[][][][][][][[I]][[II]]
Staatengeſchichte
der neueſten Zeit.

Fünfundzwanzigſter Band.


Deutſche Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert
Zweiter Theil.

Leipzig:
Verlag von S. Hirzel.
1882.

[[III]]
Deutſche Geſchichte
im
Neunzehnten Jahrhundert


Zweiter Theil.
Bis zu den Karlsbader Beſchlüſſen.

Leipzig:
Verlag von S. Hirzel.
1882.

[[IV]][[V]]

Vorwort.


Den Fachgenoſſen bietet dieſer Band mehr Ergebniſſe neuer For-
ſchung als der erſte. Ungelehrte Leſer werden leider einiger Selbſtüber-
windung bedürfen um ſich in den ſpröden Stoff zu finden.


In einer Epoche weltbewegender Ereigniſſe, wie ſie der erſte Band
zu ſchildern hatte, läßt ſich die bunte Mannichfaltigkeit der deutſchen Ge-
ſchichte noch einigermaßen überſichtlich zuſammenfaſſen. Sobald es aber
gilt, in einer ſtillen Friedenszeit die unſcheinbaren Keime neuer Entwick-
lungen aufzuweiſen, dann empfindet der Hiſtoriker am eigenen Leibe den
Fluch eines zerſplitterten nationalen Lebens. Streng nach der Zeitfolge
zu berichten, was ſich auf zwanzig und mehr kleinen Bühnen zugleich
ereignete, iſt ſchlechthin unmöglich. Ich habe alſo die geſammtdeutſchen
und die preußiſchen Zuſtände wieder in den Mittelpunkt der Erzählung
geſtellt und die Geſchichte der kleinen Bundesſtaaten überall da angereiht,
wo ſie für die Schickſale des geſammten Vaterlandes bedeutſam wird.
Daher ſind in dieſem Bande die ſüddeutſchen Verfaſſungskämpfe und die
literariſch-politiſche Bewegung in Thüringen ausführlich behandelt. Für
die Betrachtung der kleinen norddeutſchen Staaten wird ſich im dritten
Buche die rechte Stelle finden, wenn die Frage zu beantworten iſt:
warum der Süden früher als der Norden in die preußiſche Zollgemein-
ſchaft eintrat? Daß ich die erſten Verhandlungen des Bundestags,
trotz ihrer Nichtigkeit, gründlich beſprochen habe, bedarf kaum der Recht-
fertigung. Ohne ein lebendiges Bild von dem Charakter der neuen
Bundesgewalt bliebe der weitere Verlauf der Ereigniſſe unverſtändlich.


In den Anmerkungen ſind zumeiſt nur ungedruckte Aktenſtücke an-
gegeben, da literariſche Nachweiſungen den Umfang des Buches allzu
ſehr angeſchwellt hätten. Er iſt ohnehin ſtärker geworden als ich wünſchte.
Eine ſo verworrene, durch Parteimärchen entſtellte Geſchichte kann nur
[VI] in einer eingehenden Darſtellung bewältigt werden, und ich habe mich
entſchließen müſſen, die Ereigniſſe bis zum Jahre 1830 auf zwei Bände
zu vertheilen.


Dieſe Blätter enthalten der ſchmerzlichen Erinnerungen viel. Wollte
ich den Stimmungen des Augenblicks nachgeben und als ein Parteimann
Geſchichte ſchreiben, ſo würde ich über manche alte Sünden Oeſterreichs
und der deutſchen Kronen gern einen Schleier werfen; denn in der
heutigen Ordnung der deutſchen Dinge zeigt ſich unſer hoher Adel ein-
ſichtiger, opferwilliger als ein großer Theil des Bürgerthums, und an
der Freundſchaft, welche unſeren Staat mit Oeſterreich verbindet, wird
nur ein Thor rütteln wollen. Meine Aufgabe war das Geſchehene
getreu zu erzählen. Es kann dem Beſtande der Monarchie in unſerem
Vaterlande nur förderlich ſein, wenn Deutſchlands Fürſten der trüben
Tage nicht vergeſſen, da ihre Ahnen nahe daran waren ſich dem Leben
der Nation ganz zu entfremden; unſer freier Bund mit Oeſterreich aber
wird um ſo feſter ſtehen, je unbefangener man hüben und drüben aner-
kennt, daß Deutſchland berechtigt war die Herrſchaft des Wiener Hofes
nicht länger mehr zu ertragen.


Mit allen ihren Irrthümern und Enttäuſchungen war die verrufene
Zeit, welche dieſer Band ſchildert, nicht blos reich an wiſſenſchaftlichem
Ruhm, ſondern auch fruchtbar für unſer politiſches Leben. Habe ich den
Ton nicht ganz verfehlt, ſo wird den Leſern der Eindruck bleiben, daß
ſie die Geſchichte eines aufſteigenden Volkes vor ſich ſehen.


Rom, 20. Oktober 1882.


Heinrich von Treitſchke.


[[VII]]

Inhalt.


Zweites Buch.
Die Anfänge des Deutſchen Bundes. 1814—1819.
(Schluß.)


  • Seite
  • 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre 3
  • Literariſcher Charakter des Zeitalters 3
  • Dichtung und bildende Künſte 16
  • Die Wiſſenſchaft 58
  • 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages 118
  • Europäiſche Lage 118
  • Die Frankfurter Verhandlungen 131
  • 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates 181
  • Perſonen und Parteien am Hofe 181
  • Die Reorganiſation der Verwaltung 193
  • Die Provinzen 244
  • Der Beginn des Verfaſſungsſtreites 278
  • 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe 295
  • Das gute alte Recht in Schwaben 297
  • Baiern 323
  • Baden 354
  • Naſſau und Darmſtadt 375
  • 7. Die Burſchenſchaft 383
  • Jahn und die Turner 383
  • Thüringen. Weimar und Jena 395
  • Das Wartburgfeſt 424
  • 8. Der Aachener Congreß 444
  • Wachſende Macht des öſterreichiſchen Hofes 444
  • Räumung Frankreichs. Erneuerung des Vierbundes 467
  • Deutſche Angelegenheiten auf dem Congreſſe 479
  • 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe 491
  • Schwankungen in Berlin. Erſte conſtitutionelle Erfahrungen im Süden 491
  • Kotzebues Ermordung. Die Demagogenverfolgung 519
  • Teplitz und Karlsbad 550
  • 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe 573
  • Die Karlsbader Beſchlüſſe und das Ausland 573
  • Der Verfaſſungsplan Hardenbergs. Humboldts Entlaſſung 588
  • Der erſte preußiſche Zollvertrag 607

[VIII]

Beilagen zu den erſten zwei Bänden.


  • Seite
  • I. E. M. Arndt und Wrede 629
  • II. Blücher über die Lütticher Meuterei 632
  • III. Die Teplitzer Punktation 632
  • IV. Hardenbergs Verfaſſungsplan 635
  • V. Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819 637

Berichtigungen.


  • Seite 10, Zeile 15 v. o. lies: längere oder kürzere.
  • „ 31, „ 3 v. u. lies: Oeſterberge.
  • „ 40, „ 6 v. o. ſtatt Großinquiſitor lies: Ketzerrichter.
  • „ 43, „ 8 v. u. lies: Niemand wirken kann.
  • „ 127, „ 19 v. u. lies: unbequeme.
  • „ 208, „ 17 v. u. lies: befürwortete.
  • „ 338, „ 6 v. o. lies: aller.
  • „ 390, „ 19 v. u. lies: Karl Theodor.
  • „ 407, „ 13 v. u. lies: verbreiteten.
  • „ 456, „ 8 v. u. lies: zurechtgewieſen.

[[1]]

Zweites Buch.
Die Anfänge des Deutſchen Bundes.

1814—1819.
(Schluß.)


[[2]][[3]]

Dritter Abſchnitt.
Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.


Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Weſen. Namentlich in jenen müden
Epochen, welche den Entſcheidungsſtunden des Völkerlebens zu folgen pfle-
gen, täuſchen ſich die Muthigen und Hochherzigen oft vollſtändig über die
treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt,
wie viel Tapferkeit und Bürgerſinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden-
ſchaft in dem Volke des deutſchen Nordens ſchlummerte; jetzt, da alle
dieſe verborgenen Tugenden ſich ſo herrlich bewährt hatten, wollten die
erregten Wortführer der Patrioten ſchlechterdings nicht glauben, daß die
hohe Begeiſterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war,
wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensſchluß — wer
hätte das beſtritten? — waren ja doch nur darum mißrathen, weil das
Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte;
um ſo gewiſſer mußte die Nation, ſobald ſie nur die verheißenen land-
ſtändiſchen Verfaſſungen erhalten hatte, ſich mit Eifer und Verſtändniß
ihrer Angelegenheiten ſelbſt bemächtigen und die irrenden Cabinette in die
Bahnen nationaler Staatskunſt zurückführen. In ſolchem Sinne ſchrieb
Arndt beim Anbruch des erſten Friedensjahres: „noch in dieſem Jahre
1816 ſoll zwiſchen den Herrſchern und den Völkern das Band der Liebe
und des Gehorſams unauflöslich gebunden werden.“ Er ſah die Thore
eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erſt die ſchöne Neugeborene
dieſes Jahres, die verfaſſungsmäßige Freiheit, in alle deutſchen Staaten
einzieht, „dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einſamen Bräute
und Wittwen ſüßere Thränen!“


Der Hoffnungsvolle ſollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er
Charakter und Geſinnung ſeines Volkes verkannt hatte. Die Nation ſtand
erſt auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuſchung reichen
politiſchen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als „die ge-
waltigſte Königin des Lebens“ pries, zeigte für die Fragen des Verfaſſungs-
weſens nur geringes Verſtändniß, kaum noch ernſtliche Theilnahme. Den
einſamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt
1*
[4]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
das Schwert mit dem Pfluge und dem Hobel vertauſchten, brannte die
Noth auf den Nägeln; ſie ſorgten, wie ſie ſich nur das arme Leben friſten,
wie ſie nur wieder Hütten bauen ſollten auf dem ausgeplünderten Schlacht-
felde des Völkerkrieges. Deutſchland war wieder das ärmſte von allen
Ländern Weſteuropas; in manchen Strichen der Mark Brandenburg be-
gann zum fünften male das ſchwere Ringen um die erſten Anfänge bür-
gerlichen Wohlſtandes. Mit ruhigem Gottvertrauen gingen die kleinen
Leute wieder an ihr ſchweres Tagewerk und trugen geduldig das Loos der
Entbehrung, das ihnen als Lohn ſo vieler Siege zufiel. Jener Geiſt der
Unruhe und Verwilderung, der gemeinhin nach großen Kämpfen noch eine
Zeit lang im Gemüthe der Maſſen nachzuzittern pflegt, zeigte ſich nirgends
unter den frommen und genügſamen Menſchen, die dieſen heiligen Krieg
geſchlagen hatten. Aber in dem Gedränge der wirthſchaftlichen Sorgen
blieb auch kein Raum für die politiſche Leidenſchaft. Sogar die Erinne-
rung an alle die Wunder der jüngſten drei Jahre fand ſelten lauten Aus-
druck, obwohl ſie in den treuen Herzen ſtill fortlebte. Zwei, dreimal noch
flammten am Abend des achtzehnten Oktobers die Freudenfeuer auf den
Bergen; dann verſtummte die Feier, hier vor den Verboten der Polizei,
dort vor der Gleichgiltigkeit der Menge. Auffällig gering blieb in dieſem
ſchreibluſtigen Geſchlechte die Zahl der Volksbücher und Holzſchnitte, welche
der Nation von der ſchönſten Zeit ihrer neuen Geſchichte erzählten. Ein
geſpreiztes Bild, „die Rückkehr des jungen Helden“, ſah man zuweilen
an den Wänden guter Bürgerhäuſer, die ihre Söhne unter die freiwilligen
Jäger geſchickt hatten; auf den Jahrmärkten und in den Dorfſchenken
war ſelbſt das Bildniß Blüchers, des volksthümlichen Helden, faſt nirgends
zu finden.


Auch unter den Gebildeten waren es im Grunde nur drei ſcharf
getrennte Kreiſe, welche ſich die gehobene Stimmung, die ſtolzen vater-
ländiſchen Hoffnungen der Kriegsjahre noch im Frieden lange bewahrten:
das preußiſche Offiziercorps, die akademiſche Jugend, endlich eine mäßige
Anzahl von patriotiſchen Schriftſtellern und Gelehrten, die man jetzt mit
dem neuen ſpaniſchen Parteinamen der Liberalen zu bezeichnen anfing.
Die preußiſchen Offiziere lebten und webten in den Erinnerungen der
Feldzüge; ſie blickten mit ſtarkem Selbſtgefühl auf den wiederhergeſtellten
Glanz ihrer Fahnen, mit Unmuth auf den gebrechlichen Bau des deut-
ſchen Bundes und das traurige Ergebniß der Friedensverhandlungen.
Während des Kampfes hatten ſie die kriegeriſche Kraft des Bürgerthums
achten gelernt, manchen tapferen Kameraden aus den Reihen der Frei-
willigen in ihren Kreis aufgenommen. Nun wurde ihnen durch das neue
Wehrgeſetz die Erziehung der geſammten wehrhaften Jugend anvertraut,
ſie traten mit allen Klaſſen des Volkes in Verkehr und bewahrten ſich
auch den freien, einſt durch Scharnhorſt geweckten wiſſenſchaftlichen Sinn;
der Kaſtenhochmuth der alten Zeit kehrte nur in vereinzelten Rückfällen
[5]Politiſche Ermüdung.
wieder. Aber obſchon die fremden Mächte und die kleinen deutſchen Höfe
alleſammt den nationalen Stolz und das friſche geiſtige Leben dieſes Volks-
heeres voll Argwohns beobachteten, ſo blieb die ſtreng monarchiſche Geſin-
nung der Offiziere doch allen Parteibeſtrebungen völlig unzugänglich. Ihre
Kameraden von der ruſſiſchen Garde hatten in Frankreich zum erſten male
die Ideen der Revolution kennen gelernt und von dort radikale Anſchau-
ungen mit heim genommen, welche nachher in thörichten Verſchwörungen
ihre Früchte trugen. Auf die preußiſchen Offiziere dagegen wirkte der
Anblick des allgemeinen Eidbruchs und der wilden Parteikämpfe der Fran-
zoſen nur abſchreckend; ſie fühlten ſich wieder, wie in den neunziger Jah-
ren, ſtolz als Gegner der Revolution, ſie rühmten ſich der alten preußi-
ſchen Königstreue und ſchätzten die neue conſtitutionelle Doktrin ſchon
darum gering, weil ſie aus Frankreich ſtammte. Selbſt Gneiſenau, der
noch vor’m Jahre die ſchleunige Vollendung der preußiſchen Verfaſſung
gefordert hatte, kehrte mit veränderter Geſinnung heim und rieth drin-
gend, die Ausführung ſolcher Entwürfe nur langſam reifen zu laſſen. *)
Der einzige politiſche Gedanke, der in den Briefen und Geſprächen dieſes
Heeres mit Leidenſchaft erörtert wurde, war die Hoffnung auf einen
dritten puniſchen Krieg, der den Deutſchen endlich ihre alte Weſtgrenze
und eine angeſehene Stellung unter den Völkern zurückbringen ſollte.


Ungleich erregter zeigte ſich die Stimmung der jungen Freiwilligen,
die jetzt von den Regimentern zu den Hörſälen der Hochſchulen zurück-
kehrten. Vaterländiſche Begeiſterung und religiöſe Schwärmerei, Groll
über den faulen Frieden und unklare Vorſtellungen von Freiheit und
Gleichheit, die man unbewußt zumeiſt von den verachteten Franzoſen ent-
lehnt hatte, das Alles brodelte in den Köpfen dieſer teutoniſchen Jugend
wirr durch einander und erzeugte eine edle Barbarei, die nur noch die
Tugenden des Bürgers gelten ließ und ſich zu dem Ausſpruch Fichtes
bekannte: beſſer ein Leben ohne Wiſſenſchaft, als eine Wiſſenſchaft ohne
Leben. Indeß der überſpannte Nationalſtolz des Teutonenthums wider-
ſprach allzuſehr der freien Weitherzigkeit unſeres weltbürgerlichen Volkes,
das gar nicht vermag, auf die Dauer gegen fremdes Weſen ungerecht zu
ſein; die zur Schau getragene Verachtung aller Anmuth und feinen Bil-
dung war allzu undeutſch, das ganze halb kindlich rührende, halb lächer-
liche Gebahren dieſes anmaßlichen Studentenſtaates trug allzu ſehr den
Charakter des Sektenweſens, als daß ſein politiſcher Fanatismus hätte
auf weite Kreiſe wirken können. Es blieb bei der alten Regel, daß die
Fünfzig- und Sechzigjährigen die Welt regieren. Unter den älteren Män-
nern aber fanden die politiſchen Wächterrufe der patriotiſchen Schrift-
ſteller zwar vereinzelte Zuſtimmung; die ſtarke Leidenſchaft, welche die
That gebiert, erweckten ſie nicht.


[6]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Sicherer als Arndt durchſchaute Hegel den Geiſt der Zeit, da er
ſagte: die Nation hat ſich aus dem Gröbſten herausgehauen, ſie kann ſich
nun wieder nach Innen, zum Reiche Gottes wenden. Die mächtigen
Akkorde, welche das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung angeſchlagen,
hallten noch fort; noch waren die reichen Schachte, die ſich ſeit zwei Men-
ſchenaltern der geiſtigen Arbeit der Nation erſchloſſen hatten, keineswegs
erſchöpft. Der Ehrgeiz dieſes durchaus unpolitiſchen Geſchlechts trachtete
noch immer, unbekümmert um alle Proſa des äußeren Lebens, faſt allein
nach den Kränzen des Reiches der Geiſter. Seinen beſten Männern er-
ſchien die Zeit der napoleoniſchen Kriege bald nur wie eine Epiſode, wie
ein Hagelſchauer, der über den blühenden Garten deutſcher Kunſt und
Wiſſenſchaft dahingebrauſt war. Wie die kleinen Leute wieder zur Pflug-
ſchaar griffen, ſo nahmen die Gebildeten die Feder wieder auf, doch nicht
wie Jene mit ſtiller Entſagung, ſondern mit dem frohen Bewußtſein, ſich
ſelber und ihrem eigenſten Leben wieder anzugehören. Wunderbar grell
trat jener innere Widerſpruch hervor, der ſich ſeit dem Aufblühen der
neuen Literatur in dem Charakter unſeres Volkes herausgebildet hatte:
dieſe tapferen Germanen, die ſchon in den Sagen ihrer heidniſchen Urzeit
beſtändig von Krieg und Sieg geträumt und ſeitdem in jedem Jahrhun-
dert die Welt mit dem Schalle ihrer Schwerter erfüllt hatten, ſchätzten
den kriegeriſchen Ruhm niedriger als irgend ein anderes Volk; ſie lebten
des Glaubens, Deutſchlands ſchärfſte Waffen ſeien ſeine Gedanken.


Das Jahrzehnt nach Napoleons Sturz wurde für den ganzen Welt-
theil eine Blüthezeit der Wiſſenſchaften und Künſte. Die Völker, die
ſoeben noch mit den Waffen aufeinander geſchlagen, tauſchten in ſchönem
Wetteifer die Früchte ihres geiſtigen Schaffens aus; nie zuvor war Europa
dem Ideale einer freien Weltliteratur, wovon Goethe träumte, ſo nahe
gekommen. Und in dieſem friedlichen Wettkampfe ſtand Deutſchland allen
voran. Welch eine Wandlung der Zeiten ſeit jenen Tagen Ludwigs XIV.,
da die Cultur unſeres Volkes bei allen anderen Nationen des Abendlandes
demüthig in die Schule gehen mußte! Jetzt huldigte die weite Welt dem
Namen Goethes. Die winkligen Gaſtzimmer im Erbprinzen und im Adler
zu Weimar wurden nicht leer von vornehmen Engländern, die den Fürſten
der neuen Dichtung beſuchen wollten. In Paris genoß Alexander Hum-
boldt eines Anſehens, wie kaum ein einheimiſcher Gelehrter; wenn ein
Fremder in den Miethwagen ſtieg und die Hausnummer des großen Rei-
ſenden nannte, dann griff der Kutſcher achtungsvoll an den Hut und
ſagte: ah chez Mr. de Humboldt! Und da Niebuhr als preußiſcher
Geſandter nach Rom kam, wagte ihm Niemand in der Weltſtadt den
Ruhm des erſten Gelehrten zu beſtreiten.


Von unſerem Staate, von ſeinen Waffenthaten ſprach das Ausland
wenig. Allen fremden Mächten kam das plötzliche Wiedererſtarken der
Mitte des Welttheils ungelegen, ſie alle bemühten ſich wetteifernd den
[7]Literariſcher Charakter des Zeitalters.
Antheil Preußens an der Befreiung Europas der Vergeſſenheit zu über-
geben. Keiner der ausländiſchen Kriegsſchriftſteller, welche in dieſen Jahren
die Geſchichte der jüngſten Feldzüge darſtellten, ward den Verdienſten des
Blücherſchen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Anſehen der preu-
ßiſchen Armee, die in Friedrichs Tagen Jedermann als die erſte der Welt
gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle Alliance
keineswegs wiederhergeſtellt. Da der wirkliche Verlauf eines Coalitions-
krieges ſich nur ſchwer überſehen läßt, ſo beruhigte ſich die öffentliche Mei-
nung Europas gern bei dem einfachen Schluſſe: als die Preußen bei Jena
allein fochten, wurden ſie geſchlagen, nur fremde Hilfe hat ſie gerettet.
Daher kümmerte ſich auch Niemand im Auslande um die politiſchen In-
ſtitutionen, denen Preußen ſeine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach
wie vor der am Wenigſten bekannte und am Gründlichſten verkannte
Staat Europas. Vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt
in Frankfurt zuſammentrat, erregte durch ſein unfruchtbares Gezänk den
Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unſeres
Volkes ſtand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung feſt:
die deutſche Nation ſei durch den weiſen Rathſchluß der Natur zu ewiger
Ohnmacht und Zwietracht beſtimmt. Um ſo bereitwilliger erkannte man
nunmehr die geiſtige Größe dieſes machtloſen Volkes an; allein ihren
Künſtlern und Gelehrten verdankten die Deutſchen, daß ſie von den alten
Culturvölkern des Weſtens wieder zu den großen Nationen gerechnet wur-
den. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Den-
ker; nur ſollten ſie auch bei der Theilung der Erde zufrieden ſein mit
dem Poetenlooſe, das ihnen Schiller geſchildert, und ſich begnügen, be-
rauſcht vom göttlichen Lichte das Irdiſche zu verlieren.


Zum erſten male ſeit den Zeiten Martin Luthers machten Deutſch-
lands Gedanken wieder die Runde durch die Welt, und ſie fanden willi-
gere Aufnahme als vormals die Ideen der Reformation. Deutſchland
allein hatte die Weltanſchauung des achtzehnten Jahrhunderts ſchon gänz-
lich überwunden. Der Senſualismus der Aufklärung war längſt ver-
drängt durch eine idealiſtiſche Philoſophie, die Herrſchaft der Verſtandes
durch ein tiefes religiöſes Gefühl, das Weltbürgerthum durch die Freude
an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntniß des leben-
digen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunſt durch eine
freie, naturwüchſige, aus den Tiefen des Herzens aufſchäumende Poeſie,
das Uebergewicht der exakten Wiſſenſchaften durch die neue hiſtoriſch-äſthe-
tiſche Bildung. Dieſe Welt von neuen Gedanken war in Deutſchland
durch die Arbeit dreier Generationen, der claſſiſchen und der romanti-
ſchen Dichter, langſam herangereift, ſie hatte unter den Nachbarvölkern
bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich ſiegreich
über alle Lande.


Mit wunderbarer Spannkraft nahm Frankreich nach dem langen
[8]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
dumpfen Schlummer der Kaiſerzeit ſeine geiſtige Arbeit wieder auf. Das
Buch der Frau von Staël über Deutſchland, das die napoleoniſchen
Cenſoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewieſen hat-
ten, kam jetzt in Jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die
deutſchen Ideen, die man hier in Bauſch und Bogen als Romantik be-
zeichnete. Die Herrſchaft der ſenſualiſtiſchen Philoſophie brach zuſam-
men vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Ta-
lente, Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzoſen das Ver-
ſtändniß der hiſtoriſchen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ſelbſt
den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche
claſſiſcher Formenſchönheit gegolten hatte, begann ſein Anſehen zu ver-
lieren, und bald erhob ſich eine neue Dichterſchule, welche Frankreich
von dem Banne der akademiſchen Regeln befreite, alſo daß Victor Hugo
von ſeinem Volke mit einiger Wahrheit ſagen konnte: die Romantik iſt
in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch ſtärker und
unmittelbarer war der Gedankenaustauſch zwiſchen Deutſchland und Eng-
land; die Deutſchen zahlten jetzt den Briten heim, was ſie einſt von
Shakeſpeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarſte und
beliebteſte Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die
Schule und ſchöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder,
welchen die Deutſchen der Welt erſchloſſen hatten; durch ſeine hiſtoriſchen
Romane wurden die breiten Maſſen der europäiſchen Leſewelt erſt für
die romantiſchen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor
Allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbeſtrittenen
Herrſchaft freilich konnte die romantiſche Poeſie in dieſem halb-antiken
Volke ebenſo wenig gelangen, wie einſt die nordiſche Kunſtform der Gothik.


Ueberall erwachten die Geiſter. In Deutſchland ſelbſt erſchien der
Reichthum dieſer fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar-
landen; denn die claſſiſche Zeit unſerer Dichtung war kaum erſt vorüber,
die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm ſich neben den Heroen jener
großen Tage wie ein Geſchlecht von Epigonen aus. Um ſo mächtiger und
fruchtbarer entfaltete ſich die ſchöpferiſche Kraft des deutſchen Genius auf
dem Gebiete der Wiſſenſchaft. Faſt gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms,
Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er-
ſcheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried
Hermann auf ihren eingeſchlagenen Wegen rüſtig weiterſchritten. Unauf-
haltſam fluthete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge
von reichen Talenten wie einſt, da Klopſtock den jungen Tag der deutſchen
Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unſerer Poeſie,
ſo erſchien auch dies neue Gelehrtengeſchlecht ganz durchglüht von un-
ſchuldiger jugendlicher Begeiſterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf
der Welt nichts ſuchte als die Seligkeit der Erkenntniß und die Mehrung
deutſchen Ruhmes durch die Thaten der freien Forſchung.


[9]Verbindung von Kunſt und Wiſſenſchaft.

Der trockene Staub, der ſo lange auf den Werken der deutſchen Ge-
lehrſamkeit gelegen, war wie weggeweht; die neue Wiſſenſchaft fühlte ſich
als die Schweſter der Kunſt. Ihre Jünger hatten alleſammt aus dem
Becher der Schönheit getrunken, manche ſogar in den Kreiſen der Poeten
die beſtimmenden Eindrücke ihres Lebens empfangen. Diez bewahrte noch
nach vielen Jahren das Blatt, worauf ihm einſt Goethe den Titel von
Reynouards provenzaliſchen Forſchungen aufgeſchrieben und alſo dem jun-
gen Manne den Weg gewieſen hatte für die Arbeit ſeines Lebens. Boeckh
und Creuzer hatten ſo manche Nacht auf dem Faulen Pelz mit den
Schwarmgeiſtern der Heidelberger Romantik durchzecht und durchjubelt,
J. Bekker mit Uhland gemeinſam in den Schätzen der Pariſer Bibliothek
geforſcht; in den Studirſtuben Savignys und der Brüder Grimm trieb
der Kobold Bettina Arnim zu Zeiten ſein neckiſches Weſen. Sie ſchauten
alle voll Ehrfurcht zu dem alten Goethe empor und ſchaarten ſich wie eine
unſichtbare Kirche um dieſen centralen Geiſt, der aus der Hand der Wahr-
heit den Schleier der Dichtung empfangen hatte und das Ideal der Zeit,
die lebendige Einheit von Kunſt und Wiſſenſchaft, in ſeinem Leben wie in
ſeinen Werken verkörperte. Sie alle bemühten ſich die Ergebniſſe ihrer
Forſchung in edler würdiger Form auszuſprechen; die keuſche Einfachheit
der Schriften Savignys, die mächtige Empfindung und die Fülle unge-
ſuchter, lebendig angeſchauter Bilder in Jakob Grimms markigem Stile
beſchämten die ſüßliche Künſtelei mancher der neueren Poeten. An allen
Werken dieſer Forſcher hatten das warme Herz und die ſchöpferiſche, das
hiſtoriſche Leben nachdichtende Phantaſie ebenſo großen Antheil, wie der
Sammlerfleiß und der kritiſche Scharfſinn.


Und wie die Dichtung, ſo war auch die ſpeculative Arbeit des voran-
gegangenen Geſchlechts der neuen Wiſſenſchaft in Fleiſch und Blut ge-
drungen. Nur weil der deutſche Geiſt ſich ſo lange vertieft hatte in das
Problem der Einheit von Sein und Denken, konnte er jetzt ſich ausbreiten
über die hiſtoriſche Welt ohne zu verflachen oder in der Maſſe der Ein-
zelheiten unterzugehen. Nicht umſonſt hatten alle dieſe jungen Juriſten,
Philologen und Hiſtoriker zu den Füßen der Philoſophen geſeſſen. Sie
wollten durch die Geſchichte in das Geheimniß des menſchlichen Geiſtes
ſelber eindringen; ſie ſtrebten, wie W. Humboldt von ſich geſtand, eine
Anſchauung von dem Werden der Menſchheit und dadurch eine Ahnung
deſſen, was ſie ſein kann und ſoll, zu gewinnen, den letzten Fragen alles
Seins näher zu treten. Daher der weite Geſichtskreis, die großartige
Vielſeitigkeit dieſes Gelehrtengeſchlechts. Noch hatte man die weite Feld-
flur der hiſtoriſchen Welt kaum erſt in Beſitz genommen; wer durch die-
ſen jungfräulichen Boden ſeine Pflugſchaar trieb, ſtreute mit freigebigem
Wurfe ſeine Samenkörner auch über den Acker des Nachbars aus. Faſt
alle bedeutenden Gelehrten gehörten mehreren Fächern zugleich an, und
Jeder hielt, indem er ſich in das Einzelne verſenkte, den Blick immer feſt
[10]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
auf den großen Zuſammenhang der Wiſſenſchaften gerichtet. Es war der
Stolz dieſes fruchtbaren Geſchlechts, durch die Aufſtellung genialer Hy-
potheſen und großer Geſichtspunkte die Wege zu weiſen, welche nachher
die gewiſſenhafte Einzelforſchung zweier Generationen für alle Welt gang-
bar gemacht hat.


Durch das Aufblühen der Wiſſenſchaft traten die Univerſitäten in
den Vordergrund des geiſtigen Lebens der Nation. Zu allen Zeiten hatten
ſie an den Kämpfen und Wandlungen der deutſchen Gedankenarbeit ihren
reichen Antheil genommen; jetzt aber übernahmen ſie wieder die führende
Stellung im Reiche des Geiſtes, wie einſt zur Zeit des Humanismus
und der Anfänge der Reformation. Das Profeſſorenthum erlangte nach
und nach einen beſtimmenden Einfluß auf die Sitten und Anſchauungen
unſeres Volkes, wie in keinem anderen Lande; unter den hervorragenden
Schriftſtellern der folgenden Jahrzehnte fanden ſich nur wenige, die nicht
auf längere und kürzere Zeit ein akademiſches Lehramt bekleideten. Die
Berliner Univerſität überflügelte bald alle anderen; von ihr gingen in
dieſen Jahren die meiſten der ſchöpferiſchen Thaten der deutſchen Wiſſen-
ſchaft aus; doch war ſie nie mehr als die erſte unter Gleichen, für eine
Centraliſation der Bildung bot dies Land keinen Boden. Niemals ſind
unſere Hochſchulen ſo wahrhaft frei, ſo tief innerlich glücklich geweſen
wie in jenen ſtillen Friedensjahren. Die ſtreitbare Jugend brachte neben
ihren teutoniſchen Unarten, ihren anmaßlichen politiſchen Träumen doch
auch einen ſchönen Enthuſiasmus, eine warme Empfänglichkeit für die
Ideale mit von den Schlachtfeldern heim; die wüſte Roheit und Völlerei
der alten Zeiten kehrte ſo nicht wieder. Der Unterricht blieb von zünfti-
gem Zwange und zünftiger Abrichtung frei; denn Jeder fühlte, daß in
der Wiſſenſchaft ſelber Alles noch in jugendlichem Werden war. Niemand
verwunderte ſich, wenn ein Gelehrter noch in reifen Jahren von einem
Fache zum andern überſprang oder wenn ein Philolog, wie Dahlmann,
der nie eine hiſtoriſche Vorleſung gehört, auf den Lehrſtuhl der Geſchichte
berufen wurde. Wer das Zeug hatte, ſelber ein Meiſter zu werden, den
fragte Niemand: weſſen Schüler er ſei? Die meiſten Docenten betrieben
ihr Lehramt mit liebevollem Eifer; aber wenn ein heller Frühlingstag
in’s nahe Gebirge hinauslockte, dann ſchrieb auch der Fleißige ohne Um-
ſtände ſein hodie non legitur an die Thüre des Hörſaals.


Um bedeutende Lehrer der Philoſophie, der Geſchichte, der Philologie
drängten ſich die Studenten aus allen Facultäten, und mancher lebte
Jahre lang in ſolchen Studien bevor er an ſein Berufsfach dachte. Denn
noch verſtanden die Gymnaſien, weil ſie die geiſttödende Vielwiſſerei ver-
mieden, die dauernde Freude am claſſiſchen Alterthume und den Drang
nach freier menſchlicher Bildung in ihren Schülern zu erwecken. Und
noch war die Krankheit der heutigen Univerſitäten, die Examen-Angſt faſt
gänzlich unbekannt. Die altberühmten Heimſtätten der claſſiſchen Ge-
[11]Die Univerſitäten.
lehrſamkeit, die ſächſiſchen Fürſtenſchulen und die württembergiſchen Klo-
ſterſchulen, entließen ihre Primaner zur Univerſität ſobald die Lehrer die
Zeit gekommen glaubten, und der Staat meiſterte ſie nicht. Auch zum
Eintritt in den Staats- und Kirchendienſt der Kleinſtaaten wurden die
jungen Männer, wenn ſie von der Hochſchule heimkehrten, meiſt noch
nach der alten patriarchaliſchen Weiſe, durch Gunſt und Empfehlung zu-
gelaſſen. Nur in Preußen hatte ſich ſchon ſeit der Verwaltungsorgani-
ſation Friedrich Wilhelms I. ein Syſtem geregelter Staatsprüfungen aus-
gebildet, und von hier drang dieſe mechaniſche Ordnung, die allerdings
gerechter und durch die mannichfaltigen Verhältniſſe eines Großſtaates
geboten war, allmählich in die kleineren Staaten hinüber. Doch wurden
auch hier noch mäßige Anforderungen geſtellt, da der Staat für ſeine
neuen Provinzen viele junge Beamte brauchte. Der idealiſtiſche Zug der
Zeit ließ das ängſtliche Brotſtudium nicht aufkommen. Die Jugend ge-
noß noch der ungetrübten akademiſchen Freiheit; Jeder hörte und lernte
wozu der Geiſt ihn trieb, wenn er nicht vorzog die goldenen Burſchen-
tage ganz und gar in unbändigem Genuſſe zu durchſchwelgen.


So lebten die kleinen gelehrten Republiken dahin, glückliche Frei-
ſtätten der vollkommenen geſelligen Gleichheit und Ungebundenheit, wie
emporgehoben über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Große Talente,
die in jedem anderen Lande eine weite Bühne für ihr Wirken verlangt
hätten, fühlten ſich glücklich in der Armuth und Enge dieſer kleinen Uni-
verſitätsſtädte mit ihren alten Schlöſſern und winkligen Gaſſen, wo jedes
Haus an einen luſtigen Burſchenwitz oder an einen berühmten Gelehrten
erinnerte. Hier war die Wiſſenſchaft Alles; umgeben von der Verehrung
dankbarer Zuhörer blickte der Gelehrte mit naivem Selbſtgefühl um ſich.
Oft platzten die Geiſter rechthaberiſch, nach deutſcher Weiſe, aufeinander;
der wiſſenſchaftliche Gegner ward leicht wie ein Tempelſchänder angeſehen,
da Jeder mit ganzem Herzen an ſeiner Forſchung hing. Jedoch der ge-
meine Ehrgeiz ergriff dieſe ſchlichten, genügſamen Menſchen wenig. Sie
rechneten ſich’s zur Ehre den Glanz und das Behagen des äußeren Da-
ſeins zu verachten; ſie glaubten noch alle an den ſtolzen Ausſpruch Schil-
lers: „und am Ende ſind wir ja Idealiſten und würden uns ſchämen
uns nachſagen zu laſſen, daß uns die Dinge formten und nicht wir die
Dinge.“


Noch nach Jahrzehnten erzählte man in Tübingen von dem reichen
Buchhändler Cotta, der zuerſt den unerhörten Luxus eines Sophas in
die anſpruchsloſe Muſenſtadt eingeführt hatte. Die jugendliche Unfertig-
keit unſerer Cultur, die von vielſeitiger großſtädtiſcher Geſelligkeit noch
nichts wußte, kam der Andacht, der friedlichen Sammlung des wiſſen-
ſchaftlichen Arbeitens zu gute. Wie einſt die claſſiſche Dichtung ſo blieb
auch die neue Forſchung in ſtolzer Freiheit, faſt unberührt von Hofgunſt
und amtlichem Einfluß; ſelbſt die hereinbrechende Demagogenverfolgung
[12]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
vermochte das innere Leben der Wiſſenſchaft nicht zu ſtören. Obgleich jetzt
faſt alle deutſchen Staaten in rühmlichem Wetteifer tüchtige Lehrkräfte an
ihre Landesuniverſitäten zu berufen ſuchten, ſo war doch in den Augen
der Höfe und der Bureaukratie ſelbſt ein Gelehrter von europäiſchem
Rufe nichts weiter als ein Profeſſor ohne Hofrang. Die Männer der
Wiſſenſchaft dagegen ſahen mit dem ganzen Stolze des Idealismus auf
die endlichen Zwecke des handelnden Lebens hernieder. Jeder Lehrer rieth
den guten Köpfen unter ſeinen Schülern, ſich ganz der Wiſſenſchaft zu
widmen; für die Handwerksarbeit des Soldaten und des Beamten, nun
gar für die gründlich verachtete bürgerliche Geſchäftswelt ſchien der Mittel-
ſchlag gut genug. Ein unverhältnißmäßig großer Theil der geiſtigen Kräfte
der Nation wendete ſich der gelehrten Thätigkeit zu, und es bleibt ein
ſchönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit dieſes Geſchlechts, daß gleichwohl
das Beamtenthum eben jetzt eine überraſchende Fülle von Talenten in
ſeinen Reihen zählte.


Es ſtand noch immer wie vor ſiebzig Jahren: das politiſche Leben
der Nation floß in unzähligen Strömen und Bächen zertheilt dahin;
allein die Schriftſteller und Gelehrten redeten unmittelbar zu der ge-
ſammten Nation. Darum fühlten ſie ſich auch als die berufenen Vertreter
des Volkes und ſeiner höchſten Güter; nur ſehr langſam gelangten neben
ihnen einzelne politiſche Männer zu allgemeinem Anſehen. Das ganze
Zeitalter trug noch in Art und Unart den Charakter einer literariſchen
Epoche. Auch jetzt noch erregte ein Gedicht von Goethe, eine ſcharfe Recen-
ſion oder eine gelehrte Fehde, wie ſie zwiſchen den Symbolikern und den
kritiſchen Philologen ausbrach, weit tiefere Theilnahme bei den führenden
Geiſtern der Nation als irgend ein politiſches Ereigniß. Recht aus dem
Herzen der romantiſchen Zeit heraus geſtand Karl Immermann: er ver-
möge nicht einer parlamentariſchen Debatte aufmerkſam zu folgen, weil
er ſich von ſolchen Abſtraktionen kein Bild machen könne. Die völlige
Hingebung der freien Perſönlichkeit in den Dienſt des Staates blieb die-
ſem Geſchlechte ebenſo widerwärtig wie das politiſche Parteileben mit ſei-
ner freiwilligen Beſchränktheit, ſeinem grundſätzlich ungerechten Haſſe.
Als höchſter Lebenszweck galt dem Deutſchen noch immer: ſich ſelber aus-
zuleben, ſein Ich nach allen Seiten hin in freier Eigenart zu entfalten
und, wie W. Humboldt ſagte, mehr auf das Thun als auf die That
zu ſehen.


Obſchon die herrſchende Strömung der Zeit dem aufgeklärten Welt-
bürgerthume der Jahre vor der Revolution geradeswegs zuwiderlief, ſo
hatte ſich doch dies romantiſche Geſchlecht viele der menſchlich liebenswür-
digen Tugenden des philoſophiſchen Jahrhunderts noch bewahrt. Mochten
die jungen Teutonen prahleriſch wider den wälſchen Tand eifern: die
Häupter der Wiſſenſchaft und Kunſt begrüßten noch, nach der echten alten
deutſchen Art, dankbar und empfänglich jedes ſchöne Werk der Dichtung
[13]Die literariſche Geſelligkeit.
und der Forſchung, und wenn es auch aus dem geſcholtenen Frankreich
kam. Trotz der myſtiſchen Schwärmerei der Zeit bewahrte man ſich die
alte weitherzige Duldſamkeit. Die Gegenſätze des religiöſen Lebens hatten
ſich noch nicht verhärtet; ſie griffen noch nicht, wie heutzutage, verfälſchend
und verbitternd in die politiſche Parteiung ein. Niemand verwunderte
ſich, wenn ein Liberaler zugleich ein ſtreng kirchlicher Chriſt war. Jeder-
mann fand es in der Ordnung, daß die katholiſche Geiſtlichkeit der Ein-
weihung einer evangeliſchen Kirche mit beiwohnte; ſelbſt eifrige Convertiten
wie F. Schlegel, Stolberg, Klinckowſtröm blieben mit einem Theile ihrer
alten proteſtantiſchen Freunde in herzlichem Verkehr. Der Kampf der
literariſchen Parteien ſchloß die Anerkennung des menſchlichen Werthes
der Gegner, die herzliche Freude über jeden glücklichen Fund nicht aus.
Die lärmende Jugend brüſtete ſich mit ihrer germaniſchen Sittenſtrenge;
die reifen Männer zeigten in ihrem ſittlichen Urtheile eine vornehme, frei-
ſinnige Milde, die in Wahrheit weit deutſcher war. Nachſichtig gegen die
menſchliche Schwäche, legten ſie geringen Werth auf den korrekten Lebens-
wandel, der dem prüden Sinne der Gegenwart als das einzige Kenn-
zeichen der Sittlichkeit gilt, und ließen einen heißblutigen Freund gern
gewähren, wenn er nur mithalf bei der Arbeit freier Menſchenbildung
und den Glauben an die göttliche Beſtimmung unſeres Geſchlechts nicht
verlor.


Nicht ohne Grund ſahen die Poeten und Gelehrten mit Ironie auf
die Proſa des Philiſterthums hernieder; ſie lebten in der That inmitten
einer freien geiſtvollen Geſelligkeit, welche das Leben durch das heitere
Spiel der Kunſt zu adeln wußte und das Schillerſche Ideal der äſtheti-
ſchen Menſchen-Erziehung annähernd verwirklichte. Briefwechſel und Ge-
ſpräch, die natürlichen Vermittler der Tageseindrücke, waren noch nicht
durch die Zeitungen verdrängt. Noch beſtand die Grundlage aller ge-
ſelligen Anmuth, der zwangloſe und häufige Verkehr zwiſchen den beiden
Geſchlechtern, da die Frau den Gedanken des Mannes noch ganz zu
folgen vermochte. Keine Stadt im Reiche, die nicht ihre Kunſtkenner,
Sammler und Kritiker, ihre Liebhabertheater und äſthetiſchen Kränzchen
beſaß. Wenn das muntere kleinſtädtiſche Völkchen ſich beim trüben Schim-
mer der Talglichter zum einfachen Mahle verſammelte, dann ſteuerten
Alle bei was ſie vermochten an Räthſeln und guten Einfällen, an Liedern
und gereimten Trinkſprüchen — denn für den poetiſchen Hausbedarf wußte
jeder gebildete Deutſche längſt ſelber zu ſorgen. Eine heitere Sinnlichkeit
erwärmte das geſellige Leben; beim Pfänderſpiele war noch ein Kuß in
Ehren erlaubt; die frei und doch gut häuslich erzogenen jungen Mädchen
geſtanden noch arglos ein, daß ihnen das Käthchen von Heilbronn ſo recht
im Herzen wohlgefiel. Und wie viel Geiſt und Witz, wie viel übermüthige
Laune und ſchwärmeriſche Begeiſterung regte ſich in den engeren Kreiſen
der Eingeweihten: wenn Ludwig Devrient und Callot-Hoffmann in der
[14]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Weinſtube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen
Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen
mit Roſenkränzen im Haar beim Griechenweine zuſammenlagen und in
helleniſcher Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland
der Phäaken redeten. Der geſellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und
Ueberſchwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geiſtiger Ge-
nüſſe, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen
Geſellſchaft faſt allein die Muſik übrig geblieben iſt. Die Frauen, die
in jenen Jahren jung geweſen, erſchienen noch im hohen Alter dem nach-
wachſenden nüchterneren Geſchlechte wie verklärt durch einen poetiſchen
Zauber, ſie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüſtlichen Liebenswür-
digkeit, ihrem feinſinnigen Verſtändniß für alles Menſchliche.


Freilich verriethen ſich auch ſchon die Spuren des beginnenden Ver-
falls. Die Literatur war längſt ins Kraut geſchoſſen; ſie bot ſich den
Leſern an, während einſt die claſſiſchen Dichter immer nur herausgeſagt
hatten, was der Nation ſchon halb bewußt in der Seele lag. Eine Maſſe
trivialer Unterhaltungsſchriften ſuchte die Neugier und die Sinnlichkeit
der Leſewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da ſich in keinem
Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will-
kürliche, gewaltſame Experimente, ſo daß Goethe dieſe Jahre als die Epoche
der forcirten Talente bezeichnete. Die modiſche Vermiſchung von Poeſie
und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus ſich anmaßlich
vorzudrängen. Wer in den Kreiſen der Romantik verkehrte, die Schlag-
wörter der Schule nachſprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas
oder eines Epos grübelte, der hielt ſich für einen Dichter und vergaß
das Bewußtſein ſeines Unvermögens über dem beliebten Troſte: „das
Dichten und Trachten“ mache den Künſtler, und Rafael wäre, auch ohne
Hände geboren, der größte aller Maler geweſen. Das frevelhaft miß-
brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Ueber-
muth. Bei dem geiſtreichen Spielen mit neuen Ideen und überraſchenden
Geſichtspunkten ging der ſchlichte Menſchenverſtand leicht zu Grunde. Der
Glaube an das ſchrankenloſe Recht der ſouveränen Perſönlichkeit, der all-
gemeine Drang, nur ja den anderen Menſchen nicht zu gleichen, ver-
führte die Einen zu ſittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbſtbeſpiegelung.
Man belauſchte mit nervöſer Empfindſamkeit jeden Athemzug der eigenen
ſchönen Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der
Rahel Varnhagen ſpielt das Barometer die Rolle des geheimnißvollen
Dämons, der dem Genie die finſtern und die lichten Stunden ſchenkt.


Die Literatur beherrſchte die Gedanken der Nation noch ſo vollſtändig,
daß ſogar die großen Gegenſätze des politiſchen und des kirchlichen Lebens
oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen
von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her-
mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, ſo fühlte er ſich
[15]Literatur und Politik.
als einen Vorkämpfer der Freiheit gegen die tenebriones, die Dunkel-
männer in Staat und Kirche. Auch die rein politiſchen Parteien, deren
ſchwache Anfänge ſich endlich bildeten, gingen gradeswegs aus dem litera-
riſchen Leben hervor. Das unmittelbare Eingreifen der politiſchen Theorie
in die Geſchicke der Staaten, das die moderne Geſchichte ſo auffällig von
den naiveren Zeiten des Alterthums und des Mittelalters unterſcheidet,
zeigte ſich nirgends ſtärker als hier in dem Lande der Gelehrſamkeit. Nicht
aus den Klaſſen-Intereſſen eines reichen und ſelbſtbewußten Bürgerthums
entſprang der deutſche Liberalismus, ſondern aus den Schulbegriffen der
Gelehrten. Mit jener unbeſtimmten hiſtoriſchen Sehnſucht nach den gro-
ßen Tagen des alten Kaiſerthums, die zur Zeit der Fremdherrſchaft zu-
erſt in den literariſchen Kreiſen entſtanden war, vermiſchten ſich allmählich
die Lehren der neuen Philoſophie über das natürliche Recht der freien
Perſönlichkeit, ſodann einige Sätze aus Montesquieu und Rouſſeau, end-
lich auch ein gutes Theil unbewußter gelehrter Standesvorurtheile. So
entſtand ein Syſtem von vernunftrechtlichen Begriffen, welche unſer Volk
durch die Freiheit zu ſeiner alten Macht emporführen ſollten. Die Doktrin
trat ſogleich, in Rottecks Schriften, fertig ausgearbeitet hervor wie das
Lehrgebäude eines Philoſophen und erhob auch wie ein philoſophiſches
Syſtem den Anſpruch, ſich in der Welt durchzuſetzen durch die Macht der
Gründe, der theoretiſchen Unwiderleglichkeit. Der Sturz des napoleoni-
ſchen Weltreichs — daran beſtand unter den literariſchen Politikern kein
Zweifel — war allein gelungen durch die Macht der Ideen, die, in den
Kreiſen der Wiſſenden geboren, dann das Volk ergriffen und endlich ſelbſt
die widerſtrebenden Kronen mit fortgeriſſen hatten zum heiligen Kampfe.
So ſchien auch Deutſchlands innere Befreiung wohlgeſichert, wenn ſich
nur alle Patrioten die Heilswahrheiten der neuen conſtitutionellen Doktrin
ganz zu eigen machten und an dieſem Bekenntniß mit der Ueberzeugungs-
treue des Gelehrten oder des kirchlichen Märtyrers unerſchütterlich feſt-
hielten. Daß der Staat Macht iſt und der Welt des Willens angehört,
blieb dieſem Geſchlechte wohlmeinender Gelehrter noch ganz verborgen.
Erſt nach Jahrzehnten voll ſchwerer Verirrungen und Enttäuſchungen ſollte
das deutſche Parteileben der Wiege der Doktrin entwachſen und von der
Politik des Bekenntniſſes ſich erheben zu der Politik der That.


In den romaniſchen Ländern hatte die Poeſie überall, wenn ſie ſich
einmal zu claſſiſcher Vollendung erhob, dem Geiſte der Nation auf lange
hinaus Form und Richtung gegeben. Der unbändige Trotz der Deut-
ſchen wollte ſich ſelbſt während der goldenen Tage von Weimar niemals
der Herrſchaft einer Regel beugen; noch als Schiller und Goethe auf der
Höhe ihres Schaffens ſtanden, begann die Romantik bereits den Sturm-
lauf gegen das claſſiſche Ideal. Während der Befreiungskriege verſtummte
der literariſche Kampf; die Sorge um das Vaterland drängte alle anderen
Gedanken zurück; die wenigen Schriften, die ſich in der wilden Zeit heraus-
[16]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
wagten, ſchienen alle einig in chriſtlich-vaterländiſcher Begeiſterung. Doch
kaum war der Friede geſchloſſen, ſo brachen alle die ſchroffen Gegenſätze,
welche das vielgeſtaltige deutſche Leben umſchloß, mit einem male wieder
hervor. Selbſt halbverſchollene Gedanken aus den erſten Jahren der
Revolution, Ideen die man längſt überwunden glaubte, traten wieder
an das Tageslicht; denn es iſt das Loos jeder Literatur, die nicht mehr
in der erſten Jugend ſteht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig
wird und die Schatten der Todten ſich in den Kampf der Lebendigen
miſchen. Rationalismus und religiöſes Gefühl, Kritik und Myſtik, Na-
turrecht und hiſtoriſche Staatslehre, nazareniſche und helleniſche Ideale,
Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Beſtrebungen be-
kämpften und durchkreuzten ſich in ewigem Wechſel.


Nicht blos der ängſtliche Gentz klagte erſchrocken, die erſehnte Frie-
denszeit habe den Deutſchen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch
Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte ſein Entſetzen nicht verbergen,
wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußiſchen Kronprinzen Alexan-
der Humboldt, den Vertreter der rein wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung,
und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heißſporne der chriſtlich-germa-
niſchen Glaubensinbrunſt verkehren ſah; er fragte beſorgt, wie dies Volk
bei ſo unermeßlichem Abſtande der Geſinnungen zum inneren Frieden, zur
feſten Entſchließung gelangen ſolle. Auf die Dauer fand der geſunde Sinn
der Nation freilich heraus was in dieſem anarchiſchen Durcheinander echt
und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem
Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den
Kämpfen des deutſchen Geiſtes theilzunehmen, mußte auf ein entſagungs-
volles Loos gefaßt ſein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn
er hoch über dem Sektengeiſte ſtand, willig oder nicht, in den Streit der
literariſchen Parteien hineingeriſſen, von den Einen auf den Schild ge-
hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügelloſigkeit deutſcher Tadel-
ſucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter beſchieden war,
konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver-
ſpätete Anerkennung zu finden.


Schon in den heiteren Jugendtagen der claſſiſchen Literatur hatte
die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge-
hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deutſchland ſiebzig Jahre lang faſt alle
erdenklichen Kunſtſtile und noch mannichfachere äſthetiſche Theorien ver-
ſucht hatte, zeigte ſich das künſtleriſche Schaffen von gelehrter Ueberbil-
dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter ſchwerer als
das Drama, das der Volksgunſt bedarf wie die Blume der Sonne.
Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik
[17]Dramatiſche Dichtung.
„ſehnſuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ nannte; ihnen
fehlte, trotz ihrer geiſtreichen Einfälle und großen Abſichten, gänzlich die
Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des ſchöpfe-
riſchen Genius. Obgleich ſie ſich vermaßen das claſſiſche Ideal durch eine
volksthümliche Dichtung zu verdrängen, ſo blieben ihre Werke doch dem
Volke fremd, das Eigenthum eines kleinen Kreiſes bewundernder Kenner.
Die Kunſt galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philiſter ungenieß-
bar, allein den Gottbegnadeten berauſchte, ſo daß der Trunkene der Wirk-
lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenſpiel belächelte. Dieſe
ſouveräne Ironie, die ſich rühmte „den Scherz als Ernſt zu treiben,
Ernſt als Spaß nur zu behandeln,“ widerte den geſunden Sinn der
Menge an; denn das Volk will im Gewiſſen gepackt ſein und läßt mit
ſeinen Gefühlen nicht ſpielen.


Unter den älteren deutſchen Dramatikern ließen die romantiſchen
Kunſtrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei ſeinen reifſten
Werken an die Bühne kaum gedacht; die ſtille, ſinnige Schönheit der
Iphigenie und des Taſſo war nur der Andacht des Leſers völlig faßbar,
ſie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Leſſing wurde gar nicht
mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragiſche Leidenſchaft als hohle
Rhetorik verſpottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman-
tiſchen Anſchauungen nahe ſtand, Heinrich von Kleiſt, blieb von der Kritik
der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirkſamſten Bühnen-
ſchriftſteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater
beherrſchten, Iffland und Kotzebue, überſchüttete der romantiſche Hoch-
muth mit einer ungerechten Geringſchätzung, welche die jungen Talente
von der Bühne zurückſchrecken mußte. Man wollte an Jenem nur die
ehrbare ſpießbürgerliche Empfindſamkeit, an Dieſem nur die Plattheit und
die gemeine Geſinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines techniſches
Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch ſie Beide
ihre dünkelhaften Tadler beſchämten. Von den dramatiſchen Verſuchen
der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und ſie
beſtanden alleſammt die Probe auf den Brettern ſchlecht. Die Führer
der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, ſprachen mit Hohn von
der gemeinen Proſa des theatraliſchen Erfolgs. Ganz unbekümmert um
die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder ſieben
Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerſchaft
befriedigen ſollte, baute ſich die dramaturgiſche Theorie ihre ſtolzen Wol-
kengebilde und ſtellte überſpannte Anforderungen, denen ſogar die feſtliche
Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.


So vertraulich wie einſt Shakeſpeare oder Moliere hatten ſelbſt die
Heroen unſerer claſſiſchen Dichtung niemals zu der Bühne geſtanden.
Jetzt aber ward der perſönliche Verkehr zwiſchen Dichtern und Schau-
ſpielern immer ſeltener. Die dramatiſche Kunſt vergaß, daß ſie vor allen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 2
[18]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
anderen den ſchönen Beruf hat ein Band der Einheit zu bilden zwiſchen
den Höhen und den Niederungen der Geſellſchaft. In unſerem Volke
entſtand nach und nach eine verhängnißvolle Spaltung, die bis zum heu-
tigen Tage ein arges Gebrechen der deutſchen Geſittung geblieben iſt: von
dem ſchauenden und hörenden ſonderte ſich das leſende Publicum vor-
nehm ab. Das Theater mußte ſich einen guten Theil ſeines täglichen
Bedarfs durch literariſche Handwerker liefern laſſen; Schauerdramen und
ſchlechte Ueberſetzungen aus dem Franzöſiſchen lockten die Schauluſt der
Menge. Wer ſich zu dem auserwählten Kreiſe der wahren Dichter zählte,
trug meiſt allzu ſchwer an dem Gepäck der äſthetiſchen Doktrin, um noch
ſo dreiſt zugreifen, ſo herzlich lachen zu können wie es die Bühne von
ihren Beherrſchern fordert, und legte ſeine dramatiſchen Gedanken in
Bücherdramen nieder. Dieſe Zwittergattung der Poeſie, deren die über-
reiche moderne Bildung allerdings nicht gänzlich entbehren kann, gedieh
in Deutſchland üppiger als in irgend einem anderen Volke. Hier, auf
dem geduldigen Papiere fanden alle die verzwickten Theoreme und phan-
taſtiſchen Einfälle der eigenſinnigen deutſchen Köpfe freien Raum: Tragi-
komödien und Märchendramen, in denen alle erdenklichen Versmaße und
Arienmelodien wirr durcheinander klangen; geheimnißvolle Anſpielungen,
die nur der Dichter ſelbſt mit ſeinen Vertrauten verſtand; literariſche
Satiren, die „ſtatt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt“
gaben; endlich exotiſche Dichtungen aller Art, die ſich wie Ueberſetzungen
leſen ſollten.


Unter den ausländiſchen Vorbildern ſtand Calderon nach dem Ur-
theil der Eingeweihten obenan. Die deutſchen Weltbürger wollten nicht
ſehen, daß dieſer rein nationale Dichter eben darum zu den Claſſikern
zählt, weil er die Ideale ſeiner Zeit und ſeines Volkes künſtleriſch ge-
ſtaltet hat; ſie ahmten ſklaviſch ſeine ſüdländiſchen Formen nach, die in
unſerer nordiſchen Sprache einen opernhaften, ſchlechthin undramatiſchen
Klang annahmen, und trugen die conventionellen Ehrbegriffe des katholi-
ſchen Ritterthums in die freie proteſtantiſche Welt hinüber. Viel Geiſt
und Kraft ward an ſolche Künſteleien vergeudet; am letzten Ende bewirkte
das anſpruchsvolle Treiben nichts als die Zerſtörung aller überlieferten
dramatiſchen Kunſtformen. Die Poeten aber gewöhnten ſich mit ſtolzer
Bitterkeit in die undankbare Welt zu blicken. Deutſchland wurde das
claſſiſche Land der verkannten Talente. Die Ueberzahl der unbefriedigten
Schriftſteller bildete eine Macht des Unfriedens in der Geſellſchaft, ſie
nährte den nationalen Fehler der tadelſüchtigen, hoffnungsloſen Verdroſſen-
heit und hat ſpäterhin, als die politiſchen Leidenſchaften erwachten, viel
zur Verbitterung des Parteikampfes beigetragen.


Bis zum Fratzenhaften geſteigert erſchienen die ſittlichen und äſtheti-
ſchen Schwächen der romantiſchen Epigonen in dem zerfahrenen Leben
Zacharias Werners; ſein dramatiſches Talent ging ruhmlos unter, weil
[19]Die Schickſalstragödie.
die männliche Kunſt der Dramatik einen ganzen Mann verlangt. Sein
Leben lang ſchwankte er friedlos hin und her zwiſchen wüſten Begierden
und überſchwänglicher Verzückung, zwiſchen cyniſcher Gemeinheit und einer
weinerlichen Gefühlsſchwelgerei, die ſich’s nicht verſagen konnte am Grabe
eines Hundes für den Seelenfrieden des Entſchlafenen zu beten. Da
ſein zerriſſenes Gemüth bei „Gott und dem heiligen Rouſſeau“ keinen
Troſt fand, ſo flüchtete er ſich endlich zu Rom in den Schooß der alten
Kirche und klammerte ſich in krampfhafter Angſt an den Felſen Petri an.
Wenn der kritiſche Verſtand des Oſtpreußen zuweilen erwachte, wenn ihm
das Blutfeſt des heiligen Januarius wie ein peruaniſcher Götzendienſt
vorkam, ſo betäubte er die Zweifel durch das Getöſe ekſtatiſcher Aus-
rufungen. Dann kam er nach Wien, in den Tagen da der rührige Pater
Hoffbauer in der lebensluſtigen Stadt zum erſten male wieder eine ſtreng
kirchliche Partei begründet und eine Schaar von Convertiten um ſich ge-
ſammelt hatte; er ging auf alle Anſchauungen dieſer clericalen Kreiſe
freudig ein und trat den Freiheitsgeſängen der norddeutſchen Jugend ent-
gegen mit dem Liede: „das Feldgeſchrei ſei: alte Zeit wird neu!“ Zur
Zeit des Congreſſes ward er der Modeprediger der vornehmen Welt. Halb
zerknirſcht, halb ergötzt lauſchte das elegante Wien, wenn der lange hagere
Prieſter mit den unheimlichen dunklen Augen ſeine gewaltige Baßſtimme
erſchallen ließ und bald in glühenden Farben den Schwefelpfuhl der
ewigen Verdammniß, bald mit gründlicher Sachkenntniß und ſchlecht ver-
hehltem Behagen die Verirrungen der Sinnlichkeit ſchilderte. Wie ſeinem
Leben ſo fehlte auch ſeinem dichteriſchen Schaffen die Entwicklung und
Läuterung. Seine Jugenddramen bekundeten ein ſtarkes realiſtiſches Ta-
lent und lebendigen Sinn für hiſtoriſche Größe; in einzelnen Scenen der
„Weihe der Kraft“ trat die mächtige Geſtalt Martin Luthers, das hoch-
gemuthe, farbenreiche Leben unſeres ſechzehnten Jahrhunderts markig und
anſchaulich heraus. Dicht daneben lag freilich eine krankhafte Luſt am
Spukhaften, Scheußlichen und Wilden; jene räthſelhafte Verbindung von
Glaubenswuth, Wolluſt und Blutdurſt, die uns in den Naturreligionen
unreifer Völker anwidert, ſchien in dem unſeligen Menſchen wieder lebendig
zu werden. Nach ſeinem Uebertritte nahm er mit bußfertigem Eifer ſein
beſtes Werk zurück und ſchrieb eine klägliche „Weihe der Unkraft“. In
ſeinem letzten Drama „die Mutter der Makkabäer“ verrieth ſich ſchon die
Gewiſſenloſigkeit eines halb umnachteten Geiſtes, der hinter ſchwülſtigen
Hymnen und grell gemalten Märtyrerbildern die Armuth ſeines religiöſen
Gefühles zu verbergen ſuchte.


Wirkſamer als Werners hiſtoriſche Trauerſpiele wurde ſeine im Jahre
1815 veröffentlichte Schickſalstragödie „der vierundzwanzigſte Februar“,
ein auf die Erregung körperlichen Schauders berechnetes Virtuoſenſtück.
Das tragiſche Schickſal ergab ſich hier nicht mit innerer Nothwendigkeit
aus dem Charakter der Handelnden, ſondern aus dem räthſelhaften Zauber
2*
[20]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leſer trug, ſtatt
der erhebenden Einſicht in die Vernunft der ſittlichen Welt, nur ein Ge-
fühl rathloſen Entſetzens davon. Da die Neuheit dieſes tollen Einfalls
Aufſehen erregte und die romantiſche Welt ohnehin geneigt war, im Aber-
witze den tiefſten Sinn zu ſuchen, ſo fand ſich bald ein geſchickter Macher,
der die Schrulle nach deutſcher Unart in ein Syſtem brachte. Der Wei-
ßenfelſer Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama „die Schuld“ und
entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick-
ſalstragödie: eine höhere Weltordnung, räthſelhafter noch als das blinde
Schickſal der Alten, ſollte in das irdiſche Leben hineinragen und durch
den albernen Zufall, durch eine zerſpringende Saite, einen unheilvollen
Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben ſtürzen.
So ward denn Alles, was die proteſtantiſche Welt je über tragiſche Schuld
und Zurechnung gedacht, durch die zügelloſe Neuerungsluſt der romanti-
ſchen Doktrin wieder in Frage geſtellt, und es ſchien, als ſollte unſere
tragiſche Kunſt geradezu in Selbſtvernichtung enden. Müllner richtete
ſich in drei literariſchen Zeitſchriften zugleich häuslich ein, pries mit lau-
tem Marktgeſchrei die lange Reihe ſeiner eigenen Werke und erſchreckte
die Gegner durch unfläthige Grobheit, ſo daß Goethe zürnte: „Der Edle
mault nur um das Maul den Andern zu verbieten.“ Einige Jahre lang
behauptete der grundproſaiſche Menſch den angemaßten Thron; und ſo
feſt ſtand noch das Anſehen der deutſchen Dichtung in der Welt, daß
ſelbſt ausländiſche Blätter gläubig von der neuen dramatiſchen Offen-
barung ſprachen. Dann verfiel auch die Schickſalstragödie dem unab-
wendbaren Looſe der geſpreizten Nichtigkeit: das Publikum begann ſich zu
langweilen und wendete ſich anderen Moden zu.


Unter dem Verfalle der dramatiſchen Dichtung litt auch die Schau-
ſpielkunſt. Wie viele geiſtvolle Abhandlungen über das Theater als natio-
nale Erziehungsanſtalt waren nun ſchon erſchienen, und doch hatte bisher
unter allen deutſchen Staatsmännern nur Stein ſich dieſen Gedanken
angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der
Bühne verpflichtet ſei. Er ſtellte, als er bei ſeinem Abgange die veränderte
Organiſation der preußiſchen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der
Akademie der Künſte unter das Departement des Cultus und des Unter-
richts; doch kaum zwei Jahre ſpäter wurden ſie durch Hardenberg wieder
in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanſtalten verwieſen und, mit
Ausnahme der Hoftheater, der Aufſicht der Polizei unterworfen. Die
Unterſtützung der großen Bühnen in den Reſidenzſtädten galt allgemein
als perſönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte ſich bald,
daß dieſe Theater von der Freigebigkeit kunſtfreundlicher Fürſten immerhin
noch mehr zu erwarten hatten, als von der ſparſamen Kleinbürgergeſin-
nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre
1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwieſen
[21]Die Schauſpielkunſt.
worden, ſo begannen die Landſtände bereits über Verſchwendung zu klagen
und willigten ſchon nach drei Jahren freudig ein, als der König ſich be-
reit erklärte die Unterhaltung des Hoftheaters wieder aus der Civilliſte
zu beſtreiten. Die Monarchen ſorgten meiſt mit rühmlichem Eifer für
die äußere Ausſtattung ihrer Theater ſowie für die Berufung einzelner
bedeutender Kräfte; die alten ſocialen Vorurtheile gegen den Schauſpieler-
ſtand begannen ſich zu mildern ſeit man die Bühne in ſo nahem Verkehre
mit den Höfen ſah.


Gleichwohl hat die Schauſpielkunſt durch die Hoftheater wenig ge-
wonnen. Nach Ifflands Tode betraute König Friedrich Wilhelm den
Grafen Brühl mit der Leitung der Berliner Hofbühnen, einen liebens-
würdigen, feingebildeten Mann, der aber weder dramatiſcher Dichter noch
Schauſpieler war und ſich nur mit dem Eifer des geiſtreichen Kenners
die ſtrengen claſſiſchen Grundſätze der Weimariſchen Theaterſchule ange-
eignet hatte. Das gefährliche Beiſpiel fand raſche Nachfolge; bald wurde
an allen Höfen das Amt des Theater-Intendanten zu den hohen Hof-
würden gezählt, die Leitung der größten deutſchen Theater ging den ge-
ſchulten Fachmännern verloren und fiel in die Hände hochgeborener Dilet-
tanten.


Wohl hielten die guten Ueberlieferungen aus der alten Zeit noch
eine Weile vor. Der Mangel an ſchönen neuen Stücken ward noch nicht
allzu fühlbar, da die Dramen der claſſiſchen Epoche noch auf allgemeine
Theilnahme rechnen konnten und Shakeſpeares Werke jetzt erſt auf der
deutſchen Bühne ſich völlig einbürgerten. Die Hoftheater von Berlin,
München, Karlsruhe, Braunſchweig zeichneten ſich durch manche tüchtige
Leiſtungen aus, ebenſo das altberühmte Hamburger und das neue Leipziger
Stadttheater. In Berlin fand die realiſtiſche Richtung, die hier einſt
durch Fleck die Herrſchaft erlangt hatte, an Ludwig Devrient einen ge-
nialen Vertreter. Welche grauenhafte, diaboliſche Kraft lag in ſeinem
Richard III., welcher Uebermuth naturwüchſigen Humors in ſeinem Fal-
ſtaff! Faſt erſtaunlicher noch, wie er ſelbſt kleine Nebenrollen zu heben
wußte; als Knecht Gottſchalk im Käthchen von Heilbronn traf er den Ton
der einfältigen Treue und Wahrhaftigkeit ſo wunderbar glücklich, daß den
Hörern die ganze unverſtümmelte Kraft und Größe des alten deutſchen
Lebens mit einem male vor die Seele trat. Jedoch die feſte künſtleriſche
Zucht der Bühne lockerte ſich nach und nach. Die neue romantiſche Sit-
tenlehre ermuthigte jedes Talent ſich rückſichtslos vorzudrängen und ſeine
Eigenart durchzuſetzen; die vornehmen Intendanten aber beſaßen weder
die Sachkenntniß um durch das eigene Beiſpiel die Einheit des Stiles in
der Truppe aufrechtzuhalten, noch das Anſehen um die Mitglieder in ihre
Schranken zurückzuweiſen. Ein ſo gleichmäßig durchgebildetes und abge-
rundetes Zuſammenſpiel, wie es einſt die Hamburger zu Ekhofs, die
Berliner zu Ifflands Zeiten entzückt hatte, brachten die glänzenden neuen
[22]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Hoftheater nicht mehr zu Stande. Zudem hatte ſich die Theaterkritik
ſchon längſt wie ein ſchädlicher Schwamm an den geſunden Baum der
dramatiſchen Kunſt angeſetzt. Schon ward es zur Regel, daß der ſtreb-
ſame Gymnaſiaſt oder Student ſich durch Theaterbeſprechungen ſeine lite-
rariſchen Sporen verdiente; faſt jeder gebildete Mann übte ſich gelegentlich
in dem traurigen Handwerke des kritiſchen Spielverderbers. Weitaus die
meiſten dieſer Recenſenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hoch-
müthigen Tadel ſich ſelber ein Anſehen zu geben oder auch auf dem
Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinſtädtiſche Publikum
mit leidenſchaftlichem Eifer theilnahm. Das Unweſen wuchs noch als die
politiſchen Verfolgungen hereinbrachen. Seitdem blieb die Theaterkritik das
einzige Gebiet, auf dem ſich die Federn der Tagesſchriftſteller frei ergehen
durften; denn, ſo ſagte der Miniſter Graf Bernſtorff, einen Knochen muß
man den biſſigen Hunden doch laſſen!


Nur zwei Dichtern dieſes Zeitraums iſt es gelungen, das Theater
durch bühnengerechte Werke von bleibendem Kunſtwerthe zu bereichern.
Es waren die beiden erſten Oeſterreicher ſeit dem dreißigjährigen Kriege,
die ſich in der Geſchichte der deutſchen Poeſie einen ehrenvollen Platz er-
warben. Wie einſt im dreizehnten Jahrhundert dieſe entlegenen Donau-
lande zu unſerem Heile das alte deutſche Volksepos bewahrten, während
das übrige Deutſchland ſich längſt ſchon der ritterlichen Dichtung zuge-
wendet hatte, ſo waren ſie jetzt wieder faſt unberührt geblieben von dem
Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären
Ueberbildung unſerer literariſchen Revolution. Als nun endlich einzelne
gute Köpfe in Oeſterreich auf die Welt von neuen Ideen, welche den
Deutſchen aufgegangen war, aufmerkſam wurden, da ſtanden ſie den
Schlagworten unſerer literariſchen Parteien in glücklicher Freiheit gegen-
über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutſchen im
Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden.
Sie hatten vor ſich ein ſchauluſtiges, dankbar empfängliches Publikum,
deſſen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver-
dorben war, und dazu das ſchöne Beiſpiel der großen Muſiker Oeſter-
reichs, die ja alleſammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren
hielten und ſich nicht zu gut dünkten ſchlicht und recht für die Bühne zu
arbeiten.


Eben jetzt begann das Burgtheater unter Schreyvogels kundiger Lei-
tung alle deutſchen Bühnen zu überflügeln. Hier lernten die Wiener,
in künſtleriſch durchgebildeter und doch einfacher Darſtellung, die ſchön-
ſten Dramen Deutſchlands kennen; ſelbſt ausländiſche Werke wußte der
treffliche Dramaturg durch geſchickte Bearbeitung dem deutſchen Gefühle
ſo nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuſchauern bei-
nah ſo vertraut erſchien wie ein heimiſches Luſtſpiel. Hier war kein
Boden für grübelnde Künſtelei. So iſt denn auch Franz Grillparzer von
[23]Grillparzer. Raimund.
der theoretiſchen Ueberklugheit der deutſchen Romantik nur einmal ange-
ſteckt worden. Sein Erſtlingswerk, die Ahnfrau, war eine Schickſals-
tragödie; nicht die freie That des Helden ſondern „tief verhüllte finſtre
Mächte“ führten das tragiſche Verhängniß herauf. Jedoch die Pracht der
Sprache und die Gluth der Leidenſchaft, das ſtürmiſche Fortſchreiten der
Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den
verſchrobenen Grundgedanken faſt vergeſſen. Und alsbald riß ſich der
geſunde Sinn des Dichters aus den Feſſeln der Müllnerſchen Kunſt-
theorien völlig los. In ſeinen Trauerſpielen „Sappho“ und „das goldene
Vließ“ zeigten ſich reine Form und ſcharfe Charakterzeichnung, deutſcher
Ernſt und die ſchöne warme Sinnlichkeit des Altöſterreichers, claſſiſche
und romantiſche Ideale glücklich verſchmolzen. Goethe blieb ihm fortan
der mit kindlicher Andacht geliebte Meiſter, Weimar der geweihte Heerd
des deutſchen Lebens. Größeres als den dämoniſchen Charakter der Medea
hat Grillparzer in den hiſtoriſchen Dramen ſeiner ſpäteren Zeit nicht mehr
geſchaffen; eine ſtetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchſten Künſtler-
fleißes verſagt. Er war nicht einer jener mächtigen Geiſter, die in un-
aufhaltſamem Aufſteigen nach und nach immer weitere Kreiſe der Welt
mit dem Lichte ihrer Ideen beſtrahlen, aber eine gemüthvolle, ſchamhafte
Künſtlernatur, ein echter Dichter, der auch in den Zeiten des Verfalls
die bewährten alten Grundſätze des dramatiſchen Idealismus mit unbe-
irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutſchen Poeſie in
Oeſterreich.


Bald nachher eroberte ein anderer Oeſterreicher, Ferdinand Raimund
der deutſchen dramatiſchen Kunſt ein neues Gebiet. Der hatte ſeit Jahren
als Komiker auf dem Leopoldſtädter Theater ſein harmloſes Publikum
durch meiſterhaftes Spiel entzückt, und als er nun in aller Beſcheiden-
heit ſich anſchickte ſeine kleine Bühne ſelber mit neuen Stoffen zu ver-
ſorgen, da ſchuf er nicht, wie die meiſten dichtenden Schauſpieler, klug
berechnete Zugſtücke mit dankbaren Rollen, ſondern volksthümliche Kunſt-
werke. Er wurde der Schöpfer der neuen Zauberpoſſe, ſeit Hans Sach-
ſens Zeiten der erſte deutſche Poet, der in Wahrheit das ganze Volk an
die Bühne zu feſſeln verſtand und die Maſſen ergötzte durch Dichtungen,
an denen auch der gebildete Sinn ſich eine Weile erfreuen und erwärmen
konnte. Die Luſt am Fabuliren war dieſem Wiener Kinde angeboren;
gradeswegs aus dem Getümmel des Volkslebens griff er ſich ſeine luſtigen
Geſtalten heraus, unerſchöpflich in jenen gutmüthigen Schwänken und
dämiſchen Späßen, die der Oeſterreicher und der Oberſachſe mit dem
glückſeligen Ausrufe: nein, das iſt zu dumm! zu begrüßen pflegt. Aber
hinter dem ausgelaſſenen, neckiſchen Treiben verrieth ſich der unter Thrä-
nen lächelnde Humor eines tiefen Gemüthes. Und wie feſt ſtand noch
der alte deutſche ſittliche Idealismus in jenen unſchuldigen Tagen des
ſocialen Friedens! Immer wieder kam Raimund auf die Frage nach dem
[24]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
wahren Glücke des Lebens zurück, die dem beladenen kleinen Manne die
höchſte aller ſittlichen Fragen bleibt; und immer wieder, mochte er nun
den Verſchwender, den Menſchenfeind oder den Bauer als Millionär vor-
führen, ließ er ſeine Hörer empfinden, daß alles Glück in dem Frieden
der Seele liegt. Und die Maſſe glaubte ihm; die alten deutſchen Volks-
lieder zum Preiſe der fröhlichen Armuth waren noch nicht vergeſſen.
Unter den zahlreichen Nachahmern des anſpruchsloſen Volksdichters kam
keiner dem Meiſter gleich. Das Volksluſtſpiel verwilderte ſchnell; die
ſaftige Derbheit ſank zur Liederlichkeit, der gemüthliche Scherz zum öden
Wortwitze, die kindliche Einfalt zur Plattheit herab. Weit ſpäter erſt, in
einer Zeit erbitterter politiſcher und ſocialer Kämpfe, iſt in Norddeutſch-
land eine neue Form der Poſſe entſtanden, die an Witz und Schärfe
jene unſchuldigen Zaubermärchen ebenſo weit übertraf, wie ſie an Humor
und poetiſchem Gehalt hinter ihnen zurückblieb. —


Für die erzählende Dichtung wurde die unerſättliche Schreib- und
Leſeſucht des Zeitalters zu einer Quelle ſchwerer Verſuchungen. Niemals
früher hatte ſich eine ſolche Unzahl betriebſamer Federn auf allen Ge-
bieten der Literatur zugleich getummelt. Der Meßkatalog der Leipziger
Buchhändler ſchwoll zu einem unförmlichen Bande an. In jedem Städt-
chen ſorgte eine Leihbibliothek für die Unterhaltung der Leſewelt. Die
Anſtandsgewohnheiten des altbegründeten Wohlſtandes konnten ſich in
dem verarmten Lande noch nicht ausbilden; die Deutſchen fanden kein
Arg daran, daß ſie mehr laſen und weniger Bücher kauften als irgend
ein anderes Volk. Indeß erzielten einzelne Werke bereits einen ſtarken,
nach den Begriffen der alten Zeit unerhörten Abſatz: ſo Rottecks Welt-
geſchichte, Zſchokkes Stunden der Andacht und die Ueberſetzung von Walter
Scotts Romanen. Im Jahre 1817 kehrte Friedrich König, der Erfinder
der Schnellpreſſe, in die Heimath zurück und begründete dann in Oberzell
bei Würzburg ſeine große Fabrik, welche dem Buchhandel ermöglichte für
das Maſſenbedürfniß zu arbeiten. Und da man ſich allgemach gewöhnte
alles Neue aus dem ganzen Bereiche der Wiſſenſchaft und Kunſt gierig
herunterzuſchlingen, ſo ward man bald unzufrieden mit dem einfachen
claſſiſchen Unterrichte, auf deſſen fruchtbarem Boden die neue deutſche
Cultur emporgeblüht war. Es genügte nicht mehr, dem Geiſte eine ſtrenge
formale Bildung zu geben, ſo daß er fähig ward aus einem engen Kreiſe
wohlgeſicherter Kenntniſſe nach und nach frei und ſtetig hinauszuwachſen,
neues Wiſſen ſich durch ſelbſtändige Arbeit anzueignen. Man forderte
unter dem wohllautenden Namen der realiſtiſchen Bildung das Anſam-
meln einer bunten Fülle unzuſammenhängender Notizen, ſo daß Jeder
über Jedes mitreden konnte. Das einfache Bekenntniß der Unwiſſenheit
galt für beſchämend; Niemand wollte zurückſtehen, wenn das Geſpräch in
raſchem Wechſel von der Schickſalstragödie auf die ſpaniſche Verfaſſung, von
der Phrenologie auf die neuen engliſchen Dampfmaſchinen hinüberſprang.


[25]Schreib- und Leſeſucht.

Mit dem ſicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erſpähte der
rührige F. A. Brockhaus dieſen mächtigen Zug der Zeit und ließ ſeit
dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu
einem großen Converſationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha-
betiſcher Reihenfolge dem gebildeten Deutſchen „alles Wiſſenswerthe“ hand-
lich vorlegte. Es war der Anfang jener maſſenhaften Eſelsbrücken-Lite-
ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu ſeinem Vortheil aus-
zeichnet. Das Unternehmen, ſo undeutſch wie ſein Name, fand doch
Anklang in weiten Kreiſen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne
ſolche Krücken konnte ſich dies mit der Erbſchaft ſo vieler Jahrhunderte
belaſtete Geſchlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit
unverhohlenem Entſetzen die Wandlung, die ſich in der Geſittung der
Nation allmählich vorbereitete; er ſah voraus, wie friedlos, leer und zer-
fahren, wie unſelbſtändig in ihrem Denken die moderne Welt werden
mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb- und Vielwiſſens, das Verlangen
nach immer wechſelnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte,
daß hier die ſchlimmſte Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts
lag, und ſchrieb die ernſte Warnung:


Daß nur immer in Erneuung

Jeder täglich Neues höre,

Und zugleich auch die Zerſtreuung

Jeden in ſich ſelbſt zerſtöre!

In einer ſo leſeluſtigen Welt ſtumpfte ſich der feine Formenſinn ſchnell
ab. Man trachtete vor Allem nach ſtofflichem Reiz, und da jede Zeit
die Schriftſteller hat, welche ſie verlangt und verdient, ſo fand ſich auch
ein Heer von rührigen Romanſchreibern, die ſich begnügten für den Zeit-
vertreib zu ſorgen und einige Jahre lang in den kritiſchen Blättern ge-
nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterſcheidender Charakterzug des
neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poeſie wie vereinzelte Goldkörner
in einem ungeheueren Schutthaufen werthloſer Unterhaltungsſchriften ver-
ſteckt lagen und immer erſt nach längerer Zeit aus der Maſſe des tauben
Geſteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anſpruchsloſen
Tagen nicht wie heute die induſtrielle Betriebſamkeit, was ſo viele Un-
berufene auf den deutſchen Parnaß führte, ſondern in der Regel die
Eitelkeit und die literariſche Mode. Wie in der dramatiſchen ſo zeigten
auch in der Roman- und Novellendichtung die poetiſchen Naturen ſelten
das Talent der Compoſition, während die Virtuoſen der ſpannenden und
feſſelnden Erzählung ebenſo ſelten die geſtaltende Kraft des Dichters be-
währten.


Durch die ſtrenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche
Gefühlsſeligkeit, die ſich einſt vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge-
nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann ſie
wieder Raum; in vielen Häuſern Norddeutſchlands herrſchte ein abge-
[26]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſchmackt ſüßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geſchlechts,
welche einſt in dieſer ſentimentalen Luft aufwuchſen, wurden dadurch mit
einem ſolchen Ekel erfüllt, daß ſie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter
Empfindung vermieden. Der weichliche Vielſchreiber H. Clauren ſagte
dem Geſchmacke der großen Leſewelt am Beſten zu. Die eleganten Damen
erfreuten ſich an den verhimmelten Stahlſtichen und den rührenden No-
vellen der modiſchen Taſchenbücher; Urania, Aurora, Alpenroſen, Ver-
gißmeinnicht oder Immergrün ſtand auf den Titelblättern der zierlichen
goldgeränderten Bändchen zu leſen. Oberſachſen, das vormals ſo oft
durch ſtarke reformatoriſche Geiſter entſcheidend in den Gedankengang der
Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptſitz dieſer
Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einſt von dem jungen Goethe
verſpottete „Gottſched-Weiße-Gellertſche Waſſerfluth“ wieder über das ſchöne
Land hereinbräche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell
mit einigen anderen ebenſo ſanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum „Dich-
terthee“ zuſammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechſel-
ſeitig ihre faden, des chineſiſchen Getränkes würdigen Novellen, die ſodann
in der vielgeleſenen „Abendzeitung“ veröffentlicht wurden. Friedrich Böt-
tiger aber, der unaufhaltſamſte der Recenſenten, beeilte ſich, wie Goethe
ſagte, den Lumpenbrei der Pfuſcher und der Schmierer zum Meiſterwerk
zu ſtempeln.


Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbeſtadt übergeſiedelt
war, zog ſich von dieſem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward
offenbar, daß die geheimnißvolle „Poeſie der Poeſie“, deren die Roman-
tiker ſich rühmten, im Grunde nur geiſtreiche Kennerſchaft war. Er
zählte, obwohl ihn ſeine Bewunderer dicht hinter Goethe ſtellten, doch
zu den Naturen, die mehr ſind als ſie leiſten. Da er von dem über-
mächtigen ſchöpferiſchen Drange des Dichters jetzt nur noch ſelten ergriffen
ward, ſo warf er ſich mit ſchönem Eifer, mit ſeiner geprieſenen „ſchnellen
Fühlbarkeit“ auf die Erforſchung der Shakeſpeariſchen Dramatik. Was
er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen
Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutſche Leben als die
formloſen Romane und die literariſch-ſatiriſchen Märchendramen ſeiner
Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantaſie erſchienen,
weil ſie mit bewußter Abſichtlichkeit ſelber ſagten, daß ihnen „der Ver-
ſtand ſo gänzlich fehle“. Wie vielen jungen Poeten und Schauſpielern
iſt in dem alten Hauſe am Altmarkte die erſte Ahnung von dem eigent-
lichen Weſen der Kunſt aufgegangen, wenn der Dichter an ſeinen vielge-
rühmten Leſeabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der
Shakeſpeariſchen Geſtalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die
Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudiſſin fand es bald unbegreif-
lich, wie er nur hätte leben können bevor er dieſen Mann gekannt. Tieck
war früh berühmt geworden und erſchien ſchon im Mannesalter wie ein
[27]C. Brentano.
Patriarch der deutſchen Poeſie. Gütig, mit theilnehmendem Verſtändniß
nahm der gichtbrüchige Mann mit den hellen Dichteraugen die Jungen
auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in ſeinen geiſtvollen Worten
mancher ſeltſame Einfall mit unterlief, ſo blieb ſein Blick doch auf die
Höhen der Menſchheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an
„die heil’gen Vier, die Meiſter der neuen Kunſt,“ Dante, Cervantes,
Shakeſpeare und Goethe. Erſt nach Jahren kehrte er wieder ſelbſt zur
Dichtung zurück. Noch mehr als Tieck hatten ſich die Brüder Schlegel
dem poetiſchen Schaffen entfremdet. Friedrich verſank ganz in dem Ge-
triebe der ultramontanen Politik. Auguſt Wilhelm lebte in Bonn ſeinen
literarhiſtoriſchen und philologiſchen Studien, eine Zierde der neuen rhei-
niſchen Hochſchule; den Studenten blieb der kleine ſtutzerhafte alte Herr
doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren
Schultern die neue Wiſſenſchaft ſtand.


Nur jenen jüngeren Poeten, die ſich einſt in Heidelberg zuſammen-
gefunden hatten, verſiegte die dichteriſche Ader nicht. Tiefer als Clemens
Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantiſchen Spiel- und
Traumlebens hineingerathen. Halb Schalk halb Schwärmer, heute über-
müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirſcht und bußfertig, ſich ſelber und
der Welt ein Räthſel, trieb ſich der Ruheloſe bald in den katholiſchen
Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge-
brüdern Gerlach und den anderen chriſtlich-germaniſchen Genoſſen der
Maikäfer-Geſellſchaft ſeine Abhandlung über die Philiſter, die kecke Kriegs-
erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzuleſen. Den
Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er ſo wenig
wie Z. Werner ſich in den norddeutſch-proteſtantiſchen Ton der Bewegung
recht finden; wie ſeltſam gezwungen und gemacht erſchienen ſeine zumeiſt
zur Verherrlichung Oeſterreichs gedichteten Kriegslieder: „durch Gott und
Dich ward wahr, o Franz: was Oeſtreich will das kann’s!“ Nachher
führte ihn ſein myſtiſcher Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab;
er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der ſtigmatiſirten Nonne
von Dülmen und legte ſeine Betrachtungen über das Wunderweib in
verzückten Schriften nieder. Und doch drang das lautere Himmelslicht
der Poeſie immer wieder durch die Nebel, welche dieſen kranken Geiſt
umnachteten. Kaum hatte er in dem tollen Hexenſpuk der „Gründung
Prags“, einer verunglückten Nachahmung von Kleiſts Pentheſilea, allen
ſeinen verſchrobenen Launen die Zügel ſchießen laſſen, ſo ſammelte er
ſich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten der Romantik
immer nur gefordert hatten: einen volksthümlichen Stoff in volksthüm-
liche Form zu gießen. Er ſchuf ſein Meiſterſtück, die Erzählung vom
braven Kasperl und vom ſchönen Annerl, das Vorbild der deutſchen Dorf-
geſchichten. Mit vollem Rechte rühmte ſpäterhin Freiligrath ihm nach:
der wußt’ es wohl wie nied’re Herzen ſchlagen; denn ſo naiv und treu
[28]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
hat Keiner wieder geſchildert was dem Seelenleben der kleinen Leute ſeine
einfältige Größe giebt: die verhaltene Kraft der naturwüchſigen Leiden-
ſchaft, die vergeblich nach einem Ausdruck ringt und dann plötzlich in
verzehrenden Flammen durchbricht. Ebenſo ungleich blieb ſein Schaffen
noch in ſpäteren Jahren. Die romantiſchen Feinſchmecker bewunderten
ſeine Hühnergeſchichte Hinkel und Gockeleia; ſie konnten nicht genug prei-
ſen, wie hier ein geſuchter Einfall zu Tode gehetzt, Hühnerleben und
Menſchenleben in kindiſchem Spiele durcheinander geworfen wurde. Unter-
deſſen ſchrieb er in allen guten Stunden ſeine „Märchen“ ſtill für ſich
hin, köſtliche Erzählungen vom Vater Rhein, von den Nixen und dem
kriſtallenen Schloſſe drunten in den grünen Wellen, Bilder voll ſchalk-
hafter Anmuth, traumhaft lieblich wie die rheiniſchen Sommernächte.


Der ungleich ſtärkere und klarere Geiſt ſeines Freundes Achim v. Ar-
nim fand in der Märchenwelt kein Genügen. Der hatte ſchon früher in
der „Gräfin Dolores“ ein großes realiſtiſches Talent bekundet; nun wagte
er ſich mit dem Romane „die Kronenwächter“ auf die hohe See des hiſto-
riſchen Lebens hinaus und rückte mit ſeiner kräftigen, unumwundenen
Wahrhaftigkeit den Geſtalten unſerer Vorzeit herzhaft auf den Leib, bis
ſie ihm Rede ſtanden und der markige Freimuth, die derbe Sinnlichkeit
des alten Deutſchlands, die wüſte Roheit ſeiner Lagerſitten, der recht-
haberiſche Trotz ſeines reichsſtädtiſchen Bürgerthums den Leſern hart und
grell, wie die Geſtalten Dürerſcher Holzſchnitte, vor die Augen traten.
Der ordnende, die Fülle des Stoffes beherrſchende Künſtlerſinn bleibt
freilich ſelbſt dieſem liebenswürdigſten Jünger der romantiſchen Schule
verſagt. Unvermittelt wie im Leben liegt das Einfache und das Seltſame
in dem Romane neben einander; ein dichtes Geſtrüpp von krauſen Epi-
ſoden umwuchert die Erzählung; zuweilen verliert der Dichter die Luſt
und läßt ſich wie ein unmuthiger Schachſpieler die Figuren vom Brette
herunterſchlagen. Der großgedachten, tiefſinnigen Dichtung fehlt der Ab-
ſchluß, die Einheit des Kunſtwerks.


Weit größeren Anklang fand Amadeus Hoffmann bei der Maſſe der
Leſewelt, der einzige Novellendichter, der es durch Fruchtbarkeit und Ge-
ſchick mit dem betriebſamen Völkchen der Taſchenbuchsſchriftſteller auf-
nehmen konnte. In ſeinem wunderlichen Doppelleben verkörperte ſich die
widerſpruchsvolle romantiſche Moral, die muthwillig jede Brücke zwiſchen
dem Ideale und der Wirklichkeit abbrach und grundſätzlich verſchmähte das
Leben durch die Kunſt zu verklären. Wenn er den Tag über die gefan-
genen Demagogen verhört und in den Criminalakten des Kammergerichts
gewiſſenhaft und gründlich gearbeitet hatte, dann ging ihm erſt die Sonne
ſeiner Traumwelt auf. Dann durfte ihn kein Wort mehr an das Schat-
tenſpiel des Lebens erinnern, dann zechte er mit ausgelaſſenen Freunden
oder phantaſirte in Liebhaberconcerten; und alſo begeiſtert ſchrieb er die
Phantaſieſtücke in Callots Manier, die Elixire des Teufels, die Nacht-
[29]A. v. Arnim. Callot-Hoffmann.
ſtücke: phantaſtiſche Geſchichten von Dämonen und Geſpenſtern, von Träu-
men und Wundern, von Wahnſinn und Verbrechen, das Ungeheuerlichſte
was je ein überreiztes Hirn erſann. Es war als ob die Teufelsfratzen
von den Dachtraufen unſerer alten Dome herunterſtiegen. Der wüſte
Spuk drängte ſich ſo nahe, ſo ſinnlich greifbar auf, daß der Leſer, wie
vom Alpdruck gelähmt, ſtill halten mußte und dem kecken Humor, der
diaboliſchen Grazie des meiſterhaften Erzählers Alles glaubte. Zuletzt blieb
von dem tollen Spiele freilich nichts zurück als die dumpfe Betäubung
des phyſiſchen Schreckens. —


Derweil in Drama und Roman ſo viele Irrwiſche ihr unſtetes
Weſen trieben, erreichte die lyriſche Dichtung der Romantik durch Ludwig
Uhland ihre Vollendung. Die Kritiker der Schule ſahen den proſaiſchen
Menſchen über die Achſeln an, als ſeine Gedichte im Jahre 1814 zuerſt
herauskamen. Recht als das Gegenbild romantiſcher Genieſucht erſchien
dieſer ehrenfeſte Kleinbürger: wie er in Paris den Tag hindurch treu-
fleißig in den Manuſcripten der altfranzöſiſchen Dichtung forſchte und
Abends ſchweigſam in Geſellſchaft des ebenſo ſchweigſamen Immanuel
Bekker die Boulevards entlang ging, mit offenem Munde und geſchloſſenen
Augen, ganz unberührt von dem lockenden Glanz und den Verſuchungen
ringsum; wie er dann in dem heimathlichen Neckarſtädtchen ſeinen be-
häbigen wohlgeordneten Haushalt führte und ſich nicht zu gut dünkte an
den proſaiſchen Verfaſſungskämpfen Württembergs mit Wort und That
theilzunehmen. Und doch war es gerade dieſe geſunde Natürlichkeit und
bürgerliche Tüchtigkeit, was den ſchwäbiſchen Dichter befähigte die Schran-
ken der Kunſtformen weiſe einzuhalten und den romantiſchen Idealen
eine lebendige, dem Bewußtſein der Zeit entſprechende Geſtaltung zu
geben. Ein denkender Künſtler, blieb er doch völlig gleichgiltig gegen das
literariſche Gezänk und die äſthetiſchen Doktrinen der Schule und harrte
geduldig bis die Zeit der Dichterwonne kam, die ihm des Liedes Segen
brachte. Dann wendete er die kritiſche Schärfe, welche andere Poeten in
den Literaturzeitungen vergeudeten, unerbittlich gegen ſeine eigenen Werke;
kein anderer deutſcher Dichter hat mit ſo ſprödem Künſtlerſtolze alles
Halbfertige und Halbgelungene im Pulte zurückbehalten. Die Heldenge-
ſtalten unſerer alten Dichtung, des Waltherliedes und der Nibelungen,
erweckten zuerſt ſeine poetiſche Kraft; an den Gedichten des Alterthums
vermißte er den tiefen, die Phantaſie in die Weite lockenden Hintergrund;
doch ein angeborener, ſtreng geſchulter Formenſinn bewahrte ihn vor der
unklaren Ueberſchwänglichkeit der mittelalterlichen Poeſie. In feſten, ſiche-
ren Umriſſen traten dieſem Claſſiker der Romantik ſeine Geſtalten vor
die Seele.


Während die älteren Romantiker meiſt durch den phantaſtiſchen Reiz
des Fremdartigen und Alterthümlichen in die deutſche Vorzeit hinüber-
gezogen wurden, ſuchte Uhland in der Vergangenheit das rein Menſch-
[30]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
liche, das zu jeder Zeit Lebendige und vor Allem das Heimathliche, die
einfältige Kraft und Herzenswärme des unverbildeten germaniſchen We-
ſens; das Forſchen in den Sagen und Liedern unſeres Alterthums galt
ihm als „ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutſchen Volks-
lebens“. Er fühlte, daß der Dichter, auch wenn er entlegene Stoffe be-
handelt, nur ſolche Empfindungen ausſprechen darf, die in der Seele der
Lebenden widerklingen, und blieb ſich des weiten Abſtandes der Zeiten
klar bewußt. Niemals hat ihn die Freude an der Farbenpracht des Mit-
telalters den proteſtantiſchen und demokratiſchen Gedanken des neuen Jahr-
hunderts entfremdet. Derſelbe Dichter, der ſo rührend von den Gottes-
ſtreitern der Kreuzzüge ſang, pries auch den Baum von Wittenberg, der mit
Rieſenäſten, dem Strahle des Lichtes entgegen, zum Klauſendach hinaus-
wuchs, und geſellte ſich freudig zu den ſtreitbaren Sängern des Befreiungs-
krieges und beugte ſich demüthig vor der Heldengröße des neuerſtandenen
Vaterlandes:


Nach ſolchen Opfern heilig großen

Was gälten dieſe Lieder Dir?

Mit kräftigem Spotte kehrte er der Aftermuſe der romantiſch ſüßen
Herren, der Aſſonanzen- und Sonettenſchmiede den Rücken zu und hielt
ſich an den Wahlſpruch der Altvorderen: „ſchlicht Wort und gut Gemüth
ſind das echte deutſche Lied.“ Die anſchaulichen, volksthümlichen Aus-
drücke ſtrömten dem Sprachgewaltigen von ſelber zu. So leicht erklangen
ſeine ungekünſtelten Verſe, ſo friſch und heiter ſchwebten ſeine Geſtalten
dahin, daß die Leſer gar nicht bemerkten, wie viel Künſtlerfleiß ſich hinter
der tadelloſen Reinheit dieſer einfachen Formen verbarg, wie tief der
Dichter in die Schachte der Wiſſenſchaft hatte hinabſteigen müſſen bis
ihm Klein Roland und Taillefer, Eberhard der Rauſchebart und der
Schenk von Limburg ſo vertraut und lebendig wurden. Für ſeine Er-
zählungen wählte er mit Vorliebe die dem leidenſchaftlichen germaniſchen
Weſen zuſagende Form der dramatiſch bewegten Ballade, nur ſelten, wo
es die Natur des Stoffes gebot, die ruhig berichtende, ausführlich ſchil-
dernde ſüdländiſche Romanze. Nicht die Begebenheit war ihm das Weſent-
liche, ſondern ihr Widerſchein in dem erregten Menſchenherzen. Jede
Falte des deutſchen Gemüthes lag ihm offen, und wunderbar glücklich
wußte er zuweilen mit wenigen anſpruchsloſen Worten ein Herzensge-
heimniß unſeres Volkes zu offenbaren. Einfacher als in dem Gedichte
von dem treuen Kameraden iſt nie geſagt worden, wie den ſtreitbaren Ger-
manen ſeit der Cimbernſchlacht bis zu den Franzoſenkriegen im Schlacht-
getümmel immer zu Muthe war: ſo kampfluſtig und fromm ergeben, ſo
liebevoll und ſo treu.


Die Kraft der Empfindung drängte ſich auch in ſeinen erzählenden
Dichtungen ſo ſtark hervor, daß manche Gedichte, die er ſelber Balladen
nannte, bald als Lieder in den Volksmund übergingen. Denn ſeinen
[31]Uhland.
Liedern vornehmlich verdankte er die Liebe des Volkes, die ihm zuerſt in
der ſchwäbiſchen Heimath, dann auch im übrigen Deutſchland frohlockend
entgegenkam bis er endlich der volksthümlichſte aller unſerer großen Dichter
wurde. In den ſchlichten, tief empfundenen Worten von Liebes Leid und
Freude, von Wanderglück und Abſchiedsſchmerz, von der Luſt des Weines
und der Waffen fanden Alle, Vornehm und Gering, die Erinnerungen
ihres eigenen Lebens wieder. Zumal die Oberdeutſchen fühlten ſich an-
geheimelt, wenn ihnen zwiſchen den Zeilen des Dichters ſtets die ſchwäbi-
ſche Landſchaft mit ihren Rebenhügeln und ſonnigen Flüſſen, mit ihrem
heiteren ſangesluſtigen Völkchen entgegenwinkte. Die einfachen, dem Volks-
liede nachgebildeten Weiſen forderten unwillkürlich zum Singen auf; bald
wetteiferten die Tonſetzer ſich ihrer zu bemächtigen. Die ganze Jugend
ſtimmte mit ein. Uhlands Lieder erklangen wo immer deutſche Soldaten
über Land marſchirten, wo Studenten, Sänger und Turner ſich zum
fröhlichen Feſte zuſammenfanden; ſie wurden eine Macht des Segens für
das friſch aufblühende kräftige Volksleben des neuen Jahrhunderts. Das
junge im Kriege geſtählte Geſchlecht drängte überall aus der Stubenluft
der guten alten Zeit hinaus ins Freie, die deutſche Wanderluſt forderte
ihr Recht, alte halbvergeſſene Volksfeſte gelangten wieder zu Ehren. Der
neue Volksgeſang ſchlug eine Brücke über die tiefe Kluft, welche die Ge-
bildeten von den Ungebildeten trennte, führte die Maſſen, die nichts
laſen, zuerſt in die Kunſtdichtung der Gegenwart ein; und wenngleich
jene köſtliche ungebrochene Einheit der nationalen Geſittung, wie ſie einſt
in den Tagen der Staufer beſtanden, für die gelehrte Bildung der moder-
nen Welt immer unerreichbar blieb, ſo war es doch eine heilſame Rückkehr
zur Natur, daß allmählich mindeſtens ein Theil der ſchönſten deutſchen
Gedichte der ganzen Nation lieb und verſtändlich wurde. Wie ſchlug dem
ſchwäbiſchen Dichter das Herz, als er die neu erwachende Liederfreude
ſeines Volkes ſah; voll Zuverſicht rief er den Genoſſen die nur allzu treu-
lich beherzigte Mahnung zu:


Singe wem Geſang gegeben

In dem deutſchen Dichterwald!

Das iſt Freude, das iſt Leben,

Wenn’s von allen Zweigen ſchallt!

Der ſchlichte Mann konnte ſich nicht ſatt ſehen an dem lärmenden
Gewimmel der Volksfeſte, und das waren ihm die Augenblicke des höch-
ſten Dichterlohnes, wenn er einmal auf einer Rheinreiſe irgendwo im
Walde junges Volk mit friſchen Stimmen ſeine eigenen Lieder ſingen
hörte, oder wenn ein Tübinger bemooſtes Haupt in feſtlichem Comitat
über die Neckarbrücke hinauszog und das Abſchiedslied „es ziehet der
Burſch in die Weite“ bis in den Rebgarten des Dichterhauſes am Oſter-
berge hinüberklang.


Wohl umſpannten ſeine Gedichte nur einen ziemlich engen Kreis von
[32]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Gedanken; er ſang, wie einſt die ritterlichen Dichter mit den Goldharfen,
faſt allein „von Gottesminne, von kühner Helden Muth, von lindem
Liebesſinne, von ſüßer Maienbluth“. Auch in ſeinen Tragödien verherr-
lichte er mit Vorliebe die zähe Treue altdeutſcher Freundſchaft; ihnen
fehlte die fortreißende Macht der dramatiſchen Leidenſchaft. An das mäch-
tige politiſche Pathos ſeines Lieblings Walther von der Vogelweide reichten
ſeine vaterländiſchen Gedichte nicht heran; der prometheiſche Drang, die
höchſten Räthſel des Daſeins, das Woher und Wohin der Menſchheit zu
ergründen, berührte ſein ruhiges Gemüth ſelten. Darum wollte Goethe
von den Roſen und Gelbveigelein, den blonden Mädchen und trauernden
Rittern des ſchwäbiſchen Sängers nichts hören; er verkannte, daß ihm
ſelber in der Lieder- und Balladendichtung Niemand ſonſt ſo nahe ge-
kommen war wie Uhland, und meinte herbe, in Alledem liege nichts das
Menſchengeſchick Bezwingendes. Die Deutſchen aber hatten ſich längſt
im Stillen verſchworen, den Altmeiſter zu behandeln nach ſeinem eigenen
Worte: wenn ich Dich liebe, was gehts Dich an? Der treue Schwabe
wußte, wie unmöglich es iſt einen Meiſter ſeines Irrthums zu überführen.
Er ließ ſich durch die Ungerechtigkeit des Alten in ſeiner Liebe nicht be-
irren; er ward nicht müde dem Greiſe ſeine Sängergrüße zu ſenden und
der Nation zu erzählen, wie dieſer Königsſohn einſt in goldner Frühe
das ſchlummernde Dornröschen, die deutſche Poeſie erweckte, und wie das
ſteinerne Laub am Straßburger Münſter rauſchte, als der Dichterjüng-
ling die Thurmſchnecken hinaufſtieg, „dem nun ein halb Jahrhundert die
Welt des Schönen tönt“.


Obwohl der Schweigſame nach ſeinem dreißigſten Jahre nur noch
einzelne Gedichte veröffentlichte und ſich begnügte als geiſtvoller Forſcher
und Sammler an der großen Arbeit der Wiederentdeckung unſerer Vor-
zeit theilzunehmen, ſo wuchs ſein Dichterruhm doch von Jahr zu Jahr.
Die Lieder ſeiner Jugend konnten nicht veralten. Hochgebildet und doch
bürgerlich unſcheinbar; begeiſtert für die alte Herrlichkeit des Reichs und
das öſterreichiſche Kaiſergeſchlecht, und doch ein Demokrat, dem die „Für-
ſtenräth’ und Hofmarſchälle mit trübem Stern auf kalter Bruſt“ immer
verdächtig blieben; im politiſchen Kampfe furchtlos und treu, wie es der
Wappenſpruch des Landes fordert, bis zum trotzigen Eigenſinne — ſo
erſchien er den Schwaben als der rechte Vertreter der Landesart, als der
beſte der Stammgenoſſen. Sie hoben ihn auf den Schild und rühmten:
„jedes Wort, das der Uhland geſprochen, iſt uns gerecht geweſen.“


Eine Schaar von jungen Poeten folgte dem Meiſter nach und nannte
ſich bald ſelbſt die ſchwäbiſche Dichterſchule. Hier zuerſt in der Geſchichte
der neuen deutſchen Dichtung ward der Verſuch einer landſchaftlichen
Sonderbildung gewagt, doch es war ein durchaus harmloſer Partikula-
rismus. Nichts lag dieſen Dichtern ferner als die Abſicht ſich loszureißen
von der gemeinſamen Arbeit der Nation; ſie fühlten ſich nur recht von
[33]Die ſchwäbiſche Dichterſchule.
Herzen froh und ſtolz, dieſem heiteren Lande des Weines und der Lieder
anzugehören, dieſem Stamme, der einſt des heiligen Reiches Sturmfahne
getragen hatte und feſt wie kein anderer mit den großen Erinnerungen
unſeres Mittelalters verwachſen war. Liebenswürdige Heiterkeit und natür-
liche Friſche war allen den ungezählten Balladen und Liedern dieſer Poeten
eigen; ſie blieben deutſch und züchtig und bewahrten die reinen Formen
der lyriſchen Dichtung auch in ſpäteren Tagen, als der neue weltbür-
gerliche Radikalismus, den Adel der Kunſtform und die Unſchuld des
Herzens zerſtörend, über die deutſche Poeſie hereinbrach. Aber die wun-
derbare poetiſche Stimmung der Lieder Uhlands ließ ſich ebenſo wenig
nachahmen wie ſeine ſchalkhafte Laune, die den reckenhaften Trotz der
deutſchen Heldenzeit ſo glücklich zu verklären wußte. Manche der ſchwäbi-
ſchen Balladenſänger verfielen allmählich in die gereimte Proſa des Mei-
ſterſanges; ihre platte Gemüthlichkeit wußte dem neuen Jahrhundert keine
Gedanken zu bieten.


Weitaus der eigenthümlichſte Geiſt aus dieſem Kreiſe war Juſtinus
Kerner, eine durch und durch poetiſche Natur voll drolligen Humors und
tiefen Gefühles. Sein gaſtfreies Haus in den Rebgärten dicht neben der
alten ſagenberühmten Burg Weibertreu bei Weinsberg blieb viele Jahre
hindurch die Herberge für alle guten Köpfe aus dem Oberlande. Wer
dort von dem Dichter und ſeinem Rickele herzlich aufgenommen ward
und ihn dann beim Neckarwein tolle Schnurren erzählen oder ſeine geiſt-
vollen, warm empfundenen Lieder vortragen hörte, der fand es kaum an-
ſtößig, daß auch dieſer im Grunde der Seele proteſtantiſche und moderne
Menſch von dem myſtiſchen Hange der Romantik nicht unberührt ge-
blieben war. Wie Brentano die wunderthätige Katharina Emmerich, ſo
feierte Kerner die Seherin von Prevorſt, eine kranke Bäuerin aus der
Nachbarſchaft, und meinte durch ſie den Einklang zweier Welten zu be-
lauſchen; was ihn in dieſe nächtigen Regionen trieb war nicht die Ge-
wiſſensangſt einer unfreien, haltloſen Seele, ſondern die poetiſche Schwär-
merei eines kindlichen Gemüthes, das in der Verſtandesdürre der Auf-
klärung ſeinen Frieden nicht finden konnte. Dankbar rief ein Genoſſe der
Tafelrunde dem glücklichen Dichterhauſe zu:


Es weicht die Geiſterſchwüle

Vor jener Abendkühle,

Die von des Genius Schwingen thaut!

Unterdeſſen begann die Nation erſt ganz zu verſtehen was ſie an
ihrem größten Dichter beſaß. Immer mächtiger und gebieteriſcher hob
ſich die Geſtalt Goethes vor ihren Augen, als die Aufregung der Kriegs-
zeit ſich legte und die während der Jahre 1811—14 erſchienenen drei
erſten Theile von Dichtung und Wahrheit allmählich in größere Kreiſe
drangen. Das Buch ſtand in der langen Reihe der Bekenntniſſe bedeu-
tender Männer ebenſo einzig da wie der Fauſt in der Dichtung. Seit
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 3
[34]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
den Confeſſionen des Auguſtinus hatte Niemand mehr das allerſchönſte
Geheimniß des Menſchenlebens, das Werden des Genius, ſo tief, wahr
und mächtig geſchildert. Jenem ſtrengen Heiligen verſchwanden die Ge-
ſtalten des Dieſſeits gänzlich neben dem zermalmenden Gedanken der
Sündhaftigkeit aller Creatur und der Sehnſucht nach dem lebendigen
Gotte; hier aber redete ein weltfreudiger Dichtergeiſt, der in der Lebens-
fülle der Schöpfung die ewige Liebe anzuſchauen ſuchte und von den höch-
ſten Flügen des Gedankens immer wieder zurückkehrte zu dem einfältigen
Künſtlerglauben: „wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Pla-
neten und Monden, von Sternen und Milchſtraßen, von Kometen und
Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn ſich nicht zu-
letzt ein glücklicher Menſch unbewußt ſeines Daſeins erfreut?“ Ebenſo
ehrlich wie einſt Rouſſeau bekannte Goethe die Fehler und Irrgänge ſeiner
Jugend; doch bewahrte ihn ſein ſicheres Stilgefühl vor jener gewaltſamen,
geſuchten Offenheit, die zur Schamloſigkeit führt. Er legte nicht wie der
Genfer auch jene halb unbewußten widerſpruchsvollen Aufwallungen des
Gefühles blos, welche allein durch ihre Flüchtigkeit erträglich werden und
in der ausführlichen Darſtellung fratzenhaft erſcheinen, ſondern gab nur
das Weſentliche ſeines Lebens: er erzählte wie er zum Dichter geworden war.


Wenn aus Rouſſeaus Geſtändniſſen zuletzt doch nichts übrig blieb
als die wehmüthige Erkenntniß der Gebrechlichkeit des Menſchen, der
zwiſchen ſeinem Urbild und ſeinem Zerrbild, zwiſchen dem Gott und dem
Thiere haltlos dahinſchwankt, ſo überkam die Leſer von Dichtung und
Wahrheit das frohe Gefühl, daß dem deutſchen Dichter in zweifachem
Sinne gelungen war was Milton einſt von dem Poeten verlangte: ſein
Leben ſelbſt zu einem wahren Kunſtwerke zu geſtalten. Wie er das Ta-
lent von der Mutter, den Charakter von dem Vater ererbt hatte und
nun nach und nach mit ungeheuerer Beharrlichkeit ſich ausbreitete über
den ganzen Bereich menſchlichen Schauens, Dichtens und Erkennens —
auf jeder Stufe ſeiner Entwicklung erſchien dieſer Geiſt geſund, vorbild-
lich, der Natur gemäß und darum ſo einfach in allen ſeinen wunderbaren
Wandlungen. Die geiſtreiche Fanny Mendelsſohn ſprach nur die Em-
pfindungen aller Leſer aus, als ſie weiſſagte: dieſen Mann werde Gott
nicht vor der Zeit heimrufen; der müſſe auf Erden bleiben bis zum höch-
ſten Alter und ſeinem Volke zeigen was es heiße zu leben. Die Ver-
ehrung für Goethe ward ein Band der Einheit zwiſchen den beſten Män-
nern dieſes zerriſſenen Volkes; je höher ein Deutſcher in ſeiner Bildung
ſtand, um ſo tiefer beugte er ſich vor dem Dichter. Wohl hörte man
aus dem Tone des Buches heraus, daß Goethe einſt ſelber von ſeinen
Jugendtagen geſagt hatte: man hätte mir eine Krone auf das Haupt ſetzen
können, und ich würde mich nicht gewundert haben. Und doch ſtand er
viel zu hoch um auch nur berührt zu werden von jenen unwillkürlichen
Regungen der Selbſtgefälligkeit, die ſich faſt in allen Confeſſionen zeigen.
[35]Dichtung und Wahrheit.
Das mächtige Selbſtbewußtſein, das ſich in dieſen Blättern ausſprach,
war die heitere Ruhe eines ganz mit ſich einigen Geiſtes, die glückliche
Unbefangenheit eines Dichters, der ſein Leben lang nur Bekenntniſſe ge-
ſchrieben hatte und längſt gewohnt war den Tadlern und den Neidern
gelaſſen zu antworten: ich habe mich nicht ſelbſt gemacht.


Immer wenn er in das deutſche Leben hineingriff hatte er ſein Höch-
ſtes geleiſtet; ſo waren denn auch die Geſtalten, die er jetzt aus der Er-
innerung heraufbeſchwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur
die ſchönſten ſeiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhauſe von Seſen-
heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutſchen
Herzens, und wenn ein Deutſcher an die ſeligen Tage ſeiner eigenen
Kindheit zurückdachte, ſo ſtand mit einem male das winklige alte Haus
am Hirſchgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er
ſchaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen. Der
Dichter ſagte mit ſeinen Alten: in der Geſtalt wie der Menſch die Erde
verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm ſelber fiel ein anderes
Loos; denn ſo mächtig war der Zauber dieſes Buches, daß noch heute,
wenn Goethes Name genannt wird, faſt Jedermann zuerſt an den könig-
lichen Jüngling denkt; ſeine Mannesjahre, die er ſelbſt nicht mehr ge-
ſchildert hat, ſcheinen neben dem ſonnigen Glanze dieſer Jugendgeſchichte
wie im Schatten zu liegen.


Wie Rouſſeau die Zeitgeſchichte mit der Erzählung ſeines Lebens
verwoben hatte, ſo gab auch Goethe, nur ungleich tiefſinniger und gründ-
licher, ein umfaſſendes Geſchichtsbild von dem geiſtigen Leben der fride-
ricianiſchen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer ſchil-
derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutſchen Kunſt:
wie Alles keimte und drängte, wie der friſche Duft des Erdreichs aus
den neu umgebrochenen Aeckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum
noch kahl ſtand und andere ſchon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie-
buhr und andere Zeitgenoſſen dem Dichter den hiſtoriſchen Sinn abge-
ſprochen, weil er ſich ſo gern in die Natur verſenkte. Er aber löſte jetzt
die beiden höchſten Aufgaben des Geſchichtſchreibers, die künſtleriſche und
die wiſſenſchaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu-
ſammenfallen: indem er die Vergangenheit den Leſern ſo lebendig ver-
gegenwärtigte, daß ſie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er ſie zugleich
das Geſchehene verſtehen, die Nothwendigkeit der Thatſachen erkennen.
Das Werk war entſtanden in den Tagen der napoleoniſchen Weltherr-
ſchaft, da der Dichter ſelbſt an der politiſchen Auferſtehung ſeines Vater-
landes zu verzweifeln ſchien, und gleichwohl ſprach aus jedem Satze die
zuverſichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianiſchen Zeitalters.
Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngſten Niederlagen
den Glauben an Deutſchlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben
jetzt, da alle Welt den preußiſchen Staat verloren gab und ſelbſt die
3*
[36]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
teutoniſchen Schwarmgeiſter ſich gleichgiltig von dem Bilde Friedrichs ab-
wendeten, zeigte Goethe zuerſt in ergreifenden Worten, wie feſt die neue
Kunſt mit dem preußiſchen Heldenruhme verwachſen war: an Talenten
war in Deutſchland niemals Mangel, doch der nationale Gehalt, der
eigentliche Lebensinhalt kam unſerer Dichtung erſt durch Friedrichs Thaten.
So wenig war der Dichter ſeinem Volke innerlich untreu geworden. Heute
giebt es nur noch eine heilige Sache: — ſo äußerte er einſt in jenen
ſchweren Tagen — im Geiſte zuſammenzuhalten und in dem allgemeinen
Ruin das Palladium unſerer Literatur zu bewahren!


Ein qualvoller, ungeſunder Zuſtand blieb es doch, daß er zu dem
erwachenden politiſchen Leben ſeines Volkes ſo gar kein Vertrauen faſſen
konnte. Schmerzlich genug erprobte er die Wahrheit ſeines eigenen Aus-
ſpruchs: der Dichter ſei ſeiner Natur nach unparteiiſch und könne in
Zeiten politiſcher Leidenſchaft einem tragiſchen Schickſal kaum entgehen.
Auf Augenblicke überkam ihn wohl die Ahnung einer glücklicheren Zukunft.
Als die große Armee nach Rußland zog und die Verzagten meinten, nun-
mehr ſei das Weltreich vollendet, da erwiderte er: wartet ab, wie Viele
wiederkommen werden! Aber als nun wirklich nur armſelige Trümmer
jener endloſen Züge zurückkehrten und das preußiſche Volk ſich wie ein
Mann erhob, da graute dem Dichter doch vor dem aufgeregten Weſen
der „unartigen Freiwilligen“. Er vergaß es nie, wie wenig die Deut-
ſchen einſt den hohen patriotiſchen Sinn von Hermann und Dorothea
verſtanden hatten, und traute ſeinem Volke die nachhaltige Kraft des
politiſchen Willens nicht zu; er hatte von jeher mit der alten Cultur des
Weſtens ſeine Gedanken ausgetauſcht und ſah jetzt mit unheimlichen
Ahnungen, wie die Völker des Oſtens „Koſaken, Kroaten, Kaſſuben und
Samländer, braune und andere Huſaren“ über das friedliche Mitteldeutſch-
land dahinfegten. Seinem Sohne verbot er ſtreng, in das Heer der Ver-
bündeten einzutreten und mußte dann noch erleben, wie der leidenſchaft-
liche Jüngling, beſchämt und verzweifelt, plötzlich umſchlug und im Hauſe
des Vaters eine abgöttiſche Verehrung für Napoleon zur Schau trug.


Erſt die Friedensbotſchaft erlöſte den Dichter aus ſeiner dumpfen Ver-
ſtimmung; er athmete erleichtert auf und ſchrieb zur Friedensfeier das Feſt-
ſpiel „des Epimenides Erwachen“ um nach ſeiner Weiſe durch ein poetiſches
Bekenntniß ſeine Bruſt vollends zu befreien. Die Maſſe, die mit Recht
bei ſolchem Anlaß ein volksthümliches, gemeinverſtändliches Werk erwartete,
wußte mit den ſymboliſchen Geſtalten nichts anzufangen; zwer aber den
Sinn der Fabel zu enträthſeln vermochte, hörte tief erſchüttert mit an,
wie der träumeriſche Weiſe, „der dieſe Nacht des Jammers überſchlief“,
den ſiegreichen Kämpfern bekannte: er ſchäme ſich ſeiner Ruheſtunden,
„denn für den Schmerz, den ihr empfunden, ſeid ihr auch größer als
ich bin!“ Es war ein Geſtändniß, das jeden Tadel beſchämte; doch kei-
neswegs eine Demüthigung, denn zugleich dankte Epimenides den Göttern,
[37]Des Epimenides Erwachen.
die ihm in dieſen ſtürmiſchen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt
hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg
zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Roſtock
ihrem Blücher errichteten, ſchrieb er die Zeilen:


In Harren und Krieg,

In Sturz und Sieg

Bewußt und groß,

So riß er uns

Vom Feinde los!

Sobald die Waffen ſchwiegen machte er ſich auf „zu des Rheins
geſtreckten Hügeln, hochgeſegneten Gebreiten“. Zwei glückliche Sommer,
1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheiniſchen Landen, die
ihn mit ihrem ſonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutſchen
Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten
rheinländiſchen Frohſinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwiſchen den
beiden Ufern wiedererwachen ſah, und droben auf dem Rochusberge bei
Bingen, wo die franzöſiſchen Vorpoſten ſo lange ihren Lugaus gehalten,
das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeſte zuſammenſtrömte. In den Blät-
tern, die er zum Gedächtniß dieſer frohen Tage ſchrieb, erſchien der Greis
wieder ganz ſo lebensfroh und weinſelig wie einſt der Straßburger Stu-
dent. Auch die Forſchungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im
freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boiſſeree wieder
auf. Er freute ſich an dem Kölner Dome, beſuchte alle die alten Bau-
werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort ſtand
jetzt die altdeutſche Gemäldeſammlung der Gebrüder Boiſſeree mit den
Dürerſchen Apoſteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Chriſtophorus,
ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unſerer neuen Kunſt-
forſchung. Die Geſtalten Dürers, „ihr feſtes Leben und Männlichkeit, ihre
innere Kraft und Ständigkeit“ hatten den Dichter ſchon in ſeiner Jugend
mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der
altniederländiſchen und der kölniſchen Malerſchule den Fleiß, die Bedeut-
ſamkeit, die Einfalt der deutſchen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder,
rief er aus, was ſind wir dumm: wir bilden uns ein, unſere Großmütter
ſeien nicht auch ſchön geweſen! Auch der Nibelungen nahm er ſich nach-
drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Geſellen, die über
die reckenhafte Großheit des germaniſchen Alterthums ihre Witze riſſen.
Den Drillingsfreunden in Köln, den Boiſſerees und ihrem Genoſſen Ber-
tram, „die zum Vergangenen muthig ſich kehren“, ſendete er zum An-
denken ſein Bild mit freundlichen Verſen. Die chriſtlich-germaniſchen
Schwarmgeiſter frohlockten, nun ſei dieſer Berg zu Thal gekommen, nun
habe der alte Heidenkönig dem deutſchen Feſtkinde, dem Kölner Dome
huldigen müſſen; ſie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und
hofften demnächſt eine chriſtliche Iphigenie erſcheinen zu ſehen.


[38]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Wie wenig kannten ſie dieſen allſeitigen Geiſt, der eben damals mit
ruhigem Selbſtgefühle ſagte: Wer nicht von dreitauſend Jahren ſich weiß
Rechenſchaft zu geben, bleib’ im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu
Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutſchen Romantik
unbefangen anerkannte, ſo war er doch mit nichten gemeint im hohen
Alter zu dem Gedankenkreiſe ſeines Götz von Berlichingen zurückzukehren.
Er blieb der Claſſiker, der den Benvenuto Cellini überſetzt und in ſeiner
Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutſchen Renaiſſance ver-
kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum ſo lieb, weil dieſer heitere
Genius gleich ihm ſelber germaniſchen Gedankenreichthum mit ſüdländi-
ſcher Formenſchönheit verband. Der Welterfahrene, der ſich ſelbſt oft-
mals demüthig „ein bornirtes Individuum“ nannte, wußte nur zu wohl,
wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür-
lichen Einſeitigkeit verführen, und ſah daher mit Entrüſtung, wie die bewußte
und gewollte Einſeitigkeit des Teutonenthums den Deutſchen ihr beſtes
Gut, die freie Weltanſicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm-
mern drohte. Wenn das junge Volk ſich gar unterſtand, ihm ſeine ge-
liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, ſie des befruch-
tenden Verkehres mit fremder Cultur zu berauben, dann brauſte er auf
in hellem Titanenzorne. Die „malcontente, determinirte, zuſchreitende“
Art des neuen Geſchlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Weſen,
dieſe aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz ſo
ſeltſam gemiſchte Formloſigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die
in dem Kloſter auf dem Quirinal ihre Werkſtatt aufgeſchlagen hatten,
bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen iſt.
Die fruchtbaren erſten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren
vorüber. Jetzt hieß die Loſung „Frömmigkeit und Genie!“; der Fleiß
ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erſchienen ſo leer und
kahl wie die Kloſterzellen von S. Iſidoro ſelber. Scharf abwehrend trat
der Dichter dieſer Richtung entgegen; ſogar die Widmung der Cornelius-
ſchen Zeichnungen zum Fauſt würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte,
daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verſtanden, die
claſſiſchen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile ihre Entfaltung
finden ſollten, noch kaum bemerkt hatte.


Vor Allem entſetzte den freien Geiſt des alten Claſſikers „die Kin-
derpäpſtelei“, das erkünſtelte neukatholiſche Weſen der verfallenden Ro-
mantik. Es wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutſchen
Geſittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geiſtvolle Form
des poſitiven chriſtlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In
ſeiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den ſchönen Seelen des
Pietismus, jedoch der enge Geſichtskreis dieſer Stillen im Lande ver-
mochte den Genius nicht zu feſſeln. Im Alter trat er mit den Beken-
nern jenes tiefſinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Chriſtenthums,
[39]Goethe und die neue Generation.
das während der ſchweren Jahre des Leidens und des Kampfes allmäh-
lich herangereift war, niemals in nahe Berührung; ſonſt wäre ſeinem
ſcharfen Blicke ſchwerlich entgangen, daß Männer wie Stein und Arndt ihre
unerſchütterliche Hoffnungsfreudigkeit, ihre ſittliche Ueberlegenheit, einem
Hardenberg oder Gentz gegenüber, zu allermeiſt der Kraft des lebendigen
Glaubens verdankten. So geſchah es, daß auch der letzte und größte
Vertreter unſerer claſſiſchen Epoche von dem wieder erwachenden religiöſen
Leben der Nation wenig bemerkte, und noch auf Jahrzehnte hinaus die
Geringſchätzung kirchlicher Dinge in den Kreiſen der reichſten Bildung
faſt als ein nothwendiges Zeichen freier Geſinnung erſchien. Die ſpin-
deldürren Geſtalten der Nazarener mit ihrer geſuchten Einfalt, die bald
ſüßlichen bald überſchwänglichen Reden der romantiſchen Apoſtaten mußten
Goethes großen Sinn empören; und als er gar die Frau von Krüdener
auf ihre alten Tage die Erweckte, die gottbegeiſterte Seherin ſpielen ſah,
da wallte ſein proteſtantiſches Blut hoch auf und er ſchrieb kurzab: „Hu-
renpack, zuletzt Propheten!“ Auch die Verfälſchung der Wiſſenſchaft durch
religiöſe Gefühle und myſtiſche Ahnungen blieb ihm immerdar ein Gräuel,
und mit hellem Jubel begrüßte er Gottfried Hermanns „kritiſch-helleniſch-
patriotiſche“ Feldzüge wider Creuzers Symbolik. Er fühlte lebhaft, daß
alles deutſche Weſen zu Grunde gehen müßte, wenn wir jemals unſeren
Weltbürgerſinn völlig aufgäben; er ward nicht müde von der Nothwendig-
keit einer Weltliteratur zu ſprechen, das Echte und Gute aus den Werken
der Nachbarvölker zu empfehlen, und fand ſogar Worte des Beifalls als
der geiſtreiche Ruſſe Uwarow vorſchlug, jede Wiſſenſchaft nur in einer conge-
nialen Sprache darzuſtellen, alſo die Alterthumskunde nur in der deutſchen.


Ebenſo wenig wie das überſpannte Teutonenthum konnten dem Dichter
die neuen conſtitutionellen Doktrinen zuſagen. In den einfachen gemüth-
lichen Verhältniſſen des Lebens bewährte er ſtets eine rührende Güte und
Nachſicht gegen den geringen Mann, tiefe Ehrfurcht vor den ſtarken und
ſicheren Inſtinkten des Volksgefühls. Oft wiederholte er: die wir die
niederſte Klaſſe nennen ſind vor Gott gewiß die höchſte Menſchenklaſſe.
Selbſt während er an der Iphigenie ſchrieb, vermochte ſein menſchen-
freundliches Herz den Gedanken an die hungernden Apoldaer Strumpf-
wirker nicht los zu werden. Doch im Staate, in Kunſt und Wiſſenſchaft
zeigte er die ariſtokratiſche Geſinnung, die jedem bedeutenden Kopfe natür-
lich iſt, und wahrte ſtreng abweiſend das natürliche Vorrecht der Bil-
dung. Schon in den Volksſcenen ſeines Egmont hatte er ſein Urtheil über
die politiſche Befähigung der Maſſe unverblümt ausgeſprochen. „Verwir-
rend iſts wenn man die Menge höret“ — ſo lautete ſeine Antwort, wenn
die Wortführer des Liberalismus zuverſichtlich betheuerten, die untrügliche
Weisheit des Volks werde alle Schäden des deutſchen Staatslebens zu
heilen wiſſen. Das undeutſche Weſen der liberalen Tagesſchriftſteller,
ihre Abhängigkeit von den Doktrinen der Franzoſen war ſeiner deutſchen
[40]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Geſinnung verächtlich; ihre verſtändige Waſſerklarheit erinnerte ihn an
den alten Nicolai und erfüllte ihn zugleich mit Beſorgniß, denn er lebte
des Glaubens, die reine Verſtandesbildung führe zur Anarchie, da dem
Verſtande keine Autorität innewohne. Bald bemerkte er auch mit Ekel,
wie der junge Liberalismus in denſelben unduldſam gehäſſigen Ton ver-
fiel wie einſt der Großinquiſitor der Berliner Aufklärung und alle An-
dersdenkende als Fürſten- oder Pfaffenknechte verfolgte. Dieſen Sklaven
der Parteimeinung hielt er entgegen: es gebe nur einen wahren Libera-
lismus, die Liberalität der Geſinnungen, des lebendigen Gemüths.


Mit unüberwindlichem Abſcheu erfüllte ihn das aufblühende Zeitungs-
weſen; ihm entging nicht, wie verflachend und verſandend dies Haſchen nach
den Tagesneuigkeiten, dieſe ungeſunde Vermiſchung von ödem Klatſch und
politiſcher Belehrung auf die allgemeine Bildung wirken, welche Frechheit
und Nichtigkeit unter allen dieſen unverantwortlichen Namenloſen, die
hier über Menſchen und Dinge zu Gericht ſaßen, aufwuchern mußte.
„Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung“ ſchien ihm der einzige Gewinn
aus der belobten Preßfreiheit. Achſelzuckend wendete er ſich ab von den
Götzen des Tages: „wer in der Weltgeſchichte lebt, dem Augenblick ſollt’ er
ſich richten?“ — Wie war es doch ſo ſtill geworden um den Alten! Auch
Herder und Wieland waren dahingegangen, und das ſchöne Verhältniß
zu ſeinem fürſtlichen Freunde wurde durch eine unwürdige Kränkung ge-
trübt. Der Dichter wollte nicht dulden, daß ein abgerichteter Hund dort
ſeine Künſte zeigte „wo der bekränzte Liebling der Kamönen der inn’ren
Welt geweihte Gluth ergoß“. Der Großherzog aber beſtand auf ſeiner
Laune; Goethe mußte vor dem Hunde des Aubry weichen und zog ſich
von der Leitung der Weimariſchen Bühne zurück.


Die freie Heiterkeit ſeines Weſens blieb von Alledem unberührt. Mit
jugendlichem Eifer vertheidigte er in ſeiner neuen Zeitſchrift „Kunſt und
Alterthum“, wie vormals in den Propyläen, die claſſiſchen Ideale. Der
Kunſt-Meyer und die anderen unter dem gefürchteten Zeichen W. K. F.
verſteckten Weimariſchen Kunſtfreunde unterſtützten ihn im Kampfe wider
„die neue frömmelnde Unkunſt“. Freilich ſtand der Dichter an der Schwelle
zweier Zeitalter, und hinter dem ſtolzen, zuverſichtlichen Tone ſeiner
Polemik verbarg ſich zuweilen ein Gefühl der Unſicherheit. Wie vormals
Winckelmann zugleich für die antiken Bildwerke der Villa Albani und für
die froſtige Eleganz eines Raphael Mengs ſich begeiſterte, ſo kam auch
Goethe von ſeinem alten Genoſſen Tiſchbein nicht ganz los und ſchmückte
ein ſteifes Bild des Freundes, das von natürlicher Wahrheit wenig oder
nichts enthielt, mit den Verſen: „heute noch im Paradieſe wandern
Lämmer auf der Wieſe, und Natur iſt’s nach wie vor!“ Dabei behielt
er doch Fühlung mit allen frei aufſtrebenden Talenten der deutſchen Kunſt
und begrüßte mit warmem Lobe die erſten kühnen Schritte Chriſtian
Rauchs.


[41]Italieniſche Reiſe.

Wirkſamer als dieſe kritiſche Thätigkeit ward das Erſcheinen der Ita-
lieniſchen Reiſe im Jahre 1817. Seit Langem waren dieſe Erinnerungs-
blätter in den Kreiſen der Freunde verbreitet; nun gab ſie der Dichter
geſammelt heraus in einer neuen Bearbeitung, welche abſichtlich alles
Licht auf Rom, auf die Werke des Alterthums und der Renaiſſance fallen
ließ. Die Deutſchen ſollten ihm nachfühlen, wie ihn einſt die übermächtige
Sehnſucht unaufhaltſam nach der ewigen Stadt drängte, wie ſelbſt in
Florenz ſeines Bleibens nicht war, wie er in Aſſiſi nur Augen hatte für
die ſchlanken Säulen des Minerventempels und „den triſten Dom“ des
heiligen Franciscus, die geweihte Stätte, wo einſt Giottos Kunſt erwachte,
keines Blickes würdigen wollte, bis er ſchließlich unter der Porta del
Popolo ſich gewiß war Rom zu haben. Und nun mußten die Leſer ihm
folgen durch alle jene reichen Tage, die ſchönſten und fruchtbarſten ſeines
Lebens hindurch: wenn Morgens die Sonne über den zackigen Gipfeln
des Sabinergebirges emporſtieg und der Dichter den einſamen Weg am
Tiber entlang hinauszog zu dem Brunnen in der Campagna; wenn er
unter den Trümmern des Forums als ein Mitgenoſſe der Rathſchläge
des Schickſals die Geſchichte von innen heraus leſen lernte, wenn ihn
im einſamen kühlen Saale die ganze Seligkeit des Schaffens überkam,
die Geſtalten der Iphigenie, des Egmont, des Taſſo, des Meiſter mächtig
auf ihn eindrängten; wenn er endlich unter den Orangenbäumen am
ſonnigen Strande von Taormina die Nauſikaa und den Dulder Odyſſeus
leibhaftig vor ſich wandeln ſah. Und dann immer wieder das demüthige
Geſtändniß des Mannes, der längſt ſchon den Götz und den Werther
gedichtet hatte: hier ſei er wiedergeboren worden, hier ſei ihm erſt die
Klarheit und die Ruhe des Künſtlers aufgegangen, hier habe er erſt ge-
lernt aus ganzem Holze zu ſchneiden. Die alte Germanenſehnſucht nach
dem Süden, die Dankbarkeit der Nordländer gegen die ſchönen Heimath-
lande aller Geſittung hatte niemals wärmere Worte gefunden. Der Ein-
druck war tief und nachhaltig. Dem Dichter wurde die Freude, daß
mehrere der begabteſten jungen Künſtler ſich bald nachher wieder dem
Alterthum zuwendeten. Aber nicht blos die Nazarener grollten dem heid-
niſchen Buche, auch Niebuhr und manche andere weltlich freie Köpfe
fühlten ſich befremdet. Dieſe rein äſthetiſche, dem politiſchen Leben grund-
ſätzlich abgewendete Weltanſchauung entſprach den Geſinnungen der acht-
ziger Jahre; dem Geſchlechte, das bei Leipzig und Belle-Alliance geſchlagen
hatte, konnte ſie nicht mehr ganz genügen, wie mächtig auch die literari-
ſchen Neigungen wieder überhandnahmen.


Vor wenigen Jahren erſt hatte Goethe einige ſeiner jugendlichſten
geſelligen Lieder geſchrieben, ſo das ausgelaſſene Burſchenlied Ergo biba-
mus.
Nach und nach, da er hoch in die Sechzig hinaufkam, regten ſich
ihm doch die Gefühle des Alters, die milde Beſchaulichkeit, die gefaßte
Ergebung, die Neigung zum Lehrhaften, Symboliſchen und Geheimniß-
[42]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
vollen; und nach ſeiner Gewohnheit ließ er die Natur frei gewähren.
In ſolcher Stimmung las er die Ueberſetzung des Hafis von Hammer.
Jener Drang in die Ferne, den die Weltfahrten der Romantik unter den
Deutſchen erweckt hatten, ergriff auch ihn; er fühlte, wie die ruhige, hei-
tere Lebensweisheit des Orients ſeinen Jahren, die perſiſche Naturreligion
ſeiner eigenen Erdfreundſchaft zuſagte. Doch „etwas Unmittelbares in
ſeine Arbeiten aufzunehmen“ war ihm unmöglich; er wollte und konnte
nicht, wie Schiller, ſich eines fremden Stoffs gewaltſam bemächtigen um
ihn zu geſtalten. Gemächlich lebte er ſich nach und nach ein in die For-
men und Bilder der perſiſchen Poeſie, bis ſeine eigenen Gedanken un-
willkürlich etwas von dem Dufte des Morgenlandes annahmen.


Da führte ihn ein freundliches Geſchick, auf jener Reiſe in die rhei-
niſche Heimath, mit Marianne von Willemer zuſammen; es war, als
ſollte ihm allein das ernſte Wort nicht gelten, das er zwei Jahre zuvor
geſchrieben: der Menſch erfährt, er ſei auch wer er mag, ein letztes Glück
und einen letzten Tag. Wie ward ihm wieder ſo jugendlich zu Muthe
in jenen ſonnigen Herbſttagen, da er mit der ſchönen jungen Frau in den
Baumgängen der Heidelberger Schloßterraſſe luſtwandelte und den ara-
biſchen Namenszug ſeiner Suleika in den Rand der Brunnenſchale einritzte:
„und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand.“ Was
ihn dort beglückte war nicht eine übermächtige Leidenſchaft, wie er ſie einſt
für Frau von Stein empfunden, ſondern eine warme und tiefe Herzens-
neigung für ein holdes Weib, das durch die Liebe des Dichters ſelber
zur Künſtlerin wurde. Gelehrig ging ſie auf das orientaliſche Formen-
ſpiel des Freundes ein; im Wechſelgeſange mit Hatem dichtete Suleika
jene melodiſchen Lieder voll ſüßer Sehnſucht und hingebender Demuth,
die während eines halben Jahrhunderts zu Goethes ſchönſten Gedichten
gerechnet worden ſind. Er aber erwiderte bald geiſtreich ſpielend, bald
leidenſchaftlich erregt; in gluthvollen, myſtiſchen Verſen beſang er den
liebſten von allen Gottesgedanken, die Macht der zwiſchen zweien Welten
ſchwebenden Liebe, die zuſammenführt was ſich angehört: „Allah braucht
nicht mehr zu ſchaffen, wir erſchaffen ſeine Welt!“


Dergeſtalt entſtand nach und nach das letzte große lyriſche Werk des
Dichters, der Weſtöſtliche Divan, ein bunter, nur durch das Band der
morgenländiſchen Form zuſammengehaltener Strauß von Liebes- und
Schenkenliedern, von Sprüchen und Betrachtungen, von alten und neuen
Bekenntniſſen. Es fehlte nicht an ſtreitbaren Worten; nicht umſonſt geſtand
der alte Meiſter: denn ich bin ein Menſch geweſen, und das heißt ein
Kämpfer ſein. Mit ſchonungsloſen Worten ſchilderte er die Macht des
Niederträchtigen unter den Menſchen, und im ſcharfen Gegenſatze zu der
Liederſeligkeit der ſchwäbiſchen Dichter ſah er ſchon voraus, wie das Ueber-
maß der Sangesluſt das deutſche Leben zuletzt ernüchtern werde: „wer
treibt die Dichtkunſt aus der Welt? die Poeten!“ Den Grundton der
[43]Weſtöſtlicher Divan.
Sammlung bildete doch eine ſtille, das irdiſche Treiben frei überſchauende
Heiterkeit: „mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe.“ Die kunſtvolle,
in bisher unerhörten Freiheiten ſich ergehende Proſodie des Divans diente
den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geſchlechts zum Vorbilde.
Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung,
der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne
ſteife und geſuchte Wendungen erſchienen mehr gedichtet und gedacht als
empfunden, manche künſtliche Arabesken nur eingefügt um den fremd-
artigen Reiz des Geſammtbildes zu erhöhen. Dafür erſchloß der Greis
im Divan, in den Orphiſchen Urworten, in den unzähligen Sprüchen
ſeiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der faſt für jede Lebens-
frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erſt von
dem heutigen Geſchlechte allmählich verſtanden wird. Viele Dichtungen
ſeines Alters gemahnten an jene räthſelhaften Runen unſeres Alterthums,
vor denen der germaniſche Held ſinnen und träumen konnte bis an ſei-
nen Tod. Zuweilen wagte er ſich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen
des Daſeins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver-
ſtummt und die Muſik einſetzt: ſo in jenem wunderbaren Liede, das immer
leiſe in der Seele widerklingt ſo oft ein Strahl himmliſcher Glückſeligkeit
in unſer armes Leben fällt:


Und ſo lang Du das nicht haſt,

Dieſes: Stirb und werde!

Biſt Du nur ein trüber Gaſt

Auf der dunklen Erde.

So lebte er dahin in ſeiner einſamen Größe, unabläſſig ſchauend,
ſammelnd, forſchend, dichtend, in’s Endliche nach allen Seiten ſchreitend
um das Unendliche ahnungsvoll zu ermeſſen, beglückt durch jeden Son-
nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbſtes, wie durch
jedes gelungene Werk der Kunſt und jeden neuen Fund im weiten Be-
reiche menſchlichen Wiſſens. Schillers zarter Körper hatte ſich vor der
Zeit aufgerieben im harten Dienſte der Kantiſchen Pflichtenlehre; bei die-
ſem Glücklichen und Kerngeſunden erſchien die ungeheure, allſeitige Thätig-
keit nur wie die natürliche, müheloſe Entfaltung angeborener Kräfte. Die
ihm ferne ſtanden ahnten kaum, wie ernſt er es ſelber nahm mit ſeinem
ſtrengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt
die Nacht wo Niemand kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein feſtes
Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch ſein reiches Alter geleitete:
wie er ſich in frommer Scheu hütete der Vorſehung vorzugreifen und in
jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes
erkannte — denn nur ſo erſchien dem Künſtler die göttliche Weltregierung
denkbar. Und da er ſelber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies Leben
nie ein Ende finden könnte, ſo blieb auch die Jugend immer ſein Lieb-
ling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geſchlechts zuweilen
[44]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
beläſtigen: zuletzt konnte er den ſtrahlenden Augen der begeiſterten Brauſe-
köpfe doch nicht zürnen und meinte gütig: es wäre thöricht zu verlangen:
komm, ältle Du mit mir! Jungen Dichtern aber wußte er nur zu
rathen was ihn ſelber die Natur gelehrt hatte: ſie ſollten ſich vorerſt be-
mühen Männer zu werden, reich im Herzen wie im Kopfe, und ihre
Seele offen halten jedem Hauche der Zeit: „poetiſcher Gehalt iſt Gehalt
des eignen Lebens; man halte ſich an’s fortſchreitende Leben und prüfe
ſich von Zeit zu Zeit, ob man lebendig iſt!“


Einzelne eifrige Renegaten, wie Friedrich Schlegel, unterſtanden ſich
wohl, von dem abgetakelten alten Herrgott zu reden; die Edleren wußten,
daß man dieſen Mann nicht antaſten konnte ohne die Nation ſelber zu
beſchimpfen. Wenn der Freiherr vom Stein die Zurückhaltung Goethes
in den napoleoniſchen Tagen beklagte, ſo fügte er beſcheiden hinzu: Aber
er iſt doch zu groß! Nirgends fand der Dichter wärmere Bewunderer
als in den Kennerkreiſen Berlins. Hier wurde die Goethe-Verehrung
wie ein Geheimdienſt getrieben; die ewig ſchwärmende Hoheprieſterin Rahel
Varnhagen verkündete von ihrem Dreifuß herunter unermüdlich in ora-
kelhaften Reden den Ruhm des Vergötterten. Der alte Herr ſah ſich die
Weihrauchswolken, die vor ſeinem Altar an der Spree emporſtiegen, aus
der Ferne gelaſſen an und gab gelegentlich in ſeinem umſtändlichen Ge-
heimraths-Stile eine höfliche Antwort. Doch näher auf den Leib durften
ihm dieſe Huldigenden nicht heranrücken; er fühlte, daß bei ihnen zur
anſpruchsvollen Doktrin wurde was ihm ſelber die Natur in die Wiege
gelegt hatte. Der nixenhaften kleinen Rahel ſchlug ein dankbares, from-
mes, menſchenfreundliches Herz im Buſen; mitten in der gemachten Ek-
ſtaſe dieſer tief eingeweihten Dilettanten und Halbkünſtler bewahrte ſie
ſich das ſichere Gefühl des Weibes für das Große und Starke: war doch
Fichte einſt viele Jahre lang neben Goethe ihr Abgott geweſen. Aber
dicht neben ſolchen liebenswürdigen Zügen lag eine halb unbewußte und
eben darum unermeßliche Eitelkeit, die in der Bewunderung des erſten
deutſchen Dichters die Größe des eigenen Ichs genoß und ſich über das
ſtille Gefühl der Unfruchtbarkeit tröſtete mit dem erhabenen Gedanken:
der im Unendlichen ſchwebende Geiſt verſchmähe ſich einzubannen in die
Kreiſe der Sprachkunſt! „Warum ſollte ich nicht natürlich ſein? — ſagte
ſie arglos — ich wüßte doch nichts Beſſeres und Mannichfaltigeres zu
affektiren!“ Und wie wenig Inhalt lag doch in allen den gebildeten Redens-
arten dieſer äſthetiſchen Theecirkel. Vieles was man dort Geiſt nannte
lief im Grunde hinaus auf die Mißhandlung der deutſchen Sprache, auf
das verblüffende Zuſammenſtellen ungehöriger Wörter. Wenn Rahel ein
edel und feurig vorgetragenes Muſikſtück „einen gebildeten Sturmwind“
nannte, dann jauchzte die Prieſterſchaar der höheren Bildung, und der
eunuchenhafte Gatte trug die Albernheit mit ſeinen zierlichſten Schrift-
zügen in ſeine Tagebücher ein. Der alte Heros in Weimar aber kannte
[45]Die Gothik.
den weiten Abſtand zwiſchen dem Kennen und dem Können. Wo ihm
unter ſeinen Verehrern ſchöpferiſche Begabung begegnete, da thaute er
auf; wie väterlich kam er dem Wunderkinde Felix Mendelsſohn-Bartholdy
entgegen und freute ſich mit den glücklichen Eltern des ſchönen Vereines
von feiner Bildung und echtem Talent. —


Als die Dichtung ſchon in den Herbſt eintrat, begann für die bil-
denden Künſte erſt die Zeit der Blüthe. So lange die Begeiſterung der
Kriegsjahre anhielt wurde die gothiſche Kunſt allgemein als die wahr-
haft deutſche geprieſen. Die Jugend ſchien ſich für immer von den antiken
Idealen abzuwenden, und Schenkendorf rief gebieteriſch: „man ſoll an
keiner deutſchen Wand mehr Heidenbilder ſehn!“ Viele der Freiwilligen
aus dem Oſten lernten auf den Märſchen am Rhein zuerſt den Formen-
reichthum unſerer Vorzeit kennen; ſie meinten in dieſen alten Domen die
allein giltigen Muſterbilder für die vaterländiſche Kunſt zu finden und
bemerkten kaum, daß ihnen in den Kirchen des verhaßten Frankreichs
überall der nämliche „altdeutſche“ Stil begegnete. Wenn ſie zu dem alten
Krahn droben auf dem unvollendeten Thurme des Kölner Domes empor-
ſchauten, dann dachten ſie mit ihrem ritterlichen Sänger: „daß das Werk
verſchoben bis die rechten Meiſter nah’n!“ Der Kronprinz fühlte ſich
ganz überwältigt von dem Anblick der majeſtätiſchen Ruine; auf ſeinen
Betrieb wurde Schinkel nach Köln geſendet und erklärte in ſeinem Gut-
achten: einen ſolchen Bau erhalten, das heiße ihn vollenden.


Von dieſer Stimmung der Zeit ward auch König Friedrich Wilhelm
berührt, als er nach dem erſten Pariſer Frieden beſchloß, das Gedächtniß
der deutſchen Siege durch die Erbauung eines prächtigen altdeutſchen Do-
mes in Berlin zu verherrlichen. In Altpreußen erklang bald nachher von
allen Seiten der Ruf: das herrliche Hochmeiſterſchloß, die von der Roheit
der Polen und dem proſaiſchen Kaltſinn des fridericianiſchen Beamtenthums
ſo ſchändlich verſtümmelte Marienburg müſſe in ihrer alten Pracht wieder
aufgerichtet werden, ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland, das
ſich ſo gern rühmte die anderen Deutſchen zum heiligen Kampfe erweckt
zu haben. Schön, der eifrige Wortführer des altpreußiſchen Provinzial-
ſtolzes, trat an die Spitze des Unternehmens; er dachte dies ſchönſte welt-
liche Bauwerk unſeres Mittelalters zu einem preußiſchen Weſtminſter zu
erheben, woran Jeder aus dem Volke ſeinen Antheil nähme. Der König
übernahm den Wiederaufbau; die dünnen Zwiſchenwände, die ein phili-
ſterhaftes Geſchlecht mitten durch die ungeheuren Säle gezogen hatte, fielen
zuſammen; über den ſchlanken Pfeilern der Remter erhoben ſich wieder
leicht und frei gleich den Fächern der Palmen die alten gothiſchen Ge-
wölbe. Die Ausſchmückung des Ordensſchloſſes überließ man der Nation.
Geld wurde nicht angenommen: wer mithelfen wollte mußte ſelber einen
Theil des Bauwerks künſtleriſch ausſtatten. Der Adel, die Städte, die
Corporationen der verarmten Provinz wetteiferten in Geſchenken, Patrioten
[46]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
aus allen Landestheilen des Staates ſchloſſen ſich an; York ſtiftete die
ſchweren Zinnen über Meiſters Morgenhellem Gemach, Stein hing ſein
Wappenſchild an einem Pfeiler des oberen Burggangs auf. Bald prang-
ten an den bunten Fenſtern die Bilder aus Preußens alter und neuer
Geſchichte; denn grade in dieſen Jahren erwachte die alte Kunſt der Glas-
malerei, die mit ſo vielen anderen Segnungen der Cultur in den Stür-
men des dreißigjährigen Krieges untergegangen war, wieder zu friſchem
Leben. Da ſtanden unter dem ſchwarzundweißen Banner der Ritter vom
deutſchen Hauſe und der Landwehrmann des Befreiungskrieges; die Gym-
naſien des tapferen Grenzlandes ſchenkten ein Fenſter mit Davids Schwert
und Harfe und der Inſchrift: wer kein Krieger iſt ſoll auch kein Hirte
ſein! Alle Herzensgeheimniſſe des romantiſchen Geſchlechts traten bei
dieſen Spenden an den Tag; wie fühlten die Deutſchen ſich glücklich, daß
ſie wieder ein Recht hatten den Helden ihrer großen Vorzeit frei ins Ge-
ſicht zu ſehen. Alles jubelte, als der junge Kronprinz in den mächtigen
Hallen der alten Burg ein Feſtmahl hielt und nach ſeiner enthuſiaſtiſchen
Weiſe den Trinkſpruch ausbrachte: „Alles Große und Würdige erſtehe
wie dieſer Bau!“


Gleichwohl vermochte die gothiſche Richtung in der Kunſt ebenſo wenig
die Oberhand zu erlangen wie die ſchwäbiſchen Dichter in der Poeſie.
Die Ideen Winckelmanns und Goethes behaupteten noch ihre Macht, nir-
gends kräftiger als in Berlin. Hier ſtanden noch die beſten Werke der
deutſchen Spätrenaiſſance, das Schloß, das Zeughaus und Schlüters
Kurfürſtenſtandbild, die Denkmäler einer claſſiſch gebildeten und doch na-
tionalen Kunſtweiſe, verſtändlicher für das moderne Gefühl als die Bauten
des Mittelalters. Hier in dem Mittelpunkte einer großen, aber jungen
Geſchichte mußte die Rückkehr zu den Bauformen des vierzehnten Jahr-
hunderts als willkürliche Künſtelei erſcheinen. Und jetzt erſt begann man
mit den echten Werken der Hellenen vertraut zu werden. Winckelmann
hatte einſt faſt nur die römiſchen Nachbildungen der griechiſchen Kunſt
kennen gelernt und noch gar nicht bemerkt, welchen weiten Weg das Alter-
thum von den doriſchen Zeiten und den goldenen Tagen des Perikles
bis herab zu der Epoche der hadrianiſchen Nachblüthe durchlaufen hatte.
Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts wurde der Boden Griechen-
lands ſelbſt durchforſcht; die Elginſchen Marmorwerke wanderten nach
London, die Aegineten im Jahre 1816 nach München. Mit der Erkennt-
niß wuchs die Bewunderung für die Antike. Zugleich trat in Rom jener
nachgeborene Hellene auf, der wie kein anderer moderner Menſch in der
claſſiſchen Formenwelt lebte und nur durch ein räthſelhaftes Spiel des
Schickſals in dieſe neuen Jahrhunderte verſchlagen ſchien. Eine ſtarke
germaniſche Ader lag doch in Thorwaldſens mächtiger Natur. Den Deut-
ſchen ſprach ſeine Kunſt unmittelbar zum Herzen, ſie zählten den Islän-
der halb zu den Ihren; hatte er doch an dem Nachlaß des Deutſchen
[47]Rauch.
Asmus Carſtens, des kühnen Rebellen gegen die akademiſche Kunſt, ſich
zuerſt gebildet und von ihm gelernt, was in den Werken des Alterthums
wahrhaft lebendig und für alle Zeiten giltig ſei.


Derweil alſo die altdeutſche und die claſſiſche Richtung noch in un-
entſchiedenem Kampfe lagen, geſchah in Berlin eine folgenreiche Wendung.
Während der harten Jahre, da der preußiſche Staat am Rande des
Bankerotts ſtand, verbot ſich die Errichtung monumentaler Kunſtwerke
von ſelbſt. Nur einen künſtleriſchen Plan mochte der unglückliche König
nicht aufgeben: er wollte ſeiner Gemahlin ein würdiges Grabmal errich-
ten, und ſein geſundes natürliches Gefühl führte ihn auch hier auf den
rechten Weg, obwohl er ſich ſelber beſcheiden nur einen Laien in Kunſt-
ſachen nannte. Sein Herz ſehnte ſich nach einem verklärten Bilde der
Geliebten; und da er dunkel empfand, daß die Gothik, die ſeinem nüch-
ternen Weſen ohnehin zu phantaſtiſch vorkam, den Adel der menſchlichen
Geſtalt nicht zur vollen Geltung gelangen läßt, ſo wollte er von einer
altdeutſchen Grabkapelle nichts hören. Umſonſt betheuerte ihm Schinkel,
der während jener Kriegsjahre noch ganz in teutoniſchen Anſchauungen
befangen war: die Architektur des Heidenthums ſei für uns kalt, die harte
Schickſalsreligion der Alten könne den Gedanken des Todes nicht mit der
liebevollen, tröſtenden Heiterkeit des Chriſtenthums darſtellen. Friedrich
Wilhelm ließ inmitten der düſteren Fichten des Charlottenburger Parkes
einen kleinen doriſchen Tempel erbauen, der nur die einfach ernſte Hülle
für das Grab der Königin bilden ſollte; mit der Ausführung des Denk-
mals ſelbſt wurde Chriſtian Rauch beauftragt, der einſt im Dienſte der
Verſtorbenen aufgewachſen, durch ſie in die Kunſt eingeführt, jetzt mit
der ganzen Wärme künſtleriſcher Begeiſterung und perſönlicher Verehrung
ſein Werk begann. Tauſende ſtrömten herbei, als dies Mauſoleum im
Frühjahr 1815 eröffnet wurde, die Meiſten zuerſt nur um das Angeſicht
der geliebten Fürſtin noch einmal zu ſehen. Aber wie ſie ſo dalag, die
liebliche Geſtalt in ihrer ſtillen Hoheit, lebensvoll als ob ſie athme, ſchön
wie ein helleniſches Weib, fromm und friedlich wie eine Chriſtin, jede
Ader der Hände und jede Falte des weißen Marmorgewandes mit der
höchſten techniſchen Sicherheit und Sorgfalt behandelt, da verſpürten ſelbſt
dieſe nordiſchen Maſſen, denen die Sculptur unter allen Künſten am
fernſten liegt, einen Hauch vom Geiſte der Antike. Der Zug der Wall-
fahrer währte fort, jahraus, jahrein; Jedermann fühlte, die deutſche Kunſt
hatte einen ihrer großen Schritte gethan. Rauchs claſſiſch geſchulter, for-
menſtrenger Realismus errang einen durchſchlagenden Erfolg. Die gothi-
ſche Kunſtſchwärmerei verſchwand bald aus der Berliner Geſellſchaft, ſelbſt
der romantiſche Kronprinz wendete ſich allmählich den claſſiſchen Idealen zu.


Mittlerweile waren die Staatsmänner aus Paris heimgekehrt, Har-
denberg noch ganz erfüllt von den mächtigen Eindrücken der Louvre-
Gallerie; Altenſtein und Eichhorn hatten unterwegs auch die Sammlung
[48]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
der Boiſſerees in Heidelberg beſucht. Sie Alle verhehlten nicht, wie dürftig
ihnen das Berliner Kunſtleben neben dem Reichthum des Weſtens er-
ſchien, und waren mit dem König einig in dem Entſchluſſe, daß der
Staat nimmermehr in das banauſiſche Weſen des alten Jahrhunderts
zurückſinken dürfe. Als Altenſtein bald darauf an die Spitze des Unter-
richtsweſens trat, nahm er ſich vor, das mit der Berliner Univerſität be-
gonnene Werk Wilhelm Humboldts fortzuführen und die preußiſche Haupt-
ſtadt auch zu einer Heimſtätte deutſcher Kunſt zu erheben. Das Mäce-
natenthum König Friedrichs I. hatte immer zunächſt an den Glanz des
Hofes gedacht; jetzt da die preußiſche Krone ſich zum zweiten male der
bildenden Künſte mit Eifer annahm war ſie ſich der großen Culturauf-
gaben des Staates endlich bewußt geworden. Die Pflege der Kunſt er-
ſchien ihr nunmehr als eine Pflicht der ſittlichen Volkserziehung, damit
„aus dem Publikum etwas werde“, wie Schinkel zu ſagen pflegte; ſie dachte
groß von der Freiheit des Künſtlers und begnügte ſich, den ſchöpferiſchen
Köpfen würdige Aufgaben zu ſtellen ohne ſie in ihrer Eigenart zu mei-
ſtern. Aber dieſer vornehmen Geſinnung des Königs entſprachen die Kräfte
des erſchöpften Staatshaushalts keineswegs. Preußen mußte wieder ein-
mal, wie ſchon ſo oft, verſuchen mit armſeligen Mitteln Großes zu ſchaffen,
und zur rechten Zeit erſchien der rechte Mann.


Ein univerſaler Geiſt, wie die deutſche Kunſt ſeit Dürers Tagen
keinen mehr geſehen, zugleich Baumeiſter, Bildhauer, Maler, Muſiker
und, wenn er ſchrieb, immer des edelſten, wirkſamſten Wortes ſicher,
hielt Karl Friedrich Schinkel ſeine Augen unverwandt auf die höchſten
Ziele der Kunſt gerichtet: das Kunſtwerk war ihm „ein Bild der ſittlichen
Ideale der Zeit“. Thätig, ſchöpferiſch in jedem Augenblicke, ein Verächter
der Trägheit, nannte er das Phlegma einen ſündhaften Zuſtand in Zeiten
der Bildung, einen thieriſchen in den Zeiten der Barbarei. Mit gan-
zem Herzen hing er an ſeiner märkiſchen Heimath. Nun er dieſen Staat
im Glanze ſiegreicher Waffen ſtrahlen und den Kampf des Lichtes gegen
die Finſterniß, der ihn ſelbſt ſo oft in ſeinen Künſtlerträumen beſchäftigte,
glorreich beendigt ſah, ſchien ihm die Zeit gekommen auch die Anmuth
und die Fülle einer gereiften Cultur in das preußiſche Leben einzuführen
und Berlin in einen heiteren Sitz der Muſen zu verwandeln. Wie einſt
Palladio ſeinem Vicenza ſo dachte er der preußiſchen Hauptſtadt den
Stempel ſeines Geiſtes aufzuprägen: in der Mitte das Schloß, die Uni-
verſität, die Theater und Muſeen, ringsumher ſtatt der eintönigen Zeilen
niederer Häuſer ſtattliche Palazzi und freundliche Villen mit fließenden
Brunnen, Alles im friſchen Grün der Gebüſche verſteckt, an der Stadt-
mauer prächtige Thore und draußen vor dem Leipziger Platze ein hoher
gothiſcher Dom, das Siegesdenkmal des Befreiungskrieges. Aber wäh-
rend jenem glücklichen Vicentiner ein Geſchlecht reicher Signoren uner-
ſchöpfliche Mittel darbot und ihm die Vaterſtadt wie einen Haufen weichen
[49]Schinkel.
Thones zu beliebiger Formung in die Hand gab, hatte der preußiſche
Künſtler ſein Leben lang mit der nothgedrungenen Sparſamkeit des Mon-
archen und ſeiner Beamten zu kämpfen. Dem muß man einen Zaum
anlegen! — ſagte der König lächelnd, ſo oft der Unerſchöpfliche wieder
mit einem neuen Vorſchlage herantrat. Kaum der zwanzigſte Theil ſeiner
kühnen Pläne gelangte zur Ausführung. Wie viel Mühe hat es ihn ge-
koſtet, auch nur die baufälligen Statuen auf dem Dache des Schloſſes,
die das Beamtenthum abbrechen wollte, vor der Vernichtung zu retten.
Statt des edlen Hauſteins, der ihn in Italien entzückt hatte, mußte er
ſich zumeiſt mit verputztem Backſtein, ſtatt des Erzes mit Zinkguß be-
helfen. Gleichwohl genügte dieſer armſelige Bruchtheil ſeiner Entwürfe,
neben den Werken der Schlüterſchen Epoche, um der Baukunſt Berlins
für immer ihren Charakter aufzuprägen.


Schinkel befreite ſich bald von dem teutoniſchen Rauſche der Kriegs-
jahre. Er erkannte, daß die vielgeſtaltige moderne Bildung ſich nicht auf
Einen Bauſtil beſchränken darf, und ließ die Kunſtformen des Mittel-
alters gelten, wo ſie durch Lage und Bedeutung des Bauwerks bedingt
ſchienen. Für ſeine eigenſten Ideale aber fand er jetzt den rechten Aus-
druck in einer neuen Form der Renaiſſance, die ſich enger als die Kunſt
des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts an die Werke der Alten,
vornehmlich der Hellenen, anſchloß und doch immer verſtand dem Sinn
und Zweck moderner Bauten gerecht zu werden. Gleich an ſeinem erſten
größeren Werke, der neuen Hauptwache, ſprach die kriegeriſche Beſtimmung
des Gebäudes ſo mächtig und trutzig aus den ſtrengen, gedrungenen dori-
ſchen Formen, daß der Beſchauer den überaus beſcheidenen Umfang faſt
vergaß und ſich an Sanmichelis majeſtätiſche Feſtungswerke gemahnt fühlte.
Als bald darauf, im Jahre 1817, das Schauſpielhaus abbrannte und
das kargende Beamtenthum die Benutzung der alten Brandmauern für
den Neubau forderte, da wußte er wieder aus der Noth eine Tugend zu
machen; und bald erhob ſich zwiſchen den beiden prächtigen Kuppeln der
Gensdarmenkirchen über einer hohen Freitreppe ein feſtlich heiterer ioni-
ſcher Tempel, die Giebel und Treppenwangen mit reichem Bildnerwerk
geſchmückt — denn auf das Zuſammenwirken aller Künſte ging jeder
ſeiner Pläne aus — der ganze Bau ein getreues Bild dieſer geiſtig ſo
reichen, wirthſchaftlich ſo armen Epoche, genial im Entwurfe, aber in der
Ausführung vielfach eng und dürftig.


Seitdem ſtand Schinkel feſt in der Gunſt des Königs und übernahm
die Leitung alles künſtleriſchen Schaffens in Preußen, nur daß ihm die
leidige Geldnoth immer wieder die Fittiche ſeines Genius beſchnitt. In
ganz Norddeutſchland und bis nach Skandinavien hinüber gelangte ſeine
claſſiſche Richtung zur Herrſchaft. Die Pläne für den Berliner Dom
wurden aufgegeben, weil die Mittel fehlten. Statt deſſen entſtand das
ſchöne Siegesdenkmal auf dem Kreuzberge. Das Denkmal ſelbſt hatte
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 4
[50]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Schinkel in den gothiſchen Formen, die noch immer als die nationalen
galten, entworfen; nur in den Sculpturwerken, womit Rauch und Tieck
die Säule ſchmückten, entfaltete ſich die Freiheit des neuen claſſiſchen
Stiles. Auf allen den Schlachtfeldern aber, wo Preußens Heere ge-
ſchlagen hatten, auf dem Windmühlenberge von Großbeeren wie auf dem
hohen Todtenhügel bei Plancenoit in der brabantiſchen Ebene errichtete
der verarmte Staat überall die nämliche kümmerliche gothiſche Spitzſäule
mit der Inſchrift: „Die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vater-
land. Sie ruhen in Frieden.“ Schinkel wußte, daß die monumentale
Kunſt ein Treibhausleben führt ſo lange das Alltagstreiben des Volkes
ſchmucklos und häßlich bleibt. Er ſah mit Schmerz den nüchternen Ka-
ſernenſtil der Bürgerhäuſer, den armſeligen Hausrath der engen Zimmer.
Wie kläglich lag das deutſche Kunſtgewerbe darnieder, das einſt ſo rühm-
lich mit den Italienern gewetteifert hatte; zu jeder größeren künſtleriſchen
Unternehmung mußte man Arbeiter aus der Fremde herbeirufen, Stein-
metzen aus Carrara, Kupferſtecher aus Mailand, Erzgießer aus Frank-
reich. Er aber fühlte ſich ſtolz als der Apoſtel der Schönheit unter den
nordiſchen Völkern und gab daher, nachdem im Jahre 1821 das Berliner
Gewerbe-Inſtitut gegründet war, im Verein mit dem genialen Techniker
Beuth die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker heraus, eine Samm-
lung von Muſterblättern für häusliches Geräth, die in unzähligen Nach-
bildungen allmählich bis in jede Werkſtatt drangen und zuerſt den For-
menſinn im deutſchen Handwerk wieder erweckten, mochten immerhin ein-
zelne Muſter dem maleriſch geſtimmten modernen Auge allzu kahl und
einfach erſcheinen.


Unterdeſſen hatte Rauch in dem alten Markgrafenſchloſſe, dem Lager-
hauſe, ſeine Werkſtatt aufgeſchlagen und erzog dort, ein geſtrenger Lehrer,
einen Stamm von treuen Schülern und geübten Kunſthandwerkern, alſo
daß die deutſche Kunſt allmählich der fremden Hilfe entrathen lernte.
Wie er ſelber ohne wiſſenſchaftliche Vorbildung erſt durch das künſtleriſche
Schaffen ſelbſt in die Welt der Ideen hineingewachſen war, ſo ſah er
auch bei ſeinen Schülern allein auf das Können; tüchtige Klempner, Stein-
metzen, Holzſchneider von ſicherem Blick und geſchickter Hand waren ihm
willkommener als junge Gelehrte. Vor jener Ueberbildung, die unſere
Dichter nicht ſelten auf Abwege führte, blieb die Bildnerkunſt bewahrt.


Feſt und ſicher ſchritt Rauch in dem angehobenen Gange fort; die teu-
toniſchen Träume beirrten ihn nie. Er fühlte ſich eins mit dem preußiſchen
Staate und ſeinem Herrſcherhauſe, und ihm wurde das ſeltene Glück, in
ſeinen Kunſtwerken zugleich ſeine politiſchen Ideale, Alles was ſeinem Herzen
theuer war zu verkörpern. Welch ein Segen doch, daß die ganze Nation
ſich endlich wieder gemeinſam eines großen Erfolges freuen durfte. Wäh-
rend früherhin nur die Landesherren zuweilen ein Denkmal errichtet hatten,
erwachte jetzt im Volke ſelber der Wunſch ſeine Helden zu ehren. Zuerſt
[51]Kunſtpflege in Preußen.
traten die Mecklenburger zuſammen und ließen durch Gottfried Schadow
ihrem Landsmanne Blücher ein Standbild errichten, das erſte größere
Werk der neu erſtandenen deutſchen Erzgießerei. Nachher wurde in Schle-
ſien geſammelt und Rauch aufgefordert, dem Feldherrn des ſchleſiſchen
Heeres dort neben dem Breslauer Ringe, wo ſich einſt die Freiwilligen
zuſammengeſchaart hatten, ein Denkmal zu ſetzen. Dann verlangte auch der
König Monumente für ſeine Generale, zunächſt für die früh Verſtorbenen,
Scharnhorſt und Bülow. Ein weites Gebiet großer, lohnender Aufgaben
erſchloß ſich dem Künſtler, der zugleich für den bildneriſchen Schmuck der
Schinkelſchen Bauten mit zu ſorgen hatte und das Erz wie den Marmor
gleich glücklich zu bewältigen verſtand. Ernſt, [mannhaft] und edel, natur-
getreu und doch in hohem Stile gehalten, ſo erſchienen die Bilder ſeiner
Helden; und ſelbſt jenen leiſen Zug der Steifheit, der ihnen anhaftete,
durfte man nicht ſchelten, weil er dem Charakter des preußiſchen Heeres
entſprach. In ſeinen mächtigſten Werken, den Reliefs für die Denkmäler
Scharnhorſts und Bülows erhob ſich Rauch zu einem heroiſchen Schwunge,
den unſere Bildnerkunſt nicht wieder überboten hat, und ſchilderte mit
den einfachſten Mitteln, in wenigen majeſtätiſchen Geſtalten den ganzen
Verlauf des Kampfes von den Tagen an, da Preußens Jünglinge ſich
aus Fichtenſtämmen ihre Lanzen ſchnitzten bis zu dem ſtolzen Siegesfluge
ihres Adlers hoch über die Feſtungen Niederlands und Frankreichs da-
hin. Rauch wurde der Hiſtoriker des deutſchen Befreiungskrieges gleich-
wie einſt Rembrandt und Bol, van der Helſt und Flinck den Geiſt und
Sinn des achtzigjährigen Krieges der Niederländer der Nachwelt über-
liefert hatten.


Zugleich geſchahen die erſten Schritte um den Plan eines großen
Muſeums in der Hauptſtadt zu verwirklichen. Der Gedanke war ſchon in
den erſten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms aufgetaucht und nachher,
als W. Humboldt das Unterrichtsweſen leitete, ernſtlicher erwogen wor-
den. Nunmehr erwarb der König, um die Staatskaſſen zu ſchonen, die
beiden großen Gemäldeſammlungen von Giuſtiniani und Solly aus den
Mitteln ſeiner Schatulle und überließ ſie dem Staate. Er befahl den
Beamten über die Verhandlungen mit Solly ſtreng zu ſchweigen; denn
die kunſtfreundlichen Abſichten ſeiner Regierung fanden vorerſt nur in
einem kleinen Kennerkreiſe verſtändige Würdigung; man fürchtete, daß
die verſtimmte öffentliche Meinung, die mit peſſimiſtiſchem Behagen den
Zuſtand des Staates in den finſterſten Farben darzuſtellen liebte, den
Monarchen der Verſchwendung anklagen würde ſtatt ihm für ſeine Hoch-
herzigkeit zu danken. Der ebenfalls beabſichtigte Ankauf der Boiſſeree-
ſchen Gallerie mußte freilich unterbleiben, da der Brand des Schau-
ſpielhauſes alle noch verfügbaren Mittel verſchlang. Doch wurden die
beſten Stücke der Sammlung durch die neue, kürzlich von Sennefelder
erfundene Kunſt des Steindrucks nachgebildet und weithin verbreitet, ſie
4*
[52]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
bildeten den erſten künſtleriſchen Zimmerſchmuck des verarmten deutſchen
Hauſes.


Die deutſchen Maler in Rom hatten indeſſen an Bartholdy, einem
Verwandten des kunſtſinnigen Mendelsſohnſchen Hauſes, einen unter-
nehmenden Gönner gefunden. Der ſtellte ihnen die breiten Wände ſeines
Palaſtes in der Via Siſtina zur Verfügung, damit ſie ſich in der Kunſt
des Fresco, die ſeit Raphael Mengs völlig eingeſchlafen war, wieder ver-
ſuchen könnten. In fröhlichem Wetteifer malten nun Cornelius, Over-
beck, Veit und Wilhelm Schadow, durch Niebuhrs Beifall ermuthigt,
die großgedachten Bilder aus der Geſchichte Joſephs. Cornelius begrüßte
jubelnd die Fresco-Malerei als ein „Flammenzeichen auf den Bergen zu
einem neuen edlen Aufruhr in der Kunſt“, weil ſie den Malern endlich
wieder ein Feld für monumentale Werke eröffne und in ihrer herben
Strenge die Gedankenarmuth wie die Pfuſcherei unnachſichtlich ausſchließe.
Die Kunſt — ſo rief er in dem eigenthümlichen terroriſtiſchen Tone der
jungen Teutonen — die Kunſt ſoll endlich aufhören eine feile Dienerin
üppiger Großen, eine Krämerin und niedere Modezofe zu ſein. Gleich
Schinkel ſah er die Zeit kommen, da die Kunſt an den Mauern unſerer
Städte von innen und außen wiederglänzend das ganze Daſein des Volks
umgeſtalten und heiligen werde. Mit dem ſicheren Stolze eines Refor-
mators der nationalen Geſittung kehrte er über die Alpen zurück, als ihn
nunmehr der junge Kronprinz Ludwig von Baiern nach München berief.


Der Erbe der reichen und allezeit bauluſtigen Wittelsbacher meinte
ſich berufen, in dem bairiſchen Lande, das ſoeben erſt in das geiſtige
Leben der Nation wieder eingetreten war, einen glänzenden Muſenhof zu
gründen. Eine lautere Begeiſterung für die Kunſt wie für den Ruhm
ſeines vergötterten deutſchen Vaterlandes beſeelte den geiſtreichen, phan-
taſtiſchen Fürſten. Die diplomatiſche Welt erzählte ſich kopfſchüttelnd, wie
er zu Rom in altdeutſchem Rocke, Arm in Arm mit dem verdächtigen
demagogiſchen Dichter Friedrich Rückert, die Muſeen und Kirchen durch-
wandert, wie er die deutſchen Maler zutraulich mit ſeinen holprigen Verſen
begrüßt, bei ihren Künſtlerfeſten auf die Vernichtung der Philiſterei und
die Einheit Teutſchlands lärmend mit angeſtoßen hatte. Bei allen ſeinen
künſtleriſchen Plänen wirkte zugleich ein unſteter dynaſtiſcher Ehrgeiz mit:
er hoffte die gründlich verachteten preußiſchen Hungerleider und Empor-
kömmlinge zu überbieten, dem bairiſchen Hauſe durch ein großartiges
Mäcenatenthum die führende Stellung in Deutſchland zu verſchaffen.
Welch ein Gegenſatz zu der Kunſtthätigkeit in Berlin! Dort geſchah nur
was ſich aus der Geſchichte und den Lebensbedürfniſſen eines mächtigen,
an geiſtigen Kräften reichen Staates unabweisbar ergab, die von großen
Künſtlern in ungeſtörter Freiheit geſchaffenen Werke trugen das Gepräge des
Nothwendigen. In München baute man um zu bauen, auf einem Boden,
der von großen Erinnerungen wenig darbot; die von auswärts berufenen
[53]Kronprinz Ludwig. Cornelius.
Künſtler genoſſen einer königlichen Freigebigkeit, welche von der preußiſchen
Sparſamkeit glänzend abſtach, doch ſie fühlten ſich in der Fremde und
hatten noch lange unter dem Mißtrauen der einheimiſchen Bevölkerung
zu leiden; über Allem ſchaltete der launiſche, unberechenbare Wille Eines
Mannes, der in ungeduldiger Haſt von Entwurf zu Entwurf hinüber-
ſprang und was er bezahlte ganz unbefangen als ſein eignes Werk be-
trachtete. Der friedliche Wettkampf der beiden Städte beförderte die viel-
ſeitige Entwicklung unſerer Kunſt. Er führte zuletzt zu dem natürlichen
Ergebniß, daß die weſentlich monumentalen Künſte der Architektur und
Bildhauerei auf dem hiſtoriſchen Boden Berlins ihre größten Erfolge er-
rangen, während die freiere, von der Gunſt der Umgebung minder ab-
hängige Malerei in München ihre Heimath fand.


Kronprinz Ludwig hatte ſchon ſeit Jahren Ausgrabungen in Grie-
chenland veranſtaltet, dann in Italien zuſammengebracht was von den
beſten Werken der antiken Bildhauerkunſt nur irgend aufzukaufen war, und
ließ nun für dieſe Sculpturenſammlung, die ſchönſte dieſſeits der Alpen,
draußen vor den Thoren des alten Münchens durch Klenze einen würdigen
Tempel errichten, die Glyptothek, ganz aus edlem Marmor, mit der ge-
diegenen Pracht ſüdländiſcher Bauten. Das Gebäude ſelbſt reichte an die
geniale Eigenthümlichkeit der Werke Schinkels nicht heran, jedoch an den
Wänden und Decken der prächtigen Säle offenbarte Cornelius zum erſten
male den ganzen Umfang ſeiner Begabung. Hier ſchuf er, als ein Epiker
in Farben, den erſten jener großen Gemälde-Cyklen, in denen der Ideen-
reichthum ſeines raſtlos erfindenden Geiſtes allein den angemeſſenen Raum
fand: die grandioſen Bilder aus der helleniſchen Sagenwelt. Die Maſſe
der Münchener ſpottete über das verrückte Kronprinzenhaus, ſie wußte
nichts anzufangen mit der tiefſinnigen Symbolik dieſer Gedankenmalerei,
die ihre Werke meiſt ſchon im Carton vollendete und auf den Reiz der
Farbe faſt gänzlich verzichtete. Ernſtere Naturen bewunderten, wie der
verwegene Idealiſt die keuſche Hoheit der Antike ſo getreu wiedergab
und doch zugleich eine den Alten unfaßbare Macht der Leidenſchaft aus
ſeinen Gemälden ſprach; denn niemals hatte ein Künſtler des Alterthums
eine ſo ganz von Seelenſchmerz zerwühlte Geſtalt geſchaffen wie dieſe
trauernde Hecuba. Die chriſtlich-germaniſchen Heißſporne des römiſchen
Künſtlerkreiſes bemerkten mit Entſetzen, daß ihr erſter Mann ſich den ge-
haßten Heiden Winckelmann und Goethe wieder näherte und die von Berlin
ausgehende neuclaſſiſche Richtung überall den Sieg davon trug. Die einſt
ſo fruchtbare Schule von S. Iſidoro ging allmählich auseinander; ihre
Genoſſen kehrten heim, die Meiſten widmeten ſich einer ſtreng kirchlichen
Kunſt, die nur in Anachronismen lebte. Von den Namhaften hielt nur
Overbeck am Tiber aus, ein treuer Bekenner der alten nazareniſchen
Grundſätze. Er aber wußte die enge Welt von chriſtlichen Geſtalten, die
ihm die einzige war, durch den Tiefſinn und die Wärme ſeines gläubigen
[54]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Gemüths alſo zu verklären, daß ſelbſt die Italiener ihn endlich wie einen
neuen Fra Angelico ehrten und dem frommen Convertiten noch die Freude
ward das Bethaus des heiligen Franciscus in der Portiuncula-Kirche zu
Aſſiſi mit ſeinen ernſten Bildern zu ſchmücken. — Wie Berlin ſo ſollte
auch München ſeine große Gemäldegalerie erhalten. Die Boiſſereeſche
Sammlung, die den Preußen zu theuer geweſen, wurde nach Jahren
endlich für Baiern erworben. Ihre Hauptwerke bildeten mit denen der
Düſſeldorfer Galerie, die man während der Revolutionskriege widerrecht-
lich dem bergiſchen Lande entfremdet hatte, den Stamm für die Mün-
chener Pinakothek.


Dergeſtalt war binnen weniger Jahre ein vielgeſtaltiges neues Leben
in der bildenden Kunſt erwacht, und nach und nach begannen faſt alle
deutſchen Höfe dieſe jungen Kräfte ſorgſam zu pflegen; man fühlte ſich
verpflichtet die Nation für ihre ſo bitterlich getäuſchten politiſchen Hoff-
nungen irgendwie zu entſchädigen. Auch die ehrwürdigen Ueberreſte alt-
heimiſcher Kunſt, die unter dem Aufklärungswahne des vergangenen Jahr-
hunderts ſo ſchwer hatten leiden müſſen, fanden jetzt allenthalben treue
Beſchützer, und es galt ſchon als ein unerhörtes Zeichen vandaliſcher
Roheit, daß die Stadt Goslar ihren Dom, den erinnerungsreichſten der
Sachſenlande, noch im Jahre 1820 abtragen ließ. —


Keine andere Kunſt aber hat in der Epoche der deutſchen Romantik
ſo reife und durchweg geſunde Früchte gezeitigt wie die Muſik. Sie ſtand
dem deutſchen Genius von jeher am nächſten; in ihr bethätigte ſich der
Formenſinn der Germanen immer mit naiver Urſprünglichkeit, ganz un-
getrübt durch jene leidige Kritik, die ihn ſonſt ſo oft im freien Schaffen
ſtörte. Sie blieb den Deutſchen treu auch als unſer geiſtiges Leben faſt
erſtorben ſchien; ſelbſt das öde Jahrhundert, das dem Weſtphäliſchen Frie-
den voranging, erhob ſich das Herz an den ſeelenvollen Klängen des
lutheriſchen Kirchenlieds. Nachher, in einer Zeit da die neue Bildung
der Nation kaum im Entſtehen war, ſchufen Händel und Bach ihre claſſi-
ſchen Werke, bis endlich während der Blüthezeit unſerer Dichtung die
deutſche Muſik durch Gluck, Haydn, Mozart zu einer Höhe emporge-
hoben wurde, die kein anderes Volk je erreicht hat. Dem vielſeitigſten
der Dichter trat der vielſeitigſte aller Tonſetzer an die Seite. Beide dank-
ten der geheimnißvollen Kraft der unmittelbaren Eingebung eine wunder-
bare Leichtigkeit des Schaffens; aber wie viel einfacher und natürlicher war
Mozarts Loos! Er ſchuf für eine Hörerſchaft, die ihm mit dankbarer
Empfänglichkeit folgte, und lebte in traulichem Verkehre mit den Sängern
und Muſikern, denen er ſeine Rollen auf den Leib ſchrieb. So ward
jedes ſeiner Werke ein abgerundetes Ganzes; alle die fragmentariſchen
Verſuche und halben Anläufe, welche Goethe in ſeiner Einſamkeit nicht
vermeiden konnte, blieben ihm erſpart. Die Muſik vereinigte, mehr noch
als die Literatur, Alles was deutſchen Blutes war zu gemeinſamer Freude;
[55]K. M. v. Weber.
die Mehrzahl der großen Tonſetzer gehörte durch die Geburt oder durch
langen Aufenthalt den öſterreichiſchen Landen an, die an der Arbeit
unſerer Dichtung ſo wenig Antheil nahmen, und fand grade dort das
freudigſte Verſtändniß.


Noch bei Mozarts Lebzeiten trat jener Gegenſatz des Naiven und des
Sentimentalen hervor, der, im Weſen aller Künſte begründet, in den
Zeiten ihrer reichſten Entfaltung ſich unfehlbar offenbaren muß. Wie
einſt Michel Angelo neben Raphael, Schiller neben Goethe, ſo erſchien
Beethoven neben Mozart, ein pathetiſcher Genius, der mit dämoniſcher
Kraft faſt über die Schranken ſeiner Kunſt hinaus in’s Unendliche ſtrebte,
ein Sänger der Freiheit, des männlichen Stolzes, ganz erfüllt von den
Ideen der Menſchenrechte. Die Widmung ſeiner Eroica, die er dem
Erben der Revolution, Bonaparte zugedacht hatte, zerriß er und trat ſie
mit Füßen als er von den Gewaltthaten des Despoten erfuhr. Nie ſchuf
er Größeres als wenn er den uralten Lieblingsgedanken der freien Ger-
manen, den Sieg des hellen Geiſtes über das dumpfe Verhängniß ſchil-
derte, wie in der C moll Symphonie. War er doch ſelber, der taube
Beherrſcher der Töne, ein lebendiger Zeuge für die Wunderkraft des gott-
begeiſterten Willens. Selbſt die blaſirte Geſellſchaft des Wiener Con-
greſſes riß er hin durch das hohe Lied der Treue, den Fidelio; dem ver-
wegenen Fluge ſeiner ſymphoniſchen Tondichtungen aber vermochte erſt ein
ſpäteres Geſchlecht ganz zu folgen.


Die Entwicklung unſerer Muſik trug von Haus aus einen rein
nationalen Charakter, ſie konnte daher auch von den romantiſchen Stim-
mungen und den großen Ereigniſſen der Zeit nicht unberührt bleiben.
Gleich nach dem Kriege gab Karl Maria v. Weber dem Schwertliede,
dem Liede von Lützows wilder Jagd und anderen Geſängen Körners die
muſikaliſche Geſtaltung, die ihnen erſt die Unvergänglichkeit ſicherte und
in tauſenden junger Herzen die Begeiſterung des Befreiungskrieges wach
hielt. Ein bewußter Vorkämpfer vaterländiſcher Geſinnung und Bildung,
übernahm er ſodann die Leitung der neugegründeten deutſchen Opernge-
ſellſchaft in Dresden, und ihm gelang, die italieniſche Opernbühne, die
der Hof nach der Gewohnheit des alten Jahrhunderts noch als die vor-
nehmere begünſtigte, gänzlich in den Schatten zu ſtellen; ſelbſt die Preſſe
rief er zu Hilfe um ſeine Landsleute in das Verſtändniß der heimiſchen
Kunſt einzuweihen. Der gemüthvolle Holſte war auf weiten Wander-
fahrten faſt in jedem Winkel deutſcher Erde mit Land und Leuten wohl
vertraut geworden; und recht aus dem Herzen ſeines Volkes heraus ſchuf
er die erſte deutſche romantiſche Oper, den Freiſchütz, ein Werk voll
jugendlicher Friſche, das alle Luſt und allen Spuk des deutſchen Waldes
ſo naiv und treu ſchilderte, daß die Nachwelt ſich heute kaum vorſtellen
kann, es hätte jemals eine Zeit gegeben, da der deutſche Waidmann noch
nicht zu den Klängen des Waldhorns ſang: was gleicht wohl auf Erden
[56]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
dem Jägervergnügen? Zur ſelben Zeit erhielt das deutſche Lied durch
einen fromm beſcheidenen Wiener Künſtler, Franz Schubert, ſeine höchſte
Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimſten Seelenſtimmungen ſtand
ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethiſchen Dichtung
zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben
Konradin Kreutzer einen congenialen Componiſten.


Von jenem katholiſirenden Weſen, das ſo viele Poeten der Romantik
ankränkelte, hielt ſich die romantiſche Muſik völlig frei, obgleich die mei-
ſten unſerer namhaften Tonſetzer der katholiſchen Kirche angehörten. Sie
ſprach ſchlicht und recht das Allen Gemeinſame aus, ſie verwirklichte
durch die That das von den romantiſchen Dichtern ſo oft geprieſene, aber
nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunſt; und
da der Dilettantismus in keiner Kunſt ein ſo gutes Recht hat wie in der
Muſik, ſo zog ſie auch bald das Volk ſelber zu freier Mitwirkung heran.
Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Muſikfreunde zu der
Singakademie zuſammengetreten um bei der Aufführung Händelſcher Ora-
torien und ähnlicher Werke den Chorgeſang zu übernehmen. Zelter, der
derbe, warmherzige Freund Goethes ſtiftete dann im Jahre 1808 zu
Berlin die erſte deutſche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern,
Sängern und Componiſten zur Pflege des Geſanges. Mehrere andere
norddeutſche Städte folgten nach. In dem preußiſchen Volksheere nahm
während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowſche Frei-
ſchaar beſaß bereits einen geſchulten Sängerchor, und ihr Beiſpiel fand
nach dem Frieden in vielen preußiſchen Regimentern Nachahmung.


Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Geſang-
bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgeſang „das
eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunſt“ und for-
derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre ſpäter entſtand
dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder-
kränze Süd- und Mitteldeutſchlands, die nach der zwangloſen, demokra-
tiſchen Weiſe des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder-
zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des
Nordens, und ſich nicht ſcheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän-
gerfeſten vor das Volk hinauszutreten. Die Muſik wurde die geſellige
Kunſt des neuen Jahrhunderts, wie die Beredſamkeit im Zeitalter des
Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutſche Feſt, recht
eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges-
luſt, wie nie mehr ſeit den Tagen der Meiſterſinger. Man empfand
lebhaft, wie mit dieſer neuen edleren Geſelligkeit ein freierer Luftzug in
das Volksleben kam, und rühmte gern, daß „vor des Geſanges Macht der
Stände lächerliche Schranken fielen“. Unzählige kleine Leute empfingen
allein durch den Geſang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und
Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben dieſem reichen
[57]Der Männergeſang.
Segen kam kaum in Betracht, daß der unbeſtimmte Enthuſiasmus, wel-
chen die geſtaltloſe Muſik erweckt, manchen deutſchen Träumer in der
verſchwommenen Schwärmerei ſeiner Gemüthspolitik beſtärkte.


Das neue Geſchlecht hatte doch nicht umſonſt ſeine Kraft in einem
Volkskriege geſtählt, und nicht umſonſt war während zweier Menſchen-
alter, auf jeder Entwicklungsſtufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur
Natur, zum einfach Menſchlichen gepredigt worden. Allenthalben began-
nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und,
ohne daß ſie es ſelber noch recht bemerkte, demokratiſcher zu werden; die
Zeit des Stubenhockens, der ängſtlich abgeſchloſſenen Caſinos und Kränz-
chens neigte ſich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent-
behrte Reiſen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große
Tour durch Europa einſchlugen, deren romantiſche Hauptſtationen Lord
Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, ſuchten die genügſamen
Deutſchen mit Vorliebe die beſcheidene Anmuth ihrer heimiſchen Mittel-
gebirge auf. Die Felſen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer Gö-
tzinger vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der
Sächſiſchen Schweiz geprieſen; Gottſchalcks Führer durch den Harz gab
zuerſt Rathſchläge für Gebirgswanderungen, und ſeit Reichard ſeinen
„Paſſagier“ veröffentlichte nahm die Zahl der Reiſehandbücher allmählich
zu. Die Reiſenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menſchen-
werk aufgeſucht, all das Seltſame und Abſonderliche, was im Curieuſen
Antiquarius verzeichnet ſtand; die neue Zeit bevorzugte die romantiſchen
Reize der maleriſchen Landſchaften und die ſagenreichen Erinnerungsſtätten
der vaterländiſchen Geſchichte. Das früherhin ſo beliebte Reiſen zu Pferde
kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in
ſeinen jungen Jahren die deutſchen Lande zu Fuß durchſtreifte, fand er
faſt überall nur Handwerksburſchen als Reiſegefährten; jetzt kam die Poeſie
des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein
rechter Turner war mußte ſich auf den Dauerlauf verſtehen. Eine neue
Welt unſchuldiger Freuden ging der deutſchen Jugend auf, ſeit überall in
Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren
von Studenten oder Künſtlern ſingend ihres Weges zogen. Jede verfallene
Burg und jeder ausſichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Nachts nahmen
die munteren Geſellen gern mit der Streu im Bauernwirthshauſe vorlieb
oder ſie onkelten bei einem gaſtfreien Pfarrherrn. Mit der Guitarre über
der Schulter wanderte Auguſt v. Binzer, der Stolz der Jenenſer Bur-
ſchenſchaft, glückſelig durch ganz Deutſchland, und in allen Dörfern ſtrömte
das junge Volk zuſammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou-
badours zu lauſchen.


Auch die politiſche Geſinnung des heranwachſenden Geſchlechts ward
durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend
erlebte ſich den Gedanken der nationalen. Einheit, ſie fühlte ſich überall
[58]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
auf deutſchem Boden heimiſch; ſie lernte, daß der Kern unſeres Volks-
thums trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen in allen deutſchen
Gauen derſelbe iſt, und ſah mit wachſendem Unwillen auf die künſtlichen
trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk
gezogen hatte. Leider wurden faſt nur die Norddeutſchen dieſer Erkennt-
niß theilhaftig. Da Niederdeutſchland von den romantiſchen Herrlichkeiten,
welche dieſem Geſchlechte allein als ſehenswerth galten, nur wenig bot,
ſo kamen die Süddeutſchen ſelten aus ihren ſchönen heimiſchen Bergen her-
aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte,
der nicht etwas von Land und Leuten des Südens geſehen, blühte im
Oberlande die particulariſtiſche Selbſtgefälligkeit, das Kind der Unkennt-
niß. Süddeutſchland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge-
häſſigen Stammesvorurtheile. Im Norden fanden ſich, außerhalb Ber-
lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutſchen Verſtand und
Bildung abſprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Läſterrede,
den Norddeutſchen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer ſtellte
ſich die Landſchaften nördlich des Mains wie eine endloſe traurige Ebene
vor und meinte, unter dieſem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand
und äſthetiſcher Thee, Kritik und Junkerthum.


Der mächtige Umſchwung der geſammten Weltanſchauung, der ſich
innerhalb der deutſchen Wiſſenſchaft, ſeit ihrer Einkehr in das hiſtoriſche
Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegenſatz des alten und neuen
Jahrhunderts fand ſchon zur Zeit des Wiener Congreſſes einen denk-
würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, deſſen tiefer Sinn im
Ausland noch gar nicht, in Deutſchland ſelbſt nur von Wenigen ganz
begriffen wurde. Die erſehnte Wiederaufrichtung des deutſchen Reichs
war durch den raſchen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um ſo lei-
denſchaftlicher hielten die enttäuſchten Patrioten an den Hoffnungen feſt,
deren Erfüllung man auch unter dem Deutſchen Bunde noch als möglich
anſah; und von dieſen erſchien keine ſo billig, ſo beſcheiden wie das Ver-
langen nach Einheit des nationalen Rechts. Ueber die nothwendige Be-
ſeitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und
Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun ſtatt der franzö-
ſiſchen Geſetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht
der römiſchen Juriſten, das die teutoniſchen Eiferer als den Todfeind
germaniſcher Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wuſt von Lokal-
Rechten, deſſen buntſcheckige Mannichfaltigkeit den Patrioten wie den Phi-
loſophen gleich anſtößig war? Die Stunde ſchien gekommen, durch ein
nationales Geſetzbuch das fremdländiſche Weſen und den Particularis-
mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des
[59]Thibaut. Hugo.
Naturrechts durch die Rechtsphiloſophen des alten Jahrhunderts längſt
feſtgeſtellt; wenn ſich nur ein weiſer, thatkräftiger Geſetzgeber fand, ſo
konnte es nicht ſchwer halten dieſe Ideen auf Deutſchland anzuwenden.
Von ſolchen Anſchauungen war die öffentliche Meinung beherrſcht, als
Thibaut, der berühmte Lehrer der Pandekten zu Heidelberg, in einer
kleinen Schrift voll patriotiſcher Wärme die heilloſen Folgen der beſtehen-
den Zerſplitterung und „die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen
Rechts für Deutſchland“ darlegte; das Geſetzbuch des künftigen deutſchen
Rechts dachte der geiſtreiche Mann wie einen Staatsvertrag unter die Ge-
ſammtbürgſchaft der verbündeten Mächte zu ſtellen. Faſt die geſammte
patriotiſche Preſſe erklärte ſich einverſtanden.


Da erſchien im Herbſt 1814 die Gegenſchrift Karl Friedrich von Sa-
vignys „über den Beruf unſerer Zeit zur Geſetzgebung“, das wiſſenſchaft-
liche Programm der hiſtoriſchen Rechtsſchule. Sie wirkte um ſo mächtiger,
da auch die Gegner insgeheim fühlten, daß hier nicht blos die Meinung
eines Mannes zu Tage kam, ſondern das wohlgeſicherte Ergebniß jener
tieferen und freieren Auffaſſung des Staatslebens, welche einſt in Her-
ders und Möſers genialen Ahnungen, in Gentzs und Wilhelm Hum-
boldts antirevolutionären Jugendſchriften ſich zuerſt angekündigt, nachher
durch Niebuhr und Eichhorn ihre wiſſenſchaftliche Durchbildung, in den
Geſetzen Steins und Scharnhorſts ihre praktiſche Bewährung gefunden
hatte. Unter den Lehrern des Civilrechts war zuerſt der Göttinger Guſtav
Hugo den Doktrinen des alten Jahrhunderts entſchloſſen entgegengetreten.
Sein ſcharfer Verſtand konnte ſich bei dem unlösbaren Dualismus der
Naturrechtslehre nicht beruhigen; er erkannte als undenkbar, daß ein un-
wandelbares natürliches Recht dem beweglichen poſitiven Rechte gegenüber-
ſtehen ſollte. Daher wies er Recht und Staat als Erſcheinungen der
hiſtoriſchen Welt kurzerhand aus dem Gebiete der Speculation hinaus
und ſtellte der Rechtslehre die Aufgabe, das poſitive Recht in ſeinem
Werdegange bis zu ſeinen letzten Wurzeln hinauf zu verfolgen und alſo
hiſtoriſch zu verſtehen. Geſtützt auf eine gründliche Quellenforſchung,
welche der erſtarrten deutſchen Rechtswiſſenſchaft längſt abhanden gekom-
men war, begann er zunächſt die Entwicklung der römiſchen Rechtsge-
ſchichte darzulegen und gelangte bereits zu der Einſicht, daß die vielbe-
klagte Aufnahme des römiſchen Rechts in Deutſchland nicht als Zufall
oder Verirrung, ſondern als eine nationale That des deutſchen Geiſtes,
als ein natürliches Ergebniß der Cultur der deutſchen Renaiſſance be-
trachtet werden müſſe. Die tiefere Frage: warum die Geſtaltung des
poſitiven Rechts ſo mannichfaltig und ſo beweglich ſei? wurde von dem
Kantianer Hugo noch nicht aufgeworfen.


Hier ſetzte Savigny ein, der den weiteren Geſichtskreis der roman-
tiſchen Geſchichtsphiloſophie beherrſchte, und bewies mit ſeiner überlegenen
Ruhe, die das Dunkelſte durchſichtig erſcheinen ließ: die Entwicklung des
[60]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Rechts werde nicht durch ſubjective Ideen beſtimmt, ſondern durch den
Geiſt der Völker, der in der Weltgeſchichte ſich offenbare; das Recht führe
kein Daſein für ſich, ſondern es werde und wachſe, gleich der Sprache,
mit den Völkern, mit ihrem Glauben, ihren Sitten, ihrem ganzen gei-
ſtigen Vermögen. Darum erfolge auch die Rechtsbildung nicht, wie die
beiden letzten Jahrhunderte glaubten, allein oder überwiegend durch die
Geſetzgebung, ſondern unter beſtändiger Mitwirkung des Volkes ſelber,
die ſich in dem Gewohnheitsrechte und, bei reiferer Bildung, in der be-
wußten Arbeit der Rechtswiſſenſchaft bethätige; grade in jugendlichen Völ-
kern erſcheine die rechtsbildende Kraft am ſtärkſten, die beſchränkte aber
lebensvolle Individualität des Rechts noch nicht verkümmert durch jene un-
beſtimmte Allgemeinheit, die dem Rechte alternder Nationen eigenthümlich
ſcheine. Dann ward an dem Beiſpiele der Kunſtgeſchichte erwieſen, daß
nicht jede Zeit zu jedem Werke berufen ſei, und darauf der völlig unreife
Zuſtand der deutſchen Rechtswiſſenſchaft dargethan; wie weit war ſie doch,
in ihrem Ideengehalte wie in der Ausbildung ihrer Sprache, zurückge-
blieben hinter dem Aufſchwung der allgemeinen Literatur, und wie ſtüm-
perhaft mußte ein mit ſo mangelhaften Kräften unternommenes Geſetz-
buch ausfallen! Was wir brauchen — ſo lautete der Schluß — iſt eine
der ganzen Nation gemeinſame, organiſch fortſchreitende Rechtswiſſenſchaft,
die das vorhandene Recht bis in ſeine erſten Quellen ergründet um der-
geſtalt zu zeigen, was in ihm noch heute lebendig iſt und was einer
überwundenen Vergangenheit angehört; in ihr iſt die vorläufig erreichbare
Einheit des deutſchen Rechts gegeben; hat ſie ſich erſt ſo ſelbſtändig ent-
wickelt, daß ſie das gegebene Recht geiſtig beherrſcht, dann wird das Ver-
langen nach einer Codification, das bei den Römern erſt in den Tagen
des Verfalles ſich äußerte, von ſelber verſchwinden.


Dieſer Schrift verdankte die Wiſſenſchaft des poſitiven Rechts, daß
ſie ſich den anderen Geiſteswiſſenſchaften wieder ebenbürtig an die Seite
ſtellen durfte. Das alte Jahrhundert hatte nur die Gedanken der Phi-
loſophen über das Recht geachtet, die Erforſchung des wirklichen Rechts
geringſchätzig dem formalen Scharfſinn juriſtiſcher Handwerker überlaſſen.
Jetzt erkannte die poſitive Rechtswiſſenſchaft, daß ihr ſelber eine philoſo-
phiſche Aufgabe obliege, daß ſie berufen ſei zu lehren wie ſich die Ver-
nunft der Geſchichte in dem Entwicklungsgange der Rechtsbildung offen-
bart und entfaltet, und alſo theilzunehmen an der beſten Gedankenarbeit
des Zeitalters, das ſeinen Ruhm darin ſuchte der Menſchheit das Be-
wußtſein ihres Werdens und alſo ihres Weſens zu erwecken. In weiter
Ferne zeigte ſich endlich eine noch höhere Aufgabe, welche Savigny nur
andeutete und kommenden Geſchlechtern zur Löſung überließ: wenn es
gelang, die innere Nothwendigkeit der Geſtaltung des Rechts, ſeine Ver-
kettung mit der Volkswirthſchaft und der geſammten Cultur der Völker
in jedem einzelnen Falle nachzuweiſen, dann mußten zuletzt auch die Ge-
[61]Savigny, Beruf unſerer Zeit.
ſetze der Rechtsbildung ſelber aufgefunden werden. Auf viele der ſchwie-
rigſten Probleme der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft, die dem philoſophiſchen
Jahrhundert noch ganz unfaßbar geweſen, warf die kleine Schrift ein
überraſchendes Licht. Noch Niemand hatte ſo anſchaulich gezeigt, wie die
Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart ſelbſt wider Wiſſen und Willen
der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden ſind an das
Maß der Begabung ſeines Zeitalters, wie jedes Anwachſen der Cultur
nothwendig einen Verluſt in ſich ſchließt, und darum die ſtolze, dem Zeit-
alter der Revolution ſo geläufige Lehre von dem ewigen Fortſchritt der
Menſchheit nur den Werth einer unerwieſenen Behauptung beſitzt. Roch
Niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats-
form ſuchte, ſo ſiegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, ſo führte
Savigny aus, ſind in jeder Staatsverfaſſung möglich; jene beſteht überall
wo die Staatsgewalt die Natur und Geſchichte in den lebendigen Kräften
des Volkes achtet, dieſer überall wo die Regierung nach ſubjectiver Will-
kür verfährt.


Schon elf Jahre früher hatte Savigny in ſeiner Erſtlingsſchrift über
das Recht des Beſitzes ein Werk geſchaffen, das den beſten Leiſtungen
der großen franzöſiſchen Civiliſten des ſechzehnten Jahrhunderts gleichkam.
Nunmehr betrat er mit ſeiner „Geſchichte des römiſchen Rechts im Mit-
telalter“ ein noch völlig unbebautes Gebiet und deckte den inneren Zu-
ſammenhang des antiken und des modernen Rechts zum erſten male auf.
Eine räthſelhafte Gunſt des Schickſals, die ſich nicht mehr Zufall nennen
läßt, pflegt immer, ſobald die ſichere Ahnung einer großen neuen Erkennt-
niß in der Wiſſenſchaft erwacht iſt, den Suchenden zu Hilfe zu kommen.
So fand jetzt Niebuhr im Jahre 1816 zu Verona die Handſchrift des
Gaius; das claſſiſche Zeitalter der römiſchen Rechtswiſſenſchaft, das man
bisher faſt allein aus den dürftigen Fragmenten der Pandekten kannte,
trat mit einem male den Ueberraſchten leibhaftig vor die Augen. Die
römiſche Rechtsgeſchichte ward durch eine lange Reihe gründlicher Einzel-
forſchungen völlig neu geſtaltet, während gleichzeitig Eichhorn ſeine deutſche
Rechtsgeſchichte weiter führte, Jakob Grimm und viele andere jüngere
Talente ſich in die Quellen des germaniſchen Rechts vertieften. Die von
Savigny und Eichhorn herausgegebene Zeitſchrift für geſchichtliche Rechts-
wiſſenſchaft bildete den Sprechſaal für die ſtetig wachſende hiſtoriſche Rechts-
ſchule; Savigny aber blieb ihr anerkanntes Haupt und ihr wirkſamſter
Lehrer. Die eindringliche Kraft der akademiſchen Beredſamkeit und das
ſchöpferiſche Genie, die ſo ſelten zuſammen gehen, fanden ſich in ihm
glücklich vereinigt. Mochte ſeine vornehme Haltung zuerſt Manche zurück-
ſchrecken, wer ihm näher trat fühlte ſich bald ermuthigt durch die liebe-
volle Milde ſeines Urtheils und lernte, daß in der Wiſſenſchaft auch die
beſcheidene Begabung ihr gutes Recht hat wenn ſie gewiſſenhaft in ihren
Schranken bleibt. Auf Savignys Wegen weiter ſchreitend ward die
[62]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
deutſche Rechtswiſſenſchaft allmählich wieder heimiſch in dem wirklichen
Rechte, und nach zwei Menſchenaltern fühlte ſie ſich ſtark genug den Mei-
ſter ſelbſt zu widerlegen, den Beruf der Zeit zur Geſetzgebung durch die
That zu erweiſen.


Den vorherrſchenden Meinungen des Tages lief die hiſtoriſche Rechts-
lehre ſchnurſtracks zuwider. Die Patrioten grollten weil ihnen ein Lieb-
lingstraum zerſtört war; auch das Selbſtgefühl der Philoſophen fühlte ſich
tief beleidigt. Hegel nannte Savignys Schrift eine dem Zeitalter ange-
thane Schmach, und Schön, der liberale Kantianer wollte in der mächtigen
Gedankenarbeit der geſchichtlichen Rechtswiſſenſchaft ſein Lebelang nichts
weiter ſehen als „Notizen aus Chroniken“. Aber auch die Bureaukratie
des Rheinbundes hörte mit Abſcheu von der rechtsbildenden Kraft des
Volksgeiſtes, die der Weisheit des grünen Tiſches ſo wenig Raum ließ; der
bairiſche Staatsrath Gönner beſchuldigte in einer gehäſſigen Schmähſchrift
die Anhänger der hiſtoriſchen Schule gradezu der demagogiſchen Geſinnung.
In Wahrheit ſtanden die Grundgedanken der neuen Lehre hoch über dem
Streite der Parteien. Blieb ſie ſich ſelber treu, ſo mußte ſie das ſtarre
Feſthalten an der beſtehenden Ordnung ebenſo entſchieden verurtheilen wie
den Leichtſinn revolutionärer Geſetzgebungskunſt; vollends mit den myſti-
ſchen Träumen der neukatholiſchen Romantiker hatte ihre kritiſche Strenge
und Nüchternheit nichts gemein. Trotzdem konnte Savigny den Geſin-
nungsgenoſſen der Romantik nicht verleugnen. Wie die geſammte Wiſſen-
ſchaft jener Tage die Epochen der hellen, bewußten Bildung geringſchätzte
neben dem dunkelklaren Jugendleben der Völker, wie die Brüder Grimm
das Volkslied vor der Kunſtdichtung bevorzugten und Arnim ihnen prei-
ſend zurief: „ihr achtet was Keinem eigen, was ſich ſelbſt erfunden,“ ſo
verweilte auch der Meiſter der hiſtoriſchen Rechtslehre mit Vorliebe bei
den Zeiten der halb bewußtloſen Rechtsbildung, da Geſetz und Sitte noch
ungeſchieden beiſammen liegen und das Recht gleich der Sprache ſich ſelber
zu erfinden ſcheint. Wie die ganze Zeit noch von der äſthetiſchen Welt-
anſchauung beherrſcht ward, ſo legte auch Savigny unwillkürlich den Maß-
ſtab der Kunſt an das Recht und verlangte von dem Geſetzgeber, was die
Dichter der Xenien einſt mit Recht von dem Künſtler gefordert hatten:
daß er ſchweige wenn er nicht vermöge das Ideal zu verwirklichen. Er
überſah, daß im politiſchen Leben das harte Gebot der Noth entſcheidet,
daß der Staatsmann nicht das Vollkommene zu ſchaffen hat, ſondern
das Unentbehrliche; mit gutem Grunde hielt ihm Dahlmann entgegen:
„bricht das Dach über meinem Haupte zuſammen, ſo iſt mein Beruf zum
Neubau dargethan.“


Wie alle Romantiker hatte ſich auch Savigny im Kampfe mit den
Ideen der Revolution ſeine Bildung erworben; und obſchon er als Staats-
mann niemals einer extremen Richtung angehörte, ſo vermochte er gleich-
wohl nicht dieſer neueſten Zeit, die doch auch Geſchichte war, ihr hiſto-
[63]Vernunftrecht und hiſtoriſches Recht.
riſches Recht zu geben und urtheilte offenbar ungerecht über den Code
Napoleon. Voll Abſcheus gegen die ſeichte Neuerungsluſt der modernen
Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den
Volksgeiſt, ſondern durch den Volkswillen beſtimmt wird, der in Zeiten
höherer Geſittung nur durch den Mund des Staates ſich ausſprechen
kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ-
kerlebens, die dem rückſchauenden Geſchichtsforſcher als unabwendbare
Nothwendigkeiten erſcheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden,
durch die Wahl und Qual des freien Entſchluſſes möglich werden. Wer
ihm blindlings folgte konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen
und ſich verſucht fühlen, die köſtlichſte Kraft der hiſtoriſchen Welt, die
Macht des Willens ganz aus der Geſchichte zu ſtreichen. Der Ausſpruch
„eine Verfaſſung kann nicht gemacht werden, ſie muß werden,“ das viel-
deutige Lob der „organiſchen Entwicklung“ und ähnliche Lieblingsſätze der
hiſtoriſchen Schule dienten der gedankenloſen Ruheſeligkeit zum willkom-
menen Lotterbette. So geſchah es, daß eine That der deutſchen Wiſſen-
ſchaft, welche die geſammte Nation mit Stolz hätte erfüllen ſollen, als-
bald in den kleinen Zank des Tages herabgeriſſen wurde. Die Maſſe
der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur-
rechts feſt und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr hiſtoriſchen Sinn,
mehr Verſtändniß für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die conſer-
vativen Parteien eigneten ſich mehr oder minder ehrlich die Ideen der
hiſtoriſchen Schule an und ſchauten mit dem Bewußtſein wiſſenſchaftlicher
Ueberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver-
nunftrecht und hiſtoriſches Recht! — ſo lauteten die Loſungsworte eines
im Grunde ſinnloſen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die
Verbitterung unſeres öffentlichen Lebens ſteigerte und zuweilen zu völliger
Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erſt der bitteren Erfahrungen des
Jahres 1848, bis die Einen die Geſchichte als ein ewiges Werden begreifen
lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das hiſto-
riſch Begründete vernünftig iſt. Seitdem erſt verlor der Name der hiſto-
riſchen Schule den gehäſſigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un-
zerſtörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge-
mäßigten Politiker.


Unter den Bahnbrechern der neuen hiſtoriſchen Bildung beherrſchte
doch Keiner einen ſo weiten Geſichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand
trat dem literariſchen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch-
gelehrſamkeit ſo ſcharf, ſo verächtlich entgegen, wie dieſer Mann des uni-
verſalen Wiſſens, der jeder Bewegung der Politik, der Wiſſenſchaft und
der Kunſt im Welttheil mit hellem Verſtändniß folgte. Das unpolitiſche
Geſchlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers äſthetiſche Geſchichtser-
zählungen und die geſchichtsphiloſophiſchen Verſuche Herders und Schle-
gels höher geſchätzt als Spittlers ſachlich politiſche Darſtellung; Niebuhr
[64]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
wurde nicht nur der Begründer der neuen kritiſchen Geſchichtſchreibung
durch die geniale Selbſtändigkeit ſeiner Forſchung, die überall bis zu den
letzten Quellen der Ueberlieferung vordrang, er ſtellte auch den Staat
wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der hiſtoriſchen Bühne und
bewährte durch die That die Anſicht der Griechen, daß der Hiſtoriker vor
Allem ein politiſcher Kopf ſein ſoll. Er wußte, wie raſch die Cultur und
die ſittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt ſich
die Achtung der Welt zu erzwingen, und ſchilderte mit ſchonungsloſer Härte
die Verkümmerung des deutſchen Charakters durch das leere Scheinleben
der Kleinſtaaterei: wie kleinlich, afterredneriſch, verunglimpfend ſei dies
Geſchlecht geworden, „Ehren iſt ihm ein entſetzlich drückendes Gefühl.“
In der engen Welt des Alterthums und des Mittelalters konnten kleine
Staaten ſich als Träger der Geſittung behaupten; heutzutage „iſt nur
noch in großen Staaten, die das Gleichartige zuſammenfaſſen, volles
Leben möglich“. Seine Anſicht vom Staate hatte er ſich durch das Leben
gebildet, durch das Anſchauen der uralten Bauernfreiheit ſeiner Heimath
Ditmarſchen, durch Reiſen in England und Holland, durch lange Thätig-
keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein
ein abgeſagter Feind aller politiſchen Syſtemſucht und fand wie Jener
den Eckſtein der Freiheit in der Selbſtverwaltung, die den Bürger ge-
wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu ſtehen und das Regieren, nach
der Weiſe der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, ſo ſchloß er,
mehr darauf an, ob die Unterthanen in den einzelnen Gemeinden ſich
unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwiſchen der Gewalt der
Regierung und der Repräſentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge-
zogen ſind. Daher erkannte er ſogleich, daß Frankreich trotz der Charte
der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die
napoleoniſche Verwaltungsordnung unverändert fortbeſtand. Um ſeine
Landsleute vor der einſeitigen Ueberſchätzung der conſtitutionellen Staats-
formen zu warnen und ſie wieder an die geſunden Grundgedanken des
Steinſchen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden
jene Abhandlung Vinckes über die engliſche Verwaltung, die einſt unter
Steins Augen entſtanden war *), heraus und ſagte in ſeinem Vorwort,
zum Entſetzen der liberalen Welt, rundweg: „die Freiheit beruht ungleich
mehr auf der Verwaltung als auf der Verfaſſung.“


Auch ſeine Römiſche Geſchichte war ebenſo ſehr ein erlebtes Werk
als ein Erzeugniß der gelehrten Forſchung; darum zählten ſie ſchon die
Zeitgenoſſen zu jenen claſſiſchen Büchern, welche niemals überwunden
werden auch wenn ſie in jedem einzelnen Satze widerlegt ſind. Indem
er das Verſchwundene ins Daſein zurückrief genoß er die Seligkeit des
Schaffens; und wie er niemals nur mit einer Kraft ſeiner Seele thätig
ſein konnte, ſo legte er auch die ganze Innigkeit ſeiner leidenſchaftlichen
[65]Niebuhr.
Empfindung, den ganzen Ernſt ſeines ſittlichen Urtheils in die Darſtel-
lung jener Römerkämpfe, die den meiſten ſeiner Vorgänger nur trockener
Wiſſensſtoff geweſen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer
edlen und urſprünglichen Stiles ſpiegelte die tiefe Bewegung einer großen
Seele wieder. Den erſten Band, ſo geſtand er ſelbſt, hätte er niemals
ſchreiben können ohne eine lebendige Anſchauung vom engliſchen Staate;
ſeitdem hatte er, im Innerſten erſchüttert, die Stürme einer ungeheueren
Zeit über den Staat ſeiner Wahl dahinbrauſen ſehen; er fühlte, wie
ihm durch ſolche Erlebniſſe das Verſtändniß wuchs für die Geſchichte Roms,
welche einſt, wie die See die Ströme, die Geſchichte aller Völker in ſich auf-
genommen. Dann führte ihn ſein diplomatiſcher Beruf nach Rom ſelbſt.
Jahrelang wohnte er dort in dem Palaſte, der auf hohem Schuttberge
mitten aus den grandioſen Trümmern des Marcellustheaters empor-
ſteigt, und obwohl er die Sehnſucht nach der Heimath niemals überwand,
ſo fand ſich doch ſeine hiſtoriſche Phantaſie, die das Ferne und Fremde
aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt
mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm ſinnlich nahe; in der Geſtalt
der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunſtfertigkeit der alten
Agrimenſoren, in dem Elend der modernen Halbpächter ſah er den Fluch des
römiſchen Latifundienweſens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten
Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beſchaute, dann
war ihm zu Muthe, als ſähe er ſich ſelber und ſeine verklärte erſte Frau.


So erhielt die langſam gereifte Umarbeitung und Fortſetzung des
Werkes jenen eigenthümlich warmen Ton, der ſelbſt trockenen Zahlenreihen
und umſtändlichen kritiſchen Excurſen den Reiz des Lebens gab. Das
Alterthum hatte bisher als eine von der unſeren völlig abgetrennte Welt
gegolten; hier aber erſchien Alles vertraut und verſtändlich, der Hiſtoriker
ſchilderte das Schickſal des C. Pontius und des Pyrrhus ebenſo einfach
menſchlich wie er vor Kurzem, in einer meiſterhaften Skizze, das Leben ſeines
Vaters, des großen Reiſenden Carſten Niebuhr erzählt hatte. Den recht-
gläubigen Philologen der alten Schule war der kühne Kritiker, der die Ueber-
lieferungen der römiſchen Königsgeſchichte zerſtört hatte, längſt ein Dorn im
Auge. Welches Entſetzen vollends, da er nunmehr mit ſtaatsmänniſcher
Einſicht die Nothwendigkeit jener langſamen Revolution, welche die Plebes
zur Herrſchaft führte, und ſogar die Berechtigung der verrufenen Acker-
geſetze darlegte; ja er ſcheute ſich nicht, die neue Lehre der Romantiker,
daß nur die nationale Dichtung wahrhaft lebe, ſelbſt auf die Claſſiker
Roms anzuwenden und ſagte rundheraus: „wenn Form überhaupt tödet,
ſo noch mehr die fremde; daher war die römiſche Literatur in einem ge-
wiſſen Sinne todtgeboren!“


Und doch lag ſelbſt in dieſem freien Geiſte ein Zug krankhafter,
ſchwarzſichtiger Aengſtlichkeit, der ihn zuweilen die lebendigen Kräfte der
Zeit völlig verkennen ließ. In finſteren Augenblicken beklagte der Leiden-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 5
[66]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſchaftliche ſogar, daß der epikuräiſche Zeitgeiſt dieſer genügſamen Tage jede
wiſſenſchaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbeſaitetes Gemüth empfand
ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; ſchon als
Student hatte er beim Durchleſen von Fichtes Vertheidigung der Revo-
lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn ſolche Grund-
ſätze zur Herrſchaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und
zudem eines jener ſeltenen Wunderkinder, die als Männer halten was
ihre Frühreife zu verheißen ſchien, ward er von Kindesbeinen an ver-
wöhnt durch die Bewunderung ſeiner Umgebungen und ſelber ſchon be-
rühmt bevor er noch etwas geſchrieben hatte; dann ſtand der Liebevolle
ſein Lebelang in vertrauter, zärtlicher Freundſchaft mit geiſtvollen Män-
nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deſerre; das Platte und
Niedrige ließ er nicht an ſich heran. Was Wunder, daß dieſem Ariſto-
kraten des Geiſtes nichts entſetzlicher vorkam als jene Macht der breiten
Mittelmäßigkeit, die in demokratiſchen Epochen immer das große Wort führt.


Wenn er die politiſche Unreife ſeines Volks und die Trivialität der
landläufigen conſtitutionellen Doktrinen betrachtete, dann ſchien ihm mit
Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geſchehen, und er mußte
von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: „Verfaſſung und
Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem
ſie unfehlbar zuſammenlaufen um nicht wieder aus einander zu weichen.“
Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italieniſchen Regierungen durchſchaute
und offen ausſprach, Rom ſei unter Napoleon weit glücklicher geweſen
als unter dem wiederhergeſtellten Papſtthum, ſo übermannte ihn doch der
Todhaß wider die Revolution ſobald der erſte Aufſtand von dem miß-
handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder
ein Böſewicht könne in dieſem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende
Denker, der ſchon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwiſchen
dem Süden und dem Norden der amerikaniſchen Union vorausſah, be-
wies doch durch ſeinen niederländiſchen Verfaſſungsplan, daß die gründ-
lichſte Kenntniß der Vergangenheit das gänzliche Mißverſtehen der Gegen-
wart keineswegs ausſchließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude
der Republik der ſieben Provinzen bis in ſeine letzten Ecken und Winkel
und wußte, warum es morſch zuſammengebrochen war. Als ihn aber im
November 1813 der Prinz von Oranien aufforderte ſeine Vorſchläge für
den Neubau niederzuſchreiben, da konnte ſich der Feind der Revolution
doch nicht entſchließen, den gewaltigen Umſturz, der ſeit dem Jahre 1794
über das Land gekommen war, mindeſtens als eine Thatſache anzuerken-
nen. Der durch Frankreichs Waffen geſchaffene, aber durch die Geſchichte
des Landes längſt vorbereitete Einheitsſtaat galt ihm als revolutionäre
Einerleiheit; alles Ernſtes dachte er den gänzlich vernichteten Foederalismus
wieder zu beleben und forderte die Wiederherſtellung des alten Staa-
tenbundes. Die hiſtoriſche Pietät verführte ihn alſo zu einem Entwurfe,
[67]Mittelalterliche Forſchungen.
der trotz ſeiner ſtaunenswerthen Gelehrſamkeit ebenſo unmöglich und im
Grunde ebenſo unhiſtoriſch war wie die leichtfertigſten Verfaſſungsgebilde
jakobiniſcher Volksbeglücker.


Durch Niebuhrs Forſchungen verlor die urtheilsloſe, unbedingte Ver-
ehrung des Alterthums den Boden unter den Füßen; die antike Welt
ward wieder in den Fluß der Zeit geſtellt. Gleichzeitig begann auch eine
neue Auffaſſung der mittelalterlichen Geſchichte durchzudringen. Die Cultur
des Mittelalters war von dem philoſophiſchen Jahrhundert leidenſchaftlich
bekämpft, von der jugendlichen Romantik blindlings bewundert worden;
jetzt verſuchte man ſie zu verſtehen. Der öffentlichen Meinung freilich
lag der alte Rationalismus noch tief im Blute; ſie bedurfte noch einer
guten Weile bis ſie ein wiſſenſchaftliches Urtheil über das verhaßte finſtere
Mittelalter ertragen lernte. Als der junge Johannes Voigt ſeine Geſchichte
Gregors VII. herausgab, ward er von der Preſſe hart angelaſſen; der
treue Proteſtant mußte den Vorwurf katholiſcher Geſinnung hören, weil
er die perſönliche Größe Hildebrands ehrlich anerkannt hatte. Indeſſen
betrieb Friedrich v. Raumer die Vorarbeiten für ſeine Geſchichte der Hohen-
ſtaufen; und wie Schön für den Wiederaufbau der Marienburg ſorgte,
ſo ſetzte Stein die beſte Kraft ſeiner alten Tage an die Sammlung der
Geſchichtsquellen unſerer Vorzeit. Zu Neujahr 1819 ſtiftete er die Geſell-
ſchaft zur Herausgabe der Monumenta Germaniae. Sanctus amor pa-
triae dat animum
— ſo lautete der bezeichnende Wahlſpruch des großen
Unternehmens, das nach und nach einen Stamm hiſtoriſcher Forſcher
heranbilden und für die Kenntniß des deutſchen Mittelalters erſt den
ſicheren Grund legen ſollte. Das Alles war noch im Werden; die poli-
tiſche Geſchichtſchreibung fand während der erſten Friedensjahre allein in
Niebuhr einen claſſiſchen Vertreter.


Um ſo reichere Erfolge errangen die Philologen, die ſich jetzt erſt
ihrer hiſtoriſchen Aufgabe klar bewußt wurden. Der Ausſpruch Boeckhs
„es giebt keine Philologie, die nicht Geſchichte iſt“ war in Aller Munde.
Die Sprachforſcher erfüllten was die Poeten der Romantik verſprochen
hatten. Nun kam ſie wirklich, die Zeit, die einſt Novalis geweiſſagt,


wo man in Märchen und Gedichten

erkennt die ew’gen Weltgeſchichten.

Und auch jenes ſtolze Wort Friedrich Schlegels, das den Hiſtoriker einen
rückwärts gewandten Propheten nannte, fand jetzt ſeine Bewährung, da
plötzlich die ferne, bisher aller Unterſuchung unzugängliche Jugendzeit
der indogermaniſchen Völker durch die Strahlen der Forſchung erhellt
ward und von ihr wieder ein erklärendes Licht auf die Grundlagen der
heutigen europäiſchen Cultur zurückfiel. Derſelbe Zug der Zeit, der die
Ideen der hiſtoriſchen Staats- und Rechtslehre beherrſchte, trieb auch die
Philologen die Sprache als ein ewig Werdendes zu begreifen. Auch ſie
führten, wie Niebuhr und Savigny, den Kampf gegen die Abſtraktionen
5*
[68]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
des alten Jahrhunderts; auch ſie ebneten die Bahn für eine beſcheidenere
und eben darum freiere Weltanſchauung. Jener hochmüthige Wahn, der
die großen objektiven Ordnungen des hiſtoriſchen Lebens aus dem freien
Belieben der einzelnen Menſchen herleitete, der Glaube an das Natur-
recht und die allgemein giltige Vernunftreligion brach unrettbar zuſam-
men, ſobald die Philologie darlegte, was an der Geſchichte der Sprache
am Handgreiflichſten erwieſen werden kann: daß der Menſch nur in und
mit ſeinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer ſeiner
geiſtvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgeſprochen:
die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe ſich durch die Einzelnen
und gehe gleichwohl ſtets vom Ganzen aus. Auf dieſe Wahrheit, die in
ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Räthſel einſchloß, kam
Jakob Grimm immer von Neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunſtdich-
tung hervorgeht aus dem Volksliede, „das ſich ſelber dichtet“, und fand
in dem alten Volksepos weder rein mythiſchen noch rein hiſtoriſchen Ge-
halt, ſondern göttliche und menſchliche Geſchichte in eines verwachſen.


Da trat ihm, ſeltſam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte
Romantiker konnte ſich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus
des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geſchichte Berechnung
und Abſicht ſuchte. Wie er Niebuhrs kritiſche Kühnheit bekämpfte, ſo be-
hauptete er wider Grimm: das Volksepos ſei das bewußte Werk von
Dichtern, die im künſtleriſchen Wettkampfe einander durch wunderbare
Erfindungen zu überbieten ſuchten. In der That lief die junge germa-
niſtiſche Wiſſenſchaft Gefahr, jenem myſtiſchen Hange, der die jüngere
Romantik beherrſchte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung
der ſchöpferiſchen Kraft des Volksgeiſtes, verfolgte Grimm mit ſolcher
Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchſigen in der Dichtung,
daß er die freie That des künſtleriſchen Genius faſt aus den Augen ver-
lor. Schwächere Köpfe verſanken bereits tief in phantaſtiſche Thorheit;
v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung
und dem Sündenfalle wiederzufinden.


Jedoch der klare, im innerſten Kerne proteſtantiſche Geiſt Jakob Grimms
verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wiſſenſchaft,
ſondern wendete ſich bald einem Bereiche der Forſchung zu, das ungleich
feſtere Ergebniſſe verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch ſeine Deutſche
Grammatik die Wiſſenſchaft der hiſtoriſchen Grammatik. Andere hatten
über die Sprache philoſophirt oder ihr Geſetze aufzuerlegen verſucht; er
beſchied ſich ihrem Werden und Wachſen ſchrittweis nachzugehen, und da
er die urſprüngliche Einheit der germaniſchen Sprachen ſchon erkannt
hatte, ſo zog er alle Zweige dieſes Sprachſtammes zur Vergleichung heran.
Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts,
erwies er ſodann den wichtigen Unterſchied zwiſchen den betonten Wurzel-
ſilben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den blos formalen Be-
[69]Die Gebrüder Grimm.
ſtandtheilen des Wortſchatzes. So kam alsbald Geſetz und Leben in den
Werdegang unſerer Sprache, der bisher ſo räthſelhaft und zufällig ſchien.
In dem unſchuldigen, poetiſchen, leiblich friſchen Jugendleben der Völker
— ſo führte Grimm mit künſtleriſcher Lebendigkeit aus — zeigt auch die
Sprache ſinnliche Kraft und Anſchaulichkeit, ſie liebt die Form um der
Form willen, ſchwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei-
fender Cultur wird auch ſie geiſtiger, abſtrakter, auf Klarheit und Kürze
bedacht, das ſtumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch-
terne Verſtand kümmert ſich nicht mehr um die ſinnlichen Bilder, welche
den Wörtern zu Grunde liegen, und nach und nach wird Alles ausge-
ſtoßen oder abgeſchliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des
Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetiſches Gemüth der
formenreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch ſeine
eigene Redeweiſe mit den Jahren immer ſinnlicher und bilderreicher wurde.
Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder
rückgängig werden durfte, und verwarf darum ſtrenge jene vorwitzigen
Sprachreinigungsverſuche, die bei den teutoniſchen Eiferern für patriotiſch
galten: das heiße unſere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von
heute behandeln.


Ein Jahr nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ſeiner Grammatik
entdeckte Grimm das Geſetz der Lautverſchiebung und gab damit der Ety-
mologie, die ſich bisher unſicher taſtend an die Aehnlichkeit des Klanges
der Wörter gehalten hatte, endlich einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden.
Unterdeſſen hatte ſein raſtlos combinirender Kopf auch ſchon die uran-
fängliche Verwandtſchaft aller indogermaniſchen Sprachen erkannt; ent-
zückt verweilte er vor der unendlichen Fernſicht, die ſich auf dieſer Höhe
aufthat. Ließ ſich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den
jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits
bewieſen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem
räthſelhaften Urvolke der Indogermanen ſchon bekannt geweſen ſein mußte.
Und ſo konnte nach und nach die geheimnißvolle Völkerwiege Indiens
aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforſcht werden, welche Stufe
der Geſittung die Völker Europas ſchon erreicht hatten bevor ſie ſich
trennten und die Wanderung gen Weſten antraten, was ihnen gemein
war von Anbeginn und was ſie ſich erſt erwarben ein jedes auf ſeinem
eigenen Wege. Die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ſtanden mit einem male
vor einer unüberſehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerſte Seelen-
leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menſchenaltern
ſeitdem erſt zum kleinſten Theile ihre Löſung gefunden haben.


Während Jakob Grimm alſo, ein glücklicher Finder, von Entdeckung
zu Entdeckung fortſchritt, gefiel ſich ſein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge-
ſtalten. Seine Freude war, die Werke unſerer alten Dichtung in ſauberen
Ausgaben, mit ſinniger Erklärung dem neuen Geſchlechte darzubieten; er
[70]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
liebte nach Dichterart ſich zuweilen ſehnſuchtsvoll in ſelige Träume zu ver-
lieren; durch ſeine weichere Feder erhielten auch die Hausmärchen ihre
liebliche Form. Zwei gleichberechtigte Richtungen der Wiſſenſchaft ver-
körperten ſich in den beiden Brüdern. Des Aelteren Spruch hieß: „beſſer
gelernt als gelehrt,“ er achtete nur das Lernen und Forſchen als ſchöpfe-
riſche Thätigkeit; der Jüngere verſchmähte nicht, als Lehrer für das nähere
Bedürfniß der Wiſſensdurſtigen zu ſorgen. Die Beiden verdankten ihrer
Märchenſammlung die Liebe des Volks, die dem ſtrengen Forſcher faſt
niemals zu theil wird. Ueberall im Lande wußte man gemüthliche kleine Ge-
ſchichten von dem Brüderpaare, das nur mit der Wünſchelruthe in den
Boden zu ſchlagen brauchte um den reichen Hort der alten Sagen an
den Tag zu bringen. Man erzählte von der tiefen ſtillen Herzenstreue
ihrer Lebensgemeinſchaft: wie ſie ſelbander ſo fromm und heiter durchs
Leben ſchritten und trotz der glühenden Liebe zum großen Vaterlande doch
von der traulichen heſſiſchen Heimath, von den rothen Bergen des Fulda-
thales ſich nimmermehr trennen wollten; Beide ſo kindlich anſpruchslos
und doch ſo ſtreng gegen die Modegötzen des Tages, ſo ſicher im Urtheil
über alles Hohle, Gemachte, Unwahre; wie ihre Arbeitstiſche im näm-
lichen Zimmer ſtanden, und wie ſie jeden neuen Fund mit harmloſer
Freude einander mittheilten. Kein Kinderräthſel, kein Baſengeſchwätz und
kein Ammenlied war ihnen zu gering, Alles gewann Leben vor ihren Augen
was aus dem Heiligthum der deutſchen Sprache ſtammte, beim Anblick
eines alten Bruchſtücks konnte Jakob das Mitleid nicht verwinden. Und
neben der ſchweren Arbeit brach auch der herzliche Verkehr mit guten
Menſchen niemals ab; nie beirrte ein Gegenſatz der Meinungen die Beiden
in der Treue ihrer Freundſchaft; wie anmuthig wußte Wilhelm in ſeinen
Briefen an die ſtrengkatholiſchen Haxthauſens zu plaudern, und zuweilen
fiel auch Jakob mit ſeinen tieferen Tönen ein. Es war ein rührendes
Bild einfältiger Größe, das auch den Rohen etwas ahnen ließ von der
ſittlichen Macht der lebendigen Wiſſenſchaft.


