Erſter Band.
F. A. Brockhaus.
1881.
Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprach¬
wiſſenſchaft.
Von
Georg von der Gabelentz. *)
Der Begriff der Orientaliſtik hat ſich bekanntlich in unſerm Jahrhundert ſtetig
um ein ſehr Bedeutendes erweitert. Noch zu unſerer Großväter Zeiten waren die
morgenländiſchen Studien kaum mehr als ein Nebenfach der Theologie; die Sprache
des Alten Teſtaments bildete ſozuſagen den Kernpunkt; andere ſemitiſche Sprachen:
Syriſch, Chaldäiſch, Samaritaniſch, Arabiſch und etwa noch Aethiopiſch, ſchloſſen
ſich in zweiter und dritter Reihe an, und da uns einmal das mohammedaniſche
Culturleben näher gerückt war, ſo wurden wol auch gelegentlich Türkiſch und
Perſiſch mit in den Bereich jener Studien gezogen, und einzelne verſtiegen ſich
bis ins Armeniſche und Koptiſche: ſie blieben aber eben vereinzelt. Chriſtliche
Sendboten, zumal die raſtlos fleißigen Jeſuiten, hatten ſchon längſt eine fremde
Sprache nach der andern grammatiſch und lexikaliſch bearbeitet, Reiſende hatten
aufgezeichnet, was ſie in fernen Landen am Wege aufgeleſen: an Stoff zum
Sammeln hätte es nicht gefehlt, aber es fehlte an wiſſenſchaftlichen Sammlern.
Wohl entſtanden polyglottiſche Sammelwerke — man weiß, welchen Antheil Leib¬
niz' allbefruchtender Geiſt hierbei hatte —, allein noch ähnelten ſie einigermaßen
den Raritätencabinets in alten Schlöſſern: unſerm Jahrhundert blieb es vor¬
behalten, ſie in Muſeen zu verwandeln.
In der That bedurfte es hierzu einer mächtigen Anregung, und dieſe verdanken
wir einem glücklichen Zuſammentreffen. Die Philoſophie des vorigen Jahrhunderts
hatte auch die menſchliche Sprache in das Bereich ihrer Speculationen gezogen.
Ihr Treiben mochte ein ſehr voreiliges ſein, aber ein anregendes war es ganz
gewiß. Was zeither nur für die Neugier den Reiz des Abſonderlichen gehabt,
das lernte man nun mit ganz andern Augen betrachten: es war ein gewaltiger
Fortſchritt von dem „Vocabular“ Katharina's II. bis zu Adelung's „Mithridates!“
Dazu nun kam ein zweites. Im Jahre 1799 hatte Gyarmathi einen Theil
der Sprachen finniſchen (ugriſchen) Stammes auf ihre Verwandtſchaft hin gramma¬
[280]Unſere Zeit.tiſch verglichen. Daß ſein Werk nicht in ähnlicher Weiſe epochemachend wurde
wie bald nachher die Arbeiten Bopp's und Grimm's: das war wol nicht Schuld
ſeiner Leiſtung, ſondern es lag an dem gewählten Gegenſtande. Die Sache mußte
uns vollends zu Haus und Hof gebracht werden, ehe ſie rechten Anklang finden
konnte. Nun aber erſchien das Sanskrit auf der Bildfläche; mit jubelndem Er¬
ſtaunen ſah man ein ganz neues Licht ſich über unſere Sprachen ergießen, erkannte
man in dem alten Denker- und Dichtervolke ehrwürdige Verwandte unſers eigenen
Geſchlechts. Unſere Hochſchulen ſind ſonſt zähe; ein neuer Wiſſenszweig muß
kämpfen, ehe er ſich einen Lehrſtuhl erobert. Hier jedoch war nicht lange zu
zaudern: Bopp's Schüler nahm man mit offenen Armen auf. Es war kein
Zweifel, dieſer Zweig der Orientaliſtik hatte mit der Theologie nichts zu ſchaffen;
ſein Platz war in dem Maſſenquartier der philoſophiſchen Facultät, und dahin
folgten ihm denn die andern, ſoweit ſie nicht vorab der Bibelkritik dienen wollten,
ſo ſachte nach. Von den großen Entdeckungen auf ägyptiſchem, perſiſch-baktriſchem
und aſſyriſchem Gebiet will ich nicht reden. Genug, der ganze bisher beſchriebene
Kreis der morgenländiſchen Forſchungen zielt am Ende auf uns ſelbſt hin: woher
ſtammen unſere europäiſchen Völker? woher ſtammt ihre Cultur?
So war es vielleicht kein Zufall, daß unſere deutſchen Univerſitäten zunächſt
innerhalb dieſes Kreiſes Genüge fanden. Sehe ich ab von dem, was unmittelbar
aufs Leben ſelbſt abzweckt, von Staats- und Wirthſchaftslehre, von Recht, Religion
und Geſundheitspflege: ſo wüßte ich nicht, was unſerm Intereſſe näher liegen
ſollte als die Frage nach unſerer eigenen Geſchichte. Frankreich freilich, auch dies¬
mal von raſcherm Entſchluſſe, ging ſofort noch weiter. Mehr als 10000 Bände
der wichtigſten chineſiſchen Bücher ſchlummerten in den Repoſitorien der pariſer
Bibliothek; man ahnte Schätze neuer Belehrung, und das genügte. Im Jahre
1814 wurde Abel Rémuſat zum Profeſſor der oſtaſiatiſchen Sprachen am Collége
de France ernannt, und ſeitdem haben faſt ein halbes Jahrhundert lang die fran¬
zöſiſchen Sinologen den Reigen geführt, bis ihnen engliſche Meiſter den Vorrang
ſtreitig machten. Erſt 1838 folgte Preußen mit der Berufung Schott's an die
berliner Univerſität, und ſeitdem hat ſich die eigenthümliche Begabung des deutſchen
Geiſtes auch auf dieſem Gebiete gezeigt; denn dem berliner Gelehrten verdanken
wir die erſte wahrhaft wiſſenſchaftlich ſyſtematiſche Grammatik der Sprache. Ein
zweiter Lehrſtuhl der oſtaſiatiſchen Sprachen und Literaturen beſteht ſeit 1878 an
der leipziger Hochſchule. Derſelbe wurde mir anvertraut, und meine Antritts¬
vorleſung hatte naturgemäß von den Aufgaben und der Berechtigung des neuen
Lehrfaches zu handeln. Letztere war freilich von ſeiten der Nächſtbetheiligten durch
die That anerkannt. Allein ich wiederhole es, von der zeitherigen Richtung unſerer
morgenländiſchen und ſprachwiſſenſchaftlichen Studien ſcheint der Gegenſtand zu
weit abzuliegen. Kein Zweifel, jedes wahrhaft wiſſenſchaftliche Streben iſt berech¬
tigt. Allein nicht jeder Zweig wiſſenſchaftlichen Forſchens iſt geeignet, in dem
Rahmen der Univerſitätsſtudien Aufnahme zu finden. Die Entſcheidung hierüber
gehört nicht ausſchließlich vor das Forum der Leute vom Fach, der Gelehrten;
die Frage iſt nur zur einen Hälfte eine wiſſenſchaftliche, zur andern eine prak¬
tiſche. Wie iſt ſie zu beantworten?
