein Haus wird nun doch von
der Stadtbahn angekauft werden müſſen. Ich habe einen
Prozeß angeſtrengt. Man hat mir die ganze Ausſicht ge¬
nommen. . . Das dulde ich nicht. O, mich macht Niemand
dumm. . .“


Nur ich, dachte Timpe. Alſo auch Brümmer hielt ihn
noch immer für wohlhabend. Was die Villa anbetraf, ſo
ließ ſich allerdings Franz eine ſolche in Friedrichshagen bauen,
und irgend jemand hatte die Mär ausgeſprengt, daß dieſelbe
für Timpe ſenior beſtimmt ſei.


Die Thatſache riß die kaum vernarbte Wunde
in des Meiſters Bruſt wieder auf. Sein einziger
Sohn ließ ſich eine Sommerwohnung bauen, und er, der
ergraute Vater, mußte von früh bis ſpät in den Straßen
Berlins umherziehen, um für Brod zu ſorgen. „Des
Vaters Segen baut den Kindern Häuſer“, ſprach er halb laut
vor ſich hin und erinnerte ſich der Minute, wo er ſeine Hände
auf Emma's Haupt gelegt und über ihren Scheitel einen
Segen für ſeinen Einzigen geſprochen hatte.


Als trotz aller Bemühungen Timpe's keine Beſſerung in
den traurigen Verhältniſſen eintrat, vermochte Frau Karoline
nicht länger zu ſchweigen.


[235]

„Es iſt eine Schande und eine Sünde, daß wir dem
Bettelſtab entgegen gehen müſſen, während unſer Sohn im
Honig ſitzt“, ſagte ſie eines Tages. „I, das müßte mit dem
Wetter zugehen, wenn ſo ein Junge, den ich mit Schmerzen
zur Welt gebracht habe, nicht wiſſen ſollte, was ſeine
Pflicht iſt.“


Sie wollte zu Franz gehen, um ihm ohne Umſchweife
zu ſagen, daß es im Elternhauſe „Matthäi am letzten“ ſei.


Sie hatte bereits den Hut aufgeſetzt und das Tuch um¬
gebunden, als ſie zu ihrem Manne davon ſprach. Er gerieth
in große Erregung und hielt ſie an der Hand zurück.


„Mutter, das thuſt Du nicht, oder es iſt mein Tod . . .
Willſt Du bei Deinem Kinde betteln gehen?“


„Es iſt ſeine Pflicht und Schuldigkeit, uns zu helfen,“
erwiderte die Meiſterin.


„Und ich ſage Dir nochmals, es iſt mein Tod. . . Ent¬
ſcheide zwiſchen mir und ihm. . . Willſt Du mir auf meine
alten Tage die Schmach anthun, daß ich vor meinem Sohne
zu Kreuze kriechen ſoll? . . . Eher will ich verhungern, als
das thun.“


Karoline legte ſtillſchweigend ihre Garderobe wieder ab
und wagte nicht mehr darauf zurückzukommen. Nicht um
zehn Jahre ihres Lebens wollte ſie noch einmal das Ge¬
ſicht ſehen, das ihr Mann bei ſeinen letzten Worten ge¬
macht hatte.


An einem Sonntag Vormittag, die Meiſterin ſaß mit
ihrem Geſangbuch am Fenſter, fuhr ein Wagen vor, aus dem
Frau Timpe junior ſtieg. Karoline lief dem Beſuch ent¬
gegen und nöthigte ihn dann voller Freude in die gute Stube
hinein. Johannes hatte das Rollen und Halten des Wagens
[236] ebenfalls vernommen und trat zu den Beiden in's Zimmer.
Sein Antlitz zeigte dieſelbe Ruhe wie bei dem erſten Beſuche
Emma's, nur befleißigte er ſich einer größeren Höflichkeit als
damals.


„Was giebt uns die Ehre, gnädige Frau?“ fragte er,
nicht ohne der Anrede einen Beigeſchmack leiſen Spottes
zu geben.


Es bedurfte nicht langer Auseinanderſetzung. Erſt zögernd,
dann aber direkt entlaſtete ſie ihr Herz. Sie war ge¬
kommen, um ihre Hülfe anzubieten. Aus mancherlei Andeu¬
tungen ihres Stiefvaters hatte ſie erfahren, wie es hier im
Hauſe ſtand.


„So, ſo — das iſt ſehr freundlich von Ihnen,“ ſagte
Timpe und ging, die Hände auf dem Rücken, die Stube auf
und ab. Dann blieb er ſtehen und fuhr fort:


„Wer ſagt Ihnen denn aber, daß wir der Unterſtützung
bedürfen? Uns geht es ausgezeichnet. Wir haben einen
großen Gewinn in der Lotterie gemacht. Daß meine Dreh¬
bänke ſtill ſtehen, hat ſeine Richtigkeit, aber das liegt nur an
mir. Ich habe mich mein Leben lang genug gequält, ich will
nun die Hände in den Schooß legen und als Rentier leben.
Ja, ja als Rentier! Es wird nicht lange dauern und Sie
werden hier an dieſer Stelle ein vierſtöckiges Haus errichtet
ſehen, und damit wir im Sommer die Maikäfer ſchwirren
hören, werden wir uns irgendwo ein kleines Luſtſchloß bauen,
wahrſcheinlich in Friedrichshagen . . . Daß Sie das noch nicht
wiſſen, wundert mich, denn die ganze Nachbarſchaft ſpricht be¬
reits davon . . . Ich muß alſo Ihr Anerbieten mit Dank ab¬
lehnen, und zwar ein- für allemal.“


Frau Karoline ſtarrte ihren Mann an, als zweifle ſie
[237] an ſeinem Verſtande. Er aber benutzte eine Gelegenheit, ſie
pfiffig anzulächeln und das eine Auge liſtig zuzukneifen, als
wollte er ſagen: „Ich mache meine Sache gut, nicht wahr
Alte?“


Dann ſorgte er dafür, daß das Geſpräch auf ganz all¬
gemeine Dinge kam, und war dabei ſo luſtigen Sinnes, als
gäbe es keinen glücklicheren Menſchen auf der Welt als ihn.
Emma fand ihre Situation ſo unheimlich, daß ſie ſich bald
empfahl. Timpe ließ es ſich nicht nehmen, ſie bis vor die
Thür zu begleiten und ihr behilflich zu ſein, in den Wagen
zu ſteigen. Von der Treppe aus rief er ihr noch zu:


Alſo es bleibt dabei: wenn meine Villa fertig iſt, dann
kommen Sie mal zu einer Taſſe Kaffee mit Kuchen. Das
wird hübſch werden, nicht wahr? In „Timpe's Ruh“ ſoll
es Ihnen gefallen, mein Wort darauf.“


Als der Wagen ſich bereits in Bewegung geſetzt hatte,
winkte er ihr freundlich mit der Hand zum Abſchied zu.
Baldrian der Schornſteinfegermeiſter ging gerade vorüber.
Er hatte die letzten Worte Timpe's gehört, grüßte und rief
über den Zaun hinüber:


„Ihre Schwiegertochter, nicht wahr?“


Der Meiſter nickte. „Sie feiern nächſte Woche eine ita¬
lieniſche Nacht und da hat ſie uns perſönlich eingeladen.
Wir werden uns revanchiren, wenn unſere Villa erſt fertig
ſein wird.“


„Ich habe davon gehört. ... Wer es ſo haben kann!
... Ich habe Sie immer für einen Heimlichthuer gehalten.“


Der Meiſter lachte und erwiderte: „Dann kommt man
aber auch zu etwas. Adieu, adieu. ..“


Eines Tages hatte Timpe wirklich wieder etwas Arbeit
[238] bekommen. Es war ein bereits gänzlich heruntergekommener
Artikel. Man lieferte ihm das Material dazu ins Haus.
Da er Thomas Beyer durchaus nicht los werden
konnte und das Herumpfuſchen deſſelben nicht mehr
mit anzuſehen vermochte, ſo ließ er die Arbeit von
ihm und dem Lehrling verrichten. Er ſelbſt fand nirgends
Ruhe, lief aus einem Zimmer ins andere, rechnete dann
wieder Stunden lang, wie viel er wohl an der neuen Arbeit
verdienen würde und ſetzte dann plötzlich wieder den Hut auf,
um mit ſeinem Muſterpacket von dannen zu gehen.


Des Nachmittags beſtieg er wieder die „Wart“, um den
Bau der Stadtbahn zu verfolgen. An dieſer Stelle legte
man an dem Rohwerk gerade die letzte Hand an. Der alte
Maurer, mit dem er ſich ſo gern unterhielt, war immer noch
auf ſeinem Poſten. Dann hieß es hintereinander: „Na,
Meiſter Klatt, wieder ſo fleißig?“ ... „Na, Meiſter Timpe,
ſchmeckt der Tabak?“ Schönes Wetter heute?“ ...
„Bis wie lange! da hinten zieht's dick herauf. Es wird bald
naſſe Droppen geben.“


Und nach dieſer Einleitungsrede, die ſich faſt immer in
denſelben Bahnen bewegte, kam das Geſpräch dann auf die
Vorgänge des Tages und nahm zeitweilig einen weltweiſen
Charakter an.


„Hören Sie mal, Meiſter Klatt“, begann der Drechsler
einmal, „ich möchte wohl wiſſen, wie viel Steine Sie
in Ihrem Leben ſchon gemauert haben.“ „Hurrjeh“,
machte der Mann im weißen Kittel, ließ ſofort die Kelle
fallen, reckte ſich und brachte mit vieler Umſtändlichkeit
die ausgegangene Pfeife in Brand, was ſehr oft
geſchah, denn er rauchte einen Knaſter, der wie ein Stroh¬
[239] feuer kniſterte und einen Geruch wie auf einer Brandſtätte
verbreitete. „Hurrjeh, daran habe ich noch gar nicht gedacht,
Meiſter“, fuhr er fort. „Wiſſen Sie. Sie ſind der erſte
Menſch, der mich danach fragt. ... Aber rechne ich ſo Alles
in Allem, dann wird wohl eine halbe Million und ein
Dutzend mehr herauskommen. Gezählt habe ich ſie wahr¬
haftig nicht, denn dazu ſind die Maurermeiſter da, die können
auch was thun.“


Und nach dieſen Worten blickte er noch lange nach dem
Himmel und ſchüttelte dabei mit dem Kopf, als begriffe er
nicht, wie man eine derartige Frage ſtellen könne.


„So, ſo“, ſagte Timpe. — „Woran denken Sie denn
immer ſo dabei, Meiſter Klatt? Sie haben doch gewiß keine
Sorgen. Ich ſehe Sie immer bei guter Laune.“


Der Maurer brachte abermals ein Streichholz in Brand,
zog bedächtig am Pfeifenrohr und erwiderte dann:


„Denken? ... ja wiſſen Sie, das iſt ſo 'ne Sache!
Wenn ich den Kalk auftrage und den Stein ſetze, dann denke
ich gewöhnlich nichts, greife ich aber zum Hammer, dann ſage
ich mir: läge doch dein mißrathener Aelteſter unter ihm, wie
würdeſt du ihn bearbeiten, dieſen Taugenichts! Damit Sie
nur gleich alles wiſſen: der Bengel iſt nämlich ganz aus der
Art geſchlagen und ſitzt im Zuchthaus. Ich weiß nicht, von
wem er's hat. Von mir und ſeiner Mutter gewiß nicht.“


Timpe ſchwieg eine Weile. Er blickte aber nun mit
einem ganz anderen Intereſſe den graubärtigen Geſellen an,
der immer ſo fröhlich d'rein blickte und gar luſtig plaudern
konnte.


„So, ſo ... ja, ja, es hat ſo Jeder ſeine Sorgen“,
ſagte er dann mit veränderter Stimme.


[240]

„Aber man begießt ſie einfach, dann weichen ſie auf“, erwiderte
Klatt, griff in ſeine Taſche, holte ein Fläſchchen hervor und
nahm einen herzhaften Schluck. „Hier, Meiſter Timpe, das
iſt der wahre Sorgenbrecher — koſten Sie einmal . . . Na,
Sie werden mir doch keinen Korb geben . . .“


Das Anerbieten kam Johannes ſo plötzlich, der Maurer
lachte ihn ſo luſtig an, daß er mechaniſch die Hand ausſtreckte.
Er warf einen Blick in die Runde, griff nach der Flaſche,
bückte ſich und ſetzte ſie an den Mund. Während er dann
weiter plauderte, empfand er, wie es ihm heiß nach dem Kopfe
ſtieg und eine Belebung durch ſeinen Körper ging, als wäre
er um zehn Jahre jünger geworden. So kam es denn, daß
er auch zum zweiten Male die Flaſche nicht abſchlug, als der
Mann im weißen Kittel ſie ihm mit den Worten hinreichte:
„Na Meiſter, noch einen zum Abgewöhnen!“


Als er dann wieder herabgeſtiegen und zu Frau Karo¬
line in die Stube getreten war, erlaubte er ſich mit der ge¬
treuen Ehehälfte allerlei Scherze, ſo daß ſie ſich aufrichtig
freute, ihn ſeit langer Zeit wieder einmal frohen Muthes zu
ſehen. Als er ſie aber wie ein verliebter Bräutigam umfing
und küſſen wollte, wich ſie plötzlich zurück und ſtarrte ihn
als hätte ſie plötzlich etwas Abſchreckendes an ihm bemerkt.


„Vater, Du riechſt nach Schnaps — mein Gott, Du
trinkſt! Auch das noch!“ rief ſie aus.


Dieſe Entdeckung wirkte wie erſchlaffend auf ſie. Un¬
willkürlich faltete ſie die Hände und betrachtete ihn mit einem
Blick unſäglichen Mitleids, — ihn, der durch dieſe fürchter¬
liche Anklage halb ernüchtert, ſich weggewandt und dem
Fenſter zugekehrt hatte. Minutenlang ſtand er ſchweigend
[241] voller Beſchämung auf demſelben Fleck, dann preßte er dem
Weinen nahe die Worte hervor:


„Mutter . . . der Kummer . . . die vielen Sorgen . . .“
Er öffnete die Thür und verſchwand, ohne ſein Weib noch
einmal anzublicken.


Karoline ſaß lange Zeit ſtill am Fenſter und blickte mit
gefalteten Händen hinaus auf die Straße, wo die Dämme¬
rung allmählich Menſchen und Häuſern die ſcharfen Linien
nahm. War es das Zwielicht, das ihre Augen trübte, war es
der Schmerz der Gattin und Mutter, der ſeine heiße Fluth
nach oben drängte? — Große Thränen rollten langſam über
ihre Wangen und benetzten die dürren Finger . . . .


Kretzer, Meiſter Timpe. 16[[242]]

XVI.
„Schlaf wohl, Alte.“

Ein ganzes Jahr lang kämpfte Timpe dieſen Kampf der
Verzweiflung eines herabgekommenen Handwerkers. Das
erſparte Kapital war längſt den Weg alles Geldes
gegangen.


Vor fünfzehn Jahren hatte er, um neue Drehbänke an¬
zuſchaffen und eine alte Schuld zu tilgen, eine Hypothek auf
ſein Haus eintragen laſſen. In der letzten Zeit war es ihm
nur mit Mühe gelungen, die fälligen Quartalszinſen zuſammen¬
zubringen. Der Darleiher war zwar ein vermögender
Mann und wohnte zudem in einem Vororte Berlins, es
konnte jedoch leicht die Möglichkeit eintreten, daß er
von ſeinem Kündigungsrechte Gebrauch machte, ſobald
er erfuhr, wie übel es um den Meiſter ſtand. Und dann
die Nachbarſchaft, Gevatter Hinz und Kunz — die Klatſch¬
baſen und ſchadenfrohen Seelen, die immer noch auf die
Stunde warteten, wo der vierſtöckige Prachtbau entſtehen
ſollte. Was für Augen würden ſie machen, wie die Ohren
ſpitzen, wie herausfordernd die Hüte auf dem Kopf behalten,
[243] wenn ſeine wirkliche Lage bekannt würde. Er dachte daran,
eine zweite Hypothek aufzunehmen. Als er aber zu dieſem
Zwecke mit einem wildfremden Menſchen in Verbindung ge¬
treten war und dieſer die Verhältniſſe näher geprüft hatte,
meinte er, daß er für das Haus keinen Pfifferling gäbe. Man
könne nur auf die Bauſtelle Rückſicht nehmen, der Grund und
Boden ſei aber durch das Berühren der Stadtbahn entwerthet.


Timpe befürchtete nun, daß der Beſitzer der erſten
Hypothek von dieſer Sachlage Kenntniß erhalten und ſich da¬
durch gezwungen ſehen könne, recht bald wieder zu ſeinem
baaren Gelde zu kommen. Um ihn nicht gänzlich mißtrauiſch
zu machen, unterließ er jeden weiteren Verſuch mit der
zweiten Hypothek.


Schon ſeit Monaten hatte er um die Bedürfniſſe des
Lebens zu befriedigen, Holzarbeit für eine Möbelfabrik über¬
nommen, die weit unten im Süden der Stadt lag und in der
man ſeine näheren Verhältniſſe nicht kannte. Er arbeitete
jetzt mit Thomas Beyer und dem Lehrling faſt nur, um ſich
über den Tag hinweg zu helfen, die Zinſen regelmäßig zu
entrichten und ſeine Pflicht als Steuerzahler zu erfüllen.
Große Gegenſtände konnte er gar nicht annehmen, denn ſie
wurden in den Fabriken mit Dampfbetrieb ſchneller und billiger
ausgeführt. Wie ein gewöhnlicher Tagelöhner ſtand er jetzt
an einer der verlaſſenen Drehbänke in der Werkſtatt und drehte
Stuhlbeine für Luxusſtühle, Säulen und Knöpfe aller Art.
Einem anderen Gehülfen als Thomas Beyer hätte er nicht
gewagt, einen Akkordpreis anzubieten, wie der Altgeſelle ihn
ohne Murren einſteckte. Aus dieſem Grunde fand er es ganz
zwecklos, neue Gehülfen einzuſtellen.


So weit war es mit ſeinem Kunſt-Handwerk gekommen!
16*[244] Niemals war ihn ein Gefühl tieferer Erniedrigung über¬
kommen wie in dieſen Tagen. Wer in ihm früher nur den
zufriedenen Meiſter geſehen hatte, der kannte ihn nicht wieder.
Sein Haar war gelichtet, die Wangen hatten ihre geſunde
Farbe verloren und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Dabei war er körperlich abgefallen. Das Entſetzlichſte bei
alledem war, daß er jetzt thatſächlich den Schnaps liebte. Um
ſeine angegriffene Bruſt zu ſchonen, hatte er das Rauchen
eingeſtellt; dafür ſagte ihm ein Schluck aus der Flaſche um
ſo mehr zu. Anfänglich hatte er nur dazu gegriffen, um ſich
zu betäuben und Kraft zu machen, wie es Beyer ſagte;
ſchließlich aber war es ihm zur Gewohnheit geworden, die
Flaſche gleich der Schnupftabaksdoſe mit ſich herumzutragen.
Aber er trank mäßig und blieb ſtets bei Verſtande. Er wollte
ſich nur Muth machen, wie er ſich ſelbſt belog. Die größte
Mühe gab er ſich, um ſeiner Frau das geheime Laſter, von dem
er nicht mehr zu laſſen vermochte, ſo viel als möglich zu
verbergen. Oftmals ſtieg ihm der Alkohol zu ſehr nach
dem Kopfe, daß ihn bei der Arbeit faſt die Kräfte ver¬
ließen. Dann ging er nach dem Gärtchen hinaus, um
friſche Luft zu ſchöpfen und die Stirn zu kühlen; oder er
kletterte wie gewöhnlich zur Dachluke hinaus auf den Baum.


Die Maurer waren längſt verſchwunden. Ueber die
Straße hinweg ſpannte ſich, auf mächtigen Trägern ruhend,
eine gewaltige eiſerne Brücke. Auf der ganzen Linie ſah
man bereits die Eiſenbahnarbeiter in emſiger Thätigkeit, die
Schwellen und Schienen zu legen; während die Schloſſer
damit beſchäftigt waren, zu beiden Seiten des breiten Fahr¬
dammes die Sicherheitsgitter zu errichten. An zehn Stellen
zu gleicher Zeit erſchallte der helle Klang des Eiſens, er¬
[245] tönten die Schläge der ſchweren Hämmer und gaben ihr
Echo wieder.


Die ganze Gegend hatte ein anderes Ausſehen be¬
kommen. Jetzt erſt konnte man den Bau in ſeiner wirk¬
lichen Größe ermeſſen. Im Sonnenlicht glitzerten die
Schienen, zogen ſie ſich in kühnen Krümmungen die
ganze Linie entlang, bis ſie in weiter Ferne gleich der in's
Unendliche verlängerten Spitze eines Pfeiles zuſammen¬
trafen. Von den Fenſtern aus verfolgten neugierige Blicke
die Bewegungen der Arbeiter, und auf der Straße blieben
die Paſſanten ſtehen und reckten ſich die Hälſe aus, um das
rothfarbige Ungeheuer zu begaffen.


Timpe's Haus nahm ſich jetzt geradezu kläglich aus. Auf
der gegenüberliegenden Seite der Straße, dort, wo mitten
durch die Giebeldächer dem Dampfroß der Weg gebahnt
worden war, ſtrebten zu beiden Seiten der Viadukte vierſtöckige
Paläſte zum Himmel empor; und links und rechts von ihnen
zeugten Baugerüſte für das neue Leben an Stelle der
Ruinen.


Wenn jetzt Leute durch die Straßen kamen, die ihren
Weg hier lange nicht genommen hatten, ſo blieben ſie minuten¬
lang vor der Brücke ſtehen und muſterten kopfſchüttelnd und
mit komiſchem Geſichtsausdruck das alte Häuschen. Zuletzt
betrachteten es ſämmtliche Bewohner des Viertels wie ein
Unikum, das die Lächerlichkeit geradezu herausfordere. Allerlei
Sagen entſtanden, und über das ganze Gebiet des Oſtens
war die Mär verbreitet, daß Timpen ungeheure Summen
für ſein Grundſtück geboten worden ſeien. Er aber habe be¬
ſchloſſen, in dem Hauſe, in dem er geboren worden, zu ſterben.


Um dieſe Zeit war es, daß dem Meiſter abermals ein
[246] Kaufgebot gemacht wurde, und zwar von einem Fremden.
Er ſollte immer noch das Doppelte des früheren Werthes er¬
halten. Timpe wunderte ſich darüber außerordentlich. Bald
aber erfuhr er, daß die Frau ſeines Sohnes dahinter ſteckte,
die auf Umwegen ihn aus ſeiner traurigen Lage zu reißen ge¬
dachte. Frau Karoline bat Johannes inſtändig, das Geſchäft
abzuſchließen, er aber wollte davon nichts wiſſen, und ließ ſich
in ſeinem grenzenloſen Haß gegen Urban und in der Ver¬
achtung gegen ſeinen Sohn hinreißen, den Schwur zu
thun, niemals von jener Seite den kleinen Finger der
rettenden Hand anzunehmen. Solange ſie Beide, Karoline
und er noch lebten, würden ſie wohl ſo viel haben, um ſich
ſatt zu eſſen; und das Uebrige ſei vom Uebel.


