des
klaſſiſchen Alterthums.
des
klaſſiſchen Alterthums.
Verlag von S. G. Lieſching.
1839.
von ſeiner Erbauung bis zu ſeinem Untergang.
Verlag von S. G. Lieſching.
1839.
Vorwort.
Auf den erſten Band dieſer Sammlung der ſchönſten Sagen
des klaſſiſchen Alterthums, der eine Mannigfaltigkeit kleinerer
Mythen und Geſchichten in ſich ſchloß, folgt in gegenwärtigem
zweiten Bande eine einzige Sage, aber die großartigſte der alten
Zeit, die Sage von Troja, und zwar von der Stadt Grün¬
dung bis zu ihrem Untergange, mithin in einer Vollſtändigkeit,
wie ſie als Erzählung aus den Quellen noch nie in dieſer Geſtalt
zuſammengefaßt worden iſt. Der Bearbeiter wünſcht und hofft,
daß das Ganze, auf dieſe Weiſe überſchaulich gemacht, nicht nur
der Jugend neu und intereſſant erſcheinen, ſondern auch manchem
ältern Leſer der Ilias als eine im Geiſte dieſes unſterblichen
Gedichts wenigſtens verſuchte Vervollſtändigung nicht unwillkommen
[VIII] ſeyn werde. Um ſo mehr hat er die Pflicht, ſich darüber auszu¬
weiſen, daß jene Ergänzung von ihm nicht willkührlich, ſondern
mit gewiſſenhafter Benützung der Alten ſelbſt, deren Quelle ihrer¬
ſeits die epiſchen Darſtellungen einzelner cykliſchen Dichter waren,
vorgenommen worden iſt.
Im erſten Viertel des vorliegenden Bandes mußte ſich der
Verfaſſer für den Strom der Erzählung mit den trübe fließenden
Quellen jener rhetoriſchen Machwerke behelfen, die wir, aus
ſpäteſter Zeit, unter den Namen des Dictys Cretenſis, und des
Dares Phrygius beſitzen. Doch bildet ihr Bericht, aus welchem
immer das mit Homer am leichteſten Vereinbare herausgeſucht
wurde, nur das hiſtoriſche Grundgewebe oder die Kette der Bege¬
benheiten, während die berühmteſten Dichter des griechiſchen und
römiſchen Alterthums, Sophokles, Euripides, Horaz, Ovid u. A.
den farbenreichen Einſchlag ihrer Phantaſie zu dem Geſpinſte
beiſteuerten.
Den Kern der Sage bildet ſodann die Ilias Homers,
welchem der Erzähler auch für die beiden andern Theile dieſes
Bandes den allgemeinen Ton der Darſtellung abzulauſchen, und
deſſen Färbung er in demjenigen Theile, in welchem er der ein¬
zige Berichterſtatter iſt, ſo unverkümmert, als es in ungebundener
Rede und doch dabei zuſammengedrängtem Vortrage geſchehen
[IX] konnte, beizubehalten ſich beſtrebt hat. Die Homeriſche Geſchichte
der Ilias bildet auf ſolche Weiſe faſt die Hälfte des zweiten
Bandes. Täuſcht den Verfaſſer dieſes Buches ſeine Hoffnung
nicht, ſo iſt die innere Geſtalt der unverderblichſten Dichtung auch
unter Aufopferung der poetiſchen Form nicht verloren gegangen,
und ihr Götterleib ſchimmert noch durch das prunkloſe Gewand
der ſchlichteſten Proſa hindurch.
Das letzte Viertel des Bandes iſt wieder mehreren Dichtern
entnommen: Pindar, Sophokles, Virgil ſind wiederholt berückſich¬
tigt worden; doch iſt hier der Darſteller ſo glücklich geweſen, in
der Fortſetzung Homers durch den Dichter Quintus, deſſen
weiterer Name, Vaterland und Zeitalter in eine ungerechte Ver¬
geſſenheit oder Unſicherheit gehüllt ſind, und den nur die Gelehr¬
ſamkeit bald Calaber, bald Smyrnäus benannt hat, eine ächt
poetiſche Grundlage, und Stoff wie Form zu fortlaufender Erzäh¬
lung vorzufinden. Die Paralipomenen dieſes Poeten ſind ein
klaſſiſches Kunſtwerk und werden hoffentlich in ihrer Schönheit
und Größe, gleich den Schöpfungen anderer Dichter, durch die
treffliche metriſche Ueberſetzung des Herrn Profeſſors Platz in
Wertheim, der das Publikum in der Sammlung verdeutſchter
Klaſſiker entgegenſehen darf, ſich bald die Anerkennung aller
Freunde ächter Poeſie gewinnen. Der künſtleriſchen Uebertragung
[X] jenes Gedichtes, welche der Erzähler dieſer Sagen im Manu¬
ſkripte zu benützen Gelegenheit gehabt hat, verdankt ſeine Dar¬
ſtellung an Farbe und lebendigem Ausdrucke nicht wenig, und der
genannte Gelehrte möge den öffentlichen Dank, welcher ihm hier
dargebracht wird, nicht verſchmähen.
Was die allgemeinen Grundſätze betrifft, nach welchen auch
der gegenwärtige Sagenkreis vom Verfaſſer in der Erzählung
behandelt worden iſt, ſo ſind ſie dieſelben, die bei Abfaſſung des
erſten Bandes befolgt worden ſind; und der Bearbeiter freut ſich,
daß ihre Anwendung den Beifall billiger und einſichtiger Richter
erlangt hat.
G. Schwab.
[[XI]]
Inhalts-Ueberſicht.
- Seite
- Troja's Erbauung 3.
- Priamus, Hekuba und Paris 7.
- Der Raub der Helena 12.
- Die Griechen 19.
- Botſchaft der Griechen an Priamus 25.
- Agamemnon und Iphigenia 29.
- Abfahrt der Griechen. Ausſetzung des Philoktetes 46.
- Die Griechen in Myſien. Telephus 47.
- Paris zurückgekehrt 53.
- Die Griechen vor Troja 55.
[XII]
- Seite
- Ausbruch des Kampfes. Protefilaus. Cygnus 65.
- Palamedes und ſein Tod 71.
- Thaten des Achilles und Ajax 73.
- Polydorus 77.
- Chryſes, Apollo und der Zorn des Achilles 84.
- Verſuchung des Volkes durch Agamemnon 93.
- Paris und Menelaus 100.
- Pandarus 113.
- Die Schlacht. Diomedes 118.
- Glaukus und Diomedes 135.
- Hektor in Troja 137.
- Hektor und Ajax im Zweikampfe 143.
- Waffenſtillſtand 149.
- Sieg der Trojaner 153.
- Botſchaft der Griechen an Achilles 160.
- Dolon und Rheſus 164.
- Zweite Niederlage der Griechen 172.
- Kampf um die Mauer 182.
- Kampf um die Schiffe 188.
- Seite
- Die Griechen von Poſeidon geſtärkt 198.
- Hektor von Apollo gekräftigt 204.
- Tod des Patroklus 215.
- Jammer des Achilles 237.
- Achilles neu bewaffnet 245.
- Achilles und Agamemnon verſöhnt 252.
- Schlacht der Götter und Menſchen 259.
- Kampf des Achilles mit dem Stromgotte Skamander 267.
- Schlacht der Götter 273.
- Achilles und Hektor vor den Thoren 277.
- Der Tod Hektors 282.
- Leichenfeier des Patroklus 289.
- Priamus bei Achilles 300.
- Hektors Leichnam in Troja 312.
- Penthefiléa 316.
- Memnon 332.
- Der Tod des Achilles 342.
- Leichenſpiele des Achilles 349.
[XIV]
- Seite
- Der Tod des großen Ajax 359.
- Machaon und Podalirius 369.
- Neoptolemus 375.
- Philoktetes auf Lemnos 384.
- Der Tod des Paris 392.
- Sturm auf Troja 398.
- Das hölzerne Pferd 402.
- Die Zerſtörung Troja's 417.
- Menelaus und Helena. Polyxena 424.
- Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod 431.
Erſtes Buch.
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 1[[2]][[3]]Troja's Erbauung.
In uralten Zeiten wohnten auf der Inſel Samothrace,
im ägäiſchen Meere, zwei Brüder, Iaſion und Dardanus,
Söhne des Jupiter und einer Nymphe, Fürſten des Lan¬
des. Von dieſen wagte Iaſion, als ein Götterſohn, ſeine
Augen zu einer Tochter des Olymp zu erheben, warf eine
ungeſtüme Neigung auf die Göttin Demeter [Ceres], und
wurde zur Strafe ſeiner Kühnheit vom eigenen Vater mit
dem Blitze erſchlagen. Dardanus, der andere Sohn, ver¬
ließ, tief betrübt über den Tod ſeines Bruders, Reich und
Heimath, und ging hinüber auf das aſiatiſche Feſtland, an
die Küſte Myſiens, da wo die Flüſſe Simois und Ska¬
mander vereinigt in das Meer ſtrömen, und das hohe
Idagebirge ſich nach dem Meere abgedacht in eine Ebene
verliert. Hier herrſchte der König Teucer, Kretiſchen Ur¬
ſprungs, und nach ihm hieß auch das Hirtenvolk jener
Gegenden Teukrer. Von dieſem Könige wurde Dar¬
danus gaſtfreundlich aufgenommen, bekam einen Strich
Landes zum Eigenthum und die Tochter des Königes zur
Gemahlin. Er gründete eine Anſiedlung, das Land wurde
nach ihm Dardania und das Volk der Teukrer von nun
an Dardaner genannt. Ihm folgte ſein Sohn Erichthonius
in der Herrſchaft, und dieſer zeugte den Tros, nach wel¬
chem die Landſchaft nun Troas, der offene Hauptort des
Landes Troja, und Teukrer oder Dardaner jetzt auch
1 *[4] Trojaner oder Troer genannt wurden. Nachfolger des Köni¬
ges Tros war ſein älteſter Sohn Ilus. Als dieſer einſt das
benachbarte Land der Phryger beſuchte, wurde er von dem
Könige Phrygiens zu eben angeordneten Kampfſpielen
eingeladen, und trug hier im Ringkampfe den Sieg davon.
Er erhielt als Kampfpreis fünfzig Jünglinge und eben ſo
viele Jungfrauen, dazu eine buntgefleckte Kuh, die ihm der
König mit der Weiſung eines alten Orakelſpruches über¬
gab, wo ſie ſich niederlegen würde, da ſollte er eine Burg
gründen. Ilus folgte der Kuh, und da ſie ſich bei dem
offenen Flecken lagerte, der ſeit ſeinem Vater Tros
der Sitz des Landes und ſeine eigene Wohnung war, auch
ſchon Troja hieß, ſo baute er hier auf einem Hügel die
feſte Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamus geheißen,
wie denn das ganze Weſen von nun an bald Troja, bald
Ilion, bald Pergamus genannt wurde. Ehe er jedoch die
Burg anlegte, bat er ſeinen Ahnherrn Zeus um ein Zei¬
chen, daß ihm die Gründung derſelben genehm ſey. Am
folgenden Tage fand er das vom Himmel gefallene Bild
der Göttin Athene, Palladium genannt, vor ſeinem Zelte
liegen. Es war drei Ellen hoch, hatte geſchloſſene Füße,
und hielt in der rechten Hand einen erhobenen Speer, in
der andern Rocken und Spindel. Mit dieſem Bilde hatte
es folgende Bewandniß. Die Göttin Athene [Minerva]
wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem
Triton, einem Meergott, erzogen, der eine Tochter Namens
Pallas hatte, die gleichen Alters mit Athene und ihre ge¬
liebte Geſpielin war. Eines Tages nun, als die beiden
Jungfrauen ihren kriegeriſchen Uebungen oblagen, traten
ſie zu einem ſcherzhaften Wettkampfe einander gegenüber.
Eben wollte die Tritonentochter Pallas einen Streich auf
[5] ihre Geſpielin führen, als Jupiter, für ſeine Tochter ban¬
gend, den Schild aus Ziegenfell, die Aegide, dieſer vor¬
hielt. Dadurch erſchreckt, blickte Pallas furchtſam auf, und
wurde in dieſem Augenblicke von Athene tödtlich verwundet.
Tiefe Trauer bemächtigte ſich der Göttin, und ſie ließ zum
dauernden Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer gelieb¬
ten Geſpielin Pallas verfertigen, legte demſelben einen
Bruſtharniſch von dem gleichen Ziegenfelle, wie der Schild
war, um, der nun auch Aegispanzer oder Aegide hieß,
ſtellte das Bild neben die Bildſäule Jupiters und hielt es
hoch in Ehren. Sie ſelbſt aber nannte ſich ſeitdem Pallas
Athene. Dieſes Palladium nun warf, mit Einwilligung
ſeiner Tochter, Jupiter vom Himmel in die Gegend der
Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt
unter ſeinem und ſeiner Tochter Schutze ſtehe.
Der Sohn des Königes Ilus und der Eurydice war
Laomedon, ein eigenmächtiger und gewaltthätiger Mann, der
Götter und Menſchen betrog. Dieſer dachte darauf, den
offenen Flecken Troja, der noch nicht befeſtigt war, wie
die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und ſo zu einer
förmlichen Stadt zu machen. Damals irrten die Götter
Apollo und Poſeidon (Neptunus), die ſich gegen ihren
Vater Jupiter empört hatten und aus dem Himmel geſto¬
ßen waren, heimathlos auf der Erde umher. Es war der
Wille des Zeus, daß ſie dem Könige Laomedon an der
Mauer Troja's bauen helfen ſollten, damit die Lieblings¬
ſtadt Jupiter's und Athene's der Zerſtörung trotzende Mauern
hätte. So führte ſie denn ihr Geſchick in die Nähe von
Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen
wurde. Die Götter machten dem Könige Laomedon ihre
Anträge, und da ſie auf der Erde nicht blos müßig gehen
[6] durften, noch ohne Arbeit mit Ambroſia geſpeist wurden,
ſo bedingten ſie ſich einen Lohn aus, der ihnen auch ver¬
ſprochen ward, und fingen nun an zu fröhnen. Neptu¬
nus half unmittelbar bei dem Bau; unter ſeiner Leitung
ſtieg die Ringmauer breit und ſchön, eine undurchdringliche
Schutzwehre der Stadt, in die Höhe. Phöbus Apollo
weidete inzwiſchen das Hornvieh des Königes in den ge¬
wundenen Schluchten und Thälern des waldreichen Gebir¬
ges Ida. Die Götter hatten verſprochen, auf dieſe Weiſe
dem Könige ein Jahr lang zu fröhnen. Als nun dieſe
Friſt abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer fertig
ſtand, entzog der trügeriſche Laomedon den Göttern gewalt¬
ſam ihren geſammten Lohn, und als ſie mit ihm rechteten
und der beredte Apollo ihm bittere Vorwürfe machte, ſo
jagte er beide fort, mit der Androhung, dem Phöbus Hände
und Füße feſſeln zu laſſen, beiden aber die Ohren abzu¬
ſchneiden. Mit großer Erbitterung ſchieden die Götter,
und wurden Todfeinde des Königs und des Volkes der
Trojaner, auch Athene kehrte ſich von der Stadt, die bis¬
her ihre Schützlingin geweſen war, ab, und ſchon jetzt
war, einer ſtillſchweigenden Einwilligung Jupiters zu Folge,
die eben erſt mit ſtattlichen Mauern verſehene Hauptſtadt
mit ihrem Königsgeſchlecht und Volke dieſen Göttern, zu
welchen ſich mit dem glühendſten Haſſe in kurzer Zeit auch
Juno geſellte, zum Verderben überlaſſen.
[7]
Priamus, Hekuba und Paris.
Das weitere Loos des Königes Laomedon und ſeiner
Tochter Heſione iſt ſchon von uns berichtet worden*).
Ihm folgte ſein Sohn Priamus in der Regierung. Dieſer
vermählte ſich in zweiter Ehe mit Hekuba oder Hekabe,
der Tochter des phrygiſchen Königes Drymas. Ihr erſter
Sohn war Hektor. Als aber die Geburt ihres zweiten
Kindes herannahete, da ſchaute Hekuba in einer dunkeln
Nacht im Traume ein entſetzliches Geſicht. Ihr war, als
gebäre ſie einen Fackelbrand, der die ganze Stadt Troja
in Flammen ſetze und zu Aſche verbrenne. Erſchrocken
meldete ſie dieſen Traum ihrem Gemahle Priamus. Der
ließ ſeinen Sohn aus erſter Ehe, Aeſakus mit Namen, kom¬
men, welcher ein Wahrſager war, und von ſeinem mütterlichen
Großvater Merops die Kunſt Träume zu deuten erlernt hatte.
Aeſakus erklärte, ſeine Stiefmutter Hekuba werde einen
Sohn gebären, der ſeiner Vaterſtadt zum Verderben gerei¬
chen müſſe. Er rieth daher, das Kind, das ſie erwartete,
auszuſetzen. Wirklich gebar die Königin einen Sohn, und
die Liebe zum Vaterland überwog bei ihr das Muttergefühl.
Sie geſtattete ihrem Gatten Priamus, das neugeborne
Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg Ida
tragen und daſelbſt ausſetzen ſollte. Der Knecht hieß
Agelaus. Dieſer that wie ihm befohlen war; aber eine
Bärin reichte dem Säugling die Bruſt und nach fünf
Tagen fand der Sklave das Kind geſund und munter im
[8] Walde liegen. Jetzt hob er es auf, nahm es mit ſich,
erzog es auf ſeinem Aeckerchen wie ſein eigenes Kind und
nannte den Knaben Paris.
Als der Königsſohn unter den Hirten zum Jünglinge
herangewachſen war, zeichnete er ſich durch Körperkraft
und Schönheit aus, und wurde ein Schutz aller Hirten
des Berges Ida gegen die Räuber, daher ihn jene auch
nur Alexander, d. h. Männerhilf, nannten.
Nun geſchah es eines Tages, als er mitten im abweg¬
ſamſten und ſchattigſten Thale, das ſich durch die Schluch¬
ten des Berges Ida hinzog, zwiſchen Tannen und Stein¬
eichen, ferne von ſeinen Heerden, die den Zugang zu dieſer
Einſamkeit nicht fanden, an einen Baum gelehnt mit ver¬
ſchränkten Armen hinabſchaute durch den Bergriß, der eine
Durchſicht auf die Palläſte Troja's und das ferne Meer
gewährte, daß er einen Götterfußtritt vernahm, der die Erde
um ihn her beben machte. Eh er ſich beſinnen konnte,
ſtand, halb von ſeinen Flügeln, halb von den Füßen getra¬
gen, Merkur der Götterbote, den goldnen Heroldsſtab in
den Händen, vor ihm; doch war auch er nur der Verkün¬
diger einer neuen Göttererſcheinung: denn drei himmliſche
Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit leichten Füßen
über das weiche, nie gemähete und nie abgeweidete Gras
einhergeſchritten, daß ein heiliger Schauer den Jüngling
überlief und ſeine Stirnhaare ſich aufrichteten. Doch der
geflügelte Götterbote rief ihm entgegen: „Lege alle Furcht ab;
die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem Schiedsrichter:
dich haben ſie gewählt zu entſcheiden, welche von ihnen
Dreien die ſchönſte ſey. Jupiter befiehlt dir, dich dieſem
Richteramte zu unterziehen: er wird dir ſeinen Schirm und
Beiſtand nicht verſagen!“ So ſprach Merkur und erhob
[9] ſich auf ſeinen Fittigen, den Augen des Königsſohnes ent¬
ſchwebend, über das enge Thal empor. Seine Worte
hatten dem blöden Hirten Muth eingeflößt, er wagte es,
den ſchüchtern geſenkten Blick zu erheben und die göttlichen
Geſtalten, die in überirdiſcher Größe und Schönheit ſeines
Spruches gewärtig vor ihm ſtanden, zu muſtern. Der
erſte Anblick ſchien ihm zu ſagen, daß eine wie die andere
werth ſey, den Preis der Schönheit davon zu tragen:
doch gefiel ihm jetzt die eine Göttin mehr, jetzt die andere,
ſo wie er länger auf einer der herrlichen Geſtalten ver¬
weilt hatte. Nur ſchien ihm allmählig eine, die jüngſte
und zärteſte, holder und liebenswerther als die andern,
und ihm war, als ob aus ihren Augen ein Netz von
Liebesſtrahlen ausgehend, ſich ihm um Blick und Stirne
ſpänne. Indeſſen hub die ſtolzeſte der drei Frauen, die
an Wuchs und Hoheit über die beiden andern hervorragte,
dem Jünglinge gegenüber an: „Ich bin Juno, die Schwe¬
ſter und Gemahlin Jupiters. Wenn du dieſen goldenen
Apfel, welchen Eris, die Göttin der Zwietracht, beim Hoch¬
zeitmahle der Thetis und des Peleus unter die Gäſte
warf, mit der Aufſchrift: „der Schönſten,“ mir zuerkenneſt,
ſo ſoll dir, ob du gleich nur ein aus dem Königspallaſte
verſtoßener Hirte biſt, die Herrſchaft über das ſchönſte
Reich der Erde nicht fehlen.“ — „Ich bin Pallas, die
Göttin der Weisheit,“ ſprach die andere mit der reinen,
gewölbten Stirne, den tiefblauen Augen und dem jung¬
fräulichen Ernſt im ſchönen Antlitz; „wenn du mir den
Sieg zuerkennſt, ſollſt du den höchſten Ruhm der Weisheit
und Männertugend unter den Menſchen ärnten!“ Da
ſchaute die dritte, die bisher immer nur mit den Augen
geſprochen hatte, den Hirten mit einem ſüßen Lächeln
[10] noch durchdringender an, und ſagte: „Paris, du wirſt dich
doch nicht durch das Verſprechen von Geſchenken bethören
laſſen, die beide voll Gefahr und ungewiſſen Erfolges
ſind! Ich will dir eine Gabe geben, die dir gar keine
Unluſt bereiten ſoll; ich will dir geben, was du nur zu
lieben brauchſt, um ſeiner froh zu werden: das ſchönſte
Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme
führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!“
Als Venus dem Hirten Paris dieß Verſprechen that,
ſtand ſie vor ihm, mit ihrem Gürtel geſchmückt, der ihr
den höchſten Zauber der Anmuth verlieh. Da erblaßte
vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit
der Reiz der andern Göttinnen vor ſeinen Augen, und
mit trunkenem Muthe erkannte er der Liebesgöttin das
goldene Kleinod, das er aus Juno's Hand empfangen
hatte, zu. Juno und Minerva wandten ihm zürnend
den Rücken und ſchwuren die Majeſtätsbeleidigung ihrer
Geſtalt an ihm, an ſeinem Vater Priamus, am Volk
und Reiche der Trojaner zu rächen, und alle miteinander
zu verderben, und Here [Juno] insbeſondere wurde von
dieſem Augenblicke an die unverſöhnlichſte Feindin der Tro¬
janer. Venus aber ſchied von dem entzückten Hirten mit
holdſeligem Gruße, nachdem ſie ihm ihr Verſprechen feier¬
lich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.
Paris lebte ſeiner Hoffnung geraume Zeit als uner¬
kannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die
Wünſche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, ſo
lange nicht in Erfüllung gingen, ſo vermählte er ſich hier
mit einer ſchönen Jungfrau Namens Oenone, die für die
Tochter eines Flußgottes und einer Nymphe galt, und mit
welcher er auf dem Berge Ida bei ſeinen Heerden glück¬
[11] liche Tage in der Verborgenheit verlebte. Endlich lockten
ihn Leichenſpiele, die der König Priamus für einen ver¬
ſtorbenen Anverwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er
früher nie betreten hatte. Priamus ſetzte nämlich bei die¬
ſem Feſte als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei
den Hirten des Ida von ſeinen Heerden holen ließ. Nun
traf es ſich, daß gerade dieſer Stier der Lieblingsſtier des
Paris war, und da er ihn ſeinem Herrn dem Könige nicht
vorenthalten durfte, ſo beſchloß er wenigſtens den Kampf
um denſelben zu verſuchen. Hier ſiegte er in den Kampf¬
ſpielen über alle ſeine Brüder, ſelbſt über den hohen Hektor,
der der tapferſte und herrlichſte von ihnen war. Ein anderer
muthiger Sohn des Königs Priamus, Deiphobus, von
Zorn und Schaam über ſeine Niederlage überwältigt,
wollte den Hirtenjüngling niederſtoßen. Dieſer aber flüch¬
tete ſich zum Altare Jupiters, und die Tochter des Pria¬
mus, Kaſſandra, welche die Wahrſagergabe von den
Göttern zum Angebinde erhalten hatte, erkannte in ihm
ihren ausgeſetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern,
vergaßen über der Freude des Wiederſehens die verhäng¬
nißvolle Weiſſagung bei ſeiner Geburt, und nahmen ihn
als ihren Sohn auf.
Vorerſt kehrte nun Paris zu ſeiner Gattin und ſeinen
Heerden zurück, indem er auf dem Berge Ida eine ſtatt¬
liche Wohnung als Königsſohn erhielt. Bald jedoch fand
ſich Gelegenheit für ihn zu einem königlicheren Geſchäfte,
und nun ging er, ohne es zu wiſſen, dem Preis entgegen,
den ihm ſeine Freundin, die Göttin Aphrodite, verſpro¬
chen hatte.
[12]
Der Raub der Helena.
Wir wiſſen, daß, als König Priamus noch ein zarter
Knabe war, ſeine Schweſter Heſione von Herkules, der
den Laomedon getödtet und Troja erobert hatte, als Sieges¬
beute fortgeſchleppt und ſeinem Freunde Telamon geſchenkt
worden war. Obgleich dieſer Held ſie zu ſeiner Gemah¬
lin erhoben und zur Fürſtin von Salamis gemacht, ſo
hatte doch Priamus und ſein Haus dieſen Raub nicht
verſchmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder
die Rede von dieſer Entführung war und Priamus ſeine
große Sehnſucht nach der fernen Schweſter zu erkennen
gab, da ſtand in dem Rathe ſeiner Söhne Alexander oder
Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte
nach Griechenland ſchicken wolle, ſo gedenke er mit der
Götter Hülfe des Vaters Schweſter den Feinden mit Ge¬
walt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach
Hauſe zurückzukehren. Seine Hoffnung ſtützte ſich auf die
Gunſt der Göttin Venus, und er erzählte deswegen dem
Vater und den Brüdern, was ihm, bei ſeinen Heerden
begegnet war. Priamus ſelbſt zweifelte jetzt nicht länger,
daß ſein Sohn Alexander den beſondern Schutz der Himm¬
liſchen erhalten werde und auch Deiphobus ſprach die gute
Zuverſicht aus, daß, wenn ſein Bruder mit einer ſtattlichen
Kriegsrüſtung erſchiene, die Griechen Genugthuung geben
und Heſione ihm ausliefern würden. Nun war aber unter
den vielen Söhnen des Priamus auch ein Seher, Namens
Helenus. Dieſer brach plötzlich in weiſſagende Worte aus
und verſicherte, wenn ſein Bruder Paris ein Weib aus
[13] Griechenland mitbringe, ſo werden die Griechen nach Troja
kommen, die Stadt ſchleifen, den Priamus und alle ſeine
Söhne niedermachen. Dieſe Wahrſagung brachte Zwieſpalt
in den Rath. Troilus, der jüngſte Sohn des Priamus,
ein thatenluſtiger Jüngling, wollte von den Prophezeihun¬
gen ſeines Bruders nichts hören, ſchalt ſeine Furchtſamkeit
und rieth, ſich von ſeinen Drohungen nicht vom Kriege
abſchrecken zu laſſen. Andere zeigten ſich bedenklicher.
Priamus aber trat auf die Seite ſeines Sohnes Paris,
denn ihn verlangte ſehnlich nach der Schweſter.
Nun wurde von dem König eine Volksverſammlung
berufen, in welcher Priamus den Trojanern vortrug, wie
er ſchon früher unter Antenor's Anführung eine Geſandt¬
ſchaft nach Griechenland geſchickt. Genugthuung für den
Raub der Schweſter und dieſe ſelbſt zurückverlangt hätte.
Damals ſey Antenor mit Schmach abgewieſen worden,
jetzt aber gedenke er, wenn es der Volksverſammlung ſo
gefalle, ſeinen eigenen Sohn Paris mit einer anſehnlichen
Kriegsmacht auszuſenden und das mit Gewalt zu erzwin¬
gen, was Güte nicht zuwege gebracht. Zur Unterſtützung
dieſes Vorſchlags erhub ſich Antenor, ſchilderte mit Unwil¬
len, was er ſelbſt, als friedlicher Geſandter, Schmähliches
in Griechenland geduldet hatte, und beſchrieb das Volk
der Griechen als trotzig im Frieden und verzagt im Kriege.
Seine Worte feuerten das Volk an, daß es ſich mit lau¬
tem Zurufe für den Krieg erklärte. Aber der weiſe König
Priamus wollte die Sache nicht leichtſinnig beſchloſſen
wiſſen und forderte Jeden auf zu ſprechen, der ein Beden¬
ken in dieſer Angelegenheit auf dem Herzen hätte. Da
ſtand Panthous, einer der Aelteſten Troja's, in der Ver¬
ſammlung auf, und erzählte, was ſein Vater Othryas,
[14] von der Götter Orakel belehrt, ihm ſelbſt in jungen
Jahren anvertraut hatte. Wenn je einmal ein Königsſohn
aus Laomedons Geſchlechte eine Gemahlin aus Griechen¬
land ins Haus führen würde, ſo ſtehe den Trojanern das
äußerſte Verderben bevor. „Darum,“ ſchloß er ſeine Rede,
„laſſet uns den trügeriſchen Kriegsruhm nicht verführen,
Freunde, und unſer Leben lieber in Frieden und Ruhe
dahinbringen, als auf das Spiel der Schlachten ſetzen
und zuletzt mit ſammt der Freiheit verlieren.“ Aber das
Volk murrte über dieſen Vorſchlag und rief ſeinem Könige
Priamus zu, den furchtſamen Worten eines alten Mannes
kein Gehör zu ſchenken und zu thun, was er im Herzen
doch ſchon beſchloſſen hätte.
Da ließ Priamus Schiffe rüſten, die auf dem Berge
Ida gezimmert worden, und ſandte ſeinen Sohn Hektor
ins Phrygerland, Paris und Deiphobus aber ins benach¬
barte Päonien, um verbündete Kriegsvölker zu ſammeln;
auch Troja's waffenfähige Männer ſchickten ſich zum Kriege
an, und ſo kam bald ein gewaltiges Heer zuſammen. Der
König ſtellte daſſelbe unter den Befehl ſeines Sohnes
Paris, und gab ihm den Bruder Deiphobus, den Sohn
des Panthous, Polydamas, und den Fürſten Aeneas an
die Seite; die mächtige Ausrüſtung ging in die See und
ſteuerte der griechiſchen Inſel Cythere zu, wo ſie zuerſt zu
landen gedachten. Unterwegs begegnete die Flotte dem
Schiffe des griechiſchen Völkerfürſten und ſpartaniſchen
Königes Menelaus, der auf einer Fahrt nach Pylos zu
dem weiſen Fürſten Neſtor begriffen war. Dieſer ſtaunte,
als er den prächtigen Schiffszug erblickte, und auch die
Trojaner betrachteten neugierig das ſchöne griechiſche Fahr¬
zeug, das feſtlich ausgeſchmückt einen der erſten Fürſten
[15] Griechenlands zu tragen ſchien. Aber beide Theile kannten
einander nicht, Jeder beſann ſich, wohin wohl der Andere
fahren möge, und ſo flogen ſie auf den Wellen aneinander
vorüber. Die trojaniſche Flotte kam glücklich auf der
Inſel Cythere an. Von dort wollte ſich Paris nach Sparta
begeben und mit den Jupitersſöhnen Caſtor und Pollux in
Unterhandlung treten, um ſeine Vatersſchweſter Heſione in
Empfang zu nehmen. Würden die griechiſchen Helden ſie
ihm verweigern, ſo hatte er von ſeinem Vater den Befehl,
mit der Kriegsflotte nach Salamis zu ſegeln und die Für¬
ſtin mit Gewalt zu entführen.
Ehe jedoch Paris dieſe Geſandtſchaftsreiſe nach Sparta
antrat, wollte er in einem der Venus und Diana gemein¬
ſchaftlich geweihten Tempel zuvor ein Opfer darbringen.
Inzwiſchen hatten die Bewohner der Inſel die Erſcheinung
der prächtigen Flotte nach Sparta gemeldet, wo in der
Abweſenheit ihres Gemahls Menelaus die Fürſtin Helena
allein Hof hielt. Dieſe, eine Tochter Jupiters und der
Leda, und die Schweſter des Kaſtor und Pollux, war die
ſchönſte Frau ihrer ganzen Zeit und als zartes Mädchen
ſchon von Theſeus entführt, aber von ihren Brüdern ihm
wieder entriſſen worden*). Als ſie, zur Jungfrau auf¬
geblüht, bei ihrem Stiefvater Tyndareus, König zu Sparta,
heranwuchs, zog ihre Schönheit ein ganzes Heer Freier
herbei, und der König fürchtete, wenn er Einen von ihnen
zum Eidam wählte, ſich alle Anderen zu Feinden zu ma¬
chen. Da gab ihm Odyſſeus von Ithaka, der kluge grie¬
chiſche Held, den Rath, alle Freier durch einen Eid zu
verpflichten, daß ſie dem erkohrenen Bräutigam gegen jeden
[16] Andern, der den König um dieſer Heirath ſeiner Tochter
willen anfeinden würde, mit den Waffen in der Hand
beiſtehen wollten. Als Tyndareus dieß vernommen, ließ er
die Freier den Eid ſchwören, und nun wählte er ſelbſt den
Sohn des Atreus, Agamemnons Bruder, Menelaus den
Argiverfürſten, gab ihm die Tochter zur Gemahlin und
überließ ihm ſein Königreich Sparta. Helena gebar ihrem
Gemahl eine Tochter, Hermione, die noch in der Wiege
lag, als Paris nach Griechenland kam.
Wie nun die ſchöne Fürſtin Helena, die in ihrem
Pallaſte während des Gemahls Abweſenheit freudloſe Tage
ohne Abwechslung verlebte, von der Ankunft der herrlichen
Ausrüſtung eines fremden Königsſohnes auf der Inſel
Cythere Kunde erhielt, wandelte ſie eine weibliche Neu¬
gierde an, den Fremdling und ſein kriegeriſches Gefolge
zu ſchauen, und um dieß Verlangen befriedigen zu können,
veranſtaltete auch ſie ein feierliches Opfer im Dianen¬
tempel auf Cythere. Sie betrat das Heiligthum in dem
Augenblicke, als Paris ſein Opfer vollbracht hatte. Wie
dieſer die eintretende Fürſtin gewahr ward, ſanken ihm die
zum Gebet erhobenen Hände und er verlor ſich in Stau¬
nen, denn er meinte, die Göttin Aphrodite ſelbſt wieder zu
erblicken, wie ſie ihm in ſeinem Hirtengehöfte erſchienen
war. Zwar war der Ruf ihrer Schönheit längſt zu ſeinen
Ohren gedrungen, und Paris war begierig geweſen, ihrer
Reize in Sparta anſichtig zu werden. Doch hatte er
gemeint, das Weib, das ihm die Göttin der Liebe verhei¬
ßen hatte, müſſe viel ſchöner ſeyn, als die Beſchreibung
von Helena lautete. Auch dachte er bei der Schönen, die
ihm verſprochen war, an eine Jungfrau und nicht an die
Gattin eines Anderen. Jetzt aber, wo er die Fürſtin von
[17] Sparta vor Augen ſah, und ihre Schönheit mit der Schön¬
heit der Liebesgöttin ſelbſt wetteiferte, ward ihm plötzlich
klar, daß nur dieſes Weib es ſeyn könne, das ihm Venus
zum Lohne für ſein Urtheil zugeſagt hatte. Der Auftrag
ſeines Vaters, der ganze Zweck der Ausrüſtung und Reiſe
ſchwand in dieſem Augenblick aus ſeinem Geiſte; er ſchien
ſich mit ſeinen Tauſenden Bewaffneter nur dazu ausge¬
ſendet, Helena zu erobern. Während er ſo in ihre Schön¬
heit verſunken ſtand, betrachtete auch die Fürſtin Helena
den ſchönen aſiatiſchen Königsſohn mit dem langen locki¬
gen Haarwuchs, in Gold und Purpur mit orientaliſcher
Pracht gekleidet, mit nicht unterdrücktem Wohlgefallen, das
Bild ihres Gemahls erbleichte in ihrem Geiſte und an
ſeine Stelle trat die reizende Geſtalt des jugendlichen
Fremdlings.
Indeſſen kehrte Helena nach Sparta in ihren Königs¬
pallaſt zurück, ſuchte das Bild des ſchönen Jünglings
aus ihrem Herzen zu verdrängen und wünſchte ihren noch
immer auf Pylos verweilenden Gatten Menelaus zurück.
Statt ſeiner erſchien Paris ſelbſt mit ſeinem erleſenen
Volke in Sparta, und bahnte ſich mit ſeiner Botſchaft den
Weg in des Königes Halle, obgleich dieſer abweſend war.
Die Gemahlin des Fürſten Menelaus empfing ihn mit
der Gaſtfreundſchaft, welche ſie dem Fremden, und mit
der Auszeichnung, welche ſie dem Königsſohne ſchuldig
war. Da bethörte ſeine Saitenkunſt, ſein einſchmeicheln¬
des Geſpräch, und die heftige Gluth ſeiner Liebe das
unbewachte Herz der Königin. Als Paris ihre Treue
wanken ſah, vergaß er den Auftrag ſeines Vaters und
Volkes und nur das trügeriſche Verſprechen der Liebes¬
göttin ſtand vor ſeiner Seele. Er verſammelte ſeine
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 2[18] Getreuen, die bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen
waren, und verführte ſie durch Ausſicht auf reiche Beute,
in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hülfe aus¬
zuführen gedachte. Dann ſtürmte er den Pallaſt, bemäch¬
tigte ſich der Schätze des griechiſchen Fürſten, und entführte
die ſchöne Helena widerſtrebend und doch nicht ganz wider
Willen nach der Inſel und ſeiner Flotte.
Als er mit ſeiner reizenden Beute auf der See durch
das ägäiſche Meer ſchwamm, überfiel die eilenden Fahrzeuge
eine plötzliche Windſtille: vor dem Königsſchiffe, das den
Räuber mit der Fürſtin trug, theilte ſich die Woge und
der uralte Meeresgott Nereus hub ſein ſchilfbekränztes
Haupt mit den triefenden Haar- und Bartlocken aus der
Fluth empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln
in das Waſſer geheftet ſchien, das ſelber einem ehernen
Walle glich, der ſich um die Rippen des Fahrzeugs auf¬
geworfen hatte, ſeine fluchende Wahrſagung zu: „Unglücks¬
vögel flattern deiner Fahrt voran, verfluchter Räuber!
Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verſchwo¬
ren, deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamus
zu zerreißen! Wehe mir, wie viel Roſſe, wie viel Män¬
ner erblicke ich! Wie viele Leichen verurſachſt du dem
dardaniſchen Volke! Schon rüſtet Pallas ihren Helm,
ihren Schild und ihre Wuth! Jahre lang dauert der blu¬
tige Kampf, und den Untergang deiner Stadt hält nur der
Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre
voll iſt, wird griechiſcher Feuerbrand die Häuſer Troja's
freſſen!“
So rief der Greis und tauchte wieder in die Fluth.
Mit Entſetzen hatte Paris zugehört, als aber der Fahr¬
wind wieder luftig blies, vergaß er bald im Arm der
[19] geraubten Fürſtin der Prophezeihung und legte mit ſeiner
ganzen Flotte vor der Inſel Kranae vor Anker, wo die
treuloſe und leichtſinnige Gattin des Menelaus ihm jetzt
freiwillig ihre Hand reichte und das feierliche Beilager
gehalten wurde. Da vergaßen beide Heimath und Vater¬
land und zehrten von den mitgebrachten Schätzen lange
Zeit in Herrlichkeit und Freuden. Jahre vergingen, bis
ſie nach Troja aufbrachen.
Die Griechen.
Die Verſündigung, die ſich Paris als Geſandter zu
Sparta gegen Völkerrecht und Gaſtrecht zu Schulden kom¬
men laſſen, trug im Augenblick ihre Früchte und empörte
gegen ihn ein bei dem Heldenvolke der Griechen Alles
vermögendes Fürſtengeſchlecht. Menelaus, König von
Sparta, und Agamemnon, ſein älterer Bruder, König von
Mycene, waren Nachkommen des Tantalus, Enkel des
Pelops, Söhne des Atreus, aus einem an hohen wie
an verruchten Thaten reichen Stamme; dieſen beiden
mächtigen Brüdern gehorchten außer Argos und Sparta
die meiſten Staaten des Peloponneſes, und die Häupter
des übrigen Griechenlands waren mit ihnen verbündet.
Als daher die Nachricht von dem Raube ſeiner Gattin
Helena den König Menelaus bei ſeinem greiſen Freunde
Neſtor zu Pylos traf, eilte der entrüſtete Fürſt zu ſeinem
Bruder Agamemnon nach Mycene, wo dieſer mit ſeiner
Gemahlin Klytämneſtra, der Halbſchweſter Helena's, regierte.
Dieſer theilte den Schmerz und den Unwillen ſeines
2*[20] Bruders; doch tröſtete er ihn und verſprach, die Freier Hele¬
na's ihres Eides zu gemahnen. So bereisten die Brüder
ganz Griechenland und forderten ſeine Fürſten zur Theil¬
nahme an dem Kriege gegen Troja auf. Die erſten, die
ſich anſchloſſen, waren Tlepolemus, ein berühmter Fürſt
aus Rhodos, ein Sohn des Herkules, der ſich erbot, neun¬
zig Schiffe zu dem Feldzuge gegen die trügeriſche Stadt
Troja zu ſtellen; dann Diomedes, der Sohn des unſterb¬
lichen Helden Tydeus, der mit achtzig Schiffen die muthig¬
ſten Peloponneſier der Unternehmung zuzuführen verſprach.
Nachdem dieſe beiden Fürſten mit den Atriden zu Sparta
Rath gepflogen, erging die Aufforderung auch an die
Dioskuren oder Jupitersſöhne Kaſtor und Pollux, die
Brüder Helena's. Dieſe aber waren ſchon auf die erſte
Nachricht von der Entführung ihrer Schweſter dem Räu¬
ber nachgeſegelt und bis zur Inſel Lesbos, ganz nahe an
die trojaniſche Küſte gekommen; dort ergriff ein Sturm
ihr Schiff und verſchlang es. Die Dioskuren ſelbſt ver¬
ſchwanden; aber die Sage verſicherte, ſie ſeyen nicht in
den Wellen umgekommen, ſondern ihr Vater Jupiter habe
ſie als Sternbilder an den Himmel verſetzt, wo ſie als
Beſchirmer der Schifffahrt und Schutzgötter der Schiff¬
fahrenden ihr ſegenvolles Amt von Zeitalter zu Zeitalter
verwalten. Indeſſen erhub ſich ganz Griechenland und
gehorchte der Aufforderung der Atriden; zuletzt waren nur
zwei berühmte Fürſten noch zurück. Der eine war der
ſchlaue Odyſſeus aus Ithaka, der Gemahl Penelope's.
Dieſer wollte ſein junges Weib und ſeinen zarten Knaben
Telemachus der treuloſen Gattin des Spartanerköniges zu
Liebe nicht verlaſſen. Als daher Palamedes, der Sohn
des Fürſten Nauplius aus Euböa, der vertraute Freund des
[21] Menelaus, mit dem Sparterfürſten deswegen zu ihm kam,
heuchelte er Narrheit, ſpannte zu dem Ochſen einen Eſel
an den Pflug und pflügte mit dem ſeltſamen Paare ſein
Feld, indem er in die Furchen, die er zog, ſtatt des Sa¬
mens Salz ausſtreute. So ließ er ſich von beiden
Helden treffen und hoffte dadurch von dem verhaßten Zuge
frei zu bleiben. Aber der einſichtsvolle Palamedes durch¬
ſchaute den verſchlagenſten aller Sterblichen, ging,
während Odyſſeus ſeinen Pflug lenkte, heimlich in ſeinen
Pallaſt, brachte ſeinen jungen Sohn Telemachus aus der
Wiege herbei und legte dieſen in die Furche, über die
Odyſſeus eben hinwegackern wollte. Da hob der Vater
den Pflug ſorgfältig über das Kind hinweg und wurde
von den laut aufſchreienden Helden ſeines Verſtandes
überwieſen. Er konnte ſich jetzt nicht länger mehr weigern,
an dem Zuge Theil zu nehmen, und verſprach, die bit¬
terſte Feindſchaft gegen Palamedes in ſeinem liſtigen Her¬
zen, zwölf bemannte Schiffe aus Ithaka und den Nachbar¬
inſeln dem Könige Menelaus zur Verfügung zu ſtellen.
Der andere Fürſt, deſſen Zuſtimmung noch nicht erfolgt,
ja deſſen Aufenthalt man nicht einmal kannte, war Achil¬
les, der junge, aber herrliche Sohn des Peleus und der
Meeresgöttin Thetis. Als dieſer ein neugebornes Kind
war, wollte ſeine unſterbliche Mutter auch ihn unſterblich
machen, ſteckte ihn, von ſeinem Vater Peleus ungeſehen,
des Nachts in ein himmliſches Feuer und fing ſo an zu
vertilgen, was vom Vater her an ihm ſterblich war. Bei
Tage aber heilte ſie die verſengten Stellen mit Ambroſia.
Dieß that ſie von einer Nacht zur andern. Einmal aber
belauſchte ſie Peleus, und ſchrie laut auf, als er ſeinen
Sohn im Feuer zappeln ſah. Dieſe Störung hinderte
[22] Thetis ihr Werk zu vollbringen, ſie ließ den unmündigen
Sohn, der auf dieſe Weiſe ſterblich geblieben war, troſtlos
liegen, entfernte ſich und kehrte nicht mehr in den Pallaſt
ihres Gatten zurück, ſondern entwich in das feuchte Wellen¬
reich der Nereiden. Peleus aber, der ſeinen Knaben gefähr¬
lich verwundet glaubte, hub ihn vom Boden auf und
brachte ihn zu dem großen Wundarzt, dem Erzieher ſo
vieler Helden, dem weiſen Centauren Chiron. Dieſer nahm
ihn liebreich auf, und nährte den Knaben mit Bärenmark
und mit der Leber von Löwen und Ebern. Als nun
Achilles neun Jahre alt war, erklärte der griechiſche Seher
Kalchas, daß die ferne Stadt Troja in Aſien, welcher der
Untergang durch griechiſche Waffen bevorſtehe, ohne dieſen
Knaben nicht werde erobert werden können. Dieſe Wahr¬
ſagung drang auch zu ſeiner Mutter Thetis hinab zur
See in ihr unſterbliches Ohr, und weil ſie wußte, daß
jener Feldzug ihrem Sohn den Tod bringen würde, ſo
ſtieg ſie wieder empor aus dem Meere, ſchlich ſich in ihres
Gatten Pallaſt, ſteckte den Knaben in Mädchenkleider, und
brachte ihn in dieſer Verwandlung zu dem Könige Lyko¬
medes auf der Inſel Scyros, der ihn unter ſeinen Mäd¬
chen als Jungfrau heranwachſen ließ und in weiblichen
Arbeiten großzog. Als aber dem Jüngling der Flaum um
das Kinn zu keimen anfing, entdeckte er ſich in ſeiner Ver¬
kleidung der lieblichen Tochter des Königes, Didamia.
Die gleiche zärtliche Neigung vereinigte in der Verborgen¬
heit den Heldenjüngling mit der königlichen Jungfrau und
während er bei allen Bewohnern der Inſel für eine Ver¬
wandte des Königs galt und auch bei Didamia für nichts
anderes gelten ſollte, war er heimlich ihr Gemahl gewor¬
den. Jetzt, wo der Götterſohn zur Beſiegung Troja's
[23] unentbehrlich war, entdeckte der Seher Kalchas, dem wie
ſein Geſchick, ſo auch ſein Aufenthalt kein Geheimniß geblie¬
ben, dieſen letztern den Atriden. Und nun ſchickten die
Fürſten den Odyſſeus und den Diomedes ab, ihn in den
Krieg zu holen. Als die Helden auf der Inſel Scyros
ankamen, wurden ſie dem Könige und ſeinen Jungfrauen
vorgeführt. Aber das zarte Jungferngeſicht verbarg den
künftigen Helden, und, ſo ſcharfſichtig der Blick der beiden
Griechenfürſten war, ſo vermochten ſie doch nicht, ihn aus
der Mädchenſchaar heraus zu erkennen. Da nahm Odyſ¬
ſeus ſeine Zuflucht zu einer Liſt. Er ließ, wie von unge¬
fähr, in den Frauenſaal, in dem die Mädchen ſich befan¬
den, einen Schild und einen Speer bringen, und dann die
Kriegstrompete blaſen, als ob der Feind heranrückte. Bei
dieſen Schreckenstönen entflohen alle Frauen aus dem
Saale, Achilles aber blieb allein zurück und griff muthig
zu dem Speer und zu dem Schilde. Jetzt ward er von
den Fürſten entlarvt und erbot ſich, an der Spitze ſeiner
Myrmidonen oder Theſſalier, in Begleitung ſeines Erzie¬
hers Phönix und ſeines Freundes Patroklus, welcher mit
ihm einſt bei Peleus aufgezogen worden war, mit fünfzig
Schiffen zu dem griechiſchen Heere zu ſtoßen.
Zum Verſammlungsort aller griechiſchen Fürſten und
ihrer Schaaren und Schiffe wurde die Hafenſtadt Aulis
in Böotien, an der Meerenge von Euböa, durch Aga¬
memnon auserſehen, den die Volkshäupter als den thätig¬
ſten Beförderer der Unternehmung zum oberſten Befehls¬
haber derſelben ernannt hatten.
In jenem Hafen ſammelten ſich nun außer den ge¬
nannten Fürſten mit ihren Schiffen unzählige andere. Die
vornehmſten darunter waren der rieſige Ajax, der Sohn
[24] des Telamon aus Salamis, und ſein Halbbruder Teucer,
der treffliche Bogenſchütze; der kleine, ſchnelle Ajax aus
dem Lokrerlande; Meneſtheus aus Athen, Askalafus und
Jalmenus, Söhne des Kriegsgottes mit ihren Minyern
aus Orchomenus; aus Böotien Peneleus, Arceſilaus,
Klonius, Prothoenor; aus Phocis Schedius und Epiſtro¬
phus; aus Euböa und mit den Abantern Elephenor; mit
einem Theile der Argiver und andern Peloponneſiern außer
Diomedes, Sthenelus, der Sohn des Kapaneus, und
Euryalus, der Sohn des Mekiſtheus; aus Pylus Neſtor
der Greis, der ſchon drei Menſchenalter geſehen; aus
Arkadien Agapenor, der Sohn des Ancäus; aus Elis und
andern Städten Amphimachus, Thalpius, Diores und
Polyxenus; aus Dulichium und den echinadiſchen Inſeln
Meges, der Sohn des Phyleus; mit den Aetoliern Thoas,
der Sohn des Adrämon; aus Kreta Idomeneus und Me¬
riones; aus Rhodos der Heraklide Tlepolemus; aus Syma
Nireus, der ſchönſte Mann im griechiſchen Heere; aus den
kalydniſchen Inſeln die Herakliden Phidippus und Antiphus;
aus Phylake Podarkes, Sohn des Iphiklus; aus Pherä in
Theſſalien Eumelos, der Sohn des Admetus und der
frommen Alceſtis; aus Methone, Thaumacia und Meliböa
Philoktetes; aus Tricca, Ithoma und Oechalia die zwei
heilkundigen Männer Podalirius und Machaon; aus Orme¬
nium und der Umgegend Eurypylus, der Sohn des Euä¬
mon; aus Argiſſa und der Gegend Polypötes, der Sohn
des Pirothous, des Theſeusfreundes; Guneus aus Cyphos,
Prothous aus Magneſia.
Dieß waren nebſt den Atriden, Odyſſeus und Achilles,
die Fürſten und Gebieter der Griechen, die, Keiner mit
wenigen Schiffen, ſich in Aulis ſammelten. Die Griechen
[25] ſelbſt wurden damals bald Danaer genannt, von dem
alten ägyptiſchen Könige Danaus her, der ſich zu Argos
im Peloponneſe niedergelaſſen hatte, bald Argiver, von
der mächtigſten Landſchaft Griechenlands, Argolis oder
dem Argiverlande; bald Achajer oder Achiver, von dem
alten Namen Griechenlands, Achaja. Später heißen ſie
Griechen, von Gräcus, dem Sohne des Theſſalus, und
Hellenen, von Hellen, dem Sohne des Deukalion und der
Pyrrha.
Botſchaft der Griechen an Priamus.
Unterdeſſen, ſo lange die Ausrüſtung der Griechen
ſich vorbereitete, ward von Agamemnon im Rathe ſeiner
Vertrauten und der erſten Häupter des Volkes, um auch
gütliche Mittel nicht unverſucht zu laſſen, beſchloſſen, daß
eine Geſandtſchaft nach Troja an den König Priamus
abgehen ſollte, um ſich über die Verletzung des Völker¬
rechts und den Raub der griechiſchen Fürſtin zu beſchweren
und die entriſſene Gattin des Fürſten Menelaus ſammt
ihren Schätzen zurückzufordern. Es wurde hierzu in der
Verſammlung der Kriegshäupter Palamedes, Odyſſeus
und Menelaus auserwählt, und obgleich Odyſſeus im
Herzen der Todfeind des Palamedes war, ſo unterwarf
er ſich doch zum gemeinen Beſten der Einſicht dieſes Für¬
ſten, der in dem griechiſchen Heere um ſeines Verſtandes
und ſeiner Erfahrung willen hoch gefeiert war, und über¬
ließ ihm willig die Ehre, am Hofe des Königs Priamus
als Sprecher aufzutreten.
[26]
Die Trojaner und ihr König waren über die Ankunft
einer Geſandtſchaft, die mit einer anſehnlichen Schiffs¬
rüſtung erſchien, in kein geringes Staunen verſetzt. Sie
wußten von der unmittelbaren Urſache der Sendung noch
nichts, denn Paris verweilte noch immer mit ſeiner ge¬
raubten Gattin auf der Inſel Kranae und war in Troja
verſchollen. Priamus und ſein Volk glaubten deswegen
nicht anders, als der trojaniſche Kriegszug, der die Geſandt¬
ſchaft des Paris und die Zurückforderung der Heſione
unterſtützen ſollte, habe Widerſtand in Griechenland gefun¬
den, und jetzt würden, nach Vernichtung deſſelben, die
Griechen, übermüthig geworden, über die See herbeikommen,
die Trojaner in ihrem eigenen Lande anzufallen. Die
Nachricht, daß ſich griechiſche Geſandte der Stadt nähern,
verſetzte ſie daher in nicht geringe Spannung. Indeſſen
öffneten ſich Jenen die Thore willig, und die drei Fürſten
wurden ſofort in den Pallaſt des Priamus und vor den
König ſelbſt, der ſeine zahlreichen Söhne und die Häupter
der Stadt zu einem Rathe zuſammenberufen hatte, geführt.
Palamedes ergriff vor dem Könige das Wort, beklagte
ſich bitter im Namen aller Griechen über die ſchändliche
Verletzung des Gaſtrechtes, die ſich ſein Sohn Paris durch
den Raub der Königin Helena zu Schulden kommen laſ¬
ſen. Dann entwickelte er die Gefahren eines Krieges, die
dem Reiche des Priamus aus dieſer Unthat erwüchſen,
zählte die Namen der mächtigſten Fürſten Griechenlands
auf, die mit allen ihren Völkern auf mehr als tauſend
Schiffen vor Troja erſchienen ſeyen, und verlangte die
gütliche Auslieferung der geraubten Fürſtin. „Du weißeſt
nicht, o König,“ ſo ſchloß er ſeine zornige Rede, „was
für Sterbliche durch deinen Sohn beſchimpft worden ſind,
[27] es ſind die Griechen, die Alle lieber ſterben, als daß einem
Einzigen von ihnen durch einen Fremdling ungerächte
Kränkung widerfahre. Sie hoffen aber, indem ſie dieſes
Unrecht zu rächen kommen, nicht zu ſterben, ſondern zu
ſiegen, denn ihre Zahl iſt wie der Sand am Meere und
Alle ſind von Heldenmuth erfüllt und Alle brennen vor
Begierde, die Schmach, die ihrem Volke widerfahren iſt,
in dem Urheber zu tilgen. Darum läßt euch unſer ober¬
ſter Feldherr, Agamemnon, König der mächtigen Landſchaft
Argos und der erſte Fürſt Griechenlands, und mit ihm
laſſen euch alle anderen Fürſten der Danaer ſagen: Gebet
die Griechin, die ihr uns geſtohlen habt, heraus, oder
ſeyd Alle des Untergangs gewärtig!“
Bei dieſen trotzigen Worten ergrimmten die Söhne
des Königes und die Aelteſten von Troja, zogen ihre
Schwerter und ſchlugen ſtreitluſtig an ihre Schilde. Aber
König Priamus gebot ihnen Ruhe, erhob ſich von ſeinem
Königsſitze und ſprach: „Ihr Fremdlinge, die ihr im Na¬
men eures Volkes ſo ſtrafende Worte an uns richtet, gön¬
net mir erſt, daß ich von meinem Staunen mich erhole.
Denn weſſen ihr mich beſchuldiget, davon iſt uns Allen
nichts bewußt; vielmehr ſind wir es, die wir bei euch uns
über das Unrecht zu beklagen haben, das ihr uns andichtet.
Unſre Stadt hat euer Landsmann Herkules mitten im
Frieden angefallen, aus unſrer Stadt hat er meine un¬
ſchuldige Schweſter Heſione als Gefangene mit ſich geführt
und ſie ſeinem Freunde, dem Fürſten Telamon auf Sala¬
mis, als Sklavin geſchenkt; und es iſt der gute Wille die¬
ſes Mannes, daß ſie von ihm zu ſeiner ehrlichen Gemah¬
lin erhoben worden iſt und nicht als Magd und Kebsweib
dient. Doch konnte dieß den unehrlichen Raub nicht wieder
[28] gut machen, und es iſt ſchon die zweite Geſandtſchaft,
die dießmal unter meinem Sohne Paris nach eurem Lande
abgegangen iſt, meine freventlich geraubte Schweſter zurück¬
zuverlangen, damit ich wenigſtens noch in meinem Greiſen¬
alter mich ihrer erfreuen könne. Wie mein Sohn Paris
dieſen meinen königlichen Auftrag ausgerichtet, was er
gethan hat, und wo er weilt, weiß ich nicht. In meinem
Pallaſte und in unſerer Stadt befindet ſich kein griechiſches
Weib, dieß weiß ich gewiß. Ich kann euch alſo die ver¬
langte Genugthuung nicht geben, auch wenn ich wollte.
Kommt mein Sohn Paris, wie mein väterlicher Wunſch
iſt, glücklich nach Troja zurück, und bringt er eine entführte
Griechin mit ſich, ſo ſoll euch dieſe ausgeliefert werden,
wenn ſie anders nicht als Flüchtlingin unſern Schutz an¬
fleht. Aber auch dann werdet ihr ſie unter keiner andern
Bedingung und nicht eher zurückerhalten, als bis ihr meine
Schweſter Heſione aus Salamis wieder in meine Arme
zurückgeführt habt!“
Der Rath der Trojaner ſtimmte zu dieſen Worten
des Königs; aber Palamedes ſprach trotzig: „Die Erfül¬
lung unſerer Forderung, o König, läßt ſich von keiner
Bedingung abhängig machen. Wir glauben deinem ehr¬
würdigen Antlitz und der Rede deines Mundes, die uns
verſichert, daß die Gemahlin des Menelaus noch nicht in
deinen Mauern angekommen iſt. Sie wird aber kommen,
zweifle nicht; ihre Entführung durch deinen unwürdigen
Sohn iſt nur allzu gewiß. Was zu unſerer Väter Zeiten
von Herkules geſchehen iſt, dafür ſind wir nicht mehr ver¬
antwortlich. Aber was einer deiner Söhne uns jetzt eben
von empörender Kränkung zugefügt hat, dafür verlangen
wir Rechenſchaft von dir. Heſione iſt willig mit Telamon
[29] davongezogen und ſie ſelbſt ſendet einen Sohn in dieſen
Krieg, der euch bevorſteht, wenn ihr uns nicht Genug¬
thuung gebet, den gewaltigen Fürſten Ajax. Helena aber
iſt wider Willen und freventlich geraubt worden. Danket
dem Himmel, der euch durch eures Räubers Zögerung
Bedenkzeit gegeben hat, und faſſet einen Beſchluß, der das
Verderben von euch abwendet.“
Priamus und die Trojaner empfanden die übermüthige
Rede des Geſandten Palamedes übel, doch ehrten ſie an
den Fremdlingen das Recht der Geſandtſchaft: die Ver¬
ſammlung wurde aufgehoben und ein Aelteſter von Troja,
der Sohn des Aeſyntes und der Kleomeſtra, der verſtän¬
dige Antenor, ſchirmte die fremden Fürſten vor allen Be¬
ſchimpfungen des Pöbels, führte ſie in ſein Haus und
beherbergte ſie dort mit edler Gaſtlichkeit bis zum andern
Morgen. Dann gab er ihnen das Geleite an den Strand,
wo ſie die glänzenden Schiffe wieder beſtiegen, die ſie
herbeigeführt hatten.
Agamemnon und Iphigenia.
Während nun die Flotte zu Aulis ſich verſammelte,
vertrieb der Völkerfürſt Agamemnon ſich die Zeit mit der
Jagd. Da kam ihm eines Tages eine herrliche Hindin
in den Schuß, die der Göttin Artemis oder Diana gehei¬
ligt war. Die Jagdluſt verführte den Fürſten: er ſchoß
nach dem heiligen Wild und erlegte es mit dem prahlenden
Worte: Diana ſelbſt, die Göttin der Jagd, vermöge
nicht, beſſer zu treffen. Ueber dieſen Frevel erbittert ſchickte
[30] die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk
gerüſtet, mit Schiffen, Roß und Wagen beiſammen war,
und der Seezug nun vor ſich gehen ſollte, dem verſam¬
melten Heere tiefe Windſtille zu, ſo daß man ohne Ziel
und Fahrt müſſig in Aulis ſitzen mußte. Die rathsbedürf¬
tigen Griechen wandten ſich nun an ihren Seher Kalchas,
den Sohn des Theſtor, welcher dem Volke ſchon früher
weſentliche Dienſte geleiſtet hatte, und jetzt erſchienen war,
als Prieſter und Wahrſager den Feldzug mitzumachen.
Dieſer that auch jetzt den Ausſpruch: „wenn der oberſte
Führer der Griechen, der Fürſt Agamemnon, Iphigenia,
ſein und Klytämneſtra's geliebtes Kind, der Artemis opfert,
ſo wird die Göttin verſöhnt ſeyn, Fahrwind wird kommen
und der Zerſtörung Troja's wird kein übernatürliches Hin¬
derniß mehr im Wege ſtehen.“
Dieſe Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der
Griechen allen Muth. Sogleich beſchied er den Herold
der verſammelten Griechen, Talthybius aus Sparta, zu
ſich und ließ denſelben mit hellem Heroldsruf vor allen
Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl
über das griechiſche Heer niedergelegt habe, weil er keinen
Kindesmord auf ſein Gewiſſen laden wolle. Aber unter
den verſammelten Griechen drohte auf die Verkündigung
dieſes Entſchluſſes eine wilde Empörung auszubrechen.
Menelaus begab ſich mit dieſer Schreckensnachricht zu ſeinem
Bruder in das Feldherrnzelt, ſtellte ihm die Folgen ſeiner
Eutſchließung, die Schmach, die ihn, den Menelaus, treffen
würde, wenn ſein geraubtes Weib Helena in Feindes¬
händen bleiben ſollte, vor, und bot ſo beredt alle Gründe
auf, daß endlich Agamemnon ſich entſchloß, den Greuel
geſchehen zu laſſen. Er ſandte an ſeine Gemahlin
[31] Klytämneſtra nach Mycene eine briefliche Botſchaft, welche
ihr befahl, die Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu
ſenden, und bediente ſich, um dieſem Gebote Gehorſam zu
verſchaffen, des in der Noth erdichteten Vorwandes, die
Tochter ſolle, noch bevor das Heer der trojaniſchen Küſte
zuſegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herr¬
lichen Phthierfürſten Achilles, von deſſen geheimer Ver¬
mählung mit Didamia Niemand wußte, verlobt wer¬
den. Kaum aber war der Bote fort, ſo bekam in Aga¬
memnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand.
Von Sorgen gequält und voll Reue über den unüberlegten
Entſchluß, rief er noch in der Nacht einen alten, ver¬
trauten Diener, und übergab ihm einen Brief an ſeine
Gemahlin Klytämneſtra zur Beſtellung; in dieſem ſtand
geſchrieben, ſie ſollte die Tochter nicht nach Aulis ſchicken, er,
der Vater, habe ſich eines andern beſonnen, die Vermäh¬
lung müſſe bis aufs nächſte Frühjahr aufgeſchoben werden.
Der treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er
erreichte ſein Ziel nicht. Noch ehe er vor der Morgen¬
dämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaus,
dem die Unſchlüſſigkeit des Bruders nicht entgangen war,
der ebendeßwegen alle ſeine Schritte überwacht hatte, ergriffen,
der Brief ihm mit Gewalt entriſſen und ſofort von dem
jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand trat
Menelaus abermals in das Feldherrnzelt des Bruders.
„Es gibt doch,“ rief er ihm unwillig entgegen, „nichts
Ungerechteres und Ungetreueres, als den Wankelmuth!
Erinnerſt du dich denn gar nicht mehr, Bruder, wie begie¬
rig du nach dieſer Feldherrnwürde wareſt, wie du vor
übelverheimlichter Luſt brannteſt, das Heer vor Troja zu
führen? wie demüthig du dich da gegen alle griechiſchen
[32] Fürſten gebärdeteſt, wie gnädig du jedem Danaer die
Rechte ſchüttelteſt? Deine Thür war ſtets unverſchloſ¬
ſen; Jedem, auch dem Unterſten des Volkes, ſchenkteſt du
Zutritt, und alle dieſe Geſchmeidigkeit bezweckte nichts
Anderes, als dir jene Würde zu verſchaffen. Aber als
du nun Herr geworden wareſt, da war Alles bald anders;
da warſt du nicht mehr deiner alten Freunde Freund, wie
vorher; zu Hauſe warſt du ſchwer zu treffen, drauſſen bei
dem Heere zeigteſt du dich nur ſelten. So ſollte es ein
Ehrenmann nicht machen; er ſollte am meiſten dann ſich
unveränderlich gegen ſeine Freunde zeigen, wenn er ihnen
am meiſten nützen kann! Du hingegen, wie haſt du dich
betragen? Als du mit dem Griechenheere nach Aulis
gekommen wareſt und, vom göttlichen Geſchicke heimge¬
ſucht, vergebens auf Fahrwind hoffteſt, und nun im Heere
rings der Ruf ſich hören ließ: laßt uns davonſegeln und
nicht vergebens in Aulis uns abmühen! wie zerſtört und
troſtlos blickte da dein Auge umher, und wie wußteſt du
mit ſammt deinen Schiffen keinen Rath! Damals beriefſt
du mich, und verlangteſt nach einem Auswege, deine
ſchöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren. Und als
hierauf der Seher Kalchas befahl, anſtatt eines Opfers
der Artemis deine Tochter darzubringen, da gelob¬
teſt du nach kurzem Zuſpruche freiwillig deines Kin¬
des Opferung, und ſchickteſt Botſchaft an dein Weib
Klytämneſtra, deine Tochter, ſcheinbar als Braut des
Achilles, herzuſenden. Und jetzt, o Schande, beugeſt du
doch wieder aus und verfaſſeſt eine neue Schrift, durch
welche du erklärſt, des Kindes Mörder nicht werden zu
können? Aber freilich, tauſend Andern iſt es ſchon ſo
gegangen, wie dir. Raſtlos, bis ſie ans Ruder gelangt
[33] ſind, treten ſie ſpäter ſchimpflich zurück, wenn es gilt, das
Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner
zum Heeresfürſten und Staatenlenker, der nicht Einſicht
und Verſtand hat, und dieſelben auch in den ſchwierigſten
Lagen des Lebens nicht verliert!“
Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders
waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen.
„Was ſchnaubſt du ſo ſchrecklich,“ entgegnete er ihm, „was
iſt dein Auge wie mit Blut unterlaufen? Wer beleidigt
dich denn; was vermiſſeſt du denn? Deine liebenswürdige
Gattin Helena? Ich kann ſie dir nicht wieder verſchaffen!
Warum haſt du deines Eigenthums nicht beſſer wahrge¬
nommen? Bin ich denn thöricht, wenn ich einen Mißgriff
durch Beſinnung wieder gutgemacht habe? Viel eher han¬
delſt Du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand
eines falſchen Weibes trachteſt, anſtatt daß du froh ſeyn
ſollteſt, ihrer los geworden zu ſeyn. Nein, nimmermehr
entſchließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüthen.
Weit beſſer ſtände dir ſelbſt die gerechte Züchtigung deines
buhleriſchen Weibes an.“
So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor
ihnen erſchien, und dem Fürſten Agamemnon die Ankunft
ſeiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und ſein
kleiner Sohn Oreſtes auf dem Fuße folgten. Kaum hatte
der Bote ſich wieder entfernt, ſo überließ ſich Agamemnon
einer ſo troſtloſen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß
Menelaus ſelbſt, der bei Ankunft der Botſchaft auf die
Seite getreten war, jetzt ſich dem Bruder wieder näherte
und nach ſeiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte ſie
ihm wehmüthig dar und ſprach unter heißen Thränen:
„Da haſt du ſie, Bruder; der Sieg iſt dein! Ich bin
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 3[34] vernichtet!“ Menelaus dagegen ſchwor ihm, von der alten
Forderung abſtehen zu wollen; ja er ermahnte ihn ſelbſt
jetzt, ſein Kind nicht zu tödten, und erklärte einen guten
Bruder um Helena's willen nicht verderben und nicht ver¬
lieren zu wollen. „Bade doch dein Angeſicht nicht länger
in Thränen,“ rief er. „Giebt der Götterſpruch mir Antheil
an deiner Tochter, ſo wiſſe, daß ich denſelben ausſchlage
und meinen Theil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß
ich von der Heftigkeit meiner natürlichen Gemüthsart um¬
gekehrt bin zur Bruderliebe; denn Biedermanns Weiſe iſt
es, der beſſern Ueberzeugung zu folgen, ſobald ſie in
unſerm Herzen die Oberhand gewinnt!“
Agamemnon warf ſich dem Bruder in den Arm, doch
ohne über das Geſchick ſeiner Tochter beruhigt zu ſeyn.
„Ich danke dir,“ ſprach er, „lieber Bruder, daß uns gegen
Verhoffen dein edler Sinn wieder zuſammengeführt hat.
Ueber mich aber hat das Schickſal entſchieden. Der blutige
Tod der Tochter muß vollzogen ſeyn: das ganze Griechen¬
heer verlangt ihn; Kalchas und der ſchlaue Odyſſeus ſind
einverſtanden; ſie werden das Volk auf ihrer Seite haben,
dich und mich ermorden und mein Töchterlein abſchlachten
laſſen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, ſie kämen,
und riſſen uns aus den Mauern hervor, und ſchleiften die
alte Cyklopenſtadt! Deßwegen beſchränke dich darauf, Bru¬
der, wenn du in das Lager kommſt, darüber zu wachen,
daß meine Gemahlin Klytämneſtra nichts erfahre, bis daß
mein und ihr Kind dem Orakelſpruch erlegen iſt!“
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Geſpräch
der Brüder, und Menelaus entfernte ſich in trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von
Agamemnons Seite froſtig und verlegen; die Tochter aber
[35] umſchlang den Vater mit kindlicher Zuverſicht und rief:
„O Vater, wie entzückt mich dein lange entbehrtes Ange¬
ſicht!“ Als ſie ihm hierauf näher in ſein ſorgenvolles Auge
ſah, fragte ſie zutraulich: „Warum iſt dein Blick ſo un¬
ruhig, Vater, wenn du mich doch gerne ſiehſt?“ „Laß das,
Töchterchen,“ erwiederte der Fürſt mit beklommenem Her¬
zen, „den König und den Fürſten kümmert gar vielerlei!“
— „So verbanne doch dieſe Furchen,“ ſprach Iphigenia,
„und ſchlage ein liebendes Auge zu deiner Tochter auf!
Warum iſt es denn ſo von Thränen angefeuchtet?“ —
„Weil uns eine lange Trennung bevorſteht,“ erwiederte
der Vater. — „O wie glücklich wäre ich,“ rief das Mädchen,
„wenn ich deine Schiffsgefährtin ſeyn dürfte!“ — „Nun,
auch du wirſt eine Fahrt anzutreten haben,“ ſagte Aga¬
memnon ernſt, „zuvor aber opfern wir noch — ein
Opfer, bei dem du nicht fehlen wirſt, liebe Tochter!“
Die letzten Worte erſtickten unter Thränen, und er ſchickte
das ahnungsloſe Kind in das für ſie bereitgehaltene Zelt
zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen
waren. Mit der Mutter mußte der Atride ſeine Unwahr¬
heit fortſetzen, und die fragende, neugierige Fürſtin über
Geſchlecht und Verhältniſſe des ihr zugedachten Bräutigams
unterhalten. Nachdem ſich Agamemnon von der Gemahlin
losgemacht, begab er ſich zu dem Seher Kalchas, um mit
dieſem das Nähere wegen des unvermeidlichen Opfers zu
verabreden.
Derweilen mußte der tückiſche Zufall Klytämneſtra im
Lager mit dem jungen Fürſten Achilles, der den Heerführer
Agamemnon aufſuchte, weil ſeine Myrmidonen den längern
Verzug nicht ertragen wollten, zuſammenführen, und ſie
nahm keinen Anſtand, ihn als den künftigen Eydam
3*[36] mit freundlichen Worten zu begrüßen. Aber Achilles trat
verwundert zurück. „Von welcher Hochzeit redeſt du,
Fürſtin?“ ſprach er. „Niemals habe ich um dein Kind
gefreit, nie iſt ein Einladungswort zur Vermählung von
deinem Gemahl Agamemnon an mich gelangt!“ So
begann das Räthſel ſich vor Klytämneſtra's Augen aufzu¬
hellen, und ſie ſtand unentſchloſſen und voll Beſchämung
vor Achilles. Dieſer aber ſagte mit jugendlicher Gut¬
müthigkeit: „Laß dich's nicht kümmern, Königin, wenn
auch Jemand ſeinen Scherz mit dir getrieben hätte, nimm
es leicht, und verzeih mir, wenn mein Erſtaunen dir wehe
gethan hat.“ Und ſo wollte er mit ehrerbietigem Gruße
davon eilen, den Feldherrn aufzuſuchen, da öffnete eben
ein Diener das Zelt Agamemnon's, und rief mit verſtörter
Miene den beiden Sprechenden entgegen; es war der
vertraute Sklave Agamemnon's und Klytämneſtra's, den
Menelaus mit dem Briefe ergriffen hatte. „Höre,“ ſprach
er leiſe, doch athemlos, „was dir dein treuer Diener zu
vertrauen hat: deine Tochter will der Vater eigenhändig
tödten!“ Und nun erfuhr die zitternde Mutter das ganze
Geheimniß aus dem Munde des getreuen Sklaven. Kly¬
tämneſtra warf ſich dem jungen Sohne des Peleus zu
Füßen, und ſeine Kniee wie eine Schutzflehende umfaſſend
rief ſie: „Ich erröthe nicht, ſo vor dir im Staube zu
liegen, ich, die Sterbliche, vor dem Götterſprößling.
Weiche, Stolz! vor der Mutterpflicht. Du aber, o Sohn
der Göttin, rette mich und mein Kind von der Verzweif¬
lung! Dir, als ihrem Gatten, habe ich ſie bekränzt hier¬
her geführt; zwar eitler Weiſe, dennoch heiſſeſt du mir
meines Mädchens Bräutigam! Bei allem, was dir theuer
iſt, bei deiner göttlichen Mutter beſchwöre ich dich, hilf
[37] ſie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem
ich flüchten könnte, als deine Kniee! Du haſt Agamemnon's
grauſames Unterfangen gehört; du ſieheſt, wie ich, ein
wehrloſes Weib, in die Mitte eines gewaltthätigen Heeres
eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, ſo iſt
uns geholfen!“
Achilles hob die vor ihm liegende Königin voll Ehr¬
furcht vom Boden und ſprach: „Sei getroſt, Fürſtin! Ich
bin in eines frommen, hülfreichen Mannes Haus aufge¬
zogen worden; am Heerde Chirons habe ich ſchlichte, red¬
liche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des
Atreus gerne, wenn ſie mich zum Ruhme führen, aber
ſchnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich
ſchützen, ſo weit es den Armen eines Jünglings möglich
iſt, und nimmermehr ſoll deine Tochter, die einmal mein
genannt wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich
ſelbſt erſchiene mir nicht unbefleckt, wenn meine erlogene
Brautſchaft dieſes Kind verdürbe, ich käme mir wie der
feigſte Wicht im Heere und wie der Sohn eines Miſſe¬
thäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vor¬
wand eines Kindesmordes dienen könnte.“ — „Iſt das
wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürſt,“ rief Kly¬
tämneſtra, auſſer ſich vor Freude, „oder erwarteſt du
vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Kniee als
Schutzflehende umſchlingen ſoll? Zwar iſt es nicht jung¬
fräulich; aber wenn es dir gefällt, ſo wird ſie züchtiglich
nahen, wie es einer Freigebornen ziemt.“ — „Nein,“ ent¬
gegnete ihr Achilles, „führe dein Mädchen nicht vor mein
Angeſicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede
kommen, denn ein ſo großes Heer, das keine Heimat¬
ſorgen hat, liebt faules Geſchwätz; aber vertraue mir, ich
[38] habe nie gelogen. Möge ich ſelbſt ſterben, wenn ich dein
Kind nicht rette.“ Mit dieſer Verſicherung verließ der
Sohn des Peleus Iphigenia's Mutter, die jetzt mit un¬
verhehltem Abſcheu vor ihren Gatten Agamemnon trat.
Dieſer, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheim¬
niß verrathen war, rief ihr die zweideutigen Worte ent¬
gegen: „Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und über¬
gib es dem Vater, denn Mehl und Waſſer und das
Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfeſt
fallen ſoll, Alles iſt ſchon bereit.“ — „Vortrefflich,“ rief
Klytämneſtra, und ihr Auge funkelte, „tritt ſelbſt aus
unſerm Zelte heraus, o Tochter, du kennſt ja gründlich
deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen Bruder
Oreſtes mit heraus!“ Und als die Tochter erſchienen war,
fuhr ſie fort: „Siehe Vater, hier ſteht ſie dir zu Gehor¬
ſam da, laß aber mich zuvor ein Wort an dich richten:
ſage mir aufrichtig, willſt du wirklich meine und deine
Tochter umbringen?“ Lange ſtand der Feldherr lautlos
da, endlich rief er in Verzweiflung aus: „O mein Ver¬
hängniß, mein böſer Geiſt! Aufgedeckt iſt mein Geheimniß,
Alles iſt verloren!“ — „So höre mich denn,“ ſprach Kly¬
tämneſtra weiter, „ich will mein ganzes Herz vor dir
ausſchütten. Mit einem Verbrechen hat unſre Ehe begon¬
nen, du haſt mich gewaltſam entführt, haſt meinen frü¬
heren Gatten erſchlagen, mein Kind mir von der Bruſt
genommen und getödtet. Schon zogen meine Brüder
Kaſtor und Pollux auf ihren Roſſen mit Heeresmacht gegen
dich heran. Mein alter Vater Tyndareus war es, der
dich den Flehenden rettete, und ſo wurdeſt du wieder mein
Gemahl. Du ſelbſt wirſt es bezeugen, daß ich tadellos
in dieſem Ehebunde war, deine Wonne im Hauſe und
[39] dein Stolz draußen. Drei Mädchen und dieſen Sohn
habe ich dir geboren, und nun willſt du des älteſten Kin¬
des mich berauben, und frägt man dich warum, ſo ant¬
worteſt du: damit dem Menelaus ſeine Ehebrecherin wie¬
der zu Theil werde! O zwinge mich nicht, bei den Göt¬
tern, ſchlecht gegen dich zu werden, und ſey nicht ſchlecht
gegen mich! Du willſt deine Tochter ſchlachten? welch
Gebet willſt du dabei ſprechen, was willſt du dir beim
Tochtermord erflehen? Eine unglückſelige Rückkehr, ſo
wie du jetzt ſchmählich von Hauſe wegziehſt? Oder ſoll
Ich etwa Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die
Götter ſelbſt zu Mördern machen, wenn ich es thäte!
Warum ſoll es denn dein eigenes Kind ſeyn, das als
Opfer fällt? Warum ſprichſt du nicht zu den Griechen:
„Wenn ihr vor Troja ſchiffen wollet, ſo werfet das Loos
darüber, weſſen Tochter ſterben ſoll.“ Nun ſoll ich, deine
treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, deſſen
Sache ausgefochten wird, Menelaus, ſeiner Tochter Her¬
mione ſich ohne Sorgen erfreuen darf, während ſeine
treuloſe Gattin dieſes Kind in Sparta's Pflege geborgen
weiß! Antworte, ob ich ein einziges unrechtes Wort
geſagt habe. Ward aber von mir dir Wahrheit geſprochen,
o ſo tödte doch deine und meine Tochter nicht, thu es
nicht, beſinne dich!“
Jetzt warf ſich auch Iphigenia zu den Füßen ihres
Vaters und ſprach mit erſtickter Stimme: „Beſäße ich den
Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felſen len¬
ken könnte, ſo wollte ich mich mit beredten Worten an
dein Mitleid wenden. Jetzt aber ſind alle meine Künſte
nur Thränen und anſtatt des Oelzweigs umflechte ich dein
Knie mit meinem Leibe, Verdirb mich nicht frühzeitig,
[40] Vater, lieblich iſt das Licht zu ſchauen, nöthige mich nicht,
das zu ſehen, was die Nacht verbirgt! Gedenke deiner
Liebkoſungen, mit welchen du mich als Kind auf deinem
Vaterſchooße gewiegt haſt. Noch weiß ich alle deine Reden,
wie du hoffteſt mich in eines edlen Mannes Wohnung ein¬
zuführen, mich in Wohlergehen und Blüthe zu ſchauen,
wenn du heimgekehrt wäreſt. Du aber haſt das Alles
vergeſſen; du willſt mich tödten! O thu es nicht, bei
dieſer Mutter beſchwöre ich dich, die mich mit Schmerzen
geboren hat, und jetzt noch größeren Schmerz um mich
empfindet! Was gehen mich Helena und Paris an?
Warum muß ich ſterben, weil er nach Griechenland
gekommen iſt? O blicke mich an; gönne mir dein Auge,
deinen Kuß, daß ich doch ſterbend noch ein Andenken von
dir empfange, wenn dich mein Wort nicht mehr zu rühren
vermag! Sieh deinen Knaben, meinen Bruder an, Vater;
ſchweigend fleht er für mich. Er iſt noch ein Küchlein;
ich aber bin herangereift! So laß dich doch erweichen
und erbarme dich meiner. Das Licht zu ſchauen iſt für
Sterbliche doch das Holdſeligſte! Elend leben iſt beſſer,
als der allerſchönſte Tod!“
Aber Agamemnons Entſchluß war gefaßt, er ſtand
unerbittlich wie ein Fels und ſprach: „Wo ich Mitleid
fühlen darf, da fühle ich Mitleid: denn ich liebe meine
Kinder, ich wäre ja ſonſt ein Raſender. Mit ſchwerem
Herzen, o Gemahlin, führe ich das Schreckliche aus,
aber ich muß. Ihr ſehet ja, welch ein Schiffsheer mich
umringt, wie viele Fürſten im Kriegspanzer mich umſtehen;
dieſe Alle finden die Fahrt nach Troja nicht, Troja wird
nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind, nach dem
Ausſpruche des Sehers. Dieſe Helden alle wollen den
[41] Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel ſtecken; ſie ſind
es feſt entſchloſſen; und bekämpfte ich nun dieſen Götter¬
ſpruch, ſo mordeten ſie euch und mich. Hier hat meine
Macht eine Gränze, nicht meinem Bruder Menelaus, ſon¬
dern ganz Griechenland weiche ich.“
Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte ſich der
König und ließ die jammernden Frauen allein in ſeinem
Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor dieſem. „Es
iſt Achilles,“ rief Klytämneſtra freudig. Vergebens ſuchte
ſich Iphigenia in tiefer Beſchämung vor dem erheuchelten
Bräutigam zu verbergen. Der Sohn des Peleus trat,
von einigen Bewaffneten begleitet, haſtig in das Zelt:
„Unglückliche Tochter Leda's,“ rief er, „das ganze Lager
iſt im Aufruhr und verlangt den Tod deiner Tochter; ich
ſelbſt, der mich dem Geſchrei widerſetzte, wäre faſt geſtei¬
niget worden.“ — „Und deine Myrmidonen?“ fragte
Klytämneſtra mit ſtockendem Athem. „Die empörten ſich
zuerſt,“ fuhr Achilles fort, „und ſchalten mich einen liebes¬
kranken Schwätzer. Mit dieſem treuen Häuflein hier komme
ich, euch gegen den anrückenden Odyſſeus zu vertheidigen.
Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Leib ſoll
euch decken, ich will ſehen, ob ſie es wagen, den Sohn
der Göttin anzugreifen, von deſſen Leben das Schickſal
Troja's abhängt.“ Dieſe letzten Worte, die einen Schim¬
mer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den
Athem wieder.
Jetzt aber machte ſich Iphigenia aus ihren Armen
los, richtete ihr Haupt auf und ſtellte ſich mit entſchloſſenen
Schritten vor die Königin und den Fürſten: „Höret meine
Reden an!“ ſprach ſie mit einer Stimme, die alles Zit¬
tern verloren hatte, „vergebens, liebe Mutter, zürnſt du
[42] deinem Gatten; er kann ſich nicht gegen das Nothwendige
ſtemmen. Alles Lob verdient der Eifer dieſes Fremdlings,
aber er wird es büßen müſſen, und du wirſt geläſtert wer¬
den. Höret deßwegen den Entſchluß, den mir die Ueber¬
legung eingegeben hat. Ich habe beſchloſſen, zu ſterben,
ich verbanne jede niedrige Regung aus meiner freien
Bruſt und will es vollenden. Auf mir ruht jetzt jedes
Auge des herrlichen Griechenlands, auf mir die Fahrt
der Flotte und der Fall Troja's, auf mir die Ehre der
griechiſchen Frauen. Alles dieſes werde ich mit meinem
Tode ſchirmen; mit Ruhm wird ſich mein Name bedecken,
die Befreierin Griechenlands werde ich heißen. Soll ich,
eine Sterbliche, der Göttin Artemis in den Weg treten,
weil es ihr gefällt, mein Leben für das Vaterland zu
verlangen? Nein, ich gebe es willig dahin, opfert mich,
zerſtöret Troja, das wird mein Denkmal ſeyn und mein
Hochzeitsfeſt.“
Mit leuchtendem Blicke, wie eine Göttin, ſtand
Iphigenia vor der Mutter und dem Peliden, während ſie
alſo ſprach. Da ſenkte ſich der herrliche Jüngling Achilles
vor ihr auf ein Knie und rief: „Kind Agamemnons! die
Götter machten mich zum glückſeligſten Menſchen, wenn
mir deine Hand zu Theil würde. Um dich beneide ich
Griechenland, und um Griechenland, das dir angetrauet
iſt, dich. Liebesſehnſucht ergreift mich nach dir, du Herr¬
liche, nun ich dein Weſen geſchaut habe. Erwäg' es
wohl! der Tod iſt ein ſchreckliches Uebel, ich aber möchte
dir gerne Gutes thun, möchte dich heimführen zum Leben
und Glück!“ Lächelnd erwiederte ihm Iphigenia: „Män¬
nerkrieg und Mord genug hat Frauenſchönheit durch die
Tyndaridin Helena angeregt, mein lieber Freund, ſtirb
[43] nicht auch du für ein Weib, noch tödte Jemand um mei¬
netwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich
es vermag!“ — „Erhabene Seele,“ rief der Pelide, „thue
was dir gefällt, ich aber eile mit dieſen meinen Waffen
zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbeſon¬
nenheit darfſt du mir nicht ſterben, vielleicht nimmſt du
mich noch beim Worte, wenn du den Mordſtahl auf dei¬
nen Nacken gezückt ſiehſt.“ So eilte er der Jungfrau
voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend
und ihr den kleinen Bruder Oreſtes auf die Arme legend,
im beſeligenden Bewußtſeyn, das Vaterland zu retten,
dem Tode freudig entgegen ging. Die Mutter warf ſich
im Zelt auf ihr Angeſicht und vermochte nicht, ihr zu
folgen.
Unterdeſſen verſammelte ſich die ganze griechiſche Hee¬
resmacht in dem blumenreichen Haine der Göttin Diana
vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet und neben
ihm ſtand der Seher und Prieſter Kalchas. Ein Ruf des
Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als
man Iphigenien, von ihren treuen Dienerinnen begleitet,
den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwan¬
deln ſah. Dieſer ſeufzte laut auf, wandte ſein Angeſicht
zurück und verbarg einen Thränenſtrom in ſein Gewand.
Die Jungfrau aber ſtellte ſich dem Vater zur Seite und
ſprach: „Lieber Vater, ſiehe, hier bin ich ſchon! Vor der
Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Göt¬
terſpruch ſo gebeut, den Führern des Heeres zum Opfer
fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich ſeyd
und mit Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre
mich drum auch kein Argiver, muthig und ſtill will ich den
Nacken dem Opferſtahle bieten!“
Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es
Zeuge ſolchen Hochſinnes ward. Nun gebot Talthybius,
der Herold, in der Mitte ſtehend, Stillſchweigen und
Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken ſchnei¬
denden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar
in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt trat Achilles in
voller Waffenrüſtung und mit gezücktem Schwerte vor
den Altar. Aber ein Blick der Jungfrau verwandelte auch
ſeinen Entſchluß. Er warf das Schwert auf die Erde,
beſprengte den Altar mit Weihwaſſer, ergriff den Opfer¬
korb, umwandelte den Feſtaltar wie ein Prieſter und
ſprach: „O hohe Göttin Artemis, nimm dieſes heilige,
freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des ſchönen Jung¬
frauennackens, das Agamemnon und Griechenlands Heer
dir jetzo weiht, gnädig an, gib unſern Schiffen glückliche
Fahrt, und Troja's Sturz unſern Speeren!“ Die Atriden
und das ganze Heer ſtanden ſtumm zur Erde blickend.
Der Prieſter Kalchas nahm ſeinen Stahl, betete, und
faßte die Kehle der Jungfrau ſcharf ins Auge. Deut¬
lich hörte man den Fall ſeines Schlages. Aber, o Wun¬
der, in demſelben Augenblicke war die Jungfrau aus den
Augen des Heeres verſchwunden. Diana hatte ſich ihrer
erbarmt und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher
Geſtalt lag zappelnd auf dem Boden und beſprengte mit
reichlichem Opferblute den Altar. „Ihr Führer des ver¬
einten Griechenheeres,“ rief Kalchas, nachdem er ſich von
ſeinem freudigen Staunen erholt hatte, „ſehet hier das
Opfer, welches die Göttin Artemis geſandt hat, und das
ihr willkommner iſt, als die Jungfrau, deren edles Blut
den Altar nicht beſudeln ſollte. Die Göttin iſt verſöhnt,
gibt unſern Schiffen fröhliche Fahrt und verſpricht uns
[45] die Erſtürmung Troja's. Seyd guten Muths, ihr See¬
gefährten, denn noch an dieſem Tage verlaſſen wir die
Bucht von Aulis!“ So ſprach er, und ſah zu, wie das
Opferthier allmählig vom Feuer verkohlt ward. Als der
letzte Funke erloſchen war, unterbrach die Stille der Luft
ein Sauſen des Windes, die Blicke des Heeres kehrten
ſich nach dem Hafen, und ſahen hier die Schiffe im
bewegten Meere ſchwanken. Mit lautem Jubelrufe ward
aus Dianens Haine aufgebrochen, und alles Volk eilte
nach den Zelten.
Als Agamemnon in dem ſeinigen ankam, fand er
ſeine Gattin Klytämneſtra nicht mehr dort; ihr treuer
Diener war ihm vorausgeeilt und hatte die ohnmächtig
auf dem Boden Liegende mit der Nachricht von der Ret¬
tung ihrer Tochter erweckt und aufgerichtet. Mit einem
flüchtigen Gefühl des Dankes und der Freude erhob die
zur Beſinnung gekommene Königin ihre Hände gen Him¬
mel, dann aber rief ſie mit bitterem Schmerze: „Mein
Kind iſt mir doch geraubt! Er iſt doch der Mörder mei¬
ner Mutterfreude! Laß uns eilen, daß meine Augen
den Kindesmörder nicht ſchauen!“ Der Diener eilte, den
Wagen und das Gefolge zu beſtellen, und als Aga¬
memnon von dem Opferfeſte zurückkam, war ſeine Ge¬
mahlin ſchon fern auf dem Wege nach Mycene.
[46]
Abfahrt der Griechen. Ausſetzung des Philoktetes.
Noch an demſelben Tage ging die Flotte der Griechen
unter Segel, und der günſtigſte Fahrwind führte ſie ſchnell
auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten ſie
auf der kleinen Inſel Chryſe, um friſches Waſſer einzu¬
nehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Kö¬
niges Pöas aus Meliböa in Theſſalien, der erprobte
Held und Waffengefährte des Herkules, der Erbe ſeiner
unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen
einſt der Argonaute Jaſon auf ſeiner Fahrt der Göttin
Pallas Athene, der die Inſel heilig war, geweihet hatte.
Der fromme Held freute ſich ſeines Fundes und wollte
der Beſchirmerin der Griechen aus ihrem verlaſſenen Hei¬
ligthume opfern. Da ſchoß eine giftige Natter, dergleichen
die Heiligthümer der Götter zu bewachen pflegten, auf
den Herantretenden zu, und verwundete den Helden
mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wie¬
der zu Schiffe gebracht und die Flotte ſegelte weiter.
Die giftige und ſtets weiter freſſende Wunde aber pei¬
nigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und
ſeine Schiffsgenoſſen konnten den übeln Geruch des eitern¬
den Geſchwüres und ſein beſtändiges Jammergeſchrei nicht
länger aushalten. Keine Spende, kein Opfer vermochten
ſie ruhig darzubringen; in Alles miſchte ſich ſein unheiliger
Angſtruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem
verſchlagenen Odyſſeus zuſammen, denn die Unzufrieden¬
heit der Begleiter des kranken Helden fing an, ſich
durch das ganze Heer zu verbreiten, welches fürchtete,
[47] daß der wunde Philoktetes das Lager von Troja ver¬
peſten und den Griechen mit ſeiner endloſen Wehklage
das Leben verbittern möchte. Deßwegen faßten die An¬
führer des Volkes den grauſamen Entſchluß, als ſie an
der wüſten und unbewohnbaren Küſte der Inſel Lemnos
vorüberfuhren, den armen Helden hier auszuſetzen, und
bedachten dabei nicht, daß ſie mit dem tapfern Manne ſich
zugleich ſeiner unüberwindlichen Geſchoſſe beraubten. Der
ſchlaue Odyſſeus erhielt den Auftrag, dieſen hinterliſtigen
Anſchlag zu vollführen, er lud den ſchlafenden Helden ſich
auf, fuhr mit ihm auf einem Nachen an den Strand, und
legte ihn hier unter einer nahen Felſengrotte nieder, nach¬
dem er ſo viel Kleidungsſtücke und Lebensmittel zurück¬
gelaſſen hatte, als zur kümmerlichen Friſtung ſeines Lebens
für die nächſten Tage nöthig waren. Das Schiff hatte
am Strande nur ſo lange angehalten, als es Zeit bedurfte,
den Unglücklichen auszuſetzen: dann ſegelte es, ſobald
Odyſſeus zurückgekehrt war, weiter, und vereinigte ſich
bald wieder mit dem übrigen Zuge.
Die Griechen in Myſien. Telephus.
Die griechiſche Flotte kam jetzt glücklich an die Küſte von
Kleinaſien. Da aber die Helden der Gegend nicht recht kun¬
dig waren, ließen ſie ſich von dem günſtigen Winde zuerſt
ferne von Troja an die myſiſche Küſte treiben, und legten ſich
mit allen ihren Schiffen vor Anker. Längs des Geſtades
fanden ſie zur Bewachung des Ufers allenthalben Bewaff¬
nete aufgeſtellt, die ihnen im Namen des Landesherrn
[48] verboten, dieß Gebiet zu betreten, bevor dem Könige ge¬
meldet wäre, wer ſie ſeyen. Der König von Myſien war
aber ſelbſt ein Grieche, Telephus, der Sohn des Herkules
und der Auge, der nach wunderbaren Schickſalen ſeine
Mutter bei dem Könige Teuthras in Myſien antraf, des
Königes Tochter Argiope zur Gemahlin erhielt, und nach
deſſen Tode König der Myſier geworden war. Die
Griechen, ohne zu fragen, wer der Herr des Landes
wäre, und ohne den Wächtern eine Antwort zu ertheilen,
griffen zu den Waffen, ſtiegen ans Land und hieben die
Küſtenwächter nieder. Wenige entrannen und meldeten
dem Könige Telephus, wie viel tauſend unbekannte Feinde
in ſein Land gefallen ſeyen, die Wachen niedergemetzelt
haben und ſich jetzt im Beſitze des Ufers befinden. Der
König ſammelte in aller Eile einen Heerhaufen und ging
den Fremdlingen entgegen. Er ſelbſt war ein herrlicher
Held und ſeines Vaters Herkules würdig, hatte auch
ſeine Kriegsſchaaren zu griechiſcher Heereszucht gebildet.
Die Danaer fanden deswegen einen Widerſtand, wie ſie
ihn nicht erwartet hatten; denn es entſpann ſich ein blu¬
tiges und lange unentſchiedenes Treffen, in welchem ſich
Held mit Helden maß. Unter den Griechen that ſich in
der Schlacht beſonders Therſander hervor, der Enkel des
berühmten Königes Oedipus und Sohn des Polynices,
der vertraute Waffengenoſſe des Fürſten Diomedes, der
ſchon als Epigone ſich berühmt gemacht hatte*). Dieſer
raste in dem Heere des Telephus mit Mord und erſchlug
endlich den geliebteſten Freund und erſten Krieger des
Königes an ſeiner Seite. Darüber entbrannte der König
[49] in Wuth und es entſpann ſich ein grimmiger Zweikampf
zwiſchen dem Enkel des Oedipus und dem Sohne des
Herkules. Der Heraklide ſiegte und Therſander ſank, von
einem Lanzenſtiche durchbohrt, in den Staub. Laut ſeufzte
ſein Freund Diomedes auf, als er dieß aus der Ferne
ſah, und ehe der König Telephus ſich auf den Leichnam
werfen und ihm die Rüſtung abziehen konnte, war er
herzugeſprungen, hatte ſich den Leichnam des Freundes
über die Schultern gelegt, und eilte mit Rieſenſchritten,
ihn aus dem Kampfgewühle zu tragen. Als der Held
mit ſeiner Laſt fliehend an Ajax und Achilles vorüberkam,
durchfuhr auch dieſe Helden ein ſchmerzlicher Zorn, ſie
ſammelten ihre wankenden Schaaren, theilten ſie in zwei
Haufen und gaben durch eine geſchickte Schwenkung dem
Treffen eine andere Geſtalt. Die Griechen waren jetzt
bald wieder im Vortheil und als Teuthrantius, der Halb¬
bruder des Telephus, von einem Geſchoſſe des Ajax
gefallen war und Telephus ſelbſt, in der Verfolgung des
Odyſſeus begriffen, dem ſinkenden Bruder zu Hülfe kom¬
men wollte, ſtrauchelte er über einen Weinſtock; denn
durch die Geſchicklichkeit der Griechen waren die kämpfen¬
den Schaaren der Feinde in eine Weinpflanzung gelockt
worden, in der die Stellung der Danaer die günſtigere
war. Dieſen Augenblick erſah ſich Achilles, und während
Telephus vom Falle ſich aufrichtete, durchbohrte ſein
Wurfſpieß die linke Weiche des Myſiers. Dieſer richtete
ſich dennoch auf, zog das Geſchoß aus der Seite, und
durch den Zuſammenlauf der Seinigen beſchirmt, entging
er weiterer Gefahr. Und noch lange hätte das Treffen
mit abwechſelndem Glücke fortgedauert, wenn nicht die
Nacht eingebrochen wäre und beide Theile, der Ruhe
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 4[50] bedürftig, ſich von dem Kampfplatze zurückgezogen hätten.
Und ſo begaben ſich die Myſier nach ihrer Königsſtadt,
die Griechen nach ihrem Ankerplatze zurück, nachdem von
beiden Seiten viele tapfere Männer gefallen, viele ver¬
wundet waren. Am folgenden Tage ſchickten beide Theile
Geſandte wegen eines Waffenſtillſtandes, damit die Leiber
der Gefallenen zuſammengeſucht und begraben werden
könnten. Jetzt erſt erfuhren die Griechen zu ihrem Stau¬
nen, daß der König, der ſein Gebiet ſo heldenmüthig ver¬
theidigt habe, ihr Volksgenoſſe und der Sohn ihres grö߬
ten Halbgottes ſey, und Telephus ward mit Schmerzen
inne, daß ihm Bürgerblut an den Händen klebe. Nun
fand es ſich auch, daß im griechiſchen Heere drei Fürſten
waren, Tlepolemus, ein Sohn des Herkules, Phidippus
und Antiphus, Söhne des Königes Theſſalus und Enkel
des Herkules, dieſe drei alſo Verwandte des Königes
Telephus. Dieſe nun erboten ſich, im Geleite der myſi¬
ſchen Geſandten vor ihren Bruder und Vetter Telephus
zu gehen und ihm näher zu berichten, wer die Griechen
ſeyen, die an ſeiner Küſte gelandet, und in welcher Abſicht
ſie nach Aſien kämen. Der König Telephus nahm ſeine
Verwandte liebreich auf und konnte ſich nicht genug von
ihnen erzählen laſſen. Da erfuhr er, wie Paris mit ſeinem
Frevel ganz Griechenland beleidigt hatte, und Menelaus
mit ſeinem Bruder Agamemnon und allen verbünde¬
ten Griechenfürſten aufgebrochen ſey. „Darum,“ ſprach
Tlepolemus, der, als ein leiblicher Halbbruder des Köni¬
ges, für die Uebrigen das Wort führte, „lieber Bruder
und Landsmann, entzeuch dich deinem Volke nicht, für das
ja auch unſer lieber Vater Herkules an allen Orten und
Enden der Welt geſtritten, von deſſen Vaterlandsliebe
[51] ganz Griechenland unzählige Denkmale aufzuweiſen hat;
heile die Wunden wieder, die du, ein Grieche, Griechen
geſchlagen haſt, indem du deine Schaaren mit den unſri¬
gen vereinigſt und als unſer Verbündeter gegen das
meineidige Trojanervolk zieheſt.“
Telephus richtete ſich auf ſeinem Lager, auf welchem,
von der Wunde des Achilles darniedergeſtreckt, er die grie¬
chiſchen Helden empfangen hatte, mit Mühe auf und
erwiederte freundlich: „Eure Vorwürfe ſind nicht gerecht,
liebe Volksgenoſſen; durch eure eigene Schuld ſeyd ihr
aus Freunden und Blutsverwandten meine blutigen Feinde
geworden. Haben doch die Küſtenwächter, meinem ſtren¬
gen Befehle gehorſam, euch wie alle Landenden geziemend
nach Namen und Abkunft gefragt und nicht nach roher
Barbarenweiſe, ſondern nach dem Völkerrechte der Grie¬
chen mit euch gehandelt. Ihr aber ſeyd in der Meinung,
daß gegen Barbaren Alles erlaubt ſey, ans Land geſprun¬
gen, ohne ihnen die verlangte Weiſung zu geben, und
habt meine Unterthanen, ohne ſie anzuhören, niedergemacht.
Auch mir habt ihr,“ hier zeigte er auf ſeine Seite, „ein
Andenken hinterlaſſen, das mich, wohl fühle ich es, mein
Lebenlang an unſer geſtriges Zuſammentreffen erinnern
wird. Doch grolle ich euch darüber nicht, und kann die
Freude, Blutsverwandte und Griechen in meinem Reiche
aufgenommen zu haben, nicht zu theuer erkaufen. Höret
nun, was in Beziehung auf eure Anforderung mein Be¬
ſcheid iſt. Gegen Priamus zu Felde zu ziehen, muthet
mir nicht zu. Mein zweites Gemahl, Aſtyoche, iſt ſeine
Tochter, dazu iſt er ſelbſt ein frommer Greis und ſeine
übrigen Söhne ſind edelmüthig, er und ſie haben keinen
Antheil an dem Verbrechen des leichtſinnigen Paris. Sehet
4 *[52] dort meinen Knaben Eurypylus; wie ſollte ich ihm das
Herzeleid anthun, und das Reich ſeines Großvaters zer¬
ſtören helfen! Wie ich aber dem Priamus nichts zu Leide
thun will, ſo werde ich auch euch, meine Landsleute, auf
keinerlei Weiſe ſchädigen. Nehmet Gaſtgeſchenke von mir,
und faſſet Mundvorrath, ſo viel euch nöthig iſt. Dann
gehet hin und fechtet in der Götter Namen euren Handel
aus, den ich nicht ſchlichten kann.“
Mit dieſer gütigen Antwort kamen die drei Fürſten
vergnügt in das Lager der Argiver zurück und meldeten
dem Agamemnon und den andern Fürſten, wie ſie Freund¬
ſchaft im Namen der Griechen mit Telephus geſchloſſen.
Der Kriegsrath der Helden beſchloß, den Ajax und Achil¬
les ſofort an den König zu ſenden, daß ſie das Bündniß
mit ihm beſtätigten und ihn wegen ſeiner Wunde tröſteten.
Dieſe fanden den Herakliden ſchwer an der Wunde dar¬
niederliegen und Achilles warf ſich weinend über ſein
Lager und bejammerte es, daß ſein Speer unwiſſentlich
einen Landsmann und edlen Sohn des Herkules getroffen.
Der König aber vergaß ſeine Schmerzen und bedauerte
nur, von der Ankunft ſo herrlicher Gäſte nicht unterrichtet
geweſen zu ſeyn, um ihnen einen königlichen Empfang zu
bereiten. Hierauf lud er die Atriden feierlich in ſeine
Hofburg ein und empfing ſie mit feſtlicher Pracht und
köſtlichen Geſchenken. Dieſe brachten auf die Bitte des
Achilles die beiden weltberühmten Aerzte Podalirius und
Machaon mit, die Wunde des Königes zu unterſuchen und
zu heilen. Das letztere gelang ihnen zwar nicht, denn
der Speer des Götterſohnes hatte ſeine eigene Kraft und
die Wunden, die er ſchlug, widerſtanden der Heilung; doch
befreiten die Linderungsmittel, die ſie auflegten, den König
[53] für den Augenblick von den unerträglichſten Schmerzen.
Und nun ertheilte er von ſeinem Krankenlager aus den
Griechen allerlei heilſame Rathſchläge, verſah die Flotte
mit Lebensmitteln und ließ ſie nicht eher abziehen, als bis
der Winter, der im Anzuge war, da ſie landeten, mit
ſeinen härteſten Stürmen vorüber war. Darauf belehrte
er ſie über die Lage der Stadt Troja und über den Weg,
den ſie dahin zu machen hätten, und bezeichnete ihnen als
einzigen Landungsplatz die Mündung des Fluſſes Skamander.
Paris zurückgekehrt.
Obgleich in Troja noch nichts von der Abfahrt der
großen griechiſchen Flotte bekannt war, herrſchte doch ſeit
der Abreiſe der griechiſchen Geſandten Schrecken und
Furcht vor dem bevorſtehenden Kriege in dieſer Stadt.
Paris war inzwiſchen mit der geraubten Fürſtin, der herr¬
lichen Beute und ſeiner ganzen Flotte zurückgekommen.
Der König Priamus ſah die unerbetene Schwiegertochter nicht
mit Freuden in ſeinen Pallaſt eintreten und verſammelte
auf der Stelle ſeine zahlreichen Söhne zu einer Fürſten¬
verſammlung. Dieſe ließen ſich durch den Glanz der
Schätze, die ihr Bruder unter ſie zu vertheilen bereit war,
und die Schönheit der Griechinnen aus den edelſten
Fürſtengeſchlechtern, welche er im Gefolge Helena's mit¬
gebracht hatte und denjenigen ſeiner Brüder, die noch
keine Frauen hatten, zur Ehe zu geben bereit war, leicht
bethören, und weil ihrer viele noch jung und alle kampf¬
luſtig waren, ſo fiel die Berathung dahin aus, daß die
[54] Fremde in den Schutz des Königshauſes aufgenommen
und den Griechen nicht ausgeliefert werden ſollte. Ganz
anders hatte freilich das Volk der Stadt, dem vor einem
feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die
Ankunft des Königsſohnes und ſeinen ſchönen Raub auf¬
genommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen
verfolgt und hier und da war ſelbſt ein Stein nach ihm
geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des Vaters
Pallaſt geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten
König und ſeinem Willen die Trojaner ab, ſich der Auf¬
nahme der neuen Bürgerin ernſtlich zu widerſetzen.
Als nun im Rathe des Priamus der Beſchluß gefaßt
war, die Fürſtin nicht zu verſtoßen, ſandte der König ſeine
eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um ſich zu
überzeugen, daß ſie freiwillig mit Paris nach Troja ge¬
kommen ſey. Da erklärte Helena, „daß ſie durch ihre
eigene Abſtammung den Trojanern ebenſoſehr angehöre
als den Griechen: denn Danaus und Agenor ſeyen eben¬
ſowohl ihre eigenen Stammväter als die Stammhalter
des trojaniſchen Königshauſes. Unfreiwillig geraubt, ſey
ſie jetzt doch durch langen Beſitz und innige Liebe an ihren
neuen Gemahl gefeſſelt und freiwillig die ſeinige. Nach
dem, was geſchehen, könne ſie von ihrem vorigen Gatten
und ihrem Volke keine Verzeihung erwarten; nur Schande
und Tod ſtände ihr bevor, wenn ſie ausgeliefert würde.“
So ſprach ſie mit einem Strom von Thränen und
warf ſich der Königin Hekuba zu Füßen, welche die Schutz¬
flehende liebreich aufrichtete, und ihr den Willen des Kö¬
niges und ſeiner Söhne verkündete, ſie gegen jeden Angriff
zu ſchirmen.
