[[I]]
Die ganze
Natuͤrliche
Weisheit

im Privatſtande

der
geſitteten Buͤrger


Gedruckt in Altona: bey Spieringks Wittwe.

Jn Commißion bey Curte in Halle.
[[II]][[III]]

An den
Durchlauchtigſten
und
gnaͤdigſten
Erbprinzen

von
Braunſchweig-
Luͤneburg

ꝛc. ꝛc. ꝛc.


[[IV]][[V]]

Durchlauchtigſter Erbprinz,
Gnaͤdigſter Fuͤrſt und Herr,


Zu der Hoͤhe, worauf Gott Ew.
Durchlauchten
geſetzt hat,
wuͤrde ich nicht wagen, ein
Buch, welches nur dem Privatſtan-
de zum Beſten geſchrieben iſt, ehr-
erbietigſt empor zu halten, wenn
ich nicht aus den ſicherſten Beweiſen
uͤberzeugt waͤre, daß Sie wegen der
uͤbrigen, eben ſo wichtigen Fuͤrſten-
tugenden, Sich im gleichen Grade
den Namen eines Helden erwerben,
als Sie von ganz Europa, wegen
* 3krie-
[[VI]] kriegeriſcher Helden-Thaten Jhres
von Einſicht geleiteten Muthes,
ſchon viele Jahre bewundert werden.
Einem Fuͤrſten von ſolchem Geiſte
und Herzen iſt ein Huͤlfsmittel
der Weisheit des Buͤrgerlichen Pri-
vatſtandes, wenn es ſeinen Titel
verdient, keinesweges gleichguͤltig.
Er iſt nicht nur uͤberzeugt, daß der
erhabne Stand der Fuͤrſten um der
zahlreichſten Staͤnde willen da ſey,
ſondern Er laͤßt es Sich auch gnaͤ-
digſt gefallen, daß dieſes oͤffentlich
geglaubt und geſagt werde, ob es
gleich in denen Zeiten, die der Bar-
barey naͤher waren, zuweilen als eine
mißfaͤllige Sache geahndet wurde.


Durchlauchtigſter Erbprinz
und Herr,
meine Ehrerbietung,
welche nicht laͤnger ſchweigen kann,
gruͤndet ſich nicht nur auf den durch
ganz Europa verbreiteten Ruhm
Ew. Durchlauchten, ſondern, wel-
ches
[[VII]] ches mir noch uͤberzeugender iſt, auf
die umſtaͤndlichen Nachrichten eini-
ger Maͤnner, welche ſich vornehmlich
wegen Jhrer innerlichen Wuͤrde am
Geiſte und Herzen uͤber die Hoch-
fuͤrſtl.
Gnade freuen, womit Sie
dieſelben beehren, und welche die
Entzuͤckung, worinnen ſie von den
Haͤuptern des Hochfuͤrſtl. Braun-
ſchweigiſchen Hauſes
und Seinem
Erbprinzen
erzaͤhlten, mir, der ich
hoͤrte, auf eine unausloͤſchliche Weiſe
mitgetheilet haben.


Dieſe Entzuͤckung, gnaͤdigſter
Fuͤrſt und Herr,
wuͤrde durch die
wahrhaftig Fuͤrſtl. Huͤlfe, mit wel-
cher Sie das Daſeyn und die Voll-
kommenheit des Elementarbuchs
und der Schulbibliothek,
gnaͤdigſt
zu befoͤrdern geruhen, nicht erhoͤhet
ſeyn, wenn es nur eine Huͤlfe fuͤr
meine Perſon, und nicht fuͤr eine
ſolche Sache waͤre, die nach meiner
Ab-
[[VIII]] Abſicht das wahre Beſte der Staa-
ten, oder die Einſicht und Moralitaͤt
der darinnen wohnenden Menſchen,
in einem nicht geringen Grade befoͤr-
dern wird. Die Bewegungsgruͤnde
ſolcher Thaten, welche ſeltener ſind,
als viele beruͤhmtere, verehre ich mit
der tiefſten Bewunderung und ent-
zuͤckteſten Dankbarkeit, und Ew.
Durchlauchten
mit der vollkom-
menſten und wirkſamſten Devotion


Gnaͤdigſter Erbprinz
und Herr,
Ew. Hochfuͤrſtl. Durchl.

Altona
am 1 September
1768. unterthaͤnigſter Diener
Johann Bernhard Baſedow.

[IX]

Vorrede.


Dieſes Werk, deſſen Brauchbarkeit durch
die Kuͤrze befoͤrdert iſt, hat vier Ab-
theilungen. I.Eignes Nachden-
ken uͤber die Seele.
II.Eignes Nach-
denken uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.

III.Die Sittenlehre im Privatſtande der
vornehmern Buͤrger, aus der natuͤrlichen
Erkenntniß Gottes und der Welt.
IV.
Uebungen des Verſtandes, beſonders in
moraliſchen Unterſuchungen.
Jch erwarte
das Urtheil, ob es ſeinen Namen verdiene.


Die Weisheit, die ich anpreiſe, iſt eine
von wahrer Einſicht geleitete Neigung zu der-
jenigen Gluͤckſeligkeit, welche ſich auf Tugend,
das iſt, auf ein gemeinnuͤtziges Verhalten in
Gedanken, Worten und Werken, gruͤndet.
Es iſt, meines Wiſſens, keine Hauptregel,
welche fuͤr den benahmten Stand gehoͤrt, uͤber-
gangen. Zwar iſt nicht jede Regel beſonders
erklaͤrt und bewieſen, weil viele in ſich ſelbſt
deutlich ſind, und nur des allgemeinen Beweiſes
* *beduͤrfen,
[X]
Vorrede.
beduͤrfen, daß es nach der Erfahrung gemein-
nuͤtzig ſey, ſo zu handeln. Aber allenthalben,
wo ſchaͤdliche Dunkelheit und Misdeutung,
oder ein verfuͤhreriſcher Zweifel zu befuͤrchten
war, habe ich fuͤr den wahren Verſtand der
Worte und fuͤr die Gruͤnde der Ueberzeugung
beſonders geſorget. Daher nenne ich dieſes
Buch: Die ganze Weisheit im Privat-
ſtande.


Unter den Bewegungsgruͤnden zur Tugend,
darf die Erkenntniß unſrer unſterblichen Seele
und der goͤttlichen Eigenſchaften nicht fehlen.
Alſo waren die beyden erſten Hauptſtuͤcke um
des dritten willen nothwendig.


Jch glaube, es gereiche zu einem ausge-
breiteten Nutzen, daß ich die Erkenntniß der
Seele, der goͤttlichen Eigenſchaften und unſrer
Pflichten, bloß aus der Natur oder dem eignen
Nachdenken, nicht aber aus irgend einer Offen-
barung hergeleitet habe. Denn die Pflichten
des Privatſtandes, welche nicht nur die Chri-
ſten, ſondern auch die Juden und Naturali-
ſten angehn, wollte ich nicht mit ſolchen Lehr-
ſaͤtzen vermengen, die dem Gewiſſen irgend
einer
[XI]
Vorrede.
einer dieſer Arten unſerer Naͤchſten anſtoͤſſig
ſeyn koͤnnten. Wenn ich dieſes beobachtet
habe; ſo lade ich aus wahrer Menſchenliebe ſie
alleſammt ein, fuͤr ſich und die Jhrigen aus
dieſem Buche allen Nutzen zu ſchoͤpfen, wel-
chen ſie vielleicht in keinem andern, bey der
Kuͤrze ſo vollſtaͤndig, und von allen ſolchen
Lehrſaͤtzen, die ihnen falſch und ſchaͤdlich ſchei-
nen, ſo abgeſondert antreffen werden. Nur
die Schlußanmerkungen, welche deswegen
auf einem getrennten halben Bogen, der ver-
nichtet werden kann, und mit lateiniſchen
Lettern gedruckt ſind, enthalten etwas Ent-
ſcheidendes fuͤr diejenige Religion, von welcher
mein Gewiſſen uͤberzeugt iſt, und welche die
Chriſten haͤufiger bekennen als verſtehen und
glauben, und haͤufiger glauben, als gegen ihre
Naͤchſten, beſonders wenn ſie an Religion
verſchieden ſind, ausuͤben. Wegen dieſer Ent-
haltſamkeit von dem Gebrauche aller Gruͤnde
aus der Offenbarung, nenne ich die vorgetra-
gene Weisheit natuͤrlich. Wenn Schwaͤchen
und Schwierigkeiten derſelben, beſonders was
die Erkenntniß der Seele und Gottes betrifft,
* * 2eingeſehen
[XII]
Vorrede.
eingeſehen werden: ſo iſt der dadurch veran-
laßte Wunſch meinen Abſichten gar nicht zu-
wider.


Warum aber habe ich dieſes moraliſche
Buch nur auf die Pflichten der geſitteten
Buͤrger im Privatſtande eingeſchraͤnkt?

Darum, weil ein jeder Hauptſtand unter den
Menſchen beſondere Pflichten hat, welche er
oͤfter und lebhafter uͤberdenken muß, als die
Pflichten andrer Staͤnde. Deswegen werde
ich auch die oft verlangte zweyte Ausgabe der
practiſchen Philoſophie fuͤr alle Staͤnde
unterlaſſen, und an deren Statt in einzelnen
kleinen Buͤchern fuͤr die Lehre und Erinnerung
der Pflichten eines jeden Hauptſtandes der
Menſchen ſorgen. Ueberdies iſt der geſittete
Buͤrgerſtand wegen des ſehr groſſen Einfluſſes
in die niedrigern und hoͤhern, und wegen der
Allgemeinheit ſeiner meiſten Pflichten derje-
nige, fuͤr deſſen Moralitaͤt oder innerlichen
Werth ein nachdenkender Menſchenfreund
ſeine erſten Bemuͤhungen anwenden muß.


Die Regeln der Erziehung fehlen in dieſen
Bogen. Denn ſie verdienen eine beſondere
Abhand-
[XIII]
Vorrede.
Abhandlung und enthalten einige Geheimniſſe,
worauf die Jugend nur zu ihrem Schaden auf-
merkſam wuͤrde; gleich wie die Unterthanen,
in Anſehung gewiſſer Regeln, welche fuͤr die
Obrigkeiten gehoͤren, zum allgemeinen Beſten
in einiger Unwiſſenheit bleiben muͤſſen, wenn
ſie nicht, vermoͤge ihres Genies, von ſelbſt
das Verdeckte finden und einſehen lernen.


Jn wenigen Buͤchern, worinnen ſo viel
geſagt und bewieſen iſt, als in dieſem, wird
man eine ſolche Enthaltſamkeit von Kunſtwoͤr-
tern und prahleriſchen Beweiſen einiger Gelehr-
ten antreffen. Wer zum groſſen Nutzen ſeiner
Leſer ſo vorſichtig ſeyn wollte und konnte, der
iſt in der Kenntniß des Gehalts ſolcher Woͤrter
und Beweiſe nicht unerfahren. Er muß ſei-
ner Profeſſion nach ein Philoſoph, und nach
ſeiner Abſicht ein lehrreicher Menſchenfreund
ſeyn.


Dennoch gebe ich denen, welche daruͤber
urtheilen koͤnnen, mit Bitte um Nachſicht fuͤr
menſchliche und perſoͤnliche Maͤngel, die Frage
auf: 1) ob nicht faſt alles Gemeinnuͤtzige aus
der Logik, (wenn man die Application auf die
* * 3Natur-
[XIV]
Vorrede.
Naturkunde und die Schriftſtellerkunſt aus-
nimmt,) in dem letzten Theile des vierten Haupt-
ſtuͤckes enthalten ſey, ohne ein philoſophiſches
Anſehn zu haben. 2) Ob die Vernunftwahr-
heiten von Gott und der Seele, und beſonders
der Zuſammenhang der Vorſehung, ſowohl mit
unſerer Freyheit, als mit dem Boͤſen in der
Welt, nicht auf eine ſehr natuͤrliche und fuͤr den
geſitteten Buͤrgerſtand zureichende Art in den
beyden erſten, und zum Theil auch in den
andern Hauptſtuͤcken, verſtaͤndlich und uͤber-
zeugend vorgeſtellet ſind, ohne meinen Leſer
durch die Dornhecken der unnoͤthigen Gruͤbe-
leyen zu fuͤhren. Ein Kunſtrichter kann ohne
Gefahr, durch unbillige Verkleinerung dieſer
Arbeit ſich ſelbſt am Ende zu verkleinern, nicht
urtheilen, wenn er wenigſtens die drey kuͤrze-
ſten Hauptſtuͤcke, nehmlich das erſte, zweyte
und vierte, nebſt den folgenden Abſaͤtzen nicht
ganz geleſen hat, welche entweder fuͤr mich
oder gegen mich eben deswegen entſcheiden
werden, weil ich ſie ſelbſt dafuͤr ausgebe.


Solche Abſaͤtze ſind, auſſer den dreyen er-
wehnten Hauptſtuͤcken, §. 17. von dem Schick-
ſale
[XV]
Vorrede.
ſale und dem Boͤſen in der Welt. § 24. von den
Geſetzen der Sicherheit oder des buͤrgerlichen
Lebens. §. 28. von den Kennzeichen des Be-
truges. §. 35-37. von der Ehe, von der
Keuſchheit nnd Ehrbarkeit, und §. 51. von der
Vollkommenheit des Hausweſens. Alsdann
kann er von dem Werthe oder Unwerthe
des Ganzen mit einiger Sicherheit urtheilen,
wenn er es auch nicht ganz lieſet, wie ein
jeder Beurtheiler, der auf Andre wirken will,
doch thun ſollte.


Das Buch iſt von mir beſtimmt, ſowohl
zum Unterrichte der erwachſenen Jugend, als
zur taͤglichen Erinnerung im maͤnnlichen Alter,
fuͤr den wichtigſten Stand der Menſchen, das
iſt, fuͤr das Privatleben der geſitteten Buͤrger.
Fuͤr den ganz gemeinen Mann auf dem Lande
und in Staͤdten, kann leicht ein Auszug mit
denjenigen Zuſaͤtzen gemacht werden, deren
der Buͤrgerſtand nicht bedarf. Fuͤr Eltern
und Vormuͤnder, fuͤr die ſtudirende Jugend,
fuͤr Lehrer, fuͤr Sachwalter und Richter, fuͤr
den Kriegsſtand und fuͤr die hoͤchſte Obrigkeit,
ſollen, wenn dieſes Werk Beyfall findet, und
* * 4wenn
[XVI]
Vorrede.
wenn noch gemeinnuͤtzigere Arbeiten geendiget
ſind, ſolche Zuſaͤtze von beſondern Lehren ihrer
Weisheit folgen, vor welchen dieſe allgemei-
nern Lehren als bekannt vorausgeſetzt werden.


Jch werde dieſe Bogen auf einem A. Gym-
naſio zum Grunde moraliſcher Unterweiſungen
legen, wobey ich, da die Zuhoͤrer am Ver-
ſtande und Herzen nicht mehr Kinder ſeyn
ſollen, einige Abſaͤtze von den Pflichten der
Studirenden, und von der Klugheit im Un-
terrichte und in der Erziehung, am gehoͤrigen
Orte hinzufuͤgen muß. Jch lade andere Lehrer,
welche gern die vortheilhafteſte Grundlage
waͤhlen wollen, zu der Ueberlegung ein, ob
ihr Zweck durch dieſes Buch beſſer als durch
viele andre, welche gewoͤhnlich ſind, und als
durch meine eigene practiſche Philoſophie
fuͤr alle [Staͤnde]
erfuͤllet werde. Dies letzte
Buch iſt durch viele Projecte, die nur fuͤr
Obrigkeiten, Lehrer und Schriftſteller gehoͤren,
und aus andern damals unvermeidlichen Urſa-
chen, zu dieſem Zwecke nicht allezeit in den
gehoͤrigen Schranken geblieben, ob ich es
gleich
[XVII]
Vorrede.
gleich noch jetzund mit Vergnuͤgen fuͤr das
meinige erkenne.


Das gegenwaͤrtige iſt alſo zwar fuͤr die
Jugend, aber nur fuͤr die erwachſene, be-
ſtimmt, welche aus der vaͤterlichen Aufſicht
bald in die Fremde geht. Es iſt nicht der
moraliſche Theil des von mir verſprochenen
Elementarbuchs der menſchlichen Er-
kenntniß;
ſondern ſetzet ſchon manche Jahre
des Unterrichts voraus. Sollte es die Ele-
mente der moraliſchen Erkenntniß enthalten;
ſo fehlte den erſten Wahrheiten ein unentbehr-
licher Grad der Deutlichkeit und Lebhaftigkeit,
und ſo muͤßte ich nicht den dritten Theil des
ganzen Weges zuruͤckgelegt haben. Jch koͤnn-
te es die moraliſche Fortſetzung des noch nicht
geſchriebenen Elementarbuches nennen,
wenn die Beziehung auf daſſelbe, nachdem
es erſt geſchrieben ſeyn wird, alsdann nicht
manche Abaͤnderung noͤthig machte, um den
hoͤchſt moͤglichen Grad des Zuſammenhanges
und der Einfoͤrmigkeit in derjenigen Schulbi-
bliothek zu beobachten, welche, ſo Gott will,
aus einer ordentlichen Folge von Schulbuͤ-
* * 5chern,
[XVIII]
Vorrede.
chern, zur Fortſetzung des Elementarbuches,
beſtehen ſoll.


Mein funfzehnjaͤhriger Sohn geht jetzund
aus der vaͤterlichen Aufſicht in die Fremde.
Jch wußte kein ihm angemeſſenes Handbuch
zur taͤglichen moraliſchen Lectuͤre. Dies war
der Anlaß, das gegenwaͤrtige ſo bald, und
etwas eilfertig zu ſchreiben, und zwar groͤß-
tentheils in der rathenden oder ermahnenden
Schreibart, und zuweilen mit der Anrede,
mein Sohn! Denn es war ſo, wie es iſt,
anfangs nicht dem Drucke beſtimmt. Den-
noch fand ich in einigen von der Eile verur-
ſachten Maͤngeln des Ausdrucks nicht Grund
gnug, Etwas, das Andern und mir ſehr ge-
meinnuͤtzig ſchien, und nicht jetzund alle Voll-
kommenheit erreichen konnte, zu verzoͤgern.
Eine merkwuͤrdige Uebereilung findet ſich (§.
10.), da unerfahrne Leſer durch den Ausdruck
leicht auf die Gedanken gerathen koͤnnten, daß
die Wirkſamkeit Gottes bey der Schoͤpfung
aufgehoͤrt haͤtte, welches nur von derjenigen
Wirkſamkeit wahr iſt, die den erſten Anfang
aller Dinge verurſacht hat.


Das
[XIX]
Vorrede.

Das verſprochene Elementarbuch, und
die darauf folgende Schulbibliothek, ſind,
wenn die Vorſehung mich die noͤthige Beyhuͤlfe
finden laͤßt, der Hauptzweck in dem kuͤnftigen
Theile meines Lebens. Jch wage es, auch in
dieſer Vorrede folgende zwey Schriften zu
empfehlen. Erſtlich, Vorſtellung an ein-
ſichtvolle Menſchenfreunde und vermoͤ-
gende Maͤnner uͤber Schulen, Studien,

u. ſ. w. mit einem Plane eines Elemen-
tarbuches der menſchlichen Erkenntniß,

zur Oſtermeſſe 1768. Zweitens, das Noͤ-
thigſte aus dieſer Vorſtellung,
zur Mi-
chaelsmeſſe. Die Vorſtellung enthaͤlt einen
vollſtaͤndigen Plan, das wahre gemeine Beſte
durch eine groſſe Abaͤnderung des gelehrten
Standes, folglich zuvor der Univerſitaͤten und
Gymnaſien, folglich zuvor der geſitteten Buͤr-
gerſchulen, durch Seminarien der Lehrer und
durch das Muſter einer einzigen neuen Anſtalt,
auf eine moͤgliche, den Kirchen nicht mißfaͤllige,
und nicht zu koſtbare Art zu befoͤrdern. Das
Daſeyn eines guten Elementarbuchs der
menſchlichen Sacherkenntniß und Worterkennt-
niß,
[XX]
Vorrede.
niß, und ſeine Fortſetzungen, welche eine
Schulbibliothek heiſſen, iſt als der erſte
moͤgliche Anfang dieſer noch nie ſo vorgeſtellten
Verbeſſerung anzuſehn. Dieſes Elementar-
buch, und, wo moͤglich, dieſe ganze Schulbi-
bliothek, mit der groͤßten Sorgfalt auszufer-
tigen, habe ich mich, mit einigen ſehr faͤhigen
Mitarbeitern, entſchloſſen. Die Ausfuͤhrung
des Vorſatzes koſtet, wegen Berathſchlagung,
Correſpondenz, Reiſen, Buͤcher, Kupferſtiche
und Druck, wenn das Elementarbuch zu
Stande kommen ſoll, ohngefaͤhr 2000 bis
2500 Rthlr., und, wenn zu gleicher Zeit von
Vielen, nach einerley Plan, auch ſchon an
andern Theilen der Schulbibliothek gearbeitet
werden ſoll, ohngefaͤhr die doppelte Summe.
Alſo erſuchte ich bekannte vermoͤgende Men-
ſchenfreunde, bey Gelegenheit der Vorſtel-
lung,
in einem zwar gedruckten, aber nicht
oͤffentlichen Briefe, um einen Vorſchuß von
6 Louisdor, fuͤr deren Erſatz, innerhalb Vier
Jahren, ich, durch einen rechtskraͤftigen Re-
vers, die gewoͤhnliche Sicherheit gab. Aber
die vermoͤgenden Menſchenfreunde ſind oft ſehr
zerſtreuet
[XXI]
Vorrede.
zerſtreuet oder beſchaͤftiget. Sie alſo in die
Leſung der eilf Bogen hinein zu leiten, (denn
dieſer Plan einer ſehr zuſammengeſetzten Sa-
che iſt ſchon in moͤglichſter Kuͤrze abgefaßt,)
ſchrieb ich drey Bogen unter dem Titel: Das
Noͤthigſte von der Vorſtellung
u. ſ. w.,
worinnen ich die Theile der Schulbibliothek
zuſammenhaͤngender beſchrieb, und inſonder-
heit zeigte, welchen unabſehlich groſſen Nutzen
man ſtiften wuͤrde, wenn man den Unterricht,
und alſo die Lehrbuͤcher der weltlichen Wiſ-
ſenſchaften von allen, auch von zufaͤlligen,
Entſcheidungen in ſolchen Religionsſachen,
woruͤber die Gewiſſen in unſern Zeiten und
Gegenden mishellig ſind, befreyet ſeyn lieſſe.
Zu dieſem Noͤthigſten ward einigen Men-
ſchenfreunden abermals ein zwar gedruckter
aber nicht oͤffentlicher Brief gegeben, worinnen
ich zur Befoͤrderung einer ſo wichtigen Sache,
und in Beſorgniß der bey vielen Kennern an-
zutreffenden Schwierigkeit, 6 Louisdor von
ihnen zu erhalten, die beſonders vermoͤgenden
oder fuͤr meine Abſicht eifrigſten Perſonen
unter ihnen erſuchte, mir mit einigem Ge-
ſchenke
[XXII]
Vorrede.
ſchenke zu den Voranſtalten, vornehmlich aber
durch ein gewiß nach vier Jahren widerkeh-
rendes groͤſſeres Darlehn auf Obligation, ohne
oder mit 4 Procent Jntereſſe, beyzuſtehen.
Wider das Vermuthen Vieler, welche die
Nothwendigkeit ihrer Vermuthung bedaureten,
erklaͤre ich hiemit dem Publico, daß ich fuͤr
dieſe ſo gemeinnuͤtzige Abſicht, deren Gluͤck
von groſſer Wirkung ſeyn wird, jetzund ſchon
mit allen dazu erfoderlichen Arbeiten und Ko-
ſten zu wirken angefangen habe, indem ob
gleich von vielen Angeſprochenen noch keine
Antwort da iſt, ſchon anſehnliche Summen
zuſammen gebracht ſind, theils durch Empfang
der 6 Louisdor, von Einigen als Vorſchuß,
von Andern als Geſchenk, theils durch zuver-
laͤſſige Zuſage, mir quartalweiſe durch einen mit
dem Neu-Jahre anfangenden und zwey Jahre
fortgeſetzten Vorſchuß, der nach vier Jahren
bezahlt wird, auszuhelfen. Das Elementarbuch
iſt, wenn die Vorſehung Leben und Geſund-
heit erhaͤlt, innerhalb zweyer Jahren fertig,
und die uͤbrigen Theile der Schulbibliothek
folgen deſto geſchwinder nach, jemehr ich im
Stande
[XXIII]
Vorrede.
Stande bin, zu gleicher Zeit durch Mitarbeiter
nach dieſem Plane an denſelben zu wirken.
Es wird oͤffentliche Rechnung der Einnahme
und Ausgabe fuͤr dieſes Werk bekannt werden;
ein jeder dazu durch Geſchenk oder Vorſchuß
beytragender Menſchenfreund, wird nebſt ſei-
ner Summe, entweder ſeinen wahren oder
gewaͤhlten Namen darinnen antreffen. Denn
da ich durch eine Koͤnigliche Beſoldung ver-
ſorgt bin: ſo veranlaßt mich keine Noth,
irgend Etwas, welches mir zu dieſem Zwecke
anvertraut iſt, anders anzuwenden. Sollte,
wie ich faſt nicht mehr fuͤrchten darf, der Bey-
trag nicht ſo vollſtaͤndig werden, daß ich es
wagen duͤrfte, Druck und Kupferſtiche des
Elementarbuchs anzufangen: ſo verſpreche ich
bey Zwang und Ehre, das mir zu dieſem
Zwecke Geſchenkte oder Anvertraute, dennoch
zuruͤck zu geben, und den Schaden der Vor-
unkoſten durch die beſchwerlichſte Sparſamkeit
und durch gewinnende Arbeiten ſelbſt zu er-
ſetzen. Damit dieſes einem Manne nicht
noͤthig ſey, der nur deswegen kein Vermoͤgen
beſitzt, weil er ſehr gemeinnuͤtzig gehandelt
hat
[XXIV]
Vorrede.
hat: ſo erſuche ich ehrerbietigſt um fernere
Befoͤrderung dieſes Werks, (um einiges Ge-
ſchenk, vornehmlich aber um Vorſchuß,) die-
jenigen einſichtvollen und vermoͤgenden Men-
ſchenfreunde, welche durch die Vorſtellung
und das Noͤthigſte aus derſelben zu einem
eifrigen Wunſche veranlaſſet werden, daß
ſolche Mittel des wahren allgemeinen Beſten,
in unſern ſo beduͤrfenden Zeiten, nicht laͤnger
fehlen moͤchten. Altona, am 1ſten Septem-
ber, 1768.

I. Eignes
[[1]]

I.
Eignes Nachdenken uͤber die Seele,
das Leben und den Tod.


§. 1.


Die Weisheit beſteht in der noͤthigen Er-
kenntniß und Neigung, Boͤſes abzuwen-
den, zu vermindern und zu endigen;
Gutes hingegen zu befoͤrdern, zu vermehren und
zu unterhalten.


Wer Weisheit zu ſeinem eignen Beſten
verlangt, muß erſtlich die Mittel und Handlun-
gen, wodurch ſeine Gluͤckſeligkeit befoͤrdert wird,
richtig zu erkennen ſuchen, — und zweytens eine
Geſchicklichkeit erwerben, die erkannten Mittel
ſeiner Wohlfarth wirklich anzuwenden.


Eine der wichtigſten Erkenntniſſe, die zur
Weisheit gehoͤren, iſt die Erkenntniß unſrer
ſelbſt.
Denn ſowohl unſer angenehmes als trau-
riges Schickſal wird bey verſchiednen Umſtaͤnden
zum Theil durch unſere Natur und Gewohnheiten
gewirkt.


§. 2.


Alſo, theurer Sohn, oder wer du auch biſt,
der du dieſes lieſeſt, lerne, richtig von dir ſelbſt
denken.


AEin
[2]Eignes Nachdenken

Ein jeder zum Nachdenken gewoͤhnter Menſch
iſt ſich bewußt, daß er an ſeinen Gliedern (und
den Nerven derſelben) ſinnliche Eindruͤcke wahr-
nimmt, ſich des Vergangenen erinnert, etwas
Kuͤnftiges vorausſieht oder vermuthet, Verdruß
und Vergnuͤgen empfindet, vieles begehrt und
verabſcheuet, und nach ſeinen Trieben einigermaſ-
ſen ſowohl den Lauf ſeiner Gedanken als die Be-
wegung der Glieder regiert. Dieſe Wirkſam-
keiten
des Menſchen ſind unſichtbar und heiſſen
geiſtig.


Man kann die geiſtigen Wirkſamkeiten in
zwey Claſſen theilen, in bloſſe Vorſtellungen
des Verſtandes, und in Geſinnungen des
Willens.
Bey dem Menſchen iſt alſo Verſtand
und iſt Wille.


Ein Weſen, welches Verſtand und Willen
hat, heißt ein geiſtiges Weſen. Alſo iſt ein
geiſtiges Weſen in dem Menſchen.


Ein geiſtiges Weſen, welches durch einen be-
ſondern Koͤrper ſinnliche Eindruͤcke wahrnimmt,
und denſelben zum Theil nach ſeinem Willen re-
giert, oder doch wenigſtens eine zeitlang in ſolcher
Vereinigung mit einem Koͤrper ſteht, heißt eine
Seele.
Es iſt alſo ſonder Zweifel bey dem Men-
ſchen eine Seele.


§. 3.
[3]uͤber die Seele, das Leben ꝛc.

§. 3.


Wenn deine Seele nicht da wäre, ſo
wäreſt du auch ſelbſt nicht da.
Denn dein
Verſtand und dein Wille, und alle deine geiſtige
Wirkſamkeit wuͤrde alsdann nicht da ſeyn. Wenn
alsdann dein ganzer ſichtbarer Koͤrper auch ſo
bliebe, und ſich aͤuſſerlich ſo bewegte, wie itzund;
ſo waͤre doch dein lebendiges Selbſt, dein Jch,
deine Perſon nicht da.


Alle Wirkſamkeiten deines Verſtandes und
Willens (ſo verſchieden ſie auch nach ihrer Art,
und ſo weit ſie auch der Zeit nach von einander
entfernt ſind) geſchehen von dir ſelbſt, von deiner
einzigen Perſon. Deine Seele iſt im Denken
und Wollen, in Leid und Freude, und zu ver-
ſchiednen Zeiten, ein einziges fortdaurendes
Weſen.


Ein jeder Theil deines Koͤrpers, welcher
irgend einmal, als du ſchon wareſt, ſich damit
vereinigte, oder, waͤhrend des Daſeyns deiner
Seele, von dir wird getrennt oder kann getrennt
werden, gehoͤrt nicht zu dir ſelbſt, nicht zu deiner
Seele. Sondern die Seele iſt vielmehr un-
ſichtbar, und unbetaſtbar,
ſie kann nicht ge-
ſehen, nicht betaſtet werden.


A 2§. 4.
[4]Eignes Nachdenken

§. 4.


Das Vermoͤgen des Verſtandes und Willens
heißt auch geiſtig Leben. Die Seele lebt
geiſtig, ſo lange ſie iſt: ſie iſt, ſo lange ſie geiſtig
lebt. Jm geiſtigen Leben beſteht das Weſen
der Seele.
Sie wuͤrde aufhoͤren zu ſeyn, wenn
das geiſtige Leben aufhoͤrte; ſie hat angefangen
zu ſeyn, als das geiſtige Leben anfing.


Der beſondre Koͤrper, welcher einer Seele die
Wahrnehmung ſinnlicher Eindruͤcke verſchafft, und
ſich in manchen Bewegungen nach ihrem Willen
richtet, heißt von derſelben beſeelt oder belebt.
Die Seele beſeelt oder belebt den Koͤrper; der
Koͤrper wird von der Seele beſeelt und belebt.
Alſo erkennen wir den Unterſchied unſrer
Seele und unſers Körpers.
Zum ganzen
Menſchen aber gehoͤrt eine menſchliche Seele
und ein von ihr belebter Koͤrper.


Das Leben der Seele, und das Leben des
Menſchen ſind Redensarten, welche nicht gleiche
Bedeutungen haben. Das Leben der Seele
iſt ihr eigenthuͤmlich und geiſtig, und wir koͤnnen
ncht uͤberzeugt ſeyn, daß es eines Koͤrpers bedarf.
Das Leben des Menſchen aber iſt der Zuſtand
einer menſchlichen Seele und eines menſchlichen
Koͤrpers, in welchem dieſer von jener belebt wird.


So
[5]uͤber die Seele, das Leben ꝛc.

So iſt auch der Tod der Seele, und der Tod
des Menſchen unterſchieden. Der Tod der
Seele
waͤre das Aufhoͤren ihres eigenthuͤmlichen
Lebens, wenn es jemals aufhoͤrte. Der Tod
des Menſchen
iſt das Aufhoͤren des Lebens des
Menſchen. Dieſer Tod wird wirklich, wenn der
Koͤrper aufhoͤrt, von der Seele belebt zu ſeyn,
dieſelbe mag weiter fortleben, oder zu leben auf-
hoͤren.


§. 5.


Du ſelbſt lebſt, ſo lange deine Seele lebt,
denn ſo lange kann dein Vergnuͤgen und dein Leid
Statt finden. Deine Perſon iſt kein Körper,
ſondern Seele.
Der Koͤrper aber iſt dein, ſo
lange du ihn belebeſt, er iſt nicht du ſelbſt. Er
wuͤrde dich nicht laͤnger angehn, wenn er in die-
ſem Augenblicke aufhoͤrte, von deiner, und an-
finge, von einer andern Seele belebt zu werden.
Und wenn deine Seele itzt anfinge, einen andern
menſchlichen Koͤrper zu beleben; ſo wuͤrde derſelbe
Koͤrper der deinige. Das Leben deiner Seele
iſt dein Leben;
der gluͤckliche oder ungluͤckliche
Zuſtand des Lebens deiner Seele iſt dein eigner
gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Zuſtand. An allen
dieſen Saͤtzen kannſt du nicht zweifeln, mein Leſer,
wenn du ſie verſteheſt und ihnen nachdenkeſt.


A 3Wenn
[6]Eignes Nachdenken

Wenn wir menſchliche Koͤrper erſterben oder
erſtorben ſehn; ſo koͤnnen wir keine Veraͤndrung
an ihrer unſichtbaren Seele vernehmen. Alſo
koͤnnen wir nicht ſchlieſſen, daß ihre Seele als-
dann ſterbe oder todt ſey. Das Leben der
menſchlichen Seele oder Perſon nach dem
Tode des Menſchen, iſt alſo nicht für un-
möglich zu halten.


Wer ſo nachdenkt, daß er ſich das Leben der
Seele nach dem menſchlichen Tode vorſtellt, der
wuͤnſcht, nach dem Tode fortzuleben, und zwar
unaufhoͤrlich fortzuleben, wenn er nur kein Ueber-
gewicht der Ungluͤckſeligkeit fuͤrchtet. Das nicht
unmögliche Leben der Seele nach dem
Tode, wenn das Böſe in demſelben kein
Uebergewicht hat, gehört alſo zu den
Wünſchen einer nachdenkenden Seele.


II.
Eignes Nachdenken uͤber Gott und
ſeine Eigenſchaften.


§. 6.


OSeele, die du ein unaufhoͤrliches gluͤckſeliges
Leben verlangeſt, forſche nach, ob du nicht
etwa unſterblich ſeyſt, unvergaͤngliche Gluͤckſelig-
keit
[7]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.
keit zu erwarten habeſt, und dieſelbe durch dein
Verhalten befoͤrdern koͤnneſt.


Forſche der Urſache nach, durch welche du bis-
her (obgleich nicht ohne einige Widerwaͤrtigkeit)
im Ganzen gluͤckſelig lebeſt, und zwar deſto gluͤck-
ſeliger, je weiſer du handelſt. Die Erkenntniß
dieſer Urſache wird dir auch die Dauer deines
Lebens und deiner Gluͤckſeligkeit vermuthen, oder
erkennen helfen.


Du biſt bisher gluͤckſelig durch dein menſchlich
Leben in einem ſolchen Koͤrper, als du haſt; ferner
durch andre Menſchen, die nebſt dir leben, und
durch einen ſolchen Erdboden, als auf welchem du
mit ihnen wohneſt.


Jn das menſchliche Leben biſt du durch deine
Eltern gekommen, welche von erſten Eltern ab-
ſtammen. Das ganze menſchliche Geſchlecht hat
erſte Stammeltern gehabt. Denn irgend einer
unter den erzeugten und gebohrnen Vorfahren
eines jeden Menſchen war der erſte, und eben
derſelbe war alſo von einem ungebohrnen Vater
und von einer ungebohrnen Mutter, oder von
erſten Stammeltern.


Von jeder Art der Thiere und Pflanzen waren
erſte Stammthiere und Stammpflanzen derſelben
Art. Alſo auch war ein Jahr das erſte Jahr,
und ein Tag der erſte Tag. Und uͤberhaupt, eine
A 4jede
[8]Eignes Nachdenken
jede Reihe von Dingen, die nach einander ihren
Anfang nahmen, hat irgend einmal ihren Anfang
gehabt. Es war einmal ein erſter Anfang
aller derer Dinge, die nicht von Ewigkeit
waren.


Vor dem erſten Anfange war Etwas
von Ewigkeit.
Denn der erſte Anfang geſchah
nicht ohne Urſache.


Alle vergangene, gegenwaͤrtige und kuͤnftige
Dinge, welche nicht von Ewigkeit waren, heiſ-
ſen die Welt.


Die Welt hatte alſo einen Anfang, und
das Ewige war ihre Urſache.


§. 7.


Jn de[r] Welt, ſo weit wir ſie kennen, iſt ein
Uebergewicht der Glückſeligkeit, oder eine
groͤſſere Summe von angenehmen als unangeneh-
men Empfindungen und Zuſtaͤnden der lebendigen
Weſen.


Das Böſe in der Welt iſt mit dem Guten
ſo verbunden,
daß das Boͤſe mehr Gutes wirkt,
oder aus ſolchen Urſachen koͤmmt, welche mehr
Gutes wirken. Dieſes lernen wir taͤglich mehr
einſehn, je mehr wir auf die Urſachen und Wir-
kungen der Dinge Achtung geben.


Die Welt iſt alſo für die lebendigen We-
ſen vorzüglich gut.
Das Uebel iſt zwar kein
Theil
[9]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.
Theil des Guten in der Welt, dennoch ein Theil
der Welt, welche vorzuͤglich gut iſt.


Wir koͤnnen aber zum Theil einſehen, daß die
Welt durch die Ordnung und Verbindung

der Dinge, welche neben einander ſind, und auf
einander folgen, ſo vorzuͤglich gut ſey.


§. 8.


Die Wirkung des Ewigen, oder die Welt, iſt
ſo beſchaffen, als wenn ein ewiger Zweck geweſen
iſt, eine ſo vorzuͤglich gute Welt zu machen. Und
wir koͤnnen von der erſtaunlich groſſen und unent-
behrlich guten Ordnung in der Welt, ohne Vor-
ausſetzung eines ſolchen Zwecks, gar keine Urſache
erdenken. Je mehr wir Erfahrungen von der
Ordnung der Urſachen und Wirkungen ſammlen,
deſto geneigter wird unſre Seele, die Frage von
dem Urſprunge der gemeinnuͤtzigen Uebereinſtim-
mung in der Natur dadurch aufzuloͤſen, daß wir
Etwas Ewiges glauben, welches dieſen Zweck, und
folglich Verſtand, Guͤte und Macht hatte.


Ewiger Verſtand, ewige Guͤte, ewige Macht
nennt man itzund wahre Gottheit. Alſo iſt es
der Neigung unſers Verſtandes gemaͤß, wahre
Gottheit, welche von Ewigkeit war, zu
glauben.


A 5Ein
[10]Eignes Nachdenken

Ein Geiſt, dem die wahre Gottheit zukoͤmmt,
heißt in dem erhabenſten Verſtande ein Gott.
Es war alſo von Ewigkeit zum wenigſten ein
wahrer Gott.