Die Meiſterin bat den Altgeſellen, auf ihren Mann ein¬
zureden und ihn anderen Sinnes zu machen. Thomas Beyer
aber zuckte die Achſeln und ſagte:


„Das wird nichts helfen, Meiſterin. Ihr Mann iſt ein
Charakter, und ſolche Leute bleiben ihrer Geſinnung treu.
Das iſt gerade wie mit dem Stahl aus einem Guß; er
bricht, aber er läßt ſich nicht biegen.“


Der Winter hatte kaum begonnen, als Frau Karoline
ſich niederlegte, um nicht wieder aufzuſtehen. Sie litt bereits
ſeit längerer Zeit an einem Magenübel, das nicht mehr zu
heilen war. Vierzehn Tage lang erſchien der Arzt. Jo¬
hannes wich nicht von ihrem Lager. Als ihn der Altgeſelle
eines Mittags auf einem Stuhle ſchlummernd fand, war er
von dem Anblick tief erſchüttert. Er glaubte ein Geſpenſt vor
ſich zu haben, aber kein Weſen von Fleiſch und Blut. Sofort
ſchickte er den Lehrling zu ſeiner Schweſter, die nach einer
Stunde erſchien.


[247]

Marie Beyer war ein hageres, verblühtes Geſchöpf.
Ihr Geſicht war von durchſichtiger Bläſſe, als käme ſie direkt
aus den Sälen eines Krankenhauſes. Sie lächelte ſelten und
machte den Eindruck, als hätte ſie auf das Glück in der Welt
verzichtet. Dafür entwickelte ſie eine ſeltene Energie. Sie
übernahm ſofort die wirthſchaftlichen Angelegenheiten, kochte,
brachte die Zimmer in Ordnung und ſpielte mit der Hin¬
gebung eines hochherzigen Mädchens die Wärterin. Der
Meiſter ließ ſich von ihr wie ein Kind behandeln. Auf
einen Wink von ihr ging er aus dem Zimmer und bevor er
an das Krankenbett trat, fragte er leiſe, ob er es dürfe.
Sie duldete nicht, daß er des Nachts wachte, ſondern löſte
ſich darin mit ihrem Bruder ab. Stundenlang hielt ſie die
Hand der Leidenden, die faſt keine Speiſe mehr zu ſich
nehmen konnte, in der ihrigen und ſprach ihr in ſanften
Worten Troſt und Muth zu. Karolinen's ſeeliſche Schmerzen
überwogen die körperlichen. Ihre Gedanken waren fort¬
während bei ihrem Sohne. Einmal äußerte ſie zu Marie,
daß ſie ihn zu ſehen wünſche. Als aber dieſe ſofort hinzu¬
ſchicken verſprach, ſtrengte ſie ihre Stimme ſo viel als möglich
an, um ſie wieder davon abzubringen.


„Thun Sie es lieber nicht, es könnte ſchrecklich für meinen
Mann werden. Franz hat ſchlecht an uns gehandelt . . . er
iſt ein gewiſſenloſes Kind . . . . ich kann ſeinem Vater nicht
Unrecht geben.“


Als ſie dann eines Abends ſtill und gottergeben, um¬
ringt von den Geſchwiſtern und ihrem Manne, die Augen
für immer ſchloß, war das letzte Wort, das ſie hinhauchte,
der Name ihres Sohnes.


Johannes war von dem Ableben ſeines Weibes ſo nieder¬
[248] geſchmettert, daß er keine Thräne fand. Mit hohlem Blick betrach¬
tete er das bleiche Antlitz, ohne ſich zu bewegen. Dann wie aus
einem langen Traume erwachend, ſtieß er einen entſetzlichen
Schrei aus und ſank vor dem Bette nieder. Er verharrte
lange in dieſer Lage, daß den Geſchwiſtern bange wurde.
Sie rüttelten an ihm und brachten ihn allmälig zu ſich. Der
fürchterliche Schmerz hatte ihm die Beſinnung geraubt, aber
immer noch blieben ſeine Augen trocken. Das Unglück hatte
ihn bereits ſo abgeſtumpft, daß er nicht zu weinen vermochte.


In aller Stille machte man Anſtalten zum Begräbniß.
Marie erlaubte ſich die Bemerkung, daß der Meiſter doch
ſeinen Sohn von dem Tode der Mutter benachrichtigen möchte.
Johannes war auch noch um dieſe Stunde hartnäckig. „Er
hat ſich bei Lebzeiten nicht um ſie gekümmert, ſo
hat er auch nicht nöthig, ihrem Sarge zu folgen“,
ſagte er kurz und beſtimmt; man ſah es ſeinem
Geſichte an, wie grenzenlos die Erbitterung gegen Franz
war. Faſt inſtändigſt bat er den Altgeſellen und ſeine
Schweſter, ihm nicht das Weh zu bereiten, das Ableben
Karolinen's in der Nachbarſchaft auszupoſaunen. Er haſſe
die Neugierde, die ſich nicht ſcheue, das Sterbezimmer zu be¬
treten und ihre tauſend Blicke in alle Ecken und Winkel zu
ſenden.


Am Tage der Beerdigung, als der Sarg gerade ge¬
ſchloſſen werden ſollte, kam aber doch Beſuch. Es war Meiſter
Nölte, der mit ſeinen zwei älteſten Kindern an der Hand
erſchien. Jedes der Mädchen trug einen kleinen, ſchlichten
Kranz, den es mit einem Knix dem Drechsler überreichte.
Der Klempner hatte ſchon längſt erfahren, daß Timpe's Ver¬
hältniſſe nicht die glänzendſten ſeien. So zog er denn Jo¬
[249] hannes bei Seite und erinnerte ihn an etwas, was dieſer
bereits vergeſſen hatte.


„Wiſſen Sie, lieber Herr Timpe,“ ſagte er leiſe, „ich
kann Ihnen noch nicht alles auf einmal wiedergeben, aber
die Hälfte habe ich mitgebracht. Sie werden es gewiß jetzt
ſelbſt gebrauchen. . . . Man erzählt ſich ſo mancherlei . . . aber Sie
thun ganz recht daran, den Leuten etwas aufzubinden. Wenn
mich heute Jemand fragt, wie es geht, ſo ſage ich ihm ein¬
fach: ich müßte mich von früh bis ſpät quälen, weil meine
zwanzig Geſellen die Arbeit nicht mehr ſchaffen könnten.
Dann wundert ſich kein Menſch mehr über meine ſchwarzen
Hände und die ewige Lampe in meiner Werkſtatt. Nur dem
Steuermann klage ich nach Noten meinen Dalles, denn der
gehört zu den Leuten, denen ich nicht traue. . . Ich würde
gerne mitgehen zum Begräbniß, lieber Herr Timpe, aber die
„Goldene Hundertzehn“ hat keinen paſſenden Anzug für mich
gefunden, und mein alter Schneider iſt jetzt ſelbſt ſo arm,
daß ich ihm jedesmal aus dem Wege gehe, denn ich fürchte,
er könnte mich anpumpen.“


Timpe wollte nach dieſen Worten das Geld nicht
nehmen; aber Nölte rief die Todte zum Zeugen an, daß
er im Weigerungsfalle dem Meiſter die Freundſchaft
kündigen werde. Da es gerade nach Tiſch war, ſo bekamen
die Kinder Kaffee und zwei Schnitten Brod, die Marie
Beyer ſo dick mit Butter beſtrichen hatte, daß Nölte meinte,
es ſei jammerſchade, denn man könnte mindeſtens ſechs damit
beſtreichen.


Es war an einem Wintertage. Um vier Uhr ſollte das
Begräbniß ſtattfinden. Gerade als man Anſtalten machen
wollte, den Sarg zuzuſchrauben, wurde die Thür geöffnet und
[250] hereintraten Spiller, gen. Spillrich, der kleine Sachſe, und
Fritz Wieſel. Sie waren im ſchwarzen Sonntagsſtaat und
traten, den Cylinderhut in der einen und einen großen Kranz
in der anderen Hand haltend, zögernd näher. Das war eine
Ueberraſchung, die Thomas Beyer dem Meiſter zugedacht
hatte. Es gab doch Menſchen in der Welt, die ſeiner noch
gedachten und ihre Anhänglichkeit bewieſen. Der Sargdeckel
wurde noch einmal heruntergenommen und die beiden Ge¬
ſellen durften einen letzten Blick auf das Antlitz der ver¬
ſtorbenen Meiſterin thun. Der Sachſe konnte nicht an ſich
halten, ſeine Augen wurden naß. Und das zog auch das
Gefühl des luſtigen Berliners in Mitleidenſchaft. Sie
brachten dann ſtammelnd und äußerſt unbeholfen ein Paar
an Timpe gerichtete Troſtworte hervor. Er ſaß in der
Nähe des Fenſters, deſſen untere Flügel der Leiche wegen
geöffnet waren. Draußen fiel der Schnee dicht wie die
Daunen eines ausgeſchütteten Rieſenbettes zur Erde. Einige
Flocken flogen ins Zimmer hinein und näßten des Meiſters
Geſicht. Ihm that das wohl, denn ſein Kopf war heiß, wie
in Fiebergluth. Nun erhob er ſich und drückte ſeinen früheren
Gehilfen warm die Hände. Nur ſchwer rangen die Worte
ſich über ſeine Lippen.


„Der Großvater hat ihr keine Ruhe gelaſſen .. er hat
ſie geholt. ..“


Er konnte nicht weiter ſprechen. Er trat noch einmal
an die Todte heran und legte die flache Hand auf ihre Stirn,
um ſie zum letzten Male zu liebkoſen.


„Schlaf wohl, Alte, grüße die Kinder und den Vater
... es giebt ein Wiederſehen, dort oben“, ſagte er leiſe.
Und nun fand er die Thränen, nach denen er ſo lange ver¬
[251] geblich geſucht hatte. Groß und ſchwer rannen ſie über die
Wangen. Alle waren tief erſchüttert. Marie Beyer ſtand
am Fenſter und ſchluchzte laut und vernehmlich und ſelbſt ihr
ewig ernſter Bruder mußte ſich abwenden, um ſeine Verän¬
derung zu verbergen. Man begann, die Kränze feſtzunageln.
Bei den erſten Schlägen, die dumpf durch das Zimmer
ſchallten, mußte Timpe mit Gewalt zurückgeriſſen werden.
Er war dem Zuſammenbrechen nahe.


Als der Sarg hinausgetragen wurde, fragte Wieſel den
Altgeſellen: „Aber kommt denn ſein Sohn nicht —?“


Thomas Beyer machte zu den beiden Geſellen eine ab¬
wehrende Bewegung: „Kein Wort darüber zu ihm, oder ihr
bekommt es mit mir zu thun“, erwiderte er.


Trotz des Unwetters hatten ſich doch Neugierige auf der
Straße verſammelt, darunter einige Nachbarsleute, die unver¬
holen ihr Erſtaunen über die eine Trauerkutſche und die
ſimple Droſchke zweiter Klaſſe äußerten.


„Man ſieht noch jarniſcht von die reiche Verwandtſchaft“,
ſagte eine dicke Frau, deren Stumpfnaſe faſt ganz im fettigen
Geſicht verſchwand.


„Sein einziger Sohn hat ja eene von die reichen Kirch¬
berg jeheirathet“, fiel die lange Frau eines Budikers ein, die
wie ein Laternenpfahl die Gruppe überragte. „Die haben ſo¬
gar Equipage, aber ich ſehe noch keene ... das ſcheint allens
ſo ohne Klang und Sang vorüberzujehen.“


„Daß da etwas nicht richtig iſt, habe ich mir ſchon lange
jedacht. Aber man verbrennt ſich nicht gern den Mund“,
miſchte ſich eine Dritte ins Geſpräch.


„Es iſt die alte Geſchichte: Hochmuth kommt vor den
Fall“, begann die Dicke wieder: „wie haben die Leute re¬
[252] nummirt mit ihrem Jungen. Ih, da war jarniſcht jut jenug
... und jetzt kommt er nich' mal, um der Ollen die Oogen
zuzudrücken. Das ſollte meiner ſind, den würde ich ſpringen
laſſen. Ick ſage Ihnen . . .“


„Da kommen ſie ſchon“, unterbrach ſie die lange Budi¬
kerin; „aber da iſt ja doch eene Frau, das iſt wohl die
Schwiejertochter?“


„Ih Jott bewahre! die reiche Frau wird doch nich ſo'n
Kattunfummel tragen.“


Man machte ehrerbietigſt Platz. Der Sarg wurde auf
den Wagen geſchoben und der Zug ſetzte ſich langſam in Be¬
wegung. In der Kutſche ſaßen Timpe, der Altgeſelle und
ſeine Schweſter. Spiller, Wieſel und der Lehrling hatten die
Plätze in der Droſchke eingenommen.


„Sie haben Recht gehabt“, ſagte die Dicke zu der dritten
Sprecherin, als ſie mit ihr über den Damm ſchritt, „es iſt
da etwas nicht janz richtig, oder die Jnädige hat ihre
Mijräne und ihr Mann muß ſie aufwarten. Das ließe ſich
meiner nicht bieten, det kann ick Ihnen ſagen.“


Mit dieſen Worten verſchwand ſie, während ihre Be¬
gleiterin von der Budikerfrau zurückgehalten wurde. Unter
einen Thorweg ſtehend vertieften ſie ſich in ein längeres Ge¬
ſpräch, deſſen Thema nicht ſchwer zu errathen war, wenn man
beobachtete, wie die dürren Finger der langen Frau gleich
einem Wegweiſer die Richtung nach Timpe's Haus nahmen.


Der Schnee fiel noch immer dicht und gleichmäßig vom
Himmel und verwiſchte nach und nach die Spuren des
Leichenwagens und ſeines Gefolges. . . .


[[253]]

XVII.
Innen- und Außenwelt.

Seit dieſem Tage war es nur noch Timpe's Geiſt, der
im Hauſe herumwandelte; ſo meinte wenigſtens Thomas
Beyer. Es war in der That unheimlich mit anzuſehen,
wie der Meiſter lautlos in die Werkſtatt trat, kein Wort ſagte,
nichts anrührte, ſtumm einige Augenblicke durch das Fenſter
blickte, die Lippen aufeinander preßte, nach der Fabrik hin¬
über nickte, und dann ebenſo ſtill wieder von dannen ſchlich.
Nirgends fand er Ruhe. Noch ſpukhafter für Geſellen und
Lehrling war es, wenn ſie im Nebenraum die lauten Worte
vernahmen: „Karoline, biſt Du da?“ oder: „Mutter, hörſt
Du?“ Einmal ſteckte er ſogar den Kopf in die Werkſtatt
hinein und fragte allen Ernſtes : „Iſt meine Frau nicht hier?“


Er vermochte ſein Alleinſein nicht zu begreifen. Die
erſten drei Tage nach dem Begräbniß ſteigerten die Hallucina¬
tionen ſich derartig, daß Beyer das Ernſteſte befürchtete und
jedesmal, wenn Timpe die Werkſtatt verlaſſen hatte, hinter
ihm herging, um ihn vor irgend einer Verzweiflungsthat zu
bewahren. Dann ſah er öfters, wie der Meiſter ſich un¬
[254] belauſcht wähnend vor dem Lehnſtuhl ſtand, auf dem die Ver¬
blichene ſich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als
ſäße die Meiſterin noch lebend da und blicke zu ihm empor.
Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr
Bild, das an der Wand über dem ſilbernen Myrthenkranz
hing. Ja, als Thomas wieder einmal leiſe die Thür ge¬
öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck
von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock
der Verſtorbenen ſtreichelte und einen Kuß auf ihn drückte.


Der Altgeſelle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank
und knüpfte oft abſichtlich ein Geſpräch mit ihm an, um ſich
von der Krankheit zu überzeugen. Zu ſeinem Erſtaunen ant¬
wortete der Meiſter völlig vernünftig, aber er brachte eine
Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm
nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeſelle für beginnenden
Irrſinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerſchütterung:
die Aeußerung eines tiefgebeugten Geiſtes, der ſich in ſich ſelbſt
verſchließt und ſein fürchterliches Unglück erſt allmälig begreift.


Timpe nahm nur wenige Speiſen zu ſich, trotzdem der
Lehrling ſie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬
geſelle ſah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten
Tage brachte er in aller Frühe ſeine Schweſter mit. Sie
blieb nun den ganzen Tag über im Hauſe, kochte für Meiſter
und Lehrling und brachte ihm die Wirthſchaft in Ordnung.
Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das ſo
natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten
Thomas und Marie mit ihm am ſelben Tiſche eſſen.


„Aber nicht für Ihr Geld, Meiſter . . . dann ſind wir
damit einverſtanden“, ſagte der Altgeſelle kurz und bündig
wie immer.


[255]

Das Schrecklichſte für Timpe war, daß er nicht ſchlafen
konnte. Des Abends kam ihm das Haus öde wie eine Kirche
vor, ſo daß ihn ein förmliches Grauen überkam, wenn die
Stunde des Niederlegens heranrückte. Trat die Dämmerung
ein, ſo fürchtete er ſich die beiden großen Vorderzimmer zu
betreten. Jedes Stück Möbel, der kleinſte Gegenſtand erin¬
nerte ihn an ſein verſtorbenes Weib. Er ließ daher das Bett
in ſeine Arbeitsſtube bringen und befahl dem Lehrling von
nun an in der Werkſtatt zu ſchlafen.


Gleich am Tage nach der Beerdigung begannen die Zungen
in der Nachbarſchaft ihre Arbeit. Die ungeheuerlichſten Ge¬
ſchichten kamen dabei zum Vorſchein, ſoweit es ſich um das
Verhältniß des Meiſters zu ſeinem Sohne handelte. Bei Jamrath
drehte die Debatte ſich Abend für Abend um dieſen Punkt.
Man fand es unerhört, daß Timpe den vermögenden Mann
hervorzukehren wagte, da man von ſeinem Ruine bereits über¬
zeugt war.


„Ihm geſchieht ganz Recht; weßhalb prahlt er mit den
Roſinen, ohne ſie im Sack zu haben,“ ließ Deppler ſich
vernehmen. Herr Brümmer aber, der ſich ärgerte, ſeiner
Zeit auf der Straße Timpe die Ehrfurcht vor einem Villen-
und Hausbeſitzer entgegengebracht zu haben, brach ſeine
Schweigſamkeit und ſagte im ſalbungsvollen Tone: „Wer
gegen die großen Fabriken und die Maſchinen iſt, der iſt auch
gegen den Geiſt des Fortſchritts. Wiſſen Sie noch, wie er
an jenem Abend ſo tapfer dagegen losdonnerte? Ich wollte
nur nichts erwidern . . . Weßhalb auch? Er hätte mich
doch nicht verſtanden . . . derartige Leute aufzuklären, iſt nicht
leicht. Er hätte ſchließlich von mir profitirt und mich oben¬
drein ausgelacht.“


[256]

Nur der Schornſteinfegermeiſter nahm des Meiſters
Partei. Und als Nölte, der wie gewöhnlich von einem
Spieltiſch zum andern ging und in die Karten guckte, die
unliebſamen Aeußerungen vernahm, miſchte auch er ſich in's Ge¬
ſpräch und gerieth ſo in Hitze, daß das Wortgefecht ſchlie߬
lich einen bedrohlichen Charakter annahm. Das that er
Abend für Abend, ſobald man verſuchte, Johannes etwas an¬
zuhängen.


„Sie ſind gerade gut genug, Timpe die Schuhſchnüre zu
löſen,“ ſchrie er wüthend gemacht bei einer ſolchen Gelegen¬
heit Brümmer in's Geſicht. „Man könnte den Fortſchritt
der Zeit ſegnen, wenn er Sie einmal auf Nimmerwieder¬
ſehen mitführte. Ich glaube, es wird Ihnen Niemand
nachlaufen.“


Das war zu viel. Einige am Tiſch lachten, was den
Zorn des Rentiers nur noch ſteigerte. Er wurde blaß und
zuckte mit den Lippen, ohne zuerſt etwas erwidern zu können;
dann erhob er ſich, rief nach Fritz, dem Kellner und
betheuerte, niemals mehr das Lokal zu betreten, wenn ihm
nicht Genugthuung zu Theil würde. Deſto mehr ſprach Deppler
für ihn. Das Lob Timpe's hatte den Schirmhändler derartig
mißgeſtimmt, daß er mit unſchönen Worten über den Klempner
herfiel und dann ebenfalls erklärte, zum letzten Male an
dieſem Abend den Stuhl hier gedrückt zu haben. Da Nölte
durchaus nicht den Mund hielt und ſeinem Herzen ganz ge¬
hörig Luft machte, ſo wurde der Skandal immer ärger.
Als Jamrath ſah, daß alles Schlichten nichts helfe, ſo erwog
er raſch ſeine Vortheile und erſuchte den Meiſter, das Lokal
zu verlaſſen. Für eine kleine Weiße, die man verzehre,
dürfe man ſich nicht erlauben, ſämmtliche Gäſte zu beleidigen,
[257] meinte er halblaut, aber deutlich genug für Nölte. Der
Klempner ging nun, Brümmer und Deppler wurden beruhigt
und Jamrath war vor dem Verluſt zweier ſeiner beſten
Gäſte bewahrt.


Und wie in der Kneipe, ſo beſprach man auch in den
Familien die merkwürdige Entdeckung, die man plötzlich bei
Timpe gemacht hatte. Dieſer Bezirk hatte noch etwas Klein¬
ſtädtiſches an ſich. In den alten Häuſern wohnten die Miether
Jahrzehnte lang, Hinz und Kunz kannten ſich, die Kinder
beſuchten dieſelbe Schule, und ſo hatte ein auffallendes Ereigniß
bald die Runde durch die Häuſer gemacht. Es mußte natürlich
das größte Aufſehen erregen, daß weder Timpe junior mit
Frau, noch der Letzteren Familie dem Begräbniß beigewohnt
hatten. Man konnte ſich das nur durch einen Zwieſpalt
zwiſchen Vater und Sohn erklären. Die ehrenwerthen Bürgers¬
leute, die den Meiſter nur von der beſten Seite kannten,
bedauerten ihn tief. Eines Mittags rief Nölte Thomas
Beyer zu ſich herein. Als die Rede auf Timpe kam, glaubte
Beyer nichts mehr verſchweigen zu brauchen. Etwas von
des Meiſters Haß gegen Urban und Franz war auch auf ihn
übergegangen. Er ſtellte die Undankbarkeit des Sohnes in
das richtige Licht, erzählte auch, wie Timpe jede Hülfe zurück¬
gewieſen habe und lieber verhungern wolle, ehe er ſeinem
Sohne den kleinen Finger reiche.


„Er iſt durch und durch ein ehrenwerther Charakter,
ſein Sohn aber ein Lump, der ſich für Geld ſehen laſſen
müßte,“ ſagte er. „Das moderne Streberthum hat ihn auf
dem Gewiſſen; aber Timpe hat viel verſchuldet, er hat ihn
frühzeitig verhätſchelt und ihm in allen Dingen zu großen Willen
gelaſſen.“


Kretzer, Meiſter Timpe. 17[258]

Der Klempner ſchlug die Hände zuſammen und ſagte
ein über das andere Mal: „Du lieber Himmel, er bekommt
noch dreißig Mark von mir ... ich werde mich todtſchießen.
wenn ich ſie ihm nicht noch heute geben kann.“


Als Beyer ihn verlaſſen hatte, erzählte er ſofort die
ganze Geſchichte ſeiner Frau und machte ſich auf den Weg
zu dem Magazin, für das er arbeitete; ließ ſich gegen
Bitten und gute Worte Vorſchuß geben und ſchickte durch
das älteſte Mädchen das Geld zu Timpe hinüber. Dann
hatte er nichts eiligeres zu thun, als jedem Menſchen, den
er ſprach, die Leidensgeſchichte Timpe's zu erzählen.
Ja, als er einmal einen wildfremden Mann erblickte,
der das Portal von Urbans Fabrik betrachtete, knüpfte er mit
ihm ein Geſpräch an und ſchüttete ſeine ganze Galle gegen
den „ſtillen „Kompagnon“ aus, der den Namen Franz Timpe
trug. Die Situation änderte ſich nun, alle Welt nahm
Partei für den Drechslermeiſter und ſprach ſich ungünſtig über
Franz aus.