[281]Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprachwiſſenſchaft.
Mit dem bloßen Hinweiſe auf andere, zum Theil kleinere Länder, auf die
Hochſchulen Frankreichs, Englands, Rußlands, Hollands und Italiens wäre wenig
gedient; denn in wiſſenſchaftlichen Dingen wenigſtens pflegt es ſonſt nicht Deutſch¬
land zu ſein, das am Vorbilde ſeiner Nachbarn zu lernen hat. Die Aufgabe,
fremden Leiſtungen mit Aufmerkſamkeit zu folgen, bleibt uns darum nicht minder.
Es könnte ſonſt geſchehen, daß uns manche jener reichhaltigen Gänge verſchloſſen
blieben, aus welchen andere ihre Schätze fördern. Und wenn ich nun betrachte,
was die Gelehrten anderer Nationen, und was ſo mancher unſerer Landsleute
aus den unerſchöpflichen Fundgruben der oſtaſiatiſchen Literaturen heimgebracht:
dann muß ich wol wünſchen, hier recht viel deutſchen Fleiß und deutſchen Geiſt
in Arbeit zu ſehen. Anders als zur Zeit der Völkerwanderungen, friedlicher, aber
nicht minder mächtig treten heute die Völker Oſtaſiens mit der europäiſch-ameri¬
kaniſchen Culturwelt in Berührung. Ein Wettbewerb von ſtets zunehmender Leb¬
haftigkeit iſt eröffnet. Das hochbegabte, thatkräftige Japanervolk hat ſich mit
einem Sprunge, wie er für jede andere Nation ein Salto mortale geweſen wäre,
mitten in europäiſches Weſen hineingeſtürzt. Der Chineſe, bisher weniger zu¬
gänglich für unſere Ideen als für unſer Silber, fordert zum Entgelt für die
Aufnahme unſerer Kaufleute, unſerer Diplomaten und Miſſionare freien Einmarſch
ſeiner Arbeiterbataillone in die Werkplätze unſers Gewerbfleißes. Zukunftsreicher
als alle andern Aſiaten treten uns heute jene Menſchen des fernſten Oſtens poli¬
tiſch und wirthſchaftlich viel näher als die ſinnigen, aber paſſiven Hindus oder
die Bekenner des Islams von ariſchem, tatariſchem oder ſemitiſchem Blute.
Es gilt, ſich in ſie hineinzufinden, ihr Denken und Leben zu verſtehen. Die
Geſchichte der letzten Jahrhunderte hat bewieſen, wie hier jedes Misverſtändniß
zu den bedenklichſten Misgriffen führen könne. Hier fällt dem Gelehrten, dem
Völker- und Sprachenkundigen eine Pionnierrolle zu, wie ich ſie mir dankbarer
kaum denken kann. Kaum dankbarer und auch kaum reizvoller. Ich denke an
mich und mein Fach, vor allem an das Studium der chineſiſchen Geſittung, wie
ſie ſich in einer der intereſſanteſten Literaturen der Welt abſpiegelt. Dieſe Lite¬
ratur, vor mehr denn 4000 Jahren begründet, mithin unter allen lebenden die
älteſte, vielſeitiger als irgendeine des übrigen Orients, vielleicht bändereicher ſelbſt
als die meiſten europäiſchen — iſt uns kaum erſt in einigen ihrer Erzeugniſſe
bekannt — und wie wenig bekannt ſind noch dieſe!
Es iſt ſchlimm, daß ich dies geſtehen mußte: man ſchließt zu gern aus der
Größe der Nachfrage auf die Güte der Waare. Jedermann weiß, wie trügeriſch
dieſer Schluß in literariſchen Dingen iſt. Hier iſt das Beſte für die Beſten, alſo
nicht allemal für die Mehrzahl, und ſelbſt das Beſte hat ſich ſeinen Platz zu
erkämpfen, wenn es ein Seltſames, Ueberraſchendes iſt. Man ſoll ſich keiner
Täuſchung hingeben: die Sinologie hat in Deutſchland einen ſchweren Stand,
Wir bauen auf dem Felde unſerer Orientaliſtik andere Früchte, und mit wie
glänzendem Erfolge! Die herrlichen Errungenſchaften unſerer indiſchen, iraniſchen,
ſemitiſchen und ägyptologiſchen Forſchungen werden der gebildeten Welt ſozuſagen
zu Haus und Hof behändigt; die Pharaonen und ihre Unterthanen, die Muſel¬
manen und die Brahmanen erſcheinen uns nachgerade wie alte Geſchäftsfreunde
[282]Unſere Zeit.und Vettern, mit denen man ſich nicht ſchnell genug auf Du und Du ſtellen kann
und deren Geſchichten man lauſcht wie Märchen aus der eigenen Kinderzeit.
Was zu uns aus der chineſiſchen Culturwelt herübertönt, gemahnt freilich nicht
an heimiſche Klänge. Die Dinge haben ſich hüben und drüben ſo ganz vonein¬
ander unabhängig geſtaltet, daß das beiden Theilen Gemeinſame kaum viel mehr
ſein kann als das allgemein Menſchliche. Und doch, wie viel iſt dies! Man
durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen
Poeſie, in ihre Leidenſchaften, ihre Andacht, ihre Sehnſucht, ihren Humor, ſo
wird man bald vergeſſen, daß man um faſt zwei Drittheile unſerer Halbkugel
oſtwärts gewandert iſt. Gar bald lernt unſere Phantaſie in die glatten, gelben,
ſchlitzäugigen Chineſengeſichter ſympathiſche Züge zeichnen, und was von fern einer
hölzernen Puppe glich, entpuppt ſich nun als ein warm fühlender Menſch.