Jakob Grimm ſchätzte die Worte nur um der Sachen willen; ſein
Wirken fand eine glückliche Ergänzung in den Arbeiten des Braunſchwei-
gers Karl Lachmann, des claſſiſch geſchulten, geſtrengen Vertreters der
formalen Philologie, der die Sachen um der Worte willen trieb und die
noch unſtet ſchweifende junge Wiſſenſchaft in die harte Zucht der Methode
nahm. Gleich heimiſch in den alten wie in den germaniſchen Sprachen
wurde er der Begründer der altdeutſchen Textkritik und Metrik, ein Her-
ausgeber von unübertroffener Schärfe und Sicherheit. Was einſt F. A. Wolf
über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte gelehrt, wendete Lachmann
auf das deutſche Epos an und verſuchte, nicht ohne Gewaltſamkeit, das
Nibelungenlied in eine Reihenfolge ſelbſtändiger Lieder aufzulöſen. Seit
Auguſt Zeune den Freiwilligen von 1815 ſeine „Zelt- und Feldausgabe
der Nibelungen“ mitgegeben hatte, begann die ſpielende Beſchäftigung mit
[71]Lachmann. Bopp.
der altdeutſchen Dichtung zu einer Liebhaberei der teutoniſchen Jugend zu
werden. Ein Glück für die Wiſſenſchaft, daß Lachmann durch den Ernſt
ſeines unnachſichtlichen Tadels die Unreifen zurückſchreckte und den Dilet-
tantismus bald gänzlich aus dem Bereiche der deutſchen Sprachkunde hinaus-
fegte. Währenddem unternahm Benecke ſeine lexikographiſchen Arbeiten,
und der anſpruchsloſe Friedrich Diez trug in aller Stille die erſten Werk-
ſtücke zuſammen für das mächtige Gebäude ſeiner romaniſchen Grammatik.
Auch er war wie Lachmann als Freiwilliger mit dem deutſchen Heere in
Frankreich eingezogen, er hatte in Gießen mit Follen und den wildeſten
Hitzköpfen des Teutonenthums an lauter Tafelrunde geſeſſen und blieb
doch im Geiſte ſo frei, daß er wie ein geborener Provenzale der ſchönen
Sprache der Troubadours bis in die Tiefen des Herzens blicken konnte.


Die ungleiche Begabung der Generationen wird durch die ungleiche
Gunſt der äußeren Umſtände allein nicht erklärt; die Zeit erzieht nur den
Genius, ſie ſchafft ihn nicht. Immer ſobald eine große Wandlung des
geiſtigen Lebens ſich in der Stille vorbereitet hat, läßt eine geheimnißvolle
Waltung, deren Rathſchluß kein menſchlicher Blick durchdringt, ein reich-
begabtes Geſchlecht entſtehen. Zur rechten Zeit erſcheinen die rechten
Männer, Fund folgt auf Fund, ein heller Kopf arbeitet dem andern in
die Hände ohne von ihm zu wiſſen. So jetzt, da eine große Stunde für
die philologiſch-hiſtoriſchen Wiſſenſchaften geſchlagen hatte.


Derweil die Brüder Grimm noch in unbeſtimmten Vermuthungen über
die gemeinſame Abſtammung der Sprachen Europas ſich ergingen, hatte
der Mainzer Franz Bopp, ganz unabhängig von ihnen, bereits den Grund-
ſtein gelegt für die neue Wiſſenſchaft der Sprachvergleichung. Seit vielen
Jahren ſchon lebte Wilhelm Humboldt des Glaubens, daß Sprachphilo-
ſophie und Geſchichtsphiloſophie in den letzten Tiefen der Menſchheit ſich
begegnen müßten. Wie oft hatte er in ſeinen Briefen an Schiller aus-
geführt, die Sprache ſei ein lebendiger Organismus, mit der Perſönlich-
keit des Sprechenden eng verwachſen. Er wußte längſt, daß der eigen-
thümliche Charakter der einzelnen Sprachen ſich vornehmlich an ihrem
grammatiſchen Bau erkennen laſſe; nur die Geſchäftslaſt ſeines diplomati-
ſchen Berufs verhinderte ihn noch dieſe Ideen weiter auszuſpinnen. Von
ähnlichen Ahnungen erfüllt hatte der junge Bopp ſich ſchon früh die
Kenntniß der claſſiſchen und der meiſten neu-europäiſchen Sprachen ange-
eignet; er hoffte die in dem Sprachenreichthum unſeres Geſchlechts ver-
borgene Harmonie zu entdecken. Es galt zunächſt den genealogiſchen Zu-
ſammenhang mehrerer Sprachen unzweifelhaft ſicherzuſtellen, und dies ließ
ſich nur nachweiſen durch genaue Prüfung einer ſehr alten Sprache, welche
den Charakter der verlorenen Urſprache ziemlich rein bewahrt hatte, alſo
zur Noth ſtatt der Urſprache ſelbſt gelten konnte.


Bopp beſchloß daher von dem Sanskrit auszugehen; denn das
hohe Alter der indiſchen Literatur ſtand außer Zweifel, und ſeit Friedrich
[72]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Schlegels geiſtreicher Dilettantenarbeit über „die Weisheit der Inder“
wurde auch die Verwandtſchaft des Sanskrit mit dem Perſiſchen, den
claſſiſchen und den germaniſchen Sprachen faſt allgemein als ſicher an-
genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816
erſchien Bopps kleine Schrift über das Conjugationsſyſtem des Sanskrit;
ſie betrachtete den grammatiſchen Bau dieſer älteſten Sprache im Ein-
zelnen, ſie zeigte, wie das Futurum durch die Zuſammenſetzung eines
Hilfszeitworts mit einer Wurzelſilbe gebildet werde u. ſ. f., und erwies
ſodann unanfechtbar die weſentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln
des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germaniſchen Sprachen.
Der glückliche Entdecker erkannte die gothiſche Sprache als das Mittel-
glied zwiſchen dem Altindiſchen und dem Deutſchen: „wenn ich den ehr-
würdigen Ulfilas las, ſo glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben.“ Da-
mit kam die Kugel in’s Rollen, denn bei Fragen ſolcher Art entſcheidet
der erſte Schlag. Nunmehr war ein feſter Anhalt gewonnen um die
Grenzen der indogermaniſchen Sprachengruppe abzuſtecken, jeder einzelnen
dieſer Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der älteſten Schweſter
anzuweiſen und dergeſtalt den hiſtoriſchen Stammbaum der Völker ſelbſt
feſtzuſtellen. So durfte ſich die vergleichende Sprachforſchung in dem
Kreiſe der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften allmählich eine ähnliche Stellung
erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwiſſenſchaften;
fuhr ſie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei-
zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachſten Elemente zu zerlegen,
ſo mochte ſie dereinſt auf einem unabſehbaren Wege, mit Hilfe der Natur-
forſchung, noch höher aufſteigen bis zu dem großen Probleme der Ent-
ſtehung der menſchlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken,
welche die Weisheit der Natur allem menſchlichen Forſchen geſetzt hat.


In der claſſiſchen Philologie war ſchon ſeit dem Jahre 1795 ein
freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich Auguſt Wolf durch die
Prolegomena zum Homer, daß die homeriſchen Gedichte aus Rhapſodien
entſtanden ſeien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch
die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte:
das homeriſche Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu-
tung lag aber nicht ſowohl in dieſer Hypotheſe ſelbſt — denn ſie ließ noch
Vieles im Dunkeln und veranlaßte ſpäterhin manche geſchmackloſe Ver-
irrungen des überfeinen gelehrten Scharfſinns — ſondern in ſeinen völlig
neuen Anſichten über Weſen und Ziele der Philologie. Er entriß die
claſſiſche Literatur den Händen der Aeſthetiker und überwies ſie der hiſto-
riſchen Kritik; er forderte von der Philologie, daß ſie ſich zur Alterthums-
wiſſenſchaft erweitere, daß ſie das geſammte antike Leben nach allen Seiten
hin zu vergegenwärtigen ſuche, Sprache und Literatur nur als einzelne
Erſcheinungen dieſes Geſammtlebens auffaſſe, und zeigte durch ſeine mei-
ſterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu löſen ſei.


[73]Boeckh. G. Hermann.

Unter den Jüngeren, welche ſich dieſe hiſtoriſche Auffaſſung aneigneten,
ſtand der Karlsruher Auguſt Boeckh obenan, der allbeliebte freimüthige
Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei-
delberger Romantiker ſeinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur ſeinen
Geſichtskreis erweitert, ſein Verſtändniß für alles Menſchliche freier aus-
gebildet. Viele Jahre hindurch trug er ſich mit dem Plane, in einem
umfaſſenden Werke „Hellen“ die Einheit des griechiſchen Lebens in allen
ſeinen Erſcheinungen darzuſtellen. Der großgedachte Bau kam leider nie-
mals unter Dach. Nur ein Bruchſtück erſchien im Jahre 1817: „die
Staatshaushaltung der Athener“ — ein erſter gelungener Verſuch, auch
die griechiſche Geſchichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge-
ſchehenes und Erlebtes zu verſtehen. Die Hiſtoriker frohlockten, da ihnen
hier aus vergeſſenen und überſehenen Quellen das verſchlungene Getriebe
der attiſchen Volks- und Staatswirthſchaft in ſeinem inneren Zuſammen-
hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verſtanden noch nicht,
von der induktiven Methode des geiſtvollen Philologen Vortheil zu ziehen.
Denn unter allen hiſtoriſchen Wiſſenſchaften war die Volkswirthſchafts-
lehre am Weiteſten zurückgeblieben; ſie ruhte noch aus auf der mißver-
ſtandenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weiſe des
Naturrechts das hiſtoriſche Leben der Völker in das Joch ewig giltiger
abſtrakter Regeln ſpannen zu können.


Wie Lachmann neben Jakob Grimm ſo ſtand neben Boeckhs ſachlich
hiſtoriſcher Richtung die Schule der formalen claſſiſchen Philologie, die
in Gottfried Hermanns Griechiſcher Geſellſchaft zu Leipzig faſt ein halbes
Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzſtätte behielt. Hier blühten
Grammatik, Metrik, ſtreng methodiſche Textkritik. In ihrem gefeierten
Lehrer vereinigte ſich Alles, was die alte oberſächſiſche Gelehrſamkeit aus-
zeichnete: gründliches Wiſſen und tief eindringender Scharfſinn, eiſerner
Fleiß und urbane Duldſamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus,
der von der geheimnißvollen Nachtſeite des hiſtoriſchen Lebens grundſätzlich
nichts ſehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und Vieles
blieb ihnen gemeinſam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker
unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meiſter der Kritik,
der mit ſicherer Hand ſo viele griechiſche Texte auf diplomatiſcher Grund-
lage herſtellte ohne ſich je zu einer Erläuterung herabzulaſſen.


Selbſtändig neben beiden ging die hochromantiſche Schule der Sym-
boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers
rege Phantaſie fühlte ſich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt
des Ueberſinnlichen und Geheimnißvollen. Schon zu Anfang der achtziger
Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeiſterte ſich dieſer geborne
Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanſtrebenden
gothiſchen Pfeiler der Eliſabethkirche; dann ſchloß er Freundſchaft mit
Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreiſe, aber auch mit
[74]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphiloſophie
tiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. Wie Schelling trotzte er
auf die angeborene Wundergabe der unmittelbaren Anſchauung, die man
weder lehren noch erſitzen könne; durch ſie dachte er jene Naturſprache zu
enträthſeln, welche ſich bei allen Völkern in geheimnißvollen religiöſen Sym-
bolen äußere, und alſo ein Band der Einheit zwiſchen den Mythen aller
Zeiten zu finden. Seine Symbolik bot eine Fülle geiſtreicher Winke für künf-
tige Forſchungen; ſelbſt die Theologen mußten ihm danken, weil er ſie auf
die Bedeutung der vergeſſenen Neuplatoniker hinwies. Er errieth zuerſt,
welch eine Welt des Elends und des Grauens hinter den ſchönen Mythen
des Alterthums verborgen liegt, und verſenkte ſich mit ſolchem Eifer in
dieſe unheimlichen Myſterien, daß ihm von der hellen Weltfreudigkeit, dem
vorherrſchenden Charakterzuge des griechiſchen Volksglaubens, wenig mehr
übrig blieb. Auch bemerkte er zuerſt die Spuren altorientaliſcher Prieſter-
weisheit in den Anfängen der helleniſchen Cultur; doch die luftige Brücke
zwiſchen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor
noch der Boden auf beiden Ufern unterſucht und befeſtigt war. Trotz
ſeiner reichen Gelehrſamkeit gelangte der geiſtvolle Enthuſiaſt nirgends zu
geſicherten Ergebniſſen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die hiſto-
riſchen Thatſachen herantrat; am Liebſten verweilte er bei den Pelasgern
und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialiſche Willkür
der unmittelbaren Anſchauung offenes Feld.


Durch den Myſticismus ſeiner Lehre erregte er den Unwillen der
aufgeklärten Welt. Zunächſt bekämpfte Gottfried Hermann die Symbolik
mit ſeiner gewohnten würdigen Ruhe; nachher erhob ſich der greiſe Jo-
hann Heinrich Voß, und ſein grimmiger Schlachtruf klang wie eine
Stimme aus dem Grabe. Wie wunderbar ſchnell hatte dieſes Geſchlecht
gelebt, wie fern lag ſchon die Zeit, da einſt die Voſſiſche Homer-Ueber-
ſetzung mit vollem Recht als eine bahnbrechende That gefeiert ward! Alle
die neuen Ideen, welche ſeitdem dem deutſchen Genius entſtiegen, waren
an dem eingefleiſchten alten Rationaliſten ſpurlos vorübergerauſcht. Seine
Bildung wurzelte noch in der Wolffiſchen Philoſophie, die mit dem Satze
vom zureichenden Grunde das All zu begreifen dachte. Schon gegen
Herder und Wolf hatte er ſich ereifert; ja ſelbſt bei Kant ward ihm nicht
ganz geheuer, da der Königsberger Weiſe doch dem ahnenden Glauben
ſein gutes Recht ließ und gelaſſen zugab, daß die wiſſenſchaftliche Welt-
erklärung am letzten Ende nichts erklärt. Nun gar in Heidelberg, in-
mitten der romantiſchen Schwärmer fühlte ſich dieſer hausbackene Ver-
ſtand wie verrathen und verkauft. All das Gerede von den unbewußt
ſchaffenden Kräften des Volksgeiſtes war ihm eitel Phantaſterei; und wer
durfte ihm von Dogmen und Symbolen ſprechen, da doch erwieſenermaßen
die Moral allein den Kern aller Religion enthielt? Er ließ ſich’s nicht
nehmen, daß Deutſchland durch eine große Verſchwörung von Pfaffen
[75]Die Symboliker.
und Junkern bedroht war, die beiden rothhaarigen Schurken Görres und
Creuzer das Volk Luthers nach Rom zurückführen wollten. Alles, was
ſich aufgeklärt und liberal nannte, jubelte dem Zornmuthigen zu, als er
ſeine groben Streitſchriften wider die Symboliker hinausſandte; Voß ge-
wöhnte die Liberalen zuerſt an den gehäſſigen Ton eines Geſinnungs-
terrorismus, der hinter abweichenden Meinungen ſtets verworfene Abſichten
ſuchte. Recht und Unrecht erſchienen in dieſem Streite ebenſo ſeltſam ge-
miſcht, wie in den gleichzeitigen Kämpfen der politiſchen Parteien. Wenn
Voß und Hermann ſich der Klarheit und Beſtimmtheit rühmen durften,
ſo zeigte Creuzer unzweifelhaft mehr Geiſt; wenn jene ſich als die ſchär-
feren Kritiker erwieſen, ſo bewährte dieſer ein ungleich tieferes Verſtänd-
niß für die Religion, für das verborgene Gemüthsleben der Völker. Auf
manchem der Wege, welche der Symboliker zuerſt in phantaſtiſchen Sprüngen
durcheilte, wandelt heute die beſſer ausgerüſtete Wiſſenſchaft mit ſicherem
Schritt.


So haderten die Philologen unter einander und bemerkten noch kaum,
wie ihnen allen ein gemeinſamer Feind heranwuchs, die banauſiſche
Geſinnung der Geſchäftswelt. Da der ausſchließlich claſſiſche Unterricht
der Gymnaſien den wachſenden Anſprüchen des wirthſchaftlichen Lebens
allerdings nicht mehr genügen konnte, ſo erhob ſich ſchon bald nach den
Kriegen der Ruf nach Reformen. Den Fanatikern der Nützlichkeit erſchien
nur lernenswerth was ſich in Geſchäft und Unterhaltung unmittelbar
gebrauchen ließ; die moderne Vorliebe für oberflächliche Vielwiſſerei und
der Haß der Aufklärung gegen alles Altüberlieferte thaten das Ihre hinzu.
In Baden wurde das Verlangen nach Beſchränkung des claſſiſchen Un-
terrichts bald unter die Hauptſätze des liberalen Parteiprogramms auf-
genommen; in Preußen war Schön der eifrige Gönner dieſer Beſtre-
bungen, welche den tiefſten Grund der deutſchen Bildung bedrohten und
erſt nach langen Jahren ſich etwas abklären ſollten.


Die Fruchtbarkeit der neuen Gelehrtengeneration ſchien unerſchöpflich;
faſt im nämlichen Augenblicke, da die hiſtoriſche Rechtslehre, die hiſtoriſche
Grammatik und die vergleichende Sprachforſchung entſtanden, ſchuf Karl
Ritter die neue Wiſſenſchaft der vergleichenden Erdkunde. Trotz der großen
Entdeckungen des ſechzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts war die
Geographie bisher doch nur eine reichhaltige Sammlung von ſtatiſtiſchen,
hiſtoriſchen, phyſikaliſchen Notizen ohne innere Einheit geblieben. Niemand
fragte mehr, was wohl einſt Strabo gemeint haben mochte als er für die
Geographie eine philoſophiſche Behandlung forderte und das „vielgeſtaltige“
Europa glücklich pries neben Aſiens einförmiger Küſtenbildung. Erſt in
dieſen Tagen des erſtarkenden hiſtoriſchen Sinnes erwachte auch die Ein-
ſicht, daß die Erde das Erziehungshaus der Menſchheit und der Schau-
platz ihrer Thaten iſt, und die Erdkunde mithin zunächſt zu erforſchen
hat, wie die Geſtaltung der Erde bedingend und beſtimmend auf die
[76]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Geſchichte des Menſchengeſchlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817
dieſen neuen Gedanken in dem erſten Bande ſeiner Vergleichenden Erd-
kunde zuerſt ausſprach, erhob er die Geographie zu einer ſelbſtändigen
Wiſſenſchaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntniß der
geſetzmäßigen Nothwendigkeit des hiſtoriſchen Lebens, der aus Savignys
und Bopps Werken ſprach, und wie dieſe Beiden erinnerte er ſich bei
ſeinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie.
Die Formen der Erde beſeelten ſich vor ſeinen Augen wie die Wortformen
vor Jakob Grimms Forſcherblick. Er ſah in den Welttheilen die großen
Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine ſittliche Kraft,
übernehme die Erziehung ſeiner Bewohner, erlebe ſeine nothwendige Ge-
ſchichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er Alles zuſammen was jemals
Naturforſcher, Reiſende, Hiſtoriker über Land und Leute berichtet hatten,
um zunächſt an Aſien die ewige Wechſelwirkung von Natur und Geſchichte
zu erweiſen. Kam ſein Werk zum Ziele — und er ſelber nannte noch
im hohen Alter die Geographie beſcheiden eine erſt werdende Wiſſenſchaft
— ſo war der ganze Entwicklungsgang der Menſchheit als eine örtlich
bedingte Naturerſcheinung dargethan. Schwächere Köpfe konnten auf ſo
ſchwierigem Wege leicht in eine materialiſtiſche Geſchichtsanſchauung hinein-
gerathen; für Ritter war dieſe Verſuchung nicht vorhanden. Denn er
blieb noch als Mann in ſeinem Herzen ein einfältiges frommes Kind,
wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann
ſaß. Nicht blinde Naturgeſetze, ſondern den Willen des lebendigen Gottes
hoffte er durch ſein Forſchen zu erkennen; heilige Andacht durchſchauerte
ihn ſo oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich
hohen Werke aufging, und oft nannte er ſein Buch „mein Lobgeſang
des Herrn“.


Wenige Wiſſenſchaften hängen mit der Macht und dem Reichthum
der Völker ſo innig zuſammen, wie die Erdkunde; ſie folgt in den An-
fängen der Geſchichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden
Kaufmanns, auch in geſitteten Zeiten bedarf ſie königlicher Mittel um
Neues zu finden. Nur den Deutſchen iſt es gelungen, ſich zweimal
allein durch die Kraft ihres Geiſtes eine führende Stellung in der geo-
graphiſchen Wiſſenſchaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugieſen
ſich in die Herrſchaft beider Indien theilten und Deutſchlands alte Han-
delsgröße zuſammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig
an die Seite. Wie viele Weltumſegler und Entdecker hatten ſeitdem bei
den Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja ſelbſt Rußlands freigebige
Unterſtützung gefunden. In Deutſchland, dem Lande ohne Colonien und
faſt ohne Welthandel, geſchah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re-
gierungen blickten noch kaum hinaus über die armſelige Beſchränktheit
ihres binnenländiſchen Stilllebens. Auf eigene Koſten mußten Alexander
v. Humboldt und Leopold v. Buch ihre kühnen Reiſen unternehmen.
[77]Karl Ritter.
Als Adalbert v. Chamiſſo in jenen Tagen von ſeiner Weltumſeglung heim-
kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtthurms im tiefſten Herzen
erſchüttert fühlte, er ſei ein Deutſcher geworden und hier grüße ihn die
liebe Heimath, da wehte die ruſſiſche, nicht die preußiſche Flagge über
ſeinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieſes Binnenvolkes, der
jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu geſtaltete; einen erſtaunlicheren
Erfolg hat der deutſche Idealismus ſelten errungen. —


So weit Deutſchlands hiſtoriſche Wiſſenſchaften den Nachbarvölkern
vorauseilten, ebenſo tief blieb der allgemeine Stand unſerer Naturfor-
ſchung hinter den Leiſtungen der Franzoſen und Engländer zurück. Paris
galt noch lange mit Recht als die Heimath der exakten Wiſſenſchaften.
Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetiſch-philoſophiſche
Bildung der letzten Generation in den Stand geſetzt, geradeswegs die
höchſten Ziele der Naturforſchung in’s Auge zu faſſen, die Natur als
Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in ſeiner Metamor-
phoſe der Pflanzen durch die That bewieſen, daß die Idee die Erſchei-
nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne
ſie willkürlich zu entſtellen. Alexander Humboldt geſtand immer dankbar,
durch Goethe ſei er erſt mit neuen Organen für das Verſtändniß der
Natur ausgeſtattet worden; nur weil er einſt aus dem Quell, der in
Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er ſich
die ſtaunenswerthe Vielſeitigkeit ſeiner Naturkenntniß erwerben. Auch
Ritter wäre ohne die Naturphiloſophie niemals auf den Gedanken ge-
rathen, in ſeiner Erdkunde alle Zweige der hiſtoriſchen und der exakten
Forſchung zu gemeinſamem Schaffen zu vereinigen. Der Maſſe der Min-
derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philoſophie zum Verderben.


Nicht umſonſt hatte Schelling den übermüthigen Ausſpruch gethan:
ſeit man die Idee des Lichtes kenne, ſei Newtons blos empiriſche Far-
benlehre überwunden. Nicht umſonſt hatte der fahrige Hendrik Steffens,
noch dreiſter, gefordert, die Naturforſchung müſſe ſich ſteigern zur Spe-
culation und in allem Sinnlichen ſchlechterdings nur noch das Geiſtige
erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte
ſich nun berechtigt, die Welt der Erſcheinungen nach einem vorgefaßten
Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken ſtand im vierten Semeſter des medi-
ciniſchen Studiums, als er ſchon den Grundriß ſeines Syſtems der Na-
turphiloſophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk-
lichen, der Chemiker mochte ſich die Hände nicht beſchmutzen, der Phyſiker
verſchmähte die Ergebniſſe ſeiner „Apperception“ durch Experimente zu
prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone
des Propheten ſprach Schelling von den beiden Principien der Finſterniß
und des Lichtes, deren Angel das Feuer ſei. Der Diamant war der
zum Bewußtſein gekommene Kieſel, die Wälder die Haare des Erdthiers,
und am Aequator zeigte ſich die angeſchwollene Bauchſeite der Natur.
[78]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Zwar der ehrliche Oken bewahrte ſich inmitten dieſer Saturnalien immer
noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wiſ-
ſenſchaft durch gründliche Unterſuchungen über die Entwicklungsgeſchichte
der Säugethiere; doch manches ſchöne Talent ging in dem phantaſtiſchen
Spiele völlig unter. Wie viele gute Kraft mußte der junge Juſtus Liebig
verſchwenden, bis er des romantiſchen Hochmuths endlich Herr ward und
ſich entſchloß, ſchlichtweg als ein Unwiſſender an die wirkliche Welt heran-
zutreten.


Die Naturphiloſophie ſah in der Natur den unbewußten Geiſt, in
den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und ſuchte daher
überall nachzuweiſen, wie bewußtes und unbewußtes Leben in einander
ſpielen. Hier, auf dem räthſelreichen Grenzgebiete der Naturwiſſenſchaft,
berührte ſie ſich mit der religiöſen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge-
heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die ſeit Swedenborgs Tagen
das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Weſen getrieben
hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes-
mer, der Wundermann, deſſen Lehren einſt Lavater in den Kreiſen der
Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der mag-
netiſchen Allfluth, das eigentliche Lebensprincip, das alle Krankheiten heilen,
ja ſelbſt verhüten ſollte. Dies halbverſchollene „Evangelium der Natur“
brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Ueberall tauchten
ſchlafwandelnde Frauen und magnetiſche Heilkünſtler auf; überall in den
eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetiſche
Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Aerzte befreundeten ſich
mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages ſtürmte blind-
lings über dieſe Gemäßigten hinweg.


Das Körnlein Wahrheit, das in den Doctrinen des Magnetismns
lag, verſchwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau-
bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforſchlichen bethörte die
Wiſſenſchaft bevor ſie noch in der erforſchbaren Welt recht heimiſch ge-
worden; phantaſtiſche Bücher erzählten von dem Geheimniß der „Lebens-
kraft“, die man ſich als eine beſondere Subſtanz vorſtellte. Auch Galls
Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal ſeit der höfiſche
Naturphiloſoph Carus ſie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen
wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn ſie in die
Berliner Kriegsſchule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die
Köpfe betaſten, um die Talente herauszufinden; und ſtand ein Porträt-
maler auf der Höhe der Zeit, ſo ſchmückte er ſeine Geſtalten mit unna-
türlich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe
ſendete einſt ein engliſcher Verehrer eine Büſte, die einem Waſſerkopfe ſehr
ähnlich ſah; ſie ſtellte den Dichter ſelber vor, der Bildhauer hatte nach den
Grundſätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürſt der Dichtung
unfehlbar ausſehen mußte. Männer aller Parteien verſanken in dies
[79]Naturphiloſophiſche Träume.
Traumleben. Den alternden preußiſchen Staatskanzler lockte der gewandte
jüdiſche Arzt Koreff in die Netze des Mesmerismus, aber auch Wangen-
heim, der Führer der Liberalen am Bundestage, ſtand unter den Hohen-
prieſtern der Naturphiloſophie. Doch überwog der Rationalismus in der
liberalen Welt; die Mehrzahl ſeiner Jünger fand der Wunderglaube
in den Reihen der conſervativen Parteien. Auch in Frankreich zählten die
beiden eifrigſten Apoſtel des Somnambulismus, Bergaſſe und Puyſegur
zu den Heißſpornen der Legitimität. Die akademiſchen Lehrkörper konnten
das Mißtrauen gegen die phantaſtiſche Willkür der Naturphiloſophen nie-
mals ganz überwinden; die Berliner Univerſität weigerte ſich hartnäckig
den geiſtreichen Schwärmer Steffens zu berufen, und zum erſten male
entbrannte ein ernſter Streit zwiſchen der Staatsgewalt und der jungen
Hochſchule, als Hardenberg durch ein Machtgebot ſeine Günſtlinge Koreff
und Wohlfart zu ordentlichen Profeſſoren ernannte. Ganz unbekümmert
um den Beifall der großen Welt ging indeſſen Heinrich Schubert ſeinen
beſcheidenen Gang, der liebenswürdigſte und harmloſeſte der philoſophiſchen
Naturforſcher, altväteriſch fromm wie es daheim im Pfarrhauſe des Erzge-
birges der Brauch war, ein ehrwürdiges Vorbild chriſtlicher Liebe und
Duldſamkeit; wenn er in ſeiner ſinnigen gemüthvollen Weiſe von der
Symbolik des Traumes und den Nachtſeiten der Naturwiſſenſchaft ſprach,
dann erbauten ſich die Stillen im Lande.


Wie ein Berggipfel ragte aus dem Nebelmeere der romantiſchen Na-
turwiſſenſchaft Alexander v. Humboldt empor; ihn beſtrahlte ſchon die
Sonne eines neuen Tages. Bereits in ſeinen Jugendjahren war er, der
Zeit weit vorauseilend, ganz aus eigener Kraft von der äſthetiſchen zur
wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung vorgeſchritten. Die treue Sorgfalt der
induktiven Forſchung, die der Naturwiſſenſchaft ganz abhanden gekommen
war und den Hiſtorikern erſt durch Savigny und Niebuhr wieder ge-
wonnen wurde, lag dieſem Manne im Blute. Sein Drang nach objek-
tiver Erkenntniß ließ von jeher ſchlechterdings nur die Thatſachen gelten,
ſchied das Erwieſene ſtreng von dem Vermutheten ab, und nichts verletzte
ihn tiefer als jener Dünkel der Speculation, der niemals ſeine Unkenntniß
eingeſtehen, niemals beſcheiden eine Erſcheinung unerklärt laſſen wollte.
Darum erſchien er in den Kreiſen der äſthetiſchen Idealiſten, wo man die
Wirklichkeit als eine läſtige Schranke des freien Geiſtes verachtete, zuerſt wie
ein Fremdling aus einer anderen Welt. Schiller hielt den Bruder ſeines
geliebten Wilhelm für einen ideenloſen Sammler und klagte: dieſer nackte,
ſchneidende, von der Einbildungskraft ganz verlaſſene Verſtand wolle die
Natur ſchamlos ausgemeſſen haben. Seitdem hatten die Deutſchen längſt
erfahren, welche Macht der Phantaſie in dieſem Genius des empiriſchen
Wiſſens lebte; ſie vermaß ſich freilich nicht, den Gang der Forſchung mei-
ſternd vorherzubeſtimmen, aber ſie verband die tauſend und tauſend ſorgſam
erforſchten Einzelheiten zur lebendigen Einheit, und mit brüderlichem Stolze
[80]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
rief Wilhelm dem Jüngeren zu: Du wobſt aus dem was geiſtvoll Du
erſpähet ein reiches, Weltenall umſchlingend Band! Auch dem Idealismus
des Bruders ſtand Alexander weit näher als Schiller glaubte; denn wie
Jener fand er den einzigen wirklichen Inhalt der Weltgeſchichte in der Ent-
wicklung des Menſchengeiſtes, nur daß nach ſeiner Schätzung das Schauen,
Bilden und Dichten hinter dem Forſchen zurückſtand. Und wie Jener
durfte er ſich des „freien, von der Gegenwart nie beſchränkten Sinnes“
rühmen, der Alles groß behandelte und in der peinlichen Einzelforſchung
immer den Blick auf das All gerichtet hielt. „Er ſucht — ſo ſagte ſein
Bruder — wirklich nur Alles zu umfaſſen, um Eines zu erforſchen, dem
man nur von allen Seiten zugleich beikommen kann.“ Die Erkenntniß
galt ihm als das höchſte der Güter; alle Kräfte ſeiner Seele erſchienen
beherrſcht, faſt aufgeſogen von dem einen allumfaſſenden Wiſſensdrange.
Niemals ſtörte ihm die Liebe oder irgend eine andere ſtarke perſönliche
Leidenſchaft die Bahnen ſeiner Forſchung; Keinen wählte er zum Freunde,
der nicht mitbauen half an dem großen Werke ſeines Lebens.


So blieb auch das ſchöne, innige Verhältniß zwiſchen den beiden
Brüdern mehr eine Gemeinſchaft der Geiſter als ein Herzensbündniß; ihre
Vertraulichkeit wuchs mit den Jahren, je mehr Wilhelm von ſeinen äſthe-
tiſchen Arbeiten zu der vergleichenden Sprachforſchung hinüberging und
alſo dem Gedankenkreiſe des Bruders ſich näherte. In dem Freundes-
bunde dieſes Bruderpaares gewann die Idee der universitas literarum
Fleiſch und Blut; er bewies der Welt die unzerſtörbare Einheit der exak-
ten und der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, von deren Feindſchaft kleine Geiſter
fabeln. Alexander vermochte weder ſo tief wie Wilhelms ſchwerer und
ſtärker angelegter Genius in die verborgenen Abgründe des Seelenlebens
hinabzublicken, noch ſo kühn wie Jener zu den Höhen der Speculation
emporzuſteigen, auch die reine Mathematik lag der Richtung ſeines Den-
kens fern. Dafür überbot er den Bruder wie alle anderen Zeitgenoſſen
durch die wunderbare Beweglichkeit und Empfänglichkeit eines raſtloſen
Kopfes, der Alles, was Menſchen je geforſcht und gedacht in ſich aufzu-
nehmen und mit ſich zu verſchmelzen wußte.


In ihm fand der weltbürgerliche Zug des deutſchen Geiſtes einen
ſo vollkommenen Ausdruck wie vordem nur in Leibniz. Er hielt ſich be-
rufen, die ganze geiſtige Habe des Zeitalters aufzuſpeichern und zu be-
herrſchen, allen Völkern als ein Vermittler der modernen Bildung, als
ein Lehrer der Humanität zu dienen. Niemand verſtand wie er, Talente
aufzufinden und zu ermuthigen; mit unermüdlich liebenswürdigem Eifer
theilte er Allen mit aus der Fülle ſeines immer lebendigen und immer
bereiten Wiſſens. Goethe verglich ihn einem Brunnen mit vielen Röhren,
wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer
erquicklich und unerſchöpflich entgegenſtrömt. Selbſt die Schwächen des
Charakters, die er mit Leibniz theilte, kamen ſeinem Vermittlerberufe zu
[81]A. v. Humboldt.
ſtatten. Wenn er als ein ſchmiegſamer Hofmann Jedem nach dem Munde
redete und Jeden ohne Unterſchied mit einem Schwalle ſchmeichleriſchen
Lobes überſchüttete, ſo warb er dadurch immer neue Gönner und Ge-
hilfen für die Sache der univerſalen Bildung, welche doch nur durch die
Arbeit Aller gedeihen konnte; wenn er ſeinen eigenen Weltruhm mit unver-
hohlener Eitelkeit genoß und förderte, ſo diente ihm ſein glänzender Name
zugleich als ein Mittel um die Großen der Erde auf den Werth der unzäh-
ligen wiſſenſchaftlichen Unternehmungen, die er mit warmem Fürwort unter-
ſtützte, nachdrücklich hinzuweiſen. Wo es noth that trat er für die be-
drohte Freiheit der Forſchung weit muthiger ein als vormals Leibniz, und
während die weite Welt ihm ihre Huldigungen darbrachte, blieb er in
ſeinem Herzen doch ein Deutſcher: er kannte wie Niemand ſonſt die Ge-
brechen unſerer jungen Geſittung, unſerer Armuth und Kleinmeiſterei,
und beobachtete mit ſtiller Freude, wie die Deutſchen Schritt für Schritt
an die alte Cultur der Nachbarvölker näher heranrückten.


Gleich allen großen Reiſenden hatte er ſchon im Kindesalter ſich
hinausgeſehnt in die ungemeſſene Ferne; wenn er im Palmenhauſe der
Potsdamer Pfaueninſel zu den zierlichen Blätterfächern emporſchaute,
dann ſtieg die Wunderwelt der Tropen lockend und glänzend vor ſeinem
Geiſte auf. Was der Knabe geträumt, ging dem Manne herrlich in
Erfüllung. Während fünf reicher Jahre durchwanderte er mit ſeinem
treuen Bonpland das Innere Süd- und Mittelamerikas; die Freunde
beſtiegen den Chimborazo, weilten viele Monate, von der Welt abgeſchie-
den, in den nie betretenen Urwäldern am Orinoco. Als Humboldt zu-
rückkehrte, war er der einzige deutſche Mann, der ſich in jenen napoleo-
niſchen Tagen die ungetheilte Bewunderung des Auslandes errang. Sein
Ruhm hielt die Ehre des deutſchen Namens ſelbſt unter den franzöſiſchen
Siegern aufrecht; für Bonpland wußten ſeine Landsleute kein höheres
Lob, als daß er der Mitarbeiter des deutſchen Forſchers geweſen. Hum-
boldt ſiedelte ſich nun in Paris an; hier bot ihm der Umgang mit La-
place, Arago, Cuvier, Gay-Luſſac einen fruchtbaren Gedankenaustauſch,
wie ihn ein Naturforſcher in Deutſchland noch nirgends finden konnte.
Alles drängte ſich um den bezaubernden Cauſeur, ſobald er nach arbeits-
reichem Tage Abends in den Salons erſchien und durch geiſtvolle Be-
merkungen, Reiſeerinnerungen, Tagesneuigkeiten und boshafte Scherze bis
in die tiefe Nacht hinein die Geſellſchaft in Athem hielt.


Sein Anſehen ſtieg noch, als der Verkehr zwiſchen den beiden Nachbar-
völkern nach dem Kriege wieder lebendiger wurde; ſeitdem galt er bei den
Pariſern als der natürliche Vertreter der deutſchen Wiſſenſchaft, alle Lands-
leute an der Seine ſuchten ſeinen Schutz, und ſein Wort wog oft ſchwerer
als die Fürſprache der Diplomaten. In neunundzwanzig großen Bänden
theilte er der Welt nach und nach die Ergebniſſe ſeiner amerikaniſchen Fahr-
ten mit. Sein Reiſebericht war das unübertroffene Muſter ſtreng wiſſen-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 6
[82]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſchaftlicher Länderbeſchreibung. Hier zeigte er zuerſt den geognoſtiſchen Un-
terſchied der beiden Erdhälften, lehrte zuerſt Länderprofile zu zeichnen und
die mittlere Höhe der Continente zu beſtimmen und bewies den über-
raſchten Leſern, wie niedrig die Gebirge ſind im Vergleich mit der Ge-
ſammterhebung des feſten Landes. Er ſchuf die Lehre der Pflanzengeo-
graphie und öffnete durch die Auffindung der Iſothermen (1817) den
Weg für die neue Wiſſenſchaft der Meteorologie. Im Entdecken und
Erfinden kamen ihm einzelne ſeiner Pariſer Freunde gleich; doch keiner
beherrſchte einen ſo weiten Geſichtskreis. Derſelbe Mann, der die Fach-
genoſſen durch die peinliche Genauigkeit ſeiner barometriſchen Höhenmeſ-
ſungen in Erſtaunen ſetzte, gab den Hiſtorikern zuerſt eine Vorſtellung
von der Cultur der Urvölker Amerikas, ein klares Bild von der ſpaniſchen
Colonialpolitik, und beſchämte, gleichwie Boeckh, die Nationalökonomen durch
ein Meiſterſtück der vergleichenden Statiſtik, die Unterſuchungen über den
vorhandenen Vorrath an edlen Metallen. Durch Humboldts Vorbild und
perſönliche Belehrung empfing auch Ritter die erſten Aufſchlüſſe über die
eigentliche Aufgabe der Geographie.


Gleich Humboldt hatte ſich ſein Landsmann Leopold v. Buch in
dem philoſophiſchen Rauſche der Zeit die Luſt und Kraft zum Beob-
achten des Wirklichen gerettet: auch er ein Ariſtokrat, durch reichen Be-
ſitz vor der Kleinlichkeit des deutſchen Gelehrtenlebens bewahrt, und doch
ſo ganz anders geartet als jener glänzende Redekünſtler der Pariſer Sa-
lons: ein naturwüchſiges Genie, offenherzig, derb, geradezu, ein frei-
müthiger märkiſcher Landjunker. In allen Bergwinkeln Europas, von
Lappland bis zu den Abruzzen war der rüſtige Fußwanderer zu Hauſe;
die feinen Veräſtelungen des Hochgebirges am buchtenreichen Fjord von
Chriſtiania ſtanden ſo klar vor ſeinen Augen, wie die beſcheidenen Sand-
hügel ſeines heimiſchen Flämings. Durch ihn und Humboldt wurde
die Geologie von Grund aus umgeſtaltet: ſie widerlegten die neptuniſtiſche
Doktrin ihres gemeinſamen Lehrers Werner und erwieſen die vulka-
niſche Entſtehung der höchſten Gebirge. Mit Kummer ſah Goethe, wie
ſein geliebtes „poſeidaoniſches Reich“ alſo durch die „tollen Strudeleien“
des Plutonismus zerſtört wurde. Die Erdfreundſchaft des Dichters wur-
zelte im Gemüthe. So hoch er auch über der Phantaſterei des großen
Haufens der Naturphiloſophen ſtand: es war doch ſeine poetiſche Welt-
anſchauung, die ihn zur Erforſchung der Natur trieb. Ganz voraus-
ſetzungslos ging er weder an die Farbenlehre noch an die Geologie heran;
und wie treu er auch jede Erſcheinung der Natur beobachtete, ſchließlich
nahm er doch nichts als erwieſen an, was den Grundanſchauungen ſeiner
gelaſſenen Lebensweisheit widerſprach. Die Lehre des Plutonismus blieb
ihm unheimlich; denn ſein Gefühl verlangte, daß die Beſte der Erde ſich
langſam, ohne plötzliche Erſchütterungen, aus der Lebensfeuchte herausge-
bildet haben mußte.


[83]Schelling.

Wenn der deutſchen Naturforſchung gelang, die Philoſophie in ihre
Schranken zurückzuweiſen, dann durfte ſie wohl hoffen die Nachbarvölker
dereinſt noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr ſchon jetzt nicht.
Der Hallenſer Meckel war in der vergleichenden Anatomie ſchon weit über
Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre
1810 die Möglichkeit des elektriſchen Telegraphen behauptet; und in Göt-
tingen lebte ſchon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme
der reinen Theorie verſunken, der Mathematiker Gauß, zu deſſen Größe
ſelbſt Humboldt mit ſcheuer Ehrfurcht aufblickte — einer jener zeitloſen
Denker, deren Wirkſamkeit erſt in dem Leben der kommenden Geſchlechter
ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik ſei die Königin der
Wiſſenſchaften, und ſeine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.


Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausſpruch that: die Philoſophie
iſt ihre Zeit in Gedanken gefaßt, ſo hatte er mindeſtens den Charakter
ſeines Zeitalters recht verſtanden. Faſt in der geſammten geiſtigen Ar-
beit der Epoche, in den phantaſtiſchen Verirrungen der Naturwiſſenſchaft
wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Hiſtoriker verrieth ſich der mäch-
tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philoſophiſche Lehre beherrſchte
noch die deutſchen Gedanken, bis ſie erſt in den zwanziger Jahren durch
Hegels Syſtem vom Throne geſtoßen wurde; ſelbſt die eigenthümlich vor-
nehme Haltung dieſer Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor-
bild des ſtolzen Philoſophen, der alle unheiligen Sohlen ſo herriſch von der
Schwelle ſeines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerſtolze
der Deutſchen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch
die Lehre dieſes unendlich empfänglichen Geiſtes, der die Einheit des Realen
und Idealen behauptete, die Natur als den ſichtbaren Geiſt, den Geiſt
als die unſichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutſchen
Philoſophie ſchien gelöſt, die Identität von Sein und Denken endlich er-
wieſen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich geſehen,
ohne ihr ſelbſtändiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen,
wie ſich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na-
tur und der Geſchichte. So ward ihm Alles was da war und iſt und
ſein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge
der Erſcheinungen entfaltete ſich das eine göttliche Selbſtbewußtſein: „vom
erſten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchſten Lebensſäfte iſt
eine Kraft, ein Wechſelſpiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer
höh’rem Leben.“ Neben Fichtes einſeitigem Idealismus erſchien dies all-
umfaſſende Syſtem ebenſo großartig und überlegen, wie Goethe neben
Schiller — ſo lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken-
bau nicht auf ſicheren Beweiſen, ſondern nur auf den kühnen Behaup-
tungen eines genialen Kopfes ruhte.


Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation,
die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unſerer
6*
[84]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich
werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie
bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver-
ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen,
wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu
ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt-
lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und
zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des
Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der
atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt
emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar
die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.


Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein
dem Ausbau ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems gewidmet. Erſt in den
geiſtvollen Vorleſungen über das akademiſche Studium (1803) wandte er
ſich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geſchichte zu. Ein
glücklicher Inſtinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der
Zeit. Er erkannte jetzt, „daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le-
ben im Staate der Punkt ſei, um welchen ſich Alles bewegt“, und arbeitete
dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung ſeiner „ge-
ſchichtlichen Philoſophie“. Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü-
lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche
Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da
die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder
Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber
gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und
geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich
Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar
vor die Augen führten.


Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens
ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die
Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden
Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll-
endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke,
das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber
Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem
äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche
ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge-
drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu:
„ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem
Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage
aller Größe und Schönheit iſt.“ Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge-
ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-
[85]F. Baader.
ling einſtmals oft zu übereiltem Schaffen verführt und ſtimmte jetzt den
Mann ſchweigſam. Nur durch ein vollkommenes Werk meinte der Hochmü-
thige noch ſich ſelber und der ſtaunenden Welt genügen zu können. Immer
wieder verhieß er unter dem Hohngeſchrei ſeiner liberalen Gegner: „wie
ich jetzt reden werde, wird man ſehen;“ immer wieder ward ſein großes
Werk über die Weltalter angekündigt, nie vollendet. Denn ſeiner un-
ruhigen Phantaſie wurden die harten Thatſachen der Geſchichte auf die
Dauer doch unbequem. Von ſeinen Weltaltern zog ihn die „künftige
Welt“, die ſo viel zu ahnen und zu weiſſagen gab, ungleich ſtärker an
als die Welt der wirklichen Geſchichte. Am Liebſten aber verweilte er bei
der Betrachtung der „Urzeit“ und ſchilderte, im ſcharfen Gegenſatze zu
dem unbedingten Fortſchrittsglauben der Aufklärung, wie die glückliche
Menſchheit in jenem Zeitalter urſprünglicher Unſchuld durch den Unter-
richt höherer Geiſter die Geheimniſſe der Religion empfangen habe. Bald
kehrte der Vielbewegliche auch der Hiſtorie wieder den Rücken und verlor
ſich in die theoſophiſchen Probleme der Offenbarungsphiloſophie; ſeine ge-
ſchichtsphiloſophiſchen Ideen aber lebten fort in den Werken von Savigny,
Ritter und Creuzer.


Schelling konnte, ſelbſt wenn ſeine Phantaſie in’s Ungemeſſene ſchweifte,
den proteſtantiſchen Schwaben niemals ganz verleugnen. In der „chriſt-
lichen Philoſophie“ des Baiern Franz Baader hingegen lebte die ganze
Unfreiheit der mittelalterlichen Scholaſtik wieder auf. Der geiſtreiche
Sonderling nahm die katholiſche Dogmatik zur Vorausſetzung wie zum
Ziele ſeines Denkens, und bekämpfte gleichwohl das Papſtthum und die
Jeſuiten ebenſo leidenſchaftlich wie den Liberalismus, die Aufklärung und
die Staatsallmacht; in der Vereinigung der römiſchen, der griechiſchen
und der evangeliſchen Kirche meinte er das myſtiſche Dreieck, den wahren
Katholicismus gefunden zu haben. Statt der angeblich mechaniſchen Sy-
ſteme ſeiner Vorgänger dachte er eine dynamiſche Philoſophie, ſtatt der
heilandloſen und darum heilloſen Moral Kants eine neue, auf Phyſik
und Religion begründete Ethik zu ſchaffen und gerieth dabei, obwohl er
manche Verirrungen liberaler Verſtandesflachheit mit treffenden Worten
widerlegte, ſelber in ein ſo krauſes Gewirr magiſcher Vorſtellungen, daß ſo-
gar der ewig aufgeregte romantiſche Enthuſiaſt Steffens das fratzenhafte
Treiben des Münchener Myſtagogen nicht mehr mit anſehen mochte. Wie
er einſt den Czaren Alexander zur Stiftung der heiligen Allianz ange-
regt hatte, ſo ſuchte er ſein Leben lang das Heil der Völker in einer un-
klaren Vermiſchung religiöſer und politiſcher Ideen; ſein Staatsideal blieb
die „wahre Theokratie“. — Von Kant, dem deutſcheſten der Philoſophen,
wendete ſich die romantiſche Ueberſchwänglichkeit erſchreckt ab. Statt ſeiner
ward jetzt Jakob Böhme wieder als der philosophus teutonicus gefeiert,
der tiefſinnige ſchwärmeriſche Theoſoph, der einſt dem wüſten Geſchlechte
des dreißigjährigen Krieges ſein geheimnißvolles „Ueberall ſieheſt Du Gott!“
[86]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
gepredigt hatte. Als Fouqués Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813
nahe der Landskrone ein Gefecht beſtand, da rief der romantiſche Poet
in ſeliger Verzückung: hier ſei es ſchön zu ſterben, im Angeſichte des hei-
ligen Berges, auf deſſen Gipfel der Herrgott zuerſt dem Schuſter von
Görlitz erſchienen! —


Wo waren ſie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der
Gegenſatz der Glaubensbekenntniſſe ganz verbleicht, alles kirchliche Leben
durch die weltliche Bildung überwuchert ſchien und der mögliche Unter-
gang des Chriſtenthums von Freund und Feind ſchon mit philoſophiſcher
Gelaſſenheit beſprochen wurde! Die erſchütternden Erfahrungen des Zeit-
alters der Revolution hatten in allen Völkern das ſchlummernde religiöſe
Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten
auch hierarchiſche Beſtrebungen, die man längſt erſtorben wähnte, und
die finſteren Leidenſchaften des Glaubenshaſſes, des Fanatismus, des
Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies ſich mit jedem Jahre mehr,
im ſcharfen Gegenſatze zu ſeinem Vorgänger, als ein Zeitalter endloſen
kirchlichen Unfriedens, ſo zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites
Jahrhundert der Kirchengeſchichte: reich an geſundem religiöſen Leben, doch
ebenſo reich an Unglauben, Weltſinn, Gleichgiltigkeit, Verzweiflung; voll
ſtiller Sehnſucht nach einer reineren Form des Chriſtenthums und doch
unfähig zur Verſöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen
Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und
durch das gebieteriſche Ruhebedürfniß des bürgerlichen Lebens in Schran-
ken gehalten wurden. Nirgends erſchien das Gewirr dieſer kirchlichen Ge-
genſätze ſo bunt und vielgeſtaltig wie in dem Heimathlande der Refor-
mation, das von jeher gewohnt war, die Fragen des Glaubens mit ſchwe-
rem Ernſt zu behandeln, die Ueberzeugung des Gewiſſens freimüthig aus-
zuſprechen. Die deutſche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehrliche
Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering.


Da die Durchſchnittsbildung ſtets um einige Schritte hinter dem
Stande der Wiſſenſchaft zurückbleibt, ſo herrſchte in der Maſſe der evan-
geliſchen Geiſtlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener
bequeme, menſchenfreundliche Rationalismus, der mit ſeinem harten Ver-
ſtande kurzerhand alles „Unvernünftige“ von den Dogmen losſchälte und
in ſeiner Selbſtzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale
auch den Kern des chriſtlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief-
ſinnigen Lehren von der Sünde und der Erlöſung, welche dem germaniſchen
Gemüthe allezeit die theuerſten waren. Durch dieſe Heilslehre hatte einſt
das Chriſtenthum zuerſt den Weg gefunden zu den Herzen der Ger-
manen, die allein unter allen Heidenvölkern ſchon an die dereinſtige Wie-
dergeburt der ſündigen Welt glaubten; von dem zerknirſchenden Bewußt-
ſein der eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung
der verweltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch
[87]Der Rationalismus.
Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchengeſchlechts geſprochen.
Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine ſchwache Erinne-
rung an dieſe chriſtlichen Grundgedanken, ſondern glaubte harmlos an die
Güte der menſchlichen Natur und beruhigte ſich bei einer weltlichen Werk-
heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtſchaffenheit des Wandels genügte ihm
zur Seligkeit. Gleichwohl beſaß er weder den Muth noch die wiſſenſchaft-
liche Kraft um den ſteilen Weg, welchen einſt Leſſing und der Wolfen-
bütteler Fragmentiſt gewieſen, weiter zu verfolgen und ſich die kritiſche
Methode der neuen philologiſchen Sagenforſchung anzueignen; er wagte
nicht den hiſtoriſchen Urſprung des Neuen Teſtaments ernſthaft zu unter-
ſuchen, ſondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte ſich
ihre Ausſprüche ſo lange umzudeuteln, bis ſie mit den Naturgeſetzen im
Einklang zu ſtehen ſchienen.


Der lauteſte und unduldſamſte Vorkämpfer dieſer Richtung war Paulus
in Heidelberg, einige Jahre vor Schelling in dem nämlichen Pfarrhauſe
zu Leonberg in Schwaben geboren, der Todfeind dieſes ſeines Lands-
mannes und aller Lehren, welche irgend über den platten Verſtand hinaus-
reichten. Wie fühlte er ſich glücklich in ſeinem Freiſinn, wenn er die Auf-
erſtehung für ein Erwachen vom Scheintode, das Wunder von Kana für
den gelungenen Spaß eines vergnügten Hochzeitsgaſtes erklärte. Mancher
rationaliſtiſche Lehrer rief ſogar die Geheimlehren der Naturphiloſophen zu
Hilfe und ſchilderte den Heiland als einen magnetiſchen Arzt; das natür-
liche Wunder erſchien dieſen Köpfen immerhin noch erträglicher als das
übernatürliche. Die glaubensfreudigen alten Kirchenlieder erſchreckten die
nüchterne Mattherzigkeit; ſie wurden durch läppiſche Aenderungen verdünnt
oder gänzlich aus den Geſangbüchern entfernt. Wie viel ſittſamer als das
gewaltige „O Ewigkeit, Du Donnerwort“ klang doch das neue wohlerzogene
Rationaliſtenlied: „ich ſterb’ im Tode nicht, mich überzeugen Gründe!“ Von
jeher hatte die evangeliſche Kirche den Cultus neben der Lehre vernachläſſigt.
Unter der Herrſchaft des Rationalismus verſchwand aus dem Gottes-
dienſte vollends Alles was das Gemüth erquickte und die Phantaſie er-
regte; die geiſtliche Lehre aber ſank zur weltlichen Belehrung herab. Die
Kanzelredner verſtanden nicht mehr die beladenen Gewiſſen zu erbauen
und zu erheben, ihnen Troſt zu ſpenden aus der Fülle der Verheißung;
ſie ergingen ſich in breiten moraliſchen Betrachtungen, ſie erläuterten was
ſich der vernünftige Chriſt bei den einzelnen Dogmen zu denken habe,
und verſchmähten ſogar nicht an geweihter Stätte wohlgemeinte Anwei-
ſungen für den Kartoffelbau und die Schafzucht zu geben. Ihre Gottes-
häuſer verödeten, die guten Köpfe vermochten in dieſer dünnen Luft nicht
mehr zu athmen. Die Pflichten der Seelſorge wurden vernachläſſigt; jeder
nichtige Vorwand reichte aus um die Erlaubniß zur Eheſcheidung bei den
aufgeklärten Pfarrern und Conſiſtorien zu erlangen. Auch der alte offen-
barungsgläubige Supranaturalismus, der namentlich in Württemberg unter
[88]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trockenen Verſtän-
digkeit der Rationaliſten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem
unwahren Scheinfrieden mit der Wiſſenſchaft, ſie ſetzten die nothwendige
Uebereinſtimmung von Glauben und Wiſſen ſtillſchweigend voraus. Beide
bewegten ſich noch in einem Gedankenkreiſe, welchen die lebendigen Kräfte
der Literatur längſt verlaſſen hatten. Der unfruchtbare Streit über die
Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Aeußere der Re-
ligion, nicht ihr Weſen.


Unterdeſſen erzog Schleiermacher eine neue Theologenſchule, die von
dem Meiſter lernte mit dem jungen wiſſenſchaftlichen Leben der Nation
wieder Schritt zu halten. Er hatte einſt das weckende Wort geſprochen,
das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurück-
rief und das Gottesbewußtſein über das Gebiet des Wiſſens und des Han-
delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt dieſen
fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften ſowie in ſeinen meiſter-
haften Berliner Kathedervorträgen wiſſenſchaftlich ausgeſtaltete, wurde er
der Erneuerer unſerer Theologie, der größte aller unſerer Theologen ſeit dem
Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutſcher Theo-
log zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen
abgerechnet hat.


Das Geheimniß langanhaltender geiſtiger Wirkſamkeit liegt zumeiſt
in der harmoniſchen Verbindung ſcheinbar entgegengeſetzter Gaben; und
ſelten war ein ſchöpferiſcher Kopf zugleich ſo vielgeſtaltig und ſo harmoniſch,
wie dieſer Proteus, der in drei grundverſchiedenen Zeiten, in der äſthetiſchen,
der patriotiſchen und der wiſſenſchaftlichen Epoche alle Wandlungen des
Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie ſich ſelbſt
verlor. Unter den beſchaulichen Schwärmern der herrnhuter Brüdergemeinde
hatte er ſeine erſten beſtimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende
beſeligte ihn das Bewußtſein perſönlicher Gemeinſchaft mit ſeinem Erlöſer;
aber die Innigkeit ſeines religiöſen Gefühls ward in Schranken gehalten
durch einen ſchneidigen Verſtand, der aller dialektiſchen Künſte Meiſter
war und ſich gern in beißendem Witze erging. Er hatte einſt, als er die
Briefe über Schlegels Lucinde ſchrieb, ſich ſehr weit in die unwahre Ge-
fühlsſchwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des Her-
zens bewahrt, die mit den Jahren allmählich ſein ganzes Weſen ver-
klärte und den unſcheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er-
ſcheinen ließ. Der Ueberſetzer Platons war heimiſch in allen Tiefen der
Speculation und darum im Stande die Philoſophie mit ihren eigenen Waffen
zu bekämpfen, ſobald ſie ſich erdreiſtete, das Abgeleitete an die Stelle des
Urſprünglichen zu ſetzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe
zu erklären. Er ſuchte alles Menſchliche religiös zu behandeln und das
ganze gelehrte Wiſſen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und
doch konnte er nicht leben ohne die volksthümliche Thätigkeit des Predigers.
[89]Schleiermacher.
Um ſeine Kanzel verſammelte ſich noch immer die beſte Geſellſchaft Ber-
lins, aber auch die Armen im Geiſt erbaute ſeine herzliche Rede; wie unver-
geßlich ehrwürdig erſchien er Allen, da er vor dem Sarge ſeines Söhn-
leins Nathanael ſelber die Leichenrede hielt, ſo ganz in Schmerz verloren
um das Stück eigenen Lebens, das da vor ihm lag, und doch ſo ſtark in
dem Troſte, der allein tröſtet. Wer ſeine tiefgemüthlichen Briefe an den
wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im perſönlichen Verkehre
mit den zahlreichen Freunden ſo liebevoll auf die Eigenart eines Jeden ein-
gehen ſah, der mochte leicht glauben, dieſe empfängliche Natur verlange nur
ſich hinzugeben in innigem Gedankenaustauſch; und doch konnte Schleier-
macher nur im öffentlichen Leben ſich ganz genug thun, ſeine Staatsge-
ſinnung blieb in den Tagen der politiſchen Ermattung ebenſo lebendig
wie einſt in den Zeiten des patriotiſchen Zornes. Die Unkundigen und
die Gegner ſchalten, er ſchillere in allen Farben, und doch ſtand er mit
ſeinem beſonnenen Freimuth immer muthig auf dem Plane, ſobald er ein
heiliges Gut ſeines Volkes bedroht ſah, ein ſtahlharter, ganz mit ſich einiger
Charakter.


Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte ſich nahe
mit den Ideen der neuen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft. War die Wurzel der
Religion im Gemüthe zu ſuchen, ſo ergab ſich von ſelbſt der Schluß, daß
die Aeußerungen des Gottesbewußtſeins verſchieden ſein müſſen. Die
Dogmen erſchienen demnach als ſubjective Gemüthswahrheiten, als Aus-
ſagen des frommen Gefühls über ſeine Vorſtellungen von Gott. Der
Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, dieſe Geſtaltungen des chriſt-
lichen Gefühls in ihrer geſchichtlichen Nothwendigkeit zu begreifen. Sie
ſollte nicht mehr in gehäſſiger Polemik die einzelnen Bekenntniſſe des
Chriſtenthums bekämpfen und verdammen, ſondern ſie alle als höhere
oder niedere Formen des chriſtlichen Selbſtbewußtſeins zu verſtehen
ſuchen; denn auch Schleiermacher hatte ſich in ſeiner Weiſe, unabhängig
von Schelling und Savigny, die Erkenntniß der hiſtoriſchen Entwicklung
erworben und unterſchied ſcharf zwiſchen dem was durch die menſchliche
Natur werde und dem was der Menſch mache.


Damit vollführte er auf dem theologiſchen Gebiete eine ähnliche Grenz-
berichtigung, wie einſt Kant im Bereiche der Philoſophie; er ſicherte der
Theologie einen Boden, auf dem ſie ebenſo unzweifelhafte wiſſenſchaftliche
Ergebniſſe gewinnen konnte, wie alle anderen hiſtoriſchen Fächer. Die Frei-
heit des Chriſtenmenſchen faßte er ganz ſo weitherzig auf wie einſt Luther
in ſeinen erſten Schriften: das lebendige Gottesbewußtſein hatte von der
freien hiſtoriſchen und philoſophiſchen Forſchung nichts zu fürchten. Die
chriſtliche Geſinnung war ihm nichts anderes als die Menſchlichkeit in
ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des
Menſchen in Streit gerathen. Doch ebenſo nachdrücklich hob er die Wahr-
heit hervor, daß alle Religion poſitiv iſt, und das fromme Abhängigkeits-
[90]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
gefühl nur in der Gemeinſchaft der Gläubigen wach erhalten werden kann.
In der Moral ließ er, freier als Kant, die Perſönlichkeit zu ihrem vollen
Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, ſondern ihre Ver-
klärung durch den lebendigen Geiſt hieß ihm ſittlich; auch verhehlte er
nicht, daß die Tugenden der chriſtlichen Selbſtverneinung an den antiken
Tugenden der Selbſtbehauptung ihre Ergänzung finden müſſen. Die
Schwächen ſeiner Lehre verriethen ſich freilich ſobald er verſuchte nachzu-
weiſen, welche Thatſachen der heiligen Geſchichte nothwendig im chriſtlichen
Bewußtſein enthalten ſeien; dann gerieth er in’s Künſteln und mußte er-
fahren, wie unmöglich es iſt, die poſitiven Dogmen unmittelbar aus der
Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und die
Formen des Cultus neben dem Segen der religiöſen Gemeinſchaft! Als
die Kämpfe um die evangeliſche Union entbrannten, ward er der tapferſte
Vertheidiger der freien Kirchenverfaſſung und der Vereinigung der prote-
ſtantiſchen Bekenntniſſe.


Auch unter den Laien bekundeten ſich überall die Anzeichen eines
regeren chriſtlichen Lebens, das der Herrſchaft des Rationalismus ent-
wuchs. Es ließ ſich doch nicht vergeſſen, wie andächtig einſt in den Ta-
gen der großen Siegesbotſchaften das deutſche Heer den Worten des Dich-
ters gelauſcht hatte: „kannſt faſſen Du den reichen Segen von nah und
fern? biſt Du nicht faſt davor erlegen, Du Volk des Herrn?“ Selbſt
die Weltkinder hatten damals die alte einfältige Wahrheit, daß nur fromme
Völker frei und tapfer ſind, in tiefſter Seele empfunden. Aus den
ſchwungvollen Liedern vom „alten deutſchen Gott“ ſprach zwar nirgends
eine beſtimmte confeſſionelle Parteigeſinnung, aber eine innige Freudigkeit
des Gottesbewußtſeins, die mit der Gemüthsarmuth des Rationalismus
nichts gemein hatte. Den meiſten der Männer, welche jene Zeit des
Gottesgerichts mit klarem Bewußtſein durchlebt, blieb allezeit eine geho-
bene religiöſe Stimmung, mochten ſie nun, wie Stein, Arndt, Savigny,
Aſter, in dem Glauben der Väter ihren Frieden finden oder, wie Niebuhr,
ſehnſüchtig nach dem Glauben ſuchen. Die ſtreitbare Jugend vollends trug
Silberkreuze auf den teutoniſchen Mützen und erging ſich in chriſtlicher
Begeiſterung; ſeit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutſchen
Univerſitäten nicht mehr ein Studentengeſchlecht geſehen, das die reli-
giöſen Fragen ſo ernſt nahm. Wohl hielt ſich die Chriſtlichkeit der feu-
rigen Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von purita-
niſcher Geſchmackloſigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends
hinderte nicht immer, daß die weihevoll begonnene Verſammlung zuletzt
in ein wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte ſchritt das Ber-
liner Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Stu-
denten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den
auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe „der Reformator von der
Bühne!“ begrüßten. Manchem der lärmenden Chriſto-Germanen diente
[91]Erwachen des religiöſen Gefühls.
die Religion nur als ein politiſches Schlagwort, da nun einmal Deutſch-
thum und Chriſtenthum für gleichbedeutend galten, Einzelnen gar nur
als ein Deckmantel für den Judenhaß, der zum guten Tone gehörte.


Gleichwohl lag ein geſunder Kern in der religiöſen Schwärmerei des
jungen Geſchlechts. Die Deutſchen erkannten endlich wieder, wie feſt ihre
ganze Geſittung mit dem Chriſtenthum verwachſen war, und dieſe Erkennt-
niß griff ſo unaufhaltſam um ſich, daß eine unbefangen heidniſche Geſin-
nung, wie ſie einſt Winckelmann hegte, für die Söhne des neuen Zeitalters
bald zur Unmöglichkeit wurde. Die Jugend drängte ſich mit Vorliebe zu
den Lehrern, welche für die Sehnſucht des gläubigen Gemüths ein Ver-
ſtändniß zeigten. In Heidelberg fand der mit Creuzer eng befreundete
ehrwürdige Daub, ein frommer geiſtvoller Myſtiker, der das Dogma durch
die Speculation wiederherzuſtellen ſuchte, bei den Studenten ungleich mehr
Anklang, als die Rationaliſten. Seine Anhänger verglichen ihn mit Ha-
mann, nannten ihn den Magus des Südens. In Jena gewann Fries,
ein Philoſoph ohne Schärfe und Tiefſinn, trotzdem die Herzen der Jugend,
weil er mit ehrlichem Patriotismus und wiſſenſchaftlichem Ernſt eine ebenſo
aufrichtige Frömmigkeit verband. Seine Dialoge „Julius und Euagoras“
blieben einige Jahre lang das beliebte Erbauungsbuch der teutoniſchen Stu-
denten, denn hier lag die Kantiſche Philoſophie ganz ebenſo harmlos und
unvermittelt neben der herrnhutiſchen Glaubensinbrunſt wie in den Köpfen
der jungen Leſer ſelber.


Faſt in jeder deutſchen Landſchaft beſtanden noch einzelne ſtreng alt-
gläubige Gemeinden, die mit zäher Treue an ihrem bibelfeſten Geiſtlichen
hingen und der Mißgunſt der rationaliſtiſchen Conſiſtorien einen ſtillen,
unüberwindlichen Widerſtand entgegenſtemmten. So namentlich im Wup-
perthale und unter den grübleriſchen Schwaben, aber auch in Sachſen,
in Pommern, in Altpreußen. In Breslau ſammelten ſich die Streng-
gläubigen um Hendrik Steffens, den ehrlichen unſteten Schwärmer, der
das harte Lutherthum ſeiner norwegiſchen Heimath mit den Phantaſie-
gebilden der deutſchen romantiſchen Philoſophie zu verſchmelzen wußte.
In der Berliner vornehmen Geſellſchaft bildeten einige begabte junge
Männer, die einſt als Offiziere „im Kriege zum Herrn geführt wurden“,
einen gläubigen Freundeskreis: die Gebrüder Gerlach, Lancizolle, Le Coq,
Thadden, Senfft-Pilſach, Goetze, Karl v. Röder u. A. Hier verlebte
der Kronprinz erbauliche Stunden, die für ſeine kirchliche und politiſche
Geſinnung verhängnißvoll werden ſollten; hier empfing er Hilfe für ſeine
unermüdliche Wohlthätigkeit, hier ward auch der Plan für die Begrün-
dung des Berliner Miſſionsvereins zuerſt beſprochen. In allen Werken
chriſtlicher Barmherzigkeit zeigte ſich die ſtreng kirchliche Richtung dem
erſchlafften Rationalismus weit überlegen; zu ihr gehörte der Elſaſſer
Oberlin, der unvergeßliche Wohlthäter des Steinthals, zu ihr Falk in
Weimar, der zuerſt eine Rettungsanſtalt für verwahrloſte Kinder eröffnete.
[92]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Auch an hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holſtein blieb
es noch nach Jahrzehnten unvergeſſen, mit welcher gewaltigen Beredſamkeit
Claus Harms, der feurige lutheriſche Eiferer, im volksthümlichen Platt zu
ſeinen Bauern ſprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der ge-
müthvolle alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als
der Führer der Stillen im Lande. Beide ſtarben ſchon zu Anfang der
Friedensjahre, doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietis-
mus und die ſtreng confeſſionellen Parteien gewannen mehr und mehr
Boden, zumal auf dem flachen Lande, bis ſich endlich das Kirchenregiment
ſelber genöthigt ſah mit dieſen neuen Mächten zu rechnen.


Der natürliche Rückſchlag gegen die rationaliſtiſche Flachheit war ein-
getreten; aber ſchon in dieſen erſten Anfängen eines kräftigen kirchlichen
Lebens verriethen ſich krankhafte Beſtrebungen, die dem confeſſionellen
Frieden unſeres paritätiſchen Volkes verderblich werden mußten. Während
manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Proteſtantismus
mit unchriſtlicher Härte begegneten und die evangeliſche Union leiden-
ſchaftlich bekämpften, fühlten ſie ſich, bewußt oder unbewußt, zur römiſchen
Kirche hingezogen. Einer der namhafteſten lutheriſchen Pietiſten, der bern-
burgiſche Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe
über die Wiedervereinigung der chriſtlichen Kirche und fand, obgleich die
römiſche Geſinnung aus jeder Zeile ſprach, den warmen Beifall ſeiner
Glaubensgenoſſen — bis er einige Jahre ſpäter ſelber zur römiſchen Kirche
übertrat. Die chriſtliche Religionsgeſchichte des Convertiten Friedrich Stol-
berg, ein durch und durch katholiſches Buch, ward in den Conventikeln
der evangeliſchen Pietiſten laut geprieſen, und der Schwiegerſohn des
Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote-
ſtant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung
Stillings, Max v. Schenkendorf, der tapfere Dichter des Befreiungs-
krieges, ſang ſogar ſchwärmeriſche Lieder auf „Maria, ſüße Königin“ und
feierte den fanatiſchen Führer der katholiſchen Liga: „feſter treuer Max
von Baiern“. Und dazu der Zauberſpuk, die Geiſterſeherei, die weiſſa-
gende Verzückung aller der Schwarmgeiſter, welche bald hier bald dort das
Volk beunruhigten. Die meiſten von ihnen ſtanden mit den böhmiſchen
Brüdern irgendwie in Verbindung; ihr Weizen blühte da am üppigſten,
wo der Boden durch den Rationalismus am Tiefſten umgepflügt war.
Jene unbeſtimmte Aufregung, die ſich immer in Zeiten großen Schickſals-
wechſels der Volksmaſſen bemächtigt, wirkte zuſammen mit den Thorheiten
der Naturphiloſophen. Wie einſt nach Luthers Auftreten die Bauern von
dem tauſendjährigen Reiche träumten, ſo ſprachen die Erweckten nach Na-
poleons Sturz von dem Falle des ſchwarzen Engels und des Thieres mit
den ſieben Hörnern. In allen Ländern deutſcher Zunge, vom Oberrhein
bis nach Livland, tauchten einzelne geheimnißvolle Teufelsbanner und fromme
Schlafwandler auf; die Schwärmerei ſteigerte ſich oft bis zum Wahnſinn.
[93]Schwarmgeiſterei.
Frau v. Krüdener durchzog die Schweiz, das Elſaß und das badiſche Land
um überall zur Buße zu mahnen und die Armen zu ſpeiſen. Obwohl ihre
Predigten ebenſo hohl und weinerlich ausfielen wie einſt ihr Roman Va-
lerie, ſo fand ſie doch Anklang bei den Maſſen; Metternich verklagte ſie
wegen Ruheſtörung bei ihrem Freunde, dem Czaren Alexander*), und die
badiſche Polizei mußte ſchließlich die Demagogin ausweiſen. Die Luſt am
Wunderbaren lag in der Luft; die ſinnigſten Naturen widerſtanden ihr
am Wenigſten. Selbſt Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbau-
lichen Verkehr mit einer geſegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr
Gatte verhielt ſich nicht ſchlechthin ablehnend.


Ebenſo reich an Gegenſätzen erſchien das Leben der katholiſchen Kirche.
Die meiſten Proteſtanten wähnten die Macht des Papſtthums ſchon völlig
gebrochen. Wie ſollte auch dieſer römiſche Stuhl jemals ſeine Weltherr-
ſchaftspläne wieder aufnehmen? war doch erſt vor wenigen Jahren die
katholiſche Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats-
gewalt wiederhergeſtellt, und ſoeben erſt der Pontifex durch die Gnade der
Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel-
geprüften Papſt Pius betrachtete man mit einem gemüthlichen Mitleid,
das von Geringſchätzung nicht frei war; die conſervativen Parteien be-
grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenoſſen im Kampfe wider die
Revolution. Selbſt der Proteſt der Curie gegen die Beſchlüſſe des Wiener
Congreſſes ſtörte die Regierungen nicht in ihrer argloſen Sicherheit. In
vollem Ernſt erörterte man ſchon die Frage, ob wohl nach dem Tode
Pius’ VII. noch ein neuer Papſt gewählt werden würde.


In der That lebte die weltmänniſche Milde der vornehmen Prälaten
des alten Jahrhunderts noch in einem Theile des Clerus fort; wer in
ſolchen Kreiſen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader
der Bekenntniſſe werde ſich nach und nach von ſelbſt verlieren. Die Bibel-
geſellſchaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholiſchen
Geiſtlichen des Bisthums Trier lebhaft unterſtützt.**) In Breslau pflegten
die beiden theologiſchen Facultäten wechſelſeitig den Disputationen der
„Schweſterkirche“ beizuwohnen, und in Tübingen geſchah es noch im Jahre
1828, daß eine Preisaufgabe der katholiſchen Facultät von dem evangeli-
ſchen Theologen David Strauß gelöſt wurde. Unter Geiſtlichen und Laien
fand der Febronianiſche Traum von der deutſchen Nationalkirche noch immer
zahlreiche Anhänger; ſehr häufig vernahm man das Verlangen nach Ein-
führung einer deutſchen Liturgie und Abſchaffung des Coelibats. Manche
Vertheidiger der Staatsallmacht wollten das Territorialſyſtem des Tho-
maſius auf die katholiſche Kirche übertragen und die Geiſtlichen nur noch
als „höchſt ehrwürdige Staatsdiener“ behandeln. Der Wortführer der
[94]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
nationalkirchlichen Beſtrebungen Heinrich Weſſenberg hatte bereits deutſchen
Kirchengeſang in ſeiner Conſtanzer Diöceſe eingebürgert; die Proteſtanten
betrachtete er duldſam als „die Kirche linker Seite“. Behutſamer trat
Sailer dem römiſchen Stuhle gegenüber, der ehrwürdige Prälat, der durch
Beiſpiel und Lehre die lebendige Frömmigkeit in der katholiſchen Kirche
Baierns wieder wach rief. Aber auch er trug kein Bedenken, ſich öffentlich
auf die Schriften proteſtantiſcher Theologen zu berufen; er lebte in herzlicher
Freundſchaft mit vielen gläubigen Proteſtanten und theilte mit ihnen die
Verehrung für Thomas a Kempis, der erſt durch Sailers Ueberſetzung den
katholiſchen Gemeinden wieder bekannt wurde. Auch Overberg, der ſtreng
katholiſche Erzieher des Lehrerſtandes im Münſterlande, gewann ſich durch
ſeine apoſtoliſche Milde die Verehrung Steins; und die nicht minder kirchlich
geſinnten Boiſſerees, denen die Kunſt nur als die Tochter der Religion
erſchien, behielten doch immer Fühlung mit den Arbeiten der proteſtan-
tiſchen Wiſſenſchaft. Wie dieſe Männer den Anſchauungen der evange-
liſchen Pietiſten nahe ſtanden, ſo hatte andererſeits der Bonner Theolog
Hermes ſich die Methode des proteſtantiſchen Rationalismus angeeignet
und unternahm den unmöglichen Verſuch, das katholiſche Dogma auf die
Vernunftbeweiſe der Kantiſchen Philoſophie zu ſtützen. Seine Anhänger
beherrſchten die Unterrichtsanſtalten am Rhein und bemühten ſich redlich
den confeſſionellen Frieden zu wahren.


Welch ein Abſtand zwiſchen den Gedanken dieſer Friedfertigen und
den herrſchſüchtigen Plänen des römiſchen Stuhls! Kaum war Pius VII.
in die ewige Stadt zurückgekehrt, ſo ſtellte er am 7. Auguſt 1814 durch
die Bulle Sollicitudo omnium ecclesiarum den Jeſuitenorden wieder her
und las ſelber die Meſſe im Geſù, vor dem Altar des heiligen Ignatius,
dort wo der Meißel Le Gros’ den Triumph der Kirche über die Ketzerei
in prahleriſchen Bildwerken verherrlicht hat. Als ihn Czar Alexander nach-
träglich einlud der Heiligen Allianz beizutreten, wies der Papſt die ſchwer-
lich ernſthaft gemeinte Zumuthung mit dem ganzen Stolze des rechtmä-
ßigen Weltherrſchers zurück. Bald nachher wurden auch die Inquiſition
und der Index der verbotenen Bücher wieder eingeführt, die Bibelgeſell-
ſchaften für Teufelswerk erklärt. Die alte Kirche hatte in den Tagen der
revolutionären Bedrängniß bewunderungswürdigen ſittlichen Muth bewährt
und abermals erfahren, daß ihr aus dem Leiden die größte Kraft erwuchs.
Jetzt ſtand ſie ſtrahlend in der Glorie des Martyriums; die romantiſche
Sehnſucht der öffentlichen Meinung und die Furcht der Höfe vor der
Revolution kamen ihr zu ſtatten. Selbſt in dem antipapiſtiſchen England
durfte, zum erſten male ſeit Jakob II., wieder ein Cardinal in ſeiner geiſt-
lichen Tracht erſcheinen. Der ſelbſtgefällige Wahn jener aufgeklärten Leute,
welche das neue Jahrhundert den Leidenſchaften der Religionskriege ent-
wachſen glaubten, war ſoeben erſt durch den Freiheitskampf der Spanier
handgreiflich widerlegt worden; und nun brach, noch während die Monarchen
[95]Die ultramontane Partei.
in Paris weilten, über Südfrankreich die Raſerei des weißen Schreckens
herein: der katholiſche Pöbel ſtürmte die Häuſer der Proteſtanten und
mordete die Ketzer unter dem Rufe: laßt uns Würſte machen aus Cal-
vins Blute!


Bei ſo günſtigem Winde fuhr das Schifflein Petri wieder mit vollen
Segeln daher. Die Natur der Dinge zwang den römiſchen Stuhl, trotz
der Sanftmuth des Papſtes und trotz der Klugheit ſeines Staatsſekretärs
Conſalvi, Schritt für Schritt zu den Gedanken des Zeitalters der Gegen-
reformation zurückzukehren. In Deutſchland niſteten ſich in aller Stille
die erſten Jeſuiten wieder ein, und bald ward auch die zweiſchneidige Wir-
kung der Seculariſationen fühlbar. Der heranwachſende plebejiſche Clerus
war beſitz- und heimathlos, nicht mehr, wie die reichen adlichen Domkapitel
der alten Zeit, durch politiſche Intereſſen mit dem Vaterlande verbunden.
Als Helfferich und die beiden anderen Oratoren der katholiſchen Kirche
auf dem Wiener Congreſſe ihre ultramontanen Anſichten ausſprachen,
fanden ſie noch wenig Anklang beim deutſchen Clerus; doch ſeitdem wuchs
die clericale Partei von Jahr zu Jahr unmerklich an. Sie trat noch ſehr
behutſam auf, da das Beamtenthum in allen deutſchen Staaten ſie mit
Mißtrauen betrachtete; ſelbſt Kaiſer Franz und Metternich ſchätzten zwar
den ſtreitbaren Katholicismus als den natürlichen Bundesgenoſſen der
öſterreichiſchen Partei draußen im Reiche, jedoch von der Selbſtändigkeit der
Kirche wollten ſie als ſtrenge Abſolutiſten nichts wiſſen. Um ſich bei den
Höfen einzuſchmeicheln, friſchte der Jeſuitismus zunächſt jene jakobitiſchen
Lehren wieder auf, welche einſt das Haus Stuart in’s Verderben geſtürzt
hatten: die Reformation ſei der letzte Quell aller Revolutionen, die Kirche
der Hort und Halt des Königthums, denn ſie predige den leidenden Ge-
horſam, ſie entbinde durch ihre myſtiſche Weihe den König von Gottes
Gnaden aller Pflichten gegen ſeine Unterthanen.


Die eifrigſten Anhänger der ultramontanen Partei waren die zahl-
reichen Proſelyten, welche die Romantik in das römiſche Lager hinüber-
geführt hatte: ſo die geiſtreichen Gebrüder Schloſſer in Frankfurt, ſo die
Grafen Stolberg in Holſtein, die mit den Clericalen des Münſterlandes
in enger Verbindung ſtanden, ſo vor Allen jene mächtige Convertitenſchaar,
die von Wien ihre rührigen Sendboten in’s Reich ausſchickte. Welch ein
klägliches Bild geiſtigen Verfalles bot jetzt Friedrich Schlegel! In ſeinem
äſthetiſchen Hochmuth hatte er ſich einſt vermeſſen: „ich denke eine neue
Religion zu ſtiften, es iſt an der Zeit!“ Derſelbe äſthetiſche Rauſch hatte
ihn ſodann, als die neue Religion ſich nicht finden wollte, mitſammt ſeiner
geiſtreichen Frau Dorothea Mendelsſohn und ihrem Sohne dem naza-
reniſchen Maler Veit, in die Arme der römiſchen Kirche getrieben; nun
war er längſt ſchon eingeroſtet in den Angeln eines fertigen Syſtems, das
auf jede Frage eine Antwort bereit hielt. Wilhelm Humboldt ſah mit
Entſetzen, wie in dieſem einſt ſo beweglichen Geiſte jetzt Alles abgeſchloſſen
[96]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
war, wie er nur noch Ketzer oder Jünger kannte und nicht mehr ver-
mochte, ein freies, beſcheiden nach der Wahrheit ſuchendes Geſpräch zu
führen. Dank ſeiner zunehmenden Bequemlichkeit nützte Schlegel der ultra-
montanen Propaganda nur wenig. Weit fruchtbarer wirkte der Pommer
Klinckowſtröm, ein liebenswürdiger romantiſcher Schwärmer; ſeine Er-
ziehungsanſtalt in Wien wurde die Pflanzſchule des clericalen öſterreichi-
ſchen Adels. Sein Schwager, der Augsburger Pilat, geborner Katholik
und Gatte einer Proſelytin, leitete den Oeſterreichiſchen Beobachter, das
amtliche Blatt Metternichs. Alle Anderen aber übertraf Adam Müller
an Talent, Rührigkeit, Fanatismus; es war, als wollte der geiſtreiche, von
Grund aus verlogene Sophiſt durch wüthenden Ketzerhaß den Makel ſeiner
Berliner Abſtammung auslöſchen; überall wo im deutſchen Norden Um-
triebe der Jeſuiten ſich zeigten, hatte er die Hände mit im Spiele. Die
meiſten der Federn, welche die deutſche Politik der Hofburg vertheidigten,
gehörten dieſem Convertitenkreiſe an. Nur Gentz ſelber konnte ſich zum
Uebertritte nicht entſchließen, obgleich ſein Abſcheu gegen den Erzrevolu-
tionär Luther immer heftiger wurde; der Kern ſeiner Bildung war doch
zu feſt mit der Kantiſchen Philoſophie verwachſen.


Die aufgeklärten Proteſtanten hatten ſich längſt an die zahlreichen
Converſionen gewöhnt; ſie wurden erſt aus ihrer gedankenloſen Gleich-
giltigkeit aufgeſchreckt, als man von der Bekehrung des Berners K. L. v.
Haller vernahm. Wer durfte dem ſtreitbaren Publiciſten, dem leidenſchaft-
lichen Feinde der Revolution verargen, daß er durch die Conſequenz ſeiner
politiſchen Geſinnung zum Glaubenswechſel gezwungen wurde? Aber Haller
hielt ſeinen Uebertritt geheim, mit Genehmigung des Biſchofs von Frei-
burg; nachher leiſtete er noch als Mitglied des Berner Rathes den Amts-
eid, der ihn zur Beſchützung der reformirten Kirche verpflichtete, und da
das unſaubere Geheimniß endlich durch Andere enthüllt wurde, geſtand
er in einem offenen „Briefe an ſeine Familie“ (1821) ganz unbefangen:
er habe aus guten Gründen geſchwiegen, damit ſeine neue Schrift über
die geiſtlichen Staaten, „weil ſie ſcheinbar aus der Feder eines Prote-
ſtanten hervorgegangen“, um ſo ſtärker auf die Leſer wirkte! Frecher waren
die ſittlichen Grundſätze des Jeſuitismus ſelten verkündigt worden. Und
welche Ausſichten eröffneten ſich dem Frieden der Confeſſionen, da der
Apoſtat, unter dem lauten Beifall der legitimiſtiſchen Preſſe Frankreichs,
triumphirend erkärte: die Welt ſei heute nur noch zwiſchen Katholiken
und Gottloſen getheilt, dieſem einen Uebertritte würden tauſende folgen,
bis die Menſchheit gänzlich den Mächten der kirchlichen und der politiſchen
Revolution entriſſen ſei. Eine Fluth von Streitſchriften erſchien. Der
milde Leipziger Kanzelredner Tzſchirner, der rationaliſtiſche Philoſoph Krug
und andere Proteſtanten ſprachen in treuherzigen Worten ihre naive Ver-
wunderung aus. Man begann zu fühlen, auf wie ſchwachen Füßen doch
die Herrſchaft des belobten „vernünftigen Chriſtenthums“ ſtand.


[97]Voß und Stolberg.

Gleich der evangeliſchen ward auch die katholiſche Kirche durch die
Ausſchweifungen rohen Aberglaubens heimgeſucht. In München ſtand die
Hochburg der katholiſchen Magier. Dort in Baiern waren die Teufel-
austreibungen des verſtorbenen Gaßner noch unvergeſſen; jetzt rühmte
ſich Baader einer vom Teufel beſeſſenen Tochter. In Franken zog ein
Bauerncardinal mit einer Dirne, die den Heiland unter dem Herzen trug,
durch die Dörfer; droben im Schwarzwälder Alpgau unter den groben
Hotzen wurde die Schwarmgeiſterei der alten Salpeterer wieder rege; aus
Oeſterreich kam die fanatiſche Sekte der Pöſchelianer nach Baiern hinüber,
ein wüſtes Geſindel, das ſelbſt vor dem religiöſen Morde nicht zurückſchrak
und nur durch harte Strafen gebändigt werden konnte. Unter den zahl-
loſen frommen Zauberern that ſich ein vornehmer Prieſter, Fürſt Ale-
xander Hohenlohe durch kecke Zuverſicht hervor. Papſt Pius, der ſeinen
Mann kannte, meinte achſelzuckend: questo far’ dei miracoli! — als er
vernahm, wie der Fürſt durch die Kraft des Gebetes ſogar aus der Ferne
Todkranke heilte, und das fränkiſche Landvolk ihm in Schaaren zu-
ſtrömte. In einem ſtolzen Aufrufe redete der Wunderthäter die Fürſten
des heiligen Bundes an: nicht mehr durch Waffen würde die Revolution
beſiegt, die Erziehung müſſe verwandelt, die Jugend zurückgeführt werden
in den Schooß der Kirche. Der fromme Wahn wirkte hier ebenſo unwider-
ſtehlich anſteckend, wie unter den Proteſtanten: ſogar Sailer betete einmal
gläubig an dem Bette der Wunder-Nonne von Dülmen.


Die unverſöhnliche Härte der kirchlichen Gegenſätze, die ganze Fried-
loſigkeit unſeres religiöſen Lebens trat mit erſchreckender Klarheit zu Tage,
als auf dem heißen Boden Heidelbergs wieder einmal ein literariſcher Zank
ausbrach. In der kleinen Stadt hauſten ſo viele namhafte Vertreter grund-
verſchiedener Richtungen eng bei einander; der Kampf der Meinungen
ward dort ſtets mit gehäſſiger Bitterkeit geführt. Um ſeinen Gegnern Daub
und Creuzer die Stange zu halten, hatte Paulus die Zeitſchrift Sophro-
nizon gegründet; geſchickt redigirt gewann ſie bald Anſehen durch frei-
müthigen Tadel mancher Mißſtände in Staat und Kirche. Der kleinſtaatliche
Liberalismus, der von den Bedingungen der Macht des Staates nichts ahnte,
und der Rationalismus, der von dem religiöſen Gefühle des gläubigen Ge-
müths nichts wiſſen wollte, fanden da ſelbander ihren Sprechſaal. Als
nun Graf Friedrich Stolberg in Adam Müllers hochconſervativem Staats-
anzeiger einen ſcharfen Aufſatz über die Verirrungen des Zeitgeiſtes ver-
öffentlicht hatte, brach Voß im Sophronizon (1819) gegen den Jugendgenoſſen
los. „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ fragte er grimmig. Ein
Greis gegen den Greis wollte er Zeugniß ablegen, weil er bald jenſeits
„wo kein Ritter noch Pfaff ſchaltet“, ſich verantworten müſſe. Darum
meinte er ſich jeder Treue, jeder Anſtandsrückſicht gegen den alten Frennd
entbunden, dem er vor vierzig Jahren ſeine Odyſſee gewidmet hatte und
ſchilderte mit herzloſer Roheit, ſelbſt das häusliche Leben ſchamlos auf-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 7
[98]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
deckend: wie der Graf ſchon als ſie im Göttinger Hainbunde zuſammen
jugendlich ſchwärmten im Stillen ſich der „hierarchiſchen und ariſtokratiſchen
Zwangsherrſchaft“ zugeneigt habe, bis ihn dann Adelsſtolz und Phantaſterei
in die Nacht hildebrandiniſcher Verunreinigung getrieben hätten; „denn wü-
thender als jemals der Türk droht jetzt der Junker den erleuchteten Völkern
finſtere Barbarei“. Einige treffende Bemerkungen über die Hohlheit des
Convertitenthums und die fromme Selbſtbeſpiegelung des Stolbergiſchen
Kreiſes verſchwanden in einem Meere unwahrer Beſchuldigungen. Denn
unzweifelhaft war Stolberg nicht wie Haller durch ſeine politiſche Geſinnung
zur römiſchen Kirche geführt worden, ſondern durch den religiöſen Drang
eines ſchwachen Gemüths, das ſich nie auf ſich ſelber ſtützen konnte; Goethes
ſcharfer Blick hatte den Weichmüthigen von jeher als einen unbewußten
Katholiken betrachtet.


Gleich den meiſten ſeiner Altersgenoſſen hatte Voß ſich einſt für die
Menſchenrechte der Revolution begeiſtert; jetzt nach dem Sturze der Fremd-
herrſchaft flammte die radikale Geſinnung des alten Herrn, die ſich wäh-
rend des Befreiungskrieges nicht recht herausgewagt, wieder in wilder Hef-
tigkeit auf. Höhnend nannte er Napoleon den Würgengel der Hochgeborenen
und rief dem alten Jugendfreunde zu:
Edlere nennſt Du die Söhne Gewappneter, die in der Vorzeit
Tugend des Doggen vielleicht adelte oder des Wolfs?

Zu dieſem fanatiſchen Adelshaſſe geſellten ſich das Mißtrauen des Ratio-
naliſten gegen jede nicht ganz waſſerklare Form des kirchlichen Lebens; der
Großinquiſitor des Rationalismus konnte ſich das Wiedererwachen des
religiöſen Sinnes nur aus der ruchloſen Wühlerei eines pfäffiſch-ritter-
lichen Geheimbundes erklären. Heftige Erwiderungen der Freunde des
Angegriffenen und neue polternde Streitſchriften von Voß, Paulus und
Schott bewieſen nur, wie unmöglich jede Verſöhnung in dieſem wüſten Ge-
zänke war. Goethe traf wieder das rechte Wort, da er ſagte:


Mir wird unfrei, mir wird unfroh,

Wie zwiſchen Gluth und Welle,

Als läſ’ ich ein Capitolo

Aus Dantes grauſer Hölle.

Die widerwärtige Fehde wirkte auf die Stimmung des deutſchen Libera-
lismus tief und verderblich ein. Voß und die Gelehrten des Sophronizon
ſtellten zuerſt die Behauptung auf: der Glaube an eine religiöſe Ueber-
lieferung hänge mit dem Glauben an das erbliche Verdienſt des Adels
im Innerſten zuſammen, der freie Mann achte nur „die ſelbſtanerkannte
Geiſteswahrheit und die ſelbſterworbene Verdienſtlichkeit“. Obwohl die Thor-
heit dieſer Sätze Jedem einleuchten mußte, der die confeſſionelle Hart-
gläubigkeit der nordamerikaniſchen Demokratie kannte, ſo fanden ſie doch
Anklang bei der Syſtemſucht der Deutſchen, und allmählich entſtand eine
krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutſche Par-
[99]K. v. Rotteck.
teileben verfälſcht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem
heiligen Kriege noch Niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationaliſtiſche
oder gar kirchenfeindliche Geſinnung das untrügliche Kennzeichen des poli-
tiſchen Liberalismus ſei; man bezeichnete Beides mit dem wohllautenden
Namen der Freiſinnigkeit und zwang alſo die conſervativen Regierungen
ſich den ſtreng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das
arge Beiſpiel eines aufgeklärten Geſinnungsterrorismus, der überall nur
Pfaffenherrſchſucht, Adelsſtolz oder Liebedienerei ſuchte und nachher in der
Gehäſſigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand. —


Dieſelbe engherzige Unduldſamkeit beſeelte auch den einflußreichſten
Publiciſten jener Tage. Karl v. Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch
der hoch angeſehene politiſche Lehrer des ſüddeutſchen Bürgerthums, weil
er weder die Kraft noch die Neigung beſaß ſich irgendwie über die Durch-
ſchnittsanſicht der Mittelklaſſen zu erheben. Obgleich der Rechtſchaffene
niemals um Volksgunſt buhlte, ſo ſtanden ſeine Anſchauungen doch immer
von ſelbſt im Einklang mit dem „gebietenden Zeitgeiſt“. Er nahm den
wohlhabenden Kleinſtädtern und Bauern des Südens das Wort von den
Lippen und verkündete was Alle dunkel empfanden mit unerſchütterlichem
Muthe, mit der warmen Beredſamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran-
zöſiſchen Blute ſeiner Mutter verdankte er eine unter den deutſchen Ge-
lehrten damals noch ſeltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen-
dete er den überaus beſcheidenen Vorrath ſeiner Gedanken hin und her,
bis den Leſern Alles waſſerklar und unanfechtbar erſchien. Die demokra-
tiſchen Ideen, welche einſt zur Zeit des Baſtilleſturmes in Oberdeutſchland
eingedrungen, hatten ſich unterdeſſen in der Stille verſtärkt und weithin ver-
breitet; durch die Fürſtenrevolutionen der napoleoniſchen Zeit war die ge-
ſammte altgeſchichtliche Staatsordnung völlig zerſtört, in den Mittelklaſſen
aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des rheinbün-
diſchen Beamtenthums. Aus ſolchen Gedanken und Wünſchen formte Rotteck,
merkwürdig früh, ſchon unmittelbar nach dem Friedensſchluſſe, das fertige
Idealbild ſeines conſtitutionellen Muſterſtaates. Er rühmte ſich ganz auf
der Höhe der Zeit zu ſtehen und ahnte nicht, wie ſtark die altſtändiſchen
Vorſtellungen, die in der Nation mit wunderbarer Zähigkeit fortlebten, auch
auf ſeine Doktrin einwirkten: ganz wie die Herren Stände der guten alten
Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natürlichen Feind der Freiheit.
Wer ihm nicht glaubte, dem „war ein Lächeln vom Miniſtertiſche, ein Kreuz
und ein Band oder eine Anſtellung lieber als das Gemeinwohl“. Neben
Savigny und Niebuhr erſchien Rotteck als ein wiſſenſchaftlicher Reaktionär,
da die Grundgedanken ſeiner Theorie durchaus dem achtzehnten Jahrhun-
dert angehörten; nur zog er mit großer Gewandtheit aus dieſen veralteten
Sätzen einige Folgerungen, welche dem praktiſchen Bedürfniß der Gegen-
wart in der That entſprachen. Ein Parteimann vom Wirbel bis zur Zehe,
von jeher gewohnt, die Menſchen und die Dinge lediglich mit dem Zollſtock
7*
[100]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
der politiſchen Doktrin zu meſſen, hatte er die große Zeit unſerer Literatur
ohne jedes tiefere Verſtändniß durchlebt: die Freiheitsbegeiſterung des Mar-
quis Poſa blieb ihm die Krone der deutſchen Dichtung, was konnte der
Fürſtendiener Goethe daneben aufweiſen?


Gleichwohl vermochte ſelbſt dieſer politiſche Eiferer den literariſchen Ur-
ſprung des deutſchen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er fühlte
ſich unwiderſtehlich hingezogen zu jenem Franzoſen, der unter den Vorläufern
der Revolution der ſchwächſte politiſche Kopf, aber auch der gemüthvollſte
Künſtler und deshalb der deutſchen Bildung am vertrauteſten war. Von
Rouſſeau lernte er die Lehren der Volksſouveränität und der allgemeinen
Gleichheit, ſowie den kindlichen Glauben an die natürliche Unſchuld des
Menſchen. Dieſe Ideen verſuchte er dann mit Hilfe des Kantiſchen Natur-
rechts, das ja ſelbſt den Anſchauungen des Genfer Philoſophen nahe ſtand,
in ein Syſtem zu bringen, obgleich er die Philoſophie nur als die Auslegerin
des geſunden Menſchenverſtandes ſchätzte. Die dritte Quelle ſeiner Doktrin
war das Buch des Hontheim-Febronius über die geſetzliche Gewalt des
Papſtes. Hier fand Rotteck ein eigenthümliches Gemiſch von Aufklärungs-
eifer und katholiſcher Glaubenstreue, das ſeiner eigenen Geſinnung ent-
ſprach; hier auch das Vorbild für die Methode ſeiner künſtlichen politiſchen
Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer des nationalkirch-
lichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchengeſchichte kurzerhand
ausſtrich, dem Papſte nur einige beſcheidene Ehrenrechte zuwies und dabei
doch keineswegs gemeint war das Papſtthum ſelber anzugreifen, ſo ent-
kleidete Rotteck das Königthum aller ſeiner weſentlichen Befugniſſe und
glaubte doch nicht antimonarchiſch geſinnt zu ſein. In aller Unſchuld, ohne
jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine radikale Theorie, welche
mit dem Beſtande des deutſchen Staatsweſens ſich ſchlechterdings nicht
vereinigen ließ.


Der Sohn eines ehrenfeſten Altöſterreichers war er im ſchönen Breis-
gau aufgewachſen, zu der Zeit, da die Reformen Joſephs II. die Begei-
ſterung der aufgeklärten Vorderöſterreicher erweckten. Jenes Syſtem gewalt-
ſamer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik.
Dann hatte er voll Schmerz mit angeſehen, wie ſein Heimathland mit
Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch
lange mißtrauiſch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne
Geſchichte, deſſen Inſtitutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der
bewußten Willkür erſchienen. Seine ehrliche Liebe zum deutſchen Vater-
lande ſprach er ſelbſt unter dem Drucke der napoleoniſchen Cenſur mann-
haft aus, und als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er ſofort die
Leitung der Teutſchen Blätter und ſtellte ſie dem Hauptquartiere der Ver-
bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten
ſeiner alemanniſchen Landsleute; ihnen zuerſt galt all ſein Thun und
Reden, mit rechter Herzensfreude ſchrieb er auf eines ſeiner Bücher die
[101]Rottecks Weltgeſchichte.
Widmung: „allen edlen Bürgern Freiburgs anſpruchslos und liebend der
Verfaſſer.“ Wenn der kleine ſchlichte Mann des Nachmittags nach den
Collegien rüſtig auf die Vorhöhen des Schwarzwaldes zu ſeinem kleinen
Rebgute, dem Schönehof hinaufſtieg und von droben die liebliche Thal-
bucht mit dem ſtolzen Münſterthurme überblickte, dann meinte er die Perle
Deutſchlands zu ſchauen; und als dies herrliche Land nun gar noch mit
der erſehnten vernunftgemäßen Verfaſſung geſegnet wurde, da konnte er
nur noch mit Geringſchätzung an den fernen Norden denken, den er nach
Landesart natürlich nie betreten hatte, und fragte ſtolz: ob ſich wohl das
lichte Rheinland bei politiſchen Rechten beruhigen könne, die allenfalls für
das finſtere Pommern genügten? Wie die Schwaben in Uhland, ſo er-
kannten die badiſchen Alemannen in ihrem Rotteck alle Züge ihres eigenen
Weſens wieder: ihren tapfern Freimuth, ihren demokratiſchen Trotz, ihre
joſephiniſche Aufklärung, aber auch ihre kleinſtädtiſche Beſchränktheit, ihre
naive Unkenntniß aller politiſchen Machtverhältniſſe und die Selbſtgefäl-
ligkeit ihres harmloſen Particularismus. „Dann gehen wir eben zum
Rotteck“ — hieß es unter den Schwarzwälder Bauern, wenn die Be-
ſchwerden bei den Beamten nichts halfen.


Rottecks Anſehen bei den Mittelklaſſen ward zuerſt durch ſeine Welt-
geſchichte begründet. Das Buch erſchien ſeit dem Jahre 1812, und mit
jedem neuen Bande ſtieg der Abſatz; in manchem kleinſtädtiſchen Bürger-
hauſe des Südens beſtand der ganze Bücherſchatz aus der Bibel, dem
Gebetbuch und dem Rotteck. Was konnte auch dem tief verſtimmten und
doch politiſch völlig rathloſen Völkchen der Kleinſtaaten willkommener klingen
als die ſelbſtgefällige Trivialität dieſer Geſchichtsweisheit, die von dem
nothwendigen Werden des hiſtoriſchen Lebens gar nichts ahnte, ſondern
alles Mißgeſchick der Völker einfach aus der Bosheit und der Verblen-
dung der Regierenden ableitete und geradezu ausſprach, ihr höchſtes Ziel
ſei „der jetzt mit Macht ſich erhebenden und durch ſolche Erhebung Heil
verheißenden öffentlichen Meinung zu entſprechen“. Der dürre Ratio-
nalismus der Geſchichtſchreibung des alten Jahrhunderts verſchmolz ſich
mit den Parteileidenſchaften des neuen Zeitalters. Rotteck betrachtete den
Staat — er wußte es nicht anders — grundſätzlich nur von unten, mit
den Augen der Regierten; niemals verfiel er auf die Frage, wie ſich die
menſchlichen Dinge von oben her ausnehmen, welche Gedanken die Thä-
tigkeit der Regierenden beſtimmten und welche Hemmniſſe ſie zu über-
winden hatte. Jeder Fürſt, jeder Machthaber ſchien ihm verdächtig. Selbſt
im perſönlichen Verkehr mochte der eingefleiſchte Bürgersmann die vor-
nehmen Leute nicht leiden, der Anblick einer Uniform oder eines Ordens-
kreuzes war ihm unbehaglich; ſogar Blücher gefiel ihm nicht mehr ſeit
der alte Held den Fürſtentitel führte.


Noch niemals hatte ein deutſches Buch die ſchlimmſte Schwäche der
modernen Demokratie, den neidiſchen Abſcheu gegen Alles was über die ge-
[102]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach-
drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht,
weil dieſer „Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß-
geſtell ſeines Ruhmes machte“; den Helden der Kreuzzüge hielt er die
zornige Frage entgegen: „mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert?“
Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig-
keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen
Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen
mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann
gar mit dem Mittelalter „zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit
und der Finſterniß — ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit-
alter“ — über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end-
lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re-
volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem
Rechte kam.


Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte
hier wieder auf, nur daß ſie jetzt ein politiſches Gewand anlegte. Durch
Rottecks Weltgeſchichte wurde das republikaniſche Staatsideal zum erſten
male den deutſchen Mittelklaſſen gepredigt. Die Begeiſterung für die junge
Republik des Weſtens hatte ſich zur Zeit des amerikaniſchen Unabhängig-
keitskrieges doch nur auf die engen Kreiſe der gebildeten Jugend beſchränkt
und war dann während der Stürme der napoleoniſchen Tage ganz in
Vergeſſenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verſtimmten
wieder abendwärts. „Im Weſten, rief er aus, in der jugendlichen neuen
Welt erbaut ſich das natürliche, das vernünftige Recht ſein erleſenes Reich.“
Zwar fügte er als ein geſetzliebender Staatsbürger beſchwichtigend hinzu:
„nicht eben die republikaniſche Form iſt’s, die wir die Sonne dieſes Tages
nennen, nein, nur der republikaniſche Geiſt.“ Indeß blieb den Leſern
doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, „der
Freiſtaat“ ſchlechthin ſei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich-
bedeutend. Dieſe Lehre fand um ſo leichter Anklang, da Jedermann ſchon
auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der
Republiken des Alterthums gelernt hatte.


Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar-
ſtellung der jüngſten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch
die ſagenbildende Kraft des Volksgeiſtes noch in dieſem bildungsſtolzen
Jahrhundert! Das Bild der ſelbſterlebten allerneueſten Ereigniſſe ver-
ſchob und verwirrte ſich in dem Gedächtniß der Völker, ſofort nach dem
Friedensſchluſſe. Wie die Franzoſen alleſammt glaubten, ſie ſeien nur der
zehnfachen Uebermacht erlegen, ſo entſtand auch unter den deutſchen Un-
zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck
ſprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuverſichtlich
behauptete, von ſämmtlichen europäiſchen Mächten hätten allein die beiden
[103]Der Liberalismus und das Heerweſen.
Verfaſſungsſtaaten England und Spanien, wunderbar geſtärkt durch die
Kraft der conſtitutionellen Freiheit, dem napoleoniſchen Weltreiche wider-
ſtanden. Daß auch Rußland die nämliche Widerſtandskraft gezeigt hatte,
überging man mit Stillſchweigen; denn dieſer vor Kurzem noch ſo laut
gefeierte Staat verfiel nach der Stiftung der heiligen Allianz dem leiden-
ſchaftlichen Haſſe des Liberalismus, und mahnend wies Rotteck dem preu-
ßiſchen Staate die Aufgabe zu, der Freiheit Europas als eine Vormauer
gegen die moskowitiſche Knechtſchaft zu dienen. Um ſo überſchwänglicher
ward die Cortesverfaſſung von 1812 geprieſen, welche das ſpaniſche Volk zu
ſeinem Heldenkampfe begeiſtert haben ſollte; ſie blieb während eines Jahr-
zehntes das Schooßkind der Liberalen, da ſie, in Abweſenheit des Monarchen
entſtanden, die Macht der Krone auf’s Aeußerſte beſchränkte und mithin
dem höchſten Ideale, der Freiheit Amerikas nahe zu kommen ſchien.


Ueber den deutſchen Befreiungskrieg kam bald eine noch wunder-
ſamere Erzählung in Umlauf: die verbündeten Fürſten hatten das deutſche
Volk durch den Kaliſcher Aufruf und die Verheißung einer preußiſchen
Verfaſſung mit trügeriſchen Hoffnungen erfüllt; „gelockt durch ſo ſchmei-
chelnde Töne“ — ſo erzählte Rotteck — waren dann die Hunderttauſende
zu den Waffen geeilt! Die Unwahrheit dieſer Behauptung ließ ſich freilich
ſchon aus dem Kalender nachweiſen. Die Verordnung über die künftige
Verfaſſung Preußens war am 22. Mai 1815 unterzeichnet und erſt am
8. Juli veröffentlicht, als der letzte Krieg gegen Napoleon bereits zu Ende
ging; von dem Kaliſcher Aufruf aber hatte die Maſſe der preußiſchen
Landwehrmänner wenig oder nichts erfahren. Und doch fand das Partei-
märchen Glauben, zuerſt im Süden, nachher, als die Stimmung ſich immer
mehr verbitterte, auch in Preußen ſelbſt. Man fühlte ſich wie verrathen
und verkauft, man konnte ſich den kläglichen Zuſtand Deutſchlands nach
ſo ungeheuern Opfern nicht anders erklären, als aus einem großen Be-
truge; und bald ward Jeder als ein Reaktionär angeſehen, der noch der
Wahrheit gemäß bekannte, daß die Preußen ſich ſchlicht und recht auf den
Ruf ihres Königs erhoben hatten um den heimiſchen Boden vom Landes-
feinde zu ſäubern und die Ehre ihrer alten königlichen Fahnen wiederherzu-
ſtellen. Die Verblendeten bemerkten nicht mehr, welche Beleidigung ſie dem
preußiſchen Volke durch ihre Erfindungen zufügten.


Die Leiſtungen der Landwehr wurden ſelbſt in Preußen überſchätzt; die
Liberalen des Oberlandes vollends erzählten ſich bald Wunderdinge von den
Lützowern und den anderen Freiſchaaren, die doch zu den Siegen der Verbün-
deten nur ſehr wenig beigetragen hatten. Wer den ſchweren Ernſt des Waffen-
handwerks kannte, urtheilte freilich anders. Speckbacher, der tapfere Ty-
roler Bandenführer von 1809, geſtand dem Adjutanten Yorks Karl v. Roeder:
bei uns Bauern war friſches Herz, aber keine Ordnung, bei unſeren kai-
ſerlichen Soldaten ſtand es umgekehrt, bei dem Blücher und dem York aber
war Beides, die Ordnung und das friſche Herz; das hätt’ ich wohl ſehen
[104]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
mögen! Für dieſe Sprache des geraden Menſchenverſtandes hatte die ver-
biſſene Parteigeſinnung der Liberalen kein Ohr; der Name Freiſchaar
klang ihnen ſo unwiderſtehlich wie das Wort Freiſtaat. Man dachte ſich
jene unbedeutenden preußiſchen Freicorps den ſpaniſchen Guerillas ähnlich
und betrachtete die „heiligen Schaaren“ als die eigentlichen Beſieger Na-
poleons. Die feurigen Verſe von Lützows wilder Jagd, welche der junge
Dichter einſt arglos aus der Fülle ſeines begeiſterten Herzens heraus ge-
ſchaffen hatte, erhielten allmählich den Sinn eines Parteigeſanges. Man
wiederholte das Lied herausfordernd wie um die Linientruppen zu verhöhnen,
und König Friedrich Wilhelm mochte bald die friſchen Klänge gar nicht
mehr hören weil ſie ihm wie eine Kränkung ſeines tapferen Heeres er-
ſchienen. Dies verſtimmte Geſchlecht ſchien gar nicht mehr im Stande,
ſich der Großthaten der vaterländiſchen Geſchichte unſchuldig zu erfreuen.


Die ganze Verbitterung des Liberalismus entlud ſich in Rottecks Schrift
„über ſtehende Heere und Nationalmiliz“ (1816). Welch ein Gegenſatz zu
jenem patriotiſchen Buche Rühle von Lilienſterns „vom Kriege“! Der preu-
ßiſche Offizier dachte mit ſtaatsmänniſcher Mäßigung die Heere zu natio-
naliſiren und die Völker zu militariſiren; der Parteimann Rotteck ſtellte
ſogleich ſein radikales Entweder — oder: „wollen wir die Nation ſelbſt zum
Heer oder die Soldaten zu Bürgern machen?“ Das ſei die große Frage
dieſes verhängnißſchweren Augenblicks. Mit fanatiſchem Grimme wendete
er ſich gegen das preußiſche Wehrgeſetz und erklärte, kaum ein Jahr nach-
dem Linie und Landwehr bei Belle Alliance ſo ruhmvoll zuſammengewirkt,
voll dreiſter Zuverſicht: „welcher Staat durch ein ſtehendes Heer ſtark ſein
will, derſelbe thut Verzicht auf eine kräftige Landwehr.“ Er ſchilderte das
ſtehende Heer als die Stütze des Despotismus; er behauptete: „wenn alle
Jünglinge zum Heere berufen werden, ſo wird die ganze Nation von den
Geſinnungen des Miethlings durchdrungen ſein;“ er forderte endlich kurz-
weg Abſchaffung der ſtehenden Heere, dergeſtalt daß im Frieden nur eine
kleine geworbene Truppe unterhalten, die Landwehr aber einige Wochen
lang nothdürftig ausgebildet würde. Während er alſo in radikalen Schlag-
worten ſchwelgte, verlangte er zugleich mit naiver Standesſelbſtſucht die Ein-
führung der Stellvertretung bei ſeiner Landwehr; ganze Klaſſen, namentlich
die Studenten ſollten befreit ſein. Den Schluß bildete die ſtolze Weiſſagung:
welcher Fürſt das vollbringt, der wird in ganz eigener Glorie glänzen und,
wäre er ein Deutſcher, der erſte ſein!


Mit ſolcher Verblendung äußerte ſich die Selbſtüberhebung des klein-
ſtaatlichen Liberalismus ſchon in ſeinen erſten Anfängen: Deutſchlands
Fürſten ſollten ſich, wetteifernd in liberalen Thaten, bei den alleinigen
Vertretern des gebietenden Zeitgeiſtes demüthig um die Krone des künf-
tigen Reiches bewerben. Als faſt zur ſelben Zeit Herzog Karl Auguſt
das weimariſche Kriegsheer auflöſte und ſich mit einigen Wachmannſchaften
begnügte, ward er mit Lobſprüchen überhäuft, und die Allgemeine Zeitung
[105]Der Liberalismus und der Adel.
ſchrieb entzückt: „auf die ſchönſte Weiſe entſtand hier die That, dort der
Lobpreis derſelben, eines unbewußt dem andern.“ Wohl trat ein anderer
Führer des badiſchen Liberalismus, der Freiherr v. Liebenſtein, in einer
verſtändigen Schrift ſeinem Freiburger Genoſſen entgegen; jedoch der großen
Mehrheit der Partei hatte Rotteck wie immer aus der Seele geſprochen.
Das Friedensbedürfniß und die wirthſchaftliche Noth, die kleinſtädtiſche
Unkenntniß der europäiſchen Machtverhältniſſe, das Mißtrauen gegen die
Höfe und nicht zuletzt der ſtille Zweifel an der Kriegstüchtigkeit der ver-
einzelten kleinen Contingente — das Alles vereinigte ſich um den Libera-
lismus der kleinen Staaten tief und tiefer gegen die Armee zu verſtimmen.
Rottecks Zornreden wider den Miethlingsgeiſt der Soldaten weckten lauten
Widerhall, obgleich Jedermann wiſſen wußte, daß der deutſche Soldat nur
durch die geſetzliche Zwangsaushebung auf kurze Zeit dem bürgerlichen
Leben entriſſen wurde und ſich ungern genug mit ſeinen armen zwei
Groſchen Sold begnügte. Das Eifern und Schelten wider die Söldlinge
galt ein Menſchenalter hindurch als ein ſicheres Kennzeichen liberaler
Geſinnungstüchtigkeit und bewirkte nur, daß die Offizierscorps ſich mehr
und mehr den ſtreng conſervativen Anſchauungen zuwendeten.


Dies Mißtrauen des Liberalismus gegen das Heer hing eng zuſammen
mit dem ingrimmigen Adelshaſſe, der ſich in allen Zeitungen und Flug-
ſchriften der Oppoſitionsparteien ausſprach. Der Sondergeiſt der Land-
ſchaften und Stände war Deutſchlands alter Fluch; alle Klaſſen, und
keineswegs der Adel allein, hatten an dieſen alten nationalen Sünden
ihren reichen Antheil. Wie einſt der Trotz der großen Communen am
Ausgang des Mittelalters das Anſehen der Reichsgewalt mit zerſtören,
die Reichsreformverſuche des ſechzehnten Jahrhunderts mit vereiteln half,
ſo trug auch jetzt das Bürgerthum an dem neu erwachenden widerwär-
tigen Klaſſengezänk mindeſtens eben ſo viel Schuld wie der Adel. Auch
hier rächte ſich der literariſche Urſprung unſeres Liberalismus. Da bei
dem Aufſchwunge der neuen Kunſt und Wiſſenſchaft nur wenige Edel-
leute mitgewirkt hatten, ſo entſtand in den gebildeten Mittelklaſſen neben
einem wohlberechtigten Selbſtgefühle zugleich eine gehäſſige Verachtung gegen
den Adel: man redete, als ſei der Verſtand dem Edelmanne von Natur
verſagt. Viele der literariſchen Führer der Nation hatten in den demü-
thigenden Verhältniſſen einer entbehrungsreichen Jugend, manche als Hof-
meiſter adlicher Häuſer, den Kaſtenhochmuth kennen und haſſen gelernt.
Vernehmlich ſprach der Groll gegen die Hochgeborenen aus vieleṅ Wer-
ken der neuen Dichtung, ſo aus Emilia Galotti, aus Kabale und Liebe.
Namentlich unter den Genoſſen des Hainbundes war dieſe Geſinnung
tief eingewurzelt. Wer des Pfarrers Tochter von Taubenheim und ähn-
liche Gedichte Bürgers las, der mochte glauben, daß die Verführung armer
Mädchen die Hauptbeſchäftigung des deutſchen Edelmanns bilde; Voß aber,
der Nachkomme mecklenburgiſcher Leibeigener, hegte von Kindesbeinen an
[106]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
unauslöſchlichen Haß gegen die Junker und ließ mit unverhohlenem Be-
hagen ſeinen Bauer Michel über die Adlichen ſagen: „Schelme ſind ſie
und werth am höchſten Galgen zu bummeln!“


Mit Frohlocken wurde die Nacht des vierten Auguſt und alle die an-
deren Schläge, welche die Revolution gegen den Adel führte, in unſeren lite-
rariſchen Kreiſen begrüßt. Seitdem war auch die Macht des deutſchen
Adels tief erſchüttert worden; er hatte durch den Reichsdeputationshaupt-
ſchluß ſeinen Antheil an der Reichsregierung vollſtändig, durch die Stein-
Hardenbergiſchen Reformen und die Geſetze des Rheinbundes ſeine Herren-
ſtellung auf dem flachen Lande größtentheils eingebüßt. Noch blieben ihm
manche Vorrechte, welche das Selbſtgefühl des Bürgerthums verletzten. In
den altſtändiſchen Kleinſtaaten des Nordens, Sachſen, Hannover, Meck-
lenburg beherrſchte er noch Regierung und Landtag; hier beſtanden zumeiſt
noch die adlichen Bänke der oberſten Gerichtshöfe; auch in den alten preu-
ßiſchen Provinzen kamen die Patrimonialgerichte und die gutsherrliche Po-
lizei weſentlich der Macht des Adels zu gute, da die bürgerlichen Ritter-
gutsbeſitzer noch die Minderheit bildeten. Im Heere und im Civildienſt
wurde der Adel noch überall thatſächlich bevorzugt; die perſönliche Um-
gebung der Fürſten bildete er allein, und höhnend rief Voß: „der Edel-
mann iſt ja geborener Curator des Marſtalls, der Jagd, des Schenk-
tiſchs, der Vergnügungen.“ Nach dem Sturze des gekrönten Plebejers trat
der Adelshochmuth oft ſehr herausfordernd auf; ſogar Niebuhr klagte, noch
nie ſeit vierzig Jahren habe der Edelmann den Bürgerlichen ſo abgünſtig
behandelt. Hartnäckig hielt der amtliche Sprachgebrauch den abgeſchmackten
Titel Demoiſelle für die bürgerlichen Mädchen feſt. Auch aus den Hofrang-
ordnungen der kleinen Höfe ſprach ein lächerlicher Kaſtenhochmuth. Selbſt
der höchſte Staatsbeamte durfte ſeine bürgerliche Frau nicht zu Hofe führen;
in Heſſen konnten die Miniſter nur durch die Vewendung des adlichen
Flügeladjutanten Gehör beim Landesherrn erlangen. Das Theater in
Weimar hatte ſeine adlichen Logen, und im Speiſeſaale des Pillnitzer
Schloſſes ſahen die Adlichen und die Bürgerlichen von zwei geſonderten
Tribünen den Gaſtmählern des Königs zu. In den Augen der Voll-
blut-Junker galten nur die Berufe des Offiziers, des Kammerherrn, des
Stallmeiſters, des Forſtmanns und allenfalls noch der Verwaltungsdienſt
für ſtandesgemäß. Die Wiſſenſchaften und Künſte durfte der Edelmann
nur als Liebhaberei treiben; ganz Breslau gerieth in Aufregung, als ein
„gnädiger Herr“ unter die Komödianten ging und auf dem Stadttheater
auftrat. Heirathen zwiſchen Edelleuten und wohlhabenden bürgerlichen
Mädchen kamen häufig vor; doch nur ſelten, und niemals ohne lebhaften
Widerſpruch der Standesgenoſſen, entſchloß ſich ein adliches Mädchen ſich
an einen bürgerlichen Mann wegzuwerfen.


Dieſe Ueberreſte einer überwundenen Geſellſchaftsordnung mußten
das Bürgerthum erbittern; aber nur der Undank konnte vergeſſen, wie
[107]Adel und Bürgerthum.
glänzend das Talent, die Treue, die Tapferkeit des preußiſchen Adels
während der letzten ſchweren Jahre ſich wieder bewährt hatten. Die große
Mehrzahl der Feldherren und Staatsmänner, denen Deutſchland ſeine
Befreiung verdankte, gehörte ja dem Adel an. Während die franzöſiſchen
Edelleute, erboſt über den Verluſt ihrer Standesvorrechte, mit dem Lan-
desfeinde vereint gegen ihr Vaterland in den Krieg gezogen waren, hatte
der preußiſche Adel zwar den Geſetzen Hardenbergs lebhaft widerſprochen,
aber ſobald der Ruf des Königs erklang, ſofort ſeinen Groll hochherzig
vergeſſen und ſein Alles geopfert für die Rettung des Landes; ohne die
Hingebung des Landadels wäre die Beſetzung der Landwehr-Offiziersſtellen,
die Verwendung der Landwehr im freien Felde ſchlechthin unmöglich ge-
weſen. Und gleichwohl wurden dieſe patriotiſchen Soldatengeſchlechter von
der liberalen Preſſe mit den Emigranten verglichen; Berangers hämiſche
Verſe je suis vilain et très-vilain fanden ein Echo dieſſeits des Rheins
als gälten ſie auch für Deutſchland. Der preußiſche Staat vor 1806
erſchien in den Reden und Schriften der Liberalen ſtets als das Urbild
aller politiſchen Sünden, und bald erzählte man allerorten: durch die Junker
ſei Preußen ins Verderben geſtürzt, durch „das Volk“ ſieben Jahre ſpäter
gerettet worden. Nach dem Kriege verſuchte der Adel überall einen Theil
ſeiner alten Macht zurückzugewinnen. Die Mediatiſirten beſtürmten den
Bundestag und die Höfe mit ihren Beſchwerden; in Preußen ſchaarte ſich
die altſtändiſche Partei geſchloſſen zuſammen. Allerhand Vorſchläge für
die Neugeſtaltung des Standes tauchten auf. Während des Wiener Con-
greſſes wurde der Plan einer „Adelskette“ viel beſprochen, einer großen
Genoſſenſchaft, welche überall in Deutſchland die Standesintereſſen wahren
und den Sinn ritterlicher Ehre wach halten ſollte; jedoch der Entwurf
blieb liegen, wie ſpäterhin ein ähnlicher Plan oſtpreußiſcher Edelleute.
Auch viele der romantiſchen Schriftſteller ergingen ſich in überſchwänglichen
Lobpreiſungen des Adels. Friedrich Schlegel feierte ihn als die Grund-
kraft der bürgerlichen Geſellſchaft: an ihm hätten ſich alle anderen Stände
erſt gebildet. Ein trutziges Verslein Schlegels mahnte den Edelmann, bei
dem Schwerte und dem Pfluge zu bleiben und das Geſchwätz der Städte
zu fliehen: „das iſt Adels alte Sitt’ und Recht!“


Solche Beſtrebungen und dazu das thörichte Treiben der heimgekehrten
Emigranten Frankreichs ſteigerten den Groll der Mittelklaſſen. Man fiel
wieder zurück in jene Anſchauungen des platten Standesneides, welche zur
Zeit des Tilſiter Friedens der Bonapartiſt Friedrich Buchholz in ſeinen
„Unterſuchungen über den Geburtsadel“ verkündigt hatte. Wie klang es
doch ſo unwiderleglich, wenn dieſer politiſche Nicolai erwies: die Tugend
vererbe ſich nicht, ein Verdienſtadel gleich der franzöſiſchen Ehrenlegion bleibe
die allein vernünftige Form des Adels: „man kann nicht zugleich Patriot
und Feudalariſtokrat ſein.“ Ein alter fridericianiſcher General v. Dierecke
nahm ſich in aller Beſcheidenheit ſeiner Standesgenoſſen an und zeigte in
[108]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſeinem „Wort über den preußiſchen Adel“ (1818), wie viele Söhne des ge-
ſchmähten Junkerthums im Lager und im Rath die Größe Preußens mit-
begründet hatten. Allgemeine Entrüſtung empfing ihn, weil man ihn nicht
widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreiſen trat der kindiſche Adelshaß
ſo auffällig hervor, daß die Schüler ſelbſt darauf rechneten: als der junge
Karl v. Holtei in Breslau ſeine Prüfungsarbeit zu ſchreiben hatte und
ſich nicht ganz ſattelfeſt fühlte, ließ er weislich das „von“ aus der Unter-
ſchrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die Köpfe zu-
ſammenſteckten und einander dies köſtliche Probſtück jugendlichen Bürger-
muthes mit befriedigtem Lächeln vorwieſen. Die beſonnenen Worte, welche
Perthes in ſeinen Briefen „über den Adel“ dem ritterlichen Schwärmer
Fouqué entgegenhielt, genügten der verſtimmten öffentlichen Meinung jetzt
ebenſo wenig, wie früher ſchon die Schriften des bürgerfreundlichen, aber
conſervativen Rehberg.


Es ſteht nicht anders, das deutſche Bürgerthum wurde durch ſeine
großen literariſchen Erfolge zu einer ähnlichen Selbſtüberhebung verleitet
wie einſt der franzöſiſche Dritte Stand, nur daß ſich bei uns der bürgerliche
Dünkel noch ganz auf den Boden der Doktrin beſchränkte. Leichten Herzens
ſtellten liberale Zeitungen die Frage: wo ſei denn das Unglück, wenn etwa
der geſammte Adel durch einen allgemeinen Bankrott ſeinen Grundbeſitz ver-
löre und durch neue Eigenthümer verdrängt würde? Für die ſittliche Kraft
einer unabhängigen, mit der Landesgeſchichte feſt verwachſenen Ariſtokratie
hatte der Rationalismus kein Verſtändniß. Voß und Rotteck ſprachen
dieſe radikalen Geſinnungen am Aufrichtigſten aus. Bewußt oder unbe-
wußt verbarg ſich dahinter der particulariſtiſche Groll gegen Preußen;
denn kaum hatte dieſer Staat durch ſein Volksheer das Vaterland befreit,
ſo ward er in Süddeutſchland ſchon wieder als das claſſiſche Land des
„Junkerthums und des Corporalſtocks“ verrufen.


Von ſolchen Anſchauungen erfüllt ſchrieb Rotteck im Jahre 1819 zur
Eröffnung des badiſchen Landtags ſeine „Ideen über Landſtände“, das
wiſſenſchaftliche Programm des neuen Liberalismus. Aus der Natur und
Geſchichte des gegebenen Staates die Forderungen für die Zukunft abzu-
leiten lag den Liberalen um ſo ferner, da ihre Bildung noch vollſtändig von
der Philoſophie beherrſcht war und jeder Publiciſt ſich ſtolz als ein Volks-
tribun des geſammten Deutſchlands fühlte. Von dem gemeinen deutſchen
Staatsrechte war in der Anarchie des deutſchen Bundes wenig mehr übrig,
mit der Betrachtung eines der neununddreißig ſouveränen Einzelſtaaten
mochte ſich Niemand begnügen, alſo verfielen alle politiſchen Schriftſteller
unwillkürlich in die Abſtraktionen des ſogenannten allgemeinen conſtitutio-
nellen Staatsrechts. So dreiſt wie Rotteck trat doch Keiner die hiſtoriſche
Welt mit Füßen. Der aufgeklärte Mann unterſchied ein dreifaches Recht:
das vergangene, das heute geltende und „das Recht, das gelten ſollte“;
das letztere ward ohne Federleſen als „das edelſte, ja im Grunde das
[109]Der conſtitutionelle Muſterſtaat.
alleinige Recht“ geprieſen, das hiſtoriſche Recht als hiſtoriſches Unrecht ab-
gefertigt. Als einzige Regel für den Staat galt mithin das Vernunftrecht,
das will ſagen: das perſönliche Belieben des Freiburger Profeſſors und
ſeiner franzöſiſchen Lehrer; allerdings, fügte er beſcheiden hinzu, könne die
Wirklichkeit der philoſophiſchen Theorie immer nur annähernd entſprechen.


Wie einſt Sieyes das Feuer der Rouſſeau’ſchen Volksſouveränität mit
dem Waſſer der Montesquieu’ſchen Gewaltentheilung verſchmolzen hatte,
ſo ſuchte Rotteck die Doktrin des Contrat ſocial durch einige Begriffe des
monarchiſchen Staatsrechts zu verdünnen; nur ſtand er noch weit mehr
als jener franzöſiſche Verfaſſungskünſtler unter dem Einfluß des Genfer
Philoſophen. Kurz und gut, ganz in Rouſſeau’s Weiſe, erklärte er das
Volk für den natürlichen Inhaber der Staatsgewalt, die Regierung für
das künſtliche Organ des Geſammtwillens, das alle ſeine Rechte allein
der Uebertragung verdanke. Darum gebührt dem Volke unter allen Um-
ſtänden die geſetzgebende Gewalt, ſonſt geht ſeine Perſönlichkeit verloren;
die Landſtände aber können alle die Rechte ausüben, welche ſich das Volk
bei der Uebertragung der Regierungsgewalt, nach vernünftiger Muthma-
ßung, ſtillſchweigend vorbehalten hat. Darum iſt auch das Zweikammer-
ſyſtem ein Unrecht, es ſei denn daß die erſte Kammer ebenſo viele Staats-
actien, an Capital und Grundvermögen, vertritt wie die zweite. Das
Volk, natürlich, weiß immer was es will und will ſtets das Beſte; „wo
der Volkswille herrſcht, da können Verhältniſſe, die gegen das natürliche
Recht ſtreiten, gar nicht aufkommen.“ Mit dieſen republikaniſchen Ideen
verbanden ſich dann einige altſtändiſche Vorſtellungen: ſo ſoll der Abgeord-
nete nur ſeinen eigenen Wahlbezirk vertreten, da er ja von den anderen
keinen Auftrag empfangen hat. Alle ſolche Widerſprüche erklären ſich aus
dem einen beherrſchenden Gedanken: aus der Abſicht, den Schwerpunkt
des Staatslebens überall nach unten zu verlegen. Einen Unterſchied zwi-
ſchen Saſſen und Hinterſaſſen wollte Rotteck, getreu der Weltanſchauung
ſeiner Breisgauer Bauern, zur Noth zugeben; doch führte ſeine Lehre
folgerecht unzweifelhaft zum allgemeinen Stimmrecht. Und in der That
hatte der Berliner Hiſtoriker Woltmann ſchon im Jahre 1810 in ſeinem
„Geiſt der neuen preußiſchen Staatsorganiſation“ dieſe letzte Forderung
ausgeſprochen.


So mächtig wirkte die abſtrakte Doktrin auf dieſes treu gehorſame,
von revolutionären Begierden noch völlig unberührte Volk: kaum der Wiege
entwachſen, verfocht der ſüddeutſche Liberalismus ſchon dieſelben Gedanken,
welche einſt in Frankreich die Eintagsverfaſſung von 1791 geſchaffen und
bald darauf das Königthum ſelbſt zerſtört hatten! Eigenthümlich war dem
gutmüthigen Freiburger, im Gegenſatze zu ſeinen franzöſiſchen Vorgängern,
nur jene philiſterhafte Harmloſigkeit, die von den Folgen ihrer Lehren gar
nichts ahnte, und ein helleres Verſtändniß für den communalen Unterbau
der Staatsverfaſſung. Aus den Tiefen des germaniſchen Geiſtes empor-
[110]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
geſtiegen, hatten die Gedanken der preußiſchen Städteordnung in der Stille
ſchon längſt die Runde durch Deutſchland gemacht: ſelbſt Rotteck konnte
ſich ſeine conſtitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbſtver-
waltung denken. Gleichwohl ließ ſich der franzöſiſche Urſprung ſeiner
Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates
allein in den Verfaſſungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit,
nicht die Freiheit als das höchſte der politiſchen Güter und urtheilte daher
über die Scheinverfaſſung des Königreichs Weſtphalen weit milder als
über das alte deutſche Ständeweſen.


Darum fand ſeine Lehre auch die Zuſtimmung der harten Bonapar-
tiſten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann
noch immer den ſchamloſen Particularismus. Sie betheuerte: „eher
werden Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd- und
Nordländer ſich vereinigen;“ ſie brachte Geſpräche zwiſchen einem kern-
haften „Baiermanne“ und einem geckenhaften pommerſchen Landwehrmanne,
der nicht einmal der deutſchen Sprache mächtig war; ſie verhöhnte und
verleumdete alles norddeutſche Weſen und erklärte kurzab, bei dem Namen
„deutſch“ laſſe ſich gar nichts denken. Aber der alte bajuvariſche Son-
dergeiſt ſchmückte ſich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falſches ge-
ſchickt vermiſchend, ſchilderte Aretin die Alemannen — ſo nannte er alle
Süddeutſchen — als die alleinigen Vertreter der conſtitutionellen Freiheit,
den Norden als das Land des Feudalismus, und dies ſchon im Jahre
1816, lange bevor die neuen ſüddeutſchen Verfaſſungen erſchienen waren.
Nachher ſchrieb er ſelbſt ein Lehrbuch des conſtitutionellen Staatsrechts,
das die Grundſätze des neuen Vernunftrechts mit den Anſchauungen der
rheinbündiſchen Bureaukratie zu verſchmelzen ſuchte; und als Aretin dar-
über ſtarb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartiſten zu Ende.


In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten ſich die Anfänge des
norddeutſchen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz
zerriſſen, von den alten ſtändiſchen Inſtitutionen noch Vieles erhalten,
ein warmes Gefühl hiſtoriſcher Pietät faſt überall im Volke lebendig. Die
Ideen der Revolution hatten hier niemals ſo tiefe Wurzeln geſchlagen; die
Liberalen vermaßen ſich nicht den Staat nach den Abſtraktionen des Ver-
nunftrechts völlig neu zu geſtalten, ſondern verlangten nur die Wiederbele-
bung und Fortbildung des alten Ständeweſens. Das Organ dieſer gemä-
ßigten Richtung bildeten die Kieler Blätter. Wohl nirgends zeigte ſich die
innere Verwandtſchaft zwiſchen dem neuen Liberalismus und der idealiſti-
ſchen Begeiſterung unſerer claſſiſchen Literatur ſo ſchön und rein wie in dem
Kreiſe feingebildeter und liebenswürdiger Menſchen, der ſich um dieſe ge-
diegenſte Zeitſchrift des deutſchen Nordens ſchaarte. An dem gaſtlichen
Tiſche der Gräfin Reventlow auf der Seeburg und der Frau Schleiden
am Aſcheberger See fanden ſich die beſten Männer der Kieler Univerſität,
Dahlmann, Falck, Tweſten, C. T. Welcker, mit dem Arzte Franz Hege-
[111]Dahlmann. Haller.
wiſch, dem geiſtſprühenden Heißſporn, und den Führern des ſchleswig-
holſteiniſchen Adels, den Reventlow, Rumohr, Baudiſſin, Moltke in hei-
terer Geſelligkeit zuſammen. Sie Alle ſchwärmten für Goethe, ſie Alle
fühlten ſich ſtolz, das deutſche Weſen hier in der äußerſten Nordmark gegen
den wachſenden Uebermuth der däniſchen Krone zu vertheidigen, und wenn
ſie für conſtitutionelle Rechte ſich begeiſterten, ſo meinten ſie damit nur
das Ideal freier Menſchenbildung, das einſt in Weimar verkündet ward,
zu verwirklichen.


Aus dieſer kleinen Welt voll Geiſt und Anmuth gingen Dahlmanns
Aufſätze „ein Wort über Verfaſſung“ (1815) hervor, in Form und In-
halt das genaue Gegentheil der Schriften Rottecks. Der Kieler Gelehrte
ſchrieb ebenſo gedankenreich, kurz und markig wie der Freiburger dünn
und breit. Wenn dieſer das hiſtoriſche Recht bekämpfte, ſo mahnte Dahl-
mann die Deutſchen, ſich das vollſtändige Daſein ihrer Väter zu vergegen-
wärtigen, um alſo ſittlich zu geneſen. Wollte Rotteck das Königthum nur
vorläufig dulden, ſo bekannte Dahlmann unumwunden ſeine ſtreng mon-
archiſche Geſinnung und ſagte zum Entſetzen der Philologen: die Grie-
chen und Römer mißkannten den Zeitpunkt, wo es nützlich war zur Mon-
archie überzugehen. Nicht in Frankreich, ſondern in England ſuchte er
ſein Staatsideal: „hier ſind die Grundlagen der Verfaſſung, zu welcher
alle neu-europäiſchen Völker ſtreben, am reinſten ausgebildet und aufbe-
wahrt.“ Seit Montequieus Geiſt der Geſetze in Deutſchland Eingang
gefunden, hatte es zwar an unbeſtimmten Lobpreiſungen der engliſchen
Freiheit nie gefehlt; eben jetzt ließ Rückert die rückkehrende Freiheit ſagen:


O baut mir einen Tempel

Nach Albions Exempel!

Doch unter den Publiciſten war Dahlmann der erſte, der mit gründ-
licher Sachkenntniß und frei von blinder Nachahmungsſucht das engliſche
Parlament als ein Muſter für Deutſchland hinſtellte, wie Vincke kurz
zuvor die britiſche Selbſtverwaltung. Männer wie Niebuhr, Schleier-
macher und Thibaut ſprachen dem Kieler Hiſtoriker ihre freudige Zuſtim-
mung aus; aber erſt nach vielen Jahren fanden ſeine Gedanken in weiteren
Kreiſen Anklang. Die Kieler Blätter drangen nicht weit über Schleswig-
Holſtein hinaus; denn die Maſſe des Volkes im Norden ging in wirthſchaft-
lichen Sorgen unter, und wer in Süddeutſchland für die conſtitutionellen
Ideen empfänglich war, hielt ſich lieber an den bequemeren Katechismus
des Rotteck’ſchen Vernunftrechts.


Beiden Richtungen des Liberalismus ſtand, durch eines Himmels Weite
getrennt, der gefürchtete Reſtaurator der Staatswiſſenſchaft Karl Ludwig
v. Haller gegenüber. Der Berner Ariſtokrat hatte die Macht ſeiner Stan-
desgenoſſen vor den Gewaltſtreichen der Revolution zuſammenbrechen ſehen
und dann in der Verbannung, im öſterreichiſchen Dienſte, ſich das poli-
tiſche Syſtem gebildet, das „die Monarchie wieder auf ihrem wahren Grunde
[112]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
erbauen, die anmaßende revolutionäre Wiſſenſchaft des gottloſen acht-
zehnten Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholiſche Kirche mit
einem neuen Glanze erleuchten“ ſollte. Mit dem ſtolzen Bewußtſein eines
welthiſtoriſchen Berufes verkündete er ſeine Lehre, erſt in der Allgemeinen
Staatskunde (1808), dann, ſeit 1816, in der Reſtauration der Staats-
wiſſenſchaft; es ſchien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade
ihm, dem geborenen Republikaner und Proteſtanten, die antirevolutionäre
Heilswahrheit aufgegangen ſei. Und allerdings mit zermalmender Wucht
fielen die dialektiſchen Keulenſchläge ſeines harten Menſchenverſtandes auf
die Phantaſiegebilde der Naturrechtslehre. Erſt die handfeſten Beweis-
gründe dieſes polternden Naturaliſten erſchütterten den Glauben an den
Naturzuſtand, an den Staatsvertrag und die urſprüngliche Volksſouverä-
nität auch in den Kreiſen jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken
der hiſtoriſchen Rechtsſchule nicht folgen konnten. Was er freilich ſelber
an die Stelle dieſer überwundenen Doktrin ſetzte war nur eine grobe
Verallgemeinerung der patrimonialen Rechtsgrundſätze der alten Berner
Ariſtokratie. Wie einſt die Herren von Bern ihre eroberten Unterthanen-
lande im Aaargau und im Waadtland kurzweg als das Eigenthum ihrer
ſiegreichen Republik behandelt hatten, ſo begründete Haller den Staat
ſchlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das Land gehört einem Fürſten,
einer Corporation oder einer Kirche; auf dieſem Eigenthum des Landes-
herrn und unter ſeinem Schutze ſiedelt ſich das Volk an; verſchwände das
Volk, ſo wäre der Staat immer noch vorhanden in der Perſon des Für-
ſten, der leicht neue Unterthanen finden kann. Der Staat erſcheint mit-
hin als eine privatrechtliche Genoſſenſchaft wie andere auch, nur mächtiger,
ſelbſtändiger als ſie alle, der Fürſt als „ein begüterter, vollkommen unab-
hängiger Menſch“; er beherrſcht das Volk durch ſeine perſönlichen Diener,
iſt berechtigt wie verpflichtet ſich ſelber und ſein Haus als den Haupt-
zweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus ſeinem
eigenen Vermögen beſtreiten und die Unterthanen durch ſeine eigenen Sol-
daten beſchützen. Ein Zerrbild des alten ſtändiſchen Staates, wie es in
ſolcher Roheit ſelbſt im vierzehnten Jahrhundert nirgends beſtanden hatte,
ward alſo mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einſt die Muſterverfaſſungen
der Revolution, als das allgemeingiltige Staatsideal hingeſtellt; die ſtaats-
rechtliche Unterordnung des Bürgers ſank zur privatrechtlichon Dienſtbar-
keit herab. Der Reſtaurator hob in Wahrheit den Staat ſelber auf.


Nirgends erſchien ſeine Doktrin ſo bodenlos, ſo allen Thatſachen wider-
ſprechend wie in Preußen; denn kein anderer Staat hatte die Majeſtät des
Staatsgedankens ſo hoch gehalten, wie dieſer, deſſen Fürſten immer die
erſten Diener des Staates waren. Daher auch Hallers wilder Haß gegen
Friedrich den Großen, gegen den aufgeklärten preußiſchen Abſolutismus,
der die haſſenswürdige Conſcription erfunden habe, und gegen das Allge-
meine Landrecht: „außer auf dem Titelblatte ſieht man nirgends, ob es
[113]Adam Müller.
eher für Japan und China als für den preußiſchen Staat gegeben ſei.“
Gleichwohl fand Haller gerade in Preußen zahlreiche und mächtige An-
hänger. Der Kronprinz und ſeine romantiſchen Freunde meinten in dem
grundherrlichen Staate die Farbenpracht des Mittelalters wiederzuerkennen;
Marwitz und die Feudalen von der märkiſchen Ritterſchaft begrüßten mit
Jubel den entſchloſſenen Denker, der den Monarchen wieder in die Reihe
der Grundbeſitzer hinabſtieß, die Geſellſchaft wieder in Lehr-, Wehr- und
Nährſtand theilte und „den Freieren des Landes“ ſo werthvolle Privi-
legien zugeſtand; den Abſolutiſten behagte, daß im Haller’ſchen Staate der
Fürſt vor dem Volke war; die Ultramontanen freuten ſich des Lobes der
Theokratie, welche dem Convertiten als die freieſte und wohlthätigſte aller
Staatsformen erſchien; die ängſtlichen Gemüther fanden ihre eigenen ban-
gen Befürchtungen beſtätigt durch die Anklagen des Berner Fanatikers,
der die ganze Welt von der großen Verſchwörung der Freimaurer, der Illu-
minaten, der Revolutionäre bedroht wähnte. Alle Gegner der Revolution
hießen die ſiegreiche Polemik gegen das Naturrecht willkommen. Während
in den einfacheren und größeren Verhältniſſen des franzöſiſchen Staats-
lebens die Partei der Feudalen und Clericalen ſchon offen als die Feindin
des bureaukratiſchen Abſolutismus auftrat, wogten in Deutſchland alle
dieſe Richtungen der Gegenrevolution noch ungeſchieden durcheinander.


Ungleich geringeren Anklang fand die rein ultramontane Staatslehre
des vielgewandten Sophiſten Adam Müller. Das römiſche Weſen wollte
in dem Heimathlande der Ketzerei nicht recht gedeihen; keiner unſerer cle-
ricalen Schriftſteller konnte ſich dem Grafen de Maiſtre vergleichen, dem
ritterlichen Savoyarden, der mit der ganzen Gluth romaniſchen Glaubens-
eifers, bald witzig ſpottend, bald pathetiſch zürnend, die Unterwerfung der
ſündigen Welt unter das Papſtthum forderte und die „verthierende“ Wiſſen-
ſchaft des „Jahrhunderts der Narrheit“ bekämpfte. Solcher Schwung der
Seele, ſolche Gluth begeiſterter Kreuzfahrergeſinnung war dem geiſtreichen
deutſchen Convertiten nicht gegeben. Adam Müller erkannte zwar ſcharf-
ſinnig manche Schwächen des Liberalismus, namentlich ſeiner wirthſchaft-
lichen Doktrinen; er zeigte ſchlagend, wie wenig das Syſtem des Gehen-
laſſens in dem Kampfe der ſocialen Intereſſen genüge, wie unmöglich die
vollſtändige internationale Arbeitstheilung zwiſchen unabhängigen Völkern
ſei, und ſagte warnend vorher, aus der modernen Volkswirthſchaft werde
ein neuer Geldadel hervorgehen, ſchnöder, gefährlicher als der alte Ge-
burtsadel. Aber in ſeiner „Theologiſchen Grundlegung der Staatswiſſen-
ſchaft“ wurde doch nur die Haller’ſche Doktrin wiederholt und mit einigen
theologiſchen oder naturphiloſophiſchen Flittern neu ausgeſchmückt. Noch
willkürlicher als Haller erkünſtelte er ſich eine natürliche Gliederung der
Geſellſchaft und unterſchied bald den Lehr-, Wehr- und Nährſtand als
die Vertreter von Glaube, Liebe, Hoffnung, bald nach der Formel „Trau,
ſchau, wem“ den Adel, die Bürger, die Regierenden. Wie Haller leugnete
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 8
[114]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
er den Unterſchied von Staats- und Privatrecht und verſicherte, jeder Staat
ſetze ſich in’s Unendliche aus Staaten zuſammen. Sein Ideal war der
vernünftige Feudalismus; den Widerſpruch zwiſchen Politik und Recht dachte
er zu löſen durch die Macht des Glaubens, der zugleich Geſetz ſei.


So ward denn Alles wieder in Frage geſtellt, was die deutſche Staats-
wiſſenſchaft ſeit anderthalb Jahrhunderten gedacht hatte, ſeit Pufendorf ſie
von dem Joche der Theologen erlöſte; die politiſche Doktrin ſank zurück in die
theokratiſchen Vorſtellungen des Mittelalters. Friedrich Schlegel feierte
die Kirche als die erſte aller Innungen, nach ihrem Vorbilde ſollten ſich
alle anderen Corporationen der bürgerlichen Geſellſchaft neu geſtalten.
Baader nannte den Lehr-, Wehr- und Nährſtand die drei Staaten jeder
Nation und verwarf den Ausdruck „der Staat“ als eine ſündliche moderne
Erfindung. „Corporation, nicht Aſſociation“ — ſo lautete das Schlagwort der
politiſchen Romantiker; die meiſten verbanden damit nur die unbeſtimmte
Vorſtellung einer ſchwachen Staatsgewalt, welche durch Zünfte, ritterliche
Landtage, autonome Gemeinden eingeſchränkt, durch die Kirche geiſtig be-
herrſcht werden ſollte. Der nüchterne Gentz fühlte ſich wildfremd und un-
heimlich in dieſer Traumwelt der theologiſirenden Politik und geſtand ſeinem
Freunde Müller: hier vermiſſe er Alles, was die Wiſſenſchaft ausmache,
Klarheit, Methode, Zuſammenhang. Sein weltlicher Sinn empörte ſich, wenn
ihm der Freund betheuerte, der Weltfriede hänge von der Erkenntniß der
Menſchwerdung Gottes ab. Erſt als er die Vorboten der nahenden Revo-
lution zu erkennen glaubte, da ſchrieb er in einem Anfall nervöſer Angſt:
„Sie haben vollkommen Recht, Alles iſt verloren, wenn nicht die Religion
pas seulement comme foi mais comme loi hergeſtellt wird.“ Aber die
Zerknirſchung hielt nicht vor; der erſte der deutſchen Publiciſten ſtand
doch zu hoch um die Erkenntniß der weltlichen Natur des Staates auf
die Dauer aufzugeben.


Eine Kluft von Jahrhunderten ſchien zwiſchen den romantiſchen
Staatslehren und den liberalen Doktrinen zu liegen. Auf Seite der Con-
ſervativen ſtand noch die große Mehrzahl der literariſchen Talente, die
Ueberlegenheit wiſſenſchaftlicher Bildung; der Liberalismus zeigte trotz ſeiner
jugendlichen Unreife doch mehr Sinn für die Bedürfniſſe der Gegenwart,
für die berechtigten Anſprüche der erſtarkenden Mittelklaſſen. Wer zwi-
ſchen dieſen ſchroffen Gegenſätzen zu vermitteln ſuchte, erregte nur Verdacht.
Selbſt der ehrliche Steffens kam in den Ruf reaktionärer Geſinnung,
weil er in ſeinen geiſtreich verſchwommenen politiſchen Schriften zwar land-
ſtändiſche Verfaſſungen forderte, aber nach ſeiner phantaſtiſchen Art „die
Gemeinſchaft der Heiligen“ für die Idee des Staates erklärte und den
Vorzug des Adels in „der myſtiſchen Tiefe aller irdiſchen Geburt“ begründet
fand. Den Patrioten klang es wie Hohn, wenn der vertrauensvolle Mann
die charakterloſe Buntheit des zerriſſenen deutſchen Staatslebens geradezu
als einen Vorzug pries: jede Verfaſſung ſei mangelhaft, erſt die Vielheit
[115]F. Schlegel. Steffens. Ancillon.
der Verfaſſungen gebe eine höhere geiſtige Einheit! Noch weniger ver-
mochte Ancillon die erbitterten Gemüther zu beſchwichtigen. Seine zahlrei-
chen ſtaatswiſſenſchaftlichen Bücher blickten mit vornehmer Geringſchätzung
auf die ſeichten Vergötterer des Zeitgeiſtes hernieder und offenbarten doch
eine Gedankenarmuth, woneben Rottecks Waſſerklarheit wie ſprudelnde
Genialität erſchien, dazu eine ſchillernde Unbeſtimmtheit des Ausdrucks und
der Ideen, die ſich überall eine Hinterthür offen hielt. Wenn er in tiefer
Unterthänigkeit die Heilige Allianz als die Verſöhnung von Politik und Mo-
ral feierte oder mit ſalbungsvoller Breite bewies, zwiſchen berathenden und
beſchließenden Landſtänden beſtehe eigentlich kein Unterſchied, dann zürnten
die Liberalen um ſo heftiger, da ſie wußten, daß der behutſam vermit-
telnde Schriftſteller am preußiſchen Hofe ſtets die Beſtrebungen der ſtreng
reaktionären Partei unterſtützte. —


Noch bevor die ſiegreichen Heere heimkehrten, hatte ein an ſich gering-
fügiger häßlicher Vorfall den Gegenſatz der politiſchen Meinungen krank-
haft verſchärft, das kaum erwachende Parteileben auf lange hinaus ver-
giftet. Seit Jahren waren die napoleoniſchen Märchen von dem Tugend-
bunde und den jacobiniſchen Umtrieben der preußiſchen Patrioten in der
Hofburg wie in den rheinbündiſchen Cabinetten geſchäftig umhergetragen
worden; auch die wohlmeinenden kleinen Höfe erſchraken über die lär-
mende terroriſtiſche Sprache der teutoniſchen Wortführer; alle Regierungen
fühlten ſich unſicher, ſie empfanden ſelber, wie wenig der Friedensſchluß
und die Bundesakte den Wünſchen der Nation genügen konnten. Auch
in Preußen begannen die alten Gegner Steins und des ſchleſiſchen Haupt-
quartiers ſich wieder zu rühren. Schon während des Wiener Congreſſes
verdächtigte ein Hofrath Janke „das wilde Freiheitsgeſchrei“ von Arndt
und Görres bei dem Staatskanzler. Als die Monarchen zum zweiten
male in Paris verſammelt waren, veröffentlichte der Berliner Profeſſor
Schmalz eine Flugſchrift: „Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Ven-
turiniſchen Chronik vom Jahre 1808.“ Jene Stelle war ſchon vor Jahren
auf Schmalz’s Verlangen von dem Herausgeber ſelbſt berichtigt worden;
Schmalz benutzte nur den Vorwand um, anknüpfend an die Geſchichte des
alten Tugendbundes, von dem unterirdiſchen Treiben der geheimen Ver-
eine, welche „vielleicht“ aus jenem Bunde hervorgegangen ſeien, ein unheim-
liches Schreckensbild zu entwerfen. Er war ein Schwager Scharnhorſts,
hatte mit dem General ſtets in gutem Einvernehmen gelebt, in der Zeit
der franzöſiſchen Herrſchaft ſeinen patriotiſchen Muth bewährt, auch an
der Begründung der Berliner Univerſität rührig mitgearbeitet. In der
Unzahl ſeiner ſtaatswiſſenſchaftlichen Schriften zeigte ſich ein beſchränkter,
harter Kopf, der die Ideen der Revolution haßte, ohne doch ihre Grundlage,
die Lehre des Naturrechts wiſſenſchaftlich überwinden zu können; an ſeinem
Rufe haftete bisher kein Makel. Welch ein Aergerniß nun, als dieſer ge-
achtete Patriot plötzlich eine lange Reihe wüthender Anklagen gegen das
8*
[116]II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
neue Deutſchthum erhob: wie die Jacobiner einſt die Menſchheit ſo ſpiegeln
dieſe verſchworenen Volksverführer die Teutſchheit vor um uns der Eide ver-
geſſen zu machen und den tollen Gedanken Einer deutſchen Regierung zu
verwirklichen! Gerade gegen den beſcheidenſten und maßvollſten der teuto-
niſchen Redner, gegen Arndt richtete Schmalz ſeine gehäſſigſten Schmähun-
gen. Arndt hatte in dem köſtlichen Katechismus für den deutſchen Land-
wehrmann die bibliſche Redewendung gebraucht: ſchonet der Wehrloſen
und der Weiber und Kinder brauchet chriſtlich und menſchlich! Daraus
ſchloß Schmalz, dieſe Ruchloſen hätten „Mord, Plünderung, Nothzucht,
letztere gar klärlich gepredigt“. Ohne Zweifel, ſelbſt ſeine Gegner gaben
das zu, handelte der unſelige Mann in gutem Glauben.


Zum erſten male ſeit drei Jahrhunderten war über das ſtille Nord-
deutſchland eine wirkliche Volksbewegung dahingebrauſt; der Anblick aller
der elementariſchen Kräfte, die in ſolchen Zeiten des Sturmes ſich ent-
feſſeln, hatte manches ſchwache Gemüth betäubt und verwirrt. Wie in
England zur Zeit Karls II. tauſende ehrlicher Leute von dem Daſein der
eingebildeten Papiſtenverſchwörung überzeugt waren, ſo griff jetzt in Deutſch-
land ein finſterer Wahn gleich einer verheerenden Seuche um ſich; nicht
blos ſchlechte Geſellen glaubten an die geheime Wühlerei demagogiſcher
Bünde. Noch verletzender als der offenbare Unſinn berührten die bos-
haften Halbwahrheiten der Schmalziſchen Schrift. Dem literariſchen Selbſt-
gefühle hielt er entgegen: die Maſſe des Volkes habe von den Schriften
der Publiciſten nie ein Wort erfahren. Aus jener ſchönen Anſpruchsloſig-
keit des preußiſchen Volks, die das Ungeheure that als verſtände ſich’s von
ſelber, zog der Denunciant den Schluß, eine ungewöhnliche Begeiſterung
habe ſich nirgends gezeigt, die Preußen ſeien zu den Fahnen geeilt wie beim
Brande die Nachbarn zum Löſchen. Wenn Arndts Schrift über „Preu-
ßens rheiniſche Mark“ ſagte: „Preußen muß allenthalben ſein und Preußens
Deutſchland allenthalben,“ und den Staat der Hohenzollern das einzige
deutſche Land nannte, das Deutſchlands Nichtigkeit zur Herrlichkeit er-
heben könne — ſo genügten dem Ankläger ſolche unbeſtimmte Weiſſagungen
um die beabſichtigte Entthronung aller deutſchen Kleinfürſten zu erweiſen.


Die beſten Männer der Nation fühlten ſich in den Tiefen der Seele
empört, da ſie das Andenken der ſchönſten Zeit der neuen deutſchen Ge-
ſchichte ſo ſchmählich beſudelt ſahen. Eine Fluth von Gegenſchriften über-
ſchwemmte den Büchermarkt, der ärgerliche Handel hielt während der letzten
Monate des Jahres 1815 faſt die geſammte gebildete deutſche Welt in
Athem. Auch das Ausland miſchte ſich ein; die Times unterſtand ſich,
den unruhigen Preußen das gehorſame Hannover als ein Muſterbild vor-
zuhalten. Niebuhr und Schleiermacher wieſen den armſeligen Ankläger
zurück, Jener mit tiefem Ernſt, Dieſer mit ſchonungsloſem Spott. In
anderen Gegenſchriften zeigte ſich freilich die verblendete Selbſtüberhebung
des jungen Liberalismus. Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters, er-
[117]Schmalz der Denunciant.
widerte dem Vertheidiger des abſoluten Königthums kurzab: „das Re-
präſentativſyſtem iſt das wahre und auch das einzige, wozu rechtliche und
vaterländiſche Menſchen ſich öffentlich bekennen dürfen!“ Rath Koppe in
Aachen, ein ausgezeichneter preußiſcher Beamter, behauptete zuverſichtlich:
durch das talismanartige Wort „Verfaſſung“ wird die deutſche Einheit ge-
ſichert; denn „überall ſtrebt der Nationalwille nach dieſer Einheit; alle Ab-
weichungen davon hatten ihren Grund in dem Uebergewichte der Regie-
rungsgewalt über den Volkswillen!“


Um Neujahr 1816 machte eine würdig und freundlich gehaltene Ver-
ordnung des Königs dem Zanke ein Ende. Der Monarch erkannte offen
an: dieſelben Geſinnungen, welche die Stiftung des alten Tugendbundes
veranlaßt, hätten im Jahre 1813 die Mehrheit des preußiſchen Volkes
beſeelt und die Rettung des Vaterlandes herbeigeführt, jetzt aber, im Frie-
den, könnten geheime Verbindungen nur ſchädlich werden. Das alte Ver-
bot der heimlichen Geſellſchaften ward erneuert, die Fortſetzung des lite-
rariſchen Streites unterſagt, eine Unterſuchung, welche Niebuhr und ſeine
Freunde zu ihrer eigenen Rechtfertigung beantragt hatten, als überflüſſig
abgelehnt. Nun verſtummte der Lärm; aber Jedermann fühlte, daß die
arge Saat des Anklägers, der eben jetzt durch einen preußiſchen und einen
württembergiſchen Orden ausgezeichnet wurde, doch nicht auf ganz undank-
baren Boden gefallen war. — Mit ſolchen Geſinnungen ſchritten Deutſch-
lands Fürſten und Stämme in die erſehnte Friedenszeit hinein. Dort
ein ſtiller, gegenſtandsloſer Argwohn; hier ein blinder Glaube an die zau-
beriſche Wirkung der conſtitutionellen Staatsformen, ein kindliches Ver-
trauen zu der untrüglichen Weisheit des Volks; in den Maſſen endlich
tiefe Sehnſucht nach Ruhe und friedlicher Arbeit.


[[118]]

Vierter Abſchnitt.
Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.


Das Weltreich war gefallen, über ſeinen Trümmern erhob ſich wieder
eine friedliche Staatengeſellſchaft. Aber jenes alte Syſtem der europäiſchen
Politik, das durch wechſelnde Bündniſſe und Gegenbündniſſe die fünf Groß-
mächte im Gleichgewicht zu erhalten ſuchte, kehrte vorerſt nicht wieder.
Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz ſagte, eine große
Union unter der Aufſicht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na-
poleon geführt und ihren Bund ſoeben in Paris erneuert hatten. So
viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens,
war an dieſem rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei
ſchweren Kriegsjahren ſeine Probe beſtanden. Während ihres langen Zu-
ſammenlebens hatten ſich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner
an einen vertrauten perſönlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter
gekrönten Häuptern unerhört geweſen; ſie beſchloſſen, auch in Zukunft alle
großen Fragen der europäiſchen Politik in perſönlichen Zuſammenkünften
zu beſprechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete ſich als den oberſten
Gerichtshof Europas; er hielt für ſeine nächſte Pflicht, die neue Ordnung
der Staatengeſellſchaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum
das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege,
gemeinſam zu überwachen. Während das europäiſche Occupationsheer unter
Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte,
ſollten die vier Geſandten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau-
fenden Geſchäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit
ihren Rathſchlägen unterſtützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch
den Herzog von Richelieu ſelbſt zur Berathung ein. Alle Streitfragen,
die ſich aus den Wiener und Pariſer Verträgen ergaben, wurden dieſer
Geſandtenconferenz zugewieſen; nur die Abwicklung der verworrenen deut-
ſchen Gebietsfragen blieb einer beſonderen Verhandlung in Frankfurt vor-
behalten.


Noch niemals hatte das Staatenſyſtem eine ſo feſtgeordnete bündiſche
Gemeinſchaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherrſchte den
[119]Die Pariſer Geſandtenconferenz.
Welttheil minder gewaltſam, aber ebenſo unumſchränkt wie einſt der Wille
Napoleons. Die Staaten zweiten Ranges — les Sous-Alliés nannte
man ſie ſpöttiſch in den diplomatiſchen Kreiſen des Vierbundes — ſahen
ſich von allen Geſchäften der großen Politik völlig ausgeſchloſſen; als der
hochmüthige ſpaniſche Hof, der die Zeiten Philipps II. nicht vergeſſen konnte,
Zutritt zu der Pariſer Geſandtenconferenz verlangte, ward er ſcharf zurück-
gewieſen, am ſchärfſten von Preußen. Nirgends aber ward das Ueberge-
wicht der vier Mächte ſchwerer empfunden, als in Frankreich. Obwohl
die Franzoſen von den außerordentlichen Machtbefugniſſen der Geſandten-
conferenz nichts Sicheres wußten, ſo pflegt doch in Fragen der nationalen
Ehre der Inſtinkt der Maſſen ſelten ganz zu irren. Die Nation ahnte
dunkel, daß ihre Regierung durch das Ausland beaufſichtigt wurde, und ver-
folgte mit überſtrömendem Haſſe den „Lord Proconſul“ Wellington. Die
Herrſchaft des alten Königthums konnte ſchon darum nicht wieder feſte
Wurzeln ſchlagen, weil ſie dem Volke als eine Fremdherrſchaft erſchien.
Nur zu bald bewährte ſich die Warnung, welche Humboldt dem Pariſer
Friedenscongreſſe zugerufen hatte: die Revolution werde niemals endigen,
wenn Europa die Franzoſen unter ſeine Vormundſchaft nehme.


Die vier Mächte betrachteten ſämmtlich den Beſtand der legitimen
Dynaſtie als einen Grundpfeiler der neugeordneten Staatengeſellſchaft und
behandelten daher den franzöſiſchen Hof mit aufrichtigem, beſorgtem Wohl-
wollen. Kaum hatte der Pariſer Congreß die Frage der Landabtretung
in’s Reine gebracht, ſo begann Gneiſenau ſofort, noch im Oktober 1815,
eine tief geheime Verhandlung mit den Tuilerien. Rückſichtslos wie auf
dem Schlachtfelde pflegte der kühne Mann auch in der Politik ſeine Mittel
zu wählen; hatte er doch zur Zeit der ſächſiſchen Händel alles Ernſtes er-
wogen, ob Preußen nicht mit Hilfe des zurückgekehrten Napoleon ſeine An-
ſprüche durchſetzen ſolle. So ſchien ihm jetzt ſelbſt ein abenteuerlicher Weg
erlaubt, wenn nur das Ziel, die Befeſtigung des neuen Staatenſyſtems,
erreicht wurde. Seine Unterhändler, Major v. Royer, ein Legitimiſt in
preußiſchen Dienſten, bot dem Herzog von Richelieu, mit Hardenbergs Ge-
nehmigung, geradezu ein geheimes Bündniß an: Preußen als der nächſte
Nachbar ſollte ſich verpflichten, den Bourbonen im Falle einer Revolution
mit ſeiner geſammten Kriegsmacht Beiſtand zu leiſten. Die Verhandlung
führte zu keinem Ergebniß, offenbar weil König Friedrich Wilhelm ſchließ-
lich Bedenken trug ſo weitausſehende, gefährliche Verpflichtungen zu über-
nehmen; doch ſie bewies genugſam, daß Preußens Regierung entſchloſſen
war, die Ränke Talleyrands ſowie alle die anderen Proben bourboniſcher
Undankbarkeit gänzlich zu vergeſſen und mit dem weſtlichen Nachbarn in
guter Freundſchaft zu leben.*)


[120]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Der wilde Kampf der franzöſiſchen Parteien erregte in der Geſandtencon-
ferenz um ſo ſchwerere Beſorgniß, da das reiche Land ſich von ſeinen wirth-
ſchaftlichen Leiden wunderbar ſchnell erholte und bald wieder zu einem neuen
Kriege fähig ſchien. Frankreich zerfiel, ſo ſagte die unverſöhnliche Oppoſition,
in zwei Völker, die Sieger und die Beſiegten von Waterloo. Wo war noch
ein gemeinſamer Boden für die demokratiſchen Maſſen, denen die Glorie
der weltherrſchenden Tricolore das Hirn berauſchte, und für die Emigranten,
dieſe „Pilger des Grabes“, die von der Oriflamme und dem heiligen Ludwig
träumten? Höhnend hielt Beranger dem alten Adel das Bild des Marquis
von Carabas entgegen; ſein Spottlied c’est le roi, le roi, le roi gab das
Königthum der Verachtung preis. Das ganze Land war von einem Netze
geheimer Geſellſchaften überſpannt; jeder Veteran der großen Armee, der
in ſein heimathliches Dorf zurückkehrte, predigte die napoleoniſche Legende.
Auch die geiſtreichen Doktrinäre, die in der Minerva ihre liberalen An-
ſchauungen ausſprachen, untergruben das Anſehen der Krone durch gehäſſiges
Mißtrauen. Gefährlicher als die Leidenſchaften der Oppoſition erſchien je-
doch vorerſt die fanatiſche Verblendung der royaliſtiſchen Ultras, welche die
Kammer der Abgeordneten beherrſchten. Die Heißſporne der Chambre
introuvable
ſtrebten geradeswegs zurück zu der alten feudalen Geſellſchafts-
ordnung, ſie verlangten blutige Rache an den Königsmördern und den
Gottesmördern. Als König Ludwig den wilden Eifer der Emigranten zu
mäßigen verſuchte, wendeten ſie ſich gegen das Anſehen der Krone ſelber, ganz
ſo trotzig wie jene polniſchen Magnaten, die einſt ihrem König Sigismund
zuriefen: rege sed non impera! Die altſtändiſchen Ideen der zügelloſen
Adelslibertät tauchten wieder auf und ſchmückten ſich mit den Schlagwörtern
der neuen parlamentariſchen Doktrin. Im Namen der conſtitutionellen
Freiheit forderte Chateaubriand die Unterwerfung der Krone unter den
Willen der Kammern und verfocht in ſeinen Schriften bereits jene radi-
kale Theorie des Parlamentarismus, welche ſpäterhin die Liberalen ſich
aneigneten und zu dem Satze le roi règne mais il ne gouverne pas
zuſpitzten.


Sämmtliche Mitglieder der Geſandtenconferenz, Pozzo di Borgo voran,
unterſtützten den König in ſeinem Widerſtande gegen die Ultras. Sogar
die hochconſervativen engliſchen Staatsmänner mißbilligten die Parteiwuth
der Emigranten, obgleich ihnen der liberale Eifer des „jakobiniſchen“ Czaren
und ſeines vordringlichen Geſandten immer verdächtig blieb. Wenn Wel-
lington das thörichte Treiben der Ultras betrachtete, die ſich im Pavillon
Marſan bei dem Grafen von Artois ihre Weiſungen holten, dann meinte
*)
[121]Frankreich und die vier Mächte.
er beſorgt: die Nachkommen Ludwigs XV. werden Frankreich nicht regieren,
und Artois trägt die Schuld! Metternich ſchrieb warnend: „die Rückkehr zu
einer vergangenen Ordnung der Dinge bildet eine der größten Gefahren
für einen Staat, der aus einer Revolution hervorgeht;“ nachher entfuhr
ihm ſogar der ſchmerzliche Ausruf: „die Legitimiſten legitimiren die Re-
volution.“ Der preußiſche Geſandte, General Graf v. d. Goltz, ein alter
Genoſſe des Blücher’ſchen Hauptquartiers, bewährte ſich als ein Diplomat
von würdiger Haltung und geſundem Urtheil; er ward nicht müde ſeinen
Hof vor der ſelbſtmörderiſchen Parteiwuth der Royaliſten zu warnen. So
geſchah es, daß Hardenberg ſchon im März 1816 ausſprach: die geſetzliche
Ordnung in Frankreich ſei nur noch durch die Auflöſung der unfindbaren
Kammer zu retten. Die drei anderen Mächte trugen vorerſt noch Bedenken,
den Tuilerien ein ſo kühnes Mittel zu empfehlen. Aber als die Verblendung
der Ultras unheilbar blieb, faßte König Ludwig endlich einen muthigen Ent-
ſchluß. Am 5. Septbr. erfolgte die Auflöſung unter dem Jubel des Landes;
die Wahlen brachten den gemäßigten Parteien die Mehrheit, und das
Miniſterium Richelieu-Decazes vermochte mit der neuen Kammer leidlich
auszukommen. Seitdem erſt begannen die vier Mächte mit etwas beſſerer
Zuverſicht in die Zukunft Frankreichs zu ſchauen. In einer Note vom
10. Februar 1817 eröffneten ſie dem Herzog von Richelieu: ſeine oft wieder-
holte Bitte um Verminderung der Beſatzungslaſt ſei nunmehr erhört, das
Heer Wellingtons ſolle um ein Fünftel, 30,000 Mann, vermindert werden;
doch verſäumten ſie nicht hinzuzufügen, daß die löblichen Grundſätze des Her-
zogs und ſeiner Amtsgenoſſen viel zu dieſem Entſchluſſe beigetragen hätten.
So tief war das ſtolze Frankreich gedemüthigt: ſein erſter Miniſter mußte
eine förmliche Belobung von dem hohen Rathe Europas hinnehmen.


Indeſſen zeigte ſich bald, daß die Selbſtändigkeit der modernen Staa-
ten eine ſo innige Gemeinſchaft, wie ſie der Vierbund begründet hatte, auf
die Dauer nicht ertragen konnte. Der alte Gegenſatz der ruſſiſchen und
der öſterreichiſch-engliſchen Politik trat immer wieder zu Tage, und Czar
Alexander that das Seine um den Argwohn des Wiener und des Lon-
doner Hofes zu verſchärfen. Ohne ſeine Verbündeten zu befragen, ließ
er im Februar 1816 die Urkunde der Heiligen Allianz veröffentlichen: die
Welt ſollte ihn, ihn allein als den Heiland und den Führer des verbün-
deten Europas bewundern. Während die anderen Mächte abrüſteten, wurde
das ruſſiſche Heer verſtärkt und in dichten Maſſen nahe der Grenze zu-
ſammengezogen. Der Czar gefiel ſich in übertreibenden Schilderungen der
ruſſiſchen Kriegsmacht, und ſie wurde in der That, trotz der Erfahrungen
der letzten Feldzüge, von aller Welt unbegreiflich überſchätzt; ſelbſt Gneiſenau
glaubte, daß Rußland über eine Million Soldaten gebiete und ſogleich mit
500,000 Mann einen Angriffskrieg beginnen könne. Metternich erklärte
beſorgt, die Wucht dieſer Rüſtungen und die orthodoxe Schwärmerei könnten
den Czaren leicht zu kriegeriſchen Abenteuern verleiten; überall, in Frank-
[122]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
reich und Spanien, in Italien und der Türkei meinte er den geheimen
Umtrieben ruſſiſcher Agenten auf der Spur zu ſein.*) Und dieſe ruhe-
los ehrgeizige Politik ſegelte unter der liberalen Flagge dahin! Die ruſ-
ſiſchen Geſandten ſprachen ſich an allen Höfen für ein Syſtem „weiſer
Freiheit“ aus, während die engliſchen ebenſo eifrig vor dem „gefährlichen
Unſinn“ liberaler Verfaſſungsverſuche warnten. In ſeinem Polen ließ
Alexander ſchon zu Weihnachten 1815 eine Verfaſſung verkündigen. Ob-
gleich dies Grundgeſetz an dem Krebsſchaden der polniſchen Zuſtände, an
der Unfreiheit des Landvolks nichts Weſentliches änderte und alle politiſche
Macht in die Hände des Adels legte, ſo übte doch der Name Conſtitution
ſeinen mächtigen Zauber; triumphirend begrüßte der urtheilsloſe Libera-
lismus das Gnadengeſchenk des Kaiſers und fragte ungeduldig: wann
endlich würden Deutſchlands Fürſten dem Beiſpiele des aufgeklärten Selbſt-
herrſchers folgen, der insgeheim ſchon eine Charte für Rußland ſelbſt vor-
bereitete? Von den beiden Staatsmännern, welche der Czar in den aus-
wärtigen Geſchäften zu Rathe zog, blieb der unbedeutende Neſſelrode ſeinem
Freunde Metternich treu ergeben; um ſo verdächtiger erſchien dem Wiener
Hofe der liberale Philhellene Kapodiſtrias. Der öſterreichiſche General Stei-
genteſch befand ſich zu Petersburg bald in ebenſo peinlicher Lage wie der
ruſſiſche Geſandte Stackelberg zu Wien. Caveat consul! hieß es beſtändig
in Stackelbergs Berichten; in erregten Worten warnte er ſeinen kaiſerlichen
Herrn vor der Tücke „dieſes Wiener Dalai-Lamas“. Der geheime Ver-
trag vom 3. Januar 1815 blieb in Petersburg unvergeſſen, und alle ruſ-
ſiſchen Staatsmänner ſchrieben dem Fürſten Metternich die Hauptſchuld
daran zu.


Das tiefe Mißtrauen des Tory-Cabinets gegen den Czaren verrieth
ſich deutlich in einem Vorſchlage, welchen Lord Cathcart im Auguſt 1816
dem Petersburger Hofe überreichte: eine Conferenz von Offizieren ſollte
zuſammentreten um über die gleichzeitige Abrüſtung aller Mächte zu be-
rathen und jedem Staate die Stärke ſeines Friedensheeres vorzuſchreiben.
Unverkennbar richtete dieſer friedfertige Antrag ſeine Spitze gegen die ruſ-
ſiſchen Rüſtungen. Darum ging Metternich mit Eifer auf den Gedanken
ein und erwiderte — mit freundlichem Seitenblick auf die preußiſche Armee:
die Verminderung der Heere ſei beſonders wünſchenswerth in einer Zeit,
„wo die Revolutionäre ſelbſt ſich mit der militäriſchen Maske bedecken“.
Kaiſer Alexander gab eine freundliche aber unklare Antwort. Der eng-
liſche Vorſchlag blieb liegen, da man bald fühlte, daß eine ſo unnatür-
liche Beſchränkung des wichtigſten Hoheitsrechtes ſelbſtändiger Staaten ſich
im Ernſt nicht durchſetzen ließ; zumal Preußen konnte den Beſtand ſeines
volksthümlichen Heerweſens nimmermehr dem Belieben übermächtiger Nach-
[123]Rußland und England.
barn preisgeben.*) Inzwiſchen wuchſen die Beſorgniſſe des öſterreichiſchen
Hofes von Monat zu Monat, und um Neujahr 1818 ſtellte Metternich
dem Vertrauten Hardenbergs, Geh. Rath v. Jordan, der wegen der deut-
ſchen Bundesangelegenheiten in Wien verweilte, geradezu den Antrag:
Preußen möge mit Oeſterreich ein geheimes Vertheidigungsbündniß für den
Fall eines ruſſiſchen Angriffs abſchließen. Hardenberg fand ſich ſofort
dazu bereit, da ihm die Freundſchaft Oeſterreichs über allen anderen Rück-
ſichten ſtand. Der König aber widerſprach: warum ſollte Preußen, den
unbeſtimmten Befürchtungen der Hofburg zu Lieb’, ſeinen alten Bundes-
genoſſen verlaſſen, der überdies die geheimen Pläne Metternichs bereits
durchſchaut hatte? Mit bitterem Unmuth nahm der Staatskanzler dieſe
abſchlägige Antwort entgegen; er meinte nach ſeiner eigenrichtigen Art,
Friedrich Wilhelm ſpiele wieder eine ähnliche Rolle wie in der traurigen
Epoche von 1805. Umſonſt rief er den Fürſten Wittgenſtein, den unbe-
dingten Anhänger Oeſterreichs, zu Hilfe; umſonſt beſchwerte er ſich, daß
ihm ſein königlicher Herr ſo wenig Vertrauen zeige. Der Monarch blieb
feſt, und am 2. Mai mußte Hardenberg das öſterreichiſche Anerbieten ab-
lehnen.**)


Dem engliſchen Hofe blieb namentlich das vielgeſchäftige Treiben der
ruſſiſchen Diplomatie in Spanien hochbedenklich. Hier wie in Frankreich
bemühten ſich die vier Mächte ernſtlich, das wiederhergeſtellte alte König-
thum in den Schranken der Mäßigung zu halten, ſoweit die Scheu vor dem
reizbaren ſpaniſchen Nationalſtolze dies geſtattete. Sie fühlten alle, wie
ſchwer die gemeinſame Sache der europäiſchen Reſtauration durch die Sün-
den König Ferdinands geſchädigt wurde. Die ganze liberale Welt gerieth in
Aufruhr und Lord Byron ſang flammende Verſe wider den katholiſchen Mo-
loch, als der verworfenſte der europäiſchen Fürſten ſogleich nach ſeiner Rück-
kehr die Inquiſition wiederherſtellte, als er die Helden jenes Volkskrieges, der
den Bourbonen ihren Thron zurückgegeben, mit grauſamen Strafen ver-
folgte, als aus den Reihen ſeiner mönchiſchen Anhänger der wahnwitzige
Ruf erklang: es leben die Ketten, es lebe der Druck, es lebe König Fer-
dinand, es ſterbe die Nation! Aber während alle Mächte in der Verur-
theilung dieſer Regierung einig waren, verſuchte Rußland zugleich die
Machtſtellung zu untergraben, welche England während des Unabhängig-
keitskrieges auf der Halbinſel errungen hatte. Der Geſandte des Czaren
Tatiſchtſchew gewann in Madrid allmählich noch größeren Einfluß als Pozzo
di Borgo in Paris. Man bemerkte bald, daß Rußland die Erneuerung
des alten bourboniſchen Familienvertrags wünſchte um dereinſt die See-
macht der beiden Kronen gegen England verwenden zu können. Der uner-
[124]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
müdliche ruſſiſche Gönner verkaufte endlich ſogar einen Theil ſeiner eigenen
Flotte an Spanien und verlangte, daß Europa durch gemeinſame Inter-
vention die aufſtändiſchen Kolonien Südamerikas mit dem ſpaniſchen Mutter-
lande verſöhnen ſolle. Alle Mächte widerſprachen dieſem abenteuerlichen
Vorſchlage; England und Oeſterreich verfolgten die mediterraniſche Politik
des Czaren mit um ſo lebhafterer Beſorgniß, da inzwiſchen die Zuſtände
der Balkanhalbinſel erſichtlich einer neuen Erſchütterung entgegenreiften.


Wie oft beklagte Metternich, daß ſein „beſter und ſicherſter Bundes-
genoſſe“, die Türkei, der einzige Staat Europas blieb, der ſich nicht auf
die Anerkennung der großen Mächte berufen konnte. Die Pforte hatte
aus trägem Hochmuth verſäumt, die Bürgſchaft Europas für ihren Länder-
beſtand in Anſpruch zu nehmen; nun ſah ſie ſich durch den Abſchluß der
Heiligen Allianz aus der Gemeinſchaft der europäiſchen Staaten förmlich
ausgeſchloſſen. Der Haß der Muhamedaner gegen die Giaurs flammte
wieder mächtig auf; Sultan Machmud ließ abſichtlich einige Beſtimmungen
des Bukareſter Friedens unausgeführt und erwartete mit Zuverſicht den
Wiederausbruch des ruſſiſchen Krieges.*) Unterdeſſen hatte die unaufhalt-
ſame Erhebung der unglücklichen Rajah-Völker bereits begonnen. Die
Serben legten die Waffen nicht mehr aus der Hand und errichteten unter
der Leitung ihres Miloſch ein halb-unabhängiges chriſtlich-nationales Ge-
meinweſen, deſſen Daſein ſchon den Grundgedanken des ottomaniſchen
Reichs widerſprach; Sendboten der unzufriedenen Griechen verkehrten in
Petersburg und fanden bei Kapodiſtrias freundliche Aufnahme. Für die
Nothwendigkeit der Befreiungskämpfe, die ſich hier vorbereiteten, fehlte in
London wie in Wien jedes Verſtändniß. In den Kreiſen der Hochtorys
galt die Erhaltung der Türkei kurzweg als ein politiſcher Glaubensſatz,
zumal ſeit das engliſche Intereſſe im Oſten durch die Erwerbung der
ioniſchen Inſeln gewahrt ſchien; ſtatt aller Gründe berief man ſich auf
den Ausſpruch Pitts: mit einem Menſchen, der den Beſtand der Pforte
nicht für nöthig hält, ſpreche ich kein Wort mehr über Politik. Metternich
aber wendete ſeine Doktrin von dem unantaſtbaren Rechte jeder legitimen
Obrigkeit unbedenklich auf die Fremdherrſchaft der Türken an und verab-
ſcheute die verzweifelnden chriſtlichen Völker der Halbinſel nicht bloß als
Schützlinge Rußlands, ſondern auch als frevelhafte Rebellen. In ſeiner
Angſt bemerkte er nicht, daß der unſtete Ehrgeiz des liberalen Selbſtherr-
ſchers wohl zuweilen mit hochfliegenden Entwürfen ſpielte, doch den Muth
des Vollbringens nicht beſaß. Der Czar erwiderte auf die beſorgten Fragen
des Generals Steigenteſch verächtlich: es ſei eine Gewiſſensſache, das Blut
eines einzigen Soldaten zu vergießen im Kampfe gegen dieſe türkiſchen
Schweine.**) Und ſeinem Geſandten in Wien ließ er ſchreiben: die euro-
[125]Oeſterreich und Rußland.
päiſchen Miniſter hätten ſich noch nicht genugſam von ihren veralteten,
kleinmüthigen Ideen befreit, weil die gereinigte Moral des Evangeliums
nicht zu ihren Herzen ſpräche. Daher ihr Mißtrauen gegen Rußland;
heute aber beſtehe, nach dem Rathſchluß der göttlichen Vorſehung, die Herr-
ſchaft der öffentlichen Meinung, begründet auf Wahrheit und Gerechtigkeit.


Derweil die Hofburg alſo vor den geheimen Plänen des Czaren
zitterte, war ſie ſelber von aufrichtiger Friedensliebe beſeelt. Wie wunder-
bar war doch dies alte Oeſterreich nach ſo vielen Niederlagen und Ver-
luſten wieder zu einer Machtfülle aufgeſtiegen, die an die Tage Wallen-
ſteins erinnerte; ſelten hatte ein Staat beim Ausgange eines Weltkrieges
ſich ſo ganz am Ziele aller ſeiner Wünſche befunden. Metternich durfte
ſich rühmen, wie viel er ſelbſt durch kluges Aufſparen und rechtzeitiges
Einſetzen der Kräfte des Reichs zu dieſem glänzenden Erfolge beigetragen;
und da er ſchon in ſeinen jungen Jahren ſtets Alles vorausgeſehen und
vorausgeſagt haben wollte, ſo ſteigerte ſich jetzt ſein Selbſtgefühl zu uner-
meßlichem Dünkel. Die ganze neue Ordnung der europäiſchen Dinge er-
ſchien ihm als ſein perſönliches Werk, die Erhaltung dieſer Ordnung als
die einzige Aufgabe ſeines Lebens, da er ſelbſt wie ſein Staat bei jeder
Aenderung nur verlieren konnte. Die tiefe Unwahrhaftigkeit ſeines Geiſtes
erleichterte ihm, ſich die Thatſachen zurecht zu legen; die Bilder der Ver-
gangenheit verſchoben ſich vor ſeinen Blicken, und bald ſah er in der Ge-
ſchichte des letzten Menſchenalters ein ungeheures Gewirr von Thorheit
und Verbrechen: nur er, er allein war inmitten der allgemeinen Bethö-
rung immerdar frei geblieben von Leidenſchaft, frei von Irrthum und vor
Allem, wie er gern hervorhob, ganz frei von Eigenliebe. Voll Verachtung
ſprach er über „die Politiker von dem Schlage eines Richelieu und Mazarin“.


Die fremden Diplomaten bemerkten jetzt ſchon, wie ſchwer es hielt ein
geſchäftliches Geſpräch mit ihm zu führen; in langen lehrhaften Vorträgen
pflegte er den andächtig Lauſchenden ſeine untrügliche Meinung zu ent-
wickeln. Eintönig, ſalbungsvoll, breit und hochtrabend verkündeten ſeine
Briefe und Depeſchen in unzähligen Umſchreibungen immer nur den einen
Gedanken der Erhaltung des Beſtehenden. Und doch verbarg ſich hinter
der ſtolzen Zuverſicht die ſtille Angſt: Metternich fürchtete den Krieg, weil
er die Schwäche des vernachläſſigten öſterreichiſchen Heerweſens kannte, er
fürchtete mehr noch die Revolution. Nicht als ob er jemals die Vortreff-
lichkeit des Syſtemes, das den beiden großen Völkern Mitteleuropas die
Adern unterband, irgend bezweifelt hätte; aber er ſah die Partei des Um-
ſturzes, die ihn ſein Lebelang geängſtigt, noch immer im Dunkeln ſchleichen,
er ſah ſie bereit den Feuerbrand in ſein kunſtvolles Gebäude zu ſchleudern;
und wie er immer des Glaubens blieb, daß der Tugendbund das preußiſche
Heer von langer Hand her aufgewiegelt habe, ſo beobachtete er ſchwer be-
ſorgt die Parteikämpfe in Frankreich, die krampfhaften Regungen des Na-
tionalgefühls in Deutſchland und Italien; er vernahm mit Entſetzen, wie
[126]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
ſelbſt in England, der feſten Burg der Gegenrevolution, der Gedanke der
Parlamentsreform wieder erwachte, wie der feurige Demagog Cobbet ſeine
Zweipfennig-Regiſter unter die Maſſen warf und die lange verwahrloſten
niederen Klaſſen an ihre Menſchenrechte erinnerte. Um die Fragen der
Verfaſſung und Verwaltung hatte ſich der Meiſter der Diplomatie bisher
ebenſo wenig gekümmert wie um die großen Culturzwecke des Völkerlebens,
deren Förderung der echte Staatsmann als ſeine höchſte Aufgabe betrachtet;
ſelbſt dem inneren Leben ſeines Oeſterreichs ſtand er ſo fern, daß er ſein
Urtheil über den Charakter dieſer Monarchie in der Phraſe zuſammenfaßte:
ſie trage, ohne ein Foederativſtaat zu ſein, doch die Vortheile wie die Nach-
theile der Foederativgeſtaltungen. Jedes ſchöpferiſchen Gedankens baar
lebte ſeine Politik aus der Hand in den Mund; ſie meinte genug zu thun,
wenn ſie ſich bereit hielt jederzeit mit dem Löſcheimer herbeizueilen ſobald
irgendwo die Flammen der Revolution aus dem Boden aufſchlugen; ſie
ſchwor auf den Gedanken der Stabilität ſo unbedingt wie der junge Libe-
ralismus auf die Abſtraktionen ſeines Vernunftrechts, und der Feind der
Doktrinäre verfiel ſchließlich ſelbſt in einen Doktrinarismus, der noch um
Vieles unfruchtbarer war als die Lehren Rottecks. Je klarer jedes neue
Jahr bewies, daß die lebendigen Kräfte der Geſchichte vor den Schranken
der Wiener Verträge nicht ſtillſtehen konnten, um ſo krampfhafter ward
die Furcht des Ruheſeligen vor der Revolution, bis endlich faſt in allen
ſeinen Sendſchreiben das ſorgfältig ausgemalte Schreckbild des drohenden
allgemeinen Weltbrandes wie die fixe Idee eines Geiſteskranken wieder-
kehrte.


Nur an einer Stelle ſeines Machtgebietes hatte Oeſterreich nicht alle
ſeine Abſichten erreicht: der Plan des italieniſchen Bundes war in Wien
an dem Widerſpruche Piemonts geſcheitert. Um den Turiner Hof doch
noch für dieſen Gedanken zu gewinnen, erhob die Hofburg jetzt Anſprüche
auf das weſtliche Ufer des Langenſees und die wichtige Simplonſtraße; doch
da Rußland und Preußen ſich der bedrängten Piemonteſen annahmen,*)
ſo ließ Metternich ſeine Abſicht vorläufig fallen und begnügte ſich mit der
thatſächlichen Beherrſchung Italiens, die einſtweilen leidlich geſichert ſchien.
Wohl war der Jubel, welcher einſt die einziehenden Oeſterreicher in der
Lombardei begrüßt hatte, längſt verrauſcht; das Volk murrte über die rück-
ſichtsloſe Abſetzung ſo vieler alter Beamten, über die harte, der Landesart
völlig unkundige Verwaltung, über die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei
und die Roheit des bastone tedesco. Als Kaiſer Franz im Februar 1816
ſeine Huldigungsreiſe durch das neue lombardiſch-venetianiſche Königreich
antrat, wurde er überall mit unverhohlener Kälte empfangen; ſelbſt der
preußiſche Geſandte, General v. Kruſemark, ein warmer Freund Oeſter-
reichs, mußte ſeinem Könige berichten: die k. k. Beamten und Offiziere ſeien
[127]Metternichs deutſche Politik.
ſammt und ſonders verhaßt, alle Italiener, „denen der Gedanke einer
ſelbſtändigen Nation anzugehören lieb war“, grollten der neuen Regierung.
Aber die Ruhe war noch nirgends geſtört, und Metternich erwiderte zu-
verſichtlich, als Hardenberg ihm die Namen einiger verdächtigen italieniſchen
Patrioten mittheilen ließ: den Italienern fehle, trotz ihrer ſchlechten Ge-
ſinnung, der Muth zu Verſchwörungen.*) Was ſchien auch zu befürchten?
An allen Höfen der Halbinſel herrſchte ein hart abſolutiſtiſcher Geiſt, der
den Grundſätzen der Hofburg entſprach; die Bourbonen von Neapel hatten
ſich überdies am 12. Juli 1815 durch einen geheimen Vertrag verpflichtet,
die alten monarchiſchen Inſtitutionen aufrecht zu halten und dem Wiener
Hofe Alles mitzutheilen, was der Ruhe Italiens bedrohlich ſcheine.


Den deutſchen Angelegenheiten ſtand die Hofburg zunächſt noch ganz
planlos und gedankenlos gegenüber: genug wenn der Deutſche Bund noth-
dürftig zuſammenhielt und im Kriegsfalle dem Hauſe Oeſterreich Heeres-
folge leiſtete; dann mochten die Berathungen des Frankfurter Bundes-
tages wieder ebenſo leer und nichtig verlaufen, wie einſt die des Regens-
burger Reichstags. Metternich verachtete die kleinen deutſchen Höfe aus
Herzensgrunde und rief ſtets unbedenklich den Czaren zu Hilfe, wenn
„einige deutſche Fürſten, die einen Seelenhandel zu machen haben“, ſich
über die Abwicklung ihrer Gebietsſtreitigkeiten nicht einigen konnten. Aber
er wußte auch, daß dieſe kleinen Herren ſich nur darum zur [öſterreichiſchen]
Partei hielten, weil ſie die Hofburg als den wohlwollenden Beſchützer ihrer
Souveränität verehrten. Daher dachte er ſie möglichſt frei gewähren zu
laſſen; ſelbſt der unbequemen Artikel 13 der Bundesakte, das Verſprechen
der Landſtände, ſchien vorerſt nicht allzu gefährlich, da die Mehrzahl der
deutſchen Höfe über jeden Verdacht liberaler Geſinnung erhaben war. Die
Nüchternheit des öſterreichiſchen Staatsmannes hatte ſich nie darüber ge-
täuſcht, daß ſein Kaiſerhaus an dem politiſchen Leben der deutſchen Nation
nicht theilnehmen, für die Förderung deutſchen Rechts und deutſcher Wohl-
fahrt nichts leiſten konnte. Noch in ſeinen Denkwürdigkeiten ſchrieb er
unbefangen: „in Bezug auf Oeſterreich hatte der Ausdruck: deutſcher Sinn
— insbeſondere in der Bedeutung, wie ſich derſelbe ſeit der Kataſtrophe
Preußens und der nördlichen Gebiete Deutſchlands in den höheren Schich-
ten der dortigen Bevölkerung manifeſtirte — lediglich den Werth einer
Mythe.“ Jede Regung nationaler Gedanken in Deutſchland war ihm alſo
eine Gefahr für Oeſterreichs Herrſchaft. Kaiſer Franz vollends bearg-
wöhnte den Patriotismus ſchlechthin als eine gefährliche revolutionäre Lei-
denſchaft und wollte nicht einmal von einem öſterreichiſchen Vaterlande
hören, da doch alle ſtaatliche Ordnung lediglich in dem Gehorſam der Unter-
thanen gegen die Perſon des Herrſchers beſtand; als man ihm den Ent-
wurf eines Dankſchreibens an Schwarzenberg und das Heer vorlegte, ſtrich
[128]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
er ſorgfältig das Wort „Vaterland“ aus und ſchrieb dafür „Meine Völker“
und „Mein Staat“.


Sollten die Deutſchen dergeſtalt in einem lockeren Vertheidigungsbünd-
niß beiſammen bleiben, ohne jemals zu einem ſtarken nationalen Leben zu
erwachen, ſo war ein gutes Einvernehmen mit Preußen unerläßlich. Metter-
nich verkannte dies nicht, doch wie anders als Hardenberg verſtand er den
Gedanken des friedlichen Dualismus! Er hatte ſich einſt ſeine Anſicht
über den preußiſchen Staat nach den geringſchätzigen und feindſeligen Ur-
theilen, die in den Kreiſen des katholiſchen Reichsadels umliefen, ge-
bildet und nachher als Geſandter zu Berlin, in den Jahren vor 1805,
die ſchwächſten Zeiten der fridericianiſchen Monarchie aus der Nähe beob-
achtet. Niemals konnte er die widerwärtigen Eindrücke jener Tage ver-
winden; der preußiſche Staat blieb ihm immer nur ein zuſammengewür-
felter Haufe „verſchiedener Nationen“, ein Gebilde des Zufalls: „Alles
ſcheint Widerſpruch in der Geſchichte Preußens, und dieſe Jahrbücher um-
faſſen kaum ein Jahrhundert!“ Darum glaubte er ſein Lebelang, das
Weltreich Napoleons würde gedauert haben, wenn der Imperator nur den
Staat Friedrichs etwas glimpflicher behandelt und als einen beſcheidenen
Mittelſtaat in die Reihen des Rheinbundes aufgenommen hätte. Im Jahre
1811 rechnete er beſtimmt auf Preußens Untergang und hoffte mit Na-
poleons Hilfe Schleſien für das Haus Oeſterreich zurückzugewinnen.


Auch als dieſe Rechnung trog und Preußen ſich glorreich wiedererhob,
ahnte Metternich noch immer nichts von den ſittlichen Kräften, welche den
gedemüthigten Staat zu dem ungleichen Kampfe befähigten; er gefiel ſich
darin, die preußiſchen Dinge im trübſten Lichte zu ſehen, ſprach wegwerfend
von dem beſchränkten, unentſchloſſenen Könige wie von Hardenbergs leicht-
gläubiger Schwäche; er redete ſich ein, die preußiſche Armee habe zur Zeit
des Waffenſtillſtandes „nur dem Namen nach exiſtirt“; ſelbſt den Ruhm
Blüchers, Gneiſenaus, Yorks meinte er durch einige fade Späße über die
grammatiſchen Schnitzer des Marſchalls Vorwärts abzuthun. Daran be-
ſtand in der Hofburg gar kein Zweifel, daß Preußen nur durch Oeſter-
reich vor der Vernichtung gerettet worden war; mehr als drei Großmächte
auf dem Feſtlande hatte Metternich niemals anerkannt. Das wiederher-
geſtellte Preußen ſollte immerdar die erſte Hilfsmacht des Hauſes Oeſter-
reich bleiben; nach der Anſchauung des Wiener Hofes bedeutete der deutſche
Dualismus — die Herrſchaft Oeſterreichs unter Preußens freiwilliger Mit-
wirkung. Metternich verſtand jedoch meiſterhaft, den preußiſchen Staats-
kanzler über ſeine Herzensmeinung zu täuſchen; er wahrte die Formen ſo
ſorgfältig, daß die Berliner Staatsmänner feſt überzeugt blieben, Preußen
werde in Wien als eine durchaus gleichberechtigte befreundete Großmacht
angeſehen. In zwanzig Jahren geſchah es nur ein einziges mal, und bei
einem ziemlich geringfügigen Anlaß, daß Metternich dem preußiſchen Ge-
ſandten gegenüber, ſich eine Bemerkung über eine innere Angelegenheit des
[129]Preußens Verhältniß zum Deutſchen Bunde.
verbündeten Staates erlaubte. Solche Fragen wurden ſtets nur in ver-
traulichen Briefen an den zuverläſſigſten der Berliner Freunde, den Fürſten
Wittgenſtein, oder auch bei den perſönlichen Zuſammenkünften der Monar-
chen in freundſchaftlichen Geſprächen behutſam berührt.


Dieſe wohlberechnete Zurückhaltung fiel dem klugen Manne nicht leicht;
denn im Grunde des Herzens beunruhigten ihn die inneren Zuſtände
Preußens noch weit mehr als die Lage Frankreichs. Er konnte ſich nicht
verhehlen, daß Preußen mit der bitteren Erinnerung an eine unverdiente
diplomatiſche Niederlage die Waffen niederlegte, und ſich mit der lächer-
lichen Zerriſſenheit ſeines Gebietes auf die Dauer nicht begnügen durfte.
Er glaubte feſt, daß die Centralverwaltung ſeines Todfeindes Stein die
preußiſche Jugend mit gefährlichen Gedanken revolutionärer Eroberungsluſt
erfüllt habe, und fand ſeinen Verdacht durch die Schriften Arndts und
Görres’ beſtätigt. Am unheimlichſten blieb ihm doch die unerhörte Er-
ſcheinung des preußiſchen Volksheeres; keiner der Staatsmänner der alten
Schule wollte glauben, daß ſo viel rückſichtsloſer Freimuth, ſo viel lär-
mende vaterländiſche Begeiſterung mit unverbrüchlicher Königstreue Hand
in Hand gehen könne. Und allerdings verbargen die preußiſchen Offiziere
ihr abſchätziges Urtheil über Oeſterreichs Heer und Heeresführung keines-
wegs, und mancher dachte ſchon wie der tapfere General Steinmetz vom
York’ſchen Corps, der zur Zeit des zweiten Pariſer Friedens rundweg ſchrieb:
Oeſterreich ſei kein deutſches Haus mehr, die Oberherrſchaft in Deutſchland
gebühre den Preußen. Während der erſten zwei Jahre nach dem Friedens-
ſchluſſe quälte alle Höfe des Vierbundes beſtändig die Sorge, Preußen
könne durch ſein fanatiſirtes Heer zu revolutionären Abenteuern fortge-
riſſen werden. Wellington äußerte, dieſer Staat ſei ſchlimmer daran als
Frankreich, hier beſtehe gar keine Autorität mehr. Czar Alexander ent-
ſchuldigte ſeine Rüſtungen mit der Nothwendigkeit, Deutſchland gegen die
Revolution zu beſchützen; „Preußen insbeſondere iſt krank, ſagte er zu
Steigenteſch, und der König von Preußen wird der Erſte ſein, dem ich
Beiſtand werde leiſten müſſen.“*)


In Wahrheit lag dem Berliner Hofe nichts ferner als der Ehrgeiz
revolutionärer Kriegspolitik. Jedermann im Lande wußte, daß der König
feſt entſchloſſen war, wenn irgend möglich nie wieder das Schwert zu
ziehen. Wohl fehlte es unter den jüngeren Beamten und Offizieren nicht
an einzelnen weitſchauenden Köpfen, welche die Unhaltbarkeit der Geſtal-
tung des Staatsgebietes erkannten und ſchleunige Abhilfe forderten. Der
Präſident v. Motz in Erfurt führte in einer geiſtvollen Denkſchrift aus:
die von Hardenberg erſtrebte Führerſtellung im Norden könne nur dann
geſichert werden, wenn Preußen für einige Striche ſeiner rheiniſch-weſt-
phäliſchen Provinzen Oberheſſen und Fulda eintauſche und alſo am Unter-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 9
[130]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
main wiedergewinne, was am Obermain, in Ansbach-Baireuth verloren
worden; dann erſt ſei ganz Norddeutſchland durch preußiſches Gebiet um-
klammert und die wichtige militäriſche Poſition der Kinzig-Päſſe nebſt der
Haupthandelsſtraße Deutſchlands, der Frankfurt-Leipziger, komme in preu-
ßiſchen Beſitz. Warnend verwies er auf die feindſelige Geſinnung der rhein-
bündiſchen Staaten des Südens: „ſcheint ſie doch in Abſicht Deutſchlands
mit Frankreich faſt einerlei Intereſſe zu beſeelen, nämlich Zerſplitterung und
Iſolirung der deutſchen Volkskraft, Verhinderung aller Einheit;“ darum
beſchwor er den Staatskanzler, ein Stück preußiſchen Gebiets als tren-
nenden Keil zwiſchen Heſſen und Baiern einzuſchieben, damit die norddeut-
ſchen Mittelſtaaten nicht „dem Drucke aus Süden“ bloßgeſtellt würden.*)
Aber wie ſollten ſo kühne Pläne ohne einen Krieg verwirklicht werden? Die
Regierung lehnte den Vorſchlag ab; ſie war ehrlich entſchloſſen ſich mit dem
neuen Beſitzſtande zu begnügen, zumal da der König jeden Gebietsaus-
tauſch als eine Verletzung ſeiner Regentenpflicht verſchmähte. Hardenbergs
deutſche Politik begnügte ſich mit der beſcheideneren Aufgabe, den zu Wien
verheißenen Ausbau der Bundesverfaſſung zu fördern und vor Allem das
Bundesheerweſen feſt zu begründen.


Zur Durchführung dieſer friedlichen Pläne ſchien die Freundſchaft der
Oſtmächte dem Könige wie dem Staatskanzler unentbehrlich; nur betrachtete
Friedrich Wilhelm nach wie vor den Czaren als ſeinen vertrauteſten Bun-
desgenoſſen, während Hardenberg ſich zunächſt an Oeſterreich anſchloß. Die
Verbindung des königlichen Hauſes mit dem ruſſiſchen Hofe geſtaltete ſich
noch inniger, als Alexanders Bruder Großfürſt Nikolaus um die Hand
der liebenswürdigen Prinzeſſin Charlotte anhielt. Zwei Jahre darauf, im
Juni 1817 ward die Heirath vollzogen, und die Preußen vernahmen mit
gerechtem Befremden, daß die Prinzeſſin zur griechiſchen Kirche überge-
treten war. Das weiche Gemüth des Königs vermochte der tiefen Herzens-
neigung ſeiner ſchönen Lieblingstochter nicht zu widerſprechen; aus väter-
licher Zärtlichkeit brachte der gläubige Proteſtant dem ruſſiſchen Hochmuthe
ein Opfer, das freilich an den kleinen proteſtantiſchen Höfen längſt für
unbedenklich galt, aber im Hauſe der Hohenzollern ohne [Beiſpiel] war und
dem Stolze einer Großmacht übel anſtand. Trotz der Freundſchaft der
Höfe ſtanden die beiden Völker bald nach dem Kriege wieder fremd, faſt
feindſelig einander gegenüber. Die Koſakenſchwärmerei des Frühjahres
1813 war längſt verflogen, auch die lange Waffenbrüderſchaft der beiden
Heere blieb ohne dauernde Folgen. Die preußiſchen Liberalen ſchenkten den
pathetiſchen Aeußerungen des freiſinnigen Selbſtherrſchers wenig Glauben
und verabſcheuten das Moskowiterthum als eine Macht der Finſterniß; in
den Grenzprovinzen aber verwünſchte Jedermann die kleinliche und unred-
liche Gehäſſigkeit der ruſſiſchen Zollbeamten. —


[131]Der Streit um Salzburg.

So lagen die Verhältniſſe zwiſchen den großen Mächten, als die erſten
Bundestagsgeſandten in der alten Krönungsſtadt anlangten. Aber jener
Fluch der Lächerlichkeit, welcher die Bundesverſammlung durch ihr geſammtes
Wirken begleiten ſollte, verfolgte ſie ſchon bei ihrer Geburt. Die auf den
1. Septbr. 1815 angekündigte Eröffnung wurde zunächſt, in Folge des
Pariſer Congreſſes, um ein Vierteljahr verſchoben. Darauf mußten die Ge-
ſandten, die ſich im Laufe des Novembers einfanden, noch ein Jahr lang,
unter dem Spotte der Frankfurter, auf den Beginn der Verhandlungen
warten; denn die beiden Großmächte wünſchten vorher erſt die noch ſchwe-
benden deutſchen Gebietsſtreitigkeiten zu beſeitigen, vor allen den hoffnungs-
los verfahrenen bairiſch-öſterreichiſchen Länderhandel.


Der Münchener Hof hatte auf dem Wiener Congreſſe den verheißenen
ununterbrochenen Gebietszuſammenhang nicht erlangt und behielt daher
Salzburg nebſt den Landſtrichen am Inn, die an Oeſterreich ausgeliefert
werden ſollten, vorläufig noch in ſeinem Beſitz. Um ſich eine günſtige
Ausgleichung des Streites zu ſichern, ſchloß er ſich ſeitdem eng an die Po-
litik der Hofburg an; ſein Miniſter Rechberg unterſtützte in Paris die For-
derungen Preußens und der kleinen deutſchen Staaten nur lau, da Oeſter-
reich die Verkleinerung Frankreichs nicht wünſchte. Zum Danke ließ ſich
Metternich, in der Sitzung des Pariſer Congreſſes vom 3. Novbr., von den
großen Mächten den dereinſtigen „Heimfall“ des Breisgaus und der badi-
ſchen Jungpfalz zuſichern. Ohne das Karlsruher Cabinet einer Mitthei-
lung zu würdigen, verfügten die vier Mächte alſo völlig willkürlich über
die Zukunft badiſcher Landſchaften. Der Rückfall der badiſchen Pfalz war
ſchlechthin rechtswidrig, und für den Heimfall des Breisgaus ſprach auch
nur ein künſtlicher Scheingrund. Der Großherzog von Baden beſaß den
Breisgau kraft des Preßburger Friedens „in derſelben Weiſe und mit den-
ſelben Rechten“ wie vordem der Herzog von Modena; da nun das Kaiſer-
haus der nächſte Erbe ſeiner modeneſiſchen Vettern war, ſo ſtellte der
Wiener Hof die ungeheuerliche Behauptung auf, er könne nicht nur nach
dem Ausſterben des Hauſes Modena deſſen italieniſche Beſitzungen, ſon-
dern auch nach dem Ableben der Zähringer Hauptlinie den Heimfall des
Breisgaus fordern. Die großen Mächte erkannten dieſen bodenloſen An-
ſpruch an, weil den Staatsmännern Englands und Rußlands jede Kennt-
niß der deutſchen Verhältniſſe fehlte, Hardenberg aber noch immer hoffte,
Oeſterreich werde das Wächteramt am Oberrhein übernehmen.


Mit dieſem Unterhandlungsmittel in den Händen, forderte Metternich
nunmehr den ſofortigen Austauſch von Salzburg gegen die linksrheiniſche
Pfalz. Als Baiern abermals zögerte, verlor er endlich die Geduld und
ſendete im December den General Vacquant nach München um die Her-
ausgabe unter allen Umſtänden zu erzwingen; gleichzeitig rückte General
Bianchi mit einem öſterreichiſchen Heere dicht an die bairiſche Grenze. Zu
ſpät erkannte jetzt der Münchener Hof, welche Thorheit Wrede begangen
9*
[132]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
hatte, als er durch ſein gehäſſiges Auftreten in den ſächſiſchen Händeln den
ſo oft erprobten Beiſtand Preußens verſcherzte. König Max Joſeph und
Montgelas beſchworen den preußiſchen Geſandten Küſter, der Wiener Strei-
tigkeiten zu vergeſſen. Der Staatskanzler erwiderte kühl: „die Zeit wird
darüber entſcheiden;“ zeigt der bairiſche Hof in Zukunft freundſchaftliche
Geſinnungen, ſo wird der König unſer Herr nicht unverſöhnlich ſein. Dann
befahl er dem Geſandten, im Verein mit England und Rußland den öſter-
reichiſchen Unterhändler zu unterſtützen.*)


In Altbaiern erregte die Nachricht von Oeſterreichs Forderungen lei-
denſchaftlichen Zorn. Das Innviertel war ſeit Jahrhunderten, bis auf
eine kurze Unterbrechung, immer wittelsbachiſch geweſen, Salzburg hatte
ſtets zum bairiſchen Reichskreiſe gehört und mit den Nachbarn im Kur-
fürſtenthume freundlichen Verkehr unterhalten. Und dieſe beiden Land-
ſchaften mit ihrer rein bairiſchen Bevölkerung ſollte man dahingeben für
die entlegene überrheiniſche Pfalz, deren bewegliches, leichtlebiges Volk dem
ſchweren altbairiſchen Weſen von Altersher widerwärtig war! Der alte
Stammeshaß gegen die Oeſterreicher regte ſich wieder, die Erinnerungen an
die Kämpfe von 1705 und den ſagenhaften Schmied von Kochel waren
in Jedermanns Munde. Den Salzburgern ward bei ſchwerer Strafe ver-
boten, von der Abtretung des Landes auch nur zu reden. Marſchall Wrede
polterte und drohte, und in den Kreiſen der Offiziere vernahm man die
bittere Klage: „uns fehlt der Schutz Napoleons.“ Am Lauteſten zürnte
Kronprinz Ludwig; der empfand es als eine Entehrung der neuen Königs-
krone, daß der Tauſch ſeinem Hauſe nicht durch freien Vertrag, ſondern
durch den Befehl der vier Mächte aufgezwungen werden ſollte. Auch die
literariſchen Mordbrenner der Wittelsbacher rückten wieder in’s Feuer.
Eine grimmige Flugſchrift „Entweder — oder“, von Aretin verfaßt und
durch den Prinzen Karl maſſenhaft verbreitet, forderte alle treuen Baiern
brüllend auf, „jede Pflugſchaar in ein Schwert zu verwandeln, die Zwei-
herrſchaft Oeſterreichs und Preußens zu bekämpfen.“ Im Salzburgiſchen
wurde durch die bairiſchen Beamten eine Petition umhergetragen, welche
dem Hofe „hunderttauſende von Bajonetten“ freiwilliger Salzburger zur
Verfügung ſtellte: „das Volk iſt es, das durch keine Ueberbildung ent-
nervt, mit üppiger Fülle des Jugendalters gerüſtet iſt; und das Fürſten-
haus iſt es, das älter als alle anderen! Sollten wir dieſes von Oeſterreich
zu befürchten haben, welches noch kürzlich, als es ſich den Abſichten Preu-
ßens auf Sachſen widerſetzte, die edelſten und gerechteſten Grundſätze aner-
kannte?“ Während das Bajuvarenthum dergeſtalt den alten Groll gegen
die norddeutſche Großmacht von Neuem ausſchüttete, ſagte König Max
Joſeph zu Küſter: er hoffe auf einen nahen Krieg zwiſchen Oeſterreich
und Preußen, dann werde Baiern treu auf Preußens Seite ſtehen!**)


[133]Gebietsverhandlungen zwiſchen Oeſterreich und Baiern.

Faſt ſchien es, als ſollte die Geſchichte des deutſchen Bundes mit
einem Bürgerkriege beginnen. Aber das bairiſche Heer befand ſich in einem
kläglichen Zuſtande, und Metternich hielt ſeine Forderungen unerſchütterlich
feſt. Er erklärte trocken, die verheißene „Contiguität“ des bairiſchen Ge-
biets ſei durch den Widerſpruch der ſüddeutſchen Nachbarſtaaten unmöglich
geworden, und geſtand alſo mit gewohnter Gewiſſensruhe ein, daß er zu
Ried und Paris ſeine bairiſchen Freunde durch unerfüllbare Verſprechungen
betrogen hatte. Die Wittelsbacher wagten noch einen letzten Verſuch. Der
König ſchrieb an Kaiſer Alexander, der ihn „aus Rückſicht auf die Ruhe
des Deutſchen Bundes“ dringend zur Nachgiebigkeit ermahnt hatte, und
ſchämte ſich nicht, den Czaren zu preiſen, weil er das Elſaß den Fran-
zoſen bewahrt hatte: „Den großmüthigen, beſtändigen und anhaltenden Be-
mühungen Eurer Majeſtät verdankt Europa vornehmlich ſeine Befreiung;
Ihre Vorausſicht vor Allem hat Frankreich dem politiſchen Syſteme Euro-
pas erhalten, gegen die Sophismen des Ehrgeizes und gegen das Geſchrei
der Uebertreibung. Sie werden nicht einem Bundesgenoſſen, der nur
ſeine Erhaltung verlangt, den gleichen Schutz verſagen wollen.“*) Bald
darauf, im Februar 1816, ging Kronprinz Ludwig nach Mailand um den
Kaiſer Franz perſönlich zu gewinnen. Doch zur ſelben Zeit traf auch der
Freiherr v. Berckheim im Auftrage des badiſchen Hofes dort ein, da man
in Karlsruhe unterdeſſen erfahren hatte, was in Paris über die Zukunft
des Breisgaus und der Jungpfalz beſchloſſen war; und nunmehr gerieth
der öſterreichiſche Hof zwiſchen zwei Feuer. Der badiſche Miniſter ver-
wahrte ſich feierlich gegen jede Verletzung der Rechte ſeines Fürſten; der
bairiſche Kronprinz mahnte den Kaiſer Franz in ſeiner aufgeregten Weiſe
an das gegebene Wort und forderte ſtürmiſch das verheißene zuſammen-
hängende Gebiet; der treuherzige Kaiſer aber erwiderte den Streitenden
achſelzuckend: „ich bin ein Körper und eine Seele mit meinen Alliirten
und kann nichts ohne ſie.“ Auch Metternich berief ſich gelaſſen auf die
Entſcheidung der großen Mächte, und wenngleich er dem badiſchen Staats-
manne den gereizten Ton ſeines Proteſtes ſcharf verwies, ſo bemerkte Berck-
heim doch bald, daß Oeſterreich nur die Auslieferung Salzburgs erzwingen
wollte und keineswegs ernſtlich beabſichtigte den Breisgau und die Jung-
pfalz in Baierns Hände zu bringen.**)


Unverrichteter Dinge kehrte Kronprinz Ludwig heim. Da alle vier
Mächte dringend die endliche Beilegung dieſer ſchmutzigen Händel forderten,
bei denen die Zweizüngigkeit der Hofburg eine kaum weniger häßliche Rolle
ſpielte, als Baierns gierige Anmaßung, ſo wich der Münchener Hof einen
[134]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Schritt zurück und gab durch den Vertrag vom 14. April 1816 Salz-
burg nebſt dem Innviertel dahin gegen die linksrheiniſche Pfalz und einige
noch herrenloſe Gebiete im Odenwalde. Die ſalzburgiſchen Baiern traten
ſehr ungern unter das Scepter Oeſterreichs. Aber ein großer Theil des
Landes war Kammergut, Wohl und Wehe der Bevölkerung hing gänzlich
von der neuen Landesherrſchaft ab, die ihre Macht ohne Härte gebrauchte;
ſo geſchah es, daß die Aufregung ſich nach und nach legte, und die unna-
türliche Trennung von den Stammgenoſſen dem Völkchen bald ſelbſtver-
ſtändlich erſchien.


Da der bairiſche Staat durch den Tauſchvertrag einen Zuwachs von
85,000 Einwohnern gewonnen hatte, ſo lag ein Anlaß zu berechtigten
Beſchwerden nicht mehr vor. Gleichwohl vermochte der Münchener Hof
nicht den ununterbrochenen Gebietszuſammenhang zu verſchmerzen; er
forderte, daß ihm in den geheimen Artikeln des Vertrags noch weitere Ent-
ſchädigungen zugeſtanden würden. Metternich aber trug kein Bedenken,
ſich auf Koſten Badens freigebig zu erweiſen, weil er vorausſah, welchem
unüberwindlichen Widerſtande ſeine Verſprechungen begegnen würden. In
den geheimen Artikeln ward ausbedungen: die badiſche Pfalz ſolle nach
dem Ausſterben der Zähringer Hauptlinie an Baiern zurückfallen; Baiern
ſolle ferner, zum Erſatz für die verlorene Contiguität, ſo bald als möglich
den badiſchen Main-Tauberkreis und, bis dieſe Abtretung bewirkt ſei, von
Seiten Oeſterreichs eine jährliche Rente von 100,000 fl. erhalten. Alſo
abermals ein Schritt frivoler Willkür; und Baiern ſäumte nicht ſeine
angeblichen Anſprüche mit jedem Mittel zu verfechten. Während ſein Ge-
ſandter bei den Frankfurter Gebietsverhandlungen die Auslieferung des
Main-Tauberkreiſes als ein unbeſtreitbares Recht forderte, warb Graf
Bray um die Gnade des Czaren. Der geängſtete badiſche Hof wehrte ſich
mit den nämlichen Waffen. Miniſter Berſtett eilte hilfeſuchend nach London;
nach Petersburg war ſchon früher ein Prinz der neuen Nebenlinie, Graf
Wilhelm von Hochberg geſendet worden. Nachher verdiente ſich der brauch-
barſte Mann des badiſchen Cabinets, der junge Freiherr v. Blittersdorff
an der Newa ſeine diplomatiſchen Sporen und ſuchte mit Hilfe der Kai-
ſerin Eliſabeth den bairiſchen Geſandten aus der Gunſt Alexanders zu
verdrängen. So währte der ſchimpfliche Wettkampf der beiden deutſchen
Höfe um den Schutz des Auslandes viele Monate hindurch, und Kapo-
diſtrias rief dem badiſchen Geſandten verächtlich zu: „Ihr liegt immer vor
der Thür der großen Mächte!*) Unterdeſſen hatte die bairiſche Regierung
ihre Forderungen noch höher geſpannt, auf Betrieb des Kronprinzen, der
den Einzug in das Heidelberger Pfalzgrafenſchloß gar nicht erwarten konnte;
im Februar 1817 verlangte ſie von den großen Mächten geradezu die
Uebergabe der badiſchen Pfalz.


[135]Der Streit zwiſchen Baiern und Baden.

Dieſe neue Anmaßung Baierns trieb den preußiſchen Staatskanzler
endlich aus ſeiner Zurückhaltung heraus. Hardenberg war bisher ſehr be-
hutſam verfahren, da er Oeſterreich nicht verletzen wollte und ſich ſelbſt
durch die Vereinbarungen von Ried und Paris etwas gebunden fühlte.
Ein ſolcher Anſpruch rechtswidriger Ländergier aber ſchien ihm „dem Zwecke
des Deutſchen Bundes geradeswegs zuwiderzulaufen“; niemals wollte er
zugeben, daß Baiern die ſüddeutſchen Kleinſtaaten von dem Norden ab-
trenne. Er änderte daher ſofort den Ton, ließ in Wien und München
entſchieden erklären, Preußen werde ſchlechterdings keine Gewaltmaßregeln
gegen Baden dulden, und blieb fortan ein treuer Beſchützer des Karls-
ruher Hofes. Der König von Württemberg erkannte die veränderte Hal-
tung des Berliner Cabinets dankbar an, und auch die Hofburg war insge-
heim über Preußens Auftreten erfreut, denn Metternich verkannte nicht, daß
die Uebermacht Baierns im deutſchen Süden dem öſterreichiſchen Intereſſe
zuwiderlief; er konnte nur von ſeinen eigenen unredlichen Verſprechungen
ſich nicht förmlich losſagen.*) Indeß die letzte Entſcheidung aller Gebiets-
fragen lag bei der Geſammtheit der vier Mächte, und da Kaiſer Alexander
noch keinen klaren Entſchluß gefaßt hatte, ja eine Zeit lang ſich ſogar den
bairiſchen Anſprüchen günſtig zeigte, ſo blieben die widerwärtigen Händel
noch immer in der Schwebe; ſie verbitterten ſich von Monat zu Monat
und wirkten auf das nachbarliche Verhältniß der ſüddeutſchen Staaten wie
auf den Gang ihres Verfaſſungslebens tief und nachhaltig ein. Die beiden
deutſchen Großmächte aber hatten ſchon im September 1816 eingeſehen,
daß der Bundestag nun doch eröffnet werden mußte bevor die Gebietsſtrei-
tigkeiten ihren Austrag gefunden hatten. —


Zum allgemeinen Erſtaunen der diplomatiſchen Welt ließ der Wiener
Hof dem Freiherrn v. Stein zweimal die Stelle des öſterreichiſchen Bun-
desgeſandten antragen. Wie niedrig mußte Metternich noch von der Be-
deutung des Bundestags denken, wenn er dem Manne, den er als das
Haupt der deutſchen Jakobiner verabſcheute und zudem wegen ſeiner über-
ſpannten Ideen verachtete, die Leitung dieſer Verſammlung anbieten konnte!
Stein lehnte ab, ſchwerlich zur Ueberraſchung der Hofburg; er wußte, daß
er als Metternichs Untergebener eine ſeiner würdige Wirkſamkeit nicht
finden würde. Dann fiel die Wahl des Wiener Cabinets auf den greiſen
Miniſter Albini, den letzten kurmainziſchen Directorialgeſandten am alten
Reichstage. Das Regensburger Treiben ſollte in Frankfurt gemächlich fort-
geſetzt werden; der das alte Reich zum Grabe geleitet hatte, war der rechte
Mann um den neuen Bund aus der Taufe zu heben. Aber der alters-
ſchwache Herr ſtarb ſchon im Januar 1816 noch bevor er ſein Amt an-
getreten hatte; und nunmehr wurde der öſterreichiſche Geſandte in Caſſel,
[136]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Graf Buol auf die erledigte Stelle berufen, ein mittelmäßiger Kopf ohne
Urtheil und Haltung, doch immerhin ſchlau genug um in aller Gemüth-
lichkeit ein kleines Ränkeſpiel anzuſpinnen oder die unterthänigen Diplo-
maten der Kleinſtaaten durch überſtrömende Schmeichelei und gelegentliche
Lügen zu gewinnen.


Auch Hardenberg dachte für den preußiſchen Geſandtſchaftspoſten zu-
nächſt an Stein. An dieſer Stelle ſchien der gefürchtete Nebenbuhler unge-
fährlich; ſein großer Name ſollte der Nation für die deutſche Geſinnung
der preußiſchen Regierung bürgen. Der Freiherr zeigte ſich anfangs be-
reitwillig, aber nach dem zweiten Pariſer Frieden lehnte er verſtimmt den
Antrag ab: ſein altes Mißtrauen gegen den Staatskanzler hatte ſich in
den letzten Monaten bis zu ungerechter Verachtung geſteigert, und von dem
Bundestage erwartete er jetzt kein Heil mehr. Nach längerem Schwanken
wendete ſich Hardenberg endlich an den Geſandten in Caſſel, v. Hänlein,
einen älteren Diplomaten aus der fränkiſchen Beamtenſchule, der ſich wie
Albini ſeine Kenntniß der deutſchen Dinge am Regensburger Reichstage
erworben hatte. Die unglückliche Wahl rächte ſich ſchnell. Der neue Ge-
ſandte bereitete ſeinem Staate noch vor der Eröffnung des Bundestags
eine empfindliche Niederlage, welche die ohnehin ſchwierige Stellung Preu-
ßens am Bunde auf lange hinaus verdarb — ein würdiges Vorſpiel und
Vorbild für den geſammten Verlauf der Bundesgeſchichte.


Am 23. Januar 1816 erklärte ſich Hänlein bereit die Stelle anzu-
nehmen. Obgleich er an den Beſtand und die ſegensreiche Wirkſamkeit
des Bundestags noch keineswegs glauben wollte, ſo verließ er ſich doch
auf ſeine reichen Regensburger Erfahrungen, ſowie auf die Freundſchaft
des Grafen Buol, ſeines allezeit verbindlichen und vertrauensvollen Caſ-
ſeler Amtsgenoſſen, und überſandte dem Staatskanzler ſogleich eine Denk-
ſchrift: „Was iſt von dem Deutſchen Bundestage zu Frankfurt zu erwarten?“
Dem Kenner der alten Reichsverfaſſung entging nicht, daß Oeſterreich,
das doch „nur ein halbes Intereſſe an Deutſchland nehmen könne“, eine
für Preußen ganz unerträgliche Führerſtellung gewonnen hatte: die neue
Präſidialmacht mußte, da ſie die Geſchäfte allein leitete, am Bundestage
bald ungleich mächtiger werden als vordem der Kaiſer auf dem Reichs-
tage. Er hob ſodann hervor, wie durch die Bedingung der Einſtimmigkeit
bei allen organiſchen Einrichtungen jede friedliche Fortbildung des Bundes
verhindert werde, „als ob man deſſen Leben und thätiges Wirken in der
Geburt erſticken wollte.“ Angeſichts ſolcher Zuſtände könne das verzwei-
felnde norddeutſche Volk leicht zu dem Entſchluſſe gelangen, dem preu-
ßiſchen Staate durch eine Revolution die Oberherrſchaft in Deutſchland
zu erringen. Um dieſe Gefahr abzuwenden, bleibe nur noch ein Mittel:
die Theilung der Herrſchaft zwiſchen den beiden Großmächten. Oeſterreich
nimmt die Kaiſerwürde wieder an, Preußen erhält den Titel des deutſchen
Königs; dann übernehmen beide Staaten feſt verbunden und völlig gleich-
[137]Hänleins dualiſtiſcher Plan.
berechtigt, mit der Macht und dem Anſehen eines wirklichen „Oberhauptes“
die gemeinſame Leitung des Bundes.*)


Als Hänlein im März auf kurze Zeit nach Frankfurt kam, ward er
von Buol mit offenen Armen aufgenommen und legte ſeine Denkſchrift
ſofort dem treuen Freunde, nachher auch dem älteren Weſſenberg vor, der
als Mitglied der Territorialcommiſſion in Frankfurt weilte. Buol er-
klärte mündlich mit gewohnter Ueberſchwänglichkeit ſein herzliches Einver-
ſtändniß; Weſſenberg dankte in einem verbindlichen Billet für das vor-
treffliche Memoire und ſchloß: „Kommen Ew. Exc. bald mit Inſtruktionen
zurück, die Ihren Anſichten entſprechen, und es wird ſchon viel gewonnen
ſein!“ Solcher Erfolge froh eilte Hänlein jetzt nach Berlin, entwickelte
ſeinen großen Plan nochmals in einer ausführlicheren Denkſchrift**), be-
theuerte heilig, der Zuſtimmung des Wiener Hofes gewiß zu ſein. Harden-
berg aber nahm die unwahrſcheinliche Verſicherung für baare Münze; den
öſterreichiſchen Freunden gegenüber blieb der Vielerfahrene immer kindlich
arglos, er wollte nicht glauben, daß Metternichs ſo oft wiederholte vertrau-
liche Aeußerungen über die Nothwendigkeit der deutſchen Zweiherrſchaft
nur leere Worte waren. Er ließ alſo durch Hänlein einen förmlichen
Staatsvertrag ausarbeiten, der zwiſchen den beiden Großmächten ſofort
vereinbart und dann den vertrauten kleinen Höfen als vollendete That-
ſache vorgelegt werden ſollte. Da der Staatskanzler, ſeiner alten Anſicht
getreu, die Beſtimmungen über den deutſchen Kaiſer- und Königstitel ſtrich,
ſo beſchränkte ſich der Entwurf auf zwei Hauptforderungen: Gleichſtellung
der beiden Großmächte am Bundestage, dergeſtalt, daß Oeſterreich den
Vorſitz übernimmt, Preußen aber, wie vormals Kurmainz, das Protokoll
führt und die Beſchlüſſe ausfertigt; ſodann Unterordnung der ganz kleinen
norddeutſchen Contingente unter Preußens, der ſüddeutſchen unter Oeſter-
reichs Oberbefehl. Den letzteren Vorſchlag führte eine Denkſchrift des
Kriegsminiſters Boyen näher aus. Sie vermied ſorgſam jede Kränkung
des Selbſtgefühls der Mittelſtaaten und verlangte nur was ſchlechthin
unerläßlich war um das deutſche Bundesheer vor der baaren Anarchie zu
bewahren: Mecklenburg, Kurheſſen, Anhalt, Naſſau und ein Theil der
thüringiſchen Staaten ſollten ſich an Preußen anſchließen, Baden, Darm-
ſtadt, Lichtenſtein an das öſterreichiſche Heer; die übrigen winzigen Con-
tingente wurden theils den vier kleinen Königreichen, theils einem beſon-
deren niederdeutſchen Corps zugewieſen.***) Mit dieſen Aufträgen kehrte
Hänlein gegen Ende Juni nach Frankfurt zurück; ſo lange währte es bis
Hardenberg inmitten der maſſenhaften Verwaltungsgeſchäfte dieſer Ueber-
gangszeit einen freien Augenblick für die Bundesangelegenheiten fand.


[138]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Mittlerweile hatte Graf Buol die Abweſenheit ſeines preußiſchen Amts-
genoſſen geſchickt benutzt und den Samen der k. k. Bundesgeſinnung auf
dem dankbaren Frankfurter Boden reichlich ausgeſtreut. Die kleinen Ge-
ſandten berichteten mit Entzücken, wie herablaſſend der Oeſterreicher auf-
trat: nicht einmal ein primus inter pares wollte er heißen, nur ein ser-
vus servorum!
Noch erfreulicher war die beglückende Gewißheit, daß
Oeſterreich an eine Umgeſtaltung und Erweiterung des übereilten Ver-
faſſungswerkes nicht im Entfernteſten dachte. Die Bundesakte iſt wie die
Bibel, meinte Buol, man darf ſie nur auslegen, nie verändern. Der ba-
diſche Geſandte Berſtett, ein behäbiger Herr, der ſich aus dem Frankfurter
Frohndienſte oftmals nach Paris und dem üppigen Tiſche der Frères Pro-
vençaux
zurückſehnte, ſchrieb befriedigt nach Hauſe: Niemand wagt mehr
an dies Meiſterwerk zu rühren; die Bundesakte wird als ein Heiligthum
betrachtet, namentlich von den kleineren Staaten.*) Mehrere der Mittel-
ſtaaten zeigten ſich von Haus aus entſchloſſen, dem Bundestage niemals
eine ernſthafte Wirkſamkeit zu geſtatten. Der König von Württemberg er-
klärte jetzt nachträglich ſeinen Beitritt zum Bunde mit der ausdrücklichen
Bemerkung, die letzte Hälfte der Bundesakte ſcheine für den Zweck des
Bundes nicht erforderlich. Aehnliche Geſinnungen hegte der heſſiſche Kur-
fürſt; ihn vertrat in Frankfurt ſein Günſtling Buderus von Carlshauſen,
ein anrüchiger Geizhals, der ſich das Vertrauen ſeines Herrn durch kunſt-
volle Ausnutzung der Heller-Brüche in den Rechnungen der kurfürſtlichen
Kriegskaſſe erworben hatte. Auch von den meiſten andern Geſandten konnte
Berſtett mit Genugthuung melden, ſie ſeien alleſammt darin einig, nicht
einmal den Schein eines gefährlichen Einfluſſes zu dulden; wenn Oeſter-
reich und Preußen mit Plänen für das Bundesheerweſen hervorträten,
ſo ſolle man nur ſogleich irgend ein Gegenprojekt aufſtellen, denn „deſſen
Unausführbarkeit muß erſt bewieſen werden, bevor man es verwerfen
kann“.**) Niemand aber verſtand die Gedanken des verſtockten Particula-
rismus ſo urkräftig auszuſprechen wie der naſſauiſche Geſandte Freiherr
v. Marſchall; der ſchaltete daheim als allmächtiger Miniſter mit rhein-
bündiſcher Beamtenwillkür und kam gelegentlich auf ſeinen Frankfurter
Poſten herüber um die ſchwachen Gemüther durch ſein despotiſches Ge-
bahren und plumpes Schelten wider die deutſchthümelnden Demagogen
aufzurichten.


Die Hintergedanken dieſer Höfe verriethen ſich ſogleich, als man er-
fuhr, daß England und Rußland beabſichtigten, ihre bei der Territorial-
commiſſion beſchäftigten Diplomaten als Geſandte beim Bundestage zu
beglaubigen. Alle Welt wußte, daß dieſer Bund ohne Haupt keine auswär-
tige Politik treiben, höchſtens in Nothfällen einmal einen Geſandten in
[139]Die Particulariſten am Bundestage.
das Ausland ſenden konnte; ſollte er gleichwohl die regelmäßige Anweſen-
heit fremder Diplomaten ertragen? Unterdeſſen war bereits Graf Rein-
hard als franzöſiſcher Geſandter bei dem noch uneröffneten Bundestage
eingetroffen. Der geiſtreiche Deutſch-Franzoſe zählte zu jenen ſeltſamen,
aus Idealismus und halb unbewußter Verlogenheit gemiſchten Charakteren,
wie ſie das heimathloſe Leben der alten deutſchen Kleinſtaaterei ſo häufig
erzog. Im Grunde des Herzens blieb er immer der gelehrte ſchwäbiſche
Theolog und folgte mit freudigem Verſtändniß den kühnen Flügen des
deutſchen Genius; er glaubte wirklich als ein guter Deutſcher zu handeln,
da er einſt im Dienſte Napoleons die Rheinbundsſtaaten überwachte, und
trug jetzt wieder kein Bedenken, im Namen des Allerchriſtlichen Königs
gegen das ſiegreiche Deutſchland eine Sprache zu führen, die an die Zeiten
Ludwigs XIV. erinnerte. In einer an die Bundestagsgeſandten ver-
theilten Denkſchrift fragte er höhniſch: ob der Deutſche Bund etwa auf
alle auswärtigen Beziehungen verzichten wolle, wie einſt die Türkei oder
der Convent unter Robespierre? Welch ein unbilliges Vorrecht für die
fremden Mächte Oeſterreich, Preußen, England, Niederland, Dänemark,
wenn ſie am Bundestage vertreten ſein ſollten und die übrigen Mächte
nicht! Ein deutſcher Bund ohne regelmäßigen Verkehr mit dem Aus-
lande wäre nichts anders als ein neuer Rheinbund, da dann Deutſchlands
auswärtige Politik allein in Wien und Berlin entſchieden werden müßte.
„Die Anweſenheit der fremden Geſandten in Frankfurt wird dazu bei-
tragen, daß der Bund in dem wahren Geiſte der Bundesakte gehandhabt
wird.“ Zuletzt forderte Reinhard ſeine Zulaſſung kurzweg als ein Recht;
denn ſollte man in Frankfurt dereinſt beſchließen die Bundesakte „durch
eine beſſere Ordnung der Dinge zu erſetzen“, ſo wären alle europäiſchen
Mächte befugt bei dieſer Aenderung der Wiener Verträge mitzuwirken!


Der Franzoſe wußte wohl, was er ſich gegen die kleinen deutſchen
Fürſten erlauben durfte; ſie alle fanden die Forderung des Tuilerienhofes
ſelbſtverſtändlich. Der badiſche Miniſter v. Hacke ſchrieb ſofort an Berſtett:
die Geſandten von Frankreich, Rußland und England müſſen durchaus
in Frankfurt bleiben, „da dieſe Mächte immer ein Schutz und eine Stütze
für die deutſchen Souveräne gegen Oeſterreich und Preußen ſind“.*) Was
der badiſche Hof in einer geheimen Inſtruktion verbarg, das ſprach Aretin
in ſeiner Alemannia offen aus. Auch der Gießener Statiſtiker Crome,
ein alter Bonapartiſt, der jetzt den Mantel des deutſchen Patrioten um-
hing, erwies in ſeiner Schrift „Deutſchlands und Europas Staats- und
Nationalintereſſe“: die Einheit Europas und Deutſchlands erſcheine dann
erſt geſichert, wenn jede europäiſche Macht von Rechtswegen bei dem deut-
ſchen Bundestage mitreden könne!


[140]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Nur der Berliner Hof trat den Anſprüchen des Auslandes entſchieden
entgegen und ſtellte jetzt ſchon eine, leider keineswegs unanfechtbare, Rechts-
anſicht auf, welcher Preußen ſeitdem immer treu geblieben iſt: die Be-
hauptung nämlich, daß die europäiſchen Mächte, als ſie die erſten Artikel
der Bundesakte in die Wiener Schlußakte aufnahmen, zwar den Beſtand
des Deutſchen Bundes anerkannt, doch mit nichten eine Bürgſchaft für
ſeine Verfaſſung übernommen hätten. Schon im Februar erinnerte eine
preußiſche Denkſchrift an die troſtloſen letzten Regensburger Erfahrungen: der
Deutſche Bund ſei nun einmal nur ein Staatenbund ohne wirkliche Cen-
tralgewalt; „das Leben dieſes Bundes als ſolchen muß gegen das Ausland
in dem Begriff von Ruhe liegen.“ Dem Wiener Hofe ſtellte Hardenberg
dringend vor: ſtehende auswärtige Geſandtſchaften könnten bei einer ſolchen
Bundesverſammlung nur gefährliche Einmiſchungsverſuche hervorrufen.*)
Aber Czar Alexander ſtand auf Frankreichs Seite und ließ, um die Be-
ſorgniſſe des preußiſchen Hofes zu beſchwichtigen, die oſtenſible Weiſung,
welche dem Geſandten Anſtett nach Frankfurt geſchickt wurde, in Berlin
vorlegen. Sie lautete kindlich unſchuldig: „Als Miniſter des Kaiſers haben
Sie keine Meinung über die inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bun-
des. Es iſt nützlich, es iſt nothwendig, daß Sie auch perſönlich keine Mei-
nung darüber haben. Der Kaiſer wünſcht es.“**) Damit war die voll-
kommene Harmloſigkeit der auswärtigen Geſandtſchaften für die Patrioten
des Bundestags erwieſen. Es ließ ſich jetzt ſchon vorherſehen, daß Preu-
ßens Widerſpruch erfolglos bleiben und der Bundestag auch in der aus-
wärtigen Politik der würdige Erbe des Regensburger Reichstages werden
ſollte: ſelber unvertreten im Auslande und dem geheimen Ränkeſpiele der
fremden Mächte wehrlos ausgeſetzt.