Eines Vormittags hieß es im Komtor, der „junge Chef“
ſei plötzlich krank geworden. Seit ſeiner Verheirathung
wohnte er am Alexanderplatz, in einem der wenigen, vornehm
ausſehenden Häuſer, die noch keine Läden aufzuweiſen haben.


Jeden Vormittag pflegte er in einer Droſchke erſter Klaſſe
nach der Fabrik zu fahren. Kam er ſeinem Ziele näher und
ſaßen oder ſtanden Leute am Fenſter, ſo grüßten viele von
ihnen und nickten ihm freundlich zu. Seit einigen Tagen
war in dieſen Achtungsbezeigungen eine auffallende Ver¬
änderung eingetreten. Man wandte ſich ab oder that ſo, als
ſähe man ihn nicht. Er forſchte nun eifrig nach der Urſache
dieſer kalten Behandlung und erfuhr Alles.


[259]

Er hatte noch keine Ahnung von dem Tode ſeiner
Mutter und ſelbſt Urban und deſſen Frau erfuhren erſt von
ihm davon. Zum erſten Male in ſeinem Leben empfand er
Gewiſſensbiſſe, die ihn krank machten. Dazu kam der Aerger
über die Blamage, der er durch die Hartnäckigkeit ſeines
Vaters ausgeſetzt war. Er habe noch niemals gehört, daß
einem Sohne der Tod ſeiner Mutter grundſätzlich verſchwiegen
worden ſei, ſagte er zu Emma, die vor ſechs Tagen einem
Knaben das Leben gegeben hatte, von dem ihr ſehnlichſter
Wunſch war, daß er den Namen ſeines Großvaters tragen
ſollte. Mit dem Alten ſcheine es in der letzten Zeit nicht
richtig zu ſein, wie man ſich erzähle, fuhr er fort. Habe
man ihm nicht vor Jahren einen vierfachen Preis für ſein
Grundſtück geboten, ihm nicht noch vor kurzer Zeit ein an¬
ſtändiges Angebot gemacht? Einen derartigen Trotz könne er
nicht begreifen. Nun machten die Leute ihn, den Sohn, für
Alles verantwortlich und würden ſchließlich mit dem Finger
auf ihn deuten.


Er war ſo aufgeregt, daß er das Eſſen nicht anrührte,
einen Boten nach der Fabrik ſchickte, ſich für unpäßlich er¬
klärte und um regelmäßigen Rapport bat.


Emma rief ihn mit ſchwacher Stimme zu ſich heran,
deutete auf das Kind, das ſeine Züge trug und flehte ihn an,
ſich zu ſeinem Vater zu begeben, um Alles wieder gut zu
machen. Sie habe Recht, es müſſe irgend etwas geſchehen,
ſonſt leide ſein ganzes Renommee darunter, meinte er zu¬
ſtimmend.


Als Frau Urban gerade ins Zimmer trat, um ſich wie
alltäglich nach dem Befinden der Wöchnerin zu erkundigen,
zog man ſie ins Geheimniß. Sie ſollte erſt allein zum Meiſter
17 *[260] gehen, um ihn vorzubereiten und ſeine Stimmung zu
prüfen.


Am ſelben Nachmittag noch führte ſie ihren Auftrag aus.
Sie hatte den Meiſter lange nicht geſehen, ſo daß ſie förmlich
zurückprallte, als ſie ihn erblickte. Noch mehr wunderte ſie
ſich über ſeine Unhöflichkeit. Nicht einmal einen Stuhl bot
er ihr an. Als ſie ihn fragte, ob er ſie noch kenne,
lachte er ſpöttiſch auf und wies mit der Hand nach
der Seite, wo der Hof lag. „Die alte Mauer . .
wiſſen Sie noch? . . . Sie haben uns nicht das Licht gegönnt.
nicht den Anblick der unſchuldigen Blumen, die Gott doch
überall wachſen läßt, damit der Aermſte ſich daran erfreue.“
Er hatte noch nichts vergeſſen; das machte ſie erſt recht be¬
troffen.


„Ihr Sohn gab die Veranlaſſung,“ brachte ſie dann
zögernd wie zur Vertheidigung hervor. Zu gleicher Zeit
wollte ſie das Geſpräch auf den eigentlichen Zweck ihres Be¬
ſuches bringen; aber im nächſten Augenblick ſchreckte ſie zu¬
ſammen, denn Timpe ſtampfte mit dem Fuße auf und
ſagte:


„Mein Sohn, mein Sohn! . . . Kennen Sie ihn? Ich
nicht. Sie hätten ihm damals den Hals umdrehen ſollen,
als Sie ihn zum erſten Male beim Obſtſtehlen ertappten.
Sie hätten ein gutes Werk gethan. . . . Gott wird mir
meine ſündhaften Gedanken verzeihen, um der vielen Gebete
willen, die mein Leben ausgefüllt haben.“


Er wandte ſich ab. Frau Urban wurde bewegt,
ſchritt auf ihn zu und redete ſanft auf ihn ein; aber er war
unerbittlich.


„Kein Wort mehr darüber. . . . Es liegt ein Abgrund
[261] zwiſchen mir und meinem Sohne, den keine Macht der Welt
überbrücken kann, höchſtens die eines —“ er wollte hinzu¬
fügen „irdiſchen Richters“, beſann ſich aber noch zur rechten
Zeit und ſchloß: „Gehen Sie, es iſt alles nutzlos. Ich ſtöre
Ihren Frieden nicht, wünſche aber auch, daß der meinige nicht
geſtört werde ... ein für allemal.“


Und als ſie aufs Neue den Verſuch machte, ſeinen
Starrſinn zu brechen, ließ er ſie mit einem Gruß ſtehen und
verließ das Zimmer, ſo daß ſie ſich gezwungen ſah ſich zu
entfernen.


Timpe begann nun das Leben eines wahren Ein¬
ſiedlers zu führen. Selten verließ er das Haus.
Er ſcheute die Berührung mit der Außenwelt, wie
man ungefähr einen Ausſätzigen fürchtet, deſſen Anblick
Widerwillen erweckt. Hatte er wirklich einen geſchäftlichen Gang
zu erledigen, ſo that er es im Schutze der Abendſtunde.
Er machte dieſe Gänge nur mechaniſch, mehr der äußerſten
Nothwendigkeit gehorchend, als dem inneren Triebe folgend.
Um dieſe Zeit war es, als der Burſche ſeine Lehrzeit be¬
endet hatte. Er blieb nur noch eine Woche in der Werkſtatt
und zog dann von dannen, weil er plötzlich in dem Wahne
lebte, ein Mann geworden zu ſein, der große Anſprüche er¬
heben dürfe. Timpe wollte keinen Erſatz für ihn haben. Er
haßte jedes neue Geſicht und war ſo nervös geworden, daß
er nicht mehr die Ruhe zu finden hoffte, große Umſtände mit
Jemandem zu machen. Zudem, was konnte ein Menſch bei
ihm wohl lernen? Immer noch drechſelte er gewöhnliche
Holzarbeit, die ihn bereits ſo anekelte, daß er ſie nicht mehr
ſehen mochte. Am liebſten wäre es ihm geweſen, wenn er
ganz allein an ſeiner Drehbank hätte ſtehen können. Er
[262] würde dann gerade ſo viel Arbeit in's Haus genommen haben,
als er bedurfte, um zu leben. Aber er ſcheute ſich, Thomas,
Beyer auf's Neue zu erſuchen, nicht mehr wiederzukommen
denn gewiß würde er nur tauben Ohren predigen. Dafür
brachte er es aber ſo weit, daß Marie das Wirthſchaften ein¬
ſtellte und nicht mehr wiederkam. Es geniere ihn, ein fremdes
Frauenzimmer um ſich zu haben, erklärte er ihr frank und frei;
und Fräulein Beyer ließ ſich das nicht zweimal ſagen, trotz¬
dem er ihr erklärte, er ſchätze ſie ſehr und habe nicht das
Geringſte gegen ſie. Wenn man aber dreiunddreißig Jahre
ſein Weib um ſich gehabt habe, dann könne man ſich an ein
anderes Geſicht ſchwer gewöhnen. Der wahre Grund ſeiner
Abneigung war ein [anderer]. Sein Mißtrauen wuchs von
Tag zu Tag; er redete ſich ein, die Schweſter könne eben¬
ſo ſehr auf ſeine Habſeligkeiten ſpekuliren, wie ihr Bruder auf
ſeinen Geſinnungswechſel.


Er kochte nun ſeinen Kaffee ſelbſt, hielt ſich Frühſtück
und Abendbrod im Hauſe und ließ ſich nur das Mittageſſen
aus einer nahen Speiſewirthſchaft ins Haus ſenden. Aber
auch nicht regelmäßig, denn oftmals fiel es ihm ein, ſich ſelbſt
etwas zu bereiten; dann ging er in aller Frühe zu den
Händlern, holte das Nothdürftigſte ein und beſtellte das
Mittagmahl ab.


Das ging einige Wochen ſo. Dann trat plötzlich eine
für ſein Lebensalter verhängnißvolle Wendung ein. Die
Hypothek wurde ihm gekündigt und zwar perſönlich von dem
Inhaber derſelben. Es gab keine langen Auseinanderſetzungen.
Der Darleiher brachte allerlei Gründe vor, die zum Theil
berechtigt waren, zum Theil nur zu deutlich die Abſicht durch¬
blicken ließen, wieder zum baaren Gelde zu gelangen. Da
[263] hieß es denn hintereinander: „. . . Es iſt mir zu Ohren
gekommen, daß es mit Ihrem Geſchäft vollſtändig bergab ge¬
gangen iſt . . . die Stadtbahn hat das Grundſtück entwerthet . . .
ich gebrauche nothwendig Geld“ u. ſ. w.


In Wahrheit war das nur ein luſtiger Vorwand, hinter
dem ſich Spekulationsgelüſte verbargen. Der Herr hatte
einen nahen Verwandten in der Stadtbauverwaltung, der ihn
benachrichtigt hatte, daß demnächſt allen Ernſtes mit der Er¬
weiterung der Straße an dieſer Stelle vorgegangen werden
ſollte. Er ſetzte nun voraus, daß Timpe für ſein altes
Haus kein neues Geld auftreiben und daß er dann das
Vorkaufsrecht für daſſelbe haben würde. Obendrein hatte
auch der Fiskus wegen Entfernung der „alten Baracke“ mit
der Stadt verhandelt. Es lag ihm daran, die Eiſenbahnbogen
zu verwerthen, was nicht gut möglich war, ſo lange Timpe's
Haus die Gegend verunzierte und den Eingang der Viadukte
verſperrte.


Der Meiſter hatte drei Monate Zeit und nun wider
Willen eine Beſchäftigung in den Straßen Berlins gefunden.
Es handelte ſich um achttauſend Mark, die er auftreiben
ſollte. Er lief von früh bis ſpät, treppauf, treppab, erließ
Inſerate, trat mit einem Dutzend Menſchen in Verbindung,
ohne an ſein Ziel zu gelangen. Man ſah ſich das Haus an,
ſchnüffelte in allen Ecken umher, nahm Einſicht in die Ver¬
hältniſſe, lief nach dem Grundbuchamt und ſchüttelte dann
mit dem Kopf. Es war immer dieſelbe Ausrede: „. . . Ja,
wenn die Stadtbahn nicht vorüberginge . . . wenn der ganze
Raum nicht keilförmig wäre . . . man weiß nicht, was man
daraus machen ſoll!“


Das wäre immer noch nicht ſo ſchlimm geweſen, wenn
[264] der Meiſter nicht eine Hypothek, unkündbar auf Lebenszeit,
gewünſcht hätte. Er wollte ſich auf alle Fälle ſichern. Der
Termin rückte immer näher heran — er fand keine Be¬
friedigung ſeiner Wünſche. Schließlich dachte er daran, eine
geringere Summe aufzunehmen, die überflüſſigen Drehbänke,
die Modelle und alle entbehrlichen Möbel zu verkaufen, um
mit dem Erlös die nöthige Summe zu erzielen. In dieſer
peinlichen Situation war ihm Niemand mehr im Wege als
Thomas Beyer. Er haßte ihn jetzt förmlich, er wußte nicht
warum. Jedenfalls fand er es nicht für nöthig, den Geſellen
Zeuge der neueſten Veränderung ſein zu laſſen. Wenn es
ſchon ſo weit kam, daß wirklich alles Entbehrliche verkauft
werden mußte, dann konnte das in aller Stille geſchehen, in
der Dunkelheit womöglich, und brauchte Niemand etwas davon
zu wiſſen, außer ihm und ſeinem Gott! Das wäre ein
Gaudium für ſeine Feinde geweſen, wenn ſie erfahren hätten,
wie es wirklich um ihn ſtand. Obendrein würde man ihm
noch Mitleid entgegenbringen und er wollte es nicht, verlangte
es nicht, und würde eher den Tod erlitten haben, ehe er es
entgegen genommen hätte.


Sein ganzes Sinnen und Trachten ging nun darauf hin,
dem Altgeſellen für immer den Laufpaß zu geben. Er faßte
dieſen Gedanken mit Mitleid, aber es war eine Nothwendig¬
keit, die durchgeführt werden mußte. Nicht nur der Zwang
trieb ihn dazu, ſondern eine tiefe Sehnſucht nach gänzlicher
Einſamkeit, wie ſie Menſchen zu überkommen pflegt, die mit
dem Gefühl im Herzen den Haß gegen die Welt mit ſich
herumtragen und Gewohnheiten annehmen, die ſie zu Sonder¬
lingen machen.


Am nächſten Sonnabend machte er den letzten Ver¬
[265] uch, mit dem Altgeſellen in Güte ſich auseinanderzuſetzen.
Es fruchtete auch diesmal nichts. Er würde den Meiſter
unter ſolchen Verhältniſſen erſt recht nicht verlaſſen, erwiderte
er. Er erhebe ja nur Anſpruch auf den niedrigſten Lohn,
den man ſich nur denken könne. Timpe blieb ruhig und
ging hinaus. Als Beyer aber am nächſten Montag um ſieben
Uhr wie gewöhnlich die Hausthür öffnen wollte, fand er
ſie verſchloſſen. Er rüttelte und klopfte — es wurde nicht
geöffnet. Dagegen ſteckte Timpe den Kopf zum Fenſter hin¬
aus und warf dem Gehilfen das Arbeitszeug zu. Es war
nebelig und nur vereinzelt gingen die Menſchen vorüber.
„Da Sie nicht gutwillig gehen wollen, ſo muß ich andere
Saiten aufſpannen“, ſchrie Timpe ihn an. Beyer möge ſich
zu allen Teufeln ſcheren und die fürderhin zu bekehren ver¬
ſuchen, da fände er gewiß lohnendere Beſchäftigung.


„Aber Meiſter, ſind Sie von Sinnen? ..“


Statt aller Antwort wurde der Laden herangezogen und
der Altgeſelle hörte deutlich das Quietſchen der Schraube, die
ihn befeſtigte. Das Haus ſah nun aus, als läge ſein einziger
Bewohner noch im tiefſten Schlafe.


Eine ganze Stunde lang ſchritt Beyer auf und ab. Der
Nebel zertheilte ſich, es wurde heller, eilige Menſchen liefen
an ihm vorüber, in dem Häuschen aber rührte ſich nichts.
Endlich wurde es ihm unangenehm und er ging. Der
Meiſter hatte ihn durch das Luftloch des Ladens fortwährend
beobachtet und kochte nun beruhigt ſeinen Kaffee; während
er ihn ſchlürfte, lachte er über den gelungenen Streich. Das
Bewußtſein, daß er nun allein war und von einem Raume
in den anderen ſpazieren konnte, ohne einem Menſchen zu
begegnen, verurſachte ihm großes Behagen.


[266]

Zwei Tage lang verließ er das Haus nicht, ſchlug er nur
den einen Vorderladen zurück und lebte von dem, was er in
der Küche vorräthig hatte. Die Hausthür wurde nur ge¬
öffnet, als ein Wagen aus der Fabrik vorfuhr, um die fertige
Arbeit abzuholen. Den zweiten Morgen ließ ſich Beyer nicht
ſehen, aber am dritten begehrte er wieder Einlaß. Er nahm
an, daß Timpe ihn nicht mehr erwarten würde. Aber der
Meiſter war bereits auf und ſah ihn auf der Straße ſtehen.
Er verhielt ſich ruhig und der Geſelle ging bald wieder davon.
Während der ganzen Woche tauchte Beyer nicht auf.


Timpe fühlte ſich beruhigt. Der Belagerungszuſtand
kam ihm nun ſo lächerlich vor, daß er den Laden wieder
öffnete und dem Hauſe ein freundliches Gepräge gab. Trotz¬
dem befolgte er die Vorſicht nach wie vor. Einmal wurde er
durch die Anhänglichkeit des Altgeſellen ſo weich geſtimmt,
daß er ihn perſönlich aufſuchen wollte, um ihn wieder zu
holen, aber er bewahrte glücklicher Weiſe ſeine Stärke. Eine
nicht mehr erwartete Kraft war plötzlich über ihn gekommen:
einer jener thatenluſtigen Augenblicke in der Erſchlaffungs¬
periode eines Menſchen, wo der Muth zu neuer Arbeit,
zu einem neuen Leben ſich zu regen beginnt. Es war gleich¬
ſam ein Trotz, ein rieſenſtarkes Aufbäumen gegen die Gemein¬
heiten des Daſeins. Er wollte dieſes Haus hier, in dem er
geboren war, in dem drei Generationen ſeines Namens ge¬
hauſt hatten, als ſeine Burg betrachten, deren Beſitz er gegen
die Außenwelt vertheidigte. Die Einſamkeit ſollte ſeine
Waffen ſchärfen. Er freute ſich ſeines Alleinſeins. Es ſah
Niemand, was er trieb, er brauchte keinem zweiten Menſchen
Rechenſchaft über ſein Thun und Laſſen abzulegen.


Er hatte nur noch vierzehn Tage Zeit, um eine neue
[267] Hypothek eintragen zu laſſen. Er verſchloß alſo ſein
Haus von allen Seiten und machte ſich wiederum auf
den Weg. Die Arbeit lief ihm nicht weg, denn von dieſer
Sorte konnte er genug bekommen. Zuletzt verlor er
aber doch die Hoffnung, denn Niemand wagte, auf ſeine
Bedingung einzugehen. Im letzten Augenblick meldete ſich
ein Retter in der Noth, der, wie er angab, auf Umwegen
von ſeiner Bedrängniß gehört haben wollte. Es war ein
Zwiſchenhändler, den Urban, der in letzter Stunde Kenntniß
von der Hypothekengeſchichte erhielt, beauftragt hatte, das
Geſchäft zu machen, ohne daß Timpe von dem wahren
Sachverhalt erfahre. Man wollte dem Meiſter die acht¬
tauſend Mark geben, ſich aber vierteljährliche Kündigungsfriſt
vorbehalten. Das Anerbieten war von ſehr ſchönen Redens¬
arten begleitet: Man würde durchaus nicht in den erſten
zehn Jahren von dem Kündigungsrechte Gebrauch machen, müſſe
ſich aber auf alle Fälle ſichern. Es war ſozuſagen die
Piſtole, die man Timpe auf die Bruſt ſetzte. Er
überlegte noch achtundvierzig Stunden, lief noch ein¬
mal treppauf, treppab, und willigte dann in den Handel
ein. So konnte er wenigſtens in ſeinen vier Pfählen
ſitzen bleiben und ſich mit dem Bewußtſein ſchlafen legen, daß
„den guten Freunden“ die Freude verdorben wurde.


Um die ausbedungenen Zinſen vorausbezahlen zu können,
verkaufte er in aller Stille drei ſeiner Drehbänke, die in den
Abendſtunden abgeholt wurden. Wozu ſollten ſie auch länger
daſtehen, da er doch nicht mehr die Ausſicht hatte, ſie in Be¬
wegung zu ſehen! Am meiſten freute er ſich über die großen
Augen, die der jetzige Inhaber der Hypothek machen würde,
wenn das baare Geld ihm hingezählt wurde. Der Herr zeigte
[268] allerdings ein ſehr langes Geſicht und drehte jeden Kaſſen¬
ſchein vorſichtig um, als glaubte er ihn gefälſcht und dadurch
die Möglichkeit zu bekommen, ſeine Spekulation verwirklichen
zu können. Den Meiſter amüſirte das außerordentlich und
er konnte ſich nicht enthalten zu fragen, ob der Herr vielleicht
an Stelle der Kaſſenſcheine „Gold“ wünſche? Er habe immer
einige Rollen davon im Hauſe. Und wenn der Herr wieder
'mal Jemanden träfe, der ihm erzähle, daß es ihm, Timpe,
ſchlecht erginge, ſo möchte er ihn gefälligſt einen Dummkopf
nennen und ihn darauf aufmerkſam machen, daß kluge Leute
immer ihr Geld auf der „Königlich Preußiſchen Bank“ zu liegen
haben. Damit trennte man ſich.


[[269]]

XVIII.
Der neue Heiland.

Seit der Abwicklung dieſes Geſchäfts konnte man Timpe
mit einem Dachs vergleichen, der Tage lang in ſeinem
Bau hockt und nur durch den Hunger getrieben wird,
ihn zu verlaſſen. Er beſchränkte ſich jetzt nur noch
ganz auf die große Werkſtatt und ſeine Arbeitsſtube, die
zugleich ſein Schlafzimmer war. Die „gute Stube“ hatte er
ſeit Monaten nicht geſehen und das Wohnzimmer betrat er
nur in Ausnahmefällen. Er fürchtete ſich, durch ihm lieb ge¬
wordene Gegenſtände an den Großvater und Karoline erinnert
zu werden. Die Läden, die nach dem Winkel vor dem Hauſe
hinausgingen, wurden mit Ausnahme des einen halben, der
zum Fenſter der Modell- und Schlafſtube gehörte, garnicht
mehr geöffnet. Die Hausthür war den ganzen Tag über
geſchloſſen; ein mächtiger Riegel war vorgeſchoben.


Timpe ſtand pünktlich auf, hielt ſeine Mahlzeiten regelmäßig
und legte ſich Abend für Abend um dieſelbe Zeit nieder. Von
früh bis ſpät drehte er ein und dieſelbe Arbeit: Stuhlbeine
für Luxusſtühle, die er bereits mit Beyer zuſammen gedrechſelt
hatte. Als das Wochen lang ſo fortging, merkte er, daß ſeine
Augen ſchwach wurden; ſie fingen an zu thränen, ſo daß er
[270] das Drehwerkzeug abſetzen und längere Zeit pauſiren mußte.
So ging er denn eines Morgens in aller Frühe zu einem
Arzt und ließ ſich eine blaue Brille verſchreiben, mit der er ſich
ſehr ſonderbar ausnahm; aber es ging doch beſſer. Erlahmte
er trotz alledem, ſo griff er zum „Sorgenbrecher,“ wie Meiſter
Klatt den Schnaps nannte. Er trank nicht viel, aber gerade
genug, um zu neuer Arbeit angefeuert zu werden und ſich
in einen ſeligen Zuſtand des Vergeſſens zu verſetzen.
Eines Abends vor Feierabend hatte er noch einen ſo kräf¬
tigen Zug genommen, daß ihm im Stehen die Augen zu¬
fielen, er ſich mechaniſch auf einen Schemel niederließ und
ſanft entſchlummerte. Durch ein klirrendes Geräuſch erwachte
er. Der Cylinder der Arbeitslampe war geſprungen und ein
Stück davon auf die Drehbank gefallen. Er ſchreckte zu¬
ſammen und rieb ſich verwundert die Augen. Die Werkſtatt¬
uhr zeigte bereits zehn Uhr. Drei lange Stunden hatte
alſo ſein Schlaf gewährt. Ein ſüßer Traum hatte ihn um¬
fangen gehabt: Er ſaß in der Vorderſtube mit dem Gro߬
vater und ſeiner Frau am großen runden Tiſch, als ſein
Sohn hereintrat, auf ihn zuſtürzte und ihn herzte und küßte.