Wir haben in dem Anſchaun der Welt keinen
Anlaß, mehr wahre Goͤtter zu glauben. Der
Glaube an einen einzigen iſt unſerm Verſtande
leichter weil es uns ſchon ſchwer iſt, einen Gott,
weit ſchwerer aber Unterſchiede mehrerer wahren
Goͤtter, zu denken, welche wir doch alle erdichten
muͤßten. Der Glaube, daß nur ein einziger wahrer
Gott ſey, iſt auch den Wuͤnſchen einer nachdenken-
den Seele am gemaͤſſeſten. Denn alsdann kann
die Seele ihm alles Gute zuſchreiben, was ſie
genoſſen hat, genießt und hoffen kann; ſie kann
ſich alsdann auch die ewige Guͤte, Weisheit und
Macht mit mindern neuen Fragen und unaufloͤs-
lichen Geheimniſſen vorſtellen. Es iſt alſo dem
Verſtande und der Neigung einer nachdenken-
den Seele gleich anfangs leicht, der Mey-
nung, daß nur ein einziger wahrer Gott
ſey, den Vorzug zu geben.
Die Meynung
von mehrern Goͤttern beunruhiget unſere Seele,
wird ſie immer beunruhigen, und wird doch nie-
mals aus dem Anſchaun der Welt weder Beweis,
noch Wahrſcheinlichkeit haben. Alſo ſind wir un-
ſers Beſten willen verbunden, den Gedanken, daß
nur
[11]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.
nur ein einziger Gott ſey, immer ſo feſt zu glauben,
als wir koͤnnen, mehr Gewißheit dieſes Satzes
zu wuͤnſchen, und dieſen Glauben bey denen, welche
wir lieben, zu befoͤrdern. Oder im Kurzem, es
iſt gut zu glauben, es hat keine Gegengründe
wider ſich, es iſt glaubwürdig, es iſt für
uns wahr, daß ein einziger Gott ſey.


§. 9.


Die nachdenkende Seele glaubt nicht nur einen
wahren Gott, ſo gewiß, als ſie kann; ſondern ſie
verweilt ſich auch gern bey dieſem Gedanken an
ihn, um zu erforſchen, was ſie ferner von ihm
denken muͤſſe.


Gott war von Ewigkeit und hatte Macht, zu
wirken, was nicht von Ewigkeit war. Alſo haben
wir aus der Betrachtung der Welt keinen Anlaß,
zu glauben, daß auſſer Gott irgend etwas von
Ewigkeit geweſen ſey. Wenn wir uns bemuͤhen,
zu denken, daß mehr ewige Urſachen der Welt, oder
mehr Dinge von Ewigkeit waren, ſo verwickeln
wir unſer Nachdenken in Geheimniſſe, die ſo ſchwer
zu denken ſind, als das von Ewigkeit geweſene
Daſeyn Gottes, und dennoch erleichtern wir da-
durch keinen einzigen Gedanken von den Wirkungen
Gottes, welche alleſammt unbegreiflich ſind. Alſo
iſt es unſerm Beſten gemaͤß, glaubenswuͤrdig, und
fuͤr
[12]Eignes Nachdenken
fuͤr uns wahr, daß Gott das einzige Weſen
ſey, welches von Ewigkeit war.


Ein Weſen kann ſich ſelbſt ſo wenig zernichten,
als machen. Gott alſo wird niemals zernichtet.
Denn alles, was geſchicht, iſt in ihm ſelbſt, als
in der erſten Urſache, gegruͤndet. Alſo iſt Gott
vollkommen ewig,
ohne Anfang und Ende.


Was vollkommen ewig iſt, iſt Gott oder eine
Eigenſchaft des goͤttlichen Weſens; was nicht voll-
kommen ewig iſt, iſt nicht Gott, und auch keine
goͤttlicht Eigenſchaft. Gott iſt an Daſeyn und
Eigenſchaften von Ewigkeit zu Ewigkeit
unveränderlich.


Alles, was vollkommen ewig iſt, iſt
zuſammen Eins.
Denn es gehoͤrt zu Gotte
und ſeinen Eigenſchaften.


§. 10.


Das Ende einer Sache iſt allemal der Anfang
einer andern Sache; und der Anfang einer Sache
iſt allemal das Ende einer andern Sache. Oder
der Anfang einer und das Ende der andern
Sache ſind allemal zuſammen.


Bey dem erſten Anfange der Dinge endigte
ſich alſo Etwas, das von Ewigkeit war. Dieſes
Geendigte war nicht Gott ſelbſt, noch irgend eine
ſeiner Eigenſchaften; ſondern Etwas, welches,
nebſt
[13]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.
nebſt ſeinen Eigenſchaften, in ihm von Ewigkeit
war, und vielleicht das unbegreifliche göttliche
Wirken
genannt werden kann. Alle Dinge,
welche gewirkt werden, ſind in der Wirkſamkeit
Gottes, welche von Ewigkeit war, gegruͤndet,
und ein jedes folget daraus zu ſeiner Zeit und in
ſeiner Ordnung.


§. 11.


Durch Gottes Macht und Wirkſamkeit iſt und
folget alles in der Welt, was iſt und folget. Darum
heißt ſie Allmacht. Der Allmacht Gottes kann
nichts widerſtehen; denn alle Kraͤfte ſind allein
von ihm.


Gott, als ein ſehr verſtaͤndiger Geiſt, erkennt
ſich ſelbſt, und ſeine Allmacht; folglich alles, was
aus ihm ſelbſt erfolgt, folglich ſeine unmittelbaren
Wirkungen, welche die wirkende Kraft von ihm
ſelbſt haben; folglich die Wirkungen der Wirkun-
gen; folglich die ganze Welt in ihrer ganzen Daur.
Alſo erkennt der Verſtand Gottes alles, was ſich
erkennen laͤßt, und iſt daher allwiſſend.


Gottes Guͤte iſt allwiſſend und allmaͤchtig.
Es muß das hoͤchſtmoͤgliche Gute daraus folgen.
Alſo iſt ſie Allgüte, oder vollkommenſte Guͤte.


Gottes Allmacht, Allwiſſenheit und Allguͤte
ſind, als goͤttliche Eigenſchaften, von Ewigkeit
zu Ewigkeit.


Einheit
[14]Eignes Nachdenken

Einheit, vollkommne Ewigkeit, Allmacht,
Allwiſſenheit, und Allguͤte Gottes, ſind unſerm
Begriffe die Grundeigenſchaften Gottes, wor-
aus ſich vieles, was ſonſt in Anſehung Gottes
noch erkannt werden kann, durch Nachdenken
herleiten laͤßt.


§. 12.


Wenn wir ihm eine Allgegenwart zuſchrei-
ben; ſo denken wir nichts anders, als daß er alles,
was an jedem Orte geſchicht, erkenne, und daß
alles, was an jedem Orte geſchicht, von ſeiner
Allmacht abhaͤnge, und ihr unterworfen ſey.


Wenn wir ihn einen Geiſt nennen, ſo ſagen
wir nichts anders, als daß er Verſtaud, Willen
und Macht zu wirken habe.


Ein Geiſt iſt ein unſichtbares und ein einziges
Weſen. Alſo iſt Gott unſichtbar.


Wenn wir ihm eine, ſich uͤber das Ganze und
jeden Theil erſtreckende Vorſehung oder Provi-
denz
zuſchreiben; ſo denken wir, daß alles aus
ſeiner Allmacht, mit dem Bewußtſeyn ſeiner All-
wiſſenheit, und nach dem Willen ſeiner ewigen
Allguͤte erfolge.


Wir muͤſſen uns Gott als hoͤchſt ſelig vorſtel-
len, weil er ſeinen ewigen guͤtigen Willen, ver-
moͤge ſeiner Allmacht ohne Hinderniß, vermoͤge
ſeiner Allwiſſenheit mit Bewußtſeyn, erfuͤllet.


Gottes
[15]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.

Seine Unvergleichbarkeit und Unbegreif-
lichkeit
iſt an ſich unleugbar.


Seine Guͤte heißt mit einem andern Namen
auch Liebe. Sie heiſſet deswegen Gnade,
weil er allmaͤchtig iſt, und diejenigen, die ſeiner
Guͤte genieſſen, ſo ohnmaͤchtig ſind. Sie heißt
Barmherzigkeit, wenn ſie das Elend endigt,
oder zum kuͤnftigen Beſten der Elenden einrichtet.
Sie heißt Treue, weil ſie beſtaͤndig iſt.


Wenn wir anzeigen wollen, daß Gottes Da-
ſeyn keiner Urſache bedarf, ſo nennen wir ihn
ſelbſtſtändig.


Wenn wir daran denken, daß ſeine hoͤchſte
Seligkeit nichts anders bedarf, als was in ihm
ſelbſt iſt, nehmlich Allmacht, Allwiſſenheit und
Allguͤte; ſo nennen wir ihn allgnügſam oder ſich
ſelbſt zureichend.


Wenn wir Allwiſſenheit und Allguͤte zuſam-
men denken; ſo nennen wir ſie Allweisheit.
Denn ein Weiſer will Gutes thun, und kennt die
rechten Mittel.


Weil Gott das Daſeyn der Welt und aller
Dinge gewirkt hat; heißt er ihr Schöpfer. Weil
ihre Fortdauer unter ſeiner Macht ſteht; heißt er
ihr Erhalter. Weil alle Abaͤnderungen der Ge-
ſchoͤpfe ihm unterworfen ſind; heißt er ihr Re-
gierer.


§. 13.
[16]Eignes Nachdenken

§. 13.


Es iſt dir oben gezeigt, mein Sohn, daß das
Leben der Seele nach dem Tode nicht fuͤr unmoͤg-
lich zu halten ſey, und daß eine nachdenkende
Seele, unter der Bedingung (daß ſie kein uͤber-
wiegendes Elend fuͤrchtet) ein unvergaͤngliches
Leben wuͤnſche. Wir wollen ferner unterſuchen,
ob kein ewiges Leben der menſchlichen Seele
glaubwürdig ſey.


Erſtlich, da die kleinſten Koͤrperchen, unge-
achtet aller Abaͤnderungen, die ſie leiden, dennoch
nicht aufhoͤren zu ſeyn; ſo iſt es nicht glaublich,
daß die andre Art der vor ſich beſtehenden Haupt-
dinge (oder der Einheiten in der Natur) nehmlich
die Geiſter oder Seelen, vernichtet werden. Kein
Staͤubchen vergeht, wie ſollte ich denn denken, daß
meine Seele daß ich ſelbſt vergehe!


Zweytens, nur der Geiſter, nur der Seelen
willen ſchuf Gott die Welt, und wird ſie in Ewig-
keit erhalten. Jn aller Ewigkeit wird die Welt
niemals ohne lebendige Bewohner ſeyn koͤnnen.
Aus der Guͤte und Macht Gottes iſt zu vermuthen,
daß die Zahl derſelben ſich nicht vermindre, ſondern
vermehre. Die ſtaͤrkſte Art der Vermehrung aber
iſt, wenn auch diejenigen Seelen, die einmal da
ſind, im Leben bleiben.


Drittens
[17]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.

Drittens, die Erfahrung von der menſchlichen
Geburt, giebt uns einen Begriff, daß eine Art
des Lebens auf die andere folgen koͤnne, ohne daß
die Seele in dem fruͤhern Leben ſich vorher die
Beſchaffenheit des ſpaͤtern vorſtellen kann. Dennoch
iſt das fruͤhere und das ſpaͤtere ein einziges Leben
in verſchiedenen Umſtaͤnden. Die Schwierig-
keit, uns itzund die Beſchaffenheit des Lebens
der Seelen nach dem Tode vorzuſtellen, iſt
alſo nur ein ſcheinbarer Einwurf gegen unſre
Hoffnung.


Viertens, beſonders die menſchliche Seele hat
eine merkwuͤrdige Aehnlichkeit mit Gotte, ihrem
Schoͤpfer und Erhalter. Die Stufen der menſch-
lichen Erkenntniß koͤnnen ſchon in dieſem Leben
erſtaunlich weit gehen. Die groſſen Naturforſcher
und Meßkundiger, die großen Moraliſten und
Staatsmaͤnner, ſind uns Beyſpiele davon. Nun
haben aber alle Seelen ſehr aͤhnliche Faͤhigkeiten,
und es liegt nur an dem Koͤrper und an Umſtaͤnden,
daß ſo viele in einer dicken Unwiſſenheit verharren.
Wir Seelen ſind faͤhig, Gott zu erkennen, und
ſeine Weisheit und Guͤte zu bewundern. Gleich-
falls hat unſer Wille eine natuͤrliche Richtung auf
das allgemeine Beſte der lebendigen Weſen und
beſonders unſrer Mitbruͤder. Eine jede durch Jrr-
thum ſchadende, eine jede liebloſe, eine jede grau-
Bſame
[18]Eignes Nachdenken
ſame Handlung mißfaͤllt uns von Natur, und wir
wuͤrden ſie unterlaſſen, wenn wir uns ihre Wir-
kungen bedachtſam vorſtellten, oder unſre Zwecke
auf eine andere Art zu erreichen hofften. Die
weiſen, liebreichen und gemeinnuͤtzigen Handlun-
gen hingegen ſind unſern Trieben angenehm, wir
uͤben ſie mit Vergnuͤgen aus, ſo bald wir glauben,
daß ſie der ſtaͤrkern Selbſtliebe nicht zuwider ſind.
Wer erſt eine wahre Erkenntniß von Gott hat,
liebt und verehrt denſelben mit Vergnuͤgen und
wuͤnſcht, daß er Gott mehr lieben, ihm in der
gemeinnuͤtzigen Liebe mehr aͤhnlich werden und
deswegen groͤſſere Wirkungen der goͤttlichen Gegen-
liebe erfahren moͤge. So vortreflich iſt die men-
ſchliche Seele nach ihrer Faͤhigkeit und Natur.
Jſt es nicht von der Guͤte des allmaͤchtigen Gottes
zu vermuthen, daß er ſolche zu ſeiner Nachahmung
geſchickte Weſen ewig im Leben und in Wirkſamkeit
erhalte, und nach und nach durch die noͤthige Ab-
aͤnderung zur Vollkommenheit bringe? Dieſe
Vermuthung iſt uns eben ſo angenehm, als wahr-
ſcheinlich.


Fuͤnftens, dieſer Glaube, daß die menſchlichen
Seelen unſterblich ſind, iſt fuͤr einen jeden insbe-
ſondre, fuͤr das geſellſchaftliche Leben, und fuͤr das
ganze menſchliche Geſchlecht von einem unausſprech-
lichen Nutzen. Denn da Gott den menſchlichen
Seelen
[19]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.
Seelen einen natuͤrlichen Trieb zur Tugend oder
Gemeinnuͤtzigkeit gegeben hat; da ſeine Vorſehung
durch allerley Mittel verurſacht, daß die Tugend
ſchon in dieſem Leben dem Tugendhaften ſelbſt
mehrentheils zum uͤberwiegenden Vortheile, und
das Laſter dem Laſterhaften zum uͤberwiegenden
Nachtheile gereicht; da aber in verſchiedenen Um-
ſtaͤnden dieſe Uebereinſtimmung der Tugend mit
dem perſoͤnlichen Beſten einige merkwuͤrdige und
wichtige Ausnahmen hat; ſo iſt es demjenigen, der
ein ewiges Leben der Seelen glaubt, unleugbar,
daß der weiſe Gott und Vater der menſchlichen
Seelen die in dieſem Leben unbelohnten Tugenden
irgend einmal herrlich belohnen, und die in dieſem
Leben unbeſtraften Laſter, furchtbar beſtrafen werde.
Durch dieſen Glauben entſteht die vollkommenſte
Uebereinſtimmung des Triebes zur Gemeinnuͤtzig-
keit, und des Triebes zur eignen Wohlfahrt. Als-
dann bewegt uns eine weiſe Selbſtliebe und eine
weiſe Liebe unſrer Mitbruͤder, allezeit zu einerley
Handlungen. Wie gluͤckſelig wuͤrde das menſchliche
Geſchlecht ſeyn, wenn dieſer Glaube wirklich allge-
mein, oder ausgebreiteter waͤre? Wie viel von
der gegenwaͤrtigen Gluͤckſeligkeit wuͤrde es verlie-
ren, wenn dieſer Glaube, der bey ſo vielen herrſcht,
und von ſo vielen unverſtaͤndigen oder menſchen-
feindlichen Seelen beſtritten wird, ferner mehr
abnehmen ſollte?


B 2Sechſtens,
[20]Eignes Nachdenken

Sechſtens, es iſt alſo der Glaube an die Un-
ſterblichkeit der Seelen ſo wahrſcheinlich, und ſo
wuͤnſchenswuͤrdig, und vor allen wahren Einwendun-
gen ſo ſicher, daß wir ſchon waͤhrend einiges Zwei-
fels vollkommen ſo handeln muͤſſen, als wenn die
Sache gewiß waͤre. Alſo muͤſſen wir die Ueberzeugung
davon wuͤnſchen, und ſo viel als moͤglich, befoͤrdern.
Die Gefahr iſt groß, wenn wir durch Beſtreitung
dieſes Glaubens in uns ſelbſt und Andern, oder
durch freywilliges Beſtreben nach Zweifeln, unter
der Herrſchaft eines weiſen und allmaͤchtigen Gottes
und Vaters der Menſchen, die Gluͤckſeligkeit unſrer
ſelbſt und unſrer Mitbruͤder verhindern oder zer-
ſtoͤren. Kurz, es bleibt immer glaubenswuͤrdig
und fuͤr uns wahr, daß die menſchlichen Seelen
unſterblich ſind, und daß weiſe Tugend in
allen Fällen zu unſerm eignen Beſten ge-
reiche.


§. 14.


Weil nun Gott das Laſter unfehlbar beſtraft,
und die Tugend ohnfehlbar belohnet; ſo iſt er ein
Geſetzgeber und Richter, oder mit einem Worte,
ein regierender Herr aller Menſchen, obgleich
wir niedrigen Unterthanen nicht einſehn koͤnnen,
wie und wann er dieſe ſeine Herrſchaft ausuͤbt.


Die
[21]uͤber Gott und ſeine Eigenſchaften.

Die Allweisheit Gottes, das iſt, ſeine mit All-
wiſſenheit wirkende Allguͤte, wird alsdann Ge-
rechtigkeit
genennt, wenn wir uns vorſtellen,
daß er auf eine Art, welche der Welt am gemein-
nuͤtzigſten iſt, die Tugend belohne und das Laſter
beſtrafe.


Ein andrer gebraͤuchlicher Name dieſer Gerech-
tigkeit iſt das Wort Heiligkeit. Doch zuweilen
wird Gott auch in einer weitlaͤuftigern Bedeutung
heilig genennt, wenn nehmlich durch dieſes Wort
die allgemeine Unvergleichbarkeit oder Vortreflich-
keit ſeines Weſens und ſeiner Eigenſchaften an-
gezeigt wird.


§ 15.


Wer ſich Gott als einzig, als vollkommen
ewig, als allmaͤchtig, als allwiſſend, als allguͤtig,
als allweiſe, als ein Weſen, welches ſeine Vor-
ſehung uͤber alles insgemein, und uͤber jedes ins-
beſondre ausuͤbt, als einen ewigen Vater unſterb-
licher Seelen, und als vollkommen gerecht vorſtellt,
der hat denjenigen Begriff von Gott, deſſen Wahr-
heit wir bisher, ſo gut es moͤglich war, durch
eigne Betrachtungen erkannt haben. Dieſe Vor-
ſtellung von Gott, wollen wir die natürliche
Erkenntniß Gottes
nennen.


III.
[22]

III.
Die Sittenlehre aus natuͤrlicher
Erkenntniß Gottes und
der Welt


§. 16.


Die Pflichten, die wir darum zu beobachten
haben, weil ein ſolcher Gott iſt, ſind erſtlich
ein vollkommner Gehorſam bey allen Beleh-
rungen, die wir als goͤttlich anzuſehn haben, und
zweytens, eine vollkommne Liebe zu Gott,
welche beſteht theils in einer Freude uͤber das Da-
ſeyn eines ſolchen Gottes, und uͤber alle ſeine
Eigenſchaften, als uͤber die Quelle unſrer hoͤchſt-
moͤglichen Gluͤckſeligkeit; theils in dem Verlangen,
durch Nachahmung ſeiner Weisheit und Guͤte ihm
aͤhnlicher, und ſeines Wohlgefallens gewuͤrdiget
zu werden.


Aus dem Gehorſam und der Liebe folgt erſt-
lich, daß wir um Gotteswillen in allen unſern Ge-
danken, Worten und Werken weiſe und gemein-
nuͤtzig handeln, oder, daß wir um Gotteswillen
tugendhaft
ſeyn muͤſſen; zweytens, daß wir die
wahre Erkenntniß von Gott bey uns und andern
zu erhalten, zu beſtaͤrken, zu vermehren, und
lebendig
[23]Die Sittenlehre aus natuͤrlicher ꝛc.
lebendig oder wirkſam zu machen ſuchen muͤſſen,
durch alle Mittel, welche dazu etwas beytragen,
und welche deswegen Gottesdienſt, das iſt, Ver-
ehrung Gottes
genennt werden.


Die Pflicht, Gott zu verehren, erfordert un-
ter andern, daß wir in unſrer Seele und vor un-
ſern Bruͤdern ſeine Eigenſchaften preiſen; ſeine
Wohlthaten ſeiner Guͤte zuſchreiben, oder ihm fuͤr
ſeine Guͤte danken; auch daß wir unſre Wuͤnſche
fuͤr das Beſte unſrer ſelbſt und unſrer Bruͤder mit
dem lebhafteſten Andenken an Gott verknuͤpfen,
durch deſſen Vorſehung ſie erfuͤllet werden muͤſſen,
kurz, daß wir ihn um die Erfuͤllung unſrer Wuͤnſche
bitten. Wir muͤſſen alſo Gott, den Schoͤpfer,
Erhalter und Herrn oft mit Preis, Dank und
Bitte anbeten oder verehren.


Durch dieſe Anbetung bezeugen wir, daß er
der einzige wahre Gott ſey. Alſo kann dieſe al-
lerhöchſte Anbetung niemanden anders,
als
ihm zukommen.


Das oͤftere Gebet erleichtert, vermoͤge einer
unleugbaren Erfahrung, unſern Gehorſam und
unſre Liebe gegen Gott, unſre Bereitwilligkeit zu
einer ſtandhaften Tugend um Gotteswillen, und
unſern Troſt in Widerwaͤrtigkeiten. Alſo iſt das
Gebet uns nützlich und unſre Pflicht,
ob Gott
gleich von Ewigkeit alles weiß, und alles, was
B 4geſchicht,
[24]Die Sittenlehre
geſchicht, als unfehlbar beſchloſſen hat. Er hört
es vermoͤge ſeiner Guͤte mit Wohlgefallen, und
belohnt es durch Segen, wenn gleich ſeine Weisheit
und die mit unſern Wuͤnſchen verbundene Unwiſſen-
heit ihn ſehr oft verhindert, uns eigentlich zu
erhören, oder unſre Wuͤnſche zu erfaͤllen.


Zur Pflicht der Verehrung Gottes gehoͤrt auch
die Unterwerfung unter ein gemeinnuͤtziges Mär-
tyrerthum,
oder der ſtandhafte Vorſatz, fuͤr die
Ausbreitung gemeinnuͤtziger Erkenntniſſe und Ge-
ſinnungen, und fuͤr die Tugend, um Gottes-willen
Beſchwerlichkeit, Verluſt, Unehre, Undank, Ver-
folgung, Schmerz und Tod zu erduͤlden.


§. 17.


Folge dem Lichte, welches dir zu hoͤhern
Graden der Erkenntniß und der gehorfamen Liebe
Gottes leuchtet, und entferne von dir nach Moͤg-
lichkeit alle Einwürfe und Zweifel gegen die
goͤttliche Vorſehung, gegen die Unſterblichkeit der
Seelen, und gegen die uͤberwiegende Vergeltung
des Guten und des Boͤſen nach dieſem Leben. Der
feſteſte Glaube
iſt der ſicherſte Weg zu deiner
eignen, und zur Gluͤckſeligkeit deiner Mitbruͤder.


Habe die Zuverſicht zu Gott, daß ſeine Vor-
ſehung alles in jedem Augenblicke mit Weisheit
zum allgemeinen und zu deinem beſondern Beſten
kehren
[25]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
kehren werde. Sie iſt eine Folge des Glaubens
an ſeine Allmacht, Allwiſſenheit und Allguͤte.


Unterdrücke das Verlangen, hier in dieſem
Leben, und dort gluͤckſeliger, oder fruͤher gluͤckſelig
zu werden, als du es unter der Regierung eines
allweiſen Vaters werden kannſt. Denn dieſer
Wanſch iſt ganz vergeblich, und mit unnoͤthiger
Unruhe verknuͤpft; er iſt lieblos, und wider deine
Pflicht. Unterwirf dich alſo bereitwillig
dem mit Weisheit von Ewigkeit beſtimmten
Schickſale.


Jn dieſem Schickſal iſt es beſtimmt, daß Boͤ-
ſes auf boͤſe Geſinnungen und Thaten, Gutes aber
auf gute Geſinnungen und Thaten folgen muß.
Glaube alſo nicht dem offenbaren Jrrthum, daß
im Schickſale, oder im goͤttlichen Rathſchluſſe
beſtimmt oder beſchloſſen ſey, die Weisheit und
Tugend vergeblich ſeyn zu laſſen, oder dem Man-
gel, und dem Gegentheile derſelben gleich zu
machen. Kurz, meide den Jrrthum der
Fataliſterey ein Anſehung des Schickſals.
Er
iſt wider alle Vernunft und Erfahrung.


Eben ſo falſch und unvernuͤnftig iſt der Jrr-
thum der Fataliſterey in Anſehung unſers
Thuns und Laſſens,
oder die Einbildung eini-
ger, daß die Handlungen der Menſchen nicht frey
ſind, das iſt, daß ſie ſich nicht nach den Ent-
B 5ſchluͤſſen
[26]Die Sittenlehre
ſchluͤſſen ihres Willens, nicht nach den Urtheilen
ihres Verſtandes, und nach den Erfahrungen und
Belehrungen von den Folgen des Thuns und Laſ-
ſens richten, und daß alſo Unterricht und Nach-
denken, Verheiſſung und Drohung, Belohnung
und Strafe uͤberfluͤſſig ſey. Denn, obgleich alles
vorher beſtimmt iſt, ſo iſt doch alles in ſeiner
Ordnung, und nur durch die Folgen der Urſachen
vorherbeſtimmt. Die Bewegungsgruͤnde aber
ſind Urſachen unſrer Urtheile, unſrer Entſchluͤſſe
und unſrer Handlungen, als welche ſich nach jenen
richten, wie die Erfahrung zeigt.


Gottes ewiger Rathſchluß wird immer erfuͤllt.
Gottes Gebot von der Tugend wird oft uͤbertre-
ten. Die wirklich geſchehenden Uebertretungen
ſind alſo ſeinem Rathſchluſſe nicht zuwider, ſon-
dern ihm gemaͤß. Aber die traurigen Folgen der
Uebertretungen, wodurch die Welt vom Boͤſen
abgeſchreckt und gebeſſert wird, ſind ihm auch
nicht zuwider, ſondern vielmehr gemaͤß, weil ſie
Gutes wirken. Hüte dich alſo, Gottes Rath-
ſchluß und Gottes Gebot mit einander zu
verwirren,
wodurch allerley ſchaͤdliche Zweifel
entſtehn.


Von der wirklichen Folge des Böſen in
der Welt mußt du ſo denken,
als es mit den
Wahrheiten von der Allmacht, Allwiſſenheit und
Allguͤte,
[27]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Allguͤte, oder mit der Unſchuld Gottes beſtehen
kann. 1) Gott iſt erſte Urſache aller Dinge,
folglich auch erſte Urſache des Boͤſen. 2) Gott
iſt hoͤchſt guͤtig, alſo war das Boͤſe nicht ſein
Zweck. 3) Gott iſt allmaͤchtig und allwiſſend,
alſo iſt das wirklich geſchehene Boͤſe (weder das
natuͤrliche noch das in dem Menſchen befindliche
moraliſche Uebel) ſeinem Rathſchluſſe nicht zuwi-
der. 4) Das wirkliche Uebel in der Ordnung,
in welcher es folgt, und in der Zeit, ſo lange es
fortdaurt, iſt in dem goͤttlichen Verſtande von
Ewigkeit als erfolgend und als unvermeidlich zu
der zuletzt folgenden Vollkommenheit der Welt
erkannt worden. Denn ſonſt muͤßte er es, ver-
moͤge ſeiner Guͤte, aus ſeinem Rathſchluſſe ausge-
ſchloſſen haben. 5) Die ganze Welt, ungeachtet
des darinnen erfolgenden Uebels, iſt ein vorzuͤglich
gutes, ja das beſte Werk, welches die Allmacht
machen konnte. Denn ſonſt waͤre Gott entweder
nicht allguͤtig, oder nicht allmaͤchtig. 6) Alſo iſt
Gott unſchuldig am Boͤſen, weil er alles ſo gut
macht, als es die Allmacht kann.


§. 18.


Verweile dich oft bey dem Gedanken
des Todes,
doch nicht mit Zittern; denn er iſt
entweder kein Uebel, oder in dieſen Umſtaͤnden
zum
[28]Die Sittenlehre
zum Beſten der Welt nothwendig. Werde fuͤr
die Vergnuͤgungen und Geſchaͤfte dieſes Lebens
durch den Gedanken an den Tod nicht traͤge und
unthaͤtig; denn dieſes iſt wider dein Beſtes und
wider die Tugend. Sondern habe die Vergaͤng-
lichkeit aller Vortheile und Nachtheile dieſes Le-
bens vor Augen, damit du in Anſehung derſelben
niemals eine Tugend aufopferſt, welche ewige
Wirkungen hat, und damit du im Gluͤcke nicht
verwilderſt, und im Ungluͤcke nicht ohne beſtaͤn-
digen Troſt und ohne Hoffnung bleibeſt.


Hemme den Lauf deiner Gedanken und
Vorſtellungen,
wenn du weißt oder vermutheſt,
daß er deiner Tugend und deinem wahren Ver-
gnuͤgen hinderlich ſey. Die Gedanken ſind vor
Gott auch Thaten.


Heilige die Denkmittel, welche dich Got-
tes und ſeiner Eigenſchaften erinnern,
und
laß ſie zu dieſem Gebrauche abgeſondert bleiben.
Scherze nicht mit dem Namen Gottes und ſeiner
Eigenſchaften. Bete mit moͤglicher Vorbereitung
und Anſtaͤndigkeit. Und wenn gewiſſe Sachen,
Schriften oder Oerter zur Verehrung Gottes ge-
ſchickt und beſtimmt ſind; ſo entheilige ſie nicht
durch einen fremden oder gar tadelhaften Ge-
brauch. Denn hierdurch wird ein groſſer Nutzen
gehindert.


Laß,
[29]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Laß, ſo viel moͤglich, keinen Tag anfan-
gen oder vergehen, ohne dir eine ruhige Zeit
zur Andacht,
das iſt, zur Verehrung Gottes,
und zu Vorſaͤtzen der Fortſchreitung auf dem Wege
der Tugend zu machen. Die Welt iſt voll Gefah-
ren der Verfuͤhrung. Der tugendhafte Verehrer
Gottes muß ſich taͤglich waffnen, und wider ſeine
verirrten Neigungen und die Kraft der boͤſen
Exempel ſtreiten.


§. 19.


Alle Thorheit, wodurch wir uns ſelbſt ſcha-
den, und alles Unrecht an andern, ſind Sünde
vor Gott, weil ſie ſeinem Geſetze von der Tugend
zuwider und ſeinem Gerichte unterworfen ſind.


Die Neigung, eine unſichtbar regierende,
belohnende und beſtrafende Herrſchaft uͤber die
Menſchen zu glauben, und deswegen vor der That
zu fuͤrchten und zu hoffen, nach der That beaͤng-
ſtiget oder froh zu ſeyn, heißt das Gewiſſen.
Suche das deinige mit aller Sorgfalt zu beleh-
ren, damit es richtig urtheile; denn die Einge-
bungen eines irrenden Gewiſſens ſind oft die ab-
ſcheulichſten Thaten. Handle deinem Gewiſſen
gemaͤß, wenn es mit Zuverlaͤſſigkeit entſcheidet;
denn, wenn du ihm gehorchſt, ſo iſt wenigſtens
dein Vorſatz, Gotte zu gehorchen. Selbſt im
Zweifel
[30]Die Sittenlehre
Zweifel handle ſo, daß die Sicherheit des guten
Gewiſſens befoͤrdert werde. Rufe deine Vernunft
taͤglich zur Pruͤfung deiner Geſinnungen und
Thaten durch ihre Vergleichung mit dem goͤttli-
chen Geſetze, damit dein Gewiſſen nicht einſchlafe
oder erſterbe. Dieſe Pruͤfung iſt das heilſamſte
und unentbehrlichſte Gebet.


Schwöre nicht falſch, verſichre nicht, daß
du dich fuͤr eine Verſtellung, die du doch ausuͤbſt,
bey Gott fuͤr ſtrafbar erkenneſt. Denn hierdurch
wird ein Denkmittel Gottes und ſeiner Eigenſchaf-
ten entheiligt, und ein brauchbares Kennzeichen
der Aufrichtigkeit unter den Menſchen vernichtet.
Halte eben deswegen dein beeidigtes Verſprechen
auch in ſolchen Umſtaͤnden, wo es erlaubt waͤre,
einem bloſſen Verſprechen zuwider zu handeln.
Ueberlege mit der groͤßten Sorgfalt vorher, was
du beſchwoͤreſt. Schwoͤre nicht ohne Noth; ge-
brauche der eidlichen Worte nicht ohne Wiſſen und
nicht aus bloſſer Gewohnheit, weder, wenn du
dich verſtellſt, noch wenn du die Wahrheit ſagſt.
Fluche niemanden, wuͤnſche nicht, daß Gott
jemanden ſo und ſo ſtrenge ſtrafe, oder ihm dieſes
oder jenes Ungluͤck zuſende. Denn dein Fluch iſt
nicht nur vergeblich, ſondern auch mißfaͤllig und
lieblos.


§. 20.
[31]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

§. 20.


Alle Menſchen ſind entweder wiſſentlich oder
unwiſſentlich Suͤnder. Das Geſetz der Tugend
iſt ihnen entweder gaͤnzlich oder zum Theil unbe-
kannt; oder wird oft irrig erklaͤrt, oder theils
unbedachtſam, theils mit Kuͤhnheit uͤbertreten.
Sie ſind allzumal Sünder und des goͤttlichen
Gerichts ſchuldig, und wir wiſſen nicht, wie
harte Mittel es beſtimmen darf, ſie zu beſſern,
und durch ihr Exempel andre von dem Ungehorſa-
me der Unvorſichtigkeit und der Kuͤhnheit abzu-
ſchrecken. O Suͤnder, der du Gottes Gerechtig-
keit kenneſt, verſchiebe deine Beſſerung nicht
einen Augenblick; denn jeder Aufſchub vermehrt
die Suͤnden und die Strafen, und macht die
Beſſerung ſchwerer und ſchmerzhafter. Eine von
Jugend auf angewoͤhnte Tugend iſt leicht und
angenehm. Schwer iſt der Uebergang von dem
Laſter zur Tugend. Aber dieſe Schwierigkeit,
wenn ſie einmal da iſt, muß dich nicht ſchrecken.
Sie iſt der einzige Weg deiner Rettung und
Wohlfahrt.


§. 21.


Das Ziel des Verlangens iſt Luſt und Ver-
gnügen;
das Ziel des Abſcheues iſt die Befrey-
ung vom Schmerz und Verdruß.


Das
[32]Die Sittenlehre

Das allgemeine Verlangen nach Luſt und Ver-
gnuͤgen, und der allgemeine Abſcheu vor Schmerz
und Verdruß, heißt Selbſtliebe. Sie iſt die
Triebfeder aller unſrer Handlungen.


Die Gewohnheit, aus Selbſtliebe, vermittelſt
der Unwiſſenheit oder des Jrrthums, uns ſelbſt
zu ſchaden, oder vergebliche Muͤhe zu machen,
heißt Thorheit. Durch Laſter und Suͤnden
ſuchen wir unſer Verlangen oder unſre Selbſtliebe
zu erfuͤllen, und ſchaden uns dennoch ſelbſt. Alſo
gehoͤren ſie auch zu den Thorheiten.


Der Trieb einer laſterhaften und thoͤrichten
Selbſtliebe, heißt Eigenliebe, welche alſo gleich-
falls eine Thorheit iſt, und um unſers eignen Be-
ſtens willen abgelegt oder beſtritten werden muß.


Der Trieb zur liebreichen Tugend oder
zum gemeinnuͤtzigen Wandel iſt nicht nur gewiſſer-
maſſen natuͤrlich, ſondern auch fuͤr denjenigen,
der die Folgen der Tugend kennt, der wichtigſte
Theil der Selbſtliebe.


§. 22.


Ein Verlangen und ein Abſcheu, eine Hoff-
nung und eine Furcht, eine Freude und eine Trau-
rigkeit, welche ſo heftig ſind, daß ſie uns das
gewoͤhnliche Vermoͤgen zur Ueberlegung der Hand-
lungen und zur Beurtheilung der Umſtaͤnde rau-
ben, heiſſen Affecte.


Ver-
[33]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Verhüte, ſo viel du kannſt, die Heftig-
keit und das Wachsthum, und die oftma-
lige Wiederkehr der Affecten.
Dieſes wird
dir nach und nach gelingen, wenn du dich gewoͤh-
neſt, alle moͤgliche Zufaͤlle vorher zu uͤberlegen,
ehe ſie da ſind; den Schaden, der durch Affecte
zu geſchehen pflegt, an dir und andern zu bemer-
ken; die Umſtaͤnde, worinnen der angewoͤhnte
Affect dich zu uͤberraſchen pflegt, nach Moͤglichkeit
zu vermeiden; und in dem ſchwachen Anfange
eines ſonſt ſtaͤrker werdenden Affects den Rath
verſtaͤndiger Freunde zu hoͤren, oder dich ehema-
liger Lehren und Vorſaͤtze zu erinnern.


Verſchiebe, wenn es geſchehen kann,
eine jede wichtige Handlung, ſo lange du
deinen Affect merkeſt.
Denn er iſt merklich
genug, und ſelten ſind diejenigen Handlungen,
die im Affect geſchehen, gut oder die beſten.


§. 23.


Du biſt um Gotteswillen verbunden, liebreich
und gemeinnuͤtzig, oder tugendhaft zu wandeln,
wenn es auch in einzelnen Faͤllen nicht durch Ehre,
Gegenliebe und andre Vortheile vergolten wuͤrde.


Befoͤrdre alſo mit allen Kraͤften das allge-
meine Beſte
der Menſchen, der bekannten und
unbekannten, der gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen.


CEs
[34]Die Sittenlehre

Es giebt allgemeine Wuͤnſche und Vortheile,
die du in deinen Handlungen vor Augen haben
mußt. Handle gegen andre Menſchen ſo, wie du
ohne Unrecht wuͤnſchen wuͤrdeſt, daß ein andrer,
wenn du in ſeiner Stelle waͤreſt, gegen dich han-
deln moͤgte. Erfuͤlle die Wuͤnſche andrer eben ſo
wohl als die deinigen auf eine Art, welche nicht
wider das allgemeine Beſte, nicht wider die Tu-
gend, nicht wider das Geſetz iſt. Liebe alſo in
dieſem Verſtande deinen Nächſten als dich
ſelbſt.


Es iſt allen natuͤrlich, ſich auch an der Gluͤck-
ſeligkeit andrer zu vergnuͤgen, und ſich uͤber das
Elend andrer zu betruͤben. Nur der Affect macht,
daß man dieſer natuͤrlichen Neigung ſo oft zuwider
handelt. Und wer es oft gethan hat, dem wird
es zu einer Gewohnheit, welche uͤber die Men-
ſchen mehr zu herrſchen pflegt, als ihre eigne
Einſicht. Auf ſolche Art werden liebloſe
und grauſame Menſchen.


Aber gieb du auf dich ſelbſt acht, und glaube
es der Erfahrung der Tugendhaften, wie ſanft
und wie beſtändig das Vergnügen ſey, die
Wohlfahrt andrer
befoͤrdert und ihr Leiden
vermindert zu haben; wie durch Gewohnheit die
Staͤrke dieſes Vergnuͤgens ohne alle Reue an-
wachſe; wie ſehr es mit deinem Gewiſſen uͤber-
einſtimme;
[35]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
einſtimme; welches Zutrauen zu Gott, dem all-
gemeinen Vater, damit verbunden ſey. Men-
ſchenliebe; Menſchenliebe
iſt die vorzuͤglichſte
Quelle deiner eignen Gluͤckſeligkeit.