Oder verſuchen wir es, uns in die Geheimniſſe der chineſiſchen Philoſophie zu
verſenken, in ihre tiefſinnige Myſtik, ihre optimiſtiſchen und peſſimiſtiſchen, ihre
realiſtiſchen und idealiſtiſchen Strömungen, in die Kämpfe ihrer Syſteme, in die
Geſchichte ihrer ſtetigen Entwickelung — ſchließen wir aus dem Wenigen, was
uns heute zugänglich iſt, auf die Bedeutung jenes rieſenhaften Bücherſchatzes, von
welchem uns die einheimiſchen Kataloge melden: ſo werden wir ſtaunend an Stelle
jenes Bildes geiſtiger Uniformität, welches man uns vorgemalt hat, ein Schauſpiel
gewaltigen geiſtigen Ringens erblicken und auf der gelben Chineſenſtirn die tiefen
Furchen des Denkers gewahren. Jener wunderlich trockene Weltweiſe, deſſen Geiſt
ſeit mehr als zwei Jahrtauſenden ein Drittheil der Menſchheit beherrſcht, war ein
Chineſe; und des Confucius Lehre ſollte man kennen, ehe man über das Mittel¬
reich und ſeine Bewohner urtheilt.
Wenn wir die Größe einer geſchichtlichen Perſönlichkeit nach der Mächtigkeit,
dem räumlichen und zeitlichen Umfange ihres Wirkens und Nachwirkens bemeſſen,
ſo iſt Confucius unter den großen Männern aller Zeiten einer der größten. Ich
finde aber, daß er noch vielfach arg verkannt wird. Man will ihn immer und
immer wieder in die Reihe der Religionsſtifter ſtellen: kein Wunder, daß er dabei
zu kurz kommt. Er war gewiß nicht irreligiös, wie er etwa dem oberfläch¬
lichen Betrachter erſcheinen könnte; er glaubte an die Heiligkeit der menſchlichen
Pflichten und an die Gerechtigkeit der himmliſchen Vorſehung, welche ſtraft
und belohnt nach Verdienſt. Aber es fehlte ſeinem Geiſte die Anlage und Neigung
zur Myſtik — er kannte, wenn ich den modernen Ausdruck anwenden darf, nur
„Gott in der Geſchichte“. Sein Sinn war überwiegend praktiſch, darum hiſtoriſch.
„Ich ſchaffe nichts Neues“, ſo ſagte er von ſich, „ich überliefere; ich glaube an
die Alten und liebe ſie.“ Allein er überlieferte nur das Bewährte; er kannte, wie
nicht leicht ein zweiter, ſein Volk und erkannte, was ihm in alle Ewigkeit from¬
men würde. Hierin erblicke ich ſeine Größe: es iſt die Größe des Staatsmannes
und des praktiſchen Philoſophen.
Es iſt bekannt, daß kein Reich der Erde beſſer als das chineſiſche für Voll¬
ſtändigkeit und Zuverläſſigkeit ſeiner Geſchichtſchreibung geſorgt hat. Seit dem
früheſten Alterthum beſoldeten die Regierungen gelehrte Staatsmänner, deren
Aufgabe es war und noch iſt, jedes denkwürdigere Ereigniß ſelbſtändig zu ver¬
[283]Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprachwiſſenſchaft.zeichnen. Die von ihnen aufgenommenen Urkunden wurden in einem geheimen,
dem Fürſten und ſeinem Cabinet ſelbſt unzugänglichen Archiv aufbewahrt und erſt
nach dem Untergange der Dynaſtie ans Licht gezogen und verarbeitet. So ent¬
ſtand jenes vielhundertbändige Werk der chineſiſchen Reichsannalen, der Zeugen
einer viertauſendjährigen Geſchichte. Einzelwerke über Geſchichte und Landeskunde
der Provinzen und der Regierungsbezirke, deren eins allein 160 ſtarke Hefte füllt,
ebenſo gewaltige biographiſche und literaturhiſtoriſche Werke ſchließen ſich ihnen
ergänzend an. Und was man uns auch von dem ſtagnirenden Stillſtand des
Chineſenthums erzählen möge: das Reich und ſein Volk hat eine Geſchichte, in
welcher ſich Ideen entwickelt, Staatsformen, geſellſchaftliche Sitten und Zuſtände
umgeſtaltet, neue Erfindungen und Einrichtungen Bahn gebrochen haben — lang¬
ſamer vielleicht als bei uns, doch kaum weniger mächtig. Da erfahren wir von
einem allmählichen Erſtarken der feudaliſtiſchen Einzelſtaaten, von einem jahr¬
hundertelangen Kriegs- und Fehdezuſtande, landverwüſtend und ſittenverwildernd
wie unſer Dreißigjähriger Krieg; dann von der Errettung der Geſellſchaft durch
das reformatoriſche Wirken des Confucius und ſeiner Schule; dann wieder von
dem radicalen Regierungsſyſtem des Kaiſers Schi-hoang-ti, oder von jenem ephe¬
meren ſocialiſtiſchen Staat zur Zeit der Sung-Dynaſtie, und von ſo und ſo vielen
andern ſtaatsmänniſchen Experimenten, für welche die Analogien in unſerer Ge¬
ſchichte nicht immer weit her zu ſuchen ſind. Man wirft den Chineſen Mangel
an kriegeriſchem Heldenmuth vor: nicht mit Unrecht, ſo ſcheint es; denn ihre mili¬
täriſchen Leiſtungen gegen europäiſche Waffen waren bisher kläglich genug. Allein
ich könnte aus den Annalen einer einzigen Dynaſtie zwei Feldherren nennen,
welche mit ihren Heeren daſſelbe geleiſtet haben, was des Leonidas und ſeiner
Spartaner unſterblichen Ruhm begründet hat. Und Folgendes iſt ſozuſagen das
Formular zu einer ganzen Menge Epiſoden der chineſiſchen Geſchichte: der Kaiſer
gibt im Staatsrathe eine Abſicht kund, ein Miniſter widerſpricht; der Kaiſer
ſchenkt ſeinen Gegengründen kein Gehör, und — ſo drücken ſich die Hiſtoriker aus
— „der Miniſter ſtirbt“. Brauche ich nun noch zu ſagen, welche Aufklärungen
wir von dieſer Seite für die Geographie und Geſchichte Oſtaſiens und für die
Entſtehung der Völkerwanderungen zu erhoffen haben? Wir kennen die beharr¬
liche Ausdehnungskraft des Chineſenvolkes und dürfen ahnen, wie ſein ſtetiges
Vordringen gen Norden und Weſten ſich bei ſeinen nomadiſchen Nachbarn in ein
verheerendes Vorwärtsſtürmen umſetzen mochte.