Nach einer Viertelſtunde ſtarrte er immer noch auf
denſelben Punkt und ließ das Traumgebilde an ſich vor¬
überziehen. Große Thränen rollten dabei langſam über
ſeine Wangen. Als er dann nach und nach in die Wirk¬
lichkeit zurückkam und ſich in dem großen Raum umblickte,
ſchauerte er zuſammen, denn ihn fröſtelte. Die Einſamkeit
des ſtillen Hauſes wirkte mit allen Schreckniſſen auf ihn ein.
Da erblickte er die Schnapsflaſche, die auf der Drehbank
ſtand; in ihr ſaß der Teufel, der ihn in dieſen Traum ver¬
ſenkt hatte. Und er wollte nicht ſolche Träume haben —
[271] nicht ſolche verlockenden Gaukeleien, in denen die Küſſe ſeines
Sohnes, die ſich niemals bewahrheiten würden, eine Rolle
ſpielten! Er nahm die Flaſche und warf ſie mit ſolcher Kraft
in den entfernteſten Winkel, daß ſie in Scherben zerfiel; dabei
gelobte er ſich, keine zweite mehr an den Mund zu ſetzen.
Zwei Tage lang hielt er das Gelöbniß; aber bei der Arbeit
rückte er unruhig gegen die Bank, blickte ſich ſo oft nach der
Stelle um, von wo er gewohnheitsmäßig die Flaſche zu langen
pflegte, daß er am dritten Tage bereits mechaniſch eine neue
in der Küche ausſpülte und ſie mit dem „Sorgenbrecher“
füllen ließ, als er in der Morgenſtunde ſeine gewöhnlichen
Einkäufe machte. Er wunderte ſich dann, wie wohl ihm
wieder beim erſten Schluck wurde, als er die Drehbank in Be¬
wegung ſetzte.


Worauf er garnicht mehr Werth legte, war ſein Aeußeres.
Er übte nach wie vor Reinlichkeit, vernachläſſigte aber ſeine
Kleidung und vergaß ganz und gar, daß er mit der Zeit immer
magerer geworden war, während die Weite ſeiner Röcke dieſelbe
blieb. Seit Monaten trug er im Hauſe einen fadenſcheinigen
Sommerüberzieher und ging damit auch des Morgens
über die Straße. Es war die völlige Gleichgültigkeit, in die
er ſich mit der Liebe zur Flaſche und zur völligen Einſam¬
keit theilte.


Den ganzen Sommer hindurch war ſein Daſein immer
daſſelbe; er ſtand früh Morgens um 6 Uhr auf, drechſelte
den langen Tag über ſeine Stuhlbeine, die des Sonnabends
regelmäßig abgeholt wurden, öffnete Mittags Punkt 12 Uhr
die Hausthür, wenn das Mittageſſen gebracht wurde und legte
ſich Abends Punkt neun Uhr ſchlafen. Er verdiente gerade
ſoviel, daß er exiſtiren und die Zinſen erſparen konnte. Be¬
[272] ſondere Bedürfniſſe hatte er garnicht. Selbſt die „Warte“,
die ihm ſonſt ſo lieb und theuer war, beſtieg er nicht mehr,
denn der Anblick alles deſſen, was außerhalb ſeiner Wände
lag, war ihm verhaßt.


Die Bewohner des ganzen Viertels ſprachen nur noch
von ihm als von einem Sonderling, und geſchah das von
böswilligen Zungen, ſo wurde noch das Wort „verrückter“ hin¬
zugeſetzt. Es gab Leute, die einen weiten Weg machten, um
ſein Haus zu ſehen und ſich eine Vorſtellung von dem Be¬
wohner zu machen. Trotzdem er Niemandem etwas zu Leide
that, gab es Mütter, die ihre Kinder warnten, in der Abend¬
ſtunde bei des Meiſters Hausthür vorüberzugehen, denn geiſtes¬
geſtörten Menſchen müſſe man aus dem Wege gehen, weil ſie
gefährlich werden könnten. Dieſes Urtheil der öffentlichen
Meinung trug viel dazu bei, das Verhältniß ſeines Sohnes
zu ihm von einer ganz anderen Seite zu betrachten und das
Fernbleiben deſſelben von dem Elternhauſe gerechtfertigt zu
finden. Wer mitten unter civiliſirten Leuten das Leben eines
Waldmenſchen führte, mußte mit einem ganz anderen Maße
gemeſſen werden. Was hatten die Leute ſich ſchon alles von
ihm erzählt! Wie er aufziehe, das Haar langwachſen laſſe, mit
einer großen Taſche in der Hand frühmorgens wie ein
richtiges altes Weib Kaffee und Brot einhole, ja oftmals
ſogar Kartoffeln, die er wahrſcheinlich ungewaſchen mit der
Schale röſte, um ſie friſch aus dem Feuer zu verzehren.


Nur zwei Menſchen gab es, die oft zuſammentrafen, um
ein beſſeres Urtheil über Timpe abzugeben und gegenſeitig
ihre Gedanken auszutauſchen: Beyer und Nölte. Beide
hatten zu verſchiedenen Malen den Verſuch gemacht, ihn zu
beſuchen, ohne jedoch Einlaß zu finden. Der Klempner hatte
[273] ihn dann eines Morgens auf der Straße getroffen, ſich mit
ihm eine Weile unterhalten und dabei gefunden, daß Timpe
durchaus bei Verſtande war.


In den erſten Tagen des Oktobers wurde Timpe
durch eine Kündigung der neuen Hypothek überraſcht.
Dieſer Schlag traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Er glaubte zu träumen, dann dachte er an einen ſchlechten
Scherz. Am ſpäten Nachmittag war die Nachricht einge¬
troffen; ſofort ſuchte er den Darleiher des Geldes auf.
Hier bewies er, wie vernünftig er noch denken und reden
konnte. Ob man ſich denn nicht erinnere, daß man ihm die
feſte Verſicherung gegeben habe, die Hypothek würde in den
erſten zehn Jahren nicht gekündigt werden? Ackſelzucken war
die Antwort. Man könne ſich nicht mehr darauf beſinnen. . .
nur, was man Schwarz auf Weiß beſitze, ſei von Gültigkeit.
Auf lange Auseinanderſetzungen dürfe man ſich nicht ein¬
laſſen, denn das Geld würde nöthig gebraucht. Der Meiſter,
eingedenk der bereits einmal gemachten trüben Erfahrungen,
bot alles auf, um die Hypothek zu behalten. Er verſprach
höhere Zinſen, aber als Antwort bekam er immer daſſelbe:
Achſelzucken nnd nochmals Achſelzucken. Als er ſah, daß hier die
ſchönſten Worte verſchwendet waren, ging er, um aufs Neue
ſein Heil bei Geldmenſchen zu verſuchen. Binnen einer
Stunde war er wieder in das aufregende Gewühl des Welt¬
ſtadtlebens hinausgeſchleudert. Sechs Wochen lang bemühte
er ſich abermals vergeblich. Zuletzt ſchwand ihm aller
Muth und die Hoffnungsloſigkeit bemächtigte ſich ſeiner
in nie erwartetem Maße. Es war weniger der Gedanke an
den Vermögensverluſt, der ihn ſo tief ergriff und ſchmerzte,
als der, daß er aus ſeinem Heim vertrieben werden könnte.
Kretzer, Meiſter Timpe. 18[274] Die Mitleidsloſigkeit grinſte ihn nun in tauſendfacher Geſtalt
an. Ekel vor der Welt überkam ihn, nnd zum zweiten Male
in ſeinem Leben tauchte ein unheilvoller Dämon vor ihm auf,
zerrte an ihm und ließ ihn nicht mehr los. Er trug diesmal
nicht die ſanften Züge Thomas Beyers, ſondern ein ab¬
ſchreckend häßliches Antlitz: Es war der Haß gegen die be¬
ſtehende Ordnung im Staate.


„Beyer hat Recht“, ſprach er vor ſich hin, als er wieder
einmal eine Wanderung unternommen hatte und ſeine Be¬
mühungen wie gewöhnlich reſultatlos geblieben waren. „Beyer
hat Recht!“ Als er zum zweiten Male dieſe Worte wieder¬
holte, blieb er ſtehen und ſtarrte vor ſich hin. Der Dämon
hatte ſich plötzlich vor ſeinen Augen in einen Abgott ver¬
wandelt. „Beten Sie den neuen Heiland an“, hatte Beyer
zu ihm geſagt. Den ganzen Tag über unterbrach er ſeine
Grübeleien immer mit denſelben vor ſich hingemurmelten
Worten: „Der neue Heiland . . . der neue Heiland . . . bete
den neuen Heiland an!“


Seit acht Tagen hatte er die Drehbank nicht getreten.
War er halberſchöpft von ſeinen Gängen zurückgekehrt, ſo
durchmaß er mit großen Schritten die Werkſtatt und rief ſich
alles in's Gedächtniß zurück, was der Altgeſelle ihm gepredigt
hatte. Was hätte er jetzt darum gegeben, wenn Thomas
Beyer plötzlich vor ihm aufgetaucht wäre, um noch einmal
das zu wiederholen, was er ihm ſo oft geſagt hatte. Als
hätte trotz ſeines phyſiſchen Elends ſein Geiſt plötzlich eine
wunderbare Kraft erlangt, fielen ihm ganze Bruchſtücke der
Agitationsreden des Altgeſellen ein: „. . . Die Leute, die
Sie zu Grunde richten, ſind ihre natürlichen Feinde, gegen
welche Sie ſich aufbäumen müſſen. . . Gott will nicht, daß
[275] ein Gerechter leide um hundert Ungerechter willen . . . die
moderne Geſellſchaft mit ihrem Produktionsſchwindel hat Sie
auf dem Gewiſſen. . .“


Er ſprach dieſe Sätze wohl ein Dutzend Mal laut vor
ſich hin und gab ſich alle Mühe, ihre Wahrheit zu ergründen
und ſie bis ins Einzelne zu zergliedern. Eine förmliche
Wuth überkam ihn, die neue Lehre immer mehr in ſich
aufzunehmen und ſich an ihr zu berauſchen. In der guten
Stube ſtanden einige Bücher, darunter ein altes Lexikon.
Mit Eifer ſtürzte er ſich darüber her und ſuchte nach irgend
einer Erklärung des Wortes „Sozialdemokratie“. Er
wurde aber nicht befriedigt; was er fand, war ihm zu ge¬
lehrt. Als er beim großen Wandſpiegel vorüberkam, ſchreckte
er vor ſeinem eigenen Bilde zuſammen. Geſpenſterhaft
ſtarrte ihm ſein Antlitz entgegen. Er war ſo überraſcht, daß
er ſich umblickte, als ſtände noch ein Anderer hinter
ihm. Je länger er ſich aber betrachtete, je komiſcher
kam er ſich vor. Schließlich amüſirte er ſich über ſeinen
Aufzug, beſchaute ſich, wie ein Komödiant, der in den nächſten
Minuten auf die Bühne gehen ſoll, von allen Seiten und
nickte ſich freundlich zu. Es war der Schnapsteufel, der aus
ihm ſprach und ihm dieſe Scherze eingab. Dann ging er
nach der Küche und hob die ganze Heerdplatte in die Höhe,
weil er in dem Wahne lebte, es könnte von den verbotenen
Schriften Beyers, die er vor langer Zeit verbrannt hatte,
noch etwas übrig geblieben ſein.


Es kamen nun Stunden, wo die Einſamkeit, die bisher
ſein einziges Glück ausmachte, ihm zur Laſt wurde, wo er
ſeine größte Befriedigung darin gefunden hätte, mit einem
vertrauten Menſchen zu ſprechen, um alles von ſich zu wälzen,
18*[276] was ſeine Seele bedrückte. Er ſchloß die Hausthüre auf,
öffnete die Läden, blickte nach der Straße mit einer Sehn¬
ſucht und Erwartung, als müſſe jeden Augenblick die Geſtalt
Beyer's vor ihm auftauchen und ihn laut begrüßen. Aber Beyer
kam nicht; nur einige Leute blieben ſtehen und blickten ihn
ſehr erſtaunt an; ein kleines Mädchen lief erſchreckt über den
Damm und an den Fenſtern der gegenüberliegenden Häuſer
zeigten ſich neugierige Geſichter, die zu ihm hinüberglotzten,
als könnten ſie die plötzliche Veränderung in der Phyſiogno¬
mie des Hauſes nicht begreifen.


Endlich nahm er ſich vor, Beyer ſelbſt aufzuſuchen. Als
er aber vor der Hausthür eine Gruppe Neugieriger erblickte,
verſchloß er wieder Laden und Hausthür und vergrub ſich
auf's Neue in ſeiner Burg.


An dieſem Tage fand er noch einmal Gelegenheit, ſeine
Aufmerkſamkeit der Außenwelt zuzuwenden. Ein Geräuſch
von vielen Stimmen hatte ihn nach einer der Giebelſtuben hin¬
aufgelockt. Die ganze Straße war ſchwarz von einer wogenden
Menſchenſchaar, in deren Mitte die Helme der Schutzleute auf¬
tauchten. Es war an einem Montag. In der zehnten Stunde
hatten plötzlich zweihundert Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik
ihre Beſchäftigung niedergelegt. Es handelte ſich um eine
Lohnreduktion, die man ſich nicht bieten laſſen wollte. In
einer anderen Knopffabrik, die in einer der Nebenſtraßen lag,
war in der vergangenen Woche bereits ein Strike ausgebrochen.
Wie der Blitz hatte ſich bei dieſen arbeitsloſen Geſellen der
Vorgang in der Urban'ſchen Fabrik verbreitet; ſie kamen in
hellen Haufen herbeigezogen, um zum Aushalten aufzumuntern,
oder ihrem Unmuthe Luft zu machen. Zum großen Verdruß
Urbans legte auch gegen Mittag ein Theil der Elfenbein¬
[277] und Horndrechsler ihre Drehwerkzeuge nieder und zog von
dannen. Was man den Knopfarbeitern abzuziehen gedachte,
das verlangten ſie als Erhöhung ihres Lohnes. Das
hatte man nicht erwartet, denn eine große Beſtellung
für's Ausland war eingegangen und ſollte ſchleunigſt aus¬
geführt werden. Aber Urban ließ auch ſie gehen, ohne ihnen
irgend welche Zugeſtändniſſe zu machen.


Etwa ſechshundert Arbeiter belagerten das Fabrikthor und
ſchritten vor demſelben in langen Zügen auf und ab. Trotzdem
herrſchte eine muſterhafte Ruhe; nur ein dumpfes Murmeln, wie
das Grollen eines leicht bewegten Meeres, durchhallte die Luft.
Hin und wieder ertönte ein lauter Zuruf oder ein greller Pfiff,
der an anderer Stelle beantwortet wurde. Das Murmeln
erhob ſich dann zu einem lauten Stimmgewirr, ein dichter
Menſchenknäul entſtand und die Schutzleute brachen ſich
Bahn, um ihn zu zertheilen und zum Auseinandergehen auf¬
zufordern. Dann wogte die dunkle Lawine wieder die
Straße entlang. Zeitweilig trat ein unheimliches Schweigen
ein, das angeſichts der Menſchenmenge etwas Beklemmendes,
Furchterregendes barg. Einen Gegenſatz zu dieſen heraus¬
fordernden Geſtalten bildeten die hellleuchtenden Geſichter der
Frauen, Mädchen und Kinder, die in den geöffneten Fenſtern
lagen und bis in das Dach hinauf eine lebende Garnitur an
den Häuſern bildeten.


Timpe hatte eine aufrichtige Freude an dieſem Anblick.


„Dacht' ich's mir doch, daß es eines Tages ſo kommen
würde“, ſagte er mit einem vergnügten Lächeln vor ſich hin;
„wenn nur die ganze Fabrik zum Teufel ginge, das wäre
ein wahrer Segen.“


Am liebſten wäre er ſofort hinuntergegangen und mitten
[278] unter die Streikenden getreten, um ihnen Ferdinand Friedrich
Urban bis auf die ſpitze Naſe ſo eindringlich zu ſchildern, daß
ſie ihn aus dem F. F. kennen gelernt hätten. Er empfand
ordentlich Luſt, irgend eine Heldenthat zu begehen; dieſen
armen Leuten dort, die vielleicht nicht wußten, wo
ſie am andern Tage das Brod zum lieben Leben
herbekommen ſollten, ſeinen eigenen Untergang vor
Augen zu halten, ihnen den Fluch der Armuth
und die Macht des Kapitals in glühenden Farben zu ſchildern,
ſie zum Ungehorſam gegen die Geſetze aufzufordern, Worte
der Empörung in ihre Reihen zu ſchleudern. War er denn
jetzt mehr als ſie, ſtand ihm nicht daſſelbe Schickſal bevor:
gleich ihnen mit der Blechkanne in der Hand des Morgens
nach irgend einer Fabrik zu gehen, um als lebende Maſchine
in der Legion der Enterbten ſein Tagewerk zu verrichten?
O, er war nahe daran, die Grauſamkeit des Lebens bis zum
letzten Tropfen zu durchkoſten! Es kochte förmlich in ihm,
er fühlte, wie die Zunge ſich im nächſten Augenblick löſen
würde, um alles das, was er dachte, in die Maſſen hinein¬
zuſchreien.


Aber er kam nicht dazu. Einige junge Burſchen hatten
ihn erblickt, wieſen auf ihn hin und ſchienen ſich allem
Anſchein nach über ihn luſtig zu machen. Eine Gruppe
bildete ſich und hundert Köpfe wandten ſich nach ihm. Viele
traten bis an den Zaun heran und gafften zu ihm wie
zu einem Wunderthier empor. Timpe ließ ſich ſehen? Das
war neu.


Ein junger bartloſer Menſch, der kaum die Lehrlings¬
ſchuhe ausgezogen haben konnte und dem die Skandal¬
ſucht im Geſicht geſchrieben ſtand, rief dann plötzlich laut:
[279] „Seht doch den alten Meergreis da oben“. . . Gelächter
ertönte.


Der Meiſter wollte das Wort „dummer Junge“ ge¬
brauchen, beſann ſich aber auf ſeine Weisheit, klappte das
Fenſter zu und verſchwand.


Am Nachmittage tauchten Schutzmänner zu Pferde auf,
welche im Schritt die Straße durchritten und jede Gruppe, die
ſich bildete, ſofort auseinandertrieben. Nach und nach vertheilten
ſich die Maſſen. Als der kurze Wintertag zur Dämmerung
ſich neigte, zerſtreuten ſich auch diejenigen der Strikenden
und Neugierigen, die am längſten ausgeharrt hatten. Nur
die Schutzmannspoſten, die langſam vor dem Fabrikthor auf
und abwanderten, und das laute Leben in den Schankwirth¬
ſchaften deuteten auf die Ereigniſſe des Tages hin.


Nach zwei Tagen fand die Erſatzwahl zum Reichstage
ſtatt. In dieſem ungeheuren Stadtviertel des Proletariats,
das ſich von den Frankfurter Lindin bis nach dem Schleſi¬
ſchen Buſch, und von dort bis zum Kottbuſer Thor erſtreckte,
hatte ein Arbeiter-Kandidat den Sieg davongetragen, aber zu
Gunſten eines anderen Wahlkreiſes auf dieſes Mandat ver¬
zichtet.


Es war ein naßkalter Wintertag. Der Schnee hatte ſich
in Waſſer aufgelöſt und ein feiner, kaum ſichtbarer Regen
vermehrte die Schmutzlachen und durchfeuchtete die Kleidung
der Menſchen. An ſolchen Tagen macht Berlin einen un¬
angenehmen Eindruck. Es gleicht einem Menſchen, der
plötzlich ſeine Stimmung und mit ihr ſeine Kleidung ge¬
wechſelt hat. Es zieht ſich in ſich ſelbſt zurück und läßt ſich
nur von außen betrachten. Selbſt Fenſter, hinter denen man
ſelten Licht erblickt, ſind erleuchtet, die Läden leerer als ſonſt,
[280] und um die Lampe im Wohnzimmer ſieht man ſeit langer
Zeit wieder die ganze Familie verſammelt. Die flackernden
Flammen des Gaslaternen verſtärken den unangenehmen Ein¬
druck. Die Schatten werden dunkler, die Waſſerpfützen
leuchten greller, die Häuſer ſtarren um ſo ſchwärzer zum
dunklen Himmel empor. Wie Irrlichter huſchen die bunten
Flämmchen der Wagenlaternen über die Straße und wirken
um ſo unheimlicher, je weniger man die Gefährte erkennen
kann.


Seit frühmorgens war Timpe unterwegs, ohne den hülfs¬
bereiten Menſchen gefunden zu haben, der ihm Erſatz für die
gekündigte Hypothek verſchaffen würde. Er hatte durch die
ewige Aufregung ſeine Arbeit bereits ſo vernachläſſigt, daß ſie
in der Werkſtatt unausgeführt in großen Haufen lag. Noch
niemals war ihm eine ähnliche Gleichgültigkeit gegen ſich
ſelbſt, gegen Alles, was das Leben noch zu bieten vermochte,
überkommen, wie in den letzten Tagen. Er kam ſich wie ein
Vagabund vor, wie ein alter Landſtreicher, der durch die
Straßen zieht, nm für Brot und Nachtlager zu betteln.


Es fing bereits an zu dunkeln. Der Schnee klatſchte
bei jedem Schritt gegen ſeine Füße, der Regendunſt hatte
ſein langes Haar erweicht, ſich in jede Falte ſeiner Kleidung
geſetzt, ſo daß die Hand feucht wurde, wenn er ſie berührte.
So näherte er ſich wieder allmählich ſeiner Straße. In tiefe
Gedanken verſunken, blieb er abwechſelnd ſtehen und blickte
zum Himmel empor. Dann kam der Name „Karoline“ wie
ein langer Seufzer unſagbaren Schmerzes über ſeine Lippen.
Er ſuchte vergeblich nach einem Ausdruck ſeiner Wünſche und
Hoffnungen für die Zukunft; alles deſſen, was ihn bewegte und
die ewigen Widerſprüche in ihm entfachte. Endlich hatte er
[281] ihn gefunden: es war der Lebensüberdruß, der an ihm nagte
und ihn zum Sterben ſchlaff und willenlos gemacht hatte.
Das Wort ſchien ihm ſo entſetzlich und doch verlockend, daß er
mitten auf dem Fahrweg ſtehen blieb und vor ſich hinſtarrte.
Eine Peitſche knallte vor ſeinen Ohren und ein „Heda!“
weckte ihn aus ſeiner Betäubung. Einige Sekunden ſpäter
und die Räder hätten ihn zermalmt. Ein Wagen rollte an
ihm vorüber, in dem ſein Sohn ſaß. Ein flüchtiger Blick
hatte genügt, um ihn Franz erkennen zu laſſen. Ein Schauer
durchrieſelte ihn, der ihm kälter dünkte, als all' dieſer uner¬
meßliche geſchmolzene Schnee, der ganz Berlin durchtränkte.
Mit ſchlotternden Knieen ging er weiter. Plötzlich bannte er
ſeine Schritte vor dem hellerleuchteten Thorweg eines Hauſes,
das ihm bekannt erſchien. Große rothe Zettel prangten an
beiden Seiten der Hausthür, ganze Züge von Menſchen gingen
aus und ein, und auf der Straße ſtanden dunkle Geſtalten,
die jeden neu hinzu Eilenden anredeten und ihm ein Stück
Papier in die Hand zu drücken verſuchten.