Neben jenen Vertretern des ungeſchminkten Particularismus hatte ſich
auch eine lange Reihe wohlmeinender, patriotiſcher Staatsmänner aus den
kleinen Staaten eingefunden: ſo die Hanſeaten Smidt und Hach, der
Mecklenburger Pleſſen, der ſchon von Wien her als ein ſachkundiger und
redlicher Geſchäftsmann bekannt war, der Holſteiner Eyben und, nicht zu-
letzt, der unvermeidliche Gagern. Wie glückſelig fühlte ſich der Raſtloſe
in dieſen erſten Monaten, da noch keine Geſchäfte vorlagen und Jeder
noch nach Belieben dem ungeborenen Bundestage den Weg zur Hölle mit
guten Vorſätzen pflaſtern konnte! Mit gewohnter Selbſtgefälligkeit legte er,
ungeſchreckt durch die kühlen Erwiderungen, den Wiener und den Ber-
liner Staatsmännern die endloſe Liſte ſeiner Wünſche vor. „Peſt, Skla-
verei, Judenthum, Fanatismus, Handelsſperre, Coloniſation, Literatur,
Künſte und Handwerke, Lob unſerer großen Männer“ — alle dieſe und
[141]Die ehrlichen Foederaliſten.
unzählige andere Angelegenheiten ſollten den Bundestag beſchäftigen, auf
deſſen Tiſche der entzückte Luxemburger ſchon Krone und Scepter liegen
ſah.*) Aber auch die Ruhigen in dieſem kleinſtaatlichen Kreiſe erfüllte
ein unermeßlicher Dünkel. Der alte Wahn der deutſchen Libertät ſchmückte
ſich mit neuen Federn. Durch die ſchrankenloſe Souveränität waren Lippe,
Lübeck und Preußen einander völlig gleichgeſtellt; kein Zweifel alſo, daß
dies Nebeneinander von neununddreißig vollkommen gleichen und vollkommen
ſelbſtändigen Staaten ganz von ſelbſt, allein durch die Wunderkraft der
Einigkeit, eine großartige politiſche Wirkſamkeit entfalten mußte, wenn man
nur jedem einzelnen Bundesgliede ſorgſam verbot einen gefährlichen über-
mächtigen Einfluß auszuüben!


Selbſt der nüchterne Republikaner Smidt, der in allen Angelegen-
heiten ſeines geliebten Bremens ſtets den ſicheren und weiten Blick des
echten Staatsmannes bewährte, ſelbſt dieſer bedeutendſte Kopf der Frank-
furter Verſammlung lebte ſich bald ein in die Traumwelt des Foederalismus
und ſetzte den redlichen patriotiſchen Eifer, der ihn ſelber beſeelte, arglos
auch bei ſeinen Genoſſen voraus. Wie herrlich, daß nunmehr ganz Deutſch-
land eine große Staatenrepublik bildete und die Souveränität von den
Einzelnen ausging! Nur ſollten dieſe ſouveränen Einzelnen auch nach re-
publikaniſcher Art durchaus als Gleiche behandelt werden; denn warum
konnte nicht auch in Deutſchland „das Heil ſo gut von Nazareth wie von
Jeruſalem kommen“? Die ſouveränen Hanſeſtädte mußten endlich „aus
der Roture heraus“, ſie durften ſich nicht mehr mit ſo beſcheidenen Um-
gangsformen begnügen, wie einſt da ſie noch den kaiſerlichen Adler auf
ihren Münzen führten; das ging doch nimmermehr an, daß der olden-
burgiſche Nachbar einen Hohen Bremer Senat auch fürderhin im Reſcrip-
tenſtile mit ſeinem unehrerbietigen „Wir Peter“ anredete! Der Hoffnungs-
volle ſah in dieſem Bunde der Gleichen das Mittel die deutſchen Groß-
mächte zur Gerechtigkeit zu erziehen und behauptete: „große Staaten bringen
Kraft und Stärke in den Bund, die kleineren Liebe zur Gerechtigkeit und
Conſtitutionsfähigkeit.“ Doch hütete er ſich wohl, näher anzugeben, warum
Mecklenburg conſtitutionsfähiger war als Preußen? und welche Art von
Gerechtigkeit der König von Preußen bei dem heſſiſchen Kurfüſten, dem
hannoverſchen Prinzregenten oder dem württembergiſchen Könige lernen
ſollte?


Ihren literariſchen Widerhall fanden die Meinungen dieſer wohlge-
ſinnten Foederaliſten in der Schrift von Heeren „Der Deutſche Bund in
ſeinem Verhältniß zu dem europäiſchen Staatenſyſteme“. Der Göttinger
Hiſtoriker, ein achtungswerther Vertreter der alten, dem Leben entfrem-
deten Stubengelehrſamkeit, hatte ſich kürzlich eine Weile in Frankfurt auf-
gehalten, mit Smidt und den anderen Bundesgeſandten viel verkehrt und
[142]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des Deutſchen
Bundes, das freilich in der verſtimmten Nation nur noch wenige Gläu-
bige fand. Soeben erſt war ein Menſchenalter voll Blut und Gräueln
über die Welt dahin gegangen, weil Deutſchland in ſeiner Zerſplitterung
ſich nicht vertheidigen konnte. Und Angeſichts ſolcher Erfahrungen erklärte
Heeren wieder, faſt mit den nämlichen Worten wie einſt Johannes Müller
zur Zeit des Fürſtenbundes: die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren
Ordnung Deutſchlands, denn welche fremde Macht könnte ſich ihres Be-
ſitzes ruhig freuen, wenn Deutſchland zu einer großen Monarchie ver-
einigt wäre? Auch die Buntheit unſerer inneren Zuſtände fand er ſehr
heilſam; wenn der Deutſche auch „Proben“ einer anderen Staatsordnung
ſtets vor Augen habe, ſo bleibe er vor einſeitiger Beſchränktheit bewahrt.
Dieſe reichhaltige, für die Profeſſoren des Staatsrechts allerdings unſchätz-
bare, politiſche Naturalienſammlung mußte aber — dies ſchien dem Göt-
tinger gar keines Beweiſes zu bedürfen — von allen großen Mächten als
die gebietende Centralmacht des Welttheils, als „der Friedensſtaat von
Europa“ anerkannt werden; noch eine kurze Friſt, und Frankfurt ward,
wie einſt der Haag, „der Mittelpunkt des Staatenſyſtems“, der Bundes-
tag erweiterte ſich zu einem europäiſchen Senate!


In der That hatte ſich ſchon jetzt an den großen Höfen eine be-
ſtimmte Meinung über die Frankfurter Verſammlung ausgebildet; nur
lautete ſie minder ſchmeichelhaft als Heeren wähnte. Der Bundestag galt
bereits, wie ſeitdem immer bis zu ſeiner Auflöſung, als die große Börſe für
den ſubalternen diplomatiſchen Klatſch Europas. Seit vielen Monaten trieb
ſich dieſer Schwarm von kleinen Diplomaten beſchäftigungslos in Frankfurt
umher. Was blieb den Armen zu thun als kleine Kabalen zu ſchmieden,
Geſchichten umherzutragen und die Bevollmächtigten des Vierbundes, die
in der großen Territorialcommiſſion beſchäftigt waren, Weſſenberg, Hum-
boldt, Clancarty und Anſtett, wetteifernd auszuhorchen? Wer in dieſem ge-
ſchäftigen Müßiggange obenauf bleiben wollte, mußte ſich durch pikante
Neuigkeiten oder durch ausgeſuchte Tafelgenüſſe unentbehrlich machen; wie
oft hat der Bremer Senat dem getreuen Smidt eine Spende aus ſeinem
weltberühmten Rathskeller geſendet, damit Graf Buol die Schildkröten,
die Neunaugen und die anderen Herrlichkeiten des hanſeatiſchen Tiſches
um ſo ſchmackhafter fände. Von den Geheimniſſen der großen Höfe er-
fuhren die Kleinen freilich ſo wenig, daß ihnen ſelbſt der wirkliche Sach-
verhalt der unglücklichen Unternehmung Hänleins immer verborgen blieb.


Um ſo üppiger blühte die Mythenbildung, und ſie richtete unaus-
bleiblich ihre Spitze gegen den Staat, der mit ſeinem Volksheere und ſeinem
leuchtenden kriegeriſchen Ruhme Allen als der geborene Todfeind der neu
hergeſtellten Regensburger Herrlichkeit erſchien. Zudem verſtand Humboldt
unter allen den Geſandten der vier Mächte am Wenigſten, die Eitelkeit
der kleinen Diplomaten zu ſchonen; nur zu oft ließ er ſie ſeine Ueber-
[143]Hänleins Sturz.
legenheit durch ſchneidende Sarkasmen und abweiſende Kälte empfinden.
Die meiſten ſtanden vor ihm mit ähnlichen Gefühlen wie der Hund vor
einem Glaſe Wein. Man wußte, daß Humboldt das Miniſterium des
Auswärtigen zu übernehmen hoffte, aber bei Hardenbergs unverſöhnlichem
Mißtrauen ſeinen Wunſch nicht durchſetzen konnte. Natürlich, daß die rein
perſönliche Gegnerſchaft der beiden Staatsmänner ſofort als politiſche Feind-
ſchaft gedeutet und Humboldt als der geheime Führer der preußiſchen Um-
ſturzpartei verrufen wurde. Keine radikale Tollheit, die man ihm nicht
zutraute. Die Diplomaten in Weſſenbergs Hauſe wußten ganz ſicher,
daß Preußen einen Krieg auf Leben und Tod gegen die Mittelſtaaten
vorbereitete; ſchon habe Humboldt einen Verfaſſungsplan „von beiſpiel-
loſer Liberalität“ ausgearbeitet; ſobald Blücher nach Berlin zurückkomme,
wolle „dieſe exaltirte Armee“ dem Könige eine Bittſchrift überreichen und
fordern, daß das Heer, wie einſt Cromwells Dragoner, durch Armeede-
putirte in dem preußiſchen Reichstage vertreten werde.*) Mit Begierde
verſchlangen die Bundesgeſandten einen Brief, welchen der liberale würt-
tembergiſche Miniſter Wangenheim zur Empfehlung ſeines Verfaſſungsent-
wurfs an ſeinen König gerichtet und ſofort veröffentlicht hatte. Darin ward
Preußen als ein durch Geheimbünde völlig zerrütteter Staat geſchildert und
dann dem Stuttgarter Despoten die Lockung vorgehalten: wenn in Preußen
eine Revolution ausbräche und zugleich im Süden ein deutſcher Staat mit
einer freien Verfaſſung beſtände, ſo wäre ein Umſchwung der Dinge mög-
lich, wie ihn die kühnſte Phantaſie kaum erſinnen könnte!


So war die Stimmung am Bundestage, als Hänlein mit ſeinen
vertraulichen Aufträgen zurückkehrte. Graf Buol beſaß ein unfehlbares
Mittel um die preußiſchen Vorſchläge ſofort zu beſeitigen; er brauchte ſie
nur den kleinen Genoſſen mitzutheilen und er ſtand nicht an dieſe Waffe
zu gebrauchen. Der zärtliche Freund, der im Winter der erſten Anfrage
ſo freundlich entgegengekommen war, nahm jetzt, wie Hänlein klagte, die
neue Eröffnung ſehr tragiſch auf (30. Juni); er hielt ſich verpflichtet ſo-
gleich mit den andern Geſandten Rückſprache zu nehmen und zwang da-
durch den Preußen, auch ſeinerſeits das Geheimniß zu brechen. Der Er-
folg war augenblicklich und vollkommen. Ein Aufſchrei der Entrüſtung
ging durch den geſammten Bundestag. Wie, dieſer revolutionäre Staat
unterſtand ſich, die kaum erſt abgeſchloſſene Bundesakte, die Bibel Buols,
anzutaſten und forderte ſogar den Oberbefehl über die Kriegsmacht einiger
Souveräne! Jedermann überhäufte den ungeſchickteſten aller preußiſchen
Diplomaten mit Vorwürfen; ſelbſt der ruhige Pleſſen ſagte ihm in’s Ge-
ſicht: „der Bund kann auch ohne Preußen beſtehen.“ Der Staatskanzler
war auf das Peinlichſte überraſcht, als er in Karlsbad von dieſen Frank-
furter Auftritten hörte und gleichzeitig unmittelbar aus Wien erfuhr, daß
[144]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Metternich die preußiſchen Vorſchläge nicht annehmen wollte. Was blieb
übrig als den begangenen Fehler, an dem Hardenbergs Leichtgläubigkeit
kaum weniger Schuld trug, als Hänleins Ungeſchick, ſogleich zurückzu-
nehmen? Am 9. Auguſt wurde Hänlein abberufen. Sein erzürnter Chef
warf ihm vor, daß er durch irrige Berichte ſeinen Hof zu falſchen Schritten
verleitet und dann durch öffentliche Behandlung der Sache ein höchſt nach-
theiliges Aufſehen erregt habe: „der gute Erfolg des Bundes hängt von dem
vollkommenſten Einverſtändniß zwiſchen Preußen und Oeſterreich ab; Nie-
mand darf eine Divergenz der Meinungen zwiſchen beiden für das Wohl
Europas und Deutſchlands eng verbündeten Höfen auch nur ahnen.“*)
Gleichzeitig ward Humboldt mit der vorläufigen Vertretung der Bundes-
geſandtſchaft beauftragt, und ihm gelang durch entſchloſſene Haltung das
erſchütterte Anſehen Preußens ſo weit wieder herzuſtellen, daß Graf Buol
in den vorbereitenden Sitzungen des Bundestages keinen Schritt ohne
ſeine Zuſtimmung wagte. Aber die böſen Folgen der erlittenen Nieder-
lage wirkten lange nach. Preußen und das ländergierige Baiern wurden
noch drei Jahre lang allgemein als die ehrgeizigen Störenfriede des Bun-
des beargwöhnt; von einer preußiſchen Partei, die doch in Regensburg
niemals ganz gefehlt hatte, war in Frankfurt vorderhand keine Spur zu
finden, und der Einfluß der norddeutſchen Großmacht auf die Bundes-
verhandlungen blieb ſo beſcheiden, daß die ſüddeutſchen Staatsmänner ſpä-
terhin dieſe erſten Jahre als die goldene Zeit des Bundestages zu be-
zeichnen pflegten.**)


Humboldt aber bildete ſich ſchon aus den Erfahrungen dieſer erſten
Wochen eine hoffnungsloſe, und leider vollkommen richtige Anſicht von
dem Deutſchen Bunde und entwickelte ſie in einer großen Denkſchrift vom
30. September 1816, welche nachher der Inſtruktion des preußiſchen Bun-
desgeſandten zu Grunde gelegt wurde.***) Hier ward das „höchſt unförm-
liche, auf Nichts mit einiger Sicherheit ruhende Gebäude“ der Bundes-
verfaſſung draſtiſch geſchildert, dazu „die ungeheure Erſchwerung“ aller
Beſchlüſſe, alſo daß „man kaum begreift, wie über einige Punkte ein Be-
ſchluß möglich ſei“. Daraus folgt, daß Preußen zwar mit Oeſterreich ein
gutes Verſtändniß bewahren, aber ſich begnügen muß, am Bundestage nur
„eine allgemeine Sprache“ zu führen. Die wirkliche Ausführung gemein-
nütziger Inſtitutionen läßt ſich nur erreichen „in dem einzelnen Verkehre
mit den deutſchen Staaten ſelbſt. Es muß in der Politik Preußens liegen,
dieſe Nachbarſtaaten in ſein politiſches und ſelbſt adminiſtratives Syſtem
bis zu einem gewiſſen Punkt zu verweben.“ Das ganze Programm der
preußiſchen Bundespolitik lag in dieſen Worten. Noch bevor der Bundestag
[145]Humboldts Denkſchrift über den Deutſchen Bund.
in’s Leben getreten war ſprach Humboldt aus, was die Erfahrung eines
halben Jahrhunderts beſtätigen ſollte: daß in Frankfurt nur die Phraſe
der deutſchen Politik gedeihen konnte, alle Geſchäfte der nationalen Staats-
kunſt von Berlin aus durch Verhandlungen mit den Einzelſtaaten betrieben
werden mußten.


Am 5. Novbr. 1816 wurde die Bundesverſammlung endlich eröffnet.
Nach Hänleins Niederlage hatte Buol ſchon in den vorbereitenden Sitzungen
die geſammte formelle Leitung ohne Widerſpruch an ſich genommen. Die
Führung des Protokolls ward, auf Humboldts Verlangen, nicht dem eitlen
Friedrich Schlegel anvertraut, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe durch
ſeinen clericalen Eifer und durch ſeine Knittelverſe wider die „Nord- und
Morddeutſchen“ den Zorn der Preußen erregt hatte, ſondern einem harm-
loſen k. k. Hofrath v. Handel, deſſen entſetzliches Deutſch den dürftigen
Inhalt der Verhandlungen noch lächerlicher erſcheinen ließ. Der hohe Rath
der deutſchen Nation verſammelte ſich in dem Thurn- und Taxis’ſchen
Palaſte auf der Eſchenheimer Gaſſe, wo die k. k. Geſandtſchaft zur Miethe
wohnte, und blieb fortan durch ein halbes Jahrhundert der beſcheidene
Miether des Taxis’ſchen Fürſtenhauſes. Da die Mittelſtaaten von dem
Wiederaufleben des alten Reichsadlers nichts hören wollten, ſo trugen
die veröffentlichten Protokolle auf ihrem Titelblatte das öſterreichiſche Wappen
mit der Umſchrift „Kaiſerlich Oeſterreichiſche Bundeskanzley“. Es ſchien,
als tage hier wirklich nur eine k. k. Provinzialbehörde. Die Präſidialmacht
verſchuldete auch, daß beim Anbruch dieſer neuen Epoche deutſcher Geſchichte
nicht einmal der Segen Gottes angerufen wurde. Buol weigerte ſich an
einem evangeliſchen Gottesdienſte theilzunehmen, er verlangte ein Hochamt
in dem alten Kaiſerdome, obgleich fünf Sechſtel der Souveräne des neuen
Deutſchlands proteſtantiſch waren, und wollte dann ſtatt der unterbliebenen
kirchlichen Feier eine Feſtvorſtellung im Theater veranſtalten, was Hum-
boldts guter Takt noch glücklich vereitelte.


Als die Mitglieder des Bundestags alleſammt, von der Wache mit
präſentirtem Gewehr und geſchwenkter Fahne begrüßt, vor dem k. k. Ge-
ſandtſchaftshotel vorgefahren waren, las Graf Buol eine Rede ab, deren
ſinnloſer Wortſchwall gebildeten Hörern geradezu als eine Beleidigung
erſcheinen mußte: ſie zeigte anſchaulich, welcher Barbarei herz- und ideen-
loſe Politiker verfallen, ſobald ſie verſuchen pathetiſch zu werden. Der
Vortrag war dem Geſandten von Metternich ſelbſt zugeſchickt worden, der
es nicht der Mühe werth gehalten hatte die claſſiſche Feder ſeines Gentz
zu benutzen; Buol ſelbſt fand ihn unpaſſend und verlas aus Schonung
nur einen Theil.*) Hohlere Phraſen hatten doch ſelbſt die unreifſten teu-
toniſchen Studenten noch nie gebraucht, als hier der Wiener Hof, da er
anhub: „Im Deutſchen als Menſchen, auch ohne alle willkürlichen Staats-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 10
[146]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
formen, liegt ſchon das Gepräge und der Grundcharakter deſſelben als
Volk. Das Nationalbedürfniß ſei die Schöpferin und der Leitſtern bei
allen nationellen Formen, und alsdann geht man verbürgt zum wahren,
zum höchſten Ziel!“ Die Rede ſchilderte darauf den Verfall Deutſchlands
während der letzten Jahrhunderte: „ich fahre fort den Weg zu verfolgen,
wohin mich der berührte neigende Gipfel geſchwächter Nationalität führt.“
Sie rühmte darauf, Dank dem Deutſchen Bunde erſcheine Deutſchland
jetzt wieder „als Macht in der Reihe der Völker. In dieſer Art halten
wir uns feſt auf dem Gipfel, wo ein großes Volk in der Mannichfaltigkeit
ſeiner bürgerlichen Formen der großen Beſtimmung der Menſchheit und
ſeiner Entwickelung frei entgegengeht, zugleich aber ein einziges Ganzes
in nationeller Beziehung ausmacht!“ Zum Schluß betheuerte der Ge-
ſandte inbrünſtig „die Deutſchheit ſeiner Geſinnungen“; er verſicherte noch-
mals, ſein Kaiſer betrachte ſich „als vollkommen gleiches Bundesglied“,
und erinnerte — mit einem freundſchaftlichen Seitenhiebe gegen Preußen,
der ſogleich von allen Seiten verſtanden wurde — an „jene glückliche, zum
gegenſeitigen Vertrauen berechtigende Lage, daß Oeſterreich auf deutſchem
Boden ebenſowenig eine Eroberung als eine eigenmächtige Erweiterung
ſeines Standpunktes im Deutſchen Bunde beabſichtigen will oder auch nur
beabſichtigen kann“!


Hierauf erwiderte Humboldt kurz und würdig. Die meiſten anderen
Geſandten empfahlen ſich lediglich der Gewogenheit der Anweſenden oder
ſie ſprachen die kühne Hoffnung aus, „daß der heutige Tag ſchon über’s
Jahr und bis in ſpäte Zeiten den für das Geſammtvaterland erfreulichſten
möge beigezählt werden“. Nur Gagern konnte ſich nicht enthalten, in
längerer Rede die deutſche Geſinnung des oraniſchen Hauſes zu feiern und
zu verſprechen, daß Luxemburg immerdar der natürliche Vermittler in
Deutſchland ſein werde. Auch hielt er für angemeſſen, „in dieſem er-
lauchten deutſchen Senate, faſt nach Art jenes merkwürdigen alten Volkes,
ein Todtengericht zu halten“; ſo ſprach er denn in ſchwungvollen Worten
von dem Fürſten von Naſſau-Weilburg, von den für Deutſchland gefallenen
Welfen und „damit man mir nicht vorwerfe, daß ich der Fürſtlichkeit allein
huldige“, auch von Andreas Hofer und Palm. Zum Schluſſe rief er be-
geiſtert ſein unvermeidliches: Je maintiendray! — Es war eine unbe-
ſchreiblich abgeſchmackte Feier, die würdige Eröffnung eines politiſchen Poſſen-
ſpiels, von dem ſich bald die geſammte Nation mit Abſcheu abwenden ſollte.


Sechs Tage nachher hielt Graf Buol ſeinen erſten Präſidialvortrag
und zählte pathetiſch alle die Wohlthaten auf, welche den Deutſchen aus
der Verwirklichung der unbeſtimmten Zuſagen der Bundesakte erwachſen
könnten. Von dem Artikel 19, der die Regelung der nationalen Verkehrs-
verhältniſſe verſprach, rühmte der Oeſterreicher in ſeinem wunderbaren
Deutſch: dieſer Artikel „bezweckt, die deutſchen Bundesſtaaten ſelbſt in Hin-
ſicht des Handels und Verkehrs ſowie der Schifffahrt einander zu ent-
[147]Erſte Sitzungen des Bundestages.
fremden“ — ein unfreiwilliger Seherſpruch, der ſich vollſtändig verwirk-
lichen ſollte. Politiſch bedeutſam war an den leeren Worten nur die be-
ſtimmte Erklärung: der Deutſche Bund ſei kein Bundesſtaat, ſondern ein
Staatenbund; denn Erſteres würde „dem unaufhaltbar nach höheren Rich-
tungen rollenden Laufe der Zeit widerſtreiten“! Die Schlagwörter: Staa-
tenbund und Bundesſtaat begannen eben jetzt in der Preſſe aufzutauchen,
ohne daß man noch einen beſtimmten ſtaatsrechtlichen Sinn damit ver-
bunden hätte. Wie weit war doch die politiſche Bildung der Nation hinter
dem Aufſchwung der anderen Wiſſenſchaften zurückgeblieben! Ueber die
Grundlagen des öffentlichen Rechts der Foederativſtaaten hatte faſt noch Nie-
mand ernſtlich nachgedacht; das claſſiſche Buch der Amerikaner, das ſchon vor
einem Menſchenalter dieſe Fragen geiſtvoll und ſachkundig beleuchtet hatte, der
Foederaliſt von Hamilton, Madiſon und Jay, blieb in dem gelehrten Deutſch-
land ſo gut wie unbekannt. Selbſt der wackere freimüthige J. L. Klüber,
der alsbald nach dem Zuſammentritt des Bundestages ſein „Oeffentliches
Recht des Deutſchen Bundes“ erſcheinen ließ, wußte über den politiſchen
Charakter der verſchiedenen Formen des bündiſchen Lebens wenig zu ſagen.
Man dachte ſich unter dem „Bundesſtaate“ irgend eine ſtarke, hochange-
ſehene Bundesgewalt, die dem deutſchen Namen zur Ehre gereichen ſollte;
die jungen Teutonen ſtimmten ihrem Lehrer Fries begeiſtert zu, als er
in ſeiner Schrift „Vom Deutſchen Bunde und deutſcher Staatsverfaſſung“
mit der Dreiſtigkeit des wohlmeinenden Dilettanten kurzerhand ausſprach:
„wir wünſchen keinen ſchlaffen Staatenbund, ſondern einen feſt vereinigten
Bundesſtaat.“ Allen ſolchen unbeſtimmten Wünſchen trat der öſterreichiſche
Geſandte jetzt offen entgegen, und er hatte Sinn und Wortlaut der Bun-
desakte auf ſeiner Seite. Da für jede Abänderung der Bundesakte Ein-
ſtimmigkeit erfordert wurde, ſo war die Weiterbildung der Bundesverfaſſung
von Haus aus unmöglich, und bereits vor der Eröffnung des Bundes-
tages begannen die Geſandten, die guten wie die ſchlechten, im Stillen
einzuſehen, daß ſogar die Abfaſſung der Grundgeſetze des Bundes, welche
nach Art. 10 der Bundesakte das erſte Geſchäft des Bundestages ſein
ſollte, an dieſer Klippe nothwendig ſcheitern mußte.


Schon nach der erſten Sitzung verließ Humboldt den Bundestag
und begab ſich tief verſtimmt erſt nach Berlin zu den Sitzungen des
Staatsraths, dann als Geſandter nach London; der Pariſer Poſten, den
er ſich gewünſcht, mußte ihm verſagt werden, da der ſcharfe Preuße ſeit
dem letzten Congreſſe bei den Bourbonen in üblem Rufe ſtand. An
ſeine Stelle trat in Frankfurt der Miniſter Graf v. d. Goltz, derſelbe der
im Frühjahr 1813 an der Spitze jener unglücklichen Berliner Regie-
rungscommiſſion geſtanden hatte, ein pflichtgetreuer Beamter, freundlich
und gutmüthig, aber aller ſelbſtändigen Gedanken baar. Die Wahl be-
wies, wie wenig Hardenberg von der Scheinthätigkeit der Frankfurter Ver-
ſammlung erwartete. Der perſönliche Verkehr zwiſchen den Geſandten
10*
[148]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
der beiden Großmächte bewegte ſich ſtets in den verbindlichſten Formen,
ſie theilten ſich ſogar wechſelſeitig ihre Inſtruktionen mit.*) Dabei zeigte
ſich freilich, wie weit die Abſichten der beiden Höfe in zwei weſentlichen
Fragen auseinandergingen. In der öſterreichiſchen Inſtruktion wurde die
Bundesakte kurzab für heilig und unverletzlich erklärt; Hardenberg dagegen
bedauerte lebhaft, daß es in Wien nicht gelungen ſei dem Bunde „mehr
die Natur eines Bundesſtaates zuzueignen“, und erbot ſich zu jeder noch
möglichen Reform. Und während Graf Buol den kleinen Geſandten, auf
Metternichs Befehl, betheuerte, ſein Hof werde ſich in Bundesangelegen-
heiten niemals auf Sonderverhandlungen einlaſſen, wiederholte der preu-
ßiſche Staatskanzler ſeinem Wiener Freunde unabläſſig: nur durch unmittel-
bare Verſtändigung zwiſchen Oeſterreich und Preußen könne „der Bund
zur Conſiſtenz gelangen und der Parteigeiſt vernichtet werden“.**)


Dieſe geheime Meinungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden führenden
Höfen ward zunächſt noch wenig bemerkbar, da die Thätigkeit der Bundes-
verſammlung lange Zeit faſt gänzlich in der Erledigung von Penſionsan-
ſprüchen und anderen Privat-Angelegenheiten aufging. Eine Fluth von
Bitten und Beſchwerden überſchwemmte den Bundestag; alle die Unglück-
lichen, welche die wilde Kriegszeit in ihren Rechten gekränkt hatte, ſuchten
Hilfe in Frankfurt. Da kamen die Biſchöfe und Geiſtlichen vom linken
Rheinufer und forderten ihre Penſionen auf Grund des Reichsdeputations-
hauptſchluſſes; desgleichen die Herren vom Deutſchen Orden und die Mit-
glieder der aufgelöſten Domkapitel; alsdann die Advocaten und Procura-
toren des Reichskammergerichts; dann Joſeph Fahrenkopf in Mainz, der
im Jahre 1796 für die Reichsfeſtung Mainz unbezahlte Bauarbeiten ge-
liefert hatte, und mit ihm eine ganze Schaar von Gläubigern der letzten
Reichsoperationskaſſe, jener böſen Zahlerin, die während des Revolutions-
krieges niemals aus der Geldnoth herausgekommen war; dann die Be-
ſitzer der kurpfälziſchen Obligationen Lit. D., eines berüchtigten Staats-
papiers, über deſſen Verzinſung Baiern und Baden, die Rechtsnachfolger
von Kurpfalz, ſich ein Menſchenalter hindurch in grimmigen Noten ſtritten;
und ſo weiter eine unendliche Reihe von Bittſtellern, bis herab zu kleinen
Handwerkern, denen ihre durchlauchtigen Landesherren die Bezahlung ihrer
Schuſterrechnungen hartnäckig vorenthielten.


Mit löblichem Eifer nahm ſich der Bundestag dieſes Jammers an.
Aber wie konnte eine Diplomatenverſammlung alle die verwickelten Rechts-
fragen, die ſich hier ergaben, mit Sicherheit entſcheiden? Ein Glück nur,
daß ſich mindeſtens einige tüchtige Juriſten in ihren Reihen fanden, ſo
namentlich der hannoverſche Geſandte Martens, der bekannte Völkerrechts-
lehrer. Dazu die immer wieder auftauchenden Zweifel an der Zuſtändigkeit
der Bundesverſammlung; ſie hörten auch dann nicht auf, als die Ver-
[149]Privat-Eingaben an den Bundestag.
ſammlung endlich im Juni 1817 einige proviſoriſche Beſtimmungen über
ihre Competenz angenommen hatte. Und woher ſollte der Bundestag in
ſchwierigen Fällen die nöthigen thatſächlichen Mittheilungen erlangen? Da
er keine Executivgewalt beſaß, ſo blieb er immer nur auf den guten Willen
der betheiligten Regierungen angewieſen. Zu alledem endlich die lächerlich
ſchwerfällige Geſchäftsordnung. In ſeiner Inſtruktion hatte Hardenberg noch
den Vorſchlag gewagt: nach Ablauf einer billigen Friſt ſolle die Verſamm-
lung kurzweg ihre Beſchlüſſe faſſen, ohne Rückſicht auf abweſende oder nicht-
inſtruirte Mitglieder. Goltz mußte aber bald einſehen, wie unannehmbar
dieſer Gedanke dem Souveränitätsdünkel der kleinen Höfe ſchien; der würt-
tembergiſche Geſandte v. Linden erklärte ſogar rund heraus, ein einſtimmiger
Beſchluß ſei unmöglich ſobald auch nur ein einziger Geſandter fehle. Die
nachläſſige Geſchäftsführung der Wiener Behörden und Metternichs Gleich-
giltigkeit gegen den Bund bewirkten, daß der öſterreichiſche Geſandte faſt
regelmäßig am Längſten auf ſeine Inſtruktionen warten mußte. Da der Prä-
ſidialhof alſo mit ſchlechtem Beiſpiele voranging, ſo gewöhnte man ſich bald
die Abſtimmungen zu verſchieben und wieder zu verſchieben bis auch die letzte
Inſtruktion eingetroffen war, und das Schickſal der Bundesbeſchlüſſe lag
am letzten Ende in der Hand der trägſten und böswilligſten Souveräne.


So geſchah es, daß ſelbſt dieſe Privat-Eingaben, denen die Mehrzahl
der Bundesgeſandten ein ehrliches Wohlwollen entgegenbrachte, mit ſchimpf-
licher Langſamkeit erledigt wurden. Die überrheiniſchen Cleriker, deren
Anſprüche nach der Bundesakte binnen Jahresfriſt befriedigt werden ſollten,
erhielten erſt im Jahre 1824 ihren Beſcheid; die Procuratoren des Kammer-
gerichts mußten bis 1831 warten; die glücklichen Enkel der Gläubiger der
Reichsoperationskaſſe empfingen im Jahre 1843 die Entſchädigung für die
Arbeiten ihrer Großväter aus den Jahren 1793—96; das kur- und ober-
rheiniſche Schuldenweſen endlich ward erſt im Jahre 1844 geordnet, durch
Vermittlung der Krone Preußen, welche für dieſe ſchleunige Hilfsleiſtung
den warmen Dank des Bundestags empfing. Viele der Geſandten lebten
ſich gemüthlich in dies ſubalterne Treiben ein, und bald entwickelte ſich im
Schooße der Bundesverſammlung die eigenthümliche Menſchenklaſſe der
Bundesbureaukraten — treufleißige, gewiegte Geſchäftsmänner, deren Geiſt
niemals durch einen politiſchen Gedanken beunruhigt wurde, aber dafür
in Sachen des Joſeph Fahrenkopf und der Lit. D. um ſo genauer Be-
ſcheid wußte. Das Muſterbild dieſer Bundestagsphiliſter war der Ver-
treter der ſechzehnten Stimme, v. Leonhardi. Auch der gute Goltz ſchrieb
nach Schluß der erſten Seſſion hoch befriedigt heim: die verheißene Feſt-
ſtellung der Grundgeſetze des Bundes ſei freilich unmöglich geweſen; dafür
habe die Bundesverſammlung ihr Daſein und ihre Wirkſamkeit in den
inneren Verhältniſſen gezeigt und ſo auf die innere Beruhigung eingewirkt.*)


[150]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Angeſichts dieſer ſtillvergnügten Nichtigkeit fielen manche politiſche Be-
ſorgniſſe, welche Hardenberg anfangs gehegt hatte, von ſelbſt hinweg. Der
Staatskanzler gab ſeinen Widerſpruch gegen die Anweſenheit auswärtiger
Diplomaten bald auf, als er den Charakter des Bundestages kennen ge-
lernt hatte; denn was ſtand von den Agenten des Auslandes bei einer
ſo ohnmächtigen Verſammlung zu befürchten? und was ſollte man den
großen Mächten antworten, als ſie zur Abwendung möglicher Kriegsge-
fahren die Zulaſſung ihrer Geſandten forderten, da die Bundesakte denn
doch dem Bundestage das Recht der Kriegserklärung gewährt hatte? In
der That fanden die Geſandten der Großmächte in Frankfurt vorderhand
gar nichts zu thun. Was verſchlug es, wenn die kleinen Diplomaten in
dem Rothen Hauſe, dem Malepartus des ſchlauen Ruſſen Anſtett, viel-
geſchäftig aus- und eingingen? Ernſthafte Fragen, bei denen der Einfluß
des Auslandes ſchädlich wirken konnte, traten in dieſen ſtillen erſten zwei
Jahren noch nicht an den Bundestag heran. Auch die anfangs allgemein
verbreitete Furcht vor einem geheimen Sonderbunde der alten rheinbün-
diſchen Kernlande erwies ſich noch als verfrüht. Wohl war König Friedrich
von Württemberg, auf die Nachricht von Hänleins Auftreten, alsbald nach
Karlsruhe hinübergereiſt, um den Großherzog von Baden und den König
von Baiern, der in Baden weilte, für eine gemeinſame ſüddeutſche Politik,
zum Schutze der ungeſchmälerten Souveränität, zu gewinnen; aber Baiern
und Baden lebten in bitterer Feindſchaft, und Beide mißtrauten dem würt-
tembergiſchen Nachbarn. Der Verſuch mißlang vollſtändig*), und als
König Friedrich bald nachher ſtarb, war von dieſen rheinbündiſchen Plänen
eine Zeit lang nicht mehr die Rede. Auch der ſächſiſche Bundestagsgeſandte,
der ſteife alte Graf Görtz bewährte durchweg eine untadelhafte Harmloſigkeit,
da ſein König dem Hauſe Oeſterreich nie zu widerſprechen wagte.


Der Bundestag konnte indeſſen ſelbſt jene unſchuldigen Reclamations-
Angelegenheiten nicht erledigen, ohne mit dem Dünkel der kleinfürſtlichen
Souveränität heftig zuſammenzuſtoßen. Schon beim Beginn der Ver-
handlungen ſprach Baiern das Bedenken aus, ob die Bundesverſammlung
überhaupt befugt ſei, Beſchwerden deutſcher Unterthanen gegen ihre Lan-
desherren anzunehmen; doch wurde das bairiſche Votum vorläufig in einem
geheimen Protokolle vergraben. Als aber der Bundestag ſich bald nach-
her unterſtand, eine Beſchwerde ſolcher Art vor ſein Forum zu ziehen,
ward ihm ungeſtraft eine ſchnöde Beleidigung geboten. Aus keinem Lande
waren ſo viele Klagen und Bitten eingelaufen, wie aus dem unglücklichen
Kurheſſen, das unter ſeinem heiß erſehnten alten Kurfürſten ein Regiment
ſchamloſer Willkür und Habſucht ertragen mußte. Unter den Unzähligen,
denen der Kurfürſt ihr gutes Recht vorenthielt, befand ſich auch ein Guts-
beſitzer Hofmann. Der Mann hatte von der Kronkaſſe einige ſeculariſirte
[151]Streit mit dem Kurfürſten von Heſſen.
Deutſch-Ordensgüter gekauft; der Kauf wurde im Auguſt 1815, zwei Jahre
nach der Rückkehr des alten Landesherrn, durch die kurfürſtlichen Behörden
in die Kataſterrolle eingetragen. Gleichwohl erhielt der Käufer ein halbes
Jahr ſpäter den Befehl zur Wiederauslieferung der Güter, die er unter-
deſſen zerſchlagen und an zwanzig Andere veräußert hatte; der Kurfürſt,
ſo hieß es kurzab, wolle nicht dulden, daß Staatsgüter in den Händen
von Privaten blieben. Die Bundesverſammlung faßte den mildeſten Be-
ſchluß, der in einem ſolchen Falle möglich war: ſie verwies den Kläger
an den Kurfürſten und forderte ihn auf, „wenn er dort, gegen alle beſſere
Erwartung der Bundesverſammlung, nicht erhört werden ſollte“, ſeine Be-
ſchwerde nochmals beim Bunde einzureichen. Der Kurfürſt aber tobte, als
er von dieſer frevelhaften Verletzung ſeiner Kronrechte erfuhr, und ließ in
Frankfurt eine Erwiderung verleſen, welche ſofort in dem öffentlichen Pro-
tokolle abgedruckt werden mußte (17. März 1817): er nannte darin den
letzten Beſchluß „ſehr auffallend“, gab den Geſandten ſeine „Verwunderung
über ein Benehmen zu erkennen, welches die Billigung ihrer Committenten
unmöglich erhalten könne“, und ſchloß drohend: er verbitte ſich jede Ein-
miſchung in ſeine inneren Landesangelegenheiten.


Eine ſolche Sprache ſchien doch ſelbſt der Geduld des Bundestages
unerträglich. Alle Geſandten brachen den geſelligen Verkehr mit dem Ver-
treter des Kurfürſten ab; man erwartete beſtimmt, die beiden Großmächte
würden ihre Geſandtſchaften aus Kaſſel abberufen und dem Bunde eine
glänzende Genugthuung für die erlittene Beleidung verſchaffen.*) Graf
Buol erwiderte in geharniſchter Rede: die Stellung des Bundestags würde
auf die gemeinſchädlichſte Weiſe verändert werden, wenn er ſich gefallen
laſſen müßte, daß ein unzufriedenes Bundesglied in verweiſendem Tone zu
ihm ſpräche: „die Bundesverſammlung iſt nie und nirgends unter einem
Gliede des Bundes.“ Zuletzt verſicherte er ſogar mit einer in dieſem Kreiſe
unerhörten Begeiſterung: der Bundestag werde „den bedrängten Unter-
thanen die Ueberzeugung verſchaffen, daß Deutſchland nur darum mit dem
Blute der Völker von fremdem Joche befreit wurde, damit überall ein
rechtlicher Zuſtand an die Stelle der Willkür treten möge“. Graf Goltz
erklärte die unbedingte Zuſtimmung ſeines Königs zu dem gefaßten Be-
ſchluſſe; auch Gagern verſicherte in einer hochpathetiſchen, verworrenen
Rede: das von dem Kurfürſten angetaſtete Eigenthumsrecht „enthalte ein
beinah jungfräuliches noli me tangere“. Mit Ausnahme der beiden heſ-
ſiſchen Bevollmächtigten ſchien der geſammte Bundestag einig.


Doch leider hatte Graf Buol auf eigene Fauſt gehandelt; ſeine Inſtruk-
tionen waren, nach der Gewohnheit der Hofburg, wieder einmal ausge-
blieben. Er reiſte daher zu Anfang April ſelbſt nach Hauſe um dem
Bundestage den Beiſtand des Wiener Hofes zu ſichern. Aber welch ein
[152]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Empfang ward dem Unglücklichen! Der Kurfürſt hatte ſich ſogleich bei
Kaiſer Franz beſchwert, und Metternich überhäufte den Präſidialgeſandten
mit Vorwürfen: wie er ſich habe unterſtehen können, die Würde eines
Souveräns in ſolcher Weiſe anzutaſten! Er drohte ihm mit Abberufung,
mit förmlicher Mißbilligung des Bundesbeſchluſſes. Dies Aeußerſte wurde
freilich durch Hardenbergs Vermittlung abgewendet. Der Staatskanzler
hielt ſeinem Wiener Freunde eindringlich vor, der Bundestag ſei im Rechte
und dürfe nicht öffentlich bloßgeſtellt werden.*) Metternich begnügte ſich
daher mit einer ſtrengen Verwarnung, und tief niedergeſchlagen kehrte
Buol auf ſeinen Poſten zurück. Darauf beſtätigte der Bundestag ſeine
frühere Entſchließung durch einen neuen, überaus behutſam gehaltenen
Beſchluß, und die Hofmann’ſche Beſchwerde wurde durch den Kurfürſten
in der Stille beigelegt. Aber von einer Sühne für die erlittene Beſchimpfung
war keine Rede; die deutſchen Souveräne wußten jetzt was ſie ſich gegen
den Bund herausnehmen durften. Die Geſandten fühlten ſich alleſammt
beſchämt und eingeſchüchtert, ſie gewöhnten ſich fortan, bei jeder noch ſo ge-
ringfügigen Frage beſondere Inſtruktionen einzuholen, ſo daß alle Ent-
ſcheidungen ſich in’s Unabſehbare hinauszogen.


Der Hofmann’ſche Fall bildete nur ein Glied in einer langen Kette
von Rechtsverletzungen, welche den Bundestag noch durch viele Jahre in
Athem hielten und dem deutſchen Namen im Auslande, namentlich in
Frankreich, einen üblen Ruf verſchafften. Es rächte ſich ſchwer, daß die große
Allianz nach der Auflöſung des Königreichs Weſtphalen die alten Landes-
herren vertrauensvoll ohne jede Bedingung zurückgeführt hatte. Die
Krone Preußen freilich verfuhr in ihren vormals weſtphäliſchen Provinzen
ſtreng nach dem Rechte; ſie hatte das Königreich Weſtphalen im Tilſiter
Frieden anerkannt und betrachtete mithin alle verfaſſungsmäßigen Hand-
lungen der weſtphäliſchen Regierung als rechtsgiltig. Die Fürſten von
Hannover, Braunſchweig und Kurheſſen hingegen waren nur thatſächlich,
ohne Friedensſchluß, ihrer Länder verluſtig gegangen und ſahen in König
Jerome nur einen Uſurpator. Vergeblich ſtellte ihnen der Berliner Hof
vor, daß ſie doch nicht durch eigene Kraft, ſondern durch die Waffen der
Verbündeten wiederhergeſtellt worden ſeien und demnach jenes napoleoniſche
Königreich, das einſt die Anerkennung aller großen Mächte gefunden hatte,
nicht kurzweg als eine widerrechtliche Ordnung behandeln dürften. Preu-
ßen wünſchte, durch freundſchaftliche Verhandlungen zwiſchen den bethei-
ligten vier Staaten gemeinſame Rechtsgrundſätze über die Anerkennung
der weſtphäliſchen Geſetze und Verordnungen zu vereinbaren.**) Aber keiner
der drei anderen Höfe ging auf den billigen Vorſchlag ein. In Hannover
[153]Die weſtphäliſchen Domänenkäufer.
und Braunſchweig wurden die weſtphäliſchen Geſetze alleſammt für nichtig
erklärt, nur die wohlerworbenen Rechte der Unterthanen behandelte man
mit Schonung.


Um ſo dreiſter griff der heſſiſche Kurfürſt zu. Alles und Jedes in
ſeinem Lande ſollte auf den Stand vom Herbſte 1806 zurückgebracht werden,
und der geizige Herr verfuhr bei dieſem ungeheuerlichen Unternehmen nicht,
wie gleichzeitig der König von Sardinien, mit der naiven Ehrlichkeit des
legitimiſtiſchen Fanatikers, ſondern mit offenbarer Gaunerei. Was ſein
„Verwalter Jerome“ für die Kronkaſſe erworben hatte, ward als recht-
mäßige Kriegsbeute behalten, was er veräußert als Raub zurückgefordert;
die Handwerker, die dem luſtigen Napoleoniden ſeine Gemächer ausge-
ſchmückt, empfingen keine Bezahlung, aber die gelieferten Möbel verblieben
den kurfürſtlichen Schlöſſern. Selbſt in den Zeiten der polniſchen Auguſte
hatte das geduldige Deutſchland ſo freche Willkür kaum geſehen. Am
Schwerſten litten die Käufer der zahlreichen durch König Jerome ver-
äußerten Domänen; ſie wurden aus ihrem Eigenthum vertrieben und be-
ſtürmten den Bund mit Klagen. Als dieſe Beſchwerden in Frankfurt zur
Verhandlung kamen, ſtimmte der kurheſſiſche Geſandte wieder den gewohnten
Ton an und warf mit „frechſten Lügen“ um ſich. Martens, der Ver-
treter Braunſchweigs, hatte die Stirn, dem treuen Volke dieſer welfiſch-
heſſiſchen Lande, das ſo unſäglich viel für ſeine angeſtammten Fürſten ge-
opfert und gelitten hatte, drohend zuzurufen: man müſſe durch Aufſtel-
lung ſtreng legitimiſtiſcher Grundſätze „zum Voraus den deutſchen Unter-
thanen die Luſt benehmen, dem eindringenden Feinde behilflich zu ſein!“
Die Mehrheit des Bundestages, gewitzigt durch die bitteren Erfahrungen
in der Hofmann’ſchen Sache, begnügte ſich diesmal, die Klagenden dem
Wohlwollen des Kurfürſten zu empfehlen (17. Juli 1817). Damit ward
die Entſcheidung der unſauberen Händel nur vertagt; denn alsbald mel-
deten ſich andere Opfer der kurfürſtlichen Tyrannei. —


Derweil der Bundestag alſo ſeine Zeit verdarb, bemühte ſich Harden-
berg redlich, den einzigen politiſch bedeutſamen Artikel der Bundesakte, der
bei gutem Willen noch der Verwirklichung fähig ſchien, auszuführen: jenen
Art. 11, welcher den Bundesſtaaten gemeinſamen Schutz gegen feindlichen
Angriff verſprach. Die Hoffnungen Preußens für das deutſche Bundes-
heerweſen blieben vom Wiener Congreſſe bis zur Auflöſung des Bundes
immer die gleichen: der Berliner Hof wünſchte die Zweitheilung des Bun-
desheeres, und nur wenn ſich der Widerſtand der deutſchen Höfe nicht
anders beſiegen ließ war er bereit den Mittelſtaaten die Bildung ſelb-
ſtändiger Armeecorps zuzugeſtehen. Ungeſchreckt durch Hänleins Erfahrun-
gen begann der Staatskanzler ſogleich mit dem Wiener Hofe vertraulich zu
unterhandeln, obgleich er doch aus den Inſtruktionen des Präſidialge-
ſandten wiſſen mußte, daß die Hofburg keineswegs geneigt war, durch Son-
derverhandlungen das Wohlwollen der kleinen Souveräne zu verſcherzen.
[154]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Gleich zu Anfang dieſer Berathungen erhob ſich eine Vorfrage, welche die
ganze heilloſe Unwahrheit der Bundesverfaſſung an den Tag brachte. Be-
vor man die militäriſchen Leiſtungen der Bundesglieder feſtſetzte, mußte
man doch wiſſen, wo die Grenzen des Bundesgebietes lagen. Die Bun-
desakte hatte ſich begnügt mit der unklaren Beſtimmung, daß die Herrſcher
von Oeſterreich und Preußen „für ihre geſammten, vormals zum Deut-
ſchen Reiche gehörigen Beſitzungen“ dem Bunde beiträten. Da Metternich
von Haus aus entſchloſſen war dem Bundestage niemals eine Einwirkung
auf die inneren Verhältniſſe der Kronlande zu erlauben, ſo hatte für ihn die
Angelegenheit keinen Werth; er erklärte unbedenklich, ſein Kaiſer beabſichtige
ein Gebiet von etwa 8 Mill. Einwohnern — die Lande der Krone Böhmen,
das Erzherzogthum, Tyrol und Salzburg, die Steyermark, Kärnten und
Krain — dem Bunde zu überweiſen. Hardenberg hielt ſich an ſeinen
Lieblingsgedanken, die vollkommene Gleichheit der beiden Großmächte, und
beantragte darum bei ſeinem Monarchen die Aufnahme eines preußiſchen
Gebietes von etwa gleicher Bevölkerung: außer den unzweifelhaften alten
Reichslanden der hohenzollern’ſchen Krone ſollten auch Geldern, das zwei-
hundert Jahre lang dem Reiche entfremdet geweſen, und das ſouveräne
Herzogthum Schleſien nebſt der Lauſitz für Bundesland erklärt werden.


König Friedrich Wilhelm aber nahm die Frage ſehr ernſt und über-
raſchte den Staatskanzler durch die beſtimmte Erwiderung, daß er mit
ſeinem geſammten Staatsgebiete dem Deutſchen Bunde beizutreten denke.
Er kannte die unberechenbaren Wechſelfälle der europäiſchen Politik und
behielt, trotz ſeiner Freundſchaft für den Czaren, auch die Möglichkeit eines
Krieges gegen Rußland wachſam im Auge. Da er ſich ſelber ſchlechtweg
als deutſcher Fürſt fühlte und ehrlich entſchloſſen war jede Verletzung des
Bundesgebiets mit der geſammten Kraft ſeiner Monarchie zurückzuweiſen,
ſo ſchien es ihm nur billig, daß auch der Bund ſich verpflichtete den
preußiſchen Staat gegen jeden Angriff zu vertheidigen; er dachte dabei zu-
nächſt an Poſen und die unverhohlene Begehrlichkeit der Polen in War-
ſchau. Für den Fall, daß die förmliche Aufnahme des ganzen Staats-
gebietes in den Bund ſich nicht durchſetzen ließ, verlangte der König min-
deſtens den Abſchluß eines dauernden Vertheidigungsbündniſſes zwiſchen
Preußen und dem Bunde. Schon im Herbſt 1816 wurde dieſe Abſicht
des Monarchen in der Inſtruktion für die Bundesgeſandtſchaft ausge-
ſprochen und ſeitdem zu Hardenbergs Verzweiflung anderthalb Jahre lang
hartnäckig feſtgehalten. Die deutſchen Dinge lagen indeß noch ſo verſchroben,
daß gerade die einfachſten, die beſtgemeinten politiſchen Gedanken verfrüht,
ja gefährlich erſchienen. So gewiß die europäiſchen Intereſſen Preußens
mit denen des übrigen Deutſchlands zuſammenfielen, ebenſo gewiß durfte
die preußiſche Krone nicht zu Gunſten dieſes Bundestages auf die Selb-
ſtändigkeit ihrer auswärtigen Politik verzichten. Und ſo unzweifelhaft das
treue deutſche Ordensland durch Stammesart und Geſchichte dem großen
[155]Verhandlungen über den Eintritt des preußiſchen Geſammtſtaats.
Vaterlande angehörte, ebenſo ſicher ließ ſich doch vorausſehen, daß weder
Oeſterreich noch die Mittelſtaaten dieſe Oſtmark jemals freiwillig in den
Deutſchen Bund aufnehmen würden, da ſie ja ſammt und ſonders die Be-
ſchränkung der preußiſchen Macht als den Hauptzweck der Bundespolitik be-
trachteten.


Der Staatskanzler beſchwor daher ſeinen königlichen Herrn, nicht durch
einen ſolchen Antrag allgemeines, peinliches Aufſehen zu erregen und „aus
der Reihe der europäiſchen Mächte gleichſam herauszutreten“; er verſchmähte
ſogar nicht die perfide Frage: „würde man dadurch nicht der Idee von
Deutſchheit noch mehr Nahrung geben, die in den Schwindelköpfen der
Zeit liegt?“*) Humboldt ſchloß ſich dem Staatskanzler an und erinnerte
nachdrücklich an die ſchwer errungene Stellung Preußens innerhalb der
europäiſchen Pentarchie. Auch Goltz berichtete aus Frankfurt: alle Klein-
ſtaaten wünſchten, daß der Bund nur eine paſſive Rolle in der europäi-
ſchen Politik ſpiele, und würden mithin nimmermehr den Eintritt des preu-
ßiſchen Geſammtſtaates genehmigen. Nochmals ſtellte Hardenberg dem
Könige vor, welches Mißtrauen der Plan in Petersburg und an den kleinen
Höfen erwecken müſſe.**) Die Möglichkeit aber, daß Preußen dereinſt
durch eine öſterreichiſch geſinnte Bundestagsmehrheit wider Willen in einen
italieniſchen Krieg der Habsburger hineingeriſſen werden könnte, fand noch
in keiner dieſer Denkſchriften Erwähnung; ein ſolcher Fall lag noch weit
außerhalb des Geſichtskreiſes der Zeit. Wurde Oeſterreich in der Lom-
bardei angegriffen, ſo war Preußen, nach der einſtimmigen Anſicht der Ber-
liner Staatsmänner, unzweifelhaft verpflichtet, den Bundesgenoſſen zu
unterſtützen; denn wer anders als Frankreich konnte den Angriff unter-
nehmen? an eine Schilderhebung der Piemonteſen wagte noch Niemand
zu denken.


Der König blieb unerſchütterlich: „Ich kann, erwiderte er dem Staats-
kanzler (1. Decbr. 1817), in dieſer ſo überaus wichtigen Sache durchaus
keine anderen Beſchlüſſe faſſen, indem ich zu ſehr von der Gefahr durch-
drungen bin, in die der Staat kommen kann.“***) Hardenberg mußte alſo
ſchweren Herzens den Plan des Monarchen, nebſt einer ausführlichen Denk-
ſchrift Ancillons, durch Geh. Rath Jordan der Hofburg mittheilen laſſen.
Metternich aber war über ſeine Antwort nicht im Zweifel. Nichts lag ihm
ferner als der Gedanke, den preußiſchen Antrag etwa durch das Anerbieten
des Eintritts von Geſammt-Oeſterreich zu überbieten; ſo verwegene Ent-
würfe galten damals noch allgemein als unausführbar, ſie widerſprachen
den Grundanſchauungen der Stabilitätspolitik und erſchienen dem Wiener
Hofe um ſo thörichter, da man ja den Plan der Bildung eines italieni-
[156]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
ſchen Bundes noch nicht aufgegeben hatte. Der öſterreichiſche Staatsmann
ſendete ſeinem preußiſchen Freunde einen zärtlichen, hochpathetiſchen Brief
(9. Jan. 1818), der für Jedermann — allein den König und den Staats-
kanzler ausgenommen — ein ewiges Geheimniß bleiben ſollte. Er ſchil-
derte beweglich, wie die glückliche Eintracht der beiden Mächte allein auf
der vollkommenen Gleichheit ihrer Stellung beruhe. „Dieſe Gleichheit be-
ſeitigen hieße das ganze Gebäude umſtoßen. Hüten wir uns, mein Fürſt,
an dieſer glücklichen Lage irgend etwas zu verändern!“ Eine beigefügte
Denkſchrift behauptete mit ſtolzer Zuverſicht: Würde einer der Bundes-
ſtaaten in ſeinem nicht-deutſchen Gebiete unrechtmäßig angegriffen, „ſo
würde es kaum einmal einer Defenſiv-Allianz bedürfen um den Bund in
Thätigkeit zu verſetzen; ſein eigenes Intereſſe würde ihn dazu bewegen.
Der Fall, daß Oeſterreich oder Preußen getrennt von Rußland angegriffen
würde, ohne daß die eine oder andere Macht für ihren Bundesgenoſſen
Partei nähme, liegt ſo ſehr außer aller Möglichkeit, daß es überflüſſig
wäre dabei zu verweilen.“ Der König jedoch ward weder durch die Mah-
nungen Oeſterreichs noch durch eine neue Denkſchrift ſeines Staatskanzlers
überzeugt und verlangte, obgleich Hardenberg dringend abrieth, ein Gut-
achten der auswärtigen Abtheilung ſeines Staatsraths.*) Hier ſtimmten
nach lebhaften Verhandlungen ſchließlich Alle darin überein, daß der Vor-
ſchlag des Königs angeſichts der Geſinnung der deutſchen Bundesſtaaten
vorläufig unausführbar ſei. Selbſt der Vertraute des Monarchen, der
wackere Oberſt Witzleben, der anfangs für die Anſicht ſeines königlichen
Freundes aufgetreten, ward durch die überlegenen Gründe der Gegner ge-
wonnen. Nun endlich gab der König nach und genehmigte (24. April),
daß außer den alten Reichslanden nur noch Geldern, Schleſien und die
Lauſitz dem Bunde beitraten. Unmuthig fügte er hinzu, dies geſchehe
gegen ſeine Ueberzeugung.**) Alſo wurde die Abſicht König Friedrich Wil-
helms, das alte Pflanzungsland des deutſchen Mittelalters wieder in den
Staatsverband der Nation zurückzuführen, für diesmal vereitelt. Erſt ein
Menſchenalter darauf, unter den Stürmen der Revolution, ſollte der Plan
wieder aufleben, und erſt nach abermals achtzehn Jahren, als die Herr-
ſchaft Oeſterreichs zuſammenbrach, ward er für die Dauer verwirklicht.


Ebenſo unglücklich verliefen die Verhandlungen über das Bundesheer.
König Friedrich Wilhelm betrieb ſie mit unermüdlichem Eifer, denn da
Preußen ſelbſt fünf Procent der Bevölkerung zum Heer ſtellte, ſo hielt er
ſich berechtigt von den Bundesgenoſſen mindeſtens annähernd gleiche Lei-
ſtungen zu fordern. Metternich dagegen legte auf die Organiſation der kleinen
[157]Die Bundeskriegsverfaſſung.
deutſchen Armeen wenig Gewicht, weil er des preußiſchen Bündniſſes ſicher
war. Die Frage ſchien nicht erheblich genug um deßhalb den Argwohn
der Mittelſtaaten zu erregen; brach ein Krieg aus, ſo mußten ſich die
kleinen Contingente doch, wie in den letzten Feldzügen, irgendwie an die
größeren Maſſen anſchließen. Ohnehin fehlte dem Wiener Hofe gänzlich
der militäriſche Sinn, das Verſtändniß für die ſittliche Bedeutung der
Heeresverfaſſung. Obgleich die Mängel des ſchwerfälligen öſterreichiſchen
Heerweſens während der jüngſten Kriege grell genug hervorgetreten waren, ſo
unterblieb doch im Frieden jede Verbeſſerung; der mißtrauiſche Kaiſer ſprach
als Grundſatz aus, daß man niemals einem Offizier, der ſich im Kriege her-
vorgethan, im Frieden eine einflußreiche Stellung anvertrauen dürfe, und
ließ den fähigſten ſeiner Generale, Radetzky, zehn Jahre lang auf dem
Feſtungscommando zu Olmütz. Die Maſchine verroſtete mehr und mehr.
Die jungen Offiziere ſpotteten laut über das militäriſche Philiſterthum
und ergötzten ſich an einer boshaften Satire, die im Jahre 1816 erſchien,
dem „Standhaften Kriegs-Dienſt- und Exercirreglement der Reichsſtadt
Riblingen“ — denn wie oft hatte nicht das tapfere kaiſerliche Heer, gleich
der Riblinger Armada, einen Feldherrn aus dem Geſchlechte derer von
Kraftlos ertragen müſſen! Zu Alledem kam noch der dringende Wunſch
des Kaiſers, alle erregten Verhandlungen in Frankfurt zu vermeiden.
Als ihm der Bundestag zum erſten male zum Geburtstage Glück wünſchte,
ließ er durch Metternich (2. März 1817) ſeinen Dank ausſprechen, und die
Auguren der Eſchenheimer Gaſſe vernahmen mit befriedigtem Lächeln, wie
der gute Kaiſer ſie ermahnte: ſie ſollten nicht vergeſſen, daß ſie als eine
permanente Verſammlung keinen Grund zu übereilter Arbeit hätten; nimmer-
mehr dürfe durch „übertriebenes Drängen der Geſchäfte ein nachtheiliger
Ausbruch“ am Bundestage herbeigeführt werden.


Während Kaiſer Franz alſo ſeine Beſorgniß vor dem heißblütigen
Ungeſtüm des jugendlichen Bundestages ausſprach, zeigten ſich die Mittel-
ſtaaten ſämmtlich entſchloſſen, Alles zu verwerfen, was der Einheit eines
wirklichen Heeres auch nur nahe kam. In keiner andern Frage wagte
ſich die noch ungebrochene rheinbündiſche Geſinnung dieſer Höfe ſo ſchamlos
hervor. Nicht die Vertheidigung des Vaterlandes gegen den auswärtigen
Feind, ſondern die Sicherung der kleinköniglichen Souveränität gegen die
Uebermacht der großen Bundesgenoſſen wurde ungeſcheut als der Zweck
der Bundeskriegsverfaſſung bezeichnet. Alle Mittel- und Kleinſtaaten, ſo
berichtete Berſtett zufrieden ſeinem Hofe, wünſchten die Bildung eines
reinen Bundesheeres von mehreren Corps aus den kleinen Contingenten
unter einem gewählten Bundesfeldherrn; daneben mochten noch ein öſter-
reichiſches und ein preußiſches Corps als ſelbſtändige Hilfstruppen geduldet
werden.*) Das deutſche Heer ſollte abſichtlich geſchwächt werden, damit
[158]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
die Ueberzahl der Oeſterreicher und der Preußen die Kleinen nicht erdrückte.
Ließ ſich dies höchſte Ziel nicht erreichen, ſo mußten die Kleinſtaaten min-
deſtens vor jeder Unterordnung unter die Großmächte bewahrt bleiben. Die-
ſelben Höfe, welche ſoeben, als die Zulaſſung der fremden Geſandten in
Frage ſtand, die europäiſche Macht des Deutſchen Bundes verherrlicht
hatten, ſagten jetzt demüthig: die Aufgabe ſei nicht eine gebietende Stellung
im europäiſchen Staatenſyſteme einzunehmen, ſondern nur eine vertheidi-
gende mit Würde zu behaupten — ſo lautete der erſte Commiſſionsbericht
des Bundestages in Sachen des Heerweſens. Baden und Darmſtadt
gingen noch weiter und erklärten geradezu, gegen Sinn und Wortlaut
der Bundesakte: Neutralität ſei das einzige Princip des Bundes. Da die
kleinen Höfe alleſammt feſt auf eine lange Zeit ungeſtörten Friedens hofften,
ſo wollten ſie ihren ermüdeten Völkern, ihren zerrütteten Finanzen nur
geringe Kriegsleiſtungen zumuthen. Die Landwehr, welche die meiſten
Kleinſtaaten während des Krieges nach preußiſchem Muſter gebildet hatten,
wurde von dem Zunftſtolze der rheinbündiſchen Offiziere mit Verachtung
angeſehen, zumal da ſie, mit Ausnahme der hannöverſchen, nur ſelten in’s
Gefecht gekommen war. Auch an Verdächtigungen fehlte es nicht; hatte
doch Steins verhaßte Centralverwaltung die Volksbewaffnung geleitet!
Nach dem Frieden hob man überall in den Kleinſtaaten die Landwehr
auf oder man ließ ſie verfallen, ſo daß ſie nur zuweilen, wie die vielbe-
lachten bairiſchen „Frohnleichnamsſoldaten“, an Feſttagen auf einige Stun-
den zum Vorſchein kam; und bald war Preußen der einzige deutſche Staat,
der noch eine kriegstüchtige Landwehr beſaß.


In dem Verlangen nach Abrüſtung vereinigten ſich die gedankenloſe
Selbſtſucht der kleinen Höfe und der Soldatenhaß des Liberalismus. Auch
darin ſtimmten alle Mittelſtaaten überein, daß man allenfalls für Kriegs-
zeiten eine mäßige Leiſtung verſprechen, doch nimmermehr im Frieden eine
Aufſicht von Bundeswegen ertragen dürfe. An den Höfen von Darm-
ſtadt und Karlsruhe fragte man unverhohlen: warum Opfer bringen für
ein Bundesheer, das dem engeren Vaterlande doch nichts nützen könne? be-
vor die Oeſterreicher und Preußen dem Südweſten zu Hilfe kämen, wür-
den die franzöſiſchen Heere längſt die deutſchen Grenzlande überſchwemmt
haben. So ſchnell waren die ſtrahlenden Siege der jüngſten Jahre wieder
vergeſſen; ſo lähmend wirkte die Nachbarſchaft jener elſaſſiſchen Feſtungen,
welche der faule Friede in Frankreichs Hand gelaſſen, auf den deutſchen
Stolz! Der Kurfürſt von Heſſen bewährte auch diesmal ſeine Anhäng-
lichkeit an die gute alte Zeit und ſchärfte ſeinem Geſandten ein, Heſſen
habe zu dem Reichsheere niemals mehr als 800 Mann geſtellt; doch wollte
er aus beſonderer Hingebung dem Deutſchen Bunde äußerſten Falles
2500 Mann gewähren, nur möge man ihn mit den „Hauskriegen“ Oeſter-
reichs und Preußens nicht behelligen. Dieſe Abſichten der kleinen Höfe
wurden ſchon bei den einleitenden Verhandlungen über das Heerweſen
[159]Verhandlungen über das Bundesheer.
mit cyniſcher Offenheit ausgeſprochen. Baiern fragte kurzab: wozu über-
haupt eine Vorſchrift über die Friedensſtärke der Contingente? genug, wenn
der Bund für den Kriegsfall das Verhältniß zwiſchen den Leiſtungen der
Bundesglieder feſtſtellt; ſind dieſe Simpla vereinbart, ſo kann alles Weitere
den Umſtänden und der freien Uebereinkunft der Staaten überlaſſen werden.
In der That gelangte der Bundestag am 29. Mai 1817 nur zu dem
Beſchluſſe, einen Ausſchuß mit der Aufſtellung einer proviſoriſchen Matrikel
zu beauftragen. Aber ſollte die Bevölkerung allein den Maßſtab für die
Matrikel bilden? Oder auch der Gebietsumfang und die Höhe der Staats-
einkünfte? Selbſt hierüber war man noch nicht einig. Die reichen Hanſe-
ſtädte empfahlen lebhaft den Bevölkerungsmaßſtab, der ihnen ein gutes Ge-
ſchäft verhieß; das dichtbevölkerte Württemberg ſprach ebenſo eifrig dawider.


Angeſichts ſolcher Erfahrungen ſetzte Hardenberg ſeine letzte Hoffnung
auf die Verſtändigung mit Oeſterreich. Schon um Mitte Mai 1817 ließ
er den Wiener Hof zu Sonderverhandlungen auffordern*), aber erſt im
Juli beauftragte Metternich, ſichtlich ungern, den General Steigenteſch,
in Karlsbad mit Boyen und dem General Wolzogen zuſammenzutreffen.
Dort geriethen die beiden alten Freunde Steigenteſch und Wolzogen hart
an einander, und nur Boyens ruhige Ueberlegenheit ſetzte endlich eine
halbe Verſtändigung durch. Sobald man den Dingen näher trat, kam
ſofort zu Tage, wie vollſtändig Hardenberg ſich über die Abſichten der Hof-
burg getäuſcht hatte. Der preußiſche Vorſchlag der Zweitheilung des Bun-
desheeres erſchien den Wiener Staatsmännern ſchlechthin unannehmbar. Er
bot zwar dem preußiſchen Staate die Ausſicht auf die militäriſche Beherr-
ſchung der dichten Wolke der norddeutſchen Kleinſtaaten; aber was hatte
Oeſterreich dabei zu gewinnen, da doch die Unterwerfung der bairiſchen und
der württembergiſchen Königskrone unter den kaiſerlichen Oberbefehl ganz
undenkbar war? Der Plan entſprang der Politik des friedlichen Dualismus;
doch er konnte, wie die Dinge lagen, nur die Machtſtellung Preußens zum
Nachtheil Oeſterreichs verſtärken. Darum ward er auch von dem einzigen
namhaften preußiſchen Staatsmanne, welcher damals ſchon die Trennung
von Oeſterreich erſtrebte, warm befürwortet. Präſident v. Motz ſendete um
die nämliche Zeit dem Staatskanzler eine Denkſchrift, die mit genialer
Kühnheit die große Lüge des deutſchen Bundesrechts beleuchtete. Hier
ward der Bund kurzerhand als „ein politiſcher Nothbehelf“ bezeichnet,
den die Eiferſucht der deutſchen Fürſten im Verein mit Oeſterreich, Ruß-
land und Frankreich geſchaffen habe „um Deutſchland in ewiger Kraft-
zerſplitterung zu erhalten“. Preußen aber müſſe ſchon jetzt den Zeitpunkt
in’s Auge faſſen, „wo das unhaltbare Bundeswerk wieder in ſich ſelbſt zer-
fallen werde“, und daher vorläufig, ſo lange ein einiges deutſches Heer
noch nicht möglich ſei, die norddeutſchen Contingente durch Militärcon-
[160]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
ventionen mit ſeiner Armee zu verbinden ſuchen.*) Wie durfte Oeſter-
reich auf einen Vorſchlag eingehen, der zu ſolchen Hoffnungen Anlaß gab?


Nach lebhaftem Widerſtreben unterzeichnete der öſterreichiſche Bevoll-
mächtigte zu Karlsbad endlich (10. Auguſt) eine Convention über die Bun-
desfeſtung Mainz: die beiden Großmächte ſollten je die Hälfte der Gar-
niſon ſtellen und aller fünf Jahre abwechſelnd den Gouverneur oder den
Commandanten ernennen. Mit dieſer rechtlichen Gleichheit ward freilich
die Eintracht in der deutſchen Hauptfeſtung nicht hergeſtellt; denn da Oeſter-
reich von vornherein, dem Geiſte der Bundesakte zuwider, nichtdeutſche
Regimenter in den rheiniſchen Platz ſendete, ſo brachen bald Händel aus
zwiſchen den deutſchen und den fremden Truppen, und ſo lange der Deutſche
Bund beſtand bildeten die unabläſſigen Raufereien der Mainzer Garniſon
das erfreuliche Gegenſtück zu dem unblutigen Gezänk in Frankfurt. Schon
vorher (12. März) war mit den Niederlanden ein Vertrag zu Stande ge-
kommen, kraft deſſen König Friedrich Wilhelm ſich verpflichtete, für die zweite
Bundesfeſtung Luxemburg drei Viertel der Garniſon, den Gouverneur und
den Commandanten zu ſtellen. Zugleich begann Preußen, unter Aſters
genialer Leitung, den Ausbau ſeiner rheiniſchen Feſtungen Coblenz, Köln,
Weſel, Jülich, Saarlouis und verwendete dazu nach und nach, außer den
20 Mill. Fr., welche der Pariſer Vertrag angewieſen, noch eine beträchtliche
Summe aus ſeinen eigenen Mitteln. Der Ehrenbreitſtein ward wieder her-
geſtellt, und bald krönte die lieblichen Höhen an der Moſelmündung jener
mächtige Kranz von vorgeſchobenen Werken, der die Bewunderung des alten
Feſtungsſtürmers Wellington erregte und die zurückgebliebene, noch in Vau-
bans Ideen befangene Befeſtigungskunſt der Franzoſen beſchämte. Während
Preußen dergeſtalt, weit über ſeine Bundespflichten hinaus, für die Sicher-
heit des Niederrheins ſorgte, lag der Südweſten noch völlig ſchutzlos vor den
Ausfallsthoren der elſaſſiſchen Feſtungen. Zu Paris hatte man verab-
redet, Landau als dritte Bundesfeſtung dem Bunde zu überweiſen, doch
das Verſprechen blieb noch immer unausgeführt. Für eine vierte Bun-
desfeſtung am Oberrhein waren 20 Millionen aus der franzöſiſchen Con-
tribution beſtimmt; aber die ſüddeutſchen Höfe ſtritten ſich über den Platz.
Baden und Württemberg verlangten zum Schutze ihres eigenen Gebietes
eine Feſtung dicht am Rhein, etwa in Raſtatt; Oeſterreich dagegen wünſchte
durch die Befeſtigung von Ulm die Donauſtraße zu ſperren und die Wieder-
kehr des Auſterlitzer Feldzugs zu verhindern. Da ſich die Lage von Ulm
zur Errichtung eines großen oberdeutſchen Waffenplatzes eignete und Oeſter-
reich um keinen anderen Preis die Gleichberechtigung der beiden Groß-
mächte in der Mainzer Feſtung zugeben wollte, ſo verſprach Boyen, Preu-
ßen werde am Bundestage für Ulm ſtimmen.


[161]Die Karlsbader Convention.

Ueber die Eintheilung des Bundesheeres vermochten die Unterhändler
in Karlsbad ſich nicht zu einigen. Nur eine ganz allgemein gehaltene
Uebereinkunft, nur der Entwurf eines Entwurfs kam zu Stande: die Bun-
desſtaaten verpflichten ſich, in Kriegszeiten zwei Procent der Bevölkerung
zum Bundesheere, und außerdem ein Procent Erſatztruppen zu ſtellen;
wird der Bundeskrieg erklärt, ſo legen die Contingente der Bundesſtaaten
ein gemeinſames Abzeichen an und der Bundestag wählt einen Staat, der
ſeinerſeits den Bundesfeldherrn ernennt. Dieſer Staat konnte nur Oeſter-
reich ſein. Boyen gewährte das Zugeſtändniß, weil er vorausſah, daß die
Natur der Dinge trotzdem wieder, wie im letzten Kriege, die Theilung des
Kriegstheaters erzwingen würde. Um das kümmerliche Ergebniß der Karls-
bader Conferenz durch einige beſtimmtere Abreden zu ergänzen und über-
haupt ein gemeinſames Vorgehen der beiden Großmächte am Bundestage
zu vereinbaren, wurde im December noch Geh. Rath Jordan nach Wien ge-
ſendet; aber auch er erlangte nur unſichere Zuſagen.


Unterdeſſen hatten die öſterreichiſchen Diplomaten das Geheimniß der
Karlsbader Uebereinkunft ſchon längſt den kleinen Höfen verrathen. Schon
vierzehn Tage nach dem Abſchluß, lange bevor der preußiſche Bundesge-
ſandte ſelbſt von den Karlsbader Verhandlungen etwas ahnte, waren die
ſüddeutſchen Kabinette bereits unterrichtet. Ein jäher Schrecken ergriff
die Souveräne, das Geſpenſt der deutſchen Zweiherrſchaft ſtand drohend
vor den Thoren. Der Kurfürſt von Heſſen eilte ſofort nach Darmſtadt,
der Großherzog von Baden nach Homburg zum Könige von Württemberg;
die vier Fürſten verſchworen ſich, jedem Uebergriffe der Großmächte vereint
entgegenzutreten. Als der Bundestag im Herbſt nach ſeinen erſten Ferien
wieder zuſammentrat, fand Graf Goltz, der noch immer von nichts wußte,
die Stimmung der Verſammlung wunderbar aufgeregt und verbittert.*)
Erſt am 15. Januar 1818 wagte Buol die Karlsbader Convention als
einen Präſidialantrag dem Bundestage vorzulegen. Um die entrüſteten
Hörer zu beſchwichtigen, betheuerte er, daß er damit nur das Feld für die
freie Berathung eröffnen wolle; zwei Geſichtspunkte müßten bei der Ver-
handlung feſtgehalten werden: „die vollkommene Würdigung der Souve-
ränität der deutſchen Staaten und die Rückſicht auf ein wirkſames Ver-
theidigungsſyſtem.“ Dann überreichte er noch einen ungeheuerlichen Ent-
wurf für die Eintheilung des Bundesheeres, der eine Friedensſtärke von nur
120,000 Mann verlangte und den beiden Großmächten je ein Armeecorps
von 41,500 Mann zuwies; die übrigen 37,000 Mann ſollten in neun
Corps zerfallen, alſo daß jeder Mittelſtaat von Baiern bis auf Luxemburg
herab ſich den Hochgenuß eines commandirenden Generals gönnen konnte.
Die Perle dieſer elf Corps war das elfte, das 2606 Luxemburger, Naſ-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 11
[162]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
ſauer und Hanſeaten unter der Führung eines niederländiſchen Generals
umfaſſen ſollte. Preußen gab dem wunderſamen Vorſchlage nur darum
vorläufig ſeine Zuſtimmung, weil dieſe winzigen Corps im Kriegsfalle
unmöglich neben den Heeren der beiden Großmächte ihre Selbſtändigkeit
behaupten konnten, und man doch nicht wagen durfte die Zweitheilung
des Heeres geradeswegs zu beantragen.


Aber wie ſorgſam Oeſterreich auch die Souveränität der Kleinen ge-
ſchont hatte, wie beſcheiden auch ſeine Anträge klangen, den Erben des
Rheinbundes ſchien ſelbſt dies Nichts unerträglich drückend. Umſonſt
ſendete Hardenberg im Januar den General Wolzogen nach Stuttgart
um dem neuen Könige auseinanderzuſetzen, daß nur ein Heer von min-
deſtens zwei Procent der Bevölkerung einem Angriffe Frankreichs gewachſen
ſei; die Selbſtſucht König Wilhelms war ſtärker als ſein Soldatenverſtand.
Als am 16. Februar die Abſtimmung begann, ſtanden Baiern, Sachſen,
Württemberg, Baden und die beiden Heſſen einhellig gegen die Großmächte.
Sie forderten ziemlich übereinſtimmend: Herabſetzung der Kriegsſtärke auf
die Hälfte; mehr als 1 % für das Heer und ½ % für den Erſatz ſei uner-
ſchwinglich. Ferner Erwählung des Bundesfeldherrn durch den Bundestag
ſelbſt; dann blieb die Ausſicht, den Marſchall Wrede oder einen kleinkönig-
lichen Prinzen an die Spitze des deutſchen Heeres zu ſtellen. Selbſtver-
ſtändlich durfte dieſer deutſche Feldmarſchall auch im Kriege die Einthei-
lung der Corps nicht verändern, auch ſollte er ſich eines parlamentariſchen
Hauptquartiers erfreuen, einer Verſammlung von Offizieren aus allen
Contingenten, welche das Intereſſe ihrer Souveräne bei dem Feldherrn
zu vertreten hätten. Schlechterdings keine Inſpektion von Bundeswegen
in Friedenszeiten, auch keine Vorſchriften über die Landwehr; überhaupt
ſollte die Ausführung des künftigen Bundesgeſetzes ausſchließlich den Ein-
zelſtaaten überlaſſen bleiben. Dieſe Ausſicht war um ſo erfreulicher, da
der Kurfürſt von Heſſen ausdrücklich hinzufügte, man dürfe ihm nicht zu-
muthen, die Stämme und die Ausrüſtung für die Kriegsſtärke ſchon im
Frieden bereit zu halten. Ein gemeinſames Abzeichen wollte man im
Kriege allenfalls ertragen, nur durfte es bloß ein Erkennungszeichen ſein wie
die weiße Armbinde, welche die Kriegsvölker des verbündeten Europas in
Frankreich, unbeſchadet ihrer nationalen Selbſtändigkeit, einſt geführt hatten.
Für die Eintheilung des Bundesheeres ward als unverbrüchliche Regel
gefordert, daß kein Staat, der ein vollſtändiges Armeecorps ſtelle, andere
Truppen mit den ſeinen vereinigen dürfe; die gemiſchten Corps ſollten
„nach den geographiſchen und verwandtſchaftlichen Verhältniſſen“ gebildet
werden. Der Kurfürſt von Heſſen zeigte zugleich an, er habe mit dem
Vetter in Darmſtadt verabredet „eine Diviſion gemeinſam den Feinden
des gemeinſchaftlichen und des beſonderen Vaterlandes entgegenzuſtellen“;
und Jedermann wußte, daß mit den Feinden des beſonderen Vaterlandes
nur Preußen gemeint war.


[163]Die Hauptpunkte der Bundeskriegsverfaſſung.

Hardenberg wollte im erſten Zorne Genugthuung von dem Heſſen
fordern;*) der Wohlmeinende ſtand völlig rathlos vor den Kraftleiſtungen
eines Particularismus, der ſo unbefangen eingeſtand, daß er ohne jede
ernſthafte Gegenleiſtung nur den Schutz der beiden Großmächte bean-
ſpruchte und im Nothfalle auch den Uebergang zum Landesfeinde nicht
ſcheute. Und dazu die häßliche Verlogenheit der ganzen Berathung: keiner
der Bundesgenoſſen konnte ſich darüber täuſchen, daß weder Oeſterreich
noch Preußen jemals ſein Heer in zwei Stücke zerreißen würde, und mit-
hin alles Streiten über die Bundescontingente der beiden Großmächte ſinn-
los war. Metternich aber fand das Auftreten der Mittelſtaaten keines-
wegs anſtößig, ſondern verhandelte in der Stille mit den ſüddeutſchen Höfen
und verſprach dem Könige von Württemberg: neben den geſchloſſenen
Maſſen der öſterreichiſchen, preußiſchen und bairiſchen Armee ſollten noch
zwei oder drei gemiſchte Corps gebildet werden, ſo daß Württemberg, Han-
nover und vielleicht auch Sachſen ein Corpscommando zu beſetzen hätten.
Währenddem ward auch Buol von den ſüddeutſchen Geſandten bearbeitet;
der Badener Berckheim fragte ihn vorwurfsvoll, warum Oeſterreich in
Preußens Schlepptau gehe.**) In der Sitzung vom 9. April 1818 trat
der Präſidialgeſandte endlich offen zu den Mittelſtaaten über und legte dem
Bundestage einige „Hauptpunkte“ für die Bundeskriegsverfaſſung vor,
welche in allem Weſentlichen den Anträgen der ſüddeutſchen Höfe ent-
ſprachen. Die Verſammlung ging freudig darauf ein; Preußen fand ſich
gänzlich vereinſamt und genehmigte was nicht mehr zu ändern war.


Der Staatskanzler ward aber ſelbſt durch dieſe Erfahrung nicht über
die Zuverläſſigkeit der öſterreichiſchen Freundſchaft aufgeklärt, obwohl ihn
Boyen, Wolzogen und ſogar der harmloſe Goltz wiederholt auf die offen-
bare Zweizüngigkeit der Wiener Politik aufmerkſam machten. Noch immer
hielt er Metternich für einen treuen, nur allzu nachgiebigen Freund,
während dieſer in Wahrheit zäh und verſchlagen, wie die Mittelſtaaten,
nur das eine Ziel verfolgte: jede militäriſche Verſtärkung Preußens zu
verhindern. Zur Durchführung jener „Hauptpunkte“ ward ein Ausſchuß
des Bundestages eingeſetzt und außerdem noch eine aus Offizieren der
größeren Staaten gebildete Militär-Commiſſion, ſo daß die militäriſchen
Angelegenheiten ſtets drei Inſtanzen zu durchlaufen hatten. Ein neuer
Zank begann, als Preußen ſich bereit erklärte, ebenſo viel Truppen zum
Bundesheere zu ſtellen wie Oeſterreich, obwohl die Volkszahl ſeiner Bun-
deslande etwas ſchwächer war. Der König hatte in ſeiner argloſen Ehr-
lichkeit gehofft, der Bund werde ihm für dies patriotiſche Opfer danken,
und fühlte ſich ſchwer enttäuſcht, als Metternich dem preußiſchen Geſandten
mit freundſchaftlichem Bedauern antwortete: die Annahme „dieſes groß-
11*
[164]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
müthigen Anerbietens“ ſei am Bundestage leider wenig wahrſcheinlich, am
wenigſten, wenn das gefürchtete Oeſterreich ſich dafür ausſpräche. In der
That erklärten die Bundesgeſandten, der Hannoveraner Martens voran,
ihr gerechtes Befremden über die unerhörte Zumuthung ſobald Goltz ſich
im Sommer mit dem Antrage hervorwagte.*)


Noch länger währte der Streit über die Eintheilung des Bundes-
heeres. Die „Hauptpunkte“ hatten nur beſtimmt, daß die kleinen Con-
tingente vor jeder Berührung mit den Heeren der drei größten Staaten
geſichert bleiben müßten. Preußen forderte nun, Kurheſſen ſolle, ſeiner
geographiſchen Lage gemäß, einem norddeutſchen Corps beitreten; der Kur-
fürſt dagegen hielt „die verwandtſchaftlichen Verhältniſſe“ für wichtiger
und wollte mitſammt dem Darmſtädter Vetter ſich an Württemberg an-
ſchließen. Die Zänkerei ward völlig unerträglich, ſeit der neue Vertreter
Oeſterreichs in der Militärcommiſſion, General Langenau insgeheim das
Feuer ſchürte; der gewandte Sachſe hatte ſchon in Schwarzenbergs Haupt-
quartier und auf dem Wiener Congreſſe ſeinen Haß gegen Preußen be-
währt und zeigte ſich in allen den kleinen Künſten, welche am Bundes-
tage entſchieden, dem gelehrten Preußen Wolzogen weitaus überlegen. Im
Auguſt ward man endlich noch darüber einig, daß die Bevölkerung den
Maßſtab für die proviſoriſche Bundesmatrikel bilden ſollte; denn zu einer
definitiven Matrikel iſt der Deutſche Bund in einem halben Jahrhundert
niemals gelangt. Aber nun begann wieder das Feilſchen der Kleinen:
Hildburghauſen berechnete ſeine Bevölkerung nach einer Zählung vom
Jahre 1807, Gotha und Altenburg wurden überführt, ihre Reiche um
12000 Seelen zu niedrig geſchätzt zu haben — und was des Schmutzes
mehr war.**)


Als der Deutſche Bund ſein drittes Jahr begann, war weder die
Kriegsverfaſſung beſchloſſen, noch die Karlsbader Convention über die
Feſtung Mainz vom Bundestage genehmigt, noch Luxemburg und Landau
dem Bunde überwieſen, noch über die vierte Bundesfeſtung irgend etwas
vereinbart. Mittlerweile lagen die mit dem Blute der Waterloo-Kämpfer
erkauften franzöſiſchen Millionen gegen mäßigen Zins bei Rothſchild und
bereicherten dies Haus, das zuerſt durch die Blutgelder des heſſiſchen Kur-
fürſten ſeine Größe begründet, dann ſeit dem Jahre 1813 ſich raſch zu
der Stellung einer Weltmacht aufgeſchwungen und in wenigen Jahren
mehr denn 1200 Mill. Gulden an Subſidienzahlungen und Anleihen für
die tief verſchuldeten Höfe Europas übernommen hatte. Die deutſche Volks-
wirthſchaft zog aus den Schätzen der Rothſchilds wenig Gewinn; denn die
Firma war nicht deutſch, wie einſt die Fugger und die Welſer, ſondern zeigte
[165]Verhandlungen über die Landſtände.
von vornherein den weltbürgerlichen Charakter des modernen Judenthums.
Die fünf, durch den dankbaren Kaiſer Franz baroniſirten Söhne des alten
Amſchel ſiedelten ſich in allen Hauptplätzen Weſteuropas an und befolgten
alleſammt jenen einfachen Grundſatz, welchen einſt ihr Vater gegen den
Kurfürſten von Heſſen ausgeſprochen hatte: „wer mir mein Geld nimmt,
nimmt mir meine Ehre, und meine Ehre iſt mein Leben.“ Der Frank-
furter Zweig des Hauſes blieb der Hofburg ein treuer Helfer in ihrer
ewigen Finanznoth und ein mächtiger Bundesgenoſſe ihrer deutſchen Politik;
in Berlin war wenig zu gewinnen, da der preußiſche Staatshaushalt zehn
Jahre nach dem Frieden bereits wieder in Ordnung kam. Friedrich Gentz
aber ſchrieb voll uneigennütziger Begeiſterung einen langen Aufſatz für
das Converſationslexikon, der die unvergleichliche Weisheit und Tugend der
Gebrüder Rothſchild in vollendetem Bedientenſtile feierte. —


Wenn der Bundestag die nächſte und wichtigſte ſeiner Pflichten ſo
ſchimpflich verabſäumte, um wie viel weniger konnte er den zahlreichen
anderen Aufgaben gerecht werden, welche ihm die vieldeutigen Worte der
Bundesakte zuwieſen. Schleunige Erfüllung des Art. 13, der die Ein-
führung von Landſtänden verhieß — ſo lautete der einſtimmige Ruf aller
Parteien der Oppoſition, und nichts wollte man dem Bundestage weniger
verzeihen, als daß er ſich um jene Zuſage ſo wenig kümmerte. Und doch
war die Bundesverſammlung keineswegs berechtigt, ſich auf Grund jener
unbeſtimmten Weiſſagung in die Verfaſſungskämpfe der Einzelſtaaten ein-
zumiſchen. Obſchon Hardenberg dem Grafen Goltz in ſeiner Inſtruktion
einſchärfte, das Ausbleiben der verheißenen Verfaſſungen könne nach allen
den Drangſalen der Kriegsjahre hochgefährlich werden, ſo fanden ſich doch
die Bundesgeſandten bald zuſammen in dem ſtillſchweigenden Entſchluſſe
dieſe heikliche Frage nicht zu berühren. Alle Kabinette erfuhren bald, daß
die Verwirklichung jenes Verſprechens doch weit ſchwieriger war als die
liberale Ungeduld wähnte, alle bewachten eiferſüchtig ihre Souveränität
gegen den Bund, manche dachten auch ſchon im Stillen ſich der unbe-
quemen Verpflichtung ganz zu entziehen, zumal ſeit in Württemberg ein
leidenſchaftlicher Kampf zwiſchen der Krone und den Landſtänden ausge-
brochen war, der die Höfe mit Schrecken erfüllte.


Gleichwohl ward der Bundestag gezwungen ſich mit der Angelegenheit
zu befaſſen. Karl Auguſt von Weimar hatte ſchon im Mai 1816, der Erſte
unter ſeinen Genoſſen, eine Verfaſſung für ſein Ländchen verkündigt und
verlangte im December die Bürgſchaft des Bundes für dies Grundgeſetz.
Der gradſinnige Fürſt ſprach offen aus, er ſei gewillt die für Deutſchland
aufgegangenen Hoffnungen in ſeinem Lande zu verwirklichen, und mit brau-
ſendem Jubel feierte die liberale Preſſe „den einzigen deutſchen Fürſten, der
ſein Wort gehalten“. Die Mehrheit des Bundestages empfing den wei-
mariſchen Antrag mit unverhohlenem Aerger; warum mußte dieſer kleine
Herr ſich ſo anmaßlich vordrängen und, um die Volksgunſt buhlend, die
[166]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
anderen Souveräne in den Schatten ſtellen? Es kam zu heftigen Auf-
tritten. Als Baiern die Competenz des Bundestages bezweifelte, erwiderte
der Geſandte der erneſtiniſchen Höfe ſcharf: durch ſolche Behauptungen be-
ſtätige man nur den weitverbreiteten grundloſen Vorwurf, als ob der Bund
lediglich die neuen Souveränitätsrechte wahren, den Unterthanen aber ihre
vormals durch die Reichsverfaſſung geſicherten Rechte vorenthalten wolle.
Der argloſe Gagern vermehrte noch die Verſtimmung, da er dem Groß-
herzog treuherzig ſeinen Dank ausſprach für dieſen Vorgang, der eine Trieb-
feder mehr für andere Fürſten ſein würde. In Wien war man peinlich
überraſcht, da man weder dem fürſtlichen Demagogen in Weimar eine Aner-
kennung gönnte noch dem Bundestage eine ſchiedsrichterliche Gewalt ein-
räumen wollte. Hardenberg dagegen, der noch zuverſichtlich an das Ge-
lingen ſeiner eigenen Verfaſſungspläne glaubte, nahm ſich des Großherzogs
an, lobte die patriotiſche Geſinnung, die ſich in dem weimariſchen Antrage
bekundete, und beſchwichtigte durch einen vertraulichen Brief vorläufig die
Bedenken Metternichs. Mit der üblichen feierlichen Langſamkeit that der
Bundestag endlich was er nicht laſſen durfte und bewilligte, nach reichlich
vier Monaten, in den trockenſten Worten die erbetene Bürgſchaft; doch
fügte der öſterreichiſche Geſandte nachdrücklich hinzu: in ſolchen Fragen müſſe
grundſätzlich Alles der freien Vereinigung der Fürſten und der Stände
überlaſſen bleiben.


Um die nämliche Zeit hatte ein Löwenſtein’ſcher Juſtizrath Beck im
Odenwalde eine unſchuldige Petition angefertigt, die den Bundestag um
ſchleunige Ausführung des geliebten Art. 13 bat; einige Heißſporne aus
der Jenenſer und Heidelberger Studentenſchaft trugen das Schriftſtück auf
weiten Fußwanderungen von Ort zu Ort. Der Mann kam ſelbſt nach
Frankfurt, beſuchte einige der Geſandten und führte, wie die Erſchreckten
heim berichteten, eine höchſt revolutionäre Sprache. Trotz des Eifers der
Studenten und des Beifalls der liberalen Preſſe fand die Bittſchrift in ganz
Deutſchland kaum tauſend Unterzeichner; aber es war ſeit unvordenklichen
Zeiten das erſte Beiſpiel einer über mehrere deutſche Staaten verzweigten
politiſchen Agitation, und der Beamtenſtaat hing noch überall an der alten
unverbrüchlichen Regel: jede Bitte iſt erlaubt, nur nicht das Sammeln
von Unterſchriften. Daher erregte dies ſchüchterne Erwachen des Partei-
lebens allgemeine Beſtürzung an den Höfen; ſelbſt Hardenberg befahl dem
Geſandten in Frankfurt lebhaft erregt, dies gefährliche demagogiſche Treiben
ſcharf im Auge zu behalten.*)


Nach wie vor blieb Metternich entſchloſſen den Bundestag von dieſen
ſchwierigen Fragen fern zu halten. Er ſah mit Befriedigung, daß in den
öſterreichiſchen Kronländern die Verheißung der Bundesakte längſt herrlich
erfüllt war; hier beſtanden ja noch jene mumienhaften Poſtulatenlandtage,
[167]Metternichs Manifeſt über den Art. 13.
deren beſchaulicher Lebenslauf ſich gemeinhin in drei Akten abſpielte: Auf-
fahrt der Herren Stände in ihren Staatskaroſſen, Vorleſung und ein-
ſtimmige Annahme der landesherrlichen Poſtulate, endlich Wiederabfahrt
der Herren Stände in den nämlichen Staatskaroſſen. Nur einmal, im
Herbſt 1817, verfiel Metternich auf den Plan, einige Abgeordnete dieſer
Landtage nebſt den Spitzen des Beamtenthums zu einem Reichsrathe zu
verſammeln; doch da Kaiſer Franz den verwegenen Neuerungsvorſchlag
achtzehn Jahre lang, bis zu ſeinem Tode, in ſeinem Pulte liegen ließ, ſo
verfolgte der Miniſter den Gedanken nicht weiter und verharrte bei dem
bewährten Grundſatze der Stabilität. Wie hätte er alſo den Argwohn der
deutſchen Souveräne erwecken mögen wegen dieſes Art. 13, der doch nur
durch die Ideologen Hardenberg und Humboldt in die Bundesakte gelangt
war! Sobald ihm der bairiſche Miniſter Rechberg, erſchreckt durch jene Ab-
ſtimmung über den weimariſchen Antrag, lebhafte Beſorgniſſe vor mög-
lichen Uebergriffen der Bundesverſammlung ausſprach, benutzte Metternich
gern die Gelegenheit, um die kleinen Höfe über die Unſchädlichkeit des Bun-
destags zu beruhigen und ſendete an den Geſandten Hruby in München
eine lange Denkſchrift (11. Decbr. 1817), die unter dem Titel eines „Mani-
feſtes“ auch den anderen Kabinetten mitgetheilt wurde. Sie erwies —
nach einer pathetiſchen Schilderung der unvergleichlichen Vorzüge des deut-
ſchen „Foederativſtaates“: — der Bundestag könnte nur dann eine ſelb-
ſtändige Gewalt ausüben, wenn alle Fürſten perſönlich daran theilnähmen;
gegenwärtig genüge „die Zurückberufung eines einzigen aufwiegelnden, daher
untreuen Geſandten“ um allen Uebeln vorzubeugen. „Der Kaiſer iſt
überzeugt, daß der kleine weimariſche Staat bis zur Stunde mehr Unheil
über Deutſchland zu verbreiten berufen iſt, als die Bundesverſammlung
in ihrer geſetzlichen Lage, ſelbſt in kaum denkbaren Fällen zu thun ver-
möchte.“ Am Wenigſten dürfe ſich der Bund um die Ausführung des
Art. 13 kümmern. „Die natürliche und höchſt einfache Berückſichtigung der
Umtriebe, welche ſich heute Ruheſtörer jeder Art, in der Abſicht den Zeit-
geiſt aufzuregen, erlauben, fordert unbedingt, daß die Bundesverſammlung
ſich der Initiative enthält. Das Geſetz beſteht; dieſes muß für den Augen-
blick genügen; die Anwendung des Geſetzes muß der Weisheit jeder ein-
zelnen Regierung überlaſſen bleiben.“*)


So fern lag dem Wiener Hofe noch der Plan, durch Bundesbeſchlüſſe
die conſtitutionelle Bewegung zu hemmen. Die erſte Anregung zu einer reak-
tionären Bundespolitik kam vielmehr von dem Monarchen, welcher damals
neben Karl Auguſt in der Volksgunſt am höchſten ſtand. Der ehrgeizige
junge König Wilhelm von Württemberg hatte ſich ſeit ſeiner Thronbeſteigung
redlich bemüht, den ärgerlichen Verfaſſungsſtreit, den er von ſeinem böſen
Vater überkommen, abzuſchließen und ſeinen Ständen ſchon zweimal ver-
[168]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
geblich liberale Verfaſſungsentwürfe vorgelegt. Da überfiel ihn im Herbſt
1817 die Reue, und er beſchloß beim Bunde Hilfe zu ſuchen gegen ſeinen
eigenen Liberalismus. Seine Geſandten Wangenheim in Frankfurt und
Wintzingerode in Wien erhielten den Auftrag, um authentiſche Interpre-
tation des Art. 13 von Bundeswegen zu bitten, „damit allen übertriebenen
Anforderungen eine feſte und unerſchütterliche Schranke geſetzt werde.“
Natürlich durften die Beiden den wahren Grund der Bitte nicht verrathen.
Der König, ſo verſicherten ſie, ſei durch ſein Wort gebunden, jedoch die
unruhige Stimmung in Preußen und den Nachbarlanden Württembergs
bedürfe eines Zügels, und — fügte der plauderhafte Wangenheim harm-
los hinzu — die württembergiſchen Verfaſſungspläne drohten für ganz
Deutſchland ein verhängnißvolles Beiſpiel zu werden.*) Der Vorſchlag
fand aber bei den Bundesgeſandten eine ſo kühle Aufnahme, daß Wangen-
heim ſich dazu verſtehen mußte, ſeinen Antrag, den er in einer vertrau-
lichen Sitzung (18. Dec.) geſtellt, nicht zu Protokoll zu geben. In Wien
war Wintzingerode nicht glücklicher. Metternich äußerte zwar in vertrau-
licher Unterredung, die landſtändiſchen Verfaſſungen des Art. 13 hätten
nichts gemein mit der revolutionären Idee einer allgemeinen Volksver-
tretung, und verrieth alſo ſchon jetzt einen Lieblingsgedanken ſeiner Politik,
der in der deutſchen Politik noch argen Unfrieden ſtiften ſollte; aber eine
Einwirkung des Bundes auf die ſtändiſchen Angelegenheiten ſchien ihm
unmöglich, ſchon aus Rückſicht auf Preußen und Baiern. Der Anſchlag
König Wilhelms war mißlungen, doch er blieb in Wien unvergeſſen. Metter-
nich hatte erfahren, wie wenig nachhaltiger Widerſtand von den kleinen
Kronen zu erwarten war, falls man ſich einmal entſchlöſſe die Macht des
Bundes gegen die Landtage zu wenden. Der conſtitutionelle König, den
die unſchuldige Preſſe als den Helden des Liberalismus feierte, wies der
Hofburg ſelber zuerſt den Weg zur Unterdrückung deutſcher Freiheit.


Inzwiſchen kam der leidige Art. 13 in Frankfurt doch noch einmal
zur Sprache, da auch die mecklenburgiſchen Herzöge die Bürgſchaft des
Bundes verlangten für ein Verfaſſungsgeſetz, das zur Ergänzung ihres
altehrwürdigen Erbvergleichs dienen ſollte. Bei dieſer Verhandlung be-
richtete Graf Goltz, auf Hardenbergs Befehl, ausführlich, was in Preußen
bisher geſchehen war um das Verfaſſungsverſprechen zu erfüllen; er wider-
rieth die Regelung der ſtändiſchen Angelegenheiten durch die Bundesver-
ſammlung, welche doch „nur allgemeine Sätze aufſtellen“ könne, beantragte
jedoch, daß die Einzelſtaaten dem Bundestag über den Stand ihrer Ver-
faſſungsarbeiten binnen Jahresfriſt wieder Bericht erſtatten ſollten. König
[169]Verhandlungen über die Preßfreiheit.
Friedrich Wilhelm war über dies Vorgehen ſeines Staatskanzlers anfangs
ſehr ungehalten, weil er vorausſah, daß die preußiſche Verfaſſung über’s
Jahr unmöglich vollendet ſein konnte; und welches Recht habe der Bund
über dieſe Dinge Rechenſchaft zu fordern? Indeß beruhigte ſich der König,
da Hardenberg ihm vorſtellte, die Einführung neuer ſtändiſcher Inſtitu-
tionen, an der Stelle der verlebten alten Provinziallandtage ſei doch be-
ſchloſſene Sache: „Heute kann nicht Geſtern werden.“*) Der Bundestag
ertheilte nunmehr den Mecklenburgern die gewünſchte Garantie und nahm
den preußiſchen Antrag an. Die Krone Württemberg aber verſagte ſich’s
nicht, vor der Nation nochmals das Licht ihres unvergleichlichen Liberalismus
leuchten zu laſſen. Derſelbe Wangenheim, der ſoeben insgeheim eine be-
ſchränkende Interpretation des Art. 13 gefordert hatte, betheuerte in dem
veröffentlichten Protokoll vom 6. April: „die regeſte Sorgfalt Sr. Ma-
jeſtät ſei auf eine den liberalſten Grundſätzen entſprechende Repräſentativ-
verfaſſung gerichtet.“ Es war das erſte Probſtück jener heuchleriſchen, treulos
zwiſchen dem Bundestage und den heimiſchen Landſtänden hin und her
ſchwankenden Politik, welche fortan ein Menſchenalter hindurch von den
conſtitutionellen Mittelſtaaten befolgt wurde.


Nächſt der landſtändiſchen Verfaſſung war die Preßfreiheit der Lieb-
lingswunſch der Liberalen; ſie hofften um ſo ſicherer auf die Erfüllung
dieſes Verlangens, da der Art. 18 der Bundesakte dem Bundestage vor-
ſchrieb, bei ſeiner erſten Zuſammenkunft gleichförmige Verfügungen über
Preßfreiheit und Nachdruck abzufaſſen. Aber auch dieſe Hoffnung ſollte
trügen. Die wenig beſchränkte Freiheit, deren ſich die deutſche Literatur
in ihren claſſiſchen Tagen erfreute, beruhte auf der Vorausſetzung, daß
die Schriftſteller der Politik immerdar fern bleiben müßten. Als dann ſeit
dem Jahre 1813 plötzlich eine politiſche Preſſe aufſchoß, ehrlich und warm-
herzig, aber auch unklar, lärmend, jugendlich ungezogen, da ſtand der alte
Beamtenſtaat dem ungewohnten Treiben noch eine Weile erſchrocken und
rathlos gegenüber; kein Diplomat, der nicht in ſeinen vertrauten Briefen
über die zügelloſe Frechheit der „politiſchen Scribler“ jammerte. Zu den
Wenigen, die in der allgemeinen Beſtürzung ihren Gleichmuth nicht ganz
verloren, gehörte Hardenberg. Schon von Paris aus ſchrieb er dem Juſtiz-
miniſter: er wünſche die Bewilligung einer geregelten Preßfreiheit, aber
auch Beſchränkung der überhandnehmenden Zügelloſigkeit; die Reviſion der
zahlreichen veralteten Cenſurgeſetze, welche in den verſchiedenen Landes-
theilen Preußens noch galten, ſcheine dringend geboten. Leider fand er in-
mitten der maſſenhaften Verwaltungsgeſchäfte jener Uebergangszeit nicht die
Muße den Plan weiter zu verfolgen. Indeſſen wurde die Cenſur in Preußen
ohne Härte gehandhabt und der Nachdruck, der auf dem linken Rhein-
[170]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
ufer ſein Unweſen trieb, ſtreng unterdrückt, obgleich die kleinen Nachbarn
dem guten Beiſpiele nicht folgten und namentlich in Reutlingen, unter
dem Schutze der württembergiſchen Krone, eine ſchamloſe literariſche Frei-
beuterei blühte. Nur einmal ließ ſich der Staatskanzler, ſehr ungern, zu
einer Ungerechtigkeit beſtimmen, die dem Rufe Preußens eine ſchwere Wunde
ſchlug. Der Rheiniſche Merkur war ſeit dem Kriege raſch von ſeiner
Höhe herabgeſunken; für die nüchternen Arbeiten der Friedenszeit reichte
das feurige patriotiſche Pathos nicht mehr aus. Da Görres über die
Geſchäftsfragen der Verfaſſung und Verwaltung nichts zu ſagen wußte,
ſo verfiel er bald in ein zielloſes, terroriſtiſches Poltern. Von allen Höfen,
den deutſchen wie den fremden, kamen Klagen wider den unverbeſſerlichen
gazettier de Coblence. Wenn er höhnend ſchrieb, die Furcht der Re-
gierungen vor der Preßfreiheit ſei nichts anderes als der Haß der öffent-
lichen Dirnen gegen die Straßenbeleuchtung; wenn er nach dem Erſcheinen
der Schmalziſchen Schrift mit ungeheuerlicher Uebertreibung, in ekelhaften
Bildern ausführte: jetzt hätten ſich die ſieben Geſtänke des preußiſchen
Staates zu dem einen Schmalz-Geſtank vereinigt, und die allgemeine Re-
aktion breche herein — ſo war dieſer Ton dem reizbaren Gehör der Zeit
zu ſtark. Nach wiederholten vertraulichen Warnungen entſchloß ſich Harden-
berg im Januar 1816 den Rheiniſchen Merkur zu unterdrücken, wenige
Tage nachdem Görres den Neujahrstag mit der zuverſichtlichen Weiſſagung
begrüßt hatte: der Merkur werde das herrſchende Geſtirn dieſes Jahres
ſein. Das Verbot erregte allenthalben peinliches Aufſehen. Welch ein Dank
für das Blatt, das in großer Zeit die deutſche Sache ſo muthig vertreten
hatte; und welche Thorheit, den unberechenbaren, leidenſchaftlichen Publi-
ciſten, der noch treu zu der preußiſchen Fahne hielt aber nach ſeiner phan-
taſtiſchen Art jederzeit umſchlagen konnte, alſo zu kränken! Im Uebrigen
blieb die preußiſche Preſſe ziemlich unbeläſtigt.


Erſt im Frühjahr 1817 erinnerte ſich der Bundestag der Verheißung
des Art. 18 und beauftragte zunächſt den oldenburgiſchen Geſandten v. Berg
mit einer ſtatiſtiſchen Zuſammenſtellung der deutſchen Preßgeſetze. Der
ſchwergelehrte Herr ging mit der ganzen Umſtändlichkeit eines alten Göt-
tinger Profeſſors an ſeine mühſame Arbeit. Hardenberg aber ſah ein, daß
man auf dieſem Wege nie zum Ziele gelangen konnte, und da die Klagen
wider die zügelloſe Preſſe, namentlich wider den burſchikoſen Ton der Jenenſer
Zeitungen ſich täglich mehrten, ſo beſchloß er im Sommer 1817, durch ge-
meinſame Vorſchläge der beiden Großmächte ein Bundes-Preßgeſetz zu Stande
zu bringen. Er ließ alſo durch Geh. Rath v. Raumer eine Denkſchrift über
die Preßfreiheit ausarbeiten und befahl ſeinem Vertrauten Jordan als
dieſer im Winter nach Wien ging, ſich darüber mit Metternich zu verſtändigen.
Die Denkſchrift verrieth bereits einige Aengſtlichkeit, doch überſchritt ſie
auch noch nicht das Maß des Zwanges, das den meiſten Regierungen
jener Zeit unentbehrlich ſchien: ſie forderte gänzliche Freiheit für alle grö-
[171]Die Hungersnoth von 1816/17.
ßeren wiſſenſchaftlichen Werke, ſtrenge Cenſur für die Zeitungen.*) Aber
auch hier zeigte ſich, wie weit die Anſichten der beiden Großmächte aus-
einandergingen. Metternich trug wieder Bedenken in die Souveränität der
Einzelſtaaten ſo tief einzugreifen, und Jordan brachte nichts heim als einige
unverbindliche Zuſagen. Dann verſuchte Großherzog Karl Auguſt (April
1818) die Thätigkeit des Bundestages zu beſchleunigen und bat dringend
um die Aufſtellung gleichförmiger Grundſätze für die deutſche Preſſe, weil
er oft mit Schmerz erfahren habe, daß die verfaſſungsmäßige Preßfreiheit
ſeines Landes von den Nachbarn mit Unwillen betrachtet würde. Vergebliche
Mahnung. Erſt im Oktober 1818, nach reichlich anderthalb Jahren, brachte
Berg ſeine Ueberſicht zu Stande, und nun ermannte ſich der Bundestag
zu dem Beſchluſſe, eine Commiſſion zur Vorbereitung weiterer Berathungen
einzuſetzen. So ging die Zeit, da ein leidlich verſtändiges deutſches Preß-
geſetz noch möglich war, durch ſchimpfliche Saumſeligkeit verloren. —


Den Maſſen des Volks ward die hilfloſe Nichtigkeit des Bundestages
erſt fühlbar, als er an den Art. 19 der Bundesakte, der die Regelung
der Verkehrsverhältniſſe verhieß, endlich herantrat. Eine ſo anarchiſche
Verwirrung, wie ſie dies verarmte, ausgeſogene Volk jetzt in ſeinem Han-
del und Wandel ertragen mußte, hatte ſelbſt die jammerreiche deutſche
Geſchichte noch nie geſehen. Die verhaßten Douanen und droits réunis
der Franzoſen waren ſofort nach dem Sturze der Fremdherrſchaft überall
beſeitigt worden und noch nicht durch ein neues Syſtem indirekter Steuern
erſetzt. So lag denn ein großer Theil Deutſchlands der übermächtigen
Mitwerbung des reicheren Auslandes ſchutzlos offen. Die Fabriken des
Rheinlandes, kaum erſt aufgeblüht unter dem napoleoniſchen Merkantil-
ſyſtem, verloren plötzlich ihren Markt in Frankreich, Holland, Italien und
ſahen ſich von ihren Landsleuten abgeſperrt durch die zahlreichen Staats-
und Provinzial-Zolllinien, welche das deutſche Land durchſchnitten. Es
war ein Stück verkehrter Welt. Sobald die Continentalſperre fiel, wurden
die ſeit Jahren aufgeſpeicherten engliſchen Waaren in Maſſen auf das Feſt-
land geworfen; Schaaren engliſcher Muſterreiter durchzogen die deutſchen
Städte. Die engliſche Induſtrie ſendete in einem Jahre für 388 Mill.
Gulden Fabrikwaaren nach dem Continente, nach Deutſchland allein für
129 Mill. Gulden. Dann ſchritt das Parlament zur Wiederherſtellung
des Baargeld-Umlaufs. Die geſammten Silbermünzen des Reichs wurden
umgeprägt, Maſſen neuer Goldmünzen ausgegeben, die Bank zur allmäh-
lichen Wiederaufnahme der Baarzahlungen verpflichtet. England bedurfte
um jeden Preis der edlen Metalle und ſuchte den Bedarf durch gehäufte
Waarenausfuhr zu decken, alſo daß die britiſchen Baumwollenzeuge auf
dem deutſchen Markte oft zu 30 bis 40 Procent unter den Erzeugungs-
[172]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
koſten angeboten wurden. Zudem hinderten die hohen Kornzölle Englands
die Ausfuhr deutſchen Getreides, und in den Hungerjahren von 1816 und
17 ging dem deutſchen Fabrikanten auch der einzige Vortheil verloren, den
er vor dem engliſchen Concurrenten voraus hatte, der niedrige Arbeitslohn.


Erbittert durch ſo heilloſe Zuſtände warf ſich die öffentliche Meinung
in unreife extreme Anſichten. Beſorgte Fabrikanten verlangten ein hartes
Prohibitivſyſtem zum Schutze der deutſchen Arbeit, und das überſpannte
Teutonenthum ſtimmte mit ein. In Berlin verſchworen ſich die Stadt-
verordneten mit einer großen Zahl angeſehener Bürger, nur noch deutſche
Kleider und Geräthe zu kaufen; ähnliche Vereine entſtanden in Schleſien
und Sachſen. Auf der anderen Seite lärmten die radikalen Freihändler,
welche wie der Baier Brunner alle Zölle als einen Eingriff in die natürliche
Freiheit verdammten; eine wiſſenſchaftlich durchgebildete freihändleriſche
Ueberzeugung beſtand erſt in einem kleinen Kreiſe von Gelehrten und
unter den beſten Köpfen des preußiſchen Beamtenthums. Beſeitigung oder
doch Beſchränkung der Binnenmauthen war der allgemeine Wunſch; ſchon
im Jahre 1816 berief E. Weber auf der Leipziger Meſſe eine Verſamm-
lung von Fabrikanten und Kaufleuten um dem Bundestage dieſe Bitte
vorzutragen. Aber Wenige verbanden einen klaren Begriff mit den großen
Worten; Wenige ahnten, welche ungeheueren Schwierigkeiten die Natur
ſelbſt der wirthſchaftlichen Einheit Deutſchlands entgegenſtellte. Kein an-
deres Culturvolk war in Gemüth und Charakter ſo gleichartig, aber auch
keines umſchloß in ſeinen Grenzen eine ſolche Verſchiedenheit der klima-
tiſchen Verhältniſſe, der Verzehrungs- und Arbeitsgewohnheiten. Welch
ein Abſtand von der Großinduſtrie des Niederrheins bis hinüber zu den halb-
polniſchen Provinzen, wo mit den ſteigenden Getreidepreiſen der Arbeitslohn
zu ſinken pflegte weil nur der Hunger das träge Volk zur Arbeit zwang;
und wieder von dem nordiſchen Klima Oſtpreußens, wo das Elennthier in
den Forſten hauſte, bis zu den geſegneten Weingeländen des Rheines. Noch
war der ſchöpferiſche Kopf nicht aufgetreten, der es vermochte ſo grundver-
ſchiedenen Intereſſen gerecht zu werden.


Am Wenigſten der Bundestag durfte ſich zu einer ſolchen Arbeit er-
dreiſten. Aber mindeſtens einen, ſchlechthin empörenden Uebelſtand der
deutſchen Verkehrsverhältniſſe konnte und mußte die Bundesverſammlung
beſeitigen, als im Sommer 1816 eine Hungersnoth über das verarmte Land
hereinbrach, deren gleichen man ſeit dem böſen Jahre 1772 nicht mehr
erlebt hatte. Monatelang ſtrömte der Landregen vom Himmel, alle Flüſſe
traten aus ihren Betten, in Mittel- und Weſtdeutſchland ging faſt die
geſammte Ernte zu Grunde; noch im Frühjahr 1817 ſah man am Rhein
blaſſe, jammernde Menſchen die Felder durchſtreifen und die verfaulten
Kartoffeln vom vorigen Jahre ausgraben. Die wenigen Landſtraßen hatte
der Krieg ſo gänzlich verwüſtet, daß die Getreidezufuhr zu Lande auf weitere
Entfernungen unmöglich war; konnten doch ſelbſt die Poſtwagen im Winter
[173]Die Getreideſperre.
mit ſechzehn, zwanzig Pferden Vorſpann oft kaum durchkommen. Daher
ſtand im Jahre 1818 der Preis des Scheffels Weizen am Rhein um
2 Thlr. 9 Sgr. 6 Pfg. höher als in Poſen, während in den fünfziger
Jahren der höchſte Preisunterſchied innerhalb der preußiſchen Monarchie
nur 10 Sgr. 7 Pfg. betrug. Und dieſer ohnehin kümmerliche Verkehr
ward jetzt vollends zerſtört durch die thörichte Bosheit des Particularismus.
Oeſterreich verbot, ſeinen altväteriſchen volkswirthſchaftlichen Grundſätzen
gemäß, ſofort nach Eintritt der Theuerung die Ausfuhr des Getreides und
gab damit das Signal zu einem allgemeinen Zollkriege in Süddeutſchland.
Auch Baiern, Württemberg, Baden, Darmſtadt ſperrten ihre Grenzen; der
Getreidehandel im Oberlande ſtockte gänzlich. In Frankfurt ging das Futter
aus, die Bundesgeſandten zitterten für ihre Wagenpferde, und Graf Buol
mußte im Namen ſeiner Genoſſen eine Bittſchrift an die Krone Baiern
ſchicken, damit eine Haferſendung, die bei Wertheim auf dem Maine lag,
von der bairiſchen Mauth endlich durchgelaſſen wurde.*) Auch im Norden
geſchahen manche arge Mißgriffe. Miniſter Bülow verwendete die zwei
Millionen Thlr., welche der König zum Ankauf baltiſchen Getreides bewilligt
hatte, ſo leichtſinnig, daß den ſchwer heimgeſuchten Rheinlanden wenig davon
zu gute kam. Immerhin zeigte ſich die Mehrzahl der norddeutſchen Re-
gierungen ehrlich bemüht, durch Erleichterung des Verkehrs den Nothſtand
zu bekämpfen. Nachdem die ſüddeutſchen Höfe einander mehrere Monate
hindurch mit widerwärtigen Vorwürfen überſchüttet und ihre Länder wechſel-
ſeitig ausgehungert hatten, wendete ſich Württemberg endlich an den Bund
und beantragte ſchleunige Aufhebung der Sperre durch Bundesbeſchluß
(19. Mai 1817). Offenbar in der Abſicht Alles zu vereiteln ſtellte Baiern
darauf den Gegenantrag: die Maßregel müſſe auch auf die nichtdeutſchen
Provinzen Oeſterreichs, Preußens und der Niederlande ausgedehnt werden.
Preußen und die Mehrheit der übrigen Staaten ſtimmten dem Vorſchlage
Württembergs zu; die Hofburg aber ließ, nach ihrer Gewohnheit, den Prä-
ſidialgeſandten acht Wochen lang ohne Inſtruktion.


Da kam die Güte der Natur dem Bundestage zu Hilfe; die Felder
prangten in reichem Aehrenſchmucke, die Preiſe fielen, und befriedigt konnte
Buol am 14. Juli in ſeinem claſſiſchen Deutſch der Verſammlung ver-
künden: er kenne zwar noch immer nicht die Abſichten ſeines Hofes, dies
ſchade aber wenig, „da die Ausſicht zu einer ſo geſegneten reichen Ernte
die Sperre von ſelbſt aufhebt“. Im folgenden Jahre berieth man noch-
mals über gemeinſame Maßregeln für die Zukunft, und nochmals zeigte
Baiern ſeinen böſen Willen, bis endlich der Präſidialgeſandte (9. Juli 1818)
dies Schauſpiel bundesgenöſſiſcher Eintracht mit den Worten ſchloß: die
Verhandlungen hätten allerdings zu keinem Ergebniß geführt; er „nähre
jedoch die Hoffnung, daß demnächſt dieſer Gegenſtand wieder in erneuerte
[174]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Anregung gebracht würde“. So glänzend beſtätigte ſich jene Weiſſagung
Oeſterreichs: der Art. 19 ſolle die Bundesſtaaten einander entfremden!
Auch ein Nachſpiel fehlte nicht, das nur auf deutſchem Boden möglich
war; denn es gibt eine Naivität der Dummheit und der Nichtswürdigkeit,
welche allein in der Enge der Kleinſtaaterei gedeihen kann. Der Kurfürſt
von Heſſen hatte während der Hungersnoth durch den getreuen Rothſchild
baltiſches Getreide beſtellt; die Sendung langte aber zu ſpät an, als die
Preiſe ſchon wieder gefallen waren. Damit ſeine Kammerkaſſe keinen
Schaden litte, zwang nun der reiche Fürſt die Kaſſeler Bäcker, ihm das
Oſtſeegetreide zu 12 Thlr. 2 Gr. für das Kaſſeler Viertel abzunehmen,
während der Marktpreis im Lande nur auf 7 Thlr. ſtand. Alſo ward
das Nothjahr den Bürgern der heſſiſchen Hauptſtadt durch den liebevollen
Landesvater noch um einige Monate künſtlich verlängert.


Was konnte vollends der auswärtige Handel der Nation von dem
Bundestage erwarten in einer peinlichen Angelegenheit, welche ſelbſt von
den Seemächten ſehr ſchlaff behandelt wurde? Wie die Türkei ſelber ſo ver-
dankten auch ihre Schutzſtaaten, die Barbaresken, ihren Beſtand zumeiſt
der Uneinigkeit der europäiſchen Mächte; die Ueberfülle von Gegenſätzen,
welche die vielgeſtaltige Cultur des Abendlandes umſchloß, kam der Bar-
barei des Islam zu ſtatten. Da keine europäiſche Macht der anderen
ein rückſichtsloſes Vorgehen gegen die Pforte geſtatten wollte, ſo hatte man
ſich längſt gewöhnt die Raubfahrten der Barbaresken im Mittelmeere als
rechtmäßige Kriegszüge zu betrachten; jede Seemacht ſchützte ſich dawider
durch die Waffen oder auch durch Tributzahlungen. Als der Seehandel
nach dem Frieden wieder aufzublühen begann, wagten ſich die Piraten
auch in andere Meere hinaus; ſelbſt in der Oſtſee, im Angeſicht der deut-
ſchen Küſte wurden deutſche Schiffe ausgeplündert und die Mannſchaft
in die Sklaverei hinweggeführt, und zu alledem drohte die Gefahr der
Anſteckung aus den verpeſteten Landen Nordafrikas. Die Schiffe aus Han-
nover und Schleswig-Holſtein genoſſen noch einiger Sicherheit unter dem
Schutze der engliſchen und der däniſchen Flagge, da eine britiſche Flotte
ſoeben den Dey von Algier in ſeiner Hauptſtadt bedroht und zur Aus-
lieferung der chriſtlichen Sklaven gezwungen hatte. Um ſo ſchwerer litten
die Hanſeſtädte und die preußiſchen Häfen; ein großer Theil ihrer Schiffe
mußte unter fremder Flagge ſegeln. Da verlangte endlich Czar Alexander
in London die Bildung eines europäiſchen Seebundes zur gemeinſamen Be-
kämpfung der Seeräuber (Sept. 1816); die engliſche Regierung aber wit-
terte wieder arge Hintergedanken und wollte das Erſcheinen ruſſiſcher Kriegs-
ſchiffe im Mittelmeer nicht dulden. Die langwierigen Verhandlungen
führten zu keinem Ergebniß, obſchon Preußen die ruſſiſchen Vorſchläge
unterſtützte und ſich bereit erklärte einige Fregatten für die europäiſche
Flotte zu ſtellen. Oeſterreich zeigte, wie in allen Fragen der Handels-
politik, eine unerſchütterliche Gleichgiltigkeit; als die Corſaren des Sultans
[175]Die Barbaresken.
von Marokko wieder einmal ein preußiſches Schiff genommen hatten, ſchrieb
Gentz höhnend: „ſollte denn dieſer gute Mann nicht wie andere Souveräne
das Recht haben, Feindſeligkeiten auszuüben wenn er beleidigt wird?“


Währenddem riefen die Hanſeſtädte die Hilfe des Bundes an (16. Juni
1817), und der Bundestag erkühnte ſich zur Einſetzung einer Commiſſion.
Graf Goltz hielt für nöthig dieſe unerhörte Verwegenheit zu entſchuldigen und
betheuerte ſeinem Könige, „daß es die Abſicht der Verſammlung weder
jetzt noch künftig ſein kann und wird, ſich unberufen in Beziehungen der
europäiſchen Politik zu miſchen; ſie handelt nicht aus Anmaßung, ſondern
in der Ueberzeugung, daß Ew. K. Maj. und die Großmächte Europas dies
durch den Zweck ihrer Beſtimmung und ihren guten Willen, demſelben
treu zu entſprechen, zu entſchuldigen geneigt ſein werden.“*) Und wahrlich,
demüthig wie dieſe Entſchuldigung lautete auch der Antrag der Commiſſion:
der Bundestag möge Oeſterreich und Preußen erſuchen, daß ſie ihrerſeits
mit Hilfe Frankreichs, Rußlands und der anderen Seemächte den engliſchen
Hof bewögen, gemeinſamen Maßregeln gegen die Barbaresken beizutreten.
Unter allen deutſchen Höfen fand ſich nur einer, der die ganze Schmach eines
ſolchen Antrags empfand. Vermuthlich war dem Württemberger Mandelsloh,
der die Stimme Badens führte, von Nebenius oder einem andern der
zahlreichen fähigen jungen Beamten in Karlsruhe ein Gutachten zugeſendet
worden; genug, im Namen Badens regte Mandelsloh zuerſt den Gedanken
einer deutſchen Flotte an, freilich noch in ſehr unbeſtimmten Umriſſen.
Er fragte: ob man den Seemächten mit Anſtand zumuthen könne, den
deutſchen Handel auf ihre Koſten zu beſchützen? ob das Volk, das einſt den
gewaltigen Seeräuberbund der Vitalienbrüder vernichtete, nicht im Stande
ſei einige Fregatten in See zu ſtellen und „ein paar elende Raubſchiffe“
aus den deutſchen Meeren zu vertreiben? Verſtand doch ſelbſt das kleine
Portugal ſich ſeiner Haut zu wehren gegen die Barbaresken! Der binnen-
ländiſche Stumpfſinn der deutſchen Bundespolitik fand auf ſolche Fragen
keine Antwort. Nach einem halben Jahre (22. Decbr.) erſuchte der Bun-
destag ſeine Commiſſion in ihren Bemühungen fortzufahren, und damit
war die Sache für den Bund erledigt. Die Barbaresken raubten fröhlich
weiter. Umſonſt beſtürmte der antipiratiſche Verein, der in den Seeplätzen
zuſammengetreten war, noch drei Jahre ſpäter die Wiener Miniſterconfe-
renzen mit ſeinen Bitten. Nach wiederholten ſchweren Verluſten ſchrieben
die Hanſeſtädte endlich im Jahre 1829 unterthänigſt an „den erhabenen
und ruhmwürdigen Monarchen, den mächtigen und ſehr edlen Fürſten,
Seine Kaiſerliche Majeſtät Sultan Abderrhaman“ von Marokko und er-
boten ſich, unter Englands Vermittlung wegen einer Tributzahlung zu ver-
handeln. Bevor dieſe Unterhandlung zum Ziele gelangt war, zogen jedoch
die franzöſiſchen Eroberer in Algier ein, erzwangen den Frieden an den
[176]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Küſten Nordafrikas und beendigten die häßlichſte Epiſode aus der häß-
lichen Geſchichte der orientaliſchen Frage.


Auch den zahlreichen Beſchwerden und Bitten der mediatiſirten Reichs-
ſtände begegnete der Bundestag mit unverwüſtlicher Trägheit. Schon auf
dem Wiener Congreſſe hatte Preußen vorgeſchlagen, den Mediatiſirten
einige Curiatſtimmen am Bundestage zu gewähren, damit der ſchwer miß-
handelte hohe Adel ſich mit der neuen Ordnung der deutſchen Dinge ver-
ſöhnen und aus ſeiner unnatürlichen Sonderſtellung wieder heraustreten
könne. Aber der Antrag ſcheiterte an der Eiferſucht der rheinbündiſchen
Höfe. Die Bundesakte verhieß den Mediatiſirten (Art. 14) eine lange
Reihe von Vorrechten in Sachen der Beſteuerung, des Gerichtsſtandes
u. ſ. w. — Privilegien, die den modernen Vorſtellungen von Staatseinheit
und Rechtsgleichheit widerſprachen und alſo die öffentliche Meinung auch
gegen die gerechten Anſprüche der alten Reichsſtände verſtimmten. Ueber
die Curiatſtimmen ſagte der Art. 6 der Bundesakte nur, die Bundesver-
ſammlung ſolle dieſe Frage bei Berathung der organiſchen Geſetze in Er-
wägung nehmen. Die Verheißungen des Art. 14 wurden in den größeren
Staaten, begreiflich genug, weit bereitwilliger ausgeführt als von den kleinen
Fürſten, denen die Mediatiſirten als gefährliche Nebenbuhler erſchienen.
In Oeſterreich, dem claſſiſchen Lande der Adelsprivilegien, ſtand der hohe
Reichsadel von jeher in Gnaden, ſchon weil er vor Alters immer zur kai-
ſerlichen Partei gehört hatte. Auch der König von Preußen betrachtete es als
fürſtliche Ehrenpflicht, das den Entthronten widerfahrene Unrecht zu ſühnen
und erließ ſchon am 21. Juli 1815 eine Verordnung, welche weit über
die Verheißungen der Bundesakte hinausging und den Mediatiſirten, faſt
allzu großmüthig, ſehr bedeutende Vorrechte, ſogar die Befreiung von allen
direkten Steuern gewährte. Peinlicher war ihre Lage in Baiern. Mont-
gelas und ſeine Bureaukratie konnten ſich’s nicht verſagen, dieſe erlauchten
Geſchlechter zuweilen das Halsband der Unterthänigkeit fühlen zu laſſen;
man zwang ſie ihre Adelsbriefe gegen hohe Gebühren bei dem Heroldsamte
eintragen zu laſſen und ſprach amtlich nur noch von Herrn Waldburg, als
der Fürſt von Waldburg-Zeil die Zahlung verweigerte. Immerhin beſaßen
die bairiſchen Standesherren noch einen leidlich feſten Rechtsboden an einer
königlichen Verordnung v. J. 1807, die den Vorſchriften der Bundesakte
zum Muſter gedient hatte.


In Württemberg dagegen, in Baden, Naſſau und beiden Heſſen nahm
der Hader kein Ende; alle dieſe Höfe ahnten, daß die Fürſtenberg, Lei-
ningen, Löwenſtein und Hohenlohe ſich niemals ſchlichtweg als badiſche oder
württembergiſche Unterthanen fühlen konnten. Mit brutaler Grobheit ver-
wies König Friedrich von Württemberg die Fürſten und Grafen von Wald-
burg, Königsegg u. A. zur Ruhe, da ſie ſich unterſtanden, ihn in einer Adreſſe
an „den glorreichen Vorgang“ des Königs von Preußen zu erinnern.
Darauf ſchloſſen „die als ſchuldloſe Staatsopfer niedergebeugten Reichs-
[177]Die Mediatiſirten.
ſtände“ des württembergiſchen Landes unter der Führung des Fürſten
Waldburg-Zeil einen Verein zur gemeinſamen Wahrung der Standes-
rechte; ſie wendeten ſich an ihr „vormaliges allgemein beglückendes Reichs-
oberhaupt“, den Kaiſer Franz, auch an viele andere Souveräne, und ver-
langten, daß der Bund ihnen die Curiatſtimmen gewähre und Vorſchriften
für die Ausführung des Art. 14 erlaſſe. Einzelne ihrer Wünſche überſchritten
unleugbar das Maß der Rechte, welche ein geordneter Staat ſeinen Unter-
thanen gewähren konnte. Aber der ſchwäbiſche Despot hatte ſeine Ohren
überall; er erfuhr die Umtriebe ſeines hohen Adels durch ſeinen Bundes-
tagsbevollmächtigten v. Linden, einen berüchtigten Kundſchafter der napo-
leoniſchen Polizei, der vor Kurzem in Berlin als Geſandter erſchienen und
von Hardenberg ohne Weiteres zurückgeſchickt worden war. Sofort griff
der König mit einem Dehortatorium ein, ließ den Fürſten Waldburg in den
roheſten Formen verhören und verbot dann den Verein der Mediatiſirten
als „null und verrätheriſch“. Zugleich ſchlug er Lärm an den Nachbar-
höfen, und der badiſche Miniſter Hacke erklärte ihm mit Freuden ſeine Be-
reitwilligkeit zu gemeinſamen Maßregeln „gegen den Geiſt des Aufruhrs
und der Widerſetzlichkeit, der bei einem großen Theile des Adels an die
Tagesordnung tritt“. Hatte doch Fürſt Waldburg ſich ſogar erdreiſtet den
ſouveränen Fürſten von Bückeburg mit „Hochzuverehrender Herr Vetter!“
anzureden!*)


Als der Bundestag eröffnet wurde, zeigte ſich die große Mehrzahl
der Bundesſtaaten ſo argwöhniſch gegen die Rebellen vom hohen Adel,
daß Hardenberg ſeinem Geſandten befahl, den Antrag auf Gewährung der
Curiatſtimmen als völlig ausſichtslos vorläufig ruhen zu laſſen. Die Ein-
gaben der Mediatiſirten wurden zu den Akten gelegt. Erſt im Januar
1818 begannen die Geſandten dem Bundestage über die Ausführung des
Art. 14 in ihren Heimathlanden Bericht zu erſtatten, und darauf wurde
am 1. Oktober zur Aufſtellung gemeinſamer Grundſätze wieder die unver-
meidliche Commiſſion eingeſetzt. Von den Curiatſtimmen war nicht mehr
die Rede, und da auch jene gemeinſamen Grundſätze nie zu Stande kamen,
ſo blieb das Recht der Mediatiſirten den Geſetzen der Einzelſtaaten an-
heimgegeben, obgleich die meiſten der alten reichsſtändiſchen Häuſer in
mehreren Bundesſtaaten zugleich angeſeſſen waren. Der Particularismus,
der ſo viele köſtliche Kräfte unſerer Nation zerſtörte, wußte auch nichts an-
zufangen mit einer Ariſtokratie, welche nur dem ganzen Deutſchland ange-
hören konnte und für die Armſeligkeit der Kleinſtaaterei zu hoch ſtand. Er
zwang ſie, von dem politiſchen Leben ſich ſchmollend zurückzuziehen, ſo daß
ſie nur zuweilen noch, durch Klagen über verletzte Privilegien, das deutſche
Volk unliebſam an ihr vergeſſenes Daſein erinnerte.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 12
[178]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

In den zwei erſten Jahren ſeines Beſtandes brachte der Bundestag
überhaupt nur ein einziges einigermaßen brauchbares Geſetz zu Stande:
die Austrägalordnung vom 16. Juni 1817. Auch dieſer Beſchluß trug
allerdings das Gepräge des lockerſten Foederalismus; auf den Gedanken
eines ſtehenden Bundesgerichts, welchen Preußen in Wien ſo hartnäckig
vertheidigt hatte, wagte Niemand mehr zurückzukommen. Immerhin war es
ſchon ein Gewinn, daß die Bundesglieder ſich verpflichteten, ihre gegen-
ſeitigen Streitigkeiten zunächſt der Vermittlung des Bundestages zu über-
geben; ſchlug dieſe Vermittlung fehl, ſo ſollte der oberſte Gerichtshof eines
von den beiden Parteien gewählten Bundesſtaates die Entſcheidung fällen.
Auf ſolche Weiſe ſind in der That manche kleine Händel zwiſchen den
Bundesſtaaten friedlich, und ſchneller als weiland durch die Reichsgerichte,
beigelegt worden. Aber freilich nur Streitfragen von geringer Bedeutung.
Denn Preußen ſtellte ſchon bei den erſten Berathungen den Grundſatz
auf, der ſeitdem in Berlin immer feſtgehalten wurde: die Austrägalinſtanz
dürfe nur über eigentliche Rechtsfragen, nicht über politiſche Intereſſen-
fragen entſcheiden. Dieſer von den Kleinſtaaten mit lebhaftem Widerſpruche
aufgenommene Vorbehalt war rechtlich anfechtbar, aber politiſch nothwendig;
denn nimmermehr konnte eine europäiſche Macht geſtatten, daß die großen
Machtfragen ihrer Politik etwa von dem Zerbſter oder dem Jenaer Appel-
lationsgerichte nach den Grundſätzen des Civilproceſſes erledigt würden.


Wenn eine Geſandtenconferenz ernſte Zwecke verfolgt, ſo wird die
Parteiſtellung der Mitglieder auf die Dauer ſtets durch die Geſinnungen
ihrer Auftraggeber beſtimmt; am Bundestage aber fand die Perſönlichkeit
der einzelnen Geſandten freieren Spielraum, da die Höfe ſich um die
Frankfurter Nichtigkeiten wenig bekümmerten. So entſtand nach und nach
eine höchſt unnatürliche Parteibildung, die allein auf den perſönlichen An-
ſichten der Geſandten beruhte. Smidt und Berg wurden in Wien als
die beiden „ganz ſchlechten Kerls“ bezeichnet, obſchon weder der Bremer
Senat, noch der Großherzog von Oldenburg den Vorwurf liberaler Ge-
ſinnung verdiente. Zu ihnen geſellten ſich Pleſſen, Eyben, Martens,
Wangenheim; auch der neue bairiſche Geſandte Aretin ſtand den An-
ſchauungen des Liberalismus nahe. Am meiſten Kummer bereitete dem
Präſidialgeſandten doch die unerſchöpfliche Beredſamkeit des wackeren Gagern.
Dieſer wunderliche Legitimiſt des alten Reichsrechts wollte „nur eine kai-
ſerliche Abdication, nicht die des Reiches“ kennen, forderte harmlos für
den Deutſchen Bund die ganze Machtvollkommenheit der kaiſerlichen Ma-
jeſtät. „Alles was deutſch iſt“ ſollte der Befugniß der Bundesverſammlung
anheimfallen; ſogar die Auswanderung dachte er der Aufſicht des Bundes-
tages zu unterwerfen und ſendete pflichteifrig „im Dienſte der menſchlichen
Gattung“ einen Agenten nach Amerika zur Beobachtung dieſer neuen ſo-
cialen Erſcheinung, deren Bedeutung der geiſtreiche Mann früher durch-
ſchaut hatte, als die meiſten der Zeitgenoſſen. Oft konnten die Hörer
[179]Gagerns Abberufung.
nur mühſam ihren Ernſt behaupten, wenn er in ſeinen gelehrten, von
Citaten und Anſpielungen ſtrotzenden Reden alle die reichspatriotiſchen
Phraſen der Regensburger Tage wieder ausſpielte, alle die Schnirkel und
Schnörkel des heiligen Reichsrechts, bis herab zu dem großen gebratenen
Ochſen des Krönungsfeſtes, zur Schau ſtellte. Kein Mißerfolg ſtörte den
Gutmüthigen in der Zuverſicht ſeiner patriotiſchen Hoffnungen. Als der
Bundestag im Sommer 1817 zum erſten male ſeine Ferien begann, hielt
der luxemburgiſche Geſandte eine hochpathetiſche Schlußrede zum Preiſe
der Bundesverfaſſung und rief begeiſtert: „Dieſer Bund iſt minder fürch-
tend als furchtbar!“ Den unzufriedenen Liberalen hielt er die Frage ent-
gegen: „Was wir gewonnen haben? Daß die Mutter das Kind heiterer
unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angſt enthoben einen Sklaven
zu erziehen, ſondern im Vorgefühle, daß ſie einen freien Mann dem Vater-
lande darbringen wird!“ Ludens Nemeſis aber antwortete mit der bitteren
Gegenfrage: „Was wir verloren haben? Den Glauben an die Redlichkeit
aller Häupter und Führer!“


Es konnte nicht fehlen, daß die nebelhafte Begeiſterung des Reichs-
patrioten zuweilen mit der handfeſten Wirklichkeit des deutſchen Particu-
larismus hart zuſammenſtieß. So bei der Beſprechung des Art. 18 der
Bundesakte. Der Artikel verhieß den deutſchen Unterthanen die Frei-
zügigkeit, vorausgeſetzt, daß „ein anderer Bundesſtaat ſie erweislich zu
Unterthanen annehmen wolle“. Von dieſer leeren Phraſe, die in der That
wie Hohn klang, behauptete Gagern, ſie begründe ein allgemeines deutſches
Bürgerrecht; dies Bürgerrecht ſei aber nur dann geſichert, wenn alle
Deutſchen ihrer Wehrpflicht in dieſem oder jenem Bundesſtaate genügen
dürften: „das Vaterland wird hier wie dort vertheidigt!“ Welch eine
Zumuthung an Preußen, ſo lange hier allgemeine Wehrpflicht, dort Stell-
vertretung oder Werbung, hier neunzehnjährige, dort ſechsjährige Dienſt-
zeit galt! Da Goltz dieſe Bedenken hervorhob, erwiderte Gagern harmlos:
warum ſolle der Bund nicht beſtimmen, daß etwa mit dem vollendeten
ſiebenundzwanzigſten Jahre die Hauptkriegspflicht jedes Deutſchen als er-
füllt zu betrachten ſei? — und fügte dann mit dem ganzen Stolze eines
Luxemburgers hinzu: „die Abänderung dieſer oder jener Special-Muſter-
rolle ſteht fürwahr in keiner Vergleichung mit den weſentlichſten National-
berechtigungen!“ Natürlich blieb Goltz ſtandhaft, und der in kindlicher
Unſchuld unternommene Angriff auf die Grundfeſten der preußiſchen Heeres-
verfaſſung ward abgeſchlagen. Trotz Alledem betrachtete Hardenberg ſeinen
alten Wiener Genoſſen noch immer mit behaglicher Ironie und befahl
dem Grafen Goltz mehrmals, den ehrlichen Patrioten ſchonend zu be-
handeln, da er doch keinen ernſten Schaden ſtifte.*)


Die anderen Höfe dachten weniger vornehm. Als Gagern wiederholt
12*
[180]II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
an die verheißenen landſtändiſchen Verfaſſungen erinnerte, als er den
empfindlichen neuen König von Württemberg durch ſcharfe Bemerkungen
über den ſchwäbiſchen Verfaſſungskampf reizte, als er gar von der kind-
lichen Unwiſſenheit der liberalen Preſſe wie ein Volkstribun verherrlicht
wurde, da kam der treue Vorkämpfer des Foederalismus, der Lebensretter
des Kleinfürſtenſtandes bald in den Geruch eines Jakobiners, und Metter-
nich beſchloß den gefährlichen Demagogen zu beſeitigen. Ein Wink am
niederländiſchen Hofe genügte. Der König der Niederlande befand ſich ſeit
Kurzem in argem Gedränge; denn ſoeben war an den Tag gekommen, daß
der ehrgeizige Prinz von Oranien, ſchwerlich ganz ohne Vorwiſſen ſeines
königlichen Vaters, mit den franzöſiſchen Flüchtlingen zu Brüſſel eine revo-
lutionäre Verſchwörung gegen den Thron der Bourbonen angezettelt hatte.
Um ſo bereitwilliger ergriff der Monarch die Gelegenheit den großen Mächten
ſeine conſervative Geſinnung zu beweiſen; unbedenklich ließ er den Staats-
mann fallen, der ſo viel zur Bildung des neuen niederländiſchen Geſammt-
ſtaates beigetragen hatte. Was frug er auch nach dem Bundestage und
den Träumen deutſcher Reichspatrioten? Im April 1818 ward Gagern
abberufen und verabſchiedete ſich mit dem naiven Geſtändniß: der Grund
meiner Entlaſſung „iſt mehr eine zu hohe Würdigung von meiner Seite
als ein Verſchmähen meines Amtes“. An ſeiner Statt erſchien Graf
Grünne, ein Holländer, der die deutſchen Dinge ſo gründlich kannte, daß
er alles Ernſtes vorſchlug Frankreich für das Elſaß mit in den Deutſchen
Bund aufzunehmen. An dem fand die Hofburg nichts auszuſetzen. Alſo
war jene Drohung Metternichs vom December 1817 zum erſten male in
Erfüllung gegangen. Der Bundestag wußte nunmehr, daß jedem „auf-
wiegelnden“ Worte „die Abberufung des ungetreuen Geſandten“ auf dem
Fuße folgte.


Alsbald nach ſeinem Ausſcheiden veröffentlichte Gagern in ſeiner un-
wandelbaren Gutmüthigkeit eine Schrift „Ueber Deutſchlands Zuſtand und
Bundesverfaſſung“ — um die Deutſchen mit ihrem Bundestage zu ver-
ſöhnen. Als Motto ſtand darauf: Ut ameris amabilis esto! Die Nation
aber nahm den vertrauensvollen Zuruf mit grimmigem Spotte auf. Selbſt
die Gemäßigten hatten ſich längſt voll Ekels von dem Geſpenſterſpuk der
Eſchenheimer Gaſſe abgewendet; und ſchon kam die Zeit, da dieſem treuen,
geſetzliebenden Volke kein Hohn zu frech, kein Schimpfwort zu roh ſchien
für die einzige Behörde, deren Name noch an Deutſchlands Einheit er-
innerte. —


[[181]]

Fünfter Abſchnitt.
Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.


Nach dem Friedensſchluſſe begann für Preußen wieder, wie einſt in den
Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter ſtiller Sammlung, reizlos und
nüchtern, arm an großen Ereigniſſen, reich an Arbeit und ſtillem Gedeihen,
eine Zeit, da das geſammte politiſche Leben in der Thätigkeit der Ver-
waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal ſeine alte
ſtaatsbildende Kraft bewährte. Trotz ſeiner diplomatiſchen Niederlagen war
der preußiſche Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der geſammten
Nation verbunden. Er beherrſchte nur noch etwa zwei Millionen Slaven;
er ſah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutſchen
Stämme in ſeinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen-
ſätzen des religiöſen Lebens der Nation ſtärker als ſonſt berührt, da nun-
mehr zwei Fünftel ſeiner Bevölkerung der katholiſchen Kirche angehörten; er
empfing endlich in den großen Communen der Oſtſeegeſtade und des Rhein-
lands ein neues Culturelement, das ihn den deutſchen Nachbarlanden näher
brachte und gewaltig anwachſend nach und nach auf den geſammten Cha-
rakter des Staatslebens umbildend einwirken ſollte. Aber welch eine Ar-
beit, dieſe neuen Gebiete, die faſt alleſammt nur widerwillig unter die
neue Herrſchaft traten, mit den alten Provinzen zu verſchmelzen. Nie-
mals in der neuen Geſchichte hatte eine Großmacht ſo ſchwierige Aufgaben
der Verwaltung zu löſen; ſelbſt die Lage des Königreichs Italien nach den
Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.


Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr
1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von 5½ Millionen
hinzu — ein Gewirr von Ländertrümmern, zerſtreut von der Prosna bis
zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig,
ſeitdem regiert durch die Geſetze von Frankreich, Schweden, Sachſen, Weſt-
phalen, Berg, Danzig, Darmſtadt, Naſſau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer
Landſtriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauſcht hatte;
der kleinſte der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die
Bruchſtücke von acht verſchiedenen Staaten. Auch die altpreußiſchen Provinzen,
welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleoniſchen
[182]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Herrſchaft ihre alten Inſtitutionen faſt bis auf die letzte Spur verloren.
Schon bei der Beſitznahme der neuen Provinzen entſpann ſich überall
Streit mit mißgünſtigen Nachbarn. Das ruſſiſche Gouvernement in War-
ſchau befahl noch im Früjahr 1815 umfaſſende Domänenverkäufe in Poſen;
ebenſo Darmſtadt im Herzogthum Weſtphalen; auch die öſterreichiſch-bai-
riſche Verwaltung in den Ländern an der Moſel und Nahe erhob zum
Abſchied Renten und Steuern im Voraus und ließ die Wälder bei Boppard
niederhauen. Naſſau weigerte ſich den Verträgen zuwider, das Siegenſche
zu räumen, bis Hardenberg drohte das Land ohne Uebergabe beſetzen zu
laſſen. Die Ruſſen hatten ſelbſt Danzig nur ungern ausgeliefert; in Thorn
blieb ihre Garniſon, trotz dringender Mahnungen, bis zum 19. September
1815 ſtehen. Dann vergingen noch Jahre, bis der neue Beſitzſtand durch
Verträge mit den grollenden Nachbarſtaaten rechtlich geſichert wurde. Erſt
im Jahre 1816 wurde mit den Niederlanden, 1817 mit Rußland ein
Grenzvertrag geſchloſſen; mit dem tief gekränkten Dresdner Hofe mußten
bis in das Jahr 1819 hinein kleinliche und peinliche Verhandlungen wegen
der neuen Grenze geführt werden, und erſt im Jahre 1825 war die Aus-
einanderſetzung über alle zwiſchen den beiden Nachbarn ſtreitigen Ver-
mögensobjecte vollendet.


Nun erhob ſich die Aufgabe, das alſo dem Neide Europas mühſam
entrungene Gebiet einer gleichmäßigen Verwaltung zu unterwerfen; es
galt, die Ausländerei im Inlande, die Kleinſtaaterei im Großſtaate zu über-
winden, alle dieſe Trümmerſtücke der deutſchen Nation, die mit einander
noch nicht viel mehr als die Sprache gemein hatten, mit einer lebendigen
Staatsgeſinnung zu erfüllen. Gelang das Werk der politiſchen Verſchmel-
zung in dieſer Hälfte Deutſchlands, ſo war die Nichtigkeit des Particularis-
mus durch die That erwieſen und der Boden bereitet für den Neubau des
deutſchen Geſammtſtaates; die Vollendung des preußiſchen Einheitsſtaates
gab dieſer Epoche unſerer politiſchen Geſchichte ihren eigentlichen Inhalt.
Die Aufgabe war um ſo ſchwieriger, da die Monarchie, als ſie die neuen
Provinzen erwarb, ſich ſchon mitten in einem gefährlichen Uebergangszu-
ſtande befand: faſt auf allen Gebieten der Geſetzgebung waren umfaſſende
Reformen erſt halb vollendet, und doch fehlte die in Wahrheit leitende
Hand, ſtark genug, jene Ueberfülle von Talenten, die dem Staate diente,
unter einen Willen zu beugen. Kein anderer Staat jener Tage zählte
in den Reihen ſeiner Beamten eine ſolche Schaar ungewöhnlicher Menſchen:
Verwaltungstalente wie Vincke, Schön, Merckel, Sack, Hippel, Baſſewitz;
Finanzmänner wie Maaſſen und Hoffmann; Techniker wie Beuth und
Hartig; Juriſten wie Daniels und Sethe; unter den Diplomaten Hum-
boldt, Eichhorn, Niebuhr; dazu die Generale des Befreiungskrieges und
die Größen der Kunſt und Wiſſenſchaft. Sie alle waren gewohnt an den
Thaten der Staatsregierung eine rückſichtslos freimüthige Kritik zu üben,
die als ein Vorrecht des hohen Beamtenthums, als ein Erſatz gleichſam
[183]Der König und die Parteien.
für Volksvertretung und Preßfreiheit betrachtet wurde, und nahmen jetzt
den alten Parteiſtreit, der während des Krieges nie ganz geruht hatte, eine
Maſſe perſönlichen Haſſes und ſachlicher Gegenſätze als eine böſe Erbſchaft
in die Tage des Friedens hinüber. Aus dieſen Kreiſen drang Tadelſucht
und Klatſcherei in alle Klaſſen der Geſellſchaft; der Staat, der bei allen
Gebrechen ſeiner Unfertigkeit doch die beſte und ſparſamſte Verwaltung
Europas beſaß, ward in den Briefen und Geſprächen ſeiner eigenen treuen
Diener ſo maßlos geſcholten, als eilte er, geleitet durch eine Rotte von
Betrügern und Thoren, rettungslos dem Verderben entgegen.


Vier keineswegs klar geſchiedene Parteien bekämpften einander innerhalb
der Regierung. Die alte Schule der abſolutiſtiſchen Hofleute und Be-
amten zählte nur noch wenige Anhänger, doch ſie gewann jetzt mächtige
Bundesgenoſſen an Hardenbergs alten Gegnern, den Feudalen, die in dem
Adel der Kurmark ihre Stütze, in Marwitz und dem vormaligen Miniſter
Voß-Buch ihre Führer fanden. Die jungen Beamten dagegen und faſt
alle Geheimen Räthe der Miniſterien bekannten ſich zu dem bureaukratiſchen
Liberalismus Hardenbergs, was freilich nicht ausſchloß, daß ihrer viele den
Staatskanzler perſönlich heftig bekämpften. Wieder eines anderen Wegs ging
die kleine Schaar der ariſtokratiſchen Reformer, die noch an Steins Gedanken
feſthielten. Die Schwarmgeiſterei der teutoniſchen Jugend fand unter den
gewiegten Geſchäftsmännern des hohen Beamtenthums zwar manchen nach-
ſichtigen Richter, doch keinen einzigen Anhänger. Gleichwohl wirkte jener
finſtere Argwohn, welchen alle Höfe des In- und Auslandes gegen Preußens
Volk und Heer hegten, unausbleiblich auf Preußen ſelbſt zurück. Seit
Schmalz ſeinen Unheilsruf erhoben hatte, nahmen die Verleumdungen und
giftigen Flüſterreden kein Ende. Nicht blos Stein, der erklärte Gönner
Arndts, ſondern auch der Staatskanzler ſelbſt ward des geheimen Einver-
ſtändniſſes mit den Deutſchthümlern beſchuldigt, obgleich Hardenberg die
jugendlichen Einheitsſchwärmer als unbequeme Störer ſeiner dualiſtiſchen
Politik anſah und ſie ſelbſt in ſeinem verſchwiegenen Tagebuche immer
nur mit ärgerlichem Tadel behandelte.


So ſcharfe Gegenſätze in feſter Zucht zu halten, war der ſchonenden
Gutherzigkeit König Friedrich Wilhelms nicht gegeben. Allzu rückſichtsvoll
gegen ſeine Räthe ließ er den Parteikampf am Hofe lange gewähren und
fuhr nur zuweilen mit einer Mahnung dazwiſchen. Wurde eine neue Kraft
in die Regierung berufen, ſo pflegte man ein Miniſterialdepartement in
zwei Theile zu zerlegen, nur um den alten Miniſter nicht zu kränken, der
oft ein Gegner des neuen war. Vollſtändige Uebereinſtimmung unter den
Miniſtern galt noch für entbehrlich, da der Monarch am letzten Ende ſtets
nach ſeinem freien Ermeſſen entſchied. Wie viele Stürme waren über
das Land dahingebrauſt in den kurzen zwei Jahrzehnten ſeit Friedrich
Wilhelm die Krone trug; den Rückſchauenden war, als ob die Anfänge
ſeiner Regierung um mehrere Menſchenalter zurücklägen. Das treue Volk
[184]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
der alten Provinzen nannte den König jetzt ſchon, da er noch in der Kraft
der Mannesjahre ſtand, kurzweg den alten Herrn und wußte tauſend Ge-
ſchichten von ſeiner verlegenen und doch ſo herzlich wohlthuenden Leut-
ſeligkeit. Seine Berliner lebten mit ihm und erwarteten als ihr gutes
Recht, daß er häufig in ſeinem einfachen Soldatenüberrocke durch den
Thiergarten ging, daß er Mittags, wenn die Wachparade aufzog, an dem
allbekannten Eckfenſter ſeines unſcheinbaren Palaſtes ſich zeigte und Abends
halb verſteckt in ſeiner Loge einem Luſtſpiel, einer Oper oder einem Ballet
zuſah — denn die Tragödie liebte er wenig, weil das Leben ſelbſt des
Traurigen genug biete.


Die Erfahrungen einer großen Zeit hatten ſein Selbſtgefühl etwas ge-
kräftigt; er erſchien feſter und ſicherer, aber auch noch ernſter und ſchweig-
ſamer als vor Jahren. Eine ſtille Trauer lag auf ſeinen freundlichen Zügen
und ſchwand nur ſelten, wenn er etwa ſeinen lebensfrohen Kindern und dem
Großfürſten Nikolaus auf der Pfaueninſel ein ländliches Feſt gab. Der be-
queme Rationalismus ſeiner Jugendbildung genügte ihm längſt nicht mehr;
ſchon während der ſchweren Tage in Königsberg hatte er in einem feſten
Bibelglauben ſeinen Troſt gefunden und ſich mit dem ehrwürdigen Biſchof
Borowsky befreundet. Jetzt wuchs in ihm von Jahr zu Jahr die Sehn-
ſucht nach dem Ewigen, fromme Betrachtungen und theologiſche Studien
füllten einen guten Theil ſeiner freien Stunden aus. Obſchon er den Gram
um ſeine verlorene Gemahlin nie verwinden konnte, ſo widerfuhr ihm doch
was gerade den tief gebeugten Wittwern häufig geſchieht: die Einſamkeit des
eheloſen Lebens ward ihm unerträglich. Er faßte eine lebhafte Neigung für
eine liebenswürdige junge Franzöſin, die Gräfin Dillon, die ſeine Liebe leiden-
ſchaftlich erwiderte, und dachte eine Zeit lang ernſtlich an eine Ehe zur linken
Hand — denn für ſein Volk ſollte Königin Luiſe immer die Königin
bleiben. Aber er wollte nicht, daß ſeine Preußen an ihrem Könige irr
würden, und da er in Gewiſſensfragen dem Rathe ſeines leichtlebigen
Staatskanzlers nicht traute, ſo ließ er zwei Männer, von denen er eine
rückhaltslos freimüthige Antwort erwartete, Gneiſenau und Schön ver-
traulich befragen, wie man im Heer und im Volke die Heirath mit der
katholiſchen Franzöſin aufnehmen würde. Als Beide übereinſtimmend ab-
riethen, gab der König tief erſchüttert ſeine Pläne auf. Trüb und ein-
tönig verfloſſen ihm die Tage. Er erledigte jede Eingabe mit der alten
Pünktlichkeit, nach gewiſſenhafter Prüfung, und behielt das Ruder immer
in der Hand, jedoch der perſönliche Verkehr mit ſeinen höchſten Beamten
blieb dem Schüchternen unbequem; den Staatskanzler ſah er ſelten, noch
ſeltener die Miniſter.


Weit näher ſtand dem Könige ſein täglicher Begleiter, der Oberſt Job
v. Witzleben, der im Jahre 1816 kaum dreiunddreißig Jahre alt die Lei-
tung des Militärkabinets erhielt, zwei Jahre darauf zum Generalmajor
und Generaladjutanten ernannt wurde. Welch ein Abſtand zwiſchen der
[185]General Witzleben.
gediegenen Tüchtigkeit dieſes Mannes und jenem ſchläfrigen Pedanten
Köckeritz, der vor 1806 das Vertrauen des Monarchen genoſſen hatte;
ſchon an der Wahl ſeiner Freunde ließ ſich erkennen, wie Friedrich Wilhelm
gewachſen war mit der wachſenden Zeit. Der König war zuerſt auf Witz-
lebens militäriſche Begabung aufmerkſam geworden und erfuhr erſt all-
mählich, welche vielſeitige Bildung der junge Gardeoffizier beſaß, wie er
mit Wilhelm Humboldt und anderen Größen der Wiſſenſchaft freund-
ſchaftlich verkehrte, als Muſiker ein ungewöhnliches Talent bewährte, auch
in der Theologie, die dem Herzen des Königs ſo nahe ſtand, wohlbewandert
war und bei Alledem ſo anſpruchslos blieb, ganz frei von Selbſtſucht,
fromm ohne Wortprunk, ein glücklicher Familienvater. Der neue General-
adjutant erwarb ſich bald das unverbrüchliche Vertrauen Friedrich Wilhelms;
er durfte dem Monarchen Alles ſagen, weil er die natürliche Lebhaftigkeit,
die aus ſeinen dunklen Augen blitzte, immer zu beherrſchen verſtand und
bei ſeinem ehrlichen Freimuth niemals die herzliche Verehrung für ſeinen
königlichen Freund vergaß. Er diente als Vermittler zwiſchen dem Könige
und den Miniſtern, ward bei allen großen Staatsgeſchäften zu Rathe ge-
zogen und bewältigte Tag für Tag im Tabaksrauche ſeines einfachen Zim-
mers ungeheure Arbeitslaſten mit einem raſtloſen Fleiße, der ſeinen Körper
ſchon nach zwei Jahrzehnten vor der Zeit aufrieb. Im Drange der Ge-
ſchäfte hat er nur ſelten die Muße gefunden, die Erlebniſſe des Tages
aufzuzeichnen; ſeine Tagebücher enthalten oft viele Monate lang nur weiße
Blätter, oft nur kurze Reiſenotizen; wo ſie aber über Politik reden, da
zeigt ſich ſtets ein gerader Soldatenverſtand, gründliche Sachkenntniß und
unbedingte Aufrichtigkeit. Obwohl er ſich ſelber nicht zu den ſtaatsmän-
niſchen Köpfen rechnete und den Parteien des Hofes behutſam fern blieb,
ſo hielt er doch mit ſeinen geſunden politiſchen Urtheilen nicht hinter dem
Berge: er betrachtete die neue Heeresverfaſſung als das feſte Band der
Staatseinheit, hielt die Vollendung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen
für unerläßlich und — was in dieſen Tagen der geheimen Einflüſterungen
am Schwerſten wog — er kannte und liebte das preußiſche Volk. Nichts
ſchien ihm verächtlicher als der Verſuch „in des Königs reiner Seele einen
Argwohn zu erwecken“; nichts brachte ihn ab von dem zuverſichtlichen
Glauben: „es giebt keine gediegenere Treue als die bei uns wohnt.“


Das ſtille Wirken dieſes treuen Vermittlers war um ſo heilſamer,
da der König ſeit den Mißerfolgen des Wiener Congreſſes den Staats-
kanzler nicht mehr mit dem alten Vertrauen behandelte und den Uner-
ſetzlichen doch nicht entlaſſen konnte. Als Hardenberg ſeinen ſiebzigſten
Geburtstag feierte, rief Goethe dem alten Univerſitätsgenoſſen zu:


Auch vergehn uns die Gedanken

Wenn wir in Dein Leben ſchauen,

Freien Geiſt in Erdenſchranken,

Feſtes Handeln und Vertrauen.

[186]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Und der freie Geiſt allerdings blieb dem Greiſe bis zum Ende. Wie
er einſt unter dem Drucke der Fremdherrſchaft den Gedanken der Be-
freiung des Vaterlandes unwandelbar feſtgehalten hatte, ſo verfolgte er
nunmehr unausgeſetzt den Plan, das Werk der innern Reform durch die
verheißene reichsſtändiſche Verfaſſung zu krönen; dies ſollte ſein politiſches
Vermächtniß, der Abſchluß ſeiner langen Laufbahn werden. Im perſön-
lichen Verkehre bewährte er noch immer ſeine beſtrickende Liebenswürdigkeit
und zeigte eine ſo jugendliche Begeiſterung für alles Schöne und Große,
ging ſo geiſtreich und liebevoll auf jeden neuen Gedanken ein, daß ſelbſt
ſtrenge Richter, wie Gneiſenau und Clauſewitz trotz mancher Mißhellig-
keiten dem hochverdienten Manne nicht gram werden konnten. Das feſte
Handeln aber war ihm ſchon in rüſtigeren Tagen nicht immer gelungen;
jetzt da er alternd ſich feſtklammerte an ſein hohes Amt, fand er nur noch
ſelten den Muth ſeinen Feinden die freie Stirn zu zeigen und glaubte
oft ſelber zu leiten wenn die Gegner ihn mißbrauchten. Die dictatoriſche
Macht des Staatskanzlers hatte wohlthätig gewirkt, ſo lange er ſelbſt noch
alle Miniſterien bis auf zwei in ſeiner Hand vereinigte; ſeit er nur noch
die auswärtigen Angelegenheiten unmittelbar leitete und fünf Fachminiſter
unter ihm ſtanden, gerieth er allmählich in eine ebenſo unhaltbare Mittel-
ſtellung wie einſt die vortragenden Kabinetsräthe. Streitigkeiten mit den
Miniſtern, Klagen über die Verſchleppung der Geſchäfte konnten nicht aus-
bleiben, da — außer Boyen, Witzleben und dem Kabinetsrath Albrecht —
der Staatskanzler allein dem Monarchen regelmäßig Vortrag hielt und
gleichwohl von den Miniſtern forderte, daß ſie die volle Verantwortlichkeit
für ihre Verwaltung übernähmen.


Nur Unkenntniß und Tadelſucht beſchuldigten den greiſen Staats-
mann der Trägheit; alle Eingeweihten wußten, welche Unzahl von Denk-
ſchriften und Randbemerkungen, Verfügungen und Berichten dieſe raſche
Feder, immer geiſtreich und gewandt, auf das Papier warf. Aber auf
pünktliche Ordnung hatte er ſich nie verſtanden, und die Laſt dieſer
das geſammte Staatsleben umfaſſenden Thätigkeit ward nach der Ver-
größerung des Staatsgebiets auch ſeinen Schultern zu ſchwer. Drin-
gende Arbeiten blieben oft monatelang liegen, wenn der Fürſt ſich in ſeinem
Schloſſe zu Glienicke vergrub und dann ruckweiſe, nach Zufall und Laune,
dies oder jenes Stück von ſeinen Aktenbergen abhob. Wer dort am träu-
meriſchen Havelſee den ſchönen Park durchwanderte oder auf dem Dota-
tionsgute Neuhardenberg in der Neumark die gewählte Kunſtſammlung
und die neue von Schinkel erbaute Kirche betrachtete, der fühlte wohl, daß
ein edler, hochgebildeter Geiſt hier waltete. Aber welch ein Aergerniß,
wenn man die freche Geſellſchaft muſterte, die ſich in dieſen vornehmen
Räumen umhertrieb und den großmüthigen Hausherrn an ſeinem eigenen
reichen Tiſche verhöhnte: die klatſchſüchtigen Literaten Schöll und Dorow,
die magnetiſchen Aerzte Koreff und Wohlfart, die Somnambüle Friederike
[187]Hardenberg und die Miniſter.
Hähnel, ſpäterhin Frau v. Kimsky genannt. Dieſe abgefeimte Gaunerin
war dem Fürſten zuerſt auf einem Zauberabend bei Wohlfart begegnet und
hatte durch ihre krampfhaften Verzückungen ſein weiches Herz im Sturme
erobert.*) Seitdem ließ ſie ihn nicht mehr los; ſie wurde der Fluch ſeiner
alten Tage. Unerſchöpflich in geheimnißvollen Krankheitserſcheinungen und
in den Künſten ſanfter Plünderung begleitete ſie ihn überall, ſelbſt zu den
Congreſſen der Monarchen, und ruhte nicht bis auch ſeine dritte Ehe,
gleich den beiden erſten, getrennt wurde. Um dieſelbe Zeit vermählte ſich
des Staatskanzlers einzige Tochter, die geſchiedene Gräfin Pappenheim in
überreifem Alter mit dem Virtuoſen der eleganten Liederlichkeit, dem jungen
Fürſten Pückler-Muskau. Der ſchlechte Ruf des Hardenbergiſchen Hauſes
bot den zahlreichen Spähern, welche Metternich in Berlin unterhielt,
reichen Stoff, allen Feinden des Staatskanzlers eine gefährliche Waffe.
Sie bemerkten ſchadenfroh, wie der König dem Staatsmanne, der ſeine weißen
Haare ſo wenig achtete, kälter und fremder begegnete; und da der betrieb-
ſame Koreff zuweilen auch als liberaler Schriftſteller auftrat, ſo bildete
ſich am Hofe nach und nach das Parteimärchen, Hardenbergs Verfaſſungs-
pläne ſeien das Werk ſeiner anrüchigen plebejiſchen Umgebung. Wenn
ein Freund den Fürſten vor dieſem Geſindel warnte, dann erwiderte er
lächelnd: „und wenn ich auch oft betrogen worden bin, es iſt ein ſo
herrliches Gefühl Vertrauen zu erweiſen.“


Unter den Miniſtern beſaß Hardenberg nur einen erklärten Geſin-
nungsgenoſſen, Boyen, und auch dieſer dachte zu ſelbſtändig um der Führung
des Fürſten unbedingt zu folgen. Kircheiſen bewährte ſich bei der Orga-
niſation der Gerichte in den neuen Provinzen als trefflicher Fachmann
und blieb der großen Politik fern. Schuckmann dagegen, der Miniſter
des Innern, ein ſtraffer Bureaukrat, thätig, ſachkundig, herrſchſüchtig, der
Philiſter der alten Zeit, wie W. Humboldt ihn nannte, ſtand allen Re-
formplänen ebenſo argwöhniſch gegenüber wie der Polizeiminiſter Fürſt
Wittgenſtein, der Vertraute Metternichs. Wie viele Jahre hat der argloſe
Hardenberg gebraucht, bis er dieſen glatten Hofmann endlich durchſchaute,
der einſt, durch den Sturz des Miniſteriums Dohna, ihm ſelber den Weg
zur Macht geöffnet hatte und darum ſchon der treueſten Freundſchaft
würdig ſchien. Dem Monarchen war Wittgenſtein als geſchickter Ver-
walter des königlichen Hausvermögens unentbehrlich; auch an den andern
deutſchen Höfen ſtand er in hohem Anſehen, bei allen fürſtlichen Familien-
angelegenheiten zog man ihn zu Rathe, und ſogar der eigenwillige Kur-
fürſt von Heſſen hörte zuweilen auf ſeine Rathſchläge. Argloſen Beob-
achtern erſchien der verbindliche alte Herr mit ſeinen trivialen Späßchen
ſehr unſchädlich; ſelbſt ein ſo gewiegter Menſchenkenner wie der alte Heim,
der volksbeliebte erſte Arzt Berlins, ließ ſich durch die gemüthlichen Formen
[188]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
des Fürſten völlig täuſchen und liebte ihn zärtlich. Aber nichts entging
den lauernden Blicken dieſer falſchen grauen Augen; mit unverſöhnlichem
ſtillem Haſſe verfolgte Wittgenſtein Alles was an Stein und die ſtürmiſche
nationale Bewegung der Kriegsjahre erinnerte, und nicht lange ſo fand
er auch den Staatskanzler ſelbſt des teutoniſchen Jakobinerthums verdächtig
und begann ihn unmerklich Schritt für Schritt zur Seite zu drängen.
Die verrufene „höhere“ Polizei, welche einſt Juſtus Gruner zur Nothwehr
gegen die napoleoniſchen Späher eingerichtet hatte, wurde zwar nach dem
Frieden aufgehoben; doch blieben mehrere ihrer geheimen Agenten noch in
Thätigkeit, und nach ihren Berichten bildete ſich Wittgenſtein ſein Urtheil
über die Geſinnung der Nation.


Ganz einſam ſtand der junge Finanzminiſter Graf Bülow unter den
Genoſſen, der Vetter Hardenbergs, ein ſchöner blonder Mann, der mit
ſeiner vornehmen, weltmänniſchen Anmuth, ſeiner leichten, oft leichtfertigen
Geſchäftsgewandtheit den Staatskanzler an ſeine eigene Jugend erinnerte
und von ihm wie ein Sohn geliebt wurde. Er war nach dem Tilſiter
Frieden, gleich vielen anderen wackeren Beamten des Magdeburger Landes,
widerwillig in den Dienſt des Königs Jerome getreten, da die alte Heimath
ihn nicht unterbringen konnte, und hatte dann als weſtphäliſcher Miniſter
für die Entfeſſelung des inneren Verkehrs, für die Durchführung ver-
ſtändiger handelspolitiſcher Grundſätze viel gethan, bis er endlich wegen
ſeiner deutſchen Geſinnung und ſeines unabhängigen Auftretens entlaſſen
wurde. Trotzdem ward er von den altpreußiſchen Beamten wie ein Ver-
räther angeſehen; der Stolz der Preußen vergab es nicht, daß Hardenberg
noch während des Krieges gegen Napoleon einen Diener Jeromes in das
Miniſterium einführte. In der That war Bülow von den Anſchauungen
der franzöſiſchen Bureaukratie nicht unberührt geblieben; er bewunderte
das napoleoniſche Steuerſyſtem und hatte ſich unter den weſtphäliſchen
Präfekten an einen herriſchen Ton und eine durchfahrende Eigenmächtigkeit
gewöhnt, die dem preußiſchen Beamtenthum unerträglich ſchienen. Als-
bald überwarf er ſich mit mehreren Oberpräſidenten; auch mit ſeinem
Vetter und Gönner gerieth er in Streit, da ein geordneter Staatshaus-
halt allerdings unmöglich war, ſo lange der Staatskanzler ohne den Finanz-
miniſter zu befragen über beliebige Summen frei verfügen durfte. Die
ewigen Händel verbitterten den Heftigen, und bald erkannte man in ſeinem
reizbaren, zänkiſchen Weſen die alte Liebenswürdigkeit kaum noch wieder.


Die reaktionäre Partei des Miniſteriums fand bei Hofe eine mächtige
Stütze an dem Commandeur der Garde, dem Herzog Karl von Mecklen-
burg. Der Bruder der Königin Luiſe hatte ſich auf dem Schlachtfelde
und dem Exercierplatz ſtets als tüchtiger Offizier bewährt, aber für die refor-
matoriſchen Ideen der Freunde ſeiner Schweſter hegte er kein Verſtändniß.
Eine ſchöne ritterliche Erſcheinung, ein angenehmer unterrichteter Geſell-
ſchafter, auf den Hoffeſten als begabter Poet und Schauſpieler viel bewundert,
[189]Wittgenſtein. Karl v. Mecklenburg. Ancillon.
ſehr thätig im Staatsrathe wie in ſeinem militäriſchen Berufe, war er doch
bei der Mehrzahl der Offiziere nicht beliebt, in der gebildeten Geſellſchaft
der Hauptſtadt gründlich verhaßt. Denn er nährte in ſeinem Gardecorps ein
dünkelhaftes Weſen, das dem Civil wie den Linientruppen gleich anſtößig
ward, und blieb trotz ſeiner Jugend ein Berufsſoldat der alten Schule, ein
entſchiedener Gegner der neuen Heeresverfaſſung. In der Politik ſchloß
er ſich eng an Wittgenſtein an und bekämpfte wie dieſer jede Neuerung,
die dem Wiener Hofe mißfallen konnte.


Noch mächtiger war der ſtille Einfluß Ancillons. Der in alle Sättel
gerechte Theolog wurde im Jahre 1814 als Geheimer Rath im Auswärtigen
Amte angeſtellt und ſchwamm jetzt wieder ſelbſtgefällig obenauf, obgleich der
Erfolg des Krieges alle ſeine kleinmüthigen Warnungen Lügen geſtraft hatte.
Hardenberg glaubte durch dieſe Ernennung eine Brücke zwiſchen der Wiſſen-
ſchaft und der Politik zu ſchlagen; denn Ancillon verdankte ſeiner ſeichten,
aber vielſeitigen und immer für die Unterhaltung der Salons bereiten Ge-
lehrſamkeit ein hohes Anſehen, das auch reichere Geiſter beſtach. Die Diplo-
maten rühmten die ſokratiſche Gelaſſenheit, die urbane Milde ſeiner Um-
gangsformen; ſelbſt Schön, der Alles tadelte, ließ ihn gelten, und noch in
ſpäteren Jahren ſchaute der junge Leopold Ranke bewundernd zu ihm auf.
Er hatte am Ausgang des alten Jahrhunderts als eleganter Prediger an
der franzöſiſchen Gemeinde den weichlichen Geſchmack der Zeit glücklich ge-
troffen und dann als Lehrer der Staatswiſſenſchaft an der Kriegsſchule ſeine
Gemeinplätze mit ſo feierlicher Geſpreiztheit, mit einem ſo überlegenen ſtaats-
männiſchen Lächeln vorgetragen, daß ſein Zuhörer, der junge Neſſelrode ſich
ganz bezaubert fühlte. Bei Hofe verſtand er durch unterthänige Befliſſen-
heit ſeinen Platz unter den vornehmen Herren zu behaupten. Es ward
verhängnißvoll für eine ſpäte Zukunft, daß auch Königin Luiſe und der
Freiherr v. Stein ſich durch den erſchlichenen Ruhm des glatten Halb-
franzoſen blenden ließen und ihm die Erziehung des jungen Thronfolgers
anvertrauten. So gerieth der verſchwenderiſch begabte, aber phantaſtiſche
und eigenwillige Geiſt des Prinzen, der vor Allem einer ſtrengen Zucht
und der Belehrung über die harte Wirklichkeit des Lebens bedurfte, unter
die Leitung eines charakterloſen Schönredners, der ſelber kaum fühlte, wie
viel von ſeinem Thun der angeborenen Furchtſamkeit, wie viel der welt-
klugen Berechnung entſprang. Seitdem wurde Ancillon auch zu den po-
litiſchen Berathungen öfters zugezogen und ſchrieb nun unermüdlich mit
ſeiner ſchwungloſen, verkniffenen kleinen Gelehrtenhand eine Maſſe von
Denkſchriften — breite Betrachtungen ohne Kraft und Schneide, die alle-
ſammt ebenſo leer wie ſeine Bücher doch immer den Eindruck erregten,
als ob ſich ein tiefer Sinn hinter dem Wortſchwall verbärge. Durch ihn
ward die Kunſt, hohle Worte zu einem glitzernden Gewebe zu verknüpfen,
zuerſt in die preußiſche Politik eingeführt — eine Kunſt, die unter dem ge-
ſtrengen alten Abſolutismus ganz unbekannt geweſen war und erſt ſpäter-
[190]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
hin, in der parlamentariſchen Epoche, ihre üppigſten Blüthen entfalten ſollte.
Von Haus aus ein Freund der Ruhe und der überlieferten Ordnung hatte
er im Juni 1789 zu Verſailles ſelber mit angeſehen, wie die Vertreter
des Dritten Standes ſich die Rechte einer Nationalverſammlung anmaßten
und alſo den Sturz des Königthums vorbereiteten. Seit jenem Tage lag
ihm die Angſt vor der Revolution in allen Gliedern, und als das revo-
lutionäre Weltreich endlich gefallen war, wahrlich ohne Ancillons Zuthun,
da wendete ſich der Zaghafte den Anſichten Metternichs zu und folgte ge-
lehrig jedem Winke der Hofburg. Geſchäftig trug er die Anſchuldigungen
der Schmalziſchen Schrift in der Hofgeſellſchaft umher, und obwohl er ſich
noch hütete den Staatskanzler offen zu bekämpfen, ſo ſprach er doch jetzt
ſchon mit verdächtigem Eifer von den unermeßlichen Schwierigkeiten, welche
dem Verfaſſungsplane entgegenſtänden, und wer den Mann kannte mußte
errathen, daß er insgeheim zu Wittgenſteins Partei gehörte.


Das Volk begann den geheimen Parteikampf am Hofe zuerſt zu be-
merken, als bald nach dem Frieden einige unerwartete Veränderungen in
den rheiniſchen Provinzen erfolgten. Dort am Rhein war die feſtliche Stim-
mung der Kriegsjahre ſo ſchnell nicht verflogen. Die preußiſchen Offiziere
und Beamten, die das theuer erkaufte Grenzland jetzt dem deutſchen Staats-
leben einfügen ſollten, ſchauten mit dem Hochgefühle des Siegers um ſich;
ſie ſchwelgten in den Reizen der ſchönen Landſchaft und in der hellen
Lebensluſt der rheiniſchen Geſelligkeit. Ihnen war, als ob die Heldenkraft
des Nordens hier mit der Anmuth des reichen Südens fröhlich Hochzeit
hielte. Um Gneiſenau, der in Coblenz befehligte, ſammelte ſich ein froher
Kreis von bedeutenden Männern und ſchönen Frauen, der ſelbſt die leicht-
lebigen Bewohner der alten Biſchofsſtadt zu dem Geſtändniß zwang, daß
ihre neue Landesherrſchaft doch über ganz andere geiſtige Kräfte gebot als
weiland der kurtrierſche Hof und der Präfekt Napoleons. Da waren Clauſe-
witz und Bärſch, einer von Schills Gefährten; der tollkühne Huſar Hellwig
und der hünenhafte Graf Karl v. d. Gröben, der einſt als Gneiſenaus
Vertrauter, faſt ſo abenteuerlich wie ſein Ahn, der afrikaniſche Held des
großen Kurfürſten, von Land zu Land gezogen war um den heiligen Krieg
vorzubereiten; dann die romantiſchen Schwärmer Max v. Schenkendorf,
Werner v. Haxthauſen, Sixt v. Armin, der Pädagog Johannes Schulze
und der gelehrte Sammler Meuſebach. Wenn Gneiſenau Abends die Damen
in dem Wagen Napoleons, dem Beuteſtücke von Belle Alliance, zu einem
Feſte abholen ließ und nun in ſeiner heitern Hoheit, gebieteriſch und doch
beſcheiden, erröthend vor dem eigenen Ruhm, inmitten der lauten Tafel-
runde ſaß, wenn die Lieder Arndts und Körners erklangen, die Kriegs-
männer von ihren Fahrten erzählten und Meuſebach durch den urkräftigen
Humor ſeiner geiſtreichen Verſe Alles zu ſtürmiſchem Gelächter hinriß,
dann meinte Schenkendorf glückſelig:


So hab’ ich wohl im Knabentraume

Die alte Ritterſchaft geſehn.

[191]Gneiſenau. Sack. Gruner.

Auch im Lande hatte ſich der freimüthige Held bald alle Herzen gewonnen;
als er die Moſel hinauf fuhr, kamen aus jedem Dorfe ſingende Landleute
herangerudert und reichten ihm den Ehrenwein.


Das fröhliche Nachſpiel der großen Kriegszeit ſollte nicht lange währen.
Gneiſenau hatte ſchon als die Schmalziſche Schrift erſchien den Staats-
kanzler gewarnt, dieſem erſten Schlage würden ſchwerere folgen, und mußte
nun erfahren, daß man bei Hofe ihn ſelber als das Haupt des Tugend-
bundes anſchwärzte, ſeine heitere Tafelrunde „Wallenſteins Lager“ nannte.
Die Verleumdung verſtimmte ihn um ſo tiefer, da er eben jetzt von jener
krankhaften Abſpannung befallen wurde, welche die Männer der That
beim Eintritt ruhiger Zeiten ſo häufig heimſucht; er fühlte ſich im Friedens-
dienſte wie der Fiſch auf dem Sande und legte ſchon im Sommer 1816
ſein rheiniſches Commando nieder, theils ſeiner Geſundheit wegen, theils um
den Gegnern zu beweiſen, daß er keine ehrgeizigen Abſichten hege.*) Auch
dann noch hörten die Afterreden am Hofe nicht auf; der König aber blieb
den Einflüſterungen unzugänglich, und kaum zwei Jahre ſpäter übernahm
Gneiſenau, nachdem ſein Körper ſich in den ſchleſiſchen Bergen wieder er-
holt hatte, die Stelle des Gouverneurs von Berlin.


In denſelben Tagen wurde der Oberpräſident Sack vom Rheine nach
Stettin verſetzt. Anderthalb Jahre lang hatte er die proviſoriſche Ver-
waltung in ſeiner rheiniſchen Heimath mit Geſchick und Umſicht geleitet;
aber wie er einſt als brandenburgiſcher Oberpräſident mit dem feudalen
Adel zuſammengerathen war, ſo konnte es dem derben, durchgreifenden
Beamten auch jetzt nicht an Feinden fehlen. Die Miniſter Wittgenſtein,
Schuckmann, Bülow beſchwerten ſich über ſeine Unbotmäßigkeit; mit dem
Militärgouverneur General Dobſchütz lebte er in offener Fehde. Freiherr
v. Mirbach und Andere aus dem ſtolzen niederrheiniſchen Adel verklagten
ihn wegen bureaukratiſcher Härte und Zurückſetzung der Edelleute; ſelbſt
ſeine Freunde konnten nicht leugnen, daß er ſich in den Zeitungen mehr
als für einen preußiſchen Beamten ſchicklich war loben ließ und ſeine
zahlreiche Vetterſchaft, „die Säcke“, doch gar zu ſorgſam in der rheiniſchen
Verwaltung untergebracht hatte. Nach ſo zahlreichen Klagen fand es Har-
denberg gerathen, dem verdienten Manne einen andern Wirkungskreis an-
zuweiſen; er blieb bei ſeinem Entſchluſſe, obgleich Sack ſich ſchwer beleidigt
fühlte, die große Mehrzahl der Rheinländer ihren Landsmann ungern
ziehen ſah, und zahlreiche Gemeinden der Provinz dringend um Zurück-
nahme der Verſetzung baten.**)


Auch der feurige Patriot Juſtus Gruner, der bisher im Namen der
verbündeten Mächte das bergiſche Land verwaltet hatte, fand eine laue
[192]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Aufnahme, als er jetzt, durch Gneiſenau lebhaft empfohlen, wieder in
den preußiſchen Staatsdienſt einzutreten verlangte. Sonderbares Schick-
ſal, daß gerade der Begründer der preußiſchen geheimen Polizei unter den
Berichten der geheimen Agenten am Schwerſten leiden mußte. In der
Hofburg galt er, neben Stein und Görres, als das Haupt der deutſchen
Jakobiner. Im Sommer 1812 war er auf Metternichs Befehl nach Peter-
wardein auf die Feſtung gebracht worden, weil er von Prag aus eine Schild-
erhebung gegen Napoleon vorbereitete und mit Jahns „Deutſchem Bunde“
insgeheim verkehrte.*) Erſt im Oktober 1813 freigelaſſen, hatte er dann
als Gouverneur von Berg die Oeſterreicher und die Rheinbündner durch
die leidenſchaftliche Sprache ſeiner Reden und Manifeſte aufs Neue er-
ſchreckt und beim Ausbruche des Krieges von 1815 gar einen geheimen
Bund geſtiftet, der zwar niemals zu einer Thätigkeit gelangte und alsbald
nach dem Frieden wieder einging, aber ſchon durch ſeinen Wahlſpruch
„Deutſchlands Einheit unter Preußen!“ alle ängſtlichen Gemüther mit
Entſetzen erfüllte. Nach alledem hielt es der Staatskanzler für unmöglich,
dem Vielverleumdeten ein einflußreiches Verwaltungsamt anzuvertrauen,
und Gruner wurde mit dem beſcheidenen Geſandtſchaftspoſten in Bern ab-
gefunden. Alle dieſe Vorfälle berührten die öffentliche Meinung ſehr pein-
lich, zumal da ſie faſt gleichzeitig mit der Unterdrückung des Rheiniſchen
Merkurs und bald nach dem Erſcheinen der Schmalziſchen Schrift er-
folgten. Die argwöhniſche Welt ſuchte nach einem geheimen Zuſammen-
hange, obgleich Gneiſenau das Verbot des Görres’ſchen Blattes ganz in
der Ordnung fand und Sack ein erklärter Gegner Gruners war. Die
Luft ward täglich ſchwüler. Derweil man bei Hofe von den geheimen
Umtrieben der Demagogen erzählte, klagten die Liberalen über den Anbruch
der Reaktion. —


Trotz dieſer Reibungen innerhalb der Regierung ging die unſchein-
bare und doch ſo folgenreiche Arbeit der Neuordnung der Verwaltung
ſtetig und ſicher vorwärts. Sobald ſich der Umfang der neugewonnenen
Landſchaften einigermaßen überſehen ließ, genehmigte der König, noch in
Wien, am 30. April 1815 die Verordnung über die verbeſſerte Einrichtung
der Provinzialbehörden, welche das Staatsgebiet in zehn Provinzen und fünf-
undzwanzig Regierungsbezirke eintheilte. Zwei dieſer Provinzen, Niederrhein
und Weſtpreußen, wurden ſpäter mit den Nachbarprovinzen Jülich-Cleve-
Berg und Oſtpreußen vereinigt: die ſechs anderen, Brandenburg, Pommern,
Schleſien, Poſen, Sachſen, Weſtphalen, beſtehen noch heute unverändert.
Es war das Werk des Königs, daß die im Jahre 1810 durch Hardenberg
aufgehobenen Aemter der Oberpräſidenten wiederhergeſtellt wurden. Friedrich
[193]Die neuen Provinzialbehörden.
Wilhelm wünſchte, in großen, lebensfähigen Provinzen die Eigenart der
Stämme und Landſchaften ſich frei entfalten zu laſſen; er wollte, daß die be-
dachtſame Unparteilichkeit der collegialiſchen Regierungen an der Thatkraft
und dem perſönlichen Anſehen der vorgeſetzten Einzelbeamten ihre Ergän-
zung fände und die Verwaltung dergeſtalt die Vorzüge des collegialiſchen
und des bureaukratiſchen Syſtems vereinigte. Zugleich hegte er jetzt ſchon
die Abſicht, neben jeden Oberpräſidenten einen commandirenden General
zu ſtellen und alſo, nach dem Vorbilde Oeſterreichs und Rußlands, die
militäriſche Eintheilung des Landes der Civilverwaltung anzupaſſen. Den
Vorſchlag Bülows, die Regierungscollegien durch Präfekten zu erſetzen,
lehnte der König rundweg ab und verwarf auch den Plan, ihnen ſelb-
ſtändige Finanzcollegien an die Seite zu ſtellen.*) Sie behielten ihre colle-
gialiſche Form, zerfielen aber fortan in zwei Abtheilungen, deren eine unter
der Aufſicht des Miniſters des Innern die Hoheitsſachen, die Polizei und
das Gemeindeweſen bearbeitete, während die zweite, dem Finanzminiſter
untergeordnet, das Finanzweſen und die Gewerbeangelegenheiten übernahm,
ſo daß jeder Miniſter ſo weit möglich ſeine eigenen, von ihm allein ab-
hängigen Organe erhielt.


Bei der Abgrenzung der neuen Verwaltungsbezirke verfuhr die Re-
gierung mit höchſter Schonung, mit jener Pietät für das hiſtoriſch Ge-
gebene, die von Altersher im Charakter der preußiſchen Staatskunſt lag.
Sobald ein Dorf aus ſeinem alten Kreisverbande ausgeſchieden werden
ſollte, mußten zwei Miniſterien ihr Gutachten abgeben; der König ſelbſt
entſchied und, wo irgend möglich, rückſichtsvoll nach dem Wunſche der
Einwohner. Gleichwohl ließ ſich die Störung mancher altgewohnten Ver-
hältniſſe nicht vermeiden, da die neuerworbenen Länderfetzen unter ein-
ander und mit den alten Gebietstheilen in krauſem Gemenge lagen. Keine
von den alten Provinzen konnte ihre alten Grenzen unverändert behalten.
Sofort begann denn ein allgemeines Sturmlaufen gegen die Regierung.
Die ungeheure Macht des Particularismus, in Preußen um nichts ſchwächer
als in den kleinen deutſchen Staaten, erhob ſich aufgeſcheucht; die tauſend
und tauſend zähen Intereſſen des örtlichen Kleinlebens, an denen der Sturm
einer ungeheuern Zeit unbemerkt vorübergerauſcht war, riefen um Hilfe.
Aus unzähligen Eingaben erklang überall dieſelbe ſtarr conſervative Ge-
ſinnung, überall derſelbe Jammerruf: „wir wollen uns nicht trennen von
unſeren Brüdern, die mit uns Freud’ und Leid in ſchwerer Zeit getheilt.“
Als man den Sitz der Kreisbehörde des Freyſtädter Kreiſes nach Neuſalz
verlegen wollte, da häuften ſich die Petitionen, eine Geſandtſchaft drang
bis zum Könige; der alte Kalkreuth ſchrieb an Hardenberg, er müſſe zu
Grunde gehen, wenn die Behörde nicht mehr in der Nachbarſchaft ſeines
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 13
[194]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Gutes hauſe, die Strolche würden ihm den Kohl und die Kartoffeln von
den Feldern ſtehlen; der paſſive Widerſtand war unüberwindlich. Die
Monarchie erfuhr in hundert Fällen, was ſie ſpäterhin bei allen Reformen
der Communalverwaltung abermals erfahren ſollte, daß es in Deutſchland
ungleich leichter iſt, zwei Staaten zu verſchmelzen als zwei Kreiſe oder
Gemeinden.


Ueberall, im Volke wie auf den Thronen, überſchätze man noch un-
endlich den Gegenſatz der Landſchaften und Stämme. Wenn ſogar die
königlichen Beamten in Pommern ſich nur bis zu der beſcheidenen Hoff-
nung verſtiegen, es werde im Verlaufe langer Jahre die allmähliche „An-
näherung zwiſchen den beiden Nationen“ der ſchwediſchen Pommern und
der Altpommern möglich werden; wenn ſelbſt Sack in ſeinen Verwaltungs-
berichten verſicherte, der Jülicher, der Aachener, der Kölner und der Moſel-
länder wichen in ihrem Charakter dermaßen von einander ab „als ob es
ganz verſchiedene Nationen wären“: ſo zeigte ſich vollends im Volke die
nachbarliche Abneigung oft bis zur leidenſchaftlichen Gehäſſigkeit geſteigert.


Alle altpreußiſchen Landestheile betrachteten es als eine Schande,
wenn man ſie den neuen Provinzen einfügen wollte. Als die Regierung den
Plan faßte, die Niederlauſitz ſammt der altbrandenburgiſchen Herrſchaft
Beeskow der Provinz Sachſen zuzutheilen, da wendeten ſich die Stände
des Beeskow-Storkower Kreiſes an den König und klagten, ganz ſo laut
und ſtürmiſch, wie ſie einſt unter Marwitz’s Führung gegen Hardenbergs
Agrargeſetze geeifert hatten: „Wir fangen mit demjenigen an, was uns das
Heiligſte und Wichtigſte ſein muß, von Ew. Majeſtät Beamten aber ganz
unbeachtet gelaſſen, vielleicht als ein leeres Vorurtheil angeſehen wird,
weil ſie nicht gewohnt ſind die Geſinnungen der Völker zu beachten: wir
ſollen aufhören Brandenburger und Preußen zu ſein! Sollen wir Bran-
denburger bleiben und unſere Volksthümlichkeit erhalten? Dann wird
es uns auf eine ähnliche Weiſe ergehen, wie es einſt erging und noch er-
geht dem Ueberreſt des wendiſchen Volks in unſerer Nachbarſchaft, das in
einem beſtändigen Mißtrauen, in einer beſtändigen Abſonderung von ſeinen
Nachbarn und in einer beſtändigen Anfeindung ſeitens Letzterer ſeine Exiſtenz
noch jetzt fortſchleppt. Sollen wir aber den ſächſiſchen Volkscharakter an-
nehmen? Das werden wir nicht können, nicht weil wir ihn für unwürdig
anerkennen, ſondern weil wir einmal Brandenburger ſind!“*) Da auch
die Stände des wieder gewonnenen Cottbuſer Landes ſich ebenſo ungeſtüm
gegen jede Gemeinſchaft mit den Sachſen verwahrten, ſo gab der Staats-
kanzler nach und ließ die Grenze der Provinz Brandenburg weiter nach
Süden verlegen. Minder glücklich fuhren die Altmärker. Auch ſie ver-
langten ihre Wiedervereinigung mit der Kurmark als ein unbeſtreitbares
Recht. Die Regierung aber beharrte bei dem Entſchluſſe, die Wiege des
[195]Abgrenzung der Verwaltungsbezirke.
brandenburgiſchen Staates der Provinz Sachſen einzuverleiben; denn die
Landſchaft war durch ihre Lage auf Magdeburg angewieſen und hatte ſeit
der weſtphäliſchen Herrſchaft nichts mehr gemein mit der für die Kurmark
ſo wichtigen Schuldenverwaltung, auch ihr Communalweſen ſtimmte nicht
mehr zu dem brandenburgiſchen Brauche.


Im Herzogthum Preußen war noch unvergeſſen, daß einſt die Städte
des Weichſelthals zuerſt das Banner des Aufruhrs gegen den Deutſchen
Orden erhoben und den Polen ins Land gerufen hatten; das tapfere Volk
war gewohnt auf die weſtpreußiſchen Nachbarn wie auf Verräther herab-
zuſehen und fühlte ſich ſchwer gekränkt, als einige Striche Oſtpreußens
der Weichſelprovinz zugewieſen wurden. Durch flehentliche Bitten beim
Könige erlangten mindeſtens die Kreiſe Mohrungen und Neidenburg, daß
ſie bei Oſtpreußen verblieben. Dagegen verlangte eine Petition des pol-
niſchen Adels in Michelau und dem Kulmerlande, daß dies alte Stamm-
land der deutſchen Ordensmacht zum Großherzogthum Poſen geſchlagen
würde. Die treuen deutſchen Städte aber widerſprachen lebhaft, und die
Regierung wies den verdächtigen Vorſchlag ab.*) Die Neuvorpommern
ſteiften ſich auf ihre „Rechte, Privilegien und Freiheiten“, welche der König
in den Verträgen mit Schweden und Dänemark aufrecht zu halten ver-
ſprochen hatte; ſie verſtanden darunter, nach deutſcher Weiſe, kurzweg alle
beſtehenden Inſtitutionen, das ſchwediſche Zollweſen und die alte Münze
ſo gut wie das alte Beamtenthum, und vertheidigten ihre Unabhängigkeit
ſo hartnäckig, daß der Staatskanzler erſt im Jahre 1818 wagte den kleinen
Regierungsbezirk Stralſund mit der Provinz Pommern zu vereinigen.
Darauf beſchwerten ſich die Deputirten der Kreiſe und Städte bei dem
Könige bitter über die Verletzung ihrer Privilegien; ſie erklärten die ſchwe-
diſche Gouvernements-Canzleiordnung von 1669 für unantaſtbar und ver-
ſtummten erſt, als der König ihnen nachdrücklich erwidern ließ, keine Pro-
vinz dürfe unter dem Vorwand beſonderer Gerechtſame eine Ausnahme
von der allgemeinen Verwaltungsordnung des Staates für ſich verlangen.**)
In den weſtlichen Provinzen ſtieß die Einführung der neuen Verwaltungs-
bezirke auf geringeren Widerſtand, da der Sondergeiſt der Städte und der
Landſchaften hier ſchon längſt durch die harte Fauſt des napoleoniſchen
Beamtenthums gebeugt war; doch ward auch hier um die Sitze der Be-
hörden leidenſchaftlich gekämpft, zuweilen auch verſucht, längſt vergeſſene
altſtändiſche Anſprüche aus dem Staube der Jahrhunderte hervorzuholen.
Die Grafſchaft Werden wollte nicht von der Grafſchaft Mark getrennt
werden; die Stadt Herford erklärte dem Staatskanzler in einer pomp-
haften Zuſchrift: ſie könne und werde keinem Kreiſe beitreten, ſie beſitze
13*
[196]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ein Recht auf „fernere Selbſtändigkeit und Immedialität“; nur unter dieſem
Vorbehalte habe Herford einſt dem großen Kurfürſten gehuldigt.*)


Die weitaus größten Schwierigkeiten bot doch die Neuordnung der vor-
mals ſächſiſchen Gebiete, welche ohnehin der neuen Landesherrſchaft anfangs
faſt ebenſo feindſelig wie die Polen gegenüberſtanden. Alles wehklagte über
den Untergang der ſächſiſchen Nation; in Naumburg riß der Pöbel die
ſchwarzen Adler in den Koth, ſelbſt die Ruhigen bezeichneten ſich weh-
müthig als Mußpreußen — ein Ausdruck, der in manchen Landſtrichen
noch viele Jahre im Schwange blieb. So lange die Erwerbung des ge-
ſammten Königreichs Sachſen in Ausſicht ſtand, hatte Hardenberg nur an
eine Perſonal-Union zu denken gewagt. Jetzt, da man ſich mit der Hälfte
des Landes begnügen mußte, ergab ſich ſofort, daß dieſe Trümmer nicht
einmal in einer Provinz zuſammenbleiben konnten. Kaum die Anfänge
der Staatseinheit, gleichmäßiger moderner Staatsordnung waren durch
das ſchläfrige altſtändiſche Regiment Kurſachſens geſchaffen; die Lande, die
man das Herzogthum Sachſen nannte, beſtanden in Wahrheit aus ſieben
loſe verbundenen Territorien: aus den Markgrafſchaften Ober- und Nieder-
lauſitz, den beiden Stiftern Merſeburg und Naumburg, dem Fürſtenthum
Querfurt, der Grafſchaft Henneberg und einem Stücke der ſächſiſchen Erb-
lande. Trotzdem baten die Vertreter des Adels, als im Herbſt 1815 eine
ſächſiſche Deputation in Berlin erſchien, „um Erhaltung der Integrität
und Nationalität des Herzogthums Sachſen“; Andere, darunter die Bürger-
meiſter, verwahrten ſich dawider und erklärten, ſie hegten volles Zutrauen
zu der bürgerfreundlichen Regierung Preußens.**) Zur ſelben Zeit ſprachen
die Niederlauſitzer Stände für die Erhaltung ihrer Privilegien; die Stände
der Oberlauſitz aber verlangten, „daß die Provinz Lauſitz mit keinem anderen
Theile der Monarchie verbunden werde“: die beiden Lauſitzen ſollten ein
ſelbſtändiges Geſammtreich bilden mit der Hauptſtadt Görlitz.***)


Wie war es möglich, allen ſolchen particulariſtiſchen Begehren, die ein-
ander ins Geſicht ſchlugen, gerecht zu werden? Zudem lagen dieſe Land-
ſchaften weithin zerſtreut von Görlitz bis Langenſalza, abgetrennt von ihrem
natürlichen Mittelpunkte, dem Meißnerlande, das bei Sachſen geblieben
war. Die Regierung beſchloß daher nach längerem Schwanken, die weit
nach Oſten abgelegene Niederlauſitz mit Brandenburg, die Oberlauſitz mit
Schleſien zu verbinden und vereinigte die übrigen Stücke des Herzogthums
Sachſen mit der Altmark, dem Herzogthum Magdeburg und dem kurmainzi-
ſchen Eichsfelde zu einer neuen Provinz. So kamen die vormals ſächſiſchen
Landestheile an drei Provinzen und ſechs Regierungsbezirke. Was Wunder,
daß ſie laut klagten und den ganzen Schmerz der Theilung ihres Heimath-
landes noch einmal zu erleben glaubten. Die Bitten und Beſchwerden
[197]Der Staatsrath.
währten noch lange fort. Der dicht bei Potsdam gelegene ſächſiſche Amts-
bezirk Belzig verlangte ſtürmiſch, beim Wittenberger Kreiſe zu bleiben;
ſämmtliche Grundbeſitzer des Eichsfeldes forderten als ein verbrieftes Recht,
daß ein eichsfeldiſches Oberlandesgericht in Heiligenſtadt gegründet werde.
Noch drei Jahre ſpäter ſprach einer der erſten Grundbeſitzer des Landes,
Graf Schulenburg gegen den Miniſter Klewiz die Erwartung aus, daß
die altſächſiſchen Gebiete ſämmtlich zu einer Provinz vereinigt würden,
ſonſt werde „dieſe Wunde ewig bluten“; und bis zum heutigen Tage fühlt
ſich die Stadt Görlitz als eine oberlauſitziſche, nicht als eine ſchleſiſche
Stadt. In der That war die Provinz Sachſen der einzige völlig künſt-
liche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken. Während bei der
Bildung aller anderen Provinzen umſichtige Schonung der Intereſſen und
Erinnerungen waltete und jede von ihnen einen ausgeprägten Stammes-
charakter zeigte, wurde hier, Dank der unglücklichen Halbheit der Wiener
Congreßbeſchlüſſe, manches althiſtoriſche Band gewaltſam zerriſſen, thürin-
giſche, ober- und niederſächſiſche Stammesart willkürlich zuſammengezwängt.
Und doch ward auch hier durch die ausdauernde Geduld, die Pflichttreue
und Gerechtigkeit des Beamtenthums die Wildniß allmählich gerodet, die
feindſelige Bevölkerung zu einem geſunden Gemeingeiſt erzogen. Es war die
Idee der praktiſchen deutſchen Einheit, die in einem täglich und ſtündlich er-
neuerten Kampfe ſich durchſetzte gegen die Trümmer des Particularismus. —


Sobald die Verwaltung der Provinzen ſich etwas befeſtigt hatte nahm
Hardenberg die ſo lange unterbrochene Arbeit der Geſetzgebung wieder auf.
Durch die Verordnung vom 20. März 1817 wurde die ſeit dem Jahre 1808
wiederholt verheißene höchſte berathende Behörde der Monarchie, der Staats-
rath, endlich eingerichtet, allerdings mit geringeren Befugniſſen, als Stein
ihr einſt zugedacht hatte. Der Berathung des Staatsraths unterlagen
alle Geſetzentwürfe ſowie die allgemeinen Verwaltungsgrundſätze, desgleichen
die Streitigkeiten über den Wirkungskreis der Miniſterien, die Entſetzung
der Beamten, und alle die Beſchwerden der Unterthanen, welche der König
ihm zuwies, ſo daß die leicht zu mißbrauchende Macht der neuen Fach-
miniſter jetzt eine wirkſame Schranke fand. Den Vorſitz übernahm der
König ſelbſt oder der Staatskanzler, die formelle Leitung der Geſchäfte der
neue Miniſter-Staatsſekretär v. Klewiz. Mitglieder waren: die königlichen
Prinzen, die Miniſter und die Chefs der anderen ſelbſtändigen Central-
behörden, die Feldmarſchälle, die commandirenden Generale und die Ober-
präſidenten, endlich vierunddreißig durch das Vertrauen des Königs be-
rufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienſtes — die beſten
Kräfte des Beamtenthums, ſehr Wenige darunter, die nicht irgendwie über
die Mittelmäßigkeit herausragten. Von den namhaften Staatsmännern
hatte man nur zwei übergangen, deren Schroffheit dem Staatskanzler be-
drohlich ſchien: Stein und den hochconſervativen alten Miniſter Voß-
Buch. Die beiden Kirchen waren durch die Biſchöfe Sack und Spiegel,
[198]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
die Wiſſenſchaft durch Savigny vertreten. So lebte der alte Geheime
Staatsrath, der ſeit dem Kurfürſten Joachim Friedrich bis zu den Tagen
Steins, zuletzt nur noch als ein Schatten beſtanden hatte, jetzt wieder
auf, in neuen Formen, welche den geſetzlichen Gang der Verwaltung ſicherten,
ohne ihre raſche Schlagkraft zu lähmen. Dem neuen Staatsrathe ver-
dankte Preußen, daß die Geſetze der letzten Jahre Friedrich Wilhelms III.
gründlicher, brauchbarer, gediegener ausfielen als die zuweilen überhaſteten
Arbeiten der großen Reformperiode und doch, trotz der reiflichen Berathung,
nicht wie ſpäterhin die Geſetze der parlamentariſchen Zeit den widerſpruchs-
vollen Charakter mühſeliger Partei-Compromiſſe trugen. Es war die letzte
glänzende Vertretung der alten abſoluten Monarchie, eine Vereinigung
von Talent, Sachkenntniß und unerſchrockenem Freimuth, wie ſie außer
England kein anderer Staat jener Tage aufweiſen konnte, eine Körper-
ſchaft, deren Wirkſamkeit allein ſchon genügte, alle die gehäſſigen Urtheile
über den preußiſchen Staat, die jetzt wieder in den deutſchen Kleinſtaaten
umhergetragen wurden, zu widerlegen. Aber ſie tagte geheim, in Preußen
ſelbſt wußte das Volk kaum etwas von ihrem Daſein.


Am 30. März 1817 eröffnete Hardenberg die Sitzungen des Staats-
raths mit einer Rede, die noch einmal den zuverſichtlichen Ton früherer Jahre
anſchlug. Er ſagte: die Aufgabe ſei, „das Beſtandene in die gegenwärtigen
Verhältniſſe des Staats, in die Bildung des Volks und in die Forderungen
der Zeit verſtändig einzufügen. Der preußiſche Staat — ſo ſchloß er — muß
der Welt beweiſen, daß wahre Freiheit und geſetzliche Ordnung, daß Gleich-
heit vor dem Geſetze und perſönliche Sicherheit, daß Wohlſtand des Ein-
zelnen ſowie des Ganzen, daß Wiſſenſchaft und Kunſt, daß endlich, wenn’s
unvermeidlich iſt, Tapferkeit und Ausdauer im Kampfe fürs Vaterland
am beſten und ſicherſten gedeihen unter einem gerechten Monarchen.“ *)
Darauf wurden die neuen Steuergeſetz-Entwürfe des Finanzminiſters einer
Commiſſion übergeben.


Währenddem beſprachen ſich die im Staatsrathe verſammelten Ober-
präſidenten vertraulich über die Ergebniſſe der neuen Verwaltungsordnung.
Das Werk Steins, die Einheit der oberſten Verwaltung galt noch keines-
wegs allgemein als eine unwiderrufliche Thatſache; die rechte Grenze zwi-
ſchen den unveräußerlichen Rechten der Staatsgewalt und dem Uebermaße
der centrifugalen Kräfte war ſo ſchwer zu finden, daß im Schooße der
Regierung ſelber noch lebhaft darüber geſtritten wurde. Vor Kurzem
erſt hatte der Staatsſekretär Klewiz, ein wohlmeinender, in der Provinzial-
verwaltung ſeiner magdeburgiſchen Heimath gründlich erfahrener Beamter
der alten Schule, dem Staatskanzler im beſten Glauben einen ungeheuren
Rückſchritt, die Wiederherſtellung der Provinzialminiſter vorgeſchlagen: eine
ſtraffere Centraliſation ertrage der ſo bunt zuſammengeſetzte Staat nicht,
[199]Schön und die Oberpräſidenten.
und wie leicht könne die Macht der neuen Fachminiſter in einen gefähr-
lichen Despotismus ausarten! *) Der Ruf nach Herſtellung der Pro-
vinzialminiſterien ward bald ein Loſungswort für den Particularismus
der altſtändiſchen Adelspartei und fand auch Anklang bei einem Theile
der Oberpräſidenten. Dieſe hohen Beamten fühlten ſich alleſammt unbe-
haglich in ihrer ſchwierigen, noch nirgends klar begrenzten Mittelſtellung
zwiſchen den Miniſterien und den Bezirksregierungen; ſtolz auf ihre be-
währte Kraft ſtanden ſie ihren Vorgeſetzten mit jener trotzigen Amtseifer-
ſucht gegenüber, die dem preußiſchen Beamtenthum von jeher eigen war,
und da ſie in ihren Provinzen faſt nur Klagen über die ungewohnten
neuen Verhältniſſe vernommen hatten, ſo überboten ſie einander in düſteren
Berichten, ſie beſtärkten ſich wechſelſeitig in ihrem Mißmuth und geriethen
allmählich unter die Leitung Schöns, des Mannes, in dem ſich die ganze
unfruchtbare Verdrießlichkeit dieſer Uebergangstage verkörperte.


In den erſten Zeiten der Hardenbergiſchen Verwaltung hatte Schön,
gleich Sack und vielen anderen tüchtigen Beamten, zur Einführung des Prä-
fektenſyſtems gerathen; ſeit er ſelbſt Oberpräſident von Weſtpreußen geworden,
empfahl er ebenſo lebhaft eine faſt unbeſchränkte Selbſtändigkeit der Pro-
vinzialbehörden. Welche Lebensſtellung hätte auch dem ewig Unbefriedigten
je genügen können? Die Abhängigkeit von den Miniſtern fiel ſeinem über-
ſpannten Selbſtgefühle um ſo läſtiger, da er ſich bereits ein Idealbild von
der Geſchichte der letzten Jahre zurecht gelegt hatte, in deſſen Vordergrunde er
ſelber inmitten ſeiner altpreußiſchen Freunde glänzte. Eine unruhige Einbil-
dungskraft verband ſich in ſeinem Geiſte ſeltſam mit dialektiſchem Scharfſinn.
Wenn er erzählte — oft viele Stunden lang mit unaufhaltſamer Lebendig-
keit und ſtarker Leidenſchaft — dann überkam die Zuhörer ſchnell das Ge-
fühl, daß die Phantaſie mit ihm durchging: durch ihn waren dem ideen-
loſen Stein die leitenden Gedanken des geſammten Reformwerks geſchenkt
worden, während er in Wahrheit nur an einem einzigen jener grundlegenden
Geſetze, an dem Edikte über die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, wirkſam
theilgenommen hatte; er allein hatte im Frühjahr 1813 die Provinz Preußen
vor Steins moskowitiſchen Eroberungsplänen gerettet; durch ſeine Freunde,
die Führer des Königsberger Landtags, war der große Linienſoldat Scharn-
horſt wider Willen zur Bildung der Landwehr genöthigt worden. Solche
Märchen wiederholte er beharrlich in Wort und Schrift, bis er endlich
ſelbſt daran glaubte; er fühlte kaum noch, wie ſchwer er ſich an dem Ruhm
größerer Männer verſündigte, und bekannte ſich, derweil er in eitlem Selbſt-
lob ſchwelgte, ganz unbefangen zu dem Wahlſpruch: „thue das Gute und
wirf es ins Meer; ſieht es der Fiſch nicht, ſieht es der Herr!“ Geiſtreich,
beredt, vielſeitig gebildet, ein Schüler Kants und Freund von Fichte und
Niebuhr, unterhielt er mit der gelehrten Welt einen regen Verkehr, ſo daß
[200]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſein Name auch draußen in den Kleinſtaaten, wo man ſich ſonſt um Preu-
ßens Männer und Dinge wenig kümmerte, überall mit Achtung genannt
wurde, und blieb dabei doch ein Mann der Geſchäfte, ein gründlicher Kenner
des Landbaus und der Gewerbe, ein thatkräftiger Beamter, der die gute
Schule des trefflichen alten Provinzialminiſters v. Schrötter nicht verleugnete
und, wenn es galt, rückſichtslos, ja despotiſch durchgriff. Faſt ſeine geſammte
Dienſtzeit hatte er in der Verwaltung ſeiner altpreußiſchen Heimath zuge-
bracht, kein Bauernhof der Salzburger Exulanten in Litthauen und keine
Fiſcherhütte auf den Dünen der kuriſchen Nehrung war ihm unbekannt.
So, mit dem zweifachen Stolze des Kantianers und des gewiegten Prak-
tikers ſchaute er verächtlich auf die ſtaubige Weisheit des grünen Tiſches
nieder, und da er die preußiſchen Staatsmänner ſämmtlich, Stein ſo gut
wie Wittgenſtein, auf der Wage ſeines kategoriſchen Imperativs allzu leicht
befand, ſo überſchüttete er ſie alle, ſehr wenige ausgenommen, mit der
ätzenden Lauge eines grauſamen Tadels, der zu Kants menſchenfreund-
licher Weisheit wenig ſtimmte. Männer thuen uns noth, ſo wiederholte
er beſtändig, die von der Macht der Ideen ergriffen ſind, Männer, die
vor dem Volke ſtehen und mit ihm leben! Die religiöſe Erregung der
Kriegsjahre ließ ſeinen durchaus kritiſchen Geiſt ebenſo kalt wie die vater-
ländiſche Schwärmerei der Teutonen, denn in der „Nationalität“ wollte
er niemals mehr ſehen als eine blinde Naturgewalt, die von der „Idee“
des [Staates] gebändigt werden müſſe.


Sein Programm hatte er ſchon vor Jahren in dem ſogenannten Poli-
tiſchen Teſtamente Steins niedergelegt. Dieſe bisher nur einigen hohen Be-
amten bekannte Denkſchrift wurde eben jetzt (1817) von unbekannter Hand,
ſchwerlich ohne Vorwiſſen des Verfaſſers, im Weimariſchen Oppoſitions-
blatte veröffentlicht und fand den lauten Beifall der ſüddeutſchen Liberalen.
Ein abgeſagter Feind aller Adelsvorrechte, hielt Schön für unzweifelhaft, daß
die Verheißungen jenes Teſtaments — Volksvertretung für alle aktiven
Staatsbürger, Aufhebung der gutsherrlichen Polizei und der Patrimonial-
gerichte — den Wünſchen der geſammten Nation entſprächen, und ſchloß
ſeine heftigen Ausfälle gegen die Menſchen, „die das Volk in den Maſchinen-
dienſt vor dem Jahre 1806 zurückzwingen wollen,“ gern mit dem Ausruf:
vox populi vox Dei. Auch ſein fanatiſcher Haß gegen Rußland kam
ſeinem Rufe in der liberalen Welt zu ſtatten. Wie oft wünſchte er ſich, in
ſeinen Briefen an Hardenberg, einen fröhlichen Krieg wider dieſe Barbaren,
„die auf der unterſten Stufe der Entwicklung, nur bei den Prolegomenen
ſtehen“; als er dem Staatskanzler einſt das Gerücht von einem Mord-
anſchlage gegen den Czaren meldete, ſprach er triumphirend ſeine Freude
aus, „daß dieſes Volk ſich ſelbſt ſo tief läſtert und von ſich Dinge ver-
breitet, die die höchſte Schande jedes Volks ausdrücken. Gott ſei gelobt!“*)
Bei ſeinen altpreußiſchen Landsleuten ſtand er in hohem Anſehen, obwohl
[201]Verhandlungen über den Wirkungskreis der Provinzialbehörden.
ſeine Schroffheit nirgends Liebe erweckte; der rationaliſtiſche Zug ſeines
Geiſtes entſprach der Geſinnung, die in der Stadt der reinen Vernunft
ſeit Langem vorherrſchte, und Alle wußten, wie glühend er ſeine Heimath
liebte, wie einſichtig und unerſchrocken er ſich aller ihrer Intereſſen vor
dem Throne annahm. Das Beiſpiel ſeiner abſprechenden Tadelſucht wirkte
verderblich auf das ohnehin zu ſcharfem Urtheil geneigte Volk; durch Schöns
langjährige Verwaltung wurde die Uebermacht der extremen Parteien in
unſerer Oſtmark zuerſt begründet. In Berlin ſpottete man insgeheim über
ſeinen unermeßlichen Dünkel und erzählte ſich lächelnd, wie er einmal,
unmittelbar vor der Heimreiſe, eine Einladung Hardenbergs mit den Worten
ausgeſchlagen hatte: „meine Provinz kann meiner nicht eine Stunde länger
entbehren;“ doch mochte Niemand gern dem ſtreitbaren Manne mit den
ſtrengen, ſtrafenden Augen offen entgegentreten. Witzleben, Klewiz, Vincke
ſchätzten ihn hoch; auch der König nahm von ihm manches herbe Wort
hin, da er ſeine Ergebenheit kannte.


Als Schön aus den Verhandlungen des Staatsraths die Uneinigkeit
der Miniſter kennen lernte, hielt er die Lage des Staates alsbald für
ebenſo verzweifelt wie ſie vor der Schlacht von Jena geweſen, und rieth
dem Staatskanzler dringend zur Bildung eines neuen Miniſteriums, das
nur aus Geſinnungsgenoſſen beſtände und, gleich dem engliſchen Kabinet,
durch „die Achtung des Volks“ getragen würde: dies England blieb ihm nun
einmal der liberale Muſterſtaat, obgleich dem Hochtory-Kabinet jener Tage
wahrlich nichts gleichgiltiger war als die Achtung des Volks. Um ſeinen
Vorſchlägen Nachdruck zu geben, überreichte Schön ſodann den verſammelten
Oberpräſidenten den Entwurf einer gemeinſamen Beſchwerdeſchrift, die den
Monarchen über „den bekümmernden Zuſtand der Verwaltung“ aufklären
ſollte. Dies ſonderbare, an draſtiſchen Wendungen überreiche Schriftſtück
ſchilderte mit grellen Farben, Wahres und Falſches willkürlich vermiſchend:
wie der ſo bunt zuſammengeſetzte Staat allein durch den Geiſt zuſammen-
gehalten werden könne, und dieſer Geiſt jetzt unterdrückt werde; die Polizei
bekunde ſich als Druck, die allgemeine Wehrpflicht arte in eine Laſt des
Landes aus, die Juſtiz ſei nur noch eine leidende Maſchine in der Hand
des Miniſters, für Kirche und Schule geſchehe gar nichts. Daran ſchloſſen
ſich ſcharfe Anklagen wider die eigenmächtige und nachläſſige Amtsführung
des Finanzminiſters und wohlberechtigte Beſchwerden über „das ungebundene
Ziehen aller Geſchäfte der Provinzialverwaltung, in franzöſiſcher Art, nach
der Mitte“. So mächtig war die grämliche Verſtimmung der Zeit, daß
ſieben von den zehn Oberpräſidenten ſich entſchloſſen, dies lange Regiſter
unbeſtimmter und zum Theil grundloſer Klagen zu unterzeichnen (30. Juni).
Nur Zerboni, ein perſönlicher Freund Hardenbergs, und der hochconſer-
vative Heydebreck verweigerten die Unterſchrift; der Oberpräſident von
Sachſen war als Bruder des Finanzminiſters von vornherein aus dem
Spiele geblieben.


[202]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Der Staatskanzler nahm die Oppoſition der höchſten Provinzialbe-
amten zuerſt ſehr unwillig auf und nannte im vertrauten Kreiſe ihr Unter-
fangen geradezu eine Verſchwörung. Doch überwand er ſich bald, erkannte
einige der Beſchwerden als berechtigt an und forderte für andere genaueren
Beweis, worauf die Klagenden ſelber mehrere ihrer Vorwürfe zurücknehmen
mußten. Auch der König begnügte ſich mit einem milden Tadel gegen die
Uebertreibungen der Denkſchrift, dankte den Unterzeichnern für dieſen neuen
Beweis ihres Dienſteifers und kündigte ihnen an, daß er den Klagen über
die allzu ſtraffe Centraliſation ſoeben abgeholfen habe.*) In der That
erließ der Monarch, um den Wirkungskreis der Provinzialbehörden endlich
klar abzugrenzen, am 23. Oktober 1817 die Inſtruktionen für die Ober-
präſidenten und die Regierungen, zwei ſeit Langem vorbereitete treffliche
Geſetze, welche den Neubau der oberen Verwaltung zum Abſchluß brachten
und die Grundſätze des Verwaltungsrechts auf ein halbes Jahrhundert
hinaus feſtſtellten. Geheilt von ſeiner Vorliebe für die napoleoniſche Ver-
waltung kehrte Hardenberg jetzt zu den Gedanken Steins zurück. Das
neue Verwaltungsrecht ſchloß ſich eng, oft wörtlich an die Geſetzgebung
des Jahres 1808 an. Die Oberpräſidenten ſollten mindeſtens einmal jähr-
lich die ganze Provinz bereiſen, überall aus eigener Anſchauung den Mängeln
und Beſchwerden abhelfen; ſie erhielten ein ſo weites Gebiet ſelbſtändiger
Thätigkeit angewieſen, daß Vincke in Weſtphalen, Merckel in Schleſien,
Sack in Pommern bald faſt wie Landesväter verehrt wurden und in dem
geſammten öffentlichen Leben ihrer Provinzen die dauernden Spuren ihres
Wirkens hinterlaſſen konnten. Als Hardenberg aber im Juni 1818 die hohen
Verwaltungsbeamten der Provinzen zu freimüthigen Gutachten über die
Wirkung der neuen Inſtruktionen aufforderte, da gingen die Erwiderungen
noch nach allen Richtungen der Windroſe auseinander. Schön ſchalt nach
ſeiner Weiſe über die bureaukratiſche Mißgeburt; er und Vincke ſahen nur
noch Rettung in der Wiederherſtellung der Provinzialminiſter. Motz da-
gegen empfahl den Uebergang zu einem gemäßigten Präfekturſyſtem; die
collegialiſche Verwaltung paſſe nur für rein monarchiſche Staaten, Preußen
aber ſtehe im Begriff ſich in einen conſtitutionellen Staat zu verwandeln. **)
Die Aufgabe, den künſtlichen Staat durch eine Verwaltung, die doch nicht
unfrei ſein durfte, zuſammenzuhalten, erſchien dieſer Generation bis zur
Unlösbarkeit ſchwierig. Lange Jahre ſollten noch vergehen, bis das Be-
amtenthum ſelber anerkannte, daß der greiſe Staatskanzler noch einmal
ſeinen ſicheren politiſchen Blick bewährt und die feine Mittellinie zwiſchen
dem bureaukratiſchen und dem Collegial-Syſtem glücklich getroffen hatte. —


Unterdeſſen ward in dem Ausſchuß und im Plenum des Staatsraths
[203]Das Deficit.
ein Kampf durchgefochten, ernſter, folgenreicher als manche vielbewunderte
Parlamentsverhandlung jener Tage. Auch die Leidenſchaft und der redne-
riſche Reiz parlamentariſcher Debatten fehlten ihm nicht; wie erſtaunte
Gneiſenau, als er die kunſtvolle und doch ſtreng ſachliche Beredſamkeit
Humboldts, Maaſſens, Eichhorns, Ferbers kennen lernte und das allge-
meine Vorurtheil der Zeit, das den ſchüchternen Deutſchen die Gabe der
freien Rede abſprach, ſo ſchlagend widerlegt ſah. Gleich nach dem Frieden
hatte der König den Finanzminiſter aufgefordert, einen umfaſſenden Steuer-
reformplan vorzulegen; die neuen Unterthanen, ſo ſchrieb er, ſollen es
fühlen, daß ſie mir angehören. Sobald man der Aufgabe näher trat,
zeigte ſich ſchnell, daß nur eine billigere Vertheilung, nicht eine Erleich-
terung der Steuerlaſt möglich war. Der außerordentliche Aufwand des
Staates für Kriegszwecke betrug, wie ſich ſpäterhin herausſtellte, 206 Mill.
Thlr. für die Jahre 1806—15, in den nächſten vier Jahren kamen noch
weitere 81 Mill. hinzu. Die Staatsſchuld war ſchon im Jahre 1812 auf
132 Mill. geſtiegen und ſeitdem durch den Befreiungskrieg und die 45 Mill.
fremder Schulden, die man mit den neuen Provinzen übernehmen mußte,
bis auf 217 Mill. (1818) angewachſen. Der Credit lag ſo tief darnieder, daß
Hardenberg ſich im Jahre 1817 glücklich ſchätzen mußte, eine fünfprocentige
Anleihe in England zum Kurſe von kaum 72 abzuſchließen; zur ſelben
Zeit ſtanden die vierprocentigen Staatsſchuldſcheine an der Berliner Börſe
auf 71—73, ein Jahr darauf noch niedriger, bis auf 65. Und welch ein
Wagniß, dieſem erſchöpften Volke, das nach deutſcher Art fiscaliſchen Druck
ſtets ungeduldiger trug als polizeilichen Zwang, jetzt inmitten der allge-
meinen Verarmung neue Laſten aufzulegen. Der Kaufwerth der großen
Landgüter ſtand in den alten Provinzen kaum mehr halb ſo hoch als vor
dem Jahre 1806, in einzelnen Landestheilen war er auf ein Viertel herab-
geſunken. Als der König im Juni 1816 den für die Kriegsjahre gewährten
Indult endlich aufhob, mußte er gleichwohl den verſchuldeten Grundbeſitzern
in den öſtlichen Provinzen noch bis zum Jahre 1819, in Altpreußen ſogar
bis 1822, einige außerordentliche Zahlungserleichterungen bewilligen.


Das Aergſte blieb doch, daß Niemand die Lage des Staatshaushalts
überſah. Die Maſſen der Rückſtände, der Kriegsleiſtungen, der mannich-
fachen mit den neuen Provinzen übernommenen Verpflichtungen entzogen
ſich noch jeder Berechnung; noch drei Jahre ſpäter lagen allein bei der
Regierung des kleinen Bezirks Erfurt 2141 unbezahlte Rechnungen aus
der Kriegszeit.*) Graf Bülow erklärte ſich daher außer Stande, dem
Staatsrathe eine ins Einzelne gehende Veranſchlagung zu übergeben und
ſchätzte, ohne nähere Berechnung, das Deficit für das Jahr 1817 auf
1,9 Mill. Thlr. Die an das peinlich genaue altpreußiſche Rechnungsweſen
gewöhnten Commiſſionsmitglieder wollten der unwillkommenen Mittheilung
[204]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
keinen Glauben ſchenken; ſie ſuchten den Grund des Deficits allein in Bü-
lows Nachläſſigkeit und ſtellten eine Gegenrechnung auf, welche einen Ueber-
ſchuß von reichlich 4 Mill. an ordentlichen und 2 Mill. an außerordentlichen
Einnahmen ergab. Bei einem Budget von etwa 50 Mill. wichen alſo die
Schätzungen der tüchtigſten Finanzmänner um volle 8 Mill. von einander
ab.*) Der in der Polemik immer maßloſe Schön wollte ſogar einen Ueber-
ſchuß von 21 Mill. nachweiſen. Die Folge lehrte, daß Bülow, der nur
von Schuckmann unterſtützt wurde, die Lage richtiger beurtheilt hatte als
ſeine zuverſichtlichen Gegner. Aber er vermochte ſeine Behauptungen nicht
zu beweiſen, und als nun der Referent der Commiſſion, Staatsrath Frieſe,
den Staatshaushalt im Einzelnen mit eindringender Sachkenntniß prüfte,
da ſtellte ſich in allen Zweigen der Finanzverwaltung eine arge Unordnung
heraus, die mit den Wirren der Kriegsjahre allein nicht mehr entſchuldigt
werden konnte. Von Humboldt geführt nahm die geſammte Commiſſion
wie ein Mann gegen den Finanzminiſter Partei und überhäufte ihn mit
Vorwürfen. Der wies die Anklagen in leidenſchaftlicher Rede zurück, warf
alle Schuld auf die unerſchwinglichen Koſten des neuen Heerweſens und
ließ in ſeinem Zorne auch einige ſcharfe Worte wider die verſchwenderiſche
Sorgloſigkeit ſeines Vetters fallen. Seltſame Verſchiebung der Parteien!
Mit einem male ſah ſich Hardenberg von ſeinem Liebling Bülow ange-
griffen, von ſeinem Nebenbuhler Humboldt vertheidigt.


Der Kriegsminiſter nahm ſofort den Handſchuh auf. Er bemerkte
mit Beſorgniß, daß jener geheime Kampf des Civilbeamtenthums gegen die
Armee, der in dem Jahrzehnt vor 1806 ſo viel Unheil angerichtet, jetzt da
die Waffen ruhten von Neuem zu entbrennen drohte; er wußte auch, daß
ſich Bülow bereits bei dem General Lingelsheim ein Gutachten über die
Wiederherſtellung der fridericianiſchen Heeresverfaſſung beſtellt hatte. Um
ſolchen Beſtrebungen einen Riegel vorzuſchieben und den Staatsrath ein- für
allemal über die ſtaatswirthſchaftlichen Vorzüge des neuen Heerweſens
aufzuklären, verfaßte Boyen eine geiſtvolle Denkſchrift „Darſtellung der
Grundſätze der alten und der gegenwärtigen preußiſchen Kriegsverfaſſung“
(Mai 1817), die mit überzeugender Klarheit erwies, daß Preußen noch nie ein
ſo ſtarkes und zugleich ſo wohlfeiles Heer beſeſſen hatte. Der Staat war doch
allmählich ausgewachſen; mit jeder Vermehrung ſeines Gebiets verringerte
ſich die krampfhafte Ueberſpannung ſeiner phyſiſchen Kräfte. Das Heer
hatte unter Friedrich Wilhelm I. fünfmal, unter Friedrich dem Großen faſt
dreimal mehr gekoſtet als die geſammte übrige Verwaltung; jetzt zum erſten
male nahm der Civildienſt, allerdings mit Einſchluß der koſtſpieligen Staats-
ſchuldenverwaltung, die größere Hälfte der Staatseinnahmen in Anſpruch.
Boyen berechnete die Koſten des Heerweſens, etwas zu niedrig, auf 21 Mill.
und zeigte, daß der Staat jetzt 238000 Mann mehr ins Feld ſtellen könne
[205]Bülows Steuerreformplan.
als im Jahre 1806 und trotzdem in Friedenszeiten, wenn man die zahl-
reichen Naturalleiſtungen der alten Zeit zu Geld veranſchlage, 2 Mill. Thlr.
weniger für die Armee aufwende. Er ſchloß mit der energiſchen Erklärung:
die Stärke des Heeres könne nicht allein durch finanzielle Rückſichten be-
ſtimmt werden, ſie ergebe ſich aus der Weltſtellung des Staates, aus der
Macht und der Geſinnung ſeiner Nachbarn.


Auch der Staatskanzler fühlte ſich durch Bülows Vorwürfe „gekränkt
als Chef, Freund und naher Verwandter“ und ſtellte den Ankläger ernſtlich
zur Rede. Da der erſchreckte Finanzminiſter alſo ſeine letzte Stütze wanken
ſah, ſo lenkte er behutſam ein und weigerte ſich, ſeine keineswegs grund-
loſen Klagen über Hardenbergs Nachläſſigkeit bis vor den Thron zu bringen:
„eher möge der König ſeine Ungnade auf mich werfen, eher will ich Alles
in dieſer Welt verlieren, als meine Seele mit Undank beladen und mit
Ew. Durchlaucht in einen öffentlichen Streit gehen.“*) Aber das freund-
liche Verhältniß zwiſchen den beiden Vettern blieb geſtört, Bülows Stel-
lung ward täglich unhaltbarer.


Gleichzeitig führte der Staatsrath eine nicht minder ſtürmiſche Ver-
handlung über die Steuerreform. Von den zwei Geſetzentwürfen, welche
der Finanzminiſter vorlegte, fand der eine, das Zollgeſetz, faſt auf allen
Seiten Anerkennung, während der zweite, das Geſetz über die Beſteuerung
im Innern des Staates, ſofort mit Unwillen aufgenommen wurde. Bülow
dachte außer der Gewerbe- und Stempelſteuer auch die beſtehenden Grund-
ſteuern vorläufig, bis zur Einberufung der Provinzialſtände, aufrecht zu
halten; die drückende alte Acciſe hingegen, die ſich nach Einführung der
Gewerbefreiheit und des Zollgeſetzes ohnehin nicht mehr halten ließ, wollte
er beſeitigen und an ihrer Stelle eine Mahl- und Fleiſchſteuer für Stadt
und Land, ferner Steuern auf Tabak, Bier und Branntwein einführen.
Seine Vorſchläge entfernten ſich nicht weit von dem fridericianiſchen Steuer-
ſyſteme, das 70 Procent des geſammten Abgabenertrags durch indirekte
Steuern aufgebracht hatte. Sie verriethen die Hand eines gewandten Prak-
tikers, der ohne eigene reformatoriſche Gedanken lediglich die Staatskaſſen
in der gewohnten Weiſe zu füllen trachtete, und erſchienen der Oppoſition,
deren Führung wieder Humboldt übernahm, um ſo verdächtiger, da ſie
von einem napoleoniſchen Miniſter herrührten und faſt wörtlich mit den
Anſichten übereinſtimmten, welche Bülows früherer Amtsgenoſſe Malchus
ſoeben in ſeiner Schrift über die weſtphäliſche Finanzverwaltung ausge-
ſprochen hatte.


Unter den preußiſchen Beamten, die faſt alleſammt bei A. Smith und
Kraus in die Schule gegangen waren, ſtanden die indirekten Steuern des
Bonapartismus in üblem Rufe: hatte doch Smith die Mahlſteuer kurzweg
[206]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
für die verderblichſte aller Abgaben erklärt. Die Commiſſion griff daher
die Conſumtionsſteuern nachdrücklich an und tadelte vornehmlich, daß der
Finanzminiſter nicht auch ein Geſetz über die direkten Abgaben vorgelegt
habe; denn um eine gerechte Vertheilung der Steuerlaſt zu finden, müſſe
zunächſt die Ungleichheit der Grundſteuern beſeitigt oder doch den einzelnen
Provinzen angerechnet werden. Sie ſprach damit nur aus, was die große
Mehrzahl des Bürgerthums wünſchte. Die bunte Mannichfaltigkeit der
Grundſteuern war eine alte Klage im Lande. An ihr zeigte ſich auf das
Grellſte, wie mühſam dieſer Staat aus einem Gewirr ſelbſtändiger Terri-
torien emporgewachſen war; je ſtrenger ſeine Könige den Gedanken der
Staatseinheit in der oberen Verwaltung durchgeführt hatten, um ſo nach-
ſichtiger war auf dem flachen Lande das altſtändiſche Weſen geduldet worden.
In der Monarchie beſtanden 33 verſchiedene, meiſt uralte Grundſteuer-
verfaſſungen, in der Provinz Sachſen allein acht, deren jede wieder mannich-
fache örtliche Verſchiedenheiten und Privilegien aufwies. Oſt- und Weſt-
preußen zahlten auf der Geviertmeile 639 Thlr. Grundſteuer, die Rhein-
lande, allerdings auf weit werthvollerem Boden, 4969 Thlr. Kein Wunder,
daß die Rheinländer über die Steuerfreiheit des Oſtens laut murrten und
auch Schleſien, das durch Friedrich II. ein Kataſter erhalten hatte, ſich
gegen die anderen, nicht kataſtrirten, alten Provinzen benachtheiligt glaubte.
Und doch blieb eine Reform für jetzt noch unmöglich. Da die alte Grund-
ſteuer im Verlaufe der Jahrhunderte den Charakter einer Rente ange-
nommen hatte, ſo ließ ſich die Ausgleichung nur nach Entſchädigung der
Befreiten durchführen. Und woher jetzt die Mittel dazu nehmen? woher
die techniſchen Kräfte zur Kataſtrirung des geſammten Landes? Und war
es billig, den Landadel, der in den öſtlichen Provinzen noch faſt allein
die Koſten der gutsherrlichen Polizei, der Patrimonialgerichte und des
Kirchenpatronats trug, mit neuen Laſten zu beſchweren in einem Augen-
blicke, da er, durch harte patriotiſche Opfer erſchöpft, ſich kaum noch im
Beſitz ſeiner Güter zu behaupten vermochte? Von allen dieſen ernſten Be-
denken wollte Humboldt nichts hören; er begnügte ſich mit einer ſchonungs-
loſen Kritik und ſchilderte die Ungleichheit der beſtehenden Grundſteuern,
die Gebrechen aller indirekten Abgaben nicht ohne doktrinäre Uebertreibung.