Seit dem 10. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung wird in China die Buch¬
druckerei allgemein geübt. Das Volk iſt ſeitdem eins der leſe- und ſchreibluſtigſten
der Welt geworden; das Streben nach Bildung iſt hier verbreiteter als in manchen
Ländern unſers Erdtheiles; Gelehrſamkeit allein berechtigt zu Rang und Macht;
und ich erfahre, daß jene Aermſten des Volkes, welche in Californien ihr Glück
ſuchen, ihre Schulmeiſter und Buchhändler mit ſich in die neue Heimat geführt
haben. Alle Klaſſen, aber auch alle Provinzen und Stämme der Nation haben
an der ſchriftſtelleriſchen Arbeit ihren Antheil, und dem uniformirenden Einfluſſe
von oben wirkt von unten eine geſunde decentraliſirende Macht entgegen. Er¬
leuchtete Kaiſer laſſen Prachtausgaben der vorzüglichſten Werke drucken: eine der¬
[284]Unſere Zeit.ſelben in 10000 Bänden hat unlängſt die engliſche Regierung erworben. Reiche
Private ſetzen eine Ehre darein, auf ihre Unkoſten neue Auflagen ihrer Lieblings¬
bücher zu veranſtalten und um ein Spottgeld zu verbreiten. Jetzt frage ich: klingt
das alles nach Indolenz, nach geiſtiger Verſumpfung?
Von den Leiſtungen der Chineſen für die Kunde ihrer Sprache, von ihren
zweihundertbändigen Wörterbüchern, ihren unermeßlichen philologiſch-kritiſchen Ar¬
beiten will ich meine Leſer nicht unterhalten. Wozu auch die Ziffern, die doch
das Beſte verſchweigen? Lieber möchte ich ihnen einen Blick in jenes heitere
Gebiet der üppig wuchernden neuern Belletriſtik eröffnen. Sie iſt der treueſte
Spiegel des heutigen Volkslebens, bunt, vielgeſtaltig, ab und zu auch unſauber
wie dieſes, hier pedantiſch und ſuperfein, dort in genialer Ausgelaſſenheit über den
Strang ſchlagend. Tollen, oft glänzenden Humor und dann wieder tiefempfundene,
echte Poeſie, märchenhafte Phantaſtereien und wiederum den vollkommenſten Realis¬
mus voll feinſter pſychologiſcher Wahrheit — alles dies beſitzt der Chineſe in jenen
leichteſten ſeiner Geiſteserzeugniſſe.
Welchen Gewinn die Kunde des Buddhismus von den chineſiſch-japaniſchen Quellen
zu erwarten habe, iſt heute noch nicht zu ermeſſen. Die Reiſebeſchreibungen kühner
Mönche, welche uns Stanislas Julien zugänglich gemacht, haben in den Kreiſen
der Indianiſten gebührende Beachtung gefunden; eine unlängſt nach England ge¬
langte Ueberſetzung des „Tripitaka“ in reichlich 2000 Heften wartet noch der
Ausbeutung.
Der Fremdherrſchaft der Mandſchu in China iſt unſere Sinologie in mehr
als einer Beziehung Dank ſchuldig. Nicht am mindeſten wegen der Mandſchuliteratur.
Dieſe iſt nicht ſehr bändereich und nur zum allerkleinſten Theile heimiſches Geiſtes¬
gut. Aber ihre Ueberſetzungen ſo vieler der wichtigſten chineſiſchen Werke in eine
leicht erlernbare Sprache mit bequemer Buchſtabenſchrift müſſen als nahezu authen¬
tiſche gelten und ſind, wo ſie vorhanden, uns noch heute ein unſchätzbares Hülfs¬
mittel. Kein europäiſcher Sinolog darf die Mandſchuſprache vernachläſſigen.
Die Geiſtesarbeit des japaniſchen Schriftſtellerthums können wir eher nach
ihrem Inhalt und Werth beurtheilen. Eins erkennt man ſchon heute: das merk¬
würdige Inſelvolk, ſo begeiſtert und erfolgreich es die Bildung des Mittelreiches
in ſich eingeſchlürft, iſt in vielen Dingen auf ganz eigenen Wegen gewandelt.
Die Sinnesart beider Nationen war zu verſchieden, die der Japaner bereits zu
ſehr entwickelt und gefeſtigt, als das Chineſenthum eindrang; man nahm dieſes in
ſich auf, ſtatt ſelbſt darin aufzugehen. Eine merkwürdige Mythologie, einmündend
in die eigentliche Geſchichte des Landes, dann dieſe ſelbſt bilden den Inhalt der
älteſten ſehr anſehnlichen Schriftwerke. Bald auch zeichnete man jene anſprechenden
kurzen lyriſchen Gedichte auf, in welchen das ritterlich leidenſchaftliche Volk ſeine
Stimmungen zu äußern liebt. Das Leben ſelbſt bot der Romantik genug; es
galt nur, wie unſer Dichter ſagt, friſch hineinzugreifen, um Stoff zu Romanen
und Epopöen zu ſchöpfen. So entſtanden jene zahlloſen halbgeſchichtlichen Werke,
welche uns abwechſelnd mit Entzücken und mit ſchauderndem Entſetzen erfüllen,
jene ergreifenden „Monogatari“ und die kurzen volksthümlichen Erzählungen, deren
[285]Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprachwiſſenſchaft.einige unlängſt der europäiſchen Leſewelt bekannt geworden ſind. Werke der reinen
Erfindung ſchloſſen ſich ihnen an, darunter, nach den mir vorgelegenen Proben zu
urtheilen, wahre Kunſtwerke. Maſſenhafte beſchreibende und belehrende Bücher,
meiſt mit flüchtigen, doch deutlichen Zeichnungen ausgeſtattet, führen uns in die
Landſchaften des herrlichen Archipels, in ſeine Fauna und Flora oder in die gewerb¬
liche und landwirtſchaftliche Thätigkeit ſeiner Bewohner ein.
Die Werke der chineſiſchen Weiſen und die Schriften der Buddhiſten haben
in Japan begeiſterte Aufnahme gefunden. Für die gebildete Jugend dieſes Landes
waren zeither die Claſſiker des Mittelreiches genau daſſelbe, was die römiſchen
und griechiſchen für unſere Gymnaſiaſten ſind. Ja ſie waren noch mehr, und wir
werden an das Zeitalter unſers Humanismus erinnert, wenn wir erfahren, daß
der Altjapaner ſein Lebtag für um ſo gebildeter galt, je vertrauter er mit jener
fremden Literatur, je gewandter er im chineſiſchen Stil war. Ein ſolches Ab¬
hängigkeitsverhältniß mußte für die heimiſche Wiſſenſchaft geradezu verhängnißvoll
werden. Man hat, ſoviel mir bekannt, noch nichts von einem ſelbſtändigen japa¬
niſchen Philoſophen gehört: kein Wunder wäre es, wenn es nie einen gegeben
hätte. Um ſo anziehender iſt die Art, wie die Japaner ihren Landsleuten die
ausländiſchen Geiſtesfrüchte mundgerecht machen. Unter jenen volksthümlichen
Predigern, welche ſeit einer Reihe von Jahren das Land durchwandern und vor
Arbeitern, Frauen und Kindern die ſchönſten Sprüche aus den drei landesgültigen
Lehren auslegen, trifft man wahre Meiſter künſtleriſcher Erfindung und Geſtal¬
tung an.