[55]
Die Griechen vor Troja.
So lebte denn Helena ungefährdet am Königshofe
von Troja und bezog darauf mit Paris einen eigenen Pal¬
laſt. Auch das Volk gewöhnte ſich bald an ihre Lieblich¬
keit und griechiſche Holdſeligkeit, und als nun endlich die
fremde Flotte wirklich an der trojaniſchen Küſte erſchien,
waren die Einwohner der Stadt minder verzagt, denn zuvor.
Sie zählten ihre Bürger und ihre Bundesgenoſſen,
die ſie ſchon vorher beſchickt und deren wirkſamer Hülfe
ſie ſich verſichert hatten, und ſie fanden ſich an Zahl und
Kraft ihrer Helden und Streiter den Griechen gewachſen.
So hofften ſie mit dem Schutze der Götter — denn außer
Venus waren noch mehrere Götter, darunter der Kriegs¬
gott, Apollo und Jupiter der Göttervater ſelbſt, auf ihrer
Seite — die Belagerung ihrer Stadt abtreiben und die
Feinde zum ſchnellen Rückzuge nöthigen zu können.
Zwar war ihr Anführer, König Priamus ſelbſt, ein
nicht mehr kampffähiger Greis, aber fünfzig Söhne,
worunter neunzehen von ſeiner Gattin, der Königin Hekuba,
umringten ihn theils im blühenden, theils im kräftigſten
Alter, vor allen Hektor, nächſt ihm Deiphobus, und nach
dieſen als die ausgezeichnetſten Helenus, der Wahrſager,
Pammon, Polites, Antiphus, Hipponous, Polydorus und
der zarte Troilus. Vier liebliche Töchter, Kreuſa, Lao¬
dice, Caſſandra, die wahrſagende Jungfrau, und die in
der Kindheit ſchon von Schönheit ſtrahlende Polyxena
umgaben ſeinen Thron. Dem Heere, das ſich jetzt ſtreit¬
fertig machte, ſtand als Oberfeldherr Hektor, der helm¬
[56] umflatterte Held vor, neben ihm befehligte die Dardaner
Aeneas, der Schwiegerſohn des Königes Priamus und
Gemahl Kreuſa's, ein Sohn der Göttin Aphrodite und
des greiſen Helden Anchiſes, der noch immer ein Stolz
des trojaniſchen Volkes war; an die Spitze einer andern
Schaar ſtellte ſich Pandarus, der Sohn des Lykaon, dem
Apollo ſelbſt ſeinen Bogen verliehen hatte; andere Schaa¬
ren, zum Theil trojaniſcher Hülfsvölker, führten Adraſtus,
Amphius, Aſius, Hippothous, Pyläus, Akamas, Euphemus,
Pyrächmes, Pylämenes, Hodius, Epiſtrophus; Chromis
und Ennomus eine Hülfsſchaar von Myſiern; Phorkys
und Askanius eine gleiche der Phryger, Meſthles und
Antiphus die Mäonier, Naſtes und Amphimachus die Ka¬
rier, die Lycier Sarpedon und Glaukus.
Auch die Griechen hatten inzwiſchen gelandet und ſich
längs dem Geſtade des Meeres zwiſchen den beiden Vor¬
gebirgen Sigeum und Rhöteum in einem geräumigen Lager¬
platz angeſiedelt, der einer ordentlichen Stadt nicht unähn¬
lich war. Die Schiffe waren ans Land gezogen worden
und in mehreren Reihen hintereinander aufgeſtellt, ſo daß
ſie ſich, weil der Boden des Ufers aufwärts ging, ſtufen¬
förmig übereinander erhoben. Die Schiffszüge der einzel¬
nen Völkerſchaften reihten ſich in der Ordnung aneinander,
wie ſie gelandet waren. Die Schiffe ſelbſt waren auf
Unterlagen von Steinen aufgeſtellt, damit ſie vom feuchten
Boden nichts zu leiden hätten und luftiger ſtänden. In
der erſten Reihe vom Lande aus hatten an den beiden
äußerſten Enden der Telamonier Ajax und Achilles, beide
das Geſicht gegen Troja gekehrt, jener zur Linken, dieſer
zur Rechten ihre Schiffe aufgeſtellt, und ihre Lagerhütten
aufgepflanzt, die wir nur uneigentlich und der Kürze
[57] halber Zelte nennen. Das Quartier des Achilles wenigſtens
glich beinahe einem ordentlichen Wohnhauſe, hatte Scheu¬
nen und Ställe für Mundvorräthe, Wagenpferde und
zahmes Vieh; und neben ſeinen Schiffen war Raum zu
Wettrennen, Leichenſpielen und andern Feierlichkeiten. An
Ajax ſchloſſen ſich die Schiffe des Proteſilaus an, dann
kamen andere Theſſalier, dann die Kreter, Athener, Pho¬
cier, Böotier, zuletzt Achilles mit ſeinen Myrmidonen; in
der zweiten Reihe ſtanden unter andern die Lokrer, Duli¬
chier, Epeer, in der dritten waren minder namhafte Völ¬
ker mit ihren Schiffen gelagert; aber auch Neſtor mit
den Pyliern, Eurypylus mit den Orchomeniern, zuletzt
Menelaus. In der vierten und letzten längs dem Meeres¬
geſtade ſelbſt ſtanden Diomedes, Odyſſeus und Agamemnon,
ſo daß Odyſſeus in der Mitte, zur Rechten Agamemnon,
links Diomedes lagerte. Vor Odyſſeus befand ſich die
Agora, der freie Platz, der zu allen Verſammlungen und
Verhandlungen beſtimmt war, und auf welchem die Altäre
der Götter ſtanden. Dieſer Platz theilte auch noch die
dritte Reihe, ſo daß ſie den Neſtor zur Linken, den Eury¬
pylus zur Rechten hatte. Der Raum nach dem Meere
hin verengerte ſich, und auch die Agora nahm viel Platz
weg, ſo daß die dritte und vierte Reihe die wenigſten
Schiffe enthielt. Das ganze Schiffslager war wie eine
ordentliche Stadt von vielen Gaſſen und Wegen durch¬
ſchnitten, die Hauptſtraßen aber liefen zwiſchen den vier
Reihen durch; vom Lande nach dem Meere gingen Queer¬
gaſſen, welche die Schiffe jeder Völkerſchaft von einander
trennten; die Schiffe ſelbſt waren von den Lagerhütten
ihrer Völkerſchaften wieder durch kleine Zwiſchenräume
abgeſondert, und jede Völkerſchaft zerfiel wieder in kleinere
[58] Unterabteilungen nach den verſchiedenen Städten oder
Anführern. Die Lagerhütten waren aus Erde und Holz
aufgebaut und mit Schilf bedeckt. Jeder Anführer hatte
ſein Quartier in der vorderſten Reihe ſeiner Schaar, und
ein jedes war nach dem Range des Bewohners mehr oder
weniger ausgeſchmückt. Die Schiffe dienten zugleich dem
ganzen Lager zur Vertheidigung. Noch vor ihnen hatten
die Griechen einen Erdwall aufgeworfen, der erſt in der
letzten Zeit der Belagerung einer Mauer Platz machte.
Hinter ihm war ein Graben, vorn mit einer dichten Reihe
von Schanzpfählen verſehen.
Zu allen dieſen ſchönen Einrichtungen hatten die Grie¬
chen während der langen Zeit, da König und Rath von Troja
über die beſte Weiſe der Vertheidigung ſich beriethen, Muße
gefunden. Ihre Krieger verrichteten zugleich den Schiffs¬
dienſt, und erhielten ihr Brod auf öffentliche Veranſtaltung.
Für die übrigen Lebensbedürfniſſe hatte ein jeder ſelbſt zu
ſorgen. Die gemeinen Streiter waren leicht bewaffnet
und fochten zu Fuße. Die vornehmeren ſtritten auf Kriegs¬
wägen, ſo daß jeder ſtreitende Held einen andern Helden
als Wagenlenker bei ſich hatte. Von Reiterei wußten
die Völker jener alten Zeit noch nichts. Die Streit¬
wägen mit den größten Helden waren auch beſtimmt, in
der erſten Reihe zu kämpfen, und ſollten immer das
Vordertreffen bilden.
Zwiſchen dem Schiffslager der Griechen und der
Stadt Troja breitete ſich, von den Flüſſen Skamander und
Simois eingeſchloſſen, die ſich erſt beim griechiſchen Lager
zu Einer Mündung vereinigten, die blumigte ſkamandriſche
Wieſe und die Troiſche Ebene vier Wegeſtunden lang aus,
die zum Schlachtfelde beſtimmt und wie geſchaffen war,
[59] und hinter welcher ſich mit hohen Mauern, Zinnen und
Thürmen, die von Götterhand befeſtigte, herrliche Stadt
und Burg Troja erhob. Sie lag auf einem Hügel weit
hin ſichtbar; ihr Inneres war uneben und bergicht und
von vielen Straßen durchſchnitten. Nur von zweien Sei¬
ten war ſie leichter zugänglich, und hier befand ſich auf
der einen Seite das Skäiſche, auf der andern das Dar¬
daniſche Thor mit einem Thurme. Die übrigen Seiten
waren höckricht und mit Gebüſchen verwachſen, und ihre
Thore und Thörchen kamen wenig in Betracht. In
der obern Stadt oder Burg Ilium, auch Pergamus
genannt, ſtanden die Palläſte des Priamus, des Paris,
die Tempel der Hekate, der Athene und des Apollo, auf
der höchſten Spitze der Burg ein Tempel des Jupiter.
Vor der Stadt am Simois, den Griechen zur Linken,
war der Hügel Kallikotone, zur rechten führte die Straße
an den Quellen des Skamander und dann an dem hohen
Hügel Batina vorbei, der umgangen werden konnte, und
außen vor der Stadt lag. Hinter Troja kam das Iliſche
Feld, das ſich ſchon bergan zog und die unterſte Stufe
des waldigen Idagebirges bildete, deſſen höchſter Gipfel
Gargarus hieß, das bis in die Ebene hinablief, und deſ¬
ſen beide letzte Aeſte rechts und links von den Griechen
das Sigeiſche und Rhöteiſche Vorgebirge bildeten.—
Noch ehe der Kampf zwiſchen beiden Völkern ſeinen
Anfang nahm, wurden die Griechen durch die Ankunft
eines werthen Gaſtes überraſcht. Der König Telephus
von Myſien, der ſie ſo großmüthig unterſtützt hatte, war
ſeitdem an der Wunde, die ihm der Speer des Achilles
geſchlagen, unheilbar krank gelegen und die Mittel, die
ihm Podalirius und Machaon aufgelegt hatten, thaten
[60] ſchon lange keine Wirkung mehr. Gequält von den uner¬
träglichſten Schmerzen hatte er ein Orakel des Phöbus
Apollo, das in ſeinem Lande war, befragen laſſen, und
dieſes hatte ihm die Antwort ertheilt, nur der Speer, der
ihn geſchlagen, vermöge ihn zu heilen. So dunkel das
Wort des Gottes lautete, ſo trieb ihn doch die Verzweif¬
lung, ſich einſchiffen zu laſſen und der griechiſchen Flotte
zu folgen. So kam denn auch er bei der Mündung des
Skamander an, und ward in die Lagerhütte des Achilles
getragen. Der Anblick des leidenden Königes erneuerte
den Schmerz des jungen Helden. Betrübt brachte er ſei¬
nen Speer herbei und legte ihn dem Könige zu den Fü¬
ßen ſeines Lagers, ohne Rath zu wiſſen, wie man ſich
deſſelben zur Heilung der eiternden Wunde bedienen ſollte.
Viele Helden umſtanden rathlos das Bett des gepeinigten
Wohlthäters, bis es Odyſſeus einfiel, aufs Neue die
großen Aerzte des Heeres zu Rathe zu ziehen. Podali¬
rius und Machaon eilten auf ſeinen Ruf herbei. Sobald
ſie das Orakel Apollo's vernommen, verſtanden ſie als
weiſe, vielerfahrene Söhne des Aeſkulapius ſeinen Sinn,
feilten ein wenig Roſt vom Speere des Peliden ab, und
legten ihn ſorgfältig verbreitet über die Wunde. Da war
ein Wunder zu ſchauen: ſowie die Feilſpäne auf eine
eiternde Stelle des Geſchwüres geſtreut wurden, fing dieſe
vor den Augen der Helden zu heilen an, und in wenigen
Stunden war der edle König Telephus, dem Orakel zu
Folge, durch den Speer des Achilles von der Wunde
deſſelben Speeres geneſen. Jetzt erſt war die Freude der
Helden über den großmüthigen Empfang, der ihnen in
Myſien zu Theil geworden war, vollkommen. Geſundet
und froh ging Telephus wieder zu Schiffe, und wie jüngſt
[61] die Griechen ihn, ſo verließ jetzt er ſie unter Dankſagun¬
gen und Segenswünſchen, in ſein Reich Myſien zurück¬
kehrend. Er eilte aber, nicht Zeuge des Kampfes zu ſeyn,
den ſeine lieben Gaſtfreunde gegen den eben ſo geliebten
Schwäher beginnen würden.
Zweites Buch.
[[64]][[65]]Ausbruch des Kampfes. Proteſilaus. Cygnus.
Die Griechen waren noch mit dem Geleite des Königes
Telephus beſchäftiget, als die Thore Troja's ſich aufthaten,
und die völlig gerüſtete Heeresmacht der Trojaner unter
Hektors Anführung ſich über die Skamandriſche Ebene
ergoß, und ohne Widerſtand gegen die Schiffe der ſorg¬
loſen Achiver anrückte. Die Aeußerſten im Schiffslager,
die zuerſt zerſtreut zu den Waffen griffen und den heran¬
ziehenden Feinden entgegeneilten, wurden von der Ueber¬
macht erdrückt. Doch hielt das Gefecht mit ihnen die
Heerſchaar der Trojaner ſo lange auf, daß die Griechen
im Lager ſich ſammeln, und auch ihrerſeits in einem
geordneten Heerhaufen den Feinden entgegentreten konn¬
ten. Da geſtaltete ſich nun die Schlacht ganz ungleich.
Denn wo Hektor ſelbſt zugegen war, gewannen die
Trojaner die Oberhand, in die Schlachtreihen aber, die
ferne von ihm fochten, drangen die Griechen ſiegreich ein.
Der erſte namhafte Held unter den Griechen, der von
der Hand des trojaniſchen Fürſten Aeneas in dieſer erſten
Schlacht fiel, war Proteſilaus, des Iphiklus Sohn. Als
verlobter Jüngling war er gen Troja gezogen, und der
erſte Grieche, der bei ber Landung ans Ufer ſprang: ſo
ſollte er auch als das erſte Heldenopfer fallen, und ſeine
Braut Laodamia, die holdſelige Tochter des Argonau¬
ten Akaſtus, ſollte den Bräutigam, den ſie mit banger
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 5[66] Sorge in den Krieg hatte ziehen laſſen, nicht wieder
erblicken.
Noch war Achilles vom Kampfplatz entfernt. Er
hatte dem Myſier, den er einſt mit dem Speere verwundet
und jetzt mit dem Speere geheilt hatte, das Geleite ans
Meer gegeben, und ſah nachdenklich dem Schiffe nach,
das ſich in die ferne Fluth vertiefte. Da kam ſein Freund
und Kampfgeſelle Patroklus auf ihn zugeeilt, faßte ihn
bei der Schulter und rief: „Wo weilſt du, Freund, die
Griechen bedürfen deiner. Der erſte Kampf iſt entbrannt:
des Königes Priamus älteſter Sohn, Hektor, rast an der
Spitze der feindlichen Schaaren, wie ein Löwe, deſſen
Höhle Jäger umſtellt haben. Aeneas, der Eidam des
Königes, hat aus der Mitte unſerer Fürſten den edlen
Proteſilaus, der an Jugend und Muthe dir glich, doch an
Kraft dir nicht gleich war, erſchlagen. Wenn du nicht
kommſt, ſo wird der Mord unter unſern Helden einreißen!“
Aus ſeinen Träumen erwacht, blickte Achilles hinter ſich,
ſah den mahnenden Freund, und in dieſem Augenblicke
drang auch der Hall des Kampfgetümmels in ſein Ohr.
Da ſprang er, ohne ein Wort zu erwiedern, durch die Gaſ¬
ſen des Schiffslagers ſeinem Zelte zu. Hier erſt fand er
die Sprache wieder, rief mit lauter Stimme ſeine Myrmi¬
donen unter die Waffen und erſchien mit ihnen wie ein
donnerndes Wetter in der Schlacht. Seinem ſtürmiſchen
Angriffe hielt ſelbſt Hektor nicht Stand. Zwei Söhne des
Priamus erſchlug er, und der Vater ſah wehklagend von
den Mauern herab den Tod ſeiner Kinder von des fürch¬
terlichen Heldenjünglings Hand. Dicht an der Seite des
Peliden kämpfte der Telamonier Ajax, deſſen Rieſenleib
alle andern Danaer überragte; vor den Streichen der bei¬
[67] den Helden flohen die Trojaner wie eine Heerde von
Hirſchen vor einer Hundekoppel daher; zuletzt wurde die
Flucht der Feinde allgemein, und die Trojaner ſchloſſen
ſich wieder in ihre Thore ein. Die Griechen aber begaben
ſich in Ruhe wieder zu ihren Schiffen und fuhren in
Vollendung ihres Lagerbaues gemächlich fort. Achilles
und Ajax wurden von Agamemnon zu Wächtern der Schiffe
beſtimmt, und dieſe ſetzten wieder andere Helden zu Wäch¬
tern über einzelne Abtheilungen der Flotte.
Alsdann wandten ſie ſich zum Begräbniſſe des Prote¬
ſilaus, legten den Leichnam auf einen ſchön geſchmückten
und aufgethürmten Scheiterhaufen und begruben ſeine
Gebeine auf einer Halbinſel des Strandes unter ſchönen,
hohen Ulmbäumen. Noch waren ſie mit der Beſtattung
nicht ganz fertig, als ein zweiter Ueberfall die ſorglos
Feiernden erſchreckte.
In Kolonis bei Troja herrſchte der König Cygnus,
der, von einer Nymphe dem Meeresgotte Neptunus gebo¬
ren, auf der Inſel Tenedos wunderbarer Weiſe von einem
Schwan großgezogen worden war, daher er auch ſeinen
Namen Cygnus, d. h. Schwan, bekommen hatte. Dieſer
war den Trojanern verbündet, und ohne beſonders dazu
von Priamus aufgefordert zu ſeyn, hielt er ſich verpflich¬
tet, als er die Landung der fremden Kriegsvölker vor
Troja gewahr wurde, ſeinen alten Freunden zu Hülfe zu
kommen. Daher ſammelte er in ſeinem Königreich einen
anſehnlichen Heerhaufen, legte ſich in der Nähe des grie¬
chiſchen Schiffslagers in einen Hinterhalt und war mit
ſeiner Schaar eben erſt in dieſem Verſteck angekommen,
als die Griechen aus dem erſten Treffen mit den Troja¬
nern als Sieger zurückgekehrt, ihrem gefallenen Helden
5 *[68] die letzte Ehre erwieſen. Während ſie ſorglos und nicht
in der vollen Waffenrüſtung um den Scheiterhaufen ge¬
ſchaart ſtanden, ſahen ſie ſich plötzlich von Streitwagen
und Bewaffneten umringt, und ehe ſie ſich nur beſinnen
konnten, ob der Boden die Streiter ausgeſpieen habe,
oder woher ſie ſonſt erſchienen ſeyen, hatte Cygnus mit
ſeiner Heeresmacht ein furchtbares Blutbad unter den
Griechen angerichtet.
Doch war nur ein Theil der Argiver bei der Leichen¬
feier des Proteſilaus beſchäftigt und zugegen. Die andern
bei den Schiffen und in den Lagerhütten waren ihren
Waffen näher und eilten den Ihrigen, den Peliden Achilles
an der Spitze, bald in voller Rüſtung und in geſchloſſenen
Kriegsreihen zu Hülfe. Ihr Anführer ſelbſt ſaß auf dem
Streitwagen, ſchrecklich anzuſchauen, und ſeine todbringende
Lanze traf mit ihrem Stoße bald dieſen, bald jenen Kolo¬
niten, bis er, in den Reihen der Schlacht nur den Feld¬
herrn der Fremdlinge ſuchend, dieſen im fernen Kampfgewühle
an den gewaltigen Stößen erkannte, die auch er, auf einem
hohen Streitwagen ſtehend, rechts und links an die Grie¬
chen austheilte. Dorthin lenkte der Held Achilles ſeine
ſchneeweißen Roſſe, und als er nun dem Cygnus gegen¬
über auf dem Wagen ſtand, rief er, die bebende Lanze
mit nervigem Arme ſchwingend: „Wer du auch ſeyeſt,
Jüngling! nimm dieſen Troſt mit in den Tod, daß du
von dem Sohne der Göttin Thetis getroffen worden!“
Dieſem Ausruf folgte ſein Geſchoß. Aber ſo ſicher er die
Lanze abgezielt hatte, ſo rüttelte ſie dem Sohne des Nep¬
tunus doch nur mit dumpfem Stoße an der Bruſt; und
mit ſtaunendem Blicke maß der Pelide ſeinen unverwund¬
lichen Gegner. „Wundre dich nicht, Sohn der Göttin,“
[69] rief dieſer ihm lächelnd zu; „nicht mein Helm, den du
anzuſtaunen ſcheinſt, oder mein hohler Schild in der Lin¬
ken halten die Stöße von meinem Leibe ab; vielmehr
trage ich dieſe Schutzwaffen als bloßen Zierrath, wie
auch wohl der Kriegsgott Mars zuweilen zum Scherze
Waffen anzulegen pflegt, deren er doch gewiß nicht bedarf,
ſeinen Götterleib zu ſchirmen. Wenn ich alle Bedeckung
von mir werfe, ſo wirſt du mir doch die Haut mit deinem
Speere nicht ritzen können. Wiſſe, daß ich am ganzen
Leibe feſt wie Eiſen bin, und daß es etwas heißt, nicht
etwa der Sohn einer Meernymphe zu ſeyn, nein der
geliebte Sohn deſſen, der dem Nereus und ſeinen Töch¬
tern und allen Meeren gebeut. Erfahre, daß du dem
Sohne Poſeidons ſelbſt gegenüber ſtehſt!“ Mit dieſen
Worten ſchleuderte er ſeinen Speer auf den Peliden, und
durchbohrte damit die Wölbung ſeines Schildes, ſo daß
derſelbe durch das Erz und die neun erſten Stierhäute
der göttlichen Waffe hindurchdrang: erſt in der zehnten
Lage blieb das Wurfgeſchoß ſtecken. Achilles aber ſchüt¬
telte den Speer aus dem Schilde, und ſandte dafür den
ſeinigen gegen den Götterſohn ab. Aber der Leib des
Feindes blieb unverwundet. Selbſt das dritte Geſchoß,
das der Pelide abſandte, blieb ohne Wirkung. Jetzt ge¬
rieth Achilles in Wuth, wie ein Stier im Thiergefechte,
dem ein rothes Tuch vorgehalten wird und der mit den
Hörnern in die Luft geſtoßen hat. Noch einmal warf er
die Lanze aus Eſchenholz nach Cygnus, traf dieſen auch
wirklich an der linken Schulter, und jubelte laut auf, denn
die Schulter war blutig. Doch ſeine Freude war vergeb¬
lich; das Blut war nicht Blut des Götterſohnes; es war
der Blutſtrahl des Menoetes, eines neben Cygnus fechtenden
[70] und von anderer Hand getroffenen feindlichen Helden.
Knirſchend vor Wuth ſprang jetzt Achilles vom Wagen,
eilte auf den Gegner zu und hieb mit gezücktem Schwerte
auf ihn ein; aber ſelbſt der Stahl prallte ſtumpf an dem
zu Eiſen gehärteten Körper ab. Da erhub Achilles in der
Verzweiflung den zehnhäutigen Schild und zerpochte dem
unverwüſtlichen Feinde, ganz auf ihn eingedrungen, drei,
viermal die Schläfe mit der Schildbuckel. Jetzt erſt fing
Cygnus an zu weichen, und Nebel ſchwamm ihm vor den
Augen; er wandte ſeine Schritte rückwärts, ſtrauchelte
über einen Stein und darüber ergriff ihn Achilles mit der
Hand im Nacken, und warf ihn vollends zu Boden. Dann
ſtemmte er ſich mit Schild und Knieen auf die Bruſt des
Liegenden und ſchnürte dem Feinde mit ſeinem eigenen
Helmbande die Kehle zu.
Der Fall ihres göttlichen Führers nahm den Koloni¬
ten plötzlich den Muth; ſie verließen den Kampfplatz in
wilder Flucht und bald war von dem ganzen Ueberfalle
nichts mehr zu ſehen, als die vielen Leichen von Griechen
und Barbaren, die auf dem Felde um den halbvollendeten
Grabhügel des Helden Proteſilaus zerſtreut umherlagen
und den um viele der Ihrigen trauernden Argivern neue
Arbeit machten.
Die Folge dieſes Ueberfalls war, daß die Griechen
in die Landſchaft des erſchlagenen Königes Cygnus ein¬
fielen und aus der Hauptſtadt Metora die Kinder deſſel¬
ben als Beute hinwegführten. Dann griffen ſie das be¬
nachbarte Cilla an, eroberten auch dieſe feſte Stadt
mit unermeßlicher Kriegsbeute, und kehrten ſo beladen zu
ihrem wohlbewachten Schiffslager zurück.
[71]
Palamedes und ſein Tod.
Der einſichtsvollſte Mann im griechiſchen Heere war
Palamedes, thätig, weiſe, gerecht und ſtandhaft; von zar¬
ter Geſtalt, des Geſangs und Leierſpiels kundig. Seine
Beredſamkeit hatte den Atriden die meiſten Fürſten Grie¬
chenlands für den Feldzug gegen Troja geſtimmt, ſeine
Klugheit ſelbſt den ſchlauen Sohn des Laertes überliſtet.
Dadurch hatte er ſich aber auch einen unverſöhnlichen
Feind in dem Heere der Danaer erworben, der Tag
und Nacht auf Rache ſann und nur um ſo finſterer darüber
brütete, je mehr das Anſehen des verſtändigen Euböers
unter den Fürſten zunahm. Nun wurde den Griechen
durch ein Orakel Apollo's bekannt, daß ſie dieſem Gott
als Apollo Sminthius — unter dieſem Namen wurde er
in der Landſchaft Troas verehrt — eine Hekatombe an
der Stelle opfern ſollten, wo ſeine Bildſäule und ſein
Tempel ſtand, und Palamedes war von dem Gotte aus¬
erwählt worden, die ſtattlichen Opferthiere nach der heiligen
Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryſes, der Prieſter
des Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die
Verehrung des Gottes in dieſer Landſchaft hatte einen
ſeltſamen Urſprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta
herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an dieſer
Küſte Kleinaſiens gelandet hatten, gab ihnen das Orakel
den Befehl da zu bleiben, wo ſie ihre Feinde aus der
Erde würden hervorkriechen ſehen. Als ſie nun in Hama¬
ritus, einer Stadt dieſer Landſchaft, angekommen waren,
benagten die Mäuſe, aus der Erde hervorſchlüpfend, in
[72] Einer Nacht alle ihre Schilde. Sie ſahen auf dieſe Weiſe
den Spruch des Gottes erfüllt, ließen ſich in der Gegend
nieder und erbauten dem Apollo eine Bildſäule, der eine
Maus, was in äoliſcher Mundart Smintha bedeutet, zu
Füßen lag.
Dieſem Apollo dem Sminthier, der ſeinen Tempel
nicht weit von Chryſa auf einer Anhöhe ſtehen hatte, ward
nun unter Palamedes Anführung von ſeinem Prieſter
Chryſes eine Hekatombe oder Hundertzahl heiliger Schafe
geopfert. Die Ehre, die dem Palamedes durch die An¬
ordnung Apollo's ſelbſt wiederfuhr, beſchleunigte ſeinen
Untergang. Denn in Odyſſeus ſonſt nicht unedlem Ge¬
müthe gewann jetzt ganz der Neid die Oberhand, und er
ſann auf eine fluchwürdige Liſt, durch welche er dem edeln
Manne den Untergang bereitete. Er verbarg eigenhändig
in tiefſter Heimlichkeit eine Summe Geldes in das Zelt
des Palamedes. Dann ſchrieb er im Namen des Priamus
einen Brief an den griechiſchen Helden, in welchem dieſer
von überſchicktem Golde ſprach und dem Palamedes ſei¬
nen Dank ausdrückte, daß derſelbe ihm das Heer der
Griechen verrathen habe. Dieſer Brief wurde einem
phrygiſchen Gefangenen in die Hände geſpielt, bei dieſem
ſodann von Odyſſeus entdeckt und der unſchuldige Träger
auf ſeine Veranſtaltung ſofort auf der Stelle niedergemacht.
Den Brief zeigte Odyſſeus vor der Fürſtenverſammlung im
griechiſchen Lager. Palamedes wurde von den entrüſteten
Häuptern der Danaer vor einen Kriegsrath geſtellt, den
Agamemnon aus den vornehmſten Fürſten zuſammenſetzte
und in welchem Odyſſeus ſich den Vorſitz zu verſchaffen
wußte; auf ſeine Veranlaſſung ward im Zelte des Be¬
ſchuldigten geforſcht, endlich nachgegraben, und ſo die Summe
[73] Goldes, die der trügeriſche Odyſſeus dort verſteckt hatte,
unter ſeiner Lagerſtätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom
wahren Vorgang der Sache ahnend, ſprachen einſtimmig
das Todesurtheil aus. Palamedes würdigte ſie keiner
Selbſtvertheidigung: er durchſchaute den Trug, aber er
hatte keine Hoffnung, Beweiſe ſeiner Unſchuld, ſo wie der
Schuld ſeines Gegners vorzubringen. Als daher das
Urtheil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach
er nur in die Worte aus: „O ihr Griechen, ihr tödtet
die gelehrteſte, die unſchuldigſte, die geſangreichſte Nach¬
tigall!“ Die verblendeten Fürſten lachten über dieſe Ver¬
theidigung, und führten den edelſten Mann im griechiſchen
Heere zum unbarmherzigſten Tode fort, den er mit hel¬
denmüthiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn ſchon die
erſten Steinwürfe niedergeſchmettert hatten, brach er noch
in die Worte aus: „Freue dich, Wahrheit, du biſt noch
vor mir geſtorben!“ Als er dieſe Worte geſprochen, fuhr
ihm, von Odyſſeus rachſüchtiger Hand geſchleudert, ein
Stein an die Schläfe, daß er umſank und ſtarb. Aber
Nemeſis, die Göttin der Gerechtigkeit, ſchaute vom Him¬
mel herab, und beſchloß, den Griechen und ihrem Ver¬
führer Odyſſeus noch am Ziel ihrer Thaten die Miſſethat
zu vergelten.
Thaten des Achilles und Ajax.
Von den nächſten Kriegsjahren vor Troja erzählt die
Sage nichts Ausführliches. Die Griechen lagen nicht
unthätig vor Troja, da aber die Bewohner dieſer Stadt
[74] ihre Kräfte ſchonten und ſelten Ausfälle machten, ſo wand¬
ten die Danaer ihre Macht gegen die Umgegend. Achilles
zerſtörte und plünderte allmählig zwölf Städte mit ſeiner
Flotte, eilf nahm er zu Lande ein. Dem Prieſter Chryſes
führte er auf einem Streifzuge nach Myſien ſeine ſchöne
Tochter Aſtynome oder Chryſeis, gefangen fort. Bei der
Einnahme von Lyrneſſus überfiel er den Pallaſt des Kö¬
niges oder Prieſters Briſes, der in der Verzweiflung den
Strick um den Hals ſchlang und ſich den Tod gab. Sein
holdſeliges Kind Briſeis oder Hippodamia wurde dem Sie¬
ger zu Theil, und er führte ſie als eine Lieblingsbeute
ins griechiſche Lager mit ſich davon. Auch die Inſel Lesbos
und die Stadt Thebe in Cilicien, am Fuße des Berges
Placius gegründet, unterlagen ſeinen Angriffen. In der
letztern Stadt herrſchte der Eidam des Königes Priamus,
der König Etion, deſſen Tochter Andromache mit dem
tapferſten Helden Troja's, mit Hektor, vermählt war.
Sieben blühende Söhne wuchſen noch in ſeinem Königs¬
hauſe. Da kam Achilles, ſtürmte die hochragenden Thore
der Stadt und erſchlug den König mit den ſieben Söhnen.
Als der Leichnam des hohen Fürſten, der von herrlicher,
Ehrfurcht gebietender Geſtalt war, vor dem jungen Hel¬
den ausgeſtreckt lag, bemächtigte ſich deſſelben ein Grauen
und eine Scheu, und er wagte es nicht, den Liegenden
der Waffen zu berauben, und ſich dieſelben als rühmliche
Siegesbeute anzueignen. Er verbrannte daher den Leich¬
nam zur ehrlichen Beſtattung im vollen kunſtreich gearbei¬
teten Waffengeſchmeide und thürmte ihm ein mächtiges Denk¬
mal auf, das noch lange, von hohen Ulmen umſchattet,
die Gegend ſchmückte. Die Gemahlin des Königes, die
[75] Mutter Andromache's, führte er mit ſich fort in die Skla¬
verei, doch gab er ſie ſpäter gegen ein reiches Löſegeld
frei, und ſie kehrte nach der Heimath zurück, wo ein
Pfeil der Göttin Diana ſie am Webeſtuhl traf und töd¬
tete. Aus dem Stalle des Königes führte Achilles ſein
treffliches Pferd, Pedaſus genannt, mit ſich fort, das,
obwohl ſterblich gezeugt, es doch an Kraft und Schnellig¬
keit ſeinen eigenen unſterblichen Roſſen gleich that und mit
ihnen in die Wette am Wagen einherlief; aus der Rüſt¬
kammer des Königes Eëtion aber nahm er viel andere
Herrlichkeiten mit, unter andern auch eine ungeheure
eiſerne Wurfſcheibe, ſo groß, daß ſie einem Bauer fünf
Jahre lang Eiſen zu ſeinem Ackergeräthe würde gege¬
ben haben.
Nächſt Achilles war der tapferſte und rieſigſte Held
unter den Griechen der Telamonsſohn Ajax. Auch er
feierte nicht. Er führte ſeinen Schiffszug nach der thraci¬
ſchen Halbinſel, wo die Königsburg Polymneſtors prangte.
Dieſem hatte der König Priamus von Troja ſeinen jüng¬
ſten Sohn Polydorus, den er mit der Laothoe, einem
Kebsweibe, gezeugt hatte, zur Pflege überſandt und dadurch,
weil er ſein Liebling war, dem Waffendienſt entzogen,
auch dem thraciſchen Könige zur Beköſtigung des Kindes
Gold und Koſtbarkeiten genug übergeben. Dieſer Schätze
und des ihm anvertrauten Unterpfandes bediente ſich nun
der treuloſe Barbar, als ſein Land von dem Helden Ajax
überfallen und ſeine Burg belagert wurde, den Frieden
zu erkaufen; er verläugnete ſeine Freundſchaft mit dem
Könige Priamus, verfluchte ihn, theilte Geld und Ge¬
treide, das er zur Nahrung des Knaben von ihm empfan¬
gen, unter die griechiſchen Streiter aus; dem Ajax ſelbſt
[76] aber überlieferte er das Gold und alle Koſtbarkeiten ſeines
Verbündeten und endlich den Knaben Polydorus ſelbſt.
Ajax kehrte mit ſeiner Beute nicht ſogleich zum grie¬
chiſchen Schiffslager zurück, ſondern wandte ſich auf ſeinen
Schiffen nach der phrygiſchen Küſte. Dort griff er das
Reich des Königes Teuthras an, tödtete den König, der
ihm an der Spitze eines Heerhaufens entgegenzog, in der
Schlacht, und ſchleppte die Tochter des Teuthras, die
königliche Jungfrau Tekmeſſa, die edelgeſinnt und von
herrlicher Geſtalt war, als Kriegsbeute mit ſich fort.
Doch ward ſie ihm bald wegen ihrer Schönheit und ihres
Edelſinnes lieb; er hielt ſie hoch wie eine Gemahlin
und hätte ſich feierlich mit ihr vermählt, wenn es Grie¬
chengebrauch geweſen wäre, eine Barbarin zu freien.
Achilles und der Telamonier trafen von ihren glück¬
lichen Streifzügen, ihre Laſtſchiffe voll Beute, zu gleicher
Zeit im griechiſchen Schiffslager vor Troja wieder ein.
Alle Danaer gingen ihnen unter Lobgeſängen entgegen;
bald umringte ſie eine ganze Verſammlung von Streitern;
man ſtellte die Helden in die Mitte, und unter jubelndem
Zuruf wurde ihnen als Lohn der Siege ein Olivenkranz
aufs Haupt geſetzt. Alsdann hielten die Helden einen
Rath, um über die mitgebrachte Beute, die von den
Griechen als Gemeingut angeſehen wurde, einen Beſchluß
zu faſſen. Da wurden denn auch die gefangenen Frauen
vorgeführt, und alle Danaer ſtaunten über ihre Schönheit.
Der Beſitz der holden Briſeistochter wurde dem Achilles,
dem Helden Ajax der Beſitz der königlichen Tekmeſſa beſtätigt.
Ueberdieß durfte der Pelide auch die Geſpielin ſeiner
Geliebten, die holde Jungfrau Diomedea, behalten, welche
ſich von der Königstochter nicht trennen wollte, mit der
[77] ſie von zarter Kindheit an im Hauſe des Briſes auf¬
gewachſen war; ſie hatte ſich, vor die griechiſchen Helden
geführt, zu Achilles Füßen geworfen und flehte ihn unter
Thränen an, ſie nicht von ihrer lieben Herrin trennen zu
laſſen. Nur Aſtynome, die Tochter des Prieſters Chryſes,
wurde dem Völkerhirten Agamemnon, ſeine Königswürde
zu ehren, zugeſprochen und von Achilles auch willig abge¬
treten. Die andre Kriegsbeute an Gefangenen und Mund¬
vorrath ward Mann für Mann unter das griechiſche Heer
vertheilt.
Dann brachte Ajax, von Odyſſeus und Diomedes
aufgefordert, die Schätze des Königes Polymneſtor aus
ſeinen Schiffen herbei, und es wurde auch davon dem
Könige Agamemnon ein ſchöner Theil an Gold und Sil¬
ber zugeſchieden.
Polydorus.
Endlich beriethen ſich die Helden über den allerkoſt¬
barſten Theil der Beute, über den Knaben Polydorus,
den Sohn des Königes Priamus, und nach kurzer Rath¬
ſchlagung wurde einſtimmig beſchloſſen, daß Odyſſeus und
Diomedes als Geſandte zu König Priamus abgeordnet
werden ſollten, und ihm die Uebergabe ſeines jungen Soh¬
nes anbieten, ſobald Helena den Geſandten Griechenlands
ausgeliefert ſeyn würde. Den beiden Helden wurde der
Gemahl der geraubten Fürſtin, Menelaus, als dritter Ge¬
ſandter beigegeben, und ſo machten ſich alle drei mit dem
jungen Polydorus auf den Weg, und wurden unter dem
[78] Schutze des Völkerrechts als heilige Geſandte von den
Trojanern ohne Widerſpruch in ihre Mauern aufge¬
nommen.
Priamus und ſeine Söhne in ihrem Königspallaſte,
der fern auf der Burg der Stadt gelegen war, wußten
noch nicht, was zu ihren Füßen vorging, als ſchon die
Geſandtſchaft auf dem Marktplatze Troja's ſtille hielt und,
von trojaniſchem Volk umgeben, Menelaus das Wort
ergriff und ſich mit herzzerſchneidenden Worten über die
frevelhafte Verletzung des Völkerrechts beklagte, die ſich
Paris an ſeinem heiligſten und theuerſten Beſitzthum durch
den frechen Raub ſeiner Gemahlin zu Schulden kommen
laſſen. Er ſprach ſo beredt und eindringlich, daß die
umſtehenden Trojaner alle, und darunter die älteſten
Häupter des Volkes, von ſeinen Worten ergriffen wurden
und unter Thränen des Mitleids ihm Recht geben mußten.
Als Odyſſeus ihre Rührung bemerkte, nahm auch er das
Wort und ſprach: „Mir däucht, ihr ſollet wiſſen, Häup¬
ter und andre Bewohner von Troja, daß die Griechen
ein Volk ſind, die nichts unüberlegter Weiſe unternehmen,
und daß ſie ſchon von ihren Vorfahren her bei allen ihren
Thaten darauf bedacht ſind, Lob und nicht Schmach davon
zu tragen. So wiſſet ihr denn auch, daß nach der
unerhörten Beleidigung, die uns Allen eures Königes
Sohn Paris durch die Entführung der Fürſtin Helena
angethan hat, wir, bevor wir die Waffen gegen euch
erhoben, zur gütlichen Beilegung dieſes Handels eine
friedliche Geſandtſchaft an euch geſchickt haben. Erſt
als dieß vergebens war, iſt der Krieg, und zwar noch
dazu durch einen Ueberfall von eurer Seite, begonnen
worden. Auch jetzt, nachdem ihr unſern Arm gefühlt
[79] habt und alle euch unterworfene oder mit euch verbündete
Städte rings umher in Trümmer liegen, ihr ſelbſt aber
nach vieljähriger Belagerung in mannigfaltige Noth gera¬
then ſeyd, liegt ein glücklicher Ausgang unſeres Streites
immer noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns
heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle
brechen wir unſre Lagerhütten ab, ſteigen zu Schiffe, lich¬
ten die Anker, und verlaſſen mit der furchtbaren Flotte,
die euch ſo vielen Schaden gethan hat, euren Strand für
immer. Auch kommen wir nicht mit leeren Händen. Wir
bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber ſeyn
ſollte, als die Fremde, die eure Stadt zu ſeinem und
eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm
den Knaben Polydorus, ſein jüngſtes und geliebteſtes
Kind, den unſer Held Ajax in Thracien dem Könige
Polymneſtor entriſſen hat, und der hier gebunden vor
euch ſteht und von eurem und eures Königes, ſeines Va¬
ters Entſchluſſe, ſeine Freiheit und ſein Leben erwartet.
Gebt ihr uns Helena heraus und liefert ihr ſie heute noch
in unſere Hände, ſo wird der Knabe ſeiner Feſſeln ledig
und bleibt im Hauſe ſeines Vaters. Wird uns Helena
verweigert, ſo gehe eure Stadt zu Grunde und vorher
noch wird euer König ſehen müſſen, was er für ſein Leben
nicht ſehen möchte!
Ein tiefes Stillſchweigen herrſchte in der ihn umrin¬
genden Verſammlung des trojaniſchen Volkes, als Odyſ¬
ſeus aufgehört hatte zu ſprechen. Endlich ergriff der
weiſe und bejahrte Antenor das Wort und ſprach: „Lie¬
ben Griechen und einſt meine Gäſte! Alles was ihr uns
ſaget, wiſſen wir ſelbſt, und müſſen in unſerm Herzen
euch Recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache
[80] zu beſſern, nicht, wohl aber die Gewalt. Wir leben in
einem Staate, in welchem der Befehl des Königes Alles
gilt; ihm ſich zu widerſetzen, erlaubt die Verfaſſung unſers
Reiches, der Glaube, den wir von den Vätern ererbt,
und das Gewiſſen des Volkes keinem von uns. Wir
dürfen in allen öffentlichen Angelegenheiten nur alsdann
ſprechen, wenn der König uns zu Rathe zieht; und wenn
wir geſprochen haben, ſo behält er noch immer freie Hand,
zu thun, was er will; damit du aber erfahreſt, was die
Meinung der Beſten im Volke über eure Angelegenheit
iſt, ſo werden ſich die Aelteſten unſeres Volkes verſammeln,
und vor euch ihre Meinung abgeben. Dieß iſt, was uns
zu thun übrig bleibt und unſer König ſelbſt uns nicht ver¬
weigern kann.“
Und ſo geſchah es. Antenor veranſtaltete einen Rath
der Aelteſten und führte die Geſandten in denſelben ein.
Hier führte er den Vorſitz und befragte die Häupter des
Volkes der Reihe nach über die Gewaltthat des Paris.
Die vornehmſten Männer Troja's erklärten der Reihe
nach, daß ſie die That für einen fluchwürdigen Frevel
hielten; nur Antimachus, ein kriegsluſtiger aber tückiſcher
Mann, vertheidigte den Raub der griechiſchen Fürſtin.
Er war von Paris mit reichlichen Gaben beſtochen wor¬
den, wo es immer Gelegenheit gäbe, ſich ſeiner anzuneh¬
men und die Auslieferung Helena's zu verhindern. Auch
dießmal arbeitete er für dieſen Zweck und hinter dem
Rücken der Helden ertheilte er den ruchloſen Rath, die
Geſandten der Griechen, drei ihrer tapferſten und klügſten
Helden, umzubringen. Als aber die Trojaner dieſen Vor¬
ſchlag mit Abſcheu von ſich wieſen, rieth er, ſie wenig¬
ſtens ſo lange zu behalten, bis ſie den gefangenen
[81] Polydorus, ohne Löſegeld und Tauſch, dem Priamus aus¬
geliefert hätten. Auch dieſer Rath wurde als treulos ver¬
worfen, und da Antimachus nicht aufhörte, ſelbſt öffentlich
in der Verſammlung die Helden zu ſchmähen, ſo wurde
er von ſeinen Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mi߬
billigung ſeines Betragens und ſeiner Grundſätze beweiſen
wollten, mit Schimpf aus der Verſammlung geſtoßen.
Erbittert begab ſich Antimachus auf die Burg und
unterrichtete den König von der Ankunft der griechiſchen
Geſandtſchaft. Nun erhub ſich im Rathe des Königes
und ſeiner Söhne ſelbſt eine lange zwieſpältige Berathung,
zu welcher auch ein Aelteſter, der edle Panthous, der das
volle Vertrauen des alten Königes genoß, gezogen wurde.
Dieſer wandte ſich an den tapferſten, edelſten und tugend¬
hafteſten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der
flehentlichen Bitte, dem Rath aller beſſern Trojaner
nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges
auszuliefern. „Hat doch,“ ſprach er, „Paris ſo viele Jahre
lang Zeit gehabt, ſich ſeines ungerechten Raubes zu
erfreuen und ſeine Luſt zu büßen! Jetzt ſind alle unſre
verbündeten Städte zerſtört und ihr Untergang weiſſagt
uns unſer eigenes Schickſal; dazu haben die Griechen
deinen kleinen Bruder Polydorus in ihrer Gewalt, und
wir wiſſen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir
den Griechen Helena nicht ausliefern!“
Hektor wurde ſchamroth und bis zu Thränen betrübt,
als er der Unthat ſeines Bruders Paris gedachte. Den¬
noch ſprach er ſich im Rathe des Königes nicht für die
Auslieferung der Fürſtin aus. „Sie iſt,“ antwortete er
dem Panthous, „einmal die Schutzflehende unſres Hauſes.
Als ſolche haben wir ſie aufgenommen, ſonſt hätten wir
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 6[82] ſie von der Schwelle des Königspallaſtes zurückweiſen müſ¬
ſen. Statt dieß zu thun, haben wir ihr und dem Paris
ein prächtiges Haus gebaut, und ſie haben darin in Herr¬
lichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr Alle
habt dazu geſchwiegen und habt doch dieſen Krieg kommen
ſehen! Warum ſollen wir ſie jetzt vertreiben?“ — „Ich
habe nicht geſchwiegen,“ erwiederte Panthous, „mein Ge¬
wiſſen iſt ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines
Vaters mitgetheilt und euch gewarnt; ich warne euch zum
zweitenmal. Komme was da will, ich werde die Stadt
und den König mit euch getreulich vertheidigen helfen,
auch wenn ihr meinen heilſamen Rath nicht befolget!“
Mit ſolchen Worten verließ er die Verſammlung der Kö¬
nigsſöhne.
In dieſer wurde zuletzt auf Hektor's Vorſchlag beſchloſ¬
ſen, zwar die Fürſtin Helena nicht auszuliefern, wohl aber
Genugthuung und Erſatz für Alles zu leiſten, was mit
ihr geraubt worden ſey. An ihrer Statt ſollte dem Me¬
nelaus eine der Töchter des Königes Priamus ſelbſt, die
weiſe Kaſſandra oder die in Jugendblüthe heranreifende
Polyxena, mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten
werden. Als die griechiſchen Geſandten, vor den König
und ſeine Söhne geführt, dieſen Vorſchlag vernahmen,
ergrimmte Menelaus und ſprach: „Wahrhaftig, es iſt
weit mit mir gekommen, wenn ich, ſo viele Jahre des
Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den
Feinden mir eine Gattin ausleſen laſſen muß! Behaltet
eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Ju¬
gend zurück!“ Dagegen erhob ſich der Eidam des Königes,
der Gemahl Kreuſa's, der Held Aeneas, und rief dem
Fürſten Menelaus, der die letzten Worte mit verächtlichem
[83] Hohnlachen geſprochen hatte, mit rauher Stimme zu:
„Du ſollſt weder das Eine noch das Andre erhalten,
Elender, wenn es nach meiner Abſtimmung geht, und
nach der Meinung aller derjenigen, die den Paris lieben
und es mit der Ehre dieſes alten Königshauſes halten!
Noch hat das Reich des Priamus ſeine Beſchützer! Und
ſollte auch der Knabe Polydorus, der Sohn des Kebs¬
weibes ihm verloren gehen, ſo iſt Priamus dadurch nicht
kinderlos geworden! Sollen die Griechen einen Freibrief
von uns erhalten, Frauen zu rauben? Genug der Worte!
Wenn ihr euch nicht auf der Stelle mit eurer Flotte davon
macht, ſo ſollet ihr den Arm der Trojaner fühlen! Noch
haben wir ſtreitluſtiger Jugend genug und aus der Ferne
kommen uns von Tag zu Tag mächtigere Verbündete,
wenn auch die Schwachen in der Nähe erlegen ſind!“
Dieſe Rede des Aeneas wurde von lautem Beifalls¬
ruf in der Trojaniſchen Fürſtenverſammlung begleitet und
die Geſandten nur durch Hektor vor rohen Mißhand¬
lungen geſchützt. Voll heimlicher Wuth entfernten ſie ſich
mit ihrem Gefangenen, Polydorus, den der König Priamus
nur aus der Ferne erblickt hatte, und kehrten zu den
Schiffen der Griechen zurück. Als ſich hier die Nachricht
von dem verbreitete, was ihnen in Troja widerfahren
war, von den Umtrieben des Antimachus, von dem Ueber¬
muthe des Aeneas und aller Priamusſöhne, auſſer Hektor,
entſtand ein Auflauf unter dem Heere, und alles Volk
ſchrie mit wilden Gebärden um Rache. Ohne lange die
Fürſten zu fragen, wurde in einer unordentlichen Krieger¬
verſammlung der Beſchluß gefaßt, den unglücklichen Kna¬
ben Polydorus büßen zu laſſen, was ſeine Brüder und
ſein Vater verſchuldet. Und auf der Stelle ſchritten ſie
6*[84] zur Ausführung des Beſchloſſenen. Das arme Kind
wurde auf Schußweite unter die Mauern Troja's geführt,
und als, durch den großen Heeresauflauf herbeigelockt,
König Priamus ſelbſt mit ſeinen Söhnen auf den Mauern
erſchien, tönte bald ein kläglicher Weheruf von den Zin¬
nen herab, denn mit ihren eigenen Augen mußten ſie
ſehen, wie die Drohung des Odyſſeus an dem Knaben
vollzogen ward. Steine flogen von allen Seiten gegen
ſein bloßes Haupt und ſeinen aller Beſchirmung baaren
Leib, und unter unzähligen Würfen ſtarb er eines kläg¬
lichen und grauſamen Todes. Den zerfleiſchten Leichnam
geſtatteten die Griechenfürſten dem flehenden Vater zum
ehrlichen Begräbniß auszuliefern, und die Diener des
Königes erſchienen, von dem Trojanerhelden Idäus
begleitet, und luden die Leiche des Kindes unter Thränen
und Wehklagen auf den Trauerwagen, der ſie dem troſt¬
loſen Vater zuführen ſollte.
Chryſes, Apollo und der Zorn des Achilles.
Unter dieſen Begebenheiten war das zehnte Jahr
des Krieges angebrochen, und der griechiſche Held Ajax
von vielen glücklichen Streifzügen zurückgekehrt. Mit der
Ermordung des Polydorus aber flammte der Haß zwi¬
ſchen beiden Nationen feuriger aus, als zuvor, und die
Götter des Himmels ſelbſt, die einen durch die Grauſam¬
keit der Griechen den Trojanern zugeneigt, die andern
zum Schutze der Danaer aufgeregt, nahmen thätigen
Antheil an dem Kampfe: Juno, Minerva, Merkur,
[85] Neptun, Vulkan auf Seite der Griechen, auf der Gegen¬
ſeite Mars und Venus, ſo daß von dieſem zehnten und
letzten Jahre der Belagerung Troja's zehnmal mehr erzählt
und geſungen wird, als von den neun andern. Denn
jetzt hebt das Lied des Fürſten der Dichter, des Ho¬
merus, vom Zorne des Achilles an, und von allen Uebeln,
die der Groll ihres größten Helden über die Achiver
brachte.
Die Veranlaſſung zum Zorne des Peliden war fol¬
gende. Die Griechen hatten nach der Rückkehr ihrer Ge¬
ſandten die Drohung der Trojaner nicht vergeſſen, und
bereiteten ſich in ihrem Lager zu entſcheidenden Kämpfen
vor, als der Prieſter Apollo's, Chryſes, dem ſeine
Tochter von Achilles geraubt und dem König Aga¬
memnon überlaſſen worden war, den Lorbeer ſeines Got¬
tes um den goldenen Friedensſtab geſchlungen, mit reichen
Löſegeldern im Schiffslager der Griechen ankam, ſeine
Tochter freizukaufen. Mit dieſer Bitte ſtellte er ſich vor
die Atriden und das geſammte Heer, und ſprach: „Ihr
Söhne des Atreus und andre Achiver, mögen euch die
Olympiſchen Vertilgung Troja's und glückliche Heimkehr
verleihen, wenn ihr, den fernhintreffenden Gott Apollo,
deſſen Prieſter ich bin, ehrend, mir gegen die Löſung, die
ich bringe, die geliebte Tochter zurückgebet!“
Das ganze Heer gab ſeinen Worten Beifall und
gebot, den ehrwürdigen Prieſter zu ſcheuen und die köſtliche
Löſung anzunehmen. Nur der König Agamemnon, der
die liebliche Sklavin nicht verlieren wollte, wurde zornig
und ſprach: „Laß dich nicht mehr bei den Schiffen treffen,
Greis, weder jetzt noch in Zukunft; deine Tochter iſt und
bleibt meine Dienerin und wird in meinem Königshauſe
[86] zu Argos bis ins Alter hinter dem Webſtuhl ſitzen! Geh,
reize mich nicht, mache, daß du geſund in deine Heimath
kommſt!“
Chryſes erſchrack und gehorchte. Schweigend eilte er
an den Meeresſtrand; dort aber erhob er ſeine Hände zu
dem Gotte, dem er diente, und flehte ihn an: „Höre
mich, Sminthier, der du zu Chryſa, Cilla und Tenedos
herrſcheſt! Wenn ich je dir deinen Tempel zum Wohl¬
gefallen geſchmückt, und dir auserleſene Opfer dargebracht
habe, ſo vergilt jetzt den Achivern mit dem Geſchoſſe!“
So betete er laut: und Apollo erhörte ſeine Bitte.
Zorn im Herzen verließ er den Olymp, Bogen und
Köcher mit den hallenden Pfeilen auf der Schulter; ſo
wandelte er einher wie die düſtere Nacht, dann ſetzte er
ſich in einiger Entfernung von den griechiſchen Schiffen
nieder und ſchnellte Pfeil um Pfeil ab, daß ſein ſilberner
Bogen grauenvoll erklang. Wen aber ſein unſichtbarer
Pfeil traf, der ſtarb den plötzlichen Tod der Peſt. An¬
fangs nun erlegte er im Lager nur Maulthiere und Hunde,
bald aber wandte er ſein Geſchoß auch gegen die Men¬
ſchen, daß einer um den andern dahinſank und bald die
Todtenfeuer unaufhörlich aus den Scheiterhaufen loderten.
Neun Tage lang wüthete die Peſt im griechiſchen Heere.
Am zehnten Tage berief Achilles, dem die Beſchirmerin
der Griechen, Juno, es ins Herz gelegt, eine Volksver¬
ſammlung, nahm das Wort, und rieth, einen der Opfer¬
prieſter, Seher oder Traumdeuter im Heere zu befragen,
durch welche Opfer der Eifer Phöbus Apollo's beſänftigt
und das Unheil abgewendet werden könne.
Hierauf ſtand der weiſeſte Vogelſchauer im Heere,
der Seher Kalchas auf, und erklärte, den Zorn des
[87] fernhintreffenden Gottes deuten zu wollen, wenn ihm der
Held Achilles Schutz zuſpräche. Der Sohn des Peleus
hieß ihn getroſt ſeyn und Kalchas ſprach: „Keine ver¬
ſäumten Gelübde oder Hekatomben haben den Gott
erzürnt. Er iſt ergrimmt über die Mißhandlung ſeines
Prieſters durch Agamemnon, und wird ſeine Hand zu
unſerm Verderben nicht zurückziehen, bis das Mägdlein
dem erfreuten Vater zurückgegeben und ohne Entgeld mit
einem hundertfachen Sühnopfer nach Chryſa heimgeführt
wird. Nur auf dieſe Weiſe möchten wir die Gnade des
Gottes wieder gewinnen.“
Im Buſen des Königes Agamemnon ſchwoll die
Galle bei dieſen Worten des Sehers; ſein Auge funkelte,
und er begann mit drohendem Blicke: „Unglücksſeher,
der noch nie ein Wort geſprochen, das mir Gedeihen
gebracht hätte, auch jetzt beredeſt du das Volk, der Fern¬
hintreffer habe uns die Peſt geſandt, weil ich das Löſe¬
geſchenk für die Tochter des Chryſes verworfen habe.
Wahr iſt's, ich behielte ſie gern in meinem Hauſe, denn
ſie iſt mir lieber, als ſelbſt Klytämneſtra, das Weib mei¬
ner Jugend, und ſtehet ihr an Wuchs, Schönheit, Geiſt
und Kunſt nicht nach! Dennoch will ich ſie eher zurück¬
geben, als daß ich das Volk verderben ſehe. Aber ich
verlange ein anderes Ehrengeſchenk zum Erſatze für ſie!“
Nach dem Könige nahm Achilles das Wort: „Ich
weiß nicht, ruhmvoller Atride,“ ſprach er, „welches Ehren¬
geſchenk deine Habſucht von den Achivern verlangt. Wo
iſt denn noch viel Gemeinſchaftliches aufgeſpeichert? Alle
Beute aus den eroberten Städten iſt längſt vertheilt, und
den Einzelnen kann man doch das Ausgetheilte nicht wie¬
der nehmen! Darum entlaß die Tochter des Prieſters!
[88] Wenn uns dereinſt Jupiter die Eroberung Troja's gönnt,
ſo wollen wir dir den Verluſt drei- und vierfach erſetzen!“
„Tapferer Held,“ rief ihm der König zu, „ſinne nicht auf
Trug! Meinſt du, ich werde deinem Befehle folgen und
mein Geſchenk hergeben, während du das deinige behältſt?
Nein. Geben mir die Griechen keinen Erſatz, ſo gehe ich
hin, mir einen aus eurer Beute zu holen, ſey es ein
Ehrengeſchenk des Ajax oder des Odyſſeus, oder auch
das deinige, Pelide; möget ihr dann noch ſo ſehr zürnen.
Doch davon reden wir ein andermal. Jetzt aber immer¬
hin ein Schiff und die Hekatombe gerüſtet; ſie ſelbſt, die
roſige Tochter des Ehryſes möget ihr einſchiffen, und einer
der Fürſten, meinethalben du, Achilles, mag das Schiff
befehligen!“
Finſter entgegnete Achilles: „Schamloſer, ſelbſtſüch¬
tiger Fürſt! wie mag dir nur ein Grieche noch gehorchen!
Ich ſelbſt, dem die Trojaner nichts zu Leibe gethan haben,
bin nur dir gefolgt, um deinen Bruder Menelaus dir
rächen zu helfen. Und das achteſt du nun nicht, ſondern
willſt mir mein Ehrengeſchenk entreißen, das ich mir mit
meinem Schweiß errungen und die Griechen mir geſchenkt
haben! Bekam ich doch nach keiner Städteeroberung je
ein ſo herrliches Geſchenk, wie du; die ſchwerſte Laſt des
Kampfes hatte mein Arm ſtets zu tragen, aber wenn es
zur Theilung kommt, trägſt du das Beſte davon, und ich
kehre ſtreitmüde und mit wenigem vergnügt zu den Schif¬
fen zurück! Jetzt aber gehe ich heim nach Phthia; ver¬
ſuch' es, und häufe dir Güter und Schätze ohne mich!“
„Fliehe nur, wenn dir's dein Herz gebeut,“ rief ihm
Agamemnon zu, „ich habe genug Helden ohne dich, du
[89] biſt doch einer der Zankſüchtigſten! Aber wiſſe, die Tochter
des Chryſes erhält zwar ihr Vater wieder, ich dagegen
hole mir ſelbſt die liebliche Briſis aus deinem Zelte,
damit du lerneſt, wie viel ich höher als du ſey, und kei¬
ner mehr es wage, mir ins Antlitz zu trotzen, wie
du thuſt!“
Achilles entbrannte, ſein Herz rathſchlagte unter ſeiner
Männerbruſt, ob er das Schwert ziehen und den Atriden
auf der Stelle niederhauen oder ſeinen Zorn beherrſchen
ſolle. Da ſtand plötzlich unſichtbar hinter ihm die Göttin
Athene, enthüllte ſich ihm allein, indem ſie ihn am braunen
Lockenhaar faßte und ſprach flüſternd: „Faſſe dich, zücke
das Schwert nicht, ſchelten magſt du immerhin. Wenn du
mir gehorchſt, verſpreche ich dir dreifache Gabe!“
Auf dieſe Mahnung hemmte Achilles ſeine Rechte am
ſilbernen Hefte des Schwertes und ſtieß es in die Scheide
zurück; aber ſeinen Worten ließ er freien Lauf: „Unwür¬
diger,“ ſprach er, „wann hat dein Herz dir eingegeben, mit
den Edelſten Griechenlands in einen Hinterhalt zu ziehen,
oder in offener Schlacht zuvorderſt zu kämpfen? Viel
bequemer dünkt es dir, hier im Heereslager ſein Geſchenk
dem zu entwenden, der es wagt, dir zu widerſprechen!
Aber ich ſchwöre dir bei dieſem Fürſtenſcepter, ſo gewiß
er nie wieder als Baumaſt grünen wird, hinfort ſieheſt
du den Sohn des Peleus nicht mehr in der Schlacht;
umſonſt wirſt du Rettung ſuchen, wenn der Männer mor¬
dende Hektor die Griechen ſchaarenweiſe niederwirft; um¬
ſonſt wird alsdann an deiner Seele der Gram freſſen,
daß du den edelſten der Danaer keiner Ehre werth geach¬
tet haſt!“ So ſprach Achilles, warf ſeinen Scepter auf
die Erde und ſetzte ſich nieder. Vergebens ſuchte der
[90] ehrwürdige Neſtor die Streitenden mit milder Rede zu
verſöhnen. Endlich rief Achilles, ſich aus der Verſamm¬
lung erhebend, dem Könige zu: „Thue was du willſt,
nur muthe mir keinen Gehorſam weiter zu. Nie werde
ich des Mägdleins wegen gegen dich oder Andere die
Arme zum Streit aufheben. Ihr gabet ſie mir, ihr könnt
ſie mir auch wieder nehmen. Aber laß dir nicht einfallen,
das Mindeſte ſonſt bei meinen Schiffen anzutaſten, wenn
du nicht willſt, daß dein Blut von meiner Lanze triefe!“
Die Verſammlung trennte ſich. Agamemnon ließ die
Tochter des Chryſes und die Hekatombe zu Schiffe bringen
und Odyſſeus führte beide ihrer Beſtimmung zu. Dann
aber berief der Atride die Herolde Talthybius und Eury¬
bates und befahl ihnen, die Tochter des Briſes aus dem
Zelte des Peliden zu holen. Die Herolde gingen ungerne,
jedoch dem drohenden Wort ihres Herrſchers gehorchend,
zum Schiffslager. Sie fanden den Achilles vor ſeinem
Zelte ſitzend; und er wurde ihres Anblickes nicht fröhlich;
ſie ſelbſt aber wagten vor Scheu und Ehrfurcht nicht, zu
verkündigen, weswegen ſie kämen. Aber Achilles hatte es
ihnen im Geiſte ſchon abgelauſcht. „Freude ſey mit euch,“
rief er ihnen zu, „ihr Herolde Jupiters und der Menſchen!
Nahet euch immerhin; nicht ihr traget die Schuld eurer
Forderung, ſondern Agamemnon. Wohlan denn, Freund
Patroklus, führe die Jungfrau heraus und übergib ſie
ihnen. Aber ſie ſelbſt ſollen mir Zeugen ſeyn vor den
Göttern, den Menſchen und jenem Wütherich: wenn man
je wieder meiner Hülfe bedarf, ſo iſt es nicht meine
Schuld, ſondern die Schuld des Atriden, wenn ich nicht
erſcheine.“
Patroklus brachte das Mädchen, die den Herolden
[91] widerſtrebend folgte, denn ſie hatte ihren milden Herrn lieb
gewonnen. Achilles aber ſetzte ſich weinend an den Strand,
ſchaute hinunter in die dunkle Meerfluth und flehte ſeine
Mutter Thetis um Hülfe an. Da ertönte ihre Stimme
aus der Tiefe: „Wehe mir, mein Kind, daß ich dich gebar;
ſo kurz, ſo gar kurz währet dein Leben; und nun ſollſt du
auch noch ſo viel Thränen und Kränkung erfahren! Aber
ich ſelbſt gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich
um Hülfe. Zwar iſt er geſtern zum Mahle der frommen
Aethiopier an den Strand des Oceanus gegangen, und
erſt nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber
eile ich hinauf zu ihm und umfaſſe ihm die Kniee. So
lange ſetze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern
und enthalte dich des Krieges.“ Achilles verließ, mit der
Antwort ſeiner Mutter im Herzen, den Strand und ſetzte
ſich grollend, mit verſchlungenen Armen, in ſeinem Zelte nieder.
Inzwiſchen war Odyſſeus mit dem Schiffe zu Chryſa
angekommen und übergab dem freudig überraſchten Vater
ſein holdſeliges Kind. Dankbar hob Chryſes ſeine Hände
gen Himmel und flehte zu Phöbus um Abwendung der
Plage, die er den Griechen zugeſandt, und in dieſem Au¬
genblicke hörte die Peſt unter dem griechiſchen Heere auf,
und als Odyſſeus mit dem Schiffe ins Lager der Griechen
zurückkam, fand er dieſe des Uebels ledig.
Der zwölfte Tag, ſeit Achilles ſich in ſeine Lager¬
ſtätte zurückgezogen hatte, war angebrochen und Thetis hatte
ihr Verſprechen nicht vergeſſen. Im frühſten Morgennebel
tauchte ſie aus dem Meere und ſtieg empor zum Olymp.
Hier fand ſie auf der höchſten Kuppe des gezackten Ber¬
ges, abſeits von den andern Göttern, den waltenden Ju¬
piter gelagert, ſetzte ſich zu ihm, und mit der Linken ſeine
[92] Kniee umſchlingend, mit der Rechten nach der Sitte Fle¬
hender ſein Kinn berührend, ſprach ſie zu ihm: „Vater
Zeus, wenn ich dir je mit Worten oder Thaten gedient
habe, ſo gewähre mir mein Verlangen: Ehre meinen
Sohn, der vom Geſchicke ſo früh zu welken beſtimmt iſt;
Agamemnon hat ihn jetzt eben aufs Tiefſte gekränkt und
ihm das Ehrengeſchenk entzogen, das er ſelbſt erbeutet
hatte. Deswegen bitte ich dich, Göttervater, gib den
Trojanern ſo lange Sieg, bis die Griechen meinem Sohne
wieder die verdiente Ehre erweiſen!“ Lange blieb Jupiter
unbeweglich und ſchweigend. Aber Thetis ſchmiegte ſich
ihm immer feſter ans Knie und flüſterte: „So gewähre
mir doch meine Bitte, Vater, oder verweigere ſie mir rund
weg, damit ich es wiſſe, ob ich mehr als alle andere
Götter einer Ehre von dir gewürdigt werde!“ So nöthigte
ſie endlich den Vater der Götter zu der unmuthigen Ant¬
wort: „Es iſt nicht zum Heile, daß du mich zwingſt, mit
der Göttermutter Juno zu hadern, die ohnehin mir immer
zuwider iſt. Eile nur hinweg, daß ſie dich nicht bemerke,
und es genüge dir der Wink meines Hauptes, welcher der
untrüglichſten Verheißung gleich iſt.“ So ſprechend nickte
Jupiter mit ſeinen Augenbraunen und die Höhen des
Olymps erbebten von dem Nicken ſeines Hauptes. Zufrie¬
den fuhr Thetis hinab zur Meerestiefe. Juno aber, welche
die Rathſchlagung ihres Gemahles mit der Göttin wohl
beachtet hatte, trat heran zu Jupiter und reizte ihn mit
Vorwürfen. Doch dieſer antwortete der Göttin ruhig:
„Getraue dir nicht einzuſehen, was ich beſchließe; ſchweig und
gehorche meinem Gebote.“ Da erſchrack Juno vor dem Wort
ihres Gemahls, des Götter- und Menſchenvaters, und
wagte nicht weiter Einſprache gegen ſeinen Entſchluß zu thun.
[93]
Verſuchung des Volkes durch Agamemnon.
Jupiter gedachte des Winks, den er der Meeresgöttin
Thetis zugenickt hatte. Er ſchickte den Traumgott in das
Lager der Griechen und in das Zelt des ſchlummernden
Königs Agamemnon. Dieſer ſtellte ſich in Neſtors Geſtalt,
den der König vor allen andern Aelteſten ehrte, zu ſeinen
Häupten und ſprach zu ihm: „Schläfſt du, Sohn des
Atreus? ein Mann, der das ganze Volk berathen ſoll,
darf nicht ſo lange ſchlafen. Höre mich, der ich als ein
Bote Jupiters zu dir komme; er befiehlt dir, die Achiver
zur Schlacht zu rüſten: jetzt ſey die Stunde, wo Troja
bezwungen werden kann. Die Himmliſchen ſind entſchloſ¬
ſen und Verderben ſchwebt über der Stadt.“
Agamemnon erwachte vom Schlafe und ſprang vom
Lager. Er band ſich die Sohlen unter die Füße, zog
das Gewand an, hängte das Schwert über die Schulter,
ergriff den Scepter und wandelte in der Frühe des Mor¬
gens nach den Schiffen. Die Herolde gingen auf ſein
Geheiß, das Volk zur Verſammlung zu rufen, von einer
Lagerſtatt zu der andern; die Fürſten des Heeres aber
wurden am Schiffe Neſtors in einen Rath verſammelt.
Hier eröffnete Agamemnon die Berathung mit den Wor¬
ten: „Freunde, vernehmet! ein gottgeſandter Traum, in
Neſtors Geſtalt zu mir tretend, hat mich belehrt, daß,
von Jupiter herabgeſandt, über Troja Verderben ſchwebe.
Laßt uns nun ſehen, ob es uns gelingt, die durch den
Zorn des Achilles entmuthigten Männer zur Schlacht zu
rüſten. Ich ſelbſt will ſie zuerſt mit Worten verſuchen
[94] und ihnen den Rath ertheilen, zu Schiffe zu gehen und
die trojaniſche Küſte zu verlaſſen, dann ſollt ihr euch, der
eine da, der andere dorthin eilend, vertheilen, und die
Völker zum Bleiben zu bewegen ſuchen.“ Nach Agamemnon
erhob ſich Neſtor und ſprach zu den Fürſten: „Wenn ein
anderer Mann uns einen ſolchen Traum erzählte, ſo
würden wir ihn der Lüge beſchuldigen und uns verächtlich
abwenden. So aber iſt der, der dieſen Traum geſehen
hat, der erſte Fürſt aller Danaer; und darum glauben wir
ihm und gehen ans Werk!“ Neſtor verließ den Rath
und alle Fürſten folgten ihm auf den Markt, wo das
geſammte Volk ſich ſchon wie ein Bienenſchwarm verſam¬
melte. Neun Herolde ordneten daſſelbe, daß es ſich im
Kreiſe lagerte und allmählig der Lärm und das Flüſtern
der Redenden verſtummte. Dann ſprach Agamemnon, in
der Mitte der Verſammlung ſtehend und auf ſeinen
Herrſcherſtab ſich lehnend: „Lieben Freunde, verſammelte
heldenmüthige Streiter des Danaervolkes, der grauſame
Jupiter hat mich in ſchwere Schuld verſtrickt, er, der mir
einſt ſo gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger
Troja's heimziehen ſollte. Jetzt aber gefällt es ihm, der
ſchon ſo viele Städte zu Boden geſchmettert hat und in
ſeiner Allmacht noch niederſchmettern wird, mir zu befeh¬
len, daß ich, nachdem ſo viel Volkes umſonſt erlegen iſt,
ruhmlos nach Argos zurückkehren ſoll. Auch iſt es freilich
ſchmählich, wenn ein ſpäteres Geſchlecht vernehmen ſoll,
daß dieſes große Griechenvolk in einem heilloſen Streite
gegen ſo viel ſchwächere Feinde fortkämpfe. Denn wahr¬
haftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit
der Zahl der Unſrigen meſſen wollten, ſo daß je ein Tro¬
janer einem Tiſche von zehn Griechen den Wein kre¬
[95] denzte: viele Tiſche, däucht mir, würden des Weines ent¬
behren müſſen. Aber freilich haben ſie mächtige Bundes¬
genoſſen aus vielen Städten, deren Macht mir nicht
erlaubt, ihre Stadt zu vertilgen, wie ich wohl möchte.
Inzwiſchen ſind neun Jahre herumgegangen, das Holz an
unſern Schiffen wird anbrüchig, die Seile vermodern,
unſere Weiber und Kinder ſitzen zu Hauſe und ſchmachten
nach uns, ſo iſt es wohl das Beſte, wir fügen uns in
Jupiters Gebot, gehen zu Schiffe und kehren ins liebe
Land der Väter zurück.“ Die Worte Agamemnons beweg¬
ten die Verſammlung, wie ſchwellende Meereswogen. Das
ganze Heer gerieth in Aufruhr; Alles ſtürzte den Schiffen
zu, daß der Staub in die Luft wirbelte; einer ermunterte
den andern, die Schiffe ins Meer zu ziehen; die Balken
unter dieſen wurden hinweggezogen, die Graben, die mit
dem Meer in Verbindung ſtanden, geräumt.
Den Freunden der Griechen im Olymp ſelbſt wurde
bange, als ſie den Ernſt der Völker ſahen, und Juno
ermahnte Minerva, hinunter zu eilen ins Heer der Achi¬
ver und durch ihre ſchmeichelnde Götterrede die Flucht
derſelben zu hemmen. Pallas Athene gehorchte ihr und
flog von den Felſenhöhen des Olymp hinab ins Schiffs¬
lager der Griechen. Hier fand ſie den Odyſſeus mit
gramvollem Herzen regungslos vor ſeinem Schiffe ſtehend,
das er nicht zu berühren wagte. Die Göttin näherte ſich
ihm, und indem ſie ſich ſeinen Blicken offenbarte, ſprach
ſie freundlich zu ihm: „Alſo wollet ihr euch wirklich in
die Schiffe ſtürzen und fliehen? wollet dem Priamus den
Ruhm und den Trojanern Helena laſſen, die Griechin,
um welche ſo viele Griechen, fern vom Vaterlande, dahin¬
geſunken ſind? Nein, das wirſt du nicht dulden, edler,
[96] kluger Odyſſeus! Eilig dich ins Heer der Danaer
geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredſamkeit,
ermahne, hemme ſie.“ Auf den Ruf der Göttin warf
Odyſſeus ſchnell ſeinen Mantel weg, den Eurybates, ſein
Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter
das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürſten und edlern
Männer, ſo hielt er ihn mit freundlichen Worten an und
ſprach ihm zu: „Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu
verzagen wie ein Feigling? Du ſollteſt vielmehr ruhig
bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißeſt du doch
nicht, wie der Atride wirklich im Herzen geſinnt iſt, und
ob er die Griechen nicht hat verſuchen wollen!“ Wenn
er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und ſchreiend
antraf, den ſchlug er mit ſeinem Scepter und bedrohte
ihn mit lauter Stimme: „Elender, rühre dich nicht; hör'
du, was Andre ſagen, du, den man weder im Kampf,
noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch
nicht alle Könige ſeyn! Vielherrſchaft iſt nichts nütze, nur
Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und dieſem
ſollen die Andern gehorchen!“
So ließ Odyſſeus ſeine herrſchende Stimme durchs
Heer erſchallen, und bewog endlich das Volk von den
Schiffen auf den Verſammlungsplatz zurückzuſtrömen. All¬
mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den
Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war
Therſites, der ſich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬
worten gegen die Fürſten vernehmen ließ. Dieſer war
der häßlichſte Mann, der aus Griechenland mit vor Troja
gekommen war; er ſchielte mit dem einen Auge und war
lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem
Rücken, die Schultern gegen die Bruſt eingeengt, einen
[97] Spitzkopf, deſſen Scheitel nur mit dünner Wolle ſpärlich
beſäet war. Beſonders war der Haderer dem Peliden und
Odyſſeus verhaßt, denn gegen dieſe Helden läſterte er
unaufhörlich. Dießmal aber kreiſchte er ſeine Schmähun¬
gen dem Völkerfürſten Agamemnon entgegen: „Was haſt
du zu klagen, Atride,“ ſchrie er; „weſſen bedarfſt du denn?
Iſt nicht dein Zelt voll von edlem Erz, und voll von
Weibern? Du läſſeſt es dir wohl ſeyn, und wir ſollen
uns von dir in allen Jammer hineinführen laſſen? Viel
beſſer thun wir, auf den Schiffen heimzuſegeln, und dieſen
hier allein vor Troja ſich mit Ehrengeſchenken mäſten zu
laſſen! Hat er doch jetzt ſelbſt den mächtigen Achilles ver¬
unehrt und vorenthält ihm ſeine Ehrengabe. Aber der
träge Pelide hat keine Galle in der Leber, ſonſt hätte der
Tyrann heute zum letzten Male gefrevelt!“
Während Therſites ſo ſchalt, ſtellte ſich Odyſſeus
neben ihn und maß ihn mit finſterem Blick, dann hub er
ſein Scepter, bläute ihm Rücken und Schultern und rief:
„Find' ich dich noch einmal im Wahnſinne toben, wie
jetzt, du Schuft! ſo ſoll mein Haupt nicht auf meinen
Schultern ſtehen, und Telemachus nicht mein Sohn ſeyn,
wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom
Leibe ziehe, und dich mit Geißelhieben geſtäupt nackt zu
den Schiffen ſende!“ Therſites krümmte ſich unter den
Streichen des Helden mit blutigen Striemen auf Schulter
und Nacken, und lief dann tobend vor Schmerz und heu¬
lend vor Wuth von dannen. Im Volk aber ſtieß ein
Nachbar den andern lachend an, und freute ſich darüber,
daß der ekelhafte Menſch die verdiente Strafe erhielt.
Jetzt aber trat der Held Odyſſeus vor das Volk;
neben ihm Pallas Athene, welche die Geſtalt eines Herolds
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 7[98] angenommen hatte, und den Völkern Stillſchweigen gebot.
Er ſelbſt hob ſeinen Fürſtenſtab in die Höhe, daß die
Umſtehenden aufmerkten und ſprach: „Sohn des Atreus!
wahrhaftig, ſo weit iſt es gekommen, daß die Griechen
dir Schmach bereiten und ihren Verheißungen ungetreu
werden, ſie, die verſprochen haben, nicht eher von dannen
zu ziehen, als bis ſie Troja vertilgt hätten. Nun jam¬
mern ſie wie Weiber und kleine Kinder nach der Heim¬
kehr, und klagen einander ihr Leid! Aber welche Schande
wäre es für uns, nachdem wir ſo lange hier verweilt,
leer heimzukehren! Darum, ihr Freunde! geduldet euch
doch noch ein weniges; erinnert euch an das Zeichen, das
uns vor unſerer Abfahrt nach Aulis zu Theil wurde, als
wir auf geweihten Altären, um jenen Sprudelquell her,
Hekatomben unter dem ſchönen Ahornbaume opferten. Mir
iſts, als wäre es erſt geſtern geſchehen! Ein gräßlicher
Drache mit dunkelfarbigen Schuppen ſchlüpfte unter dem
Altar hervor, und fuhr ſchlängelnd an dem Ahornbaume
hinauf. Dort hing ein Sperlingsneſt mit nackten Jun¬
gen ſchwankend auf einem Aſte: ihrer achte ſchmiegten ſich
in die Blätter, das neunte aber war die brütende Mutter
der Vögel. Die umflog mit kläglichem Zwitſchern die
Kleinen, bis der Drache ſein Haupt hindrehte und die
jammernde am Flügel erhaſchte. Nachdem er die Mutter
ſammt den Jungen verzehrt, verwandelte Jupiter, der den
Drachen geſandt hatte, ihn zum offenbaren Wunderzeichen
in einen Stein, und ihr Achiver ſahet es mit ſtaunendem
Grauen. Kalchas aber, der Seher, rief euch zu: Was
ſtehet ihr verſtummt, ihr Griechen? Wiſſet ihr nicht, daß
dieß Wunder eine Wahrſagung Jupiters iſt? Die neun
Sperlinge ſind neun Jahre, die ihr um Troja kriegen
[99] werdet; im zehenten aber werdet ihr die prachtvolle Stadt
erobern. So weiſſagte damals Kalchas. Nun aber wird
ja Alles vollendet! Die neun Jahre des Kampfes ſind
vorüber, das zehnte Jahr iſt erſchienen und der Sieg muß
mit ihm kommen. So harret denn die kleine Weile mit¬
einander noch aus, ihr Griechen! Bleibet, bis wir die
Veſte des Königes Priamus zerſtört haben!“
Ein Jubel der verſammelten Argiver beantwortete
die Rede des Odyſſeus, der weiſe Neſtor benützte die
umgewandelte Stimmung der Völker und rieth dem Könige
Agamemnon, ſofort, wenn ſich etwa noch einer unbändig
nach der Heimkehr ſehnte, einem ſolchen nicht zu verwei¬
gern, zu Schiffe zu gehen und von dannen zu fahren.
Dann aber ſollte er die Männer nach Stamm und Ge¬
ſchlecht abſondern und kämpfen laſſen: ſo würde er am
ſicherſten erfahren, wer von Kriegern und Führern der
Muthigere oder der Feigere ſey, und ob Göttergewalt,
oder Furcht, oder mangelnde Kriegserfahrung die Erobe¬
rung Troja's verhindere. Erfreut antwortete auf dieſen
Vorſchlag der Völkerfürſt:
„Fürwahr, Neſtor, du der Greis übertriffſt unſere
Männer alle durch Einſicht. Hätte ich im Rathe der Grie¬
chen noch zehen deines Gleichen, ſo ſollte mir Troja's
hochragende Burg bald zertrümmert in den Staub ſinken!
Ich ſelbſt muß geſtehen, daß ich unbeſonnen gehandelt
habe, mich mit Achilles wegen des Mädchens zu entzweien.
Jupiter hatte mich damals mit Blindheit geſchlagen. Ver¬
ſöhnen wir beide uns je wieder, ſo wird der Untergang
Troja's nicht länger ſäumen! Doch nun wollen wir uns
zum Angriffe rüſten, ſtärke ſich jeder mit einem Mahl,
bereite Schild und Lanze, füttre und tränke ſeine Roſſe,
7 *[100] beſichtige den Streitwagen und gedenke der Schlacht, die
bis zum Abend dauern wird. Bleibt mir einer abſichtlich
bei den Schiffen zurück, deſſen Leib ſoll den Hunden und
Vögeln nicht entgehen!“
Als Agamemnon ausgeredet, ſchrieen die Danaer laut
auf, daß es tönte wie die Meerfluth, wenn ſie ſich beim
Südwind am hohen Felſenſtrande bricht. Das Volk ſprang
auf, jeder eilte zu ſeinen Schiffen und bald ſah man
den Rauch des Frühſtücks aus den Lagerhütten dampfen.
Agamemnon ſelbſt opferte dem Jupiter einen Stier und
lud die edelſten Achiver zum Mahle ein. Als dieß vor¬
über war, gebot er den Herolden, die Griechen zur Schlacht
zu rufen, und bald ſtürzten die Haufen, Schaaren von
Kranichen oder Schwänen gleich, die am Flußufer hin¬
flattern, auf die ſkamandriſche Wieſe. Die Führer, an
ihrer Spitze der Atride, ordneten die Reihen. Herrlich
war der Fürſt der Fürſten Agamemnon anzuſchauen, an
Augen und Haupt dem Göttervater gleich, an breiter Bruſt
dem Neptunus und gerüſtet wie der ſtreitbare Kriegsgott ſelbſt.
Paris und Menelaus.
Das Heer, auf Neſtors Rath nach Volksſtämmen
geordnet, ſtand in Schlachtordnung, als man endlich den
Staub der aus ihren Mauern heranziehenden Trojaner
gewahr wurde. Nun ſetzten ſich auch die Griechen in
Bewegung. Als beide Heere einander nahe genug waren,
daß der Kampf beginnen konnte, ſchritt aus der Reihe der
Trojaner der Königsſohn Paris vor, in ein buntes Pantherfell
[101] gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, ſein
Schwert an der Seite, und indem er zwo ſpitze Lan¬
zen ſchwenkte, forderte er den tapferſten aller Griechen
heraus, mit ihm den Zweikampf zu wagen. Als dieſen
Menelaus aus den ſich heranwälzenden Schaaren hervor¬
ſpringen ſah, freute er ſich, wie ein hungriger Löwe, dem
eine anſehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirſch, in
den Weg kommt, und ſchnell ſprang er in voller Rüſtung
von ſeinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften
Dieb ſeines Hauſes zu beſtrafen. Dem Paris aber graute
beim Anblick eines ſolchen Gegners und er entzog ſich dem
Kampfe erblaſſend und ins Gedränge ſeiner Landsleute
zurückfahrend, als hätte er eine Natter geſehen. Als ihn
Hektor ſo in die Menge der Trojaner zurücktauchen ſah,
rief er ihm voll Unmuth zu: „Bruder, du biſt doch nur
von Geſtalt ein Held, in Wahrheit aber nichts, als ein
weibiſcher ſchlauer Verführer. Wäreſt du lieber geſtorben,
ehe du um Helena gebuhlt! Siehſt du nicht, wie die
Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wageſt,
dem Manne Stand zu halten, dem du die Gattin geſtoh¬
len haſt? Du wäreſt werth zu erfahren, an welchem
Manne du dich verſündigt, und ich würde dich nicht
bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälz¬
teſt und der Staub dein zierliches Lockenhaar beſudelte.“
Paris antwortete ihm: „Hektor, dein Herz iſt hart und
dein Muth unwiderſtehlich, wie eine Axt aus Erz, mit der
der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelſt
mich nicht mit Unrecht; aber ſchilt mir nicht meine Schön¬
heit, denn ſie iſt auch eine Gabe der Unſterblichen. Wenn
du mich aber jetzt kämpfen ſehen willſt, ſo heiß Trojaner
und Griechen ruhen; dann will ich um Helena und alle
[102] ihre Schätze mit dem Helden Menelaus vor allem Volke
den Zweikampf wagen. Wer von uns beiden ſiegt, mag
ſie heimführen; ein Bund ſoll es bekräftigen; ihr bauet
alsdann das trojaniſche Land in Frieden und jene ſchiffen
heim gen Argos.“
Eine freudige Ueberraſchung hatte ſich Hektors bei
dieſen Worten ſeines Bruders bemächtigt; er trat vor die
Schlachtordnung heraus in die Mitte und hemmte, den
Speer vorhaltend, den Anlauf der trojaniſchen Haufen.
Als die Griechen ſeiner anſichtig wurden, zielten ſie in
die Wette mit Wurfſpießen, Pfeilen und Steinen nach
ihm. Agamemnon aber rief laut nach den griechiſchen
Reihen zurück: „Haltet ein, Argiver, werfet nicht, der
helmumflatterte Hektor begehrt zu reden!“ Die Griechen
ließen ihre Hände ſinken und verharrten in Schweigen
rings umher; und nun verkündete Hektor mit lauter
Stimme den Völkern den Entſchluß ſeines Bruders Paris.
Seine Rede beantwortete ein tiefes Stillſchweigen. End¬
lich nahm Menelaus vor den Heeren das Wort: „Hört
mich an,“ rief er, „mich, auf deſſen Seele der allgemeine
Kummer am ſchwerſten laſtet! Endlich, hoffe ich, werdet
ihr, Argiver und Trojaner, nachdem ihr um des Streites
willen, den Paris angefacht, ſo viel Schlimmes erduldet
habt, verſöhnt von einander ſcheiden! Einer von uns
Zweien, welchen auch das Schickſal auserkohren hat, ſoll
ſterben; ihr Andern aber ſollt in Frieden ſcheiden. Laßt
uns opfern und ſchwören, alsdann mag der Zweikampf
beginnen!“
Beide Heere wurden froh über dieſen Worten, denn
ſie ſehnten ſich nach einem Ende des unſeligen Kriegs.
Auf beiden Seiten zogen die Wagenlenker den Roſſen die
[103] Zügel an, die Helden ſprangen von den Streitwagen,
zogen die Rüſtungen aus und legten ſie, Feinde ganz nahe
an Feinden, auf die Erde nieder. Hektor ſandte eilig
zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen
und den König Priamus herbeizurufen, auch der König
Agamemnon ſchickte den Herold Talthybius zu den Schif¬
fen, ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in
Priamus Tochter Laodice umgeſtaltet, eilte, die Botſchaft
der Fürſtin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand
ſie am Webeſtuhl, ein köſtliches Gewand mit den Kämpfen
der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf
ihre Arbeit geheftet. „Komm doch heraus, trautes Kind,“
rief ſie ihr zu, „du ſollſt etwas Seltſames ſchauen! Die
Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur
Feldſchlacht gegen einander heranrückten, ruhen ſtillſchwei¬
gend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Bo¬
den geſteckt, einander gegenüber; aller Krieg iſt beendigt;
nur deine Gatten Alexander und Menelaus werden mit
der Lanze um dich kämpfen, und wer ſeinen Gegner be¬
ſiegt, trägt dich als Gemahlin davon!“
So ſprach die Göttin und erfüllte das Herz Helena's
mit Sehnſucht nach ihrem Jugendgemahl Menelaus, nach
der Heimath und nach den Freunden. Sie hüllte ſich
ſchnell in einen ſilberweißen Schleier, in welchen ſie die
Thräne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte,
von Aethra und Klymene, zweien ihren Dienerinnen ge¬
folgt, nach dem Skäiſchen Thore. Hier ſaß auf den Zin¬
nen König Priamus mit den älteſten und verſtändigſten
Greiſen des trojaniſchen Volkes, Panthous, Thymötus,
Lampus, Klytius, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die
beiden Letztern waren die verſtändigſten Männer von
[104] Troja; ſie Alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom
Kriege aus; in der Rathsverſammlung aber war ihr
Wort das tüchtigſte. Als dieſe von der Höhe des Thur¬
mes Helena herankommen ſahen, flüſterten die Greiſe, die
Geſtalt der Fürſtin beſtaunend, einander leiſe zu: „für¬
wahr, Niemand ſoll Trojaner und Griechen tadeln, daß
ſie für ein ſolches Weib ſo lange im Elend ausharren.
Gleicht ſie doch einer unſterblichen Göttin an Herrlichkeit!
Aber auch mit ſolcher Geſtalt mag ſie immerhin auf den
Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unſern
Söhnen nicht der Schaden zurückbleibe!“ Priamus aber
rief Helena liebreich herbei: „Komm näher heran,“ ſprach
er, „mein Töchterchen, ſetze dich zu mir her, ich will dir
deinen erſten Gemahl, deine Freunde und deine Verwand¬
ten zu ſchauen geben; du biſt mir nicht Schuld an dieſem
jammervollen Kriege; die Götter ſind es, die ihn mir zu¬
geſendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Man¬
nes Namen, der dort ſo groß und herrlich über alle
Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier
und da noch größere Männer in dem Heere, aber von ſo
königlicher Geſtalt habe ich doch noch keinen unter ihnen
geſehen.“
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: „Theu¬
rer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen mich, in¬
dem ich dir nahe. Mir wäre der bitterſte Tod beſſer
geweſen, als daß ich, Heimath, Tochter und Freunde ver¬
laſſend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Thränen
möchte ich zerfließen, daß es geſchah! Nun aber höre:
der dort, nach dem du fragſt, iſt Agamemnon, der treff¬
lichſte König und ein tapferer Krieger; er war, ach er
war dereinſt mein Schwager!“ „Glücklicher Atride,“ rief
[105] Priamus aus, den Helden ſich betrachtend, „Geſegneter,
deſſen Scepter zahlloſe Griechen gehorchen! Auch ich
ſtand einſt in männlicher Jugend an der Spitze eines gro¬
ßen Heeres, als wir die Horde der Amazonen von Phry¬
gien abwehrten; doch war mein Heer nicht ſo groß, wie
das deinige!“ Dann fragte der Greis von Neuem:
„Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen, er ragt
nicht ſo hoch empor, wie der Atride, aber ſeine Bruſt iſt
breiter, ſeine Schultern ſind mächtiger; ſeine Wehr liegt
zu Boden geſtreckt; er ſelbſt umwandelt die Reihen der
Männer, wie ein Widder die Schaafe.“ „Das iſt der
Sohn des Laertes,“ antwortete Helena, „der ſchlaue
Odyſſeus; Ithaka, die felſige Inſel, iſt ſeine Heimath.“
Jetzt miſchte ſich auch der Greis Antenor ins Geſpräch:
„Du haſt Recht, Fürſtin,“ ſagte er, „ihn und Menelaus
kenne ich gut; habe ich ſie doch in meinem Haus als Ge¬
ſandte einſt beherbergt. Im Stehen überragte Menelaus
den Helden Odyſſeus; wenn ſie ſich aber beide geſetzt,
erſchien Odyſſeus als der Herrlichere. Auch redete Mene¬
laus wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte.
Odyſſeus aber, wenn er reden wollte, ſtand da, die Augen
zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der Hand,
anzuſehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, iſt er
tückiſch oder dumm. Sandte er aber einmal die gewaltige
Stimme aus der Bruſt, dann drängten ſich ſeine Worte
wie Schneeflocken im Winter, und kein Sterblicher konnte
ſich mit Odyſſeus an Beredtſamkeit meſſen.“
Priamus hatte ſich indeſſen noch weiter umgeſchaut.
„Wer iſt denn der Rieſe dort,“ rief er, „der ſo gar groß
und gewaltig über alles Volk hervorragt?“ „Das iſt der
Held Ajax,“ antwortete Helena, „die Stütze der Achiver;
[106] und weiter drüben ſteht wie ein Gott unter ſeinen Kretern
Idomeneus. Ich kenne ihn wohl; Menelaus hat ihn oft
in unſerer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne
ich Einen um den Andern, die freudigen Krieger aus
meiner Heimath; hätten wir Muße, ſo wollte ich dir ſie
Alle mit Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder
Kaſtor und Pollux ſehe ich nicht. Sind ſie wohl nicht
mit hierher gekommen? oder ſcheuen ſie ſich, in der
Schlacht zu erſcheinen, weil ſie ſich ihrer Schweſter ſchä¬
men?“ Ueber dieſem Gedanken verſtummte Helena; ſie
wußte nicht, daß ihre Brüder ſchon lange von der Erde
verſchwunden waren.
Während dieſe ſich ſo unterredeten, trugen die Herolde
die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus zwei Läm¬
mern und aus einheimiſchem Weine zum Trankopfer, der
in einen bocksledernen Schlauch gefüllt war, beſtand. Der
Herold Idäus folgte mit einem blinkenden Krug und gol¬
denen Becher. Als ſie durchs Skäiſche Thor kamen, nahte
dieſer dem Könige Priamus und ſprach zu ihm: „Mach
dich auf, König, beide, die Fürſten der Trojaner und der
Griechen rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort
einen heiligen Vertrag beſchwöreſt. Dein Sohn Paris
und Menelaus werden allein um das Weib mit dem
Speere kämpfen: wer im Kampfe ſiegt, dem folgt ſie mit
ſammt den Schätzen. Alsdann ſchiffen die Danaer nach
Griechenland zurück.“ Der König ſtutzte, doch befahl er
ſeinen Gefährten, die Roſſe anzuſchirren, und mit ihm
beſtieg Antenor den Wagenſitz. Priamus ergriff die Zügel
und bald flogen die Roſſe durchs Skäiſche Thor hinaus
aufs Blachfeld. Zwiſchen den beiden Völkern angekom¬
men, verließ der König mit ſeinem Begleiter den Wagen
[107] und ſtellte ſich in die Mitte. Aus dem griechiſchen Heere
eilten jetzt Agamemnon und Odyſſeus herbei. Die Herolde
führten die Bundesopfer heran, miſchten den Wein im
Kruge, und beſprengten die beiden Könige mit dem Weih¬
waſſer. Dann zog der Atride das Opfermeſſer, das ihm
immer neben der großen Scheide ſeines Schwertes herab¬
hing, ſchnitt den Lämmern, wie bei Opfern gebräuchlich,
das Stirnhaar ab, und rief den Göttervater zum Zeugen
des Bündniſſes. Dann durchſchnitt er den Lämmern die
Kehlen und legte die geopferten in den Staub nieder;
die Herolde goſſen unter Gebet den Wein aus goldnen
Bechern und alles Volk von Griechenland und Troja
flehte dazu laut: „Jupiter und ihr unſterblichen Götter
alle! welche von uns zuerſt den Eidſchwur brechen, deren
Gehirn fließe auf den Boden, wie dieſer Wein, ihres und
ihrer Kinder!“
Priamus aber ſprach: „Jetzt, ihr Trojaner und Grie¬
chen, laßt mich wieder zu Ilions hoher Burg zurück¬
kehren, denn ich kann es unmöglich mit eigenen Augen
anſehen, wie mein Sohn hier auf Leben und Tod mit
dem Fürſten Menelaus kämpft; weiß doch Jupiter allein,
welchem von beiden der Untergang verhängt iſt!“ So
ſprach der Greis, ließ die Opferlämmer in den Wagen
legen, beſtieg mit ſeinem Begleiter den Sitz, und lenkte
die Roſſe wieder der Stadt Troja zu.
Hierauf maßen Hektor und Odyſſeus den Raum des
Kampfplatzes ab, und ſchüttelten in einem ehernen Helm
zwei Looſe, zu entſcheiden, wer zuerſt die Lanze auf den
Gegner werfen dürfe. Hektor, rückwärts gewandt, ſchwenkte
den Helm, da ſprang das Loos des Paris heraus. Nun
waffneten ſich beide Helden und wandelten in Panzer und
[108] Helm, die mächtigen Lanzen in der Hand, mit drohendem
Blicke in der Mitte der Trojaner und Griechen einher,
von beiden Völkern angeſtaunt. Endlich traten ſie einan¬
der in dem abgemeſſenen Kampfraume gegenüber und
ſchwangen zornig ihre Speere. Durch das Loos berech¬
tigt, entſandte zuerſt Paris den ſeinigen: der traf dem
Menelaus den Schild, aber die Lanzenſpitze bog ſich am
Erze und ſank zurück. Dann erhob auch Menelaus ſeinen
Speer und betete dazu mit lauter Stimme: „Zeus, laß
mich den ſtrafen, der mich zuerſt beleidigt hat, daß man
noch unter den ſpäten Enkeln ſich ſcheue, dem Gaſtfreunde
Böſes zu thun!“ Der entſandte Speer durchſchmetterte
dem Paris den Schild, durchdrang den Harniſch und
durchſchnitt ihm den Leibrock an der Weiche; nun riß der
Atride ſein Schwert aus der Scheide und führte einen
Streich auf den Helm des Gegners, aber die Klinge zer¬
ſprang ihm knitternd. „Grauſamer Zeus, was mißgönnſt
du mir den Sieg?“ rief Menelaus, ſtürmte auf den Feind
ein, ergriff ihn am Helm und zog ihn umgewendet der
griechiſchen Schlachtordnung zu, ja er hätte ihn geſchleift,
und der beengende Kehlriemen hätte ihn erwürgt, wenn
nicht die Göttin Aphrodite die Noth geſehen und den
Riemen geſprengt hätte. So blieb dem Menelaus der
leere Helm in der Hand; dieſen ſchleuderte der Held den
Griechen zu und wollte aufs Neue auf ſeinen Gegner
eindringen. Den aber hatte Venus in einen ſchirmenden
Nebel gehüllt und plötzlich nach Troja geführt. Hier
ſetzte ſie ihn im ſüß duftenden Gemache nieder, trat dann
in Geſtalt einer alten ſpartaniſchen Wollekrämplerin zu
Helena, die auf einem der Thürme unter vielen trojani¬
ſchen Weibern ſaß. Die Göttin zupfte ſie am Gewand
[109] und ſprach zu ihr: „Komm, Paris ruft dich, er ſitzt in
der Kammer in reizendem Feierkleide; du ſollteſt glauben,
er gehe zum Reigen und nicht, er komme vom Zweikampf.“
Als Helena aufblickte, ſah ſie Venus in göttlichem Reize
vor ſich verſchwinden. Unbemerkt von den Frauen ſchlich
ſie ſich davon und eilte nach ihrem Pallaſte. Dort fand
ſie im hohen Gemache den Gatten, von Aphrodite ge¬
ſchmückt, in einen Seſſel gelagert. Sie ſetzte ſich ihm
gegenüber, kehrte die Augen weg und ſchalt ihren Ge¬
mahl: „So kommſt du vom Kampfe zurück? Lieber ſähe
ich dich getödtet von dem Gewaltigen, der mein erſter
Gatte war! Noch kürzlich prahlteſt du, ihn im Lanzen¬
wurf und im Handgemenge zu beſiegen! Geh nun, und
fordere ihn noch einmal heraus! Doch nein, ich rathe
dir, bleib in Ruhe, das zweite Mal dürfte er dir übler
mitſpielen!“ „Kränke mir das Herz nicht durch deine
Schmähungen, Frau,“ erwiederte ihr Paris, „wenn Me¬
nelaus mich beſiegt hat, ſo geſchah es mit Athene's Hülfe.
Ein andermal werde ich über ihn ſiegen; die Götter
haben auch uns noch nicht vergeſſen.“ Da wandte Aphro¬
dite Helena's Herz, daß ſie den Gatten freundlicher anſah
und ihm verſöhnt die Lippen zum Kuſſe reichte.
Auf dem Kampfplatze durchſtürmte Menelaus noch
immer wie ein Raubthier das Heer, den verſchwundenen
Paris ausſpähend: aber weder ein Trojaner, noch ein
Grieche konnte ihm den Fürſten zeigen, und doch hätten
ſie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zu¬
wider, wie der Tod. Endlich erhob Agamemnon ſeine
Stimme und ſprach: „Höret mein Wort, ihr Dardaner
und Griechen! Menelaus iſt der offenbare Sieger. So
[110] gebet uns denn jetzt Helena ſammt den Schätzen zurück
und bezahlet uns für alle Folgezeit einen Tribut!“ Die
Argiver nahmen dieſen Vorſchlag mit Jubel auf, die
Trojaner ſchwiegen.
Drittes Buch.
[[112]][[113]]Pandarus.
Auf dem Olymp war große Götterverſammlung:
Hebe wandelte an den Tiſchen umher und ſchenkte Nektar
ein. Die Götter tranken einander aus goldenen Poka¬
len zu und ſchauten auf Troja nieder. Da ward von
Zeus und Here Troja's Untergang beſchloſſen. Der
Vater der Götter wandte ſich zu ſeiner Tochter Athene
und befahl ihr, auf den Kampfplatz hinabzueilen und die
Trojaner zu verſuchen, daß ſie die auf ihren Sieg ſtolzen
Griechen wider den Vertrag zu beleidigen anfingen. Pal¬
las Athene miſchte ſich ſofort unter das Getümmel der
Trojaner, nachdem ſie die Geſtalt des Laodokus, der ein
Sohn Antenors war, angenommen. In dieſer Verhül¬
lung ſuchte ſie den Sohn Lykaons, den trotzigen Pandarus,
auf, der ihr zu dem Werke geſchickt ſchien, das ihr der
Vater aufgetragen. Dieſer war ein Verbündeter der
Trojaner und aus Lycien mit ſeiner Heerſchaar hergekom¬
men. Die Göttin fand ihn bald, in der Mitte der Sei¬
nigen ſtehend. Sie trat nahe zu ihm, klopfte ihm auf die
Schulter und ſprach: „Höre, kluger Pandarus, jetzt könn¬
teſt du etwas thun, wodurch du bei allen Trojanern dir
Preis und Dank verdienteſt, vor Allem von Paris, der
dir gewiß mit den herrlichſten Geſchenken lohnen würde.
Siehſt du dort Menelaus, den hochmüthigen Sieger ſtehen?
Wage es, und drücke deinen Pfeil auf ihn ab.“ So ſprach
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 8[114] die verhüllte Göttin und das Herz des Thoren gehorchte
ihr. Schnell entblößte er den Bogen, öffnete den Deckel
des Köchers, wählte einen befiederten Pfeil, legte ihn
auf die Sehne und bald ſprang das Geſchoß vom ſchwir¬
renden Horn. Athene aber lenkte den Pfeil auf den Leib¬
gurt, ſo daß er zwar durch dieſen und den Harniſch drang,
aber nur die oberſte Haut ritzte, jedoch ſo, daß das Blut
aus der Wunde drang, und den Menelaus ein leichter
Schauer durchflog. Wehklagend umringten ihn Agamemnon
und die Genoſſen. „Theurer Bruder,“ rief der König,
„dir zum Tode hab ich das Bündniß geſchloſſen; die treu¬
loſen Feinde haben es mit Füßen getreten. Zwar werden
ſie es büßen, und ich weiß gewiß, daß der Tag kommt,
wo Troja mit Priamus und dem ganzen Volke hinſinkt;
mich aber erfüllt dein Tod mit dem bitterſten Schmerz.
Wenn ich ohne dich heimkehre, und deine Gebeine auf
trojaniſchem Boden am unvollendeten Werk dahinmodern,
mit welcher Schmach würde mich das Vaterland empfan¬
gen; denn einem Andern, nicht mir ohne dich, iſt beſchie¬
den, Troja zu erobern und Helena fortzuführen; und die
Trojaner werden ſpottend über deinem Grabe hüpfen!
Thäte ſich doch die Erde unter mir auf!“ Aber Menelaus
tröſtete ſeinen Bruder; „Sey ruhig,“ ſprach er, „das
Geſchoß hat mich nicht zum Tode verwundet, mein Leib¬
gurt hat mich geſchützt.“ „O daß dem ſo wäre,“ ſeufzte
Agamemnon, und beſchickte durch ſeinen Herold eilig den
heilkundigen Machaon. Dieſer kam, zog den Pfeil aus
dem Gurt, löſte dieſen, öffnete das Blech des Harniſches
und beſchaute die Wunde; dann ſog er ſelbſt das quellende
Blut heraus und legte ihm eine lindernde Salbe auf.
Während der Arzt und die Helden ſo um den
[115] verwundeten Menelaus beſchäftigt waren, rückten die
Schlachtreihen der Trojaner ſchon heran; auch die Griechen
hüllten ſich wieder in ihre Wehren, und Agamemnon über¬
gab dem Eurymedon Roſſe und Wagen mit der Weiſung,
ihm ſie zu bringen, wenn er ihn vom Durcheilen der
Schlachtordnung ermattet ſehe. Dann flog er zu Fuß
unter die Schaaren der Streiter und ermunterte ſie zur
Abwehr, die Muthigen belobend, die Saumſeligen tadelnd.
So gelangte er auf ſeinem Gange zu den Kretern, die
gewappnet ihren Heerführer Idomeneus umringten. Die¬
ſer ſtand an ihrer Spitze, kampfluſtig wie ein Eber. Die
hinteren Reihen munterte ſein Freund Meriones auf. Als
Agamemnon dieſe Schaaren ſah, wurde ſein Herz fröhlich:
„Du biſt mir doch der Beſten Einer, Idomeneus,“ rief
er ihnen zu, „bei jedem Geſchäfte, im Kriege wie beim
Mahle, wenn man den funkelnden Ehrenwein in den
mächtigen Krügen miſcht. Wenn da die Andern ihr beſchei¬
denes Maaß trinken, ſo ſteht dein Becher immer voll wie
der meinige. Jetzt aber ſtürme mit mir in die Schlacht,
wie du dich ſo oft gegen mich gerühmt.“ „Wohl bleibe
ich dein treuer Genoſſe, König,“ erwiederte jener, „geh
nur Andere anzuſpornen, bei mir bedarf es deſſen nicht.
Möge Tod und Verderben die bundbrüchigen Trojaner
treffen!“
Jetzt erreichte Agamemnon die beiden Ajax, hinter
denen ein ganzes Gewühl von Fußvolk einherzog: „Wenn
doch,“ rief ihnen der König im Vorübereilen zu, „ein
Muth wie der eurige den Buſen aller Danaer beſeelte,
dann ſollte die Burg des Priamus bald unter unſern
Händen in Trümmer fallen.“ Nun traf er weiterſchrei¬
tend auf Neſtor. Dieſer ordnete gerade ſeinen Heerhaufen:
8 *[116] voran die Helden mit Roß und Wagen, viele und tapfere
Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt.