Auch von particulariſtiſchen Hintergedanken war die Oppoſition nicht
frei. In Sachſen, Poſen und am Rhein hoffte das Volk auf eine Quoti-
ſirung der Steuern, dergeſtalt daß die Stände jeder Provinz ihren An-
theil an dem Staatsbedarfe nach eigenem Ermeſſen aufbringen und ver-
theilen ſollten. Dieſer ungeheuerliche Vorſchlag, der die Monarchie in einen
lockeren Staatenbund zu verwandeln drohte, ward von mehreren Ober-
präſidenten befürwortet, am eifrigſten von dem wackeren Grafen Solms-
Laubach in Jülich-Cleve-Berg.*) Indeß erlangte er im Staatsrathe nicht
[207]Die Notabeln-Verſammlungen.
die Mehrheit, da Bülow lebhaft für die gefährdete Staatseinheit eintrat,
und Schuckmann in einer langen Denkſchrift ausführte: wenn der preu-
ßiſche Staat dieſe Lebensfrage dem Gutdünken von zehn Provinzialland-
tagen anheimgebe, ſo werde er bald in eine ähnliche Lage gerathen wie
Frankreich in den Tagen Calonnes.*) Die Commiſſion wagte auch nicht,
wie Humboldt vorſchlug, geradezu die Mitwirkung der Landſtände bei
der Feſtſtellung des neuen Steuerſyſtems zu fordern. Sie fühlte, daß die
Krone noch immer hoch über der politiſchen Einſicht des Volkes ſtand, und
eine durchgreifende Steuerreform nur durch ein königliches Machtgebot
gelingen konnte; zudem beſtanden die verheißenen neuen Landtage noch gar
nicht, und mit den alten Ständen von Neuvorpommern und Sachſen, die
ſich trotzig auf ihre verbriefte Steuerfreiheit beriefen, war jede Verhand-
lung ausſichtslos. Daher wurde dem Commiſſionsberichte nur die viel-
deutige Schlußwendung hinzugefügt: zur Beruhigung des Volkes ſcheine
es nothwendig „den neuen Steuerplan mit den Maßregeln wegen der
Stände in Zuſammenhang zu ſetzen“. Am 20. Juni ging der Bericht an
den Monarchen ab; er beantragte Annahme des Zollgeſetzes und Vorlegung
eines umfaſſenden neuen Planes für die geſammte innere Beſteuerung.


Der König verhehlte der Commiſſion nicht, daß er nicht blos ſcharfe
Kritik, ſondern beſtimmte Gegenvorſchläge erwartet habe; doch genehmigte
er ihre Anträge und befahl den Oberpräſidenten, zunächſt angeſehene Ein-
wohner aus ihren Provinzen zu berufen, damit die öffentliche Meinung
ſich über den Steuerplan äußern könne. Im Auguſt und September
wurden dieſe Notabelnverſammlungen in allen zehn Provinzen abgehalten,
und ſie ſprachen ſich alleſammt gegen die Mahl- und Fleiſchſteuer aus.
Es fehlte nicht an ſtürmiſchen Auftritten. Die Notabeln des Großher-
zogthums Poſen, neun polniſche Edelleute und drei bürgerliche Deutſche,
behaupteten mit ſarmatiſcher Ueberſchwänglichkeit: dieſe Steuer vernichte
„die gänzliche Civil- oder Menſchenfreiheit; der Angriff auf ſolches Heilig-
thum löſet alle Bande der menſchlichen Geſellſchaft auf.“ Darauf ver-
ſicherten ſie dreiſt die grobe Unwahrheit, daß der Steuerertrag Poſens zur
Bereicherung der alten Provinzen verwendet werde: „das Gewehr iſt nieder-
gelegt, die Hand gedrückt; ſoll denn das Herzogthum keinen Antheil an
den Vortheilen des Friedens haben?“ Die ſchleſiſchen Notabeln fügten
ihrem Gutachten ſogar eine bedeutſame Rechtsverwahrung hinzu. Sie
erklärten, auf den Antrag des Grafen Dyhrn, daß ſie nur ihre perſön-
liche Meinung abgäben; die Mitwirkung bei dem neuen Steuergeſetze müſſe
den künftigen Ständen vorbehalten bleiben.**) Es war ein Schatten kom-
mender Ereigniſſe, ein erſtes böſes Anzeichen der ſtaatsrechtlichen Ver-
[208]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
wirrung, welche durch das übereilte Verfaſſungsverſprechen hervorgerufen
wurde.


Bei Alledem zeigte ſich viel geſunder Menſchenverſtand und ſchließlich,
obgleich jede Provinz ihre beſonderen Beſchwerden vorbrachte, doch eine
überraſchende Uebereinſtimmung. Die Notabeln fanden zuerſt eine Ant-
wort auf die ſchwierige Frage, was an die Stelle der verworfenen in-
direkten Steuern treten ſolle. Während der letzten Jahre hatte der Ge-
danke einer allgemeinen, in wenige große Klaſſen abgeſtuften Perſonen-
ſteuer in der Stille ſeinen Weg gemacht, ein Gedanke, der bereits in der erſten
Zeit der Hardenbergiſchen Verwaltung von dem Finanzrath v. Prittwitz-
Quilitz, einem landeskundigen, angeſehenen Landwirth aufgebracht worden
war. Er entſprach der herrſchenden volkswirthſchaftlichen Theorie wie dem
allgemeinen Abſcheu gegen das indirekte Steuerſyſtem der Franzoſen und
ſchien leicht durchführbar, da die Maſſe des Volks noch ſeßhaft, unbeweg-
lich in patriarchaliſchen Lebensverhältniſſen verharrte. An eine Einkommen-
ſteuer wagte man noch nicht zu denken; ſie war ſchon durch den vergötterten
A. Smith, neuerdings auch durch F. v. Raumer als tyranniſch gebrandmarkt
und vollends in Verruf gekommen, ſeit der Verſuch ihrer Einführung in
der bitteren Noth des Jahres 1812 mit einem Mißerfolge geendet hatte.
Im Staatsrathe trat der gelehrte Statiſtiker J. G. Hoffmann zuerſt nach-
drücklich für die Klaſſenſteuer ein und fand Anklang bei der Mehrzahl
der Oberpräſidenten. Als nun die Notabeln rathlos nach einem Erſatze
für die Mahl- und Fleiſchſteuer ſuchten, wurden ſie von ihren Vorſitzenden
auf dieſen Ausweg hingewieſen. So geſchah es, daß die Mehrheit der
Notabelnverſammlungen die Einführung einer abgeſtuften Perſonenſteuer
— einer „fixirten Conſumtionsſteuer“, wie die Schleſier ſich ausdrückten —
bei dem Staatskanzler befürworteten. Auf dieſe Gutachten geſtützt entwarf
dann Hoffmann (27. Okt.) eine große Denkſchrift über die Klaſſenſteuer
und wies damit der preußiſchen Steuerpolitik einen neuen Weg, der freilich
erſt nach abermals zwei Jahren ſchwieriger Verhandlungen zögernd be-
treten wurde. Während alle anderen Großmächte in verſchiedenen Formen
das Syſtem der überwiegenden indirekten Abgaben beibehielten, wendete
ſich Preußen mehr und mehr der Ausbildung ſeiner direkten Steuern zu.
Die neue Steuerpolitik, welche ſich hier ankündigte, war die Politik eines tief
verarmten Staates, der das Geld nehmen mußte wo er es fand, eines
wohlwollenden Abſolutismus, der zwar die Anfänge der Selbſtverwaltung
bereits geſchaffen hatte, aber von den Geldbedürfniſſen großer Städte noch
keine klare Vorſtellung beſaß, einer friedfertigen Regierung, die auf lange
Jahre ungeſtörter Ruhe rechnete und darum ſich nicht ſcheute den Noth-
pfennig der Kriegszeiten, die direkten Steuern, ſchon im Frieden ſcharf
anzugreifen.


Der lange Kampf im Staatsrathe war, zu Schuckmanns Kummer,
„den Horchern an der Thür mit den Schreiberklauen“ nicht unbekannt
[209]Bülows Entwurf vor dem Staatsrathe.
geblieben. Die Berliner höhnten laut über den unglücklichen Finanz-
miniſter, der die Hälfte ſeiner Steuerpläne beſeitigt, ſeine geſammte Amts-
führung unbarmherzig bloßgeſtellt ſah und durch die Schroffheit ſeines Auf-
tretens, durch ſeine Ausfälle auf die neue Heeresverfaſſung den Unwillen der
Oppoſition bis zum Haſſe geſteigert hatte. Die Partei Humboldts verhehlte
längſt nicht mehr, daß nur die Entlaſſung Bülows ihr noch genügen konnte.
In ſolchem Sinne ſchrieben Schön und Klewiz mehrmals an den Staats-
kanzler, Sack forderte mindeſtens die Beſchränkung der Willkür des Finanz-
miniſters durch eine beigeordnete Commiſſion. Auch Schuckmann, der
während des ganzen Streites auf Bülows Seite geſtanden, ward in die
Niederlage ſeines Genoſſen mit hineingeriſſen. Und da ſich nun plötzlich die
Ausſicht auf einen vollſtändigen Miniſterwechſel zu eröffnen ſchien, ſo richtete
Schön, der Heißſporn der Oppoſition, einen leidenſchaftlichen Angriff auch
gegen Wittgenſtein, der an den Verhandlungen des Staatsraths kaum
theilgenommen hatte. Abermals maßlos übertreibend warf er dem Fürſten
nicht blos die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei vor, ſondern auch den
Fortbeſtand der im Jahre 1812 errichteten Gensdarmerie, die ſich überall
gut bewährte: ſie ſei eine Waffe zur Bekriegung des Volks und gänzlich
überflüſſig neben der zahlreichen Armee.


Sobald Hardenberg einſah, daß ein Zugeſtändniß an den allgemeinen
Unmuth des hohen Beamtenthums unvermeidlich war, ſuchte er zunächſt
ſeinen alten Gegner Humboldt zum Eintritt in die Regierung zu bewegen.
Der aber erwiderte ſcharf (14. Juli): mit Bülow und Schuckmann könne
er niemals übereinſtimmen, ja ſich nicht einmal verſtändigen, „durch den
Einen würden die materiellen, durch den Anderen die moraliſchen Kräfte
des Staates gefährdet;“ nur Hardenberg ſelbſt und Boyen beſäßen noch
das Vertrauen des Volks, nur in der Kriegsverwaltung zeige ſich noch
Ernſt, Ordnung, vaterländiſche Geſinnung; dem Miniſterium fehle die
innere Einheit wie die Selbſtändigkeit dem Staatskanzler gegenüber. Noch
dringender mahnte Boyen: „der Zeitgeiſt fordert in den höheren Poſten
Männer des Vertrauens;“ man darf nicht warten bis die Nation ſelber
die Entlaſſung Bülows verlangt; „eine ſolche Verwaltung, ein ſolcher Mann
kann bei längerer Fortdauer nur dem Vaterlande namenloſes Verderben
bereiten.“*)


Hardenberg aber wollte weder auf die Rechte ſeines Staatskanzleramts
verzichten noch ſeinen Vetter und den bei Hofe unentbehrlichen Wittgen-
ſtein, dem er noch immer volles Vertrauen ſchenkte, kurzerhand preisgeben.
Noch weniger wünſchte der König eine durchgreifende Umgeſtaltung; „bei
Veränderungen von Perſonen, ſo äußerte er ſich, iſt große Vorſicht nöthig,
man läuft Gefahr ungerecht zu ſein.“ Im September erhielt Humboldt
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 14
[210]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
zu ſeiner Ueberraſchung den Befehl, ſich auf ſeinen Londoner Geſandt-
ſchaftspoſten zu begeben. Am 3. November und 2. December erfolgte ſo-
dann eine Neubildung des Miniſteriums, welche allein die Departements
des Krieges und der Polizei unberührt ließ und gleichwohl den Wünſchen
der Oppoſition nur halb entſprach. Bülow trat das Finanzweſen an
Klewiz ab und behielt unter dem Titel eines Handelsminiſters nur noch die
Leitung der Handelspolitik — eine Aufgabe, die ſeinem Talent und ſeinem
Bildungsgange beſſer entſprach. Das unter Schuckmanns Verwaltung
gänzlich vernachläſſigte Unterrichtsdepartement wurde als Miniſterium der
geiſtlichen und Unterrichts-Angelegenheiten von dem Miniſterium des
Innern abgezweigt und unter Altenſteins Leitung geſtellt. Ebenſo wurde
von dem Juſtizminiſterium ein Miniſterium für die Reviſion der Geſetze
und die Juſtizorganiſation der neuen Provinzen abgetrennt; an ſeine Spitze
trat der Kanzler Beyme, der noch von den alten Zeiten her, da er Kabinets-
rath geweſen, das Vertrauen des Königs beſaß und jetzt allgemein für
einen entſchiedenen Liberalen galt. Um die Einheit des Willens bei der
Reform des Staatshaushalts zu ſichern, errichtete Hardenberg endlich noch
eine Generalcontrole zur Prüfung ſämmtlicher Staatsausgaben ſowie ein
Schatzminiſterium für den Schatz, die Schuld, die außerordentlichen Aus-
gaben und behielt ſich die oberſte Leitung beider Departements ſelber vor.


So war denn keiner der Miniſter gänzlich beſeitigt. Die Männer,
die einander mit den härteſten Vorwürfen überhäuft, verſtanden ſich alle-
ſammt zum Bleiben, weil der Staatskanzler doch ohne Rückſicht auf die
Stimmenmehrheit ſelbſtändig zu entſcheiden hatte. In der Staatsrathscom-
miſſion, welche die Reform des Steuerſyſtems vollenden ſollte, führten
die beiden Gegner Bülow und Klewiz gemeinſam den Vorſitz. Der Zwie-
ſpalt in der Regierung ward eher verſchärft als gemildert; namentlich die
Zerſplitterung des Finanzminiſteriums in drei gleichberechtigte Departe-
ments erwies ſich ſogleich als ein ſchwerer Mißgriff. Da die Kräfte des
Staatskanzlers für dies Uebermaß der Arbeit nicht ausreichten, ſo über-
ließ er die Staatsſchuldenverwaltung gänzlich ſeinem Vertrauten Rother,
einem ſehr tüchtigen Finanzmanne, der ſich durch ſein rühriges Talent
vom gelben Reiter zu den höchſten Staatsämtern emporgearbeitet hatte.
In der Generalcontrole aber herrſchte bald unumſchränkt der Direktor
Geh. Rath v. Ladenberg, ein Beamter der alten Schule von eiſernem
Fleiß und ſteifem Selbſtgefühle, der die Steuerreform hartnäckig bekämpfte
und zu dem alten Acciſeſyſtem zurückſtrebte. Deutſcher Eigenſinn und
deutſcher Pflichteifer hatten jederzeit heftige Reibungen zwiſchen den preu-
ßiſchen Behörden hervorgerufen. Jetzt vollends, da der natürliche Zuſam-
menhang des Staatshaushalts willkürlich zerriſſen war, konnten erbitterte
Händel nicht ausbleiben. Der Finanzminiſter Klewiz entbehrte des noth-
wendigen Anſehens bei den anderen Miniſtern, weil ſie nicht von ihm die
Bewilligung ihrer Ausgaben zu erwarten hatten, und ſah ſich darum außer
[211]Der Miniſterwechſel vom November 1817.
Stande, auch nur einen genauen Voranſchlag für das geſammte Budget
zu entwerfen. Uebellaunig und mißtrauiſch wie die Zeit war, ſchenkte
die öffentliche Meinung jedem gehäſſigen Märchen Glauben, das über die
geheimnißvolle Lage der Finanzen ausgeſprengt wurde. —


Gleichwohl gelang unter dieſer wunderlich zerſplitterten Verwaltung
der große Umſchwung der preußiſchen Handelspolitik, die folgenreichſte
politiſche That der Epoche. Das Verdienſt des neuen Finanzminiſters
wurde nur in dem Kreiſe ſeiner vertrauten Räthe ganz gewürdigt; der
häßliche kleine Mann mit dem gutmüthigen Philiſtergeſichte wußte ſich
nicht recht zur Geltung zu bringen, diente dem jungen Kronprinzen oft
zur Zielſcheibe für ſeine ausgelaſſenen Witze. Eine conſervative Natur,
langſam im Urtheil, nicht reich an eigenen Gedanken, verſtand Klewiz doch
die reformatoriſchen Ideen Anderer beſonnen und gründlich zu verarbeiten,
und was er ſich einmal angeeignet, das hielt er feſt mit zäher Geduld
und unerſchütterlichem Gleichmuth. Wie er einſt in Königsberg bei der
Aufhebung der Erbunterthänigkeit freudig mitgewirkt hatte, ſo rettete er
jetzt aus dem Schiffbruch der Bülow’ſchen Entwürfe den werthvollſten
Theil, das Zollgeſetz, und führte die radikale Neuerung gelaſſen durch
unter dem leidenſchaftlichen Widerſtande des In- und Auslandes.*)


In dem Sturm und Drang der großen Reformperiode war für die
Umgeſtaltung des alten Acciſeweſens wenig geſchehen; man hatte ſich be-
gnügt, dem flachen Lande mehrere ſtädtiſche Steuern aufzulegen und in
Altpreußen die Einfuhr fremder Fabrikwaaren gegen eine Acciſe von 8⅓
Procent des Werthes zu geſtatten. Daneben beſtanden in den alten Pro-
vinzen noch ſiebenundſechzig verſchiedene Tarife, nahezu 3000 Waaren-
klaſſen umfaſſend; außerdem die kurſächſiſche Generalacciſe im Herzogthum
Sachſen, das ſchwediſche Zollweſen in Neuvorpommern, in den Rhein-
landen endlich ſeit Aufhebung der napoleoniſchen Douanen ein ſchlechter-
dings anarchiſcher Zuſtand. Und dieſe unerträgliche Beläſtigung des Ver-
kehrs gewährte doch, da eine geordnete Grenzbewachung noch fehlte, keinen
Schutz gegen das Ausland. Auch in dem chaotiſchen Geldweſen zeigte ſich
die Abhängigkeit des verarmten Staates von den Fremden: in Poſen und
Pommern mußten 48, in den Provinzen links der Elbe 71 fremde Geld-
ſorten amtlich anerkannt und tarifirt werden. Schon längſt bemerkte der
König mit Beſorgniß, wie ſchwer der geſetzliche Sinn des Volkes durch
die Fortdauer des überlebten Prohibitivſyſtems geſchädigt wurde. Seit die
bürgerlichen Gewerbe auf dem platten Lande ſich anſiedelten, nahm der
Schmuggel einen ungeheuren Aufſchwung. Im Jahre 1815 verſteuerte
jeder Materialwaarenladen der alten Provinzen täglich nur zwei Pfund
Kaffee.


14*
[212]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Auch die unhaltbaren Verhältniſſe an der Oſtgrenze mahnten zu
raſcher That. Sobald Preußen, Polen und Rußland im März 1816 zu
Warſchau wegen der Ausführung des Wiener Vertrags vom 3. Mai 1815
zu verhandeln begannen, ſtellte ſich bald heraus, daß Hardenberg in Wien
von dem Fürſten Czartoryski überliſtet worden war. Die ſcheinbar ſo harm-
loſen Beſtimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien
Verkehr mit den Landeserzeugniſſen aller vormals polniſchen Landſchaften
legten dem preußiſchen Staate faſt nur Pflichten auf, da ſein Gebiet das
Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchſtäblich zu genügen hätte
Preußen ſeine polniſchen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch
eine Zolllinie trennen müſſen, während Rußland, dem Vertrage zuwider,
ſeine alte Zollgrenze, die das polniſche Litthauen von Warſchau abſchied,
unverändert ließ und auch Oeſterreich ſich keineswegs geneigt zeigte, ſeinen
polniſchen Kronlanden handelspolitiſche Selbſtändigkeit zuzugeſtehen. Die
polniſchen Unterhändler ſahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel,
um durch die Anſiedlung von Handelsagenten und Commiſſionären ihre
nationale Propaganda in Preußens polniſche Gebiete hineinzutragen. Sie
erdreiſteten ſich der Krone Preußen geradezu die unbeſchränkte Souveränität
über Danzig zu beſtreiten und ſtellten ſo übermüthige Forderungen, daß
der König mit einer entſchiedenen Ablehnung antwortete, als Czar Alexan-
der nach ſeiner Gewohnheit verſuchte die Anſprüche der Polen durch einen
zärtlichen Freundesbrief zu unterſtützen. Der unerquickliche Verlauf dieſer
Verhandlungen zwang zu dem Entſchluſſe, die polniſchen Landſchaften den
übrigen Provinzen des Oſtens völlig gleichzuſtellen. Auf der anderen
Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgeſetz ganz
unmöglich war und Preußen mithin zunächſt im eigenen Hauſe Ordnung
ſchaffen mußte.


Im Jahre 1816 erfolgten die erſten vorbereitenden Schritte. Das
Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Pro-
vinzen gleichmäßig eingeführt; dann ſprach die Verordnung vom 11. Juni
die Aufhebung der Waſſer-, Binnen- und Provinzialzölle als Grundſatz
aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenz-
zollſyſtems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das
neue Zollgeſetz beendigt. Sobald aber von den reformatoriſchen Abſichten
des Entwurfes Einiges ruchbar ward, erſcholl der Nothſchrei der geängſteten
Producenten weithin durch das Land. Leidenſchaftliche Eingaben der Baum-
woll- und Kattunfabrikanten aus Schleſien und Berlin, die doch alle-
ſammt unter der beſtehenden Unordnung ſchwer litten, beſtätigten die alte
Wahrheit, daß die Selbſtſucht der Menſchen der ſchlimmſte Feind ihres
eigenen Intereſſes iſt. Der Lärm ward ſo bedrohlich, daß der König für
nöthig hielt, zunächſt eine Specialcommiſſion mit der Prüfung dieſer Vor-
ſtellungen zu beauftragen. Hier errang die alte fridericianiſche Schule
noch einmal die Oberhand. Der Vorſitzende, Oberpräſident v. Heydebreck,
[213]Maaſſen.
betrachtete als höchſte Aufgabe der Handelspolitik „das Numeraire dem
Lande zu conſerviren“; die Mehrheit beſchloß, der Krone die Wiederher-
ſtellung des Verbotſyſtems, wie es bis zum Jahre 1806 beſtanden, anzu-
rathen. Aber zugleich mit dieſem Berichte ging auch ein geharniſchtes
Minderheitsgutachten ein, verfaßt von Staatsrath Kunth, dem Erzieher
der Gebrüder Humboldt, einem ſelbſtbewußten Vertreter des altpreußiſchen
Beamtenſtolzes, der das gute Recht der Bureaukratie oftmals gegen die
ariſtokratiſche Geringſchätzung ſeines Freundes Stein vertheidigte. Mit
den Zuſtänden des Fabrikweſens aus eigener Anſchauung gründlich ver-
traut, lebte und webte er in den Gedanken der neuen Volkswirthſchaftslehre.
„Eigenthum und Freiheit, darin liegt Alles; es giebt nichts Anderes“ —
ſo lautete ſein Kernſpruch. Als das ärgſte Gebrechen der preußiſchen
Induſtrie erſchien ihm die erſtaunlich mangelhafte Bildung der meiſten
Fabrikanten, eine ſchlimme Frucht des Uebergewichts der gelehrten Klaſſen,
welche nur durch den Einfluß des auswärtigen Wettbewerbs allmählich be-
ſeitigt werden konnte; waren doch ſelbſt unter den erſten Fabrikherren
Berlins Viele, die kaum nothdürftig ihren Namen zu ſchreiben vermochten.


Kunths Gutachten fand im Staatsrathe faſt ungetheilte Zuſtimmung;
es ließ ſich nicht mehr verkennen, daß die Aufhebung der Handelsverbote nur
die nothwendige Ergänzung der Reformen von 1808 bildete. Als das
Plenum des Staatsraths am 3. Juli über das Zollgeſetz berieth, ſprachen die
politiſchen Gegner Gneiſenau und Schuckmann einmüthig für die Befreiung
des Verkehrs. Oberpräſident Merckel und Geh. Rath Ferber, ein aus dem
ſächſiſchen Dienſte herübergekommener trefflicher Nationalökonom, führten
aus, daß dem Nothſtande des Gewerbefleißes in Schleſien und Sachſen
nur durch die Freiheit zu begegnen ſei; und zuletzt ſtimmten von 56 An-
weſenden nur drei gegen das Geſetz: Heydebreck, Ladenberg und Geh. Rath
Beguelin.*) Am 1. Auguſt genehmigte der König von Karlsbad aus „das
Princip der freien Einfuhr für alle Zukunft“. Nun folgten neue peinliche
Verhandlungen, da es anfangs unmöglich ſchien die neue Ordnung gleich-
zeitig in den beiden Hälften des Staatsgebiets einzuführen. Endlich am
26. Mai 1818 kam das Zollgeſetz für die geſammte Monarchie zu Stande.


Sein Verfaſſer war der Generaldirektor Karl Georg Maaſſen, ein
Beamter von umfaſſenden Kenntniſſen, mit Leib und Seele in den Ge-
ſchäften lebend, ein Mann, der hinter kindlich anſpruchsloſen Umgangs-
formen den kühnen Muth des Reformers, eine tiefe und freie Auffaſſung
des ſocialen Lebens verbarg. Aus Cleve gebürtig, hatte er zuerſt als preu-
ßiſcher Beamter in ſeiner Heimath, dann eine Zeit lang im bergiſchen
Staatsdienſte die Großinduſtrie des Niederrheines, nachher bei der Pots-
damer Regierung die Volkswirthſchaft des Nordoſtens kennen und alſo die
Theorien Adam Smith’s, denen er von früh auf huldigte, durch viel-
[214]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſeitige praktiſche Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim
Entwerfen des Zollgeſetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, ſondern
von drei Geſichtspunkten der praktiſchen Staatskunſt. Die Aufgabe war:
zunächſt in der geſammten Monarchie durch Befreiung des innern Ver-
kehrs eine lebendige Gemeinſchaft der Intereſſen zu begründen, ſodann dem
Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimiſchen Ge-
werbfleiß einen mächtigen Schutz gegen die engliſche Uebermacht zu ge-
währen und ihm doch den heilſamen Stachel des ausländiſchen Wettbe-
werbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünſche der Induſtrie den An-
ſprüchen der Staatskaſſen widerſprachen, da mußte das Intereſſe der
Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängniß des Staatshaushalts.


Die beiden erſten Paragraphen des Geſetzes verkündigten die Freiheit
der Ein-, Aus- und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates.
Damit wurde die volle Hälfte des nicht-öſterreichiſchen Deutſchlands zu
einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirthſchaftlichen Gemeinſchaft,
welche, wenn ſie die Probe beſtand, ſich auch über die andere Hälfte der
der Nation erweitern konnte. Denn die ſchroffſten Gegenſätze unſeres viel-
geſtaltigen ſocialen Lebens lagen innerhalb der preußiſchen Grenzen. War
es möglich, Poſen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirthſchaft-
lichen Eigenart derſelben wirthſchaftlichen Geſetzgebung zu unterwerfen, ſo
war ſchon erwieſen, daß dieſe Geſetze mit einigen Aenderungen auch für
Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte ſich — ſo ſagte
Maaſſen oftmals — genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die
anderen deutſchen Staaten, welche ernſtlich nach Zolleinheit verlangten,
und konnte, wegen der Mannichfaltigkeit ſeiner wirthſchaftlichen Intereſſen,
leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des
Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staats war in
Preußen ſchwieriger, als in irgend einem anderen Reiche; ſie erſchien
zuerſt Vielen ganz unausführbar. Man ſollte eine Zolllinie von 1073
Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des
Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen,
da die kleinen deutſchen Staaten, die mit dem preußiſchen Gebiete im Ge-
menge lagen, zumeiſt noch kein geordnetes Zollweſen beſaßen, ja ſogar den
Schmuggel grundſätzlich begünſtigten. Solche Bedrängniß veranlaßte die
preußiſchen Finanzmänner zur Aufſtellung eines einfachen überſichtlichen
Tarifs, der die Waaren in wenige große Klaſſen einordnete. Eine um-
fängliche, verwickelte Zollrolle, wie ſie in England oder Frankreich beſtand,
erforderte ein zahlreiches Beamtenperſonal, das in Preußen den Ertrag
der Zölle verſchlungen hätte. Durch denſelben Grund wurde Maaſſen be-
wogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waaren vorzu-
ſchlagen, während in allen anderen Staaten das von der herrſchenden
Theorie allein gebilligte Syſtem der Werthzölle galt. Die Abſtufung der
Zölle nach dem Werthe würde die Koſten der Zollverwaltung unverhält-
[215]Das Zollgeſetz.
nißmäßig erhöht haben; zudem lag in der hohen Beſteuerung koſtbarer
Waaren eine ſtarke Verſuchung zum Schmuggelhandel, welche ein Staat
von ſo ſchwer zu bewachenden Grenzen nicht ertragen konnte.


Auch in der großen Principienfrage der Handelspolitik gab die Rück-
ſicht auf die Finanzen den Ausſchlag. Der Staat hatte die Wahl zwiſchen
zwei Wegen.*) Man konnte entweder nach Englands und Frankreichs Bei-
ſpiel Prohibitivzölle einführen, um dieſe ſodann als Unterhandlungsmittel
gegen die Weſtmächte zu benutzen und alſo Zug um Zug durch Differential-
zölle zur Erleichterung des Verkehrs zu gelangen; oder man wagte ſogleich in
Preußen ein Syſtem mäßiger Zölle zu gründen, in der Hoffnung, daß
die Natur der Dinge die großen Nachbarreiche dereinſt in dieſelbe Bahn
drängen werde. Maaſſen fand den Muth den letzteren Weg zu wählen,
vornehmlich weil der zweifelhafte Ertrag aus hohen Schutzzöllen dem Be-
dürfniß der Staatskaſſen nicht genügen konnte. Verboten wurde allein
die Einfuhr von Salz und Spielkarten; die Rohſtoffe blieben in der Regel
abgabenfrei oder einem ganz niedrigen Zolle unterworfen. Von den Ma-
nufakturwaaren ſollte ein mäßiger Schutzzoll erhoben werden, nicht über
10 Proc., ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entſprechend. Die Ko-
lonialwaaren dagegen unterlagen einem ergiebigen Finanzzolle, bis zu 20
Proc., da Preußen an ſeiner leicht zu bewachenden Seegrenze die Mittel
beſaß, dieſe Produkte wirkſam zu beſteuern.


Dies freieſte und reifſte ſtaatswirthſchaftliche Geſetz des Zeitraums
wich von den herrſchenden Vorurtheilen ſo weit ab, daß man im Aus-
lande anfangs über die gutmüthige Schwäche der preußiſchen Doktrinäre
ſpottete. Den Staatsmännern der abſoluten Monarchie fällt ein undank-
bares entſagungsvolles Loos. Wie laut preiſt England heute ſeinen William
Huskiſſon, one of the world’s great spirits; alle geſitteten Völker be-
wundern die Freihandelsreden des großen Britten. Der Name Maaſſens
aber iſt bis zur Stunde in ſeinem eigenen Vaterlande nur einem engen
Gelehrtenkreiſe vertraut. Und doch hat die große Freihandelsbewegung
unſeres Jahrhunderts nicht in England, ſondern in Preußen ihren erſten
bahnbrechenden Erfolg errungen. Das wiederhergeſtellte franzöſiſche König-
thum hielt in dem Tarife von 1816 die ſtrengen napoleoniſchen Prohibitiv-
zölle gegen fremde Fabrikwaaren hartnäckig feſt. Die Selbſtſucht der
Emigranten fügte noch ſchwere Zölle auf die Erzeugniſſe des Landbaus,
namentlich auf Schlachtvieh und Wolle, hinzu. Auch in England war
nur ein Theil des Handelsſtandes für die Lehren der Verkehrsfreiheit ge-
wonnen. Noch ſtand der Grundherr treu zu den hohen Kornzöllen, der Rhe-
der zu Cromwell’s Navigationsakte, der Fabrikant zu dem harten Prohibitiv-
ſyſteme; noch urtheilte die Mehrzahl der Gebildeten wie einſt Burke über
[216]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Adam Smith: ſolche abſtrakte Theorien ſind gut genug für das ſtille Ka-
theder von Glasgow. Erſt das kühne Vorgehen der Berliner Staats-
männer ermuthigte die engliſchen Freihändler mit ihrer Meinung heraus-
zurücken. Auf das „glänzende Beiſpiel, welches Preußen der Welt gegeben“,
berief ſich die freihändleriſche Petition der Londoner City, welche Baring
im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huskiſſon,
als er ſeinen berühmten Satz aufſtellte: „der Handel iſt nicht Zweck, er
iſt das Mittel, Wohlſtand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten“
und ſeinem Volke zurief: „dies Land kann nicht ſtill ſtehen, während andere
Länder vorſchreiten in Bildung und Gewerbefleiß.“


Den freihändleriſchen Anſichten der preußiſchen Staatsmänner genügte
das neue Geſetz nicht völlig. Man ahnte im Finanzminiſterium wohl —
J. G. Hoffmann hat es oft geſtanden — daß der weitaus größte Theil
des Zollertrags allein von den gangbarſten Kolonialwaaren aufgebracht
werden und die Staatskaſſe von anderen Zöllen nur geringen Vortheil
ziehen würde. Aber man ſah auch, daß jedem Steuerſyſteme durch die
Geſinnung der Steuerpflichtigen feſte Schranken gezogen ſind; die öffent-
liche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn
ſie den Kaffee beſteuert, den Thee frei gelaſſen hätte. Maaſſen verwarf
jede einſeitige Begünſtigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf
das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete
die Schutzzölle nur als einen Nothbehelf um die deutſche Induſtrie all-
mählich zu Kräften kommen zu laſſen. Schon bei der erſten Reviſion des
Tarifs im Jahre 1821 that man einen Schritt weiter im Sinne des
Freihandels, vereinfachte den Tarif und ſetzte mehrere Zölle herab. Wäh-
rend das Geſetz von 1818 für die weſtlichen Provinzen einen eigenen
Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgeſtellt hatte, fiel jetzt jeder Unterſchied
zwiſchen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1821 bildete in Form
und Einrichtung die Grundlage für alle ſpäteren Tarife des Zollvereins.


Derweil der Staatsrath dieſe Reform zum Abſchluß brachte, erging
ſich die unreife nationalökonomiſche Bildung der Zeit in widerſprechenden
Klagen. Die Maſſen meinten die Vertheuerung des Lebensunterhalts
nicht ertragen zu können, die Fabrikanten ſahen „dem engliſchen Handels-
despotismus“ Thür und Thor geöffnet und beſtürmten den Thron aber-
mals mit ſo verzweifelten Bittſchriften, daß der König, obwohl ſelbſt mit
Maaſſens Plänen ganz einverſtanden, doch eine nochmalige Prüfung des
ſchon unterſchriebenen Geſetzes befahl. Erſt am 1. Sept. 1818 wurde das
Zollgeſetz veröffentlicht, erſt zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenz-
zollämter in Thätigkeit. Am 8. Febr. 1819 erſchien das ergänzende Geſetz
über die Beſteuerung des Conſums inländiſcher Erzeugniſſe, wonach nur
Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die
ohne unmittelbare Beläſtigung der Verzehrer von den Producenten zu er-
heben war.


[217]Grundgedanken des Zollgeſetzes.

Die neue Geſetzgebung hielt im Ganzen ſehr glücklich die Mitte zwi-
ſchen Handelsfreiheit und Zollſchutz. Nur nach einer Richtung hin wich
ſie auffällig ab von den Grundſätzen des gemäßigten Freihandels: ſie be-
laſtete den Durchfuhrhandel unverhältnißmäßig ſchwer. Der Centner
Tranſitgut zahlte im Durchſchnitt einen halben Thaler Zoll, auf einzelnen
wichtigen Handelsſtraßen noch weit mehr — ſicherlich eine ſehr drückende
Laſt für ordinäre Güter, zumal wenn ſie das preußiſche Gebiet mehrmals
berührten. Die nächſte Veranlaſſung zu dieſer Härte lag in dem Be-
dürfniß der Finanzen. Preußen beherrſchte einige der wichtigſten Handels-
ſtraßen Mitteleuropas: die Verbindung Hollands mit dem Oberlande, die
alten Abſatzwege des polniſchen Getreides, den Verkehr Leipzigs mit der
See, mit Polen, mit Frankfurt. Man berechnete, daß die volle Hälfte
der in Preußen eingehenden Waaren dem Durchfuhrhandel angehörte.
Die erſchöpfte Staatskaſſe war nicht in der Lage, dieſen einzigen Vortheil,
den ihr die unglückliche langgeſtreckte Geſtalt des Gebietes gewährte, aus
der Hand zu geben. Ueberdies ſtimmten alle Kenner des Mauthweſens
überein in der für jene Zeit wohlbegründeten Meinung, daß nur durch
Beſteuerung der Durchfuhr der finanzielle Ertrag des Grenzzollſyſtems ge-
ſichert werden könne. Gab man den Tranſit völlig frei, ſo wurde dem
Unterſchleif Thür und Thor geöffnet, ein ungeheurer Schmuggelhandel
von Hamburg, Frankfurt, Leipzig her geradezu herausgefordert, das ganze
Gelingen der Reform in Frage geſtellt. Die unbillige Höhe der Durch-
fuhrzölle aber und das zähe Feſthalten der Regierung an dieſen für die
deutſchen Nachbarlande unleidlichen Sätzen erklärt ſich nur aus politiſchen
Gründen. Der Tranſitzoll diente dem Berliner Cabinet als ein wirkſames
Unterhandlungsmittel, um die deutſchen Kleinſtaaten zum Anſchluß an
die preußiſche Handelspolitik zu bewegen.


Von jenem Traumbilde einer geſammtdeutſchen Handelspolitik, das
während des Wiener Congreſſes den preußiſchen Bevollmächtigten vorge-
ſchwebt hatte, war man in Berlin längſt zurückgekommen. Die Unmög-
lichkeit ſolcher Pläne ergab ſich nicht blos aus der Nichtigkeit der Bundes-
verfaſſung, ſondern auch aus den inneren Verhältniſſen der Bundes-
ſtaaten. Hardenberg wußte, daß der Wiener Hof an ſeinem altväteriſchen
Provinzialzollſyſtem nichts ändern wollte und ſeine nichtdeutſchen Kron-
länder einem Bundeszollweſen ſchlechterdings nicht unterordnen konnte.
Aber auch das übrige Deutſchland bewahrte noch viele Trümmer aus der
ſchmählichen kosmopolitiſchen Epoche unſerer Vergangenheit. Noch war
Hannover von England, Schleswigholſtein von Dänemark abhängig, noch
ſtand Luxemburg in unmittelbarer geographiſcher Verbindung mit dem
niederländiſchen Geſammtſtaate. Wie war ein geſammtdeutſches Zoll-
weſen denkbar, ſo lange dieſe Fremdherrſchaft währte? Auch die Verfaſ-
ſung mehrerer Bundesſtaaten bot unüberſteigliche Hinderniſſe. Die preu-
ßiſche Zollreform ruhte auf dem Gedanken des gemeinen Rechts. Wer
[218]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
durfte erwarten, daß der mecklenburgiſche Adel auf ſeine Zollfreiheit, der
ſächſiſche auf die mit den ſtändiſchen Privilegien feſt verkettete General-
acciſe verzichten würde, ſo lange die ſtändiſche Oligarchie in dieſen Landen
ungeſtört herrſchte? Wie war es möglich, die preußiſchen Zölle, welche die
Einheit des Staatshaushaltes vorausſetzten, in Hannover einzuführen,
wo noch die königliche Domänenkaſſe und die ſtändiſche Steuerkaſſe ſelb-
ſtändig neben einander ſtanden? Das Zollweſen hing überdies eng zu-
ſammen mit der Beſteuerung des inländiſchen Conſums; nur wenn die
Kleinſtaaten ſich entſchloſſen das Syſtem ihrer indirekten Steuern auf
preußiſchen Fuß zu ſetzen oder doch dem preußiſchen Muſter anzunähern, war
eine ehrliche Gegenſeitigkeit, eine dauernde Zollgemeinſchaft zwiſchen ihnen
möglich. Und ließ ſich ſolche Opferwilligkeit erwarten in jenem Augenblicke,
da der Rheinbund und das Ränkeſpiel des Wiener Congreſſes den ſelbſt-
ſüchtigen Dünkel der Dynaſtien krankhaft aufgeregt und jeder Scham
entwöhnt hatten? Selbſt jene Staaten, denen redlicher Wille nicht fehlte,
konnten gar nicht ſofort auf die harten Zumuthungen eingehen, welche
Preußen ihnen ſtellen mußte, um ſich den Ertrag ſeiner Zölle zu ſichern.
Man mußte, ſo geſtand Eichhorn ſpäterhin, ſich erſt orientiren in der ver-
änderten Lage, die nationalökonomiſchen Bedürfniſſe des eigenen Landes und
die zur Deckung der Staatsausgaben nothwendigen Opfer überſchlagen;
„bevor man hierüber ins Klare gekommen, konnte man ſich von einer gemein-
ſamen Berathung keinen Erfolg verſprechen, am wenigſten von einer Be-
rathung für ganz Deutſchland am Bundestage.“*)


Wie die Dinge lagen mußte Preußen ſelbſtändig vorgehen ohne jede
ſchonende Rückſicht für die deutſchen Nachbarn. Unter den gemüthlichen
Leuten herrſchte die Anſicht vor, Preußen ſolle die Binnengrenzen gegen
Deutſchland offen halten und allein an den Grenzen gegen das Ausland
Zölle zu erheben. Der kindiſche Vorſchlag hätte, ausgeführt, jede Grenz-
bewachung unmöglich gemacht, die finanziellen wie die volkswirthſchaftlichen
Zwecke der Zollreform völlig vereitelt. Selbſt eine mildere Beſteuerung
deutſcher Produkte war unausführbar. Gerade die deutſchen Kleinſtaaten
mit ihren verzwickten, mangelhaft oder gar nicht bewachten Grenzen mußten
der preußiſchen Staatskaſſe als die gefährlichſten Gegner erſcheinen. Ur-
ſprungszeugniſſe, von ſolchen Behörden ausgeſtellt, boten den genauen
Rechnern der Berliner Bureaus keine genügende Sicherheit. Jede Er-
leichterung, die an dieſen Grenzen eintrat, ermuthigte den Unterſchleif, ſo
lange nicht eine geordnete Zollverwaltung in den kleinen Nachbarſtaaten
beſtand. Noch mehr: gewährte Preußen den deutſchen Staaten Begün-
ſtigungen, ſo griff das Ausland unfehlbar zu Retorſionen, und der Staat
wurde allmählich in ein Differentialzollſyſtem hineingetrieben, das den Ab-
ſichten ſeiner Staatsmänner ſchnurſtracks zuwiderlief. Differentialzölle er-
[219]Beabſichtigte Erweiterung des Zollgebiets.
ſchienen dem Finanzminiſterium noch weit bedenklicher als Schutzzölle,
da dieſe den Verkehr belaſteten zu Gunſten der einheimiſchen, jene zum
Vortheil der ausländiſchen Producenten.


Es war nicht anders, ſollte das neue Zollſyſtem überhaupt ins Leben
treten, ſo mußten alle nicht-preußiſchen Waaren zuvörderſt auf gleichem
Fuß behandelt werden. Allerdings wurden dadurch die deutſchen Nachbarn
ſehr hart getroffen. Sie waren gewohnt einen ſchwunghaften Schmuggel-
handel nach Preußen hinüber zu führen; jetzt trat die ſtrenge Grenzbe-
wachung dazwiſchen. Die Zolllinien an den Grenzen der neuen Pro-
vinzen ſtörten vielfach altgewohnten Verkehr. Das Königreich Sachſen
litt ſchwer, als die preußiſchen Zollſchranken dicht vor den Thoren Leip-
zigs aufgerichtet wurden. Die kleinen rheiniſchen Lande ſahen nahe vor
Augen das beginnende Erſtarken der preußiſchen Volkswirthſchaft; was
drüben ein Segen, ward hüben zur Laſt. Begreiflich genug, daß gerade
in der unmittelbaren Nachbarſchaft Preußens die Mißſtimmung überhand
nahm. Auch die Einrichtung der Gewichtszölle war für die deutſchen Nach-
barſtaaten unverhältnißmäßig läſtig, da das Ausland zumeiſt feinere,
Deutſchland gröbere Waaren in Preußen einzuführen pflegte.


Indeß wenn es nicht anging, den Kleinſtaaten ſofort Begünſtigungen
zu gewähren, ſo war doch die Zollreform von Haus aus darauf berechnet,
die deutſchen Nachbarn nach und nach in den preußiſchen Zollverband
hineinzuziehen. „Die Unmöglichkeit einer Vereinigung für den ganzen
Bund erkennend, ſuchte Preußen durch Separatverträge ſich dieſem Ziele
zu nähern“ — mit dieſen kurzen und erſchöpfenden Worten hat Eichhorn
zehn Jahre ſpäter den Grundgedanken der preußiſchen Handelspolitik be-
zeichnet. Die Zerſtückelung ſeines Gebietes zwang den Staat, deutſche
Politik zu treiben, machte ihm auf die Dauer unmöglich, ſich ſelbſtgenüg-
ſam abzuſchließen, ſeine Verwaltung zu ordnen ohne Verſtändigung mit
den deutſchen Nachbarlanden. Ein großer Theil der thüringiſchen Be-
ſitzungen Preußens, 41 Geviertmeilen mußten vorderhand aus der Zoll-
linie ausgeſchloſſen bleiben. Es war eine unabweisbare Nothwendigkeit,
die Zollſchranken mindeſtens ſo weit hinauszuſchieben, daß das geſammte
Staatsgebiet gleichmäßig beſteuert werden konnte. In dem Zollgeſetze
ſelber (§ 5) war die Abſicht erklärt, durch Handelsverträge den wechſel-
ſeitigen Verkehr zu befördern. Die harte Beſteuerung der Durchfuhr gab
dieſem Winke fühlbaren Nachdruck. Noch beſtimmter ſprach ſich Harden-
berg über die Abſicht des Geſetzes aus, ſchon ehe es in Kraft trat. Als
die Fabrikanten von Rheidt und anderen rheiniſchen Plätzen den Staats-
kanzler um Beſeitigung der deutſchen Binnenzölle baten, gab er die Ant-
wort (3. Juni 1818): die Vortheile, welche aus der Vereinigung mehrerer
deutſcher Staaten zu einem gemeinſchaftlichen Fabrik- und Handelsſyſtem
hervorgehen können, ſeien der Regierung nicht unbekannt; mit ſteter Rück-
ſicht hierauf ſei der Plan des Königs zur Reife gediehen. „Es liegt ganz
[220]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
im Geiſte dieſes Planes, ebenſowohl auswärtige Beſchränkungen des Han-
dels zu erwidern als Willfährigkeit zu vergelten und nachbarliches An-
ſchließen an ein gemeinſames Intereſſe zu befördern.“ Ebenſo erklärte er
den Elberfeldern: die preußiſchen Zolllinien ſollten dazu dienen „eine allge-
meine Ausdehnung oder ſonſtige Vereinigung vorzubereiten“.


Damit wurde deutlich angekündigt, daß der Staat, der ſeit Langem
das Schwert des alten Kaiſerthums führte, jetzt auch die handelspolitiſchen
Reformgedanken der Reichspolitik des ſechzehnten Jahrhunderts wieder auf-
nahm und bereit war, der Nation nach und nach die Einheit des wirth-
ſchaftlichen Lebens zu ſchaffen, welche ihr im ganzen Verlaufe ihrer Geſchichte
immer gefehlt hatte. Er dachte dies Ziel, das ſich nicht mit einem Sprunge
erjagen ließ, ſchrittweis, in bedachtſamer Annäherung, durch Verträge
von Staat zu Staat zu erreichen. Mars und Mercur ſind die Geſtirne,
welche in dieſem Jahrhundert der Arbeit das Geſchick der Staaten vor-
nehmlich beſtimmen. Das Heerweſen und die Handelspolitik der Hohen-
zollern bildeten fortan die beiden Rechtstitel, auf denen Preußens Führer-
ſtellung in Deutſchland ruhte. Und dieſe Handelspolitik war ausſchließlich
das Werk der Krone und ihres Beamtenthums. Sie begegnete, auch als
ihre letzten Ziele ſich ſpäterhin völlig enthüllten, regelmäßig dem verblendeten
Widerſtande der Nation. Im Zeitalter der Reformation war die wirthſchaft-
liche Einigung unſeres Vaterlandes an dem Widerſtande der Reichsſtädte
geſcheitert; im neunzehnten Jahrhundert ward ſie recht eigentlich gegen den
Willen der Mehrzahl der Deutſchen von Neuem begonnen und vollendet.


Im Kampfe gegen das preußiſche Zollgeſetz hielten alle deutſchen Par-
teien zuſammen, Kotzebues Wochenblatt ſo gut wie Ludens Nemeſis. Ver-
geblich widerlegte J. G. Hoffmann in der Preußiſchen Staatszeitung mit
überlegener Sachkenntniß das faſt durchweg werthloſe nationalökonomiſche
Gerede der Preſſe. Dieſelben Schutzzöllner, die um Hilfe riefen für die
deutſche Induſtrie, ſchalten zugleich über die unerſchwinglichen Sätze des
preußiſchen Tarifs, der doch jenen Schutz gewährte. Dieſelben Liberalen,
die den Bundestag als einen völlig unbrauchbaren Körper verſpotteten,
forderten von dieſer Behörde eine ſchöpferiſche handelspolitiſche That. Wenn
Hoffmann nachwies, daß das neue Geſetz eine Wohlthat für Deutſchland
ſei, ſo erwiderten Pölitz, Krug und andere ſächſiſche Publiciſten, kein Staat
habe das Recht, ſeinen Nachbarn Wohlthaten aufzudrängen. Alberne
Jagdgeſchichten wurden mit der höchſten Beſtimmtheit wiederholt und von
der Unwiſſenheit der Leſer begierig geglaubt. Da hatte ein armer Höker
aus dem Reußiſchen, als er ſeinen Schubkarren voll Gemüſe zum Leip-
ziger Wochenmarkt fuhr, einen Thaler Durchfuhrzoll an die preußiſche
Mauth zahlen müſſen — nur ſchade, daß Preußen von ſolchen Waaren
gar keinen Zoll erhob. Auch die Sentimentalität ward gegen Preußen
ins Feld geführt; ſie findet ſich ja bei den Deutſchen immer ein, wenn
ihnen die Gedanken ausgehen. Da war gleich am erſten Tage, als das
[221]Rechtspflege. Beyme.
unſelige Geſetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langenſalza von einem
gothaiſchen Patrioten im Rauſche heiligen Zornes erſtochen worden; der
Mann hatte ſich aber ſelbſt entleibt. Da hieß es wehmüthig, König Friedrich
Wilhelm hege wohl menſchenfreundliche Abſichten, aber „finanzielle Rück-
ſichten vergiften die beſten Maßregeln“; für die harte Nothwendigkeit dieſer
finanziellen Rückſichten hatte man kein Auge. Die erſehnte Einheit des
deutſchen Marktes — darüber beſtand unter den liberalen Patrioten kein
Streit — konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der
Hälfte Deutſchlands wieder zerſtört wurde.


Unbekümmert um die allgemeine Entrüſtung hielt Klewiz die Zoll-
reform aufrecht. In der Gewerbepolitik dagegen zeigte die Regierung ge-
ringere Feſtigkeit gegen die hochconſervativen Vorurtheile der Zeit. Immer
wieder mußten kundige Beamte in der Staatszeitung die Vorzüge des
freien Gewerbes ungläubigen Leſern ſchildern. Dennoch wagte man nicht,
das Gewerbegeſetz von 1811 in den neuen Provinzen einzuführen, ſondern
ließ einen widerſpruchsvollen Zuſtand, der ſich mit der Einheit des Markt-
gebietes kaum vertrug, während eines vollen Menſchenalters unangetaſtet:
in Sachſen blieb das alte Zunftweſen beſtehen, in den rheiniſch-weſtphä-
liſchen Landen und in den alten Provinzen herrſchte die Gewerbefreiheit,
hier nach preußiſchem, dort nach franzöſiſchem Geſetze. —


Die letzte Epoche König Friedrich Wilhelms III. zeigte ſich der Re-
gierung des erſten Friedrich Wilhelm auch darin ähnlich, daß die Rechts-
pflege von der reformatoriſchen Thätigkeit der Staatsgewalt am Wenigſten
berührt wurde. Es blieb bei der alten Regel, daß dieſer Staat niemals
im Stande war, auf allen Gebieten des Lebens zugleich rüſtig fortzu-
ſchreiten. Savigny hatte doch recht geſehen als er ſeiner Zeit den Beruf
zur Geſetzgebung für das bürgerliche Recht abſprach. Die große Codi-
fication des Allgemeinen Landrechts lag erſt um ein Menſchenalter zurück
und wurde von der Mehrzahl des altpreußiſchen Richterſtandes noch mit
begreiflichem Stolze als ein Meiſterwerk geſchätzt, während die Wiſſenſchaft
zwar den Anſchauungen Suarez’s längſt entwachſen aber noch nicht zu
ſicheren neuen Ergebniſſen gelangt war. Der geſunde Sinn des Königs
verkannte nicht, daß die alte Gliederung der Stände, welche dem Landrechte
zu Grunde lag, durch die Reformen von 1807 längſt beſeitigt war; und
da auch der Civilproceß ſowie das Strafrecht dringend der Neugeſtaltung
bedurfte, ſo wurde Beyme mit der Reviſion der fridericianiſchen Geſetz-
bücher beauftragt. Der aber erwies ſich, trotz ſeines liberalen Rufs, aber-
mals ebenſo unfruchtbar, wie einſt im Miniſterium Dohna-Altenſtein, da
ihn der König ſo oft vergeblich an die Aufhebung der Patrimonialgerichte
gemahnt hatte, und brachte in den zwei Jahren ſeiner Amtsführung nichts
Weſentliches zu Stande. Für eine durchgreifende Umgeſtaltung der fride-
ricianiſchen Geſetzbücher war die Zeit noch nicht gekommen, und doch ging
es auch nicht an, dieſe halb veraltete Geſetzgebung, deren Mängel die
[222]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Krone ſelber nicht leugnete, dem geſammten Staatsgebiete aufzuerlegen.
Daher wurde zwar in den zurückgewonnenen alten Provinzen das Land-
recht nebſt der altländiſchen Gerichtsverfaſſung ſogleich wieder eingeführt,
doch nicht ohne mannichfache Ausnahmen. In Weſtphalen ſollten die Patri-
monialgerichte nur da wiederhergeſtellt werden, wo die Berechtigten aus-
drücklich darauf antrugen, und dies geſchah nur in vier Fällen. In
Poſen verzichtete man gänzlich auf die Herſtellung dieſer Gerichte wegen
der Unzuverläſſigkeit des polniſchen Adels, und geſtattete außerdem noch das
mündliche Verfahren für einfache Rechtsſtreitigkeiten. In Sachſen dagegen,
dem gelobten Lande der endloſen Proceſſe, war Jedermann zufrieden, als
die Rechtspflege ſchlechthin auf altpreußiſchen Fuß gebracht wurde; nur die
zahlreichen Advocaten klagten laut über den Untergang ihres Gewerbes.
Neuvorpommern endlich behielt ſein gemeines Recht und das altberühmte
Greifswalder Appellationsgericht, weil das Volk dieſe Inſtitutionen zu
ſeinen alten, im Kieler Frieden beſtätigten Landesfreiheiten rechnete.


Große und unerwartete Schwierigkeiten ergaben ſich bei der Neuge-
ſtaltung der Rechtspflege am Rhein. Mit der vorläufigen Organiſation
der rheiniſchen Gerichte wurde der Präſident Sethe beauftragt, ein treuer
preußiſcher Patriot aus dem cleviſchen Lande, der einſt ſchweren Herzens
in den bergiſchen Staatsdienſt übergetreten war und dort das franzöſiſche
Recht gründlich kennen gelernt hatte. Er entledigte ſich ſeiner Aufgabe
mit Einſicht und Unparteilichkeit, unbeſorgt um den Zorn der feudalen
Partei, die ihn des Bonapartismus beſchuldigte, wie um die endloſen
Klagen des rheiniſchen Volks, das noch von den Zeiten des Kölniſchen
Klüngels her gewöhnt war überall vetterſchaftliche Durchſtecherei zu arg-
wöhnen.*) Bald nachher, im Juni 1816, trat in Köln unter Sethes
Vorſitz eine Immediatcommiſſion zuſammen, der auch ein altländiſcher
Richter, Simon, angehörte. Sie ſollte prüfen, ob es möglich ſei, das rhei-
niſche Recht mit dem preußiſchen in Einklang zu bringen, und erhielt von
dem König die ausdrückliche Weiſung, „das Gute überall wo es ſich finde
zu benutzen“.


In den erſten Zeiten des Siegesrauſches war die Abſchaffung des
Code Napoleon von allen Patrioten, auch von den deutſchgeſinnten Rhein-
ländern ſelbſt als ein unabweisbares Gebot der nationalen Ehre betrachtet
worden; alle Welt hatte Savigny zugeſtimmt, als er die fünf Codes eine
überſtandene politiſche Krankheit nannte. Selbſt das altgermaniſche öffent-
lich-mündliche Verfahren, das in der franzöſiſchen Geſetzgebung wieder
aufgelebt war, galt den eifrigen Teutonen als eine willkürliche revolu-
tionäre Neuerung; ſo vollſtändig war die vaterländiſche Rechtsgeſchichte in
Vergeſſenheit gerathen. Mittlerweile ſchlug die Stimmung im Lande gänzlich
um. Der Provinzialgeiſt erwachte und begann alles Beſtehende als be-
[223]Das rheiniſche Recht.
rechtigte Eigenthümlichkeit der Heimath zu verherrlichen; der Code war
das rheiniſche Recht und darum ſchon vortrefflich, wenn er nur nicht die
Proceßkoſten gar zu hoch berechnet hätte. Sprach Einer vom preußiſchen
Rechte, ſo dachte das Volk ſogleich an jene ungeheuerliche Gerichtsver-
faſſung, welche einſt in Kurköln und Kurtrier beſtanden hatte; nimmermehr
durfte das Rheinland in dies Chaos zurückſinken. Vor Allem die Oeffent-
lichkeit des Verfahrens erſchien als ein Bollwerk der Landesfreiheit; denn
in dem raſtloſen Wechſel ſeiner politiſchen Schickſale hatte dies Volk längſt
gelernt, jeder Regierung, weil ſie regierte, zu mißtrauen. Als nun die
Krone, wie einſt vor der Veröffentlichung des Allgemeinen Landrechts, alle
Sachverſtändigen zur Einreichung von Gutachten auffordern ließ, da ſprach
ſich die große Mehrheit für die Erhaltung der Codes aus. Die Stadträthe
von Köln, Trier, Koblenz, Cleve wendeten ſich unmittelbar an den König,
und auch der Oberpräſident Solms-Laubach, ein Gegner der franzöſiſchen
Geſetzgebung, erklärte nachdrücklich, bei ſolcher Stimmung der Provinz ſei
zum Mindeſten die Beſeitigung des öffentlichen Verfahrens unmöglich.*)
Sethe ſelbſt wünſchte zwar lebhaft die Rechtseinheit für den geſammten
Staat; doch er ſah auch, wie fern dies Ziel noch lag, und erkannte die
großen Vorzüge des neufranzöſiſchen Rechts willig an. Hervorgegangen
aus der Verſchmelzung des römiſchen Rechts mit den großentheils ger-
maniſchen Coutumes konnte der Code Napoleon auf deutſchem Boden
nicht ſchlechthin als fremdes Recht betrachtet werden, da das römiſche Recht
auch bei uns längſt heimiſch war; ſeine Beſtimmtheit und Kürze, ſeine
Schärfe und folgerichtige Klarheit hielten den Vergleich mit der caſuiſtiſchen
Weitſchweifigkeit des Preußiſchen Landrechts wahrlich aus, und wo war in
dieſen ganz bürgerlichen rheiniſchen Landen noch ein Boden für die Patri-
monialgerichte oder für das ſtrenge Ständerecht der fridericianiſchen Geſetz-
gebung?


Nach zweijähriger Berathung legte die Commiſſion dem Monarchen
die „Reſultate“ ihrer Verhandlungen vor: ſie empfahl, das rheiniſche Recht
vorläufig, bis zur Reviſion der preußiſchen Geſetzbücher, aufrechtzuerhalten
und ſchilderte in einem ausführlichen Gutachten, wie das Schwurgericht
die Rechtsidee im Volke lebendig erhalte, das Geſetz beliebt mache, die
Beamtenwillkür beſchränke, die Einſeitigkeit der juriſtiſchen Fachbildung durch
die freie Welt- und Menſchenkenntniß der Laien ergänze. Miniſter Kirch-
eiſen, der in den Gedanken des altländiſchen Richterſtandes lebte und webte,
ward durch dieſe Denkſchrift lebhaft beunruhigt. Er befürchtete vornehmlich,
daß in den alten Provinzen das Vertrauen des Volks zu den Gerichten
ſinken würde wenn die Schwurgerichte am Rhein fortbeſtünden, und wies in
einer Entgegnungsſchrift die „gehäſſige“ Unterſcheidung von öffentlichem und
geheimem Verfahren entrüſtet zurück: auch in den alten Provinzen blieben
[224]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
die Erkenntniſſe nicht geheim; dem alten deutſchen Satze „und wo Ge-
richte iſt da ſollen di beſtin ſin“ werde in Preußen, wo man die Richter ſo
ſorgfältig wähle, vollſtändiger genügt als in Frankreich; in jeder Thatfrage
ſei zugleich eine Rechtsfrage enthalten, die nur der Rechtsgelehrte ganz
verſtehe; nimmermehr dürfe dem Richter geſtattet werden, die Geſetze will-
kürlich abzuſchwächen falls ſie der Meinung des Volks zu widerſprechen
ſchienen; und wie könne der Staat auf das Recht verzichten, einen Ange-
klagten bei unvollſtändigem Beweiſe mit außerordentlichen Strafen zu be-
legen?*) Alle die berechtigten und unberechtigten techniſchen Bedenken
gegen das Schwurgericht, welche in der alten, an beſtimmte Beweisregeln
gewöhnten Juriſtenſchule vorherrſchten, ſtellte der Miniſter ſorgfältig zu-
ſammen. Politiſche Beſorgniſſe hegte er nicht; denn noch war die Jury
nicht in das Programm der liberalen Partei aufgenommen.


Beyme aber trat auf die Seite der Commiſſion und gewann die Zu-
ſtimmung des Königs. Das franzöſiſche Recht blieb auf dem linken Rhein-
ufer und in Berg vorläufig beſtehen, und am 21. Juni 1819 ward in Berlin
ein Kaſſationshof für die rheiniſchen Lande unter Sethes Vorſitz gebildet. An
die Spitze des Appellhofes zu Köln trat der als Richter wie als Gelehrter
gleich ausgezeichnete Daniels. Jedermann am Rhein wußte von dem geiſt-
reichen Manne mit dem Sokrateskopfe, von ſeinem ungeheuren Gedächtniß
und ſeinem ulpianiſchen Scharfſinn zu erzählen. In ihm verkörperte ſich
jene eigenthümliche Vermittlerrolle zwiſchen deutſcher und franzöſiſcher Bil-
dung, welche die Rheinländer damals noch für ſich in Anſpruch nahmen. Die
Franzoſen ſelbſt bewunderten ihn als den gründlichſten Kenner ihrer Geſetz-
bücher, und doch blieb er ein deutſcher Juriſt, denn wer ſich in dem Laby-
rinthe des alten kurkölniſchen Rechts zurechtfinden wollte, griff zu Daniels’
vergilbten Collegienheften. Unter ſeiner Leitung wuchs allmählich der moderne
rheiniſche Juriſtenſtand heran, reich an Talenten, ſtolz auf ſein heimiſches
Recht und auf die Kunſt der forenſiſchen Beredſamkeit, die hier allein eine
Bühne fand, aber auch ſehr empfänglich für die formale Staatsweisheit
der Franzoſen, ohne Sinn für die berechtigte Eigenart des deutſchen Nord-
oſtens — eine ganz neue Kraft im preußiſchen Staatsleben, deren Macht
mit den Jahren ſtieg ſeit der Liberalismus anfing die Schwurgerichte als
ein Palladium der Volksfreiheit zu feiern. —


Ueber allen den anderen drängenden Sorgen der preußiſchen Politik
ſtand die Frage, ob das vermeſſene Wagniß einer hochbegeiſterten kriege-
riſchen Zeit, das Wehrgeſetz von 1814, jetzt in den Tagen der Abſpannung
und der Armuth die Probe beſtehen würde. Die große Mehrzahl der Gene-
rale hielt an den Gedanken Scharnhorſts und Boyens unerſchütterlich feſt.
Gneiſenau vornehmlich ward nicht müde die Landwehr als die „Heil-Anſtalt“
[225]Heerweſen.
zu rühmen, die allein den Staat inmitten überlegener Nachbarn aufrecht
halten könne; keine andere Macht vermöge ſich dieſen Vorzug Preußens
anzueignen, weil keine ein ſo treues, ſo opferwilliges und gebildetes Volk
beſitze. Die fremden Geſandten dagegen äußerten alleſammt ihre Be-
denken gegen die neue Wehrverfaſſung — die einen, weil ſie den demo-
kratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht und die unberechenbare
Kraft dieſes Volksheeres insgeheim fürchteten, die anderen, weil ſie die
kühne Neuerung wirklich für einen idealiſtiſchen Traum hielten. Denn
noch hatten Scharnhorſts Ideen nirgends im Auslande Anklang gefunden.
Die alten Berufsſoldaten Frankreichs ſahen, uneingedenk der empfangenen
Schläge, das preußiſche „Kinderheer“ über die Achſel an; und Czar Alex-
ander ſprach in gutem Glauben, wenn er immer wieder die preußiſchen
Generale warnte: mit ſolchen Halbſoldaten laſſe ſich weder ein Krieg
führen noch ein Aufſtand niederſchlagen.


Sogar die hohen Beamten waren durch jene beredte Denkſchrift Boyens
noch keineswegs ganz gewonnen. Während Bülow und Beyme offen die
Rückkehr zu dem alten Heerweſen verlangten, ergingen ſich Andere, ohne
Unterſchied der Partei, in naiven Vorſchlägen zur Erleichterung der höheren
Stände. Schuckmann hielt für unzweifelhaft, daß ein gebildeter junger
Mann in höchſtens ſechs Wochen zum brauchbaren Infanteriſten erzogen
werden könne, Solms-Laubach rieth, die akademiſche Jugend von Bonn und
Düſſeldorf nur zu einigen Sonntagsübungen einzuberufen. Schön blickte mit
philoſophiſchem Hochmuth auf die Paradekünſte der Kriegshandwerker nieder;
er wollte alle Offiziere der Landwehr bis zum Oberſten hinauf durch die
Kreisſtände wählen laſſen und meinte, drei Tage Uebungen im Jahre ge-
nügten vollauf zur Schulung eines Freiwilligen.*) So tief war jene Ge-
ringſchätzung der ſtreng militäriſchen Ausbildung, die aus Rottecks Schriften
ſprach, bis in die Kreiſe der Staatsmänner hineingedrungen. Unter den
namhaften Publiciſten Preußens fand ſich kaum einer, der ein Verſtändniß
zeigte für die Vorausſetzungen eines kriegstüchtigen Heerweſens. Selbſt
der verſtändige rheiniſche Patriot Benzenberg ſchrieb ſeinem Gönner
Gneiſenau kurzab, bei Belle Alliance habe das Volk gelernt, wie unnöthig
die Quälerei des Drillplatzes ſei. Arndt wollte ſich in Friedenszeiten wo-
möglich mit einem ſtehenden Generalſtabe begnügen; das Uebrige werde die
Landwehr thun. Der nicht minder patriotiſche Verfaſſer der vielgeleſenen
Schrift „Preußen über Alles wenn es will“ (1817) hielt ebenfalls das
ſtehende Heer für überflüſſig und dachte mit einer von den Gemeinden
unterhaltenen Landwehr auszukommen. Auch die Particulariſten, die für
die Quotiſirung der Steuern ſchwärmten, ſuchten das Volksheer für ihre
Zwecke auszubeuten und empfahlen die Bildung von zehn ſelbſtändigen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 15
[226]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Provinzial-Landwehrcorps unter der Aufſicht der Provinzialſtände. Mit
verdächtigem Eifer griff namentlich der polniſche Adel dieſen Gedanken auf.
„Ohne Nationalität iſt die Landwehr unausführbar“ — ſo hieß es in
wiederholten Eingaben des Herrn v. Bojanowsky und anderer Grundherren
Poſens; gewähre der König dem Großherzogthum eine ſelbſtändige Land-
wehr, ſo würden die polniſchen Edelleute freudig zu den Fahnen eilen.*)


Als man mit der Ausführung des Wehrgeſetzes begann, zeigte ſich
wider Erwarten am Rhein der geringſte Widerſtand: die kleinen Leute
dort begrüßten die kurze Dienſtzeit als eine Erleichterung nach der harten
napoleoniſchen Conſcription, auch die höheren Stände ertrugen die Wehr-
pflicht ohne Murren, weil ſie der Idee der allgemeinen Rechtsgleichheit
entſprach. Um ſo lauter lärmten die vormals bevorrechteten Klaſſen im
Oſten: die cantonfreien großen Städte, der ſtolze Adel von Neuvorpommern
und Sachſen. Dreimal baten die Stadtverordneten von Berlin trotzig um
Wiederherſtellung der alten Militärfreiheit ihrer Commune, bis der König
drohte die Namen der Unterzeichner in den Zeitungen zu veröffentlichen;
und als im Sommer 1817 die Breslauer Landwehr den Fahneneid ſchwören
ſollte, da brachen gar Straßenunruhen aus, an denen freilich das Ungeſchick
einzelner Beamten und die altberüchtigte Raufluſt des Breslauer Pöbels
mehr Antheil hatten als die Widerſetzlichkeit der Wehrmänner. Nur die
Macht der abſoluten Krone konnte ſich durch dies Geſtrüpp des Wider-
ſpruchs einen Weg bahnen und die Grundlagen der neuen Heeresver-
faſſung für Deutſchland retten; ein allgemeiner preußiſcher Landtag, in
ſolchem Augenblicke berufen, hätte ohne Zweifel ſofort den Kampf gegen die
allgemeine Wehrpflicht begonnen.


Beim Fortſchreiten des Werks ergaben ſich indeß ernſte techniſche
Schwierigkeiten, welche alle Zweifel und Bedenken des Auslandes zu be-
ſtätigen ſchienen. Schon die Anſchaffung der Waffenvorräthe für die Land-
wehr konnte bei dem troſtloſen Zuſtande der Finanzen nur langſam ge-
lingen. Für das erſte Aufgebot hatte Boyen in beſtändigem Kampfe mit
dem Finanzminiſter endlich die nöthigen Mittel gewonnen, ſo daß im
December 1819 an dem vorgeſchriebenen Waffenbeſtande nur noch 8415
Gewehre fehlten; viele Kreiſe ſtatteten ihre Wehrmänner freiwillig mit
Seitengewehren und Uhlanen-Czapkas aus. Aber für das zweite Aufge-
bot war noch faſt gar nichts geſchehen, ihm fehlten von 174,080 Gewehren
noch 135,559.**)


Dieſelbe Noth verſchuldete auch, daß die Stärke des ſtehenden Heeres
von vornherein zu niedrig bemeſſen wurde. Das Wehrgeſetz hatte verſpro-
chen, die Zahl der Linientruppen werde ſich nach den jedesmaligen Staats-
verhältniſſen richten. Die ergänzende neue Landwehrordnung vom 21. Nov.
[227]Die Landwehr-Ordnung.
1815 ſagte noch beſcheidener: „an den mäßigen Umfang des ſtehenden Heeres
ſchließt ſich künftig die Landwehr.“ Die Friedensſtärke des Heeres ward dem-
nach vorläufig auf kaum ein Procent der Bevölkerung feſtgeſtellt; ſie betrug,
mit Einſchluß des Armeecorps in Frankreich, 115,000 Mann, nicht mehr
als im Jahre 1806. Allerdings erhielt die eingeſtellte Mannſchaft jetzt
in dreijährigem ununterbrochenem Dienſte eine weit ſorgfältigere Schulung
als einſt in den letzten Zeiten der alten Heeresverfaſſung, wo die Beur-
laubungen ſo ſehr überhand nahmen, daß die Mehrzahl der Soldaten
trotz der zwanzigjährigen Dienſtpflicht nur etwa 22 Monate unter den
Fahnen blieb. Auch die Vereinigung des Heeres in den Feſtungen und
größeren Städten kam der Ausbildung der Truppen zu ſtatten und blieb
aufrecht, obwohl die verlaſſenen kleinen Garniſonen den Thron mit Bitten
beſtürmten. Aber für die militäriſche Erziehung der geſammten wehr-
fähigen Jugend reichte dieſe ſchwache Friedensarmee mit ihren 38 (ſpäter
44) Infanterie-Regimentern nicht entfernt aus. Sie konnte ihrer Auf-
gabe um ſo weniger genügen, da die Bevölkerung ſehr ſchnell zunahm,
wie dies bei kräftigen Nationen nach dem Abſchluß verheerender Kriege
regelmäßig geſchieht. Ueberdies beſtand noch ein volles Drittel des ſtehenden
Heeres aus Capitulanten, die freiwillig über drei Jahre hinaus dienten;
die alten Gewohnheiten des Berufsſoldatenthums wirkten noch nach, und
in der erwerbloſen Zeit erſchien der Militärdienſt Vielen als eine leidliche
Verſorgung. Ein ſehr großer Theil der Wehrfähigen mußte alſo zurück-
geſtellt werden, wobei denn anfangs manche erbitternde Willkür mit unter-
lief: hier wurden die Ueberzähligen durch eine gutmüthige Erſatzcommiſſion
ganz von der Dienſtpflicht entbunden, dort wählte ein Offizier, dem die
altpreußiſche Vorliebe für die langen Kerle noch in den Gliedern lag, die
Mannſchaften nach der Größe aus. Endlich führte man das Looſen ein
und ließ die Freigelooſten als Landwehrrekruten drei Monate lang durch
abcommandirte Offiziere der Linie nothdürftig einüben, um ſie dann der
Landwehr zuzuweiſen.


Die Landwehr beſtand mithin zum Theil aus alten Soldaten, zum
Theil aus wenig geübten Krümpern, und ihr Offiziercorps, das noch ganz
ſelbſtändig neben der Linie ſtand, verſchlechterte ſich von Jahr zu Jahr:
die Kriegskundigen ſchieden allmählich aus, die jungen Freiwilligen aber,
welche nunmehr nach einjährigem Dienſte und einigen kurzen Uebungen
in die Offiziersſtellen einrückten, zeigten ſich zuweilen noch unerfahrener
als die Mannſchaft ſelbſt. Das einzige verbindende Glied zwiſchen der Linie
und der Landwehr bildeten die den commandirenden Generalen der Linie
untergeordneten Landwehrinſpecteure, je einer in jedem Regierungsbezirk.
Der König that das Seine um das militäriſche Selbſtgefühl der Land-
wehr zu heben; er verlieh ihr Fahnen, bildete eine Gardelandwehr, er-
nannte die königlichen Prinzen zu Chefs der Gardelandwehr-Schwadronen.
Die Generale gewöhnten ſich die Landwehr nach den Uebungen mit reichen
15*
[228]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Lobſprüchen zu überhäufen, die von der ſtrengen Zucht der Linie ſeltſam
abſtachen. Im Volke hatten ſich die alten Märchen von den Landwehr-
ſchlachten des Befreiungskrieges allmählich feſt eingeniſtet; die Landwehr
galt als das eigentliche Volksheer, als die feſte Säule der preußiſchen
Macht; alle Welt ſtrömte in feſtlichem Jubel zuſammen wenn ſie ihre
Uebungen hielt, und die Bureaukratie theilte dieſe Vorliebe, da ein großer
Theil der Landwehroffiziere aus dem Beamtenthum hervorging.


Dem ſicheren Soldatenblicke des Königs entging gleichwohl nicht, wie
viel dieſer volksthümlichen Truppe noch zur vollen Kriegstüchtigkeit fehlte;
ſelbſt General Kleiſt und andere Freunde der Landwehr konnten dem Kriegs-
herrn nicht verhehlen, daß die Reiterei wenig genügte und auch das Fuß-
volk bei größeren Uebungen nur unter der Leitung abcommandirter Linien-
offiziere Tüchtiges leiſtete.*) Und doch mußte dieſe Reſervearmee, wegen
der Kleinheit des Linienheeres, beim Ausbruch eines Krieges ſofort gegen
den Feind geführt werden. Was im Sommer 1813 nur die äußerſte
Noth erzwungen hatte, ſollte jetzt die Regel bilden. Trat die Mobilmachung
ein, ſo ward die Feldarmee ſofort auf 298,000 Mann verſtärkt, wovon
die größere Hälfte (ſieben Jahrgänge unter zwölf) aus Landwehren erſten
Aufgebotes beſtand; ſelbſt wenn nur eine diplomatiſch-militäriſche Drohung
beabſichtigt war, ſah ſich der Staat gezwungen ſogleich alle Wehrpflichtigen
bis zum zweiunddreißigſten Lebensjahre hinauf unter die Fahnen zu rufen,
tauſende von Familien ihrer Ernährer zu berauben, das geſammte bürger-
liche Leben ſchwer zu ſchädigen. Zwar mußte, bei dem ſchwerfälligen
Verkehre jener Zeit, der größte Theil des Heeres volle fünf Wochen auf
dem Marſche verbringen bevor er den Feind erreichen konnte; aber genügte
dieſe kurze Friſt um die mangelhafte Ausbildung der Landwehrrekruten
zu ergänzen? Und wie viel ungünſtiger hatte ſich doch die militäriſche
Lage des Staatsgebietes geſtaltet; der Staat war nicht mehr durch ſeine
alten Vorlande, Polen und das Rheingebiet, gegen den erſten Anſturm
der Feinde gedeckt, er grenzte jetzt unmittelbar an drei Großmächte. Grundes
genug zu ſchweren Bedenken. Unabläſſig, in tiefer Beſorgniß, ſuchte der
König nach der rechten Antwort auf alle die militäriſchen, politiſchen und
volkswirthſchaftlichen Fragen, welche das große Problem der allgemeinen
Wehrpflicht umfaßte, und beſprach ſich darüber mit dem getreuen Witz-
leben. An dem häßlichſten Mangel des neuen Syſtems, an der Unmög-
lichkeit, die geſammte Jugend durch die Schule des Heeres gehen zu laſſen,
ließ ſich leider für jetzt nichts ändern; eine ſo beträchtliche Vermehrung
der Linie konnte weder der Staatshaushalt noch der Volkswohlſtand er-
tragen. Aber gab es kein Mittel um die Landwehr ſchon im Frieden ſo
feſt mit der Linie zu verbinden, daß die Feldarmee nicht mehr in zwei
ganz ungleichartige Hälften zerfiel? Die Organiſatoren des preußiſchen
[229]Linie und Landwehr.
Heeres ſtanden wieder vor der nämlichen Aufgabe, welche einſt Carnot in
ſeiner Weiſe gelöſt hatte als er aus den weißen Linienregimentern der
Bourbonen und den blauen Nationalgarden der Republik ſeine neuen
Halbbrigaden zuſammenſchmolz.


Bei dieſen Berathungen ergab ſich bald eine Meinungsverſchieden-
heit zwiſchen dem König und dem Kriegsminiſter. Boyen überſchätzte doch
die Kriegstüchtigkeit ſeiner Landwehr, obſchon er natürlich die volksthüm-
lichen Fabeln nicht glaubte. Er urtheilte nach ſeinen Erfahrungen beim
Bülow’ſchen Corps; hier war die Landwehr immer gut beiſammen ge-
blieben, da ſie erſt unter Bernadottes ſchlaffer Führung, dann auf dem
bequemen holländiſchen Feldzuge nur ſelten zu Gewaltmärſchen und außer-
ordentlichen Strapazen gezwungen wurde. Dem Könige dagegen ſtand
noch in friſcher Erinnerung, wie haltlos die Landwehr des Kleiſt’ſchen
Corps während der furchtbaren Regentage nach der Dresdner Schlacht
ſich gezeigt; er wußte auch, daß im Feldzuge von 1815 drei Viertel der
Verſprengten der Landwehr angehört hatten. Um die Wiederkehr ſolchen
Unheils zu verhüten, wollte der König die Landwehr ſtets mit der Linie
vereinigt ihre Uebungen abhalten laſſen, je eine Brigade der Linie und
der Landwehr zu einer Diviſion verbinden, zahlreiche Offiziere der Linie
zur Landwehr abcommandiren und die höheren Stellen regelmäßig nur
Linienoffizieren anvertrauen, während Boyen die vollſtändige Trennung
der beiden Offiziercorps beizubehalten rieth, damit Reibungen zwiſchen
Militär und Civil verhütet würden und der eigenthümliche Geiſt der Land-
wehr ungeſtört bliebe.


Mittlerweile wagte Herzog Karl von Mecklenburg den erſten offenen
Angriff gegen die Grundlagen des neuen Heerweſens. Er überreichte um
Neujahr 1818 ſeinem königlichen Schwager eine lange Denkſchrift, welche
ohne eigene Vorſchläge aufzuſtellen mit düſteren Farben die ſchweren den
Thron bedrohenden Gefahren ſchilderte, die Zügelloſigkeit der Preſſe, den
Uebermuth der Studenten und vor Allem die Boyen’ſche Heeresverfaſſung:
ſie drücke den Aufrührern die Waffen in die Hände; ſelbſt der Landwehr-
zeughäuſer war nicht vergeſſen, die ſo leicht einem meuternden Haufen
zur Beute fallen könnten.*) Die reactionäre Partei wagte ſich endlich
mit ihren Herzenswünſchen heraus. Auch Kneſebeck ſtimmte dem Herzog
bei, und ſogar dem tapferen Prinzen Auguſt, der einſt unter den Erſten
den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertheidigt hatte, erſchienen
jetzt die unleugbaren Mängel der Landwehrordnung ſo bedenklich, daß er
die Umkehr zu dem alten Beurlaubungsſyſteme empfahl. Mit dem ganzen
Unwillen ſeines ehrlichen Herzens wendete ſich Witzleben gegen die Männer,
„welche den Regenten vom Volke, das Haupt vom Rumpfe zu trennen
[230]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
beabſichtigen“. Die allgemeine Dienſtpflicht — ſo ſchrieb er in einer beredten
Entgegnung — iſt „ein Band, welches das ganze Volk umſchließt, und
deſſen Enden ſich in den Händen des Monarchen befinden“. Der König
ließ ſich durch die Warnungen ſeines Schwagers nicht beirren, obwohl er in
Augenblicken der Verſtimmung allerdings geſtand, ganz unbedenklich ſei es
nicht, Alle zu Soldaten zu machen. Die Verantwortlichkeit für den ſchwie-
rigen Verſuch, der ihm als die weitaus wichtigſte Aufgabe der preußiſchen
Politik erſchien, laſtete drückend auf ſeinem Gewiſſen. Kein anderer Staat,
ſagte er zu Witzleben, legt ſeinem Volke ſo harte Laſten auf, und dabei
dennoch keine Möglichkeit, ganz gerecht zu verfahren, alle Wehrfähigen ein-
zuſtellen!*) Am Ende gab er doch zu, daß die neue Ordnung mit allen
ihren Mängeln eine leidliche Mittelſtellung einnehme zwiſchen dem alten
Syſteme und den Volksbewaffnungsträumen der Dilettanten. Niemals
ward er den Gedanken Scharnhorſts untreu. Nur eine engere Verbin-
dung zwiſchen Landwehr und Linie hielt er für unerläßlich, und da Boyen
dieſem wohlberechtigten Plane hartnäckig widerſtrebte, ſo entſtand allmäh-
lich eine Entfremdung zwiſchen dem Könige und dem Kriegsminiſter, welche
ſchließlich zu Boyens Sturz führen ſollte.


Ueberraſchend ſchnell, nach wenigen Jahren ſchon ſöhnte ſich das
Volk mit der zuerſt ſo widerwillig aufgenommenen neuen Heeresverfaſſung
völlig aus. Die Gerechtigkeit des Grundſatzes der allgemeinen Wehrpflicht
ſprang in die Augen; die mannhafte Anſicht, daß der Waffendienſt eine
Ehre ſei, entſprach dem natürlichen Gefühle einer tapferen Nation; und
ſo ſchwer die Laſt drückte, zerſtörend wirkte ſie nicht, da die Preußen bei der
Eheſchließung und Niederlaſſung, im Handel und Gewerbe ſich einer Frei-
heit erfreuten, die den deutſchen Kleinſtaaten noch faſt unbekannt war. Wie
verwundert hatten die alten Berliner Bürger anfangs den Kopf geſchüttelt,
wenn ſie einen gemeinen Soldaten im eleganten Wagen daherfahren ſahen;
bald ward der Einjährige eine gewohnte Erſcheinung, und ganz von ſelber
ſtellte ſich die Regel her, daß die Freiwilligen nicht, wie der Geſetzgeber
erwartete, bei den Jägern und Schützen, ſondern bei dem nächſtgelegenen
Truppentheile eintraten und alſo die gebildete Jugend ſich über das ganze
Heer vertheilte. Die allgemeine Wehrpflicht bewährte ſich als das wirk-
ſamſte Werkzeug zur Verſchmelzung der alten und der neuen Provinzen.
Die zahlreichen ſächſiſchen, weſtphäliſchen, franzöſiſchen, polniſchen, ſchwe-
diſchen Offiziere, welche namentlich den Reiterregimentern zuſtrömten, ver-
wuchſen in gemeinſamer ernſter Arbeit raſch mit dem alten preußiſchen
Stamme; denn ſeit alljährlich faſt ein Drittel der Mannſchaft neu eintrat,
war der Friedensdienſt der Offiziere nicht mehr wie einſt ein beſchäftigter
Müßiggang. In der Schule des Heeres wurden die verwahrloſten Söhne
der polniſchen Landestheile zur Ordnung, Sauberkeit, Haltung erzogen,
[231]Wirkungen der allgemeinen Wehrpflicht.
ihrer viele auch erſt in die deutſche Sprache eingeführt. Mochte der
rheiniſche Bauer immerhin von ſeinem im Heere dienenden Sohne be-
dauernd ſagen: „er iſt bei de Prüß“, und mancher Soldat aus der Pro-
vinz Sachſen wehmüthig über „den fremden Dienſt“ klagen — die mili-
täriſche Mannszucht ſchlug den Jungen doch gut an. Arndts völkerkun-
diger Blick bemerkte bald, wie auffällig ſich die Jugend dieſer Provinzen
von den Stammgenoſſen in den Kleinſtaaten zu unterſcheiden begann.
Hier noch ein gemüthliches bequemes Philiſterthum, dort das bei den Nach-
barn übel berufene ſtramme „preußiſche Weſen“, eine kurz angebundene,
dreiſte Entſchloſſenheit, die zuweilen ſehr unliebenswürdig werden konnte,
aber dem Charakter eines edlen Volkes beſſer anſtand als die gedrückte
Schüchternheit der alten Zeit des ungeſtörten häuslichen Lebens. Durch
ihr Heer gewannen die Preußen wieder, was keine große Nation auf die
Dauer entbehren kann, den nationalen Stil, die ſtolze Sicherheit des
Auftretens. Und der Stolz dieſes Volkes in Waffen war deutſch von Grund
aus; er wurzelte in dem Bewußtſein, daß am letzten Ende Deutſchlands
Schickſal an den ſchwarzundweißen Fahnen hing. —


Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht entſprang einem politiſchen
Idealismus, der an die Energie des antiken Staatsbegriffs erinnerte. Die-
ſelbe freie und weitherzige Auffaſſung der Pflichten des Staates bekundete
ſich auch in der Unterrichtsverwaltung. Bei Allen, welche dieſe letzten Jahre
mit Bewußtſein durchlebt hatten, ſtand die Ueberzeugung feſt, daß die endlich
vollzogene Verſöhnung des preußiſchen Staates mit der neuen Bildung der
Nation für immer dauern müſſe. Es galt, das mit der Stiftung der
Berliner Hochſchule begonnene Werk weiter zu führen, die altpreußiſche
Idee der allgemeinen Schulpflicht vollſtändig zu verwirklichen, auch die
niederen und mittleren Lehranſtalten mit dem Geiſte der neuen Wiſſen-
ſchaft zu erfüllen und alſo dem Staate Friedrichs in dem geiſtigen Leben
der Nation eine ſeines Waffenruhmes würdige Stellung zu gewinnen.
In den dreiundzwanzig Jahren der Verwaltung des Freiherrn v. Alten-
ſtein iſt dieſe Aufgabe im Weſentlichen gelöſt worden. Der Staat, der
ſo lange in ſeinen harten Daſeinskämpfen die Wiſſenſchaft hatte darben
laſſen, gelangte allmählich dahin, daß er nach Verhältniß ſeiner Mittel für
die Volksbildung mehr als irgend eine andere Großmacht aufwendete und
ſeine Unterrichtsanſtalten den beſten Europas vergleichen durfte; er wider-
legte durch die That das wunderliche, aus den krankhaften Erfahrungen
der heimiſchen Geſchichte entſproſſene deutſche Vorurtheil, als ob der Reich-
thum des geiſtigen Lebens nur in der Enge kleiner Staaten gedeihe. Ein
geborner Franke und von Haus aus den liberalen Anſichten der Harden-
bergiſchen Beamtenſchule zugethan, verſtand Altenſtein doch immer ſich den
Ideen überlegener Köpfe anzuſchmiegen, ſo daß ſelbſt Stein, der mit den
fränkiſchen Anſchauungen ſo wenig gemein hatte, den geiſtreichen Beamten
gern zum Entwerfen ſeiner Geſetze benützte und ſtets ſicher war ſeine
[232]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
eigenen Gedanken in den Arbeiten dieſer gewandten Feder treu wie in einem
Spiegel wiederzufinden. Als er freilich nach Steins Sturz ſelber an das
Ruder des Staates trat, da litt er kläglich Schiffbruch; ſein feiner Kopf
täuſchte ſich niemals über die Gefahren der Lage, aber die Spannkraft
des Entſchluſſes blieb dem Aengſtlichen verſagt. Wenn er ſtundenlang
ſeine Bedenken und Gegenbedenken vortrug, ohne je ein Ende zu finden, ſo
erſtaunten die Hörer zugleich über die Hellſichtigkeit und die Unfruchtbarkeit
ſeines Geiſtes. Späterhin, beim zweiten Pariſer Frieden leitete er die Zu-
rücknahme der geraubten Bücher- und Kunſtſchätze mit gründlicher Sach-
kenntniß und erregte durch ſeine reiche gelehrte Bildung zuerſt wieder die
Aufmerkſamkeit des Königs, der ihm den kleinmüthigen Vorſchlag der
Abtretung Schleſiens lange nachgetragen hatte. So geſchah es, daß er
bei dem Miniſterwechſel von 1817 endlich den rechten Wirkungskreis für
ſeine Begabung angewieſen erhielt; ein freundliches Geſchick vergönnte ihm,
durch die Thätigkeit ſeines Alters das Andenken an die traurige Politik
von 1809 ſchon bei der Mitwelt faſt zu verwiſchen.


In allen Fächern der Wiſſenſchaft war er zu Hauſe, und nie fühlte
er ſich glücklicher als wenn er draußen in Werder unter den blühenden
Bäumen ſeines Weinbergs am Havelufer beſchaulich ſeinen Gedanken nach-
gehen durfte. Die Philoſophie erſchien ihm als die Königin der Wiſſen-
ſchaften, aber ſelbſt in dieſem ſeinem Lieblingsfache zeigte er mehr weiche
Empfänglichkeit als ſelbſtändige Gedanken; unwillkürlich folgte er den Strö-
mungen der Zeit und wendete ſich von Fichtes Lehren bald dem auf-
ſteigenden Geſtirne Hegels zu. Er dachte groß von ſeinem neuen Amte,
dem „das Höchſte der Menſchheit“ anvertraut ſei, und ſtellte ſich die Auf-
gabe, dieſen Staat im Sinne Hegels zum Staate der Intelligenz aus-
zugeſtalten. Jahraus jahrein kämpfte er unverdroſſen mit dem ſparſamen
Ladenberg um die Geldmittel; blieb die königliche Generalcontrole uner-
bittlich, dann half er wohl aus eigenen Mitteln nach und zahlte aus
ſeiner Taſche Penſionen an Predigerwittwen, Reiſeſtipendien an junge
Gelehrte und Künſtler. Auch die Freiheit der Forſchung fand an dem
milden Gelehrten einen treuen Beſchützer; wenn ihn die Eiferer der Re-
aktion mit ihren Klagen und Anzeigen beſtürmten, ſo beſchwichtigte er
ſie gelaſſen durch ſeinen Lieblingsſpruch: „viele Uebel der Zeit heilt die
Zeit ſelbſt.“


Für das neu erwachende religiöſe Leben zeigte Altenſteins weltliche
Geſinnung wenig Verſtändniß, das Verlangen nach einer freien evangeli-
ſchen Gemeindeverfaſſung ſchien ihm kaum minder ſtaatsgefährlich als die
Herrſchſucht der Ultramontanen: hatte doch ſein Hegel ſo klar erwieſen, daß
die Kirche, das Reich der Vorſtellungen, ſich dem Reiche des Begriffs, dem
Staate ſchlechthin unterordnen müſſe. Darum hielt er ſich in der Kirchen-
politik an das gemäßigte Territorialſyſtem des Landrechts: das Staatsober-
haupt ſollte die evangeliſche Kirche nach evangeliſchen, die katholiſche nach
[233]Altenſtein.
katholiſchen Grundſätzen auch in ihrem inneren Leben unmittelbar leiten
und beide dem Charakter des Staates „anzupaſſen“ ſuchen. Jedoch er
handhabte ſein Syſtem mit kluger Schonung, in der ehrlichen Abſicht, daß
die Kirche ſelbſt unter der wohlwollenden Vormundſchaft des Staates ſich
befriedigt fühlen ſollte, und erreichte in der That, daß der kirchliche Frieden
unter ſchwierigen Verhältniſſen zwei Jahrzehnte hindurch faſt ungeſtört
blieb. Im Staatsrathe führte Altenſtein als Stellvertreter des Staats-
kanzlers den Vorſitz, und die heftigen Parteikämpfe brachten den behut-
ſamen Mann oft in Verlegenheit; mußte er ſich entſcheiden, dann nahm
er immer Partei für Hardenberg, dem er noch von Franken her eine faſt
unterthänige Ergebenheit bewahrte. Zudem bedurfte er einer mächtigen
Stütze, da Schuckmann die Zertheilung ſeines Departements nicht ver-
ſchmerzen konnte und ſich alsbald mit den Geheimen Räthen Kamptz und
Schultz zur Bekämpfung des demagogenfreundlichen neuen Cultusminiſters
verſchwor.


Als dieſer in ſeinem Amte ſich etwas umgeſehen hatte, ſchrieb er dem
Staatskanzler: „mein ganzes Departement iſt beinahe verholzt und ein-
geſchrumpft, es muß erſt wieder belebt und in Bewegung geſetzt werden.“*)
Und allerdings hatte Schuckmann ſelbſt ſich um die Fragen des höheren
Unterrichts, die ſo weit über ſeinen Geſichtskreis hinauslagen, wenig be-
kümmert. Unter den Räthen dagegen war der Geiſt Humboldts noch
nicht ausgeſtorben. In der Unterrichtsabtheilung wirkte Humboldts Ver-
trauter, der geiſtvolle Süvern aus dem Teutoburger Walde, ein claſſiſch
gebildeter Philolog, der einſt mit Schiller in Briefwechſel geſtanden und
ſich den Idealismus der großen Tage von Weimar treu bewahrt hatte.
An der Spitze der geiſtlichen Abtheilung ſtand der Schüler und Lands-
mann Hamanns, Nicolovius, ein bibelgläubiger kindlich frommer Proteſtant.
Er lebte in dem Gedanken der Einheit des Chriſtenthums und verſtand,
Dank ſeinem freundſchaftlichen Verkehre mit dem Kreiſe der Fürſtin Galitzin,
auch die ſittlichen Kräfte der katholiſchen Kirche gerecht zu würdigen. Viele
Jahre lang mit Goethe befreundet folgte er dem literariſchen Schaffen
der Zeit mit freudiger Empfänglichkeit; für die politiſche Reform war er
ſelbſt in Königsberg unter Steins Leitung thätig geweſen. Allen Geiſt-
lichen im Lande blieben die ſchönen Worte in guter Erinnerung, mit denen
er beim Beginne des Befreiungskriegs die chriſtlichen Seelſorger an ihre
vaterländiſche Pflicht gemahnt hatte.


Bei ſeinem Eintritt fand Altenſtein eine ſchwere Arbeit bereits dem Ab-
ſchluß nahe, die Neugründung zweier Hochſchulen. Die Friedrichs-Univerſität
in dem treuen Halle war während der Fremdherrſchaft zweimal geſchloſſen
und ſofort nach dem Einzuge der Preußen wieder eröffnet worden; ſie
bedurfte nach den Verwüſtungen der Kriegsjahre einer gründlichen Um-
[234]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
geſtaltung, zumal da ſie jetzt auch den thüringiſchen Landestheilen einen
Erſatz für die längſt aufgehobene Erfurter Hochſchule bieten ſollte. Mit
dieſer Aufgabe verkettete ſich die peinliche Frage, ob neben der Heimſtätte
des reformatoriſchen Pietismus noch ihre alte Feindin, die kurſächſiſche
Fridericiana im nahen Wittenberg fortbeſtehen könne. Der Pietät des
Königs lag nichts ferner als die Abſicht die Cultur der Provinzen zum
Vortheil Berlins zu verkümmern; er hoffte womöglich in jeder Provinz
eine blühende Hochſchule als den geiſtigen Mittelpunkt des landſchaftlichen
Sonderlebens erſtehen zu ſehen, und am Wenigſten die Wiege der Re-
formation wollte der treue Proteſtant ohne dringende Noth antaſten. Aber
in dem unglücklichen Wittenberg war nichts mehr zu zerſtören. Zwei-
hundert Jahre lang war die weiland glorreichſte aller deutſchen Univer-
ſitäten nur ein Zerrbild alter Größe geweſen, die Hochburg eines geiſtloſen
Buchſtabenglaubens, der ex cathedra Lutheri ſeine Bannſtrahlen ſchleu-
derte und die Religion durch die Theologie ertödete. Als gegen Ausgang
des achtzehnten Jahrhunderts endlich ein freierer Geiſt in den entweihten
Hörſaal des Reformators einzog, war der Verfall der Hochſchule nicht
mehr aufzuhalten. Die Belagerung von 1813 gab der Univerſität den
Todesſtoß: die Studenten ſtoben auseinander, die Bibliothek ward geflüchtet,
die akademiſchen Gebäude gingen in Flammen auf, und das kleine Häuflein
der Profeſſoren, das ſich nach Schmiedeberg gerettet hatte, legte dem ſäch-
ſiſchen Hofe ſelber die Frage vor, ob nicht die Vereinigung mit Leipzig ge-
boten ſei.


Sollte Preußen jetzt auf dieſer Trümmerſtätte einen Neubau aufführen,
in einer zur Grenzfeſtung beſtimmten Stadt, ſo nahe bei den drei anderen
ſächſiſchen Univerſitäten, die einander ohnehin ſchon oft das Licht ver-
traten? Die lebendige Gegenwart forderte ihr Recht vor der ruhmvollen
Vergangenheit; Halle beſaß, trotz ſchwerer Verluſte, doch noch einen leid-
lich vollſtändigen Lehrkörper, zahlreiche Inſtitute und eine raſch wieder
anwachſende Studentenſchaft. Schweren Herzens befahl der König noch
von Wien aus, im April 1815, die Vereinigung der beiden Friedrichs-
Univerſitäten in Halle. Die Wittenberger Profeſſoren ſelbſt verſuchten
keinen Widerſpruch, ihrer ſieben traten im Frühjahr 1817 in die neue
Univerſität Halle-Wittenberg ein; das war Alles was von der glänzenden
Stiftung Friedrichs des Weiſen noch übrig blieb. Das Volk aber im
Herzogthum Sachſen klagte laut, als gerade im Jubeljahre der Refor-
mation die Hochſchule der alten Lutherſtadt in das Magdeburgiſche über-
ſiedeln mußte: jetzt haben die Preußen dem Sachſenlande das Herz aus-
gebrochen, ſagte man zornig. Erſt nach Jahren, als die neue Doppel-
Univerſität unter Altenſteins ſorglicher Pflege kräftig aufgeblüht war,
begann man einzuſehen, daß der König das Nothwendige gethan und die
Provinz durch den Untergang von zwei verlebten Univerſitäten an geiſtigen
Kräften nichts verloren hatte. Nur die Stadt Wittenberg ließ ſich durch
[235]Halle-Wittenberg. Bonn.
das Predigerſeminar, das ihr zur Entſchädigung dienen ſollte, nicht tröſten
und forderte noch ein Menſchenalter ſpäter, im Jahre 1848, von der Ber-
liner Nationalverſammlung die Wiederherſtellung der alten akademiſchen
Herrlichkeit.


Den weſtlichen Provinzen hatte der König ſchon bei der Beſitzergreifung
eine Univerſität verſprochen. Sie ſollte paritätiſch ſein und ſowohl das
gänzlich verfallene reformirte Duisburg wie die aufgehobenen katholiſchen
Hochſchulen Köln, Bonn, Trier erſetzen, während dem Münſterlande ſeine
katholiſche Akademie als theologiſche Fachſchule erhalten blieb. Um den
Sitz der rheiniſchen Univerſität entſpann ſich nun ein hitziger Streit, der
die geheimen Wünſche der clerikalen Partei des Weſtens zum erſten male
an den Tag brachte. Köln war ſo lange im Beſitze der größten Univerſität
am Rheine geweſen und überſtrahlte alle anderen Städte des Landes ſo
weit durch ſeinen hiſtoriſchen Ruhm und durch die Fülle ſeiner Kunſt-
denkmäler, daß auch Unbefangene, wie Niebuhr, Schenkendorf und der
wackere kölniſche Sammler Wallraf meinten, nur hier könne das geiſtige
Leben der Rheinlande ſeinen Brennpunkt finden. Friedrich Schlegel aber
und ſeine ultramontanen Freunde benutzten den romantiſchen Zauber,
welcher die ehrwürdige Stadt umſchwebte, als willkommenen Vorwand für
tiefere Pläne. Das heilige Köln war von Altersher das Bollwerk der
römiſchen Partei im Reiche, ſeine Bevölkerung, die noch zu einem vollen
Drittel aus Bettlern beſtand, durch dumpfe Unduldſamkeit übel berüchtigt.
Hier hatten die obscuri viri des ſechzehnten Jahrhunderts, nachher die
päpſtlichen Legaten und die Jeſuiten ihr Weſen getrieben; hier im Schatten
der erzbiſchöflichen Curie konnte eine evangeliſche Facultät ſo wenig ge-
deihen wie die weltlich freie Wiſſenſchaft; hier war nur Raum für eine
rheiniſche Provinzialuniverſität, die den tiefen Schlummer der Geiſter in
der alten Pfaffengaſſe des Reichs nicht geſtört, die Verſöhnung der Weſt-
mark mit dem proteſtantiſchen Norden nicht gefördert hätte. „Diejenigen
— ſchrieb ein einſichtiger Rheinländer an Hardenberg — welche ſo ent-
ſchieden für Köln reden, verhehlen es gar nicht in vertraulicher Mitthei-
lung, daß ſie dadurch den Mittelpunkt einer Oppoſition bilden möchten.
Und welcher Oppoſition? Des katholiſchen Princips gegen das prote-
ſtantiſche. Je näher die Regierung die Rheingegenden kennen lernen wird,
deſto weiter wird ſie ſich von dem Gedanken entfernen, nach Köln die
rheiniſche Univerſität zu verlegen.“*) Auch Arndt, der an ſeinem deut-
ſchen Strome raſch heimiſch geworden war, und Süvern, der ſoeben die
neuen Unterrichtsanſtalten am Rhein einrichtete, warnten den Staats-
kanzler vor dem pfäffiſchen Geiſte der Biſchofsſtadt und empfahlen dafür
das liebliche Bonn mit ſeinen verödeten prächtigen Schlöſſern.


[236]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Dort in der reichen Thalbucht, dicht vor dem Eingangsthore des rhei-
niſchen Wunderlandes konnte vielleicht ein anderes Heidelberg entſtehen,
eine Stätte freier Forſchung und froher Burſchenluſt, ein Sammelplatz
für die deutſche Jugend aus allen Gauen. Selbſt der trockene Schuck-
mann fühlte ſich von einem Hauche der Jugend angeweht, als er einſt auf
der Höhe des Coblenzer Thores zu dem Standbilde des heiligen Michael
hinaustrat und über dem grünen Strome und der üppigen Ebene die ſteilen
Gipfel der Sieben Berge erblickte; „hier iſt unſer Ort!“ rief er entzückt.
In der kleinen Stadt war die Univerſität die Herrin und einer unge-
ſtörten Freiheit ſicher; hatte doch ſchon in den letzten kurfürſtlichen Zeiten
zehn Jahre lang in Bonn eine rührige Hochſchule beſtanden, die den freieren
Geiſt der joſephiniſchen Aufklärung gegen den kölniſchen Clerus vertrat.
Dieſe Erwägungen ſchlugen durch, und am 26. Mai 1818, an demſelben
Tage, da das neue Zollgeſetz unterzeichnet wurde, beſtimmte der König
die Stadt Bonn zum Sitze der rheiniſchen Hochſchule.


Es war bereits die vierte Univerſität, die unter der Regierung dieſes
Fürſten gegründet oder gänzlich neu geſtaltet wurde — von allen Wohlthaten,
welche das Rheinland der Krone Preußen verdankte, vielleicht die größte.
Hier wieder bewährte ſich die alte Wahrheit, daß die Bildung des Volks
am letzten Ende durch den Zuſtand der höchſten Unterrichtsanſtalten beſtimmt
wird. Bonn erhielt in dem geiſtreichen Schwaben Rehfues einen thätigen,
geſchäfts- und menſchenkundigen Curator; Hüllmann, Sack, Nöggerath,
Harleß und die beiden Welcker traten gleich zu Anfang ein, auch Arndt
wurde durch einen herzlichen Brief Hardenbergs berufen „der Jugend den
Grundton für die Geſinnung des Lebens zu geben“, und wenige Jahre
ſpäter, als Niebuhr den Lehrſtuhl beſtieg, ſtand die neue Univerſität be-
reits in voller Blüthe. So wunderbar hatten ſich Deutſchlands Geſchicke
verſchlungen: erſt der preußiſche Staat, der in dem jungen Colonialboden
des Nordoſtens wurzelte, führte dieſe Heimathlande der älteſten deutſchen
Cultur zu der modernen Bildung der Nation zurück. In Bonn und in
den anderen Lehranſtalten, die ſich der Hochſchule anſchloſſen, entſtand
zuerſt wieder ein freies Nebeneinanderleben der Glaubensbekenntniſſe; die
Mehrzahl der Rheinländer empfing jetzt erſt Kunde von den Werken unſerer
claſſiſchen Literatur, und das reichbegabte Volk lebte ſich in dieſe neue
Welt ſo ſchnell ein, daß der Spott der Nachbarn über die Unwiſſenheit der
alten Krummſtabslande bald ganz verſtummte.


Die rheiniſche Hochſchule erforderte während der erſten Jahre mehr
Aufwand als alle anderen Univerſitäten insgeſammt. Für die mittleren
Lehranſtalten blieben nur ſehr beſcheidene Geldmittel übrig. Aber der
unermüdliche Johannes Schulze, den ſich Altenſtein vom Rheine herbei-
gerufen hatte, wußte immer wieder Rath zu ſchaffen. Dem lachte die
Freude aus den Augen ſo oft ein tüchtiger Lehrer für Preußen gewonnen
war, und wer ihn ſo mit heiligem Eifer für die Wiſſenſchaft ſorgen ſah,
[237]Unterrichtsweſen.
verzieh dem feurigen Manne gern ſeine blinde Vorliebe für die neue
Hegel’ſche Lehre. Eine ganze Reihe neuer Gymnaſien ward gegründet,
vornehmlich in Poſen und am Rhein, im Jahre 1825 beſtanden ihrer
bereits 133, und während man anfangs die Philologen von auswärts
hatte herbeirufen müſſen, gewann der Name der preußiſchen Lehramts-
candidaten bald überall ein gutes Anſehen und Preußen konnte den Nach-
barn von ſeinem eigenen Ueberfluß abgeben. Auch für den Elementar-
unterricht ſorgte Altenſtein zunächſt durch die Erziehung tüchtiger Schul-
lehrer. In den zahlreichen neuen Seminarien wuchs ein Schulmeiſter-
ſtand heran, der die abgedankten Unteroffiziere der fridericianiſchen Zeit
an Kenntniſſen weit übertraf, aber auch ſchon zuweilen die Unarten der vor-
lauten Halbbildung zeigte. Namentlich die oſtpreußiſchen Lehrer, welche der
friſche, heitere, volksthümlich derbe Oberſachſe Dinter heranzog, zeichneten
ſich durch flachen Rationalismus aus. Ebenſo rührig, doch minder ein-
ſeitig wirkte Dieſterweg am Niederrhein. Nach einigen Jahren ſchon konnte
Altenſtein nachweiſen, daß in Preußen mehr Kinder die Schule beſuchten
als in irgend einem andern Großſtaate; gleichwohl blieben die Elementar-
ſchulen noch weit hinter ſeinen Wünſchen zurück. Im Weſten ſetzte die
niedere Geiſtlichkeit den Schulbehörden einen zähen ſtillen Widerſtand ent-
gegen, der ſich kaum leichter überwinden ließ als der Stumpfſinn der Eltern
in den polniſchen Landestheilen. In den deutſchen Provinzen des Oſtens
erſchwerte die Armuth der vielen kleinen Landgemeinden jede Verbeſſerung.


Dem hochfliegenden Idealismus Süverns genügte die reiche Thätigkeit
der Unterrichtsverwaltung nicht. Der treffliche Mann überſchätzte, gleich
der Mehrzahl der Zeitgenoſſen, den Werth jener allgemeinen politiſchen
Programme, welche Hardenberg während der erſten Jahre ſeiner Staats-
kanzlerſchaft in die preußiſche Geſetzgebung eingeführt hatte. Er hielt für
nöthig, daß die leitenden Grundſätze des Unterrichtsweſens in ihrem innern
Zuſammenhange dem Volke dargelegt würden, und beantragte im Auguſt
1817 die Abfaſſung eines Schulgeſetzes, das dem geſammten Deutſchland
zum Muſter dienen ſollte. Hochbegeiſtert, mit einer Staatsgeſinnung,
die den Einfluß platoniſcher Ideen nicht verkennen ließ, trat er an die
Arbeit heran. Der Staat, ſo führte ſeine Denkſchrift aus, erſcheint
ſelber als eine Erziehungsanſtalt im Großen, giebt ſeinen Genoſſen ein
eigenthümliches Gepräge des Geiſtes wie der Geſinnung; nicht auf die
todten Kräfte der Natur iſt der preußiſche Staat gegründet, ſondern auf die
lebendigen, unendlicher Erhöhung und Entwicklung fähigen des Menſchen-
geiſtes. Auch Altenſtein verlangte als methodiſcher Philoſoph vor Allem
„einen großen, allgemeinen Plan“, damit Preußen „durch einen eigen-
thümlichen Charakter von Ernſt und Reife mit den gebildetſten Völkern
Europas um den Vorrang buhlen“ könne. Dem Könige entging nicht, daß
die Unterrichtsfrage, in ſo hohem Sinne aufgefaßt, die Grundlagen des
geſammten Staatslebens berührte; darum wurde die Commiſſion, welche das
[238]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Schulgeſetz entwerfen ſollte, aus Mitgliedern aller Miniſterien zuſammen-
geſetzt; auch das Kriegsminiſterium war durch General Wolzogen ver-
treten.


Nach zwanzig Monaten, am 27. Juni 1819 kam ein reiflich durch-
dachter Entwurf zu Stande — das erſte jener zahlreichen Unterrichts-
geſetze, an denen der preußiſche Staat ſich bis zum heutigen Tage ver-
geblich abgemüht hat. Aber als der Miniſter nunmehr die Gutachten
der Oberpräſidenten und der Biſchöfe einforderte, da mußte er erfahren,
daß auf dem ſtreitigen Grenzgebiete zwiſchen Staat und Kirche eine wohl-
wollende Praxis leichter zum Ziele gelangt als die unanfechtbare Doctrin.
Die vielen allgemeinen Sätze des Entwurfs erregten einen Sturm wider-
ſprechender Anſichten. Ueber die Theilnahme der Kirche am Schulweſen
konnte man ſich theoretiſch nicht verſtändigen, da die Biſchöfe den Volks-
unterricht als causa ecclesiastica betrachteten, die Oberpräſidenten über
unbillige Begünſtigung der Kirche klagten. Und zudem die heiklige Frage,
wie die winzigen Dörfer des Oſtens die ſchwere Schullaſt aufbringen
ſollten. So blieb der Entwurf liegen, und Altenſtein erklärte dem Monarchen,
er werde vorläufig „die Schulordnung gewiſſermaßen vorbereitend ins
Leben ſetzen“. Und dieſe thatſächliche Ausführung entſprach im Weſent-
lichen den Bedürfniſſen der Zeit. Der Miniſter behandelte die Schulen
gemäß der Vorſchrift des Allgemeinen Landrechts (Thl. II. Tit. 12) durch-
aus als Veranſtaltungen des Staates und hielt unverbrüchlich die drei
Grundgedanken der fridericianiſchen Unterrichtspolitik feſt: den allgemeinen
Schulzwang, die Parität der Bekenntniſſe, die Vertheilung der Schul-
laſten auf alle Hausväter des Schulverbandes. Der Religionsunterricht
blieb nach wie vor die erſte Pflicht der Elementarſchule, und er ſollte ſich
ſtreng an das kirchliche Bekenntniß der Mehrheit der Schulgemeinde an-
ſchließen; der Ortsgeiſtliche gehörte regelmäßig dem Schulvorſtande an
und war befugt die Mängel zu rügen, aber die Entſcheidung ſtand dem
Staate allein zu. Die Simultanſchulen begünſtigte der philoſophiſche
Miniſter nicht; er wußte, wie oft ſie den kirchlichen Frieden ſtören, die
Klarheit und Einheit des Unterrichts ſchädigen, und geſtattete ſie nur
wenn eine gemiſchte Gemeinde nicht im Stande war für jedes Bekenntniß
eine beſondere Schule zu errichten. Auch die Lehrer der höheren Schulen
gehörten in der Regel einem Bekenntniß an; doch band ſich Altenſtein
nicht die Hände und berief, ſo lange noch an katholiſchen Lehrern Mangel
war, manche Proteſtanten an die katholiſchen Gymnaſien des Rheinlands.
Die Juden blieben von den Lehrſtellen der chriſtlichen Unterrichtsanſtalten
geſetzlich ausgeſchloſſen. Alſo gelang es die Souveränität des Staates zu
wahren ohne das gute. Recht der Kirche zu verletzen. Reibungen mit den
kirchlichen Behörden kamen ſelten vor, da die Folgen der Freizügigkeit ſich
erſt allmählich zeigten und die Zahl der gemiſchten Schulgemeinden noch
nicht ſehr groß war. —


[239]Lutheraner und Reformirte.

Auch für das innere Leben der deutſchen proteſtantiſchen Kirche wurden
dieſe Friedensjahre eine Zeit der Verjüngung und Erneuerung, weſent-
lich durch das Verdienſt der preußiſchen Krone. Der König erkannte,
gleich ſeinem ruſſiſchen Freunde, in den Siegen der letzten Jahre die
Hand des lebendigen Gottes, ihm wollte er ſich beugen; aber während
Czar Alexanders phantaſtiſcher Sinn durch die andächtige Stimmung der
Kriegszeit zu dem anſpruchsvollen und doch leeren Plane der Heiligen
Allianz begeiſtert wurde, ging der nüchterne Friedrich Wilhelm an ein
unſcheinbares und doch weit fruchtbareres Werk: er entſchloß ſich, die reife
Frucht einer zweihundertjährigen friedlichen Gedankenarbeit endlich zu
brechen, den frommen Lieblingsgedanken ſeiner Ahnen, die Union der evan-
geliſchen Kirchen Deutſchlands zu verwirklichen. Der alte unſelige Haß
der beiden Schweſterkirchen des Proteſtantismus, der einſt die Siege der
Gegenreformation, die große Verwüſtung des dreißigjährigen Krieges ſo
mächtig gefördert hatte, erſchien dem neuen Geſchlechte ſchon längſt fremd,
faſt unbegreiflich. Im bürgerlichen Leben ward der Gegenſatz kaum noch
bemerkt; die Miſchehen zwiſchen Lutheranern und Reformirten, die noch
in den Tagen des Thomaſius ſo viele Stürme theologiſcher Entrüſtung
hervorgerufen, galten jetzt ſelbſt in den Pfarrerfamilien für unbedenklich.
Die Rationaliſten meinten allem Dogmenſtreite entwachſen zu ſein; die
Ausläufer des Pietismus betrachteten die ewige Liebe als den großen
Mittelpunkt des chriſtlichen Glaubens, wie es einſt der junge Goethe in
dem rührenden „Briefe eines Landgeiſtlichen“ ausgeſprochen hatte; auch
in den Kreiſen der ſtrengen Bibelgläubigen ward oft die Frage laut, ob
der Proteſtantismus nicht wieder zurückkehren könne zu jener ungebro-
chenen Einheit, die in den Jugendtagen der Reformation ſein Glück und
ſein Stolz geweſen war. Neuerdings, ſchon ſeit dem Jahre 1802, war
Schleiermacher als der wiſſenſchaftliche Wortführer der Union aufgetreten.
Was den freieſten Köpfen des ſiebzehnten Jahrhunderts, Calixt und Pufen-
dorf, Spener und Leibniz noch halb verhüllt geblieben, war dem Jünger
der neuen Philoſophie geläufig; er wußte, daß alles Wiſſen von der über-
ſinnlichen Welt nur ein annäherndes Erkennen iſt und mithin verſchiedene
Annäherungsverſuche im Frieden neben einander beſtehen können falls ſie
nur den Boden der evangeliſchen Freiheit nicht verlaſſen. Die reformirte
Kirche, der er angehörte, ſuchte das Weſen des Chriſtenthums in der ſitt-
lichen Geſtaltung des Lebens und war darum dem Gedanken der „Ein-
heit des evangeliſchen Namens“ von jeher zugänglicher geweſen als der
gemüthvolle dogmatiſche Tiefſinn des Lutherthums.


In Preußen hatte die Kirchenpolitik des Herrſcherhauſes ſeit Langem
bedachtſam die Wiedervereinigung vorbereitet. Die Hohenzollern rechneten
ſich auch nach Johann Sigismunds Uebertritt immer zu den Augsburgi-
ſchen Confeſſionsverwandten und gaben das Kirchenregiment über die
lutheriſche Landeskirche nicht aus der Hand; blieb doch auch das Corpus
[240]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Evangelicorum des Reichstags beiden proteſtantiſchen Kirchen gemeinſam.
Sie unterdrückten das Läſtern und Schelten der lutheriſchen Kanzelredner
durch ſtrenge Strafen und durch das Beiſpiel ihrer eigenen Duldſamkeit;
ſie ſuchten aus der Dogmatik der beiden Kirchen Alles zu entfernen was der
Schweſterkirche Anſtoß geben konnte, und wie ſie die harte Lehre von der
Gnadenwahl in das Bekenntniß ihrer reformirten Landeskirche niemals auf-
nahmen, ſo ſetzten ſie auch nach ſchweren Kämpfen durch, daß die Lutheraner
auf die Austreibung des Teufels verzichteten. Schon Friedrich Wilhelm I.
wollte einen Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Reformirten überhaupt
nicht mehr anerkennen; das ſeien dumme Poſſen, meinte er kurzab. Das
Landrecht verpflichtete beide Kirchen, ihre Genoſſen im Nothfall wechſel-
ſeitig zum Sacramente zuzulaſſen. Bei der Neuordnung der Verwaltungs-
behörden im Jahre 1808 wurden ſodann die ſämmtlichen lutheriſchen
Conſiſtorien ſowie das reformirte Kirchendirectorium aufgehoben und die
Kirchenangelegenheiten aller drei Confeſſionen einer beſondern Abtheilung
der Bezirksregierungen überwieſen. Rückſichten der Sparſamkeit gaben
damals den Ausſchlag. Indeß erkannte der König bald, daß das Kirchen-
regiment ſelbſtändiger Organe nicht entbehren konnte, und ſtellte daher
durch die Kabinetsordre vom 30. April 1815 die Provinzialconſiſtorien wieder
her, aber als gemeinſame Behörden für beide evangeliſche Kirchen. Auch
die am 2. Januar 1817 neu gebildeten Synoden beſtanden aus Geiſtlichen
beider Bekenntniſſe. Schritt für Schritt näherte man ſich alſo der Bil-
dung einer großen evangeliſchen Landeskirche.


Von Jugend auf, Dank ſeinem Lehrer Sack, hatte Friedrich Wilhelm
den Gedanken der Union mit Liebe ergriffen. Tief gemüthlich wie er ſein
Verhältniß zu ſeinen Unterthanen auffaßte, empfand er es als ein ſchweres
Unglück, daß er trotz dem gemeinſamen evangeliſchen Glauben doch nicht
der Kirche der Mehrheit ſeines Volkes angehörte, daß die Kirche Luthers,
den er unter allen Reformatoren am höchſten ſtellte, nicht die ſeine war.
Und dies Gefühl ward nur mächtiger, ſeit er in Königsberg ſich dem
Rationalismus abgewendet hatte. Die evangeliſche Weiſſagung „auf daß
ſie Alle eins ſeien gleich wie Du, Vater in mir“ erſchütterte ihn bis in
die Tiefen des Herzens. „Nach meiner einfältigen Meinung, ſo ſagte er
oft im Geſpräche mit geiſtlichen Herren, iſt der Abendmahlsſtreit nur eine
unfruchtbare theologiſche Spitzfindigkeit neben dem ſchlichten Bibelglauben
des urſprünglichen Chriſtenthums.“ Er betrachtete die Union als die Rück-
kehr zu dem Geiſte des Evangeliums und erfuhr mit Freude, daß ſein
geliebter Biſchof Borowsky, der fromme, glaubensſtarke Lutheraner, dieſer
Anſicht ebenſo günſtig war wie ſein reformirter Lehrer Sack. Der bibel-
feſte Greis, deſſen freudiger Zuruf „dem Menſchen geſchieht wie er glaubt“
den gebeugten Fürſten ſo oft in kummervollen Stunden getröſtet hatte, war
auch Kants Freund geweſen und ſtand der modernen Wiſſenſchaft nahe genug
um zu erkennen, daß die Unterſcheidungslehren der beiden proteſtantiſchen
[241]Die evangeliſche Union.
Kirchen für das chriſtliche Bewußtſein der Gegenwart nicht mehr die alte
Bedeutung beſaßen. An ſeinem Berufe zur Begründung der Union zweifelte
der König niemals. Denn er dachte hoch von den Pflichten des landes-
herrlichen Kirchenregiments, er wußte, daß die proteſtantiſche Kirche Deutſch-
lands manche der Tugenden, die ſie vor dem harten Sektengeiſte der Nach-
barlande voraus hatte, ihre weitherzige Duldſamkeit und ihren freieren
Weltſinn zum guten Theile ihrer Verbindung mit der Staatsgewalt ver-
dankte; die unabhängige Gemeindeverfaſſung des Calvinismus kannte und
liebte er wenig.


Schon nach dem erſten Pariſer Frieden wurde eine theologiſche Com-
miſſion beauftragt, eine gemeinſame Liturgie für die Proteſtanten Preußens
feſtzuſtellen; nicht würdiger als durch die Verſöhnung des alten Bruder-
zwiſtes glaubte der fromme Fürſt ſeinen Dank für die Wunder dieſes
Krieges erweiſen zu können. Nun kam das dritte Jubeljahr der Refor-
mation. Marheinekes Reformationsgeſchichte und zahlreiche andre Schriften
erinnerten die freudig erregte proteſtantiſche Welt wieder an die erſten,
beiden Kirchen gleich theuren Thaten Martin Luthers; in Naſſau, wo die
großen Ueberlieferungen des duldſamen oraniſchen Heldengeſchlechts noch
fortlebten, traten die Gemeinden beider Bekenntniſſe zu einer Landeskirche
zuſammen. Jetzt ſchien auch dem Könige die Stunde der Entſcheidung ge-
kommen. Er ſelber wollte als vornehmſtes Glied der Kirche zu ſeinem
Volke ſprechen — denn er wiſſe, daß der Bürger, der Bauer und die
Armee auf das Wort ihres Königs noch etwas gäben — und begnügte
ſich mit den einfachen praktiſchen Vorſchlägen, welche Biſchof Sack ſchon
vor fünf Jahren in ſeiner Schrift über die Vereinigung der proteſtanti-
ſchen Kirchenparteien empfohlen hatte. Genug, wenn das Abendmahl in
ſämmtlichen evangeliſchen Kirchen gleichmäßig nach dem alten bibliſchen
Ritus allen Proteſtanten geſpendet und die Geiſtlichen beider Bekenntniſſe
ohne Unterſchied zu allen Predigerſtellen zugelaſſen wurden; aus dieſer
äußeren Vereinigung, die den Gewiſſen keine Gewalt anthat, konnte
dann im Laufe der Jahre die lebendige Gemeinſchaft der Gemüther er-
wachſen.


Bei den Vorarbeiten ging dem Monarchen ſein Hofbiſchof Eylert
an die Hand, eine jener ſchmiegſamen Prälatennaturen, welche der Kirche
freilich nicht durch den Muth des Bekenners voranleuchten, doch zuweilen,
wie Thomas Cranmer, bei einem Werke der Vermittlung ihr unentbehr-
lich werden. Der gewandte Hofmann hatte ſchon daheim in der Graf-
ſchaft Mark, wo die beiden Confeſſionen bunt durch einander wohnten,
den Boden für die Union wohl vorbereitet gefunden und ſtand den Ge-
danken der Presbyterialverfaſſung näher als der König; in ſeinen dogma-
tiſchen Anſchauungen kam er niemals weit über den alten Rationalismus
hinaus. Er entwarf nunmehr eine Anſprache des Monarchen an die
Conſiſtorien, die den erſten Theologen Berlins zur Prüfung vorgelegt und
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 16
[242]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
darauf am 27. Septbr. 1817 veröffentlicht wurde. In ſchlichten Worten
verkündigte der König ſeinen Entſchluß, am Reformationsfeſte gemeinſam
mit den Lutheranern zum Abendmahl zu gehen; er denke damit im Geiſte
des Proteſtantismus, nach den Abſichten ſeiner Vorfahren und der Re-
formatoren ſelbſt zu handeln. Nicht der Uebergang der einen Kirche zu
der andern ſei beabſichtigt, ſondern beide ſollten eine neu belebte evangeliſch-
chriſtliche Kirche werden; aus der Freiheit eigener Ueberzeugung, nicht aus
Ueberredung oder Indifferentismus müſſe die Wiedervereinigung hervor-
gehn. Sein Beiſpiel, ſo hoffe er, werde wohlthuend auf alle proteſtanti-
ſchen Gemeinden im Lande wirken und eine allgemeine Nachfolge im Geiſte
und in der Wahrheit finden. Der Eindruck der herzlichen Anſprache war
tief und nachhaltig. Die unter Schleiermachers Vorſitze verſammelte bran-
denburgiſche Synode erklärte ſofort ihre Zuſtimmung, und der ehrwürdige
Sack, der während dieſer bewegten Tage ſtarb, ſchied von der Erde mit
der frohen Ahnung, daß die Saat ſeines Lebens jetzt aufging.


Am 30. Oktober ſtrömte überall im Lande das proteſtantiſche Volk
zu den feſtlich geſchmückten Kirchen. In Berlin reichte Schleiermacher
nach dem gemeinſamen Abendmahle dem Lutheraner Marheineke vor dem
Altar die Hand. In der Potsdamer Garniſonkirche empfing der König
mit ſeinem Hauſe und unzähligen Genoſſen beider Bekenntniſſe das Sacra-
ment; Tags [darauf] legte er in Wittenberg den Grundſtein für das Stand-
bild des Reformators. Welch ein Gegenſatz zu den beiden erſten Jubel-
feſten der Reformation! Vor zweihundert Jahren ſtand das Unwetter des
großen Krieges drohend am Himmel, hundert Jahre darauf war die Kirche
völlig verarmt an geiſtiger Kraft, und jetzt gelang ihr wieder eine ſchöpferiſche
That, eine That der Verſöhnung. Das Erwachen des hiſtoriſchen Sinnes
hatte auch auf das kirchliche Leben ſegensreich zurückgewirkt. Luther er-
ſchien ſeinem Volke nicht mehr, wie in den Tagen des alten Rationalismus,
blos als der Bekämpfer Roms; das neue Geſchlecht begann auch die auf-
bauende Thätigkeit der Reformation wieder dankbar zu würdigen. Ein
frommer Sinn beſeelte unverkennbar die meiſten der Feſtſchriften des Tages.
Das katholiſche Volk nahm an der friedlichen Feier wenig Aergerniß, ob-
gleich es an Hader nicht ganz fehlte und die Streitſchrift des katholiſchen
Pfarrers van Eß eine Reihe gereizter Erwiderungen hervorrief. Der Ge-
danke der Union ergab ſich ſo nothwendig aus der Geſchichte des deutſchen
Proteſtantismus, daß Friedrich Wilhelms Beiſpiel bald faſt in ſämmtlichen
Gemeinden ſeines Landes und dann auch in andern deutſchen Staaten
freiwillige Nachfolge fand. Schon im Auguſt 1818 wurde in der Stifts-
kirche zu Kaiſerslautern feierlich verkündigt, daß die Union für die bairiſche
Pfalz durch Abſtimmung aller Gemeinden angenommen ſei, und hier aller-
dings hatte die kirchliche Gleichgiltigkeit einigen Antheil an dem Gelingen;
viele der aufgeklärten Pfälzer fragten einfach, ob die Union die Kirchen-
ſteuern erhöhen werde, und ſtimmten zu ſobald man ſie darüber be-
[243]Das Jubelfeſt der Reformation.
ruhigte.*) Dann folgten Baden und einige heſſiſche Provinzen, kurz, alle
die deutſchen Landſchaften, in denen die beiden Kirchen zahlreich vertreten
waren.


Dem glücklichen Beginne entſprach der Fortgang des großen Unter-
nehmens nicht ganz. Die Ehrlichkeit des Königs hatte verſchmäht, den
Streit der Bekenntniſſe durch eine künſtliche Eintrachtsformel ſcheinbar
zu ſchlichten; die Union beruhte auf der Hoffnung, daß der Geiſt chriſt-
licher Liebe über die alten Unterſcheidungslehren hinwegſehen und ſie nicht
mehr als ein Hinderniß der kirchlichen Gemeinſchaft betrachten werde. Aber
dieſe Erwartung erwies ſich überall dort als irrig, wo die Lutheraner noch
faſt ungemiſcht zuſammen hauſten, wo der Name der reformirten Saker-
menter noch als ein Schimpfwort galt und die Union nicht als ein prak-
tiſches Bedürfniß empfunden wurde: ſo in Sachſen, in Mecklenburg,
in Holſtein. Den ſtrengen Lutheranern erſchien das fromme Werk des
Königs wie eine Empörung der Vernunft gegen die Offenbarung; denn
das religiöſe Gefühl verlangt, gleich dem künſtleriſchen, überall nach der
allerbeſtimmteſten Geſtaltung ſeiner Ideale und fürchtet leicht die Heils-
wahrheit ſelber zu verlieren wenn auch nur ein Buchſtabe der Schrift
als unweſentlich betrachtet wird. Mit leidenſchaftlichem Ungeſtüm vertrat
Klaus Harms dieſe Anſicht in den 95 neuen Theſen, die er zum Refor-
mationsfeſte hinausſandte. Dem glaubenseifrigen Holſten ſtand das Bild
Luthers vor der Seele, wie er bei dem Marburger Religionsgeſpräche ſich
die Worte „das iſt mein Leib“ groß auf den Tiſch geſchrieben hatte und
auf alle Einwände ſtarr erwiderte: ich kann nicht wider die Schrift. War
damals — ſo erklärte Harms — Chriſti Leib und Blut im Brot und
Wein, ſo iſt es auch noch heute ſo. Triumphirend empfahl der ſächſiſche
Oberhofprediger Ammon die neuen Theſen als eine bittere Arznei für
die Glaubensſchwäche der Zeit. Der Dresdner Rationaliſt, der nur welt-
klug das Intereſſe der größten lutheriſchen Landeskirche zu wahren ſuchte,
wurde freilich durch eine geharniſchte Entgegnung Schleiermachers raſch
abgethan; doch der tiefe Glaubensernſt des Kieler Predigers war durch
wiſſenſchaftliche Ueberlegenheit nicht zu beſiegen. Auch der wackere Superin-
tendent Heubner in Wittenberg verſagte ſich der Union, und bald erwachte
dort in den Lutherlanden ein zäher, ſtiller Widerſtand, der, entſprungen
aus den geheimnißvollen Tiefen des Gemüthslebens, mit ſchonender Zart-
heit behandelt werden mußte.


Von ſolcher Milde beſaß das preußiſche Kirchenregiment nur wenig.
Nimmermehr freilich wollte der König die Gewiſſen bedrücken; doch je
feſter er von ſeiner eigenen Glaubenstreue überzeugt war, um ſo weniger
konnte er die ehrliche Geſinnung der Widerſtrebenden verſtehen. Er durfte
16*
[244]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſich ſagen, daß nur ſein perſönliches Eingreifen die Union ermöglicht hatte,
und war ſchmerzlich überraſcht, als jetzt auch die alten Heimathlande der
deutſchen Synodalverfaſſung, die reformirten Gemeinden am Niederrhein
ſich zu regen begannen. Sie hießen die Union willkommen, nur die oberſt-
biſchöfliche Gewalt des Königs wollten ſie nicht anerkennen — zum Ent-
ſetzen der Beamten, die alleſammt noch an den Lehren des Territorial-
ſyſtems feſthielten; ſelbſt der wohlmeinende Solms-Laubach ſchrieb warnend:
dieſe Synodalen von Jülich-Cleve-Berg ſeien nicht minder gefährlich als
die Ultramontanen, „Beide greifen dem Könige an Kron’ und Scepter.“*)
Die ungeahnte Stärke dieſer zweifachen Oppoſition ward erſt offenbar,
als der König nunmehr unternahm ſeiner Landeskirche eine gemeinſame
Agende zu geben. Die junge Union ſollte noch ſchwere Jahre voll bitterer
Kämpfe und häßlicher Verirrungen überſtehen bis ſie ſich wirklich, nach
dem Sinne ihres Stifters, als ein Friedenswerk bewährte.


So ſchaltete faſt auf allen Gebieten des Staatslebens eine reiche, heil-
ſame Thätigkeit. An dem mächtigen Aufſteigen des Wohlſtandes und der
Bildung während dieſer langen Friedenszeit hatte das einſichtige Schaffen
des Beamtenthums in Preußen wie im übrigen Deutſchland ein großes,
vielleicht das größte Verdienſt, und nichts bekundet ſo deutlich die kindliche
politiſche Unreife der Oppoſition jener Tage, als der Vorwurf der Un-
fruchtbarkeit, welchen die liberale Preſſe gegen Hardenberg zu erheben pflegte.
Während der Staatsrath über die Steuerreform verhandelte, begann in
den Provinzen, überall unter der unmittelbaren Aufſicht des Staatskanz-
lers, die neue Verwaltung ihr Werk — eine Arbeit der Wiederherſtellung,
ſchwerer und mannichfaltiger als die Aufgaben, welche einſt König Friedrich
nach dem ſiebenjährigen Kriege gelöſt hatte.


Nirgends mußte die Pflichttreue des Beamtenthums ſo harte Proben
beſtehen wie in der Provinz Poſen. So lange man noch auf die Er-
werbung von Warſchau hoffte, war Hardenberg gewillt den polniſchen
Provinzen eine gewiſſe nationale Selbſtändigkeit zu gewähren. Dieſe ge-
fährlichen Pläne fielen von ſelbſt hinweg, als lediglich der ſchmale Land-
ſtrich bis zur Prosna, ein ſchon faſt zu zwei Fünfteln von Deutſchen be-
wohntes Gebiet, an Preußen zurückkam. Da die Wiener Verträge die
Krone nur ganz im Allgemeinen zur Schonung des polniſchen Volksthums
verpflichteten, ſo wurden die von Warſchau abgetretenen Landſchaften durch-
aus in derſelben Weiſe wie die anderen Erwerbungen dem preußiſchen Staate
eingefügt und leiſteten denſelben Huldigungseid. Man erkannte dies Ge-
biet nicht als untheilbar an, ſondern vereinigte die Landſtriche um Thorn
[245]Provinz Poſen.
wieder mit ihrer alten Heimath, dem Ordenslande, und bildete aus der
Hauptmaſſe, nebſt einigen weſtpreußiſchen Gebietstheilen, eine neue Pro-
vinz; ſie erhielt den Namen des Großherzogthums Poſen, der ſtaatsrechtlich
ebenſo bedeutungslos war wie die neuen Titel des Großherzogthums Nie-
derrhein und des Herzogthums Sachſen. Noch von Wien aus erließ der
König eine Proclamation an die Einwohner, worin es hieß: „Auch Ihr
habt ein Vaterland und mit ihm einen Beweis meiner Achtung für Eure
Anhänglichkeit an daſſelbe erhalten. Ihr werdet meiner Monarchie ein-
verleibt ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen.“ Auch dieſe Worte
enthielten, wie in der Vorberathung beim Staatskanzler ausdrücklich zu
Protokoll erklärt wurde, in keiner Weiſe die Anerkennung einer Sonder-
ſtellung der Provinz. Um die beſiegte Nation zu ehren gewährte der König
dem Großherzogthum — als einzige Auszeichnung vor den andern Pro-
vinzen — ein beſonderes Wappen, den weißen Adler im Herzſchilde des
preußiſchen, und einen Statthalter aus jagelloniſchem Blute, den Fürſten
Anton Radziwill. Die Leitung der Verwaltung blieb jedoch wie in den
übrigen Provinzen ausſchließlich dem Oberpräſidenten vorbehalten; der
Statthalter war nur befugt über den Gang der Geſchäfte Auskunft zu
verlangen, die Wünſche der Einwohner entgegenzunehmen und ſie über
die Abſichten des Monarchen aufzuklären. Bei der Huldigung am 3. Aug.
1815 warnte Fürſt Radziwill ſeine Landsleute nachdrücklich vor gefährlichen
Täuſchungen und verſprach ihnen vollen Antheil an der bürgerlichen Frei-
heit, welche Preußen allen ſeinen Unterthanen gewähre, auch Schonung
ihrer „Eigenthümlichkeiten“ in Sprache, Sitte und Gewohnheit, aber
keinerlei Sonderrechte.


Die neue Provinz umfaßte die Kernlande des alten Großpolens. Hier
in der vielbeſungenen Siebenhügelſtadt Gneſen hatte einſt der weiße Adler
gehorſtet, hier lagen mehrere der theuerſten Heiligthümer der polniſchen
Geſchichte, das Adalbertsgrab in Gneſen und die Wallfahrtskirche von
Tremeſſen, und von jeher war der Adel Großpolens durch die Wärme
ſeines Nationalſtolzes berühmt. Die Polen hatten unter allen Vaſallen
Frankreichs am Längſten, bis zu der Schlacht auf dem Montmartre bei
Napoleon ausgehalten. Während der hundert Tage eilten die Deutſchen
der Provinz mit hellem Jubel zu den Fahnen, der Poſener Adel aber
trat ſofort in geheimen Verkehr mit den Tuilerien, und die Behörden
mußten daran erinnern, daß das Geſetz den Landesverrath mit dem Tode
bedrohe.*) Nach dem zweiten Sturze des Imperators richteten die Unzu-
friedenen ihre hoffenden Blicke auf das nahe Königreich Polen und ſeine
neue Verfaſſung; die geheimen Sendboten der Warſchauer Patrioten
ſchürten die Flamme der nationalen Propaganda um ſo eifriger, da ſie
die Ueberlegenheit der preußiſchen Verwaltung kannten und ernſtlich be-
[246]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
fürchteten, die Provinz könne durch ihren aufblühenden Wohlſtand dem
Mutterlande entfremdet werden. Nach Jahren noch tauchte immer wieder
das Gerücht auf, der König denke die Provinz freiwillig an Polen zurückzu-
geben; immer wieder ſchwebte ein glückverheißender Glorienſchein um das
Haupt der Mutter Polens, der heiligen Jungfrau in der Poſener Karme-
literkirche. Die Treue der polniſchen Beamten erſchien, nach dem großen
Abfall von 1806, überaus zweifelhaft, und der Oberpräſident Zerboni rieth
dem Staatskanzler alles Ernſtes, ihnen einen Revers abzufordern, kraft
deſſen ſie ſich ſelber für Verräther an ihrer Nation erklären ſollten
falls ſie ihren Dienſteid brächen. Hardenberg aber lehnte den Vorſchlag
ab, weil die zweifache Verpflichtung den Gewiſſenloſen doch nicht zurück-
halten würde.


Nach kurzer Zeit ſchon fühlte ſich der Statthalter ſehr unglücklich in
ſeinem glänzenden und doch wenig einflußreichen Amte. Ein ſchöner Mann,
geiſtreich, hochherzig, ritterlich, vereinigte er mit jener leichten geſelligen An-
muth, die den polniſchen Edelmann auszeichnet, die gediegene deutſche Bil-
dung; ſein gaſtfreies Haus war faſt das einzige des hohen Adels in Berlin,
wo ſich die vornehme Welt mit den Künſtlern und Gelehrten zuſammen-
fand, die Muſiker bewunderten ſein geiſtreiches Spiel und die ſinnige Ro-
mantik ſeiner Compoſitionen. Die Radziwills waren ſeit zwei Jahrhun-
derten mit den Hohenzollern mehrfach verſchwägert, Fürſt Anton ſelbſt hatte
ſich mit der liebenswürdigen Prinzeſſin Luiſe von Preußen vermählt und
ſtand dem Könige perſönlich nahe. Doch er blieb Pole und ſetzte die
Treue, die ihn ſelbſt erfüllte, arglos bei ſeinem Volke voraus. „Ich ſtehe
Ihnen dafür — ſchrieb er nach der Huldigung an Hardenberg — daß dieſe
Provinz mit denen, welche ſeit Jahrhunderten dem Scepter Sr. Majeſtät
unterworfen ſind, in Liebe wetteifern wird.“ Hatte doch der Canonicus
Kawiecki in ſeiner Feſtpredigt ſo rührſam von dem Jagellonenblute der
Hohenzollern geſprochen und der Adel ſo brünſtig verſichert: „ſchwere Er-
fahrungen haben uns gereift!“ Durch ein „Syſtem der Nationalität“,
durch liebevolles Eingehen auf alle Wünſche der Polen hoffte der Fürſt
die Provinz am ſicherſten für Preußen zu gewinnen; indeß ward er bald
irr an dieſen Plänen, als Gneiſenau ihn warnte und er allmählich ſelbſt
bemerkte, wie mißtrauiſch und hinterhaltig ſeine eigenen Landsleute ihm
begegneten.*) Auch der Oberpräſident Zerboni di Spoſetti gelangte nie-
mals zu einer feſten Haltung den Polen gegenüber. Der geiſtreiche, leicht
erregte Feuerkopf hatte in ſeinen jungen Tagen mit Hans v. Held und
Kneſebeck für die Ideale der Revolution geſchwärmt; er war noch immer
ein erklärter Liberaler, dem Staatskanzler unbedingt ergeben, und meinte
ſich verpflichtet die von der liberalen Welt gebrandmarkte Theilung Polens
durch nachſichtige Milde zu ſühnen. Zuweilen ward er freilich, gleich dem
[247]Fürſt A. Radziwill. Zerboni.
Statthalter, ſelber beſorgt über die Folgen ſeines Syſtems, da er den
Charakter der Polen ſchon vor Jahren bei der Verwaltung Südpreußens
gründlich kennen gelernt hatte.


Unbefangene konnten über die Hintergedanken des polniſchen Adels
nicht im Zweifel ſein. Mit unerhörter Dreiſtigkeit erklärten ſeine Führer
der Regierung ins Geſicht, daß ihr Land einen Staat im Staate bilden
ſolle bis zur dereinſtigen Wiedervereinigung mit Warſchau. Selbſt einer
der Gemäßigten, General v. Koſinsky, der jetzt preußiſche Uniform trug
und mit dem Statthalter viel verkehrte, forderte von ſeinem fürſtlichen
Freunde die Bildung einer rein „nationalen“ Armee mit ausſchließlich
polniſchen Offizieren, da die deutſchen von den Polen doch nur als
Agenten der geheimen Polizei betrachtet würden. Ein anderer Gemäßigter,
Morawsky ſendete der Staatskanzlei eine lange Denkſchrift über die pol-
niſche Nation. Er hob an mit der Verſicherung: „wer die jetzigen Polen
mit denen von 1806 vergleicht, irrt um ein ganzes Jahrhundert.“ Zur
Beſtätigung dieſes Ausſpruchs führte er ſodann aus: die polniſche Cultur
ſei älter als die deutſche, wenngleich neuerdings die That das Wort ver-
drängt und die Fruchtbarkeit der polniſchen Literatur ſich vermindert habe.
Darauf warf er der Krone Preußen „das Syſtem des Verdeutſchens und
Vernationaliſirens“ vor und beklagte namentlich, daß die polniſche Ge-
ſchichte in den Schulen nicht mehr als beſonderer Lehrſtoff behandelt
würde: „ſeitdem fangen die Mütter an, ihren Säuglingen die National-
geſchichte einzuprägen.“ Zum Schluß verlangte er Bürgſchaften für den
Beſtand der polniſchen Nationalität, vornehmlich folgende vier Punkte:
einen Statthalter aus dem königlichen Hauſe oder aus polniſchem Ge-
ſchlecht; einen Provinziallandtag, der durch einen ſtehenden Ausſchuß die
Rechte der Polen vertheidigen und eine Commiſſion zur Leitung des Schul-
weſens wählen ſollte; alle Aemter, auch die geiſtlichen und Schulſtellen,
ausnahmslos durch Eingeborene, auf Vorſchlag der Provinzialſtände be-
ſetzt; endlich zwei polniſche Räthe, einen Civilbeamten und einen katho-
liſchen Geiſtlichen, die dem Könige, dem Staatsrathe und dem Staats-
kanzler über die Poſener Angelegenheiten Vortrag halten müßten. Ein
dritter polniſcher Edelmann übergab dem Vertrauten des Statthalters,
Major v. Royer eine Denkſchrift, worin kurzweg erklärt ward: dieſe Land-
ſchaft werde nicht eher eine preußiſche Provinz als bis ſie von Polen
förmlich abgetreten ſei; bis dahin müſſe ſie als polniſches Land behandelt
werden. Alſo dürfe man von den Polen keinen Eid fordern — denn
„dieſen verbrecheriſchen Eid zu halten wäre ein zweites Verbrechen“ —
auch Keinen von ihnen irgend auszeichnen, da die Decorirten ſich im
Kampfe gegen die Fremdherrſchaft immer beſonders hervorgethan hätten.*)


[248]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Nicht lange, und den frechen Worten folgte die verrätheriſche That.
Im Jahre 1818 entwarf General Dombrowsky den Plan zu einer ge-
heimen polniſchen Verbrüderung, die ein Jahr darauf unter dem Namen
der nationalen Freimaurerei ins Leben trat. Die Behörden ſahen dem
geſetzwidrigen Treiben gelaſſen zu und ſchritten erſt ein, als die Ver-
ſchworenen, aus dem Dunkel ihrer Logen heraustretend, unter den Bauern
Freiſchaaren zu bilden verſuchten, welche den unzweideutigen Namen Sen-
ſenmänner (Koſiniery) erhielten.


Die Abſicht der Vernichtung des Deutſchthums, die ſich in jenen
Denkſchriften des polniſchen Adels unverhohlen bekundete, fand bei dem
Statthalter allerdings kein Gehör, aber auch für die Förderung deutſcher
Cultur that die Verwaltung unmittelbar nichts. Mit peinlicher Gewiſſen-
haftigkeit erfüllte die Regierung ihre den Polen gegebenen Verheißungen.
Die alten Erinnerungen und Hoheitszeichen des Landes blieben, nach der
großmüthigen preußiſchen Art, unberührt; noch heute prangt am Ringe
zu Poſen das große polniſche Wappen mit dem Herzſchilde der Poniatowskys
dicht über dem Schilderhauſe der preußiſchen Wache. Die polniſchen Offi-
ziere wurden penſionirt oder in das preußiſche Heer eingereiht; auch von
den Warſchauer Beamten nahm man eine große Zahl in den preußiſchen
Dienſt auf, obgleich viele des Schreibens, die meiſten des Deutſchen un-
kundig waren und faſt alle ſich unzuverläſſig zeigten. Die Kreisverwal-
tung lag in den Händen gewählter Landräthe, die zumeiſt dem polniſchen
Adel angehörten; nur die gutsherrliche Polizei wurde, zur großen Freude
der Bauern, nicht wiederhergeſtellt. Die Geſchäftsſprache der Behörden
war deutſch, aber alle für das Publicum beſtimmten Verhandlungen und
Bekanntmachungen erfolgten in der Sprache, die den Betheiligten ver-
ſtändlich war; ſo ward auch in den Volksſchulen der polniſchen Ortſchaften
nur polniſcher Unterricht ertheilt.


Gleichwohl ſchritt das Deutſchthum ſelbſt unter dieſer bis zur Schwäche
langmüthigen Verwaltung unaufhaltſam vor. Sobald die bürgerliche Ord-
nung wiederhergeſtellt war, öffneten ſich von ſelber die Schleuſen dem
Strome der deutſchen Einwanderung, der ſchon im Mittelalter dies ver-
wahrloſte Land befruchtet hatte. Die Ueberlegenheit deutſchen Fleißes und
Capitals zeigte ſich überall, vornehmlich im Landbau. Der Morgen mitt-
leren Bodens wurde zur Zeit der Beſitzergreifung für 1½ Thlr. verkauft
— etwa ebenſo hoch wie die Urwaldländereien im fernen Weſten Nord-
amerikas. Welch eine Wandlung in dieſen barbariſchen Zuſtänden, als
jetzt die preußiſchen Agrargeſetze vom Jahre 1811 eingeführt wurden. Um-
ſonſt ſendete der Adel, auf die „Schreckenskunde von dieſer Güterconfis-
cation“, eine klagende Adreſſe an den König, welche in naiven Worten den
wahren Charakter der gerühmten ſarmatiſchen Junkerfreiheit enthüllte:
„in den zügelloſen Ausſchweifungen des finſtern rohen Landvolks — hieß
es da — werden ſich die Keime eines praktiſchen Jakobinismus ent-
[249]Das Deutſchthum in Poſen.
wickeln.“*) Die Regulirung der bäuerlichen Laſten ward durchgeführt,
zum Vortheil des Adels ſelber, der ſich jetzt genöthigt ſah aus ſeiner rohen
Naturalwirthſchaft zur Geldwirthſchaft überzugehen und dabei durch die
neue landwirthſchaftliche Creditanſtalt (1817) eine wirkſame Hilfe erhielt.


Von einem kräftigen Bürgerthum fanden ſich kaum Spuren in dieſer
ſtädtereichſten Provinz der Monarchie; ſelbſt die Stadt Poſen war ein öder
ungepflaſterter Ort, ein Gewirr von niederen ſchindelgedeckten Häuschen,
wie ſie heute nur noch die Walliſchei-Vorſtadt zieren, mitten darunter ver-
fallene Kirchen und unſaubere Adelspaläſte. Auch dies begann ſich zu
ändern, ſeit die deutſchen Bürger ſich von Jahr zu Jahr vermehrten und
in den zahlreichen neugegründeten Unterrichtsanſtalten eine Stütze ihres
Volksthums fanden. Das polniſche Gneſen wurde nach einem furchtbaren
Brande großentheils auf Koſten des Staates ſtattlicher wieder aufgebaut
und ehrte ſeinen königlichen Reſtaurator durch eine Denkmünze; noch
ſchneller hob ſich das deutſche Bromberg ſeit der Verkehr auf dem Netze-
Canal wieder frei ward. Während die Deutſchen andern Nachbarvölkern
gegenüber nur zu oft eine haltloſe Empfänglichkeit zeigten, fühlten ſie ſich
hier im Slavenlande alleſammt ſtolz als Herrſcher und Lehrer, als Träger
einer überlegenen Geſittung; kein Deutſcher lernte polniſch wenn er nicht
mußte, denn was hatte dieſe arme Literatur ihm zu bieten? Auch der
verblendete Trotz der Polen arbeitete den Deutſchen in die Hände. Der
Statthalter hatte verſprochen, daß den Eingebornen bei gleicher Befähigung
der nächſte Anſpruch auf die Aemter der Provinz zuſtehen ſolle. Statt
dieſe unbedachte Zuſage auszunutzen und ſich in Breslau, der Landes-
univerſität der neuen Provinz, für den Staatsdienſt vorzubereiten, ver-
geudete die polniſche Jugend ihre Kraft in den ſchlechen Künſten der Ge-
heimbünde. So geſchah es, daß der Nachwuchs der Behörden faſt allein
aus Deutſchen beſtand und die unfähigen Warſchauer Beamten allmählich
zur Seite geſchoben wurden.


Die Maſſe des Volkes nahm an den Umtrieben des Adels geringen
Antheil. Der polniſche Bauer wußte wohl, daß ſein Stand noch niemals
ſeit es ein Polen gab glücklichere Tage geſehen hatte; dem adlichen Pan
traute er nicht, der grauſame Vogt der alten Zeit und die Karbatſche mit
dem eingeknoteten Blei blieben ihm unvergeſſen. Nur der confeſſionelle
Haß entfremdete das gutmüthig harmloſe Volk den preußiſchen Beamten.
Denn der Clerus begegnete der ketzeriſchen Regierung von Haus aus mit
ſtillem Groll; er verzieh ihr nicht, daß ſie die Klöſter den ſtrengen Vor-
ſchriften des Landrechts unterwarf, daß ſie überall Volksſchulen anlegte, die
in den katholiſchen Dörfern bisher faſt unbekannt geweſen, und für die
Bildung der jungen Prieſter durch neue Lehranſtalten ſorgte. Die Ein-
[250]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
flüſterungen der Kapläne ließen die Dankbarkeit für die Wohlthaten der
preußiſchen Herrſchaft nicht aufkommen, und bald galten bei den Bauern
die Namen: katholiſch und polniſch, evangeliſch und deutſch als gleichbe-
deutend. Das Feuer des Aufruhrs glimmte unter der Aſche, aber erſt
nach wiederholtem Verrath der Polen entſchloß ſich die Krone zu der ein-
zigen Politik, welche dies bedrohte Grenzland dem Staate ſichern konnte,
zur unverhohlenen Begünſtigung der deutſchen Cultur. —


Einfacher lagen die Dinge in Preußen. Wohl beſtand auch in Weſt-
preußen eine Adelspartei, welche ſehnſüchtig nach dem Restitutor Poloniae
hinüberblickte. Die polniſchen Edelleute in den zurückgewonnenen Gebieten
Michelau und Kulmerland verhielten ſich ſo zweideutig, daß der geiſtreiche Prä-
ſident Hippel kurz vor der Huldigung in Thorn dem Staatskanzler ſchreiben
mußte: „leider kann ich eigentlich Keinen als würdig nennen, wenn nicht
durch Gnadenbezeigungen Verirrte bekehrt und gewonnen werden ſollen.“*)
Auch Danzig, furchtbar heimgeſucht von den Nöthen des Krieges, ſtand
noch lange ſtörriſch dem Staate gegenüber, der ihm Frieden und Wohl-
ſtand wiederbrachte. Wie hatte ſich doch dieſe ſchönſte unſerer alten Städte,
faſt den Holländern gleich, ſo ganz hinausgelebt aus der Gemeinſchaft ihres
Volkes. Der dreißigjährige Krieg, für uns die Zeit des tiefſten Verfalls,
war für Danzig wie für Holland das Zeitalter der Blüthe. Trotzig wie
nirgends auf deutſchem Boden war hier, im beſtändigen Kampfe mit
dem polniſchen Adel, der reichsſtädtiſche Geiſt aufgeblüht; an dem Artus-
hofe und den hochgiebligen Patricierhäuſern prangten überall die Bilder
der republikaniſchen Helden Maccabäus, Camillus, Scipio. Obwohl von
den alten kriegeriſchen Stadtjunkergeſchlechtern des nordiſchen Venedig nur
wenige die Stürme der napoleoniſchen Kriege überſtanden hatten, ſo ge-
wöhnte ſich die rührige Handelsſtadt doch ſchwer an die Formen des mo-
dernen Beamtenſtaats, und nach einem Menſchenalter rechnete ſich der
Danziger von altem Schrot und Korn noch nicht zu „den Preußen“. Die
Hauptmaſſe der Provinz dagegen gehörte nun ſchon ſeit vierzig Jahren
dem deutſchen Staate an und hatte — das polniſche Landvolk nicht aus-
geſchloſſen — in ſchwerer Zeit eine muſterhafte Treue bewährt. Vollends
in Oſtpreußen gedachten Deutſche, Litthauer und Maſuren alle mit gleichem
Stolze des Königsberger Landtags und ihrer tapfern Heurichs.


Beide Provinzen hatten unſäglich gelitten. Der König bewilligte den
Grundbeſitzern bedeutende Mittel zur Wiederherſtellung ihrer Güter, für
Oſtpreußen allein 3,7 Mill. Thlr., und ließ den Oberpräſidenten mit den
Provinzialſtänden über die Vertheilung verhandeln. Aber was wollten dieſe
Summen bedeuten, da der Geſammtverluſt der beiden Provinzen an
Kriegsſchäden und Leiſtungen ſeit 1806 von den Landſtänden auf 152 Mill.
Thlr. geſchätzt wurde? Manche Irrthümer und Mißgriffe liefen dabei mit
[251]Oſt- und Weſtpreußen.
unter, zumal in Weſtpreußen, wo Schön nach ſeiner despotiſchen Art
rückſichtslos ſeinem eigenen Kopfe folgte. Die großen Grundherren zer-
ſpalteten ſich in zwei Lager; die Einen beſchuldigten den liberalen Ober-
präſidenten, daß er aus Haß gegen den Adel die alten Familien zu Grunde
gerichtet habe, während die Andern ihn ebenſo leidenſchaftlich als den Er-
retter des Adels feierten und unbedingt auf die Worte des „großen alt-
preußiſchen Staatsmannes“ ſchwuren. Da der verarmte Staat ſchlechter-
dings nicht allen Provinzen gleichmäßig gerecht werden konnte, ſo gebot ihm
die Pflicht der Selbſterhaltung, ſeine Hilfe zumeiſt den noch ungeſicherten
neuen Gebieten zuzuwenden und die alten getreuen darben zu laſſen.
Den grollenden Danzigern ward daher ein großer Theil ihrer Kriegs-
ſchulden vom Staate abgenommen, das ſeiner Schuldenlaſt faſt erliegende
Königsberg rief vergeblich um Hilfe. In Oſtpreußen ſtand bereits ſeit
Anfang des Jahrhunderts der Landhofmeiſter v. Auerswald an der Spitze
der Verwaltung, ein warmer Freund der Bauern, der ſchon vor dem Ge-
ſetze von 1807 auf ſeinen Gütern die Erbunterthänigkeit aufgehoben hatte
und unbefangen ausſprach: der große Grundbeſitz habe nicht das Ver-
trauen der Nation, er ſei ärmer an Bildung als der Mittelſtand. Unter
ſeiner Leitung wurde die Auseinanderſetzung zwiſchen den Grundherren und
den Bauern während der nächſten Jahre durchgeführt. Schön dagegen
beförderte in Weſtpreußen vornehmlich das Schulweſen und den Wegebau;
darin erkannte er die beiden wirkſamſten Mittel zur Hebung des Deutſch-
thums. Vierhundert Volksſchulen wurden unter ſeiner Verwaltung von
den Gemeinden und den Grundherren geſtiftet. Den polniſchen Adel
wußte er in Zucht zu halten; dem Clerus gegenüber vertrat er ſtreng,
nicht ohne Härte die Grundſätze des Landrechts und wahrte den öffent-
lichen Frieden um ſo erfolgreicher, da auch der Biſchof Prinz von Hohen-
zollern, der noch heute unter dem Namen des guten Prinzen im Ge-
dächtniß des ſtrenggläubigen ermeländiſchen Volkes fortlebt, den nationalen
Träumen der polniſchen Kapläne nicht hold war. Trotz der umſichtigen
Verwaltung vernarbten die Wunden des Krieges hier in der Oſtmark nur
ſehr allmählich; abgetrennt von ihrem Hinterlande konnten die entlegenen
Küſtenſtriche ſchwer geſunden. Wenn der deutſche Grundherr in Litthauen
von den Höhen des Memelthals die wenigen armſeligen Flöße der pol-
niſchen Szimken drunten auf dem mächtigen Strome erblickte, dann klagte
er, dies ſchöne Land gelte den Berliner Bureaus nur als der große
Remontemarkt für die Reiterregimenter. Mit bitteren Gefühlen dachten
die Altpreußen an die bevorzugten weſtlichen Provinzen und fragten, ob
ſie denn wieder, wie in König Friedrichs Tagen, die Stiefkinder der preu-
ßiſchen Krone ſeien. —


In Pommern gewann der neue Oberpräſident Sack das Vertrauen
der Bevölkerung bald noch vollſtändiger als vordem am Rhein; ſelbſt das
unzufriedene Neuvorpommern verſöhnte ſich nach und nach mit dem deut-
[252]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſchen Staate. Als die Preußen in Greifswald einzogen, ſang der Poet
des Landes, Koſegarten wehmüthig:


Ja, unter den drei Kronen

Ließ es ſich ruhig wohnen —

und allerdings die Strenge der monarchiſchen Gerechtigkeit war dieſer
Kornkammer des armen Schwedenreichs, die nur 60,296 Thaler Gold an
direkten Steuern zahlte, bisher ganz unbekannt geweſen. Während im preu-
ßiſchen Pommern der Bauer durch die ſtarke Hand des Königthums geſchützt
wurde, hatten hier die Krone, der Adel, die Univerſität und die Patriciate
der reichen Städte faſt die geſammte Bauerſchaft ausgekauft und, ähnlich wie
im nahen Mecklenburg, ein bequemes oligarchiſches Regiment eingerichtet.
Als im Weſtphäliſchen Frieden die Mündungen der Weſer, Elbe und Oder
an die Krone Schweden kamen, errichtete ſie in Pommern die höchſten
Aemter für ihre ſämmtlichen deutſchen Provinzen, und die fetten Pfründen
dieſer für eine Million Unterthanen beſtimmten Behörden, ein willkom-
mener Unterſchlupf für die Söhne der guten Familien, beſtanden nach
anderthalb Jahrhunderten unverändert fort, als nur noch die hundert-
tauſend Deutſchen zwiſchen der Peene und der Oſtſee zu Schweden ge-
hörten. Geringſchätzig blickte der Adel auf ſeine preußiſchen Standesge-
noſſen herab; hingen doch ſeine Wappen im Ritterhauſe zu Stockholm
neben den Schildern der Torſtenſon und Oxenſtierna. Breit und behäbig
lebte die Univerſität Greifswald der Verwaltung ihrer großen Güter, nur
aller zwanzig Jahre einmal durch eine königliche Viſitation geſtört; von den
akademiſchen Inſtituten der reichſten deutſchen Hochſchule ſtand freilich nur
eines, die Reitbahn, in gutem Rufe. Das ſtolze Stralſund hatte ſich mit
der Pracht ſeiner Kirchen, Rathhäuſer und Beginenhöfe auch die alte han-
ſiſche Freiheit treu bewahrt und beherrſchte unumſchränkt ein Gebiet von
mehr als hundert Ortſchaften. Behutſam traten die preußiſchen Behörden an
dies zähe Sonderleben heran. Die meiſten der alten Aemter wurden trotz
der Proteſte des Adels beſeitigt, nur das Greifswalder Hohe Tribunal blieb
als beſcheidenes Appellationsgericht beſtehen; Stralſund und die anderen
größeren Städte behielten ihre alte Verfaſſung, doch mußten ſie, nach wie-
derholter Verwahrung, dem preußiſchen Kreisverbande ſich einfügen. Nach
zweijährigem Zögern wagte man auch das neue Zollgeſetz einzuführen.
Sicher und ſtetig vollzog ſich die Verſchmelzung. Die Mehrzahl der Pächter
und Gutsunterthanen, namentlich auf Rügen, hatte von Haus aus das
Mißtrauen der privilegirten Klaſſen nicht getheilt und freute ſich bei den
neuen Behörden einigen Schutz gegen die Willkür der Grundherren zu
finden.*)


[253]Pommern.

Weit härter als dies ſchwediſche Land war das preußiſche Pommern
durch den Krieg heimgeſucht. Die Ruinen der Häfen von Leba, Stolp-
münde, Rügenwalde, Colberg erinnerten noch an die behaglichen Zeiten
des Baſeler Friedens. Stettin, das damals ſchon mit Hamburg gewett-
eifert, mußte ſich jetzt ſeinen Platz auf dem Weltmarkte von Neuem
erobern; aber viele der reichen alten Firmen beſtanden nicht mehr, der
Hafen von Swinemünde wurde erſt wieder neu gebaut, und zudem
lähmte der Sundzoll den Aufſchwung der pommerſchen Plätze. Auf dem
platten Lande erregten die junge Cultur und die patriarchaliſchen Lebens-
verhältniſſe das Erſtaunen des Oberpräſidenten: hier im Kreiſe Neu-
Stettin nur 710 Einwohner auf der Geviertmeile, und daheim im Regie-
rungsbezirk Düſſeldorf ihrer 8537; und gleichwohl „ſucht der gute Pommer
noch immer ſeinen Reichthum im vielen Landbeſitz“. Sack bat den Staats-
kanzler dringend, ihm die Anſiedlung von tüchtigen Neubauern zu ge-
ſtatten, die dem guten Pommern das Beiſpiel intenſiver Wirthſchaft geben
und ihm den Segen der neuen wirthſchaftlichen Freiheit zum Bewußtſein
bringen ſollten.*) Aber wo waren die Mittel für eine Coloniſation im
fridericianiſchen Stile? Die Provinz erholte ſich von den Leiden der
Kriegsjahre faſt ebenſo ſchwer wie die anderen baltiſchen Lande, nur daß
die ruhigen Pommern die harte freudloſe Zeit gleichmüthiger ertrugen als
die leidenſchaftlichen Preußen. —


Der Oberpräſident von Schleſien, Merckel, war ſchon während des
Krieges als Civilgouverneur ſeinen Landsleuten theuer geworden. Sie ver-
gaßen ihm nicht, daß er einſt in einem verhängnißſchweren Augenblicke durch
ſein feſtes Vertrauen auf ihre Opferwilligkeit die Fortſetzung des Rück-
zugs verhindert hatte; denn als die Monarchen zur Zeit des Waffen-
ſtillſtandes über die Räumung des ausgeſogenen Landes berathſchlagten,
da hatte er ſein Wort dafür verpfändet, daß Schleſien die verbündeten
Heere ein ganzes Jahr hindurch unterhalten werde. Und wie glücklich
war nachher durch die kräftige Hilfe des Civilgouverneurs das Werk
Gneiſenaus, die Bildung der ſchleſiſchen Landwehr gelungen. Der Sohn
eines angeſehenen Breslauer Kaufmannshauſes, von Kindesbeinen an
heimiſch in allen Schichten der vielgeſtaltigen ſchleſiſchen Geſellſchaft, er-
ſchien Merckel ſeinem Lande als der natürliche Führer. Seine ruhige,
ernſthafte, ſtreng ſachliche Weiſe die Geſchäfte zu behandeln flößte Jedem
Zutrauen ein, und wer mit einem dringenden Anliegen kam, konnte noch
in ſpäter Nachtſtunde den rüſtigen kleinen Mann, dem der Schlaf ent-
behrlich ſchien, an ſeinem Schreibtiſch finden. Er gehörte von jeher zu
den eifrigen Förderern der Hardenbergiſchen Reformen, war ein Schüler
der Kantiſchen Philoſophie, reich gebildet, faſt gelehrt und von dem Segen
[254]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
der freien Forſchung tief überzeugt. Dem kirchlichen Leben ſtand der
ſtrenge Rationaliſt nicht ohne bureaukratiſches Mißtrauen gegenüber, ein
wachſamer Vertreter der Souveränität des Staates. Bei Hofe galt er
neben Schön für den radikalſten der Oberpräſidenten,*) obwohl er die
biſſige Kritik des Oſtpreußen verſchmähte und in Wahrheit niemals weit
über die Gedanken des aufgeklärten Abſolutismus hinausging.


Die Schleſier hatten in großer Zeit bewieſen, wie feſt ſie an ihrem
Staate hingen; auch die verwahrloſten Waſſerpolen Oberſchleſiens zeigten
ſich der Krone treu ergeben, wenngleich die Begeiſterung des Befreiungs-
krieges ſie nur wenig berührte, und blieben völlig unempfänglich für die natio-
nale Propaganda der Polen. Hier allein ward König Friedrich wahrhaft ge-
liebt; von der „vorpreußiſchen Zeit“ ſprach das Volk ſelten und ohne Freude,
ſelbſt der Adel dachte nicht mehr an ſeine altſtändiſche Herrlichkeit. Gleich-
wohl lebte hier noch ein zäher Particularismus, der in der „Schleſiſchen
Geſellſchaft für vaterländiſche Cultur“ zu Breslau eifrige Pflege fand. Die
Provinz nannte ſich gern das Kleinod in Preußens Krone, ſie war bis
zum Jahre 1808 immer durch eigene Provinzialminiſter, unabhängig von
dem alten Generaldirektorium, verwaltet worden und fand ſich ſchwer
darein, daß man ſie jetzt mit allen andern Provinzen auf einen Fuß ſtellte.
Die alte Hauptſtadt, die nunmehr, der Feſtungsmauern entledigt, das male-
riſche Gewirr ihrer finſtern Gaſſen mit einem Kranze lieblicher Baumgänge
zu umgürten begann, bildete den bewegten Sammelplatz eines reichen und
mannichfaltigen landſchaftlichen Sonderlebens. Sie war Kopf und Herz
der Provinz, wie keine der anderen Provinzialhauptſtädte, ſelbſt Königs-
berg nicht ausgenommen. Hier lag die aufblühende Hochſchule neben der
Reſidenz des einzigen Fürſtbiſchofs der Monarchie, der Schmutz der Juden-
gaſſen neben den Paläſten des lebensluſtigen Adels; deutſches und pol-
niſches Volksthum, proteſtantiſche und katholiſche Bildung, Beamtenthum
und Bürgerthum, Großinduſtrie und Landbau ſtießen hier auf einander.
Ueber dies bunte Treiben blickten die Schleſier noch wenig hinaus; ſelten
verließ Einer die geliebte Heimath, wo Alles ſo traulich verſchwägert und
vervettert war, jede Hochzeit und jeder Geburtstag unfehlbar von ſang-
luſtigen Oder- und Boberſchwänen in behaglichen Reimen gefeiert wurde.
Der ſtolze katholiſche Adel, der noch bis zum Jahre 1811 ſeine jüngeren
Söhne in den Domherrenpfründen des reichen Bisthums untergebracht
hatte, war in der Armee wie im Beamtenthum nur ſpärlich vertreten;
er ſonderte ſich von den kleinen Soldatengeſchlechtern der pommerſchen
und märkiſchen Ritterſchaft vornehm ab und verkehrte faſt häufiger in
Wien als in Berlin. Die Städteordnung, die Gewerbefreiheit und die
neuen agrariſchen Geſetze hatten hier bisher mit einem ſtarken Wider-
willen kämpfen müſſen, und Merckel bedurfte ſeiner ganzen Klugheit und
[255]Schleſien.
Landeskenntniß um die Einführung der Reformen nach und nach, unter
behutſamer Schonung der eigenartigen Verhältniſſe durchzuſetzen.


Und wie kläglich lag der Wohlſtand des Landes, der ſich einſt nach
dem Einzuge der Preußen ſo erſtaunlich raſch gehoben, jetzt darnieder. Wo
waren ſie hin, die glücklichen Zeiten, da John Quincy Adams das Land
bereiſte um die Wunder der fridericianiſchen Verwaltung kennen zu lernen,
da die Fürſten und Grafen in den Bädern von Warmbrunn und Salz-
brunn ihr ſchwelgeriſches Sommerleben führten, faſt in jedem Landhauſe
des Waldenburger Thales ein reicher Fabrikant wohnte und droben auf
dem rauhen Kamme des Gebirges, in Landeshut, bei den „Amerikanern“,
den großen nach Amerika und Spanien handelnden Kaufherren, der Ungar-
wein in Strömen floß? Die Leinwandausfuhr erreichte nie mehr ihre
alte Höhe, in den Weberdörfern des Gebirges herrſchte ein Nothſtand, der
endlich ſelbſt der heitern Genügſamkeit dieſes leichtlebigen Völkchens uner-
träglich ſchien; auch der Handel mit Polen, die Nahrungsquelle Breslaus,
ward durch die neuen ruſſiſchen Schlagbäume vielfach geſchädigt. Indeß
hob ſich die Baumwollmanufaktur, und die Wollmärkte gewannen an Be-
deutung ſeit Thaer ſeine Stammſchäferei in Panten einrichtete. Die unter
Friedrich II. gegründeten Fürſtenthums-Landſchaften nahmen im Jahre 1814
ſofort ihre Zinszahlungen wieder auf und retteten den Credit des großen
Grundbeſitzes, ſo weit dies bei der Entwerthung der Güter möglich war.
Die Königshütte in Oberſchleſien ſtellte ihren großartigen Betrieb bald
wieder her, und allmählich entſtand dort, trotz der bedrohlichen Nähe der Zoll-
grenzen Oeſterreichs und Rußlands, eine ſtattliche Zahl neuer Berg- und
Hüttenwerke. Das Alles vollzog ſich ſehr langſam. Die kühne Unterneh-
mungsluſt aufſtrebender Zeiten war dieſem ermüdeten Volke nicht gegeben;
in bedächtiger Arbeit und ſtiller Entſagung ging ihm das Leben auf. —


Daß die neuen Formen der Provinzialverwaltung ſo ſchnell feſte
Wurzeln ſchlugen, war vor Allem das perſönliche Verdienſt der Ober-
präſidenten. Mit glücklicher Hand hatte Hardenberg faſt durchweg be-
deutende, und zumeiſt ziemlich junge Männer für dieſen ſchwierigen Poſten
ausgewählt. Am Wenigſten vielleicht genügte ihm der brandenburgiſche
Oberpräſident v. Heydebreck. Der war in den collegialiſchen Berathungen
der alten Kriegs- und Domänenkammern aufgewachſen und wollte zuerſt
„die ſogenannte Oberpräſidentenſtelle“ nicht annehmen, bis ihn der Staats-
kanzler belehrte, wie wichtig und ehrenvoll das Amt ſei.*) Aber unter
ihm wirkte einer der fähigſten Beamten, der Potsdamer Regierungspräſi-
dent v. Baſſewitz, ein Mann von erſtaunlichem praktiſchem Wiſſen, der
jede Flurkarte der Kurmark im Kopfe trug, über jeden Thaler der Kriegs-
contributionen Beſcheid wußte und eine ganze Schule tüchtiger Verwal-
tungsbeamten heranzog, ſo daß die Potsdamer Regierung ihren einſt unter
[256]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Sacks Führung erworbenen guten Ruf behauptete. Baſſewitz hielt die
Grundſätze der neuen Geſetzgebung unverbrüchlich feſt, verſtand jedoch mit
Jedermann ſo ſchonend und freundlich umzugehen, daß ſelbſt die feudalen
Edelleute dem Reformer nicht ernſtlich gram wurden.


Auf dem flachen Lande blieb die Ritterſchaft hier noch ſo mächtig wie
in Pommern, obgleich die Rittergüter der Kurmark nur einen Werth von
27 Mill. Thlr. darſtellten und mit 21 Mill. Hypothekenſchulden belaſtet
waren, während der Bauernſtand bereits einen Bodenwerth von 31 Mill.
mit einer Schuldenlaſt von 6½ Mill. beſaß. Gewaltig war noch das An-
ſehen des Landraths, zumal wenn er ſein Amt ſo tüchtig verwaltete, wie
der Sohn des alten Zieten, der berühmte Muſterlandrath in der Grafſchaft
Ruppin. Altväteriſch einfach blieben die Sitten des Landvolks ſelbſt dicht vor
den Thoren Berlins, die alte kunſtloſe Dreifelderwirthſchaft herrſchte noch
überall vor. Doch begann jetzt allmählich die Thätigkeit Albrecht Thaers
ihre reichen Früchte zu tragen. Seine Schule zu Möglin im Oderbruch,
ſoeben zur königlichen landwirthſchaftlichen Lehranſtalt erhoben, lockte eine
ſtetig wachſende Zahl von alten und jungen Landwirthen an, die hier
unter den alten Erlen am Teiche die freundlichen Rathſchläge des gelehrten
und doch ſo ſchlicht praktiſchen Mannes empfingen und draußen auf den
Feldern lernten, wie die Brache durch geregelten Fruchtwechſel entbehrlich
werden könne. Seit die weichen Vließe des Mögliner Wollmarktskönigs
alle andere Wolle aus dem Felde ſchlugen, war der Ruf der veredelten
Schafzucht feſt begründet, die großen Grundbeſitzer begannen nach und
nach ihren Betrieb nach den Grundſätzen der neuen „rationellen Land-
wirthſchaft“ umzugeſtalten, und Goethe rief dem Reformator des deutſchen
Landbaues ermunternd zu: „nicht ruhen ſoll der Erdenkloß, am wenigſten
der Mann!“


Wie eine Inſel lag die ſo raſch aufgeſtiegene Hauptſtadt inmitten
dieſer ackerbauenden Provinz, ganz abgetrennt von den Intereſſen des
platten Landes. Der Charakter des Berliner Lebens ward trotz ſeiner
188,000 Einwohner noch weſentlich durch den Hof und die Garniſon, die
Beamten und die Univerſität beſtimmt. Nirgends in Deutſchland konnte
man feinere Urtheile über Theater und Muſik, Philoſophie und Geſchichte
hören als in den einfachen Theegeſellſchaften der Berliner literariſchen
Kreiſe. Wie viele geiſtvolle Männer dachten noch nach Jahren ſehnſüchtig
des gaſtfreien Mendelsſohn’ſchen Hauſes in der Leipziger Straße; dort in
dem ſtillen Parke, nahe dem Potsdamer Thore, wo für den Berliner die
Welt aufhörte, fanden ſich die Künſtler, die Gelehrten und Kritiker fröhlich
zuſammen. Aber die Geſellſchaft ſonderte ſich noch ſtreng nach den Be-
rufsſtänden. Selbſt Gneiſenau, der neue Gouverneur, verkehrte faſt aus-
ſchließlich mit Offizieren, und alle Welt verwunderte ſich über die uner-
hörte Neuerung, als der König im Jahre 1817 im Concertſaale des Opern-
hauſes einige Subſcriptionsbälle für Jedermann veranſtalten ließ und
[257]Brandenburg. Berlin.
ſelber mit dem Hofe einen Rundgang durch die bunte Geſellſchaft hielt;
der Eintrittspreis, 1 Thlr. 16 Gr., war allerdings der großen Mehrzahl
ganz unerſchwinglich. Von Politik ward außerhalb der Kreiſe der Stu-
denten und Turner ſelten geſprochen. Die wenigen politiſchen Schriften,
welche nach dem Verſtummen der Schmalziſchen Fehde noch in Berlin
erſchienen, bekundeten nur zu deutlich, daß weder die Begeiſterung des
Krieges noch die ſchöpferiſche Wiſſenſchaft der neuen Univerſität den Geiſt
Nicolais von dieſem ſeinem Heimathboden ganz hatten verdrängen können.
Buchholz tummelte ſich noch mit gewohnter Selbſtgefälligkeit auf den Ge-
meinplätzen der liberalen Aufklärung, und J. v. Voß erregte die gerechte
Erbitterung der neuen Provinzen durch das „Sendſchreiben eines Branden-
burgers an die Rheinländer“. Hier ſprach es wieder, das vorlaute an-
maßende Berlinerthum von 1806. Von oben herab ertheilte der „im
Herzen des Landes Geborene“ den Rheinländern ſeine Rathſchläge und
kündigte ihnen an, das gebildete Berlin werde mit ihrem „ungemeinen
Aberglauben“ ſchon fertig werden — bis Rehfues in Bonn ſeine ſchon oft
im Kampfe gegen den Bonapartismus bewährte Feder einſetzte und unter
dem Jubel der Rheinländer der Berliner Weisheit heimleuchtete.


Erſt ſeit Giovanoli im Jahre 1818 ſeine Conditorei eröffnete, Sparg-
napani und andere Engadiner dem Beiſpiele folgten, gewöhnte ſich die ge-
bildete Welt an die Zeitungen. Dort in den dunklen Leſezimmern ent-
ſpannen ſich zuweilen politiſche Debatten, freilich erſchienen die aufgeregten
auswärtigen Blätter noch weit anziehender als die zahme Langeweile
der preußiſchen. Großſtädtiſches Gedränge zeigte ſich faſt allein in den
engen Gaſſen der inneren Stadt; die grünen Gensdarmen behielten voll-
auf Zeit, jeden Frevler, der auf der Straße rauchte, unerbittlich einzu-
fangen, und wenn der heiße Sommermittag auf die ſtillen geraden Häuſer-
zeilen der Friedrichsſtadt herniederbrannte, dann meinte man ſie ſchnar-
chen zu hören — ſo hieß es draußen im Reiche, wo der Spott über
Berlin immer willige Hörer fand. Nach dem zweiten Frieden ſtellte ein
verwegener Unternehmer 32 echte Warſchauer Droſchken auf den öffent-
lichen Plätzen auf, und die Gelehrten von Voß und Spener ſtritten
ſich lebhaft über die Frage, woher die vielen Menſchen zur Benutzung
dieſes Wagenparks kommen ſollten; vor Kurzem erſt war ein ähnliches
Unternehmen geſcheitert, diesmal aber gelang das Wagniß. Den Brief-
verkehr in der Stadt vermittelte die „löbliche Kaufmannsgilde von der
Materialhandlung“; in ihren Kramläden wurden die Stadtbriefe geſammelt,
mit mächtigen Klingeln in der Hand zogen ihre Boten durch die Straßen.
Die Maſſe der Bürgerſchaft nahm an dem regen geiſtigen Leben der
höheren Geſellſchaft wenig Antheil, ſie blickte mit Mißtrauen auf die
Neuerungen der Geſetzgebung und verharrte zähe bei ihren ſchlichten klein-
ſtädtiſchen Sitten. Sehr langſam, erſt nach dem Kriege, verwiſchte ſich der
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 17
[258]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Unterſchied zwiſchen den derben Niederdeutſchen und den feiner geſitteten
Familien der franzöſiſchen Colonie.


Im Hochſommer ſtrömte Alt und Jung hinaus um ſich beim Stra-
lauer Fiſchzuge an den Nationalgerichten, Aal, Gurken und Weißbier zu
erlaben. Das Königsſchießen der Schützengilde ſtand noch in hohen Ehren,
und das neue Reglement von 1813 hielt für nöthig ausdrücklich zu be-
merken: auf Steuerfreiheit würden der Schützenkönig und ſeine beiden
Ritter als gutgeſinnte Bürger wohl ſelber keinen Anſpruch erheben. Die
Kaufleute zerfielen in die zwei ſcharf getrennten Gilden der Material-
und der Tuch- und Seidenhändler. Zweimal wöchentlich veröffentlichten
die Makler einen Kurszettel, der nur wenige fremde Papiere aufzählte;
der kleine Bürger aber rechnete nur nach Dreiern. Alle Maſſengüter langten
zu Waſſer an, da ſelbſt mit Hamburg noch keine ununterbrochene Chauſſee-
verbindung beſtand; im Winter ſtockte das Geſchäft, im Frühjahr und
Herbſt drängten ſich die Kähne auf der Spree, doch genügte ſelbſt dann
der eine Krahn im königlichen Packhofe um die Waaren der ſämmtlichen
Fuhrleute und Schiffer abzuladen. Inmitten dieſer beſchränkten Verhält-
niſſe verriethen ſich doch ſchon die Anfänge eines reicheren Verkehrs. Die
Gaſtwirthe der großen Höfe, wo die Fuhrleute einkehrten und auf Ladung
warteten, begannen ſelber die Vermittlung des Frachtverkehrs zu über-
nehmen; aus dieſen Fuhrmannsherbergen entſtanden ſeit 1816 die großen
Speditionsgeſchäfte, welche, begünſtigt durch die glückliche Lage der Stadt,
nach kurzer Zeit den beſten Theil des nordoſtdeutſchen Handels an ſich
zogen. Welch ein Aufſehen, als Cockerill im Jahre des Friedensſchluſſes
auf der Neuen Friedrichsſtraße eine Fabrik erbaute, die der Woll-
manufactur alle Werkzeuge und Maſchinen liefern ſollte; dort arbeitete
eine Dampfmaſchine von beinahe dreißig Pferdekräften, und nicht lange,
ſo erleuchtete man die Werkräume gar mit Kohlengas. Ein Jahr ſpäter
ward der erſte Jacquard’ſche Webſtuhl in die Berliner Seidenwirkerei ein-
geführt. Zwar die Wollinduſtrie, die im Jahre 1803 ſchon 1465 Stühle
beſchäftigt hatte, war jetzt auf 420 Stühle herabgekommen; auch die Garn-
ſpinner konnten nach der Aufhebung der Continentalſperre kaum noch be-
ſtehen, da die Engländer das Geheimniß ihrer Spinnmaſchine wohl be-
wahrten. Aber die Baumwoll-Weber und -Drucker, die Tuchwalker und
viele andere Gewerbe ſchritten rüſtig vorwärts. So ward durch die harte
Arbeit eines genügſamen, ſorgenvollen Geſchlechts langſam der Grund ge-
legt für die Macht der erſten deutſchen Fabrikſtadt. —


In allen dieſen Provinzen waren nur kleine Stücke neuerworbenen
Landes einem feſten Kerne altpreußiſchen Gebiets anzuſchließen; hingegen
das wunderliche Gewirr von zweiunddreißig großen und ungezählten kleinen
Herrſchaften, das man jetzt die Provinz Sachſen nannte, bedurfte eines
vollſtändigen Neubaus. Mittel- und niederdeutſches, altgermaniſches und
wendiſches Land ſtießen hier auf einander; die alte Grenze zwiſchen dem
[259]Provinz Sachſen.
mainziſchen und dem magdeburgiſchen Kirchenſprengel, die ſo lange den
Weſten und den Oſten Deutſchlands geſchieden hatte, lief mitten durch
dies Gebiet. Dazu die ſchärfſten Gegenſätze des wirthſchaftlichen und
des kirchlichen Lebens. Hier die üppigen Niederungen der Goldenen Aue
und des Magdeburger Landes, dort auf den rauhen Hochebenen und in
den feuchten Thalgründen des Eichsfeldes die armen, unter der ſchlaffen
Herrſchaft des Krummſtabs ganz verwahrloſten Weberdörfer mit ihren
zahlloſen winzigen Feldſtreifen. In dem neuen Regierungsbezirke Merſe-
burg beſtand nur eine einzige katholiſche Kirche; das Geburtsland von
Luther, Paul Gerhard, Rinckart, die Heimath der Reformation lebte und
webte in proteſtantiſchen Erinnerungen. Auf dem Eichsfelde war den
Jeſuiten des Mainzer Kurfürſten die Arbeit der Gegenreformation, bis
auf wenige Dörfer, vollſtändig gelungen, erſt die Preußen hatten im
Jahre 1804 in Heiligenſtadt evangeliſchen Gottesdienſt wieder eingeführt.
Und bei Alledem nicht einmal ein wohlabgerundetes Gebiet. Die Elbe
bildete nur für einen kleinen Theil der Provinz, und bei Weitem nicht
in gleichem Maße wie der Rhein und die Oder, die gemeinſame Verkehrs-
ader. Die neue Hauptſtadt Magdeburg war herabgekommen wie ihr halb
verfallener Dom, ſie zählte mitſammt den Vororten nur 31,000 Ein-
wohner, ſie lebte dem Handel und konnte niemals den Mittelpunkt für
das geſammte Culturleben der Provinz bilden, denn die Zeit war längſt
vorüber, da hier einſt die freie Preſſe der Proteſtanten ihre letzte Zuflucht
gefunden hatte.


Die treuen Magdeburger und Altmärker verhehlten kaum, wie wenig
ihnen an der Gemeinſchaft mit den kurſächſiſchen Rheinbündnern lag,
und dieſe leiſteten die Huldigung mit ſchwerem Herzen, obwohl manche be-
fliſſene Polizeibeamte dem Staatskanzler von lautem Volksjubel berichteten.
In jedem Schloſſe und jeder Kirche des Kurkreiſes erinnerte das Wappen-
ſchild mit dem Rautenkranze an die alte Geſchichte eines Staates, der einſt
die ſtolze Vormacht des deutſchen Proteſtantismus geweſen. Hier war
man gewohnt aus dem Behagen einer älteren Cultur und höheren Wohl-
ſtands auf die brandenburgiſchen Emporkömmlinge herabzuſchauen; nun
mußte man die Theilung des Königreichs und darauf noch die Abtrennung
der Lauſitzen erleben; dann wurden die Univerſität und die oberſten Be-
hörden der Provinz in das Magdeburgiſche verlegt, obgleich die Merſe-
burger ihre Stadt doch ſo dringend dem Könige als die einzig geeignete
Hauptſtadt empfohlen hatten;*) und dazu noch die neue königlich preu-
ßiſche Religion, die das alte Lutherthum zu verdrängen drohte. Der Groll
äußerte ſich anfangs ſo lebhaft, daß ſelbſt in den Schulen die Söhne der
preußiſchen Beamten beſtändig mit den Eingebornen zu raufen hatten. Am
Heftigſten zürnte der Adel; denn obwohl die neue Herrſchaft ſeine Intereſſen
17*
[260]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
behutſam ſchonte und ihm auch die Pfründen der reichen Domſtifter Naum-
burg und Merſeburg beließ, ſo fühlte er doch, daß er in Sachſen der
Herr geweſen und jetzt lernen mußte in den Kreis der Unterthanen hinab-
zuſteigen. Er gewöhnte ſich ſo ſchwer an das monarchiſche Regiment, daß
der Oberpräſident Bülow im Staatsrathe dringend rieth die neuen Steuer-
geſetze nicht ohne Genehmigung der ſächſiſchen Stände zu erlaſſen: „ſonſt
würde vielleicht auf immer das leider noch wenig begründete Vertrauen
der Bewohner verſcherzt.“ Auch die Beamten klagten bitterlich über den
ſtrengen preußiſchen Dienſt, zumal die Richter, die bisher in allen ſchwie-
rigen Fällen die bequeme Hinterthür der Aktenverſendung benutzt hatten
und jetzt gezwungen wurden ſelber Recht zu ſprechen; manche, die ſich be-
einträchtigt glaubten, kehrten wieder in die behagliche alte Heimath zurück.*)
Selbſt die Einſichtigen zeigten überall jene gemüthliche Vorliebe für das
Althergebrachte, welche trotz allem Lärm der liberalen Schriftſteller die
eigentliche Geſinnung der Deutſchen blieb. Wie viele Kämpfe mußte Johannes
Schulze mit dem Rector von Schulpforta, dem trefflichen Ilgen beſtehen
bis er endlich durchſetzte, daß die alte Fürſtenſchule ſich der preußiſchen
Prüfungsordnung fügte und die ſtädtiſchen Freiſtellen nicht mehr nach
Gunſt und Laune der berechtigten Stadträthe beſetzt wurden.


Der Oberpräſident Friedrich v. Bülow war für dies Land der Adels-
herrlichkeit auserſehen worden, weil er ähnliche Verhältniſſe noch von ſeiner
hannöverſchen Dienſtzeit her kannte und ſchon vor Jahren in einer ſcharfen
Schrift wider ſeinen Landsmann Rehberg bewieſen hatte, wie richtig er
die Ueberlegenheit der monarchiſchen Verwaltung gegenüber der altſtän-
diſchen zu ſchätzen wußte. In ſeiner neuen Heimath hatte er ſich die An-
ſchauungen des fridericianiſchen Beamtenthums ſo gänzlich angeeignet, daß
er beim Beginn der Unionsbewegung für nöthig hielt nochmals als Schrift-
ſteller aufzutreten und die Krone vor den Gefahren einer unabhängigen
Synodalkirche zu warnen. Doch verfuhr er ſtets wohlwollend und be-
dachtſam und kam ſelbſt mit dem ſächſiſchen Adel leidlich aus. Rückſichts-
loſer trat der Merſeburger Regierungspräſident Schönberg auf, ein ſäch-
ſiſcher Edelmann, der ſeit Jahren voll Unmuths die Mißbräuche der
adlichen Vetternherrſchaft beobachtet hatte und jetzt mit Freuden daran
ging, die Grundſätze moderner Rechtsgleichheit in dies Chaos einzuführen.
Eine liebenswürdige Natur von ſprudelnder Laune und derber Lebensluſt
genoß er im Volke allgemeiner Gunſt; ſeine Standesgenoſſen haßten ihn
als den Vertreter des „demokratiſchen Beamtengeiſtes“. Weitaus der
tüchtigſte unter den Organiſatoren der neuen Provinz war doch der Vice-
präſident Motz, der, wenig beläſtigt von ſeinem Vorgeſetzten, einem alten
Diplomaten Grafen Keller, den neuen Regierungsbezirk Erfurt verwaltete.
[261]Beruhigung der Kurſachſen.
Zu dieſem Bezirke gehörten jene ausgeſogenen Striche Thüringens, welche
einſt unmittelbar unter Napoleons Verwaltung geſtanden und, als ein
unſicheres Beſitzthum, die härteſte Mißhandlung erfahren hatten. Hier ward
denn rückſichtslos aufgeräumt was „der Schlendrianismus“ der ſächſiſchen,
die Gewaltthätigkeit der franzöſiſchen Behörden geſündigt hatte, der Unter-
richt der Gymnaſien wie der Volksſchulen durch den wackeren Schulrath
Hahn neu geſtaltet, die Thätigkeit gemeinnütziger Vereine, auch der Turn-
plätze, erweckt und gepflegt, das arme Volk des Eichsfeldes inſoweit unter-
ſtützt, daß die Hungerjahre von 1816 und 17 erträglich vorübergingen
und Staatsrath Kunth auf ſeiner Dienſtreiſe die einſt ſo vernachläſſigten
Feldfluren kaum mehr wiedererkannte.


Ueberall freilich hemmte der unfertige Zuſtand der altpreußiſchen Ge-
ſetzgebung. Da die dringend nöthige Reviſion der Stein’ſchen Städte-
ordnung noch immer ausblieb, ſo half man ſich mit vorläufigen Maß-
regeln, führte die Stadtverordnetenwahlen nach preußiſchem Muſter und
die genaue Prüfung der ſtädtiſchen Rechnungen ein, bewog die Stadt
Naumburg, ſich endlich mit ihrem Domhofe und ihren vier Vorſtädten
über eine gemeinſame Polizeiverwaltung zu verſtändigen, und als der
kleine Jammer dieſer mühſeligen Verhandlungen überſtanden war, begann
das Volk allmählich zu fühlen, daß eine beſſere Zeit in das Land ein-
zog. Die Provinz holte mit einem Sprunge nach was das kurſächſiſche
Adelsregiment zwei Jahrhunderte hindurch verſäumt hatte. Zuerſt die
Bürger und die Bauern, dann auch die Edelleute gewöhnten ſich an die
neuen Zuſtände und übertrugen die patriarchaliſche Verehrung, die ſie bis-
her für König Friedrich Auguſt gehegt, auf den neuen Fürſten. Und
wie viel einfacher und zugänglicher als der alte erſchien der neue Herr,
der den grollenden Merſeburgern beim erſten Einzuge mahnend zurief: „wir
ſind ja doch Alle Deutſche.“ Das Mißtrauen der vormaligen Kurſachſen
gegen ihre altmärkiſchen und magdeburgiſchen Mitbürger verſchwand nach
und nach; aber da der Deutſche nicht ohne nachbarlichen Haß leben konnte,
ſo begannen jetzt die Sachſen im Königreiche die zufriedenen Torgauer
und Eilenburger des Verrathes zu bezichtigen und die preußiſchen Sachſen
als den Auswurf des „preußiſchen Stammes“ zu verwünſchen. Wenige
Jahre nach der ſo ſchmerzlich beweinten Theilung ſah man ſchon in manchen
Grenzdörfern einen Sächſiſchen Hof und einen Preußiſchen Hof, beide in
den Landesfarben prunkend, trutzig neben einander liegen. Die gewaltige
Anziehungskraft des preußiſchen Staates fand, wie die Kenner des Landes
ſchon auf dem Wiener Congreſſe vorausgeſagt, nirgends leichteres Spiel
als bei dem bildſamen oberſächſiſchen Stamme. —


Ebenſo mannichfaltige und doch einfachere Verhältniſſe traten der
neuen Verwaltung in der Provinz Weſtphalen entgegen. Trotz der Ver-
ſchiedenheit ihrer politiſchen Schickſale hatten ſich die Heimathlande des
weißen Sachſenroſſes zu allen Zeiten einen ſtarken gemeinſamen Stammes-
[262]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſtolz erhalten. Die uralte Völkerſcheide auf den Höhen über Barmen,
welche einſt die Sachſen von den Franken trennte, blieb nachher Jahr-
hunderte lang die Grenze zwiſchen der Grafſchaft Mark und dem Herzog-
thum Berg; mit einer Abneigung, die von drüben ebenſo herzlich erwidert
ward, blickte der ernſte, verſchloſſene Niederſachſe auf die leichtlebigen, red-
ſeligen Rheinfranken und ſpottete über den „bergiſchen Wind“. Auf den
Hochſchulen ſtanden die Weſtphälinger ſtets unter dem grünweißſchwarzen
Banner ihrer Landsmannſchaft zuſammen, hochberühmt als unerſättliche
Zecher und Schläger, und alle kehrten regelmäßig in die Heimath zurück.
Auch die mächtigen Geſchlechter der Droſte, Spiegel, Galen, Fürſtenberg
hielten ſich dem abenteuerlichen Reislaufen des deutſchen Adels fern und
blieben zumeiſt ſeßhaft daheim; nur jene Nebenzweige der alten Familien,
die einſt mit dem Deutſchen Orden an die Düna gezogen waren, die Ketteler,
die Plettenberg, erwarben ſich außerhalb der Landesgrenzen Macht und
Ruhm. Als nunmehr faſt die geſammte rothe Erde unter die preußiſche
Krone kam, da ward die Wiedervereinigung der Lande Wittekinds doch
ſelbſt in den Krummſtabsgebieten, die dem proteſtantiſchen Königthum
mißtrauten, mit Freude begrüßt, und man beklagte nur, daß Osnabrück,
die Heimath des vaterländiſchen Claſſikers Juſtus Möſer nebſt einigen
Strichen des Münſterlandes bei Hannover und Oldenburg verblieb.


Niemand empfand dieſe Freude lebhafter als der Oberpräſident Frei-
herr Ludwig v. Vincke, der ſchon während des Krieges die proviſoriſche
Verwaltung geführt hatte und von allen Seiten als das einzig mögliche
Oberhaupt der Provinz angeſehen wurde. Ein Verwaltungstalent großen
Stiles, durch Reiſen und Studien mit dem Staatsleben und der Volks-
wirthſchaft des Auslandes gründlich vertraut, war er doch vor Allem ein
weſtphäliſcher Edelmann geblieben, derb, formlos, geradezu, ſo feſt ver-
wachſen mit dem Boden der Heimath, wie jener alte Soeſter Maler, der
ſich ſelbſt das Abendmahl des Heilands nicht ohne einen ſaftigen weſt-
phäliſchen Schinken denken konnte. Wohin ihn auch der Staatsdienſt
führte, in Aurich wie in Potsdam hatte er ſtets das Ziel im Auge be-
halten, das ihm ſchon in jungen Jahren als höchſter Lebenszweck erſchienen
war: „mein Vaterland Weſtphalen ſoll dereinſt das Bild der vollkom-
menſten Einrichtungen abgeben.“


Welch ein Glück, als er nun mit der Verwaltung des wiedervereinigten
Landes betraut wurde; nur „die unerträgliche Briefträgerei“, die Ab-
hängigkeit von den Miniſtern in Berlin fiel ſeinem trotzigen Sinne ſchwer.
Von Jugend auf hatte er faſt mit allen den ungewöhnlichen Männern,
welche dies claſſiſche Zeitalter des preußiſchen Beamtenthums zierten, in
enger Freundſchaft gelebt und zwiſchen den beiden Reformparteien immer
eine Mittelſtellung eingenommen. Da er wie Stein die politiſche Frei-
heit vornehmlich in der Selbſtverwaltung eines kräftigen, ſelbſtändigen
Bürger- und Bauernſtandes ſuchte, ſo bekämpfte er wie Jener die unbe-
[263]L. v. Vincke.
ſchränkte Theilbarkeit der Landgüter und die radikale Aufhebung der Zünfte.
Aber ſeinen ariſtokratiſchen Neigungen hielt die ſtreng monarchiſche Ge-
ſinnung des Beamten ſtets die Wage; von altſtändiſchen Rechten, welche
die Einheit des Staatswillens gefährden könnten, wollte er nichts hören.
Die Patrimonialgerichte verwarf er als ein „großes Aergerniß“, die ge-
plagten Unterthanen der Mediatiſirten fanden bei ihm und ſeinem Re-
gierungsdirektor Keßler, einem erklärten Liberalen, jederzeit treuen Schutz,
und obgleich er in Berlin oft zu ſchonender Behandlung der Katholiken
mahnte, ſo trat er doch jeder Ueberhebung der Hierarchie mit rückſichts-
loſer Strenge entgegen. Wenn der König mit jungen Referendaren ſprach,
ſo pflegte er ihnen den weſtphäliſchen Oberpräſidenten als das Muſter
der Pflichttreue vorzuhalten; denn unter allen den unermüdlichen Arbeitern
dieſes Beamtenthums war Vincke der fleißigſte. Wie oft ſahen ihn die
Münſterer um Mittag im Sturmſchritt nach Hauſe eilen, wo er dann
raſch ſein einfaches Mahl verzehrte und ſogleich wieder in die geliebten
Akten verſank. Und doch verachtete dieſer gefürchtete Nummerntöder aus
Herzensgrunde die Weisheit des grünen Tiſches. All ſein Wiſſen war
erwandert und erlebt; überall im Lande war er zu Haus, in den Hau-
bergen und Wieſengründen des Siegener Landes, in den Eiſenwerken der
Grafſchaft Mark und den einſamen Bauernhöfen der münſterſchen Heiden.
Im blauen Kittel, die Pfeife im Munde, den Knotenſtock in der Hand,
zog der ungeſtüme kleine Mann mit dem klugen Kindergeſichte oft meilen-
weit über Land um bei ſeinen lieben Bauern nach dem Rechten zu ſehen.
In der erſten Zeit widerfuhr es ihm einmal, daß eine Bauerfrau, die
er am Butterfaſſe traf, „dat Jüngesken“ derweilen weiter buttern hieß,
bis ſie den Schulzen draußen zwiſchen den Wallhecken auf dem Felde auf-
gefunden hätte; in ſpäteren Jahren kannte jedes Kind den Vater Weſt-
phalens.


Das Rheinland ausgenommen iſt keine andere deutſche Landſchaft
durch die Volkswirthſchaft des neuen Jahrhunderts ſo von Grund aus
neu geſtaltet worden, wie dies Weſtphalen, das beim Beginne der Friedens-
jahre noch übel berüchtigt war als ein ödes, unwirthliches Land von großen
Erinnerungen und armſeliger Gegenwart. In dem mächtigen Soeſt, das
einſt ſeine herriſchen Aldermänner bis nach Gotland geſendet und den
meiſten Städten Niederdeutſchlands ſein Stadtrecht geſchenkt hatte, hauſte
jetzt ein armes Völkchen kleiner Ackerbürger zwiſchen den Trümmern der
alten Prachtbauten. Stadtberge, die ehrwürdige Sachſenfeſte Eresburg, war
faſt verſchwunden, nur die Rolandsſäule, der Pranger und zwei verfallene
Kirchen ſchauten noch vom hohen Bergkegel auf das Diemelthal herab; und
dicht vor dem Thore der ſtolzen Hanſeſtadt Dortmund lag der Freiſtuhl
des Vehmgerichts unter den alten Linden ſo einſam und weltverlaſſen, daß
der Freigraf jetzt am hellen Tage das nackte Schwert und die Weiden-
ſchlinge auf den Steintiſch hätte legen können. Nur in den altpreußiſchen
[264]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Landſtrichen der Provinz, in den überwiegend proteſtantiſchen Grafſchaften
Ravensberg und Mark regte ſich ſchon ein ſchwunghafter Verkehr. Die
Bielefelder hatten ihre altberühmte Leinenweberei ſelbſt durch die Con-
tinentalſperre nicht ganz zerſtören laſſen und eroberten ſich gleich nach dem
Frieden den amerikaniſchen Markt für ihre Segeltuche. Den Kohlen-
werken und Eiſenhämmern des märkiſchen Sauerlandes war ein wichtiger
neuer Abſatzweg eröffnet ſeit Stein die Ruhr ſchiffbar gemacht, und be-
reits gingen jährlich an 2½ Mill. Ctr. Steinkohlen thalwärts. Vincke
aber ſah in Alledem nur die vielverheißenden Anfänge einer neuen Ent-
wickelung; er wußte, welcher Reichthum in den Bodenſchätzen ſeiner Hei-
math, in der zähen Kraft ihrer Bewohner verborgen lag, und wiederholte
ſeinen Landsleuten gern den alten Lobſpruch des Erasmus: kein Volk der
Welt iſt ausdauernder in der Arbeit. Er fühlte ſich als Steins Erbe
und wollte für ganz Weſtphalen vollenden was dieſer in der Grafſchaft
Mark begonnen hatte. Als das untere Ruhrthal mit der benachbarten
rheiniſchen Provinz vereinigt wurde, erbat er ſich von dem Könige die
Gnade, daß ihm die Aufſicht über den geſammten Stromlauf verblieb,
und ruhte nicht, bis er die Mittel erhielt zum Bau des Ruhrorter Hafens,
des großen Ausgangsthores der weſtphäliſchen Bergwerke. Zugleich traf
er die erſten Anſtalten um auch die Lippe bis nach Lippſtadt hinauf der
Schifffahrt zu erſchließen.


Schwerere Aufgaben erwarteten den Unermüdlichen in den neuen
Gebieten. Das Herzogthum Weſtphalen hatte Jahrhunderte lang unter
dem trägen Regimente des kölniſchen Bisthums dahingeträumt, dann
als darmſtädtiſche Provinz die Willkür von fünf coordinirten Oberbe-
hörden und zahlloſen Unterbeamten ertragen; hier galt es „den Stall des
Augias zu ſäubern“. Unbekümmert um die Klagen der Grafſchaft Mark
ſetzte Vincke durch, daß die Hauptſtadt des weſtlichen Regierungsbezirks
nicht in das rührige Hamm, ſondern mitten in das rauhe Bergland
des Oberruhrthals auf den abgelegenen Felsriegel von Arnsberg verlegt
wurde: Ihr Markaner, meinte er, helft Euch ſelbſt, hier im Herzogthum
müſſen wir erſt das Leben erwecken.*) Um die neue Beamtenſtadt mit
der Welt zu verbinden, wurde das Straßennetz, deſſen Anfänge Stein in
der Grafſchaft Mark begründet hatte, rüſtig ausgebaut, und ſchon im
Jahre 1817 konnte Vincke nach Berlin berichten, daß der Arnsberger Re-
gierungsbezirk 50 Meilen Chauſſeen und Kohlenwege zähle, während der
geſammte Staat erſt 523 Meilen Chauſſee, die Provinz Pommern noch
keine einzige Steinſtraße beſaß. Freilich pflegten die Straßen dieſer Zeit
noch grundſätzlich die gerade Linie zu vermeiden, dicht neben dem be-
quemen Thale in weiten Windungen bergauf bergab zu klimmen, damit
[265]Weſtphalen.
die Dörfer droben doch auch ihren Verdienſt hätten von Fuhrmanns-
zehrung und Vorſpann. Da der Oberpräſident die Dürftigkeit des Staats-
haushalts genugſam kannte, ſo verſuchte er auch das Capital aus dem
Lande ſelbſt für den Straßenbau zu gewinnen und belehrte ſeine Weſt-
phalen in einer Provinzialzeitung: wie die Engländer, wenn ein neuer
Verkehrsweg, eine Brücke, ein Canal nothwendig ſcheine, zuerſt alle Be-
theiligten zu einer Verſammlung einlüden, dann einen Ausſchuß wählten
und Gelder zeichneten. Aber der kühne Aufruf erſchien zu früh. Für
ſolche Wagniſſe war dies gedrückte Geſchlecht verarmter Kleinbürger noch
nicht zu gewinnen; es galt ſchon als ein großer Erfolg, daß doch eine
Brücke, auf der Altenaer Straße, durch Actienzeichnung zu Stande kam.


Noch ärger als die kölniſchen Kurfürſten hatten die letzten Biſchöfe von
Paderborn ihr Land vernachläſſigt. Mit Entſetzen lernte Vincke dies Irland
Weſtphalens kennen: überall kümmerliche Zwergwirthſchaft und baufällige
Hütten, wunderbar verſchieden von den ſtattlichen Bauernhöfen am Hell-
weg; das Volk gutartig, aber trunkſüchtig, verwildert, in ewigem Kriege
mit dem Geſetze, ſo daß oft große Banden mit langen Wagenzügen in
die Forſten einbrachen, ganze Waldſtrecken in einer Nacht entblößten; und zu
Alledem „die Peſt des Landes“, die Wucherjuden in jedem Dorfe.*) Auch
hier erwarb ſich der Oberpräſident nach einiger Zeit ſtillen Kampfes das all-
gemeine Vertrauen, als er mit feſter Hand die bürgerliche Ordnung wieder-
herſtellte, neue Schulen anlegte, den alten Lehrern, die oft nur 30 Thlr.
Gehalt bezogen, Zuſchüſſe verſchaffte, die Anſiedlung der Juden erſchwerte
und der Hausinduſtrie neue Abſatzwege eröffnete. Seit im Jahre 1817
die große Irrenanſtalt zu Nieder-Marsberg für die Provinz erworben
ward, entſtanden in langer Reihe jene ſtattlichen Pflegehäuſer für Arme,
Kranke, Taubſtumme, Blinde, die den Neid der Nachbarländer erregten.


Nur der Adel des Münſterlandes wollte die ſtolze Geſchichte ſeines
reichsunmittelbaren Hochſtifts nicht vergeſſen und bewahrte unverſöhnt den
alten Groll gegen die preußiſche Herrſchaft. Man gab wohl zu, daß Weſt-
phalen geringere Steuerlaſten trug als der Oſten, und die einzige drückende
Abgabe, die von den napoleoniſchen Beamten ſehr ungerecht vertheilte
Grundſteuer, erſt nach einer langwierigen Kataſtrirungsarbeit umgeſtaltet
werden konnte; auch über den proteſtantiſchen Hochmuth der Beamten und
Offiziere, der in der böſen Zeit vor 1806 zuweilen verletzend hervorgetreten
war, konnte man jetzt nicht mehr klagen. Gleichwohl blieb der Charakter
dieſes paritätiſchen Staates den clericalen Edelleuten des Münſterlandes
ebenſo widerwärtig wie dem polniſchen Adel. In dem munteren, ſchau-
luſtigen und ſchönheitsfrohen Volke der rheiniſchen und ſüddeutſchen Lande
hat ſich die katholiſche Bildung ſtets einen gemüthlichen Zug naiver, harm-
loſer Heiterkeit bewahrt; unter den ſchweren, grübleriſchen Nordländern
[266]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
erſchien ſie oft hart, verbiſſen, fanatiſch, und zu allermeiſt hier in Münſter,
wo die eiſernen Käfige mit den Gebeinen der Wiedertäufer noch am Lam-
bertithurme hingen und das bekehrte Volk täglich an die gräulichſten
Sünden der Ketzerei erinnerten. Grollend rechnete man nach: unter den
Miniſtern ſei kein einziger Katholik, unter den Oberpräſidenten nur Einer,
Zerboni, unter den Generalen höchſtens zwei oder drei, wo bleibe da die
Parität? Das Mißverhältniß erklärte ſich leicht, da von den höheren
Beamten, welche der Eroberer in den neuen Provinzen vorgefunden, nur
ſehr wenige in den preußiſchen Dienſt übergetreten waren. Aber auch
ſpäterhin blieb die Zahl der Katholiken im Civildienſt und vornehmlich
im Offizierscorps unverhältnißmäßig gering; denn die Polen hielten ſich
dem Beamtenſtande fern, das gebildete Bürgerthum der gewerbfleißigen
Weſtprovinzen erzog ſeine Kinder häufiger als im Oſten üblich war für
die wirthſchaftlichen Berufe, auch der katholiſche Adel des Weſtens ging
ſelten in den Staatsdienſt. Am ſeltenſten ſicherlich die alten Geſchlechter
des Münſterlandes, denen der öſterreichiſche Kriegsdienſt noch immer vor-
nehmer ſchien als der heimiſche; ſie ſaßen ſchmollend auf ihren Gütern,
nur unter ſich und mit dem Clerus verkehrend, und auch wenn ſie zur
Winterszeit in die Provinzialhauptſtadt Münſter zogen, blieben ihre Pa-
läſte den Offizieren und den Beamten faſt unzugänglich.


Große Schwierigkeiten bot auch das anſpruchsvolle Weſen der zahl-
reichen mediatiſirten Fürſten, die allein im Regierungsbezirk Münſter die
volle Hälfte des Bodens beſaßen. Manche von ihnen, die Arenberg, die
Looz, die Croy, waren Belgier und erwieſen dem deutſchen Staate eine
geſuchte Mißachtung; aber auch die deutſchen zeigten ſich oft als harte
Herren. Jahre lang ſtritt ſich die Arnsberger Regierung mit den Fürſten
des Hauſes Sayn um dem armen Wittgenſteiner Völkchen die Laſten ſeiner
zweifachen Unterthanenſchaft etwas zu erleichtern; denn die Regierungen
fühlten ſich alle ſtolz als Beſchützer der kleinen Leute, ſie rühmten, wie
der wackere Keßler einſt gegen Beyme ausſprach, daß ihnen durch die freie
collegialiſche Berathung „eine Art von volksthümlichem Charakter gegeben“
ſei.*) Dieſem Beamtenthum war es auch zu verdanken, daß einige heilſame
Neuerungen der Fremdherrſchaft, die mit dem preußiſchen Landrecht nicht
im Einklang ſtanden, dem Lande zum Theil erhalten blieben. Die guts-
herrliche Polizei wurde blos in den Gebieten der Mediatiſirten und des
reichsunmittelbaren Adels wieder eingeführt, und die Grundherren ver-
mißten ſie nicht. So gründlich war die feudale Geſellſchaftsordnung hier
im Weſten ſchon zerſtört. —


Unter allen Arbeiten der preußiſchen Verwaltung ward keine für die
Nation ſo fruchtbar wie die ſtille mühevolle Thätigkeit, welche die beiden
rheiniſchen Provinzen dem deutſchen Leben zurückgewann. Wie zuverſicht-
[267]Berg. Cleve.
lich hatten noch auf dem Wiener Congreſſe alle Gegner Preußens die Hoff-
nung ausgeſprochen: an dieſem deutſchfranzöſiſchen Sonderleben müſſe ſich
der norddeutſche Staat die Stirn einrennen. Der König verbarg ſich
die gefahrvolle Lage der entlegenen Weſtmark nicht und erklärte bei der
Beſitzergeifung offen: „die höhere Rückſicht auf das geſammte deutſche
Vaterland entſchied meinen Entſchluß; dieſe deutſchen Urländer müſſen
mit Deutſchland vereinigt bleiben, ſie ſind die Vormauer der Freiheit und
Unabhängigkeit Deutſchlands.“ Das Rheinland wurde für ein Menſchen-
alter das Schooßkind der preußiſchen Krone, aus dem nämlichen Grunde
wie einſt Schleſien unter Friedrich II. Auch die Mehrzahl der in den
Weſten berufenen altſtändiſchen Beamten ging voll Beſorgniß ans Werk
und erkannte erſt allmählich, wie dünn der galliſche Firniß war, der über
dieſen kernhaften deutſchen Stämmen lag.


Am ſprödeſten hatten die niederrheiniſchen Landſchaften abwärts von
Köln ihre deutſche Eigenart behauptet. Auf dem rechten Ufer in dem
freien Lande der Berge erſchienen die Preußen nicht als Fremde; hatte
doch ſeine proteſtantiſche Kirche mehr denn hundert Jahre lang unter
dem Schutze der preußiſchen Krone, ſein Landtag mit dem benachbarten
märkiſchen in ſtändiſcher Union gelebt. Der vaterländiſche Geiſt, den
die bergiſchen Landſtürmer im Jahre 1814 bewährt, ſtammte nicht von
geſtern. Noch erzählte man ſich gern, wie der „bergiſche Held“ Stücker
und ſeine tapferen Bauern einſt beim erſten Einfall der Ohnehoſen, gegen
den Willen des bairiſchen Landesherrn, den kleinen Krieg geführt hatten;
noch kannte jedes Kind im Lande das Schelmen-Vaterunſer, das ſchon
während der fridericianiſchen Kriege den franzöſiſchen Plünderern zum
Schimpf entſtanden war. Der rührige, ſchon längſt an die überſeeiſche
Ausfuhr gewöhnte Gewerbefleiß und die bunte Mannichfaltigkeit der kirch-
lichen Gegenſätze gaben hier dem Leben einen freien, großſtädtiſchen Zug.
Die Fabrikanten des Wupperthales nannten ihre Doppelſtadt Elberfeld-
Barmen bereits das deutſche Mancheſter, die Solinger ſprachen mit
Selbſtgefühl von dem Weltruhm ihrer Klingen, Alle fühlten ſich ſtolz
ihren Wohlſtand allein ſich ſelber zu verdanken und traten gutes Muths
in die großen Verhältniſſe des preußiſchen Staats hinüber, der ihrer
rüſtigen Kraft ein weites Arbeitsfeld eröffnete. Wohl keine andere Land-
ſchaft des Nordens beſaß ſo viele volksthümliche Männer, die auf eigene
Fauſt für das gemeine Wohl, für die Erweckung deutſchen Geiſtes
arbeiteten. Da war der allbekannte Eremit von Gauting, Freiherr v.
Hallberg, ein wüthender Franzoſenfeind, während des Krieges Feldhaupt-
mann des Landſturms an der Sieg und jetzt ſtets bei der Hand wenn
es galt die franzöſiſche Partei zu bekämpfen; dann der Herr Rath zu
Opladen, Deycks, der allgemeine Rechtsbeiſtand für die Wupperlande, der
Pfleger des Gartenbaus und der Ackerbauſchulen; dann Zuccalmaglio,
der Doctor zu Schlebuſch: der hatte noch unter der Fremdherrſchaft die
[268]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
erſten Muſikvereine geſtiftet, immer in der ſtillen Hoffnung dereinſt den
Franzoſen zum Tanz aufzuſpielen; dann der Burſcheider Paſtor Löh, der
bei allen Religionsparteien gleich angeſehen, allen Duldung und Frieden
predigte; dann der Prediger Aſcheberg, Herausgeber der auch in Weſt-
phalen weit verbreiteten und durch Vincke eifrig unterſtützten Zeitſchrift
Hermann. Ueber die Grenzen der Landſchaft hinaus reichte die Wirk-
ſamkeit des ſchlagfertigen Polyhiſtors Benzenberg. Der wackere Patriot
hatte ſich in ſeiner gewerbfleißigen Heimath eine volkswirthſchaftliche Bil-
dung erworben, die den übrigen deutſchen Publiciſten noch fehlte, und
dann im Verkehr mit Hardenberg und Gneiſenau gelernt, wie ſich die
politiſchen Dinge von oben betrachtet ausnehmen; er lieh dem Staats-
kanzler freiwillig ſeine unabhängige Feder und bekämpfte unverdroſſen mit
fröhlichem bergiſchem Freimuth die Vorurtheile der Rheinländer wider den
preußiſchen Staat.


Noch williger als Berg fanden ſich die altpreußiſchen Lande Cleve,
Mörs und Geldern in die neue Ordnung: nicht blos Weſel und Duis-
burg, die alten Burgen des ſtreitbaren Calvinismus, ſondern auch die
ſtrengkatholiſchen Landleute des linken Ufers, die bei der gnadenreichen
Mutter Gottes von Kevelaer ihren Troſt ſuchten. Das Volk dachte mit
Stolz an die lange Reihe glänzender Talente, welche der Staat der Hohen-
zollern dieſem entlegenen Winkel verdankte; eben jetzt hatte die kleine Stadt
Cleve dem preußiſchen Beamtenthum wieder vier ſeiner beſten Männer
geſchenkt: Maaſſen, Beuth, Sack und Sethe. In dem treuen Krefeld
trat die preußiſche Geſinnung ſo trotzig auf, daß die heimkehrenden franzö-
ſiſchen Gefangenen auf dem Durchmarſch kaum ihres Lebens ſicher waren;
die Seidenfabriken der rührigen Stadt erlitten durch die Trennung von
Frankreich zunächſt ſchwere Verluſte, aber ſo große Firmen wie das Haus
v. d. Leyen, ſo thätige, königliche Kaufleute wie de Greiff trauten ſich’s
ſchon zu, daß ſie die unvermeidlichen Leiden der Uebergangsjahre über-
ſtehen würden.


Weiter aufwärts am linken Ufer ward den preußiſchen Beamten der
alte Gegenſatz der weltlichen und der geiſtlichen Landſchaften bald fühlbar.
Die Grafſchafter in dem Saarbrückener Kohlenbecken gedachten noch immer
mit Liebe des naſſauiſchen Hauſes, das ſo lange unter ihnen geherrſcht
und in der alten Kirche von St. Arnual ſeine Ruheſtatt gefunden hatte;
die Pfälzer auf dem Hunsrücken und im Nahethale vergaßen der glän-
zenden Tage nicht, da das kleine Simmern der Stammſitz des mächtigſten
rheiniſchen Fürſtengeſchlechts geweſen; ſie alle, Katholiken wie Proteſtanten,
kannten die Wohlthaten deutſchen Fürſtenregiments und begrüßten mit
Freuden die preußiſche Herrſchaft, da die Rückkehr zu den alten Dynaſtien
doch unmöglich war. In den alten Krummſtabslanden dagegen, auch in
Aachen und in Jülich regte ſich überall eine mißtrauiſche ſtörriſche Unzu-
friedenheit. Hier fehlten gänzlich die monarchiſchen Ueberlieferungen, in
[269]Das linke Rheinufer.
denen die Staatsgeſinnung der Deutſchen wurzelte; denn auch Jülich, das
der Düſſeldorfer Hof immer als ein Nebenland behandelt hatte, kannte die
dynaſtiſche Treue kaum. Bereits verſtimmt durch die lange wirrenreiche
proviſoriſche Verwaltung, traten dieſe ſtaatloſen Menſchen jetzt unter
ein völlig fremdes Herrſcherhaus, das hier noch von den Zeiten des
Krummſtabs her als der arge Störenfried im Reiche galt und neuerdings
durch das Geſpött der Franzoſen in den übelſten Ruf gekommen war.
So viele politiſche Stürme waren in kurzen Jahren über den Rhein dahin-
gebrauſt; warum ſollte nicht auch dies ſo plötzlich ins Land geſchneite
Preußenthum wieder verſchwinden? Das Volk glaubte noch nicht an die
Dauer der neuen Herrſchaft, lauſchte begierig auf das immer wieder auf-
tauchende Gerücht, daß die Provinz gegen das Königreich Sachſen ausge-
tauſcht werden ſolle, und betrachtete das rückſichtsvolle Vorgehen der preu-
ßiſchen Regierung, das von dem herriſchen Gebahren der napoleoniſchen
Präfekten ſo ſeltſam abſtach, als ein Zeichen der Schwäche.


Was hier von nationalen Erinnerungen noch lebte wies auf die Habs-
burger und das heilige Reich zurück. Wie dürftig erſchien den Bürgern von
Aachen das Huldigungsfeſt der beiden rheiniſchen Provinzen, nach allen den
Kaiſerkrönungen, welche die ſtolze Stadt einſt geſehen. Im Kölner Lande
meinte man die Preußen zu kränken durch den alten Spruch: „halt feſt am
Reich du kölniſcher Bauer, mag es fallen ſüß oder ſauer;“ wie lange noch,
bis man erkannte, daß Preußen der Erbe des alten Reiches war! Obgleich
das geiſtloſe Regiment des Bonapartismus auch das kirchliche Leben ver-
flacht hatte und der Clerus des Rheinlands zu Anfang der Friedens-
jahre an Bildung weit ärmer war als die Geiſtlichkeit Weſtphalens oder
Baierns, ſo behauptete die Kirche noch immer ihr altes Anſehen. Es
war doch nicht blos das ſinnliche Behagen der Krummſtabsherrſchaft und
die reiche Pracht ihrer Hof- und Kirchenfeſte, was die Kurkölner und
Kurtrierer an ihre alte Kirche kettete. Der katholiſche Glaube wurzelte feſt
in den Gemüthern, er galt hier wie bei den Romanen als die einzig
mögliche Form des Chriſtenthums; der Geiſtliche war und blieb der ver-
ehrte Rathgeber des Volkes in allen Fragen des Lebens. Das hatten
ſchon die Jakobiner erfahren da ſie einſt, unter dem drohenden Murren
der Rheinländer, die Göttin der Vernunft auf den Altar ſetzten und das
Marienbild vom Bonner Schloſſe herabzureißen verſuchten. Als nun die
neuen proteſtantiſchen Beamten und Lehrer ins Land kamen, als die pari-
tätiſche Hochſchule eröffnet wurde, als in dem heiligen Trier am Jubel-
tage der Reformation wieder die evangeliſche Predigt erklang, zum erſten
male ſeit den Tagen des Erzketzers Olevianus, da begann das katholiſche
Volk zu klagen — nicht eigentlich aus Unduldſamkeit, ſondern weil dies
neue Weſen dem heimiſchen Brauche widerſprach. Der Provinzialgeiſt
hüllte ſich in kirchliche Gewänder: „wir ſind Rheinländer, hieß es jetzt,
und darum gut katholiſch.“


[270]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Mit gewandten Händen ſchürte die kleine, aber im Stillen wachſende
ultramontane Partei das Feuer des rheiniſchen Particularismus; ſie hatte
die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dieſe Kernlande der Prieſterherrſchaft
dereinſt der weltlichen Gewalt wieder zu entreißen. Wenn der Biſchof
von Trier jetzt zur Firmung ſeinen Sprengel bereiſte, dann gaben ihm
berittene Bauerburſchen, mit kurtrieriſchen Fahnen in der Hand, das
Geleite, was ſie unter franzöſiſcher Herrſchaft nie gewagt hatten. Nicht
minder laut als die Polen klagten die Rheinländer in den Biſchofs-
landen über die Unmaſſe der fremden Eindringlinge, die ihre Heimath
überſchwemmten. Die Beſchwerde ward ſo hartnäckig wiederholt, daß
ſie endlich auch in den freundlich geſinnten niederrheiniſchen Landſchaften
Anklang fand und ſogar Benzenberg pathetiſch verſicherte: das „Indigenat“
ſei das natürliche Recht jedes Volkes, ſchon der große Kurfürſt habe
den cleviſchen Landſtänden verſprochen, nur Landeskinder bei ihnen an-
zuſtellen. In der That war eine gründliche Säuberung des rheiniſchen
Beamtenthums erfolgt. Die Präfekten, alleſammt Franzoſen, hatten das
Land verlaſſen, desgleichen die Unterpräfekten, mit Ausnahme der drei
oder vier deutſchen; die Gemeindeverwaltung war völlig verwahrloſt, da
die Maires zumeiſt kein Franzöſiſch verſtanden und ihre Geſchäfte un-
wiſſenden Schreibern überließen. Dennoch verfuhr der König bei der
unvermeidlichen Neugeſtaltung ſehr ſchonend; er ſprach es als ſeinen „un-
abänderlichen Willen“ aus, daß Niemand am Rhein ſeine Stelle ver-
lieren dürfe, außer im Falle erwieſener Unfähigkeit. Vielen der kaiſerlichen
Beamten hielt man noch jahrelang ihre Stellen offen bis ſie ſich in Bonn
die wiſſenſchaftliche Bildung erworben hatten, welche das Geſetz von den
preußiſchen Staatsdienern verlangte. Im Jahre 1816 waren an den
ſechs rheiniſchen Regierungen angeſtellt: 207 Rheinländer, 23 Nichtpreußen,
159 aus den anderen Provinzen, die Letzteren zumeiſt in den ſubalternen
Aemtern, welche den ausgedienten Soldaten vorbehalten blieben: ſicherlich
ein billiges Verhältniß, zumal da die große Mehrzahl der rheiniſchen
Juriſten ſich dem Juſtizfache zugewendet hatte und die Gerichte auch
fernerhin faſt ausſchließlich aus Landeskindern beſtanden.*)


Aber die einmal erregte Erbitterung wider „das kalte, ſtarre Preußen-
thum“ fragte nichts nach Zahlen. Froh ihres geſegneten Landes, ihrer um
tauſend Jahre älteren Cultur, noch gänzlich unbekannt mit der deutſchen
Welt, die ihnen bei Frankfurt aufhörte, meinten die Rheinländer den Alt-
preußen in Allem überlegen zu ſein; „Litthauer ſeid Ihr“ — rief einmal
Görres ſeinen altländiſchen Freunden zu, und alle Coblenzer dachten wie er.
Beſonders anſtößig erſchien dieſem ganz bürgerlichen Volke, daß ſich unter
den altländiſchen Beamten auch einige Edelleute befanden. Eine Denk-
[271]Klagen der Rheinländer.
ſchrift des liberalen Publiciſten J. Weitzel erklärte dem Staatskanzler mit
naivem Selbſtgefühl: die Gerechtigkeit fordert, daß Jeder von Seines-
gleichen gerichtet werde; am Rhein iſt dieſe Wahrheit bereits allgemein
anerkannt, „weil es hier eine öffentliche Meinung unter aufgeklärten Men-
ſchen giebt“, daher dürfen im Rheinlande nur bürgerliche Beamte wirken.
Gleichwohl kamen Fälle der Widerſetzlichkeit gegen die Obrigkeit jetzt un-
gleich ſeltener vor als unter der franzöſiſchen Regierung, die doch den
Ungehorſam weit ſtrenger beſtrafte als das preußiſche Geſetz. Mochte
man beim Schoppen über die ſteifen Preußen klagen, denen die liebens-
würdige rheiniſche Kunſt des Lebens und Lebenlaſſens noch ſo fremd war:
die Natur forderte doch ihr Recht, im Stillen that es dieſen deutſchen
Menſchen doch wohl, daß ſie mit ihren Beamten wieder in der Mutter-
ſprache reden konnten. Unter dem Krummſtabe wie unter den Präfekten
glaubte alle Welt, jedes Geſetz könne durch Liſt oder Gunſt umgangen
werden. Bequem war es nicht, daß die Rheinländer dieſe Meinung jetzt
aufgeben und der Majeſtät des Rechtes ſich beugen mußten; aber die
makelloſe Rechtſchaffenheit des Beamtenthums und ſeine trotz vereinzelter
Mißgriffe unbeſtreitbare Einſicht erzwangen ſich endlich die Achtung des
Volks. Unter vier Augen hörte man ſchon zuweilen das halb widerwillige
Geſtändniß: „herb iſt der Preuß, aber gerecht.“ Oeffentlich durfte der
Preuße freilich nicht gelobt werden.


Die Unzufriedenheit galt gleichſam als das Stammesvorrecht des
echten Rheinländers, und ſie ward beſtändig genährt durch die Klagen über
den unerhörten Steuerdruck. Die Kirchenzehnten hatte das gläubige Volk
der Krummſtabslande willig entrichtet, weil Jeder dadurch mit dem Himmel
abrechnete; die franzöſiſchen Steuern galten als Kriegslaſten, man zahlte
ſchweigend weil man mußte. Dem proteſtantiſchen Könige aber zählte man
jeden Biſſen am Munde nach, und den Meiſten erſchien es noch wie eine
Ueberhebung, daß der weltliche Arm in Friedenszeiten Abgaben forderte. Als
nun gar unbeſtimmte Gerüchte von der Grundſteuerfreiheit der altländiſchen
Rittergüter an den Rhein drangen, da wuchs der Groll, und ein Menſchen-
alter hindurch glaubten faſt alle Rheinländer unerſchütterlich, ihr Land
werde zum Vortheil des Oſtens ausgebeutet. In Wahrheit befolgte Harden-
berg den Grundſatz, die ſchwierige Provinz durch Milde zu gewinnen. In
ſcharfen Worten befahl der König den Behörden, bei der Eintreibung rück-
ſtändiger Zahlungen Nachſicht zu zeigen, damit nicht um eines Geldge-
winnes willen „die vertrauende Anhänglichkeit“ des Volks verſcherzt werde.*)
Während der erſten Jahre erfreuten ſich die Rheinländer im Steuerweſen
offenbarer Begünſtigung; denn ſtand die Grundſteuer hier etwas höher
als im Oſten, ſo blieb man dafür, nach Aufhebung der droits réunis,
von indirekten Abgaben faſt ganz befreit. Auch als die neuen Zoll- und
[272]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Steuergeſetze erſchienen, wurden ſie im Weſten ſo mild gehandhabt, daß
Benzenberg zu dem Schluſſe kam: außer Poſen und Weſtphalen ſei keine
andere Provinz der Monarchie niedriger beſteuert. Mochten die Zahlen-
reihen des beredten Publiciſten immerhin der Kritik manche Blößen bieten:
unbeſtreitbar blieb doch, daß die Steuerlaſt ſeit der napoleoniſchen Herr-
ſchaft ſich erheblich gemindert hatte. Der Regierungsbezirk Aachen zahlte
im Jahre 1813 an Steuern 5 Thlr. 2 Sgr. 8 Pf. auf den Kopf, neun
Jahre darauf nur 4 Thlr. 8 Sgr. 6 Pf. worunter 14 Sgr. Communal-
abgaben. An der beſcheidenen Höhe der Gemeindeabgaben hatte die neue
Regierung auch ein Verdienſt; denn ſie half den rheiniſchen Städten bei
der Neuordnung ihres verwickelten Schuldenweſens und erließ ihnen die
bis zum Jahre 1815 rückſtändigen Zinſen, ſo daß die Mehrzahl der Com-
munen am Rhein ſich ungleich beſſer befand als die Städte des Oſtens
mit ihrer drückenden Kriegsſchuldenmaſſe. Trotz alledem kamen die Klagen
über die Steuerlaſt nie zur Ruhe; man redete, als ſei Preußen verpflichtet
die Rheinländer für die Befreiung vom fremden Joche beſonders zu belohnen.