Aber, die Menſchenliebe muß mit Weisheit
handeln. Erfuͤlle keine Wuͤnſche, welche gemein-
ſchaͤdlich ſind. Diene nicht Einigen mit dem
wahren Schaden Mehrerer. Verurſache kein
ſolches kurzes Vergnügen, welches ein dauer-
haftes Uebel erzeugt. Achte keinen kleinern und
kürzern Verdruß oder Schmerz, wenn du von
dir und andern einen wichtigern dadurch abwen-
deſt, oder wichtigere Vortheile verurſachſt.


Handle niemals ohne Ueberlegung der Fol-
gen,
welche du nach dem Maaſſe deiner Erfah-
rung, oder nach dem Zeugniſſe der Verſtaͤndigen
wahrſcheinlich, oder wenigſtens vermuthlich fin-
deſt. Faſt die ganze Klugheit beſteht darinnen,
daß man das Maaß der Wahrſcheinlichkeiten rich-
tig wiſſe. Die Weisheit hat zur Haupregel, daß
nach dem richtigen Urtheile der Wahrſcheinlichkeit
muß gehandelt werden. Selbſtliebe und Men-
ſchenliebe ohne Weisheit wird oft ſehr ſchaͤdlich,
und iſt alsdann keine Tugend.


Fuͤhre mit deinem Wiſſen durch gleichguͤltige
oder unerlaubte Handlungen niemanden in Ver-
ſuchung zu ſuͤndigen; kurz, huͤte dich, der Tugend
C 2andrer
[36]Die Sittenlehre
andrer einen Anſtoß, oder ihnen ein Aergerniß
zu geben.
Lebe ſo erbaulich, daß andre durch
dein Exempel tugendhafter werden. Wenn du
fuͤr die Tugend leideſt; ſo verbirg den Schmerz,
den du fuͤhleſt, wenigſtens ſo, daß die Standhaf-
tigkeit dich nicht zu gereuen ſcheine. Wenn du
aber durch Tugend und Weisheit fremde Suͤnden
veranlaſſeſt, ſo iſt die Verſchuldung des Aerger-
niſſes bloß auf der andern Seite, und an der dei-
nigen ein unverſchuldetes Schickſal.


Weil das Künftige ungewiß iſt; ſo trifft
die menſchliche Weisheit nicht allemal das Ziel;
aber die Gluͤckſeligkeit wird dadurch ſchon ſehr
groß, weil es ſeltener verfehlt, als getroffen wird.


Laß dich deßwegen, weil der Erfolg oft
wider die Wahrſcheinlichkeit
eintrifft, nicht
abhalten, nach derſelben zu handeln, wenn nicht
der bloß moͤgliche Erfolg ſo wichtig iſt, daß du
deßwegen unterlaſſen mußt, den wahrſcheinlichen
kleinern Vortheil zu befoͤrdern, oder die wahr-
ſcheinlichen kleinern Uebel abzuwenden.


§. 24.


Die Arbeitſamkeit iſt ein großer Theil der
Pflichten gegen die Welt. Sie iſt der Trieb,
die Kraͤfte zur Erfindung, Beurtheilung, Anzei-
gung, Aufſuchung, Bewahrung, Verfertigung,
Ver-
[37]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Verbeſſerung und Vertheilung deſſen, was Men-
ſchen nuͤtzlich iſt, zu gebrauchen, oder uns zu
bemuͤhen, daß wir uns und andre zu ſolchen
Zwecken geſchickt machen. Alſo giebt es vielerley
Arbeiten.


Die Menſchen muͤſſen ſich ſo gegen einander
verhalten, daß alle, oder wenigſtens die mehre-
ſten unter ihnen, wirkſame Bewegungsgruͤnde zur
Arbeitſamkeit haben. Alſo muß das Verhaͤltniß
der Menſchen ſo beſchaffen ſeyn, daß die Faulenzer
ordentlicher Weiſe Mangel an Lebensmitteln,
Bequemiichkeiten und Vergnuͤgungen leiden, um
dadurch gebeſſert zu werden, oder andre von der
Faulheit abzuſchrecken. Dieſes geſchicht, wenn
derjenige, der Gewalt oder Liſt brauchen will,
ſich der Arbeit des andern zu bedienen, auch von
menſchlicher Macht Strafe zu fuͤrchten hat.


Eine brauchbare Sache iſt das Eigenthum
deſſen, der ſie zu ſeinen Zwecken beſtimmt, wenn
nach gemeinnuͤtzigen Regeln ein jeder andrer, der
ſie mit Gewalt oder Liſt zu ſeinen Zwecken brau-
chen wollte, Unrecht thut und Strafe zu erwar-
ten hat.


Wer etwas ſich zueignet, daß kein Eigen-
thum war, deſſen Eigenthum wird daſſelbe.
Denn ſonſt fehlt der Trieb, brauchbare Sachen
C 3auf-
[38]Die Sittenlehre
aufzuſuchen, zu bewahren, zu verbeſſern, und
ſich ſelbſt zum Gebrauche derſelben vorzubereiten.


Wer ſein Eigenthum nicht kenntlich erhaͤlt,
wer es verſchenkt, vertauſcht oder verkauft, hat
das Recht daran verlohren.


Wer ein verlohrnes Eigenthum, ohne es dem
Herrn wieder geben zu koͤnnen, findet, wer
etwas zum Geſchenke annimmt, eintauſcht oder
einkauft, der wird Eigenthums-Herr deſſelben.


Wer ſein Eigenthum verleihet, der verſchenkt
den Gebrauch auf einige Zeit, wer es verpachtet,
der vertauſcht denſelben. Alsdann wird der Andre
ein Eigenthums-Herr dieſes Gebrauches.


Manche verſchenken auf einige Zeit den Ge-
brauch ihres Vermoͤgens zu arbeiten; manche
verdingen ihn fuͤr Lohn, vermittelſt der Zuſage.


Damit uͤber das Eigenthum eines Kranken
und Verſtorbenen kein ihm und andern gefaͤhrli-
cher Streit entſtehe, muß ſein Teſtament gelten,
oder irgend ein Geſetz von Erbnehmung beobach-
tet werden, zum Beſten derer, denen der Ver-
ſtorbene ſchuldig war, vorzuͤglich Gutes zu thun.
Alſo wird ein Erbe Eigenthums-Herr deſſen,
was ihm zufaͤllt.


Gewaltſamer Raub und liſtiger Diebſtahl
des Eigenthums (oder ſeines Gebrauches) ſind
hoͤchſt-
[39]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
hoͤchſt ſtrafbare Verbrechen, weil das Recht des
Eigenthums ſo wichtig iſt.


Mordbrennerey, und eine jede Gewalt
oder liebloſe Unvorſichtigkeit, welche das Eigen-
thum des Naͤchſten verdirbt oder in Gefahr ſetzt,
iſt gleichfalls hoͤchſt ſtrafbar.


Ein Sclave iſt ein Menſch, der gewaltſam
gezwungen wird, fuͤr denjenigen zu arbeiten, der
ſich ſeinen Herrn nennt. Und die Sclaverey iſt
der Zuſtand des gewaltſamen Zwanges zur Arbeit
fuͤr einen andern.


Wer nichts verbrochen hat, um zur Strafe
Sclave zu ſeyn, oder wer auſſer der Sclaverey
nicht gemein-ſchaͤdlich waͤre, muß von niemanden
auf einige Zeit oder auf immer in den Sclaven-
ſtand geſetzt werden. Der Raub der Freyheit,
oder der ungerechte Zwang zur Sclaverey iſt
ein abſcheuliches Verbrechen. Der Menſchen-
raub
aber iſt die ungerechte Gewalt, die jemand
ausuͤbt, einen Menſchen zum Sclaven zu haben,
oder andern zu verkaufen, oder jemanden ſeine
Kinder zu nehmen.


Gewalt an Leib und Leben iſt Feſſelung,
Schlag, Verwundung, Todſchlag, oder Drohung
dieſes Verfahrens. Dieſe Gewalt iſt alsdann
ungerecht, wenn ſie keine gemeinnuͤtzige Strafe
oder Bedrohung der Miſſethaͤter, oder keine ge-
C 4meinnuͤtzige
[40]Die Sittenlehre
meinnuͤtzige Art der Gegenwehr iſt, ſondern mit
Vorſatze oder aus ſtraffaͤlliger Unvorſichtigkeit von
demjenigen geſchicht, der nach gemeinnuͤtzigen
Regeln ſo nicht handeln darf.


Die Menſchen muͤſſen ſich ſo gegen einander
verhalten, daß Verträge uͤber das Eigenthum,
uͤber den Gebrauch deſſelben, und uͤber die Arbei-
ten kraͤftig bleiben, und daß der Betrüger
Zwang oder Strafe zu fuͤrchten hat.


Handlungen, deren gewaltſame Strafe oder
Bedrohung gemeinnuͤtzig iſt, heiſſen grobe Ver-
brechen, 1) wider Leib und Leben,
als
Mord, Todtſchlag, Verwundung und Schlag,
oder die Androhung derſelben. 2) wider die
Freyheit,
als Feſſelung, ungerechter Zwang zur
Sclaverey oder Menſchenraub, oder die Andro-
hung derſelben. 3) wider die Güter oder das
Vermögen,
als Raub, Diebſtahl, Morobrenne-
rey, andre Beſchaͤdigung der Guͤter, und der
Betrug, oder die Androhung derſelben. 4) wider
andre Geſetze,
welche von der Geſellſchaft fuͤr
nothwendig, und deren Uebertreter fuͤr ſtraffaͤllig
erkannt werden, als Unzucht, Laͤſterung des ehr-
lichen Namens, und Ungehorſam gegen den Wil-
len der Mehreſten, oder gegen die Vorſteher der
Geſellſchaft, das iſt, gegen die Obrigkeit.


Das
[41]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Das Geſetz, grobe Beleidigungen oder grobe
Verbrechen zu vermeiden, heißt das Geſetz der
Sicherheit,
weil keines Menſchen Wohlfahrt
ohne daſſelbe ſicher ſeyn wuͤrde.


Dieſes Geſetz wuͤrde von wenigen Menſchen,
die mancherley Begierden und Affecte haben, be-
obachtet werden, wenn kein maͤchtiger Wille zu
ſtrafen und das gemeine Beſte zu beſorgen, da
waͤre. Dieſer maͤchtige Wille heißt die höchſte
Obrigkeit
oder Majeſtät, und iſt entweder in
einer einzigen Perſon, welche Kaiſer, Koͤnig oder
Fuͤrſt heiſſet, oder in einer regierenden Rathsver-
ſammlung.


Alle Menſchen, welche unter derſelben Maje-
ſtaͤt ſtehen, heiſſen ein Staat. Derjenige Staat,
durch welchen du Sicherheit genieſſeſt, iſt dein
Vaterland.


Die Arbeit der Obrigkeit iſt, Geſetze ge-
ben, das Verhalten der Unterthanen erforſchen,
Streitigkeiten entſcheiden, belohnen und ſtrafen.


Einige ihrer Gehülfen oder Staatsbediente,
ſind Unterobrigkeiten, Raͤthe, Aufſeher, Unter-
richter, Schreiber, Soldaten und Scharfrichter.


Die Regierung oder das Geſchaͤft der Majeſtaͤt
ſoll zum gemeinen Beſten des Staats oder der
Unterthanen abzielen, und hat in den meiſten
Stuͤcken wirklich dieſen Zweck. Zum Aufwande,
C 5welchen
[42]Die Sittenlehre
welchen die Regierung und die Anſtalt zum ge-
meinen Beſten erfodert, muͤſſen alſo die Untertha-
nen contribulten durch Auflagen, als Steuer,
Acciſe, Kopfgeld, Zoll oder auf andre Art.


Daher bedarf die Regierung auch der Einneh-
mer und Schatzverwalter.


Der Fuͤrſt, ſeine Familie, ſeine gegenwaͤrti-
gen Raͤthe, und ſeine Hausbediente, heiſſen der
Hof.


Der Hof wuͤnſcht natuͤrlicher Weiſe bequem,
angenehm und in Pracht zu leben, und hat nach
den Regeln der Tugend in einem ſolchen Grade
das Recht dazu, daß die dazu noͤthige Contribu-
tion nicht das Land druͤcke.


Der Unterthan iſt ſchuldig, der Unterobrig-
keit nach dem Willen der Majeſtaͤt, und der Ma-
ſtaͤt ſelbſt nach ihrem eigenen Willen zu gehor-
chen,
theils, weil das obrigkeitliche Recht zu
befehlen gemeinnuͤtzig und alſo von Gott geboten
iſt; theils weil der Ungehorſam gemeiniglich
Zwang und Strafe zu fuͤrchten hat.


Der Ungehorſam gegen die Obrigkeit
iſt alſo ein grobes Verbrechen. Dazu gehoͤrt 1)
Betrug in Contribution, 2) Widerſetzung gegen
die obrigkeitliche Macht, in Meuterey und
Rebellion,
3) der gemeinſchaͤdliche Misbrauch
der
[43]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
der von dem Staate aufgetragnen Aemter. 4)
Die Verſaͤumung der Pflichten in denſelben. 5)
Alles verbotene Reden und Schreiben wider die
Obrigkeit und Geſetze. 6) Alle Erdichtungen
eines obrigkeitlichen Befehls. 7) Aller Raub,
Diebſtahl, Betrug, unerlaubter Gebrauch, uner-
laubte Gewalt, unerlaubte Unvorſichtigkeit, wel-
che den Guͤtern des Staats ſchaden u. ſ. w.


§. 25.


Du weißt, der Krieg ſey ein ſolcher Zuſtand,
in welchem zwey Majeſtaͤten ihrer Armee und ihren
Unterthanen befehlen, Gewalt gegen die Armee
und Unterthanen des fremden Staats zu gebrauchen,
oder ihnen mit Gewalt zu widerſtehen.


Die Urſachen des Befehls zum Kriege
ſind 1) daß die Majeſtaͤt ihren Staat ohne die
Veraͤnderung, welche durch den Krieg gehofft wird,
vor dem andern Staate nicht fuͤr ſicher haͤlt;
2) Wenn eine Majeſtaͤt in Meynung des Rechtes,
oder aus Herrſchſucht und Geiz etwas fordert,
welches die andre aus eben ſolchen Urſachen nicht
thun will. Alſo iſt die Abſicht des Kriegs, daß
der andre Staat gezwungen und geſchwaͤcht etwas
thun oder laſſen ſoll, welches er vor dem Zwange
und vor der Schwaͤchung nicht will.


Der
[44]Die Sittenlehre

Der Krieg iſt eine traurige aber gewoͤhnliche
Folge des Streites uͤber das Recht der Staaten
gegen einander, oder derer durch die Nachrichten
und Raͤthe veranlaßten Begierden und Jrrthuͤmer
der Majeſtaͤten.


Der Unterthan ſoll nicht ſeinem eignen Urtheile
folgen; ſondern gehorchen. Alſo muß man auch
dem Befehle zum Kriege folgen, wenn er
gleich fuͤr unnoͤthig, und folglich fuͤr unrecht gehal-
ten wird. Ueberdieſes wuͤrde die Weigerung nichts
helfen, und wider das geſchehene Verſprechen der
Soldaten ſeyn.


Aber man muß im Kriege niemanden einen
groͤſſern Schaden zufuͤgen, als die Obrigkeit gebo-
ten hat. Denn weiter von der Ausuͤbung der
allgemeinen Menſchenliebe abzuweichen, hat man
ſelbſt im Kriege keinen guͤltigen Bewegungsgrund.


§. 26.


Huͤte dich, mein Sohn, mit der aͤuſſerſten
Sorgfalt vor den groben Verbrechen. Denn,
auſſer daß ſie gemein-ſchaͤdlich und laſterhaft ſind,
unterwerfen ſie dich noch der Strafe oder der
Angſt vor derſelben.


Gehorche allezeit mit Genauigkeit den
Geſetzen deines Vaterlandes,
ſo beſchwerlich ſie
dir auch ſeyn moͤgen. Denn die meiſten ſind auch
ohne
[45]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
ohne dein Wiſſen gemeinnuͤtzig; der Ungehorſame
aber wird endlich nach und nach verwegener, und
mehrentheils entdeckt und ungluͤcklich. Ueberdies
haſt du deine eigne Sicherheit und einen groſſen
Theil deiner Wohlfahrt von dem Gehorſame Andrer
gegen die Geſetze. Und ein jeder Ungehorſam,
welcher gelungen zu ſeyn ſcheinet, kann ein dir
ſchaͤdliches Exempel geben.


Sollten Laſter von der Obrigkeit befohlen wer-
den; ſo fliehe oder leide die Folgen der Weigerung.
Aber gehorche nicht.


Wenn du weißt, daß du nach den Geſetzen der
Majeſtaͤt Soldat ſeyn ſollſt: ſo entziehe dich
nicht dem Vaterlande, ſondern trage die Beſchwer-
lichkeit und wage dein Leben mit Muth, nach den
Befehlen der Vorgeſetzten, um des Gewiſſens und
der wahren Ehre willen.


Waͤhle den gefaͤhrlichen Kriegsſtand, welcher
nach der itzigen Verfaſſung zugleich groſſe Beſchwer-
lichkeit und groſſe Verſuchungen zu Laſtern hat,
nicht ohne Befehl, wo du nicht glaubſt, in dem-
ſelben gemeinnuͤtziger zu ſeyn, als in einem andern
Zuſtande.


Will man dich mit Gewalt auf eine ſolche Art
werben, von der du weißt, daß ſie wider die Ge-
ſetze iſt, ſo treibe deine Klage, bis du Recht erhaͤltſt,
wenn
[46]Die Sittenlehre
wenn es moͤglich und noͤthig iſt, bis an die Majeſtaͤt.
Verſperret man dir aber mit Gewalt den Zugang
zur hoͤhern Obrigkeit, wider den Jnhalt der Lan-
desgeſetze; ſo wehre dich gegen die gewaltſamen
Werber, als gegen Menſchenraͤuber, damit du zu
ihrem Schrecken ein gutes Exempel gebeſt, wenn
du auch leiden mußt.


Verlaß dein Vaterland, wenn du daſelbſt
ein gemeinnuͤtziges Leben fuͤhren kannſt, nicht um
deiner Privat-Vortheile willen: und ſchade nicht
aus Eigenliebe dem allgemeinen Beſten.


Suche keine Staatsämter, und nimm ſie
nicht an, wenn du weißt, daß du Andern, die
ſie beſſer verwalten koͤnnen, dadurch im Wege ſteheſt.


Suche keine Titel von ſolchen Staatsaͤmtern,
die du nicht bekleideſt, oder verdienſt. Denn ſolche
Ehrenzeichen muͤſſen zum gemeinen Beſten die Be-
lohnung ſolcher Verdienſte ſeyn.


Wenn du zweifelſt, welche Perſonen mit Recht
die hoͤchſte Obrigkeit im Lande ſind, welches in
Staatsverwirrungen, da die Partheyen mit
einander daruͤber ſtreiten, und innerlichen Krieg
fuͤhren, Statt findet; ſo erklaͤre dich, wenn du
nicht gezwungen wirſt, bis zum Ausgange der
Sache fuͤr keine Parthey, aber gehorche derjeni-
gen, welche Gewalt uͤber dich hat.


Ver-
[47]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Verſaͤume nichts, was deinem Vaterlande
nützlich iſt, und wenn du auch Undank und Wi-
derwaͤrtigkeit davon zu erwarten haͤtteſt.


Thue für das Leben und für die Wohl-
fahrt des Fuͤrſten,
beſonders, wenn er den Ruhm
eines weiſen und guͤtigen Herrn hat, auch unge-
zwungen und mit Vorſatz alles, wozu der Affect
der heftigſten Liebe dich zum Beſten eines Menſchen
antreiben koͤnnte. Denn, wenn ein Fuͤrſt uͤber-
zeugt iſt, ſolcher Unterthanen viele zu haben, ſo
empfindet er einen beſondern Antrieb zur Zaͤrtlich-
keit fuͤr ſein Volk.


Alle dieſe Arten der Liebe zum Vaterlande
befoͤrdern das gemeine Beſte deſſelben, ohne andern
Menſchen mehr zu ſchaden, und ſind alſo Pflichten
der Tugend um Gotteswillen.


§. 27.


Ein Knabe, welcher Gelegenheit dazu hat, muß
ein beſondres Handwerk, eine beſondere Kunſt,
ein beſondres Gewerbe, oder auch einen Theil der
Gelehrſamkeit, mit einem Worte die Beſchaͤftigung
einer beſondern nützlichen Lebensart, in der
Jugend erlernen. Denn ſolcher Tageloͤhner und
Hausbediente, die ſich durch ihre Kraͤfte, oder
ihren Gehorſam naͤhren, ohne ein erlerntes Ge-
ſchaͤfft zu treiben, werden immer gnug ſeyn.


Wider
[48]Die Sittenlehre

Wider den Rath ſeiner Eltern und Vormuͤn-
der kann ein Knabe ſich keine Lebensart waͤhlen,
und muͤßte es auch nicht thun, wenn er koͤnnte.
Denn dieſe kennen ſeine Kraͤfte und Umſtaͤnde,
und die Geſchaͤfte in den verſchiednen Lebensarten
beſſer, als er ſelbſt.


Die Nahrung in einigen Lebensarten iſt ſtand-
hafter, als in andern. Bey gleichen Umſtaͤnden
ſind jene dieſen vorzuziehen.


Die Wahl gewiſſer Lebensarten gelingt ordent-
licherweiſe nicht zum allgemeinen Beſten und
zum Vortheil des Knabens, wenn er kein ererbtes
Vermoͤgen oder keinen groſſen Beyſtand der Eltern,
Verwandte und Freunde zu erwarten hat. Solche
zu waͤhlen, muß ihm nicht angerathen werden.


Einige Lebensarten ſind beſſer fuͤr ſchwaͤchere
Perſonen, andre fuͤr ſtaͤrkere, einige nach einer
ſolchen, einige nach einer andern Erziehung. Alles
dieſes muß man bey einer Wahl der Lebensart be-
denken.


Wenn nicht beſondre Zufaͤlle kommen, oder der
Mangel der Weisheit es verhindert; ſo ſind die
Menſchen und Familien in den mehrſten Lebens-
arten, ſie moͤgen vornehm oder geringe ſeyn, gleich
gluͤcklich. Traue dieſes den Weltkundigen, du
wirſt es ſelbſt einſehn lernen.


Aber
[49]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Aber huͤte dich vor aller Untreue, vor Faulheit
und vor Mißfaͤlligkeit, und beſtrebe dich durch Auf-
merkſamkeit und Fleiß, in deinem erwaͤhlten Ge-
werbe einer der Beſten und Fertigſten zu werden
und zu bleiben, ſo wirſt du wahrſcheinlicher Weiſe
in deinem kuͤnftigen Stande zureichendes Brodt
haben, wo du es nicht durch Laſter verliereſt, wo-
vor du dich huͤten kannſt; oder durch unwahrſchein-
liche Ungluͤcksfaͤlle, welche zum unvermeidlichen
Schickſale gehoͤren.


Arbeit iſt eine ſolche Art der Beſchaͤfftigung,
welche wenigſtens ſcheinet, zum Nutzen der Men-
ſchen zu gereichen. Alſo iſt ein jeder, auch der
Reichſte, verbunden, in dem groͤßten Theile der
Wochen zu arbeiten. Denn wer keiner Bezahlung
bedarf, kann ſeine Arbeiten an Freunde und Aer-
mere verſchenken.


Die Arbeitſamkeit iſt dem, der ſich dazu
gewoͤhnt hat, bis zur Ermuͤdung ein beſtaͤndiges
Vergnuͤgen, welches durch das Andenken an geſche-
hene Arbeiten, an die dadurch geleiſteten Dienſte,
und an die dadurch befoͤrderte Ehre, Vortheile und
Hoffnungen, bis zu einem hohen Grade anwaͤchſt,
und ſowohl die lange Weile, als die ſchlimmſten
Laſter und Thorheiten verhindert. Ein arbeitſamer
Menſch iſt ſchon dadurch halb tugendhaft.


DAber
[50]Die Sittenlehre

Aber die Aufſicht auf die Geſchaͤfte Andrer,
die weiſe und liebreiche Verwaltung eines groſſen
Vermoͤgens und die haͤusliche Regierung uͤber eine
zahlreiche Familie, iſt vielen, die in ſolchen Um-
ſtaͤnden ſind, Arbeit gnug, wenn ſie gleich ihre
Haͤnde nicht, wie die Kuͤnſtler, Handwerker und
Tageloͤhner, brauchen. Dieſer Zuſtand iſt gewoͤhn-
lich bey bejahrten Perſonen, welche in der Jugend
ordentlich und gluͤcklich auf eine andre Art gearbei-
tet haben.


§. 28.


Alles, es ſey klein oder groß, was jemand
ohne Wiſſen und Willen deſſen, dem es gehoͤrt,
ſich zueignet, braucht oder genieſſet, macht ihn
zum Diebe oder Betrüger.


Alle Diebe, welche zuletzt in die Zuchthaͤuſer,
an den Pranger, oder an den Galgen kommen,
haben den Anfang ihrer Laſter damit gemacht, daß
ſie naſchten, in Hoffnung des Erſatzes fremdes
Geld brauchten; fuͤr ihre Eltern und Herrn mehr
einnahmen oder weniger ausgaben, als ſie ſagten,
oder daß ſie Unterſchleif machten; daß ſie Kleinig-
keiten ſtahlen, oder gefundne Sachen dem bekann-
ten Herrn nicht zuruͤck gaben. Solche Laſter reizen
zum groͤſſern Diebſtahle, entweder weil ſie gelun-
gen ſind, oder weil die Entdeckung eine ſolche
Schande
[51]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Schande verurſacht hat, in welcher es ſchwerer
geworden iſt, auf eine ehrliche Weiſe Brod zu
verdienen, oder die Mittel zur gewohnten Ver-
ſchwendung zu haben.


Werde niemals ſo gewiſſenlos, ſo niedertraͤch-
tig und ſo tollkuͤhn, den erſten kleinen oder groſſen
Diebſtahl und Betrug zu begehn. Wuͤnſche nie-
mals, es auch mit der groͤßten aͤuſſerlichen Sicher-
heit zu koͤnnen. Die Augen Gottes, deines Vaters,
Herrn und Richters ſehen an allen Orten, ſogar
in deine Gedanken und Wuͤnſche. Einen diebiſchen
und betruͤgeriſchen Menſchen verraͤth faſt ein jeder,
und man weis gemeiniglich ſchon Vieles von ihm,
ehe er glaubt, einen Verdacht erregt zu haben.
Beſchimpfe nicht dein ganzes Leben. Der Dieb-
ſtahl und Betrug wird ſelten vergeſſen, und das
Geruͤcht davon folgt in alle Laͤnder. Fuͤr einen
einzigen Dieb und Betruͤger, der unentdeckt ſtirbt
oder ſich beſſert, ſind tauſende ganz ungluͤcklich.
Ein einziger Diebſtahl und Betrug ſetzt oft viele
Unſchuldige in Angſt und Verdacht. Betruͤbe
niemals durch dieſes Laſter deine wohlthaͤtige Eltern
und alle, die bisher aus Liebe Gutes von dir
hoffen.


Ob Etwas im Gewerbe ein Betrug ſey,
oder nicht, daruͤber koͤnnen Fragen entſtehn, die
ich dir itzung nicht alle aufloͤſen kann. Schon im
D 2Zweifel
[52]Die Sittenlehre
Zweifel muß ein Tugendhafter den Vortheil des
Andern dem ſeinigen vorziehn. Alsdann haͤlt er
ſich gewiß rein von der Suͤnde. Uebrigens iſt es
mehrentheils eine Wahrheit, daß alles dasjenige
kein Betrug ſey, welches, wenn es oͤffentlich be-
kannt wird, keine Schande oder uͤble Nachrede
nach ſich zieht. Wuͤrde aber die Entdeckung eine
Schande bringen; ſo iſt in den Handlungen alle-
mal Etwas Betrug.


Schulden muß niemand machen, der nicht
entweder eben ſo viel Vermoͤgen, oder groſſe
Wahrſcheinlichkeit, ſie bezahlen zu koͤnnen, und
zugleich den fortdaurenden Eifer hat, durch Fleiß
und Sparſamkeit die Mittel zur Bezahlung zu
erwerben.


Ein Kaufmann, der Banquerot zu machen
gezwungen iſt, muß ſeinen Creditoren alle Theile
ſeines Vermoͤgens ſagen. Sonſt iſt er ein Be-
truͤger.


Jn einigen Sachen entſcheiden die Geſetze
und Sitten der Zeiten und Laͤnder, ob etwas ein
Betrug ſey oder nicht. Folge in dieſem Urtheile
den Geſetzen und Sitten deines Vaterlandes.


Es iſt ein Betrug, ein Pfand zu geben,
welches ſo viel nicht werth iſt, als man ſagt.
Wer den hoͤhern Werth deſſelben glaubt, wird
leicht dadurch in Schaden geſetzt.


Auch
[53]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Auch iſt ein Betrug, irgend etwas Anvertraue-
tes, ein Pfand oder ein Pachtgut durch einen
nicht zugeſtandnen Gebrauch abzunutzen oder in
Gefahr zu ſetzen.


Es iſt ein Betrug, mit Wiſſen falſches
Geld auszugeben,
Denn zuletzt koͤmmt irgend
einer dadurch in Schaden. Haſt du es fuͤr gut
empfangen, ſo iſt es dein Verſehen und Ungluͤck,
welches du ſelbſt tragen mußt.


Die Münzer falſches Geldes ſuchen einen
groſſen Theil des menſchlichen Geſchlechtes zu be-
truͤgen. Denn wenn es gleich an Gehalt ſo gut
waͤre, als das wahre Geld; ſo haben ſie doch
wider die Sicherheit des oͤffentlichen Zeugniſſes
gehandelt, welches in dem Gepraͤge iſt. Ohne
dieſe Sicherheit aber wird das nuͤtzliche Gewerbe
unter den Menſchen verhindert, verzoͤgert und
vielen Unſchuldigen ſchaͤdlich. Der Vortheil der
Muͤnzung gehoͤrt dem Staate.


Die Geldbeſchneider verurſachen faſt aͤhn-
lichen Schaden. Denn das zu leichte Geld wird
endlich bekannt, und nur mit Abzug angenommen,
welches dem Unſchuldigen zum Schaden gereicht.


Niemand iſt berechtigt, das Geld zu kippen
und zu wippen,
oder, dasjenige, was zufaͤlli-
ger Weiſe etwas zu leicht geſchlagen iſt, zur Aus-
gabe auszuſuchen, und das andre, welches zu
D 3ſchwer
[54]Die Sittenlehre
ſchwer geſchlagen iſt, zur Beſchneidung oder zur
Umſchmelzung zu behalten. Denn 1) groſſe
Summen von einer Geldſorte werden oft gewo-
gen. Alsdann haben die Wipper dem Unſchuldi-
gen einen Schaden verurſacht. 2) Es iſt oft
noͤthig, daß Geld umgeſchmolzen werde. Alsdann
hat derjenige einen Schaden, welcher durch
Schuld der Wipper zu leichte Stuͤcke geſammlet
hat.


Niemand darf ohne Wiſſen des Andern ihm
eine Obligation zur Bezahlung deſſen, was er
nicht empfangen hat, auflegen. Alſo iſt es eine
dem menſchlichen Geſchlechte hoͤchſt gefaͤhrliche
Art des Diebſtahls, falſche Obligationen, falſche
Rechnungen, falſche Bancozettel, falſche Wech-
ſelbriefe und falſche Endoſſementer zu machen.


Eine aͤhnliche Art ſolcher groben Verbrechen
iſt, falſche Quitungen, falſche Teſtamente
und falſche Contracte zu ſchreiben.


Alle dieſe Verbrechen werden zum Nutzen der
menſchlichen Geſellſchaft als grobe Arten des
Diebſtahls und Betrugs von der Obrigkeit, und
gemeiniglich an Leib und Leben, geſtraft.


Beſchuldige niemanden des Diebſtahls
und Betrugs
mit Worten, wenn es nicht gewiß
und vor der Obrigkeit erweislich iſt, daß er ihn
begangen habe. Eben ſo vorſichtig ſey mit allen
Beſchul-
[55]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Beſchuldigungen, welche dem ehrlichen Namen
ſchaden. Denn der Menſch kann in dieſem Falle
unſchuldig ſeyn, und wenn ers auch nicht iſt, ſo
hat die Obrigkeit verbothen, ſolche unerweisliche
Beſchuldigungen zu ſagen, und beſtraft den Ueber-
treter mit Recht. Jch ſchweige von dem Ungluͤk-
ke, dem Zorne und der Rache des Beſchuldigten.
Alſo beſchuldige niemanden ohne Erweislichkeit;
und ſelbſt alsdann, wenn die Sache erweislich iſt,
ſo uͤberlege die Folgen des Schweigens und der
Anſchuldigung nach den Regeln der Weisheit
und Menſchenliebe; damit das mehreſte Gute
und das mindeſte Boͤſe wahrſcheinlicher Weiſe
erfolge.


Wer genau zu rechter Zeit bezahlt, erwei-
ſet manchen, und beſonders den Aermern, eine
Wohlthat, und mehrt ſeinen Credit, welcher ihm
im Handel ſehr nuͤtzlich wird.


Verſprich die Bezahlung lieber ſpaͤter, als ſie
wahrſcheinlicher Weiſe geſchehen wird. Leiſte ſie
ohne deinen Schaden fruͤher, als du ſie verſprochen
haſt. Hoffe ſie aber ſpaͤter von andern, denn die
mehreſten Menſchen ſind unvorſichtig im Verſpre-
chen, und ſaumſelig im Worthalten, weil ihnen
viele Grade der Klugheit und Tugend fehlen.


Wer des Betruges oder des Diebſtahls ſchul-
dig geweſen iſt, der faͤhrt gaͤnzlich fort, es zu
D 4ſeyn,
[56]Die Sittenlehre
ſeyn, bis er den Vorſatz ausfuͤhrt, jeden moͤgli-
chen Theil des Schadens zu erſetzen, oder den
Betrag ſeines unerlaubten Gewinnſtes unbekann-
ter Weiſe an Wohlthaten zu verwenden, die er
ſich ſchlechterdings als kein Verdienſt anrechnen
will. Denn wenn dieſe Entledigung, von allem
unerlaubter Weiſe gewonnenen Gute, keine
Pflicht waͤre: ſo wuͤrde der Reiz, durch Dieb-
ſtahl und Betrug zu gewinnen, ſtaͤrker werden.
Alſo iſt ſie eine Pflicht des Schuldigen, welcher
ſein Gewiſſen befriedigen will.


§. 29.


Einiges Vermoͤgen an Geld, oder an ſolchen
Sachen, die dem Gelde gleich ſind, iſt mehren-
theils nuͤtzlich. Sey alſo erwerbſam, und ſparſam,
aber ohne Affect der Gewinnſucht und des Geizes.
Denn der Geiz iſt wieder den erſten Zweck der
Geldliebe, ſtoͤhrt das Vergnuͤgen unſrer Selbſt
und Andrer, macht mißfaͤllig, lieblos und ungerecht.


Groſſer Reichthum iſt der Tugend und wahren
Gluͤckſeligkeit gefaͤhrlich. Wenn er dir zufiele, ſo
ſetze dich durch uͤberlegte Wohlthaten bloß in den
Stand einer, vor den gewoͤhnlichen Urſachen des
Mangels geſicherten, Mittelmaͤßigkeit.


Mit Klugheit und Tugend mußt du dein Ver-
moͤgen zum wahren Beſten deiner ſelbſt und Andrer
an-
[57]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
anwenden, oder zu dieſem Zwecke aufbewahren.
Alle Sorgloſigkeit und aller Aufwand, wenn ſie
mit dieſer tugendhaften Klugheit nicht beſtehn, ſind
Verſchwendung und Fehler oder Laſter.


§. 30.


Ehre iſt die Meinung Andrer von unſerm
innerlichen und aͤuſſerlichen Vermoͤgen und von
unſerm gewoͤhnlichen Vorſatze, Gutes zu thun.
Suche wahre Ehre; ſie nuͤtzet ſowohl dir, als
denen, die dich hochachten, und macht dich geſchick-
ter, vielen nuͤtzlich zu ſeyn.


Meide den Affect des Ehrgeizes. Er verfehlt
ſeines Zweckes, oder beſchaͤftiget dich an Statt
des Beſſern, mit Kleinigkeiten, oder reizt dich zu
Suͤnden und gemeinſchaͤdlichen Handlungen.


Wer dich nach Verdienſten nicht ehrt, der
irrt, oder iſt, in Anſehung deiner, unwiſſend.
Handle ſo, daß er dein Gutes kennen lerne. Aber
halte dich nicht ſo fuͤr beleidigt, daß du ihn haſſen
oder ſtrafen, oder dich kraͤnken muͤſſeſt. Alles
dieſes ſind keine Mittel wider die Unbekantſchaft
deiner Verdienſte.


Trachte nicht nach den willkuͤhrlich geſetzten
Zeichen der vorzuͤglichen Ehrwuͤrdigkeit, wenn
dir der Werth fehlet, oder wenn die Zeichen dir
D 5und
[58]Die Sittenlehre
und denen, womit du umgehn mußt, mehr Ver-
druß als Vortheil bringen.


Der gute Name iſt die allgemeine Ehre aller
Menſchen, von denen nicht bekannt iſt, daß ſie
Friedensſtoͤhrer und Bundbruͤchige ſind. Erhalte
deinen guten Namen bey allen, nicht nur durch
Tugend, ſondern auch durch Meidung der gewoͤhn-
lichen Zeichen des Laſters, und durch Beobachtung
des tugendhaften Wohlſtandes.


Handle allen gleichguͤltigen und ſelbſt den fehler-
haften Gewohnheiten gemäß, wenn du ihrent-
wegen nur einige Beſchwerlichkeit ertragen, nicht
aber Suͤnde thun ſollſt, und wenn du keinen Be-
ruf, das iſt, nach Wahrſcheinlichkeit kein Vermoͤ-
gen haſt, ſie durch dein Exempel zu beſſern.


Schaͤme dich nicht, deine Fehler und Ver-
brechen deinen Freunden, Rathgebern und
beleidigten Gegnern zu geſtehen;
aber ſchaͤme
dich, ſie zu rechtfertigen oder fortzuſetzen.


Der Hochmuth iſt eine falſche Meinung, daß
wir vorzuͤglich klug, vermoͤgend, ſchoͤn und tugend-
haft, oder doch in ſolchen vorzuͤglichen Umſtaͤnden
ſind, daß Andre um deswillen uns gewiſſe andre
Vorzuͤge einraͤumen muͤſſen, oder daß wir uns
dieſelben mit Recht anmaſſen koͤnnen. Der Hoch-
muth mißfaͤllt allen, erreicht ſeine Wuͤnſche nicht,
und hindert unſer Beſtreben nach den Vorzuͤgen,
die
[59]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
die wir uns einbildeu. Der Stolz iſt das aͤuſſer-
liche Bezeigen eines Hochmuͤthigen. Mancher iſt
hochmuͤthig, und weiß den Stolz zu vermeiden.
Mancher handelt ſtolz aus Unerfahrenheit, ob er
gleich nicht hochmuͤthig iſt.


Die Demuth iſt das beſtaͤndige Beſtreben,
den Hochmuth; und die Beſcheidenheit das be-
ſtaͤndige Beſtreben, den Stolz zu vermeiden.


Weil wir taͤglich mehr erfahren, daß die Men-
ſchen zu vortheilhaft von ſich ſelbſt, und zu nach-
theilig von andern denken; ſo beſteht die Pflicht
der Demuth in dem Zweifel an unſern Vorzuͤgen.
Wenn die aͤuſſerlichen Zeichen deines Vorzuges
mißfallen und kraͤnken, ohne mehr zu nuͤtzen; ſo
verbirg denſelben; alsdann handelſt du der Beſchei-
denheit gemaͤß.


Die Ehre des Worthaltens, der Dankbarkeit,
der Friedfertigkeit, des Fleiſſes, der Ordnung in
unſern Geſchaͤften, der Dienſtfertigkeit, der Ge-
faͤlligkeit und der Reinlichkeit, iſt diejenige, die
uns, beſonders, wenn wir kein ererbtes Ver-
mögen haben,
gemeiniglich gluͤcklich und gemein-
nuͤtzig macht.


Sey weiſe und gemeinnuͤtzig. Die Ehre
wird endlich folgen.
Denn Gott vergilt das
Gute in Ewigkeit, zum Beſten ſeines ganzen
Reiches.
[60]Die Sittenlehre
Reiches. Alſo wird es einmal erkannt werden,
wie rechtſchaffen und gut du geweſen ſeyſt.