Dazu ermahnte er ſie mit weiſen Worten: „Wage ſich
mir keiner mit ſeinem Streitwagen zu weit vor, weiche
mir auch Keiner zurück; ſtößt Wagen auf Wagen, ſo
ſtrecket die Lanze vor.“ Wie ihn Agamemnon die Seini¬
gen ſo ermahnen hörte, rief er ihm zu: „O Greis, möch¬
ten dir die Kniee folgen und deine Leibeskraft ausreichen,
wie dir der Muth noch den Buſen füllt. Könnte doch ein
Anderer dir die Laſt des Alters abnehmen, daß du zum
Jüngling umgeſchaffen würdeſt!“ „Wohl möchte ich jetzt
der ſeyn, der ich einſt war,“ antwortete ihm Neſtor, „doch
haben die Götter den Menſchen nicht Alles zugleich ver¬
liehen. Mögen die Jüngeren Speere werfen, ich begleite
meine Männer mit Worten und weiſem Rathe, den auch
das Alter geben kann.“ Freudig ging Agamemnon an
ihm vorüber und ſtieß jetzt auf Meneſtheus, den Sohn
des Peteus, um den die Athener geſchaart waren, und
neben welchem die Cephallener in dichten Schlachtreihen
unter Odyſſeus ſtanden. Beider Haufen ruhten in Er¬
wartung und wollten andere Züge voranſtürmen laſſen.
Dieß verdroß den Völkerfürſten und er ſprach mürriſch
zu ihnen: „Was ſchmieget ihr euch ſo zuſammen, ihr Bei¬
den, auf Andere harrend? Wenn wir Braten ſchmauſen
und Wein trinken, ſeyd ihr immer die Erſten; nun aber
würdet ihr es nicht ungerne ſehen, wenn zehn Griechen¬
ſchaaren vor euch in die Schlacht eindrängen!“ Odyſſeus
aber ſah ihn finſter an und ſprach: „Was denkſt du,
Atride? uns ſchiltſt du ſaumſelig? warte nur, wenn wir
einmal losbrechen, ob wir die Wuth der Schlacht nicht
gehörig gegen die Troer aufregen, und du mich nicht im
[117] vorderſten Getümmel erblicken wirſt. Drum ſchwatze mir
nicht voreilig nichtige Worte!“ Als er den Helden ſo
zürnen ſah, erwiederte Agamemnon lächelnd: „Ich weiß
es wohl, edler Sohn des Laertes, daß du weder Tadel
noch Ermahnung bedarfſt; auch biſt du im Herzensgrund
milde, wie ich; laß uns keine harte Worte wechſeln.“
So verließ er ihn und eilte weiter. Da fand er den
Sohn des Tydeus, den ſtolzen Diomedes, neben Sthenelus,
des Kapaneus Sohn, ſeinem Freund und Wagenlenker,
auf dem herrlichen Streitwagen harrend. Auch dieſen
verſuchte er mit verdrießlichen Worten: „Weh mir,“
ſprach er, „Sohn des Tydeus, du ſcheinſt dich bange nach
dem Treffen umzuſehen; ſo blickte dein Vater nicht, als
er gegen Thebe zog: den ſah man immer mitten in der
Arbeit!“ Diomedes ſchwieg auf den Verweis des Herr¬
ſchers, ſein Freund Sthenelus antwortete für ihn: „Du
weißt es beſſer, Atride,“ ſprach er, „wir rühmen uns
größerer Tapferkeit, denn unſere Väter, haben wir doch
Theben erobert, vor dem nicht ſie erlegen ſind!“ Diome¬
des aber unterbrach ſeinen Genoſſen und ſagte finſter:
„Schweige, Trauter, ich verarge es dem Völkerhirten
nicht, daß er die Griechen zum Kampf anreizt; ihm wird
der Ruhm zu Theil, wenn wir ſiegen; ihm unendlicher
Gram, wenn wir überwunden werden! Darum auf, laß
uns der Abwehr gedenken!“ So ſprach Diomedes und
ſprang vom Wagen, daß ihm das Erz um die Bruſt
klirrte.
Indeſſen zogen die Danaer Haufen an Haufen raſt¬
los in die Schlacht, wie ſich Meereswogen ans Geſtade
wälzen. Die Völkerfürſten befehligten; die Andern gin¬
gen lautlos einher. Die Trojaner dagegen lärmten, wie
[118] eine Heerde Lämmer blöckt, und gemiſchte Sprache der
mancherlei Völker tönte aus ihren Reihen. Auch der
Schlachtruf der Götter hallte darein: die Trojaner ermun¬
terte Mars, der Gott des Krieges, die Reihen der
Griechen feuerte Pallas Athene an.
Die Schlacht. Diomedes.
Bald begegneten ſich die Heere in Einem Raum;
Schild traf auf Schild, Speer kreuzte ſich mit Speer und
lautes Getöſe, hier Wehklagen, dort Frohlocken, erhob
ſich ringsum. Wie ſich im Spätling zwei geſchwollene
Bergſtröme im Hinabſturz vermiſchen, ſo vermählte ſich
das Geſchrei der kämpfenden Heere. Der erſte Held,
welcher fiel, war der Trojaner Echepolus, der ſich zu
weit in den Vorkampf gewagt hatte. Dieſem durchbohrte
Neſtors Sohn Antilochus mit der Lanzenſpitze die Stirne,
daß er umſank wie ein Thurm. Schnell ergriff Elephenor,
der griechiſche Fürſt, den Fuß des Gefallenen, um ihn
den Geſchoſſen zu entziehen und der Rüſtung zu berauben.
Aber wie er ſich bückte, ihn zu ſchleifen, entblößte er ſich
die Seite unter dem Schild; dieß ſah Agenor, der Troja¬
ner, und durchbohrte ihm die Seite mit dem zückenden
Speer, daß der Grieche todt in den Staub ſank. Ueber
ihm tobte der Kampf beider Heere fort, und wie Wölfe
erwürgten ſie einander.
Ajax traf den blühenden Simoeiſius im Vorwärts¬
dringen rechts über der Bruſt, daß ihm der Speer zur
Schulter herausfuhr und er in den Staub hintaumelte;
[119] dann ſtürzte er ſich auf ihn, und beraubte ihn der Rüſtung;
gegen ihn warf der Trojaner Antiphus die Lanze; dieſe
verfehlte ihn zwar, traf aber Leukus, den tapfern Freund
des Odyſſeus, wie er eben den Todten hinwegſchleifte.
Das ſchmerzte den Odyſſeus und, vorſichtig umſchauend,
ſchleuderte er ſeinen Wurfſpieß ab, vor dem die Trojaner
zurückprallten; und er traf einen Sohn des Königes
Priamus, den Baſtard Demodokoon, ſo daß die Spitze
von einer Schläfe zur andern durchdrang. Als dieſer
in dumpfem Falle hinſtürzte, wichen die vorderſten Käm¬
pfer der Trojaner rückwärts, und ſelbſt Hektor mit ihnen.
Die Griechen aber jauchzten laut auf, ſchoben die Leich¬
name bei Seite und drangen tiefer in die Schlachtreihen
der Trojaner ein.
Darüber zürnte Apollo und ermunterte die Trojaner
von der Stadt aus, indem er ihnen zurief: „Räumet
doch den Achivern das Feld nicht! Iſt doch ihr Leib we¬
der von Stein noch von Eiſen, und ihr beſter Held
Achilles kämpft nicht einmal, ſondern grollt bei den Schif¬
fen.“ Auf der andern Seite trieb Minerva die Danaer
in den Kampf, und ſo fielen von beiden Theilen noch
viele Helden.
Da rüſtete Pallas Athene den Sohn des Tydeus,
Diomedes, mit beſonderer Kraft und Kühnheit aus, daß
er vor allem Danaervolk hervorſtrahlte, und ſich unſterb¬
lichen Ruhm gewann. Helm und Schild machte ſie ihm
glänzend wie ein Geſtirn der Herbſtnacht, und trieb ihn
hinein ins wildeſte Getümmel der Feinde. Nun befand ſich
unter den Trojanern ein Prieſter des Vulkan, mit Namen
Dares, ein mächtiger, reicher Mann, der zwei Söhne,
Phegeus und Idäus, muthige Männer, in die Schlacht
[120] geſendet hatte. Dieſe ſprengten aus den Reihen der Ihri¬
gen auf Diomedes hervor mit ihren Streitwagen, wäh¬
rend der griechiſche Held zu Fuße kämpfte. Zuerſt ſandte
Phegeus ſeine Lanze ab; ſie fuhr aber links an der
Schulter des Tydiden vorbei, ohne ihn zu verwunden.
Des Diomedes Wurfſpieß dagegen traf den Phegeus in
die Bruſt und ſtürzte ihn vom Wagen. Als ſein Bruder
Idäus dieſes ſah, wagte er es nicht den Leichnam ſeines
Bruders zu ſchirmen, ſondern ſprang vom Wagen und
entfloh, indem der Beſchirmer ſeines Vaters, Vulkanus,
Finſterniß um ihn her verbreitete; denn dieſer wollte nicht,
daß ſein Prieſter beide Söhne verlöre.
Jetzt nahm Athene ihren Bruder, den Kriegsgott
Mars bei der Hand und ſprach zu ihm: „Bruder, wollen
wir nicht Troer und Griechen jetzt ſich ſelbſt überlaſſen
und eine Weile zuſehen, welchem Volke die Fürſehung
unſers Vaters den Sieg zuwende?“ Mars ließ ſich von
der Schweſter aus der Schlacht hinausführen und nun
waren die Sterblichen ſich ſelbſt überlaſſen, doch wußte
Minerva wohl, daß ihr Liebling Diomedes mit ihrer
Kraft ausgerüſtet ſtreite. Nun fingen die Argiver an,
den Feind erſt recht hart zu bedrängen und vor jedem
griechiſchen Führer ſank ein Trojaner dahin. Agamemnon
jagte dem Hodius den Speer ins Schulterblatt; Idomeneus
durchſtach den Phäſtus aus Tarne, daß er dem Wagen
entſtürzte; der kundige Jäger Skamandrius wurde von
der ſpitzen Lanze des Menelaus durchbohrt; den kunſt¬
vollen Phereklus, der dem Paris die räuberiſchen Schiffe
gezimmert hatte, traf Meriones; und andere fielen von
anderer Hand. Der Tydide aber durchtobte das Feld
wie ein angeſchwollener Herbſtſtrom und man wußte nicht,
[121] gehörte er den Griechen oder den Trojanern an, denn
bald war er da, bald dort. Wie nun der Kampf ihn ſo
hin und her trieb, faßte Lykaons Sohn, Pandarus, ſich
ihn ins Auge, richtete ſeinen Bogen auf ihn, und ſchoß
ihm mit dem Pfeil gerade in die Schulter hinein, ſo daß
ſein Blut über den Panzer herabſtrömte. Pandarus,
ſolches ſehend, jauchzte und rief hinterwärts zu ſeinen
Genoſſen: „Drängt euch heran, ihr Trojaner, ſpornt
eure Roſſe! Ich habe den tapferſten Danaer getroffen!
Bald wird er umſinken und ausgewüthet haben, wenn
anders mich Apollo aus Lycien zum Kampfe ſelbſt herbei¬
gerufen hat!“ Doch den Diomedes hatte das Geſchoß
nicht tödtlich getroffen; er ſtellte ſich vor ſeinen Streit¬
wagen und rief ſeinem Freund und Wagenlenker Sthene¬
lus zu: „Steige doch vom Wagen, mein Geliebter, und
zeuch mir den Pfeil aus der Schulter!“ Sthenelus ſprang
eilig herab und that alſo: das helle Blut ſpritzte dabei
aus den Panzerringen. Da betete Diomedes zu Athene:
„Blauäugige Tochter Jupiters! Wenn du je ſchon meinen
Vater beſchirmt haſt, ſo ſey auch mir jetzt gnädig! Lenke
meinen Speer auf den Mann, der mich verwundet hat,
und jetzt frohlockt, auf daß er nicht lange mehr das Licht
der Sonne ſchaue!“ Minerva hörte ſein Flehen und
beſeelte ihm Arme und Füße, daß ſie leicht wurden wie
der Leib eines Vogels, und er, unbeſchwert von ſeiner
Wunde, in die Schlacht zurück eilen konnte. „Geh,“ ſprach
ſie zu ihm, „ich habe auch die Finſterniß von deinen Au¬
gen genommen, daß du Sterbliche und Götter in der
Schlacht unterſcheiden kannſt; hüte dich darum, wenn ein
Unſterblicher auf dich zugewandelt kommt, dich mit ſolchem
in einen Kampf einzulaſſen! Nur Aphrodite, wenn
[122] ſie dir naht, die magſt du mit deinem Speere ver¬
wunden!“
Nun flog Diomedes in das vorderſte Treffen zurück,
mit dreifachem Muth und mit Kraft wie ein Berglöwe
ausgerüſtet. Hier hieb er den Aſtynous durch einen
Streich ins Schultergelenke nieder; dort durchbohrte er
den Hypenor mit der Lanze; dann erlegte er zwei Söhne
des Eurydamas; dann zwei ſpätgeborne Söhne des Phä¬
nops, daß dem Vater nur der Gram zurück blieb; dann
warf er zwei Söhne des Priamus, den Ehromius und
Echemon zugleich aus dem Wagen mit Gewalt und
beraubte ſie der Rüſtung, indeß die Seinigen den erbeu¬
teten Streitwagen nach den Schiffen abführten.
Aeneas, der tapfre Eydam des Königes Priamus,
ſah, wie dünn die Reihen der Trojaner unter den Strei¬
chen und Stößen des Tydiden wurden. Deßwegen eilte
er durch die ſtürmenden Geſchoſſe hin, bis er den Pan¬
darus traf, den er ſo anredete: „Sohn Lykaons, wo
bleibt dein Bogen und Pfeil, wo dein Ruhm, den bisher
kein Lycier, kein Trojaner dir ſtreitig machte? Sende
doch dem Manne, der den Troern ſo viel Böſes thut,
noch ein Geſchoß zu; wenn er nicht anders ein unſterb¬
licher Gott in menſchlicher Geſtalt iſt!“ Ihm antwortete
Pandarus: „Wenn es nicht ein Gott iſt, ſo iſt's der
Tydide Diomedes, den ich erſchoſſen zu haben glaubte.
Iſt er es aber, ſo hat ſich ein Unſterblicher ſeiner erbarmt
und ſteht ihm auch jetzt noch zur Seite! Dann bin ich
wohl ein unglücklicher Kämpfer! Schon gegen zween grie¬
chiſche Heerfürſten ſandte ich den Pfeil ab; verwundete
beide, ohne ſie zu tödten, und habe ſie nur wüthender
gemacht! Wahrhaftig, zur Unglücksſtunde habe ich Köcher
[123] und Bogen genommen, und bin damit vor Troja gezogen!
Kehre ich je wieder heim, ſo ſoll mir ein Fremdling das
Haupt abſchlagen, wenn ich nicht Bogen und Pfeile mit
den Händen zerknicke, und dieſen nichtigen Tand, der mich
begleitet hat, ins lodernde Feuer werfe!“
„Nicht alſo!“ ſprach ihn beruhigend Aeneas. „Be¬
ſteige vielmehr meinen Streitwagen, und lerne die Ge¬
wandtheit der trojaniſchen Pferde im Verfolgen und Ent¬
fliehen kennen. Verleiht Jupiter dem Diomedes durchaus
die Siegesehre, ſo werden ſie uns ſicher nach Troja hin¬
eintragen! Ich ſelbſt will indeſſen zu Fuße des Kampfes
warten.“ Aber Pandarus bat ihn, die Roſſe ſelbſt lenken
zu wollen, da er dieſes Werkes nicht kundig ſey, ſchwang
ſich zu ihm auf den Wagen, und ſo ſprengten ſie mit den
hurtigen Thieren auf den Tydiden zu. Sein Freund
Sthenelus ſah ſie herankommen, rief den Genoſſen an
und ſprach: „Sieh da, zwei tapfre Männer, die auf dich
losſtürmen, Pandarus und der Halbgott Aeneas, Aphro¬
ditens Sohn! Dießmal laß uns zu Wagen entfliehen;
dein Wüthen dürfte dir nichts nützen gegen dieſe!“
Aber Diomedes blickte finſter und erwiederte ihm:
„Sage mir nichts von Furcht! Es liegt nicht in meiner
Art, vor einem Kampfe zurückzubeben, oder mich zu
ſchmiegen. Meine Kraft iſt noch nicht erſchöpft; es ver¬
dröſſe mich, unthätig im Wagen ſtehen zu müſſen. Nein,
wie ich hier zu Fuße bin, will ich ihnen entgegen wan¬
deln. Gelingt es mir, ſie beide zu tödten, ſo hemme du
unſre Pferde, den Zaum am Seſſelrand befeſtigend, und
führe mir die Roſſe des Aeneas als Beute zu den
Schiffen!“ Indem flog die Lanze des Pandarus dem Ty¬
diden entgegen, durchfuhr den Schild und prallte vom
[124] Panzer ab. „Nicht getroffen, gefehlt,“ rief Diomedes
dem jauchzenden Trojaner entgegen, und ſein, die Luft
im Bogen durchſauſender Speer fuhr dem Gegner unter
dem Auge in den Kiefer, durch Zähne und Zunge hin¬
durch, daß die Spitze am Unterkinn wieder herauskam.
Pandarus ſtürzte raſſelnd vom Wagen und zuckte ſterbend
in der glänzenden Rüſtung auf dem Boden. Seine
Roſſe rannten flüchtig mit dem Wagen auf die Seite;
Aeneas aber ſprang herab und umwandelte den Leich¬
nam wie ein trotziger Löwe, Schild und Speer vor¬
ſtreckend, und Jeden zu erſchlagen bereit, der ihn antaſten
würde. Jetzt ergriff Diomedes einen Feldſtein, wie ihn
zwei gewöhnliche Männer nicht aufheben konnten. Mit
dieſem traf er den Sohn des Anchiſes am Hüftgelenk,
zermalmte dieſes und zerriß ihm die Sehnen, daß der
Held ins Knie ſank, die Rechte gegen den Boden ſtem¬
mend, und ihm die Sinne vergingen; und er wäre geſtor¬
ben, wenn nicht Venus ihren trauten Sohn mit den Lilien¬
armen umſchlungen, ihn mit den Falten ihres ſilberhellen
Gewandes umhüllt und aus der Schlacht getragen hätte.
Sthenelus hatte inzwiſchen Wagen und Roſſe des Aeneas,
dem Befehle ſeines Freundes folgſam, zu den Schiffen
geführt, und war auf dem eigenen Wagen bald wieder
an der Seite des Tydiden angekommen. Dieſer hatte mit
ſeinen von Athene geöffneten Augen die Göttin Aphrodite
erkannt, durch das Schlachtgetümmel verfolgt und mit
ihrer Beute erreicht. Der Held ſtieß mit der Lanze nach ihr,
und ſein Speer drang durch die ambroſiſche Haut in die
Handwurzel, daß ihr unſterbliches Blut zu rinnen begann.
Die verwundete Göttin ſchrie laut auf und warf den Sohn
zur Erde hin. Dann eilte ſie ihrem Bruder Mars zu,
[125] den ſie zur Linken der Schlacht, Wagen und Roſſe in
Nacht gehüllt, ſitzen fand. „O Bruder,“ rief ſie flehend,
„ſchaff' mich weg, gib mir die Roſſe, daß ich zum Olymp
entkomme; mich ſchmerzt meine Wunde; Diomedes, der
Sterbliche, hat mich verwundet: er wäre im Stande,
ſelbſt mit unſerm Vater Jupiter zu kämpfen.“ Mars über¬
ließ ihr den Wagen, und Venus, auf der Höhe des
Olymps angekommen, warf ſich weinend in die Arme
ihrer Mutter Dione und wurde von ihr unter ſchmeicheln¬
den Troſtworten vor den Göttervater geleitet, der ſie
lächelnd empfing und ihr entgegen rief: „Drum wurden
dir nicht die Werke des Krieges verliehen, mein liebes
Töchterchen, ordne du Hochzeiten und laß die Schlachten
den Kriegsgott beſorgen!“ Ihre Schweſter Pallas und
Juno aber ſahen ſie ſpöttiſch von der Seite an, und
ſprachen ſtichelnd: „Was wird es ſeyn? wahrſcheinlich
hat die ſchöne falſche Griechin unſere Schweſter nach
Troja gelockt, da wird ſie Helena's Gewand geſtreichelt
und ſich mit einer Spange geritzt haben!“
Drunten auf dem Schlachtfeld hatte ſich Diomedes
auf den liegenden Aeneas geworfen, und holte dreimal
aus, ihm den Todesſtreich zu verſetzen; aber dreimal
hielt der zornige Gott Apollo, der nach der Schweſter
Verwundung herbeigeeilt war, ihm den Schild vor; und
als jener das viertemal anſtürmte, drohte er ihm mit
ſchrecklicher Stimme: „Sterblicher, wage nicht mit den
Göttern dich zu meſſen!“ Scheu und mit zauderndem
Schritt entwich Diomedes. Apollo aber trug den Aeneas
aus dem Schlachtgewühl in ſeinen Tempel nach Troja,
wo Latona, ſeine Mutter, und Diana, ſeine Schweſter,
ihn in ihre Pflege nahmen. Auf dem Boden, wo der
[126] Held gelegen, ſchuf er ſein Scheinbild, um das ſich nun
Trojaner und Griechen mit wilden Schlägen und Stößen
zankten. Nun ermahnte Apollo den Mars, daß er den
frechen Tydiden, der die Götter ſelbſt bekämpfe, aus der
Schlacht zu entfernen ſtrebe. Und der Kriegsgott, in der
Geſtalt des Thraziers Akamas, miſchte ſich im Getümmel
unter die Söhne des Priamus und ſchalt ſie: „Wie
lange gönnet ihr den Griechen das Morden, ihr Fürſten?
wollt ihr warten, bis um die Thore eurer Stadt ſelbſt
gekämpft wird? wißt ihr nicht, daß Aeneas auf dem
Boden liegt? Auf und retten wir den edeln Genoſſen
aus der Hand der Feinde!“ So erregte Mars die Her¬
zen der Trojaner. Sarpedon, der Fürſt der Lycier, näherte
ſich Hektor und ſprach zu ihm: „Hektor, wohin iſt dir
dein Muth geſchwunden? Rühmteſt du dich doch jüngſt,
ſelbſt ohne Verbündete, ohne Heeresmacht, mit deinen
leiblichen Brüdern und Schwägern allein wollteſt du Troja
ſchirmen; nun aber ſehe ich ihrer keinen in der Schlacht,
ſie ſchmiegen ſich alle wie die Hunde vor dem Löwen,
und wir Bundesgenoſſen allein müſſen den Kampf auf¬
recht erhalten!“ Hektor fühlte den Vorwurf tief im Herzen,
er ſprang vom Wagen, ſchwenkte die Lanze, durchwan¬
delte ermahnend alle Heldengeſchwader und erweckte den
tobenden Streit auf's Neue. Seine Brüder und alle
Trojaner kehrten die Stirne dem Feinde wieder zu. Auch
den Aeneas, mit Geſundheit und Kraft erfüllt, ſandte
Apollo wieder in den Kampf, daß er ſich plötzlich unver¬
letzt den Seinigen wieder zugeſellte. Alle freuten ſich,
aber Keiner nahm ſich Zeit, ihn zu fragen, ſie ſtürzten
nur miteinander in die Schlacht.
Aber die Danaer, Diomedes, die beiden Ajax und
[127] Odyſſeus an der Spitze, erwarteten ruhig die Heranſtür¬
menden, wie ein unbewegliches Gewölk; und Agamemnon
durcheilte die Heerſchaar und rief: „Jetzt ſeyd Männer,
o ihr Freunde, und ehret euch ſelbſt in der Schlacht, denn
wo ein Volk ſich ſelbſt ehrt, da ſtehen mehr Männer, als
fallen: aber für den Fliehenden gibt es keinen Ruhm und
keine Rettung!“ So rief er, ſchickte ſelbſt zuerſt den
Speer gegen die heranrückenden Trojaner ab, und ſtreckte
den Freund des Aeneas, den hochgeehrten Dikoon, der
immer im Vorderkampfe ſtritt, nieder. Aber auch die
gewaltige Hand des Aeneas tödtete zwei der tapferſten
Danaer, Krethon und Orſilochus, Söhne des Diokles,
die zu Pherä im Peloponnes wie zwei freudige Berg¬
löwen zuſammen aufgewachſen waren. Um die Gefallenen
trauerte Menelaus, ſchwenkte den Speer und warf ſich
raſch in das vorderſte Gewühl. Mars ſelbſt ſpornte ſein
Herz, denn er hoffte, daß ihn Aeneas fällen werde. Aber
Antilochus, Neſtors Sohn, um den Völkerhirten beſorgt,
ſtürzte gleichfalls hervor an ſeine Seite, während jene
beiden ſchon voll Kampfgier ihre Lanzen gegeneinander
gezückt hatten. Als Aeneas zwei Helden ſich gegenüber
ſah, wich er zurück; Menelaus und Antilochus retteten die
beiden Leichen aus den Händen der Feinde und übergaben
ſie den Freunden; ſie ſelbſt wandten ſich dem Vorkampfe
wieder zu. Menelaus durchſtach den Pylämenes, Anti¬
lochus hieb ſeinem Wagenlenker Mydon das Schwert in
die Schläfe, daß er auf den Scheitel geſtellt in den Staub
ſtürzte, bis ihn ſeine eigenen Roſſe umwarfen, die Anti¬
lochus mit der Geißel den Griechen zutrieb.
Jetzt aber jagte Hektor mit den tapferſten Heer¬
ſchaaren der Trojaner voran, und der Kriegsgott ſelbſt
[128] wandelte bald vor, bald hinter ihm her. Als Diomedes
den Gott kommen ſah, ſtutzte der Held wie ein Wan¬
derer vor einem brauſenden Waſſerfalle ſtaunt, und rief
dem Volke zu: „Staunet nicht über die Unerſchrockenheit
Hektors, ihr Freunde, denn immer geht ein Gott neben
ihm her und wehrt das Verderben von ihm ab. Darum,
wenn wir weichen, ſo weichen wir den Göttern!“ Indeſſen
ſtürmten die Schlachtreihen der Trojaner immer näher
heran, und Hektor erſchlug zwei tapfere Griechen auf
Einem Streitwagen, den Anchialus und Meneſthes. Ajax,
der Telamonier, eilte herbei, ſie zu rächen; er traf mit
der Lanze den Amphius, einen Verbündeten der Trojaner,
unter dem Gurte, daß er in dumpfem Falle zu Boden
ſtürzte; dann ſtemmte er den Fuß auf den Leichnam und
zog die Lanze heraus; ein Hügel von Speeren hinderte
ihn, den Gefallenen der Rüſtung zu berauben.
Auf einer andern Seite trieb ein böſes Verhängniß
den Herakliden Tlepolemus auf den Lycier Sarpedon zu,
dem er ſchon von weitem zurief: „Was nöthigt dich, hier
in Angſt zu vergehen, weibiſcher Aſiate, der du dich fälſch¬
lich rühmeſt, ein Jupitersſohn zu ſeyn, wie mein Vater
Herkules! Du biſt feige, und ſelbſt wenn du ein Tapferer
wäreſt, ſo ſollteſt du jetzt dem Hades nicht entgehen!“
„Habe ich mir noch keinen Ruhm erworben,“ entgegnete
ihm Sarpedon, „ſo ſoll dein Tod mir ihn verſchaffen!“
Und nun kreuzten ſich die Lanzen beider Helden; der
Wurfſpieß des Sarpedon traf den prahleriſchen Gegner
grade in den Hals, daß die Spitze hinten hervordrang
und er entſeelt zur Erde ſtürzte. Aber auch des Tlepole¬
mus Speer hatte den linken Schenkel Sarpedons bis auf
die Knochen durchbohrt, und nur ſein Vater Jupiter
[129] hemmte den Tod. Die Freunde führten den Bebenden
aus dem Kampfe, ſo haſtig, daß Keiner bemerkte, wie er
die aus dem Schenkel hervorragende Lanze noch nach¬
ſchleppte. Auch die Leiche des Tlepolemus trugen die
Griechen aus dem Kampfe zurück.
Während Odyſſeus in der führerloſen Schaar der
Lycier wüthete, und ſchon ganz nahe an dem flüchtenden
Sarpedon war, erfreute dieſen der Anblick des heranna¬
hen Hektors, und er rief ihm mit ſchwacher Stimme zu:
„Priamus Sohn, laß mich nicht den Achivern zum Raube
daliegen, vertheidige mich, daß ich mein Leben ruhig in
dieſer Stadt aushauchen mag, wenn ich doch das Land
der Väter, mein Weib und mein Söhnlein nicht mehr
ſehen ſoll!” Ohne ein Wort zu erwiedern, drängte
Hektor die verfolgenden Griechen unwiderſtehlich zurück, ſo
daß ſelbſt Odyſſeus nicht wagte, weiter vorzudringen. Nun
legten den Sarpedon ſeine Freunde unweit vom ſkäiſchen
Thore unter der hohen Buche nieder, die ſeinem Vater
Jupiter heilig war, und ſein Jugendgenoſſe Pelagon zog
ihm den Speer aus dem Schenkel. Einen Augenblick ver¬
ließ den Verwundeten die Beſinnung, doch athmete er
bald wieder auf, und ein kühler Nordwind wehte ſeinen
matten Lebensgeiſtern Erfriſchung zu.
Mars und Hektor bedrängten jetzt die Griechen, daß
ſie allmählig rückwärts wichen zu ihren Schiffen. Sechs
herrliche Helden fielen allein von Hektors Hand. Mit
Schrecken überblickte vom Olymp herab Juno, die Göt¬
termutter, das Gemetzel, das die Trojaner unter dem
Beiſtande des Mars anrichteten. Auf ihren Antrieb ward
Athene's Wagen mit den ehernen, goldumfaßten Rädern,
der ſilbernen Deichſel und dem goldenen Joche gerüſtet,
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 9[130] in welches Here ſelbſt ihr ſchnellfüßiges Roſſegeſpann
fügte: Minerva aber hüllte ſich in ihres Vaters Panzer,
bedeckte das Haupt mit dem goldenen Helm, ergriff den
Schild mit dem Gorgonenhaupte, faßte den Speer und
ſchwang ſich auf den ſilbernen Seſſel, der in goldenen
Riemen hing. Neben ihr ſitzend, ſchwenkte Juno die
Geißel und beflügelte die Roſſe. Des Himmels Thor,
das die Horen hüteten, krachte von ſelbſt auf, und die
rieſigen Göttinnen fuhren an den Zacken des Olymp
vorüber. Auf der höchſten Kuppe ſaß Jupiter, und ihr
Geſpann einen Augenblick zügelnd, rief ihm Here, ſeine
Gemahlin, zu: „Zürnſt du denn gar nicht, Vater, daß
dein Sohn Mars das herrliche Volk der Griechen wider
das Geſchick verdirbt? Siehſt du, wie ſich Venus und
Apollo freuen, die den Wütherich gereizt haben? Nun
wirſt du mir doch erlauben, daß ich dem Frechen einen
Streich verſetze, der ihn aus dem Kampfe hinausſtößt!“
„Immerhin ſoll es dir geſtattet ſeyn,“ rief ihr Jupiter
von ſeinem Sitze zu, „ſende nur friſch meine Tochter
Athene gegen ihn, die am bitterſten zu kämpfen verſteht.“
Nun flog der Wagen zwiſchen dem Sternengewölbe und
der Erde dahin, bis er ſich am Zuſammenfluſſe des Si¬
mois und Skamander mit ſammt den Roſſen auf den
Boden niederließ.
Die Göttinnen eilten ſofort in die Männerſchlacht,
wo die Krieger wie Löwen und Eber um den Tydiden
gedrängt ſtanden. Zu ihnen geſellte ſich Here in Stentors
Geſtalt und rief mit der ehernen Stimme dieſes Helden:
„Schämet euch, ihr Argiver, ſeyd ihr nur furchtbar, ſo
lang Achilles an eurer Seite ficht? Der ſitzt nun bei den
Schiffen, und ihr vermöget nichts!“ Mit dieſem Ruf
[131] erregte ſie den wankenden Muth der Danaer. Athene
aber bahnte ſich durch das Gedränge einen Weg zu Dio¬
medes ſelbſt. Sie fand dieſen, an ſeinem Wagen ſtehend
und die Wunde abkühlend, die ihm der Pfeil des Pan¬
darus gebohrt hatte. Der Druck des breiten Schildgehen¬
kes und der Schweiß peinigten ihn, und ſeine Hand fühlte
ſich kraftlos; mit Mühe lüftete er den Riemen und trock¬
nete ſich das Blut. Nun faßte die Göttin Athene das
Joch der Roſſe, ſtützte ihren Arm darauf, und ſprach, zu
dem Helden gekehrt: „In Wahrheit, der Sohn des mu¬
thigen Tydeus gleicht ſeinem Vater nicht ſonderlich; dieſer
war zwar nur klein von Geſtalt, aber doch ein immer
rüſtiger Kämpfer; ſchlug er ſich doch vor Thebe einmal
ganz wider meinen Willen, und doch konnte ich ihm mei¬
nen Beiſtand nicht verſagen. Auch du hätteſt dich meiner
Obhut und meiner Hülfe zu erfreuen: aber ich weiß nicht
was es iſt — ſtarren dir deine Glieder von der Arbeit,
oder lähmt dich die ſinnberaubende Furcht: genug, du
ſcheinſt mir nicht der Sohn des feurigen Tydeus zu ſeyn!“
Diomedes blickte bei dieſen Reden der Göttin auf, ſtaunte
ihr ins Geſicht und ſprach: „Wohl erkenne ich dich, Ju¬
piters Tochter, und will dir die Wahrheit unverhohlen
ſagen. Weder Furcht noch Trägheit lähmten mich, ſondern
der gewaltigſten Götter einer. Du ſelbſt haſt mir das
Auge aufgethan, daß ich ihn erkenne. Es iſt Mars, der
Gott des Krieges, den ich im Treffen der Trojaner wal¬
ten ſah; ſieh hier die Urſache, warum ich ſelbſt zurück
wich, und auch dem übrigen Griechenvolke gebot, ſich hier
um mich zu ſammeln!“ Darauf antwortete ihm Athene:
„Diomedes, mein auserwählter Freund! hinfort ſollſt du
weder den Mars, noch einen andern der Unſterblichen
9 *[132] fürchten; ich ſelbſt will deine Helferin ſeyn. Lenke nur
muthig deine Roſſe dem raſenden Kriegsgott ſelber zu!“
So ſprach ſie, gab ſeinem Wagenlenker Sthenelus einen
leichten Stoß, daß er willig vom Streitwagen ſprang, und
ſetzte ſich ſelbſt in den Seſſel zu dem herrlichen Helden.
Die Axe ſtöhnte unter der Laſt der Göttin und des Stärk¬
ſten unter den Griechen. Sofort ergriff Pallas Athene
Zügel und Peitſche, und lenkte den Huftritt der Roſſe
Mars dem Kriegsgotte zu. Dieſer raubte gerade dem
tapferſten Aetolier, Periphas, den er erſchlagen hatte, die
Rüſtung. Als er aber den Diomedes im Streitwagen auf
ſich zukommen ſah, (die Göttin hatte ſich in undurchdring¬
liche Nacht gehüllt,) ließ er den Periphas liegen und eilte
auf den Tydiden zu, über Joch und Zügel ſeiner Roſſe
herausgelehnt, und mit der Lanze nach der Bruſt des
Helden zielend. Aber Athene, unſichtbar, ergriff ſie mit
der Hand, und gab ihr eine andere Richtung, daß ſie
ohne Ziel in die Luft hinausflog. Nun erhub ſich Dio¬
medes in ſeinem Wagenſitze, und Athene ſelbſt lenkte den
Stoß ſeines Speeres, daß er dem Mars unter dem eher¬
nen Leibgurt in die Weiche fuhr. Der Kriegsgott brüllte,
wie zehntauſend Sterbliche in der Schlacht ſchreien, Tro¬
janer und Griechen zitterten, denn ſie glaubten, bei hei¬
terer Luft den Donner Jupiters zu hören. Diomedes
aber ſah den Mars, in Wolken gehüllt, wie in einem
Orkane zum Himmel emporfahren. Dort ſetzte ſich der
Kriegsgott neben den Donnerer, ſeinen Vater, und zeigte
ihm das aus der Wunde herabtriefende Blut. Aber Ju¬
piter ſchaute finſter und ſprach: „Sohn, winſle mir hier
nicht an meiner Seite! Von allen Olympiern biſt du mir
der Verhaßteſte; immer haſt du nur Zank und Fehde
[133] geliebt, mehr als alle Andere gleicheſt du an Trotz
und Starrſinn deiner Mutter. Gewiß hat dieſes Weh
mir auch ihr Rath bereitet! Dennoch kann ich nicht län¬
ger mit anſehen, wie du leideſt, und der Arzt der Götter
wird dich heilen.“ So übergab er ihn dem Päan, welcher
der Wunde wahrnahm, daß ſie ſich auf der Stelle ſchloß.
Inzwiſchen waren auch die andern Götter in den
Olymp zurückgekehrt, um die Feldſchlacht der Troer und
Danaer wieder ſich ſelbſt zu überlaſſen. Zuerſt brach jetzt
Ajax, der Sohn Telamons, in das Gedränge der Tro¬
janer, und machte den Seinigen wieder Luft, indem er
Akamas, dem gewaltigſten Thrazier, die Stirne unter
dem Helm durchbohrte. Darauf erſchlug Diomedes Arylus
und ſeinen Wagenlenker; vor Euryalus erlagen drei an¬
dere edle Trojaner, vor Odyſſeus Pidytes, vor Teucer
Aretaon, vor Antilochus Ableros, vor Agamemnon Elatus,
vor Andern Andere. Den Adraſtus erhaſchte Menelaus,
als ihn die Roſſe ſtrauchelnd auf den Boden geworfen,
und mit dem Wagen, unter andern herrenloſen Pferden,
zur Stadt enteilten. Der liegende Feind umſchlang die
Knie des Fürſten und flehte jämmerlich: „Fange mich
lebendig, Atride, nimm volle Löſung von Erz und Gold
aus dem Schatze meines Vaters, der ſie dir willig gibt,
wenn er mich wieder lebendig umarmen darf!“ Menelaus
fühlte ſein Herz im Buſen bewegt, da lief Agamemnon
heran und ſtrafte ihn mit den Worten: „Sorgſt du ſo
für deine Feinde, Menelaus? fürwahr, ſie haben es um
dich im Heimathlande verdient! Nein, Keiner ſoll un¬
ſerm Arm entfliehen, auch der Knabe im Mutterſchooße
nicht! Alles, was Troja groß gezogen hat, ſoll ohne
Erbarmen ſterben!“ Da ſtieß Menelaus den Flehenden
[134] mit der Hand von ſich und Agamemnon durchbohrte ihm
den Leib mit der Lanze. Unter den ſtürmenden Argivern
hörte man Neſtors hallenden Ruf: „Freunde! daß nur
Keiner, zu Raub und Beute gewendet, dahinten bleibe! Jetzt
gilt es nur, Männer zu tödten; nachher könnt ihr gemäch¬
lich den Leichnamen die Rüſtung abziehen!“
Bald wären jetzt die Trojaner ihrer Stadt überwun¬
den zugeflohen, wenn nicht Helenus, der Sohn des
Priamus, der kundigſte Vogelſchauer, ſich zu Hektor und
Aeneas gewendet und ſo zu ihnen geſprochen hätte:
„Alles beruht jetzt auf euch, ihr Freunde, nur wenn ihr
das flüchtige Volk vor den Thoren hemmet, vermögen
wir ſelbſt noch die Schaaren der Danaer zu bekämpfen.
Dir, Aeneas, übertragen die Götter zunächſt dieſes Ge¬
ſchäft. Du aber, Bruder Hektor, eile gen Troja und
ſage unſerer Mutter ein Wort. Sie ſoll die edelſten
Weiber auf der Burg im Tempel Athene's verſam¬
meln, ihr köſtlichſtes Gewand auf die Kniee der Göttin
legen und ihr zwölf untadeliche Kühe geloben, wenn
ſie ſich der trojaniſchen Frauen und Kinder und ihrer
Stadt erbarmt, und den ſchrecklichen Tydiden abwehrt.“
Unverdroſſen ſprang Hektor vom Wagen, durchwan¬
delte ermahnend die Geſchwader und enteilte nach der
Stadt.
[135]
Glaukus und Diomedes.
Auf dem Schlachtfelde rannten jetzt der Lycier Glaukus,
der Enkel des Bellerophontes, und der Tydide Diomedes
aus den Heeren hervor und begegneten voll Kampfgier
einander. Als Diomedes den Gegner in der Nähe ſah,
maß er ihn mit den Blicken und ſprach: „Wer biſt du,
edler Kämpfer? noch nie biſt du mir in der Feldſchlacht
begegnet, doch jetzt ſehe ich dich vor Andern weit hervor¬
ragen, da du es wageſt, dich meiner Lanze entgegenzu¬
ſtellen; denn mir begegnen nur Kinder, die zum Unglücke
geboren ſind. Biſt du aber ein Gott, der ſterbliche Ge¬
ſtalt angenommen hat, ſo begebe ich mich des Kampfes.
Ich fürchte den Zorn der Himmliſchen und verlange nicht
ferner nach dem Streite mit unſterblichen Göttern. Doch
wenn du ein Sterblicher biſt, ſo komm immerhin heran,
du ſollſt dem Tode nicht entgehen!“ Darauf antwortete
der Sohn des Hippolochus: „Diomedes, was frägſt du
nach meinem Geſchlecht? Wir Menſchen ſind wie Blätter
im Walde, die der Wind verweht, und der Frühling wie¬
der treibt! Willſt du es aber wiſſen, ſo höre: Mein
Urahn iſt Aeolus, der Sohn des Hellen, der zeugte den
ſchlauen Siſyphus, Siſyphus zeugte den Glaukus, Glau¬
kus den Bellerophontes *), Bellerophontes den Hippolo¬
chus, und des Hippolochus Sohn bin ich. Dieſer ſchickte
mich her gen Troja, daß ich Andern vorſtreben und der
Väter Geſchlecht nicht ſchänden ſollte.“ Als der Gegner
[136] geendigt, ſtieß Diomedes fröhlich ſeinen Schaft in die
Erde und rief ihm mit freundlichen Worten zu: „Wahr¬
lich, edler Fürſt, ſo biſt du ja mein Gaſtfreund von Väter¬
zeiten her, Oeneus mein Großvater hat deinen Großvater
Bellerophontes zwanzig Tage lang gaſtlich in ſeinem
Hauſe beherbergt, und unſere Ahnen haben ſich ſchöne
Ehrengeſchenke gereicht: der meine dem deinen einen
purpurnen Leibgurt, der deinige dem meinen einen golde¬
nen Henkelbecher, den ich noch in meiner Behauſung ver¬
wahre. So bin ich denn dein Wirth in Argos und du
der meine in Lycien, wenn ich je dorthin mit meinem
Gefolge komme. Darum wollen wir uns im Schlacht¬
getümmel beide mit unſern Lanzen vermeiden. Gibt es
doch für mich noch Trojaner genug zu tödten, und für
dich der Griechen genug! Uns aber laß die Waffen mit¬
einander vertauſchen, damit auch die Andern ſehen, wie
wir uns von Väterzeiten her rühmen, Gaſtfreunde zu
ſeyn!“ So redeten jene, ſchwangen ſich von den Streit¬
wagen herab, faßten ſich liebreich die Hände und gelobten
einander gegenſeitige Freundſchaft. Jupiter aber, der
Alles, was geſchah, zu Gunſten der Griechen lenkte, ver¬
blendete den Sinn des Glaukus, daß er ſeine goldene
Rüſtung mit der ehernen des Diomedes wechſelte; es
war, wie wenn ein Mann gegen neun Farren hundert
hergäbe.
[137]
Hektor in Troja.
Hektor hatte unterdeſſen die Buche Jupiters und das
Skäiſche Thor erreicht. Hier umringten ihn die Weiber
und Töchter der Trojaner und forſchten ängſtlich nach
Gemahlen, Söhnen, Brüdern und Verwandten. Nicht
Allen wußte er Beſcheid zu geben, er ermahnte nur Alle,
die Götter anzuflehen. Doch Viele hatten ſeine Nachrich¬
ten in Weh und Jammer verſenkt. Jetzt war er am
Pallaſte ſeines Vaters angekommen. Dieſer war ein
herrliches Gebäude, ringsum mit weithin ſich dehnenden
Säulenhallen geſchmückt, im Innern waren fünfzig Ge¬
mächer aus glattem Marmor, eins ans andere nachbarlich
angebaut. Hier wohnten die Söhne des Königes mit
ihren Gemahlinnen. Auf der andern Seite des inneren
Hofes reihten ſich zwölf Marmorſäle an einander, wo die
Eidame des Königes mit ſeinen Töchtern hausten. Das
Ganze war mit einer hohen Mauer umſchloſſen und bil¬
dete für ſich allein eine ſtattliche Burg. Hier begegnete
Hektor ſeiner guten Mutter Hekuba, die eben zu ihrer
liebſten und anmuthigſten Tochter Laodice zu gehen im
Begriffe war. Die Mutter eilte auf Hektor zu, faßte ihm
die Hand und ſprach voll Sorgen und Liebe: „Sohn, wie
kommſt du zu uns aus der wüthenden Schlacht? Die
entſetzlichen Männer müſſen uns wohl hart bedrängen, und
du kommſt gewiß, die Hände zu Jupiter zu erheben. So
verziehe denn, bis ich dir vom lieblichen Wein bringe,
daß du dem Vater Zeus und den andern Göttern ein
Trankopfer darbringen kannſt, und darauf dich ſelbſt mit
[138] einem Labetrunk erquicken; denn der Wein iſt doch die
kräftigſte Stärkung für einen müden Kämpfer!“ Aber
Hektor erwiederte der Königin: „Laß mir keinen Wein
reichen, geliebte Mutter, daß du mich nicht entnerveſt und
ich meiner Kraft vergeſſe; auch dem Göttervater ſcheue
ich mich, mit ungewaſchener Hand Wein zu ſpenden; du
hingegen geh, von den edelſten Frauen Troja's umringt,
mit Räuchwerk zu Athenes Tempel, lege der Göttin dein
köſtlichſtes Gewand auf die Kniee und gelobe ihr zwölf
untadeliche Kühe, wenn ſie ſich unſerer erbarmt. Ich aber
will hingehen, meinen Bruder Paris in die Schlacht zu
berufen. Schlänge ihn doch die Erde lebendig hinab, denn
er iſt zu unſerem Verderben geboren!“
Die Mutter that, wie der Sohn ſie angewieſen. Sie
ſtieg in die duftende Kammer hinunter, wo die ſchönſten
Seidengewande verwahrt lagen, die Paris ſelbſt aus
Sidon mitgebracht hatte, als er aus Umwegen mit Helena
nach der Heimath ſchiffte. Eines davon, das größeſte,
ſchönſte, mit den herrlichſten Bildern durchwirkte, das zu
unterſt von allen lag, ſuchte ſie hervor und wandelte nun,
von der Schaar der edelſten Weiber begleitet, nach der
Burg, zu Athene's Tempel. Hier öffnete ihnen Antenors
Gattin Theano, die trojaniſche Prieſterin der Pallas, das
Haus der Göttin. Die Frauen reihten ſich um das Bild
Athene's und huben mit Klagetönen die Hände zu der
Göttin empor. Dann nahm Theano das Gewand aus
den Händen der Königin, legte es auf die Kniee des
Bildes und flehte zu der Tochter Jupiters: „Pallas
Athene, Beſchirmerin der Städte, erhabene, machtvolle
Göttin, brich du dem Diomedes den Speer, laß ihn
ſelbſt, auf ſein Angeſicht geſtürzt, vor unſern Thoren ſich
[139] wälzen; erbarme dich der Stadt, der Frauen, der ſtam¬
melnden Kinder! In dieſer Hoffnung weihen wir dir
zwölf untadeliche Kühe.“
Aber Pallas Athene verweigerte ihnen im Herzen
ihre Bitte. Hektor war inzwiſchen im Pallaſte des Paris
angekommen, der hoch auf der Burg, in der Nähe vom
Königspallaſt und von Hektors Wohnung ſtand; denn
beide Fürſten hatten von der Königswohnung abgeſonderte
Häuſer. Er trug in der Rechten ſeinen Speer, der eilf
Ellen lang und deſſen eherne Spitze am Schaft mit
einem goldenen Ring umlegt war. Er fand den Bruder,
wie er in ſeinem Gemache die Waffen muſterte und das
Horn des Bogens glättete; ſeine Gemahlin Helena ſaß
emſig unter den Weibern und leitete ihr Tagewerk. Wie
Hektor jenen ſah, ſchalt er ihn und rief: „Du thuſt nicht
Recht, ſo im Unmuthe hier zu ſitzen, Bruder, um deinet¬
willen ſchlägt ſich das Volk vor der Stadt im Feldgetüm¬
mel! Du ſelbſt aber würdeſt mit jedem Andern zanken,
den du ſo ſaumſelig zum Treffen ſäheſt. Auf denn, ehe
die Stadt unter den Feuerbränden unſeres Feindes auf¬
lodert, hilf ſie vertheidigen mit uns!“ Paris antwortete
ihm: „Du tadelſt mich nicht mit Unrecht, Bruder, doch
bin ich nicht aus Unmuth, ſondern nur aus Gram hier
in der Unthätigkeit geſeſſen. Nun aber hat mir meine
Gattin freundlich zugeredet, in die Schlacht hinaus zu
gehen; ſo verziehe denn, bis ich meine Rüſtung angezogen
habe, oder geh: ich hoffe dir bald nachzufolgen.“ Hektor
ſchwieg darauf, aber Helena redete ihn mit Worten der
Beſchämung an: „O Schwager, ich bin ein ſchnödes,
unheilſtiftendes Weib! Hätte mich doch die Meereswoge
verſchlungen, ehe ich mit Paris hier ans Land ſtieg! Nun
[140] das Uebel aber einmal verhängt worden: wäre ich doch
wenigſtens nur die Genoſſin eines beſſeren Mannes, der
die Schmach und die vielen Vorwürfe, die er ſich zuzieht,
auch empfände; ſo aber hat er kein Herz im Leibe und
wird keines haben, und die Frucht ſeiner Feigheit wird
nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und
ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des ſchändlichen
Weibes, die wegen der Frevelthat meines Gatten doch
zumeiſt auf deinen Schultern laſtet!“ „Nein, Helena,“
ſprach Hektor, „heiß mich nicht ſo freundlich ſitzen, ich darf
wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu
helfen. Muntere du nur dieſen Menſchen da auf, und er
ſelbſt treibe an ſich, daß er mich bald noch innerhalb der
Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine
eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein und
Geſinde ſchauen.“ So ſprach Hektor und enteilte. Aber
er fand die Gattin nicht zu Hauſe. „Als ſie hörte,“ ſprach
zu ihm die Schaffnerin, „daß die Trojaner Noth leiden
und der Sieg ſich zu den Griechen neige, verließ ſie die
Wohnung wie außer ſich, um einen der Stadtthürme zu
beſteigen und die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.“
Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen
Troja's jetzt wieder zurück. Als er das Skäiſche Thor
erreicht, kam ſeine Gemahlin Andromache, die blühende
Tochter des ciliciſchen Etion von Theben, eilenden Laufes
gegen ihn her, die Dienerin, ihr folgend, trug das unmün¬
dige Knäblein Aſtyanax, ſchön wie ein Stern, an der
Bruſt. Mit ſtillem Lächeln betrachtete der Vater den
Knaben, Andromache aber trat ihm unter Thränen zur
Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und ſprach: „Entſetz¬
licher Mann! gewiß tödtet dich noch dein Muth, und du
[141] erbarmeſt dich weder deines ſtammelnden Kinds, noch dei¬
nes unglückſeligen Weibs, das du bald zur Wittwe machen
wirſt. Werde ich deiner beraubt, ſo wäre es das Beſte,
ich ſänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir Achil¬
les getödtet, meine Mutter hat der Bogen Diana's erlegt,
meine ſieben Brüder hat auch der Pelide umgebracht,
ohne dich habe ich keinen Troſt, Hektor, du biſt mir Vater
und Mutter und Bruder. Darum erbarme dich, bleib
hier auf dem Thurm; mach dein Kind nicht zur Waiſe,
dein Weib nicht zur Wittwe! Das Heer ſtelle dort an
den Feigenhügel: dort ſteht die Mauer dem Angriffe frei
und iſt am leichteſten zu erſteigen, dorthin haben die tapfer¬
ſten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die Atriden und
Diomedes ſchon dreimal den Sturm hingelenkt, ſey es,
daß ein Seher es ihnen offenbarte, ſey's daß das eigene
Herz ſie trieb!“
Liebreich antwortete Hektor ſeiner Gemahlin: „Auch
mich härmt Alles dieſes, Geliebteſte; aber ich müßte mich
vor Troja's Männern und Frauen ſchämen, wenn ich,
erſchlafft wie ein Feiger, hier aus der Ferne zuſchaute.
Auch mein eigner Muth erlaubt es mir nicht, er hat mich
immer gelehrt, im Vorderkampfe zu ſtreiten; zwar, das
Herz weiſſagt es mir: der Tag wird kommen, wo die
heilige Troja hinſinkt, und Priamus und all ſein Volk;
aber weder der Trojaner Leid, noch der eigenen Eltern
und der leiblichen Brüder, wenn ſie dann unter dem
Schwert der Griechen fallen, geht mir ſo zu Herzen, wie
das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die
Knechtſchaft führen wird, und du dann zu Argos am
Webeſtuhl ſitzeſt oder Waſſer trägſt, vom harten Zwang
belaſtet, und dann wohl ein Mann, dich in Thränen
[142] ſchauend, ſpricht: das war Hektors Weib! Decke mich der
Grabhügel, eh ich von deinem Geſchrei und deiner Ent¬
führung hören muß!“ So ſprach er und ſtreckte die Arme
nach ſeinem Knäbchen aus; aber das Kind ſchmiegte ſich
ſchreiend an den Buſen der Amme, von der Zärtlichkeit
des Vaters erſchreckt, und vor dem ehernen Helm und
dem fürchterlich flatternden Roßſchweif erbangend. Der
Vater ſchaute das Kind und die zärtliche Mutter lächelnd
an, nahm ſich ſchnell den ſchimmernden Helm vom Haupte,
legte ihn zu Boden, küßte ſein geliebtes Kind und wiegte
es auf dem Arm. Dann flehte er zum Himmel empor:
„Zeus und ihr Götter! laßt dieß mein Knäblein werden
wie mich ſelbſt, voranſtrebend dem Volk der Trojaner;
laßt es mächtig werden in Troja und die Stadt beherr¬
ſchen, und dereinſt ſage man, wenn es beutebeladen aus
dem Streite heimkehrt: der iſt noch weit tapferer, als ſein
Vater, und darüber ſoll ſich ſeine Mutter herzlich freuen!“
Mit dieſen Worten gab er den Sohn der Gattin in den
Arm, die unter Thränen lächelnd ihn an den Buſen
drückte. Hektor aber ſtreichelte ſie, inniger Wehmuth voll,
mit der Hand, und ſagte: „Armes Weib, traure mir nicht
zu ſehr im Herzen, gegen das Geſchick wird mich Niemand
tödten, dem Verhängniß aber iſt noch kein Sterblicher
entronnen. Auf, geh du zur Spindel und zum Webeſtuhl
und befiehl deinen Weibern! den Männern Troja's liegt
die Sorge für den Krieg ob, am meiſten aber mir!“ Als
er dieß geſagt, ſetzte ſich Hektor den Helm auf und ging
davon. Auch Andromache ſchritt dem Hauſe zu, indem ſie
wiederholt rückwärts blickte und herzliche Thränen weinte.
Als die Mägde in der Kammer ſie erblickten, theilte ſich
[143] ihnen Allen ihr Gram und ihre Betrübniß mit, und Hektor
wurde bei lebendigem Leib in ſeinem Pallaſt betrauert.
Auch Paris hatte nicht gezaudert; in ſtrahlenden Erz¬
waffen eilte er durch die Stadt, wie ein ſtattliches Roß
die Halfter zerreißt und nach dem Strombade rennt. Er
erreichte den Bruder, als dieſer ſich eben von ſeiner Gat¬
tin Andromache gewendet hatte. „Nicht wahr,“ rief ihm
Paris von weitem zu, „ich habe dich, mein älterer Bru¬
der, durch mein Zaudern aufgehalten, und bin nicht da
zur rechten Zeit!“ Aber Hektor antwortete ihm freundlich:
„Mein Guter, billig zu reden biſt du ein tapferer Strei¬
ter, nur ſäumſt du oft gern und willſt nicht, und ſieh, da
kränkt es mich dann innig, wenn ich unter dem Trojaner¬
volke, das ſo viel für dich erduldet, ſchmähliche Reden über
dich hören muß. Doch, das wollen wir ein andermal
ausmachen, wenn wir die Griechen aus Troja verjagt
haben und um den Krug der Freiheit im Pallaſte ſitzen!“
Hektor und Ajax im Zweikampf.
Als die Göttin Athene vom Olymp herab die beiden
Brüder ſo zum Kampfe hineilen ſah, flog ſie ſtürmiſch
hinunter zur Stadt Troja. An Jupiters Buche begegnete
ihr Apollo, der von der Zinne der Burg, von wo er die
Schlacht der Trojaner lenkte, daher kam, und ſeine Schwe¬
ſter anredete: „Welch ein heftiger Eifer treibt dich vom
Olymp herunter, Pallas? biſt du noch immer auf den
Fall der Trojaner bedacht, Erbarmungsloſe? Wollteſt du
mir doch gehorchen, und für heute den Entſcheidungskampf
[144] ruhen laſſen. Ein andermal mögen ſie die Feldſchlacht
erneuern, weil ihr, du und Here, doch nicht ruhet, bis ihr
die hohe Stadt Troja verwüſtet habt!“ Ihm antwortete
Athene: „Fernhintreffer, es ſey, wie du ſagſt; und in
derſelben Abſicht bin auch ich vom Olymp herabgekommen.
Aber ſage mir, wie gedenkſt du den Männerkampf zu
ſtillen?“ „Wir wollen,“ ſprach Apollo, „dem gewaltigen
Hektor ſeinen Muth noch ſteigern, daß er einen der Da¬
naer zum entſcheidenden Zweikampf herausfordert, laß uns
denn ſehen, was dieſe thun.“ Athene war das zufrieden.
Das Geſpräch der Unſterblichen hatte der Seher He¬
lenus in ſeiner Seele vernommen; eilig trat er zu Hektor
und ſprach: „Weiſer Sohn des Priamus, wollteſt du
dießmal meinem Rathe gehorchen, der ich dein liebender
Bruder bin? Heiß die andern Alle, Trojaner und Grie¬
chen, vom Streite ruhen; du ſelbſt aber fordre den Tapfer¬
ſten aller Achiver zur Entſcheidung heraus. Du kannſt es
ohne Gefahr; denn, glaube meinem Seherworte, der Tod
iſt noch nicht über dich verhängt.“
Hektor freute ſich dieſes Worts. Er hemmte die tro¬
janiſchen Heerhaufen und trat, den Speer in der Mitte
haltend, zwiſchen die kämpfenden Heere, und auf dieſes
Zeichen ruhte alsbald der Streit auf beiden Seiten, denn
auch Agamemnon hieß ſeine Griechen ſich lagern. Minerva
und Apollo aber ſetzten ſich beide in Geſtalt zweier Geier
auf Jupiters Buche und freuten ſich des Männergewühls,
bis beide Ordnungen, von Schilden, Helmen und hervor¬
ragenden Lanzen dicht umſtarrt, gedrängt daſaßen, nur ſo
viel ſich regend, als das Meer, wenn das Gekräuſel des
Weſtes darüber hinſchauert. In der Mitte beider Völker
begann jetzt Hektor: „Trojaner und ihr Griechen, höret,
[145] was mir mein Herz gebietet! den Bundesvertrag, den
wir jüngſt geſchloſſen, hat Jupiter nicht genehmigt, viel¬
mehr beiden Völkern böſe Entſchlüſſe eingegeben, bis ent¬
weder ihr ſelbſt Troja erobert, oder vor uns erlieget bei
euren Schiffen. Nun ſind die tapferſten Helden Griechen¬
lands in eurem Heere. Welchem nun von ſolchen ſein
Herz gebeut, mit mir, dem göttergleichen Hektor den Vor¬
kampf zu wagen, der trete heraus! Die Bedingung, die
ich ſtelle, iſt dieſe, und Jupiter ſey mein Zeuge: wenn
mein Gegner mich mit dem Speer erlegt, mag er meinen
Waffenraub zu den Schiffen hinabtragen, doch meinen Leib
nach Troja ſenden, daß er der Ehre des Scheiterhaufens
in der Heimath theilhaftig werde; wenn aber mir Apollo
Ruhm gewährt und ich meinen Gegner erlege, ſo hänge
ich ſeine Rüſtung im Tempel des Phöbus zu Troja auf,
und den Erſchlagenen möget ihr bei euren Schiffen mit
Pracht beſtatten und ihm am Helleſpont ein Mal auf¬
thürmen, von dem einſt in ſpäten Zeiten der Schiffer noch
ſage: Sehet, hier ragt der Grabhügel des längſtverſtorbe¬
nen Mannes, der einſt im Streit mit dem göttergleichen
Hektor erlag!“
Alſo ſprach Jener, die Danaer aber ſchwiegen, denn
es war ſchimpflich, den Kampf zu verweigern, und gefahr¬
voll, ihn anzunehmen. Endlich ſtand Menelaus auf und
ſtrafte ſeine Landsleute ſeufzend mit den Worten: „Wehe
mir, ihr Prahler, Griechinnen und nicht Griechen. Wäre
es doch eine unvertilgbare Schande, wenn kein Danaer
dem Hektor zu begegnen wagte! Möchtet ihr euch Alle in
Koth und Waſſer verwandeln, wie ihr miteinander daſitzet,
Jeder ohne Herz und ohne Ruhm! So will ich denn
mich ſelbſt zum Kampfe gürten und den Göttern den
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 10[146] Ausgang anempfehlen!“ So ſprach er und warf ſich in
die Rüſtung; und ſein Tod wäre bei den Göttern beſchloſ¬
ſen geweſen, wenn nicht die Fürſten der Griechen auf¬
gefahren wären und ihn zurückgehalten hätten. Ja ſelbſt
Agamemnon ergriff ſeine Rechte und ſprach: „Bruder,
bedenke dich! was fällt dir ein, den ſtärkern Mann be¬
kämpfen zu wollen, vor dem ſelbſt Andern, als du biſt,
graut, mit dem Achilles ſelber in der Feldſchlacht ſich zu
meſſen geſtutzt hat. Wir bitten dich Alle, tritt zurück und
ſetze dich nieder!“ So wandte Agamemnon ſeinem Bruder
das Herz. Und nun hielt Neſtor eine ſtrafende Rede an
das Volk und erzählte ſeinen eigenen Zweikampf mit
Ereuthalion dem Arkadier. „Wäre ich noch ſo jugendlich,“
endete er, „noch ſo ungeſchwächter Kraft, wie damals, ſo
ſollte Hektor ſeinen Kämpfer bald gefunden haben!“ Auf
ſeine Strafrede erhuben ſich neun Fürſten in dem Heere:
vor Allen Agamemnon, ihm zunächſt Diomedes, drauf die
beiden Ajax zugleich; dann Idomeneus, ſein Genoſſe
Meriones, Eurypylus, Thoas und Odyſſeus. Sie Alle
erboten ſich zu dem gefürchteten Kampf. „Das Loos ſoll
entſcheiden,“ begann von Neuem Neſtor, „wen es auch
trifft, freuen werden ſich die Griechen, und der Erkohrene
mit, wenn er aus dem erbitterten Streit als Sieger her¬
vorgeht.“ Nun bezeichnete ſich Jeder ſelbſt ſein Loos;
Alle zuſammen wurden in den Helm Agamemnons gewor¬
fen; das Volk betete; Neſtor ſchüttelte den Helm, und
heraus ſprang das Loos des Telamonsſohnes Ajax. Ein
Herold zeigte das Loos herumwandelnd den acht Helden
vor Ajax, aber keiner erkannte es, bis die Reihe an den
kam, der es ſich ſelbſt bezeichnet hatte. Freudig warf Ajax
das Loos vor die Füße und rief: „Freunde, wahrlich, es
[147] iſt mein Loos, und mein Herz iſt froh, denn ich hoffe,
über Hektor zu ſiegen. Ihr Alle betet in der Stille oder
laut, während ich mich rüſte.“
Das Volk gehorchte ihm und bald ſtürmte Ajax, den
rieſigen Leib in blinkende Erzwaffen gehüllt, zum Kampfe
vor, dem ungeheuren Kriegsgott ſelber ähnlich. Ein Lä¬
cheln flog über ſein finſterernſtes Antlitz, wie er mächtigen
Schrittes, die gewaltige Lanze ſchwingend, einherwandelte.
Alle Danaer freuten ſich ringsum ſeines Anblicks und
Schrecken durchſchauderte die Schlachtreihen der Trojaner.
Ja dem gewaltigen Hektor ſelbſt fing ſein Herz im Buſen
an zu ſchlagen, aber er konnte nicht mehr ins Gewühl
ſeiner Schaaren zurückfliehen, hatte er doch ſelbſt den
Zweikampf gefordert.
Ajax näherte ſich ihm, den ehernen ſiebenhäutigen
Schild vortragend, den der berühmte Künſtler Tychius ihm
einſt gefertigt. Als er ganz nahe vor Hektor ſtand, ſprach
er drohend: „Hektor, nun erkennſt du, daß es im Danaer¬
volk auch außer dem löwenherzigen Peliden noch Helden
gibt, und zwar ihrer genug. Wohlan denn, beginne den
blutigen Kampf!“ Ihm antwortete Hektor: „Göttergleicher
Sohn des Telamon, verſuche mich nicht wie ein ſchwa¬
ches Kind oder ein unkriegeriſches Weib. Sind mir doch
die Männerſchlachten wohl bekannt, ich weiß den Stier¬
ſchild rechts und links hinzuwenden, weiß den Tanz des
ſchrecklichen Kriegsgotts zu Fuße zu tanzen, und die Roſſe
im Gewühl zu lenken! Wohlan, nicht mit heimlicher Liſt
ſende ich den Speer nach dir, tapferer Held, nein öffent¬
lich, laß ſehen, ob er dich treffe!“ Mit dieſen Worten
entſandte er in hohem Schwung die Lanze, und ſie fuhr
dem Ajax in den Schild, durchdrang ſechs Schichten und
10 *[148] ermattete erſt in der ſiebenten Haut. Jetzt flog die Lanze
des Telamoniers durch die Luft: dieſe durchſchmetterte dem
Hektor den ganzen Schild, durchſchnitt ſeinen Leibrock und
wäre ihm in die Weiche gedrungen, wenn nicht Hektor
ihrem Fluge ausgebogen wäre. Beide zogen die Speere
aus den Waffen und rannten wie unverwüſtliche Wald¬
eber aufs Neue gegen einander an. Hektor zielte, mit
dem Speere ſtoßend, dem Ajax auf die Mitte des Schilds,
aber ſeine Lanzenſpitze bog ſich und durchbrach das Erz
nicht; Ajax hingegen durchbohrte mit dem Speer den
Schild ſeines Gegners und ſtreifte ihm ſelbſt den Hals,
daß ihm ſchwarzes Blut entſpritzte. Nun wich Hektor
zwar ein wenig rückwärts; ſeine nervigte Rechte ergriff
jedoch einen Feldſtein und traf damit die Schildbuckel des
Feindes, daß das Erz erdröhnte. Ajax hub einen noch
viel größeren Stein vom Boden auf und ſandte ihn mit
ſolchem Schwunge dem Hektor zu, daß er den Schild ein¬
wärts brach und den Gegner ins Knie verletzte, ſo daß
derſelbe rücklings hinſank; doch verlor er den Schild nicht
aus den Händen und Apollo, der ihm unſichtbar zur Seite
ſtand, richtete ihn ſchnell vom Boden wieder auf. Beide
wären jetzt mit dem Schwert auf einander losgegangen,
um den Streit endlich zu entſcheiden: da eilten die Herolde
der beiden Völker, Idäus, der Troer, und Talthybius,
der Grieche, herbei, und ſtreckten die Stäbe zwiſchen die
Kämpfenden. „Nicht weiter gekämpft, ihr Kinder,“ rief
Idäus, „ihr ſeyd ja beide tapfer, beide von Jupiter geliebt;
wir Alle haben das geſehen! Jetzt aber kommt die Nacht
herbei, gehorchet der Nacht.“ „Ermahne du deinen eige¬
nen Volksgenoſſen!“ entgegnete dem Herold Ajax, „er iſt
es ja, der den Tapferſten der Griechen zum Kampfe
[149] hervorgerufen hat! Will er es ſo, ſo mag ich dir gehor¬
chen!“ Und nun ſprach Hektor ſelbſt zu ſeinem Gegner:
„Ajax, ein Gott hat dir den gewaltigen Leib, die Kraft
und die Speerkunde verliehen: darum, laß uns heute vom
Entſcheidungskampfe ausruhen; ein andermal wollen wir
ihn erneuern und ſo lange fechten, bis ein Gott einem
von beiden Völkern Sieg und Kriegsruhm verleiht! Nun
laß uns aber auch noch einander rühmliche Gaben ſchen¬
ken, damit es einſt bei Trojanern und Griechen heiße:
ſehet, ſie kämpften mit einander den Kampf der Zwietracht,
aber in Freundſchaft ſind ſie von einander geſchieden!“
So ſprach Hektor und reichte dem Gegner ſein Schwert
mit dem ſilbernen Griff, ſammt Scheide und zierlichem
Wehrgehenk. Ajax aber löſte ſeinen purpurnen Gurt vom
Leibe und bot ihn dem Hektor dar. Dann ſchieden beide
von einander. Ajax zog ſich in die Schaar der Griechen
zurück, Hektor ins Gewühl der Trojaner. Dieſe waren
froh, ihren Helden unverletzt aus den Händen des furcht¬
baren Ajax zurückzuerhalten.
Waffenſtillſtand.
Die Fürſten der Danaer verſammelten ſich jetzt in
dem Gezelte ihres Oberfeldherrn Agamemnon, wohin ſie
auch den ſeines Sieges ſich hocherfreuenden Ajax jubelnd
geführt hatten. Hier wurde dem Jupiter ein fünfjähriger
fetter Stier geopfert, und beim Schmauſe der Sieger mit
dem beſten Rückenſtücke geehrt. Als ſie ſich an Speiſe
und Trank geſättiget, eröffnete Neſtor den Rath der Fürſten
[150] mit dem Vorſchlage, am andern Morgen den Krieg ruhen
zu laſſen und nach Abſchluß eines Waffenſtillſtandes die
Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen mit Rindern
und Maulthieren beſpannt abzuholen, und abſeits von den
Schiffen zu verbrennen, damit, wenn ſie wieder zum Va¬
terlande heimzögen, ein Jeder den Kindern ſeiner Ver¬
wandten den Staub der Ihrigen mitbringen könnte. Die
Könige riefen ihm ringsumher Beifall.
Auf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf
ihrer Burg, vor dem Pallaſte des Königes, nicht ohne
Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zwei¬
kampfes zur Verſammlung, und hier ſtand der weiſe An¬
tenor auf und ſprach: „Höret mein Wort, ihr Trojaner
und Bundsgenoſſen. So lange wir treulos gegen den
heiligen Vertrag, den Pandarus gebrochen hat, kämpfen,
kann unſerm Volke keine Wohlfahrt blühen; deswegen
berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rath
nicht, daß wir die Argiverin Helena mit ſammt ihren
Schätzen den Atriden ausliefern ſollten.“ Dagegen erhub
ſich Paris und erwiederte: „Wenn du im Ernſte ſo gere¬
det haſt, Antenor, ſo haben dir wahrhaftig die Götter
deinen Verſtand geraubt; ich aber bekenne gerade heraus,
daß ich das Weib nie wieder hergeben werde. Die
Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen ſie meinet¬
halben wieder haben, und ich will freiwillig von dem
Meinigen noch hinzuthun, was ſie als Buße verlangen
können!“ Nach ſeinem Sohne ſprach der greiſe König
Priamus mit wohlmeinender Geſinnung: „Laßt uns heute
nichts Weiteres mehr beginnen, ihr Freunde! vertheilet
den Nachtimbiß unter das Heer, ſtellet die Wachen aus
und überlaſſet euch, behutſam wie immer, dem Schlafe.
[151] Am andern Morgen aber ſoll Idäus, unſer Herold, zu
den Schiffen der Griechen gehen, und denſelben das fried¬
ſame Wort meines Sohnes Paris verkündigen, zugleich
ſie erforſchen, ob ſie geneigt ſeyen, uns Waffenruhe zu
gewähren, bis wir unſere Todten verbrannt haben. Kön¬
nen wir uns nicht vereinigen, ſo mag nachher die Feld¬
ſchlacht wieder beginnen.“
So geſchah es. Am andern Morgen erſchien Idäus
als Herold vor den Griechen und meldete das Anerbieten
des Paris und den Vorſchlag des Königes. Als die Hel¬
den der Danaer ſolches hörten, blieben Alle lange ſtumm.
Endlich begann Diomedes: „Laßt euch doch nicht einfallen,
ihr Griechen, die Schätze anzunehmen, auch nicht, wenn
ihr Helena dazu bekämet. Der Einfältigſte wird ja wohl
hieraus erkennen, daß die Trojaner bereits mit dem Unter¬
gang bedroht ſind!“ Dieſem Worte jauchzten die Fürſten
alle Beifall zu und Agamemnon ſprach jetzt zu dem He¬
rolde: „Du haſt ſelbſt den Beſcheid der Griechen, was
den Vorſchlag des Paris betrifft, vernommen; die Ver¬
brennung der Todten aber ſoll euch keineswegs verweigert
ſeyn; der Donnerer ſelbſt ſoll dieſe unſere Zuſage hören!“
Mit dieſen Worten hub er den Scepter gen Himmel.
Idäus kehrte nach Troja zurück und traf den Rath der
Trojaner wieder verſammelt. Auf die willkommene Bot¬
ſchaft wurde es ſchnell in der Stadt lebendig; die Einen
holten die Leichname, die Andern Holz aus der Waldung.
Und ganz daſſelbe geſchah im Schiffslager der Griechen.
Friedlich begegneten im Strahl der Morgenſonne Feinde
den Feinden, und ſuchten ihre Todten, Einer an der Seite
des Andern. Schwer war der Gegner vom Freunde zu
erkennen, wie die Leichname blutig und der Rüſtungen
[152] beraubt dalagen. Unter heißen Thränen wuſchen die Tro¬
janer den Ihrigen, deren viel mehrere waren, das Blut
von den Gliedern; aber alle laute Wehklage verbot Pria¬
mus. So huben ſie ſie verſtummt auf die Wagen und
thürmten unter großer Herzensbetrübniß die Scheiterhaufen
auf. Daſſelbe thaten die Griechen, gleichfalls mit trauri¬
gem Herzen, und als die Glut ausgelodert, kehrten ſie zu
ihren Schiffen zurück. Der Tag war über dieſer Arbeit
zu Ende gegangen und das Abendmahl begann. Gerade
zur rechten Zeit waren aus Lemnos von Eunëus, dem
Sohne Jaſons und Hypſipyle's, Laſtſchiffe mit einer La¬
dung edlen Weines angekommen, den der Gaſtfreund den
verwandten Griechen zum Geſchenke ſandte, viel tauſend
Krüge. Da ward ein lieblicher Feſtſchmaus gerüſtet, und
als die Griechen ihre Beute bei den Schiffen untergebracht,
ſetzten ſie ſich zum Mahle.
Auch die Trojaner wollten ſich beim Schmauſe von
der Schlacht erholen. Aber Jupiter ließ ihnen keine Ruhe
und ſchreckte ſie die ganze Nacht hindurch mit Donner¬
ſchlägen, die ſich von Zeit zu Zeit wiederholten und ihnen
neues Unglück zu verkündigen ſchienen. Entſetzen faßte
ſie, und ſie wagten den Becher nicht an den Mund zu
führen, ohne dem zürnenden Göttervater ein Trankopfer
auszugießen.
[153]
Sieg der Trojaner.
Für den Augenblick jedoch hatte es Jupiter anders in
ſeinem Rathe beſchloſſen. „Höret mein Wort,“ ſprach er
zu den verſammelten Göttern und Göttinnen am andern
Morgen, „wer mir heute hingeht, den Trojanern oder den
Griechen beizuſtehen, den faſſe ich und ſchleudere ihn in
den Abgrund des Tartarus unter das Erdreich, ſo tief
hinunter, als tief unter dem Himmel die Erde drunten
liegt; dann verſchließe ich die eiſerne Pforte, welche die
eherne Schwelle der Unterwelt verwahrt, und der Miſſe¬
thäter kommt mir nicht mehr herauf. Und zweifelt ihr an
meiner Allmacht, ſo verſucht es: befeſtiget eine goldene
Kette am Himmel, hängt euch Alle daran, und ſehet zu,
ob ihr mich auf den Erdboden herabzuziehen vermögend
ſeyd. Vielmehr würde ich euch ſelbſt mit ſammt Erd' und
Meer emporziehen, die Kette an der Felſenkuppe des
Olymp feſtbinden und ſo das Weltall in der Schwebe
tragen.“ Die Götter demüthigten ſich unter dieſes zor¬
nige Wort; Jupiter ſelbſt beſtieg ſeinen Donnerwagen
und fuhr nach dem Ida, wo er einen Hain und Altar
hatte. Dort ſetzte er ſich auf die Höhe und überſchaute
mit freudigem Trotze die Stadt der Trojaner und das
griechiſche Schiffslager. An beiden Orten warfen ſich die
Männer in die Rüſtung. Der Trojaner waren zwar
Wenigere, doch waren auch ſie nach der Schlacht begierig,
galt es doch den Kampf für ihre Weiber und Kinder.
Bald öffneten ſich bei ihnen die Thore, und ihr Kriegsheer
ſtürzte, zu Fuß und zu Wagen, unter Getümmel heraus.
[154] Den Morgen über wurde mit gleichem Glücke gekämpft,
und auf beiden Seiten ſtrömte viel Blut auf den Boden.
Als aber die Sonne hoch am Mittagshimmel ſtand, legte
Zeus zwei Todeslooſe in ſeine goldne Waage, faßte ſie
in der Mitte und wog in der Luft. Da ſank das Ver¬
hängniß der Griechen, daß ihr Gewicht ſich bis zur Erde
niederſenkte und das der Trojaner zum Himmel emporſtieg.
Mit einem Donnerſchlage kündigte er die verwandelte
Schickung dem Heere der Griechen an, indem ein Blitz¬
ſtrahl mitten unter daſſelbe herabfuhr. Bei dieſem An¬
blicke durchſchauderte ein ahnungsvoller Schrecken die
Reihen der Griechen und die größten Helden fingen an
zu wanken. Idomeneus, Agamemnon, die beiden Ajax
ſelbſt hielten nicht mehr Stand. Bald war nur noch der
greiſe Neſtor im Vorderkampf zu ſchauen, aber auch dieſer
nur gezwungen, denn Paris hatte ſein Roß vorn am
Mähnenbuſch mit einem Pfeile tödtlich getroffen. Das
Pferd bäumte ſich angſtvoll und wälzte ſich bald mit ſeiner
Wunde; während nun Neſtor dem Nebenroß die Stränge
mit ſeinem Schwert abzuhauen bemüht war, kam Hektor
mit ſeinem Wagen, in der Verfolgung der Griechen be¬
griffen, auf ihn zugefahren, und jetzt wäre es um das
Leben des edlen Greiſes geſchehen geweſen, wenn nicht
Diomedes herbeigeeilt wäre. Dieſer ſchalt den mit umge¬
wandtem Rücken den Schiffen zufliehenden Odyſſeus und
ermunterte ihn vergebens zur Abwehr; dann ſtellte er ſich
ſelbſt vor die Roſſe Neſtors, überantwortete ſie dem Sthe¬
nelus und Eurymedon und nahm den Greis auf ſeinen
eigenen Wagen. Dann ging er mit ihm gerade dem
Hektor entgegen, ſchickte ſeinen Speer ab und verfehlte
zwar den Helden ſelbſt, durchſchoß jedoch ſeinem Wagenlenker
[155] Eniopeus die Bruſt, daß er dem Wagen entſank. So
tief ihn der Tod des Freundes ſchmerzte, ließ ihn Hektor
doch liegen, rief einen andern Helden herbei, die Roſſe
zu lenken, und flog dem Diomedes entgegen. Hektor
wäre verloren geweſen, wenn er ſich mit dem Tydiden
gemeſſen hätte, und Jupiter wußte wohl, daß mit ſeinem
Sturze ſich die Schlacht gewendet und die Griechen noch
an dieſem Tage Ilion erobert hätten. Dieß wollte Zeus
nicht, und ſchleuderte dicht vor dem Wagen des Dio¬
medes einen Blitzſtrahl in den Boden. Neſtor ließ vor
Schrecken die Zügel aus den Händen fahren und ſprach:
„Auf, Diomedes, wende deine Roſſe zur Flucht, erkennſt
du nicht, daß Jupiter dir heute den Sieg verweigert?“
„Du haſt Recht, o Greis,“ erwiederte dieſer, „aber es
empört mir das Herz, wenn Hektor einſt in der Verſamm¬
lung der Trojaner ſagen darf: der Sohn des Tydeus hat
ſich vor mir in banger Flucht den Schiffen zugewendet!“
Aber Neſtor ſprach: „Was denkſt du, wenn dich Hektor
auch feige ſchilt, werden ihm die Troer und Troerinnen
glauben, deren Freunde und Gatten du in den Staub
geſtreckt haſt?“ Mit dieſen Worten wandte er die Roſſe
zur Flucht und Hektor, mit ſeinen Trojanern nachſtürmend,
rief: „Tydide, dich ehrten die Griechen in der Verſamm¬
lung und beim Feſtmahl; künftig verachten ſie dich, wie
ein zagendes Weib! Du biſt es nicht, der Troja erobern
und unſere Frauen zu Schiffe wegführen wird!“ Da
beſann ſich Diomedes dreimal, ob er die Roſſe umlenken
und dem Höhnenden entgegenfahren ſollte, aber dreimal
donnerte Jupiter fürchterlich vom Ida her, und ſo ſetzte
er die Flucht und Hektor die Verfolgung fort.
Vergebens wollte Juno, die dieß mit Kummer ſah,
[156] Poſeidon (Neptunus), den beſondern Schutzgott Troja's,
bewegen, ſeinem Volke beizuſtehen; er wagte es nicht,
gegen das zornige Wort ſeines mächtigen Bruders zu
handeln. Jetzt waren die fliehenden Griechen mit Roß
und Mann am Wall und Graben vor den Schiffen ange¬
kommen, und gewiß wäre Hektor eingedrungen und hätte
die Brandfackel ins Schiffslager der Griechen geworfen,
wenn nicht Agamemnon, von Juno ermuthigt, die verſtör¬
ten Griechen um ſich geſammelt hätte. Er betrat das
gewaltige Meerſchiff des Odyſſeus, das in der Mitte ſtand
und hoch über die andern hervorragte. Hier ſtand er auf
dem Verdeck, den ſchimmernden Purpurmantel mit der
nervigten Rechten ſich über die Schulter ſchlagend, und
rief, auf der einen Seite zu den Gezelten des ſalamini¬
ſchen Ajax, auf der andern zu denen des Peliden hinab,
wo auf beiden Seiten das flüchtende Heer ſich zuſammen¬
drängte: „Schämet euch, Verworfene,“ rief er, „wo iſt
euer Heldenruhm jetzt, ihr Prahler bei den Krügen? Vor
dem einen Hektor ſind wir jetzt zu nichte geworden, bald
wird er unſere Schiffe in Brand ſtecken. O Zeus, mit
welchem Fluche haſt du mich beladen! Wenn ich dich je
mit Gebeten und Opfern geehrt, ſo laß uns jetzt wenig¬
ſtens entfliehen und entkommen, und nicht hier bei den
Schiffen von der Macht der Trojaner erdrückt werden!“
So rief er unter Thränen, daß es den Göttervater ſelbſt
erbarmte, und er den Griechen ein heilvolles Zeichen vom
Himmel ſandte, einen Adler, der ein junges Reh in den
Klauen trug und vor Jupiters Altar ſelbſt niederwarf.
Dieſes Zeichen ſtärkte die Danaer und aufs Neue
flogen ſie vorwärts, dem Gewühl der eindringenden Feinde
entgegen. Vor allen Andern ſprengte Diomedes mit ſeinen
[157] Roſſen über den Graben hervor, und ſtieß den Trojaner
Agelaus, der vor ihm ſeinen Streitwagen zur Flucht
wandte, mit dem Speere durch den Rücken. Nächſt ihm
drangen Agamemnon und Menelaus vor, ihnen zunächſt
die beiden Ajax; dann Idomeneus und Meriones; dann
Eurypylos. Jetzt kam Teucer als der Neunte; dieſer,
hinter dem Schilde ſeines Halbbruders Ajax aufgeſtellt,
ſchoß einen Trojaner um den andern mit ſeinen Pfeilen
in den Staub. Schon hatte er ihrer achte zu Boden ge¬
ſtreckt, als Agamemnon einen freudigen Blick auf ihn
warf und ihm zurief: „Triff ſo fort, edler Freund, und
werde ein Licht der Danaer! Gewähren uns Jupiter und
Athene, Troja zu vertilgen, ſo ſollſt du der Erſte ſeyn,
dem ich ein Ehrengeſchenk verleihe!“ „Du brauchſt mich
nicht lange zu ermahnen, König,“ antwortete ihm Teucer,
„zaudere ich doch ſelbſt nicht mit aller meiner Kraft! Nur
den wüthenden Hund dort zu treffen, iſt mir noch nicht
gelungen!“ Damit ſandte er einen Pfeil gerade auf
Hektor ab; dennoch fehlte das Geſchoß und traf nur einen
Baſtard des Priamus, den Gorgythion, der ſein helm¬
beſchwertes Haupt zur Seite neigte, wie ein Mohnhaupt
unter dem Regenſchauer des Frühlings ſich beugt. Einen
zweiten Pfeil des Teucer lenkte Apollo ab, doch durch¬
ſchoß er die Bruſt ſeines Wagenlenkers Archeptolemus.
Auch dieſen Freund ließ Hektor mit bitterem Schmerze lie¬
gen und rief einen Dritten auf den Wagen. Dann drang
er in heißer Begier auf Teucer los und traf ihn, als er
eben den Bogen wieder ſpannte, mit einem kantigen Stein
am Schlüſſelbeine, daß die Sehne ihm zerriß, die Hand
am Knöchel erſtarrte, und er ins Knie ſank. Aber Ajax
vergaß des Bruders nicht, er umging ihn und deckte ihn
[158] ſo lange mit dem Schild, bis zwei Freunde den ſchwer
Aufſtöhnenden nach den Schiffen getragen hatten.
Nun aber ſtärkte Jupiter den Trojanern den Muth
wieder. Wüthend und mit funkelnden Augen drang Hektor
mit den Erſten voran, und verfolgte die Griechen, wie
ein Hund den gehetzten Eber im Bergwalde verfolgt, in¬
dem er immer jeden Aeußerſten, der ihm in den Wurf
kam, niederſtreckte. Die Griechen wurden wieder zu den
Schiffen zuſammengedrängt und beteten geängſtet zu ihren
Göttern. Das erbarmte Juno, und zu Athene gewendet
ſprach ſie: „Wollen wir das ſterbende Volk der Danaer
immer noch nicht retten? Siehſt du nicht, wie unerträglich
Hektor dort unten wüthet, welches Blutbad er ſchon an¬
gerichtet hat!“ „Ja, mein Vater iſt grauſam,“ antwortete
Minerva, „er hat ganz vergeſſen, wie getreulich ich ſeinem
Sohne Herkules auf allen Abentheuern zur Seite geſtan¬
den bin. Aber die Schmeichlerin Thetis hat ihn mit
ihren Liebkoſungen beſtochen und nun bin ich ihm verhaßt
geworden. Doch, denke ich, nennt er mich einmal wieder
ſein blauäugiges Töchterlein. Hilf mir den Wagen an¬
ſchirren, Here, ich ſelbſt will zum Vater nach dem Ida
hinabeilen!“
Aber Jupiter ergrimmte, als er dieß inne wurde, und
ſeine windſchnelle Botin Iris mußte den Wagen aufhal¬
ten, als er mit den beiden Göttinnen eben durch das vor¬
derſte Thor des Olympus hindurchfuhr. Auf ſeine zornige
Botſchaft lenkten dieſe um, und bald erſchien Zeus auf
dem Donnerwagen ſelbſt wieder, daß die Höhen des
Götterbergs vor ſeinem Nahen erbebten. Aber er blieb
taub gegen die Bitten der Gemahlin und der Tochter.
„Noch größeren Sieg der Trojaner ſollſt du morgen
[159] ſchauen,“ ſprach er zu Juno. „Nicht eher ſoll der gewal¬
tige Hektor vom Streite ruhen, bis die Griechen in ſchreck¬
licher Bedrängniß, um die Steuerruder ihrer Schiffe zu¬
ſammengedrängt, kämpfen, und der zürnende Achilles ſich
wieder in ſeinem Zelt erhebt. So iſt es der Wille des
Verhängniſſes.“ Juno ward traurig und verſtummte.
Bei den Schiffen hatte die Nacht dem Kampf ein
Ziel geſetzt. Hektor berief ſeine Krieger, ſeitwärts von
den Schiffen, bei den Wirbeln des Skamander, zu einer
Rathsverſammlung, und ſprach: „Hätte uns die Nacht
nicht ereilt, ſo wären die Feinde jetzt vertilgt. Aber auch
ſo laſſet uns nicht in die Stadt zurückkehren, ſondern
führet eilig aus derſelben Hornvieh und Schafe herbei, auch
Wein und Brod werde uns reichlich aus den Häuſern
herbeigeſchafft; Wachtfeuer ſollen uns rings vor einem
Ueberfall der Feinde ſchützen, während wir des Mahles
oder der Wunden pflegen. Mit Anbruch des Morgens
erneuern wir den Angriff auf die Schiffe, dann will ich
ſehen, ob Diomedes mich zur Mauer hinwegdrängt, oder
ich ihm ſelbſt die Rüſtung vom Leichnam abziehe!“ Die
Trojaner rauſchten ihm Beifall zu; es geſchah nach ſeinem
Rathe, die ganze Nacht über raſteten ſie, im Schutze von
tauſend Wachtfeuern, je fünfzig und fünfzig, bei Schmaus
und Wein; ihre Roſſe ſtanden beim Geſchirr und labten
ſich an Spelt und Gerſte.
[160]
Botſchaft der Griechen an Achilles.
Im griechiſchen Lager hatte ſich der Schrecken von
der Flucht noch nicht gelegt, als Agamemnon die Fürſten
Mann für Mann, doch nicht laut, zu einer Rathsverſamm¬
lung rufen ließ. Tiefbekümmert ſaßen ſie bald beiſammen
und unter ſchweren Seufzern ſprach der Völkerfürſt:
„Freunde und Pfleger des Volkes, in ſchwere Schuld hat
mich Jupiter verſtrickt. Er, deſſen gnädiger Wink mir
verheißen hatte, daß ich als Sieger nach Vertilgung Tro¬
ja's heimgehen ſollte, hat mich betrogen und befiehlt mir
jetzt, ſo viele tapfere Männer auf der Wahlſtadt zurück¬
laſſend, ruhmlos nach Argos heimzukehren. Vergebens
widerſetzen wir uns dem Willen deſſen, der ſchon ſo vie¬
len Städten das Haupt zerſchmettert hat und noch zer¬
ſchmettern wird. Aber Troja ſollen wir nicht erobern.
So gehorchet mir denn, und laßt uns auf den ſchnellen
Schiffen zum Lande der Väter fliehen!“
Lang blieben die bekümmerten Helden Griechenlands
ſtumm, als ſie das traurige Wort vernommen hatten, bis
endlich Diomedes zu reden begann: „Zwar ſchmähteſt du
jüngſt,“ ſprach er: „meinen Muth und meine Tapferkeit
vor den Griechen, o König! jetzt aber will mir bedünken,
daß dir ſelbſt Jupiter mit dem Scepter der Macht die
Tapferkeit nicht verliehen hat. Glaubſt du denn im Ernſte,
die Männer Griechenlands ſeyen ſo unkriegeriſch, wie du
geredet? Wohl, wenn dich das Herz ſo ſehr nach der
Heimath drängt, ſo wandre! der Weg iſt frei, und dein
Schiff ſteht bereit! Wir andern Achiver wollen bleiben,
[161] bis wir die Burg des Priamus zerſtört haben. Ja, wenn
ſie Alle davon gingen, ſo blieben doch wir, ich und mein
Freund Sthenelus, und kämpften fort, im Glauben, daß
eine Gottheit uns hierher geführt!“ Die Helden jubelten
bei dieſem Worte und Neſtor ſprach: „Du könnteſt mein
jüngſter Sohn ſeyn, o Jüngling, und doch haſt du lauter
Verſtändiges geſprochen. Auf daher, Agamemnon, gib
den Führern ein Mahl, du haſt ja Weins genug in den
Zelten; die Schaarenhüter ſollen ſich am Graben drau¬
ßen vor der Mauer lagern, du aber horche beim Mahl
auf den Rath der Beſten unter dem Volke.“
So geſchah es. Die Fürſten ſchmausten bei Aga¬
memnon getröſteteren Muths, und nach dem Mahle ſprach
Neſtor wieder in der Verſammlung: „Agamemnon, du
weißt, was ſeit dem Tage geſchehen iſt, an welchem du
dem zürnenden Peliden die ſchöne Tochter des Briſes aus
den Zelten raubteſt, wider unſern Sinn: denn ich habe
dich mit großem Ernſt abgemahnt. Jetzt iſt es Zeit,
daraus zu ſinnen, wie wir das Herz des Gekränkten zur
Verſöhnung bewegen mögen.“ „Du haſt Recht, o Greis,“
antwortete Agamemnon, „ich habe gefehlt, und läugne es
nicht. Auch will ich es gerne gut machen, und dem Be¬
leidigten unendliche Sühnung bieten: zehn Talente Gol¬
des, ſieben Dreifüße, zwanzig Becken, zwölf Roſſe, ſieben
blühende lesbiſche Weiber, die ich ſelbſt erobert habe, end¬
lich die liebliche Jungfrau Briſis ſelbſt, die ich, obgleich
ich ſie dem Achilles entriſſen, doch immer in Ehren gehal¬
ten habe, wie ich mit heiligem Eide beſchwören kann.
Erobern wir dann Troja und theilen den Siegsraub, ſo
will ich ihm ſelbſt ſein Schiff mit Erz und Gold voll
füllen, und er mag ſich zwanzig Trojanerinnen, die ſchönſten
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 11[162] nach Helena, zur Beute herausſuchen. Kommen wir nach
Argos heim, ſo ſoll er ſich eine von meinen Töchtern zur
Gattin erwählen; er wird mir ein lieber Eidam ſeyn und
meinen eigenen einzigen Sohn Oreſtes will ich nicht höher
halten. Sieben Städte werde ich ihm zum Brautſchatz
geben. Solches Alles will ich thun, ſobald er von ſeinem
Zorn abläßt.“
„Fürwahr,“ antwortete ihm Neſtor, „du bieteſt dem
Fürſten Achilles keine verächtliche Gaben. Senden wir
denn auf der Stelle auserleſene Männer, Phönix als
Führer, dann den großen Ajax und den edlen Odyſſeus,
und mit ihnen die Herolde Hodius und Eurybates nach
den Zelten des zürnenden Helden.“
Nach einem feierlichen Trankopfer verließen wirklich
die von Neſtor ausgewählten Helden die Verſammlung
und gelangten in Kurzem zu den Schiffen der Myrmido¬
nen. Hier fanden ſie den Achilles, wie er auf der ſchönen
gewölbten Leyer mit ſilbernem Stege, einer Beute aus
Eëtions Stadt, ſein Herz erlabend ſpielte, und Sieges¬
thaten der Helden dazu ſang. Ihm gegenüber ſaß ſein
Freund Patroklus und harrte ſchweigend, bis Jener den
Geſang beendigt hätte. Als der Pelide die Abgeſandten,
Odyſſeus an der Spitze, kommen ſah, erhub er ſich beſtürzt
von ſeinem Sitze, die Leyer in der Hand behaltend. Auch
Patroklus ſtand auf, ſobald er ihrer anſichtig wurde;
beide gingen ihnen entgegen, und Achilles faßte den Phö¬
nix und den Odyſſeus bei den Händen und rief: „Freude
ſey mit euch, ihr Theuren! Zwar führt euch gewiß irgend
eine Noth zu mir her, doch ich liebe euch ſo ſehr vor
allen Griechen, daß ihr auch dem Zürnenden willkommen
ſeyd.“ Schnell brachte jetzt Patroklus einen großen Krug
[163] Weines herbei. Achilles ſelbſt ſteckte den Rücken einer
Ziege und eines Schafes und das Schulterblatt eines
Maſtſchweins an den Spieß und briet Alles mit Hülfe
ſeines Gefährten Automedon. Nachdem ſie ſich nun, um
das Mahl gelagert, an Speiſe und Trank gelabt hatten,
winkte Ajax dem Phönix; Odyſſeus aber kam dieſem zu¬
vor, füllte den Becher mit Wein und trank dem Peliden
mit einem Handſchlage zu; dann begann er: „Heil dir,
Pelide, deinem Schmaus gebricht es nicht an Fülle; aber
nicht das liebliche Mahl iſt's, wornach uns verlangt; ſon¬
dern unſer großes Unglück führt uns zu dir. Denn jetzt
gilt es unſere Rettung oder unſern Untergang, je nachdem
du mit uns geheſt, oder nicht. Die Trojaner bedrohen
den Steinwall und unſere Schiffe; Hektor, die Augen
voll Mordluſt, wüthet, auf Jupiter vertrauend. Erhebe
dich denn, die Griechen, wenn auch ſpät, zu befreien; bän¬
dige den Stolz deines Herzens, glaube mir, freundlicher
Sinn iſt beſſer, als verderblicher Zank. Hat dir doch dein
Vater Peleus ſelbſt ſolche Ermahnungen mit auf den Zug
gegeben!“ Dann zählte ihm Odyſſeus alle die herrlichen
Gaben auf, die Agamemnon ihm zur Sühne anbieten
ließ und noch weiter verſprach.
Aber Achilles erwiederte: „Edler Sohn des Laertes,
ich muß deine ſchöne Rede von der Bruſt weg mit Nein
beantworten. Agamemnon iſt mir verhaßt, wie die Pforte
des Hades, und weder er noch die Griechen werden mich
bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen, denn wann
habe ich einen Dank für meine Heldenarbeit davongetra¬
gen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den ge¬
fundenen Biſſen darbringt, auch wenn ſie ſelbſt hungert,
ſo habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug
11 *[164] zugebracht, um jenen Undankbaren ein Weib zu erobern,
und was ich erbeutet hatte, brachte ich dem Atriden zur
Gabe dar; er aber nahm die Schätze, behielt das Meiſte,
und vertheilte davon nur Weniges; mir ſelbſt hat er auch die
lieblichſte Beute entriſſen. Darum will ich morgen ſchon
Jupiter und den Göttern opfern; noch im Morgenrothe
ſollen meine Schiffe im Hellespont ſchwimmen und in
dreien Tagen hoffe ich in Phthia zu Hauſe zu ſeyn. Ein¬
mal hat er mich betrogen, zum zweitenmale wird er mich
nicht täuſchen, er begnüge ſich! Gehet und meldet den
Fürſten dieſe Botſchaft, Phönix aber bleibe, wenn es ihm
gefällt, und ſchiffe heim mit mir ins Land der Väter!“
Vergebens ſuchte Phönix, ſein alter Freund und Füh¬
rer, den jungen Helden auf andere Gedanken zu bringen.
Er winkte dem Patroklus, dem alten Helden ein warmes
Bette zurecht zu machen: da ſtand Ajax auf und ſprach:
„Odyſſeus, laß uns gehen, in der Bruſt des Grauſamen
wohnt keine Milde; den Unbarmherzigen bewegt nicht die
Freundſchaft der Genoſſen, er trägt ein unverſöhnliches
Herz im Buſen!“ Auch Odyſſeus erhob ſich nun vom
Mahle, und nachdem ſie den Göttern das Trankopfer
dargebracht, verließen ſie mit den Herolden das Zelt des
Achilles, bei dem nur Phönix zurückblieb.
Dolon und Rheſus.
Als Odyſſeus die unwillkommene Botſchaft aus dem
Zelte des Peliden mitbrachte, verſtummten Agamemnon
und die Fürſten. Kein Schlaf legte ſich die ganze Nacht
[165] über auf die Augenlieder der Atriden; in banger Angſt
erhoben ſich beide noch vor Tagesanbruch und theilten ſich
in ihr Geſchäft. Menelaus ging, die Helden Mann für
Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber
wandelte nach der Lagerhütte Neſtors. Er fand den Greis
noch im weichen Bette ruhend; Rüſtung, Schild, Helm,
Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers.
Der Greis, aus dem Schlaf erweckt, ſtützte ſich auf den
Ellbogen, und rief dem Atriden zu: „Wer biſt du, der
in finſterer Nacht, wo andere Sterbliche ſchlummern, ſo
einſam durch die Schiffe wandelt, als ſuchteſt du einen
Freund, oder ein verlaufenes Maulthier? So rede doch,
du Schweigender, was ſuchſt du?“ „Erkenne mich, Ne¬
ſtor,“ ſprach Jener leiſe, „ich bin Agamemnon, den Jupi¬
ter in ſo unergründliches Leid verſenkt hat; kein Schlaf
kommt in meine Augen, mein Herz klopft; meine Glieder
zittern aus Angſt um die Danaer. Laß uns zu den Hü¬
tern hinabgehen, ob ſie nicht ſchlummern. Weiß doch Kei¬
ner von uns, ob die Feinde nicht noch in der Nacht einen
Angriff machen werden!“ Neſtor zog eilig ſeinen wollenen
Leibrock an, warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze
und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgaſſen.
Zuerſt weckten ſie Odyſſeus, der auf ihren Ruf ſogleich
den Schild um die Schultern warf und ihnen folgte; dann
nahte ſich Neſtor dem Zelt und der Lagerſtatt des Tydi¬
den, berührte ihm den Fuß mit der Ferſe, und weckte ihn
ſcheltend. „Unmüßiger Greis,“ antwortete der Held im
hellen Schlafe, „du kannſt doch nimmer von der Arbeit
ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei
Nacht durchwandern und die Helden aus dem Schlafe we¬
cken könnten? Aber du biſt unbändig, Alter!“ „Du haſt
[166] wohlziemend geredet,“ erwiederte ihm Neſtor, „habe ich
doch ſelbſt Völker genug, dazu treffliche Söhne, die dieß
Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängniß der Achiver
iſt viel zu groß, als daß ich nicht ſelbſt thun ſollte, was
das Herz mir gebietet. Auf der Schwertſpitze ſteht bei
ihnen Untergang und Leben, deswegen erhebe dich und
hilf du ſelbſt uns den Ajax und Meges, den Sohn Phy¬
leus, wecken!“ Diomedes warf ſogleich ſein Löwenfell
um die Schultern und holte die verlangten Helden. Nun
muſterten ſie zuſammen die Schaar der Hüter, aber keinen
fanden ſie ſchlafend, alle ſaßen munter und wach in ihren
Rüſtungen da.
Allmählig waren jetzt alle Fürſten vom Schlaf aufge¬
weckt worden, und bald ſaß die Rathsverſammlung voll¬
ſtändig beiſammen. Neſtor aber begann das Geſpräch:
„Wie wär' es, ihr Freunde,“ ſagte er, „wenn jetzt ein
Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern,
ob er nicht etwa einen der Aeußerſten erhaſchen könnte,
oder ihren Rath erlauſchen, und erfahren, ob ſie hier auf
dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken, oder mit dem
Siege ſich in ihre Stadt zurückzuziehen? Edle Gaben
ſollten den kühnen Mann belohnen, der ſolches wagte!“
Als Neſtor ausgeredet, ſtand Diomedes auf und erbot ſich
zu dem Wagniſſe, falls ein Begleiter ſich zu ihm geſellen
wollte. Da fanden ſich Viele bereit: die Ajax beide,
Meriones, Antilochus, Menelaus und Odyſſeus; und
Diomedes ſprach: „Wenn ihr mir anheim ſtellet, den
Genoſſen ſelbſt zu wählen, wie ſollte ich des Odyſſeus
vergeſſen, der in jeder Gefahr ein ſo entſchloſſenes Herz
zeigt, und den Pallas Athene liebt. Wenn er mich be¬
gleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen
[167] zurückkehren; denn er weiß Rath wie Keiner!“ — „Schilt
und rühme mich nicht zu ſehr,“ antwortete Odyſſeus, „du
redeſt beides vor kundigen Männern! Aber gehen wir,
denn die Sterne ſind ſchon weit vorgerückt, und wir ha¬
ben nur noch ein Drittheil von der Nacht übrig.“
Darauf hüllten ſich beide in furchtbare Rüſtung und
machten ſich unkenntlich, Diomedes ließ Schwert und
Schild bei den Schiffen, und entlehnte das zweiſchneidige
Schwert des Helden Thraſymedes, ſo wie deſſen Sturm¬
haube und Stierhaut, ohne Federbuſch und Roßſchweif.
Dem Odyſſeus gab Meriones Bogen, Köcher und Schwert
und einen Helm von Leder und Filz mit Schweinshauern.
So verließen ſie das griechiſche Lager und wandelten in
der Nacht dahin. Da hörten ſie einen Reiher von der
rechten Seite ſchreiend vorüberflattern, wurden des
Glückszeichens froh, das ihnen Pallas Athene ſendete,
und flehten zu ihr um Begünſtigung ihres Unternehmens.
So gingen ſie durch Waffen, Blut und Leichen im Dun¬
kel dahin, an Muth zween wilden Löwen gleich.
Während dieſe Auskundſchaftung im griechiſchen Lager
verabredet wurde, hatte in der Verſammlung ſeiner Tro¬
janer Hektor denſelben Vorſchlag gemacht, und aus der
griechiſchen Beute, die er hoffte, einen Wagen und zwei
der edelſten Roſſe dem Manne verſprochen, der es über
ſich nehmen würde, den Zuſtand des griechiſchen Lagers
zu erforſchen. Nun befand ſich unter dem trojaniſchen
Volke der Sohn des Eumedes, eines edlen Herolds, Na¬
mens Dolon, ein an Geld und Erz wohlbegüterter Mann,
von unanſehnlicher Geſtalt, aber ein gar hurtiger Läufer,
neben fünf Schweſtern der einzige Sohn. Dieſen reizte
die Kühnheit ſeines Herzens, daß er gegen das Verſprechen,
[168] den Wagen und die Roſſe des Achilles zu erhalten, es
über ſich nahm, das feindliche Kriegsheer zu durchwan¬
dern, bis er an Agamemnons Feldherrnſchiff käme, um
dort den Fürſtenrath der Danaer zu belauſchen. Er hängte
eilend ſeinen Bogen um die Schulter, hüllte ſich in ein
graues zottiges Wolfsfell, ſetzte einen Otterhelm auf das
Haupt, faßte den Wurfſpieß, und ging mit Begier ſeinen
Weg. Dieſer aber führte ihn ganz nahe an den auf
gleichem Gange begriffenen Griechenhelden vorüber. Odyſ¬
ſeus merkte den Tritt des Herannahenden und flüſterte
ſeinem Geſellen zu: „Diomedes, dort kommt ein Mann
aus dem trojaniſchen Lager herangewandelt; entweder es
iſt ein Kundſchafter, oder er will die Leichname auf dem
Schlachtfelde berauben; laſſen wir ihn ein wenig vorüber¬
gehen, dann wollen wir ihm nachjagen und ihn entweder
erhaſchen, oder nach den Schiffen treiben.“ Nun ſchmieg¬
ten ſich beide, abſeits von dem Wege, unter die Todten,
und Dolon lief ſorglos vorüber. Als er einen Bogen¬
ſchuß entfernt war, hörte er das Geräuſch der Helden
und ſtand ſtille, denn er vermuthete, daß Hektor ihn durch
befreundete Boten zurückrufen laſſe; bald aber waren die
Helden nur noch einen Speerwurf entfernt, und nun
erkannte er ſie als Feinde. Nun regte er ſeine ſchnellen
Kniee und flog dahin, wie ein Hund, der einen Haſen ver¬
folgt. „Steh, oder ich werfe meine Lanze nach dir,“
donnerte Diomedes, und entſandte ſeinen Speer, jedoch
mit Vorſatz fehlend, ſo daß das Erz über die Schulter
des Laufenden hin in den Boden fuhr. Dolon ſtand,
ſtarr und bleich vor Schrecken, ſein Kinn bebte und die
Zähne klapperten ihm. „Fahet mich lebendig,“ rief er
unter Thränen, als die herankeuchenden Helden ihn mit
[169] beiden Händen feſthielten, „ich bin reich und will euch als
Löſegeld Eiſenerz und Gold geben, ſo viel ihr nur wol¬
let!“ „Sey getroſt,“ ſprach Odyſſeus zu ihm, „und mach
dir keine Todesgedanken, aber ſag' uns die Wahrheit,
was dich dieſen Weg führte.“ Als Dolon zitternd und
bebend Alles geſtanden, ſprach Odyſſeus lächelnd: „Für¬
wahr, du haſt keinen ſchlechten Geſchmack, Burſche, daß
deine Seele nach dem Geſpann des Peliden gelüſtet!
Jetzt aber ſage mir auf der Stelle: wo verließeſt du den
Hektor, wo ſtehen ſeine Roſſe, wo iſt das Kriegsgeräthe?
wo ſind die andern Trojaner? wo die Bundesgenoſſen?“
Dolon antwortete: „Hektor beräth ſich mit den Fürſten
am Grabmale des Ilus; das Kriegsheer iſt ohne beſon¬
dere Wachen um Feuer gelagert, die fern herbeigerufenen
Bundesgenoſſen aber, die für keine Weiber und Kinder
zu ſorgen haben, ſchlafen getrennt von dem Heere und
unbewacht. Wenn ihr in das trojaniſche Lager wandeln
wollet, ſo ſtoßet ihr zuerſt auf die eben angekommenen
Thrazier, die um ihren Fürſten Rheſus, den Sohn des
Eoneus, hingeſtreckt ruhen. Seine blendend weißen Roſſe
ſind die ſchönſten, größeſten und ſchnellfüßigſten, die ich je
geſehen habe; ſein Wagen iſt mit Silber und Gold köſtlich
geſchmückt, er ſelbſt trägt eine wundervolle goldne Rü¬
ſtung, wie ein Unſterblicher und nicht wie ein Menſch.