Die philologiſche Kritik der alten Schriftſteller blüht in Japan kaum weniger
als im Mittelreiche, und viel iſt für die Erforſchung der eigenen Sprache geſchehen.
Dieſe hat ſich raſcher entwickelt und verändert als vielleicht irgendeine der übrigen
Culturſprachen unſerer Erde. Die ſchriftlichen Aufzeichnungen ihrer älteſten Denk¬
mäler ſind derart, daß ſich nur auf dem Wege der ſcharfſinnigſten Reconſtructionen
zu ihrem wiſſenſchaftlichen Verſtändniſſe gelangen läßt, und was die Japaner in
dieſer Richtung geleiſtet haben, verdient trotz mancher Ungeheuerlichkeiten alles
Lob. Von ihren zahlreichen, zum Theil auch ſehr bändereichen Wörterbüchern,
deren Vorzüge auch der europäiſche Forſcher bald anerkennen lernt, will ich hier
nicht weiter reden. Wenig bekannt aber iſt der Umfang und die Bedeutung ihrer
grammatiſchen Werke. Indiſche Bücher, von den Buddhiſten eingeführt, mögen
ihnen die erſte Anregung hierzu gegeben haben; allein ihr Einfluß dürfte kaum
über das gebührende Maß hinausgereicht haben. Sehen wir, wie gewaltſam man
noch zuweilen bei uns den heterogenſten Sprachen die Glieder verrenkt, um ſie
in die allbeliebte Uniform der lateiniſchen Sprachen hineinzuzwängen, ſo werden
wir den japaniſchen Sprachforſchern Gerechtigkeit widerfahren laſſen und ihnen um
der Genialität ihrer grammatiſchen Auffaſſung und um ihres Sammlerfleißes willen
ſo manche Poſſirlichkeit verzeihen. Jetzt eben ringt auch auf dieſem Felde eine
europäiſirende Schule mit der bodenwüchſigen um die Palme, und unlängſt brachte
mir dieſelbe Poſt aus Japan zwei Elementar-Sprachlehren der beiden Parteien.
Wie reizvoll, einem ſolchen Kampfe beizuwohnen!
So iſt den oſtaſiatiſchen Studien ein unabſehbar weites Feld eröffnet. Ihre
Aufgabe iſt zunächſt eine philologiſche im weiteſten Sinne des Wortes. Aber eine
zweite, nicht minder wichtige reiht ſich ihr an: ich meine die linguiſtiſche, die Er¬
weiterung und Vertiefung unſerer Kenntniß vom Weſen der menſchlichen Sprache.
Es könnte ſein, daß ich inſofern mir und meiner Sache erſt recht eine Ver¬
antwortung ſchuldig wäre, und indem ich eine Vertheidigung unternehme, könnte
es ſcheinen, als erhöbe ich eine Anklage. In der That liegt mir nichts ferner
als dies. Ich muß von Gemeinplätzen ausgehen, um dieſen garſtigen Schein zu
vermeiden.
Die Linguiſtik begreift die wiſſenſchaftliche Erkenntniß der menſchlichen Sprachen.
Soll dieſe Erkenntniß eine vollſtändige ſein, ſo muß ſie ihren Gegenſtand nach
allen Richtungen hin durchdringen.
Jede Sprache iſt zunächſt ein Daſeiendes und auf jeder Stufe, in jedem
Augenblicke ſeines Daſeins ein in ſich Vollkommenes. Man hat von einem Organis¬
mus der Sprache geredet und dieſen Ausdruck dann wieder verworfen, weil er
als eigenlebiges Weſen bezeichnet, was nur eine Function iſt. Was aber nicht
zur Definition taugt, kann darum doch als Gleichniß dienen; und in der That
wüßte ich nichts, was Entwickelung und Beſchaffenheit der Sprache beſſer ver¬
bildlichen könnte als eben der Organismus. Hier wie dort ſind alle Glieder
einander und dem Ganzen nothwendig, und jede Redeäußerung iſt zugleich eine
Aeußerung der ganzen im Redenden vorhandenen Sprache. Man muß die Er¬
ſcheinungen der jetzigen Sprachperiode mit den gleichartigen früherer Entwickelungs¬
ſtufen vergleichen, wenn man die äußere Sprachgeſchichte erforſchen will. Man
muß aber alle Erſcheinungen einer und derſelben Phaſe untereinander in Beziehung
ſetzen, wenn man die bewegenden Urſachen der Sprachentwickelung begreifen
will. Es iſt von hoher Bedeutung für unſere Wiſſenſchaft, daß gerade die Indo¬
germaniſtik zur Zeit den ſo genannten falſchen Analogien vorzugsweiſe Beachtung
ſchenkt. Die Kluft, welche noch vor wenigen Jahren zwiſchen ihr und den übrigen
Fächern der allgemeinen Sprachwiſſenſchaft zu gähnen ſchien, iſt überbrückt, ſeit
ſie ihrerſeits mit jener Fülle wohlerhaltenen Beobachtungsmaterials, über welches
ſie gebietet, den pſychologiſchen Kräften in der Sprachenbildung nachforſcht.
Daß dieſe Kluft entſtanden war, daß ihre Erweiterung der gemeinſchaftlichen
Sache Gefahr drohte, wer will das leugnen? Die ſprachgenealogiſchen Forſchungen
ſeit Bopp, durch eine Menge der bedeutendſten Kräfte gefördert, eilten allen übrigen
Beſtrebungen auf linguiſtiſchem Gebiete um ein Weites voraus. Bei den Indo¬
germaniſten müſſen wir lernen, ihre Methode, ihre Kritik müſſen wir uns aneignen,
wenn wir je für die Erkenntniß anderer Sprachenfamilien Aehnliches leiſten wollen,
wie ſie für die ihrige gethan. Dies dürfen wir nicht vergeſſen, und inſoweit, aber
auch nur inſoweit müſſen wir die Ueberlegenheit jener anerkennen. Wenn unſerer
weniger ſind, wenn wir mit beſcheidenern Mitteln arbeiten müſſen: ſo iſt dafür
unſere Arbeit um ſo ſchwieriger, unſer Feld um ſo größer, aber auch unſere Ernte
um ſo mannichfaltiger.