§. 31.


Andern iſt ihre Ehre ſo lieb, als dir die deinige.
Luͤgenhafte Verkleinerung, Verleumdung und
Läſterung des guten Namens
ſind alſo ſehr
laſterhafte, ſehr ſtrafbare Handlungen.


Wenn die Entdeckung der Verbrechen
deines Naͤchſten uͤberhaupt mehr ſchadet, als dir
oder andern nuͤtzt; ſo mußt du, wenn es moͤglich
iſt, ſie verſchweigen, entſchuldigen oder verringern.


Die Geſinnungen, Handlungen und Werke
einer in ihrem Stande vorzuͤglich weiſen und tu-
gendhaften Perſon mußt du bey aller Gelegenheit
rühmen, damit ſie ſich ihrer Verdienſte freue,
brauchbarer werde, und Nachahmer finde. Ueber-
haupt ruͤhme ſo oft du kannſt, ſchon ohne weitere
Urſache, als um gefaͤllig zu ſeyn. Aber tadle nur,
ſo oft du wegen eines den Verdruß uͤberwiegenden
Nutzens mußt.


Vornehmlich aber, wenn eine Perſon oder ein
Werk vorzuͤglich gut iſt, ſo rede nicht ohne be-
ſondern Nutzen, von ihren Fehlern und Män-
geln.
Denn die mehrſten Menſchen ſind neidiſch,
und achten ſolche Fehler fuͤr zu groß; dazu mußt
du nichts beytragen.


Die
[61]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Die unſchuldig angegriffne Ehre Andrer, be-
ſonders, wenn ſie vorzuͤglich gute Menſchen ſind,
oder wenn du mit ihnen in beſondrer Verbindung
ſtehſt, oder es ohne deine Huͤlfe ſchwerlich geſchehen
kann, mußt du mit tugendhaftem Muthe ver-
theidigen,
ſollte es dich auch im Anfange einige
Vortheile koſten.


Haſt du aus Jrrthum, oder aus andern Ur-
ſachen jemanden an ſeiner Ehre beleidigt; ſo er-
ſetze dieſen Schaden
ſo gut du kannſt. Denn
die Ehre iſt oft wichtiger und angenehmer, als
vieles Geld.


§. 32.


Sey jederzeit mäßig im Genuſſe der Nah-
rungsmittel.
Jß und trink auf eine ſolche Weiſe,
in ſolcher Maaſſe, und Sachen von ſolcher Be-
ſchaffenheit, daß du deiner Geſundheit nicht ſcha-
deſt; daß du keinen Augenblick den Gebrauch deines
Verſtandes und deiner Kraͤfte zu einem gemein-
nuͤtzigen Leben verliereſt; daß es dir nicht viel Zeit
koſte, welche du beſſer gebrauchen kannſt; und daß
du dich keiner Verſchwendung ſchuldig macheſt,
ſondern mit gleichen Koſten dir und den Deinigen
das groͤßte Vergnuͤgen erkaufeſt, welches moͤglich
iſt.


Was die mehreſten, welche mit dir gleiche Le-
bensart fuͤhren, ohne Schaden ihrer Geſundheit
eſſen
[62]Die Sittenlehre
eſſen und trinken, das iſt auch dir, auſſer den
Zeiten der Krankheit, geſund.


Sey bey einem maͤßigen Tiſche gaſtfrey,
wenn es dein Vermoͤgen leidet. Dieſes iſt menſch-
lich, angenehm, beliebt und nuͤtzlich, und kann
mit denſelben Koſten geſchehen, welche von den
Verſchwendern auf Leckerbiſſen verwendet werden.


Geneuß niemals ſo viel, daß es dir beſchwer-
lich oder eckelhaft werde, mehr zu genieſſen.
Dieſes iſt ungeſund, und folglich unmaͤſſig.


Die Trunkenheit iſt eine Raſerey von eini-
gen Stunden. Kann ein vernuͤnftiger und tugend-
hafter Menſch raſend ſeyn wollen?


Das unmaͤſſige Verlangen nach ſtarken Ge-
traͤnken mehrt ſich immer von Jahr zu Jahr,
hindert alle Gemeinnuͤtzigkeit und Ehre, iſt eine
gewoͤhnliche Urſache der Armuth, macht beſonders
zum Eheſtande ungeſchickt, oder verurſacht den
Nachkommen angebohrne Schwachheiten; es un-
tergraͤbt ſichtbarer Weiſe die Geſundheit und das
Leben. Die Beſſerung von dieſem Laſter iſt
ſchwerer, als von vielen andern Suͤnden.


Die ſogenannte Ehre, viel vertragen zu koͤn-
nen, iſt entweder falſch, oder ſetzt voraus, daß
man oft betrunken geweſen ſey. Alſo mußt du die
ſogenannte Ehre dieſes Vorzuges niemals ſuchen,
noch
[63]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
noch andern darinnen nacheifern. Denn dieſer
Ehrgeiz hat ſchon viele ungluͤcklich gemacht.


Der beſtaͤndige Hang zum Rauchtaback iſt
an ſich wenigſtens thoͤricht; oftmals, beſonders
bey ſtarken Getraͤnken, ſchaͤdlich; koſtet viele Zeit;
verurſacht einen Geruch und einen Schmutz, der
vielen eckelhaft iſt, und kann nicht anders anfan-
gen, als durch Erduldung mancher Beſchwerlich-
keit, welche der Trunkenheit aͤhnlich iſt. Alſo
wiederrathe ich dir den Gebrauch dieſes Krautes,
ob es gleich nicht allen vernuͤnftigen Maͤnnern in
ihren Umſtaͤnden zu verdenken iſt, daß ſie die
Beſchwerlichkeit des Abgewoͤhnens nicht ertragen
wollen. Eben daſſelbe rathe ich vom Schnupf-
toback.


Benebelnde Getränke, welche ſtärker als
Wein ſind,
muͤſſen nur als Arzeney, und alſo
nicht gewoͤhnlicher Weiſe genoſſen werden. Wenn
man alle Gruͤnde und Gegengruͤnde zuſammen
vergleicht, ſo iſt der beſte Rath, daß man ſie
niemals trinke, ohne etwa auf Reiſen ein ver-
dorbnes Waſſer zu beſſern, wenn man andre ge-
woͤhnliche Getraͤnke nicht vertragen kann.


Wenn die noͤthige Sparſamkeit es erlaubt,
Wein zu trinken, ſo iſt der ſicherſte Rath, zu
derſelbigen Zeit mindeſtens zweymal ſo viel Waſſer
zu
[64]Die Sittenlehre
zu nehmen, und alsdann, wenn kein Verlangen
mehr da iſt, mit beyden Getraͤnken aufzuhoͤren.


Der ſtarke Hang zu warmen Getraͤnken, (als
Thee oder Coffee,) iſt unſrer Geſundheit ſchaͤd-
lich, erfordert viel Zeit und beſondre Umſtaͤnde,
auch einige erſparliche Koſten. Gewoͤhne dich alſo
nicht an dieſelben. Doch vielleicht iſt ihr Genuß
eine rathſame Art geſellſchaftlicher Bewirthung.


§. 33.


Die Geſundheit iſt eine vorzuͤgliche Quelle
des Vergnuͤgens und der Gemeinnuͤtzigkeit. Auch
ihrentwegen ſey maͤßig. Suche, ſo viel du kannſt,
in reiner und abgeaͤnderter Luft zu leben. Schla-
fe, wenn du kannſt, ſieben Stunden. Trinke
nicht kalt und geſchwind, wenn du erhitzt biſt.
Laß den Schweiß deines Koͤrpers auf keine Weiſe
ploͤtzlich zuruͤck treten. Bewege dich, wenn du
kannſt, taͤglich auf eine Art, die deine uͤbrigen
Zwecke am wenigſten ſtoͤhrt, und wovon du aus
der Erfahrung lerneſt, daß ſie deine Geſundheit
und Munterkeit erhalte. Huͤte dich vor heftigen
Affecten, vor der Einſamkeit in Schwermuth,
und vor der Gewohnheit, nach dem Rathe uner-
fahrner Leute Arzeney zu nehmen. Dieſes ſind
gute Regeln fuͤr die Geſundheit.


Bey
[65]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Bey dem Anfange oder Anſcheine einer
Krankheit
lebe in allen Stuͤcken enthaltſamer,
als ſonſt, und ſetze deine Arbeit fort, wenn du
dich dabey nicht beſchwerter befindeſt, als bey der
gaͤnzlichen Ruhe. Mußt du aus Schwachheit
oder aus Schmerz ruhen; ſo folge, wenn du ihn
haben kannſt, dem Rathe gewoͤhnlicher Aerzte.
Du mußt dein Leben und die baldige Geneſung
wuͤnſchen und befoͤrdern; aber ohne quaͤlende
Furcht vor einem moͤglichen Tode, oder einer
langwierigen Krankheit. Denn ſolche Furcht iſt
mehrentheils ein Jrrthum. Oft machen nur die
Wirkungen der Angſt, daß das geſchehe, was man
befuͤrchtet. Uebrigens gehoͤren Krankheit und
Tod zu denen den Menſchen beſtimmten Uebeln,
welche Gott zum Beſten wendet.


Wenn du durch Krankheit eine lebhafte Erin-
nerung deines Todes bekoͤmmſt: ſo bediene dich
ihrer, dich zur wahren Beſſerung vorzubereiten,
falls du leben ſollteſt; erſetze den durch deine
Schuld und dein Exempel zugefuͤgten Schaden,
ſo viel du kannſt. Setze Betrachtungen Gottes
und das Gebet fort, ſo lange es dich beſſert und
troͤſtet. Aber befoͤrdre dein Uebel nicht durch be-
ſchwerliche und quaͤlende aͤuſſerliche Uebungen der
Andacht, wenn ſie nur Affecte und Betaͤubungen
verurſachen, welche nicht beſſern. Denn Gott
Erichtet
[66]Die Sittenlehre
richtet dein Leben, und laͤßt ſich durch vieles Ru-
fen und Schreyen nicht erbitten. Du weißt ſchon
mehr Mittel des demuͤthigen Vertrauens zu Gott
in ſolchen Umſtaͤnden. Aber ich will ſie hier nicht
anfuͤhren.


Der Verluſt der Glieder, beſonders die zu
den Sinnen gehoͤren, iſt an Wirkungen faſt einer
beſtaͤndigen Krankheit gleich, und macht dich ſcheuß-
lich und unnuͤtzer. Laß dich von Vernuͤnftigen,
oder durch dein eignes Nachdenken, und durch die
Erfahrung an andern, vor denen Handlungen
und Umſtaͤnden warnen, welche mit ſolchen Gefah-
ren verbunden ſind.


§. 34.


Das menſchliche Leben muß den Seelen
nuͤtzlich ſeyn. Denn es iſt eine allgemeine Wir-
kung der Natur. Du kannſt nicht beurtheilen,
oder dir doch das Urtheil nicht zutrauen, wann
es dir und andern nuͤtzlich zu ſeyn aufhoͤre. Alſo
iſt der freywillige Tod, wenn uns die Ausuͤbung
der Tugend nicht durch wahrſcheinliche Zufaͤlle
oder durch andre Menſchen toͤdten wird, allezeit
Suͤnde, und heißt deswegen Selbſtmord.


Wer ſich in Schmerz und Widerwaͤrtigkeit das
Leben nimmt, haͤtte ſich das Urtheil, daß er immer
traurig, ſchmerzvoll, ungluͤcklich und unbrauchbar
in
[67]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
in ſeinem Leben bleiben wuͤrde, nicht zutrauen
ſollen. Die Erfahrung zeigt, daß die mehreſten,
die ſo dachten, im Jrrthume waren.


Wer Hand an ſein Leben gelegt hat, und un-
vermuthet gerettet iſt, empfindet bittre Reue,
woferne er nicht raſet oder wahnſinnig iſt. Dies
iſt ein Beweis, daß er es nicht gethan haͤtte,
wenn er nicht im Affecte geweſen waͤre, der ſeine
Vernunft betaͤubte, oder unwirkſam machte.
Niemand bringt ſich auſſer einem Affecte um,
oder er muͤßte Grundſaͤtze haben, die bey uns nicht
ſind, und ſich uͤberdies auf Jrrthum gruͤnden.


Sollte dein Lauf der Gedanken jemals auf die
Frage des Selbſtmordes fallen: ſo iſt dieſes dir
ein Zeichen, daß du in dem Anfange eines ſtarken
Affects biſt. Verſchiebe alle Handlungen, bis du
dich wieder ruhig und bey Vernunft fuͤhleſt.


Die Meinung von der mit keiner Suͤnde zu
vergleichenden Suͤnde des Selbſtmordes mag
wahr oder falſch ſeyn, ſo iſt ſie doch ausgebreitet.
Welche Traurigkeit verurſacht alſo ein Selbſtmoͤr-
der den Seinigen, denen er Liebe und Dank
ſchuldig war? Auch dieſes wird ihn der gerechte
Gott entgelten laſſen.


Die Wahl ſolcher gefaͤhrlicher Gewerbe, die
uͤberhaupt gemeinnuͤtzig ſind, aber wobey leicht
und alſo von vielen das Leben verlohren wird, iſt
E 2kein
[68]Die Sittenlehre
kein Selbſtmord. Denn es iſt die Abſicht nicht,
das Leben zu verlieren. Dennoch muß des Lebens
halber eine ſolche Wahl noch ſorgfaͤltiger, als
andre, uͤberlegt werden.


§. 35.


Es iſt ſehr gemeinnuͤtzig, daß der Vater
jedes Kindes bekannt ſey.
Denn wer ſich
als Vater erkennt, hat gemeiniglich einen drin-
gendern und angenehmern Trieb, fuͤr das Beſte
des Kindes zu ſorgen, als es in Ermanglung deſ-
ſen andre thun wuͤrden. Es iſt den mehreſten,
welche Vaͤter ſind, ein groſſes Vergnuͤgen zu wiſ-
ſen, von welchen Kindern ſie es ſind. Die Fuͤr-
ſorge, welche aus vaͤterlichem Triebe geſchicht, iſt
am geſchickteſten, in den Kindern den ihnen ſo
nuͤtzlichen Gehorſam durch Liebe zu verſuͤſſen.
Ohne ein ſolches Verhalten der Menſchen aber,
wodurch die Vaͤter der Kinder bekannt bleiben, iſt
ordentlicher Weiſe keine Gluͤckſeligkeit in Haͤuſern
und Familien moͤglich, worauf doch das Beſte des
menſchlichen Geſchlechts beruhet.


Auch iſt die Vereinigung beyder Eltern,
(weil auch die Muͤtter natuͤrliche Zaͤrtlichkeit ha-
ben, und deswegen von den Kindern vorzuͤglich
geliebt werden) am geſchickteſten, das Beſte der
Kinder zu beſorgen, bis dieſelben erwachſen ſind.


Es
[69]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Es iſt alſo eine der gemeinnuͤtzigſten Regeln
fuͤr die Sitten und wahre Gluͤckſeligkeit der Men-
ſchen, daß keine Zeugung, folglich keine koͤrper-
perliche Vereinigung zweyer Perſonen, welche
zeugen koͤnnen, ohne eine foͤrmliche Abrede ge-
ſchehe, gemeinſchaftlich fuͤr die Kinder zu ſorgen,
und folglich, ſo lange es dieſer Zweck erfordert,
eine beſondre Liebe und Freundſchaft zu unterhal-
ten, auch daß waͤhrend dieſer Zeit die Frau mit
keinem andern Manne in gleicher Vereinigung
ſtehen wolle. Dieſe Abrede zweyer Perſonen,
welche Kinder zeugen koͤnnen, heißt die natür-
liche Ehe,
und, wenn dieſelbe von den Vorſte-
hern des Vaterlandes gebilliget wird, die bür-
gerliche Ehe.


Wenn beyde Perſonen, (oder eine derſelben)
bey der erſten Abrede, daß ſie das Recht der koͤr-
perlichen Vereinigung haben wollen, offenbar auf
immer zur Zeugung ungeſchickt ſind; ſo iſt ihr
Vertrag eine ſolche Nachahmung der Ehe,
welche gemeiniglich dieſen Namen fuͤhret.


Die Vielmännerey kann keine Ehe ſeyn.
Die Vielweiberey iſt fuͤr die Sitten und Gluͤck-
ſeligkeit der Menſchen weit weniger nuͤtzlich, als
die von beyden Seiten einfache Ehe. Auch muß
die Abrede der Ehe zu einer beſtaͤndigen Dauer
derſelben, bis entweder der Mann oder die Frau
E 3ſtirbt,
[70]Die Sittenlehre
ſtirbt, abzielen, da ſonſt zum Schaden der Men-
ſchen die Ehen ſehr veraͤnderlich und unvollkommen
wuͤrden.


Da wir der Obrigkeit gehorchen muͤſſen, ſo
iſt die Erfuͤllung der natuͤrlichen Ehe, wenn ſie
nicht zugleich buͤrgerlich iſt, keine erlaubte Sache.


Alſo iſt alle koͤrperliche Vereinigung beyder
Geſchlechter, auſſer der buͤrgerlichen Ehe, ein
groſſes Laſter, eine groſſe Suͤnde. Man nennt
ſie Hurerey. Die Hurerey einer verehlichten
Perſon heißt Ehebruch.


Wenn die Ehe, der nahen Verwandſchaft
wegen, von der Obrigkeit nicht erlaubt iſt, wel-
ches mehrentheils eine wahre Abſicht auf das
Beſte der Menſchen hat; ſo nennt man die koͤr-
perliche Vereinigung ſolcher Verwandten eine
Blutſchande.


Wenn jemand dem Affecte des Geſchlechts-
Triebes ſo viel nachgiebt, daß er in dieſer Raſe-
rey ihn auf andre Art, als durch den Umgang
mit dem andern Geſchlechte, zu erfuͤllen ſucht;
ſo heißt ſeine That ſodomitiſch, viehiſch, ona-
nitiſch,
oder mit einem Worte, widernatürlich.


Das widernatuͤrliche Laſter iſt nicht nur eine
Wirkung eines ſchon raſenden Affects, nicht nur
der Geſundheit im hoͤchſten Grade gefaͤhrlich, ver-
dirbt nicht nur die Hoffnung zu einer gluͤcklichen
Ehe,
[71]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Ehe und den nuͤtzlichen Reiz zu dieſem Stande,
ſondern erfuͤllt auch die Einbildungskraft mit eckel-
haften und quaͤlenden Bildern, welche es einem
ſolchen Menſchen erſtaunlich ſchwer machen, die-
ſem Wahnſinne auf kuͤnftig zu entgehn; und zwar
deſto ſchwerer, je oͤfterer dieſes Laſter wiederhohlt
wird. Alſo iſt das widernatuͤrliche Laſter ſehr
abſcheulich.


Die Hurerey hat, obgleich in etwas minderm
Grade, alle Folgen des widernatuͤrlichen Laſters,
erzeugt mehrentheils ſchmerzhafte und unheilbare
Krankheiten, reizet zur Verſchwendung, zum
Diebſtahle und zur Verſaͤumung der wichtigſten
Pflichten; ſtuͤrzt die Schuldigen in eine unaus-
loͤſchliche Schande, wird von der Obrigkeit be-
ſtraft, und veranlaßt aus der Furcht vor Schande
und Strafe oft einen Kindermord und das groͤßte
Elend der Familien.


Das Wort Unzucht oder Unkeuſchheit iſt
ein gemeinſchaftlicher Name der Hurerey, des
Ehebruchs und des widernatuͤrlichen Laſters.


Unehrbare Handlungen aber ſind diejenigen,
welche ein Zeichen eines unzuͤchtigen Verlangens
ſind, oder es leicht erregen, oder nach denen unter
den Tugendhaften herrſchenden Sitten, wegen der
Gefahr zur Unzucht, fuͤr ſchaͤdlich gehalten werden.


E 4Kein
[72]Die Sittenlehre

Kein einziger Trieb wird ſo oft und ſo ploͤtzlich
ein ſtarker Affect, als der Geſchlechtstrieb. Alſo
iſt es niemals erlaubt, die in den mehreſten Faͤl-
len gemeinnuͤtzigen Regeln von der Bezwingung
dieſes Triebes, in einzelnen Faͤllen deswegen zu
uͤbertreten, weil wir die ſchaͤdlichen Folgen nicht
ſehen. Wer fuͤr ſich ſelbſt Ausnahme machen will,
iſt in einem Affecte, der die Richtigkeit ſeines
Urtheils verdaͤchtig macht.


§. 36.


Uebertritt in keiner Handlung die Ehr-
barkeit.
Wende die Augen ab von entbloͤßten
Koͤrpern, vornehmlich des andern Geſchlechts.
Entbloͤſſe dich ſelbſt nicht im Beyſeyn andrer, ohne
die aͤuſſerſte Noth. Meide nach Moͤglichkeit die
Annaͤherung an Oerter, wo das andre Geſchlecht,
und ſelbſt dein eignes, auf eine ungewoͤhnliche
Weiſe entbloͤßt erſcheint. Gemaͤhlde und Bild-
faͤulen entbloͤßter Perſonen haben wenigſtens die
halbe Wirkung, als die wirkliche Bloͤſſe. Meide
alſo ihre Betrachtung, ſo bald ſie in dir ein unru-
higes Verlangen erregt, welches du nicht erfuͤllen
darfſt. Schlafe, wenn du es kannſt, in einem
beſondern Bette, und nicht in einem Zimmer mit
dem andern Geſchlechte. Die Theile deines Leibes,
welche du wegen der Ehrbarkeit nicht offenbar
zeigen
[73]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
zeigen darfſt, beruͤhre nur in der hoͤchſten Noth,
und mittelbar. Sey nicht einſam mit einer Per-
ſon des andern Geſchlechts an ſolchen Oertern, zu
einer ſolchen Zeit, und in ſolchen Umſtaͤnden, daß
es, wenn man es wuͤßte, fuͤr unehrbar gehalten
wuͤrde.


So lange du jung und unverheyrathet biſt,
ſo vermeide nach Moͤglichkeit den Anlaß, von un-
zuͤchtigen Handlungen, oder von dem koͤrperlichen
Umgange der Eheleute vieles zu reden, zu hoͤren
und zu leſen. Fliehe den Anblick derer Eheleute,
welche in deinem Beyſeyn unvorſichtig, und derer
Leichtſinnigen, welche unehrbar mit einander
ſcherzen. Scherze ſelbſt nicht unehrbar mit Per-
ſonen weder deines eignen, noch des andern Ge-
ſchlechts. Rede, wenn du davon reden mußt, von
den Laſtern der Unzucht, nur mit Ernſthaftigkeit.


Alles Verhalten ſolcher Perſonen, die nicht mit
einander verheyrathet ſind, iſt alsdann wirklich
unehrbar, wenn es nach den Sitten der Tugend-
haften im Lande dafuͤr gehalten wird. Vermeide
eine jede Handlung, an welcher du zweifelſt, ob
ſie mit der Ehrbarkeit beſtehe.


Es iſt leicht, ehrbar zu bleiben, wenn
man es ſchon iſt, und einem ehrbaren Menſchen
iſt es nicht ſchwer, in der Keuſchheit zu verharren.
Die Unehrbarkeit aber iſt ein abhaͤngiger Weg
E 5zur
[74]Die Sittenlehre
zur Unzucht, auf welchem ſich ein Menſch ſchwer
zuruͤck haͤlt, weiter zu gehen, als er wollte.


Faulenze niemals im Bette, wenn du des
Morgens ſchon erwacht biſt. Sey maͤſſig im Eſſen
und Trinken. Beobachte ſorgfaͤltig alle Regeln der
Ehrbarkeit. Fliehe die Langeweile. Enferne dich,
ſo weit es die Pflichten verſtatten, von dem Um-
gange aller Perſonen, welche dir als unzuͤchtig
bekannt ſind, und deiner Unſchuld zum Anſtoſſe
gereichen koͤnnen. Wenn du dieſen weiſen Er-
mahnungen folgeſt, ſo wirſt du die Ehre, die
Geſundheit, die Munterkeit des Geiſtes, die
reine Einbildungskraft, das gute Gewiſſen, und
die Glückſeligkeit einer keuſchen Jugend
behalten.


§. 37.


Eine unglückliche Ehe iſt eine der groͤßten
Truͤbſale, und daurt die Lebenszeit.


Wenn es wahrſcheinlich iſt, daß wir nach
einigen Zeiten eine gluͤcklichere Ehe werden ſchlieſſen
koͤnnen, als wozu wir itzund Gelegenheit haben;
ſo muͤſſen wir des Vergnügens einer frühe-
ren Ehe,
nach den Regeln der Weisheit, billig
entbehren.


Heyrathe nicht wider den Willen derer,
von deren Wohlwollen ein ſolcher Theil deiner
Wohl-
[75]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Wohlfahrt abhaͤngt, welchen du ohne Kummer
nicht auf immer wirſt entbehren koͤnnen. Verbinde
dich gleichfalls mit keiner Perſon, die an ihrer
Seite dieſes wagen will.


Die Schönheit iſt ſehr vergaͤnglich; noch
veraͤnderlicher iſt das Urtheil uͤber dieſelbe, und
das vergnuͤgende Wohlgefallen, welches dadurch
erreget wird. Es iſt unmoͤglich, um der bloſſen
Schoͤnheit Willen, eine durch Laſter mißfaͤllige
Ehegeſellſchaft, oder die Armuth, oder die Ver-
achtung derer, an deren Beyfall am meiſten gele-
ben iſt, in der Laͤnge der Zeit, ohne quaͤlende
Reue zu ertragen.


Es iſt dir nicht moͤglich, in deiner Ehe gluͤck-
lich zu ſeyn, wenn es deine Ehegeſellſchaft gereuen
wird,
dich gewaͤhlt zu haben.


Wenn eine Ehe beyde Perſonen in gute Um-
ſtaͤnde ſetzt, und keine herrſchende Laſter ihre Gluͤck-
ſeligkeit ſtoͤhren; wenn beyde vor der Ehe keinen
ſolchen Widerwillen gegen einander haben, daß ſie
lieber unverheyrathet bleiben wollten, falls ſie
nicht durch die guten Umſtaͤnde uͤberredet wuͤrden:
alsdann waͤchſt die Liebe mit den Jahren in
der Ehe, und die Perſonen verlieren mit der
Zeit den Wunſch,
welcher auf eine andre Ehe-
geſellſchaft abzielte, die ihnen der Umſtaͤnde wegen
unmoͤglich, oder nicht rathſam war.


Wenn
[76]Die Sittenlehre

Wenn ſich Perſonen aus zu ungleichen Stän-
den und Altern verbinden,
ſo bleiben die Ehen
ſelten gluͤcklich.


Heimliche Verlobungen, wenn die Zeit
der moͤglichen Ehe ungewiß oder entfernt iſt, wer-
den mehrentheils ruͤckgaͤngig, oder eine Urſache
groſſer Reue.


Eine Perſon, welche keine Vergeltung
des Guten und Böſen nach dieſem Leben
glaubt,
hat ſelten Bewegungsgruͤnde gnug, ſich
in allen Umſtaͤnden als eine wahlwuͤrdige Ehegeſell-
ſchaft zu verhalten.


Eheleute aus verſchiednen Religionen und
Kirchen,
ſind mehrentheils ungluͤcklich, wenn
irgend eine Parthey glaubt, daß die Andre mit
boͤſem Gewiſſen bey ihrer Religion bleibet, und
eben deswegen kein Kind Gottes ſeyn kann.


Die haushaͤlteriſche Arbeitſamkeit und
Klugheit
beyder Eheleute iſt eine nothwendige
Eigenſchaft zur gluͤcklichen Heyrath, beſonders,
wenn der Reichthum fehlet. Jn dieſem Falle
macht ſogar die Weichlichkeit und Kraͤnklichkeit
die Ehe oftmals unrathſam.


Der Vertrag zur Ehe iſt viel zu wichtig, als
daß ein vernuͤnftiger Menſch ihn eingehn darf, ohne
ſich nach der moͤglichen Wahl Vieler erkundigt zu
haben,
[77]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
haben, ohne die Eigenſchaften und Umſtaͤnde der
abgezielten Perſon genau zu kennen, und ohne
vorher den Rath ſeiner Freunde (anfangs unent-
ſchloſſen) angehoͤrt zu haben.


Wer eine unſchuldige Perſon durch ein Ehe-
verſprechen, und durch die Folgen derſelben in
Schaden und Verdruß geſetzet hat, iſt verbun-
den, ihn durch die Ehe ſelbſt zu endigen, oder
auf andre Art, ſo gut er kann, zu erleichtern und
zu erſetzen.


Wer kein Gewerbe verſteht, und wer kein
Vermoͤgen hat, oder es nicht durch die Heyrath
bekoͤmmt, kurz, wer eine Frau und die wahrſchein-
lichen Kinder, auf eine ſeinem Stande gewoͤhnliche
Art, nicht zu ernaͤhren weis; der muß nicht
heyrathen.
Denn durch ſolche Ehen wird die
menſchliche Gluͤckſeligkeit oͤfterer vermindert, als
vermehrt.


Der eheliche Umgang ſolcher Perſonen,
die bloß verlobt ſind,
iſt wider die nuͤtzliche
Ordnung, wird wider Vermuthen mehrentheils
bekannt, und zieht alsdann Unehre und andre
Unfaͤlle nach ſich, in welche kein vernuͤnftiger Menſch
ſich ſelbſt und ſeine beſte Freundinn zu ſtuͤrzen waget.


§. 38.


Ein Ehemann, der durch Faulheit und Ver-
ſchwendung
ſeine Familie in Armuth und Unzu-
friedenheit
[78]Die Sittenlehre
friedenheit ſetzt, thut ihr mehr Boͤſes, als alle
ihre Feinde.


Der Mann muß den Rath der Ehefreundinn
anhoͤren und pruͤfen, alsdann ſeiner eignen Einſicht
folgen, aber dennoch alle freundſchaftliche Mittel
anwenden, die Genoſſinn ſeines Schickſals damit
zufrieden zu machen.


Jn wichtigen Geſchaͤften der Familie darf die
Frau nicht herrſchen, ſondern muß gehorchen,
weil der Mann ordentlicher Weiſe die aͤuſſerlichen
Umſtaͤnde beſſer kennet, und einen groͤſſern Theil
der Laſt des ganzen Hauſes traͤgt.


Die unter den Tugendhaften herrſchende Ge-
wohnheit der Vertheilung der Hausgeſchaͤfte unter
die Eheleute, und des Nachgebens unter ihnen bey
Verſchiedenheit der Meynungen; kurz, die allge-
meine Wohlanſtändigkeit in dem Umgange
der Eheleute
mit einander, iſt gemeiniglich in
dem wahren Beſten der Menſchen gegruͤndet, und
muß alſo, wenn in beſondern Faͤllen das Gegen-
theil nicht offenbar iſt, allezeit beobachtet werden.


Die Frau iſt zwar verbunden, bey dem Eigen-
ſinne und den Fehlern ihres Mannes, ſanftmuͤthig
und geduldig zu ſeyn. Aber weit beſſer iſt es,
wenn der Mann ſich ſo verhaͤlt, daß die Frau die-
ſer ſchweren Sanftmuth und Geduld nicht bedarf.


Wer
[79]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Wer Stiefkinder nicht eben ſo lieben, oder
wenigſtens aͤuſſerlich nicht eben ſo mit ihnen um-
gehen kann, als wenn ſie nicht Stiefkinder waͤren,
der muß in keine ſolche Ehe treten, in welcher er
Stiefkinder annehmen muͤßte. Oder die Kinder
muͤſſen, wenn es moͤglich iſt, auſſer dem Hauſe
erzogen werden, um den groͤßten Theil des gewoͤhn-
lichen Ungluͤcks zu verhuͤten, welches aus dieſer
Partheylichkeit entſteht.


§. 39.


Die Kinder muͤſſen von den Eltern, oder auf
ihre Veranſtaltung, zur Tugend und Arbeitſamkeit
erzogen, und bis in dasjenige Alter verſorgt
werden, in welchem ſie ſich ſelbſt ohne Huͤlfe der
Eltern ernaͤhren koͤnnen.


Von der weiſen Erziehung kann man
vieles mit Nutzen lehren. Aber ich will itzt kein
Buch der Weisheit fuͤr die Eltern ſchreiben.


So lange die Kinder der vaͤterlichen Verſor-
gung in oder auſſer dem Hauſe beduͤrfen, muͤſſen
ſie allen Befehlen ihrer Eltern gehorchen, oder
die Folgen der Weigerung leiden. Dieſe Noth-
wendigkeit iſt ein ſtarker Reiz zum Gehorſam.


Die Eltern ertragen der Kinder wegen groſſe
Beſchwerlichkeit, oder haben es gethan. Die
Dankbarkeit iſt alſo der zweite Bewegungsgrund.


Die
[80]Die Sittenlehre

Die Jugend iſt zwar unerfahren, aber kann
doch gemeiniglich nicht zweifeln, daß die Eltern
die Wohlfahrt der Kinder von Herzen wuͤnſchen,
und dieſelben an Einſicht in ihr wahres Beſte uͤber-
treffen, (wenn gleich der jugendliche Verſtand
nicht in jedem Falle den wahren Nutzen der vaͤter-
lichen Befehle und Verbote einſieht, und es auch
bisweilen geſchicht, daß die Freyheit der Kinder
von den Eltern auf eine unnoͤthige Weiſe einge-
ſchrenkt wird). Die Liebe und Weisheit der Eltern
iſt alſo der dritte Bewegungsgrund, um welches
willen die Kinder willig gehorchen ſollten.


Die Herrſchaft der Eltern, und folglich die
Pflicht des eigentlichen Gehorſams der Kin-
der, hört zwar auf, wenn die letztern ſich ſelbſt
verſorgen, und als Unterthanen unmittelbar unter
der Obrigkeit ſtehn. Aber die Ehrerbietung gegen
die Eltern, als geweſene Herren, die Dankbarkeit
gegen ſie, als die groͤßten Wohlthaͤter, und das
Vertraun zu ihnen, als zu treuen und verſtaͤndigen
Freunden, darf niemals aufhoͤren, oder ſie muͤßten
des Standes der Eltern ganz unwuͤrdig geweſen ſeyn.


Wie gluͤckſelig waͤre ich, mein Sohn, wenn
ich dir rathen koͤnnte, mein ganzes Verhalten nach-
zuahmen! Die Kinder muͤſſen ſelbſt von den
Fehlern ihrer Eltern Weisheit lernen, aber
nicht gern davon reden.


Die
[81]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Die Jugend kann ohne die Gunſt der Alten
nicht gluͤcklich werden. Eine unbeſcheidene Zu-
verlaͤßigkeit
aber iſt im hoͤchſten Grade mißfaͤllig.
Alſo, mein Sohn, beſtrebe dich nach der deinem
Alter noͤthigen Beſcheidenheit. Halte dich in
Geſellſchaften nicht fuͤr wichtig. Hoͤre viel, und
denke in der Stille nach; aber rede wenig. Mußt
du dem Urtheile der Alten widerſprechen; ſo trage
das Deinige ſo vor, als wenn du das Jhrige nicht
verſtanden haͤtteſt.


So lange du unter häuslicher Herrſchaft
ſtehſt,
ſo beobachte ihren Vortheil in groſſen und
kleinen Dingen ſo beſtaͤndig und ſo ſichtbar, daß
ſie dich fuͤr ein noͤthiges Werkzeug ihres Gluͤckes
halten. Die Nachläßigkeit kann ſo viele Wir-
kungen haben, als die Untreue; und die Unvor-
ſichtigkeit
ſchadet in einem Augenblicke oft mehr,
als die laͤngſte Nachlaͤßigkeit. Handle ſo treu, als
wenn allenthalben lauter Augen deiner Herrſchaft
waͤren. Ein jeder Unterſchleif, ein jeder Genuß
ſolcher Dinge, welche man dir nicht zugedacht hat,
iſt ein Betrug und ein Diebſtahl, deſſen Gewohn-
heit zu einem gewiſſen Ungluͤcke der Jugend ohn-
fehlbar bald entdeckt, verabſcheut und beſtraft wird.
Laß dich das boͤſe Exempel deiner Mitgenoſſen
nicht locken. Du ſiehſt ihre Suͤnden, aber nicht
die kuͤnftigen und verborgnen Wirkungen derſelben.


FWun-
[82]Die Sittenlehre

Wundre und kraͤnke dich nicht, wenn es dir ſo
ſcheint, als wenn du in der Jugend von deinen
Vorgeſetzten oft Unrecht leideſt.
Denn deine
Unerfahrenheit und Partheylichkeit laͤßt dich oft
irren, und die Geduld iſt die vornehmſte Tugend
der Schwaͤchern. Wer nicht hat leiden lernen, der
lernet niemals, die Gluͤckſeligkeit mit Vernunft
brauchen.


Aendre deinen Zuſtand und das Gewerbe, deſſen
Erlernung du dir vorgeſetzt haſt, nicht, wegen
einiger ertraͤglichen Widerwaͤrtigkeiten. Denn es
iſt das gewoͤhnlichſte Schickſal der Jugend, daß
ſie ſich durch dieſelben durchdraͤngen muß. Du
kennſt die Widerwaͤrtigkeiten der Staͤnde nicht,
die du dem deinigen vorziehen moͤgteſt. Der Stein,
der oft gewälzt wird, wächſt nicht.
Wer
vorgiebt, es nirgends aushalten zu koͤnnen, wird
zuletzt ein Kriegsknecht, oder wohl gar ein Land-
ſtreicher und Bettler.


Es iſt dir an dem Wohlwollen einer jeden
Perſon im Hauſe,
und ſogar der kleinſten Kinder,
oder der niedrigſten Hausgenoſſen, gelegen. Deine
Herrſchaft kann nicht anders, als den Urtheilen
uͤber dich glauben. Halte alſo auch die Kinder
und das Geſinde im Hauſe zu Freunden; aber ver-
ſchweige keine Verbrechen, welche du Befehl haſt,
anzuzeigen. Verführe die Kinder und das
Ge-
[83]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Geſinde nicht zum Ungehorſam, und zu Thor-
heiten. Huͤte dich aber auch, ſelbſt verfuͤhrt zu
werden.


Die Jugend iſt die Zeit, uns mit Erkennt-
niſſen
und Geſchicklichkeiten zu bepflanzen.
Wende alle Zeit dazu an, welche du von dem Dienſte
deiner Herrſchaft, und von der Erlernung deines
Hauptgewerbes frey haſt. Es iſt in deinem mittel-
maͤſſigen Zuſtande ein wichtiges Huͤlfsmittel deiner
Wohlfahrt, wenn du geuͤbt biſt, geſchwind und
angenehm zu ſchreiben; deine Gedanken deutlich
und ordentlich aufzuſetzen; mit Einſicht zu rechnen
und Commerz-Geſchafte in Ordnung zu halten;
vieles, was zur Zierlichkeit und zum Unterhalte
deiner Kleidung gehoͤrt, ohne Bezahlung andrer,
ſelbſt zu thun, und ſo viel als moͤglich, deinen
Beduͤrfniſſen abzuhelfen.


Das Leſen nuͤtzlicher und angenehmer Bücher,
und ein Wohlgefallen an einem oder dem andern
muſicaliſchen Jnſtrumente, muß die gewoͤhn-
lichſte Ergoͤtzung einer ſonſt beſchaͤftigten Jugend
ſeyn. Der Geſchmack an denſelben bewahrt vor
vielem Uebel, und ſtiftet viel Gutes.


So lange ein Knabe unter haͤuslicher Herrſchaft
ſteht, kann es ihm nicht erlaubt ſeyn, um irgend
einen Preis zu ſpielen, beſonders ohne Wiſſen
und Willen der Herrſchaft.


F 2Wer
[84]Die Sittenlehre

Wer einiges Spiels gewohnt iſt, hat vielleicht
nicht allemal Urſache gnug, ſich deſſelben zu ent-
woͤhnen. Aber weit beſſer waͤre es, wenn ſich
niemand gewoͤhnt haͤtte, um irgend etwas, als
nur um den Beytrag zu Allmoſen, Wohlthaten
und dem geſellſchaftlichen Aufwande zu ſpielen.
Bleibe, wenn du erſt uͤberhaupt ſpielen darfſt, in
deinem ganzen Leben bey dieſer Regel. Die Hoff-
nung auf den Gewinn in den Lotterien, iſt thoͤ-
rigt, und macht hundert Perſonen aͤrmer, ehe ſie
eine etwas bereichert.