Nun wißt ihr Alles, führet mich nun nach den Schiffen,
oder laßt mich gebunden hier, und überzeuget euch, daß
ich die Wahrheit geſagt habe.“ Aber Diomedes ſchaute
den Gefangenen finſter an und ſprach: Ich merke wohl,
Betrüger, du ſinneſt auf Flucht; aber meine Hand wird
dafür ſorgen, daß du den Argivern nicht mehr verderblich
ſeyn kannſt!“ Zitternd erhob Dolon ſeine Rechte, das
[170] Kinn des Helden flehentlich zu berühren, als ſchon das
Schwert des Tydiden ihm durch den Nacken fuhr, daß
das Haupt des Redenden in den Staub hinrollte. Hier¬
auf nahmen ihm die Helden den Otterhelm vom Scheitel,
zogen dem Rumpfe das Wolfsfell ab, lösten den Bogen,
nahmen den Speer des Getödteten zur Hand, und legten
die ganze Rüſtung zum Merkmale für den Heimweg auf
einige Rohrbüſchel; dann gingen ſie vorwärts und ſtießen
endlich auf die harmlos ſchlafenden Thrazier. Bei Jedem
ſtand ein Doppelgeſpann von ſtampfenden Roſſen, die
Rüſtungen lagen in ſchöner Ordnung und in dreifachen
Reihen blinkend auf dem Boden. In der Mitte ſchlief
Rheſus, und ſeine Roſſe ſtanden am hinterſten Wagen¬
ringe, mit Riemen angebunden. „Hier ſind unſre Leute,“
ſprach Odyſſeus ins Ohr des Tydiden; „jetzt gilt es
Thätigkeit; löſe du die Roſſe ab, oder beſſer, tödte du die
Männer, und laß mir die Roſſe.“ Diomedes antwortete
ihm nicht, ſondern wie ein Löwe unter Ziegen oder Schafe
fährt, hieb er wild um ſich her, daß ſich ein Röcheln un¬
ter ſeinem Schwert erhub und der Boden roth von
Blute ward. Bald hatte er zwölf Thrazier gemordet;
der kluge Odyſſeus aber zog jeden Getödteten, am Fuß
ihn ergreifend, zurück, um den Roſſen eine Bahn zu ma¬
chen. Nun hieb Diomedes auch den Dreizehnten nieder,
und dieß war der König Rheſus, der eben in einem
ſchweren Traume ſtöhnte, den ihm die Götter geſendet
hatten. Inzwiſchen hatte Odyſſeus die Roſſe vom Wagen
abgelöſt, mit Riemen verbunden, und, indem er ſich ſeines
Bogens anſtatt der Geißel bediente, ſie aus dem Haufen
hinweggetrieben. Dann gab er ſeinem Genoſſen ein Zei¬
chen durch leiſes Pfeifen: dieſer beſann ſich, ob er den
[171] köſtlichen Wagen an der Deichſel wegziehen, oder auf den
Schultern hinaustragen ſollte; da nahte ihm warnend
Pallas, die Göttin, und trieb ihn zur Flucht. Eilend
beſtieg Diomedes das eine Roß, Odyſſeus trieb nebenher
laufend beide mit dem Bogen an, und nun flogen ſie dem
Schiffslager wieder zu.
Der Schutzgott der Trojaner, Apollo, hatte bemerkt,
wie ſich Athene zu Diomedes geſellte. Dieß verdroß ihn;
er machte ſich ins Getümmel des trojaniſchen Heeres und
weckte den tapfern Freund des Rheſus, den Thrazier
Hippokon, aus dem Schlaf. Als dieſer die Stelle leer
fand, wo die Roſſe des Fürſten geſtanden, und ermordete
Männer am Boden zappelnd, rief er laut wehklagend
den Namen ſeines Freundes. Die Trojaner ſtürzten im
Aufruhr heran, und ſtarrten vor Schrecken, als ſie die
entſetzliche That ſahen.
Unterdeſſen hatten die beiden Griechenhelden den Ort
wieder erreicht, wo ſie den Dolon getödtet hatten; Dio¬
medes ſprang vom Roſſe, ſchwang ſich aber wieder hinauf,
nachdem er die Rüſtung den Händen des Freundes über¬
reicht, Odyſſeus beſtieg das andere Thier und bald waren
ſie mit den raſch dahinfliegenden Pferden bei den Schiffen
angekommen. Neſtor hörte zuerſt das Stampfen der
Hufe und machte die Fürſten der Griechen aufmerkſam;
aber ehe er ſich recht beſinnen konnte, ob er geirrt oder
Wirkliches vernommen, waren die Helden mit den Roſſen
da, ſchwangen ſich vom Pferde, reichten den Freunden die
Hände rings umher zum Gruße, und erzählten unter dem
Jubel des Heeres den glücklichen Erfolg ihres Unterneh¬
mens. Dann trieb Odyſſeus die Roſſe durch den Graben,
und die andern Achiver folgten ihm jauchzend zur Lagerhütte
[172] des Tydiden. Dort wurden die Pferde zu den andern
Roſſen des Fürſten an die mit Waizen wohl gefüllte
Krippe gebunden. Die blutige Rüſtung Dolons aber legte
Odyſſeus hinten im Schiffe nieder, bis ſie bei einem
Dankfeſt Athene's prangen könnte. Dann ſpülten ſich beide
Helden mit der Meerfluth Schweiß und Blut von den
Gliedern, ſetzten ſich zum warmen Bad in Wannen, ſalb¬
ten ſich mit Oel, und genoſſen dann das Frühmahl beim
vollen Kruge; und Pallas Athene ward mit dem Trank¬
opfer nicht vergeſſen.
Zweite Niederlage der Griechen.
Es war Morgen. Agamemnon befahl nun dem Volke
ſich zu gürten, und legte ſelbſt die Rüſtung an, den herr¬
lichen Harniſch, an dem zehn bläuliche Stahlſtreifen mit
zwölf aus funkelndem Gold und zwanzig aus Zinn wech¬
ſelten; die Halsbrünne bildeten drei Drachen, glänzend
wie Regenbogen, der Panzer war ein Geſchenk des Ciny¬
ras, Fürſten von Cypern; dann warf er ſich das Schwert,
mit goldenen Buckeln am Griff, in ſilberner Scheide, am
ſtrahlenden Goldgehenke befeſtigt, um die Schulter; darauf
hob er den kunſtreich gewölbten Schild, um den zehn Erz¬
kreiſe herliefen, und zwanzig weiße zinnerne Buckeln blink¬
ten; auf dem mittleren dunkelblauen Felde war das grä߬
liche Gorgonenhaupt abgebildet, das Schildgehenk hatte
die Geſtalt eines bläulichen Drachens mit drei gekrümm¬
ten Häuptern. Dann ſetzte er ſich den viergipflichten, von
Roßhaaren umwallten Helm, mit fürchterlich nickendem
[173] Helmbuſch, aufs Haupt, ergriff zwei mächtige Lanzen mit
ſtrahlenden Erzſpitzen, und ſchritt in die Schlacht. Juno
und Minerva begrüßten vom Himmel herab den herr¬
lich gerüſteten König der Völker mit einem freudigen
Donner. Zuerſt drangen die Fußgänger mit den ehernen
Waffenrüſtungen über den Graben, ihnen folgten die Rei¬
ſigen auf den Streitwagen, und mit lautem Getümmel
eilte das ganze Heer vorwärts.
Auf der andern Seite hielten die Trojaner einen
Hügel des Feldes mit ihren Schaaren beſetzt; ihre Führer
waren Hektor, Polydamas und Aeneas; nächſt ihnen
Polybius, Agenor und Akamas, die drei tapfern Söhne
Antenors. Wie ein Stern durch Nachtgewölk, wandelte
Hektor bald durch den vorderſten, bald durch den äußer¬
ſten Zug, und ordnete die Schlachtreihen; in ſeiner Erz¬
rüſtung leuchtete er wie ein Blitzſtrahl des Donnerers.
Bald ſtürmten nun Trojaner und Danaer mordend gegen¬
einander, wie Schnitter mähend in die Schwaden fahren,
Alles drängte ſich Haupt an Haupt zur Schlacht; in bei¬
den Heeren tobten die Streiter wie Wölfe. Endlich durch¬
brachen die Griechen mit ihrer Kraft die Schlachtreihen
der Feinde, und Agamemnon ſtieß, voranſtürmend, den
Fürſten Vianor und ſeinen Wagenlenker nieder. Dann
warf er ſich auf zwei Söhne des Königes Priamus, den
Antiphus und ſeinen Wagenlenker, den Baſtard Iſus;
jenem durchſchoß er die Bruſt mit der Lanze, dieſen
ſtürzte er mit einem Schwerthiebe vom Wagen, und den
Getödteten entzog er eilig die Rüſtung. Jetzt begegnete
er zwei Söhnen des Antimachus, des Trojanerfürſten,
der einſt, von Paris Golde bethört, die Helena auszu¬
liefern verboten hatte. Vergebens flehten ihn die Knaben,
[174] in den Wagen hineingeſchmiegt, um Schonung an. Ihres
Vaters gedenkend, durchbohrte er den einen und hieb dem
andern die Hände vom Leib und das Haupt von der
Schulter. Immer tiefer drang die Verfolgung der Grie¬
chen ein, auf Fußvolk und auf Wagen, wie ein Feuer¬
brand unter Sturm durch unausgehauene Waldung ſich
verbreitet.
Aus den Blutſtrömen und dem Getümmel entzog den
Fürſten Hektor Jupiter ſelbſt den Geſchoſſen, daß er zum
Denkmale des alten Königes Ilus, an dem Feigenhügel
vorüber, mitten durch das Gefilde, ſehnſüchtig nach der
Stadt hin floh; aber Agamemnon, ſeine Hände mit Tro¬
janerblute beſudelt, folgte ihm laut ſchreiend. Endlich an
der Buche Jupiters, nicht fern vom ſkäiſchen Thore, ſtand
Hektor, und mit ihm die ganze Flucht der Seinigen, ihm
nachgedrungen, ſtille. Da ſandte Jupiter die Götterbotin
Iris zu ihm, und befahl ihm, ſo lange Agamemnon im
Vordergewühl tobte, ſelbſt zurückzuſtehen und dem andern
Volke die Feldſchlacht zu überlaſſen, bis der Atride ver¬
wundet würde. Dann wollte der Göttervater ihn ſelbſt
wieder zum Siege führen. Hektor gehorchte. Von der
Hinterhut aus mahnte er die Seinigen zu neuem Kampfe.
Aufs neue begann das Gefecht; Agamemnon ſtürmte
voraus und fing wieder an, in den Schaaren der
Trojaner und ihrer Bundesgenoſſen zu wüthen. Ihm
begegnete zuerſt Antenors Sohn, Iphidamas, ein großer
gewaltiger Held, der in Thrazien bei ſeinem Ahn aufge¬
wachſen war, und neuvermählt zum Kampfe in die alte
Heimath gezogen kam. Agamemnons Lanze fehlte; der
Speer des Iphidamas verbog ſich die Spitze am Leibgurt
ſeines Feindes. Schleunig ergriff jetzt Agamemnon die
[175] Lanze des Gegners, riß ſie ihm aus der Hand und durch¬
hieb ihm den Nacken mit dem Schwert. So ſank der
Arme, von der Gattin getrennt, im Kampfe für die Sei¬
nigen, bemitleidenswerth, in den ehernen Todesſchlummer.
Agamemnon entwaffnete ihn, und prahlte mit der herr¬
lichen Rüſtung durch die Reihen der Achiver. Als ihn ſo
der ältere Sohn des Antenor, Koon, einer der geprie¬
ſenſten trojaniſchen Kämpfer, einherſchreiten ſah, faßte
ihn unausſprechlicher Gram um den gefallenen Bruder;
doch raubte ihm der Schmerz die Beſinnung nicht, ſon¬
dern, unbemerkt vom Atriden, ſtach er dieſem ſeitwärts
mit ſeinem Speere mitten in den Arm, dicht unter der
Beugung. Agamemnon fühlte ſich von einem plötzlichen
Schauer durchdrungen; dennoch gönnte er ſich keine Raſt
vom Kampfe, und während Koon ſeinen Bruder am Fuß
aus dem Gewühl zu ziehen beſtrebt war, durchſtach ihn
der Schaft des Atriden unter dem Schilde, ſo daß er
entſeelt auf den Leichnam des Bruders hinſank.
So lange das Blut noch warm aus der offenen
Wunde hervordrang, fuhr Agamemnon fort, mit Lanze,
Schwert und Steinen in den Reihen der Trojaner zu
morden; als aber das Blut in der Wunde zu erharſchen
anfing, da mahnte ihn ein ſcharfer zuckender Schmerz,
das Gewühl der Schlacht zu verlaſſen. Schnell ſprang
er in den Sitz des Streitwagens, dem Roſſelenker gebie¬
tend nach den Schiffen umzukehren, und bald trug der
Wagen, mit Staub umwölkt, den von der Wunde hart
gequälten König dem Schiffslager zu.
Als Hektor ſah, wie der Atride ſich entfernte, gedachte
er an den Befehl Jupiters, eilte in die Vorderſchaar der
Trojaner und Lycier, und rief laut aus: „Jetzt, ihr
[176] Freunde, ſeyd Männer und ſinnet auf Abwehr! Der
tapferſte Mann Griechenlands iſt ferne, und Jupiter ver¬
leiht mir Siegsruhm. Auf, mitten unter die Helden der
Danaer hinein mit den Roſſen, damit wir um ſo höheren
Ruhm gewinnen!“ So rief Hektor, und ſtürzte ſich wie
ein Sturmwind zuerſt in die Schlacht. Und in kurzer
Zeit waren neun Fürſten der Griechen, dazu viel gemei¬
nes Volk, unter ſeinen Händen erlegen. Schon war er
nahe daran, das fliehende Heer der Griechen in die Schiffe
zu drängen; da ermahnte Odyſſeus den Tydiden: „Iſt
es möglich, daß wir der Abwehr ſo ganz vergeſſen?
Tritt doch näher, Freund, und ſtelle dich neben mich, laß
uns die Schande nicht erleben, daß Hektor unſer Schiffs¬
lager erobere!“ Diomedes nickte ihm zu und durch¬
ſchmetterte die Bruſt des Trojaners Thymbräus mit dem
Wurfſpieß auf der linken Seite, daß er vom Wagen auf
die Erde herabfiel; unter Odyſſeus ſank Molion zu Boden,
der Wagengenoſſe deſſelben. Weiter noch durchtobten die
vorwärts Gewendeten den Feind, und die Griechen fingen
an, wieder aufzuathmen. Jupiter, der noch immer vom
Ida herabſchaute, ließ die Schlacht im Gleichgewichte
ſchweben. Endlich erkannte Hektor durch die Schlachtreihen
hindurch die zwei raſenden Helden, und ſtürmte mit ſeinen
Heerſchaaren auf ſie daher. Noch zur rechten Zeit ſah
ſich Diomedes vor und ſchleuderte ihm die Lanze an die
Helmkuppel. Zwar prallte ſie ab, doch flog Hektor zurück
in die Schaaren aufs Knie, ſeine Rechte ſtemmte ſich
gegen die Erde und vor ſeinen Blicken ward es Nacht.
Bis jedoch der Tydide dem Schwung ſeines Speeres ſelbſt
nachgeeilt kam, hatte ſich der Trojaner in den Wagenſitz
geſchwungen und rettete ſich vor dem Tod ins Gedränge
[177] der Seinigen. Unmuthig wandte ſich Diomedes einem
andern Trojaner zu, den er niederſtreckte und der Rü¬
ſtung zu berauben ſich anſchickte.
Dieſen Augenblick erſah Paris, ſchmiegte ſich hin¬
ter die Denkſäule des Ilus, und ſchoß den knieenden
Helden in die Ferſe, daß der Pfeil, durch die Sohle ge¬
drungen, im Fleiſche feſtſaß. Dann ſprang er lachend
aus dem Hinterhalte, und ſpottete jauchzend des Ge¬
troffenen. Diomedes ſchaute ſich um, und als er den
Schützen erblickte, rief er ihm zu: „Biſt du es, Weiber¬
held? du vermöchteſt mit offener Gewalt nichts gegen
mich, und prahleſt jetzt, daß du mir den Fuß von hinten
geritzt haſt? das macht mir ſo wenig, als hätte mich ein
Mädchen oder ein Knabe getroffen!“ Inzwiſchen war
Odyſſeus herbeigeeilt und ſtellte ſich vor den Verwundeten,
der ſich mit Schmerzen, doch in Sicherheit, den Pfeil aus
dem Fuße zog. Dann ſchwang er ſich in den Wagenſitz
zu ſeinem Freunde Sthenelus, und ließ ſich heimgeleiten
zu ſeinen Schiffen.
Nun blieb Odyſſeus allein zurück im tiefſten Gedränge
der Feinde, und kein Argiver wagte ſich in die Nähe. Der
Held beſprach ſich mit ſeinem Herzen, ob er weichen ſollte
oder ausharren. Doch ſah er wohl ein, daß es demjeni¬
gen, der in der Feldſchlacht edel erſcheinen will, durchaus
Noth thut, Stand zu halten, mag er nun treffen oder
getroffen werden. Während er dieß erwog, umſchloſſen
ihn die Trojaner mit ihren Schlachtreihen, wie Jäger
und Jagdhunde einen ſtürzenden Eber umringen, der den
Zahn im zurückgebogenen Rüſſel wetzt. Er aber empfing
entſchloſſen die auf ihn Einſtürmenden, und es dauerte
wenig Augenblicke, ſo waren fünf Trojaner vor ſeinen
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 12[178] Waffen in den Staub geſunken. Da kam ein Sechſter
heran, Sokus, dem er eben den Bruder erſtochen, und
rief: „Odyſſeus, heute trägſt du entweder den Ruhm
davon, daß du beide Söhne des Hippaſus, herrliche Män¬
ner, zu Boden geſtreckt und ihre Waffen erbeutet haſt,
oder aber du verhauchſt unter meiner Lanze das Leben!“
Und nun durchſchmetterte er ihm den Schild und riß ihm
die Haut von den Rippen; tiefer ließ Athene den Stoß
nicht eindringen. Odyſſeus, der ſich nicht zum Tode ge¬
troffen fühlte, wich nur ein Weniges zurück, ſtürzte dann
auf den Gegner los, der ſich zur Flucht wendete, und
durchbohrte ihm den Rücken zwiſchen den Schultern, daß
der Speer aus dem Buſen vordrang und er in dumpfem
Falle hinkrachte. Dann erſt zog ſich Odyſſeus die Lanze
des Feindes aus der Wunde. Als nun die Trojaner ſein
Blut ſpringen ſahen, drängten ſich erſt recht Alle auf ihn
zu, daß er zurückwich und dreimal einen lauten Hülferuf
ausſtieß.
Menelaus vernahm das Geſchrei zuerſt, und rief ſei¬
nem Nebenmanne Ajax zu: „Laß uns durchdringen durch
das Getümmel, ich habe den Schrei des Odyſſeus gehört!“
Beide hatten in Kurzem den duldenden Kämpfer erreicht
und trafen ihn, gegen unzählige Feinde ſeine Lanze ſchwin¬
gend. Als aber der Schild des Ajax wie eine gethürmte
Mauer dem Streitenden vorgehalten ward, erzitterten die
Trojaner. Da benutzte Menelaus den Augenblick, ergriff
den Sohn des Laertes bei der Hand, und half ihm auf
ſeinen eigenen Streitwagen. Ajax aber ſprang jetzt auf
die Trojaner hinein und wälzte Leichen vor ſich her, wie
ein Bergſtrom im Herbſte dorrende Kiefern und Eichen.
Davon hatte Hektor keine Ahnung; er kämpfte auf der
[179] linken Seite des Treffens, am Geſtade des Skamander,
und richtete dort in den Reihen der Jünglinge, die den
Helden Idomeneus umgaben, breite Verwüſtung an. Den¬
noch wären die Helden nicht vor ihm gewichen, hätte nicht
ein dreikantiger Pfeil des Paris dem großen Arzt des
Danaerheeres, Machaon, die rechte Schulter verwundet.
Da rief erſchrocken Idomeneus: „Neſtor! Hurtig dem
Freund auf den Wagen geholfen! Ein Mann, der Pfeile
ausſchneidet und lindernden Balſam auflegt, iſt hundert
andere Helden werth!“ Schnell ſchwang ſich Neſtor auf
ſeinen Wagen, der verwundete Machaon mit ihm,
und beide flogen den Schiffen zu.
Aber der Wagenlenker Hektors machte jetzt dieſen auf
die Verwirrung aufmerkſam, in welcher ſich der andere
Flügel der Trojaner befand, wo Ajax das Gewühl der
Feinde durchtobte. In einem Augenblicke waren ſie mit
ihrem Wagen dort, und Hektor fing an unter den Rei¬
hen der Griechen zu raſen. Nur den Ajax vermied er,
denn Jupiter hatte ihn gewarnt, ſich mit dem ſtärkeren
Manne nicht meſſen zu wollen. Zugleich aber ſandte der
Göttervater in die Seele des Ajax Furcht, daß dieſer beim
Anblicke Hektors den Schild auf die Schulter warf, und,
angſtvoll um die Schiffe der Danaer beſorgt, die Reihen
der Trojaner, ſich zur Flucht kehrend, verließ. Als die
Feinde dieß gewahr wurden, ſchleuderten ſie ihm die Lan¬
zen auf den vom Rücken herabhängenden Schild. Doch
Ajax durfte ſein Angeſicht nur umwenden, ſo flohen ſie
wieder. Wo der Weg zu den Schiffen ging, ſtellte er
ſich jetzt auf, hielt den Schild vor, und wehrte die vor¬
dringenden Trojaner ab, daß ihre Speere theils in ſeinem
ſiebenhäutigen Stierſchilde hafteten, theils ohne den Leib
12 *[180] zu berühren in die Erde fuhren. Als der tapfere Held
Eurypylus ihn ſo von Geſchoſſen bedrängt ſah, eilte er
dem Telamonier zu Hülfe, und durchbohrte dem Trojaner
Apiſaon die Bruſt. Doch während Eurypylus dem getöd¬
teten Feinde die Rüſtung abzog, ſandte ihm Paris einen
Pfeil in den Schenkel, daß er ſich ſchnell in das Gedräng
der Freunde zurückzog, die ihn mit erhöhten Lanzen und
vorgehaltenen Schilden deckten.
Inzwiſchen trugen ſeine Stuten den Neſtor mit dem
wunden Machaon aus der Schlacht, vorbei an dem
grollenden Achilles, der auf dem Hinterdecke ſeines Schif¬
fes ſaß und geruhig zuſah, wie ſeine Landsleute von den
Trojanern verfolgt wurden. Da rief er dem Patroklus,
ohne zu ahnen, daß er das Unglück ſeines Freundes ſelbſt
vorbereite, und ſprach: „Geh doch, Patroklus, und erforſche
mir von Neſtor, welchen Verwundeten er dort aus der
Schlacht zurückführt: denn ich weiß nicht, welch Mitleid
für die Griechen ſich in meiner Seele regt!“ Patroklus
gehorchte und lief zu den Schiffen. Er kam am Zelte
Neſtors an, als dieſer eben aus dem Wagen ſtieg, ſeinem
Diener Eurymedon die Roſſe übergab, und ins Zelt hinein
trat, mit Machaon der erquickenden Mahlzeit zu genießen,
die ihnen ſeine erbeutete Sklavin Hekamede vorſetzte. Als
der Greis den Helden Patroklus an der Pforte gewahr
ward, ſprang er vom Seſſel, ergriff ihn bei der Hand,
und wollte ihn freundlich zum Sitzen nöthigen. Doch
Patroklus ſprach: „Es bedarf deſſen nicht, ehrwürdiger
Greis! Achilles hat mich nur ausgeſandt, zu ſchauen,
welchen Verwundeten du zurückführeſt. Nun habe ich ſelbſt
in ihm den heilungskundigen Helden Machaon erkannt,
und eile, ihm dieſes zu melden. Du kennſt ja den heftigen
[181] Sinn meines Freundes, der auch Unſchuldige ſelber leicht
beſchuldigt.“ Aber Neſtor antwortete ihm mit tiefer Ge¬
müthsbewegung : „Was kümmert ſich doch das Herz des
Achilles ſo ſehr um die Achiver, die bereits zum Tode
wund ſind? Alle Tapferen liegen bei den Schiffen umher:
Diomedes iſt pfeilwund, Odyſſeus und Agamemnon ſind
lanzenwund; und dieſen unſchätzbaren Mann entführte ich
ſo eben, vom Geſchoß des Bogens verwundet, aus der
Feldſchlacht! Aber Achilles kennt kein Erbarmen! Will
er vielleicht warten, bis unſre Schiffe am Geſtad' in Flam¬
men lodern und wir Griechen Einer um den Andern der
Reihe nach hinbluten? O wär' ich noch kräftig wie in
meiner Jugend und in meinen beſten Mannsjahren, damals,
wo ich als Sieger im Hauſe des Peleus einkehrte! Da
ſah ich auch deinen Vater Menötius und dich und den klei¬
nen Achilles. Dieſen ermahnte der graue Held Peleus,
ſtets der erſte zu ſeyn und allen Andern vorzuſtreben, dich
aber dein Vater, des Peliden Lenker und Freund zu ſeyn,
weil er an Stärke zwar der Größere, am Alter aber hinter
dir ſey. Erzähle davon dem Achilles; vielleicht rührt ihn
auch jetzt deine Zurede.“ So ſprach der Alte und miſchte
liebliche Erinnerungen aus ſeiner eigenen Heldenjugend in
die Rede, ſo daß dem Patroklus das Herz im Buſen be¬
wegt wurde.
Als er auf der Rückkehr an den Schiffen des Odyſ¬
ſeus vorüber eilte, fand er hier den Eurypylus, der, vom
Pfeil in den Schenkel verwundet, mühſam aus der Schlacht
einhergehinkt kam. Es erbarmte den Sohn des Menötius,
wie der wunde Held ihn ſo kläglich anrief, ſeiner mit den
Künſten Chirons des Centauren, die er gewiß durch Achil¬
les gelernt habe, zu pflegen; ſo daß Patroklus endlich den
[182] Verwundeten unter der Bruſt faßte, ins Zelt führte, dort
ihn auf eine Stierhaut legte und ihm mit dem Meſſer den
ſcharfen Pfeil aus dem Schenkel ſchnitt; dann ſpülte er
das ſchwarze Blut ſogleich mit lauem Waſſer ab, zer¬
malmte eine bittere Heilwurzel mit den Fingern und ſtreute
ſie auf die Wunde, bis das Blut ins Stocken gerieth. So
pflegte der gute Patroklus des wunden Helden.
Kampf um die Mauer.
Der Graben und die Mauer, welche die Griechen um
ihre Schiffe her breit aufgethürmt hatten, war ohne ein
Feſtopfer den Göttern zum Trotze von ihnen gebaut wor¬
den. Deßwegen ſollte ſie ihnen auch nicht zum Schutze
dienen und nicht lange unerſchüttert beſtehen. Schon jetzt,
wo Troja im zehnten Jahre ſeiner Belagerung ſchmachtete,
beſchloſſen Poſeidon (Neptun) und Apollo, den Bau dereinſt
zu vertilgen, die Bergſtröme auf ſie hereinzuleiten und das
Meer gegen ſie zu empören. Doch ſollte dieß erſt nach
der Zerſtörung Troja's ins Werk geſetzt werden.
Jetzt aber war Getümmel und Schlacht rings um den
gewaltigen Bau entbrannt, und die Argiver drängten ſich,
bange vor Hektors Wuth, bei den Schiffen eingehegt. Die¬
ſer rannte wie ein Löwe im Gewühl umher und munterte
die Seinigen auf, den Graben zu durchrennen. Das aber
wollte kein Roſſegeſpann ihm wagen. Am äußerſten Rande
des Grabens angekommen, bäumten ſich Alle unter lautem
Gewieher zurück, denn dieſer war zu breit zum Sprunge
und zu abſchüſſig von beiden Seiten zum Durchgang, dazu
[183] mit dicht gereihten ſpitzen Pfählen bepflanzt. Nur die
Fußvölker verſuchten daher den Uebergang. Als dieß
Polydamas ſah, ging er mit Hektor zu Rathe und ſprach:
„Wir wären Alle verloren, wenn wir es mit den Roſſen
wagen wollten, und kämen ruhmlos in der Tiefe des Gra¬
bens um. Laſſet deßwegen die Wagenlenker die Roſſe hier
am Graben hemmen, uns ſelbſt aber in den ehernen Waf¬
fen eine Fußſchaar bilden, unter deiner Führung über den
Graben ſetzen und den Wall durchbrechen.“
Hektor billigte dieſen Rath. Auf ſeinen Befehl ſtürm¬
ten alle Helden von den Wagen, mit Ausnahme der Len¬
ker; ſie ſchaarten ſich in fünf Ordnungen, die erſte unter
Hektor und Polydamas, die andere unter Paris, die
dritte führten Helenus und Deïphobus, der vierten gebot
Aeneas; an der Spitze der Bundesgenoſſen ſchritt Sarpe¬
don und Glaukus. Dieſe Fürſten alle aber hatten an¬
dere bewährte Helden zur Seite. Von den ſämmt¬
lichen Streitern wollte nur Aſius ſeinen Wagen nicht
verlaſſen. Er wandte ſich mit demſelben zur Linken, wo
die Achajer ſelbſt beim Bau einen Durchgang für ihre
eigenen Roſſe und Streitwagen gelaſſen hatten. Hier ſah
er die Flügel des Thores offen, denn die Griechen harrten,
ob nicht noch ein verſpäteter Genoſſe käme, der dem Tref¬
fen entflohen, Rettung im Lager ſuchte. So lenkte Aſius
die Roſſe gerade auf den Durchgang los, und andere
Trojaner folgten ihm zu Fuße mit lautem Geſchrei nach.
Aber am Eingang waren zwei tapfere Männer aufgeſtellt,
Polypötes, der Sohn des Pirithons, und Leonteus. Dieſe
ſtanden am Thore, hohen Bergeichen gleich, die, mit
langen und breiten Wurzeln in den Boden eingeſenkt, in
Sturm und Regenſchauer unverrückt aushalten. Plötzlich
[184] ſtürzten dieſe beiden auf die hereinſtürmenden Trojaner
vor, und zugleich flog ein Schwall von Steinen von den
feſten Thürmen der Mauer herab.
Während Aſius und die ihn Umringenden verdrießlich
den unvermutheten Kampf beſtanden und Viele erlagen,
kämpften Andere, zu Fuß über den Graben ſtürmend,
um andere Thore des griechiſchen Lagers. Die Argiver
waren jetzt auf die Beſchirmung ihrer Schiffe beſchränkt,
und die Götter, ſo viel ihrer ihnen halfen, trauerten
herzlich, vom Olymp herabſchauend. Nur die zahlreichſte
und tapferſte Schaar der Trojaner, unter Hektor und
Polydamas, verweilte noch unſchlüſſig am jenſeitigen
Rande des Grabens, den ſie eben erſtiegen; denn vor
ihren Augen hatte ſich ein bedenkliches Zeichen ereignet.
Ein Adler ſtreifte links über das Kriegsheer hin; er trug
eine rothe zappelnde Schlange in den Klauen, die ſich
unter ſeinen Krallen wehrte, und den Kopf rückwärts dre¬
hend, den Vogel in den Hals ſtach; von Schmerzen ge¬
quält, ließ er ſie fahren und flog davon; die Schlange
aber fiel mitten im Haufen der Trojaner nieder, die ſie
mit Schrecken im Staube liegen ſahen, und in dieſem
Ereigniß ein Zeichen Jupiters erkannten. „Laß uns nicht
weiter gehen,“ rief Polydamas, der Sohn des Panthous,
ſeinem Buſenfreunde, dem Hektor, erſchrocken zu, „es
könnte uns ergehen, wie dem Adler, der ſeinen Raub nicht
heimbrachte.“ Aber Hektor erwiederte finſter: „Was küm¬
mern mich die Vögel, ob ſie rechts oder links daher flie¬
gen, ich verlaſſe mich auf Jupiters Rathſchluß! Ich kenne
nur Ein Wahrzeichen, es heißt Rettung des Vaterlandes!
Warum zitterſt denn du vor dem Kampfe? Sänken wir
auch Alle an den Schiffen darnieder, dir droht kein
[185] Todesſchrecken, denn du haſt kein Herz, in der Feldſchlacht
auszuhalten; doch wiſſe, wo du dich dem Kampf entzieheſt,
ſo fällſt du, von meiner eigenen Lanze durchbohrt!“ So
ſprach Hektor und ging voran, und alle Andern folgten
ihm unter gräßlichem Geſchrei. Jupiter aber ſchickte einen
ungeheuren Sturmwind vom Idagebirge herab, der den
Staub zu den Schiffen hinüber wirbelte, daß den Griechen
der Muth entſank, die Trojaner aber, dem Winke des
Donnergottes und der eigenen Kraft vertrauend, die große
Verſchanzung der Danaer zu durchbrechen ſich anſchickten,
indem ſie die Zinnen der Thürme herabriſſen, an der
Bruſtwehr rüttelten, und die hervorragenden Pfeiler des
Walles mit Hebeln umzuwühlen begannen.
Aber die Danaer wichen nicht von der Stelle; wie
ein Zaun ſtanden ſie mit ihren Schilden auf der Bruſt¬
wehr und begrüßten die Mauerſtürmer mit Steinen und
Geſchoſſen. Die beiden Ajax machten die Runde auf der
Mauer und ermahnten das Streitvolk auf den Thürmen,
die Tapfern freundlich, die Nachläßigen mit ſtrengen Droh¬
worten. Inzwiſchen flogen die Steine hin und her wie
Schneeflocken; doch hätte Hektor mit ſeinen Trojanern den
mächtigen Riegel an der Wallpforte noch immer nicht
durchbrochen, wenn nicht Jupiter ſeinen Sohn Sarpedon
den Lycier, mit dem goldgeränderten Schilde, wie einen
heißhungrigen Berglöwen gegen die Feinde gereizt hätte,
daß er ſchnell zu ſeinem Genoſſen Glaukus ſprach: „Was
iſt es, Freund, daß man uns im Lyciervolke mit Ehrenſitz
und gefüllten Bechern beim Gaſtmahle wie die Götter ehrt,
wenn wir in der brennenden Schlacht nicht auch uns im
Vorkampfe zeigen? Auf, entweder wollen wir den eige¬
nen Ruhm, oder durch unſern Tod den Ruhm Anderer
[186] verherrlichen!“ Glaukus vernahm es nicht träge, und
beide ſtürmten mit ihren Lyciern in gerader Richtung voran.
Meneſtheus, von ſeinem Thurme herab, ſtutzte, als er ſie
ſo wüthend herannahen und ſich und die Seinigen dem
Verderben ausgeſetzt ſah. Aengſtlich ſchaute er ſich nach
der Unterſtützung anderer Helden um: wohl ſah er in der
Ferne die beiden Ajax, unerſättlich im Kampfe, daſtehen,
und noch näher den Teucer, der eben von den Zelten
zurückkam; doch hallte ſein Hülferuf nicht ſo weit, er
prallte an Helmen und Schilden ab, und das Getöſe der
Schlacht verſchlang ihn. Deswegen ſchickte er den Herold
Theotes zu den beiden Ajax hinüber, und bat den Tela¬
monier durch ihn, wenn ſie beide dieß könnten, ſammt
ſeinem Bruder Teucer ihm aus der Bedrängniß zu helfen.
Der große Ajax war nicht ſäumig, er eilte mit Teucer
und Pandion, der ſeines Bruders Bogen trug, der Mauer
entlang, von innen dem Thurme zu. Sie kamen bei
Meneſtheus an, als eben die Lycier an der Bruſtwehr
emporzuklimmen anfingen. Ajax brach ſogleich einen ſcharf¬
gezackten Marmorſtein zu oberſt aus der Bruſtwehr und
zerknirſchte damit dem Epikles, einem Freunde des Sar¬
pedon, Helm und Haupt, daß er wie ein Taucher von dem
Thurme herabſchoß. Teucer aber verwundete den Glaukus
am entblößten Arme, während er eben den Wall hinan¬
ſtieg. Dieſer ſprang ganz geheim von der Mauer, um
nicht von den Griechen erblickt und mit ſeiner Wunde ge¬
höhnt zu werden. Mit Schmerzen ſah Sarpedon ſeinen
Bruder aus der Schlacht ſcheiden, er ſelbſt aber klomm
aufwärts, durchſtach den Alkmaon, den Sohn Theſtors, mit
der Lanze, daß dieſer der wieder herausgezogenen taumelnd
folgte, faßte dann mit aller Gewalt die Bruſtwehr, daß
[187] ſie von ſeinem Stoß zuſammenſtürzte, und die Mauer,
entblößt, für Viele einen Zugang gewährte. Doch Ajax
und Teucer begegneten dem Stürmenden; der letztere traf
ihn mit einem Pfeil in den Schildriemen; Ajax durchſtach
dem Anlaufenden den Schild: die Lanze durchdrang ihn
ſchmetternd, und einen Augenblick zückte Sarpedon von der
Bruſtwehr hinweg. Doch ermannte er ſich bald wieder,
und, gegen die Schaar ſeiner Lycier ſich umdrehend, rief
er laut: „Lycier, vergeſſet ihr des Sturmes? mir allein,
und wäre ich der Tapferſte, iſt es unmöglich, durchzu¬
brechen! Nur wenn wir zuſammenhalten, können wir
uns die Bahn zu den Schiffen öffnen!“ Die Lycier dräng¬
ten ſich um ihren ſcheltenden König und ſtürmten raſcher
empor; aber auch die Danaer von innen verdoppelten ihren
Widerſtand, und ſo ſtanden ſie, nur durch die Bruſtwehr
getrennt, und über ſie hin wild auf einander los hauend,
wie zwei Bauern auf der Grenzſcheide ſtehen und mitein¬
ander darum hadern. Rechts und links von den Thürmen
und der Bruſtwehr rieſelte das Blut hinab. Lange ſtand
die Waage der Schlacht ſchwebend, bis endlich Jupiter dem
Hektor die Oberhand gab, daß er zuerſt an das Thor
der Mauer vordrang und die Genoſſen theils ihm folgten,
theils zu ſeinen beiden Seiten über die Zinnen kletterten.
Am verſchloſſenen Thore, deſſen Doppelflügel zwei ſich
begegnende Riegel von innen zuſammenhielten, ſtand ein
dicker, oben zugeſpitzter Feldſtein. Dieſen riß Hektor mit
übermenſchlicher Gewalt aus dem Boden, und zerſchmet¬
terte damit die Angeln und die Bohlen, daß die mächti¬
gen Riegel nicht mehr Stand hielten, das Thor dumpf
aufkrachte, und der Stein ſchwer hineinfiel. Furchtbar
anzuſchauen wie die Wetternacht, im ſchrecklichen Glanze
[188] ſeiner Erzrüſtung, mit funkelndem Auge, ſprang Hektor,
zwei blinkende Lanzen ſchüttelnd, in das Thor. Ihm nach
ſtrömten ſeine Streitgenoſſen durch die aufgeriſſene Pforte,
Andere hatten zu Hunderten die Mauer überklettert; Auf¬
ruhr tobte allenthalben im Vorlager, und die Griechen
flüchteten zu den Schiffen.
Kampf um die Schiffe.
Als Jupiter die Trojaner ſo weit gebracht hatte,
überließ er die Griechen ferner ihrem Elende, wandte,
auf dem Gipfel des Ida ſitzend, ſeine Augen von dem
Schiffslager ab und ſchaute gleichgültig ins Land der
Thrazier hinüber. Inzwiſchen blieb der Meergott Poſei¬
don nicht unthätig. Dieſer ſaß auf einem der oberſten
Gipfel des waldigen Thraziens, wo der Ida mit allen
ſeinen Höhen, ſammt Troja und den Schiffen der Danaer
unter ihm lagen. Mit Gram ſah er die Griechen vor
Troja's Volk in den Staub ſinken, er verließ das zackige
Felſengebirg, und mit vier Götterſchritten, unter denen
Höhen und Wälder bebten, ſtand er am Meeresufer bei
Aegä, wo ihm in den Tiefen der Fluth ein von unver¬
gänglichem Golde ſchimmernder Pallaſt erbaut ſtand.
Hier hüllte er ſich in die goldne Rüſtung, ſchirrte ſeine
goldmähnigen Roſſe ins Joch, ergriff die goldene Geißel,
ſchwang ſich in ſeinen Wagenſitz und lenkte die Pferde
über die Fluth; die Meerungeheuer erkannten ihren Herr¬
ſcher und hüpften aus den Klüften umher, die Woge
trennte ſich freudig, und ohne die eherne Wagenaxe zu
[189] benetzen, kam Neptunus bei den Schiffen der Danaer,
zwiſchen Tenedos und Imbros, in einer tiefen Grotte an,
wo er die Roſſe aus dem Geſchirr ſpannte, ihnen die
Füße mit goldenen Feſſeln umſchlang, und Ambroſia zur
Koſt reichte. Er ſelbſt eilte mitten ins Gewühl der
Schlacht, wo ſich die Trojaner wie ein Orkan um Hektor
mit brauſendem Geſchrei drängten, und jetzt eben die
Schiffe der Griechen zu bemeiſtern hofften. Da geſellte
ſich Poſeidon zu den Reihen der Griechen, dem Seher
Kalchas an Wuchs und Stimme gleich. Zuerſt rief er
den beiden Ajax zu, die für ſich ſelbſt ſchon von Kampf¬
luſt glühten: „Ihr Helden beide vermöchtet wohl das
Volk der Griechen zu retten, wenn ihr eurer Stärke ge¬
denken wolltet. An andern Orten ängſtet mich der Kampf
der Trojaner nicht, ſo herzhaft ſich ihre Heeresmacht über
die Mauer hereinſtürzt; die Vereinigten Achiver werden
ſie ſchon abzuwehren wiſſen. Hier nur, wo der raſende
Hektor wie ein Feuerbrand vorherrſcht, hier nur bin ich
um unſre Rettung bange. Möchte doch ein Gott euch den
Gedanken in die Seele geben, hierhin euren Widerſtand
zu kehren, und auch Andere dazu anzureizen.” Zu dieſen
Worten gab ihnen der Ländererſchütterer einen Schlag
mit ſeinem Stabe, davon ihr Muth erhöht und ihre Glie¬
der leicht geſchaffen wurden; der Gott aber entſchwang
ſich ihren Blicken, wie ein Habicht, und Ajax, der Sohn
des Oleus, erkannte ihn zuerſt. „Ajax,” ſprach er zu
ſeinem Namensbruder, „es war nicht Ralchas, es war
Neptun, ich habe ihn von hinten an Gang und Schenkeln
erkannt, denn die Götter ſind leicht zu erkennen. Jetzt
verlangt mich im innerſten Herzen nach dem Entſcheidungs¬
kampfe, Füße und Hände ſtreben mir nach oben!” Ihm
[190] erwiederte der Telamonier: „Auch mir zücken die Hände
ungeſtüm um den Speer, die Seele hebt ſich mir, die
Füße wollen fliegen, Sehnſucht ergreift mich, den Einzel¬
kampf mit Hektor zu beſtehen!“
Während die beiden Führer dieß Geſpräch wechſelten,
ermunterte Poſeidon hinter ihnen die Helden, die vor
Gram und Müdigkeit bei den Schiffen ausruhten, und
ſchalt ſie, bis alle Tapfern ſich um die beiden Ajax ſchaar¬
ten und gefaßt den Hektor mit ſeinen Trojanern erwar¬
teten. Lanze drängte ſich an Lanze, Schild auf Schild,
Helm an Helm, Tartſche war an Tartſche gelehnt, Krie¬
ger an Krieger, die Helme der Sinkenden berührten ſich
mit den Zacken, ſo dicht ſtand die Heerſchaar; ihre Speere
aber zitterten dem Feind entgegen. Doch auch die Tro¬
janer drangen mit aller Kraft herein, Hektor voran, wie
ein Felsſtein von der Krone des Bergs, durch den herbſt¬
lichen Strom abgeriſſen, im Sprunge herniederſtürzt, daß
die Waldung zerſchmettert zuſammenkracht. „Haltet euch,
Trojaner und Lycier,“ rief er hinterwärts, „jene wohl¬
geordnete Heerſchaar wird nicht lange beſtehen, ſie werden
vor meinem Speere weichen, ſo gewiß der Donnerer mich
leitet!“ So rief er, den Muth der Seinigen anſpornend.
In ſeiner Schaar ging trotzig, doch mit leiſem Schritt,
unter dem Schilde Dephobus, das andere Heldenkind des
Priamus, einher. Ihn wählte ſich Meriones zum Ziele
und ſchoß die Lanze nach ihm ab; aber Dephobus hielt
den mächtigen Schild weit vom Leibe vor, daß der Wurf¬
ſpieß brach. Erbittert über den verfehlten Sieg, wandte
ſich Meriones zu den Schiffen hinab, ſich einen mächtige¬
ren Speer aus dem Zelte zu holen.
Die Andern kämpften indeſſen fort und der Schlachtruf
[191] brüllte. Teucer traf den Imbrius, den Sohn Men¬
tors, unter dem Ohre mit dem Speer, daß er wie eine
Eſche auf luftigem Gebirgsgipfel hintaumelte. Den Leich¬
nam machte ihm Hektor ſtreitig; doch traf er ſtatt des
Teucer nur den Amphimachus; als er dieſem den Helm
von den Schläfen ziehen wollte, traf ihn die Lanze des
großen Ajax auf den Schildnabel, daß er von dem
Erſchlagenen zurückprallte, und Meneſtheus ſammt Stichius
den Leichnam des Amphimachus, den Imbrius aber die
beiden Ajax, wie zwei Löwen die Ziege, die ſie den Hun¬
den abgejagt, hinab ins Heer der Griechen trugen.
Amphimachus war ein Enkel Neptuns und ſein Fall
empörte dieſen. Er eilte zu den Zelten hinunter, die
Griechen noch mehr zu entflammen. Da begegnete ihm
Idomeneus, der einen verwundeten Freund zu den Aerzten
geſchafft hatte und jetzt ſeinen Speer im Zelte ſuchte. In
den Thoas verwandelt, den Sohn des Andrämon, näherte
ſich ihm der Gott, und ſprach mit tönender Stimme zu
ihm: „Kreterkönig, wo ſind eure Drohungen? Nimmer
kehre der Mann von Troja heim, der an dieſem Tag
den Kampf freiwillig meidet; die Hunde ſollen ihn zer¬
fleiſchen!“ „So geſchehe es, Thoas,“ rief Idomeneus
dem enteilenden Gotte nach, ſuchte ſich zwei Lanzen aus
dem Zelte hervor, hüllte ſich in ſchönere Waffen, und flog,
herrlich wie der Blitz Jupiters, aus dem Zelte hervor.
Da begegnete er dem Meriones, deſſen Speer an De¬
phobus Schilde zerbrochen war, und der dahin eilte, ſich
im fernen Zelt einen andern zu holen. „Tapferer Mann,“
rief ihm Idomeneus zu, „ich ſehe, in welcher Noth du
biſt; in meinem Zelte lehnen wohl zwanzig erbeutete Speere
an der Wand, hole dir den beſten davon.“ Und als
[192] Meriones ſich eine ſtattliche Lanze erkohren hatte, eilten
ſie beide in die Schlacht zurück, und geſellten ſich zu den
Freunden, die den eindringenden Hektor bekämpften. Ob¬
gleich Idomeneus ſchon halb ergraut war, ermunterte er
die Griechen doch, ſobald ſie ihn in ihren Reihen wieder
begrüßt hatten, wie ein Jüngling. Der Erſte, dem er den
Wurfſpieß mitten in den Leib ſandte, war Othryoneus,
der als Freier der Kaſſandra, der Tochter des Königes
Priamus, in den Reihen der Trojaner kämpfte. Froh¬
lockend rief Idomeneus, während er den Gefallenen am
Fuß aus dem Schlachtgewühle zog: „Hole dir jetzt die
Tochter des Priamus, beglückter Sterblicher! Auch wir
hätten dir die ſchönſte Tochter des Atriden verſprochen,
wenn du uns hätteſt helfen wollen Troja vertilgen! Folge
mir nun zu den Schiffen, dort wollen wir uns über die
Ehe verabreden, du ſollſt eine ſtattliche Mitgift erhalten!“
Er ſpottete noch, als Aſius vor ſeinem Geſpanne, das
der Wagenführer lenkte, herangeflogen kam, den Getödte¬
ten zu rächen. Schon holte er den Arm zum Wurfe aus:
da traf ihn der Speer des Idomeneus unter dem Kinn
in die Gurgel, daß das Erz aus dem Nacken hervorragte,
und er vor ſeinem Streitwagen der Länge nach darniederfiel.
Sein Wagenlenker erſtarrte, als er dieſes ſah, er ver¬
mochte das Geſpann nicht mehr rückwärts zu lenken, und
ein Lanzenſtoß von Antilochus, dem Sohne Neſtors, warf
auch ihn vom Wagen herab.
Nun aber kam Dephobus auf Idomeneus heran,
und entſchloſſen, den Fall ſeines Freundes Aſius zu rä¬
chen, ſchleuderte er die Lanze gegen den Kreter. Dieſer
aber ſchmiegte ſich ſo ganz unter den Schild, daß der
Wurfſpieß über ihn hinwegflog, und den Schild nur
[193] klirrend ſtreifte, dafür aber dem Fürſten Hypſenor in die
Leber fuhr, der auch alsbald in die Kniee ſank. „So
liegſt du doch nicht ungerächt, lieber Freund Aſius,“ ſo
frohlockte der Troer, „denn ich habe dir einen Begleiter
gegeben, gleichviel welchen!“ Der ſchwer aufſtöhnende
Hypſenor wurde indeſſen von zwei Genoſſen aus dem
Getümmel getragen. Doch war Idomeneus dadurch nicht
muthlos gemacht, er erſchlug den Alkathous, den edlen
Eidam des Anchiſes, und rief jauchzend: „Iſt unſre Rech¬
nung billig, Dephobus? ich gebe dir drei für einen!
Wohlan, erprobe du ſelbſt auch, ob ich wirklich von Jupi¬
ters Geſchlechte bin!“ Es war aber Idomeneus ein
Enkel des Königes Minos und ein Urenkel Jupiters.
Dephobus beſann ſich einen Augenblick, ob er den Zwei¬
kampf allein beſtehen, oder ſich einem heldenmüthigen
Trojaner geſellen ſolle. Der letzte Gedanke ſchien ihm
der beſte; und bald führte er ſeinen Schwager Aeneas
dem Idomeneus entgegen. Dieſer aber, als er die beiden
gewaltigen Kämpfer auf ſich zukommen ſah, zagte nicht
etwa vor Furcht, wie ein Knabe, ſondern erwartete ſie,
wie ein Gebirgseber die Hetzhunde. Doch rief auch er
ſeine Genoſſen herbei, die er in der Nähe kämpfen ſah,
und ſprach: „Heran, ihr Freunde, und helfet mir Einzel¬
nem, denn mir graut vor Aeneas, der ein Gewaltiger in
der Feldſchlacht iſt und noch in üppiger Jugend ſtrotzt!“
Auf dieſen Ruf verſammelten ſich um ihn, die Schilde an
die Schultern gelehnt, Aphareus, Askalaphus, Depy¬
rus, Meriones, Antilochus. Indeß rief auch Aeneas
ſeine Genoſſen Paris und Agenor herbei, und die Troja¬
ner folgten ihnen nach, wie Schafe dem Widder. Bald
raſſelte das Erz der Speere ans Erz, und aus dem
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 13[194] Zweikampfe wurde ein vielfältiger Männerkampf. Aeneas
ſchoß zuerſt ſeinen Speer auf Idomeneus ab; aber er
fuhr an dem Helden vorüber in den Boden. Idomeneus
dagegen traf den Oenomaus mitten in den Leib, daß er
ſtürzend und ſterbend mit der Hand den Boden faßte;
der Sieger hatte eben nur Zeit, den Speer aus dem
Leichnam herauszuziehen, denn die Geſchoſſe bedrängten
ihn ſo, daß er ſich zum Weichen entſchließen mußte. Aber
ſeine greiſen Füße trugen ihn nur langſam aus dem
Treffen, und Dephobus ſchickte ihm voll Groll die Lanze
nach, die zwar ihn ſelbſt verfehlte, aber den Askalaphus,
den Sohn des Mars, dafür in den Staub warf. Der
Kriegsgott, der durch den Rathſchluß Jupiters mit andern
Göttern in die goldenen Wolken des Olymp gebannt
war, ahnte nicht, daß ihm ein Sohn gefallen ſey. Dieſem
aber riß Dephobus den blanken Helm vom Haupte: da
fuhr ihm der Speer des Meriones in den Arm, daß der
Helm auf den Boden rollte. Meriones ſprang herzu, zog
den Wurfſpieß aus dem Arme des Verwundeten, und flog
ins Gedränge ſeiner Freunde zurück. Nun faßte Polites
ſeinen verwundeten Bruder Dephobus um den Leib, und
trug ihn aus der ſtürmenden Schlacht über den Graben
hinüber zu dem harrenden Wagen, auf dem der Blutende,
matt vor Schmerz, alsbald nach der Stadt geführt wurde.
Die Andern kämpften fort. Aeneas durchſtach den
Aphareus; Antilochus den Thoon; der Trojaner Adamas
verfehlte dieſen, und verblutete bald am Speere des Me¬
riones. Dafür rollte Depyrus der Grieche, von Helenus
mit dem Schwert über die Schläfe getroffen, die Reihen
der Danaer entlang. Schmerzergriffen zuckte Menelaus
ſeinen Speer gegen Helenus, der zu gleicher Zeit den
[195] Pfeil vom Bogen auf den Atriden abſchnellte. Menelaus
traf den Sohn des Priamus auf das Panzergewölbe;
doch prallte der Wurfſpieß ab; aber auch der Pfeil des
Helenus war vergebens entflogen, und nun bohrte ihm
Menelaus ſeine Lanze in die Hand, die den Bogen noch
hielt, und Helenus ſchleppte den Speer, ins Gedränge
ſeiner Freunde flüchtend, nach. Sein Kampfgenoſſe Agenor
zog ihm die Waffe aus der Hand, nahm einem Begleiter
die wollene Schleuder ab und verband damit die Wunde
des Sehers.
Jetzt führte ſein böſes Geſchick den Trojaner Piſan¬
der dem Helden Menelaus entgegen. Der Atride ſchoß
fehl mit der Lanze, ſein Gegner ſtieß kräftig den Speer
dem Menelaus in den Schild; aber der Schaft zerbrach
am Oehre. Nun holte Menelaus mit dem Schwert aus;
Piſander hob die lange Streitaxt unter dem Schilde und
beide rannten aufeinander los, aber der Trojaner traf
dem Gegner nur die Spitze des Helmbuſches, indeß dieſer
ihm den Knochen über der Naſe zerſpaltete, daß die Au¬
gen ihm blutig vor die Füße hinab rollten, und er ſich
ſterbend auf dem Boden wand. Menelaus ſtemmte ihm
die Ferſe auf die Bruſt, und ſprach frohlockend: „Ihr
Hunde, die ihr mein junges Weib und Schätze genug
freventlich von dannen geführt, nachdem ſie euch freundlich
bewirthet hatte; die ihr nun auch noch den Feuerbrand in
unſre Schiffe werfen und alle Griechen ermorden möchtet:
wird man euch endlich zur Ruhe bringen, ihr nimmer¬
ſatten Fechter?“ So ſprach er und zog dem Leichnam
die blutige Rüſtung ab, die er den Freunden übergab.
Dann drang er wieder in den Vorderkampf und fing die
geſchwungene Lanze des Harpalion mit dem Schild auf;
13*[196] den, der ſie abgeſchoſſen, traf Meriones rechts in die
Weiche, daß er ſterbend von ſeinem Vater Pylamenes
auf den Wagen gerettet werden mußte. Das erbitterte
den Paris und er ſchoß dem Korinthier Euchenor, der ihm
eben in den Weg kam, den Pfeil durch Ohr und Backen,
daß dieſer entſeelt zu Boden ſank.
So kämpften ſie dort; Hektor ahnete indeſſen nicht,
daß zur Linken der Schiffe der Sieg ſich auf die Seite der
Griechen hinneigte, ſondern wo er zuerſt durchs Thor
hereingeſprungen, und die Mauer am niedrigſten gebaut
war, fuhr er fort, ſiegreich in die Schlachtreihen der
Achiver einzubrechen. Vergebens wehrten ihn anfangs die
Böotier, Theſſalier, Lokrer, Athener ab: ſie vermochten
nicht, ihn hinwegzudrängen. Wie zwei Stiere am Pflug
wandelten die beiden Ajax dicht aneinander: vom Tela¬
monier wichen die Seinigen nicht, lauter entſchloſſene
Männer, aber die Lokrer, den ſtehenden Kampf nicht
aushaltend, waren ihrem Ajax nicht auf den Ferſen ge¬
folgt; denn voll Zuverſicht waren ſie ohne Helme, Schilde
und Lanzen, mit Bogen und wollenen Schleudern allein
bewaffnet, gen Troja gezogen, und hatten früher mit ihren
Geſchoſſen manche trojaniſche Schaar geſprengt. Auch
jetzt bedrängten ſie die Troer, ſich verbergend und von
ferne herſchießend, mit ihren Pfeilen, und richteten ſelbſt
ſo keine geringe Verwirrung unter ihnen an.
Und wirklich wären die Trojaner jetzt, von Schiffen
und Zelten zurückgetrieben, mit Schmach in ihre Stadt
geworfen worden, hätte nicht Polydamas dem trotzigen
Hektor ſo zugeredet: „Verſchmäheſt du denn allen Rath,
Freund, weil du im Kampf der Kühnere biſt? ſieheſt du
nicht, wie die Flamme des Krieges über dir zuſammen¬
[197] ſchlägt, die Trojaner ſich theils mit den erbeuteten Rü¬
ſtungen aus dem Gefechte entfernen, theils, und dieß die
Wenigeren, durch die Schiffe hin und her zerſtreut käm¬
pfen? Weiche darum, beruf' einen Rath unſrer Edeln,
und laß uns dann entſcheiden, ob wir uns ins Labyrinth
der Schiffe hineinſtürzen, oder unbeſchädigt von dannen
ziehen wollen; denn fürwahr, ich beſorge, die Griechen
möchten uns die geſtrige Schuld mit Wucher heimbezah¬
len, ſo lang ihr unerſättlichſter Krieger noch bei den Schif¬
fen auf uns harrt!“ Hektor war es zufrieden und beauf¬
tragte ſeinen Freund, die Edelſten des Volkes zu verſam¬
meln. Er ſelbſt eilte in die Schlacht zurück, und wo er
einen der Führer traf, befahl er ihm, ſich bei Polydamas
einzufinden. Seine Brüder Dephobus und Helenus, den
Aſius und ſeinen Sohn Adamas ſuchte er im Vorder¬
kampfe, und fand die Erſteren verwundet, die Andern todt.
Als er ſeinen Bruder Paris erblickte, rief er ihn zornig
an: „Wo ſind unſere Helden, du Weiberverführer? Bald
iſt es aus mit unſerer Stadt, dann nahet auch dir das
grauſe Verhängniß; jetzt aber komm in den Kampf, wäh¬
rend die Andern ſich zum Rath verſammeln!“ „Ich be¬
gleite dich mit freudiger Seele,“ erwiederte Paris dem
Bruder, ihn beſchwichtigend, „du ſollſt meinen Muth nicht
vermiſſen!“ So eilten ſie miteinander in das heftigſte
Gefecht, wo die tapferſten Trojaner wie ein Sturmwind
im rollenden Wetter daherrauſchten; und bald war Hektor
wieder an ihrer Spitze. Doch erſchreckte er die Griechen
nicht mehr wie früher, und der mächtige Ajax rief ihn
trotzig zum Kampfe heraus. Der Trojaner achtete ſein
Schelten nicht und ſtürmte vorwärts ins Getümmel der
Schlacht.
[198]
Die Griechen von Poſeidon geſtärkt.
Während ſo draußen das Treffen tobte, ſaß der greiſe
Neſtor geruhig in ſeinem Zelte beim Trunk, den verwun¬
deten Helden und Arzt Machaon bewirthend. Als nun
aber der Streitruf immer lauter hallte und näher in ihre
Ohren drang, überantwortete er ſeinen Gaſt der Dienerin
Hekamede, ihm ein warmes Bad zu bereiten, ergriff Schild
und Lanze und trat hinaus vor das Zelt. Hier ſah er
die unerfreuliche Wendung, die der Kampf genommen
hatte, und während er in Zweifeln ſtand, ob er in die
Schlacht eilen, oder den Völkerfürſten Agamemnon auf¬
ſuchen ſollte, mit ihm zu berathen, begegnete ihm, von den
Schiffen am Meeresgeſtade zurückkommend, dieſer ſelbſt
mit Odyſſeus und Diomedes, alle drei auf ihre Lanzen
geſtützt und an Wunden krank. Sie kamen auch nur, der
Schlacht wieder zuzuſchauen, ohne Hoffnung, ſelbſt an
dem Kampfe Theil nehmen zu können. Sorgenvoll traten
ſie mit Neſtor zuſammen und beriethen das Geſchick der
Ihrigen. Endlich ſprach Agamemnon: „Freunde, ich hege
keine Hoffnung mehr. Da der Graben, der uns ſo viele
Mühe gekoſtet, da die Mauer, die unzerbrechlich ſchien,
den Schiffen nicht zur Abwehr gereicht haben, und der
Kampf längſt mitten unter dieſen wüthet; ſo gefällt es
wohl dem Jupiter, uns Griechen alle, wenn wir nicht
freiwillig abziehen, ferne von Argos, hier in der Fremde,
ruhmlos umkommen zu laſſen. Laßt uns deswegen mit
den Schiffen, die wir zunächſt am Meeresſtrande aufge¬
ſtellt haben, auf der hohen See uns vor Anker legen,
[199] und die Nacht dort erwarten. Ziehet ſich alsdann Troja's
Volk zurück, ſo wollen wir auch die übrigen Schiffe in
die Wogen ziehen und noch bei Nacht der Gefahr ent¬
rinnen.“ Mit Unwillen hörte Odyſſeus dieſen Vorſchlag.
„Atride,“ ſprach er, „du verdienteſt ein feigeres Kriegsvolk
anzuführen, als das unſrige. Mitten im Treffen ermah¬
neſt du, die Schiffe ins Meer hinabzuziehen, daß die
armen Griechen in Angſt umſchauen, der Streitluſt ver¬
geſſen, und verlaſſen auf der Schlachtbank zurückbleiben?“
„Ferne ſey das von mir,“ erwiederte Agamemnon, „daß
ich wider Willen der Argiver und ohne ſie zu hören ſol¬
ches thun wollte! Auch gebe ich meinen Rath gerne auf,
wenn Einer beſſeren vorzubringen weiß.“ „Der beſte
Rath iſt,“ rief der Tydide, „daß wir ſogleich in die
Schlacht zurückkehren, und wenn wir auch nicht ſelbſt zu
kämpfen vermögen, doch die Andern als ehrliche Volks¬
führer zur Tapferkeit ermahnen.“
Dieſes Wort hörte mit Wohlgefallen der Beſchirmer
der Griechen, der Meergott, der ſchon lange das Geſpräch
der Helden belauſcht hatte. Er trat in Geſtalt eines
greiſen Kriegers zu ihnen, drückte dem Agamemnon die
Hand und ſprach: „Schande dem Achilles, der ſich jetzt
der Griechenflucht erfreuet! Aber ſeyd getroſt; noch haſſen
euch die Götter nicht ſo, daß ihr nicht bald den Staub
von der Trojanerflucht aufwirbeln ſehen ſolltet!“ So
ſprach der Gott und ſtürmte von ihnen weg durchs Ge¬
filde, indem er ſeinen Schlachtruf in das Heer der Grie¬
chen hineinſchallen ließ, der wie zehntauſend Männerſtimmen
brüllte und jedes Helden Herz mit Muth durchdrang.
Auch die Himmelskönigin Juno, die vom Olymp
herab den Kampf überſchaute, blieb jetzt nicht unthätig,
[200] als ſie Neptunus, ihren Bruder und Schwager, zu Gun¬
ſten ihrer Freunde ſich in die Schlacht miſchen ſah. Und
wie ſie ihren Gemahl Jupiter ſo feindſelig auf dem
Gipfel des Ida ſitzend erblickte, zürnte ſie ihm in der tiefſten
Seele und ſann hin und her, wie ſie ihn täuſchen und
von der Sorge für den Kampf abziehen möchte. Ein
glücklicher Gedanke ſtieg ihr plötzlich im Herzen auf. Sie
eilte in das verborgenſte Gemach, das ihr Sohn Hephä¬
ſtus im Götterpallaſte ihr kunſtreich gezimmert, und deſſen
Pforte er mit unlösbaren Riegeln befeſtigt hatte. Dieſes
betrat ſie und ſchloß die Thürflügel hinter ſich. Hier
badete und ſalbte ſie mit ambroſiſchem Oel ihre ſchöne
Geſtalt, flocht ihr Haupthaar in glänzende Locken um den
unſterblichen Scheitel, hüllte ſich in das köſtliche Gewand,
das ihr Minerva zart und künſtlich gewirkt hatte, heftete
es über der Bruſt mit goldenen Spangen feſt, umſchlang
ſich mit dem ſchimmernden Gürtel, fügte ſich die funkeln¬
den Juwelengehänge in die Ohren, umhüllte das Haupt
mit einem durchſichtigen Schleier, und band ſich zierliche
Sohlen unter ihre glänzenden Füße. So von Anmuth
leuchtend verließ ſie das Gemach und ſuchte Aphrodite,
die Liebesgöttin, auf. „Grolle mir nicht, Töchterchen,“
ſprach ſie liebkoſend, „weil ich die Griechen und du die
Trojaner beſchützeſt; und verſage mir nicht, um was mein
Herz dich bittet. Leihe mir den Zaubergürtel der Liebe,
der Menſchen und Götter bezähmt, denn ich will an die
Gränze der Erde gehen, den Oceanus und die Tethys,
meine Pflegeeltern, aufzuſuchen, die in Zwiſtigkeiten leben.
Ich möchte ihr Herz durch freundliche Worte zur Verſöh¬
nung bewegen, und dazu brauche ich deinen Gürtel.“
Venus, die den Trug nicht durchſchaute, erwiederte arglos:
[201] „Mutter, du biſt die Gemahlin des Götterköniges, nicht
recht wäre es, dir eine ſolche Bitte zu verweigern.“ Da¬
mit löſte ſie ſich den wunderköſtlichen buntgeſtickten Gür¬
tel, in dem alle Zauberreize verſammelt waren. „Birg
ihn,“ ſprach ſie, „immerhin in dem Buſen, gewiß kehrſt
du nicht ohne Erfolg von dannen.“
Weiter ging nun die Götterkönigin nach dem fernen
Thrazien in die Behauſung des Schlafes, und beſchwor
dieſen, in der folgenden Nacht dem Göttervater die leuch¬
tenden Augen unter ſeinen Wimpern tief einzuſchläfern.
Aber der Schlaf erſchrack. Er hatte ſchon einmal auf
Here's Befehl den Sinn des Gottes betäubt, damals als
Herkules von dem verwüſteten Troja heimfuhr, und Juno,
ſeine Feindin, ihn auf die Inſel Kos verſchlagen wollte.
Damals hatte Jupiter, als er erwachend den Betrug inne
wurde, die Götter im Saale herumgeſchleudert und den
Schlaf ſelbſt hätte er vertilgt, wenn er nicht in die Arme
der Nacht geflüchtet wäre, die Götter und Menſchen bän¬
digt. Daran erinnerte jetzt der Schlafgott erſchrocken die
Gemahlin des Zeus, doch dieſe beruhigte ihn und ſprach:
„Was denkſt du, Schlaf! Meinſt du, Jupiter vertheidige
die Trojaner ſo eifrig, als er ſeinen Sohn Herkules
liebte? ſey klug und willfahre mir: thuſt du es, ſo will
ich dir die jüngſte und ſchönſte der Grazien zur Gemahlin
geben. Der Gott des Schlummers ließ ſie mit einem
Schwure beim Styx dieß Verſprechen bekräftigen, und
verſprach, ihr zu gehorchen.
Nun beſtieg Juno im Glanz ihrer Schönheit den
Gipfel des Ida, und Inbrunſt erfüllte das Herz ihres
Gemahls, als er ſie erblickte, ſo daß er auf der Stelle des
Trojanerkampfs vergaß. „Wie kommſt du hierher vom
[202] Olympus,“ ſprach er, „wo haſt du Roſſe und Wagen
gelaſſen, liebes Weib?“ Mit liſtigem Sinn erwiederte
ihm Here: „Väterchen, ich will ans Ende der Erde ge¬
hen, den Oceanus und die Tethys, meine Pflegeltern, zu
verſöhnen.“ „Hegſt du denn ewige Feindſchaft gegen mich?“
antwortete Jupiter, „dieſe Ausfahrt kannſt du auch ſpäter
betreiben. Laß uns hier, ſanft gelagert, und einmüthig
an dem Kampfe der Völker uns ergötzen.“ Als Juno
dieß Wort hörte, erſchrack ſie, denn ſie ſah, daß ſelbſt ihre
Schönheit und der Zaubergürtel Aphrodite's dem Gemahl
die Sorge für den Kampf und den Groll gegen die
Griechen nicht ganz aus dem Herzen zu ſcheuchen ver¬
mochten. Doch verhehlte ſie ihren Schrecken, umſchlang
ihn freundlich und ſprach, ſeine Wange ſtreichelnd: „Vä¬
terchen, ich will ja deinen Willen thun.“ Zugleich aber
winkte ſie dem Schlaf, der ihr unſichtbar gefolgt war,
und ihres Befehles gewärtig hinter Jupiters Rücken
ſtand. Dieſer ſenkte ſich auf ſeine Augenlieder, daß er,
ohne zu antworten, ſein nickendes Haupt in den Schooß
der Gemahlin legte, und in tiefen Schlummer verſank.
Eilig ſchickte jetzt die Himmliſche den Gott des Schlafs
als Boten nach den Schiffen zu Poſeidon, und ließ dem
Gotte ſagen: „Jetzt laß, dir's Ernſt ſeyn, und verleih den
Griechen Ruhm, denn Jupiter liegt auf dem Gipfel des
Ida durch meine Bethörung in tiefen Schlaf geſunken!“
Schnell ſtürzte ſich Neptunus jetzt ins vorderſte Ge¬
tümmel und rief dem Danaervolke zu: „Wollen wir dem
Hektor auch jetzt noch den Sieg laſſen, ihr Männer, daß
er die Schiffe erobere und Ruhm einärnte? Zwar ich
weiß, er verläßt ſich auf den Zorn des Achilles, aber es
wäre eine Schmach für uns, wenn wir ohne dieſen nicht
[203] zu ſiegen vermöchten! Ergreifet eure gewaltigſten Schilde,
hüllt euch in die ſtrahlenſten Helme, ſchwinget die mäch¬
tigſten Lanzen, wir wollen gehen und ich ſelbſt voraus
vor euch Allen; wir wollen ſehen, ob Hektor vor uns
beſteht!“ Die Krieger gehorchten der gewaltigen Stimme
des mächtigen Streiters, die verwundeten Fürſten ſelbſt
ordneten die Schlacht, vertauſchten den Männern die
Waffen, gaben dem Starken ſtarke, dem Schwächeren
ſchwache. Dann drang Alles vor; der Erderſchütterer
ſelbſt, ein entſetzliches Schwert, wie einen flammenden
Blitz, in der Rechten führend, war ihr Führer. Ihm
wich Alles aus und Niemand wagte, ihm im Kampfe zu
begegnen. Zugleich empörte er das Meer, daß es wo¬
gend an die Schiffe und Zelte der Danaer anſchlug.
Doch ließ ſich Hektor durch dieſes Alles nicht ſchre¬
cken. Er ſtürzte mit ſeinen Trojanern in die Schlacht,
wie ein Waldbrand mit ſauſenden Flammen durch ein
gekrümmtes Bergthal praſſelt, und ein erneuter Kampf
entſpann ſich zwiſchen beiden Heeren. Zuerſt zielte Hektor
auf den großen Ajax mit der Lanze und traf gut; aber
Schild- und Schwertriemen, die ſich ihm über dem Buſen
kreuzten, beſchirmten den Leib, und Hektor, des Speeres
verluſtig, wich unwillig in die Reihen der Seinigen zu¬
rück. Ajax ſchickte dem Weichenden einen Stein nach,
daß er in den Staub ſtürzte, Lanze, Schild und Helm ihm
entflog und das Erz der Rüſtung klirrte. Die Griechen
jauchzten, ein Hagel von Speeren folgte, und ſie hofften
den Liegenden wegzuziehen. Aber die erſten Helden der
Trojaner verſäumten ihn nicht: Aeneas, Polydamas, der
edle Agenor, der Lycier Sarpedon und ſein Genoſſe
Glaukus, Alle hielten die Schilde zur Abwehr vor, erhuben
[204] den Betäubten und brachten ihn ungefährdet auf den
Streitwagen, der ihn zur Stadt zurückführte.
Als ſie den Hektor fliehen ſahen, rannten die Grie¬
chen noch viel heftiger auf den Feind ein. Um Ajax erhub
ſich ein Getümmel, denn nach allen Seiten hin traf ſein
Wurfſpieß und ſeine Lanze. Doch ſchmerzte auch die
Griechen hier und dort ein in ihrer Mitte fallender Held.
Den Sturz des Danaers Prothoenor, den Polydamas
erlegt hatte, mußte dem Ajax der Sohn des Antenor,
Archilochus, büßen; den Böotier Promachus, den der Bru¬
der des Archilochus, Akamas, mit dem Speere niedergeſtochen,
rächte der Grieche Peneleus am Ilioneus; Ajax ſtieß den
Hyrtius nieder; Antilochus den Mermerus und Falces;
Meriones den Hippodion und Morys; Teucers Pfeil
brachte den Prothon und Periphetes zu Falle; Agamemnon
durchſtach dem Hyperenor die Weiche, am allermeiſten
aber wüthete unter den Trojanern, die ſchon draußen vor
der Mauer über den Graben und durch die Pfähle zu
fliehen begannen, der kleine Ajax, der hurtige Lokrer, deſ¬
ſen Augenblick jetzt gekommen war.
Hektor von Apollo gekräftigt.
Erſt bei ihren Wagen machten die Trojaner wieder
Halt, erſchrocken und bleich vor Angſt. Jetzt aber erwachte
Jupiter auf dem Gipfel des Ida und erhob ſein Haupt
aus Juno's Schooße. Schnell ſprang er empor und
überſchaute mit einem Blicke Griechen und Trojaner, dieſe
in die Flucht getrieben, jene ſtürmiſch verfolgend; mitten
[205] in ihren Reihen ſeinen Bruder Poſeidon; er ſah Hektorn
auf dem Wege zur Stadt, mitten im Felde, aus dem
Wagen gehoben, zu Boden liegen, die Genoſſen um ihn
her; ſchwer athmete der Bewußtloſe und ſpie Blut; denn
kein Schwächerer hatte ihn getroffen. Voll Mitleid ruhte
der Blick des Vaters der Götter und Menſchen auf ihm,
dann wandte er ſich drohend zu Juno, ſein Angeſicht ver¬
finſterte ſich und er ſprach: „Argliſtige Betrügerin, was
haſt du gethan? Fürchteſt du nicht, die erſte Frucht dei¬
nes Frevels ſelbſt zu genießen? Denkſt du nicht mehr
daran, wie du, die Füße an zwei Amboſe gehängt, die
Hände mit goldner Feſſel geſchürzt, zur Strafe in der
Luft ſchwebteſt, und kein Olympiſcher dir zu nahen wagte,
ohne von mir auf die Erde geſchleudert zu werden, damals
als du die Götter des Orkans gegen meinen Sohn Herkules
aufgewiegelt? Verlangt dich darnach zum zweitenmale?“
Juno ſtutzte eine Weile ſchweigend, dann ſprach ſie:
„Himmel und Erde und die Fluth des Styx ſollen meine
Zeugen ſeyn, daß nicht mein Geheiß den Erderſchütterer
gegen die Trojaner aufgehetzt hat, ihn wird die eigne
Regung getrieben haben. Ja eher möchte ich ihm ſelbſt
freundlich zureden, daß er deinem Befehle, du wolkig
Blickender, ſich füge.“ Jupiters Stirne wurde heiterer,
denn noch immer wirkte der Gürtel Aphrodite's, den Juno
bei ſich trug. Endlich ſprach er beſänftigt: „Hegteſt du
im Rathe der Unſterblichen gleiche Geſinnung mit mir,
Gemahlin, ſo würde freilich Neptunus ſeinen Sinn bald
nach unſer beider Herzen umlenken. Wenn es dir aber
Ernſt iſt, ſo geh und rufe mir Iris und Apollo herbei,
daß jene meinem Bruder befehle, aus dem Kampf zum
Pallaſte heimzukehren, und Phöbus Apollo den Hektor
[206] heile, zur Schlacht aufmuntere und mit neuer Kraft be¬
ſeele!“ Mit erſchrockenem Antlitze gehorchte Juno, und
trat in den olympiſchen Saal ein, wo die Unſterblichen
zechten. Dieſe ſprangen ehrerbietig von den Sitzen em¬
por und ſtreckten ihr die Becher entgegen. Sie aber ergriff
den Becher der Themis, ſchlürfte vom Nektar, und mel¬
dete Jupiters Machtgebot. Windſchnell fuhr Iris hinab
auf das Schlachtfeld. Als Poſeidon den Befehl ſeines
Bruders aus ihrem Munde vernahm, ſprach er zuerſt un¬
muthsvoll: „Traun, das iſt nicht brüderlich geſprochen!
Auch ſoll er nicht mit Gewalt meinen Willen hemmen,
denn ich bin, was er iſt; hat gleich das Loos um die
Herrſchaft mir nur das graue Meer zugetheilt, dem Pluto
die Hölle, und ihm den Himmel. Die Erde wie der
Olymp iſt uns Allen gemein!“ — „Soll ich dieſe trotzige
Rede, ſo wie du ſie geſprochen, dem Göttervater über¬
bringen?“ fragte Iris zögernd. Da beſann ſich der Gott,
und das Heer der Danaer verlaſſend, rief er: „Nun
wohl, ich gehe! Das aber wiſſe Jupiter, trennt er ſich
von mir und den andern olympiſchen Freunden der Grie¬
chen, und beſchließt Troja's Vertilgung nicht, ſo entflammt
uns unheilbarer Zorn!“ So ſprach er, in die Fluthen
tauchend; und augenblicks vermißten die Danaer ſeine
Gegenwart.
Seinen Sohn Phöbus Apollo ſandte dagegen Jupiter
zu Hektor vom Olymp hinab. Dieſer fand ihn nicht mehr lie¬
gend auf dem Boden, ſondern ſchon wieder aufgerichtet, und
von Zeus geſtärkt. Der Angſtſchweiß hatte nachgelaſſen,
der Athem war leichter, ihn erfriſchte wiederkehrendes Leben.
Als Apollo ſich ihm mitleidig näherte, blickte er traurig
auf und ſprach: „Wer biſt du, Beſter der Himmliſchen,
[207] der nach mir fragt? Haſt du es ſchon gehört, daß der
gewaltige Ajax mich bei den Schiffen mit einem Stein an
die Bruſt getroffen und mitten im Siege gehemmt hat?
Glaubte ich doch noch an dieſem Tage den ſchwarzen
Hades ſchauen zu müſſen!“ — „Sey getroſt,“ antwortete
ihm Apollo, „ſiehe, mich ſelbſt, ſeinen Sohn Phöbus, ſen¬
det dir Jupiter, dich ferner, wie ich wohl auch von ſelbſt
früher gethan habe, von nun an auf ſein Geheiß zu ſchir¬
men, und ich werde das goldene Schwert, das du in
meinen Händen ſieheſt, für dich ſchwingen. Beſteige dei¬
nen Wagen wieder, ich ſelbſt eile voran, ebne euren Roſ¬
ſen den Weg, und helfe dir die Griechen in die Flucht
jagen!“
Kaum hatte Hektor die Stimme des Gottes vernom¬
men, ſo ſprang er, wie ein muthiges Roß das Halfter
an der Krippe zerreißt, vom Boden auf und ſchwang ſich
in ſeinen Wagen. Die Griechen aber, als ſie den Helden
herbeifliegen ſahen, ſtanden ſtarr und ließen plötzlich von
der Verfolgung ab, wie Jäger und Hunde, die einem
Hirſch ins Waldesdickicht nachfolgen, vor einem zottigen
Löwen erſchrecken, der ihnen plötzlich drohend in den Weg
kommt. Der Erſte, der Hektors anſichtig geworden, war
der Aetolier Thoas, ein beredter Mann, der ſogleich die
erſten Fürſten der Griechen, in deren Mitte er kämpfte,
aufmerkſam machte und ausrief: „Wehe mir, welch Wun¬
der erblicke ich mit meinen Augen dort! Hektor, den wir
Alle unter dem Steinwurfe des Telamoniers ſtürzen ſa¬
hen, kommt aufrecht auf dem Wagen heran, freudigen
Muthes dem Vorkampfe zueilend; gewiß ihm ſteht Jupiter
der Donnerer zur Seite! So gehorchet denn meinem
Rathe: heißt die Maſſe des Heeres ſich auf die Schiffe
[208] zurückziehen; wir aber, die Tapferſten im Heere, wollen
ihm mit Abwehr begegnen; und unſre Schaar zu durch¬
brechen wird er ſich ſcheuen, wenn er auch noch ſo mör¬
deriſch herantobt.“
Die Helden gehorchten dem vernünftigen Rathe; ſie
beriefen die edelſten Fürſten und Kämpfer und dieſe rei¬
heten ſich ſchnell um die beiden Ajax, um Idomeneus,
Meriones und Teucer her: hinter ihnen aber zog ſich
alles Volk auf die Schiffe zurück. Die Trojaner ihrer¬
ſeits drangen mit Heereskraft vor; ſie führte Hektor, hoch
auf ſeinem Streitwagen ſtehend; ihn ſelbſt, in Gewölk
eingehüllt, Apollo der Gott, den grauenvollen Aegisſchild
in der Hand. Die griechiſchen Helden harrten der Feinde
in gedrängtem Häuflein; lautes Geſchrei ſtieg aus beiden
Heeren: bald ſprangen die Pfeile und ſausten die Speere;
aber die Geſchoſſe der Trojaner hafteten alle in Feindes¬
leibern, weil Phöbus Apollo mit ihnen war, und ſobald
dieſer die gräßliche Aegide gegen das Antlitz der Danaer
ſchüttelte, laut und fürchterlich aus ſeiner dunkeln Wolke
dazu aufſchreiend, bebte den Griechen das Herz im Buſen
und ſie vergaßen der Abwehr. So erſchlug denn Hektor
zuerſt den Führer der Böotier, Stichius, dann Arceſilaus,
den edeln Genoſſen des Meneſtheus; Aeneas raubte dem
Athener Jaſus und dem Medon, dem Halbbruder des
lokriſchen Ajax, Leben und Waffen, vor Polydamas ſank
Mekiſtheus, vor Polites Echius, und Klonius vor Agenor;
den Diochus aber, der aus dem Vorderkampfe floh,
erſchoß Paris durch den Rücken, daß die Lanzenſpitze zur
Bruſt herausdrang. Während die Trojaner dieſe alle der
Rüſtungen entblösten, flohen die Griechen in Verwirrung,
dem Graben und den Pfählen zuſtürzend, bebten da und
[209] dorthin und manche retteten ſich in der Noth auch ſchon
über die Mauer. Hektor rief unter ſeine Trojaner hinein,
daß es hallte: „Laßt die Leichname in ihren blutigen Rü¬
ſtungen liegen, und ſprenget geradenwegs auf die Schiffe
zu. Wen ich nicht auf dem Wege dorthin treffe, der iſt
des Todes!“ So rief er, geißelte ſeine Roſſe über die
Schultern und lenkte dem Graben zu, und ihm folgten
alle Helden Troja's mit ihren Streitwagen. Apollo
ſtampfte mit ſeinen Götterfüßen die emporragenden Rän¬
der des Grabens in der Mitte hinab und ſchuf ihnen ſo
die Brücke eines Pfades, ſo lang und breit als der
Schwung eines Wurfſpießes reicht. Auf dieſem Wege
überſchritt der Gott ſelbſt zuerſt den Graben, und mit
einem Stoße ſeiner Aegide warf er die Mauer der Grie¬
chen über den Haufen, wie ein am Meeresufer ſpielendes
Kind den Sandhaufen, den es aufgebaut hat, auseinander
ſtört. Die Griechen waren jetzt wieder in den Schiffs¬
gaſſen zuſammengedrängt und hoben ihre Hände flehend
zu den Göttern empor. Auf Neſtors Gebet aber donnerte
Jupiter mit gnädigem Halle.
Die Trojaner deuteten das Zeichen vom Himmel zu
ihren eigenen Gunſten, ſtürzten ſich mit Wuthausruf durch
die Mauerbrücke mit Roß, Wagen und Mann und kämpf¬
ten von ihren Streitwagen herab, während die Griechen
ſich auf die Verdecke ihrer Schiffe flüchteten und von ihren
Borden herab ſich wehrten.
Während Griechen und Trojaner noch um den Wall
kämpften, ſaß Patroklus immer noch in dem ſchönen Zelte
des Helden Eurypylus, und pflegte die Wunde deſſelben,
lindernde Säfte darein träufelnd. Als er aber hörte, wie
die Troer mit Macht an die Mauer rannten, und das
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 14[210] Getümmel und Angſtgeſchrei der flüchtenden Danaer vor
ſeine Ohren kam, ſchlug er ſich die Hüfte mit der flachen
Hand und rief laut aufjammernd: „Nein, Eurypylus, ſo
gerne ich dich noch weiter pflegen möchte, länger darf ich
nicht bei dir verweilen, denn draußen wird es zu laut!
So behilf dich denn mit deinem Waffengenoſſen. Ich
ſelbſt aber eile zu meinem Freunde dem Peliden und ver¬
ſuche es, ob ich mit Hülfe der Götter und mit meinem
Zuſpruche ihn nicht zu bewegen vermag, an der Feldſchlacht
endlich wieder Antheil zu nehmen!“ Kaum hatte er aus¬
geſprochen, als ſeine behenden Füße ihn auch ſchon aus
dem Zelte trugen.
Inzwiſchen tobte der Kampf bei den Schiffen, ohne
daß der Vortheil ſich auf Eine Seite geneigt hätte. Um
eines der Schiffe ſtritten ſich Hektor und Ajax; aber jener
vermochte dieſen nicht vom Borde zu vertreiben, und den
Feuerbrand in das Fahrzeug zu werfen; dieſer nicht,
jenen zu verdrängen. Der Speer des Telamoniers ſtreckte
Kaletor, den Verwandten Hektors, an deſſen Seite nieder;
die Lanze Hektors traf Lykophron, den Streitgenoſſen des
Ajax. Auf ſeinen Fall eilte Teucer dem Bruder zu Hülfe,
und ſchoß dem Wagenlenker des Polydamas, Klitus, einen
Pfeil in den Nacken. Polydamas, der zu Fuße focht,
hemmte die leer davon eilenden Roſſe. Ein zweiter Pfeil
Teucers flog auf Hektor, aber Jupiter ließ die Sehne
zerreißen und das Geſchoß ſeitwärts abirren; der
Bogenſchütze empfand ſchmerzlich die feindſelige Gewalt
des Gottes. Ajax ermahnte den Bruder, Bogen und
Pfeil zu laſſen, und zu Schild und Speer zu greifen;
dieß that der Held und bedeckte ſich mit einem ſtattlichen
Helme. Hektor dagegen rief ſeinen Kämpfern zu: „Muthig
[211] fortgeſtritten, ihr Männer! Eben ſah ich, wie der Don¬
nerer der tapferſten Griechen Einem das Geſchoß zer¬
brochen hat! Drum auf mit Heereskraft zum Schiffs¬
kampfe. Mit uns ſind die Götter!“ „Schande über
euch, Argiver, rief auf der andern Seite Ajax, „nun
gilts zu ſterben, oder den Schiffen Rettung zu ſchaf¬
fen! Wenn der gewaltige Hektor dieſe mit Feuer
zerſtört, gedenket ihr zu Fuße über die Meerfluth heimzu¬
kehren? Oder meint ihr, Hektor lade euch zum Reigen¬
tanz und nicht zum Kampfe? Viel beſſer iſt's, die Wahl
des Todes oder Lebens zu beſchleunigen, als in ſchmäh¬
licher Unentſchiedenheit hinzuſchmachten, von ſchlechteren
Männern, die hinter dem Schirme der Götter fechten, ver¬
tilgt!“ So rief Ajax und ſtreckte einen Trojanerhelden
nieder, aber für jeden Fallenden vergalt ihm Hektor mit
dem Fall eines Andern. Endlich entſpann ſich ein mör¬
deriſcher Kampf um die Leiche und Rüſtung des Dolops,
den Menelaus gefällt hatte. Hektor bot alle Brüder und
Verwandte auf; Ajax und ſeine Freunde dagegen umzäun¬
ten die Schiffe mit einem ehernen Gehäge von Schilden
und Lanzen. Da munterte Menelaus den ſchmucken Sohn
des Neſtor, Antilochus, auf und rief ihm zu: „Es iſt doch
keiner jünger und ſchneller im ganzen Heer, als du, und
auch nicht tapferer, o Jüngling! Es wäre ſchön, wenn
du hervorſprängeſt und einen der Trojaner erlegteſt!“ So
reizte er den Antilochus, der ſofort aus dem Gewühle
hervoreilte, ſich umſchaute und den blinkenden Wurfſpeer
abſandte. Als er zielte, flohen die Trojaner auseinander,
dennoch traf ſein Geſchoß den Melanippus, den Sohn
Hiketaons, unter der Bruſtwarze, daß er zuſammenſtürzte
und die Waffen um ihn praſſelten. Herzuſprang Antilochus,
14 *[212] wie der Hund auf das Hirſchkalb, das der Jäger auf der
Lauer durchſchoſſen; als ihm aber Hektor entgegenlief,
entfloh er wie ein Wild, das Hund oder Hirten der
Heerde zerriſſen, und ſich Böſes bewußt davon flieht,
wenn es eine Männerſchaar herannahen ſieht. Die Ge¬
ſchoſſe der Trojaner folgten ihm und Antilochus wandte
ſich erſt wieder um, als er bei den Seinigen in Sicher¬
heit war.
Nun ſtürzte Troja's Volk wie eine Schaar blutgieri¬
ger Löwen unter die Schiffe: Jupiter hatte beſchloſſen,
den unbarmherzigen Wunſch der mit ihrem Sohne Achilles
zürnenden Thetis ganz zu gewähren. Doch wartete er
nur darauf, bis er die aufflackernde Lohe eines einzigen in
Flammen geſetzten Schiffes erblickte, um alsdann wieder
Flucht und Verfolgung über die Trojaner zu verhängen,
und den Griechen aufs Neue Siegesruhm zu gewähren.
Hektor wüthete unterdeſſen voll Grimm: der Schaum ſtand
ihm um die Lippen, die Augen funkelten ihm unter den
düſteren Brauen, und fürchterlich wehte der Buſch von
ſeinem Helme. Weil ihm nur noch wenige Lebenstage
gewährt waren, ſo rüſtete ihn Zeus vor allen Männern
noch einmal mit Kraft und Herrlichkeit aus: denn ſchon
lenkte ihm Pallas Athene das grauſe Todesverhängniß
entgegen. Jetzt aber durchbrach er die Reihen der
Feinde, wo er die dichteſten Haufen und die beſten Rü¬
ſtungen ſah. Aber er verſuchte lang umſonſt einzubrechen;
die dichtgeſchloſſene Schaar der Danaer ſtand wie ein
gethürmter Meerfels, an dem die Brandung umſonſt in
die Höhe ſchäumt; dennoch warf er ſich auf die Heer¬
ſchaaren, wie im Sturm eine Woge ſich in ein Schiff
hineinſtürzt, daß endlich ein Grauen ſich der Griechen
[213] bemächtigte, und ſie mit einander die Flucht ergriffen.
Einem jedoch, der, als er zur Flucht ſich umdrehte, unten
am Schilde ſich ſtieß und rückwärts fiel, — es war der
Sohn des berüchtigten Kopreus, Periphetes aus Mycene,
ein beſſerer Mann, als ſein häßlicher Vater, — bohrte
dicht bei ſeinen fliehenden Genoſſen Hektor die Lanze
in die Bruſt.
Schon wichen die Griechen von den vorderen Schiffen
zurück, doch zerſtreuten ſie ſich nicht durch die Gaſſen des
Lagers, ſondern Schaam und zugleich Furcht hielt ſie bei
den Zelten in Schaaren aufgeſtellt zuſammen, und ſie
ermahnten einander gegenſeitig, vor allen der greiſe Held
Neſtor, der mit ſeinem Schlachtruf die Herzen der Män¬
ner ermuthigte. Ajax der Telamonier aber umwandelte
die Schiffsverdecke, ein zwei und zwanzig Ellen langes
Ruder, mit Eiſenringen gefügt, in ſeiner Rechten, und
wie ein geſchickter Roſſeſpringer von einem Pferde aufs
andre zum Staunen der Zuſchauer hüpft, ſo ſprang er
von einem Schiffsgetäfel aufs andere und ſchrie mit
ſchrecklicher Stimme zu den Griechen hinab, Schiffe und
Zelte zu vertheidigen. Aber auch Hektor weilte nicht un¬
thätig im Haufen der Seinigen, ſondern wie ein funkeln¬
der Adler auf die Schaaren von Kranichen oder Schwä¬
nen ſtürzt, die ſich am Ufer eines Stroms gelagert haben,
ſo drang er geradenwegs auf eines der Meerſchiffe ſtür¬
mend los, Jupiter ſelbſt gab ihm im Rücken einen Stoß,
daß er voranflog und ſeine ganze Schaar ihm nachſtürmte.
Da erhub ſich von Neuem um die Schiffe ein erbit¬
terter Kampf: die Griechen wollten lieber ſterben als
entfliehen, von den Trojanern aber hoffte ein Jeder, den
erſten Fackelbrand in die Schiffe zu ſchleudern. Und nun
[214] faßte Hektor das Steuer-Ende des ſchönen Schiffes, das
den Proteſilaus gen Troja geführt hatte, aber nicht wie¬
der heimbringen ſollte, weil er der erſte war, der nach
der Landung im Gefechte gegen die Trojaner gefallen
war. Um dieſes Schiff kämpften und mordeten jetzt Da¬
naer und Troer; da war keine Rede mehr von Bogen¬
ſchuß oder auch nur von Speerwurf: zuſammengedrängt
ſchwangen alle nur ſcharfe Beile, Aexte und Schwerter
gegeneinander und führten Lanzen zum Stich. Manches
gute Schwert ſtürzte dort aus der Hand in den Staub,
oder von den Schultern der Streitenden herab, und der
Boden ſchwamm in Blut. Hektor aber, nachdem er ein¬
mal das Schiff gefaßt, umklammerte es feſt und rief:
„Jetzt Feuer her und den Schlachtruf erhoben! Jetzt ſchickt
uns Jupiter den Tag, der uns für alle andern ſchadlos
hält! Jetzo die Schiffe erobert, welche uns ſo viel Jam¬
mer gebracht haben! Jetzt wird kein Aelteſter uns hin¬
dern, den Sieg zu benützen, Jupiter ſelbſt ermahnt und
befiehlt uns jetzt!“
Auch Ajax vermochte Hektor's Andrange nun nicht
mehr zu widerſtehen, die Geſchoſſe drängten ihn zu ſehr,
er wich ein wenig vom Verdecke des Schiffs und ſchwang
ſich auf die Bank des Steuermanns. Aber auch von hier
aus ſpähte er umher, wo abzuwehren ſey, und richtete
ſeine Lanze gegen die mit Feuerbränden eindringenden
Trojaner; zugleich donnerte er ſeine Volksgenoſſen an:
„Freunde, jetzt ſeyd Männer! oder wähnet ihr, hinter den
Schiffen ſtehen euch noch andere Helfer, noch ein ſtärkerer
Wall, der euch ſchirmen könnte? Ihr habt keine Stadt,
hinter deren Mauern ihr euch flüchten könntet, wie die
Trojaner; auf Feindesboden, fern vom Lande der Väter,
[215] an den Meeresrand ſind wir hingedrängt! Unſer ganzes
Heil beruht nur auf unſerem Arme!“ So rief er, und
empfing jeden Feind, der mit einer Fackel ſich dem Schiffe
näherte, mit einem Lanzenſtich, daß bald zwölf Leichen
vor ihm den Boden deckten.
Tod des Patroklus.
Indeß um das Schiff, auf welchem Ajax ſtand, auf
Tod und Leben gekämpft wurde, war Patroklus, als er
das Zelt des wunden Eurypylus verlaſſen, zu ſeinem
Freunde Achilles geeilt, und als er in deſſen Lagerhütte
eintrat, ſtürzten ihm die Thränen aus den Augen, wie
eine finſtre Quelle, die ihr dunkles Waſſer aus ſteilen
Klippen gießt. Mitleidig ſah ihn der Pelide an und ſprach
zu ihm: „Du weinſt ja, wie ein kleines Mädchen, Freund
Patroklus, das der Mutter nachläuft und nimm mich
ſchreit, und ſich lang an ihr Kleid anklammert, bis die
Mutter es aufhebt! Bringſt du meinen Myrmidonen,
mir oder dir ſelbſt ſchlimme Botſchaft aus Phthia? Ich
weiß doch, dein Vater Menötius lebt, mein Vater Peleus
lebt! Oder beklagſt du vielleicht das Volk von Argos,
daß es ſo jämmerlich zu Grunde geht, zum Lohn ſeines
eigenen Frevels? Rede nur immer ehrlich heraus und
laß mich Alles wiſſen!“
Schwer ſeufzte bei dieſer Frage Patroklus auf, und
ſprach endlich: „Zürne mir nicht, erhabenſter Held! Aller¬
dings laſtet der Gram der Griechen ſchwer auf meiner
Seele! Alle Tapferſten liegen von Wurf oder Stoß ver¬
[216] wundet bei den Schiffen umher; wund iſt Diomedes; lan¬
zenwund Odyſſeus und Agamemnon; den Eurypylus traf
ein Pfeil in den Schenkel: ſie alle ſind den Aerzten zur
Heilung übergeben, ſtatt daß ſie in [unſern] Reihen kämpfen
ſollten. Du aber bleibſt unerbittlich; nicht Peleus und
Thetis, der Menſch und die Göttin, können deine Eltern
ſeyn; dich muß das finſtre Meer oder ein ſtarrer Fels
geboren haben, ſo unfreundlich iſt dein Herz! Nun denn,
wenn die Worte deiner Mutter und ein Beſcheid der Göt¬
ter dich zurückhalten: ſo ſende wenigſtens mich und deine
Krieger ab, ob wir den Griechen nicht vielleicht
Troſt bringen. Laß mich deine eigene Rüſtung anlegen:
leicht mag es ſeyn, wenn die Trojaner mich ſehen und
dich zu erblicken glauben, daß ſie vom Kampf abſtehen
und den Danaern Zeit laſſen, ſich zu erholen!“
Aber Achilles erwiederte unmuthig: „Wehe mir,
Freund! Nicht das Wort meiner Mutter, auch kein
Götterausſpruch hindert mich; nur der bittere Schmerz, daß
ein Grieche es gewagt hat, mich, den Ebenbürtigen, des
Ehrengeſchenks zu berauben, frißt mir an der Seele.
Dennoch habe ich mir nicht vorgeſetzt, ewig zu grollen,
und war von jeher entſchloſſen, wenn das Schlachtgetüm¬
mel bis zu den Schiffen gelangen ſollte, meinem Groll
Abſchied zu ſagen. Selber Antheil am Kampfe zu nehmen,
kann ich mich zwar noch nicht entſchließen; du aber hülle
immerhin deine Schultern in meine Rüſtung, und führe
auch unſer ſtreitbares Volk zum Kampfe. Stürze mit
aller Macht auf die Trojaner, und treibe ſie aus den
Schiffen fort! Nur an Einen lege die Hände nicht, und
dieß iſt Hektor; auch hüte dich, daß du nicht einem Gott
in die Hände falleſt: denn Apollo liebt unſre Feinde!
[217] Wenn du die Schiffe gerettet haſt, kehre wieder um. Die
Andern mögen ſich dann auf dem offenen Felde gegenſeitig
ermorden; denn eigentlich wäre es doch am Beſten, wenn
gar kein Trojaner von Allen und auch kein Danaer davon
käme, und wir zwei allein der Vertilgung entgingen und
Troja's Mauern niederreiſſen könnten!“
Bei den Schiffen athmete inzwiſchen Ajax immer
ſchwerer: ſein Helm raſſelte von feindlichen Geſchoſſen,
die Schulter, vom aufliegenden Schilde beſchwert, fing
an, ihm zu erſtarren: der Angſtſchweiß floß ihm von den
Gliedern herab, und keine Erholung durfte er ſich gönnen.
Als nun vollends Hektors Schwert ihm die Lanze dicht
am Oehre durchſchmetterte, daß der verſtümmelte Theil
in ſeiner Hand blieb, und die eherne Spitze klirrend auf
den Boden fiel, da erkannte Ajax, daß die Gewalt eines
Gottes den Griechen entgegen ſey, und entwich dem Ge¬
ſchoß. Und nun warf Hektor mit den Seinigen einen
mächtigen Feuerbrand in das Schiff, und bald ſchlug die
Flamme lodernd um das Steuerruder zuſammen.
Als Achilles von ſeinem Zelt aus das Feuer von dem
Schiffe auflodern ſah, da durchzuckte auch den unbeug¬
ſamen Helden der Schmerz. „Auf, edler Patroklus,“
rief er, „erhebe dich, daß ſie die Schiffe nicht nehmen
und den Unſrigen jeden Ausweg verſperren! Ich ſelbſt
will hingehen, mein Volk zu verſammeln.“ Patroklus war
des Wortes froh, das er aus dem Munde ſeines Freun¬
des vernommen hatte; eilig legte er die Beinſchienen an,
ſchnallte den kunſtvoll gearbeiteten Harniſch um die Bruſt,
hing ſich das Schwert um die Schulter, ſetzte den von
Roßhaaren umwallten Helm aufs Haupt, griff mit der
Linken zum Schilde, mit der Rechten faßte er zwei
[218] mächtige Lanzen. Gern hätte er den mörderiſchen Speer
ſeines Freundes Achilles ſelbſt genommen, der aus einer
Eſche des theſſaliſchen Berges Pelion gezimmert war und
den ſein Erzieher, der Centaure Chiron, dem Vater Pe¬
leus geſchenkt hatte; dieſer aber war ſo groß und ſchwer,
daß ihn auſſer dem Peliden kein anderer Held ſchwingen
konnte. Nun ließ Patroklus ſeinen Freund und Wagen¬
lenker Automedon die Roſſe Xanthus und Balius anſchir¬
ren, die unſterblichen Kinder der Harpyie Podarge und
des Zephyrus, die Achilles einſt aus der Stadt Thebe als
Beute fortgeführt hatte: Achilles aber rief ſein Myrmido¬
nenvolk unter die Waffen, und dieſe ſtürmten ſchlacht¬
begierig, hungrigen Wölfen gleich, herbei, je fünfzig
Männer aus den fünfzig Schiffen; ihre Schlachtreihen
führten fünf Kriegsoberſten: Meneſthius, der Sohn des
Stromgottes Sperchius; Eudorus, der Sohn Merkurs und
der Jungfrau Polymele; Piſander, der Sohn des Mämalus,
nach Patroklus der beſte Kämpfer in der Schaar; endlich
der ergraute Phönix und Alcimedon, der Sohn des Laerkes.
Den Abziehenden rief der Pelide zu: „Vergeſſe mir
Keiner, ihr Myrmidonen, wie oft ihr während meines
Zornes den Trojanern gedroht und unmuthig meine Galle
geſcholten habt, welche die Streitgenoſſen mit Zwang vom
Kampfe zurückhalte. Endlich iſt die Stunde, nach der ihr
geſchmachtet, erſchienen: kämpfe nun, wem es das mu¬
thige Herz befiehlt!“ Als er ſo geſprochen, zog er ſich
in ſein Zelt zurück und holte aus dem Kaſten, den, voll
von Leibröcken, Decken und Mänteln, auch andern koſt¬
baren Dingen, ſeine Mutter Thetis ihm mit aufs Schiff
gegeben hatte, einen kunſtreichen Becher hervor, aus dem
kein anderer Mann je den funkelnden Wein getrunken
[219] hatte, und kein anderer Gott Dankopfer empfangen hatte,
als der Donnerer. Aus dieſem ſpendete er auch jetzt, in
die Mitte ſeines Hofes tretend, unter Gebete dem Vater
Jupiter, und bat ihn, den Griechen Sieg zu verleihen,
ſeinen Waffengenoſſen Patroklus aber unverletzt zu den
Schiffen zurückzugeleiten. Zu der erſten Bitte winkte Zeus
Gewährung, zur zweiten ſchüttelte er ſein Haupt, beides
von dem Helden ungeſehen. Achilles ging in ſein Zelt
zurück, den Becher wieder aufzubewahren, dann ſtellte er ſich
wieder vor ſein Zelt, um dem blutigen Kampfe zwiſchen
Griechen und Trojanern zuzuſehen.
Die Myrmidonen zogen indeſſen, den Führer Patro¬
klus an der Spitze, wie ein Weſpenſchwarm am Heerweg.
Als die Trojaner ihn kommen ſahen, ſchlug ihnen das
Herz vor Schrecken und ihre Geſchwader geriethen in
Verwirrung, denn ſie glaubten, Achilles ſelbſt habe ſich,
den Groll aus der Seele verbannt, von den Zelten auf¬
gemacht, und ſchon fingen ſie an umherzublicken, wie ſie
dem Verderben entrinnen könnten. Patroklus benützte ihre
Furcht und ſchwang ſeine blinkende Lanze gerade in ihre
Mitte hinein, wo am Schiffe des Proteſilaus das Getüm¬
mel am ſtärkſten war. Sie traf den Päonier Pyrächmes,
daß er, an der rechten Schulter durchbohrt, wehklagend
rücklings auf den Boden taumelte, und die Päonier um
ihn her, alle betäubt, vor dem gewaltigen Patroklus flüch¬
teten. Das Schiff blieb halbverbrannt ſtehen; angſtvoll
flohen alle Trojaner, die Danaerhaufen ſtürzten ſich in
die Schiffsgaſſen zur Verfolgung; allenthalben tobte der
Aufruhr. Doch faßten ſich die Trojaner bald wieder und
die Griechen ſahen ſich genöthigt, Mann für Mann zu Fuß
zu kämpfen: Patroklus durchſchoß dem Arilycus den Schenkel;
[220] Menelaus bohrte dem Thoas die Lanze in die Bruſt;
Meges, der Neffe des Odyſſeus, durchſtach dem Am¬
phiclus die Wade; Antilochus, Neſtors Sohn, durchſtieß
dem Atymnius die Weiche; da flog Maris, voll Zorn
über den Fall des Bruders, auf Antilochus zu, ſtellte ſich
vor den Erſchlagenen und drohte mit der Lanze; doch ihm
durchbohrte Thraſimedes, Neſtors andrer Sohn, Schulter
und Arm-Ende mit dem Speer, daß er ſterbend zuſammen¬
ſank. Als ſo Brüder die Brüder zu Boden geſtreckt hat¬
ten, ſprang auch der ſchnelle kleine Ajax hervor und hieb
dem vom Gedränge gehinderten Kleobulus auf der Flucht
das Schwert in den Nacken. Penelus und Lykon rann¬
ten, beide ſich verfehlend, mit den Lanzen gegeneinander;
aber im Schwertkampf ſiegte der Danaer; Meriones traf
den Akamas, als er eben den Wagen beſtieg, und durch¬
bohrte ihm unter dem Hirn das Gebein des Kopfes, daß
ihm die Zähne einſtürzten und er Blut zu Mund und
Naſe herausröchelte.
Der große Ajax ſann auf nichts anderes, als wie er
mit dem Speere Hektorn treffen könnte: dieſer aber, voll
Kriegserfahrung, deckte ſich mit ſeinem ſtierledernen Schilde,
daß Pfeile und Wurfſpieße daran abprallten. Zwar hatte
der Feldherr bereits erkannt, daß der Sieg ſich von ihm
und den Seinen abgewendet habe, dennoch verweilte er
unerſchüttert in der Schlacht, und dachte wenigſtens darauf,
ſeine theuren Genoſſen zu beſchützen und zu retten. Erſt
als der Andrang unwiderſtehlich wurde, kehrte er mit ſei¬
nem Wagen um und flog mit ſeinen vortrefflichen Roſſen
über den Graben. Die andern Trojaner waren nicht ſo
glücklich; viele Roſſe ließen hier und dort im Graben die
Wagen ihrer Herren zerſchmettert an der Deichſel zurück;
[221] doch was glücklich hinüberkam, ſtäubte in der eiligſten
Flucht nach der Stadt zurück, und Patroklus ſprengte mit
tönendem Rufe den noch dieſſeits des Grabens Dahinflie¬
genden nach: viele ſtürzten kopfüber unter die Räder ihrer
Wagen, und geborſtene Sitze krachten. Endlich ſprang
das unſterbliche Roſſegeſpann des Peliden auch über den
Graben, und Patroklus trieb ſie an, den auf ſeinem Wa¬
gen dahineilenden Hektor zu erreichen. Dabei mordete er
zwiſchen Schiffen, Mauer und Strom, was er antraf.
Pronous, Theſtor, Eryalus und neun andere Troer waren
auf ſeinem ſtürmenden Weg theils dem Speerſchwunge,
theils dem Lanzenſtiche, theils dem Steinwurfe des Siegers
erlegen. Mit Schmerz und Ingrimm ſah dieß der Lycier
Sarpedon, ermahnte ſcheltend ſeine Heerſchaar und ſprang
gerüſtet von ſeinem Wagen zur Erde. Patroklus that ein
Gleiches, und nun ſtürzten ſie ſchreiend gegeneinander wie
zwei ſcharfklauige, krummſchnäblige Habichte. Mit Er¬
barmen ſah Jupiter auf ſeinen Sohn Sarpedon hernie¬
der vom Olymp; aber Juno ſchalt ihn und ſprach:
„Was denkſt du, Gemahl! Einen Sterblichen willſt du
ſchonen, der dem Tode doch ſchon längſt verfallen iſt?
Bedenke, wenn alle Götter ihre Söhne aus der Schlacht
entführen wollten, was aus den Geſchicken, die du ſelber
zu vollführen beſchloſſen haſt, alsdann würde. Glaube
mir, es iſt beſſer, du läſſeſt ihn in der Feldſchlacht um¬
kommen, übergibſt ihn dem Schlaf und dem Tode und
geſtatteſt ſeinem Volk, ihn aus dem Getümmel zu tragen,
und dereinſt in Lycien unter Grabhügel und Säule zu be¬
ſtatten!“ Jupiter ließ die Göttin gewähren und nur eine
Thräne fiel aus ſeinem Götterauge herab auf die Erde,
dem fallenden Sohne geweiht.