Schon bei ihrem Einzuge waren die Verbündeten in den alten Krumm-
ſtabslanden nicht mit ſo ungetheilter Freude aufgenommen worden wie in
Berg; die Abgeordneten des linken Ufers verblieben damals alleſammt in
dem Pariſer Geſetzgebenden Körper — um den Tyrannen deſto ſicher zu
ſtürzen, wie ſie nachher behaupteten. Vollends jetzt, da man über die Preußen
murrte, gerieth der furchtbare Druck der napoleoniſchen Herrſchaft bald in
Vergeſſenheit; man dachte nur noch an ihre Wohlthaten, man ſchwärmte
wieder für die glorreichen Ideen von 89, man las mit Vorliebe franzöſiſche
oder belgiſche Zeitungen — denn die heimiſche Preſſe bot noch wenig, ſelbſt
die Kölniſche Zeitung war noch ein kleines Blatt mit kaum 2000 Abonnenten
— und ſchwor auf die neue Lehre, daß die Sonne über Europa im Weſten
aufgehe. Und doch bewies dies neu erwachende Franzoſenthum der Rhein-
länder nur, wie kerndeutſch das Volk empfand; der rheiniſche Liberalismus
entſprang derſelben conſervativ-particulariſtiſchen Geſinnung, welche ſich in
allen anderen preußiſchen Provinzen jeder Veränderung des alten Landes-
brauchs entgegenſtemmte. Das Volk liebte das Beſtehende weil es beſtand,
und die Regierung kam dieſen Wünſchen ſo weit als möglich entgegen. Die
geſammte wirthſchaftliche Geſetzgebung der Revolution, die ja im Weſent-
lichen den Gedanken der Stein-Hardenbergiſchen Geſetze entſprach, blieb un-
verändert; desgleichen vorläufig die franzöſiſche Gemeindeverfaſſung. Nur
die Präfekten und Unterpräfekten mußten den Regierungen und den Land-
räthen weichen; und ſelbſt dieſe heilſame Neuerung erregte lauten Tadel.
Da ſehe man doch, hieß es bitter, daß Preußen nur darauf ausgehe, das Be-
amtenheer ins Unendliche zu vermehren; ſo Großes wie der eine Lezay-
Marneſia, der unvergeßliche Präfekt des Rhein-Moſel-Departements, werde
das geſammte neue Coblenzer Regierungscollegium nicht ausrichten. Immer
wieder erzählte man ſich von finſteren Anſchlägen der Preußen gegen die
[273]Der rheiniſche Adel.
rheiniſche Freiheit, und wer nur auf die loſen Worte der Schoppenſtecher
hörte mochte leicht an dem Lande verzweifeln. Als der treffliche Land-
wirth Schwerz im Auftrage der Regierung die rheiniſchen Landgüter be-
reiſte, vernahm er in ſeiner Vaterſtadt Coblenz eine ſolche Fülle von
Zornreden, daß er dem Staatskanzler geſtand: „kein Menſch iſt mehr
hier, der nicht Gott auf den Knien danken würde, wenn das Land wieder
unter franzöſiſcher Botmäßigkeit ſtünde.“ Andere wohlmeinende Beobachter
verglichen die Provinz einem Vulkane, der jederzeit ausbrechen könne.*)


Erſchreckt durch ſo düſtere Berichte glaubte Hardenberg eine Zeit lang
ernſtlich an einen möglichen Abfall. In Wahrheit wurde die Wiederver-
einigung mit Frankreich nur von einer kleinen Minderheit am Rhein auf-
richtig gewünſcht. Die Rheinländer wußten wohl wie kräftig ihr Wohlſtand
jetzt wieder aufwuchs, und dies Band der wirthſchaftlichen Intereſſen erwies
ſich ſtärker als die franzöſiſchen Sympathien. Von geheimen Verſchwö-
rungen ſtand hier ohnehin nichts zu fürchten; dafür bürgte die beſte Tugend
des rheinfränkiſchen Volks, ſein offenherziger Gradſinn. Das Tadeln
und Schelten freilich über „die Revolution“, wie man den neuen Herr-
ſchaftswechſel nannte, nahm in den nächſten Jahren ſtets zu. Denn das
ältere Geſchlecht kannte noch aus Erfahrung die Plünderungen der republi-
kaniſchen Löffelgarde; die Jungen aber, die jetzt heranwuchſen, hatten einſt
im Lyceum am Napoleonstage und am Auſterlitztage die Feſtreden auf
die Glorie der weltbeherrſchenden Tricolore mit angehört, ſie hatten in
den Jahren, welche der Mehrzahl der Menſchen das Leben beſtimmen,
den großen Kaiſer geſehen, wie er in der Poppelsdorfer Allee ſeine präch-
tigen Küraſſiere muſterte. Und da nun der Liberalismus überall die fran-
zöſiſche Freiheit wieder zu bewundern begann, ſo prunkte gerade dies Ge-
ſchlecht, das in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stimmung am
Rhein beherrſchte, gern mit ſeiner franzöſiſchen Bildung; der wälſche
Befehl „Dutzwitt“ klang ihm vornehmer als das deutſche „raſch“, die
Landsmannſchaften der Rhenanen auf den weſtdeutſchen Univerſitäten
trugen alleſammt die franzöſiſchen Farben, und die alten landläufigen Ge-
ſchichten von den Schandthaten der Sansculotten wurden jetzt den Ko-
ſaken nachgeſagt.


Das Mißtrauen der Provinz gegen die Regierung fand ſtets neue
Nahrung an den Sonderbeſtrebungen der rheiniſchen Ritterſchaft. Nir-
gends im Reiche hatte der Adel ſchwerere Einbußen erlitten. Vor einem
Menſchenalter beherrſchte er noch das Land durch ſeine Domcapitel, faſt
zwei Drittel des Bodens gehörten der Ritterſchaft und der Kirche. Jetzt war
der Großgrundbeſitz ſo vollſtändig vernichtet, daß ein Gut von 50 Morgen
ſchon zu den großen Gütern gerechnet wurde. Im trier’ſchen Regierungs-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 18
[274]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
bezirke zählte man nur 102 Grundeigenthümer mit mehr als 300 Morgen
Beſitz, im Aachener nur 80, im Düſſeldorfer nur einen einzigen. Von
den alten landtagsfähigen Geſchlechtern waren in Berg noch 24, in Cleve
gar nur fünf, darunter blos zwei begüterte, übrig. Ein ſcharfer Unter-
ſchied von Stadt und Land, von Grundherren, Bürgern und Bauern be-
ſtand nicht mehr, und dieſe radikale Zerſtörung der alten ſtändiſchen Glie-
derung war eine unwiderrufliche Thatſache, denn hier an Deutſchlands
belebteſter Handelsſtraße war ſtädtiſches Weſen ſchon im Mittelalter auf
das flache Land hinausgedrungen, die Revolution vollendete hier nur mit
einem Gewaltſtreiche, was durch die intenſive Wirthſchaft der dichten
Bevölkerung längſt vorbereitet war. Die wenigen Ritterbürtigen, welche
den Untergang der rheiniſchen Adelsmacht überlebt hatten, die Wylich,
Mirbach, Spee, Neſſelrode konnten ſich in den Umſchwung der Dinge nicht
finden; ſie erwarteten von den Befreiern die Wiederkehr der guten alten
Zeit und verlangten ſofort im Namen deutſchen Rechtes und deutſcher
Ehre die Herſtellung der Zehnten, der Jagdrechte, der Fideicommiſſe. Die
Beamten aber, die eingebornen wie die altländiſchen, warnten den Staats-
kanzler; denn ſie wußten, daß der Gedanke der ſocialen Gleichheit den
Rheinländern der theuerſte aller politiſchen Grundſätze war; und wäh-
rend Vincke auf Grund ſeiner weſtphäliſchen Erfahrungen die gebundene
Erbfolge vertheidigte, erklärten die rheiniſchen Präſidenten und Landräthe
wie aus einem Munde: auf der freien Theilbarkeit des Bodens beruhe
die wirthſchaftliche Blüthe des Rheinlandes.*) Daher wurden die Ritter-
bürtigen höflich abgewieſen, und ſeit dieſer Enttäuſchung begannen ſie dem
preußiſchen Staate zu grollen; nur die von Altersher durch Bildung und
freien Sinn ausgezeichneten Fürſtenhäuſer von Wied und Solms traten
zu der Krone in ein würdiges Verhältniß. Das Volk aber ließ ſich’s nicht
ausreden, daß der Preuße mit dem Adel unter einer Decke liege. Vier
Jahre nach der Huldigung ſchilderte Solms-Laubach die Geſinnungen der
Provinz alſo: So lange nicht das Unmögliche geſchieht kann eine voll-
kommen gute Stimmung nicht bewirkt werden: wenn nicht der Adel ſeine
Zehnten zurückerhält, der Bauer aber nicht mehr zehntet.**)


Trotz alledem verwuchs dies bunte, aus altgeiſtlichem und neufran-
zöſiſchem Weſen ſo eigenthümlich gemiſchte landſchaftliche Sonderleben un-
merklich und ſicher mit dem neuen Staate. Von den beiden Oberpräſi-
denten hatte der eine, Miniſter v. Ingersleben in Coblenz, während des
Krieges an der Spitze der pommerſchen Verwaltung geſtanden und die
Rüſtung der Landwehr mit Umſicht geleitet; den Rheinländern gefiel der
alte Herr durch Wohlwollen und gaſtfreundliche Heiterkeit. Der Andere,
[275]Ingersleben. Solms-Laubach.
Graf Solms-Laubach in Köln, Steins Freund und Gehilfe bei der deut-
ſchen Centralverwaltung, übernahm ſein Amt aus patriotiſchem Pflichtge-
fühl, arbeitete ſich mit großem Fleiß in die Verwaltungsgeſchäfte ein und
vergaß den mediatiſirten Herrn ſo völlig über dem monarchiſchen Beamten,
daß die begehrlichen Ritterbürtigen ihn bald als einen Abtrünnigen be-
trachteten; er kannte ſeine rheiniſchen Landsleute und verbot ſeinen Unter-
gebenen den herriſchen altpreußiſchen Ton, den das Selbſtgefühl der Rhein-
franken nicht erträgt. Keiner von Beiden beſaß die Selbſtändigkeit Vinckes;
aber ſie fanden kräftige Hilfe bei der Geſammtheit des Beamtenthums,
das faſt durchweg aus tüchtigen Männern beſtand und, von dem geiſt-
reichen trier’ſchen Regierungspräſidenten Delius an bis herab zum letzten
Gensdarmen, inmitten der argwöhniſchen Bevölkerung feſt zuſammenhielt.


Wer nur offenen Auges um ſich ſchaute, konnte überall auf Märkten und
Gaſſen bemerken, wie dieſem Lande mit der Befreiung vom fremden Joche
auch die bürgerliche Freiheit und die alten vaterländiſchen Bräuche zurück-
kehrten. Die Schmuggler und die Deſerteure, die Landplage der napo-
leoniſchen Zeit, verſchwanden ſofort, mit ihnen das unſelige Häſcher- und
Späherweſen. Die Städte ſchmückten ſich wieder mit ihren ſtolzen Wappen,
die bisher als Symbole des Foederalismus verfehmt waren; auch die
alten, von den Franzoſen abgeſchafften Kirmeſſen und Schützenfeſte lebten
wieder auf, freilich ſah man in dem Fahnenſchmucke der Feſtplätze faſt nie-
mals die Adlerfahne, der das Volk doch das Wiedererwachen der rhei-
niſchen Luſtigkeit verdankte. Der Kölner Carneval hatte ſich unter Napoleon
ſchüchtern in die Häuſer zurückgezogen; jetzt klangen die fröhlichen Rufe:
Alaaf Köln! und Geck loß Geck elans! wieder auf den Gaſſen, die köl-
niſchen Funken hielten ihre närriſche Parade, und damit den Preußen doch
der Dank nicht fehle wurde wohl einmal ein großer, mit einem Lorbeer-
kranz geſchmückter Stockfiſch auf hoher Stange plötzlich über die Volks-
menge emporgehoben und mit einem ſtürmiſchen „Heil Dir im Sieger-
kranz“ begrüßt; der ſchweigſame König mißfiel den Rheinländern gründlich,
wie viel beſſer lebte ſich’s doch mit der ausgelaſſenen Munterkeit des witzigen
Kronprinzen. Im Jahre 1822 trat dann ein Verein zuſammen, der die
Leitung des ſchönen Volksfeſtes in die Hand nahm und in ſeinen glän-
zenden Maskenzügen den Reichthum und das Behagen der neu auf-
blühenden rheiniſchen Hauptſtadt mit jedem Jahre deutlicher bekundete.
Um dem Rheinlande ihre Duldſamkeit zu zeigen, geſtattete die Regierung
auch, gegen das napoleoniſche Geſetz, den öffentlichen Umzug kirchlicher
Proceſſionen; ſeit dem Jahre 1818 wurde das Frohnleichnamsfeſt in Köln
wieder mit dem alten Pomp unter freiem Himmel gefeiert. Wunderbar,
wie die romantiſchen Ideen, die bisher nur in dem engen Kreiſe der
Boiſſerees gelebt hatten, jetzt mit einem male ins Volk drangen, wie die
Rheinländer anfingen ſich ihrer großen Geſchichte wieder zu erinnern. Als
die Franzoſen die Kunſtwerke aus Köln und Aachen entführten, hatte Nie-
18*
[276]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
mand viel darnach gefragt; jetzt da die Preußen den Raub zurückbrachten,
veranſtalteten beide Städte Freudenfeſte. Drei Jahre ſpäter legte Cano-
nicus Wallraf durch eine großartige Schenkung den Grund für die Kunſt-
ſammlungen Kölns. Mit Eifer nahm ſich die Regierung der alten Bau-
werke des Landes an; als der König und der Kronprinz zum erſten male
nach Trier kamen, hielten ſie ihren Einzug durch die Porta Nigra, die
ſoeben wieder frei gelegte Thorburg der Caeſaren. Ihr Beiſpiel wirkte
heilſam auf die Geiſtlichkeit, und endlich kam die Zeit, da der bisher ſo
über berufene rheiniſche Clerus ſich durch Kunſtſinn und hiſtoriſche Bil-
dung vor allen ſeinen deutſchen Standesgenoſſen auszeichnete.


Im Rheinthal begannen ſofort mächtige Strombauten; der Leinpfad
war unter franzöſiſcher Herrſchaft faſt zerſtört, das Strombett arg vernach-
läſſigt, und es währte noch ſechzehn Jahre bis die Rheinſchiffer bei Binger-
brück dem Könige ein Denkmal errichteten, weil er die berüchtigte Durchfahrt
durch das Bingerloch auf das Zehnfache hatte erweitern laſſen. Etwas beſſer
hatten die Präfekten für den Wegebau geſorgt; doch iſt ſelbſt die wichtigſte
Landſtraße der Provinz, die Köln-Coblenzer erſt durch Preußen vollendet
worden. Von Jahr zu Jahr ward es lebendiger auf dem Hafendamme
am Baienthurm zu Köln, wo vor Kurzem noch Gras wuchs. Das ver-
armte Köln ſchickte ſich ſchon an das reiche Straßburg zu überflügeln, in
dem einſt ſo ſchmutzigen Coblenz ſahen die Rheinſchiffer jetzt eine lange
Zeile ſtattlicher Häuſer über die neue Feſtungsmauer aufragen; alle preu-
ßiſchen Städte in den Rheinlanden nahmen raſcher zu als die franzöſiſchen
und die kleinfürſtlichen. Der niederrheiniſche Gewerbfleiß erholte ſich ſo
ſchnell, daß die Wupperthaler ſchon im Jahre 1821 ihre rheiniſch-weſt-
indiſche Compagnie gründen konnten, und zu dieſen altberühmten Induſtrie-
plätzen trat jetzt ein neuer hinzu: das Kohlenbecken von Saarbrücken. Die
Staatsbergwerke dort förderten im Jahre 1815 mit 500 Arbeitern 1 Mill.
Ctr. Kohlen und ſteigerten ihren Ertrag in kurzer Zeit auf das Zweifache
— zur großen Befriedigung des wackeren Bergmeiſters Bleibtreu, der einſt
zuerſt dem Staatskanzler erklärt hatte, wie unentbehrlich dies zukunftsreiche
Gebiet für Preußen ſei. Dem rheiniſchen Weinbau war die Verbindung
mit dem rebenreichen Frankreich nicht günſtig geweſen; jetzt erſchloß ſich
ihm der große norddeutſche Markt, und ſobald die beiden fröhlichen Wein-
jahre 18 und 19 den Winzern nach ſchweren Mißernten wieder Mittel
und Muth verſchafft hatten, ſchritt man überall, vornehmlich an der Moſel,
zum Anbau neuer Reben, ſo daß das Weinland in manchen Gemeinden
ſich verdoppelte und Trevir metropolis jetzt mit beſſerem Rechte denn
je ſeinen geiſtlichen Ehrennamen Baccho gratissima führte.


Eine nahezu hoffnungsloſe Aufgabe erwuchs der neuen Regierung
aus jener gräulichen Waldverwüſtung, welche der waldesfrohe Germane
den Wälſchen unter allen ihren Sünden am wenigſten verzieh. Der
bergiſche Bauer ballte die Fauſt, wenn ihm Einer von dem alten Stolze
[277]Fortſchritte des Deutſchthums am Rhein.
des Landes, dem Königsforſt und dem Frankenforſt ſprach. Von allen
den hundertjährigen Eichen und Buchen ſtand keine einzige mehr; und
was die Entwaldung der rauhen Höhen des Hunsrücks und der Eifel für
das Klima und den Bodenbau bedeutete, das lernte man erſt jetzt mit
Schrecken kennen, wenn plötzlich nach einem Gewitter die Gießbäche vom
Gebirg ins Moſelthal herunterſtürzten und in wenigen Augenblicken die
Fruchterde hinwegſchwemmten, welche der arme Winzer in monatelanger
Arbeit die ſteilen Schieferfelſen hinauf getragen. Und welche Maſſen
von Raubzeug hatte die läſſige Jägerei der Wälſchen aufwachſen laſſen.
Dicht hinter Bonn, im Kottenforſt ſchoß man noch Wölfe; noch 1817
wurden ihrer 159 im Regierungsbezirk Trier erlegt. Der erſte deutſche
Forſtmann jener Tage, Landforſtmeiſter Hartig, kam ſelber von Berlin
herüber; er hatte ſich einſt, in den Zeiten der großen Domänenverkäufe,
ein bleibendes Verdienſt um die alten Provinzen erworben, als er durch-
ſetzte, daß die Wälder nicht mit veräußert wurden. Hier im Weſten ver-
ſuchte er zu retten was noch zu retten war; manche Aufforſtung ward be-
gonnen, eine ſtrenge Forſtpolizei eingeführt, die unter den Bauern viel
Groll erregte; aber wer konnte den Winden wehren, die über das kahle
Schiffelland der Eifel ſtrichen? Die ungeheure Verwüſtung war nie wieder
ganz zu heilen.


Beſſere Früchte trug die Umgeſtaltung des Unterrichtsweſens. Als
die Preußen einzogen, fand Joh. Schulze die Schule „ruchlos vernach-
läſſigt.“*) Da der franzöſiſche Staat den Volksſchulen niemals eine Unter-
ſtützung gewährte, ſo beſaß mehr als ein Drittel der Gemeinden gar keine
Schule, viele Bauerſchaften meinten genug zu thun, wenn ſie einem Wan-
derlehrer im Winter vier Monate lang einen Platz auf einer Tenne ein-
räumten. Drei Fünftel der Kinder wuchſen ohne jeden Unterricht auf.
Auch die niederen Lehranſtalten der Städte erhoben ſich ſelten über die
Leiſtungen jener berufenen altbiſchöflichen Schulen, welche den bezeichnenden
Namen Silentium führten; nur da und dort hatte ein tapferer Pädagog,
wie der Kreuznacher Rector Weinmann, in ſchwerem Kampfe mit den
franzöſiſchen Behörden, deutſchen Geiſt unter ſeinen Schülern wach er-
halten. Welch eine Arbeit, bis hier der preußiſche Grundſatz der allge-
meinen Schulpflicht zur Wahrheit wurde. Die Wohlthat kam vor Allen
den Katholiken zu gute, deren Schulen am tiefſten darniederlagen; aber
die neuen Lehrer aus dem Seminar zu Trier hatten oft einen harten
Stand, da viele der rheiniſchen Pfarrer einſt Mönche geweſen und den
Anſchauungen des Kloſters nicht entwachſen waren.


Unhemmbar fluthete der Strom deutſcher Bildung wieder über das be-
freite Grenzland herein. Bis vor Kurzem war das geſammte Rheinland,
ſelbſt das rechte Ufer, für den deutſchen Buchhandel noch ein todtes Gebiet,
[278]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſogar das reiche Wupperthal beſaß zu Anfang des Jahrhunderts keine
einzige Buchhandlung; jetzt bildete ſich in Bonn ein neuer Mittelpunkt
für den literariſchen Verkehr, und der rührige Perthes knüpfte ſogleich
ſeine Geſchäftsfreundſchaften an. Die alten Kölner Patricier ſprachen,
wie die Straßburger heute, in Geſellſchaft franzöſiſch, unter ſich im Dialekt;
die jungen mußten nun doch ein verſtändliches Hochdeutſch lernen. Manches
Jahr ernſten Kampfes und gehäſſiger gegenſeitiger Verkennung ſollte noch
dahingehen, bis die neue Provinz ihres Staates froh wurde. Wer aber
die geiſtreichen, erregbaren, bildſamen, für alles Fremde empfänglichen
Rheinfranken ſo gründlich kannte wie der treue Arndt, der bezweifelte ſchon
jetzt nicht, daß dieſem Volke die Berührung mit dem ſcharfen altpreußiſchen
Weſen zum Heile gereichen mußte. Nur die Fäulniß ſeines Staates, nur
die Unnatur der Theokratie und der Fremdherrſchaft hatte dieſen hoch-
begabten Stamm ſo tief herabgebracht; nur ein ſtarker Staat konnte ihn
emporheben, und das ſchönſte und älteſte aller deutſchen Lande wieder
mit der rüſtigen Kraft des neuen nationalen Lebens befruchten. —


Dergeſtalt befand ſich das halbe, oder im Grunde das geſammte
Staatsgebiet in einem Zuſtande der Umbildung. Der Staat bedurfte für
einige Jahre der monarchiſchen Dictatur. Gewiß konnte das Werk der
Verwaltungsreform ſeinen Abſchluß nur in der Reichsverfaſſung finden,
deren Nothwendigkeit der König ſelbſt in ſo vielen Kabinetsordres aner-
kannt hatte; gewiß konnten die unzähligen widerſtrebenden Elemente des
Staates nur durch die anhaltende Gemeinſchaft politiſcher Arbeit und
Parteiung zu lebendiger Staatsgeſinnung erzogen werden; aber die Grund-
lagen der Verwaltung mußten doch erſt feſtſtehen, ehe man die Krone mit
parlamentariſchen Formen umgab. Dieſe Millionen ſchwediſcher und pol-
niſcher, ſächſiſcher und franzöſiſcher Herzen bedurften der Zeit, um ihren
Kummer auszuweinen, in die neuen Verhältniſſe ſich zu finden. Wer
durfte es verantworten, die particulariſtiſchen Vorurtheile, die tauſend ver-
letzten örtlichen Intereſſen eines politiſch noch gänzlich ungeſchulten Volkes
ſogleich im parlamentariſchen Kampfe auf einander platzen zu laſſen? die
allgemeine Wehrpflicht, die Steuergeſetze, die Eintheilung der Provinzen
jetzt ſchon den Angriffen einer Oppoſition auszuſetzen, die von den Lebens-
bedingungen eines großen Staates nichts ahnte und zum Theil offenbar
landesverrätheriſche Abſichten hegte?


Zu Preußens Unheil war der König nicht mehr in der Lage, den
Zeitpunkt für die Begründung der Verfaſſung frei zu wählen. Er
ſelber hatte ſich der Freiheit beraubt, als er jene unſelige Verordnung
vom 22. Mai 1815 unterſchrieb, welche die Berufung einer aus den Pro-
vinzialſtänden gewählten Repräſentation des Volkes verhieß. Im ſelben
[279]Das Verfaſſungs-Verſprechen.
Sinne verſprachen ſodann die Beſitzergreifungspatente den Schwediſch-
Pommern und, im Weſentlichen gleichlautend, den Sachſen: „die ſtändiſche
Verfaſſung werden Wir erhalten und ſie der allgemeinen Verfaſſung an-
ſchließen, welche Wir Unſerem geſammten Staate zu gewähren beabſich-
tigen.“ Auch den übrigen neuen Provinzen wurden Provinzialſtände und
Theilnahme an den Reichsſtänden zugeſagt. Das königliche Wort war
verpfändet, und ſtürmiſch forderte die patriotiſche Preſſe, deren Gedanken
ſich allein um das conſtitutionelle Ideal bewegten, die Einlöſung des Ver-
ſprechens. Raſches Handeln ſchien den Ungeduldigen um ſo mehr ge-
boten, da die interimiſtiſche Nationalrepräſentation, welche den alten Pro-
vinzen die letzten Jahre über als gemeinſames ſtändiſches Organ gedient,
im Sommer 1815 endlich aufgelöſt wurde. Dieſe Verſammlung ſelbſt
hatte noch kurz vor ihrem Ende, am 7. April, auf den Antrag des ober-
ſchleſiſchen Deputirten Elsner v. Gronow beſchloſſen, den König um
ſchleunige Einführung einer definitiven Landesrepräſentation und Wieder-
belebung der Provinzialſtände zu bitten.*)


Als Hardenberg den König in Wien zur Gewährung jener verhäng-
nißvollen Zuſage bewog, ſtellte man ſich die Erfüllung noch ſehr leicht
vor; der erſte Vorſchlag ging dahin, daß ſchon am 1. Juni unter dem
Vorſitz des Staatskanzlers eine aus Beamten und aus Eingeſeſſenen der
Provinzen gebildete Commiſſion zuſammentreten und bis zum 1. Sept.
die preußiſche Verfaſſung zu Stande bringen ſollte. Dies Aeußerſte des
Leichtſinns wurde noch glücklich abgewendet, da der Krieg vor der Thür
ſtand; die Verordnung ſchob den Zuſammentritt der Verfaſſungscommiſſion
auf den 1. September hinaus. Aber auch dieſer Zeitpunkt konnte nicht
eingehalten werden, weil der König und ſeine Räthe den Pariſer Congreß
nicht verlaſſen durften. Als ſie endlich heimkehrten, da mußten ſie nicht
nur die Verfaſſungsarbeit abermals vertagen wegen der unaufſchieblichen
Verwaltungsorganiſation; es zeigte ſich auch bald, daß jene von den Libe-
ralen ſo hoch geprieſene Verordnung nichts anders war als eine unver-
antwortliche Leichtfertigkeit Hardenbergs, der ſchwerſte von allen ſeinen poli-
tiſchen Fehlern. Im Jahre 1808 hatten allerdings auf Steins Veran-
laſſung Vincke, Schön und Staatsrath Rhediger einige Entwürfe und
Vorſchläge für die künftige Verfaſſung niedergeſchrieben; doch von Alledem
war wenig mehr zu gebrauchen ſeit das Staatsgebiet ſich verdoppelt hatte.
Die neue Verordnung ſelber bot auch keinen feſten Anhalt, ja ſie erwies ſich,
ſobald man ſchärfer zuſah, als eine Kette von Räthſeln und Widerſprüchen.
Die Provinzialſtände, ſo befahl ſie, ſollten hergeſtellt und aus ihnen der
allgemeine Landtag gewählt werden. Aber beſtanden denn wirklich noch
Stände, welche als eine Vertretung der ſoeben erſt neugebildeten Pro-
vinzen gelten konnten? Beſaßen ſie noch unbeſtrittene Rechte? Wie ſollte
[280]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
man die ſtändiſche Verfaſſung der neuen Provinzen erhalten und ſie der
allgemeinen Verfaſſung anſchließen? Hieß das nicht, dieſe Provinzen als
unabhängige Staaten anerkennen und ſie zugleich einem neuen Staate
einfügen? Und erhielt man ihre Verfaſſung, durften ſie dann nicht for-
dern, daß die allgemeine Verfaſſung nur mit Zuſtimmung ihrer Stände
geſchaffen werde? Ein Gewirr verwickelter, unlösbarer Rechtsfragen erhob
ſich hier; der Staat ſelber forderte den ſtändiſchen Particularismus ſeiner
Landſchaften heraus, die unbedachte Zuſage der Krone gab das Signal
zu einem Verfaſſungskampfe, der die Grundfeſten der ſchwer errungenen
Staatseinheit bedrohte.


So unglücklich die Form der Verordnung vom 22. Mai, ebenſo um-
faſſend war der Plan, der ihr zu Grunde lag. Hardenberg nahm die
weitgreifenden Reformgedanken aus Steins kräftigſten Tagen wieder auf;
er beabſichtigte eine neue Kreis- und Gemeindeordnung für den geſammten
Staat, aus den Kreisſtänden ſollten dann die Provinzialſtände, aus dieſen
die Reichsſtände hervorgehen. Nichts lag ſeinen Anſichten ferner als eine
geiſtloſe Nachahmung der franzöſiſchen Charte von 1814; vielmehr ver-
ſuchte er die Formen der alten deutſchen Landſtände umzubilden für die
Zwecke des modernen Repräſentativſyſtems. Die königliche Verordnung ge-
brauchte die Worte „Repräſentation des Volks“ und „Stände“ abwechſelnd
als gleichbedeutende Ausdrücke; die Abſicht war, einen in drei Stände ge-
gliederten Reichstag zu bilden, der aber gänzlich auf dem Boden des Staats-
rechtes ſtehen, nicht die wohlerworbenen Rechte einzelner privilegirter Klaſſen,
ſondern die Intereſſen des geſammten Volks vertreten ſollte. Der Plan
ſtimmte zu den Anſchauungen der Zeit; denn obwohl die Eintheilung der
Nation in Ritterſchaft, Bürger und Bauern den Zuſtänden der modernen
Geſellſchaft, namentlich im Weſten, längſt nicht mehr entſprach, ſo war
doch die öffentliche Meinung noch daran gewöhnt. Auch die neuen ſüd-
deutſchen Verfaſſungen gingen von ähnlichen Grundſätzen aus: die erſte
Kammer war überall eine altſtändiſche Körperſchaft, im Weſentlichen eine
Adelsvertretung, die zweite Kammer in der Regel in mehrere ſtändiſche
Gruppen gegliedert. In Preußen beſtanden die neuen Kreisverſamm-
lungen, wie die Nationalrepräſentation von 1811, aus den Vertretern der
drei Stände; und obgleich der Staatskanzler für ſociale Unterſchiede keine
Vorliebe hegte, ſo erkannte er doch die Nothwendigkeit, die Neuerungen an
das Gewohnte und Hergebrachte anzuſchließen.


Aber ſelbſt eine ſolche zwiſchen dem Alten und dem Neuen vermittelnde
Verfaſſung begegnete in Preußen einem Widerſtande, den die Staaten des
Südens nicht zu überwinden hatten; er entſprang den großen, mannich-
faltigen Verhältniſſen dieſes Staats und jener klugen Schonung, welche
die Hohenzollern in dem langen Kampfe gegen die ſtändiſche Libertät
immer bewieſen. In den Staaten des Rheinbundes waren die alten Land-
tage durch die rohen Fäuſte eines despotiſchen Beamtenthums längſt be-
[281]Die Verordnung vom 22. Mai 1815.
ſeitigt, der Bau der neuen Verfaſſungen erhob ſich hier auf einer kahlen
Fläche; nur in Württemberg verſuchten die aufgehobenen Stände ihre
Rechte wiederzuerlangen. In Preußen aber hatten ſich faſt überall noch
ſchwache Reſte der alten Territoriallandtage erhalten. Da rief plötzlich
die vieldeutige königliche Verheißung uralte längſtvergeſſene Anſprüche in
den kraftloſen Körpern wach; der Schutt und Moder der Jahrhunderte
ſtäubte durch die Luft. Der Kampf der Staatseinheit gegen die Klein-
ſtaaterei, nahezu ausgefochten auf dem Gebiete der Verwaltung erneuerte
ſich in der Verfaſſungsfrage. Während die Maſſe des Volkes in tiefer
Abſpannung verharrte, fanden allein die altſtändiſchen Anſprüche rührige,
thatkräftige Vertheidiger, und da den Völkern nur geſchenkt wird, was ſie
ſich ſelbſt verdienen, ſo erſchienen die alten Landſtände mächtiger als ſie
waren und errangen ſchließlich noch einen halben Erfolg.


Welch ein Abſtand, wenn man hinüberblickte von der monarchiſchen Ver-
waltung Preußens zu ſeinen Landſtänden! Dort Alles Einheit, Ordnung,
Klarheit, hier ein unüberſehbares Durcheinander, faſt jedes Recht beſtritten.
Die ſtändiſchen Landſchaften deckten ſich nirgends mit den Verwaltungs-
bezirken des Staats; ihre Verfaſſung ruhte durchgängig auf den privat-
rechtlichen Gedanken des Patrimonialſtaats, war von den Rechtsbegriffen
des modernen Staats durch eine weite Kluft getrennt; nirgends beſtand
eine Vertretung aller Klaſſen. Die Befugniſſe der Stände beſchränkten
ſich zumeiſt auf die Verwaltung der ritterſchaftlichen Creditanſtalten und
Feuerſocietäten, auf die Repartition einiger Steuern u. dgl. Weitaus am
kräftigſten hatte ſich das alte Ständeweſen in Oſtpreußen behauptet, weil
hier doch ein Theil der Bauern, die Kölmer, im Landtage vertreten war.
Noch im Frühjahr 1813 hatte der Königsberger Landtag ſeine Tüchtigkeit
erprobt, und recht aus dem Herzen ihrer Landsleute erklärten die Stände
des Mohrunger Kreiſes dem Staatskanzler: dieſe alte von den Vorfahren
ererbte Verfaſſung ſei allein dem deutſchen Nationalgeiſt angemeſſen.*)
In Weſtpreußen dagegen waren alle ſtändiſchen Befugniſſe zweifelhaft.
Nachdem Friedrich der Große die alten polniſchen Stände aufgehoben, hatte
ſein Nachfolger in ſeinem Gnadenjahre eine Verordnung über die ſtän-
diſchen Rechte erlaſſen. Sie blieb unausgeführt. Während der Kriegs-
jahre berief die Regierung mehrmals ſtändiſche Verſammlungen, deren
Zuſammenſetzung ſie ſelber beſtimmte. Was in Wahrheit zu Recht be-
ſtehe, wußte Niemand zu ſagen, noch weniger, ob Danzig und die War-
ſchauer Landestheile, die jetzt zu der Provinz hinzutraten, einen Antheil
an den ſtändiſchen Rechten beanſpruchen durften.


In Pommern beſtanden noch dem Namen nach die hinterpommerſche
und die vorpommerſche Landſtube, eine Vertretung der Prälaten, der Ritter-
ſchaft und der Immediatſtädte, ohne jede Theilnahme der Bauern und
[282]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
der kleinen Städte. Aber der vormals übermächtige Landtag war ſeit
1810 nicht mehr verſammelt worden; ſeit der Bauernſtand mit Eifer die
neuen Kreisverſammlungen beſchickte, gerieth die alte Oligarchie dermaßen
in Vergeſſenheit, daß die Stargarder Regierung in Berlin anfragte, ob
die Landſtuben noch beſtünden. Der Beſcheid lautete, das werde ſich erſt
entſcheiden, wenn über die Herſtellung der Provinzialſtände beſchloſſen
ſei.*) In Schleſien hatte Friedrich der Große die Fürſtentage der kaiſer-
lichen Zeit bis auf die letzte Spur beſeitigt.


Um ſo lauter redeten Hardenbergs alte Gegner, die kurmärkiſchen
Stände. Eigenthümlich war dieſem Landtage, der wie in Pommern nur
die Prälaten, die Ritterſchaft und die Immediatſtädte vertrat, eine alte
überaus verwickelte Schuldenverwaltung, „die kurmärkiſche Landſchaft“.
Die Stände hatten im ſechzehnten Jahrhundert bedeutende landesherrliche
Schulden übernommen und verwalteten ſeitdem zu deren Verzinſung den
Ertrag einiger Auflagen, welche aber nicht von ihnen ſelbſt, ſondern von
dem vielgeplagten „contribuablen Stande“ bezahlt wurden. Es war das
Muſterbild einer feudalen Verwaltung, die ja überall, gleich dem feudalen
Heerweſen, durch unerreichte Koſtſpieligkeit ſich auszeichnete. Eine Ein-
nahme von 300,000 Thlr. jährlich wurde erhoben mit einem Aufwande
von 50,000 Thlr. an Gehalten und Diäten.**) Nachdem die Krone ſchon
in den erſten Jahren der Hardenbergiſchen Verwaltung die Marſch- und
Moleſtienkaſſe nebſt einigen anderen Eigenthümlichkeiten des ſtändiſchen Aus-
ſchuſſes aufgehoben hatte, ſtand jetzt ein neuer Schlag unausbleiblich be-
vor. Da der Staat ſein Schuldenweſen ordnete, ſo mußte er auch jene
märkiſche Schuld wieder auf ſeine eigenen Schultern nehmen; die Tage
der kurmärkiſchen Landſchaft waren gezählt. Alſo begann die kräftigſte
Stütze der altſtändiſchen Macht zu verſinken, und ſchwer beſorgt baten einige
Deputirte der Ritterſchaft den König um Wiederherſtellung der alten Ver-
faſſung und Anhörung der Stände wegen etwa nöthiger Aenderungen.***)
Auch die Neumark beſaß ihren „Ober- und Unterſtand“, die Altmark und
das Cottbuſer Land verlangten wieder einzutreten in die Stände Branden-
burgs. Die unglückliche Verordnung vom 22. Mai gab allen dieſen Beſtre-
bungen neue Kraft und einen Schein des Rechts. Und — ſo zauberiſch
wirkte das Wort Verfaſſung auf dies unerfahrene Geſchlecht — der Ver-
treter des wohlweiſen Berlinerthums, der Bonapartiſt Fr. Buchholz nahm
eifrig Partei für den feudalen Adel; er wurde der literariſche Wortführer
der Altſtändiſchen, pries in ſeinem „Journal für Deutſchland“ die alte
kurmärkiſche Verfaſſung und ſchloß zufrieden: „ſo war eine Conſtitution
wirklich vorhanden.“


[283]Die alten Provinzialſtände.

Das Ständeweſen der alten Provinzen erſchien immerhin noch wohl
geordnet neben den chaotiſchen Zuſtänden der neu erworbenen Landes-
theile. Wie war Schwediſch-Pommern ſtolz auf „unſere alte Verfaſſung“;
nur ſchade, daß Niemand wußte, was darunter zu verſtehen ſei. Die alte
Landſchaft „der Kreiſe und Städte“ Vorpommerns war ſchon 1806 durch
König Guſtav IV. Adolf aufgehoben und an ihrer Statt die ſchwediſche
Verfaſſung mit ihren vier Ständen eingeführt worden — unter dem
Jubel der Bauern, die jetzt endlich eine Vertretung fanden. Vier Jahre
darauf brachte ein abermaliger Gewaltſtreich der Krone Schweden eine
neue Verfaſſung, die aber niemals ins Leben trat. Der vorpommerſche
Patriot konnte alſo nach Belieben für drei verſchiedene vaterländiſche Ver-
faſſungen ſich begeiſtern. In der That gebärdeten ſich „Kreiſe und Städte“,
als ſei gar nichts vorgefallen in dieſen neun Jahren, ſie traten als die
rechtmäßige Vertretung des Landes auf und beſtürmten den König mit
ihren Beſchwerden. Die Bauern und Pächter aber — an ihrer Spitze
die beiden unermüdlichen Ludwig Arndt und Chriſt. Lüders — verwahrten
ſich dawider: ſie hätten die Verfaſſung von 1806 beſchworen, könnten nur
dieſe als zu Recht beſtehend anſehen.*)


In Poſen beſtand noch ein Deputirtenrath, das will ſagen: ein Ge-
neralrath im napoleoniſchen Stile. Da dieſe Verſammlung von der War-
ſchauer Regierung ernannt war und überdies nur einen Beſtandtheil des
aufgehobenen Präfekturſyſtems bildete, ſo wurde ſie von Preußen, mit
vollem Rechte, nicht als ein ſtändiſcher Körper angeſehen und am 26. Aug.
1818 aufgehoben.


Eine unglaubliche Verwilderung ſtändiſcher Anarchie ſtellte ſich in
Sachſen heraus — ein Zuſtand, wovon Hardenberg offenbar gar nichts
ahnte, als er die Verordnung vom 22. Mai entwarf. Jeder der ſieben
Theile des Herzogthums Sachſen beſaß ſeine eigene Ständeverſammlung,
und da das Stillleben des Junkerthums hier niemals durch die ſtrenge
Hand eines ſtarken Königthums geſtört wurde, ſo ſchloß ſich die ſtändiſche
Oligarchie durch peinliche Ahnenproben von dem Pöbel ab; noch unlängſt
hatte König Friedrich Auguſt einen Grafen von jungem Adel zurückge-
wieſen von der heiligen Schwelle der Lauſitzer Stände. Man hielt in
dieſen Kreiſen für ſelbſtverſtändlich, daß den an Preußen gekommenen
Stücken der ſächſiſchen Erblande noch alle die Rechte zuſtänden, welche der
Landtag des Königreichs Sachſen beſeſſen, und verlangte ſogar ein abge-
ſondertes Staatsſchuldenweſen zu behalten. Als der Staatskanzler in der
Niederlauſitz, die jetzt nur noch einen Bruchtheil der neuen Provinz Bran-
denburg bildete, den alten Landtag vorderhand nicht einberufen wollte,
da erwiderten die Stände der Landſchaft: „Der Inhalt dieſer Verord-
nung, die mit wenigen inhaltsſchweren Worten uns Alles nimmt, was
[284]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
uns bisher das Theuerſte geweſen: unſere wohlbegründete Gerechtſame,
unſere verfaſſungsmäßige Wirkſamkeit, unſere gerechten Hoffnungen und
unſeren kindlichen Glauben — hat uns tief erſchüttert.“ Sie forderten
ſodann, „als Repräſentanten des Volks, als bisherige Theilhaber an der
Verwaltung und Geſetzgebung“, gehört zu werden bei der Berathung der
neuen Verfaſſung. Die Stände des Fürſtenthums Querfurt verſuchten
zweimal eigenmächtig ſich als Kreisſtände zu conſtituiren, was verboten
wurde. Als die preußiſchen Stempelgeſetze in Sachſen eingeführt wurden,
richteten die Stände des thüringiſchen Kreiſes eine leidenſchaftliche Be-
ſchwerdeſchrift an den König, worin ſie drohend erklärten, dieſer Schritt
habe „alte Erinnerungen geweckt“. Die Bürger und Bauern hingegen er-
hoben hier wie in Vorpommern laute Einſprache wider das Gebahren der
adlichen „Repräſentanten des Volks“. Bürgerliche Gutsbeſitzer der Gör-
litzer Gegend verlangten, indem ſie den gerechten Sinn der neuen Regie-
rung dankend anerkannten, gänzliche Umgeſtaltung der Landſtände, da „der
gegenwärtige Zuſtand nur auf den doch wohl ſchwachen Anker der Anti-
quität zu ſtützen ſei“. Die gleiche Bitte ſtellten die Stadtverordneten von
Naumburg, denn „die alten Stände vertraten nur ihr eigenes Intereſſe,
die ſtändiſche Verfaſſung verbarg unter dem Scheine der Geſetzmäßigkeit
die ärgſte Tücke“. Präſident v. Schönberg aber ſendete dies Schriftſtück
nach Berlin mit der Verſicherung, darin ſei das Urtheil aller Gebildeten
der Provinz ausgeſprochen.*)


Da die Verordnung vom 22. Mai die Wiederherſtellung der Pro-
vinzialſtände, „wo ſie mit mehr oder minder Wirkſamkeit noch vorhanden
ſind“, anbefahl, ſo gedachten auch die alten Stände in den Provinzen
weſtlich der Elbe von dem vieldeutigen königlichen Worte Vortheil zu ziehen.
Sie waren zwar alleſammt durch Frankreich, Weſtphalen, Berg und Darm-
ſtadt aufgehoben. Doch irgend ein verwittertes Trümmerſtück aus den
altſtändiſchen Inſtitutionen war faſt überall noch ſtehen geblieben; über-
dies berief man ſich auf den Artikel 24 des Tilſiter Friedens, kraft deſſen
die neuen Landesherren alle die Verpflichtungen zu erfüllen hatten, welche
bisher dem König von Preußen obgelegen, und ſchloß daraus, die von den
Rheinbundsregierungen beſeitigten ſtändiſchen Rechte träten jetzt ohne Wei-
teres wieder in Kraft. Am früheſten regte ſich der Adel der Grafſchaft
Mark, der ſchon während des Krieges um Herſtellung der „alten guten
Verfaſſung“ gebeten hatte. Bei der Huldigung erneuerten die Stände
ihre Forderung: „wir ſind Markaner und lieben als ſolche unſer beſon-
deres Vaterland.“ Seitdem wurde dies Verlangen von dem Wortführer
der Stände, Freiherrn v. Bodelſchwingh-Plettenberg, in unzähligen Ein-
[285]Beginn der altſtändiſchen Bewegung.
gaben wiederholt: „Unſere Verfaſſung hat wohlthätig beſtanden, ehe der
preußiſche Staat eine Verfaſſung hatte. Daß der Entwurf dieſer noch
nicht vollendet iſt, kann daher kein Hinderniß ſein die unſerige in ihren
Grenzen zu laſſen.“ Nach wiederholten Beſchwichtigungsverſuchen verbot
endlich Hardenberg dem unermüdlichen Kläger, den ſtändiſchen Titel zu
führen und ſtellte ſpäter (10. Mai 1820) den allgemeinen Grundſatz auf:
wo die alten Stände durch die von Preußen im Tilſiter Frieden aner-
kannte Fremdherrſchaft aufgehoben ſind, da bleiben ſie aufgehoben bis zur
Einführung der neuen Provinzialſtände.*) Der Grundſatz war rechtlich
unanfechtbar, da die preußiſche Regierung für die Gewaltſtreiche der Fremd-
herrſchaft nicht einzuſtehen hatte, und eine politiſche Nothwendigkeit, denn
in dem Augenblicke, da man das Alte neugeſtalten wollte, konnte der alte
Zuſtand doch nicht einfach wieder hergeſtellt werden.


Jene Beſtrebungen der markaniſchen Stände bildeten nur ein Glied
in der Kette einer weitverzweigten Adelsbewegung, welche die geſammten
weſtphäliſch-niederrheiniſchen Lande durchzog und zunächſt darauf ausging,
die alte ſtändiſche Union von Jülich, Cleve, Berg und Mark wiederher-
zuſtellen. Leider ſchloß ſich auch Stein dieſem Adel an. Der große Staats-
mann erkannte zwar, daß die neue Verfaſſung unmöglich mit den alten
Ständen vereinbart werden konnte; er wollte freie Hand für den König
„mit Berathung derer, die er zum Berathen beruft“, und warnte ſeine
Landsleute vor den ausſchweifenden Forderungen des kurmärkiſchen Adels-
hochmuths. Aber voll leidenſchaftlichen Haſſes gegen Hardenberg, erbittert
über den zögernden Gang der Regierung, begünſtigte er doch die künſt-
lichen und rechtswidrigen Wiederbelebungsverſuche der rheiniſch-weſtphä-
liſchen Stände; er ſah darin einen heilſamen Stachel für die Regierung,
während ſie in Wahrheit ein Hemmſchuh waren für jede durchgreifende
Reform. Sein ariſtokratiſcher Sinn ward härter und ſchroffer, da er
alterte; ſein Eigenthümerparlament verſtand er jetzt als eine Vertretung
des Grundeigenthums allein; nicht der große Grundbeſitz, ſondern der
Adel ſollte den erſten Stand bilden. Und mit welcher ſeltſamen Geſell-
ſchaft trat der Freiherr jetzt in Verbindung. Da war im Jülichſchen jener
Mirbach, der die Ahnenprobe für die adlichen Landſtände wünſchte. Und
im Münſterlande Graf Merveldt, der für jedes der alten Territorien
Weſtphalens eine beſondere Ständeverſammlung forderte; aus ihnen ſollten
dann die Abgeordneten zum Provinziallandtage gewählt werden: „Dieſe
Monarchie bildet ſich aus Ländern und Staaten, welche Verfaſſungen
hatten, die, dem Himmel ſei Dank, durch keine Revolution aufgelöſt ſind“.
Nun wandten ſich auch die Stände des Fürſtenthums Paderborn an den
[286]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
König, baten um ihre Wiederherſtellung. Noch weiter gingen die Land-
räthe v. d. Horſt und v. Borries als Deputirte der Mindener Stände;
ſie verlangten Wiederaufrichtung der alten Verfaſſung, mindeſtens inſoweit,
daß die Mindener Nation ihre Steuern ſelbſt bewillige und die Landes-
bewaffnung von ihren Ständen geleitet werde.*) Die altſtändiſche Be-
wegung griff täglich weiter um ſich. Selbſt im Herzogthum Magdeburg,
deſſen Stände ſchon lange vor den Tagen des Königs Jerome gar nichts
mehr gegolten hatten, auch in der Grafſchaft Hohenſtein und im Eichs-
felde wurden Stimmen laut, welche die alten Landtage zurückverlangten.


Solchen Anſprüchen gegenüber konnte die Staatseinheit nur dann
gewahrt werden, wenn das Verfaſſungswerk allein von der Krone ausging.
Die Nachrichten aus Württemberg, wo der König ſoeben mit einer alt-
ſtändiſchen Verſammlung ſich vergeblich über eine neue Verfaſſung zu ver-
ſtändigen verſuchte, hinterließen in Berlin tiefen Eindruck. Wer durfte
nach dieſen Erfahrungen auch nur daran denken, die preußiſche Verfaſſung
mit zwanzig oder mehr altſtändiſchen Landtagen zu vereinbaren? Man
bedurfte eines Neubaues. Die neuen Provinzialſtände mußten ſich an-
ſchließen an die modernen Provinzen, nicht an die alten Territorien, und
neben dem Adel auch den Städten und dem kleinen Grundbeſitze eine an-
gemeſſene Vertretung bieten. Zugleich lehrte das Wiedererwachen des ſtän-
diſchen Particularismus, wie ſtark die centrifugalen Kräfte noch waren;
darum ſchien unerläßlich, den Provinzialſtänden den Reichstag auf dem
Fuße folgen zu laſſen.


Dies Alles hatte Hardenberg klar erkannt. Unter den Miniſtern aber
herrſchte vollſtändige Rathloſigkeit. Sie ſtanden einem durchaus neuen
Probleme gegenüber und betrachteten den zähen Widerſtand der neuen
Provinzen, den Lärm der alten Stände mit ſchwerer Beſorgniß. Wäh-
rend Ancillon in vertraulichen Geſprächen ſich ſchon der Wünſche der Alt-
ſtändiſchen annahm, war Klewiz der Erſte, der ihnen offen entgegenkam.
Ein ehrlicher Gegner der feudalen Partei, hatte der wackere Mann doch
von jeher die Berechtigung der particulariſtiſchen Kräfte des Staats über-
ſchätzt und daher ſchon in jener Denkſchrift, welche die Wiederherſtellung
der Provinzialminiſter empfahl, dem Staatskanzler vorgeſchlagen: man
möge vorläufig nur Provinzialſtände bilden, dann werde die Nation die
Reichsverfaſſung ruhig abwarten. Ein halbes Jahr darauf, im Frühjahr
1817, that er noch einen Schritt weiter nach der altſtändiſchen Seite hinüber.
Er ſchrieb eine neue Denkſchrift „Was erwarten die preußiſchen Länder
von ihrem König und was kann der König ihnen gewähren?“ und be-
antwortete ſeine Frage dahin: „Mehr nicht erwarten dieſe Länder, alte
[287]Die erſte Verfaſſungscommiſſion.
ſowohl wie neue, als woran ſie gewöhnt ſind und was jemals ſie hatten,
ſo weit es mit der Gegenwart noch verträglich iſt.“*) Er verlangt alſo
Herſtellung der Provinzialſtände und erhebliche Erweiterung ihrer Rechte,
„nicht etwa, weil der Zeitgeiſt es gebietet, ſondern weil der König will,
daß die Wohlfahrt ſeines Staates und nach deſſen Beiſpiel Deutſchland
und Europa vorſchreite. Durch dieſes Mehr wird zugleich eine Ausgleichung
oder allgemeine Verfaſſung für die verſchiedenen Länder oder Provinzen
ſich bilden laſſen.“ Dergeſtalt bleibe die Selbſtändigkeit des Landesherrn
geſichert, die durch einen allgemeinen Landtag leicht geſchädigt werden
könne. — So war denn zum erſten male in einem amtlichen Aktenſtücke
die Anſicht ausgeſprochen, daß eine Verfaſſung für den Geſammtſtaat über-
flüſſig, ja gefährlich ſei; die reactionäre Partei am Hofe wie die Altſtän-
diſchen ſäumten nicht, die Aeußerungen des ängſtlichen Miniſters für ſich
zu benutzen. Hardenberg aber widerſprach lebhaft; auch der König war
noch nicht gewonnen.


Klewiz ſchlug ferner vor: „Zuerſt müßte das Jemals-Beſtandene
einzeln ausgemittelt werden;“ Abgeſandte des Staatsraths ſollten die ein-
zelnen Provinzen bereiſen, um die altſtändiſchen Verhältniſſe kennen zu
lernen und an Ort und Stelle mit den Eingeſeſſenen über die Verfaſſungs-
wünſche der Provinzen ſich zu beſprechen; die Einberufung von Notabeln
in die Verfaſſungscommiſſion ſelbſt, wie ſie in der Verordnung vom 22. Mai
befohlen war, erſcheine hochbedenklich Angeſichts der württembergiſchen Er-
eigniſſe. Der Rathſchlag war wohlgemeint; denn allerdings konnte bei der
zerfahrenen Unſicherheit der öffentlichen Meinung eine Notabelnverſamm-
lung in Berlin leicht zum Tummelplatze ſocialer Leidenſchaften und parti-
culariſtiſcher Gelüſte werden. Da aber das Miniſterium ſich noch nicht
einmal über die Grundzüge der Verfaſſung verſtändigt hatte, ſo erwuchs
aus der vorgeſchlagenen Bereiſung der Provinzen eine andere kaum geringere
Gefahr. Aus den Debatten einer Notabelnverſammlung mußte doch irgend
eine Durchſchnittsmeinung hervorgehen; befragte man dagegen einige hundert
Notabeln einzeln in ihrer Heimath, ſo ergab ſich nothwendig ein Durch-
einander grundverſchiedener ſubjectiver Anſichten, das den ſchwankenden
Entſchluß der Krone zu verwirren und zu lähmen drohte. Dieſe Gefahr
wurde nicht erkannt, es überwog die Sorge vor den Wirren einer conſti-
tuirenden Verſammlung. Der König genehmigte die Bereiſung der Pro-
vinzen. —


Unter ſolchen Umſtänden wurde am 7. Juli 1817 die Verfaſſungs-
commiſſion zum erſten und einzigen male verſammelt. Sie bildete, wie ſich
von ſelbſt verſtand, eine Abtheilung des Staatsraths und beſtand aus zwei-
undzwanzig Mitgliedern deſſelben. Hardenberg theilte ihr mit, der König
halte für einfacher und ſicherer, ſtatt die Eingeſeſſenen nach Berlin zu be-
[288]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
rufen, vielmehr drei Commiſſäre in die Provinzen zu ſenden. Altenſtein war
für die weſtlichen Provinzen beſtimmt, Beyme für Pommern und Preußen,
Klewiz für Brandenburg, Sachſen, Schleſien, Poſen. Erſt wenn die Be-
richte der drei Abgeſandten vorlägen, ſollte die Commiſſion ihr Gutachten
abgeben. Der Staatskanzler erklärte zugleich in einer längeren Anſprache:
die älteren Landſtände ſeien wahre Hemmräder in der Staatsmaſchine
geweſen; ſeine Verbeſſerungen und ſeinen Flor verdanke der Staat dem
Genie ſeiner Regenten; aber da der jetzige Zuſtand nicht ohne großen Nach-
theil fortdauern könne, da die Nation reif und würdig ſei, eine dauernde
Verfaſſung und Repräſentation zu erhalten, da ſie durch die tapfere Ver-
theidung des Vaterlandes und die Erkämpfung der Selbſtändigkeit deſſelben
ein ſeltenes Beiſpiel ſtaatsbürgerlicher Tugend und Treue gegen den König
gegeben habe, ſo ſei der König zu dem freiwilligen Entſchluſſe gekommen,
eine repräſentative Verfaſſung zu geben. Daran ſchloß ſich die beſtimmte
Angabe der Schranken, welche der Monarch ſeiner Gewährung geſetzt habe:
„S. Maj. wollen die künftigen Stände gern über die zu gebenden Geſetze
hören, aber Höchſt Ihr beſtimmter Wille iſt, ihnen nur eine berathende
Stimme einzuräumen, mit ausdrücklicher Ausſchließung von aller Ein-
miſchung in die Verwaltung.“


Im Spätſommer und Herbſt vollzogen die drei Miniſter ihre Rund-
reiſe. Sie waren beauftragt ſich über alle ſtändiſchen Inſtitutionen, die
jemals in den Territorien beſtanden, genau zu unterrichten und für die
Zukunft vornehmlich zwei Fragen zu ſtellen: ob eine Vertretung des Bauern-
ſtandes neben Adel und Städten möglich und nützlich ſei? und ob man
Reichsſtände wünſche oder blos Provinzialſtände? Im Ganzen wurden
gegen 300 Perſonen um ihre Anſicht befragt (in Schleſien 57 Notable).
Die weitaus größere Hälfte gehörte dem Landadel an, was ſich aus den bis-
herigen ſtändiſchen Verhältniſſen nothwendig ergab; doch gaben auch Kauf-
leute und Gewerbtreibende, Bürgermeiſter und Geiſtliche in großer Zahl
ihre Meinung ab, in den Küſtenprovinzen wendete ſich Beyme mit Vor-
liebe an die bürgerlichen Klaſſen. Dagegen wurden aus dem Bauern-
ſtande nur Wenige gehört, die Meiſten in Schleſien und Magdeburg,
kein Einziger in den vormals ſächſiſchen Landestheilen, wo der Bauer
kaum erſt begann ſich von dem Drucke der Adelsherrſchaft zu erholen.


Zieht man die Summe aus dem Gewirr der zumeiſt treuherzig, mit
deutſchem Freimuth vorgetragenen Anſichten, ſo erhellt unwiderſprechlich:
eine durchgebildete öffentliche Meinung oder gar ein leidenſchaftlicher Volks-
wille, der auf die Krone hätte drücken können, beſtand noch nicht, die alt-
ſtändiſche Bewegung fand nicht nur kein Gegengewicht im Volke, ſondern
eine ſtarke Unterſtützung an dem naiven Particularismus der Provinzen.
Provinzialſtände wünſchte man faſt überall; ſehr vereinzelt ſtand der Prä-
ſident v. Motz, der um der Staatseinheit willen lediglich einen Reichstag
verlangte. Dagegen erklärten ſich zahlreiche Stimmen für Provinzialſtände
[289]Die Bereiſung der Provinzen.
ohne Reichsſtände, die Einen aus Particularismus, Andere aus Furcht
vor der Erſchütterung des Thrones. Daß die Provinzialſtände an die
neugebildeten Provinzen ſich anſchließen müſſen, leuchtet den Meiſten ein;
jedoch werden mehrfach Landtage für die Regierungsbezirke, öfter noch
Stände für die althiſtoriſchen Territorien gefordert. Desgleichen von der
Form der Reichsſtände hegt man grundverſchiedene Vorſtellungen. Manche
denken an ein Parlament, Andere an eine kleine Körperſchaft von 40 Köpfen,
die zu den Sitzungen des Staatsraths hinzugezogen werden ſoll. Die
Frage: ob Ein- oder Zweikammerſyſtem? wird ſelten aufgeworfen. Auch
über die Vertretung des Bauernſtandes iſt man nicht einig. Die Mehr-
zahl ſpricht dafür, aber viele Edelleute und Bürger bezweifeln, ob ſich
eine genügende Anzahl „tauglicher Subjecte“ (ſo lautet der ſtehende Aus-
druck) in dem jungen Stande finden laſſe. Dem Landadel graut beſonders
vor Bauernadvocaten; er verlangt durchaus, daß die Bauerſchaft nur
durch Bauern vertreten werde. Eine keineswegs unbeträchtliche Minder-
heit, Männer aus allen Ständen erklären kurzab, das Volk ſei noch nicht
reif für ſtändiſche Vertretung, eine geordnete Verwaltung genüge. Sehr
häufig wird als einziger Grund für die Verfaſſung mit kindlicher Harm-
loſigkeit angegeben: der König hat ſein Wort verpfändet, er muß es ein-
löſen, im Uebrigen erwarten wir Alles von ſeiner Gnade. Am Erfreu-
lichſten erſcheint in dieſem Chaos unreifer Anſichten das inſtinctive Ver-
ſtändniß für den Zuſammenhang von Verfaſſung und Verwaltung, das
die Preußen vor den Süddeutſchen jener Tage auszeichnete. Dank den
alten Traditionen des Staats und vornehmlich den Stein-Hardenbergiſchen
Reformen verſtand hier faſt Jedermann die Bedeutung der Verwaltungs-
fragen zu ſchätzen; man ſah in der Verfaſſung nicht den Beginn eines
neuen Staatslebens, ſondern die Ergänzung, den Abſchluß der in der
Gemeinde- und Kreisverwaltung begonnenen Reformen. Der Einfluß
franzöſiſcher Theorien zeigte ſich noch faſt nirgends, ſtändiſche Gliederung
galt als ſelbſtverſtändlich.


Nur die Poſener Notabeln ſtanden ſchon auf der Höhe neufranzöſiſcher
Bildung. Wie nach einer ſtillen Verſchwörung ſtimmten die polniſchen
Edelleute, welche Klewiz befragte, faſt alleſammt überein in dem Verlangen
nach einem unabhängigen Provinziallandtage, der das Schulweſen leiten,
die Beamten vorſchlagen und ein geſondertes Budget unter der Controle
einer Provinzial-Rechenkammer verwalten ſollte. Der unvermeidliche Ge-
neral v. Koſinsky überreicht den Entwurf einer auf dem Gleichgewicht
der Gewalten beruhenden preußiſchen „Foederativverfaſſung“: C’est la
Prusse qui doit faire l’époque dans le siècle constitutionnel.
Preußen
hat bisher zu ſeinen Völkern geſagt: „Ihr ſollt Heloten ſein, zuſammen-
gehalten durch Soldaten und eine herrſchende Beamtenkaſte;“ jetzt muß
der Staat ſeine Pflicht erkennen, „eine um ſo zärtlichere Mutter zu ſein,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 19
[290]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
da er das Unrecht Europas gegen die unter ſeinem Adler vereinigten
Völker anerkennen muß.“ Alſo — Umwandlung Preußens in eine Foede-
ration unabhängiger Provinzen mit Provinzialſtänden und Provinzial-
truppen! Herr v. Bojanowsky verlangt eine „Erklärung der Menſchen-
rechte“; Herr v. Morawsky findet die Menſchenwürde nur da vollkommen
gewahrt, wo „ein Obermenſch“ regiert, beſchränkt durch einen Sénat
conservateur
und eine Deputirtenkammer. Auch einzelne Deutſche zeigen
ſich angeſteckt von der dieſe Landſchaft beherrſchenden franzöſiſchen Bil-
dung. Der Regierungsdirector v. Leipziger bringt einen vollſtändigen
„Conſtitutionsentwurf“ nach der wohlbekannten Pariſer Schablone (§ 1.
Das Haus Hohenzollern regiert in ununterbrochener Linie nach den be-
ſtehenden Hausgeſetzen. § 16. Die chriſtliche Religion iſt die Religion der
Nation u. ſ. w.). Offenbar waren ſolche Anſichten des polniſchen Adels,
mit ihren kaum verſteckten Hintergedanken, wenig geeignet, die Krone für
die Nachahmung franzöſiſcher Inſtitutionen zu gewinnen; doch ſie lehrten
noch eindringlicher, wie gefährlich es ſei, ſich mit Provinzialſtänden zu be-
gnügen. Auf dieſen letzteren Punkt legte der Oberpräſident Zerboni großes
Gewicht; er fragte warnend: „wollen wir eine Cantonalverfaſſung wie in
der Schweiz einführen?“ „Noch ſind wir keine Nation — ſagt ſein Votum.
Wir exiſtiren nur in der Idee und erlöſchen mit ihr. Es liegen große
Ereigniſſe im Schooße der Zukunft. Sie wird ſie an Preußen anknüpfen.
Wir haben keinen Nebenbuhler, wenn wir die Rolle begreifen, die uns
zugefallen iſt.“ Darum Reichsſtände für den Geſammtſtaat, beſchließend,
nicht blos berathend.*)


Im Rheinland ſtanden ſich die Anſichten ſehr ſchroff gegenüber. Auf
der einen Seite die altſtändiſche Agitation der niederrheiniſchen Adelichen;
zu ihnen geſellte ſich jetzt der Freiherr v. Nagel mit einem unerlaubt gründ-
lichen Werke über die jülich-cleve-bergiſchen Stände, und der alte kur-
trierſche Syndicus Hommer, der den trierſchen Landtag mitſammt ſeiner
geiſtlichen Curie wiederherſtellen wollte. Dem gegenüber die demokratiſchen
Anſchauungen einer ganz modernen bürgerlichen Geſellſchaft und, namentlich
unter den eingebornen Beamten, vereinzelte conſtitutionelle Ideen, die an
Frankreichs Nachbarſchaft gemahnten. Zwar die Stadräthe von Köln und
Trier erinnerten nur in allgemeinen Sätzen an die verheißene Verfaſſung,
als der König in jenem Sommer die Provinz bereiſte, und auch Benzen-
berg, der ſich mit den Gutsbeſitzern des Crefelder Kreiſes an den Monarchen
wendete, bat nur um berathende Stände. Präſident Sethe dagegen über-
reichte dem Miniſter Altenſtein eine Denkſchrift, welche den Reichstag allein
aus Wahlen hervorgehen ließ, allen ſelbſtändigen Staatsbürgern das
Wahlrecht gab, nur die Mediatiſirten, als nicht ſteuerpflichtig, ausſchloß.
[291]Aeußerungen der Notabeln.
Ueber die altſtändiſche Verfaſſung ſagte er kurzab: „ſie war nur ein
Schattenbild und Blendwerk von Repräſentation.“ Gleichen Sinnes
forderte ein Düſſeldorfer Richter eine Intereſſenvertretung für die ſocialen
Klaſſen, mit Ausſchluß des Adels. Eine andere rheiniſche Denkſchrift ver-
langt eine erſte Kammer von lebenslänglich Berufenen aus den Reihen
des Grundbeſitzes, des Großkapitals, der Intelligenz, und eine zweite
Kammer, die von allen ſelbſtändigen Staatsbürgern in indirekten Wahlen
gewählt wird und das geſammte Volk vertritt. Das ſei die nothwendige
Ergänzung der allgemeinen Wehrpflicht. Alſo kündigten ſich hier bereits
Gedanken an, welche erſt das Jahr 1848 zur Reife bringen ſollte. Mächtig
waren ſie noch nicht; denn die Maſſe der Rheinländer lebte allein den
Sorgen des Handels und Wandels, weder die conſtitutionelle Bewegung
noch die teutoniſche Schwärmerei der Jugend fand bei ihnen ſtarken Wider-
hall. In Weſtphalen ſcheint Altenſtein vornehmlich mit dem Adel ge-
ſprochen zu haben; von einer Unterredung mit Stein ſchieden beide Theile
gleich befriedigt.*)


In den öſtlichen Provinzen ſtritt man ſich vornehmlich über die Frage,
ob der kaum erſt befreite Bauernſtand ſchon fähig ſei zur landſtändiſchen
Wirkſamkeit. Den Adel Vorpommerns fand Beyme noch ganz und gar
erfüllt von altſtändiſchen Anſchauungen; nur wenige Edelleute wünſchten
Reformen, vor Allen Fürſt Putbus, „ein wahrer Bauernfreund“. Mit
geringem Erfolge verſuchte der Greifswalder Profeſſor Schildener in einer
Flugſchrift den privilegirten Klaſſen zu erweiſen, daß kein anderer Stand
den pommerſchen Geiſt ſo treu bewahre wie die mißachteten Bauern. Unter
den Notabeln von Hinterpommern überwog ebenfalls der Wunſch nach Her-
ſtellung der alten Verfaſſung; indeß hielt man die Aufnahme der Bauern
für unvermeidlich. „Der gute und rührige Geiſt,“ den das Jahr 1813
in Oſtpreußen erweckt hatte, berührte den Miniſter wohlthuend. Hier galt
die Vertretung des Bauernſtandes überall als nothwendig. In Weſt-
preußen wurde Beyme überraſcht durch die allgemeine politiſche Gleich-
giltigkeit: die Städte klagten lebhaft über die ungewohnten Laſten der
Städteordnung, der Adel ſprach zumeiſt gegen die Landſtandſchaft der
bürgerlichen Rittergutsbeſitzer.**)


Die Mehrzahl der ſchleſiſchen Notabeln war für die Vertretung aller
drei Stände in Niederſchleſien; doch wurde faſt allgemein bezweifelt, ob
der oberſchleſiſche Bauer für politiſche Thätigkeit reif ſei. Selbſt der hoch-
conſervative Feldmarſchall York erklärte — ſo ſtark war der Eindruck des
königlichen Worts geweſen: — „Die monarchiſche Verfaſſung und Ver-
waltung, ſo wie ſie unter Friedrich dem Großen war, iſt mir die liebſte
und beſte. Indeß iſt dem Lande Conſtitution und Repräſentation ver-
19*
[292]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſprochen, und das Wort muß gelöſt werden. Auch ſo bald als möglich,
weil die Fortdauer großer Laſten doch Unzufriedenheit nährt und bei den
Waffen in der Hand des Volks gar zu leicht gefährlich werden kann.“*)


In den Marken viel Klagen, weil „die alte Verfaſſung unter die
Füße getreten ſei“, viel Angſt vor der drohenden Uebermacht der Bürger
und Bauern. Am freiſinnigſten zeigte ſich der Adel der Altmark; er hatte
unter der weſtphäliſchen Herrſchaft manches alte Vorurtheil verlernt und
ſprach zumeiſt für die Vertretung des Bauernſtandes. Die Bauern der
Kurmark aber, ſtolz auf die neuen Kreisverſammlungen, bezweifelten gar
nicht, daß ſie auch in den Ständen ihren Mann ſtehen würden. Der
Führer der Feudalen, Miniſter v. Voß-Buch, hielt ſich noch behutſam
zurück: eine Conſtitution nach dem Geiſte der Zeit ſei faſt unvermeidlich,
man könne aber vorerſt nur mit einer ſtändiſchen Verfaſſung beginnen;
alſo Provinzialſtände nach Anhörung der alten Stände. — Nirgends er-
ſchien der alte Klaſſenhaß ſo ſchroff wie in Sachſen. Hier wurde die „Reife“
der Bauern von den Meiſten bezweifelt, von Allen aber das Steuerbe-
willigungsrecht für die Provinz verlangt. Man erinnerte wehmüthig an
die Verſchwendung der polniſchen Auguſte; ein tüchtiger Mann, v. Berlepſch,
erklärte, dieſe Geldſorge ſei in Sachſen der einzige politiſche Gedanke. Wie
ſchwierig das Verfaſſungswerk auch weltkundigen Männern erſchien, das
lehrt ein Votum des Grafen Wintzingerode-Bodenſtein. Der hatte einſt
mitgeholfen, als Friedrich von Württemberg die ſchwäbiſchen Territorien
zu einem „Reiche“ zuſammenſchlug; doch in einem Großſtaate ſei ein
ſolches Verfahren nicht anwendbar, hier müßten die alten Landſchaften her-
geſtellt, die kurmainziſche Landtagsordnung für das Eichsfeld mit einigen
Verbeſſerungen wieder aufgerichtet werden.


Nur einer der drei Miniſter, Beyme, fügte den Reiſeberichten eine
Darlegung ſeiner eigenen Anſicht hinzu. Er ſpricht in Hardenbergs Sinne,
bekämpft die alten Stände als „eine Geburt der finſteren Zeiten des
Mittelalters, welche das helle Tageslicht nicht vertragen könnte.“ Er ſieht
in Amerika „das Ideal einer Verfaſſung“, fordert für Preußen eine Ver-
tretung der drei Stände, vorläufig in einer Kammer, bis ſich dereinſt ein
lebensfähiger Adel bilde, rühmt die Bauern als den jugendlichſten und
geſündeſten der Stände, das Rheinland als die aufgeklärteſte Provinz.
Volle Oeffentlichkeit für Reichstag, Provinzialſtände und Kreistage. Dazu
Grundrechte, den heute beſtehenden faſt gleich, auch Schwurgerichte für
Preßvergehen. — Gewiſſenhaft wurde von allen drei Abgeſandten die Auf-
gabe gelöſt, „das Jemals-Beſtandene“ zu erforſchen. Altenſtein ließ ſich’s
nicht verdrießen, in den zahlreichen Territorien, welche die neuen weſtlichen
Provinzen bildeten, die Syndici und andere Würdenträger der alten Land-
tage aufzuſuchen. Es waren zumeiſt ehrwürdige Herren, hoch in den
[293]Ergebniß der Rundreiſe.
Siebzig, „mit gutem Gedächtniß“, wie der Miniſter verſicherte; jeden Knopf
und jeden Schnörkel von dem altfränkiſchen Hausrath verſchollener Tage
hatten ſie doch nicht in der Erinnerung behalten. So kam denn mit red-
lichem Bemühen eine lange Reihe hiſtoriſcher Ueberſichten zu Stande. Da
ſtanden ſorgſam verzeichnet das liberum veto der Polen und die precariae
annuae
der kurtrierſchen Stände, die ſchleſiſchen Fürſtentage und die
Unterherrentage von Jülich, der advocatus patriae des Herzogthums
Weſtphalen und die Bleicheroder Steuerſtube der Grafſchaft Hohenſtein,
„das Veſt Recklingshauſen“ und der Landtag des Fürſtenthums Corvey
mit ſeinen fünf Köpfen und drei Ständen — und am Ende war aus
dem ganzen Wuſt nur das Eine zu lernen, daß ſich nichts daraus lernen
ließ für die lebendige Gegenwart.


Die Bereiſung der Provinzen brachte ein dürftiges Ergebniß: ein
unfruchtbares Gewirr von alten Erinnerungen und unſicheren Wünſchen.
Auch die wenigen Publiciſten, welche ſich mit der Verfaſſungsfrage be-
ſchäftigten, wußten keinen Rath. Der liberale Grävell ſtellte in ſeiner
Schrift: „Bedarf Preußen einer Conſtitution?“ die unſchuldige Forderung,
daß die geſammte Geſetzgebung ſeit 1806 den Reichsſtänden zur Prüfung
vorgelegt werden ſolle; er bedachte nicht, wie leicht dieſer freiſinnige Wunſch
zur Zerſtörung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen führen konnte.
Benzenbergs Buch „über Verfaſſung“, das König Friedrich Wilhelm freund-
lich aufnahm, immerhin eine der reifſten politiſchen Schriften der Epoche,
hebt alſo an: „In einer Entfernung von 21 Millionen Meilen fliegt eine
kleine Kugel um die Sonne, deren Durchmeſſer 1718 Meilen iſt“ — und
alſo vom Ei des Ei’s beginnend wälzt die Darſtellung ſich weiter, bis der
aufſtöhnende Leſer endlich auf Seite 504 bei Deutſchland anlangt und
über Preußen nahezu Nichts erfährt!


Die ernſte Frage: ob dieſe ſtolze abſolute Krone, die ſoeben wieder durch
die Neugeſtaltung des Heeres, der Verwaltung, der Steuern ihre unge-
brochene Lebenskraft bewährte, ihre Vollgewalt ohne Gefahr mit einer
Ständeverſammlung theilen dürfe — dies große Räthſel erſchien nach
Vernehmung der Stimmen aus dem Volke faſt noch dunkler denn zuvor.
Die ſcheltenden liberalen Schriftſteller draußen im Reich, welche über dem
Einen, was Hardenberg nicht zu Stande brachte, das Größere vergaßen
was er leiſtete, ſie ahnten nicht, welche Sorgen den Staatskanzler be-
ſtürmten. Denn trauriger als alle die anderen Beweiſe kindlicher poli-
tiſcher Unreife, welche dieſe Rundreiſe an den Tag brachte, war doch die
Erfahrung, daß mindeſtens die Hälfte des preußiſchen Volks noch gar
nicht über die Grenzen der heimiſchen Provinz hinausblickte. Durchaus
richtig ſchilderte Graf Edmund Keſſelſtadt, einer der einſichtigſten Patrioten
am Rhein, die Stimmung der neuen Provinzen alſo: „der Gedanke einem
großen Staate anzugehören iſt einem großen Theile der preußiſchen Unter-
thanen fremd, da der Gedanke Deutſche zu ſein ihnen gewiſſermaßen immer
[294]II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
fremd war.“*) Wenn einem Geſchlechte von ſolcher Bildung das Reprä-
ſentativſyſtem gegeben wurde, ſo ſtand freilich zu hoffen, daß die Pflicht-
treue des gewiſſenhaften, verſtändigen Volkes ſich mit der Zeit einleben
würde in die neue Staatsform. Doch eine Verfaſſung, jetzt verliehen,
wäre nicht das Werk der Nation geweſen, ſondern, wie einſt die Städte-
ordnung, ein freies Geſchenk des dem Volke voranſchreitenden königlichen
Willens.


Der König aber begann eben jetzt, beunruhigt durch die Nachrichten
aus dem Süden, ſich den conſtitutionellen Plänen ſeines Staatskanzlers
zu entfremden.


[[295]]

Sechſter Abſchnitt.
Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.


Die mühſelige Arbeit der Wiederherſtellung, welche in Preußen alle
Kräfte der Staatsmänner auf Jahre hinaus in Anſpruch nahm, blieb
den ſüddeutſchen Mittelſtaaten faſt ganz erſpart. Dieſe Kronen hatten
ſich in allen Kriegen des letzten Jahrzehnts immer rechtzeitig auf die
Seite des Siegers geſchlagen und darum bei der großen Abrechnung ihren
Beſitzſtand mit geringfügigen Aenderungen behauptet. Ihre Länder waren
durch die Nöthe der Feldzüge weit weniger heimgeſucht als der Norden,
und nichts hinderte hier ſogleich an das Verfaſſungswerk heranzutreten.
Mit dem Sturze des Protectors brach auch die harte Dictatur, welche
zehn Jahre lang dieſe jungen Staatsgebilde gewaltſam aufrecht erhalten
hatte, unrettbar zuſammen. Die Höfe ſelber fühlten, daß die künſtliche
Einheit ihrer Staaten jetzt neuer Stützen bedurfte. Sie hofften, durch
die Gewährung einiger unſchädlichen landſtändiſchen Rechte ihre grollenden
Unterthanen mit dem Heimathſtaate zu verſöhnen und den Sinn des
Volks dem furchtbaren Gedanken der deutſchen Einheit zu entfremden; ſie
dachten zugleich durch ſchleunige Erfüllung des Art. 13 der Bundesakte
ihre Souveränität gegen jeden Eingriff des Bundestags zu ſichern.


Alſo geſchah es, daß die Kernlande des Rheinbunds um ein Men-
ſchenalter früher als Preußen die ſchweren erſten Lehrjahre des conſtitu-
tionellen Lebens durchmaßen; und wie dürftig auch das politiſche Er-
gebniß dieſer Lehrzeit blieb, ſo hat ſie doch die ſchlummernden Kräfte des
Südens geweckt und der Welt nach langer Zeit zum erſten male wieder
gezeigt, welchen Schatz Deutſchland an der alten Cultur, an der ſchlicht
bürgerlichen Bildung und dem warmherzigen Gemeinſinn ſeines Ober-
landes beſaß. Dieſe oberdeutſchen Stämme, die an den politiſchen Kämpfen
des achtzehnten Jahrhunderts faſt nur leidend theilgenommen hatten,
traten mit einem male in den Vordergrund der deutſchen Geſchichte, und
wer die deutſchen Dinge nur nach den Zeitungen oder den Schlagwörtern
der Parteien beurtheilte, mochte leicht zu dem Irrthum gelangen, als ob
die Führung der Nation von dem Staate Friedrichs nunmehr auf die
Baiern, Schwaben und Franken übergegangen ſei.


[296]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Wie einſt das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung ſeine Bühne
außerhalb Preußens aufgeſchlagen hatte, ſo fanden jetzt die neuen politiſchen
Ideale, welche die Wortführer der öffentlichen Meinung als den eigentlichen
Inhalt der Epoche prieſen, in Preußen keinen Boden, und der Staat, deſſen
gutes Schwert den Deutſchen ſoeben erſt die Thore einer neuen Zeit geöffnet
hatte, erſchien der liberalen Welt wie eine erſtarrte Maſſe, wie ein Blei-
gewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte.
Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den conſtitutio-
nellen Formen enthalten ſei, hatte man kein Auge mehr für Preußens
Heerweſen und Handelspolitik, für die ſtille Arbeit, welche dort den Neu-
bau des deutſchen Staates vorbereitete, und während jede Verhandlung
der ſchwäbiſchen Kammern in der Preſſe mit leidenſchaftlicher Theilnahme
erörtert wurde, blieben die Zuſtände Preußens draußen im Reiche ſo un-
bekannt, daß jedes lächerliche Märchen auf gläubige Hörer rechnen konnte.
Die ſüddeutſchen Verfaſſungen wurden wirklich, wie die Höfe von München
und Stuttgart von vornherein gehofft, eine Stütze des Particularismus.
Die Redner der kleinen Landtage führten zwar die deutſche Einheit im
Munde, aber der Ernſt ihrer politiſchen Arbeit blieb auf die heimiſchen
Grenzpfähle beſchränkt, und da am Bundestage die Politik des Abſolutis-
mus die Oberhand behielt, ſo begannen ſie bald die Heimath als den
conſtitutionellen Muſterſtaat, als die Hochburg deutſcher Freiheit und Auf-
klärung zu preiſen und gelangten ſchließlich zu der naiven Anſicht, ihre
Landesverfaſſung ſtehe über den Bundesgeſetzen.


Welch ein Unglück für unſere politiſche Bildung, daß dieſe ſo lang-
ſam der Vereinzelung entwachſende Nation ihre erſten conſtitutionellen
Erfahrungen in dem Scheinleben ohnmächtiger, unſelbſtändiger Staaten
ſammelte. In dieſer Enge erhielt der deutſche Parlamentarismus von
Haus aus das Gepräge kleinſtädtiſcher und kleinmeiſterlicher Beſchränktheit.
Die ſchwere Schickſalsfrage des feſtländiſchen conſtitutionellen Staatslebens
— die Frage, wie ſich die parlamentariſchen Formen mit der Macht eines
ſtreitbaren Heeres und dem ſtetigen Gange einer großen europäiſchen
Politik vereinigen laſſen — konnte in ſo abhängigen Gemeinweſen gar
nicht aufgeworfen werden. Jeder politiſche Streit ward hier zum per-
ſönlichen Zanke, und da der Beſtand des Königthums von Napoleons
Gnaden weder Ehrfurcht noch Schonung gebot, ſo entſtand aus dem Un-
ſegen der Kleinſtaaterei eine krankhafte Gehäſſigkeit des Parteikampfes,
die weder dem gutherzigen Charakter noch den leidlich geſunden ſocialen
Zuſtänden unſeres Volkes entſprach. Am letzten Ende ward die Haltung
der kleinen Höfe durch den Willen Oeſterreichs und Preußens beſtimmt;
ſo lange dieſe führenden Mächte ſich dem conſtitutionellen Syſteme ver-
ſagten, blieben die Oppoſitionsparteien der neuen Ständeverſammlungen
ohne jede Ausſicht jemals ſelber an das Ruder zu gelangen. In ſolcher
Stellung ohne ernſte Verantwortlichkeit gewöhnten ſie ſich an alle Sünden
[297]Alt-Württemberg.
des politiſchen Dilettantismus; ſie meinten ihrem ſtaatsmänniſchen Be-
rufe zu genügen, wenn ſie nur die Kernſätze der conſtitutionellen Doctrin
mit geſinnungstüchtiger Entrüſtung beharrlich wiederholten, und ſuchten was
ihnen an Macht fehlte durch prahlende Selbſtüberhebung zu erſetzen.
An die Namen: Verfaſſung, Volksvertretung, Volksmann heftete ſich eine
faſt abgöttiſche Verehrung; wer zu den Kronen hielt ward als feiler
Stellenjäger verdächtigt. Die ſchlechten Künſte der polizeilichen Verfolgung
ſteigerten dann mit der Erbitterung auch den Hochmuth der Oppoſition
und warben immer neue Anhänger für jene Rotteck’ſche Lehre, welche das
Mißgeſchick der unſchuldigen Völker allein aus der Bosheit der Regie-
renden herleitete. In der ſchlimmen Schule der bündiſchen Anarchie und
des conſtitutionellen Kleinlebens wurden die Deutſchen allmählich das un-
zufriedenſte und zugleich das gehorſamſte aller europäiſchen Völker. —


Gleich der erſte Landtag dieſer Friedensjahre, der württembergiſche,
wirkte verwirrend und verbitternd auf die öffentliche Meinung. Denn
hier entlud ſich der lang verhaltene berechtigte Groll wider den rhein-
bündiſchen Despotismus mit einer ungeſtümen Heftigkeit, die alle Höfe
mit Angſt erfüllte; die demokratiſchen Ideen des neuen Jahrhunderts ver-
bündeten ſich mit dem Trotze der altſtändiſchen Libertät; Recht und Un-
recht lagen auf beiden Seiten unzertrennlich vermiſcht. Der Kampf um
die Neubildung der Verfaſſungsformen erſchien hier zugleich als ein Rechts-
ſtreit um wohlerworbene vertragsmäßige Freiheiten, die Machtfragen des
conſtitutionellen Lebens wurden nach den Regeln des Civilproceſſes be-
urtheilt, und die formaliſtiſche Staatsanſchauung der am Privatrechte ge-
ſchulten Juriſten erlangte ſchon in dieſem erſten Verfaſſungskampfe des
neuen Deutſchlands ein Anſehen, das der freien Entwicklung des deutſchen
Parlamentarismus verderblich wurde.


Unter allen weltlichen Territorien des Reichs hatten Württemberg
und Mecklenburg ſich das altſtändiſche Staatsweſen am längſten und
treueſten bewahrt; noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in
der Blüthezeit des Abſolutismus, wurde in beiden Ländern die ſtändiſche
Verfaſſung durch einen Erbvergleich feierlich beſtätigt. Während die Maſſen
überall ſonſt die Vielherrſchaft der Herren Stände haßten und die auf-
ſtrebende Fürſtenmacht als den Schirmherrn der Schwachen verehrten, war
in Württemberg das alte gute Recht dem geſammten Volke ein Heilig-
thum. Jeder Altwürttemberger wiederholte mit Selbſtgefühl den Aus-
ſpruch von Fox: es giebt in Europa nur zwei Verfaſſungen, die den
Namen verdienen, die engliſche und die württembergiſche. In der Ver-
theidigung des Landesrechts ging dreihundert Jahre lang alle politiſche
Willenskraft dieſes Volkes auf, an ihr ſchulte ſich jener trotzige ſchwäbiſche
Rechtsſinn, der in dem Wahlſpruche „parta tueri“ ſeinen Ausdruck fand.
Männer, Weiber und Kinder eilten dem alten J. J. Moſer, dem Mär-
tyrer des guten alten Rechts, feſtlich entgegen, als er auf die Verwendung
[298]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Friedrichs des Großen vom Hohentwiel wieder in die Freiheit zurückkehrte;
ſelbſt dem groß angelegten politiſchen Kopfe Spittlers waren die Gedanken
des heimiſchen Staatsrechts dermaßen in Fleiſch und Blut gedrungen,
daß er alle Verfaſſungen der Geſchichte unwillkürlich nach dem Maße der
ſchwäbiſchen Freiheit beurtheilte. Dieſe Liebe des Volks verdankte der alt-
württembergiſche Staat vornehmlich ſeinem ſtrengbürgerlichen Charakter.


Hier in dem Lande der Städtebünde und der Bauernkriege, auf dem
üppigſten Boden des deutſchen Sondergeiſtes ging auch der Adel von
jeher ſeines eigenen Weges. Er erwarb ſich die reichsunmittelbare Freiheit
und verſchmähte die Theilnahme, als das Land Württemberg im Jahre
1514 mit Herzog Ulrich ſein ſtändiſches Grundgeſetz, den Tübinger Vertrag,
vereinbarte; nur in dem Hof- und Staatsdienſte des Hauſes Württem-
berg erſchienen die ſchwäbiſchen Reichsritter häufig als bevorzugte Gäſte.
Den Landtag des Herzogthums bildeten allein die Prälaten der lutheri-
ſchen Landeskirche und die von den Stadträthen erwählten Vertreter der
Städte und Aemter — eine bürgerliche Oligarchie, im Kleinen ebenſo
mächtig wie die Generalſtaaten der niederländiſchen Republik und wie
dieſe beſtändig im Kampfe mit einer unfertigen monarchiſchen Gewalt.
Der Herzog ſchaltete als abſoluter Herr über ſeinem großen Kammergute,
deſſen reicher Ertrag in ruhiger Zeit die Ausgaben des Hofes und der
Regierung vollauf deckte. Gerieth er durch Verſchwendung oder Kriegs-
nöthe in Schulden, ſo erbat er von dem Landtage die Bewilligung von
Steuern und erlangte ſie nur wenn die ſtändiſchen Freiheiten in einem
vertragsmäßigen Landtagsſchluſſe abermals beſtätigt und erweitert wurden.
In den meiſten anderen altſtändiſchen Territorien benutzte die aufſtrebende
monarchiſche Gewalt die Ausſchüſſe der Landſtände um die Macht des
Landtags von innen heraus zu zerſtören. Auch der württembergiſche
Landtag wurde im achtzehnten Jahrhundert nur noch ſelten berufen; aber
ſeine Macht ging nicht auf den Herzog über, ſondern auf die beiden Aus-
ſchüſſe der Stände. Der kleine Ausſchuß in Stuttgart war in Wahr-
heit der Landesherr. Er tagte beſtändig und ergänzte ſich ſelbſt, er erhob
und verwendete die Einnahmen der landſchaftlichen Steuerkaſſe nach freiem
Ermeſſen, verſorgte die Kinder und Vettern des bürgerlichen „Herren-
ſtandes“, die Stockmaier, Pfaff und Teuffel in den ſtändiſchen und ſtädti-
ſchen Aemtern. Erſchienen dann die dem Herzog und der Landſchaft zu-
gleich verpflichteten Geheimen Räthe um die Rechnungen der Steuerkaſſe
abzuhören, ſo wurde der rothe Eilfinger Wein nicht geſpart; im Nothfalle
that man auch einen Griff in die berüchtigte geheime Truhe des Aus-
ſchuſſes. Sie diente zu allen den Künſten der Corruption, deren die
Oligarchie nie entbehren kann, zur „wohlmeinenden Entfernung eines
ungebärdigen, alle Mißbräuche rügenden“ Beamten oder auch zum Kampfe
wider den Landesfürſten. Unerſchütterlich vertheidigte der Ausſchuß die ver-
briefte Landesfreiheit gegen jede Regung monarchiſchen Eigenwillens und
[299]Die Landſtände und der Kirchenkaſten.
fand Hilfe bald beim Reichshofrath, bald bei dem Hauſe Oeſterreich, das
ſich ſeinen Erbanſpruch auf Württemberg nicht verſcherzen wollte, bis
endlich England, Preußen und Dänemark die förmliche Bürgſchaft für
den letzten großen Freiheitsbrief des Landes, den Erbvergleich von 1770
übernahmen.


Auch die Kirche verwaltete völlig ſelbſtändig ihren reichen Kirchen-
kaſten, der über die Einkünfte von 450 Ortſchaften gebot; ſie allein
unter allen den lutheriſchen Landeskirchen Deutſchlands hatte ſich das
geſammte Beſitzthum der alten Kirche ungeſchmälert erhalten. Und nicht
blos darum hieß Württemberg unter den lutheriſchen Theologen der Aug-
apfel Gottes. Das kleine Land war der lebendige Mittelpunkt des Pro-
teſtantismus in Oberdeutſchland. Mit der ganzen Innigkeit ſeines tiefen
Gemüths hatte das Volk ſich einſt freiwillig dem evangeliſchen Glauben
zugewendet und ihn dann unter ſchweren Prüfungen ſtandhaft behauptet,
während die Heere der Habsburger dreimal das Land überſchwemmten
und ſeine Selbſtändigkeit zu vernichten drohten. Die alſo in Kampf und
Leiden bewährte Kirche beſtimmte die geſammte Bildung des Volks, ſie
ſchenkte dem Lande früh ein leidlich geordnetes Volksſchulweſen und hielt
unter den Erwachſenen durch die gefürchteten Vermahnungen „ab der
Kanzel“ eine puritaniſche Sittenzucht aufrecht. Die drei hochberühmten
Kloſterſchulen in den ſtillen Waldthälern von Urach, Blaubeuren, Maul-
bronn, wo die Söhne des Herrenſtandes ihre Bildung empfingen, trugen
noch ganz das Gepräge geiſtlicher Lehranſtalten. Auch an der Tübinger
Univerſität gab das theologiſche Stift den Ton an; der Stiftler, ſo hieß
es, war zu jedem Amte zu gebrauchen. Die Prälatengeſchlechter der
Andreä, Oſiander, Bidenbach theilten ſich mit den Bürgermeiſterfamilien
in die Beherrſchung des Landtags.


Die großen Tage dieſer bürgerlich-theologiſchen Oligarchie fielen in
die ſtille Zeit nach dem Augsburger Frieden, da das geſammte deutſche
Leben von der Theologie beherrſcht wurde. Damals, unter dem guten
Herzog Chriſtoph und dem frommen Ludwig, der ſeine Zeit ſo ſtillver-
gnügt zwiſchen dem Bierkrug und den ſymboliſchen Büchern theilte, galt
Württemberg als das Muſterbild eines lutheriſchen Territoriums. Aber
ſobald die aufkommenden ſtehenden Heere der modernen Politik neue
Aufgaben ſtellten, offenbarte ſich auch hier wie überall die Unfruchtbar-
keit des altſtändiſchen Staates. Der kunſtvolle Bau dieſer wohlgeſicher-
ten Ständeherrſchaft war auf den ewigen Stillſtand der menſchlichen
Dinge berechnet, die Macht des Landesherrn ſo unnatürlich eingeengt,
daß Altwürttemberg nur die Sünden, niemals die ſchöpferiſche Kraft der
Monarchie kennen lernte. Dem Volke erſchien der Herzog nur als ein läſtiger
Dränger und Heiſcher, da er von dem murrenden Ausſchuß beſtändig neue
Steuern und Rekruten forderte. Das überſpannte fürſtliche Selbſtgefühl,
das im achtzehnten Jahrhundert auch dieſe Dynaſtie ergriff, konnte ſich
[300]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
hier nicht in der Stiftung gemeinnütziger Anſtalten, in der Pflege des
Wohlſtandes und der Bildung bethätigen, ſondern allein in höfiſchem
Prunk und gelegentlichen Gewaltſtreichen. Die üppigen Schlöſſer des
kleinen Hauſes Württemberg wetteiferten mit den Prachtbauten der pol-
niſchen Auguſte, wie der Hohentwiel und der Hohenaſperg mit den Kerkern
des Königſteins; die alte Landeshauptſtadt verarmte, weil es der Dirne
Eberhard Ludwigs, der Gräfin Grävenitz beliebt hatte, drei Stunden von
dem lieblichen Thalkeſſel des Neſenbachs ein Trutz-Stuttgart zu erbauen,
das öde Ludwigsburg, die pomphafteſte und häßlichſte unter den zahl-
reichen künſtlichen Reſidenzſtädten Süddeutſchlands. Unwürdige Günſt-
linge, der Jude Süß, Wittleder und Montmartin trieben ihr gieriges
Unweſen am Hofe. Der ungeheure Wildſtand der herzoglichen Forſten
verwüſtete die Felder des dichtbevölkerten, geſegneten Gaues; denn der
Herzog war nur der Grundherr ſeines Kammergutes, was kümmerten ihn
Wohl und Wehe des „Landes“, das ſich durch ſeinen Ausſchuß, ſeine
Stadtſchreiber und Amtleute ſelbſt regierte?


Unter ſolchen Erfahrungen entſtand im württembergiſchen Volke
jene eigenthümliche, aus dynaſtiſcher Anhänglichkeit und grollendem Miß-
trauen gemiſchte Staatsgeſinnung, deren Spuren noch heute nicht ver-
ſchwunden ſind. Wie oft hatte dies Land in ſchwerer Kriegsnoth dem
flüchtigen Herzog unerſchütterliche Treue bewährt; zahlloſe Geſänge verherr-
lichten den Ruhm des alten Fürſtenhauſes und das Wappenſchild mit
den Hirſchhörnern, von jenen Volksliedern an, welche einſt dem ver-
bannten wilden Ulrich zuriefen: „du biſt der recht natürlich Herr über’s
württembergiſche Land“, bis herab zu dem echt ſchwäbiſchen Gedichte des
jungen Schiller, das „Euch dort außen in der Welt“ drohend aufforderte,
vor dem Ruhme Eberhard des Greiners die Naſen einzuſpannen. Dabei
hallte das Land doch beſtändig wider von berechtigten und unberechtigten
Klagen gegen den Hof, und allgemein herrſchte die Anſicht, daß die ſchwä-
biſche Freiheit nur dann beſtehen könne, wenn der Herzog wie ein gefähr-
liches Raubthier ſorgſam im Käfig bewacht würde. Auf dem feſten Grunde
der Wehrpflicht und der Steuerpflicht erhob ſich in Preußen der moderne
deutſche Staat. In Württemberg aber beſtand noch ungebrochen die
Staatsgeſinnung des Mittelalters: alle Abgaben wurden nur als außer-
ordentliche Laſten für Zeiten der Noth betrachtet und die Befreiung vom
Waffendienſte galt als das koſtbarſte aller Landesprivilegien. Der un-
kriegeriſche Sinn, der dem Stillleben des altſtändiſchen deutſchen Staates
überall eigen war, trat kaum irgendwo unbefangener auf als unter den
friedlichen Prälaten und Bürgermeiſtern des Stuttgarter Landtags. Mit
zäher Beharrlichkeit verhinderten die Stände die Bildung einer ſtehenden
Truppenmacht, ſo daß ſchon der geduldige Herzog Chriſtoph klagte: „ſoll
mein Land ein Fürſtenthum ſein, ſo gehört dazu wie einen Fürſten mich
zu halten.“


[301]Schwäche der landesfürſtlichen Gewalt.

Der Einzige des Hauſes, der einigen Sinn für monarchiſche Größe
zeigte, Herzog Friedrich I., erzwang ſich durch einen Verfaſſungsbruch
das Recht der Truppenwerbung, weil er mit ſcharfem Blick die Wirren
des dreißigjährigen Krieges voraus ſah; aber er ſtarb bevor der Erfolg
geſichert war, und ſofort entlud ſich die Rache des Herrenſtandes auf
das Haupt ſeines klugen Rathgebers Enslin. Der Hochverräther, der
auf dem Uracher Markte unter Henkershänden fiel, blieb fortan das
Schreckbild, das die Herzöge vor kriegeriſchem Ehrgeiz warnte. Hatte
die Noth der Zeit die Aufſtellung eines kleinen Heeres erzwungen, ſo
konnte es den Ständen niemals ſchnell genug entlaſſen werden, ſie
ließen ſich’s nicht verdrießen, dem Herzog Eberhard III. noch 1500 Fl.
mehr zu bewilligen, damit er nur außer dem entlaſſenen Fußvolk auch
ſeine 170 Reiter abdankte; wenige Jahre darauf brach dann ein gräß-
licher Raubzug der Franzoſen über das ungerüſtete Land herein. So
ward Altwürttemberg wehrlos. Bei jedem feindlichen Einfall floh der
Hof aus dem Lande, um von fremder Hilfe ſeine Herſtellung zu er-
warten. Auch im achtzehnten Jahrhundert blieb das Heerweſen kläglich;
die kräftigen Söhne des herzoglichen Hauſes zogen in auswärtige Dienſte,
und der erſte Kriegsheld unter ihnen, Friedrich Eugen kämpfte unter den
Fahnen Friedrichs des Großen gegen ſeine ſchwäbiſchen Landsleute. Der
tapfere Stamm, der im Mittelalter allen Deutſchen durch kriegeriſchen
Ruhm voranleuchtete, verſchwand aus den Annalen unſerer neuen Kriegs-
geſchichte; die einzige leidlich befeſtigte Territorialmacht, welche ſeit dem
Untergange der Staufer aus dem ſchwäbiſchen Ländergewirr emporge-
ſtiegen war, blieb zweihundert Jahre lang ohne jeden Einfluß auf Deutſch-
lands Geſchicke.


Gleich dem Heerweſen verkümmerte auch das Beamtenthum unter
der ſtändiſchen Herrſchaft. Die geſammte Verwaltung lag in der Hand
der übelberüchtigten Schreiber, die ohne akademiſche Vorbildung als In-
cipienten bei einem Stadt- oder Amtsſchreiber eintraten und von da
durch die Gunſt der Vetterſchaft zu den Stellen der Stadtſchultheißen
und Amtleute emporſtiegen. Für ſtaatsmänniſche Köpfe, für neue po-
litiſche Gedanken bot dies in Formen erſtarrte Gemeinweſen nirgends
Raum; durch lange Jahrzehnte hat die Geſchichte Altwürttembergs nur
zwei diplomatiſche Talente aufzuweiſen: jene wackeren Unterhändler Burk-
hardt und Varnbüler, die im Weſtphäliſchen Frieden die Wiederherſtellung
des Herzogthums durchſetzten.


Auf die Dauer litt auch das geiſtige Leben des Landes unter der
Unbeweglichkeit ſeines Staates. Mit gerechter Freude zählten die Schwaben
die ſtolze Reihe ihrer Dichter und Denker und fragten, welcher andere
Stamm außer den Oberſachſen der Nation ſo viele Helden des Geiſtes
geſchenkt habe? Feurige Phantaſie und forſchender Tiefſinn verbanden ſich
glücklich in der ſchwäbiſchen Natur, und grade die eigenſten Züge des
[302]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
germaniſchen Genius waren ihr gegeben: die oft ins Grenzenloſe ſchwei-
fende Vielſeitigkeit und jene ſchöpferiſche, urſprüngliche Macht des Denkens,
die ſich wohl in Unklarheit und Grübelei verlieren, aber niemals platt
und leer werden kann. Dem Lande ſelbſt kam von dieſer Fülle geiſtiger
Kräfte nur wenig zu gute. Da ein gelehrtes Beamtenthum faſt gänz-
lich fehlte, ſo blieben die Prälaten und die Helfer nahezu die einzigen
amtlichen Vertreter der höheren Bildung. Ihnen genügte es, daß der
ſchwäbiſche Candidat, neben dem kurſächſiſchen, noch überall in der Welt
als der beſte Hauslehrer geſucht wurde. Die Zeit war dahin, da die
Prinzen aller lutheriſchen Fürſtenhäuſer nach Tübingen in das Collegium
illuſtre zogen; jetzt klagte die Univerſität bitterlich, daß ſie in einem Winkel
Deutſchlands verkümmern müſſe. Die freien Gedanken des neuen Jahr-
hunderts fanden bei den geiſtlichen Leitern des württembergiſchen Schul-
weſens ſo wenig Verſtändniß, daß ſich endlich Herzog Karl Eugen ent-
ſchloß, der ſtarren Theologie des Tübinger Stifts ein Gegengewicht zu
ſchaffen und in ſeiner Karlsſchule der verweltlichten Wiſſenſchaft eine
Freiſtätte eröffnete, die in der kurzen Zeit ihres Beſtandes den Ruhm der
alten Hochſchule ganz verdunkelte. Alle die großen Schwaben, welche an
der Arbeit der neuen Literatur theilnahmen, von Schiller bis auf Schel-
ling und Hegel, mußten ſich ihren Wirkungskreis außerhalb des Landes
ſuchen, manche erſt nach ſchwerem Kampfe mit den kleinlichen Vorur-
theilen der Heimath. Jener tragiſche Gegenſatz geiſtigen Reichthums und
politiſcher Armſeligkeit, die Krankheit unſeres achtzehnten Jahrhunderts,
zeigte ſich nirgends häßlicher als hier.


Die Abgelegenheit des Landes, das ſeine alten Welthandelſtraßen
längſt verloren hatte; die Mannichfaltigkeit der Bodengeſtaltung mit
ihrem bunten Wechſel von rauhen Hochebenen, waldreichen Alpthälern
und lachenden Rebengeländen; das Elend der ſtaatlichen Vielherrſchaft
und die angeborene unzähmbare Eigenart des Volkes, dem nichts un-
leidlicher ſchien als die politiſche Mannszucht — dies Alles im Verein rief
in Schwaben eine kleinlebige Zerſplitterung und Vereinzelung hervor, wie
ſie ſelbſt in Deutſchland ohne Gleichen daſtand. Die kleinen Städte des
Herzogthums lebten unter ihren freund-vetterlichen Stadtſchultheißen
ganz ebenſo ſtill und abgeſchloſſen für ſich hin wie die benachbarten
Reichsſtädte; das unwandelbare gute alte Recht ließ den Gedanken der
Staatseinheit, das Bewußtſein gemeinſamer politiſcher Aufgaben nicht
aufkommen. Ganz Schwaben — Württemberg ſo gut wie die wunderbaren
Staatsgebilde der Reichsſtädte, der gefürſteten Propſteien und der reichs-
ritterlichen Condominate — galt in Deutſchland als das Paradies klein-
bürgerlicher Wunderlichkeit: nahe dem Hohenſtaufen lag Krähwinkel, und
in Biberach ſammelte Wieland den Stoff für ſeine Abderiten. Was
Wunder, daß inmitten dieſer engen Welt die reiche vielgeſchäftige Phan-
taſie der Schwaben oft auf ſeltſame Schrullen gerieth; nirgends in
[303]Die Revolution in Schwaben.
Deutſchland waren die ſchwachen Köpfe ſeltener, nirgends die Querköpfe
häufiger. Kein ſchwäbiſches Städtchen, wo nicht irgend ein verkanntes
Genie Abends im Herrenſtüble des Löwen oder des Ochſen ſeine wunder-
baren Hirngeſpinſte über Welt und Zeit den eifrig disputirenden Ge-
noſſen vortrug. Selbſt das unermeßlich ſtarke Selbſtgefühl des ſchwä-
biſchen Stammes trug ein abſonderliches Gepräge. Der Particularismus
äußerte ſich nicht, wie bei den Baiern, den Sachſen, den Hannoveranern,
in politiſchem Stolz und Ehrgeiz — denn wer hätte hier von politiſcher
Macht träumen ſollen? — ſondern in ſocialen Untugenden: mit gemüth-
licher Selbſtgefälligkeit wurden unermüdlich alle Herrlichkeiten der Heimath,
von Friedrich Rothbart und Kepler an bis herab zu den trefflichen
Knöpfle und Kratzete der ſchwäbiſchen Küche, preiſend aufgezählt, mit
dünkelhaftem Mißtrauen alles Ausheimiſche abgewieſen. Im Bewußt-
ſein ſeines reichen inneren Lebens betrachtete der blöde, unbeholfene
Schwabe die anderen Deutſchen, die ihn durch redefertige Gewandtheit
ſo leicht in Schatten ſtellen konnten, halb mit Argwohn, halb mit Ver-
achtung, und niemals zeigte ſich Altwürttemberg ungebärdiger, als wenn
der Herzog „wieder ſo einen Ausländer“, der den Landeskindern das
Brot wegnahm, an ſeinen Hof berufen hatte.


Sobald die Revolutionskriege über dies verrottete Gemeinweſen her-
einbrachen, gerieth ſofort Alles in Gährung. In einem Lande, das ſo
lange mit ſeinen Fürſten gehadert hatte, mußten die neuen Freiheits-
lehren einen wohlvorbereiteten Boden finden. Zum erſten male nach
Jahrzehnten ward der Landtag ſelber wieder verſammelt. Mehr denn
anderthalb hundert Flugſchriften erſchienen und forderten Beſeitigung
der alten Mißbräuche, Erweiterung des Wahlrechts, regelmäßige Land-
tage; freilich wußte keiner dieſer Publiciſten, auch Spittler nicht, das
Räthſel zu löſen, wie aus dem Dualismus des altſtändiſchen Vertrags-
rechts ohne einen Gewaltſtreich die moderne Staatseinheit hervorgehen
ſolle. Inmitten dieſer Wirren beſtieg Herzog Friedrich II. den Thron,
der böſeſte und begabteſte Sohn des Hauſes Württemberg, der Neugründer
des kleinen Staates, ein durchaus unſchwäbiſcher Charakter, dem Volke
gleich widerwärtig durch ſeine Vorzüge wie durch ſeine Sünden, hart, ge-
waltthätig, gewiſſenlos, aber auch ſtaatsklug, raſch entſchloſſen und frei
von Kleinlichkeit. Wie abgeſchmackt erſchien die ſchwäbiſche Kleinmeiſterei
dem Erbprinzen, als er nach weiten Reiſen, nach einem bewegten Dienſt-
leben in Preußen und Rußland endlich wie ein Fremdling in die Hei-
math zurückkehrte, reich an Erfahrung, vertraut mit allem Glanze und
allen Laſtern der großen Welt. Die Vollgewalt der abſoluten Herrſcher-
macht, wie er ſie einſt an Friedrich II. und Katharina bewundert hatte,
blieb ſein Ideal, und ſeit er gar eine engliſche Prinzeſſin heimgeführt,
wuchs ſeine Selbſtüberhebung über alles Maß. Mit brennendem Ehrgeiz
zählte er die Stunden, bis ſeine greiſen Oheime und endlich auch ſein
[304]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Vater die Augen ſchloſſen. Als er zur Regierung gelangte, ſtand er ſchon
im dreiundvierzigſten Jahre, da war keine Zeit zu verlieren.


Es galt zunächſt, dem Hauſe Württemberg eine anſehnliche Beute zu
ſichern bei dem Raubzuge des deutſchen Fürſtenſtandes gegen ſeine kleinen
Genoſſen. Aber auf Schritt und Tritt fand ſich der Herzog durch ſeinen
Landtag gehemmt. Während er ſelbſt, als ein geſchworener Feind der
Revolution, auf Oeſterreichs Seite trat, verlangten die Stände Neutralität
oder Anſchluß an das freie Frankreich und ſchickten ihre eigenen Ge-
ſandten nach Raſtatt, Wien, Paris um die Politik des Landesherrn zu
durchkreuzen. Wiederholte Vermahnungen des Reichshofraths an die Aus-
ſchüſſe, harte Gewaltthaten des Herzogs gegen die Führer der Stände
ſteigerten die gegenſeitige Erbitterung. Als in den letzten Zeiten des
Directoriums die Heere Moreaus den Südweſten überſchwemmten und die
Agenten Frankreichs an dem Plane einer ſüddeutſchen Republik arbeiteten,
da entſtanden in Schwaben wie in Baiern geheime jakobiniſche Vereine.
Eine Flugſchrift warf bereits die Frage auf: „was gewonnen wird, wenn
Schwaben eine Republik wird?“ Inzwiſchen erkannte der Herzog, daß er
die erſehnte Gebietsvergrößerung nicht ohne Frankreichs Gunſt erlangen
konnte. Er näherte ſich den Franzoſen und brachte durch den Reichs-
deputationshauptſchluß ſeine Beute in Sicherheit, bis er dann endlich,
überwältigt durch Napoleons dämoniſche Beredſamkeit, offen unter Frank-
reichs Fahnen trat, das heilige Reich vernichten half, die ſouveräne Königs-
krone errang und den ehrwürdigen Bau der alten Landesverfaſſung mit
einem Fußtritt über den Haufen warf. Der Schlag fiel ſo plötzlich und
wirkte ſo betäubend, daß im ganzen Lande nur zwei Beamte, Georgii und
Sartorius, dem neuen Selbſtherrſcher den Schwur verweigerten; einige
Andere erklärten, daß ſie nur der Gewalt gewichen ſeien; alle Uebrigen
ſagten ſich ohne Widerſtand von ihrem alten Verfaſſungseide los. Bei
der gewaltſamen Abrundung ſeines Staatsgebiets verfuhr König Friedrich
mit der ganzen Unbefangenheit eines Wegelagerers und gab den Occu-
pationscommiſſären, die er mit ſeinen gefürchteten ſchwarzen Jägern und
Chevauxlegers den kleinen Nachbarn über den Hals ſchickte, kurzab die
Weiſung: „wer unter Ihnen am häufigſten von fremden Regierungen
bei mir verklagt wird, der ſoll mir am willkommenſten ſein.“ Und wie
der Herr ſo die Diener. Welch ein Genuß für den groben, ungebildeten
altwürttembergiſchen Schreiber, wenn er als „königlich württembergiſcher
ſouveräner Stabsſchultheiß“ in ein erobertes Gebiet einziehen oder den
ſtolzen Reutlinger Bürgern durch brutale Willkür „den ſakermentſchen
reichsſtädtiſchen Hochmuth austreiben“ konnte.


Faſt auf das Dreifache vergrößert blieb das Reich des neuen Schwa-
benkönigs noch immer ein ſehr beſcheidener Mittelſtaat, das winzigſte unter
den Kleinkönigreichen des Rheinbunds. Es umfaßte nicht einmal das ge-
ſammte Gebiet des oſtſchwäbiſchen Stammes und ragte im Norden nur
[305]Das neue Königreich Württemberg.
wenige Meilen weit in das fränkiſche Land hinein; das ganze ſchwäbiſche
Alpenland, der ſchöne Allgau, kam an Baiern, desgleichen Augsburg, die
größte und ruhmreichſte aller ſchwäbiſchen Städte. Aber auf dieſem engen
Raume begegneten ſich die ſchärfſten politiſchen, kirchlichen, wirthſchaft-
lichen Gegenſätze. Zu dem harten asketiſchen Lutherthum Altwürttem-
bergs trat der weltlich heitere Katholicismus Oberſchwabens mit ſeiner
joſephiniſchen Aufklärung hinzu; zu der Kleinwirthſchaft der Neckar- und
Remslande die großen adlichen Güter und die geſchloſſenen Bauernhöfe
des Schuſſenthals; zu dem bürgerlichen Herrenſtande des Herzogthums eine
dichte Schaar von Fürſten, Grafen und Reichsrittern — und mindeſtens
im Hohenlohiſchen bewahrte das Volk ſeinem wohlwollenden alten Fürſten-
geſchlechte ein ſtarkes Gefühl dynaſtiſcher Treue. Die Vorderöſterreicher
betrachteten den Eintritt in den Kleinſtaat von Haus aus als eine Demü-
thigung, auch die geiſtlichen Gebiete hielten feſt zu dem Kaiſerhauſe, dem
alten Gegner der württembergiſchen Proteſtanten. Unter den Reichs-
ſtädten beſaß nur noch Heilbronn ein kräftiges bürgerliches Leben, ſelbſt
das reiche Ulm war verarmt und verdumpft; aber alle, bis auf Bop-
fingen und Aalen herab, empfanden bitter den Verluſt der alten Frei-
heit, am bitterſten wohl die demokratiſchen Reutlinger, die noch auf ihrem
Rathhauſe die alten Siegeszeichen aus den Fehden gegen die Württem-
berger Grafen bewahrten.


Ein Verkehr zwiſchen den alten und den neuen Landestheilen hatte
bisher kaum beſtanden; man kannte einander faſt nur aus dem land-
läufigen freundnachbarlichen Spottgerede. Offene Widerſetzlichkeit wagte
ſich nicht mehr heraus ſeit die unglücklichen Mergentheimer ihren Auf-
ſtandsverſuch blutig gebüßt hatten. Aber grollend mieden die Unterworfenen
den Umgang mit den königlichen Beamten, ſelbſt auf der Univerſität lebten
die neuen Landsmannſchaften der Ulmer und der Hohenloher in ewigen
Raufhändeln mit den Altwürttembergern. Dieſe bunte kleine Welt in
die bürgerlich-proteſtantiſche Verfaſſung des alten Herzogthums aufzu-
nehmen war eine offenbare politiſche Unmöglichkeit und auch rechtlich nicht
geboten; denn ein großer Theil der neuen Erwerbungen galt als Erſatz
für Mömpelgard, das im Stuttgarter Landtage niemals vertreten war.
Einige Jahre lang begnügte man ſich mit einem Nothbehelf und behandelte
das neue Gebiet, das mit dem alten überall im Gemenge lag, als einen
ſelbſtändigen Staat; das ſtille Pfaffenſtädtchen Ellwangen wurde die Haupt-
ſtadt dieſes wunderbaren Reiches Neu-Württemberg, weil die Behörden
dort in den ſtattlichen Paläſten der alten Pröpſte ein bequemes Unter-
kommen fanden. Auf die Dauer ließ ſich die unnatürliche Trennung der
beiden Landeshälften nicht halten, ihre Vereinigung aber blieb undurch-
führbar ſo lange die Verfaſſung Altwürttembergs beſtand.


Jener Staatsſtreich vom 30. Dec. 1805, der das gute alte Recht be-
ſeitigte, entſprang nicht blos der Herrſchſucht eines übermüthigen Tyrannen,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 20
[306]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
ſondern auch einem unleugbaren politiſchen Nothſtande. Ueber das ver-
einigte Alt- und Neu-Württemberg ſtürzten nun alle Schrecken des Des-
potismus herein; aber die Selbſtherrſchaft ſchenkte dem Lande neben un-
zähligen Thaten empörender Willkür doch auch die unentbehrlichen In-
ſtitutionen des modernen Staates. Das Religionsedikt, König Friedrichs
beſtes Werk, zerſtörte die Herrſchaft der lutheriſchen Kirche, gab beiden Be-
kenntniſſen gleiche Rechte. Durch die Seculariſation des Kirchenkaſtens
und die Aufhebung der ſtändiſchen Kaſſe wurde die Einheit des Staats-
haushalts gegründet und die regelmäßige Steuerpflicht durchgeführt, freilich
mit ſolcher Härte, daß der Grundbeſitz faſt vier Fünftel ſeines Reinertrags
an Abgaben zu zahlen hatte. Das waffenloſe Land erhielt endlich wieder
ein kriegstüchtiges kleines Heer, das, wie der König prahlte, mit den
Truppen anderer Monarchen in gleicher Linie ſtand; und wenngleich der
alte Unfug des Schreiberweſens nicht gänzlich beſeitigt wurde, ſo ent-
ſtanden doch durch die neuen Gerichte und Verwaltungsſtellen die erſten
Anfänge eines monarchiſchen, akademiſch gebildeten Beamtenthums, und
jede Begünſtigung des alten Herrenſtandes fiel hinweg. Selbſt das Unter-
richtsweſen, das der König mit roher Geringſchätzung behandelte, gewann
mindeſtens die Möglichkeit einer freieren Entwicklung ſeit die Leitung in
die Hände weltlicher Behörden kam.


Der ganze Umſchwung vollzog ſich gewaltſam, ſtoßweiſe und darum
unvollſtändig: die Patrimonialgerichte fielen, die drückenden Grundlaſten
und Frohnden, das Jagdrecht und das gänzlich verrottete Zunftweſen
blieben beſtehen. Immerhin brachte dies Schreckensregiment einige Ord-
nung in ein Chaos verlebter Territorien und ebnete den Boden, auf dem
ſich vielleicht dereinſt ein geſünderes Staatsleben erheben konnte. Der
Feind der Revolution begründete ſelber in ſeinem Staate mit revolu-
tionärem Ungeſtüm die moderne Rechtsgleichheit, nur daß ſie hier, wie im
napoleoniſchen Frankreich, zunächſt als die gleiche Knechtſchaft Aller erſchien.
Merkwürdig doch, wie viel Lebens- und Arbeitskraft der böſe dicke König
mitten im Schmutze ſeiner Ausſchweifungen ſich bewahrte. Er ſelber war
die Seele ſeines Reichs und zeigte ſich unerſchöpflich in neuen Entwürfen:
die Hafenſtadt Friedrichshafen am Bodenſee, das Eiſenwerk Friedrichsthal,
die Saline Friedrichshall ſollten den Caeſarenruhm des erſten Schwaben-
königs der Nachwelt überliefern. Alle ſeine Räthe, die er mit Vorliebe dem
deutſchen Anslande entnahm, dienten ihm als willenloſe Werkzeuge, wohl
nur Graf Wintzingerode verſtieg ſich zuweilen zu einem eigenen Gedanken.
Auch dem Protector gegenüber wußte König Friedrich, bei aller Ergeben-
heit, den fürſtlichen Stolz beſſer zu wahren als die anderen Könige des
Rheinbunds; er weigerte ſich ſeine Truppen nach Spanien zu ſenden,
und Napoleon rief einſt erboſt: wenn dieſer Mann hunderttauſend Sol-
daten hätte, ſo würde ich ihm den Krieg erklären.


Die Maſſe des Volks konnte für die berechtigten politiſchen Gedanken,
[307]König Friedrich I.
welche bei dem Umſturz der alten Ordnung mitwirkten, unmöglich ein
Verſtändniß haben. Sie ſah ringsum nur die Zerſtörung verbriefter
Rechte, Beamtenwillkür und Steuerdruck, Unterſchleif und Angeberei. Da-
zu die alte Plage der landesfürſtlichen Jagden bis zum Frevelhaften ge-
ſteigert; dazu das widerwärtige Schauſpiel eines Hofes, der durch ge-
ſchmackloſe Verſchwendung, durch die prunkenden Titel ſeiner Reichs-
kammerherren, Reichsmarſchälle und Reichsherolde mit dem Glanze des
Weltherrſchers zu wetteifern ſtrebte. Dem ehrenfeſten Stuttgarter Bürger
ſtieg das Blut in die Wangen, wenn er von der voltairianiſchen Religions-
ſpötterei ſeines Landesvaters hörte; nun gar die Frechheit der verwor-
fenen königlichen Lieblinge erinnerte an die Mignons Heinrichs III. von
Valois. Soeben wieder erregte ein widerwärtiges Familiendrama im
königlichen Hauſe die Entrüſtung der ganzen Welt. Der König hatte einſt
ſeine Tochter Katharina zur Ehe mit Jerome Napoleon gezwungen und
verlangte jetzt, nach dem Sturze des Kaiſerreichs, daß ſie ſich von ihrem
Gatten trennen ſolle. Die edle Frau erwiderte ſtolz: „ich habe ſein Glück
mit ihm getheilt, er gehört mir an in ſeinem Unglück.“ Darauf ließ der
Vater die Tochter gewaltſam aus Oeſterreich nach Württemberg entführen
und hielt dann die beiden Gatten ein Jahr lang im Schloſſe von Ell-
wangen feſt, um ſie durch Drohungen und Mißhandlungen zur Heraus-
gabe ihres Vermögens zu zwingen. Im Lande ſtieg die Noth und die
Erbitterung von Jahr zu Jahr; mancher Verzweifelnde ward nur durch
das ſtrenge Verbot der Auswanderung daheim zurückgehalten. Sobald
nach dem Tode des Despoten dies Verbot aufgehoben wurde, verließen
Viele die Heimath. Die erſten Wellenſchläge des großen Stromes der ameri-
kaniſchen Auswanderung zeigten ſich ſchon 1817 in Württemberg; die ab-
ziehenden armen Leute aus dem Heilbronner Lande erklärten laut, daß
allein die Härte der Beamten und die Laſt der Abgaben ſie vertreibe.


Nach ſiebzehnjähriger Regierung war der König ſeinem Volke noch
immer völlig fremd. Wie hätte er ſonſt glauben können, daß dieſe treuen
ſteifnackigen Schwaben den Untergang ihres guten alten Rechts ſo ſchnell
verſchmerzen würden? Voll Zuverſicht rechnete er auf den unterthänigen
Dank ſeines Volkes, als er aus Wien heimgekehrt ſich entſchloß, durch die
Verleihung einer Verfaſſung den Beſchlüſſen des Congreſſes zuvorzu-
kommen. Er ſollte bald erfahren, daß der gefährlichſte Augenblick für eine
verderbte Regierung immer dann eintritt, wenn ſie ſelber zu Reformen
ſchreitet. Ein königliches Manifeſt berief einen ungetheilten Landtag für
das neue Reich: fünfzig Vertreter des Adels, vier Geiſtliche, je einen Ab-
geordneten aus den 64 Oberämtern und den ſieben Städten, welche den
napoleoniſchen Titel der guten Städte führten. Noch bevor dieſe Ver-
ſammlung zuſammentrat, wußte Jedermann in Stuttgart, ſelbſt das
diplomatiſche Corps, daß ein großer Schlag gegen den König im Werke
ſei. Das unglückliche Volk gewann das ſo lange unterdrückte Recht der
20*
[308]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
freien Rede endlich wieder, und alsbald regten ſich Alle, welche die Nacken-
ſchläge des Despotismus erfahren hatten: die altwürttembergiſchen Land-
ſtände und ihr mächtiger Familienanhang, die unvergeßlich beleidigten
Fürſten und Reichsritter, die Reichsſtädte und die Prälaten. Der Haß
gegen den König erweckte in den alten und den neuen Landestheilen zum
erſten male ein Gefühl der Gemeinſchaft. Die Alt-Württemberger zeigten
ſich ſofort entſchloſſen ihre geliebte Verfaſſung zurückzufordern, die doch
in den neuen Gebieten niemals zu Recht beſtanden hatte. Die Neu-
Württemberger gingen auf den Vorſchlag ein, weil die umſtändlichen
Formen des guten alten Rechts ein ganzes Arſenal voll ſcharfer Waffen
zur Abwehr fürſtlicher Uebergriffe darboten und die Bändigung der monrachi-
ſchen Eigenmacht, dieſem Könige gegenüber, Allen als die wichtigſte Auf-
gabe erſchien; man dachte ſich’s nicht allzu ſchwer, durch einige Zuſätze
über die Gleichberechtigung der Katholiken und die ſtändiſche Vertretung
des Adels das unförmliche Verfaſſungsgebäude auch für die Neuwürttem-
berger wohnlich einzurichten.


Nur König Friedrich ahnte nichts von dieſen Plänen. Am 15. März
1815 eröffnete er ſelbſt den Landtag und verkündete, daß er heute den
Schlußſtein zu dem Gebäude des Staates legen wolle. Darauf ward
die neue Verfaſſung verleſen, der König gelobte feierlich ſie zu halten
und erklärte, daß ſie hiermit ſofort für alle ſeine Unterthanen verbindlich
werde. Jeder Satz dieſes Grundgeſetzes ſchien darauf angelegt dem
Könige für ſeine Lebenszeit die ungeſtörte Fortdauer der Selbſtherrſchaft
zu ſichern. Ein Landtag, nach denſelben Grundſätzen gebildet wie der
gegenwärtige, ſollte in Zukunft aller drei Jahre zuſammentreten um auf
den Vorſchlag der Krone über neue Steuern und neue Geſetze zu berath-
ſchlagen; er durfte alſo weder die gegenwärtige unerträgliche Steuerlaſt
vermindern, noch jene tauſende königlicher Reſcripte, welche in den
letzten Jahren das Land zur Verzweiflung gebracht hatten, ſeiner Durch-
ſicht unterwerfen. Um ganz ſicher zu gehen hatte der König überdies
erſt in den jüngſten Tagen einige neue harte Geſetze über die Militär-
pflicht und die Landesmiliz erlaſſen. Damit ſchwand jede Ausſicht auf
friedliche Beſſerung der Landesnoth. Der preußiſche Geſandte v. Küſter,
ein verſtändiger Mann, der den Aufenthalt an dieſem Hofe kaum zu er-
tragen vermochte, ſchrieb tief entrüſtet ſeinem Monarchen: „Ew. Majeſtät
werden ſelbſt leicht beurtheilen, ob eine ſolche Verfaſſung den Wünſchen
der Mächte entſpricht.“ *) Der König übergab die Urkunde in goldener
Kapſel den Präſidenten des Landtags. Aber kaum hatte er das Haus
verlaſſen, ſo erhob ſich der Heißſporn der Mediatiſirten, Graf Georg von
Waldeck und verlas eine längſt vorbereitete Adreſſe, die in unterthänigen
Worten das königliche Geſchenk zurückwies und rundweg erklärte: das
[309]Eröffnung des Landtags.
Volk habe ſeine Vertreter nur in der Vorausſetzung gewählt, daß keine
andere Baſis als die von den Voreltern ererbte und von allen Regenten
beſchworene Conſtitution Württembergs den Verhandlungen zu Grunde
gelegt würde. Einſtimmig, in leidenſchaftlicher Erregung genehmigte der
Landtag die Adreſſe. Die neue Verfaſſung blieb unbeachtet auf dem Tiſche
des Hauſes liegen, ſie ward in wenigen Augenblicken ein werthloſes Stück
Papier.


Das ſchroffe Auftreten der Stände gab das Signal für den Losbruch
der Volksleidenſchaften. Der ſtändiſche Trotz der guten alten Zeit, die
radikalen Stimmungen der neunziger Jahre, der verhaltene Ingrimm der
rheinbündiſchen Tage und die neuen Freiheitswünſche, welche der Kampf
gegen Napoleon erregt hatte, brauſten durcheinander. Wie viel näher als die
nebelhaften Fragen der deutſchen Politik lagen doch dieſem Geſchlechte die
handgreiflichen Nöthe der Heimath! Die Petition an den Bundestag um
Erfüllung des Art. 13 fand in Schwaben kaum vereinzelte Unterzeichner;
der Stuttgarter Landtag aber ward mit Bittſchriften, Beſchwerden und Zu-
ſtimmungserklärungen überſchüttet. Eine Unzahl ſtreitbarer Flugſchriften
trat für die Stände in die Schranken, manche mit jakobiniſcher Wildheit.
Eine „Appellation an die hohen Befreier Deutſchlands“ trug auf dem
Titel die drohende Bemerkung „Imprimatur kraft der Cenſurfreiheit der
württembergiſchen Landſchaft“ und ſtellte die Frage: „Was koſtet dieſe
Krone?“ Die Antwort lautete: „Einen himmelſchreienden Eidbruch, viele
tauſende erzwungener Meineide, Gewaltthaten ohne Zahl, Erpreſſungen
der Willkür und des Uebermuths, und dazu in den Kauf das Menſchen-
blut von 30—40,000 aus der hoffnungsvollen Jugend der Landeskinder!
Das Blut ſo vieler tauſend Geopferter walle, ſprudle, glühe um den
Stuhl des Despoten!“ Eine zweite „Appellation“ verlangte „eine Eidver-
brüderung aller rechtlichen Männer für Recht und nichts als Recht aber
auch für altes gutes Recht, mit der Loſung: Gott und unſere Rechte!
Rechtlich frei, ſo rechtlich treu!“ Alſo flog der heilige, deutſchen Herzen
ſo unwiderſtehliche Name des Rechtes in hundertfachem Widerhall hin
und her; mit einigen ſophiſtiſchen Scheingründen halfen ſich die Aufge-
regten hinweg über die unbeſtreitbare Thatſache, daß jenes alte Recht in
der größeren Hälfte des Landes niemals beſtanden hatte. Begeiſtert nahm
die geſammte deutſche Preſſe Partei für den Landtag, weil er die beiden hei-
ligſten Empfindungen der Zeit, die treue Liebe zum heimathlichen Brauche
und die unbeſtimmte Freiheitsehnſucht zugleich vertrat. Nur die Mün-
chener Allemannia verfocht wie immer die Sache des rheinbündiſchen
Abſolutismus.


Auf die Adreſſe der Stände folgten ſcharfe Rechtsverwahrungen
der Mediatiſirten, der katholiſchen und lutheriſchen Prälaten. Sogar
die Agnaten des königlichen Hauſes proteſtirten gegen das neue harte
Hausgeſetz, an ihrer Spitze Herzog Paul, ein wüſter Menſch von un-
[310]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
gezügeltem Ehrgeiz, der gern die Rolle eines ſchwäbiſchen Philipp Egalité
geſpielt hätte. Der König fühlte ſich dem ungeheuren Haſſe, der von
allen Seiten her über ihn hereinſtürzte, nicht gewachſen, und da auch
ſein Kronprinz ihm vorſtellte, wie wenig auf eine Sinnesänderung der
Stände zu rechnen ſei, ſo that er klüglich einen Schritt zurück und erklärte
ſich am 16. April bereit, durch ſeine Commiſſäre mit vier ſtändiſchen
Bevollmächtigten zu verhandeln: dieſe ſollten dann angeben, welche Be-
ſtimmungen des alten Landesrechts der Landtag noch in das neue Grund-
geſetz aufzunehmen wünſche. Damit war die ſoeben erſt feierlich verkün-
digte Verbindlichkeit der neuen Verfaſſung beſeitigt. Jetzt aber zeigte ſich,
daß der Landtag nichts Geringeres erſtrebte als die Wiederherſtellung des
alten Zuſtandes mit einigen unweſentlichen Aenderungen.


Die Wahlen der Städte und Oberämter waren, mit Ausnahme von
neun Kaufleuten, durchweg auf Juriſten, Bürgermeiſter, Schultheißen und
Schreiber gefallen. Begreiflich, daß in einer ſolchen Verſammlung die ge-
wiegten Kenner des hiſtoriſchen Rechts die Oberhand behaupteten: ſo Weis-
haar, Bolley und Georgii, tüchtige, von den Ideen des neuen Liberalismus
lebhaft ergriffene Rechtsgelehrte, denen die oligarchiſche alte Verfaſſung als
das ſicherſte Bollwerk der Volksrechte erſchien, dann der wackere Bürger-
meiſter Klüpfel von Stuttgart, endlich Zahn und Feuerlein, zwei Vir-
tuoſen der altwürttembergiſchen Schreibſtube, unvergleichlich in allen
Künſten kleinlicher Wortſpalterei. Im Namen der Mediatiſirten führte
Graf Waldeck das große Wort, ein unruhiger Kopf, immer bei der Hand
wenn der ſüddeutſche Adel ſich zur Wahrung ſeiner Standesrechte ver-
ſammelte. Er brachte es über ſich, in einem Athem für unbeſchränkte
Volksfreiheit zu ſchwärmen und die Privilegien ſeines Hauſes zu ver-
theidigen: das hochgräfliche Haus Limburg, ſo ließ er ſich vernehmen,
habe bisher weder den Deutſchen Bund noch das Königreich Württem-
berg anerkannt und könne ſich dazu nur herbeilaſſen, wenn ihm ein freier
Vertrag angeboten würde. Unter dem niederen Adel that ſich Freiherr
v. Varnbüler hervor, ein echter Reichsritter, tapfer, freimüthig, überaus
hartnäckig. Späterhin trat auch Oberſt Maſſenbach in die Reihen der
Ritterſchaft ein, derſelbe, an deſſen Namen der Fluch von Jena und
Prenzlau haftete; der hatte bereits durch die Herausgabe unſauberer
Denkwürdigkeiten ſich gerächt für die wohlverdiente Entlaſſung aus dem
preußiſchen Heere und entfaltete jetzt in der Politik die nämliche phan-
taſtiſche Vielgeſchäftigkeit wie einſt als Soldat. In wüſten, ſchreienden
demagogiſchen Schriften forderte er den Adel auf ſich bürgerlich taufen
zu laſſen, und verkündete: „jetzt haben alle Fürſten mit ihren Völkern
neue Verträge zu ſchließen; ſo weit muß es kommen, daß jeder Staats-
bürger ſeinen Beitrag zur Staatshaushaltung ſelbſt berechnen kann.“


Vorläufig hielt die aus ſo grundverſchiedenen Elementen gemiſchte
Oppoſition noch feſt zuſammen; nur fünf vom Adel zogen nachträglich
[311]Die Stände für das alte gute Recht.
ihre Zuſtimmung zu der Adreſſe zurück, und ein Theil der Mediatiſirten
trat aus, um zunächſt die Entſcheidung des Wiener Congreſſes über die
Rechte der vormaligen Reichsſtände abzuwarten. Die Form der Bera-
thungen entſprach noch ganz dem altväteriſchen Brauche: die Abgeordneten
verlaſen zumeiſt lange ſchriftliche Vota und verſtiegen ſich nur ſelten, beim
Austauſch perſönlicher Gehäſſigkeiten, zur freien Rede. Seinen vier Bevoll-
mächtigten ſtellte der Landtag einen Ausſchuß von 25 Mitgliedern an die
Seite, der die Stelle des alten großen Ausſchuſſes vertreten ſollte und auf
jeden Vorſchlag der Regierung ein umſtändliches Gegenbedenken folgen ließ.
Und doch konnte ſelbſt die langweilige Förmlichkeit des ſchriftlichen Ver-
fahrens nicht verhindern, daß die furchtbare Erbitterung gegen den König
ſich oft in ſtürmiſchen Auftritten entlud. Die Stände beantworteten das
Entgegenkommen des Monarchen durch eine Zuſammenſtellung der Lan-
desbeſchwerden. Welch ein Eindruck, als dies endloſe Schriftſtück verleſen
wurde und die unglaubliche Willkür der Landvögte, die frevelhafte Ver-
ſchwendung des Königs ſelbſt an den Tag kam: fünf Millionen Gulden,
ein volles Drittel der Landeseinkünfte, hatte der Hofhalt jährlich ver-
ſchlungen. Alles ſchwieg erſchüttert, Manchem ſtürzten die Thränen aus
den Augen; es war, als ob das tief beleidigte Gewiſſen des Volks zu
Gericht ſäße über die Sünden dieſer neun Jahre. Unterdeſſen rückte das
Verfaſſungswerk nicht von der Stelle. In den ſchärfſten Worten erinnerten
die Stände den König an ſeinen gebrochenen Eid; ſie wiederholten un-
abläſſig, daß all’ das „namenloſe Elend“ der letzten Jahre allein von der
„Verachtung des geprüften Alten“ komme, und erklärten für den werth-
vollſten Beſtandtheil der alten Verfaſſung grade jene beiden Inſtitutionen,
welche ſich mit der Einheit der modernen Monarchie am wenigſten ver-
trugen: den ſtehenden Ausſchuß und die landſtändiſche Kaſſe. Getreu der
altſtändiſchen Ueberlieferung betrachteten ſie das Verhältniß zwiſchen Fürſt
und Volk als einen natürlichen Kriegszuſtand und ſcheuten ſich nicht dem
Könige ins Geſicht zu ſagen: für den Fall eines neuen Streites müſſe
der Landtag eigene Geldmittel beſitzen um verfolgte Beamte zu unterſtützen.


Nach einem halben Jahre unfruchtbaren Streites riß dem Könige
endlich die Geduld. Er beſchloß die Verſammlung zu vertagen, forderte
ſie auf, einige Bevollmächtigte zur Fortſetzung der Verhandlungen über
das Grundgeſetz zurückzulaſſen und verſprach in der Zwiſchenzeit die Landes-
beſchwerden ſtreng zu unterſuchen. Die Mehrheit des Landtags aber kam
von den Formeln des altwürttembergiſchen Staatsrechts nicht los; ſie be-
ſtand darauf, daß ein großer Ausſchuß als Vertreter der Rechte des
Landes zurückbleiben müſſe, und als der Monarch dieſe ſtändiſche Neben-
regierung zurückwies, gingen die Stände trotzig auseinander ohne Bevoll-
mächtigte für die Verfaſſungsarbeit zu ernennen. Bevor der Landtag ſich
trennte ſpielte er noch ſeinen höchſten Trumpf aus und wendete ſich
(26. Juli) an die Bürgen des alten Erbvergleichs, Dänemark, England
[312]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
und Preußen mit der Bitte um Vermittlung, denn die Annahme des
königlichen Entwurfs würde dem Volke als ein „Verrath“ erſcheinen. So
ſtand es noch um den Nationalſtolz des Südens: der vielgefeierte erſte
Landtag dieſer Friedensjahre ſchloß mit dem Verſuche, im Namen der
Volksrechte zwei fremde Mächte zur Einmiſchung in Deutſchlands innere
Händel zu bewegen.


Mit wachſender Spannung war das Land dieſen Kämpfen gefolgt.
Der Landtag konnte ſich während der letzten entſcheidenden Sitzungen nur
mit Mühe der Ständchen und Hochrufe des Stuttgarter Volks erwehren.
Nach der Vertagung ſtrömte das Landvolk in dichten Schaaren gen Lud-
wigsburg, und der König ließ ſeine Reiter vor den Thoren ſtreifen um
die einſame Reſidenz vor dem Getöſe der Sturmpetitionen zu ſichern.
Die rückkehrenden Männer des Volkes aber empfing daheim ein Sturm
überſchwänglicher Huldigungen, der den Eigenſinn und das ſtarre Selbſt-
gefühl der „Altrechtler“ bedenklich ſteigerte. Und wie hätte inmitten dieſer
brauſenden Volksbewegung der edle Dichter ſchweigen ſollen, der für die
Herzensgeheimniſſe des ſchwäbiſchen Volks allezeit das rechte Wort fand
und überdies durch ſeinen demokratiſchen Bürgertrotz, durch ſeine juriſtiſche
Bildung, durch die Ueberlieferungen ſeiner Familie zu der altwürttem-
bergiſchen Rechtspartei geführt wurde? Ludwig Uhland begleitete jeden
Auftritt des wirrenreichen Kampfes mit den ſchlichten, volksthümlichen
Klängen ſeiner Vaterländiſchen Gedichte und wendete — nach dem Rechte
der Wiederholung, das dem politiſchen Dichter wie dem Publiciſten zu-
ſteht — in mannichfachen Weiſen immer nur den einen Gedanken hin
und her:


Du Land des Korns und Weines,

Du ſegenreich Geſchlecht,

Was fehlt Dir? All’ und Eines:

Das alte gute Recht!

Die kräftigen Lieder ſchollen weit über Schwabens Grenzen hinaus und
ſchürten mächtig die unklare Aufregung der Zeit. So würdig und maß-
voll die Form war, aus allen ſprach doch die radikale Lehre „Alles oder
Nichts“, aus allen der ſcharfe Vorwurf, daß die Bosheit ruchloſer Ge-
walthaber die Völker um ihre verbrieften Rechte betrüge. Befangen in
dem Geſichtskreiſe der Heimath übertrug der ſchwäbiſche Dichter den Groll,
der in der dumpfen Luft des württembergiſchen Despotismus nicht unbe-
rechtigt war, auch auf die Zuſtände des geſammten Vaterlandes und ſchil-
derte ſchon am dritten Jahrestage der Leipziger Schlacht in dem ſchönſten
und radikalſten ſeiner politiſchen Gedichte die Lage Deutſchlands als völlig
hoffnungslos. In einem Augenblicke, da Preußens Staatsmänner, kaum
erſt aus Paris heimgekehrt, mit der Einrichtung der neuen Verwaltung
noch alle Hände voll zu thun hatten, beſchwor Uhland ſchon den Geiſt
Theodor Körners herauf und ließ ihn zürnend ſagen: „untröſtlich iſt’s
[313]Wangenheim.
noch allerwärts!“ Der ungerechte Ausſpruch drang der teutoniſchen Jugend
bis ins Mark und wurde von den Parteien der Oppoſition in Vers und
Proſa ſo lange nachgeſprochen, bis nach abermals drei Jahren die Un-
tröſtlichkeit wirklich hereinbrach.


Die Anrufung der drei Garanten hatte, wie jeder Unbefangene vor-
ausſehen konnte, nur die eine Folge den König von Neuem zu reizen.
Keiner der drei Höfe glaubte ſich berechtigt, für eine längſt aufgehobene
Verfaſſung, deren Beſtand nur auf dem Boden des alten Reichsrechts
möglich geweſen war, jetzt noch nachträglich einzutreten. Preußen insbe-
ſondere hielt ſich behutſam zurück, obgleich Hardenberg die Verſöhnung
zwiſchen Fürſt und Volk aufrichtig wünſchte; denn König Friedrich, der
ſich in der jüngſten Zeit eng an Rußland angeſchloſſen hatte, bekundete
ſeinen alten Groll gegen die norddeutſche Großmacht ſo gehäſſig und heraus-
fordernd, daß der Geſandte Küſter mehrmals daran dachte ſofort abzu-
reiſen. Unter ſolchen Umſtänden konnte ein Einmiſchungsverſuch des Ber-
liner Cabinets nur ſchaden. Aber auch König Friedrich fand auswärts
keine Hilfe. Bei allen Höfen ſtand er im übelſten Rufe; alle ohne Aus-
nahme verlangten, daß der europäiſche Skandal des ſchwäbiſchen Willkür-
regiments ein Ende nehmen müſſe. Fürſt Metternich ſprach ſich ſogar offen
für die Sache des Landtags aus, da ſein eigenes Geſchlecht zu den württem-
bergiſchen Mediatiſirten gehörte und in den letzten Jahren ſchwere Unbill
erfahren hatte.*)


Der einſt allmächtige kleine Herr war völlig vereinſamt; unaufhaltſam
wuchs die Aufregung im Lande, aus mehreren Oberämtern kamen ſchon
Proteſte gegen die neue Steuerausſchreibung. Nach ſeiner entſchloſſenen
Art fand ſich der König raſch in die veränderte Lage und berief in ſeiner
Noth den Freiherrn K. A. v. Wangenheim in das Cabinet, einen Thüringer,
deſſen Name ſchon für einen ehrlichen Syſtemwechſel bürgte. Wangen-
heim war bereits in jungen Jahren als coburgiſcher Beamter dem unred-
lichen Regimente des Miniſters Kretſchmann mit unerſchrockenem Freimuth
entgegengetreten und zur Strafe des Landes verwieſen worden. Er hatte
dann in Franken eine Zuflucht gefunden bei dem ritterlichen Freiherrn
v. Truchſeß, den die romantiſche Welt als einen zweiten Sickingen feierte,
und dort auf der Bettenburg, in der neuen Herberge der Gerechtigkeit
mit dem jungen Dichter Friedrich Rückert Freundſchaft fürs Leben ge-
ſchloſſen. Als er einige Jahre nachher im Auftrage eines kleinen thüringi-
ſchen Hofes nach Stuttgart kam, da gewannen ihm ſeine geiſtvollen, von
übermüthigen Einfällen ſprudelnden Geſpräche, ſeine glänzende Erſcheinung
und ſeine unverwüſtliche Ausdauer beim Zechgelage das Wohlgefallen des
Königs, der ihn ſofort in ſeine Dienſte nahm. Die Gnade währte nicht
lange; „mein Student“, wie der König ihn nannte, erregte bald Anſtoß
[314]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
durch das offenherzige Ausſprechen ſeiner deutſchen Geſinnung, und man
war endlich froh ihn als Curator der Univerſität nach Tübingen zu ent-
fernen. Hier verkehrte er, ein treuer, einſichtiger Förderer der Wiſſen-
ſchaft, freundlich mit allen namhaften Gelehrten der Hochſchule, am Liebſten
doch mit dem Myſtiker Eſchenmaier, der den erregbaren, für alle Spiele
der Phantaſie empfänglichen Dilettanten in die kabbaliſtiſchen Formeln
ſeiner naturphiloſophiſchen Staatslehre einweihte. Als der Verfaſſungs-
kampf ſich verſchärfte, trat Wangenheim plötzlich mit einer Schrift „die
Idee der Staatsverfaſſung“ hervor. Das wunderliche Buch zeigte ſchlagend,
wie unvereinbar das alte gute Recht mit dem modernen Staatsbegriffe
ſei, und entwickelte ſodann mit feierlichem Pathos das Programm einer un-
fehlbaren, allen Anſprüchen der Idee genügenden Muſterverfaſſung. Es
war die alte Montesquieu’ſche Doctrin in phantaſtiſchem Aufputz: die
heilige Dreizahl der Naturphiloſophie ſollte ſich in dem Gleichgewicht der
drei Gewalten offenbaren; die Volksmaſſe erſchien als die Vorſtellungs-
kraft, die Gemeinde als die Einbildungskraft, der Landtag als das Be-
gehrungsvermögen des Staates. Immerhin verbargen ſich hinter der
doctrinären Hülle einige gute, ausführbare Vorſchläge, und da dem Könige
ſich nirgends ſonſt ein Helfer darbot, ſo beauftragte er dieſen literariſchen
Vermittler mit der Beilegung des Verfaſſungsſtreites.


Voll ſtolzer Zuverſicht folgte Wangenheim dem Rufe. Er krankte
bereits an jener maßloſen Selbſtüberſchätzung, welcher begabte Köpfe in
engen Verhältniſſen ſo leicht verfallen, und meinte ſich berufen, dem ganzen
Deutſchland durch eine Verfaſſung ohne Gleichen ein glänzendes Vorbild zu
bieten. Obgleich er den Rheinbund aufrichtig haßte, ſo konnte er ſich doch
nicht enthalten, ſeine geliebte myſtiſche Dreizahl auch auf die geſammt-
deutſche Politik zu übertragen und hatte ſich längſt ſchon das Syſtem einer
deutſchen Trias ausgeklügelt, das der ſchmachvollen Dreitheilung der napo-
leoniſchen Tage leider ſehr ähnlich ſah. Oeſterreich und Preußen erſchienen
ihm beide als halbfremde Mächte, Preußen insbeſondere als der unerſättlich
habgierige Feind der angeſtammten Fürſtenhäuſer; die Geſammtheit der
Kleinſtaaten, „das reine Deutſchland“ ſollte dieſe Mächte in Schranken
halten, das Gleichgewicht zwiſchen beiden herſtellen, ihnen in Freiheit und
Geſittung immerdar voranleuchten, der Kernſtamm aber unter den rein-
deutſchen Kernſtämmen blieben die Schwaben. Wangenheim liebte ſeine
neue Heimath bis zur Vergötterung und hing an dem königlichen Hauſe mit
einer ritterlichen Treue, die ſich ſelbſt in Augenblicken gerechten Unmuths
nie verleugnete.*) Aber er kannte die Landesverhältniſſe nur oberflächlich
und verſtand die eigenrichtigen Köpfe nicht zu behandeln. Schlimm genug
[315]Nachgiebigkeit des Königs.
ſchon, daß er „ein Ausländer“ war und durch ſein reines Hochdeutſch
die ſchwäbiſchen Ohren beleidigte; doch als er ſich gar in burſchikoſen
Witzen über die „Bocksbeuteleien“ der alten Verfaſſung erging und über
die altwürttembergiſchen Schreiber ſagte: ſolche Subjecte wüßten von
Himmel und Erde nichts als Rechnungen zu machen, die Niemand ver-
ſtehe als wieder ein Schreiber — da erſchien er dem Lande wie ein Heilig-
thumsſchänder. Eine Fluth von Spottreden ergoß ſich über das Staats-
begehrungsvermögen und die anderen naturphiloſophiſchen Schrullen des
„württembergiſchen Solon“.


Im Oktober 1815 wieder einberufen hatte der Landtag abermals in
einer zwanzig Bogen langen Adreſſe die alte Verfaſſung für das ganze
Land gefordert und drohend hinzugefügt: „das Volk fängt an, an der Zu-
kunft zu verzweifeln.“ Da endlich, in einem Miniſterrathe am 11. Novbr.,
gewann Wangenheim den König für den Vorſchlag, daß man den Alt-
rechtlern ihr theures Princip zugeben müſſe.*) Zwei Tage darauf über-
raſchte der Monarch die Stände durch eine Botſchaft, welche den auswär-
tigen Diplomaten „faſt wie ein Wunder“ erſchien. Er erklärte darin,
daß er die innere Giltigkeit der alten Landesverträge nicht beſtreite, ſon-
dern nur ihre Anwendbarkeit, und bot ſodann in vierzehn Artikeln das
unbeſchränkte Steuerbewilligungsrecht, die Verantwortlichkeit aller Staats-
diener, endlich und vor Allem die gemeinſame Reviſion aller ſeit 1806
erlaſſenen Geſetze. Die Artikel enthielten in der That Alles was von
den altſtändiſchen Einrichtungen noch irgend lebensfähig erſchien und
außerdem noch eine lange Reihe neuer, werthvoller Rechte. Der König
ſchloß mit der Verſicherung: würden auch dieſe Vorſchläge verworfen,
dann bleibe ihm nichts übrig als in Altwürttemberg das alte Recht
wiederherzuſtellen und den neuen Gebieten eine ſelbſtändige neue Ver-
faſſung zu geben.


Nach dieſen großen Zugeſtändniſſen der Krone begann die öffent-
liche Meinung außerhalb des Ländchens umzuſchlagen; Stein, Gagern
und viele andere Wohlmeinende, die bisher auf der Seite der Stände
geſtanden, riethen jetzt dringend, die Hand der Verſöhnung zu ergreifen.
Der Landtag dagegen hatte ſich bereits zu tief in den Kampf verbiſſen,
der Streit war längſt perſönlich geworden, die erbitterten Gemüther
ſpotteten aller Vernunftgründe. Die Stände ließen ſich zwar herbei,
abermals durch einen Ausſchuß mit der Krone zu verhandeln; der Aus-
ſchuß aber ſchritt ſogleich, unbekümmert um die vierzehn Artikel, an die
Ausarbeitung eines unförmlichen Verfaſſungsentwurfs, der in 25 Capiteln
und vielen hunderten von Paragraphen alle die ſtaubigen Kleinodien
des alten Rechts, vornehmlich den ſtehenden Ausſchuß und die Steuer-
kaſſe, wieder aufzählte.


[316]II. 6. Süddentſche Verfaſſungskämpfe.

Monatelang ward darüber hin- und hergeſtritten, und um die Ver-
wirrung zu vollenden, griff Wangenheims doctrinärer Eifer auch noch
das Einzige an, worüber bisher beide Theile einig waren: das im bürger-
lichen Württemberg althergebrachte Einkammerſyſtem. Ohne zwei Kammern
konnte die Idee der heiligen Dreizahl ſich doch nimmermehr verwirk-
lichen; das ariſtokratiſche Element mußte durchaus „das Hypomochlion“
bilden, das zwiſchen der Demokratie und der Autokratie „ein oscillirendes
Gleichgewicht herſtellt“! Der König ging auf dieſe theoretiſchen Grillen,
welche Wangenheim in einer neuen Druckſchrift ausführlich entwickelte,
um ſo williger ein, weil ſie mit den Berechnungen ſeiner nüchternen Real-
politik übereinſtimmten. Gleich den meiſten Rheinbundsfürſten beargwöhnte
er den Adel als den gefährlichſten Feind der Krone und hielt für nöthig,
die vornehmen Demagogen in einer erſten Kammer abzuſperren damit ſie
den Bürger und Bauer nicht verführten. Aus ſo wunderlichen Beweg-
gründen entſtand der Plan, in einem Kleinſtaate, der für eine kräftige
Pairie offenbar keinen Raum bot, gleichwohl eine Adelskammer zu bilden.
Die Altrechtler widerſprachen lebhaft; ſie trauten ihren ariſtokratiſchen
Genoſſen wenig, aber ſie glaubten ſich der adlichen Sonderbeſtrebungen
am ſicherſten, wie bisher, in einer ungetheilten Ständeverſammlung er-
wehren zu können. Leichter verſtändigte man ſich über eine andere deutſche
Eigenthümlichkeit, welche die Macht unſerer kleinen Landtage noch ſchwer
ſchädigen ſollte, über die Diäten. Daß der Volksvertreter für ſein Ehren-
amt bezahlt werden müſſe, ſchien Allen ſelbſtverſtändlich. Die Rückſicht
auf die bittere Armuth der gebildeten Klaſſen wirkte zuſammen mit der
Standesanſchauung der Beamten; ohne Tagegelder konnte ſich der Bureau-
krat der alten Schule eine außerordentliche Mühewaltung nicht vorſtellen.
Währenddem brach die despotiſche Natur des Königs immer von Neuem
durch: bald wurden die Unterzeichner einer Adreſſe an den Landtag, bald
ein hitzköpfiger Abgeordneter vor das Strafgericht geladen. Aber auch die
Stände erlaubten ſich gewaltſame Uebergriffe. Sie behaupteten alle die
Befugniſſe, welche ihnen die künftige Verfaſſung erſt zugeſtehen ſollte,
ſchon jetzt zu beſitzen und verwahrten feierlich ihre Rechte, als der König
abermals Steuern ausſchreiben ließ, ja ſie drohten im Falle der Wieder-
holung die Unterthanen zur Steuerverweigerung aufzufordern.


So zog ſich der Streit, mit jedem neuen Tage langweiliger und
unfruchtbarer, abermals durch ein volles Jahr. Im Auguſt 1816 richtete
Graf Waldeck auf eigene Fauſt eine zweite Zuſchrift an die drei Garanten
und an Kaiſer Franz als das vormalige Reichsoberhaupt — ein Akten-
ſtück, das in claſſiſchen Worten den unbelehrbaren Trotz der Götzendiener
des alten Rechts ausſprach. „Die altwürttembergiſche Verfaſſung, hieß
es da, iſt durch den Ausſpruch des deutſchen Kaiſerhofs und der hohen
Garanten, durch die einhellige Stimme Deutſchlands und die Segnungen
dreier Jahrhunderte ſo bündig als ein Werk menſchlicher Vollkommen-
[317]Verhandlungen über Wangenheims Vorſchläge.
heit bewährt, daß die Vernichtung auch nur eines ihrer Beſtandtheile
eben ihrer künſtleriſch zarten Zuſammenfügung wegen ihr Ganzes und
ſomit das Wohl des Volks gefährden würde.“*) Das ganze Land hallte
wider von jenem ungeheuren Geſchrei, das ſeitdem faſt alle Kämpfe des
deutſchen Parlamentarismus begleitete und keineswegs dazu beitrug die
Achtung des Auslands für dieſe Stürme im Waſſerglaſe zu erhöhen. Ein
wildes Pamphlet bedrohte den König bereits mit dem Schickſal ſeines
Ahnherrn, des landflüchtigen Herzogs Ulrich, und als ein anonymer
Schriftſteller für die Vorſchläge der Krone aufzutreten wagte, ward ſeine
Schrift in Stuttgart an den Schnappgalgen genagelt.


Jedermann mußte Partei ergreifen. Auch die vielen berühmten
Schwaben außerhalb des Landes ſendeten in Briefen oder Druckſchriften
ihr Urtheil in die Heimath, und es bezeichnet die heilloſe Verworrenheit des
Streites, daß die Todfeinde Schelling und Paulus ſich Beide für die alte
Verfaſſung ausſprachen, Jener weil ihm das hiſtoriſche Recht ehrwürdig
war, Dieſer weil er in der altſtändiſchen Libertät die conſtitutionelle Frei-
heit zu erkennen glaubte. Hegel dagegen kämpfte mit ſophiſtiſcher Ge-
wandtheit für Wangenheim als den Vertreter der modernen Staatsidee und
erwies, ganz im Geiſte der rheinbündiſchen Bureaukratie, daß erſt durch
den Untergang des verlebten deutſchen Reichs wirkliche „deutſche Reiche“, die
neuen Königreiche, entſtanden ſeien. Mit rührenden Worten beſchwor
der Neuwürttemberger Juſtinus Kerner ſeinen Herzensbruder Uhland,
abzulaſſen von dem „Kaſſen- und Kaſtenweſen der Schreiber und Rechts-
herren“. Es war vergeblich. Als Wangenheims Freund Rückert ſodann
den Poeten der Altrechtler zu einem Dichterwettſtreit herausforderte, da
war der Schwabe in der vortheilhaften Lage die warmen Gefühle der
Gemüthspolitik gegen die nüchternen Erwägungen der Staatsklugheit zu
vertheidigen und bereitete dem Franken eine poetiſche Niederlage, die in
Württemberg als ein politiſcher Triumph gefeiert wurde. Was half es,
daß die beiden beſten politiſchen Köpfe aus der Jugend des Landes,
Friedrich Liſt und Schlayer, den Miniſter eifrig unterſtützten? Im Land-
tage zählte Wangenheim nur zwei Anhänger, den Juriſten Grieſinger
und den Buchhändler Cotta, der ſeinen kleinſtädtiſchen Landsleuten bald
verdächtig ward, weil er als ein Geſchäftsmann großen Stils über ihren
engen Geſichtskreis hinausblickte. Das ſchwerſte Hinderniß der Verſtän-
digung blieb doch der König ſelber. Kein Zweifel, daß er jetzt ehrlich den
Frieden ſuchte; aber wer wollte ihm trauen?


Da räumte ein freundliches Geſchick dies Hemmniß plötzlich aus
dem Wege. Am 30. Oktober 1816 ſtarb der König, von Niemand be-
weint. Den Nachfolger König Wilhelm empfing das Frohlocken des ganzen
[318]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Landes. Schon ſeit Jahren pflegte ihn das treue Volk mit dem guten
Herzog Chriſtoph zu vergleichen, weil er gleich dieſem unter einem ty-
ranniſchen Vater eine freudloſe Jugend verleben mußte. Von der Gut-
müthigkeit jenes alten Herzogs lag freilich gar nichts in der herzloſen,
kalt verſtändigen Natur des neuen Königs. Zu Lüben in der preußi-
ſchen Garniſon geboren war der Prinz in ſeiner Jugend ſo gut preußiſch
geſinnt wie ſein Großvater Karl Eugen; damals ſchrieb er ſich noch
Friedrich Wilhelm. Als er nach der Jenaer Schlacht die Preußen miß-
achten lernte, blieb er doch noch immer ein ſtolzer deutſcher Offizier und
widerſetzte ſich entſchieden der franzöſiſchen Politik ſeines Vaters; der
heftige Zwiſt im königlichen Hauſe wurde bald landkundig und warb
dem Kronprinzen viele geheime Verehrer, obſchon der Trotz des liebloſen
Sohnes an dieſen Händeln ebenſo viel Schuld trug als die bonapar-
tiſtiſche Geſinnung des harten Vaters. Da der König dem Protector
zu Liebe die Hand der anmuthigen Stephanie Beauharnais für ſeinen
Sohn zu erlangen wünſchte, ſchloß der Prinz plötzlich mit der bairi-
ſchen Prinzeſſin Karoline Auguſte eine Ehe, die für beide Theile unſelig
wurde. Die Lorbeeren der napoleoniſchen Siegeszüge reizten ihn nicht;
erſt als Württemberg zu den Verbündeten übergegangen war, nahm er
am Kampfe theil und bewährte ſich in dem franzöſiſchen Winterfeldzuge,
namentlich in dem blutigen Treffen von Montereau, als ein tüchtiger
Corpsführer, ſo daß der ſchwäbiſche Dichter Wilhelm Hauff den Heim-
kehrenden als „Prinz Wilhelm, den edlen Ritter“ feierte. Auf ſeinen
Charakter wirkten dieſe militäriſchen Erfolge nicht günſtig; ſie verſchärften
den Zug menſchenverachtender Ueberhebung, den er mit ſeinem Vater
theilte, und da er die kleinſtädtiſchen Vorurtheile ſeiner Landsleute weit
überſah, ſo ward er auch durch die Erfahrungen des heimiſchen Ver-
faſſungskampfes nur beſtärkt in dem Wahne, daß er ſelber Alles am
Beſten verſtehe.


Ein unbändiger Ehrgeiz nagte raſtlos an ſeiner Seele; allen deut-
ſchen Fürſten glaubte er überlegen zu ſein. Längſt war das Schwaben-
land ſeinen Plänen zu klein; ſchon auf dem Wiener und dem Pariſer
Congreſſe wurde die diplomatiſche Welt mehrmals durch wunderſame Ent-
würfe überraſcht, welche dem Helden von Montereau eine glänzende Ehren-
ſtellung, das Feldherrnamt des Deutſchen Bundes in Mainz oder die
Landesherrſchaft im Elſaß zudachten. Die Träume des Prinzen nahmen
einen noch höheren Flug, als er, nach Auflöſung der Ehe mit der Baierin,
die Schweſter des Czaren, Großfürſtin Katharina heimführte, eine geiſtreiche,
lebhafte, unternehmende Frau, die einſt während des ruſſiſchen Krieges
gleich den tapferſten Männern an der Rüſtung des Heeres gearbeitet
hatte und ſich ungern in die kleinen Verhältniſſe der neuen Heimath
fand. „Wie ſollen, ſchrieb damals Küſter, drei ſo bedeutende, energiſche
und lebhafte Menſchen wie Friedrich, Wilhelm und Katharina ſich ver-
[319]König Wilhelm.
tragen?“ Seitdem entſpann ſich zwiſchen dem ſchwäbiſchen Thronfolger
und dem Prinzen von Oranien ein geheimer Verkehr, zur lebhaften
Beunruhigung der conſervativen Höfe; man wußte, daß beide Prinzen
in radikalen Plänen ſchwelgten und der Württemberger ſich lebhaft ge-
ſchmeichelt fühlte wenn ihn da und dort ein Politiker der Bierbank als
den künftigen deutſchen Kaiſer feierte. Obwohl der Eine wie der Andere
im Grunde der Seele die neuen liberalen Ideen geringſchätzte, ſo erhofften
doch Beide als machiavelliſtiſche Politiker von einem großen Umſturz ein
unbeſtimmtes Glück für ſich ſelber. Wo der Ehrgeiz ins Spiel kam, da
hielt die Nüchternheit des Prinzen Wilhelm nicht mehr Stand, und die
luftigſten Phantaſiegebilde erſchienen ihm möglich. Jahrelang brütete
er über dem Gedanken eines deutſchen Südbundes, und doch hatte er
ſelber Alles gethan um dieſen Triasplänen jeden Boden zu entziehen.
Denn hochmüthig gegen den badiſchen Hof, war er mit dem bairiſchen
tief verfeindet. Der Haß des geſtrengen Friedrich gegen den gutmüthigen
Max Joſeph vererbte ſich auf die Söhne. Die phantaſtiſche Ueberſchwäng-
lichkeit des bairiſchen Kronprinzen Ludwig war dem trockenen, verſchloſſenen
Weſen des Prinzen Wilhelm unausſtehlich; die Freundſchaft ward auch
nicht inniger als Beide zugleich um die Hand Katharinas warben und
der Wittelsbacher den Kürzeren zog.


Die lautere patriotiſche Begeiſterung der Befreiungskriege ließ dieſen
engherzigen Charakter kalt. Dynaſtiſcher Dünkel und perſönliche Herrſch-
ſucht beſtimmten ſeine deutſche Politik; wie er Napoleon haßte, weil ihm
die Herrſchaft des Fremdlings über das Haus Württemberg ſchimpflich
ſchien, ſo wollte er auch ſein ſouveränes Haus keiner mächtigen deutſchen
Centralgewalt unterordnen, es ſei denn, daß ihm ſelber die Leitung
Deutſchlands zufiele, und ſelbſt der gutmüthige Küſter errieth, daß der
Kronprinz im Herzen ganz ebenſo partikulariſtiſch denke wie ſein Vater.*)
Mit den beiden führenden Mächten des Deutſchen Bundes ſtand er von
Haus aus auf ſchlechtem Fuße. Die Politik des Dualismus lief ſeinen
Triasplänen ſchnurſtracks zuwider; auch konnte er nach ſeiner kleinlich
reizbaren Art ein Gefühl perſönlicher Empfindlichkeit gegen die beiden
Monarchen nicht unterdrücken. Bald nach ſeiner Thronbeſteigung ließ
er dem König von Preußen die Hand einer württembergiſchen Prinzeſſin
für den jungen Kronprinzen anbieten und empfing die gelaſſene Antwort,
Friedrich Wilhelm wolle den Neigungen ſeiner Kinder keinen Zwang an-
thun.**) Das verzieh er nie. Kaiſer Franz aber erwählte ſich um die
nämliche Zeit die geſchiedene Gemahlin des Württembergers für ſeine
vierte Ehe; ſeitdem wuchs ſein altes Mißtrauen gegen den unberechen-
baren Pläneſchmied in Stuttgart und ward von drüben herzlich erwidert.


[320]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Ueberaus eifrig als Soldat, ein Verwaltungsmann von ſicherem
Blick und großer Arbeitſamkeit, ein trefflicher Landwirth und ausge-
zeichneter Pferdezüchter, in ſeinen Lebensgewohnheiten einfach, geregelt und,
obwohl keineswegs ſittenſtreng, doch frei von der Schamloſigkeit des Vaters
— ſo war der neue König allen den praktiſchen Geſchäften des Lebens,
welche durch Klugheit und Energie bewältigt werden können, vollauf ge-
wachſen. Was darüber hinaus liegt war ſeinem Geiſte verſchloſſen. Die
Kirche betrachtete er gleich ſeinem Vater mit dem Spotte des Voltairianers,
nur daß ihm die Religion unentbehrlich ſchien um den dummen Haufen
in Zucht zu halten; die „Ideologie“ der freien Wiſſenſchaft blieb ihm ein
unbequemes Räthſel, halb lächerlich, halb furchtbar, wie er denn auch als
ein echter rheinbündiſcher Berufsſoldat den freien Geiſt des preußiſchen
Heeres nie verſtehen lernte; ſeine Kunſtliebe endlich erhob ſich, gleich dem
Mäcenatenthum vieler anderen Kleinfürſten, niemals über jene Bildungs-
ſtufe, welche das Ideal allein in nackten Weibergeſtalten findet. Ein ſolcher
Mann, zu unruhig für das Stillleben eines Kleinſtaats und doch zu
ſelbſtiſch um die Hohlheit einer Souveränität ohne Macht einzuſehen,
konnte in die verſchlungenen Fäden der deutſchen Bundespolitik nur einige
hemmende Knoten mehr einknüpfen; dem gemüthvollen Tiefſinn der ſchwä-
biſchen Volksnatur blieb er innerlich ebenſo fremd wie einſt König Friedrich.
Der herkömmliche Jubel der erſten Wochen verrauſchte ſchnell. In einer
langen Regierung wurde der König, trotz ſeiner unbeſtreitbaren Ver-
dienſte um den Wohlſtand des Landes, nie wieder wahrhaft volksbeliebt;
man konnte ſich kein Herz zu ihm faſſen und lernte auch bald den häß-
lichſten Zug ſeines Charakters fürchten, die nachtragende Unverſöhnlichkeit.


Das neue Regiment begann ſofort mit dankenswerthen Reformen:
der tolle Prunk und der Jagdunfug des Hofes wurden beſeitigt, mehrere
Steuern herabgeſetzt, zahlreiche Gefangene begnadigt, einige Günſtlinge
des verſtorbenen Fürſten in der Stille entfernt. Während der Hungers-
noth der nächſten Monate bewährte die Königin ihre männliche Willens-
kraft im weiblichſten Berufe; treu ihrem Ausſpruch: „helfen iſt der hohe
Beruf des Weibes in der Geſellſchaft“ überſpannte ſie das ganze Land
mit einem Netze von Frauenvereinen, Sparkaſſen, gemeinnützigen Stif-
tungen aller Art und zeigte ſich bei dieſem Liebeswerke ſo menſchlich groß,
daß bald nachher ihr früher Tod in jedem Dorfe Schwabens wie ein
Landesunglück beweint wurde. Selbſt Uhland, der Verächter der Höfe, legte
der Volksmutter einen duftigen Kranz auf den Sarg, und Kerner klagte:


Wie ſie früh von Gott erleſen,

Eine Heil’ge, uns verſchwand.

Auf der Höhe, wo einſt die Stammburg des Fürſtenhauſes geſtanden
hatte, fand die hochherzige Fürſtin ihr Grab, und die Württemberger
wallfahrteten zu der Kapelle des Rothenbergs mit ähnlichen Empfin-
dungen wie die Preußen zu dem Charlottenburger Tempel.


[321]König Wilhelms Verfaſſungspläne.

Seinem Landtage trat der König mit ungeheuchelter Verſöhnlichkeit
entgegen. Alle geheimen Pläne ſeines Ehrgeizes beruhten ja zunächſt
auf der Hoffnung, daß die Nation ihn als den liberalſten aller deutſchen
Fürſten feiern ſollte. Mochten die landſtändiſchen Formen immerhin
läſtig ſein, er fühlte ſich ſtark genug mit dieſen Schreibern fertig zu
werden und auch als conſtitutioneller Fürſt am letzten Ende ſeinen Willen
durchzuſetzen. Darum beließ er auch Wangenheim an der Spitze der
Geſchäfte, obwohl dieſe beiden grundverſchiedenen Naturen eigentlich nur
Eins gemein hatten, die Träume der Triaspolitik, und der Miniſter
bald bemerkte, daß der König ihn mit ſtillem Groll, nicht immer ganz
ehrlich behandelte.*) Sofort wurde mit Benutzung des ſtändiſchen Ent-
wurfs ein neuer Verfaſſungsplan ausgearbeitet — es war bereits der
dritte in dieſem endloſen Streite — und dem Landtage am 3. März 1817
übergeben. Die Erbietungen des Sohnes gingen noch weit über die letzten
Vorſchläge des Vaters hinaus. Gleichwohl entbrannte von Neuem der
hartnäckige Kampf um die alten Streitfragen: Einkammerſyſtem, Steuer-
kaſſe, ſtehende Ausſchüſſe; und nochmals bekundete der Stuttgarter Pöbel
in lärmenden Aufläufen ſeine Theilnahme für die Altrechtler.


Als dies Treiben wieder ein Vierteljahr gewährt hatte, konnte der
König ſeine ſoldatiſche Barſchheit nicht mehr bemeiſtern. Er berieth ſich hinter
dem Rücken der Miniſter mit ſeinem Freunde, dem Freiherrn v. Maucler,
dem Führer der einheimiſchen Bureaukratie, und legte den Ständen ein
binnen acht Tagen anzunehmendes und in der That annehmbares Ul-
timatum vor. Neue ſtürmiſche Entrüſtung über dies kurz angebundene
Verfahren. Am 2. Juni verwarf der Landtag auch dies letzte Aner-
bieten; die Altwürttemberger, der größte Theil des Adels und eine kleine
klerikale Partei bildeten die Mehrheit. Während faſt alle beſonnenen
Politiker außerhalb des Landes jetzt auf die Seite des Königs traten,
war die Erbitterung der Landtagsmehrheit von Tag zu Tag geſtiegen.
Die Altwürttemberger beanſpruchten gradezu die itio in partes, ſo daß
ſie ſich ihre alten Sonderrechte ſelbſt gegen den Willen der neuen Lan-
destheile vorbehalten dürften. Freiherr v. Varnbüler verſicherte bei der
Schlußabſtimmung kurzab: er wolle das Volk unter der gegenwärtigen
Regierung lieber ohne Verfaſſung ſehen, als ihm für die Zukunft den
Anſpruch auf ſeine alte Verfaſſung vergeben. Mit dem konnte der Hof
nicht fertig werden; als man ihm den Kammerherrnſchlüſſel abforderte,
ſendete er das Kleinod durch die Poſt zurück und ſchrieb auf den Um-
ſchlag: „Sachen ohne Werth.“ Unter allen Zeichen königlicher Ungnade
wurde der Landtag aufgelöſt und den auswärtigen Mitgliedern ſogar der
Aufenthalt in der Hauptſtadt verboten. Ein Verſuch, den königlichen Ent-
wurf durch eine Volksabſtimmung durchzuſetzen, mißlang gänzlich, und
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 21
[322]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
hierauf erklärte der Monarch, daß er zunächſt die Beſchlüſſe des Bundes-
tags über die Rechte der deutſchen Landſtände abwarten und inzwiſchen
alle die übrigen Verheißungen ſeines Entwurfs in Kraft ſetzen werde.


Zwei Jahre lang ſchaltete der König nun wieder als unumſchränkter
Herr und gab dem Lande in raſcher Folge eine Reihe wohlthätiger Ge-
ſetze, welche die beiden „Reformminiſter“ Wangenheim und Kerner, der
Bruder des Dichters, ſeit Langem vorbereitet hatten. Die Leibeigen-
ſchaft fiel endlich hinweg, auch ein Theil — freilich nur ein Theil — der
grundherrlichen Abgaben ward für ablösbar erklärt, die Auswanderung
wurde frei gegeben, die bisher völlig unſelbſtändigen Communen erhielten
das alte Inſtitut der Gemeindedeputirten in verbeſſerter Geſtalt wieder,
und an die Stelle der Landvögte traten vier Kreisregierungen. Die
katholiſch-theologiſche Facultät in Ellwangen wurde nach Tübingen ver-
legt, ſo daß die hartlutheriſche alte Landesuniverſität jetzt in die Reihe
der paritätiſchen Hochſchulen eintrat; um für einen Theil der bisher mit
Schreibern beſetzten Verwaltungsſtellen brauchbare Beamte auszubilden
unternahm man auch die wenig glückliche Einrichtung einer beſonderen
Facultät für die Staatswirthſchaft. Da ſich während der Nothjahre faſt
überall in dem fruchtbaren Lande ein ſehr mangelhafter Zuſtand des
Landbaus herausſtellte und die ganz ohne Capital wirthſchaftenden kleinen
Bauern ſchaarenweiſe den Wucherjuden verfielen, ſo griff der König mit
ſeinem ſcharfen Geſchäftsverſtande kräftig ein. Er bildete einen großen
landwirthſchaftlichen Verein, zur Belehrung und Unterſtützung der Grund-
beſitzer, gründete Geſtüte und Muſterwirthſchaften auf ſeinen Kammer-
gütern, errichtete in Hohenheim eine landwirthſchaftliche Lehranſtalt, die
unter der Leitung des rüſtigen Rheinländers Schwerz bald mit Möglin
wetteiferte. Es war ſein perſönliches Verdienſt, daß unter den ſchwä-
biſchen Landwirthen wieder ein friſcher Unternehmungsgeiſt erwachte; all-
jährlich drängten ſich die Bauern zu dem luſtigen landwirthſchaftlichen
Feſte, das ſeit 1818 in Canſtatt abgehalten wurde, und warben mit
ihren Roſſen und Stieren um die königlichen Preiſe.


Währenddem blieb die politiſche Stimmung des Landes noch lange
ſo gereizt, daß ſelbſt Wangenheim noch im Frühjahr 1818 vor der Be-
rufung eines neuen Landtags dringend warnte.*) Nach und nach kehrte
doch die ruhige Beſinnung zurück. Namentlich die Neuwürttemberger be-
gannen den Eigenſinn der Stände zu bereuen, und der „Volksfreund“
Friedrich Liſts, der die neuen Ideale der allgemeinen Volksvertretung,
der Selbſtverwaltung, der öffentlichen Rechtspflege mit Geiſt und Lei-
denſchaft verherrlichte, fand unter der Jugend wachſenden Anhang. Aber
auch der König bereute ſeine vergeblichen Anerbietungen; er hatte er-
fahren, daß der Ruhm des liberalſten deutſchen Fürſten doch nicht ſo
[323]Dictatur des Königs.
leicht zu erwerben ſei, und kehrte nun verſtimmt zu den Gedanken des
bureaukratiſchen Abſolutismus zurück, die ſeiner natürlichen Neigung
entſprachen. Wieder hinter dem Rücken ſeiner Räthe berief der Monarch
den Finanzminiſter König Jeromes, Malchus in ſein Cabinet; Wangen-
heim und Kerner erkannten bald, daß ſie mit dieſem Vertreter des Prä-
fektenſyſtems ſich nicht verſtändigen konnten, und nahmen noch im No-
vember 1817 ihre Entlaſſung.


Seitdem begann der Stuttgarter Hof durch ein häßliches Doppelſpiel
die öffentliche Meinung zu täuſchen und zu verwirren. Während Wangen-
heims Ernennung zum Bundesgeſandten für die unveränderte liberale
Geſinnung des Königs zu bürgen ſchien, arbeiteten die württembergiſchen
Diplomaten insgeheim für den Erlaß eines Bundesgeſetzes, das die Rechte
der deutſchen Landtage ſcharf begrenzen und der Krone die Zurücknahme
ihrer eigenen Zuſagen erleichtern ſollte.*) Noch verderblicher wirkte der
unfruchtbare ſchwäbiſche Verfaſſungskampf auf die Stimmung der übrigen
Höfe. Frohlockend wieſen alle Reaktionäre auf das Uebermaß ſtürmiſcher
Leidenſchaft in dieſen Verhandlungen: nun ſei es doch erwieſen, daß man
in Deutſchland mit einem Landtage nicht regieren könne; war doch ſogar
eine Adreſſe an die Armee einmal von den Altrechtlern geplant worden!
Die ſchwäbiſchen Stände blieben auf lange hinaus eine Warnung für
jeden deutſchen Fürſten, der an den Art. 13 der Bundesakte erinnert
wurde, und Metternich ſchrieb an Steigenteſch nach Petersburg: „Würt-
temberg durch ſeine unklugen Discuſſionen mit dem Landtage nützt der
Sache der Revolution mehr als der Tugendbund ſelbſt.“ —


Schneller als Württemberg, aber auch nicht ohne ernſte Kämpfe, ge-
langte Baiern zum Abſchluß ſeiner Verfaſſung; wie dort die Krone ſich
durch den Trotz der alten Landſtände gehemmt ſah, ſo hier durch die An-
ſprüche des römiſchen Stuhls. Ein gütiges Geſchick hat es gefügt, daß
die ſchroffſten Gegenſätze unſeres Volkslebens ſich immer bei den nahe be-
nachbarten Stämmen zeigen; nur darum blieb der Sondergeiſt der deut-
ſchen Stämme außer Stande das Band der nationalen Einheit gänzlich zu
zerſprengen, weil die centrifugalen Kräfte ſtets durch die nachbarliche Eifer-
ſucht aufgewogen wurden. Wie im Norden Weſtphalen und Rheinländer,
Pommern und Altpreußen, Märker und Oberſachſen durch Stammesart
und Geſchichte ſcharf geſchieden dicht neben einander hauſten, ſo im Süden
die Baiern und die Schwaben. Während Schwaben, längſt aller politiſchen
Größe verluſtig, allein durch die Fülle ſeiner Talente ſeinen Platz im
Leben der Nation behauptete, war Baiern der älteſte aller deutſchen
Staaten, der einzige, der ſich mit den Kernlanden ſeiner alten Macht noch
21*
[324]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
den ehrwürdigen Stammesnamen bewahrte, und darum die Heimath eines
zugleich politiſchen und ſocialen Partikularismus, deſſen naturwüchſige
Kraft noch heute beweiſt, daß die Zertrümmerung der vier großen Stammes-
herzogthümer eine rettende That unſeres alten Königthums war. Der
bairiſche Stamm ſchenkte der Nation einſt einen Wolfram von Eſchen-
bach und Aventinus, erſt die Gegenreformation drückte ihn in geiſtige
Dumpfheit hinab; doch war er niemals ſehr reich an glänzenden Per-
ſönlichkeiten, ſondern verdankte ſeine hiſtoriſche Bedeutung weſentlich der
politiſchen Macht ſeines leidlich abgerundeten Gebietes und der kriegeriſchen
Tüchtigkeit eines rüſtigen Menſchenſchlags, der ſeine nahe Verwandtſchaft
mit den alten oſtgermaniſchen Welteroberern nicht verleugnen konnte.
Von Baiern aus beherrſchten Ludwig der Deutſche und ſeine karolingiſchen
Nachfolger das deutſche Reich; auch unter den Sachſen, den Saliern, den
Staufern behauptete Baiern mehrmals eine bevorzugte Stellung im
Reiche, bis endlich Kaiſer Ludwig der Baier ſein Stammland zur ſtärkſten
aller deutſchen Territorialmächte erhob.


Aber jenes finſtere Verhängniß, das überall den Verſuchen deutſcher
Staatenbildung auf halbem Wege Stillſtand gebot, waltete auch über
der bairiſchen Geſchichte. Seit Tyrol an die Habsburger verloren ging
(1363), trat Baiern in die Stellung einer Binnenmacht zurück. Die junge
einſt von Baiern aus beſiedelte Mark Oeſterreich übernahm fortan den
Vorkampf gegen die ſüdöſtlichen Nachbarvölker, welchen einſt Baiern ge-
führt, und überflügelte das Mutterland alſo, daß die beiden ſtamm-
verwandten Lande bald in demſelben Verhältniß zu einander ſtanden wie
Kurſachſen und Brandenburg: hier die ältere, vornehmere aber zurückge-
bliebene Macht, dort der ehrgeizige, glückliche Emporkömmling. Die Wittels-
bachiſche Erbſünde des häuslichen Zwiſtes und wiederholte Theilungen
ſchwächten die Macht des Fürſtengeſchlechts. Abgetrennt von den Landen der
pfälziſchen Vettern gebot Baiern nicht mehr über ausreichende wirthſchaft-
liche Kräfte, denn der Reichthum der niederbairiſchen Ebene ward durch
die Armuth des Gebirgs und des ſteinigen Alpenvorlands aufgewogen.


Gleichwohl gab das Haus Baiern noch einmal den deutſchen Ge-
ſchicken eine entſcheidende Wendung. Die Wittelsbacher verſagten ſich zuerſt
der gemeinſamen Sache der Nation und vertrieben, den Beſchlüſſen des
Reichs zuwider, die evangeliſche Lehre aus dem bairiſchen Lande ſchon in
jenen hoffnungsvollen erſten Jahren des Reformationszeitalters, da die
friedliche Ausbreitung der neuen Lehre über das ganze Deutſchland noch
möglich war; ſie verſchuldeten, neben den Habsburgern, die halbe Nieder-
lage der Reformation in Deutſchland. Der Falkenthurm in München, wo
die erſten evangeliſchen Märtyrer ſchmachteten, war die Wiege der deutſchen
Gegenreformation; und noch im Jahre 1800 pries der Papſt „den alten
Ruhm“ des Landes, das ſich wie kein anderes auf der Welt, von der Ketzerei
immerdar freigehalten habe. Nachher verwendete der größte Sohn des
[325]Altbaiern.
bairiſchen Hauſes, der gewaltige Maximilian I. eine ſeltene ſtaatsmänniſche
Begabung um den Jammer des Glaubenskrieges über ſein Vaterland
heraufzubeſchwören; er ſtiftete die katholiſche Liga, er verfolgte, noch un-
verſöhnlicher als der Kaiſer ſelbſt, die proteſtantiſchen pfälziſchen Vettern
und führte noch nach dem Weſtphäliſchen Frieden, wider das Geſetz des
Reichs, ſeine Siegesbeute, die Oberpfalz gewaltſam zur katholiſchen Kirche
zurück. Kein Ketzer durfte dies Land der Glaubenseinheit bewohnen; allen
bairiſchen Unterthanen war der Aufenthalt in proteſtantiſchen Gebieten
unterſagt. Der Bund des Fürſtenhauſes mit dem römiſchen Stuhle ſtand
um ſo feſter, da das Herzogthum keinen eigenen Biſchof beſaß und die
Landesherren der Hilfe des Papſtes bedurften um ſich der herriſchen An-
ſprüche von ſieben benachbarten reichsunmittelbaren Biſchöfen zu erwehren.
Dem Glanze des Hofes kam dieſe hart katholiſche Politik zu gute; ſie er-
warb ihm die Kurfürſtenwürde und verſchaffte ſeinen nachgeborenen Prinzen
reiche Verſorgung in den großen Stiftern des Reichs, ſo daß Kurköln faſt
zweihundert Jahre lang von bairiſchen Fürſten regiert wurde und drei,
zuweilen vier Kurſtimmen dem Hauſe Wittelsbach angehörten. Aber zu
der ſelbſtbewußten Haltung einer unabhängigen Macht vermochte die
Dynaſtie ſeit dem Tode des großen Max nicht mehr zu gelangen; bedroht
durch die Eroberungsluſt des öſterreichiſchen Nachbarn ſchloß ſie immer
wieder den verhängnißvollen Bund mit dem Verſailler Hofe, in München
wie in Köln gab der franzöſiſche Geſandte den Ausſchlag.


Unterdeſſen verſank das altbairiſche Volk in den Seelenſchlaf eines
behäbigen Sonderlebens. Während Franken und Alemannen ſich überall
leicht zuſammenfanden, ſtand der conſervativſte aller oberdeutſchen Stämme
dem ſchweren niederſächſiſchen Volksthum innerlich näher als den ober-
ländiſchen Nachbarn. Nur die nördlichſten Ausläufer des bairiſchen
Stammes hatten ſich etwas mit den Franken vermiſcht; von dem ſtamm-
verwandten Oeſterreicher war der Baier durch alten politiſchen Haß ge-
trennt, und gegen Schwaben hin bildete der Lech von Altersher eine
ſtarke natürliche Grenze, die den nachbarlichen Verkehr faſt gänzlich ab-
ſchnitt. Neben der unüberſehbaren Mannichfaltigkeit des ſchwäbiſchen
Lebens erſchien Altbaiern als eine geſchloſſene Maſſe; kaum daß ſich in
der Oberpfalz ein leiſer Unterſchied des Dialekts zeigte. Wohl trug der
reiche niederbairiſche Waizengraf ſeinen Bauernſtolz, ſeine urwüchſige
Kraft weit ungeſchlachter zur Schau als der beweglichere, ſangesluſtige
Jäger der Alpen oder der ſchlichte Wäldler aus dem armen Bairiſchen
Walde; im Grunde waren doch alle Baiern wie aus einem Holze ge-
ſchnitzt. Ueberall dieſelben Charakterzüge rüſtiger Tapferkeit, unverwüſt-
licher Lebensluſt und gemüthlicher Schlauheit; überall der gleiche naive
Stammesſtolz, der „das Deutſchland“ zur Noth noch als ein Nebenland
Baierns gelten ließ, und dieſelbe unverbrüchliche dynaſtiſche Treue. Wäh-
rend Schwaben eine lange Reihe glorreicher Fürſtengeſchlechter, die Zäh-
[326]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
ringer, die Staufer, die Hohenzollern in die weite Welt hinausſendete,
kam in Baiern frühe ſchon ein einziges Geſchlecht über alle anderen
Dynaſtien empor. Das uralte Haus der Schyren hatte bereits in den
Tagen der Karolinger mehrmals den Herzogshut getragen und behauptete
jetzt ſeit mehr denn ſiebenhundert Jahren ununterbrochen die Landes-
herrſchaft. In Strömen war bairiſches Blut für das alte blauweiße
Rautenſchild gefloſſen; am Feſttag flatterte die Landesfahne ſelbſt auf
dem Einbaum, der, noch ganz ſo plump wie zur Zeit der Pfahlbauer,
die ſtillen Alpengewäſſer des Chiemſees und des Walchenſees durchfurchte.


Das ſtädtiſche Leben war nie mehr zu kräftiger Entwicklung gelangt,
ſeit die alte Hauptſtadt Regensburg ſich dem Lande entfremdet hatte.
Selbſt München mit ſeinen prächtigen Kirchen und Schlöſſern, mit ſeinen
ſiebzehn Klöſtern und ſiebzehn wunderthätigen Bildern beſaß um die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts an bürgerlicher Bildung und Gewerbthätig-
keit nicht viel mehr als die Mirakelſtadt Deggendorf und die anderen Land-
ſtädte, die den Bauern als Schrannenplätze und Wallfahrtsſtätten dienten.
Die Kraft des Landes lag in den Bauern und einigen angeſehenen Adels-
geſchlechtern; für das Landvolk aber blieb die Kirche der Mittelpunkt des
Lebens und die ſelber aus dem Bauernſtande hervorgegangene Pfarrgeiſt-
lichkeit der allmächtige Berather in allen zeitlichen und weltlichen Nöthen.
Das Kirchenjahr mit der endloſen Reihe ſeiner Feiertage beſtimmte jeden
Brauch des bäuerlichen Hauſes; an dem Schmucke der Gotteshäuſer und
dem Glanze der Proceſſionen zeigte ſich, wie viel friſchen Farben- und
Formenſinn dies Volk hinter rauher Hülle barg. Mit athemloſer Span-
nung harrte die Gemeinde zur Pfingſtzeit, bis der heilige Geiſt aus
dem Loche in der Kirchendecke herniederſchwebte, mit eiſerner Ausdauer
hielt ſie am Schauerfreitag viele Stunden lang ihren Gebetsumgang, um
die Felder vor Hagelſchlag zu ſchützen; an jedes Feſt der Kirche ſchloß ſich
die landesübliche unerſättliche Schmauſerei. Nirgends in der Welt, ſo
ſagte das bairiſche Sprichwort, war die Religion ſo bequem und die An-
dacht ſo luſtig.


Unter dem letzten der bairiſchen Wittelsbacher, Max III. drang zum
erſten male ein Lichtſtrahl in dieſe dicke Finſterniß. Der Rheinländer
Ickſtatt und einige andere muthige Schüler der neuen Aufklärung be-
gannen eine Reform des Unterrichtsweſens und ſetzten durch, daß akatho-
liſche Bücher bei den weltlichen Facultäten der Jeſuitenhochſchule Ingolſtadt
zugelaſſen wurden. Auf dem Boden dieſer freieren weltlichen Bil-
dung ſind dann viele der Männer aufgewachſen, welche ein Menſchen-
alter ſpäter die Neugeſtaltung des erſtarrten Staates vollführten: ſo auch
der geiſtvolle Humoriſt Anton Bucher, der, ſelbſt ein Geiſtlicher, mit
derber, volksthümlicher Laune den rohen Aberglauben ſeiner Landsleute
geißelte. Aber wie die Jeſuitenherrſchaft in den romaniſchen Ländern
überall durch einen natürlichen Rückſchlag den frivolen Unglauben förderte,
[327]Das Haus Pfalz-Zweibrücken.
ſo erwachte auch in Baiern, ſobald das geiſtliche Regiment ins Wanken
kam, der fanatiſche Kirchenhaß einer unreifen Freigeiſterei. Der neue, nach
dem Muſter der Geſellſchaft Jeſu geſtiftete Geheimbund der Illuminaten
kämpfte wider die „Obſcuranten“ des Kirchenglaubens ebenſo unduldſam
und ebenſo gewiſſenlos wie die Jeſuiten wider die Ketzerei und fand trotz
ſtrenger Verbote zahlreiche Anhänger unter den höheren Ständen. Die
Reformen Maximilians III. geriethen ſogleich ins Stocken, als Karl
Theodor von der Pfalz den Thron beſtieg. Der Clerus nahm von Neuem
die Herrſchaft an ſich, und in der Verwaltung riß ein ſchamloſer Nepo-
tismus ein; das pfalzbairiſche Beamtenthum zählte ſogar eine Mademoiſelle
Grenzhauptmauthnerin und eine Frau Oberforſtmeiſterin unter ſeinen Mit-
gliedern. Als die Leiche Karl Theodors durch die Straßen geführt wurde,
warf das Volk mit Steinen nach dem Sarge, weil der Pfälzer, der den
Baiern immer ein Fremdling blieb, das Land an Oeſterreich hatte ver-
kaufen wollen. Der Groll wider dieſe elende Regierung und das geheime
Fortwirken der Illuminaten ebneten den Boden für die Lehren der Revo-
lution. Nach dem Einrücken Moreaus ſchoß in München eine Schmutz-
literatur auf, deren jakobiniſche Roheit die gleichzeitigen Schriften der
unzufriedenen Schwaben noch überbot; wüthende Gedichte verkündeten
„Krieg und ewige Bataille jeder heuchelnden Canaille“.


In ſolcher Lage, während die Maſſen in dumpfem Schlummer ver-
harrten, ein Theil der Gebildeten mit revolutionären Gedanken kindiſch
ſpielte, hielt Max Joſeph von Zweibrücken ſeinen Einzug und mit ihm
die neue Zeit. Die neue Dynaſtie vereinigte endlich wieder die ſo lange
getrennten Lande des Hauſes der Schyren und hegte den Ehrgeiz, auch
die Traditionen der bairiſchen und der pfälziſchen Wittelsbacher zugleich
in ihre Staatskunſt aufzunehmen. Eine berechtigte Politik, aber ſehr
ſchwierig durchzuführen; denn die bairiſchen Erinnerungen wieſen auf
Max und die Liga, die pfälziſchen auf den Reformator Otto Heinrich
und den Schwedenkönig Karl Guſtav!


Durch die Länderſchenkungen Napoleons ward eine ganz neue ſociale
Kraft in das bairiſche Staatsleben eingeführt: ein ſtrahlender Kranz von
ſchönen hochberühmten Städten geſellte ſich zu den altbairiſchen Bauern-
landen. Die meiſten dieſer ſtolzen Communen erſchienen freilich nur als
maleriſche Trümmerſtätten alter Herrlichkeit. Die Veränderung der Welt-
handelsſtraßen hatte die Stapelplätze Lindau und Paſſau verödet; auch
dem alten Regensburg konnten einzelne große Geſchäfte, wie die Waffen-
fabrik von Kuchenreuter, den verlorenen Verkehr nicht wiederſchaffen.
Die gewaltigen Mauerthürme von Nördlingen umſchloſſen nur noch eine
ſtille Landſtadt, wohin der Bauer aus dem Ries zur Schranne fuhr; der
ſtädtiſche Gewerbfleiß von Bamberg bedeutete nichts mehr neben der Be-
triebſamkeit der kleinen Gärtner vor den Thoren. Rothenburg mit ſeinen
prangenden Kirchen und Rathhäuſern lag wie eine Todtenſtadt auf der Höhe
[328]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
über dem vereinſamten Taubergrunde. Selbſt Nürnberg war mit Schulden
überlaſtet und unter der Vetternherrſchaft der neunzehn „genießenden“
Familien vom Kleinen Rathe ganz verknöchert. In Augsburg allein hatte
ſich, Dank den unerſchöpflichen Waſſerkräften des Lechfelds, die alt-
berühmte Weberei ſeit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wieder
etwas gehoben. Die bairiſche Regierung verſtand es nicht, dies ſchlum-
mernde Bürgerthum durch Befreiung des Gewerbes neu zu beleben.
Während München, mit königlicher Gunſt überhäuft, beſtändig wuchs,
verharrten faſt alle anderen bairiſchen Städte noch bis zur Mitte der
dreißiger Jahre in Stillſtand und Siechthum, ſo daß die Rührigkeit der
norddeutſchen Communen einen weiten Vorſprung gewann.


Eben ſo langſam verlor ſich die alte Abneigung zwiſchen den Baiern,
Schwaben und Franken. Keiner der drei oberdeutſchen Stämme war in
dem neuen Königreiche ſtark genug vertreten um die anderen zu beherr-
ſchen, ein politiſches Gemeingefühl aber konnte in dem künſtlichen Staate
nicht leicht entſtehen. Seit der Abtretung von Salzburg und Tyrol be-
ſtand nur noch die Hälfte der Bevölkerung aus Baiern. Ganz fremd
ſtand neben dieſer glaubenseinigen bairiſchen Maſſe das öſtliche Schwaben,
eine der claſſiſchen Stätten deutſchen Glaubenszwiſtes. Hier konnte der
Wanderer ſchon aus den Hauben der Mädchen und aus den Bräuchen
der Ackerbeſtellung die Confeſſion jeder Ortſchaft erkennen. Hier wohnten
die Bauern der Fugger’ſchen Herrſchaften und der Stiftslande Kempten
und Kaufbeuern, ein ſtrengkatholiſches Volk, das noch im Jahre 1809
nahe daran geweſen war mit den Tyroler Glaubenskämpfern gemeinſame
Sache zu machen. Nahebei lag Memmingen, eine der Bekennerſtädte
des Proteſtantismus, und das ſeit Jahrhunderten von kirchlichem Streite
heimgeſuchte paritätiſche Augsburg, wo man ſelbſt die Stadtleutnantsſtellen
und Kaffeehaus-Gerechtigkeiten gewiſſenhaft zwiſchen beiden Bekenntniſſen
vertheilte. Der Ruf der Duldſamkeit des Hauſes Zweibrücken ſtand
freilich ſo feſt, daß in Augsburg die Proteſtanten williger als die Katho-
liken unter das Wittelsbachiſche Scepter traten; doch währte es lange,
bis die feingebildeten Patricier der ſtolzen Schwabenſtadt ſich an das
bairiſche Weſen gewöhnten.


Noch zäher widerſtand das proteſtantiſche Franken, die werthvollſte
Erwerbung des jungen Königreichs. Zwar auf die Herſtellung ihrer
alten Freiheit hofften die Nürnberger längſt nicht mehr; die politiſche
Lebenskraft des ehrwürdigen Gemeinweſens war erloſchen, ſchon im
Jahre 1796 hatte die Bürgerſchaft einmal mit großer Mehrheit die
Unterwerfung unter die Krone Preußen beſchloſſen. Die Baiern aber
galten hier noch von den Zeiten Guſtav Adolfs her als Feinde; wie
oft hatte die ſchalkhafte Laune der Reichsſtädter, die eben jetzt wieder in
den Dialektdichtungen Konrad Grübels hell auflachte, an dieſen böſen
Nachbarn ihren Uebermuth ausgelaſſen. Argwöhniſch behütete die Stadt
[329]Schwaben und Franken.
ihre alten proteſtantiſchen Traditionen; da ihre Univerſität Altdorf durch
den neuen Landesherrn geſchloſſen wurde, ſo ſollte mindeſtens das Nürn-
berger Gymnaſium den Geiſt ſeines Stifters Melanchthon treu bewahren
und gleich der nahen brandenburgiſchen Hochſchule Erlangen eine Pflanz-
ſtätte evangeliſcher Bildung in dem neuen paritätiſchen Staate bleiben.
Dieſe rührige kleine Univerſität hatte mit der literariſchen Bewegung des
Nordens immer rüſtig Schritt gehalten und ihre treue deutſche Geſin-
nung auch unter dem Lärm der franzöſiſchen Waffen nie verleugnet.
Das geſammte brandenburgiſche Frankenland dachte noch immer mit
Sehnſucht an das kurze Glück der preußiſchen Herrſchaft. In Ansbach
konnte ſich das bairiſche Regiment erſt dann befeſtigen als auch Baireuth
mit Baiern vereinigt war; und auch dann noch wollte das treue Volk
die Hoffnung auf die Wiedervereinigung nicht aufgeben. Als König
Friedrich Wilhelm ſeine Preußen endlich zu den Fahnen rief, ſtanden
auch die Franken des Fichtelgebirges bereit zum Kampfe, und nur die
Ungunſt des Kriegsglücks verhinderte den Aufſtand.


Die katholiſchen Nachbarn in den reichen fränkiſchen Biſchofslanden
hatten ſo theuere Erinnerungen nicht zu überwinden; die Würzburger be-
grüßten ſogar mit Freude die Abreiſe ihres Großherzogs Ferdinand von
Toscana, der ſein deutſches Land als ein unſicheres Beſitzthum immer ver-
nachläſſigt hatte. Aber die bairiſche Herrſchaft ward auch hier ungern auf-
genommen. Froh ſeiner Weinknochen ſah der aufgeweckte, witzige Main-
franke aus der heiteren Anmuth ſeines halbrheiniſchen Lebens verächtlich
auf das derbe Bajuvarenthum herab; die Reichsritterſchaft fühlte ſich
entwürdigt, ſie wollte höchſtens einem Habsburger gehorchen. Indeß gelang
es der klugen Milde des Generalcommiſſärs Lerchenfeld die Murrenden
zu beſchwichtigen. Die Krone wußte, daß ſie das unſchätzbare Tyrol, dies
altbairiſche, mit ſeinem geſammten Verkehr auf Baiern angewieſene Land,
allein durch die zufahrende Roheit ihrer Beamten verloren hatte, und
verfuhr daher jetzt bei der Beſitznahme neuer Gebiete ſehr behutſam.


Am Behutſamſten in ihrer jüngſten Provinz, der überrheiniſchen
Pfalz; denn hier begegnete ihr ein tiefer Widerwille, der noch länger
anhielt als die Abneigung der Rheinländer gegen die Altpreußen. Seit
den fernen Zeiten, da die Salier und die Staufer auf der Limburg
und dem Trifels Hof hielten, war in dieſer gefährdeten Mark niemals
wieder eine kräftige Staatsgewalt erſtanden. Speyer und Worms, Sickingen
und Leiningen, Naſſau, Baden, Heſſen und Wittelsbach hauſten hier neben
einander, alleſammt beſeelt von jener freundnachbarlichen Geſinnung, die
ſich in den Namen der Grenzthürme „Murr’ mir nicht viel“ und „Kehr’
dich nicht dran“ bekundete. Der Spielball zweier feindlicher Nationen
hatte das anſtellige, unermüdlich betriebſame Volk den Unſegen kleinfürſt-
licher Willkür, wiederholter Religionsverfolgungen, gräßlicher Verwüſtungen
mit erſtaunlicher Lebenskraft überſtanden und erſt unter den Präfekten
[330]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
des Kaiſerreichs wieder eine geſicherte bürgerliche Ordnung erlangt. Nir-
gends auf deutſchem Boden zog die Revolution tiefere Furchen. Was
über die Tage der Franzoſenherrſchaft hinauslag galt den Pfälzern als
finſteres Mittelalter, ſelbſt die vormals Wittelsbachiſchen Landestheile
dachten kaum noch ihres alten Fürſtenhauſes. Der Adel war verſchwun-
den, die alte Gliederung der Stände völlig vernichtet; auch die neuen
Reichen, die Flaſchenbarone, die beim Verkaufe der Nationalgüter in den
Beſitz der geſegneten Weingelände der Hardt gelangt waren, mußten ſich
dem bürgerlichen Brauche dieſes durch und durch modernen Landes fügen.


Die franzöſiſchen Grundſätze der ſocialen Gleichheit und des freien
wirthſchaftlichen Wettbewerbs waren den Pfälzern in Fleiſch und Blut
gedrungen. In den ſtädtiſchen Dörfern an der Hardt gedieh eine ſpecu-
lative Kleinwirthſchaft, die jeden Winkel Landes verwerthete und der
freien Theilbarkeit des Bodens nicht entbehren konnte; der gewitzte
pfälziſche Bauer trug das ſtädtiſche Kamiſol und rühmte ſich, daß ihm
ſelbſt der Ochs kalben müſſe. Alle Confeſſionen wohnten bunt durch
einander, und über allen lag ein Hauch von calviniſcher Nüchternheit
und nachſichtiger Aufklärung; nach ſo vielen Glaubenswechſeln hatte
man endlich gelernt einander zu ertragen. Nachdem die Stürme der
neunziger Jahre verrauſcht waren, erfuhr die Pfalz wenig mehr von den
Schrecken des kriegeriſchen Zeitalters. Das fleißige Völkchen verſtand
von dem großen franzöſiſchen Markte ſeinen Vortheil zu ziehen; die
Gaſtwirthe und Poſthalter ſahen nie wieder ſo fette Zeiten wie damals,
da alle Potentaten der Welt jahraus jahrein auf der Reiſe nach Paris
dies Durchgangsland beſuchten. Der Münchener Hof wußte wohl, wie
ungern die Pfalz ſich von Frankreich trennte, und da er ſelbſt noch lange
hoffte dieſe entlegene Provinz gegen die rechtsrheiniſche Pfalz zu vertau-
ſchen, ſo ließ der neue Gouverneur Zwackh faſt alle Inſtitutionen des
Landes vorläufig unberührt. Auch als jene Hoffnung endlich aufgegeben
werden mußte, zeigte ſich die Regierung zu furchtſam und zu arm an
ſchöpferiſcher Kraft um noch etwas Weſentliches zu ändern. Nicht blos
der Code Napoleon blieb der Provinz erhalten, ſondern auch das ge-
ſammte Syſtem der franzöſiſchen Verwaltung; jede Warnungstafel auf
der Landſtraße erinnerte den Fuhrmann an das Geſetz über die voieries
publiques.
Was hatte auch Altbaiern dieſem Lande zu bieten? Neben
der rein bureaukratiſchen und doch ſchwerfälligen Verwaltung der alten
Provinzen erſchien die ſchlagfertige Ordnung des Präfekturſyſtems immer-
hin als ein Glück.


So blühte denn ein deutſch-franzöſiſches Sonderleben ungeſtört in
einem Lande, wo jede Burgruine an die Unthaten der Franzoſen er-
innerte. Noch lebhafter als in den preußiſchen Rheinlanden begeiſterte
ſich der Partikularismus hier für die fremden Geſetze. Alles Franzö-
ſiſche galt für unantaſtbar, weil es pfälziſch war und als ein Kleinod
[331]Die Pfalz.
heimathlicher Eigenart verehrt wurde. Man nahm es hin wie eine
Schickung der Natur, daß die wälſche Wuth von allen den alten
Kirchen und Kaiſerpfalzen des Landes keine einzige unzerſtört gelaſſen
hatte; aber die rothe Jacobinermütze wagte Niemand von dem Landauer
Kirchthurme zu entfernen, und an den Mauern der Grenzfeſtung prang-
ten noch immer die Bilder, welche die Franzoſen einſt zur Verhöhnung
Deutſchlands dort angebracht: über dem Franzöſiſchen Thore die lächelnde,
über dem Deutſchen Thore die ſtirnrunzelnde Sonne des großen Ludwig.
Den Altbaiern wußte das Volk für ihre nachſichtige Schonung wenig
Dank. Anlage, Geſchichte und Bildung der beiden Stämme gingen allzu
weit auseinander. Mit grenzenloſer Verachtung ſprach der aufgeklärte
Pfälzer von der Finſterniß dieſer bairiſchen Köpfe, obgleich doch ſein eigenes
Land an dem literariſchen Schaffen der Nation auch nur geringen An-
theil nahm; ſeit der Abtrennung von Heidelberg und Mannheim war das
geiſtige Leben der überrheiniſchen Pfalz unverkennbar geſunken, und die
reiche Begabung des geiſtreichen Völkchens zeigte ſich faſt allein im Ge-
ſchäftsleben. Wenn zwei pfälziſche Kriſcher nach der landesüblichen forſchen
Art einander die Wahrheit ſagten, dann ſchloß der Gedankenaustauſch
unfehlbar mit dem höchſten Schimpfwort: Du Altbaier! Mit verſchwin-
denden Ausnahmen verſchmähten alle Pfälzer den Staatsdienſt in den
alten Provinzen; grollend ſah das durchaus unmilitäriſche Volk ſeine
Söhne zur Erfüllung der Wehrpflicht „unter die Baiern gehen“. In ſo
unnatürlicher Lage, beſtändig aufgeregt durch die Parteikämpfe im nahen
Frankreich, halb ſelbſtändig und doch angekettet an eine ungeliebte, wenig
leiſtende deutſche Regierung verfiel das Land nach und nach einem zungen-
fertigen vaterlandsloſen Radicalismus, der überall in Deutſchland die
hiſtoriſchen Ueberlieferungen ebenſo „worzweg“ auszurotten dachte, wie
dies in der fröhlichen Pfalz durch die glorreiche Revolution bereits ge-
ſchehen war.


Ein Glück nur, daß keine dieſer zahlreichen centrifugalen Kräfte
für ſich allein ſtark genug war den bairiſchen Staat zu zerſprengen und
keine ſich mit den andern verbinden wollte. Ein Glück auch, daß der
gutherzige König ſich die perſönliche Anhänglichkeit ſeiner Unterthanen
ſo raſch zu erwerben verſtand. Max Joſeph hatte die glücklichſten Tage
ſeiner Jugend als franzöſiſcher Oberſt zu Straßburg verlebt, in einer
Stellung, welcher ſeine Fähigkeiten genügten, und die Vorliebe für Frank-
reich blieb ihm für ſein ganzes Leben, obgleich ihn die Revolution aus
dem Elſaß vertrieb. Bald nach ſeiner Thronbeſteigung in Baiern bat
er den franzöſiſchen Geſchäftsträger Alquier rundweg, er möge ihn „als
einen Franzoſen betrachten: ſo oft ich von den Erfolgen der Heere der
Republik hörte, fühlte ich an meiner Freude, daß ich ein Franzoſe bin.“*)
[332]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Die rheinbündiſche Politik entſprach nicht blos ſeinem dynaſtiſchen Inter-
eſſe, ſondern auch ſeiner perſönlichen Neigung, und nur ungern gab er
ſie wieder auf, obſchon ihm längſt das Herz blutete über alle die Opfer,
welche der Protector dem bairiſchen Lande abforderte. Die Frage, ob er
nicht auch politiſche Pflichten gegen Deutſchland habe, kam ihm niemals
in den Sinn; die Erhebung von 1813 war ihm ein Räthſel, und willig
lieh er den Anklägern der preußiſchen Jacobiner ſein Ohr. Dabei blieb
er doch, gleich vielen anderen Rheinbundsfürſten, auf ſeine Weiſe eine
deutſcher Landesvater, ehrlich gewillt ſein Volk zu beglücken und mit ihm
in Frieden zu leben. Ueberall wo er erſchien gewann er durch ſeine zu-
thuliche Gutmüthigkeit die Herzen der Menge; ſelbſt in Berg, das ihm
nur wenige Jahre angehörte, blieb ſein Andenken geſegnet. In Altbaiern
ward er als Retter des Landes ſofort mit überſtrömender Freude em-
pfangen und fühlte ſich bald von Herzen glücklich. Er lebte ſich ein in
den gemüthlichen Landesbrauch, der ſeiner eigenen derben Natürlichkeit
zuſagte, trug große Ohrringe gleich einem echten Bajuvaren und liebte
die rüſtigen Mannen des Hochgebirgs, auch die Tyroler Rebellen, wie
ſeine Kinder: das konnte er den Franzoſen lange nicht vergeben, daß ſie
ihm ſeinen Andree Hofer erſchoſſen hatten. In ſeinen letzten Jahren
pflegte er ſein Sommerlager in Tegernſee aufzuſchlagen, in der alten
Abtei am ſtillen Waldſee, wo Alles was altbairiſche Herzen liebten unter
einem Dache vereinigt lag: ein Königsſchloß, eine Kirche und ein Bräu;
da war weitum, bis hinauf zu dem einſamen Wildbade Kreuth, kein
Bauernhof, wo Vater Max nicht einmal mit ſeinen anmuthigen Töchtern
zum Beſuch erſchien oder Gevatter ſtand oder überreichliche Wohlthaten
ſpendete.


Wäre nur dies unerſchöpfliche Wohlwollen nicht mit ſo viel ge-
dankenloſer Schwäche gepaart geweſen! Der Hof ward nicht leer von
Gaunern und Bettlern, ganz München kannte die Vorliebe des Königs
für liebenswürdige Schuldenmacher; ein Heer von Schmarotzern, darunter
ſogar ein königlicher Hofnarr, empfing ſtattliche Penſionen. Die Geldver-
legenheiten der Krone nahmen kein Ende, und der Hofbankier Selig-
mann-Eichthal ward immer reicher, obwohl der König für ſich ſelbſt
kaum mehr brauchte als vor Jahren, da er aus Straßburg geflüchtet
zu Rohrbach an der Bergſtraße ſeinen bürgerlichen Haushalt führte.
Wenn die Furcht dieſen weichen Gemüthsmenſchen überkam, dann ver-
leugnete er Mannesſtolz und Fürſtenwürde und ſcheute ſich nicht zu
kriechen und zu lügen. Alle die Unwürdigkeiten der jüngſten Jahre, alle
die Erniedrigungen des Hauſes Wittelsbach, die von dem prahleriſchen
Dünkel des neuen Königthums ſo häßlich abſtachen, gingen von dem
Monarchen unmittelbar aus. Baierns zweizüngige Politik beim Ausbruch
des Krieges von 1805 ließ ſich durch die Noth entſchuldigen; verächtlich
ward ſie erſt als König Max dem Kaiſer Franz ſein Ehrenwort für eine
[333]König Max Joſeph.
bewußte Unwahrheit verpfändete.*) Der rege Verkehr mit dem Protector
des Rheinbunds war durch die Umſtände geboten; ſchimpflich ward er erſt
durch die Liebedienerei des Königs, der, oftmals ohne einer Antwort ge-
würdigt zu werden, den Imperator mit unterthänigen Briefen überſchüttete,
ihm weit öfter als nöthig war perſönlich aufwartete, ihn ſogar bei den
Heirathsangelegenheiten der königlichen Prinzen um ſeine Befehle bat und
den Werkzeugen Napoleons, den Herzögen von Baſſano und Cadore jedes
geforderte Trinkgeld unweigerlich gewährte. Dieſelbe unkönigliche Haltung
zeigte der furchtſame Fürſt ſpäterhin, als der Streit um die badiſche
Pfalz begann, gegenüber dem Czaren Alexander.


Den Regierungsgeſchäften widmete er ſich mit achtungswerthem Fleiße;
man hielt ihn für müſſiger als er war, weil er ſeine freien Stunden ſo
gern auf der Straße verbrachte. Aber alle Ordnung war ihm läſtig,
und da er nur die oberflächliche Bildung eines altfranzöſiſchen Offiziers
beſaß, ſo ward er bald abhängig von der überlegenen Sachkenntniß der
Miniſter und des gewandten Cabinetsſekretärs Ringel. Selbſt vom Heer-
weſen verſtand er wenig, am Abend ſeines Lebens erſchien er nur noch
ſelten unter ſeinen Truppen und ließ die Kriegstüchtigkeit des Heeres, das
ſich unter Napoleons Führung ſo trefflich bewährt hatte, im Frieden raſch
verfallen. Dieſer unmilitäriſche Sinn blieb ſeitdem ein Erbtheil aller
bairiſchen Könige und ſollte dem Staate dereinſt noch verhängnißvoll werden.
Leicht beſtimmbar, abhängig von den Eindrücken des Augenblicks hielt
Max Joſeph doch zwei politiſche Grundſätze unverbrüchlich feſt: er war
als geborener Pfälzer ſo tief überzeugt von der Unhaltbarkeit der alt-
bairiſchen Zuſtände, daß er im Nothfall auch vor radicalen Reformen
nicht zurückſchrak, und er haßte aus Herzensgrund die Herrſchſucht des
Pfaffenthums. Hier lag ſeine Stärke: wenn er die norddeutſchen Ge-
lehrten in München gegen den bigotten Pöbelwahn beſchützte, dann zeigte
er eine ganz ungewohnte Feſtigkeit. Er wußte, was es bedeutete, daß ſein
Haus jetzt 1,200,000 proteſtantiſche Unterthanen beherrſchte; ſie ſollten
fühlen, daß ſie einem gerechten Staate angehörten. Er freute ſich in ge-
miſchter Ehe zu leben, und es bleibt ſein hiſtoriſcher Ruhm, daß er
dieſen Geiſt duldſamer Milde ſeinen Kindern und Enkeln vermachte. In
drei Generationen hat das Land ſeitdem nur proteſtantiſche Königinnen
geſehen, und trotz wiederholter Kämpfe und Rückſchläge iſt der deutſche
Gedanke der kirchlichen Parität, den der gute König Max ſeinem wider-
ſtrebenden Volke auferlegte, dem bairiſchen Staate nicht wieder verloren
gegangen.


Seit dem Rieder Vertrage war die Stellung des allmächtigen Mi-
niſters Montgelas etwas erſchüttert. Die verbündeten Monarchen be-
trachteten den erſten Staatsmann des Rheinbunds mit begreiflichem Miß-
[334]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
trauen und empfingen ihn, als er nach der Hanauer Schlacht in Frank-
furt erſchien, ſo unfreundlich, daß er nachher ſelber Bedenken trug per-
ſönlich auf dem Wiener Congreſſe zu erſcheinen. Aber er verwaltete noch
immer die drei wichtigſten Miniſterien, das Auswärtige, das Innere, die
Finanzen, und durfte wohl auf ſeine Unentbehrlichkeit trotzen; denn nicht
umſonſt führte er die Königskrone in ſeinem Grafenwappen. Er war
der Schöpfer des neuen bairiſchen Staates; ſeit dem Kurfürſten Moritz
von Sachſen hatte die Politik des nackten folgerechten Partikularismus
auf deutſchem Boden nicht mehr einen ſo klugen und glücklichen Vertreter
gefunden. Obwohl er dem altbairiſchen Lande durch die Geburt ange-
hörte, zählte Montgelas doch zu jenen diplomatiſchen Landsknechten, die
in der Geſchichte der deutſchen Mittelſtaaten ſo häufig auftauchen, zu jenen
Heimathloſen, die aller politiſchen Traditionen ledig die Stätte ihres
Schaffens überall ſuchen wo ſich dem Ehrgeiz ein freies Feld bietet. Die
Freundſchaft für den König, dem er ſchon in der Pfalz nahe getreten
war, bildete das einzige gemüthliche Band, das ihn an ſeine Heimath
kettete; Land und Leute blieben ihm verächtlich. Er verzieh es nie, daß
er in ſeiner Jugend als Mitglied des Illuminatenordens das gläubige
Baierland hatte verlaſſen müſſen, und urtheilte noch im Alter über cette
nation bornée
mit der ſchneidenden Liebloſigkeit des Fremdlings. Aber
die Laune des Glücks hatte ihn in das ungeliebte Land zurückgeführt, ein
reicher Wirkungskreis that ſich ihm auf; im Bewußtſein ſeiner Kraft hielt
er ſich berufen dieſen Staat zu der Stellung einer ſelbſtändigen europäi-
ſchen Macht emporzuheben. Die Macht war ihm Selbſtzweck, und nichts
lag ihm ferner als die Frage, wie ſie zum Heile Deutſchlands zu ver-
werthen ſei; was irgend an die Gemeinſchaft des großen Vaterlandes er-
innerte, erſchien ihm nur als eine läſtige Feſſel für die Selbſtändigkeit
Baierns. Ein kaltblütiger Spieler, durch ſittliche Bedenken niemals, durch
Haß und Liebe ſelten beirrt, rechnete er unbefangen mit der Gunſt des
Augenblicks und nahm die Freunde wo er ſie fand. Sein getreuer Ritter
Lang ſchilderte, als er im Jahre 1814 den Miniſter wider die leiden-
ſchaftlichen Angriffe der Freunde Steins vertheidigen mußte, die Herzens-
geheimniſſe dieſer ideenloſen Schlauheit alſo: „die einzige echte Maxime
der bairiſchen Politik iſt die Selbſterhaltung des Staats; diejenige äußere
Macht, welche dieſes Princip anerkennt und mit ihrer eigenen Macht
verſtärkt, iſt als die wahrhaft befreundete zu halten.“


Darum ſtand Montgelas, trotz ſeines halbfranzöſiſchen Blutes und
trotz ſeiner durchaus franzöſiſchen Bildung, dem Protector des Rhein-
bunds freier, feſter gegenüber als der König. Nicht aus Vorliebe für
Frankreich hatte er einſt das alte Bündniß mit Preußen aufgegeben, ſon-
dern weil er einſah, daß die bairiſche Vergrößerungsluſt vorläufig von
Preußens Schwäche nichts, von Bonapartes Thatkraft Alles erwarten
konnte. An den Kriegen Napoleons gegen Oeſterreich und Preußen nahm
[335]Montgelas.
er mit befliſſenem Eifer theil, weil die Stärke Baierns, wie er ſie ver-
ſtand, durch die Schwäche der deutſchen Großmächte bedingt war; aber
die Vernichtung der beiden Staaten wünſchte er nie, denn auch die All-
macht Frankreichs konnte der bairiſchen Selbſtändigkeit bedrohlich werden.
Zweimal verhinderte er — und er rühmte ſich deſſen — den Ausbau der
Verfaſſung des Rheinbunds; immer wieder beſchwor er ſeinen königlichen
Freund, nicht durch würdeloſe Unterthänigkeit gegen den Protector die
Freiheit des Staates zu gefährden.


Die Erhebung Deutſchlands war dem nüchternen Rechner unwill-
kommen, da ſie ihm jede Hoffnung auf weitere Gebietserwerbungen ab-
ſchnitt, und nur zögernd entſchloß er ſich das ſinkende Schiff des Bona-
partismus zu verlaſſen. Eine Zeit lang ſchmeichelte er ſich dann noch
mit der Hoffnung, daß Baiern innerhalb der großen Allianz den Kern
einer ſüddeutſchen Liga bilden und Wrede die Rolle eines anderen Tilly
ſpielen werde.*) Als dieſe Hoffnung trog, ſuchte er zunächſt die Souverä-
nität der Wittelsbacher gegen Hardenbergs dualiſtiſche Pläne ſicherzuſtellen
und ſchürte insgeheim den Unfrieden zwiſchen den beiden Großmächten.
Daher Baierns Eifer für die Wiederherſtellung der Krone Sachſen. Zur
Zeit des zweiten Pariſer Friedenscongreſſes konnte Montgelas ſogar vor
dem preußiſchen Geſandten Küſter ſeine Schadenfreude kaum verbergen:
welch ein Glück, wenn der Streit um Elſaß-Lothringen ein dauerndes
Zerwürfniß zwiſchen Oeſterreich und Preußen herbeiführte!**) Auch dieſe
Erwartung erwies ſich als irrig, und nunmehr blieb ihm vorderhand
nur übrig, die Thätigkeit des deutſchen Bundes zu lähmen und das bai-
riſche Volk vor den gefährlichen Lehren der norddeutſchen Jacobiner ſorg-
lich zu bewahren. Mit Genugthuung bemerkte er bald, wie wenig von
der Ohnmacht des Bundestags zu fürchten war; die Handvoll Patrioten
im Lande aber hielt er mit rückſichtsloſer Strenge nieder. Selbſt ein
Liebling des Königs, Anſelm Feuerbach ward als preußiſcher Emiſſär
angeſchwärzt und in die Provinz verſetzt, weil er in ſeiner Schrift „über
teutſche Freiheit“ den Sturz der Fremdherrſchaft verherrlicht und die For-
derung aufgeſtellt hatte: durch die Freiheit des Repräſentativſyſtems müſſe
das Blut ſo vieler Edlen bezahlt werden. Ueber die Unhaltbarkeit der
neuen deutſchen Zuſtände täuſchte ſich der weltkundige Miniſter nicht; bei
der nächſten europäiſchen Kriſis — dies blieb noch im ſpäten Alter ſeine
Hoffnung — konnten vielleicht mit Hilfe einer auswärtigen Macht die
kleinſten deutſchen Fürſten mediatiſirt, Baden und Württemberg in Italien
abgefunden und der ganze Südweſten dem Hauſe Wittelsbach unter-
worfen werden; mochte dann Preußen immerhin ſich im Norden ver-
größern, wenn nur das Eine verhindert ward was dem bairiſchen Staats-
[336]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
manne immer als das Schrecklichſte erſchien: die Einheit Deutſchlands.
Bis dahin galt es zu lauern und zu laviren. Die phantaſtiſchen Einfälle
bajuvariſcher Selbſtüberſchätzung bethörten ſeinen kühlen Kopf nur auf
Augenblicke. Nichts ſchien ihm kindiſcher als der Wahn, daß ein Verein
von Ohnmächtigen jemals eine Macht bilden könne; darum wies er alle
die Entwürfe für einen Sonderbund der deutſchen oder der europäiſchen
Mittelſtaaten, wie ſie in Stuttgart ausgebrütet wurden, lächelnd zurück.
Auch die pfälziſchen Pläne des Kronprinzen bekämpfte er von vornherein
als ausſichtslos.


Ein ſeltſames Freundespaar: der behäbige, aufgeknöpfte, volksthüm-
lich ſchlichte König, und neben ihm die höfiſche Geſtalt des klugen Miniſters
— eine ganz altfranzöſiſche Erſcheinung, mit gepudertem Haar, in ge-
ſticktem rothem Galakleid und langen ſeidenen Strümpfen; ſcharfe und
doch unſtete braune Augen, eine überhängende mächtige Naſe über dem
großen, fauniſchen Munde, in allen Zügen der Ausdruck durchdringenden
Verſtandes. An dem frivolen Tone, der die Münchener vornehme Welt
beherrſchte, trugen Montgelas und ſeine Gemahlin reichliche Mitſchuld;
ſein kleines Schloß in Bogenhauſen am Engliſchen Garten bot den
Skandalſüchtigen unerſchöpflichen Stoff. Für die Thaten der neuen deut-
ſchen Literatur und Kunſt konnte ſich der alte Illuminat niemals recht
erwärmen; jedoch er wußte, daß die Wiſſenſchaft für die Reform des
Staates unentbehrlich war, und mochte auch bei ſeinen Tafelfreuden das
belebende Geſpräch geiſtreicher Gelehrten nicht miſſen. Wohl ward er
herrſchſüchtig durch den langen Genuß der Macht, aber kleinliche Eitelkeit
lag ihm fern; neben dem verlogenen Selbſtlobe der Aufzeichnungen Metter-
nichs hinterläßt das gehaltene Selbſtgefühl, das aus Montgelas’ Denk-
würdigkeiten ſpricht, einen wohlthuenden Eindruck.


Auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens hatte der despotiſche
Volksbeglücker einen radicalen Umſturz vollzogen; aber die neue Ord-
nung zeigte noch überall Lücken und Widerſprüche, überall die Spuren
überhaſteter Arbeit. Noch am glücklichſten war die Reform des Unter-
richtsweſens gelungen. Die Volksſchule war der Herrſchaft der römiſchen
Kirche entriſſen, die ſeit 1802 eingeführte allgemeine Schulpflicht begann
ſich langſam einzubürgern. Die mittleren Unterrichtsanſtalten ſtanden
unter der Leitung Niethammers, eines wackeren Vorkämpfers der ſtreng-
claſſiſchen Bildung; auf dem Münchener philologiſchen Seminar erzog
der Thüringer Friedrich Thierſch in vieljähriger treuer Arbeit einen Stamm
von tüchtigen Lehrern, ſo daß ein Hauch von dem idealiſtiſchen Geiſte
dieſes praeceptor Bavariae allmählich in die meiſten Gymnaſien des
Landes drang. Zu den Univerſitäten Landshut und Erlangen trat jetzt noch
Würzburg mit dem reichen fürſtbiſchöflichen Juliushospital hinzu, eine wich-
tige Pflanzſtätte der mediciniſchen Wiſſenſchaft. Der dumpfe Schlummer
der alten Zeiten der Glaubenseinheit war für immer überwunden.


[337]Montgelas’ Reformen.

Weit unfertiger erſchien die Neugeſtaltung der Rechtspflege und der
Verwaltung. Allerdings ward das Gewirr der alten Territorien zu na-
poleoniſchen Departements zuſammengeballt, und die Beamten erhielten
durch eine verſtändige Dienſtpragmatik eine ebenſo geſicherte Stellung
wie die preußiſchen; doch in der unterſten Inſtanz blieben Juſtiz und
Verwaltung vereinigt, und der Schrecken der Bauern, „Gnaden Herr
Landrichter“ hauſte auf dem flachen Lande mit ſchrankenloſer Gewalt.
Auf den großen Landgütern beſtanden noch die Patrimonialgerichte, und
nicht ſelten geſchah es, daß der Staat ſeine eigenen Grundholden an
begünſtigte Edelleute abtrat um dieſen die Bildung ſelbſtändiger Gerichts-
bezirke zu ermöglichen. Das Evangelium der Bureaukratie, das Straf-
geſetzbuch von 1813, gereichte dem juriſtiſchen Scharfſinn ſeines Verfaſſers
Feuerbach zur Ehre; aber das heimliche Verfahren und die überſtrengen
Strafen nährten den Geiſt herrſchſüchtiger Härte, der dies Beamtenthum
auszeichnete; vornehmlich die barbariſchen Zwangsmittel gegen hartnäckig
leugnende Angeklagte wurden von den Landrichtern oft mit empörender
Roheit gehandhabt. Dazu die Späherkünſte und die Brieferbrechungen
der ganz nach napoleoniſchem Muſter geſchulten geheimen Polizei. Der
Druck der Beamten laſtete um ſo ſchwerer, da Montgelas die Selbſtän-
digkeit der Gemeinden noch vollſtändiger vernichtet hatte als der erſte
Conſul. Welch ein Abſtand zwiſchen der Städteordnung Steins und
dem faſt gleichzeitig verkündigten bairiſchen Gemeindegeſetze: hier war
den Municipalitäten ſogar die Verwaltung ihres Vermögens genommen,
ſchlechterdings nichts durften ſie beſchließen ohne Genehmigung des kö-
niglichen Polizeibeamten. Obgleich die neuen Steuergeſetze ſich gut be-
währten, ſo herrſchten doch in der Finanzverwaltung Verwirrung und
Unterſchleif; der Miniſter ſelbſt arbeitete viel aber mit der Unregelmäßig-
keit des großen Herrn. Für die Jahre 1812—17 ergab ſich ein Deficit
von 8,8 Millionen Fl., und den wirklichen Betrag der hohen Staatsſchuld
kannte Niemand.


Dies Alles war für die Maſſen des Volks noch erträglicher als die
völlig verunglückten wirthſchaftlichen Reformverſuche des Miniſters. Hier
zeigte ſich erſt, wie weit die Begabung Montgelas’ hinter der ſtaats-
männiſchen Kraft Steins und Hardenbergs zurückſtand. Die ſociale
Freiheit hatte durch alle die gewaltſamen Neuerungen und pomphaften
Verheißungen dieſer fünfzehn Jahre nahezu nichts gewonnen. Nur die
Leibeigenſchaft war beſeitigt, aber die lückenhaften Geſetze über die Ab-
löſung der Zinſen und Zehnten gelangten nicht zur Ausführung, neun
Zehntel der Bauern blieben noch zinspflichtige Grundholden. Das alte
Zunftweſen, das nirgendwo ärger entartet war, als in Altbaiern, ſollte
durch die Einführung polizeilicher Gewerbſcheine verdrängt werden, und
mit der landesüblichen Ruhmredigkeit verkündete der Geſetzgeber, daß er
den alten deutſchen Grundſatz „Kunſt erbt nicht“ wieder zu Ehren bringen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 22
[338]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
wolle. Trotzdem wurden die theuer erkauften realen Gewerbegerechtigkeiten
nicht aufgehoben; jede Zunft verfolgte nach wie vor die Arbeit der Pfuſcher,
die Bortenmacher und die Poſamentirer lebten noch immer in ewigem
Grenzſtreite, und wer das Glück hatte in den ſtreng geſchloſſenen kleinen
Kreis der bürgerlichen Eſſenkehrermeiſter Münchens hineinzuheirathen war
all irdiſchen Sorgen ledig. Die Reform blieb Stückwerk und erregte nur
den Groll der Handwerker. Von der Erlaubniß zu ſelbſtändigem Ge-
werbebetriebe hing aber in den Städten das Recht der Eheſchließung ab;
da nun überdies auf dem Lande die Grundherren befugt waren jede
Heirath zu unterſagen und die Untheilbarkeit der Bauernhöfe die Ver-
ſorgung der jüngeren Söhne erſchwerte, ſo geſchah es, daß dies derb-
ſinnliche, doch keineswegs unſittliche Volk ſich durch die Maſſe ſeiner un-
ehelichen Kinder vor allen Völkern Europas traurig auszeichnete. In
Niederbaiern kam faſt ein Viertel aller Kinder außer der Ehe zur Welt.
In der Pfalz dagegen blieb die Zahl der unehelichen Geburten faſt dreimal
geringer, denn hier beſtand die ſociale Freiheit der franzöſiſchen Geſetz-
gebung und das harte, aber heilſame Verbot der Vaterſchaftsklage.


Für die Lebenszeit des Königs glaubte Montgelas der Herrſchaft
ſicher zu ſein. Die große Mehrzahl des Beamtenthums war von dem
Geiſte des napoleoniſchen Despotismus durchdrungen, und in der Haupt-
ſtadt beſtanden nur zwei ſtarke Parteien, beide gleich undeutſch, beide
gleich particulariſtiſch: hier die Clericalen, die unter Max Joſeph nie-
mals an’s Ruder gelangen konnten, dort die Anhänger des aufgeklärten
Miniſters. Die kleine Kolonie von norddeutſchen und ſchwäbiſchen Ge-
lehrten, welche in München noch faſt allein die politiſchen Ideale des Be-
freiungskrieges feſthielt, beſaß keinen Einfluß und durfte den Miniſter
nicht offen bekämpfen, da er ihr doch einen Rückhalt bot gegen den
Fremdenhaß der fanatiſchen Altbaiern; einer der Beſten aus dieſem Kreiſe,
der Philolog Jacobs war ſchon wieder nach Thüringen heimgezogen, der
feinfühlende Mann konnte es nicht ertragen beſtändig geſchmäht zu werden
als ein nordiſcher, im bairiſchen Kanaan gemäſteter Bettler. Stärker war
die Unzufriedenheit in Franken; hier zitterte die Begeiſterung der Kriegs-
jahre noch lange nach, die Gemeinden grollten über den Verluſt ihrer
ſelbſtändigen Verwaltung, und eine pathetiſche Schrift des Bambergers
Hornthal, die an den Art. 13 der Bundesakte erinnerte, fand lebhaften
Anklang. Doch auch dieſe Oppoſition ſchien ungefährlich. Voll Zuver-
ſicht ſangen die unbekehrten Rheinbündler in Aretins Alemannia noch
immer das Lob des großen Miniſters, unter wüthenden Schimpfreden
gegen die Deutſch-Michelei, den Boruſſismus und die Anglomanie. Als
in Franken der Jahrestag der Leipziger Schlacht gefeiert wurde, erzählten
dieſe Alemannen in einem Feſtberichte: die ſchöne Feier habe mit einer
Thierſchau geendet und der beſte Ochſe ſei mit dem Orden des eiſernen
Kreuzes geſchmückt worden.


[339]Eugen Beauharnais. Kronprinz Ludwig.

In der Hofgeſellſchaft, die noch mit Vorliebe franzöſiſch ſprach,
gewann der Bonapartismus neuen Anhang, ſeit der Schwiegerſohn
Max Joſephs, Eugen Beauharnais als königlicher Prinz und Herzog
von Leuchtenberg in München Hof hielt und eine Schaar unzufriedener
Franzoſen um ſich verſammelte. Der Liebenswürdigſte der Napoleoniden
gewann ſich bald die Herzen der Bürgerſchaft und arbeitete in emſiger
geheimer Thätigkeit für die Herſtellung des Kaiſerreichs. Sein Adjutant
General Bataille unterhielt den Verkehr mit den Bonapartiſten in Mai-
land.*) Der Polizeidirector aber drückte beide Augen zu, auch viele Poſt-
beamte zählten zu den Vertrauten des Leuchtenbergiſchen Palaſtes. Nachher
fand auch Eugens Schweſter Hortenſe, die vormalige Königin von Holland,
mit ihren beiden Söhnen in Augsburg eine Zuflucht, ſpielte mit bezau-
bernder Anmuth die Rolle der bürgerfreundlichen Fürſtin und wob noch
eifriger als der Bruder an den Fäden der napoleoniſchen Verſchwörung.
Unbekümmert um die dringenden Warnungen der beiden deutſchen Groß-
mächte ließ der König ſeinen Liebling Eugen gewähren. Baiern blieb noch
jahrelang das Neſt des deutſchen Bonapartismus.


Niemand litt unter dieſen unwahren Verhältniſſen ſchwerer als die
hochherzige Königin Karoline und ihr Stiefſohn der Thronfolger. Beide
hatten im Jahre 1813 bei der glücklichen Wendung der Münchener Po-
litik redlich mitgeholfen und ſahen nun mit Beſorgniß, daß ein ehrliches
Verhältniß zu dem neuen Deutſchen Bunde unmöglich blieb, ſo lange
dieſer Unberechenbare am Steuer ſtand. In dem erregbaren Gemüthe
des Kronprinzen lag eine grundehrliche Schwärmerei für Deutſchlands
Größe unvermittelt neben einem ebenſo phantaſtiſchen großbairiſchen Macht-
dünkel. Zu Straßburg geboren hatte der Prinz nachher im Exil viel
mit elſaſſiſchen Emigranten verkehrt, die Franzoſen und ihre Revolution
ſchon in jungen Jahren haſſen gelernt. Sein ganzes Leben ſeitdem
war ein beſtändiger Kampf gegen die franzöſiſche Politik des Vaters.
Nach der Auſterlitzer Schlacht mußte er in ſeiner Geburtsſtadt die Sieges-
feſte der Kaiſerin Joſephine mit anſehen und ſagte mit ſeiner gewohnten
ehrlichen Rückſichtsloſigkeit: „das ſollte mir die liebſte Siegesfeier ſein,
wenn meine Heimath wieder eine deutſche Stadt würde.“ Als er ein Jahr
darauf an der Weichſel gegen die Preußen und Ruſſen focht, faßte er
ſchon den Plan, den großen Männern ſeines Vaterlandes eine prächtige
Walhalla zu errichten und forderte die Teutſchen in ſtolpernden Verſen
auf, die Ketten des Corſen zu ſprengen. Niemals, ſelbſt nicht im An-
geſicht des Imperators, hatte er ſeinen deutſchen Stolz verleugnet. In
Montgelas ſah er nur den Frohnvogt des fremden Zwingherrn; er hatte
ſeines Widerwillens kein Hehl, behandelte ſeinen Schwager Eugen Beau-
harnais öffentlich mit der äußerſten Geringſchätzung und erſehnte den
22*
[340]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Sturz des Miniſters um ſo ungeduldiger, da ſein eigner Lieblingsplan,
der Anſchlag auf die badiſche Pfalz, ohne das Wohlwollen der deutſchen
Großmächte nie gelingen konnte.