Die Freygebigkeit in Geldſachen, oder in
andern Dingen, welche einen Werth haben, iſt
fuͤr die Jugend, welche kein Vermoͤgen beſitzt,
keine Tugend. Jn dieſem Alter hat man nicht
Verſtand gnug, zu urtheilen, was, und wie viel
von dieſer Art geſchehn muͤſſe. Der Beſitz eines
kleinen geſammleten Vermoͤgens entſcheidet in den
maͤnnlichen Jahren oft das ganze Schickſal. Er-
werben und Sparen iſt vorzuͤglich der Jugend
noͤthig. Doch iſt Aufwand auf Wohlthaten beſſer,
als auf theure und oͤftere Ergoͤtzlichkeiten.


Wie die Umſtaͤnde eines jungen Menſchen auch
beſchaffen ſeyn moͤgen; ſo muß er mit demjenigen,
was ihm durch Recht zufaͤllt, auskommen und
etwas übrig haben.
Ein Juͤngling, welcher
die geringſte Laſt der Schulden auf ſich laden kann,
iſt
[85]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
iſt ein verdorbner Menſch, und wird wahrſchein-
licher Weiſe ungluͤcklich.


Aus der Ordnung und Unordnung in den
Kleidern und in dem Geraͤthe pflegt die Welt zu
urtheilen, ob ein junger Menſch geſchickt oder
ungeſchickt werde, ein gutes buͤrgerliches Leben zu
fuͤhren. Von dieſen Urtheilen uͤber dich wird ein
Theil deiner irdiſchen Wohlfahrt abhaͤngen.


Ein junger Menſch, der einiges Vermoͤgen
hat, oder ſich etwas Geld ſammlet, muß es auf
keine Weiſe denen bekannt machen, die ihn vielleicht
um Anleihe erſuchen wuͤrden. Die mehrſten,
welche von ihm leihen wollen, werden es miß-
brauchen, und ohne Widerwillen nicht bezahlen.


Wer oft Boͤſes von Leuten redet, kann weder
Freunde noch Goͤnner behalten. Das Unrecht
der Eltern, der Herrſchaft und der Vorgeſetzten
muß ohne die aͤuſſerſte Noth von der Jugend nicht
erzaͤhlt werden, und ſelbſt, wenn es noͤthig iſt,
nur in den gelindeſten Ausdrücken.


Ein gluͤcklicher Hausvater zu ſeyn, erfordert
ſo viel Erfahrung, und den Zuſammenfluß ſo vieler
guten Umſtaͤnde, daß man von demjenigen, der
die Gluͤckſeligkeit ſeines Standes nicht fuͤhlet, weil
ihm nach den Vorrechten eines Hausvaters
zu ſehr verlangt, faſt keine Hoffnung haben kann.


F 3§. 40.
[86]Die Sittenlehre

§. 40.


Neid und Haß ſind eigne Quaal und wider
die Menſchenliebe. Bedarf es wohl mehrere
Gruͤnde, um uns davon abzuſchrecken? aber der
Abſcheu an den Laſtern der Menſchen, und der
Eifer, ſie davon abzuhalten, iſt kein Menſchen-
Haß, ſondern eine Folge der Menſchenliebe.


Wenn dieſer Eifer ein Affect wird, ſo heißt er
Zorn, und wird gemeiniglich heftig, uns und
Andern hoͤchſt ſchaͤdlich, entſtellt unſre Gebehrden,
erhitzt unſer Gebluͤt, zerſtoͤhrt ſeinen eignen Zweck,
und macht den Beleidigten oder den Vorgeſetzten
oft tadelnswuͤrdiger, als der Beleidiger oder der-
jenige war, der den Fehler beging.


Glaube nicht, daß der Zorn, oder ein Schein
deſſelben
dir ein Anſehn gebe, weil etwa die
Vornehmen und Vorgeſetzten ſich oft vom Zorne
uͤberraſchen laſſen. Du kannſt ja ſelbſt an andern
merken, daß der Zorn eine kurze Raſerey genannt
zu werden verdiene. Kann er uns alſo wohl ein
wunſchwuͤrdiges Anſehn verſchaffen?


Die Strenge ohne Zorn beſſert weit mehr,
und thut weit minder Boͤſes, als der Affect eines
Zornigen.


Ein junger ohnmaͤchtiger Menſch im Zorn iſt
ein Eſel in der Löwenhaut.


Der
[87]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Der bloß eigennuͤtzige Zorn, der Boͤſes thut,
weil Boͤſes geſchehen iſt, und ohne alle Abſicht
auf die Verbeſſerung der Menſchen, heißt Rach-
begierde,
einer der abſcheulichſten Affecte.


Zorn und Rachbegierde zu verhüten oder
zu bekämpfen,
denke oft folgenden Wahrheiten
nach. Die Menſchen laſſen ſich ſchwerlich von
einem, der ſelbſt zu raſen ſcheinet, uͤberzeugen,
daß ſie gefehlt haben. Diejenigen, welche uns
beleidigen, wuͤnſchen eigentlich niemals unſer Un-
gluͤck; ſie wollten uns gern nicht beleidigen, wenn
ſie nur glaubten, auf eine andre Art ihre Zwecke
erfuͤllen zu koͤnnen. Wie oft beleidigſt du andre
aus Unwiſſenheit, Jrrthum und Unvorſichtigkeit?
Jſt es alſo nicht glaublich, daß du nur aus gleichen
Urſachen beleidigt werdeſt? Die meiſten Menſchen
werden ſo ſchlecht erzogen, und haben ſo ſchlechte
Beyſpiele der Nachahmung, daß es ein Wunder
waͤre, wenn ſie nicht oftmals Beleidiger wuͤrden.
Zorn erzeugt neuen Zorn; Rache erzeugt neue
Rache. Was denkſt du von deinem Zorn, wenn
er voruͤber iſt? Denke daſſelbe von ihm, wenn
er ſich annaͤhert.


Weil nun Zorn und Rachbegierde nicht erlaubt
ſind, und weil die Menſchenliebe ein allgemeines
Geſetz iſt, ſo mußt du auch deinen Feind, oder
deinen Beleidiger aufrichtig lieben, aber nach
F 4ſolchen
[88]Die Sittenlehre
ſolchen Regeln gegen ihn handeln, welche dem all-
gemeinen Beſten der Menſchen gemaͤß ſind. Ge-
genwehr und Strafe, Mißtrauen und Entfernung
ſind zwar oftmals noͤthig. Aber ohne Abſicht auf
das Beſte der Menſchen, muß man ſeinem aͤrgſten
Feinde kein Haar kruͤmmen, noch irgend eine
Dienſtfertigkeit gegen ihn verſaͤumen.


Wenn du es verhuͤten kannſt, ſo laß das Mit-
leiden
nicht bis zum Affect anwachſen, weil du in
demſelben die beſte Art der Huͤlfe nicht erfinden
kannſt. Hilf den Elenden, wie der geuͤbte Arzt
den Kranken, zuweilen ſogar durch ſchmerzhafte
Mittel.


Wer aus Mitleiden die Zucht der Jugend
und die Strafe der Laſterhaften
verſaͤumet
oder verhindert, der vergißt des wichtigern Mit-
leidens mit dem menſchlichen Geſchlechte, welches
durch die uͤble Erziehung und durch die Strafloſig-
keit der Laſter vielen Uebeln unterworfen iſt, und
vieler groſſen Vortheile entbehrt.


§. 41.


Laß dir beſonders die Dienſtfertigkeit em-
pfohlen ſeyn; erſtlich, gegen deine Wohlthäter,
denn auch ſogar der Schein der Undankbarkeit iſt
ſehr verhaßt, und ſchreckt von Wohlthaten ab.
Zweitens, gegen diejenigen Verwandte und
Freunde,
[89]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Freunde, deren Beduͤrfniſſe du mehr, als andre,
kennſt, und die eben deswegen von andern verlaſ-
ſen werden, weil man auf deine Huͤlfe Rechnung
macht; drittens, gegen die Elenden, die in
Lebensgefahr und groſſer Beſchwerlichkeit zu ſeyn
ſcheinen, und, ſo viel du weiſt, ſich ſelbſt nicht
helfen koͤnnen; viertens, gegen die vorzüglich
tugendhaften Menſchen,
an deren Wohlfahrt
und Freude viele andere Antheil nehmen.


Sey wohlthätig aus Tugend, und nicht
bloß um der gehofften Ehre und Dankbarkeit wil-
len. Rede, ſo wenig als moͤglich, von deinen
Wohlthaten. Das Ruͤhmen wird ſchwerlich ge-
glaubt, oder iſt misfaͤllig. Beſchuldige niemanden
der Undankbarkeit, oder vereinige die noͤthige
Beſchuldigung mit neuen Wohlthaten an demſel-
bigen. Denn ſie iſt vielleicht falſch und allemal
hoͤchſt misfaͤllig.


Thue oft Gutes, ohne anzuzeigen, von wem
es komme; ſo haſt du keinen Undank zu beſorgen,
und ſo biſt du der Uneigennuͤtzigkeit deiner Abſich-
ten gewiß.


Es iſt den mehreſten Menſchen eine Laſt, ei-
nem einzigen viele Wohlthaten ſchuldig zu ſeyn.
Jn dieſem Falle muß man dem andern oͤftern An-
laß geben, durch leichte und angenehme Dienſte
etwas von der Verbindlichkeit abzutragen.


F 5§. 42.
[90]Die Sittenlehre

§. 42.


Ein aufmerkſames Beſtreben, auch in Klei-
nigkeiten gefällig
zu ſeyn, iſt ein groſſer Theil
der Wohlthaͤtigkeit, die wir den Menſchen ſchul-
dig ſind, weil die Gelegenheit dazu in jedem Au-
genblicke da iſt, und die Ausuͤbung uns zu neuen
Wohlthaten dieſer Art nicht unfahiger macht.


Wenn du in deiner Meynung von andern
abweicheſt,
ſo verbirg ſie, ſo oft es nicht nuͤtzlich
iſt, ſie anzuzeigen, oder zu vertheidigen. Haſt
du das Noͤthige deutlich und auf die gefaͤlligſte Art
geſagt, ſo ſchweige. Aber wenn du in deiner
Handlung nicht nachgeben darfſt, ſo handle nach
deinen eignen Grundſaͤtzen.


Schaͤme dich nicht, durch Belehrung andrer,
deine Meynung zu ändern, und es ihnen zu
danken.


Diſputire mit niemanden, der in Gemuͤths-
bewegung iſt. Denn du kannſt dich leicht ſelbſt
erhitzen, und wie willſt du bey einem Wahnſinni-
gen Vernunft finden?


Diſputire in zufaͤlliger Geſellſchaft nicht uͤber
Religion. Wollen es andre, ſo ſprich, daß die
Frage mehr Ueberlegung brauche, daß Misver-
ſtand herrſche; daß die Sache das Beſte der Men-
ſchen nicht zu betreffen ſcheine; daß nur Gott die
Gewiſſen richte u. ſ. w.


Von
[91]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Von den uͤbeln Geſinnungen, die von andern
erzaͤhlt werden, glaube Anfangs nur wenig.
Sey bereitwilliger das Gute zu glauben. Bey
dieſer Gewohnheit wird der Jrrthum dich ſeltner
gereuen.


Beſchwere niemanden durch Aufdringung
deiner Geſellſchaft.
Man iſt oͤfterer und fruͤ-
her deiner uͤberdruͤſſig, als man es ſagt.


Trage von der nothwendigen Geſellſchaft-
lichkeit ſo viel Laſt,
als du nach deinen Um-
ſtaͤnden kannſt. Wiſſe, die mehreſten Menſchen
rechnen alle Koſten, alle Beſchwerlichkeit und allen
Zeitverluſt, die du ihnen verurſachſt.


Sey einer der Mittelmäſſigen deines
Standes
im aͤuſſerlichen Aufwande. So entge-
heſt du dem Neide.


Denen, welche ſehr beſchaͤftiget ſind, raube
durch deine unnoͤthige Gegenwart keine Zeit, in
welcher ſie ſich beſchaͤftigen, oder erquicken koͤnnten.


Was du verbergen willſt, das offenbare
niemanden,
wenn du nicht eine ganz beſondre
Urſache haſt, eine Ausnahme zu machen. Denn
ſonſt giebſt du ſelbſt das Exempel der Schwatzhaf-
tigkeit, welche du an andern nicht wuͤnſcheſt.
Suche keine Geheimniſſe, die dich nicht angehen,
zu wiſſen, beſonders nicht von Schwaͤtzern, die
ſich Vielen anvertraun.


Gieb
[92]Die Sittenlehre

Gieb andern oft Gelegenheit, ihren Verſtand,
ihre Geſchicklichkeit und ihre Tugend zu zeigen.
Raube ſie ihnen nicht durch Geſpräche von dir
ſelbſt.
Es iſt vortheilhafter, gefaͤllig zu ſeyn,
als unſer eigen Lob auszubreiten.


Eine ſtumme Geſellſchaft wird ſchlaͤfrig
und misvergnuͤgt. Fuͤhre etwas auf die Bahn,
wenn niemand redet. Zu dieſem Ende lies eine
Zeitung und richte dich auf gute Geſpraͤche. Er-
kundige dich nach der Kunſt, die dein Geſellſchafter
weis, oder nach ſeinem Handwerke und Gewerbe.
Dieſes iſt ihm angenehm und dir lehrreich.


Aber laß deine Geſpraͤche vollkommen ehr-
bar
und niemanden eckelhaft ſeyn.


Verachte keinen Stand, kein Gewerbe,
keine Kunſt, keine Wiſſenſchaft. Es iſt noͤthig,
daß die mehreſten neben einander da ſind. Du
kannſt ohnmoͤglich alle ihre Vorzuͤge wiſſen. Die
Vergleichung iſt unnuͤtz und vielem Widerſpruche
unterworfen.


Jn fremden Geſellſchaften, deren Glieder
du nicht kennſt, rede mit ſolcher Vorſichtigkeit,
als wenn du gewiß waͤreſt, daß irgend einer das
Gegentheil derjenigen Meynung glaubt, welche
du vortragen willſt.


§. 43.
[93]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

§. 43.


Die aͤuſſerlichen Zeichen der Ehrerbietung
(als Titel, Verbeugungen) gieb andern nach ihren
Wuͤnſchen reichlicher, als ihnen nach der Strenge
zukoͤmmt, wo du nicht Beruf und Gelegenheit haſt,
ſie von ihrem Hochmuthe und Stolze zu heilen.


Gehe mit den geringen Ständen ſo um,
daß du zeigeſt, wie ſehr du ihren Werth und die-
ſes erkenneſt, daß der Vorrang nur von Zufaͤllen
abhange.


Jn unbekannter Geſellſchaft glaube nicht leicht,
daß du vornehm ſeyſt, oder von den andern dafuͤr
gehalten werdeſt. Erniedrige dich ſelbſt, da-
mit man dich gern erhoͤhe.


Richte dich mehr nach andern, als es
ſcheinet, daß ſie ſich nach dir richten. Denn ſie
thun es oftmals mehr, als du weißt. Und du biſt
nur ein einziger.


Jm Gange, in der Miene, in der Stimme,
in der Stellung, in der Kleidertracht und in Ge-
braͤuchen, ahme ohne Affectation denen Belieb-
teſten deines Standes nach,
aber nicht in
Suͤnden und Thorheiten.


Jn geſellſchaftlichen Geſprächen verweile
bey demjenigen, was andern gefaͤllt; verhuͤte den
Anlaß zum Zanke, und zum Andenken ihrer trau-
rigen Zufaͤlle und ihrer begangnen Fehler. Doch
meide
[94]Die Sittenlehre
meide den Schein eines einfaͤltigen oder eigen-
nuͤtzigen Schmeichlers.


Sey fröhlig in fröhliger Geſellſchaft, und
ernſthaft in trauriger. Mache das Elend andrer
nicht empfindlicher durch Vergleichung mit deiner
Gluͤckſeligkeit.


Wenn dein Beſuch einem Hauſe, welches
durch Krankheit und Todesfaͤlle betruͤbt iſt,
nicht beſchwerlich, ſondern angenehm ſcheinet, ſo
verſaͤume dieſen Liebesdienſt nicht deswegen, weil
er auf eine Zeitlang deine Munterkeit ſtoͤhrt.


Die Maͤnner werden in allen kleinen Angele-
genheiten unvermerkt von den Weibern re-
giert, als welche viel und lebhaft reden. Alſo
kann man durch den ausgebreiteten Beyfall bey
dem Frauenzimmer
am ſicherſten einen allge-
meinen Beyfall erhalten, welcher Gluͤck macht.


Suche Geſellſchaft, welche dich beſſert,
wenn ſie dir auch durch vielen Tadel oder auf andre
Art unangenehm waͤre, bis du im Stande biſt,
dich von denen ſuchen zu laſſen, welche du beſſern
kannſt.


Laß es nicht merken, daß ſolche Fehler und
ekelhafte Umſtände andrer,
welchen du nicht
abhelfen kannſt, dich in dem noͤthigen Umgange
beſchweren. Aus dieſer Pflicht der Verſtellung
wird zuletzt Wahrheit werden.


Trage
[95]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Trage dein Leid im Verborgenen, und
laß andre, die es nicht lindern koͤnnen, keinen
Theil daran nehmen. Murre in Geſellſchaften
nicht uͤber das Verderben der Welt, ohne ihr Gu-
tes zu erkennen. Sey heiter und munter, oder
ſcheine es Anfangs zu ſeyn; ſo wird ſelbſt dieſe
Bemuͤhung dich oftmals wirklich erheitern.


Nimm in Geſellſchaften keine von bey-
den Partheyen, wenn beyde heftig ſind;

oder die Dinge diſputiren, die nicht leicht ent-
ſchieden, oder die dem Geſchmacke eines jeden
muͤſſen uͤberlaſſen werden. Solche Streitigkeiten
ſind uͤber Vorzuͤge der Nationen, der Regierungs-
formen, der Sprachen und willkuͤhrlichen Sitten,
der Ceremonien, der Prediger und Schriftſteller,
der Kuͤnſte und Handwerke u. ſ. w.


Rede von der Regierung und den Mäch-
tigen nicht übel.
Du verſtehſt vielleicht die
oͤffentlichen Angelegenheiten nicht. Der Vogel
koͤnnte die Nachricht von deinem Urtheile durch
die Luft tragen.


Weiche der Macht, welche dir drohet, wenn
ſie dir nicht befiehlt, zu ſuͤndigen. Warum willſt
du durch Widerſetzung dich ins Ungluͤck ſtuͤrzen?


Wenn eine nachtheilige Begebenheit
einer Perſon oder Familie
ungewiß, oder nur
dir und wenigen bekannt iſt: ſo erzaͤhle ſie unge-
fragt
[96]Die Sittenlehre
fragt niemanden, und allezeit mit Zweifel und in
gelinden Ausdruͤcken.


Die Geſellſchaft, welche wir andern vor-
ziehn,
theilt uns einigermaſſen ihre Ehre und
Schande mit. Mancher wird geliebt oder gehaßt,
wegen ſeiner gewoͤhnlichen Geſellſchaft. Sey alſo
vorſichtig in dieſer Wahl.


Dringe dich nicht auf, in gefaͤhrlichen und
mißfaͤlligen Dingen, und vielleicht vergeblich, ein
Rathgeber zu ſeyn,
oder rede ſo, daß der andre
deinen Rath ſelbſt erfindet, ohne ihn dir zuſchreiben
zu koͤnnen.


§. 44.


Verbirg deine längſt begangne Fehler, wenn
niemand nachfragt, und wenn ſowohl die Erſetzung
des Schadens, als deine Beſſerung, ohne Geſtaͤnd-
niß geſchehen kann.


Verſaͤume kein gewoͤhnliches Zeichen der
Achtung
gegen ſolche, von denen du wuͤnſcheſt,
daß ſie deine Achtung glauben. Condolire und
gratulire nach Gewohnheit, und mit ſo gewaͤhlten
Redensarten, daß ſie Wahrheit anzeigen koͤnnen,
ohne mißfaͤllig zu ſeyn. Bleibe keinen noͤthigen
Brief ſchuldig. Opfre lieber zuweilen eine Stunde
der Schlafzeit.


Rede niemals gern von deinen Strei-
tigkeiten mit andern.
Verdirb dadurch kein
geſell-
[97]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
geſellſchaftlich Vergnuͤgen. Sey, wenn du kannſt,
ſelbſt mit deinen Gegnern bey gewiſſen Gelegen-
heiten froͤhlig. Entſchuldige ſie mehr, als es die-
jenigen thun, welchen die Streitſachen bekannt
ſind. Denn du haſt in deiner eignen Sache den
Schein und die Gefahr der Partheylichkeit.


Scheltwoͤrter oder ähnliche Beſchim-
pfungen
erwiedre niemals. Schaden ſie deiner
noͤthigen Ehre; ſo rette ſie durch offenbare Zeug-
niſſe, und allenfalls auch vor Gerichte.


Suche den Gemuͤthscharacter derer Per-
ſonen zu kennen,
welche dir wichtig ſind. Aber
wiſſe, daß oft die ſchlimmſte Gewohnheit uͤber
gute Abſichten und uͤber wahre Erkenntniß ſieget.
Aus der Gewohnheit zu handeln muß mehrentheils
das kuͤnftige Verhalten eines Menſchen geſchloſſen
werden.


Sey durch Aufmerkſamkeit in Geſellſchaft allen
gegenwärtig, welche es dir ſind, das iſt, viel-
leicht auf dich achten. Aber vertheile dieſe Auf-
merkſamkeit nach der Wichtigkeit oder auch nach
dem aͤuſſerlichen Range der Perſonen. Rede nicht
lauter, als erfordert wird, daß diejenigen, denen
du redeſt, bequem hoͤren koͤnnen; Enthalte dich
ſolcher Redensarten und Sprichwoͤrter, welche nur
den wilden unerzogenen Leuten gewoͤhnlich ſind,
und den andern Eckel verurſachen. Complimentire
nicht mit Vornehmern, ſondern thue, was ſie dir
Gzweymal
[98]Die Sittenlehre
zweymal ſagen. Den Geringen aber biete die
Gleichheit an, und den Gleichen den Vorrang.


Man ſoll keine Feindſchaft verachten, ſon-
dern das Ende einer jeden wuͤnſchen. Dieſer Wunſch
wenn er mit Klugheit wirkt, enthaͤlt die Pflichten
der Verſoͤhnlichkeit. Die Verachtung oder der
Schein derſelben reizt zu groͤſſerer [Beleidigung].
Der einfaͤltigſte und ſchwaͤchſte Feind kann uns in
gewiſſen Zeiten ſchaden.


Die meiſten Menſchen, beſonders arme Ver-
wandte und Bekannte, fodern zu groſſe Dienſtfer-
tigkeit von Andern. Aber zuweilen iſt es ein klei-
neres Uebel, kühnere Prätenſionen zu erfuͤllen,
als die Zahl der Feinde und Verlaͤumder zu
vermehren.


Verhuͤte die Nothwendigkeit der Proceſſe.
Sie ſind koſtbar, quaͤlend und ein Anlaß zu bey-
derſeitigen Suͤnden. Auch darum enthalte dich
aller Schimpfwoͤrter und aller ſchwer erweislichen
Beſchuldigung. Mache alle deine wichtigen Ab-
reden mit Andern ſchriftlich. Und in Kleinigkei-
ten gieb lieber nach, wenn du zu groͤſſern Schaden
deiner eignen Perſon und deines Gegners das
Recht ſuchen wuͤrdeſt. Erbiete dich nicht, Zeuge
zu ſeyn, in Sachen, woruͤber derjenige, der dich dazu
verlangt, eigentlich gar nicht rechten ſollte.


§. 45.
[99]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

§. 45.


Jch kann dir nicht rathen, alle und jede Ver-
ſtellung zu meiden.
Denn einige iſt offenbar
liebreich, oder verhuͤtet unſern eignen Schaden,
und unſre eigne Unbequemlichkeit, ohne irgend je-
manden zu beleidigen. Es iſt den Tugendhafteſten
und Weiſeſten zuweilen ſogar rathſam und unver-
meidlich, die Unwahrheit ausdruͤcklich zu ſagen.
Aber die meiſte Verſtellung hat ſchlimme Urſache,
Zwecke und Wirkungen. Nur derjenige lügt,
welcher ohne Recht die Unwahrheit ſagt, oder ſich
verſtellt.


Wer wird einem bekañten Luͤgner glauben? Wie
kann er mit Ehre und Vergnuͤgen unter Menſchen
leben, wenn ihm nicht geglaubt wird?


Eine jede erlaubte Verſtellung und Unwahrheit
muß durch eine beſondre dringende Urſache, welche
mit der Tugend beſteht, gerechtfertiget werden.
Die Aufrichtigkeit aber in Worten und Minen
iſt ſo natuͤrlich, und von ſo allgemeinem Nutzen,
daß man ſie ausuͤben muß, ſo oft das Gegentheil
nicht offenbar iſt. Die Pflicht der Aufrichtigkeit
iſt eine Regel, das Recht der Verſtellung iſt eine
Ausnahme.


Die ſündlichſten Lügen ſind Verleumdung;
und diejenigen, welche die Abſicht haben, durch
Betrug fremdes Guth zu gewinnen. Und dennoch
iſt das Laſter dieſer Luͤgen ſehr ausgebreitet. Halte
G 2dich
[100]Die Sittenlehre
dich allezeit ſo rein davon, daß ein jeder, der dich
kennt, dich nicht einmal im Berdachte haben koͤnne.


Wer mit Schwuͤren luͤgt, und als ein ſolcher
bekannt wird, dem wird man niemals glauben,
wenn er was ſagt, woran ihm gelegen iſt.


Viele ſagen die Unwahrheit um irgend Etwas
zu reden. Wie leer muͤſſen ſolche Seelen an
guten und gefaͤlligen Gedanken ſeyn. Ein ver-
aͤchtliches Volk!


Wenn deine Schuld dich auch das Liebſte koſten
ſollte; ſo waͤlze ſie durch Unwahrheit nicht auf an-
dre. Denn es iſt ein allwiſſender Vergelter des
Guten und des Boͤſen.


Wenn deine Ausſage irgend einem Menſchen
Schaden zuziehn oder mißfallen kann; ſo rede ſelbſt
in deiner Ueberzeugung ſo, als wenn du noch zwei-
felteſt. Alsdann biſt du ſeltner in Gefahr, ſchaͤd-
liche Unwahrheit zu ſagen


Halte dein Verſprechen, beſonders wenn ſich
der Andre darnach richtet, mit vollkommner Treue
des Worthaltens. Ueberlege alſo vorher, ob du
koͤnneſt, und ob es gemeinnuͤtzig ſey. Verhuͤte den
Mißverſtand. Biſt du ſelbſt Schuld daran, ſo
trage die Laſt. Jſt es der Andre ohne Betrug,
ſo theile ſie mit ihm aus Gefaͤlligkeit. Verſprich
nichts Schweres als gewiß. Sey nachgebend in
Foderungen des Verſprochnen.


Ein
[101]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Ein Verſprechen, deſſen Erfuͤllung ſchaͤdlicher
iſt, als der zu beſorgende Zwang und Verdruß,
welcher aus Abweichung von dem Verſprechen folgt,
darf man zwar nicht halten; aber den dadurch ver-
urſachten Schaden muß man erſetzen.


§. 46.


Der Scherz iſt eine Verſtellung, welche andre
vergnuͤgen, oder zum lachen reizen ſoll. Er muß
ehrbar, uneckelhaft und ohne einen ſolchen Schaden
ſeyn, der groͤſſer iſt, als das Vergnuͤgen.


Scherze nicht auf ſolche Art, daß du beſorgen
mußt, auch nach der Entdeckung zu mißfallen. Nie-
mals mit deinen Vorgeſetzten oder Vornehmern.
Denn ſie trauen dir den Verſtand nicht zu, dich in
der Gewohnheit des Scherzes von der Beleidigung
ihrer Ehre zu enthalten. Nicht mit Hochmuͤthigen
und Zornigen, denn ſie haben nicht Verſtand gnug,
Scherz zu verſtehen. Nicht mit Traurigen, uͤber die
Urſachen ihres Kummers; denn ſie glauben ſonſt,
daß du keinen Antheil daran nehmeſt. Nicht zwi-
ſchen lehrreichen und ernſthaften Geſpraͤchen. Denn
der Nutzen derſelben wird dadurch geſtoͤrt. Nicht
mit Argwoͤhnſchen, welche ſich den Scherz als eine
Verachtung vorſtellen. Nicht mit unbekannten
Perſonen an oͤffentlichen Oertern, und zwar eben
darum, weil du ſie nicht kenneſt.


G 3Ein
[102]Die Sittenlehre

Ein Menſch, der nur wegen ſeiner Gabe des
Scherzes, und ſonſt wegen keiner guten Eigenſchaft
gefaͤllt, oder der aus Begierde zu ſcherzen, allezeit
den Anlaß verſaͤumt, die beſſern Seiten ſeines Ver-
ſtandes und Herzens zu zeigen, ein ſolcher Luſtig-
macher
wird von den vernuͤnftigen Menſchen nicht
geachtet. Sagt er im Scherze ſogar Zoten und
Beleidigungen, ſo iſt er ihnen ein Abſcheu.


Der Scherz, welcher zugleich die Abſicht hat,
Fehler und Laſter laͤcherlich zu machen, heißt ſaty-
riſch.
Er gefaͤllt ſelten demjenigen, der ſolche
Fehler begangen hat, wenn ſie nicht fuͤr klein gehal-
ten werden. Dieſer Scherz, wenn er unvorſichtig
iſt, ſtoͤrt manche Freundſchaft und manches Gluͤck,
und verurſacht Haß und Rachbegierde. Uebe dich alſo
keinesweges in dieſer ſo gefaͤhrlichen Kunſt.


Affectire nicht, ſonderbar oder Etwas zu ſchei-
nen, welches du nicht biſt, und zu ſeyn nicht be-
darfſt. Affectire nicht den Schein der hohen Ge-
burt, des Reichthums und der groſſen Hoffnung;
den Schein groſſer Leibesſtaͤrke und der Empfind-
lichkeit oder Weichlichkeit; den Schein, in vielen
fremden Laͤndern geweſen zn ſeyn, und viele Kuͤn-
ſte, Wiſſenſchaften und Sprachen zu wiſſen; den
Schein der Erfahrung ſonderbarer und gefaͤhrlicher
Begebenheiten; den Schein des Zorns und der
Rachbegierde; den Schein der Gunſt bey dem
Frauenzimmer; den Schein wichtiger Geheimniſſe
und
[103]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
und Geſchaͤfte; den Schein einer auſſerordentli-
chen Munterkeit; den Schein aͤlter und juͤnger zu
ſeyn; den Schein vieler Wiederwaͤrtigkeiten, und
groſſer Thaten in Tapferkeit und Dienſtfertigkeit.
Kurz, meide die Prahlerey, ſie wird ſelten und
niemals lange geglaubt, und nach der Entdeckung
laͤcherlich und verhaßt.


Der wirkliche Eigenſinn iſt ſelten; aber
viele halten es ſich fuͤr eine Ehre, eigenſinnig zu
ſcheinen, weil es die Vornehmern und Maͤchti-
gern mehr ſind, als die Geringen und Schwachen.
Huͤte dich vor der Affectation dieſer Thorheit.
Folge jedem Rathe, welchen deine Einſicht, oder
dein Vertrauen zu dem Rathgeber billigt; und
handle allemal nach den Wuͤnſchen andrer, wenn
es keine Pflicht iſt, den deinigen zu folgen.


§. 47.


Mit demjenigen, der zur witzigen oder boshaf-
tigen Verkleinerung oder Verlaͤumdung geneigt
iſt, vermeide nach Moͤglichkeit den zufaͤlligen Um-
gang und die vertrauten Geſpraͤche.


Sey hoͤchſt ſorgfaͤltig, denen, an deren Beyfall
dir vornehmlich gelegen iſt, gleich Anfangs einen
guten Begriff von deinem Verſtande und deinem
guten Herzen zu erwecken. Denn dieſer Begriff
wirkt faſt in alle folgende Urtheile, und raubt dir
oft die Gelegrnheit, deine guten Seiten hernach
zu zeigen.


Laß
[104]Die Sittenlehre

Laß dich die mißlungnen Verſuche nicht ab-
ſchrecken, fuͤr deine wichtigen Zwecke noch andre
zu machen. Merke auf die guten Zeitpuncte der
gluͤcklichen Schritte; und verſaͤume nicht, aus Zu-
verſicht zu demjenigen, was ſchon geſchehen iſt,
noch dasjenige hinzu zu fuͤgen, ohne welches alle
vorige Schritte vergeblich ſeyn wuͤrden.


Sey nicht bloͤde, diejenigen Wuͤnſche zu zeigen,
und um diejenige Huͤlfe zu bitten, wodurch du zu
einem Theile deiner wahren Gluͤckſeligkeit gelan-
gen kannſt. Bitte mit Anſtaͤndigkeit. Aber laß
es dich nicht verdrieſſen, wenn die Erfuͤllung un-
moͤglich iſt, oder deswegen, weil der andre ſie nicht
leiſten will, fuͤr unmoͤglich ausgegeben wird.


Richte deine Handlungen allezeit ſo ein, daß
ſo wenigen guten Zwecken als moͤglich iſt, dadurch
geſchadet, und ſo viele, als moͤglich iſt, dadurch
erleichtert und befoͤrdert werden.


Ueberlaß dich nicht dem Zufalle, wenn du durch
irgend ein Beſtreben, die Erfuͤllung guter Wuͤnſche
wahrſcheinlicher machen kannſt.


Schweige von den Zwecken, welche durch
deine Schwatzhaftigkeit leicht koͤnnten geſtoͤret
werden.


Viele Handlungen und Sachen ſind nur als
Mittel
andrer Dinge gut und angenehm. Laß
dich nicht von der Gewohnheit unvermerkt hin-
reiſſen, dich ohne Nutzen mit ſolchen Mitteln auch
als-
[105]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
alsdann zu beſchaͤftigen, wenn du einſehen kannſt,
daß der Zweck nicht laͤnger vernuͤnftig ſey, oder daß
ſolche Mittel nicht dazu taugen und des Opfers
nicht werth ſind, welches dazu erfordert wird.
Trachte nach keiner Vermehrung irgend eines Be-
ſitzes von ſolchen Dingen oder Ehrenzeichen, deren
Vermehrung dir nicht weiter nuͤtzen wird.


Wiſſe vornehmlich, daß ein ausgebreiteter
Beyfall bey vielen, die beſondere Liebe bey nicht
wenigen, die moͤgliche Vermeidung der Feindſchaf-
ten, die Enthaltung von allen groben Verbrechen,
der Fleiß, die Sparſamkeit und die Ordnung in
deinen Geſchaͤften zuſammen genommen, faſt ein
untruͤgliches Mittel ſind, dir zur äuſſerlichen
Wohlfahrt zu verhelfen.


§. 48.


Wenn zwiſchen dir und einem andern die Ge-
wohnheit der gegenſeitigen Dienſtfertigkeit iſt;
wenn er dir gefaͤllt, und du ihm zu gefallen ſcheinſt;
wenn ihr wahrſcheinlicher Weiſe lange an einem
Orte leben und von beyden Seiten euch dienen
koͤnnet; ſo vermehre nach Moͤglichkeit den Umgang;
ſey ihm dienſtfertiger und williger als andere; traue
ihm nach und nach mehr Wohlwollen gegen dich zu,
bis du das Gegentheil erfaͤhreſt: alsdann thuſt du
alles moͤgliche, aus ihm deinen wahren Freund
zu machen, wenn er es ſeyn kann. Gelingt es dir,
ſo bleibe auch du ſein wahrer Freund.


G 5Ver-
[106]Die Sittenlehre

Vermittelſt der wahren Freundſchaft wird die
Menſchenliebe mit gewiſſerer Wirkung und mit
groͤſſerm Vergnuͤgen ausgeuͤbt, als wenn man ohne
beſondre Freundſchaft nur unbekannteren Menſchen
zu dienen ſucht, und von ihnen Gegendienſte er-
wartet.


So lange zwey Perſonen den Willen haben,
ſich einander ſo viel zu dienen, als die Meynung
von ihren Pflichten gegen Gott, das Vaterland,
ihre Familie und andre Freunde ihnen erlaubt; ſo
lange ſind ſie wahre Freunde.


Das Unvermoͤgen zur Vergeltung der Dienſte
macht auf der andern Seite die Dauer der wahren
Freundſchaft ſchwer, und folglich unwahrſcheinlich.


Wenn du dem, der dein Freund ſcheint, wahr-
haftige Dienſte leiſteſt, ſo nuͤtzen ſie einem Men-
ſchen, und in dieſem Falle iſt nichts daran gelegen,
wenn er auch dein wahrer beſonderer Freund nicht
ſeyn ſollte.


Wenn die Staͤnde der Freunde ſehr verſchie-
den werden; wenn ihr Schickſal ſie oft und
weit von einander entfernt; wenn ein jeder die
Zahl ſeiner Freunde vermehrt, oder eine zahlreiche
Familie bekoͤmmt, ſo bleibt entweder der Grad
oder die Wirkung der Freundſchaft nicht ſo groß,
als vorher.


Die Gefaͤlligkeit muß unter Freunden groͤſſer
ſeyn, als unter andern; aber die Furcht, wegen
noth-
[107]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
nothwendiger Kleinigkeiten zu mißfalleu, muß
kleiner ſeyn. Die Dreiſtigkeit, dem Freunde Laſt
und Eckel zuzumuthen, iſt wider die Zaͤrtlichkeit
der Freundſchaft.


Schmeichle deinem Freunde nicht; aber rede
oft von ſeinen wahren Verdienſten. Tadle ihn
nicht, wenn er ſich gegen dich verſieht; ſondern
wenn er dieſelben Fehler in ſeinen eignen Geſchaͤf-
ten und gegen andre begeht. Diene ihm deßwe-
gen, weil er unvermoͤgend zur Vergeltung wird,
nicht weniger, als du ſonſt thun wuͤrdeſt.


Gewoͤhne ihn gleich anfangs, keine Geheim-
niſſe von dir zu hoͤren, deren Entdeckung weder dir
noch ihm nutzet.


Achte jeden Grad der Freundſchaft hoch, ſuche
ihn zu erhalten und zu vermehren, ob du gleich
groͤßere gehoffet haſt.


Bey einer Freundſchaft zweyer Perſonen aus
verſchiedenem Geſchlechte, muß die Ehrbarkeit auf
das allergenaueſte beobachtet werden. Denn ſonſt
erwacht der Geſchlechtstrieb, und wird ein wahn-
ſinniger Affect.


Verſuche die Moͤglichkeit der Freundſchaft vor-
zuͤglich bey nahen Verwandten, weil ihr euch der
Mode wegen beſondern Umgang und beſondre
Dienſtfertigkeit ſchon ſchuldig zu ſeyn ſcheinet.


Haſt du dich in der Wahl des Freundes gaͤnz-
lich geirrt; ſo verbirg die Einſicht von dem Jrr-
thume;
[108]Die Sittenlehre
thume; mache den Umgang ſchwerer und ſeltener;
verſage nach und nach mehr Dienſte unter einem
glaubwuͤrdigen Scheine der Unmoͤglichkeit; gieb
nach und nach weniger Gelegenheit zu Gegendien-
ſten. Kurz, mache den, der dein Freund ſcheinen
wollte und dich ſehr kennt, auch von dir ſehr gekannt
wird, nicht zum giftvollen Feinde.


§. 49.


Der Zuſtand des Vergnügens iſt Gluͤckſelig-
keit. Gluͤckſeligkeit der lebendigen Weſen iſt der
Zweck des Schoͤpfers. Alſo iſt das Vergnuͤgen an
ſich keine Suͤnde, obgleich viele Handlungen, die
man des Vergnuͤgens wegen vornimt, Suͤnde ſind.


Waͤhle dir zu einem der vorzuͤglichſten Denk-
ſpruͤche: Vergnügen ohne Reue, und handle
nach demſelben in Gedanken, Worten und Werken,
ſowol bey Erinnerung des Vergangenen, als bey
dem Genuſſe des Gegenwaͤrtigen und bey der Aus-
ſicht in das Zukuͤnftige. Alsdann wirſt du ſo gluͤck-
lich ſeyn, wie es dir die Tugend und das unver-
meidliche Schickſal erlaubt.


Traurigkeit und Furcht ſind der Gluͤckſelig-
keit zuwider. Bezwinge dieſe Affecte nach den
Lehren des geduldigen Muthes.