[222]
Die beiden Kämpfer hatten ſich jetzt einander auf
Schußweite genähert. Patroklus aber traf zuerſt den
tapfern Genoſſen Sarpedons, Thraſymelus; Sarpedons
Speer verfehlte zwar den Helden, ſtieß aber dafür dem
Beiroſſe Pedaſus, das ſterblich war, den Speer in die
rechte Schulter; bei dem Stürzen des röchelnden wären
auch die zwei unſterblichen Roſſe ſcheu geworden: das
Joch knarrte ſchon, die Zügel verwirrten ſich, und ſie
wären ausgeriſſen, wenn nicht der Wagenlenker Automedon
ſchnell ſein Schwert von der Hüfte geriſſen und den Strang
des getödteten Roſſes zerhauen hätte.
Ein zweiter Lanzenwurf Sarpedons verfehlte den
Gegner wieder, der Speer des Patroklus aber traf die߬
mal den Lycier ins Zwerchfell und er fiel zu Boden, wie
eine Bergtanne unter der Axt, knirſchte mit den Zähnen
und griff mit der Hand in den blutigen Staub. Sterbend
rief er ſeinen Freund Glaukus auf, mit den Lycierſchaaren
ſich um ſeinen Leichnam zu werfen, und verſchied. Da
betete Glaukus zu Phöbus Apollo, ihm die Armwunde zu
heilen, die Teucer ihm bei Erſtürmung der Mauer mit
dem Pfeile beigebracht hatte, und die ihn noch immer
quälte, und zum Kampf unthätig machte. Der Gott er¬
barmte ſich ſeiner und ſtillte auf der Stelle den Schmerz.
Nun durcheilte er die Reihen der Trojaner und rief die
Helden Polydamas, Agenor und Aeneas, Sarpedons
Leichnam zu ſchützen, auf. Die Fürſten trauerten, als ſie
den Tod des Mannes vernahmen, der, obwohl aus frem¬
dem Geſchlechte, doch ihre Stadt wie eine Säule ſtützte,
aber ihre Trauer war nicht feige. Wild drangen ſie auf
die Danaer ein, und ihnen allen flog Hektor voran. Die
Griechen dagegen entflammte Patroklus und ſo rannten
[223] ſie gegeneinander mit grauenvollem Geſchrei, um die Leiche
des gefallenen Sarpedon kämpfend. Als einer ihrer tapfer¬
ſten Krieger, Epigeus, der Sohn des Agakles, von einem
Steinwurfe Hektors gefallen war, fingen zuerſt die Myrmi¬
donen an zu weichen. Patroklus aber, den der Tod des
Freundes bitter ſchmerzte, ſtürzte ſich ins vorderſte Ge¬
wühl, zerſchmetterte dem Troer Sthenelaus den Rücken,
und brachte die Trojaner wieder zum Weichen. Endlich
kehrte ſich unter dieſen Glaukus zuerſt wieder um, und
durchſtach den Myrmidonen Bathykles mit der Lanze; da¬
gegen traf Meriones den Laogonus, deſſen Vater Onetor
Prieſter des idäiſchen Zeus war: den Meriones aber ver¬
fehlte der Speer des gewaltigen Aeneas. Während dieſe
Hohnworte mit einander wechſelten, rief Patroklus ihnen
zu: „Was ſchwatzet ihr, Helden? Im Arme ſucht der
Krieg die Entſcheidung!“ Und damit drang er an der
Spitze der Seinigen auf den Leichnam ein, und die Troer
erwehrten ſich ſeiner, daß die Leiche bald vom Haupte
bis an die Sohlen von Geſchoſſen, Staub und Blut zu¬
gedeckt war.
Jupiter, der dem Kampfe aufmerkſam zuſchaute, be¬
dachte ſich eine Weile über den Tod des Patroklus, aber
es däuchte ihm beſſer, dieſem vorerſt noch Sieg zu verlei¬
hen, und ſo drängte denn der Freund des Peliden die
Trojaner ſammt den Lyciern zurück und der Stadt zu.
Die Griechen beraubten den gefallenen König der Rüſtung,
und eben wollte ihn Patroklus ſeinen Myrmidonen über¬
geben, als Apollo auf Jupiters Geheiß vom Gebirge in
die Feldſchlacht herunter fuhr, den Leichnam auf ſeine
göttlichen Schultern nahm, und ihn fern an den Strom
des Skamander trug. Hier ſpülte er ihn im Gewäſſer
[224] rein, ſalbte ihn mit Ambroſia und gab ihn den Zwillingen
Schlaf und Tod hinwegzutragen. Dieſe flogen mit ihm
davon und brachten ihn in ſein lyciſches Heimathland.
Aber Patroklus, vom böſen Geſchicke getrieben, mun¬
terte ſeinen Wagenlenker und ſeine Roſſe auf, und rannte
den Trojanern und Lyciern nach, ins eigne Unheil. Neun
Troern zog er ihre Rüſtungen vom erlegten Leichnam ab,
und tobte ſo unaufhaltſam im Lanzenkampfe voran, daß
er die gethürmte Stadt Troja ſelbſt erobert hätte, wäre
nicht auf dem feſteſten Thurme der Gott Apollo ge¬
ſtanden, und hätte auf das Verderben des Helden und
auf die Beſchirmung der Trojaner geſonnen. Dreimal
ſtieg der Sohn des Menötius zur hervorragenden Mauerecke
heran, und dreimal verdrängte ihn Apollo mit unſterb¬
licher Hand, den leuchtenden Schild ihm entgegen haltend,
und ſein „Weiche!“ rufend. Da entwich Patroklus mit
eilendem Schritte vor dem Befehl des Gottes.
Am ſkäiſchen Thore hielt der fliehende Hektor mit
ſeinen Roſſen inne, und beſann ſich einen Augenblick, ob
er ſie ins Schlachtgetümmel zurücktreiben oder ſeinem
Volke gebieten ſollte, ſich in die Mauern der Stadt ein¬
zuſchließen. Während er ſo unentſchloſſen die Zügel an¬
zog, nahte ſich ihm Phöbus in der Geſtalt von Hecuba's
Bruder Aſius, der ein Oheim des Fürſten war, und
ſprach zu ihm: „Hektor, was entziehſt du dich dem Kampfe?
Wär' ich ſo viel ſtärker, denn du, als ich ſchwächer bin,
ich wollte dich für deine Unthätigkeit zum Hades ſenden.
Aber wohlan, wenn du nicht gern ſolche Worte hörſt,
lenke deine Roſſe dem Patroklus zu; wer weiß, ob dir
Apollo nicht den Sieg ſchenkt.“ So raunte ihm der ver¬
mummte Gott ins Ohr und verlor ſich im Gewühl der
[225] Schlacht. Da ermunterte Hektor ſeinen Wagenlenker
Kebriones, einen Baſtard ſeines Vaters, die Roſſe wie¬
der in die Schlacht zu treiben, und Apollo drang vor ihm
her in die Reihen der Griechen ein und richtete Verwir¬
rung unter ihnen an. Hektor aber rührte keinen andern Achi¬
ver an, ſondern ging geraden Laufes auf Patroklus allein los.
Als dieſer ihn herannahen ſah, ſprang er aus dem
Wagen, in der Linken den Speer, mit der Rechten einen
zackigen Marmorſtein vom Boden aufleſend, mit dem er
ſofort den Kebriones zum Tod an die Stirne traf, daß
der Wagenlenker auf den Boden hinabſtürzte. Patroklus
ſandte dem Fallenden beiſſenden Spott nach und rief:
„Bei den Göttern, ein behender Mann! Wie leicht er
ſich in den Staub taucht! Hat er das Taucherhandwerk
etwa auf dem Meere gelernt, und einen Auſternhandel
getrieben?“ Mit dieſen Worten ſprang er wie ein Löwe
auf die Leiche des zu Boden Geſunkenen ein, und Hektor
wehrte ſich um ſeinen Halbbruder; dieſer faßte das Haupt
des Erſchlagenen, Patroklus den Fuß, und von beiden
Seiten ſchlugen Troer und Danaer drein, wie wenn Oſt-
und Südwind miteinander kämpfen. Gegen Abend ent¬
ſchied ſich das Gefecht zu Gunſten der Achiver: ſie ent¬
riſſen die Leiche des Kebriones den Geſchoſſen, und beraub¬
ten ihn ſeiner Rüſtung. Und nun warf ſich Patroklus mit
verdoppelter Wuth auf die Trojaner und erſchlug ihrer
dreimal neune. Aber als er das viertemal angeſtürmt kam,
lauerte der Tod auf ihn, denn Phöbus Apollo ſelbſt be¬
gegnete ihm in der Schlacht. Patroklus bemerkte den
Herannahenden nicht, denn er war in dichtes Nebelgewölk
eingehüllt. Apollo aber ſtellte ſich hinter ihn und verſetzte
dem Helden mit der flachen Hand einen Schlag auf Rücken
Schwab, das klaſſ. Alterthum. lI. 15[226] und Schulter: da ſchwindelte es ihm vor den Augen;
alsdann ſchlug der Gott ihm den Helm vom Haupte, daß
er weit hin in den Sand klingend unter die Pferdehufe
dahin rollte und der Helmbuſch mit Staub und Blut be¬
ſudelt ward. Nun zerbrach er ihm die Lanze in der Hand,
löſte ihm den Schildriemen von der Schulter und den
Harniſch vom Leibe, und betäubte ihm ſein Herz, daß er
vor ſich hinſtarrend daſtand. Nun durchbohrte ihn Euphor¬
bus, der Sohn des Panthous, ein tapferer Krieger, der
ſchon zwanzig Griechen gefällt hatte, von hinten mit der
Lanze, und eilte in die Heerſchaar zurück. Hektor aber
rannte jetzt wieder aus der Schlachtreihe hervor, und ſtieß
dem ſchon verwundeten von vorne den Speer in die
Weiche des Bauchs, daß die Erzſpitze hinten wieder her¬
vordrang. So bezwang er ihn, wie ein Löwe den Eber
am Gebirgsquell bezwingt, wohin ſie beide zu trinken
gekommen ſind. Er entriß ihm mit dem Speere zugleich
das Leben, und rief frohlockend: „Ha, Patroklus! Du
hatteſt im Sinn, unſre Stadt in einen Schutthaufen zu
verwandeln, und unſre Weiber als Mägde auf den Schif¬
fen in eure Heimath zu führen! Nun habe ich ihnen den
Tag der Knechtſchaft wenigſtens aufgeſchoben, und dich
werden die Geier freſſen! Was hat dir nun dein Achilles
geholfen?“
Mit ſchwacher Stimme antwortete ihm der ſterbende
Patroklus: „Frohlocke du immerhin nach Herzensluſt,
Hektor! Jupiter und Apollo haben dir Siegesruhm ge¬
währt ohne Mühe, denn ſie ſind es, die mich entwaffnet
haben; ſonſt hätte meine Lanze dich und zwanzig deines
Gleichen gebändigt! Vor den Göttern hat mich Phöbus,
vor den Menſchen Euphorbus bezwungen. Du nimmſt
[227] mir nur die Rüſtung ab! Aber Eines verkünde ich dir:
du wirſt nicht lange mehr ſo einhergehen: das Verhängniß
ſteht dir ſchon zur Seite und ich weiß, durch wen du ſin¬
keſt!“ Er brachte mit Mühe dieſe Worte hervor, und die
Seele verließ die Glieder des Leibes und entflog hinunter
zum Hades. Hektor aber rief dem Geſtorbenen noch zu:
„Was willſt du mir da für Verderben weiſſagen, Patroklus?
Wer weiß, ob nicht Achilles ſelbſt von meiner Lanze durch¬
bohrt, ſein Leben aushauchen wird?“ Unter ſolchen Wor¬
ten zog er, die Ferſe anſtemmend, ihm den ehernen Speer
aus der Wunde und ſchwang den Todten rücklings auf
den Boden. Dann kehrte er die noch vom Blute des
Patroklus triefende Lanze gegen ſeinen Wagenlenker Auto¬
medon. Doch dieſen retteten die unſterblichen Roſſe vor
dem nachſprengenden Verfolger.
Um die Leiche des Patroklus zankten ſich derweil mit
den Waffen Euphorbus der Trojaner, und Menelaus der
Atride. „Du ſollſt es mir büßen,“ rief jener, „daß du
mir den Bruder Hyperenor erſchlagen und ſein Weib zur
Wittwe gemacht!“ Und damit rannte er mit der Lanze
gegen den Schild des Atriden an, aber die Eiſenſpitze
bog ſich. Nun erhob auch Menelaus die Lanze und bohrte
ſie dem Feinde mitten in den Schlund, daß die Spitze
zum Genicke herausdrang, und ſein zierlich gelocktes, mit
Gold und Silber durchringeltes Haar vom Blute trof.
So ſank er in den Staub, unter dem Klirren ſeiner Waf¬
fen, deren ihn ſofort Menelaus beraubte; und er hätte
die Rüſtung fortgetragen, wenn ihn nicht Apollo darum
beneidet hätte. Dieſer aber ſpornte den Hektor, in Geſtalt
des Mendes, des Fürſten der Cikonen, an, von den un¬
ſterblichen Roſſen des Peliden, die Automedon entführte,
15 *[228] als einer unerreichbaren Beute, abzulaſſen, und ſich wieder
der Leiche des Euphorbus zuzuwenden. Er kehrte um,
und plötzlich ward er den Fürſten Menelaus gewahr, wie
er ſich die herrliche Wehre des Euphorbus, über den
blutenden Leichnam hingebückt, zueignete. Dieſer vernahm
den ſchmetternden Weheruf des trojaniſchen Helden, und
mußte ſich erröthend geſtehen, daß er dem mit ſeinen
Troerſchaaren heranſtürmenden Hektor nicht Stand halten
könne. So wich denn Menelaus, Leichnam und Rüſtung
zurücklaſſend, doch nur unwillig, ſchaute ſich, zurückeilend,
von Zeit zu Zeit um, ſtand ſtill und ſuchte den großen
Ajax in der Schlacht. Als er ihn endlich zur Linken im
Gemenge des Treffens erkannte, eilte er auf ihn zu und
forderte ihn auf, mit ihm ſelbſt dem Kampf um die Leiche
des Patroklus zuzueilen. Es war die höchſte Zeit, als
beide ſich wieder dem Platze näherten, wo der Sohn des
Menötius gefallen war. Denn Hektor beſchäftigte ſich
eben damit, nachdem er dem Leichnam des Patroklus die
Rüſtung abgezogen, dieſen an ſich zu ziehen, um ihm mit
dem Schwerte den Kopf von der Schulter zu hauen, und
den geſchleiften Leib den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.
Wie er aber den Ajax unter ſeinem ſiebenhäutigen Stier¬
ſchilde herannahen ſah, ließ er von dem blutigen Vorha¬
ben ab, und flüchtete ſich ſchnell in die Schaar ſeiner
Streitgenoſſen zurück. Dort ſprang er empor in ſeinen
Wagen, und übergab die Rüſtung des Patroklus den
Freunden, damit ſie ihm dieſelbe zur Stadt trügen, wo
ſie als Denkmahl ſeines Ruhmes aufbewahrt werden ſollte.
Vor die Leiche ſelbſt warf ſich Ajax wie ein Löwe vor
ſeinen Jungen hin, und neben ihm ſtellte ſich Mene¬
laus auf.
[229]
Glaukus der Lycier aber heftete einen finſtern Blick
auf Hektor und ſprach zu ihm die ſtrafenden Worte:
„Umſonſt erhebt dich der Ruf, Hektor, wenn du dich ſo
zagend vor dem Helden flüchteſt! Denke nur darauf,
wie du allein die Stadt vertheidigeſt! Wenigſtens ficht
hinfort kein Lycier mehr an deiner Seite. Denn welchen
geringeren Mann im Heere wirſt du vertheidigen, nachdem
du unſern Fürſten Sarpedon, deinen Gaſtfreund und
Kampfgenoſſen, den Danaern und den Hunden preisgege¬
ben, haſt liegen laſſen? Wären die Trojaner an Kühn¬
heit uns gleich, ſo würden wir bald die Leiche des Pa¬
troklus in die Mauern Troja's hereinziehen; dann würden
die Achiver auch bald den Leichnam Sarpedons abliefern,
um nur wieder ſeine Rüſtung zu erhalten!“ Es wußte
nämlich Glaukus nicht, daß Apollo die Leiche Sarpedons
den Griechen entführt hatte.
„Du biſt nicht klug, Freund Glaukus,“ erwiederte
Hektor, „wenn du meinſt, ich fürchte mich vor der Ueber¬
macht des Ajax. Noch kein Kampf je hat mir Grauen
gemacht. Aber Jupiters Rathſchluß iſt mächtiger, als
unſre Tapferkeit. Jetzt jedoch tritt näher, mein Freund,
ſchau mein Thun an, und urtheile, ob ich ſo verzagt ſey,
wie du ſo eben geſprochen!“ Mit dieſen Worten flog er
ſeinen Freunden nach, welche die Waffen des Peliden,
die Patroklus angethan hatte, als Beute der Stadt zu¬
trugen. Er vertauſchte, bei ihnen angekommen, ſeine eigne
Rüſtung mit der Rüſtung des Achilles, und zog die unſterb¬
liche Wehre an, welche die Götter des Himmels ſelbſt
dem Helden Peleus bei ſeiner Hochzeit mit der Meeres¬
göttin Thetis geſchenkt hatten, und die der Vater dem
[230] Sohne übergeben, als er zu altern anfing. Aber der
Sohn ſollte nicht alt werden in den Waffen des Vaters.
Als der Herr der Götter und Menſchen aus der
Höhe zuſchaute, wie Hektor die Waffen des göttergleichen
Helden Achilles anlegte, ſchüttelte er mit trübem Ernſte
ſein Haupt und ſprach in ſeines Herzens Tiefe: „Du
Armer, du ahneſt doch auch gar nichts von dem Todes¬
geſchicke, das ſchon an deiner Seite geht. Du haſt dem
erhabenen Helden, vor dem auch Andere zittern, ſeinen
geliebten Freund erſchlagen, haſt ihm von Haupt und
Schultern die Rüſtung abgezogen, und ſchmückſt dich jetzt
mit der unſterblichen Wehr des Sohnes der Göttin. Den¬
noch, weil dich keine Wiederkehr aus der Schlacht erwar¬
tet, und dir deine Gattin Andromache dieſe ſchönen Waf¬
fen nicht ablöſen, und dich nie mehr begrüßen wird, ſo
will ich dir zur Entſchädigung noch Einmal Siegesruhm
verleihen.“ Als Jupiter ſo ſprach, ſchloß ſich die Rüſtung
enger an Hektors Leib, der kriegeriſche Geiſt des Mars
durchdrang ihn, ſeine Glieder ſtrotzten ihm innerlich von
Kraft und Stärke. Mit lautem Zuruf ſprengte er zu den
Bundesgenoſſen und führte ſie ermunternd, mit erhöhten
Lanzen, gegen den Feind. Da entbrannte der Kampf
aufs Neue um des Patroklus Leiche, und Hektor wüthete
ſo mit Morden, daß Ajax ſelbſt zu Menelaus ſprach:
„Trauter Held, ich bin nicht mehr ſo ſehr um unſern
todten Patroklus beſorgt, der nun einmal die Speiſe tro¬
janiſcher Vögel und Hunde werden muß, als um mein
eigenes Haupt und um das deine. Denn Hektor umringt
uns mit ſeinen Kriegsſchaaren wie eine Wolke. Verſuch
es daher, ob die Helden der Danaer unſern Hülferuf
[231] nicht hören!“ Menelaus erhub ſeine Stimme, ſo laut er
vermochte, und der Erſte, der den Ruf hörte, war Ajax
der Lokrer, des Oleus ſchneller Sohn; dieſer flog zuerſt
herbei; dann Idomeneus mit ſeinem Streitgenoſſen Me¬
riones, und bald unzählige Andere, ſo daß die Griechen
bald wieder den Leichnam mit ihren Erzſchilden umzäunt
hielten. Doch wurden ſie von den Trojanern ſo bedrängt,
daß dieſe ſchon die Leiche hinwegzuziehen anfingen; bald
aber gelang es dem herrlichen Ajax, der Noth zu ſteuern,
und während Hippothous der Pelasger, ein troiſcher Bun¬
desgenoſſe, die Sehnen des Leichnams unten am Knöchel
mit Riemen umband, um ihn ſo fortzuſchleppen, ſchlug
ihm der Speer des Telamoniers durch die Kuppel des
Helms, daß dieſer zerborſt und das Gehirn aus der
Wunde blutig am Speer emporſpritzte. Hektor zielte jetzt
auf Ajax, aber er traf nur den Phocäer Schedius; Ajax
durchſtieß dafür Phorkys, dem Sohne des Phänops, der
um den Leichnam des Hippothous kämpfte, den Panzer,
daß die Spitze ihm ſchmetternd ins Eingeweide fuhr. Nun
wichen die Trojaner und Hektor ſelbſt, und gegen Jupiters
Beſchluß hätten die Griechen geſiegt, wenn nicht Apollo,
in der Geſtalt des Helden Periphas, des greiſen Herolds,
den gewaltigen Aeneas zum Kampf angetrieben hätte.
Dieſer erkannte den Gott, feuerte die Seinigen mit mäch¬
tigem Zuruf an, und focht ſelbſt, weit voranſpringend,
bald als der Vorderſte im Streite. Jetzt wandten die
Trojaner die Stirne wieder dem Feinde zu. Aeneas
durchſtach den Leokritus, den Genoſſen des Lykomedes;
dieſer rächte den Tod des Freundes an Apiſaon dem
Päonier: und jetzt ſtreckten die Griechen ihre Lanzen alle
dem Leichnam wieder vor.
[232]
So, während die Schlacht auch an andern Punkten
nicht feierte, wetteiferten ſie hier den ganzen Tag in im¬
mer wüthender Mordluſt, und über Schenkel und Knie,
bis zu den Füßen hinab, trof den Streitern der Schweiß.
„Schlinge uns,“ riefen die Danaer, „lieber der Boden
hinab, als daß wir dieſen Leichnam den Trojanern über¬
laſſen, und ohne Ruhm zu den Schiffen kehren!“ „Und
müßten wir,“ ſchrien dagegen die Trojaner, „Alle mitein¬
ander bei dieſem Manne ſterben, ſo ſäume doch Keiner
im Kampf!“
Während ſie ſo ſtritten, ſtanden die unſterblichen Roſſe
des Achilles abwärts vom Schlachtfeld. Als ſie vernom¬
men, daß ihr Wagenlenker Patroklus, von der Hand
Hektors ermordet, im Staube geſtreckt liege, fingen ſie an
zu weinen, wie Menſchen thun. Vergebens bemühte ſich
Automedon, ſie jetzt mit der Geißel zu beflügeln, jetzt mit
Schmeichelworten, jetzt mit Drohungen anzutreiben. Nicht
heim zu den Schiffen wollten ſie gehen, nicht zu den
Griechen in die Feldſchlacht, ſondern wie die Säule, die
unbeweglich über dem Grabhügel eines Verſtorbenen ſteht,
ſtanden ſie beide vor dem Wagenſitze feſt, ihre Häupter
auf den Boden geſenkt; ihre Mähne ſank wallend und mit
Staub beſudelt aus dem Ringe des Jochs hervor, und
aus den Wimpern tropften ihnen heiße Thränen. Nicht
ohne Mitleid konnte ſie Zeus von ſeiner Höhe herab er¬
blicken. „Ihr armen Thiere,“ ſprach er bei ſich ſelbſt,
„warum haben wir euch ewig Junge, Unſterbliche, dem
ſterblichen Peleus geſchenkt! etwa daß ihr mit den unſeli¬
gen Menſchen Gram ertragen ſollet? Denn es gibt doch
nichts Jammervolleres auf Erden von Allem, was athmet
und ſich regt, als der Menſch! Aber umſonſt hofft Hektor,
[233] euch zu bändigen und an ſeinen Wagen zu ſpannen. Nim¬
mermehr geſtatte ich dieſes; iſt es nicht genug, daß er in
ſeiner Eitelkeit ſich rühmt, des Peliden Waffen zu beſitzen?“
Da beſeelte Jupiter die Roſſe mit Muth und edler Stärke.
Plötzlich ſchüttelten beide den Staub von den Mähnen und
ſprengten mit dem Wagen raſch unter Trojaner und
Griechen hinein. Automedon mußte ſie gewähren laſſen,
und wehrte ſich, ſo gut er konnte. Aber, allein auf dem
hohen Wagenſitze, war es ihm unmöglich, zugleich die
Roſſe zu lenken und die Lanze gegen den Feind zu ſchwin¬
gen. Endlich erſpähte ihn ſein Genoſſe Alcimedon, der
Sohn des Laerkes, und wunderte ſich, daß der Einſame
mit dem leeren Wagen ſich dem Schlachtgetümmel aus¬
ſetze. „Du biſt, nächſt meinem erſchlagenen Freunde Pa¬
troklus, der beſte Roſſebändiger, Alcimedon,“ rief ihm
jener zur Antwort zu; „wollteſt du Peitſche und Zügel
übernehmen, ſo überlaſſe ich dir die Roſſe und warte des
Kampfs.“
Wie ſich Automedon aus dem Sitze ſchwang, bemerkte
es Hektor und ſprach zu ſeinem Nebenkämpfer Aeneas:
„Schau, dort ſprengen die Roſſe des Achilles mit ſehr
unkriegeriſchen Lenkern in die Schlacht vor, iſt es dir
recht, ſo beſtürmen wir ſie: die Beute kann uns nicht
fehlen!“ Aeneas winkte, und beide ſprengten unter ihren
Schilden heran, Chromius und Aretus ihnen nach. Aber
Automedon betete zu Jupiter, und dieſer erfüllte ihm ſein
Herz mit ungewohnter Kraft: „Halt mir die ſchnaubenden
Roſſe dicht am Rücken, Alcimedon!“ rief er, und: „Ajax
herbei, Menelaus herbei, überlaßt den Geſtorbenen andern
Tapfern und wehret von uns Lebendigen das Verderben.
Uns bedrängen Hektor und Aeneas, die tapferſten Helden
[234] Troja's!“ Mit dieſen Worten ſchwang er die Lanze gegen
Aretus, und dieſe durchſtürmte den Schild und drang dem
Helden ins Gedärm, daß der Vorſpringende in den Staub
zurückſank. Dann warf Hektor ſeinen Speer auf Autome¬
don, aber dieſer fuhr über das Haupt des Gegners zitternd
in die Erde. Und jetzt wären ſie ſich im Schwertkampfe
begegnet, hätte nicht die Ankunft der beiden Ajax die
Streitenden getrennt und die Trojaner zur Rückkehr nach
der Leiche des Patroklus vermocht.
Dort flammte der Entſcheidungskampf wieder heftiger
auf. Dem Jupiter hatte ſich das Herz gewandt; in
dunkler Wolke ſenkte ſich ſeine Botin Athene hernieder,
und ſtellte ſich in des alten Phönix Geſtalt, ſichtbar ge¬
worden, neben Menelaus. Dieſer ſprach, den Helden
erblickend: „Vater Phönix, möchte mir Athene heute Kraft
verleihen, ſo wollte ich dem todten Freunde wohl helfen,
denn ich verſtehe den Vorwurf deines Blickes.“ Da freute
ſich die Göttin, daß er unwiſſend zu ihr ſelber vor allen
Göttern gefleht, ſtärkte ihm Schultern und Kniee mit
Kraft, und gab ihm ausdauernden Trotz ins Herz. Schnell
eilte er, die Lanze ſchwingend, auf die Leiche zu, und
als Hektors geehrteſter Tiſchfreund, Podes, der Sohn
des Etion, ſich vor ihm zur Flucht wandte, traf ihn der
Speer des Atriden durchbohrend am Gurt, daß er in
dumpfem Falle zu Boden krachte. Jetzt trat Apollo in
Phänops Geſtalt zu Hektor und ermahnte dieſen: „Ei
Hektor, wer im ganzen Danaervolk wird dich künftig noch
fürchten, wenn ein Menelaus dich zurückzuſchrecken ver¬
mag? er hat dir deinen beſten Freund erſchlagen, und
jetzt wird er, der Weichlichſte unter allen Griechen, dir
auch die Leiche des Patroklus entführen!“ Dieſe Worte
[235] verſenkten das Herz Hektors in Schwermuth, und er eilte
im Glanze ſeiner Erzrüſtung voran. Jupiter aber ſchüt¬
telte die Aegide, hüllte den Ida in Wolken, und gab
durch Blitz und Donner den Trojanern das Zeichen
des Siegs.
Der Böotier Penelus, dem der Speer des Poly¬
damas die Schultern geſtreift, war der Erſte, der zur
Flucht umwendete. Den Letus machte Hektor kampfun¬
fähig, indem er ihm die Hand am Knöchel durchſtach;
ihn ſelbſt verfehlte der Speer des Idomeneus; und ſtatt
dieſen, der eben erſt zu Fuße von den Schiffen angekom¬
men war, mit dem Gegenwurfe zu treffen, durchſchmetterte
Hektors Speer Ohr und Wange des Köranus, der mit
Meriones und ſeinem Wagen dem Idomeneus zum Heile
vorangefahren war. Der Speer ſtieß ihm die Zähne aus
und durchſchnitt die Zunge, und der Held entſank dem
Wagen; Meriones hob die Zügel aus dem Staub auf
und gab ſie ſeinem Freund Idomeneus, der ſich ſchnell in
den Wagenſitz ſchwang und das Geſpann fliehend den
Schiffen zu trieb. Als der herrliche Ajax dieß ſah, brach
er gegen ſeinen Nebenſtreiter Menelaus in ſo lauten Jam¬
mer aus, daß Jupiter ſelbſt Mitleid mit ihm fühlte, das
Nebelgewölk zerſtreute und die Schlacht wieder von der
Sonne beleuchten ließ. „Sieh doch zu, Menelaus,“ ſprach
jetzt Ajax, „ob du nicht den Antilochus, den Sohn des
Neſtor, irgendwo noch lebend erblickſt. Der wär' uns ein
tauglicher Bote zu Achilles, ihm zu melden, daß ſein
Freund Patroklus todt im Staube liege.“ Menelaus ging
mit ſpähendem Blicke, wie ein Adler nach dem flüchtigen
Haſen ſpäht, der im Laubgeſträuch hingeduckt ſitzt, und
bald erkannte er ihn links im Gewühl des Treffens.
[236] „Weißeſt du noch nicht, Antilochus,“ rief er ihm zu, „daß
ein Gott den Danaern Unheil und den Trojanern Sieg
zugeſchleudert? Patroklus iſt geſunken, und alle Griechen
vermiſſen ihren tapferſten Helden; nur Ein Kühnerer lebt
noch, Achilles. Eile du zu dieſem ins Zelt und bring' ihm
die Trauerbotſchaft; ob er nicht kommen wird, den nackten
Leichnam zu retten, dem Hektor die Rüſtung ausge¬
zogen hat.“
Ein Schauer durchfuhr den Jüngling, ſein Auge füllte
ſich mit Thränen bei der Nachricht, und lange blieb er
ſtumm und ohne Sprache. Endlich gab er ſeinem Wagen¬
genoſſen Laodokon die Rüſtung und eilte fliegenden Laufes
den Schiffen zu. Als Menelaus wieder bei der Leiche
angekommen war, beredete er ſich mit Ajax, wie ſie beide
den erſchlagenen Freund hinwegziehen wollten, denn ſie
hofften ſelbſt von Achilles Ankunft wenig, da dieſer ſeiner
unſterblichen Wehre beraubt war. Sie huben den Leich¬
nam mit Gewalt hoch von der Erde empor, und obgleich
die Trojaner von hinten ein grauenvolles Geſchrei hören
ließen, und zuckend mit Schwertern und Lanzen folgten, ſo
brauchte ſich Ajax doch nur umzuwenden, daß ſie erblaßten
und ihnen die Bürde nicht ſtreitig zu machen wagten. So
trugen ſie mit großer Anſtrengung den Leichnam aus der
Schlacht zu den Schiffen, und mit ihnen flüchteten auch
die andern Griechen aus dem Treffen. Hektor und Aeneas
waren ihnen auf den Ferſen, und hier und dort entſank
den Fliehenden ein Waffenſtück, indem ſie in wilder Un¬
ordnung über den Graben zurückgingen.
[237]
Jammer des Achilles.
Antilochus fand den Helden vorn an den Schiffen
nachdenklich ſitzend, im Geiſte das Geſchick überſinnend,
deſſen Vollendung er noch nicht kannte. Als er die Grie¬
chen aus der Ferne flüchtig herannahen ſah, ſprach er
unmuthig zu ſich ſelbſt: „Wehe mir, was ſchwärmen doch
die Achiver voll Angſt durchs Gefilde den Schiffen wieder
zu? Werden doch die Götter nicht, mir zum Grame, das
Unglück verwirklichen, das meine Mutter mir einſt ver¬
kündigt hat, daß der tapferſte der Myrmidonen, ſo lang
ich noch lebte, das Leben durch die Hand der Trojaner
laſſen müſſe!“
Während er noch Solches erwog, kam Antilochus
weinend mit der Schreckensbotſchaft, und rief ihm ſchon
von ferne zu: „Wehe mir, Pelide, möchte es doch nie
geſchehen ſeyn, was du jetzt vernehmen mußt. Unſer
Patroklus iſt gefallen, ſie kämpfen um ſeinen nackten Leich¬
nam, die Waffen hat ihm Hektor abgezogen.“ Nacht
wurde es vor den Augen des Achilles, als er dieſes hörte;
mit beiden Händen griff er nach dem ſchwarzen Staube
und beſtreute Haupt, Antlitz und Gewand. Dann warf
er ſich ſelbſt, ſo rieſig er war, zu Boden, und raufte ſich
das Haupthaar aus. Jetzt ſtürzten auch die Sklavinnen,
die Achilles und Patroklus erbeutet hatten, aus dem Zelte
hervor, mit wankenden Knieen rannten ſie herbei, als ſie
ihren Herrn zu Boden geſtreckt ſahen, und da ſie inne
wurden, was geſchehen war, ſchlugen ſie wehklagend
an ihre Bruſt. Auch Antilochus ſchwamm in Thränen,
[238] jammernd und die Hände des Helden feſthaltend, denn
er fürchtete, dieſer möchte ſich mit dem Schwerte die
Kehle abſchneiden.
Achilles ſelbſt heulte ſo fürchterlich in die Lüfte hin¬
aus, daß ſeine Mutter im Abgrunde des Meeres, neben
ihrem grauen Vater ſitzend, die Stimme des Weinenden
vernahm, und ſelber ſo laut zu ſchluchzen anfing, daß ihre
ſilberne Grotte ſich bald mit den Nereiden füllte, die alle
zugleich an die Bruſt ſchlugen und die Wehklage mit der
Schweſter begannen. „Wehe mir Armen,“ rief dieſe
ihren Geſchwiſtern zu, „wehe mir unglücklicher Helden¬
mutter, daß ich einen ſo edeln, ſo tapfern, ſo herrlichen
Sohn gebar! Er wuchs empor, wie eine Pflanze von
Gärtnershand gepflegt, dann ſandt' ich ihn zu den Schif¬
fen gen Troja; aber nie ſehe ich ihn wieder, nie kehrt er
in den Pallaſt des Peleus zurück; und ſo lange er das
Sonnenlicht noch ſieht, muß er ſolche Qual dulden, und
ich kann ihm nicht helfen! Dennoch will ich mein geliebtes
Kind zu ſchauen gehen, will hören, welcher Kummer ihn
betraf, während er ungefährdet vom Kampfe bei den
Schiffen ſitzt!“ So ſprach die Göttin, und ſtieg mit den
Schweſtern durch die geſpaltenen Wogen hinan zum Ge¬
ſtade, tauchte bei den Schiffen ans Land und eilte dem
ſchluchzenden Sohne zu. „Kind, was weineſt du,“ rief
ſie, indem ſie unter Wehklagen ſein Haupt umſchlang,
„wer betrübt dir dein Herz? rede, verhehle mir nichts!
Iſt es doch Alles geſchehen, wie du gewollt haſt, die
Männer Griechenlands ſind um die Schiffe zuſammen¬
gedrängt und ſchmachten troſtlos nach deiner Hülfe!“
Endlich begann Achilles unter ſchweren Seufzern: „Mut¬
ter, was hilft mir das, ſeit mein Patroklus, der mir lieb
[239] war, wie mein eigenes Haupt, in den Staub geſunken iſt!
Meine eigenen köſtlichen Waffen, das Ehrengeſchenk, das
dem Peleus die Götter bei deiner Hochzeit dargebracht,
hat ihm ſein Mörder Hektor vom Leibe gezogen. O wohn¬
teſt du doch lieber immer im Meere, und hätte Peleus ein
ſterbliches Weib, ſo müßteſt du nicht unſterbliches Leid
tragen um deinen geſtorbenen Sohn; denn nie kehrt er
zur Heimath wieder! Ja das Herz ſelbſt verbietet mir,
lebend umherzuwandeln, wenn mir nicht Hektor, von mei¬
ner Lanze durchbohrt und ſein Leben aushauchend, den
Raub meines Patroklus büßt!“ Weinend antwortete The¬
tis: „Ach nur allzubald verblüht dir das Leben, mein
Sohn, denn gleich nach Hektor iſt dir dein eigenes Ende
beſtimmt.“ Aber Achilles rief voll Unmuth: „Möchte ich
doch auf der Stelle ſterben, da das Schickſal mir nicht
vergönnt hat, meinen gemordeten Freund zu vertheidigen.
Ohne meine Hülfe, fern von der Heimath mußte er ſter¬
ben; was hilft die Griechen nun mein kurzes Leben? Kein
Heil habe ich dem Patroklus, kein Heil unzähligen erſchla¬
genen Freunden gebracht. Bei den Schiffen ſitz' ich, eine
unnütze Laſt der Erde, ſo ſchlecht im Gefecht, wie kein
anderer Achiver, im Rathe beſiegen mich ohnedem andere
Helden. Verflucht ſey der Zorn bei Göttern und Men¬
ſchen, der zuerſt dem Herzen ſüß eingeht, wie Honig, und
bald wie eine Feuerflamme in der Mannesbruſt empor¬
wächst!“ Und plötzlich fuhr er, ſich ermannend, fort:
„Doch, Vergangenes ſey vergangen, ich gehe, den Mör¬
der des geliebteſten Hauptes zu haſchen, den Hektor. Mag
mein Loos mir werden, wann Zeus und die Götter es
wollen, wird doch manche Trojanerin, über mir mit beiden
Händen ſich die Thränen des Jammers von der Roſen¬
[240] wange trocknen, und zitternde Seufzer werden ihrer Bruſt
entſteigen. Die Trojaner ſollen merken, daß ich lange
genug vom Kriege geraſtet habe! Verwehre mir den
Kampf nicht, liebe Mutter!“
„Du haſt Recht, mein Kind,“ antwortete ihm Thetis,
„nur ſchade, daß deine ſtrahlende Rüſtung in der Gewalt
der Trojaner iſt und Hektor ſelbſt in ihr einherſtolzirt.
Doch ſoll er nicht lange darin frohlocken; denn in aller
Frühe, ſobald die Sonne aufgeht, bringe ich dir neue
Waffen, die Hephäſtus ſelbſt geſchmiedet. Nur geh mir
nicht früher in die Schlacht, als bis du mich mit eigenen
Augen zurückkommen ſaheſt.“ So ſprach die Göttin und
hieß ihre Schweſtern in den Schooß des Meeres wieder
hinabtauchen. Sie ſelbſt eilte hinauf zum Olymp, den
Gott der Feuerarbeit, Hephäſtus oder Vulkan, aufzuſuchen.
In dieſer Zeit ereilte den Leichnam des Patroklus,
den die Freunde davontrugen, der Kampf der Trojaner
noch einmal, und Hektor kam ihm, gleich daherſtürmendem
Feuer, ſo nahe, daß er ihn dreimal hinten am Fuße faßte,
um ihn wegzuziehen, und dreimal die beiden Ajax ihn von
dem Todten hinwegſtoßen mußten. Nun wüthete er ſeit¬
wärts durchs Schlachtengewühl, ſtand dann wieder von
Neuem und ſchrie laut auf; zurückweichen wollte er nim¬
mermehr. Vergebens beſtrebten ſich die beiden gleich¬
namigen Helden, ihn von dem Leichnam abzuſchrecken, wie
Hirten bei Nacht umſonſt eineu hungrigen Berglöwen
vom Leibe des zerriſſenen Rindes zu verſcheuchen bemü¬
het ſind. Und wirklich hätte Hektor zuletzt die Leiche ge¬
raubt, wäre nicht Iris auf Juno's Befehl mit der Bot¬
ſchaft zu dem Peliden geflogen, ſich von Jupiter und den
andern Göttern ungeſehen, heimlich zu bewaffnen. „Aber
[241] wie ſoll ich zur Schlacht gehen?“ fragte erwiedernd Achil¬
les die Götterbotin, „da die Feinde meine Rüſtung haben.
Auch hat mir meine Mutter ſelbſt alle Bewaffnung ver¬
boten, bis ich ſie ſelbſt mit einer neuen Rüſtung von
Hephäſtus zurückkehren ſehen würde. Ich weiß Niemand,
deſſen Waffen mir gerecht wären, es müßte denn der
Rieſenſchild des Ajax ſeyn; aber der hat und braucht ihn
ſelber zum Schutze meines erſchlagenen Freundes!“ „Wohl
wiſſen wir,“ antwortete ihm Iris, „daß du deiner herr¬
lichen Waffen beraubt biſt, aber nahe dich einſtweilen nur
ſo dem Graben, wie du biſt, und erſcheine den Trojanern,
vielleicht ſtehen ſie vom Kampf ab, wenn ſie dich nur
erblicken; und den Griechen iſt Erholung gegönnt.“
Als Iris wieder entflogen war, erhub ſich der gött¬
liche Achilles. Athene ſelbſt hängte ihm ihren Aegisſchild
um die Schulter, und umgab ſein Geſicht mit überirdiſchem
Glanze. So trat er ſchnell durch Wall und Mauer zum
Graben; doch miſchte er ſich, der mütterlichen Warnung
eingedenk, nicht in den Kampf, ſondern blieb von ferne
ſtehen und ſchrie, und in ſeinen Ausruf miſchte ſich der
Ruf Minerva's, daß er wie eine Kriegspoſaune ins Ohr
der Trojaner tönte. Als ſie die eherne Stimme des Pe¬
liden vernahmen, füllte ſich ihr Herz mit unheilvoller
Ahnung, und Wagen und Roſſe wandten ſich rückwärts;
mit Grauen ſahen die Lenker um das Haupt des Peliden
die Flamme brennen, und vor ſeinem dreifachen Schrei
vom Graben her zerſtob dreimal das Schlachtgewühl der
Troer, und zwölf ihrer tapferſten Männer fielen in dem
Gewühl, unter den Wagen und Lanzen ihrer eigenen
Freunde. Jetzt war Patroklus den Geſchoſſen entriſſen,
die Helden legten ihn auf Betten, und voll Wehmuth
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 16[242] umringten den Leichnam die Freunde. Als Achilles ſei¬
nen treuen Genoſſen, von den Speeren zerfleiſcht, auf
der Bahre liegen ſah, miſchte er ſich zum erſtenmale
wieder unter die Griechen, und warf ſich mit heißen Thrä¬
nen über den Leichnam. Die untergehende Sonne beleuch¬
tete das jammervolle Schauſpiel.
Viertes Buch.
16 *[[244]][[245]]Achilles neu bewaffnet.
Beide Heere ruhten jetzt vom hartnäckigen Kampfe.
Die Trojaner löſten ihre Roſſe von den Streitwagen,
aber noch ehe ſie des Mahles gedachten, eilten ſie zur
Verſammlung. Da ſtanden Alle aufrecht im Kreis umher,
Keiner wagte ſich zu ſetzen, denn noch bebten ſie vor
Achilles und fürchteten ſein Wiedererſcheinen. Endlich
ſprach der Sohn des Panthous, der verſtändige Polyda¬
mas, der allein vorwärts wie rückwärts zu ſchauen ver¬
ſtand, und rieth, nicht auf die Frühe zu warten, ſondern
ſogleich in die Stadt heimzukehren. „Findet Achilles der
Gewappnete,“ ſprach er, „uns morgen noch hier, dann
werden diejenigen froh ſeyn, die ihm in die Stadt ent¬
rinnen, Viele aber werden den Hunden und Geiern zum
Fraße dienen. Möge mein Ohr nie von ſolchem hören!
Drum iſt mein Rath, die Nacht auf dem Markte der
Stadt mit aller Kriegsmacht zu halten, wo hohe Mauern
und feſte Thore uns ringsum beſchützen. In aller Frühe
ſodann ſtehen wir wieder auf der Mauer; und wehe ihm,
wenn er alsdann, von den Schiffen angeſtürmt, mit uns
um jene zu kämpfen begehrt.“
Nun ſtand auch Hektor auf und begann mit finſterem
Blick: „Mir gefällt keineswegs, was du da geſprochen
haſt, Polydamas. In dem Augenblicke, wo mir Jupiter
den Sieg verliehen, daß ich die Achiver bis ans Meer
[246] zurückgedrängt habe, muß dein Rath dem Volke thöricht
erſcheinen, und kein einziger Trojaner wird dir gehorchen.
Vielmehr befehle ich Haufen um Haufen, die Nachtkoſt
unter das Heer zu vertheilen, und der Wachen nicht zu
vergeſſen. Härmt ſich Einer um ſein Gut und Vermögen,
der laſſe es beim gemeinſamen Gaſtmahl aufgehen, beſſer
daß die Unſrigen ſich dran erluſtigen, als daß die Grie¬
chen es thun. Am Morgen wiederholen wir ſodann den
Sturm auf die Schiffe; wenn wirklich Achilles wieder
auferſtanden iſt, ſo hat er ſich das ſchlimmere Loos erkoh¬
ren; denn nicht werde ich dieſen gräßlichen Kampf ver¬
laſſen, ehe mich oder ihn die Siegesehre krönt!“ Die
Trojaner überhörten die heilſamen Worte des Polydamas,
rauſchten dem Unheilsworte Hektor's Beifall zu, und war¬
fen ſich hungrig auf ihr Mahl.
Die Griechen aber jammerten die ganze Nacht über
der Leiche des Patroklus, und vor Allen erhub Achilles
die Klage, während ſeine mörderiſchen Hände auf dem
Buſen des Freundes ruhten. „O eitles Wort,“ ſprach
er, „das mir damals entfallen iſt, als ich, den alten Hel¬
den Menötius im Pallaſte tröſtend, ihm verſprach, ſeinen
Sohn nach Troja's Zerſtörung, reich an Ruhm und
Beute, nach Opûs in ſeine Heimath ihm zurückzubringen!
Nun ward uns beiden beſtimmt, dieſelbe fremde Erde mit
unſerm Blute roth zu färben, denn auch mich werden
mein grauer Vater Peleus und meine Mutter Thetis
nimmermehr im Pallaſt empfangen, ſondern hier vor
Troja wird mich das Erdreich bedecken. Aber weil ich
doch nach dir in den Boden ſinken ſoll, Patroklus, ſo will
ich dir nicht eher dein Leichenfeſt feiern, als bis ich dir
die Waffen und das Haupt deines Mörders, Hektor's,
[247] gebracht habe; auch will ich dir zwölf der edelſten Söhne
Troja's an deinem Scheiterhaufen opfern. Bis dieß ge¬
ſchieht, ruhe du hier bei meinen Schiffen, geliebter Freund!“
Hierauf befahl Achilles ſeinen Freunden, einen großen
Dreifuß voll Waſſer an das Feuer zu ſtellen, und den
Leichnam des gefallenen Helden zu waſchen und zu ſal¬
ben. Alsdann wurde er auf ſchöne Betten gelegt, und
köſtliche Leinwand vom Haupte bis zu den Füßen über
ihn gebreitet, auch ein ſchimmernder Teppich über den
Todten geworfen.
Derweil gelangte Thetis an den unvergänglichen,
ſternenhellen Pallaſt des Hephäſtus, den der hinkende
Künſtler ſich ſelbſt aus Erze gebaut. Sie fand ihn dort
ſchwitzend und in voller Arbeit um ſeine Blaſebälge be¬
ſchäftigt: er bereitete an zwanzig Dreifüße, und befeſtigte
unter dem Boden eines jeden goldene Räder, mit welchen
ſie, ohne von fremder Hand getrieben zu werden, in den
olympiſchen Sälen vor die Götter hinrollten, und dann
wieder zu ihrem Gemache heimkehrten: wahre Wunder¬
werke anzuſchauen; ſie waren bis auf die Henkel fertig,
und dieſe fügte er jetzt eben an, indem er mit dem Ham¬
mer die Nägel am gehörigen Ort einſchlug. Seine Gat¬
tin, die holde Charis, eine der Huldgöttinnen, ergriff die
Hand der hereintretenden Göttin, führte ſie auf einen
ſilbernen Seſſel, rückte ihr einen Schemel unter die Füße,
und rief ihren Gemahl herbei. Dieſer rief, als er die
Meeresgöttin erblickte, freudig aus: „Wohl mir, iſt doch
einmal die Edelſte der Unſterblichen bei mir im Hauſe,
die mich, den Neugeborenen, vom Verderben gerettet hat;
denn weil ich lahm auf die Welt kam, warf mich die
Mutter aus dem Schooße, und ich wäre elendiglich
[248] verkommen, wenn nicht Eurynome und Thetis mich
in ihrem Schooße aufgefangen hätten, und in ihrer
Meeresgrotte groß gezogen bis ins neunte Jahr. Dort
ſchmiedete ich allerlei Kunſtwerke, Spangen, Ringe,
Ohrengehenke, Haarnadeln, Kettchen aller Art, in der
gewölbten Grotte; und rings um uns her ſchäumte brau¬
ſend der Strom des Oceans. Dieſe meine Retterin be¬
ſucht jetzt mein Haus! Bewirthe ſie, holdſelige Gattin,
mich aber laß dieſen Wuſt hier aus dem Wege ſchaffen.“
So ſprach der rußige Gott, erhob ſich hinkend vom Am¬
bos, und mühſam hin und herwankend, legte er die Blaſe¬
bälge vom Feuer weg, verſchloß alle die mancherlei Ge¬
räthſchaften in einen ſilbernen Kaſten, wuſch ſich dann mit
einem Schwamme Hände, Angeſicht, Hals und Bruſt,
und hinkte, in einen Leibrock eingehüllt, und von ge¬
ſchäftigen Mägden geſtützt, wieder aus der Kammer;
dieſe Dienerinnen aber waren keine geſchaffene Weſen,
doch lebenden gleich; voll Jugendreiz, alle von ihm aus
Gold geſchmiedet, mit Kraft, Verſtand, Stimme und
Kunſttrieb begabt. Sie eilten mit hurtigen Füßen von
ihrem Herrn weg, er aber, nachwackelnd, nahm ſich einen
ſchmucken Seſſel, ſetzte ſich neben Thetis, faßte ihre Hand
und ſprach: „Ehrenwerthe, geliebte Göttin, was führt dich
zu meiner Wohnung, die du ſonſt nur wenig beſucheſt,
ſage mir, was du verlangſt: Alles wird dir mein Herz
gewähren, was ich nur gewähren kann und was an ſich
gewährbar iſt.“
Da erzählte ihm Thetis ihren ganzen Jammer, und
bat ihn, ſeine Kniee umfaſſend, ihrem früh verwelkenden
Sohne Achilles, ſo lang er den Griechen zum Schirm
noch lebe, Helm, Schild, Harniſch, Beinſchienen und
[249] Knöchelbedeckung neu gefertigt zu verleihen; denn die
Rüſtung der Unſterblichen, die er früher beſeſſen, habe der
gefallene Genoß ihm vor Troja verloren. „Muthig, edle
Göttin,“ antwortete ihr Hephäſtus, „dein Herz kümmere
ſich darüber nicht; möchte ich deinen Sohn doch ſo gewiß
aus der Gewalt des Todes retten können, wenn ihm
dereinſt ſein Geſchick herannaht, als ich ihm jetzt eine
herrliche Rüſtung fertigen will, die ihn erfreuen ſoll, und
die noch mancher Sterbliche, der ſie erblickt, anſtaunen
wird!“ So ſprach er, verließ die Göttin, und in ſeine
Feuereſſe hinkend, kehrte er die Blaſebälge ins Feuer und
ließ ſie mit Macht arbeiten. Ihrer zwanzig ſchickten den
glühenden Wind zugleich in die Oefen hinein, während
in mächtigen Tiegeln Erz, Zinn, Silber und Gold auf
der Gluth ſtand. Alsdann richtete er den Ambos auf
dem Blocke zurecht, griff mit der Rechten nach ſeinem ge¬
waltigen Hammer, und faßte mit der Linken die Zange.
Und nun fing er an zu ſchmieden, und formte zuerſt den
rieſenmäßigen ſtarken Schild aus fünf Schichten, mit
einem Silbergehenk und dreifachem blankem Rande. Auf
der Wölbung des Schilds bildete er die Erde, das wogende
Meer, den Himmel mit Sonne, Mond und allen Geſtir¬
nen ab; ferner zwei blühende Städte, die eine voll von
Hochzeitfeſten und Gelagen, mit Volksverſammlung, Markt,
hadernden Bürgern, Herolden und Obrigkeiten; die andere
von zwei Heeren zugleich belagert: in den Mauern Wei¬
ber, unmündige Kinder, wankende Greiſe; die Männer der
Stadt, vor dieſer draußen in einen Hinterhalt gelagert,
und den Hirten in die Heerden fallend. Auf einer andern
Seite Schlachtgetümmel; Verwundete, Kampf um Leich¬
name und Rüſtungen. Weiter ſchuf er ein lockres Brachfeld,
[250] mit Bauern und Ochſen am Pflug; ein wallendes Aehren¬
feld voll Schnitter; ſeitwärts unter einer Eiche die
Mahlzeit bereit; weiter einen Rebgarten voll ſchwarzer
ſchwellender Trauben, an Pfählen von lauterem Silber,
ringsum ein Graben von blauem Stahl und ein Gehäge
von Zinn; eine einzige Furche führte durch den Wein¬
garten, und eben war Leſe: Jünglinge jauchzten, und
roſige Jungfrauen trugen die ſüße Frucht in ſchönen Kör¬
ben davon; mitten in der Schaar ging ein Leierknabe,
den andere umtanzten. Weiter ſchuf er eine Rinderheerde
aus Gold und Zinn, längs einem wallenden Fluß, mit
vier goldenen Hirten und neun Hunden; vorn in die
Heerde waren zwei Löwen gefallen und hatten einen
Farren gefaßt, die Hirten hetzten ihre Hunde, die bellend
auf Sprungweite von den Löwen ſtanden. Wiederum
ſchuf er eine anmuthige Thaltrift, von ſilbernen Schafen
durchſchwärmt, mit Hirtengehägen, Hütten und Ställen;
endlich einen Reigen von blühenden Jünglingen und
Jungfrauen in glänzenden Gewanden; jede Tänzerin
ſchmückte ein Kranz, die Tänzer hatten goldene Dolche an
ſilbernen Riemen hangen; zwei Gaukler drehten ſich im
Kreiſe zur Harfe eines Sängers; Zuſchauergedräng um¬
gab den Reigen. Um den äußerſten Rand des Schildes
ſchlang ſich der Strom des Oceans wie eine Schlange.
Als er den Schild vollendet, ſchmiedete er auch den
Harniſch und gab ihm helleren Glanz, als das Feuer hat;
dann den ſchweren prangenden Helm, den Schläfen ganz
gerecht, mit goldnem Haarbuſch; und zuletzt Beinſchienen
aus dem feinſten Zinn. Dieſes ganze Geräthe legte er
gehäuft vor die Mutter des Peliden hin. Sie aber warf ſich
auf die Rüſtung, wie ein Habicht auf die Beute, dankte
[251] und trug das ſchimmernde Waffengeſchmeide mit ihren
Götterhänden von dannen.
Mit dem erſten Morgenlichte war ſie wieder bei
ihrem Sohne, der noch immer weinend und von jammern¬
den Genoſſen umgeben, über ſeinen Freund Patroklus
geſtreckt lag. Sie legte die Waffen vor Achilles nieder,
daß alle die Wunder zuſammenraſſelten. Die Myrmido¬
nen zitterten bei dem Anblicke, und keiner wagte, der
Göttin gerade ins Geſicht zu ſchauen. Dem Peliden aber
funkelten die Augen unter den Wimpern, wie Feuer¬
flammen, von Zorn und Freude; er hielt die herrlichen
Gaben des Gottes, eine um die andere, in die Höhe,
und weidete lange ſein Herz an der Betrachtung. Dann
brach er auf, ſich damit zu waffnen. „Sorget mir dafür,“
ſprach er im Weggehen zu ſeinen Freunden, „daß nicht
Fliegen in die Wunden meines erſchlagenen Streitgenoſſen
ſchlüpfen und den ſchönen Leichnam entſtellen!“ „Laß
dieß meine Sorge ſeyn,“ ſprach Thetis; und nun flößte
ſie dem Patroklus Ambroſia und Nektar in die halbgeöff¬
neten Lippen, und dieſer Götterbalſam durchdrang ſeinen
Leib, daß er blieb wie ein Lebender.
Achilles aber ging an den Meerſtrand, und ſeine
Donnerſtimme rief die Danaer herbei. Da lief zuſam¬
men, was wandeln konnte; ſelbſt die Steuermänner, die
die Schiffe noch nie verlaſſen hatten, kamen herbei; herbei
hinkten, auf ihre Lanze geſtützt, Diomedes und Odyſſeus,
die Verwundeten; alle Helden kamen, am ſpäteſten erſchien
der Völkerfürſt Agamemnon, auch er noch krank an der
Wunde, die ihm Koon, der Sohn des Antenor, mit dem
Speere gebohrt hatte.
[252]
Achilles und Agamemnon verſöhnt.
Als die Verſammlung vollzählig war, ſtand Achilles
auf und ſprach: „Sohn des Atreus, hätte lieber Diana's
Pfeil an jenem Tage die Tochter des Briſes bei den
Schiffen getödtet, an dem ich ſie mir aus dem zerſtörten
Lyrneſſus zur Beute erleſen, ehe ſo viele Argiver, dieweil
ich zürnte, von den Feinden gebändigt, den Staub mit
den Zähnen knirſchen mußten! Vergeſſen ſey das Ver¬
gangene, wenn es uns auch in der Seele kränkt: mein
Zorn wenigſtens iſt beſänftigt. Auf nun zum Gefecht!
ich will verſuchen, ob die Trojaner noch Luſt haben, bei
den Schiffen zu ruhen!“
Unermeßlicher Jubel der Griechen erfüllte bei dieſen
Worten die Luft. Und jetzt erhub ſich Agamemnon der
Völkerfürſt und ſprach, aufgeſtanden von ſeinem Sitze,
doch ohne, wie andere Redner, in den Kreis vorzutreten:
„Bändiget eure Zungen! wer vermag bei ſolchem Getüm¬
mel zu reden oder zu hören? Ich will mich dem Sohne
des Peleus erklären, ihr Andern merkt's und beherziget
meine Worte. Oft ſchon haben mich die Söhne Griechen¬
lands über mein Betragen an jenem Unglückstage geſtraft.
Doch war die Schuld nicht mein: Jupiter, die Parze und
die Erinnys ſchickten mir damals in der Volksverſamm¬
lung die verderbliche Verblendung zu. So mußte ich feh¬
len. Aber ſo lange Hektor um die Schiffe her die Schaa¬
ren der Argiver vertilgte, ward ich unaufhörlich an meine
Schuld gemahnt, und ich wurde es inne, daß Zeus mir
die Beſinnung hinweggenommen hatte. Nun will ich
[253] gerne büßen, was ich gefehlt, und biete dir Sühnung,
Achilles, ſo viel du begehrſt. Zieh in den Kampf, und
ich bin erbötig, dir alle die Geſchenke reichen zu laſſen,
die dir Odyſſeus, von mir in dein Zelt abgeſandt, jüngſt
noch verheißen hat. Oder wenn du lieber willſt, ſo bleib
noch ſo lange, bis meine Diener aus dem Schiffe ſie
hergebracht haben, damit du mit eigenen Augen ſeheſt, wie
ich mein Verſprechen erfülle.“
„Ruhmvoller Völkerfürſt Agamemnon,“ antwortete
der Held, „mag es dir gut dünken, mir die Geſchenke,
wie es ziemlich iſt, zu reichen, oder ſie zu behalten: es
gilt mir gleich. Jetzt aber laß uns ohne Verzug der
Schlacht gedenken, denn noch iſt Vieles ungethan, und
mich verlangt darnach, daß man den Achilles wieder im
Vordertreffen gewahr werde!“ Aber der kluge Odyſſeus
that Einrede und ſprach: „Göttergleicher Pelide, treibe
doch die Achiver nicht ſo ungeſpeist vor Troja hin! Laß
ſie ſich vorher bei den Schiffen mit Speiſe und Wein
erquicken, denn nur das gibt Kraft und Stärke! Inzwi¬
ſchen mag Agamemnon das Geſchenk in unſern Kreis
bringen, daß alle Danaer es mit Augen ſchauen, und dein
Herz ſich dran erfreue. Und darauf ſoll er ſelbſt dich in
ſeinem Gezelte feierlich mit einem köſtlichen Mahl bewir¬
then.“ „Freudig habe ich dein Wort vernommen, Odyſ¬
ſeus,“ antwortete der Atride, „du aber, Achilles, wähle
dir ſelbſt die edelſten Jünglinge aus dem ganzen Heere,
daß ſie dir alle Geſchenke aus meinem Schiffe herbeibrin¬
gen; und Thalthybius, der Herold, ſchaffe uns einen Eber
herbei, daß wir Jupiter und dem Sonnengott opfern, und
ohne Fährde den Bund der Eintracht beſchwören.“ „Thut
ihr, wie ihr wollt,“ ſprach Achilles, „mir ſoll weder Trank
[254] noch Speiſe durch die Kehle gleiten, ſo lang mir der
Freund zerfleiſcht im Zelte daliegt. Mich verlangt nur
nach Mord und Blut und Geröchel der Sterbenden!“
Aber Odyſſeus ſprach beſänftigend zu ihm: „Erhabenſter
Held aller Griechen, du biſt viel ſtärker als ich, und viel
tapferer im Speerkampf; am Rathe jedoch möchte ich es
dir vielleicht zuvorthun, denn ich habe länger gelebt und
mehr erfahren. So füge ſich denn dießmal dein Herz
meiner Ermahnung. Die Danaer müſſen ja ihre Todten
nicht mit dem Bauch betrauern; wie einer geſtorben, beer¬
digt man ihn, und beweint ihn einen Tag: wer aber ent¬
ronnen iſt, der ſtärke ſich mit Trank und Speiſe, damit
wir um ſo raſtloſer kämpfen mögen!“
So ſprach er, und wandelte, Neſtors Söhne, dann
auch den Meges, Meriones, Thoas, Melanippus und
Lykomedes ſich beigeſellend, mit dieſen der Lagerhütte
Agamemnons zu. Dort nahmen ſie die verſprochenen
Geſchenke, ſieben Dreifüße, zwölf Roſſe, zwanzig Becken,
ſieben untadelige Weiber und die roſige Briſis als achte.
Odyſſeus wog die zehn Talente Goldes dar und ſchritt
mit ihnen voran, die Jünglinge mit den andern Geſchen¬
ken folgten. So ſtellten ſie ſich in den Volkskreis; Aga¬
memnon erhub ſich von ſeinem Sitze, der Herold Talthy¬
bius aber faßte den Eber, richtete ihn zum Opfer zu,
betete und zerſchnitt ihm die Kehle. Dann warf er den
geſchlachteten wirbelnd in die Meerfluth, den Fiſchen zum
Fraß. Nun ſtand Achilles auf und ſprach vor den Argi¬
vern: „Vater Jupiter, wie große Verblendung ſendeſt du
doch oft den Männern zu! Gewiß hätte mir der Sohn
des Atreus nicht den Zorn ſo fürchterlich im Herzen auf¬
geweckt, oder nicht ſo unbeugſam mit Gewalt das Mädchen
[255] mir entführt, wenn du nicht den Tod vielen Danaern
hätteſt bereiten wollen! Doch nun laßt uns zum Mahle
gehen, und uns dann zum Angriffe rüſten.“
Nachdem der Held ſo geſprochen, trennte ſich die
Verſammlung. Als die Tochter des Briſes, holdſelig wie
Aphrodite, in das Zelt ihres früheren Gebieters trat, und
den Helden Patroklus mit ſeinen tiefen Speerwunden auf
den Teppichen ausgeſtreckt daliegen ſah, zerſchlug ſie ſich
Bruſt und Wangen, und warf ſich weinend über ihn.
„Ach mein theurer Patroklus,“ rief ſie, „der du mein lieb¬
reichſter Freund im Elende warſt, blühend verließ ich dich
im Zelte, todt finde ich dich wieder! So verfolgt mich
immer Unheil auf Unheil. Meinen Bräutigam ſah ich
vor unſerer Stadt vom Speer getödtet, drei leibliche herz¬
lich geliebte Brüder riß mir derſelbe Unglückstag von der
Seite weg. Dennoch, als Achilles meinen Freund erſchla¬
gen und meine Heimath verheert hatte, wollteſt du mich
nie weinen ſehen; du verſprachſt, mich dem Peliden zu
vermählen, ſobald du mich auf den Schiffen nach Phthia
gebracht hätteſt, und dort unter den Myrmidonen meine
Hochzeit zu feiern. Nie werd' ich aufhören, dich zu be¬
weinen, du Freundlicher.“ So ſprach ſie weinend, und
ringsum ſeufzten mit ihr die gefangenen Weiber, zum
Schein um den Patroklus, im Grund aber jede über ihr
eigenes Elend.
Die edelſten Danaerfürſten umringten indeſſen den
Peliden, indem ſie ihn flehentlich baten, ſich doch des
Mahles zu erfreuen. Doch er weigerte ſich deſſen unter
Seufzen. „Wenn ihr wirklich Liebe zu mir heget,“ ſprach
er, „ſo verlanget nicht, mir das Herz zu erfriſchen, ihr
Freunde, mein Kummer duldet es nicht. Laßt mich bleiben,
[256] wie ich bin, bis die Sonne ins Meer ſinkt.“ Mit dieſen
Worten entließ er die andern Fürſten, und nur die beiden
Atriden, Odyſſeus, Neſtor, Idomeneus und Phönix blie¬
ben zurück. Sie Alle waren vergebens beſtrebt, den
Trauernden aufzuheitern, doch dieſer blieb regungslos, und
wenn er einmal ſprach, ſo flog ſein Athem ſchneller, und
ſeine Rede galt dem todten Freunde. „Ach wie oft haſt
du mir,“ ſagte er, „vordem ſelber, wenn das Heer der
Griechen zur Schlacht hinausdrang, in geſchäftiger Haſt
das labende Frühſtück nach dem Zelte gebracht! jetzt liegſt
du erſchlagen hier, und mich vermag von all dem reich¬
lichen Vorrath nichts zu erquicken; Herberes hätte mich
nicht treffen können, ſelbſt nicht die Botſchaft vom Tode
meines Vaters Peleus, oder meines lieben Sohnes
Neoptolemus, der mir in Scyros erzogen wird, wenn er
anders noch lebt. Früher tröſtete mich immer noch die
Hoffnung, ich würde allein hier ſterben dürfen, du aber
werdeſt nach Phthia heimkehren, und meinen Sohn von
Scyros abholen, ihn in alle meine Habe einzuſetzen; denn
daß mein Vater Peleus, immer den ſchrecklichen Boten
erwartend, der ihm meinen frühen Tod zu verkündigen
käme, längſt von Alter und Traurigkeit niedergebeugt ge¬
ſtorben ſey, das ahnt mir ja im Geiſte.“ So ſprach er
weinend, und die Fürſten im Kreiſe ſeufzten mit, denn
jeder dachte daran, was er im eigenen Hauſe von Ge¬
liebten zurückgelaſſen. Mitleidig ſah Jupiter von ſeiner
Höhe auf die Trauernden herab, wandte ſich ſchnell zu
ſeiner Tochter Pallas und ſagte: „Kümmert ſich denn
dein Herz gar nicht mehr um den edlen Helden, trautes
Töchterchen, der dort, während die Andern zum Früh¬
mahle hingingen, um ſeinen Freund wehklagend daſitzt ohne
[257] Speiſe und Trank zu berühren. Auf, labe ihm ſogleich
die Bruſt mit Nektar und Ambroſia, daß ihm in der
Schlacht kein Hunger nahe!“
Wie ein Adler mit breiten Flügeln, ſchwang ſich die
Göttin, die längſt darnach verlangt hatte, ihrem Freunde
zu helfen, durch den Aether, und während das Heer
ſich eifrig zur Schlacht rüſtete, flöſte ſie Nektar und Am¬
broſia ſanft und unvermerkt in die Bruſt des Peliden,
daß ſeine Kniee ihm nicht im Treffen von Hunger erſtarr¬
ten. Dann kehrte ſie zum Pallaſt ihres allmächtigen Va¬
ters heim. Inzwiſchen drangen, Helm an Helm, Schild
an Schild, Harniſch an Harniſch und Lanzen an Lanzen,
die Danaer aus den Schiffen hervor; das ganze Erdreich
leuchtete von Erz, und dröhnte von Erz unter ihren Fu߬
tritten. Mitten unter den Dahineilenden bewaffnete ſich
Achilles, mit den Zähnen knirſchend und Gluth in den
Augen, wie feurige Lohe. Er ergriff das Göttergeſchenk,
legte zuerſt Schienen und Knöchelbedeckung an, dann deckte
er die Bruſt mit dem Harniſch, warf das Schwert um
die Schulter und ergriff den Schild, der dem Vollmond
ähnlich durch den Aether glänzte. Dann fetzte er den
ſchweren Helm mit dem hohen goldenen Buſch, ſtrahlend
wie ein Geſtirn, aufs Haupt, und die Mähne flatterte aus
geſponnenem Golde von ihm herab. Nun verſuchte er ſich
ſelbſt in der Rüſtung, ob ſie ihm auch genau anpaßte,
und ſich die Glieder ungehemmt bewegten: und ſiehe, ſeine
Waffen däuchten ihm wie Flügel und ſchienen ihn vom
Boden emporheben zu wollen. Jetzt zog er den ſchweren
gediegenen Speer ſeines Vaters Peleus, den kein anderer
Danaer ſchwingen konnte, aus dem ſchönen Gehäuſe;
Schwab, das klaſſ. Alterthum. ll. 17[258] Automedon und Alkimus ſchirrten die Roſſe ein, legten
jedem den Zaum ins Maul, und ſpannten die Zügel über
den Wagenſitz. In dieſen ſprang Automedon, die blanke
Geißel faſſend, und in Waffen ſtrahlend ſchwang ſich hin¬
ter ihm Achilles auf. „Ihr unſterblichen Roſſe,“ rief die¬
ſer dem Geſpanne ſeines Vaters zu, „ich ſag' es euch,
bringt mir, nachdem wir uns in der Schlacht geſättigt
haben, die Helden, die ihr führet, anders ins Heer zurück,
als Patroklus zurückgekehrt iſt, den ihr todt im Gefilde
liegen ließet.“ Wie der Held ſo ſprach, ward ihm ein
grauenhaftes Wunderzeichen zu Theil: ſein Roß Xanthus
neigte das Haupt tief zur Erde, daß die wallende Mähne
ganz aus dem Ringe des Joches hervordrang und bis
auf den Boden hinunterſank; und von der Göttin Juno
plötzlich mit Sprache begabt, ertheilte es ihm unter dem
Joch die traurige Antwort: „Wohl, ſtarker Achilles, füh¬
ren wir jetzt dich, den Lebenden, rüſtig dahin; aber der
Tag des Verderbens iſt dir nahe. Nicht unſere Säumniß
oder Fahrläſſigkeit, ſondern das Verhängniß und die All¬
macht der Götter hat dem Patroklus das Leben geraubt,
und dem Hektor Siegesruhm gegeben. Wir können mit
Zephyrus, dem ſchnellſten der Winde, in die Wette lau¬
fen und ermüden nicht. Dir aber iſt vom Geſchicke be¬
ſtimmt, unter der Hand eines Gottes zu erliegen.“ So
ſprach das Roß und wollte noch weiter ſprechen, aber die
Macht der Rachegöttinnen hemmte ſeinen Laut, und Achil¬
les antwortete voll Unmuth: „Xanthus, was redeſt du
mir da vom Tode? es bedarf deiner Weiſſagung nicht,
weiß ich doch ſelbſt, daß mich, ferne von Vater und Mut¬
ter, das Schickſal hier wegraffen wird. Doch auch ſo
[259] raſte ich nicht, bis Trojaner genug vor mir im Kampfe
erlegen ſind!“ So ſprach er und lenkte mit lautem Ruf
die ſtampfenden Roſſe vorwärts.
Schlacht der Götter und Menſchen.
Im Olymp hatte Jupiter eine Götterverſammlung
berufen, in welcher er den Olympiſchen erlaubte, beiden
Theilen, Trojanern und Griechen, zu helfen, wie einen
jeden die Geſinnung triebe, denn wenn Achilles, ohne daß
die Götter Antheil an der Schlacht nähmen, die Trojaner
jetzt bekämpfte, ſo würde er ſelbſt gegen das Schickſal
Troja auf der Stelle erobern. Auf dieß Zugeſtändniß
gingen die Götter ſogleich zweierlei Wege: Here die
Göttermutter, Pallas Athene, Poſeidon, Hermes oder
Merkur, und Hephäſtus eilten zu den Schiffen der Grie¬
chen; Mars ging unter die Trojaner und mit ihm Phöbus
und Diana (Artemis), beider Mutter Latona, der Flu߬
gott Skamander, bei den Göttern Xanthus genannt, und
Aphrodite.
So lange die Götter ſich noch nicht unter die heran¬
rückenden Heere gemiſcht hatten, trugen die Griechen das
Haupt hoch, weil der ſchreckliche Achilles wieder in ihrer
Mitte war. Den Trojanern zitterten die Glieder vor
Angſt, als ſie von ferne den Peliden in ſeinen blinkenden
Waffen erblickten, dem furchtbaren Kriegsgott ähnlich.
Plötzlich aber erſchienen die Götter in beiden Heeren, und
drohten den Kampf wieder unentſchieden zu machen. Da
ſtand Athene bald außerhalb der Mauer am Graben, bald
17*[260] am Meeresſtrand, und ließ ihren mächtigen Ausruf hören.
Auf der andern Seite ermahnte Mars bald von der ober¬
ſten Höhe der Stadt die Trojaner brüllend wie ein
Sturm, bald durchflog er die Reihen am Simoisfluß.
Durch beide Schaaren tobte Eris, die Göttin der Zwie¬
tracht; dazu donnerte gräßlich vom Olymp herab Jupiter,
der Beherrſcher der Schlachten, Poſeidon erſchütterte die
Erde von unten, daß die Häupter aller Berge und die
Wurzeln des Ida wankten, und Pluto ſelbſt, der Fürſt
der Nacht, erſchrack und bebend vom Throne ſprang, weil
er fürchtete, ein Erdriß möchte ſein geheimnißvolles Reich
Sterblichen und Göttern offenbaren. Nun ſtellten ſich die
Götter einander unmittelbar im Kampf entgegen: dem
Meergotte Poſeidon begegnete Phöbus Apollo mit ſeinen
Pfeilen, dem Kriegsgotte Pallas Athene, der Göttermutter
Artemis mit dem Bogen, Hermes der Latona, dem Hephä¬
ſtus Skamander.
Während ſo Götter auf Götter zurückten, ſuchte
Achilles im Gewühle nur den Hektor auf, Apollo aber,
ſchickte ihm, in den Sohn des Priamus, Lykaon, ver¬
kleidet, den Helden Aeneas entgegen, daß er von Muth
beſeelt, im ſchimmernden Erzpanzer, ſchnell in die vorder¬
ſten Reihen vordrang. Doch blieb der Held im Getüm¬
mel der Heranziehenden nicht unbemerkt von Juno; ſchnell
ſammelte ſie die ihr befreundeten Götter um ſich und
ſprach: „Ueberleget ihr beide, du Poſeidon und Athene du,
wohin unſere Sache ſich jetzt wende. Dort kommt, von
Phöbus gereizt, Aeneas gegen den Peliden angeſtürmt:
dieſen müſſen wir entweder verdrängen, oder muß einer
von uns die Kraft des Achilles erhöhen, daß er ſpüre,
die mächtigſten der Götter ſeyen mit ihm. Heute nur ſoll
[261] ihm nichts vom Trojanervolke geſchehen, nur deswegen
ſind wir Alle ja vom Olymp herabgekommen. Künftig
mag er erdulden, was die Parze ihm bei ſeiner Geburt
geſponnen hat.“ „Sey beſonnen, Juno,“ erwiederte Po¬
ſeidon, „ungerne möcht' ich, daß wir, ich und ihr Anderen,
vereinigt gegen die Götter anrennten, es wäre nicht ziem¬
lich, denn wir ſind die weit überlegenen: laßt uns viel¬
mehr abſeits vom Wege dort auf die Warte uns nieder¬
ſetzen. Wenn aber Mars oder Apollo zuerſt den Kampf
anheben, wenn ſie den Achilles hindern und ſich nicht
frei im Streite bewegen laſſen, alsdann haben auch wir
ein Recht, am Gefechte Theil zu nehmen, und gewiß
kehren unſere Gegner dann, von unſerer Kraft gebändigt,
eilig in den Olymp zur Schaar der andern Götter zu¬
rück!“ Der Meergott wartete nicht auf die Antwort,
ſondern ſchüttelte ſeine finſtern Locken, und ging voran auf
den Wall des Herkules, den vor Zeiten Pallas und die
Trojaner dieſem zum Schutze gegen die Meerungeheuer
aufgethürmt hatten*). Dorthin eilte Poſeidon, die andern
Götter folgten ihm, und hier ſaßen ſie nun, die Schultern
in undurchdringlichen Nebel gehüllt. Gegenüber auf dem
Hügel Kallikolone ſetzten ſich Mars und Apollo, und ſo
ſaßen die Unſterblichen ſäumend und ſinnend, getrennt,
aber kampfbereit und nicht ferne von einander.
Unterdeſſen füllte ſich ringsum das Gefilde und
ſtrahlte vom Erz der Streiter und der Wagen, und der
Boden dröhnte vom Fußtritte der Herankommenden. Doch
bald erſchienen zwei Männer, Einer aus jedem Heere,
kampfbegierig hervorgerannt: Aeneas, der Sohn des
[262] Anchiſes, und Achilles der Pelide. Zuerſt ſchritt Aeneas
heraus; vom ſchweren Helme nickte ſein Federbuſch, den
rieſigen Stierſchild hielt er vor die Bruſt, und ſchwenkte
ſeinen Wurfſpieß drohend. Als der Pelide dieß ſah,
drang auch er wie ein grimmiger Löwe mit Ungeſtüm vor.
Als ſie ganz nahe an einander waren, rief er: „Was
wagſt du dich ſo weit aus der Menge hervor, Aeneas?
Hoffſt du etwa, das Volk der Trojaner zu beherrſchen,
wenn du mich erlegſt? Thörichter, dieſe Ehre wird dir
Priamus nie einräumen, hat er doch Söhne die Fülle,
und er ſelbſt, der Alte, gedenkt noch nicht vom Throne zu
ſteigen. Oder verſprachen dir vielleicht die Trojaner ein
köſtliches Landgut, wenn du mich erſchlügeſt? Hab' ich
dich doch, wie ich meine, im Beginne dieſes Kampfes, ſchon
einmal mit meiner Lanze verfolgt! Denkſt du nicht mehr
daran, wie ich dich, den Vereinzelten, dort von den Rinder¬
herden weg, die Höhen des Ida hinabjagte? Da ſchau¬
teſt du dich im Fliehen nicht einmal um, und bis nach der
Stadt Lyrneſſus trugen dich deine Füße. Ich aber warf
ſie mit Pallas und Jupiter in Trümmer, und nur die
Barmherzigkeit des Letzteren rettete dich, während ich
Weiber und Beute genug davon führte. Doch heute wer¬
den dich die Götter nicht zum zweitenmale retten, ich rathe
dir, begieb du dich ſchleunig wieder unter die Menge zurück
und hüte dich mir zu begegnen, daß dir kein Leid geſchehe!“
Dagegen rief Aeneas: „Hoffe mich nicht mit Worten,
wie einen Knaben, abzuſchrecken, Pelide, herzzerſchneidende
Worte könnte auch ich dir zurufen. Kennt doch Einer
vom Rufe des Andern Geſchlecht wohl: daß dich die
Meeresgöttin Thetis gebar, weiß ich; ich aber rühme
mich, Aphroditens Sohn und Jupiters Enkel zu ſeyn.
[263] Auch werden wir nicht mit kindiſchen Worten von einan¬
der aus dem Schlachtfelde ſcheiden; laß uns deswegen
nicht länger hier, gleich albernen Kindern, ſchwatzend in
der Mitte des Getümmels ſtehen! die ehernen Kriegs¬
lanzen ſind es, die wir einander zu koſten geben wollen.“
So ſprach er und ſchwang den Speer zum Wurfe, von dem
der entſetzliche Schild des Achilles ringsum nachhallte; doch
durchſtürmte das Geſchoß nur die zwei äußeren Schichten
von Erz; die beiden inneren waren von Zinn, und von
der mittleren goldenen wurde die Lanze gehemmt. Jetzt
ſchwang auch der Pelide ſeinen Speer; dieſer traf den
Schild des Aeneas am äußerſten Rande, wo das Erz und
die Stierhaut am dünnſten war; Aeneas duckte ſich und
ſtreckte in der Angſt den Schild in die Höhe: ſo ſauſte ihm
die Lanze, die beiden Schildränder durchfahrend, über die
Schulter hin und bohrte ſich aufrecht dicht neben ihm in
den Boden ein, daß den Sohn Aphroditens vor der To¬
desgefahr ſchwindelte. Und ſchon rannte Achilles mit
gezücktem Schwerte, laut ſchreiend, herbei. Da ergriff
Aeneas einen ungeheuren Feldſtein, wie ihn zwei jetzige
Sterbliche nicht aufheben könnten; er aber ſchwang ihn
ganz behende. Hätte er nun mit dem Steine nur des
Gegners Helm oder Schild getroffen, ſo wäre er unfehlbar
dem Schwert des Peliden erlegen.
Das erbarmte ſelbſt die Götter, die, den Trojanern
abhold, auf dem Herkuleswalle ſaßen. „Es wäre doch
Schade,“ ſprach Poſeidon, „wenn Aeneas, weil er Apollo's
Wort gehorcht hat, zum Hades hinabfahren ſollte; auch
fürchte ich, Jupiter könnte zürnen, denn haßt er gleich den
Stamm des Priamus, ſo will er ihn doch nicht ganz ver¬
tilgen, und durch Aeneas ſoll das Herrſchergeſchlecht in
[264] Kindern und Kindeskindern fortdauern.“ „Thue, was du
willſt,“ erwiederte Juno, „ich und Pallas, wir haben es
mit einem Eidſchwure betheuert, daß wir kein Unglück,
welches es auch ſey, von den Trojanern abhalten wollen.“
Dieſe Unterredung war das Werk eines Augenblicks;
Poſeidon flog in den Kampf, zog unſichtbar den Speer
aus dem Schilde des Aeneas und legte dieſen dem Achil¬
les quer vor die Füße, nachdem er die Augen des Helden
mit einem dichten Nebel umgoſſen hatte. Den Trojaner
ſelbſt ſchleuderte er, ihn hoch von der Erde aufhebend, über
Wagen und Streiter hinweg, an die Gränzen der Schlacht¬
ordnung, wo das Volk der kaukoniſchen Bundsgenoſſen
kampfgerüſtet einherzog. „Welcher Gott,“ ſo ſchalt Nep¬
tunus hier den geretteten Helden, „verblendete dich, Aeneas,
gegen den Liebling der Götter, den weit mächtigeren Pe¬
liden, kämpfen zu wollen? Weich in Zukunft zurück, ſo
oft du ihm begegneſt; hat ihn einmal das Schickſal erreicht,
dann magſt du dich getroſt in den vorderſten Reihen ſchla¬
gen!“ Jetzt verließ ihn der Gott, und zog vor Achilles
Augen den Nebel hinweg, der verwundert ſeine Lanze an
der Erde liegen und den Mann verſchwunden ſah. „Troll'
er ſich immerhin mit eines Gottes Hülfe,“ ſprach er ver¬
drießlich, „ich bin ſein Fliehen ſchon gewohnt.“ Dann
ſprang er in die Reihen der Seinigen zurück und ermun¬
terte ſie zur Schlacht. Drüben aber feuerte Hektor die
Seinigen an, und nun folgte ein wilder gemiſchter Angriff.
Als Phöbus Apollo ſah, wie gierig Hektor dem Peliden
entgegenſtrebte, flüſterte er ihm ein Warnungswort ins
Ohr, vor welchem Hektor erſchrocken in den Haufen ſeiner
Streiter zurückwich. Achilles aber drang ſtürmend unter
die Feinde ein, und ſein erſter Speerwurf ſpaltete dem
[265] tapfern Iphition das Haupt, daß er zu Boden fiel, und
von den Wagenrädern der Danaer zermalmt, im vorder¬
ſten Gewühle dalag. Dann ſtieß er dem Sohn Antenors,
Demoleon, den Speer in den Schlaf, dem Hippodamas
ſtach er, als er eben vom Wagen herabſprang, die Lanze
in den Rücken; dem Pammon, dem Sohne des Priamus,
bohrte er ſie, wie er gerade an ihm vorüberflog, in den
Rückgrath an der Spange des Gurtes, daß ſie vorn her¬
ausdrang und der Jüngling heulend ins Knie ſank.
Als Hektor ſeinen Bruder auf der Erde gekrümmt
ſah, das eigene Gedärm in den Händen, wurde es Nacht
vor ſeinen Augen; er konnte nicht länger entfernt vom
Kampfe bleiben, und ſtürmte trotz der Warnung des Got¬
tes gerade auf Achilles los, ſeinen Speer wie einen Blitz¬
ſtrahl zückend. Achilles frohlockte, als er ihn ſah. „Dieß
iſt der Mann,“ ſprach er, „der meinem Herzen in der
tiefſten Tiefe wehe gethan hat. Wollen wir länger vor
einander fliehen, Hektor? Näher heran, daß du auf der
Stelle das Todesziel erreicheſt!“ „Wohl weiß ich, wie
tapfer du biſt,“ antwortete Hektor unerſchrocken, „und wie
weit ich dir nachſtehe; doch wer weiß, ob die Götter mein
Geſchoß nicht begünſtigen, daß es dir, obwohl vom ſchwä¬
cheren Manne abgeſendet, dennoch dein grauſames Leben
raubt.“ Seinen Worten ſchickte er die Lanze nach. Aber
Athene ſtand hinter dem Peliden und trieb ſie mit einem
leiſen Anhauche gegen Hektor zurück, daß ſie ihm kraftlos
zu Füßen ſank. Nun ſtürzte Achilles heran, den Gegner
mit einem Speerſtoße zu durchbohren: doch Apollo ſchlug
einen Nebel um Hektor, entrückte ihn, und dreimal
ſtach der heranſtürmende Pelide in die leere Luft. Als er
das viertemal vergebens anrannte, rief er mit drohender
[266] Stimme: „So entrannſt du abermals dem Tode, du
Hund, und haſt gewiß zu deinem Phöbus gebetet; aber
wenn anders ein Gott auch mich begleitet, entrinnſt du
künftig dem Verderben von meiner Hand nicht! Für jetzt
gehe ich, Andere zu erhaſchen.“ So ſprach er, und ſtach
dem Dryops die Lanze in den Hals, daß er ihm vor die
Füße taumelte, durchbohrte dem Demuchus das Knie mit
einem Speerwurf, ſtürzte den Laogonus und Dardanus,
die Söhne des Bias, jenen mit einem Lanzenwurfe, den
mit einem Schwerthiebe vom Wagen: dem Tros, dem
Sohne Alaſtors, ſpaltete er die Leber, obgleich er ihm die
Knie flehend umfaßte; dem Mulius fuhr ſeine Lanze durch
ein Ohr bis zum andern; dem Sohne Agenors, Echeklus,
ſchwang er das Schwert tief in den Schädel; den Deu¬
kalion traf ſeine Lanzenſpitze unter dem Armbug, und ſein
Haupt flog vor ſeinem Schwerte mit ſammt dem Helm in
den Staub; Rhigmus, dem Thrazier, ſchoß er die Lanze
in den Bauch, und ſeinen Wagenlenker Arithous warf
er mit einem Speerſtoße vom Sitz. So wüthete der
göttergleiche Held, wie ein Wind im entſetzlichen Wald¬
brande; ſeine Roſſe trabten ſtampfend über Schilde und
Leichname dahin, die Axe ſeiner Wagenräder trof von
Blut, und bis zu den ſchmucken Rändern des Sitzes
ſpritzten die Tropfen empor.
[267]
Kampf des Achilles mit dem Stromgotte Skamander.
Als die Fliehenden und ihr Verfolger an die Flut
des Wirbel drehenden Skamander gekommen waren, theilte
ſich die Flucht. Ein Theil warf ſich ſtadtwärts auf das
Blachfeld, wo am vorigen Tage Hektor als Sieger die
Griechen getummelt hatte. Ueber ſie breitete Juno ein
dichtes Gewölk aus, und hinderte ſie ſo, weiter zu fliehen.
Die andern aber, hart an das Gewäſſer des Stromes
gedrängt, ſtürzten ſich in ſeine toſenden Wirbel hinab,
daß die Geſtade ringsumher wiederhallten. Dort ſchwam¬
men ſie durcheinander wie Heuſchrecken, die man mit Feuer
ins Waſſer geſcheucht hat; ſo füllte ſich mit einem Ge¬
wirre von Roſſen und Männern der ganze Fluß. Da
lehnte der Pelide ſeine Lanze an einen Tamariskenbaum
des Ufers, und ſtürzte ſich, das Schwert allein in der
Hand, wie ein Gott ihnen nach. Bald röthete ſich das
Waſſer von Blut, und unter ſeinen Streichen erhub ſich
hier und dort ein Röcheln aus den Wellen; er wüthete
wie in einer Hafenbucht ein ungeheurer Delphin, der von
den andern Fiſchen verſchlingt, welchen er erhaſcht. Als
ihm allmählig vom Morden die Hände ſtarr wurden,
ergriff er doch noch zwölf Jünglinge lebendig im Strome;
er zog ſie, der Sinne halb ſchon beraubt, heraus, und über¬
gab ſie den Seinigen, um dort als Sühnopfer für den
Tod ſeines Freundes Patroklus zu fallen.
Als der Held nun wieder in den Strom ſtürzte, nach
neuem Würgen ſich ſehnend, begegnete ihm, eben aus
den Fluthen aufſtrebend, Lykaon, der Sohn des Priamus,
[268] und Achilles ſtutzte bei dem Anblick. Ihn hatte einſt bei einem
früheren nächtlichen Ueberfalle der Pelide im Obſthaine ſeines
Vaters Priamus überraſcht, wo er gerade wilde Feigenſproſſen
zu einem Seſſelrande ſeines Wagens ſchnitt. Damals ent¬
führte ihn Achilles mit Gewalt, und ſandte ihn zu Schiffe
nach der Inſel Lemnos, wo der Sohn des Jaſon, Eunus,
ihn als Sklaven an ſich kaufte. Als nun ein anderer
Sohn des Jaſon, Etion, Fürſt von Imbrus, ſeinen
Halbbruder zu Lemnos beſuchte, kaufte er den feinen
Jüngling dieſem um theures Geld ab, und ſandte ihn
nach ſeiner Stadt Arisbe. Als Lykaon hier einige Zeit
gelebt, ſchlich er ſich heimlich von dannen und rettete ſich
nach Troja. Es war der zwölfte Tag, daß er aus der
Gefangenſchaft zurückgekehrt war, und jetzt zum zweiten¬
male dem Achilles in die Hände fiel. Wie dieſer ihn mit
wankenden Knieen kraftlos aus dem Strome hervortauchen
ſah, ſprach er ſtaunend zu ſich ſelber: „Wehe mir, welch
Wunder muß ich erblicken! Gewiß werden jetzt auch die
andern Trojaner, die ich erſchlagen habe, aufs neue aus
der Nacht hervorkriechen, da dieſer wiederkommt, den ich
vor langer Zeit nach Lemnos verkauft habe! Nun, wohlan,
mag er die Spitze unſerer Lanzen koſten, und es dann
verſuchen, ob er auch aus dem Boden zurückkehren kann!“
Doch ehe Achilles recht mit dem Speere zielen konnte,
hatte ſich Lykaon heraufgeſchwungen, umſchlang ihm mit
der einen Hand die Kniee, und faßte mit der andern ſeine
Lanze. „Erbarme dich meiner, Achilles,“ rief er, „war
ich doch einſt deinem Schutze anvertraut! Damals trug
ich dir hundert Stiere ein, jetzt will ich mich dreimal ſo
hoch löſen! Erſt ſeit zwölf Tagen bin ich in der Heimath,
nach langer Qual der Gefangenſchaft, aber Jupiter muß
[269] mich wohl haſſen, daß er mich von neuem in deine Hand
gegeben. Doch tödte mich nicht; ich bin ein Kind Laothoe's,
und kein leiblicher Bruder des Hektor, der dir deinen
Freund gemordet hat.“ Aber Achilles faltete die Stirn,
und mit umbarmherziger Stimme ſprach er: „Schwatze
mir nicht von Löſung, du Thor; ehe Patroklus ſtarb, war
mein Herz zu ſchonen willig, jetzt aber entflieht Keiner
dem Tode. So ſtirb denn auch du, mein Guter; ſieh
mich nicht ſo kläglich an! Iſt doch auch Patroklus geſtor¬
ben, der viel herrlicher war, als du. Und betrachte mich
ſelbſt, wie ſchön und groß ich von Geſtalt bin; dennoch, ich
weiß es gewiß, wird auch mich das Verhängniß von
Feindeshand ereilen, ſey's am Morgen, am Mittag oder
am Abend!“ Lykaon ließ zitternd den Speer fahren, als
er ihn ſo reden hörte, ſaß mit ausgebreiteten Händen und
empfing den Stoß des Schwertes in den Hals. Achilles
faßte den Gemordeten am Fuße, ſchleuderte ihn in den
Strudel des Fluſſes, und rief ihm höhnend nach: „Laß
ſehen, ob der Strom dich rette, dem ihr vergebens ſo viele
Sühnopfer gebracht habt.“
Ueber dieſe Worte ergrimmte der Stromgott Ska¬
mander, der ohnedem auf Seite der Trojaner war, und
erwog bei ſich im Geiſte, wie er den gräßlichen Helden
in ſeiner Arbeit hemmen, und die Plage von ſeinen Schütz¬
lingen abwenden könnte. Achilles ſprang indeſſen mit ſeiner
Lanze auf Aſteropäus den Päonier, den Sohn des Pele¬
gon ein, der, zwei Speere in den Händen, eben aus
dem Strome ſtieg. Dieſem hauchte der Flußgott Muth
in die Seele, daß er mit Ingrimm das erbarmungloſe
Gemetzel des Peliden überblickte, und kühn auf den Mor¬
denden zueilte. „Wer biſt du, der es wagt, mir entgegen
[270] zu gehen,“ rief Achilles ihm zu, „nur die Kinder unglück¬
ſeliger Eltern begegnen meiner Kraft.“ Ihm antwortete
Aſteropäus: „Was frägſt du nach meinem Geſchlechte?
Der Enkel des Stromgottes Axius bin ich, Pelegon hat
mich gezeugt; vor eilf Tagen bin ich mit meinen Päonen
als Bundsgenoſſe Troja's erſchienen. Jetzt aber kämpfe mit
mir, hoher Achilles.“ Da erhub der Pelide ſeine Lanze;
der Päonier aber warf zwei Speere zugleich, einen mit
jeder Hand, denn er konnte die linke wie die rechte brau¬
chen: der eine brach das Schildgewölbe des Peliden, ohne
den Schild ſelbſt zu brechen, der andere ſtreifte ihm den
rechten Arm am Ellbogen, daß das Blut hervorrieſelte.
Jetzt erſt ſchwang Achilles ſeine Lanze, aber ſie verfehlte
den Gegner und fuhr bis zur Hälfte ins Ufer. Dreimal
zog Aſteropäus mit ſeiner nervigten Hand an ihr, ohne
ſie aus dem Boden herausreißen zu können. Als er das
viertemal anſetzte, überfiel ihn Achilles mit dem Schwert
und hieb ihm in den Leib, daß alles Gedärme hervor¬
drang und er röchelnd auf die Erde ſank. Der Pelide zog
ihm jauchzend die Rüſtung ab, und ließ den Leichnam den
Aalen zur Uferbeute liegen; dann ſtürzte er ſich unter die
Päonier, die noch voll Angſt an dem Fluſſe umher flogen.
Ihrer ſieben hatte ſein Schwert erſchlagen, und noch
wollte er unter ihnen fortwüthen, als plötzlich Skamander,
der zürnende Beherrſcher des Stromes, in Menſchenge¬
ſtalt aus dem tiefen Strudel emportauchte und dem Hel¬
den zurief: „Pelide, du wütheſt mit entſetzlichen Thaten,
mehr als ein Menſch! Meine Gewäſſer ſind voll von
Todten, mit Mühe ergießen ſich meine Ströme ins Meer,
laß ab!“ „Ich gehorche dir, denn du biſt ein Gott,“
antwortete Achilles, „aber darum wird mein Arm nicht
[271] vom Morde der Trojaner raſten, bis ich ſie in die Stadt
zurückgejagt und meine eigene Kraft mit der Kraft Hektors
gemeſſen habe.“ So ſprach er und ſtürzte ſich auf die
flüchtigen Reihen der Trojaner, drängte ſie aufs neue
dem Ufer zu, und als ſie ſich ins Waſſer retteten, ſprang,
den Befehl des Gottes vergeſſend, auch er wieder in den
Strudel. Nun fing der Strom an wüthend zu ſchwellen,
regte ſeine trüben Fluthen auf, warf die Getödteten mit
lautem Gebrüll ans Geſtade; ſeine Brandung ſchlug
ſchmetternd an den Schild des Peliden. Dieſer, mit den
den Füßen wankend, faßte eine Ulme mit den Händen,
riß ſie aus den Wurzeln und klomm über ihre Aeſte ans
Ufer. Nun flog er über das Gefilde hin, aber der Flu߬
gott rauſchte ihm mit der toſenden Welle nach, und erreichte
ihn, ſo raſch er war. Und ſo oft er ihm widerſtehen
wollte, beſpülten die Wogen ihm die Schultern, und raub¬
ten ihm den Boden unter den Füßen. Da klagte der
Held gen Himmel: „Vater Jupiter, erbarmt ſich denn
keiner der Ewigen meiner, mich aus der Gewalt des
Stroms zu retten? Betrogen hat mich meine Mutter,
als ſie weiſſagte, daß mir der Tod durch Apoll's edles
Geſchoß bereitet ſey. Hätte mich doch Hektor getödtet,
der Starke den Starken! So aber ſoll ich des ſchmäh¬
lichſten Todes in den Fluthen ſterben, wie der Knabe
eines Sauhirten, der im Winter durch den Sturzbach
watet und fortgeriſſen wird!“
Wie er ſo jammerte, geſellten ſich Poſeidon und
Athene in Menſchengeſtalt zu ihm, faßten ihn bei der
Hand und tröſteten ihn, denn nicht ſey ihm vom Schickſale
beſtimmt, in den Strom zu ſinken. Die Götter ſchieden
wieder, aber Athene füllte ihn mit Kraft, daß er hoch
[272] mit den Knieen aus der Fluth ſprang, und das Gefilde
wieder gewann. Aber noch immer ließ Skamander von
ſeinem Zorne nicht ab; vielmehr bäumte er ſich mit immer
höherer Brandung und rief laut ſeinem Bruder Simois
zu: „Komm Bruder, laß uns beide zuſammen die Gewalt
dieſes Mannes da bändigen, ſonſt wirft er uns heute noch
die Veſte des Priamus in den Staub! Auf; hilf mir,
nimm die Quellen des Gebirges auf, ermuntere jeden
Gießbach, hebe deine Fluth hoch, rolle Steinblöcke daher!
Nicht ſeine Kraft, nicht ſeine Rüſtung ſoll ihn vertheidigen:
tief im Sumpfe ſoll dieſe liegen, mit Schlamme bedeckt.
Ihn ſelbſt verſchütte ich mit Muſcheln, Kies und Sand,
daß die Argiver ſelbſt ſeine Gebeine in dem Wuſt nicht
mehr auffinden können. So thürme ich ihm ſelbſt ſein
Denkmal auf, und die Danaer brauchen ihm für kein
Raſengrab zu ſorgen!“ Unter dieſem Zurufe rauſchte er
mit Schaum, Blut und Leichen auf den Helden daher,
daß bald ſeine Welle ſich über ihm bäumte, indeß auch
der Strom Simois aus der Ferne ſich aufmachte.
Juno ſelbſt, voll inniger Angſt um ihren Liebling,
ſchrie laut auf, als ſie dieſes ſah. Dann ſprach ſie ſchnell
zu Hephäſtus: „Lieber hinkender Sohn, nur deine Flam¬
men ſind dem gewaltigen Strome gewachſen: bringe dem Pe¬
liden deine Hülfe; ich ſelbſt will den Weſt- und Südwind
vom Meergeſtade erregen, daß ſie die ſchreckliche Glut bis ins
Heer der Trojaner hineintragen. Du aber zünde die Bäume
am Geſtade des Fluſſes an und durchlodere ihn ſelbſt; laß
dich durch keine Schmeichelei und durch keine Drohung
zurückhalten, Glut muß die Vertilgung im Zaume halten!“
Auf ihr Wort durchflog die Flamme des Hephäſtus das
Gefild, und zuerſt verbrannte ſie die Leichname der Troer,
[273] die von Achilles Hand gefallen waren. Dann wurde das
Feld ganz trocken und das Waſſer gehemmt. Am Ufer
fingen die Ulmen, die Weiden, die Tamarisken und alles
Gras zu brennen an; ſchon ſchnappten die Aale und an¬
dere Fiſche, angſtvoll und matt von dem Glutanhauche,
nach friſchem Waſſer. Endlich wogte der Strom ſelbſt
in lichten Flammen, und Skamander, der Gott, rief
wimmernd aus ſeinen Fluthen hervor: „Gluthathmender
Gott, ich begehre nicht, mit dir zu kämpfen, laß uns vom
Streite ruhen; was geht mich die Fehde der Trojaner
und des Achilles an!” So klagte er, während ſeine Ge¬
wäſſer ſprudelten, wie Fett im Keſſel über der Flamme
brodelt. Endlich wandte er ſich laut wehklagend an die
Göttermutter, und rief: „Here, warum quält denn dein
Sohn Hephäſtus meinen Strom ſo entſetzlich? Hab' ich
doch nicht mehr verſchuldet, als die andern Götter alle,
ſo viel ihrer den Trojanern beiſtehen; jetzt aber will ich
ja gerne ruhig ſeyn, wenn du es befiehlſt, nur ſollte auch
er mich in Ruhe laſſen!” Da begann Juno zu ihrem
Sohne: „Halt ein, Hephäſtus, martere mir den unſterb¬
lichen Gott nicht länger um der Sterblichen willen!” Jetzt
löſchte der Feuergott ſeine Flamme, der Strom rollte in
ſeine Ufer zurück, und der ferne Simois gab ſich auch zufrieden.
Schlacht der Götter.
Den andern Göttern tobte dafür das Herz in unge¬
ſtümer Feindſchaft, und im Sturme prallten ſie aneinander,
daß der Erdkreis dröhnte und die Luft rings wie von
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 18[274] Poſaunen erſcholl. Jupiter, auf der Spitze des Olymp
gelagert, vernahm es, und ſein Herz erbebte vor Wonne,
als er die Unſterblichen zum rieſenhaften Kampf auf ein¬
ander losrennen ſah. Zuerſt drang Mars, der Kriegsgott,
vor und ſtürmte mit ſeinem ehernen Speer auf Pallas
Athene ein, indem er ihr ſchmähende Worte entgegenrief:
„Du ſchamloſeſte Fliege, was treibſt du voll ſtürmiſcher
Dreiſtigkeit die Götter zum Kampfe? Weißt du noch, wie
du den Tydiden gereizt, daß er mich mit der Lanze ver¬
wundete, ja wie du ſelbſt mit dem ſtrahlenden Speere mir
den unſterblichen Leib verletzt? Jetzt wollen wir die Rech¬
nung miteinander abſchließen, du Unbändige!“ So ſprach
er, ſchlug an ſeinen ſchrecklichen Aegisſchild, und ſtieß mit
dem Speer nach der Göttin. Dieſe wich aus, griff nach
einem großen rauhen Markſtein, der dort im Gefilde lag,
und traf damit den Wütherich an den Hals, daß er klir¬
rend in ſeinen ehernen Waffen zu Boden ſank, ſieben
Hufen Landes im Fall bedeckend, und ſein göttliches Haar
vom Staube beſudelt ward. Da lächelte Athene, und
ſprach jubelnd: „Thörichter, du haſt wohl nie bedacht, wie
viel ich dich an Kraft übertreffe, da du es gewagt haſt,
dich mit mir zu meſſen! Büße jetzt ganz deiner Mutter
Here Verwünſchungen, die voll Zornes über dich iſt, daß
du dich den Griechen entzogen haſt, und die übermüthigen
Trojaner vertheidigen magſt.“ So redete ſie, und wandte
ihre ſtrahlenden Götteraugen ab. Den ſchwer aufſtöhnen¬
den Kriegsgott, dem erſt allmählig der Athem wiederkehrte,
führte Jupiters Tochter, Aphrodite, aus der Schlacht; als
aber Juno die beiden gewahr wurde, begann ſie zu Athene:
„Weh mir, Pallas, ſieheſt du nicht, wie dreiſt dort die
weichliche Liebesgöttin den wilden Mörder mitten aus dem
[275] entſcheidenden Kampfe durchs Getümmel hinwegführt?
Wirſt du ſie nicht ſchnell verfolgen?“ Nun ſtürmte Pallas
Athene nach, und verſetzte der zarten Göttin mit mächtiger
Hand einen Schlag auf die Bruſt, daß ſie zu Boden ſank,
und der verwundete Kriegsgott mit ihr. „Mögen alle ſo
ſtürzen,“ rief Athene, „die es wagen, den Trojanern bei¬
zuſtehen! Wäre es jedem der Unſern gelungen, wie mir,
ſo hätten wir längſt Ruhe, und Troja wäre zum Schutt¬
haufen unter unſern Händen geworden.“ Ein Lächeln flog
über Here's Geſicht, als ſie dieſes ſah und hörte. Darauf
ſprach der Erderſchütterer Poſeidon, zu Apollo gewendet:
„Phöbus, warum ſtehen wir ſo entfernt, da doch Andere
den Kampf ſchon begonnen haben? Es wäre doch eine
Schmach für uns, wenn wir beide zum Olymp zurückkeh¬
ren wollten, ohne unſere Kraft aneinander verſucht zu
haben. So hebe denn du an, biſt du doch der Jüngere!
Was ſäumſt du? Hat dein Herz doch ganz vergeſſen, wie
viel wir beide vor allen Göttern bereits Böſes um Troja
geduldet haben, ſeit wir dem ſtolzen Laomedon bei dem Bau
der Stadtmauer fröhnten, und er unſere Dienſte ſo ſchnöde
vergalt? Du denkſt wohl nicht mehr daran, ſonſt würdeſt
du mit uns Andern auf die Vernichtung der Trojaner be¬
dacht ſeyn, und nicht dem Volke des trügeriſchen Laomedon
willfahren!“ „Beherrſcher des Meeres,“ antwortete ihm
Phöbus, „ich ſelbſt würde dir nicht bei Beſinnung dünken,
wenn ich, der Sterblichen wegen, die hinfällig ſind, wie
das Laub im Walde, mit dir, dem ehrfurchtgebietenden
Gotte, kämpfen wollte.“ So ſprach Apollo, und wandte
ſich, voll Scheu, wider den Bruder ſeines Vaters ge¬
waltſam den Arm aufzuheben. Da ſpottete ſeiner die
Schweſter Artemis und rief höhnend: „Flieheſt du ſchon
18 *[276] vor der Schlacht, du Fernhintreffer, und räumſt dem prah¬
leriſchen Poſeidon den Sieg ein? Du Thor, was trägſt
du alsdann auf der Schulter den Bogen, das nichtige
Kinderſpiel? Aber Juno verdroß die Spottrede: „Ge¬
denkſt du etwa, weil du dein Geſchoß auf dem Rücken
trägſt, dich mit mir an Stärke zu meſſen, du Schamloſe?“
ſprach ſie, „wahrlich, dir wäre beſſer, du gingſt in die
Wälder, einen Eber oder Hirſch zu erlegen, als frech
gegen höhere Götter anzukämpfen! Und doch, weil du
ſo trotzig biſt, ſo magſt du meine Hand fühlen.“ So
ſchalt ſie, ergriff mit der Linken beide Hände der Göttin
am Knöchel, mit der Rechten zog ſie ihr den Köcher ſammt
den Pfeilen von der Schulter, und verſetzte damit der
Zurückgewendeten ſchimpfliche Streiche um die Ohren, daß
die Pfeile klirrend aus dem Köcher ſanken. Wie eine
ſchüchterne Taube, vom Habicht verfolgt, ließ Diana
Köcher und Pfeile liegen, und floh unter Thränen davon.
Ihre Mutter Latona wäre ihr zu Hülfe geeilt, wenn nicht
Merkur in der Nähe auf der Lauer geſtanden wäre. Als
dieſer das inne ward, ſprach er zu ihr: „Ferne ſey von
mir, daß ich mit dir ſtreiten wollte, Latona; gefahrvoll
iſt der Kampf mit den Frauen, die der Donnerer ſeiner
Liebe gewürdigt hat. Deswegen magſt du dich immerhin
im Kreiſe der Unſterblichen rühmen, mir obgeſiegt zu haben.“
So ſprach er freundlich: da eilte Latona herbei, hub den
Bogen, den Köcher und die Pfeile, wie ſie wirbelnd da
und dorthin in den Staub gefallen waren, ſie ſammelnd,
auf, und eilte der Tochter nach, zum Olymp hinan.