Für dieſe Beſtrebungen fand er einen mächtigen Bundesgenoſſen an
dem gefeierten neuen Feldmarſchall des bairiſchen Reichs. Wrede haßte die
norddeutſchen Patrioten noch ingrimmiger als der Miniſter ſelbſt; dieſen
Narren, dieſen Teufel von Stein wollte er im Feldzuge von 1814 —
ſo ſchrieb er an Montgelas — am Liebſten in eine Haubitze laden um
ihn als Geſchenk an Napoleon hinüberzuſenden. Vornehmlich aus ge-
kränkter Eitelkeit war der tapfere Landsknecht im Jahre 1812 aus einem
ergebenen Diener ein Feind Bonapartes geworden, weil ihm der Im-
perator den großen Adler der Ehrenlegion verſagte. Aber er durfte ſich
rühmen, daß er raſcher als Montgelas den rechten Zeitpunkt für den
Abfall erkannt und den Rieder Vertrag halb gegen den Willen des zau-
dernden Miniſters zu Stande gebracht hatte. Seitdem hielt er ſich nicht
nur für den Feldherrn, ſondern auch für den diplomatiſchen Retter der
bairiſchen Nation. Sein Praetorianertrotz ſprach allem Anſtande, ja ſelbſt
den Staatsgeſetzen Hohn. Völlig eigenmächtig verhieß er im Feldzuge
von 1815 den Offizieren der vier Reiterregimenter und achtzehn Legionen,
die nur für den Krieg gebildet waren, ſie ſollten im Frieden nicht ent-
laſſen werden; als Montgelas nachher wegen der verzweifelten Finanzlage
die dringend gebotene Verminderung des Heeres verlangte, trat der Feld-
marſchall im Miniſterrathe als „Repräſentant der Armee“ auf und ſetzte
bei dem Monarchen ſeinen herriſchen Einſpruch durch. Was Wunder,
daß ihn Montgelas den bairiſchen Friedländer nannte und den neuen
Fürſtentitel dieſes Schooßkindes der Fortuna mit ſchelen Augen betrachtete.
Seit dem Wiener Congreſſe war Wrede ganz für Oeſterreich gewonnen,
daſſelbe Oeſterreich, das er noch kürzlich ſo oft in ſeinen donnernden
Proclamationen als „unſeren ewigen Feind“ gebrandmarkt hatte; auch
er hielt, als geborener Pfälzer, ſeine begehrlichen Blicke auf Heidelberg
und Mannheim gerichtet und wußte, daß dies Ziel nur durch die Gunſt
der Hofburg erreicht werden konnte.


Der Haß dieſer beiden mächtigen Gegner verſchärfte ſich noch durch
das Verhalten des Miniſters in der Verfaſſungsſache. Obwohl der Kron-
prinz wie der Feldmarſchall mit ihrem ſtarken despotiſchen Eigenwillen
ſich Beide gleich wenig für das conſtitutionelle Staatsleben eigneten, ſo
verkannten ſie doch nicht, daß nach ſo vielen feierlichen Verheißungen
die Verfaſſung endlich zu Stande kommen müſſe. Montgelas dagegen
ward mit den Jahren immer ſtarrer in ſeiner bureaukratiſchen Geſinnung.
Er ließ die traurige Conſtitution von 1808 unausgeführt, und der Mann,
der durch ein Syſtem unerbittlicher Centraliſation jedes ſelbſtändige Leben
in den Provinzen vernichtet hatte, gelangte allmählich zu derſelben An-
ſicht, wie die feudale Partei in Preußen: er meinte, zunächſt müßte durch
[341]Der Verfaſſungsplan von 1815.
Provinzialſtände die politiſche Bildung erweckt werden, da der Deutſche
das Repräſentativſyſtem nicht verſtehe. Der Miniſter konnte nicht hindern,
daß der König, um den Beſchlüſſen des Wiener Congreſſes zuvorzukommen,
eine Commiſſion zur Durchſicht jenes papiernen Grundgeſetzes einberief; er
gab jedoch den Einberufenen unzweideutig zu verſtehen, daß die bairiſchen
Landſtände nicht mehr bedeuten dürften als die parlamentariſchen Inſtitu-
tionen Napoleons. Wagte ſich einmal eine freiere Meinung in der Com-
miſſion heraus, dann hieß es kurzab: der König und ſeine Beamten ſeien
als die eigentlichen Repräſentanten der Nation zu betrachten; unbegreiflich,
wie man von der Erweiterung der ſtändiſchen Rechte auch nur reden
könne, da doch der König nur aus beſonderer Gnade auf einige ſeiner
Souveränitätsrechte verzichtet habe.


Die Commiſſion, die zum größten Theile aus ergebenen Dienern
des Miniſters ſowie aus einigen hochconſervativen altbairiſchen Edelleuten
beſtand, nahm ſich dieſe Winke zu Herzen und brachte einen wunder-
baren Entwurf zu Stande, der allen Wünſchen der Bureaukratie und
des Junkerthums gleichmäßig entſprach. Ein Oberhaus, mit dem be-
ſcheidenen Namen „Kammer der Reichsräthe“ geſchmückt, und eine De-
putirtenkammer bilden zuſammen die bairiſche „Nationalrepräſentation.“
Für die Deputirtenſtellen werden durch indirekte Wahl je drei Candi-
daten vorgeſchlagen, aus denen der König, nach dem bewährten napo-
leoniſchen Brauche, einen ernennt; die Grundholden aber, die Maſſe der
Bauernſchaft, bleiben von der Repräſentation gänzlich ausgeſchloſſen, weil
ſie ſchon durch ihre Grundherren vertreten ſind. Der Zuſammenſetzung
dieſer Volksvertretung entſpricht auch das Maß ihrer Rechte: unter
dringenden Umſtänden darf die Krone ſogar direkte Steuern einſeitig
ausſchreiben, die Staatsgüter kann ſie jederzeit veräußern ohne die
Kammer auch nur zu benachrichtigen. Eine ſolche Verfaſſung erſchien
wie Spott. Der Kronprinz fühlte es und bewog den König ſeine Zu-
ſtimmung zu verſagen als der unglückliche Entwurf im Februar 1815
in Wien anlangte. Die Commiſſion ward aufgelöſt. Montgelas aber
ſah dem Schiffbruch mit ſtiller Schadenfreude zu und ließ fortan zwei
Jahre hindurch die leidige Sache gänzlich ruhen. Daß der verhaßte
preußiſche Nebenbuhler ſein Verfaſſungswerk früher beendigen würde,
ſtand ja nicht mehr zu befürchten; auch der Bundestag drängte nicht,
und von einer altſtändiſchen Bewegung zeigte ſich in Baiern keine Spur.
Die ſtolze Macht der altbairiſchen Landtage, die einſt in den ſtürmiſchen
Tagen des Löwlerbundes ſo oft das Recht des bewaffneten Widerſtandes
geübt hatten, war ſchon ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert gebrochen; bei
ſeiner Thronbeſteigung hatte Max Joſeph nur noch einen lebloſen Land-
tags-Ausſchuß, die Verordnung, vorgefunden und dies letzte Trümmerſtück
faſt ohne Kampf beſeitigt. Vergeblich verſuchte jetzt der Würzburger Pro-
feſſor Rudhart, durch ſeine gelehrte Geſchichte der bairiſchen Landſtände
[342]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
das Andenken der alten ſtändiſchen Freiheit wieder zu beleben; er erwarb
ſich nur den Dank der Wiſſenſchaft, auf die politiſche Stimmung des
Landes wirkte ſein Buch nicht ein. —


Unterdeſſen richtete Montgelas ſeine Aufmerkſamkeit vornehmlich auf
die Verhandlungen mit dem römiſchen Stuhle, eine Unterhandlung, die für
das geſammte Deutſchland folgenreich werden und auch auf die bairiſche
Verfaſſungsarbeit ganz unerwartet zurückwirken ſollte. Trotz ihrer ſtreng
römiſchen Geſinnung hatten die alten Wittelsbacher doch jederzeit, gleich
den Allerchriſtlichſten Königen Frankreichs, die Kirchenhoheit ihres Staates
kräftig behauptet. Die Bildung einer bairiſchen Landeskirche — ſo weit
dies unbeſchadet der katholiſchen Glaubenseinheit möglich war — blieb
durch Jahrhunderte das Ziel der wittelsbachiſchen Kirchenpolitik; zu der-
ſelben Zeit, da Baiern die Proteſtanten austrieb, ward in München der
Geiſtliche Rath eingeſetzt, eine vom Landesherrn ernannte oberſte Kirchen-
behörde, ähnlich den Conſiſtorien der Lutheraner. Sobald der Reichs-
deputationshauptſchluß die benachbarten reichsunmittelbaren Biſchöfe, die
alten Gegner des landesfürſtlichen Kirchenregiments, der bairiſchen Landes-
hoheit unterworfen hatte, nahm der Münchener Hof jene altwittelsbachi-
ſchen Pläne mit neuem Eifer auf. Er traute ſich’s zu, mit dem Papſt
ein ebenſo vortheilhaftes Concordat abzuſchließen, wie kurz zuvor der erſte
Conſul, und hoffte auf die Errichtung von Landesbisthümern, deren
Grenzen mit denen des Staatsgebietes zuſammenfallen ſollten. Bald genug
mußte er erfahren, wie unerſchütterlich der heilige Stuhl ſelbſt in jenen
Tagen ſeiner Demüthigung die alten herriſchen Grundſätze feſthielt.
Der päpſtliche Unterhändler Cardinal della Genga, derſelbe, der ſpäterhin
als Leo XII. den Thron beſtieg, forderte nichts Geringeres als die Rück-
kehr zu dem alten Syſteme der Glaubenseinheit: die Gleichberechtigung
der Proteſtanten, die Anerkennung der gemiſchten Ehen, die Aufſicht des
Staates über die Schulen, alle die ſegensreichen Reformen, auf denen
die Rechtsordnung des paritätiſchen neuen Königreichs ruhte, ſollten wieder
verſchwinden. Im Jahre 1809 wurden die Verhandlungen abgebrochen.
Gleichwohl gab man in München die Hoffnung nicht auf: wie konnte die
Curie einem Hofe widerſtehen, der ſich ſo gern rühmte nach Oeſterreich
die erſte katholiſche Macht in Deutſchland zu ſein? Als der Fürſtprimas
Dalberg in jenen rheinbündiſchen Tagen unermüdlich luftige Pläne für eine
deutſche oder rheinbündiſche Nationalkirche entwarf, fand er an Montgelas
ſeinen entſchiedenſten Gegner. Auch auf dem Wiener Congreſſe bewährte
Baiern ſeine ſtolze Selbſtgenügſamkeit und erlangte, daß die kirchlichen
Angelegenheiten der Competenz des Deutſchen Bundes entzogen wurden.


Eine Aenderung dieſes entſcheidenden Beſchluſſes war, bei der
Schwäche der neuen Bundesgewalt, weder erreichbar noch wünſchenswerth;
denn wer mochte die ſchwierigen Unterhandlungen mit der Curie dieſem
Bundestage anvertrauen? Der Particularismus hatte auch in dieſer
[343]Landeskirchliche Beſtrebungen.
Frage, wie überall, einen vollſtändigen Sieg davon getragen. Alle deut-
ſchen Staaten ſahen ſich nunmehr auf denſelben Weg gedrängt, welchen
Baiern und Württemberg ſchon unter dem Rheinbunde eingeſchlagen hatten:
ſie mußten, einzeln oder in Gruppen, mit dem römiſchen Hofe verhandeln
um die Errichtung neuer Landesbisthümer durchzuſetzen. In dieſem wohl-
berechtigten Wunſche waren die Höfe alleſammt einig. Denn nach den
zahlloſen Grenzverſchiebungen der letzten Jahre konnten die Diöceſen des
heiligen Reichs ſchlechterdings nicht mehr unverändert bleiben; die alten
Bisthümer waren überdies ſämmtlich, bis auf fünf, verwaiſt und befanden
ſich, da die Seculariſationen der katholiſchen Kirche Deutſchlands ein jähr-
liches Einkommen von mindeſtens 21 Mill. Fl. entriſſen hatten, durchweg
in einer wirthſchaftlichen Noth, welche allein durch die Hilfe der Staats-
gewalt geheilt werden konnte.


Auch die preußiſchen Staatsmänner, die auf dem Wiener Congreſſe
ſo lebhaft für eine gemeinſame deutſche Kirchenpolitik eingetreten waren,
mußten jetzt dieſen Gedanken, gleich den Bundeszollplänen und ſo manchen
anderen patriotiſchen Entwürfen jener hoffnungsvollen Tage, als unaus-
führbar fallen laſſen. Die preußiſche Bundesgeſandtſchaft wurde ange-
wieſen, keine Einmiſchung des Bundes in kirchliche Dinge zu dulden, ſchon
weil Preußen nimmermehr die Anweſenheit eines Nuntius in Frankfurt
geſtatten dürfe; der König denke vielmehr ſelbſtändig vorzugehen und durch
freiſinnige Gewährungen den anderen deutſchen Staaten ein Muſter
zu geben.*) Humboldt ſchlug dann noch vor, der preußiſche Staat ſolle die
Rechte, welche er der römiſchen Kirche zu gewähren gedenke, förmlich unter
den Schutz des Bundes ſtellen und dafür fordern, daß auch die Rechte
der Proteſtanten in den katholiſchen Staaten durch die Bürgſchaft des
Bundes geſichert würden. Der Staatskanzler aber lehnte den Vorſchlag
ab; er ſah voraus, daß weder Oeſterreich noch Baiern jemals auf einen
Plan eingehen konnten, welcher der Krone Preußen die Stellung des
Protectors der deutſchen Proteſtanten verſchafft hätte. Da Baiern nun
doch ſeines eigenen Weges zog und Oeſterreich von vornherein aus dem
Spiele blieb, ſo konnte Hardenberg auch von einer gemeinſamen Ver-
handlung mit den Kleinſtaaten ſich keinen Erfolg verſprechen; die Ab-
ſichten der verſchiedenen Höfe gingen allzu weit auseinander. Der preu-
ßiſche Staat beherrſchte allein mehr katholiſche Unterthanen als Baiern
und die kleinen Staaten zuſammen; er allein hatte ſchon unter dem alten
Reiche Landesbiſchöfe gehabt und ſich in der Schule einer reichen Er-
fahrung feſte kirchenpolitiſche Grundſätze gebildet, die mit einigen Aende-
rungen auch dem Bedürfniß der Gegenwart genügen konnten. Die kleinen
proteſtantiſchen Dynaſtien des Weſtens dagegen, Württemberg, Baden,
Heſſen, Naſſau waren mit einem male in den Beſitz ausgedehnter katho-
[344]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
liſcher Gebiete gelangt und ſtanden den neuen Aufgaben, die ſich hier
ergaben, noch ziemlich rathlos gegenüber. Sie wußten wohl, daß die
altproteſtantiſche Kirchengewalt der Landesherren unter den neuen Ver-
hältniſſen ſich nicht mehr halten ließ, und waren ehrlich gewillt der rö-
miſchen Kirche etwas größere Freiheit als bisher zu gewähren; jedoch ſie
hegten noch immer ſehr überſpannte Begriffe von den Rechten der Staats-
gewalt, eine Selbſttäuſchung, welche Hardenberg nicht theilte. Daher
erhielt Niebuhr ſchon von Paris aus die Weiſung, daß er beſtimmt ſei
für Preußen allein mit Rom zu verhandeln und vor Allem die Wieder-
herſtellung der unentbehrlichen Landesbisthümer herbeizuführen.


Nur Heinrich von Weſſenberg gab den Gedanken einer deutſchen
Nationalkirche, den er auf dem Wiener Congreß ſo nachdrücklich vertreten
hatte, auch jetzt noch nicht auf. Bei den Höfen galt der vielgeſchäftige
Conſtanzer Generalvicar zugleich als ein willkommener Bundesgenoſſe
und als ein läſtiger Störenfried; denn ſie wünſchten gleich ihm die
Macht des Papſtes über die deutſchen Prälaten möglichſt zu beſchränken,
aber der Kern ſeiner Pläne konnte nüchternen Staatsmännern nur als ein
unmöglicher Anachronismus erſcheinen. Weſſenberg verkannte, wie gründlich
der politiſche Charakter der katholiſchen Kirche Deutſchlands durch die
Seculariſationen und die Beſeitigung der adlichen Pfründen ſich ver-
ändert hatte. Er träumte von einem deutſchen Kirchenſtaate, der unter
dem Schutze des Bundes, geleitet von einem Fürſten-Primas, wohlaus-
gerüſtet mit adlichen Prälaten, National- und Diöceſan-Synoden, dem
Papſtthum wie den Landesherren gleich unabhängig gegenüberſtehen ſollte.
Und dieſe ariſtokratiſche Kirchenverfaſſung nannte er mit naiver Anmaßung
„die deutſche Kirche“, obgleich die große Mehrheit der Deutſchen außer-
halb Oeſterreichs dem Proteſtantismus angehörte. Von Landesbisthümern,
deren die moderne Staatseinheit doch nicht entrathen konnte, wollte er
nichts hören; ſeine vornehmen Biſchöfe ſollten in mehreren Staatsgebie-
ten zugleich ihre geiſtliche Gewalt ausüben. Welch eine Ausſicht auf
ewigen Streit zwiſchen dem Papſte, dem Primas, dem Bundestage, den
Einzelſtaaten und dieſen halbſouveränen, keiner Landeshoheit ausſchließ-
lich unterworfenen Biſchöfen!


Und woher ſollte ein deutſcher Primas jetzt noch die ſeiner Würde
unentbehrliche landesfürſtliche Selbſtändigkeit gewinnen? Dalberg ſelbſt,
der Fürſtprimas des Rheinbunds, hatte den patriotiſchen Entwürfen
ſeines Freundes Weſſenberg bereits den Boden unter den Füßen hinweg-
gezogen, als er im Oktober 1813 zu Gunſten Eugen Beauharnais’ auf
das Großherzogthum Frankfurt verzichtete. Der Unwille der Verbün-
deten wider den bonapartiſtiſchen Kirchenfürſten ward durch dieſen ſchimpf-
lichen politiſchen Selbſtmord nur verſtärkt und milderte ſich auch nicht,
als der wetterwendiſche Enthuſiaſt ſchon im nächſten Jahre wieder um-
ſchlug und dem rächenden Erzengel Europas, dem Czaren Alexander
[345]Dalberg und Weſſenberg.
ſeine Huldigung darbrachte. Der Entthronte zog ſich ſodann in ſein
Bisthum Regensburg zurück und verbrachte dort noch die zwei Jahre
bis zu ſeinem Tode (Febr. 1817) in apoſtoliſcher Einfachheit, ganz den
Pflichten des geiſtlichen Amts und der chriſtlichen Barmherzigkeit dahin-
gegeben. Manchen politiſchen Gegner verſöhnte der heitere Gleichmuth
des freundlichen Alten; die eigenthümliche Anmuth dieſes aus Begeiſterung,
Eitelkeit und Zagheit ſo ſeltſam gemiſchten Geiſtes erſchien am Abend ſeines
Lebens faſt noch unwiderſtehlicher als vor Jahren, da Schiller und
W. Humboldt ſich ſeines Umgangs gefreut hatten. Aber mit ſeiner
Landeshoheit war auch ſein Primat unrettbar verloren; einem bairiſchen
Unterthan und Landesbiſchof wollte kein deutſcher Staat die Rechte eines
deutſchen Oberhirten zugeſtehen, am wenigſten Preußen, das den rhein-
bündiſchen Primas-Titel ohnehin nicht für rechtsgiltig anſah. Daher
fand Weſſenberg faſt überall kühle Aufnahme, als er im Jahre 1815
einige Höfe bereiſte und die Diplomaten in Frankfurt für ſeine national-
kirchlichen Pläne zu gewinnen ſuchte. Noch nicht entmuthigt, forderte er
im December die deutſchen Regierungen auf, ſich vor Beginn der rö-
miſchen Verhandlungen mindeſtens über gemeinſame Grundſätze zu ver-
einigen und den Bundestag als oberſten Richter in allen Streitfragen
zwiſchen Staat und Kirche anzuerkennen. Dem Vetter Metternichs und
Bruder des k. k. Geheimen Rathes Weſſenberg mochte es wohl unbedenk-
lich erſcheinen, wenn die Angelegenheiten preußiſcher Biſchöfe der Mit-
entſcheidung des Kaiſers von Oeſterreich anheimgegeben würden. In
Berlin dachte man anders.


Am Unfreundlichſten aber wurde Weſſenberg in München aufge-
nommen: Baiern ſei ſich ſelbſt genug, hieß es hier kurzab, und werde
keinen weiteren Eingriff in ſeine Souveränität dulden. Montgelas war
bei ſeinen kirchenpolitiſchen Neuerungen in dem bigotten altbairiſchen
Volke nur ſchwachem Widerſtande begegnet und ſchloß daraus mit dem
Hochmuthe des glaubenloſen Weltkindes, daß auch die römiſche Kirche
wenig Lebenskraft mehr beſitze. Die Hoffart der Aufklärung verleitete
den klugen Mann zu einem Irrthum, der allerdings von den meiſten
Staatsmännern jener Zeit getheilt wurde, aber dieſem geharniſchten
Vertreter der Staatsallmacht am übelſten anſtand. Er hoffte von dem
Papſte nicht blos eine Circumſcriptionsbulle zu erlangen, welche die
Grenzen der neuen bairiſchen Landesbisthümer feſtſtellen ſollte. Er hielt
es auch für unbedenklich, das Rechtsverhältniß zwiſchen Staat und Kirche
durch ein Concordat vertragsmäßig zu ordnen und erkannte nicht, wie ſchwer
die Souveränität des Staates ſchon durch den Abſchluß eines Concordats
gefährdet wird; denn jeder Staat iſt befugt den Umfang ſeiner eigenen
Hoheitsrechte ſelbſt zu beſtimmen und kann ſich dies unveräußerliche
Recht nicht durch Verträge mit auswärtigen Mächten ſchmälern laſſen,
am wenigſten durch einen Vertrag mit der Curie, die von jeher alle Zu-
[346]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
geſtändniſſe an die weltliche Gewalt nur als Indulgenzen, als wider-
rufliche Gnaden betrachtet hat. Aber die Hoffnung das napoleoniſche
Concordat noch zu überbieten ſchmeichelte dem bairiſchen Stolze, und
ſchlimmſten Falls blieb ja die Krone der Wittelsbacher ſtark genug das
Concordat eigenmächtig abzuändern, ſich über die Beſchwerden des Papſtes
hinwegzuſetzen. Verfehlt wie der Grundgedanke des ganzen Unterneh-
mens war auch die Wahl des Unterhändlers. Das ſchwierige Geſchäft
wurde in die Hände des achtzigjährigen Biſchofs Häffelin gelegt. Mont-
gelas wähnte an dem weichmüthigen Prälaten ein ganz abhängiges
Werkzeug zu beſitzen und überſah, daß der ſchwache Greis mit ſeiner
Eitelkeit und ſeinen vierzehn unehelichen Kindern auch den Lockungen
wie den Drohungen des Vatikans gleich zugänglich war.


Unter ſolchen Umſtänden ſchöpfte die ultramontane Partei friſchen
Muth; ſie hatte ſich ſchon ſeit dem Jahre 1812 in ganz Süddeutſchland
feſter zuſammengeſchloſſen und, ungeſchreckt durch Montgelas’ harte Ver-
bote, rührende Bilder und Erzählungen von der Gefangenſchaft des
Papſtes unter dem gläubigen Volke verbreitet. Ihr Heerd war die
Curie des Biſchofs von Eichſtädt, Grafen Stubenberg; von hier em-
pfingen während des Wiener Congreſſes die Oratoren der katholiſchen
Kirche ihre Weiſungen. Ihr literariſcher Wortführer, der Würzburger
Weihbiſchof Zirkel zog gegen Weſſenberg zu Felde und forderte als ein
begeiſterter Romantiker unter dem hochtönenden Namen der Kirchenfrei-
heit die unbeſchränkte Herrſchaft des Papſtes über die deutſche Kirche.
Bei Hofe beſaßen die Clericalen noch immer mächtige Freunde; auch auf
den Thronfolger glaubten ſie rechnen zu können, da der Prinz durch
den Hofpfarrer Sambuga ſtreng kirchlich erzogen und ein ſchwärmeriſcher
Jünger der romantiſchen Schule war.


Der Uebermuth des Miniſters beſtrafte ſich ſchnell. Biſchof Häffelin
ſpielte im Vatican eine klägliche Rolle und überſendete endlich im Herbſt
1816 einen römiſchen Concordats-Entwurf, worin der katholiſchen Kirche
„alle die Rechte, die ihr nach den kanoniſchen Vorſchriften gebühren,“
vorbehalten wurden. Das hieß, wenn man die Worte ehrlich verſtand,
Zurücknahme der Gleichberechtigung der Proteſtanten, Aufhebung der
ſämmtlichen kirchenpolitiſchen Geſetze des letzten Jahrzehnts. Für dieſe
unerhörte Forderung gewährte die Curie nur ein wichtiges Zugeſtändniß,
deſſen Folgen ſie glücklicherweiſe ſelber nicht ganz überſah: ſie wollte ge-
ſtatten, daß das Concordat als bairiſches Staatsgeſetz verkündet würde.
Die klugen Monſignoren hofften offenbar, dem Vertrage durch eine ſolche
Verkündigung größere Sicherheit zu geben und bedachten nicht, daß der
König ein Staatsgeſetz jederzeit einſeitig ändern durfte. In Montgelas’
rückſichtsloſen Händen konnte dieſe unvorſichtige Gewährung zu einer
ſcharfen Waffe werden; ſo lange er am Ruder blieb, ſtand eine Demü-
thigung der Krone vor dem Papſte nicht zu befürchten.


[347]Montgelas’ Sturz.

Da erfolgte plötzlich, zur allgemeinen Ueberraſchung des Landes,
der Sturz des Miniſters. Im November 1816 war der König nach
Wien gereiſt um ſeine ſoeben mit dem Kaiſer Franz vermählte Tochter
Karoline Auguſte zu beſuchen und auch die politiſche Freundſchaft, die
ſeit den Salzburger Händeln arg geſtört war, wiederherzuſtellen. Er
blieb dort faſt ein Vierteljahr und ward mit Ehren überhäuft; aber
ſobald er politiſche Fragen berührte, ſtieß er auf eine wohlberechnete Zu-
rückhaltung und mußte endlich einſehen, daß der Groll der Hofburg gegen
ſeinen Montgelas unverſöhnlich blieb. Dieſer Haß ward eben jetzt aufs
Neue entfacht, da eine Depeſche des franzöſiſchen Geſandten Mercy, die
über Montgelas’ Verhalten im Herbſt 1813 unerfreuliche Aufſchlüſſe bot,
in die Hände des Wiener Hofs gerathen war. Vor dem preußiſchen Ge-
ſandten gab ſich Metternich freilich den Anſchein, als ob er ſich um dieſe
bairiſchen Dinge nie bekümmert hätte. Als der König ſeine Anſchläge gegen
Baden enthüllte, empfing er von dem Kaiſer wie von Metternich nur
die trockene Zuſage, ſie würden ſeinen Abſichten nicht entgegen ſein. Und
ſelbſt dieſe Verheißung war nicht ehrlich gemeint; denn gleichzeitig ließ
Metternich den preußiſchen Staatskanzler wiſſen, das Verſprechen ſei nur
als eine Abfindung (par manière d’acquit) gegeben und in der Ueber-
zeugung, daß die bairiſchen Pläne bald auf allen Seiten mächtigen Wider-
ſpruch finden würden.*) Unterdeſſen erging ſich die neue Kaiſerin, eine
erklärte Freundin der Jeſuiten, in lebhaften Anklagen wider den kirchen-
feindlichen Miniſter, der allein noch der guten Freundſchaft der beiden
Höfe im Wege ſtand; die Diplomaten der Curie halfen getreulich nach,
auch aus München liefen wiederholte Beſchwerden von Seiten des Kron-
prinzen und des Feldmarſchalls Wrede ein.


Verſtimmt, aber noch keineswegs entſchloſſen kehrte der König am
1. Februar 1817 nach München zurück und ließ dem Miniſter auf den
nächſten Vormittag ſeinen Beſuch ankündigen. Der Wagen war bereits
beſtellt, die Unterredung konnte, nach früheren Erfahrungen, nur mit
einer neuen Verſöhnung der beiden Freunde endigen. Da ſetzte der Kron-
prinz im letzten Augenblicke alle Hebel ein. Er war nach einer ſchweren
Krankheit noch an das Zimmer gefeſſelt und durfte grade jetzt auf freund-
liches Gehör bei dem zärtlichen Vater rechnen. In einem beweglichen
Briefe ſtellte er noch einmal alle ſeine Klagen gegen den Hochmuth und
die nachläſſige Amtsführung des Miniſters zuſammen und erbat ſich als
einen Beweis königlicher Gnade die Entlaſſung des unheilvollen Mannes.
Mit dieſem Schreiben erſchien Wrede am Vormittag des 2. Februar bei
dem Monarchen. Zitternd, in höchſter Angſt, genehmigte der König endlich
die Bitte des Thronfolgers. Der gutmüthige Schwächling verfällt faſt
immer in Härte wenn er ſich ſtark zeigen will; ſo entließ auch Max Joſeph
[348]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
den Staatsmann, der ihm die Königskrone errungen hatte, in den ſchnö-
deſten Formen, ganz nach dem Brauche jener launiſchen altwürttember-
giſchen Despoten, die ihre Günſtlinge mit einem theatraliſchen Fußtritt
zu beſeitigen pflegten. Um Mittag empfing der Miniſter ſtatt des er-
warteten königlichen Beſuchs ein Handſchreiben, das ihm mit dürren
Worten den Abſchied gab. Der Schlag fiel ſo unvermuthet, daß die
Münchener anfangs meinten, der allmächtige Miniſter müſſe ein Staats-
verbrechen begangen haben. Der Kronprinz aber triumphirte laut und
ſagte zu dem preußiſchen Geſandten: „ſo iſt meine Krankheit doch zu
etwas gut geweſen.“ Das ganze Land athmete auf bei dem Sturze des
verhaßten Bureaukraten. Auch die beiden Großmächte verbargen ihre
Freude nicht; auf Befehl Hardenbergs mußte Küſter die lebhafte Be-
friedigung ſeines Hofes ausſprechen.*)


Der Erfolg der Kataſtrophe war zweiſchneidig: ſie beſeitigte das
ſchwerſte Hinderniß des Verfaſſungswerks, aber auch die einzige Kraft,
welche den unſeligen Concordatsverhandlungen noch eine leidliche Wen-
dung geben konnte. Die Clericalen ſahen ſich eines furchtbaren Feindes
entledigt, jedoch zur Herrſchaft gelangten ſie nicht. Noch am nächſten
ſtand ihnen der neue Miniſter des Auswärtigen, Graf Aloys Rechberg; für
das Finanzweſen dagegen ward Frhr. v. Lerchenfeld berufen, ein offener
Gegner der römiſchen Anſprüche und eifriger Förderer der Verfaſſungs-
arbeit; der Miniſter des Innern Graf Thürheim, ein bekehrter Illu-
minat, zeigte ſich ſchwach und unfähig. Zudem erhielten die General-
directoren der Miniſterien jetzt erweiterte Befugniſſe, ſo daß ſie faſt wie
Mitglieder des Cabinets erſchienen; auch Wrede und der Generalſekretär
Kobell miſchten ſich beſtändig ein. Kein Wunder, daß der alte Häffelin
in Rom unter dieſer ſteuerloſen Regierung ſich nicht mehr zu helfen
wußte. Wohl erhielt er von Thürheim eine ſcharfe, noch unter Mont-
gelas verfaßte Inſtruction, welche das Recht des Staates die äußeren
Rechtsverhältniſſe der Kirche ſelbſtändig zu ordnen nachdrücklich verwahrte;
aber er meinte an dieſe Weiſung nicht ernſtlich gebunden zu ſein ſeit
der Wind in München umgeſchlagen war. Schritt für Schritt ließ er
ſich in die Enge treiben; der Günſtling der Bourbonen, Graf Blacas,
der ebenfalls in Rom wegen eines Concordats unterhandelte, ermahnte
den Baiern zur Nachgiebigkeit. Am 5. Juni unterzeichnete Häffelin,
ſeinen Inſtructionen zuwider, ein Concordat, das allen Hoffnungen der
Ultramontanen genügte; gleich im Eingang war die übermüthigſte For-
derung des Vaticans zugeſtanden: die römiſche Kirche ſollte aller der
Rechte theilhaftig werden, welche ihr nach Gottes Ordnung und den ka-
noniſchen Vorſchriften gebühren.


Als die unbegreifliche Nachricht in München eintraf, wollten die
[349]Das Concordat.
Miniſter anfangs kaum daran glauben; der König polterte wider den
hundsföttiſchen Vertrag. Aber die einzige Antwort, die in ſolcher Lage
einer ſtolzen Krone geziemte, unterblieb: der pflichtvergeſſene Unterhänd-
ler wurde nicht abberufen. Vergeblich forderte Lerchenfeld, daß ohne
ausdrücklichen Vorbehalt der Rechte des Staates kein Abkommen ge-
ſchloſſen werden dürfe. Graf Rechberg war bei früheren Verhandlungen
mit dem Cardinal della Genga zu der entgegengeſetzten Ueberzeugung
gelangt; er meinte, ein ſtillſchweigender Vorbehalt genüge auch, da die
Curie es mit der Ausführung der Verträge ſo genau nicht nehme. Man
beſchloß endlich, den in Eichſtädt wohlbeliebten Bruder des Miniſters,
Xaver Rechberg nach Rom zu ſenden, und dieſer brachte mit Blacas’
Beihilfe ein Concordat zu Stande, das bis auf wenige unweſentliche
Punkte mit dem Vertrage vom 5. Juni vollſtändig übereinſtimmte. Der
neue Vertrag ward am 24. Oktbr. vom Könige genehmigt. Er enthielt
außer jener grundſätzlichen Anerkennung des kanoniſchen Rechts noch die
Zuſage, daß alle nicht im Concordate ſelbſt erwähnten kirchlichen Ange-
legenheiten nach der vigens ecclesiae disciplina behandelt werden und in
zweifelhaften Fällen ſtets eine neue Vereinbarung zwiſchen dem Papſte und
dem Könige erfolgen ſolle. Im Art. 17 war ſogar die Aufhebung aller
dem Concordate widerſprechenden Geſetze und Verordnungen angekündigt.
Die Biſchöfe ſollten über die Reinheit des Glaubens und der Sitten in
den öffentlichen Schulen wachen und durften von der Staatsgewalt die
Unterdrückung gefährlicher Bücher verlangen. Auch die Einrichtung neuer
Klöſter und die unbeſchränkte Befugniß zum Gütererwerb ward der Kirche
zugeſichert. Um ſolchen Preis bewilligte der Papſt die Gründung der ſo
lange erſtrebten bairiſchen Landeskirche mit zwei Erzbiſchöfen und ſechs
Biſchöfen; die beantragte Bildung eines einzigen Erzbisthums für das
ganze Königreich wurde in Rom abgelehnt, denn wie leicht konnte nicht
ein ſolcher Metropolitan die Rolle eines Primas ſpielen! Als katholiſcher
Souverän erhielt der König das Recht, drei ſeiner Landesbiſchöfe unbe-
dingt, die fünf anderen auf Grund einer Candidatenliſte zu ernennen.
Hierin und in der ſtillſchweigenden Anerkennung des landesherrlichen
Patronats über die Pfarrſtellen lag die einzige Sicherung der Rechte der
Staatsgewalt. Wollte man unredlich verfahren, ſo blieb als letzte Waffe
freilich noch der Art. 18, der in einem Athem verſprach, das Concordat
ſolle unverbrüchlich gehalten und — als Staatsgeſetz verkündigt werden.


So der Inhalt dieſes erſten Probſtücks der Münchener europäiſchen
Politik. Es war die ſchimpflichſte Demüthigung, welche jemals ein mo-
derner Staat von dem heiligen Stuhle dahin genommen, die wohlver-
diente Strafe für den particulariſtiſchen Dünkel, der ſich zuerſt von den
übrigen deutſchen Staaten abgeſondert hatte und nun ihnen um jeden
Preis zuvorkommen wollte. Selbſt Küſters Nachfolger, der hochconſer-
vative alte General Zaſtrow erſchrak über „den vollſtändigen Sieg Roms“
[350]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
und ſchrieb dem Staatskanzler, der alle kirchlichen Händel mit geſpann-
ter Aufmerkſamkeit verfolgte: „der Clerus wird die dieſem Boden erſt
ſeit ganz neuer Zeit zu theil gewordene Aufklärung wieder in das Dunkel
und Verderben des Aberglaubens herunterſtürzen.“*) Die Curie froh-
lockte und ſprach dem Könige „gebührendes Lob“ aus. Max Joſeph aber
vergaß ſeiner Würde ſo gänzlich, daß er brieflich beim Papſte den Car-
dinalshut für den ungetreuen Geſandten Häffelin erbat. Die Bitte ward
erfüllt, unter dem Unwillen aller guten Baiern; ſelbſt die Cardinäle
klagten, auf ſolchen Schultern werde der Purpur entweiht.


Einen ſo glänzenden Triumph konnte der Vatican der Welt nicht
lange vorenthalten. Schon im December wurde das Concordat durch
die Curie einſeitig veröffentlicht, und ſofort veranlaßte der Eichſtädter
Bund die höchſten geiſtlichen Behörden, der Krone ihren Dank auszu-
ſprechen. Das Generalvicariat in Bamberg verlangte das Einſchreiten
der Behörden gegen eine fränkiſche Zeitung, die ſich der Sache Weſſen-
bergs annahm; unter den Heißſpornen der clericalen Partei vernahm
man bereits die Forderung: alle Kinder gemiſchter Ehen und alle Find-
linge ſollten der römiſchen Kirche überwieſen und der Uebertritt zum
Katholicismus Jedem ohne Unterſchied des Alters freigeſtellt werden.
Unerhörte Anſprüche, die ſich doch mit gutem Grunde auf die Eingangs-
worte des Concordats berufen konnten! Die Proteſtanten ſahen das Daſein
ihrer Kirche ſelbſt bedroht; welches Recht der Evangeliſchen ſtand denn
noch feſt, wenn wirklich die kanoniſchen Vorſchriften allen bairiſchen Staats-
geſetzen vorgingen? Die Conſiſtorien und viele proteſtantiſche Städte be-
ſchworen den König in beweglichen Bittſchriften um Aufrechterhaltung der
paritätiſchen Grundſätze des Religionsedikts von 1809; auch der Hof-
prediger der Königin Schmitt erhob ſeine mächtige Stimme, Niemand aber
ſchürte die Bewegung eifriger als Anſelm Feuerbach, der ſeinem Beinamen
Veſuvius wieder einmal Ehre machte. Unter den Katholiken trat Ignaz
Rudhart mit gewohntem Freimuth für die bedrohte Parität auf; ſelbſt
viele Geiſtliche verhehlten ihre Beſorgniſſe nicht.


Die Aufregung hielt an und wuchs, da gleichzeitig in Frankreich ein
Sturm gegen das neue von Blacas abgeſchloſſene Concordat losbrach, und
die Süddeutſchen bereits anfingen jedem Wellenſchlage der öffentlichen
Meinung im Nachbarlande gelehrig zu folgen. Auch der Kronprinz begann,
trotz ſeiner romantiſchen Phantaſien, doch bedenklich zu werden und er-
innerte den Vater an das Vorbild ſeines Ahnherrn Ludwigs des Baiern.
Max Joſeph ſelbſt ſchämte ſich ſeiner Schwäche; er konnte es nicht leugnen,
dies Concordat war ein Abfall nicht blos von den Grundſätzen ſeiner
eigenen Kirchenpolitik, ſondern auch von allen guten Traditionen der
alten Wittelsbacher. Aber nachdem er ſein königliches Wort feierlich ver-
[351]Wiederaufnahme der Verfaſſungsarbeit.
pfändet hatte, blieb ihm nur noch eine Hinterthür offen: jener Art. 18
nämlich, kraft deſſen das Concordat als Staatsgeſetz verkündigt werden
ſollte. Die Regierung beſchloß — ſo geſtand der Miniſter Rechberg dem
preußiſchen Geſandten im tiefſten Vertrauen — „den Vertrag nach Mög-
lichkeit zu interpretiren;“ ſie dachte das Concordat als Geſetz für das
Königreich zu veröffentlichen, aber gleichzeitig auch ein zweites Geſetz, das
den Gewährungen des Concordats die Spitze abbrechen und die Proteſtanten
beruhigen ſollte.*) Ein kläglicher Ausweg aus einer ſelbſtverſchuldeten
kläglichen Lage, aber nach Allem was geſchehen immerhin noch das einzige
Mittel um die preisgegebenen Rechte der Staatsgewalt zurückzuerlangen.


Den bequemſten Anlaß zur Ausführung dieſes Vorhabens bot die
Einlöſung des Verfaſſungsverſprechens. Am 11. Februar 1818 beſchloß
das Staatsminiſterium auf den Antrag des Generaldirectors v. Zentner,
der Verfaſſung ein Edict über die Rechtsverhältniſſe der chriſtlichen Reli-
gionsgemeinſchaften beizulegen. So hatte die Nachgiebigkeit gegen den
römiſchen Stuhl doch die eine günſtige Folge, daß die ſtockende Ver-
faſſungsarbeit wieder in Fluß gerieth. Auch die Finanznoth kam den
Wünſchen der Verfaſſungsfreunde zu ſtatten; ſie war unter dieſem viel-
köpfigen Regimente ſo hoch geſtiegen, daß der Kronprinz kurzweg erklärte,
nur die Berufung der Landſtände könne den zerrütteten Staatscredit
wiederherſtellen.**) Stärker als alle dieſe Rückſichten wirkte der dynaſtiſche
Ehrgeiz. Die Erwerbung der badiſchen Pfalz blieb nach wie vor der lei-
tende Gedanke der bairiſchen Staatskunſt, und da der Schiedsſpruch der
großen Mächte noch ausſtand, ſo begannen im Frühjahr 1818 die beiden
Höfe von München und Karlsruhe einen wunderlichen Wettlauf um die
Gunſt der öffentlichen Meinung, die doch ſehr wenig bedeutete. Beide
Gegner betrieben mit fieberiſchem Eifer ihre Verfaſſungsberathungen, um
den Beiſtand der Tagespreſſe für die Entſcheidung der Gebietsfrage zu
gewinnen. Darum vornehmlich hielten der Kronprinz und der Feldmar-
ſchall ſtandhaft zu der conſtitutionellen Partei.


Seit dem Februar 1818 wurde die Durchſicht der Conſtitutions-
Entwürfe von 1808 und 1814 wieder aufgenommen. Im Verlaufe dieſer
Berathungen gewann Zentner täglich an Anſehen, neben Lerchenfeld der
beſte Kopf des Münchener Cabinets, vormals Profeſſor in Erlangen,
aber frei von jenem doctrinären Eigenſinn, welcher die deutſchen Gelehrten
in der praktiſchen Politik faſt immer Schiffbruch leiden läßt; Bureau-
krat durch und durch, beredt, klug, ſachkundig, ganz erfüllt von dem Ge-
danken der Allmacht des Staates, im perſönlichen Verkehre geiſtreich und
liebenswürdig, wenngleich das geckenhafte Weſen des alten Junggeſellen
zuweilen ein Lächeln erregte. Als Generaldirector im Miniſterium des
[352]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Innern nahm er dem Grafen Thürheim bald alle Arbeitslaſt und damit
die Herrſchaft aus den Händen. Er wurde der Neuordner des bairiſchen
Beamtenthums, brachte zuerſt wieder einige Zucht und Pünktlichkeit in
den verwahrloſten Dienſt und erwies Allen, die den hellblauen Amts-
frack trugen, nachdrücklich, daß ſie Gunſt und Ehre allein von ihm zu
erwarten hatten. Einem ſolchen Manne konnte das parlamentariſche Leben
nicht verlockend erſcheinen; doch er begriff, daß die junge Krone der Volks-
gunſt, die unfertige Staatseinheit einer neuen Klammer bedurfte, und
traute ſich die Kraft zu, den Geiſt des Abſolutismus auch unter den
conſtitutionellen Formen aufrecht zu erhalten. Durch ihn ward die Ver-
faſſungsarbeit überraſchend ſchnell gefördert, ſo daß man den badiſchen
Mitbewerber um mehrere Monate überholte.


Am 26. Mai ritt der blauweiße Reichsherold durch die Straßen
Münchens um ſiebenmal ein königliches Manifeſt zu verleſen, das die
Verleihung des neuen Grundgeſetzes verkündigte und „die dankbare An-
erkennung dieſer landesväterlichen Handlung von den Herzen aller Baiern“
beanſpruchte. So war denn Baiern der erſte größere Bundesſtaat, der
die Verheißung der Bundesakte im Geiſte der herrſchenden conſtitutionellen
Doctrin erfüllte. Mit kindlicher Freude nahm das Land die Gabe ſeines
Königs auf; ſelbſt das brandenburgiſche Franken zeigte jetzt zum erſten
male eine Anwandlung wittelsbachiſcher Geſinnung. Ein allegoriſches
Bild, das die Vertreter des Wehr-, Lehr- und Nährſtandes in zärtlichem
Reigen die Königskrone umtanzend darſtellte, gab den Gefühlen des Volkes
einen angemeſſenen Ausdruck. Wenn ſich nur mit dieſer erklärlichen Be-
friedigung nicht ein ſo widerwärtiger particulariſtiſcher Hochmuth vermiſcht
hätte! Bei jedem Erfolge der conſtitutionellen Bewegung im Süden ergoß
ſich eine Fluth des Hohnes auf das zurückgebliebene Preußen, und die
alten Rheinbundsgedanken tauchten in liberalem Gewande wieder auf.
Kaum waren nach Montgelas’ Fall die Hoffnungen der bairiſchen Ver-
faſſungsfreunde wieder erwacht, ſo übergab Feuerbach dem Miniſter Rech-
berg ſchon eine Denkſchrift über einen Fürſtenbund aller Kleinſtaaten, der,
auf England, Dänemark, Holland geſtützt, ſeinen natürlichen Feind Preußen
in der Mitte zerſpalten und „das freundlich große Bild freier Ver-
faſſungen“ den Völkern der beiden Großmächte als Gegenſtand der Sehn-
ſucht, ihren Regierungen als Meduſenhaupt vor die Augen halten ſollte.


Das freundlich große Bild der bairiſchen Verfaſſung entſprach in
der That billigen Erwartungen. Sie gewährte die Gleichheit vor dem
Geſetze und eine nicht allzu ängſtlich beſchränkte Preßfreiheit. Bei der Zu-
ſammenſetzung der beiden Kammern war die altgewohnte ſtändiſche Gliede-
rung ſchonend berückſichtigt: die Kammer der Reichsräthe ſollte aus den
Großwürdenträgern des Reichs, aus erbberechtigten adlichen Grundherren
und einer Minderzahl von der Krone ernannter Mitglieder beſtehen, die
Abgeordnetenkammer zu einem Viertel von dem kleinen Grundadel und
[353]Die Verfaſſung und das Religions-Edikt.
der niederen Geiſtlichkeit, zu einem Viertel von den Städten, zur Hälfte
von den Bauern erwählt werden; die alſo Gewählten vertraten aber nicht
die Rechte ihres Standes, ſondern die Intereſſen des geſammten Landes.
Die beſte Gewähr für ein leidliches Gedeihen dieſer conſtitutionellen Formen
bot das neue, der Städteordnung Steins nachgebildete Gemeinde-Edict,
das einige Tage vor der Verfaſſung veröffentlicht wurde. Wohl ſtand
dies Geſetz weit hinter ſeinem preußiſchen Vorbilde zurück; ein großer
Theil der ſtädtiſchen Geſchäfte ward noch immer nicht von der Bürgerſchaft
ſondern von bezahlten Gemeindeſchreibern beſorgt, die Landgemeinden
blieben auch fernerhin ſehr abhängig von den Schreibern der Landgerichte,
und viele der tüchtigſten Bauern weigerten ſich darum das Amt des Ge-
meindevorſtehers zu übernehmen. Aber mindeſtens der Grundſatz der com-
munalen Selbſtverwaltung wurde anerkannt, die Gemeinden erhielten die
Verfügung über ihr Vermögen, die freie Wahl der Magiſtrate und Ge-
meindebevollmächtigten. Ein Boden praktiſcher Volksfreiheit war doch
endlich gewonnen, ein Boden, in dem die neue Verfaſſung vielleicht feſte
Wurzeln ſchlagen konnte.


Als Anhang der Verfaſſung erſchien neben neun anderen organiſchen
Geſetzen ein Religionsedikt, das dem Concordate die erſehnte „Interpre-
tation“ gab. Darin wurden die bewährten Grundſätze der neuen bai-
riſchen Kirchenpolitik noch einmal zuſammengeſtellt, die Parität der Be-
kenntniſſe unumwunden anerkannt, bei gemiſchten Ehen die Trennung der
Kinder nach dem Geſchlechte vorgeſchrieben und der Krone das altbairiſche
Recht des Placet gewahrt. Kein Satz darin, der nicht den leitenden
Gedanken des Concordats gradezu widerſprach. Der Curie erſchien es
wie Hohn, daß nunmehr auch das Concordat, ſelbſtverſtändlich unter
Vorbehalt der Rechtsgrundſätze des Religionsedikts, als Staatsgeſetz ver-
kündigt wurde. Sie klagte heftig über den offenkundigen Vertragsbruch
und ließ ſich auch nicht beſchwichtigen, als der König den Canonicus
Helfferich, einen der ultramontanen Oratoren des Wiener Congreſſes,
mit beruhigenden Verſicherungen nach Rom ſendete. Da wagte der alte
Häffelin, der jetzt im glücklichen Genuſſe des Cardinalspurpurs alle Scham
verlor, eine neue grobe Pflichtverletzung. Er verſicherte, wieder eigenmäch-
tig und ohne Helfferichs Vorwiſſen: das Religionsedikt gelte nur für die
Akatholiken; und der Papſt ſäumte nicht, dieſe ſchimpfliche Erklärung in
einer triumphirenden Allocution der Welt zu verkündigen.


Zum zweiten male war die Ehre der bairiſchen Krone durch den un-
getreuen Geſandten öffentlich bloßgeſtellt; einige der Miniſter forderten
dringend die Beſtrafung des „Staatsverbrechers“. Aber auch diesmal war
Max Joſephs gutmüthige Schlaffheit unbezwinglich. Er begnügte ſich, ſeinen
Kreisregierungen durch ein Reſcript einzuſchärfen, daß das Religionsedikt
für Jedermann im Königreiche gelte, und mußte nunmehr neuen beſchämen-
den Händeln mit dem erbitterten Papſte entgegenſehen. Solche Winkelzüge
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 23
[354]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
konnten das Anſehen des bairiſchen Hofs bei den großen Mächten, das
ohnehin ſeit dem Hervortreten der pfälziſchen Eroberungspläne tief ge-
ſunken war, nicht erhöhen; jedoch dem Papſte gegenüber ſtand Baiern im
Vortheil. Die Curie war in ihren eigenen Netzen gefangen; ſie hatte
ſelber gehofft, die Veröffentlichung des Concordats als eines Staatsge-
ſetzes könne ihr zum Nutzen gereichen, und ſah ſich nun faſt wehrlos,
als dies Staatsgeſetz durch ein anderes Geſetz von Rechtswegen einge-
ſchränkt wurde. Das große Publikum blieb ohne nähere Kenntniß von
allen den häßlichen Wendungen dieſer verworrenen Händel und freute
ſich unbefangen des Sieges der weltlichen Gewalt. Einige Monate lang
genoß Baiern die wohlfeile Freude, von der geſammten deutſchen Preſſe
als der liberalſte aller deutſchen Staaten verherrlicht zu werden.


In Baiern befreite die Erfüllung des Art. 13 den weltlichen Arm
von der Laſt des Concordats, in Baden rettete ſie den Beſtand des
Staates ſelber. Schon ſeit einigen Jahren befand ſich das junge Groß-
herzogthum in einem gefährlichen Zuſtande arger Zerrüttung, und faſt
ſchien es als ſollte dies künſtliche Staatsgebilde ebenſo ſchnell wie es
entſtanden war wieder verſchwinden. Das alte Haus der Zähringer
hatte einſt weithin am Oberrhein bis in das ſchweizeriſche Uechtland
hinauf geherrſcht und mit den Staufern um die ſchwäbiſche Herzogs-
würde gerungen; ſeine Städtegründungen Bern und die beiden Frei-
burg erzählten von ſeinem Ruhme. Aber ſchon im dreizehnten Jahr-
hundert begann der Verfall, die Zähringer ſanken zurück in die Reihe
der kleinen Dynaſten. Als Markgraf Karl Friedrich von Baden-Durlach
um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Herrſchaft antrat, gebot
er über ein Ländchen von kaum dreißig Geviertmeilen, das von der
Schweizer Grenze bis über Karlsruhe hinab in mehreren Stücken zer-
ſtreut lag und zum Reichsheere ein Simplum von 95 Mann ſtellte.
Als ſeine zweiundſechzigjährige Regierung im Jahre 1811 zu Ende ging,
hatte ſich das Gebiet faſt verzehnfacht. Zuerſt wurde das katholiſche
Baden-Baden mit dem lutheriſchen Durlach vereinigt; dann ſchüttete
Napoleon das buntſcheckige rechtsrheiniſche Ufergelände von Conſtanz bis
Mannheim zu einem ſeltſamen Staate zuſammen, der ſechzig Meilen
lang am Rheine hingedehnt, an ſeiner ſchmalſten Stelle nur zwei Meilen
breit, faſt allein aus Grenzbezirken beſtand. Die vorderöſterreichiſchen
Landſchaften Nellenburg, Breisgau, Ortenau, die rechtsrheiniſche Jung-
pfalz und Bruchſtücke der Bisthümer Conſtanz, Straßburg, Speier wurden
mit zahlloſen kleineren Gebieten von Fürſten, Grafen, Reichsrittern und
Reichsſtädten zuſammengeworfen. Zwei Drittel der Unterthanen der pro-
teſtantiſchen Dynaſtie waren katholiſch, faſt ein Drittel des Landes gehörte
[355]Das oberrheiniſche Land.
den unzufriedenen mediatiſirten Häuſern der Fürſtenberg, Leiningen,
Löwenſtein. Von lebendigen hiſtoriſchen Erinnerungen war dieſem Länder-
gewirr nahezu nichts gemeinſam; auch im Breisgau, wo der Stammſitz
des Fürſtenhauſes lag, dachte Niemand mehr an die alten zähringiſchen
Zeiten.


Und doch war dieſe ganz moderne Territorialbildung gar ſo un-
natürlich nicht. Auf dem Kamme des Schwarzwalds, faſt auf den näm-
lichen Stellen, wo jetzt badiſches und württembergiſches Land aneinander
ſtieß, ſtanden einſt in den Anfängen der chriſtlichen Zeitrechnung die
Grenzzeichen der Kelten und der Germanen, und auch als nachher die
Alemannen weſtwärts bis zu den Vogeſen vordrangen, blieb der Schwarz-
wald noch immer eine natürliche Grenze. Auf der Oſtſeite erhielt ſich
das ſchwäbiſche Volksthum, abgeſchieden von der Welt, in ſeiner ur-
ſprünglichen Kraft und Schwere. Die weſtlichen Thäler des Schwarz-
walds und die reiche Ebene davor wurden früh in die Regſamkeit des
rheiniſchen Lebens hineingezogen; durch das oberrheiniſche Land ging die
große Heerſtraße zwiſchen dem Süden und dem Norden, während nach
Schwaben nur wenige ſtille Gebirgswege hinüberführten und auch der
Verkehr mit dem Elſaß durch das ungebändigte Wildwaſſer des Rheins
erſchwert wurde. Von Alters her, ſeit die Römer im Thale von Baden
und auf der Höhe von Badenweiler ihre üppigen Bäder errichteten, war
der ſorgloſe Genuß in dieſem geſegneten Lande zu Haus; nirgends in
Deutſchland lebte man beſſer, und der ſchwerfällige Schwabe verläſterte
ſeine alemanniſchen Stammgenoſſen am Oberrhein, in deren Adern aller-
dings viel keltiſches und römiſches Blut floß, als windige Franzoſen.
Ungleich empfänglicher und beweglicher als die ſchwäbiſchen Nachbarn,
aber auch ärmer an ſchöpferiſchen Köpfen hatte ſich das oberrheiniſche
Volk zu allen Zeiten den neuen Ideen, welche die Welt entzündeten,
mit lärmender Begeiſterung zugewendet. So lange die Kirche durch die
demagogiſchen Mittel der Kreuzpredigten und der Bettelorden die Maſſen
zu erregen verſtand, war kein deutſches Land kirchlicher geſinnt als der
Oberrhein. Mit dem gleichen Ungeſtüm ſtürzte ſich das Volk nachher in
die Kämpfe der Reformationszeit, aber nur die Minderheit beſaß die
Kraft, in den Tagen der Prüfung beim evangeliſchen Glauben auszu-
halten. Und wieder als die alamodiſche Bildung der Franzoſen eindrang,
fand ſie nirgends in Deutſchland eifrigere Schüler.


Die Verſtandesweisheit der neuen Aufklärung, die alles hiſtoriſch
Gewordene nur als Willkür betrachtete, mußte unwiderſtehlich auf dies
erregbare Völkchen wirken, das drei Glaubensbekenntniſſe und eine Un-
zahl kraftloſer, zufälliger Territorialgebilde auf engem Raume durchein-
ander gewürfelt ſah. Sie blieb hier obenauf, auch nachdem die claſſiſche
und die romantiſche Dichtung im übrigen Deutſchland längſt ſchon den
hiſtoriſchen Sinn geweckt hatten; und als nun fremde Willkür alle dieſe
23*
[356]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
alten Zufallsſtaaten zu einem neuen, der aus dem Nichts entſtand, zu-
ſammenballte, da ward dies Land die natürliche Heimath eines ſtaat-
und geſchichtsloſen Liberalismus, der ſich das politiſche wie das kirchliche
Leben ſchnellfertig nach den untrüglichen Grundſätzen des ſogenannten
Vernunftrechts zurecht legte und durch die aufregende Nachbarſchaft Frank-
reichs und der Schweiz zu immer kühneren Forderungen ermuthigt wurde.


Wohl hatten ſich auf den geſchloſſenen großen Bauernhöfen des
Schwarzwalds noch manche altväteriſche Sitten und Trachten erhalten;
weniger freilich als nahebei im Elſaß, wo die Fremdherrſchaft das Volk
von der neuen deutſchen Bildung abſperrte. Auch die ſtreng kirchliche
Geſinnung behauptete ſich noch in einigen Schlupfwinkeln. Einzelne alt-
lutheriſche Gemeinden ſaßen da und dort zerſtreut, vornehmlich bei Pforz-
heim; ein Theil der Seeſchwaben blieb immer clerical; die Franken aus
den entlegenen Thälern des hinteren Odenwalds wallfahrteten fleißig
zum heiligen Blut nach Walldürn und ſtanden in ihrem katholiſchen
Glaubenseifer kaum hinter den Münſterländern zurück, denn wie in
Weſtphalen die Wiedertäufer, ſo hatten hier im maleriſchen Taubergrunde
die Mordbanden des Bauernkriegs ihre blutige Spur zurückgelaſſen, das
Bauernſchlachtfeld von Königshofen und die ſchändlich verſtümmelte Herr-
gottskirche von Creglingen erzählten noch von den Saturnalien der lu-
theriſchen Gecken. Aber die vorherrſchende Geſinnung des Landes war
durchaus modern, ſtädtiſch, weltlich aufgeklärt. Im Breisgau und den
anderen vorderöſterreichiſchen Gebieten ſchlugen die kirchlichen und politi-
ſchen Grundſätze Joſephs II. weit tiefere Wurzeln als in den öſtlichen
Kronlanden des Hauſes Lothringen; der philoſophiſche Kaiſer ward hier
allgemein als das Fürſtenideal gefeiert. Die Pfälzer andererſeits wollten
nach allen den gräßlichen Glaubenskriegen, die ihre ſchöne Heimath ver-
wüſtet, nun endlich des confeſſionellen Friedens genießen, und er war
nirgends unentbehrlicher als hier wo faſt in jedem Städtchen eine Simul-
tankirche ſtand; ſie rühmten ſich ihres Karl Ludwig, des duldſamen Kur-
fürſten, der in Mannheim die Friedenskirche für alle drei Bekenntniſſe er-
richtet hatte. In Heidelberg gaben Paulus und Voß, in Freiburg Rotteck den
Ton an. Der proteſtantiſche Rationalismus des Unterlandes reichte dem
joſephiniſchen Katholicismus des Oberlandes die Hand, und was die Köpfe
der gebildeten Klaſſen erfüllte drang tief in die Maſſen des Volks hinab;
denn die ungebundene oberrheiniſche Lebensluſt ließ eine ſo ſcharfe Tren-
nung der Stände, wie ſie im Norden noch beſtand, nicht aufkommen;
in den zahlloſen kleinen Städten fand ſich überall ein behagliches Wirths-
haus, wo der Bauer am Markttag mit den ſtudirten Leuten verkehrte.


Es war kein Zufall, daß grade in dieſem Lande der demokrati-
ſchen Sitten die erſten wirklichen Volksbücher unſerer neuen Literatur er-
ſchienen. Seit dem Verfaſſer des Simpliciſſimus, Grimmelshauſen, hatte
der Oberrhein keinen bedeutenden Dichter mehr geſehen; jetzt freute ſich
[357]Alemannen und Pfälzer.
Hoch und Niedrig an den köſtlichen Kalendergeſchichten des Rheiniſchen
Hausfreunds und an den alemanniſchen Gedichten Hebels, die in der
treuherzigen Volksſprache von dem Glücke des gemüthlichen Oberlandes
erzählten, von ſeinen dunklen Wäldern und plaudernden Bächen, von
den Käſtenbäumen und dem Markgräflerweine, von dem Frohſinn, der
Schelmerei, dem kräftigen Verſtande ſeiner aufrechten Mannen und
ſchönen Dirnen. Sonne und Mond, Tages- und Jahreszeiten, alle
Schickſalsmächte, die das Leben des Landvolks beſtimmen, nahmen in
dieſen lieblichen Idyllen die Geſtalt und Sprache alemanniſcher Bauern
an, ſo daß Goethe rühmte, der oberländiſche Poet verbauere auf die naivſte,
anmuthigſte Weiſe durchaus das Univerſum. Und auch darum erſchien
Hebel als ein echter Volksdichter, weil er ganz erfüllt war von dem
Geiſte der Aufklärung, der hier zu Lande in der Luft lag. Ein kind-
lich frommer Rationaliſt ſah er über den Streit der Bekenntniſſe mit
einer Milde hinweg, die den kirchlichen Eiferern faſt bedenklich vorkam,
und verſäumte ſelten den luſtigen Geſchichten ſeines Hausfreundes eine
hausbackene moraliſche Nutzanwendung, die doch immer in den Schranken
der Kunſt blieb, anzuhängen.


Der Schwerpunkt des neuen Staates lag in dem überwiegend katho-
liſchen Oberlande. Wohl währte es lange, bis die Breisgauer ſich über
die Trennung von dem geliebten Kaiſerhauſe tröſteten. Der Adel vergaß
die Schließung ſeines Freiburger Ständehauſes nicht und unterhielt erſt
mit den franzöſiſchen Emigranten, dann mit dem Wiener Hofe einen ver-
dächtigen Verkehr; die Bürger beklagten, daß die Altbadener im Staats-
dienſte bevorzugt würden, die alten Markgrafenlande immer die tüchtigſten
Amtleute erhielten. Am Ende mußten die vorderöſterreichiſchen Alemannen
die Verbindung mit den badiſchen Stammgenoſſen doch natürlich finden.


Weit langſamer gewöhnten ſich die pfälziſchen Franken des Unterlandes
an den neuen Landesherrn. Was konnte Badens beſcheidene Geſchichte
aufweiſen gegen die ſtolzen Erinnerungen des älteſten rheiniſchen Kur-
fürſtenthums, das ſo lange den Reichsapfel des Kaiſers getragen und, ein
gefürchteter Störenfried der geiſtlichen Nachbarn ringsum, der ſtreitbaren
reformirten Kirche dort am Unterlaufe des Neckars eine feſte Burg er-
richtet hatte? Trotz allem Jammer der letzten kurfürſtlichen Zeiten blieb
das Volk noch bei dem alten Spruche: fröhlich Pfalz, Gott erhalt’s.
Man ſprach noch gern von den alten Tagen, da es ſo hoch herging am
großen Faß zu Heidelberg; und die glückliche Mutter ſagte ſtolz von ihrer
ſchönen Tochter: ſie ſchaut aus wie eine Pfalzgräfin. Die freieren Köpfe
wendeten ſich, als ſie ihr geliebtes altes Gemeinweſen zuſammenbrechen
ſahen, den nationalen Ideen zu. Keine Landſchaft im Süden war ſo gut
deutſch geſinnt. Die rechtsrheiniſchen Pfälzer hatten ſich vor ihren über-
rheiniſchen Mitbürgern immer durch ein regeres geiſtiges Leben ausgezeichnet
und auch als das linke Rheinufer der Fremdherrſchaft verfiel, die Fühlung
[358]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
mit der norddeutſchen Bildung nie verloren; wie ſollte das Franzoſenthum
des Ueberrheins hier Wurzeln ſchlagen, wo man die Hunde mit den Namen
der galliſchen Mordbrenner Duras und Melac rief? Von badiſcher Staats-
geſinnung aber zeigte ſich noch keine Spur; auch die alte Hochſchule wollte
immer nur dem ganzen Vaterlande angehören, obgleich ſie ihre neue
Blüthe dem badiſchen Fürſtenhauſe verdankte. In Mannheim, der Re-
ſidenz der letzten Kurfürſten, beſtand noch eine ſtarke Wittelsbachiſche Partei,
die den begehrlichen Plänen des Münchener Hofes willig entgegenkam.
Die alten pfalzbairiſchen Beamten und der ſittenloſe Adel ſehnten ſich zurück
nach dem frivolen Hofe Karl Theodors; auch die Bürgerſchaft hatte in
jenen luſtigen Tagen viel verdient und beklagte überdies den Verfall
ihres Theaters, das einſt unter Dalbergs und Ifflands Leitung mit den
beſten Bühnen Deutſchlands gewetteifert und Schillers Räuber zuerſt
aufgeführt hatte. Die neue Landeshauptſtadt Karlsruhe wollte in der
Pfalz Niemand gelten laſſen. Der langweilige Ort, hundert Jahre zuvor
durch die Laune des Markgrafen Karl Wilhelm gerade an der häßlichſten
Stelle des ſchönen Landes gegründet, wuchs noch immer ſehr langſam
aus den Alleen des Hardtwaldes heraus; die eintönigen Häuſerzeilen
des regelrechten Straßenfächers erſchienen nur noch öder, ſeit Weinbrenner
ſie mit ſeinen Tempelbauten ſchmückte und den Beweis führte, daß unter
allen Formen des Zopfſtils keine ſo geiſtlos iſt wie der claſſiſche Zopf.


So ſtarke widerſtrebende Kräfte im Frieden einem neuen Gemein-
weſen einzufügen konnte nur dem perſönlichen Anſehen des ehrwürdigen
alten Karl Friedrich gelingen. Der greiſe Herr galt ſeit Langem als das
Muſter eines kleinen Landesvaters. Durchaus aufgeklärt und duldſam, ein
Freund Karl Auguſts von Weimar, hielt er doch ſeinen altväteriſchen
Chriſtenglauben feſt und begünſtigte unter den Talenten der neuen Lite-
ratur vornehmlich jene, die ein warmes religiöſes Gefühl zeigten, Klopſtock,
Herder, Lavater, Jung Stilling; empfänglich für die Ideen des neuen
Frankreichs, ein Bewunderer der phyſiokratiſchen Wirthſchaftslehre, blieb
er doch ein kerndeutſcher Mann, immer darauf bedacht, wie durch einen
Fürſtenbund dem wankenden alten Reiche neues Leben gebracht, durch
eine deutſche Akademie „der Allgemeingeiſt“ der Nation geweckt werden
könne, und es war wahrlich ein unverdientes, grauſames Schickſal, daß
dieſer treue Patriot am Abend ſeines Lebens den Fluch der Kleinſtaaterei
erfahren und ſchweren Herzens die Feſſeln des Fremdlings tragen mußte.
Er förderte die Bildung und den Wohlſtand ſeines Landes durch eine
umſichtige Geſetzgebung, die in Süddeutſchland ohne Gleichen daſtand,
und verſtand ſich auch auf jene Sprache des Herzens, welche dem patriar-
chaliſchen Völkchen unſerer Kleinſtaaten von jeher noch werthvoller war
als das politiſche Verdienſt. In jedem altbadiſchen Wirthshauſe hing
die „Badiſche Landestafel“: das Bild des Fürſten und darunter ſeine
väterliche Antwort auf die Dankſagungen, welche ihm ſein Land nach der
[359]Karl Friedrich und Karl von Baden.
Aufhebung der Leibeigenſchaft geſendet. Und welch ein Jubel vollends, als
Karl Friedrich dem wackeren Holzhändler Anton Rindeſchwender, dem
Wohlthäter des Murgthals, der Landesherr dem Unterthan, ein Denkmal
errichtete. Herder meinte, das ſei der erſte Fürſt ganz ohne Fürſtenmiene.


Daher fand die Propaganda der Franzoſen, als ſie von Baſel aus die
Verfaſſungsurkunde der Deutſchen Republik im Oberlande verbreiteten, in
den zufriedenen Markgrafenlanden nur vereinzelte Anhänger, ungleich
weniger als in Württemberg und Baiern. Auch in den neuen Landes-
theilen verfuhr der Organiſator der badiſchen Verwaltung Geh. Rath
Brauer weit ſchonender als die harten Bureaukraten der Nachbarſtaaten;
nur der Clerus beklagte, daß ſelbſt dieſer fromme Chriſt das Mißtrauen
gegen die katholiſche Kirche, das allen altbadiſchen Beamten eigen war,
nicht überwinden konnte. Da der Adel in der Pfalz und im Breisgau
den neuen Staat mit ſtillem Grolle anſah, ſo bewahrte ſich das Be-
amtenthum ſeinen überwiegend bürgerlichen Charakter; auch die thörichte
rheinbündiſche Erfindung des Perſonaladels für Ordensritter, die in
Baiern und Württemberg manchen eitlen Kopf verdrehte, blieb hier un-
bekannt. Die neue Ordnung fand ihren Abſchluß durch die Einführung
des badiſchen Landrechts, einer geſchickten Bearbeitung des Code Napoleon.
Alles in dieſem Staate war modern.


Erſt nach Karl Friedrichs Ableben traten die Mächte des Zerfalls,
welche der neue Staat umſchloß, drohend hervor. Sein Enkel, der junge
Großherzog Karl war durch eine herrſchſüchtige Mutter aller ernſten
Arbeit entfremdet worden und hatte ſich früh in Ausſchweifungen ge-
ſtürzt, in der Blüthe der Jahre die Lebenskraft verloren. Begabt und
liebenswürdig von Natur verſank er bald in ein dumpfes, träges Brüten;
ganze Zimmer ſeines Schloſſes lagen angefüllt mit Akten, Briefen, Zu-
ſendungen aller Art, die er weder ſelbſt erledigen noch irgend einem
Menſchen anvertrauen wollte. So lebte der arme Kranke dahin, freund-
los, verſchloſſen, unergründlich, immer mit ſeinen ſchönen ſchlauen Augen
um ſich ſpähend, wer ihn wohl betrügen wolle; nur ſeine Gemahlin
Stephanie Beauharnais, die er einſt auf Napoleons Befehl widerwillig
geheirathet hatte, trat ihm jetzt näher, da er einem frühen Tode entgegen-
welkte, und beglückte ihn durch den Reichthum ihres fröhlichen Herzens.


Unter einem ſolchen Fürſten ward Alles unberechenbar. Unter-
ſtützt durch den franzöſiſchen Geſandten Bignon gelangte eine bonapar-
tiſtiſche Partei ans Ruder, und unternahm, den kleinen Staat ſofort nach
dem Pariſer Muſter umzugeſtalten; durch Härte und Willkür ging alles
Vertrauen, das ſich die neue Landesherrſchaft mühſam erworben hatte,
wieder verloren. Die Beamten verwilderten erſtaunlich ſchnell; ſie hatten
ſich ſchon in der guten alten Zeit durch ihren bureaukratiſchen Bevor-
mundungseifer ausgezeichnet, jetzt wurde Baden neben Darmſtadt und
Naſſau das claſſiſche Land des unnützen Vielregierens. Auf mancher
[360]II. 6. Süddeutſche Berfaſſungskämpfe.
Landſtraße konnte der Wanderer die numerirten Obſtbäume bewundern,
und am Eingange eines breiten Feldwegs begrüßte ihn zuweilen die In-
ſchrift: „Dieſer Weg iſt erlaubt.“ An beſtimmten Terminen hielt der Amt-
mann den berüchtigten „Unzuchtstag“ zur Abſtrafung aller der Schwanger-
ſchaft verdächtigen Mädchen, und für die abgeſchaffte Tortur wußte er ſich
genügenden Erſatz zu ſchaffen, indem er jeden Angeklagten, der im Verhör
eine Unwahrheit ſagte, von Rechtswegen ausprügeln ließ. Und bei all
ihrer Vielgeſchäftigkeit zeigten ſich dieſe kleinen Despoten gewiſſenlos,
ſaumſelig im Dienſt ſeit ſie das Auge „des Herrn“ — ſo hieß der Groß-
herzog ſchlechtweg — nicht mehr zu fürchten hatten. Die Finanzen ge-
riethen bald in arge Bedrängniß, durch die Kriegsnöthe und durch die
Schuld der leichtfertigen Verwaltung; für das Jahr 1816 berechnete man
ein Deficit von 1,1 Mill. Fl. In den letzten Jahren des napoleoniſchen
Zeitalters wurde durch zwei treffliche junge Finanzmänner, Böckh und
Nebenius, ein gleichmäßiges Steuerſyſtem eingeführt, das ſich ſpäterhin
gut bewährte und im Weſentlichen noch heute beſteht; doch Jahre ver-
gingen, bis ſich das Volk an die neuen Laſten gewöhnte. Die Mißſtim-
mung ſtieg unaufhaltſam; überall erklang der Ruf: nur ein Landtag
könne den Sultanismus dieſes Beamtenthums noch in Schranken halten.
Den Mediatiſirten und den Reichsrittern war ſogar die grundherrliche
Gerichtsbarkeit, den Verheißungen der Rheinbundsakte zuwider, genom-
men worden; ſie äußerten ihren Groll mit der höchſten Erbitterung und
verhehlten nicht, daß ſie an die Zukunft dieſes Staates von geſtern nicht
mehr glaubten. Das Werk Karl Friedrichs krachte in allen Fugen, und
zu den inneren Nöthen geſellte ſich noch die Bedrängniß von außen:
die Begehrlichkeit der Wittelsbacher. Sie mußte den Großherzog um ſo
tiefer verletzen, da König Max Joſeph ſeine pfälziſchen Pläne immer nur
den großen Mächten vortrug und den Schwager in Karlsruhe nicht ein-
mal einer Nachricht würdigte.


Der Münchener Hof ſtützte ſeine vorgeblichen Anſprüche nicht blos
auf die Verſprechungen des Rieder Vertrags, ſondern auch auf die Be-
hauptung, daß die Dynaſtie der Zähringer dem Erlöſchen nahe ſei. Mark-
graf Karl Friedrich hatte nämlich im hohen Alter eine zweite Heirath
mit der Freiin von Geyersberg, die er zur Gräfin von Hochberg erhob,
geſchloſſen und gleich bei der Hochzeit den Sprößlingen dieſer Ehe das
Thronfolgerecht ausdrücklich vorbehalten für den Fall des Ausſterbens
ſeiner übrigen Nachkommen. Da die ſämmtlichen Agnaten dieſen Vor-
behalt anerkannten und andere Anwärter nicht vorhanden waren, ſo
ließ ſich der Anſpruch der Grafen von Hochberg auf die Thronfolge
nicht beſtreiten; überdies war das Haus Baden ſeit dem Untergange
des Reichs ſouverän und mithin befugt ſeine Hausgeſetze ſelbſtändig zu
ordnen. Aber das Capitel von der Ebenbürtigkeit gehört bekanntlich zu den
jedem menſchlichen Scharfſinne unlösbaren Controverſen, woran das
[361]Baierns Erbanſprüche.
deutſche Fürſtenrecht ſo reich iſt; die Thronbeſteigung des Sohnes einer
unebenbürtigen Mutter war in den größeren deutſchen Fürſtenhäuſern
immer nur als ein ſeltener Ausnahmefall vorgekommen, und obgleich
ſowohl die Zähringer als die Wittelsbacher ſelbſt Frauen vom niederen
Adel zu ihren Stammmüttern zählten, ſo ergriff doch das bairiſche Cabinet
begierig den willkommenen Vorwand und ließ an allen Höfen verſichern,
von einem Erbfolgerechte der Hochberge könne nicht die Rede ſein. Die
Hofburg ſchenkte der dreiſten Betheuerung willig Glauben; alle die ge-
heimen Verträge über den Rückfall der Pfalz beruhten auf der Voraus-
ſetzung des bevorſtehenden Ausſterbens der Zähringer.


Für dieſen Fall hielten die bairiſchen Kronjuriſten noch einen zweiten,
ebenſo erſtaunlichen Rechtsanſpruch bereit. Die Grafſchaft Sponheim an
der Nahe hatte einſt durch vier Jahrhunderte den Häuſern Pfalz und
Baden gemeinſam gehört, und nach dem Beinheimer Entſcheide vom Jahre
1425 ſollte beim Erlöſchen des einen Hauſes die geſammte Grafſchaft an
das überlebende Geſchlecht fallen. Unzweifelhaft war der alte Erbvertrag
längſt erloſchen, da beide Beſitzer die Grafſchaft im Luneviller Frieden an
Frankreich abgetreten und für ihren Verluſt fünffache Entſchädigung er-
halten hatten. Gleichwohl verlangte Baiern jetzt nochmals Entſchädigung
für den Fall, daß der letzte Nachkomme aus der erſten Ehe Karl Friedrichs
ſtürbe. Der erloſchene Erbanſpruch auf Sponheim ſollte dem bairiſchen
Kronprinzen die erſehnte „Wiege“ ſeiner Väter, das Heidelberger Schloß
nebſt Mannheim und dem herrlichen Lobdengau zurückbringen: welch ein
Erſatz für das arme Ländchen auf dem Hunsrücken, für ein Gebiet von
23,000 Einwohnern! Es war ein Gewebe ſchlechter Advokatenkünſte, das
noch einmal zeigte, wie gründlich die rheinbündiſche Politik alle Scham
und alles Rechtsgefühl an den kleinen Höfen verwüſtet hatte.


Die Lage des Karlsruher Hofs ward mit jedem Tage unheimlicher.
Noch ſchwächer als zuvor war der Großherzog vom Wiener Congreſſe
heimgekehrt. Er betrachtete ſeinen Neffen, den Kronprinzen von Baiern
als ſeinen geſchworenen Feind und ſcherzte bitter: das ſei doch unerhört,
daß ein erwachſener Mann ſich ſo lebhaft nach ſeiner Wiege ſehne. In
Augenblicken krankhafter Erregung argwöhnte er ſogar, daß ihm die
Baiern in Wien Gift unter die Speiſen gemiſcht hätten. Im Jahre
1812 hatte er ſeinen Erbprinzen bald nach der Geburt verloren; da ward
ihm im April 1817 wieder ein Erbe geboren, aber auch dieſer Sohn
ſtarb nach wenigen Tagen plötzlich dahin. Finſtere Gerüchte durchſchwirr-
ten die Stadt: warum mußte der Tod grade die beiden Söhne des Fürſten
treffen, während die Prinzeſſinnen ſämmtlich am Leben blieben? konnten
die raſtloſen Wittelsbachiſchen Erbſchleicher nicht auch hier die Hand im
Spiele haben? Der bairiſche Geſandte beförderte ſelber den thörichten
Verdacht, da er mit ſchadenfrohem Behagen das Unglück überall be-
ſprach und bedeutſam hinzufügte, an ſolchen Heimſuchungen erkenne man
[362]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
das Verhängniß eines untergehenden Staats.*) Nunmehr war aus der
älteren Linie der Zähringer nur noch ein Erbe am Leben, der unverhei-
rathete Oheim des Großherzogs, Markgraf Ludwig; ſtarb auch dieſer, ſo
kam die Krone an den Grafen Leopold von Hochberg, dem der Münchener
Hof die Thronfolge beſtritt.


Nur der Schutz der großen Mächte vermochte die Dynaſtie vor dem
Untergange zu bewahren; gleichwohl konnte der Großherzog ſich nicht zur
Entlaſſung des elenden Miniſters entſchließen, der an der verzweifelten
Lage des Landes die Hauptſchuld trug und bei allen Höfen im ſchlech-
teſten Rufe ſtand. Freiherr von Hacke, ein roher, frivoler Schlemmer
aus der Schule des alten Mannheimer Hofs, war dem Imperator ein
williger Scherge geweſen und trieb auch jetzt noch, ſoweit ſeine unver-
beſſerliche Trägheit dies vermochte, rheinbündiſche Politik: ſchon auf dem
Pariſer Friedenscongreſſe hatte er verſucht einen Sonderbund der Mittel-
ſtaaten zu ſtiften, dem Bundestage gegenüber verfuhr er als verſtockter
Partikulariſt. Die bairiſchen Anſprüche behandelte er mit unverantwort-
lichem Leichtſinn, ſelbſt die Abtretung der Pfalz gegen ein Stück Geldes
ſchien ihm nicht unannehmbar, und der preußiſche Geſchäftsträger Varn-
hagen ſchrieb dem Staatskanzler: „ſoll das Großherzogthum Baden be-
ſtehen, ſo muß es gleichſam dazu gezwungen werden.“**)


Auch die Verfaſſungsangelegenheit rückte nicht von der Stelle. Auf
die dringenden Vorſtellungen Steins und des Czaren Alexander hatte
der Großherzog noch von Wien aus eine Commiſſion zur Berathung des
neuen Grundgeſetzes einberufen, und dieſe brachte im Frühjahr 1815
eine Verfaſſung zu Stande, auf Grund eines Entwurfes, den ihr der
Freiherr v. Marſchall, ein wackerer Patriot aus Karl Friedrichs guter
Zeit, vorgelegt. Aber der Kriegslärm des folgenden Sommers warf Alles
wieder über den Haufen. Darauf regte ſich der Adel des Unterlandes
und forderte in wiederholten drohenden Eingaben die Erfüllung des Art. 13,
ganz ſo trutzig wie einſt die Landſchaden von Steinach und die anderen
ritterlichen Genoſſen des Sickingers zu ihren Nachbarfürſten geredet
hatten; Maſſenbach und Graf Waldeck, die ſtändiſchen Demagogen aus
Württemberg, halfen eifrig mit; auch aus bürgerlichen Kreiſen liefen
mahnende Bittſchriften ein. Die Regierung aber ſuchte, nach altem Rhein-
bundsbrauche, die klagenden Ritter mit harten Strafen heim, und der
Heidelberger Strafrechtslehrer Martin mußte ſeinen Lehrſtuhl verlaſſen.
Indeß kam die Verfaſſungsarbeit doch wieder in Gang; im März 1816
verhieß der Großherzog ſeinem Volke feierlich die Einberufung einer
Ständeverſammlung auf den 1. Auguſt, und im Laufe des Sommers
wurde in der That ein dritter und ein vierter Entwurf ausgearbeitet.
[363]Vertagung der Verfaſſung.
Aber auch diesmal gelangte man zu keiner Entſcheidung. Während der
ehrlich conſtitutionelle Marſchall dringend rieth, die unzufriedene Ritter-
ſchaft durch die Bildung einer erſten Kammer zu verſöhnen, ſprachen ſich
die bonapartiſtiſchen Beamten, die geheimen Gegner der Verfaſſung, ent-
ſchieden für das Einkammerſyſtem aus, weil ſie den Adel als den ge-
borenen Feind des grünen Tiſches beargwöhnten, und der doctrinäre
Adelshaß des preußiſchen Geſchäftsträgers arbeitete ihnen vielgeſchäftig in
die Hände. Gänzlich unberufen, ohne in Berlin auch nur anzufragen,
ertheilte Varnhagen dem Karlsruher Hofe ſeine Rathſchläge, die alleſammt
mit dem unfehlbaren Vernunftrechte ſeines Freundes Rotteck merkwürdig
übereinſtimmten. „Eine Adelskammer wird nur allzu leicht dem Throne
auf Koſten des Volks gefährlich. Wer führte in Württemberg zuerſt
eine wahrhaft aufrühreriſche Sprache?“ Will man durchaus eine erſte
Kammer, ſo berufe man Männer, die durch ihr Alter oder ihr Amt aus-
gezeichnet ſind. Dieſe Sätze, ſo ſchloß er mit der ganzen Selbſtgefällig-
keit des jungen Liberalismus, ſind „triviale Wahrheiten, von denen die
Nachwelt nicht wird begreifen können, wie ſo nicht Alles darin überein-
ſtimmte.“*)


Ueber dieſen und anderen Streitigkeiten verging wieder eine geraume
Zeit, bis es den Gegnern der Reform endlich gelang den unentſchloſſenen
Fürſten zu einem neuen Aufſchube zu bereden. Am 29. Juli, gerade in
dem Augenblicke da Jedermann die verſprochene Einberufung des Land-
tags erwartete, wurde das Land durch ein Reſcript überraſcht, das die
Verkündigung der Conſtitution für jetzt vertagte; erſt müſſe der Bundes-
tag die leitenden Grundſätze für die deutſchen Landesverfaſſungen aufſtellen.
Und dies aus dem Munde deſſelben Fürſten, der ſich mit den Verfaſſungs-
plänen nur darum befaßt hatte, weil er ſeine Souveränität gegen die
Eingriffe des Bundes ſichern wollte! Allgemein war die Enttäuſchung,
die Entrüſtung. Die Thorheit der unbedachten Verſprechungen beſtrafte
ſich hier, wo ſo viel Grund zum Klagen vorlag, noch härter als in
Preußen. Eine giftige Schmähſchrift „Gemälde des Großherzogthums
Baden“ verhöhnte den ſchlemmenden Miniſter Hacke, der das ganze Land
in Spanferkel und Spargel verwandeln wolle. Dazu die Noth des Hunger-
jahres, der wachſende Steuerdruck, und im Oberlande lauter Unwille, als
plötzlich bekannt wurde, daß die Regierung aus Rückſichten der Sparſam-
keit die Freiburger Univerſität mit der Heidelberger zu vereinigen gedenke.
Alle Breisgauer verwünſchten dieſen Plan als einen Eingriff in ihr altes
Landesrecht; Rotteck nahm ſich ſeiner Landsleute kräftig an, er wußte
wohl, daß ſeine joſephiniſche Geſinnung in der proteſtantiſchen Luft der
Pfalz auf die Dauer nicht gedeihen konnte. Dieſem erbitterten Wider-
ſpruche fühlte ſich die Regierung nicht gewachſen; ſie gab den unglücklichen
[364]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Gedanken auf, und die ehrwürdige Albertina blieb erhalten, eine be-
ſcheidene aber fruchtbare Bildungsſtätte für das Oberland, noch immer
ein Brunnen des Lebens, wie es ihr Stifter Erzherzog Albrecht ihr einſt
gewünſcht hatte. —


Mittlerweile ward das geplagte Land auch durch kirchliche Wirren
heimgeſucht: durch einen Streit mit der Curie, der für die deutſche Kirchen-
politik faſt ebenſo folgenreich werden ſollte wie der Kampf um das bairiſche
Concordat, denn er vollendete die Niederlage der nationalkirchlichen Beſtre-
bungen. Seit Jahren verwaltete Heinrich von Weſſenberg als Generalvicar
das Bisthum Conſtanz. Geiſtliche und Laien rühmten ſeine Milde, ſeine ge-
wiſſenhafte Thätigkeit, die apoſtoliſche Reinheit ſeines Wandels und nahmen
aus der Hand des allbeliebten Oberhirten willig einige Neuerungen hin,
welche der joſephiniſchen Aufklärung des Oberlandes entſprachen, aber mit
der ſtrengen Einheit der römiſchen Kirche ſich kaum noch vertrugen. Weſſen-
berg führte deutſche Andachtsbücher in den Gemeinden ein, ließ die Bibel,
die er gern das Buch der befreiten Menſchheit nannte, in deutſcher Ueber-
ſetzung unter ſeiner Heerde verbreiten; er verminderte die Ueberzahl der
Feiertage und geſtattete die Einſegnung gemiſchter Ehen, wenn nur die
Kinder nach dem Geſchlechte zwiſchen beiden Bekenntniſſen getheilt würden.
Beim Gottesdienſt ſuchte er die Formenſchönheit des katholiſchen Cultus
mit der eindringlichen Lehre der Proteſtanten zu verbinden; noch heute
erzählen die alten Leute am Bodenſee gern, wie erbaulich es damals in
der Kirche geweſen, da die Predigt noch neben dem Meßopfer zur vollen
Geltung kam. Sein Meersburger Prieſterſeminar gab den jungen Geiſt-
lichen tüchtigen wiſſenſchaftlichen Unterricht und erzog ſie in den Grund-
ſätzen einer friedfertigen, weitherzigen Duldung, welche freilich zuweilen
zu unkirchlicher Verſchwommenheit führte. Nicht lange, ſo begann die
kleine clericale Partei des Bisthums ſich über den ketzeriſchen Neuerer in
Rom zu beſchweren; die Curie ſprach ihm mehrmals ihr Mißfallen aus,
der Nuntius in Luzern lebte mit ihm in offener Fehde.


Er aber ahnte nicht, daß die grandioſe Conſequenz der römiſchen
Kirche dem Chriſten nur die Wahl läßt zwiſchen der Unterwerfung und
dem Abfall; er wähnte den Mahnungen des Papſtes widerſtehen und doch
ein katholiſcher Kirchenfürſt bleiben zu können. Dieſer frommen, liebreichen
Natur war es nicht gegeben, die großen Gegenſätze des kirchlichen Lebens
in ihrer unerbittlichen Schärfe zu erkennen. Durch eifriges Leſen und
im Verkehre mit den gelehrten Prälaten der alten Zeit erwarb er ſich
eine Fülle mannichfaltiger Kenntniſſe und gelangte doch nicht über den
wiſſenſchaftlichen Dilettantismus hinaus. Die zahlreichen poetiſchen, philo-
ſophiſchen, politiſchen und kirchengeſchichtlichen Schriften, die er zur Er-
bauung „chriſtlich geſinnter Menſchenfreunde“ herausgab, verliefen zuletzt
alleſammt in wohlgemeinten moraliſchen Betrachtungen; ganz flach wurden
ſie niemals, aber auch niemals tief, mächtig, eigenthümlich; keines ſeiner
[365]Weſſenberg und das Bisthum Conſtanz.
Bücher errang ſich einen Platz in der Literatur. Von Kindesbeinen an
aufgewachſen in der Verehrung Joſephs II., hatte er ſich einſt an Sailers
mildem Katholicismus begeiſtert, ohne doch in die geiſtvolle Myſtik des
bairiſchen Prälaten einzudringen, und lebte nun in dem ehrlichen Glauben,
daß es möglich ſei das Rad der Zeit zurückzuſchrauben, die feſt centraliſirte
Kirche der Gegenreformation kurzerhand zu den Reformgedanken des fünf-
zehnten Jahrhunderts zurückzuführen.


Gleichwohl blieb er ein tief überzeugter Katholik und verwarf, bei
aller Duldſamkeit, „die maßloſe Subjectivität“ des Proteſtantismus. Wenn
er die Evangeliſchen, zum Entſetzen der Clericalen, als eine Partei inner-
halb der Kirche anſah, ſo bewies er auch damit nur, wie feſt er an
die Einheit der ſichtbaren Kirche, an die dereinſtige Rückkehr ihrer abge-
fallenen Kinder glaubte. Seine Geiſtlichen, die er häufig in Pfarrer-
verſammlungen um ſich zu vereinigen pflegte, verehrten ihn wie einen
Heiligen; dem plebejiſchen neuen Clerus, der jetzt heranwuchs, fühlte er
ſich überlegen als weltkundiger vornehmer Herr, ſeinen adlichen Standes-
genoſſen galt er als ein Wunder von Gelehrſamkeit. So gelangte er
doch allmählich zu ſtarker Selbſtüberſchätzung, obgleich der Hochmuth ſeiner
weichen Seele urſprünglich fremd war. Er ſah die Jeſuiten im Begriff
„ein Gemiſch von geſetzlichem Judenthum und neuem ſelbſtgeſchaffenem
Heidenthum an die Stelle der Religion des Geiſtes, der Liebe, der Wahr-
heit zu ſetzen“ und hielt ſich berufen dieſen Schlag von der Kirche abzu-
wehren. Als die Geſellſchaft Jeſu wiederhergeſtellt wurde, erkannte er ſo-
gleich den Ernſt dieſer folgenſchweren That und ſchrieb warnend an ſeinen
Vetter Metternich: auf das Andringen der katholiſchen Höfe ſei dieſer
Orden einſt beſeitigt worden; jetzt erdreiſte ſich die Curie ihn ohne jede
Rückſprache mit den Mächten zu erneuern; welch eine Ausſicht für die
Zukunft! Metternich aber erwiderte gleichmüthig, ſein Kaiſer habe nichts
zu fürchten, in Oeſterreich würden die Jeſuiten niemals Aufnahme finden.


Um dieſelbe Zeit ernannte Dalberg als Biſchof von Conſtanz eigen-
mächtig ſeinen Generalvicar zum Coadjutor mit dem Rechte der Nach-
folge. Sofort empfing er aus Rom einen ſcharfen Verweis und zugleich
den Befehl, dieſen berüchtigten Weſſenberg auch ſeines Generalvicariats
zu entſetzen (2. Nov. 1814). Der ängſtliche Primas hielt die Bulle ſorg-
fältig geheim, wagte aber auch nicht die Ernennung durchzuführen. In
dieſem ſonderbaren Zuſtande verblieb die Diöceſe bis Dalberg ſtarb und
das Domcapitel nunmehr einſtimmig den Generalvicar zum Bisthums-
verweſer erwählte. Abermals erklärte der Vatican die Wahl für nichtig.
In einem Breve vom 21. Mai 1817 ſetzte der Papſt ſodann dem Groß-
herzog auseinander, warum er ſich bewogen finde, dieſen Mann, „den alle
Guten verabſcheuen, der Unſeren Beifall ganz und gar nicht hat“, zurück-
zuweiſen. Der Großherzog, der die Wahl bereits genehmigt hatte, wollte
ſeinem Prälaten wohl, deſſen allezeit verſtändigen Rath er auch in poli-
[366]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
tiſchen Angelegenheiten öfters einzuholen pflegte, und fühlte ſich zudem in
ſeiner fürſtlichen Ehre gekränkt; denn nach der joſephiniſchen Doctrin des
badiſchen Beamtenthums gehörte die Ernennung der Biſchöfe zu den un-
veräußerlichen Hoheitsrechten des Landesherrn. Obwohl der träge Hacke
von dem Streite abrieth, ſo entſchloß ſich der Fürſt doch auf Marſchalls
Rath,*) in einem ſcharfen Antwortſchreiben ſeine vermeintlichen Rechte
zu verwahren und den Angeſchuldigten zu vertheidigen (16. Juni).


Weſſenberg aber meinte jetzt den Augenblick einer großen Ent-
ſcheidung gekommen. Ausgerüſtet mit einem Empfehlungsbriefe ſeines
Hofes ging er ſelbſt nach Rom; er hoffte, wie er offen ausſprach, ent-
weder den Papſt durch die Macht ſeiner perſönlichen Erſcheinung umzu-
ſtimmen oder durch ſeinen Mißerfolg die öffentliche Meinung der Nation zu
einem tapferen Entſchluſſe aufzurütteln. Seine ungeſchickten Lobredner,
deren er in der Preſſe nur allzu viele beſaß, verſäumten auch nicht,
dieſe Romfahrt mit der Wormſer Reiſe Martin Luthers zu vergleichen,
obgleich dieſer neue Luther unter dem mächtigen Schutze der öſterreichi-
ſchen Geſandtſchaft ſtand und im Palazzo di Venezia jederzeit ein ſicheres
Obdach finden konnte. Im Vatican empfing man den deutſchen Idea-
liſten mit der geringſchätzigen Ruhe einer alten Weltmacht, die längſt daran
gewöhnt iſt, immer einige ihrer zahlloſen Diöceſen in Unordnung zu
ſehen. Bei dem Papſte ward er nicht vorgelaſſen. Cardinal Conſalvi
führte die Verhandlung, kühl und klug wie immer, und legte dem Prä-
laten einen Widerruf vor, der nach römiſcher Anſchauung ſehr mild ge-
halten war: Weſſenberg ſollte einfach mißbilligen was Se. Heiligkeit miß-
billigt habe. Einige Monate hindurch wurden dann noch Anklagen und
Vertheidigungsſchriften zwiſchen den Beiden gewechſelt. Conſalvi blieb
unerſchütterlich. Weſſenberg hatte ſein Spiel verloren, denn er wollte
weder dem Beiſpiele ſeines geliebten Fenelon folgen und einen Widerruf
leiſten, „der ihn zur Knechtſchaft gegen die römiſche Curie verpflichtet hätte,“
noch ſich losſagen von ſeiner heiligen Kirche. Am 16. Dec. theilte er dem
Cardinal mit, er gehe jetzt nach Baden zurück und überlaſſe das Weitere
ſeinem Landesherrn.


Daheim empfingen ihn manche Zeichen warmer Zuſtimmung. Faſt
ſein geſammter Clerus blieb ihm treu ergeben; die Beamten, denen die
Kirchenpolitik der ſüddeutſchen Kleinſtaaten anvertraut war, ſtanden alle
auf ſeiner Seite, ſo Werkmeiſter in Württemberg, Koch in Naſſau, des-
gleichen Klübers ſtreitbare Feder und die große Mehrzahl der Zeitungs-
artikel und Flugſchriften, die ſich des Falles bemächtigten. Aber von
einer ſtürmiſchen Volksbewegung zeigte ſich keine Spur; wie ſollte die
weichmüthige Halbheit ſtarke Leidenſchaften erwecken? Die badiſche Re-
gierung ließ den Verfolgten die Verwaltung ſeiner Diöceſe unangefochten
[367]Weſſenbergs Romfahrt.
weiter führen, und die Curie war klug genug vorläufig zu ſchweigen. Rom
konnte warten, denn der Großherzog wünſchte dringend die Errichtung
eines badiſchen Landesbisthums, und dieſe war unmöglich ohne den Papſt.
Noch blieb eine Hoffnung: — der Bundestag. In einer ausführlichen
Denkſchrift (v. 17. Mai 1818) legte der Karlsruher Hof dem Deutſchen
Bunde den Hergang dar und erklärte ſchließlich, er halte den Conſtanzer
Streit „nunmehr für eine allgemeine Kirchenangelegenheit der deutſchen
Nation“. Aber da die Kirchenſachen unzweifelhaft nicht zu dem Geſchäfts-
kreiſe des Bundes gehörten, ſo wagte Baden nicht einmal einen Antrag
in Frankfurt zu ſtellen, und der Bundestag vermied jede Beſprechung.
Die Denkſchrift wurde faſt in alle Sprachen Europas überſetzt, an den
Höfen und unter dem Clerus weit verbreitet; Rotteck und ſeine Freunde
redeten noch eine Weile in den Zeitungen hochpathetiſch von dem großen
„deutſchen Kirchenſtreite“. Dann erloſch die Bewegung, die niemals tief
in die Maſſen des Volks gedrungen war. Nur an den kleinen Höfen
des Südweſtens behauptete Weſſenberg noch einigen Einfluß. Sie hatten
einſt aus partikulariſtiſcher Angſt ſeine nationalkirchlichen Pläne bekämpft;
jetzt aber erſchien er ihnen als ein brauchbarer Kampfgenoſſe gegen den
römiſchen Stuhl. Auch er ſelber begann nunmehr die Unausführbarkeit
ſeiner früheren Träume einzuſehen und veröffentlichte bald nach ſeiner
Heimkehr eine anonyme Schrift „Betrachtungen über die Verhältniſſe der
katholiſchen Kirche Deutſchlands“, worin er die Errichtung von Landesbis-
thümern empfahl, aber zugleich verlangte, daß die deutſchen Regierungen,
ſo viele ſich freiwillig dazu bereit fänden, zuſammentreten ſollten um
gemeinſam mit der Curie zu verhandeln und ihre Landesbiſchöfe einem
gemeinſamen Erzbiſchof unterzuordnen. So ſchrumpfte die deutſche Na-
tionalkirche zu einem kirchenpolitiſchen Sonderbunde deutſcher Einzel-
ſtaaten zuſammen.


Eben dieſen Gedanken hatten die Höfe von Karlsruhe und Stutt-
gart ſchon ſeit einiger Zeit ergriffen. Nachdem Baiern in Rom eine ſo
ſchimpfliche Niederlage erlitten, trauten ſie ſich doch nicht mehr die Kraft
zu, einzeln bei der Curie etwas auszurichten; wenn aber Mächte wie
Baden, Württemberg und Naſſau ſich zuſammenthaten, dann mußte der
Papſt unfehlbar nachgeben. Mit Feuereifer betrieb Wangenheim in
Frankfurt dieſe Pläne. Hier bot ſich ihm endlich die Gelegenheit, den er-
ſehnten Bund im Bunde, die deutſche Trias zu begründen und durch die
Demüthigung Roms die Macht des „reinen Deutſchlands“ vor aller Welt
zu erweiſen. Wunderliche Widerſprüche vertrugen ſich friedlich in dieſem
vielſeitigen Kopfe; wie er trotz ſeiner naturphiloſophiſchen Schwärmerei
ein doctrinärer Liberaler blieb, ſo auch ein Vorkämpfer der joſephiniſchen
Staatsallmacht. Von der Lebenskraft des römiſchen Stuhls dachte er
ſehr niedrig; er wähnte ſchon die Anzeichen eines Schismas in Deutſch-
land zu bemerken, obgleich die ungeheure Mehrheit der deutſchen Katho-
[368]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
liken in unverbrüchlicher Treue an ihrer alten Kirche hing, und hoffte
zuverſichtlich, die Curie werde ſchon aus Furcht Alles was man ihr vorlege
annehmen. Im December 1817 wendete ſich Wangenheim an die Bundes-
geſandten von Baden, Naſſau, beiden Heſſen, Hannover, Oldenburg,
Luxemburg und lud dieſe Höfe ein, durch Bevollmächtigte in Frankfurt
die Grundſätze eines gemeinſamen Concordats zu vereinbaren. Der bei-
gelegte Vertrags-Entwurf ſtimmte mit den Gedanken Weſſenbergs nahezu
überein: er verlangte als unerläßlich das Placet und die Ernennung der
Biſchöfe durch die Landesherren, desgleichen die Erziehung der Geiſtlichen
durch den Staat. Dies Alles dachte der phantaſiereiche Staatsmann
durch ein Ultimatum bei dem heiligen Stuhle alsbald durchzuſetzen, obſchon
Jedermann wußte, daß der Papſt die Ernennung der Biſchöfe noch nie-
mals einem akatholiſchen Fürſten förmlich zugeſtanden hatte. Baden,
Naſſau und die beiden Heſſen entſprachen der Einladung, und im März
1818 begannen unter Wangenheims Vorſitz die Frankfurter Conferenzen.
Einige norddeutſche Kleinſtaaten, die ſich anfangs angeſchloſſen, traten
bald zurück. Das ſo ruhmredig angekündigte Unternehmen beſchränkte
ſich ſchließlich auf den Plan der Errichtung einer kleinen gemeinſamen
Erzdiöceſe für die Landesbisthümer der oberrheiniſchen Kleinſtaaten.


Auch den preußiſchen Bundesgeſandten hatte Wangenheim einer
Einladung gewürdigt. Unterwarf ſich der Berliner Hof der kirchenpoli-
tiſchen Führung Württembergs, ſo mochte er theilnehmen; wo nicht, ſo
war das reine Deutſchland ſich ſelbſt genug. Selbſt der gutmüthige
Goltz fand es doch befremdlich, daß Preußen ſo beiläufig als ein Neben-
land der zukünftigen oberrheiniſchen Kirchenprovinz behandelt wurde, und
konnte nicht begreifen — ſo ſchrieb er dem Staatskanzler — warum grade
Württemberg immer und überall ſich vordrängen müſſe.*) Hardenberg
aber verſchmähte einen Notenwechſel und begnügte ſich ſeinen deutſchen
Geſandtſchaften mitzutheilen: Preußen bleibe „den Conventikeln der kleinen
Höfe“ fern, da die eigenthümlichen kirchlichen Intereſſen der Monarchie
„keine Vermiſchung vertrügen“, und der herriſche Ton der Kleinſtaaten bei
dem römiſchen Stuhle gar nichts erreichen würde. Auch Metternich hielt
die Unternehmung der Frankfurter Verbündeten für ausſichtlos.**) Beide
Großmächte wußten, daß man nicht mehr der gefügigen Curie des acht-
zehnten Jahrhunderts gegenüberſtand; ſie wußten auch, daß Conſalvi
die Frankfurter Conferenzen als ein Werk Weſſenbergs und darum von
vorn herein mit Argwohn betrachtete. Wohl war es ein Unheil, fort-
wirkend bis zum heutigen Tage, daß auch dieſe große gemeinſame An-
gelegenheit dem Partikularismus anheimfiel. Aber ſo lange Deutſchland
des nationalen Staates entbehrte, blieb die deutſche Nationalkirche ein
unmögliches Traumbild. —


[369]Miniſterium Reitzenſtein-Berſtett.

Inzwiſchen war am Karlsruher Hofe ein glücklicher Umſchwung er-
folgt. Hacke wurde entlaſſen, die Freiherren von Reitzenſtein und Berſtett
traten in das Miniſterium ein: Dieſer ein unbedeutender Mann, nicht
beſſer unterrichtet als der Durchſchnitt ſeiner alten Kameraden von der
öſterreichiſchen Reiterei, aber pflichteifrig, pünktlich, dem fürſtlichen Hauſe
unbedingt ergeben und trotz ſeiner hochconſervativen Geſinnung doch nicht
ſo ängſtlich, daß er ſich vor einem Karlsruher Landtage gefürchtet hätte;
Jener dagegen ein ſtaatsmänniſcher Kopf, wohl würdig eines größeren
Wirkungskreiſes, der vertraute Rathgeber Karl Friedrichs in deſſen letzten
Jahren. Den Franzoſen als deutſcher Patriot verdächtig hatte Reitzen-
ſtein bei allen Reformen jener ſchweren Zeit mitgewirkt. Die Wieder-
belebung der Heidelberger Univerſität war vornehmlich ihm zu verdanken;
ſelbſt der Zunftſtolz der Profeſſoren ließ den geiſtreichen, gelehrten, durch-
aus freiſinnigen Curator als einen Ebenbürtigen gelten. Er erkannte
ſogleich, daß nach dem Tode des Erbprinzen vor Allem eine endgiltige
Entſcheidung der Erbfolgefrage geboten war, und bewog den Großherzog,
am 4. Okt. 1817 ein Hausgeſetz zu veröffentlichen, das die Untheilbar-
keit des Landes feſtſetzte und das Thronfolgerecht der Grafen von Hoch-
berg nochmals anerkannte. Der bairiſche Hof war entrüſtet, der diplo-
matiſche Verkehr wurde ſtillſchweigend abgebrochen. Auch Metternich, der
die Baiern noch immer mit halben Worten hinhielt, zeigte ſich verletzt.
Ein ſo eigenmächtiger Schritt, ſagte er zu Kruſemark, ſei nur aus dem
Schwindelgeiſte, der die kleinen Fürſten jetzt beherrſche, zu erklären; das
Hausgeſetz gemahne doch ſtark an die eine und untheilbare Republik der
Franzoſen.*)


Der unerſchrockene Miniſter in Karlsruhe ließ ſich nicht beirren.
Auf Reitzenſteins Rath entſchloß ſich der Großherzog den Stier bei den
Hörnern zu packen, dem Gegner, der das kleine Land ſeit Jahren aus
dem Dunkeln heraus bedrohte, offen entgegenzutreten. In einem Briefe
an König Max Joſeph (12. März 1818) verwahrte ſich der bedrängte
Fürſt dawider, daß Oeſterreich ſeine Schulden „mit Provinzen, die mir
gehören,“ abzutragen ſuche. „In ſo ernſter Lage, fuhr er fort, iſt es
mir unmöglich, die bairiſche Regierung von ihrem Monarchen zu trennen,
in dieſem noch meinen Schwager und Freund zu ſehen, während jene
ſich als mein blutigſter Feind zeigt.“ Will Baiern Gewalt brauchen,
„dann werde ich die öffentliche Meinung zu Hilfe rufen, und Ew. Maj. wird
ſchwer einen mächtigeren Bundesgenoſſen finden.“ Sichtlich verlegen
wußte Max Joſeph der ſcharfen Anklage nach ſeiner Gewohnheit wieder
nur eine furchtſame Unwahrheit entgegenzuſtellen: niemals, ſo betheuerte
er, habe die bairiſche Regierung feindſelige Pläne gegen Baden gehegt; ſie
begnüge ſich „ſchweigend“ die Entſcheidung der großen Mächte abzuwarten.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 24
[370]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Dieſe beiden Briefe wurden einigen befreundeten Höfen im tiefſten Ver-
trauen mitgetheilt; bald darauf erſchienen ſie gedruckt in einer Hamburger
liberalen Zeitung, zur Freude aller Läſterzungen, der Radikalen daheim
und der Feinde Deutſchlands im Auslande.


Der Verräther war Varnhagen von Enſe, der eitelſte und unzuver-
läſſigſte aller Diplomaten Preußens. Der jugendliche Gatte der gefeierten
Rahel brannte vor Begier, durch ſtaatsmänniſche Thaten ſich des Ruhmes
ſeiner Frau würdig zu zeigen. Er hatte während des Wiener Congreſſes
der Sache Preußens ſeine Feder gewidmet und dann von dem dank-
baren Staatskanzler, der ſich durch geiſtreiches Geſpräch und vielſeitige
Bildung leicht blenden ließ, den ſchwierigen Karlsruher Poſten angewieſen
erhalten. Mit der ganzen Unbefangenheit des literariſchen Schöngeiſts
begann er hier ſogleich Politik auf eigene Fauſt zu treiben, überſchüttete
den badiſchen Hof mit unerbetenen Rathſchlägen, vertheidigte radikale
Doktrinen, welche der Meinung Hardenbergs gradeswegs zuwider liefen,
und trat mit der liberalen Partei in einen vertrauten Verkehr, der ſich
mit ſeiner Amtspflicht nicht vertrug. Dieſer kühne Freiſinn hinderte ihn
jedoch keineswegs, vor dem Staatskanzler in byzantiniſcher Ergebenheit
unterthänigſt zu erſterben, beſtändig um eine Rangerhöhung zu bitten
und mit umſtändlichem Behagen zu erzählen, wie lange Großherzog und
Großherzogin ſich mit ihm zu unterhalten geruht hätten. Nichts ſüßlicher
als ſeine Briefe an den Miniſter Berſtett, den er haßte und nachher in
ſeinen Denkwürdigkeiten verleumdete; eine wohlgedrechſelte Rieſenperiode
von zwanzig Zeilen genügt ihm kaum um auszudrücken, wie inbrünſtig
er „den erwünſchten und, ich darf ſagen, mit ſteigendem Antheil in mir
zum Voraus belebten Zeitpunkt“ der Rückkehr aus dem Urlaube und des
erneuten Verkehrs mit dem hochverehrten Manne „erwarten und be-
ſchleunigen mag“.*) In endloſen Berichten theilte er dem Staatskanzler
ſeine Urtheile über die große Politik und ſeine tiefgeheimen Nachrichten
mit, faſt durchweg werthloſe Klatſchereien, ganz im Stile ſeiner ſpäteren
Tagebücher. Zuverläſſige Nachrichten über die geheimen Vorgänge am
Karlsruher Hofe erhielt er nur ſelten, da Niemand der Katzenfreundlich-
keit des glatten Mannes recht traute; als die Conſtitution endlich zu
Stande kam, wußte Varnhagen nicht einmal wer ihr Verfaſſer war und
nannte dem Staatskanzler zuverſichtlich zwei falſche Namen.**)


Sein Verhalten in den bairiſch-badiſchen Händeln war ihm von
Berlin aus genau vorgeſchrieben: er ſollte dem Großherzog verſichern, daß
Preußen keine Gewaltthat gegen Baden dulden werde, doch im Uebrigen
ſich zurückhalten und vor Allem verhindern, daß der häßliche Streit in
einen offenbaren Skandal ausarte. Demgemäß berichtete er zuerſt über
[371]Varnhagen v. Enſe.
den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt „als
ein unangemeſſenes, im beſten Falle überflüſſiges Vortreten, bei welchem
man nichts anders als eine Zurückweiſung erwarten kann.“ Gleich nach-
her brach er das Amtsgeheimniß und ſendete den tadelnswerthen Brief
an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; faſt die geſammte Preſſe
ſprach ſich für das gute Recht Badens aus, ſelbſt die Augsburger Allge-
meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunſt
des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun ſchrieb
Varnhagen unſchuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes
Aufſehen, der Erfolg ſcheine aber dem badiſchen Hofe günſtig; „die Be-
rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs
neigt deren Gunſt mit Macht auf die Seite, wo ſie ſich geſchmeichelt fühlt.“*)


Sollte dieſe Gunſt der öffentlichen Meinung der badiſchen Sache
erhalten bleiben, ſo mußte man entſchloſſen in das Fahrwaſſer der con-
ſtitutionellen Politik einlenken. Reitzenſtein täuſchte ſich nicht darüber;
er ſah auch ein, daß die Verkündigung der Verfaſſung das einzige Mittel
war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des
Staates einzuflößen und zugleich dem Hauſe Zähringen die Gnade des
Kaiſers Alexander wiederzugewinnen. Der Czar zeigte ſich ſehr kühl
gegen das Recht ſeiner badiſchen Vettern; er war es ſogar, der auf dem
Wiener Congreſſe den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz
zuerſt angeregt hatte — ſo verſicherte wenigſtens Wrede dem General
Zaſtrow.**) Von München aus ward nichts verſäumt um den ruſſiſchen
Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Geſandte Graf Bray legte
alle die neuen Verfaſſungsgeſetze, die für Baiern geplant wurden, dem
Czaren zur Genehmigung vor, und dieſem war niemals ein Vorſchlag
freiſinnig genug.***) Die chriſtlich-liberale Begeiſterung des Selbſtherrſchers
erreichte eben in dieſen Tagen ihren Siedepunkt. Für die beſorgten Briefe
Metternichs, der ſeinem Freunde Neſſelrode beſtändig „die ſchwere Krank-
heit Europas“ ſchilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln;
wie viel ſtolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodiſtrias, jetzt ſein
nächſter Vertrauter, in feuriger Rede den Kernſatz ausführte: „Inſtitu-
tionen ſind die große Forderung des Jahrhunderts!“ Am 27. März 1818
eröffnete der Kaiſer den erſten Reichstag des neuen Königreichs Polen
mit einer ſchwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider-
hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenoſſen zu beweiſen, daß
die liberalen Inſtitutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück
der Völker begründen, und verſprach den Ruſſen, auch ſie ſollten in einiger
Zeit des gleichen Glückes theilhaftig werden.


24*
[372]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Zwei Tage darauf unternahm Kapodiſtrias den kühnen Verſuch, in
einer Denkſchrift „über die Akte vom 26. Sept. 1815“ den europäiſchen
Höfen darzulegen, daß die neue conſtitutionelle Herrlichkeit nichts anderes
ſei als das nothwendige Ergebniß der Ideen der Heiligen Allianz. Die
von dem Heiligen Bunde anerkannten Grundſätze der chriſtlichen Sitten-
lehre — ſo betheuerte er ſalbungsvoll — hätten jetzt in Polen ihre An-
wendung gefunden; möge nun die hohe Weisheit der Verbündeten Sr.
Majeſtät den Werth dieſes Beiſpiels würdigen. „Dies Beiſpiel wird den
Staaten, welche ſich bereits liberaler Inſtitutionen erfreuen, zeigen, daß
allein die väterliche Gewalt der Fürſten berechtigt iſt Verfaſſungen zu
verleihen, und daß dieſe Inſtitutionen, alſo zum Zwecke des allgemeinen
Wohles angewendet, nicht nur mit der Ordnung ſich vertragen, ſondern
ſogar deren ſtärkſte Bürgſchaft werden. Polens Beiſpiel wird endlich den
Völkern beweiſen, daß die Laufbahn der bürgerlichen Freiheit fortan allen
Nationen eröffnet iſt. Vielleicht, hieß es zum Schluß, wird man dieſe
Betrachtungen auch jetzt noch in das Reich der Träume verweiſen wollen.
Gleichviel. Seien wir nur ſelber verſichert, daß ſie keine Träume ſind,
und ſuchen wir denen, die uns Ergebenheit beweiſen, dieſelbe Ueberzeugung
beizubringen.“*) So ſtellte ſich Rußland feierlich an die Spitze der libe-
ralen Bewegung Europas. Die deutſchen Cabinette aber wußten wohl,
warum ſie dies wunderſame Programm des chriſtlichen Liberalismus tief
geheim hielten. Schon die Thronrede des Czaren hatte die ungeduldigen
Conſtitutionellen lebhaft erregt; die geſammte liberale Preſſe erging ſich
in Vergleichungen zwiſchen der polniſchen Freiheit und der deutſchen
Knechtſchaft. Metternich, Wellington, Richelieu verhehlten ihre Beſorg-
niſſe nicht. Gentz beklagte bitter die Rückſichtsloſigkeit des Czaren gegen
ſeine Nachbarn; auch muthigere Männer fragten verwundert: warum
man alſo mit dem Feuer ſpiele inmitten der Polen, die ſich bereits wieder
in Geheimbünden gegen das ruſſiſche Joch verſchworen?


Dem badiſchen Hofe blieb jetzt keine Wahl mehr. Immer wieder
meldete Blittersdorff, wie dringend ihn Kapodiſtrias an die verheißenen
„Inſtitutionen“ erinnere. Auch Hardenberg ließ wiederholt dieſelbe Mah-
nung ausſprechen und empfahl zugleich den gerechten Wünſchen der Media-
tiſirten entgegenzukommen; dann würde man Baierns „Bemühungen ganz
neutraliſiren“.**) Bereits im April war die Verfaſſungscommiſſion wieder
zuſammengetreten; der wackere Finanzrath Nebenius, der gelehrteſte Kenner
der Volkswirthſchaft in Deutſchland, arbeitete mit treuem Fleiße einen
fünften Entwurf aus und nahm ſich dabei das Meiſterwerk des ruſſiſchen
Gönners, die glorreiche polniſche Verfaſſung zum Muſter. Da kam die
Schreckensnachricht aus München: Baiern hatte ſeine Conſtitution voll-
[373]Czar Alexander als Führer des Liberalismus.
endet, den Nebenbuhler in dem großen Wettlaufe um eine Kopflänge über-
holt! Aengſtlichen Gemüthern klang der dröhnende Beifallsruf der libe-
ralen Welt ſchon wie das Grabgeläute des Hauſes Zähringen. Max
Joſeph aber hielt es nicht für unköniglich, eben jetzt zur Kur nach Baden-
Baden zu reiſen, wo er dann nach ſeiner luſtigen Art gegen Jedermann
äußerte: wie ſchön, daß Baiern mit ſeiner Verfaſſung früher fertig ge-
worden! Großherzog Karl verließ, als ihm der freundnachbarliche Beſuch
angekündigt wurde, ſofort ſein Schloß in Baden und ging in das ſtille
Schwarzwaldbad Griesbach; auch die geſammte Hofgeſellſchaft zog ſich aus
Baden zurück. Nur Einer blieb — natürlich Varnhagen. Der konnte
ſich’s nicht verſagen, ſein politiſches Licht auch vor dem bairiſchen Könige,
bei dem er gar nicht beglaubigt war, leuchten zu laſſen; er drängte ſich
an Max Joſeph heran und gab ihm, abermals eigenmächtig, ſo taktloſe
und unrichtige Erklärungen über die Abſichten des preußiſchen Hofes, daß
ein großer diplomatiſcher Streit entſtand; ein ſcharfer Verweis aus Ber-
lin brachte die böſe Zunge endlich zur Ruhe.*)


Mittlerweile hatte der Großherzog am Abend ſeines traurigen Lebens
noch einen perſönlichen Freund gefunden, den kecken ruſſiſchen Reiterführer
aus dem Befreiungskriege, General Tettenborn, ein badiſches Landeskind.
Der lebensluſtige Landsknecht wurde der tägliche Begleiter des Kranken
und verwendete ſeinen Einfluß zum Heile des Landes; durchaus kein Freund
der Liberalen beſaß er doch den ſicheren Soldatenblick für das Nothwendige.
Ihm und dem treuen Reitzenſtein war es zu verdanken, daß der Fürſt den
Nebenius’ſchen Entwurf ernſtlich prüfte und ihn ſchließlich, bis auf einen
einzigen Paragraphen, gänzlich unverändert annahm.**) Noch in den
letzten Wochen fehlte es nicht an peinlichen Zwiſchenfällen. Das neue
Wahlgeſetz mußte der geplagte Nebenius zweimal ausarbeiten, weil der
Großherzog das Aktenſtück verſchloſſen hatte und ſich nicht entſchließen
konnte die Kiſte öffnen zu laſſen.


Genug, am 22. Auguſt 1818 wurde die Verfaſſung unterzeichnet, und
die Wirkung dieſes Entſchluſſes war hier faſt noch ſtärker als kurz zuvor
in Baiern. Die Unzufriedenen in den neuen Landestheilen verſtummten
augenblicklich; an das Krankenlager des ſterbenden Fürſten drangen noch
die Freudenrufe eines dankbaren Völkchens, das ſich von der neuen Frei-
heit ein unbeſtimmtes, wunderbares Glück verſprach. Die untrügliche
Richterin aber, die öffentliche Meinung Deutſchlands, das will ſagen die
liberale Preſſe, gab ihren Wahrſpruch über den beendeten Wettkampf dahin
ab: Baiern habe ſich zwar flinker gezeigt in der Erfüllung der Volkswünſche,
doch der Preis gebühre dem freiſinnigen Baden. Allerdings trug das badiſche
Grundgeſetz, dem Charakter des Landes gemäß, einen modernen Anſtrich.
[374]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Während der bairiſche Landtag überwiegend aus Grundbeſitzern beſtand,
ging Nebenius, als echter Sohn eines literariſchen Geſchlechts, von der
Anſicht aus, daß vornehmlich die Bildung vertreten werden müſſe, und
da er wie alle Liberalen die Bildung in den Städten ſuchte, ſo gab das
badiſche Wahlgeſetz vierzehn Städten 22 Abgeordnete, den weit ſtärker be-
völkerten ländlichen Wahlbezirken nur 41 Vertreter. Im Uebrigen ge-
reichte das Werk dem praktiſchen Sinne des gelehrten Verfaſſers zur Ehre.
Das Grundgeſetz war nicht mit Einzelbeſtimmungen überladen, ſo daß
noch Raum blieb für die Lehren der conſtitutionellen Erfahrung, und
lehnte ſich nur äußerlich, in der formellen Anordnung, an das traurige
polniſche Vorbild an. Der Adel wurde durch die Errichtung einer erſten
Kammer zufriedengeſtellt; der Landtag erhielt ein wirkſames Recht der
Controle, da ihm aller zwei Jahre das geſammte Budget vorgelegt werden
ſollte. Selbſt Haller, der Reſtaurator, mußte das deutſche Rechtsgefühl,
das aus dieſer Verfaſſung ſprach, anerkennen, „obſchon ſie den Haupt-
fehler hat eine Conſtitution zu ſein“.


Mit alledem war die Pfalz noch immer nicht geſichert. Die vier
Mächte, denen die Entſcheidung zuſtand, hatten ſich verabredet, auf dem
Congreſſe, der noch in dieſem Herbſt ſtattfinden ſollte, den Handel endlich
aus der Welt zu ſchaffen. Die Ungeduld des Münchener Hofs war jedoch
kaum mehr zu bändigen, ſeit der Zuſtand des kranken Großherzogs ſich
täglich verſchlimmerte. Max Joſeph und ſein Miniſter Rechberg erklärten
Beide dem preußiſchen Geſandten: ſie ſeien bereit zu einem Vergleiche;
ſollte aber der Großherzog vor ausgemachter Sache ſterben, dann werde
Baiern die Pfalz als heimgefallen betrachten und ſeine Rechte geltend
machen.*) Bald nachher liefen in Karlsruhe von allen Seiten Warnun-
gen ein: Baiern rüſte und ziehe ſeine Truppen an der pfälziſchen Grenze
zuſammen. Der Großherzog befahl nunmehr die Beurlaubten einzuberufen.
Auch der König von Württemberg fühlte ſich ſchwer bedroht; ſein Lieb-
lingsplan, die rein deutſche Trias zerſchmolz ihm unter den Händen.
Sein Geſandter Gremp mußte den bairiſchen Miniſter (25. September)
ſchriftlich befragen: ob es denn wirklich wahr ſei, daß der König beim
Ableben ſeines Schwagers einen Handſtreich auszuführen denke; ein ſolcher
Schritt müſſe „den faktiſchen Austritt Baierns aus dem Deutſchen Bunde
zur gewiſſen Folge haben“; eine beſtimmte Widerlegung des Gerüchts
ſcheine dringend geboten „grade im gegenwärtigen Augenblicke, wo ein
aufrichtiges Verſtändniß der rein-deutſchen Bundesſtaaten ſo wichtig iſt.“
In einer ſchnöden und herriſchen Erwiderung ſprach darauf Rechberg
ſein äußerſtes Befremden aus: „S. Maj. haben bisher den Gedanken
an ein in belobter Note vorhergeſehenes Ereigniß, welches Allerhöchſt-
dieſelben mit dem tiefſten Kummer erfüllen müßte, noch keinen Augenblick
[375]Badiſche Verfaſſung. Naſſau.
Raum gegeben.“*) Die grobe Unredlichkeit dieſer Betheuerung bewies
genugſam, daß der Verdacht des Karlsruher Hofes nicht grundlos war.
Zum zweiten male binnen zwei Jahren drohte der Ehrgeiz der Wittels-
bacher einen Bürgerkrieg über Deutſchland heraufzuführen. Die Preſſe
des Auslandes bemächtigte ſich bereits der neuen querelle Allemande;
Badens gute Sache fand einen zweifelhaften Anwalt an dem napoleoni-
ſchen Diplomaten Bignon, der fortan bei allen deutſchen Händeln regel-
mäßig ſeine gewandte Feder für die Rechte bedrängter Kleinfürſten ein-
ſetzte. Indeß das ſchwache Lebenslicht des Großherzogs erloſch ſo ſchnell
noch nicht; die vier Mächte behielten Zeit den bairiſchen Uebermuth in
ſeine Schranken zurückzuweiſen. —


Auch in Naſſau verliefen die Anfänge des conſtitutionellen Lebens
nicht ohne Stürme. Dort war ſchon vor dem Wiener Congreſſe, am
1. Sept. 1814 eine Verfaſſung verkündigt worden, und der allmächtige
Miniſter Marſchall rühmte ſich dem geſammten Deutſchland vorange-
ſchritten zu ſein. Aber die liberale Welt ließ ihrem Liebling Karl Auguſt
von Weimar den Ruhm des erſten conſtitutionellen Fürſten nicht ab-
ſtreiten, und ſie war im Rechte. Denn obwohl alle Beamten bereis auf
die Verfaſſung beeidigt waren, ſo währte es doch noch viertehalb Jahre bis
man den Landtag einberief, und Marſchall benutzte dieſe Friſt um ein Füll-
horn organiſcher Geſetze über das Ländchen auszuſchütten und eine neue
Größe in die deutſche Geſchichte einzuführen: den centraliſirten naſſauiſchen
Einheitsſtaat. Während die gewaltigen Naſſau-Oranier in den Nieder-
landen die Welt mit ihrem Kriegsruhm füllten, wußte die Geſchichte der
letzten Jahrhunderte von den deutſchen Naſſauern kaum mehr zu erzählen,
als daß ſie ſich beharrlich und immer von Neuem in Linien theilten. Sie
betrieben dieſe dem deutſchen Kleinfürſtenſtande eingeborene Liebhaberei
mit einer Ausdauer, die ſelbſt von den Wettinern nicht überboten wurde;
eine Zeit lang hauſten ſogar in der kleinen Stadt Siegen zwei Linien
Naſſau-Siegen, die eine katholiſch, die andere reformirt, jede in ihrem
eigenen Schloſſe, die beiden Hälften der Stadt durch eine hohe Mauer
und wüthenden Nationalhaß getrennt. Aber das Glück war dem treu-
fleißigen Bemühen nicht hold; die mit ſo großer Sorgfalt angepflanzten
neuen Linien ſtarben immer wieder aus. Im Jahre 1816 ſtarb auch
der letzte Uſinger, und nunmehr trat die Linie Weilburg in den alleinigen
Beſitz jener Länderbrocken, welche einſt Gagerns plaſtiſche Hand — wie
Stein ſpottete — in Paris und Wien für das Geſammthaus Naſſau zu-
ſammengebracht hatte. So prahleriſch wie Marſchall verſtand kein anderer
[376]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
deutſcher Miniſter die Legitimität des angeſtammten Fürſtenhauſes zu
preiſen, und doch klang dies Selbſtlob nirgends lächerlicher als hier, in
einem Ländchen von 85 Geviertmeilen, das vor wenigen Jahren noch
unter ſiebenundzwanzig verſchiedenen Landesherren vertheilt geweſen.


Nach der Abtretung von Saarbrücken, Lahr, Siegen blieb von dem
alten naſſauiſchen Hausbeſitze wenig übrig. Auch die altoraniſchen Land-
ſchaften hatten mit dem deutſchen Herzogshauſe nicht viel mehr als den
Namen gemein. Was konnte ein Kleinſtaat dieſem tapferen Volke bieten,
über dem einſt der Sonnenſchein weltgeſchichtlichen Ruhmes geleuchtet
hatte? Dort auf den rauhen Bergen des Weſterwaldes und in dem ab-
gelegenen Winkel des Dillthals erzählte ſich jedes Haus von den Hollands-
fahrten der Väter; dort ſtand noch die Linde, unter deren Schatten Wil-
helm der Schweiger die Geſandten der niederländiſchen Rebellen empfangen
hatte; dort lag Herborn, vor Zeiten die kampfluſtige Hochſchule des Calvinis-
mus, jetzt zogen ſtatt ſtreitbarer Theologen friedliche Ackerbürger durch die
Chaldäergaſſe des ſtillen Landſtädtchens. Noch gleichgiltiger ſtanden die
pfälziſchen, trierſchen, heſſiſchen Aemter des Rheinthals dem neuen Fürſten-
hauſe gegenüber. Den bigotten Kurtrierern kam es hart an, daß ſie mit
den proteſtantiſchen Katzenellenbogenern unter einen Hut geriethen und die
trutzigen Grenzfeſten der beiden feindlichen Nachbarvölker, die Katz und
die Maus nun in Trümmern lagen; aber noch härter, daß die wunder-
reiche Wallfahrtskirche zur ſchmerzhaften Mutter Gottes von Bornhofen
durch den naſſauiſchen Amtmann ſofort geſchloſſen wurde. Am Aller-
wenigſten wollte ſich der kurmainziſche Rheingau mit dem neuen Regimente
befreunden, das Paradies der rheiniſchen Lebensluſt, das wonnige Land,
wo die Poeſie des Weines ſelbſt die Armuth froh erhält. Hier in den
verkehrsreichen Flecken und ſtädtiſchen Dörfern, die ſich dichtgedrängt wie
eine einzige Stadt im Strome wiederſpiegeln, lag der radicale Uebermuth
in der Luft, und der Miniſter that das Seine um dem Geſpött des luſtigen
Völkchens täglich neuen Stoff zu bieten.


Da ein Staatsminiſterium und daneben noch ein Staatsrath, ein
Armee-Commando und eine Rechenkammer für die Glückſeligkeit von 300,000
Seelen offenbar nicht ausreichten, ſo ſetzte der naſſauiſche Organiſator noch
eine Landesregierung darunter, die mit dem Miniſterium unter einem
Dache wohnte aber nur ſchriftlich mit der vorgeſetzten Behörde verkehren
durfte; darunter wieder 25 Aemter, unter dieſen die Gemeinden, deren
Schultheißen die Regierung ernannte. Dazu außer den Untergerichten
zwei Appellationsgerichte und ein Oberappellationsgericht. Dies mächtige
uniformirte Beamtenheer war für ſich und ſeine Kinder von der Militär-
pflicht befreit, genoß eines privilegirten Gerichtsſtandes und wetteiferte
mit dem Miniſter in despotiſcher Grobheit. Der wackere Präſident Ibell,
ein ſtrenger, aber wohlmeinender und geſcheidter Beamter, der an der neuen
Geſetzgebung das Beſte gethan, kam gegen Marſchalls übles Beiſpiel
[377]Naſſauiſcher Domänenſtreit.
nicht auf. Die preußiſchen Behörden hatten beſtändig über die händel-
ſüchtige Anmaßung dieſer Nachbarn zu klagen; den bereits vereinbarten
Vertrag über eine preußiſche Etappenſtraße wollte Marſchall nachträglich
noch abändern, und erſt als ihn General Wolzogen mit einer Piſtolen-
forderung bedrohte, gab er die verſprochene Unterſchrift. Zwecklos erging
ſich der bureaukratiſche Aktenfleiß im reinen Genuſſe ſeines Daſeins. Als
das neue Herzogthum nach einem halben Jahrhundert wieder verſchwand,
war noch nicht einmal die Landſtraße durch das dichtbevölkerte Rheinthal
vollendet; wer fahren wollte, mochte drüben auf dem linken Ufer die preu-
ßiſche Chauſſee benutzen.


Alſo wurde die neue Organiſation der Behörden und der Gemeinden
ohne den Landtag begründet, obgleich die Verfaſſung den Landſtänden die
Mitwirkung bei neuen Geſetzen verſprach. Daran ſchloß ſich die Trennung
der Domänen- und der Steuerkaſſe, eine ſcheinbar harmloſe Maßregel, die
einen argen Gewaltſtreich vorbereiten ſollte. Die Kaſſentrennung war kaum
vollzogen, ſo überraſchte Marſchall das Land durch die Behauptung, daß
die geſammten Domänen dem Landesherrn allein gehörten, und eröffnete
damit die endloſe Reihe jener Kämpfe um das Kammergut, welche ſeitdem
durch viele Jahrzehnte eine ekelhafte Eigenthümlichkeit der deutſchen Klein-
ſtaaterei blieben und den monarchiſchen Sinn dieſer gutmüthigen Bevöl-
kerung zu untergraben halfen. Die Frage, ob das Kammergut dem Staate
oder dem fürſtlichen Hauſe gehöre, war allerdings nicht leicht und nicht
überall auf die gleiche Weiſe zu beantworten, da die meiſten der kleinen
Territorien noch bis zum Anfang des neuen Jahrhunderts nach den
Grundſätzen des Patrimonialſtaats regiert wurden und mithin den Unter-
ſchied von Staats- und Privatrecht kaum kannten. Das politiſche König-
thum der Hohenzollern hatte ſchon hundert Jahre zuvor die Domänen
für Staatsgut erklärt; Baiern und einige andere größere Fürſtenhäuſer
folgten jetzt dieſem Beiſpiele. Den kleinen Fürſten dagegen lag die Ver-
ſuchung nahe, das Land nur als ein Rittergut, die Herrſchaft nur als
ein nutzbares Recht zu betrachten; ſie fühlten, daß ihre Macht weſentlich
auf ihrem Reichthum ruhte, und beeilten ſich ihr Haus gegen die Wechſel-
fälle der Zukunft zu ſichern, da ihnen das Schickſal der Mediatiſirten
vor den Augen ſtand. So fand der Großherzog von Baden an dem
Nebenius’ſchen Verfaſſungsentwurfe nur einen Punkt bedenklich: er beſtand
darauf, daß die Domänen ſeinem Hauſe als Patrimonialgut zugewieſen
würden. In Naſſau war mindeſtens ein Theil der Anſprüche des Landes-
herrn durchaus unberechtigt; denn die kurmainziſchen Kammergüter, jene
herrlichen Rebgärten des Rheingaus, deren Weine in dem berühmten Eber-
bacher Kloſterkeller lagerten, hatten unzweifelhaft dem Erzſtifte, dem Staate
gehört.


Eine neue, noch erſtaunlichere Forderung des Herzogs Wilhelm
brachte endlich das ganze Land in Harniſch. Im Jahre 1808 waren die
[378]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Leibeigenſchaftsgefälle aufgehoben und die Grundherren dafür entſchädigt
worden, eine Denkmünze erinnerte noch an dieſe befreiende That des
Hauſes Naſſau; und jetzt trat der Herzog, der willenlos ſeinem herriſchen
Miniſter folgte, plötzlich mit dem Verlangen hervor: die Landeskaſſe ſolle
ihm 140,000 Fl. jährlich bezahlen für die längſt aufgehobenen Leibeigen-
ſchaftsgefälle des Kammerguts, das er ſich ſoeben erſt durch einen Macht-
ſpruch angeeignet hatte! Der Freiherr vom Stein, der von ſeinem Schloſſe
Naſſau an der Lahn dies Treiben aus der Nähe betrachten konnte, fand
kaum Worte genug um ſeine Verachtung auszudrücken: „die Zeit wird
kommen, wo dieſer Frevel beſtraft wird und die Vorſehung ein ſtrenges Ge-
richt über die Frevler hält; ich habe daran nicht den mindeſten Zweifel.“


Im März 1818 wurde der Landtag endlich einberufen, und er be-
gann ſogleich mit einem Auftritt, der die ganze Armſeligkeit dieſes Be-
amtenthums an den Tag brachte: mit der Ausſchließung Steins. Als
preußiſcher Unterthan konnte der Freiherr den Eid, welcher den Mit-
gliedern der erſten Kammer abverlangt wurde, nicht ohne Vorbehalt
leiſten; die Regierung aber rührte keine Hand um durch ein geringfügiges
Zugeſtändniß dies Formbedenken zu beſeitigen, ſie ließ es geſchehen, daß
der erſte Mann des Landes aus der Kammer ausſchied. Was hätte er
auch hier leiſten können, in dem widerlichen Gezänk um die Domänen
und den unerſättlichen Geldbeutel des Landesvaters? Die Stände folgten
bald dem Beiſpiel der Altwürttemberger und verbiſſen ſich in einen un-
fruchtbaren Rechtsſtreit; wie jene ſetzten ſie Unrecht gegen Unrecht, indem
ſie alle Domänen für Staatsgut erklären wollten. So währte es noch
faſt zwanzig Jahre, bis der Landtag dem Herzog einen Theil ſeiner Geld-
forderung bewilligte; die Rechtsfrage aber iſt niemals, ſo lange dies Herzog-
thum beſtand, vollſtändig erledigt worden. Inzwiſchen regierte Marſchall
nach ſeiner alten Weiſe wohlgemuth weiter und entſchied Alles was ihm
beliebte durch Verordnungen; bis zum Jahre 1848 wurden dem Landtage
nur ſechs einigermaßen wichtige Geſetze vorgelegt. Gleichwohl blickte der
Naſſauer im Hochgefühle ſeiner conſtitutionellen Freiheit mitleidig auf die
preußiſche Knechtſchaft hernieder. —


Später als die übrigen ſüddeutſchen Territorien gelangte Heſſen-
Darmſtadt zum Abſchluß ſeiner Verfaſſung, das künſtlichſte unter den
Staatsgebilden des Rheinbunds. Das buntgemiſchte Naſſauer Land bildete
immerhin ein zuſammenhängendes Gebiet; die Landſchaften aber, welche
jetzt den Namen des Großherzogthums Heſſen und bei Rhein empfingen,
lagen in zwei größeren und einer nur wenigen Eingeweihten bekannten
Anzahl kleiner Stücke zerſtreut vom württembergiſchen Neckarthale bis
hinein ins weſtphäliſche Gebirge. Zumal in der Frankfurter Gegend,
wo das Großherzogthum mit vier anderen Staaten zuſammenſtieß, ent-
faltete ſich eine reiche Mannichfaltigkeit abenteuerlicher Grenzlinien, welche
der Bundesſtadt die Gunſt aller Strolche Mitteldeutſchlands verſchaffte:
[379]Heſſen-Darmſtadt.
wer über die Darmſtädter Grenze zur Stadt hinausgeſchoben wurde,
zog nach einem kurzen Spaziergange durch Homburg oder Naſſau fröhlich
zu einem anderen Thore wieder ein. Im Odenwald lag gar ein badiſch-
heſſiſches Condominat, deſſen Grenzen ſich immer von Neuem veränderten
ſobald ein Bauer eine Parcelle verkaufte. Und dieſe Zierden der deutſchen
Landkarte waren nicht wie die ebenſo zerhackten Gebietstrümmer Thü-
ringens ein Vermächtniß des heiligen Reichs, ſondern ein Werk der aller-
neueſten deutſchen Politik.


In den zwei Jahrhunderten ſeit ihrer Trennung von dem Hauptzweige
hatte die jüngere Linie des heſſiſchen Hauſes ihren Beſitzſtand ſehr häufig
verändert. Die Darmſtädter Landgrafen geboten anfangs nur über die
obere Grafſchaft Katzenellenbogen am Odenwalde und einige Striche der
Wetterau. Nach deutſchem Fürſtenbrauche bewieſen ſie ihre Selbſtändigkeit
durch beſtändige Händel mit den Stammesvettern und hielten als glau-
bensſtarke Lutheraner immer zu Oeſterreich, während Kaſſel ſich dem
reformirten Bekenntniß näherte und mit Schweden, nachher mit Preußen
verbündet war; der reformirten Marburger Hochſchule trat das lutheriſche
Gießen entgegen. Nachher wurde die Grafſchaft Hanau-Lichtenberg er-
worben, und bereits begann ſich der Schwerpunkt des Territoriums nach
dem linken Rheinufer hinüberzuſchieben: der Hof wohnte mit Vorliebe
in dem ſchönen Schloſſe von Buchsweiler und ſchuf ſich in Pirmaſenz
ein ſüddeutſches Potsdam für ſeine weltberühmte Rieſengarde. Selbſt
die Freundin Friedrichs des Großen, „die große Landgräfin“ Karoline
Henriette vermochte die geiſtloſe Langeweile aus dieſem Lande der Sol-
datenſpielerei nicht zu verbannen; auch der Miniſter Karl Friedrich von
Moſer mußte aus ſeiner ſchimpflichen Entlaſſung lernen, daß hier kein
Raum war für einen Feuergeiſt, der „den Deutſchen die Hundedemuth ab-
gewöhnen wollte“. Nur durch Merk und ſeinen Freundeskreis unterhielt
das ſtille Darmſtadt einigen Verkehr mit der neuen deutſchen Bildung.
Während der Revolutionskriege gingen die überrheiniſchen Beſitzungen
wieder verloren, und die Dynaſtie empfing zur Entſchädigung unter An-
derem das weit entlegene Herzogthum Weſtphalen. Nach Napoleons
Sturz wurde auch dieſe unnatürliche Erwerbung wieder aufgegeben und
dafür der ſchmale linksrheiniſche Uferſaum von Worms bis Bingen ein-
getauſcht. So erhielt das neue Großherzogthum erſt durch die Wiener
Verträge, ſpäter als die anderen oberdeutſchen Staaten, ſeinen politiſchen
Charakter; die Kämpfe zwiſchen dem linken und dem rechten Ufer machten
fortan ſeine Geſchichte aus.


Bis auf einige weſtphäliſche Gebietstheile war das ganze Land ſüd-
deutſch, fränkiſch; die Grenze zwiſchen nord- und ſüddeutſcher Sitte lief
ſeit alten Zeiten quer durch das obere Lahnthal zwiſchen Gießen und
Marburg. Aber welche Gegenſätze innerhalb dieſer Bruchſtücke des frän-
kiſchen Stammes. Von den beiden rechtsrheiniſchen Provinzen war Ober-
[380]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
heſſen ganz auf den Verkehr mit dem Norden angewieſen, Starkenburg
mehr auf den Süden. In beiden Landſchaften hatte ſich das ſtädtiſche
Leben wenig entwickelt; weder die Reichsſtädte Friedberg und Wimpfen
noch die lieblichen Städtchen an den Rebenhängen der Bergſtraße be-
ſaßen ein ſtarkes Bürgerthum, das dem Beamtenheere des Großherzogs
mit Selbſtgefühl begegnen konnte. In den einſamen Waldthälern des
Odenwalds und auf den unwirthlichen Höhen des Vogelsbergs, ja ſelbſt
in der reichen Ebene der Wetterau bewahrten ſich die Bauern noch manchen
ehrenfeſten altväteriſchen Brauch. Die Unterthanen der zahlreichen Media-
tiſirten, der Erbach, Iſenburg, Solms, Leiningen hielten noch in alter
Treue zu den angeſtammten kleinen Dynaſten. Namentlich die Graf-
ſchaft Erbach blieb noch eine kleine Welt für ſich. Wenn die Odenwälder
alljährlich zu dem beliebten Volksfeſte, dem Eulbacher Markte zuſammen-
ſtrömten, dann ſprachen ſie nur von dem Stifter des Feſtes, dem kunſt-
ſinnigen Grafen Franz, deſſen Sammlungen im Erbacher Schloſſe das
Darmſtädter Muſeum weit überboten; die heſſiſche Herrſchaft verwünſchte
Jedermann, weil ſie zunächſt nur doppelte Steuerlaſt gebracht hatte.


Wie ſollte ſich der neugewonnene überrheiniſche Landſtrich, der nun
den abgeſchmackten Namen Rheinheſſen erhielt, an dieſe patriarchaliſchen
Zuſtände gewöhnen? Dort war der Bauer faſt noch ſtädtiſcher als in
der bairiſchen Pfalz, faſt noch eifriger auf das „Profitiren“ bedacht, der
Bürger durch den Weltverkehr ſeines Stromes an große Verhältniſſe
gewöhnt. Verächtlich blickte der Mainzer auf die traurige neue Haupt-
ſtadt in der Sandebene am Darmfluß und ſpottete über ihre bedienten-
hafte Bevölkerung, über den einen Referendar, der Mittags in ihrer
Rheinſtraße wimmelte. Von den großen Tagen der Vorzeit, von der
Macht der alten Reichserzkanzler, von der Bürgergröße der Walpoden
und der Gensfleiſch war freilich im goldenen Mainz kaum noch die Rede.
Die Biſchofsſtadt des heiligen Bonifacius, die ſich einſt ſo gern die eigent-
liche Tochter der römiſchen Kirche genannt, blieb ein Menſchenalter hin-
durch die radicalſte und die am eifrigſten franzöſiſch geſinnte Stadt des
Rheinlands. Das Illuminatenthum und die Sittenloſigkeit der letzten
kurfürſtlichen Zeiten hatten hier einen leichtſinnigen, zungenfertigen Ueber-
muth groß gezogen, der in dem wüſten Treiben der republikaniſchen
Clubiſten ſeinen Faſching feierte und erſt während der geſtrengen napo-
leoniſchen Herrſchaft verſtummte. Jetzt aber, unter einer zugleich ſchwachen
und verhaßten Regierung, trat er wieder keck hervor. Vor Kurzem erſt
hatte die Bürgerſchaft die deutſchen Eroberer als Befreier begrüßt und
die abziehenden Franzoſen verwünſcht, die in dem geſchändeten Dome und
faſt auf jeder Gaſſe die Spuren ihrer Roheit zurückließen. Bald war das
Alles vergeſſen. Man dachte nur noch an die Verdienſte des trefflichen
Präfekten Jean Bon St. André, an die mannichfache Gunſt, welche der
Imperator ſeiner deutſchen Lieblingsſtadt erwieſen, und betrachtete den
[381]Rheinheſſen.
Code Napoleon als das Bollwerk rheinheſſiſcher Freiheit. Der neue Landes-
herr verbürgte der Provinz in der That den ungeſtörten Genuß ihrer
franzöſiſchen Inſtitutionen, aber die Mainzer wußten wohl, wie unwillig
das altheſſiſche Beamtenthum dieſe Zuſage aufnahm, und witterten hinter
jedem Erlaß des Miniſteriums einen Angriff auf ihre Landesfreiheit.
Die widerwärtigen Händel zwiſchen den Truppen der Bundesgarniſon
konnten das Anſehen der deutſchen Herrſchaft nicht verſtärken; der Bundes-
tag vollends ward ſchon darum verſpottet, weil er in Frankfurt tagte und
jedes Mainzer Kind den Haß gegen die Nachbarſtadt mit der Muttermilch
einſog. Von den Segnungen des Friedens bekam das heſſiſche Rheinland
auch nur wenig zu ſpüren. Vor Zeiten, ſo lange die Thalfahrt über-
wog, hatte Mainz den vornehmſten Platz unter den Rheinſtädten behauptet.
Seit der Kolonialhandel emporwuchs und die Bergfahrt in den Vorder-
grund trat, mußte der Schwerpunkt des rheiniſchen Verkehrs nothwendig
der Mündung näher rücken. Die unfreie Geſetzgebung der kurfürſtlichen
und der napoleoniſchen Tage griff noch eine Zeit lang hemmend ein, ließ
die holländiſchen Häfen auf Koſten Kölns gedeihen; erſt unter dem Schutze
der preußiſchen Geſetze trat die Natur der Dinge in ihr Recht, und Köln
wurde der erſte Handelsplatz am Rheine. Die Mainzer aber ſchrieben
dies natürliche Wachsthum ihrer alten Nebenbuhlerin zumeiſt den Unter-
laſſungsſünden der Darmſtädter Regierung zu.


Der franzöſiſche Partikularismus der Rheinländer wurde für Heſſen
ungleich gefährlicher als für Preußen oder Baiern, da Rheinheſſen faſt
ein Drittel der Bevölkerung des Großherzogthums umfaßte und in ſeiner
wirthſchaftlichen Entwicklung den rechtsrheiniſchen Landestheilen weit voran-
ſtand. In ſolcher Bedrängniß wußte ſich Großherzog Ludwig I. vorerſt
nur durch ein ſcharfes bureaukratiſches Regiment zu helfen, eine Politik,
welche ohnehin ſeinen Neigungen und Gewohnheiten entſprach. Er war
der Neugründer dieſes Staates, blieb ſeit 1790 vierzig Jahre lang am
Ruder und wurde von unterthänigen Darmſtädtern gern mit Karl Friedrich
von Baden verglichen. An den Geiſt und die Hochherzigkeit des Zähringers
reichte er freilich nicht heran, aber ſeinen ehrlichen Willen bewährte er
ſchon beim Antritt ſeiner Regierung, als er dem mißhandelten K. F. v. Moſer
die gebührende Genugthuung gab. Dem Imperator gegenüber zeigte er
ſich nicht knechtiſcher als die Mehrzahl der Rheinbundsfürſten; die Liebe-
dienerei ward dem Prinzen Emil überlaſſen, der ſich die beſondere Gnade
Napoleons erwarb und nach dem Frieden noch lange die bonapartiſtiſche
Geſinnung in der tüchtigen kleinen Armee wach hielt. Dem Lande brachten
die ſchweren Zeiten des Rheinbunds ein napoleoniſches Präfektenſyſtem,
die Vernichtung aller Gemeindefreiheit und die unvermeidliche Aufhebung
der alten ſtändiſchen Verfaſſungen, aber auch manche heilſame Re-
formen, ſo die Beſeitigung der Leibeigenſchaft und die Anfänge jener
verſtändigen agrariſchen Geſetzgebung, welche fortan der Stolz des darm-
[382]II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
ſtädtiſchen Beamtenthums blieb. Die Hauptſtadt verdankte dem kunſt-
ſinnigen Fürſten das Theater, die Bibliothek, das Muſeum, das Erwachen
eines regeren geiſtigen Lebens; auf dem anmuthigen Luſtſchloß ihres
patriarchaliſchen Herrn, auf dem Fürſtenlager im Odenwalde, hielten die
guten Familien Darmſtadts alljährlich ihre Sommerfriſche.


Gleich den anderen ſüddeutſchen Fürſten hatte der Großherzog auf
dem Wiener Congreſſe eingeſehen, daß eine ſtändiſche Verfaſſung unver-
meidlich war. Aber als er nun heimkehrte und mit der ſchwierigen Einver-
leibung Rheinheſſens vollauf zu thun fand, da verſchob er den entſcheiden-
den Beſchluß von Jahr zu Jahr. Unterdeſſen begann das von den Hunger-
jahren ſchwer heimgeſuchte Land unruhig zu werden; der Steuerdruck und
die Willkür des Beamtenthums war nicht mehr zu ertragen. Unehrerbietige,
drohende Bittſchriften mahnten den Großherzog an ſein Verſprechen, radi-
cale Flugblätter vertröſteten das Landvolk auf die nahende Revolution.
Auf der Gießener Hochſchule ſtießen die Parteien hart aneinander; der
geiſtvolle Philolog F. G. Welcker mußte ſeinen Lehrſtuhl verlaſſen, weil er
ſich mit dem berüchtigten Bonapartiſten Crome nicht vertragen konnte.
Endlich wagte man gar große Landesverſammlungen abzuhalten, die den
Fürſten um die erſehnte Conſtitution, das ſichere Heilmittel aller irdiſchen
Nöthe baten. Noch immer vergeblich.


So war die Lage des Südens im Herbſt 1818. In Württemberg
und Heſſen bedenkliche Gährung; in Baiern und Baden lautes Frohlocken
über die glücklich errungene neue Verfaſſung und kindliche Träume von
der wunderbaren Freiheit, die da kommen ſollte. Und dazu in der akademi-
ſchen Jugend eine brauſende Bewegung, die den geängſteten Regierungen
das Nahen eines allgemeinen Umſturzes zu verkünden ſchien.


[[383]]

Siebenter Abſchnitt.
Die Burſchenſchaft.


Zu allen Zeiten hat die Jugend radikaler gedacht als das Alter,
weil ſie mehr in der Zukunft als in der Gegenwart lebt und die Mächte
des Beharrens in der hiſtoriſchen Welt noch wenig zu würdigen weiß.
Es bleibt aber immer ein Zeichen krankhafter Zuſtände, wenn die Kluft
zwiſchen den Gedanken der Alten und der Jungen ſich allzu ſehr er-
weitert und die ſchwärmende Begeiſterung der Jünglinge mit der nüch-
ternen Thätigkeit der Männer gar nichts mehr gemein hat. Ein ſolcher
innerer Zwieſpalt begann ſich nach dem Frieden in Norddeutſchland zu
zeigen. Die jungen Männer, die im Waffenſchmucke den Anbruch ihres
eigenen bewußten Lebens und den Anbruch ihres Vaterlandes zugleich ge-
noſſen oder auf der Schulbank klopfenden Herzens die Kunde von den
Wundern des heiligen Krieges vernommen hatten, waren noch trunken
von den Erinnerungen jener einzigen Tage; ſie führten den Kampf gegen
das Wälſchthum und die Zwingherrſchaft im Geiſte weiter und fühlten
ſich wie verrathen und verkauft, da nun die Proſa der ſtillen Friedens-
arbeit von Neuem begann. Wie ſollten ſie verſtehen, welche quälenden
wirthſchaftlichen Sorgen den Aelteren die Seele belaſteten? In alten
Zeiten — ſo etwa lautete die ſummariſche Geſchichtsphiloſophie des jungen
Volks — in den Tagen der Völkerwanderung und des Kaiſerthums war
Deutſchland das Herrenland der Erde geweſen; dann waren die langen
Jahrhunderte der Ohnmacht und der Knechtſchaft, der Verbildung und
Verwälſchung hereingebrochen, bis endlich Lützows wilde verwegene Jagd
durch die germaniſchen Wälder brauſte und die heiligen Schaaren der ſtreit-
baren Jugend das deutſche Volk ſich ſelber zurückgaben. Und was war
der Dank? Statt der Einheit des Vaterlandes entſtand „das deutſche
Bunt“, wie Vater Jahn zu ſagen pflegte; die Alten aber, denen der Hel-
denmuth der Jungen das fremde Joch vom Nacken genommen, verſanken
wieder in das Philiſterthum, ſaßen am Schreibtiſch und in der Werkſtatt
als ſei nichts geſchehen.


Hatte Fichte nicht recht geſehen, als er einſt weiſſagte: dies in Selbſt-
ſucht verkommene alte Geſchlecht müſſe erſt verſchwinden bis auf den letzten
[384]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Mann ehe die Zeit der Freiheit und der Klarheit den Deutſchen tagen
könne? Und war es nicht an der Jugend, den erſchlafften Alten ein
Vorbild wahrer Deutſchheit und damit aller echten menſchlichen Tugend
zu geben? Sie allein beſaß ja ſchon „das durchaus neue Selbſt“, das
der Philoſoph ſeinem Volke erwecken wollte, und verſtand den Sinn ſeines
ſtolzen Ausſpruchs: „Charakter haben und deutſch ſein iſt ohne Zweifel
gleichbedeutend.“ Nicht umſonſt hatte der Redner an die deutſche Nation
gelehrt: „die Jugend ſoll nicht lachen und ſcherzen, ſie ſoll ernſthaft und
erhaben ſein.“ Stolz wie er ſelber, mit erhobenem Nacken und trotzig
gekräuſelten Lippen ſchritt dies kriegeriſche junge Geſchlecht einher, durch-
glüht von dem Bewußtſein einer großen Beſtimmung, gleich dem Meiſter
entſchloſſen, nicht ſich der Welt anzupaſſen, ſondern die Anderen für ſich
zurechtzulegen. Seine Sehnſucht war die That, die aus freier Selbſt-
beſtimmung entſprießende That, wie ſie Fichte geprieſen, und jeder Blick
der ſtrafenden Augen ſchien zu ſagen: „was kommen ſoll muß von uns
kommen!“ Niemals vielleicht iſt ein ſo warmes religiöſes Gefühl, ſo viel
ſittlicher Ernſt und vaterländiſche Begeiſterung in der deutſchen Jugend
lebendig geweſen; aber mit dieſem lauteren Idealismus verband ſich von
Haus aus eine grenzenloſe Ueberhebung, ein unjugendlicher altkluger
Tugendſtolz, der alle Stille, alle Schönheit und Anmuth aus dem deut-
ſchen Leben zu verdrängen drohte. Die rauhen Sitten des jungen Ge-
ſchlechts erinnerten nur zu lebhaft an den Ausſpruch des Meiſters: „eine
Liebenswürdigkeitslehre iſt vom Teufel.“ Wenn dieſe Spartaner auf Ab-
wege geriethen, dann konnten die Verirrungen des überſpannten ſitt-
lichen Selbſtgefühls leicht verderblicher wirken als die holde Thorheit des
gedankenloſen jugendlichen Leichtſinns.


Wer darf ſagen, ob Fichte bei längerem Leben verſucht haben würde
dieſe thatendurſtige Jugend in den Schranken der Beſcheidenheit zu halten
oder ob die Enttäuſchungen der Friedenszeit den radikalen Idealiſten
ſelber verbittert hätten? Er ſtarb ſchon im Januar 1814, vom Lazareth-
fieber dahingerafft, ein Opfer des Krieges, deſſen Sinn und Ziele er ſo
groß und rein verſtanden hatte; und nun gerieth die Jugend, die immer
nach einer Führung verlangt, unter den Einfluß anderer Lehrer, von denen
keiner hoch genug ſtand um den Uebermuth des jungen Geſchlechts zu
mäßigen. Unter den Lützow’ſchen Jägern hatte der Turnvater Jahn wenig
gegolten, der unbändige Polterer paßte nicht in die ſtrenge Ordnung des
militäriſchen Dienſtes. Erſt während der Friedensverhandlungen machte
er wieder von ſich reden, als er zum Entzücken der Gaſſenbuben in den
Straßen von Paris umherzog, den Knotenſtock in der Hand, beſtändig
ſcheltend und wetternd gegen die geilen Wälſchen. Das lange Haar, das
dem treuen Manne einſt nach der Jenaer Schlacht in einem Tage er-
graut war, hing ungekämmt auf die Schultern hernieder; der Hals war
entblößt — denn das knechtiſche Halstuch ziemte dem freien Deutſchen
[385]Fichte und Jahn.
ſo wenig wie die weichliche Weſte; ein breiter Hemdkragen überdeckte den
niederen Stehkragen des ſchmutzigen Rockes. Und dieſen fragwürdigen
Anzug pries er wohlgefällig als die wahre altdeutſche Tracht. Welch ein
Feſt, als die Oeſterreicher eines Tages die ehernen Roſſe des Lyſippos
von dem Triumphbogen des Carrouſelplatzes herabnahmen um ſie nach
Venedig zurückzuführen; mit einem male ſtand der rieſige Recke neben
dem Erzbilde der Victoria droben auf dem Bogen, hielt den deutſchen
Soldaten eine donnernde Rede und ſchlug der Siegesgöttin mit wuch-
tigen Fäuſten auf ihren verlogenen Mund und ihre prahleriſche Trompete.
Seitdem kannte ihn die ganze Stadt; das Herz lachte ihm im Leibe, ſo
oft ihn die Pariſer mit feindſeligen Blicken maßen und einander zu-
flüſterten: Le voilà! Celui-ci!


Nach der Heimkehr eröffnete er wieder ſeine Turnſchule: „Friſch, frei,
fröhlich, fromm iſt der Turngemein Willkomm!“ In hellen Haufen eilte
die Berliner Jugend auf den Turnplatz in der Haſenhaide und zu der
Schwimmſchule des Oberſten Pfuel am Oberbaum. Von den Studenten
kam freilich nur ein Theil, den meiſten ging es wider die Ehre, daß
unter den Turnern vollkommene Gleichheit herrſchen und man ſich mit
den Gnoten duzen ſollte; auch bei den niederen Klaſſen fand die neue
Kunſt zunächſt nur wenig Anklang, denn wer beſtändig mit dem Körper
arbeitet, glaubt der Schulung des Leibes nicht erſt zu bedürfen. Um ſo
eifriger betheiligte ſich das kleine Volk aus der Plamann’ſchen Lehranſtalt,
wo Jahn einſt Lehrer geweſen, aus den Gymnaſien und den anderen
Schulen der höheren Stände. Dieſe jungen Teutonen hatten dem hei-
ligen Kriege fern bleiben müſſen und brannten vor Begier, jetzt das Ver-
ſäumte nachzuholen, durch trutzigen Muth und rüſtige Fäuſte ihre Deutſch-
heit zu erweiſen; ihre Augen leuchteten, wenn ihnen Jahn in ſeinen
wunderlichen Stabreimen das Bild des echten Turners ſchilderte: „Tu-
gendſam und tüchtig, keuſch und kühn, rein und ringfertig, wehrhaft und
wahrhaft!“ Sie ließen ſich’s nicht zweimal ſagen, daß ſie nicht „als
müßige Eckner mit dem Bahgeſichte“ daſtehen dürften, wie die gründlich ver-
achteten „Kuchenbäcker“ dort, die Bürger, die vom Grenzgraben der Haſen-
haide den Kraftproben der Jugend verwundert zuſchauten. „Nicht Quaas
und Fraß, meinte Jahn, Leben und Weben ſoll beim Volksfeſte vor-
walten;“ und wie lebte und webte es auf dem Turnplatze, wenn die
Jungen, alleſammt in grauen Jacken von ungebleichter Leinwand, mit
nacktem Halſe und langem Haar gleich dem Meiſter, ihre unerhörten
Künſte übten: den Kiebitzlauf und den Bratenwender, das Kippen und
das Wippen, das Neſt und den Schwebehang, die Affen-, Froſch- und
Karpfenſprünge, die Bein-, Bauch- und Rückenwellen und die Krone von
Allem, die Rieſenwelle. Entzückt rühmte das Turnlied:


Als der Turnermeiſter der alte Jahn

Für des Volks urheilige Rechte

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 25
[386]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Vortrat zu der Freiheit Rennlaufbahn,

Da folgt’ ihm ein wehrlich Geſchlechte.

Hei wie ſchwungen ſich die Jungen

Friſch, froh, fromm, frei!

Hei wie ſungen da die Jungen:

Juchhei!

Wenn die Ferienzeit nahte, dann nahm Jahn gern ſeine Axt auf
die Schulter und brach mit einer kleinen Schaar von Getreuen zu einer
weiten Turnfahrt auf; über Stock und Stein ging es dann vorwärts bei
Wind und Wetter, in gewaltigen Märſchen, bis nach Rügen oder ins
ſchleſiſche Gebirge. Nachts lagerten ſich die Graujacken gern beim Wach-
feuer unter freiem Himmel, Alles zur Mehrung der frommen Deutſch-
heit, und ſtolz erklang das Turnwanderlied des biderben Maßmann:


Stubenwacht, Ofenpacht,

hat die Herzen weich gemacht.

Wanderfahrt, Turnerart

Macht ſie frank und hart.

Zur Nahrung diente oft nur trockenes Brot, und ſelten ward etwas
Anderes als Milch oder Waſſer getrunken; denn auch die Mäßigkeit
rechnete der Turnvater zu den eigenthümlichen Tugenden der Deutſchen,
was vor ihm noch nie ein Sterblicher behauptet hatte. Langſame Köpfe
durften nicht murren, wenn ihnen der jähzornige Meiſter durch Verab-
reichung einer „Dachtel“ die Gedankenarbeit beſchleunigte; das war keine
gemeine Ohrfeige, ſondern hing, nach Jahns Etymologie, mit „Denken“
zuſammen. Verging ſich aber Einer gar zu gröblich gegen die Grund-
ſätze des Deutſchthums oder begegnete der waidlichen Schaar ſonſt etwas
Anſtößiges, etwa eine franzöſiſche Inſchrift oder ein geputzter Modegeck,
ein „Schnürling“, dann wurde „Entſatz gemacht“, dann kauerten ſich die
jungen Unholde im Kreiſe um den Gegenſtand des Entſetzens, reckten die
Zeigefinger vor und brüllten: äh äh!


In tapferen Völkern müſſen alle ſchulmäßigen Leibesübungen kriege-
riſchen Zwecken dienen, wenn ſie nicht zu läppiſcher Spielerei ausarten
ſollen. Eingefügt in den regelmäßigen Schulunterricht konnte das Turnen
der überfeinerten Bildung der Zeit ein heilſames Gegengewicht bieten und
die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht erleichtern. In dieſem
Sinne hatte Gneiſenau ſchon vor Jahren die kriegeriſche Ausbildung der
geſammten Jugend empfohlen; ähnlich, wenngleich etwas überſchwänglich,
äußerte ſich noch jetzt ein Breslauer Turnfreund, Hauptmann v. Schme-
ling in ſeiner Schrift „Turnen und Landwehr“. Jener wunderliche Heilige
aber, der ſich ſchon bei Lebzeiten durch ſeine Eulenſpiegeleien zu einer
ſagenhaften Perſon erhoben ſah, konnte auch das Vernünftige nur auf
närriſche Weiſe betreiben. Er war aufgewachſen im Haſſe gegen den
Kamaſchendienſt des alten Heeres und beſaß weder die Bildung noch die
[387]Turnplätze und Turnfahrten.
Beweglichkeit des Geiſtes um die Bedeutung des neuen Wehrgeſetzes zu
verſtehen. Da nach dem Frieden manche unnütze Paradekünſte wieder
aufkamen und die eleganten Gardeoffiziere Berlins die langhaarigen
Rüpel der Haſenhaide erſichtlich nur mit mäßigem Wohlgefallen be-
trachteten, ſo meinte Jahn, die Armee ſei wieder in den Zuſtand von
1806 zurückgeſunken, und polterte nach ſeiner alten Weiſe wider „die ge-
worbenen Söldnerſchaaren, die auf dem Prahlplatze gedrillt werden“. Die
gedankenloſe Jugend verfiel natürlich nicht auf die einfache Frage: wo
denn in Preußen die geworbenen Söldnerſchaaren ſein ſollten? — ſon-
dern ging gelehrig auf den Hohn ein und ſang jubelnd:


Es hat der Held- und Kraft-Uhlan

Sich einen Schnürleib angethan,

Damit das Herz dem braven Mann

Nicht in die Hoſen fallen kann.

Die Turnplätze wurden die fruchtbaren Heimathſtätten jener Partei-
legenden, welche dem Volke die Geſchichte ſeines Befreiungskrieges ver-
fälſchten: nicht die Künſte der Männer des Corporalſtocks, ſondern die Begei-
ſterung der Landwehr, des Landſturmes und vornehmlich der Freiſchaaren
hatte den Sieg errungen. Alle die Großthaten, welche Jahn mit ſeinen
Lützowern vorgehabt aber leider nicht zu Stande gebracht hatte, vollendeten
ſich jetzt nachträglich in den prahleriſchen Geſprächen ſeiner Turngenoſſen.
Wer dieſen Kraftmenſchen glaubte, mußte die Ueberzeugung gewinnen,
daß beim nächſten Einfall der Franzoſen die deutſche Turnerſchaft nur
eine einzige ungeheure Bauchwelle zu ſchlagen brauchte um den Feind zu
zermalmen. „Wir Sturmerprobten, verſicherte das Turnlied, wir zittern
vor Söldnerſchlachten nicht“ — und wieder:


Sold mag hinaus ſenden zum Strauß

Buntes Gewürme:

Thürme und Stürme

Sind wir, die Zügel und Flügel im Strauß!

Wie mit dem Heere, ſo wollte Jahn auch mit den Schulen nichts
gemein haben: ſeine Turnplätze ſollten eine Welt für ſich bleiben, die
Pflegeſtätten der Deutſchheit, durchaus von ſeinem Geiſte erfüllt. So
fromm und ehrlich er war, die unmäßige Bewunderung, die ihm von ſo
vielen begabteren Männern geſpendet ward, brachte ihn doch aus dem Gleich-
gewichte. Mußte er ſich nicht endlich ſelber für den Schutzheiligen der
deutſchen Jugend halten, ſeit Schenkendorf über das ſchöne Lied: „Wenn
Alle untreu werden, ſo bleiben wir doch treu“ die Aufſchrift geſetzt hatte:
„Erneuter Schwur an den Jahn!“ Da ſtand es ja klärlich zu leſen,
daß wenn Alle falſchen Götzen trauen, der Jahn allein und ſeine Ge-
treuen noch „predigen und ſprechen vom heiligen deutſchen Reich“. Zwei
Univerſitäten, Jena und Kiel, ſendeten ihm faſt gleichzeitig ihr Doctor-
diplom und feierten mit dem ganzen Pompe akademiſcher Amtsberedſamkeit
25*
[388]II. 7. Die Burſchenſchaft.
den Begründer der ars tornaria, den Erwecker der Jugend, den Retter deut-
ſcher Sprache, den anderen Martin Luther. Friedrich Thierſch widmete ihm
ſeine Ausgabe des Pindar und ſchilderte in einem ſchwungvollen Vorwort,
wie die Gymnaſtik bei den Hellenen und den Deutſchen mit allen idealen
Beſtreben der Menſchheit verſchwiſtert ſei; und doch erinnerten leider die
ſtämmigen Geſtalten der Vorturner von der Haſenhaide weit öfter an die
Gladiatorenbilder aus den Thermen des Caracalla als an die lorbeer-
geſchmückten Sieger von Olympia.


Wenn geiſtreiche Gelehrte den handfeſten Priegnitzer Bauer ſo ſeltſam
überſchätzten, wie hätten die Jünglinge ihn nicht vergöttern ſollen? Alles
ahmten ſie ihm nach, am gelehrigſten ſeine Untugenden: die barbariſche
Sprache, die Grobheit und Unflätherei. Seine Luſt an kräftigen, volks-
thümlichen Redewendungen wurde bald zur Manier, da ihm jede Selbſt-
kritik fehlte; die jungen Turner und die wüthenden Franzoſenfeinde der
Berliner „Geſellſchaft für deutſche Sprache“ überboten noch die Thor-
heiten des Meiſters, veranſtalteten unter dem Vorwande der Sprach-
reinigung eine gewerbmäßige Jagd auf alle Fremdwörter, nannten die
Univerſitäten Vernunftturnplätze, ſprachen im Concertſaale vom Einklangs-
wettſtreite des Klangwerks, von den Tiefknüppeln und Tiefgeigen und ge-
langten alſo zu einem ſchwülſtigen Kauderwälſch, das ebenſo undeutſch
und um Vieles geiſtloſer war als die mit ausländiſchen Brocken geſpickte
Sprache des ſiebzehnten Jahrhunderts. Jahns Sitten aber blieben noch
immer ebenſo ungeſchlacht wie einſt in den Tagen ſeiner akademiſchen
Heldenthaten, da er ſeinen Gegnern Kuhfladen ins Geſicht warf und ſich
am Abhange des Giebichenſteins in einer Höhle verſchanzte um auf die
anſtürmenden Hallenſer Landsmannſchafter Felsblöcke herabzuſchleudern.


Die Jugend verwilderte unter der Führung eines Banauſen, dem die
Kunſt und das Alterthum, die ganze Welt des Schönen verſchloſſen blieb.
Mit Muth und Rüſtigkeit war das neue Deutſchthum überreich geſegnet;
aber andere nicht minder deutſche Tugenden, die Beſcheidenheit, der wiſſen-
ſchaftliche Sinn, der entſagende Fleiß, die Ehrfurcht vor dem Alter
und dem Geſetze geriethen in Mißachtung. Der ſittenpredigende Eifer
ſteht Keinem wohl an, im Munde unreifer Burſchen klang er ebenſo ab-
geſchmackt wie das Prahlen mit der Keuſchheit, die doch nur Werth hat,
wenn ſie ſchamhaft und verſchwiegen bleibt. Alle verſtändigen Lehrer be-
gannen zu klagen, wie patzig und unlenkſam ihre Schüler würden und
wie das Küchlein ſtets klüger ſein wollte als die Henne. Wie oft hatten
die Ausländer ſchon gelächelt über den ſeltſamen Widerſpruch, daß die
Deutſchen von der Würde der Frauen vielleicht höher dachten als irgend
ein anderes Volk und doch in ihren Umgangsformen dies Gefühl ſo
wenig zeigten; erſt durch die Anmuth der neuen Literatur war dies män-
niſche Weſen etwas gebändigt und die Frau in der deutſchen Geſellſchaft
wieder zu ihrem guten Rechte gelangt; und nun reckte ſich der ungeleckte
[389]Turnſtaat und Turnlieder.
germaniſche Bär wieder brummend aus, die jungen Männer ſetzten ihren
Stolz darein, den Weibern unausſtehlich zu erſcheinen. Auch hinter der
gerühmten teutoniſchen Wahrhaftigkeit verbarg ſich viel Selbſtbetrug; der
biderbe Ton war eine Mode wie andere auch, die Roheit oft ebenſo er-
künſtelt wie bei anderen Nationen die Höflichkeit. Unter dem Terroris-
mus deutſchthümelnder Kraftworte und Kraftſitten verkümmerte was den
Kern alles deutſchen Weſens bildet, die ſtolze Freiheit der perſönlichen
Eigenart. Die geſpreizte Unnatur dieſes bewußten und gewollten Ber-
ſerkerthums bewies nur, daß die menſchlich heitere Tugend der Athener
dem deutſchen Geiſte näher ſteht als die gemüthloſe Sittenſtrenge der
Spartaner.


Das Wunderlichſte blieb doch, daß dieſe neue das ganze Vaterland
mit ihren Träumen umfaſſende Deutſchheit ſofort in den unausrott-
baren alten kleinſtädtiſchen Zunftgeiſt zurückfiel und gleich damit begann
eine ſtreng geſchloſſene Sekte mit eigenem Brauch und eigener Sprache
zu bilden. Hier war der Turnſtaat, das Turnleben, das Turnbekenntniß,
hier allein blühte die wahre Freiheit und Gleichheit:


So hegen wir ein freies Reich,

An Rang und Stand ſind Alle gleich.

Freies Reich! Alle gleich! Heiſa juchhe!

In den Turnliedern erklingen nur ſelten die hellen Töne unbefangener
jugendlicher Fröhlichkeit; die meiſten der jungen Poeten werfen ſich in
Fechterſtellung, fahren herausfordernd, drohend, ſcheltend auf die Feinde der
löblichen Turnkunſt los: „rührt’s auch den Aar, wenn ihn verlacht ein Sper-
ling auf dem Miſt?“ Und wie thöricht nährte Jahn ſelber dieſen Sekten-
geiſt. Wer dem geweihten Kreiſe fern blieb war ein Meindeutſcher, ein Sie-
männlein, ein Zwingherrnknecht und wurde von den Zunftgenoſſen ganz
wie ein Bönhaſe mit der gröbſten Unduldſamkeit behandelt. In ſeinem
ſiebenten Turngeſetze befahl Jahn geradezu: jeder Turner ſolle ihm ſogleich
eine Anzeige machen, wenn er etwas erführe „was für und wider die
Turnkunſt derſelben Freund oder Feind ſprechen, ſchreiben oder wirken,
damit zu ſeiner Zeit und an ſeinem Orte aller ſolcher Kunden mit
Glimpf oder Schimpf könne gedacht werden!“ So wuchs allmählich in
aller Unſchuld ein kleiner Staat im Staate empor; die harmloſe Turnerei
nahm Vieles von den Unarten des politiſchen Parteifanatismus an, und
manches ängſtliche Gemüth fühlte ſich durch das Puritanerthum der deut-
ſchen Langhaare an die engliſchen Rundköpfe erinnert oder verglich die
teutoniſchen Sanscravatten gar mit den Sansculotten der Revolution.


An den Thorheiten der Jugend ſind die Erwachſenen immer mit-
ſchuldig. Die Anmaßung des jungen Volks wäre nie ſo hoch geſtiegen,
wenn nicht die Alten das kindiſche Spiel in Lob und Tadel mit einer
Ueberſchätzung behandelt hätten, die uns heute im Gedränge unſerer ernſten
Parteikämpfe ſchon unbegreiflich vorkommt. Das öffentliche Leben in Preußen
[390]II. 7. Die Burſchenſchaft.
ſchien ganz erſtorben, die große Arbeit der Wiederherſtellung des Staates
ſpielte ſich in der Stille der Amtsſtuben ab. Die Zeitungen wieſen dem
Vaterlande nur ein beſcheidenes Plätzchen am Ende des Blattes, hinter
den ausländiſchen Nachrichten an und wußten oft wochenlang aus der
Heimath von nichts zu berichten, als von fürſtlichen Beſuchen und Ma-
növern oder von dem „gewiß ſeltenen“ Feſte eines Amts-Jubiläums, wo-
bei der Jubelgreis den rothen Adlerorden empfangen und über „dieſen
gewiß ſeltenen Beweis Allerhöchſter Gnade“ Thränen der Rührung ver-
goſſen hatte. Nur die Turnplätze gaben noch Stoff zum Erzählen: die
Blätter wurden nicht müde zu ſchildern „wie tief gemüthlich und kindlich
fromm, wie ſtarkmüthig und voll ſinniger Tiefe“ dieſe ſtreitbare Jugend
ſei, obgleich die Mehrzahl ihrer ruheſeligen Leſer im Stillen „die unge-
bleichten Racker“ verwünſchte. Der prahleriſche Lärm der Turnfahrten
erinnerte ſtark an das aufgeregte Treiben der Geißlerſchaaren des Mittel-
alters; in manchem kleinen Orte empfing der geſammte Stadtrath die
Turnerſchaar wie ein ſiegreiches Heer am Thore, und als Jahn ſeine Ge-
treuen zum erſten male nach Breslau hinüberführte, war ihm die halbe
Stadt auf der Landſtraße entgegengezogen, ſtundenweit ſchritten die ſchweiß-
triefenden, durch den langen Dauerlauf keineswegs verſchönerten jungen
Helden zwiſchen dem Spalier der gaffenden Bürger dahin.


Neben ſolchen Philiſtern mußten ſie ſich wohl ſelber als auserwählte
Vorkämpfer „der guten Sache“ fühlen. Wohl gab es auch unter den Alten
noch Einzelne, „die nicht Geiſteskrüppel waren“ und den Turnern gleich
das wälſche Weſen, die franzöſiſche „Schmutz- und Giftſprache“ tapfer
bekämpften. So der Juriſt Theodor Welcker in ſeiner Schrift: „warum
muß das Franzöſiſche weichen?“ So Willemer in Frankfurt, der Gatte
von Goethes Suleika; der ſchrieb ein „Wort an Deutſchlands Frauen“
um die Pariſer Tracht zu verdrängen. Denſelben Gedanken führte dann
Hofrath Becker in Gotha weiter aus, unter heftigen Ausfällen wider „die
Putzpüppchen und die läppiſche Geſetzgeberin Mode“; das ſauber gemalte
Muſterbild des „deutſchen Feyerkleides“, das er ſeinem Buche beigab, war
nur leider nichts anderes als eine Nachbildung der ſchwarzen ſpaniſchen
Tracht des ſiebzehnten Jahrhunderts. Die deutſchen Frauen aber wollten
die bunten Farben nicht aufgeben, die Männer den Gedankenaustauſch
mit der franzöſiſchen Cultur nicht miſſen. Da die Alten alſo ſich im
Wälſchthum verſtockten, ſo blieb die Deutſchheit allein auf die Jugend
angewieſen, und hier ward ſie täglich hochmüthiger. Mancher Vater ſendete
ſeine Söhne nur darum auf den Turnplatz, weil er ſie vor dem Hohne
der Genoſſen bewahren wollte. Wo immer ein junger Mann einen andern
traf, der gleich ihm ſelber einen Dolch an ſtählerner Kette über dem ſchä-
bigen altdeutſchen Rocke trug, da fanden ſich die Beiden raſch zuſammen
wie die Mitglieder einer unſichtbaren Kirche und ſchwärmten ſelbander für
ihre „Ueberzeugung“. Dieſer Ausdruck hatte ſonſt nur die von außenher,
[391]Jahn als Politiker.
durch das Zeugniß Anderer gewonnene Erkenntniß bezeichnet, jetzt erhielt
er einen neuen pathetiſchen Sinn, der ihm bis heute geblieben iſt. Ueber-
zeugung war die Stimme des Gewiſſens, das wahre Ich des Deutſchen,
Ueberzeugungstreue die höchſte aller Tugenden, ſeine Ueberzeugung ändern
hieß ſich ſelber und die Deutſchheit verrathen. Im Hochgenuſſe der ge-
meinſamen Ueberzeugung fühlte ſich das junge Volk der Zukunft ſicher,
und der Gießener Sartorius, genannt der Bauer, ſang in ſeinem „Turn-
leben“:


Ueber jede Schickſalsbeugung

Schwingt uns unſre Ueberzeugung.

Dieſe macht uns Alle gleich,

Stiftet unſer neues Reich.

Worin dieſe heilige Ueberzeugung eigentlich beſtehe? — das wußte
freilich von den jungen Schwärmern Niemand zu ſagen. Am wenigſten
vielleicht der Turnvater ſelber. Nichts lächerlicher als der Vorwurf ge-
heimer Verſchwörungskünſte gegen ihn, der ſich nur wohl fühlte wo ge-
ſchrien und gepoltert ward. Jahns Königstreue ſtand außer jedem Zweifel;
wie oft hat er noch in ſpäteren Jahren ſeine jungen Freunde belehrt, daß
alles Heil Deutſchlands nur von Preußen kommen könne. Sein Traum
blieb die Einheit des Vaterlandes. Er fühlte, und ſprach es oft in kräftigen
Worten aus, daß ein Coalitionskrieg mit verkümmertem Erfolge nicht ge-
nügte um den ſchlummernden Nationalſtolz zu wecken: „Deutſchland
braucht einen Krieg auf eigene Fauſt um ſich in ganzer Fülle ſeiner
Volksthümlichkeit zu entfalten.“ In ſeinen Runenblättern (1814) ſchil-
derte er, noch nachdrücklicher aber auch noch wunderlicher als einſt in
ſeinem Deutſchen Volksthum, wie die Seele des Volkes in der Kleinſtaaterei
verkümmert: „Das Vaterland muß Hochgefühle wecken, Hochgedanken er-
zeugen, ein Heiligthum ſein und Heldenthum werden. Erbärmlichkeit iſt
das Grab alles Großen und Guten. Rhein und Rinnſtein, Berlin und
Berlinchen, Wien und Winzig, Leipzig und Lauſig.“ Er hoffte wie Fichte
auf einen Zwingherrn zur Deutſchheit: „den Waltſchöpfer und Einheits-
ſchaffer verehrt jedes Volk als Heiland und hat Vergebung für alle ſeine
Sünden.“ Doch über die Formen und die Mittel der deutſchen Einheit
hatte er niemals irgend nachgedacht; ihm galt es gleich, ob das Kaiſer-
thum einem Hauſe erblich übertragen würde oder zwiſchen den deutſchen
Fürſten reihum ginge „wie die Braugerechtigkeit in manchen Städten“.


Vor der Maſſe ſeiner Turner ſprach er ſelten über Politik, und
manche ſtrengconſervative junge Männer, wie die Gebrüder Ranke nahmen
an den Uebungen theil ohne irgend ein Aergerniß zu bemerken. Um ſo
ſchwerer verſündigte ſich Jahn durch unnütze Reden im Kreiſe ſeiner ver-
trauten Genoſſen: da ſchimpfte er unbändig auf Menſchen und Dinge,
welche weit über ſeinen Geſichtskreis hinausragten, da prunkte er mit
nahenden Kämpfen gegen unbekannte Feinde. Was ſollte ſich der junge
[392]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Heißſporn Heinrich Leo dabei denken, wenn ihn der Turnvater ausführ-
lich belehrte: mit dem Dolche müſſe man zuerſt nach den Augen zielen
und dann, wenn das Opfer die Arme vor den Kopf halte, nach der unge-
deckten Bruſt ſtoßen —? Franz Lieber aber, der geiſtvollſte und aufge-
regteſte unter den jungen Schwarmgeiſtern, trug alle „Goldſprüchlein aus
Vater Jahns Munde“ gewiſſenhaft in ſein Taſchenbuch ein und ver-
ſchönerte ſie zuweilen noch durch die Weisheit ſeines eigenen achtzehnjäh-
rigen Kopfes; wenn der Meiſter die gewichtigen Worte ſprach: „Wort
gegen Wort, Feder gegen Feder, Dolch gegen Dolch“ ſo fügte der Schüler
auf eigene Fauſt den Schluß hinzu: „nehmen ſie mich feſt, wohlan!“ —
und das ſinnloſe Bramarbaſiren klang wie das Loſungswort einer Ver-
ſchwörung. Mit der Vertreibung der Franzoſen war Jahns politiſcher
Gedankenvorrath erſchöpft; die öffentlichen Vorleſungen über das Deutſch-
thum, die er im Jahre 1817 hielt, brachten außer einzelnen guten Ein-
fällen nur noch hohle Schlagworte. Am Liebſten wollte er zwiſchen Deutſch-
land und Frankreich eine große „Hamme“ einrichten, eine von Bären und
Auerochſen bewohnte Wildniß; da dies leider nicht mehr anging, ſo mußte
mindeſtens jeder Verkehr mit den Wälſchen aufhören: „wer ſeine Tochter
franzöſiſch lernen läßt thut nichts Beſſeres als wer ſie die Hurerei lehrt.“
Dazwiſchenhinein heftige Angriffe auf die geheime Rechtspflege der „Schmier-
gerichte mit ihrem Förſchlerverfahren“, und ein ganzes Wörterbuch von
Schimpfreden wider die Hofleute und Staatsmänner, dieſe Vorgemachs-
haſen, Steigemänner, Schürzenkrebſe, Kuppelpelze, Wettergänſe. Zum
Schluß rief er: „Gott ſegne den König, mehre die Deutſchheit und ver-
leihe gnädig und bald das Eine was noth thut, eine weiſe Verfaſſung.“


Was er ſich unter der weiſen Verfaſſung dachte, blieb ihm ſelber
dunkel. Das junge Volk aber ſäumte nicht, im thörichten Abſprechen über
unverſtandene Fragen den Meiſter noch zu überbieten. Der Cynismus
der Turnerei, ihr Haß gegen allen Glanz und allen Adel wurzelte freilich
in unausrottbaren Eigenheiten des deutſchen Charakters; die Sehnſucht
nach der formloſen Einfachheit urſprünglichen Menſchenlebens war unſerem
Volke immer geblieben und hatte ſich ſchon oft, ſobald das germaniſche
Blut in Wallung gerieth, in ungeſtümer Roheit Luft gemacht, ſo in den
grobianiſchen Schriften des ſechzehnten Jahrhunderts und neuerdings wieder
in der Zeit der poetiſchen Stürmer und Dränger. Doch auch der politiſche
Gleichheitsfanatismus der verabſcheuten Jakobiner wirkte unbewußt auf
die Gedanken der Turner ein. Wenn Buri’s „Turnruf“ die Eitlen vom
Ringplatze hinwegwies mit den Worten: „fort aus der Gleichheit Heilig-
thum, das Knecht’ und Herren haßt,“ ſo konnte es nicht ausbleiben, daß
junge Hitzköpfe dies Evangelium der Gleichheit kurzerhand auf das politiſche
Leben übertrugen. Waidliche Scheltworte wider die „Schmarotzer, Komö-
dianten, Huren, Pferde und Hunde“ der praſſenden Höfe gehörten zum
Turnerbrauche, und in den Schulſtuben vergnügte man ſich an einer
[393]Der Breslauer Turnſtreit.
Rechenaufgabe, die ein geſinnungstüchtiger teutoniſcher Lehrer aufgebracht
hatte: wenn ein fürſtlicher Hof zwei Millionen Thaler koſtet, wie viel koſten
dreiunddreißig? Manche der ſchönen Lieder des Befreiungskrieges erhielten
jetzt im Frieden einen anderen Sinn; der Volkszorn, den ſie aufriefen,
wendete ſich, nun der fremde Zwingherr geſtürzt war, unwillkürlich wider
die heimiſchen Feinde; und bald tauchten neue Geſänge auf, welche offen
den Kampf der freien Turnerſchaft gegen die Kronen verherrlichten:


Noch ficht mit der Wahrheit gekrönter Wahn,

Noch kämpft mit dem Teufel die Tugend …

Der Freiheit Wiege, dein Sarg, Drängerei,

Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerei!

So ward der lautere Enthuſiasmus der Jugend für die Einheit des
Vaterlandes nach und nach durch radicale Phraſen getrübt. Für die
bürgerliche Ordnung ſtand von ſolchem Wortſchwall wenig zu fürchten;
aber die Rechtſchaffenheit des heranwachſenden Geſchlechts ward gefährdet,
wenn das junge Volk alſo in hochmüthigen Drohungen zu ſchwelgen be-
gann und ganz verlernte, daß Worte einen Sinn haben.


Den ſtreng militäriſchen Anſchauungen des Königs war die Roheit
der Turner von Haus aus verhaßt. Hardenberg dagegen, dankbar und
wohlwollend wie er war, vergaß der Verdienſte nicht, die ſich Jahn in
der Zeit der geheimen Rüſtungen erworben hatte, und behandelte ſeine
Schrullen mit großer Nachſicht. Eine freundliche Verwarnung konnte er
ihm freilich nicht erſparen, als ein Hausvater, der ſeine Tochter fran-
zöſiſch lernen ließ, ſich über Jahns Schmähungen beſchwerte. Die Wie-
derholung jener öffentlichen Vorleſungen wurde unterſagt; im Uebrigen
blieb Jahn unbeläſtigt und bezog Gehalt aus der Staatskaſſe. Auch
Altenſtein erkannte den Nutzen der Turnübungen unbefangen an und be-
ſchäftigte ſich mit dem Plane ihrer Einführung in die Schulen. Beide
Staatsmänner waren bereit, dem Turnvater eine Verſorgung, etwa als
Landwirth, zu verſchaffen; nur für das akademiſche Amt eines Lektors
der deutſchen Sprache, das er ſich wünſchte, fanden ſie ihn nicht befähigt.*)


Der erſte ernſte Angriff auf die Turnerſchaft ging von literariſchen
Kreiſen aus. Nach dem Berliner Vorbilde wurden zuerſt in Breslau, dann
in vielen anderen Städten Turnplätze eingerichtet; Jahns Buch über die
deutſche Turnkunſt, das er mit ſeinem Schüler Eiſelen herausgab, diente
beim Unterricht überall als Leitfaden. Da erhob Steffens ſeine warnende
Stimme gegen die Ausartung der Turnerei, zuerſt 1817 in dem Buche:
„die gegenwärtige Zeit und wie ſie geworden“, nachher in den Caricaturen
des Heiligſten und anderen Schriften, und nun begann unter allgemeiner
Theilnahme der große Breslauer Turnſtreit, einer jener mehr literari-
ſchen als politiſchen Kämpfe, in denen ſich die patriotiſche Leidenſchaft
[394]II. 7. Die Burſchenſchaft.
dieſer Uebergangszeit zu entladen pflegte. Steffens urtheilte über die
fratzenhaften Unarten der Turner allzu hart; ſeine feine äſthetiſche Natur
verkannte, wie ſelten ein echter Germane ohne ein vollgerütteltes Maß
jugendlicher Roheit zu männlicher Kraft und Haltung gelangt; auch fehlte
ihm der behagliche Humor, der doch nöthig war um den ehrenwerthen
Kern hinter Jahns Wunderlichkeit herauszufinden. Aber das ſchwere
ſittliche Gebrechen der Turnplätze, den heilloſen Hochmuth des jungen
Geſchlechts erkannte er richtig, und die ehrliche Geſinnung des feurigen
Redners, der im Frühjahr 1813 die Breslauer Jugend durch Wort und
Beiſpiel begeiſtert hatte, ließ ſich nicht in Abrede ſtellen. Wackere Männer
ſtanden hüben und drüben, Freunde und Brüder gingen im Zorne aus-
einander. Karl v. Raumer trennte ſich von ſeinem Schwager und Waffen-
gefährten Steffens; ſein Bruder Friedrich und deſſen Fachgenoſſe der
Hiſtoriker Karl Adolf Menzel hielten die Partei des Anklägers. Unter
den Vertheidigern der Turnplätze that ſich außer dem Pädagogen Harniſch
namentlich Paſſow hervor, der gelehrte Lexikograph. Seine freimüthige
aber auch ſehr leidenſchaftliche Schrift „Turnziel“ ſtellte der Turnkunſt
gradeswegs die Aufgabe „der allmählichen Entwicklung zu den höchſten
Zielen der Menſchheit“; dies ſei ein edlerer Zweck als die Ausbildung
von „Söldnern und Miethlingen für die Blutbank der Willkür“. Wenn
die Alten mit ſo feierlichem Ernſt von der culturfördernden Macht des
Recks und des Barrens redeten, dann konnte die Jugend allerdings nicht
mehr bezweifeln, daß ſich die Welt um ſie drehe.


Durch Steffens’ Auftreten wurden einige ängſtliche Leute in Berlin,
welche ſchon längſt unheimliche demagogiſche Zwecke hinter der Turnerei
gewittert hatten, zu neuen Angriffen ermuthigt: der Oberlehrer Wadzeck,
der Schriftſteller Scheerer und nicht zuletzt der berüchtigte Cölln, deſſen
Schmähſchrift „die Feuerbrände“ noch von den Zeiten des Tilſiter Friedens
her in üblem Andenken ſtand. Die Gehäſſigkeit ſolcher Denunciationen
vergiftete nun vollends den unbefangenen Sinn der Jugend. Jahn
polterte wider „dieſe vielköpfige Otter, dies Gezücht, das ſich mit Recht
Schriftſteller nennt, weil es wirklich Anderer Schriften nachſtellt“. Seine
Jungen ſangen ein Trutzlied mit dem eleganten Wortſpiele „nicht zecken
und nicht ſcheeren ſoll uns ein fauler Bauch“ und nannten die Holz-
köpfe, die ſie auf der Haſenhaide mit dem Ger herunterſchoſſen, Wadzecks.
Eine krankhafte, völlig zielloſe politiſche Aufregung nahm auf den Turn-
plätzen mehr und mehr überhand. Mit Bedauern ſah Altenſtein dieſe
Wendung. Er wußte, daß der Unwille des Königs täglich zunahm, und
ſchrieb dem Staatskanzler beſorgt: „wenn ſchon das Turnen ſo mißbraucht
und ſo falſch aufgefaßt wird, ſo verliert man die Hoffnung auf Größeres,
auf die Verfaſſung u. A.“*) So lange als möglich bewahrte er ſeine
[395]Thüringen.
wohlwollende Haltung; erſt als das lärmende Treiben der akademiſchen
Jugend die Reaktion entfeſſelt hatte, brach die Verfolgung auch über die
Turnplätze herein. —


Die Turnerei ging von Berlin aus, die Wiege der Burſchenſchaft
ſtand in Thüringen. Und wo hätte auch dieſer romantiſche Studenten-
ſtaat ſo zuverſichtlich, ſo ſelbſtgefällig, ſo ganz unbekümmert um die harten
Thatſachen der Wirklichkeit ſein naives Traumleben führen können, wie
hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchaliſchen Völkchens,
das den Ernſt des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheils-
mächten, welche unſerem Volke den Weg zur ſtaatlichen Größe erſchwerten,
ſteht die durchaus unpolitiſche Geſchichte dieſer Mitte Deutſchlands viel-
leicht obenan. Faſt alle anderen deutſchen Stämme nahmen doch irgend
einmal einen Anlauf nach dem Ziele politiſcher Macht, die Thüringer
niemals. Unſere Cultur verdankt ihnen unſäglich viel, unſer Staat gar
nichts. Schon in den älteſten Zeiten vermochten ſie nicht ſich ein eigenes
Stammesherzogthum zu ſchaffen. Späterhin unter der Herrſchaft ſeiner
Landgrafen errang ſich Thüringen zum erſten male einen glänzenden
Platz in dem geiſtigen Leben der Nation, nicht durch die Fülle ſeiner
eigenen Talente, ſondern durch eine weitherzige, verſtändnißvolle Gaſt-
freundſchaft, wie ſie der centralen Lage des Landes entſprach. Frau
Aventiure hielt auf der Wartburg ihren heiteren Hof, und die ritterlichen
Sänger aus allen Gauen des Reichs warben mit dem Wohllaut ihrer
Reime um die Gunſt Hermanns des Milden. Aber an den großen
Machtkämpfen jener ſtaufiſchen Zeiten nahm das liederfrohe Land nur
geringen Antheil. Auch als nachher die Wettiner die Herrſchaft antraten,
blieb Thüringen immer ein Nebenland; der ſächſiſche Rautenkranz ver-
drängte den alten geſtreiften Landgrafenlöwen. Der politiſche Schwerpunkt
der wettiniſchen Hausmacht lag in der Mark Meißen, im Kurkreiſe und im
Oſterlande, und nicht lange, ſo ward der aufblühende mitteldeutſche Staat
wieder zerſtört durch jene verhängnißvolle Theilung, welcher die ſelbſtmör-
deriſchen Bruderkämpfe der Erneſtiner und der Albertiner entſprangen.


Zum zweiten male ſtieg ein lichter Tag geiſtigen Ruhmes über
Thüringens Bergen empor, als der größte Sohn des Landes unter dem
Schutze ſeiner frommen Fürſten den Kampf für das Evangelium begann
und die Burg des ritterlichen Minneſanges die Geburtsſtätte der deut-
ſchen Bibel wurde. Doch eben dieſe reiche Zeit entſchied auch den poli-
tiſchen Verfall des Landes. Die deutſche Geſchichte kennt nur wenige ſo
tragiſche Schickſalswechſel wie den jähen Zuſammenbruch der Erneſtini-
ſchen Macht; kein anderes unſerer fürſtlichen Geſchlechter hat die Verſäum-
niß großer Stunden ſo bitter, und die alte Wahrheit, daß die politiſche Welt
dem kühnen Wollen gehört, ſo ſchmerzlich empfinden müſſen. Als Kaiſer
[396]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Max die Augen ſchloß, war Kurfürſt Friedrich der Weiſe das Haupt
unſeres Fürſtenſtandes, der Führer der Reformpartei im Reiche, und es
lag in ſeiner Hand, der Nation ein deutſches, ein evangeliſches Kaiſer-
thum zu ſchaffen; er aber wies die Krone zurück, denn „die Raben wollen
einen Geier haben“. Seinen beiden Nachfolgern bot eine ſeltene Gunſt
des Glückes wieder und wieder die Gelegenheit das Verſäumte nachzu-
holen. Auf jedem Reichstage blickte das Volk erwartungsvoll nach dem
Pfauenfederhelmbuſch der Erneſtiner. Bei dem Proteſt von Speyer, bei
der Uebergabe der Augsburger Confeſſion, überall wo es nur gilt ein
Zeugniß abzulegen für das Wort Gottes, da ſtehen ſie „wohl auf dem
Plan“ und bewähren ihren ehrenfeſten Wahlſpruch: „gradaus giebt einen
guten Renner.“ In ihrem Lande bildet ſich die erſte evangeliſche Landes-
kirche, unzertrennlich verwächſt ihr Name mit allen großen Erinnerungen
des Proteſtantismus. Doch über die paſſiven Tugenden der Standhaf-
tigkeit und Treue reicht ihre Begabung nicht hinaus. Der einzige Ent-
ſchluß, der retten kann, der Entſchluß zum offenen Kampfe wider die
ſpaniſche Fremdherrſchaft wird in gewiſſenhafter Bedachtſamkeit und träger
Thatenſcheu verſchoben und verſchoben, bis endlich die beiſpielloſe poli-
tiſche Unfähigkeit des phlegmatiſchen Zauderers Johann Friedrich der über-
legenen Staatskunſt der Habsburger und der Albertiniſchen Vettern kläg-
lich erliegt.


Kaum ein Menſchenalter nach jener kleinmüthigen Entſagung Kur-
fürſt Friedrichs bekommen ſeine Enkel ſelber die ſcharfen Fänge des his-
paniſchen Geiers zu ſpüren; der Kurhut mitſammt den alten wettiniſchen
Stammlanden geht an die Albertiner verloren, und die Vormacht der deut-
ſchen Proteſtanten trägt aus dem ſchmalkaldiſchen Kriege ſtatt der Lorbeeren
des Helden nur die Märtyrerkrone des Bekenners davon. Ein unheim-
licher Anblick, wie die gedemüthigte glorreiche Dynaſtie nunmehr, nach
einem ſchwächlichen Verſuche der Wiedererhebung, ſich ſo gelaſſen in die
neuen kümmerlichen Verhältniſſe findet und, jedes politiſchen Gedankens
baar, ganz befangen in kleinbürgerlichen Hausvaterſorgen, die geretteten
Trümmer ihrer alten Macht durch eine endloſe Reihe von Theilungen und
Mutſchirungen ſo lange zerſtückelt, bis ſie ſchließlich auf die unterſte Stufe
des deutſchen Fürſtenſtandes hinabſinkt. Auch die in Thüringen abge-
fundenen Nebenlinien der Albertiner verfallen der gleichen Verblendung.
Immer neue Linien entſtehen und verſchwinden wieder, die thüringiſchen
Lande ſind in ewiger Bewegung wie die walzenden Grundſtücke einer
Dorfflur; in anderthalb Jahrhunderten wechſelt die Herrſchaft Römhild
fünfmal ihren Herrn, mit jeder neuen Theilung verwirren und verfitzen
ſich die Grenzen, in Ruhla ſcheidet ein Bach mitten in der Dorfſtraße
weimariſches und gothaiſches Gebiet, und der Jenenſer Student kann auf
einer kurzen Nachmittagswanderung leicht mit der Polizei von drei oder
vier Landesherren in Händel gerathen.


[397]Die Erneſtiner.

So ward Thüringen neben Schwaben das gelobte Land des deut-
ſchen Kleinlebens. Als der moderne Staatsgedanke endlich auch in dieſen
Hausherrſchaften erwachte, als Ernſt Auguſt von Weimar die Primo-
genitur-Ordnung einführte und die Erneſtiniſchen Vettern allmählich, Mei-
ningen erſt im Jahre 1801, dem guten Beiſpiele folgten, da war die
Zertrümmerung ſchon vollendet, und die Kleinſtaaterei zeigte ſich hier
lebenskräftiger als im Südweſten, weil ſie ausſchließlich in den Formen
weltlicher Fürſtenherrſchaft erſchien. Zur Zeit des Friedensſchluſſes ver-
theilten ſich die 700,000 Menſchen, welche das kleinfürſtliche Thüringen —
mit Ausſchluß der preußiſchen und heſſiſchen Gebiete — bewohnten, unter
fünf ſächſiſche Häuſer, zwei Schwarzburg und drei Linien Reuß, von
denen die Bundesakte leider nur zwei anerkannte. Und dieſe neun oder
zehn Staaten ſtanden einander als ſouveräne Mächte, völlig ſelbſtändig
gegenüber; an gemeinſamen Inſtitutionen beſaßen ſie nichts als die Uni-
verſität, die von den fünf ſächſiſchen durchlauchtigſten Nutritoren unter-
halten wurde, und das neue Jenenſer Oberappellationsgericht. Dem Volke
kam wohl zuweilen eine Ahnung von der Jämmerlichkeit dieſer Zuſtände.
In der Gegend von Roth, zwei Stunden von Hildburghauſen, ſang man
das Lied:


Hildburghäuſer Gebot

Langt bis Roth;

Da hat’s a Krümm

Und kehrt wieder üm.

Im Grunde fühlte man ſich doch glücklich in dieſer traulichen Enge,
wo Fürſtengnade und Vetterngunſt jedem halbwegs brauchbaren Menſchen
den Lebensweg ſo behaglich ebneten; die häusliche Tugend der wackeren
Erneſtiniſchen Betefürſten ſtand dem Volke näher als die dämoniſche Ge-
ſtalt jenes Bernhard von Weimar, der einmal doch mit dem Schmettern
ſeines Schwertes die eintönige Idylle dieſer Landesgeſchichte unterbrach.
Niemals, auch nicht in der Fieberhitze des Jahres 1848, haben die Thü-
ringer ernſtlich an die Mediatiſirung ihrer kleinen Herren gedacht.


Wie überall in Mitteldeutſchland drängte ſich auch hier eine bunte
Mannichfaltigkeit volksthümlicher Sitten und Bräuche auf engem Raume
zuſammen. Der einſame Rennſteg auf dem Kamme des Thüringer
Waldes, vor Zeiten der Grenzweg zwiſchen Thüringen und Franken,
bildete noch immer eine ſcharfe Stammesſcheide: ſüdwärts der ſtark
fränkiſch gefärbte hennebergiſche Dialekt und das rein ſüddeutſche Volk
im Coburgiſchen, nördlich das eigentliche Thüringen zwiſchen Saale und
Werra, und von dieſem wieder verſchieden das mit ſlaviſchen Elementen
gemiſchte Volksthum öſtlich der Saale. Auch in den neuen, ſo ſpät
und zufällig entſtandenen dynaſtiſchen Gebieten bildete ſich bald ein
zäher Partikularismus aus, harmlos und philiſterhaft, doch immerhin
ſtark genug um jede Aenderung zu erſchweren. Alle guten Meininger
[398]II. 7. Die Burſchenſchaft.
fühlten ſich beglückt, als ihr händelſüchtiger Herzog Anton Ulrich, um
den Vettern in Weimar und Gotha das erhoffte Erbe zu entziehen, noch
in ſeinen ſechziger Jahren eine zweite Ehe ſchloß und dann aus eitel
Bosheit noch acht Kinder erzeugte. Gotha und Altenburg, lange unter
einem Herzogshute vereinigt, behaupteten ſich unerſchütterlich als zwei
ſelbſtändige Staaten, erkannten nicht einmal gegenſeitig ihre Münzen an;
und nur der Willenskraft Karl Auguſts gelang es nach ſchweren Kämpfen
die drei Fürſtenthümer Weimar, Jena und Eiſenach zu einem Geſammt-
ſtaate zu vereinigen. Die natürliche Hauptſtadt des Landes, Erfurt,
hatte unter der Herrſchaft des Mainzer Krummſtabs immer eine Sonder-
ſtellung in ihrer proteſtantiſchen Umgebung eingenommen und führte
nachher, ſeit dem Untergange ihrer Univerſität das ſtille Daſein einer
Feſtungs- und Beamtenſtadt.


So rieſelte das politiſche und geiſtige Leben in dünnen Bächlein
zertheilt dahin. Unter den größeren Städten fand ſich faſt keine, die
nicht einmal einem fürſtlichen Hauſe zum Wohnſitz gedient hätte; aber
keine dieſer winzigen Reſidenzen kam aus der Dürftigkeit lakaienhafter
Kleinſtädterei hinaus. Ueberall die Anſätze eines reicheren geiſtigen
Schaffens, kleine Sammlungen und gemeinnützige Anſtalten, ſieben öffent-
liche Bibliotheken nahe bei einander, nirgends etwas Ganzes und Großes.
Das Land war mit Schlöſſern, Parks und Wildgehegen überſäet wie
kein anderer Gau im ſchlöſſerreichen Deutſchland. Manche dieſer Fürſten-
ſitze blieben dem Volke durch bedeutſame Erinnerungen theuer, ſo die
Wartburg und der vielumkämpfte Friedenſtein, ſo Altenburg, die Stätte
des Prinzenraubes, ſo die Feſte Coburg, wo Luther ſein Aſyl gefunden, und
die Fröhliche Wiederkunft, wo Johann Friedrich beim edlen Waidwerk ſich
von den Aengſten der ſpaniſchen Haft erholt hatte. Viele andere aber
erzählten nur von den poſſirlichen Schrullen eines unbeſchäftigten Klein-
fürſtenſtandes, der mit ſeiner Zeit und Kraft nichts anzufangen wußte:
hier hatte einer der Schwarzburgiſchen Günther ſeiner Gemahlin zum
Poſſen in den Waldbergen der Hainleite das Jagdſchloß „der Poſſen“
erbaut, dort Chriſtian von Weißenfels zur Verewigung ſeiner Cäſaren-
größe ſein eigenes Conterfei erſt dreimal in rieſigen Reliefs an den
rothen Felsmauern der Weinberge des Unſtrutthals, umgeben von Vater
Noah und herbſtenden Winzern, dann noch einmal als vergoldetes
Reiterſtandbild auf dem Freiburger Markte aushauen laſſen.


Unterthänige Federn nannten das anmuthige Land einen von Fürſten-
händen gepflegten Garten Gottes; in Wahrheit blieb die treufleißige
Sorgſamkeit der kleinen Landesväter bis tief in das achtzehnte Jahr-
hundert hinein ſehr unfruchtbar. Die Geiſter verknöcherten unter der
langjährigen Herrſchaft des harten Lutherthums. Einzelne Fürſten, wie
Ernſt der Fromme von Gotha, verſtanden wohl ein kräftiges kirchliches
Leben zu wecken, den meiſten war die Theologie nur ein geiſtloſer Zeit-
[399]Thüringiſche Kleinſtaaterei.
vertreib; glücklich der Hof, der unter ſeinen Prinzen einen „durch-
lauchtigen achtjährigen Prediger“, wie Wilhelm Ernſt von Weimar, auf-
weiſen konnte. Späterhin drangen mit der weltlichen Bildung auch
viele Sünden des höfiſchen Abſolutismus ein. Grobe Sittenloſigkeit
war unter den ehrbaren Erneſtinern ſelten, aber die Soldatenſpielerei
und der Menſchenverkauf nahmen arg überhand, und der allwiſſende
Bevormundungseifer der neuen fürſtlichen Vollgewalt verſtieg ſich in
dieſer kleinen Welt oft bis zum Aberwitz. Noch im fridericianiſchen Zeit-
alter erfand Ernſt Auguſt von Weimar die berühmten mit kabbaliſtiſchen
Zeichen bemalten Feuerteller, welche in die Flammen geworfen jeden
Brand ſofort erſticken ſollten, und zwang alle ſeine Gemeinden zur An-
ſchaffung dieſes Löſchgeräths.


Erſt durch Karl Auguſt kam wieder ein freierer Zug in das thürin-
giſche Leben. Zum dritten male ward die Mitte Deutſchlands der warme
Heerd unſerer nationalen Cultur. Wieder wie in den Tagen Hermanns
des Milden rief eine hochherzige Gaſtfreundſchaft die Helden deutſcher
Dichtkunſt aus Nord und Süd herbei, und herrlicher als einſt der Ruhm
der Wartburg leuchtete jetzt der Name der kleinen Stadt an der Ilm:


O Weimar, dir fiel ein beſonder Loos,

Wie Bethlehem in Juda klein und groß!

Und es war wirklich „vortheilhaft, den Genius bewirthen“, wie Goethe
ſeinem fürſtlichen Freunde geſagt. Denn obwohl die großen Gäſte Thü-
ringens der ganzen Nation angehörten und in ihrer kleinen Umgebung
niemals völlig heimiſch wurden, ſo ließen ſie doch der Landſchaft, die ſie
ſo traulich aufgenommen, das Gaſtgeſchenk des Genius zurück. In der
kurzen Blüthezeit der Univerſität Jena wuchs eine neue Generation von
tüchtigen Lehrern und Beamten auf. Die meiſten der kleinen Höfe und
ein großer Theil des Adels ſuchten nach dem Maße ihrer Kräfte mit der
jungen Literatur Schritt zu halten; wie oft iſt Goethe zu dem gothaiſchen
Miniſter Frankenberg hinübergefahren um ſich in der guten Schmiede zu
Siebeleben an geiſtreicher Geſelligkeit zu erfreuen. In Gotha lehrten zur
Zeit des Wiener Congreſſes Döring, Roſt und Wüſtemann am Gym-
naſium, Stieler begann ſeine kartographiſchen Arbeiten und bald nach-
her ſchlug Perthes dort ſeine große Buchhandlung auf. Auch dem An-
ſehen des Erneſtiniſchen Hauſes in der Welt brachte die Wirkſamkeit des
großen menſchlichen Fürſten, wie Humboldt ihn nannte, bleibenden Ge-
winn; die halbvergeſſene ruhmreiche Dynaſtie gewann ſich von Neuem
die dankbare Liebe der Nation und ſühnte in der edelſten Weiſe die noch
immer nicht verſchmerzten Schläge des ſchmalkaldiſchen Krieges.


Die unausrottbaren Gebrechen der Kleinſtaaterei konnten freilich durch
den literariſchen Ruhm nicht geheilt werden. Ueber die altſtändiſchen
Verfaſſungen dieſer kleinen Territorien gingen die Stürme der napoleo-
niſchen Kriege ſpurlos dahin; ſelbſt Herzog Auguſt von Gotha, der ein-
[400]II. 7. Die Burſchenſchaft.
gefleiſchte Bonapartiſt, wagte ſeine Herren Stände nicht anzutaſten. Der
Adel war von dem Bürgerthum durch Kaſtenſtolz und mannichfache Pri-
vilegien ſcharf getrennt, obwohl er ſich weder durch reichen Beſitz noch
durch hiſtoriſchen Ruhm auszeichnete. Im Gothaiſchen Landtage ſpielten
die beiden Bürgermeiſter eine traurige Rolle neben der ſtolzen Grafencurie,
die aus dem einen Vertreter des Hohenlohiſchen Hauſes beſtand, und der
dichten Schaar der Ritterſchaft: wer einen Antheil an einem Ritterlehen
beſaß war Landſtand, ſo daß einſt zweiundzwanzig Wangenheime auf ein-
mal erſchienen. Auch der ſprichwörtliche Jammer des thüringiſchen Heer-
weſens war unverändert geblieben. Noch erzählte ſich das Volk gern von
den Schrecken des Waſunger Kriegs: wie damals die Gothaer und die
Meininger in dem thüringiſchen Abdera Waſungen feindlich auf einander
geſtoßen und beide Kriegsheere mehr vorſichtig als heldenmüthig von dem
wichtigen Platze wieder abgezogen waren. Aber auch in den ernſten Kriegen
der jüngſten Zeit hatte ſich die Hilfloſigkeit dieſer Kleinſtaaterei ebenſo
tragikomiſch gezeigt. Im ſiebenjährigen Kriege ſtellte der Herzog von Gotha
einige Bataillone gegen engliſche Subſidien in das Heer Ferdinands von
Braunſchweig, während ſein Reichscontingent gegen Preußen focht; im
Jahr 1813 ſtand ein Theil der Weimariſchen Truppen beim Yorkſchen
Corps, ein anderer unter Napoleons Fahnen. Durch das Machtgebot
des Imperators war endlich einige Ordnung in das Gewirr dieſer win-
zigen Contingente gekommen; mehrere der allerkleinſten hatte er, ohne alle
Ehrerbietung für den Unterſchied des Rudolſtädter und des Sondershäuſener
Nationalcharakters, in einem anonymen Bataillon des Princes untergeſteckt.
Nach dem Kriege aber wurde der größte Theil der Truppen zur Freude des
Volks wieder entlaſſen. Für den Schutz des Landes mochte Preußen
ſorgen. Die friedfertigen Thüringer erfreuten ſich lieber an dem herr-
lichen Anblick der gothaiſchen Gardereiter, die mit breiten Schlachtſchwertern,
mit hohen Reiterſtiefeln und klirrenden Sporen einherſtolzirten; es waren
biedere Handwerker, die gegen billigen Tagelohn das Waffenhandwerk als
Reihedienſt beſorgten und bei der Ablöſung die Uniformen der Abmar-
ſchirenden anzogen; Pferde waren dieſer Reiterei ebenſo unbekannt wie
den gleich prächtigen weimariſchen Huſaren. Zum Ueberfluß beſaß Gotha
eine Feſtung auf dem Gipfel des einen der Drei Gleichen; drohend blickten
die vier Feuerſchlünde der Wachſenburg nach den beiden anderen Gleichen
hinüber, welche ihr neuer Landesherr, der König von Preußen, leicht-
ſinnigerweiſe unbefeſtigt ließ.


Auch für die Förderung des Verkehrs reichten die dürftigen Mittel
nirgends aus, da der Ertrag des reichen Kammerguts großentheils für
den Unterhalt der Höfe verwendet wurde. Alle Welt lachte über den
ſcheußlichen Zuſtand der gothaiſchen Landſtraßen, Niemand herzlicher als
die preußiſchen Zollbeamten bei Langenſalza; denn regelmäßig pflegten die
Frachtwagen dicht vor dem preußiſchen Schlagbaum in dem berüchtigten
[401]Thüringiſche Gemüthlichkeit.
Henningslebener Loche ſtecken zu bleiben oder umzuwerfen, alſo daß das
Zollgeſchäft mit Sicherheit und Gemüthsruhe beſorgt werden konnte. Auf
der Leipzig-Frankfurter Straße erhob der weimariſche Geleitsreiter uner-
bittlich das Geleitsgeld, obgleich die Fuhrleute ſeit unvordenklicher Zeit
nicht mehr von geharniſchten Reiſigen begleitet wurden. Die mit grund-
herrlichen Gefällen ſtark belaſteten Bauern führten ihre Wirthſchaft noch
ganz nach der Urväter Weiſe; nur des heiligen Reiches Gärtner, die Er-
furter, behaupteten den alten Ruhm ihrer kunſtvollen Blumenzucht.
Ueberall trieb der Gemeindehirt noch das geſammte Vieh des Dorfes,
Pferde, Rinder, Ziegen und Gänſe bunt durch einander, auf die unver-
theilte Gemeinheit. Der Gewerbfleiß arbeitete ausſchließlich. für den be-
ſcheidenen Bedarf der nachbarlichen Kundſchaft; faſt allein die Strümpfe
von Apolda und die Sonneberger Waaren, die niedlichen Spielſachen der
Hausinduſtrie der Walddörfer, gelangten in den großen Weltverkehr. In
harmloſer Fröhlichkeit, liederluſtig wie die Singvögel, die in keinem Hauſe
droben auf dem Walde fehlen durften, unendlich genügſam trieben die
kleinen Leute ihr beſcheidenes Tagewerk, zufrieden wenn ſie ſich dann und
wann auf dem Tanzboden bei dünnem Bier oder ſauerem Naumburger
Weine erholen konnten. Der gutmüthige Rationalismus, der in den ge-
bildeten Ständen vorherrſchte und an dem Gothaer Superintendenten
Bretſchneider einen gewandten Wortführer fand, ſtörte das Volk wenig in
ſeinen naiven religiöſen Gefühlen; Bonifacius, der Apoſtel Thüringens
war noch unvergeſſen, das Bild Luthers mit dem Schwane hing in un-
zähligen Kirchen, einzelne abgelegene Gemeinden auf dem Walde hatten
ſich auch noch die feierliche alte lutheriſche Liturgie mit ihren Chorknaben
und weißen Prieſtergewändern bewahrt.


Von ſeinen Fürſten verlangte das Volk vor allem Leutſeligkeit. Wie
fühlte man ſich geehrt, als der Meininger Herzog bei der Taufe ſeines
Erbprinzen ſein ganzes Land zu Gevatter bat und dem Kleinen die ver-
heißungsvollen Namen Bernhard Erich Freund beilegte; als aus dieſem
Prinzen ein ſehr wackerer kleiner Landesherr geworden war, da pflegte er
am Geburtstage ſeiner Gemahlin in den anmuthigen Gärten des Alten-
ſteins ein Volksfeſt zu veranſtalten, wobei jeder Mann die Herzogin um
einen Tanz bitten durfte. Dafür ertrug man auch in Demuth die
Narrenſtreiche der Kleinſtaaterei. Im Jahre 1822 ſtarb der letzte regie-
rungsfähige Sproß des Hauſes Gotha-Altenburg, und die Stammesvettern
rüſteten ſich ſchon auf die neue Theilung. Da holte der Miniſter Lindenau
plötzlich den unzweifelhaft blödſinnigen Prinzen Friedrich herbei und ließ
ihm als Herzog huldigen, obgleich es ſchwer fiel den armen Kranken wäh-
rend der feierlichen Handlung ruhig auf dem Throne feſtzuhalten. So
wurde dem Reiche Gotha-Altenburg ſein Daſein noch um vier Jahre ver-
längert; die Gothaer aber freuten ſich ihres blödſinnigen Landesvaters
und mehr noch des Aergers der enttäuſchten Nachbarhöfe.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 26
[402]II. 7. Die Burſchenſchaft.

An der lächerlichen Großmannsſucht ſeiner freundlichen Dynaſten
nahm das kleinlebige Volk keinen Anſtoß. Im Gothaer Wappen prangten
die Schilde von dreiundzwanzig Herzogthümern, Fürſtenthümern und Graf-
ſchaften; die Schwarzburger führten ſogar den Doppeladler, noch von den
Zeiten des Gegenkaiſers Günther her, und ließen ſelbſt die Warnungstafeln
in dem herrlichen Wildpark des Schwarzathals mit blauen Lettern auf
weißem Papier bedrucken, damit der Unterthan ſeiner Landesfarben nicht
vergäße. Wie dort Alles blauweiß, ſo prangte in den Landen der Reußiſchen
Fürſten Alles ſchwarzrothgelb. Auch dieſes kleine vogtländiſche Herrenge-
ſchlecht hatte einſt auf den Höhen der Geſchichte geſtanden, als die beiden ge-
waltigen Heinrich von Plauen, die finſteren Helden des Deutſchen Ordens,
die Verzweiflungskämpfe gegen die Polen führten; in der langen Zeit ſeit-
dem war ſein Daſein der Welt freilich nur ſelten bemerkbar geworden.
Alle dieſe kleinen Dynaſten dünkten ſich im Vollgenuſſe der neuen Sou-
veränität jedem Könige der Erde gleich; in Wahrheit blieb ihre Stellung
unter den deutſchen Fürſten recht beſcheiden. Als einer von ihnen einſt ſeine
Blicke zu der Tochter eines größeren Fürſtengeſchlechts zu erheben wagte,
erbat er ſich erſt von König Friedrich Wilhelm den rothen Adlerorden,
„um am großherzoglichen Hofe einen günſtigeren Eindruck zu machen“,
und ließ ſodann durch General Leſtocq, den gemeinſamen Vertreter der
kleinen Thüringer in Berlin einen kühn entworfenen diplomatiſchen Feld-
zug beginnen; aber obwohl der Geſandte ſein Beſtes that, erlangte ſein
junger Souverän ſchließlich doch nur den Orden, nicht die Hand der
Prinzeſſin.*)


Seltſame Laune des Schickſals, daß grade Karl Auguſt in dieſe Welt
der Kleinheit, wo alle Geſchichte ſich in Anekdoten auflöſte, verſchlagen
wurde. Wie ſtürmiſch hatte es einſt in ihm gekocht und getobt, als er
in früher Jugend ſchon die Herrſchaft antrat und nun ſogleich Goethe
und Herder berief, die franzöſiſchen Formen des Hoflebens ſprengte, mit
fridericianiſchem Eifer in die Rechtspflege, das Schulweſen, den Landbau
fördernd eingriff, alle die Keime einer freieren Bildung, welche ſeine edle
Mutter Anna Amalia in ihrer langen vormundſchaftlichen Regierung ge-
legt, zur fröhlichen Entfaltung brachte und bei Alledem doch nicht ſeinen
Frieden fand. Verwundert blickte das Volk auf den genialiſchen Ueber-
muth des Weimariſchen Muſenhofes, und alle die Läſterzungen des deut-
ſchen Parnaſſes, die ihre großen Genoſſen um das warme Neſt beneideten,
wußten nicht genug zu erzählen von dem unſteten Treiben des jungen
Herzogs, wie er bald auf wilden Gelagen und glänzenden Maskenfeſten
die Nächte durchraſte, bald auf der Ettersburg vor den Laub-Couliſſen
des Gartentheaters ſaß und den Dramen ſeines Freundes lauſchte, bald
wieder hinausjagte in tollem Ritt über Gräben und Hecken oder mit den
[403]Karl Auguſt von Weimar.
Bauerdirnen auf der Dorfkirchweih „mieſelte“ und dann wieder tagelang
in der Borkenhütte ſeines Parks ſich vergrub, allein mit der unendlichen
Sehnſucht ſeines Herzens. Was ihn damals ſo raſtlos umhertrieb war
nicht blos die natürliche Ungeduld vollſaftiger Jugend, ſondern der unbe-
friedigte Ehrgeiz eines thatenfrohen Geiſtes, dem das Schwerſte grade
leicht genug ſchien, der die Unwahrheit einer Fürſtenwürde ohne Macht
bitter empfand


und was ihm das Geſchick durch die Geburt geſchenkt,

mit Müh’ und Schweiß erſt zu erringen denkt.

„Mit Hilfe Goethes und des guten Glücks“ hatte er dann doch gelernt
ſich in ſein enges Schickſal zu fügen und im kleinſten Punkte die höchſte
Kraft zu ſammeln.


Seit vierzig Jahren verehrte ihn die Nation als den menſchlich
größten unter den Mäcenaten der neuen Geſchichte. Jene berechnende
Klugheit kaufmänniſcher Dynaſtenpolitik, die bei der Kunſtliebe Lorenzos
von Medici doch mitwirkte, war dem Erben des alten ſtolzen Erneſtiner-
hauſes völlig fremd. Wenn er mit ſicherer Menſchenkenntniß aus den
Talenten der deutſchen Literatur die beſten und größten um ſich verſam-
melte, ſo leiteten ihn allein der lautere Idealismus eines unendlich em-
pfänglichen Geiſtes, der das ganze Gebiet menſchlichen Erkennens und
Bildens mit freudigem Verſtändniß umfaßte, und eine glühende Begeiſte-
rung für den Ruhm der Nation. Sein Ehrgeiz war, wie er noch im Alter
bei der Erneuerung ſeines Hausordens ausſprach, „daß auf eine gründ-
liche und des Ernſtes des deutſchen Nationalcharakters würdige Weiſe ſich
Licht und Wahrheit verbreite“. Sein lebendiges, durch ernſte Studien
geſchultes Naturgefühl ſchätzte in der Kunſt nur das Naive, das Einfache,
das Vaterländiſche; alle Myſtik, alle geſuchte Künſtelei war ihm verhaßt,
und wenn ſie auch mit ſo prächtigen Gewändern auftrat wie in Schillers
Braut von Meſſina. Aber niemals hätte er ſich vermeſſen den Genius
zu gängeln; frei und unbekümmert ſollte die deutſche Kunſt ſich ihre
Wege finden, ſo wie er ſelber durchs Leben ging, freimüthig, derb, form-
los, kräftig in Allem, ſelbſt in den Verirrungen ſeiner ungebändigten Sinn-
lichkeit, ein raſtlos ſtrebender Geiſt, der jeden mißlungenen Verſuch hoch-
herzig vergaß um ſogleich wieder an ein neues Unternehmen zu ſchreiten.
Nur eine ſo urſprüngliche Natur konnte ſich fünfzig Jahre lang neben
Goethe in ſorgloſer Selbſtändigkeit behaupten. Er wußte wohl, was er
dem Freunde dankte, wenngleich Augenblicke der Entfremdung kamen,
und blickte bewundernd zu ihm auf; doch er fand es „poſſirlich wie dieſer
Menſch immer feierlicher wurde“ und ließ ſich durch das umſtändliche
Weſen des Alternden in ſeiner eigenen fröhlichen Ungebundenheit nicht
ſtören. Auf den erſten Blick mochte man den ſtämmigen Mann wohl
für einen ſchlichten Jäger halten, wenn er in ſeiner alten grünen Pikeſche
und der Soldatenmütze, die Cigarre im Munde, mit ſeinen Hunden durch
26*
[404]II. 7. Die Burſchenſchaft.
den Park ſchritt; doch über der hohen Stirn, den großen Augen und den
breiten Erneſtiniſchen Kinnladen lag ein eigenthümlicher Ausdruck ſelbſtbe-
wußter Hoheit, und wer ihm näher trat fühlte bald, daß hier ein ge-
borener Fürſt ſtand, der ſich durch eigene Kraft auf den Höhen der Menſch-
heit behauptete. Als er im Alter ſich eine Zeit lang in Mailand auf-
hielt, da erinnerte er die Italiener lebhaft an die großen Fürſtengeſtalten
ihres Cinquecento und ſie nannten ihn il principe uomo.


Aber pflichtgetreuer als die Visconti und die Sforza wußte er mit
der Luſt am Schönen den ſtillen Fleiß des ſorgſamen Landesherrn zu
verbinden; kein Geſchäft der Verwaltung war ihm zu gering, und nie-
mals hat ſein kleines Land unter dem Glanze des kunſtſinnigen Hofes
gelitten. Es iſt ſeine hiſtoriſche Größe, daß er die vorherrſchende Rich-
tung zweier Zeitalter, den literariſchen Idealismus des achtzehnten, den
politiſchen des neunzehnten Jahrhunderts mit freiem Sinne erkannte und,
wie Niemand ſonſt unter den Zeitgenoſſen, beiden gerecht zu werden ver-
ſtand. Das Verſtändniß für den Staat hatten ihm ſchon in der Jugend
ſeine Lehrer geweckt, erſt Graf Görtz, der eifrige diplomatiſche Gehilfe
Friedrichs des Großen, dann Wieland, der einzige unter unſeren Claſſikern,
der den Wendungen der Tagespolitik mit reger Theilnahme folgte; und mit
derſelben glücklichen Sicherheit des Urtheils, die ihn die echten Helden
deutſcher Kunſt erkennen ließ, wendete er ſich auch in der Politik dem
Wahren, dem Lebendigen zu. Auf Preußen ſtanden alle ſeine Hoffnungen,
als er ſeine kühnen Pläne für den Fürſtenbund ſchmiedete; mit Preußen
dachte er im Jahre 1806 zu ſtehen oder zu fallen. Auf dem Rückzuge
nach der Jenaer Schlacht ſagte er einmal, am Wachefeuer auf einer
Trommel ſitzend, gelaſſen zu den Kameraden: „Herzog von Weimar und
Eiſenach wären wir nun einſtweilen geweſen.“ Erſt auf das ausdrück-
liche Verlangen des Königs verließ er die Armee und ſchloß ſeinen Frieden
mit dem Imperator. Jahre lang war er dann im Stillen thätig um
den Befreiungskampf vorzubereiten.


Als er nun auf dem niederländiſchen Kriegsſchauplatz nochmals ſeine
Kriegerpflicht erfüllt hatte und endlich tief verſtimmt von den Enttäu-
ſchungen des Wiener Congreſſes heimkehrte, da erſchien ihm die Ausführung
des Art. 13 als ein Gebot der Ehre und der Klugheit. Nicht als ob er
eine Vorliebe für die neuen liberalen Theorien gehegt hätte. Die fran-
zöſiſche Revolution ließ ihn von Haus aus kalt, weil die Unſittlichkeit dieſer
Klaſſenkämpfe ſein geſundes Gefühl abſtieß: „die Unterdrücker unterdrücken
ihre alten Beherrſcher, nicht das mindeſte Moraliſche liegt dabei zu Grunde.“
Aber er verſtand die Zeit, er wußte, daß ſie der conſtitutionellen Formen
nicht mehr entbehren konnte, und was konnte er, der die Furcht nie ge-
kannt, von einem kleinen Landtage beſorgen? Wohl mochte er hoffen,
durch ſein Beiſpiel einzelne Aengſtliche unter den kleinen Fürſten zu einem
nothwendigen Entſchluſſe zu ermuthigen; doch nichts lag ſeinem klaren
[405]Die Weimariſche Verfaſſung.
Kopfe ferner als die Selbſtüberhebung der Kleinſtaaterei. Selbſt die Hul-
digungen der erſten Dichter der Epoche hatten einſt ſeinen ruhigen Stolz
nicht zur Eitelkeit verführt; wie ſollte er jetzt ſich bethören laſſen von den
überſchwänglichen Lobſprüchen der liberalen Zeitungen, welche ſein Weimar
als die Wiege deutſcher Kunſt und Freiheit zugleich feierten? Schlicht und
recht, aus Pflichtgefühl und ehrlichem Vertrauen gewährte er ſeinem Völk-
chen was er für unvermeidlich hielt.


In ſein Staatsminiſterium hatte er eine ganze Reihe tüchtiger Männer
berufen, faſt zu viel Talente für den kleinen Staat. Da ſaß neben
Goethes Stuhl, der ſchon ſeit Jahren leer blieb, des Dichters Freund,
der alte Voigt, ein edler, fein gebildeter Mann, der gleich ſeinem Freunde
die Fremdherrſchaft lange als eine unentrinnbare Nothwendigkeit betrachtet
hatte, jetzt aber, glücklicher als jener, ſich hoffnungsvoll der neuen Frei-
heit freute; dann Fritſch, ſchon der Dritte aus der langen Reihe treff-
licher Geſchäftsmänner, welche dieſe Leipziger Juriſtenfamilie in den Dienſt
der ſächſiſchen Häuſer ſtellte, auch er ein Stück Poet, wohl angeſehen in
der literariſchen Welt; dann der neuberufene geiſtreiche Deutſch-Ruſſe
Graf Edling; endlich der beſte politiſche Kopf unter Allen, der Lauſitzer
Gersdorff, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe immer an Humboldts
Seite geſtanden hatte und dann während einer langen politiſchen Lauf-
bahn keinen Augenblick irre ward an dem Glauben, daß „Preußen die
deutſche Nationalität wiedergeboren habe und der Grundſtein ſei zu einem
künftigen Deutſchland“. Auf Gersdorffs Rath entſchloß ſich der Groß-
herzog die Verfaſſungsarbeit unverzüglich in Angriff zu nehmen.


Im April 1816 traten die alten Stände mit einigen Abgeordneten der
neu erworbenen Landestheile zu einem Landtage zuſammen; ſchon am
5. Mai wurde das neue, von dem Jenenſer Profeſſor Schweitzer redigirte
Grundgeſetz unterzeichnet, und der Präſident des Landtags feierte in herz-
licher Dankrede die beſte Tugend des deutſchen Kleinfürſtenſtandes: „noch
immer fanden wir in dieſem hohen Hauſe das altfürſtliche Gemüth, das Jedem
wohl will, auch den Geringſten nicht unwerth achtet.“ Die liberale Preſſe
frohlockte und erging ſich in behaglichem Selbſtlobe: wenn der fürſtliche
Freund Schillers und Goethes als der Bahnbrecher verfaſſungsmäßiger Frei-
heit auftrat, dann war doch ſonnenklar erwieſen, daß nur rohe Naturen der
conſtitutionellen Heilswahrheit widerſteben konnten. Ein Jahr nachher tagte
der erſte conſtitutionelle Landtag der deutſchen Geſchichte in einem der drei
Dornburger Schlöſſer, die von ſteiler Felswand über Rebenhänge und Gar-
tenterraſſen auf das maleriſche Saalethal herabſchauen. Hier in der länd-
lichen Stille, wo Goethe ſo oft das Glück der Dichtereinſamkeit geſucht hatte,
ſpielte ſich die erſte parlamentariſche Idylle der Kleinſtaaterei gemüthlich ab.
Der Großherzog hatte mit glücklichem Takt zwiſchen dem alten Stände-
weſen und dem neuen Repräſentativſyſteme einen Mittelweg eingeſchlagen
und der Ritterſchaft, den Städten, den Landgemeinden beſondere Vertreter
[406]II. 7. Die Burſchenſchaft.
gewährt, aber die ſämmtlichen 31 Abgeordneten bildeten eine einzige Ver-
ſammlung und galten als Vertreter des ganzen Landes. Die Verhand-
lungen verliefen keineswegs leicht, Schritt für Schritt mußte die Regie-
rung mit der Topfguckerei und der naiven Unerfahrenheit der Volksver-
treter ringen; endlich verſtändigte man ſich doch, und da Alles hinter
verſchloſſenen Thüren vorging, ſo konnten die Zeitungen ihren Leſern un-
geſcheut Wunder erzählen von der unbegreiflichen politiſchen Weisheit dieſes
Muſtervölkchens, das unter je 1500 erwachſenen Männern einen ſtaats-
männiſch gebildeten Abgeordneten beſaß. Manche glückliche Reform, die ohne
den Landtag unmöglich geweſen, kam jetzt zu Stande; ſo wurde (1821)
an der Stelle von 49 wunderlichen alten Steuern eine Einkommenſteuer
mit Faſſion eingeführt, eine in Deutſchland noch unerhörte Neuerung.
Mancher andere heilſame Vorſchlag ſcheiterte freilich, weil die philiſterhafte
Aengſtlichkeit der Landſtände den freien Gedanken ihres Fürſten nicht zu
folgen vermochte; die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen konnte
Karl Auguſt ſchlechterdings nicht durchſetzen. Im Ganzen fühlte ſich das
Land wohl, und ſchon 1818 erhielt auch Hildburghauſen eine Verfaſſung
nach weimariſchem Muſter.


Nur Goethe betrachtete die neuen Inſtitutionen mit ſtillem Mißbe-
hagen und ſah darin nichts als das vorwitzige Dreinreden Unberufener;
der Abſcheu gegen jeglichen Dilettantismus lag dem Meiſter zu tief im
Blute. Als er einmal einen Trinkſpruch zum Landtagsfeſte nicht um-
gehen konnte, erinnerte er die Volksvertreter patriarchaliſch an ihre Fa-
milienpflichten:


Ein Jeder ſei in ſeinem Hauſe Vater,

So wird der Fürſt auch Landesvater ſein.