Erſtlich, gewoͤhne dich nicht zu oͤftern Betrach-
tungen derjenigen Uebel der Menſchen, welche aus
dem unvermeidlichen Schickſale kommen, und denen
durch
[109]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
durch keine Klugheit und Liebe abgeholfen wird.
Denn durch dieſes Andenken wird Traurigkeit und
Furcht ohne Nutzen unterhalten. Dieſe Uebel ſind
auch weit ſeltener und geringer, als diejenigen
glauben koͤnnen, welche aus der Aufmerkſamkeit
auf dieſelben ein Geſchaͤft machen.


Zweytens, ein jedes Uebel hat einige gute Sei-
ten, und kann durch Weisheit zu einigen Vorthei-
len gebraucht werden. Wenn nun das Uebel da
iſt; ſo unterhalte dich mit ſolchen Ueberlegungen,
nicht aber mit der muͤßigen Gruͤbeley uͤber die Groͤſſe
des Uebels und Mannigfaltigkeit deſſelben.


Drittens, rede von dem Boͤſen nicht mehr als
noͤthig iſt, um ihm vorzubeugen oder abzuhelfen.
Denn es kann dir zu nichts dienen, daß andre,
welche dir zu helfen nicht faͤhig, oder nicht geneigt
ſind, dich fuͤr ungluͤcklich halten. Es verurſacht
ihnen nur Beſchwerlichkeit, oder dir Verachtung.
Es wird von dem Boͤſen gewoͤhnlicher Weiſe zu
viel, und von dem Guten zu wenig geredet. Durch
dieſe Thorheit werden viele Uebel erzeugt, die ſonſt
nicht waͤren, und viel Vergnuͤgen zerſtoͤret, welches
Gott durch den Lauf der Natur uns anbietet.


Viertens, wenn du durch bloſſen Vorſatz eine
unnuͤtze Traurigkeit und Furcht nicht bezwingen
kannſt; ſo beſchaͤftige dich, ſo ſtark als moͤglich iſt,
ſo bald du erwachſt und bis du entſchlaͤfſt, entweder
mit Arbeit, oder mit Zerſtreuungen, welche dich
nach
[110]Die Sittenlehre
nach voriger Erfahrung zu vergnuͤgen pflegen.
Setze dieſes Huͤlfsmittel fort, wenn es auch an-
fangs nichts oder wenig zu wirken ſcheinet. Wenn
du ohne eine Urſache zu wiſſen, traurig und beaͤng-
ſtigt biſt, ſo iſt der Grund in dem Koͤrper und eine
Krankheit. Gieb dir alsdann nicht die Muͤhe,
andre Urſachen aufzuſuchen; ſondern verbeſſere
deine Diaͤt, und ſchaffe durch Aderlaß oder Arzney
dasjenige aus dem Koͤrper, wodurch die Beaͤngſti-
gung verurſacht wird.


Fuͤnftens, vermeide alle Gefahren des Lebens,
der Geſundheit, des Beyfalls, der Gunſt und der
Guͤther, ſo oft du nach den Regeln der Weisheit
und Tugend ſie vermeiden darfſt. Erſinne vorher
die beſten Gegenmittel wider die wahrſcheinlichen
und moͤglichen Gefahren; und ſuche vorher, ſie in
deiner Gewalt zu haben. Denn in den Gefahren
ſelbſt wird durch die Furcht eine Verwirrung ver-
urſacht, in welcher die gluͤckliche Ueberlegung
ſchwer iſt. Auch iſt es alsdann oft zu ſpaͤt, zu
uͤberlegen und Mittel zu ſuchen. Dieſe Furcht vor
der mißlingenden Wahl der Gegenmittel, mehret
die Furcht vor den Gefahren ſelbſt, und macht
das Uebel aͤrger.


Sechſtens, geh an die moͤglichen Gefahren mit
der weiſen Unterwerfung unter Gott: HErr,
dein guter Wille geſchehe.


Sie-
[111]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Siebendens, wenn dir gute Abſichten und
Bemuͤhungen mißlingen; ſo laß es dich nicht ge-
reuen. Denn gute Abſichten und Bemuͤhungen
ſind ſchon ein Theil der Tugend, welcher fuͤr dich
ſelbſt nicht ohne wahren Nutzen ſeyn kann.


§. 50.


Ergötze dich und andre ſo oft, auf eine ſo
gemeinnuͤtzige Art und mit ſo wenigen Koſten, als
es in den Umſtaͤnden moͤglich iſt.


Kein Vergnuͤgen iſt dauerhafter, als das An-
denken an gute Thaten,
beſonders an ſolche,
welche gelungen ſind, und an gute Vorſaͤtze, be-
ſonders an ſolche, welche wahrſcheinlicher Weiſe
gelingen werden.


Die Natur bietet allen Menſchen insgemein,
ſowol dem Armen als dem Reichen, faſt in allen
Jahrszeiten, viele Ergoͤtzlichkeiten an, welche
nichts, als den Vorſatz des Genuſſes, koſten. Wenn
dich wichtige Geſchaͤfte nicht abrufen, ſo laß die
Gelegenheit zu ſolchem natuͤrlichen Genuſſe nicht
vorbey gehen, ſondern gebrauche ſie entweder ein-
ſam, oder in Geſellſchaft.


Genieß deine Speiſen und dein Getränke
mit Aufmerkſamkeit auf den Wohlſchmack derſel-
ben, und mit dem Andenken, daß Gottes Vor-
ſehung dir und den Deinigen dieſes Vergnuͤgen im
jedem Jahre uͤber tauſendmale beſtimmt habe.


Ent-
[112]Die Sittenlehre

Entzeuch dir freywillig auf eine Zeitlang einen dir
gewöhnlichen Genuß der angenehmen Dinge.
Denn er wird ſchmackhafter nach einer Abwechſe-
lung. Wenn du zu Tiſche geheſt, ſo thue alles
moͤgliche, um deine Sorgen und muͤhſamen Ueber-
legungen fahren zu laſſen; gleichfalls, wenn du
dich zum Schlafen legeſt. Der Tiſch und das
Lager ſind, wenn du munter und geſund bleiben
willſt, keine Oerter der Beſchaͤftigung.


Die Abaͤnderung der Natur durch die Kunſt
der Menſchen,
die Gaͤrtnerey, die Baukunſt,
die Mahlerey, die Bildhauerkunſt, die Poeſie
und Tonkunſt; der Tanz und andere ſolche Kuͤnſte,
bieten unſerm natuͤrlichen Geſchmacke an Schoͤn-
heit und Harmonie viele Vergnuͤgungen an, be-
ſonders, wenn wir uns in der Jugend bemuͤht haben,
wenigſtens etwas von den Regeln dieſer Kuͤnſte
zu wiſſen. Alſo nimm die Gelegenheit dazu wahr,
dieſen Genuß ſowohl vorzubereiten, als wirklich
zu haben. Die meiſten Werke der Kunſt koͤnnen
den Beſitzer nicht im hoͤhern Grade vergnuͤgen,
als den Beobachter. Die Schoͤnheit der Allee,
des Waldes, des Gartens, worinnen du ſpaziren
darfſt, gehoͤret auch dir; die Muſic, der Ball,
wenn du zuhoͤren und zuſehen darfſt, gehoͤrt auch
dir; das Cabinet von Gemaͤhlden und Naturalien,
wo du zu deinem Vergnuͤgen dich aufhalten darfſt,
gehoͤrt auch dir; der Buͤchervorrath, deſſen Ge-
brauch
[113]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
brauch man dir erlaubt, gehoͤrt auch dir; die Bild-
ſaͤulen und die Symmetrie der Baukunſt ſind meh-
rentheils oͤffentlich: das Vergnuͤgen daran gehoͤrt
auch dir. Verdirb und vermindre es nicht durch
die Beneidung des Beſitzes.


Ohne Tugend iſt niemand ſo vergnuͤgt, als
er ſeyn koͤnnte. Ohne die Gewohnheit, oftmals
in der Stille ſein eigen Gemuͤth, ſeine eignen
Handlungen und Vorſaͤtze, ſeine eignen Umſtaͤnde
und Verhaͤltniſſe gegen die Menſchen zu unterſuchen,
iſt niemand ſo weiſe und ſo tugendhaft, als er
ſeyn koͤnnte. Alſo rathe ich dir, nicht ſelten zu
ſolchen Betrachtungen eine Zeitlang einſam zu blei-
ben. Du wirſt dadurch deſto geſchickter werden,
mit ruhiger Faſſung des Gemuͤths und ohne
Sclaverey unter den Affecten, hernach in der Ge-
ſellſchaft der Menſchen, ſowol wirkſam, als gluͤck-
ſelig zu ſeyn.


Alle deine Ergoͤtzlichkeit ſey mäßig und ehr-
bar.
Sey oder ſtelle dich nicht durch ein ſolches
Geräuſch und Gelächter munter, welches andre
nicht munter macht.


Wenn deine gewoͤhnliche Beſchaͤftigung im
Stillſitzen und Nachdenken geſchicht, ſo ſuche
Ergoͤtzlichkeiten, welche mit Bewegung ohne
Anſtrengung des Verſtandes verbunden ſind. Er-
muͤdet dich aber dein Geſchaͤft durch Bewegung;
Hſo
[114]Die Sittenlehre
ſo ſuche Ergoͤtzlichkeiten, welche im Sitzen moͤglich
ſind und den Verſtand uͤben.


Mußt du ſpielen; ſo lerne auf die Affecte
der Menſchen merken, aber verbirg dieſe Aufmerk-
ſamkeit. Huͤte dich ſelbſt dabey vor allen Affecten,
vornehmlich vor Zank. Gib allezeit nach; aber
verhuͤte das Spiel mit ſolchen, mit welchen das
Nachgeben zu deinem Schaden oft noͤthig iſt.


Wenn du ein gutes Buch kennen lerneſt,
von geſellſchaftlichen Ergötzlichkeiten, die vom
Spiele unterſchieden ſind, als von Scherzen, zu-
faͤlligen Reimen, muntern Liedern und Sinn-
ſpruͤchen, Raͤthſeln, ermunternden Erzaͤhlungen,
Comoͤdien aus dem Stegreife u. ſ. w., ſo kaufe daſ-
ſelbe, und lerne daraus die Mittel, in Geſellſchaft
ermuntert zu ſeyn. Vors erſte kannſt du vieles
aus dem Vade-Mecum für luſtige Leute,
und aus dem natuͤrlichen Zauberlexicon neh-
men. Vermehre eine ſolche Sammlung durch
Anzeichnung der dazu brauchbaren Dinge, welche
du anderswo lieſeſt, oder ſelbſt erfaͤhreſt. Dieſes
dein ſelbſtgemachtes Buch nenne Beytrag zu
geſellſchaftlichen Ermunterungen und Ge-
ſprächen.


Wenn es deine Zeit und noͤthige Sparſamkeit
leidet, ſo verſaͤume keine Gelegenheit, das Auſſer-
ordentliche und Ungewöhnliche in der Natur
und in der Kunſt der Menſchen
zu beſehen.
Denn
[115]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
Denn dieſes vermehrt nicht nur deine Erkenntniß,
ſondern die Beſchreibung derſelben zur rechten Zeit
und am rechten Orte, macht dich auch zum angeneh-
men Geſellſchafter.


Die Zeitungen und Schauſpiele ſind, unter
geſagter Bedingung, aus gleicher Urſache anzu-
rathen.


Aber ergoͤtze dich nicht an unehrbaren Stellen
der Schauſpiele; lerne von ihnen nicht poͤbelhafte
Gebehrden und Redensarten, nicht den raſenden
Eigenſinn in der Geſchlechtsliebe, nicht den uner-
laubten Betrug gegen Eltern, Vormuͤnder und
Herren; nicht die Narrheit eines Weibernaͤrr-
chens; nicht den tollkuͤhnen Muth eines Schlaͤgers
und Renommiſten, kurz, nicht die mehrentheils
eitle Hoffnung, durch Laſter auch nur eine Zeit-
lang gluͤcklich zu werden. Alsdann werden dir
ſolche Gemaͤhlde in den Schauſpielen nicht ſchaden,
ſondern vielmehr zeigen, wie Thoren und Boͤſe-
wichter denken und handeln, und wie man ſich vor
ihnen huͤten muͤſſe.


Sey begierig, Reiſebeſchreibungen zu leſen,
uͤbergehe in denſelbigen, was dich nicht vergnuͤgt,
oder dir nicht nuͤtzt. Das Merkwuͤrdige trage mit
kurzen Worten in deinen Beytrag.


Die meiſten Romane reizen zur unzuͤchtigen,
tollkuͤhnen oder taͤndelnden Geſchlechtsliebe. Den
Thomas Jones,
und den Don Quichott ließ
H 2mit
[116]Die Sittenlehre
mit gleicher Vorſichtigkeit, als Schauſpiele. Pa-
mela, Clariſſa, Grandiſon
koͤnnen dir vornehm-
lich nuͤtzen, wenn du ein vornehmer Mann werden
ſollteſt. Robinſon Cruſoe iſt dir ein gutes
Buch.


Gellerts Schriften, Cramers moraliſche
Schriften, Rabners und Boileaus Satyren,
und das Theater des Destouches,les Moeurs von
Touſſaint, les Penſees de Seneque (merke aber,
daß er ein Heide war) und der Nordiſche Auf-
ſeher
ſind gute moraliſche Buͤcher. Lies das, was
dich darinnen angeht, lieber oft, als allerley.
Du ſollſt mehr Gutes wirken, als Gutes leſen.


§. 51.


Die Beobachtung der häuslichen Pflichten
und der Regeln der häuslichen Klugheit

ſind die ſtaͤrkeſten Stuͤtzen der menſchlichen Tugend
und Gluͤckſeligkeit. Jch will die vornehmſten ſagen,
lerne einmal mehr durch eigne Erfahrung. Alle
Perſonen in einem Hauſe muͤſſen die mehrſte Zeit
wirklich arbeiten; der Mann, in ſeinen Aem-
tern, in ſeinem Gewerbe, in ſeiner Kunſt, in
ſeinem Handwerke in oder auſſer dem Hauſe, und
durch das allgemeine Regiment uͤber das Haus-
weſen; die Frau, durch Vertheilung der ihr be-
ſtimmten Ausgaben; durch die Sorgfalt, mit den
mindeſten Koſten den meiſten Beduͤrfniſſen abzu-
helfen,
[117]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
helfen, das meiſte Vergnuͤgen und die groͤßte Rein-
lichkeit zu ſchaffen, nichts Brauchbares umkommen
zu laſſen, allen Schaden, welcher nach Verzoͤgerung
der Gegenmittel groͤſſer wird, fruͤh genug zu erſetzen,
allen unnoͤthigen Verdruß des Mannes zu verhuͤten,
und ihm in der Aufſicht uͤber die ganze Familie zu
helfen: Die Kinder, entweder um mit den Eltern
zu erwerben, oder zur kuͤnftigen Arbeit, Erkennt-
niß und Fertigkeit zu erlangen: Das Geſinde,
nach dem Vertrage mit der Herrſchaft und nach
dem Befehle derſelben; ein jeder Bediente zwar
vornehmlich in denen ihm zugetheilten Geſchaͤften,
aber doch auch in allen Beduͤrfniſſen des Hauſes,
wenn unvermuthete Nothfaͤlle vorkommen.


Ein Haus, das zu viele Bediente hat, welche
nicht die meiſte Zeit genug beſchaͤftigt werden, wird
nicht nur ſchlecht bedient, ſondern auch eine Schule
der Faulheit und Laſter.


Jn jedem Hauſe ſollte wenigſtens woͤchentlich
einmal im Beyſeyn aller Hausgenoſſen eine kurze
Tugendlehre vorgeleſen
werden, von den
Pflichten, die irgend einer in demſelben zu beob-
achten hat, mit einem ſolchen Auszuge aus den
Landesgeſetzen, durch welche die Bewegungs-
gruͤnde zur Ausuͤbung geſtaͤrket werden. Bey
Verleſung dieſer Lehren und Geſetze, welche der
Hausvater durch ſolche Anordnungen, die ſein
Haus insbeſondre angehn, nach ſeiner Einſicht
H 3ver-
[118]Die Sittenlehre
vermehren muß, koͤnnte derſelbe durch einen Blick,
durch ein Wort, durch eine Frage manchem Fehler
abhelfen, und zwar auf eine Art, welche den
Schuldigen nicht ſo ſehr verdroͤſſe und andern etwas
unverſtaͤndlich waͤre.


Wer offenbar gegen die Pflichten der Religion
handelt, welche er bekennet, oder ſogar keine goͤtt-
liche Vergeltung der Tugend und der Laſter zu
glauben ſcheinet, und ſich durch das Exempel eines
tugendhaften Hauſes nicht bald beſſern laͤßt, iſt
ein gefährlicher Hausbediente. So lange es
nothwendig iſt, ihn zu behalten, muß mit groͤßter
Sorgfalt verhuͤtet werden, deß ſein Geſpraͤch und
Beyſpiel auch nicht andre vergifte.


Man muß den Bedienten von beyderley Ge-
ſchlechte, ſo viel als moͤglich, Anlaß und Gelegen-
heit nehmen, unehrbar und unzüchtig mit
einander umzugehen. Man muß ſie mit der Be-
dingung annehmen, daß ſie dienſtlos ſind, ſo bald
ſie ohne Wiſſen der Herrſchaft ſich einander die
Ehe zuſagen,
oder ſo bald ſie Schläge und
Gewalt
gegen einander gebrauchen.


Schwuͤre, Fluͤche, Scheltwoͤrter und Trun-
kenheit muͤßten bey Verleſung der Geſetze, nach
Befinden der Herrſchaft, mit einer Einlage in
die Armenbüchſe,
beſtraft werden, bis die
Schuldigen ſich ſo unverbeſſerlich zeigen, daß man
ſie deswegen des Dienſtes entlaſſen muß.


Jn
[119]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.

Jn einem Hauſe muß alles ſo ordentlich zuge-
hen, daß faſt alles z. E. Arbeit, Schlieſſung des
Hauſes, Aufſtehen vom Bette, Ausloͤſchung des
Lichts, und die Tiſchzeit nach einem Glocken-
ſchlage
beſtimmt, und ohne beſondere Urſache von
der Regel nicht abgewichen werde.


Von allen groſſen und kleinen brauchbaren
Sachen im Hauſe muß die Herrſchaft ein Ver-
zeichniß
haben, nach der Ordnung der ihnen an-
gewieſenen Plätze,
nach welcher leicht unterſucht
werden kann, ob alles in gutem Stande da ſey.
Dieſe Unterſuchung muß nach Beſchaffenheit der
Sachen wirklich alle Tage, alle Wochen, alle
Monathe, alle Quartale, oder alle Jahre ange-
ſtellet werden.


Es muß durch die Gegenanſtalt den Haus-
genoſſen ſehr ſchwer ſeyn, zu ſtehlen,
Unter-
ſchleif zu machen, zu naſchen, das Eigenthum der
Herrſchaft zu verleihen, oder durch Unvorſichtig-
keit einen Schaden zu verurſachen, welcher ver-
borgen bleiben kann.


Nichts Brauchbares muß durch Mangel
der Aufſicht im Hauſe umkommen oder verfallen.
Der Schade, welcher aus Unvorſichtigkeit erwaͤchſt,
muß wenigſtens zum Theil entweder durch erfor-
derte Erſetzung, oder durch Strafe
in die
Armen-Caſſe dem Schuldigen zur Laſt gereichen.
Wer nicht hat und der Zuͤchtigung unterworfen iſt,
H 4muß
[120]Die Sittenlehre
muß mit dem Leibe bezahlen. Wenn Schade ge-
ſchehen iſt, deſſen Urheber unter zweyen oder dreyen
Bedienten bekannt iſt, welche ſich nicht verrathen
wollen: ſo muß man die Erſetzung oder Strafe
unter ſie alle vertheilen.


Keine Bediente des weiblichen Geſchlechts,
und uͤberhaupt keine Hausgenoſſen, welche in ih-
ren perſoͤnlichen Handlungen nicht das Recht der
Freyheit haben, muͤſſen berechtigt ſeyn, in und
auſſer dem Hauſe einen Umgang zu unterhal-
ten,
welchen die Herrſchaft nicht weiß, oder,
wenn er ihn wuͤßte, wahrſcheinlicherweiſe ver-
bieten wuͤrde.


Die Herrſchaften muͤſſen durch Quitungen
und Contrabücher,
durch oftmaliges Nach-
meſſen und Nachwiegen
verhuͤten, daß ſie we-
der von Hausgenoſſen noch Auswaͤrtigen leicht
betrogen werden. Zu dieſem Zwecke muß das
geſetzmaͤßige Maaß und Gewicht im Hauſe ſeyn.


Wenn die vornehmern Glieder des Hauſes,
welche Aufſicht und Anſehn uͤber die andern haben
ſollen, Mishelligkeit unter einander haben, oder
die Oberherrſchaft ihnen Verweiſe geben muß: ſo
iſt eine ſolche Verſtellung, eine ſolche Heimlichkeit
und Maͤßigung in Ausdruͤcken noͤthig, daß das
unentbehrliche Anſehn nicht geſchwaͤcht werde.


Es waͤre nuͤtzlich, wenn die naͤchſten Nach-
baren
ſich zuweilen in der Abſicht beſuchten, um
mit
[121]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
mit einander von ihren Kindern und Hausgenoſſen
zu reden. Denn oft weiß der Nachbar von den
Kindern und dem Geſinde mehr, als die Herrſchaft
des Hauſes.


Alle Ausgabe und alle Einnahme muß
angezeichnet werden, damit die Herrſchaft alles
uͤberſehn und die Fehler ihres Hausweſens ver-
beſſern koͤnne.


Derjenige Hausvater, welcher die Poſten der
Ausgabe nach dem Maaße ſeiner ganzen Einnahme
beſtimmt, und nicht zehn Procent für unver-
ſehne Zufälle
berechnet, wird ganz gewiß in
Schulden gerathen. Denn einiger unvermutheter
Schaden erfolgt gewiß; aber eine unvermuthete
Einnahme weit ſeltener.


Wer die Bedürfniſſe ſeines Hauſes in der
wohlfeilſten Jahreszeit, in der gehoͤrigen Quan-
titaͤt und entweder fuͤr baar Geld oder nur auf
kurzen Credit einkauft, und fuͤr die Bewahrung
des Eingekauften gehoͤrig ſorgt, wird fuͤr ſein Geld
uͤber ein Zehntel mehr haben, als er ſonſt haben
koͤnnte. Denn die Kaufleute rechnen allezeit Jn-
tereſſe, Gefahr und Zeitverluſt.


Eine vollkommne Hausmutter muß Wiſſen-
ſchaft und Fertigkeit haben, Waaren, welche das
Haus braucht, nach ihrer Dauerhaftigkeit und
Guͤte zu kennen, die Zeit des vortheilhafteſten
H 5Ein-
[122]Die Sittenlehre
Einkaufs zu unterſcheiden, und die billigſten Ver-
kaͤufer aufzuſuchen.


Ein gluͤckſeliges Haus muß gaſtfrey ſeyn,
aber gemeiniglich nur mit den gewoͤhnlichſten Spei-
ſen und Getraͤnken. Oeftere Schmauſereyen ſind
ein Verderben aller haͤuslichen Gluͤckſeligkeit.


Eine Ausgabe, welche ſelten vorkömmt
und in welcher die Freygebigkeit einen uͤblen Na-
men verhuͤtet, und uns vielmehr beliebt macht,
kann und muß mit beſondrer Freygebigkeit geſchehn.
Aber ein Aufwand, welcher zu den gewoͤhnlichen
Claſſen gehoͤrt, muß mit der vorzuͤglichſten Spar-
ſamkeit gemacht werden.


Je gefaͤlliger und gemeinnuͤtziger man iſt, deſto
mehr hat man zufällige Beſuche zu erwarten,
welche uns Zeit zu den Geſchaͤften zernichten, die
Ordnung des Hauſes ſtoͤhren, und mit unvermeid-
lichen Unkoſten verbunden ſind. Ein tugendhafter
und fleißiger Patriot des menſchlichen Geſchlechts,
welcher erſt dafuͤr bekannt iſt, hat das Recht, gleich-
ſam auf den innerſten Theil ſeiner Hausthuͤr zu
ſchreiben, daß er, auſſer in Nothfaͤllen, in gewiſſen
Zeiten der Wochen und der Tage fuͤr diejenigen nicht
zu Hauſe ſey, die ihn zufaͤlliger Weiſe beſuchen
wollen.


Gewiſſe Jahrfeſte des ganzen Hauſes ſind
noͤthig, die Familie geſellſchaftlich zu ermuntern,
Ehre und Liebe gegen die Herrſchaft zu unterhal-
ten,
[123]aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
ten, und einen ſehr tugendhaften Hausgenoſſen zu
belohnen. Die Geburtstaͤge der Herrſchaft, der
Jahrstag der herrſchafftlichen Hochzeit, der Freu-
dentag, nach ausgeſtandner Krankheit, oder nach
beſondern Gluͤcksfaͤllen der herrſchaftlichen Familie,
ein Feſt des Fruͤhlings, ein Feſt des Sommers,
und ein Geburtsfeſt eines vorzuͤglichen Hausge-
noſſen koͤnnen dazu beſtimmt werden. Dieſe haͤus-
liche Ergoͤtzlichkeit aber muß mehr zum Vergnuͤgen
der Hausgenoſſen, als der Herrſchaft, eingerichtet
ſeyn, und alſo jenen keine beſchwerliche Arbeit
und Aufwartung aufbuͤrden.


Die Kleidung muß ehrbar, reinlich und nach
dem Stande zierlich ſeyn. Aber eine Pracht in
Kleidung und Mobilien,
von welcher viel
geredet wird, iſt einem Hauſe ſchaͤdlich; auch eine
ſolche, die taͤglich viel Zeit koſtet. Dieſe Lehre
iſt vornehmlich fuͤr das Frauenzimmer.


Jch habe eine Vollkommenheit des Haus-
weſens
gemahlt, welche nicht unmoͤglich iſt und
ſich dennoch vielleicht nirgends im Ganzen antreffen
laͤßt. Die Urſache iſt begreiflich. Die meiſten
Menſchen ſind in einem kleinen Grade weiſe und
tugendhaft, und in einem hohen Grade, geizig, ſtolz,
wolluͤſtig, herrſchſuͤchtig, faul und unbedachtſam.
Du aber trachte einmal nach jedem Grade der Voll-
kommenheit eines Hauſes, welcher dir moͤglich ſeyn
wird.


IV.
[124]

IV.
Uebungen des Verſtandes,
beſonders
in moraliſchen Unterſuchungen.


§. 52.


Du haſt die vornehmſten Regeln des tugendhaf-
ten und klugen Privatlebens gehoͤrt. Aber
es iſt noch noͤthig, deinen Verſtand zu uͤben,
theils andre moraliſche Schriften zu verſtehen,
theils in beſondern Faͤllen durch eignes Nachdenken
die Regeln der Pflicht und Klugheit ſelbſt zu
erfinden.


Die ganz unverſehenen Zufälle, durch
welche die Beobachtung einer guten Regel zuweilen
ſchaͤdlich wird, muͤſſen uns keine Reue verurſachen,
noch uns abhalten, nach denſelben guten Regeln
ferner zu handeln. Denn die meiſten Regeln
beruhen nur auf ſtarke Wahrſcheinlichkeiten, mit
denen der unerforſchbare Erfolg zuweilen nicht
uͤbereinſtimmt.


Wenn ſich aber vor der That auſſerordentliche
Umſtaͤnde zeigen, durch welche die Beobachtung
einer ſonſt gemeinnuͤtzigen Regel, nach unſrer Ein-
ſicht gewiß oder wahrſcheinlicher Weiſe ſchaͤdlich
werden wuͤrde: ſo iſt oft eine Ueberlegung noͤthig,
ob in einem ſolchen Nothfalle nicht eine Aus-
nahme
[125]Uebungen des Verſtandes ꝛc.
nahme aus der allgemeinen Regel gemacht werden
muͤſſe. Dieſe Ueberlegung will ich dir erleichtern.


Wenn die Ausnahme, nach deren Rechtmaͤßig-
keit gefragt wird, nur zum Vortheile deiner
ſelbſt
und der Deinigen gereichen wuͤrde, und wenn
die Ausnahme auf etwas Geringeres, als auf die
Vermeidung der Gefahr des Lebens und der Glie-
der abzielet: ſo bleibe bey der Regel und mache keine
Ausnahme. Denn es iſt wahrſcheinlich, daß du
von dem Nutzen der Ausnahme mit Partheylichkeit
urtheileſt.


Aber dein Leben und deine Glieder aus
einer augenſcheinlichen Gefahr, welche auf keine
regelmaͤßige Art vermieden werden kann, zu retten,
iſt es dir allerdings erlaubt, Ausnahme zu machen,
wenn durch die unregelmaͤßige Handlung andern
nur ein geringerer Schaden verurſacht wird.


Zum Beſten anderer, welche du nicht mit
Affecte liebſt, iſt es dir oͤfterer erlaubt, im Noth-
falle Ausnahmen von gemeinnuͤtzigen Regeln zu
machen. Denn die Partheylichkeit deines Urtheils
iſt alsdann nicht ſo ſehr zu beſorgen.


Ueberhaupt, wenn in einem Nothfalle die Ab-
weichung von der ſonſt gemeinnuͤtzigen Regel, be-
kannt werden darf, ohne Beſorgung der Schan-
de und der obrigkeitlichen Strafe:
ſo iſt die
Ausnahme gemeinnuͤtzig und nicht wider die Tu-
gend. Denn das allgemeine Urtheil der Menſchen
und
[126]Uebungen des Verſtandes,
und die Obrigkeit urtheilt gemeiniglich recht von
der Unſtraͤflichkeit eines rechtmaͤßigen Verhaltens
in Nothfaͤllen. Z. E. in wahrer Lebensgefahr der
Menſchen darf man Etwas ohne Wiſſen des Eigen-
thuͤmers mit Gewalt nehmen; in Feuersbruͤnſten
eine Thuͤre erbrechen; in Ueberſchwemmungen die
Balken eines Hauſes zum Damme brauchen; auf
der Flucht vor einem moͤrderiſchen Feinde ein Pferd
von der Weide nehmen und uͤber verbotene Wege
reiten; einem Straſſenraͤuber den erzwungenen Eid
nicht halten u. ſ. w.


Auſſer ſolchen Faͤllen der Noth iſt es nicht er-
laubt, aus den gewoͤhnlichen Regeln des Lebens
Ausnahmen zu machen. Wer dieſes vermeidet,
beobachtet die tugendhafte Einfalt oder Ein-
förmigkeit.


Gegen dieſelbe handelt derjenige, welcher in
einem vermeynten Falle der Noth, um den Ge-
ſchlechtstrieb zu erfüllen,
Unkeuſchheit begeht.
Denn erſtlich, wuͤrde eine ſolche Ausnahme nur
ſeinetwegen gemacht; zweytens, der Geſchlechts-
trieb iſt ein heftiger Affect, in welchem wir uͤber
die Ausnahmen der Regeln nicht urtheilen koͤnnen;
drittens, und eben darum wuͤrde die Regel der
Keuſchheit zum groſſen Schaden der Menſchen we-
gen beſorglicher haͤufiger Ausnahmen faſt unwirk-
ſam werden, wenn es nicht ein beſtaͤndiges Geſetz
waͤre, niemals Ausnahmen zu machen.


Zuweilen
[127]beſonders in moraliſchen ꝛc.

Zuweilen giebt die Obrigkeit Geſetze, welche von
vielen uͤbertreten, und, weil ſie nur die Staats-
Einkuͤnfte betreffen, durch Geldſtrafe in einigem
Anſehen erhalten werden. Die Regel iſt dieſe,
daß man ſich auch nach ſolchen Geſetzen gewiſſen-
haft richten ſolle. Aber die Verrähter ſolcher
Uebertretungen,
wenn ſie keine zur Aufſicht dar-
uͤber verordnete Staatsbediente ſind, werden ſo
durchgaͤngig gehaßt und verfolgt, und koͤnnen bey
der Obrigkeit ſo wenig Schutz finden, daß es keine
allgemeine Tugendregel ſeynkann, ſich um die Ent-
deckung und Anzeigung ſolcher Uebertretungen zu
bemuͤhen.


§. 53.


Wenn Familien unter einer Obrigkeit ſtehen,
ſo leben ſie in dem Stande der bürgerlichen
Vereinigung,
wie in dieſen Gegenden alle Men-
ſchen. Wenn Familien ohne Obrigkeit neben ein-
ander wohnen, ſo leben ſie im Stande der na-
türlichen Freyheit.


Eine Regel, welche die Tugendhaften, ſelbſt
im Stande der natuͤrlichen Freyheit, beobachten
muͤſſen, heißt ein natürliches Geſetz. Die
Sammlung ſolcher Geſetze, heißt das natürliche
Recht.
Die Verabredung zwiſchen Obrigkeit und
Unterthanen, nach welcher ſich dieſe den Befehlen
jener mit gewiſſen Bedingungen unterworfen ha-
ben,
[128]Uebungen des Verſtandes,
ben, heißt ein Staats-Geſetz. Die Sammlung
ſolcher Geſetze heißt das Staats-Recht.


Von dem Staats-Rechte, welches wirklich gilt,
iſt verſchieden die Sammlung von gemeinnuͤtzigen
Regeln, wie Staats-Rechte gemacht werden
ſollten. Die Sammlung dieſer Regeln heißt das
vernünftige Staats-Recht.


Die Sammlung obrigkeitlicher Befehle uͤber
die Handlungen und Streitigkeiten der Buͤrger,
heißt das bürgerliche Recht.


Von dem buͤrgerlichen Rechte, welches wirklich
gilt, iſt unterſchieden die Sammlung der Regeln,
wie nach den Umſtaͤnden ein gemeinnuͤtziges buͤrger-
liches Recht gegeben werden ſollte. Dieſe Samm-
lung heißt das vernünftige bürgerliche Recht.


Wenn Staaten mit einer weiſen allgemeinen
Menſchenliebe regieret werden; ſo haben die Ma-
jeſtaͤten, welche im Namen des ganzen Staates
handeln, in Huͤlfleiſtungen, Zuſagen, im Frieden
und im Kriege, gewiſſe Regeln zu beobachten, de-
ren Sammlung das vernünftige Völkerrecht
heiſſet.


Von dieſem vernuͤnftigen Voͤlkerrechte iſt zu-
weilen unterſchieden die Sammlung der Regeln,
welche die Majeſtaͤten in einem großen Welttheile
gegen einander zu beobachten pflegen. Dieſe heißt
daſelbſt das gebräuchliche Völkerrecht.


Dieſe
[129]beſonders in moraliſchen ꝛc.

Dieſe verſchiedenen Rechte ſind zuweilen ein-
ander zuwider, nach dem einen iſt zuweilen erlaubt
oder geboten, was in dem andern verboten iſt.


Wer in buͤrgerlicher Vereinigung ſteht, muß
ſeine wirklichen bürgerlichen Geſetze halten,

und, ihnen zuwider, weder nach dem Rechte der
natuͤrlichen Freyheit, noch nach einer vermeinten
Billigkeit handeln, denn er hat ſich nicht nur
vor der Macht ſeiner Geſetzgeber zu fuͤrchten, ſon-
dern es iſt auch augenſcheinlich, daß die meiſten nur
ſolche Geſetze vernuͤnftig nennen wuͤrden, welche
mit ihrem Privatvortheile uͤbereinſtimmten, und
daß im Staate andre Umſtaͤnde der Menſchen ſind,
als im Stande der natuͤrlichen Freyheit. Folglich
koͤnnen in beyderley Umſtaͤnden nicht allemal einer-
ley gemeinnuͤtzige Regeln ſeyn.


So oft wir in Umſtaͤnde kommen, daß bey der
Obrigkeit kein Schutz wider gewaltſame Beleidi-
ger und keine Strafe derſelben, (wegen der gegen-
waͤrtigen Gefahr, und weil die Beleidiger unbe-
kannte oder unſtaͤte Perſonen ſind,) zu erwarten
ſtehet: ſo ſind wir, was die Gegenwehr betrifft,
in dem Stande der natuͤrlichen Freyheit. Wer
aber lieber Gewalt gegen ſeinen Beleidiger braucht,
als den Weg des buͤrgerlichen Rechtes geht, wird
als ein Veraͤchter der Geſetze geſtraft, wenn er in
der Streitſache auch Recht hat.


JWer
[130]Uebungen des Verſtandes,

Wer nicht Recht und Macht hat, die
Staats-Geſetze zu ändern,
muß ſich denſelben
gemaͤß bezeigen. Denn wegen Verſchiedenheit der
Meinungen und Neigungen iſt das vernuͤnftige
Staats-Recht ewigen Streitigkeiten unterworfen,
deren Ausfuͤhrung ſchaͤdlicher ſeyn wuͤrde, als die
Unvollkommenheit der wirklichen Staats-Geſetze.


Ein weiſer und liebreicher Staat wuͤrde dem
menſchlichen Geſchlechte ſchaden, wenn er das ver-
nünftige Völkerrecht
ſo beobachten wollte, daß
er alle Folgen nicht achtete, welche aus dem wirk-
lich gebraͤuchlichen Voͤlkerrechte flieſſen.


§. 54.


Es iſt ein unlaͤugbarer Grundſatz, ein jeder ſey
ſo zu leben verbunden, daß nach beſtmoͤglicher
Einſicht in die Folgen, ſeine wahre Gluͤckſeligkeit
befoͤrdert werde.


Die Handlung, welche man zu thun verbun-
den iſt, heißt eine Pflicht. Die Handlung, welche
man zu laſſen verbunden iſt, heißt eine Uebertre-
tung.
Die Handlung, welche man zu keiner von
beyden Claſſen rechnen kann, heißt gleichgültig.


Ein Geſetz uͤberhaupt iſt ein Ausſpruch von
Pflichten und Uebertretungen. Wenn dieſer Aus-
ſpruch wegen Bemerkung der Folgen des Thuns
und Laſſens nach dem Laufe der Natur geſchicht;
ſo
[131]beſonders in moraliſchen ꝛc.
ſo heißt das Geſetz ein natürliches in einer an-
dern Bedeutung, als in welcher die Geſetze waͤhrend
des Zuſtandes der natuͤrlichen Freyheit natürlich
genannt werden. Wenn ein Oberherr Geſetze giebt,
ſo heiſſen ſie herrſchaftlich. Alſo heiſſet ein
Gebot Gottes ein göttlich Geſetz.


Die Pflichten ſind demjenigen, deſſen Pflich-
ten ſie ſind, entweder bekannt oder unbekannt;
ſie ſind entweder wahre, oder nur ſcheinbare.


Eine Pflicht, welche unmittelbar ein Mittel
unſrer eignen Wohlfahrt iſt, heißt eine Pflicht
gegen uns ſelbſt.
Befoͤrdert ſie unmittelbar die
Wohlfahrt andrer; ſo heißt ſie eine Pflicht gegen
andre.
Jſt ſie eine unmittelbare Verehrung
Gottes; ſo heißt ſie eine Pflicht gegen Gott.


Es iſt nicht in allen Fällen eine wahre
Pflicht, einem menſchlichen Geſetze zu ge-
horchen:
denn das goͤttliche Geſetz von der weiſen
Gemeinnuͤtzigkeit, oder von der Tugend, fodert
in einigen Faͤllen, daß man ſich weigern ſolle.


Die Tugend eines Menſchen beſteht in
ſeiner Einſicht und Neigung, fuͤr ſich ſelbſt, und
fuͤr andre gemeinnuͤtzig zu handeln. Kein vernuͤnf-
tiger Menſch iſt ohne alle Tugend. Denn wir
haben alle eine natuͤrliche Neigung, Gutes zu thun,
welche wir zuweilen ausuͤben. Wer aber den Na-
J 2men
[132]Uebungen des Verſtandes,
men eines Tugendhaften führt, von dem wird
geurtheilt, daß wahre Einſicht in das Beſte der
Menſchen, und die Neigung, Gutes zu thun,
in ihm herrſchend ſey.


Wem es an dem gewoͤhnlichen Grade der Tu-
gend fehlt, den nennet man einen Laſterhaften.


Das Gewiſſen, wenn es einen unſichtbaren
Richter ſcheuet, der entweder im Leben, oder nach
dem Tode Tugend belohnt und Laſter beſtraft, iſt
ein wahrer und ſtarker Bewegungsgrund zu aller
Tugend, auch zu derjenigen, die von Menſchen
in unſerm Leben nicht belohnt, ſondern vielmehr
aus Unverſtand und Partheylichkeit mit Haß und
Verfolgung vergolten wird.