Dort hatte ſich Artemis weinend auf die Kniee des Va¬
ters geſetzt, und ihr feines, von Ambroſia duftendes
Gewand bebte ihr noch vom Zittern der Glieder. Jupiter
[277] ſchloß ſie liebkoſend in die Arme, und ſprach unter freund¬
lichem Lächeln zu ihr: „Welcher von den Göttern hat es
gewagt, dich zu mißhandeln, mein zartes Töchterchen?“
„Vater,“ antwortete ſie, „dein Weib hat mir ein Leids
gethan, die zornige Juno, die alle Götter zu Streit und
Hader empört.“ Da lachte Jupiter, ſtreichelte ſie und
ſprach ihr Troſt ein.
Drunten aber ging Phöbus Apollo hinein in die Stadt
der Trojaner, denn ihm war ernſtlich bange, die Danaer
möchten, dem Schickſale zum Trotz, noch heute die Mauer
der ſchönen Veſte niederreißen. Die übrigen Götter eilten,
die einen voll Siegesluſt, die andern voll Zorn und Gram,
in den Olymp zurück, und ſetzten ſich um den Vater, den
Donnergott, im Kreiſe.
Achilles und Hektor vor den Thoren.
Auf einem hohen Thurme der Stadt ſtand der greiſe
König Priamus, und ſchaute nieder auf den gewaltigen
Peliden, wie er die fliehenden Trojaner vor ſich hertrieb,
ohne daß ein Gott oder ein Sterblicher erſchien, ihn ab¬
zuwehren. Wehklagend ſtieg der König vom Thurme her¬
nieder, und ermahnte die Hüter der Mauer: „Oeffnet die
Thorflügel und haltet ſie, bis alle die fliehenden Völker
ſich in die Stadt hereingedrängt haben, denn Achilles tobt
ganz nahe dem Schwarm, und mir ahnet ſchlimmer Aus¬
gang. Sind ſie innerhalb der Mauer, ſo fuget mir die
Flügel wieder wohl ineinander, ſonſt ſtürmt der Verderb¬
liche hinter ihnen durch das Thor zu uns herein! Die
[278] Wächter ſchoben die Riegel zurück, die Thorflügel thaten
ſich auseinander und eine Rettungspforte ſtand offen.
Während aber die Trojaner ausgedörrt von Durſt,
bedeckt mit Staub, durch das Blachfeld flohen, und Achil¬
les mit ſeiner Lanze ſie wie wahnſinnig verfolgte, verließ
Apollo Troja's offenes Thor, die Noth ſeiner Schutzbe¬
fohlenen zu wenden. Er erweckte den Helden Agenor,
den tapfern Sohn Antenors, und ſtand ihm, in dunkeln
Nebel eingehüllt, an die Buche Jupiters gedrängt, ſelbſt
zur Seite. So geſchah es, daß Agenor zuerſt von allen
Trojanern im Fliehen inne hielt, ſich beſann und ſchämte
und zu ſich ſelbſt ſagte: „Wer iſt es, der dich verfolgt,
iſt nicht auch ihm der Leib mit ſpitzem Eiſen verwundbar,
iſt er nicht auch ſterblich, wie andere Menſchen?“ So
faßte er ſich in Gedanken und erwartete den heranſtürmen¬
den Achilles, ſtreckte den Schild vor, und rief ihm, die
Lanze ſchwingend, entgegen: „Hoffe nicht ſo ſchnell die
Stadt der Trojaner zu verheeren, Thörichter; noch gibt
es Männer unter uns, die für Eltern, Weiber und Kin¬
der ihre Veſte beſchirmen!“ Damit entſchwang er den
Speer, und traf die neugegoſſene zinnerne Knieſchiene des
Helden, von der die Lanze jedoch, ohne zu verwunden, ab¬
prallte. Achilles ſtürzte ſich auf den Gegner, aber Apollo
entführte dieſen im Nebel, und wußte den Peliden ſelbſt
durch eine Liſt von der Verfolgung abzulenken. Er ſelbſt
verwandelte ſich nämlich in die Geſtalt Agenors, und nahm
ſeinen Weg durch das Waizenfeld, dem Skamanderfluſſe
zu. Achilles eilte ihm fliegend nach und hoffte ihn beſtän¬
dig im Laufe zu erhaſchen. Indeſſen flüchteten die Tro¬
janer glücklich durchs offene Thor in die Stadt, die ſich
bald mit gedrängten Schaaren füllte: Keiner wartete
[279] auf den Andern, Keiner ſchaute ſich um, zu ſehen, wer
gerettet, wer gefallen ſey; alle waren nur froh für ſich
ſelbſt, ſich ſicher hinter den Mauern zu wiſſen. Da kühlten
ſie den Schweiß, löſchten den Durſt und ſtreckten ſich
längs der Mauer an der Bruſtwehr nieder.
Doch die Griechen, Schild an Schulter, wandelten
in dichten Schaaren auf die Mauer zu. Von allen Tro¬
janern war nur Hektor auſſerhalb des ſkäiſchen Thores
geblieben, denn ſein Schickſal hatte es ſo geordnet. Achilles
aber war immer noch auf der Verfolgung Apollo's begrif¬
fen, den er für Agenor hielt. Da ſtand plötzlich der
Gott ſtille, wandte ſich um, und ſprach mit ſeiner Götter¬
ſtimme: „Was verfolgſt du mich ſo hartnäckig, Pelide,
und vergiſſeſt über mich die Verfolgung der Trojaner?
Du meineſt einen Sterblichen zu jagen, und rannteſt einem
Gotte nach, den du doch nicht tödten kannſt.“ Da fiel es
wie Schuppen von den Augen des Helden, und er rief
voll Aerger aus: „Grauſamer, trügeriſcher Gott! daß du
mich ſo von der Mauer hinweglocken konnteſt! Fürwahr,
noch viele hätten mir im Staube knirſchen müſſen, ehe ſie
in Ilion einzogen! Du aber haſt mir den Siegesruhm
geraubt und ſie gefahrlos gerettet, denn du haſt als ein
Gott keine Rache zu fürchten, wie gerne ich mich auch an
dir rächen möchte!“
Achilles wandte ſich und flog trotzigen Sinnes auf die
Stadt zu, wie ein ungeſtümes, ſieggewohntes Roß am
Wagen. Ihn erblickte zuerſt der greiſe Priamus, von der
Warte des Thurmes herab, auf der der König wieder
Platz genommen hatte, und er erſchien ihm leuchtend, wie
der ausdörrende Hundsſtern am Nachthimmel dem Land¬
mann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis ſchlug
[280] ſich die Bruſt mit den Händen und rief wehklagend zu
ſeinem Sohne herab, der auſſerhalb des ſkäiſchen Thores
ſtand und voll heiſſer Kampfgier auf den Peliden wartete:
„Hektor, theurer Sohn! was weileſt du drauſſen einſam
und von allen Andern getrennt! Willſt du dich denn
muthwillig dem Verderben in die Hände geben, ihm, der
mir ſchon ſo viele tapfre Söhne geraubt hat! Komm
herein in die Stadt, beſchirme hier Troja's Männer und
Frauen, verherrliche nicht den Ruhm des Peliden durch
deinen Tod! Erbarme dich auch meiner, deines elenden
Vaters, ſo lange er noch athmet, meiner, den Jupiter
verdammt hat, an der äußerſten Schwelle des Alters in
Gram hinzuſchwinden, und ſo unendliches Leid mit anzu¬
ſchauen! Meine Kinder werde ich ſehen müſſen erwürgt,
meine Töchter hinweggeriſſen, ausgeplündert die Kammern
meiner Burg, die ſtammelnden Kinder zu Boden geſchmet¬
tert, die Schwiegertöchter fortgeſchleppt. Zuletzt liege ich
wohl ſelbſt, von einem Speerwurf oder Lanzenſtich ermor¬
det, am Thore des Pallaſtes, und die Haushunde, die
ich aufgezogen, zerfleiſchen mich und lecken mein Blut!“
So rief der Greis vom Thurme herab und zerraufte
ſein weißes Haar. Auch Hekuba, die Mutter, erſchien an
ſeiner Seite, zerriß ihr Gewand und rief weinend hinun¬
ter: „Hektor, gedenke, daß meine Bruſt dich geſtillt hat;
erbarme dich meiner! Wehre dem ſchrecklichen Manne
hinter der Mauer, aber miß dich nicht mit ihm im Vor¬
kampfe, du Raſender!“
Das laute Weinen und Rufen ſeiner Eltern vermochte
den Sinn Hektors nicht umzuſtimmen; er blieb unbeweg¬
lich auf dem Platze und erwartete den herannahenden
Achilles. „Damals hätte ich weichen müſſen,“ ſprach er
[281] in ſeinem Herzen, „als mein Freund Polydamas mir den
Rath gab, das Heer der Trojaner in die Stadt zurückzu¬
führen! Jetzt nachdem ich das Volk durch meine Bethö¬
rung verderbt habe, fürchte ich mich vor den Männern
und Weibern Troja's, daß nicht einer der Schlechteren
mir dereinſt ſage: im Vertrauen auf ſeine eigene Stärke
hat Hektor das Volk preisgegeben. Viel beſſer ich ſiege
oder falle im Kampfe mit dem Gefürchteten! — Oder wie?
wenn ich Schild und Helm jetzt zur Erde legte, meinen
Speer an die Mauer lehnte, ihm entgegen ginge, ihm
Helena, alle Schätze, die Paris geraubt, zudem anderes
Gut die Fülle anböte; wenn ich alsdann den Fürſten
Troja's einen Eidſchwur abnähme, nichts ingeheim zu
entziehen; all unſre Schätze und Vorräthe in zwei Theile
zu theilen ..... Doch, wehe mir, was für Gedanken
kommen mir ins Herz? Ich mich ihm flehend nahen?
Ohne Erbarmen würde er mich, den Entblößten, nieder¬
hauen, wie ein Weib! Fürwahr es würde ſchön laſſen,
wenn ich mich zu einem traulichen Geſpräche ihm beige¬
ſellen wollte, wie ein Jüngling wohl mit der Jungfrau
plaudert! Beſſer, wir rennen auf einander an zum
Kampfe, daß es ſich bald entſcheiden muß, welchem von
uns beiden die Olympiſchen den Sieg verliehen!“ Solche
Gedanken wog Hektor im Geiſte ab und blieb.
[282]
Der Tod Hektors.
Immer näher kam Achilles geſchritten, dem Kriegs¬
gott an furchtbarer Herrlichkeit gleich; auf der rechten
Schulter bebte ihm entſetzlich ſeine Lanze aus Pelions
Eſchenholz, ſeine Erzwaffen ſchimmerten um ihn wie eine
Feuersbrunſt, oder wie die aufgehende Sonne. Als Hek¬
tor ihn ſah, mußte er unwillkührlich zittern; er vermochte
nicht mehr ſtille zu ſtehen; er wandte ſich um, dem Thore
zu, und hinter ihm her flog der Pelide, wie ein Falk der
Taube nachſtürzt, die oft ſeitwärts ſchlüpft, während der
Raubvogel gradandringt in ſeinem Fluge. So flüchtete
Hektor längs der Mauer von Troja über den Fahrweg
hinüber an den beiden ſprudelnden Quellen des Skaman¬
der vorbei, der warmen und der kalten, immer weiter um
die Mauer: ein Starker floh, aber ein Stärkerer folgte.
Alſo kreisten ſie dreimal um die Stadt des Priamus, und
vom Olymp ſahen alle ewigen Götter dem Schauſpiele
mit geſpannter Aufmerkſamkeit zu. „Erwägt es wohl, ihr
Götter,“ ſprach Jupiter, „die Stunde der Entſcheidung iſt
jetzt gekommen; jetzt fragt es ſich: ſoll Hektor dem Tode
noch einmal entfliehen, ſoll er, wie tapfer er auch ſeyn
mag, fallen?“ Da nahm Pallas Athene das Wort und
ſprach: „Vater, wo denkſt du hin? Einen Sterbenden,
der längſt dem Verhängniß anheimgefallen iſt, willſt du
vom Tod erlöſen? Thu', was dir gut dünkt, aber hoffe
nicht, daß die Götter deinen Rath billigen werden!” Ju¬
piter nickte ſeiner Tochter Gewährung zu, und ſie ſchwang
[283] ſich wie ein Vogel von den Felſenhöhen des Olymp aufs
Schlachtfeld hinab.
Hier floh Hektor noch immer vor ſeinem Verfolger,
der ihn, wie ein Jagdhund den aus dem Lager aufgejagten
Hirſch, bedrängte, und ihm, wie dieſer ſeinem Wild, keinen
Schlupfwinkel und keine Raſt gönnte. Auch winkte Achil¬
les ſeinem Volke zu, daß keiner ſein Geſchoß auf Hektorn
werfen und ihm den Ruhm rauben ſollte, der erſte und
einzige geweſen zu ſeyn, der den furchtbarſten Feind der
Griechen erlegte.
Als ſie nun zum viertenmal auf ihrer Runde um die
Mauer an die Quellen des Skamander gelangt waren,
da erhub ſich Jupiter auf dem Olymp, ſtreckte die goldne
Wage vor, und legte zwei Todeslooſe hinein, das eine
für den Peliden, das andre für Hektor. Dann faßte er
die Wage in der Mitte und wog: da ſank Hektors Wag¬
ſchale tief nach dem Hades zu, und augenblicklich verließ
Phöbus Apollo ſeine Seite. Zu Achilles aber trat Athene
die Göttin und flüſterte ihm ins Ohr: „Steh' und erhole
dich, während ich Jenem zurede, dich kühn zu bekämpfen.“
Achilles lehnte ſich, der Göttin gehorchend, auf ſeinen
eſchenen Speer, ſie aber, in der Geſtalt des Deiphobus,
trat ganz nahe zu Hektor und ſprach zu ihm: „Ach, mein
älterer Bruder, wie bedrängt dich der Pelide! Wohlan,
laß uns Stand halten und ihn abwehren.“ Freudig auf¬
blickend erwiederte Hektor: „Du warſt immer mein trau¬
teſter Bruder, Deiphobus, jetzt aber muß dich mein In¬
nerſtes nur um ſo mehr hochachten, daß du dich, ſobald
mich dein Auge wahrnahm, aus der Stadt gewagt haſt,
während die andern alle hinter der Mauer ſitzen!“ Athene
winkte dem Helden zu und ſchritt ihm, die Lanze gehoben,
[284] voran, dem ausruhenden Achilles entgegen. Dieſem rief
Hektor zuerſt zu: „Nicht länger entfliehe ich dir, Pelide:
mein Herz treibt mich, dir feſt entgegen zu ſtehen, daß ich
dich tödte oder falle! Laß uns aber die Götter zu Zeu¬
gen eines Eidſchwures nehmen: wenn mir Jupiter den
Sieg verleiht, werde ich dich nimmermehr mißhandeln,
ſondern, nachdem ich dir deine Rüſtung abgezogen, die
Leiche deinen Volksgenoſſen zurückgeben. Ein Gleiches
ſollſt du mir thun!“
„Nicht von Verträgen geplaudert!“ erwiederte finſter
Achilles, „ſo wenig ein Hund zwiſchen Löwen und Men¬
ſchen Freundſchaft ſtiftet, ſo wenig zwiſchen Wölfen und
Lämmern Eintracht beſteht, ſo wenig wirſt du mich mit
dir befreunden. Einer von uns muß blutig zu Boden
ſtürzen. Nimm deine Kunſt zuſammen, du mußt Lanzen¬
ſchwinger und Fechter zugleich ſeyn. Doch du wirſt mir
nicht entrinnen, all das Leid, das du den Meinigen mit
der Lanze angethan haſt, das büßeſt du mir jetzt auf ein¬
mal!“ So ſchalt Achilles und ſchleuderte die Lanze: doch
Hektor ſank ins Knie, und das Geſchoß flog über ihn
weg in die Erde; hier faßte es Athene und gab es dem
Peliden, unbemerkt von Hektor, ſogleich zurück. Mit zor¬
nigem Schwung entſandte nun Hektor auch ſeinen Speer,
und dieſer fehlte nicht, er traf mitten auf den Schild des
Achilles, aber prallte auch davon ab; beſtürzt ſah ſich
Hektor nach ſeinem Bruder Deiphobus um, denn er hatte
keine zweite Lanze zu verſenden. Doch dieſer war ver¬
ſchwunden. Da wurde Hektor inne, daß es Athene war,
die ihn getäuſcht hatte. Wohl ſah er ein, daß das Schick¬
ſal ihn jetzt faſſen würde; er dachte daher nur darauf,
wie er nicht ruhmlos in den Staub ſinken wollte, zog
[285] ſein gewaltiges Schwert von der Hüfte, und ſtürmte, das
geſchwungene in der Rechten, wie ein Adler einher, der
auf einen geduckten Haſen oder ein Lämmlein aus der
Luft herabſchießt. Der Pelide wartete den Streich nicht
ab, auch er drang unter dem Schilde vor; ſein Helm
nickte, die Mähne flatterte, und ſternhell ſtrahlte ſein
Speer, den er grimmig in ſeiner Rechten ſchwenkte. Sein
Auge durchſpähte den Leib Hektors, forſchend, wo etwa
eine Wunde haften könnte. Da fand er Alles blank von
der geraubten Rüſtung umhüllt: nur wo Achſel und Hals
das Schlüſſelbein verbindet, erſchien die Kehle, die gefähr¬
lichſte Stelle des Lebens im Leib, ein weniges entblößt.
Dorthin lenkte Achilles ſchnell beſonnen ſeinen Stoß und
durchſtach ihm den Hals ſo mächtig, daß die Lanzenſpitze
zum Genick herausdrang. Doch durchſchnitt ihm der
Speer die Gurgel nicht ſo, daß der Verwundete nicht
noch reden konnte, obgleich er in den Staub ſank, wäh¬
rend Achilles laut frohlockte und den Leichnam Hunden
und Vögeln preis zu geben drohte. Da begann der lie¬
gende Hektor, ſchon ſchwächer athmend, zu flehen: „Ich
beſchwöre dich bei deinem Leben, Achilles, bei deinen
Knieen, bei deinen Eltern, laß mich bei den Schiffen der
Danaer nicht die Hunde zerreißen! Nimm Erz und Gold
ſo viel du willſt zum Geſchenk, und entſende dafür mei¬
nen Leib nach Troja, daß Männer und Frauen dort ihm
die Ehre des Scheiterhaufens zu Theil werden laſſen.”
Aber Achilles ſchüttelte ſein fürchterliches Haupt und
ſprach: „Beſchwöre mich nicht bei meinen Knieen und
meinen Eltern, du Mörder meines Freundes! Niemand
ſey, der dir die Hunde verſcheuche von deinem Haupt,
und wenn mir deine Landsleute zwanzigfältige Sühnung
[286] darwögen und noch mehr verhießen. Ja, wenn dich Pria¬
mus mir ſelbſt mit Gold aufwägen wollte!“ „Ich kenne
dich,” ſtöhnte Hektor ſterbend, „ich ahnte, daß du nicht zu
erweichen ſeyn würdeſt; dein Herz iſt eiſern! Aber denk'
an mich, wenn die Götter mich rächen, und am hohen,
ſkäiſchen Thore du vom Geſchoſſe Phöbus Apollo's ge¬
troffen im Staube endeſt, wie jetzt ich!“ Mit dieſer
Weiſſagung verließ Hektor's Seele den Leib und flog
zum Hades hinunter. Achilles aber rief der fliehenden
nach: „Stirb du; mein Loos empfang' ich, wann Jupiter
und die Götter wollen!“ So ſprach er und zog den
Speer aus dem Leichnam, legte ihn bei Seite, und zog die
eigene, blutige Rüſtung von den Schultern des Gemordeten.
Nun kamen aus dem griechiſchen Heere viel Streiter
herbeigelaufen und betrachteten den Wuchs und die hohe
Bildung des todten Hektor bewundernd, und mancher
ſprach, ihn anrührend: „Wunderbar, wie viel ſanfter iſt
doch der Mann nun zu betaſten, als da er den Feuer¬
brand in unſere Schiffe ſchleuderte!“ Jetzt ſtellte ſich
Achilles mitten unter das Volk und ſprach: „Freunde und
Helden! Nachdem die Götter mir verliehen haben, dieſen
Mann hier zu bändigen, der uns mehr Böſes gethan hat,
als alle andern zuſammen, ſo laßt uns in unſerer Rüſtung
die Stadt ein wenig auskundſchaften, um zu erforſchen,
ob ſie uns wohl die Burg räumen werden, oder ob ſie es
wagen, uns auch ohne Hektor Widerſtand zu leiſten. Aber
was rede ich? Liegt nicht mein Freund Patroklus noch
unbeſtattet bei den Schiffen? Darum ſtimmet den Siegs¬
geſang an, ihr Männer, und laßt uns vor allen Dingen
meinem Freunde das Sühnopfer bringen, das ich ihm
geſchlachtet habe!“
Mit ſolchen Worten wandte ſich der Grauſame dem
Leichnam aufs Neue zu, durchbohrte ihm an beiden Füßen
die Sehnen zwiſchen Knöchel und Ferſen, durchzog ſie mit
Riemen von Stierhaut, band ſie am Wagenſitze feſt,
ſchwang ſich in den Wagen, und trieb ſeine Roſſe mit der
Geißel den Schiffen zu, den Leichnam nachſchleppend.
Staubgewölk umwallte den Geſchleiften, ſein jüngſt noch
ſo liebliches Haupt zog mit zerrüttetem Haar eine breite
Furche durch den Staub. Von der Mauer herab erblickte
ſeine Mutter Hekuba das grauenvolle Schauſpiel, warf
den Schleier ihres Hauptes weit von ſich und ſah jam¬
mernd ihrem Sohne nach. Auch der König Priamus
weinte und jammerte. Geheul und Angſtruf der Trojaner
und der fremden Völker hallte durch die ganze Stadt.
Kaum ließ ſich der alte König abhalten, ſelbſt in ſeinem
zornigen Schmerz zum ſkäiſchen Thore hinaus zu ſtürmen
und dem Mörder ſeines Sohnes nachzueilen. Er warf
ſich zu Boden und rief: „Hektor, Hektor! Alle andern
Söhne, die mir mein Feind erſchlug, vergeſſe ich über
dir: o wäreſt du doch nur in meinen Armen geſtorben!“
Andromache, Hektors Gemahlin, hatte von dem gan¬
zen Jammer noch nichts vernommen, ja ihr war nicht
einmal ein Bote gekommen, der gemeldet hätte, daß ihr
Gatte ſich noch draußen vor den Thoren befinde. Ruhig
ſaß ſie in einem der Gemächer des Pallaſtes, und durch¬
wirkte ein ſchönes Purpurgewand mit bunter Stickerei.
Und eben rief ſie einer der Dienerinnen, einen großen
Dreifuß ans Feuer zu ſtellen, um ihrem Gemahl ein
wärmendes Bad vorzubereiten, wenn er aus der Feld¬
ſchlacht käme. Da vernahm ſie vom Thurme her Geheul
und Jammergeſchrei. Finſtre Ahnung im Herzen rief ſie:
[288] „Weh mir, ihr Mägde, ich fürchte, Achilles habe meinen
muthigen Gatten allein von der Stadt abgeſchnitten und
bedrohe ſeine Kühnheit, die ihn niemals im Haufen wei¬
len läßt! Folget euer zwei mir, daß wir ſchauen, was
es gibt!“ Mit pochendem Herzen durchſtürmte ſie den
Pallaſt, eilte auf den Thurm und ſah herab über die
Mauer, wie die Roſſe des Peliden den Leichnam ihres
Gatten, erbarmungslos an den Wagen des Siegers ge¬
bunden, durchs Gefilde ſchleppten. Andromache ſank rück¬
wärts in die Arme ihrer Schwäger und Schwägerinnen
in tiefe Ohnmacht und der köſtliche Haarſchmuck, das
Band, die Haube, die ſchöne Binde, das Hochzeitgeſchenk
Aphrodite's, flogen weit weg von ihrem Haupte. Als ſie
endlich wieder aufzuathmen anfing, begann ſie mit gebro¬
chener Klage ſchluchzend vor Troja's Frauen: „Hektor!
wehe mir Armen! du, elend wie ich, zu Elend geboren,
wie ich! In Schmerz und Jammer verlaſſen, ſitze ich
nun im Hauſe, eine Wittwe mit unſerem unmündigen
Kinde, das des Vaters beraubt, die Augen geſenkt, mit
immer bethränten Wimpern aufwächst! Betteln wird es
müſſen bei den Freunden des Vaters, und bald den am
Rock, bald den am Aermel zupfen, daß er ihm das
Schälchen reiche und zu nippen gebe! Manchmal auch
wird ein Kind blühender Eltern es vom Schmauſe ver¬
ſtoßen und ſagen: trolle dich, dein Vater iſt ja nicht bei'm
Gaſtmahl! dann flüchtet es ſich weinend zu der Mutter,
die keinen Gatten hat. Der aber wird die Hunde ſätti¬
gen und die Würmer werden den Ueberreſt verzehren!
Was helfen mir nun die ſchmucken, zierlichen Gewande
in den Käſten? Der Flamme will ich ſie alle übergeben:
was frommen ſie mir? Hektor wird nicht mehr auf
[289] ihnen ruhen, nicht mehr in ihnen prangen!“ So ſprach
ſie weinend und wehklagend und rings umher ſeufzten die
Trojanerinnen.
Leichenfeier des Patroklus.
Sobald Achilles mit der Leiche ſeines Feindes bei den
Schiffen angekommen war, ließ er dieſe am Bette des
Patroklus aufs Antlitz in den Staub ſtrecken. Derweil
legten die Danaer ihre Rüſtungen ab und ſetzten ſich zu
Tauſenden am Schiffe des Peliden zum feſtlichen Leichen¬
ſchmauſe nieder. Stiere, Schafe und Schweine wurden
geſchlachtet und der Pelide ließ den Streitern eine köſt¬
liche Mahlzeit zurichten. Den Helden ſelbſt führten die
Genoſſen widerſtrebend von der Leiche ſeines Freundes
weg in das Zelt des Königes Agamemnon. Hier ward
ein großes Geſchirr voll Waſſers an die Gluth geſtellt:
ob ſie nicht etwa den Peliden vermögen könnten, ſich den
blutigen Schlachtſtaub von den Gliedern zu waſchen.
Er aber weigerte ſich hartnäckig und ſchwur einen großen
Eid: „Nein, ſo wahr Jupiter lebt, kein Bad ſoll meinen
Scheitel netzen, ehe Patroklus von mir auf den Scheiter¬
haufen gelegt iſt, ehe ich mein Haar geſchoren und ihm
ein Denkmal aufgethürmt habe! Meinetwegen mögen wir
jetzt das traurige Feſtmahl abhalten. Morgen aber laß
Holz im Walde fällen, Fürſt Agamemnon, und beut
Allem auf, was zur Leichenfeier meinem Freunde gebührt,
daß das Feuer den Jammeranblick ſchnell von uns nehme
und das Volk ſich wieder zur Kriegsarbeit wende!“ Die
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 19[290] Fürſten ließen ihn gewähren, ſetzten ſich ans Mahl und
ſchmausten. Dann ging ein jeder zur Nachtruhe. Der
Sohn des Peleus aber, weil die Todten in ſeinem Zelte
waren, legte ſich, von ſeinen Myrmidonen umringt, am
Meergeſtade nieder, wo der kieſige Strand von den Wel¬
len reingeſpült war.
Lange ſeufzte er hier noch auf dem harten Lager um
den erſchlagenen Freund. Als ihn aber endlich der Schlum¬
mer umfangen hatte, da kam die Seele des jammervollen
Patroklus im Traumbilde zu ihm, an Größe, Geſtalt,
Stimme und Augen jenem ganz ähnlich, den Leib einge¬
hüllt in Gewande. So trat der Schatten zu ſeinen Häup¬
ten und ſprach: „Schläfſt du, meiner ſo ganz vergeſſen,
Achilles? Des Lebenden zwar haſt du immerdar gedacht;
aber nicht alſo des Todten! Gib mir ein Grab, denn
mich verlangt ſehr, durch das Thor des Hades einzuge¬
hen! Bis jetzt hab' ich es nur irrend umwandelt, und es
ſitzen als Wächter Seelen da, die mich zurückſcheuchen!
Ehe der Scheiterhaufen mir gewährt worden iſt, kann ich
nicht zur Ruhe kommen. Du mußt aber wiſſen, Freund,
daß auch dir vom Schickſal beſtimmt iſt, nicht ferne von
der Mauer Troja's zu fallen. Richte deßwegen mein
Grab ſo ein, daß unſer beider Gebein neben einander
ruhen kann, wie wir zuſammen in deines Vaters Woh¬
nung aufgewachſen ſind.“
„Ich gelobe dir Alles, Bruder!“ rief Achilles und
ſtreckte die Hände nach dem Schattenbilde aus, da ſank
die Seele ſchwirrend zur Erde hinab, wie ein Rauch. Der
Held ſprang beſtürzt vom Lager auf, ſchlug die Hände
zuſammen und ſprach jammernd: „So leben denn die
Seelen wirklich noch in der Behauſung des Hades, aber
[291] ach! ein beſinnungsloſes Leben! Dieſe Nacht ſtand ja
leibhaftig vor mir des Patroklus Seele, traurig und kla¬
gend, aber ihm in Allem gleich!“ Dadurch erregte Achil¬
les allen Helden die Sehnſucht nach dem Todten auf's
Neue.
Als aber die Morgenröthe anbrach, da verließen auf
Agamemnons Befehl Männer und Maulthiere die Lager¬
zelte, Meriones an ihrer Spitze: die Thiere voran, die
Männer mit Aexten und Seilen ihnen folgend. Da wur¬
den von ihnen auf den Waldhöhen des Ida die hoch¬
ſtämmigſten Bäume gefällt, das Holz zerſchlagen und den
Maulthieren aufgeladen. Dieſe trabten damit hinab nach
den Schiffen; auch die Männer ſchleppten Holzklötze auf
den Schultern, und am Meeresſtrande wurde alles in
Reihen niedergelegt. Nun befahl Achilles ſeinen Myrmi¬
donen, ihre Erzrüſtung anzulegen und den Reiſigen, die
Wagen anzuſpannen. Bald ſetzte ſich der Leichenzug in
Bewegung: die Fürſten, Kämpfer und Wagenlenker von
den Roſſen gezogen, voran; ein dichtes Gewölk von Fu߬
volk zu Tauſenden hintendrein. In der Mitte trugen den
Patroklus ſeine Streitgenoſſen und Freunde, der Leichnam
war ganz mit geſchorenen Locken bedeckt; ſein Haupt hielt
Achilles, der Leiche folgend, ſelbſt in den Händen, in tiefe
Trauer verſenkt.
Als ſie den von dieſem für das Grab ſeines Freun¬
des bezeichneten Ort erreicht hatten, ſetzten ſie die Todten¬
bahre nieder und ein ganzer Wald von Bäumen wurde
zum Scheiterhaufen herbeigebracht. Der Pelide ſtellte ſich
abgewandt vom Gerüſte und ſchor ſein braungelocktes
Haar, dann ſchaute er in die dunkle Meeresfluth und
ſprach: „O Sperchius, theſſaliſcher Heimathfluß, vergebens
19*[292] gelobte mein Vater Peleus, ich ſollte heimgekehrt dir mein
Haar ſcheeren, und an deinen Quellen, wo du Hain und
Altar haſt, dir fünfzig Widder opfern! Du haſt ſein
Flehen nicht gehört, Stromgott! du läſſeſt mich nicht heim¬
kehren. So zürne mir auch nicht, wenn ich mein Locken¬
haar dem Freunde Patroklus mit in den Hades zu tragen
gebe!“ Mit dieſen Worten legte er ſein Haupthaar in
die Hände des Freundes, trat zu Agamemnon und ſprach:
„Heiß die Völker ſich einmal ſättigen am Gram, o Fürſt!
Gebeut ihnen, ſich zu zerſtreuen und das Mahl einzuneh¬
men, uns laß das Werk der Beſtattung vollenden!“
Auf Agamemnons Befehl zerſtreute ſich das Krieger¬
volk zu den Schiffen, und nur die beſtattenden Fürſten
blieben auf der Stelle. Da fingen ſie an ein ungeheures
Gerüſt aus den gefällten und behauenen Baumſtämmen
aufzuführen, je hundert Fuß ins Gevierte. Oben darauf
legten ſie mit betrübten Herzen den Leichnam. Dann zo¬
gen ſie eine Menge Schafe und Hornvieh vor dem Scheiter¬
haufen ab; die abgezogenen Leiber wurden umhergehäuft,
mit dem Fette der Leichnam bedeckt, gegen die Bahre
Honig- und Oelkrüge gelehnt, auch vier lebendige Roſſe
ächzend auf das Gerüſte geworfen; ſodann zwei der neun
Haushunde geſchlachtet; endlich mit dem Schwert erwürgt
zwölf tapfere trojaniſche Jünglinge, aus der Zahl der
Gefangenen erleſen. Denn entſetzlich rächte Achilles den
Tod ſeines Freundes.
Und nun hieß er die Flamme wüthen, und rief, wäh¬
rend der Holzſtoß angezündet wurde, dem Todten zu:
„Möge dich noch in die Unterwelt Freude begleiten, Pa¬
troklus! Was ich gelobt habe, iſt vollbracht. Zwölf
Opfer verzehrt die Gluth. Nur den Hektor ſoll ſie nicht
[293] verzehren; nicht der Flammen, der Hunde Raub ſoll er
ſeyn!“ So ſprach er drohend; doch die Götter fügten
dieſes nicht ſo: Tag und Nacht wehrte Aphrodite die
heißhungrigen Hunde von Hektors Leichnam ab, und ſalbte
ihn mit ambroſiſchem Balſam voll Roſenduft, daß auch
keine Spur von der Schleifung übrig blieb. Apollo zog
eine dunkle Wolke über die Stelle, wo er lag, daß die
Sonne ſein Fleiſch nicht ausdörren konnte.
Der Scheiterhaufen des Patroklus war nun zwar
angezündet, aber die Gluth wollte nicht lodern. Da
wandte ſich Achilles abermals vom Gerüſte, gelobte den
Winden Boreas und Zephyrus Opfer, ſpendete ihnen
Wein aus goldenem Becher, und flehte ſie, das Holz mit
raſchem Hauche zum Brand anzufachen. Iris brachte den
Winden die Botſchaft; dieſe kamen mit grauenvollem
Getöſe über das Meer geſtürmt, und ſtürzten ſich in den
Scheiterhaufen. Die ganze Nacht ſauſten ſie um das
Gerüſt und durchwühlten es mit Flammen, während
Achilles unaufhörlich aus goldnem Krug und Becher der
Seele ſeines todten Freundes Opferſpenden darbrachte.
Mit der Morgenröthe ruhten Winde und Flammen, und
der Holzſtoß fiel in Aſche. In der Mitte der Kohlen lag
abgeſondert das Gebein des Patroklus; am äußerſten
Rande lagen vermiſcht untereinander die Gebeine der
Thiere und Männer. Auf den Befehl des Peliden löſch¬
ten die Helden den glühenden Schutt mit rothem Weine,
ſammelten unter Thränen das weiße Gebein ihres Freun¬
des, bargen es, mit einer doppelten Lage von Fett umge¬
ben, in eine goldene Urne, und ſtellten dieſe im Zelte auf.
Alsdann nahmen ſie im Umkreiſe das Maaß zu ſeinem
Denkmal, legten rings um den abgebrannten Scheiterhaufen
[294] einen Grund von Steinen, und thürmten dann aufge¬
ſchüttete Erde zum Grabhügel.
Auf die Beſtattung folgten die Leichenſpiele zu Ehren
des gefallenen Helden. Achilles berief alles Griechenvolk
zuſammen, hieß es in weitem Kreiſe ſich ſetzen, und ſtellte
Dreifüße, Becken, Roſſe, Maulthiere, mächtige Stiere,
kunſtfertige Weiber aus den Gefangenen, in köſtlichen Ge¬
wanden, dazu lautres Gold, als verſchiedene Preiſe auf.
Zuerſt kam das Wagenwettrennen an die Reihe. Er
ſelbſt nahm keinen Theil an dieſem Kampfe; lag doch ſein
geliebter Wagenlenker im Grabe! Dagegen erhub ſich
Eumelus, der Sohn Admets, der wagenkundigſte Held;
Diomedes, der die dem Aeneas geraubten Roſſe anſchirrte;
Menelaus mit ſeinem Hengſte Podargus und Agamemnons
Stute Aethe; dann als Vierter Antilochus, der junge
Sohn Neſtor's, dem ſein Vater allerlei weiſe Ermahnun¬
gen für das Wettrennen ertheilte; als Fünfter endlich
ſchirrte Meriones ſeine glänzenden Roſſe an den Wagen.
Alle fünf Helden beſtiegen den Wagenſitz, und Achilles
ſchüttelte die Looſe, in welcher Ordnung ſie aus den
Schranken fahren ſollten. Da ſprang zuerſt das Loos
des Antilochus aus dem Helme, dann kamen Eumelus,
Menelaus, Meriones, zuletzt der Tydide. Zum Kampf¬
ſchauer ward der graue Phönix, der Kampfgenoſſe ſeines
Vaters, von dem Peliden beſtellt. Jetzt erhuben alle fünf
Fürſten zumal ihre Geißel, ſchlugen mit den Zügeln, er¬
mahnten die Roſſe und durchſtürmten das Blachfeld; dicker
Staub erhob ſich, wild flatterten die Mähnen der Pferde,
die Wagen rollten bald tief an der Erde, bald flogen ſie
in ſchwebendem Sprunge durch die Luft. Hoch ſtanden
die Lenker in den Sitzen, und jedem klopfte das Herz
[295] nach dem Sieg. Als ſich die Roſſe dem Ende der Lauf¬
bahn, die ans Meer gränzte, nahten, da ſchien jedes ganz
Schnelligkeit zu ſeyn, und alle rannten in geſtrecktem Lauf.
Zuvorderſt ſprangen die Stuten des Eumelus, über Rü¬
cken und Schultern athmete ihm ſchon das Hengſtgeſpann
des Tydiden, als dieſem Apollo zürnend die Geißel aus
den Händen ſtieß, und ſo die Schnelligkeit ſeiner Roſſe
hemmte. Athene bemerkte die Liſt, gab dem Helden die
Geißel zurück, und zerbrach dem Eumelus das Joch, daß
die Stuten auseinander ſprangen, und der Lenker ſich ne¬
ben dem Rade verwundet auf dem Boden wälzte. Der
Tydide flog vorüber; ihm zunächſt Menelaus, nächſt ihm
trieb Antilochus ſeine Roſſe mit ſcheltendem Zuruf. An
einem durchwühlten Hohlwege ſtrauchelte Menelaus, Anti¬
lochus aber fuhr kühn durch den engen Paß an ihm vor¬
über. Während die zuſchauenden Helden Roſſe und Wa¬
gen durch den Staub zu erkennen ſtrebten, und ſich darüber
ſtritten, war Diomedes, die Andern immer hinter ſich laſ¬
ſend, mit ſeinem von Zinn und Golde ſchimmernden Wagen
am Ziel angekommen. Den dampfenden Roſſen ſtrömte der
Schweiß vom Nacken; der Held ſelbſt ſprang vom Sitz und
lehnte die Geißel ans Joch. Sein Freund Sthenelus nahm den
Kampfpreis in Empfang, ein ſchönes Weib und einen gehen¬
kelten Keſſel, gab ſie den Freunden wegzubringen, und ſchirrte
die Roſſe aus. Nächſt ihm kam Antilochus an, und faſt zu
gleicher Zeit Menelaus. Speerwurfsweite davon fuhr etwas
träger Meriones einher, und ganz zuletzt ſchleppte den ver¬
ſehrten Wagen mit verrenkten Gliedern Eumelus daher.
Dennoch wollte dieſem Achilles, weil ihn unverſchuldetes
Unglück getroffen, und er der beſte Wagenlenker war, den
zweiten Preis ertheilen, aber Antilochus fuhr zornig auf:
[296] „Mir gehört der zweite Preis,“ ſprach er, „die herrliche
ungezähmte, ſechsjährige Stute; bedauerſt du jenen, ſo
haſt du Gold, Erz, Vieh, Roſſe und Mägde genug im
Zelte, gib ihm davon, was du willſt!“ Achilles lächelte,
ſprach ſeinem lieben Altersgenoſſen das Roß zu, und
ſchenkte dem Eumelus einen herrlichen Harniſch. Aber
Menelaus beſchuldigte nun ſeinerſeits den Antilochus, ihm
die Roſſe mit Liſt gehindert zu haben, und ſann ihm einen
Eid beim Schöpfer des Roſſes, Poſeidon, an. Der be¬
ſchämte Jüngling geſtand ſein Vergehen, und führte die
gewonnene Stute dem Atriden zu. Dieß beſänftigte den
Zorn des Menelaus; er überließ dem Jünglinge das
Roß und nahm ſich den dritten Preis, das Becken. Zwei
Talente Goldes als vierten Kampfpreis erhub Meriones;
den übrigen fünften, einen vom Feuer noch unberührten
Miſchbecher mit Henkeln, überließ Achilles dem Neſtor als
Geſchenk.
Nun wurde zum Fauſtkampfe geſchritten, und dem
Sieger ein Maulthier, dem Beſiegten ein Henkelbecher
beſtimmt. Sogleich erhub ſich ein kraftvoller, gewaltiger
Mann, Epus, der Sohn des Panopeus, faßte das Thier
und rief: „Dieſes iſt mein, den Becher nehme wer will!
Das aber verkünde ich: der Leib wird ihm von meiner
Fauſt zerſchmettert, und die Gebeine zermalm' ich ihm!“
Auf dieſen Gruß verſtummten alle Helden, bis ſich Eurya¬
lus, des Mekiſtheus Sohn, ihm gegürtet und kampfbereit
entgegenſtellte. Bald kreuzten ſich ihre Arme, die Fäuſte
klatſchten auf den Kiefern, der Angſtſchweiß floß ihnen
von den Gliedern. Endlich verſetzte Epus ſeinem Geg¬
ner einen Streich auf den Backen, daß er zu Boden fiel,
wie ein Fiſch, der aus der Welle aufs Ufergras geſprungen
[297] iſt. Epus hob ihn an den Händen empor, und ſeine
Freunde führten ihn Blut ſpeiend und mit hängendem
Haupt aus der Verſammlung.
Hierauf ſtellte Achilles die Preiſe für den Ringkampf
aus: dem Sieger einen großen Dreifuß, zwölf Rinder
an Werth, dem Beſiegten ein blühendes kunſtfertiges
Weib. Da umfaßten ſich bald mit ſchmiegſamen Armen
Odyſſeus und der große Ajax, ineinandergefugt, wie ein
Zimmermann Sparren zuſammenfügt; ihr Schweiß floß,
ihr Rücken knirſchte, an Seiten und Schultern wurden
Blutſtriemen ſichtbar; ſchon murrten die Achiver, da hub
Ajax den Odyſſeus in die Höhe, doch dieſer gab dem
Gegner mit gebeugtem Knie von hinten einen Stoß, warf
ihn rücklings nieder und ſank ihm von oben auf die Bruſt;
doch vermochte er ihn nur ein Weniges zu bewegen, und
beide rollten mit einander in den Staub. „Ihr ſeyd beide
Sieger,“ rief Achilles, „und ich belohne euch mit gleichem
Preiſe.“
Für den Wettlauf ward dem Sieger ein ſilberner,
ſechs Maaß haltender Krug voll Kunſtwerk beſtimmt;
dem nächſten Läufer ein Stier, dem dritten ein halbes
Talent Goldes. Hier erhoben ſich der ſchnelle Lokrer
Ajax, Odyſſeus und Antilochus. Achilles gab das Zei¬
chen; voran ſtürmte Ajax, ihm zunächſt Odyſſeus, wie
ein Webſchiff an der Bruſt des Weibes dahinfliegt; ſchon
wehte ſein Hauch dem Ajax im Nacken, und alle Danaer
ermunterten den Eilenden. Als ſie dem Ziel ganz nahe
waren, flehte Odyſſeus im Herzen zu ſeiner Schützerin
Athene; die ſchuf ihm die Glieder leicht, und ließ den
Lokrer über den Unrath der dem Patroklus geſchlachteten
Rinder ſtraucheln, daß ihm Mund und Naſe beſudelt
[298] ward. Ein lautes Gelächter ſchallte, als Odyſſeus den
Miſchkrug, und bald darauf Ajax, Koth ausſpeiend, den
Stier faßte. Den letzten Preis ergriff Antilochus lächelnd
und ſprach: „Ehre verleihen die Götter ältern Menſchen,
zwar iſt Ajax nur weniges älter, denn ich, aber er iſt
früheren Stammes.“ „Du ſollſt nicht umſonſt ſo neidlos
geredet haben,“ ſprach Achilles zu dem holden Jüngling,
„ich füge deinem Preis noch ein halbes Talent Goldes
hinzu.“
Und nun trug der Pelide die herrliche Lanze des
Sarpedon, die Patroklus jüngſt erbeutet hatte, in den
Kreis, und legte ſie mit Schild und Helme nieder. Darum
ſollten zwei der tapferſten Helden in Waffen kämpfen, die
Rüſtung ſollten beide gemeinſchaftlich erhalten, und beide
köſtlich im Zelte des Achilles bewirthet werden, der Sie¬
ger aber das thraziſche Schwert des Aſteropäus voll
Silberbuckeln davontragen. Mit drohendem Blicke rannten
der Telamonier Ajax und Diomedes gegen einander, in
Waffen dreimal auf einander losſtürmend. Ajax durch¬
ſtieß den Schild des Tydiden, Diomedes aber zielte nach
dem Hals. Die Achiver, um Ajax beſorgt, trennten die
Kämpfenden, doch das Schwert erhielt der Tydide.
Noch wurde mit der eiſernen Kugel, die vordem
Etion, der König von Thebe, den Achilles erſchlug, oft
geworfen, in die Wette geſtritten. Epus ſchwang ſie im
Wirbel und warf, doch ſo, daß die Danaer lachten; dann
Leonteus, dann der gewaltige Ajax, daß ſie über das
Zeichen wegflog; aber weit über alle hinaus, wie ein Hirt
Stecken über ſeine weidenden Rinder, ſchleuderte ſie Poly¬
pötes, und trug ſie als Preis davon.
Zehn Aexte und zehn Beile von bläulich ſchimmerndem
[299] Eiſen ſtellte Achilles dem Schützen aus. An den Maſt
eines Schiffes wurde an dünnen Fäden eine Taube ge¬
bunden; wer die traf, ſollte die Aexte haben, der Beſiegte
ſich mit den kleineren Beilen begnügen. Um den erſten
Schuß loosten Teucer und Meriones. Teucers Loos
ſprang aus dem Helm, aber durch Apollo's Mißgunſt ver¬
fehlte er den Vogel und durchſchoß den Faden, daß die
Taube ſich in die Lüfte ſchwang. Dem verdroſſen nach¬
blickenden Teucer entriß Meriones den Bogen, legte ſei¬
nen Pfeil drauf, und durchſchoß der Taube in der Luft
den Flügel, denn er hatte in Eile dem Phöbus eine
Dankhekatombe gelobt. Die Taube ſetzte ſich verwundet
auf den Maſt, ſenkte den Hals und die Flügel, und bald
fiel ſie todt zur Erde nieder. Staunend jubelten die Völ¬
ker, Meriones faßte die Aexte; Teucer ſchlich mit den
Beilen davon.
Ein Speer und ein mit Blumen geziertes reines
Becken ward als Preis des Speerwurfs zuletzt in den
Kreis gebracht. Da ſtand zuerſt der Völkerfürſt Aga¬
memnon auf, und Meriones nach ihm. Aber Achilles
ſprach: „Atride, wir wiſſen Alle aus der Schlacht, wie
weit du die Helden im Speerwurf beſiegeſt, laß drum dem
Helden Meriones den Speer, und nimm ohne Kampf das
Becken.“ Agamemnon gehorchte dem Wunſch, reichte dem
Kreter die Lanze und griff nach dem Becken. Und damit
hatten die Spiele ein Ende.
[300]
Priamus bei Achilles.
Als ſich die verſammelten Völker getrennt hatten,
ſättigte ſich Jeder mit Speiſe und Schlaf. Nur Achilles
brachte eine Nacht ohne Schlummer im Andenken an ſei¬
nen beſtatteten Freund hin; er legte ſich bald auf die
Seite, bald auf den Rücken, bald aufs Angeſicht; dann
ſtand er plötzlich auf und ſchweifte am Meeresufer umher.
Am frühen Morgen ſpannte er ſeine Roſſe ins Joch, be¬
feſtigte den Leichnam Hektors am Wagenſitz, und ſchleifte
ihn dreimal um das Denkmal des Patroklus; aber Apollo
deckte dieſen mit dem goldenen Schirm ſeiner Aegide, und
ſicherte den Leib vor allen Entſtellungen. Achilles verließ
den Leichnam, in den Staub auf das Antlitz geſtreckt.
Das erbarmte die ſeligen Götter im Olymp, mit Aus¬
nahme Juno's, und Jupiter beſchickte die Mutter des
Peliden, Thetis; er befahl ihr, ſchleunig zum Heere zu
gehen und dem Sohne zu verkündigen, daß den Göttern
insgeſammt und Jupitern ſelbſt das Herz von Zorne
glühe, weil er Hektors Leib ohne Löſung bei den Schiffen
zurückhalte. Thetis gehorchte, ging in das Zelt des Soh¬
nes, ſetzte ſich nahe zu ihm, und ſanft mit der Hand ihn
ſtreichelnd, ſprach ſie: „Lieber Sohn, wie lange willſt du
mit Gram und Seufzern dir das Herz abzehren, des
Schlafs und der Nahrung vergeſſen? Es wäre gut, wenn
du dich der Freude des Lebens wieder zuwendeteſt, denn
du wirſt mir ja doch nicht lange mehr auf Erden einher¬
gehen, und das grauſame Verhängniß lauert ſchon an
deiner Seite. Höre denn die Worte Jupiters, die ich dir
[301] melde. Er und alle Götter zürnen dir, daß du Hektor's
Leiche mißhandelſt und bei den Schiffen zurückhältſt.
Wohlan, entlaß ihn, mein Sohn, gegen reiche Löſung.“
Achilles ſchaute auf, ſah der Mutter ins Geſicht und
ſprach: „So ſey es; was Jupiter und der Rath der
Himmliſchen gebietet, muß geſchehen. Wer mir die Löſung
bringt, ſoll den Leichnam empfangen.“
Zur ſelben Zeit ſchickte Jupiter die ſchnelle Götter¬
botin Iris in die Stadt des Priamus mit ſeinen Aufträ¬
gen. Dieſe, dort angekommen, fand nichts als Geheul
und Wehklage. Im Vorhofe ſaßen, um den Vater im
Kreiſe, die Söhne, ſich die Gewande feucht weinend; in
der Mitte der Greis, ſtraff in den Mantel gehüllt, Staub
auf Nacken und Haupt geſtreut. In den Wohnungen la¬
gen Töchter und Schwiegertöchter auf den Knieen und
jammerten um die gemordeten Helden. Da trat plötzlich
die Botin Jupiters vor den König und begann mit leiſer
Stimme, daß ihm ein Schauer durch die Glieder fuhr:
„Faſſe dich, Sohn des Dardanus, verzage nicht, ich habe
dir kein übles Wort zu verkündigen. Jupiter erbarmt ſich
deiner: er gebietet dir, zu Achilles zu gehen und ihm Ge¬
ſchenke darzubringen, womit du den Leichnam deines Soh¬
nes löſen ſollſt. Du allein ſollſt gehen, von keinem an¬
dern Trojaner begleitet, als von einem der älteren He¬
rolde, der dir den Wagen mit den Maulthieren lenken,
und dich mit dem Todten wieder zur Stadt zurückführen
kann. Fürchte weder Tod, noch einen andern Schrecken;
Jupiter geſellt dir den mächtigen Argoswürger Merkurius
zum Schutze zu, daß er dich geleite, zum Peliden führe,
und auch dort beſchirme. Doch iſt Achilles ſelbſt ja nicht
[302] vernunftlos, und kein blinder Frevler; er wird von ſelbſt
des Flehenden ſchonen, und alles Leid von dir abwehren.“
Priamus vertraute den Worten der Göttin, befahl
ſeinen Söhnen, den Wagen mit dem Maulthiergeſpanne
zu rüſten, und ſtieg dann in die duftige, mit Cedernholz
getäferte Kammer hinab, in welcher viel Koſtbarkeiten
aufbewahrt lagen. Dorthin berief er ſeine Gemahlin
Hekuba, und ſprach zu ihr: „Armes Weib, wiſſe, daß mir
Botſchaft von Jupiter kam: ich ſoll zu Achilles nach den
Schiffen wandeln, ſein Gemüth mit Geſchenken verſöh¬
nen, und den Leichnam unſeres lieben Sohnes Hektor ein¬
löſen. Wie däucht dir ſolches in deinem Herzen? mich
ſelbſt, ich berge dir es nicht, drängt ein heftiger Trieb
nach den Schiffen zu gehen.“ So ſprach der Greis; aber
ſeine Gemahlin erwiederte ihm ſchluchzend: „Wehe mir,
Priamus, wohin iſt dir dein einſt ſo geprieſener Verſtand
entflohen? Welch ein Gedanke, du, der Greis, allein zu
den Schiffen der Danaer zu wandeln, und dem Manne
vor Augen zu treten, der dir ſo viel tapfere Söhne er¬
ſchlagen hat! Meinſt du, der Falſche, Blutgierige werde
Mitleid mit dir haben, wenn er dich erblickt? Viel beſſer,
wir beweinen ihn fern, zu Hauſe, ihn, dem das Geſchick
ſchon bei der Geburt beſtimmt hat, von den Hunden ver¬
zehrt zu werden!“ „Halte mich nicht,“ antwortete Pria¬
mus entſchloſſen, „werde mir nicht ſelbſt im Hauſe zum
drohenden Unglücksvogel: und erwartete mich auch der
Tod bei den Schiffen, der Wütherich mag mich ermor¬
den, wenn ich nur, mein Herz mit Thränen ſättigend, den
geliebteſten Sohn in den Armen halten darf.“ Unter die¬
ſen Worten ſchlug er den Deckel von den Kiſten, und
wählte zwölf köſtliche Feiergewande, zwölf Teppiche, eben
[303] ſo viel Schlafröcke, Leibröcke und prächtige Mäntel aus.
Dann wog er zehn volle Talente Goldes dar, erlas wei¬
ter vier ſchimmernde Becken, zwei Dreifüße; ja ſelbſt einen
köſtlichen Becher, den ihm die Thrazier geſchenkt hatten,
als er zu ihnen auf Geſandtſchaft kam, ſparte der Greis
nicht. So begierig war er, ſeinen trauteſten Sohn zu
löſen! Dann ſcheuchte er ſämmtliche Trojaner, die ihn
aufhalten wollten, aus der Halle, und bedrohte ſie: „Ihr
Nichtswürdigen, habt ihr nicht Gram im Hauſe genug,
daß ihr herkommet, um auch mich zu bekümmern? Achtet
ihr es für etwas Kleines, daß Jupiter den Jammer über
mich verhängte, meinen tapferſten Sohn zu verlieren?
Doch, ihr werdet's ſchon erfahren. Möchte nur ich in den
Hades hinuntergehen, eh' ich die Trümmerhaufen eurer
Stadt ſchaue!“ So ſcheuchte er ſie mit dem Stabe hin¬
aus; dann rief er ſcheltend ſeine Söhne: „Ihr Schändli¬
chen, Untüchtigen, lägt ihr mir doch alle an Hektors
Statt getödtet bei den Schiffen. Alle guten ſind todt, nur
die Schandflecke ſind übrig, Lügner, Gaukler, Reigentänzer,
die im Fette des Volkes ſchwelgen! Werdet ihr mir nicht
ſogleich den Wagen ausrüſten, und alles dieſes in den
Korb hineinlegen, damit ich meinen Weg vollenden kann?“
Erſchrocken gehorchten die Söhne dem murrenden Vater,
ſpannten die Maulthiere vor den Laſtwagen, und luden
die Löſegeſchenke auf. Alsdann ſpannten ſie auch die
ſorglich gepflegten Roſſe an den Wagen des Priamus,
und der greiſe Herold, der ihn begleiten ſollte, war auf
der Stelle. Mit bekümmertem Herzen reichte Hekuba dem
Könige den goldenen Becher zum Opfertrank; die Schaff¬
nerin nahte ihm mit Waſchgefäß und Kanne, und als
Priamus ſich die Hände mit lauterm Waſſer beſprengt,
[304] empfing er den Becher, ſtellte ſich in die Mitte des Ho¬
fes, ſpendete vom Weine, und betete mit erhobener Stimme
zu Jupiter: „Vater Zeus, Herrſcher vom Ida, laß mich
Barmherzigkeit und Gnade vor Peleus Sohne finden!
Gib mir auch ein Zeichen, daß ich getroſt zu den Schiffen
der Danaer gehen kann!“ Kaum hatte er ausgeſprochen,
ſo ſtürmte mit ausgebreiteten Fittichen ein ſchwarzgeflügel¬
ter Adler rechts her über die Stadt. Alle Trojaner ſahen
es mit Wonne, und der Greis ſchwang ſich voll Zuver¬
ſicht in den Wagenſitz. Vor ihm her zogen die Maul¬
thiere den ſchwer bepackten vierrädrigen Wagen, den der
Herold Idäus lenkte. Hinter dieſem trieb der Greis mit
der Geißel ſein Roſſegeſpann an; die Seinigen aber folg¬
ten ihm alle wehklagend, als ob es zum Tode ginge.
Als die Wagen draußen vor der Stadt waren und Pria¬
mus und der Herold am Denkmale des alten Königs
Ilius vorbeilenkte, hielten ſie mit beiden Wagen ein we¬
nig, um die Roſſe und Maulthiere unten am Strome zu
tränken. Der Abend war eingebrochen, und das Gefilde
lag rings in Dämmerung. Da bemerkte Idäus ganz in
der Nähe die Geſtalt eines Mannes, und erſchrocken ſprach
er zu Priamus: „Merk auf, Herr, hier gilts Beſonnen¬
heit! Sieh den Mann dort, ich fürchte, er ſteht auf der
Lauer und ſinnt auf unſern Tod. Wir ſind unbewaffnet,
dazu Greiſe; laß uns entweder umkehren und ſchnell in
die Stadt zurückfliehen, oder ſeine Knie umfaſſen und ihn
um Erbarmung flehen.“ Den Greis durchfuhr ein banger
Schauer und ſeine Haare ſträubten ſich. Jetzt näherte ſich
die Geſtalt; es war aber kein Feind, ſondern der Abge¬
ſandte Jupiters, Hermes oder Merkur, der Bringer des
Heiles, der auserwählte Sterbliche auf ihren Wegen zu
[305] begleiten hat. Dieſer faßte die Hand des Königes, ohne
daß der ihn erkannte, und ſprach: „Vater, wohin lenkſt
du in tiefer Nacht, wo andere Sterbliche ſchlafen, deine
Roſſe und Maulthiere? Fürchteſt du dich denn gar nicht
vor den erbitterten Achivern? Wenn dich einer davon ſo
viel köſtliche Habe durchs Dunkel führen ſähe, wie würde
dir wohl zu Muthe werden? Sorge jedoch nicht, daß
Ich dir etwas zu Leide thue; vielmehr möchte ich dich auch
vor Andern beſchirmen; gleichſt du doch meinem lieben
Vater an Geſtalt! Aber ſage mir, führſt du ſo viel aus¬
erleſene Güter, flüchtend, nach einem fremden Lande?
oder verlaſſet ihr Alle bereits Troja, nachdem ihr den
tapferſten Mann verloren habt, der keinem Griechen an
Muthe wich?“ Priamus ſchöpfte leichter Athem und ant¬
wortete: „Wahrlich, jetzt ſehe ich, daß die Hand eines
Gottes mich beſchirmt, da mir ein ſo liebreicher und ver¬
ſtändiger Gefährte auf meinem Wege begegnet, der ſo
ſchön vom Tode meines Sohnes redet. Aber wer biſt du,
mein Guter, und welcher Eltern Kind?“ „Mein Vater
heißt Polyktor,“ antwortete Hermes, „ich bin von ſieben
Söhnen der letzte, ein Myrmidone und Genoſſe des
Achilles; daher ich denn oft mit meinen Augen deinen
Sohn kämpfen und die Argiver zu den Schiffen treiben
ſah, während wir bei unſerm zürnenden Herrn ſtanden,
und ihn aus der Ferne bewunderten.“ „Wenn du ein
Genoſſe des ſchrecklichen Peliden biſt,“ fragte Priamus jetzt
voll Ungeduld, „o ſo verkündige mir, ob mein Sohn noch
bei den Schiffen iſt, oder ob Achilles ihn ſchon, in Stücke
zerhauen, den Hunden vorgeworfen hat?“ „Nein,“ ant¬
wortete Hermes, „er liegt noch im Zelte des Achilles,
von Moder unberührt, obgleich ſchon der zwölfte Morgen
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 20[306] verfloſſen iſt, und der Held ihn mit jedem Sonnenaufgang ohne
Mitleid um das Grab ſeines Freundes ſchleift. Du wür¬
deſt dich ſelbſt verwundern, wenn du ſäheſt, wie friſch und
thauig er daliegt, vom Blute gereinigt, alle Wunden ge¬
ſchloſſen. Selbſt im Tode pflegen die Götter noch ſeiner.“
Voll Freude langte Priamus den herrlichen Becher hervor,
den er bei ſich im Wagen liegen hatte. „Nimm ihn,“
ſprach er, „verleih' mir deinen Schutz dafür, und geleite
mich zum Zelte deines Herrn.“ Merkurius, als ſcheute
er ſich, ohne Achilles Wiſſen Geſchenke zu nehmen, wies
die Gabe ab, ſchwang ſich jedoch zu dem Helden in den
Wagen, ergriff Zaum und Geißel, und bald hatten ſie
Graben und Mauer erreicht. Hier fanden ſie die Hüter
eben mit ihrem Abendmahle beſchäftigt. Doch ein Wink
des Gottes verſenkte ſie in tiefen Schlaf, und ein Druck
ſeiner Hand ſchob den Riegel vom Thore. So gelangte
Priamus mit ſeinem Laſtwagen glücklich vor die Lager¬
hütte des Peliden, die hoch aus Balken gebaut, und mit
Schilf bedeckt, auch mit einem geräumigen Hofe umgeben
war, den eine dichte Reihe von Pfählen umſchloß. Nur
ein einziger tannener Riegel verſchloß die Pforte, aber ſo
ſchwer, daß nur drei ſtarke Griechen ihn vor oder zurück
ſchieben konnten; nur Achilles ſelbſt brauchte keine Beihülfe
dazu. Jetzt aber öffnete Hermes das Thor ohne Mühe,
ſtieg vom Wagen, gab ſich als Gott zu erkennen und ver¬
ſchwand, nachdem er dem Greis gerathen, des Helden
Kniee zu umfaſſen, und ihn bei Vater und Mutter zu
beſchwören.
Priamus ſprang jetzt auch vom Wagen, und übergab
dem Idäus Roſſe und Maulthiere. Er ſelbſt ging gera¬
den Weges auf die Wohnung zu, wo Achilles ſaß. Er
[307] traf ihn zu Hauſe, getrennt von den Seinigen, nur von
den Helden Automedon und Alcimus bedient, eben von
der Mahlzeit ruhend, und die Tafel ſtand noch vor ihm.
Unbemerkt trat der erhabene Greis ein, eilte auf den Pe¬
liden zu, umſchlang ſeine Knie, küßte ihm die Hände, die
entſetzlichen, die ihm ſo viele Söhne gemordet hatten, und
ſah ihm ins Antlitz. Staunend betrachtete ihn Achilles
und ſeine Freunde, da fing der Greis an zu flehen:
„Göttergleicher Achilles, gedenke deines Vaters, der alt
iſt, wie ich, vielleicht auch bedrängt von feindlichen Nach¬
barn, in Angſt und ohne Hülfe, wie ich. Doch bleibt ihm
von Tag zu Tage die Hoffnung, ſeinen geliebten Sohn
von Troja heimkehren zu ſehen. Ich aber, der ich fünfzig
Söhne hatte, als die Argiver herangezogen kamen, und
davon neunzehn von Einer Gattin, bin der meiſten in die¬
ſem Kriege beraubt worden, und zuletzt durch dich des
einzigen, der die Stadt und uns Alle zu beſchirmen ver¬
mochte. Darum komme ich nun zu den Schiffen, ihn,
meinen Hektor, von dir zu erkaufen, und bringe unerme߬
liches Löſegeld. Scheue die Götter, Pelide, erbarme dich
mein, gedenke deines eigenen Vaters! Ich bin des Mit¬
leids noch werther: dulde ich doch, was noch kein Sterb¬
licher geduldet hat, und drücke die Hand an die Lippe, die
meine Kinder mir getödtet.“ So ſprach er, und erweckte
dem Helden ſehnſüchtigen Gram um ſeinen Vater, daß er
den Alten ſanft bei der Hand anfaßte und zurückdrängte.
Da gedachte der Greis ſeines Sohnes Hektor, wand ſich
zu den Füßen des Peliden, und fing laut an zu weinen;
Achilles aber weinte bald über ſeinen Vater, bald über
ſeinen Freund, und das ganze Zelt erſcholl von Jammer¬
tönen. Endlich ſprang der edle Held vom Seſſel empor,
20 *[308] hub den Greis, voll Mitleid mit ſeinem grauen Haupt
und Bart, an der Hand auf und ſprach: „Armer, für¬
wahr, viel Weh haſt du erduldet, und jetzt, welch ein
Muth, ſo allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln,
und einem Manne vor die Augen zu treten, der dir ſo
viel und ſo tapfere Söhne erſchlagen hat! Du mußt ja
ein eiſernes Herz im Buſen tragen! Aber wohlan, ſetz
dich auf den Seſſel, laß uns den Kummer ein wenig be¬
ruhigen, ſo ſehr er uns von Herzen geht, wir ſchaffen ja
doch nichts mit unſerer Schwermuth. Das iſt nun einmal
das Schickſal, das die Götter den elenden Sterblichen
beſtimmt haben, Gram zu erdulden, während ſie ſelbſt
ohne Sorge ſind. Denn zwei Fäſſer ſtehen an der
Schwelle von Jupiters Behauſung, das eine voll Gaben
des Unglücks, das andere voll Gaben des Heils. Wem
der Gott vermiſcht austheilt, den trifft abwechſelnd bald
ein böſes, bald ein gutes Loos; wem er nur Weh aus¬
theilt, den ſtoßt er in Schande, der wird von herzzerfreſ¬
ſender Noth über die Erde hin verfolgt. So ſchenkten
die Götter dem Peleus zwar herrliche Gaben, Habe,
Macht, ja ſelbſt eine Unſterbliche zur Gattin; doch hat
ihm ein Himmliſcher auch Böſes gegeben, denn ihm ward
ein einziger Sohn, der frühe hinwelken wird, der des
Alternden ſo gar nicht pflegen kann, denn hier in weiter
Ferne ſitze ich vor Troja und betrübe dich und die Deini¬
gen. Auch dich, o Greis, prieſen die Völker vormals
glückſelig, jetzt aber haben die Olympiſchen dir dieſes Leid
geſandt, und ſeitdem tobt nur Schlacht und Mord um
deine Mauern. So duld' es denn und jammere nicht
unabläſſig, du kannſt deinen edlen Sohn doch nicht wieder
aufwecken!“
Da antwortete Priamus: „Heiß mich nicht ſitzen,
Liebling des Zeus, ſo lange Hektor noch unbeerdigt in
deinem Zelte liegt. Erlaß ihn mir eilig, denn mich ver¬
langt, ihn zu ſchauen. Freue dich der reichlichen Löſung,
ſchone meiner, und kehre heim in dein Vaterland!“
Achilles runzelte die Stirne bei dieſen Worten und
ſprach: „Reize mich nicht mehr, o Greis! Ich ſelbſt ja
beabſichtige, dir Hektor zu erlaſſen, denn meine Mutter
brachte mir Jupiters Botſchaft: auch erkenne ich wohl im
Geiſte, daß dich ſelbſt, o Priamus, zu unſern Schiffen ein
Gott geführt hat. Denn wie ſollte dieß ein Sterblicher,
und wäre es der kühnſte Jüngling, wagen, wie unſern
Wächtern entſchlüpfen, wie die Riegel der Thore zurück¬
ſchieben? Darum errege mir mein trauriges Herz nicht
noch mehr, ich möchte ſonſt Jupiters Befehl vergeſſen und
deiner nicht ſchonen, o Greis, ſo demüthig du flehſt!“
Zagend gehorchte Priamus. Achilles aber ſprang
wie ein Löwe aus der Pforte, und ihm nach ſeine Ge¬
noſſen. Vor dem Zelte ſpannten ſie die Thiere aus dem
Joch und führten den Herold herein. Dann huben ſie
die Löſegeſchenke vom Wagen, und ließen nur zwei Män¬
tel und einen Leibrock zurück, um damit die Leiche Hektors
anſtändig zu verhüllen. Dann ließ Achilles, fern und
ungeſehen vom Vater, den Leichnam waſchen, ſalben und
bekleiden. Achilles ſelbſt legte ihn auf ein unterbreitetes
Lager; rief, während die Freunde den Todten auf den
mit Maulthieren beſpannten Wagen hoben, den Na¬
men ſeines Freundes an und ſprach: „Zürn' und eifere
mir nicht, Patroklus, wenn du etwa in der Nacht der
Unterwelt vernimmſt, daß ich Hektors Leiche ſeinem Vater
[310] zurückgebe! Er hat kein unwürdiges Löſegeld gebracht,
und auch dir ſoll dein Antheil davon werden!“
Nun kehrte er zurück ins Zelt, ſetzte ſich dem Könige
wieder gegenüber, und ſprach: „Siehe, dein Sohn iſt jetzt
gelöst, o Greis, wie du es gewünſcht haſt; er liegt in
ehrbare Gewande eingehüllt. Sobald der Morgen ſich
röthet, magſt du ihn ſchauen und davonführen. Jetzt aber
laß uns der Nachtkoſt gedenken, du haſt noch Zeit genug,
deinen lieben Sohn zu beweinen, wenn du ihn zur Stadt
gebracht haſt, denn wohl verdient er viele Thränen.“ So
ſprach der Held, erhub ſich wieder vom Sitz, eilte hinaus
und ſchlachtete ein Schaf. Seine Freunde zogen die Haut
ab, ſchnitten das Fleiſch in Stücke, und brieten es ſorg¬
fältig am Spieße. Dann ſetzten ſie ſich zu Tiſche: Auto¬
medon vertheilte in zierlichen Körben das Brod, Achilles
das Fleiſch, und Alle ſättigten ſich nun mit Speiſe und
Trank. Staunend betrachtete Priamus Wuchs und Ge¬
ſtalt ſeines edlen Wirthes, denn er glich den Unſterblichen.
Aber auch Achilles ſtaunte vor Priamus, wenn er ihm in
das Angeſicht voll Würde ſchaute, und die weiſe Rede des
Greiſen vernahm. Als nun das Mahl vorüber war,
ſprach Priamus: „Bette mich jetzt, edler Held, daß wir
uns am erquickenden Schlafe ſättigen, denn ſeit mein
Sohn geſtorben iſt, haben ſich meine Augenlieder nicht
mehr geſchloſſen, und das erſtemal habe ich Fleiſch und
Wein gekoſtet.“
Sofort befahl Achilles ſeinen Genoſſen und den Mäg¬
den, ein Bett unter die Halle zu ſtellen, mit Purpurpolſtern
zu belegen, Teppiche drüber zu breiten, und zottige Män¬
tel als Decke darauf. So wurde jedem der Fremdlinge
ein geſondertes Lager bereitet; und nun ſprach Achilles
[311] freundlich: „Lagere dich jetzt draußen, lieber Greis, es
möchte dich einer der Danaerfürſten, die ſich beſtändig in
meinem Zelte zum Rath verſammeln, durchs Dunkel hin¬
ſchleichen ſehen, und es dem Völkerhirten Agamemnon
melden. Der aber könnte dir den Leichnam ſtreitig ma¬
chen. Jetzt ſage mir aber auch noch: wie viel Tage
gedenkſt du auf die Beſtattung deines edlen Sohnes zu
verwenden? Damit ich ſo lange ruhe, und auch das
Volk von jedem Angriff abhalte.“ „Wenn du mir es
vergönnſt,“ antwortete Priamus, „meinem Sohn eine
Leichenfeier zu halten, ſo geſtatte mir deine Güte elf
Tage. Du weißt, wir ſind in die Stadt eingeſchloſſen,
und müſſen das Holz fern im Gebirge holen. So brau¬
chen wir neun Tage zur Vorbereitung, am zehnten möch¬
ten wir ihn beſtatten und das Todtenmahl feiern, am
elften ihm einen Ehrenhügel aufthürmen: am zwölften
Tage, wenn es ſo ſeyn muß, wollen wir wieder kämpfen.“
„Auch dieſes geſchehe, wie du begehrſt,“ erwiederte Achil¬
les, „ich werde das Heer ſo lange zurückhalten, als du
gefordert.“ So ſprechend, faßte er die Rechte des Grei¬
ſes am Knöchel, um ſeinem Herzen alle Furcht zu beneh¬
men. Nun entließ er ihn zum Schlafe, und legte ſich
ſelbſt im innerſten Raume ſeines Zeltes nieder.
Während ſo Alles ſchlief, blieb nur Hermes der Gott
ſchlummerlos, und erwog im Geiſte, wie er den König
Troja's, von den Wächtern ungeſehen, aus den Schiffen
zurückführen möchte. Deswegen trat er zu dem Haupte
des ſchlummernden Greiſes, und ſprach zu ihm: „Alter,
du ſchläfſt fürwahr ſehr unbeſorgt bei feindlichen Männern,
nachdem dich Alles verſchont hat. Es iſt wahr, du haſt
den Sohn theuer gelöst; aber wenn Agamemnon und die
[312] Griechen es wüßten, ſo müßten deine Söhne daheim dich,
den Lebenden, mit dreimal größerem Löſegeld auskaufen!“
Der Greis erſchrack und weckte den Herold; Merkur ſelbſt
ſpannte ihnen Roſſe und Mäuler ein, und ſchwang ſich
zu dem König in den Wagen; Idäus lenkte die Maul¬
thiere mit dem Leichnam. So fuhren ſie unbemerkt durch
das Heer, und hatten bald das griechiſche Lager hinter ſich.
Hektors Leichnam in Troja.
Merkur begleitete den König bis an die Furth des
Skamander. Dort ſchied er aus dem Wagen, und entflog
zum hohen Olymp. Priamus und der Herold aber trie¬
ben ſeufzend und wehklagend die Roſſe mit dem Wagen
des Königes, und die Maulthiere mit dem Leichnam in
die Stadt. Es war früher Morgen, Alles lag noch im
Schlummer, und Niemand ſah ſie herankommen; nur
Kaſſandra hatte die Burg von Pergamus erſtiegen, und
erſchaute von ferne ihren Vater im Wagenſitze ſtehend,
den Herold mit dem Maulthierwagen, und in dieſem auf
Gewanden ausgeſtreckt den Leichnam. Da begann ſie
laut zu wehklagen, und rief, daß es in der ſtillen Stadt
wiederhallte: „Schaut doch hin, ihr Troer und ihr Troe¬
rinnen, dort kommt ja Hektor, ach nur der todte Hektor!
Habt ihr euch jemals des Lebenden erfreut, wenn er ſieg¬
reich aus der Feldſchlacht zurückkehrte, ſo begrüßet jetzt
auch den Geſtorbenen!“ Auf ihren Ruf blieb kein Mann
und kein Weib in der Veſte, denn aller Herzen durch¬
drang eine gränzenloſe Trauer. Am Thore begegneten
[313] Männer und Frauen, voran die Mutter und die Gattin
Hektors, dem Führer des Leichenwagens; jene beiden
rauften ihr Haar aus, ſtürzten ſich auf den Wagen, und
legten ihre Hände auf das Haupt des Erſchlagenen; die
Menge umringte ſie in Thränen, und ſie hätten den Wa¬
gen mit ihrem Wehklagen bis zum Abend aufgehalten,
wenn nicht Priamus von ſeinem Wagenſitz zu dem Volke
geredet hätte: „Macht Platz und laßt die Maulthiere hin¬
durchgehen; wenn ich ihn ins Haus geführt, möget ihr
euch ſatt weinen!“ Auf ſeinen Ruf wichen die Volks¬
haufen ehrfurchtsvoll dem Wagen.
Sobald die Leiche am Pallaſte des Königes ange¬
kommen war, wurde ſie auf ein ſchönes Geſtell gelegt,
und Sänger zugeordnet, welche mit kläglichen Lauten den
Trauergeſang unter dem Nachſeufzen der Weiber anſtimm¬
ten. Vor Allen klagte die Fürſtin Andromache, die, noch
in der Blüthe ihres Lebens, vor dem Leichname ſtand und
ſein Haupt in Händen hielt. „Herrlicher Gatte,“ rief ſie,
„ſo verlorſt du dein Leben, und läſſeſt mich als Wittwe
hier im Pallaſte, und mit mir unſer unmündiges Kind.
Ach, ſchwerlich blüht dieſes wohl zum Jünglinge heran!
Denn vorher noch wird Troja zerſtört, da du, der Stadt
Vertheidiger, ſtarbeſt, du Schutz der züchtigen Frauen und
der ſtammelnden Kinder! Bald werden dieſe nun gefan¬
gen zu den Schiffen hinweggeführt, und ich mitten unter
ihnen. Du aber, mein trauter Aſtyanax, wirſt Schmach
und Arbeit unter einem grauſamen Frohnherrn mit deiner
Mutter theilen. Oder es faßt dich ein Grieche am Arm
und ſchmettert dich vom Thurme herab, weil ihm dein
Vater Hektor Bruder, Vater oder Sohn getödtet; denn
freilich ſchonte dein Vater auch nicht, wo es die Entſcheidung
[314] galt: deswegen wehklagen auch jetzt die Völker um ihn
rings umher in der Burg. Unausſprechlichen Gram haſt
du deinen Eltern bereitet, Hektor, endloſe Verzweiflung
mir ſelbſt. Nicht von dem Sterbelager haſt du die Hand
mir gereicht, nicht ein Abſchiedswort voll Weisheit mir zu¬
gerufen, deſſen ich Tag und Nacht unter Thränen der
Wehmuth gedenken könnte!“
Nach Andromache erhub Hekuba, die Mutter, klagend
ihre Stimme. „Hektor, o du mein Herzenskind, wie lieb
wareſt du ſelbſt den Göttern, die deiner auch beim bitter¬
ſten Tode nicht vergeſſen haben. Mit dem Schwert ge¬
tödtet und geſchleift, ruheſt du doch ſo friſch in unſerm
Hauſe, als hätte dich das linde Geſchoß Apollo's vom
ſilbernen Bogen unverſehens hingeſtreckt.“ So ſprach ſie,
ſich ſelber tröſtend, und vergoß eine Fluth von Thränen.
Jetzt nahm auch Helena das Wort. „Hektor,“ klagte ſie,
„du mir lieber als alle Gebrüder meines Mannes, zwan¬
zig Lebensjahre ſind mir entflohen, ſeit mich Unglückſelige
Paris gen Troja geführt hat, und nie in dieſer langen
Zeit hörte ich auch nur ein Wörtlein im Böſen von dir.
Zwar König Priamus war immer auch milde gegen mich,
wie ein Vater, aber wenn ein Anderer im Hauſe, Bruder
oder Schweſter des Gatten, Schwägerin oder Schwieger¬
mutter mich hart anließ, die beſänftigteſt du immer, und
dein freundliches Herz redete mir zu gut. In dir iſt mein
Tröſter und Freund geſtorben; mit Abſcheu werden ſich
jetzt Alle von mir abwenden!“
So ſprach ſie unter Thränen, und das zahllos ver¬
ſammelte Volk ſeufzete. Da rief Priamus über das Ge¬
dränge hin: „Jetzt, ihr Trojaner, bringet Holz für den
Scheiterhaufen zur Stadt her, und beſorget nicht, daß
[315] etwa ein Hinterhalt der Danaer auf euch laure. Der
Sohn des Peleus, als er mich von den Schiffen entließ,
hat mir verheißen, uns keinen Schaden zu thun, bis der
zwölfte Morgen gekommen wäre.“
Die Völker gehorchten; ſchnell wurden Laſtwagen
mit Stieren und Maulthieren beſpannt, und Alles ver¬
ſammelte ſich vor der Stadt. Neun Tage lang führten
ſie Holz, eine ganze Waldung, herbei; am zehnten Mor¬
gen wurde die Leiche Hektors unter lauten Wehklagen
hinausgetragen, auf das hohe Scheitergerüſt niedergelegt,
und dieſes in Flammen geſetzt. Das ganze Volk ſtand
um den brennenden Holzſtoß verſammelt; als er nieder¬
gebrannt war, löſchten ſie den glimmenden Schutt mit
Wein, und die Brüder und Streitgenoſſen des Verſtorbe¬
nen laſen das weiße Gebein unter Thränen aus der Aſche
zuſammen. Mit weichen Purpurgewanden umhüllt, ward
es in ein goldenes Käſtchen gelegt, und in die hohle
Gruft geſenkt. Dichte Quadern verſchloſſen dieſe, dann
wurde der Grabhügel aufgeſchüttet, und ringsum ſaßen
Späher, damit nicht ein plötzlicher Ueberfall der Griechen
ſie ſtörte. Als die Erde aufgeſchüttet war, zog alles Volk
in die Stadt zurück, und im Königshauſe des Priamus
wurde das feierliche Todtenmahl begangen.
[316]
Pentheſiléa.
Nach Hektors Beſtattung hielten ſich die Trojaner
wieder hinter den Mauern ihrer Stadt, denn ſie fürchteten
ſich vor der Kraft des unbändigen Peleusſohnes, und
ſcheuten ſich in ſeine Nähe zu kommen, wie ſich Stiere
ſträuben, dem Lager eines entſetzlichen Waldlöwen zu na¬
hen. In der Stadt herrſchte Trauer und Klage über den
Verluſt ihres edelſten Bürgers und mächtigſten Beſchützers,
und der Jammer war ſo groß, als wenn Troja ſchon
von den Flammen der Eroberer verzehrt würde.
In dieſer troſtloſen Lage erſchien den Belagerten eine
Hülfe, von wannen ſie nicht erwartet worden war. Vom
Thermodonſtrome, in der kleinaſiatiſchen Landſchaft Pontus,
kam mit einem kleinen Haufen von Heldinnen die Amazo¬
nenkönigin Pentheſiléa herangezogen, die Trojaner zu unter¬
ſtützen. Es trieb ſie zu dieſer Unternehmung theils die
männliche Luſt an Kriegsgefahren, die dieſem Weibervolke
eigen iſt, theils eine unfreiwillige Blutſchuld, die ihr auf
dem Herzen laſtete, und wegen der ſie in ihrem Vater¬
lande übel angeſehen war. Sie hatte nämlich auf einer
Jagd, als ſie nach einem Hirſche mit ihrem Speere zielte,
ihre eigene geliebte Schweſter Hippolyta mit dem Wurf¬
geſchoſſe getödtet. Nun begleiteten ſie die Rachegöttinnen
auf allen Pfaden und kein Opfer hatte dieſelben bis auf
dieſe Stunde verſöhnen können. Dieſen Qualen hoffte ſie
am eheſten durch einen den Göttern wohlgefälligen Kriegs¬
zug zu entgehen, und ſo brach ſie mit zwölf auserleſenen
Genoſſinnen gen Troja auf, die alle, gleich ihr, nach
[317] Krieg und Männerkämpfen dürſteten. Doch gegenüber
vor ihrer Königin Pentheſiléa erſchienen ſelbſt dieſe herr¬
lichen Jungfrauen nur wie Sklavinnen. Wie unter den
Sternen der Mond am Himmel hervorſtrahlt, ſo über¬
ragte an Glanz und Schönheit die Fürſtin alle ihrer Die¬
nerinnen. Sie war herrlich wie die Göttin der Morgen¬
röthe, wenn ſie, von den Horen umgeben, aus den Hö¬
hen des Olympus zum Rande der Erde herniederfährt.
Als die Trojaner von ihren Mauern herab an der
Spitze ihrer Jungfrauen die zarte und doch gewaltige
Königin, in Panzer und Schienen von Erz gehüllt, einer
Göttin ähnlich, einherſchreiten ſahen, ſtrömten ſie von
allen Seiten voll Bewunderung herbei, und konnten ſich,
als die Jungfrauenſchaar näher heranzog, an der Schön¬
heit ihrer Fürſtin mit Blicken nicht genug erſättigen, denn
in ihren Zügen war das Schreckliche wunderbar mit dem
Lieblichen verbunden: ein holdſeliges Lächeln ſchwebte auf
ihren Lippen, und wie Sonnenſtrahlen leuchteten unter
langen Wimpern ihre lebensvollen Augen; ihre Wangen
bedeckte eine ſittſame Röthe, und über das ganze Antlitz
verbreitete ſich mädchenhafte Anmuth, beſeelt von kriegeri¬
ſchem Feuer. So betrübt das Volk Troja's vorher gewe¬
ſen war, ſo fröhlich jauchzte es jetzt bei dieſem Anblicke.
Selbſt das trauernde Herz des Königes Priamus wurde
wieder etwas freudiger geſtimmt, und als er die herrliche
Pentheſiléa anſah, da wurde ihm zu Muthe wie einem
Halbverblendeten, dem ein wohlthätiger Lichtſtrahl ins
kranke Auge dringt. Aber ſeine Freude war nur mäßig
und gedämpft durch die Erinnerung an den Verluſt ſo viel
trefflicher, nicht minder ſchöner Söhne. Doch führte er die
Königin in ſeine Wohnung ein, ehrte ſie wie eine eigene
[318] Tochter, und bewirthete ſie aufs Köſtlichſte. Die auser¬
leſenſten Geſchenke wurden für ſie auf ſein Geheiß herbei¬
gebracht, und noch mehrere verſprach er ihr für die Zu¬
kunft, wenn es ihr glücken ſollte, die Trojaner der Gefahr
zu entreißen. Die Amazonenkönigin aber erhub ſich von
dem Ehrenſtuhl, auf dem ſie Platz genommen, und ver¬
maß ſich eines Schwures, der noch keinem Sterblichen in
den Sinn gekommen war: ſie verhieß dem Könige den
Tod des göttergleichen Achilles: ihn und alle Schaaren
der Argiver wollte ſie vertilgen, und ihr Feuer ſollte alle
feindlichen Schiffe freſſen! So ſchwur die Thörin, welche
den lanzenſchwingenden Helden und ſeinen furchtbaren
Arm noch nicht kannte. Als Andromache, Hektors trauernde
Wittwe, dieſes Verſprechen mit anhörte, da dachte ſie bei
ſich ſelber: „O du Arme, du weiſſeſt nicht, was du ge¬
ſprochen haſt, und weſſen du dich im Stolze vermiſſeſt!
Wie ſollte dir die Kraft zu Gebote ſtehen, die zum Kampfe
mit dem männermordenden Helden erforderlich iſt? Biſt
du von Sinnen, Verlorene, und ſieheſt das Ziel des To¬
des nicht, vor dem du jetzt ſchon ſteheſt? Schauten doch
auf meinen Gatten Hektor, wie auf einen Gott, alle
Trojaner hin, und doch hat der Speer des Peliden ſeinen
Hals durchbohrt! O möchte mich die Erde verſchlingen!“
So dachte Andromache bei ſich. Indeſſen war der
Tag zu Ende gegangen, und nachdem die Heldinnen ſich
vom Zuge erholt und mit Speiſe und Trank gelabt hatten,
wurde der Fürſtin und ihren Begleiterinnen von den Dienſt¬
mägden des Pallaſtes ein behagliches Lager bereitet, auf
welchem Pentheſiléa bald in einen tiefen Schlummer ſank.
Da nahete ihr auf Minerva's Befehl ein verderbliches
Traumbild. Ihr eigener Vater erſchien ihr im Schlafe,
[319] und drang in ſie, den Kampf mit dem ſchnellen Achilles
zu beginnen. Der Jungfrau, wie ſie das täuſchende Ge¬
ſicht erblickte, ſchlug das Herz im Buſen, und ſie hoffte
noch am heutigen Tage das Ungeheure zu vollführen.
Erwacht ſprang ſie vom Lager, und legte ſich die ſchim¬
mernde Rüſtung, die ihr Mars ſelbſt geſchenkt hatte, um
die Schultern, paßte ſich die goldenen Schienen an, um¬
hüllte ſich mit dem ſtrahlenden Panzer, und warf das
Wehrgehäng, an welchem in einer Scheide von Silber
und Elfenbein das mächtige Schwert hing, ſich über die
Achſel. Dann nahm ſie ihren Schild, welcher ſchimmerte,
wie der Mond, wenn er aus dem Spiegel des Meeres
aufſteigt, und ſetzte den Helm aufs Haupt, von dem eine
goldgelbe Mähne herabfloß. In die Linke nahm ſie zwei
Speere, und in die Rechte eine zweiſchneidige Axt, welche
ihr einſt die verderbliche Göttin der Zwietracht als Kriegs¬
waffe geſchenkt hatte. Als ſie ſo in der blinkenden Rü¬
ſtung zum Pallaſte hinausſtürmte, glich ſie einem Blitz¬
ſtrahle, den die Hand Jupiters vom Olymp auf die Erde
herabſchleudert.
Jauchzend vor Luſt eilte ſie zu den Mauern Troja's
hinaus, und ermunterte die Trojaner zum rühmlichen
Kampfe. Um ihren Ruf verſammelten ſich auch ſogleich
die tapferſten Männer, die vorher dem Achilles nicht mehr
entgegen zu gehen gewagt hätten. Pentheſiléa ſelbſt aber
ſchwang ſich im Drange der Kriegsluſt auf ein ſchönes,
ſchnellfüßiges Pferd, ein Geſchenk der Gemahlin des thra¬
ciſchen Königes Boreas, das ſo ſchnell flog, wie die
Harpyien. Auf dieſem Roſſe jagte ſie hinaus aufs Schlacht¬
feld, und alle ihre Jungfrauen, gleichfalls zu Roſſe, ihr
nach. Ganze Schaaren troiſchen Volkes begleiteten ſie.
[320] König Priamus, der im Pallaſte zurückblieb, hob
ſeine Hände gen Himmel und betete zu Jupiter: „Höre,
o Vater, und laß Achaja's Schaaren am heutigen Tage
vor der Tochter des Mars in den Staub ſinken, ſie ſelbſt
aber glücklich in meinen Pallaſt zurückkehren. Thue es
deinem gewaltigen Sohne Mars zu Ehren; thu es ihr
ſelbſt zu Liebe, die einem Gotte entſtammt und euch un¬
ſterblichen Göttern ſo ähnlich iſt; thu' es auch um meinet¬
willen, der ich ſo vielfach gelitten, ſo viele ſchöne Söhne
unter den Händen der Griechen habe dahinſinken ſehen!
Thu' es, ſo lange noch vom edeln Blute des Dardanus
etwas übrig bleibt und die alte Stadt Troja noch unzer¬
ſtört iſt!“ Kaum hatte er ausgebetet, ſo ſtürmte ihm zur
Linken ein kreiſchender Adler durch die Luft, der eine zer¬
riſſene Taube in den Krallen hielt. Ein Schauer der
Furcht durchbebte das Gebein des Königes bei dieſem Vor¬
zeichen, und die Hoffnung entſank ſeiner Bruſt.
Inzwiſchen ſahen die Griechen in ihrem Schiffslager
die Trojaner, an deren Muthloſigkeit ſie ſich ſeit einigen
Tagen gewöhnt hatten, zu ihrem Staunen heranziehen,
wie reiſſende Thiere, die ſich vom Gebirge herunter auf
Schafheerden ſtürzen. Einer ſprach voll Verwunderung
zum Andern: „Wer hat doch wohl die Troer wieder ver¬
einigt, die ſeit Hektors Tode alle Luſt verloren zu haben
ſchienen, uns je wieder zu bekämpfen? Das muß wohl
ein Gott ſeyn, der ſich ihrer annimmt. Wohl! Sind wir
doch auch nicht ohne Götter; und haben wir ſie bisher
bezwungen, ſo wird es uns auch heute gelingen!“ So
warfen ſie ſich in die Waffen und ſtrömten kampfluſtig
von den Schiffen heraus. Bald begann die blutige Schlacht,
Speer ſtreckte ſich gegen Speer, Harniſch ſtieß auf Harniſch,
[321] Schild prallte an Schild und Helm an Helm, der Bo¬
den Troja's färbte ſich einmal wieder roth vom Blute;
Pentheſiléa wüthete unter den griechiſchen Helden, und
ihre Kriegerinnen wetteiferten mit ihr in Tapferkeit. Sie
ſelbſt erlegte den Molon und ſieben andere Helden; als
aber die Amazone Klonia Menippes, den Freund des
gewaltigen Podarkes, niederſchlug, ergrimmte dieſer und
durchbohrte die Hüfte der Männin mit ſeiner Lanze; zu
ſpät hieb ihm Pentheſiléa die zum Stoß ausholende Hand
ab; ihre Kriegerin war in den Tod geſunken und jenen
retteten die entführenden Freunde. Jetzt wandte ſich das
Glück zu den Griechen; Idomeneus traf die Amazone
Bremuſa rechts in die Bruſt mit dem Speere, Meriones
erſchlug Evandra und Thermodeſſa, unter Ajax, des Oleus
Sohn, ſank Derione; der Tydide hieb Alcibia und Deri¬
machia nieder, indem ſein Schwert beiden die Häupter
mit ſamt dem Genicke von den Schultern trennte. Darauf
kehrte ſich der Kampf gegen die Trojaner. Sthenelus
tödtete den Kabirus aus Seſtus und vergebens ſchnellte
Paris ſeinen Pfeil auf den Mörder ab. Er flog vorüber
und traf, von den grauſamen Parzen abgelenkt, einen
andern Griechen, den Helden Evenor von Dulichium zum
Tode. Sein Schickſal regte den Anführer der Dulichier,
Meges, den muthigen Sohn des Königes Phyleus, auf;
raſch wie ein Löwe ſprang er heran, daß die Troer be¬
ſtürzt vor ihm flohen. Er erſchlug zwei ihrer beſten Bun¬
desgenoſſen, den Itymoneus und Agelaus von Milet, und
auch Trojaner, ſoviel ſein Speer erreichen konnte. Andre
erlegten Andre, denn ein furchtbares Schlachtgetümmel
durchtobte die Reihen, und von beiden Seiten ſanken an
dieſem Tage viele Helden in den Staub.
Schwab, das klaſſ. Alterthum. ll. 21[322]
Pentheſiléa aber ſtürmte noch immer unbezwungen
unter die Griechen, wie eine Löwin unter einer Rinder¬
herde wüthet, und dieſe wichen von Schrecken ergriffen
zurück, wo ſie nahte. Trunkenen Muthes rief ihnen die
Siegerin entgegen: „Heute noch, ihr Hunde, ſollet ihr
die Schmach des Priamus mir büßen. Raubthieren und
Vögeln ſollt ihr zum Fraße modern und Keiner von Euch
ſoll Weib und Kind zu Hauſe wieder ſchauen, kein Erd¬
hügel je über euren Gebeinen ſich erheben! Wo iſt Dio¬
medes, wo Ajax, Telamons Sohn, wo der Pelide Achil¬
les, die beſten unter eurem Heere? Warum kommen ſie
nicht und meſſen ſich mit mir? Aber freilich, ſie wiſſen,
daß ſie vor mir zerſchmettert und zu Leichen werden mü߬
ten!“ So rief ſie und drang voll Verachtung auf die
Argiver ein; bald wüthete ſie mit der Art, bald mit dem
Wurfſpieß, und den Köcher voll Geſchoſſe trug ihr, falls
ſie ſein bedürftig wäre, ihr gelenkiges Roß. Ihr nach
drängten ſich die Söhne des Priamus und die erſten der
Trojaner. Dieſem Andrange vermochten die Griechen
nicht zu widerſtehen; wie Blätter im Winde oder wie
Regentropfen fielen ſie gedrängt nach einander, bald
war das Gefilde mit argiviſchen Leichen bedeckt, und die
Roſſe der troiſchen Streitwagen zertraten verfolgend Ge¬
fallene und Todte wie gedroſchenes Korn. Den Troja¬
nern war nicht anders zu Sinne, denn als ob eine der
Unſterblichen ſichtbar vom Himmel herab geſtiegen wäre,
um ihnen die Schaaren der Feinde bekämpfen zu helfen,
und in der thörichten Freude ihres Herzens glaubten ſie
ſchon an deren gänzliche Vernichtung.
Aber noch war das Getöſe des Kampfes weder zu
dem gewaltigen Ajax noch zu dem Götterſohn Achilles
[323] gedrungen. Beide lagen fern am Grabe des Patroklus,
und gedachten hier ihres erſchlagenen Freundes; ſo war
es vom Geſchicke verordnet, welches der Amazonenfürſtin
ein paar Stunden der Aernte gönnen wollte, und ſie mit
Ruhm bekränzt zum Tode trieb. Auf den Mauern der
Stadt ſtanden die trojaniſchen Frauen und bewunderten
jubelnd die Heldenthaten ihrer Mitſchweſter. Eine von
ihnen, Hippodamia, die Gattin des tapfern Trojaners
Tiſiphonus, fühlte ſich plötzlich von Kampfluſt ergriffen:
„Freundinnen, ſprach ſie, warum kämpfen nicht auch wir,
unſern Männern gleich, fürs Vaterland, für uns und für
unſere Kinder? Stehen wir doch nicht ſo ferne von dem
kräftigen Geſchlecht unſerer Jünglinge: dieſelbe Kraft wie
ihnen ward auch uns verliehen: unſere Augen ſpähen nicht
weniger ſcharf; unſere Kniee wanken ſo wenig, wie die
ihrigen; Licht, Luft und Nahrung gehört uns wie ihnen;
warum ſollte nicht auch die Feldſchlacht uns verliehen ſeyn?
Seht ihr denn nicht dort das Weib, das hoch hervorragt
vor allen Männern? Und doch iſt es nicht einmal von
unſerem Stamme! Es kämpft für einen fremden König,
für eine Stadt, die nicht ſeine Heimath iſt, und thut es
unbekümmert um die Männer, faßt ſich einen Muth im
Herzen, und ſinnt auf Unheil gegen die Feinde. Wir
aber hätten für unſer eigenes Glück zu fechten und eigenes
Unglück hätten wir zu rächen. Wo iſt eine von uns, die
in dieſem unſeligen Kriege nicht ein Kind, oder einen
Gatten, oder einen Vater verloren hätte, oder um Brü¬
der oder andre nahe Verwandte trauerte? Und wenn
unſre Männer unterliegen, was ſteht uns allen Beſſeres
bevor, als die Knechtſchaft? Darum laſſet uns den Kampf
nicht länger aufſchieben; lieber wollen wir ſterben, denn
21*[324] als Beute von den Feinden hinweggeführt werden mit
unſern unmündigen Kindern, wenn die Gatten todt ſind
und die Stadt hinter uns in Flammen ſteht!“
So ſprach Hippodamia und erregte die Begierde nach
Kampf in ihnen Allen. Sie legten Wolle und Webekorb
zur Seite, zerſtreuten ſich wie ein Bienenſchwarm in ihre
Häuſer, und griffen nach den Waffen. Unfehlbar wären
alle ein Opfer ihres unſinnigen Eifers geworden, wenn
nicht die Schweſter der Königin Hekuba, Theano, die Ge¬
mahlin Antenor's, welche weiſer war, als alle Andere, ſich
ihrem unſinnigen Beginnen widerſetzt hätte. Dieſe ſuchte
ſie mit verſtändigen Worten zu beſchwichtigen. „Was
wollt ihr anfangen, ihr Unvernünftigen,“ rief ſie den
ſchon Ausziehenden entgegen; „gegen die Danaer wollt
ihr ziehen, die in Waffen und im Kampfe geübten Män¬
ner? Wie möget ihr hoffen, euch mit ihnen meſſen zu
können? Habt ihr denn je Kriegswerk getrieben, wie die
Amazonen, habt Roſſe tummeln gelernt und anderes Thun
der Männer? Dazu iſt jenes Wunderweib noch eine
Tochter des Kriegsgottes, ihr aber ſeyd alle Kinder von
Sterblichen. Deßwegen ſollt ihr Weiber bleiben, euch
ferne vom Schlachtgetümmel halten und im innern Haus¬
raume der Spindel pflegen; den Krieg aber mögt ihr den
Männern laſſen. Noch ſind ja dieſe aufrecht und umrin¬
gen ſchirmend eure Stadt; noch iſt es nicht ſo weit ge¬
kommen, daß ſie der Hülfe ihrer Weiber bedürften und
dieſe zur Vertheidigung der Stadt aufrufen müßten!“
Den klugen Worten der bejahrten Troerin ſchenkten
die aufgeregten Frauen allmälig Gehör, kehrten auf die
Mauer zurück, und ſahen bald wieder, wie zuvor, von
ferne der Schlacht zu. Indeſſen mordete Pentheſiléa fort
[325] und die Schaaren der Argiver erbebten vor ihr; die Hel¬
den begannen zu fliehen und zerſtreuten ſich da und dort¬
hin, die Einen, nachdem ſie die Wehre von den Schul¬
tern auf den Boden geworfen, die Andern in voller Waf¬
fenrüſtung: Roſſe und Wagen flogen hier und dorthin ohne
Führer; überall hörte man Gewinſel der Sterbenden,
denn Alles ſank zuſammen vor dem Schlachtſpeer der
Amazone.
Immer vorwärts drangen die Trojaner; ſchon waren
ſie ganz nahe an den Schiffen der Griechen angekommen,
und machten Anſtalt, dieſe zu verbrennen. Da hörte end¬
lich Ajax, der gewaltige Sohn des Telamon, das Kriegs¬
geſchrei, hob ſein Haupt vom Grabhügel des Patroklus
empor, und ſprach zu Achilles: „Kampfbruder, mir drang
ein unendliches Getöſe zu den Ohren, gleich als hätte
ſich irgendwo ein gefährlicher Kampf erhoben! Laß uns
gehen, daß die Trojaner uns nicht zuvor kommen, und
doch einmal die Schiffe verbrennen!“ Dieſe Worte reg¬
ten den Peliden auf, und jetzt wurde auch ſein Ohr von
dem Jammergeſchrei erreicht. Eilig warfen ſich beide in
ihre ſchimmernde Rüſtung und gingen, in Waffen leuch¬
tend und von Streitluſt brennend, der Gegend zu, von
welcher der Hall des Kampfes ihnen entgegen lärmte.
Durch die gebrochenen Reihen der Argiver zückte eine
Freude, als ſie die beiden tapferſten Männer heraneilen
ſahen. Dieſe aber ſtürzten ſich ſogleich mit brennendem
Eifer in den Kampf, und fingen an, unter dem trojani¬
ſchen Heere zu würgen. Ajax warf ſich auf die Männer
und ſeinen erſten Speerſtößen erlagen vier Trojaner. Achilles
aber kehrte ſich gegen die Amazonen, und vier der Jung¬
frauen erlagen unter ſeinen Streichen: dann ſtürzten ſich
[326] beide miteinander auf die Maſſe des feindlichen Heers,
und mit geringer Mühe waren die noch jüngſt ſo dicht
ſtehenden Reihen der Feinde gelichtet.
Als Pentheſiléa dieß inne ward, ſtürzte ſie muthig
ihren beiden mächtigſten Feinden entgegen, wie ein Pan¬
therthier den Jägern entgegen eilt. Jene aber reckten ſich,
daß ihre ehernen Panzer klirrten, und hielten ihre Lan¬
zen empor. Die Amazone warf ihren Speer zuerſt auf
Achilles. Der Schild des Helden fing ihn auf, daß er
zerſplitternd abprallte, als wäre er auf einen Felſen ge¬
ſtoßen. Mit der zweiten Lanze zielte ſie jetzt auf Ajax,
und zugleich rief ſie beiden Helden zu: „Wenn auch mein
erſter Wurf mißlang, dieſer zweite ſoll euch Prahlern
Kraft und Leben rauben, die ihr euch rühmet, die Stärk¬
ſten im Heere der Danaer zu ſeyn, aber jetzt nur herge¬
kommen ſeyd, um zu erfahren, daß ein Weib mehr ver¬
mag, als ihr beide zuſammen!“ So rief ſie, und brachte
durch ihre Rede die Helden zum Lachen. Ihre Lanze aber
erreichte die ſilberne Beinſchiene des Ajax, und ſo gerne
ſie in ſeinem Blute geſchwelgt hätte, vermochte ſie doch nicht
einmal ſeine Haut zu ritzen, denn die Waffe prallte von der
ehernen Fußbekleidung ab. Ajax, ohne ſich viel um die
Amazone zu bekümmern, ſtürzte ſich auf die Schlachtreihen
der Trojaner, und überließ dem Achilles die Feindin, denn
er zweifelte in ſeinem Geiſte keinen Augenblick, daß dieſer
allein mit ihr fertig werden würde, ſo bald, wie ein
Habicht mit der Taube.
Pentheſiléa, als ſie ſah, daß auch ihr zweiter Wurf
ohne Erfolg geblieben, ſtieß einen lauten Seufzer aus;
Achilles aber maß ſie mit ſeinen Blicken, und rief ihr zu:
„Sage mir, Weib, wie haſt du dich erdreiſten können,
[327] dich ſo übermüthig uns entgegen zu werfen, und uns, die
gewaltigſten Helden der ganzen Erde, zu bekämpfen, uns,
die wir vom Blute des Donnerers ſelbſt entſproſſen ſind,
und vor welchen Hektor bebte und erlegen iſt? Der
Wahnſinn muß aus dir geſprochen haben, als dein Mund
uns heute mit dem Tode bedrohte; denn ſiehe, dein eignes
letztes Stündlein iſt jetzt gekommen.“ Mit dieſen Wor¬
ten drang er auf ſie ein, die unbezwingliche Lanze, das
Werk des Centauren Chiron, ſeines Erziehers, in der
Rechten ſchwingend. Ihr Wurf traf die Kriegerin ober¬
halb der rechten Bruſt, ſo tief, daß alsbald das ſchwarze
Blut aus der Wunde ſtrömte und alle Kraft ihre Glieder
verließ. Die Axt fiel ihr aus der Rechten, und ihr Auge
hüllte ſich in Finſterniß. Doch erholte ſie ſich noch einmal
und ſah ihrem Feinde, der eben heranſtürmte, ſie vom
flücht'gen Roſſe zu ziehen, feſt ins Antlitz. Sie beſann
ſich einen Augenblick, ob ſie ihr Schwert aus der Scheide
ziehen und ſich wehren, oder vom Roſſe ſteigen und zu
dem Sieger flehend ihm Gold und Erz genug für ihr
Leben verſprechen ſollte. Aber Achilles ließ ihr keine Zeit,
ſich zu beſinnen. Im Zorn über ihren Stolz durchbohrte
er Roß und Reiterin mit Einem Stoße. Alsbald glitt dieſe
herab und ſank in den Staub und ins Verderben,
am Speere zuckend und mit dem Rücken an das flüchtige
Streitroß angelehnt, das ſterbend auf den Knieen lag;
ſie ſelbſt einer ſchlanken Tanne gleich, die der Nordwind
geknickt hat.
Als die Trojaner den Fall ihrer Heldin gewahr wur¬
den, ſtürzten ſie voll Betäubung zurück nach den Tho¬
ren der Stadt, wehklagend über den Tod der Amazone
und ihrer eigenen, vielen Stammesverwandten. Der
[328] Sohn des Peleus aber rief mit Frohlocken: „So liege du
denn, du armes Geſchöpf, den Raubvögeln und Hunden
zur Waide! Wer hat dich auch mit mir kämpfen geheißen?
Du hoffteſt wohl unermeßliche Gaben aus der Hand des
Königs Priamus als Kampfpreis zu empfangen, dafür,
daß du ſo viele Griechen erſchlagen haſt! Aber ein an¬
derer Lohn wurde dir zu Theil!“ So ſprach er, und zog
ihr und dem Pferde den Speer aus dem Leibe, und noch
zückten beide. Dann nahm er ihr den Helm vom Haupte
ab, und betrachtete das Antlitz der Verſchiedenen. Obgleich
von Blut und Staube bedeckt, waren doch ihre edeln
Züge auch im Tode noch voll Anmuth, und die Griechen,
die den Leichnam umringten, mußten alle über die über¬
irdiſche Schönheit der Jungfrau ſtaunen, die, der nach
heiſſer Gebirgsjagd ſchlummernden Diana ähnlich, in vol¬
ler Waffenrüſtung dalag. Achilles ſelbſt, als er ſie länger
betrachtete, fühlte ſich von überſchleichendem Schmerze
beſtrickt, und mußte ſich geſtehen, daß die Fürſtin, anſtatt
von ihm getödtet zu werden, viel eher verdient hätte, als
herrliche Gattin mit ihm in Phthia einzuziehen.
In den tiefſten Schmerz aber verſank der Vater der
Amazone, der Kriegsgott, über ihrem Tode. Wie ein
Blitz mit rollendem Donner ſtürzte er ſich bewaffnet vom
Olymp herunter auf die Erde, und ſchritt über die Gipfel
und Schluchten des Berges Ida hin, daß Gebirg und
Thal unter ſeinem Schritte erbebten. Und ſicherlich hätte
er den Griechen das Verderben gebracht, wenn ihn nicht
Jupiter, der Freund der Danaer, durch ein furchtbares
Gewitter gewarnt hätte, das ſich Schlag auf Schlag über
ſeinem Haupte entlud, und in welchem er die Stimme
ſeines allmächtigen Vaters vernahm, ſo daß Mars, ſo
[329] ſehr er ſich nach dem Kampfe ſehnte, es doch nicht ſogleich
wagte, dem Willen des Donnerers entgegen zu handeln,
und mitten auf dem Wege nach dem Schlachtfelde ſtille
ſtand. Er war unſchlüſſig, ob er zum Olymp zurückkehren
ſollte, oder dem Vater trotzend hingehen und ſeine Hände
in das Blut des Achilles tauchen. Zuletzt gedachte er
jedoch der vielen Söhne Jupiters ſelbſt, die nach dem
Rathſchluſſe des Vaters ſterben müßten, und die er ſelbſt
nicht im Stande geweſen, vor dem Tode zu ſchützen. So
beſann er ſich denn des Beſſeren; kannte er ja doch ſeinen
allgewaltigen Vater und wußte, daß, wer ſich ihm wider¬
ſetzt, vom Blitze gebändigt und zu den Titanen in die
Unterwelt hinabgeſchleudert wird.