Johannes befand ſich vor dem Wahllokale, in dem auch
er ſeit vielen Jahren ſein Recht als Bürger auszuüben pflegte.
Er blieb ſtehen und blickte in den Thorweg hinein, wie Jemand,
der noch überlegt, ob er weitergehen oder das Haus betreten
ſoll. Eine ſchwere Hand legte ſich auf ſeine Schulter.
Thomas Beyer ſtand vor ihm.


„Meiſter, es iſt die höchſte Zeit ... gehen Sie hinein.
Sie haben noch keinen Zettel? ... Hier ... Sie ſtehen
gewiß in der Liſte.“


Er hatte leiſe geſprochen und reichte ihm nun einen zu¬
ſammengefalteten Zettel hin.


„Was ſteht d'rauf?“


[282]

Der Altgeſelle lächelte und betrachtete ihn von oben bis
unten mit einem Blick, den nur Timpe verſtand.


„Zögern Sie auch jetzt noch?“


Der Meiſter ſchwankte einen Augenblick; dann ſagte er
mit feſter Stimme: „Nein!“ beſchritt den Thorweg und ſtieg
rechts die Stufen zum Lokal empor.


Nach wenigen Minuten kehrte er zurück.


Er wollte ſich entfernen, aber Thomas Beyer hielt ihn
feſt. Ob er ſchon wiſſe, daß dort drüben um die Ecke in
Scheller's Salon um ſieben Uhr eine Verſammlung abge¬
halten werde? Strikende Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik
träfen ſich dort.


„Meiſter, Sie gehören jetzt zu uns, Sie müſſen mit¬
kommen.“


Seit der Minute, wo Timpe mit geſenktem Blick die
Hand nach der Wahlurne ausgeſtreckt hatte, um in ihre Tiefe
jenen winzigen Fetzen Papier zu verſenken, auf dem ſeine
neue Ueberzeugung geſchrieben ſtand, war völlige Willenloſig¬
keit über ihn gekommen. Es war der Zweifel an der Ge¬
rechtigkeit ſeiner Handlung, der ſofort mit der That in ihm
aufgeſtiegen war. Wie eigenthümlich hatten ihn die Herren
am Tiſche betrachtet, wie ſtarr waren ihre Augen auf ſeine
Hand gerichtet, als wollten ſie bereits aus der Farbe des
Papiers ſeine Geſinnung erkennen. Ja, es war ihm ſogar,
als hätten ein korpulenter Sardellenhändler und ein dürrer
Kanzleirath, die als Beiſitzer fungirten und ihn genau
kannten, ſich erſtaunte Blicke zugeworfen, aus denen zweifels¬
ohne die Worte zu leſen waren: Haben Sie geſehen? Timpe
wählt einen Sozialdemokraten.


„Gut, wir gehen,“ erwiderte er dem Altgeſellen.


[283]

Mußte er ſich jetzt nicht näher um die Ziele bekümmern,
denen er gleich den Andern zuſtrebte? War es nicht ſeine
Pflicht, ſeit dieſer Stunde eins zu ſein mit den Arbeitern,
ſich unter ſie zu miſchen, die große ſoziale Frage in den Ver¬
ſammlungen erörtert zu hören? Zudem waren die Drechsler
ſeine Fachkollegen und die Knopfmacher verwandte Berufs¬
genoſſen. Die Verſammlung mußte ihm alſo ein erhöhtes
Intereſſe bieten.


Es war merkwürdig, wie er ſich nun von Beyer leiten
ließ. Mit einer gewiſſen Ehrfurcht blickte er zu ihm empor,
lauſchte er auf jedes Wort, das über die Wahl von ſeinen
Lippen kam. Er bewunderte ihn, wenn die vorüberſtrömenden
Arbeiter, die um dieſe Stunde in hellen Haufen heran¬
gezogen kamen, ihn lebhaft begrüßten, und ihm jene Achtung
entgegenbrachten, die man einem Menſchen zu zollen pflegt
deſſen geiſtige Ueberlegenheit man anerkennen muß.


Beyer hatte ſich vorgenommen, den Meiſter heute nicht
mehr zu verlaſſen. Er beauftragte einige Vertrauensmänner,
nach Schluß der Wahl dem Zählakte beizuwohnen und er¬
griff dann Timpe's Arm, um das Wiederſehen bei einem
Glaſe Bier zu feiern. Er ſchien nur noch Mitleid für den
früheren Arbeitgeber zu haben, nachdem er die Genugthuung
erlebt hatte, ihn bekehrt zu ſehen. Das ſprach aus jedem
Wort, aus jedem Blick, aus der Zartheit, mit der er ihn
behandelte, und wie er in ihm immer nur den altehrwürdigen
Mann ſah, in deſſen Hauſe er unzählige Wohlthaten ge¬
noſſen hatte.


Timpe war ſchweigſam; ſtill in ſich gekehrt lauſchte er den
Reden Beyers und nickte ſtatt der Antwort mit dem Kopfe.
Ein niederdrückendes Gefühl laſtete auf ihm: die Unbeholfen¬
[284] heit eines Menſchen, der in eine neue Geſellſchaft gerathen
in der er fremd iſt und ſich nicht zu benehmen weiß. Dieſe
unangenehme Situation wurde noch erhöht, als er mit dem
Altgeſellen die Stufen zu einem Kellerlokal hinunterſchritt
und dann in einem engen Raum inmitten von Arbeitern ſich
befand, die in ihren ſchmutzigen Blouſen direkt aus der Fabrik
gekommen waren, eifrig politiſirten und ihn wie ihres gleichen
behandelten.


Wortkarg ſaß er in einer Ecke, nippte an ſeinem Biere
und dachte in dieſer Spelunke an ſeinen Sohn, deſſen Reich¬
thum, deſſen Glanz . . . Dieſer Gedanke machte ihn heiß.
Ein Gefühl ungerechter Demüthigung überkam ihn und trieb
das Blut nach ſeinem Kopfe. Er beſtellte Schnaps und nun
wurde er geſprächig, betheiligte er ſich an der lauten Debatte,
that er ſo, als wäre er mit allem einverſtanden, was man
ſagte und worauf man ſchimpfte. . .


[[285]]

XIX.
Der Meiſter predigt Aufruhr.

In Scheller's Salon war die Verſammlung noch nicht
eröffnet. Der Saal war völlig beſetzt, denn zu der Zahl
der Strikenden hatten ſich Hunderte von Berufsgenoſſen
geſellt. Obendrein war heute Wahltag. Man hatte früher
Feierabend gemacht und befand ſich bereits ſeit Stunden in auf¬
geregter Stimmung. Auf der kleinen Bühne im Hintergrund
hatte der Vorſtand ſich niedergelaſſen. Rechts, abgeſondert
von ihm, ſaß der überwachende Polizeilieutenant und hinter
dieſem Alexander Liebegott. Er hatte die Hände über den
dicken Bauch gefaltet, drehte aus langer Weile die Daumen
und trug eine höchſt würdevolle Miene zur Schau, über die
Kruſemeyer ſich ſehr gewundert haben würde. Nur die Enden
des gewaltigen Schnurrbartes hingen gleich durchnäßten Trauer¬
floren hernieder.


Die Gläſer klapperten, dichter Cigarrendampf ſtieg zur
Decke empor und hundertfältiges Stimmengewirr durchſchwirrte
den Saal. Die Thür öffnete ſich von Minute zu
Minute. Die neu Ankommenden drängten ſich durch
[286] die Reihen und ſpähten nach leeren Stühlen
Man begrüßte ſich laut, verſuchte, ſich zu Bekannten hin¬
zudrängen und erkundigte ſich nach dieſem und jenem. Die
ganze Unterhaltung drehte ſich um die Erſatzwahl. Man
ſetzte ein ſicheres Durchkommen des Arbeiterkandidaten vor¬
aus, aber das offizielle Reſultat fehlte noch. Jeder Hinzu¬
kommende wurde mit Fragen beſtürmt; auf allen Geſichtern
glänzte die Freude über den vorausſichtlichen Sieg. Man
kannte ſich nicht, aber trank ſich gegenſeitig zu auf das Wohl
der guten Sache. Die Stimmen wurden immer lauter, die
Gläſer klirrten immer heftiger. Man geſtikulirte äußerſt auf¬
geregt oder hörte Einem zu, der am Tiſch das Wort führte
und die Anderen durch ſeinen Redefluß zum Schweigen
brachte. Hier waren alle einer Meinung, die Unterhaltung
war eine ruhige; dort ſtießen die Anſichten ſchroff auf¬
einander. Die Oppoſition des Gegners wühlte die Leiden¬
ſchaft auf und haſtige, halberſtickte Sätze kamen zum
Vorſchein, die dem Redner das Wort vom Munde ab¬
ſchnitten. Dazwiſchen die Rufe nach dem Kellner, das Rücken
der Stühle und Tiſche, das laute Begrüßen Eintretender
und irgend ein Witzwort, das die Stimmung immer roſiger
machte.


Das ganze Bild dieſer Menge von tauſend in ſteter
Bewegung ſich befindenden Köpfen, belebten Geſichtern, war
beleuchtet von dem flackernden Licht der Gasflammen, die
ſich durch die ungeheure Wolke von Qualm, die den Kron¬
leuchter umzog, wie umnebelte Irrlichter ausnahmen. Und
dieſes Spreizen der Finger, das jeden Kraftausdruck begleitete;
dieſe nervöſen Bewegungen der Hände, gleichſam, als wollte
man durch ſie die ſo eben geſprochenen Worte doppelt
[287] beſtätigen, oder auf den Ausdruck hinweiſen, nach dem man
vergeblich geſucht hatte, um dem Satze einen Zuſammenhang
zu geben.


Auf der einen Seite des Saales ſteckte man die Köpfe längere
Zeit zuſammen und blickte nach der äußerſten Ecke neben der Bühne.
Dort ſaß mit einem fremden Herrn Franz Timpe, der ſtille
Kompagnon Urbans. Er hatte das Strike-Komitee um die
Erlaubniß gebeten, der Verſammlung beiwohnen zu dürfen,
und man hatte ſie ihm gegeben, weil man annahm, es ſei
ihm um eine baldige Einigung zu thun. Die ihn erkannt
hatten, hielten ſich ſehr reſervirt ihm gegenüber: denn wie
freundlich hatte er den Polizeilieutenant gegrüßt und wie
liebenswürdig war der Gruß erwidert worden.


Die Klingel des Vorſitzenden ertönte und es trat Ruhe
ein. Allgemeine Mittheilungen über die Urſachen des Strikes
wurden gemacht, dann ergriff ein Arbeiter der Urban'ſchen
Fabrik als Referent das Wort. Sein Name hatte bei den
Verſammelten einen guten Klang, ſeine Erſcheinung war
männlich und einnehmend. Er ſchilderte in be¬
redten Worten den Niedergang des Drechslergewerbes, er¬
örterte an der Hand von Lohntabellen die traurige Lage der
Gehilfen und verglich damit die lange Arbeitszeit. Es war
ein trübes Gemälde, das er entwarf. Das Drechslergewerbe,
ſo führte er aus, ſei früher eins der blühendſten geweſen,
heute aber durch die außerordentlich große Konkurrenz völlig
auf den Hund gekommen.


Ein lautes „Bravo! Bravo!“ unterbrach ihn. Es kam
von der Thür her, wo ein Knäuel von Arbeitern ſich geſtaut
hatte. Man blickte ſich um, um zu ſehen, wer der Unter¬
brecher ſei, konnte ihn aber nicht entdecken.


[288]

Der Redner fuhr fort, in eindringlicher Weiſe ſeine An¬
ſichten zu entwickeln. Der Durchſchnittslohn eines Gehülfen
betrage kaum ſo viel, daß er ſich anſtändig ernähren könne.
Von den Familienvätern wage er garnicht zu ſprechen. Sie
führten einfach eine traurige Exiſtenz und könnten ſich nur
erhalten, wenn die Frauen und Kinder mitarbeiteten. „Kann
man das aber ein geordnetes Familienleben nennen“, fuhr er
mit erhobener Stimme fort, „wenn Mann und Frau das
Haus verlaſſen, und die Tochter in kaum entwickeltem Alter
nach der Werkſtatt oder Fabrik gehen muß, um der Aufſicht
der Eltern enthoben, unmoraliſchen Einflüſſen aller Art preis¬
gegeben zu werden? Das Weib gehört in die Familie, es
iſt dazu da, die Häuslichkeit zu pflegen, die Kinder zu er¬
ziehen, ſie zu geſitteten Menſchen zu machen, aber nicht, um
ihre ganze Kraft dem Erwerb zu widmen, und dadurch zur
Verlotterung der Familienbande beizutragen.


Eine Beifallsſalve erfolgte, begleitet von lauten Bravo¬
rufen.


Der Polizeilieutenant hatte eifrig geſchrieben. Jetzt blickte
er den Redner aufmerkſam an, deſſen intelligentes Geſicht ihm
halb zugewandt war und über welches nur ein flüchtiges Lächeln
glitt. Dann fuhr der Sprecher fort:


„Meine Herren, die ganze phyſiſche Beſchaffenheit des
Weibes ſpricht gegen eine lang andauernde Beſchäftigung in
den Fabriken. Es iſt in erſter Linie dazu beſtimmt, Gattin
und Mutter zu ſein. Jeder wahrheitsliebende Arzt wird
Ihnen das beſtätigen. . . . Wenn alſo alles das geſchieht,
was ich Ihnen hier vorführe, ſo hat das ſeinen hauptſächlichen
Grund in der ſchlechten Belohnung der Männerarbeit. Es
ſind das alſo auf die Dauer unhaltbare Zuſtände.“

[289]

Neuer Beifall erſchallte. Der überwachende Beamte,
ein jovialer Herr mit bereits grauem Backenbart erhob den
Oberkörper und legte den Bleiſtift auf den Tiſch. In dem¬
ſelben Augenblick ſagte der Vorſitzende: „Ich bitte den
Herrn Redner, bei der Sache zu bleiben. Es handelt ſich
hier um Erörterungen von Strikeangelegenheiten. Ich
bitte alſo —“


Der Redner fuhr fort: „Ich bin vollſtändig bei der
Sache. Wir ſind hier Arbeiter, um die ſich die ganze ſoziale
Frage dreht. Wie aber erſt die einzelnen Glieder eine Kette
bilden, ſo machen die verſchiedenen Erſcheinungen des
öffentlichen Lebens die ſoziale Frage aus. Wenn wir
unſere Angelegenheiten beſprechen wollen, ſo muß es auch
nothwendig ſein, die Urſachen anzuführen, die unſere
traurige Lage verſchuldet haben und die Folgen, die aus
ihr entſtanden ſind und immer noch entſtehen. Mit Schön¬
pfläſterchen heilt man keine Wunde.“


„Bravo . . . Sehr richtig“, ertönte es abermals unter
den Zuhörern.


„Ich will alſo fortfahren oder vielmehr bei der Sache
bleiben“, begann der Redner wieder mit einem ironiſchen
Lächeln. „Meine Herren, wenn der Staat verlangt, daß wir
unſere Pflichten als Steuerzahler und Bürger erfüllen ſollen,
ſo muß uns auch geſtattet ſein, öffentlich nach den Mitteln
und Wegen zu ſuchen, die uns vor der Gefahr ſchützen, eines
Tages dieſen Pflichten nicht mehr nachkommen zu können.
Wir gleichen den Aerzten, die zuſammengekommen ſind, um
einen kranken Körper zu unterſuchen und welche die
moraliſche Verpflichtung fühlen, ſich gegenſeitig Nichts zu
verſchweigen. Meine Herren, wir ſtreben nur nach einem
Kretzer, Meiſter Timpe. 19[290] menſchenwürdigen Daſein. Wir wollen nicht praſſen, nicht
ſchlemmen, wir wollen aber auch nicht die traurige Mög¬
lichkeit vor Augen haben, eines Tages phyſiſch
und moraliſch zu verkommen, mit dem entſetzlichen Ge¬
danken aus der Welt ſcheiden, unſere Frauen und Kinder als
hülfloſe Weſen zurücklaſſen zu müſſen . . . Wir wollen auch
nicht geiſtig verthieren, ſondern nach der Arbeit ſo viel Zeit
übrig haben, um uns fortzubilden, neben der leiblichen auch
geiſtige Nahrung zu uns nehmen zu können . . . Unter der
heutigen Produktionsweiſe iſt das aber unmöglich. Ein Bei¬
ſpiel ſehen Sie an mir. Ich bin verheirathet und Vater von
zwei kleinen Kindern. Ich wohne weit oben in der Brunnen¬
ſtraße, habe einen Weg von dreiviertel Stunden bis nach der
Fabrik zurückzulegen. Seit Monaten habe ich bei Urban des
Abends bis neun Uhr arbeiten müſſen. Frühmorgens, wenn
ich mein Heim verlaſſe, ſchlafen meine Kinder noch und kehre
ich Abends ſpät nach Hauſe, ſo liegen ſie ſchon wieder und
träumen. So kam es denn, daß es mir nur alle acht Tage
vergönnt war, meine Kinder ſprechen zu hören, ihnen in die
Augen zu ſchauen . . .“


Eine Bewegung entſtand, und er fuhr fort: „Ja, meine
Herren, wie oft kommt es nicht vor, daß wir auch des Sonn¬
tags Vormittags nach der Fabrik müſſen, weil es ſo ver¬
langt wird. Es giebt Leute, die uns Arbeitern vorhalten,
wir beſäßen keine Religion, es ſtände beſſer um uns, wenn
wir nach der Kirche gingen. Nun, meine Herren, man läßt
uns nicht einmal Zeit zum Beten. Wir verrichten im
Schweiße des Angeſichts am Sonntag Vormittag unſere Ar¬
beit und das iſt unſer Gebet . . .“ Er machte eine Pauſe.


Kein lauter Beifall erſchallte diesmal, aber die allgemeine
[291] Bewegung, die mächtig durch die Reihen ging, zeugte für den
großen Eindruck, den die letzten Worte des Redners gemacht
hatten.


Er begann auf's Neue: „Und nachdem unſere Lage ſo
erbärmlich als möglich iſt, wagt man es noch, mit Lohn¬
herabſetzungen zu kommen. Ich ſpreche jetzt hier im Namen
der Knopfdreher.“ Er begann nun die Schattenſeiten des
Gewerbes zu enthüllen, bat, feſt zuſammen zu ſtehen, den
Zuzug fern zu halten und die Strikenden ſoviel als möglich
zu unterſtützen und ihnen zum Siege zu verhelfen. „Das
Kapital hat die Macht, uns verhungern zu laſſen,“ ſagte er
zum Schluß, „wir aber haben das Bewußtſein unſeres Menſchen¬
rechtes und fühlen die Kraft in uns, für dieſes Menſchen¬
recht zu kämpfen und zu leiden . . . Die Arbeiterpartei iſt
eine Partei des Friedens . . . wir wollen auf geſetzlichem
Wege unſer Loos zu verbeſſern ſuchen. So lange aber die
Regierung unſere Nothlage nicht erhört, müſſen wir verſuchen,
uns ſelbſt zu helfen. Wir betrachten daher die Strikes als
ein Mittel zum Zweck. Wenn man aber nicht nachläßt, uns
die Uebermacht des Kapitals fühlen zu laſſen, wenn man
immer aufs Neue verſucht mit allen Machtmitteln, die der
Bourgeoiſie zu Gebote ſtehen, unſere Lage zu verſchlechtern,
uns auf jede Art und Weiſe zu demüthigen, uns wie die
Schraube an der Maſchine zu betrachten, die werthlos iſt,
wenn ſie ſich abgenutzt hat, ich ſage, wenn das kein Ende
nehmen wird, dann ——“


Athemloſe Stille hatte während dieſes Satzes geherrſcht.
Aller Augen hingen am Munde des Redners. Der Polizei¬
lieutenant hatte ſich bei den letzten Worten erhoben und nach
dem Helm gegriffen. Der Vorſitzende zupfte den Redner am
19*[292] Rock, die ganze Zuhörerſchaft dehnte den Oberkörper und
reckte die Hälſe, weil ſie im nächſten Augenblick die Stimme
des Beamten zu vernehmen glaubte. Dem Sprecher war
dieſe Aufregung nicht entgangen, er beherrſchte ſich ſofort und
beendete mit einem Lächeln den Satz . . . „dann, meine
Herren, trinken wir unſer Bier aus und gehen ruhig nach
Hauſe.“


Ein ungeheures Gelächter, mit dem ſich ein Sturm des
Beifalls miſchte, folgte dieſen Worten. Selbſt der Polizei¬
lieutenant konnte ſich der Heiterkeit nicht entziehen; er lächelte
vor ſich hin, trotzdem er der Getäuſchte war. Und was Liebe
gott betraf, ſo machte er ein Geſicht, als kitzele man
fortwährend, ohne daß er es wagen dürfe, die feſt aufei [...]
gepreßten Lippen zu öffnen. Die Ruhe wurde erſt
hergeſtellt, nachdem minutenlang die Klingel des Vorſitz
erklungen war.


Die Diskuſſion wurde eröffnet. Einige Redner ma [...]
von ihrem Platze aus kurze Bemerkungen. Plötzlich ent [...]
unter der Menge an der Thür eine Bewegung und lau [...]
Gemurmel. Es hatte Jemand die Abſicht geäußert, ſprech [...]
zu wollen, ſchien aber dann wieder den Muth nicht zu haben.
Man redete auf ihn ein, bis Thomas Beyer ſichtbar wurde,
der zur Tribüne ſchritt und zum Vorſtandstiſch etwas hinauf
rief. Der Vorſitzende rührte die Klingel und ſagte mit ſeiner
nicht ſehr klaren Stimme:


„Herr Drechslermeiſter Timpe hat das Wort.“


Hunderte Köpfe wandten ſich der Thür zu, wo der auf¬
gerufene Redner noch immer den Blicken in einer Gruppe
verborgen blieb. Viele hatten nur den Namen verſtanden un [...]
richteten ihre Augen nach der Ecke, wo der Compagmon vo [...]
[293] Urban ſaß. Franzen's Antlitz hatte fahle Bläſſe überzogen.
Er glaubte zu träumen, wollte ſich erheben, um ſchleunigſt
den Saal zu verlaſſen, aber wie Blei lag es ihm in den
Füßen. Es wäre auch ſchwer geweſen, ohne aufzufallen, durch
die Menge zu ſchreiten. Die Furcht hatte ihn ſo entſetzlich
gepackt, daß er zitterte und den Verſuch machte, ſich hinter ſeinem
Geſellſchafter zu verbergen. Dann wieder war es die Neu¬
gierde, die ihn auf ſeinen Platz bannte — jene unerklärliche
Neugierde, die dem Menſchen angeſichts einer Gefahr über¬
kommt, der er nicht mehr zu entrinnen vermag.