Es iſt nun aber für denjenigen, welcher auf entlegenern Sprachgebieten genea¬
[287]Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprachwiſſenſchaft.logiſche Vergleichungen unternehmen will, nicht leicht, ſich mit der Indogermaniſtik
auseinanderzuſetzen. Die ſich immer ſteigernde Sicherheit ihrer Methode wird
auch ihm als Ideal vorſchweben. Will er ſich aber vorzeitig an ſie binden, ſo
kann ſie ihm zur hemmenden Feſſel, wo nicht zum Fallſtrick werden. Die Geſetze,
welche die Laut- und Formenentwickelungen bedingen, ſind ihrerſeits wiederum bedingt
von ſo und ſo vielen geſchichtlichen, ethnologiſchen, pſychologiſchen, vielleicht phyſio¬
logiſchen Vorausſetzungen. Die Sprachen unſers Stammes mögen, gut gerechnet,
etwa ein Zwanzigtheil aller Sprachen der Erde bilden. Wer mag nun die Kräfte
alle benennen und bemeſſen, welche bei ihren Spaltungen und Wandlungen mit¬
gewirkt haben; wer wollte behaupten, daß bei den übrigen Sprachfamilien nicht
noch ganz andere Kräfte hier treibend, dort hemmend gewaltet hätten? Um von
den Lauten zu reden: muß denn das Artikulationsvermögen überall und zu allen
Zeiten genau ſo ſtark geweſen ſein wie bei uns? Mich wenigſtens will bedünken,
der Polyneſier mit ſeinen zehn bis zwölf Conſonanten ſei hierin ärmer, und ſo
manches kaukaſiſche Gebirgsvolk mit der Unmaſſe ſeiner Laute und Lautverknüpfungen
vielleicht noch reicher als wir. Wenn wir bei uns und ſo manchen unſerer Verwandten
die Conjugationsformen ſchwinden ſehen, ſo können wir dafür anderwärts, z. B.
bei den Kalmücken, beobachten, wie Perſonalendungen am Verbum entſtehen. In
der That, ſtellten unſere Sprachen alle Möglichkeiten der ſprachlichen Entwickelung
dar, ſo würden ſie nicht einem wohlgeordneten Hausrathe gleichen, der beſtimmt
und geeignet iſt den Bedürfniſſen ſeiner Benutzer zu genügen, ſondern eher einem
rieſenhaften Muſeum, von deſſen Stücken man die Mehrzahl lieber betrachten als
handhaben möchte.
Gerade dieſes, die Vielgeſtaltigkeit der Sprachen, wird uns gelegentlich
beſtritten, auch von ſolchen, die ihre Blicke über die heimiſchen Grenzen haben
hinausſchweifen laſſen. Noch vor wenigen Jahren las ich in dem Buche eines
namhaften ausländiſchen Gelehrten von einer gemeinſamen Grammatik aller aggluti¬
nirenden, und einer ſolchen aller iſolirenden Sprachen. Ich kenne in der That
zwei Mittel, ſich dieſe gemeinſamen Grammatiken anzueignen: entweder erlerne
man aus jeder dieſer Klaſſen nur eine Sprache — oder, was noch einfacher iſt
— man erlerne lieber gar keine! Die Wahrheit iſt, daß in beiden Klaſſen ſich
neben ſehr armen und rohen Sprachen andere von ungeahntem Reichthum und
Feinſinn vorfinden, und daß die ſo genannte agglutinirende Klaſſe kaum mehr als
ein cache-désordre, eine große wiſſenſchaftliche Rumpelkammer iſt, in welcher die
grundverſchiedenſten Sprachformen vorläufig in ähnlicher Ordnung aufbewahrt
werden wie etwa die verſchiedenen Wieſenpflanzen im Heu.
Voreiligkeiten jener Art richten ſich ſelbſt. Schwerer iſt es, einem andern
Einwande zu begegnen. Wozu, fragt man, die Betrachtung dieſes ganzen bunten
Bildes? Wenn ich eine Anzahl Sprachen aus allen Erdtheilen kenne, was beſitze
ich mehr als eine Art Raritätencabinet? Wo iſt das innere Band? Wo bleibt die
Wiſſenſchaft? — Dabei wird jedenfalls Eins zugegeben: was der Zulu oder der
Hottentotte, der Hurone oder der Quechuá, der Malaie oder der Auſtralneger
redet, alles iſt menſchliche Sprache, oder noch genauer, alles ſind verſchiedene
Aeußerungen des menſchlichen Sprachvermögens. Und jetzt frage ich meinerſeits:
[288]Unſere Zeit.iſt dies Sprachvermögen Gegenſtand der Linguiſtik oder nicht? Und wenn es das
iſt, muß es dann nicht durch die Linguiſtik definirt werden? Wie aber ſoll man
es definiren, ſolange man nicht den ganzen Umfang ſeiner Aeußerungen, ſolange
man nicht alle Möglichkeiten der Sprachentwickelung kennt? Die Naturforſcher
lehren uns täglich, daß die niedern Organismen für die Wiſſenſchaft nicht minder
belangreich ſind als die höhern; unſere Etymologen ſuchen in der höhern Sprach¬
form die niedere als aufgehobenes Moment zu entdecken, und wer Darwin's Lehre
auf die Sprachwiſſenſchaft anwenden will, der muß folgerichtig annehmen, daß
auch unſere Sprachen vor Jahrtauſenden nicht reicher und feiner geweſen ſeien
als jene der roheſten uns bekannten Völkerſchaften. Es dürfte viel Phantaſie dazu
gehören, ſich ohne lebende Vorbilder einen derartigen Urzuſtand zu vergegenwärtigen,
und unſere Sprachanatomen haben manche Anregung zu hoffen von jenen Aermſten
und Schwächſten der Sprachenwelt.
Und muß denn eine Sprache todt ſein, damit ſie unſer Intereſſe verdiene?
Oder muß ihre Vorgeſchichte zugänglich ſein, damit ihre Erforſchung lohne?
Heutzutage veranſchlagt man das Alter des Menſchengeſchlechts ſo hoch, weiß man
von der verſchiedenen Lebensgeſchwindigkeit der Sprachen ſo viel, man
wol zweifeln darf, ob das, was vor 4000 Jahren aus unſerer Vorfahren Mund
erklungen, den älteſten Formen menſchlicher Rede ähnlicher geweſen als die eine
oder andere der jetztlebenden Sprachen oder etwa das Gelalle unſerer Kinder.