Der Grad der Tugendhaftigkeit und der Grad
der Laſterhaftigkeit eines Menſchen, iſt von andern
ſchwer zu entſcheiden. Es ſcheinet auch oft etwas
ein Gluͤck Jemandes zu ſeyn, welches doch in
der Folge der Zeit zu ſeinem Ungluͤcke ausſchlaͤgt.
Mancher hingegen wird durch ein ſcheinbares Un-
gluͤck hernach ſehr gluͤcklich. Daher wuͤrde man
oft irren, wenn man urtheilen wollte, daß in die-
ſem Leben dieſe oder jene Laſterhafte gluͤcklicher
ſind, als dieſe und jene Tugendhafte. Ueberhaupt
aber iſt es gewiß, daß die meiſten Tugenden, auch
in dieſem Leben, ſehr angenehme Folgen fuͤr den-
jenigen haben, der ſie ausuͤbt und daß das Laſter
auch
[133]beſonders in moraliſchen ꝛc.
auch gemeiniglich in dieſem Leben dem Laſterhaften
ein wahres Ungluͤck zuziehe. Da nun die ganz
unvermuthlichen Gluͤcksfaͤlle und Ungluͤcksfaͤlle
eben ſo oft den Tugendhaften, als den Laſterhaften,
treffen; ſo iſt es eine ausgemachte Wahrheit, daß
mehr Tugendhafte, als Laſterhafte, auch in
dieſem Leben ein vorzüglich gutes Schickſal
haben.


§. 55.


Das Recht, etwas zu thun, hat derjenige,
welchem es, nach dem Jnhalte eines Geſetzes, nie-
mand mit Gewalt wehren darf. Das Recht,
etwas zu laſſen,
hat derjenige, den niemand
mit Gewalt noͤthigen darf, es zu thun. Dieſe
beyden Arten des Rechts heiſſen äuſſerlich.


Zwangspflichten gegen andre ſind ſolche,
deren Ausuͤbung zu erzwingen, der andre ein aͤuſſer-
liches Recht hat; z. E. die Pflicht, den Vertrag
zu halten, und grobe Beleidigungen zu vermeiden.
Fehlt dieſes aͤuſſerliche Zwangsrecht, ſo ſind die
Pflichten gegen Andre bloſſe Gewiſſenspflichten,
als die Pflicht der Wohlthaͤtigkeit und Dankbar-
keit u. a. m.


Beyderley Pflichten gegen Andre zu erfuͤllen,
iſt ein jeder verbunden. Und ob man gleich bey
Verſaͤumung der Zwangspflichten mehr Aeuſſer-
J 3liches
[134]Uebungen des Verſtandes,
liches zu befuͤrchten hat; ſo iſt doch oft die Ueber-
tretung einer bloſſen Gewiſſenspflicht ein ſchlim-
meres Laſter, als die Uebertretung einiger Zwangs-
pflichten.


Das aͤuſſerliche Recht Einiger, ſich gewiſſer Vor-
theile, welche Andern verboten ſind, zu bedienen,
heißt ein Privilegium; und wenn dies aͤuſſerliche
Recht vorher niemand hatte; ſo heißt es eine
Diſpenſation.


Jn dem weiſen und liebreichen Gebrauche un-
ſerer aͤuſſerlichen Rechte und beſonders des Zwang-
rechtes beſteht die Billigkeit und Gelindigkeit.
Dieſelbe erfodert, daß wir in manchen Faͤllen
etwas von unſerm aͤuſſerlichen Rechte, beſonders
von dem Zwangsrechte, nachgeben; daß wir vieles,
wozu wir ein aͤuſſerliches Recht haben, nicht fodern
oder nicht erzwingen; ſondern zum Exempel einen
Beleidiger nicht ſtrafen laſſen, einen Schuldner
nicht zur Bezahlung noͤthigen.


§. 56.


Dasjenige, was ein Oberherr, wenn er Geſetze
giebt, den Ungehorſamen drohet, und mehren-
theils auch an ihnen ausuͤbt, heißt Strafe: was
er den Gehorſamen verſpricht und mehrentheils
auch widerfahren laͤßt, heißt Belohnung.


Strafe
[135]beſonders in moraliſchen ꝛc.

Strafe und Belohnung hat allemahl den Zweck,
den fernern Gehorſam zu beſtaͤrken und zu befoͤr-
dern, den fernern Ungehorſam zu ſchwaͤchen und
zu verhindern.


Alle guten Wirkungen der Tugenden in dem
Schickſale der Tugendhaften ſind Belohnungen;
alle uͤblen Wirkungen der Laſter in dem Schickſale
der Laſterhaften ſind Strafen. Denn wir haben
ein goͤttlich Geſetz fuͤr die Tugend, und wider das
Laſter. Jene gute Folgen der Tugenden verſpricht
uns Gott, und jene uͤbeln Folgen der Laſter drohet
er uns durch den bekannten Lauf der Natur, welcher
unter ſeiner Vorſehung ſtehet.


Die ganz unvermuthlichen Landplagen, Un-
gluͤcksfaͤlle und Gluͤcksfaͤlle erinnern uns ſehr lebhaft
an unſere Abhaͤnglichkeit von der Vorſehung, und
an die Macht Gottes, uns gluͤcklich oder ungluͤck-
lich zu machen. Dieſer Gedanke iſt eben ſowohl
ein Bewegungsgrund, uns zu beſſern, als Strafe
und Belohnung. Alſo vertreten Gluͤcksfaͤlle die
Stelle der Belohnung; Ungluͤcksfaͤlle aber die
Stelle der Strafe.


§. 57.


Der Menſch handelt in manchen Dingen nach
dem veraͤnderlichen Zuſtande ſeines Willens, das
iſt, er handelt willkührlich. Dieſe Willkuͤhr iſt
J 4mit
[136]Uebungen des Verſtandes,
mit dem Vermoͤgen verknuͤpft, nach dauerhaften
Vorſaͤtzen zu handeln, und heiſſet Freyheit.
Viele Handlungen der Menſchen ſind alſo freye
Handlungen.


Es giebt wiſſentliche und unwiſſentliche,
vorſetzliche
und unvorſetzliche freye Handlun-
gen. Hingegen ein Thun oder Laſſen, welches
nicht in dem veraͤnderlichen Zuſtande des zu dauer-
haften Vorſaͤtzen faͤhigen Willens gegruͤndet iſt,
heiſſet unfrey.


Die willkuͤhrlichen Handlungen der jungen
Kinder, der Halb-Schlafenden, der Trunkenen,
der Affectvollen und der Wahnſinnigen werden ge-
woͤhnlicher Weiſe nicht frey genennet, weil das
Vermoͤgen dauerhafter Vorſaͤtze nicht da oder
ſchwach iſt.


Die Zurechnung iſt ein Urtheil aus der Ab-
ſicht und freyen Handlung eines Menſchen,


  • 1) uͤber ſeine Geſchicklichkeit oder Ungeſchick-
    lichkeit,
  • 2) uͤber ſeine Klugheit und Thorheit,
  • 3) uͤber ſeine Neigung und Abneigung,
  • 4) uͤber ſeine Ruͤhmenswuͤrdigkeit und Ta-
    delnswuͤrdigkeit,
  • 5) uͤber ſeine Gewiſſenhaftigkeit oder Gewiſ-
    ſenloſigkeit,

6) uͤber
[137]beſonders in moraliſchen ꝛc.
  • 6) uͤber ſeine Achtſamkeit oder Unachtſamkeit
    auf Geſetze,
  • 7) uͤber ſeine Lohnwuͤrdigkeit und Strafwuͤr-
    digkeit.

Der gemeinſchaͤdliche Jrthum und die gemein-
ſchädliche Unwiſſenheit
koͤnnen als ſtraffaͤllig
zugerechnet werden, wenn die Strafe, ſie aufs
kuͤnftige zu vermindern oder zu verhuͤten, geſchickt
iſt, oder wenn ſie aus ſtraffaͤlliger Unachtſamkeit
entſtehen und fortdauren.


Wenn in beſondern Faͤllen die Begnadigung
eines Verbrechers oder die Linderung der Strafe,
ohne Schaden des gemeinen Beſtens, geſchehen
kann; ſo geſchicht dieſelbe nach der Einſicht eines
weiſen Oberherrn.


§. 58.


Wir ſind oft verbunden, nach Vermuthungen
zu handeln. Je oͤfter unſre Vermuthungen ein-
treffen, deſto ſeltner verfehlen wir unſers Zwecks.
Es gibt aber gewiſſe Regeln, unſer Vermoͤgen zu
Vermuthungen zu verbeſſern. Dieſe wichtigen
Regeln will ich dir anzeigen.


Gleich-mögliche Fälle oder Erfolge ſind,
davon irgend einer erfolgt, und von welchen allen
uns gleichviel und gleichwenig bekannt iſt, indem,
wie in der Lotterie, die Entſcheidung durch ganz
unbekannte Urſachen geſchicht.


J 51) Wenn
[138]Uebungen des Verſtandes,
  • 1) Wenn einer von zweyen Faͤllen gewiß er-
    folgen wird, und der eine durch eben ſo viele gleich-
    moͤgliche Faͤlle geſchehen kann, als der andre; ſo
    iſt der Ausgang vollkommen zweifelhaft.

    z. E. Wenn in einer Lotterie von 6 Looſen, darun-
    ter ein Gewinn iſt, A drey Looſe, und B drey
    Looſe nimmt: ſo iſt der Gewinner vollkommen
    zweifelhaft.
  • 2) Wenn aber einer von zweyen Erfolgen gewiß
    iſt, und der eine durch mehr gleich moͤgliche Faͤlle
    geſchehen kann, als der andre; ſo iſt jener Erfolg
    wahrſcheinlich, dieſer unwahrſcheinlich.
    A
    gewinnt wahrſcheinlicher Weiſe, wenn er vier,
    und B nur zwey Looſe hat.
  • 3) Was bey gleichen Umſtänden der Na-
    tur
    oͤfter zu geſchehen, als nicht zu geſchehen
    pflegt, das iſt bey ſolchen Umſtaͤnden in einem
    einzelnen Falle wahrſcheinlich. So prophezeit
    man Wetter und fruchtbare Jahre. Was aber bey
    ſolchen Umſtaͤnden eben ſo oft zu geſchehen, als
    nicht zu geſchehen pflegt, iſt in einem einzelnen
    Falle vollkommen zweifelhaft.
  • 4) Das Maaß der Wahrſcheinlichkeit
    findet man, wenn man die groͤſſere Zahl ſolcher
    bekannten aͤhnlichen Faͤlle durch die kleinere Zahl
    der Ausnahmen dividiret.
  • 5) Zuweilen erfolgt nicht das Wahrſcheinliche,
    ſondern
    [139]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    ſondern das Unwahrſcheinliche. Aus vielen wahr-
    ſcheinlichen Dingen erfolgt gemeiniglich etwas
    wider die Wahrſcheinlichkeit;
    und aus vielen
    unwahrſcheinlichen Dingen erfolgt etwas wider die
    Unwahrſcheinlichkeit. Wer Neun Looſe unter
    Zehn nimmt, bekommt wahrſcheinlicher Weiſe den
    einzigen Gewinn, aber nicht allemal; ſondern wer
    nur ein Loos hat, und oft einſetzt, gewinnt auch
    zuweilen.
  • 6) Wenn die Specialpräſumtion von einer
    beſondern Art der Dinge mit der Praͤſumtion von
    ihrer Gattung ſtreitet; ſo iſt jene nur eine gute
    Regel der Wahrſcheinlichkeit. z. E. Es iſt wahr-
    ſcheinlich, daß ein Franzoſe munter ſey, aber nicht
    nach einem groſſen Verluſte oder im Gefaͤngniſſe.
  • 7) Unvermuthliche Glücksfälle oder Un-
    glücksfälle
    eines Menſchen, wozu ſein Verſtand,
    ſein Wille und ſeine gewoͤhnlichen Umſtaͤnde nichts
    beytragen, werden nicht wahrſcheinlich, wenn ſie
    ihm auch bisher oft widerfahren ſind. Es gibt
    wohl Perſonen, die bisher durch bloſſe Zufaͤlle
    ſehr oft gluͤcklich oder ungluͤcklich geweſen ſind,
    aber es wird nicht wahrſcheinlich, daß dieſelben
    in ihrem Leben, oder in dieſem Jahre, oder, an
    dieſem Abend im Spiele, fortfahren werden,
    durch neue Zufaͤlle ſo gluͤcklich oder ſo ungluͤcklich
    zu ſeyn, noch daß ein beſonders gluͤcklicher mit
    einem
    [140]Uebungen des Verſtandes,
    einem beſonders ungluͤcklichen Perioden unmittel-
    bar bey ihnen abwechſeln werde.
  • 8) Wenn wir erfahren, daß innerhalb einer
    gewiſſen Zeit, oder bey gewiſſen Umſtaͤnden und
    Perſonen, die bisher gemachten Regeln der Wahr-
    ſcheinlichkeit weit minder, als ſonſt, mit dem Er-
    folg uͤbereinkommen: ſo laͤßt ſich gemeiniglich eine
    Urſache enedecken,
    und daraus eine beſſere
    Regel der Wahrſcheinlichkeit
    fuͤr ſolche Zeiten,
    Umſtaͤnde und Perſonen finden. z. E. Bey einigen
    Menſchen wirken gewiſſe Dinge dasjenige weit
    ſeltner, was ſie bey andern Menſchen oͤfter wirken.
    Wenn jemand, weit oͤfter als andere, im Spiel
    die beſten Charten bekoͤmmt; ſo iſt Kunſt und
    Betrug zu vermuthen. Wenn mit einem Wuͤrfel
    gewiſſe Augen weit oͤfter, als mit einer andern
    geworfen werden, ſo iſt er fehlerhaft und an einer
    Seite ſchwerer.
  • 9) Dennoch muß man mit ſolchen Urtheilen
    vorſichtig ſeyn;
    denn es iſt nur wahrſcheinlich,
    daß zu einer gewiſſen Zeit das Unwahrſcheinliche
    nicht oft geſchehe. Alſo geſchicht es zuweilen, daß
    in gewiſſen Zeiten, ohne eine beſondre erforſchbare
    Urſache, mehr Unwahrſcheinliches erfolgt, als ge-
    woͤhnlich iſt.
  • 10) Kein Menſch muß auf Wahrſcheinlich-
    keit wagen,
    ſehr ungluͤcklich zu werden, beſonders
    wenn
    [141]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    wenn der wahrſcheinliche Vortheil gegen ein ſolches
    Ungluͤck fuͤr gering zu halten iſt. Aber wer in
    ſeinem Gewerbe oft Gelegenheit hat, mit groſſer
    Wahrſcheinlichkeit eines kleinern Gewinnes, einen
    groͤſſern Verluſt, welcher ſein Gewerbe nicht ſtoͤhrt;
    zu wagen, wird wahrſcheinlicher Weiſe in ſeinem
    ganzen Leben dieſe wagende Handlung mit Vortheil
    fuͤhren, wie die Exempel der Kaufleute und Ver-
    ſicherer beweiſen.

§. 59.


Von den hiſtoriſchen Nachrichten ſind ei-
nige fuͤr wahr, andere fuͤr falſch zu halten; viele
ſind unwahrſcheinlich, viele ſind wahrſcheinlich,
viele ſind vollkommen zweifelhaft.


  • 1) Wenn ein Zeuge die Wahrheit weiß, und
    ſich nicht verſtellen will, und richtig verſtanden
    wird, ſo iſt ſein Zeugniß wahr. Wenn einer dieſer
    Puncte nur wahrſcheinlich iſt; ſo iſt ſein Zeugniß
    auch nur wahrſcheinlich. Wenn irgend einer dieſer
    Puncte unwahrſcheinlich iſt; ſo iſt ſein Zeugniß
    auch unwahrſcheinlich. Es iſt aber zu der Wiſſen-
    ſchaft des Zeugen von der Wahrheit nicht genug,
    daß er ſie ehemals gewußt habe; ſondern daß er ſich
    auch itzund derſelben recht erinnere.
  • 2) Ein Zeuge, der ganz ſinnliche Sachen,
    die man faſt niemals zu verkennen pflegt, ſelbſt er-
    fahren
    [142]Uebungen des Verſtandes,
    fahren zu haben vorgiebt, der weiß die Wahrheit
    gewiß, wie eine Feuersbrunſt und einen dauerhaf-
    ten Trompeten-Schall.
  • 3) Aber zuweilen ſagen die Zeugen, anſtatt
    deſſen, was ſie geſehn und gehoͤrt haben, unver-
    ſehens ihre Vermuthungen
    aus dem Geſehe-
    nen und Gehoͤrten, z. E. ſie haben nur die Equi-
    page eines Mannes und ſein gewoͤhnliches Kleid
    geſehn; ſie haben nur den Ausdruck des Worts
    Schelm von einem Zornigen gehoͤrt, und ſie ſagen
    dennoch, der Mann ſey vorbey gefahren, der Zornige
    habe geſcholten.
  • 4) Niemand ſagt mit Wiſſen die Un-
    wahrheit
    in ernſthaften Sachen auf eine ſtand-
    hafte Weiſe, ohne Vermuthung ſeines Vortheils
    und mit Vermuthung ſeines Schadens.
  • 5) Viele Zeugniſſe von verſchiednen bey der
    Sache gegenwaͤrtigen Zeugen, wenn ſie in der
    Hauptſache übereinſtimmen, und nur in Neben-
    ſachen, woran eine kleine Unachtſamkeit Schuld
    ſeyn kann, nicht uͤbereinſtimmen, ſind ein wahres
    Zeugniß von der Hauptſache, wenn ein jedes vor
    ſich betrachtet, auch nur wahrſcheinlich iſt, vornehm-
    lich, wenn durch einige Zeugniſſe mehr Umſtaͤnde
    entſchieden werden, als durch die andern, und wenn
    bey vorausgeſetzter Wahrheit der Hauptſache alle
    dieſe Umſtaͤnde gewoͤhnlich ſind.

6) Die
[143]beſonders in moraliſchen ꝛc.
  • 6) Die Umſtände einer großen Nation,
    welche in die Sinne fallen, und woran ein jeder in
    derſelben Theil nimmt, werden niemals ſo erdich-
    tet, daß ſie von ihren Nachkommen geglaubt wer-
    den: ſondern wenn ein geglaubtes Geruͤcht davon
    ſich fortpflanzt, ſo iſt die in die Sinne fallende
    Hauptſache der National-Geſchichte wahr, wenn
    gleich durch die Geſchichtſchreiber und durch die
    Ueberlieferung einige Umſtaͤnde falſch oder zweifel-
    haft erzaͤhlet werden.
  • 7) Aber viele uͤbereinſtimmende Erzaͤhlungen,
    welche alleſammt eine einzige Quelle haben, gel-
    ten nicht mehr, als die einzige Original-Erzaͤhlung.
  • 8) Wenn etwas Sonderbares, was wider
    den gewoͤhnlichen Lauf der Natur iſt, erzaͤhlet wird;
    ſo iſt die Erzaͤhlung nur ſo lange unwahrſcheinlich,
    oder fuͤr falſch zu halten, bis ſie durch viele uͤber-
    einſtimmende wahrſcheinliche Zeugniſſe beſtaͤtiget
    wird. Denn obgleich die meiſten ſonderbaren Er-
    zaͤhlungen falſch befunden werden; ſo geſchicht doch
    zuweilen etwas Sonderbares vor unſern eignen
    Augen, und ſo ſind doch faſt gar keine ſonderbare
    Erzaͤhlungen falſch, wenn ſie auf die geſagte Weiſe
    beſtaͤtigt werden.
  • 9) Die Münzen, Denkmäler und archivi-
    ſchen Nachrichten
    von ſinnlichen National-Be-
    gebenheiten, woran ein jeder Theil nahm, ſind in
    der
    [144]Uebungen des Verſtandes,
    der Hauptſache eben ſo gute Beweisthuͤmer, als
    das geglaubte Geruͤcht.
  • 10) Wenn ein Menſch auf der Tortur ge-
    zwungen wird, Etwas zugeſtehen, oder zu bezeugen:
    ſo iſt ſein Geſtaͤndniß und Zeugniß wahrſcheinlicher-
    weiſe ſo eingerichtet, daß er am geſchwindeſten der
    Quaal uͤberhoben werde; oder, wenn die Furcht
    der kuͤnftigen Strafe groͤßer iſt, daß er derſelben
    entgehen koͤnne. Das Zeugniß an ſich giebt der
    Sache nicht mehr Wahrſcheinlichkeit, als ſie vorher
    hatte. Aber oftmals werden alsdann Umſtaͤnde
    geſagt, deren Wahrheit auf eine andre Art unter-
    ſucht werden, und in der ganzen Sache ein Licht
    geben kann.
  • 11) Wenn viele Zeugen von einer Sache ganz
    einerley oder zu aͤhnliche Worte brauchen; wenn
    in den allerkleinſten Umſtaͤnden, die man nicht zu-
    bemerken, oder wobey man leicht Etwas zu verſehen
    pflegt, einer mit dem andern genau uͤbereinſtimmt:
    ſo haben ſie ſich verabredet, Etwas falſch zu
    bezeugen.
  • 12) Wenn ein Geruͤcht wider den Willen Vieler
    geglaubt wird, und die Falſchheit deſſelben vor den
    Augen aller Welt leicht dargethan werden koͤnnte,
    und wenn die Gegner entweder ſchweigen, oder ſich
    mit unwahrſcheinlichen Ausfluͤchten behelfen: ſo iſt
    dieſes Verhalten der Gegner ein Beweis der
    Wahrheit des Geruͤchts.

13) Wenn
[145]beſonders in moraliſchen ꝛc.
  • 13) Wenn wahrſcheinliche und unbeſtrittene
    Zeugniſſe uͤber eine Hauptſache da ſind; und wenn
    die Wahrheit derſelben die gewöhnlichſte Wir-
    kung
    der vorhergehenden Begebenheiten und die
    gewöhnlichſte Urſache der hernach gewiß er-
    folgten Umſtaͤnde iſt; ſo muß die Hauptſache fuͤr
    wahr erkannt werden.

§. 60.


Die Bedeutungen der Redensarten eines Men-
ſchen oder eines Buches iſt oft gewiß, oft nur wahr-
ſcheinlich, oft ganz zweifelhaft.


  • 1) Diejenige Bedeutung, welche einzig in
    einer vernuͤnftigen Rede mit dem offenbaren
    Zwecke derſelben uͤberein koͤmmt, iſt wahr, wenn
    ſie auch ſonſt ungewoͤhnlich waͤre.
  • 2) Ein Jeder braucht wahrſcheinlicher Weiſe
    eine Redensart in derjenigen Bedeutung, in
    welcher es in ſeinem Stande, in ſeiner Religion,
    und in denen Materien, von welchen er redet, ge-
    wöhnlich
    iſt.
  • 3) Wenn Jemand ſeine eigene Worte redet, ſo
    iſt unter zweyen moͤglichen Bedeutungen diejenige
    die wahrſcheinliche, welche mit dem Tone und mit
    den Gebehrden uͤbereinſtimmet.
  • 4) Wer die Gemuͤther fuͤr Etwas, oder wider
    Etwas einnehmen will, ſagt oft durch übertrie-
    Kbene
    [146]Uebungen des Verſtandes,
    bene Redensarten mehr als wahr iſt, und als
    er ſelbſt glaubt.
  • 5) Wenn eine Redensart daſſelbe bedeuten
    kann, was manche Parallel-Stelle deſſelben Ver-
    faſſers gewiß bedeutet: ſo iſt dieſe Bedeutung wahr,
    oder wahrſcheinlicher als andere.

§. 61.


Aber, was iſt denn wahr? Antwort: Alles
dasjenige, was unſern veſten und beſtaͤndigen Bey-
fall verdienet. Alles, was dieſen nicht verdient, iſt
entweder falſch, oder unwahrſcheinlich, oder voll-
kommen zweifelhaft, oder wahrſcheinlich.


  • 1) Grundſätze, welche ein Jeder alſobald fuͤr
    wahr annimmt, als er ſie verſteht, und ihnen nach-
    denkt, ſind wahr z. E. derſelbe Menſch, der in Eu-
    ropa iſt, iſt nicht zu gleicher Zeit in Amerika. Ein
    jeder Koͤrper hat ſeine Groͤſſe und Figur.
  • 2) Die einzelnen Wahrnehmungen ſinnli-
    cher Eindrücke,
    des Lichts und der Farben, des
    Schalles, der riechbaren, ſchmackhaften und der
    fuͤhlbaren Dinge ſind wahr, wenn wir nicht in dem
    Zuſtande ſtarker Einbildung ſind, als im Traume,
    im halben Schlafe, im Affecte, in der Trunkenheit
    und im Wahnſinne. Denn in dieſen Zuſtaͤnden
    ſind die Wahrnehmungen unſicher. Aber es iſt
    wohl zu merken, daß die Vermuthungen aus dem,
    was
    [147]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    was wir wahrnehmen, nicht ſelbſt Wahrnehmungen
    ſind. z. E. Die Vermuthung, daß der Stock auſſer
    dem Waſſer krumm ſey, deſſen Geſtalt im Waſſer
    eine Beugung hat.
  • 3) Eines Jeden innerer Seelen-Zuſtand,
    Schmerz, Verdruß, Luſt, Vergnuͤgen, Ueberzeu-
    gung, Vermuthung, Zweifel, Begierde und Ab-
    ſcheu, Furcht und Hoffnung u. ſ. w. iſt wahr; nehm-
    lich, es iſt wahr, daß er ihn empfindet, wenn er ihn
    zu empfinden glaubet.
  • 4) Der beſtändige Lauf der Natur, (die
    beſtaͤndige Ordnung der Dinge, die neben einander
    ſind, und auf einander folgen,) wenn die Menſchen
    unzaͤhlige Erfahrungen und keine Ausnahme davon
    haben, iſt auch in einzelnen unbekannten Faͤllen fuͤr
    wahr zu halten, z. E. von Kuͤhen werden nur Kaͤl-
    ber, von Schaafen nur Laͤmmer gebohren. Kein
    entſeelter und verweſender Koͤrper wird von neuem
    belebt. Ein dichter bleyerner Koͤrper ſinkt im
    Waſſer.
  • Anmerk. 1. Wenn wir glauben, mit unſern
    Sinnen Etwas wider den Lauf der Natur
    wahrzunehmen; ſo muͤſſen wir wohl unter-
    ſuchen, ob wir auch in dem Zuſtande einer
    ſtarken Einbildung ſind, oder kurz vorher ge-
    weſen ſind. Wenn aber, ohne Gruͤnde dieſes
    Verdachts, von uns ſelbſt oder von Mehreren

    K 2zu
    [148]Uebungen des Verſtandes,
    zu einer gewiſſen Zeit Dinge wider den or-
    dentlichen Lauf der Natur wahrgenommen
    wuͤrden; ſo waͤren ſie fuͤr wahr zu halten,
    weil wir ſelbſt den Lauf der Natur nur durch
    die ſinnlichen Wahrnehmungen wiſſen.
  • Anmerk. 2. Wenn nach ſolchen auſſerordent-
    lichen Zeiten der gewoͤhnliche Lauf der Na-
    tur wieder hergeſtellet wuͤrde; ſo waͤre der-
    ſelbe abermals in unbekannten Faͤllen fuͤr
    wahr zu halten.
  • Anmerk. 3. Die Gauckler und Taſchenſpie-
    ler, welche Vieles wider den Lauf der Natur
    zu thun ſcheinen, wiſſen nur durch unver-
    muthliche und geſchwinde Verwechſelung der
    Sachen, oder durch Verhehlung ihrer be-
    greiflichen Wiſſenſchaft, den wirklichen Lauf
    der Natur, der auch in ihren Handlungen
    herrſcht, zu verbergen.
  • 5) Wenn eine Sache auf mancherley Art
    wahrſcheinlich
    iſt, 1) ſchon die durch vorherge-
    henden Umſtaͤnde, 2) ſchon durch nachfolgenden
    Umſtaͤnde, 3) ſchon durch die wahrſcheinliche Zeug-
    niſſe u. ſ. w.: ſo iſt ſie wegen der Samlung ſolcher
    Wahrſcheinlichkeiten fuͤr wahr zu halten. So
    urtheilt der weiſeſte Richter uͤber Guͤter, uͤber Leib
    und Leben.
  • 6) Wenn ein Glaube oder ein Lehrſatz wegen
    einer
    [149]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    einer natuͤrlichen Neigung des Verſtandes aller
    nachdenkenden Menſchen, wahrſcheinlich iſt, und
    immer bleibt; wenn derſelbe Lehrſatz die gemein-
    nuͤtzigſten Wuͤnſche der Menſchen befriedigt; wenn
    der Zweifel an demſelben allen insgemein und jedem
    insbeſondere immer gefaͤhrlich und ſchaͤdlich iſt; ſo
    muß dieſer Lehrſatz mit dem höchſt möglichen
    Beyfall geglaubt, oder für wahr gehalten
    werden.
    Auf ſolche Weiſe iſt es durch eignes
    Nachdenken wahr, daß eine einzige, allmaͤchtige,
    allweiſe, allguͤtige Gottheit ſey, daß die menſch-
    lichen Seelen unſterblich ſeyn, und daß der Tugend
    und dem Laſter auch nach dem Tode Vergeltung
    bevorſtehe.
  • 7) Alle unſtreitige Folgen des Wahren ſind
    ſelbſt wahr. Unſtreitige Folgen ſind diejenigen,
    welche man bey einem geuͤbten Nachdenken weder
    laͤugnen, noch an ihnen zweifeln kann, wenn man
    dasjenige, woraus gefolgert wird, als wahr vor-
    ausſetzt.

§. 62.


Die vornehmſten Arten der richtigen Schluß-
folgen will ich anzeigen:


  • 1) Man ſchließt aus der Wahrheit des ganzen
    Satzes die Wahrheit jedes Theiles deſſelben, und
    aus der Wahrheit aller Theile die Wahrheit des
    ganzen Satzes zuſammen genommen. z. E. Gott
    K 3iſt
    [150]Uebungen des Verſtandes,
    iſt allwiſſend; alſo hat er Verſtand. Dies oder
    das iſt eine Gewohnheit, in dem erſten Lande, in
    dem zweyten Lande, im dritten Lande u. ſ. w. alſo
    in ganz Europa. Eben ſo ſchließt man aus der
    Falſchheit des Theiles eines Satzes auf die Falſch-
    heit des Satzes ſelbſt. z. E. Es iſt falſch, daß der
    Großvater des Moab nicht zugleich ſein Vater
    war. Alſo iſt es falſch, daß Vater und Groß-
    vater einer Perſon allemal verſchieden find. Die-
    ſer Schluß kann heiſſen von Ganzen und Theilen.
  • 2) Stelle dir unter a, b, c, d u. ſ. w. Na-
    men, Aemter oder Beſchaffenheiten vor, davon
    das erſte derſelben Perſon oder Sache zukoͤmmt,
    als das zweyte, und das zweyte derſelben Perſon
    oder Sache zukoͤmt, als das dritte u. ſ. w. alsdann
    ſchließt man, daß auch das Erſte und das Letzte
    derſelben Perſon oder Sache zukomme. z. E. Phi-
    lipps Sohn war Alexander, Alexander war ein
    Eroberer, alſo war Philipps Sohn ein Eroberer.
  • 3) Eben ſo ſchließt man, wenn von a, b, c, d,
    u. ſ. w. das vorhergehende immer gleich groß, oder
    groͤſſer oder kleiner, oder fruͤher, oder ſpaͤter als
    das folgende iſt. Alsdann hat auch das erſte Glied
    eben dieſes Verhaͤltniß gegen das letzte Glied. Z. E.
    Anderthalb Gulden iſt ein Thaler, ein Thaler iſt
    24 Groſchen. Alſo ſind 1½ Gulden 24 Groſchen —
    Ein Schock iſt groͤſſer als ein Steige, ein Steige
    groͤſſer
    [151]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    groͤſſer als ein Mandel. Alſo iſt ein Schock groͤſſer,
    als ein Mandel. — Cyrus lebte vor dem Alexan-
    der, Alexander vor dem Caͤſar; alſo auch Cyrus
    vor dem Caͤſar. Dieſe Arten der Schluͤſſe koͤnnen
    heiſſen von der Rette äuſſerlicher Verhält-
    niſſe.
  • Anmerk. Merke, was es bedeute, wenn
    man ſagt: Dieſe Sache oder dieſe Per-
    ſon
    a,gehört zu der Artb,oder iſt
    von der Art
    b, alsdann will man anzei-
    gen, daß a alle Eigenſchaften habe, um wel-
    cher Willen etwas den allgemeinen Namen
    b fuͤhrt. z. E. Wenn ich ſage: Alexander
    war ein Eroberer;
    ſo iſt Alexander
    die Perſon, und Erobrer die Art. Wenn
    ich ſage; einige Fürſten ſind misver-
    gnügt;
    ſo ſind einige Fürſten die Perſo-
    nen, und die Misvergnügten ſind ihre
    Art. Wenn ich ſage; alle Steine ſind
    theilbar;
    ſo ſind alle Steine die Sache,
    und das Theilbare iſt die Art, von wel-
    cher alle Steine ſind.
  • 4) Wenn in einer Reihe a, b, c, d u. ſ. w.
    ein jedes Vorhergehende von der Art des Folgenden
    iſt; ſo folgert man, daß auch das Erſte von der
    Art des Letzten ſey. z. E. Sanftmuth iſt eine
    Tugend, jede Tugend wird von Gott geboten,
    K 4alſo
    [152]Uebungen des Verſtandes,
    alſo wird auch die Sanftmuth von Gott geboten.
    — Einige Fuͤrſten ſind neidiſch; ein jeder Neidi-
    ſcher empfindet oft Traurigkeit; ein jeder, der oft
    Traurigkeit empfindet, iſt nicht vorzuͤglich gluͤck-
    ſelig. Alſo ſind einige Fuͤrſten u. ſ. w. — Unſre
    Feinde ſind Menſchen, keines Menſchen Gluͤckſe-
    ligkeit darf uns gleichguͤltig ſeyn; weſſen Gluͤckſe-
    ligkeit uns nicht gleichguͤltig ſeyn darf, den muͤſſen
    wir lieben; alſo muͤſſen wir unſre Feinde lieben.
    Dieſer Schluß kann heiſſen von der Art eines
    Dinges.
  • Anmerkung. Einige Beſchaffenheiten der
    Dinge ſind einander ſo entgegengeſetzt,
    daß niemals dieſelbe Sache in eben derſelben
    Zeit beyde Beſchaffenheiten haben kann. z. E.
    Ein Menſch kann nicht zu gleicher Zeit ein
    liebreiches Weſen und auch Rachbegierde
    haben.
  • 5) Wenn zwey Dinge entgegengeſetzte Be-
    ſchaffenheiten haben; ſo folgert man, daß ſie nicht
    dieſelben ſind. z. E. Menanders Braut iſt ſehr
    ſchoͤn, Clelia aber ſehr haͤßlich, alſo iſt ſie nicht
    ſeine Braut. Und wenn unter ſolchen Dingen,
    welche entgegengeſetzte Beſchaffenheiten haben,
    eines eine ganze Art der Dinge iſt, ſo folgert man,
    daß das andre gar nicht zu dieſer Art gehoͤre. z. E.
    Alle Gelehrte koͤnnen leſen, Cajus aber nicht, alſo
    iſt
    [153]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    iſt er nicht von der Art der Gelehrten. Oder: alle
    Vernuͤnftige arbeiten in der Abſicht wahres Nu-
    tzens; dieſes thun einige Gelehrte keinesweges,
    alſo ſind dieſelben nicht vernuͤnftig. Endlich, wenn
    beyde Dinge, welche entgegengeſetzte Beſchaffen-
    heiten haben, ganze Arten ſind; ſo folgert man,
    daß keines von irgend einer dieſer Arten zu der
    andern Art gehoͤre. z. E. Alle Schmauſer ver-
    ſchwenden oft die Zeit; dieſes thut kein Arbeit-
    ſamer; alſo iſt weder ein Schmauſer arbeitſam,
    noch ein Arbeitſamer ein Schmauſer. Dieſer
    Schluß kann heiſſen von entgegengeſetzten Be-
    ſchaffenheiten.
  • 6) Wenn dieſelbe Sache, oder ſowol, oder eine
    ganze Art, als etwas, welches von derſelben Art iſt,
    zwey verſchiedene Beſchaffenheiten haben; ſo folgert
    man, daß dieſe Beſchaffenheiten in einigen Exem-
    peln zuſammen da ſind, und alſo zuſammen ſeyn
    koͤnnen. Z. E. Cajus weiß viel, und thut doch
    wenig Gutes. Alſo findet ſich das Vielwiſſen und
    der Mangel an Gutthaͤtigkeit zuweilen beyſammen.
    So auch: Alle Fuͤrſten haben Macht uͤber viele
    Menſchen, dennoch ſind einige Fuͤrſten unzufrie-
    den. Alſo kann die Unzufriedenheit mit Macht
    verbunden ſeyn. Dieſer Schluß kann heiſſen von
    vertragſamen Beſchaffenheiten,
    die ſich nem-
    lich einander nicht entgegen geſetzt ſind.

K 57) Wenn
[154]Uebungen des Verſtandes,
  • 7) Wenn in a, b, c, d, (u. ſ. w.) das Vor-
    hergehende jedesmal eine (gewiß oder wahrſchein-
    lich oder moͤglicher Weiſe) entſcheidende Bedin-
    gung des Nachfolgenden iſt: ſo folgert man, 1) daß
    das Erſte auch eine ſolche Bedingung des Letzten
    ſey. Z. E. Wenn ich meinem Bekannten die An-
    kunft melde, ſo koͤmmt er vermuthlich zu mir; wenn
    dieſes geſchicht, ſo kommen auch andere; wenn ſo
    ſo viele bey mir ſind, ſo habe ich große Unkoſten;
    alſo, wenn ich meine Ankunft ihm melde, ſo ver-
    urſache ich mir vermuthlich große Koſten. Man
    folgert 2) aus der wirklichen Wahrheit und Erfuͤl-
    lung des Erſten die Wahrheit und Erfuͤllung des
    Letzten. Z. E. Wenn ich ihm meine Ankunft melde,
    ſo kommt er, ſo kommen auch andre, ſo werde ich
    Unkoſten haben; ich will ihm aber meine Ankunft
    melden, alſo werde ich Unkoſten haben. Man fol-
    gert 3) aus dem Nichtſeyn des Letzten, daß auch
    das Erſte nicht ſey, nicht geſchehe, nicht geſchehen
    muͤſſe. Z. E. Jch will keine große Koſten haben,
    alſo muß ich ihm meine Ankunft nicht melden.
    Dies iſt der Schluß von Bedingungen.
  • 8) Wenn man Saͤtze durch entweder, und
    durch oder, und ferner etlichemal durch oder
    trennet, ſo ſetzt man zuweilen nur voraus, daß
    einer zum wenigſten wahr ſeyn muͤſſe. Z. E.
    Mein Freund iſt entweder verreiſet, oder krank,
    oder
    [155]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    oder ſehr beſchaͤftigt. Jn dieſem Falle ſchließt man
    aus der Falſchheit einiger die Wahrheit des uͤbri-
    gen Satzes, oder irgend eines der uͤbrigen Saͤtze.
    Z. E. Nun iſt er weder verreiſet noch krank, alſo be-
    ſchaftigt. Oder: Nun iſt er nicht verreiſet, alſo
    entweder krank oder beſchaͤftigt. Dieſer Schluß
    kann heiſſen aus der Falſchheit einiger getrenn-
    ten Sätze.
    Zuweilen aber trennt man Saͤtze
    durch entweder und durch oder, und abermals
    durch oder, und ſetzet voraus, daß nur einer wahr
    ſey. Alsdann ſchließt man aus der gefundenen
    Wahrheit des einen Satzes, oder aus der gefunde-
    nen Zahl derer Saͤtze, unter welchen der wahre
    Satz iſt, die Falſchheit aller uͤbrigen. Z. E. Dieſer
    Staat iſt entweder eine ſouveraine Monarchie, oder
    eine eingeſchraͤnkte Monarchie, oder eine Ariſto-
    cratie, oder eine Democratie, oder vermiſcht.
    Nun werden wir benachrichtigt, daß er von der
    erſten Art ſey. Alſo iſt er von keiner der uͤbrigen
    Arten. Oder wir werden benachrichtigt, daß er
    entweder eine Ariſtocratie oder Democratie ſey,
    alſo iſt er von keiner der uͤbrigen Arten. Dieſer
    Schluß kann heiſſen aus der Wahrheit des ge-
    trennten Satzes.
    Oft aber bedeutet die Tren-
    nung der Saͤtze durch entweder und durch oder,
    daß einer gewiß, und doch nur einer, wahr ſey.
    Alsdann kann man ſo wohl aus der Falſchheit, als
    aus
    [156]Uebungen des Verſtandes,
    aus der Wahrheit eines getrennten Satzes etwas
    ſchlieſſen. Z. E. Mein Bekannter, von dem ich
    jetzund nichts weiß, iſt entweder todt, oder lebt in
    Europa, oder in Aſia, oder in Africa, oder in Ame-
    rica, oder in unbekannten Laͤndern, oder auf der
    See. Hier kann man auf eine doppelte Art ſchlieſ-
    ſen, 1) aus der Falſchheit, z. E. weil er
    nun weder in Aſia, noch in Africa, noch in
    America lebt, noch todt iſt; ſo lebt er entweder
    in Europa, oder in unbekannten Laͤndern, oder auf
    der See. 2) Aus der Wahrheit. Nun be-
    komme ich Nachricht, daß er entweder todt ſey, oder
    in unbekannten Laͤndern, oder auf der See lebe,
    alſo lebt er in keinem bekannten Welttheile.
  • 9) Wenn die Folgerung falſch iſt; ſo ſchließt
    man, es ſey etwas Falſches in demjenigen, woraus
    man gefolgert hat, oder man habe nicht richtig ge-
    folgert. Z. E. Man nehme an, 1000 ſey mehr
    als 100 Dutzend; ſo folgt, 500 ſey mehr als 50
    Dutzend, 50 ſey mehr als 5 Dutzend, 10 ſey mehr
    als ein Dutzend. Dies iſt falſch. Dennoch iſt
    richtig gefolgert, alſo iſt der erſte Satz falſch. Oder
    man folgere ſo: Alle Menſchen ſind ſterblich, alle
    Geiſter ſind unſterblich. Alſo haben die Men-
    ſchen keinen Geiſt. Dieſe Folgerung iſt falſch,
    alles aber, woraus man gefolgert hat, iſt wahr,
    alſo hat man nicht richtig gefolgert. Dieſer
    Schluß
    [157]beſonders in moraliſchen ꝛc.
    Schluß kann heiſſen aus der Falſchheit der
    Folgerung.