Da Johannes ſich noch immer nicht ſehen ließ, ſo glaubte
[...] Vorſitzende, man habe ihn ſchlecht verſtanden. So wieder¬
[...] er denn laut und vernehmbar:


[...]„Herr Drechslermeiſter Timpe hat das Wort.“
[...]Jetzt hatte man ihn verſtanden. Wer kannte auch
Meiſter Timpe nicht! Wie Viele von ihnen hatten nicht von
[...]er Werkſtatt gehört, von der Gemüthlichkeit, die bei ihm
[...]rſche, von der Menſchenfreundlichkeit, mit der er ſeine
[...]eſellen zu behandeln pflege. Nur ein Bruchtheil der An¬
[...]eſenden ahnte, daß er der Vater des „ſtillen Sozius“ von
Urban ſei. Und die es wußten, hatten nur von ihm als von
einem wohlhabenden Manne gehört.


Jetzt ſchritt er an ihnen vorüber der Tribüne zu, mit
niedergeſchlagenen Augen, zögernd und unſicher, wie ein Mann,
der in ſeinem Leben zum erſten Male ſprechen ſoll und im
Geiſte tauſend Blicke auf ſich gerichtet ſieht. Nach zwei
Minuten hatte er mühſam das Podium erklettert. Er ver¬
beugte ſich vor dem Lieutenant, der ihn kannte und ſtellte ſich
dann Allen ſichtbar neben den Tiſch des Vorſtandes.


Mein Gott, wie ſah er aus! Wie er ſo daſtand, konnte
[294] er das tiefſte Mitleid einflößen. Hunderte, die mehr als
einmal bei ihm nach Arbeit vorgeſprochen hatten, kannten
ihn nicht wieder. Er war erſchrecklich gealtert. Das Geſicht
hatte tiefe Furchen bekommen, und die Wangen waren
ſchmal wie zwei Bretter. Der Nacken war tief gekrümmt,
und die vernachläſſigten Kleider hingen loſe wie
Fahnentücher an ſeinem Körper; dazu kam das lange
weiße Haar, das in Strähnen auf die Schultern fiel, der verwil¬
derte Kinnbart, der ihn noch älter machte, als er war. Er
bot das Bild eines durch Kummer und Sorge früh gebeugten
Menſchen. Nur in ſeinen Augen leuchtete ein unheimliches
Feuer, während die Wangen ſich leicht geröthet hatten. Die
Arbeiter flüſterten ſich allerlei Bemerkungen zu. Von Mund
zu Mund ging es, daß Timpe durch Urban ruinirt worden
ſei, daß er ſchon längſt den letzten Geſellen habe entlaſſen
müſſen und nun für das liebe tägliche Brot arbeite;
daß ſein Haus über und über verſchuldet ſei, und daß ein
unglückliches Verhältniß zwiſchen ihm und ſeinem Sohne
beſtehe.


Er hatte die rechte Hand auf den Tiſch geſtützt und be¬
gann nun zu ſprechen, erſt unſicher und zaghaft, dann zu¬
ſammenhängender und mit angeſtrengter Stimme. Er redete
eigentlich nicht, ſondern erzählte, wie Jemand, dem es nur
darauf ankommt, ſeinem Herzen Luft zu machen.


„Meine geehrten Herren“, begann er, „Sie ſehen in mir
einen ruinirten Drechslermeiſter . . . Mein Geſchäft hat Jahr¬
zehnte lang geblüht, acht Geſellen habe ich in meiner Werk¬
ſtatt gehabt, heute aber ſtehe ich allein, und muß mich um's
tägliche Brot quälen . .“


Ich bin achtundſechzig Jahre alt, habe fünfzig Jahre lang
[295] an der Drehbank geſtanden, werde mir alſo erlauben können,
ein Wörtchen über unſer Aller Loos mitzureden.“


Man ſah es ihm an, wie er nach den Worten rang, die
ſeinen Sätzen den Zuſammenhang geben ſollten. Es lag eine
gezwungene Ruhe in ihm, die nur des leiſeſten Anſtoßes be¬
durfte, um in Entfeſſelung überzugehen. Man ſah das an
den irrenden Augen, die keinen Ruhepunkt finden konnten, an
der Art und Weiſe, wie er fortwährend den Arm erhob und
mit der geſpreizten Hand geſtikulirte, während die andere von
der Tiſchplatte ſich löſte.


Er berichtete nun, wie er nach und nach durch Urban
und die Großinduſtrie zu Grunde gegangen ſei. Allmälig
wurde er lebhafter, die Augen bekamen einen erhöhten Glanz,
ſein Geſicht röthete ſich mehr und mehr, die ganze Geſtalt
ſchien zu wachſen.


„Meine Herren, die Maſchinen und die großen Fabriken,
die ſind an Allem Schuld . . . die Schwindelkonkurrenz und
die Maſſenproduktion haben das Handwerk ins Elend ge¬
ſtürzt . . . . Wer Geld hat, um es auszuhalten, der bleibt
oben, wer aber nur auf ſeine Kunſtfertigkeit vertraut, der
liegt eines Tages unten. Früher gehörten die Handwerker
zu den Stützen des Staates, heute bricht eine nach der
anderen zuſammen, ohne daß ein Hahn darnach krähte. Es
iſt nicht recht von der Monarchie, daß ſie das duldet. Jeder
hergelaufene Schwindler, der nur das Geld dazu beſitzt,
kann heut anfangen zu fabriziren, gelernt braucht er nichts
zu haben. Das hat nur der, den er durch ſeine ſaubere Kon¬
kurrenz dem Ruine nahe bringt . . .“


Laute Zuſtimmungen wurden ihm zu Theil, man ſah,
wie die Verſammelten ſich immer mehr für die Wahrheit
[296] ſeiner Worte erwärmten und durch die Schlichtheit ſiner
Rede gefeſſelt wurden.


„Ich bin ſeit dreißig Jahren ſelbſtſtändig,“ fuhr er fort
„habe mein Geſellen und Meiſterſtück in allen Ehren gemacht,
bin mein ganzes Leben lang ein fleißiger Mann geweſen und
bin durch einen hergelaufenen Hauſirer an den Bettelſtab ge¬
bracht worden. Urban heißt der Mann, damit Sie es wiſſen.“


Ein vielſtimmiges, langgedehntes „Ah“ wurde laut.


Er richtete ſeinen Blick nach links und erblickte ſeinen
Sohn, der ſich vergeblich zu verbergen verſuchte. Ein Zittern vom
Scheitel bis zur Zehe erfaßte ihn; dann durchlief ein Schauer
ſeinen Körper. Alles Blut drängte ſich nach dem Herzen, er
glaubte die Bretter unter ſeinen Füßen wankten und er mit
ihnen; aber er beherrſchte ſich mit der ganzen Kraft ſeines
Greiſenalters und blieb ſtehen. Dann wollte er ſchreien, mit
dem Finger nach jener Ecke deuten und der Anklage gegen
Urban die fürchterliche gegen ſeinen Sohn hinzufügen, aber die
Scham hielt ihn zurück.


Als der Kampf vorüber war, gab er ſich den Anſchein,
als hätte er Franz nicht erblickt und fuhr fort: „Dieſen
Herren, deren ganzes Wiſſen in ihrem Geldſacke liegt, iſt
nichts heilig, wenn ſie den Handwerker ruiniren können. Sie
rauben ihm nicht nur die Kunden, nehmen ihm nicht nur die
Exiſtenz, ſondern ſtehlen ihm obendrein die Modelle ... und
wenn es bei Nacht und Nebel ſein ſollte! Wie nennt man
aber ſolche Leute, die das thun? Diebe nennt man ſie!“


Sein Blick glitt jetzt bewußt nach links und blieb durch¬
dringend auf dem Antlitz ſeines Sohnes haften. Nun war
es, als ſpräche aus ihm ein anderer Menſch. Aus den an¬
fänglichen Erzähler wurde ein glühender Redner, der mit den
[297] Worten gleich ſchweren Felsblöcken um ſich warf. Seine
Zagheit war verſchwunden, er glich einem tief empörten
Menſchen, aus dem die Macht der moraliſchen Ueberzeugung
ſpricht. Der Zorn drang auf ihn ein, der heilige Zorn eines
gekränkten und erbitterten Mannes. Der Anblick ſeines
Sohnes hatte ſein Innerſtes aufgewühlt, wie durch den
Sturmwind das ſtille Meer in [Bewegung] geſetzt wird. Alle
Leiden der letzten Zeit, der Schmerz um die Verblichene,
die Sorge um ſeine Zukunft, der Kummer, den ihm Franz
verurſacht hatte, drangen chaotiſch auf ihn ein, und er durch¬
koſtete binnen wenigen Minuten das noch einmal, was er
während Jahren bereits durchlebt hatte. Es ziſchte und
kochte in ihm, wie in einem Keſſel, in dem der Dampf der
Entfeſſelung harrt. Es mußte heraus, was er dachte, wozu
er die Worte bereits auf den Lippen hatte. War er einmal zu
Grunde gerichtet, hatte er heute ſeine Wahlſtimme für die
Partei der geſellſchaftlichen Empörer gegeben, ſo konnte er
auch furchtlos ſeine Meinung ſagen. Er hatte nichts mehr
zu verlieren als ſein Leben.


Der Ton, den er jetzt anſchlug, ſetzte alle in Erſtaunen.
Es entſtand eine Bewegung, als wollte die ganze Ver¬
ſammlung ſich von den Sitzen erheben, um in helle Be¬
geiſterung auszubrechen. Das war eine Sprache, die man
lange nicht vernommen hatte. Die ganze Bourgeoiſie,
ſämmtliche Kapitaliſten der Welt hätten hier anweſend ſein
müſſen, um von dieſem alten Herrn da oben mit Worten zu¬
ſammengeſchoſſen zu werden. Hei, wie die mitgenommen
wurden! Das war ein friſches Wort, frei von der Leber!


Der Polizeilieutenant hatte den Meiſter Dinge ſagen
laſſen, die er keinem Anderen geſtattet haben würde; kannte
[298] er ihn doch als gutgeſinnten Patrioten, deſſen Sohn zu den
Fabrikbeſitzern gehörte. Schon als er Timpes merkwürdigen
Aufzug ſah, hielt er ihn für etwas ſchwach im Kopfe; ſchlie߬
lich begann er wirklich an ſeinem Verſtande zu zweifeln. Jetzt
erhob er ſich zum zweiten Male und gab dem Vorſitzenden
einen wohlmeinenden Wink. Dieſer ſtand ebenfalls auf, ſtieß
Johannes an und bat ihn abzubrechen. Timpe aber hörte nicht
darauf. Er machte eine Pauſe, um Athem zu ſchöpfen und
ſuchte dann nach Worten um ſeinem höchſten Grimm Luft zu
machen; aber er fand ſie nicht. Es ſchien, als hätte ihn
plötzlich die Sprache verlaſſen. Minuten lang ſchwieg er.
Die Zuhörer wurden unruhig. Da fiel ihm ein, was der Gro߬
vater ſo oft geſagt hatte. Die elementare Wuth eines Menſchen,
der Jahre lang ſchweigen mußte, packte ihn, und ſeiner Sinne
nicht mehr mächtig, ſchrie er in die Menge hinein:


„Die Schornſteine müſſen geſtürzt werden, denn ſie ver¬
peſten die Luft . . . Schleift die Fabriken . . .
zerbrecht die Maſchinen“ . . .


Er kam nicht weiter. Der Polizeilieutenant ſetzte den
Helm auf und erklärte die Verſammlung für aufgelöſt.


Zu gleicher Zeit erhoben tauſend Geſtalten ſich, tauſend
Arme ſchwenkten Hüte und Mützen und eine ungeheure Bei¬
fallsſalve durchbrauſte gleich einem entfeſſelten Sturm den
Saal. Hochrufe auf Timpe und die Sozialdemokratie er¬
ſchallten; dann ertönte aus hundert Kehlen der Geſang der
Arbeitermarſeillaiſe:


— — — — — — —

„Nicht fürchten wir den Feind,

Nicht die Gefahren all';

Kühn gehen wir die Bahn,

Die uns geführt Laſſalle.“
[299]

Mit jeder Strophe verdoppelten ſich die Sänger und
die Erde ſchien zu erzittern unter den Tritten der Maſſen,
die mit ſchwerem Taktſchritt dem Ausgange zuſtrömten, als
ginge es zum Kampfplatz.


An der geöffneten Thür ſtaute der dunkle Strom ſich.
Ein Trupp fremder Arbeiter war ſoeben im Flur angelangt
und brachte die Nachricht vom Wahlſiege. Ein donnerndes
Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Geſang
und ſetzte ſich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche
Schutzleute erſchienen wie aus der Erde gewachſen; Rufe zur
Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erſt all¬
mälig wie der verhallende Donner eines ſchweren Wetters
legte ſich die Aufregung der erhitzten Menge.


Timpe ſtand noch immer wie verſteinert auf dem Podium.
Der Vorſitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe;
er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige
Fragen an ihn; er beantwortete ſie mechaniſch. Die Leute
um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am
Tiſche. Gefühllos wie ein Nachtwandler ſtieg er die Stufen
hinab. Da ſah er ſeinen Sohn, wie er zögernd mit ſeinem
Begleiter ſtehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand
entlang der Thür zuſchritt. Den Meiſter packte ein
Schwindel. In ſeinem Hirn begann es zu kreiſen, die
Menſchen ſtanden auf den Köpfen, die Lichter führten einen
tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal ſich um
ihn herum. Er ſchloß die Augen . . .


Er hielt plötzlich ſeinen Sohn an der Kehle und zerrte
ihn nieder. Die Kräfte eines Rieſen ſchienen über ihn ge¬
kommen zu ſein. Immer feſter ſchloſſen die Hände ſich, immer
bleicher und willenloſer wurde ſein Opfer. „Gieb mir meinen
[300] Vater wieder, hol' mir Deine Mutter zurück, Nichtswürdiger!“
ſchrie er mit der Stimme eines Wahnſinnigen. Eine Blut¬
welle ſchoß an ſeinen Augen vorüber. Soll er ihn tödten
wie man ſeine Seele gemordet hat? Vielleicht wäre es beſſer!
Aber nein, nein! „Lebe, lebe und Du biſt genug beſtraft!“


Ein dumpfer Fall gab ihm die Beſinnung wieder. Als er
um ſich blickte, fand er, daß er im halbdunklen Saal auf einem
Stuhl ſaß. Er ſah weder ſeinen Sohn noch die Hunderte
die ihn umringt hatten. Alſo war alles nur ein toller Spuk
geweſen! Der Schweiß perlte auf ſeiner Stirn, dumpf und
ſchwer holte er Athem. Thomas Beyer ſtand vor ihm, hielt
ſein Haupt und reichte ihm ein Glas mit Waſſer.


„Kommen Sie, Meiſter, Sie ſind erregt. Es iſt heiß
hier drinnen, die Luft draußen wird Ihnen wohl thun“, ſagte
er nach einer Weile mit weicher Stimme und faßte ihn ſanft
am Arm. Und ſo ſchritt er mit ihm hinaus, brachte ihn
wohlbehalten in ſeine Wohnung, dann in's Bett hinein,
wartete ſo lange, bis er in einen tiefen Schlaf gefallen war,
holte ſich Decken und Betten aus dem Nebenzimmer und be¬
reitete ſich dann zu Timpes Füßen ſeine Lagerſtätte . . .


[[301]]

XX.
Unter Trümmern.

Drei Tage lang lag der Meiſter in einem hitzigen Fieber;
noch in der erſten Nacht nach der Verſammlung war es
zum Ausbruch gekommen. Er phantaſirte ſtark, führte
allerlei wirre Reden, in denen Handwerk, Fabriken
und Maſchinen eine große Rolle ſpielten. Dann wieder
war es ſein Sohn, mit dem er in dieſen böſen
Träumen zu thun hatte und den er laut beim Namen rief.
Marie Beyer ſpielte auch diesmal die Krankenwärterin; ihr
Bruder aber ſtellte ſich, ſobald er entbehrlich wurde, an die
Drehbank und fing an zu drechſeln, daß es eine Freude war,
ihm auf die Finger zu blicken. Er ſchien förmlich aufzuleben
bei der Beſchäftigung an dieſem Ort, dem er ſo lange hatte
fernbleiben müſſen. Mit einem gewiſſen Ausdruck der Zärtlich¬
keit betrachtete er die Drehbank, die er Jahrzehnte hindurch
getreten hatte. Und wenn er jetzt leiſe ſein altes Lied vor
ſich hin ſummte: „So leben wir, ſo leben wir, ſo leben wir
alle Tage“, ſo konnte man ihn für einen der glücklichſten
Menſchen der Erde halten.


[302]

„Na, der Meiſter wird ſich wundern, wenn er mich hier
wiederſieht“, ſagte er vor ſich hin und betrachtete mit großem
Behagen die Arbeit, die er bereits angefertigt hatte. „Der
und mich los werden, da hat ſich was!“ fuhr er fort. „Sind
wir jetzt nicht zwei Genoſſen, die zu einander ſtehen müſſen
in Freud und Leid? . . . Ich habe ihm immer geſagt, er
würde einmal anders denken, und nun thut er es wirklich.
Ob ich nicht immer Recht habe! . . . Das Geſicht,
das er zuerſt machte, als ich ihm unſeren Stimmzettel
in die Hand drückte . . . das wäre zum Malen geweſen! . . .
Na, und erſt die alten Philiſter da drinnen am Wahltiſch
hätte ich ſehen mögen, wie die beinahe vor Schreck vom
Stuhle gefallen ſind, als ſie Timpe die Hand ausſtrecken
ſahen. . . Als ob die nicht unſere Zettel ganz genau
kennen! . . . Auf zehn Schritte ſchon riechen ſie die ſozial¬
demokratiſche Lunte. . . Wenn ich noch an die Rede denke,
die er gehalten hat . . . wer hätte es dieſem alten Kunden
zugetraut. Wie ein junger Gott hat er geſprochen. . . .
wahrhaftig er muß in den Reichstag! Solche Leute können
wir gebrauchen. Nicht war, Spillrich?“


Er hatte ſich ſo ſehr in ſein Selbſtgeſpräch vertieft, daß
er dieſe Frage an die Drehbank vor ſich richtete, wo in
früheren Zeiten der kleine Sachſe ihm den Rücken zuzukehren
pflegte. Als er endlich aufblickte, merkte er erſt die Selbſt¬
täuſchung.


„Ach ſo, der iſt nicht mehr hier“, begann er wieder . . .
„und doch war es mir eben, als ſtände er vor mir und
drehte mir ſeinen breiten Buckel zu. Ich glaube gar, es
fängt hier an zu ſpuken . . . am hellen, lichten Tage ſogar . . .
Ach, wo ſind die ſchönen Tage von damals! Es wird auf
[303] die Dauer verteufelt langweilig, hier mutterſeelen allein zu
ſtehen und keinen Menſchen zu haben, mit dem man ſich
unterhalten kann . . . nicht einmal über den Wahlſieg . . .
Dieſer Eſel von Kruſemeyer! . . . will jetzt erſt darauf ge¬
kommen ſein, daß ich Sozialdemokrat bin, und verbietet mir
daher ſein Haus . . . Seine Tochter würde ich niemals zur
Frau bekommen, denn er ſei ein königstreuer Beamter, und
ich würde es nie ſo weit bringen . . . Bis zum Nachtwächter!
Es iſt zum Todtlachen! . . . Die Welt wird immer verrückter,
die Nachtwächter bilden ſich ſchon etwas auf ihre Stellung ein! O,
es klingt auch wunderſchön: mein Schwiegervater, der Nachtwächter
Anton Kruſemeyer! Der muß ſpäter mal ausgeſtopft werden und
in's zoologiſche Muſeum kommen. Redet zu mir von der Ehre
ſeiner Uniform, die das nicht vertragen könne . . . . ſchwört
auf ſeinen Säbel . . . . ich möchte wohl wiſſen, ob der
überhaupt aus der Scheide geht? . . . . Und ſeine Tochter
ſtößt plötzlich in das Horn ihres Vaters und tutet wie
ein Thurmbläſer. Ich hätte ſie jahrelang hingezogen und
nun hieße es, ich wäre gar kein Drechsler, ſondern Sozial¬
demokrat . . . . hat ſich was mit ſolch' einer weiblichen
Dummheit. . . . Ich war dem Mädel wirklich gut, wirklich! . .
Aber was ſchadet's! Todtſchießen werde ich mich deßhalb
nicht . . . einer zukünftigen Schwiegermutter wegen nicht ..
wahrhaftig nicht!“


Er hielt in ſeiner Arbeit inne, entfernte die Holzſpähne
aus ſeinem Geſicht, ſetzte die Drehbank wieder in Bewegung
und fuhr dann in ſeinem vorherigen Raiſonnement
über Timpe fort: „Uebrigens traue ich ihm doch
nicht ſo recht mit ſeiner neuen Geſinnung . . . er ſpricht
ſo ſonderbare Dinge im Bette . . . ruft laut nach
[304] dem Kaiſer, bittet Gott um Verzeihung . . . das iſt nicht
richtig . . .“ Er machte eine Pauſe. „Es iſt doch merk¬
würdig, wie ſchnell das Mißtrauen kommt . . . und wenn ich
mir ſo recht die Sache überlege, ſo iſt's mit der plötzlichen
Umwandlung des Meiſters ganz ſonderbar . . . Wenn es nur
nicht bloße Wuth war, etwas wie Oppoſitionsluſt, die ihn
in unſer Lager trieb . . . Hm, hm . . . neu wäre die Ge¬
ſchichte nicht. Es kommt oft vor, daß Jemand äußerlich
ſich ganz anders benimmt, als er in ſeinem Innern
denkt . . . Aber ſeine aufrühreriſche Rede . . . hm, hm, . . .
Das kann auch die Erbitterung des Augenblicks geweſen
ſein. Dumm wäre es wahrhaftig, wenn er ſich beſonnen
haben ſollte . . . aber traue der liebe Himmel ſolchen merk¬
würdigen Weißköpfen. Das klebt an ſeiner Scholle, ſchwärmt
für's Vaterland, glaubt, daß die Kirche den Menſchen
beſſere, und läßt noch kurz vor dem Hungertode neben der
Sozialdemokratie den Kaiſer leben . . Da fange einer mit
ſolchen närriſchen Leuten etwas an . . . Aber ich werde ihn
noch einmal kneten, wie weichen Thon . . . er wird d'ran
glauben müſſen . . . hm, hm ... aber dumm kommt mir
die Sache doch vor . . .“


Er wurde durch den Eintritt ſeiner Schweſter unter¬
brochen.


„Nun, wie geht's mit ihm, barmherzige Schweſter?“
fragte er, ſetzte den Stahl ab und ließ die Räder der Dreh¬
bank langſam ausſchnurren.