Und als ſie gar ihm ſelber Rechenſchaft abverlangten wegen der 11,000
Thaler, die er ſeit einem Menſchenalter alljährlich für Kunſt und Wiſſen-
ſchaft auszugeben hatte, da beſchloß der alte Herr ein Exempel zu ſtatuiren,
diktirte ſeinem Schreiber drei Worte und drei Zahlen — Einnahme, Aus-
gabe, Kaſſenbeſtand — ſetzte majeſtätiſch ſeinen Namen darunter und
ſendete den Zettel dem Landtage. Die Entrüſtung war groß. Bei ruhiger
Ueberlegung kam es den wackeren Vertretern von Neuſtadt, Kaltennord-
heim, Gerſtungen doch ſelbſt ſonderbar vor, daß ſie die Antiken- und
Bücher-Einkäufe Goethes im Einzelnen prüfen ſollten, und ſo ent-
ſchloſſen ſie ſich zu einer That conſtitutioneller Selbſtverleugnung, welche in
der pedantiſchen Geſchichte des deutſchen Parlamentarismus einzig daſteht:
der Buchſtabe der Verfaſſung ward der Pietät geopfert, die dreizeilige
Rechnung ſtillſchweigend genehmigt. —


Im Schatten der neuen Preßfreiheit wuchs nun in Weimar und
Jena urplötzlich ein ganzes Heer politiſcher Zeitſchriften auf, eine ſchlecht-
hin bodenloſe Publiciſtik, wie ſie nur in dieſem gelehrten Volke entſtehen
konnte, und doch eine Macht, denn mit ihr begann der verhängnißvolle
[407]Die Weimariſche Preſſe.
Einbruch des Profeſſorenthums in die deutſche Politik. Luden hatte ſchon
während des Krieges ſeine Nemeſis gegründet, zunächſt zur Bekämpfung
der Fremdherrſchaft, und fügte jetzt noch ein Staatsverfaſſungs-Archiv
hinzu; dann folgten Okens Iſis und das Weimariſche Oppoſitionsblatt;
Bran begann die Fortſetzung der alten Archenholtziſchen Minerva; der
aus Heidelberg vertriebene Juriſt Martin brachte ſeinen Neuen rheiniſchen
Merkur mit nach Jena; Ludwig Wieland, der warmherzige, federgewandte
Sohn des Dichters, gab einen „Volksfreund“ heraus, der zur Beruhigung
der polizeilichen Seelenangſt ſeinen ſtaatsgefährlichen Namen bald ablegte
und als „Patriot“ weiter erſchien. Und dieſe Ueberfülle journaliſtiſcher
Thätigkeit drängte ſich in zwei kleinen Städten zuſammen, in einer rein
literariſchen Luft, wo ſchlechterdings nichts an den Ernſt des Staatslebens
erinnerte, wo die Preſſe weder zuverläſſige Nachrichten über den inneren
Zuſammenhang der Tagesereigniſſe erhielt, noch an einer politiſchen Partei
oder einem wirthſchaftlichen Intereſſe irgend einen Rückhalt fand. In
glücklicher Unkenntniß der wirklichen Welt konnte hier der reine Doctri-
narismus ſich ſeiner „Ueberzeugung“ erfreuen und mit der Miene der
Unfehlbarkeit ſeine Kathedermonologe halten. Alle dieſe Blätter erhoben
den Anſpruch, der ganzen Nation als Lehrer zu dienen, denn es war der
Stolz des Profeſſors, daß die praktiſche deutſche Einheit allein in den
Univerſitäten ſich zeigte; und da nun das freie Wort, das an der Ilm
und Saale erklang, den Argwohn der Höfe erweckte, die geſammte
reaktionäre Partei, wie Luden ſagte, ihre Blicke angſtvoll auf die Höhen
des ſchönen Thüringens richtete, ſo ſchwoll das Selbſtgefühl der akade-
miſchen Publiciſten bald bedenklich an, und ſie meinten alles Ernſtes,
ihr deutſches Athen bilde den Mittelpunkt der nationalen Staatskunſt.
Von dem gründlichen Fleiße deutſcher Gelehrſamkeit war in dieſen poli-
tiſchen Schriften nichts zu ſpüren. In der Wiſſenſchaft ward alle Pfuſcher-
arbeit verachtet, über die Staatsmänner durfte Jeder zu Gericht ſitzen,
wenn er gelegentlich in einer verlorenen Stunde die Zeitungen las.


Ludens Nemeſis ſtand tief unter den weit weniger verbreiten Kieler
Blättern. Während Dahlmanns Zeitſchrift in gediegenen hiſtoriſchen und
ſtaatsrechtlichen Erörterungen ihren Leſern die ſachliche Belehrung bot,
deren dies unreife Geſchlecht vor Allem bedurfte, brachte Luden faſt durch-
weg nur leere Allgemeinheiten oder oberflächliche kritiſche Bemerkungen
über kleine Tagesereigniſſe; und obwohl er ſelbſt nicht zu den Bekennern
des Rotteck’ſchen Vernunftsrechts gehörte, ſondern den Staat hiſtoriſch zu
verſtehen ſuchte, ſo lief doch die ganze Weisheit der Nemeſis immer wieder
auf den Art. 13 der Bundesakte hinaus, der ihr als das einzige Mittel
um eine Revolution von Deutſchland abzuwenden erſchien: „Nur gehalten
was ſo heilig verſprochen wurde! O Ihr Fürſten, wolltet Ihr dieſe, nur
dieſe Ausübung ganz gewöhnlicher Tugenden!“ Seit Jahren galt Luden
als der beliebteſte Docent in Jena; ſeine Vorleſungen über deutſche Ge-
[408]II. 7. Die Burſchenſchaft.
ſchichte wurden, wie vordem Fichtes und Schellings Collegien, der Sam-
melplatz für die Maſſe der Studentenſchaft; der liebenswürdige Idealis-
mus, der aus ſeinem ganzen Weſen ſprach, die patriotiſche Wärme und
der leichte Redefluß ſeiner Vorträge erwarben ihm bei der Jugend ein
Anſehen, das vierzig Jahre lang unerſchüttert blieb. Wer den wohl-
meinenden Mann nur nach ſeinen Büchern beurtheilte, konnte ſich dieſe
glänzenden Lehrer-Erfolge kaum erklären; ſeine hiſtoriſchen Schriften waren
arm an neuen Gedanken, noch ärmer an ſelbſtändiger Forſchung, und
von der ſtrengen Gedankenarbeit, welche die politiſche Wiſſenſchaft ihren
Jüngern auferlegt, ahnte er ſo wenig, daß er ſchon in ſeinem einund-
dreißigſten Jahre (1811) wohlgemuth ein an harmloſen Gemeinplätzen
überreiches Handbuch der Staatsweisheit herausgeben konnte.


Wie anders als die ehrbar langweilige Nemeſis ging die Iſis ins
Zeug, wohl die ſonderbarſte politiſche Zeitſchrift unſerer Geſchichte, ein
unvergleichliches Probſtück gelehrter Narrheit. Als Naturforſcher hatte
ſich Oken trotz mancher Wunderlichkeiten einen wohlverdienten Ruhm er-
worben; in den politiſchen Kampf brachte er kein anderes Rüſtzeug mit,
als eine grundehrliche vaterländiſche Begeiſterung, einige unklare demo-
kratiſche Begriffe, eine unerſättliche Raufluſt und den kindlichen Wahn,
daß die freie Preſſe alle Wunden, die ſie geſchlagen, auch wieder heilen
werde. „Die Geſchichte, ſo rief er in ſeiner Ankündigung, ſchreitet daher
als ein ſchauerlicher Rieſe über Strom und Felſen, über Loco sigilli
und Schlagbäume, lachend über ſolche Anſtalten, welche Geiſt und Sinn
fangen wollen und im Fang überpurzeln. Alles iſt gut und Alles muß
zugelaſſen werden.“ Seine Leſer ſollten den Sinn und den Unſinn der
Zeit, die Würde wie die Petulanz kennen lernen; ſelbſt die Grobheit,
die Lüge und Verleumdung ſchloß er nicht aus und befahl den Ange-
griffenen im Voraus, ſich nur literariſch zu rächen. Der burſchikoſe Auf-
ruf fand nur zu willige Hörer. Alle Hitzköpfe der gelehrten Welt gaben
ſich ein Stelldichein auf dem großen Fechtboden dieſer „Encyclopädiſchen
Zeitung“. Da ſtanden neben zoologiſchen Bildern und Abhandlungen —
dem einzigen Guten, was die Zeitſchrift brachte — akademiſche Skandal-
geſchichten und literariſche Klopffechtereien jeder Art; ſelbſt ein hämiſcher
Artikel der Edinburgh Review gegen Goethes Wahrheit und Dichtung ward
mit unverhohlenem Behagen abgedruckt; und dann wieder politiſche Ab-
handlungen ſowie zahlloſe Schmerzensrufe und Anklagen wider angebliche
Behördenwillkür. Das Alles im Tone des Bierhauſes, im „Oken’ſchen
Tone“, wie man bald zu ſagen pflegte — frech, geſchmacklos, höhniſch;
faſt jede neue Nummer der Iſis rief neuen Zank hervor. Da der reiche
Vorrath der deutſchen Superlative ſchon nicht mehr ausreichte, ſo zog
Oken die Holzſchneider zu Hilfe und ließ Eſelsköpfe, Gänſe, Kannibalen,
Juden- und Pfaffengeſichter oder auch eine Knute, einen Stock, ein zum
Fußtritt erhobenes Bein neben die Namen ſeiner Gegner ſetzen, ſo daß
[409]Iſis und Nemeſis.
der politiſche Text zuweilen faſt ſo bunt ausſah wie die Kupfertafeln mit
den Bildern der Quallen und Knorpelfiſche daneben. Aus den politiſchen
Aufſätzen ſprach ein ſchrullenhafter Radikalismus und zugleich ein naiver
Gelehrtendünkel: die Weimariſche Verfaſſung verdiente gar nicht den
Namen einer Verfaſſung, weil ſie von den dreiundzwanzig unentbehrlichen
Grundrechten jeder wahren Charte nur ein einziges, die Preßfreiheit ge-
währte und — weil ſie den Nährſtand, die dummen „von den Pandek-
tenhengſten gereitelten“ Bürger und Bauern, ſo unbillig vor dem Wehr-
und Lehrſtande, dem Adel und den Profeſſoren, bevorzugte! Kein einziger
politiſcher Artikel in dieſem ungeheuerlichen Gepolter, der die Leſer belehrt
oder ihren Willen auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet hätte. Immer nur
fanatiſche Anklagen gegen die Fürſten und Diplomaten, welche unſer „Ge-
ſammtvolk zu einem Provinzialvölkleins-Schober gemacht“ haben; immer
nur Hohn über die unverbeſſerliche Faulheit des lebenden Geſchlechts:
„nur von der Jugend iſt noch etwas zu erwarten.“


Das beſte publiciſtiſche Talent in dieſem Kreiſe war der Kurländer
Lindner, der das Oppoſitionsblatt mit Gewandtheit leitete und die poli-
tiſche Arbeit als ernſten Lebensberuf betrieb. Aber grade in ſeinen Auf-
ſätzen bekundete ſich am deutlichſten jene politiſche Thorheit, welche den
deutſchen Liberalismus nunmehr von einem Fehler zum andern treiben
ſollte: die ſchnöde Undankbarkeit gegen Preußen. Es iſt nicht wahr, was
die Parteihiſtoriker erzählen, daß die Verunglimpfung des preußiſchen
Staats erſt ſeit der Demagogenverfolgung im liberalen Lager üblich ge-
worden ſei. Sogleich nach dem Frieden, als der Degen von Belle-Alliance
kaum erſt wieder in die Scheide fuhr, ſetzten dieſe Kleinen den Staat, dem
ſie ihre Freiheit, ihr Alles dankten, auf die Anklagebank und überſchütteten
ihn mit Vorwürfen, in einem Augenblicke, da er durch ſein Wehrgeſetz
und ſein Zollgeſetz den feſten Grund legte für die Einheit des Vaterlandes.


Luden hatte bereits in dem Handbuche der Staatsweisheit die preußiſche
Monarchie immer als abſchreckendes Beiſpiel aufgeführt und mit dem be-
kannten Freiheitsdünkel des engliſchen Hannoveraners über den Militär-
ſtaat abgeurtheilt. Jetzt brachte ſeine Nemeſis Gedichte zum Preiſe des
Hauſes Wittelsbach und Artikel zur Vertheidigung der ſächſiſchen Politik
von 1813; für Preußen hatte ſie nur Tadel und eine prahleriſche Ge-
ringſchätzung, die in jedem anderen Volke allgemeines Gelächter erregt
hätte: vor den Muſen in Thüringen, meinte ſie ſtolz, haben die Muſen
der Mark niemals beſtehen mögen, nun wollen wir doch ſehen, ob die
preußiſche Politik ebenſo Großes leiſtet wie die thüringiſche! Darum ward
auch der ehrliche Liberale Benzenberg als der Finſterling unter den deut-
ſchen Publiciſten verläſtert; man konnte ihm nicht verzeihen, daß er ein
treuer Preuße war und über die Geſetze dieſes Staates, welche der Je-
nenſer Profeſſor niemals eines Blickes würdigte, mit Sachkenntniß ſchrieb.
Nun gar Oken, ein Vorderöſterreicher aus der Ortenau, betrachtete die
[410]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Verhöhnung Preußens als das ſicherſte Kennzeichen der Freiſinnigkeit.
Während er dem Kaiſer Franz ſchonende Ehrfurcht erwies und ſogar die
lächerliche Frankfurter Eröffnungsrede des Grafen Buol mit Lob bedachte,
öffnete er die Spalten ſeiner Iſis ſchadenfroh allen Feinden Preußens.
Heute begann ein Rheinländer ein ſchluchzendes „Rheinweinen“ wegen
der vielen Proteſtanten in den preußiſchen Behörden: „man will nur dem
Lande ſchaden, es ſoll nur unſer Selbſtgefühl gedemüthigt werden.“ Morgen
bejammerte ein guter Schwede aus Greifswald die Verpreußung ſeines
Vaterlandes. Dann wieder klagten einige Aerzte aus der Provinz Sachſen
über brutale Beleidigung ihrer gelehrten Standesehre, weil ſie jetzt, ſo
gut wie ihre Apotheker, ja wie gemeine Handwerker, die preußiſche Ge-
werbeſteuer bezahlen mußten. Napoleon ſelbſt hatte nie etwas ſo Em-
pörendes gethan wie Preußen mit dem Verbote des Rheiniſchen Merkurs;
was wollte, fragte die Iſis, die Ermordung Palms daneben bedeuten?
Ueber die Univerſität Bonn, die den Glanz von Jena ſo bald überſtrahlen
ſollte, urtheilte Oken noch bevor ſie eröffnet war: Alles iſt ſchon ſo gut
als verdorben durch die Stückelgeſchäfte und Stückelkenntniſſe preußiſcher
Regierungs-Individuen. Der eigentliche Heerd aller preußiſchen Nichts-
würdigkeiten aber blieb das Heer mit ſeiner allgemeinen Wehrpflicht: war
es nicht unerhört, ſo führte die Nemeſis aus, daß der Leutnant ſo viel
früher ins Brot kam als der Referendar? und war es nicht barbariſch,
ſo fragte Oken, daß man in Preußen „geiſtige Kräfte als gemeine Sol-
daten zu Pulverfutter verwendete?“


Jeder Nichtswürdige, der den Ernſt des preußiſchen Geſetzes zu fühlen
bekam, konnte auf den Beiſtand dieſer gelehrten Publiciſten zählen, wenn
er ſich nur als politiſcher Märtyrer gebärdete. Im Jahre 1817 bot
Maſſenbach die Handſchrift eines neuen Bandes ſeiner verlogenen Denk-
würdigkeiten, bei denen er viele amtliche Papiere widerrechtlich benutzt hatte,
der preußiſchen Regierung für 11,500 Friedrichsdor zum Kaufe an; er
wurde darauf mit Genehmigung des Senats in Frankfurt verhaftet und,
nach einem ſorgfältigen Berichte des Generals Grolman, auf Beſchluß
des Staatsraths als ein ohne Abſchied entlaſſener Offizier vor ein Kriegs-
gericht geſtellt, das ihn wegen verſuchter Erpreſſung und Verletzung der
Dienſttreue zur Feſtungsſtrafe verurtheilte. *) Und in dieſem ſchmutzigen
Handel, deſſen Verlauf der Staatskanzler ſogleich veröffentlichen ließ, er-
griff Ludens Nemeſis die Partei des Helden von Prenzlau: wer einem
Throne gegenüber ſo frei rede, wie Maſſenbach in Württemberg, könne
doch keiner Schlechtigkeit fähig ſein! Der Frankfurter Senat aber ward
von den Apoſteln der deutſchen Einheit hart angelaſſen, weil er unein-
gedenk der Souveränität ſeines Staates einen gemeinen Verbrecher einem
anderen Bundesſtaate ausgeliefert hatte!


[411]Univerſität Jena.

Der alte Goethe fühlte ſich wie in der verkehrten Welt, als ſein
friedlicher Muſenſitz ſich ſo plötzlich in ein lärmendes Forum verwandelte,
und die akademiſchen Publiciſten in der Preſſe gleichſam als die Erben
der Dichter-Dioskuren gefeiert wurden. Er ahnte ſchlimme Folgen und
warnte Luden: wir verfügen nicht über 100,000 Bajonette um Euch zu
beſchützen! Als die Regierung ſodann mit einer Verwarnung gegen Oken
vorgehen wollte, da rieth Goethe dem Herzog ab: ſolche Ermahnungen
ſeien nutzlos und, einem ſo verdienten Manne gegenüber, unziemlich;
beſſer daher — ſo fuhr er mit ſouveräner Geringſchätzung der neuen Ver-
faſſung fort — man laſſe den gelehrten Hitzkopf ganz aus dem Spiele
und verbiete einfach dem Drucker die Fortſetzung des „catilinariſchen“
Unternehmens. So ernſt wollte der herzhafte Karl Auguſt die politiſchen
Saturnalien ſeiner Gelehrten doch nicht nehmen. Er ließ es bei einigen
gelegentlichen Warnungen und Beſchlagnahmen bewenden; aber auch er
ſah immer mit Unmuth einer „neuen Niederkunft Monſieur Okens“ ent-
gegen, denn die Beſchwerden der in der Iſis Mißhandelten nahmen kein
Ende. Am Lauteſten klagte Geh. Rath v. Kamptz in Berlin, ein ausge-
zeichneter Juriſt und brauchbarer Beamter, allbekannt als fanatiſcher Re-
aktionär. Der wurde von Oken zu den „abgedroſchenen Leuten“ gerechnet
und verwahrte ſich drohend wider dieſen „Blauen-Montags-Ton“. Wer
den harten Mann kannte, mußte wiſſen, daß er ſich mit Worten nicht
begnügen würde. —


Wie konnte die akademiſche Jugend ruhig bleiben in dieſer wunder-
lich erregten kleinen Welt? Die großen Tage der Jenenſer Hochſchule
waren ſchon um das Jahr 1803 zu Ende gegangen, mit den wiſſenſchaft-
lichen Kräften von Heidelberg oder Berlin vermochte ſie ſich längſt nicht
mehr zu vergleichen; doch der Glanz jener reichen Zeit haftete noch an
ihrem Namen und von jeher ſtand die ungebundene Freiheit ihres Stu-
dentenlebens bei der deutſchen Jugend in gutem Rufe. „Und in Jena lebt
ſich’s bene“ ſagte ein altes Studentenlied. In keiner anderen Univerſitäts-
ſtadt herrſchte der Student ſo unumſchränkt; noch in den neunziger Jahren
war das junge Volk einmal in hellen Haufen ausgezogen um nöthigen-
falls nach Erfurt überzuſiedeln, und erſt als ihm die geängſteten Behör-
den alle ſeine Wünſche erfüllten, triumphirend zurückgekehrt. In ſcharfem
Gegenſatze zu dem galanten Leipzig behielt das Jenenſer Leben immer
einen derben, naturwüchſigen, jugendlichen Ton, der den einfachen Sitten
des Landes entſprach. Wie der Ziegenhainer Knotenſtock, damals noch
der unzertrennliche Begleiter des deutſchen Studenten, nur im Saalethal
echt zu finden war, ſo ſtand auch der reichhaltige Jenenſer Comment auf
allen Kneipen und Fechtböden Deutſchlands in hohem Anſehen; manche
uralte Burſchenbräuche, wie das Blutbrüderſchaft-Trinken, erhielten ſich
hier noch bis in das neue Jahrhundert hinein. Trotz aller Roheit lag
doch ein idealiſtiſcher Hauch über dem lauten Treiben, ein romantiſcher
[412]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Reiz, welcher der hagebüchenen Grobheit des Berliner Turnplatzes gänzlich
fehlte. Wie manchem jungen Niederdeutſchen iſt auf den Burſchenfahrten
zum Fuchsthurm und zur Leuchtenburg die Poeſie des deutſchen Berg-
landes zum erſten male aufgegangen. Wie dankbar und froh begeiſtert
empfingen die Jenenſer Studenten einſt im Theater zu Weimar die
Dramen Schillers aus erſter Hand. Unter der Fremdherrſchaft zeigte
die Univerſität ihre deutſche Geſinnung ſo unerſchrocken, daß Napoleon
einmal nahe daran war, dies verhaßte Neſt der Ideologen und Radoteurs
verbrennen zu laſſen.


Es konnte nicht fehlen, daß dieſe vaterländiſche Begeiſterung nur noch
heißer aufflammte, als jetzt die jungen Krieger in die Hörſäle zurückkehrten,
Mancher mit dem eiſernen Kreuze geſchmückt, faſt Alle noch wie berauſcht
von dem Heldenzorne des großen Kampfes, voll glühenden Haſſes gegen „die
äußeren und inneren Unterdrücker des Vaterlandes“ — weitaus die beſte
Studenten-Generation ſeit langen Jahren, aber leider ſchon zu ernſt für
die harmloſe Träumerei und die überſchwängliche Freundſchaft, welche dem
Studentenleben ſeinen eigenthümlichen Zauber geben. Die dringend nöthige
Reform der verwilderten akademiſchen Sitten konnte nur von einem
Geſchlechte ausgehen, das ſo viel reifer war als der Durchſchnitt der Stu-
denten vordem; und doch hatte dieſe ritterliche Jugend in zwei ſchweren
Kriegen ſchon zu viel erlebt um ſich wieder in die beſcheidene Rolle des
Schülers finden zu können; die Gefahr hochmüthiger Ueberhebung, die
ohnehin in der Zeit lag, war für ſie faſt unentrinnbar. Aehnliche Re-
gungen chriſtlich-germaniſcher Schwärmerei waren ſchon einmal auf den
Univerſitäten aufgetaucht, in den Tagen des literariſchen Sturmes und
Dranges, als die jungen Poeten des Hainbundes für Klopſtocks Meſſias
und die Helden des Teutoburger Waldes ſich begeiſterten und den Sänger
des Polſters, Wieland feierlich im Bilde verbrannten. Was damals nur
engere Kreiſe bewegte, war jetzt ein Gemeingut von Tauſenden.


Wie verächtlich mußte das verrottete Verbindungsweſen der Univer-
ſitäten dem abgehärteten, ſittenſtrengen neuen Geſchlechte erſcheinen. Von
der Barbarei der alten Renommiſten war nur zu Vieles noch übrig,
obwohl die Humanität der neuen literariſchen Bildung auch die akade-
miſchen Sitten etwas verfeinert hatte. Die Völlerei und die Unzucht
zeigten ſich oft mit einer Frechheit, die uns heute ſchon unmöglich ſcheint,
das Hazardſpiel ward überall, ſelbſt auf offner Straße getrieben, und die
unausrottbare deutſche Raufluſt ging ſo weit über alles erlaubte Maß
hinaus, daß die 350 Mann ſtarke Jenenſer Studentenſchaft im Sommer
1815 in einer einzigen Woche 147 Duelle ausfocht. Die friſchen volks-
thümlichen Trink- und Wanderlieder der ſangesluſtigen alten Zeiten waren
faſt verſchollen; man ſang zumeiſt ſchmutzige Zoten oder die weinerlichen
Ergüſſe einer platten Sentimentalität, die einer längſt überwundenen
literariſchen Epoche angehörte. Mit den Roſenkreutzern und den anderen
[413]Arndt und die Jugend.
Geheimbünden des alten Jahrhunderts verſchwanden auch ihre Geiſtes-
verwandten, die Orden der Studenten. Die Landsmannſchaften, die ſeit-
dem wieder auflebten, bewachten eiferſüchtig ihre geſchloſſenen Werbebe-
zirke, pflegten einen kleinlichen partikulariſtiſchen Sinn, der alles Aushei-
miſche dünkelhaft abwies, und ertödeten jedes kräftige Selbſtgefühl durch
einen brutalen Pennalismus. Der Fuchs durfte nicht klagen, wenn ein
heruntergekommenes altes Haus ihm ein Smollis anbot und darauf mit
ihm hutſchte: dann mußte er Alles, was er auf dem Leibe trug, Kleider,
Uhr und Geld gegen die dürftigen Lumpen ſeines Gönners vertauſchen.
Wer in dieſer Schule aufwuchs lernte die Kunſt nach oben zu ducken,
nach unten zu drucken.


Wie oft hatte Fichte einſt in Jena und in Berlin gegen dies Unweſen
geeifert. Unter ſeinen Getreuen entſtand bereits im Jahre 1811 der Plan
einer Burſchenſchaft oder Deutſch-Jüngerſchaft; der Philoſoph billigte das
Unternehmen und fügte nur, da er ſeine Leute kannte, die beſonnene
Mahnung hinzu: die Burſchen ſollten ſich hüten, mittelalterlich und deutſch
zu verwechſeln, und das Mittel, die Verbindung, nicht höher ſtellen als
den Zweck, die Belebung deutſchen Sinnes. An dieſe Berliner Entwürfe
knüpften jetzt die Jenenſer wieder an. Sie kannten den Ernſt des Waffen-
handwerks und wollten durch Ehrengerichte die rohe Raufluſt bändigen;
ſie hatten im Kriege als eines Volkes Söhne Schulter an Schulter ge-
kämpft und forderten völlige Gleichheit aller Studenten, Abſchaffung des
Pennalismus und aller der Vorrechte, welche der Grafenbank noch auf
manchen Univerſitäten zuſtanden. Ihr letzter und höchſter Gedanke aber
blieb die Einheit Deutſchlands: in einem einzigen großen Jugendbunde, der
alle landsmannſchaftliche Sonderbünde vernichtete, ſollte ſich die Macht
und Herrlichkeit des Vaterlandes verkörpern.


Arndts Vaterlandslied bildete das eigentliche Programm der Bur-
ſchenſchaft, Freund und Feind betrachteten den Dichter als den Führer
der teutoniſchen Jugend, obgleich er an den Entwürfen des jungen
Volks unmittelbar gar keinen Antheil nahm. Nach einem langen be-
wegten Wanderleben war er jetzt endlich in Bonn zur Ruhe gekommen
und baute für ſich und ſeine junge Frau, die Schweſter Schleiermachers,
ein beſcheidenes Gartenhaus auf der Höhe dicht am Rhein; hier dachte
er „die Herrlichkeit des Siebengebirges grade aufs Korn zu nehmen“ und
in ſtillem Glück ſich zu ſammeln für die Arbeit des Katheders. Wohl
ſchwärmte er ſo treuherzig wie der jüngſte Burſch für „die goldene akade-
miſche Freiheit, die uralte und herrlichſte Ritterſchaft der Germanen“;
aber als ihn ein Heidelberger Student über die Reform des akademiſchen
Lebens befragte, da warnte er ſeine jungen Freunde, in der Schrift über
den deutſchen Studentenſtaat, nachdrücklich vor radikalen Thorheiten:
„lieber das Beſtehende walten laſſen als das unerreichbare Vollkommene
erſtreben.“ Längſt hatte er ſich in treuer Liebe an Preußen und ſein
[414]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Königshaus angeſchloſſen, nur die alte Abneigung gegen das fridericia-
niſche Zeitalter konnte er nicht überwinden. Seit er einſt tapfer für die
Aufhebung der Leibeigenſchaft in ſeiner vorpommerſchen Heimath einge-
treten war, ſtand er bei der reaktionären Partei im Rufe eines Gleich-
heitspredigers. Durchaus mit Unrecht. Arndts Wünſche gingen niemals
über die Ideen ſeines Gönners Stein hinaus; er wollte eine lebendige
Gliederung der Stände, einen angeſehenen Adel, freie Bauerſchaften, ein
kräftiges in Zünfte geordnetes Bürgerthum und betrachtete ſelbſt Harden-
bergs Agrargeſetze nicht ohne romantiſchen Widerwillen.


In dieſem liebreichen Herzen, das dem Ueberſchwang ſeiner Gefühle
nur durch gehäufte Superlative zu genügen wußte, in dieſer offenen, heiteren
Natur fand der politiſche Fanatismus keine Stätte. Nur die Urtheilsloſigkeit
der Jugend konnte „Vater Jahn und Vater Arndt“ wie zwei Brüder feiern,
und nur Arndts rührende Beſcheidenheit konnte ſich dieſe Vergleichung ge-
fallen laſſen. In Wahrheit gehörten die Beiden ganz verſchiedenen Schichten
der geiſtigen und der ſittlichen Cultur an. Arndt gebot über einen uner-
ſchöpflichen Schatz gediegenen Wiſſens, obwohl er die ſtrenge Methode der
Fachgelehrten niemals lernte, und bewegte ſich frei auf den Höhen menſch-
licher Bildung, zu denen Jahn kaum emporblicken konnte. Er nannte
ſich ſelber oft einen Bauern und nahm es als Fußwanderer mit dem
beſten Turner auf; im Sommer ſah man ihn täglich den Rhein durch-
ſchwimmen oder mit dem blauen Kittel angethan in ſeinem Garten harken.
Aber auch in der vornehmen Geſellſchaft fühlte er ſich heimiſch und ſicher;
Aller Blicke hingen an dem ſtämmigen kleinen Manne mit den ſtrahlenden
blauen Augen, wenn er zu erzählen begann, ein unwiderſtehlich liebens-
würdiger Plauderer, immer natürlich und kräftig, immer geiſtreich und edel.
Einem ſo kerngeſunden Geiſte konnte das cyniſche Weſen der Turner
wenig behagen. Mahnend hielt er der Jugend vor: nicht in der Rauheit
der Spartaner oder der Römer dürften Deutſche ihr Vorbild ſuchen;
fraget Euch doch: „waren ſie glücklich? machten ſie glücklich?“


Unter den Jenenſer Profeſſoren ſtand Fries den Studenten am
nächſten; dieſe Jugend, die an Fichtes Ideen ſich begeiſterte, ſaß arglos
zu den Füßen eines Lehrers, der immer zu Fichtes Widerſachern gehört
hatte. Die neue Lehre Hegels galt in Jena noch als reaktionär; ſie war, wie
Fries behauptete, nicht in den Gärten der Wiſſenſchaft, ſondern auf dem
Miſthaufen der Kriecherei erwachſen. Auch Fries zeigte ſich wie Luden
als Lehrer ungleich wirkſamer denn als Schriftſteller. Der ſchwärmeri-
ſchen Jugend gefiel, daß der gutmüthige, aber unklare Philoſoph Be-
griffe und Gefühle vermengte und alſo die ſittliche Welt in einen Brei
des Herzens auflöſte, wie Hegel ihm hart und treffend vorwarf; ſie fühlte
ſich in ihrer ſubjectiven Willkür beſtärkt, wenn ihr argloſer Lehrer in viel-
deutigen Worten immer wieder ausführte: der Menſch ſoll ſeiner Ueber-
zeugung treu bleiben, ob er ſich auch die ganze Welt zum Feinde mache.
[415]Fries und die Jenenſer.
Beſonders zeitgemäß erſchien den jungen Leuten ſeine Geſchichtsphiloſophie;
er verſtand den Reichthum der hiſtoriſchen Welt in das Schema einer
dürftigen Doctrin einzupreſſen, welche ſeitdem von unzähligen gelehrten
Publiciſten, bis auf Gervinus herab, in mannichfachen Formen nachge-
ſprochen worden iſt: darnach ſollte im Orient die Religion das Leben der
Menſchheit beherrſcht haben, im claſſiſchen Alterthum die Schönheit, in
der chriſtlichen Welt die Erkenntniß, neuerdings aber, ſeit der Revolution,
ſtand die Ausbildung des öffentlichen Rechts im Mittelpunkte der Ge-
ſchichte, womit denn freilich allem Vorwitz der politiſirenden Dilettanten
Thür und Thor geöffnet ward. Obwohl Fries die ehrliche Abſicht hegte
das junge Volk vor leidenſchaftlichen Verirrungen zu bewahren, ſo ließ er
ſich doch zu manchen unvorſichtigen Aeußerungen hinreißen, und ſchließ-
lich widerfuhr ihm was bei einem allzu nahen Verkehre zwiſchen Pro-
feſſoren und Studenten faſt unvermeidlich eintritt: er verlor die Fühlung
mit ſeinen jungen Freunden, da ſie dem Lehrer doch nicht Alles anver-
trauten, und bemerkte nicht, wie der Radikalismus allmählich in den
Reihen der Jugend überhandnahm.


Urſprünglich war eine unbeſtimmte patriotiſche Sehnſucht der einzige
politiſche Gedanke der Jenenſer Burſchen. Sie ſchwärmten für ein ab-
ſtraktes Deutſchthum, ſo wie es einſt in den Reden an die deutſche Nation
verherrlicht worden; von der lebendigen preußiſchen Staatsgeſinnung,
welche ſich Fichte am Abend ſeines Lebens gebildet hatte, ahnten ſie
nichts. Jeder Unterſchied von Preußen, Baiern und Sachſen ſollte ver-
ſchwinden in dem einen Begriffe der Deutſchheit; und da nun unter
allen deutſchen Einzelſtaaten keiner ein ſo handfeſtes Leben beſaß wie der
preußiſche, ſo geriethen dieſe jungen Träumer, die doch beſtändig von der
Herrlichkeit des Befreiungskrieges redeten, unmerklich auf denſelben Ab-
weg wie die Nemeſis und die Iſis: ſie begannen den Staat, der jenen
Krieg faſt allein geführt hatte, mit Anklagen zu überhäufen.


Unter den Begründern der Burſchenſchaft befand ſich ein einziger
Preuße: der Berliner Maßmann, ein ehrlicher, ſehr mäßig begabter
junger Schwärmer, der unklarſte Kopf von allen den Berſerkern aus Jahns
engerem Kreiſe. Die Anderen waren ſämmtlich Thüringer, Mecklenburger,
Kurländer, Heſſen, bairiſche Franken, und ihnen allerdings fiel es nicht
ſchwer ihren heimathlichen Staat in einer allgemeinen Deutſchheit einfach
untergehen zu laſſen. Auf den preußiſchen Univerſitäten ſchlug die Bur-
ſchenſchaft nur langſam Wurzeln, zunächſt in Berlin. In Breslau wen-
deten ſich ihr zuerſt die neupreußiſchen Lauſitzer zu; den Schleſiern wollte
es lange nicht in den Sinn, daß der Staat Friedrichs des Großen einem
geſinnungstüchtigen Teutonen nicht mehr gelten ſollte als Bückeburg oder
Darmſtadt. Die Jenenſer dagegen und die radikalen Gießener, die ſich
der burſchenſchaftlichen Bewegung am früheſten anſchloſſen, bekämpften
nicht nur jede berechtigte Regung preußiſchen Selbſtgefühls als „undeut-
[416]II. 7. Die Burſchenſchaft.
ſches Preußenthum“, ſie ſcheuten ſich auch nicht, aus der Geſchichte des
Befreiungskrieges alles Preußiſche, alles was ihr Farbe und Leben gab,
auszuſtreichen. Das Liederbuch der Burſchenſchaft, A. Follens „Freie
Stimmen friſcher Jugend“, gab alle die ſchönen Kriegslieder, welche von
Preußens Ruhm erzählten, verſtümmelt wieder, der Name Preußens kam
in der ganzen Sammlung gar nicht vor. In Arndts Huſarenliede ſchwur
Blücher nicht mehr „dem Franzmann zu weiſen die preußiſche Art“, wie
der Dichter geſungen hatte; jetzt hieß es „die altdeutſche“ oder gar „die
deutſcheſte Art“. Ueberdies hatten die Führer der Burſchenſchaft zumeiſt
unter den Lützowern gedient und ſich dort gewöhnt, als Mitglieder einer
„rein-deutſchen Freiſchaar“ mit Geringſchätzung auf die preußiſche Linie
herabzuſehen, die im Kriege ſo viel glücklicher war als ſie ſelber. So
geſchah es, daß dieſe Enthuſiaſten des Deutſchthums der lebendigſten Kraft
unſerer nationalen Einheit von Haus aus faſt ebenſo unfreundlich gegen-
überſtanden wie die Turner. Begreiflich, daß der kindliche Glaube an
die unfehlbare Weisheit „des Volks“ und eine platoniſche Vorliebe für
republikaniſche Formen ſich unter den Burſchen noch häufiger fand als unter
den Männern. Die landſtändiſchen Verfaſſungen ſchienen der Jugend vor-
nehmlich darum nöthig, weil ſie, gleich der Mehrzahl der älteren Liberalen,
den Partikularismus allein in den Kabinetten ſuchte: wenn nur erſt in
jedem deutſchen Lande eine Verfaſſung beſteht, meinte Karl Sand, dann
wird es nur noch Deutſche, keine Baiern und Hannoveraner mehr geben!


Immerhin war in dieſen erſten Jahren von krankhafter Aufregung
unter den jungen Leuten noch wenig zu ſpüren. Anmaßlich genug zogen
ſie freilich daher, in ihrer wunderlichen chriſtlich-germaniſchen Tracht,
im Barett, dunklen Rock und Weiberkragen, und der neue Turnerbrauch,
der auch nach Jena bald hinüberdrang, ließ ſie nicht liebenswürdiger er-
ſcheinen. Aber unter der rauhen Schale lag ein geſunder Kern. Die
Behörden ſelbſt waren verwundert, als der beſtändige Krieg gegen die
akademiſchen Geſetze, worin die Landsmannſchaften ihren Ruhm geſucht
hatten, jetzt plötzlich aufhörte; und wie viel edler ward der ganze Ton
des akademiſchen Lebens ſeit die Geſänge Arndts und Schenkendorfs auf
den Commerſen erklangen und eine ganze Schaar junger Poeten, der
Holſteiner Binzer voran, immer neue kräftige Burſchenlieder aufbrachte.
Faſt alle die ernſten Lieder, welche der deutſche Student heute zu ſingen
pflegt, ſind erſt damals aufgekommen; auch das Weihelied der Studenten,
der Landesvater erhielt erſt jetzt durch eine glückliche Umarbeitung ſeinen
ſchönen vaterländiſchen Sinn. Die chriſtliche Frömmigkeit, die ſich aller-
dings oft prahleriſch zur Schau ſtellte, war bei den Meiſten echt und
innig; mancher der jungen Träumer erſchien wie verklärt durch die fromme
Freude über alle die Wunder, welche Gott an dieſem Volke gethan. —


Einen weſentlichen Charakterzug des neuen Teutonenthums bildete
der eingefleiſchte Judenhaß. Da die gewaltige Erregung des Befreiungs-
[417]Teutonenthum und Judenthum.
krieges alle Geheimniſſe des deutſchen Gemüths an den Tag brachte, ſo
ward in der allgemeinen Gährung auch der alte tiefe Widerwille gegen
das orientaliſche Weſen wieder laut. Von Luther an bis herab auf Goethe,
Herder, Kant und Fichte waren faſt alle großen germaniſchen Denker in
dieſer Empfindung einig, Leſſing ſtand ganz vereinzelt mit ſeiner Vor-
liebe für die Juden. Unmittelbar nach dem Frieden begann ein heftiger
Federkampf über die Stellung der Juden, der fünf Jahre hindurch den
deutſchen Büchermarkt mit einer Maſſe von Flugſchriften bedeckte und
namentlich von der Jugend mit leidenſchaftlicher Theilnahme verfolgt
wurde. Seit Moſes Mendelsſohns ſegensreichem Wirken hatte ſich ein
Theil der deutſchen [Judenſchaft] mit gutem Erfolge bemüht, die breite
Kluft, welche ihren Stamm von deutſcher Sitte und Bildung trennte,
endlich zu überbrücken. Viele der angeſehenen jüdiſchen Familien in den
großen Städten waren ſchon durchaus germaniſirt. In der Berliner
Synagoge wurde ſeit dem Anfange des neuen Jahrhunderts deutſch ge-
predigt, die Leipziger und einige andere Gemeinden folgten nach. Dann
ſorgte Iſrael Jakobſohn, der Stifter der großen Seeſener Schulen, für
eine würdigere Form des Gottesdienſtes, und der wackere David Fried-
länder mahnte ſeine Stammgenoſſen in den „Reden der Erbauung“: nur
wenn ſie mit ganzem Herzen ſich die deutſche Cultur aneigneten, könnten
ſie ſich den Anſpruch auf vollſtändige Emancipation erwerben. Die Maſſe
der deutſchen Israeliten, vornehmlich in den polniſchen Grenzprovinzen,
befreundete ſich nur langſam mit dieſen Reformgedanken; ſie ſteckte noch
tief im Schacher und Wucher, in dem finſteren Fanatismus des Talmud-
glaubens, in allen den Sünden uralter Knechtſchaft. Als die Franzoſen
einzogen bekundete ſich in manchen jüdiſchen Kreiſen eine leicht erklärliche
Theilnahme für das Volk, das ihnen zuerſt die volle Gleichberechtigung
geſchenkt hatte, und Napoleon verſtand dem jüdiſchen Kosmopolitismus ge-
ſchickt zu ſchmeicheln; das eifrigſte Werkzeug der franzöſiſchen Polizei in
Berlin war Davidſohn-Lange, der Herausgeber des berüchtigten „Tele-
graphen“.


Auch in dem Befreiungskriege zeigte nur ein Theil der Juden patrio-
tiſchen Eifer. Die Söhne jener gebildeten Häuſer, die ſich ſchon ganz als
Deutſche fühlten, thaten ehrenhaft ihre Soldatenpflicht; aber viele Andere
wurden durch Körperſchwäche und tiefeingewurzelte Waffenſcheu dem Heere
ferngehalten, Manchen erſchreckte auch der ſtreng chriſtliche Geiſt der großen
Bewegung. Von den Juden Weſtpreußens, die ſich eben erſt mühſam
aus dem polniſchen Schmutze herausarbeiteten, war deutſche Geſinnung
billigerweiſe noch gar nicht zu erwarten; ſie bekundeten eine ſolche Angſt vor
dem Waffendienſte, daß der König ihnen (29. Mai 1813) auf ihre drin-
genden Bitten den Loskauf von der Wehrpflicht geſtattete, und dies Pri-
vilegium ward dann ſo maſſenhaft benutzt, daß ein großer Theil der Koſten
für die Einrichtung der weſtpreußiſchen Landwehr aus den jüdiſchen Los-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 27
[418]II. 6. Die Burſchenſchaft.
kaufsgeldern beſtritten werden konnte. Die einzige vorhandene amtliche
Liſte der jüdiſchen Soldaten, welche die große Mehrzahl der preußiſchen
Regimenter umfaßt, weiſt für das Jahr 1813 nur 343 Juden im Heere
nach; und im Jahre 1815, als das Heer ſeinen höchſten Stand erreichte,
ſtanden nach der höchſten Berechnung nicht mehr als 731 Juden unter
den Fahnen, eine ganz unverhältnißmäßig niedrige Ziffer.*) Nach dem
Kriege ſank ihre Zahl wieder auf 2—300. Was hätte ſie auch zu den
Fahnen locken ſollen? Von den Offiziersſtellen waren ſie durch das Geſetz
von 1812 ausgeſchloſſen, und da der König an dieſer Vorſchrift ſtreng
feſthielt, ſo befand ſich während dieſer langen Friedensjahre nur ein ein-
ziger jüdiſcher Offizier in der Linien-Armee, der langjährige Lehrer an der
Artillerieſchule M. Burg, ein muſterhaft beſcheidener und tüchtiger Soldat.
Die jungen Teutonen hatten natürlich kein Auge für die verwickelten hiſto-
riſchen Thatſachen, welche den unmilitäriſchen Sinn der Juden nur zu
leicht erklärten. Inzwiſchen begann die Geldmacht einiger großen jüdiſchen
Firmen in Wien, Frankfurt und Berlin ſchon fühlbar zu werden und ſie
zeigte ſich oft mit protzenhaftem Uebermuth; der vertraute Verkehr der
Rothſchilds mit Metternich und Gentz erregte auch politiſchen Unwillen.
Dann kamen die Hungerjahre; gräßliche Geſchichten, wahre und falſche,
von der Grauſamkeit jüdiſcher Wucherer liefen durch das Land. Der alte
Raſſenhaß regte ſich wieder; Seſſas Luſtſpiel „Unſer Verkehr“, eine bittere
Verhöhnung jüdiſcher Sitten, hielt einen Triumphzug faſt über alle deut-
ſchen Bühnen.


In dem literariſchen Kampfe, der ſich nun entſpann, offenbarte ſich
auf jüdiſcher Seite nicht ſelten eine erſchreckende Verlogenheit und Ueber-
hebung; ſie bewies klarer als alle Reden der Gegner, welche ernſten Be-
denken der vollſtändigen Emancipation des Judenthums noch im Wege
ſtanden. Saul Aſcher in Berlin bewitzelte „die Germanomanie“ des
jungen Geſchlechts in einer Reihe hämiſcher Schriften, die einen fanati-
ſchen Haß gegen alles Deutſche, namentlich auch gegen Goethe bekundeten.
Er rühmte von den glaubenloſen Juden, daß ſie von der Weltgeſchichte
beſtimmt ſeien dereinſt allen poſitiven Glauben zu einer freieren Form zu
leiten, und hatte die Stirn ſeinen Stammgenoſſen ſogar das Hauptverdienſt
an den Siegen des Befreiungskrieges zuzuſchreiben: „man vergißt, daß
Deutſchlands Heere in dem Kampfe gegen Frankreich unterlagen ehe noch
die Juden in ihrer Mitte Theil daran nahmen, und erinnert ſich nicht,
wie folgenreich ſie in den Jahren 1813 und 14 kämpften als die Juden
aus Rußland, Polen, Oeſterreich und Preußen mit ihnen in Reihe und
Glied ſtanden.“ Ein anderer jüdiſcher Schriftſteller, der gegen Rühs und
Fries zu Felde zog, verſicherte dreiſt, nur ein Jahr nach dem belgiſchen
[419]Rühs und Saul Aſcher.
Feldzuge, daß bei Belle Alliance allein 55 jüdiſche Offiziere gefallen ſeien,
während die preußiſche Armee dort insgeſammt nur 24 Offiziere verloren
hatte. Ein Dritter, der es offenbar wohl meinte, richtete ein „Freund-
liches Wort an die Chriſten“ und meinte gemüthlich: die eigenſinnigen
jüdiſchen Köpfe würden doch nicht von ihren alten Bräuchen laſſen; am
Klügſten alſo, wenn die Chriſten um der Eintracht willen ihren Sonntag
auf den Sabbath verlegten. Der jüdiſche Lehrer Heß in Frankfurt er-
klärte alle ſeine chriſtlichen Gegner einfach für Phantaſten oder für Werk-
zeuge eines gemeinen Eigennutzes.*)


Einem ſolchen Hochmuth gegenüber konnten auch in dem anderen
Lager ungerechte und gehäſſige Worte nicht ausbleiben; indeß bewahrte
die große Mehrzahl der chriſtlichen Schriften eine würdige Haltung. Die
Ideen Leſſings hatten doch in der Stille ihren Weg gemacht; ſo grauſam
wie einſt Fichte wollte jetzt kein Deutſcher mehr über die Juden ſchreiben.
Die Verſtändigeren gingen faſt alle von dem Grundſatze aus, daß der Aufent-
halt im Lande allein noch keinen Anſpruch auf das Bürgerrecht gebe; ſie
wollten den Israeliten wohl die Gleichheit auf dem Gebiete des Privat-
rechts zugeſtehen, aber nicht — oder doch jetzt noch nicht — das volle
Maß der ſtaatsbürgerlichen Rechte. Und ſo hart dieſe Meinung den ge-
bildeten Juden erſcheinen mußte, die Maſſe ihres Stammes befand ſich
damals unbeſtreitbar noch in einem verwahrloſten Zuſtande, der die
vollſtändige Emancipation nicht rathſam erſcheinen ließ; richtete doch
Einer von ihnen ſelber an die deutſchen Fürſten die wehmüthige Bitte,
durch Verbeſſerung des jüdiſchen Schulweſens „meine Nation aus der
geiſtigen Trübheit zu erheben“.**) Das preußiſche Geſetz von 1812, das
den Juden, mit Ausnahme der Zulaſſung zu den Staatsämtern, alle
ſtaatsbürgerlichen Rechte gewährte, ging über die engherzigen Vorſchriften
der meiſten anderen deutſchen Geſetze weit hinaus und bezeichnete unge-
fähr das Maß deſſen, was die Liberalen jener Zeit vorläufig für erreich-
bar hielten; Hardenberg ſelbſt, der Gönner Koreffs, der ſich der Juden
überall gütig annahm, wollte dieſe Grenze durchaus nicht überſchreiten.


In dieſem Sinne etwa ſprach ſich der Hiſtoriker Rühs aus, der den
Reigen der antijüdiſchen Schriften eröffnete; ihm folgten Fries und Luden.
Aber auch das radikale Oppoſitionsblatt ſchloß ſich der Anſicht dieſer chriſt-
lich-germaniſchen Gelehrten an, desgleichen Paulus, der Führer des Ratio-
nalismus, und Klüber, der weltlich liberale Publiciſt. Unter den nam-
27*
[420]II. 6. Die Burſchenſchaft.
haften Schriftſtellern zeigte Kotzebue den Juden das meiſte Wohlwollen,
der Todfeind der jungen Teutonen fühlte ſich durch eine innere Wahl-
verwandtſchaft zu Saul Aſcher hingezogen; doch auch er meinte, erſt müßte
die Cultur der Juden „durch eine Art von Bekehrung“ gründlich umge-
ſtaltet werden bevor ſie die Gleichberechtigung erlangen könnten. Die
ſofortige Emancipation forderten nur einzelne wenig bekannte chriſtliche
Publiciſten, ſo Lips in Erlangen, der die deutſche Nation durch die Bei-
miſchung jüdiſchen Blutes beweglicher machen wollte.


Der Haß wider die Juden war ſo ſtark und allgemein, daß die öffent-
liche Meinung ſelbſt in einem Falle, wo ihnen offenbare Unbill wider-
fuhr, faſt einſtimmig gegen ſie Partei nahm: in dem häßlichen Frank-
furter Judenſtreite. Wie ſchwer hatten ſich doch die verbündeten Mächte
an unſerer alten Kaiſerſtadt verſündigt, als ſie ihr den leeren Titel
einer unhaltbaren Souveränität verliehen. Frankfurt war zur Zeit des
Reichs, trotz ſeines reichsſtädtiſchen Namens, immer die Stadt des Kaiſers
geweſen, den Befehlen des Monarchen unmittelbar unterworfen, und zeich-
nete ſich vor allen andern deutſchen Städten durch den lebendigen Ge-
meinſinn eines reichen, thätigen, gebildeten Bürgerthums rühmlich aus;
eben jetzt, nach den Kriegen, wurden das Senckenbergiſche Inſtitut und das
Städel’ſche Muſeum eröffnet, eine Menge gemeinnütziger Vereine begann
eine großartige Thätigkeit. Die ſchöne Stadt konnte unter der Hoheit
einer kräftigen Staatsgewalt das Muſterbild einer deutſchen Commune
werden. Nun aber erhielt ſie mitſammt den achtehalb Ortſchaften ihres
Gebiets die volle Unabhängigkeit eines ſouveränen Staats, nur für Ver-
faſſungsſtreitigkeiten war dem Deutſchen Bunde ein Schiedsrichteramt vor-
behalten, das hinter den monarchiſchen Herrſchaftsrechten der alten Kaiſer
weit zurückblieb; nun drang mit der Geſandtenſchaar des Bundestags ein
höfiſches Element ein, das den ehrenfeſten bürgerlichen Geiſt verfälſchte,
viele der alten Patriciergeſchlechter und die geſammte Börſenwelt in das
Ränkeſpiel der Diplomatie verwickelte.


Aus ſo unnatürlichen Verhältniſſen erwuchs ein krankhafter Dünkel.
Die Bürgerſchaft betrachtete „die Vaterſtadt“ als die Hauptſtadt Deutſch-
lands und mißbrauchte ihre neugewonnene Souveränität mit der ganzen Un-
befangenheit jener ſocialen Selbſtſucht, welche in den Gemeinden faſt immer
das große Wort führt, wenn ſie nicht durch die Gerechtigkeit einer monar-
chiſchen Staatsgewalt gebändigt wird. Die neue Verfaſſung von 1816
ſicherte den eingeſeſſenen Bürger ſorgſam vor dem Wettbewerb der Aus-
heimiſchen; nur wer 5000 Gulden einbrachte oder eine Frankfurterin
heirathete, ſollte das Bürgerrecht erlangen. Derſelbe Sinn pfahlbürger-
licher Engherzigkeit verſchuldete auch, daß die Juden des Bürgerrechts, das
ſie ſich von Dalberg erkauft hatten, wieder beraubt wurden. Mit unge-
heurem Geſchrei ſetzten ſie ſich ſofort zur Wehre, der junge Ludwig Börne
trat mit ſeiner ſcharfen Feder für die bedrängten Stammgenoſſen ein.
[421]Der Frankfurter Judenſtreit.
Die Rechtsfrage lag allerdings ſo einfach nicht, wie Börne mit rabuli-
ſtiſcher Keckheit behauptete. Die 440,000 Gulden, welche die israelitiſche
Gemeinde dem Großherzog von Frankfurt gezahlt, konnten nach ſtrengem
Rechte nur als die Ablöſung des alten Judenſchoſſes von 22,000 Gulden
jährlich, nicht als ein Kaufgeld für das Bürgerrecht betrachtet werden,
und da die Bundesakte den Juden nur die ihnen von den deutſchen
Bundesſtaaten bereits eingeräumten Rechte gewährleiſtete, ſo war recht-
lich gegen das Vorgehen der Frankfurter Bürgerſchaft wenig einzuwenden.
Die Klage der israelitiſchen Gemeinde wurde daher von dem Spruchcol-
legium der Berliner Facultät als unbegründet abgewieſen.


Als die Juden ſich nunmehr mit einer Beſchwerde an den Bundes-
tag wandten, da trat die politiſche Macht des Hauſes Rothſchild zum erſten
male aus dem Dunkel heraus, und es geſchah das Unerhörte: der Bundes-
tag zeigte ſich liberaler als die öffentliche Meinung. Hardenberg ließ, ge-
mäß den alten Traditionen preußiſcher Duldſamkeit, von vornherein er-
klären, daß den Frankfurter Juden mindeſtens ein beſchränktes Bürgerrecht
gebühre, und zum Erſtaunen der Unkundigen ſchloß ſich Oeſterreich dieſer
Meinung an, weil die Hofburg der Rothſchild’ſchen Gelder nicht entrathen
konnte. Als Metternich und Gentz im Jahre 1818 nach Frankfurt kamen,
boten ſie, wie ſchon früher auf dem Wiener Congreſſe, ihre ganze Bered-
ſamkeit für ihre reichen Schützlinge auf. Mit der üblichen Langſamkeit
ward nun weiter verhandelt, und im Jahre 1824 erhielten die Frank-
furter Juden durch Vermittlung des Bundestags einen Theil ihrer Rechte
wieder. Freilich nur einen Theil. Sie wurden als „israelitiſche Bürger“
anerkannt, blieben jedoch von den Gemeindeämtern ausgeſchloſſen und
ſtanden nur im Privatrechte den chriſtlichen Bürgern gleich, auch dies nicht
ohne einige kleinliche Beſchränkungen: ſo durften ſie keinen Fruchthandel
treiben, nur je ein Haus beſitzen, nur fünfzehn Ehen jährlich ſchließen.
Die Preſſe aber hielt mit wenigen Ausnahmen hartnäckig die Partei des
Frankfurter Pfahlbürgerthums, denn Dalbergs Geſetze ſtanden als Werke
der Fremdherrſchaft in ſchlechtem Rufe, und allgemein ward gefürchtet,
daß die Bundesſtadt durch das Ueberwuchern orientaliſcher Betriebſamkeit
ihren deutſchen Charakter verlieren würde. Luden ſchrieb kurzab: vox
populi vox Dei,
die Stimme des Volkes iſt den Juden nicht günſtig.


In den Kreiſen der akademiſchen Jugend ward dieſe Stimmung der
Zeit noch verſchärft durch die Romantik chriſtlicher Schwärmerei. Die
Burſchen fühlten ſich als eine neue chriſtliche Ritterſchaft und zeigten ihren
Judenhaß mit einer groben Unduldſamkeit, die oft ſtark an die Tage der
Kreuzzüge erinnerte. Von Haus aus ſtand die Abſicht feſt, alle Nicht-
Chriſten von dem neuen Jugendbunde auszuſchließen. Gelang dies, ſo
waren die jüdiſchen Studenten in Wahrheit ihres akademiſchen Bürger-
rechts beraubt, da die Burſchenſchaft ja der Geſammtheit der Studenten
ihr Geſetz auferlegen, alle anderen Verbindungen beſeitigen wollte. —


[422]II. 6. Die Burſchenſchaft.

Bereits im Sommer 1814 hatte ſich in Jena eine Wehrſchaft ge-
bildet, die ihre Leute durch ritterliche Uebungen für den vaterländiſchen
Waffendienſt vorbereitete. Im folgenden Frühjahr traten dann die Mit-
glieder von zwei Landsmannſchaften, die des ſchalen alten Treibens
müde waren, mit einigen Wilden zuſammen, und am 12. Juni 1815
ward die neue Burſchenſchaft, nach altem Jenenſer Brauch, durch einen
feierlichen Aufzug über den Marktplatz eröffnet. An der Spitze ſtanden
zwei Theologen aus Mecklenburg, Horn und Riemann, und ein begeiſterter
Schüler von Fries, Scheidler aus Gotha, durchweg ſtattliche, brave junge
Männer, die ſich im Kriege tapfer geſchlagen hatten. Der erſte Sprecher,
Karl Horn, der ſpäterhin als Lehrer Fritz Reuters weiteren Kreiſen be-
kannt wurde, blieb bis ins hohe Alter dem Enthuſiasmus ſeiner Jugend
treu und ſtarb in dem frommen Glauben, daß er mit der Stiftung der
Burſchenſchaft „ein Werk des Herrn“ gethan habe. Die neue Verbin-
dung brach ſofort mit allen Unſitten des Pennalismus und wurde nach
rein demokratiſchen Grundſätzen durch einen freigewählten Ausſchuß und
Vorſtand regiert; ihr Ehrengericht brachte die Duelle auf eine beſcheidene
Zahl herab und wachte ſtreng über ehrenhafter Sitte.


Schon ein Jahr nach der Stiftung hatten ſich alle anderen Ver-
bindungen in Jena aufgelöſt, und die Burſchenſchaft erſchien nunmehr
wirklich, wie ſie es wollte, als ein Bund der geſammten chriſtlich-deutſchen
Studentenſchaft. In dieſen erſten Tagen herrſchte noch durchaus der
gute Ton einer warmen vaterländiſchen Begeiſterung. Welch ein Abſtand
gegen die Roheit früherer Tage, wenn die Burſchen jetzt als Bundesge-
ſang das mächtige Lied von Arndt anſtimmten:


Wem ſoll der erſte Dank erſchallen?

Dem Gott, der groß und wunderbar

Aus langer Schande Nacht uns Allen

In Flammen aufgegangen war,

Der unſrer Feinde Trotz zerblitzet,

Der unſre Kraft uns ſchön erneut

Und auf den Sternen waltend ſitzet

Von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Zum Feldzeichen ihres Bundes und der deutſchen Einheit, die er ſym-
boliſch darſtellen ſollte, nahmen die Burſchen auf Jahns Vorſchlag ein
ſchwarzrothgoldenes Banner an. Es waren die Uniformfarben der Lü-
tzower Freiſchaar, die auch eine goldgeſtickte ſchwarzrothe Fahne geführt
hatte. Einzelne Burſchenſchafter ſtellten freilich die kühne Behauptung
auf: daß ſich in dieſem Banner die ſchwarzgelben Farben des alten
Reichs, verſchönt durch das Roth der Freiheit oder auch des Krieges, er-
neuerten, denn Roth war einſt die Kriegsfarbe der Kaiſerlichen geweſen; die
Eifrigſten aber wollten von ſolchen hiſtoriſchen Erinnerungen nichts hören
und meinten kurzab: aus der Knechtſchaft Nacht durch blutigen Kampf
[423]Die Jenenſer Burſchenſchaft.
zum goldenen Tage der Freiheit. So iſt aus den Träumen der Stu-
denten jene Tricolore entſtanden, die durch ein halbes Jahrhundert die
Fahne der nationalen Sehnſucht blieb, die ſo viel Hoffnungen und ſo
viel Thränen, ſo viel edle Gedanken und ſo viel Sünden über Deutſch-
land bringen ſollte, bis ſie endlich, gleich dem ſchwarzblaurothen Banner
der italieniſchen Carbonari, im Toben der Parteikämpfe entwürdigt und
gleich jenem durch die Farben des nationalen Staates verdrängt wurde.


Die Abſicht der Burſchenſchaft, alle Studenten in einer Verbindung
zu vereinigen, entſprang einem überſpannten Idealismus, da der ſchönſte
Reiz ſolcher Jugendvereine doch in der Innigkeit der perſönlichen Freund-
ſchaft liegt. Der unzähmbare perſönliche Stolz der Deutſchen wollte ſich
ſo leicht nicht über einen Kamm ſcheeren laſſen. Ariſtokratiſchen Naturen
war ſchon das allgemeine Duzen, das die Burſchenſchaft anbefahl, wider-
wärtig; nicht blos die rohen Wüſtlinge der alten Schule, ſondern auch
viele harmlos lebensluſtige junge Männer langweilten ſich bei dem alt-
klugen, ernſthaften Tone des Burſchenhauſes, wo man nur durch pathe-
tiſche Beredſamkeit, und allenfalls noch durch eine gute Klinge, ſich An-
ſehen erwerben konnte; freie, eigenartige Köpfe, wie der junge Karl
Immermann in Halle, wollten das Anſehen der Burſchenvorſteher über-
haupt nicht gelten laſſen, da die berühmten akademiſchen Häuptlinge nur
ſelten geiſtreiche Menſchen ſind. Wider ſolche Gegner half nur diktato-
riſche Härte; die Einſeitigkeit, deren jede neue Richtung, zumal unter
jungen Männern, bedarf, ſteigerte ſich in der Burſchenſchaft bald bis
zum Terrorismus. In Jena gelang es, alle abweichenden Meinungen
vorläufig zum Schweigen zu bringen, und nun ſchwoll das Selbſtgefühl
der Burſchen unleidlich an. Gewichtig ſchritten an jedem Nachmittag die
Herren des Vorſtands und des Ausſchuſſes auf dem Marktplatze auf und
nieder, das Wohl des Vaterlandes und der Hochſchulen in gemeſſenem
Geſpräche erwägend; ſie fühlten ſich als Herrſcher in dieſem kleinen aka-
demiſchen Reiche, zumal da die meiſten Profeſſoren den jungen Herren
eine ganz unbillige, aus Angſt und Wohlwollen gemiſchte Ehrerbietung
erwieſen; ſie ſahen im Geiſte ſchon die Zeit, wo ganz Deutſchland von
den Jüngern der Burſchenſchaft regiert würde.


Die patriotiſchen Zorn- und Prachtreden erklangen immer kräftiger
und ſchloſſen ſchon zuweilen mit dem Trumpfe: „unſer Urtheil hat das
Gewicht der Geſchichte ſelbſt, es iſt vernichtend.“ Wie viele alte Burſchen-
ſchafter ſind bis zur Grube in dem glücklichen Wahne geblieben, daß die
Burſchenſchaft eigentlich das neue deutſche Reich gegründet habe; Arnold
Ruge ſchilderte noch ein halbes Jahrhundert ſpäter den langen Einheits-
und Freiheitskampf der neuen deutſchen Geſchichte wie eine einzige große
Pro-patria-Paukerei zwiſchen Burſchenſchaften und Corps. Und ſicher-
lich hat mancher redliche junge Mann die erſte Ahnung von der Herr-
lichkeit des Vaterlandes auf der Burſchenkneipe gewonnen; aber der poli-
[424]II. 6. Die Burſchenſchaft.
tiſche Idealismus jener Tage war zu geſtaltlos, um eine beſtimmte Ge-
ſinnung hervorzurufen. Der erſten Generation der Burſchenſchaft ge-
hörten neben einzelnen liberalen Parteiführern, wie H. v. Gagern, auch
viele Männer an, welche ſpäterhin eine ſtreng-conſervative Richtung ein-
ſchlugen, ſo Leo, Stahl, W. Menzel, Jarcke, Hengſtenberg. Die wort-
reiche Schwärmerei, die unklare Sehnſucht und die beſtändige Verwechs-
lung von Schein und Wirklichkeit waren der Entwicklung des politiſchen
Talents nicht günſtig. Im großen Durchſchnitt ſind aus der Burſchen-
ſchaft mehr Gelehrte und Schriftſteller hervorgegangen, aus den Reihen
ihrer ſpäteren Gegner, der Corps, mehr Staatsmänner.


Vorderhand war die Burſchenſchaft in Jena obenauf. Ihr Ruhm
ward auf allen Univerſitäten verkündet und lockte neue Genoſſen herbei,
ſo daß ſich die Studentenzahl in kurzer Zeit verdoppelte. Auch an an-
deren Hochſchulen thaten ſich Burſchenſchaften auf, ſo in Gießen und in
Tübingen, wo die Stiftler ſchon 1813 einen Tugendbund zur Bekämpfung
der akademiſchen Roheit gebildet hatten; und ganz von ſelbſt erwachte der
Wunſch die neue Gemeinſchaft auf einer feierlichen Zuſammenkunft aller
deutſchen Burſchen zu befeſtigen. In ſolchen freien, über die Grenzen
des Einzelſtaats hinausreichenden ſocialen Verbindungen findet der Ein-
heitsdrang zertheilter Völker ſeinen natürlichen Ausdruck; in Deutſchland
wie in Italien ſind die Congreſſe der Gelehrten, der Künſtler, der Ge-
werbtreibenden wie Sturmvögel den blutigen Einheitskämpfen vorausge-
zogen. Unter den Deutſchen aber ſchritten die Studenten Allen voran, und
nichts bezeichnet ſo deutlich das harmloſe politiſche Stillleben jener Tage.
Lange bevor die Männer auf den Gedanken kamen, ſich über ihre ernſten
gemeinſamen Intereſſen zu verſtändigen, regte ſich in der Jugend der
Drang, die gemeinſamen Träume und Hoffnungen auszutauſchen, in phan-
taſtiſchem Spiele der idealen Einheit des Vaterlandes froh zu werden. —


Das Jubelfeſt der Reformation erweckte überall unter den Prote-
ſtanten ein frohes Gefühl dankbaren Stolzes; auch Goethe ſang in dieſen
Tagen: „ich will in Kunſt und Wiſſenſchaft wie immer proteſtiren.“ Die
Studentenſchaft ward von dieſer Stimmung der Zeit um ſo ſtärker er-
griffen, da ihr der chriſtlich-proteſtantiſche Enthuſiasmus des Befreiungs-
krieges noch in der Seele nachzitterte. Als der Gedanke eines großen
Verbrüderungsfeſtes der deutſchen Burſchen zuerſt in Jahns Kreiſe auf-
getaucht war, beſchloß die Jenenſer Burſchenſchaft den Verſammlungstag
auf den 18. „des Siegesmonds“ 1817 zu verlegen um damit zugleich
das Jubelfeſt der Reformation und die übliche Jahresfeier der Leipziger
Schlacht zu verbinden. Armin, Luther, Scharnhorſt, alle die hohen Ge-
ſtalten der Führer des Deutſchthums gegen das wälſche Weſen floſſen in den
[425]Das Wartburgfeſt.
Vorſtellungen der jungen Brauſeköpfe zu einem einzigen Bilde zuſammen.
Den Radikaleren galt Luther als ein republikaniſcher Held, als ein Vor-
kämpfer der freien „Ueberzeugung“; in einer Feſtſchrift von Karl Sand,
die unter die Burſchen vertheilt ward, erſchien die evangeliſche Lehre von
der Freiheit des Chriſtenmenſchen mit modern-demokratiſchen Ideen phan-
taſtiſch verbunden. „Hauptidee unſeres Feſtes, hieß es da, iſt, daß wir
allzumal durch die Taufe zu Prieſtern geweiht, Alle frei und gleich ſind;
Urfeinde unſeres deutſchen Volksthums waren von jeher Drei: die Römer,
Möncherei und Soldaterei.“ Dadurch ward freilich der geſammtdeutſche
Charakter des Feſtes von vornherein getrübt. Die katholiſchen Univerſitäten
des Oberlandes, die ohnehin mit den norddeutſchen noch keinen regel-
mäßigen ſtudentiſchen Verkehr unterhielten, konnten keine Einladung er-
halten; die Freiburger Burſchen mußten für ſich allein am 18. Oktober
auf dem Wartenberge bei Donaueſchingen ihr Siegesfeuer anzünden. Von
den öſterreichiſchen Hochſchulen war nicht die Rede, da ſie dem deutſchen
Studentenbrauche ganz fern ſtanden, auch, mit Ausnahme der Sieben-
bürger Sachſen und weniger Ungarn, noch faſt kein Oeſterreicher in
Deutſchland ſtudirte. Aber auch auf den preußiſchen Univerſitäten hatte
die Burſchenſchaft noch ſo wenig Anhang, daß allein Berlin der Einla-
dung Folge leiſtete. So war denn bei der Feier der Völkerſchlacht grade
die Studentenſchaft der beiden Staaten, welche allein ſchon bei Leipzig
für die Sache der Freiheit gefochten, faſt gar nicht vertreten; und alle
die wunderſamen Märchen, womit die Liberalen der rheinbündiſchen Län-
der die Geſchichte des Befreiungskrieges auszuſchmücken liebten, fanden
freien Paß.


Schon lange zuvor hatte die Preſſe mit mächtigen Trompetenſtößen
den großen Tag angekündigt. Eine freie Zuſammenkunft von Deutſchen
aller Länder allein um des Vaterlandes willen war dieſem Geſchlechte
eine ſo erſtaunliche Erſcheinung, daß ſie ihm faſt wichtiger vorkam als die
weltbewegenden Ereigniſſe der letzten Jahre. Im Laufe des 17. Oktobers
langten an fünfhundert Burſchen in Eiſenach an, etwa die Hälfte aus
Jena, dreißig aus Berlin, die übrigen aus Gießen, Marburg, Erlangen,
Heidelberg und anderen Univerſitäten der Kleinſtaaten; die rüſtigen Kieler
hatten nach Turnerbrauch den weiten Weg zu Fuß zurückgelegt. Auch
vier der Jenenſer Profeſſoren fanden ſich ein, Fries, Oken, Schweitzer und
Kieſer. Jede neu eintreffende Schaar ward ſchon am Thore mit ſtür-
miſcher Freude begrüßt und dann in den Rautenkranz geleitet um dort
vor den geſtrengen Herren des Ausſchuſſes auf dreitägigen Burgfrieden
Urfehde zu ſchwören. Anderen Tags in der Frühe ſtieg „der heilige Zug“
bei hellem Herbſtwetter durch den Wald hinauf zu der Burg des Refor-
mators: voran der Burgvogt Scheidler mit dem Burſchenſchwerte, darauf
vier Burgmänner, dann, von vier Fahnenwächtern umgeben, Graf Keller
mit der neuen Burſchenfahne, welche die Jenenſer Mädchen ihren ſitten-
[426]II. 6. Die Burſchenſchaft.
ſtrengen jungen Freunden kürzlich geſtickt hatten, dann endlich die Bur-
ſchen Paar an Paar, viele ſchöne germaniſche Reckengeſtalten darunter,
Mancher im Vollbart, was bei ängſtlichen Gemüthern ſchon als ein
Zeichen hochverrätheriſcher Geſinnung galt. Allen lachte die Freude aus
den Augen, jene glückliche Selbſtvergeſſenheit der Jugend, die noch ganz
im Genuſſe des Augenblicks aufzugehen vermag; ihnen war, als ob ihnen
heute zum erſten male die Herrlichkeit ihres Vaterlandes leibhaftig ent-
gegenträte.


Droben im Ritterſaale der Wartburg, den der Großherzog gaſtfreund-
lich geöffnet hatte, wurde zuerſt unter Pauken- und Trompetenſchall „Eine
feſte Burg iſt unſer Gott“ geſungen. Darauf hielt der Lützower Riemann
aus der Fülle ſeines ehrlichen Herzens heraus eine Feſtrede, die in hoch-
pathetiſchen überſchwänglichen Sätzen von den Thaten Luthers und Blü-
chers ſprach und dann bei den Geiſtern der erſchlagenen Helden die Bur-
ſchen mahnte zum „Streben nach jeglicher menſchlichen und vaterländiſchen
Tugend“. Einige der landläufigen Schlagwörter von den vereitelten
Hoffnungen des deutſchen Volks und dem einen Fürſten, der ſein Wort
gelöſt, liefen zwar mit unter; das Ganze war ein jugendlich unklarer,
durchaus harmloſer Gefühlserguß, ebenſo vieldeutig und unbeſtimmt, wie
die neue Loſung Volunto! welche die Burſchen gern im Munde führten.
Auch was nachher noch von Profeſſoren und Studenten geredet ward
ging nicht über dies Maß hinaus, ſelbſt Oken ſprach mit ungewohnter
Selbſtbeherrſchung und warnte die jungen Leute vor einer verfrühten
politiſchen Thätigkeit.


Nach dem Mittagsmahle gingen die Burſchen zur Stadt hinab in
die Kirche, wo auch der Eiſenacher Landſturm dem Gottesdienſte beiwohnte;
dann gaben noch die Kämpen des Berliner und des Jenenſer Turnplatzes
den ſtaunenden Landſtürmern ihre Künſte zum Beſten. Als die Dämme-
rung hereinbrach zog man mit Fackeln wieder hinauf nach dem Warten-
berge, der Wartburg gegenüber, wo mehrere große Siegesfeuer brannten,
die mit patriotiſchen Reden und Liedern begrüßt wurden. Bis dahin war
das Feſt in glücklicher Eintracht verlaufen; hier aber ward zum erſten
male offenkundig, daß ſich bereits eine kleine extreme Partei innerhalb der
Burſchenſchaft gebildet hatte: jene fanatiſchen Urteutonen aus Jahns
Schule, die man die Altdeutſchen nannte. Dieſe köſtliche Gelegenheit für
eine fratzenhafte Eulenſpiegelei konnte ſich der Turnmeiſter doch nicht ent-
gehen laſſen. Er regte zuerſt den Gedanken an, dies Lutherfeſt durch
eine Nachäffung der kühnſten That des Reformators zu krönen und, wie
einſt Luther die Bannbulle des Papſtes verbrannt hatte, ſo jetzt die
Schriften der Feinde der guten Sache ins Feuer zu werfen. Da die
Mehrheit des Feſtausſchuſſes, klüger als der Alte, den Vorſchlag ablehnte,
gab Jahn gleichwohl ſeinen Berlinern ein Verzeichniß der zu verbren-
nenden Bücher mit auf den Weg, und dieſe Getreuen, Maßmann voran,
[427]Das Feuergericht auf dem Wartenberge.
beſchloſſen nunmehr den Plan des Meiſters auf eigene Fauſt auszuführen,
was der Ausſchuß um des Friedens willen nicht gradezu verbieten wollte.
Kaum war auf dem Wartenberge das letzte ernſte Lied der die Flammen
umringenden Burſchen verklungen und die eigentliche Feier beendet, ſo
trat Maßmann plötzlich hervor und forderte in einer ſchwülſtigen Rede
die Brüder auf, zu ſchauen, wie nach Luthers Vorbilde in zehrendem
Fegefeuer Gericht gehalten werde über die Schandſchriften des Vater-
landes. Jetzt ſei die heilige Stunde gekommen, „daß alle deutſche Welt
ſchaue was wir wollen; daß ſie wiſſe, weß ſie dereinſt ſich von uns zu
verſehen habe.“


Darauf trugen ſeine Geſellen einige Ballen alten Druckpapiers her-
bei, die mit den Titeln der vervehmten Bücher beſchrieben waren. Auf
eine Miſtgabel aufgeſpießt flogen dann die Werke der Vaterlandsverräther
unter tobendem Gejohle in das hölliſche Feuer: eine wunderlich gemiſchte
Geſellſchaft von etwa zwei Dutzend guten und ſchlechten Büchern, Alles
was grade in jüngſter Zeit den Zorn der Iſis und ähnlicher Blätter her-
vorgerufen hatte. Da brannten Wadzeck, Scherer und, der Vollſtändigkeit
halber, gleich „alle andern ſchreibenden, ſchreienden und ſchweigenden Feinde
der löblichen Turnkunſt“, desgleichen die Alemannia „und alle andern
das Vaterland ſchändenden und entehrenden Zeitungen“; dann natür-
lich drei Schriften von dem verhaßten Schmalz („Gänſe-, Schweine- und
Hundeſchmalz“ brüllte der Chor) und der Codex der Gensdarmerie von
ſeinem Genoſſen Kamptz. Neben dem Code Napoleon, Kotzebues Deut-
ſcher Geſchichte und Saul Aſchers Germanomanie, der ein „Wehe über
die Juden“ nachgerufen ward, wanderte auch Hallers Reſtauration in die
Flammen: — „der Geſell will keine Verfaſſung des deutſchen Vater-
landes“, hieß es zur Erläuterung, da doch keiner von den Burſchen das
ernſte Buch geleſen hatte. Aber auch die Liberalen Benzenberg und
Wangenheim mußten den Grimm der Jugend erfahren, weil die Jenenſer
Publiciſten ihre Schriften nicht verſtanden. Zuletzt wurden noch ein
Uhlanenſchnürleib, ein Zopf und ein Corporalſtock verbrannt, als „Flügel-
männer des Kamaſchendienſtes, die Schmach des ernſten heiligen Wehr-
ſtandes“, und mit einem dreimaligen Pere-Pereat auf „die ſchuft’gen
Schmalzgeſellen“ gingen die Vehmrichter aus einander.


Es war eine unbeſchreiblich abgeſchmackte Poſſe, an ſich nicht ärger
als viele ähnliche Ausbrüche akademiſcher Roheit, bedenklich nur durch
den maßloſen Hochmuth und die jakobiniſche Unduldſamkeit, die ſich in
den Schimpfreden der jungen Leute ankündigten. Darum ſprach ſich Stein
in den ſchärfſten Worten über „die Fratze auf der Wartburg“ aus, und
der immer ſchwarzſichtige Niebuhr ſchrieb beſorgt: „Freiheit iſt ganz un-
möglich, wenn die Jugend ohne Ehrerbietung und Beſcheidenheit iſt.“
Seine Wahrhaftigkeit fühlte ſich angeekelt von dieſer „religiöſen Komödie“:
dort der kühne Reformator, der ſich gegen die höchſte und heiligſte Gewalt
[428]II. 6. Die Burſchenſchaft.
der Zeit empörte, und hier das ungefährliche Feuergericht großſprecheriſcher
junger Burſchen über eine Reihe von Schriften, woraus ſie kaum eine
Zeile kannten — welche ein lächerlicher Contraſt! Auf der Burſchenver-
ſammlung am nächſten Tage ſprachen die Studenten wieder ruhiger,
verſtändiger mindeſtens als ihr Lehrer Fries, der ihnen eine unglaublich ge-
ſchmackloſe, von myſtiſcher Bibelweisheit und ſachſen-weimariſchem Frei-
heitsdünkel ſtrotzende Rede ſchriftlich zurückgelaſſen hatte: „Kehret wieder zu
den Eurigen und ſaget: Ihr waret im Lande deutſcher Volksfreiheit, deut-
ſcher Gedankenfreiheit … Hier laſten keine ſtehenden Truppen! Ein
kleines Land zeigt Euch die Ziele! Aber alle deutſchen Fürſten haben daſſelbe
Wort gegeben u. ſ. w.“ Wahrlich, Stein wußte wohl, warum er die
Jenenſer Profeſſoren als faſelnde Metapolitiker verdammte, und Goethe
nicht minder, warum er ſeinen Fluch ausſprach über alles deutſche poli-
tiſche Gerede; denn was ließ ſich von der Jugend erwarten, wenn ihr
gefeierter Lehrer die unberittenen weimariſchen Huſaren dem übrigen
Deutſchland als ruhmreiches Vorbild darſtellte! Dieſelbe widerliche Ver-
miſchung von Religion und Politik, die ſchon aus Fries’ Rede ſprach,
offenbarte ſich dann noch einmal am Nachmittage, als einige der Bur-
ſchen auf den Einfall kamen noch das Abendmahl zu nehmen. Der Super-
intendent Nebe gab ſich in der That dazu her, den aufgeregten und zum
Theil angetrunkenen jungen Männern das Sakrament ’zu ſpenden —
ein charakteriſtiſches Probſtück jener jämmerlichen Schlaffheit, welche die
weltlichen wie die geiſtlichen Behörden der Kleinſtaaterei in unruhigen
Tagen immer ausgezeichnet hat.


Trotz allen Thorheiten Einzelner war das Feſt im Ganzen doch glück-
lich und unſchuldig verlaufen. Als man am Abend unter ſtrömenden
Thränen ſich trennte, blieb den Meiſten eine Erinnerung für das ganze
Leben, ſtrahlend wie ein Maientag der Jugend — ſo geſteht Heinrich Leo;
ſie hatten ſich brüderlich zuſammengefunden mit den Genoſſen aus Süd
und Nord, ſie meinten die Einheit des zerriſſenen Vaterlandes ſchon mit
Händen zu greifen, und wenn die öffentliche Meinung verſtändig genug
war die jungen Feuerköpfe ſich ſelber und ihren Träumen zu überlaſſen,
ſo konnten die guten Vorſätze, welche mancher wackere Jüngling in jenen
erregten Stunden gefaßt hatte, noch heilſame Früchte bringen.


Aber in der tiefen Stille, die über dem deutſchen Norden lagerte,
hallten die kecken Reden der Burſchen nur allzu laut wieder; es war als
ob Freund und Feind ſich verſchworen hätten, die Todſünde der Jugend,
die ihr den ehrlichen Enthuſiasmus verdarb, die krankhafte Selbſtüber-
ſchätzung, bis zum Unſinn zu ſteigern, als ob Jedermann mit einſtimmte in
die ruhmredige Verſicherung eines der Wartburg-Redner, Carové, der die
Univerſitäten als die natürlichen Vertheidiger der Volksehre gefeiert hatte.
Mit lächerlicher Ernſthaftigkeit prieſen die liberalen Zeitungen dies erſte
Erwachen des öffentlichen Lebens der Nation, „dieſen Silberblick unſerer
[429]Der Federkrieg um das Wartburgfeſt.
Geſchichte, dieſen Blüthendurchbruch unſerer Zeit;“ die alte Angſt des ge-
zähmten Philiſters vor dem nachtwächter-prügelnden Studenten kleidete
ſich in politiſche Gewänder. Eine ganze Literatur von Schriften und
Gegenſchriften beleuchtete das wunderbare Schauſpiel von allen Seiten
und erhob den Studentencommers auf die Höhe eines europäiſchen Er-
eigniſſes. Natürlich daß die Helden ſelber an dieſem Federkriege mit
gerechtem Stolze theilnahmen. Das treueſte Bild von der nebelhaften
Begeiſterung der jungen Leute gab Maßmann in einem langen Feſtberichte,
deſſen geſchraubte orakelhafte Sprache freilich auch zeigte, wie viel un-
deutſches Weſen ſich in dem Jahn’ſchen Kraftmenſchenthum verbarg: „Ob-
ſchon nun die trübe Winternacht der Knechtſchaft — ſo hob er an —
noch immer laſtet auf den Bergen und an den Strömen des deutſchen
Landes, ſo ſind doch der Berge Gipfel vergoldet, das blutgoldene Morgen-
roth zieht herauf.“ Der arme Junge hatte jetzt ſchon für die Narrheit
des Turnmeiſters ſchwer zu büßen; da er eine Unterſuchung fürchtete
und vor den Richtern doch nicht eine gar zu traurige Figur ſpielen wollte,
ſo mußte er ein ganzes Winterſemeſter opfern um alle die Schandbücher,
die er auf dem Wartenberge ſymboliſch verbrannt hatte, nachträglich zu
leſen. Ein Anderer, vermuthlich Carové, widmete ſein Buch ſeinen rhein-
ländiſchen Landsleuten mit dem Wunſche, daß die Geiſtesſonne von der
Wartburg auch ſie erleuchten, ihnen Troſt und Stärkung bringen möge
in ihrem Unglück. Indeß blieb die Mehrheit noch immer leidlich ruhig.
Ein Antrag auf Veröffentlichung eines politiſchen Programms wurde ver-
worfen mit der ausdrücklichen Erklärung, daß die Burſchenſchaft ſich nicht
in die Politik zu miſchen habe; auch eine kleine Schrift über das Wart-
burgsfeſt von F. J. Frommann, dem Sohne der angeſehenen Jenenſer
Buchhändlerfamilie, war durchaus beſcheiden, von einem harmloſen
jugendlichen Enthuſiasmus erfüllt.


Leider gebärdeten ſich mehrere der Profeſſoren, welche dem Feſte bei-
gewohnt, weit thörichter als ihre Schüler. Fries nahm keinen Anſtand,
in einer muſterhaft groben Zeitungserklärung das Flammengericht über
die Schriften „einiger Schmalzgeſellen“ ſchlankweg zu billigen; Oken aber
hielt in der Iſis die Wartburgverſammlung „Vielen die über Deutſchland
Rath und Unrath halten“ als leuchtendes Beiſpiel vor und verſchwendete
die ganze Bilderpracht ſeiner Gänſe, Eſels-Pfaffen- und Judenköpfe um
die Verfaſſer der verbrannten Schriften noch einmal zu verhöhnen, worauf
denn die Jenenſer Burſchen die Zerrbilder der Iſis in einem Masken-
zuge auf dem Markte dramatiſch darſtellten. Kieſer endlich, der unter den
Medicinern trotz ſeiner magnetiſchen Geheimlehren als geiſtreicher Kopf und
tüchtiger Gelehrter geachtet war, veröffentlichte eine „dem Wartburgsgeiſte
der deutſchen Hochſchulen gewidmete“ Schrift, die in aberwitzigen Prahlereien
gradezu ſchwelgte: da war die Wartburgsfeier „ein Ereigniß, auf welches
Deutſchlands Völker noch nach Jahrhunderten ſtolz ſein werden, das
[430]II. 6. Die Burſchenſchaft.
wie alles wahrhaft Große nie in der Geſchichte wiederkehren und in
ſeinem dunklen Schooße fruchtbare, auf Jahrhunderte wirkende Keime ent-
halten kann!“


An dieſen Ausbrüchen akademiſchen Größenwahnſinns hatte die klein-
liche Empfindlichkeit der Gegner reichliche Mitſchuld. Die Zeit war an
die Gehäſſigkeit politiſcher Kämpfe noch wenig gewöhnt, faſt alle die be-
ſchimpften Schriftſteller fühlten ſich durch die Narrethei der Burſchen
ernſtlich beleidigt. Nur Wangenheim ertrug den Unglimpf mit guter
Laune: bisher hatten ihn ſeine Genoſſen am Bundestage als Demagogen
beargwöhnt, ſeit ſein Buch auf der Wartburg verbrannt worden behan-
delten ſie ihn wieder freundlicher. Viele der Uebrigen beſchwerten ſich laut
und ſetzten finſtere Gerüchte in Umlauf: auch die Urkunde der Heiligen
Allianz und die Bundesakte ſollten die jungen Hochverräther mit verbrannt
haben. Der Ungebärdigſte von Allen war Geh. Rath Kamptz; mit beiden
Händen ergriff er den willkommenen Anlaß um den akademiſchen Jako-
binern endlich den Garaus zu machen. Welch ein Glück auch, daß die un-
wiſſenden Jungen grade ſeinen Codex der Gensdarmerie ins Feuer geworfen
hatten, eine Sammlung von deutſchen Polizeigeſetzen, faſt ohne eigene Zu-
thaten des Herausgebers! Alſo landesherrliche Verordnungen, darunter auch
ſolche von Karl Auguſt ſelber, waren auf großherzoglich ſachſen-weimariſchem
Boden öffentlich verbrannt; nach Quiſtorps Peinlichem Rechte lag der That-
beſtand des „Laſters der beleidigten Majeſtät“ unbeſtreitbar vor. In zwei
drohenden Briefen an den Großherzog und dann noch in einer Flugſchrift
„über die öffentliche Verbrennung von Druckſchriften“ legte Kamptz dieſe
Gedanken dar und forderte ſtürmiſch Genugthuung: der deutſche Boden
ſei entweiht, das Jahrhundert entheiligt durch den Vandalismus dema-
gogiſcher Intoleranz, durch die Volksdümmlichkeit der Werkzeuge ſchlechter
Profeſſoren.


Am Wiener Hofe war nur eine Stimme der Angſt und der Ent-
rüſtung. Durch die Nachrichten aus Eiſenach wurde Metternich zum
erſten male bewogen, ſich der deutſchen Dinge, die er bisher ſo gleichgiltig
behandelt hatte, ernſtlich anzunehmen; er erkannte mit Schrecken, daß ſich
hinter dem phantaſtiſchen Treiben der Jugend doch der Todfeind ſeines
Syſtems, der nationale Gedanke verbarg. Sofort erklärte er dem preu-
ßiſchen Geſandten, jetzt ſei es an der Zeit „gegen dieſen Geiſt des Jako-
binismus zu wüthen“ (sévir), und erſuchte den Staatskanzler, gemeinſam
mit Oeſterreich wider den Weimariſchen Hof vorzugehen.*) Im erſten
Schrecken wollte er ſogar alle öſterreichiſchen Studenten ſogleich aus Jena
abberufen. Im Oeſterreichiſchen Beobachter veröffentlichte Gentz eine Reihe
geharniſchter Artikel über das Wartburgfeſt, ein kunſtvolles Gemiſch von
Scharfſinn und Thorheit. Nur mit Zittern, rief er aus, könne ein Vater
[431]Die Großmächte und die Studenten.
heute noch ſeinen Sohn auf die Hochſchule ziehen ſehen; an ſolche Klagen
nervöſer Aengſtlichkeit ſchloß ſich dann eine meiſterhafte, aus der Fülle
überlegener Sachkenntniß geſchöpfte Widerlegung der ruhmredigen Burſchen-
märchen von den Wunderthaten der Freicorps und der „heiligen Schaaren“.


In Berlin zeigte ſich der König weit beſorgter als die Miniſter.
Friedrich Wilhelm hatte ſelbſt nie ſtudirt und kannte den derben Humor des
Burſchenlebens nicht; das Poltern und Prahlen des jungen Volks ekelte
ihn an. Er war bereits im Frühjahr gegen die Hallenſer Teutonia einge-
ſchritten, als Karl Immermann ihn um Schutz gegen den Terrorismus
dieſer Burſchenſchaft bat, und ließ nunmehr ſogleich auf allen preußiſchen
Hochſchulen Nachfrage halten, wer an dem Wartburgfeſte theilgenommen.
Die Königsberger Burſchen wurden belobt weil ſie ſich ferngehalten; der
Unterrichtsminiſter aber erhielt (7. Decbr.) den ſtrengen Befehl, ſofort alle
Verbindungen bei Strafe der Relegation zu verbieten, auch das Turn-
weſen ſcharf zu beaufſichtigen. „Ich werde, ſchrieb ihm der König, nicht
den mindeſten Anſtand nehmen, diejenige Univerſität, auf welcher der
Geiſt der Zügelloſigkeit nicht zu vertilgen iſt, aufzuheben.“*)


Altenſtein entledigte ſich des Auftrags mit wohlwollender Schonung;
er hatte das Zutrauen zu dem guten Sinne der Jugend nicht verloren, er
lobte die furchtloſe Haltung des Großherzogs von Weimar und hielt die
Hoffnung feſt, „daß die preußiſchen Univerſitäten, ſo wie ſie an zweck-
mäßiger, freigebiger Ausſtattung allen deutſchen vorangehen, dieſen auch
als Muſter eines regen, aber auf das Rechte gerichteten Strebens voran-
leuchten werden“.**) Hardenberg dagegen ging auf die Anſichten des
Königs mit befliſſenem Eifer ein. Nicht als ob er die Beſorgniſſe des
Monarchen durchaus getheilt hätte, aber die Reden der jungen Demagogen
drohten ihm ſeine liebſten Pläne zu zerſtören. Das letzte Ziel ſeiner Politik
blieb die Vollendung der Verfaſſung, und dies Werk konnte nie gelingen,
wenn der erwachte Argwohn in der Seele des Königs ſich befeſtigte; darum
mußte jede Regung demagogiſcher Geſinnung ſofort und für immer ge-
bändigt werden. Als irgend ein Ohrenbläſer die ſtreng wiſſenſchaftlichen,
von aller Parteigeſinnung freien Vorleſungen Schleiermachers „über die
Lehre vom Staate“ eben jetzt bei Hofe verdächtigt hatte und der König einige
verdrießliche Bemerkungen fallen ließ, da fand Hardenberg nicht den Muth,
durch ein ehrliches Wort dem Monarchen die Augen zu öffnen, ſondern
verlangte alsbald von dem Unterrichtsminiſter das Verbot dieſer Vorträge,
„die, ohne einen reellen Nutzen zu gewähren, nur dazu dienen die Ge-
müther zu entzweien“ und gab ſein Vorhaben nur auf weil ſogar Wittgen-
ſtein die Ausführung bedenklich fand.***) Ebenſo willfährig kam er den
[432]II. 6. Die Burſchenſchaft.
Vorſchlägen Metternichs entgegen; er beſchloß, da er grade die rheiniſchen
Provinzen beſuchen wollte, den Weg über Weimar zu nehmen um dort,
unterſtützt von dem öſterreichiſchen Geſandten Grafen Zichy, den Groß-
herzog zur Rede zu ſtellen und ihm zwei mahnende Briefe des Kaiſers
und des Königs zu übergeben.


Inmitten der allgemeinen Aufregung blieb allein Karl Auguſt heiter
und gleichmüthig; er hatte ſelber einſt lange im Uebermuth brauſender
Jugend geſchwelgt und nahm die Prahlerei der Burſchen nicht ernſter als
ſie es verdiente. Die auf der Wartburg angekündigte Deutſche Burſchen-
zeitung ward verboten, einige andere Zeitungen verwarnt, und gegen
Oken leitete man ein Strafverfahren ein, das mit Freiſprechung endigte,
da die Anklage thörichterweiſe auf Hochverrath lautete; für Injurienklagen
hätte jener Artikel der Iſis allerdings überreichen Stoff geboten. Auch
eine Unterſuchung gegen Fries wurde als gegenſtandslos wieder einge-
ſtellt, und man begnügte ſich, ihm wegen ſeiner taktloſen Reden einen
Verweis zu ertheilen. Im Uebrigen blieben die Jenenſer unbehelligt.
Der preußiſchen Regierung ließ Karl Auguſt durch ſeinen Geſchäftsträger
ſagen (26. November): „Die gegenwärtige Aufregung iſt allgemein, ſie iſt
eine natürliche Folge der Ereigniſſe; Vertrauen und Muth können ſie
erſticken, Argwohn und gewaltſame Maßregeln würden Deutſchland ver-
wirren.“*) Den Abgeſandten der beiden Großmächte trat er mit ſeinem
gewohnten fröhlichen Freimuth entgegen und verſprach, bei einem Bundes-
preßgeſetze mitzuhelfen. Auf den Wunſch des Großherzogs ging dann
Zichy mit Edling ſelber nach Jena um dies Neſt des Aufruhrs näher
zu betrachten, und da ſich dort nichts Auffälliges zeigte, ſo ſtanden die
beiden Großmächte vorläufig von weiteren Schritten ab. Aber der Arg-
wohn blieb lebendig; in den ſchärfſten Worten ſprach König Friedrich
Wilhelm ſeine Rüge aus, da Maßmann im nächſten Sommer als Turn-
lehrer nach Breslau berufen wurde. Auch die franzöſiſche Regierung,
längſt ſchon beunruhigt durch die Umtriebe des Prinzen von Oranien
und der Flüchtlinge in Belgien, machte dem Weimariſchen Hofe ernſte
Vorſtellungen. Czar Alexander, der Vorkämpfer des chriſtlichen Libera-
lismus, weigerte ſich zwar beim Deutſchen Bunde Lärm zu ſchlagen, wie
Metternich von ihm verlangt hatte; doch konnte auch er eine ſtille Angſt
nicht ganz bemeiſtern und mahnte den Großherzog in einem eigenhändigen
Briefe zur Strenge gegen die Preſſe.**) Immer ſtärker ward die Furcht
vor einer nahenden Revolution, und da die fremden Mächte wohl fühlten,
was ſie alle an Deutſchland geſündigt hatten, ſo betrachteten ſie dies ſtille
Land, das doch erſt an wenigen Orten die Spuren unruhiger Bewegung
zeigte, als den natürlichen Mittelpunkt der europäiſchen Umſturzpartei.


[433]Luden und Kotzebue.

Auf die Stimmung der Studenten wirkte die Aengſtlichkeit der Ca-
binette ſehr ſchädlich ein: die Burſchen meinten auf der Höhe der
Weltgeſchichte zu ſtehen, ſeit alle Großmächte des Feſtlandes wider ſie auf-
traten. Die demokratiſchen Ideen, die bisher unter der Decke der chriſt-
lich-germaniſchen Phantaſterei geſchlummert hatten, traten jetzt keck hervor;
neben Körners Liedern ward ſchon die vom alten Voß verdeutſchte Mar-
ſeillaiſe häufig geſungen:


Wir nah’n, wir nah’n! Beb’, Miethlingsſchwarm,

Entfliehe oder ſtirb! —

und Niemand fragte mehr, welchem Volke denn dieſer „Miethlingsſchwarm“
Rouget de Lisle’s angehört hatte. Die radikale Partei der „Altdeutſchen“
ſonderte ſich allmählich ſchärfer von der unſchuldigen Maſſe der Burſchen
ab. Während dieſe, des ewigen politiſchen Geſchwätzes müde, ſich in Lichten-
hain ein luſtiges Bierherzogthum einrichtete, ſaßen jene „ruhigen republi-
kaniſchen Staatsmänner“, wie Arnold Ruge ſie nennt, in ihrer Republik
Ziegenhain feierlich beiſammen und unterſuchten in pathetiſchen Reden,
ob die Einheit Deutſchlands beſſer durch Ermordung oder durch friedliche
Mediatiſirung der Fürſten zu erreichen ſei. Ein neues Lied „Dreißig oder
dreiunddreißig, gleichviel!“ — ſprach ſich ſehr aufrichtig für den erſteren
Weg aus, doch gab es auch noch einzelne ſanfte Naturen, welche dem
König von Preußen ein Gnadengeld von 300 Thlr. jährlich vergönnen
wollten. Die Thorheit begann doch recht zuchtlos zu werden; und wie die
Umgangsformen dieſer turnenden Jugend ſich verfeinerten, das bekam der
unſchuldige Fries einſt zu ſpüren, als ihm einer ſeiner Studenten ſchrieb:
„Ich denke, ich ſchreibe künftig nicht mehr an den Hofrath Fries, ſondern
ich ſchreibe an Dich meinen älteren Freund Fries, und Du ſchreibſt an
Deinen treuen Schüler D … Nun ſieh, Du alter braver Kerl, wir
ſind jüngere Leute, und uns iſt ein beſſeres Leben aufgegangen als Dir
in Deiner Jugend.“


Bald nach dem Wartburgfeſte goß ein häßlicher literariſcher Zank
abermals Oel ins Feuer. Seit Langem war Kotzebue den Burſchen ein
Dorn im Auge; ſie haßten die weichliche Lüſternheit ſeiner Dramen und
fürchteten ihn als einen gewandten Widerſacher. In ſeinem Literariſchen
Wochenblatte, das ſich der beſonderen Gunſt Metternichs erfreute, vertrat
er die Anſchauungen des aufgeklärten Abſolutismus, feierte Rußlands
Ruhm mit unterthäniger Schmeichelei und bekämpfte den Idealismus der
Jugend, wie Alles was über den platten Verſtand hinausging, ſo hämiſch
und boshaft, daß ſelbſt Goethe ihm das Feuergericht auf der Wartburg
von Herzen gönnte und ihm zurief:


Du haſt es lange genug getrieben,

Niederträchtig vom Hohen geſchrieben.

Daß Du Dein eigenes Volk geſcholten,

Die Jugend hat es Dir vergolten.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 28
[434]II. 7. Die Burſchenſchaft.

Aber auch ſein frecher Witz und ſeine behende Feder waren dem alten
Schelm treu geblieben; über den unduldſamen Hochmuth der Jugend
ſagte er manches treffende Wort, für ihre Ungezogenheiten hatte er ein
ſcharfes Auge, und wenn er die Iſis in ſeiner luſtigen „Empfehlung der
Eſelsköpfe“ durchhechelte, ſo blieb er der Sieger, da die aufgeblaſenen witz-
loſen jungen Herren ihm nicht mit derſelben Waffe zu antworten ver-
ſtanden. Kotzebue lebte als ruſſiſcher Legationsrath in Weimar, und
ſchon dieſe diplomatiſche Stellung erregte Aergerniß; denn er war ein
Weimarer Kind, er verdankte den Deutſchen allein ſeinen literariſchen
Namen und erlaubte ſich in ſeinem Wochenblatte ganz wie ein deutſcher
Staatsbürger über die vaterländiſchen Angelegenheiten mitzureden. Aber
wer durfte auch von dieſem Manne das Feingefühl des nationalen Stolzes
verlangen? Es war ein offenes Geheimniß, daß überall in Deutſchland
geheime Agenten der Petersburger Polizei lebten; als der ruſſiſche Staats-
rath Faber die Rheinlande bereiſte, hielt Graf Solms-Laubach für nöthig
ihm den treuen Bärſch als Aufpaſſer nachzuſenden; das ruſſiſche Cabinet
verdankte ſeine Kenntniß der europäiſchen Zuſtände vornehmlich den Mit-
theilungen, welche alle im Weſten lebenden vornehmen Ruſſen ihrem Hofe
zu ſenden pflegten. Auch Kotzebue ſchickte von Zeit zu Zeit Berichte nach
Petersburg, doch zählte er keineswegs zu den gefährlichen Spähern, da
ſeine Bulletins lediglich kritiſche Ueberſichten über die neueſten Erſcheinungen
der deutſchen Literatur brachten.


Da kam eines Tages Kotzebues Schreiber zu dem Redakteur des
Oppoſitionsblattes, Lindner, der mit ihm in einem Hauſe wohnte, und
erſuchte ſeinen Hausgenoſſen arglos, ihm einige Stellen aus einem fran-
zöſiſchen Berichte ſeines Herrn entziffern zu helfen. Lindner erkannte ſo-
fort was er vor ſich hatte, bat ſich die Bogen für eine Stunde aus,
ſchrieb die wichtigſten Stellen ab und hielt es nicht für unehrenhaft, das
alſo entwendete Bulletin alsbald an Luden mitzutheilen. Das Blatt
enthielt nichts weiter als ein paar flüchtige und ungenaue, aber dem Sinne
nach richtige Auszüge aus der Nemeſis und ähnlichen Schriften, dazu
einige wenig ſchmeichelhafte Urtheile über Ludens Schriftſtellerei, wie ſie
von einem politiſchen Gegner ſich nicht anders erwarten ließen; die Jenenſer
mindeſtens pflegten mit ihren Feinden weit gröblicher umzuſpringen. Luden
aber, dem es nicht an Weltklugheit fehlte, ergriff begierig die Gelegenheit
um einen gefürchteten Gegner bloßzuſtellen und zugleich ſich ſelber von
dem Verdachte demagogiſcher Geſinnung zu reinigen. Er ließ das ent-
wendete Blatt drucken, ſuchte durch eine kleinliche und nicht ganz redliche
Wortklauberei zu erweiſen, daß Kotzebue die unſchuldigen Worte der Nemeſis
gefälſcht habe, und brandmarkte ihn als lügneriſchen Anſchwärzer. Auf
ihrer ganzen Linie ſchritt die liberale Preſſe nunmehr zum Angriff wider
den „ruſſiſchen Spion“, der doch ſchlechterdings kein Geheimniß ausge-
ſpäht, ſondern nur über veröffentlichte Druckſchriften berichtet hatte. Schlag
[435]Akademiſche Unruhen.
folgte auf Schlag; ein wüthender Streit begann, der beiden Theilen zur
Unehre gereichte. Die Gerichte ſchritten ein und verurtheilten beide Par-
teien; Lindner ward ausgewieſen und ging ins Elſaß, wo er bald, bezaubert
von den Doctrinen der Franzoſen, zu einem liberaliſirenden Rheinbündler
wurde. Die Studenten aber hatten jetzt endlich ein Opfer gefunden für
den zielloſen, ingrimmigen Haß, der in ihren Herzen kochte; der fauniſche
Kauz in Weimar erſchien ihnen wie der Ausbund aller Niedertracht, wie
der böſe Dämon des Vaterlandes, und drohend erklang es auf dem
Burſchenhauſe:


Noch bellt der Kamptz- und Schmalzgeſell,

Beel- und Kotzebue.

So gährte es in den Köpfen der Jugend; die Nation aber fuhr fort
jeden Thorenſtreich der Studenten mit kindiſcher Neugierde zu beſprechen.
Im Sommer 1818 zogen die Göttinger Studenten aus der Muſenſtadt aus,
in Folge eines ganz unpolitiſchen Streites mit der Bürgerſchaft, erklärten
die Georgia Auguſta in Verruf, und kneipten einige Tage lang in Witzen-
hauſen, wobei dem Tode ein Pereat gebracht wurde. Solche Auszüge
hatten in der alten Zeit zuweilen den Beſtand einer Hochſchule gefährden
können; jetzt, da jeder Bundesſtaat von ſeinen Beamten und Geiſtlichen
den Beſuch der Landesuniverſität verlangte, waren ſie nur noch lächerlich.
Gleichwohl rief auch dieſe Kinderei eine ganze Schaar von Flugſchriften
ins Leben. Staatsrath Dabelow, der berühmte Organiſator des Empire
Anhaltin-Coethien,
der auch den Zorn der Feuerrichter auf der Wart-
burg hatte erfahren müſſen, beſchwor die hohen Regierungen, mit Ernſt
gegen die jungen Hochverräther einzuſchreiten; zufällig wurde der brauch-
bare Juriſt bald nachher nach Dorpat berufen, und nun ſchien es den
Studenten klar erwieſen, daß der Czar ſie mit Spionen rings umſtellt
habe. Ein anderer Schriftſteller ſchilderte das Göttinger Ereigniß in
einem gründlichen Buche und ſchmückte ſein Werk mit den Bildern der
Studenten „im Rathe des Verrufs“, unheimlichen Geſtalten, welche
gradeswegs aus den böhmiſchen Wäldern von der Bande des Räubers
Moor entlaufen ſchienen. Bald nachher lieferten die Tübinger Studenten
die Luſtnauer Schlacht, einen Kampf um ein Dorfwirthshaus, von dem
die Poeten der ſchwäbiſchen Hochſchule noch heute ſingen und ſagen; dann
wurden auch die Heidelberger Burſchen von dem Geiſte der Unruhe er-
griffen und ſtürmten das Bierhaus zum Großen Faß. Alle dieſe Nich-
tigkeiten beſprach Deutſchlands Preſſe mit feierlicher Salbung. Der Stu-
dent errang ſich an den Höfen wie im Volke ein unbegreifliches Anſehen,
ward hier als geborener Tribun gefeiert, dort als gewerbmäßiger Ver-
ſchwörer beargwöhnt, und der franzöſiſche Miniſter Graf de Serre ſchrieb
ſeinem Freunde Niebuhr: „Eure Staatsmänner thun mir leid, ſie führen
Krieg mit Studenten!“


Nur der beherzte Großherzog ließ ſich in ſeinem hochſinnigen Vertrauen
28*
[436]II. 7. Die Burſchenſchaft.
nicht ſtören. Im Juli 1818 brachten ihm die Jenenſer Burſchen, von
Heinrich v. Gagern geführt, einen Fackelzug zur Feier der Geburt ſeines
Enkels; da gab er ihnen ein Gelage im Schloßhofe, erſchien ſelber jugend-
lich heiter auf dem Altane und betrachtete lange freudeſtrahlend das
muntere Treiben drunten. Zur Taufe des Prinzen lud er dann, nach
dem patriarchaliſchen Brauche der Erneſtiner, mit allen übrigen Corpora-
tionen des Landes auch drei Vertreter der Burſchenſchaft ein, und dieſe
gefährlichen Geſellen wurden, wie man in der Hofburg mit tiefer Ent-
rüſtung erfuhr, ſogar zur Tafel gezogen und von den neugierigen Hof-
fräuleins ſichtlich ausgezeichnet. Karl Auguſt war gerichtet, er hieß in
Metternichs Kreiſe nur noch der Altburſche.


Inzwiſchen gingen die auf der Wartburg ausgeſtreuten Saaten auf;
an vierzehn Univerſitäten bildeten ſich Burſchenſchaften nach dem Jenenſer
Muſter. Ihre Abgeſandten traten im Oktober 1818 in Jena zuſammen,
und am Jahrestage des Wartburgfeſtes kam dort die Allgemeine Deutſche
Burſchenſchaft zu Stande, die freie Vereinigung der geſammten deutſchen
Studentenſchaft zu einem Ganzen, „gegründet auf das Verhältniß der
deutſchen Jugend zur werdenden Einheit des deutſchen Vaterlandes“.
Alljährlich ſollte im Siegesmonde ein allgemeiner Burſchentag von Abge-
ordneten aller Hochſchulen ſich vereinigen. Die Beſtimmungen des Grund-
geſetzes über den Zweck der Verbindung lauteten durchaus unverfänglich:
Einheit, Freiheit, Gleichheit aller Burſchen unter einander, chriſtlich deutſche
Ausbildung aller Kräfte zum Dienſte des Vaterlandes. Bedenklich war
nur der terroriſtiſche Geiſt, der den Zutritt der geſammten Studenten-
ſchaft erzwingen wollte, alle anderen Verbindungen „ohne Weiteres in
Verruf“ erklärte und doch das Unmögliche nicht durchſetzen konnte, denn auf
ſämmtlichen Univerſitäten außer Jena blieben einzelne Landsmannſchaften
neben der Burſchenſchaft beſtehen. Dem Partikularismus freilich und
ſeinem Führer, dem Wiener Hofe, mußte ſchon das Daſein dieſes „Ju-
gend-Bundesſtaates“, wie Fries ihn nannte, hochgefährlich erſcheinen; hier
zum erſten male bildete ſich in dem gewaltſam zertheilten Volke eine allge-
mein deutſche Corporation. Die Erſcheinung war ſo neu, daß ſelbſt Goethe
beſorgt fragte, ob man denn über ganz Deutſchland hin eine Innung
dulden könne, die dem Bundestage nicht unterworfen ſei.


Während die Burſchenſchaft alſo ſich immer weiter ausbreitete, wurde
ihre innere Kraft und Einheit bereits durch ein wüſtes Parteitreiben er-
ſchüttert. Für die Ideen Rouſſeaus war ein Geſchlecht, das ſich an Schillers
Freiheitspathos begeiſterte, von vorn herein empfänglich, und nachdem man
mehrere Jahre beſtändig in aufgeregtem politiſchem Gerede verbracht hatte
mußte die demagogiſche Partei unvermeidlich an Boden gewinnen. Den
Heerd des akademiſchen Radikalismus bildete die Univerſität Gießen. Dort
im Weſten hatten die Doctrinen der franzöſiſchen Revolution längſt feſte
Wurzeln geſchlagen; die Willkür des bonapartiſtiſchen Beamtenthums von
[437]Die Allgemeine Deutſche Burſchenſchaft.
Darmſtadt und Naſſau erbitterte die jungen Gemüther, und als endlich
auch für dieſe Lande die Stunde der Befreiung ſchlug, da fügte es ein
unfreundliches Schickſal, daß die Gießener Studenten, die ſich eifrig zu
den Fahnen drängten, den Feind faſt niemals zu Geſicht bekamen. Sie
lernten auf anſtrengenden Märſchen nur die Proſa des Krieges, nicht ſeine
begeiſternden Freuden kennen, hatten viel zu leiden von der Grobheit ihrer
rheinbündiſchen Offiziere, die mit gebildeten Mannſchaften nicht umzu-
gehen wußten, und kehrten verſtimmt heim, voll Abſcheus gegen das
„Söldnerweſen“, ohne jede Ahnung von der königstreuen Geſinnung des
preußiſchen Volksheeres, das ſie nie geſehen hatten; ſie ſchworen darauf,
daß Deutſchland den Krieg nur um der Verfaſſung willen geführt habe
und alles Blut umſonſt gefloſſen ſei. Eigenthümlich war den Gießener
Studentenbünden ein geheimer Verkehr mit älteren Männern, den die
Jenenſer zu ihrem Glück vermieden. Zur Zeit des Krieges hatte ſich in
den Lahngegenden ein Geheimbund wider die Fremdherrſchaft zuſammen-
gethan, der Wetterauer Verein, der nach dem Frieden aufgehoben wurde,
aber durch einzelne ſeiner Mitglieder mit den Gießener Studenten in
Verbindung blieb. Da waren Juſtizrath K. Hoffmann in Rödelheim,
Landgerichtsrath Snell in Dillenburg und vor Allen Conrector Weidig
in Butzbach, ein beredter Apoſtel der Egalité, der ſchlechtweg jede Regie-
rung für ſündhaft erklärte, weil Gottes Gebot die vollkommene Gleichheit
aller Menſchen vorſchreibe. Der Einfluß dieſer Männer und die ſchwüle
Luft eines durchaus ungeſunden Staatsweſens gaben dem Gießener
Studentenleben bald einen ſeltſam fanatiſchen Ton. Eine Verbindung
„der Schwarzen“ that ſich auf und verſuchte ihr radikales neues Geſetz-
buch, den „Ehrenſpiegel“, der geſammten Studentenſchaft aufzuzwingen;
die Landsmannſchaften andererſeits ſpielten die Vertreter des Partikula-
rismus, ſteckten die heſſiſche Kokarde auf und bewirkten durch eine An-
zeige die Auflöſung der Schwarzen. Die eifrigeren Genoſſen des aufge-
löſten Bundes blieben jedoch insgeheim beiſammen.


An ihrer Spitze ſtanden die Gebrüder Follen, Adolf, Karl und Paul,
drei bildſchöne, hochgewachſene junge Männer voll Feuer und Leben, alle-
ſammt ſtreng republikaniſch geſinnt, die Söhne eines Gießener Beamten,
deſſen eine Tochter nachher die Mutter von Karl Vogt wurde. Adolf
Follen beſaß ein friſches lyriſch-muſikaliſches Talent, das er ſich leider
durch das unnatürliche Pathos ſeiner radikalen Kraftſprache ſelber ver-
darb; ihm und ſeinen Freunden Sartorius und Buri verdankten die
Turner ihre wildeſten und frechſten Lieder. Bedeutender war ſein Bruder
Karl, ein Fanatiker des harten Verſtandes, im Grunde ein unfruchtbarer
Kopf, aber von ſeltenem dialektiſchem Scharfſinn, ein frühreifer, ganz mit
ſich einiger Charakter, der nach der Weiſe radikaler Propheten ſich den
Anſchein dämoniſcher Unergründlichkeit zu geben wußte und manchen
ſeiner jungen Genoſſen wie der Alte vom Berge vorkam. Er war bereits
[438]II. 7. Die Burſchenſchaft.
Docent der Rechte und bezauberte die Studenten durch jene bewußte
Sicherheit, die von der unerfahrenen Jugend ſo gern als ein Zeichen
genialer Begabung betrachtet wird; jedes ſeiner Worte war durchdacht,
keines nahm er wieder zurück; mit unerbittlicher Logik zog er aus dem
Satze der unbedingten Gleichheit Aller, vor keiner Folgerung zurück-
ſchreckend, ſeine Schlüſſe. Die räthſelhafte Miſchung von Kälte und Fana-
tismus in ſeinem Weſen, auch die peinliche Sauberkeit ſeiner Erſcheinung
und der drohende Zug über den Augen erinnerten an Robespierre; nur
war er kein Heuchler, ſondern übte wirklich die bedürfnißloſe Sittenſtrenge,
die er predigte. Für die unſchuldigen Kaiſerträume der Tübinger und
Jenenſer Burſchen, die ſich die Krone der Staufer gern auf dem Haupte
ihres Wilhelm oder Karl Auguſt dachten, hatte Karl Follen nur ein
Lächeln; auch ihr Franzoſenhaß und ihre Deutſchthümelei ſchienen ihm
kindiſch, obgleich er ſich wohl hütete ſeine weltbürgerlichen Anſichten, die
ihn um allen Einfluß gebracht hätten, offen einzugeſtehen. Er war Jako-
biner ſchlechtweg und unterhielt wahrſcheinlich ſchon im Jahre 1818, wie
die Jenenſer Burſchen argwöhnten, unzweifelhaft aber ſeit 1820 einen
vertraulichen Verkehr mit den radikalen Geheimbünden, welche über ganz
Frankreich verzweigt, von Lafayettes Comité directeur beherrſcht wurden.
Sein leitender Gedanke war, daß Niemand einem Geſetze, dem er ſich
nicht freiwillig unterworfen habe, Gehorſam ſchulde und mithin — nach
dem alten Rouſſeau’ſchen Trugſchluſſe — nur die Mehrheitsherrſchaft zu
Recht beſtehe: „jeder Bürger iſt Haupt des Staates, denn der gerechte
Staat iſt eine vollkommene Kugel, wo es kein Oben noch Unten giebt,
weil jeder Punkt Spitze ſein kann und iſt.“


So enthielt denn auch der Entwurf einer deutſchen Reichsverfaſſung,
der aus Follens Kreiſe hervorgegangen, im Herbſt 1818 dem Jenenſer
Burſchentage vorgelegt wurde, bis auf einige teutoniſche Redensarten nichts
weiter als eine freie Nachbildung des Grundgeſetzes der franzöſiſchen Re-
publik. Alle Deutſchen an Rechten vollkommen gleich; Geſetzgebung durch
gleiche Abſtimmung Aller nach Mehrzahl; das eine und untheilbare Reich
in Gaue von gleicher Seelenzahl gegliedert, die nach Flüſſen und Bergen
benannt werden; alle Beamten gleich beſoldet und in die Hand der Volks-
vertreter vereidigt; eine einzige chriſtlich-deutſche Kirche und daneben kein
anderes Bekenntniß geduldet; die Schulen ſämmtlich auf dem flachen
Lande, vornehmlich für den Ackerbau und das Handwerk beſtimmt; über
Alledem ein gewählter König mit einem Reichsrathe. Es war als ob
St. Juſt ſelber die Feder geführt hätte. Weit verderblicher als dieſe ra-
dikalen Doctrinen wirkte auf die Jugend jene niederträchtige Sittenlehre,
welche Karl Follen mit der Weihe des Propheten vortrug, eine völlig
bodenloſe Moral, noch ſchändlicher als die Lehren von Mariana und
Suarez. Die Jeſuiten hatten immerhin noch die Autorität der Kirche
gelten laſſen; Follen aber entwickelte aus dem Cultus der perſönlichen
[439]Karl Follen.
„Ueberzeugung“, der unter der Jugend blühte, mit ſchnellfertiger Logik
das Syſtem eines craſſen Subjectivismus, der ſchlechthin jede objective
Regel im Menſchenleben leugnete. Dem Gerechten gilt kein Geſetz, hieß
es kurzab. Was die Vernunft für wahr erkennt, muß durch den ſitt-
lichen Willen verwirklicht werden, ſofort, unbedingt, ohne jede Rückſicht,
bis zur Vernichtung aller Andersdenkenden; von einer Colliſion der
Pflichten kann hier nicht geſprochen werden, da die Verwirklichung der
Vernunft eine ſittliche Nothwendigkeit iſt. Dieſer Satz wurde ſchlechtweg
als „der Grundſatz“ bezeichnet, und nach ihm nannten ſich Follens Ver-
traute „die Unbedingten“. Für die Volksfreiheit ſchien dieſer Sekte Alles
erlaubt, die Lüge, der Mord, jedes Verbrechen, da ja Niemand ein Recht
habe die Freiheit dem Volke vorzuenthalten.


Dergeſtalt hielt das Evangelium vom Umſturz aller ſittlichen und
politiſchen Ordnung zum erſten male in Deutſchland ſeinen Einzug, jene
furchtbare Lehre, die in mannichfacher Verkleidung wiederkehrend das Jahr-
hundert ſtets von Neuem beunruhigen und ſchließlich in der Doktrin der
ruſſiſchen Nihiliſten ihre höchſte Ausbildung empfangen ſollte. Follen
aber hing ſeinem Nihilismus einen chriſtlichen Mantel um: Jeſus, der
Märtyrer der Ueberzeugung, war der Held der Unbedingten; ihr Bundes-
lied mahnte: „ein Chriſtus ſollſt Du werden!“ Ebenſo dreiſt wurden
auch die Namen der preußiſchen Helden, vornehmlich Scharnhorſts und
Gneiſenaus, mißbraucht, von Einigen aus naiver Unwiſſenheit, von Follen
aus Berechnung: die harmloſen Burſchen ſollten glauben, daß Deutſch-
lands Krieger für die Demokratie gefochten hätten. Ein vielgeſungenes
verrücktes Lied von Buri „Scharnhorſts Gebet“, das für den Druck den
falſchen Titel „Kosciuszkos Gebet“ erhielt, ließ den preußiſchen General
ſchwören:


Ich wanke nicht, ich will, ſei’s auch in grimmen, blut’gen Waffen,

Der Menſchheit Sitz, der Gleichheit Freiſtaat ſchaffen!

Auch Karl Follen ſelbſt ſchmiedete Verſe, obgleich ſeiner harten Natur
jede poetiſche Begabung abging, und der ungeheuerliche Schwulſt, die wilde
blutgierige Rhetorik ſeiner Gedichte fand unter der Jugend viele Be-
wunderer. Als ſein Hauptwerk galt „das große Lied“, das durch Weidig
und Sand maſſenhaft verbreitet wurde, aber in ſeinen Hauptſtellen nur
den Eingeweihten ganz verſtändlich war. Es begann mit einem Aufruf
„Deutſche Jugend an die deutſche Menge“:


Menſchenmenge, große Menſchenwüſte,

Die umſonſt der Geiſtesfrühling grüßte,

Reiße, krache endlich, altes Eis …

Sei ein Volk, ein Freiſtaat, werde heiß!

Babels Herrenthum und feile Weichheit

Bricht wie Blitz und Donner Freiheit, Gleichheit,

Gottheit aus der Menſchheit Mutterweh’n.

[440]II. 7. Die Burſchenſchaft.

Darauf ein kecker Gaſſenhauer, deſſen Kehrreim „Brüder ſo kann’s nicht
gehn! Volk in’s Gewehr!“ noch nach Jahren bei allen Pöbelaufläufen
in Mitteldeutſchland widerhallte. Dann ein Abendmahlslied freier Brü-
der, das „der ew’gen Freiheit heil’gen Märt’rerorden“ ſchildert, wie er
mit gezückten Dolchen auf die Hoſtie ſchwört:


Nur die Bürgergleichheit, der Volkswille ſei

Selbſtherrſcher von Gottes Gnaden —

und der Nation gebietet:


Dann, Volk, die Molochsgeiſter würge, würge!

Noch deutlicher lautete das Neujahrslied freier Chriſten, geſungen nach
einer raſchen, leichtfertigen Melodie, die den Text nur noch frecher er-
ſcheinen ließ:


Freiheitsmeſſer gezückt!

Hurrah! Den Dolch durch die Kehle gedrückt!

Mit Purpurgewändern,

Mit Kronen und Bändern

Zum Rachealtar ſteht das Opfer geſchmückt!

Und ſo weiter, immer abgeſchmackter, immer wüſter, bis zu dem Schluß-
verſe:


Nieder mit Kronen, Thronen, Frohnen, Drohnen und Baronen!

Sturm!

Unter den hunderten junger Männer, welche dieſe wüthenden Verſe
ſangen, mochten die wenigſten ſich etwas dabei denken; dem Poeten aber
war es ganzer Ernſt mit ſeinen Worten. Er hatte ſich ſchon einen Plan
entworfen, den er mit den Unbedingten wiederholt beſprach: da eine Re-
volution vorderhand unmöglich ſei, ſo müſſe man zunächſt einige Ver-
räther ermorden um das zage Volk zugleich zu ſchrecken und anzufeuern;
er ſelber wollte ſich dieſen vorbereitenden Thaten fern halten, nicht aus
Furcht, ſondern weil er dereinſt bei der allgemeinen Volkserhebung als
Führer aufzutreten dachte. Zugleich betrieb er raſtlos die Wühlerei im
Volke. Bei jener Petition um die Ausführung des Art. 13, bei allen
den Eingaben und Verſammlungen, welche den Großherzog von Heſſen
zur Erfüllung des Verfaſſungsverſprechens drängen ſollten, hatte Follen
die Hand im Spiele, und für ihn, den rothen Republikaner, konnte dies
Alles nur ein Mittel für größere Zwecke ſein; ſein Genoſſe Leutnant
Schulz in Darmſtadt predigte in einem „Frage- und Antwortsbüchlein“
den heſſiſchen Bauern offen die Revolution.


Die Jenenſer verhielten ſich lange ablehnend gegen das demagogiſche
Gebahren der Gießener und verwarfen auch Follens Reichsverfaſſungs-
plan; freilich nur gegen eine ſtarke Minderheit. Nach und nach fanden
die revolutionären Lehren der Schwarzen doch Eingang an der Saale,
namentlich durch die Vermittlung Robert Weſſelhöfts, eines derben, kräf-
tigen Thüringers von diktatoriſchem Weſen. Es bildete ſich im Schooße
[441]Die Unbedingten.
der Altdeutſchen, der Maſſe der Burſchen völlig verborgen, ein Geheim-
bund von Unbedingten, der auf den unſchuldigen großen Haufen der
Burſchenſchaft verächtlich herabſah und durch vertraute Boten mit den
Geſinnungsgenoſſen auf anderen Hochſchulen insgeheim verkehrte. Zu
ihm gehörte Jens Uwe Lornſen, ein unbändiger nordiſcher Berſerker von
den frieſiſchen Inſeln, ſpäterhin berühmt als Vorkämpfer für die Rechte
Schleswig-Holſteins, desgleichen der mädchenhaft ſchöne kleine Heinrich
Leo aus dem Schwarzburgiſchen, ein geborener Romantiker, der droben
auf dem Walde eine glühende Schwärmerei für das urwüchſige Leben der
älteſten Germanen, einen tiefen Haß gegen die Formenſtrenge der claſſi-
ſchen Cultur eingeſogen hatte und nur durch die unzähmbare Wildheit
ſeines heißen Blutes auf kurze Zeit in eine moderne, ſeinem innerſten
Weſen fremde radikale Richtung hineingetrieben wurde.


Der Ton unter dieſen Schwarzen war unbeſchreiblich frech; die Jugend,
das ſtand feſt, hatte den geknechteten Völkern Anſtoß und Richtung zu
geben. Ein witziger Kopf in Baiern veröffentlichte ſoeben, unter der Maske
eines begeiſterten Schülers von Fries, einen offenen Brief, worin er das
ganze Menſchengeſchlecht in Burſchen, Burſchinnen, Lehr-, Vor- und Nach-
burſchen eintheilte. Die Satire war ſo treffend, daß viele der Burſchen
ſelber, und noch heute manche Hiſtoriker, den Brief für echt hielten. Die
Schwarzen begnügten ſich ſchon längſt nicht mehr mit ſolchen Aeußerungen
albernen Uebermuths, wie Lornſen, der in Gegenwart des jungen Herzogs
von Meiningen ein Pereat auf die Dreißig oder Dreiunddreißig aus-
brachte. Sie beſprachen alltäglich und mit unheimlicher Gelaſſenheit
die Frage, wer zunächſt um der Freiheit willen „kalt gemacht“ werden
ſolle; da Metternich ſo ſchwer zu erreichen und keiner der deutſchen
Fürſten ungewöhnlich verhaßt war, ſo kam das wüſte Gerede immer
wieder auf Kotzebue als das nächſte Opfer zurück. Als im Herbſt 1818
Czar Alexander auf der Durchreiſe in Jena erwartet wurde, beriefen die
Führer der Unbedingten eine tief geheime Sitzung und fragten kurzweg,
ob jetzt der Mordſtreich gegen den Despoten gewagt werden ſollte; wer
bei der Antwort ſich irgendwie unſicher zeigte ward fortan von den Be-
rathungen der Eingeweihten ſtillſchweigend ausgeſchloſſen. Der Czar war
inzwiſchen ſchon weiter gereiſt, und man behauptete nachträglich, daß die
Führer der Schwarzen dies gewußt hätten; aber wohin war es mit unſerer
Jugend gekommen, wenn ſie den feigen, der deutſchen Gradheit ekelhaften
Meuchelmord bereits als den Prüfſtein zuverläſſiger Geſinnungstüchtigkeit
betrachtete?


Die Aufregung der jungen Leute ward durch die Angſtrufe der amt-
lichen Zeitungen und leider auch durch manche unvorſichtige Aeußerung
der Lehrer geſteigert. Luden pflegte in ſeinen Vorleſungen, wie ſchon früher
in ſeiner „Staatsweisheit“, den unbeſtreitbaren Satz auszuführen, daß
Macht und Freiheit des Staates ſelber unſchätzbare ſittliche Güter ſind
[442]II. 7. Die Burſchenſchaft.
und ihnen mithin unter Umſtänden andere ſittliche Güter geopfert werden
müſſen; doch ſeine geiſtige Kraft reichte nicht aus um der Jugend den
tiefen Ernſt dieſer leicht zu mißbrauchenden Lehre zu verdeutlichen, und
mehrere ſeiner aufgeregten Hörer gewannen, wie Karl Sand, nur den Ein-
druck, daß der Zweck die Mittel heilige. Auch Fries ſtand rathlos vor
dem erwachenden Demagogenthum und verfehlte oft den Ton: wenn er die
Studenten gewiſſenhaft vor Geheimbünden warnte, ſo meinte er die bittere
Pille durch radikale Kraftreden verſüßen zu müſſen und polterte ſo gröb-
lich wider die Polizeigewalt, welche „die Eichen und Fichten der deutſchen
Wälder an ihre Hopfenſtangen binde“, wider „das Regiertwerden durch
hochwohlgeborene franzöſiſche Affen und das Belehrtwerden durch wohl-
geborene lateiniſche Affen“, daß ſeine Worte mehr aufreizend als beruhi-
gend wirkten. Selbſt Arndts freie Seele blieb von der Verbitterung der
Zeit nicht unberührt. Der vierte Band ſeines „Geiſtes der Zeit“, der im
Jahre 1818 erſchien, ſtand den früheren Bänden weit nach; das ſchöne Pa-
thos der Befreiungskriege genügte jetzt nicht mehr. Mußte ſich die Jugend
nicht in ihrem Dünkel beſtärkt fühlen, wenn ihr Arndt den ſiebenjährigen
Krieg als ein leeres Märchen, die Werke unſerer claſſiſchen Dichtung als
klein und ſeelenlos, als die Kinder einer geſtaltloſen, liebeleeren und
ruhmleeren Zeit ſchilderte? Er meinte unſchuldig, geheime Verſchwörungen
ſeien nur dann erlaubt, „wenn ein fremdes Volk oder ein tückiſcher Ty-
rann dahin ſtrebt, das ganze Geſchlecht zu Hunden, Affen und Schlangen
zu verthieren“, und ahnte nicht, daß ſeine jungen Leſer ſchon längſt glaubten
von ſolchen tückiſchen Tyrannen beherrſcht zu werden. Franzoſen und
Polen, rief er aus, haben eine Verfaſſung, „und uns will man in dumme
Geiſtloſigkeit hinſtrecken wie die todten Klötze“; dem preußiſchen Heere
aber hielt er die lockere Milizverfaſſung der ſchwediſchen Indelta-Armee,
die im letzten Kriege rein nichts geleiſtet hatte, als Muſter vor. Ueber
ſolchen unbedachten, aufreizenden Worten wurden die väterlichen War-
nungen, welche der edle Mann an „die teutſche unflügge Narrheit und
Unbeſcheidenheit“ richtete, ganz vergeſſen. Es iſt nicht anders, der Groll
über die Enttäuſchungen dieſer erſten Friedensjahre ſteigerte ſich in den
Gelehrtenkreiſen allmählich bis zu krankhafter Erhitzung. Sogar Schleier-
macher redete im Sommer 1818, als ob ein neues 1806 herannahe —
und dies in einem Augenblicke, da die preußiſche Regierung bis auf
einige vereinzelte Mißgriffe noch ſchlechterdings nichts Tadelnswerthes ge-
than hatte.


Im Herbſt 1818 ſiedelte Karl Follen als Docent nach Jena über.
Er wurde der Todtengräber der Burſchenſchaft, er zerſtörte den unbe-
fangenen jugendlichen Sinn, der über ihren Anfängen gewaltet hatte.
Vergeblich ſuchte Fries dem unheilvollen Manne die Stange zu halten;
in den Redekämpfen ſeines philoſophiſchen Vereins zeigte ſich der junge
Docent dem Profeſſor weit überlegen, die Studenten zogen ſich mehr und
[443]Follen in Jena.
mehr von dem gemäßigten Alten zurück. Wohl blieb die Zahl der unmittel-
baren Vertrauten Follens ſehr gering, da der geſunde Sinn der Jugend
das Grauen vor dem Apoſtel des Meuchelmordes nicht ganz überwinden
konnte; zu ſeinen Schülern gehörten vornehmlich ſein blind ergebener
Sklave Karl Sand, und Wit von Dörring, ein liederlicher Abenteurer,
der nachher zum Verräther wurde. Doch weit über dieſen engen Kreis
hinaus reichte der verderbliche Einfluß ſeiner Lehren. Immer lauter ward
über das „Abhacken der Zwingherrnköpfe“ geredet. Im Laufe des Winters
beſetzten die Schwarzen durch einen häßlichen Betrug, da den Unbedingten
ja Alles erlaubt war, den Vorſtand der Burſchenſchaft mit ihren Ge-
treuen; dann bildete ſich ein Geheimbund, deſſen Schwurgenoſſen nach
der Art der Carbonari in Venten getheilt waren und einander ſelber zum
Theil unbekannt blieben. Solche Bünde konnten zwar, da der offen-
herzige Germane für die geheimen Künſte des Verſchwörers verloren iſt,
nicht über einen thörichten Mummenſchanz hinaus gelangen; doch unbe-
denklich war es nicht, daß ſo viele einzelne junge Männer in roher Prahlerei
mit dem Gedanken des politiſchen Verbrechens ſpielten und von Follen
gradezu die Weiſung empfingen: wer ſich opfern wolle müſſe die befreiende
That ohne Mitwiſſer vollbringen. Als einer der älteren Schwarzen,
Snell in dieſen Tagen ſeines Amtes entſetzt wurde, richteten Follen und
der Advocat H. C. Hofmann in Darmſtadt an die Unbedingten einen
Aufruf zur Unterſtützung des Freundes, „damit die Brut zittern lernt vor
der höheren Macht, welche das Racheſchwert nicht ſchwächer als jetzt den
Schild ſchwingen wird wenn einſt die Sünde den Tag der Rache erweckt“.


Viel Unheil ließ ſich noch verhindern, wenn Follen und der eine
oder der andere ſeiner älteren Genoſſen rechtzeitig aus Deutſchland ent-
fernt wurden; ſo urtheilten in ſpäterer Zeit Männer, welche einſt den
Schwarzen angehört hatten. Die Regierungen aber blieben ohne nähere
Kunde von dem unruhigen Treiben und ſahen ihm mit ſcheuer Be-
ſorgniß zu. Jene Handvoll Demagogen führte ihr ſchlechtes Handwerk
fort, und einmal doch mußte der Tag kommen, da die ſo reichlich ausge-
ſtreute Saat frevelhafter Worte in Halme ſchoß und irgend ein Unſeliger
mit dem Dolche in der Fauſt die Lehre des politiſchen Mordes ver-
wirklichte.


[[444]]

Achter Abſchnitt.
Der Aachener Congreß.


In ihrem Bundesvertrage vom 20. Nov. 1815 hatten die vier Mächte
ſich verabredet, von Zeit zu Zeit in perſönlichen Zuſammenkünften über
die Sicherung der Ruhe Europas zu verhandeln, und ſchon im Frühjahr
1817 ſchien dem Wiener Hofe der rechte Augenblick für eine ſolche gemein-
ſame Berathung gekommen zu ſein. König Friedrich Wilhelm wider-
ſprach; er ſah voraus, daß eine feierliche Verſammlung des Vierbundes
alle die Höfe, die an ihr nicht theilnahmen, ebenſo lebhaft beunruhigen
mußte wie die mißtrauiſche öffentliche Meinung; wie viel einfacher, wenn
er ſelbſt und Kaiſer Franz ihren längſt verſprochenen Beſuch in Peters-
burg gemeinſam ausführten und dort mit dem Czaren ohne Aufſehen
das Nöthige beſprächen.*) Metternich aber verblieb bei ſeiner Meinung,
Czar Alexander pflichtete ihm bei, und mittlerweile vollzog ſich in Frank-
reich ein Umſchwung der Meinungen, der eine neue Verſtändigung der
vier Mächte allerdings rathſam machte.


Was die Staatsmänner Preußens auf dem Pariſer Congreſſe vor-
ausgeſagt, ging in Erfüllung: die Beſetzung Frankreichs durch die Truppen
der Verbündeten erwies ſich mehr und mehr als eine Gefahr für den
europäiſchen Frieden, den ſie doch ſichern ſollte. Wohl war das Beſatzungs-
heer bereits um ein Fünftel vermindert; die Haltung der Truppen ent-
ſprach durchgängig dem aufrichtigen Wohlwollen, das die vier Mächte für
die hergeſtellte alte Dynaſtie hegten; die Preußen bei Bar-le-Duc und
Sedan lebten mit ihren Quartierwirthen wie die Kinder vom Hauſe. Als
der Befehlshaber des preußiſchen Corps, General Zieten ſich über die
ſaumſelige Verproviantirung der Feſtungen beſchwerte, ermahnte ihn Har-
denberg dringend zur Nachſicht: jeder Streit der Verbündeten mit den
franzöſiſchen Behörden komme nur den Ultras zu gute und könne leicht
den Beſtand der Regierung gefährden.**) Gleichwohl blieb ſchon die An-
weſenheit der fremden Fahnen auf dem heimiſchen Boden eine ſchwere Krän-
[445]Die Räumung Frankreichs.
kung für den franzöſiſchen Stolz. Alle Parteien der Oppoſition lärmten
gegen dies Königthum, das ſich auf die Bajonette des Auslands ſtützte;
auch die Ultras entſannen ſich nicht mehr, wie beweglich ſie im Jahre
1815 die verbündeten Monarchen beſchworen hatten: „Ihr wollt doch nicht
den König allein in der Hand dieſer Mörder laſſen?“ — und wett-
eiferten mit den anderen Parteien in zornigen Klagen wider die Herr-
ſchaft der Fremden.


Ohne die Befreiung des vaterländiſchen Bodens konnte Richelieu
die Politik der Verſöhnung, die er mit ſo viel Klugheit und Selbſtver-
leugnung begonnen hatte, nicht durchführen; dieſen letzten Dienſt wollte
er ſeinem Lande noch leiſten um dann, des endloſen Parteikampfes müde,
zurückzutreten. Wieder und wieder beſtürmte er die Geſandtenconferenz
der Vier mit ſeinen Bitten und erinnerte ſie daran, daß die Sieger
ſelbſt in dem Pariſer Vertrage ſich die Verkürzung der Beſetzungsfriſt,
falls Frankreich ruhig bliebe, vorbehalten hatten. Im November 1817
ging er noch einen Schritt weiter und verkündete den Kammern bei ihrer
Wiedereröffnung, daß bereits Unterhandlungen wegen der Räumung des
Gebietes eingeleitet ſeien. Sämmtliche Parteien empfingen die Nachricht mit
einem Sturm patriotiſcher Freude, und Jedermann fühlte: wenn Richelieu
die Erwartungen, die er geweckt, nicht zu befriedigen vermochte, dann
war ſeine gemäßigte Regierung, deren Fortdauer die vier Mächte ebenſo
lebhaft wünſchten wie König Ludwig ſelber, unrettbar verloren. In der
Geſandtenconferenz fanden Richelieus Bitten zunächſt nur bei Pozzo di
Borgo Gehör; der Corſe blieb noch immer der vertraute Rathgeber der
Bourbonen und hatte ſich in die Anſchauungen ſeines Geburtslandes ſo
gänzlich wieder eingelebt, daß man jetzt zum zweiten male ernſtlich daran
dachte ihm einen franzöſiſchen Miniſterpoſten anzubieten. Es fiel ihm
nicht ſchwer, ſeinen Kaiſer, der ſo gern den hochherzigen Beſchützer Frank-
reichs ſpielte, für ſeine Anſicht zu gewinnen. Unbekümmert um ſeine
Verbündeten ließ der Czar in Paris ermuthigende Zuſicherungen geben,
und Metternich, der anfangs jede Verkürzung der Beſetzungsfriſt weit
von ſich gewieſen hatte, kam ſchon im Frühjahr 1818 zu der Einſicht, daß
alles Widerſtreben vergeblich ſei. Am 9. April geſtand er dem preußi-
ſchen Geſandten, er ſehe „den Tod im Herzen“ voraus, daß nach den
Kammerreden in Paris und dem einſeitigen Vorgehen Alexanders die vor-
zeitige Räumung doch erfolgen werde.*)


Der Anblick der inneren Zuſtände Frankreichs konnte den ängſtlichen
Staatsmann freilich nicht beruhigen. Wenngleich die Herrſchaft der Ultras
endlich gebrochen war, ſo währte doch der Kampf der Parteien noch mit
der alten maßloſen Gehäſſigkeit fort, und noch immer hatte nur eine
kleine Minderheit der Franzoſen den Rechtsboden des neuen conſtitu-
[446]II. 8. Der Aachener Congreß.
tionellen Königthums ehrlich anerkannt. Ja wohl, ſagte ein Heißſporn
der Ultras, Matthieu de Montmorency zu einem Liberalen, Ihr liebt
die Legitimität ebenſo wie wir die Charte lieben! Mit jeder Waffe be-
kämpfte Graf Artois die beſonnene Politik ſeines königlichen Bruders;
Vitrolles, einer der Vertrauten des Pavillon Marſan, ſendete im Mai
1818 zum dritten male eine geheime Denkſchrift an die vier Mächte und
beſchwor ſie, durch den Sturz des Miniſteriums Richelieu die Revolution
abzuwenden. Voll blinden Haſſes gegen die gemäßigte Regierung trugen
die Ultras kein Bedenken, ſich gelegentlich ſelbſt mit den Bonapartiſten und
den Radikalen zu verbinden. An der Mittelpartei der Doktrinäre fand das
Cabinet auch keine Stütze, obwohl ſie die Verſöhnung von „Erblichkeit
und Freiheit“ auf ihr Banner geſchrieben hatte; nach der unfehlbaren
Theorie der Nachfolger Montesquieus ſollte ja das Mißtrauen gegen die
Regierung die belebende Kraft jedes freien Staates ſein, und nichts er-
ſchien ſchimpflicher als der Name einer miniſteriellen Partei. Im Volke
wurden unheimliche Gerüchte von der bevorſtehenden Herſtellung der
Zünfte, der Zehnten und Frohnden umhergetragen; die Käufer der Natio-
nalgüter fühlten ſich ihrer Habe nicht ſicher, da die Emigranten ſtürmiſch
ihren Familienbeſitz zurückforderten und über ihre Entſchädigung noch nichts
beſchloſſen war. Dazu das unterirdiſche Treiben der geheimen Geſellſchaften
und der täglich wachſende Zauber der napoleoniſchen Legende. Raſch nach
einander kehrten drei der Getreuen von St. Helena, O’Meara, Las Caſes
und Gourgaud nach Europa zurück. Las Caſes verweilte lange in Deutſch-
land und begann mit den Beauharnais einen verdächtigen Verkehr, der
für Jedermann offenkundig war, nur nicht für die bonapartiſtiſche Mün-
chener Polizei. Dann erſchienen die erſten Bände jener Memoirenliteratur,
welche die Rückkehr der Napoleons vorbereiten ſollte, ungeheuerliche Lügen,
gigantiſch wie der Mann, dem ſie galten; und mit Entſetzen vernahm
Frankreich die Schauergeſchichten von den namenloſen Leiden des Ge-
fangenen, dem in Wahrheit nichts fehlte als die Freiheit, von der teuf-
liſchen Grauſamkeit ſeines Wächters, des Gouverneurs Hudſon Lowe, der
in Wahrheit nur etwas pedantiſch, aber ehrenhaft ſeine Soldatenpflicht
erfüllte.


Seit Handel und Wandel ſich wieder erholten, waren die Opfer
und die Gräuel der Kriegszeit bald vergeſſen; der Anblick der fremden
Bajonette rief die Erinnerung an die Glorie der kaiſerlichen Adler wach.
Neben der thörichten Hoffart des heimgekehrten alten Adels erſchien der
gekrönte Plebejer wie ein demokratiſcher Held, und jetzt erfuhr man aus
den rührenden Geſprächen von der Felſeninſel, wie inbrünſtig er ſein
Frankreich geliebt und wie er der Nation auch die Freiheit hatte ſchenken
wollen, wenn nur nicht die Feindſeligkeit boshafter Nachbarn dem Fried-
fertigen immer wieder das Schwert in die Hand gezwungen hätte. Unter-
deſſen warf Beranger ſeine feurigen Kaiſerlieder unter das Volk, und es
[447]Parteiung in Frankreich.
geſchah wie er weiſſagte: die Bauernhütte kannte bald keine andere Ge-
ſchichte mehr, Napoleon wurde den Maſſen der Nation in Nord- und
Mittelfrankreich der einzige Held des Jahrhunderts. Auch in den Staaten
des Rheinbunds war der kaum erſt eingeſchlummerte Napoleonscultus
bereits wieder erwacht. In jedem Wirthshauſe des deutſchen Südens
hingen die Abbildungen der napoleoniſchen Schlachten, und mehrmals
mußte der Geſandte König Ludwigs beim Münchener Hofe Klage führen,
weil Bilder und Statuetten des Soldatenkaiſers von unbekannter Hand
in der bairiſchen Armee vertheilt wurden.


So fand ſich die beſte und wohlthätigſte Regierung, welche Frank-
reich ſeit der Revolution geſehen, von allen Seiten her bedroht. Die vier
Mächte aber, die bis in das Jahr 1817 hinein vor Allem die Parteiwuth
der Ultraroyaliſten gefürchtet hatten, begannen jetzt die geheimen Um-
triebe der Radikalen und die Kriegsluſt der Bonapartiſten als die gefähr-
lichſten Feinde des Bourbonenthrones zu betrachten. In der That ließ
ſich der Ruf „Rache für Waterloo“ bereits deutlich vernehmen. In dem-
ſelben Augenblicke, da die franzöſiſchen Kammern die Räumung des Landes
von den Verbündeten forderten, genehmigten ſie zugleich das neue Wehr-
geſetz und nöthigten den Kriegsminiſter, die Linienarmee noch um 50,000
Mann über ſeine eigene Forderung hinaus, bis auf 240,000 Mann zu
verſtärken. Darauf wurde eine dichte Schaar kaiſerlicher Offiziere wieder
in die Linie aufgenommen und eine ſtarke Reſerve-Armee gebildet, die faſt
ausſchließlich aus napoleoniſchen Veteranen beſtand. Begreiflich genug,
daß alle dieſe Vorgänge in der preußiſchen Armee als Vorboten des
nahenden dritten puniſchen Krieges angeſehen wurden; Gneiſenau nament-
lich war und blieb der Anſicht, nur die vollſtändige Abdankung des bona-
partiſtiſchen Heeres könne die neue Ordnung der Dinge einigermaßen
ſicherſtellen.*)


Weder in London noch in Wien und Berlin täuſchte man ſich über
die Schwäche der bourboniſchen Herrſchaft; man erwartete ihren Sturz
ſogar noch früher als er wirklich eintrat. Die Berichte Wellingtons, des
Oberbefehlshabers in Frankreich, lauteten faſt hoffnungslos. Gleichwohl
erkannten Alle, daß das Anſehen der legitimen Dynaſtie durch die Anweſen-
heit der fremden Truppen nur noch mehr gefährdet wurde. Schon im
Mai 1818 waren die vier Mächte ohne förmliche Abrede einig in dem
Entſchluſſe, die Zeit der Occupation von fünf auf drei Jahre herabzu-
ſetzen und das Nähere auf dem bevorſtehenden Fürſtentage zu verein-
baren. Dem preußiſchen Hofe koſtete es wenig Mühe, ſich mit dieſem
Gedanken zu befreunden, da Hardenberg von vornherein auf die Occu-
pationsarmee geringen Werth gelegt hatte. Weil der König von Spanien
ſich durch ſeine Ausſchließung gekränkt zeigte und auch andere Höfe ihre
[448]II. 8. Der Aachener Congreß.
Verſtimmung nicht verbargen, ſo beſchloß man, den Namen eines Congreſſes
ſorglich zu vermeiden und ſprach nur von einer Réunion, einer Entrevue.
Die Pariſer Geſandtenconferenz erklärte den Mächten zweiten Ranges
(25. Mai), daß die Reunion lediglich den zweifachen Zweck habe den Vier-
bund von Neuem zu befeſtigen und unter Mitwirkung des Allerchriſt-
lichſten Königs über die Räumung Frankreichs zu beſchließen; die Theil-
nahme anderer Souveräne oder Staatsmänner würde der Zuſammen-
kunft den Anſchein eines Congreſſes geben und neue Beunruhigungen her-
vorrufen. Nicht ohne Mühe gelang es den Unwillen der kleinen Höfe,
deren Truppen doch auch in Frankreich ſtanden, zu beſchwichtigen. Zum
Verſammlungsort ward Aachen beſtimmt, weil dieſe Stadt, wie Metter-
nich ſagte, ſo wenig Reſſourcen bot: man war entſchloſſen diesmal raſch
und ernſtlich zu arbeiten, jeden Widerſpruch gegen die Dictatur der vier
Höfe durch die Macht der vollendeten Thatſachen zu erſticken.*)


Mittlerweile hatten die vier Mächte der bourboniſchen Krone bereits
einen neuen Beweis freundlicher Geſinnung gegeben. Durch den zweiten
Pariſer Frieden war König Ludwig verpflichtet, alle die auswärtigen Privat-
leute, Gemeinden und Corporationen zu befriedigen, welche noch von den
napoleoniſchen Tagen her Geldforderungen an die Krone Frankreich zu
ſtellen hatten. Als dieſe Zuſage unterzeichnet wurde, ahnte Niemand was
ſie bedeute; man dachte mit 100 Mill. Fr. Alles auszugleichen, da die
Kriegslaſten und -Leiſtungen grundſätzlich unberückſichtigt bleiben ſollten.
Welch ein Schreck, als ſich nun nach und nach der ganze Umfang der
napoleoniſchen Plünderungen herausſtellte. Im Sommer 1817 waren
außer 180 Mill. Fr. bereits anerkannter und theilweiſe befriedigter Schul-
den noch neue Forderungen im Betrage von 1390 Mill. angemeldet.
Einige frivole Anſprüche liefen freilich mit unter; ſo verlangte der Herzog
von Bernburg den Sold für eine Reiterſchaar, welche einer ſeiner Ahnen
zur Zeit der Hugenottenkriege dem Heere Heinrichs IV. zugeführt hatte.
Aber weitaus die meiſten Forderungen, mindeſtens eine Milliarde, ließen
ſich rechtlich nicht anfechten; und das Alles hatte Napoleon zumeiſt in
befreundeten oder neutralen Ländern von Privaten erpreßt. Die Mehr-
zahl der Rechnungen kam aus Spanien, aus den deutſchen Kleinſtaaten
und vornehmlich aus Preußen, das unter dem Durchmarſch der großen
Armee ſo ſchwer gelitten und allein über ein Viertel der Geſammtſumme
zu fordern hatte; Oeſterreich und England waren unverhältnißmäßig
weniger, Rußland faſt gar nicht betheiligt. Die vier Mächte konnten ſich
nicht verhehlen, daß die vollſtändige Befriedigung aller dieſer Gläubiger
faſt unmöglich war; jedes franzöſiſche Cabinet, das einen ſolchen Vor-
ſchlag vor die Kammern gebracht hätte, wäre dem vereinten Anſturm aller
[449]Vertrag über die franzöſiſchen Schulden.
Parteien unzweifelhaft ſofort erlegen, und was ſollte werden, wenn die
Ultras wieder ans Ruder kamen?


Daher erklärte ſich ſelbſt Hardenberg, auf die flehentlichen Bitten des
franzöſiſchen Geſandten, endlich bereit in ein Abkommen zu willigen, wenn
die betheiligten deutſchen Höfe zuſtimmten; nur dürfe die Herabſetzung
der Forderungen ein billiges Maß nicht überſchreiten, weil die Unzufrieden-
heit der enttäuſchten Gläubiger, namentlich in den neugewonnenen deutſchen
Ländern ernſtlich zu fürchten ſei.*) Aber inzwiſchen hatte Czar Alexander
wieder einmal auf Koſten der Bundesgenoſſen ſeine Großmuth leuchten
laſſen und dem Tuilerienhofe eigenmächtig die Herabminderung der Rech-
nung verſprochen. Er ſetzte durch, daß die Entſcheidung in die Hände
der Pariſer Geſandtenconferenz gelegt wurde, und hier befand ſich Preußen
wieder in der nämlichen ungünſtigen Lage wie auf den beiden Friedens-
congreſſen: ſein Geſandter ſtand Einer gegen Drei, als der einzige Hei-
ſchende unter lauter Nachgiebigen, und erreichte nur ſo viel, daß ſeine
Verbündeten die Vorſchläge Richelieus, der eine Zahlung von 200 Mill.
anbot, nicht ohne Weiteres annahmen. Durch Wellingtons Vermittlung
kam endlich am 25. April 1818 ein Vertrag zu Stande, kraft deſſen die
Krone Frankreich für alle noch unerledigten Forderungen 240,8 Mill Fr.
in Rentenbriefen (eine Rente von 12,04 Mill.) binnen Jahresfriſt zahlen
ſollte. Bei der Vertheilung der Summe nahm Wellington, dem alt-
engliſchen Brauche getreu, für ſein Land ſofort ein Viertel der 12 Mill.
Rente in Anſpruch, ſo daß die engliſchen Gläubiger faſt vollſtändig be-
friedigt wurden, während die deutſchen ſich mit einem Sechſtel ihrer For-
derungen begnügen mußten. Dergeſtalt ward eine feierliche Verſprechung
des Pariſer Friedensvertrags durch einen Machtſpruch Englands, Rußlands
und Oeſterreichs, gegen Preußens Widerſpruch und ohne jede Anfrage bei
den kleinen Höfen, großentheils zurückgenommen. Frankreichs auswärtige
Gläubiger erlitten eine Einbuße von 800 Mill. Die Geſchädigten klagten
laut, die liberale Preſſe Deutſchlands erging ſich in bitteren Vorwürfen
gegen die „heilige Allianz“, die man ſtets für die Thaten des Vier-
bundes verantwortlich machte. Wieder und wieder mußte die deutſche Nation
erfahren, daß ſie die Sicherung ihrer Rechte allein von ihrer eigenen
Macht, nicht von dem guten Willen ihrer Verbündeten erwarten durfte.


Mit Alledem war die Großmuth des Czaren gegen die Bourbonen
noch nicht erſchöpft. Richelieu hegte ſeit Langem den Wunſch, daß mit
der Occupation auch die in der That unnatürliche, demüthigende Aus-
nahmeſtellung, welche Frankreich jetzt noch unter den großen Mächten ein-
nahm, ein Ende finden würde. Er hoffte, der Aachener Congreß werde
die Krone Frankreich zum Eintritt in den Vierbund einladen und alſo
die alte Gleichberechtigung der Großmächte wieder herſtellen. Unbedenklich
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 29
[450]II. 8. Der Aachener Congreß.
kam Alexander dieſen Anträgen entgegen; die Neigungen ſeines edlen
Herzens gingen wieder wie ſo oft ſchon mit den Intereſſen der ruſſiſchen
Politik einträchtig Hand in Hand. Wenn der von Pozzo die Borgo völlig
beherrſchte Tuilerienhof in den hohen Rath Europas eintrat, ſo gebot
der Czar in Wahrheit über zwei Stimmen und brauchte nur noch einen
der drei anderen Höfe zu gewinnen, dann war ihm die Mehrheit, die
Führerſchaft im Welttheil geſichert. Eben deshalb erregten die Wünſche
Richelieus in Wien, in Berlin und London ernſte Bedenken, Metternich
erklärte ſie im erſten Schrecken für gänzlich unannehmbar.*) Die drei
Höfe ſahen dem Congreſſe mit lebhafter Beſorgniß entgegen; ſie wollten
mindeſtens Pozzo ſelbſt von dem Congreſſe fern halten und beſchloſſen
daher in der Pariſer Geſandtenconferenz, mit drei Stimmen gegen die
eine Rußlands, daß die vier Geſandten während der Aachener Bera-
thungen in Paris bleiben ſollten. —


Da zeigte ſich plötzlich in der Politik des Czaren eine auffällige, den
fremden Mächten vorerſt noch räthſelhafte Aenderung. Noch ganz be-
rauſcht von ſeinen völkerbeglückenden Ideen war der erlauchte Vorkämpfer
des chriſtlichen Liberalismus ſoeben aus Polen zurückgekehrt; ſelbſt die
Verhandlungen des Warſchauer Reichstags, welche die unheilbare politiſche
Thorheit des polniſchen Adels ſogleich wieder an den Tag brachten, hatten
Alexanders frohe Zuverſicht nicht erſchüttert. Daheim erwartete ihn eine
neue Freude; ſeine zärtlich geliebte Schwägerin, Großfürſtin Charlotte, die
jetzt den Namen Alexandra Feodorowna führte, ſchenkte ihrem Gemahl im
April 1818 einen Sohn, den Thronerben des Hauſes Gottorp, Alexander II.
Einige Wochen nachher brach König Friedrich Wilhelm auf um ſein erſtes
Enkelkind zu begrüßen. Er freute ſich unterwegs an dem hellen Jubel
ſeiner treuen Oſtpreußen, die ihren König ſeit den ſchweren Königsberger
Zeiten zum erſten male wieder ſahen, und ward in Rußland mit orien-
taliſchem Prunk empfangen. Feſt folgte auf Feſt, die beiden Hauptſtädte
und die reichen Bojaren wetteiferten in Glanz und Pracht, in über-
ſchwänglichen Kundgebungen dynaſtiſcher Geſinnung. Und eben jetzt, mitten
im Rauſche der Freuden erhielt der Czar durch unanfechtbare geheime
Mittheilungen die Gewißheit, daß ſeine Gardeoffiziere während des Aufent-
halts in Frankreich nicht umſonſt von den verbotenen Früchten der revo-
lutionären Lehren gekoſtet hatten, daß an ſeinem eigenen Hofe ſchon ſeit
1816 einige demagogiſche Geheimbünde beſtanden, deren Anhang unauf-
haltſam wuchs. Es war der entſcheidende Augenblick ſeiner letzten Lebens-
jahre. Alſo er ſelbſt, der hochherzige Wohlthäter der Völker, den ſogar
die beſiegten Franzoſen als den Heiland des Welttheils feierten, ſah ſich
in ſeinem Hauſe von Rebellen und Verſchwörern umgeben, er wurde von
derſelben liberalen Partei, die ihn als ihren Beſchützer hätte ehren ſollen,
[451]Umſchwung der ruſſiſchen Politik.
mit ſchwarzem Undank belohnt! Er fühlte ſich erſchüttert bis ins Mark;
alle die gräßlichen Erlebniſſe ſeiner Jugend, die Ermordung ſeines Vaters
und der freche Uebermuth der unbeſtraften Mordgeſellen kamen ihm wie-
der ins Gedächtniß.


Zu ſtrafen wagte er auch diesmal nicht; ſorgfältig verbarg er ſein
Geheimniß vor aller Welt, doch ſein Argwohn war geweckt, ſeine ſtolze
Sicherheit gebrochen, und von der ruſſiſchen Verfaſſung, die er ſoeben
noch in Warſchau dem ſtaunenden Europa angekündigt, verlautete fortan
kein Wort mehr. In ſeinen jungen Tagen hatte er ſich an Speranskys
liberalen Reformgedanken und an Czartoryskis polniſchen Plänen be-
geiſtert; jetzt wurde Fürſt Alexander Galitzin ſein Vertrauter, ein ſanfter
myſtiſcher Schwärmer, der die Bußpredigten der Frau von Krüdener auf
ſeine Weiſe fortſetzte. Noch häufiger als bisher übermannte den Czaren
die Schwermuth, der Ekel über die Lüge dieſes Lebens. Er hatte Stunden,
da er ernſtlich daran dachte die Krone niederzulegen und ſich in beſchau-
liche Einſamkeit zurückzuziehen; im Jahre 1819 kündigte er einmal dem
Großfürſten Nikolaus dieſe Abſicht feierlich an und fügte hinzu, daß er
ihn, den dritten Bruder, als den kräftigſten Mann des Hauſes über die
Schultern des unfähigen Conſtantin hinweg auf den Thron zu erheben
denke. So radikale Entſchlüſſe vermochte Alexanders weiche Natur freilich
nicht feſtzuhalten. Er blieb am Ruder und auch den holden Traum der
chriſtlich-liberalen Weltherrſchaft gab er nicht gänzlich auf; noch oft genug
hatte der Wiener Hof über bedenkliche Rückfälle Rußlands zu klagen.
Aber das Schreckensbild des drohenden revolutionären Weltbrandes, das
in allen Briefen Metternichs an Neſſelrode beharrlich wiederkehrte, erſchien
dem Selbſtherrſcher jetzt nicht mehr als ein Phantom; er lächelte nicht
mehr, wenn der öſterreichiſche Miniſter verſicherte, Frankreich bleibe zwar
der Heerd der Revolution, doch die unruhige Bewegung auf den deutſchen
Univerſitäten ſei im Grunde noch bedenklicher, weil die Deutſchen Alles,
auch das politiſche Verbrechen mit Ausdauer und Ehrlichkeit betrieben.
Er begann die Wiener Staatsmänner, die er bisher ſo tief verachtet
hatte, allmählich mit anderen Augen anzuſehen und hielt ſich überzeugt,
daß nur die rückhaltloſe Eintracht der Oſtmächte die Ruhe der Welt zu
ſichern vermöge.


Als er im September nach Deutſchland kam, erſchien er ſeinem preu-
ßiſchen Reiſebegleiter General Borſtell wunderbar verändert. Keine Rede
mehr von den liberalen Inſtitutionen, von der Verſöhnung zwiſchen Frei-
heit und Ordnung; jetzt gelte es, das monarchiſche Syſtem und den
Weltfrieden im Sinne der heiligen Allianz gegen die Mächte der Revo-
lution zu vertheidigen; deshalb allein, betheuerte der Czar, halte ich eine
Million Soldaten auf den Beinen um Jeden zu zermalmen, der mein
Syſtem zu ſtören wagt. Das gewohnte Prahlen mit imaginären Zahlen
konnte er alſo auch jetzt noch nicht laſſen; indeß bemühte er ſich eifrig,
29*
[452]II. 8. Der Aachener Congreß.
das offen eingeſtandene Mißtrauen des Preußen gegen Rußlands ehrgeizige
Pläne zu beſchwichtigen und entſchuldigte ſich ſogar vor ihm wegen des
Tilſiter Friedens und der Erwerbung von Bialyſtock.*) In Berlin be-
theuerte er ſeinem königlichen Freunde, als dieſer den Grundſtein des
Siegesdenkmals auf dem Kreuzberge legte, noch einmal vor allem Volke
ſeine unverbrüchliche Treue und vernahm befriedigt, wie Stägemann ihn in
einer pomphaften Ode als die Seele des europäiſchen Friedensbundes feierte:


Und Heil Dir dreimal, Heil dem verſöhnenden,

Dem Bundeshort! Der Könige Stirnen, oft

Berauſcht vom Lorbeer, ſind nicht allzeit

Fromme Bewahrer des milden Oelzweigs.

Auch in Weimar, in Darmſtadt, in Frankfurt, überall wohin ihn ſeine
Reiſe noch führte, mahnte er die Fürſten und Staatsmänner zur Wach-
ſamkeit gegen die Demagogen und erinnerte nachdrücklich an die conſer-
vativen Grundſätze des heiligen Bundes.


Mittlerweile waren Metternich und Gentz mit Kapodiſtrias in Karlsbad
zuſammengetroffen. Das Städtchen im Waldthale der Tepel war damals
das eleganteſte Modebad Deutſchlands und wurde von Gentz als ein „für
uns höchſt nützlicher Ort“ gelobt. Hier ſtrömte alljährlich die vornehme
Welt von den deutſchen Höfen zuſammen und erlabte ſich an den eigen-
thümlichen Freuden des ariſtokratiſchen alten Oeſterreichs; kein einziges
ſchönes Gebäude in dem ganzen Thale, aber dafür reizende Frauen und
prächtige Toiletten ſo viel das Herz begehrte, Concerte, Schmäuſe und
Bälle im Ueberfluß und eine Cavalier-Allee, wo jeder Reiter einen Du-
caten Eintrittsgeld bezahlte. Hier trat Metternich wie der Herr vom
Hauſe auf, bezauberte Jedermann bald durch geheimnißvolle Würde bald
durch verbindliche Liebenswürdigkeit und lud auch wohl einzelne bevor-
zugte Gäſte, vornehmlich die Preußen, nach dem nahen Königswart ein,
wo er ſich ſein häßliches Schloß, nach ſeiner Art, durchaus geſchmacklos
aber glänzend eingerichtet hatte. Von den Unterredungen mit Kapodiſtrias
verſprach er ſich nichts Gutes, da er den Philhellenen kurzweg zu „den
faſelnden Staatsmännern“ rechnete. Wie groß war ſein Erſtaunen, als
er den Griechen ganz conſervativ geſinnt fand und die Ueberzeugung ge-
wann, daß Alexander mindeſtens „das Grundprincip der Erhaltung der
Ruhe“ unbedingt anerkenne. Befriedigt ſchrieb er ſeinem Monarchen,
was Kaiſer Franz immer am Liebſten hörte: es werde doch wohl Alles
beim Alten bleiben. Dies Rußland, das er vor Kurzem noch durch ein
geheimes Schutz- und Trutzbündniß mit Preußen hatte bändigen wollen,
ſchien jetzt wirklich von freien Stücken in die Bahnen der allein wahren
Stabilitätspolitik einzulenken. —


[453]Hardenberg in Engers.

Nach dem unverkennbaren Umſchwung der ruſſiſchen Politik durfte
Metternich in der That hoffen, daß Oeſterreich binnen Kurzem die Stelle
des Führers in dem europäiſchen Bunde erlangen würde. Auf die Freund-
ſchaft des Tory-Cabinets konnte er ſich feſt verlaſſen, obſchon Lord Caſt-
lereagh auf die erſtarkende Oppoſition der Whigs einige Rückſicht zu
nehmen hatte und darum wo möglich jeden förmlichen Vertrag, der im
Parlamente Anſtoß geben konnte, zu vermeiden wünſchte. Auch in Preußen
ließ ſich die reaktionäre Strömung der Zeit ſchon in leiſen Wellenſchlägen
verſpüren. Das Wartburgfeſt hatte den König tief und nachhaltig ver-
ſtimmt. Nicht ohne Bangen verließ Hardenberg den Hof um die erſten
Monate des Jahres 1818 auf Schloß Engers am Rhein zu verbringen und
die Stimmung der ſchwierigen Provinz ſelber zu erkunden. Seine ſchwerſte
Sorge galt der Verfaſſungsarbeit. Er wußte, daß dies Unternehmen allen
anderen Großmächten ebenſo unheimlich war wie das preußiſche Wehrgeſetz.
Ueber die Meinung des Wiener Hofes beſtand kein Zweifel, obgleich
Metternich ſich noch nicht offen ausgeſprochen hatte. Aus Paris meldete
Goltz ſchon im April 1817 und dann immer aufs Neue, wie dringend
Wellington und Richelieu ihn vor dem unſinnigen Wagniß einer preu-
ßiſchen Verfaſſung gewarnt hätten; und was das Verdächtigſte war, beide
Staatsmänner vertraten genau dieſelbe Anſicht wie Ancillon und die reak-
tionäre Partei in Berlin; ſie meinten, ein ſo buntgemiſchter Staat wie
Preußen müſſe ſich mit Provinzalſtänden begnügen. Auch Czar Alexander
that ſelbſt in den Tagen, da er der Welt das Programm des chriſtlichen
Liberalismus verkündigte, durchaus nichts um die preußiſche Verfaſſung
zu fördern; man erfuhr nur, daß er ſich ſchwer beſorgt über die politiſche
Zuverläſſigkeit der preußiſchen Landwehr äußerte.


Hardenberg fühlte, wie leicht ihm alle dieſe Gegner über den Kopf
wachſen konnten, und mahnte die Miniſter in Berlin wiederholt und nach-
drücklich zur Beſchleunigung der Verfaſſungsarbeit.*) Aber der Verfaſ-
ſungsausſchuß des Staatsraths konnte ſeine Berathungen nicht beginnen,
ſo lange ihm die Berichte der drei Miniſter, welche die Provinzen bereiſt
hatten, noch nicht vorlagen; und dieſe Berichte blieben aus, da Altenſtein
und Klewiz mit der Einrichtung ihrer ſoeben erſt neu gebildeten Depar-
tements über und über beſchäftigt waren. Unterdeſſen wurden auch die
Gutachten der Provinzialregierungen über die Provinzialſtände eingefordert;
Vincke aber fügte, als er die weſtphäliſchen Akten einſendete, die treffende
Bemerkung hinzu, dieſe Papiere enthielten viel unfruchtbares Gerede, da
man den Regierungen nur einige ganz allgemein gehaltene Fragen ge-
ſtellt habe. Der auf Klewiz’s Rath eingeſchlagene Weg erwies ſich ſchon
jetzt als ein Irrweg. Nur wenn ein ausgearbeiteter Verfaſſungsplan be-
reits vorlag, konnten die Gutachten der Notabeln und der Behörden ein
[454]II. 8. Der Aachener Congreß.
praktiſches Ergebniß bringen. Es hieß die Dinge auf den Kopf ſtellen,
die alten ſtolzen Traditionen der Monarchie verlaſſen, wenn der Staats-
kanzler, ſtatt der unerfahrenen öffentlichen Meinung die Richtung zu geben,
ſelber muthlos und planlos von ſeinen Untergebenen Rath erwartete; ſo
ward ihm jedes neue Gutachten zu einer neuen Verlegenheit. Er ver-
zehrte ſich vor Ungeduld, klagte bitter über die Verzögerung ſeines Lieb-
lingsplans, und doch hatte er bisher noch nicht einmal die Feder ange-
ſetzt um mit dem Monarchen und ſich ſelber mindeſtens über die Grund-
lagen des Verfaſſungsentwurfs ins Reine zu kommen. Unter den Freunden
der Reform nahmen Erbitterung und Entmuthigung überhand. Vincke
hielt dem Staatskanzler vor: was müſſe dies Volk empfinden, wenn andere
Regenten, „die nichts verheißen haben“, dem unſeren voraneilen; und
Zerboni ſchrieb verzweifelnd: „Ich gehe jeden Abend mit dem großen
Momente zu Bett, der für Preußen eingetreten iſt, und erwache jeden
Morgen mit dem freſſenden Kummer, daß er ungenützt vorübergehen
wird.“*)


Mit den Rheinländern kam Hardenberg bald auf guten Fuß, ſein
heiteres wohlwollendes Weſen gefiel allgemein; er gewann den Eindruck,
daß die beiden Provinzen im Ganzen muſterhaft verwaltet wurden und
bei allem Mißmuth keineswegs ernſtlich an einen Abfall dachten. Nur
die üblen Folgen des unbedachten Verfaſſungsverſprechens bereiteten ihm
auch am Rhein manche ſchwere Stunde. Unter den zahlreichen Depu-
tationen, die er in Engers empfing, erſchienen auch Graf Neſſelrode,
Freiherr v. Hövel und andere Abgeſandte des rheiniſchen Adels. Sie
überreichten eine gründliche, von dem hochconſervativen Convertiten
Schloſſer verfaßte „Denkſchrift die Verfaſſungsverhältniſſe der Lande Jülich,
Cleve, Berg und Mark betr.“, der ſich ähnliche Eingaben des weſtphäli-
ſchen Adels anſchloſſen. Die Schrift enthielt manche treffliche Grund-
ſätze, welche deutlich erkennen ließen, daß Stein dabei mitgewirkt hatte;
der Adel war bereit, ſtatt einzelner bevorzugter Städte den geſammten
Bürgerſtand, ſtatt des Landadels alle landbauenden Klaſſen zur Vertretung
zuzulaſſen. Doch ſtanden daneben vieldeutige Verwahrungen gegen die
„allverwirrende Gleichheit der franzöſiſchen Revolution“ und das ganz
ungerechte Verlangen nach Berufung der alten Stände, um mit ihnen
die Neuerungen vertragsmäßig feſtzuſtellen! Der Staatskanzler antwortete
freundlich, doch ausweichend: „nur aus einer gründlichen Würdigung
früherer Verhältniſſe und jetziger Bedürfniſſe wünſcht unſere Regierung
die Verfaſſung hervorgehen zu ſehen“.**) Die ſchwere Frage, wie das neue
Recht zu dem alten ſich verhalten ſolle, blieb alſo noch immer ungelöſt.
Am Hofe aber fand der Adel einen Freund, deſſen Einfluß bald ſtärker
[455]Die Coblenzer Adreſſe.
hervortreten ſollte: der Kronprinz ſprach dem Freiherrn v. Hövel ſein
beſonderes Wohlgefallen über die Denkſchrift aus.


Noch unwillkommener als dieſe Adelsgeſandtſchaft, die immerhin die
Klaſſenanſchauungen eines mächtigen Standes vertrat, erſchien dem Staats-
kanzler der Beſuch einer zweiten Deputation, welche lediglich durch eine
phantaſtiſche Schrulle zuſammengeſchaart war und für die Unreife der
politiſchen Bildung des Rheinlands ein klägliches Zeugniß ablegte. Seit
der Unterdrückung des Rheiniſchen Merkurs hatte Görres bittere Tage
verlebt; die Penſion, die ihm Hardenberg verſchaffte, konnte ihn über den
Müßiggang eines zweckloſen Daſeins nicht tröſten. Er bemühte ſich redlich
ſein heißes Blut zu bändigen, ſprach ſtets milde und verſöhnlich wenn
Abgeſandte der Burſchenſchaft ſich bei ihm Rathes erholen wollten. Zu-
letzt war die Natur doch ſtärker als die guten Vorſätze. Dies Preußen,
das er einſt ſo hoch geprieſen, ward ihm allmählich tödlich verhaßt, und
alle jene thörichten Wünſche des rheiniſchen Partikularismus, welche die
kirchliche Parität und die Staatseinheit zugleich bedrohten, erſchienen ihm
jetzt berechtigt. Ganz ſo urtheilslos wie die Maſſe ſeiner Landsleute
polterte er wider die fremden proteſtantiſchen Beamten und verlangte, daß
die Rheinlande ihren Antheil an den Staatsausgaben nach dem Gut-
dünken ihrer Provinziallandtage ſelber aufbringen ſollten. Er fand es
entſetzlich, daß der König einen Lehrer, der in einer gemiſchten Schule die
Reformation roh beſchimpft hatte, verdientermaßen abſetzen ließ, und be-
theiligte ſich ſogar an einer Petition, welche von der Krone forderte, daß
in Zukunft das Referat über das Schulweſen in der Coblenzer Regierung
nur einem Katholiken übertragen würde. In wiederholten Eingaben an
den König und den Staatskanzler gebärdete er ſich als der natürliche
Wortführer des Rheinlands, obſchon er wiſſen mußte, daß ſein Merkur
am Rheine niemals viele Leſer gefunden hatte. Ehe er es noch ſelber
recht bemerkte ward er durch ſeinen rheiniſchen Provinzialſtolz zu cleri-
calen Anſchauungen verleitet, die allerdings dem innerſten Weſen ſeiner
phantaſtiſchen Natur entſprachen. Nicht lange, ſo begann er ſogar das
verrottete Ständeweſen der geiſtlichen Kurfürſtenthümer zu bewundern,
das er in ſeiner Jugend mit wohlverdientem Hohne überſchüttet hatte,
und meinte in den drei Curien des kurtrieriſchen Landtags die angeblichen
drei Urſtände der Germanen, Lehr-, Wehr- und Nährſtand zu erkennen.


Als die Coblenzer nunmehr den Staatskanzler an das Verfaſſungs-
verſprechen zu erinnern beſchloſſen, gab Görres der Adreſſe die wunder-
liche Faſſung: man bitte um „Wiederherſtellung der Freiheiten der Land-
ſchaft und der uralten wahrhaft deutſchen Verfaſſung“. In ſolcher Ge-
ſtalt wurde das übrigens beſcheidene und unverfängliche Aktenſtück von
mehr als dreitauſend Bürgern und Bauern der Umgegend unterzeichnet;
die meiſten dachten ſich dabei nur das Eine, daß ein Landtag von Ein-
geborenen künftighin den Preußen freundlich auf die Finger klopfen ſolle.
[456]II. 8. Der Aachener Congreß.
Mit dieſer Adreſſe erſchien Görres am 12. Januar 1818 bei Hardenberg,
hinter ihm ein wunderſamer Aufzug, nicht unähnlich jenen verkleideten
Chineſen und Chaldäern, welche der tolle Anacharſis Cloots einſt als
„Deputation des Menſchengeſchlechts“ der franzöſiſchen Nationalverſamm-
lung vorführte. Die Coblenzer Deputation wollte „eine Ständeverſamm-
lung im Kleinen“ vorſtellen; Geiſtliche und Lehrer vertraten den Lehr-
ſtand, Edelleute, Landwehrmänner und Richter den Wehrſtand, ein
Landrath nebſt mehreren Bürgern und Bauern den Nährſtand. Der
Staatskanzler hörte den Redner, der in pathetiſchen Worten das Lob der
alten kurtrier’ſchen Landtage ſang, den merkwürdigen Nährſtands-Landrath
ſowie die übrigen Mitglieder freundlich an; er verhehlte jedoch den Ab-
geordneten nicht, daß er ſelber weit liberaler denke als ſie: die einfache
Wiederherſtellung überwundener Zuſtände ſei nicht möglich. Nachher
erzählte Görres die Geſchichte dieſer Audienz — dieſes „Maifeldes des
Frankenſtammes“ — in einer muſterhaft ungeſchickten Flugſchrift, und mit
ſchmetternden Fanfaren feierte die liberale Preſſe den großen Tribunen:
nun habe das freie Rheinland der Krone Preußen ſeine Magna Charta
überreicht!


Hardenberg, der ſeinen Mann kannte, nahm die Blätter dankend
an. Am Hofe aber regte ſich die reaktionäre Partei, um den Vorfall
gegen den abweſenden Staatskanzler auszubeuten. Der ſchreiende Ton
der Schrift mißfiel dem Könige, nicht minder die gehäſſigen Anklagen
wider den preußiſchen Staat und der widerwärtige rheinländiſche Dünkel,
der die alten Provinzen wegwerfend als halbbarbariſche Koloniſtenlande
behandelte. Der Kronprinz ließ die Flugſchrift mit einigen tadelnden
Worten ihrem Verfaſſer zurückſchicken, und auf Befehl des Monarchen
wurde eine Unterſuchung eingeleitet. Es ſtellte ſich heraus, daß die
Adreſſe durch die Schöffen in den Gemeinden des Regierungsbezirks ver-
breitet worden war. Nur zwei der befragten Gemeinden hatten die
Theilnahme verweigert: die Bürgerſchaft von Hatzenport an der Moſel,
weil ſie mit der gegenwärtigen Verfaſſung zufrieden ſei, und ein Ort
auf dem Hunsrücken, weil die Bauern dort mit gutem Grunde befürch-
teten, daß die Adreſſe mit der alten trier’ſchen Verfaſſung auch die
Zehnten zurückbringen würde. Als ein Landrath eingeſchritten war, hatte
ihn die Regierung in Coblenz zurückgewieſen, da „wir nicht verhindern
wollen, daß Unterthanen ihre Wünſche dem Landesherrn vortragen“;
ſie „ſchmeichelte ſich damit“ — wie ihre Rechtfertigungsſchrift ſagte —
„ganz im Geiſte der liberalen Geſinnungen unſeres Gouvernements ge-
handelt zu haben“.*)


Der König dachte anders; er zeigte ſich ſehr aufgebracht, denn er wollte
die alte fridericianiſche Vorſchrift, die nur dem Einzelnen das Recht der
[457]Verzögerung der Verfaſſungsarbeit.
Petition gewährte, aber alle Aufforderungen zu gemeinſamen Bitten
ſtreng unterſagte, am wenigſten in dieſer gährenden neuen Provinz über-
treten ſehen. Darum ertheilte er, obgleich Hardenberg dringend abrieth,
der Coblenzer Regierung einen ſcharfen Verweis und erwiderte den Un-
terzeichnern der Adreſſe in einer ungnädigen Cabinetsordre, daß er ſich
allein den Zeitpunkt für die Ausführung ſeiner Zuſage vorbehalte. Die
Hatzenporter wurden wegen ihrer geſetzlichen Geſinnung belobt und blieben
fortan viele Jahre lang als Rheinlands Abderiten das Stichblatt für
die Witze ihrer Landsleute.*) Erſt durch dieſe Beweiſe des königlichen
Unwillens erhielt der thörichte Mummenſchanz der Coblenzer Deputation
eine Bedeutung, die ihm keineswegs zukam. Die ganze Provinz murrte
über die Härte des Königs, obwohl die conſtitutionelle Partei unter den
Rheinländern in Wahrheit erſt ſehr wenig überzeugte Anhänger zählte.
Hardenberg errieth ſogleich, daß der Zorn des gütigen Monarchen offen-
bar durch boshafte Einflüſterungen veranlaßt war; er hegte Argwohn
gegen Ancillon und den Herzog Karl von Mecklenburg, doch den ſchlaueſten
und gefährlichſten ſeiner Feinde, den Fürſten Wittgenſtein durchſchaute
er noch immer nicht und forderte ihn ſogar vertrauensvoll auf, die Ver-
ſtimmung des Hofes beſchwichtigen zu helfen. Um den König ganz zu
verſöhnen kehrte er ſelber ſchon zu Anfang April, früher als er gedacht,
nach Berlin zurück und ließ zum Abſchied ein „Deutſches Wort aus
Preußen an die Rheinländer“ drucken — eine von ſeinem Vertrauten
Koreff entworfene und von ihm ſelber durchgeſehene Flugſchrift, die dem
rheiniſchen Volke neben freundlichen Zuſicherungen auch einige wohlver-
diente Lehren gab: die Rheinländer, hieß es da, ſollten doch nicht ver-
geſſen, daß ſie ſelber zur Abſchüttelung des fremden Joches keinen Finger
geregt hätten und ihre Freiheit, ihr wieder geſichertes deutſches Leben
allein dem preußiſchen Staate verdankten. Seinen Briefwechſel mit
Görres brach der Staatskanzler ab, denn „cela mettrait du louche
dans ma marche.“
Alles was den Argwohn des Königs erregte, wollte
er aus dem Wege räumen, um nur ſeinen Hauptzweck, den Abſchluß der
Verfaſſung zu erreichen.**)


Die Verzögerung der großen Entſcheidung ward mit jedem Tage
peinlicher empfunden. Von allen Seiten liefen Mahnungen ein. Die
märkiſche Ritterſchaft forderte nochmals, wie ſo oft ſchon, die Verein-
barung des neuen Grundgeſetzes mit den alten Ständen und ward vom
Könige auf die Berathungen des Staatsraths verwieſen. Die Merſe-
burger Regierung dagegen bat um ſchleunige Einrichtung mindeſtens der
Kreistage; ſonſt könne man den herrſchſüchtigen Anſprüchen der alten
Stände, die das Volk haſſe, nicht widerſtehen. Selbſt die ſonſt ſo ſtillen
[458]II. 8. Der Aachener Congreß.
Gemeindebehörden der Hauptſtadt wurden ungebärdig, weil Niemand aus
der Reſidenz bei der Befragung der Notabeln zugezogen worden war,
und mahnten in mehrfachen Eingaben an das königliche Wort, worauf
ihnen der Beſcheid wurde, daß „wiederholte Erinnerungen unangemeſſen
erſchienen“.*)


Hardenberg konnte ſich nicht mehr verhehlen, daß er endlich ſelber
Hand an’s Werk legen mußte. Aber woher die Zeit und die Kraft für
die Verfaſſungsarbeit nehmen inmitten der Unmaſſe von Geſchäften, die
den Alternden faſt erdrückte? Da half ihm Wittgenſtein, dem er arglos
ſeine Sorgen anvertraute, mit einem freundlichen Rathe aus (6. Mai).
Der Fürſt empfahl die Anſtellung von zwei neuen Miniſtern als zweiten
Chefs für die beiden Departements, welche der Staatskanzler bisher noch
unmittelbar leitete; für die General-Controle ſchlug er den Grafen Lottum
vor, einen wohlmeinenden Mann, der politiſch wenig bedeutete, für das
auswärtige Amt den däniſchen Geſandten in Berlin, Graf Chriſtian
Bernſtorff. Da Hardenberg mit Bernſtorff ſeit Jahren nahe befreundet
war, ſo ging er unbedenklich auf den Gedanken ein und ſchrieb am
25. Mai dem Könige: er fühle die Laſt ſeiner achtundſechzig Jahre und
halte ſich auch verpflichtet vorzuſorgen „für den täglichen Fall, daß Gott
über mich geböte“. Das Staatskanzleramt wolle er bis zu ſeinem Ende
fortführen, aber einen Nachfolger für dieſen Poſten wiſſe er ſchlechter-
dings nicht zu nennen; am einfachſten alſo, wenn jetzt ſchon Miniſter
für ſämmtliche Departements ernannt würden, damit nach ſeinem Ab-
leben Alles ungeſtört weiter gehe. Darauf folgten die Vorſchläge, die
er „mit ſeinem bewährten Freunde Wittgenſtein“ beſprochen hatte. Der
König, der den Grafen Bernſtorff ebenfalls von Jugend auf kannte und
ſchätzte, genehmigte den Antrag, und nachdem der anfangs lebhaft über-
raſchte däniſche Geſandte die Erlaubniß ſeines Monarchen eingeholt,
wurde die Aenderung am 16. September durch ein überaus gnädiges
Schreiben des Königs an den Staatskanzler förmlich vollzogen.**)


Es war ein Meiſterſtreich Wittgenſteins. Der ſchlaue Hofmann
hatte einen Plan, der ſeine Spitze unzweifelhaft gegen den Staatskanzler
richtete, ſo geſchickt eingefädelt, daß dem Könige wie dem Staatskanzler
ſelber Alles als Hardenbergs eigenes Werk erſcheinen mußte. Die Be-
ſetzung des auswärtigen Amtes bot große Schwierigkeiten; denn das diplo-
matiſche Corps Preußens beſaß in jenem Augenblicke neben vielen brauch-
baren Diplomaten zweiten Ranges, die faſt durchweg gute Geſandtſchafts-
[459]Graf Bernſtorff Miniſter des Auswärtigen.
berichte einſendeten, nur einen Staatsmann, der das Zeug zu einem
Miniſter beſaß, und dieſer Eine, W. Humboldt, war unmöglich. Er ſtand
bei ſämmtlichen Großmächten in ſo ſchlechter Nachrede, daß er in der
Quadrupelallianz niemals eine erfolgreiche Rolle ſpielen konnte; bei Hofe
unbeliebt war er von Hardenberg noch immer durch das alte gegenſeitige
Mißtrauen getrennt und paßte nicht für ein Departement, das nach wie
vor der beſonderen Aufſicht des Staatskanzlers untergeordnet bleiben ſollte;
er hatte endlich erſt im letzten Herbſt den Eintritt in das Miniſterium
abgelehnt und dieſe Weigerung ſoeben wiederholt, indem er aus London
ſchrieb: die Miniſter beſäßen keine wahre Verantwortlichkeit, mit Männern
wie Schuckmann wolle er dieſe Verantwortlichkeit auch nicht theilen.*)
Unter ſolchen Umſtänden war es wohl begreiflich, daß der König, der
ſchon ſo viele Männer aus dem deutſchen Auslande in ſeinen Dienſt ge-
zogen hatte, ſich auch diesmal um die lebhaft ausgeſprochene Empfind-
lichkeit ſeiner eingeborenen Beamten nicht kümmerte und wieder die Be-
rufung eines nichtpreußiſchen Deutſchen beſchloß.


Ein Deutſcher war Graf Bernſtorff auch im däniſchen Dienſte immer
geblieben. Nach einer kurzen diplomatiſchen Lehrzeit bei der Berliner Ge-
ſandtſchaft hatte er einſt ſchon mit ſiebenundzwanzig Jahren die Leitung
des auswärtigen Amts in Kopenhagen übernommen und als letzter Ver-
treter der vielhundertjährigen deutſchen Adelsherrſchaft in Dänemark
manchen harten Strauß mit dem erwachenden unduldſamen National-
ſtolze des Inſelvolks beſtehen müſſen; die deutſche Bernſtorffiſche Partei
und die Roſenkrantziſche däniſche Nationalpartei ſtanden einander ſchroff
gegenüber. An den Ruhm ſeines Großoheims und ſeines Vaters, der
beiden großen Bauernbefreier Dänemarks, reichten ſeine Verdienſte nicht
heran; auch das Glück war ſeiner Verwaltung nicht hold. Er konnte
den Raubzug der Engländer gegen Kopenhagen nicht verhindern, und auch
ſpäterhin, als er wieder in die Geſandtenlaufbahn zurückgetreten war,
gelang es ihm nicht, ſeinem von allen Großmächten preisgegebenen Mon-
archen auf dem Wiener Congreſſe ein beſſeres Loos zu bereiten. Trotz
dieſer Mißerfolge galt er allgemein als ein ehrenhafter, muthiger und
kluger Staatsmann. Im perſönlichen Verkehre zeigte er würdige und
doch ſanfte Formen, wie ſie König Friedrich Wilhelm liebte, eine bezau-
bernde Anmuth, die aus einem edlen Herzen kam. In dem ſchönen Park
ſeiner Amtswohnung auf der Wilhelmsſtraße trafen an Sommerabenden
Gneiſenau und Clauſewitz mit einem fröhlichen Kreiſe geiſtreicher Menſchen
zuſammen und in der Regel kamen auch die befreundeten Nachbarn, die
Radziwills, über die Treppe, welche die Gartenmauer überbrückte, hinüber-
geſtiegen. Der Miniſter war durch ſeine Oheime, die Gebrüder Stolberg,
früh in die Literatur eingeführt, zeigte ſelber ein liebenswürdiges poetiſches
[460]II. 8. Der Aachener Congreß.
Talent, bewährte ſich in Kunſt und Wiſſenſchaft als ein feiner Kenner.
Aber von dem derben Ehrgeiz und der raſtloſen Thätigkeit des geborenen
Staatsmannes beſaß er wenig.


Mit ihm begann eine neue Generation der preußiſchen Diplomatie.
An der Stelle jener wetterfeſten, arbeitsharten Politiker, welche einſt mit
Leib und Seele dem großen Kurfürſten und dem großen Könige gedient hat-
ten, erſchienen jetzt in müder Friedenszeit immer häufiger geiſtreiche, liebens-
würdige literariſche Dilettanten, denen der Staat nicht mehr Eines und
Alles war. Schon beim Antritt ſeines neuen Amtes fühlte ſich Graf
Bernſtorff müde und abgeſpannt, obgleich er das fünfzigſte Jahr noch
nicht erreicht hatte, und bald nachher ward er von der altadlichen Stan-
deskrankheit, dem Podagra, ſo anhaltend heimgeſucht, daß er nur noch
ſelten einen ganz geſunden Tag verlebte. Von den inneren Zuſtänden
Preußens kannte er vorläufig nur, was ein fremder Diplomat zu be-
obachten vermag, und zu ſeinem Unheil war er ſchon ſeit Langem ge-
wöhnt, ſich vornehmlich von Ancillon über die deutſche Politik belehren
zu laſſen. Der räthſelhafte Heiligenſchein, der dieſen gelehrten Hofmann
umſchwebte, blendete den neuen Miniſter noch gänzlich, und der badiſche
Geſandte General Stockhorn war ſicherlich auf der rechten Fährte, wenn
er ſeinem Hofe meldete, daß Ancillon und Wittgenſtein gemeinſam die
Berufung Bernſtorffs veranlaßt hätten. Der Briefwechſel zwiſchen Bern-
ſtorff und Ancillon iſt noch großentheils erhalten. Er zeigt deutlich, wie
der neue Miniſter noch über ein Jahr lang den Lehren ſeines ſchreib-
ſeligen Mentors mit gläubiger Andacht lauſchte. Erſt als es zu ſpät war,
erſt gegen das Ende des Jahres 1819 hatte ſich Bernſtorff in den deutſchen
Dingen zurechtgefunden und mit eigenen Augen zu ſehen gelernt; ſeit-
dem entfernte er ſich Schritt für Schritt von den reaktionären Doctrinen
des Meiſters und bewies, daß er nach Temperament und Geſinnung zu
den gemäßigten Conſervativen gehörte. Aber während jener kritiſchen andert-
halb Jahre, welche den Umſchwung der Bundespolitik herbeiführten, blieb
Bernſtorff ein Genoſſe Ancillons.


Seine Berufung war ein Sieg der reaktionären Partei und förderte,
ohne daß er es ſelber ahnte, die Abſichten derer, welche die conſtitutio-
nellen Pläne des Staatskanzlers insgeheim zu vereiteln trachteten. Vorder-
hand gerieth die Verfaſſungsarbeit gänzlich ins Stocken. Hardenberg unter-
nahm im Juli auf dem neuen Dampfſchiff „der Kurier“ von Humphreys
eine Fahrt von Potsdam nach Hamburg, die als unerhörtes Wagniß be-
wundert wurde, und begab ſich von da nach dem Rheine, wo er wochen-
lang mit den Angelegenheiten der Provinz und diplomatiſchen Verhand-
lungen beſchäftigt war. Die Ungeduld der Verfaſſungspartei wuchs von
Tag zu Tag. In leidenſchaftlichem Zorne ſchrieb Boyen an Schön: „Dieſe
auf Thatſachen ruhende Liebe des Volks zu ſeinem Könige, Alles das
was ſeit Jahrhunderten ehrwürdige Denker für den Zweck der Menſch-
[461]Die Wiener Jahrbücher.
heit erklärten, das will jetzt ein ſchwächliches Gelichter, oder alte Weiber
die unglücklicher Weiſe Hoſen tragen, für unwahr erklären, um ſich ein
myſtiſches Gewand aus alten verjährten Formen ſo recht bequem für ihre
eigene Perſon und die liebwerthe Familie zu machen.“*)


So wurden dem Wiener Hofe alle Zeichen günſtig. Noch bis gegen
das Ende des vorigen Jahres hatte Metternich, aus Scheu vor der
Empfindlichkeit der kleinen Höfe, jeden ſcharfen Eingriff in die deutſche
Bundespolitik vermieden; jetzt ſchien ihm die Zeit gekommen für einen
Feldzug wider die Demagogen. War erſt die Quadrupelallianz auf dem
Congreſſe von Neuem befeſtigt, ſo ſollten die deutſche Preſſe, die Univerſi-
täten, die Turnplätze und wenn möglich auch die Landtage die Strenge
des Bundesrechts empfinden. Um den Kampf für das Beſtehende auch
mit geiſtigen Waffen zu führen hatte Metternich ſoeben die Wiener Jahr-
bücher der Literatur gründen laſſen, da der Oeſterreichiſche Beobachter,
wenn nicht Gentz einmal einen Aufſatz ſendete, doch gar zu kläglich war,
und Cotta in die Spalten der Augsburger Allgemeinen Zeitung außer
den Zuſendungen der Hofburg auch liberale Artikel aufnahm. Matthäus
von Collin, der Bruder des Dramatikers Heinrich, ein harmloſer, un-
bedeutender Schriftſteller erhielt die Leitung, und es bezeichnet Metter-
nichs wiſſenſchaftliche Bildungsſtufe, daß er ſelber den trivialſten aller
deutſchen Recenſenten, den durch Goethe und Schiller ſo köſtlich ver-
höhnten Magiſter Ubique, Karl Böttiger in Dresden aufforderte, dem „in
echt gelehrtem, wahrhaft weltbürgerlichem Sinne“ geplanten Unternehmen
als Kritiker zu dienen. Die reichen Geldmittel der Zeitſchrift verſchafften
ihr zwar einzelne gediegene Beiträge, doch eine literariſche Bedeutung er-
langte ſie niemals; wie hätte unter dieſem geiſtloſen Regimente die leben-
dige Wiſſenſchaft gedeihen können?


Gleich in den erſten Heften erſchienen, zur Vorbereitung des Kampfes
gegen die deutſchen Zeitungen, zwei Abhandlungen von Gentz über die
Preßfreiheit in England, die einzigen ſtreng wiſſenſchaftlich gehaltenen
Arbeiten ſeiner ſpäteren Jahre. Welch eine Wandlung ſeit jenem frei-
müthigen Sendſchreiben, in dem er vor zwanzig Jahren dem neuen Könige
von Preußen den Segen der freien Preſſe erwieſen hatte. Wie viel reifer,
erfahrener, kenntnißreicher erſchien er jetzt, aber auch wie kalt, wie einſeitig,
wie glaubenlos und unredlich in ſeiner gewandten Rhetorik. Jetzt ſollte die
Preßfreiheit nur noch ein relativer Begriff ſein und unter der Cenſur ebenſo
ſicher ja noch ſicherer beſtehen können als unter der Gefahr nachträg-
licher, gerichtlicher Beſtrafung. Nach einer meiſterhaften Darſtellung der
Geſchichte der engliſchen Preſſe, wie nur er allein ſie damals geben konnte,
entwickelte er die leitenden Gedanken einer Doctrin, welche während eines
Menſchenalters der Grundirrthum der deutſchen Preßgeſetzgebung ge-
[462]II. 8. Der Aachener Congreß.
blieben iſt. Er behauptete, daß die Preßvergehen eine eigene Art von
Delicten bildeten, die mit anderen Geſetzesverletzungen nichts gemein habe,
während doch Majeſtätsbeleidigung, Gottesläſterung und ähnliche Ver-
brechen durch das geſprochene Wort oder durch Thätlichkeiten ebenſowohl
wie durch das Mittel der Preſſe begangen werden können und durch die
Verſchiedenheit des Mittels ihr Weſen nicht verändern. Seine kecken
Sophismen fanden Anklang nicht blos bei der Aengſtlichkeit der Cabinette,
ſondern auch bei dem Standesgefühl der Schriftſteller, die in ihrer Eitel-
keit nicht bemerkten, daß Gentz der Preſſe nur darum eine ſtolze Aus-
nahmeſtellung außerhalb des gemeinen Rechtes zuwies, weil er ſie durch
Ausnahmegeſetze knebeln wollte.


Den Ruhm des erſten deutſchen Publiciſten durfte ihm noch immer
Niemand ſtreitig machen; mit der claſſiſchen Schönheit ſeines ſo kunſtvoll
durchgebildeten und doch ſo einfachen Stiles, mit der gedrungenen Kraft
ſeiner Dialektik ſchlug er jeden Nebenbuhler aus dem Felde. Aber wohin
war der ſittliche Zorn und der Gedankenreichthum ſeiner großen Jahre,
wohin jener weitherzige Freiſinn, der einſt die nationale Eigenart der Völker
ſo mannhaft gegen den vernunftwidrigen Zwang des Weltreichs vertheidigt
hatte? Nur der eine Gedanke der Erhaltung des Beſtehenden kehrte jetzt
mit troſtloſer Eintönigkeit in allen ſeinen Schriften wieder. Der greiſen-
hafte Wahn, als ob die ewige Bewegung der Geſchichte auf den Wink
der Hofburg nun für immer aufhören müßte, brachte die ſchöpferiſche
Kraft dieſes einſt ſo fruchtbaren Geiſtes zum Verſiegen und ſchlug den
Mann, der einſt der Ritter Europas geheißen hatte, mit jämmerlicher Angſt,
da Gentz doch zu ſcharf ſah um an jenen Widerſinn in vollem Ernſt zu
glauben. Er hatte ſich nach und nach ganz in Oeſterreich eingelebt, faſt
mit allen Freunden ſeiner Jugend den Verkehr abgebrochen und fand bald
eine boshafte Freude daran, ſeine alte Heimath als das Land des hohlen
Verſtandesdünkels zu verhöhnen, den fanatiſchen preußiſchen Renegaten
Adam Müller, der ſo tief unter ihm ſelber ſtand, als Deutſchlands größten
Schriftſteller zu verherrlichen.


Wie einſt Platon und ſeine politiſchen Schüler den ganzen Reich-
thum attiſcher Sprache und attiſchen Geiſtes aufboten um die unmenſchliche
Rauheit des Spartanerſtaats zu preiſen, ſo ſtellte Gentz das ſchwere Rüſtzeug
ſeiner proteſtantiſch-norddeutſchen Bildung in den Dienſt einer undeutſchen
Staatskunſt, die alle Freiheit unſerer Kultur zu vernichten drohte. Wie
Jene ward auch er zunächſt durch einen politiſchen Irrthum mißleitet,
da er in der Hofburg den Hort und Halt der conſervativen Sache
Europas zu finden glaubte; doch auch die unerſättliche Genußſucht bannte
ihn im öſterreichiſchen Lager feſt. Er zählte zu jenen geborenen Vir-
tuoſen des Genuſſes, welche ihre Kraft nur in der weichen Luft eines
verfeinerten ſinnlichen Daſeins entfalten können und darum berechtigt
ſind ſich den Boden zu erobern, der ihrer Begabung zuſagt. Aber wie
[463]Gentz.
über alles Maß hinaus hatte er dies Recht mißbraucht; die ungeheueren
Summen, die er mit unbeſchämter Stirn von den großen Höfen, von
den Rothſchilds, von den Hospodaren der Wallachei bezog, genügten noch
immer nicht für die unſinnige Verſchwendung des weibiſch verwöhnten,
in allen erdenklichen Lüſten abgetriebenen und entnervten Mannes. Jahre-
lang hatte man in der Hofburg nur ſeine Feder benutzt ohne ihn in
alle Geheimniſſe einzuweihen. Erſt ſeit dem Wiener und dem zweiten
Pariſer Congreſſe erlangte er bei Metternich jene Vertrauensſtellung,
deren er ſich ſchon früher fälſchlich zu rühmen pflegte; für Kaiſer Franz
blieb er freilich bis zu ſeinem Tode nur der ausländiſche Plebejer. Die
Zeit des Aachener Congreſſes nannte er ſelbſt den Kulminationspunkt ſeines
Lebens; alle Höfe überſchütteten ihn mit Auszeichnungen und Geſchenken,
Freund und Feind erkannten ihn als den Publiciſten des europäiſchen
Bundes an. Im Bewußtſein ſeiner umfaſſenden Sachkenntniß blickte
er mit ingrimmiger Verachtung auf das dilettirende politiſche Gerede
der Abgeordneten, Profeſſoren und Zeitungsſchreiber hernieder. Niemals
wollte er zugeben, daß ſich aus den Anſichten ſo vieler Halbwiſſer ſchließlich
doch eine öffentliche Meinung herausbildet, die ſelbſt in ihren Ver-
irrungen noch eine reale Macht bleibt und zuweilen ebenſo unwider-
ſtehlich wirkt, wie das auch aus den Anſichten von Nichtkennern hervor-
gehende Urtheil des Publikums im Schauſpielhauſe. Wie fühlte er ſich
glücklich, „daß es doch endlich wieder diplomatiſche Geheimniſſe gab“, daß
die Cabinette beſchloſſen hatten, diesmal die Congreßverhandlungen ſorg-
fältiger als es in Wien geſchehen vor den Blicken der Uneingeweihten
zu behüten. Durch Zwang und Strafen ſollte der große Haufe der
Unberufenen die Luſt verlieren ſich in die Arbeit der politiſchen Zunft
einzumiſchen. Mit rechter Herzensfreude nahm Gentz jetzt jene preußiſche
Denkſchrift über das Bundespreßgeſetz, welche Jordan im vorigen Jahre
vergeblich nach Wien gebracht hatte, wieder vor und begann ſie im öſter-
reichiſchen Sinne umzugeſtalten; dem Meiſter der Feder war kein Mittel
hart genug, das die Zeitungen zum Schweigen bringen konnte.


Noch ſchrecklicher als die Licenz der Preſſe ſchien ihm, ſo geſteht er
ſelbſt, „das größte aller Uebel, das Burſchenunweſen.“ Jene rührende
Begeiſterung für Deutſchlands Einheit, welche ſelbſt die Thorheiten der
brauſenden Jugend noch entſchuldbar erſcheinen ließ, war für die Oeſter-
reicher natürlich nur ein Grund mehr zur Verdammniß. Dazu der
Abſcheu dieſer verweichlichten und verzärtelten ariſtokratiſchen Welt gegen
die derben akademiſchen Sitten, von deren Roheit man ſich in der Hof-
burg Wunderdinge erzählte: ſogar Arndt war nach Metternichs Mei-
nung ein wüſter Trunkenbold. Dazu endlich und vor Allem die memmen-
hafte Furcht: ſelbſt der Hahnenſchrei und das Schnattern der Gänſe,
ſelbſt das Rollen des Donners und alle die andern Schreckniſſe, mit
denen die grauſame Natur die reizbaren Nerven des Wiener Hofpubli-
[464]II. 8. Der Aachener Congreß.
ciſten beunruhigte, regten ihn nicht ſo fieberiſch auf wie der Anblick
eines bärtigen Studenten. In Heidelberg ward ihm ſogar die Freude an
der ſchönen Landſchaft, faſt das einzige jugendliche Gefühl, das er ſich
in ſeinem fröſtelnden Herzen noch bewahrt hatte, ganz verdorben, denn
auf den Straßen zeigten ſich „die grotesken und widerlichen Figuren, die
in ſchmutzigen altdeutſchen Trachten, Gott und den Menſchen ein ge-
rechter Gräuel, mit Büchern unter dem Arme, die falſche Weisheit ihrer
ruchloſen Profeſſoren einholen gingen.“ Auch dieſer Gräuel mußte jetzt
ein Ende nehmen; eine große Denkſchrift über die Reform der Univer-
ſitäten war bereits in Arbeit. Der Congreß bot die Mittel zur Ver-
ſtändigung mit dem preußiſchen Hofe, und dann ſollte der Bundestag
die vernichtenden Schläge gegen die Demagogen führen. Unterdeſſen
ward das Publikum durch einen orakelhaften Artikel des Oeſterreichiſchen
Beobachters nachdrücklich zum Vertrauen auf die Weisheit der verbün-
deten Monarchen vermahnt: „Erhaltung, nicht Auflöſung oder Umſturz
wird jeden ihrer Schritte bezeichnen.“ —


Um den Bundestag gefügig zu ſtimmen nahmen Metternich und
Gentz ihren Weg über Frankfurt und fanden dort bei den bedienten-
haften kleinen Diplomaten, welche Gentz im Kreiſe der Eingeweihten
kurzweg als Geſindel zu bezeichnen pflegte, einen glänzenden, alle Er-
wartungen überbietenden Empfang. Seinem Kaiſer meldete Metternich
triumphirend: ſeit ſeinem Erſcheinen in Frankfurt habe ſich „eine mora-
liſche Revolution am Bundestage vollzogen; ganz unglaublich, auf welcher
moraliſchen Höhe der kaiſerliche Hof jetzt ſtehe.“ An ſeine Gemahlin
ſchrieb er noch weit prahleriſcher: „Ich bin eine Art moraliſcher Macht
geworden in Deutſchland und Europa; ich bin nach Frankfurt gekommen
wie der Meſſias um die Sünder zu erlöſen“ — und verſicherte dann, die
zwölf Tage ſeiner Anweſenheit hätten genügt um am Bundestage Alles
zu erledigen, was niemals fertig zu werden ſchien. In Wahrheit ließ
ſich der Bundestag in ſeinem geſunden Schlafe durchaus nicht ſtören;
die Geſandten trieben das beliebte Verſteckenſpiel mit der Einholung
neuer Inſtruktionen fröhlich fort, und von allen den unerledigten Ge-
ſchäften der Bundesverſammlung wurde nur ein einziges durch Metter-
nichs Eingreifen um einen winzigen Schritt weiter gebracht, die Ver-
handlung über das Bundesheer.


Noch immer ſtritt man ſich über die Zuſammenſetzung der gemiſch-
ten Armeecorps, noch immer behaupteten die Mittelſtaaten hartnäckig,
daß Kurheſſen zu Süddeutſchland gehöre, und ſoeben hatte Wangenheim
den Zorn der beiden Großmächte erregt durch eine Reihe biſſiger
„Notamina“ zur Bundeskriegsverfaſſung, welche den Hintergedanken der
deutſchen Trias deutlich durchſchimmern ließen. Als Metternich den
Württemberger ernſtlich zur Rede ſtellte, enthüllte ihm dieſer in einer
kindlich offenherzigen Antwort (16. Sept.) ſeine geheimſten Pläne. „Die
[465]Metternich am Bundestage.
Bundesakte“, ſchrieb Wangenheim arglos, „iſt nichts, gar nichts ohne In-
ſtitutionen, welche die Anwendung des Geſetzes und ſeine Vollziehung
verbürgen;“ nur ein Bund im Bunde kann die völlige Rechtsgleichheit
aller Bundesglieder ſichern und die rein deutſchen Staaten den euro-
päiſchen Kriegen der beiden Großmächte fern halten. Daß dieſer Bund
jemals mit dem Auslande ſich verſchwören und „etliche und dreißig
Staaten in Klein-Octav und Duodez“ über einen Eroberungsplan gegen
Preußen und Oeſterreich einig werden ſollten, iſt eine „läppiſche Beſorg-
niß politiſcher Don Quixotes.“


Metternich würdigte den unſchuldigen Briefſchreiber keiner Erwi-
derung, ſondern ſuchte ſofort eine Verſtändigung mit Preußen; wenn
nur die Einheit des Bundesheeres, und damit der öſterreichiſche Ober-
befehl geſichert blieb, ſo kam ihm auf die Zuſammenſetzung der gemiſch-
ten Armeecorps wenig an. Er begab ſich von Frankfurt nach ſeinem
herrlichen Dotationsgute, dem Johannisberg, wo er die einträglichen
Rebgärten der alten Fuldaer Fürſtäbte mit großer Sorgfalt pflegen, ihre
Feſtſäle unanſtändig kahl und häßlich wieder herſtellen ließ. Dort hielt
er am 17. Sept., von Langenau unterſtützt, eine große Berathung mit
Hardenberg, Goltz und Wolzogen, welche zur Annahme der preußiſchen
Vorſchläge führte: außer drei öſterreichiſchen, drei preußiſchen und einem
bairiſchen Armeecorps ſollten drei gemiſchte Corps gebildet werden, ein
achtes für Sachſen, Württemberg und Baden, ein neuntes für beide
Heſſen, Naſſau und Thüringen, ein zehntes für Hannover und die
niederdeutſchen Kleinſtaaten. Der preußiſche Staatskanzler war über-
glücklich. Hundertmal getäuſcht wollte er die Traumgebilde ſeiner dua-
liſtiſchen Politik auch jetzt noch nicht aufgeben und meldete ſeinem Könige,
nunmehr ſei es gewiß, daß ganz Norddeutſchland außer Sachſen im
Kriegsfalle unter Preußens Führung ſtehen werde.*) Und doch hatte
man über eine Zweitheilung des Bundesheeres kein Wort verabredet,
vielmehr war Oeſterreich feſt entſchloſſen, von dem früheren Bundesbe-
ſchluſſe, welcher die Ernennung eines einzigen Bundesfeldherrn vorſchrieb,
niemals abzugehen. In Frankfurt währte unterdeſſen der alte Zank
unaufhaltſam fort, die beiden Heſſen wollten durchaus in das Armee-
corps der ſüddeutſchen Mittelſtaaten eintreten. Aber da der König von
Württemberg über das eigenmächtige, herausfordernde Gebahren ſeines
heißblütigen Geſandten denn doch erſchrak**) und die beiden Heſſen nur
lau unterſtützte, ſo wurde endlich die Johannisberger Vereinbarung von
dem militäriſchen Ausſchuß angenommen und am 12. Oktbr. der Ent-
wurf der „Grundzüge der Kriegsverfaſſung des Deutſchen Bundes“ dem
Bundestage vorgelegt.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 30
[466]II. 8. Der Aachener Congreß.

Alſo nach zwei Jahren ein Entwurf der Grundzüge — welch ein
ſchimpflicher Gegenſatz zu dem patriotiſchen Einmuth der franzöſiſchen
Kammern, die allen Parteihader ſofort vergaßen wenn die Stärke des
Heeres in Frage ſtand! Ob und wann der Bundestag den Entwurf
ſeines Ausſchuſſes genehmigen würde, blieb noch völlig zweifelhaft, da
nunmehr wieder der anmuthige Zeitvertreib der Inſtruktionseinholung
begann; wer den Charakter dieſer Verſammlung kannte, mußte vorher
wiſſen, daß die unveränderte Annahme ganz undenkbar war. Metternich
aber in ſeiner unerſättlichen Eitelkeit hatte die Stirn ſeinem Kaiſer zu
ſchreiben: in dem Augenblicke der Räumung Frankreichs erlebe Deutſchland
die Genugthuung, daß ſeine Kriegsverfaſſung vollendet, ſeine Wehrfähigkeit
geſichert ſei — und empfing dafür den Dank des Monarchen, weil er
„die Militärangelegenheit dem erwünſchten Ende zugeführt habe“. Neun
Tage nachdem er dieſen Lobſpruch eingeſtrichen hatte, geſtand er dem
Staatskanzler vertraulich (5. Nov.), alle Verhandlungen des Bundestags
über das Heerweſen ſeien bisher „nur Vorarbeiten“ geweſen!*)


So geringfügig das unmittelbare Ergebniß ſeines Frankfurter Aufent-
haltes blieb, eine Befeſtigung ſeines Anſehens hatte Metternich allerdings
erreicht. Er galt jetzt allgemein als das weiſe Haupt der deutſchen
Staatsmänner, ſelbſt Wangenheim nannte ihn einen Heros der Politik.
Und als nun gar Kaiſer Franz ſelber den Rhein hinab reiſte, da erdröhnte
in den alten Krummſtabslanden ein Jubel, der unwiderſprechlich be-
wies, daß der Preußenhaß der Rheinländer nicht im Liberalismus, ſon-
dern in der clericalen Geſinnung wurzelte. Stundenweit waren ihm die
Kölner entgegengezogen; Franz aber ließ ſich die Huldigungen mit ſchlecht
verhehlter Schadenfreude wohl gefallen und ſchrieb unter einen Bericht
Metternichs, der ihm von der Kaiſertreue des Rheinlands erzählte, zu-
frieden ſein: „Dient zur angenehmen Wiſſenſchaft.“ In dem bigotten
Aachen wurde der Oeſterreicher wo er ſich zeigte mit ſtürmiſchem Hochruf
begrüßt, um den König und den Czaren kümmerte ſich Niemand; „der
Kaiſer, ſagte man laut, iſt hier in ſeinem Land, de Prüß iſt hier fremd.“
Als König Friedrich Wilhelm ſeinen öſterreichiſchen Gaſt in das Münſter
führte, empfing die geſammte Cleriſei den Kaiſer am Portale — wie der
Oeſterreichiſche Beobachter in einem unverſchämten Artikel behaglich ſchil-
derte — und geleitete ihn zum Grabe Karls des Großen, wo ein Bet-
ſtuhl für ihn bereit ſtand und ihm die berühmten Reliquien dargereicht
wurden; währenddem ſtand der evangeliſche Landesherr dieſer Geiſtlichen
mit ſeinem Kronprinzen unbeachtet zur Seite. Welch ein Auftritt! Dank
und Ehrfurcht für dieſen Lothringer, der die Krone der Karolinger in
den Koth geworfen hatte, hier am Grabe des erſten Kaiſers, in derſelben
alten Krönungsſtadt, wo er vierzehn Jahre zuvor eidbrüchig dem Kaiſer-
[467]Kaiſer Franz am Rhein.
thum des Uſurpators ſeine Huldigung dargebracht; und freche Gering-
ſchätzung der Unterthanen gegen den edlen deutſchen Fürſten, der dieſer
Weſtmark das fremde Joch vom Nacken genommen und ihr nach viel-
hundertjährigem Elend zuerſt wieder den Segen eines rechtſchaffenen deut-
ſchen Staates brachte. Wahrlich, ein Geſchlecht, das ſo empfand, war
noch nicht reif für die Einheit. —


Ganz ohne Kämpfe ſollten die Verhandlungen des Congreſſes nicht
verlaufen, doch ward der Gegenſatz der Meinungen niemals ſchroff und
gefährlich, da alle Mächte einen neuen Ausbruch des Kraters der Revo-
lution in Frankreich gleichmäßig fürchteten. Wohl hatte der Czar ſeinen
Pozzo di Borgo eigenmächtig, dem Beſchluſſe der Pariſer Geſandtencon-
ferenz zuwider, nach Aachen berufen, aber Metternich bemerkte bald, daß
Alexander ſelbſt mit der franzöſiſchen Geſinnung ſeines Geſandten keines-
wegs übereinſtimmte. Der Kaiſer betrachtete die inneren Zuſtände Frank-
reichs mit ſchwerer Beſorgniß und ließ ſich durch Richelieus Betheuerungen
nicht bekehren; bei allem Wohlwollen für die Bourbonen wollte er den
Bund der vier Mächte, der ſeine Spitze gegen die Revolution in Frank-
reich richtete, nicht gänzlich aufgeben. Erhaltung des Friedens, der Ord-
nung, der chriſtlichen Sitte und, wenn es noth thue, gemeinſamer Kampf
gegen die Hydra des Aufruhrs — das war das Programm, das er, zu
Metternichs Erleichterung, in ſalbungsvollen Reden wieder und wieder
entwickelte. Zudem nahm Pozzo an den amtlichen Sitzungen nicht theil.
Die Bevollmächtigten waren: Caſtlereagh und Wellington, Metternich,
Hardenberg und Bernſtorff, Kapodiſtrias und Neſſelrode. Das Protokoll
führte Gentz; der ſchwamm in einem Meere des Entzückens und fand kaum
Worte genug um ſeinem Vertrauten Pilat die erfreuliche Sinnesänderung
des Czaren zu ſchildern und die muſterhafte Eintracht der Cabinette und
das reiche Lob, das ſeiner Feder geſpendet ward, und die 6000 Dukaten
Geſchenke, die in ſeine unergründliche Taſche floſſen. Der franzöſiſche
Bevollmächtigte Richelieu erſchien vorläufig nur in einzelnen Sitzungen,
auf beſondere Einladung.


Ueber die Räumung Frankreichs einigte man ſich ſchon am dritten
Tage des Congreſſes, am 1. Oktober, und bereits am 9. wurde mit
Richelieu ein Vertrag geſchloſſen, der den Abmarſch des Beſatzungsheeres
bis zum 30. November zuſagte. Ich habe genug gelebt, da ich Frankreich
frei geſehen habe, ſchrieb König Ludwig dankbar ſeinem Miniſter. Für
die Abzahlung des Reſtes ihrer Kriegsſchulden — 265 Mill. Fr. — ſetzte
man den Tuilerien eine Friſt von neun Monaten. Umſonſt hatte Harden-
berg ſofortige Zahlung gefordert, da das gänzlich erſchöpfte Preußen kaum
noch länger warten konnte und die franzöſiſchen Rentenbriefe ſtets unver-
züglich, ſobald ſie eingingen, zu ungünſtigem Kurſe verkaufen mußte. Die
30*
[468]II. 8. Der Aachener Congreß.
anderen drei Mächte verwarfen den Vorſchlag, weil ſie die öffentliche
Meinung in Frankreich nicht reizen wollten,*) und allerdings hätten die
Bourbonen der preußiſchen Forderung ſchwerlich genügen können. Die
beiden neuen Anleihen von zuſammen 120 Mill., welche Frankreich zur
Abtragung der erſten Raten ſeiner Schuld ausſchrieb, warfen einen pani-
ſchen Schrecken unter die Geſchäftswelt, und noch während des Congreſſes
brach in Paris und dann in Amſterdam eine ſo bedenkliche Börſenkriſis
aus, daß die Mächte, auf Richelieus Bitten und Wellingtons Verwen-
dung, noch zweimal eine Verlängerung der Zahlungsfriſt — zuletzt bis
zum Juni 1820 — bewilligten. Beide male widerſprach Preußen vergeblich.


Schwieriger geſtalteten ſich die Verhandlungen über Frankreichs künf-
tige Stellung zu den vier Mächten. Richelieu wünſchte kurzweg die Auf-
nahme ſeines Staates in den Bund der Vier, dergeſtalt, daß die euro-
päiſche Pentarchie, wie ſie in den drei Jahrzehnten vor der Revolution
thatſächlich beſtanden, als eine rechtlich anerkannte Ordnung erneuert
würde; die Fortdauer des Vierbundes, verſicherte er wiederholt, könne in
Frankreich nur als eine Beſchimpfung aufgefaßt werden und den Krieg
oder die Revolution herbeiführen. Eine Zeit lang ſchien es, als ob Ruß-
land dieſen Wünſchen entgegenkommen wolle; im vertraulichen Geſpräche
nannte Kapodiſtrias den Vierbund einen vierköpfigen Bonaparte, deſſen
Tyrannei gebrochen werden müſſe. Am 8. Okt. überreichten die ruſſiſchen
Bevollmächtigten eine Denkſchrift, die nach Bernſtorffs treffendem Urtheil
an Ausdehnung, Dunkelheit und Schwülſtigkeit Alles übertraf, was je
aus Petersburg gekommen war.**) Sie feierte in apokalyptiſcher Sprache
das neue, von der Vorſehung ſelbſt gegründete Syſtem des Friedens, das
gleich der Wahrheit, einmal anerkannt und in die Herzen der Menſchen
eingegraben, ſeine Macht nie wieder verlieren könne, und forderte ſodann
den Eintritt Frankreichs in den Vierbund, der „nur der Mittelpunkt des
allgemeinen Bundes oder des europäiſchen Syſtems“ ſei. Aber daneben
ſtanden drohende, ja feindſelige Aeußerungen gegen Frankreich: wenn dieſe
Macht je wieder der Revolution anheimfiele, dann ſcheide ſie von ſelbſt
aus dem allgemeinen Bunde aus.


Das ſeltſame Schriftſtück gab ein getreues Bild von den wider-
ſprechenden Wünſchen, welche ſeit der großen Schwenkung des letzten
Sommers den beweglichen Geiſt des Czaren beherrſchten: der Stifter der
heiligen Allianz wäre erſichtlich gern das anerkannte Haupt eines allge-
meinen europäiſchen Bundes geworden, aber auf den erprobten Vierbund,
der die Mächte der Revolution in Schach hielt, wollte er doch auch nicht
ganz verzichten. Dem gegenüber dachten die beiden hochconſervativen
[469]Frankreichs Eintritt in die Allianz.
Mächte Oeſterreich und England vor Allem das Beſtehende, den Vierbund
aufrechtzuhalten, etwa mit gelegentlicher Zuziehung Frankreichs; Metternich
wie Caſtlereagh konnten das Mißtrauen gegen Rußlands Ehrgeiz und die
Furcht vor jeder Neuerung nicht überwinden. Ueberdies befürchtete Lord
Liverpool heftige Kämpfe mit den Whigs, falls ſeine Amtsgenoſſen einen
förmlichen Vertrag unterſchrieben, und verbarg ſeine Angſt hinter der
hochtrabenden Mahnung: „die Verbündeten mögen nicht vergeſſen, daß
die allgemeine und europäiſche Erörterung dieſer Fragen im engliſchen
Parlamente ſtattfinden wird.“ Im Schooße ſeines eigenen Cabinets erhob
ſich bereits eine Stimme des Widerſpruchs; das jüngſte Mitglied des
Miniſteriums, Georg Canning, vertrat ſchon die Anſicht, daß der Inſel-
ſtaat den Angelegenheiten des Feſtlandes, ſoweit ſie nicht den engliſchen
Handel berührten, fern bleiben ſolle. Preußen ſtand zwiſchen beiden Par-
teien in der Mitte und bemühte ſich um einen Ausgleich, deſſen Be-
dingungen in der That nahe lagen. Der Vierbund beſtand unzweifelhaft
noch zu Recht; ihn aufzuheben war jetzt nicht rathſam, da der Zuſtand
Frankreichs ſo wenig Vertrauen erweckte und in dem Königreich der Nieder-
lande bereits ein Kampf zwiſchen Nord und Süd entbrannt war, der den
Zerfall dieſes künſtlichen Staatsgebildes anzukündigen ſchien. Anderer-
ſeits ließ ſich dem Tuilerienhofe, nachdem er alle Bedingungen des Frie-
dens erfüllt hatte, die Theilnahme an den Berathungen der europäiſchen
Mächte billigerweiſe nicht mehr verſagen. Gab es kein Mittel, um beide
Zwecke zugleich zu erreichen, um Frankreich in das europäiſche Concert
aufzunehmen und zugleich den Bund der Vier von Neuem zu befeſtigen?


Auf dies zweifache Ziel war Preußens Vermittlung gerichtet, und
ſchon nach wenigen Tagen hatten ſich die beiden Parteien einander ge-
nähert. Am 14. Oktober ſchlug Kapodiſtrias in einer neuen Denkſchrift
vor: es ſolle durch ein geheimes Protokoll der vier Mächte der Vierbund
abermals beſtätigt und die Rüſtung für den Fall des Krieges gegen
Frankreich im Einzelnen verabredet werden; hierauf ſei Frankreich zum
Anſchluß an die Union der Mächte einzuladen und der vollzogene Beitritt
den übrigen Staaten Europas anzuzeigen als ein Beweis „der Einheit,
der brüderlichen und chriſtlichen Freundſchaft“ der Monarchen*). Damit
waren die Grundlagen für die Verſtändigung bereits gegeben. Indeß ge-
riethen die Verhandlungen für einige Tage ins Stocken, weil der Czar und
der König auf Richelieus dringende Bitten einen Abſtecher nach Paris
unternahmen; der greiſe Bourbone wünſchte ſeiner Nation zu zeigen, daß
die Verbündeten ihn als einen völlig gleichberechtigten Bundesgenoſſen be-
trachteten. Unterwegs wurde bei Sedan eine Heerſchau über das preußiſche
Beſatzungscorps abgehalten, auf demſelben Gefilde, das die ſchwarzen
[470]II. 8. Der Aachener Congreß.
Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerien
zeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen
Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war,
mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe-
tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende
Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach
Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche
für Frankreich nichts Gutes verhieß.


Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam-
mern hatten keinem einzigen Ultraroyaliſten ein Mandat gebracht, da-
gegen waren ſelbſt in den Hochburgen der legitimiſtiſchen Partei, in der
Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel
gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariſer Börſe.
Frankreichs Zukunft erſchien Allen unſicherer denn je, und mit Nachdruck
hob Metternich in einer Denkſchrift vom 1. November hervor, daß dieſes
Land ſich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen
Mächte. Niemand wolle das ruhige und conſtitutionelle Frankreich be-
drohen; aber dieſer Staat ſei aus einer Revolution hervorgegangen und
von Parteien zerriſſen; es beſtehe zwiſchen den vier Mächten eine Ver-
pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen
verfallen ſollte, „eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat
beſteht“; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein-
treten, zumal da es an einem casus foederis fehle, ſondern nur zur
Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden.
Dieſe Anſicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form
als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob*), und hierauf wurde
der Allerchriſtlichſte König durch eine ſchmeichelhafte Note der vier Mächte
an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan ſeine Rathſchläge mit den
ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der franzöſiſche Miniſter in einer
Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit ſeines Königs für dieſen neuen
Beweis von Vertrauen und Freundſchaft und verſprach, daß Frankreich
ſich „mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit“ an die Union der Mächte
anſchließen werde.


Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte
ein Protokoll, worin ſie den Beitritt Frankreichs zu dem Syſteme des
allgemeinen Friedens feierlich ausſprachen und zugleich ſich verpflichteten,
von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, perſönliche Zuſammenkünfte zur
gemeinſamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; ſollten auf
dieſen Zuſammenkünften die Intereſſen anderer Mächte zur Verhandlung
[471]Geheime Erneuerung des Vierbunds.
kommen, ſo würde dies nur auf förmliche Aufforderung und unter Mit-
wirkung der betheiligten Staaten geſchehen. Dies Protokoll wurde allen
europäiſchen Höfen mitgetheilt nebſt einer Declaration (v. 15. Nov.), einem
Meiſterwerke Gentziſcher Stiliſtik, deſſen glänzende Form freilich den dürf-
tigen Inhalt kaum verhüllen konnte. „Der Zweck dieſer Verbindung,
hieß es da, iſt ebenſo einfach als wohlthätig und groß. In ihrem feſten
und ruhigen Gange ſtrebt ſie nach nichts als nach Aufrechthaltung des
Friedens und Gewährleiſtung aller der Verhandlungen, durch welche er
geſtiftet und bekräftigt worden iſt. Die Souveräne erkennen feierlich an,
daß ihre Pflicht gegen Gott und gegen die Völker, welche ſie beherrſchen,
ihnen gebietet, der Welt, ſo viel an ihnen iſt, das Beiſpiel der Gerechtig-
keit, der Eintracht, der Mäßigung zu geben.“


So war denn Frankreich ſcheinbar in den Bund der vier Mächte
aufgenommen, und der wackere Richelieu, deſſen ritterliche Haltung auf
dem Congreſſe allgemein gefiel, erlebte die Genugthuung, daß ihm die
unwiſſende Preſſe nachrühmte, er habe nicht nur den franzöſiſchen Boden
befreit, ſondern auch die europäiſche Pentarchie erneuert. In Wahrheit
hatte Frankreich nichts davon getragen als einen ziemlich werthloſen Be-
weis diplomatiſcher Höflichkeit. Die Bourbonen konnten fortan erwarten,
daß ihre Bevollmächtigten zu den Zuſammenkünften der vier Verbündeten
zugezogen würden, aber ein Vertrag war nicht geſchloſſen, der Name
Fünferbund abſichtlich vermieden. Dagegen verſammelten ſich die Ver-
treter der vier Mächte noch an demſelben 15. November, da ſie die Decla-
ration an die europäiſchen Höfe erließen, zu einer vertraulichen Sitzung
und erklärten in einem geheimen Protokolle, daß ihr in Chaumont abge-
ſchloſſener, in Paris auf unbeſtimmte Zeit erneuerter Bund unverändert
fortbeſtehe; nur um Frankreich und die übrigen Staaten nicht zu er-
ſchrecken, ſollte der Fortbeſtand der Quadrupel-Allianz geheim gehalten
werden. Die vier Mächte blieben mithin verpflichtet, einander mit je
60,000 Mann mindeſtens ſofort zu unterſtützen falls in Frankreich eine
Revolution ausbräche oder die Bonapartes zurückkehrten oder ſonſt eine
Kriegsgefahr ſich zeigte. Sie behielten ſich vor, nöthigenfalls in beſon-
deren Zuſammenkünften (réunions spéciales) die Maßregeln zu verab-
reden, welche „den verhängnißvollen Folgen eines neuen Umſturzes in
Frankreich zuvorkommen können“.*)


In derſelben Sitzung übergab der geheime militäriſche Ausſchuß der
vier Mächte, der unter Wellingtons Vorſitz tagte, ſeinen Plan für die
Aufſtellung der verbündeten Streitkräfte. Nach dieſem „militäriſchen Pro-
tokoll“ ſollten, ſobald die vier Mächte ausgeſprochen hätten, daß der
casus foederis et belli gegeben ſei, binnen zwei Monaten die engliſchen
Truppen um Brüſſel, die Preußen um Köln, die Oeſterreicher um Stutt-
[472]II. 8. Der Aachener Congreß.
gart, die Ruſſen binnen drei Monaten um Mainz verſammelt ſein. Von
den belgiſchen Feſtungen beſetzt England die weſtlichen, Oſtende, Ypern
und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und
Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. ſ. w. Die kleinen deutſchen
Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi-
ſchen Lage unter die verſchiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes-
heer noch immer nicht beſtand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann
mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zuſtimmung
des Königs der Niederlande einholen.*)


Den preußiſchen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge-
ſchehen. Sie täuſchten ſich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des
gerühmten niederländiſchen „Polſterkiſſens“, das nach der Abſicht des
Wiener Congreſſes den erſten Stoß der franzöſiſchen Heere auffangen
ſollte; ſie kannten den kläglichen Zuſtand der niederländiſchen Armee und
wußten, daß ſie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen
fünfzig Feſtungen und Forts zu bewachen, welche Wellington ſoeben mit
Hilfe der franzöſiſchen Contributionsgelder an der belgiſchen Grenze aus-
bauen ließ. Preußen beabſichtigte daher als der zunächſt bedrohte Nach-
barſtaat am Niederrhein ein ſtehendes Obſervationscorps aufzuſtellen, das
gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein-
rücken ſollte. Um mit dem niederländiſchen Hofe das Nähere zu ver-
abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüſſel geſendet;
aber eine ſolche Schmälerung ſeiner Souveränität wollte König Wilhelm
ſchlechterdings nicht zugeben. Schon ſeit Jahren hatte der Oranier, der
ſeinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, ſeine Vorliebe für
Frankreich, ſeinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er,
weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus beſucht hatte,
und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl
in der Bundesfeſtung Luxemburg beanſpruchte; und als der preußiſche
Unterhändler nun gar auf die ſchwierige Stimmung der Belgier warnend
hinwies, da fühlte ſich der Brüſſeler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts
wiſſen von dem furchtbaren, täglich wachſenden Grolle der katholiſchen
Belgier wider die holländiſchen Ketzer und ſah ſich in ſeinem verblendeten
Hochmuth beſtärkt durch den engliſchen Geſandten Lord Clancarty, der dies
künſtliche Königreich, dies Meiſterwerk engliſcher Staatsweisheit nicht
genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zuſtände in Belgien
ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engliſcher Beſcheiden-
heit: möge nur Preußen dem guten Beiſpiel, das die Holländer in Bel-
gien geben, folgen und ſeine neuen Provinzen ebenſo muſterhaft regieren;
dann wird für die preußiſchen Rheinlande nichts mehr zu fürchten ſein!
[473]Geheimer Kriegsplan gegen Frankreich.
Solchen Köpfen vermochte Müffling allerdings nicht zu erweiſen, wie
wichtig der freundnachbarliche Vorſchlag Preußens für die Erhaltung des
niederländiſchen Geſammtſtaats werden konnte. Er verbrachte den ganzen
Winter in unerquicklichen Verhandlungen und kehrte im Frühjahr unver-
richteter Dinge heim.


So gelangten zwar nicht alle Pläne der Aachener Verbündeten zur
Vollendung. Aber das Weſentliche war erreicht; die Quadrupel-Allianz
blieb aufrecht, feſter, einträchtiger denn je zuvor. Frankreich dagegen
unterlag noch immer der polizeilichen Aufſicht der vier Mächte, obwohl
die Pariſer Geſandtenconferenz nunmehr, der Form halber, aufgelöſt
wurde.*) Jeden Augenblick, ſobald der Parteikampf in Frankreich bedroh-
lich zu werden ſchien, konnte der Rath der Vier zuſammentreten und
nach dem verabredeten Plane ſofort zur bewaffneten Intervention ſchreiten.
Richelieu erhielt nur die vertrauliche Mittheilung, daß der Vierbund nicht
aufgelöſt ſei, und hütete ſich wohl dies dem franzöſiſchen Selbſtgefühle ſo
peinliche Geheimniß zu verrathen. Von dem Ernſt und dem Umfang der
getroffenen Vorſichtsmaßregeln ahnte er gar nichts; ebenſo wenig von der
veränderten Geſinnung des Czaren Alexander, dem er alle ſeine Dank-
barkeit zuwendete. Entzückt ſchrieb er über den ruſſiſchen Monarchen: „man
ſollte die Spuren ſeiner Füße küſſen;“ er wußte nicht, daß grade dieſer Wohl-
thäter Frankreichs den Verbündeten zuerſt die Einſetzung eines militäriſchen
Ausſchuſſes vorgeſchlagen und bei den Verhandlungen über das Heerweſen
der Coalition ſich neben den Preußen am Allereifrigſten gezeigt hatte.


Wie viele Demüthigungen mußte doch das ſtolze Frankreich auf dieſem
Congreſſe hinnehmen. Auch nachdem der franzöſiſche Miniſter zur regel-
mäßigen Mitwirkung eingeladen war, hörten die Sitzungen des Vier-
bundes nicht auf; von den 47 Sitzungen des Congreſſes fanden fünfzehn,
faſt ein Drittel, ohne Richelieus Theilnahme ſtatt. Am Jahrestage der
Leipziger Schlacht veranſtalteten die Verbündeten ein glänzendes Feſt, dem
ſich der franzöſiſche Miniſter und ſein Gefolge nur durch eine plötzliche
Reiſe entziehen konnten; und welche ſonderbare Rolle ſpielte nachher der
Herzog von Angouleme, als er incognito auf kurze Zeit in Aachen er-
ſchien, um den Pariſer Beſuch den beiden Monarchen zurückzugeben. Die
unwürdige Stellung Frankreichs im hohen Rathe Europas war die natür-
liche Folge der Sünden der hundert Tage; wer durfte den vier Mächten
verargen, wenn ſie einer neuen Störung des Weltfriedens, der dieſer
todmüden Zeit ſchlechthin als der Güter höchſtes galt, mit jedem Mittel
vorzubeugen ſuchten? Doch auf die Dauer konnte eine große Nation eine
ſo beſchämende Behandlung unmöglich ertragen.