§. 63.


Eine Belehrung iſt ein Zeugniß von den
durchgaͤngigen oder gewoͤhnlichſten oder unge-
woͤhnlichern Beſchaffenheiten ganzer Gattungen
von Dingen; von dem Laufe der Natur; von den
Beſchaffenheiten der Menſchen an Seele und Koͤr-
per, das iſt, von den Kraͤften ihres Verſtandes
und Willens, von ihren Meynungen, Neigungen
und Affecten, von der innerlichen und aͤuſſerlichen
Beſchaffenheit ihres Koͤrpers, von den gewoͤhnli-
chen Wirkungen und Urſachen ihrer Zuſtaͤnde, von
der Beſchaffenheit ihrer Kuͤnſte und Gewerbe, von
den unterſchiedenen Umſtaͤnden ganzer Nationen
u. ſ. w.


Solche Belehrungen ſind theils wahr, theils
nur wahrſcheinlich, theils vollkommen zweifelhaft,
theils unwahrſcheinlich, theils falſch, theils ver-
miſcht.


Jn den meiſten Belehrungen iſt das meiſte
wahr, beſonders aber dasjenige, was unſre eignen
Zeiten und Gegenden betrifft, was von erfahrnen
Maͤnnern, in Abſicht zu lehren, muͤndlich oder
ſchriftlich mit Bedacht behauptet wird, und gegen
welches wir keinen achtbaren Widerſpruch verneh-
men.
[158]Uebungen des Verſtandes,
men. Auf ſolche Belehrungen iſt faſt die ganze
Sittenlehre gegruͤndet. Denn es iſt der Sicher-
heit gemaͤß, ſie als Wahrheit anzunehmen und
darnach zu handeln.


Die Rechenmeiſter und Meßkuͤnſtler geben uns
viele Belehrungen, von deren Wahrheit ſie alle-
ſammt ſich fuͤr uͤberzeugt halten und bekennen.
Z. E. von den Regeln der Bewegung, von dem
Laufe des Geſtirns, von den abweſenden und kuͤnf-
tigen Finſterniſſen. Solche Belehrungen, die
nirgends Widerſpruch finden, muß man, wenn
man auch keine eigne Einſicht von den Sachen hat,
dennoch fuͤr wahr annehmen, und zwar wegen der
beſtaͤndigen Erfahrung, daß Belehrungen dieſer
Art niemals unrichtig ſind.


Aber in keinerley Art von Belehrungen, welche
unſre Wohlfarth betreffen, iſt ſo leicht Jrrthum und
Misverſtand zu beſorgen, als in denen, welche die
Religion angehen. Dieſes erhellet ſchon daraus,
weil die Belehrungen von Religion zu verſchie-
denen Zeiten, in verſchiedenen Laͤndern und von
verſchiedenen Familien und Perſonen, in vielen
Stuͤcken einander offenbar widerſprechen. Jch
will dich nach meinem eignen Gewiſſen vorbereiten,
das Wahre, was dich angehet, von dem Falſchen
und Zweifelhaften zu unterſcheiden.


64. §.
[159]beſonders in moraliſchen ꝛc.

§. 64.


Glauben heißt in der gemeinſten Bedeutung
etwas fuͤr wahr halten. Wird es aber dem Wiſſen
entgegen geſetzt; ſo unterſcheidet man beydes auf
zweyerley Art. Erſtlich, daß der Glaube den
Beyfall bedeutet, welchen man den Zeugniſſen und
fremden Belehrungen giebt, und daß das Wiſſen
nur Statt findet in dem Beyfalle, womit wir unſre
eigne Erfahrungen, unſre eigne Empfindungen,
die an ſich unlaugbaren Grundſaͤtze, und die richti-
gen Folgen dieſer Wahrheiten, annehmen. Oder
zweytens der Unterſchied des Glaubens und
Wiſſens iſt dieſer, daß das erſte mit einigem
Zweifel verbunden ſeyn kann, das letztere aber
nicht. Jn der letzten Bedeutung heißt das Glau-
ben auch Meynen.


Eine Religion iſt eine Sammlung von Lehr-
ſaͤtzen, die das Gewiſſen betreffen, und von vielen
als ein Ganzes fuͤr wahr gehalten werden.


Wer gar keinen Begriff von dem unſichtbaren
Richter hat, oder das Daſeyn deſſelben laͤugnet,
der hat kein Gewiſſen, ſolglich keine Religion,
und wird ein Atheiſt genannt. Von dieſer Art
ſind einige wilde Nationen, und vielleicht ſelbſt in
unſern Gegenden viele ganz einfaͤltige und unbe-
lehrte Menſchen, einige verirrte Gruͤbler, welche
wegen der Unbegreiflichkeit das Daſeyn Gottes
laͤugnen,
[160]Uebungen des Verſtandes,
laͤugnen, und dennoch weit unbegreiflichere Dinge
behaupten; endlich einige leichtſinnige und laſter-
hafte Menſchen, welche die Beweiſe vom Daſeyn
Gottes nicht durchdenken moͤgen, und wegen ihrer
Laſter in der Laͤugnung des goͤttlichen Gerichtes
und der Unſterblichkeit der Seelen ihre Beruhi-
gung ſuchen. Die meiſten unter ſolchen Elenden
koͤnnen es doch nicht weiter bringen, als daß ſie an
dieſen Wahrheiten zweifeln, und ſie bald wieder
mit Angſt glauben oder mit Leichtſinn verwerfen.


Einige Atheiſten leiten das Daſeyn und die Ord-
nung der Dinge von einer unendlichen Reihe vor-
hergehender unbekannter Urſachen her, welche ſie
bald das Fatum, bald das Ohngefehr heiſſen.


Diejenige Religion, welche in der natuͤrlichen
Erkenntniß von Gott beſteht, und durch eigenes
Nachdenken, oder durch Vertrauen auf diejenigen,
welche nachgedacht haben, als wahr angenommen
wird, heißt die natürliche Religion. Sie findet
ſich itzund bey vielen einzelnen Perſonen; aber ſie
iſt niemals, ſo viel wir wiſſen, die Religion eines
Volkes geweſen.


Jn dieſer natuͤrlichen Religion herrſchet eben
ſowohl Glauben als Wiſſen. Denn von denen
Beſchaffenheiten der Welt, woraus wir Gottes
Daſeyn und Eigenſchaften ſchlieſſen, wird ſehr
Vieles durch Zutrauen auf fremde Zeugniſſe und
Belehrungen angenommen.


Es
[161]beſonders in moraliſchen ꝛc.

Es iſt auch ein ſchweres und langſames
Werk,
von der natuͤrlichen Religion gewiß zu
werden. Das Boͤſe in der Welt machet uns gegen
die Einheit und Vollkommenheit Gottes; die
Dunkelheit des kuͤnftigen Zuſtandes macht uns
gegen die Unſterblichkeit der Seelen, und folglich
auch gegen das kuͤnftige Gericht ſolche Zweifel, die
nach langer Ueberlegung zwar nicht guͤltig bleiben,
aber doch mit Muͤhe bezwungen werden und oft
neue Kraͤfte erhalten.


Es iſt alſo fuͤr das Beſte des menſchlichen Ge-
ſchlechts zu wuͤnſchen, daß die natuͤrliche Religion,
das iſt, der Jnhalt derſelben, auf eine andre Art,
welche den Glauben erleichterte, moͤgte beſtaͤtigt,
und durch ſolche Zuſaͤtze vermehret werden, deren
Erkenntniß zur groͤſſern Beſſerung und Beruhi-
gung der Menſchen diente. Dieſer Wunſch fuͤhret
uns zu dem Begriffe von einer goͤttlichen Offen-
barung.


§. 65.


Es iſt nicht fuͤr unmoͤglich zu halten, daß Dinge
übernatürlich oder wider den Lauf der Natur
geſchehen, z. E. das erſte Erdbeben, die erſte Ge-
buhrt, der erſte Tod eines Menſchen war damals
wider den Lauf der Natur. Aber ein Menſch kann
nicht vorher wiſſen, daß und wann ſolche uͤberna-
tuͤrliche Dinge geſchehen werden.


LEs
[162]Uebungen des Verſtandes,

Es iſt alſo eine übernatürliche Belehrung
moͤglich durch Stimmen und lehrende Geſtalten,
die kein Menſch verurſacht, und zwar ſowol im
Wachen als im Traume. Eine ſolche uͤbernatuͤr-
liche Belehrung kann in Gottes Namen als eine
göttliche Offenbarung
und mit dem Befehle
gegeben werden, ſie zu glauben, Andern als goͤtt-
lich vorzutragen, und das Anſehn derſelben durch
uͤbernatuͤrliche Wirkungen, oder Wunderwerke
zu beſtaͤtigen. Eine ſolche Perſon, welche einer
goͤttlichen Offenbarung und des Befehles, ſie be-
kannt zu machen, gewuͤrdigt wird, heißt ein gött-
licher Geſandter.


Daß ehemals Offenbarungen geweſen
ſind,
iſt wahrſcheinlich nicht nur aus dem faſt bey
allen Voͤlkern durchgaͤngigen Begriffe und Geruͤchte
von Offenbarungen; ſondern auch daraus, daß das
menſchliche Geſchlecht wirklich zum Gebrauch der
Vernunft gelanget iſt, wovon keine begreiflichere
Urſache gefunden werden kann, als dieſe, daß in den
fruͤhern Zeiten des menſchlichen Geſchlechts goͤtt-
lichen Offenbarungen waren.


Eine Religion, welche zuerſt durch Offenbarung
gelehret iſt, oder als eine ſolche geglaubet wird,
heißt eine geoffenbarte Religion, und wer mit
andern einerley geoffenbarte Religion glaubt, heißt
ein Glaubens-Verwandter. Wer aber alle
als
[163]beſonders in moraliſchen ꝛc.
als geoffenbart angeprieſene Religionen verwirft,
und dennoch die natuͤrliche Religion, entweder ganz,
oder zum Theil glaubt, heißt ein Deiſt oder Na-
turaliſt.
Jch ſage, viele Naturaliſten glauben
nur einen Theil der natuͤrlichen Religion. Denn
einige halten ſich nicht fuͤr uͤberzeugt von der All-
wiſſenheit Gottes, von der ſich uͤber alle einzelne
Dinge erſtreckenden Vorſehung, von der Unſterb-
lichkeit der Seelen, von der kuͤnftigen Vergeltung
des Guten und Boͤſen, von der Pflicht des Gebetes
und des gemeinnuͤtzigen Martyrerthumes.


Wer durch Belehrung von ehemaligen vorgege-
benen Offenbarungen mehr hoͤchſte Goͤtter, oder
zwar einen hoͤchſten Gott, aber auch viele nam-
hafte Untergoͤtter glaubt, welche das Schickſal der
Menſchen in ihrer Macht haben, und deswegen
gewiſſe Arten der Verehrung verdienen ſollen; der
heißt ein Heide.


Wer Offenbarungen fuͤr wahr haͤlt, und ehe-
malige Geſandte Gottes glaubt, ſo wie ſie in den
Buͤchern des alten und neuen Teſtaments beſchrie-
ben ſind, der heißt ein Chriſt, wenn er den uns
angehenden Jnhalt jener Offenbarungen kennet,
entweder weil er jene Buͤcher ſelber geleſen hat;
oder durch Andere, welche ſich darauf berufen, von
dieſem Jnhalte belehret iſt.


L 2Wer
[164]Uebungen des Verſtandes,

Wer die in dem neuen Teſtamente angeprieſe-
nen Offenbarungen verwirft, aber die im alten
Teſtamente angeprieſenen annimmt, der heißt ein
Jude.


Wer Mahomed, als den groͤßten Geſandten
Gottes, ſo wie er ſeine Offenbarungen in dem
Buche Coran angeprieſen hat, verehret, der heißt
ein Mahemodaner oder Türk.


Der vornehmſte im neuen Teſtamente ange-
prieſene Geſandte Gottes, war Jeſus Chriſtus,
der vor ſiebzehn hundert und Acht und ſechszig
Jahren gebohren wurde; aber im alten Teſtamente,
Moſes, der uͤber funfzehn hundert Jahr fruͤher
lebte. Mahomed hat ſechs hundert Jahr nach
Chriſto ſeine Religion geſtiftet.


Auſſer den Atheiſten und den Naturaliſten,
und auſſer den Sceptikern oder Zweiflern, gehoͤren
alle andere Menſchen zu irgend einer Art der Glau-
bens-Verwandte, zu den Heiden, zu den Juden, zu
den Chriſten oder zu den Mahomedanern.


Eine jede Art der Glaubensverwandte theilet
ſich in Partheyen, Secten oder Kirchen, welche
entweder mehr oder weniger angeprieſene Offenba-
rungen fuͤr richtig halten, oder uͤber die Bedeutung
der uͤberlieferten Lehren ſo uneinig ſind, daß es
ihnen ihr Gewiſſen verbietet, zur Verehrung Got-
tes und zur Unterhaltung der Religion mit den
Gliedern
[165]beſonders in moraliſchen ꝛc.
Gliedern anderer Secten gemeinſchaftlich zuſam-
men zu kommen.


§. 66.


Suche unter dieſen Religionen die wahre, wenn du
nicht ſchon von derſelben, wie ich hoffe, uͤberzeugt
ſeyn ſollteſt. Fange deine Unterſuchung an bey der-
jenigen, deren Jnhalt dir ſchon am bekannteſten iſt,
und am gemeinnuͤtzigſten ſcheinet. Verkuͤrze dein
Nachforſchen Anfangs dadurch, daß du alles das-
jenigr nicht unterſucheſt, deſſen Wahrheit oder
Falſchheit deinem Gewiſſen gleichguͤltig ſcheinet;
das iſt, die Regeln deines Thuns und Laſſens nicht
veraͤndern, und dir Beruhigung der Seele weder
geben noch nehmen kann. Laß in der Religion,
die du zuerſt vornimmſt, Anfangs dasjenige weg,
woruͤber die Kirchen und Secten ſtreiten, und be-
gnuͤge dich Anfangs mit der Unterſuchung derer
Lehrſaͤtze, welche von Allen angenommen werden,
und alſo in dem Archive oder dem alten Glaubens-
buche dieſer Religion am deutlichſten gelehret ſind.
Setze die Unterſuchung fort, und nimm den Rath
derer, welche dir die erfahrenſten ſcheinen, zu Huͤlfe,
oder bekannte Schriften, die dir angeprieſen werden,
und deren Anblick dir mit Wahrſcheinlichkeit, mehr
Erleuchtung verſpricht. Zweifle waͤhrend der Un-
terſuchung ohne Gewiſſensangſt, wenn du aus Ver-
L 3langen
[166]Uebungen des Verſtandes,
langen nach Wahrheit zweifelſt. Nach meinem
Gewiſſen prophezeihe ich, daß du eine andre Reli-
gion, als die natuͤrliche, welche ihr aber nicht zu-
wider iſt, ſondern ihre Lehrſaͤtze vielmehr beſtaͤtigt,
wahr finden werdeſt.


Alsdann uͤbe dieſe Religion mit der vollkom-
menſten Gewiſſenhaftigkeit aus. Laß ſie die
Fuͤhrerinn deines Lebens und die Troͤſterinn deines
Herzens ſeyn. Nimm fleißigen Antheil an der
gemeinſchaftlichen und oͤffentlichen Verehrung
Gottes, welche die Glaubensverwandte dieſer Re-
ligion ausuͤben. Halte dich zu derjenigen Kirche
oder Gemeine derſelben, welche mit deinen Ge-
danken am meiſten uͤbereinſtimmet, oder am we-
nigſten ſtreitet, und welche dich unter ſich dulden,
und ohne ein erzwungnes Bekenntniß deſſen, was
du nicht glaubeſt, dich zu ſolchen Gemeinſchaften
zulaſſen will, die deinem Gewiſſen nicht zuwider
ſind. Trage nach deinem kuͤnftigen Vermoͤgen
reichlich bey, zu den Koſten, die ein ſolches Kir-
chenweſen erfodert. Leiſte und hoffe, in Anſehung
einer ſolchen Gemeine, die Pflichten einer beſon-
dern Bruͤderſchaft. Will dich aber keine Gemeine
annehmen, ohne auch dasjenige ausdruͤcklich zu
bekennen, was du nicht glaubeſt, ſo heuchle ſchlech-
terdings nicht irrdiſcher Vortheile wegen in
Sachen, welche die goͤttliche Verehrung und die
gemein-
[167]beſonders in moraliſchen ꝛc.
gemeinnuͤtzigſten Wahrheiten, oder die gemein-
ſchaͤdlichſten Jrrthuͤmer betreffen. Jn ſolchem
Falle ſorge fuͤr deine Privat-Erbauung und fuͤr die
Denkmittel deiner Pflichten und deines Troſtes,
ſo gut es dir allein, oder mit wenigen, deren Ge-
meinſchaft du haben kannſt, moͤglich iſt.


Rede nichts von Jrrthuͤmern, die Andern hei-
lige Wahrheit ſcheinen, in ihrer Gegenwart,
wenn du keinen Nutzen weder fuͤr dich noch fuͤr
andere, ſondern nur Verdruß davon vermutheſt.
Denn viele Glieder auch derer Kirchen, welche
alle Gewalt und Verfolgung fuͤr unrecht erkennen,
ſind dennoch oft geneigt, diejenigen zu haſſen und
zu verfolgen, die nicht ihres Glaubens ſind, und
es oͤffentlich anzeigen. Huͤte dich alſo vor einem
kleinen und großen Martyrerthum, wenn es aus
ungemeinnuͤtzigen Handlungen erfolgen koͤnnte.
Haſſe und verachte niemanden wegen ſeiner Reli-
gion, und wenn ſie auch von der deinigen im hoͤch-
ſten Grade verſchieden waͤre. Denn die wenigſten
irren deßwegen, weil ſie nicht gern die Wahrheit
glaubten, ſondern weil ſie in der Jugend fuͤr Jrr-
thuͤmer eingenommen ſind, und hernach entweder
keinen Trieb zur Unterſuchung oder keine ihrer
Faͤhigkeit angemeſſene und wohlgeordnete Mittel
kennen, zur Wahrheit zu gelangen. Jrrthum
verdient Mittleiden, oder Belehrung von dem,
der
[168]Uebungen des Verſtandes ꝛc.
der ſie geben kann, nicht Haß, nicht Verfolgung,
nicht Verjagung aus dem Vaterlande, nicht die
Verſagung des Rechts zur buͤrgerlichen Gleichheit,
wenn der Jrrthum nicht hindert, gemeinnuͤtzige
Buͤrger zu ſeyn, oder den Geiſt der Verfolgung
gegen andre nicht einfloͤſſet. Dieſe Wahrheit, daß
niemand wegen ſeiner Religion, wenn ſie der buͤr-
gerlichen Tugend nicht ſchadet, mehr als andre
eingeſchraͤnkt oder belaſtigt werden darf, dieſe
Wahrheit von der Gewiſſensfreyheit be-
fördre in deinem ganzen Leben.

[figure]
[[169]]

Zum
Werke nicht gehörige
Schlußanmerkungen,
welche,
nach dem Gewiſſen vieler,
zu wenig oder zu viel
entſcheiden.



Anmerkung 1.


In der chriſtlichen Religion, wie man aus der
Bibel des alten und neuen Teſtaments leicht ſehen
kann, werden erſtlich die Lehrſätze der natürli-
chen Religion von Gott und ſeinen Eigenſchaften,
von der Unſterblichkeit der Seelen, von dem gött-
lichen Geſetze für die Tugend und wider das
Laſter, von der Verehrung Gottes, von der Men-
ſchenliebe, und von der künftigen Vergeltung, als
geoffenbart vorgeſtellet. Zweitens wird hinzu-
gefügt, daß Jeſus Chriſtus, als der eingebohrne
oder unvergleichbare Sohn Gottes, zum Beſten des
menſchlichen Geſchlechtes, unſchuldig gekreuzi-
get, von den Todten erweckt, über die Wolken
genommen, und ein Mittler zwiſchen Gott und
Menſchen ſey; der als zur rechten Hand Gottes über
Alles regiere, und am letzten Tage das verſtorbne
menſchliche Geſchlecht erwecken, die Lebenden
verwandeln, und alle in Gottes Namen richten
werde, auch zur Ehre Gottes des Vaters Vereh-
rung und Anbetung verdiene. Drittens wird durch

)(die
[170]die chriſtliche Religion ein neuer Anblik der Gei-
ſterwelt eröffnet, indem darinnen von Engeln oder
Geiſtern geredet wird, welche übernatürliche
Wirkungen vornehmen, in menſchlicher Geſtalt
erſcheinen und verſchwinden, Mittelsperſonen der
göttlichen Offenbarungen ſeyn können, und ohne
unſer Wiſſen Theil an den Urſachen des menſch-
lichen Schikſals nehmen, bis wir einmal mit ihnen
in nahere Gemeinſchaft unter der Herrſchaft Jeſu,
der über alles regieret, treten werden. Einige
laſterhaft, grauſam und nnglücklich gewordene
Engel werden in der Bibel Teufel genennet. Die
chriſtliche Religion fügt viertens hinzu, daß das
Leiden, der Tod und die Vermittelung Chriſti
nicht nur eine Urſache der Auferweckung des
ganzen menſchlichen Geſchlechts und des darauf
folgenden Lebens ſey, ſondern daß auch durch
dieſes Leiden, durch. dieſen Tod, durch dieſe Ver-
mittlung, denen Busfertigen und Bekehrten, wenn
ſie an ihn oder ſeine Religion glauben, und in die-
ſem gebeſſerten Zuſtande ſterben, die bereueten
und abgelegten Sünden ſo vergeben werden, daß
ſie nach dem Tode kein peinlich ſtrafendes Gericht
zu befürchten, ſondern ewige Seligkeit zu hoffen
haben. Darum wird er der Mittler zwiſchen Gott
und Menſchen, der Verſöhner der Menſchen mit
Gott, und der Heiland oder der Erlöſer des
menſchlichen Geſchlechts genannt. Sie ſetzet end-

lich
[171]lich hinzu, daß die neuen Chriſten, vermöge eines
von Jeſu verordneten Gebrauchs auf den Namen
Gottes des Vaters, auf den Namen des Sohnes,
und auf den Namen des heiligen Geiſtes, welcher,
nach der Lehre der Bibel, mit den Geſandten Got-
tes wirkte, getaufet oder eingeweihet werden,
und daß die Gläubigen in einem gemeinſchaftlichen
von Jeſu geordneten Mahle, zum Gedächtniſſe
ſeines Leibes und Blutes, mit Dankſagung eſſen und
trinken ſollen, nehmlich ein geheiligtes Brod,
welches die Gemeinſchaft ſeines Leibes, oder ſein
Leib, und den geheiligten Wein, welcher die
Gemeinſchaft ſeines Blutes, oder ſein Blut iſt,
damit ſie ſich ſeines blutigen und erlöſenden Todes
beſtändig erinnern. Uebrigens werden in der
chriſtlichen Religion des neuen Teſtaments keine
andre Ceremonien oder Opfer für nöthig erklärt.
Dieſes iſt der Hauptinhalt.


Anmerkung 2.


Die chriſtliche Religion hat alſo nicht nur zu-
gleich allen Werth der natürlichen: ſondern ſie
zeiget auch in Jeſu ein ſinnliches Ebenbild Gottes,
und ein liebenswürdiges Muſter der vollkommnen
Tugend. Sie iſt dem, der ſie glaubt, ein lehrrei-
ches Denkmittel von der abſcheulichen Zerrüttung,
welche in dem Reiche Gottes durch die Sünde
angerichtet wird, und von der Abſicht und den

)( 2Mitteln
[172]Mitteln Gottes, dieſen Zerrüttungen abzuhelfen,
und von der groſſen Wichtigkeit des künftigen
unſterblichen Lebens. Der Chriſt iſt in mindrer
Gefahr, an der Unſterblichkeit ſeiner Seele und
an dem neuen künftigen Leben zu zweifeln, da
er glaubt, daß Jeſus nach ſeiner eignen Auferſte-
hung durch ſeine Jünger die Welt davon verſichert
hat. Der Naturaliſt mag ſich fûr ſo gebeſſert
halten, als er will, er hat doch geſûndiget, und
ſein ferneres Leben wird auch nicht vollkommen
rein bleiben. Nicht alle Sünden werden in dieſem
Leben beſtraft, und er weis nicht, wie ſtrenge
Gott ſtrafen müſſe. Der nachdenkende Naturaliſt
muß alſo ſich mit einer zitternden Furcht bey
Gefahr und Annährung des Todes in die Hände
Gottes liefern, weil ihm unbekannt iſt, ob er
ohne peinliche Strafe Vergebung haben könne.
Aber der bekehrte und gläubige Chriſt hält ſich
von der Gnade für verſichert, und hat Recht, in
entzückender Freude zu ſterben. Er ſieht in eine
groſſe Geiſterwelt hinein, nach deren Gemein-
ſchaft ihn verlangen muß. Und dennoch be-
ſchwert ihn ſeine Religion nicht mit ungemein-
nützigen und beſchwerlichen Gebräuchen; ſie
zwingt ihn nicht unter ein Joch der Prieſter, als
welche nach dem offenbaren Innhalte des Evan-
geliums Jeſu und des apoſtoliſchen Chriſtenthums
keine irrdiſche Macht zu befehlen, ſondern nur

das
[173]das Mittel der Ueberredung haben dürfen. Beyde
Geſchlechter nehmen gleichen Theil an dieſer Re-
ligion. Auch die ewige Glückſeligkeit der Kinder
wird durch Jeſum verſichert. Man kann dieſe
Religion in jedem Clima ausûben, und ſie iſt den
gleichgültigen oder guten Sitten keines einzigen
Volks zuwider. Wäre ſie nicht geoffenbart, ſo
wäre ſie doch die beſte Religion für das menſchli-
che Geſchlecht, und für jeden insbeſondre. Wel-
cher verſtändige und tugendhafte Menſch wird
nicht wünſchen, daß ſie geoffenbart ſey!


Anmerkung 3.


Und ſie iſt es, nach meiner Einſicht, wahrhaf-
tig. Der Stifter und ſeine Jünger waren keine
Betrüger. Sie konnten von ihrer neuen Religion
nichts Irrdiſches hoffen; aber wie auch die Er-
fahrung bezeugt hat, Haß, Verfolgung, Gefahr,
Marter und Tod fürchten. Sie waren nicht, als
Enthuſiaſten, wahnſinnig, ſich Offenbarungen,
welche ſie nicht bekommen hatten, und Wunder-
werke, welche ſie nicht thaten, einzubilden.
Denn, ſollten die Einzigen, welche eine ſo vor-
trefliche Religion gelehret haben, wahnſinnige
Leute geweſen, und bis an ihren Tod geblieben
ſeyn? und zwar mit Uebereinſtimmung ihres
Zeugniſſes von der Auferſtehung Jeſu, und von
den obgeſagten gemeinnützigen Lehrſätzen? Wel-

)( 3cher
[174]cher vernûnftige und der Sachen kundige Menſch,
kann dieſes glauben oder vermuthen? Wer darf
es thun, wenn er nachdenkt, daß wir durch
Wünſche und Vorſätze den Glauben an wichtige
Wahrheiten verhindern können, und Gott Re-
chenſchaft davon fodern werde? Jeſus und die
Apoſtel waren alſo das, was ſie ſagten, und wo-
für ſie von vielen zu ihrer Zeit angenommen wur-
den, welche den Glauben an ihre Ausſprüche,
nebſt einigen ihrer Schriften, den Nachkommen
überliefert haben. Sie waren göttliche Geſandte,
ſie beſtätigten die beſte Religion, als geoffenbart
durch Wunderwerke. Ihre Religion iſt die chriſt-
liche; alſo iſt dieſelhe wahr.


Wer wird irgend eine heidniſche Religion ihr
gleich ſchätzen? Wer wird die beſchwerliche Re-
ligion des Judenthums, welche durch das Chri-
ſtenthum ihre Endſchaft etreicht hat, und ſich
vormals für die zum theil unbekannten Umſtände
dieſer beſondern Nation ſchickte. itzt allen Völ-
kern der Welt aufzubürden wûnſehen? Wer wird
nach dieſer Erkenntniß des Chriſtenthums nicht
den Mahomed verwerfen, der, weil er den Inn-
halt deſſelben nicht verſtund, es für verdorben
hielt, und ſowohl durch ſeinen Coran, als durch
Waffen, unter dem Namen des höchſten göttli-
chen Geſandten, ein Verbeſſerer und Eroberer

werden
[175]werden wollte? Man darf ſich nur die beſte Reli-
gion als geoffenbart angeprieſen, und gleich An-
fangs als von Vielen geglaubt, und durch das
Märtyrerthum der Bekenner, als gegründet und
ausgebreitet vorſtellen: ſo hat man Beweiſe genug,
daß ſie göttlich und geoffenbaret ſey.


In dieſem nach ſeinem Innhalte vortreflichen,
und nach ſeinem Urſprunge geoffenbarten Glau-
ben, lebe, theurer Sohn und Leſer, tugendhaft,
und, ſo Gott will, glücklich. Dann hoffe, wenn
die tödtende Krankheit dich nicht hindert, eine
entzückende Freude oder die ſanfteſte Gemüths-
ruhe auf deinem Sterbelager. Gott, ſey gnädig
meinen Wünſchen!



[[176]][[177]]

Jnhalt
der Hauptſtuͤcke und Paragraphen

in der ganzen
Weisheit des Privatſtandes.



  • I. Eignes Nachdenken uͤber die Seele,
    das Leben und den Tod.
  • §. 1. Weisheit und Selbſterkenntniß.
  • §. 2. Geiſtiges Weſen oder Seele im Men-
    ſchen.
  • §. 3. Sie iſt unſer wahres Jch, ein einziges
    fortdaurendes unſichtbares Weſen.
  • §. 4. Das geiſtige Leben. Unterſchied der
    Seele und des Koͤrpers. Leben und
    Tod des Menſchen.
  • §. 5. Wunſch eines nicht unmoͤglichen Lebens
    der Seele nach dem Tode des Menſchen.

MII. Eignes
[178]Jnhalt der Hautſtuͤcke
  • II. Eignes Nachdenken uͤber Gott und
    ſeine Eigenſchaften.
  • §. 6. Wahrheit des Anfanges der Welt.
  • §. 7. Die Welt als vorzuͤglich gut, beſon-
    ders durch die Ordnung der Dinge.
  • §. 8. Ewiger Zweck und wahre Gottheit.
    Wahrheit, daß nur ein einziger
    Gott ſey.
  • §. 9. Er allein iſt vollkommen ewig.
  • §. 10. Goͤttliche Wirkſamkeit, als der Grund
    aller Dinge.
  • §. 11. Seine Allmacht, Allwiſſenheit und
    Allguͤte. Sammlung der Grund-
    eigenſchaſten Gottes.
  • §. 12. Die meiſten andern Eigenſchaften.
  • §. 13. Beweiß der Unſterblichkeit der Seelen
    und der kuͤnftigen Vergeltung.
  • §. 14. Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit.
  • §. 15. Die natuͤrliche Erkenntniß Gottes.
  • III. Die Sittenlehre aus natuͤrlicher
    Erkenntniß Gottes und der Welt.
  • §. 16. Gehorſam und Liebe gegen Gott. Tu-
    gend um Gottes willen. Verehrung
    und
    [179]und Paragraphen.
    und Anbetung Gottes. Gemein-
    nuͤtziges Martyrerthum.
  • §. 17. Zuverſicht zu Gott. Unterwerfung
    unter das Schickſal. Jrrthum der
    Fataliſterey von dem Schickſale und
    den Handlungen der Menſchen. Un-
    terſchied des goͤttlichen Rathſchluſſes
    und des goͤttlichen Gebotes. Unſchuld
    Gottes am Boͤſen.
  • §. 18. Nuͤtzliche Art der Todesgedanken.
    Wachſamkeit auf die Gedanken und
    Wuͤnſche. Heiligung der Denkmittel
    Gottes. Wahl ruhiger Zeiten zur
    Andacht.
  • §. 19. Von Suͤnde, Gewiſſen, Schwur
    und Fluch.
  • §. 20. Wider den Aufſchub der Beſſerung.
  • §. 21. Begriff von Selbſtliebe, Eigenliebe
    und Thorheit.
  • §. 22. Das Verhalten im Affecte.
  • §. 23. Die natuͤrliche und pflichtmaͤßige Men-
    ſchenliebe. Vortreflichkeit und allge-
    meine Regeln derſelben.

M 2§. 24.
[180]Jnhalt der Hauptſtuͤcke
  • §. 24. Pflicht der Arbeitſamkeit. Recht des
    Eigenthums. Raub, Diebſtahl und
    Betrug. Mordbrennerey. Men-
    ſchenraub. Gewalt an Leib und Leben.
    Vertraͤge. Sammlung der groben
    Verbrechen. Geſetz der Sicherheit.
    Obrigkeit und Majeſtaͤt, Staat und
    Vaterland. Staatsbedienten und
    Auflage. Arten des Ungehorſams
    gegen die Obrigkeit.
  • §. 25. Etwas vom Kriege.
  • §. 26. Gehorſam gegen die Geſetze. Verhal-
    ten bey gewaltſamer Werbung. Be-
    ſondre Pflichten fuͤr das Vaterland
    und den Fuͤrſten.
  • §. 27. Von der Wahl einer beſondern arbeit-
    ſamen Lebensart.
  • §. 28. Die Kennzeichen des Betruges in
    vielen Umſtaͤnden. Verbrechen in Ver-
    aͤnderung der Muͤnzen. Schulden und
    Obligationen.
  • §. 29. Gewinnſucht, Geiz, Verſchwendung.
  • §. 30. Die vornehmſten moraliſchen Regeln
    von dem Verlangen nach Ehre.

§. 31.
[181]und Paragraphen.
  • §. 31. Das Verhalten gegen die Ehre
    anderer.
  • §. 32. Von der Maͤſſigkeit in den Nahrungs-
    mitteln.
  • §. 33. Regeln der Geſundheit. Verhalten
    in Krankheiten.
  • §. 34. Wider den Selbſtmord.
  • §. 35. Von der Ehe. Alle Laſter wider die
    Keuſchheit. Unehrbarkeit.
  • §. 36. Beſondre Regeln der Ehrbarkeit und
    Bewahrung der Unſchuld.
  • §. 37. Ueberlegung bey der Wahl der Ehe-
    geſellſchaft.
  • §. 38. Etwas von den Pflichten im Ehe-
    ſtande.
  • §. 39. Pflichten der Kinder und in der Ju-
    gend.
  • §. 40. Neid, Haß, Eifer, Zorn, Rachbe-
    gierde, Liebe der Feinde, Mitleiden.
  • §. 41. Dieuſtſertigkeit, Wohlthaͤtigkeit und
    Dankbarkeit.
  • §. 42-44. Tugend und Gefaͤlligkeit im Um-
    gange.

M 3§. 45.
[182]Jnhalt der Hauptſtuͤcke
  • §. 45. Verſtellung, Luͤge, Aufrichtigkeit und
    Worthalten.
  • §. 46. Scherz, Affectation und Eigenſinn.
  • §. 47. Sehr allgemeine Regeln der Klugheit.
  • §. 48. Die beſondre Freundſchaft.
  • §. 49. Traurigkeit, Furcht, Geduld und
    Muth.
  • §. 50. Einſame und geſellſchaftliche Ergoͤtzun-
    gen. Lectuͤre.
  • §. 51. Bild eines vollkommen Hausweſens.
  • IV. Uebungen des Verſtandes, beſonders
    in moraliſchen Unterſuchungen.
  • §. 52. Nothfaͤlle. Ausnahme aus allgemei-
    nen Regeln. Tugendhafte Einfoͤr-
    migkeit.
  • §. 53. Eintheilung der verſchiedenen Rechte.
    Das Verhalten bey ihrem Wider-
    ſpruche.
  • §. 54. Allgemeine Begriffe von Geſetz,
    Pflicht, Tugend, Laſter.
  • §. 55. Aeuſſerliches Recht. Zwangspflicht
    und Gewiſſenspflicht. Privilegium
    und
    [183]und Paragraphen.
    und Diſpenſation. Billigkeit und
    Gelindigkeit.
  • §. 56. Strafe und Belohnung; Gluͤcksfaͤlle
    und Ungluͤcksfaͤlle.
  • §. 57. Freyheit und Zurechnung; Jrrthum
    und Begnadigung.
  • §. 58. Allgemeine Regeln der Wahrſchein-
    lichkeit.
  • §. 59. Beſonders in Zeugniſſen und Nach-
    richten.
  • §. 60. Auch in der Bedeutung der Redens-
    arten.
  • §. 61. Die Wahrheit und die Hauptgattungen
    wahrer Saͤtze.
  • §. 62. Die natuͤrlichſten Regeln von Schluͤſ-
    ſen oder Folgerungen.
  • §. 63. Von der Zuverlaͤßigkeit fremder Be-
    lehrung.
  • §. 64. Unterſchied des Glaubens und Wiſ-
    ſens. Atheiſt. natuͤrliche Religion.
    Schwierigkeit derſelben. Wunſch
    einer andern.
  • §. 65. Moͤglichkeit des Uebernatuͤrlichen.
    Begriff
    [184]Jnhalt der Hautſtuͤcke u. Paragr.
    Begriff von Offenbarungen, Wun-
    derwerken und goͤttlichen Geſandten.
    Allgemeine Wahrſcheinlichkeit des
    Daſeyns ehemaliger Offenbarungen.
    Begriff von einer geoffenbarten Reli-
    gion. Naturaliſt oder Deiſt. Die
    Glaubensverwandten, als Heiden,
    Juden, Chriſten und Mahomedaner.
    Kirchen und Secten.
  • §. 66. Art des Nachforſchens nach der wah-
    ren Religion. Kluges Verhalten
    gegen fremde Religionsverwandte.
    Gewiſſensfreyheit.
  • —— Einige zum Werke nicht gehoͤrige
    und deßwegen nach den Umſtaͤnden in
    einigen Exemplarien fehlende Schluß-
    anmerkungen.


[[185]][[186]][[187]][[188]][[189]][[190]]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Die ganze Natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger. Die ganze Natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpxm.0