Es iſt dies ein nebenſächlicher Geſichtspunkt; denn man erforſcht nicht die eine
Sprachform, um dieſe oder jene andere beſſer zu begreifen, ſondern um ein reicheres,
volleres, wahreres Bild von der Mannichfaltigkeit der Sprachorganismen zu ge¬
winnen. Es leuchtet ein, daß zu dieſem Zwecke nicht ein oberflächliches Nippen
an dieſer oder jener Grammatik genügt. Nur wenn eine Sprache zu einem Theil
unſers Ich geworden iſt, können wir über ſie, über ihre Vorzüge und Schwächen
urtheilen. In einem ſehr beliebten und verbreiteten Buche können wir freilich das
Gegentheil leſen: ein Selbſtlob der Leichtfertigkeit, das ſeinesgleichen ſucht!
Daß Völkerkunde und Linguiſtik eine ebenſo ſorgfältige Unterſuchung aller
Sprachfamilien erheiſchen, wie ſie dermalen für den indoeuropäiſchen Stamm ge¬
führt wird, möchte keines Beweiſes bedürfen. Namhaftes iſt in dieſer Richtung
bereits geleiſtet, viel mehr aber noch zu thun. Daß wir uns meiſt ohne alte
Sprachen behelfen müſſen, muß uns zu doppelter Vorſicht, zu einem ganz behut¬
ſamen Fortſchreiten vom Nächſten zum Entferntern veranlaſſen. Der Erfolg kann
bei ſorgſam methodiſchem Vorgehen nicht ausbleiben; der Gewinn aber wird ein
doppelter ſein. Zunächſt eine Vervollſtändigung und Berichtigung unſerer Kenntniß
von der Abgrenzung der Sprachſtämme nach außen und von ihrer Gliederung
nach innen. Dann aber auch, oder ich müßte mich ſehr täuſchen, eine Bereicherung
der Sprachphiloſophie ſelbſt. Der indogermaniſche Sprachſtamm ſcheint nämlich
nur einen Theil der möglichen Verwandtſchaftsverhältniſſe und Entwickelungs¬
richtungen darzuſtellen. Man hat, ich weiß nicht mit wie vielem Rechte, ſeine uns
bekannte Entwickelung eine abſteigende genannt, und man pflegt noch heute zu be¬
ſtreiten, daß er wirkliche Miſchſprachen enthalte. Sicher iſt, daß ſich in vielen
andern Sprachenfamilien ein lebendigeres Bewußtſein vom Werthe der Bildungs¬
[289]Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprachwiſſenſchaft.elemente bekundet als in der unſern. Und eben jetzt arbeite ich in Fortſetzung
der von meinem verewigten Vater eröffneten melaneſiſchen Forſchungen an einer
Sprachengruppe, in welcher mit den uns geläufigen Verwandtſchaftsbegriffen
ſchlechterdings nicht auszukommen iſt. Müſſen wir hier oder ſonſtwo echte Miſch¬
linge anerkennen, ſo ergibt ſich von ſelbſt die Folgerung, daß zwei Sprachen mit
einer dritten verwandt ſein können, ohne es untereinander zu ſein: ſprachliche Ver¬
ſchwägerungen, wenn der Ausdruck erlaubt iſt. Jene armen Contactſprachen,
welche noch heute, faſt unter unſern Augen entſtehen, das Creoliſche, Pitchen-
Engliſch und ſo viele andere, gewinnen ein hohes Intereſſe, wenn man zu enträthſeln
verſucht, warum in ihnen gerade dieſe Elemente der einen, jene der andern Sprache
entlehnt ſind. Es gilt hier Geſetze zu entdecken, welche der Linguiſtik mit nicht
minderm Rechte angehören als etwa die der Lautverſchiebungen.
Die Zeit der allgemeinen oder philoſophiſchen Sprachlehren im Becker'ſchen
Sinne iſt vorüber. Was aber unſere Vorfahren ſpeculativ aus ihrem eigenen
Denken heraus ſchaffen wollten, das müſſen wir und unſere Nachfolger durch in¬
ductive Arbeit zu erringen ſuchen. Das Problem der allgemeinen Grammatik
bleibt; Arbeiten, wie wir ſie über den Dualis, die Zählmethoden, das Relativ¬
pronomen, das Paſſivum u. ſ. w. beſitzen, ſind Beiträge zu ſeiner Löſung. Wie
wenig hierbei auf aprioriſchem Wege zu erreichen iſt, dafür nur einige Beiſpiele.
Die Sprache der Inſulaner von Errub und Maer (Meir) kennt nur die Grund¬
zahlen eins und zwei und kann nur bis fünf zählen, wofür zwei-zwei-eins geſagt
wird. Die Chikitos in Südamerika beſitzen überhaupt gar keine Zahlen, nicht
einmal die Zwei. Dafür beſitzen andere melaneſiſche Sprachen neben dem Sin¬
gular, Dual und Plural noch einen Trialis. Die Sprachen der philippiniſchen
und einiger anderer malaiiſcher Völker vermögen mit ihrem dreifachen Paſſivum
nicht nur das Object, ſondern auch den Ort und das Werkzeug der Handlung
zum Subject des Satzes zu erheben. Die ſchwarzen Bewohner von Annatom,
einer Inſel der neuen Hebriden, conjugiren nicht das Verbum, ſondern das Pro¬
nomen. Und weſſen Phantaſie möchte jene Ungeheuer von Conjugationsſyſtemen
für möglich halten, welche uns die polyſynthetiſch-incorporirenden Sprachen ame¬
rikaniſcher Indianervölker oder in unſerm Erdtheile das Baskiſche aufweiſen? Um
nur ein Beiſpiel anzuführen: Die Tſcheroki, jenes intereſſante Indianervolk, welches
ſich zur Annahme europäiſcher Cultur ſo willig und befähigt gezeigt, drücken den
Gedanken: „Ich gehe, um wiederholt hier und da damit zu binden“, in Einem
Worte aus: galöstisanidolega! — Um die menſchliche Sprache in dem ganzen
Reichthum ihrer möglichen Geſtaltungen zu begreifen, müſſen wir die lautlichen,
morphologiſchen und ſyntaktiſchen Mittel aller Sprachen und das Verhalten einer
jeden einzelnen gegenüber den logiſchen und pſychologiſchen Erforderniſſen überſchauen.