Um den Leichnam Pentheſiléa's drängten ſich inzwi¬
ſchen die Danaer, und fingen an, die Todten ihrer Waf¬
fen zu berauben. Achilles aber ſtand mit ganz verwan¬
deltem Gemüthe daneben, er, der noch ſo eben ihren Leib
den Hunden und Vögeln zum Fraße hatte preis geben
wollen. Mit tiefer Wehmuth blickte er auf die Jungfrau
hernieder, und es nagte ihm keine geringere Qual am
Herzen, als einſt, da er um ſeinen liebſten Freund, den
erſchlagenen Patroklus, jammerte.
Unter den herbeiſtrömenden Griechen näherte ſich auch
der häßliche Therſites, und fiel den Helden mit ſchmähen¬
den Reden an: „Biſt du nicht ein Thor,“ rief er ihm zu,
„daß du dich um die Jungfrau abhärmen magſt, die uns
Allen doch ſo vielfaches Unheil bereitet hat? Du zeigſt
dich fürwahr als einen weibiſchen Lüſtling, daß dich eine
Sehnſucht nach der Schönheit dieſer Erſchlagenen beſchleicht!
Hätte dich doch ihre Lanze in der Schlacht getödtet, du
Unerſättlicher, der du meinſt, daß alle Weiber deine Beute
[330] werden müßten!“ Wüthender Zorn bemächtigte ſich des
Helden, als er aus dem Munde eines Elenden ſolche
Schmähworte hören mußte. Er verſetzte dem häßlichen
Schelter mit der bloßen Fauſt einen ſolchen Streich auf
die Wange, daß ihm die Zähne aus dem Munde fielen,
ein Blutſtrom hervorſchoß, und Therſites, ſich auf dem
Boden krümmend, ſeine feige Seele aushauchte. Da war
unter den Umſtehenden keiner, der ihn bedauert hätte, denn
ſein einziges Geſchäft war geweſen, Andere zu ſchmähen,
indeß er ſelbſt im Felde und im Rathe ſich immer nur
als einen armſeligen Wicht bewies. Achilles aber ſprach
voll Unmuth: „Hier magſt du denn im Staube liegen und
deine Thorheit vergeſſen lernen! Denn Thorheit iſt es,
wenn der Schlechtere ſich dem Beſſern gleichſtellen will!
Wie mich, haſt du ſchon früher den Odyſſeus gereizt, aber
er war zu großmüthig, dich zu beſtrafen. Jetzt erfuhreſt
du, daß der Sohn des Peleus ſich nicht ungeſtraft ſchel¬
ten läßt. Geh jetzt, und ſchmähe bei den Schatten!“
Nur Einer war unter dem ganzen griechiſchen Heere,
dem der Tod des Therſites die Galle aufregte: Diomedes,
des Tydeus Sohn, und zwar deßwegen, weil der Er¬
ſchlagene aus Einem Blute mit ihm entſprungen war,
denn ſein Großvater Oeneus und des Therſites Vater
waren Brüder geweſen. Darum zürnte jetzt Diomedes,
und er hätte die Waffen gegen Achilles erhoben, wenn
nicht die edelſten Danaer ins Mittel getreten wären, denn
auch der Pelide war bereit, ihm für das Blut ſeines Vetters
mit dem Schwerte Genugthuung zu geben. So aber ließen
ſich beide beſchwichtigen.
Die Atriden ſelbſt erlaubten nun, voll Mitleid und
Bewunderung für die getödtete Jungfrau, daß dem Könige
[331] Priamus, der durch eine feierliche Botſchaft ſich die Leiche
erbeten hatte, um ſie in der Gruft des Königes Laomedon
zu beſtatten, ihr Leichnam ausgeliefert werde. Priamus
aber [errichtete] ihr vor der Stadt einen mächtigen Schei¬
terhaufen, und legte den Leib der Jungfrau ſammt vielen
herrlichen Gaben darauf. Dann entzündete er den Scheiter¬
haufen, daß er hoch empor loderte, und als der Leichnam
verzehrt war, löſchten die umſtehenden Trojaner den Brand
mit ſüßduftendem Weine. Sodann ſammelten ſie die Ge¬
beine Pentheſiléa's, legten dieſelben in ein Käſtchen und
trugen ſie wehklagend und in feierlichem Aufzuge in die
Gruft des Königes Laomedon, die ſich an einem hervor¬
ragenden Thurme der Stadt befand. Neben ihr wurden
ihre zwölf Begleiterinnen, die alle ebenfalls in der Män¬
nerſchlacht geblieben waren, beigeſetzt, denn auch ihnen
hatten die Söhne des Atreus dieſe Ehre gegönnt. Auf
der andern Seite begruben auch die Griechen ihre Todten
und bejammerten vor Allen den Podarkes, der ſeinem
Bruder Proteſilaus, welchen Hektor erſchlagen hatte, nun
im Schlachtentode gefolgt war. Abgeſondert von den An¬
dern wurde ihm ein eigener Grabhügel erhöhet, der ein
weithin ſichtbares Denkmal bildete. Zuletzt ſcharrten ſie
auch den häßlichen Therſites ein, und nun kehrten ſie
wieder zu ihren Schiffen zurück, Alle voll Danks in ihrem
Herzen gegen den gewaltigen Achilles, der auch dießmal
der Retter der Griechen geweſen war.
Als die Nacht einbrach, lagerten ſich im geräumigen
Zelte der Atriden die vornehmſten Helden zum Schmauſe,
und auch die andern Griechen freuten ſich, da und dort
hingeſtreckt, des erquickenden Mahles, bis der Morgen
wieder anbrach.
[332]
Memnon.
Die aufſteigende Sonne leuchtete in Troja über lau¬
ter Kümmerniß. Auf den Mauern umher ſaßen ſpähend
die Trojaner, denn ſie fürchteten jeden Augenblick, der
gewaltige Sieger möchte nun auf Leitern über die Stadt¬
mauer ſetzen, und ihren alten Wohnſitz einäſchern. Da
erhub ſich im Rathe der Bangenden ein Greis mit Na¬
men Thymötes, der ſprach: „Freunde! vergebens ſinnt
mein Geiſt auf ein Mittel, das drohende Verderben von
uns abzuwenden. Seit Hektor unter den Händen des
unbezwinglichen Achilles erlegen iſt, müßte, glaube ich,
ſelbſt ein Gott, wenn er ſich unſer annehmen wollte, im
Kampfe erliegen. Hat er doch auch die Amazone, vor der
alle andern Danaer bebten, bezwungen! Und doch war
ſie ſo furchtbar, daß wir alle in ihr eine Göttin zu ſehen
glaubten und Freude unſer Herz bei ihrem Anblick durch¬
ſtrömte. Aber ach, leider war ſie nicht unſterblich! So
fragt es ſich denn nun, ob es nicht beſſer für uns wäre,
wenn wir dieſe unglückſelige Stadt, die doch zum Unter¬
gange beſtimmt iſt, verließen, und anderswo ſichere Wohn¬
ſitze aufſuchten, zu welchen die verderblichen Griechen nicht
dringen könnten!“
So redete Thymötes. Nun ſtand Priamus in der
Verſammlung auf, ihm zu entgegnen: „Lieber Freund,“
ſprach er, „und ihr alle Trojaner und gute Bundsgenoſ¬
ſen! Laßt uns doch die geliebte Heimath nicht feige auf¬
geben, und uns größerer Gefahr preisgeben, wenn wir
uns in offener Feldſchlacht durch die umringenden Feinde
[333] durchſchlagen ſollten. Vielmehr wollen wir warten, bis
Memnon da iſt, der Aethiopier, aus dem Lande der
ſchwarzen Männer, der wohl mit ſeinem unzähligen Volke
ſchon unterwegs iſt, uns Hülfe zu bringen! Es iſt ſchon
viel Zeit verfloſſen, ſeit meine Boten zu ihm gegangen
ſind. Deßwegen haltet nur noch ein Kleines aus; und
müßtet ihr ſelbſt im Kampfe Alle umkommen, ſo iſt es
doch beſſer, als bei Fremdlingen, von Schande gebeugt,
ſein Leben friſten zu müſſen!“
Zwiſchen dieſe entgegengeſetzten Meinungen trat ein
bedächtlicher Mann unter den Trojanern, der Held
Polydamas, und gab ſeinen Rath mit folgenden Worten:
„Wenn Memnon wirklich kommt, ſo habe ich nichts dage¬
gen, König und Herr! Aber ich befürchte, der Mann
wird mit ſammt ſeinen Gefährten den Tod bei uns finden,
und den Unſrigen nur noch mehr Unheil bereiten. Doch
bin auch ich keineswegs der Meinung, daß wir das Land
unſrer Väter verlaſſen ſollten. Vielmehr wäre, wenn es
auch jetzt ſpät iſt, doch immer noch das Beſte, wenn wir
die Urſache dieſes ganzen Krieges, die Fürſtin Helena mit
allem dem, was ſie uns aus Sparta zugebracht hat, den
Griechen wieder auslieferten, ehe ſich die Feinde in unſre
Habe getheilt und die Stadt mit Feuer verzehrt haben!“
Dieſer Rede gaben die Trojaner zwar im Herzen
ſtillen Beifall, doch wagten ſie nicht, ihrem Könige laut
zu widerſprechen. Auf der andern Seite erhub ſich Paris,
Helena's Gemahl, und beſchuldigte den Schutzredner der
Griechen, wie er Polydamas nannte, der äußerſten Feig¬
heit. „Ein Mann, der dazu rathen kann, würde im Felde
der Erſte ſeyn, der die Flucht ergriffe,“ ſprach er.
[334] „Beſinnet euch wohl, Trojaner, ob es klug gehandelt iſt,
dem Rathe eines Solchen zu folgen!“
Polydamas wußte wohl, daß Paris von Helena nicht
laſſen würde und eher einen Aufruhr im Heere erregen,
ja ſelber ſterben, ehe er auf ſie verzichtete; darum ſchwieg
er, und die ganze Verſammlung mit ihm. Als ſie noch
ſinnend im Rathe ſaßen, kam die frohe Botſchaft, daß
Memnon im Anzuge ſey. Den Trojanern ward zu Mu¬
the, wie Schiffern, die, dem Tode ſchon im Rachen, nach
dem furchtbarſten Sturme die Sterne wieder am Himmel
ſchimmern ſehen; vor Allen aber freute ſich der König
Priamus, denn er zweifelte nicht, daß es der Ueberzahl
der Aethiopier gelingen müßte, die feindlichen Schiffe zu
verbrennen.
Als daher Memnon, der hohe Sohn Aurora's, ange¬
kommen war, ehrte der König ihn und die Seinen durch
die herrlichſten Gaben und Feſtmahle. Das Geſpräch
wurde wieder heiter, und ſie gedachten in Ehren der ge¬
fallenen Trojanerhelden. Memnon aber erzählte von ſei¬
nem unſterblichen Elternpaare, Thitonus und Aurora; ein
andermal vom endloſen Weltmeere und wiederum von
den Grenzen der Erde, vom Aufgang der Sonne, und
von dem ganzen weiten Wege, den er von den Ufern des
Oceans bis zu den Höhen des Berges Ida und der
Stadt des Königes Priamus zurückgelegt, und was für
Heldenthaten er unterwegs verrichtet habe. Ihm lauſchte
der Trojanerkönig mit Wohlgefallen; voll Wärme ergriff
er ſeine Hand und ſprach: „Memnon, wie danke ich den
Göttern, daß ſie mir, dem Greiſe, gegönnet haben, dich
und dein Heer noch zu erblicken, und dich ſelbſt in meinem
Pallaſte zu bewirthen! Fürwahr, du gleicheſt mehr als
[335] irgend ein Sterblicher den Göttern, und deßwegen hege
ich die Zuverſicht zu dir, daß du unter unſern Feinden
mit furchtbarem Gemetzel wüthen werdeſt!“ Mit dieſen
Worten hob der König einen Pokal aus gediegenem
Golde und trank ihn dem neuen Bundesgenoſſen zu.
Memnon betrachtete ſtaunend ringsum den herrlichen Be¬
cher, der ein Werk Vulkans und ein Erbſtück der trojani¬
ſchen Königsfamilie war; dann erwiederte er: „Nicht
bei'm Schmauſe ziemt es ſich zu prahlen und zuverſicht¬
liche Verheiſſungen zu thun; ich antworte dir daher nicht,
o König, ſondern freue mich jetzt in Ruhe des Mahles,
und will im Geiſte das Nöthige vorbereiten. In der
Schlacht muß es ſich zeigen, ob ein Mann ein Held ſey.
Nun aber laß uns bald zur Ruhe gehen; denn dem, der
die Entſcheidung des Kampfes erwartet, ſchadet ein über¬
mäßiger Genuß des Weines und eine durchſchwärmte
Nacht!“
Damit erhob ſich der beſonnene Memnon vom Mahle
und Priamus hütete ſich, ſeinen Gaſt zu längerem Bleiben
zu nöthigen. Auch die übrigen Gäſte gingen zur Ruhe,
und Alles überließ ſich dem wohlthuenden Schlafe. Wäh¬
rend nun die Sterblichen auf der Erde ſchlummerten,
ſaßen die Götter im olympiſchen Pallaſte Jupiters noch
beim Schmauſe und beſprachen ſich über den Kampf um
Troja. Jupiter, der Sohn des Kronos, dem die Zukunft
deutlich war, wie die Gegenwart, nahm zuletzt das Wort
und ſprach: „Es iſt vergebens, daß ihr ſorget, der eine
für die Griechen, der andre für die Troer. Noch unzäh¬
lige Roſſe und Männer werdet ihr auf beiden Seiten im
Kampfe dahinſinken ſehen. So ſehr euch nun Mancher,
der des Einen oder des Andern Freund iſt, am Herzen
[336] liegen mag, ſo laſſe ſich doch Keiner von euch einfallen,
ſich mir deßhalb mit Bitten zu nahen, und für einen
Sohn oder einen Freund zu flehen: denn die Schickſals¬
göttinnen ſind unerbittlich, für mich wie für euch!
Keiner der Unſterblichen wagte es, dem Göttervater
zu widerſprechen; ſchweigend verließen ſie das Mahl und
Jeder in ſeinem Hauſe warf ſich traurig auf das Lager,
bis auch der Götter ſich der Schlaf erbarmte.
Am andern Morgen ſtieg Aurora nur widerſtrebend
am Himmel auf, denn auch ſie hatte das Wort Jupiters
vernommen und ihr Herz ſagte ihr voraus, welch ein Schickſal
ihrem geliebten Sohne Memnon bevorſtand. Dieſer aber
war ſchon in aller Frühe erwacht, als kaum die Geſtirne
bleichten; er ſchüttelte ſich den Schlaf, den letzten auf
Erden, von den Wimpern, und ſprang vom Lager voll
Sehnen, den entſcheidenden Kampf für ſeine Freunde mit
den Griechen zu beginnen. Auch die Trojaner warfen
ſich in ihre Rüſtungen, und mit ihnen die zahlloſen Gäſte
aus Aethiopien. Ohne ſich lange zu verweilen, ſtrömten
die Schaaren Sturmgewölke gleich, das vom Winde ge¬
trieben wird, zu den Thoren hinaus aufs Blachfeld; die
ganze Straße wogte von dichtem Gedränge, und der
Staub erhob ſich unter ihren Füßen.
Als die Griechen ſie aus der Ferne heranziehen ſa¬
hen, ſtaunten ſie, waffneten ſich in Eile und zogen aus:
Achilles, auf welchen ſie vertrauten, in ihrer Mitte, ſtolz
auf ſeinem Wagen ſtehend, wie ein Titane und gleich
einem Donnergeſchoß in Jupiters Hand. Aber in der
Mitte des trojaniſchen Heeres zog nicht minder herrlich
Memnon einher, dem Kriegsgotte ſelber zu vergleichen;
und ſein unendliches Volk, gehorſam und kampfluſtig, hatte
[337] ſich rings um ihn her geſchaart. Nun begann der Kampf:
wie zwei Meere wogten die Heere ſich entgegen und
ſchlugen aneinander Well' an Welle. Schwerter ziſchten
und Speere ſausten, lautes Getöſe hallte durch die
Schlachtreihen, und bald erhob ſich in beiden Heeren
Klagelaut um die Fallenden. Bald ſtürzte ein Troer um
den andern vor den Stößen des Achilles nieder, wie vor einem
Sturm, der Bäume aus den Wurzeln reißt und Häuſer
umwirft. Anderſeits warf auch Memnon die griechiſchen
Schaaren darnieder, wie ein böſes Verhängniß, das den
Sterblichen viel Jammer und Unheil bringt. Zwei edle
Genoſſen Neſtors fielen von ſeiner Hand, und jetzt nahte
er dem Greiſe von Pylos ſelber, und es fehlte wenig,
daß Neſtor von der Lanze des Aethiopiers gefallen wäre.
Denn eines ſeiner Wagenpferde war eben von einem
Pfeile des Paris verwundet worden, und hemmte den
Wagen ſeines Herrn, als Memnon mit ſeinem Speere
auf den Greis herzugerannt kam. Erſchrocken rief dieſer
ſeinen Sohn Antilochus zu Hülfe, und ſein Wort verhallte
nicht in den Lüften. Der fromme Jüngling eilte heran,
ſtellte ſich vor die Bruſt des Vaters und warf ſeinen
Speer nach dem Aethiopier. Dieſer wich dem Geſchoſſe
aus, aber es traf ſeinen Freund Aethops, den Sohn des
Pyrrhaſus. Darüber ergrimmte Memnon und, wie der
Löwe auf den Eber losſtürzt, warf er ſich nun auf Anti¬
lochus. Dieſer ſchleuderte einen Stein gegen den Toben¬
den, der jedoch an ſeinem dichten Helme abprallte. Nun
ſtieß ihm Memnon die Lanze durchs Herz und Antilochus
erkaufte ſo die Rettung ſeines Vaters mit dem Tode. Als
die Achiver ihn ſinken ſahen, bemächtigte ſich ihrer aller
der Schmerz; den bitterſten aber empfand der Vater, als
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 22[338] um ſeinetwillen und ihm vor den Augen der Sohn er¬
ſchlagen wurde. Doch behielt er Beſinnung genug, einen
andern ſeiner Söhne, Thraſymedes, herbeizurufen, damit
er den Mörder von dem Leichname ſeines Bruders hin¬
wegſcheuche. Dieſer vernahm den Ruf im Getümmel der
Schlacht und zugleich mit ihm machte ſich Pheres auf,
den tobenden Sohn der Aurora zu bekämpfen. Memnon
ließ ſie voll Zuverſicht nahen, und alle ihre Speere flo¬
gen an ſeiner, Rüſtung vorüber, die ihm die göttliche
Mutter gefeyet hatte. Doch erreichten ſie immer ein
Ziel, nur ein andres, als wofür ſie beſtimmt waren, und
Beide trafen mit ihren Geſchoſſen feindliche Helden. Wäh¬
rend deſſen fing Memnon an, den getödteten Antilochus
ſeiner Rüſtung zu berauben, und die griechiſchen Streiter
umkreisten den Gefallenen vergebens, wie heulende Scha¬
kale einen Hirſch, den der Löwe zerreißt. Neſtor, als er
dieß erblickte, jammerte laut auf, rief ſeinen übrigen Freun¬
den, ja ſprang ſelbſt vom Wagen herab und wollte mit
ſchwindenden Greiſeskräften für den Leichnam des Soh¬
nes kämpfen. Doch Memnon, als er ihn kommen ſah,
wandte ſich freiwillig von ihm ab, ehrfurchtsvoll, als ſähe
er einen Vater nahen. „Greis,“ ſprach er, „mir ziemt
nicht den Kampf mit dir zu verſuchen! Von ferne hielt
ich dich für einen jungen kriegeriſchen Mann, darum zielte
meine Lanze nach dir; nun aber ſehe ich, daß du weit
älter biſt. Meide den Kampf, weiche, daß ich dich nicht
mit widerſtrebendem Herzen fälle und du zu deinem Sohne
in den Staub ſinkeſt! Würde man dich doch einen Tho¬
ren ſchelten, wenn du in ſo ungleichen Kampf dich gewagt
hätteſt!“ Neſtor aber antwortete: „Das ſind nichtige
Worte, die du da geredet, Memnon! Kein Menſch heißt
[339] den Mann thöricht, der, über den Tod ſeines Sohnes
ergrimmt, zu kämpfen kommt, und den grauſamen Mörder
von ſeinem Leichnam vertreiben will! O hätteſt du mich
als jung gekannt! Jetzt gleiche ich freilich nur einem
alten Löwen, den jeder Hund von der Schafhürde abhal¬
ten kann! Doch nein, noch beſiege ich viele Streiter, und
nur Wenigen weicht mein Alter!“ So ſprach Neſtor und
wich ein wenig rückwärts, indem er den Sohn im Staube
liegen ließ. Zugleich zogen ſich auch Thraſymedes und
Pheres zurück; und nun wüthete Memnon mit ſeinen
Aethiopiern ungehindert in der Schlacht fort, und die
Argiver vermieden ſeinen Speer mit Schrecken.
Nun wandte ſich Neſtor an Achilles. „Du Beſchir¬
mer der Griechen,“ ſprach er, „ſiehe dort liegt mein Sohn
todt; Memnon hat ihm die Waffen geraubt; bald wird
er eine Speiſe der Hunde ſeyn! Eile zu Hülfe, denn
nur der iſt ein wahrer Freund, der des erſchlagenen Freun¬
des ſich annimmt!“ Achilles horchte auf und tiefer Kum¬
mer bemächtigte ſich ſeiner, als er ſah, wie der Aethiopier
die Danaer ſchaarenweiſe in den Staub ſtreckte. Bisher
hatte ſich nämlich der Pelide unter den Trojanern herum¬
getummelt, und hier viele getödtet. Jetzt aber ließ er
von ihnen ab, und wandte ſich plötzlich Memnon entgegen.
Als dieſer ihn kommen ſah, raffte er einen Markſtein vom
Boden auf und ſchleuderte ihn nach dem Schilde des Fein¬
des. Aber der Stein prallte ab, und Achilles, der ſeinen
Streitwagen hinter der Schlachtreihe gelaſſen hatte, drang
zu Fuße auf Memnon ein und traf ihn mit dem Speere
rechts an der Schulter. Der Aethiopier achtete auf die¬
ſen Stoß nicht, eilte vorwärts, und ſtieß dem Achilles
ſeine mächtige Lanze in den Arm, daß das Blut des Helden
22*[340] zur Erde floß. Nun brüſtete ſich Memnon in eitler
Freude und rief: „Elender, der du ſo mitleidlos die Tro¬
janer erſchlugeſt, jetzt ſteht dir ein Götterſohn entgegen,
dem du nicht gewachſen biſt, denn Aurora, meine Mutter,
die Olympierin, iſt mehr denn deine Mutter Thetis, die
ſich allein unter den Scheuſalen des Meeres gefällt!“ Aber
Achilles lächelte nur und ſprach: „Der Erfolg wird leh¬
ren, welcher von uns von edleren Eltern abſtammt! Ich
fordre von dir jetzt Rache für den jungen Helden Antilochus,
wie ich einſt an Hektor Rache genommen für meinen
Freund Patroklus!“
Damit faßte er ſeinen rieſigen Speer mit beiden
Händen, und daſſelbe that Memnon. So ſtürzten ſie
auf einander los. Jupiter ſelbſt machte ſie in dieſem
Augenblick größer, ſtärker und unermüdlicher als Menſchen
ſind, ſo daß kein Stoß des Einen den Andern fällte, und
ſie ſo nah an einander kamen, daß Helmbuſch an Helm¬
buſch ſtreifte. Vergebens ſuchten ſie einander bald über
dem Schienbein, bald unter dem Panzer zu verwunden;
ihre Rüſtungen klirrten; das Kampfgeſchrei der Aethiopier,
Trojaner und Argiver ſtieg empor zum Himmel, der
Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, und während die
Führer kämpften, feierte unter ihren Kriegern das Ge¬
metzel nicht. Die Olympier, die von der Höhe herab zu¬
ſchauten, hatten ihre Freude an dem unentſchiedenen
Kampfe, die einen an der Kraft des Peliden, die andern
an Memnons unbeſiegtem Widerſtande, je nachdem ſie
dem Einen oder dem Andern verwandt oder befreundet
waren. Und bald wären die Götter unter einander dar¬
über in Zwietracht gerathen, wenn nicht Jupiter plötzlich
zwei der Parzen aufgerufen hätte und befohlen, daß die
[341] finſtre ſich zu Memnon, die lichte zu Achilles geſellen
ſollte. Laut ſchrieen die Bewohner des Olymps auf bei
dieſem Befehle, die einen vor Freude, die andern vor Leid.
Die beiden Helden aber ſtritten fort, ohne die Schick¬
ſalsgöttinnen zu erblicken. Sie kämpften gegen einander
bald mit der Lanze, bald mit Schwertern, bald mit Stei¬
nen; keiner erzitterte; feſt ſtanden ſie wie die Felſen. Und
eben ſo unentſchieden zog ſich rechts und links von ihnen
der Kampf ihrer Genoſſen hin, Blut und Schweiß floß
auf den Boden, und die Erde deckte ſich mit Leichen.
Endlich aber ſiegte das Geſchick. Achilles ſtieß ſeinem
Gegner die Lanze ſo tief in die Bruſt, daß ſie zum Rü¬
cken herausfuhr, und er mit dumpfem Dröhnen in ſein
Blut auf dem Kampfplatz niederſank.
Jetzt flohen die Trojaner, von dem verfolgenden Achil¬
les wie von einem Orkane gejagt, während er Memnons
Leichnam ſeinen Freunden zum Berauben überließ. Aurora
ſtieß am Himmel einen Seufzer aus und hüllte ſich in
Gewölk ein, daß die Erde Finſterniß bedeckte; ihre Kin¬
der, die Winde, flogen auf ihr Geheiß herunter auf die
Ebene, ergriffen den Leib des Erſchlagenen und entführ¬
ten ihn durch die Lüfte aus den Händen ſeiner Feinde.
Nichts blieb von ihm auf der Erde übrig, als die Bluts¬
tropfen, die herabträufelten, während er von den Winden
emporgetragen ward. Daraus wurde ein blutiger, un¬
verſieglicher Strom, der in ſpäten Tagen noch am Fuße
des Ida jedesmal am Todestage des Memnon flüſſig
wurde und mit Modergeruch dahinfloß. Die Winde hiel¬
ten ſich mit dem Leichnam nicht allzuhoch über der Erde
und flogen mit ihm in der Quere dahin; die Aethiopier
aber, die ſich von dem erſchlagenen Beherrſcher nicht
[342] trennen wollten, folgten unten mit tiefem Stöhnen, bis
ſie den ſtaunenden Troern und Argivern mit der Leiche
aus den Augen ſchwanden. Die Winde ſetzten den Leich¬
nam am Fuße des Fluſſes Aeſopus nieder, deſſen Töchter,
anmuthige Nymphen, ihm in einem lieblichen Haine ein
Grabmal errichteten, wo ihn ſeine vom Himmel herab¬
geſtiegene Mutter Aurora mit vielen andern Nymphen
unter heißen Thränen beſtatten half. Auch die Troer, in ihre
Stadt zurückgekehrt, beklagten den hohen Memnon herzlich.
Die Argiver ſelbſt empfanden keine ungetrübte Freude: ſie
prieſen zwar den Sieger Achilles, den Stolz des Heeres,
aber ſie weinten auch mit Neſtor um ſeinen lieben Sohn
Antilochus; und ſo durchwachten ſie unter Schmerz und
Luſt die Nacht auf dem Schlachtfelde.
Der Tod des Achilles.
Am andern Morgen trugen ſeine Volksgenoſſen, die
Pylier, den Leichnam ihres Königsſohnes Antilochus unter
Wehklagen hinweg zu den Schiffen, und beſtatteten ihn
dort an den Ufern des Hellespontes. Der greiſe Neſtor
aber blieb feſt in ſeinem Gemüth und bewältigte den
Schmerz durch Beſonnenheit. Achilles jedoch raſtete nicht.
Sein Grimm über den Tod des Freundes jagte ihn
mit Tages Anbruche unter die Trojaner, die auch ſchon
kampfluſtig ihre Mauern verlaſſen hatten, obgleich ſie vor
dem Speere des göttergleichen Achilles bebten. Bald
wurde der Kampf wieder allgemein, der Held erſchlug eine
Unzahl von Feinden, und verfolgte die Trojaner bis vor
[343] die Stadt. Hier, ſeiner übermenſchlichen Kraft ſich be¬
wußt, ſchickte er ſich an, die Thorflügel aus den Angeln
zu heben, die Riegel zu öffnen und den Griechen die
Stadt des Priamus aufzuthun.
Aber Phöbus Apollo, der vom Olymp herab den
unermeßlichen Haufen Erſchlagener überſchaute, fing an
ihm unerbittlich zu zürnen. Wie ein reißendes Thier ſtieg
er vom Götterſitze hernieder, den Köcher mit den unheil¬
bar tödtenden Pfeilen auf dem Rücken. So trat er dem
Peliden entgegen; Köcher und Pfeile klirrten, ſein Auge
flammte, unter dem Wandelnden erbebte der Boden. Und
nun, dem Helden im Rücken, ließ er ſeine furchtbare Stimme
erſchallen: „Laß von den Dardanern ab, o Pelide, wüthe
nicht ſo raſend! Hüte dich, daß nicht einer der Unſterb¬
lichen dich verderbe!“ Achilles kannte die Stimme des
Gottes wohl; aber er ließ ſich nicht einſchüchtern, und
ohne die Warnung zu beachten, rief er ihm laut entgegen:
„Was willſt du mich reizen, mit Göttern zu kämpfen,
indem du immerdar die Frevler, die Trojaner, begünſtigſt?
Schon einmal haſt du mich in Zorn gebracht, als du mir
zum erſtenmal Hektorn entriſſeſt. Nun rathe ich dir, ent¬
weiche fern zu den andern Göttern, daß dich mein Speer
nicht treffe, obwohl du unſterblich biſt!“
Mit ſolchen Worten wandte er ſich von Apollo ab
den Feinden wieder zu. Der zürnende Phöbus aber ver¬
hüllte ſich in ein ſchwarzes Gewölk, legte einen Pfeil auf
ſeinen Bogen und ſchoß aus dem Nebel den Peliden in
die verwundliche Ferſe. Ein ſtechender Schmerz durchfuhr
auf der Stelle den Achilles bis ans Herz hinan, und wie
ein unterhöhlter Thurm ſtürzte er plötzlich zu Boden.
Liegend ſpähte er rings um ſich her und ſchrie mit
[344] ſchneidendem, furchtbarem Tone: „Wer hat mir aus der
Ferne den tückiſchen Pfeil zugeſchickt? O daß er mir im
offenen Kampf entgegenträte; wie wollte ich ihm ſein
Gedärm aus dem Leibe zerren, und all ſein Blut vergie¬
ßen, bis ſeine verfluchte Seele in den Hades führe! Aber
aus dem Verborgenen ſtellen die Feiglinge dem Tapfern
immer nach! Wiſſe er dieß, und wenn es ein Gott wäre,
der mir zürnt. Denn, wehe, mir ahnet, daß es Apollo
ſey. Auch hat mir Thetis, meine Mutter, einſt geweiſſagt,
daß ich am ſkäiſchen Thore dem verderblichen Pfeil des
Phöbus erliegen werde, und wohl hat ſie die Wahrheit
geſprochen!“
So ſtöhnte der Held und zog den Pfeil aus der un¬
heilbaren Wunde. Zornig ſchleuderte er ihn weg, als er
das ſchwarze Blut nachquellen ſah, und Apollo hub ihn
auf und kehrte mit ihm, verhüllt in die Wolke, zum Olym¬
pus zurück. Hier trat er aus dem Nebel hervor und
miſchte ſich wieder unter die andern Olympier. Ihn be¬
merkte Juno, die Freundin der Griechen, und mit bitterem
Unmuthe fing ſie an ihn zu ſchelten: „Du haſt eine ver¬
derbliche That gethan, Phöbus! Haſt du doch an der
Hochzeit des Peleus mit geſchmaust und mit geſungen,
wie die andern Götter, und, dem Peleus zutrinkend, ihm
Nachkommen gewünſcht. Und dennoch haſt du die Troja¬
ner begünſtigt, und ihm endlich den einzigen Sohn getöd¬
tet! Das haſt du aus Neid gethan. Thörichter, mit wel¬
chem Blicke willſt du künftig die Tochter des Nereus
anſehen?“
Apollo ſchwieg und ſetzte ſich ſeitwärts von den Göt¬
tern, den Blick zu Boden geſenkt. Die einen von den
Olympiern zürnten, die andern dankten ihm im Herzen.
[345] Dem Achilles aber kochte das dunkle Blut in den unbän¬
digen Gliedern noch immer von Kampfluſt, und kein
Trojaner wagte es, dem Verwundeten zu nahen. Noch
einmal erhub er ſich mit einem Sprunge vom Boden,
ſtürzte, den Speer ſchwingend, unter die Feinde, und traf
damit den Freund ſeines alten Gegners Hektor, Ory¬
thaon, an die Schläfe, daß die Spitze dieſem ins Gehirn
drang. Dann ſtieß er dem Hipponous den Speer ins
Auge, durchbohrte dem Alkithous die Wange, und raubte
noch vielen Fliehenden das Leben. Jetzt aber wurden
ſeine Glieder kalt; er mußte ſtille halten und ſich auf die
Lanze ſtützen. Die Trojaner flohen noch immer vor ihm
und ſeiner Stimme, denn er donnerte den Fliehenden
nach: „Laufet nur davon; auch nach meinem Tode werdet
ihr meinem Speere nicht entgehen, ſondern meine Rache¬
götter werden Strafe an euch nehmen!“ Sie flohen zit¬
ternd, denn ſie glaubten, er ſey noch unverwundet. Ihm
aber erſtarrten die Glieder, und er ſank hin unter die
andern Todten, daß die Erde dröhnte und ſeine Waffen¬
rüſtung einen dumpfen Klang von ſich gab.
Zuerſt wurde ſeinen Fall Paris gewahr, ſein Tod¬
feind. Mit einem lauten Freudenſchrei ermahnte er die
Trojaner, ſich der Leiche zu bemächtigen, und nun ver¬
ſammelten ſich eine Menge Streiter um den Todten, die
früher ſeine Lanze gemieden oder erfahren hatten. Aber
der Held Ajax umkreiſte die Leiche, und verſcheuchte mit
hochemporgehaltenem Speer alle Feinde, die ſich nahten,
und wenn ſich einer zum Kampfe mit ihm herbeiwagte, ſo
empfing er den Todesſtoß. Endlich beſchränkte ſich Ajax
nicht mehr auf den Vertheidigungskampf, ſondern brach
los gegen die Trojaner und richtete ein gräßliches Blutbad
[346] unter ihnen an. Hier fiel auch der Lycier Glaukus und
der edle Trojanerheld Aeneas ward verwundet. An des
Ajax Seite kämpften Odyſſeus und andre Danaer:
doch leiſteten die Trojaner immer noch hartnäckigen Wi¬
derſtand; ja, Paris wagte es, mit dem Speere plötzlich
auf Ajax zu zielen. Dieſer aber nahm den Augenblick
wahr, ergriff einen Feldſtein, und zerſchmetterte ihm damit
den Helm, daß er in den Staub ſank und die Pfeile aus
ſeinem Köcher ſich hier und dorthin zerſtreuten. Kaum
hatten ſeine Freunde Zeit, den ſchwach Athmenden auf
den Wagen zu heben und mit Hektors Roſſen nach Troja
zurückzuführen. Als nun Ajax die Trojaner alle in die
Stadt zurückgeſcheucht hatte, eilte er über Leichen, Blut
und Rüſtungen zurück zu dem Helleſponte.
Derweil hatten die Könige den Leichnam des Achilles
vom Schlachtfelde zu den Schiffen getragen, und umring¬
ten ihn in gränzenloſem Schmerze. Und am lauteſten
tönte jetzt die Klage des herzugekommenen Ajax, welcher
in dem hinweggerafften Helden den theuren Sohn eines
Oheims bejammerte. Auch der greiſe Fürſt Phönix ergoß
ſich in die bitterſten Klagen, indem er den rieſigen Leib
des gewaltigen Peliden umſchlungen hielt. Er gedachte
des Tages, da Peleus, der Vater des gefallenen Helden,
ihm das Kind ans Herz legte, und ihm die Erziehung
deſſelben übertrug; auch des Tages, da ſein Zögling ſich
mit ihm aufmachte, gen Troja zu ziehen. Und nun mu߬
ten Vater und Erzieher das Kind überleben!
Auch die Atriden beweinten ihn und alle Griechen;
unaufhörlich ſtieg Klagegeſchrei zum Himmel auf und
tönte dumpf von den Schiffen wieder.
Endlich machte der greiſe Neſtor, ſeines eigenen, noch
[347] unbegrabenen Sohnes gedenkend, den Klagen ein Ende,
indem er ſie daran erinnerte, den Leichnam des Helden zu
waſchen, aufs Lager zu legen und ihm dann die letzte
Ehre der Todten zu erweiſen. Dieß geſchah; der
Leib des Peliden wurde mit warmem Waſſer abgewaſchen
und mit ſchönen Gewändern umhüllt, die ihm ſeine Mut¬
ter Thetis mit auf den Zug gegeben hatte. Als er nun
ſo im Zelte niedergelaſſen da lag, warf Minerva vom
Olymp herab einen mitleidigen Blick auf ihren Liebling,
und träufelte ihm aufs Haupt einige Tropfen Ambroſia's,
von dem Götterbalſam, von dem es heißt, daß er die
Todten vor Entſtellung und Verweſung bewahre. Da¬
durch machte ſie ihn friſch und einem Lebendigen ähnlich.
Auf die Stirne legte ſie ihm den ſchrecklichen Ausdruck,
von dem ſein Antlitz beſeelt war, als er über den Tod
ſeines geliebten Patroklus zürnte, und dem ganzen Leibe
verlieh ſie ein ſchönes und lebensvolles Anſehen. Alle
Argiver, welche ihn zu ſehen kamen, ergriff Staunen, wie
der Held in rieſiger Größe, ſchön und herrlich auf dem
Lager ruhte, als läge er da in friedlichem Schlummer
und würde nun bald wieder erwachen.
Die laute Wehklage der Griechen um ihren größten
Helden drang auch in die tiefe See zu ſeiner Mutter
Thetis und den übrigen Töchtern des Nereus, die dort
wohnen. Ungeheurer Schmerz durchdrang ihre Gemüther
und ſie ſtöhnten ſo jammervoll, daß der Helleſpont wie¬
derhallte. Voll Begierde eilten ſie nächtlicher Weile in
Schaaren durch die ſich vor ihnen theilende Meerfluth
herauf an den Strand, wo die Schiffe der Griechen ſtan¬
den. Alle Ungeheuer des Meeres ſtöhnten mit ihnen;
ſie aber nahten wehklagend dem Leichnam und Thetis
[348] umſchlang ihr Kind mit den Armen, küßte ihn auf
den Mund und weinte, daß der Boden naß wurde von
ihren Thränen. Die Danaer aber wichen mit ehrfurchts¬
vollem Grauſen zurück vor den meerentſtiegenen Göttinnen,
und nahten ſich dem Leichname erſt wieder, als jene ſich
entfernt hatten und der Morgen anbrach. Da trugen ſie
unzählige Bäume vom Berge Ida herab, thürmten ſie
hoch auf, legten auf den Scheiterhaufen die Rüſtungen
vieler Erſchlagenen, geſchlachtetes Opfervieh, Gold und
edle Metalle; die Helden der Griechen ſchnitten ihr Haar
ab und auch Briſis, die geliebte Sklavin des Todten
brachte die Locken als letztes Geſchenk ihrem Gebieter
dar. Dann goſſen ſie viele Krüge Oeles über das auf¬
geſchichtete Holz als Trankopfer, ſtellten Schalen mit
Honig und lieblichem Weine, welcher wie Nektar duftete,
auch mit edlen Gewürzen gefüllt, in das Gerüſte; zu
oberſt auf den Holzſtoß wurde der Leichnam gelegt. Dar¬
auf machten ſie in voller Waffenrüſtung zu Roß und zu
Fuß die Runde um den düſtern Holzſtoß. Nun wurde der
Scheiterhaufen angezündet und die verzehrenden Flammen
ſchlugen unter dem Wehklagen der Krieger empor. Aeolus
aber ſandte auf Jupiters Befehl ſeine ſchnellſten Winde,
die mit Sturmhauch in die aufgeſchichteten kniſternden
Bäume fuhren, daß die Gluth in wenigen Stunden den
Holzſtoß mit ſammt dem Leichnam in Aſche verwandelte.
Die letzten Flammen löſchten ſie mit Weine. Da lagen
die Gebeine des Helden wie die Knochen eines Giganten,
getrennt von Allem, was zugleich mit ihnen verbrannt
worden war. Seine Genoſſen ſammelten dieſelben ſeuf¬
zend und legten ſie in einen geräumigen aus Silber und
Gold gehämmerten Kaſten, der auf der erhabenſten Stelle
[349] des Geſtades neben ſeines Freundes Patroklus Gebein in die
Erde geſenkt und mit einem hohen Grabhügel überdeckt wurde.
Auch die unſterblichen Roſſe des Helden ahneten ſei¬
nen Fall; ſie riſſen die Stränge los, mit welchen ſie an¬
gebunden waren, und wollten nicht länger die Mühſelig¬
keiten der Menſchen theilen. Nur mit Mühe wurden ſie
von den Freunden des Gefallenen eingeholt und ihr Kum¬
mer beſchwichtigt.
Leichenſpiele des Achilles.
Auch zu Troja wurde in dieſen Tagen eine Todten¬
feier begangen: der Lycier Glaukus, der treue Bundes¬
genoſſe der Trojaner, der im letzten Kampfe gegen die
Griechen gefallen war, und deſſen Leichnam ſeine Freunde
aus den Händen der Feinde gerettet hatten, wurde ver¬
brannt und beſtattet.
Am folgenden Tage erhub ſich Diomedes, der Sohn
des Tydeus, in der Verſammlung der griechiſchen Helden
mit dem Rathe, jetzt im Augenblicke, ehe die Feinde Muth
aus Achilles Tode ſchöpften, mit Wagen, Roß und Mann
gegen die Stadt anzurücken und dieſelbe zu erſtürmen.
Aber gegen ihn ſtand Ajax, der Sohn Telamons, auf:
„Wäre es auch recht,“ ſprach er, „die erhabene Meeres¬
göttin, die um den Tod ihres Sohnes trauert, ungeehrt
zu laſſen, und nicht vor allen Dingen herrliche Spiele um
das Grabmal ihres Sohnes zu feiern? Sie ſelbſt, als
ſie geſtern an mir vorüber ins Meer zurück rauſchte, gab
mir einen Wink, den Sohn nicht ungeehrt zu laſſen,
[350] indem ſie ſelbſt bei ſeiner Leichenfeier erſcheinen werde.
Was die Trojaner betrifft, ſo werden ſie ſich ſchwerlich
mehr ermuthigen, obgleich der Pelide dahin iſt, ſo lange
nur du und ich und der Atride Agamemnon noch am Le¬
ben ſind!“ — „Ich will mich in deine Meinung fügen,“
erwiederte der Tydide, „wenn Thetis wirklich ſelbſt heute
erſcheint. Ihr Wunſch ſoll auch dem dringendſten Kampfe
vorangehen.“
Kaum hatte Diomedes dieſe Worte geſprochen, als
die Meereswellen am Strande ſich theilten und die Ge¬
mahlin des Peleus, dem leichten Hauche des Morgens
vergleichbar, aus den Fluthen heraufrauſchte und in der
Danaer Mitte hineintrat. Mit ihr kamen Nymphen als
Dienerinnen, die aus den Umhüllungen ihrer Schleier
herrliche Kampfpreiſe hervorzogen und vor den Augen der
Achiver auf dem Felde ausbreiteten. Thetis ſelbſt ermun¬
terte die Helden, mit den Kampfſpielen den Anfang zu
machen. Da erhub ſich der Sohn des Neleus, Neſtor,
doch nicht um zu kämpfen, denn das hohe Alter hatte
ihm die Glieder ſteif gemacht, ſondern zur liebli¬
chen Rede, und pries die holde Tochter des Nereus. Er
erzählte von ihrer Hochzeit mit Peleus, bei der die Un¬
ſterblichen ſelbſt als Gäſte ſchmausten und die Horen
göttliche Speiſen in goldenen Körben herbeibrachten und
mit ambroſiſchen Händen ſie aufſchichteten. Die Nymphen
miſchten den Göttertrank in goldene Becher, die Grazien
führten ihren Reigen, und die Pieriden ſangen. Der
Aether und die Erde, Sterbliche und Unſterbliche, Alles
nahm damals an der ſeligen Freude Theil.
So erzählte Neſtor und pries dann die ewigen Tha¬
ten des Peliden, der dieſem Ehebund entſproßt war.
[351] Seine Rebe goß ſanften Troſt in die Seele der betrübten
Mutter, und die Argiver, obwohl voll Kampfluſt, hörten
doch mit Wonne zu und ſtimmten in ſein Lob des Helden
jubelnd ein. Thetis übergab dem Neſtor als Vermächtniß
zwei der herrlichſten Roſſe ihres Sohnes; dann ſchied ſie
aus den mitgebrachten Gaben als Preis für den Sieg im
Wettlaufe zwölf ſtattliche Kühe, jede mit einem ſaugenden
Milchkalbe; ſie waren eine Beute ihres Sohnes, der ſie
einſt kämpfend von den Berghöhen des Ida hinweggetrie¬
ben. Nun erhuben ſich unter den griechiſchen Helden
Teucer, der Sohn des Telamon, und der Lokrer Ajax,
des Oleus ſchneller Sohn, und entkleideten ſich zum
Laufe bis an den Gürtel. Agamemnon ſteckte das Ziel
des Wettlaufs; wie Habichte ſtürmten ſie dahin und
rechts und links jauchzten ihnen die zuſchauenden Grie¬
chen Beifall zu. Schon waren beide dem Ziele nah,
als dem Teucer ein Tamariskengeſträuch den Weg ver¬
ſperrte, daß er ſtrauchelte und fiel. Laut ſchrieen die Da¬
naer, der Lokrer aber ſtürmte an ihm vorbei, ergriff das
Ziel und führte die Kühe triumphirend weg zu den Schif¬
fen; den Teucer führten hinkend die Seinigen davon,
Aerzte wuſchen ihm das Blut vom Fuße und wickelten
ihn ſorgfältig in ölgetränkte Binden ein.
Zum Ringkampfe ſtanden jetzt zwei andere Helden
auf, Diomedes und der mächtigere Ajax der Telamous¬
ſohn. Beide rangen vor den neugierigen Blicken ihrer
Genoſſen mit gleicher Kraft und Erbitterung, endlich aber
umſtrickte Ajax den Tydiden mit den nervigen Händen
und ſchien ihn erdrücken zu wollen. Dieſer aber, eben ſo
gewandt als ſtark, beugte zur Seite aus, ſtemmte die
Schultermuskeln an, hob den gewaltigen Gegner in die
[352] Höhe, daß ſeine Arme abglitten und warf ihn mit einem
Stoße des linken Fußes auf den Boden. Die Zuſchauer
jauchzten laut auf. Ajax aber raffte ſich empor und be¬
gann den Kampf aufs Neue, und ſo wütheten ſie, wie
zwei Stiere im Gebirg ihre eiſernen Köpfe gegeneinander
ſtoßen; dießmal faßte Ajax den Diomedes an den Schul¬
tern und warf ihn wie einen Felſen mit unwiderſtehlicher
Kraft auf den Boden, daß er dahin rollte und die Helden
umher Beifall jubelten. Doch auch Diomedes raffte ſich
empor und bereitete ſich zum dritten Gange. Da ſtellte
ſich Neſtor zwiſchen beide hinein und ſprach: „Macht die¬
ſem Ringen doch ein Ende, Kinder, wir Alle wiſſen auch
ohnedem, daß ihr, ſeit wir den großen Achilles verloren
haben, die Tapferſten unter allen Argivern ſeyd!“ Ein
Ruf der Zuſtimmung hallte durch die Luft aus dem zu¬
ſchauenden Heere, die Ringer wiſchten ſich den Schweiß
von der Stirne, fielen einander in die Arme und küßten
ſich. Thetis beſchenkte ſie mit vier gefangenen Sklavin¬
nen, die ſich durch Fleiß und Herzensgüte auszeichneten
und die Achilles einſt auf Lesbos erbeutet hatte. Die eine
von ihnen verſtand das Eſſen in der Küche zu beſorgen,
die andere kredenzte den Wein beim Mahle, die dritte
reichte das Waſſer am Schluſſe deſſelben, die letzte trug
die Speiſen von der Tafel ab; und alle viere wurden
nur von der ſchön gelockten Briſis an Reiz übertroffen.
In dieſe vier theilten ſich die beiden Kämpfer und ſandten
das liebliche Geſchenk zu den Schiffen.
Hierauf begann der Fauſtkampf, zu dem ſich Ido¬
meneus erhob, der geübteſte Kämpfer in allen Arten deſ¬
ſelben. Darum, und auch weil er einer der älteren Hel¬
den war, traten die Andern alle ehrfurchtsvoll vor ihm
[353] zurück und es fand ſich Keiner, der den Wettſtreit mit
ihm verſuchen wollte. Thetis gab ihm daher den Wagen
des Patroklus zum Geſchenke. Phönix und Neſtor aber
munterten die jüngeren Männer zu dieſer Gattung des
Kampfes auf. Da trat Epeus, der Sohn des Panopeus,
und bald nach ihm Akamas, der Sohn des Theſeus, her¬
vor; beide ſchnürten ſich ihre Hände ſchnell mit trockenen
Riemen und prüften ſie, ob ſie gelenkig ſeyen: dann er¬
hoben ſie dieſelben gegen einander und, indem ſie ſich mit
lauerndem Blicke umſchauten, näherten ſie ſich einander
ganz leiſe auf den Zehen, Schritt für Schritt, bis ſie
plötzlich, wie vom Winde getriebene Wolken, aus denen
es blitzt und donnert, auf einander losſtürzten, und nun
hallten vom Schlage der Riemen die Wangen und unter
den Schweiſſe floß das Blut. Theſeus Sohn wehrte den
raſtlos eindringenden Gegner, liſtig ausweichend, ab, und
ſchlug ihn plötzlich mit der Fauſt über den Wimpern bis
auf die Knochen, daß das Blut hervordrang; dafür traf
ihn Jener an die Schläfe, daß Akamas taumelnd zu Bo¬
den ſank. Doch er erholte ſich wieder und der Kampf
begann aufs Neue, bis die Freunde ſich dazwiſchen war¬
fen und den Erbitterten begreiflich machten, daß hier ja
nicht Grieche und Trojaner ſich entgegen ſtehen. Thetis
ſchenkte ihnen zwei herrliche Miſchkrüge von Silber, die
ihr Sohn als Ehrengeſchenk von Lemnos gebracht hatte.
Die Helden griffen freudig darnach, noch ehe ſie an die
Heilung ihrer Wunden dachten.
Nun warben Ajax und Teucer, die ſich ſchon im
Wettlaufe gemeſſen hatten, auch um den Preis des Bogen¬
ſchießens. Als fernes Ziel ſtellte Agamemnon einen Helm
mit flatternder Mähne auf: Sieger ſollte der ſeyn, deſſen
Schwab, das klaſſ. Alterthum. ll. 23[354] Pfeil das Roßhaar des Schweifes durchſchnitte. Ajax
ſchnellte zuerſt ſeinen Pfeil von der Sehne: der traf den
Helm, daß das Erz getroffen erklang. Eilig ſandte Teu¬
cer auch ſeinen Pfeil ab; und ſiehe, ſeine Pfeilſpitze durch¬
ſchnitt den Helmſchweif, daß die zuſchauenden Helden laut
aufjauchzten, denn obwohl ſein Fuß noch vom vorigen
Kampfe halb gelähmt war, hatte er doch ſo zierlich und
ſicher zu zielen gewußt. Thetis beſchenkte ihn mit der
Rüſtung des Troilus, des königlichen Jünglings aus
Troja, den Achilles in den früheren Jahren des Kampfes
erlegt hatte.
Auf dieſen Wettkampf folgte das Scheibenſchießen;
hierin verſuchten ſich viele der Helden, aber keiner ver¬
mochte die ſchwere Scheibe ſo kräftig zu werfen, wie Ajax,
der Telamonier, der ſie hinausſchleuderte, als wäre ſie
ein verdorrter Aſt. Ihn beſchenkte Thetis mit der Rü¬
ſtung des Götterſohnes Memnon, die der Held auch ſo¬
gleich anlegte. Mit Staunen ſahen die Danaer, wie
Stück für Stück des rieſigen Panzers ſich um ſeine Glie¬
der ſchloß, als wäre er ihnen angegoſſen.
Die Reihe kam jetzt an den Wettſtreit im Sprunge,
in welchem Agapenor der Speerſchwinger ſiegte, und da¬
für die Waffen des von Achilles beſiegten Cygnus erhielt.
Im Jagdſpeerwurf ſiegte Euryalus und empfing die ſil¬
berne Schale, die Achilles einſt zu Lyrneſſus erbeutet hatte.
Nun folgte der Wettſtreit im Wagenrennen. Da
ſchirrten fünf Helden zugleich ihre Roſſe: der Atride Me¬
nelaus, Euryalus, Polypoetes, Thoas und Eumelus.
Dann ſtellte ſich jeder mit ſeinem Wagen vor den Schran¬
ken auf, ſchwang die Geißel, und auf ein gegebenes Zei¬
chen flogen alle fünf zugleich über das Blachfeld hin,
[355] und der Staub vom Sande wirbelte gen Himmel. Bald
rannten weit vor den Uebrigen die Roſſe des Eumelus,
nach ihm kam Thoas, dann Menelaus; die beiden Andern
blieben allmählig weit und immer weiter zurück: aber auch
Thoas ermüdete, die Pferde des Eumelus ſtrauchelten
im allzuraſchen Lauf, und als ihr Wagenlenker ſie mit
Gewalt zurechte bringen wollte, bäumten ſie ſich und war¬
fen den Wagen um, daß Eumelus in den Sand rollte.
Ein Geſchrei erhub ſich aus dem Umkreiſe der Zuſchauer,
und nun flogen die ausdauernden Roſſe des Atriden weit
vor allen Andern dahin und hielten am Ziele. Der Sohn
des Atreus freute ſich im Herzen ſeines Sieges, ohne ſich
über die andern Helden zu überheben, und Thetis ſchenkte
ihm den goldenen Becher, den ihr Sohn einſt in Eetions
Pallaſte erbeutet hatte.
23 *
Fünftes Buch.
[[358]][[359]]Der Tod des großen Ajax.
So endigten die Leichenſpiele zu Ehren des göttlichen
Achilles. Von allen Fürſten des griechiſchen Heeres hatte
nur Odyſſeus daran keinen Theil nehmen können, denn
im Kampfe um den Leichnam des Peliden hatte er von
dem Trojaner Alkon eine ſchmerzliche Wunde erhalten,
an der er, obgleich wieder unter die Helden gemiſcht,
doch noch immer krankte.
Zuletzt ſtellte nun Thetis die unſterblichen Waffen ihres
hochherzigen Sohnes vor den Griechen als Kampfpreis
aus. Weithin ſchimmerte der Schild des Helden, auf
welchem von Vulkans eigener Hand die kunſtvollſten Ge¬
bilde in getriebener Arbeit glänzten. Neben ihm lag auf
dem Boden der gewichtige Helm, deſſen Wölbung das
Bild Jupiters trug, wie er voll Zorns auf dem Himmels¬
gewölbe ſtand, und mit den Titanen kämpfte. Weiter lag
auf der Erde der ſchöne gewölbte Harniſch, der ſchwarz
und undurchdringlich die Bruſt des Peliden umſchloß: dann
die ſchweren und doch ſo bequemen Beinſchienen, die er
trug, als wären ſie federleicht; nahe dabei glänzte ſein
unbezwingliches Schwert in ſilberner Scheide, mit goldner
Kuppel und elfenbeinernem Griffe; ihm zur Seite lag der
gewichtvolle Speer am Boden, einer gefällten Tanne
ähnlich und noch roth von Hektors Blut.
Hinter den Waffen ſtand Thetis, ihr Haupt mit einem
[360] dunkeln Trauerſchleier bedeckt, und ſprach tiefbetrübt zu
den Danaern: „Die Siegespreiſe zur Leichenfeier meines
Sohnes ſind nun alle gewonnen. Jetzt aber trete der
beſte der Griechen auf, der den Leichnam rettete, daß ich
ihm die herrlichen Waffen meines Sohnes verleihe, lauter
Göttergeſchenke, an denen die Unſterblichen ſelbſt ihre
Freude hatten.“
Da ſprangen in plötzlichem Wortwechſel zwei Helden
zugleich auf, Odyſſeus, der große Sohn des Laertes, und
der rieſige Ajax, Telamons Sohn. Strahlend, wie der
Abendſtern, ſchwang ſich der letztere den Waffen an die
Seite, und rief Idomeneus, Neſtor und Agamemnon zu
Zeugen ſeiner Thaten auf. Aber an dieſelben Helden
wandte ſich auch Odyſſeus, denn es waren die Verſtändig¬
ſten und Untadeligſten des ganzen Heeres. Neſtor nahm
die beiden andern Helden bei Seite, und ſprach mit be¬
kümmerter Miene: „Ein großes Unglück ſteht uns Allen
bevor, dadurch, daß die beiden beſten Helden des Heeres um
unſers Erſchlagenen Waffenſchmuck buhlen! Welcher auch
von beiden zurückgeſetzt werden mag, der wird beleidigt
und grimmig ſich vom Kampfe zurückziehen, und wir Alle
werden ſeine Unthätigkeit ſchmerzlich zu empfinden haben.
Deßwegen folget mir, dem erfahrenen Greiſe. Wir haben
ja hier im Lager viele, erſt vor Kurzem gefangene Tro¬
janer: laſſen wir dieſe den Streit zwiſchen Ajax und
Odyſſeus entſcheiden; ſie ſind unpartheiiſch und werden
von beiden Helden keinen begünſtigen!“ Einträchtigen
Sinnes mit Neſtor begaben ſich nun auch die beiden an¬
dern Schiedsrichter ihres Amtes, und nun ſetzten ſich die
edelſten der Trojaner, obwohl ſie nur Kriegsgefangene
waren, zu Gerichte, und zuerſt trat Ajax vor ihnen auf.
[361] „Welcher Dämon blendete dich, Odyſſeus,“ rief er voll
Unmuths, „daß du dich mit ihm meſſen willſt? Du ſtehſt
mir wahrhaftig nach, wie ein Hund dem Löwen, oder haſt
du ſchon vergeſſen, wie gerne du dich dem Zuge der
Griechen gegen Troja entzogen hätteſt? O wäreſt du
doch zurückgeblieben! Biſt doch du es geweſen, der uns
beredet hat, den ruhmvollen Sohn des Pöas, den Phi¬
loktetes, in ſeinem ſchrecklichen Jammer auf Lemnos zu¬
rückzulaſſen; haſt doch du den Tod des Palamedes ver¬
ſchuldet, obgleich er dich ſowohl an Stärke als an Klugheit
übertraf! Und jetzt vergiſſeſt du auch alle die Dienſte, die
ich den Griechen geleiſtet; vergiſſeſt, daß ich dir ſelbſt das
Leben gerettet, als du, von allen Andern verlaſſen, dich
allein im Schlachtgetümmel fandeſt, und vergebens dich
nach der Flucht umſaheſt. Damals als um Achilles Leiche
ſich der Kampf erhob, bin nicht ich es geweſen, der den
Leib ſamt den Waffen hinwegtrug? Du ſelbſt aber hätteſt
nicht einmal die Kraft gehabt, die Waffen des Helden
davon zu tragen, geſchweige denn ihn ſelber! Darum
weiche mir, der ich überdieß nicht bloß ſtärker als du bin,
ſondern auch edlern Stammes und mit dem Helden ſelbſt
verwandt, um deſſen Waffen wir hier ſtreiten!“
So vereiferte ſich Ajax. Odyſſeus aber erwiederte
mit einem Lächeln des Spottes: „Wozu verlierſt du ſo
viel unnütze Worte, Ajax? Du ſchiltſt mich feige und
kraftlos, und bedenkſt nicht, daß nur die Klugheit es iſt,
die wahre Stärke verleiht. Dieſe iſt es, welche den
Schiffer die Fahrt durch das empörte Meer lehrt, welche
wilde Thiere, Panther und Löwen zähmt, welche die Stiere
in des Menſchen Dienſt zwingt. Und deßwegen iſt in der
Noth wie im Rathe ein Mann mit Verſtand mehr werth,
[362] als der Thörichte, der nur Körperſtärke beſitzt. Dieß
war auch der Grund, warum Diomedes mich als den
Liſtigſten ſich zum Gefährten auslas, um in das Lager
des Rheſus zu gehen; ja, meiner Klugheit hatten es die
Griechen zu verdanken, daß der Sohn des Peleus, um
deſſen Waffen wir hier ſtreiten, für den Feldzug gegen
Troja gewonnen wurde. Und wenn je den Danaern irgend
ein neuer Held von Nöthen wäre, glaube mir's, Ajax,
nicht dein plumper Arm, auch nicht der Witz eines Andern
im Heere wird denſelben ihnen verſchaffen, ſondern ich
allein werde es ſeyn, deſſen Schmeichelworten er folgt.
Zudem haben mir die Götter nicht nur Klugheit, ſondern
auch die nöthige Körperſtärke verliehen, und es iſt nicht
wahr, daß du mich als Flüchtigen aus der Hand der
Feinde errettet haſt; vielmehr ſtellte ich mich dem
Drange der Feinde entgegen, und tödtete, die mich an¬
griffen: du aber ſtandeſt dort aufgepflanzt zu deiner
eigenen Sicherheit!“
So ſtritten ſie noch lange miteinander: zuletzt über¬
wogen bei den Trojanern, die zu Kampfrichtern geſetzt
waren, die Gründe des Odyſſeus, und ſie erkannten ihm
einſtimmig die herrliche Rüſtung des Peliden zu.
Im Innerſten erbebte Ajax, als er dieſen Spruch
vernahm, das Blut in ſeinen Adern kochte vor Wuth
und Galle vermiſchte ſich damit: ein ſtechender Schmerz
durchzückte ſein Gehirn, und jede Faſer an ihm zitterte.
Lange ſtand er wie eine Bildſäule da mit zu Boden ge¬
hefteten Blicken. Endlich führten ihn ſeine traurigen
Freunde begütigend und nur zögernden Schrittes zu den
Schiffen.
Inzwiſchen ſtieg die dunkle Nacht aus dem Meere.
[363] Ajax aber ſaß in ſeinem Zelte, rührte kein Mahl an und
dachte nicht an den Schlummer, vielmehr warf er ſich in
ſeine volle Rüſtung, faßte ſein ſchneidendes Schwert und
beſann ſich, ob er den Odyſſeus in Stücke zerhauen, oder
lieber die Schiffe verbrennen, oder mit der Schärfe des
Schwertes unter alle Griechen fahren ſolle.
Und gewiß hätte er eins von den dreien ausgeführt,
wenn nicht Athene, die Göttin, um ihren Freund Odyſſeus
beſorgt, und dem Trotze des Ajax und dem Uebermaße
ſeines Leibes abhold, den Schlimmes brütenden Helden
mit Wahnſinn geſchlagen hätte. Den Stachel der Qual
im Herzen, ſtürmte er aus ſeinem Zelte hervor und unter
die Schafherden der Danaer, die er, von der Göttin ge¬
blendet, für die Heerſchaaren der Griechen hielt. Die
Schafhirten, die den Raſenden kommen ſahen, verſteckten
ſich, dem Tode zu entrinnen, in das Ufergebüſch des
Xanthus. Er aber fuhr unter die Schafe und richtete
rechts und links unter ihnen ein Gemetzel an. Zwei großen
Widdern, auf die er ſtieß, rannte er nacheinander den
Speer durch den Leib und rief dazu mit bitterem Hohn¬
lachen: „Lieget Ihr im Staub, den Raubvögeln zur Beute,
ihr Hunde, ihr werdet keinen ungerechten Schiedsrichter¬
ſpruch mehr beſtätigen, ſchändliche Atriden! Und du,“
fuhr er fort, „der du dich dort in der Ecke verbirgſt, und
aus böſem Gewiſſen deinen Kopf ins Geſträuche ſteckſt,
jetzt ſollen dir die Waffen des Achilles, die du mir geſtoh¬
len und in denen du prangeſt, nichts helfen, denn was
nützt die Rüſtung eines Helden, wenn ein feiger Mann
ſie trägt?“ Mit dieſen Worten ergriff er einen andern
großen Hammel, ſchleppte ihn mit ſich fort in ſein Zelt,
band ihn hier an den Thürpfoſten, zog eine Geißel aus
[364] dem Buſen und fing an mit allen ſeinen Kräften auf das
Thier loszuſchlagen. In dieſem Augenblicke trat Minerva
von hinten zu ihm, berührte ſein Haupt, und befahl dem
Wahnſinne von ihm zu weichen. So fand ſich der unglück¬
liche Held wieder, die Geißel in der Hand, vor ſich den
angebundenen Widder mit zerfleiſchtem Rücken; dieſer An¬
blick ſagte ihm genug. Das ſchmähliche Werkzeug entfiel
ſeiner Hand, die Heldenkraft entſchwand ihm, er ſank zu
Boden von der Ahnung getroffen, daß der Zorn der Göt¬
ter ihn heimgeſucht habe. Unausſprechliche Schmerzen be¬
ſtürmten ſein Herz. Als er ſich wieder vom Staube erho¬
ben, vermochte er vor Unmuth den Fuß weder vorwärts
noch rückwärts zu ſetzen, ſondern ſtand lange unbeweglich
da, wie ein Wartthurm, der in Felſen wurzelt; endlich
holte er einen tiefen Seufzer und ſprach: „Wehe mir,
warum haſſen mich die Unſterblichen, warum haben ſie
mich in ſo tiefe Schmach geſtürzt, dem argliſtigen Odyſſeus
zu Liebe? Hier ſteh' ich, der Mann, dem kein Männer¬
treffen je Unehre gebracht hat, die Hände mit unſchuldigem
Lämmerblute beſudelt, ein Gelächter dem ganzen Heere,
ein Spott meiner Feinde!“
Während er ſo jammerte, ſuchte ihn im ganzen Lager
und bei den Schiffen, ſeinen kleinen Sohn Euryſaces auf
dem Arme, die phrygiſche Königstochter Tekmeſſa, die Ajax,
da er ihr Vaterland überfallen, als Beute fortgeführt hatte,
die er einer Gattin gleich hielt, und die ihn zärtlich liebte.
Sie hatte ſeinen finſtern Unmuth im Zelte beobachtet, ohne
deſſen Grund erforſchen zu können, da ihr Ajax auf keine
Frage Antwort gegeben hatte. Bald nachdem er das Zelt
verlaſſen hatte, ſtieg ihr eine finſtere Ahnung im Herzen
auf, und ſie fand endlich bei den Schafhürden das traurige
[365] Schlachtfeld, das Ajax ſich dort geſchaffen. In Ver¬
zweiflung eilte ſie zu dem Zelte zurück und fand ihn hier
beſchämt und verzweifelnd, bald nach ſeinem Bruder Teucer
und nach ſeinem Kinde Euryſaces rufend, bald nach einem
edeln Untergange begehrend. Tekmeſſa nahte ſich ihm
unter Thränen, umfaßte ſeine Kniee und flehte ihn an, ſie,
ſeine Lebensgenoſſin, nicht allein zu laſſen, als eine Ge¬
fangene unter Feinden; ſie hieß ihn auch des greiſen Va¬
ters und der Mutter in Salamis gedenken, ſtreckte ihm
ſeinen Knaben entgegen und erinnerte ihn daran, welches
Loos das Kind treffen würde, wenn es von harter Vor¬
mundſchaft gedrückt, der Jugendaufſicht beraubt, ohne
Vater heranwachſen müßte. Der Held griff mit einer
heftigen Bewegung nach ſeinem Sohne, herzte ihn und
ſprach: „O Kind, übertriff an Glück deinen Vater, in
allem Andern gleiche ihm, ſo wirſt du wahrlich kein ſchlech¬
ter Mann. An meinem Halbbruder Teucer haſt du ge¬
wiß einen guten Pfleger, jetzt aber ſollen dich meine
Schildträger zu meinen Eltern Telamon und Eriböa nach
Salamis bringen, wo du die Luſt ihres Alters ſein magſt,
bis auch ſie zur Unterwelt hinabgehen.“ Damit reichte er
das Kind den Dienern, empfahl durch ſie auch ſeine ge¬
liebte Tekmeſſa dem Halbbruder, riß ſich aus ihren
Umarmungen los, zog das Schwert, das ihm einſt ſein
Feind Hektor als Gaſtgenoſſe geſchenkt hatte, und pflanzte
es in den Boden ſeines Zeltes. Dann hob er die Hände
gen Himmel und betete: „Um eine beſcheidene Wohlthat
flehe ich zu dir, Vater Zeus: ſende mir meinen Bruder
Teucer her, ſo bald ich gefallen bin, daß nicht mein Feind
mich zuvor aufſpüre, und mich den Hunden und Vögeln
zum Fraß vorwerfe. Euch aber, ihr Furien, rufe ich an:
[366] wie ihr mich hier als Selbſtmörder enden ſehet, ſo laſſet
jene meuchelmörderiſch, durch ihr eigenes, liebſtes Blut
dahingewürgt, fallen: kommet, ſchonet nichts, ſättiget euch
in die Runde am ganzen Heer! Du aber, o Sonnengott,
der du leuchtend am hohen Himmel dahinfährſt, wenn du
mit deinem Wagen über meinem Vaterlande Salamis
kreiſeſt, ſo hemme die Zügel und verkünde meinem greiſen
Vater und meiner armen Mutter mein herbes Schickſal.
Leb wohl, du heiliger Strahl, leb wohl Salamis, Hei¬
mathgefild; leb wohl mein Stammſitz Athen mit deinen
Flüſſen und Quellen, lebt auch ihr wohl, ihr trojaniſchen
Gefilde, die ihr mich ſo lange gepflegt habt! Erſcheine
du jetzt, o Tod, und wirf einen Blick des Mitleids auf
mich!“ Mit ſolchen Worten ſtürzte er ſich in das Schwert
und lag im Staube da, als hätte ihn der Blitz zer¬
ſchmettert.
Auf die Nachricht von ſeinem Tode eilten die Danaer
in Schaaren herbei, warfen ſich zu Boden und ſtreuten
jammernd Staub auf ihre Häupter. Teucer, ſein Halb¬
bruder, dem der Vater Telamon befohlen hatte, nicht
ohne den Bruder von Troja heimzukehren, wollte ſich an
ſeiner Seite auch den Tod geben, und hätte es gethan,
wenn die Griechen ihm das Schwert nicht genommen hät¬
ten. Dann warf er ſich auf den Leichnam und weinte
heftiger, als ein vaterloſes Kind an dem Tage weint, der
ihm ſeine Mutter geraubt hat. Doch faßte ſich ſeine Hel¬
denſeele, daß er ſich von dem Leichnam emporraffte und
ſich an Tekmeſſa wandte, die in ſtarrer Verzweiflung bei
der Leiche ſaß, den Sohn, den ihr die Diener zurückgege¬
ben hatten, auf den Armen. Er verſprach der Gefange¬
nen ſeinen Schutz, und dem Knaben, als zweiter Vater
[367] für ihn zu ſorgen, wenn gleich er ſelbſt, den Zorn ſeines
Vaters Telamon fürchtend, ſie beide nicht nach Salamis
begleiten könne.
Darauf ſchickte er ſich an, den Leichnam ſeines ge¬
liebten Halbbruders zu beſtatten. Aber hier trat ihm der
Atride Menelaus wehrend in den Weg: „Unterſteh dich
nicht, dieſen Mann zu beſtatten,“ ſprach er, „den wir
ſchlimmer befunden haben, als unſere Feinde, die Trojaner.
Um ſeines böſen Mordanſchlags willen verdient er kein
ehrliches Grab.“ Während Menelaus ſo mit Teucer um
den Leichnam des Ajax haderte, kam auch Agamemnon
herbei, trat auf die Seite ſeines Bruders und ſchalt in
der Hitze des Streites den Teucer einen Sklavenſohn.
Umſonſt erinnerte ſie dieſer an alle Wohlthaten, welche
die Griechen dem gefallenen Helden zu danken hätten, an
ſeine Rettung des Heeres, als die Flamme der Trojaner
ſchon um die Schiffe der Danaer emporſchlug und Hektor
über den Graben in die Schiffsverdecke herniederſprang.
„Und was ſcheltet ihr mich einen Sklaven,“ rief er, „iſt
doch mein Vater Telamon, der herrliche Griechenheld,
meine Mutter Laomedons königliche Tochter! Soll ich,
edel von den Edelſten abſtammend, mich meiner Blutge¬
noſſenſchaft ſchämen? Wiſſet, daß ihr mit dem gefallenen
Helden auch ſein geliebtes Weib hier und ſeinen Sohn
und mich, ſeinen Bruder, aus dem Lager hinauswerfet.
Bedenkt ihr auch, welchen Ruhm bei den Menſchen und
welchen Segen von den Göttern euch dieſes bringen wird?“
So haderten ſie, als Odyſſeus, der kluge Held, mit¬
ten unter ſie eintrat und, gegen Agamemnon gewendet,
haſtig fragte: „Darf euch ein treuer Freund die Wahrheit
ſagen, ohne übel darum angeſehen zu werden?“ „So
[368] rede doch,“ erwiederte Agamemnon, indem er ihn mit
Verwunderung anblickte, „wohl halte ich dich für meinen
beſten Freund im ganzen Argiverheere!“ — „Nun, ſo
höre mich auch,“ ſprach Odyſſeus. „Wirf bei den Göttern
dieſen Mann nicht ohne Erbarmen und ohne Beſtattung
hinaus! Laß dich durch deine Macht nicht zum ungerech¬
ten Haſſe verleiten! Bedenke, wenn du einen ſolchen
Helden ſchändeteſt, ſo würde nicht er dadurch herabgewür¬
diget, ſondern das Recht und der Wille der Götter wür¬
den verachtet!“ Als die Atriden ſolches hörten, blieben
ſie lange vor Staunen ſprachlos. Endlich rief Aga¬
memnon: „Und du, Odyſſeus, vermagſt es über dich, zu
Gunſten dieſes Mannes mich zu bekriegen? Bedenkſt du
denn gar nicht, daß es dein Todfeind iſt, dem du eine ſo
hohe Gunſt verſchaffen willſt?“ — „Wohl war er mein
Feind,“ antwortete Odyſſeus, „und ich haßte ihn, ſo lange
der Haß noch ziemlich war. Jetzt, wo er gefallen iſt und
wir über den Verluſt eines ſo edlen Helden trauern müſ¬
ſen, kann und darf ich ihn nicht mehr anfeinden. Ich
ſelbſt bin bereit, ihn zu beſtatten, und ſeinem Bruder bei
dieſer heiligen Pflicht an die Hand zu gehen.“
Als Teucer, der bei Odyſſeus Ankunft mit Abſcheu
auf die Seite getreten war, ſolches hörte, trat er auf
den Helden zu, ſeinen Arm zum Handſchlag ausgeſtreckt:
„Edler Mann,“ rief er, „du, ſein größter Feind, biſt
die einzige Stütze des Todten! Dennoch wage ich es nicht,
dich zur Berührung dieſes Todten zuzulaſſen, deſſen un¬
verſöhnt dahingeſchiedenem Geiſte ſolches unwillkommen
ſeyn dürfte. In allem Andern ſey mein Helfer; gibt es
doch für deinen Edelmuth noch genug zu thun!“ Mit
dieſen Worten deutete Teucer aus Tekmeſſa, die noch
[369] immer ſprachlos da ſaß. Odyſſeus kehrte ſich ihr wohl¬
wollenden Sinnes zu: „Niemals, o Weib,“ ſprach er zu
ihr, „ſoll ein Anderer dich als Sklavin ſchauen. So lange
Teucer und ich leben, ſollſt du mit deinem Kinde gepflegt
und geborgen ſeyn, als ſtände euch Ajax ſelbſt noch zur
Seite, er, die Schutzwehr der Achiver.
Die Atriden ſchämten ſich, gegen die edlen Vorſtellun¬
gen des Odyſſeus Einwendungen zu machen. Der rieſige
Leib wurde mit vereinter Heldenkraft vom Boden gehoben
und nach den Schiffen getragen, dort von dem Blute ge¬
reinigt, das ihn zugleich mit der Rüſtung und dem Staube
umgab, und endlich auf einem nicht minder ſtattlichen
Scheiterhaufen verbrannt, als Achilles ſelbſt, der in ſeinem
Tode noch die Urſache eines zweiten, unerſetzlichen Ver¬
luſtes für die Griechen geworden war.
Machaon und Podalirius.
Am andern Tage ſtrömten die Danaer in die Volks¬
verſammlung, welche der Völkerhirt Menelaus berufen
hatte. Als Alle beiſammen waren, ſtand er ſelbſt auf und
hub alſo an zu reden: „Höret mich an, ihr Fürſten des
Volkes! Mir blutet das Herz, wenn ich unſre Schaaren
ſo vor uns hinſinken ſehe. Für mich iſt das Volk in den
Kampf gezogen, und nun ſoll am Ende Keiner mehr Hei¬
math und Verwandte begrüßen! Ehe dieß geſchieht, laßt
uns dieſen unheilvollen Strand verlaſſen, und was noch
übrig iſt, mag mit den Schiffen, Jeder in ſein Vaterland,
zurückſegeln. Seit Achilles und Ajax dahingeſunken ſind,
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 24[370] iſt kein Erfolg unſrer Unternehmung mehr zu hoffen. Was
mich betrifft, ſo bekümmert mich jetzt Helena, meine un¬
würdige Gemahlin, weniger, als Euch, mag ſie mit dem
weibiſchen Paris dahinfahren!“
So redete Menelaus; doch that er es nur, um die
Griechen zu verführen, denn im Herzen wünſchte er nichts
ſehnlicher, als die Vertilgung der Trojaner. Der Sohn
des Tydeus aber, Diomedes, der gerade Lanzenſchwinger,
der ſeine Liſt nicht merkte, fuhr unwillig von ſeinem Sitz
empor und fing an zu ſchelten: „Unbegreiflicher! Welche
ſchmähliche Furcht hat ſich deiner Heldenbruſt bemächtigt,
daß du ſo ſprechen magſt? Doch bin ich ruhig. Nim¬
mermehr folgen dir die muthigen Söhne Griechenlands,
bevor ſie Troja's Zinnen zu Boden geſtürzt haben! Ent¬
ſchlöſſe ſich aber ein Einziger, dir zu folgen, ſo ſoll dieſer
blaue Stahl ihm das Haupt vom Rumpfe trennen!“
Kaum hatte ſich Diomedes wieder auf ſeinen Sitz
niedergelaſſen, als ſich der Seher Kalchas erhob und mit
einem weiſen Vorſchlage den ſcheinbaren Zwiſt vermittelte.
„Ihr wiſſet Alle noch,“ ſprach er, „wie wir vor mehr
als neun Jahren, als wir zur Eroberung dieſer verfluchten
Stadt ausſchifften, den herrlichen Helden Philoktetes, den
Freund des Herkules, an einer giftigen und freſſenden
Wunde krank, auf der wüſten Inſel Lemnos ausſetzen und
dort zurücklaſſen mußten. Zwar war der Geruch der eitern¬
den Wunde und das Jammergeſchrei des Unglücklichen
unerträglich. Dennoch war es unrecht und erbarmungslos von
uns gehandelt, den Armen auf dieſe Weiſe Preis zu geben.
Nun aber hat mir ein gefangener Seher geoffenbaret, daß nur
mit Hülfe der heiligen und ſtets treffenden Pfeile, welche
Philoktetes von ſeinem Freunde Herkules geerbt hat, ſo
[371] wie durch ſeine und des Pyrrhus, dieſes jungen Achilles¬
ſprößlings, Gegenwart Troja erobert werden könnte. Der
Trojaner hat mir dieſe Weiſſagung wohl nur mitgetheilt,
weil er die Erfüllung derſelben für unmöglich hielt, denn
ſo dachte er: wie ſollte der Haß des Philoktetes gegen
die Griechen, die ihn ſo ſchändlich verlaſſen haben, ihm
erlauben, die Pfeile auszuliefern und ſelbſt vor Troja zu
erſcheinen? Mein Rath iſt daher, ohne Verzug den ſtärk¬
ſten unſrer Helden, Diomedes, und den beredteſten, Odyſ¬
ſeus, nach dem Eilande Scyros zu ſenden, wo der Sohn
des Achilles bei dem Vater ſeiner Mutter erzogen wird.
Mit ſeiner Hülfe wollen wir dann auch den Philoktetes
zu Lemnos bereden, ſich mit uns wieder zu vereinigen und
die unſterblichen Waffen des Herkules, durch welche Troja
bezwungen werden ſoll, uns mitzubringen.“
Die Schaaren der Griechen jubelten dieſem Vorſchlage
Beifall und die beiden Helden gingen zu Schiffe ab. Un¬
terdeſſen rüſteten ſich die Heere wieder zum Kampfe. Den
Trojanern war der Sohn des Telephus, Eurypylus, von
Myſien mit einem Heere zu Hülfe gekommen, und ſo
fühlten ſich dieſe von neuem geſtärkt und ermuthigt. Den
Griechen dagegen fehlten ihre zwei beſten Helden. So
kam es, daß die wieder begonnene Schlacht ſich ihnen zum
Verderben wendete. Da wurde auch Nireus, der ſchönſte
unter den Danaern, von der Lanze des Eurypylus erreicht,
und lag mit den andern Erſchlagenen im Staube, wie ein
blühendes Stämmchen vom zerbrechlichen Olivenbaume, das,
vom Fluſſe aufgewühlt, mit der Wurzel entführt und wie¬
der ans Geſtade getrieben wird, wo es nun mit Blüthen
bedeckt daliegt. Eurypylus aber ſpottete ſein, und wollte
den Leichnam des ſchönen Harniſches berauben. Da ſtellte
24 *[372] ſich ihm Machaon, der Bruder des Podalirius, entgegen,
der ſchon den Tod des Nireus voll Zorn mit angeſehen
hatte. Er ſtieß dem Räuber ſeinen Speer in die mäch¬
tige Schulter, daß das Blut herausſtrömte. Eurypylus
aber drang, wie ein verwundeter Eber, auf Machaon ein;
dieſer ſuchte ihn mit einem Steinwurfe abzuwehren, aber
der Helm ſchützte jenen, und nun ſtieß der Sohn des
Telephus dem Griechen ſchnell wie der Blitz den Speer
mitten in die Bruſt, daß die blutige Spitze bis zum Rück¬
grat durchdrang, und Machaon klirrend auf den Boden
fiel. Eurypylus zog die Lanze aus dem Leibe des Er¬
ſchlagenen, und wandte ſich höhnend wieder in die Schlacht.
Teucer, der die beiden hatte fallen ſehen, rief die
Griechen auf, um ihre Leichname zu kämpfen. Zuletzt
aber erlagen ſie den Trojanern. Nachdem der Lokrer
Ajax von Aeneas mit einem Steine hart verwundet und
zu Boden geſtreckt war, mußten die Achiver den ſchwach¬
athmenden Helden aus der Schlacht tragen, und zogen
ſich alle nach dem Schiffe zurück; die Trojaner richteten
unter den Fliehenden eine große Niederlage an. Ja, ſie
hätten die Schiffe ſelbſt durchs Feuer vernichtet, wenn
die Nacht nicht dazwiſchen gekommen wäre. So aber zog
ſich der ſiegreiche Myſier mit den Seinigen vor dem ein¬
brechenden Dunkel zurück zu den Mündungen des Simois,
wo er freudig ſein Nachtlager aufſchlug. Die Danaer
dagegen, auf dem ſandigen Ufer bei ihren Schiffen gela¬
gert, ſeufzten die ganze Nacht durch vor Schmerz, und
beklagten das Loos der unzähligen Brüder, die ſie im
Kampfe verloren hatten.
Aber kaum glühte die Morgenröthe am Himmel, als
auch die Griechen ſchon wieder aufbrachen, voll Begierde,
[373] ſich an Eurypylus zu rächen. Andre von ihnen legten bei
den Schiffen den ſchönen Nireus und den hochbegabten
Arzt und mächtigen Kämpfer Machaon ins Grab. Wäh¬
rend nun in der Ferne die Schlacht wieder tobte, lag
Podalirius, der Bruder Machaons, und wie er be¬
rühmt als der trefflichſte Arzt im Heere, Trank und Speiſe
verſchmähend, im Staub, unter lautem Stöhnen. Er wich
nicht vom Grabe ſeines geliebten Bruders; brütend ſann
er in ſeinem Geiſte auf Selbſtmord, und legte bald die
Hand ans Schwert, bald ſuchte er ein ſchnellwirkendes
Gift, das er ſelbſt gebraut hatte und immer bei ſich trug,
zu verſchlingen. Seine Freunde aber wehrten ihm, und
ſprachen ihm Troſt ein; doch hätte er ſich endlich am fri¬
ſchen Grabhügel ſeines Bruders getödtet, wenn nicht der
greiſe Neſtor dem Verzweifelnden genaht wäre. Dieſer
traf ihn, wie er ſich bald jammernd auf das Grab warf,
bald wieder Staub auf ſein Haupt ſtreute, ſich die
Bruſt mit den nervigen Händen zerſchlug und zugleich den
Namen des getödteten Bruders ausrief. Schwer lag ſein
Kummer auf allen Dienern und Gefährten, die ihn um¬
gaben. Da fing Neſtor an mit ſchmeichelnden Worten
den Betrübten zu tröſten: „Liebes Kind, mach doch dei¬
nem bittern Kummer ein Ende. Es ziemt einem verſtän¬
digen Manne nicht, wie ein Weib an dem Grabe eines
Todten zu jammern. Deine Klage ruft ihn doch nicht
mehr ans Licht; das Feuer hat ſeinen Leib verzehrt und
ſeine Gebeine ruhen in der Erde. Er ſchwand, wie er
gekommen iſt. Du aber trage deinen großen Schmerz,
wie ich den meinigen getragen habe, als der Sohn Au¬
rora's mir den Knaben erſchlug, der mein liebſter war,
und ſeinen Vater liebte, wie keiner meiner Söhne. Als
[374] er für mich geſtorben war, nahm ich doch Nahrung zu
mir, wie vorher; ich ertrug es, das verhaßte Tageslicht
auch ferner noch zu ſchauen; denn ich dachte daran, daß
wir ja Alle denſelben Weg zum Hades wandeln müſſen.“
Machaon hörte den Greis an, während ihm die Thrä¬
nen noch über die Wangen liefen, und ſprach: „Vater,
wie ſollte der Gram um den erſchlagenen Bruder mein
Herz nicht beugen, der mich, der ältere, als unſer Vater
Aeſculap zum Olymp entrückt wurde, wie das eigene Kind
auf den Armen trug, mit mir an demſelben Tiſche aß,
ſein Lager, ſeine Habe mit mir theilte, in ſeiner herrlichen
Kunſt mich unterrichtete? Nachdem er mir geſtorben, mag
ich das liebliche Tageslicht nicht mehr ſchauen!“
Doch der Greis ließ nicht ab mit ſeinem Troſte:
„Bedenke doch,“ ſprach er zu dem Bekümmerten, „daß
die Götter es ſind, welche uns die Geſchicke ſenden, gute
wie ſchlimme, und daß über Allen die dunkle Parze wal¬
tet, welche dieſelben blind auf die Erde hinabwirft: darum
ſtürzt oft großes Unheil auf redliche Männer, und Keiner
gehet ganz ſicher einher. Das Leben geſtaltet ſich ſtets
wechſelnd; bald führt es zu großem Jammer, bald wieder
zu Beſſerem. Dazu gehet ja auch die Sage unter den
Menſchen, daß der Gute zum ſeligen Himmel emporſteige,
und der Frevler in die Schrecken des Dunkels. Dein
Bruder aber war ein menſchenfreundlicher Mann, dazu
ein Götterſohn; darum hoffe, daß er zum Geſchlechte der
Götter emporgeſtiegen iſt.“ Mit ſolchen Troſtworten hub
Neſtor den lange Widerſtrebenden vom Boden auf, und
führte ihn von dem traurigen Grabe hinweg; dieſer aber
ſah ſich noch oft nach dem Grabhügel um.
Unterdeſſen nahte Eurypylus der Myſier auf dem
[375] Schlachtfelde, und die Danaer flohen aufs Neue zu den
Schiffen, und fochten hier bald vor dieſen, bald vor der
weithin reichenden Mauer.
Neoptolemus.
Während dieß vor Troja geſchah, kamen die Geſand¬
ten der Griechen, Diomedes und Odyſſeus, glücklich auf
der Inſel Scyros an. Hier trafen ſie den jungen Sohn
des Achilles, Pyrrhus, der ſpäter von den Griechen
Neoptolemus, das heißt Jungkrieger genannt wurde, vor
dem Hauſe des Großvaters, wie er ſich abwechſelnd im
Pfeilſchießen und Speerſchleudern übte, dann auch wieder
zu Wagen ſchnelle Roſſe tummelte. Sie ſahen ihm eine
Weile mit Wohlgefallen zu und laſen mit inniger Theil¬
nahme auf ſeinem Antlitze zugleich die Spuren der Trauer:
denn der Tod des Vaters war dem Jüngling ſchon be¬
kannt. Als ſie näher traten, mußten ſie ſtaunen, denn
der Jüngling war an ſchöner und hoher Geſtalt ganz und
gar ſeinem Vater ähnlich. Pyrrhus kam ihnen mit ſeinem
Gruße zuvor: „Seyd mir von Herzen willkommen, Fremd¬
linge,“ ſprach er. „Wer ſeyd ihr und woher kommt ihr?
Was wollt ihr von mir?“ Darauf erwiederte ihm Odyſ¬
ſeus: „Wir ſind Freunde deines Vaters Achilles, und
zweifeln nicht, daß wir zu ſeinem Sohne ſprechen; ſo ganz
ähnlich biſt du ihm von Geſtalt und Antlitz. Ich ſelbſt bin
Odyſſeus aus Ithaka, der Sohn des Laertes, mein Ge¬
noſſe aber iſt Diomedes, der Sohn des unſterblichen Ty¬
deus. Wir kommen der Weiſſagung unſers Sehers Kalchas
[376] gehorſam, dich auf den Kampfplatz vor Troja abzuholen,
damit wir den Krieg glücklich beendigen können. Die
Söhne der Griechen werden dir herrliche Gaben verleihen,
ich ſelbſt will dir die unſterblichen Waffen deines Vaters,
die mir zugeſprochen worden ſind, abtreten.“
Freudig antwortete ihm Pyrrhus: „Wenn die Achiver
mich rufen, der Stimme eines Gottes gehorſam, ſo laßt
uns nur gleich morgen in die See ſtechen. Jetzt aber
kommt mit mir in den Pallaſt meines Großvaters und zu
ſeinem gaſtlichen Tiſche!“ In dem Königshauſe angelangt,
fanden ſie die Wittwe des Achilles, Deidamia, noch in
tiefer Herzensbetrübniß, dahinſchmelzend in Thränen.
Der Sohn trat zu ihr und meldete die Fremden, verbarg
ihr aber bis zum andern Morgen den Grund, um ſie nicht
noch mehr zu bekümmern. Die Helden wurden ſatt und
ergaben ſich getroſt dem Schlummer. Aber Deidamia
ſchloß ihre Augen nicht zum Schlafe. Ihr kam nicht aus
dem Sinne, wie dieſelben Helden, die ſie jetzt unter ihrem
Dache beherbergen mußte, es verſchuldet hatten, daß ſie
jetzt ihren Gemahl als Wittwe beweinte, indem ſie ihm ſein
kampfluſtiges Herz beredeten, hinauszuziehen in den Krieg.
Und nun ahnete ihr, daß auch ihr Sohn in denſelben
Sturm würde hinausgeriſſen werden. Deßwegen erhob
ſie ſich mit dem früheſten Morgenlichte, warf ſich dem
Sohn an die mächtig gewölbte Bruſt und erfüllte die Luft
mit Wehklage. „O mein Kind,“ rief ſie, „ich weiß es,
auch ohne daß du es mir geſteheſt: du willſt mit den
Fremden nach Troja, dem Sitze der Thränen, ziehen,
wo ſo viele Helden und auch dein Vater untergegangen
ſind! Nun biſt du aber ſo jung und aller Kriegswerke
noch ſo unkundig! Darum höre auf mich, deine Mutter,
[377] und bleibe zu Hauſe bei mir, damit nicht auch noch die
Unheilskunde an mein Ohr ſchlage, daß mein Sohn in
der Feldſchlacht gefallen ſey, wie ſein Vater!“ Aber
Pyrrhus erwiederte: „Mutter, laß doch die Unglücksworte
ſeyn! Kein Mann im Kriege fällt wider des Schickſals
Willen. Soll mein Loos der Tod ſeyn — nun, was könnte
ich Beſſeres thun, als, werth meiner Abſtammung, für
die Achiver ſterben?“
Da ſtand auch Lykomedes, ſein Großvater, aus dem
Ruheſeſſel auf, in welchem er zu ſchlummern ſchien, trat
vor den Enkel und ſprach: „Starkmüthiges Kind, wohl
ſehe ich, daß du deinem Vater ganz gleich biſt. Aber
wenn du auch glücklich von Troja heimkehreſt, wer weiß,
ob nicht auf dem Heimwege das Verderben noch auf dich
lauert; denn die Seefahrt iſt ein gefährlich Ding!“ So
ſagte er und küßte den Enkel, doch ohne ihn von dem
Wege abzuhalten. Jener aber, dem ein holdes Lächeln
ſein junges Heldenangeſicht verklärte, riß ſich aus den Um¬
armungen der weinenden Mutter los, und ließ Vater¬
pallaſt und Heimath hinter ſich. Wie ihn die rüſtigen
Glieder ſo hintrugen, glänzte er hell wie ein Geſtirn des
Himmels. Ihm folgten die beiden Griechenhelden und
zwanzig entſchloſſene Männer, lauter vertraute Diener
Deidamia's, und alle ſchifften ſich am Strande der
Inſel ein.
Neptun gab ihnen günſtige Fahrt, und nicht lange,
ſo lagen vor ihnen im Morgenlichte die Höhen des Ida¬
gebirges, Chryſa die Stadt, das Vorgebirge Sigeum,
dann das Grab des Achilles. Odyſſeus ſagte jedoch ſeinem
Sohne nicht, weſſen der Grabhügel ſey, ſondern ſchwei¬
gend fuhren ſie an dem Eilande Tenedos vorüber, und
[378] weiter, bis in die Nähe von Troja. Sie kamen an den
Strand, als gerade der Kampf gegen Eurypylus bei der
Mauer, welche das Bollwerk der Schiffe bildete, am hef¬
tigſten war, und jetzt hätte ſie der Myſier niedergeriſſen,
wäre nicht der eben landende Diomedes über das Fahrzeug
an den Strand geſprungen, und hätte die Schaar aus
dem Schiffe mit muthigem Rufe nach ſich gezogen.
Ohne Verzug eilten ſie nach dem Zelte des Odyſſeus,
das dem Strande zunächſt ſtand, und wo ſich theils deſſen
eigene Waffen, theils viele erbeutete Rüſtungen befanden.
Von dieſen wählte ſich der Eine die, der Andere jene aus.
Neoptolemus aber — ſo dürfen wir ihn von jetzt an
heißen — hüllte ſich in die Waffen ſeines Vaters Achilles,
welche den andern Allen zu groß waren; ihn ſelbſt aber
drückte weder der Panzer noch der Helm; Speer, Schwert
und Schild ſchwang er mit Leichtigkeit, und in Allem ähn¬
lich ſeinem Vater, ſtürzte er in den hitzigſten Kampf
hinaus, und alle mit ihm gelandeten Helden ihm nach.
Jetzt erſt begannen die Trojaner wieder von der Mauer
zu weichen, und drängten ſich, von allen Seiten beſtürmt
und beſchoſſen, um den Sohn des Telephus zuſammen,
wie furchtſame Kinder bei dem Rollen des Donners zu
ihrem Vater fliehen. Aber jedes Geſchoß, das aus der
Hand des Neoptolemus flog, ſandte den Tod auf die
Häupter der Feinde, und die verzweifelnden Trojaner
glaubten den rieſigen Achilles ſelbſt in ſeiner Rüſtung vor
ſich zu ſehen. Dieſer blieb an ſeiner Seite, auch focht er
unter dem Schirm der Göttin Athene, der Freundin ſei¬
nes Vaters, und wie Schneeflocken den Felſen umfliegen,
ſo flatterten die Geſchoſſe um ihn her, ohne ihm die Haut
zu ritzen. Ein Schlachtopfer um das andere brachte er
[379] dem gefallenen Vater dar. Zwei Söhne des reichen Meges,
Zwillingsbrüder, raffte, wie Eine Stunde ſie geboren, ſo
jetzt Eine Stunde dahin, denn den Einen traf Neoptolemus
mit dem Speere in das Herz, den Andern an das Haupt
mit einem mächtigen Steine, ſo, daß der ſchwere Helm
zertrümmert wurde, und im Schädel das Gehirn ſich
miſchte. Noch unzählige andere Feinde fielen rings um
ſie her, bis endlich gegen Abend Eurypylus und das feind¬
liche Heer den Rückzug vor dem Sohne des Achilles an¬
traten.
Als Neoptolemus nun vom Kampfe ruhete, kam auch
der greiſe Held Phönix, der Freund ſeines Großvaters
Peleus und der Erzieher ſeines Vaters Achilles, auf den
jungen Helden zu, und betrachtete voll Verwunderung die
Aehnlichkeit mit dem Peliden. Schmerz und Freude be¬
ſtürmten ihn zugleich, jener, bei der Erinnerung an den
Tod ſeines Pflegſohnes, dieſe, weil er deſſen kräftigen
Sprößling vor ſich ſah. Ein Thränenſtrom quoll aus den
Augen des Greiſes, er umarmte den herrlichen Jüngling,
küßte ihm Haupt und Bruſt, und rief: „O Sohn, mir iſt,
als wandle dein Vater, nm den ich mich täglich abhärme,
wieder lebendig unter uns! Doch ſtille! es darf der
Gram um den Vater dir jetzo den Muth nicht ſchwä¬
chen; vielmehr ſollſt du, das Herz voll Zornes, den
Griechen zu Hülfe kommen, und den grimmigen Sohn
des Telephus tödten, der uns ſo viel Schaden gethan.
Uebertriffſt du ihn doch an Kraft ſo weit, als dein Vater
ſeinen Vater übertraf!“ Beſcheiden erwiederte darauf der
Jüngling: „Wer der Tapferſte ſey, werden erſt Feld¬
ſchlacht und Schickſal entſcheiden, o Greis!“ Mit dieſen
Worten wandte er ſich nach den Schiffen und dem Lager
[380] zurück, denn die Nacht war eingebrochen, und die Helden
kehrteu um vom Streite nach ihren Zelten.
Bei Tagesanbruch begann der Kampf auf's Neue.
Lanze mit Lanze, Schwert mit Schwert kreuzte ſich, und ein
Mann drang auf den andern ein. Lange war das Ge¬
fecht unentſchieden, und auf beiden Seiten mordeten und
fielen die Helden. Dem Eurypylus ward ein Freund er¬
ſchlagen; darüber verdoppelte ſich ſeine Wuth, und er
warf die Achiver nieder, wie man Bäume in dichten Wal¬
dungen zu Haufen fällt, ſo daß die Stämme zerriſſene
Schluchten anfüllen. Endlich aber trat ihm Neoptolemus
entgegen, und beide ſchüttelten ihre mächtigen Lanzen in
der Rechten. „Wer biſt du, Jüngling, woher biſt du ge¬
kommen, mich zu bekämpfen?“ rief zuerſt Eurypylus ſei¬
nem Gegner zu, „fürwahr, dich reißt dein Geſchick zur
Unterwelt hinab!“ Neoptolemus erwiederte: „Warum
willſt du meine Abſtammung wiſſen, wie ein Freund, da
du doch ein Feind biſt? So wiſſe denn, ich bin der Sohn
des Achilles, der einſt deinen Vater niedergeſtreckt; die
Roſſe meines Wagens ſind die windſchnellen Kinder der
Harpyien und des Zephyrus, die ſelbſt über das Meer
dahinrennen; die Lanze, vom Scheitel des hohen Berges
Pelion ſtammend, iſt die Lanze meines Vaters, die ſollſt
du jetzt erproben!“ So ſprach der Held, ſprang vom
Wagen und ſchüttelte den Speer. Von der andern Seite
hob Eurypylus einen gewaltigen Stein vom Boden auf
und warf ihn nach dem goldenen Schilde ſeines Feindes;
doch der Schild erzitterte nicht einmal. Wie zwei Raub¬
thiere drangen beide jetzt auf einander ein, und rechts und
links von ihnen wogte die Feldſchlacht in langen Reihen.
Jene aber zerſtießen einander die Schilde, und trafen
[381] bald die Schienen, bald die Helme; ihre Kraft wuchs
mit dem Kampfe, denn beide ſtammten von Unſterblichen
ab. Endlich gelang es der Lanze des Neoptolemus, den
Weg in die Kehle des Gegners zu finden: ein purpurner
Blutſtrom drang aus der Wunde, und, einem entwur¬
zelten Baume gleich, ſtürzte Eurypylus entſeelt zu Boden.
Nach ſeinem Falle hätten ſich die Trojaner vor Neopto¬
lemus, wie Kälber vor dem Löwen, hinter ihre Mauer
geflüchtet, wenn nicht Mars, der ſchreckliche Kriegsgott
ſelber, der den Trojanern Beiſtand verleihen wollte, un¬
bemerkt von den andern Göttern, den Olymp verlaſſen
und mit ſeinen feuerſchnaubenden Roſſen ſeinen Kriegs¬
wagen mitten ins Schlachtgetümmel hineingetrieben hätte.
Hier ſchwang er ſeinen mächtigen Speer und ermahnte
die Troer mit lautem Zurufe, den Feind zu beſtehen.
Dieſe ſtaunten, als ſie die göttliche Stimme hörten,
denn den Gott ſelbſt, den ein Nebel unſichtbar machte,
ſahen ſie nicht. Der Sohn des Priamus, der geprieſene
Seher Helenus, war der erſte, deſſen Scharfſinn den
Gott erkannte, und der ſeinen Leuten zurief: „Bebet nicht!
Euer Freund, der mächtige Kriegsgott, iſt ſelbſt mitten
unter euch: habt ihr den Ruf des Mars nicht vernommen?“
Jetzt hielten die Trojaner wieder Stand und das Gemetzel
begann auf beiden Seiten von Neuem. Mars hauchte
den Trojanern gewaltigen Muth ein, und zuletzt wankten
die Reihen der Griechen. Nur den Neoptolemus vermochte
er nicht zu ſchrecken; dieſer kämpfte muthig fort, und er¬
ſchlug jetzt dieſen, jetzt jenen im Streite. Der Gott zürnte
über ſeine Kühnheit, und ſchon war er im Begriffe, die
Wolke, die ihn umgab, zerreiſſend, dem jungen Helden
ſichtbar im Kampfe entgegen zu treten, als Athene, die
[382] Freundin der Griechen, vom Olymp herunter auf das
Schlachtfeld eilte. Die Erde und die Wellen des Xanthus
erbebten vor ihrer Ankunft, leuchtende Blitze flogen um
ihre Waffen, die Schlangen auf ihrem Gorgonenſchilde
hauchten Feuer. Und während die Sohlen der Göttin auf
dem Boden ſtanden, berührte ihr Helm die Wolken; ſterb¬
lichen Blicken jedoch blieb ſie verborgen. Und jetzt hätte
ſich ein Zweikampf zwiſchen den Göttern erhoben, wenn
nicht Jupiter mit einem warnenden Donnerſchlage ſie ge¬
ſchreckt hätte. Beide erkannten den Willen des Vaters;
Mars zog ſich nach Thracien zurück, Minerva wandte ſich
nach Athen; das Schlachtfeld war den Sterblichen wieder
überlaſſen, und jetzt wich die Stärke von den Trojanern:
ſie flohen in ihre Stadt zurück und die Griechen dräng¬
ten ihnen nach. Von den Mauern herab vertheidigten
Jene tapfer ihre Stadt; dennoch hätten die Danaer
die Thore erbrochen, wenn nicht Jupiter, der den Willen
des Schickſals kannte, die Stadt in Gewölk eingehüllt
hätte. Da rieth der weiſe Neſtor den Griechen, ſich
zurückzuziehen, um ihre Todten zu beſtatten und vom
Kampf auszuruhen.
Am folgenden Tage ſahen die Danaer mit Staunen
die Burg von Troja wieder unumwölkt in den blauen
Morgenhimmel ſteigen, und erkannten in dem Nebel des
geſtrigen Abends das Wunder des Göttervaters. An die¬
ſem Tage herrſchte Waffenruhe. Die Trojaner benutzten
dieſelbe, um den Myſier Eurypylus feierlich zu beſtatten.
Neoptolemus aber beſuchte das hohe Grab ſeines Vaters,
küßte die zierliche Säule, die ſich darüber erhob, und
ſprach unter Seufzern und Thränen der Wehmuth: „Auch
unter den Todten ſey mir gegrüßt, mein Vater, denn nie
[383] werde ich dein vergeſſen! O daß ich dich lebend bei den
Griechen gefunden hätte! So aber haſt du dein Kind nie
geſehen, und ich den Vater nicht, ſo ſehr ich mich im Her¬
zen nach dir geſehnt habe! Doch noch lebeſt du in mir,
und lebſt in deinem Speere; beide jagen in der Feldſchlacht
den Feinden Schrecken ein, und die Danaer ſehen mich
mit freudigen Blicken an und ſagen, ich gleiche dir, Vater,
an Geſtalt und Thaten!“
So ſprach er weinend und kehrte zu den Schiffen zu¬
rück. Den ganzen nächſtfolgenden Tag wüthete der Kampf
wieder um die Mauern von Troja; doch gelang es den
Griechen nicht, in die Stadt einzudringen, und an den
Ufern des Skamanders, wo Neoptolemus nicht war, fielen
die Danaer ſogar in Schaaren darnieder. Dort hatte der
muthige Sohn des Priamus, Deiphobus, einen glücklichen
Ausfall gewagt, und bedrängte die Belagerer. Auf die
Nachricht davon hieß Neoptolemus ſeinen Wagenlenker
Automedon die unſterblichen Roſſe dorthin treiben. Stau¬
nend ſah ihn der trojaniſche Königsſohn nahen. Das
Herz ſchwankte ihm zwiſchen dem Entſchluſſe zu fliehen,
oder dem entſetzlichen Helden entgegenzutreten. Neoptole¬
mus aber rief ihm ſchon von Weitem zu: „Sohn des
Priamus, wie wütheſt du gegen die zitternden Danaer!
Kein Wunder, wenn du dich für den tapferſten Helden
der Erde hältſt. Wohlan denn, ſo verſuch' es auch mit
mir!“ So rief er und ſtürmte auf ihn zu wie ein Löwe,
und gewiß hätte er ihn mit ſammt dem Wagenlenker dar¬
niedergeſtreckt, wenn nicht Apollo, in dunkles Gewölke
gehüllt, aus dem Olymp herniedergeeilt wäre, und den
Gefährdeten zur Stadt entrückt hätte, wohin auch die übri¬
gen Trojaner ihm nachflohen. Als Neoptolemus in die
[384] leere Luft mit dem Speere ſtieß, ſchrie er voll Unmuths:
„Hund, du biſt mir entgangen, doch nicht deine Tapfer¬
keit half dir, ſondern ein Gott hat dich mir geſtohlen!“
Dann warf er ſich wieder in den Kampf. Aber Apollo,
der in den Mauern Troja's war, ſchirmte die Stadt.
Da ermahnte der Seher Kalchas die Danaer, zu den
Schiffen zurückzuweichen und ſich für eine Weile dem
mühſeligen Kampfe, zu entziehen. Hier ſprach er: „Es iſt
vergeblich, ihr Freunde, daß wir uns im Streite gegen
dieſe Stadt abmühen, wenn nicht auch der andere Theil
der Weiſſagung, welche ich euch mitgetheilt habe, in Er¬
füllung geht, und Philoktetes mit ſeinen unwiderſtehlichen
Pfeilen von Lemnos herbeigeſchafft wird.“
Sofort wurde beſchloſſen, den klugen Odyſſeus und
den tapfern Jüngling Neoptolemus nach Lemnos abzu¬
ſenden, und dieſe gingen ohne Säumen zu Schiffe.
Philoktetes auf Lemnos.
Die Helden landeten an der unbetretenen, unbewohn¬
ten Küſte der wüſten Inſel Lemnos. Hier hatte vor
mehr als neun Jahren, nach dem Ausſpruche der Heer¬
führer, Odyſſeus den Sohn des Pöas, Philoktetes, deſſen
unheilbares Uebel den Griechen ſeine Gegenwart uner¬
träglich machte, in einer Höhle mit zwei Mündungen aus¬
geſetzt, wo er des Winters im Sonnenſtrahle Schutz vor
der Kälte, und des Sommers an einer andern Stelle
Schatten und Kühlung finden konnte; in der Nähe rieſelte
eine lebendige Quelle. Die beiden Helden hatten dieſe
[385] Stelle bald wieder gefunden, und Odyſſeus traf noch
Alles wie das erſtemal. Aber die Wohnung war leer,
nur eine breite Streu aus Laub, wie von einem Ruhen¬
den zuſammengedrückt, ein kunſtlos geſchnitzter Becher aus
Holz und etwas Feuergeräthe deuteten auf einen Bewoh¬
ner; und in der Sonne lagen Lumpen voll Eiters aus¬
gebreitet, die ſie nicht zweifeln ließen, daß der kranke
Philoktetes noch der Bewohner ſey. Das Erſte, was ſie
thaten, war, daß ein Diener auf die Lauer ausgeſandt
wurde, damit der Kranke ſie nicht überraſchen könnte.