„O, ganz vorzüglich. Soeben iſt der Arzt weggegangen;
er meinte, daß nichts mehr zu befürchten ſei, ein paar Tage
noch und er könnte bereits aufſtehen . . . Aber da habe ich
Dir eine andere Neuigkeit mitzutheilen. Der dicke Liebegott
[305] war vorher hier und ließ Timpe im Namen ſeines Lieute¬
nants nach dem Polizeibureau bitten.“


„Was Du ſagſt!“


„Als er erfuhr, daß der Meiſter krank ſei, bedauerte er
Timpe und ſagte: der gute Alte, ich habe ihn immer gern
gehabt, aber er wird ſich ins Unglück ſtürzen . . . dann trat
er dicht an mich heran und fragte leiſe und geheimnißvoll,
ob es denn mit Timpe wirklich nicht ganz richtig ſei (er
deutete dabei mit dem Finger nach der Stirn) und ob man
ihn nicht vielleicht unterſuchen laſſen wolle? Es würde beſſer
für ihn ſein, wenn es ſich herausſtellte, daß er wirklich ohne Bewußt¬
ſein konfuſe Dinge rede. . . . . Das iſt doch merkwürdig,
höchſt merkwürdig, nicht wahr? . . . . Was er nur ver¬
brochen haben kann!“


Thomas blickte lange auf einen Punkt, ſchüttelte wieder¬
holt mit dem Kopfe und ſagte dann nichts weiter als:
„Das hat mit ſeiner Rede etwas zu thun . . . . gewiß, ſo
wird's ſein.“


Nach acht Tagen war der Meiſter ſoweit hergeſtellt
daß er ſich im Hauſe bewegen konnte. Sein Geſicht war von
durchſichtiger Bläſſe und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Den erſten Tag war er ungemein wortkarg; er antwortete
kaum, wenn Marie oder Thomas ihn nach ſeinem Befinden
fragten oder das Geſpräch derartig war, daß er unbedingt
etwas ſagen mußte. Je mehr er zu ſich kam und fühlte, wie
neue Kräfte ſeinen Körper belebten, je finſtrer ſchaute er
d'rein, je mehr verſuchte er dem Geſchwiſterpaare aus dem
Wege zu gehen. Er empfand das Bewußtſein großen Dankes
gegen Bruder und Schweſter; aber das alte Mißtrauen gegen
Beide begann auf's Neue ihn zu beherrſchen. Mit dem Ent¬
Kretzer, Meiſter Timpe. 20[306] ſchwinden des Fiebers war ein Anflung von Gallſucht bei ihm
eingezogen, der ihn bei dem kleinſten Anlaß zum Aerger in
eine unausſtehliche Stimmung verſetzte. Sein ganzes Sinnen
und Trachten ging nun auf's Neue dahin, den Altgeſellen und
ſeine Schweſter auf geſchickte Art los zu werden, um ſich der
früheren Einſamkeit erfreuen zu können.


Als er zum erſtenmale die Werkſtatt wieder betrat und Beyer
bei voller Thätigkeit ſah, glaubte er ſofort Anlaß zum Grollen
zu haben.


„Was machen Sie denn da?“ fragte er ganz erſtaunt.


„Sie ſehen es ja, Meiſter — ich drechsle“, bekam er zur
Antwort.


„Wer hat Ihnen denn die Erlaubniß dazu gegeben?“


„Ich mir ſelbſt.“


„So, ſo, das wird ja immer feierlicher! Ich nahm an,
nur Ihre Schweſter ſei hier und Sie beſuchten ſie hin und
wieder. Ich werde die Dienſte von Fräulein Marie ver¬
gelten; Sie aber habe ich hier nicht angeſtellt. Es thut mir
leid, daß Sie ſich ſo lange Zeit umſonſt gequält haben.“


Der Altgeſelle antwortete nicht gleich. Er pfiff wie ge¬
wöhnlich den Deſſauer Marſch vor ſich hin, arbeitete eine
Weile ruhig weiter und ſagte dann:


„Meiſter, Sie ſind noch nicht ganz geſund und obendrein
bei übler Laune; daher muß man Rückſicht nehmen. Ich
wollte Ihnen gerade ſagen, wie ich mich über Ihre Geneſung
freue, da theilen Sie mir auch ſchon die ſchönſten Grobheiten
aus! ... Wenn ich gearbeitet habe, ſo iſt es nur für Sie
geſchehen, nicht für mich. Ich habe mir nur ſoviel abgezogen
um mich ſatt zu eſſen. Hier iſt die letzte Abrechnung.“


[307]

Dieſe Uneigennützigkeit ſteigerte nur Timpe's gallſüchtige
Stimmung.


„Ihr ewiger Edelmuth! Sie wiſſen, daß ich mir ein¬
für allemal nichts ſchenken laſſe. Sie thun wirklich ſo, als
wenn Sie hier Herr im Hauſe wären . . . Ich muß Ihnen
aber ein- für allemal ſagen, daß ich in meiner Werkſtatt
keinen Sozialdemokraten dulde.“


Beyer brach in ein lautes Lachen aus, das ſo plötzlich
hervorquoll, daß Timpe ſeinen Gang durch die Werkſtatt ein¬
ſtellte und ihn groß anblickte.


„Das ſagen Sie mir, Meiſter, Sie, der ſelbſt jetzt
auf unſere Fahne ſchwört? Verzeihen Sie, wenn ich das
komiſch finde. Sie haben ſich verſprochen, Meiſter, ſo iſt's,
nicht wahr?“


Nun paſſirte etwas Merkwürdiges, was der Geſelle nicht
erwartet hatte. Timpe fing nun ſeinerſeits an zu lachen,
ſchlug ſeinen weiten Rock über den Bauch zuſammen, ging
mit ſehr luſtiger Miene, als amüſire er ſich ganz außer¬
ordentlich, einige Male in der Werkſtatt auf und ab,
ſetzte ſich dann, da er etwas erſchöpft war, auf einen
Schemel vor dem Altgeſellen nieder und begann folgender¬
maßen:


„Sie ſind doch bei Verſtande, Beyer, haben doch zwei
geſunde Ohren, he? . . . Ja? — dann hören Sie mich ge¬
fälligſt einmal an und erzählen Sie allen Leuten, was ich Ihnen
hier ſagen werde. Ich Ihrer Partei angehören? Mumpitz,
ſage ich, Mumpitz! Ich ein Sozialdemokrat? Nochmals
Mumpitz, verſtehen Sie? Nochmals Mumpitz! Und was
meine Wahl anbetrifft, ſo ſage ich zum dritten Male: Mumpitz,
verſtehen Sie? Zum dritten Male Mumpitz! Es iſt ganz
20*[308] richtig, daß Sie mir einen Stimmzettel für Ihren Kandi¬
daten in die Hand drückten, aber ich habe ihn nicht ab¬
gegeben. Verſtehen Sie? Wie wird Ihnen nun, he? . . .
Ich habe mich nämlich im Vorzimmer des Wahllokales noch
beſonnen und mir einen anderen Zettel geben laſſen. Der
Name eines guten Patrioten ſtand auf ihm — wie wird
Ihnen jetzt, he? . . . Und was meine Rede in der Ver¬
ſammlung anbetrifft, ſo . . . ſo kann auch mal einem Manne,
der gut monarchiſch geſinnt iſt, etwas Menſchliches paſſiren
. . . daß er zum Beiſpiel von der Wuth ſich hinreißen läßt
und ſo ein bischen Revolution predigt — das ſchadet manch¬
mal garnichts, denn das giebt Stoff zum Nachdenken. . . .
Aber um noch einmal darauf zurückzukommen: was Ihre
Sozialdemokratie anbetrifft, ſo pfeife ich darauf! Ich bin
keiner, ich will keiner ſein und ich dulde hier keinen. Punk¬
tum!“


Er hatte ſich von ſeiner Lebhaftigkeit ſo hinreißen laſſen,
daß er nach jedem Satze den Schemel verließ, ſich dicht vor
den Altgeſellen hinpflanzte und mit dem Zeigefinger auf
deſſen Bruſt tippte, als wollte er nach der Angewohnheit Herrn
Ferdinand Friedrich Urban's jedes Wort dem Zuhörer auf
den Körper nageln. Zuletzt hatte er ſich der Thür genähert
und verließ die Werkſtatt, ohne die Antwort Beyer's abzu¬
warten.


Dieſer hatte ihn mit halbgeöffnetem Munde angeſtarrt
und blickte ihm in derſelben Verfaſſung nach.


„Er lügt, oder iſt er verrückt geworden“, dachte er,
mußte ſich dann aber doch geſtehen, daß es mit der neuen
Geſinnung des Meiſters nicht weit her ſein könne. Dann
fühlte er abermals die Neigung, ein Selbſtgeſpräch zu be¬
[309] ginnen, in dem folgende Stellen laut wurden: „. . . Das
wäre eine Blamage für mich, wenn er einen Anderen gewählt
haben ſollte . . . Ja, ja — es ſtanden im Lokale noch Leute
mit Stimmzetteln . . . Hm, hm . . . ich traue es ihm ſchon
zu. Dieſe alten Leute ſind unberechenbar; ſie gleichen einem
alten Rocke: man kann ihn wenden, wie man will, neu wird
er doch nicht . . . Und was ſeine Rede anbetrifft, ſo glaube
ich's ſchon: es war der ganze Groll, der ſich bei ihm
angeſammelt hatte und der zum Vorſchein kam. Er
wollte einmal zeigen, wohin das führen könne, wenn
alle verarmten Handwerker ſo dächten wie er . . .
Aber nein, er hat doch gelogen! So ſpricht man nur
aus Ueberzeugung, wie er geredet hat . . . Aber es iſt
Furcht, Feigheit . . . das dumme Gewiſſen, das er ſich macht
. . . Ja, wenn er mich wirklich getäuſcht, was thue ich denn
hier noch? . . . Mag er in ſein Unglück laufen. Es giebt
Leute, denen nicht zu helfen iſt.“


Und der Altgeſelle nahm das Stück Holz, das er ſo¬
eben ergriffen hatte, um es in die Drehbank zu ſpannen,
und ſchleuderte es weit von ſich. Dann band er die Schürze
ab und griff nach Stock und Hut. Als er ſein Arbeitszeug
zuſammengebunden hatte und fertig zum Gehen war, klopfte
er leiſe an die Thür der Stube, in der ſeine Schweſter ſich
aufhielt.


„Es iſt jetzt Alles aus zwiſchen mir und ihm“, rief er
ihr zu. „Keine Macht der Erde wird mich mehr zu ihm
zurückbringen. Sieh zu, daß Du Dich mit ihm auseinander¬
ſetzen kannſt, und dann gehe ebenfalls. Ich will ihn nicht
mehr ſprechen, aber ſage ihm, daß er mir großes Weh be¬
reitet hat und daß ich ihn in Gedanken immer lieb behalten
[310] werde. . . . Adieu, du gutes Mädchen, laß nicht lange auf
Dich warten.“


Er hatte mit bewegter Stimme geſprochen und küßte nun
ſeine Schweſter auf die Stirn. Marie war außerordentlich
überraſcht durch dieſe Mittheilung; ſie wollte ihn zurück¬
halten, aber er ließ es nicht zu. Und ſo ging er denn von
dannen.


Marie ſagte ſich, daß etwas Beſonderes vorgefallen ſein
müſſe; ihr Bruder wäre ſonſt nicht ſo merkwürdig gefaßt
geweſen. Sie ärgerte ſich darüber, daß dieſer alte Herr,
um den man ſich wie um einen Vater bekümmert hatte, ſo
wenig Anerkennung aller Bemühungen übrig hatte. Zu dem
Aerger kam die verletzte Eitelkeit des Weibes. War ſie
überdies nicht die Schweſter eines ſo braven Bruders, der ſich
für ein wahres Trinkgeld von früh bis ſpät gequält hatte, nur
um dem Meiſter ſeine Dankbarkeit zu erweiſen? Wer hätte
ſich wohl um ihn bekümmert, wenn ſie beide nicht geweſen wären?
Tauſend Andere nicht, am allerwenigſten ſeine „ver¬
wandtſchaftliche Sippſchaft“, die doch ihrer Meinung nach
„genug in die Suppe zu brocken“ hatte. Wie Thomas die
Lippen zitterten, als er von dem letzten Gruß an den Meiſter
ſprach. Er war doch ein eigenthümlicher Menſch: ließ ſich
ſchlecht behandeln, und konnte doch mit ſeiner Verehrung für Timpe
nicht zurückhalten. Marie liebte ihren Bruder zärtlich und
abgöttiſch, faſt wie einen zweiten Vater. Hatte er doch wie
ein ſolcher ſein ganzes Leben lang für ſie geſorgt, ſie wie eine
arme, verlaſſene Blume gehegt und gepflegt, die abſeits vom
Wege in einem dunklen Winkel ſieht, zu dem ſelten ein
Strahl der Sonne ſich verirrt. Um ſo erklärlicher wird man
es finden, wenn etwas wie Zorn in ihr aufſtieg und ſie das
[311] lebhafte Beſtreben zeigte, es ſobald wie möglich ihrem Bruder
nachzuthun.


Sie ſaß am Fenſter mit einer Handarbeit beſchäftigt,
that noch einige Stiche und erhob ſich. Gleich darauf ſtand
ſie vor Timpe.


„Alſo er iſt fort, wirklich fort?“ fragte er vergnügt
lächelnd, als ſie ihm ihres Bruders letzte Worte übermittelt
hatte. „Iſt es auch wahr, und kommt er nicht wieder?“


Sofort war auch der Zweifel bei ihm aufgetaucht. Erſt
als ihm nochmals die Beſtätigung von des Altgeſellen Abzug
wurde, legte ſich ſein Mißtrauen; aber es entſchwand erſt
völlig, nachdem er einen Blick in die Werkſtatt und auf den
Riegel gethan hatte, an dem gewöhnlich Beyer's Sachen
hingen.


„Sie erlauben nun wohl, Herr Timpe, daß ich denſelben
Weg nehme,“ ſagte Marie. Sie wollte ihn nicht verletzen
und ſetzte daher folgende Worte hinzu: „Ich würde gern
noch bleiben, aber unſere Häuslichkeit geht zu Grunde . . .
Sie ſind ſo gut wie hergeſtellt, bald wird alles in's alte
Geleiſe kommen; ich wünſche es von Herzen.“


Da er immer noch ſchwieg und nur vor ſich hinnickte, ſo
reizte ſie dieſe Gleichgültigkeit. O, er ſollte nicht denken, daß
er ein frommes Lamm vor ſich habe. „Es iſt auch beſſer,
wenn ich ebenfalls gehe, Herr Timpe,“ fuhr ſie fort. „Geſtern
erſt haben Sie mir den Vorwurf gemacht, ich hätte Ihnen
die Suppe verſalzen; es ſollte das bereits das zweite Mal
geweſen ſein, trotzdem ich mit gutem Gewiſſen das gerade
Gegentheil beeiden kann . . . Ich befürchte, daß ich mich
auch zum dritten Male dieſem Verdachte ausſetzen könnte und
das wäre zu viel auf einmal . . .“

[312]

Jetzt erſt blickte er ſie lange an, lächelte, ſtand auf und
ſtreckte ihr ſeine Hand entgegen. „Liebes Kind,“ erwiderte
er, Sie ſind zu gut geartet, um ſich durch ſo einen alten
Unglücksraben, wie ich es bin, das Leben vergällen zu laſſen.
Ich bin mit mir ſelbſt nicht zufrieden, geſchweige alſo, daß
Andere es mit mir ſein können. Ich freue mich, daß
Sie mir den Schmerz erſparen, Sie gehen zu heißen.
Es giebt Menſchen, denen die Einſamkeit das tägliche
Brod iſt. Leben Sie mir recht, recht wohl ... Ich
danke Ihnen herzlich für alle Ihre Bemühungen, die Ihnen
Niemand mehr vergelten wird als die da oben (er deutete
mit dem Finger nach der Decke, während Marien die Augen
feucht wurden) ... Sie werden dereinſt noch von mir hören;
Gott ſchütze Sie, mein Kind ...“


Von ſeiner ſonſtigen Gallſucht war nichts an ihm zu
entdecken. Er ging an ſeinen Arbeitstiſch, wo er das Geld
von der letzten Abrechnung aufbewahrte und wollte Marien
einige harte Thaler in die Hand drücken. Er wiſſe wohl,
daß ihre Hülfe unbezahlbar ſei, aber ohne ein kleines Ge¬
ſchenk dürfe ſie ihn nicht verlaſſen, meinte er. Einen Augen¬
blick ſchwankte ſie, das blanke Geld lockte zu verführeriſch;
dann aber dachte ſie daran, was wohl Thomas dazu ſagen
würde und wies die ausgeſtreckte Hand zurück. Er drang
nicht weiter in ſie, denn er wußte, daß es nutzlos ſein
würde.


Als ſie bereits die Thür hinter ſich hatte, klopfte ſie noch
einmal und ſteckte den Kopf herein: „Da habe ich ja ganz
vergeſſen. Herr Timpe — es war vor acht Tagen ein Schutz¬
mann hier; Sie möchten einmal nach dem Polizei-Bureau
kommen ... Sie hatten noch ſehr viel Fieber, ich ſagte es
[313] ihm, und da der Arzt gerade hier war, ſo beſtätigte er
das. Adieu!“


Der Meiſter hatte ſie groß angeſtarrt und blickte in der¬
ſelben Verfaſſung auf die Thür, hinter der ſie verſchwunden
war. Er hörte deutlich, wie ſie durch das Vorderzimmer
ſchritt, wie die Außenthür und das Hausthor klappten; hörte
auch ihre knirſchenden Schritte über die Steinſtufen gleiten.
Aber immer noch ſtand er auf demſelben Fleck und
rührte ſich nicht. Schutzmann ... Polizei-Bureau ... Die
Worte klangen in ſeinen Ohren wieder, ſie flimmerten ihm
ſchließlich vor den Augen, denn wohin er blickte, leuchteten ſie
ihm entgegen. Weshalb ließ man ihm nicht ſagen, was
man wünſche, was wollte man von ihm? O, er ahnte
die Dinge .... man hielt ihn für einen Sozialdemo¬
kraten ... er hatte in blinder Wuth Gewaltthätigkeit ge¬
predigt ... man wollte ihn nun zur Rechenſchaft ziehen.
Seine Einbildungskraft erlangte im Fluge eine Ausdehnung
ohne Grenzen. Er ſah ſich bereits verhaftet, auf die Anklage¬
bank geführt und in's Gefängniß geworfen. Merkwürdig war,
wie ſchnell dann der Trotz die entſetzliche Furcht wieder ver¬
drängte, die ihm binnen wenigen Minuten die Knie ſchlottern
gemacht hatte.


„Sie kriegen mich nicht, ſie kriegen mich nicht,“ ſagte
er ein über das andere Mal ... „Bis zum letzten Bluts¬
tropfen werde ich mich vertheidigen ... He, he ... das
wird nett werden!“ Er war von einem Zimmer ins andere
gegangen, befand ſich nun in der Werkſtatt und lachte laut
auf. Dann blickte er durch das Fenſter nach dem Gärtchen
hinaus. Wie öde und troſtlos lag es vor ihm! Es war An¬
fang Dezember, leichter Froſt lag in der Luft und eine
[314] dünne Schneedecke verhüllte den Erdboden. Der Niedergang
ſeines Geſchäfts hatte ihm ſelbſt die Freude an ſeinen Beeten
und Blumen verdorben. Ueberall im Gärtchen konnte man
ſeine liebevolle Hand vermiſſen. Das Holzgitter des wilden
Weines an der Mauer zeigte beſchädigte Stellen, die
Sträucher waren niedergetreten und verwildert, Blumentöpfe
lagen umher und die kleine Laube, in welcher der Schmutz ſich
angehäuft hatte, gewährte einen traurigen Anblick. Wie oft
hatten ſie dort geſeſſen, der Großvater, Karoline, er und ſein
Sohn — an den herrlichen Sommerabenden, wenn die
Lindenblüthen zur Erde fielen und der Duft der Roſen die
Luft durchwürzte. Je länger er nach der Ecke blickte, je leb¬
hafter wurde ſeine Phantaſie. Leuchtete da nicht die
Haube ſeiner Frau, tauchte dort nicht das fahle Geſicht
Gottfried Timpe's auf, wie es ſich jetzt empor hob,
um die ſtumpfen Augen zu zeigen? Und jetzt ſah er
ſie mitten durch den Garten ſchreiten, die ſchlanke, bieg¬
ſame Geſtalt ſeines Einzigen! Plötzlich ertönte gellend
die Fabrikpfeife, denn es war zwölf Uhr. Eine weiße
Dampfwolke wirbelte auf, ſchlug in den Garten und huſch,
huſch! war der ganze Spuk vorüber. Dafür gewann die
Wirklichkeit wieder die Oberhand. Timpe ballte jetzt die
Fauſt und verzerrte das Geſicht, als ſtände ſein Todfeind
ihm gegenüber. „Und doch iſt es wahr,“ ſchrie er laut, daß
ſeine Stimme unheimlich im weiten Raume wiederhallte,
„die Schornſteine müſſen geſtürzt werden, denn ſie verpeſten
die Luft! Ich wollte, man würde mit dem da drüben zuerſt
den Anfang machen!“


Dieſer Ausbruch einer erneuten Wuth brachte ihn wieder
auf andere Gedanken. Waren das doch dieſelben Worte, die
[315] er in der Verſammlung gebraucht hatte. Er dachte nun
darüber nach, was alles er an jenem Abend geſagt haben
könne; nur dunkel erinnerte er ſich der letzten Vorgänge.
Seine Krankheit, die wilden Phantaſtereien während derſelben
hatten ſeine Gedanken derartig verwirrt, daß er ſich keine
richtige Vorſtellung von den Begebenheiten zu machen ver¬
mochte. Nur das eine Gefühl hatte er: daß es ihm, als er
noch auf dem Podium ſtand, plötzlich geweſen ſei, als
ſtürze er in einen dunklen, entſetzlich tiefen Krater hinab, in
dem die ganzen Schreckniſſe einer unbekannten Welt auf ihn
eindrangen; und als hätte er in dieſer Tiefe einen ſchreck
lichen Traum gehabt, in welchem er mit ſeinem Sohne auf
Tod und Leben rang. Er lag noch völlig in dem Banne
dieſer unklaren Vorſtellung, als der Schall der Hausthür¬
klingel ihn zuſammenſchrecken ließ.


Der Polizeilieutenant ſchickte abermals einen Boten, mit
der Anfrage, ob „Herr Timpe“ bereits geſund ſei? Er möchte
in dieſem Falle zu einer beſtimmten Stunde ſich nach dem
Bureau bemühen. An Stelle Liebegott's war ein anderer
Schutzmann gekommen. Der Meiſter wollte ihn aushorchen.
Der Sicherheitsmann aber zuckte die Achſeln und bedauerte,
keine Auskunft geben zu können.


Am anderen Morgen gleich nach 8 Uhr machte Timpe
dem Lieutenant ſeine Aufwartung. Es war derſelbe, der die
Strikeverſammlung überwacht hatte. Der Beamte war ſehr
höflich, bot ihm einen Stuhl und begann das Verhör, während
deſſen ſein Blick mehrmals über die Geſtalt Timpe's,
von oben bis unten, glitt, Johannes hatte ſeine genauen
Perſonalien anzugeben: was er treibe, in was für Be¬
ziehungen er zu den Strikenden ſtehe, wie er in jene Ver¬
[316] ſammlung gekommen ſei? Schließlich wurde ihm nichts
mehr verheimlicht: er würde in eine Anklage verwickelt
werden, denn er habe geradezu Aufruhr gepredigt, voraus¬
geſetzt, daß ſeine Zurechnungsfähigkeit an jenem Abende be¬
wieſen werden könne.


„Herr Lieutenant, ich habe mich hinreißen laſſen ....
der Kummer, die Sorgen“, ſagte er zum Schluß und damit
waren Verhör und Protokoll beendet. Der Beamte ſprach
etwas von „Bedauern“, von „ſeiner Pflicht“, war bei der
Verabſchiedung eben ſo höflich wie zuvor, und Timpe konnte
gehen.


Wie er nach Hauſe kam, wußte er eigentlich nicht; als
er aber angelangt war, ließ er ſich wie vernichtet auf einen
Stuhl nieder und verſank in ein dumpfes Brüten.