Offenbar iſt dies ſeinerſeits erſt dann vollkommen zu erreichen, wenn alle oder
doch alle in typiſcher Hinſicht wichtigern Sprachen in erſchöpfender Weiſe grammati¬
kaliſch erforſcht ſein werden. Und die Aufgabe der Einzelſprachlehre kann man nicht
hoch genug ſtellen. Die Geſchichte unſerer eigenen Philologie mag dies bezeugen;
man braucht nur an die jahrhundertelange Reihe von Vorarbeiten zu denken, deren
Unſere Zeit. 1881. I. 19[290]Unſere Zeit. es bedurfte, ehe die lateiniſche Grammatik ihre heutige Verfaſſung erhielt. Jede
Form des Sprachbaues verlangt eine beſondere, ihr allein zukommende Form der
Darſtellung. Dieſe zu finden, ſetzt nicht nur wahres Eingelebtſein in das Idiom
voraus, ſondern auch, und vielleicht vornehmlich, einen ſichern und klaren ſprach¬
philoſophiſchen Verſtand. Wo dem Verfaſſer das eine oder das andere mangelt,
da eile man raſch über ſeine Arbeit hinweg und tummele ſich um ſo unbefangener
in der lebendigen Sprache, in der Lektüre von Texten und, wenn es ſein kann,
im Geſpräch.
Jede Aneignung einer fremdgeiſtigen Sprache iſt zugleich eine That der Be¬
freiung von ſo vielen Vorurtheilen, welche uns von den früher erlernten Idiomen
her anhaften; man findet Sprachfactoren, die uns nutzlos erſcheinen, vermißt
andere, welche wir für unentbehrlich hielten. Warum das? Weil man von Haus
aus gewöhnt iſt, die Theile früher zu betrachten als das Ganze, die Wörter und
ihre Formen früher als den Satz. Solange man eine Sprache nur ſo kennt, wie
ſie zerſtückelt auf dem Secirtiſche vorliegt, ahnt man nimmermehr, was ſie ver¬
mag; da fällt man Urtheile, wie wir ſie oft genug leſen können, Urtheile, die um
kein Gran verſtändiger ſind als jenes: der Fiſch hat keine Lunge, folglich kann
er nicht athmen! Solange wir unſere Studien auf die uns geiſtig und leiblich
verwandten Sprachenkreiſe beſchränken, liegt die Gefahr nahe, daß wir die Be¬
deutung des ſyntaktiſchen Moments unterſchätzen. Allein ſchon der erſte ernſtliche
Schritt über dieſe Schranke hinaus wird zu der Erkenntniß führen, wie viel wir
bis dahin beſeſſen und unbewußt verwerthet hatten, was nun plötzlich ſeinen Dienſt
verſagt. Unſere Sanskritgrammatiken dürften nicht da aufhören, wo die Syntax
anfangen ſollte, wenn nicht die Grundgeſetze des altindiſchen Satzbaues die näm¬
lichen wären wie die der übrigen zur Familie gehörenden Sprachen.
Ich glaube, es iſt Zeit, daß auch wir Deutſchen uns jener minder gepflegten
Gebiete der Sprachwiſſenſchaft annehmen. Auch ſie bedürfen der Pflege, das wird
niemand beſtreiten, und ich glaube, ſie dürfen dieſe Pflege erwarten an einer Hoch¬
ſchule erſten Ranges, deren Aufgabe und Ruhm es iſt, recht eigentlich eine universitas
literarum zu ſein.
Vielleicht bedurfte es nicht einmal dieſer Worte pro domo; liegt doch die
Sprachwiſſenſchaft in der von mir gewünſchten Ausdehnung keinem andern Lehr¬
fache näher als demjenigen, welches ſelbſt die entlegenſten Sprachgebiete zum
Gegenſtande hat. Man kann wol Chineſiſch rein praktiſch und empiriſch erlernen
wie jede andere Sprache; wiſſenſchaftlich ſtudiren, begreifen kann man es aber
nicht ohne ſcharfes ſprachphiloſophiſches Nachdenken. Man hat dieſe Sprache eine
formloſe genannt, weil ſie eine iſolirende, der Flexions- und Agglutinationsmittel
entbehrende iſt; und wieder hat man ſie eine Formſprache genannt, weil ſie die
grammatiſchen Beziehungen rein und fein wie kaum eine zweite zum Ausdruck
zu bringen vermag. Beides iſt wahr, ſo unvereinbar es ſcheinen mag. Das
Chineſiſche beſitzt nur zwei grammatiſche Factoren: feſte und klare Geſetze der
Wortſtellung und verdeutlichende Hülfswörter. Es würde zu weit führen, wenn
ich auch nur andeutungsweiſe erklären wollte, wie kunſtvoll und doch natürlich
dieſe beiden ineinanderwirken. Genug, die Sprache, wie ſie iſt, hat ſich bewährt
[291]Die oſtaſiatiſchen Studien und die Sprachwiſſenſchaft.als Trägerin einer der bedeutendſten Literaturen, jeder logiſchen Abſtraction ge¬
wachſen, fähig eines reichen Periodenbaues und wieder einer wuchtigen Kürze und
einer rhetoriſchen Kraft und Innigkeit, wie ſie ſo vereint ſich kaum in einer andern
Sprache finden dürften. Die Grammatik ſtellt an das Gedächtniß des Lernenden
ſehr beſcheidene, an ſein logiſches Denken ſehr hohe Anforderungen. Mit dem
Herſagen von Paradigmen und dem Aufzählen von Unregelmäßigkeiten bleibt er
verſchont. Dafür muß er ſeinen Geiſt einer ihm gänzlich neuen Denkweiſe anbe¬
quemen; er muß dieſe in ihrer ganzen Folgerichtigkeit nicht nur begreifen, ſondern
geradezu erleben, und ich wüßte nicht, wo ihm die Bedeutung der Syntax deut¬
licher zu Tage treten ſollte als hier, wo nicht nur die Beziehungen der Wörter
untereinander, ſondern auch ihre Functionen als Redetheile, als Subſtantiva,
Adjectiva, Verba u. ſ. w. ſich lediglich aus dem Satznexus ergeben. Die An¬
regung mag eine einſeitige ſein, aber ſie iſt eine mächtige; wer ſie mit wiſſen¬
ſchaftlich empfänglichem Sinne empfunden hat, dem wird von ſelbſt nach andern
ähnlichen verlangen. Und kein Verlangen iſt gegründeter; denn mit jeder neuen
Sprache, die wir erlernen, erſchließt ſich in uns eine neue Gedankenwelt.
19*
1879 gehaltenen Antrittsvorleſung.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq5r.0