„Benützen wir,“ ſprach Odyſſeus zu dem jungen Sohne
des Achilles, „die Abweſenheit des Mannes, um unſern
Plan mit ihm zu verabreden, denn nur durch Täuſchung
können wir uns ſeiner bemächtigen. Bei eurer erſten Zu¬
ſammenkunft darf ich nicht zugegen ſeyn; haßt er mich
doch tödtlich, und mit Recht! Sobald er dich nun frägt,
wer du ſeyeſt und von wannen du kommeſt, ſagſt du
ehrlich, du ſeyeſt der Sohn des Achilles. Dann aber
dichteſt du noch weiter hinzu, du habeſt dich zürnend von
den Griechen abgewandt und ſeyeſt auf der Fahrt nach
der Heimath begriffen. Denn dieſe, die dich von Scyros
nach Troja flehend herbeigeholt, um ihnen dieſe Stadt
erobern zu helfen, haben dir die Waffen deines Vaters
verweigert und ſie mir, dem Odyſſeus, gegeben. Häufe
nur ſo viel Schimpf auf mich, als dir einfällt; mich
kränkt es nicht, und ohne dieſe Liſt bekommen wir den
Mann und die Pfeile nicht. Darum mußt du darauf
denken, wie du ihm dieß unbeſiegbare Geſchoß entwenden
magſt.“ Hier fiel ihm Neoptolemus ins Wort: „Sohn
des Laertes,“ ſprach er, „eine That, die ich ohne Abſcheu
nicht hören kann, vermag ich auch nicht zu thun, weder
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 25[386] ich noch mein Vater ſind zu ſo böſer Kunſt geboren wor¬
den. Gerne bin ich bereit, den Mann mit Gewalt zu
fangen; nur erlaß mir die Argliſt! Wie ſollte auch der
einzelne Mann, der dazu nur auf Einem Fuße ſtehen
kann, uns, die Vielen, überwältigen?“ „Mit ſeinen un¬
entfliehbaren Pfeilen,“ erwiederte Odyſſeus ruhig. „Ich
weiß wohl, mein Sohn, daß dir die Gabe der Täuſchung
nicht eingepflanzt iſt, und auch ich ſelbſt, der ich von einem
redlichen Vater ſtamme, war in der Jugend mit der
Zunge langſam und raſch mit der Hand. Erſt die Erfah¬
rung mußte mich belehren, daß die Welt weniger durch
Thaten, als durch Worte gelenkt wird. Wenn du nun
bedenkſt, daß der Bogen des Herkules allein Troja zu
bezwingen vermag, und du durch dieſe That den Ruhm
der Klugheit wie der Tapferkeit davontragen, auch durch
den Erfolg vollkommen gerechtfertigt erſcheinen wirſt, ſo
weigerſt du dich gewiß nicht länger der kurzen Trugworte!“
Neoptolemus gab den Gründen ſeines älteren Freun¬
des nach, und dieſer entfernte ſich nun, wie verabredet
war. Auch dauerte es nicht lange, bis aus der Ferne der
Schmerzensruf des leidenden Philoktetes ſich hören ließ.
Dieſer hatte nämlich von Ferne das Schiff am hafenloſen
Strande erblickt und kam auf Neoptolemus und ſeine Be¬
gleiter herzugeeilt. „Wehe mir,“ rief er ihnen zu, „wer
ſeyd ihr, die ihr an dieſer unwirthbaren Inſel gelandet?
Zwar erkenne ich an euch die geliebte Griechentracht; doch
möchte ich auch den Laut eurer Sprache vernehmen. Be¬
bet vor meinem verwilderten Ausſehen nicht zurück, be¬
dauert vielmehr mich unglücklichen, von allen Freunden
verlaſſenen, gepeinigten Mann, und antwortet, wenn ihr
anders nicht mit feindlichen Abſichten erſchienen ſeyd!“
Neoptolemus antwortete, wie Odyſſeus ihn gelehrt
hatte; da brach Philoktetes in ein Freudengeſchrei aus:
„O theuer werthe griechiſche Laute, wie nach ſo langer
Zeit tönet ihr in mein Ohr! O Sohn des liebſten Va¬
ters! Geliebtes Scyros! Guter Lykomedes! Und du,
Pflegekind des Alten, was ſprichſt du da? So haben dich
die Danaer denn auch nicht anders behandelt, als mich!
Wiſſe, ich bin Philoktetes, der Sohn des Pöas, derſelbe,
den die Atriden und Odyſſeus einſt, ganz verlaſſen, von
entſetzlicher Krankheit gequält, auf unſrem Zuge nach
Troja, hier ausſetzten. Sorglos ſchlief ich am Strande
der See unter dieſem hohlen Felſendache; da entflohen ſie
treulos, hinterließen mir nur kümmerliche Lumpen, wie
einem Bettler, und die nothdürftigſte Koſt, wie ſie einſt
ihnen aufgeſpart ſeyn möge. Wie meinſt du, liebes Kind,
daß ich aus meinem Schlaf erwacht ſey? mit welchen
Thränen, welchem Angſtgeſchrei, als ich von dem ganzen
Schiffszuge, der mich hieher geführt, keine Seele mehr
erblickte, keinen Arzt, keine Hülfe für mein Uebel; gar
nichts mehr ringsum, außer meinem Jammer, aber dieſen
freilich im Ueberfluß! Seitdem ſind mir Armen Tage
um Tage und Jahre um Jahre verlaufen, und unter die¬
ſem engen Dache bin ich mein einziger Pfleger geweſen.
Mein Bogen hier verſchaffte mir die nöthigſte Nahrung;
aber wie jammervoll mußte ich mich, wenn mir eine
Beute aus den Lüften zufiel, nach der Stelle hinſchleppen,
den kranken Fuß nachziehend. Und ſo oft ich einen Trunk
aus der Quelle ſuchen, ſo oft ich von Winter zu Winter
zur Feuerung meiner Höhle mir Holz im Walde fällen
wollte, das Alles mußte ich, mit Mühe aus meiner Höhle
hervorkriechend, ſelbſt beſorgen. Wiederum fehlte es mir
25 *[388] an Feuer; wie lange währte es, bis ich den rechten
Stein fand, der, an Eiſen geſchlagen, den Funken ſprühte,
welcher mich bis dieſe Stunde erhalten hat. Denn, als
ich einmal dieß Bedürfniß hatte, fehlte mir nichts mehr,
mein Leben zu friſten, als Geſundheit. Jetzt höre aber
auch von der Inſel etwas, lieber Sohn! Wiſſe, es iſt
der armſeligſte Fleck auf der Erde: niemals nahet ſich ihr
freiwillig ein Schiffer; es fehlt an Landungsplätzen, fehlt
an Gelegenheit Waaren umzutauſchen, fehlt an allem
Umgange mit Sterblichen. Wen die Fahrt hierher treibt,
der landet nur gezwungen. Solcherlei Schiffer beklagen
mich dann zwar wohl, reichen mir auch wohl etwas
Speiſe oder ein Kleid, aber heimgeleiten will mich keiner,
und ſo ſchmachte ich denn hier in Noth und Hunger ſchon
ins zehnte Jahr; und das Alles haben Odyſſeus und die
Atriden mir zu Leide gethan, denen die Götter mit Glei¬
chem vergelten mögen!“
Neoptolemus gerieth bei dieſer Erzählung in wilde
Bewegung ſeines Innern; doch drängte er dieſelbe zurück,
der Ermahnung des Odyſſeus eingedenk. Er berichtete
dem jammernden Helden den Tod ſeines Vaters und was
er ſonſt über Landsleute und Freunde zu hören wünſchte,
und knüpfte daran mit aller Wahrſcheinlichkeit die Lüge,
die Odyſſeus ihn gelehrt. Philoktetes hörte unter lauten
Bezeugungen der Theilnahme und Ueberraſchung zu;
dann faßte er den Sohn des Achilles bei der Hand,
weinte bitterlich und ſprach: „Nun, liebes Kind, beſchwöre
ich dich bei Vater und Mutter, laß mich nicht in dieſen
meinen Qualen zurück. Ich weiß wohl, daß ich eine lä¬
ſtige Ladung bin! dennoch entſchließe dich, nimm mich mit,
wirf mich wohin du willſt: ans Steuerruder, an den
[389] Schnabel, in den unterſten Schiffsraum, wo ich deine
Schiffsgenoſſenſchaft am wenigſten quäle! Laß mich nur
nicht in dieſer ſchrecklichen Einſamkeit; führe mich als
Retter nach deiner Heimath: von dort bis zum Oeta und
dem Lande, wo mein Vater wohnte, iſt die Fahrt nicht
mehr weit. Zwar habe ich oft ſchon Gelandeten manche
herzliche Bitten an ihn mitgegeben, aber Niemand brachte
mir Kunde von ihm und er iſt wohl ſchon lange todt;
nun, ich wäre froh, wenn ich nur an ſeinem Grabe ruhen
dürſte.“
Neoptolemus gab dem kranken Manne, der ſich zu
ſeinen Füßen warf, mit ſchwerem Herzen die unredliche
Zuſage, und rief: „So bald du willſt, laß uns zu Schiffe
gehen; möge nur ein Gott uns ſchnelle Fahrt aus dieſem
Lande verleihen, nach dem Ziele, das uns angewieſen iſt!“
Philoktetes ſprang auf, ſo ſchnell als das Uebel ſeines
Fußes es ihm zuließ, und ergriff mit einem Freudenrufe
den Jüngling bei der Hand. In dieſem Augenblick er¬
ſchien der Späher der Helden, als ein griechiſcher Schiffs¬
herr verkleidet, mit einem andern Schiffer von ihrem
Gefolge. Er erzählte, an Neoptolemus gewendet, die
erheuchelte Kunde, daß Diomedes und Odyſſeus auf der
Fahrt nach einem gewiſſen Philoktetes begriffen ſeyen, den
ſie, einer Weiſſagung des Sehers Kalchas zufolge, fan¬
gen und vor Troja bringen müßten, wenn die Stadt
erobert werden ſollte. Dieſe Schreckensnachricht warf den
Sohn des Pöas ganz dem Neoptolemus in die Arme.
Er raffte die heiligen Geſchoſſe des Herkules zuſammen,
übergab ſie dem jungen Helden, der ſich zum Träger er¬
bot, und ſchritt mit ihm unter das Thor der Höhle.
Da vermochte ſich Neoptolemus nicht länger zu halten,
[390] die Wahrheit ſiegte in dem reinen Herzen des jungen
Helden über die Lüge, und ehe ſie am Ufer angekommen
waren, ſprach er: „Philoktetes, ich kann es dir nicht län¬
ger verbergen: du mußt mit mir nach Troja zu den Atri¬
den und Griechen ſchiffen!“ Philoktetes bebte zurück,
flehte, fluchte. Ehe aber das Mitleid ganz die Oberhand
über die Seele des Jünglings gewann, ſprang Odyſſeus
aus dem Gebüſche, das ihn verborgen hielt, hervor und
befahl den Dienern, den unglücklichen alten Helden, der
doch ſchon ihr Gefangener ſey, zu feſſeln. Philoktetes
hatte ihn auf den erſten Laut erkannt. „O wehe mir,“
rief er, „ich bin verkauft, ermordet! Dieſer iſt's, der
mich ausgeſetzt hat, der mich jetzt dahinſchleppt, durch
deſſen Trug mir meine Pfeile geſtohlen ſind!“ „Gutes
Kind,“ ſprach er dann ſchmeichelnd zu Neoptolemus, „gib
du mir Bogen und Pfeile wieder!“ Aber Odyſſeus fiel
ihm in die Rede: „Nie geſchieht ſolches,“ rief er, „und
wollte es der Jüngling auch; ſondern du mußt mit uns
gehen, du mußt; es gilt der Griechen Heil und Troja's
Untergang!“ Damit überließ ihn Odyſſeus den ihn feſ¬
ſelnden Dienern und zog den verſtummten Neoptolemus
mit ſich fort. Philoktetes blieb mit den Dienern im Ein¬
gange der Höhle ſtehen, klagte über den ſchamloſen
Betrug und ſchien umſonſt die Rache der Götter anzu¬
rufen, als er plötzlich die beiden Helden, im Wortwechſel
mit einander, zurückkehren ſah, und aus der Ferne ver¬
nehmlich die Worte des jüngeren vernahm, welcher zür¬
nend ausrief: „Nein, ich habe gefehlt, ich habe durch
ſchnöde Liſt einen edlen Mann verſtrickt! Ich will ſie
ungeſchehen machen, die ſchnöde That, und eh' du mich
getödtet haſt, führeſt du dieſen Mann nicht gen Troja!“
[391] Beide zogen die Schwerter, Philoktetes aber warf ſich
dem Sohne Achills zu Füßen. „Verſprich mir, mich zu
retten wie du willſt: ſo ſollen die Pfeile meines Freundes
Herkules jeden Einfall von deinem Lande abwehren!“
„Folge mir,“ ſprach Neoptolemus, und hub den alten
Helden vom Boden auf, „wir ſchiffen noch heute nach
Phthia, in mein Heimathland.“
Da verfinſterte ſich die blaue Luft über den Häuptern
der rechtenden Helden; ihre Blicke kehrten ſich nach oben,
und Philoktetes war der Erſte, der ſeinen Freund, den
vergötterten Herkules, in einer dunkeln Wolke ſchwebend,
erblickte.
„Nicht weiter!“ rief dieſer mit einer hallenden Götter¬
ſtimme vom Himmel herab. „Höre, Freund Philoktetes,
aus meinem Munde den Rathſchluß Jupiters, und gehorche!
Du weißt, durch welche Mühſal ich Unſterblichkeit gewann,
auch dir iſt vom Schickſale beſtimmt, aus dieſer Trübſal
verherrlicht hervorzugehen. Mit dieſem Jünglinge vor
Troja erſcheinend, wirſt du vor allen Dingen von deiner
Krankheit erlöſt; dann haben dich die Götter erwählt,
den Paris, den Urheber alles Leids, zu vertilgen; dann
ſtürzeſt du Troja; das Herrlichſte der ganzen Beute wird
dein Antheil; beladen mit Schätzen fährſt du zurück zu
deinem Vater Pöas, der noch lebt. Haſt du etwas übrig
von der Beute, ſo opfere es auf dem Scheiterhaufen bei
meinem Denkmale. Leb wohl!“ Philoktetes ſtreckte dem
verſchwindenden Freunde die Arme nach zum Himmel.
„Wohlan,“ rief er,“ zu Schiff, ihr Helden, gib mir die
Hand, edler Sohn des Achilles; und du, Odyſſeus, ſchreit'
immerhin an meiner Seite: du haſt gewollt, was die
Götter wollen!“
[392]
Der Tod des Paris.
Als die Griechen das erſehnte Schiff, das den Phi¬
loktetes mit den beiden Helden am Borde hatte, in den
Hafen des Helleſponts einlaufen ſahen, eilten ſie ſchaaren¬
weiſe unter lautem Jubel an den Strand. Philoktetes
ſtreckte die ſchwächlichen Hände hinaus und wurde von
ſeinen beiden Begleitern ans Ufer gehoben, welche müh¬
ſelig den Hinkenden in die Arme der harrenden Danaer
führten. Dieſe jammerte ſeines Anblickes. Da ſprang
einer der Helden aus dem Haufen heraus, heftete einen
forſchenden Blick auf die Wunde, rief mit lauter Rührung
ſeinen Vater Pöas bei Namen und verſprach, ihn mit der
Götter Hülfe ſchnell zu heilen. Laut jauchzten die Griechen
auf, als ſie ſeine Verheiſſung hörten. Es war Podali¬
rius, der Arzt, ein alter Freund des Pöas. Schnell
ſchaffte dieſer die nöthigen Heilmittel herbei, die Argiver
aber wuſchen und ſalbten den Körper des alten Helden.
Die Unſterblichen gaben ihren Segen: das verzehrende
Uebel ſchwand ihm aus den Gliedern und aller Jammer
aus der Seele. Der ſieche Leib des Helden Philoktetes
blühte auf wie ein Aehrenfeld, das, am Regen dahin¬
welkend, von ſommerlichen Winden erquickt wird. Die
Atriden ſelbſt, die Häupter des Volkes, ſtaunten, als ſie
ihn ſo gleichſam vom Tode auferſtehen ſahen, und, nach¬
dem er ſich an Trank und Speiſe gelabt, trat Agamemnon
zu ihm, ergriff ihn bei der Hand und ſprach mit ſicht¬
barer Beſchämung: „Lieber Freund! Es iſt in der Be¬
thörung unſeres Geiſtes, aber auch nach göttlicher Fügung
[393] geſchehen, daß wir dich vor Zeiten auf Lemnos zurück¬
gelaſſen haben; hege nicht länger Groll darüber im Her¬
zen, die Götter haben uns genug dafür geſtraft und dieſe
Verſuchung über uns verhängt, um uns ihren Zorn fühlen
zu laſſen. Für jetzt nimm die Geſchenke freundlich auf,
die wir dir bereitet haben: ſieben trojaniſche Jungfrauen,
zwanzig Roſſe und zwölf Dreifüße. Daran labe dein
Herz und nimm in meinem eigenen Zelte Platz. Beim
Mahl und allenthalben ſoll dir königliche Ehre erwieſen
werden.“
„Lieben Freunde,“ erwiederte Philoktetes gütig, „ich
zürne nicht mehr, weder dir, Agamemnon, noch irgend
einem andern Danaer, ſollte ſich auch einer an mir ver¬
gangen haben. Weiß ich doch, daß der Sinn edler Män¬
ner beugſam iſt und ſich bald ſtrenge, bald nachgiebig
zeigen muß. Doch jetzt laßt uns ſchlafen gehen, denn
wer ſich nach dem Kampfe ſehnt, thut wohler daran, ſich
des Schlummers zu freuen, als des Schmauſes!“ So
ſprach er und eilte ins Gezelt ſeiner Freunde, wo er bis
an den Morgen behaglich der Ruhe pflegte.
Am andern Tage waren die Trojaner außerhalb der
Mauer mit der Beerdigung ihrer Todten beſchäftigt, als
ſie die Griechen ſchon wieder zum Streite heranrücken
ſahen. Polydamas, der weiſe Freund des gefallenen
Hektor, rieth ihnen, im Gefühl ihrer Schwäche ſich hinter
die Mauern zurückzuziehen und ſich dort getroſt zu ver¬
theidigen. „Troja,“ ſprach er, „iſt das Werk der Götter
und ihre Werke ſind nicht leicht zu zerſtören, auch fehlt es
uns weder an Speiſe noch an Getränk, und in den Hallen
unſeres reichen Königes Priamus liegen noch Vorräthe
genug, um dreimal ſo viel Volk zu ſättigen, als wir ſind.“
[394] Aber die Trojaner gehorchten ſeinem Rathe nicht und
jauchzten vielmehr dem Aeneas Beifall, der ſie zu rühm¬
lichem Sieg oder Tod auf dem Schlachtfelde aufforderte.
Bald ſtürmte der Kampf wieder in beider Heere Reihen.
Neoptolemus erſchlug zwölf Trojaner hintereinander mit
dem Speere ſeines Vaters, aber auch Eurymenes, der
Gefährte des kühnen Aeneas, und Aeneas ſelbſt riſſen blutige
Lücken ins griechiſche Heer, und Paris tödtete den Gefähr¬
ten des Menelaus, den Demoleon aus Sparta. Dagegen
raſete Philoktetes unter den Trojanern wie der unbezwing¬
liche Mars ſelber, oder wie ein toſender Strom, der breite
Fluren überſchwemmt. Wenn ein Feind ihn nur von
ferne erblickte, ſo war er verloren; ſchon des Herkules
herrliche Rüſtung, die er trug, ſchien die Troer zu ver¬
derben, als ſtünde das Meduſenhaupt auf ſeinem Panzer.
Zuletzt aber wagte es doch Paris und drang auf ihn ein,
Bogen und Pfeile muthig in der Luft ſchwenkend. Auch
ſchnellte er bald einen Pfeil ab, doch der ſchwirrte an
Philoktetes vorüber und verwundete ſeinen Nebenmann
Kleodorus in die Schulter. Dieſer wich, mit der Lanze
fortkämpfend, zurück, aber ein zweiter Pfeil des Paris
traf ihn zum Tode. Jetzt griff Philoktetes zu ſeinem
Bogen und mit donnernder Stimme rief er: „Du troja¬
niſcher Dieb, Urheber alles unſres Unheils, du ſollſt es
büßen, daß dich gelüſtet hat, in der Nähe dich mit mir
zu meſſen. Wenn du einmal todt biſt, ſo wird deinem
Haus und deiner Stadt das Verderben mit ſchnellen
Schritten heraneilen!“ So ſprach er und zog die gedrehte
Sehne des Bogens bis nahe an die Bruſt, ſo daß das
Horn ſich bog, und legte den Pfeil ſo auf, daß er nur
ein weniges über den Bogen hervorragte. Mit einem
[395] Schwirren der Sehne flog der ziſchende Pfeil dahin und
verfehlte aus der Hand des göttlichen Helden ſein Ziel
nicht, doch ritzte er dem Paris nur die ſchöne Haut, und
auch dieſer ſpannte ſeinen Bogen wieder; da traf ihn ein
zweiter Pfeil des Philoktetes in die Weiche, daß er nicht
länger im Kampf auszuharren vermochte, ſondern entfloh,
wie ein Hund vor dem Löwen, am ganzen Leibe zitternd.
Der blutige Kampf dauerte noch eine Weile fort,
während die Aerzte ſich um die ſchmerzliche Wunde des
Paris bemühten. Aber das Dunkel der Nacht war ein¬
gebrochen und die Trojaner kehrten in ihre Mauern, die
Danaer zu ihren Schiffen zurück. Paris durchſtöhnte die
Nacht ohne Schlaf auf ſeinem Schmerzenslager. Der
Pfeil war bis ins Mark des Gebeines eingedrungen und
die Wunde durch die Wirkung des ſcheußlichen Giftes, in
das die Pfeile des Herkules getaucht waren, ganz ſchwarz
vor Fäulniß. Kein Arzt vermochte zu helfen, ob ſie gleich
Mittel aller Art anwandten. Da erinnerte ſich der Ver¬
wundete eines Orakelſpruches, daß ihm einſt in der grö߬
ten Noth nur ſeine verſtoßene Gattin Oenone helfen
könne, mit welcher er, als er noch Hirte auf dem Ida
war, glückliche Tage verlebt hatte. Aus dem eigenen
Munde der Gattin hatte er damals, als er nach Grie¬
chenland zog, dieſe Wahrſagung vernommen. So ließ er
ſich denn jetzt ungerne, aber von der harten Qual ge¬
zwungen, dem Berge Ida, wo ſeine erſte Gemahlin noch
immer wohnte, zutragen. Von dem Gipfel des Berges
herab krächzten Unglücksvögel, als die Diener mit ihm
hinanſtiegen. Ihre Stimme füllte ihn bald mit Entſetzen,
bald trieb ihn wieder die Lebenshoffnung, ſie zu verachten.
So kam er in der Wohnung ſeiner Gattin an. Die
[396] Dienerinnen und Oenone ſelbſt erfüllte der unerwartete
Anblick mit Staunen; er aber ſtürzte ſich zu den Füßen
ſeines verſchmähten Weibes und rief: „Ehrwürdige Frau,
o haſſe mich jetzt nicht in meiner Bedrängniß, weil ich
dich einſt unfreiwillig als Wittwe zurückließ. Denn ſieh, es
waren die unerbittlichen Parzen, die mich Helena entge¬
gengeführt. O wäre ich doch geſtorben, ehe ich ſie in
den Pallaſt meines Vaters gebracht. Doch jetzt beſchwöre
ich dich bei den Göttern und unſerer früheren Liebe, habe
Mitleid mit mir und befreie mich von dem quälenden
Schmerz, indem du auf meine Wunde die Mittel auflegſt,
die nach deiner eigenen Weiſſagung mich allein zu retten
vermögen!“
Aber ſeine Worte erweichten den harten Sinn der
Verſtoßenen nicht. „Was kommſt du zu der,“ ſprach ſie
ſcheltend, „die du verlaſſen und dem bitteren Jammer
preisgegeben haſt, weil du an Helena's ewiger Jugend
dich zu erfreuen hoffteſt? So geh' nun, und wirf dich
ihr zu Füßen, ob ſie dir helfen möge, meine Seele aber
hoffe nicht mit deinen Thränen und Klagen zum Mitleid
zu ſtimmen!“ So ſchickte ſie ihn wieder aus ihrer Be¬
hauſung fort, ohne zu ahnen, daß ihr eigenes Schickſal
an das ihres Gatten gebunden ſey. Paris ſchleppte ſich,
von den Dienern geſtützt und getragen, kummervoll über
die Höhen des waldigen Ida hin, und Juno vom Olymp
herab labte ſich an dem Anblicke. Noch war er nicht an
den Abhang des Berges gelangt, als er der giftigen
Wunde erlag und ſeinen Geiſt noch auf den Gipfeln des
Ida ſelbſt aushauchte, ſo daß ſeine Buhlin Helena ihn
nicht wieder erblickte.
Ein Hirte brachte ſeiner Mutter Hekuba die erſte
[397] Kunde von ſeinem traurigen Tode. Ihr wankten die
Kniee bei der Nachricht und ſie ſank bewußtlos nieder.
Priamus aber wußte noch nichts davon, er ſaß klagend
am Grabe ſeines Sohnes Hektor und wußte nicht, was
draußen vorging. Helena dagegen ließ ihren ſtrömenden
Klagen bei der Botſchaft ihren Lauf, wiewohl ihr Gemüth
wenig davon wußte, denn ſie war nicht ſowohl über den
Tod des Mannes betrübt, als über ihre eigene Schuld,
an welche ſie ſich jetzt mit Zagen erinnerte.
Unerwartete Reue bemächtigte ſich der Seele Oeno¬
ne's, die ferne von allen trojaniſchen Frauen auf der
Höhe des Ida im einſamen Hauſe lag, und der jetzt erſt
die Erinnerung an ihre mit Paris in Liebe verlebte Ju¬
gend zurückkehrte. Wie das Eis, das auf dem hohen
Gebirge ſich in den Wäldern angeſetzt und die Schluchten
umher deckt, unter dem lauen Hauche des Weſtwinds wie¬
der ſchmilzt und in ſtrömende Quellen zerfließt: ſo ſchmolz
die Härtigkeit ihres Herzens dahin vor dem Kummer;
das Herz ging ihr auf und Ströme von Thränen quollen
aus ihren lang vertrockneten Augen. Endlich raffte ſie
ſich auf, öffnete mit Heftigkeit die Pforte ihres Hauſes
und ſtürzte wie ein Sturmwind hinaus. Von Fels zu
Fels, über Schluchten und Bergſtröme trugen ſie die flüch¬
tigen Füße durch die Nacht hin. Mitleidsvoll blickte Luna
vom blauen Nachthimmel auf ſie herunter. Endlich ge¬
langte ſie an die Stelle des Gebirges, wo der Leichnam
ihres Gatten auf dem Holzſtoß flammte und von den
Schafhirten des Berges umringt war, die dem Freund
und dem Königsſohn die letzte Ehre erwieſen. Als ihn
Oenone erblickte, machte ſie der heftige Schmerz ganz
ſprachlos; ſie verhüllte ihr ſchönes Antlitz in die Gewänder,
[398] ſprang raſch auf den Scheiterhaufen, und ehe die Umſte¬
henden ſie retten, ja nur beklagen konnten, war ſie mit
dem Leichnam des Gatten ein Opfer der Flammen.
Sturm auf Troja.
Während ſich dieſes auf dem Berg Ida ereignete,
wurde der Kampf von Seiten beider Heere mit Erbitte¬
rung und wechſelndem Erfolge fortgeſetzt. Apollo hauchte
dem Aeneas, dem Sohne des Anchiſes, und dem Eury¬
machus, dem Sohne Antenors, Muth und Stärke ein, daß
ſie die Achiver mit großem Verluſte zurückdrängten, und
Neoptolemus nur mit Mühe das Treffen wiederherſtellen
konnte. Doch wichen die Trojaner nicht eher, bis Pallas
Athene ſelbſt den Griechen zu Hülfe eilte. Nun miſchte
ſich auch die Göttin Aphrodite in den Kampf, und, um
das Leben ihres Sohnes Aeneas beſorgt, hüllte ſie dieſen
in eine Wolke, und entrückte ihn aus der Schlacht.
Aus dieſem unbarmherzigen Kampfe entrannen nur
wenige Trojaner, müde und verwundet, in die Stadt.
Weiber und Kinder lösten ihnen wehklagend die blutigen
Waffen vom Leibe, und die Aerzte hatten vollauf zu
thun. Auch die Danaer waren vom Kampfe geſchwächt
und ermüdet, denn erſt nach langem Zweifel hatte ſich
der Sieg ihnen zugewendet. Doch waren ſie am andern
Morgen wieder munter und, nachdem ſie eine gehörige
Wache bei den Verwundeten zurückgelaſſen, zogen ſie
luſtig und kriegeriſch von den Schiffen den Mauern Tro¬
ja's wieder zu, und dießmal ging es zum Sturme. Die
[399] Griechen hatten ihre Schaaren vertheilt und eine jede
hatte den Angriff auf eines der Thore übernommen. Die
Trojaner aber kämpften auf allen Seiten von Mauern
und Thürmen herab, und überall erhob ſich ein gewaltiges
Getümmel. An das ſkäiſche Thor wagte ſich zuerſt
Sthenelus, der Sohn des Kapaneus, mit dem götterglei¬
chen Helden Diomedes. Ueber dem Thore aber wehrten
der ausdauernde Dephobus und der ſtarke Polites ſammt
vielen Genoſſen die Stürmenden mit Pfeilen und Steinen
ab, daß Helme und Schilde von dem Wurfe klangen.
Am idaiſchen Thore focht Neoptolemus mit allen ſeinen
Myrmidonen, die in den Künſten der Beſtürmung wohl
erfahren waren. In der Stadt munterten hier die Tro¬
janer Helenus und Agenor auf und kämpften unermüdlich
für die theure Heimath. An denjenigen Thoren, die zu
der Ebene und zu dem Schiffslager der Griechen führten,
waren Eurypylus und Odyſſeus in unaufhörlichem Kampfe;
von der hochemporragenden Mauer aber hielt ſie durch
Steinwürfe der tapfere Aeneas entfernt. An dem Ge¬
wäſſer des Simois kämpfte unter mannigfaltigen Drang¬
ſalen Teucer, und ſo Andere anderswo. Endlich kam
Odyſſeus auf ſeinem Poſten auf den glücklichen Gedanken,
ſeine Streiter die Schilde über ihre Häupter gedrängt
aneinander emporheben zu laſſen, ſo daß das Ganze wie
das wohlgewölbte Dach eines Hauſes erſchien. Unter
dieſem Schilddache zogen die Schaaren der Danaer, eng
geſchloſſen und wie zu einem einzigen Körper vereinigt,
daher, und furchtlos hörten ſie das Getöſe der zahlloſen
Steine, Pfeile und Lanzen, die von der Mauer herab aus
den Händen der Trojaner auf die Schilde herabpraſſelten,
ohne einen einzigen Mann zu verwunden. So nahten ſie
[400] ſich, Keiner von dem Anderen getrennt, wie ein dunkles
Winterſturmgewölk den Mauern, der Grund dröhnte unter
ihren Tritten, der Staub wallte über ihren Häuptern, und
unter dem Schilddache tönte vermiſchtes Geſpräch durch¬
einander, wie Bienengeſumſe in den Körben. Freude
erfüllte das Herz der Atriden, als ſie das unerſchütter¬
liche Bollwerk einherziehen ſahen: ſie drängten ihre Krie¬
ger alle den Thoren der Veſte entgegen zum Sturm¬
angriff, und rüſteten ſich, die Thore aus den Angeln zu
heben, die Thorflügel mit zweiſchneidigen Beilen zu durch¬
brechen und niederzuwerfen, und bei der neuen Erfindung
des Odyſſeus ſchien der Sieg unzweifelhaft zu ſeyn.
Da ſtärkten die Götter, die auf Seiten der Trojaner
waren, die Arme des Helden Aeneas, daß er einen unge¬
heuren Stein mit beiden Händen herbeibrachte und voll
Wuth auf das Schilderdach hinunter ſchleuderte. Dieſer
Wurf richtete eine klägliche Niederlage unter den Stür¬
menden an, und ſie ſanken wie Ziegen des Berges, auf
die ein losgeriſſener Fels herabrollt, zerſchmettert unter
ihren Schilden zu Boden. Aeneas aber ſtand auf der
Mauer mit ſtrotzenden Gliedern und ſeine Rüſtung fun¬
kelte wie der Blitz; neben ihm ſtand unſichtbar in einer
dunkeln Wolke der gewaltige Mars, der den Geſchoſſen,
die der Held dem Steine nachſendete, die rechte Richtung
gab, daß Tod und Entſetzen unter die Reihen der Grie¬
chen fuhr. Laut ertönte von den Mauern herab der Ruf
des Aeneas, der die Seinigen anfeuerte, laut von unten
herauf der Ruf des Neoptolemus, der die Myrmidonen
ermahnte, Stand zu halten, und ſo dauerte hier der Kampf
den ganzen Tag fort ohne Erholung und Raſt.
An einer entfernteren Seite der Mauer waren die
[401] Griechen glücklicher. Dort ſäuberte der kühne Lokrer
Ajax die Zinnen allmählig von Vertheidigern, indem er
bald mit dem Pfeil einen wegſchoß, bald mit dem Speer
einen niederſtieß. Und jetzt erſah ſich ſein tapfrer Waffen¬
gefährte und Landsmann Alcimedon eine ganz leer gewor¬
dene Stelle der Mauer, legte eine Sturmleiter an und
ſtieg, auf ſein muthiges Herz und ſeine Jugend vertrauend,
voll Kriegsluſt mit behendem Fuße die Stufen empor,
den Schild über dem Haupte haltend. So gedachte er
den Seinigen den Weg in die Stadt zu bahnen. Aber
Aeneas hatte aus der Ferne ſein Beginnen beobachtet,
und als Jener nun eben über die Mauer hinweg ſah und
zum erſten und letztenmal einen Blick in das Innere der
Stadt warf, traf ihn ein Stein, aus der gewaltigen Hand
des trojaniſchen Helden geſchleudert, ans Haupt; die Leiter
ward zertrümmert unter der Wucht des Stürzenden: wie
ein Pfeil von der Sehne geſchnellt, wirbelte er durch die
Luft und hauchte die Seele aus, noch ehe er unten am
Boden ankam. Die Lokrer ſeufzten laut auf, als ſie den
Zermalmten auf der Erde liegen ſahen. Jetzt faßte Phi¬
loktetes den Sohn des Anchiſes, der wie ein reißendes
Thier die Mauern entlang tobte, ſich ins Auge und rich¬
tete ſein geprieſenes Geſchoß auf ihn. Auch verfehlte er
ſein Ziel nicht, ritzte jedoch nur ein wenig das Leder des
Schildes und traf dann den Trojaner Menon, der von
der Mauer herabfiel, wie ein Wild, das des Jägers Pfeil
erreicht hat. Aeneas zertrümmerte dafür dem Toxächmes,
einem wackern Gefährten des Philoktetes, Haupt und Kno¬
chen mit einem Steinwurfe. Grimmig blickte Philoktetes zu
dem feindlichen Helden empor und rief: „Aeneas! du
glaubſt der Tapferſte zu ſeyn, wenn du, wie ſchwache
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 26[402] Weiber, von der Mauer herab deine Feinde mit Steinen
bekämpfſt. Wohlan, wenn du ein Mann biſt, ſo komm in
der Rüſtung vor die Thore heraus und erprobe deinen
Bogen und deine Lanze im Kampfe mit dem muthigen
Sohne des Pöas!“ Der Trojaner hatte nicht Zeit ihm
zu antworten, denn die Vertheidigung der Stadt rief ihn
nach einer andern Stelle der Mauer, und auch Philoktetes
wurde zu neuem raſtloſen Kampfe hinweggeriſſen.
Das hölzerne Pferd.
Nachdem nun die Griechen lange erfolglos um Thore
und Mauern von Troja gekämpft und der verſuchte Sturm
auf allen Seiten abgeſchlagen worden war, rief der Seher
Kalchas eine Verſammlung der vornehmſten Helden zu¬
ſammen und redete ſo vor ihnen: „Unterziehet euch nicht
ferner den Mühſeligkeiten eines gewaltſamen Kampfes,
denn auf dieſem Wege kommt ihr nicht zum Ziele: beſin¬
net euch vielmehr auf irgend einen Anſchlag, der euren
Schiffen und euch ſelber zum Heile gereichen mag. Denn
vernehmet, was für ein Zeichen ich geſtern geſchaut habe.
Ein Habicht jagte einem Täubchen nach; dieſes aber
ſchlüpfte in die Spalten eines Felſen hinein, um ſeinem
Verfolger zu entgehen. Lange verweilte dieſer grimmig
vor dem Felſenſpalt, aber das Thierchen ging nicht her¬
aus; da verbarg ſich der Raubvogel mit unterdrücktem
Unmuth ins nahe Gebüſch: und, ſiehe da, jetzt ſchlüpfte
das Täublein in ſeiner Thorheit wieder heraus, der Ha¬
bicht aber ſchießt auf das arme Thier nieder und erwürgt
[403] es ohne Erbarmen. Laßt uns dieſen Vogel zum Muſter
nehmen, und Troja nicht fürder mit Gewalt zu erobern
ſuchen, ſondern es einmal mit der Liſt verſuchen.“
So ſprach der Seher; aber keinem der Helden, ob¬
gleich ſie hin und her ſannen, wollte ein Mittel einfallen,
wie dem grauſamen Kriege ein Ziel geſetzt werden könnte;
der einzige Odyſſeus kam endlich durch die Verſchmitztheit
ſeines Geiſtes auf ein ſolches. „Wiſſet ihr was, Freunde,“
rief er, freudig bewegt durch den glücklichen Einfall: „Laßt
uns ein rieſengroßes Pferd aus Holze zimmern, in deſſen
Verſteck ſich die edelſten Griechenhelden, ſo viele unſer
ſind, einſchließen ſollen. Die übrigen Schaaren mögen
ſich inzwiſchen mit den Schiffen nach der Inſel Tenedos
zurückziehen, hier im Lager aber alles Zurückgelaſſene
verbrennen, damit die Trojaner, wenn ſie dieß von ihren
Mauern aus gewahr werden, ſich ſorglos wieder über das
Feld verbreiten. Von uns Helden aber ſoll ein muthiger
Mann, der keinem der Troer bekannt iſt, außerhalb des
Roſſes bleiben, ſich als Flüchtling zu ihnen begeben und
ihnen das Mährchen vortragen, daß er ſich der frevelhaf¬
ten Gewalt der Achiver entzogen habe, welche ihn um
ihrer Rückkehr willen den Göttern als Opfer ſchlachten
wollten. Er habe ſich nämlich unter dem künſtlichen Roſſe,
welches der Feindin der Trojaner, der Göttin Pallas
Athene, geweiht ſey, verſteckt und ſey jetzt, nach der Ab¬
fahrt ſeiner Feinde, eben erſt hervorgekrochen. Dieß muß
er den ihn Befragenden ſo lange zuverſichtlich wieder¬
holen, bis ſie ihr Mißtrauen überwunden haben und ihm
zu glauben anfangen. Dann werden ſie ihn als einen
bemitleidenswerthen Fremdling in ihre Stadt führen. Hier
ſoll er darauf hinarbeiten, daß die Trojaner das hölzerne
26 *[404] Pferd in die Mauern hineinziehen. Geben ſich dann unſre
Feinde ſorglos dem Schlummer hin, ſo ſoll er uns ein zu
verabredendes Zeichen geben, auf welches wir unſern
Schlupfwinkel verlaſſen, den Freunden bei Tenedos mit
einem lodernden Fackelbrande ein Signal geben und die
Stadt mit Feuer und Schwert zerſtören wollen.“
Als Odyſſeus ausgeredet, prieſen alle ſeinen erfinde¬
riſchen Verſtand und zumeiſt lobte ihn Kalchas, der Se¬
her, deſſen Sinn der ſchlaue Held vollkommen getroffen
hatte. Er machte auf günſtige Vogelzeichen und zuſtim¬
mende Donnerſchläge Jupiters, die ſich vom Himmel
herab hören ließen, aufmerkſam, und drängte die Griechen
ſogleich zum Werke zu ſchreiten. Aber da erhub ſich der
Sohn des Achilles unwillig in der Verſammlung. „Kal¬
chas,“ ſprach er, „tapfre Männer pflegen ihre Feinde in
offener Feldſchlacht zu bekämpfen; mögen die Trojaner,
das Treffen vermeidend, von ihren Thürmen herab als
Feige ſtreiten; uns aber laſſet nicht auf eine Liſt ſinnen
oder auf irgend ein andres Mittel außer offenem Kampfe!
In dieſem müſſen wir beweiſen, daß wir die beſſeren
Männer ſind!“
So rief er, und Odyſſeus ſelbſt mußte den hochſinnigen
Jüngling bewundern; doch erwiederte er ihm: „O du
edles Kind eines eben ſo furchtloſen Vaters, du haſt
dich ausgeſprochen, wie ein Held und wackerer Mann.
Aber doch konnte dein Vater ſelbſt, der Halbgott an Muth
und Stärke, dieſe herrliche Veſte nicht zerſtören. Du ſiehſt
alſo wohl, daß Tapferkeit in der Welt nicht Alles aus¬
richtet. Deßwegen beſchwöre ich euch, ihr Helden, daß
ihr den Rath des Kalchas befolget und meinen Vorſchlag
ohne Säumen ins Werk ſetzet!“
Alle andern Helden gaben dem Sohne des Laertes
Beifall; nur Philoktetes ſtellte ſich auf die Seite des
Neoptolemus, denn er lechzte noch immer nach Kampf
und Schlachtgetümmel und ſein Heldenherz war noch nicht
geſättigt. Am Ende hatten die beiden auch den Rath der
Danaer zu ſich herübergezogen. Aber Jupiter bewegte
den ganzen Luftkreis, ſchleuderte Blitz auf Blitz unter
krachendem Donner zu den Füßen der widerſtrebenden
Helden herab, und gab ſo hinlänglich zu verſtehen, daß
ſein Wille ſich mit den Vorſchlägen des Sehers und des
Laertiaden vereinige. So verloren die beiden Helden den
Muth, ſich länger zu widerſetzen, und gehorchten, obgleich
mit innerlichem Widerwillen.
So kehrten denn alle mit einander zu den Schiffen
zurück, und ehe ans Werk gegangen wurde, überließen
ſich die Helden dem wohlthätigen Schlaf. Da ſtellte ſich
um Mitternacht im Traume Minerva an das Haupt des
griechiſchen Helden Epus, und trug ihm als einem kunſt¬
reichen Manne auf, das mächtige Roß aus Balken zu
zimmern, indem ſie ſelbſt ihm ihren Beiſtand zu ſchnellerer
Vollendung des Werkes verſprach. Der Held hatte die
Göttin erkannt und ſprang freudig vom Schlafe auf: alle
Gedanken wichen in ſeinem Geiſte dem Einen Auftrag,
und der Geiſt ſeiner Kunſt bewegte ihm die Seele. Mit
Tagesanbruch erzählte er die Göttererſcheinung in der
Mitte alles Volkes, und nun ſchickten die Atriden in aller
Eile in die waldreichen Thäler des Idagebirges und lie¬
ßen daſelbſt die hochſtämmigſten Tannen fällen. Dieſe
wurden eilig zum Helleſpont hinabgetragen, und viele
Jünglinge gingen ans Werk und halfen dem Epus: die
Einen zerſägten die Balken, die Andern hieben die Aeſte
[406] von den noch unzerſägten Stämmen, wieder Andere tha¬
ten Anderes, Epëus aber machte zuerſt die Füße des
Pferdes, dann den Bauch; über dieſen fügte er ſodann
den gewölbten Rücken, hinten die Weichen, vorn den
Hals; über ihn formte er zierlich die Mähne, die ſich
flatternd zu bewegen ſchien; Kopf und Schweif wurden
reichlich mit Haaren verſehen, aufgerichtete Ohren an
den Pferdskopf geſetzt und gläſerne leuchtende Augen un¬
ter der Stirne angebracht; kurz es fehlte nichts, was an
einem lebendigen Pferde ſich regt und bewegt. So voll¬
endete er mit Minerva's Hülfe das Werk in dreien Ta¬
gen, und das ganze Heer bewunderte die Schöpfung des
Künſtlers, ſo ausdrucksvoll hatte er Leben und Bewegung
nachzubilden gewußt; man meinte jeden Augenblick, jetzt
werde das Rieſenpferd zu wiehern anfangen. Epëus aber
hob die Hände gen Himmel und betete vor allem Heere:
„Mächtige Pallas, erhöre mich, rette dein Pferd und mich
ſelbſt, hohe Göttin!“ Und alle Griechen ſtimmten in die¬
ſes Gebet ein.
Die Trojaner waren in der Zwiſchenzeit vom
letzten Kampfe an ſcheu hinter ihren Mauern geblieben.
Um ſo lauter tobte der Zwieſpalt unter den Göttern ſelbſt
jetzt, wo Troja's Verhängniß erfüllt werden ſollte. Sie
fuhren in zwei getrennten Haufen, der eine den Grie¬
chen günſtig, der andere ihnen abhold, auf die Erde
herunter und ſtellten ſich am Fluſſe Xanthus, den Sterb¬
lichen unſichtbar, in zwei Schlachtordnungen gegen einan¬
der auf. Auch die Meergottheiten ſchloſſen ſich der einen
oder andern Seite an. Die Nereiden hielten es, als
Verwandte des Achilles, mit den Griechen; andere Meer¬
götter waren auf der Seite Troja's, und dieſe empörten
[407] die Fluth gegen die Schiffe und trieben ſie ans Land ge¬
gen das tückiſche Roß. Sie hätten beide zerſtört, wenn
das Schickſal es geſtattet hätte. Unter den obern Göt¬
tern begann indeſſen der Kampf, und Mars ſtürzte der
Minerva zum Kampf entgegen. Damit war das Zeichen
des allgemeinen Streites gegeben, und die Götter warfen
ſich gegenſeitig auf einander: bei jeder Bewegung klirrten
die goldenen Rüſtungen und das Meer rauſchte mit ſeinen
Wogen darein; unter den Füßen der Unſterblichen bebte
die Erde und alle ſchrieen laut zuſammen, ſo daß der
Schlachtruf der Götter bis zur Unterwelt hinabdrang und
die Titanen im Tartarus davor erbebten. Es hatten aber
die Himmliſchen ſich zum Kampf eine Zeit erſehen, wo
Jupiter, der Vater der Götter und Menſchen, fern auf
einer Reiſe an den Ocean begriffen war, wohin die Re¬
gierung der Erde ihn gerufen hatte. Doch ſeinem ſcharf¬
ſichtigen Geiſte entging auch aus der Ferne nichts von dem,
was auf der Oberfläche des Erdbodens ſich ereignete. Und
ſo wurde er kaum den Götterkampf inne, als er ſchnell
von der Fluth des Oceans mit ſeinen geflügelten Wind¬
roſſen auf dem Donnerwagen, den Iris leitete, in den
Olymp zurückkehrte und von dort aus ſeine Blitze unter
die kämpfenden Götter warf. Da erbebten die Unſterb¬
lichen und hielten inne mit Kämpfen. Themis, die Göt¬
tin des Rechts, die allein dem Streite ferne geblieben
war, trat ein unter die Götter und ſchied ſie von einan¬
der, indem ſie ihnen verkündigte, daß Jupiter die gänz¬
liche Vernichtung der Himmliſchen beſchloſſen hätte, wo¬
fern ſie nicht gehorchten. Jetzt ward den Göttern bange
für ihre Unſterblichkeit, ſie unterdrückten die Erbitterung
[408] ihrer Herzen und kehrten zurück aus dem Kampfe, die
einen zum Olymp, die andern in die Tiefe des Meers.
Das Pferd im griechiſchen Lager war indeſſen in
vollkommene Bereitſchaft geſetzt und Odyſſeus erhub ſich
in der Verſammlung der Helden. „Jetzt gilt es,“ ſprach
er, „ihr Führer des Danaervolks! jetzt beweiſe es, wer
wirklich durch Kraft und Muth hervorragt. Denn jetzt
iſt's Zeit, in dem Bauche des Roſſes, der uns beherbergen
wird, der dunkeln Zukunft entgegen zu gehen! Glaubet
mir, es gehört mehr Muth dazu, in dieſen Schlupfwinkel
zu kriechen, als dem Tode in offener Feldſchlacht zu tro¬
tzen! Darum, wer ſich am tapferſten fühlt, der entſchließe
ſich zu dieſem Wageſtück. Die Andern mögen vorerſt nach
Tenedos ſchiffen! Ein wackerer Jüngling aber bleibe in
der Nähe des Pferdes und thue, wie ich gerathen habe.
Wer will ſich dieſem Auftrag unterziehen?
Die Helden zögerten. Da trat ein tapferer Grieche,
Namens Sinon, auf und ſprach: „Sehet mich bereit, das
verlangte Werk zu thun! Mögen mich die Trojaner mi߬
handeln, mögen ſie mich lebendig ins Feuer werfen: mein
Entſchluß ſteht feſt!“ Die Völker jubelten ihm Beifall zu,
und mancher alte Held ſprach bei ſich im Herzen: „Wer
iſt doch dieſer junge Menſch? Wir haben ſeinen Namen
nie gehört; noch keine tapfre That hat ihn ausgezeichnet.
Ihn treibt gewiß ein Dämon, entweder den Trojanern
oder uns ſelbſt Verderben zu bringen!“ Neſtor aber
erhub ſich und ſprach ermunternd zu den Danaern: „Jetzt,
liebe Kinder, bedarf es wackern Muthes, denn jetzt legen
die Götter das Ziel zehenjähriger Mühſeligkeiten in unſre
Hände: darum raſch hinein in den Bauch des Pferdes.
Ich ſelbſt fühle noch die jugendliche Kraft in meinen
[409] Greiſengliedern, von der ich beſeelt war, als ich mit Ja¬
ſon das Argonautenſchiff beſteigen wollte, und es auch
beſtiegen hätte, wenn ich nicht von dem Könige Pelias
abgehalten worden wäre!“
So rief der Greis und wollte ſich vor allen Andern
durch die geöffnete Seitenthüre in den Bauch des hölzer¬
nen Roſſes ſchwingen, aber Neoptolemus, der Sohn des
Achilles, beſchwor ihn, dieſe Ehre ihm, dem Jünglinge ab¬
zutreten, und ſeines Greiſenalters eingedenk, die Führung
der übrigen Griechen nach der Inſel Tenedos zu über¬
nehmen. Mit Mühe ließ ſich Neſtor überreden, und nun
ſtieg der Jüngling in voller Rüſtung zuerſt in die geräu¬
mige Höhle. An ihn ſchloſſen ſich Menelaus, Diomedes,
Sthenelus und Odyſſeus, dann Philoktetes, Ajax, Ido¬
meneus, Meriones, Podalirius, Eurymachus, Antimachus,
Agapenor, und ſo viele ſonſt noch der Bauch des Roſſes
faſſen mochte. Zuletzt ſtieg der Verfertiger des Roſſes,
Epus ſelbſt, hinein. Dann zog er die Leitern zu ſich
herauf in die Höhlung, verſchloß dieſelbe von innen feſt,
und ſetzte ſich vor den Riegel; die Uebrigen harrten im
Bauche des Roſſes in tiefem Schweigen, und ſaßen in
dunkler Nacht zwiſchen Tod und Sieg.
Die andern Griechen aber, nachdem ſie die Zelte und
alles Lagergeräthe in Brand geſteckt hatten, brachen, von
Agamemnon dem Völkerfürſten und dem Könige Neſtor
befehligt, mit den Schiffen auf und ſegelten der Inſel
Tenedos zu. So war es von den Danaern beſtimmt
worden, welche den beiden Helden nicht geſtattet hatten,
ſich dem Pferde anzuvertrauen, dem erſten um ſeiner
Würde, dem andern um ſeines Alters willen. Vor Tenedos
[410] warfen ſie die Anker aus, ſtiegen ans Land und ſahen
mit ſehnendem Herzen dem Feuerzeichen entgegen.
Die Trojaner bemerkten es bald, wie am Helleſpont
der Rauch in die Lüfte emporwirbelte, und als ſie von
den Mauern aufmerkſamer nach dem Geſtade hinabſpäh¬
ten, waren auch die Schiffe der Griechen verſchwunden.
Voll Freuden ſtrömten ſie in Schaaren dem Ufer zu; doch
vergaßen ſie nicht, ſich in ihre Rüſtungen zu hüllen, denn
ſie waren der Furcht noch nicht ganz los. Als ſie nun
auf der Stelle des alten feindlichen Lagers das glatte
hölzerne Pferd gewahr wurden, ſtellten ſie ſich ſtaunend
rings um daſſelbe her, denn es war ein gar gewalti¬
ges Werk. Während ſie noch darüber ſtritten, was mit
dem ſeltſamen Wunderdinge anzufangen ſey, und die
Einen der Meinung waren, es in die Stadt zu ſchaffen
und als Siegesdenkmal für alle Zukunft auf der Burg
aufzuſtellen, die Andern das unheimliche Gaſtgeſchenk der
Griechen in die See zu werfen oder zu verbrennen rie¬
then, eine Berathung, der die im Bauche des Pferdes
eingeſchloſſenen griechiſchen Helden zu ihrer Qual zuhören
mußten: da trat mit eiligen Schritten Laokoon, der troja¬
niſche Prieſter des Apollo, in die Mitte des gaffenden
Volkes, und rief ſchon von weitem: „Unſelige Mitbürger,
welcher Wahnſinn treibt euch? Meinet ihr, die Griechen
ſeyen wirklich davongeſchifft, oder eine Gabe der Danaer
verberge keinen Betrug? Kennet ihr den Odyſſeus ſo?
Entweder iſt irgend eine Gefahr in dem Roſſe verborgen,
oder es iſt eine Kriegsmaſchine, die von den in der Nähe
lauernden Feinden gegen unſre Stadt angetrieben werden
wird! Was es aber auch ſeyn mag, trauet dem Thiere
nicht!“ Mit dieſen Worten ſtieß er eine mächtige eiſerne
[411] Lanze, die er einem neben ihm ſtehenden Krieger entriß,
in den Bauch der Maſchine. Der Speer zitterte im Holz
und aus der Tiefe tönte ein Wiederhall wie aus einer
Kellerhöhle. Aber der Geiſt der Trojaner blieb verblendet.
Während dieß vorging, zogen einige Hirten, welche
die Neugierde dicht an das hölzerne Pferd herangelockt
hatte, unter dem Bauche deſſelben den ſchlauen Sinon her¬
vor, und ſchleppten ihn, als einen gefangenen Griechen,
vor den König Priamus, und bald ſammelte ſich das
trojaniſche Kriegsvolk, das bisher um das Pferd herum¬
geſtanden hatte, um dieſes neue Schauſpiel. Er aber,
waffenlos und zagend, ſpielte die Rolle, die ihm von Odyſ¬
ſeus aufgegeben war. Flehend ſtreckte er die Arme gen
Himmel und dann wieder nach den Umſtehenden aus, und
rief unter Schluchzen: „Wehe mir, welchem Lande, wel¬
chem Meere ſoll ich mich anvertrauen, den die Griechen
ausgeſtoßen haben und die Trojaner niedermetzeln wer¬
den!“ Dieſe Seufzer rührten die Jünglinge ſelbſt, die
ihn anfangs als einen Feind gepackt und roh behandelt
hatten. Alle Krieger traten theilnehmend herzu und hie¬
ßen ihn ſagen, wer und woher er ſey, auch guten Muthes
ſeyn, wenn er nichts Feindliches im Schilde führe. Jener
ließ die erheuchelte Furcht endlich fahren und ſprach: „Ich
bin ein Argiver, das will ich ja nicht läugnen; wenn
Sinon auch unglücklich iſt, ſo ſoll er doch nicht zum Lüg¬
ner werden. Vielleicht habt ihr etwas von dem euböiſchen
Fürſten Palamedes gehört, der von den Griechen auf
Odyſſeus' Anſtiften abſcheulicher Weiſe geſteinigt wurde,
weil er den Feldzug gegen eure Stadt mißrieth: als ſein
Verwandter zog ich in dieſen Krieg, arm und nach ſeinem
Tod ohne Stütze. Und weil ich es wagte, mit Rache für
[412] die Ermordung meines Vetters zu drohen, zog ich den
Haß des falſchen Laertiaden auf mich und wurde dieſen
ganzen Krieg über von ihm geplagt. Auch ruhte er nicht,
bis er mit dem lügneriſchen Seher Kalchas meinen Unter¬
gang verabredet hatte. Als nämlich meine Landsleute die
oft beſchloſſene und wieder aufgehobene Flucht endlich ins
Werk ſetzten, und dieſes hölzerne Pferd hier ſchon aufge¬
zimmert ſtand, ſchickten ſie den Eurypylus zu einem Orakel
des Apollo, weil ſie am Himmel bedenkliche Wunder¬
zeichen beobachtet hatten. Dieſer brachte aus dem Heilig¬
thum des Gottes den traurigen Spruch mit: „„Ihr habt
bei eurem Auszuge die empörten Winde mit dem Blut
einer Jungfrau verſöhnt: mit Blut müßt ihr auch den
Rückweg erkaufen und eine Griechenſeele opfern.““ Dem
Kriegsvolke lief ein kalter Schauder durch die Gebeine,
als es dieſes hörte. Da zog Odyſſeus den Propheten
Kalchas mit großem Lärm in die Volksverſammlung und
bat ihn, den Willen der Götter zu offenbaren. Fünf
Tage lang ſchwieg der Betrüger und weigerte ſich heuch¬
leriſch, einen Griechen für den Tod zu bezeichnen. End¬
lich, wie gezwungen durch das Geſchrei des Odyſſeus,
nennt er meinen Namen. Alle ſtimmten bei, denn jeder
war froh, das Verderben von ſeinem eigenen Haupte ab¬
gewendet zu ſehen. Und ſchon war der Schreckenstag
erſchienen, ich wurde zum Opfer ausgeſchmückt, mein
Haupt mit den heiligen Binden umwunden, der Altar und
das geſchrotene Korn in Bereitſchaft gehalten. Da zerriß
ich meine Bande, entfloh und verſteckte mich, bis ſie abge¬
ſegelt waren, im Schilfrohr eines nahen Sumpfes. Dann
kroch ich hervor und ſuchte ein Obdach unter dem Bauch
ihres heiligen Roſſes. In mein Vaterland und zu meinen
[413] Landsleuten kann ich nicht zurückkehren. Ich bin in eurer
Hand, und von euch hängt es ab, ob ihr mir großmüthig
das Leben ſchenken, oder mir den Tod geben wollt, der mich
von der Hand meiner eigenen Volksgenoſſen bedroht hat.“
Die Trojaner waren gerührt, Priamus ſprach gütige
Worte zu dem Heuchler, hieß ihn die argen Griechen
vergeſſen, und verſprach ihm eine Zufluchtsſtätte in ſeiner
Stadt, wenn er ihnen nur offenbaren wolle, was für eine
Beſchaffenheit es mit dem hölzernen Roſſe habe, dem er
ſo eben den Beinamen eines heiligen gegeben. Sinon
hob ſeine, der Feſſeln entledigten Hände gen Himmel und
betete mit trügeriſcher Andacht: „Ihr Götter, denen ich
ſchon geweiht war, du Altar und du verfluchtes Schwert,
das mich bedrohte, ihr ſeyd mir Zeugen, daß die Bande,
die mich an mein Volk bisher knüpften, zerriſſen ſind,
und daß ich nicht frevle, wenn ich ihre Geheimniſſe auf¬
decke! Von jeher war alle Hoffnung der Danaer in die¬
ſem Kriege auf die Hülfe der Göttin Pallas Athene gebaut.
Seitdem aber aus dem Tempel, den ſie bei euch zu Troja
hat, ihr Bild, das Palladium, entwendet worden — und
zwar, was ihr Trojaner wohl zum erſtenmal erfahret, durch
die Hände ſchlauer Griechen, — ging Alles rückwärts, die
Göttin war erzürnt, und das Glück hatte die Waffen der Da¬
naer verlaſſen. Da erklärte Kalchas, der Seher, auf der Stelle
müßte man mit den Schiffen umkehren, um im Vaterlande
ſelbſt neue Befehle der Götter einzuholen. Ehe das
Palladium an ſeine Stelle zurückgebracht ſey, dürften ſie
auf keinen glücklichen Ausgang des Feldzuges hoffen.
Dieß bewog die Danaer, die Flucht zu beſchließen, welche
ſie nun auch wirklich ausgeführt haben. Zuvor aber er¬
bauten ſie noch, auf den Rath ihres Propheten, dieſes
[414] hölzerne Rieſenpferd, das ſie als Weihgeſchenk für die
beleidigte Göttin zurückließen, um ihren Zorn zu verſöh¬
nen. Dieſe Maſchine ließ Kalchas ſo unermeßlich in die
Höhe bauen, wie ihr ſehet, damit ihr Trojaner ſie nicht
durch eure Thore führen und in eure Stadt bringen könn¬
tet, weil auf dieſe Weiſe der Schutz der Minerva Euch
zu Theil werden würde. Wenn hingegen eure Hand ſich
an dem geheiligten Pferde, als einem Ueberbleibſel eurer
Feinde, vergriffe — dieß war es, was ſie zu hoffen wag¬
ten — dann wäre euer und eurer Stadt Verderben gewiß.
Und in dieſer Zuverſicht gedenken ſie in kurzer Friſt, ſobald
ſie zu Argos die Götterbefehle vernommen, zurückzukehren,
und hoffen, das Palladium der Göttin eurer eroberten
Stadt zurückgeben zu können.“
Das Lügengewebe war ſo wahrſcheinlich erſonnen,
daß Priamus und alle Trojaner dem Betrüger Glauben
ſchenkten. Minerva aber wachte über das Geſchick ihrer
Freunde, die in dem Roſſe noch immer in banger Erwar¬
tung eingeſchloſſen ſaßen und ſeit der Warnung des Lao¬
koon in beſtändiger Todesangſt ſchwebten. Die Helden
wurden aus dieſer Gefahr durch ein entſetzliches Wunder
befreit. Eben jener Laokoon, der Prieſter des Apollo, hatte
nach dem Tode des Neptunusprieſters auch dieſe Würde durchs
Loos erhalten und opferte jetzt gerade am Meeresgeſtade
dem Gott einen ſtattlichen Stier am Altare. Siehe, da
kamen von der Inſel Tenedos aus durch die ſpiegelglatte
Meerfluth zwei ungeheure Schlangen gerudert und nahmen
ihren Weg nach dem Ufer: ihre Bruſt und die blutrothe
Mähne ragten aus dem Waſſer hervor, der übrige Theil
ihrer Leiber ringelte ſich unter den Fluthen fort. Die
See plätſcherte unter ihrer Spur, und jetzt waren ſie am
[415] Lande, züngelten und ziſchten und ſahen ſich mit feurigen
Augen um. Die Trojaner, die noch immer in Menge
um das Roß herum ſtanden, wurden todtenblaß und
ergriffen die Flucht, die Thiere aber nahmen ihre Rich¬
tung nach dem Uferaltare des Meergotts, wo Laokoon
mit ſeinen zwei jungen Söhnen beim Opfer beſchäftiget
war. Zuerſt wanden ſie ſich um die Leiber der beiden
Knaben und bohrten ihren giftigen Zahn in ihr zartes
Fleiſch. Als die Verwundeten laut aufſchrieen und der
Vater ſelbſt ihnen mit gezogenem Schwerte zu Hülfe
kommen wollte, ſchlangen ſie ſich mit mächtigen Windun¬
gen auch dieſem zwiefach um den Leib und überragten ihn
bald mit ihren aufgerichteten Hälſen und ziſchenden Häup¬
tern. Seine Prieſterbinde trof von Eiter und Gift. Ver¬
gebens beſtrebte er ſich, die Schlingen mit ſeinen Händen
loszumachen, und inzwiſchen entfloh der ſchon getroffene
Stier blutig und brüllend vom Altar und ſchüttelte das
Beil aus dem Nacken. Laokoon erlag mit ſeinen beiden
Kindern den Schlangenbiſſen, und nun ſchlüpften die Thiere
in langen Krümmungen dem hochragenden Tempel der
Minerva zu und bargen ſich dort unter den Füßen und
dem Schilde der Göttin.
Das Trojanervolk ſah in dieſem gräßlichen Ereigniß
eine Beſtrafung der frevelhaften Zweifel ſeines Prieſters.
Ein Theil eilte der Stadt zu und riß die Mauern nieder,
um dem unheilvollen Gaſte den Weg zu bahnen, ein ande¬
rer fügte Räder an die Füße des Roſſes, wieder andere
drehten gewaltige Seile aus Werg und warfen ſie dem
hölzernen Rieſenthier um den Hals. Dann zogen ſie es
im Triumphe nach der Stadt; Knaben und Mädchen, die
Hand an die Seile gelegt, ſangen in Chören feierliche
[416] Hymnen dazu. Als die Maſchine über die erhöhten Thor¬
ſchwellen rollte, ſtockte viermal ihr Lauf und viermal
dröhnte ihr Bauch wie von Erze. Aber die Trojaner wa¬
ren mit Blindheit geſchlagen, und führten das Unge¬
heuer jubelnd auf ihre heilige Burg. Mitten unter der
Raſerei der öffentlichen Freude blieb nur das Gemüth und
der Geiſtesblick der Seherin Kaſſandra, der gottbegabten
Königstochter des trojaniſchen Hauſes, ungetrübt. Nie
ſprach ſie ein Wort aus, das nicht erfüllt worden wäre.
Aber ſie hatte das Unglück, niemals Glauben zu finden.
So hatte ſie auch jetzt unheilvolle Zeichen am Himmel und
in der Natur beobachtet, und ſtürzte mit flatternden Haa¬
ren, vom Geiſte der Weiſſagung getrieben, aus dem Königs¬
pallaſte hervor: ihre Augen ſtarrten in fieberiſcher Gluth,
ihr Nacken wiegte ſich hin und her, wie ein Zweig im
Windhauche, ſie holte einen tiefen Seufzer aus der Bruſt
herauf und rief durch die Gaſſen der Stadt: „Ihr Elen¬
den, ſehet ihr nicht, daß wir die Straße zum Hades hin¬
unterwandeln? daß wir am Rande des Verderbens ſtehen?
Ich ſchaue die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, ich ſehe
es aus dem Bauche des Roſſes hervorwallen, das ihr
mit Jauchzen auf unſere Burg hinaufgeführt habt. Doch,
ihr glaubet mir nicht, und wenn ich unzählige Worte ſpräche.
Ihr ſeyd den Erinnyen geweiht, die Rache an euch neh¬
men wegen Helena's frevelhafter Ehe.“
Wirklich wurde die weiſſagende Jungfrau nur ver¬
lacht oder geſchmäht, und hier und da ſprach einer der
Begegnenden zu ihr: „Hat dich denn die jungfräuliche
Schaam ganz verlaſſen, Kaſſandra, biſt du ganz irre ge¬
worden in deinem Geiſte, daß du dich öffentlich auf den
Straßen herumtreiben magſt, und nicht ſieheſt, wie die
[417] Menſchen dich verachten, thörichte Schwätzerin? Kehre
zurück in dein Haus, daß dich nicht Schlimmes treffe!“
Die Zerſtörung Troja's.
Die Trojaner überließen ſich die halbe Nacht hindurch
der Freude bei Schmaus und Gelage; Syringen und
Flöten ertönten, Tanz und Geſang lärmten rings um her
und dazwiſchen die bunt durcheinander ſchallenden Stimmen
der Schmauſenden. Die Becher wurden einmal über das
andere bis zum Rande mit Wein gefüllt, mit beiden Händen
erfaßt und leer getrunken, bis die Trinkenden zu ſtammeln
anfingen und ihr Geiſt in dumpfe Betäubung verſank. Endlich
lagen ſie Alle in tiefem Schlafe begraben, und die Mitternacht
war herangekommen. Jetzt erhub ſich Sinon, der mit
andern Trojanern im Freien geſchmauſt und ſich zuletzt
ſchlafend geſtellt hatte, von ſeinem Polſter, ſchlich hinaus
zu den Thoren, zündete eine Fackel an und ließ, dem
Strande und der Inſel Tenedos zugekehrt, den Schiffen
der Griechen zum verabredeten Zeichen, ihren lodernden
Brand in die Lüfte wehen. Dann löſchte er ſie wieder,
ſchlich ſich zu dem Pferde hin und pochte leiſe an den hohlen
Bauch, wie ihn Odyſſeus geheißen hatte. Die Helden
vernahmen den Laut; alle aber kehrten ihre Häupter lau¬
ſchend dem Odyſſeus zu: dieſer ermahnte ſie, leiſe und
mit aller möglichen Vorſicht auszuſteigen; er hielt die Un¬
geduldigſten zurück, öffnete ganz leiſe, nach dem Rathe
des Epus, den Riegel der Thüre, ſtreckte den Kopf
ein wenig hinaus, und ſandte ſeine ſpähenden Blicke
27
Schwab, das klaſſ. Alterthum. ll.[418] allenthalben umher, ob nicht einer der Trojaner erwacht ſey.
Dann, wie ein heißhungriger Wolf mit aller Vorſicht
zwiſchen Hirten und Hunden hindurch in den Pferch ſchleicht,
ſtieg er die Sproſſen der Leiter herab, die Epus zugleich
mit dem Pferde verfertigt und jetzt herunter gelaſſen hatte,
und ein Held um den andern folgte ihm mit klopfendem
Herzen. Als die Höhlung des Roſſes ſich ganz entleert
hatte, ſchüttelten ſie ihre Lanzen, zogen ihre Schwerter,
und verbreiteten ſich durch die Straßen und in die Häuſer
der Stadt. Ein gräßliches Gemetzel entſtand unter den
ſchlaftrunkenen und berauſchten Trojanern; Feuerbrände
wurden in ihre Wohnungen geſchleudert und bald loder¬
ten die Dächer über ihren Häuptern. Zu gleicher Zeit
trieb ein günſtiger Fahrwind die Flotte der Griechen, die
auf Sinons Fackelzeichen von Tenedos aufgebrochen war,
in den Hafen des Helleſpontes, und bald ſtürzte ſich das
ganze Heer der Danaer durch die breite Mauerlücke, durch
welche Tags zuvor das Roß hereingezogen worden war,
in die Stadt, von Kampfbegierde ſchnaubend. Jetzt erſt
erfüllte ſich die eroberte Stadt recht mit Trümmern und
Leichnamen, Halbtodte und Verſtümmelte krochen zwiſchen
den Leichen umher, nur hier und dort ward noch einem
aufrecht Fliehenden die Lanze in den Rücken geſtoßen.
Das winſelnde Heulen geängſteter Hunde ſcholl in den
Straßen und miſchte ſich ins Stöhnen der Verwundeten
und in die Wehklage der jammernden Frauen und un¬
mündigen Kinder.
Doch war der Kampf für die Griechen ſelbſt auch
nicht unblutig, denn obgleich die meiſten Feinde waffenlos
waren, ſo wehrten ſie ſich doch ſo gut ſie konnten. Die
Einen ſchleuderten Becher, die Andern Tiſche, noch
[419] Andere friſch von dem Herde genommene Feuerbrände auf
die eingedrungenen Danaer; Andere waffneten ſich mit
Bratſpießen, Beilen und Streitäxten, was ihnen gerade
unter die Hände kam; und ſo ſtießen die Griechen ſelbſt,
während ſie mit Feuer und Schwert in der Stadt wüthe¬
ten, auf genug Todte und Sterbende der Ihrigen. Manche
zerſchmetterte auch ein Steinwurf von den Dächern, An¬
dere wurden von den Flammen der brennenden Häuſer
ergriffen, oder von zuſammenſtürzenden zerſchmettert. Und
als ſie endlich die Burg des Priamus ſelbſt ſtürmten, in
welche ſich viele Trojaner geflüchtet, und wo ſich dieſe
mit Rüſtungen, Lanzen und Schwertern verſehen hatten,
kamen ihrer Viele im ordentlichen Kampfe durch die Hand
der Feinde, die ſich verzweifelt vertheidigten, ums Leben.
Während des Kampfes wurde es in der Stadt mitten
in der Nacht immer heller, denn der wachſende Brand
der Häuſer und Palläſte und die vielen Fackeln, die hier
und dort von den Achivern geſchwungen wurden, leuchteten
dem Kampfe; dadurch wurde aber auch dieſer immer ſiche¬
rer und erbitterter, denn die Sieger fürchteten jetzt nicht
mehr, den befreundeten Mann mit dem Feinde zu ver¬
wechſeln, und nun traf ihr Racheſchwert erſt recht mit
Auswahl die edelſten Helden der Trojaner. Diomedes
ſchlug zum Tode den Koröbus, den Sohn des gewaltigen
Mygdon, indem er ihm die Lanze in den Schlund ſtieß; dann
den Eidam des greiſen Trojaners Antenor, den gewalti¬
gen Speerſchwinger Eurydamas. Hierauf kam ihm Ilio¬
neus, einer der älteſten Troer, entgegen; dieſer ſank vor
dem gezückten Schwerte des griechiſchen Helden in die
Kniee, und mit der einen Hand ſein eigenes Schwert
emporhebend, mit der andern das Knie des Siegers
27 *[420] umfaſſend, rief er mit bebender Stimme: „Wer du auch
ſeyeſt von den Achivern; laß von deinem Zorne! Kann ja
dem Manne nur der Sieg über den Jüngeren, Kräftigeren
Ruhm bringen! Darum, ſo gewiß du ſelbſt dereinſt ein
Greis werden willſt, ſchone des Greiſen!“ Einen Augen¬
blick hielt Diomedes ſein Schwert zurück und beſann ſich,
dann aber ſtieß er es dem Gegner in die Kehle, mit den
Worten: „Freilich hoffe auch ich mich des Alters zu freuen;
jetzt aber brauche ich meine Kraft und ſende alle meine
Feinde zum Hades!“ So ging er hin und erſchlug noch
einen nach dem andern. Auf gleiche Weiſe wütheten Ajax
der Lokrer und Idomeneus. Neoptolemus aber ſuchte ſich
die Söhne des Priamus aus und tödtete ihrer drei, dazu
den Agenor, der einſt mit ſeinem Vater Achilles den Kampf
gewagt hatte. Endlich ſtieß er auf den König Priamus
ſelbſt, der an einem unter freiem Himmel errichteten Al¬
tare Jupiters in Gebeten lag. Gierig zückte Neoptolemus
ſein Schwert und Priamus blickte ihm furchtlos ins Auge:
„Tödte mich,“ rief er, „Kind des tapfern Achilles; nach¬
dem ich ſo vieles ertragen, und faſt alle meine Kinder
ſterben ſah, wie möchte ich länger das Licht der Sonne
ſchauen? O hätte mich ſchon dein Vater getödtet! So
labe denn du dein muthiges Herz an mir, und entrücke
mich allem Jammer!“ — „Greis,” erwiederte Neoptole¬
mus, „du ermahneſt mich zu dem, wozu mich mein eigenes
Herz antreibt!“ Und damit trennte er leicht das Haupt
des ergrauten Greiſes vom Rumpfe, wie ein Schnitter in
der Sommerhitze die Aehre auf dem trockenen Saatfelde
abmäht: es rollte zu Boden weit hin und der Rumpf
lag mit andern trojaniſchen Leichen vermiſcht. Grauſamer
noch verfuhren die gemeinen Krieger des griechiſchen
[421] Heeres; ſie hatten im Pallaſte des Königs den Aſtyanar auf¬
gefunden, Hektors zarten Sohn, riſſen ihn aus den Armen
der Mutter und ſchleuderten ihn, aus Haß gegen Hektor
und ſein Geſchlecht, von der Zinne eines Thurmes hinab.
Als er der Mutter entriſſen wurde, rief dieſe den Räu¬
bern entgegen: „Warum ſtürzet ihr nicht auch mich von
der ſchrecklichen Mauer herab, oder in die lodernden Flam¬
men? Seit mir Achilles den Gatten getödtet, lebte ich
nur noch in unſerm Kinde; befreit auch mich von der
Qual eines längeren Lebens!“ Aber die Mörder erhörten
ſie nicht und gingen davon.
So fand ſich der Tod bald in dieſem Hauſe ein, bald
in jenem, und nur ein einziges verſchonte er. Dieß war
die Wohnung des greiſen Trojaners Antenor, der einſt
den Menelaus und Odyſſeus, als ſie nach Troja gekom¬
men waren, am Leben erhalten und gaſtfreundlich bewir¬
thet hatte. Dafür ſchenkten ihm jetzt die Danaer dankbar
Leben und Beſitzthum.
Aeneas, der herrliche Held, der jüngſt noch mit un¬
verwüſtlicher Kraft beim Sturme der Stadt von den
Mauern herab gekämpft hatte, als er die Stadt brennen
ſah, und nach langer, vergeblicher Gegenwehr dem Feinde,
den er auch jetzt ſeinen Sieg theuer bezahlen ließ, weichen
mußte, handelte, wie ein muthiger Schiffer im Sturm,
der, nachdem er das Schiff lange gelenkt, endlich das
hoffnungslos Verlorene den Wellen überläßt, und ſich in
ein Boot rettet. Er nahm den Vater Anchiſes auf die
breiten Schultern, ſeinen Sohn Askanius an die Hand,
und eilte davon. Der Knabe drängte ſich dicht an den
Vater und ſtreifte mit den Füßen kaum die Erde; Aeneas
aber ſprang mit ſchnellem Fuß über unzählige Leichen
[422] hinweg, indem er den Sohn auf dem beſſeren Wege leitete;
und Venus, ſeine Mutter, war mit ihm: denn wohin er
ſeinen Fuß ſetzte, wichen ihm die Flammen aus, die
Rauchwolken zertheilten ſich, Pfeile und Wurfſpieße, welche
die Danaer gegen ihn ſchleuderten, fielen ohne zu treffen
auf die Erde nieder.
An andern Stellen raste der Mord. Menelaus fand
vor den Gemächern ſeiner treuloſen Gemahlin Helena den
Diphobus, den Sohn des Priamus, der ſeit Hektors
Tode die Stütze des Hauſes und Volkes war, und welchem,
nach dem Tode des Paris, Helena als Gemahlin zu
Theile geworden war, noch in die Betäubung des nächt¬
lichen Freudengelages verſenkt. Bei ſeiner Annäherung
taumelte dieſer vom Boden auf und flüchtete in die
Gänge des Pallaſtes. Menelaus aber ereilte ihn, und
ſtieß ihm den Speer in den Nacken. „Stirb du vor der
Thüre meiner Gattin,“ rief er mit donnernder Stimme:
„hätte doch meine Lanze den Unheilſtifter, den Paris, alſo
getroffen! Nun iſt dieſer ſchon längſt geſchlachtet; und du
ſollteſt dich meiner Gattin erfreuen, du Frevler? Wiſſe,
daß kein Verbrecher dem Arme der Themis, der Göttin
der Gerechtigkeit, entgeht!“ So ſprechend, ſtieß Menelaus
den Leichnam auf die Seite, und ging hin, den Pallaſt
zu durchforſchen, denn ſein Herz, von widerſtreitenden
Empfindungen bewegt, begehrte nach Helena, ſeiner Ge¬
mahlin. Dieſe hielt ſich, vor dem Zorn ihres rechtmäßi¬
gen Gatten zitternd, in einem dunkeln Winkel des Hauſes
verborgen, und erſt ſpät gelang es ihm, ſie zu entdecken.
Bei ihrem erſten Anblicke trieb ihn die Eiferſucht, ſie zu
ermorden: aber Venus hatte ſie mit holdem Liebreize ge¬
ſchmückt, ſtieß ihm das Schwert aus der Hand, verſcheuchte
[423] den Grimm aus ſeiner Bruſt und erweckte in ſeinem Her¬
zen die alte Liebe. Es war ihm unmöglich, bei dem An¬
blicke ihrer überirdiſchen Schönheit das Schwert auf's
Neue zu erheben; die Stärke brach ihm zuſammen, und
einen Augenblick vergaß er Alles, was ſie verſchuldet
hatte. Da hörte er die den Pallaſt durchtobenden Argiver
hinter ſich, und ein Gefühl der Schaam ergriff ihn, indem
er bedachte, daß er vor ſeinem treuloſen Weibe nicht wie
ein Rächer, ſondern wie ein Sklave daſtehe. Wider Wil¬
len raffte er das Schwert, das er auf die Erde geworfen,
wieder auf, bezwang ſeine Neigung, und drang von Neuem
auf die Gattin ein. Doch im Herzen war es ihm nicht
Ernſt, und willkommen erſchien ihm daher ſein Bruder
Agamemnon, der, plötzlich hinter ihm ſtehend, die Hand
auf ſeine Schulter legte, und ihm zurief: „Laß ab, lieber
Bruder Menelaus! es ziemt ſich nicht, daß du dein
eheliches Weib, um welches wir ſo viele Leiden erduldet
haben, erſchlageſt! Laſtet doch die Schuld weniger auf
Helena, wie mir däucht, als auf Paris, welcher ſo
ſchnöde das Gaſtrecht gebrochen hat. Dieſer aber, ſein
ganzes Geſchlecht, ſein ganzes Volk ſind ja jetzt beſtraft
und vernichtet!“ So ſprach Agamemnon, und Menelaus
gehorchte ihm zögernd, aber mit Freuden.
Während dieß auf Erden vorging, beklagten die Un¬
ſterblichen, in dunkle Wolken eingehüllt, den Fall Troja's.
Nur Juno, die Todfeindin der Trojaner, und Thetis, die
Mutter des frühe dahingeſunkenen Achilles, jauchzten im
Herzen vor Luſt auf. Pallas Athene ſelbſt, der doch durch
Troja's Untergang ihr Wille geſchehen war, konnte ſich
der Thränen nicht enthalten, als ſie ſah, wie Ajax, der
wilde Sohn des Oleus, in ihrem Heiligthum es wagte,
[424] die fromme Kaſſandra, ihre Prieſterin, die ſich in Athene's
Tempel geflüchtet hatte, und ihre Bildſäule ſchutzflehend
umarmt hielt, mit rohen Händen anzutaſten und ſie an
den Haaren zerrend herauszuſchleppen. Zwar durfte die
Göttin die Tochter ihrer Feinde nicht unterſtützen; aber
die Wangen glühten ihr vor Schaam und vor Zorn; ihr
Bildniß gab einen Ton, der Boden ihres Heiligthums
dröhnte und den Blick vom Frevel abgekehrt, ſchwur ſie in
ihrem Herzen, die Frevelthat zu rächen.
Lange noch dauerte der Brand und das Gemetzel.
Die Flammenſäule Troja's ſtieg hoch in den Aether hinauf
und verkündete den Untergang der Stadt den Bewohnern
der Inſeln und den Schiffen, die hin und her das Meer
beſegelten.
Menelaus und Helena. Polyxena.
Bis zum Morgen waren ſämmtliche Bewohner der
Stadt niedergemacht oder gefangen. Die Danaer fanden
nirgends mehr Widerſtand, konnten ſich der unermeßlichen
Schätze der Stadt nach Behagen bemächtigen und brachten
ihre Beute, aus Gold, Silber, Edelgeſteinen, mannich¬
faltigem Hausrath, gefangenen Weibern, Mädchen und
Kindern beſtehend, an den Strand zu ihren Schiffen.
Mitten unter dieſer Schaar führte Menelaus ſeine Ge¬
mahlin Helena, nicht ohne Schaam, und doch im Herzen
zufrieden über ihren wiedererlangten Beſitz, aus dem bren¬
nenden Troja hinweg. Ihm zur Seite ging Agamemnon,
ſein Bruder, mit der hohen Kaſſandra, die er den wilden
[425] Armen des Ajax entriſſen hatte; Hektors Gattin, Andro¬
mache, wurde vom Sohne des Achilles, Neoptolemus,
fortgeführt; Hekuba, die Königin, die mühſelig wandelte
und unter lautem Jammer ihr graues, mit Aſche beſtreu¬
tes Haar ausraufte, ſchleppte Odyſſeus in die Gefangen¬
ſchaft. Unzählige Frauen der Trojaner folgten, junge
und alte, hinter ihnen Mädchen und Kinder, und vermiſcht
gingen die Mägde mit den Fürſtentöchtern: den ganzen
Weg entlang hallte Jammer und Schluchzen. Nur Helena
ſtimmte nicht mit ein in die Klage, denn tiefes Schaam¬
gefühl hielt ſie ab; ſie heftete die dunkeln Augen auf den
Boden, und ihre Wangen färbte ein fliegendes Roth.
Im Innerſten ihres Buſens aber bebte ihr das Herz und
eine entſetzliche Furcht ergriff ſie, wenn ſie an das Schick¬
ſal dachte, das ihrer bei den Schiffen wartete; Todesbläſſe
überzog ihre eben noch purpurrothen Wangen, ſchnell zog
ſie den dichten Schleier über das Haupt und wandelte zit¬
ternd an der Hand des Gatten.
Aber als ſie bei den Schiffen angelangt waren, ſtaun¬
ten alle Danaer über die liebliche Schönheit der untadel¬
haften Geſtalt, und ſagten bei ſich ſelbſt, daß es wohl
der Mühe werth geweſen ſey, dem Völkerhirten Menelans
um eines ſolchen Kampfpreiſes willen vor Troja zu folgen,
und dort zehnjährige Mühſeligkeiten und Gefahren auszu¬
halten. Und Keinem kam in den Sinn, Hand an das
ſchöne Weib zu legen: ſie ließen ihrem Führer den fried¬
lichen Beſitz der Gattin, und das Herz des Fürſten Me¬
nelaus ſelbſt hatte Aphrodite längſt zur Verzeihung geſtimmt.
Bei den Schiffen herrſchte jauchzende Luſt: alle
Helden ſaßen beim fröhlichen Mahle umher, in der
Mitte ſaß ein des Cytherſpiels kundiger Sänger, und rief
[426] dem Heere die Thaten ſeines größten Helden, des Achilles,
in das Gedächtniß zurück. So dauerte die Fröhlichkeit bis in
die Nacht; dann brachen ſie auf, ein Jeglicher in ſein Zelt.
Als nun Helena mit ihrem Gemahl Menelaus allein
in ſeinem Feldherrnzelte war, warf ſie ſich ihm zu Füßen,
umfaßte ſeine Kniee und ſprach: „Ich weiß wohl, daß du
ein Recht hätteſt, deine treuloſe Gattin mit dem Tode zu
beſtrafen! Aber bedenke, edler Gemahl, daß ich deinen
Pallaſt zu Sparta nicht freiwillig verlaſſen habe; gewalt¬
ſam entführte mich der trügeriſche Paris, als du eben ab¬
weſend von Hauſe wareſt und mir deinen männlichen
Schutz nicht angedeihen laſſen konnteſt. Und als ich ſelbſt
Hand an mich zu legen gedachte, und den Strick um mei¬
nen Hals zu winden, oder mir das Schwert in den Buſen
zu ſtoßen, da hielten mich die Dienerinnen des Hauſes
zurück, und beſchworen mich, deiner ſelbſt und unſeres
blühenden kleinen Töchterleins eingedenk zu ſeyn! Thue
nun nach deinem Willen mit mir; ich liege als Reumü¬
thige und Schutzflehende zugleich zu deinen Füßen!“
Menelaus hob ſie liebreich vom Boden auf und ant¬
wortete mit verſtändiger Mäßigung: „Denke nicht länger
an das Vergangene, Helena, und ängſtige dich nicht mit
überflüſſiger Furcht: was geſchehen iſt, ſey in die Nacht
der Vergangenheit verſenkt, und keines früheren Fehlers
hinfort von mir gedacht.“ Damit ſchloß er ſie in ſeine
Arme und drückte ihren Lippen den Kuß der Verſöhnung
auf. Aus beider Wimpern rollte die Thräne ſüßer und
wehmüthiger Rührung.
Neoptolemus, der Sohn des Achilles, lag um dieſe
Stunde ſchon in tiefem Schlafe. Da trat zu ihm im
Traume an ſein Zeltlager der Geiſt ſeines hohen Vaters,
[427] ganz, wie er einſt im Leben war, der Schrecken der
Trojaner und die Freude der Griechen, küßte dem Sohne
Bruſt, Mund und Augen, und ſprach: „Gräme dich nicht
im Gemüthe, lieber Sohn, daß ich geſtorben bin, denn
ich lebe jetzt in der Gemeinſchaft mit den ſeligen Göttern,
ſondern nimm dir fröhlich deinen Vater zum Beiſpiel im
Kampfe wie im Rath: im Kampf ſey immer der Erſte;
in der Rathsverſammlung aber ſchäme dich nicht, den
weiſen Worten älterer Männer dich nachgiebig zu zeigen.
Im Uebrigen ſtrebe dem Ruhme nach, wie dein Vater
gethan, freue dich des Glückes und betrübe dich nicht zu
ſehr im Unglück; an meinem frühen Fall aber erkenne,
wie nahe die Pforten des Todes dem Sterblichen ſind;
denn das ganze Menſchengeſchlecht gleicht den Frühlings¬
blumen; die Einen wachſen, die Andern vergehen. Nun
aber ſage dem Völkerfürſten Agamemnon, ſie ſollen das
Beſte und Edelſte von der ganzen Beute mir opfern, da¬
mit mein Herz ſich auch am Untergange Troja's laben
könne, und zu meiner Zufriedenheit im Olymp nichts fehle!“
Nachdem er ſeinem Sohne dieſen Befehl ertheilt hatte,
verſchwand der ſelige Geiſt aus dem Traume des Neopto¬
lemus wie ein flüchtiger Hauch des Windes. Dieſer er¬
wachte und ſeinem freudig bewegten Gemüthe war, als
hätte er mit dem lebendigen Vater fröhlichen Umgang
gepflogen. Am andern Morgen ſprangen die Danaer un¬
geduldig von ihrem Lager auf, denn die Sehnſucht nach
der Heimkehr bemächtigte ſich ihres Sinnes, und gerne
hätten ſie Augenblicks die Schiffe ins Meer gezogen,
wenn der Sohn des Peliden nicht unter das verſammelte
Volk getreten wäre, und ihren Eifer durch ſeine Anrede
gehemmt hätte.
[428]
„Höre, Volk der Danaer,“ rief er mit ſeiner jugend¬
lichen Kraftſtimme, „was in dieſer Nacht der Geiſt
meines unſterblichen Vaters, der mich im Traume beſucht
hat, mir aufgetragen, euch zu verkündigen: Ihr ſollet
das Edelſte und Beſte der trojaniſchen Beute ihm opfern,
damit ſich ſein Herz am Untergange der verhaßten Stadt
auch ſättigen könne, und er des Siegerpreiſes nicht ver¬
luſtig gehe. Eher ſollt ihr dieſen Strand nicht verlaſſen,
bis ihr die heilige Pflicht gegen den Todten erfüllt habt,
dem ihr doch eigentlich die Eroberung Troja's verdanket.
Denn ohne daß Hektor beſiegt worden, wäret ihr nimmer¬
mehr ſo weit gekommen!“
Ehrerbietig beſchloſſen die Danaer, den Willen ihres
verſtorbenen Helden zu befolgen, und Neptunus, aus Liebe
zu dem Peliden, regte die Fluth zu mächtigem Sturme
auf, ſo daß das Meer in thurmhohen Wellen aufbrauste,
und die Griechen, auch wenn ſie es gewollt hätten, nicht
im Stande geweſen wären, den Strand zu verlaſſen.
Als die Völker aber die empörte See erblickten und ſtür¬
men hörten, da flüſterten ſie ſich gegenſeitig zu: „Ja,
wahrhaftig ſtammte Achilles vom höchſten Jupiter ab:
denn ſehet ihr, wie ſich die Elemente mit ſeinen Befehlen
verbünden!“ Und ſo zeigten ſie ſich nur noch williger,
dem Gebote des Hingeſchiedenen zu gehorchen, und ſtröm¬
ten zu Haufen dem Grabmale des Helden, das den Mee¬
resſtrand hoch überragte, zu.
Nun entſtand aber die Frage: was ſoll geopfert
werden, und was iſt das Beſte und Edelſte der ganzen
Beute Troja's? Jeder Grieche brachte unweigerlich ſeine
Beute an Schätzen und Gefangenen herbei. Als man
aber Alles muſterte, da erbleichte Gold, Silber, Edelſtein
[429] ſammt allen Schätzen vor der himmliſchen Schönheit der Jung¬
frau Polyxena, der gefangenen Tochter des Königes Pria¬
mus, und nur Ein Ruf ging durch das ganze Heer der
Griechen, daß ſie das Beſte und Edelſte von der ganzen
trojaniſchen Beute ſey. Die Jungfrau, als Aller Blicke
ſich auf ſie richteten, erbleichte nicht, obgleich ihr der laute
Jammerſchrei ihrer Mutter Hekuba, der ſich jetzt aus dem
Haufen der Gefangenen erhob, durch das Tochterherz ſchnitt.
Polyxena hatte den herrlichen Helden Achilles manchesmal
von den Mauern herab im Kampfe erblickt, und obgleich
er ein Feind ihres Volkes war, ſo hatte ſeine göttliche
Geſtalt und ſeine herrliche Heldenkraft ihr doch das In¬
nerſte bewegt. Ja, auch Achilles, ſo ging die Sage, habe,
als er einſt im Kampfe bis dicht vor die Thore der bela¬
gerten Stadt gedrungen, die holdſelige Jungfrau auf
den Zinnen der Mauer erblickt, und ihm ſey das Herz in Nei¬
gung zu ihr entbrannt, daß er ausrief: „Priamus Tochter,
würdeſt du mir zu Theile, wer weiß, ob ich deinem Vater
nicht den Frieden mit den Danaern zu Wege zu bringen
mich anheiſchig machen wollte!“ Zwar reute den Helden
das Wort, ſo wie es der Zunge entflohen war: denn ihm
fiel ein, was er Griechenland ſchuldig ſey. Aber Polyxena,
ſo erzählte das Gerücht, habe die Worte ſich tief ins Herz
gefaßt, und ſeitdem in geheimer Liebe für den Feind ihres
Volkes gebrannt.
Sey dem, wie ihm ſey: die Jungfrau erblaßte nicht,
als Aller Blicke, auf ſie gerichtet, nur ſie als das Opfer
bezeichneten, das als der edelſte Theil der trojaniſchen
Beute dem größten Helden dargebracht zu werden allein
würdig wäre. Der Altar vor dem Denkmale des Peliden
ſtand aufgerichtet, und es fehlte nicht an Opfergeräthen
[430] aller Art. Da ſprang die Königstochter aus der
Schaar der gefangenen Frauen hervor, ergriff einen
ſcharfgeſchliffenen Stahl, der unter den andern Geräth¬
ſchaften bereit lag, und, wie ein Opfer vor dem Altare
ſtehend, ſtieß ſie ſich den Dolch, ohne ein Wort zu ſpre¬
chen, ins Herz, und ſank, ohne einen Seufzer aus der
Bruſt, zu Boden.
Ein Schrei der Wehklage ließ ſich aus dem ganzen
Argiverheere vernehmen. Hekuba, die greiſe Königin,
warf ſich laut weinend auf die Leiche der Tochter, und
von Neuem hallte das laute Schluchzen unter der Schaar
der gefangenen Trojanerinnen.
In dem Augenblicke, wo Polyxena zuſammenſank und
der purpurne Blutſtrahl ihr aus der durchbohrten Bruſt
drang, wurde das Meer ruhig, und ſeine Wellen ebneten
ſich in ſpiegelglatte Fläche. Neoptolemus eilte voll Mit¬
leid herbei, half die geopferte Jungfrau vom Altare weg¬
bringen, und ſorgte dafür, daß ſie mit königlichen Ehren
beſtattet wurde. In der Verſammlung der Argiver aber
erhub ſich Neſtor und ſprach herzerfreuende Worte: „End¬
lich,“ rief der Greis, „ihr lieben Landsleute, iſt die er¬
laubte Stunde der Heimkehr genaht; der Beherrſcher des
Meeres hat die Wogen gebändigt, nirgendsher erhebt ſich
die Fluth; Achilles iſt zufrieden geſtellt; er nimmt das
Opfer Polyxena's an. Auf denn, laſſet uns ernſtlich an
den Aufbruch denken, und ziehet die Schiffe ins Meer!“
[431]
Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod.
Es geſchah unter Jubelruf, wie Neſtor gerathen hatte;
die Schiffe wurden fertig gemacht, ſämmtliche Güter an
Bord gebracht, die Gefangenen zuerſt, weinend und weh¬
klagend, eingeſchifft, alsdann folgten die Danaer ſelbſt.
Nur der Seher Kalchas ſchloß ſich ihnen nicht an, er¬
mahnte ſie vielmehr, die Fahrt noch nicht zu beginnen,
denn ſein wahrſagender Geiſt ließ ihn ein großes Un¬
heil ahnen, das die Griechen an den kaphariſchen Fel¬
ſen bedrohe, welche ein Vorgebirge der Inſel Euböa
umgaben, an dem die Flotte auf ihrer Heimkehr nach
Griechenland vorüberſegeln mußte. Aber ihm folgte Kei¬
ner; das Verlangen nach der ſüßen Heimath hatte alle
Herzen bethört; endlich zog Amphilochus, der Sohn des
berühmten Sehers Amphiaraus, den der Boden vor Thebe
verſchlungen hatte, den Fuß, den er ſchon ins Schiff ge¬
ſetzt hatte, zurück. In ſeinem Geiſte dämmerte die Se¬
hergabe ſeines Vaters auf, und er wurde ſich gleicher
Ahnung bewußt, wie Kalchas. So blieb er bei dieſem
zurück. Ihnen beiden war vom Schickſal beſtimmt, das
griechiſche Heimathland nicht wieder zu erblicken, ſondern
ſie ſollten in den ciliciſchen und pamphyliſchen Städten
Kleinaſiens ſich ihre Wohnſitze gründen.
Alle andern Achiver lösten indeſſen die Taue, mit
welchen die Schiffe ans Land gebunden waren, und hoben
eilig die Anker empor. Bald umſpülte das freie Meer die
Dahinſegelnden. Auf den Vordertheilen der Schiffe lagen
überall Waffen erſchlagener Feinde; unzählige Siegeszeichen
[432] hingen von den Maſten herab; die Schiffe ſelbſt waren
bekränzt; Kränze hatten ſich die Sieger um Schilde, Lanzen
und Helme geflochten; ſo ſtanden ſie auf den Vorderver¬
decken und goſſen Trankopfer goldenen Weines ins Meer,
indem ſie voll Inbrunſt zu den Göttern um eine Zurück¬
kunft flehten, mit der ihnen kein Unheil verbunden wäre.
Aber ihr Gebet war nichtig; Luſt und Winde trugen es
fort von den Schiffen, und zerſtreuten es in die Lüfte,
bevor es ſich in den Olymp emporſchwingen konnte.
Wie die Helden nun voll Hoffnung und Sehnſucht
vorwärts blickten, ſo ſchauten die gefangenen trojaniſchen
Frauen und Jungfrauen mit bekümmertem Herzen rückwärts
nach dem rauchenden Troja und verſtohlener Weiſe ſeufz¬
ten und weinten ſie den verhaltenen Schmerz aus. Die
Mädchen hatten die Hände in den Schooß gefaltet, die
jungen Frauen hielten Kinder in den Armen. Dieſe aber
dachten nur an die Mutterbruſt und fühlten ihr Unglück
noch nicht. In der Mitte anderer Gefangenen ſtand Caſ¬
ſandra, und ihr edler Wuchs ragte hoch über die Andern
hervor. Aber ihr Auge war thränenlos und ſie ſpottete
der Klage, die rings um ſie her ertönte, denn jetzt war
geſchehen, was ſie geweiſſagt hatte, und worüber ſie von
den Jammernden verlacht worden war. Nun höhnte wohl
ihr Mund die Mitgefangenen, aber ihr Herz blutete heimlich
über dem Unglücke der zerſtörten Vaterſtadt.
Unter den Trümmern Troja's irrten wenig übrig¬
gebliebene Einwohner, ſchwache Greiſe oder verwundete
Männer, Antenor an ihrer Spitze, einher. Dieſer führte
ſie zu dem ſchmerzlichen Werke der Leichenbeſtattung an,
das nur langſam vor ſich ging, denn der Todten waren
ſo viele und der Lebenden nur wenige. Dieſe Wenigen
[433] bauten an einem unermeßlichen Holzſtoße, und als er fer¬
tig war, legten ſie alle Leichen der Ihrigen mit einander
darauf und zündeten den Scheiterhaufen unter Thränen
und Wehklagen an. Die Danaer hatten indeſſen bald das
Grabmal des Achilles und die trojaniſche Küſte im Rücken.
Obwohl ſie aber immer fröhlicheren Muthes wurden,
miſchte ſich doch auch die Wehmuth in ihre Freude, wenn
ſie an die vielen gefallenen Freunde dachten. Eine Küſte
und eine Inſel um die andere flog an ihrem Blicke vorüber:
Tenedos, Chryſa, das Orakel des Phöbus, die heilige
Cilla, Lesbos die Inſel, das Vorgebirge Lektos, endlich
der äußerſte Vorſprung des Vorgebirges. Die Winde
ſauſten in die Segel, die Fluth rauſchte, ſchwarz rollten
die Wellen daher und weiß dehnte ſich über das Meer
hin ihr ſchäumender Pfad, wenn ſie an den Schiffen ſich
gebrochen hatten.
Die Sieger hätten auch wirklich die Küſte Griechenlands
glücklich erreicht, wenn nicht Pallas Athene über der Unthat
des Lokrers Ajax ihnen gegrollt hätte. Als ſie nun an die
ſtürmiſche Küſte von Euböa gelangt waren, ſann die Göttin
darauf, dem Sohne des Oleus ein trauriges, unbarm¬
herziges Loos zu bereiten. Sie hatte dem Göttervater im
Olymp den Frevel geklagt, den er in ihrem eigenen Tem¬
pel an ihrer Prieſterin Caſſandra begangen hatte, und
begehrte Rache an dem Verbrecher zu nehmen. Und Ju¬
piter, der Verwalter der Gerechtigkeit auf Erden, ſetzte
ſich ihren Wünſchen nicht entgegen; er legte vielmehr neben
die Jungfrau die friſcheſten Donnerkeile der Cyklopen, die
eben aus der Eſſe gekommen waren, und erlaubte ſeiner
Tochter, den Griechen einen verderblichen Sturm zu erregen.
Alsbald waffnete ſich Minerva, legte den ſchimmernden
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 28[434] Aegispanzer an, in deſſen Mitte das Gorgonenhaupt mit
den feurigen Schlangenhaaren ſtarrte, und faßte eines der
Geſchoſſe des Vaters, die zu ihren Füßen lagen, wie es
auſſer dem großen Jupiter ſonſt kein Gott aufzuheben ver¬
mag. Dann ließ ſie den Olymp von Donnerſchlägen er¬
beben, goß Wolken rings um die Berge, und hüllte Meer
und Land in Finſterniß. Hierauf ſchickte ſie ihre Botin Iris
zu Aeolus, dem Gott der Winde, hinab, da, wo in den
Abgründen der Erde die Höhle der Winde ſich befindet, an
welche die Wohnung des Aeolus ſtößt. Die Botſchafterin
Athene's traf den Fürſten der Stürme bei ſeiner Gemahlin
und ſeinen zwölf Kindern daheim; er vernahm den Befehl,
und gehorchte auf der Stelle. Mit rüſtigen Händen ſtieß
er den großen Dreizack in den Berg ein, wo die Behau¬
ſung der toſenden Winde iſt, und riß den Hügel mit Ge¬
walt auf. Die Stürme ſtürzten, wie Jagdhunde, ſogleich
aus der Oeffnung hervor; er aber befahl ihnen, ſich ſofort
zu einem einzigen, finſtern Orkane zu vereinen, und nach
der Brandung der kaphariſchen Felſen zu fliegen, welche
die Küſte von Euböa umlagern. Noch ehe ſie vollſtändig das
Wort ihres Königes vernommen, machten ſich die Winde
auf den Weg; die Meerfluth ſtöhnte unter ihnen; wie Berge
wälzten ſich die Wogen einher, und den Argivern brach der
Muth im Herzen zuſammen, als ſie den Meerſchwall thurm¬
hoch gegen ſich anrücken ſahen. Bald war nicht mehr an das
Rudern zu denken; die Segel hatte der Sturm zerriſſen,
daß Fetzen herunter hingen; zuletzt erlahmte auch die Kraft
der Steuermänner; die finſterſte Nacht brach ein, und mit
ihr verſchwand jede Hoffnung der Rettung. Auch Poſeidon
half ſeiner Bruderstochter Pallas, und dieſe raſte ohne
Erbarmen vom Olymp mit Blitzen daher, die vom
[435] krachendſten Donner begleitet waren. Wehklagen und
Stöhnen ſcholl von den Schiffen; hier und dort borſt das
Gebälke eines Fahrzeuges, wenn es vom Sturme gewaltſam
an ein ſtärkeres geſchleudert worden war, und diejenigen,
die dem Stoße herſtürzender Schiffe durch Rudern zu
entgehen verſuchten, wurden vom Wind in die Tiefe ge¬
riſſen. Endlich ſchleuderte Athene den ſchärfſten Donner¬
keil, den ſie zu dieſem Gebrauche beſonders aufgeſpart
hatte, in das Schiff des Ajax, daß es auf der Stelle
hierhin und dorthin in Splitter ſprang; Erde und Luft
hallten von dem Knall, und die Wogen umkreiſten das
berſtende Schiff. Schaarenweiſe ſtürzten aus dieſem die
Menſchen in die Fluth und wurden von den Wellen ver¬
ſchluckt. Ajax ſelbſt jedoch ſchwamm bald auf einem der
Balken des Schiffes, die auf den Wellen hier und dort
zerſtreut daher fuhren: bald zertheilte ſein nervigter Arm
die Woge, die ſich vor dem kräftigen Schwimmer ſpaltete;
jetzt trug ihn eine mächtige Welle wie zum Gipfel eines
himmelhochragenden Berges, jetzt ſchleuderte ſie ihn wieder
hinab in den tiefſten Abgrund. Von allen Seiten fuhr
der Blitz neben ihm einſchlagend und ziſchend in die Flu¬
then, aber noch war es Athene's Wille nicht, daß der
Tod ſich über ihn erbarme. Auch war ſein Muth noch
nicht erſchöpft; er ergriff ein aus den Wellen hervorra¬
gendes Felsſtück und vermaß ſich, wenn auch alle olym¬
piſche Götter herangezogen kämen, und die Fluthen gegen
ihn aufreizten, ſo ſollte ihm doch die Rettung nicht mi߬
lingen.
Dieſe Prahlerei hörte der Erderſchütterer Neptunus,
deſſen Gottheit dem Ringenden am Nächſten war, mit
Unwillen. Im heftigſten Zorn erſchütterte er Meer und
28 *[436] Erde zugleich; die Felsabhänge des Vorgebirges Kaphareus
erbebten und die Geſtade donnerten ringsumher unter der
Peitſche des Herrſchers. Da wurde zuletzt der mächtige
Felsblock, an welchen ſich Ajax mit den Händen ange¬
klammert hielt, vom Grunde losgerüttelt, und mit ihm
der Lokrer wieder ins Meer hinausgeſtoßen, daß der an¬
ſpülende Schaum ihm Haupt und Barthaar weiß färbte.
Auf den Verſinkenden ſtürzte Neptunus noch einen losge¬
riſſenen Erdhügel des Vorgebirges, daß der Scheitel deſ¬
ſelben den Lokrerfürſten, wie einſt der Aetna den Enceladus,
deckte. So unterlag er, von der Erde und vom Meere
zugleich bezwungen.
Die Schiffe der Danaer irrten indeſſen ſchwankend
und leck auf der ſtürmenden See umher; viele waren ge¬
borſten, viele von den Wogen verſchlungen; die Meer¬
fluth tobte fort und der Regen ſtrömte herab, als drohte
dem nahen Lande eine zweite deucalioniſche Fluth. Jetzt
wurde auch noch die Steinigung des Palamedes an den
unglücklichen Griechen gerächt. Auf Euböa herrſchte näm¬
lich noch immer der Vater dieſes Helden, Nauplius. Als
dieſer an ſeiner Küſte die griechiſche Flotte erblickte, die
mit dem fürchterlichen Sturme rang, gedachte er der hin¬
terliſtigen Ermordung ſeines geliebten Sohnes, um welchen
er nun ſo viele Jahre trauerte. Die Racheluſt war in
ſeinem Herzen nie eingeſchlummert, und jetzt endlich hoffte
er ſie büßen zu können. Er eilte an den Strand, ließ
längs des kaphariſchen Vorgebirges, den gefährlichſten
Klippen gegenüber, brennende Fackeln aufſtecken, und
machte dadurch in den Griechen den Glauben rege, daß
es Rettungszeichen ſeyen, welche mitleidige Uferbewohner
für ſie aufgepflanzt hätten. In dieſer Hoffnung ſteuerten
[437] die Danaer mit Begierde auf die Klippen zu, und viele
ihrer Schiffe fanden hier den Untergang.
Zugleich ergoß ſich das Meer vor Troja, auf des
grollenden Poſeidon Befehl, über ſein Geſtade, und zer¬
ſtörte alle Bollwerke und Mauern, welche die Griechen
bei ihren Schiffen und vor der belagerten Stadt aufgeführt
hatten. Und ſo war bald von der ungeheuren Unterneh¬
mung nichts mehr übrig, als der Schutthaufen Troja's
und einige Schiffe voll zurückkehrender Helden und gefan¬
gener Trojanerinnen, die, vom Sturme da und dorthin
zerſtreut, mit Mühe und nach langen und mannichfaltigen
Drangſalen die Küſten Griechenlands wieder erreichten,
wo nur weniger Sieger ungetrübte Glückſeligkeit wartete.
Appendix A
Gedruckt auf einer Schnellpreſſe von König und Bauer
in der J. B. Metzler’ſchen Buchdruckerei.
[]
Appendix B
Der erſte Theil des vorliegenden Werkes, 27 Bogen
ſtark, mit einem Titelbilde nach Paul Veroneſe, enthält
in ſechs Büchern folgende Sagen:
l. Prometheus. Die Menſchenalter. Deukalion und Pyrrha.
Jo. Phaethon. Europa. Kadmus. Pentheus. Perſeus. Jon.
Dädalus und Ikarus. II. Die Argonautenſage. III. Meleager
und die Eberjagd. Tantalus. Pelops. Niobe. Salmoneus.
IV. Die Herkulesſage. V. Bellerophontes. Theſeus. Die
Sage von Oedipus. VI. Die Sieben gegen Thebe. Die
Epigonen. Alkmäon und das Halsband. Die Sage von den
Herakliden.
und iſt zu dem Preiſe von 1 Thlrn. — fl. 2. 20. für
geheftete Exemplare, und 1 Thlrn. — fl. 2. 40. für ge¬
bundene Exemplare auf feinem Velinpapier, durch alle
ſolide Buchhandlungen ſtets zu erhalten.
Die Verlagshandlung.
[][][][]
Erſter Band, S. 252–254.
Vergl. Bd. I, S. 306. 307.
S. Bd. I, S. 379 f.
S. Bd. I, S. 271 ff.
S. Bd. I, S. 229.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bq54.0