Seit dieſem Tage bot das Haus wieder ſein früheres
unheimliches Ausſehen dar. Die Laden waren geſchloſſen
und ſelbſt der eine Flügel an Timpe's Schlafzimmer war
heraufgezogen. Die Leute an den Fenſtern der gegenüber¬
liegenden Häuſer, die bereits geglaubt hatten, in Timpe's
Lebensweiſe ſei eine erfreuliche Beſſerung eingetreten, hatten
ihren alten Geſprächsſtoff bekommen, und die ganze Nachbar¬
ſchaft nahm auf's Neue die Mär von der Verrücktheit des
Meiſters auf.


Noch vor Weihnachten wurde Timpe vor den Unter¬
ſuchungsrichter geladen. Der Polizeilieutenant hatte über
ſeinen perſönlichen Charakter nur das Beſte berichten können.
Als man aber auch hier Anſpielungen auf ſeine Un¬
zurechnungsfähigkeit machte, bäumte ſich ſein Stolz empor.
Er geſtand unumwunden ein, mit vollem Bewußtſein und aus
Ueberzeugung geſprochen zu haben. Als er von dieſem
[317] ſchwerſten Gang ſeines Lebens nach Hauſe kam, bemächtigte
ſich ſeiner ein fürchterlicher Entſchluß, der ihn wie ſein Schatten
begleitete. Dieſer Entſchluß wurde noch beſtärkt durch die
unglückliche Hypothekengeſchichte. Mit Grauen dachte er an
den Tag, wo man ihn aus ſeinem Eigenthum verweiſen
würde. Seine Gleichgültigkeit gegen das Leben, der Stumpf¬
ſinn, der ihn ſtundenlang thatenlos auf einem Fleck daſitzen
ließ, waren bereits ſo groß, daß er nicht mehr daran dachte,
einen Schritt aus dem Hauſe zu thun, um eine letzte Rettung
zu verſuchen.


Eine ganze Woche lang betrat er jetzt die Straße nicht.
Hin und wieder ſtellte er ſich an die Drehbank und arbeitete,
weil er glaubte, die gänzliche Thatenloſigkeit könnte ſeinen
Verſtand umnachten. Als Nölte ihn einmal beſuchen wollte
und drei Tage hintereinander vergeblich die Klingel gezogen
hatte, glaubte man allgemein, daß dem Meiſter ein Unglück
zugeſtoßen ſei. Man beruhigte ſich erſt, als ſein Kopf ſich
am Giebelfenſter zeigte. Er verbitte ſich ein- für allemal
jede Störung, rief er laut hinaus. In ſeinem Grolle ging
er ſo weit, mit der Polizei zu drohen. Er kenne dieſelbe
ganz genau und wiſſe, daß ſie mit „manchem Menſchen“
wenig Umſtände mache. Dann fiel das Fenſter klirrend zu.


Jetzt zweifelte ſogar der Klempner an ſeinem Verſtande.
Es verging faſt nun kein Tag, wo nicht Gruppen von Menſchen
ſich vor dem Hauſe bildeten und daſſelbe wie ein Wunder
der Welt betrachteten.


Sämmtliche Stammgäſte bei Jamrath wußten bereits
von der Unterſuchung, in welche der Meiſter Timpe verwickelt
war. Man wollte jetzt längſt beobachtet haben, daß Timpe
Anlage zur allgemeinen Gefährlichkeit beſitze, und Jeder ver¬
[318] wahrte ſich „entſchieden“ dagegen, mit dem „blutigen Re¬
volutionär“ näher befreundet geweſen zu ſein. Und da Anton
Nölte nicht mehr zugegen war, um für Timpe Partei zu
nehmen, ſo wurde der Letztere jeden Abend ein Dutzend Mal
gekreuzigt — eine menſchenfreundliche Beſchäftigung, bei der
Jamrath mit [Vergnügen] konſtatiren konnte, daß der Konſum
der großen Weißen ſich vermehrte. Selbſt der lange Brümmer
trank mehr als ſonſt und drückte bis halb elf ſeinen Stuhl
— eine Hintenanſetzung ſeiner Lebensregel, die man in An¬
betracht deſſen, daß er eine zankſüchtige Ehehälfte beſaß, all¬
gemein bewunderte.


Zwei Tage vor Weihnachten machte Franzen's Frau
noch einmal den Verſuch, mit Johannes ein vernünftiges
Wort zu reden; da ihr aber garnicht geöffnet wurde, mußte
ſie unverrichteter Sache wieder abziehen. Bis Neujahr hockte
der Meiſter in ſeinem Bau, ohne von der Außenwelt mehr
zu ſehen als ſein Gärtchen, die Wand des Keſſelhauſes und
den Schornſtein, der ſich auf ihr thürmte.


Es war unverkennbare Schwermuth, die ſich jetzt ſeiner
bemächtigte und ſeinem Antlitz eine verklärende Milde gab.
Sie verließ ihn nur, wenn er dem Schnapſe zu ſehr zu¬
geſprochen hatte. Er trank ihn jetzt, um nicht gänzlich zu
erſchlaffen und die letzten Kräfte zur Arbeit nicht zu ver¬
lieren. Dann röthete ſich ſein Geſicht, ein unnatürlicher Lebens¬
muth kam über ihn und er ſprach laut vor ſich hin, um das
dumpfe Schweigen der Werkſtatt zu brechen. Oftmals wurde
er von dieſer traurigen Exiſtenz angeekelt, daß er nahe
daran war, ſich ſelbſt zu verachten. Tage vergingen, ehe er
eine warme Speiſe zu ſich nahm. Seine Mahlzeiten beſtanden
nur noch aus Kaffee, Brod und etwas Räucherwaare. Hin
[319] und wieder fühlte er das Bedürfniß, ſpät Abends ſein Haus
zu verlaſſen und in einem entlegenen Stadttheil ein unter¬
geordnetes Lokal aufzuſuchen, wo man ihn nicht kannte. Er
wollte wenigſtens wiſſen, ob er noch lebe, ob er noch ein
menſchliches Antlitz trage und die Sprache Anderer verſtehe.
Dann war es auch der Hunger, der ihn hinaustrieb, der Ge¬
danke an ein behagliches Zimmer voller Lärm und Fröhlichkeit.


Mitte Januar bereits fand die Subhaſtation ſeines
Grundſtücks ſtatt. Der Hypothekeninhaber erwarb es meiſt¬
bietend und Timpe ſollte ſein Haus verlaſſen. Um dieſelbe
Zeit war es, daß er durch eine Anklage wegen Aufreizung
zum Klaſſenhaß überraſcht wurde. Er beachtete weder das
Eine noch das Andere, aber er ſah nun jedem neuen Tag
entgegen, wie ein Menſch, der einen plötzlichen wohlthuenden
Tod erwartet. Als er aller Aufforderung ungeachtet immer
noch nicht Miene zeigte, dem neuen Beſitzer ſeine Rechte ab¬
zutreten, wurde ihm Ende des Monats mit Gewaltmaßregeln
gedroht, ſo daß er ſich genöthigt ſah, um Nachſicht zu bitten.
Er werde in einigen Tagen das Haus verlaſſen.


Es war am ſpäten Sonntagnachmittag, als Johannes
die Luft im Zimmer nicht mehr ertragen konnte. Bei be¬
ginnender Dunkelheit ſchlich er zum Hauſe hinaus und irrte
ziellos durch die Straßen. Ein Druck unendlicher Einſamkeit
laſtete auf ihm, den er von ſich wälzen mußte, wollte er
nicht erſticken. Er kam ſich wie ein Delinquent vor, deſſen
letztes Stündlein geſchlagen hat und dem noch einmal ver¬
gönnt worden iſt an den lachenden Geſichtern einer geputzten
Sonntagsmenge, an den erleuchteten Schaufenſtern, an all'
dem rauſchenden Glanze Berlins ſich erfreuen. Und ertönte
nicht auch ſoeben das Armenſünderglöcklein? Seine Phan¬
[320] taſie hatte ihn getäuſcht. Es waren die hellen Glockentöne
der Andreaskirche, die zum Gottesdienſte riefen. Vor dem
erleuchteten Portal bannte er ſeine Schritte.


Eine längſt vermißte Sehnſucht packte ihn, der Drang
eines Menſchen, der, am Scheidewege des Lebens ſtehend, zur
letzten Wanderung neue Stärke ſucht. Er trat ein. Die
Orgel erbrauſte. Er ging den Seitengang entlang, ſtieg zur
Gallerie hinauf und ſetzte ſich an derſelben Stelle nieder, von
wo aus er einſt mit ſeinem Weibe der Trauung des Einzigen
zugeblickt hatte. Die letzten Orgelklänge waren verrauſcht,
nur dumpf hallte der Lärm des genießenden Berlins herein,
als der Prediger die Kanzel betrat. Es war ein noch junger
Mann mit kräftigem wohllautendem Organ. Er ſprach über
den 25. Vers des Evangelii Johannis: Ich bin die Aufer¬
ſtehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben,
wenn gleich er auch ſtürbe, und wer da lebt und glaubt an
mich, der wird nimmermehr ſterben.


Mächtig hallten ſeine Worte in dem hohen Raume wieder,
und mächtig packte er die Zuhörer. Des Meiſters Haupt ſank
tiefer und tiefer und die Hände ſchlangen ſich krampfhaft in ein¬
ander. Er weinte ſtill und heiß. Es war gerade, als ſchütte er
in dieſer Stunde den ganzen Becher des Leidens aus, um
die ewige Glückſeligkeit in ihn aufzunehmen. Als die Predigt
zu Ende war, erhob er ſich wie verjüngt und verließ das
Gotteshaus. Er durchſchritt die Straßen, entfernt ſich immer
mehr von dieſem Viertel, ſuchte die entfernteſten Stadttheile
auf und kehrte erſt ſpät in der Nacht nach Hauſe zurück. Er
konnte ſich nicht entſinnen, ſeit Jahren ſo ſanft entſchlummert
zu ſein, wie an dieſem Tage.


Gleich in der Frühe ſuchte er einen Notar auf und
[321] ließ ein Teſtament aufſetzen, in dem er ſeine ganzen Hab¬
ſeligkeiten Thomas Beyer und deſſen Schweſter vermachte.
Als dieſe Angelegenheit erledigt war, beſuchte er den
Kirchhof, wo ſeine Lieben den ewigen Schlaf ſchliefen.
Lange verweilte er an den Gräbern, und die Dämmerung brach
bereits über Berlin herein, als er aufbrach. Es war die
letzte Nacht, die er in ſeinem Heim zubringen durfte. Am
anderen Tage würde der Gerichtsvollzieher kommen, Wagen
würden vorfahren, fremde Leute in die liebgewordenen Räume
dringen und rohe Fäuſte die Heiligthümer entweihen. Kein
böſer Gedanke trübte ſeine Seele, aber er hatte ſich vor¬
genommen, nur der Gewalt zu weichen. Und wenn man ihn
in tauſend Stücke riſſe, er wollte nicht gutwillig dieſe Scholle
verlaſſen, an der das Herzblut ſeines Lebens klebte. Ueber¬
dies, ſollte er nicht in zwei Tagen auf die Anklagebank kom¬
men, um gebrandmarkt für ewige Zeiten zu werden?


Mitten in der Nacht begann er plötzlich eine unheimliche
Thätigkeit zu entfalten. Er verrammelte ſämmtliche Thüren,
ſchleppte mit übermenſchlichen Kräften ſchwere Gegenſtände
an die Fenſter und auf den Flur. Dann befeſtigte er auch
die Laden zur Werkſtatt, die ſeit undenklichen Zeiten nicht
geſchloſſen wurden; und als die Kraft ihn zu verlaſſen drohte,
griff er zum Schnaps und verſuchte ſich Muth für die letzte
That ſeines Lebens zu geben. Als er alles genügend ver¬
barrikadirt glaubte, ging er durch die noch offene Hofthür
zum Gärtchen hinaus und ſchritt von hier aus mit der
Lampe in der Hand in den Keller hinunter. Er hatte vor
Jahren dem Gewölbe ein wohnliches Ausſehen gegeben, als
er auf die Idee gekommen war, es zur Schlafſtube für die
Lehrlinge zu verwenden. Es war ein weißgetünchter Raum,
Kretzer, Meiſter Timpe. 21[322] der ſein Licht durch ein einziges großes Fenſter vom Garten
her erhielt. Mit Anſtrengung ſchleppte er Betten, Tiſch und
Stühle und die halbe Einrichtung einer Küche herunter. Er
beachtete die Kälte der Nacht nicht, nahm keine Rückſicht auf
das Wahnwitzige ſeines Thuns, nur der eine Gedanke
beſeelte ihn, ſein Werk zu vollbringen, ehe der Tag zu grauen
anfing.


Es war nahe an ſechs Uhr, als er innehielt. Noch einen
Blick wollte er auf die Straße werfen, bevor er ſich in ſein
freiwilliges Gefängniß vergrub. Er ſtieg zur Giebelſtube hinauf
und öffnete das Fenſter. Eiſige Luft ſchlug ihm entgegen und
kühlte ſein erhitztes Geſicht. An dieſem Februarmorgen bedeckte
leichter Nebelflor die Erde und tauchte das Licht der Laternen
in große Wolken von Dunſt. Die Straße hatte ſich bereits belebt.
In langen Zügen ſchritten die Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik
zu, eilig und ſchweigſam wie finſtere Geſtalten der Nacht.


Während der Meiſter hinunterblickte, wurde er ruhiger.
Was erreichte er eigentlich durch ſeinen Widerſtand? Wäre
es nicht beſſer, mit der Vergangenheit zu brechen und den
Lebenskampf von Neuem aufzunehmen? Ein Ausweg blieb
ihm: unterzugehen in dieſer ſchwarzen Menge, die ſchon
ſo viele Handwerksmeiſter vor ihm verſchlungen hatte. Plötzlich
zog er den Kopf zurück. Im Lichte der Laterne ſah er
Meiſter Hüttig daherſchreiten, dürr und durchſichtig wie ein
Geſpenſt. O, er konnte ſich noch ganz gut der Zeit entſinnen,
da dieſer brave Mann hinter dem Schaufenſter ſeines Ver¬
kaufsgewölbes emſig die Kunden bediente. Vom Laden aus
konnte man direkt in die Werkſtatt blicken, wo Drehbank neben
Drehbank ſtand. Und jetzt .... ein Proletarier, der im
Schweiße ſeines Angeſichts für Weib und Kinder ſorgte!


[323]

Johannes durchſchauerte es. Wenn er daſſelbe thäte?
Aber nein, nein, er würde es nicht erleben! Noch einen
langen Blick warf er die Straße entlang, dann ſchloß er das
Fenſter . . . .


„Heda, Meiſter, machen Sie doch auf. Wo ſtecken Sie
denn?“


Es war Thomas Beyer, der dieſe Worte laut im
Flur erſchallen ließ. Er war im Begriff, Timpe's Haus
zu paſſiren, als er große Wagen vor der Thür halten
ſah und eine Anzahl Arbeiter bemerkte, die geführt von
einem Herrn, vergeblich Einlaß begehrten. Die ganze Straße
war ſchwarz von Menſchen. Trotz der unangenehmen
Witterung waren die Fenſter der Nachbarhäuſer geöffnet,
und die Köpfe beugten ſich weit hinaus. Der Altgeſelle
wurde von einer unerklärlichen Angſt befallen. Irgend etwas
Entſetzliches ſchwebte ihm vor. Er kenne Timpe ſehr genau,
hatte er dann gemeint, man müſſe mit aller Vorſicht vor¬
gehen, ſonſt gäbe es ein Unglück. Endlich wurde ein Schloſſer
geholt. Nach harten Anſtrengungen hatte man dann die
Barrikade weggeſchafft und befand ſich im Flur. Nun ließ
der Altgeſelle ſeinen Ruf ertönen, aber es erfolgte keine
Antwort. Man öffnete auch die Eingänge zu den Vorder¬
zimmern, die Läden, und kletterte in den erſten Stock hinauf,
ohne Timpe zu finden.


Draußen auf der Straße, unter dem umwölkten Himmel
des unfreundlichen Februartages, ſtaute ſich die Menge der
Neugierigen immer mehr und mehr. Das Stimmengewirr
hörte ſich an wie das dumpfe Murmeln einer empörten
Volksmaſſe. Man hatte kaum gehört, daß der Gerichts¬
21*[324] vollzieher im Spiele ſei, der einen Menſchen aus ſeinem Heim
vertreiben wolle, als die allgemeine Stimmung zu Gunſten
Timpe's umſchlug. Er war über Nacht ein „braver Kerl“
geworden. Drohungen wurden laut, man verſuchte die Arbeiter
zu bewegen, mit ihren Wagen davon zu fahren; die Menge
pfiff und johlte und drängte mit Gewalt gegen das Haus.


Im Innern deſſelben hatte man die größte Mühe, zu
dem nächſtfolgenden Raume ſich Zutritt zu verſchaffen. Hinter
jeder Thür tauchte eine doppelte Barrikade auf, große Kiſten
waren auf Tiſche geſtellt und auf dieſe Stühle und ſchwere
Möbelſtücke. Bei jedem erneuerten Eindringen ließ der Alt¬
geſelle ſeinen Ruf erſchallen:


„Meiſter, wo ſtecken Sie denn? Kommen Sie doch hervor!“


Noch waren die Thüren zur Werkſtatt geſchloſſen; lange
Eiſenſtäbe ſchienen hinter ihnen zu liegen. Man ſtieß dann
die Hofthür ein, riß die Laden von den Werkſtattfenſtern und
blickte hinein. Plötzlich drang aus einem Haufen Holzſpähne
eine helle Flamme hervor und dunkler Qualm wälzte ſich
durch die eingeſchlagenen Scheiben. Von der Werkſtatt aus
führte eine Fallthür zum Keller hinab. Man konnte deutlich
die hochſtehende Klappe ſehen. Nun durchzuckte den Alt¬
geſellen ein Gedanke.


„Er iſt im Keller!“ rief er laut, und dieſen Worten
folgten wieder die alten Klagetöne: „Meiſter, Meiſter, ant¬
worten Sie doch!“


Plötzlich konnte man deutlich eine dumpfe Stimme ver¬
nehmen, welche die Strophen ſang:


„Eine feſte Burg iſt unſer Gott,

Eine gute Wehr und Waffen.

— — — — — — — — —“
[325]

Es hörte ſich wie der Grabgeſang eines lebendig
Verſchütteten an: ſchauerlich und doch ergreifend. Man
ſchlug nun auch das Kellerfenſter ein, ſtieß aber auf ſtarke
Bohlen. Zudem wirbelte der Rauch tief ſchwarz aus der
Werkſtatt heraus und erfüllte den ganzen Garten. Der
Polizeilieutenant und Schutzleute erſchienen; nach wenigen
Minuten raſte die Feuerwehr heran. Die Aexte der Wehr¬
leute arbeiteten ſich unbarmherzig einen Weg durch die Rauch¬
wolken, dann wurden die Spritzen in das Feuer geführt.


Mit dem Kniſtern und Praſſeln der Flammen, dem
Ziſchen der Waſſerſtrahlen, mit den Zurufen und Kommando¬
worten der Mannſchaften miſchte ſich das Lärmen der Menge,
das von der Straße herübertönte. Endlich wurde man Herr
des Feuers und konnte ungefährdet den Weg in die Werkſtatt
nehmen.


Man ſolle doch zu des Meiſters Sohn hinüberſchicken, äußerte
Jemand; er bekam aber zur Antwort, daß Timpe junior
nebſt Frau ſeit vierzehn Tagen auf der Reiſe ſich befinde.


Unten war es ſtill geworden.


Thomas Beyer konnte die Zeit nicht mehr erwarten;
er nahm eine Axt und ſchlug gegen die Kellerthür, daß ſie
krachend nachgab. Immer dichter fielen die Schläge auf aller¬
hand Gerümpel, das in Stücken die Treppe hinunterrollte.
Auf der anderen Seite bahnte man ſich einen Weg durch das
Fenſter.


Als man endlich von drei Seiten aus hinunter gelangte
und das Licht des Tages voll in den Raum fiel, erblickte
man Timpe. Er lag mit dem Kopf an der Leiter, die zu
der Werkſtatt hinaufführte, lang ausgeſtreckt wie ein fried¬
lich Schlummernder da. Der Tod mußte vor wenigen
[326] Minuten erſt eingetreten ſein, denn der Körper war noch
warm. Mit der linken Hand hielt er das Bild ſeines Sohnes
umklammert, während die rechte wie zum Schwur an der
Sproſſe der Leiter lehnte; als wollte ſie noch im Tode
Anklage zum Himmel erheben. Auf dem unberührten Lager,
das er ſich zuerſt gemacht hatte, lag neben den Bildern des
Großvaters und Karolinen's Allen ſichtbar ſein „letzter Wille.“
Alles deutete darauf hin, daß ein außergewöhnlicher Umſtand
ihn getödtet habe. An der Kalkwand ſtanden mit großen
Buchſtaben, wie von unſicherer Kinderhand drei-, viermal die
Worte geſchrieben: „Es lebe der Kaiſer ... Hoch lebe der
Kaiſer!“


Als man ihn endlich hinauf nach dem Garten getragen
hatte, um die letzten Belebungsverſuche anzuſtellen, vermochte
Beyer ſich nicht mehr zu beherrſchen.


Er beugte ſich über den entſeelten Körper und rief mit
ſchluchzender Stimme: „Meiſter, Meiſter, wachen Sie doch
auf .... reden Sie! ...“


Dann, als er lange auf das Antlitz geblickt hatte und
nun einſah, daß Alles vorüber war, richtete er ſich empor. Er
ſchlug die Hände vor das Geſicht und verharrte minutenlang
in ſtummem Schmerze. Seine Geſtalt erbebte, heiße Thränen
benetzten ſeine Hände.


Man trug den Leichnam in die Wohnung. Noch immer
ringelte der Rauch in dünnen Säulen zum Fenſter hinaus
und über das Dach hinweg. Das Häuschen mit ſeinen ein¬
geſchlagenen Fenſtern und Thüren, der durchlöcherten Wand,
mit den halbverkohlten Dielen glich einer Trümmerſtätte.
Durch die geöffneten Thüren hatte man eine Durchſicht nach
der Straße, wo die Menge Kopf an Kopf gleich einem leben¬
[327] den Meere wogte. Soeben legte man Timpes entſeelten
Körper im Vorderzimmer auf ein Sopha nieder.


Plötzlich ertönte ein tauſendfachſes Hurrahrufen. Die Menge
wandte die Köpfe und blickte in die Höhe. Ein dumpfes Aechzen
und Stoßen wurde wahrnehmbar, heller Qualm wälzte ſich
über die Straße und unter dem Zittern der Erde brauſte die
Stadtbahn heran, die ihren Siegeszug durch das Steinmeer
von Berlin hielt. Die Lokomotive war bekränzt. Aus den
Kupeefenſtern blickten Beamte des Miniſteriums, Leute von
der Eiſenbahnverwaltung und die geladenen Ehrengäſte. Die
Herren nickten freundlich hinunter und ſchwenkten Taſchen¬
tücher. Unter dem brauſenden Jubelruf der Menge dampfte
der Zug vorüber.


Die dunkle Wolkenmaſſe zertheilte ſich wie durch Zauber¬
hand, die Mittagsſonne brach ſich Bahn und ſandte ihre er¬
wärmenden Strahlen hernieder auf Menſchen und Paläſte,
die alte und die neue Welt. Aus der Entfernung drangen
noch immer die Hurrahrufe der Menge herüber, wie das
leiſe Grollen eines davonziehenden Gewitters . . .


Ende.


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Kretzer, Max. Meister Timpe. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bqbx.0