Im Verlaufe dieſer Unterhandlungen enthüllte ſich auch das letzte
Ziel, welches dem Czaren bei allen den räthſelhaften Wendungen ſeiner
[474]II. 8. Der Aachener Congreß.
Politik vorſchwebte. Alexander wünſchte außer der Fortdauer des Vier-
bundes, deſſen Wirkſamkeit er auf den Kriegsfall zu beſchränken dachte,
auch den Abſchluß eines allgemeinen europäiſchen Garantie-Vertrages.
Dieſen Einfall verdankte er einer ſchwülſtigen Denkſchrift Ancillons, einer
Privat-Arbeit, welche der unterthänige Vielſchreiber dem Czaren vermuth-
lich ſchon auf der Durchreiſe in Berlin überreicht hatte. Ancillon ver-
herrlichte darin die heilige Allianz, „dieſen Vertrag, der allein genügen
würde die gegenwärtige Epoche unſterblich zu machen,“ und ſchilderte ſo-
dann mit gewohnter Geſchwätzigkeit, wie auf die beiden Epochen des
Gleichgewichts und des revolutionären Weltreichs nun endlich die glück-
liche Zeit gefolgt ſei, welche „die ebenſo einfache als erhabene Idee der
europäiſchen Familiengeſellſchaft“ begriffen habe. Um dieſe Idee zu ver-
wirklichen, müßten die fünf großen Mächte allen Staaten Europas ihren
gegenwärtigen Beſitzſtand ſolidariſch gegen jede gewaltſame Störung ver-
bürgen und auf regelmäßigen Congreſſen von Zeit zu Zeit die nothwendi-
gen Aenderungen des Beſtehenden friedlich beſchließen. „Es kommt darauf
an, fügte Bernſtorff erklärend hinzu, der durchſichtigen Seele der heiligen
Allianz einen feſten Körper zu geben oder dieſe weſenloſe Pſyche mit der
wahren befruchtenden Liebe und Gerechtigkeit zu vermählen.“


So ſollte denn jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die er-
mattete Welt beherrſchte, durch das gemeinſame Protectorat der Großmächte
ins Leben eingeführt werden und die europäiſche Union in den regelmäßig
wiederkehrenden Zuſammenkünften der fünf Monarchen eine ſtändige
Centralgewalt erhalten; alſo geſtaltet hätte der Welttheil die Form eines
Bundesſtaates angenommen, eine Verfaſſung, die ſich mit der berechtigten
Unabhängigkeit der Einzelſtaaten nicht mehr vertrug. An dieſen bedenk-
lichen Vorſchlag ſchloß Ancillon noch einen zweiten ſchlechthin verwerflichen,
der das Syſtem der gemeinſamen Friedenswahrung gradezu verfälſchte
und das europäiſche Protectorat zu einem Werkzeuge reaktionärer Partei-
politik herabzuwürdigen drohte. Die Denkſchrift verlangte, daß die großen
Mächte ſich verpflichteten überall die legitime Souveränität aufrecht zu
erhalten, und erläuterte dieſen Satz dahin: die Aenderung einer Ver-
faſſung durch den Souverän kann niemals eine Intervention der großen
Mächte veranlaſſen, wohl aber ein Umſturz oder eine Bedrohung der
legitimen Souveränität. Alſo nicht die Wahrung des Rechts und des
Friedens gegen Jedermann ſollte dem großen Friedensbunde obliegen,
ſondern die Vertheidigung der Throne gegen die Völker. Damit war ein
verhängnißvolles Wort geſprochen, das die Politik Metternichs ſich nur
zu bald gelehrig aneignete.*)


Vorderhand blieb ein ſo vollſtändiger Triumph der reaktionären Partei
noch unmöglich. Oeſterreich und Preußen zeigten ſich zwar bereit auf
[475]Plan eines allgemeinen Garantie-Vertrags.
eine allgemeine gegenſeitige Gewährleiſtung des europäiſchen Beſitzſtandes
einzugehen; denn der friedensſeligen Welt war jedes Mittel zur Wahrung
des Beſtehenden willkommen, und Metternich hoffte insgeheim, die all-
gemeine Garantie werde den beiden Ehrgeizigen, die er am meiſten fürch-
tete, dem Czaren und dem preußiſchen Heere, einen Zaum anlegen. Aber
Lord Caſtlereagh widerſprach entſchieden. Mit einem ſo weit ausſehenden
Vertrage durfte er dem Parlamente nicht unter die Augen treten; der
Plan lief auf die Befeſtigung der Heiligen Allianz hinaus und konnte
alſo nur ihrem Stifter, der den Briten längſt zu mächtig war, zu gute
kommen. Auch die regelmäßigen Congreſſe erſchienen der inſulariſchen
Politik unannehmbar; nur auf gelegentliche Zuſammenkünfte, je nach Zeit
und Umſtänden, wollte ſie ſich einlaſſen. Der Lord blieb unerſchütterlich,
und da auch die beiden deutſchen Mächte ſich geſtehen mußten, daß die
handfeſte Quadrupel-Allianz mit ihren klaren, greifbaren Verpflichtungen
den europäiſchen Frieden ungleich wirkſamer ſicherte als der nebelhafte
Heilige Bund, ſo wurde die Berathung über den Garantievertrag vor-
läufig vertagt. Der Czar aber hielt die Hoffnung feſt, daß die zarte
Pſyche ſeines Lieblingswerkes dereinſt noch einen Körper gewinnen ſollte,
erinnerte ſeine Geſandten in einem Rundſchreiben nochmals an die Grund-
ſätze der heiligen Allianz und erklärte zum Abſchied nachdrücklich: er ſei
bereit ſich jedem Garantie-Vertrage anzuſchließen, welchen eine der vier
Mächte auf Grund der Ancillon’ſchen Denkſchrift noch vorſchlagen würde.*)


Auch bei manchen andern Fragen trat der alte Gegenſatz der eng-
liſchen und der ruſſiſchen Politik wieder grell hervor. Da der Negerhandel
an der braſilianiſchen Küſte nicht nachließ, ſo verlangte England das Recht,
alle des Sklavenhandels verdächtigen Fahrzeuge überall durch ſeine Kriegs-
ſchiffe durchſuchen zu laſſen; Rußland aber und die ſämmtlichen anderen
Mächte fanden dieſen Anſpruch allzu anmaßend, und Caſtlereagh mußte
zufrieden ſein, als die drei Monarchen ſich herbeiließen, den König von
Portugal in eigenhändigen Briefen zur Abſtellung des Unweſens zu er-
mahnen.**) Andererſeits konnten Rußland und Preußen ein gemeinſames
Vorgehen gegen die Barbaresken nicht durchſetzen, weil England keine
ruſſiſchen Schiffe im Mittelmeere ſehen wollte. Ebenſo erfolglos blieb
ein Hilferuf des Madrider Hofes. Die alten Gönner der ſpaniſchen
Bourbonen, Rußland und Frankreich, wünſchten, daß England die Ver-
mittlung zwiſchen dem Könige und ſeinen aufſtändiſchen Unterthanen in
Südamerika übernehmen, wo möglich auch die Vereinigten Staaten
von der Anerkennung der neuen creoliſchen Republiken abhalten ſollte.
Wellington aber lehnte die Zumuthung ab. Er erkannte, daß König
[476]II. 8. Der Aachener Congreß.
Ferdinand nicht eine ehrliche Vermittlung wollte, ſondern einfach die
Wiederherſtellung ſeiner Herrſchaft in Südamerika; und am Ende durfte
doch ſelbſt dieſe Tory-Regierung, obwohl ſie von wirthſchaftlichen Fragen
wenig verſtand, ſich den Traditionen der britiſchen Handelspolitik nicht
ganz entziehen. England hatte durch den Abfall Südamerikas ein er-
giebiges Handelsgebiet gewonnen und konnte die Wiedervereinigung der
Kolonien mit dem ſpaniſchen Mutterlande unmöglich wünſchen.*)


Trotz ſolcher Mißhelligkeiten, die bei der Mannichfaltigkeit der eu-
ropäiſchen Intereſſen gar nicht ausbleiben konnten, war der Aachener
Congreß wohl der einträchtigſte der neuen Geſchichte; das Friedensbe-
dürfniß und die Furcht vor der Revolution hielt die Mächte feſt zu-
ſammen. Und es war wirklich ein europäiſcher Congreß, obwohl man
den Namen vermied. Stolz und ſicher ſegelte das mächtige Orlogsſchiff
des Vierbundes mit der franzöſiſchen Schaluppe im Schlepptau durch
die Wogen der Zeit. Wellington, der nunmehr auch von Preußen und
Oeſterreich den Marſchallsſtab erhielt und alſo in allen namhaften eu-
ropäiſchen Heeren, mit der einzigen Ausnahme Frankreichs, die höchſte
militäriſche Würde bekleidete, erſchien gleichſam als der Generaliſſimus
des verbündeten Europas. Die Monarchen hielten ſich feſt überzeugt,
daß ihre Vormundſchaft dem Welttheil zum Segen gereiche. Sie zogen
unbedenklich jede europäiſche Frage vor ihr Forum, obwohl ſie den
Staaten zweiten Ranges ſoeben erſt verſichert hatten, daß ihre Zuſam-
menkunft nur der Abwickelung der franzöſiſchen Angelegenheiten gelte; und
ließen ſie einmal eine Streitfrage unerledigt, ſo geſchah dies nicht, weil ſie
ſich für unbefugt gehalten hätten, ſondern weil ſie ſich nicht einigen konnten.


Da der Czar der europäiſchen Union den Charakter einer großen chriſt-
lichen Familie, im Sinne der heiligen Allianz, bewahren wollte, ſo ertheilte
der Congreß ſeine Weiſungen an die kleinen Staaten häufig durch väter-
liche Handſchreiben der drei Monarchen. Wie der König von Portugal zur
Abſchaffung des Skavenhandels, ſo wurde der König von Schweden
durch ſolche Handbillets zur Erfüllung ſeiner Pflichten gegen Dänemark
angehalten. König Friedrich Wilhelm erinnerte ſeinen nordiſchen Nachbar
ernſtlich an „die Bande chriſtlicher Brüderlichkeit, welche zwiſchen allen
Fürſten und ihren Völkern beſtehen.“ Das neue Haus der Bernadottes
aber fühlte ſich in dieſer legitimen Staatengeſellſchaft noch ſehr unſicher;
Karl Johann bewarb ſich ſchon ſeit einiger Zeit bei dem bairiſchen und an-
deren Höfen, immer vergeblich, um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger
und wußte wohl, daß die Monarchen in Aachen ſoeben einen Dotations-
fonds zum Beſten der vertriebenen Waſas gebildet hatten. Daher
beeilte er ſich der Mahnung zu entſprechen und erreichte endlich nach
ſchweren Kämpfen, daß der norwegiſche Storthing, wie billig, einen Theil
[477]Dictatur des Vierbunds.
der Schulden des früheren däniſchen Geſammtſtaates übernahm. Hart
genug kam ihm das freilich an. Einmal verſuchte er ſogar gegen die
Tyrannei des Vierbundes zu proteſtiren und ſchrieb an Kaiſer Franz
(7. Jan. 1819) mit gascogniſchem Wortſchwall: „Wahrlich, Sire, müßte
man nicht den Abgrund des Unglücks beklagen, in welchen die Völker und
die Regierungen zweiten und dritten Ranges ſtürzen würden, wenn die
Macht ſich über die geheiligten Grundſätze der Vernunft und der Ge-
rechtigkeit erheben und ſich befugt glauben wollte an die Stelle des
Völkerrechts zu treten, ja ſogar nach Belieben einen Gerichtshof für die
Streitigkeiten der Nationen zu ſchaffen, und wenn alſo ein Syſtem ent-
ſtände, ſo wenig übereinſtimmend mit jenen Grundſätzen politiſchen Frei-
ſinns, für welche ſo viel Blut vergoſſen worden iſt, und welche uns vor
ſechs Jahren gegen den Eroberer vereinigten, der den Plan gefaßt hatte
eine ſouveräne Obermacht über einer allgemeinen und vollſtändigen Knecht-
ſchaft aufzurichten?!“ Metternich aber meinte trocken, das ſeien müſſige
Discuſſionen; und da die vier Mächte als Garanten des Kieler Friedens nur
verlangten was Rechtens war, ſo mußte der Schwede ſich beugen.*) Mit
dem Fürſten von Monaco machte man noch weniger Umſtände; Richelieu
erhielt den Auftrag, im Namen der großen Allianz dieſen nichtsnutzigen
kleinen Despoten nachdrücklich zu chriſtlichem Wandel zu vermahnen.**)


So ſchaltete überall die Dictatur der großen Mächte, ſchonend in der
Form und für jetzt noch gerecht und friedfertig in ihren Abſichten, doch
immerhin eine Dictatur, die allen Nichtgenoſſen läſtig ward. Ohne die
kleinen Cabinette einer Anfrage zu würdigen, beſchloß der Congreß eine
neue Rangordnung für die Diplomatie — Botſchafter, Geſandte, Miniſter-
reſidenten, Geſchäftsträger — und die Vorſchrift ward ohne Weiteres von
allen Höfen befolgt. Auch über den gefangenen Imperator ward ver-
handelt, und hierbei zeigten ſich die Miniſter des Czaren unter Allen am
ſchroffſten. Sie verwarfen jede Schonung gegen „das Individuum, in
dem ſich die Macht der Revolution verkörpert habe“, erklärten die Be-
ſchwerden des Gefangenen für „ebenſo falſch als kindiſch“ — was in der
That zutraf —, billigten unbedingt alle Maßregeln Hudſon Lowes und
verlangten die Ausweiſung der Napoleoniden aus gefährlichen Orten,
vornehmlich aus Rom, wo „dieſe Individuen“ nur Unheil ſtifteten.***) So
weit wollten die anderen Mächte nicht gehen; man erneuerte nur die alte
Abrede ſtrenger polizeilicher Aufſicht gegen die gefährliche Familie. Zu-
letzt traten auch die unvermeidlichen Juden auf den Plan. Rußland
empfahl eine Denkſchrift eines chriſtlichen Geiſtlichen, welche ſich für die
vollſtändige Emancipation ausſprach; doch da der Czar mit nichten geneigt
[478]II. 8. Der Aachener Congreß.
war, dieſe menſchenfreundlichen Grundſätze in ſeinem Reiche zu verwirk-
lichen, ſo kam kein Beſchluß zu Stande.


Alles in Allem durfte Metternich dieſen Congreß als einen großen
Erfolg betrachten. Kein Zweifel mehr, der Czar war bekehrt, und wenn
er noch zuweilen ſeines eigenen Weges ging, liberale Anwandlungen zeigte
er nicht mehr. Nur Kapodiſtrias blieb der Hofburg noch verdächtig und
wurde, als er nach dem Congreſſe Italien bereiſte, auf Schritt und Tritt
von der k. k. Polizei bewacht. Auch Richelieu hatte zum Abſchied tröſt-
liche Zuſicherungen gegeben und ſogar eine Veränderung des Wahlgeſetzes
verſprochen; Metternich hoffte das Beſte, da er, gleich den meiſten der
Zeitgenoſſen, die Bedeutung der Wahlgeſetze weit überſchätzte. Aber der
franzöſiſche Miniſter konnte ſein Wort nicht einlöſen. Sein eigener Amts-
genoſſe Decazes trat ihm entgegen. Es kam zum Bruche. Gegen Weih-
nachten, wenige Wochen nach ſeinen Aachener Erfolgen, trat Richelieu zurück
und Herzog Decazes bildete ein neues Cabinet, das ſich mit den liberalen
Parteien freundlicher zu ſtellen ſuchte. Nachdem der erſte Schrecken ver-
flogen war, fand ſich Metternich raſch in die veränderte Lage, denn auch
der neue Miniſter mußte wiſſen, daß er unter dem Schwerte der Quadrupel-
allianz ſtand und den Independenten nicht zu weit entgegenkommen
durfte. Der Vierbund aber ward durch die Nachrichten aus Paris nur
von Neuem gekräftigt. Czar Alexander, der die erſte Kunde auf der
Heimreiſe in Wien erhielt, eilte ſofort zornglühend zu Kaiſer Franz, ver-
ſprach augenblicklich ſeine Regimenter auf den Kriegsfuß zu ſetzen, ließ ſich
nur mit Mühe beſchwichtigen.*) Die vier Mächte einigten ſich, auf Har-
denbergs Rath, zu dem Beſchluſſe, zwar jede mittelbare oder unmittel-
bare Einmiſchung in Frankreichs innere Angelegenheiten zu vermeiden,
aber ihren engeren Bund nur um ſo feſter zu ſchließen; dies ſei der
einzige Damm gegen den wüthenden Strom, welcher die Geiſter in
Frankreich von Neuem fortreiße.**) In ſolcher Lage war eine revolutio-
näre Schilderhebung nicht wahrſcheinlich. Frohlockend verkündete Gentz
ſeinen Freunden: „die Ruhe der Welt iſt auf lange, lange Zeit hinaus
geſichert.“ Mit übermüthigem Hohne zermalmte er im Oeſterreichiſchen
Beobachter die Schrift des Erzbiſchofs de Pradt über den Aachener Con-
greß, allerdings ein ſehr ſeichtes Machwerk des ſchreibſeligen Liberalen;
und als die Independenten der Pariſer Minerva über die Uneinigkeit der
großen Mächte ſpotteten, erwiderte er ihnen (Jan. 1819) drohend — was
dem großen Publikum wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam: ſie mögen
ſich’s geſagt ſein laſſen, die Quadrupelallianz, ſofern ſie gegen die Revo-
lution gerichtet iſt, beſteht noch heute!


[479]Die Kattenkrone.

Unter den mannichfachen Streitfragen, welche der Congreß in wenigen
Wochen angeſtrengter Arbeit entſchied, befanden ſich natürlich auch viele
deutſche Angelegenheiten. Manche dieſer deutſchen Händel gehörten von
Rechtswegen vor das Tribunal des Vierbundes, weil ſie in den europäiſchen
Verträgen der Kriegsjahre ihren Urſprung hatten, manche andere wurden
nur durch die unausrottbare vaterlandsloſe Geſinnung deutſcher Klein-
fürſten vor den Congreß gebracht. Preußen aber und, durch dies Vor-
gehen gezwungen, auch Oeſterreich wahrten ehrenhaft die Unabhängig-
keit des Deutſchen Bundes; ſie geſtatteten dem Vierbunde eine Einmiſchung
in deutſche Streitigkeiten nur dann, wenn ſie auf Grund der Verträge
rechtlich unabweisbar war. Gleich zum Beginn erſchien ein kurheſſiſcher
Agent um den drei Monarchen eigenhändige Briefe des Kurfürſten zu
überreichen und den Miniſtern der beiden anderen Großmächte mündlich
mitzutheilen: ſein Souverän denke den Namen eines Königs der Katten
anzunehmen, er erbitte ſich in Demuth die Anerkennung Europas. Der Kur-
fürſt hatte bereits in Kaſſel den Bau einer Kattenburg begonnen, welche der
neuen Kattenkrone zum Herrſcherſitze dienen ſollte, und hielt die Koſten
dieſes rieſigen, nie vollendeten Bauwerks vor ſeinem unglücklichen Länd-
chen ſorgfältig geheim. Doch gleichzeitig traf ein geharniſchter Proteſt aus
Darmſtadt ein: ſollte der Kurfürſt den Königstitel erlangen, dann bean-
ſpruchte ſein Vetter für ſich die gleiche Würde. Die Mächte wieſen das
Anſinnen kurz und ſcharf zurück, „da die Bitte S. K. Hoheit durch keinen
irgend genügenden Grund gerechtfertigt ſei“. Der tief gekränkte Heſſe
aber hielt es für ſchimpflich, dem Vorbilde des verſtändigen Karl Friedrich
von Baden zu folgen, den jetzt völlig ſinnloſen Kurfürſtentitel gegen den
großherzoglichen Titel zu vertauſchen; er behielt den alten Namen bei und
weil die Deutſchen über die verunglückte Kattenkrone nichts erfuhren, ſo
fanden ſich der guten Seelen genug, welche den Kurfürſten darum be-
wunderten, daß er eine ſo rührende Pietät für die ehrwürdigen Erinne-
rungen des heiligen Reichs zeigte.*)


Die ſchroffe Form der Abfertigung war durch Preußen veranlaßt,
da König Friedrich Wilhelm ſich durch die Mißregierung des Kurfürſten
in ſeiner perſönlichen Ehre verletzt fühlte. Der Kurfürſt hatte während
des Krieges ſein Land durch einen Vertrag mit den vier Mächten wieder-
geſchenkt erhalten, die Verbündeten hatten ihm dabei leider keine förmliche
Verpflichtung auferlegt, aber alleſammt als ſelbſtverſtändlich angenommen,
daß er die Grundſätze des [Völkerrechts] nicht gradezu mit Füßen treten
würde. Und nun die ſchändliche Betrügerei gegen die weſtphäliſchen Do-
mänenkäufer! Dem Könige war zu Muthe, als ob er für einen Gauner
eine Bürgſchaft übernommen hätte; ſchon unterwegs in Kaſſel war er von
[480]II. 8. Der Aachener Congreß.
den Mißhandelten mit Bitten beſtürmt worden, in Aachen liefen noch
andere Beſchwerden ein. Bernſtorff erſtattete dem Congreſſe Bericht; er
nannte den ſchmutzigen Handel einen europäiſchen Skandal; er verlangte,
daß Kurheſſen „nach Preußens gutem Beiſpiel“ die geſetzmäßigen Hand-
lungen der weſtphäliſchen Regierung als rechtsgiltig anerkennen müſſe.
Er beantragte endlich, zunächſt ſollten die vier Monarchen dem Kurfürſten
ſeinen Vertragsbruch vorhalten; ſei dies vergeblich, dann müßten Preußen
und Oeſterreich am Bundestage gemeinſam einſchreiten. Da England und
Rußland beiſtimmten, ſo durfte Oeſterreich nicht widerſprechen. Nun ſendete
König Friedrich Wilhelm ein ſcharfes Handſchreiben an den Kurfürſten:
„wir handeln, ſagte er darin, nur kraft einer Pflicht, welche unſerem Ge-
wiſſen als gebieteriſch erſcheint.“ Aehnlich ſchrieb Kaiſer Franz. Trotz-
dem blieb es noch ſehr zweifelhaft, ob Oeſterreich am Bundestage endlich
Ernſt zeigen würde, und ganz ſicher, daß dieſer Kurfürſt nur durch Zwang
zur Vernunft gebracht werden konnte.*)


Von der unglaublichen Anmaßung der deutſchen Kleinfürſten ſollte
Preußen eben jetzt einen neuen Beweis erhalten. Durch die Wiener
Verträge war die Krone Preußen verpflichtet worden, 69,000 „Seelen“
von dem vormaligen Saardepartement an Oldenburg, Strelitz, Coburg,
Homburg und Pappenheim abzugeben; zugleich hatten die vier Mächte
dieſen fünf Dynaſten ihre guten Dienſte zugeſagt, um einen Austauſch
des linksrheiniſchen Landſtrichs oder irgend eine andere Entſchädigung,
wenn die Umſtände es erlaubten, zu ermöglichen. Strelitz und Pappen-
heim waren verſtändig genug geweſen, ſich von Preußen mit Geld und
Domänen abfinden zu laſſen; Oldenburg aber, Coburg und Homburg
hatten auf die Vergrößerung ihrer Reiche nicht verzichten wollen und in
der That drei Fetzen des Saarlandes mit der vertragsmäßigen Seelen-
zahl zugewieſen erhalten. So prangten denn in der reichhaltigen politi-
ſchen Curioſitätenkammer des Deutſchen Bundes auch die Doppelreiche
Oldenburg-Birkenfeld, Coburg-Lichtenberg und Homburg-Meiſenheim, drei
Staatsgebilde, wie ſie die Phantaſie eines Tollhäuslers nicht wunderſamer
erſinnen konnte. Aber der Vertrag war gewiſſenhaft erfüllt und ein Aus-
tauſch nicht mehr möglich, weil in ganz Deutſchland nirgends mehr ein
herrenloſer Brocken Landes übrig blieb. Nichtsdeſtoweniger ſtellten die
Drei an den Aachener Congreß das Anſinnen: die Quadrupelallianz ſolle
den König von Preußen bewegen, daß er ihnen ihre entlegenen Saar-
landſchaften wieder abnehme und dafür einige bequemer gelegene preußiſche
Gebiete ausliefere. Oldenburg verlangte ein gutes Stück vom preußi-
ſchen Weſtphalen, Homburg einen Landſtrich bei Wetzlar, Coburg einen
Theil der Grafſchaft Henneberg, und der Wittwer der engliſchen Kron-
[481]Die Saarlande. Kniphauſen.
prinzeſſin, Prinz Leopold von Coburg, einer jener geiſtreichen Deutſchen,
welche ihr Volksthum wie einen Mantel zu wechſeln verſtehen, richtete an
Lord Caſtlereagh die Aufforderung, daß England ſich der gerechten Sache
„ſeines armen Bruders“ annehmen möge. Dieſe Zumuthung war doch
ſelbſt der Langmuth Hardenbergs zu arg. In einer zornigen Denkſchrift
ſprach er ſein Befremden aus: Preußen ſei wahrlich ſchon zerſtückelt genug
und keineswegs in der Lage, „ſich ſeine Grenzen nach dem Belieben und
der Bequemlichkeit ſeiner Nachbarn verändern und zernagen zu laſſen“;
ſeinem Könige errege jede Trennung von treuen Unterthanen, wie den
Verbündeten wohl bekannt ſei, „religiöſe Gewiſſensbedenken.“ Selbſtver-
ſtändlich wurden die Drei abgewieſen, und das Haus Coburg ſollte an den
10,000 Seelen ſeines Saarlandes Lichtenberg noch viel Herzeleid erleben.*)


Inzwiſchen waren auch dringende Beſchwerden der Mediatiſirten ein-
gelaufen und Bernſtorff erfuhr jetzt, was es bedeutete, daß Metternich
die Hauptartikel der Deutſchen Bundesakte in die Wiener Schlußakte hatte
einrücken laſſen. Die beiden deutſchen Großmächte konnten dem Vier-
bunde die Einmiſchung in dieſen deutſchen Streit, der mit den europäi-
ſchen Verträgen eng zuſammenhing, nicht gänzlich verbieten, indeß wußten
ſie dieſelbe auf das geringſte Maß zu beſchränken. Man beſchloß, daß
der Vierbund zunächſt die Höfe von Württemberg, Baden und beiden
Heſſen, die ſich beſonders ungerecht betragen hatten, zu einem ehrenhaften
Verhalten gegen die Mediatiſirten ermahnen, das Weitere dem Bundes-
tage überlaſſen ſolle. Auch das Haus Thurn und Taxis, das durchaus
noch ſouverän werden wollte, vertröſtete man auf den Bundestag.**)


Nun kam noch jener unglückliche Dynaſt, welchen der Wiener Congreß
gleich dem Landgrafen von Homburg ſträflich vergeſſen hatte, der Graf von
Bentinck, Herr der freien Herrſchaft Kniphauſen. Homburg hatte ſoeben
durch die Gunſt der beiden Großmächte noch nachträglich das Stimmrecht am
Bundestage erlangt, dem Kniphauſener war es übler ergangen. Er mußte
erleben, daß Oldenburg ſein Land widerrechtlich beſetzte, verbarrikadirte
ſein Schloß, erließ einen wüthenden Proteſt nach dem anderen als im-
mediatus Imperii dynasta
und erregte einen Lärm, der einer größeren
Sache würdig war. Unbeſtreitbar lag hier eine europäiſche Frage vor,
da über die Zugehörigkeit Kniphauſens zum Deutſchen Bunde noch nichts
entſchieden war. Die freie Herrſchaft war Jahrhunderte lang reichs-
unmittelbar, wenngleich ohne Reichsſtandſchaft, und ihre Schiffe ſegelten
unter eigener Flagge; ſie war dann eine Zeit lang dem napoleoniſchen Kaiſer-
reiche einverleibt, doch niemals einem deutſchen Staate untergeordnet wor-
den, und der ſtreitluſtige kleine Herr verdiente einige Rückſicht, weil er ſeinen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 31
[482]II. 8. Der Aachener Congreß.
hitzigen Muth auch im Kampfe gegen die Franzoſen tapfer bewährt hatte.
Indeß ein neuer deutſcher Bundesſtaat von etwas über dreiviertel Quadrat-
meilen ſchien doch bedenklich; ſelbſt die Bewunderer der ſchönen Mannich-
faltigkeit des deutſchen Staatslebens mußten zugeben, daß eine deutſche
Völkerſchaft zur Entfaltung ihrer nationalen Eigenart mindeſtens ſo viel
Raum brauchte, wie Lichtenſtein mit ſeinen drittehalb Quadratmeilen.
Die Mächte beſchloſſen daher, daß Preußen und Rußland die Vermittlung
zwiſchen Oldenburg und Kniphauſen übernehmen, den Grafen wo möglich
zu einem Austauſche bewegen ſollten.*) Aber der Wille Kniphauſens war
ſtärker als die Wünſche Europas. Nach achtjähriger Arbeit brachten die
Mediatoren einen Vertrag zu Stande, der das Bundesrecht mit einer
neuen Koſtbarkeit bereicherte. Kniphauſen war fortan „ein beſonderes
Land“ unter dem Schutze des deutſchen Bundes, ein halbſouveräner Staat
mit eigener Flagge, der Hoheit des Herzogs von Oldenburg ganz ebenſo
wie vormals dem Reiche untergeordnet. Natürlich gebar dies Abkommen
ſofort neuen Zank, das beſondere Land zeigte dem oldenburgiſchen Schirm-
herrn gegenüber eine ganz beſondere Händelſucht, und bald wuchs zur
Augenweide aller Staatsrechtslehrer der große Bentinck’ſche Rechtsſtreit
heran, ein Rattenkönig von juriſtiſchen Controverſen, der in der Keller-
finſterniß des Bundestags immer fröhlicher gedieh und faſt dreißig Jahre
hindurch die Frankfurter Verſammlung immer wieder mit ſeinem unge-
bührlichen Gepolter ſtörte, bis endlich im Jahre 1854 das Reich der
Bentincks durch einen neuen Vertrag mit Oldenburg vereinigt wurde
und die Kniphauſener Flagge vom Weltmeere verſchwand.


Auch der bairiſch-badiſche Streit fand in Aachen ſeinen vorläufigen
Abſchluß. Das Verhältniß zwiſchen den beiden Nachbarn hatte ſich der-
maßen verbittert, daß der Großherzog einen Handſtreich befürchtete und
die vier Mächte bat, den aus Frankreich zurückkehrenden bairiſchen Trup-
pen den Durchzug durch ſein Land zu unterſagen. Die Mächte erwiderten,
er habe nichts zu beſorgen, und ermahnten den Münchener Hof nach-
drücklich, beim Durchmarſch die ſtrengſte Mannszucht zu halten.**) Schon
vorher hatte Berſtett die vertragsmäßige Entſcheidung der Quadrupel-
allianz über die Territorial- und die Erbfolgefrage angerufen und ſich zu
einigen Entſchädigungen bereit erklärt. Er wurde darauf ſelber nach Aachen
eingeladen und zugleich aufgefordert, einen Bevollmächtigten an die Frank-
furter Territorialcommiſſion zu ſenden. Die Mächte waren einig, wie
Bernſtorff ſchrieb, „die ſo gehäſſige als ärgerliche Angelegenheit ſchnell zu be-
endigen“, wenn Baden irgend annehmbare Bedingungen ſtelle.***) Berſtett
[483]Ende des bairiſch-badiſchen Streites.
eilte ſogleich herbei und erklärte, ſein Souverän ſei bereit, gegen Heraus-
gabe der öſterreichiſchen Enclave Geroldseck das kleine Amt Steinfeld
in der Taubergegend an Baiern abzutreten, auch dem Münchener Hofe
eine Etappenſtraße nach der bairiſchen Pfalz einzuräumen und ihm eine
ältere Schuld von 1⅓ Mill. Fl. zu erlaſſen. Die ruſſiſchen Miniſter
fanden dieſe Anerbietungen anfangs ungenügend; Kaiſer Alexander
ſchwankte noch zwiſchen ſeinen beiden ſtreitenden Schwägern. Aber
Berſtett bearbeitete den Czaren in perſönlicher Unterredung, zuletzt unter
ſtrömenden Thränen, und da auch der Freiherr vom Stein, der auf
kurze Zeit in Aachen als Gaſt erſchien, ſich bei dem Kaiſer lebhaft für
Baden verwendete, ſo trat Rußland nach einigen Tagen zu der Rechts-
anſicht über, welche Hardenberg ſchon ſeit Langem für die richtige hielt.
Die öſterreichiſchen Staatsmänner bewahrten ihre zweideutige Haltung, ſie
erklärten ſich im Voraus einverſtanden mit Allem, was die Verbündeten
vielleicht noch zu Gunſten Baierns erlangen könnten, und ließen ſich in
der entſcheidenden Sitzung bereitwillig überſtimmen.


Da Preußen und Rußland alſo zuſammenſtanden, und Oeſterreich
nicht offen widerſprach, ſo ſchloß ſich Lord Caſtlereagh der Mehrheit an.
Er that es ungern und ließ in ſeiner Denkſchrift den alten Groll gegen
Rußland deutlich durchblicken: der Großherzog, ſo ſchrieb er, hat die
Großmuth der Mächte angerufen und ſich alſo in der Poſition ver-
ſchanzt, welche für ſchwache Staaten immer die furchtbarſte iſt. Doch
geſtand der Lord zu, daß er jetzt ſelber in der Rechtsfrage bedenklich ge-
worden ſei und nicht mehr begreifen könne, woher die Mächte einſt in
Wien und Paris das Recht genommen hätten dem Münchener Hofe den
Heimfall der Pfalz zu verſprechen. Am 20. Nov. beſchloß der Vierbund
demnach, die badiſchen Vorſchläge anzunehmen, alle früheren Verab-
redungen über den Heimfall der Pfalz und des Breisgaus aufzuheben,
auch das Erbfolgerecht der Hochbergs anzuerkennen; gehe Baiern hierauf
nicht ein, dann ſolle Baden ſeiner Anerbietungen entbunden ſein und
der obige Beſchluß gleichwohl in Kraft bleiben. Zugleich ſendeten die
Monarchen, nach der patriarchaliſchen Weiſe dieſes Congreſſes, brüderliche
Briefe an denKönig von Baiern um ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen.
König Friedrich Wilhelm begnügte ſich nicht mit allgemeinen Ermah-
nungen, wie die beiden Kaiſer, ſondern ſetzte nach ſeiner gewiſſenhaften
Weiſe dem bairiſchen Könige noch einmal auseinander, daß Preußen die
geheimen Artikel über den Heimfall der Pfalz niemals anerkannt habe.*)


Baden war gerettet, und wie die Franzoſen den Czaren als ihren
Gönner rühmten, ebenſo und etwa mit dem gleichen Rechte feierten die
31*
[484]II. 8. Der Aachener Congreß.
Badener den ruſſiſchen Monarchen als den Beſchirmer ihres Landes. In
Wahrheit hatte Czar Alexander für den badiſchen Staat nicht mehr ge-
than als König Friedrich Wilhelm, er hatte nur mit ſchauſpieleriſchem
Geſchick verſtanden zur rechten Stunde den Ausſchlag zu geben und ver-
ſäumte nicht, nach dem Congreſſe in Baden ſelbſt die Früchte ſeines Thuns
in Augenſchein zu nehmen. In Frankfurt verbat er ſich bei dem badi-
ſchen Geſandten alle auffälligen Demonſtrationen; nur „was freier Erguß
der Herzen iſt“ wollte er nicht unterſagen. Und dieſer Erguß der badi-
ſchen Herzen erfolgte denn auch ſo reichlich, ſo ergiebig, wie es der Czar
ſelbſt unter ſeinen Ruſſen kaum erlebt hatte. Triumphbogen und weiß-
gekleidete Ehrenjungfrauen in jedem Städtchen, überall Kränze mit der
Inſchrift „Dem Retter Badens“ und in Karlsruhe am Abend allgemeine
Erleuchtung, ſo daß Alexander doch für gerathen hielt zu Hauſe zu blei-
ben.*) Das war der Nationalſtolz der Süddeutſchen, drei Jahre nach
Belle-Alliance. In den patriotiſchen Blättern fand ſich Niemand, der
dieſem Geſchlechte geſagt hätte, wie viel ihm noch zu einer Nation fehlte;
die Preſſe richtete ihren Zorn allein gegen Oeſterreich und Preußen, die
fortan immer an jedem Uebel ſchuld ſein ſollten: warum geſtatteten ſie
dem Auslande eine ſolche Einmiſchung in deutſche Händel? Und doch war
der Schiedsſpruch des Aachener Congreſſes nur die unausbleibliche Folge
des Verhaltens der Rheinbundſtaaten im Jahre 1813. Weil dieſe deutſchen
Staaten erſt nach dem Siege, einzeln, als ſouveräne europäiſche Mächte,
durch Acceſſionsverträge ſich dem Bündniß der vier Mächte angeſchloſſen
hatten, darum unterlag jetzt der bairiſch-badiſche Streit von Rechtswegen
der Entſcheidung des Vierbundes.


Leidenſchaftlich wie die Freude der Badener äußerte ſich die Ent-
rüſtung des Münchener Hofes. Umſonſt verſuchte Kaiſer Franz auf der
Heimreiſe ſeinen Schwiegervater zu beſchwichtigen, umſonſt erboten ſich
Metternich und Kapodiſtrias noch einen Fetzen badiſchen Landes in den
Kauf zu geben**); die Wittelsbacher verwarfen Alles, Kronprinz Ludwig
klagte gleich dem König von Schweden über die Wiederkehr der napo-
leoniſchen Gewaltherrſchaft, doch ſein Zorn blieb ohne Folgen. Die Be-
vollmächtigten des Vierbundes bei der Frankfurter Territorialcommiſſion
hatten bereits gemeſſene Weiſung, die Aachener Beſchlüſſe auszuführen.
Nachdem der Stein des Anſtoßes endlich beſeitigt war, ging die Arbeit
raſch vorwärts, und am 20. Juli 1819 unterzeichneten die vier Mächte
den Frankfurter Territorialreceß, ein unſäglich mühevolles Werk, das nach
einem Zeitalter der Kriege den Beſitzſtand der deutſchen Staaten auf
lange Jahre hinaus ſicherſtellte. Der bairiſche Hof ließ ſich zwar das
[485]Stourdza über die Univerſitäten.
Amt Steinfeld wohl gefallen, legte aber Verwahrung ein, behielt ſich
ſeine erloſchenen Sponheimer Erbanſprüche und ſein imaginäres pfälziſches
Heimfallsrecht feierlich vor, kam bei jeder Gelegenheit darauf zurück, ſo
daß Graf Bernſtorff noch viele Jahre ſpäter über cette éternelle affaire
de Sponheim
zu ſeufzen hatte. Indeß die Entſcheidung war unwider-
ruflich gefallen. —


Aus allen dieſen Beſchlüſſen ſprach unverkennbar die redliche Abſicht,
durch Sicherung des Rechts überall in Europa den Frieden zu erhalten.
Gleichwohl war die liberale Preſſe Deutſchlands und Frankreichs nicht
ganz auf falſcher Fährte, wenn ſie ihren Leſern ſeltſame Märchen erzählte
von den reaktionären Plänen der Aachener Verſammlung. In den ver-
traulichen Geſprächen der Monarchen und der Staatsmänner wurden
allerdings die erſten Verabredungen zum Kampfe gegen die deutſche Be-
wegungspartei getroffen. Alle Ausländer zeigten ſich entſetzt über den
fieberiſchen Zuſtand Deutſchlands; der ganze Bau der Wiener Verträge
ruhte auf der politiſchen Nichtigkeit dieſer Nation, und die Idee der deut-
ſchen Einheit, ſelbſt wenn ſie nur aus dem Thorenmunde erhitzter Studenten
ſprach, erſchien Allen als ein gemeinſamer Feind. Alle Fremden ſtimmten
mit Gentz darin überein, daß „die Reaktion von 1813“ zwar in Frank-
reich die revolutionäre Bewegung zu einem augenblicklichen Stillſtande
gebracht, doch in anderen Staaten, und vornehmlich in Deutſchland,
dieſe dämoniſchen Mächte erſt erweckt habe. Mit lebhafter Theilnahme be-
ſprach man eine „Denkſchrift über den gegenwärtigen Zuſtand Deutſch-
lands“, welche der Czar auf dem Congreſſe vertheilen ließ. Ihr Verfaſſer
Stourdza, ein ſanfter, ſchwermüthiger junger Walache, hatte dem ruſſi-
ſchen Kaiſer vor Kurzem eine phantaſtiſche Schrift zur Verherrlichung der
griechiſchen Kirche überreicht und ſich inzwiſchen ein wenig auf den deut-
ſchen Univerſitäten umgeſehen. Der laute Freimuth unſeres akademiſchen
Lebens erſchreckte den Schüchternen; er glaubte in ganz Deutſchland eine
krampfhafte Unruhe, in der Studentenſchaft eine gradeswegs auf den
Einheitsſtaat gerichtete revolutionäre Bewegung wahrzunehmen und for-
derte im Namen der Religion und Sittlichkeit ſtrenge Maßregeln gegen
die Univerſitäten: dieſe „gothiſchen Trümmer“, dieſe Staaten im Staate
ſollten ihrer alten Verfaſſung beraubt, die Studenten einfach als minder-
jährige Bürger behandelt und zum Einhalten feſter Lehrcurſe gezwungen
werden; da man die Preßfreiheit leider nicht ganz unterdrücken könne, ſo
müſſe man mindeſtens der Jugend die ſchlechten Bücher und Zeitſchriften
entziehen. Der ehrlich gemeinte, ſehr unbedeutende Aufſatz fand, wenn
auch nicht in allen Punkten, den Beifall des Czaren und der öſterreichi-
ſchen Staatsmänner; die Preußen dagegen meinten, der junge Schwärmer
rede wie der Blinde von den Farben.


Da wurde die geheime Denkſchrift plötzlich von einer Pariſer Buch-
handlung veröffentlicht, vermuthlich durch die Schuld der unſauberen Um-
[486]II. 8. Der Aachener Congreß.
gebungen Hardenbergs, und nun brach auf den Univerſitäten ein Sturm los,
noch lauter und wilder als vor’m Jahre das Wuthgeſchrei gegen Kotzebue.
Alſo bereits der dritte Halbruſſe, der ſich gegen die deutſche Burſchen-
herrlichkeit erhob! Der federfertige Leipziger Philoſoph Krug trat als
literariſcher Gegner in die Schranken; die Jenenſer Burſchenſchaft beſchloß
den Walachen zu züchtigen und ließ ihn, damit er ſich nicht hinter Stan-
desrückſichten verſchanze, durch zwei junge Grafen aus ihrer Verbindung
auf Piſtolen fordern. Stourdza lehnte gleichwohl ab, weil ſein Aufſatz
eine amtliche Denkſchrift ſei, und beeilte ſich den ungaſtlichen Boden
Deutſchlands zu verlaſſen. An den Höfen erregte dies terroriſtiſche Ge-
bahren der Burſchen, das nach altem Studentenbrauch doch gar nicht
ungewöhnlich war, neuen Schrecken; Gentz glaubte fortan ſteif und feſt,
daß in Jena eine geheime Vehme hauſe, die ihre Aſſaſſinen durch Deutſch-
land ſende. Zu allem Unheil warf Kotzebue nochmals Scheiter in die
Flammen, indem er deutlich zu verſtehen gab, die Denkſchrift Stourdzas
ſpräche die Anſichten des Czaren ſelber aus. Seitdem wähnten die Stu-
denten alleſammt, daß die deutſche Reaktion von Petersburg ausgehe;
der Haß der Burſchen gegen Rußland kannte keine Grenzen mehr, und der
triviale Spötter in Weimar, dem die Jenenſer einen mächtigen Einfluß auf
die moskowitiſche Politik andichteten, ward durch Schimpf und Drohungen
dermaßen mißhandelt, daß er nach Mannheim überzuſiedeln beſchloß.


Der Verdacht der jungen Leute entbehrte jedes Grundes. Kaiſer
Alexander enthielt ſich auf dem Congreſſe ſorgſam aller Vorſchläge für
die deutſche Bundespolitik und äußerte nur gelegentlich, wie Richelieu und
Wellington, ſeine Angſt vor der deutſchen Revolution. Seit ſeiner plötz-
lichen Bekehrung war die Leitung der Quadrupel-Allianz thatſächlich auf
die Wiener Hofburg übergegangen, obgleich die klugen öſterreichiſchen
Staatsmänner dem Czaren gern geſtatteten, daß er vor der Welt noch
zuweilen die Rolle des Führers ſpielte. Metternich war das Haupt der
Reaktion, in Deutſchland wie in Europa, und bot noch in Aachen Alles
auf, um zunächſt Preußen dem Liberalismus zu entreißen. In freund-
ſchaftlichen Unterredungen ſtellte er dem Staatskanzler vor, wie bedrohlich
der Geiſt des Beſſerwiſſens und der rückſichtsloſen Kritik im preußiſchen
Beamtenthum überhandnehme; dazu der Uebermuth der Jugend und die
Zuchtloſigkeit der Preſſe. Hardenberg beſprach ſich darauf mit Bernſtorff
und Altenſtein, der nach Aachen berufen ward, und da Beide jene Miß-
ſtände nicht ganz in Abrede ſtellen konnten, ſo ſagte er ſeinem öſterreichi-
ſchen Freunde zu, die Krone ſelbſt werde dawider einſchreiten.*)


Minder glücklich verlief ein ſchüchterner Verſuch Metternichs, die
preußiſche Zollreform, noch bevor ſie in Kraft getreten war, zu hinter-
treiben. Die zwingenden ſtaatswirthſchaftlichen Gründe, welche das neue
[487]Metternich gegen das preußiſche Zollgeſetz.
Zollgeſetz veranlaßt hatten, entzogen ſich dem Urtheil des öſterreichiſchen
Staatsmannes gänzlich; ſeine Unwiſſenheit in allen nationalökonomiſchen
Dingen war wahrhaft ſtaunenswerth, und er fühlte dieſen Mangel nie-
mals, da nach der alten Tradition der Hofburg ſolche ſchlicht bürgerliche
Geſchäfte tief unter der Würde eines öſterreichiſchen Cavaliers ſtanden.
Selbſt Gentz, vor Jahren ein tiefer Kenner des Finanzweſens, hatte zu
Wien, im Verlaufe einer einſeitig diplomatiſchen Thätigkeit, das ſichere
Verſtändniß ſtaatswirthſchaftlicher Fragen nach und nach verloren. Wie
er während der napoleoniſchen Tage heilloſe Sophismen über die Staats-
ſchuld Großbritanniens in die Welt hinausſandte, weil die engliſche Allianz
dem öſterreichiſchen Intereſſe entſprach, ſo ſchrieb er jetzt ebenſo verkehrte
Aufſätze über die blühenden Finanzen Oeſterreichs. Da Oeſterreich an
einem deutſchen Zollvereine nicht theilnehmen konnte, ſo verdammte er
alle dahin zielenden Pläne als Hirngeſpinſte, als kindiſche Verſuche, „den
Mond in eine Sonne zu verwandeln“. Von der nationalen Bedeutung
des preußiſchen Zollgeſetzes ahnte man in der Hofburg gar nichts. Aber
Metternich fürchtete Alles, was die Staatseinheit Preußens fördern konnte
und witterte revolutionäre Abſichten hinter einer Reform, die von den
verdächtigen Berliner Geheimen Räthen ausging. Auch hielt er ſein
Oeſterreich wirklich für einen Muſterſtaat; dies lockere Nebeneinander halb-
ſelbſtändiger Kronländer und die Kirchhofsruhe, die über dieſem Chaos
lag, entſprachen ſeinen Neigungen, und es that ihm wohl zu vernehmen,
wie lebhaft damals das patriarchaliſche Glück der Völker Oeſterreichs an
den meiſten Höfen beneidet wurde. Die k. k. Provinzalmauthen, welche
die Kronländer der Monarchie von einander abſperrten, bewunderte er
um ſo aufrichtiger, da er von der Einrichtung dieſer weiſen Anſtalten
nicht die mindeſte Kenntniß beſaß. Daher warnte er den Grafen Bern-
ſtorff väterlich vor den Wirren, welche die Zollreform hervorrufen werde.
Er erinnerte ihn an Joſephs II. verfehlte Centraliſationsverſuche, ſchilderte
beredt die Vorzüge der öſterreichiſchen Binnenmauthen und meinte ge-
müthlich, auch für Preußen würden Provinzialzölle am heilſamſten ſein;
ſo bleibe der Staat bewahrt vor läſtigen Verhandlungen mit den Nach-
barſtaaten.*) Aber Bernſtorff und Hardenberg wieſen alle ſolche Zumu-
thungen nachdrücklich zurück.


Auch Metternichs wiederholte freundliche Warnungen vor der Durch-
führung des Verfaſſungswerks fielen bei dem Staatskanzler auf unfrucht-
baren Boden. Der Oeſterreicher merkte bald, daß Hardenberg ſeine conſtitu-
tionellen Pläne in vollem Ernſte betrieb. Um ſo eifriger ſuchte er ſich die
[488]II. 8. Der Aachener Congreß.
Gunſt des Königs zu erwerben. Friedrich Wilhelm hatte ihn bisher immer
mit ſtillem Mißtrauen betrachtet; er vergaß es nicht, daß Metternich den
preußiſchen Staat um Sachſen, die deutſche Nation um das Elſaß betrogen
hatte. Hier in Aachen zum erſten male geſtattete er dem Verdächtigen eine
vertrauliche Annäherung. Der König empfand dunkel, daß ein unheim-
licher Geiſt in der deutſchen Jugend arbeitete und ſuchte, da er das Maß
der Gefahr nicht überſah, nach einer zuverläſſigen Belehrung, nach einer
ſicheren Stütze. Bei ſeinem ruſſiſchen Freunde konnte er keinen Rath
finden, denn der Czar befand ſich ſelber in einem ähnlichen Zuſtande
unbeſtimmter Beſorgniß. Der greiſe Staatskanzler aber bot ein trauriges
Bild körperlichen und ſittlichen Verfalles. Hardenberg ſpielte auf dem
Congreſſe eine untergeordnete Rolle, überließ die Geſchäfte meiſt an Bern-
ſtorff, und der König ſah voll Unmuths, wie die Somnambüle Hänel
hier vor dem hohen Rathe Europas ihr Weſen trieb und der Wunder-
mann Koreff mit der ganzen Aufgeblaſenheit des jüdiſchen Emporkömm-
lings politiſche Audienzen ertheilte. Nur Metternich erſchien feſt, ſicher,
ganz mit ſich im Reinen, er allein wußte was er wollte; aus ſeiner Hal-
tung ſprach das Bewußtſein, daß er den ruhigſten, den beſtgeſicherten
Staat Europas regiere. Gern wiederholte er jetzt den Ausſpruch Talleyrands:
„Oeſterreich iſt das Oberhaus Europas; ſo lange es nicht aufgelöſt iſt,
zwingt es die Gemeinen zur Mäßigung.“ Im vorigen Jahre hatte er
noch, aus Scheu vor der Souveränität der deutſchen Kronen, die conſti-
tutionelle Bewegung ſich ſelber überlaſſen wollen. Jetzt war von ſolchen
Bedenken keine Rede mehr: die deutſchen Jakobiner hatten ſeit dem Wart-
burgfeſte die Maske fallen laſſen, nun galt es offenen Kampf.


In wiederholten Geſprächen betheuerte er dem Könige: nach ſeiner
heiligen Ueberzeugung habe die revolutionäre Partei ihre Hochburg in
Preußen; ſie verzweige ſich bis in die höchſten Kreiſe des Heeres und des Be-
amtenthums; in der Hand des Königs liege mithin das Schickſal der
Welt; unfehlbar werde der Aufruhr durch ganz Europa dahinraſen, wenn
Preußens Regierung dem Beiſpiel der kleinen Höfe folge und ihrem Volke
eine „demagogiſche Verfaſſung“ bairiſchen Stiles gebe. Er bemerkte wohl,
daß ſeine Worte einigen Eindruck machten, doch klagte er bei ſeinem Kaiſer
über Friedrich Wilhelms bedauerliche Schwäche, da der geſunde Menſchen-
verſtand des Königs nicht ſogleich an alle die Wahngebilde der öſterreichi-
ſchen Geſpenſterfurcht glauben wollte. Unterdeſſen ſuchte Metternich auch
den Cabinetsrath Albrecht, einen treuen, fleißigen, hochconſervativen Be-
amten, für ſeine Anſicht zu gewinnen und rief ſodann den zuverläſſigſten
ſeiner preußiſchen Freunde, Wittgenſtein, zu Hilfe. Am 14. Nov. ſendete
er dem Fürſten von Aachen aus zwei große Denkſchriften „über die Lage
der preußiſchen Staaten“; beide Aktenſtücke waren beſtimmt, zur guten
Stunde durch Wittgenſtein dem Könige vorgelegt zu werden, doch erhielt
auch Hardenberg Anſtands halber eine vertrauliche Mittheilung. Von
[489]Metternich gegen die preußiſche Verfaſſung.
Aachen, ſagte der öſterreichiſche Staatsmann ſpäterhin, wird man dereinſt
die Rettung der preußiſchen Monarchie datiren!


Unter Allem was aus Metternichs Feder floß beweiſt die Denk-
ſchrift über die preußiſche Verfaſſung wohl am deutlichſten die klägliche
Gedankenarmuth dieſes Kopfes, der nur durch ſeine diplomatiſche Schlau-
heit, durch die Gunſt des Glücks und durch die Aengſtlichkeit der anderen
Höfe dahin gelangen konnte, die Welt während eines Menſchenalters
über ſeine Nichtigkeit zu täuſchen. Von der fundamentalen Verſchiedenheit
der politiſchen Aufgaben eines nationalen Staates wie Preußen und eines
Völkergemiſches wie Oeſterreich begriff er nicht das Mindeſte. Mit der
Treuherzigkeit eines beſorgten Freundes, der ſein Schickſal nimmermehr
von dem Looſe Preußens trennen wollte, ſetzte er dem Könige ausein-
ander, daß die innere Lage der beiden deutſchen Großmächte im Weſent-
lichen dieſelbe ſei; beide Monarchien beſtänden aus „unter ſich getrennten
Provinzen“. Daß dem nicht ſo war, daß Preußen ſchon längſt eine
centraliſirte Verwaltung beſaß, war der Hofburg ganz unbekannt; ſie
konnte ſich einen kräftigen Staat nur in der Form loſe verbundener
Erblande vorſtellen, und Kaiſer Franz wiederholte gern ſeinen Kern-
ſatz: „der Beſtand einer Monarchie aus verſchiedenen Körpern macht ſie
eben ſtark.“


Metternich fand „das öſterreichiſche Reich ſelbſt noch mehr als das
preußiſche zu einem rein repräſentativen Syſtem geeignet — wenn nicht
die Verſchiedenheit unter den Völkern in Rückſicht auf Sprache und
Sitte zu bedeutend wäre. Wie könnte das, wozu es in Oeſterreich
dennoch an der Möglichkeit der Ausführung fehlt, in Preußen gedeihen?“
Die Einführung einer „Central-Repräſentation“ in Preußen wäre dem-
nach die „reine Revolution“; ſie müßte die militäriſche Kraft des Staates
zerſtören und den Zerfall des Reichs herbeiführen; ſei doch bereits zwi-
ſchen Belgien und Holland, die ſo viel beſſer zuſammenpaßten als die
preußiſchen Provinzen, in Folge des Repräſentativſyſtems ein gefährliches
Zerwürfniß entſtanden! Darum möge ſich der König mit Provinzial-
ſtänden begnügen — ein Rathſchlag, der unzweifelhaft im Voraus mit
Wittgenſtein verabredet war — und dieſen Ständen lediglich das Recht
der Bitten, der Beſchwerden, der Repartition der direkten Steuern ein-
räumen. Nur im äußerſten Falle, weil es einmal öffentlich verſprochen
ſei, könne in der Zukunft vielleicht noch eine Centraldeputation aus dieſen
Provinzialſtänden einberufen werden, je drei Vertreter aus jeder Provinz
— alſo ein Vereinigter Landtag von einundzwanzig Köpfen, ein würdiges
Seitenſtück zu jenem winzigen Reichsrathe, welchen Metternich kurz zuvor
für ſein Oeſterreich vorgeſchlagen hatte. Aber, ſo fügte er bedeutſam hinzu,
und hierin lag unzweifelhaft ſeine wahre Meinung — „führt dieſe be-
ſchränktere Idee nicht auch zur Revolution? Dieſe Frage erwäge der König
tief bevor er ſich entſcheidet!“


[490]II. 8. Der Aachener Congreß.

Bei der Ausführung ſeiner Vorſchläge im Einzelnen verrieth der
Rathgeber ein Maß ſtaatsrechtlicher Kenntniſſe, welches jedem preußiſchen
Auscultator im Referendar-Examen das Genick gebrochen hätte: er
kannte weder die neue Provinzialeintheilung des preußiſchen Staates
noch deſſen althiſtoriſche Beſtandtheile und hatte offenbar auch das Stu-
dium der Landkarte nicht für ſtandesgemäß gehalten. Daher erbaute er
ſich rein aus der Phantaſie heraus ſieben preußiſche Provinzen — darunter
die Marken Brandenburg mit Pommern und das Herzogthum Weſt-
phalen mit Berg; hinſichtlich der Provinzialverwaltung faßte er ſeine Weis-
heit in dem einen Satze zuſammen: „jede Provinz hat eine Obere und
Untere verwaltende Behörde.“ Noch erſtaunlicher faſt war die Neuheit der
politiſchen Erwägungen, mit denen er ſeine Vorſchläge begründete. Selbſt
die ſtrengen Altconſervativen in Berlin verbargen ſich doch nicht das eine
handgreifliche Bedenken, das gegen die Provinzialſtände ſprach: acht oder
zehn Provinziallandtage ohne das Gegengewicht eines Reichstags konnten,
wenn ſie allzu mächtig wurden, leicht die Einheit des Staates, vornehm-
lich des Heeres gefährden; riefen doch die Polen ſchon längſt nach einer
Provinzialarmee für das Großherzogthum Poſen. Metternich dagegen
ſtellte die unglaubliche Behauptung auf, ein preußiſcher Reichstag werde
die Armee in „ſieben getrennte Volkshaufen“ auflöſen. Eine zweite
Denkſchrift empfahl ſodann die Aufhebung der Burſchenſchaft, die gänz-
liche Beſeitigung der Turnerei — dieſer Eiterbeule, wie Gentz zu ſagen
pflegte — endlich gemeinſame Anträge der beiden Großmächte am Bun-
destage zur Beſchränkung der Preſſe.


So arge Blößen ſich die Verfaſſungsdenkſchrift gab, ein geſchickter
diplomatiſcher Schachzug war ſie doch. Metternich wußte, wie lebhaft
der König für die Kriegstüchtigkeit ſeines Heeres beſorgt war, und wieder-
holte daher in ſeiner Arbeit mit feierlichem Nachdruck immer und immer
die ernſte, leider keineswegs grundloſe Warnung: die liberale Partei
haſſe die ſtehenden Heere, ſie werde nicht ruhen, bis der preußiſche Reichs-
tag die Armee in eine Volksmiliz umgewandelt habe. Er gab ſich der
Hoffnung hin, daß ſeine Worte ihr Ziel nicht verfehlen würden. Har-
denberg aber wähnte der Politik Metternichs eine Strecke weit folgen zu
können um ſich dann von ihr nach Gutdünken wieder zu trennen. Alles
was ſie nur wünſchte wollte er der Hofburg bewilligen: ſtrenge Maßregeln
gegen die Turner, die Burſchen, die Preſſe, ſelbſt gegen die preußiſchen
Beamten. Nur Eines ſollte ſie ihm nicht antaſten: ſein Verfaſſungswerk.
Der greiſe Staatsmann ahnte nicht, daß er ſelber in Wien ſchon längſt
von den Einen zum alten Eiſen geworfen, von den Anderen als Häupt-
ling der preußiſchen Jakobiner verdächtigt wurde. Half er jetzt die Schleuße
hinwegziehen vor den hoch aufgeſtauten Fluthen der Reaktion, dann konnten
ſie leicht auch ihn ſelbſt und ſeine Verfaſſungspläne mit hinweg ſchwemmen.


[[491]]

Neunter Abſchnitt.
Die Karlsbader Beſchlüſſe.


Als das verhängnißvolle Jahr 1819 anbrach, war die Wiener Hof-
burg zum Vernichtungskampfe gegen die conſtitutionelle Bewegung feſt
entſchloſſen; „dieſer ſchreckliche Kaiſer Alexander“, ſo ſchrieb Metternich
ſeiner Gemahlin, ſtand jetzt nicht mehr im Wege. Ob ihr gelingen
würde, den preußiſchen Staat und die kleinen Höfe mit ſich fortzureißen,
dies blieb bei der Trägheit des Bundestages und der unüberſehbaren Man-
nichfaltigkeit der deutſchen Intereſſen noch ſehr zweifelhaft. Die Liberalen
thaten indeſſen das Ihre um die Pläne ihrer Feinde zu fördern. Der
geſunde Sinn der Nation erlag einem jener Fieber-Anfälle galliger, Alles
bekrittelnder Verdrießlichkeit, welche ſeitdem von Zeit zu Zeit regelmäßig, und
immer zum Unheil für die geſunde Entwickelung unſeres Staates, wieder-
gekehrt ſind. Ungeheuerliche Gerüchte liefen um und fanden allgemeinen
Glauben, während doch noch Niemand einem Liberalen ein Haar ge-
krümmt hatte. Die Preſſe erging ſich in unheimlichen Schilderungen von
der hoffnungsloſen Knechtſchaft Deutſchlands und ward nicht müde, den
Teufel der Reaktion ſo lange an die Wand zu malen, bis er leibhaftig
erſchien.


Aus jedem Nichts ſchöpfte die Kleinmeiſterei der Tadler neuen
Stoff für fanatiſche Anklagen: als zwei preußiſche Leutnants ſich im
Zorne zu Thätlichkeiten gegen einige Landwehrmänner hinreißen ließen,
und der geringfügige Exceß nachher vor dem Kriegsgerichte die gebührende
Strafe fand, da heulte die Iſis: „O der Schande! Winkte uns nicht
eine beſſere Welt im Weſten, wer wollte länger zaudern, ſtolz dem Bei-
ſpiele Cato’s zu folgen?“ Wer nur irgend mit den Regierungen in Ver-
bindung trat, ward als Verräther verdächtigt. Um Weihnachten 1818
wurde Steffens im tiefſten Geheimniß von dem Staatskanzler nach
Berlin gerufen und dort vertraulich befragt, ob er etwas von politiſchen
Umtrieben der Turnplätze wiſſe; er antwortete als ehrlicher Mann, ſeine
Angriffe hätten nur den ſittlichen Verirrungen der Turner, ihrem Ueber-
muthe, ihrer Roheit, gegolten; politiſche Verſchwörungspläne traue er
[492]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ihnen keineswegs zu. Aber kaum war ſein Beſuch bei dem Staatskanzler
ruchbar geworden, ſo ſah er ſich von den Turngenoſſen mit wüthenden
Vorwürfen überhäuft und ohne daß man ihn nur angehört hätte aus
den Kreiſen der Patrioten ausgeſchloſſen; ſein tagelang konnte er den
Makel dieſes ungerechten Verdachts nicht mehr ganz von ſich abwaſchen,
ſelbſt mit ſeinem alten Freunde Schleiermacher kam er nie wieder auf
guten Fuß. So drängte ſich ein finſteres, grund- und zielloſes Miß-
trauen trennend zwiſchen dies Volk und dieſe Krone, die ſoeben erſt in
ritterlicher Treue gemeinſam einen heiligen Kampf durchgefochten; ein
neuer Krieg hätte mit ſeinem friſchen Windzuge die Wolken des Unmuths
leicht zertheilen können, in der dicken Luft der trägen Friedenstage nahm die
Verdroſſenheit mit jedem Tage zu.


Mittlerweile hatte der Staatskanzler ſchon den erſten Schritt gethan
um die Verſprechungen einzulöſen, die er in Aachen ſeinem zweifelhaften
öſterreichiſchen Freunde gegeben. Am 11. Januar 1819 überraſchte Har-
denberg das Staatsminiſterium durch die Zuſendung einer königlichen
Cabinetsordre, eines umfänglichen Aktenſtücks, das auf neunzehn Folio-
ſeiten die wohlwollenden Abſichten des Monarchen, aber auch ſeine ſchweren
Beſorgniſſe darlegte. Bisher, ſo erklärte der König, habe er ſich immer
auf die ſo vorzüglich bewährte Treue und Hingebung ſeiner Nation ver-
laſſen; jetzt aber erfordere ſeine Regentenpflicht „kräftige Maßregeln zu
ergreifen“ wider den Geiſt der Unruhe, der durch die lange politiſche
Spannung der Kriegsjahre erweckt, noch immer fortwirke und ſich in
maßoſer Unzufriedenheit, im „leidenſchaftlichen Verfolgen unbeſtimmter
Ziele“ äußere.


Die Ordre ſchilderte ſodann, wie der perſönliche und der Partei-
ſtreit unter den Beamten überhandgenommen habe, das wegwerfende Ab-
ſprechen über den Dienſt, ſelbſt mit Verletzung des Amtsgeheimniſſes
immer häufiger werde — ein wohlberechtigter Vorwurf, denn Jedermann
wußte, daß viele der Zeitungsartikel, welche die Gebrechen des preußiſchen
Staates mit leidenſchaftlicher Uebertreibung beſprachen, aus der Feder
preußiſcher Beamten herrührten. „Das Miniſterium weiß, fuhr der
König fort, daß meine Abſicht iſt, eine angemeſſene ſtändiſche Verfaſſung
zu geben;“ dazu gehört aber, „daß die Verwaltung Achtung genieße.“
Auch das Miniſterium ſelbſt trage einige Schuld; der Miniſterrath ver-
ſammle ſich zu ſelten, der Geſchäftsgang werde ſchleppend, „ein Mini-
ſterium muß in den Hauptgrundſätzen einig ſein.“ Darauf wendet ſich
die Ordre zu der falſchen Richtung der öffentlichen Erziehung, welche die
Jugend zu früh zur Theilnahme am öffentlichen Leben veranlaſſe. „Alles
was ſonſt nur Unfug junger Leute war, trägt jetzt das Gepräge der
Sucht in die Welthändel einzugreifen, an ſich.“ Der König fordert
demnach ſtrengere Ueberwachung des Unterrichtsweſens, ſorgſame Aus-
wahl der Lehrer für die Univerſitäten; der Turnunterricht ſoll mit den
[493]Die Cabinetsordre vom 11. Januar 1819.
Schulen verbunden, rein auf die körperliche Abhärtung beſchränkt werden.
Zum Schluß ſprach er über die Preſſe, durchaus maßvoll und ruhig:
„es iſt höchſt nachtheilig, wenn man den Eifer, die Verbeſſerung des
Innern zu befördern, mit dem Namen der Neuerungsſucht belegt und
ſolchem eine revolutionäre Tendenz unterzulegen ſucht;“ aber Angeſichts
ſo vieler Ausſchreitungen der Zeitungen und der Unwahrſcheinlichkeit eines
Bundespreßgeſetzes erſcheine ein preußiſches Preßgeſetz unentbehrlich. Ueber
alle dieſe Fragen erwartete der König die Vorſchläge der Miniſter, des-
gleichen den Entwurf zu einer Bekanntmachung an die Nation; jeder
einzelne Miniſter ſollte ſeine Abſtimmung ſchriftlich einreichen. Am näm-
lichen Tage erhielt Altenſtein als Vorſitzender des Staatsraths den Be-
fehl, die Verhandlungen dieſer hohen Behörde, die eben jetzt über die
neuen Steuergeſetze berieth, vor Parteiſucht und perſönlicher Gehäſſigkeit
zu behüten, „damit nicht die Entartung des an ſich Guten veranlaßt
werde.“*)


Es geſchah zum erſten male, daß der König von ſeinen Miniſteru
ein Gutachten über die geſammte innere Lage einforderte; er that es
unverkennbar in der guten Abſicht, eine gewaltſame Reaktion von ſeinem
Volke abzuwenden. Keiner der Uebelſtände, welche er rügte, war gänzlich in
Abrede zu ſtellen, keines der Heilmittel, die er andeutete, ſchlechthin zu
verwerfen. Die ſo lange ſchon geplante Reform der veralteten Preß-
geſetzgebung ließ ſich nicht mehr verſchieben, die Verbindung der Turn-
plätze mit den Schulen bot das ſicherſte und mildeſte Mittel um den
Uebermuth des „Turnſtaates“ zu mäßigen; auch eine offene Anſprache
des Monarchen an ſeine Beamten konnte mancher Verirrung der nord-
deutſchen Tadelſucht ſteuern. Wollten die Miniſter die übertriebene Be-
ſorgniß, welche ſich in einzelnen Sätzen der Cabinetsordre allerdings
bekundete, wirkſam beſchwichtigen, ſo mußten ſie der Aufforderung des
Königs und des Staatskanzlers durch beſtimmte, maßvolle, ausführbare
Vorſchläge ſofort entſprechen. Ein raſcher Entſchluß war um ſo mehr
geboten, da einige von ihnen wußten, wie weit die Gedanken der Cabinets-
ordre noch hinter den geheimen Plänen des Wiener Hofes zurückblieben.
Aber wie ſollten ſich die erklärten Gegner, Boyen und Schuckmann,
Klewiz und Bülow ſchnell über einen wichtigen Beſchluß einigen?


Seit jenem unvollſtändigen Miniſterwechſel vom November 1817 hatte
das collegialiſche Zuſammenwirken faſt ganz aufgehört; da der Staats-
kanzler wegen ſeines Gehörleidens von dem Vorſitz im Miniſterrathe ent-
bunden war, ſo pflegte jeder Miniſter nur die Geſchäfte ſeines Depar-
tements zu erledigen und nöthigenfalls die Entſcheidung Hardenbergs
einzuholen. Auf eine ſo umfaſſende Anfrage, wie ſie der König jetzt
ſtellte, war keiner von ihnen gefaßt. Sehr langſam gingen ihre Gut-
[494]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
achten bei dem Staatsminiſterium ein, das letzte erſt im Mai.*) Keine
dieſer Denkſchriften verrieth krankhafte Aengſtlichkeit; ſelbſt Graf Bernſtorff,
der ſich noch am beſorgteſten äußerte, geſtand beſcheiden zu, daß er die
preußiſchen Verhältniſſe erſt wenig kenne. Die meiſten der Miniſter
fanden das Bild, das die Cabinetsordre von den inneren Zuſtänden ent-
warf, allzu düſter gefärbt, erklärten ihr feſtes Vertrauen zu der guten
Geſinnung des Volks wie der Beamten und warnten vor einer öffent-
lichen Bekanntmachung, die nur verſtimmend wirken könne. Die Be-
ſchleunigung der Verfaſſungsarbeit hielt ſelbſt der ſtrengconſervative
Schuckmann für das ſicherſte Mittel um die öffentliche Meinung zu be-
ruhigen. Am freimüthigſten unter Allen ſchrieb der Kriegsminiſter: was
hätte, ſo fragte er mit ſoldatiſcher Offenheit, Friedrich der Große denken
ſollen, wenn er die Tiſchgeſpräche ſeiner ſo treuen, ſo herrlich bewährten
Generale hätte beachten wollen? Er verlangte ein Preßgeſetz ohne Cenſur,
mit Strafen für die geſchehenen Vergehen, und erklärte: „Wenn der preu-
ßiſche Staat mit ſeiner Geſetzgebung in dem Geiſte fortgeht, der ſich ſeit
dem Jahre 1806 auf Befehl Sr. Majeſtät bei uns entwickelt hat, wenn
wir jedes unnütze Zögern in der Vollendung unſerer Geſetzgebung zu ver-
meiden ſuchen, dann kann ein jeder rechtliche Mann es mit ſeinem Kopfe
verbürgen, daß der preußiſche Staat nicht allein den Gefahren der Zeit
ruhig zuſehen darf, ſondern ſie auch ohne ängſtliche Vorſichtsmaßregeln
ſiegreich überſtehen wird.“


Im Einzelnen gingen die Vorſchläge natürlich weit auseinander, da
Jeder nach Gutdünken dieſe oder jene Frage aus der Cabinetsordre
herausgegriffen hatte. Selbſt über den Hauptgrund der langſamen Ge-
ſchäftsführung des Miniſteriums, über die eigenthümliche Mittelſtellung des
Staatskanzlers ſprachen ſich nur drei der Miniſter aus: Kircheiſen, Bülow
und mit beſonderem Nachdruck Beyme, der entſchieden verlangte, daß der
Staatskanzler das Haupt des Miniſteriums werden müſſe: „ohne dieſes iſt
alles Uebrige ganz vergeblich.“ Die neun Vota boten, trotz der achtungs-
werthen Geſinnung, die aus ihnen ſprach, doch ein ebenſo verworrenes
und verwirrendes Geſammtbild wie vor Kurzem die Gutachten der Notabeln
über die Verfaſſung; und unter den Miniſtern fand ſich Niemand, der die
anderen gezwungen hätte, dies Durcheinander ſubjectiver Anſichten in
gründlicher Berathung zu ſichten, der Krone einen Beſchluß, einen ge-
meinſamen Antrag vorzulegen. Die wichtige Arbeit blieb liegen, der König
erhielt in ſieben Monaten keine Antwort und ſah ſeinen Vorwurf, daß
dieſem Miniſterium die Einheit fehle, vollauf beſtätigt. So verſäumte
die Rathloſigkeit des Miniſteriums den günſtigen Augenblick, da die Politik
[495]Die Commiſſion für das Preßgeſetz.
der Verfolgung und der Unterdrückung durch einige Maßregeln ver-
ſtändiger Strenge vielleicht noch abzuwenden war.


Da die Miniſter nichts von ſich hören ließen, ſo ging Hardenberg
ſelbſtändig vor. Schon am 11. Januar, an dem nämlichen Tage, da die
Cabinetsordre an das Miniſterium erging, hatte Altenſtein den Befehl
erhalten, dem Verfaſſer des „Geiſtes der Zeit“ eine Verwarnung wegen des
neueſten Bandes ertheilen zu laſſen. Graf Solms-Laubach vollzog den
Auftrag, ſichtlich ungern und ſo ſchonend als möglich; Arndt aber geſtand
in einem tapferen Briefe dem Staatskanzler zu, daß er einzelnes „Un-
zeitige und Ungemeſſene“ in ſeinem Buche bedauern müſſe; doch ſeine
Abſicht ſei rein, ſeine Treue unerſchütterlich, die Verwarnung habe er
allein der Angeberei ſeines Todfeindes, des Geh. Raths Kamptz zu ver-
danken. Im März erfolgte ſodann die vorläufige Schließung der Turn-
plätze in der ganzen Monarchie, die Turnſperre, wie Jahn ſich ausdrückte
— ein nach dem argen Unfug der letzten Monate unvermeidlicher Schritt,
der keineswegs zur Unterdrückung des Turnens führen ſollte. Man
beabſichtigte lediglich die Turnſtunden in den regelmäßigen Schulunterricht
einzufügen und dann die Turnplätze wieder zu eröffnen; der Entwurf
einer allgemeinen Turn-Ordnung war bereits im Unterrichtsminiſterium
ausgearbeitet und lag dem Monarchen zur Unterzeichnung vor.


Am 30. März befahl Hardenberg den Miniſtern, da ſie noch immer
ſchwiegen, die Ernennung einer Commiſſion für die Ausarbeitung des
Preßgeſetzes; das Maß von Freiheit oder Beſchränkung, welches der
preußiſche Staat ſeiner Preſſe gewähre, müſſe auf den Entſchluß der
Bundesverſammlung von entſcheidendem Einfluß ſein. Der Berichter-
ſtatter der Commiſſion, Geh. Rath Hagemeiſter, ein trefflicher Juriſt aus
Suarez’s Schule, war ein Gegner der Cenſur, und da auch die Geh.
Räthe Nicolovius und Köhler die Preßfreiheit mindeſtens als Regel an-
erkennen wollten, ſo ſtand von der Commiſſion ein verſtändiger Entwurf
zu erwarten, obgleich ihr Ancillon als viertes Mitglied angehörte. Ueber-
haupt zeigte ſich noch nirgends ein Stillſtand in der Reformpolitik Har-
denbergs. Noch im Sommer, bei der Eröffnung des Rheiniſchen Kaſſa-
tionshofes zu Berlin, ſprachen Präſident Sethe und Generalprocurator
Eichhorn in feierlicher Rede die Hoffnung aus: das rheiniſche, in Wahr-
heit altdeutſche, mündliche Verfahren werde, wenn es hier die Probe be-
ſtehe, dereinſt den Schlußſtein der fridericianiſchen Juſtizverbeſſerung
bilden. Auch die Preußiſche Staatszeitung, welche Stägemann, der treue
Mitarbeiter Steins, ſeit Neujahr erſcheinen ließ, bekundete überall, daß
die Regierung in vieler Hinſicht freier dachte als die Nation; ſie verthei-
digte die neuen wirthſchaftlichen Reformgeſetze gegen das volksthümliche
Vorurtheil, und ward ſie einmal ausfällig gegen die Liberalen, ſo geſchah es
zumeiſt nur um den particulariſtiſchen Dünkel zurückzuweiſen, wenn etwa
Mallinckrodt in Dortmund oder ein anderer rheiniſch-weſtphäliſcher Schrift-
[496]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ſteller gar zu gröblich über das Wendenthum der alten Provinzen ge-
ſchimpft hatte. —


Gleichzeitig mit dem Erlaß jener Cabinetsordre vom 11. Jan. wurde
Wilhelm Humboldt in das Miniſterium berufen — ein Entſchluß, der
für den Fortgang des Verfaſſungswerkes das Beſte zu verſprechen ſchien.
Humboldt war im November zum Aachener Congreſſe entboten worden,
um über die bairiſch-badiſchen Händel, die er als Mitglied der Frank-
furter Territorialcommiſſion genau kannte, Bericht zu erſtatten und dann
ſeine Weiſungen für den Abſchluß des Territorialreceſſes zu empfangen.
Man merkte ihm in Aachen den Unmuth über Bernſtoffs Ernennung
deutlich an — denn das Portefeuille des Auswärtigen hätte er ſicherlich
nicht ausgeſchlagen, trotz ſeiner Bedenken gegen Schuckmann und Witt-
genſtein. Er bat dort den König um Enthebung von ſeinem Londoner
Poſten*); nach Erledigung der Frankfurter Geſchäfte wollte er dann in der
Stille ſeines Parkes zu Tegel den Wiſſenſchaften leben und nur noch an den
Verhandlungen des Staatsraths theilnehmen. Da ſtellte Witzleben dem
Monarchen vor, welche unſchätzbaren Dienſte Humboldts reiche Bildung
und ſein Redaktionstalent bei den Verfaſſungsberathungen leiſten könne.
Der König ging auf den Gedanken ein, und auch Hardenberg hielt es
für gerathen, ſeinen Nebenbuhler durch eine Stelle im Miniſterium zu be-
ſchwichtigen; er fürchtete und ſagte es ihm ins Geſicht, daß Humboldt im
Staatsrathe die Führung der Oppoſition übernehmen würde. So beſchloß
man denn das Miniſterium des Innern in zwei Hälften zu theilen. Das
Polizeiminiſterium ward aufgehoben und als eine Abtheilung mit Schuck-
manns Departement vereinigt; dafür ſollte Schuckmann die Verwaltung
der ſtändiſchen und der Communalangelegenheiten als ein beſonderes
Miniſterium an Humboldt abtreten. Wittgenſtein blieb Mitglied des Staats-
miniſteriums, verwaltete aber nur noch die Angelegenheiten des königlichen
Hauſes, ſo daß er in einer unangreifbaren Stellung den weiteren Verlauf
der Dinge abwarten und ſich jederzeit auf ſein unpolitiſches Amt zurück-
ziehen konnte.


Humboldt ſollte, nach der Abſicht des Königs, die laufenden Geſchäfte
des Communalweſens führen, mit den alten Landtagen über ihr Schulden-
und Armenweſen verhandeln, endlich bei der Ausarbeitung der Gemeinde-,
Provinzial- und Landesverfaſſung im Einzelnen hilfreiche Hand leiſten.
Die Feſtſtellung des Entwurfes behielt ſich Hardenberg ſelber vor, nach
dem Rechte und der Pflicht ſeines Staatskanzleramts; nachdem er alle
die Departements, welche er früher unmittelbar verwaltet, an Fachminiſter
abgetreten hatte, blieb ihm nur noch die oberſte Leitung der geſammten
Verwaltung, und dieſe verflüchtigte ſich in leeren Schein, ſobald auch der
Entwurf der Verfaſſung einem Fachminiſter überlaſſen wurde. Eine in
[497]Humboldt in das Miniſterium berufen.
der üblichen lakoniſchen Form gehaltene Cabinetsordre theilte dem neuen
Miniſter ſeine Beſtimmung mit; denn nach dem Staatsrechte der abſoluten
Monarchie war die Berufung zu einem Miniſterpoſten ein königlicher Befehl
wie andere auch, ein Befehl, dem jeder aktive Staatsdiener unweiger-
lich zu gehorchen hatte. In einem freundſchaftlichen Briefe fügte Harden-
berg noch den deutlichen Wink hinzu, er arbeite jetzt an dem Verfaſſungs-
plane und denke ſeinen Entwurf dem neuen Collegen ſpäterhin mitzu-
theilen.*)


Gleichwohl mißverſtand Humboldt die Abſicht des Königs vollſtändig.
Er glaubte, daß er ſelber den Verfaſſungsentwurf erſt dem Miniſterium,
dann dem Monarchen unterbreiten ſolle, dankte tiefgerührt für dieſen
Beweis des königlichen Vertrauens, erklärte ſich bereit „dieſem Geſchäfte
ſein ganzes Daſein zu opfern“, bat aber um die Erlaubniß zu einer Reiſe
nach der Hauptſtadt: nur dort könne er die Verhältniſſe überſehen und
einen Entſchluß faſſen (24. Jan.). Als dieſer Brief und ein zweiter ähn-
lichen Inhalts an den Staatskanzler in Berlin eintraf, da brach Harden-
bergs lange verhaltener Groll in hellen Flammen aus. Er ſah ſich an-
gegriffen in den Prärogativen ſeines Amts — denn Humboldt hatte in
ſeinem Schreiben an den König der Rechte des Staatskanzlers nicht ein-
mal gedacht — und entwarf eigenhändig eine ſcharfe Cabinetsordre
(31. Jan.), welche den Miniſter kurz und ſtreng über ſeinen neuen Wir-
kungskreis belehrte.**)


Nunmehr entſchloß ſich Humboldt zu einem zweiten, ſehr ausführ-
lichen Schreiben an den König, das einer Kriegserklärung gegen Harden-
berg gleichkam. Nochmals bat er um ſeine Abberufung aus Frankfurt
damit er in Berlin ſich unterrichten und dann ſich erklären könne: ſein
Hauptbedenken ſei die Frage, ob er die Unabhängigkeit eines verantwort-
lichen Miniſters erhalten, ob er das Recht haben werde, dem Monarchen
über alle Angelegenheiten ſeines Departements unmittelbar zu berichten.
Hardenberg erwiderte in einigen Randbemerkungen, deren leidenſchaftlicher
Ton von der gewohnten urbanen Sprache des feinfühlenden Mannes
ſeltſam abſtach. Hier galt es dem Todfeinde, dem einzigen Gegner, den
er unverſöhnlich haßte; „was will er denn? warum dann das weitläufige
Geſchreibe?“ fragte er wiederholt. Das Geſchrei der Zeitungen, die den
neuen Miniſter ſchon im Voraus als den Vater der preußiſchen Ver-
faſſung feierten, hatte den Unmuth des Staatskanzlers zum Ueberlaufen
gebracht. Aber er war im Rechte; denn die Cabinetsordre vom 11. Jan.
hatte den Miniſtern ſoeben erſt das Recht zugeſtanden, dem Könige in
Gegenwart des Staatskanzlers über die Geſchäfte ihrer Reſſorts Vortrag
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 32
[498]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
zu halten; der Verfaſſungsentwurf dagegen konnte nimmermehr als die
Angelegenheit eines Fachminiſters behandelt werden. „Hier iſt, ſchrieb
Hardenberg, von einer noch nicht exiſtirenden Sache die Rede, die nur
nach der eignen Anſicht Sr. Maj., wenigſtens in den Grundzügen, be-
ſtimmt werden kann, und bei der Se. Maj. zu Rathe ziehen kann, wen
Sie wollen. Der König entſcheide, ob ich entbehrlich bin oder nicht.
So lange Se. Maj. meine Dienſte für nützlich halten, werde ich meine
mir verliehene Autorität aufrecht halten und bin dazu verpflichtet.“ Der
König entſchied im Sinne des Kanzlers und befahl dem Miniſter (17. Febr.)
mit wenigen, ſtrengen Worten, ſich unverzüglich zu erklären, wenn anders
er noch im königlichen Dienſte verbleiben wolle. Humboldt aber unter-
warf ſich (27. Febr.): „es widerſpräche allen meinen Geſinnungen, nicht
Allerhöchſt Ihrem Dienſte ſo lange meine Kräfte zu widmen, als dies
nur auf die entfernteſte Weiſe von meinem Entſchluſſe abhängt.“*)


Unter ſolchen Kundgebungen des Mißtrauens, ja der Ungnade wurde
Humboldt in den Rath der Krone berufen. Er fühlte ſich tief gekränkt
und rechtfertigte ſeinen Entſchluß vor Freunden mit der Erklärung: als
widerſetzlich wolle er ſeinem Monarchen nicht erſcheinen, auch halte er
ſich verpflichtet, mindeſtens einen Verſuch zu wagen.**) Die ganze Wahr-
heit ſagte er damit nicht. Er mußte wiſſen, daß er durch ſeine letzten
Briefe für immer mit Hardenberg gebrochen hatte. Wenn er gleichwohl
eine Stellung annahm, deren beſchränkte Befugniſſe ſeinem Talente, ſeinem
Selbſtgefühle nicht genügten, ſo konnte er nur die Abſicht hegen, im Mi-
niſterium den Kampf gegen Hardenberg fortzuſetzen, bis die Machtſtellung
des Staatskanzlers gebrochen war. Es ſollte ſich bald zeigen, daß er
dieſen Plan wirklich verfolgte. Vorläufig mußte er noch bis in den
Sommer hinein in Frankfurt bleiben, um den Territorialreceß abzu-
ſchließen; gereizt wie er war, klagte er ſeinen Freunden, man halte ihn ab-
ſichtlich von Berlin fern, damit der Staatskanzler ſeine Verfaſſungspläne
ohne ihn vollenden könne. Welch einen ſeltſamen Anblick bot doch die
preußiſche Monarchie gerade in den verhängnißſchweren Tagen, da Oeſter-
reich ſich zum entſcheidenden Schlage rüſtete. In den Provinzen überall
eine muſterhafte Verwaltung, im Mittelpunkte des Staates rathloſe Ver-
wirrung: ein Miniſterium, das auf die dringenden Fragen des Königs
keine Antwort fand, und zwiſchen den beiden namhafteſten Staatsmännern
eine unverſöhnliche Feindſchaft, die nur mit dem Sturze des Einen oder
des Anderen endigen konnte.


Jener Kampf zwiſchen Hardenberg und Humboldt erſcheint um
ſo unerquicklicher, da ſie Beide über die Grundſätze der Verfaſſung faſt
[499]Humboldts Denkſchrift über die Verfaſſung.
die nämliche Anſicht hegten. Noch in Frankfurt (4. Febr.) entwarf Hum-
boldt für den Freiherrn vom Stein eine große Denkſchrift über den Ver-
faſſungsplan, welche mit den Gedanken des Staatskanzler in allem Weſent-
lichen übereinſtimmte. Wie hatte ſich doch Humboldts reicher Geiſt empor-
gearbeitet aus dem ſocialen Idealismus ſeiner Jugend! Noch immer
bekämpft er die fureur de gouverner, doch nicht mehr den Staat will er
beſchränken, ſondern die Macht des Beamtenthums. Dem Bürger weiſt
er nicht mehr die Aufgabe zu, die freie Geſelligkeit den Eingriffen der
Staatsgewalt gänzlich zu entziehen, ſondern den ſittlichen Beruf, ſelbſt-
thätig Theil zu nehmen an der Verwaltung; nur dann gelange die ſitt-
liche Ausbildung des Mannes zur Vollendung, nur dann gewinne der
Staat lebendigen Zuſammenhang mit dem Volksgeiſte und in den Tagen
der Gefahr die Kraft, ſich auf ſittliche Mächte zu ſtützen. Allein die Er-
kenntniß dieſer inneren Nothwendigkeit, nicht irgend eine äußere Rückſicht
auf königliche Verheißungen könne das Wagniß der Beſchränkung der
monarchiſchen Gewalt rechtfertigen. So hatte auch dieſer Kantianer ſich
erfüllt mit jenen fruchtbaren Ideen hiſtoriſcher Staatsanſchauung, welche
der Kampf gegen das napoleoniſche Weltreich erzeugte. Er wußte auch die
Gegenwart mit hiſtoriſchem Sinn zu erfaſſen, in den Erſcheinungen des
Augenblicks das Lebendige zu ſcheiden von dem Todten. Niemand ver-
ſtand wie er die Weisheit der Hellenen, die den Staatsmann den prak-
tiſchen Hiſtoriker nennt. Wie alle freien Köpfe aus dem Kreiſe Steins
will er das Parlament aufrichten auf der Selbſtverwaltung der Gemein-
den, Kreiſe und Provinzen. Wie ſie verlangt er die Gliederung in drei
Stände, obſchon das übermächtige Anwachſen der Mittelklaſſen, die Aus-
gleichung der alten Standesunterſchiede ſeinem ſcharfen Blicke nicht ent-
geht. Wie ſie will er den Reichsſtänden die Geſetzgebung, den Provinzial-
ſtänden auch Verwaltungsaufgaben zuweiſen.


Nach Humboldts Anſicht iſt „gar nicht die Rede davon, etwas Neues
willkürlich einzuführen, ſondern nur das Wiederaufleben des blos zufällig
und widerrechtlich Unterdrückten möglich zu machen.“ Er weiß, daß alle
dauerhaften Verfaſſungen in ihren Anfängen etwas Unförmliches haben,
und will darum die Rechte der alten Stände, auch wo ſie das Ebenmaß
des neuen Baues ſtören, behutſam ſchonen. Aber er ſieht auch, daß die
altſtändiſchen Territorien ſchon um ihrer Kleinheit willen in dem Groß-
ſtaate ſich nicht mehr behaupten können, und verlangt darum Provinzial-
ſtände für die neuen Oberpräſidialbezirke. Provinzialſtände ohne Reichs-
ſtände erſcheinen ihm als eine Gefahr für die Einheit des Staats wie für
die Rechte der Stände; denn den Provinzialſtänden, ſagt er als ein Seher,
kann nur eine berathende Stimme eingeräumt werden, einer wirklichen
Standſchaft gebührt das Recht des Beſchließens. Die Einheit der Mon-
archie ſteht ihm ſo hoch, daß er für alle ſtändiſchen Körper unmittelbare
Wahlen verlangt; ein aus den Provinzialſtänden hervorgehender Reichstag
32*
[500]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
kann „den Corporationsgeiſt“ — das will ſagen: den Particularismus —
nicht verleugnen. Einzelne Stellen laſſen freilich noch die unfertige poli-
tiſche Bildung der Zeit erkennen: ſo der Vorſchlag, die Stadtgemeinden
wieder in Corporationen zu gliedern, oder die Weiſſagung: bei der Regie-
rung werde immer das Princip der Verbeſſerung, bei den Ständen das der
Erhaltung vorherrſchen! Gleichwohl enthält die Denkſchrift ohne Vergleich
das Reifſte und Tiefſte, was in jenem Jahrzehnt über Verfaſſungsfragen
gedacht worden iſt. Von Hardenbergs Anſchauungen unterſcheidet ſich Hum-
boldt vornehmlich durch den Ernſt des Willens; er ſetzte der Reform eine
feſte Zeitgrenze, was der erſchlaffte Staatskanzler kaum noch wagte, wollte
ſpäteſtens 1822 oder 23 die Reichsſtände verſammelt ſehen. Dagegen erwies
er den alten Ständen mehr Rückſicht, als in Hardenbergs Neigungen lag,
blieb mit Stein in treuer Verbindung, erkannte unbefangen den Kern des
Rechts, der in der altſtändiſchen Bewegung enthalten war.


In Alledem lag doch kein Grund zu ernſtem Streite. Verſtändigten
ſich die beiden Staatsmänner, ſo konnte ſich unter Humboldts Händen
wohl ein lebensfähiger Verfaſſungsentwurf geſtalten; dem Befehle des
Königs, der bereits für berathende Stände entſchieden, hätte der Mi-
niſter unzweifelhaft gehorcht. Die Geſchäfte dauernd zu leiten, vermochte
er freilich nicht, da ihm die Politik niemals das ganze Sein und Denken
ausfüllte; für die Ausarbeitung des Planes hingegen fand ſich nirgends
ein gedankenreicherer Kopf, nirgends eine gewandtere Feder. Leider war,
nach Allem was geſchehen, das vertrauensvolle Zuſammenwirken der bei-
den Nebenbuhler rein unmöglich. Ohne den Miniſter einer weiteren
Mittheilung zu würdigen, arbeitete der Staatskanzler an ſeinen Plänen
fort und legte dem Könige am 3. Mai den erſten Entwurf vor.*) Da
Niemand von dieſen geheimen Berathungen etwas ahnte, ſo ſendeten im
Laufe des Jahres noch mehrere angeſehene Patrioten ihre Verfaſſungs-
vorſchläge ein. Staatsrath v. Rhediger in Schleſien, der einſt bei Steins
Verfaſſungsentwürfen mitgearbeitet hatte, überreichte eine überaus doktri-
näre Denkſchrift, welche, nach heftigen Ausfällen gegen das alte Stände-
weſen und die Ueberſchätzung der Geſchichte, das Volk in drei ganz will-
kürlich ausgeklügelte Klaſſen eintheilen wollte.**) Noch moderner war ein
Entwurf von Hippel. Der Verfaſſer des „Aufrufs an Mein Volk“ hatte
an dem Sondergeiſte der Polen üble Erfahrungen gemacht, darum verwarf
er alle Provinziallandtage und verlangte einen einzigen preußiſchen Landtag,
welcher, dem heutigen nicht unähnlich, in zwei Kammern getheilt werden
ſollte. Der ſtrenge Monarchiſt verſtieg ſich ſogar bis zu der Doctrin der
reinen Parlamentsherrſchaft und meinte, ohne die Bedeutung ſeines Vor-
ſchlags zu ahnen: die Nation habe dem Monarchen die Männer zu be-
[501]Der erſte bairiſche Landtag.
zeichnen, denen er ſein Vertrauen ſchenken ſolle. Das Alles blieb ver-
lorene Arbeit, vergrub ſich in der Maſſe der aufgethürmten Materialien. —


Während alſo das Schickſal der preußiſchen Verfaſſung noch ganz im
Dunkel lag, liefen aus den neuen conſtitutionellen Staaten des Südens
bedenkliche Nachrichten ein. In München wie in Karlsruhe war der Land-
tag zum erſtenmale zuſammengetreten, und hier wie dort beſtand der
Parlamentarismus ſeine Probe recht unglücklich. Am Münchener Hofe
hielt die Entrüſtung über die Beſchlüſſe des Aachener Congreſſes noch
lange an; waren die pfälziſchen Pläne der Wittelsbacher geſcheitert, ſo
ſollten die großen Mächte zum Mindeſten erfahren, daß Baiern ſich ſelbſt
genüge und dem ganzen Deutſchland das glänzende Beiſpiel verfaſſungs-
mäßiger Freiheit gebe. Mit der Ruhmredigkeit, welche den bairiſchen Hof
auszeichnete, eröffnete der König am 5. Februar den Landtag: nun ſei
vollendet, was er ſchon vor der Bundesakte geplant habe; und als er
die dankbare Adreſſe ſeiner Stände in Empfang nahm, nannte er dieſen
Tag den glücklichſten ſeines Lebens. Die Nation blickte anfangs mit
Spannung auf die unerhörten Auftritte in München, denn es war die
erſte öffentliche Ständeverſammlung der deutſchen Geſchichte. Die Kammer
der Reichsräthe tagte freilich geheim und nannte ſelbſt in den dürftigen
veröffentlichten Protokollen die Namen nicht, ſodaß die Leſer es bald müde
wurden zu enträthſeln, was „ein Herr Reichsrath“ geſagt und „ein anderer
Herr Reichsrath“ erwidert hatte. Aber auch die Theilnahme für die
zweite Kammer erkaltete ſchnell, denn die Zahl der redneriſchen Talente
war gering, und die Debatten, obwohl keineswegs arm an Kundgebungen
urwüchſiger Grobheit, entbehrten doch des dramatiſchen Reizes, da die
ſchwerfällige Geſchäftsordnung die Redner nur nach einer feſtbeſtimmten
Reihenfolge zu Worte kommen ließ.


Politiſche Parteien beſtanden noch nicht; die ſtaatsbildende Kraft
dieſes Königreichs war ſo ſchwach, daß die Abgeordneten ſich zumeiſt in
kleine Landsmannſchaften zerſpalteten. Selbſt die Würzburger und die
Aſchaffenburger wollten einander noch kaum als Landsleute gelten laſſen,
während die Ansbacher und die Baireuther als gute Brandenburger zu-
ſammenhielten; vornehmlich die Pfälzer ſonderten ſich, im Vollgefühle
ihrer franzöſiſchen Freiheit, mißtrauiſch von den Anderen ab. Als feu-
riger Redner that ſich vor Allen der Würzburger Behr hervor, der Lieb-
ling ſeiner fränkiſchen Landsleute, ein ehrlicher radikaler Doktrinär, der
in ſeinen ſtaatsrechtlichen Schriften die Lehren Rottecks noch überbot und
ſogar den Monarchen perſönlich der Strafgewalt der Volksvertreter unter-
werfen wollte. Auch der Bamberger Bürgermeiſter v. Hornthal, ein ge-
wandter Advokat jüdiſchen Stammes, war bei Sieyes und der Verfaſ-
ſung von 1791 in die Schule gegangen, ein flacher Kopf von geringer
Bildung, aber betriebſam, kaltblütig, nie verlegen, und reich geſegnet mit
jener unaufhaltſamen Geſchwätzigkeit, welche in parlamentariſchen Ver-
[502]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ſammlungen ſo oft das echte Talent verdunkelt. Neben dieſen beiden
beliebten Volksmännern erſchien der liberale Vicepräſident Seuffert der
öffentlichen Meinung doch gar zu gemäßigt, weil er mit den gegebenen
Thatſachen politiſch zu rechnen verſtand.


Gleich bei der Eröffnung erfuhr die Krone noch einmal die üblen
Folgen ihres zweizüngigen Verhaltens gegen den römiſchen Stuhl. Der
Papſt verbot den geiſtlichen Mitgliedern des Landtags, den Verfaſſungs-
eid zu leiſten, da der offenbare Widerſpruch zwiſchen dem Concordat und
dem Religionsedikt noch immer nicht ausgeglichen war. Es kam aber-
mals zu ärgerlichen Verhandlungen; der Nuntius, Herzog von Serra
Caſſano, ein eleganter junger Prälat, der in den Hofkreiſen raſch feſten
Fuß gefaßt hatte, drohte bereits abzureiſen.*) Da fand ſich ein wenig
rühmlicher Ausweg: die Mehrzahl der Geiſtlichen leiſtete den Eid, aber
unter der Bedingung, daß er nicht gegen die Geſetze der katholiſchen Kirche
verſtoße; der Staat geſtattete dieſe reservatio mentalis, die allerdings
verſchiedener Auslegungen fähig war, und nur einzelne clericale Heiß-
ſporne, wie der Fürſtbiſchof von Eichſtädt, verſagten ſich dem Ausgleich.


Natürlich mußte der jugendliche Parlamentarismus, da er vor allem
Volke in die Schule ging, auch ein reiches Lehrgeld zahlen, Es fehlte nicht
an unnützem Gerede noch an kleinlichem Gezänk. Als die Reichsräthe in
ihrer Adreſſe ausſprachen, dies Oberhaus ſei berufen, dem Anwogen der
beweglichen Kräfte des Volksgeiſtes einen Damm, dem Wandelbaren Feſtig-
keit entgegenzuſtellen, da fühlten ſich die Abgeordneten in ihrer Amtsehre
beleidigt und machten dem modiſchen Adelshaſſe in erregten Reden Luft,
begnügten ſich aber ſchließlich die Aeußerungen der Adelskammer für „auf-
fallend“ zu erklären. In unzähligen halbreifen Anträgen kamen alle die
Klagen und Wünſche zu Tage, die ſich unter der Herrſchaft einer ſchranken-
loſen Bureaukratie allmählich angeſammelt hatten, und nicht ſelten mußte
die Kammer der Reichsräthe die Abgeordneten an die Grenzen ihrer
verfaſſungsmäßigen Befugniſſe erinnern, da der Krone allein das Recht
der Initiative zuſtand. Sehr auffällig zeigte ſich dabei, wie weit die poli-
tiſchen Durchſchnittsanſchauungen im Norden und im Süden noch aus-
einandergingen. Manche Kernſätze der neufranzöſiſchen conſtitutionellen
Theorie, von denen man in Norddeutſchland noch wenig ſprach, hatten
in den Staaten des Rheinbundes ſchon feſte Wurzeln geſchlagen. So
baten beide Kammern um die Einführung des öffentlichen Gerichtsver-
fahrens, und der Kronprinz ließ in den Zeitungen ausdrücklich berichten,
daß er mit unter den zuſtimmenden Reichsräthen geweſen ſei; die zweite
Kammer verlangte außerdem noch das Schwurgericht, und ſeitdem ward
dieſer Satz in das Glaubensbekenntniß des deutſchen Liberalismus auf-
genommen. Dagegen ſtanden die Baiern in ihrer volkswirthſchaftlichen
[503]Verfaſſungseid des bairiſchen Heeres.
Bildung hinter den Preußen noch weit zurück; die Rechtsverwahrungen
der altbairiſchen „realen“ Gewerbsmeiſter fanden bei der Kammer freund-
liches Gehör, nur eine kleine Minderheit ſchloß ſich den Pfälzern an, die
ihre heimiſche Gewerbefreiheit eifrig vertheidigten. Noch geringer war
das Verſtändniß für die Selbſtverwaltung. Auf verwaltende Kreisver-
ſammlungen, wie ſie Preußen beſaß, wagte dies an die Allmacht ſeiner
Landrichter gewöhnte Volk noch gar nicht zu hoffen. Der auf unmaß-
geblichen Beirath beſchränkte napoleoniſche Generalrath, der in der Pfalz
unter dem Namen „Landrath“ fortbeſtand, galt den Altbaiern ſchon als
ein Ideal, und ſelbſt dieſe beſcheidene Reform vermochte man in den
rechtsrheiniſchen Provinzen noch nicht durchzuſetzen.


Ueberhaupt ſtanden die praktiſchen Ergebniſſe dieſes Landtags außer
allem Verhältniß zu dem Aufwand großer Worte. Das Wichtigſte blieb,
daß der wackere Finanzminiſter Lerchenfeld die ſo lange verſchleierte Lage
des Staatshaushalts endlich aufdeckte. Es ſtellte ſich ein Jahresdeficit
von 3½ Mill. fl. heraus und eine Schuldenlaſt von mehr als 105 Mill.,
eine gewaltige Laſt für das verkehrsarme Land, die erſt nach harten
Kämpfen mit dem Particularismus der neuen Provinzen als gemeinſame
Staatsſchuld des geſammten Königreichs anerkannt wurde. Der größte
Theil dieſer Summen war in Folge der Kriegsnöthe aufgenommen worden;
wie viel aber die Verſchwendung der Krone hinzu geſündigt, dies erfuhr
Niemand, denn die Regierung weigerte ſich über die Verwaltung der ab-
ſolutiſtiſchen Epoche im Einzelnen Rechenſchaft abzulegen, da der gut-
herzige Max Joſeph, der in Geldſachen immer ein Kind blieb, erſt
neuerdings von den franzöſiſchen Entſchädigungsgeldern unbedenklich 3,4
Mill. Fr. an ſeine Söhne und Töchter verſchenkt hatte.*)


Dem Könige war der Landtag ſchon nach wenigen Tagen verleidet;
es kam ihm vor wie heller Aufruhr, daß ſeine Beamten jetzt den Unter-
thanen Rede ſtehen ſollten. Sein Mißmuth ſteigerte ſich zu hellem Zorne,
als Hornthal die Vereidigung des Heeres auf die Conſtitution verlangte
und mit dreiſter Stirn verſicherte, dieſer offenbar verfaſſungswidrige An-
trag bezwecke nur die Ausführung einer Vorſchrift des Grundgeſetzes.
Damit war zum erſten male ein unbegreiflicher Irrthum ausgeſprochen,
der ſeitdem während eines Menſchenalters ein Lieblingsſatz der liberalen
Parteien geblieben iſt. Befangen in dem modiſchen Haſſe gegen die
ſtehenden Heere wollten die Conſtitutionellen ſchlechterdings nicht einſehen,
daß ein debattirendes Heer der ſchlimmſte Feind der Freiheit iſt und das
Recht des Bürgers nur da geſichert beſtehen kann, wo die bewaffnete Macht
keinen eigenen Willen hat. Mit der größten Zuverſicht, als verſtände ſich
der Unſinn ganz von ſelbſt, ſtellte Behr die Behauptung auf: „giebt es
einen Stand, der ohne Willen iſt, ſo weiß ich nicht wo die verfaſſungs-
[504]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
mäßige Freiheit bleibt.“ Auch die beliebte Theorie des Mißtrauens, die
Lehre von dem natürlichen Kriege zwiſchen Fürſt und Volk wirkte mit
ein. In einer Flugſchrift über den bairiſchen Landtag rechtfertigte der libe-
rale Publiciſt v. Spraun den Antrag Hornthals mit der freundlichen
Erwägung: ſonſt könnte ja der Hof jederzeit eine Bartholomäusnacht ver-
anſtalten! Das Weimariſche Oppoſitionsblatt erklärte drohend, das deutſche
Volk werde alle die gewiſſenloſen Abgeordneten, welche gegen den Antrag
ſtimmten, für den Tag der Abrechnung im Gedächtniß behalten. Um
einem möglichen Mißbrauch der monarchiſchen Gewalt vorzubeugen, wollte
man den König in aller Unſchuld ſeiner Militärhoheit berauben, die
letzte Entſcheidung der Verfaſſungsſtreitigkeiten dem Gewiſſen der zumeiſt
minderjährigen gemeinen Soldaten überlaſſen. Selbſt die Erfahrungen
des achtzehnten Brumaire hatten den deutſchen Doctrinarismus noch
nicht darüber belehrt, daß ein Staatsſtreich nur dann gelingt, wenn die
Nation ihn erträgt oder billigt.


Obwohl der Antrag nicht der revolutionären Geſinnung, ſondern
nur der gedankenloſen Unerfahrenheit entſprang, ſo wirkte er doch ſogleich
ſehr ſchädlich. Einige aufgeregte junge Leutnants ſprachen im Sinne des
Volkstribunen und wurden in der Stille beſtraft. Die große Mehrzahl
der Offiziere fühlte ſich in der monarchiſchen Geſinnung, welche jedes
tüchtige Heer belebt, tief verletzt und verfiel im Zorne auf ein gefähr-
liches Mittel. Man verbreitete in den Garniſonen eine Bittſchrift, die
den König beſchwor „ein dem Sinne der Conſtitution ſo ganz entgegenes
Begehren“ abzuweiſen; Generale, Hauptleute, Unteroffiziere unterſchrieben
bunt durcheinander. Erſchreckt durch ſolche Kundgebungen brach der
Landtag die Verhandlungen über den gefährlichen Antrag plötzlich ab.
König Friedrich Wilhelm aber betrachtete dieſe erſten Folgen des Reprä-
ſentativſyſtems mit ſchwerer Beſorgniß. Jener unruhige Landsknechtsgeiſt,
welchen die Abenteuer des Imperators in allen napoleoniſchen Heeren erweckt,
hatte die Franzoſen und die Sachſen ſchon einmal zu offener Empörung
verführt; in Italien ſchürten die alten napoleoniſchen Offiziere überall
den Haß gegen Oeſterreichs Herrſchaft, jeden Augenblick konnte dort eine
militäriſche Revolution ausbrechen; ſollten jetzt auch die ſüddeutſchen Heere
in die politiſchen Parteikämpfe hineingeriſſen werden? Der Wiener Hof
ſah den bairiſchen Staat bereits dicht am Abhange der Revolution da-
hintaumeln. Gentz ſchrieb eine donnernde Denkſchrift über die bairiſchen
Stände.*) Er klagte den Monarchen an, daß er durch ſeine Thronrede
„ein vollſtändig abgerundetes Syſtem von königlicher Demokratie“ begründet
habe, und fragte, „was dieſer kaum aus der Wiege hervorgegangenen
[505]Max Joſephs Staatsſtreichspläne.
Volksrepräſentation den Muth einflößen konnte, da anzufangen, wo an-
dere ihresgleichen zu endigen pflegen.“ Noch ſei mit Hilfe der Reichs-
räthe entſchiedenes Einſchreiten gegen die Abgeordneten möglich, aber „was
heute noch durch kräftige Maßregeln gerettet werden dürfte, wird vielleicht
in wenigen Wochen unwiederbringlich verloren ſein.“


Kaum minder beſorgt ſah König Max Joſeph ſelber die Lage an. Er
brütete bereits über verzweifelten Plänen und berieth ſich mit ſeinen
Miniſtern, ob nicht die Aufhebung der Verfaſſung nothwendig ſei, „weil
ſie den gehofften Zweck nicht erfüllt habe.“ Am 30. März überraſchte
Graf Rechberg den preußiſchen Geſandten durch eine vertrauliche Mit-
theilung über dieſe geheimen Pläne. Der Miniſter fügte hinzu, ſein
Hof fürchte nur, durch eine Verletzung des Art. 13 mit dem Bundestage
in Streit zu gerathen, und ſchloß mit der förmlichen Bitte: der König
von Preußen möge durch ſein Miniſterium vertraulich mittheilen laſſen,
„was S. M. der König von Allerhöchſtdemſelben zu erwarten haben
würden, wenn Sie Sich in der unangenehmen Nothwendigkeit befinden
ſollten, den erwähnten Gewaltſchritt zu thun.“ Gleichzeitig ſprach Baiern
auch dem k. k. Hofe ſeine Reue aus wegen des übereilten Verfaſſungs-
werkes, erklärte ſich bereit, „mit Eifer die Repreſſivmaßregeln anzunehmen,
welche Oeſterreich und Preußen ihm vorſchlagen möchten.“*)


Die Verſuchung für König Friedrich Wilhelm war groß, doch er be-
ſtand ſie ehrenhaft. Er nahm die Frage in reifliche Erwägung, ließ
mehrere Wochen verſtreichen und am 11. Mai durch ein Miniſterial-
ſchreiben antworten: „Wären wir in dem Falle geweſen, unſere Anſicht
in dem Augenblicke auszuſprechen, wo der König von Baiern den Ent-
ſchluß gefaßt hatte, die Verfaſſung einzuführen, ſo würden wir, wie viel
Gutes und wohl Ueberlegtes auch in dieſer Verfaſſungsurkunde enthalten
iſt, doch Zweifel und Bedenken mancherlei Art offen zu bekennen uns
zur Pflicht gemacht haben. Jetzt aber — fuhr Bernſtorff mit unverkenn-
barer Ironie fort — handelt es ſich um Fragen ganz anderer Natur.
Erwägen wir, daß der König von Baiern, bei Einführung dieſer Con-
ſtitution, ſolche nicht nur als eine ſeinem Volke gewährte und ausgezeich-
nete, aus ſeiner freien Huld hervorgegangene Wohlthat geltend gemacht,
ſondern auch den gegründeten oder vermeintlichen Anſpruch der Nation
auf eine ſolche Verfaſſung ausdrücklich anzuerkennen nicht geſcheut hat,
und daß die Ständeverſammlung ihrerſeits die neue Verfaſſung nicht nur
in demſelben Sinne angenommen und ſich, beſonders was die Rechte
der Nation betrifft, denen gehuldigt zu haben dem König als Hauptver-
dienſt angerechnet wird, ſo beſtimmt als kühn ausgeſprochen hat — ſo
können wir die großen und drohenden Gefahren nicht verkennen, welche
mit der durch die eigenmächtige Aufhebung der Verfaſſungsurkunde her-
[506]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
beigeführten Kriſe unzertrennlich verbunden ſein würden.“ Der König
von Baiern wird demnach gebeten, ſich über die Geſinnung ſeines Volkes
und ſeines Heeres klare Rechenſchaft zu geben und vornehmlich zu erwägen,
ob ihm nicht die Verfaſſung ſelber ein Mittel biete zur Befeſtigung ſeines
Anſehens, z. B. die Auflöſung der Kammer. Von dem Bundestage habe
er allerdings nichts zu fürchten, da der Art. 13 nur ganz im Allgemeinen
die Einführung einer ſtändiſchen Verfaſſung vorſchreibe und Baiern doch
keinenfalls ganz ohne Landſtände werden bleiben wollen.*)


Die preußiſche Antwort verſprach alſo mit keinem Worte den Beiſtand,
welchen der bairiſche Hof erwartete, ſie war ein rundes Nein in diplo-
matiſcher Form und ward auch in München als eine Ablehnung auf-
gefaßt. Einige Tage nachdem ſie eingegangen meldete Zaſtrow, Graf Rech-
berg habe ihm mit tiefer Rührung gedankt, der beabſichtigte Staatsſtreich
ſei nunmehr aufgegeben, da die Kammer ſich zu mäßigen beginne.**) In
der That hatte die Oppoſition unter der Hand Einiges von den Plänen des
Hofes erfahren — die volle Wahrheit blieb ihr immer verborgen — und ſich
beeilt durch den beredten Mund ihres Genoſſen Häcker ihre Treue gegen
den Vater der Verfaſſung zu betheuern; die ſtürmiſchen Hochrufe, mit denen
die Kammer und die Gallerien dieſe pathetiſche Rede aufnahmen, thaten
dem Herzen Max Joſephs wohl, und der Monarch, der ſoeben einen Staats-
ſtreich geplant, ſpielte ſofort wieder vergnüglich die Rolle des conſtitutionellen
Muſterfürſten. Eben in dieſen Tagen, da Preußens Warnungen den
bairiſchen Verfaſſungsbruch verhinderten, ward die ſchöne, zur Verherr-
lichung der Conſtitution geprägte Denkmünze fertig, und der König ließ
ſie ſeinen getreuen Ständen feierlich überreichen, ſchenkte auch jeder Ge-
meinde des Königreichs ein Stück zur ewigen Erinnerung. Das ganze
Land frohlockte über die bairiſche Freiheit und ſchimpfte auf Preußen;
ohne Schmähungen gegen den Staat des Freiheitskrieges konnte ein libe-
rales Jubelfeſt ſchon nicht mehr gefeiert werden. Alle bairiſchen Blätter
verglichen ihren verfaſſungstreuen König wohlgefällig mit dem Despoten
in Berlin. Die Allgemeine Zeitung erzählte eine alberne Jagdgeſchichte:
ein Haufe von fünfzehnhundert Bürgern ſollte den Wagen König Friedrich
Wilhelms am Brandenburger Thore aufgehalten und unter dem drohenden
Rufe: „wir haben für das Vaterland geblutet“, eine Verfaſſungspetition
überreicht hätten; die Landwehrmänner der Thorwache hätten ſich geweigert
einzuſchreiten.


Noch kräftiger äußerte ſich das bairiſche Machtgefühl unter den Ab-
geordneten. Einige Mitglieder der Oppoſition übergaben dem Miniſter
Rechberg eine geheime Denkſchrift, welche den König in ſeiner conſtitu-
tionellen Geſinnung beſtärken ſollte. Da hieß es, das aus der europäi-
[507]Friedrich Wilhelm verhindert den bairiſchen Staatsſtreich.
ſchen Politik hinausgeworfene Baiern habe ſich durch die moraliſche Macht
ſeiner Verfaſſung wieder erhoben, ſein Monarch werde jetzt von der ge-
ſammten Nation „als der König der deutſchen Herzen“ begrüßt. „Dieſes
europäiſche Ereigniß macht Baiern wieder zu einer europäiſchen Macht.“
Wenn der König ſeinem Landtage in Allem entgegenkommt, „dann wird
die wittelsbachiſche Dynaſtie der Anhaltspunkt werden für alle Völker,
welche ſich als reif für die repräſentative Verfaſſung bewährt haben, und
dann wird ein beträchtliches Heer für Baiern erſt ſeine wahre Bedeutung
erhalten.“ So tauchten die phantaſtiſchen Triaspläne des württembergi-
ſchen Hofes jetzt in bairiſcher Färbung wieder auf; die Münchener Oppo-
ſition ſtand mit den Liberalen des Nachbarlandes in regem Verkehre, die
Neue Stuttgarter Zeitung diente ihnen gemeinſam zum Organ. Aber
bei dem Wittelsbacher verfing der Lockruf nicht. Max Joſeph erſchrak
über die radikale Sprache ſeiner Volksvertreter und ſendete den Grafen
Rechberg nochmals zu General Zaſtrow um dieſem die Denkſchrift der
Liberalen einzuhändigen; es war gerade an demſelben Tage (23. Mai), da
die Verfaſſungsdenkmünze den Kammern überreicht wurde. Noch einmal
beſchwor er den König von Preußen, mit ihm Hand in Hand zu gehen,
damit dieſe demokratiſchen Grundſätze im Keime zerſtört würden. Friedrich
Wilhelm antwortete kurz und würdig, er wolle ſich nicht in die inneren
Angelegenheiten Baierns miſchen, und wiederholte nur den Rath, daß der
König „jede verfaſſungswidrige Anmaßung oder Zumuthung kräftig zurück-
weiſe; dann wird die bairiſche Regierung ſich nicht bethören laſſen durch
ſo gleißneriſche Vorſpiegelungen, ſo heuchleriſche Schmeicheleien, wie ſie
jenes Memoire enthält.“*)


Den Schluß der Seſſion bildete eine jener Militärdebatten, bei
denen die tiefe Unwahrheit der kleinſtaatlichen Souveränität ſich immer
beſonders widerwärtig offenbarte: im Grunde fühlte Jedermann, daß die
beträchtlichen Ausgaben für die Armeen der Mittelſtaaten faſt zwecklos
aufgewendet wurden, ſo lange ein feſt geeintes deutſches Heer nicht beſtand,
aber Niemand wagte dieſe dem Partikularismus unbequeme Wahrheit
offen auszuſprechen. In Baiern wünſchten faſt alle Parteien ein ſtarkes
ſtehendes Heer, da ſie ſämmtlich von der europäiſchen Macht des Staates
der Wittelsbacher ſehr überſpannte Vorſtellungen hegten und doch zur
Einführung einer kriegstüchtigen Landwehr, nach dem Vorbilde des ſo
gründlich verachteten preußiſchen Staates, ſich nimmermehr entſchließen
wollten. Um ſo lebhafter ſtritt man über den Aufwand, der allerdings
auch nach dem Urtheil des preußiſchen Geſandten viel zu hoch war. Die
von den Abgeordneten bewilligten 6,7 Mill. fl. erſchienen dem Könige ſo
unzureichend, daß er in einem Handſchreiben an Wrede erklärte, lieber wolle
er ſeine Hausarmen darben laſſen und 300,000 fl. aus ſeiner Chatoulle zu-
[508]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ſchießen. Da erſt entſchloſſen ſich die Reichsräthe, die Bewilligung der
zweiten Kammer auf 7 Mill. zu erhöhen. Auch dies genügte dem Mon-
archen noch nicht, und als er am 16. Juli mit einem halb ungnädigen Ab-
ſchiede den Landtag ſchloß, kündigte er unbefangen an, daß er nöthigenfalls,
wenn ſeine Bundespflichten dies erheiſchten, das Militärbudget überſchreiten
werde. Der Verſuch der Krone Baiern, dem deutſchen Volke auf der
Bahn der Freiheit voranzuſchreiten, war, wie das preußiſche Miniſterium
nach München ſchrieb, „nicht eben ſehr gut gerathen“,*) kaum beſſer als
die ebenſo pomphaft angekündigte Verhandlung mit dem römiſchen Stuhle.
Auf Seiten der Abgeordneten, obgleich die große Mehrzahl aus harm-
loſen Biedermännern beſtand, doch eine ſtarke Neigung zum Ueberſchreiten
der kaum erſt verliehenen verfaſſungsmäßigen Rechte; auf Seiten der
Krone eine ſchimpfliche Schwäche, die heute ſchmeichleriſch um die Volks-
gunſt buhlte, morgen demüthig den Beiſtand der Nachbarn gegen das
eigene Land anrief. —


Ein ungleich reicheres und bedeutſameres Schauſpiel boten die Ver-
handlungen des erſten badiſchen Landtags. Im December 1818 war der
unglückliche Großherzog Karl von ſeinen Leiden erlöſt worden. Ihm folgte
ſein Oheim Großherzog Ludwig, ein ſchon ziemlich bejahrter Herr, hoch
in den Fünfzigen, der ſeine glücklichſten Jahre im fridericianiſchen Heere
verbracht hatte. Er lebte und webte noch in den Erinnerungen der rhei-
niſchen Feldzüge und erzählte mit Stolz, daß er einſt das berühmte
Bataillon Rhodich, das ſpätere erſte Garderegiment, befehligt. Noch als
Souverän trug er mit Vorliebe die preußiſche Uniform, führte bei ſeinen
Truppen das preußiſche Reglement ein und bewarb ſich ſogleich um die
Verleihung eines preußiſchen Regiments, die ihm auch durch Varnhagens
Befliſſenheit bald zu theil ward;**) wenn bei der Garde eine Treſſe oder
ein Knopf verändert wurde, ſo verſäumte ſein Geſandter in Berlin nie,
die Modelle der neuen Zierrathen den diplomatiſchen Berichten beizulegen.
Zur Zeit des Rheinbunds mußte er Napoleons Ungnade erfahren und
viele Jahre auf dem einſamen Schloſſe zu Salem verbringen. Damals
hatte er den Werth höfiſcher Schmeicheleien kennen gelernt und ſich mit
einer harten Menſchenverachtung erfüllt. Als er jetzt wieder aus der
Vergeſſenheit hervortrat, nahm er das Beamtenthum ſogleich in ſtrengere
Zucht, brachte etwas Ordnung und Sparſamkeit in die zerfahrene Ver-
waltung; die neue Verfaſſung aber konnte dieſer Mann der alten Schule
nur als eine läſtige Feſſel betrachten.


Da Reizenſtein ſich bald verſtimmt in die gelehrte Muße nach Heidel-
berg zurückzog, ſo erlangte Berſtett die entſcheidende Stimme in der Re-
gierung, neben ihm der neue Finanzminiſter Fiſcher, ein guter Rechner
[509]Großherzog Ludwig von Baden.
und harter Bureaukrat. Eine kurze Zeit lang ſuchte der König von
Württemberg die Freundſchaft ſeines neuen Nachbarn zu gewinnen; doch
nach einer geheimen Zuſammenkunft zu Schwetzingen (April 1819) trennten
ſich die beiden Fürſten tief verſtimmt.*) Der alte Soldat in Karlsruhe
wollte von den Hirngeſpinnſten der liberalen Triaspolitik nichts hören und
bemühte ſich um das Wohlwollen der Oſtmächte, deren Mißtrauen ſeinem
Staate ſo ſchwer geſchadet hatte. Er dachte dabei zunächſt an ſein ge-
liebtes Preußen, während Berſtett ſich mehr zu Oeſterreich neigte; Beide
aber, der Souverän wie der Miniſter, blickten mit dankbarer Verehrung
auf Rußland, das ihnen der Geſchäftsträger Blittersdorff beharrlich als
den natürlichen Schwerpunkt für das unruhige Europa anpries, und
hörten gern auf die Rathſchläge Anſtetts in Frankfurt, der nach und
nach einen großen Einfluß am Karlsruher Hofe erlangte.**) Im Hauſe
führte der Großherzog das Leben eines wüſten Junggeſellen; ein guter
Kopf, aber ohne Sinn für edle Bildung hatte er ſich früh geſchmackloſen
Ausſchweifungen ergeben. Als allbereiter Helfer ſtand ihm bei ſeinen
kleinen Abenteuern wie bei den politiſchen Verhandlungen der Major Hen-
nenhofer zur Seite, der Ueberall und Nirgends der Salons, der ſich durch
cyniſchen Witz und einſchmeichelnde Gewandtheit vom Feldjäger zum mili-
täriſchen Diplomaten aufgeſchwungen hatte, ein mit allen Hunden ge-
hetzter Menſch, dem es nicht darauf ankam in amtlichen Aktenſtücken
Citate aus Triſtram Shandy anzubringen, mit Jedermann bekannt, in
alle Geheimniſſe eingeweiht, trotz ſeiner abſchreckenden Häßlichkeit als Ver-
mittler und Zwiſchenträger immer willkommen. Durch die Schuld dieſes
neuen Hofes wurde die ehrbare Stadt Karl Friedrichs auf lange Zeit
hinaus neben München die ſittenloſeſte der deutſchen Reſidenzen.


Nicht ohne Selbſtüberwindung entſchloß ſich der Großherzog, auf den
22. April ſeine Landſtände zu berufen. Ein kleines Land wie das meine, ſo
äußerte er oft, bedarf einer patriarchaliſchen Regierung; indeß getröſtete er
ſich der Hoffnung, daß der Landtag ſich mit der unſcheinbaren Rolle eines
Familienraths begnügen und nichts unternehmen werde „was über unſere
Sphäre hinaus liegt“.***) Bei dem Feſtmahle, das er nach der Eröffnung
des Landtags den Abgeordneten gab, erhob er einen großen Pokal voll
alten Markgräflerweines, trank auf das Wohl ſeiner getreuen Stände
und ließ dann den Humpen nach altem Brauche im Kreiſe herumgehen.
Die Volksvertreter ſelber faßten ihre Aufgabe mit nichten ſo beſcheiden
auf wie der Landesherr; ſie waren ſchon auf der Reiſe von dem hoff-
nungsſeligen Volke überall mit fürſtlichen Ehren, mit Triumphbogen und
rauſchenden Feſten begrüßt worden und empfingen von der gemüthlichen
[510]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Eröffnungsfeier den erhebenden Eindruck, als ob heute ein neues Zeit-
alter der deutſchen Geſchichte begänne. Varnhagen, der ſich ſogleich viel-
geſchäftig unter die Abgeordneten miſchte, konnte ſeiner Regierung gar
nicht genug erzählen von „der nicht zu ſchildernden Größe dieſer impo-
ſanten Momente“.*) Die Volkskammer vornehmlich glaubte die Augen
der ganzen Welt auf ſich gerichtet, wie denn in der That die Karlsruher
Vorgänge bis nach England und Amerika hinüber großes Auſſehen er-
regten, und beſchloß ſogleich einſtimmig, alle Adels- und Amtstitel in der
Kammer abzulegen, da der Ehrentitel des Abgeordneten hoch über allen
anderen irdiſchen Würden ſtehe: — ein ſtolzer Beſchluß, der bei den
ängſtlichen Höfen ſofort die Befürchtung hervorrief, daß ihm die Ab-
ſchaffung des Adels auf dem Fuße folgen werde.


Der badiſche Adel beſaß nur in der erſten Kammer eine ſtändiſche
Vertretung; in der zweiten Kammer tagten nicht, wie in Baiern, die
Abgeordneten von vier ſtändiſchen Gruppen, ſondern die Geſammtheit der
Wahlberechtigten war, ohne Unterſchied der Stände, in ſtädtiſche und
ländliche Wahlbezirke eingetheilt, deren jeder ein Steuercapital von 800,000
Gulden umfaßte. Der Karlsruher Landtag erſchien mithin, dem modernen
Charakter dieſes Staates gemäß, nahezu als eine allgemeine Volksver-
tretung und ſtand ſchon durch ſeine Zuſammenſetzung den demokratiſchen
Ideen des neuen Jahrhunderts näher als die anderen Landſtände jener
Tage; auch an Talent übertraf er den bairiſchen Landtag bei Weitem.
In der erſten Kammer ſaßen für die Kirchen Weſſenberg und Hebel; für
die Univerſitäten Rotteck und ſein Widerpart, der ſinnig gelehrte Thibaut;
für den Adel der Fürſt von Fürſtenberg, ein Ariſtokrat im beſten Sinne,
und der conſervative Freiherr v. Türckheim, ein Elſäſſer, der durch die
Revolution aus ſeiner Heimath vertrieben über die particulariſtiſche Be-
ſchränktheit ſeiner badiſchen Landsleute frei hinausblickte; er ſcheute ſich
nicht zu bekennen, daß ihm die Einheit der Nation das Erſte, die Ver-
faſſungspolitik erſt das Zweite ſei — was in dem allgemeinen Rauſche
der conſtitutionellen Selbſtgefälligkeit ſchon als Volksverrath betrachtet
wurde. Unter den Mitgliedern der zweiten Kammer that ſich Profeſſor
Duttlinger aus Freiburg, ein ſcharfſinniger Juriſt hervor. An Sach-
kenntniß überragte Alle der Geh. Referendar Ludwig Winter, ein derber,
freimüthiger, kurz angebundener Schwarzwälder, Monarchiſt durch und
durch, das Muſterbild eines altbadiſchen Beamten, zu allen ſocialen Re-
formen gern bereit, aber ein abgeſagter Feind des politiſchen Dilettantismus
und der parlamentariſchen Redſeligkeit. Der eigentliche Führer des Hauſes
war Frhr. v. Liebenſtein, ein junger Beamter, der ſchon 1813 die Auf-
merkſamkeit des durchreiſenden preußiſchen Staatskanzler auf ſich gezogen
und neuerdings durch eine ſchwungvolle Rede zur Feier der Leipziger
[511]Der erſte badiſche Landtag.
Schlacht ſich bekannt gemacht hatte. Als Redner feurig, ſchlagfertig und
doch beſonnen, wohl das glänzendſte parlamentariſche Talent der badiſchen
Geſchichte, in ſeinen Anſichten durchaus liberal, unterſchied er ſich von
der Mehrzahl ſeiner Genoſſen durch praktiſchen Takt und ein geſundes
militäriſches Urtheil; die Feſtigkeit ſeines Charakters ſtand aber weit hinter
ſeiner Begabung zurück.


Faſt alle Redner der Oppoſition gehörten dem Beamtenſtande an,
der überhaupt in dieſem Landtage unverhältnißmäßig ſtark vertreten war;
und ſo ward denn zum erſtenmale ein ſchlimmes Gebrechen des deutſchen
Parlamentarismus fühlbar, das bis zum heutigen Tage ungeheilt ge-
blieben iſt. Da eine Klaſſe von Berufspolitikern dieſem verarmten Volke
noch gänzlich fehlte und namentlich die juriſtiſche Bildung faſt aus-
ſchließlich in den Reihen der Beamten zu finden war, ſo hatten die Ur-
heber der neuen Verfaſſungen, um nicht die Sachkundigen ganz von den
Kammern auszuſchließen, alleſammt den Staatsdienern die Wählbarkeit
eingeräumt. Manche der kleinen Kronen ſchmeichelten ſich mit der Hoff-
nung, daß die Beamten im Landtage den Eifer der Oppoſition ermäßigen
würden. Das deutſche Beamtenthum war aber durch die neuen, dem
preußiſchen Muſter nachgebildeten Dienſtpragmatiken unabhängiger ge-
ſtellt, als irgend ein anderer Staatsdienerſtand der Welt; ſeine Mit-
glieder beanſpruchten als Abgeordnete das unbeſchränkte Recht ihre Vor-
geſetzten zu bekämpfen, und es bildete ſich bald die Anſicht aus, daß der
Beruf des Volksvertreters hoch über der Amtspflicht ſtehe, der Dienſteid
mithin für die Dauer des Landtagsmandates ſeine Kraft verliere. So
entſtand die zweifache Gefahr — und beide Folgen ſind in Süddeutſch-
land abwechſelnd eingetreten — daß entweder die Mannszucht des Staats-
dienſtes zerrüttet oder die Charakterfeſtigkeit des Beamtenthums durch
Gunſt und Druck von oben her gebrochen würde. Ein Mittel der Unter-
drückung lag nahe zur Hand: die Verfaſſung enthielt keine Vorſchriften
über die Beurlaubung der zum Landtage gewählten Staatsdiener, und
ſchon während des erſten badiſchen Landtags ward im Miniſterium die
Frage erwogen, ob man nicht wohl thue, in Zukunft die Führer der Oppo-
ſition durch Verſagung des Urlaubs den Kammern fern zu halten — ein
kleinlicher und doch bei der Schwäche dieſer Regierungen leicht begreif-
licher Gedanke, der noch viel Unfrieden über den Süden bringen ſollte.


Es konnte nicht ausbleiben, daß eine an aufgeweckten Köpfen ſo reiche Ver-
ſammlung im erſten Hochgefühle einer großen Beſtimmung, ihre Redekünſte
über alle Höhen und Tiefen des Staatslebens erſtreckte. So lange der Nation
ein Reichstag fehlte, waren die kleinen Landtage faſt gezwungen, trotz
der Warnungen des Großherzogs Ludwig, über ihre Sphäre hinauszu-
gehen, Fragen der geſammtdeutſchen Politik in den Kreis ihrer Be-
rathungen zu ziehen. Ein Menſchenalter hindurch blieb es fortan der
hiſtoriſche Beruf dieſes beweglichen oberrheiniſchen Völkchens, daß hier im
[512]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Lande der reinen Aufklärung die Durchſchnittsanſichten des jungen Libe-
ralismus jene bequeme, gemeinverſtändliche Faſſung erhielten, welche ſie
zu Vorurtheilen Aller machten. Die Initiative ſtand dem Landtage nicht
zu, wohl aber das Recht, die Regierung um den Vorſchlag eines Geſetzes
zu bitten, und er machte von dieſer Befugniß einen ſo umfaſſenden Ge-
brauch, daß die Krone, wenn ſie ſich fügte, die Leitung der geſetzgeberiſchen
Arbeit gänzlich verloren hätte.


Ein ganzes Programm liberaler Wünſche, Stoffes genug für die
Geſetzgebung mehrerer Jahrzehnte, ward in kurzen drei Monaten vor-
gebracht und von der Kammer, da die Antragſteller ſich zumeiſt in un-
beſtimmten Allgemeinheiten bewegten, einſtimmig oder mit großer Mehr-
heit angenommen, was der entzückte Varnhagen für ein merkwürdiges
Zeichen politiſcher Reife erklärte. Ganz einſtimmig war das Haus, als
Frhr. v. Lotzbeck, der reiche Lahrer Tabaksfabrikant, nach einer draſtiſchen
und nur allzu wahren Schilderung der zunehmenden Verarmung, die all-
gemeine Verkehrsfreiheit für ganz Deutſchland verlangte. Von den Wegen
freilich, die zu dieſem Ziele führen ſollten, hatte Niemand einen Begriff,
und daß der König von Preußen ſoeben elf Millionen Deutſchen den
freien Verkehr geſchenkt, wurde nicht nur nicht gewürdigt, ſondern als ein
ſchnöder Eingriff in die wahre deutſche Verkehrsfreiheit gebrandmarkt
Darauf beantragte der wackere Heidelberger Buchhändler C. F. Winter
die Einführung der Preßfreiheit, und Liebenſtein unterſtützte ihn mit For-
derungen, welche erſt das neue deutſche Reich verwirklicht hat: er ver-
langte nicht nur, wie billig, die Aufhebung der Cenſur, ſondern wollte
auch die Cautionen für die Zeitungen und ſchlechthin alle vorbeugenden
Maßregeln gegen die Preſſe beſeitigt wiſſen, was in der That unmöglich
war, ſo lange die öffentliche Meinung ſich noch nicht einmal über die
Grundlagen des deutſchen Bundesrechts geeinigt hatte. Dann bot Rotteck
den Miniſtern, welche dieſer Hilfe durchaus nicht begehrten, den Beiſtand
der Kammer an zum Kampfe gegen die römiſche Curie und verherrlichte
die deutſche katholiſche Nationalkirche, wie immer fein und liebenswürdig
in der Form, aber in der Sache ganz radikal, ganz unbekümmert um
die Thatſachen der Geſchichte, welche die Unausführbarkeit der Weſſen-
bergiſchen Träume bereit erwieſen hatten. Es lag eine wunderbare Kraft
des Glaubens in dem warmherzigen Doktrinär, der ſich die Möglichkeit eines
ſtichhaltigen Einwandes gegen das Evangelium des Vernunftrechts ſchlechter-
dings nicht vorzuſtellen vermochte. Thibaut und A. Müller, ſo geſtand
er beſcheiden, ſind mir an Geiſt und Gelehrſamkeit weit überlegen, aber
Recht und Wahrheit ſtehen auf meiner Seite und mit ihnen iſt man un-
überwindlich. Darum verdammte er jedes Compromiß als einen Ver-
rath: „zwiſchen Recht und Nicht-Recht kenne ich keinen Mittelweg.“


Daran ſchloſſen ſich wohlberechtigte, aber noch ganz unfertige An-
träge auf Beſeitigung der Frohnden und Zehnten, auf Trennung von
[513]Liebenſtein. Winter. Rotteck.
Juſtiz und Verwaltung, auf öffentliches und mündliches Verfahren. Vor
Allem das Schwurgericht empfing hier unter ſchwungvollen Reden gleichſam
die Weihe als ein Heiligthum des Liberalismus. Von der Nothwendig-
keit, die Gerichte mit dem Gewiſſen und den Lebensgewohnheiten des
Volks in Einklang zu halten, von den Bedürfniſſen der Rechtspflege war
wenig die Rede; vielmehr wurden die Schwurgerichte, noch entſchiedener
als kurz zuvor in der bairiſchen Kammer, für eine politiſche Inſtitution
erklärt. Sie ſollten den „Hauptpfeiler der politiſchen Freiheit“ bilden;
ohne ſie, verſicherte Liebenſtein, ſei alles Andere nur Schein. Die öffent-
liche Meinung ſtimmte jubelnd zu, obgleich die Erfahrungen des napo-
leoniſchen Kaiſerreichs wahrlich nicht für die neue Lehre ſprachen; alle
Welt grollte, und mit Recht, über die Paſcha-Willkür der badiſchen Amt-
männer und gab ſich der kindlichen Hoffnung hin, durch „das Volk“
werde jede Tyrannei ein Ende finden. So ward die rein juriſtiſche Frage
zur politiſchen Parteiſache. Den Regierungen fuhr der Schrecken in alle
Glieder; ſie waren bisher, zumal die preußiſche, der dringend nöthigen
Reform des Strafverfahrens keineswegs abgeneigt geweſen, jetzt erſchien
ihnen die Neuerung ſtaatsgefährlich.


Nach dem mächtigen Pathos dieſer Zukunftsdebatten, bei denen Varn-
hagen immer die Hand mit im Spiele hatte, erſchien die pedantiſche Klein-
meiſterei der Budgetberathung hochergötzlich. Allerdings bot das Budget,
nach ſo vielen Jahren unordentlicher Finanzwirthſchaft, manche anfecht-
bare Stellen. Da entfalteten ſich denn breit und behäbig alle jene Künſte
des parlamentariſchen Mückenſeigens und Milbenſpaltens, welche den
deutſchen Landtagen auf lange hinaus zum Vorbilde dienten. Um jeden
aggregirten Sekretär, um jede Pferderation der Bataillonsadjutanten ward
mit heiliger Entrüſtung geſtritten; das unbeliebte Militärbudget erlitt
natürlich ſtarke Abſtriche, und da die Regierung, unbedachtſam genug, ver-
ſäumt hatte, den Unterhalt des landesfürſtlichen Hauſes vor der Ver-
kündigung des Grundgeſetzes ſicher zu ſtellen, ſo trat die unanſtändige
Wißbegierde der Volksvertreter auch an die häuslichen Angelegenheiten
der Dynaſtie heran. Die Civilliſte ſelbſt fand die Genehmigung der
Stände, aber von den Apanagen ward faſt ein Viertel geſtrichen. Auf
ihrem Wittwenſitze zu Bruchſal lebte noch die Mutter des verſtorbenen
Großherzogs, die greiſe Markgräfin Amalie, eine Tochter der großen Land-
gräfin von Darmſtadt. Wie oft hatte dieſe tapfere Frau einſt in den
Tagen der Franzoſenherrſchaft ihr wirkſames Fürwort für den badiſchen
Staat eingelegt; und nun ſtrich ihr dieſer Landtag, der ihr eigentlich ſein
Daſein verdankte, 20,000 fl. von ihrem beſcheidenen Einkommen. Wie
hätten dieſe Kleinbürger auch begreifen ſollen, daß der Hofhalt einer
Fürſtin, deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Baiern,
Heſſen und Braunſchweig ſaßen, nicht nach den Bedürfniſſen einer Land-
pfarrerswirthſchaft beurtheilt werden durfte? Die ganze mächtige Verwandt-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 33
[514]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ſchaft der Markgräfin fühlte ſich beleidigt, die Mutter des Czaren Alexan-
der rief dem badiſchen Geſchäftsträger zu: „ſo wenig kann man auf die
Dankbarkeit der Völker zählen!“*)


Durch das Uebermaß ſeiner Wünſche und die Kleinlichkeit ſeiner Be-
willigungen hatte der Landtag bereits alle Höfe tief verſtimmt. Da be-
ging er noch einen letzten, unbegreiflichen Fehler: er lehnte ſich wider den
Bundestag auf und leider auch wider das klare Recht. Im April 1818
hatte der badiſche Hof die Rechtsverhältniſſe der Mediatiſirten und der
Reichsritterſchaft durch ein Adels-Edikt geordnet, das ganz im Geiſte der
rheinbündiſchen Bureaukratie gehalten war und offenbar wider die Vor-
ſchriften des Art. 14 der Bundesakte verſtieß. Das Edikt wurde nachher
für einen Beſtandtheil der neuen Verfaſſung erklärt, doch der in ſeinem
Rechte ſchwer verletzte hohe Adel ließ ſich nicht beſchwichtigen, und die
Regierung gerieth bald in peinliche Verlegenheit. Ganz ſo großmüthig
wie der König von Preußen konnte dieſe kleine Krone die Verheißungen
der Bundesakte freilich nicht verwirklichen; aber wenngleich einzelne For-
derungen des Adels über alles Maß hinaus gingen und das Haus Löwen-
ſtein ſogar die Erhebung der Mainzölle für ſich verlangte, ſo waren die
Mediatiſirten doch auf Grund der Bundesakte und zahlreicher europäiſcher
Verträge unzweifelhaft berechtigt die Patrimonialgerichtsbarkeit und die
Ortspolizei zu beanſpruchen. Die Regierung begann ihr Unrecht einzu-
ſehen; ſie wußte auch, daß ſie die Ungunſt, die ihr auf dem Wiener Congreß
zu theil geworden, zumeiſt den beſtändigen Beſchwerden des Adels zu
verdanken hatte. Vergeblich berief ſie ſich, gegen den Führer der Reichs-
ritter, Frhrn. v. Venningen, auf „den Geiſt der Zeit, der in Süddeutſch-
land dem Adel nicht günſtig ſei;“**) die Mediatiſirten beſtanden auf ihrem
guten Recht und erlangten, wie früher erzählt, bei dem Aachener Con-
greſſe freundliches Gehör. In ernſten Schreiben mahnten die vier Mächte
den Karlsruher Hof an ſeine Vertragspflicht. „Wahrlich, ſchrieb Kapo-
diſtrias an Berſtett, in dieſem Augenblicke, wo alle Rechte des badiſchen
Hofes wieder unter eine doppelte Bürgſchaft geſtellt worden ſind, kann
ein Appell an die Rechtſchaffenheit ſeiner Politik unmöglich fruchtlos
bleiben!“***)


So ſtand es in der That. Die Regierung durfte ſich den recht-
mäßigen Anforderungen des Vierbundes, der die ganze Zukunft dieſer
Dynaſtie ſoeben erſt geſichert hatte, nicht verſagen. Nach kurzem Schwanken
knüpfte ſie neue Verhandlungen mit den Mediatiſirten an, obgleich der
erbitterte Feind des hohen Adels, König Wilhelm von Württemberg, ſie
dringend zum Widerſtande gegen den Aachener Congreß aufforderte.†)
[515]Das badiſche Adels-Edikt.
So kam am 16. April 1819 ein zweites den Vorſchriften der Bundes-
akte zur Noth entſprechendes Adels-Edikt zu Stande, das den vier Mäch-
ten vorgelegt*) und am Bundestage für grade genügend erklärt wurde.
Berſtett ließ das neue Edikt am Abend vor der Eröffnung des Landtags
veröffentlichen; er rechnete, die Stände würden ſich in die unbequeme
Nothwendigkeit ergeben und den Ausgleich als letztes Vermächtniß der
abſoluten Monarchie ſtillſchweigend genehmigen. Wie wenig kannte er
doch den Charakter ſeiner Abgeordneten! Hier erhob ſich die köſtliche
Frage: wer iſt älter, die Henne oder das Ei? beſitzt ein Landtag ſchon
Rechte noch bevor er exiſtirt? Fragen ſolcher Art haben auf die kleinen
deutſchen Landtage jederzeit eine dämoniſche Anziehungskraft ausgeübt
und ihnen den beſten Stoff für ihre großen Juriſtenfeſte geboten. So
auch diesmal. Alles zürnte über den frivolen Verfaſſungsbruch. Aus
dem Munde ſehr gemäßigter Männer vernahm man Doctrinen, die ganz
harmlos gemeint, doch an Rouſſeaus Contrat ſocial ſtark anklangen: der
Großherzog, ſo hieß es, hat durch die Verkündigung der Verfaſſung dem
Volke einen urſprünglichen Vertrag angeboten, das Volk hat durch Vor-
nahme der Wahlen eingewilligt, und ſeitdem iſt der Vertrag perfekt.


In der zweiten Kammer erhielt Ludwig Winter das Referat über das
Adels-Edikt, und nun ſpielte ſich ein ſeltſamer Auftritt ab, wie er nur in
dieſen erſten Kinderjahren des deutſchen Parlamentarismus möglich war.
Winter war Abgeordneter für Durlach und zugleich Regierungscommiſſär,
er hatte als ſolcher ſoeben den Entwurf einer neuen Gemeindeordnung
vor den Kammern vertheidigt, und dieſer Commiſſär der Regierung erhob
ſich jetzt, um das Miniſterium mit einer Heftigkeit anzugreifen, wie noch
kein Abgeordneter vor ihm. Der leidenſchaftliche Mann handelte im
beſten Glauben, er ſah den Großherzog durch das Adels-Edikt unver-
äußerlicher Kronrechte beraubt und hielt ſich als treuer Unterthan ver-
pflichtet, der Krone gegen ihre eigenen Miniſter zu Hilfe zu eilen. Aber
er war Partei, er hatte das erſte, nunmehr aufgehobene Adels-Edikt ſelber
verfaßt und vertheidigte ſein Werk mit allen Waffen des abſtrakten Ver-
nunftrechts; für die Bundesakte, für die europäiſchen Verträge, auf
denen doch der Beſtand des Großherzogthums Baden ſelber ruhte, hatte
er kein Auge: „wir haben, rief er aus, mit dem Bundestage nichts zu
thun und wollen auch nichts mit ihm zu thun haben; das iſt Sache der
Regierung.“ Auf dieſe naturrechtlichen Argumente folgte dann eine will-
kürliche Auslegung der Bundesakte, die ſich noch bitter beſtrafen ſollte.
Winter behauptete, der Art. 13 verſpreche ausdrücklich das Repräſentativ-
ſyſtem, nicht eine altſtändiſche Verfaſſung, er ſetze alſo die Rechtsgleichheit
aller Bürger voraus, und folglich ſeien die den Mediatiſirten im Art. 14
gewährten Privilegien unausführbar, rechtlich nichtig.


33*
[516]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

Welch eine Verdrehung allbekannter Thatſachen! Zur Zeit des Wiener
Congreſſes hatte noch Niemand in Deutſchland über den Gegenſatz repräſen-
tativer und altſtändiſcher Verfaſſung ernſtlich nachgedacht. Nach ihrem eigenen
Geſtändniß verſtanden die Urheber der Bundesakte unter „landſtändiſcher
Verfaſſung“ ganz im Allgemeinen irgend eine Vertretung, ſei es des
ganzen Volks, ſei es der einzelnen Stände. Der Verſuch Preußens, dem
Verfaſſungsverſprechen durch die Aufzählung landſtändiſcher Rechte einen
beſtimmten Inhalt zu geben, ſcheiterte an dem Widerſpruch der Rhein-
bundsſtaaten, und man wählte abſichtlich einen dehnbaren Ausdruck, da-
mit die Souveränität der Kronen ja freie Hand behielte. Oeſterreich,
Sachſen, Mecklenburg konnten dabei an ihre alten Stände, die ſüd-
deutſchen Staaten an moderne Conſtitutionen denken. Winters Behaup-
tung war rein ſophiſtiſch und, wie ſich bald zeigte, eine arge Unklugheit;
denn begannen erſt die Liberalen den Art. 13 in ihrem Sinne unredlich
auszulegen, ſo mußte die reaktionäre Partei Gleiches mit Gleichem ver-
gelten, und ſie hatte mindeſtens den Buchſtaben für ſich, wenn ſie ihrer-
ſeits behauptete: landſtändiſche Verfaſſung bedeutet „Stände“, und nicht
das Repräſentativſyſtem. Bei ſeinen Hörern hatte Winter gewonnenes
Spiel. Als er ſchließlich die Beſeitigung des Adels-Edikts beantragte, wollte
der Beifall kein Ende nehmen; auch das patriotiſche Feſtmahl fehlte nicht,
das fortan regelmäßig zur Belohnung verdienter Volksmänner dargeboten
wurde. In den größeren Verhältniſſen Baierns blieben die Mediatiſirten,
trotz ſo mancher Reibungen zwiſchen den beiden Kammern, von den Libe-
ralen unangefochten; in dem kleinen badiſchen Lande wußte man mit
einem hohen Adel nichts anzufangen, alle Ariſtokratie galt für volksfeind-
lich. Nach Kräften ſchürte Varnhagen unter den Abgeordneten den Adels-
haß, obgleich er wußte, daß ſeine Regierung das Adels-Edikt mit ver-
anlaßt hatte; er ſcheute ſich nicht, ſogar in ſeinen amtlichen Berichten
die Gegner des Bundestags und der Quadrupelallianz feurig zu loben.*)


Der weitere Verlauf der Debatten zeigte, wie gründlich die nationale
Geſinnung durch die Nichtigkeit des Bundestags bereits zerrüttet war.
Die Bundesverſammlung ward mit Beleidigungen überſchüttet, das Grund-
geſetz des Bundes mit der äußerſten Geringſchätzung abgefertigt. Die-
ſelben Liberalen, die ſo laut nach der Erfüllung des vieldeutigen Art. 13
riefen, erklärten die ausführlichen und unzweideutigen Vorſchriften des
Art. 14 für unverbindlich. Die Ehrenpflicht der Nation gegen die ſchänd-
lich mißhandelten Opfer des napoleoniſchen Gewaltſtreichs von 1806, der
klare Wortlaut der Bundesakte, die ſo viel älter war als die badiſche
Verfaſſung und immerhin das einzige ſtaatsrechtliche Band für dies zer-
ſplitterte Volk bildete — das Alles ſollte nichts gelten gegenüber einem
unzweifelhaft rechtswidrigen großherzoglich badiſchen Geſetze, das noch dazu
[517]Der badiſche Landtag gegen den Bundestag.
durch die badiſche Regierung ſelber bereits aufgehoben war. Man hielt
es gar nicht der Mühe werth erſt zu beweiſen, warum denn Baden ſeine
Bundespflichten gegen die Mediatiſirten nicht ebenſo ehrlich erfüllen konnte
wie Preußen und Baiern. Schritt man auf dieſem Wege fort, ſo wurden
die letzten armen Trümmer einer nationalen Rechtsordnung, welche den
Deutſchen noch blieben, durch den liberalen Particularismus zerſtört.
Jene Zuchtloſigkeit der [deutſchen] Libertät, welche das alte Reich verwüſtet
hatte, lebte wieder auf; nur trotzte ſie nicht mehr auf habende ſtändiſche
Freiheiten, ſondern auf die naturrechtliche Phraſe der angeborenen Rechte.
Liebenſtein, der ſo oft in flammender Begeiſterung von der Einheit
Deutſchlands geredet hatte, ſtellte jetzt die ungeheuerliche Behauptung auf,
ein Bundesbeſchluß werde überhaupt erſt rechtsgiltig durch die Zuſtim-
mung der Karlsruher Kammern, obſchon die badiſche Verfaſſung ſelbſt
die Verbindlichkeit der Bundesgeſetze für das Großherzogthum ausdrücklich
anerkannte. Paulus beeilte ſich, in Rottecks Archiv dieſe neue Doctrin
als ein Bollwerk deutſcher Freiheit zu verherrlichen. Die Liberalen wagten
offenen Ungehorſam gegen den Deutſchen Bund, auf deſſen Grundgeſetz
die badiſche Verfaſſung ſelber beruhte; und dies in einem Augenblicke,
da der Bundestag zwar durch Trägheit ſchwer geſündigt, aber noch durch-
aus keine Gewaltthat gegen die Freiheit der Nation verſucht hatte. Und
bei dieſem Feldzuge gegen den Bund half der preußiſche Geſchäftsträger
getreulich mit; er ſpielte die Rolle eines badiſchen Oppoſitionsführers mit
ſolcher Dreiſtigkeit, daß Großherzog Ludwig ein Jahr darauf, als Varn-
hagen endlich abberufen war, zu ſeinem Nachfolger Küſter offen ſagte:
wir haben endlich Frieden, weil Varnhagen nicht mehr hier iſt; „ſeine
Anweſenheit würde heute wie vor’m Jahre Alles verderben!“ *)


In der erſten Kammer fanden die Rechte der Mediatiſirten beſſeren
Schutz. Türckheim erſtattete einen vortrefflichen, freilich ſehr ſcharfen Be-
richt, wies das Unrecht der zweiten Kammer ſiegreich nach und gab ihr
zu bedenken, daß ein angeſehener Adel zu allen Zeiten eine Schutzmauer
gegen die Willkür des Beamtenthums geweſen ſei. Der Uebermuth der
jungen liberalen Partei war aber ſchon ſo hoch geſtiegen, daß ſie ein
ſtarkes Wort aus conſervativem Munde bereits wie eine Gewerbsbeein-
trächtigung anſah. Die zweite Kammer wies den Bericht Türckheims
„mit Indignation“ zurück, obgleich ihre eigenen Redner wahrlich auch
kein Blatt vor die Lippen genommen hatten. In ſeiner Erwiderung berief
ſich Winter ſogar auf den berühmten Satz aus Steins politiſchem Teſta-
ment, daß keinem Unterthan obrigkeitliche Gewalt zuſtehen dürfe; und
doch war allbekannt, daß der Freiherr die vormaligen Reichsſtände keines-
wegs zu den Unterthanen rechnete, ſondern ihre vertragsmäßigen Rechte
lebhaft vertheidigte. Die Regierung wußte nicht aus noch ein. Vom
[518]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Bundestage und von den meiſten Höfen kamen verwunderte Anfragen:
ob denn in Baden Alles aus Rand und Band gehe, da der Commiſſar
der Regierung ſelber die Oppoſition zum Kampfe gegen den Bund und
das Miniſterium führen dürfe? *) Graf Buol rief, auf die Nachricht
von Liebenſteins Rede: ohne Zweifel liegt der Redner bereits in Ketten!
Miniſter Berſtett aber war nicht der Mann dieſen Sturm zu beſchwören;
er ließ ſich im Zorne zu dem Vorwurfe jakobiniſcher Geſinnung gegen
die Kammer hinreißen und ſteigerte nur den Unwillen. Da verlor der
Großherzog endlich die Geduld. Am 28. Juli wurden die Kammern
plötzlich bis zum nächſten Jahre vertragt. Der dreimonatliche Redekampf
ging ohne jedes Ergebniß zu Ende, kein einziges Geſetz war vereinbart.


Zugleich brach auch über den Mann, der ſo lange ſchon in Karls-
ruhe dem preußiſchen Namen Unehre bereitet hatte, die Vergeltung her-
ein. Seit zwei Jahren war Varnhagens Amtsführung nur eine Kette
von Unbotmäßigkeit und Gewiſſenloſigkeit. Als Berichterſtatter unzuver-
läſſig, parteiiſch, ſchlecht unterrichtet, hatte er ſeine Regierung ſogar frech
belogen, als er jene Briefe der Souveräne von Baiern und Baden an
die Zeitungen verrieth und ſich nachher über dieſen Verrath entrüſtet
ſtellte; ſeinen Weiſungen entgegen, hatte er ſich zuerſt in die bairiſch-ba-
diſchen Händel eingemiſcht, dann liberale Parteipolitik getrieben und ſchließ-
lich die Rechtsanſprüche der Mediatiſirten, welche der Berliner Hof un-
terſtützte, geradezu bekämpft. Es war eine Pflichtvergeſſenheit, die in der
Geſchichte der preußiſchen Diplomatie wohl nur einmal ein Seitenſtück
fand: an dem Verhalten des Grafen Haugwitz zur Zeit der Auſterlitzer
Schlacht. Auf die wohlberechtigte Klage des badiſchen Hofes wurde Varn-
hagen abberufen und hatte es nur der Gutmüthigkeit Hardenbergs und
Bernſtorffs zu verdanken, daß er nicht die einfache Entlaſſung, ſondern
ein ganz unverdientes Wartegeld erhielt. Er fiel als das Opfer ſeiner Eitel-
keit und ſeines Ungehorſams. Doch da ſeine Abberufung zufällig mit dem
Beginn der Demagogenverfolgung zuſammentraf, und die uneingeweihten
Zeitungen bald von ſeiner Verhaftung, bald von ſeinen jakobiniſchen
Plänen fabelten, ſo ſpielte er in Berlin den liberalen Märtyrer, und
nachdem er viele Jahre hindurch bei allen Miniſtern des Auswärtigen,
von Bernſtorff bis auf Manteuffel, immer vergeblich um Wiederanſtellung
gebeten hatte, rächte er ſich endlich durch eine literariſche Giftmiſcherei,
die ſeiner politiſchen Thaten würdig war.


In Baden arbeitete unterdeſſen Miniſter Fiſcher, wie kurz zuvor Rech-
berg in München, an dem Plane eines Staatsſtreichs. Er ſchlug ſeinem
Fürſten in einer Denkſchrift vor: die Krone möge die Domänen wieder
an ſich nehmen und wenn der Landtag darauf nicht eingehe, die Ver-
[519]Vertagung der Kammern. Varnhagen.
faſſung für gebrochen erklären; dann könnten durch Vermittelung des
Bundestags berathende Stände eingeführt werden. Der Großherzog aber
wies den Plan vorderhand zurück, er hoffte mit Hilfe der Beſchlüſſe,
die ſoeben in Karlsbad verabredet wurden, ſeinen Landtag zu bändigen. —
Das alſo war das Ergebniß der erſten Jahre unſeres conſtitutionellen
Lebens. In Württemberg hatte ein harter Streit mit den Landſtänden
vorläufig die Dictatur des Königs herbeigeführt; in Baiern rief die
Krone den Beiſtand der Großmächte gegen ihren Landtag an; in Baden
gingen Fürſt und Stände in Unfrieden auseinander, und die Volksver-
treter lehnten ſich wider die Bundesakte auf. Angeſichts ſolcher Thatſachen
begann der König von Preußen ernſtlich zu bezweifeln, ob ſein ſo müh-
ſam zuſammenwachſender Staat dem raſch bereuten Vorgehen Baierns fol-
gen dürfte. König Friedrich Wilhelm IV. ſagte die volle Wahrheit, als
er bald nach ſeiner Thronbeſteigung verſicherte, ſein Vater ſei durch die
conſtitutionellen Erfahrungen der deutſchen Nachbarſtaaten bewogen worden,
das Verſprechen vom Mai 1815 in reifliche Erwägung zu ziehen. —


Noch bevor das ungewohnte Schauſpiel dieſer parlamentariſchen
Kämpfe zu Ende ging, war ein Ereigniß eingetreten, das alle Höfe mit
paniſchem Schrecken betäubte und zu einem Wendepunkt in der Geſchichte
des deutſchen Bundes werden ſollte. Am 23. März 1819 wurde Kotzebue
durch den Jenenſer Burſchenſchafter Sand ermordet. Freund und Feind
empfanden ſofort, daß in der blutigen That nicht die Ruchloſigkeit eines
Einzelnen, ſondern der lang angeſammelte Parteihaß der radikalen Sekten
der Studentenſchaft ſich entladen hatte. Der dämoniſche Reiz des Un-
begreiflichen verführt die Welt leicht, in den Urhebern ſchwerer Verbrechen
einen Zug von Größe zu ſuchen; das Leben dieſes Mörders aber bot zwar
der krankhaften Züge genug und manchen Anlaß zu menſchlichen Mitleid,
bewunderungswerth war nichts an ihm als jene finſtere, geſammelte
Willenskraft, die den Fanatiker macht.


Karl Sand war der Sohn eines vormals preußiſchen Beamten und
im Fichtelgebirge unter den treuen brandenburgiſchen Franken aufge-
wachſen, in einem Lande, wo Jedermann über die neue Ordnung der
deutſchen Dinge grollte. Das ſtarre Auge und die niedere, von langem,
dunklem Haar umrahmte Stirn verriethen einen beſchränkten Geiſt, der
bei eiſernem Fleiße nur langſam faßte und dann die ſchwer errungene
Erkenntniß mit zähem Eigenſinn gegen jede Einrede behauptete. Eine tugend-
ſtolze Mutter erfüllte den Sinn des Knaben ſchon frühe mit unkindlicher
Selbſtgerechtigkeit. Alſo vorbereitet trat er als Student in jene teuto-
niſchen Kreiſe, wo die grüne Jugend ſich ſo zuverſichtlich im Bewußtſein
ihrer eignen Kraft und Keuſchheit ſonnte und wider die geile Schlaffheit
[520]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
des alten Geſchlechtes eiferte; allen ſeinen Genoſſen blieb es unvergeßlich,
mit welchem höhniſchen Hochmuth er die Verſe zu ſingen pflegte: Du
mußt dann unter ſeidenen Decken, unter Mercur und Latwergen verrecken!
Der heidniſche Dünkel, der rationaliſtiſche Stolz auf die unbefleckte Würde
des freien ſich ſelber behauptenden Ich vertrug ſich aber in dieſem armen
Kopfe mit einer myſtiſchen Schwärmerei, die verzückt zu Jeſu Vorbild
aufblickte und den Finger Gottes in jedem kleinen Tageserlebniß zu er-
kennen wähnte: mit Gebet und frommen Betrachtungen bereitete er ſich
ſelbſt auf die harmloſen ſtudentiſchen Duellſpiele vor, und oft lud er
nach einem geringfügigen Wortwechſel ſeinen Gegner feierlich vor Gottes
Gericht.


Erfahrenen Menſchenkennern hinterließ der verſchloſſene, im per-
ſönlichen Verkehre freundliche und gutmüthige Jüngling doch einen un-
heimlichen Eindruck; als Wangenheim, ſein alter Gönner von Tübingen
her, eines Tages in Frankfurt erfuhr, Karl Sand habe ihn auf der Durch-
reiſe beſuchen wollen, da überkam ihn ſofort die Ahnung, daß etwas
Gräßliches im Werke ſei, er warf ſich aufs Pferd und eilte dem Wan-
derer auf der Bergſtraße nach ohne ihn zu finden. Sand hatte als bairi-
ſcher Freiwilliger an dem Feldzuge von 1815 theilgenommen, aber den
Feind nie zu Geſicht bekommen und voll Verachtung gegen die Soldaterei
alsbald nach der Heimkehr den bunten Rock wieder ausgezogen. Um ſo
eifriger ſtürzte er ſich mit Leib und Seele in das Treiben der Burſchen-
ſchaft; die Verbindung war ihm Staat und Kirche, Haus und Liebe,
Eines und Alles, die ganze Welt ſah er zertheilt in zwei große Heerlager:
hier die reinen, freien, keuſchen Burſchen, dort die feilen Schergen der
Zwingherrſchaft. In Tübingen, in Erlangen, endlich in Jena war er
überall mit dabei, wo feurige Teutonen Rütli-Schwüre tauſchten und von
St. Georgen-Thaten ſchwärmten, ein unbeholfener Redner, wenig ange-
ſehen bei den Genoſſen, nur als rüſtiger Turner wohl gelitten; aber was
der laute Schwarm gedankenlos herauspolterte, das erſchütterte dieſe ſchwere
Natur bis ins Mark, ihm war es kein leeres Wort, wenn die Burſchen
ſangen:


Und in der Wideriſchen Herzen tauchen,

Thut’s noth, das deutſche Schwert!

Als er in Erlangen einen geliebten Freund dicht vor ſeinen Augen
ertrinken ſah und die Landsmannſchaften ſich weigerten dem Todten das
letzte Geleite zu geben, da ſchwand der letzte Schimmer jugendlicher Heiter-
keit aus ſeinem umnachteten Gemüthe; er ſah ſich umringt von einer
Welt von Feinden und kündete dieſer verrotteten Welt in ſeinem Herzen
offene Fehde an: „Ihr Fürſten Deutſchlands, warum mußtet Ihr mich
aus meinem Frieden aufſtören?“ Haß, glühender Haß wider die unbe-
kannten Gegner der Burſchenſchaft und des einen untheilbaren deutſchen
Freiſtaats erfüllte ihm die Seele, und nun wies Luden durch ſeinen
[521]Karl Sand.
Aufſatz gegen Kotzebue dem wilden Drange ein beſtimmtes Ziel; der
frivole Schalk erſchien dem tugendſtolzen Schwärmer wie das Urbild aller
Sünden des alten Geſchlechts, obwohl Sand von ihm nichts kannte als
ein paar Luſtſpiele und einige Wochenblatts-Artikel. In ſolcher Stimmung
kam der Unglückliche nach Jena, gerieth dort ſogleich unter das Joch
Karl Follens, ſog mit Begierde die Mordlehren der ſchwarzen Brüder
ein. Jetzt endlich — ſo ſchrieb er bald nachdem er Follen kennen ge-
lernt — habe er ein Ziel für ſein Leben gefunden: „aus eigener Ueber-
zeugung, in eigener Art leben wollen mit unbedingtem Willen, im Volke
den reinen Rechtszuſtand, d. i. den einzig giltigen, den Gott geſetzt hat,
gegen alle Menſchenſatzung mit Leben und Tod zu vertheidigen.“ Sein
geiſtiges Vermögen reichte nicht aus um den ſchülerhaften Denkfehler, der
dem Moralſyſteme Follens zu Grunde lag, zu durchſchauen. Er brachte
es über ſich ſein Gewiſſen gleichſam zu theilen, blieb im täglichen Leben treu,
wahrhaft, hilfreich, nur gegen die Tyrannen ſchien ihm Alles erlaubt.
Seine theologiſchen Studien, die er über dem Verbindungsleben arg ver-
nachläſſigt hatte, boten ihm doch die Mittel, um die Lehre der Gewiſſen-
loſigkeit auf religiöſe Gründe zu ſtützen; aus der Bibel und dem Thomas
a Kempis wähnte er den Satz herauszuleſen: „wenn der Menſch die
Wahrheit ſo erkannt hat, daß er vor Gott ſagen kann: das iſt wahr —
ſo iſt es auch Wahrheit wenn er es thut!“ Und als er nun täglich „den
Meiſter der Vaterlandserretter,“ Karl Follen mit beredtem Munde die
ſittliche Nothwendigkeit des Meuchelmordes preiſen hörte, da kam ihm der
Gedanke ſich ſelbſt zu opfern für die gute Sache und zu erproben, ob
er das Volk durch den Schrecken einer heiligen Mordthat aus ſeinem
Schlummer aufrütteln könne.


Kalt, ſicher, ganz mit ſich einig traf er ſeine Vorbereitungen; er
hatte ſich längſt gewöhnt jeden Vertreter der gegneriſchen Anſicht als einen
Todfeind zu betrachten, er lebte im Zuſtande des Krieges mit den Ge-
walthabern und ihren Helfershelfern, er war berechtigt Kotzebue mit dem
Dolche zu ſtrafen, „weil er das Göttliche in mir, meine Ueberzeugung
unterdrücken will.“ Die niedrige Feigheit einer Gewaltthat gegen einen
wehrloſen Greis kam ihm ebenſo wenig zum Bewußtſein, wie die ſinn-
loſe Thorheit eines Verbrechens, das an der beſtehenden politiſchen Ord-
nung ſchlechterdings nichts beſſern konnte. Auch die Todſünde des neun-
zehnten Jahrhunderts wirkte mit, jener impotente Größenwahnſinn, der
faſt bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geſchichte ſeine Rolle
ſpielt. Sand war nicht blos aufgebläht durch den ſittlichen Dünkel ſeiner
Sekte, ſondern auch perſönlich eitel: derweil er über ſeinen ruchloſen Ge-
danken brütet, zeichnet er ſich auf ein Blatt ſein eignes Bild, wie er auf
den Stufen einer Kirche knieend ſich den Dolch ins Herz drückt, an der
Kirchthür aber hängt mit einem anderen Dolche angeheftet das Todes-
urtheil über Kotzebue. Sicherlich hat der unſelige Menſch ſelbſt geglaubt,
[522]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
daß er ſeinen Entſchluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die aus
eigener Ueberzeugung entſpringende That ließ er gelten; es iſt aber pſycho-
logiſch unmöglich, daß der menſchenkundige Karl Follen, der mit ſeinem
Baſiliskenblick den wehrloſen Schwachkopf vollkommen beherrſchte und in
dieſer dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan
nicht bemerkt und nicht befördert haben ſollte. So gewiß die Aehre dem
Saatkorn entſprießt, ebenſo gewiß erſcheint der Prediger des politiſchen
Mordes vor dem ſittlichen Urtheil der Geſchichte als der Urheber der
Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im ſtreng juriſtiſchen Sinne
als Anſtifter zu betrachten ſei, dies wird wohl für immer verborgen
bleiben. Ein Mitwiſſer des gefaßten Entſchluſſes war er unzweifelhaft;
er verſchaffte, wie die Unterſuchung herausſtellte, dem Mörder das Reiſe-
geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit v. Dörring und
wahrſcheinlich noch ein Dritter aus jener radikalſten Sekte der Unbe-
dingten, die man die Haarſcharfen nannte, waren mit im Geheimniß;
aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete ſeine
Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Criminalprozeſſes, belehrte
ſie ſorgſam über ihr Verhalten vor dem Unterſuchungsrichter und ſchärfte
ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genoſſen nicht in
Gefahr bringen dürfe. *)


Mit der Ruhe des guten Gewiſſens trat Sand ſeine Reiſe an und
betrachtete unterwegs wißbegierig alle Sehenswürdigkeiten. In Mann-
heim fand er ohne Mühe Zutritt bei ſeinem argloſen Opfer, nach einigen
gleichgiltigen Worten ſtieß er dem alten Manne plötzlich mit einem wilden
Anruf den Dolch in die Kehle. Er war darauf gefaßt, ſich durch Selbſt-
mord der Strafe zu entziehen, aber auch die Flucht hielt er ſich bis zu-
letzt offen. Erſt da Kotzebue in ſeinem Blute ſchwamm und der kleine
Sohn des Ermordeten zu der Leiche des Vaters heranſtürzte, überfiel den
Mörder auf einen Augenblick die Scham, und mit unſicherer Hand führte
er einen Dolchſtoß gegen ſeine eigene Bruſt — „dem Sohne gleichſam
zum Erſatze“, wie er nachher geſtand. Als man den Schwerverwundeten
[523]Ermordnung Kotzebues.
feſt nahm, rief er noch laut: „Hoch lebe mein deutſches Vaterland und
im deutſchen Volke Alle, die den Zuſtand der reinen Menſchheit zu för-
dern ſtreben!“ Neben dem Leichnam fand ſich ein Schriftſtück „Todes-
ſtoß dem A. v. Kotzebue“, darin die Worte: „ein Zeichen muß ich Euch
geben, muß mich erklären gegen dieſe Schlaffheit, weiß nichts Edleres zu
thun als den Erzknecht und das Schutzbild dieſer feilen Zeit, Dich, Ver-
derber und Verräther meines Volks, A. v. Kotzebue niederzuſtoßen“ —
und dann die blasphemiſchen Verſe Follens: „ein Chriſtus kannſt Du
werden.“ Der Burſchenſchaft hatte Sand in einem zu Jena zurück-
gelaſſenen und erſt nach der That aufgefundenen Briefe ſeinen Austritt
angekündigt, weil er jetzt ausziehen müſſe, um Volksrache zu üben. Auf
ſeinem Schmerzenslager im Gefängniß zeigte er die höchſte Standhaftig-
keit, unerſchütterlichen Gleichmuth, keine Spur von Reue. In den Ver-
hören log er als ein treuer Schüler Follens mit eiſerner Stirn, denn
gegen die Knechte der Zwingherren war Alles geſtattet; um Follen zu
decken beſchuldigte er ſogar einen ſeiner beſten Freunde, Asmis fälſchlich,
daß er ihm das Reiſegeld geliehen habe, und ließ ſich ſelbſt durch die
flehentlichen Bitten des Unſchuldigen nicht von ſeiner Verruchtheit
abbringen, bis endlich durch andere Zeugen die Wahrheit erwieſen
wurde.


Die Unterſuchung wurde mit ſchonender Milde geführt, aber auch
mit lächerlichem Ungeſchick, ſo daß die grundſätzliche Verlogenheit der
Schwarzen den freieſten Spielraum fand. Namhafte Richter mochten ſich
zu dem verhaßten Geſchäfte der Demagogenverfolgung nicht hergeben; da-
her mußte man die Unterſuchung faſt überall unfähigen juriſtiſchen Hand-
langern anvertrauen, und von dem Wenigen, was überhaupt erwieſen
werden konnte, kam nichts an den Tag. Als Follen, der verdächtigſte
aller Zeugen, mit dem Mörder confrontirt wurde, verſuchte er bei einer
bedenklichen Frage eine jedem Criminaliſten wohlbekannte Liſt: er klagte
über die Schwäche ſeines Gedächtniſſes, obwohl der kalte Rechner, der
kein Wort unerwogen ſprach, ſicherlich auch keines wieder vergaß, und bat
den Freund, ihm zunächſt den ganzen Hergang genau zu berichten, dann
werde ihm wohl ſelber das Vergeſſene wieder einfallen. Die Unter-
ſuchungskommiſſion ging wirklich in dieſe plumpe Falle, ſie erlaubte dem
Angeklagten ſein Märchen ausführlich zu erzählen, und nunmehr wurden
auch in Follens Gedächtniß die erloſchenen Erinnerungen plötzlich wieder
lebendig, und er erklärte, Sands Darſtellung möge wohl richtig ſein.
Die Eltern und der Bruder des Angeklagten verweigerten ihr Zeugniß,
und da man in Baden von den Parteibildungen innerhalb der Jenenſer
Burſchenſchaft nichts wußte, ſo wurde aus Follens engerem Kreiſe nur
noch einer, R. Weſſelhöft vernommen, auch er ein kluger und vorſich-
tiger junger Mann. Unter ſolchen Umſtänden konnte die Unterſuchung
ihren Zweck allerdings nicht vollſtändig erreichen, wie der Vorſitzende der
[524]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Commiſſion, Staatsrath v. Hohnhorſt in ſeinem ſofort veröffentlichten
Berichte zugeſtand. Die Mitwiſſer blieben unentdeckt.


Die Kunde von der Beſtrafung des Mannheimer Spottbuben ward
in den Kreiſen der Unbedingten mit unverhohlener Freude aufgenommen.
Die jungen Leute waren fieberiſch aufgeregt und beriethen ſich insgeheim
über neue Tollheiten; jetzt war es an der Zeit, die Mahnung von Karl
Follens Bundeslied zu erfüllen:


Nieder reißt der Bosheit Damm,

Der Gewaltherrn ganzen Stamm!

Doch immer wenn ein beſtimmter Vorſchlag auftauchte, regte ſich
auch die Stimme des Gewiſſens. Karl Follen rieth ſeinen Jenenſer
Freunden, in hellen Haufen nach Mannheim zu ziehen, die Stadt anzu-
zünden und den gefangenen Märtyrer zu befreien; aber die Mehrheit
widerſprach. Zu Pfingſten kamen Burſchen aus Jena, Gießen, Göttingen
in Fritzlar und auf dem Brocken zuſammen, um über einen zweiten
Gewaltſtreich zu verhandeln. Man ward nicht einig. Die Beſſeren, wie
Heinrich Leo, waren der wüſten Frechheit müde und zogen ſich angeekelt
zurück. Auch den Rohen fiel jetzt, nachdem der erſte Rauſch der Schaden-
freude verflogen, die kopfloſe Thorheit der Unthat Sands ſchwer auf das
Herz; ſie ſahen, wie die Regierungen ſich zur Abwehr rüſteten, wie die
Burſchenſchaft ſelbſt mit dem Untergange bedroht war; der alte Ueber-
muth wich einer tiefen Entmuthigung.


Nur in Gießen, der Hochburg der Schwarzen, erloſchen die Flammen
der revolutionären Leidenſchaft ſo ſchnell nicht. Dort führte Paul Follen,
unterſtützt von den älteren Freunden Weidig und Hofmann, das ſchlechte
Handwerk ſeines Bruders fort. Um zu vollenden was auf den Pfingſt-
verſammlungen mißlungen war, traf er einmal Nachts in einer Dorf-
ſchenke mit einem Pfarrer aus der Wetterau und einem jungen Apotheker
Löning aus Naſſau zuſammen. Präſident Ibell in Wiesbaden ſollte das
nächſte Opfer ſein. Was kümmerte es dieſe Wüthenden, daß Ibell der
tüchtigſte und im Grunde auch der liberalſte der naſſauiſchen Beamten war?
Er diente den Gewaltherren und hatte zudem ſoeben durch die Abſetzung
des ſchwarzen Bruders Snell den Zorn der Unbedingten gereizt. Die drei
Mordgeſellen warfen das Loos; da forderte Löning als nächſter Lands-
mann Ibells die Blutthat für ſich. *) Er war ein geiſtloſer, unwiſſender
Menſch, vor Kurzem erſt in Heidelberg unter die Schwarzen gerathen,
grade roh genug, um das einleuchtende Evangelium des politiſchen Mordes
handgreiflich zu nehmen. Am 1. Juli ließ er ſich, ganz nach Sands Vor-
bilde, bei Ibell zum Beſuch anmelden und warf ſich dann plötzlich mit
raſender Wuth auf ſein Opfer. Der Stoß ging fehl, Ibell ward nur
[525]Mordanfall auf Ibell.
leicht verwundet, ſeine tapfere Frau und andere Herbeieilende retteten ihm
das Leben; aber der jähe Schreck erſchütterte den kräftigen Mann der-
maßen, daß er bald darauf den Abſchied nehmen mußte und erſt nach
Jahren in den ſtaatsmänniſchen Beruf zurückkehren konnte. Der Mörder
zeigte im Gefängniß dieſelbe dämoniſche Kraft der Selbſtbeherrſchung wie
Sand; um ſeine Genoſſen zu ſichern gab er ſich ſelbſt den Tod auf die
gräßlichſte Weiſe, durch verſchluckte Glasſcherben. —


Unheimlicher noch als die beiden Blutthaten ſelber war der Eindruck,
den ſie in der Nation zurückließen. Zwar von Löning ſprach man ſelten,
da Ibell außerhalb Naſſaus wenig bekannt war; den Mörder Kotzebues
aber umſtrahlte ein Glorienſchein. Uns Nachlebenden, die wir unbefangen
zurückſchauen, erſcheint ein Mord, den ein heißblütiger Jüngling etwa in
der Wuth der Eiferſucht oder des gekränkten Ehrgefühls unternimmt,
unzweifelhaft menſchlicher, entſchuldbarer mindeſtens, als die ſcheußliche,
hohle Selbſtüberhebung jenes unreifen, tief unter der Mittelmäßigkeit
ſtehenden Schwärmers, der nie etwas Rühmliches gethan, nie ein geiſt-
reiches Wort geſprochen, nie eine ſchwere Verſuchung beſtanden hatte und
gleichwohl ſich zum Sittenrichter aufwarf über ſeine Zeit und die Ver-
derbniß der Welt durch eine rohe Verletzung der einfachſten ſittlichen Geſetze
zu heilen unternahm. Das Einzige, was uns den Abſcheu mildern kann,
iſt das Mitleid mit dem verblendeten Thoren, der in ſeinem leeren Kopfe
nicht die Waffen fand, um den Irrlehren einer verbrecheriſchen Doktrin
zu widerſtehen. Den weiblichen Geiſt beherrſcht das Gefühl, den Geiſt
des Mannes der Verſtand; eine unbedeutende Frau kann durch den Adel
und die Tiefe ihrer Empfindung das Entzücken ihrer Umgebung werden,
ein Mann ohne Verſtand vermag auch nicht fein und ſicher zu empfinden.
Nur darum konnte der Unglückliche in gutem Glauben den Namen Gottes
bei ſeiner Unthat anrufen, weil ſein armes Hirn nicht einzuſehen ver-
mochte, daß der harte Hochmuth ſeiner ſittlichen Weltanſchauung das
genaue Gegentheil chriſtlicher Liebe und Demuth war.


Die Zeitgenoſſen urtheilten anders. Die Maſſen des Volkes freilich,
denen die Ideale der teutoniſchen Jugend immer fremd blieben, verhielten
ſich gleichgiltig. In jenen gebildeten Kreiſen aber, die ſich als die Träger
der öffentlichen Meinung fühlten, herrſchte eine Unſicherheit des ſittlichen
Urtheils, die zu den traurigſten Verirrungen unſerer neuen Geſchichte
zählt. Nicht blos die akademiſche Jugend begrüßte Sands That als „ein
Zeichen deſſen, was kommen wird und kommen muß“. Selbſt reife Männer
verglichen den Mörder mit Tell, mit Brutus, mit Scävola. Während
die franzöſiſche Preſſe verwundert fragte, wie unter den gewiſſenhaften
Deutſchen eine ſolche Banditenthat möglich geworden ſei, citirten deutſche
Gelehrte das alte Griechenlied:


Verbirg den Dolch, der dem Tyrannen droht,

Im Myrthenkranze wie Harmodios —

[526]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

und der Stralſunder Conrector hielt in der Schule einen Vortrag über
die großen Tyrannenmörder der Hellenen. Der im Zeitalter der claſ-
ſiſchen Dichtung gepflegte Cultus der freien Perſönlichkeit ſtimmte die
öffentliche Meinung empfänglich für die ſophiſtiſche Ueberzeugungsmoral
der Unbedingten: Sand ſollte ſchuldlos ſein, weil er wie Jeſus nach ſeiner
Ueberzeugung gehandelt habe — eine entſetzliche Anſicht, die ſchließlich
dahin führen muß, jeden verhärteten Verbrecher frei zu ſprechen und nur
den ſchwankenden, deſſen Gewiſſen noch nicht erſtorben iſt, zu verdammen.
In Naſſes mediciniſcher Zeitſchrift führte der Irrenarzt Grohmann aus:
„Sands That hatte nur die äußere, ſcheinbare Form des Meuchelmords;
es war offene ausgemachte Fehde, es war die That eines bis zum höchſten
Grade der Moralität, der religiöſen Weihe erhöheten und verlebendigten
Bewußtſeins.“


Auch ein Theolog, der fromme, kindlich liebenswürdige de Wette
in Berlin, ſprach ſich in dem gleichen Sinne aus, als ob ein denkendes
Weſen nicht auch für ſeine Ueberzeugung verantwortlich ſei. Er hatte
den Unglücklichen perſönlich gekannt und fühlte ſich in ſeinem guten Herzen
gedrungen, der Mutter einen Troſtbrief zu ſchreiben. Darin gab er
wohl zu, daß die That ihres „außerordentlichen Sohnes aus Irrthum
hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenſchaft“ ſei. Aber „der Irr-
thum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Ueberzeugung, die Leiden-
ſchaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der ſie fließt. Er hielt es
für recht, und ſo hat er recht gethan; ein Jeder handle nur nach ſeiner
beſten Ueberzeugung, und ſo wird er das Beſte thun. So wie die That
geſchehen iſt durch dieſen reinen frommen Jüngling, mit dieſem Glauben,
mit dieſer Zuverſicht, iſt ſie ein ſchönes Zeichen der Zeit. Ein Jüngling
ſetzt ſein Leben daran, einen Menſchen auszurotten, den ſo Viele als
einen Götzen verehren; ſollte dieſes ohne alle Wirkung ſein?“ Bis zu
dieſem Uebermaße der Verblendung gingen freilich nur Einzelne; das vor-
herrſchende Urtheil in den gebildeten Klaſſen war doch, wie Görres offen
ausſprach, „Mißbilligung der Handlung bei Billigung der Motive“.


Eine ſolche Verwirrung aller ſittlichen Begriffe in einem ernſten Volke
würde unbegreiflich ſein, wenn ſie ſich nicht aus der politiſchen Verſtimmung
erklärte. Der allgemeine Mißmuth über Deutſchlands Ohnmacht hatte
ſich endlich in einem gräßlichen Aufſchrei Luft gemacht; den Patrioten
war, als ob der Mörder nur ausgedrückt, was in unzähligen Herzen
lebte. Auf Kotzebues Namen laſtete eine ungeheuere, wohlverdiente Ver-
achtung. Alle Welt wähnte zudem, daß die deutſche Reaktion von Ruß-
land ausgehe, in einem Augenblicke, da der Czar in Wahrheit nur ſehr
geringen Einfluß auf Deutſchlands Geſchicke ausübte. In Kotzebue ſahen
die Aufgeregten den Vertreter der ruſſiſchen Macht auf deutſchem Boden,
obgleich er am Petersburger Hofe gar nichts galt und, nach Kaiſer Alexan-
ders beſtimmter, durchaus glaubwürdiger Verſicherung, ſich ſelbſt zur Er-
[527]Widerhall in der Nation.
ſtattung ſeiner unnützen literariſchen Berichte freiwillig angeboten hatte. *)
So erſchien Sand wie der Wahrer des deutſchen Hausrechts, ſeine That
wie ein feierlicher Proteſt der Nation gegen eine eingebildete Fremdherr-
ſchaft. Dann ſteigerte noch die unvermeidliche humane Grauſamkeit der
modernen Rechtspflege das menſchliche Mitleid mit dem Gefangenen.
Unter furchtbaren Schmerzen wurde ihm durch die Kunſt der Aerzte das
Leben noch über ein Jahr lang gefriſtet, bis endlich der berühmte Heidel-
berger Mediciner Chelius, nach ſeiner Pflicht, aber unter den Zornrufen
der teutoniſchen Jugend, den Ausſpruch that, daß Sand die Hinrichtung
aushalten könne. Schon in den erſten Wochen war das Gefängniß von
aufgeregten Volkshaufen umringt. **) Je länger die Unterſuchung währte,
um ſo lauter äußerte ſich die Theilnahme für den frommen Dulder, der
unbeugſam in ſeinem Wahne, alle Qualen mit ſtoiſcher Ruhe ertrug.


Selbſt der Scharfrichter, ein warmherziger pfälziſcher Patriot, ver
ehrte Sand als einen Helden der nationalen Idee, bat ihn im Voraus um
Verzeihung, empfing ſeine letzten Aufträge und ſchenkte dann den Stuhl, der
zur Hinrichtung gedient, einem Heidelberger Geſinnungsgenoſſen ins Haus,
wo das Heiligthum als ein theueres Vermächtniß von Kindern und Kindes-
kindern bewahrt wurde. Aus den Balken des Schaffots aber baute er
ſich ein Weinbergshäuschen in ſeinem Rebgarten, an der ſonnigen Ecke
des Rhein- und Neckarthals bei Heidelberg; noch lange Jahre nachher
haben dort die Heidelberger Burſchenſchafter in Sands Schaffot, als
Gäſte ſeines Henkers, ihre geheimen Zuſammenkünfte gehalten. ***) Am
20. Mai 1820 wurde die Hinrichtung auf einer Wieſe vor den Thoren
Mannheims vollzogen; die Burſchen aus Heidelberg waren in Schaaren
herübergekommen und ließen abends in ihrer Muſenſtadt manch kräftiges
Pereat auf König Friedrich Wilhelm erſchallen. Die mit dem Blute des
heiligen Sand beſpritzten Späne wurden eifrig gekauft, und die Stätte
ſeines Todes hieß im Volke „Sands Himmelfahrtswieſe“.


Was die liberale Preſſe über die beiden Mordthaten ſagte, lief auf
mehr oder minder verſteckte Anklagen gegen die Regierungen hinaus. Eine
anonyme Schrift „Betrachtungen über die Ermordung Kotzebues“ pries
gradezu die heilſame Wirkung der That Sands und ſchrieb alle Schuld
den Kronen zu. Görres ſchilderte in Börnes „Wage“ mit myſtiſchem
Wortſchwall die göttliche Fügung, welche die alte und die neue Zeit ein-
ander habe blutig begegnen laſſen, und legte dann im Sommer, als die
Demagogenverfolgung bereits begonnen hatte, die neueſten Einfälle ſeines
beweglichen Kopfes in einem Buche „Deutſchland und die Revolution“
nieder, einer Schrift, die auf die Maſſe der Leſer nur aufreizend wirken
[528]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
konnte. Ueber den vielen geheimen Verſchwörungen, ſo begann er, über-
ſieht man die eine große, die murrend an jedem Heerde ſitzt, auf Märkten
und Straßen ſich laut ausſpricht. Dann folgte ein Schauergemälde der
neuen deutſchen Geſchichte: ſeit drei Jahrhunderten Alles nur ein Welken,
eine Dürre; das Ganze ruht, nachdem Liebe und Vertrauen geſtorben
ſind, einzig auf dem Inſtinkt des Gehorſams. Von beſtimmten Gründen
des deutſchen Elends wußte er freilich nur zwei anzugeben: die Vernich-
tung des alten Kaiſerthums der Habsburger und die ſtehenden Heere,
dieſe Müßiggänger, die den Staat im Frieden ausſaugen, im Kriege ihn
unvertheidigt laſſen. Wer ſchärfer hinſah, konnte leicht erkennen, daß
der phantaſtiſche Mann, der ſich auch diesmal wieder als Wortführer der
preußiſchen Rheinlande gebärdete, ſchon im Begriffe ſtand mit Sack
und Pack in das ultramontane Heer einzutreten. Unter den wenigen
erfreulichen Zeichen der Zeit pries er vor Allem das bairiſche Concordat,
das nur den einen Fehler habe, dem Staate noch allzu große Rechte zu-
zugeſtehen. Daher urtheilten Gentz und Adam Müller ſehr freundlich
über das wunderliche Buch. Für die preußiſche Rheinprovinz aber war
Niemand gefährlicher als ein demagogiſcher Kapuziner, und König Friedrich
Wilhelm wußte wohl, warum er dieſe Schrift als einen Verſuch, die
Rheinländer gegen den preußiſchen Staat aufzuwiegeln betrachtete.


Während alſo eine unklare, zielloſe, ingrimmige Erbitterung in den
gebildeten Klaſſen ſich zeigte, geriethen im Verlaufe des Sommers mit
einem male auch die Maſſen in Unruhe. Der alte Raſſenhaß wider die
Juden und der Groll über die ſchweren Wucherſünden der jüngſten Jahre
brachen furchtbar aus; in Würzburg, in Karlsruhe, Heidelberg, Darm-
ſtadt, Frankfurt rottete ſich der Pöbel zuſammen, ſtürmte einzelne jüdiſche
Häuſer, mißhandelte die Bewohner. Weithin durch die germaniſche Welt,
bis nach Kopenhagen und Amſterdam hinauf pflanzte ſich die Bewegung
fort. Es ſchien, als ob der alte Volksaberglaube Recht behielte und der
große Komet, der in dieſem heißen Sommer leuchtend am Himmel ſtand,
Unheil und Verwirrung über die Welt brächte. Da und dort haben ſich
wohl einzelne teutoniſche Burſchen an dem Unfug betheiligt, und der
Spottruf Hephep, der damals zuerſt erklang, ſcheint in gelehrten Kreiſen
entſtanden zu ſein (er ſollte bedeuten: Hierosolyma est perdita). Gleich-
wohl iſt ein Zuſammenhang zwiſchen den chriſtlich-germaniſchen Träumen
der Burſchenſchaft und jenen wüſten Ausbrüchen einer lange verhaltenen
Volksleidenſchaft weder nachweisbar noch wahrſcheinlich; die politiſchen
Ideen der akademiſchen Jugend blieben den Maſſen unverſtändlich, in
Heidelberg ſchaarten ſich ſogar die Studenten unter Thibauts Führung
zuſammen, um die Juden mit Lebensgefahr gegen den wüthenden Pöbel
zu vertheidigen. Die Regierungen aber, erſchreckt wie ſie waren, ſahen
in dieſen Tumulten nur einen neuen Beweis für die geheime Wirkſam-
keit einer revolutionären Partei. In höchſter Angſt befahl Metternich dem
[529]Die Judenverfolgung.
Grafen Buol, nach Verabredung mit den zu Karlsbad verſammelten
Staatsmännern: nöthigenfalls müſſe der Bundestag ſelbſt aus den be-
nachbarten Garniſonen Truppen herbeirufen, da der Frankfurter Senat
ſich gegen die Unruhſtifter allzu ſchwach zeige. *)


Wer die anſteckende Kraft des politiſchen Verbrechens kennt, wird
nicht beſtreiten, daß die Kronen, nach Allem was geſchehen, ſo berechtigt
wie verpflichtet waren, durch eine ſtrenge Unterſuchung die letzten Gründe
der beiden Gewaltthaten zu erforſchen und gegen einige Schriftſteller,
welche den Meuchelmord offen vertheidigten, ſcharf einzuſchreiten. Da
beide Mörder den Unbedingten angehörten, ſo war auch die Schließung
der Burſchenſchaft mindeſtens für einige Zeit unvermeidlich. Aber nur
ein muthiges, feſtes, ruhiges Auftreten der Regierungen konnte die halt-
loſe öffentliche Meinung wieder zur Beſinnung bringen, und von ſolcher
ſtaatsmänniſchen Sicherheit zeigte ſich an den deutſchen Höfen keine Spur.
Es giebt finſtere Zeiten, in denen ſelbſt edle Völker wie von einer epide-
miſchen Geiſteskrankheit ergriffen ſcheinen. So glaubte einſt unter Karl II.
ganz England ſteif und feſt an die eingebildete papiſtiſche Verſchwörung;
ſo unterlagen jetzt faſt ſämmtliche deutſche Regierungen einem finſteren
Verfolgungswahne. Die beiden räthſelhaften Verbrechen, die aufgeregte
Sprache der Zeitungen, unter denen namentlich die Iſis und die Neue
Stuttgarter Zeitung ſich ſehr thöricht äußerten, die ſtürmiſchen Verhand-
lungen der beiden erſten Landtage, dies Alles im Verein ſtimmte die kleinen
Höfe ängſtlich, und dazu das dunkle Gefühl, daß die Nation wahrlich
keinen Grund hatte, ſich der Wiener Verträge zu freuen.


Am Beſorgteſten äußerten ſich grade die ſüddeutſchen Höfe, die in
der Preſſe als Träger des conſtitutionellen Gedankens gefeiert wurden.
König Wilhelm von Württemberg ſendete dem Petersburger Hofe eine
ſo finſtere Schilderung von der revolutionären Geſinnung der deutſchen
Jugend, daß Stourdza laut triumphirte und ſelbſt der hochconſervative
Blittersdorff dieſen Hilferuf eines deutſchen Fürſten an das Ausland ver-
ächtlich fand. **) Der Münchener Hof wendete ſich ſofort an Oeſterreich
und Preußen, bat dringend um gemeinſame Maßregeln gegen die Uni-
verſitäten, ließ einige Lehrer, welche ihre Freude über Kotzebues Tod aus-
geſprochen haben ſollten, ohne Weiteres ſuspendiren, und da Sand ſeinem
Könige aus dem Kerker ſagen ließ, er habe für ſich nichts zu fürchten,
ſo zog der furchtſame Max Joſeph daraus den Schluß, daß offenbar
gegen andere deutſche Fürſten gottloſe Abſichten gehegt würden. ***) Vollends
die badiſche Regierung, in deren Lande das Verbrechen geſchehen war,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 34
[530]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
hegte ganz abenteuerliche Vorſtellungen von dem Umfang der demagogi-
ſchen Umtriebe, wie der neu aufkommende amtliche Ausdruck lautete. Sie
hatte aus der Unterſuchung einiges Halbwahre gelernt; ſie glaubte zu
wiſſen, daß in der Burſchenſchaft ein geheimer Verein beſtehe, „deſſen
Hauptmotto Tyrannenmord ſei, und der in der Nähe von Gießen bei
einem gewiſſen Follenius ſeinen Centralpunkt habe“. Doch ſie erfuhr
nicht, wie klein und machtlos die Schaar der Unbedingten war; ſie wähnte,
die deutſchen Landtage wollten mit einander in Verbindung treten, ein
deutſches Parlament neben den Bundestag ſtellen und dann die untheil-
bare deutſche Republik ausrufen. Mit inbrünſtigem Danke empfing daher
Miniſter Berſtett „die hochgefällige Mittheilung der höchſtweiſen Anſichten
Sr. Maj. des Kaiſers“, als Metternich ihm ſchrieb, der öſterreichiſche
Hof ſei entſchloſſen, nunmehr mit Ernſt gegen die Profeſſoren und die
verworfenen Schriftſteller einzuſchreiten, welche der Jugend ihre revolu-
tionären Grundſätze „in jeder Art und Form täglich bis zur Trunkenheit
einprägten“. Sofort befahl er dem badiſchen Bundesgeſandten, ſich die Vor-
ſchläge Oeſterreichs zur Richtſchnur zu nehmen, und erklärte dem Peters-
burger Cabinet: „wir wollen bis an die Quelle jener hölliſchen Wühlerei
vordringen, die auf nichts Geringeres als auf den Umſturz aller gött-
lichen und menſchlichen Einrichtungen ausgeht; wir wollen den Despo-
tismus unterdrücken, welchen die Herren Profeſſoren unter der Aegide
einer unerfahrenen und allzu leicht erregbaren Jugend über die politiſchen
Meinungen Deutſchlands auszuüben ſuchen.“ *)


Weit folgenreicher ward der Umſchwung der Meinungen am Berliner
Hofe. Wie alle wichtigen Entſchlüſſe dieſer Regierung, ſo ging auch die
reaktionäre Wendung des Jahres 1819 von dem Monarchen perſönlich
aus. Jene Aachener Denkſchrift Metternichs begann ihre Früchte zu
tragen. Der König ward täglich unzufriedener mit ſeinem Staatskanzler
und deſſen „kurioſer“ Umgebung; er ſchloß aus den thörichten Artikeln
liberaler Blätter, welche ihm Wittgenſtein gefliſſentlich zutrug, auf das
Daſein einer mächtigen Verſchwörung und ſprach dem Hofbiſchof Eylert
ſeinen Dank aus, als dieſer beim Ordensfeſte in einer donnernden Rede
den rebelliſchen Geiſt der Zeit brandmarkte. Als nun Sands That kund
wurde und der Mord ſo viele verblendete Vertheidiger fand, da fühlte
ſich der gewiſſenhafte Monarch in ſeinen heiligſten Empfindungen verletzt;
er hielt es für Fürſtenpflicht mit unnachſichtiger Strenge einzuſchreiten,
gab den Polizeibehörden außerordentliche Vollmachten (4. Mai) und ſetzte
dann noch eine Miniſterial-Commiſſion ein zur Leitung der Unterſuchungen
gegen die Demagogen. Den in Jena ſtudirenden Preußen befahl er dieſe
Univerſität zu verlaſſen, und obgleich die jungen Leute anfangs viel von
[531]Angſt der Regierungen.
einem heroiſchen Widerſtande gegen den tyranniſchen Befehl redeten, ſo
gehorchten doch als die Friſt ablief alle bis auf den letzten Mann.


Selbſt dieſe Erfahrung brachte den König nicht auf die Frage, ob der
Geiſt der Widerſetzlichkeit in der akademiſchen Welt wirklich ſo mächtig ſei.
Er meinte jetzt Alles durch den Erfolg beſtätigt zu ſehen, was ihm Metter-
nich über die Umtriebe der im Dunkeln ſchleichenden Partei geſagt hatte;
er verweigerte der neuen Turnordnung, die ihm zur Vollziehung vorlag,
ſeine Unterſchrift, ließ in Weimar wie in Karlsruhe dringend zur Strenge
rathen, da „die unſeligen Verirrungen der Univerſitäts-Jugend einen
wahrhaft furchtbaren Grad erreicht haben“, und befahl dem Grafen
Bernſtorff, mit dem öſterreichiſchen Geſandten Zichy, der ſofort durch
Kurier Weiſung erhalten hatte, wegen außerordentlicher Bundesbeſchlüſſe
zu verhandeln. *) Mit flammendem Eifer ſtürzte ſich, von Wittgenſtein
unterſtützt, der neue Direktor des Polizeidepartements, Geh. Rath Kamptz,
in die Unterſuchungen; als geborner Mecklenburger an ein todtenſtilles
öffentliches Leben gewöhnt, ſcheint er in der That an die große Verſchwörung
geglaubt zu haben, obſchon er zugleich ſeine Rachgier an ſeinen literariſchen
Gegnern kühlen wollte. An ihn drängte ſich ſogleich eine Rotte verwor-
fener Menſchen, wie ſie in der Sumpfluſt des Mißtrauens und des Ver-
dachtes zu gedeihen pflegen: die Räthe Tzſchoppe, Grano, Dambach, ge-
meine Ehrgeizige, die das Handwerk der Verfolgung mit dem Eifer eines
Schweißhundes trieben.


Derweil die deutſchen Höfe alſo von blindem Schrecken überwältigt
wurden, ſchwelgte Metternich im Gefühle befriedigter Eitelkeit: wieder
einmal hatte er Alles vorausgewußt, die teufliſchen Pläne der Verwor-
fenen, die von deutſcher Einheit träumten, waren aufgedeckt; nun galt es
die Angſt der deutſchen Kronen auszubeuten, „der Sache die beſte Folge
zu geben, die möglichſte Partie aus ihr zu ziehen.“ Kaiſer Franz bereiſte
in dieſem Frühjahr die italieniſchen Höfe. Metternich, der ſich nebſt dem
preußiſchen Geſandten Kruſemark im Gefolge des Monarchen befand,
ſendete ſeiner Gemahlin aus Rom und Neapel Reiſeberichte, welche auf
unbefangene Leſer etwa den Eindruck machen, als ob ein wißbegieriger
Kaufmannsdiener ſie geſchrieben und der ſelige Baron Münchhauſen
einige hiſtoriſch-ſtatiſtiſche Berichtigungen hinzugefügt hätte. Seinen Kunſt-
ſinn bethätigte er durch Begönnerung einiger franzöſiſcher und engliſcher
Modemaler. Dagegen ward die Ausſtellung, welche die deutſchen Maler
zu Ehren des Kaiſers im Palazzo Caffarelli veranſtaltet hatten, kaum
eines Blickes gewürdigt; mit dem hochfliegenden Idealismus dieſer Naza-
rener wußten die Wiener nichts anzufangen, auch trugen die Künſtler
von S. Iſidoro lange Haare und altdeutſche Röcke; was ſie ungeachtet ihrer
34*
[532]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
katholiſchen Geſinnung in den Augen des Kaiſers hochverdächtig erſcheinen
ließ. Der politiſche Zweck der Reiſe wurde ſcheinbar erreicht. Kaiſer
Franz ſah ſich überall von der höfiſchen Welt als der Protector Italiens
begrüßt, wohnte im Vatikan als Gaſt des Papſtes, der den Beherrſcher
der erſten katholiſchen Macht mit Ehrenbezeigungen überſchüttete und den
Erzherzog Rudolf mit dem Cardinalspurpur ſchmückte. Dies genügte,
um Metternichs Urtheil zu beſtimmen; warum hätte er ſich auch über
die römiſchen Verhältniſſe bei dem preußiſchen Geſandten Niebuhr unter-
richten ſollen, der trotz ſeinen conſervativen Neigungen, trotz ſeiner Ach-
tung für die Milde des Papſtes und die Klugheit des Cardinals Con-
ſalvi raſch zu der Einſicht gelangt war, daß die ewige Stadt unter Na-
poleon ſich weit glücklicher befunden hatte, als unter der wiederhergeſtellten
Prieſterherrſchaft? Der öſterreichiſche Staatsmann fand die Zuſtände im
Kirchenſtaate ganz vortrefflich, die neapolitaniſchen Lazzaroni unter dem
Segen der Bourbonenherrſchaft „hundertmal civiliſirter als vor zwanzig
Jahren“. Daß die ſchreienden aber muthloſen Italiener jemals eine Schild-
erhebung wagen könnten, erklärte er für ganz unmöglich — kaum ein
Jahr bevor die Revolution in Neapel und Piemont zugleich ausbrach.


Die nämliche Sicherheit ſtaatsmänniſchen Blickes bewährte er bei
der Beurtheilung der deutſchen Dinge. Dies ermüdete Volk ſchien ihm
längſt überreif zur Revolution; „ich ſtehe dafür, ſchrieb er ſeiner Ge-
mahlin, die Welt befand ſich im Jahre 1789 in voller Geſundheit, ver-
glichen mit ihrem heutigen Zuſtande!“ Schon nach dem Wartburgfeſte
hatte er mit den ſüddeutſchen Geſandten mehrfach die Frage erwogen,
ob man nicht in Wien ein gemeinſames „Foyer“ zur Beobachtung der
deutſchen Revolution errichten ſolle. Jetzt kam ein Hilferuf nach dem an-
deren von den kleinen Höfen; alle klagten ihre eigene Sorgloſigkeit an
und bewunderten den durchbohrenden Scharfblick des großen Staatsmannes,
der allein die ruchloſen Abſichten der Burſchen von vornherein durch-
ſchaut hatte. Wie hätte der eitelſte der Menſchen ſich jetzt vor wahn-
ſinniger Selbſtberäucherung bewahren ſollen? Seit der einzige Rieſe des
achtzehnten Jahrhunderts dahingegangen war — er meinte wohl Fried-
rich II. — fand Metternich das Menſchengeſchlecht bis zur Erbärmlich-
keit klein. „Mein Geiſt, ſo geſtand er, begreift nichts Enges; ich beherr-
ſche ein unendlich weiteres Gebiet, als die anderen Staatsmänner ſehen
oder ſehen wollen. Ich kann mich nicht enthalten, mir zwanzigmal am
Tage zu ſagen: guter Gott, wie ſehr habe ich recht, und wie ſehr haben
ſie unrecht! Und wie leicht iſt es doch, dies ſo klare, ſo einfache, ſo
natürliche Rechte zu finden!“ So trat der idealiſtiſchen Anmaßung der
deutſchen Jugend der kalte Dünkel eines Weltmannes entgegen, der nie-
mals für eine Idee ſich erwärmt, niemals über eines der großen Cultur-
intereſſen der Menſchheit nachgedacht hatte, der die gemeinſte der menſch-
lichen Leidenſchaften, die Angſt als ſeinen natürlichen Bundesgenoſſen
[533]Metternich in Italien.
betrachtete und mitten in den Thorheiten polizeilicher Verfolgungsſucht
ſich noch einbildete, ein weiſer Vertreter ſtaatsmänniſcher Mäßigung zu
ſein: „die heilige Mittellinie, auf der die Wahrheit ſteht, iſt nur Wenigen
vorbehalten.“


Ohne nach Beweiſen auch nur zu fragen, hielt er für ausgemacht,
daß die „Jenenſer Vehme“ ihre Mordgeſellen nach dem Looſe über Deutſch-
land ausſende; gegen eine ſo furchtbare Verſchwörung reichte die Macht
der einzelnen deutſchen Staaten nicht aus. Darum gab Metternich eine
ausweichende Antwort, als König Max Joſeph auch den Wiener, wie den
Berliner Hof wegen der Aufhebung der bairiſchen Verfaſſung befragte.
Durch das gemeinſame Handeln aller Bundesſtaaten, unter Oeſterreichs
Führung ſollten die Preſſe, die Univerſitäten, die Kammern geknebelt
werden; „mit Gottes Hilfe hoffe ich die deutſche Revolution zu ſchlagen,
ganz ſo wie ich den Eroberer der Welt beſiegt habe!“ An ſeinem Mon-
archen fand er einen feſten Rückhalt. Kaiſer Franz wollte, wie immer,
Ruhe haben; nimmermehr durfte das Stillleben ſeiner Preſſe, ſeiner
Poſtulatenlandtage und jener Schulen, die man im alten Oeſterreich
Univerſitäten nannte, durch die Tollheiten der deutſchen Nachbarn geſtört
werden. Er billigte aus ganzer Seele die Theorie ſeines Miniſters, daß
jeder Bundesfürſt „Felonie gegen den Bund“ begehe, wenn er der Preſſe
Freiheiten geſtatte, die bei der Gemeinſamkeit der Sprache auch das deutſche
Oeſterreich anſtecken konnten. Mit cyniſcher Offenheit ſprach er aus,
daß man die Furcht dieſer ſchwachen Regierungen benutzen müſſe, und
bevollmächtigte ſeine Staatsmänner, nöthigenfalls mit dem Austritt Oeſter-
reichs aus dem Bunde zu drohen.


Preußen war endlich gewonnen. Auf die alten Freunde, die Hoch-
torys von England-Hannover, durfte man ſich verlaſſen, da Graf Münſter
zu den feſten Stützen der reaktionären Politik zählte und das engliſche
Parlament ſich um Deutſchlands innere Angelegenheiten ſelten bekümmerte.
Auch von Rußland ſtand kein Widerſpruch zu befürchten. Zwar Kapo-
diſtrias, der gerade in einem italieniſchen Bade verweilte, erſchien den
Oeſterreichern noch immer hochverdächtig, er hatte ſoeben eine Einladung
Metternichs ausgeſchlagen, weil er peinliche Auseinanderſetzungen ver-
meiden wollte. Aber die Anſichten des Griechen galten in jenem Augen-
blicke am Petersburger Hofe wenig neben den Rathſchlägen Neſſelrodes,
der immer mit Metternich übereinſtimmte und den deutſchen Geſandten
beharrlich wiederholte: unbegreiflich, daß eine ſo geiſtvolle Nation die ge-
fährliche Ausnahmeſtellung ihrer Univerſitäten fortbeſtehen laſſe! Um ein
Uebriges zu thun, ſchrieb Kaiſer Franz perſönlich an den Czaren, ſprach
ihm wegen der Ermordung Kotzebues ſein Beileid aus, und beſchwerte
ſich zugleich über den Erzieher Alexanders, Laharpe, weil dieſer in Italien
den Namen ſeines kaiſerlichen Zöglings mißbrauche, die römiſchen Unzu-
friedenen im Namen Rußlands aufſtachele. Dieſer kaiſerlichen Denun-
[534]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ciation wollte der Czar freilich keinen Glauben ſchenken; die deutſchen
Zuſtände aber beurtheilte er wie Neſſelrode. Er empfand den Ruſſenhaß,
der aus den Angriffen der Jenenſer gegen Kotzebue und Stourdza
ſprach, wie eine perſönliche Beleidigung und tadelte lebhaft, daß Karl
Auguſt die Unterſuchungen gegen die Demagogen ſo ſchlaff betreibe. *)
Genug, der öſterreichiſche Hof hatte völlig freie Hand für den Kampf wider
die deutſche Revolution. —


Eine Zeit lang ſchien es, als ob der erſte Schlag durch den Bundes-
tag geführt werden ſollte. Bei allem Wohlwollen hatte Großherzog Karl
Auguſt nach Sands That ſeiner Hochſchule einige harte Maßregeln nicht
erſparen können. Er befahl eine ſtrengere Handhabung der Disciplin
und ſchritt endlich, da die Iſis in ihrem Toben fortfuhr, auch gegen Oken
ein. Der Senat mußte, nachdem er ſich vergeblich dawider verwahrt, dem
ehrlichen Polterer die Wahl ſtellen, ob er auf ſein Lehramt verzichten
oder die Zeitſchrift aufgeben wolle. Da Oken nach ſeiner Weiſe erwiderte,
er habe darauf keine Antwort, ſo wurde er unter lebhaften Beileidsbe-
zeigungen ſeiner Amtsgenoſſen entlaſſen. Sein Blatt mußte bald darauf
nach Leipzig überſiedeln; er ſelbſt verſuchte ſich in Würzburg niederzu-
laſſen, was auf unmittelbaren Befehl des Königs verboten wurde, **) und
verbrachte dann einige Zeit in gelehrten Arbeiten zu Paris, der erſte Flücht-
ling der deutſchen Bewegung. Um Aergeres zu verhüten und ſein Jena
gegen ungerechte Angriffe zu vertheidigen, ließ der Großherzog inzwiſchen
am Bundestage eine Vereinbarung über gemeinſame Grundſätze der akade-
miſchen Disciplin beantragen. Aber niemals, fügte der Geſandte v. Hendrich
hinzu, dürften die Univerſitäten, welche Graf Buol ſelber in ſeiner Er-
öffnungsrede ein ſtolzes Denkmal deutſcher Entwicklung genannt habe,
in Schulen umgewandelt werden: „auch Freiheit der Meinungen und
der Lehre muß ihnen verbleiben; denn im offenen Kampfe der Mei-
nungen ſoll hier das Wahre gefunden, gegen das Einſeitige, gegen das
Vertrauen auf Autoritäten ſoll hier der Schüler bewahrt, zur Selbſtän-
digkeit ſoll er erhoben werden.“ Daran ſchloß ſich eine warme Verthei-
digung der Studenten: in ihrer Burſchenſchaft hätten ſie die ſchöne Idee
der Einigkeit der Deutſchen verwirklichen wollen; die man im Kriege
als Wehrhafte gebraucht habe dürfe man nicht ſogleich wieder als Un-
mündige behandeln. Zugleich hatte der Großherzog einen eigenen Bevoll-
mächtigten, Geh.-Rath Conta, nach Frankfurt geſchickt um mit den Ge-
ſandten der anderen Staaten, welche Univerſitäten beſaßen, das Nähere
zu verabreden. ***)


Mit Entſetzen vernahmen Gentz und Neſſelrode die verwegene Sprache
[535]Antrag Weimars wegen der Univerſitäten.
des Fürſten, der in ſolchem Augenblicke noch wagte, den freien Kampf der
Meinungen, die Einheitsträume der deutſchen Burſchen zu vertheidigen.
Metternich aber meinte: „Mit Verachtung ſtraft man den Altburſchen
nicht, er iſt ſie gewöhnt.“ In ſolchem Tone wagte jetzt ein öſterreichiſcher
Staatsmann von dem berühmteſten Manne des deutſchen Fürſtenſtandes
zu reden; die Zeiten des Friedländers drohten ſich zu erneuern. Graf
Buol erhielt demnach Befehl, ſich auf die Berathung des Weimariſchen
Antrags einzulaſſen, um dann einen Gegenantrag durchzuſetzen, welchen
Gentz nach Adam Müllers Ideen ausgearbeitet hatte, ein Meiſterſtück poli-
zeilicher Seelenangſt. Die Reformpläne des Hauſes Oeſterreich für Deutſch-
lands Hochſchulen liefen weſentlich auf zwei Vorſchläge hinaus: es ſollten
die Studenten jeder Ausnahmeſtellung verluſtig gehen und auch in Dis-
ciplinarſachen ausſchließlich der bürgerlichen Polizei unterworfen werden,
da dieſe durch die Stiefelputzer und ähnliche Leute die Vergehen des jungen
Volks am leichteſten erfahren könne; ferner ſollten alle deutſchen Regie-
rungen ſich verpflichten, keinen akademiſchen Lehrer, der wegen gefähr-
licher Lehren abgeſetzt worden ſei, jemals wieder anzuſtellen. Auf dieſen
letzteren Punkt kam es der Hofburg vornehmlich an. Gentz leitete alle
Sünden der Jugend kurzweg von den ruchloſen Lehren ihrer Profeſſoren
her und verſicherte mit eiſerner Stirn, ganz unzweifelhaft ſeien Oken,
Fries, Luden und Kieſer die eigentlichen Mörder Kotzebues. Kaiſer Franz,
mißtrauiſch gegen Alles was über ſeinen Geſichtskreis hinauslag, war der-
ſelben Anſicht; er ließ an allen Höfen die Annahme des k. k. Antrags
dringend empfehlen und den König von Preußen perſönlich um ſeine
freundſchaftliche Unterſtützung bitten. *)


Aber die Langſamkeit der regelmäßigen Bundesverhandlungen bot doch
einige Gewähr gegen Ueberraſchungen. Als die übliche Inſtruktionseinho-
lung begann und die Regierungen die ſchwierige Frage reiflich erwogen, da
zeigte ſich wieder, wie wenig das Oeſterreich Metternichs mit der deutſchen
Cultur gemein hatte. Nur die mediciniſchen Facultäten Oeſterreichs ge-
noſſen der vollen Lehr- und Lernfreiheit deutſcher Hochſchulen. In Berlin
dagegen empfand man lebhaft, wie leicht ein Gewaltſchritt gegen die aka-
demiſche Freiheit alle Grundlagen der deutſchen Bildung zerſtören könne.
Selbſt der furchtſame Ancillon mochte den deutſchen Gelehrten doch nicht
ganz verleugnen und gab der Hofburg zu bedenken: dies Alles iſt für
uns ſchwerer als für Oeſterreich, da wir große Univerſitäten beſitzen, die
nur Lehr- nicht Erziehungs-Anſtalten ſind und nur in Freiheit gedeihen
können. **) Eichhorn, der ſeit einem Jahre den Vortrag über die deutſchen
Angelegenheiten im Auswärtigen Amte erhalten hatte, verfaßte für den
Bundestag eine geiſtvolle Denkſchrift (10. Juli), die ſich zwar über den
[536]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Dünkel des jungen Geſchlechts nicht ganz ſo nachſichtig äußerte wie Groß-
herzog Karl Auguſt, aber mit den praktiſchen Vorſchlägen des Weima-
riſchen Antrags faſt vollſtändig übereinſtimmte. Er fand die weſentlichen
Inſtitutionen der deutſchen Hochſchulen, wie ſie ſich hiſtoriſch entwickelt
hätten, durchaus geſund; er warnte die Regierungen vor dem Verſuche,
durch Drohungen und Ermahnungen in dieſe Welt der Freiheit einzu-
greifen: „die Aeußerung einer Regierung muß zugleich That ſein;“ er
wagte ſogar den einfachen, in jenem Augenblicke ſehr kühnen Gedanken
auszuſprechen, ob man nicht die akademiſchen Verbindungen unter gewiſſen
Vorbehalten gradezu erlauben ſolle, da die zahlloſen Verbote ſeit Jahr-
hunderten doch nichts geholfen hätten, und erklärte ſich endlich ſehr nach-
drücklich gegen den Vorſchlag, daß ein entlaſſener Profeſſor niemals wieder
angeſtellt werden dürfe: genug, wenn die Regierungen einander die
Gründe ſolcher Entlaſſungen gewiſſenhaft mittheilten, einen Verderber der
Jugend werde doch ſicher kein deutſcher Fürſt in ſeine Dienſte ziehen wollen.
In der Commiſſion des Bundestags drang Preußen allerdings nicht mit
allen ſeinen Vorſchlägen durch; der Antrag Oeſterreichs auf Nichtwieder-
anſtellung der entlaſſenen Profeſſoren wurde von Baiern, Hannover und
Baden gegen Preußens Widerſpruch angenommen. Im weiteren Verlauf
der Verhandlungen aber begegnete Oeſterreich überall der Abneigung des
Partikularismus, der nirgends ſo wohl berechtigt iſt wie auf dem Gebiete
des akademiſchen Lebens. Selbſt dieſe ängſtlichen kleinen Kronen wollten
ſich die Eigenart ihrer Hochſchulen nicht ganz verkümmern laſſen und
verſtanden ſich nur zu wenigen gemeinſamen Vorſchriften; ihr Widerſtand
war um ſo ſchwerer zu beſiegen, da das Univerſitätsweſen unzweifelhaft
nicht zur Competenz des Bundes gehörte.


Metternich fühlte, daß er durch den Bundestag nie zu ſeinem Ziele
gelangen konnte; ohnehin hatte der anarchiſche Zuſtand der Frankfurter
Verſammlung ſchon längſt den Unwillen des Wiener Hofes hervorgerufen.
Graf Buol mit ſeiner Gedankenarmuth, ſeiner taktloſen Heftigkeit ver-
mochte die Verſammlung nicht zu leiten. Der gutmüthige Goltz zeigte ſich
ſeiner Stellung ebenſo wenig gewachſen, er hatte ſoeben wegen einer un-
geſchickten Indiskretion ſeine Abberufung erhalten und nur mit Mühe
die Verzeihung ſeines Hofes wieder erlangt. *) So konnte es geſchehen,
daß einige Geſandte der kleineren Staaten, Wangenheim, die beiden Heſſen
Harnier und Lepel, der Bremer Smidt u. A., insgeheim unterſtützt durch
den liſtigen Baiern Aretin, eine liberale Oppoſitionspartei bildeten, welche
in einer Diplomatenverſammlung durchaus unberechtigt war, weil ſie ſich
nicht auf die Inſtruktionen der Höfe, ſondern lediglich auf die perſönlichen
Ueberzeugungen der Geſandten ſtützte. Nicht ohne Uebermuth pflegten
dieſe Kleinen in den Commiſſionsſitzungen den Geſandten der beiden Groß-
[537]Metternichs Plan für die Karlsbader Conferenzen.
mächte die Ueberlegenheit ihrer Bildung und ihrer Redefertigkeit zu zeigen.
Die Liberalen waren zugleich die Vorkämpfer des Partikularismus, un-
erſchöpflich in Schlichen und Ränken um die Vollendung der Bundes-
kriegsverfaſſung zu verhindern; eben jetzt zeigte Wangenheim ſeinen Ge-
noſſen unter der Hand eine von ſeinem Könige eigenhändig niedergeſchrie-
bene Denkſchrift, welche, ganz im Sinne des Rheinbundes, die deutſchen
Souveräne gegen die militäriſche Dictatur der beiden Großmächte ſo ge-
häſſig aufzuwiegeln verſuchte, daß Oeſterreich und Preußen in Stuttgart
ernſte Vorſtellungen machen mußten.*)


Raſche, durchgreifende Entſchlüſſe, wie ſie der Wiener Hof brauchte,
waren von dieſer Verſammlung nicht zu erlangen. Daher rieth Gentz
ſchon im April, man ſolle zunächſt eine vertrauliche Verſtändigung mit
den größeren Höfen herbeiführen, und Metternich ging auf den Vorſchlag
ein, ſobald er von dem ſchleppenden Gange der Frankfurter Univerſitäts-
commiſſion Kenntniß erhielt. Seine Abſicht war, im Juli in Böhmen
zu erſcheinen und zunächſt dem König von Preußen, der um dieſe Zeit
das Teplitzer Bad zu gebrauchen pflegte, das Programm einiger provi-
ſoriſchen Bundesgeſetze vorzulegen; denn nur Bundesgeſetze, ſo ließ er
wiederholt nach Berlin ſchreiben, könnten dem ſo weit vorgeſchrittenen
Uebel der revolutionären Verſchwörungen noch ſteuern, Maßregeln einzelner
Bundesſtaaten genügten längſt nicht mehr.**) War man mit Preußen
einig, dann ſollten die Vertreter der beiden Großmächte in Karlsbad mit
den Miniſtern der größeren Bundesſtaaten die Ausnahmegeſetze verein-
baren, welche der Bundestag ohne weitere Berathung anzunehmen und
zu verkündigen hätte; denn wer unter den Kleinen durfte den neun mäch-
tigſten deutſchen Höfen, ſobald ſie ſich ernſtlich geeinigt hatten, zu wider-
ſprechen wagen? Nach Vollendung der Ausnahmegeſetze ſollten ſchließlich
die Miniſter der Bundesſtaaten im Winter ſich zu Wien verſammeln,
um den Grundzügen der Bundesverfaſſung die ſeit 1815 verheißene Er-
gänzung, natürlich in hochconſervativem Sinne, zu geben und namentlich
für die landſtändiſchen Verfaſſungen bindende Vorſchriften aufzuſtellen.
Der Plan ſah einem Staatsſtreiche ſehr ähnlich, er ging geringſchätzig
über alle verfaſſungsmäßigen Rechte des Bundestags hinweg und enthielt
die ſchärfſte Kritik der Bundesverfaſſung; denn durch andere Mittel als
durch Einſchüchterung und Eigenmacht ließ ſich dieſem Bunde allerdings
kein Entſchluß entreißen.


Glückſelig, mit heiligem Eifer arbeitete nun Gentz die Vorſchläge für
die Karlsbader Verſammlung aus: proviſoriſche Ausnahmegeſetze gegen
die Univerſitäten, die Preſſe, die Demagogen, und dazu eine Interpre-
tation des Art. 13, wozu die Thorheiten der badiſchen Kammern den
[538]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
hochwillkommenen Anlaß boten. Hatten die Liberalen den Art. 13 ge-
wiſſenlos als eine Verheißung des Repräſentativſyſtems mißdeutet, ſo war
Gentz raſch bei der Hand mit der entgegengeſetzten Sophiſterei, die min-
deſtens ebenſo wohlbegründet ſchien. Die landſtändiſchen Verfaſſungen
des Art. 13 bedeuteten eben Stände, nichts Anderes; wollten die deutſchen
Staaten, ſo ſchrieb er dem Hospodar Soutzo, ſich dem demokratiſchen Re-
präſentativſyſtem ergeben, dann gehe jede foederative Einheit in die Brüche,
und Oeſterreich würde es unter ſeiner Würde finden, an einem ſolchen
Bunde noch länger theilzunehmen. Im tiefſten Geheimniß wurden unterdeß,
außer Preußen, die kleinen Königreiche, ſowie die für beſonders zuverläſſig
geltenden Höfe von Baden, Mecklenburg und Naſſau eingeladen, ihre
leitenden Miniſter im Juli nach Karlsbad zu ſenden; alle erklärten ſich
mit Freuden bereit. Die übrigen Regierungen würdigte man keiner Mit-
theilung, die einen weil Eile noth that und nur ein kleiner Kreis raſche
Beſchlüſſe faſſen konnte, die anderen weil Kaiſer Franz ihnen mißtraute.


Für den Großherzog von Weimar war am Wiener Hofe kein Wort
mehr ſchlecht genug. Der Mäcenas der deutſchen Schöngeiſter, höhnte man
dort, ſei jetzt zum Protector der deutſchen Meuchelmörder geworden; ein-
zelne Heißſporne erinnerten bereits an das Schickſal Johann Friedrichs.
Der tapfere Fürſt hielt aus ſo lange es anging; er dachte in dieſem Frühe
jahr ſogar daran, den gefürchteten Gagern zu ſeinem Bundesgeſandten
zu ernennen, was ihm General Wolzogen noch glücklich ausredete.*)
Mittlerweile kamen ernſte Mahnungen aus Rußland, offenbare Drohungen
aus Oeſterreich. Auf der Reiſe nach Karlsbad erklärte Metternich einem
Staatsmanne der kleinen Höfe rund heraus: der einzige Rechtsgrund für
den Beſtand der kleinen Bundesſtaaten ſei die Bundesakte, nur als
Bundesglieder hätten ſie die Anerkennung der europäiſchen Mächte erhalten,
durch Felonie gegen den Bund würden ſie ihr Daſein verwirken. So
gewiß dieſe frivole Rechtsanſicht dem völkerrechtlichen Charakter des deutſchen
Staatenbundes, der ſo oft und feierlich anerkannten Souveränität aller
deutſchen Fürſten ins Geſicht ſchlug: Karl Auguſt wußte wohl, was er
von ſeiner Souveränität zu halten hatte, er war der Thor nicht, mit dem
papierenen Schwerte eines Bundesverfaſſungsparagraphen den Macht-
kampf gegen den erklärten Willen aller größeren Bundesſtaaten aufzu-
nehmen. Noch einmal, am Abend ſeines Lebens bekam er die Lüge der
Kleinſtaaterei, die ihn ſein Tagelang gepeinigt, ſchwer zu empfinden; er
mußte ſchweigend hinnehmen, was er nicht hindern konnte und behielt ſich
nur im Stillen vor, die Karlsbader Beſchlüſſe ſo mild als möglich aus-
zuführen. Nächſt Weimar war die Curie der freien Städte dem Wiener
Hofe hochverdächtig; die ehrenfeſten altväteriſchen Senate der vier Com-
munen verdankten dieſen unverdienten Ruf dem wackeren bremiſchen
[539]Smidt über die Bundespolitik.
Bundesgeſandten Smidt, der zwar für die Bundesverfaſſung und das
Haus Oeſterreich eine aufrichtige Bewunderung hegte, doch immerhin die
Ausführung der Verſprechen der Bundesakte ernſtlich wünſchte und durch
ſeinen bürgerlichen Freimuth zuweilen Anſtoß gab.


Gleich den kleinen Höfen blieb auch der Bundestag ſelbſt ohne jede
Nachricht von dem Karlsbader Unternehmen; er war, ſeit den Berathungen
über die Univerſitäten, bei der Hofburg ganz in Ungnade gefallen, und
Gentz ſagte jetzt ſelber was vor Kurzem noch als Hochverrath gegolten
hatte: dieſe Verſammlung ſei um nichts beſſer als der Regensburger
Reichstag. Sogar Graf Buol durfte nichts erfahren, und der unglück-
liche Goltz mußte wieder dieſelbe Rolle ſpielen, wie einſt im Frühjahr
1813, als er mit ſeiner Regierungscommiſſion in Berlin unter den fran-
zöſiſchen Truppen ſaß, derweil der König in Breslau den Krieg gegen
Frankreich vorbereitete. Nur gerüchtweiſe verlautete in Frankfurt, die
Badekur, welche heuer ſo viele deutſche Miniſter nach Karlsbad führte,
könne vielleicht auch politiſche Beſprechungen veranlaſſen.


Noch am 31. Juli ſendete Smidt ſeinem Senate eine unſchuldige
Denkſchrift über die Aufgabe, welche ſich Deutſchlands Staatsmänner auf
den Karlsbader Beſprechungen ſtellen ſollten. Auch er hielt es für geboten,
die aufgeregte öffentliche Meinung zu beſchwichtigen, doch er wollte „die
deutſchen Völker“ mit den beſtehenden Zuſtänden verſöhnen, damit ſie nicht
immer von Neuem durch den Anblick der politiſchen und wirthſchaftlichen
Wohlfahrt des beſiegten Frankreichs erbittert würden, und empfahl daher
dem Bundestage eine rege gemeinnützige Thätigkeit, wie der Bund ſie bereits
bei der Organiſation des Bundesheeres, das nur leider noch gar nicht
beſtand, bewährt habe. Smidt hoffte, daß der Bundestag ſich der Auf-
hebung der deutſchen Binnenmauthen ſchrittweiſe nähern werde, warnte aber
ſorglich vor übertriebenen Hoffnungen, damit Oeſterreich, das des deutſchen
Marktes kaum bedürfe, ſich uns ja nicht entfremde; er hoffte auf ein Bun-
desgericht, auf eine gemeinſame, durch eine diplomatiſche Commiſſion des
Bundestags geleitete auswärtige Politik, und was der frommen Wünſche
mehr war. So wenig ahnte er, was Metternich im Schilde führte.


Welch ein bedeutſamer Gegenſatz! Hier die geſtaltloſen foederaliſti-
ſchen Träume eines redlichen Patrioten, der, in allen bremiſchen Ange-
legenheiten das Muſter eines umſichtigen praktiſchen Staatsmannes, von
der unverbeſſerlichen Nichtigkeit des deutſchen Bundes mit kindlichem Ver-
trauen das Unmögliche erwartete; dort der Cynismus einer undeutſchen
Politik, welche die Ruhe der Völker durch polizeilichen Druck zu erzwingen
dachte, aber ihr gemeines Ziel mit durchtriebener Schlauheit und klarer
Berechnung verfolgte. In einem ſolchen Wettſtreit konnte der Sieg nicht
zweifelhaft ſein, ſelbſt wenn die Ungleichheit der Macht weniger lächerlich
geweſen wäre. Der hanſeatiſche Staatsmann ließ ſich’s nicht träumen,
daß ſeine harmloſe Denkſchrift dem Wiener Hofe verrathen und dort,
[540]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
trotz der ſo brünſtig betheuerten Unterwürfigkeit gegen das Haus Oeſter-
reich, als ein neuer Beweis demagogiſcher Geſinnung übel vermerkt wurde.
Vor dieſen kleinen Genoſſen hatten die neun verſchworenen Höfe ſich nicht
zu ſcheuen, und triumphirend verkündete Gentz ſeinem Freunde Pilat, als
Metternich in Karlsbad anlangte: ein ungeheurer Moment in der deut-
ſchen Geſchichte ſei eingetreten! —


Mittlerweile, im Laufe des Juli, erfolgten in Berlin und Bonn die
erſten Verhaftungen und Hausſuchungen; am 13. erſtattete Geh. Rath
Kamptz dem Staatskanzler Bericht über das Ergebniß.*) Plump und roh,
mit frevelhafter Leichtfertigkeit hatte er ſeine Meute gegen Alle losge-
laſſen, die nur möglicherweiſe in einer entfernten Beziehung zu der Burſchen-
ſchaft ſtehen konnten. Und doch blieb die Zahl der verhafteten namhaften
Männer ſehr gering; denn Metternich log mit Bewußtſein, wenn er
Preußen als die Brutſtätte der revolutionären Pläne bezeichnete. Gerade
die preußiſchen Univerſitäten waren an der teutoniſchen Bewegung nur
wenig betheiligt. Was der Oeſterreicher mit ſeinem preußiſchen Anhang
verfolgte, war nicht die revolutionäre Geſinnung, ſondern der deutſche
Nationalſtolz, und dieſer fand allerdings an Preußens Volk, Heer und
Beamtenthum den ſtärkſten Rückhalt. In Berlin war Jahn das erſte
Opfer; er wurde nach Spandau, dann nach Küſtrin auf die Feſtung ge-
bracht und hatte einen ſchweren Stand, weil ſich in den Papieren der
verhafteten Studenten und Schüler die „Goldſprüchlein“ ſowie andere
närriſche, für ängſtliche Subalternbeamte hochbedenkliche Herzensergüſſe
des Turnvaters vorfanden.


Da der Staat in Gefahr ſein ſollte, ſo galt das Erbrechen, das
Perluſtriren der Briefe, wie der amtliche Ausdruck lautete, für erlaubt.
Eine ganze Schaar junger Leute ward monatelang wegen einzelner thö-
richten oder auch ganz harmloſen brieflichen Aeußerungen von einem
Verhör in das andere geſchleppt. So mußten die beiden Schweizer
Studenten Ulrich und v. Wyß eine lange Unterſuchung aushalten, weil
ſich in einem ihrer Briefe die Bemerkung fand, Sands That werde
der guten Sache ſchaden. Unter der guten Sache konnte ja nur eine de-
magogiſche Verſchwörung gemeint ſein; auf die Frage der Angeklagten, was
man denn eigentlich unter „demagogiſch“ verſtehe, gab der Unterſuchungs-
richter, ein blutjunger Referendar, die Antwort: demagogiſch heißt jedes
gewaltſame Hervorrufen einer Verfaſſung. Auch einer der angeſehenſten
Bürger Berlins, der Buchhändler G. A. Reimer, ein Geſchäftsmann
großen Stils, kühn im Wagen und klug im Rechnen, einer der erſten
Vertreter der wiedererwachenden wirthſchaftlichen Thatkraft des deutſchen
Bürgerthums, mußte eine Hausſuchung über ſich ergehen laſſen, weil er
mit Niebuhr, Eichhorn, Schleiermacher nahe befreundet war und die
[541]Demagogenverfolgung in Berlin.
Turnfreunde in ſeinem gaſtlichen Hauſe viel verkehrten. Grano und
Dambach betheiligten ſich perſönlich an dem wichtigen Geſchäfte. Reimer
ſelbſt war grade verreiſt, und da Eichhorn als Freund des Hauſes ſich
der Frau tapfer annahm, die Commiſſion zur Vorzeigung ihrer Vollmacht
zwang, ſo rächten ſich dieſe Subalternen durch einen unverſchämten Be-
richt, worin ſie deutlich zu verſtehen gaben, der pp. Eichhorn — einer
der erſten Beamten der Monarchie — möchte wohl auch mit zu der
Verſchwörung gehören. In Reimers Papieren fanden ſich einige Briefe
Schleiermachers aus der Zeit des Tilſiter Friedens, die von einer na-
henden Volkserhebung ſprachen, und dieſe gegen die Fremdherrſchaft ge-
richteten Worte genügten, um auch den großen Theologen verdächtig er-
ſcheinen zu laſſen. Seine Predigten wurden während der nächſten Monate
polizeilich überwacht. Spione zeichneten auf, wie er von der Befreiung
aller geiſtigen Kräfte des Menſchen, die wir der Lehre Chriſti verdanken,
ſprach, wie die Gemeinde ſang: „Lobſingt! Nun hat er ſchon Am Holz
ein Fluch gehangen!“ — und wie endlich gar „vier mit Bärten verſehene
Studenten nach erhaltenem Abendmahl kniend ſcheinbar inbrünſtig beteten.“*)


Kamptz trug kein Bedenken, zahlreiche, zum Theil entſtellte, Sätze
aus den Briefen der Verhafteten ſofort zu veröffentlichen, obwohl er zu
den eifrigſten Vertheidigern des geheimen Gerichtsverfahrens zählte; er
ſchrieb in die Voſſiſche Zeitung einen ſo beleidigenden Artikel über Jahns
Verhaftung, daß der Gefangene eine Verleumdungsklage anſtrengte, die
nur durch die Erhebung des Competenzconflicts unterdrückt werden konnte;
er ſuchte ſogar in den „Jahrbüchern der Geſetzgebung“ die preußiſchen
Richter darüber zu belehren, daß ſie, ſelbſt wenn nur verbrecheriſche
Theorien vorlägen, auf Hochverrath erkennen müßten. Der ehrliche
Stägemann mußte die Spalten ſeiner Staatszeitung den lächerlichſten
Enthüllungen öffnen und tröſtete ſich, wie manche andere rechtſchaffene
Beamte, mit der Meinung: ganz grundlos könne der Verdacht doch nicht
ſein, ſonſt würden die höchſten Polizeibehörden nicht ſo beſtimmt reden.
Da ſtand denn zu leſen, daß ein ſechzehnjähriger Gymnaſiaſt die gräß-
liche Aeußerung gethan: „o braver Sand, du wußteſt nicht, welche Heu-
ochſen wir waren“; derſelbe junge Teufel, der ſich offenbar ſoeben an
Schillers Räubern berauſcht, hatte auch geſchrieben: „an jedem Baume
zwiſchen hier und Charlottenburg ſollte mir Einer hängen; o ich wollte
mir Luft machen“ — und weiter: „alle Achtunddreißig zu töden iſt ein
leichtes Ding, ein Werk des Augenblicks“ — wozu die Staatszeitung
weiſe bemerkte, damit ſeien offenbar die durchlauchtigen Souveräne des
[542]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Deutſchen Bundes gemeint. Und dieſe ſchimpflichen Albernheiten ſtanden
in dem amtlichen Blatte der Monarchie dicht neben vortrefflichen Aufſätzen,
welche die Einſicht einer wohlwollenden und gerechten Regierung bekundeten.
Wenn die Affenbosheit niedriger Handlanger dieſen glorreichen Staat alſo
dem allgemeinen Hohngelächter preisgeben durfte, was Wunder, daß die
öffentliche Meinung zu hoffen verlernte? Der preußiſche Staat glich einem
von einer fixen Idee ergriffenen, doch im Uebrigen geſunden Geiſte; in
allen Zweigen der Verwaltung wurden die alten ehrenhaften Traditionen
gewahrt, nur gegen die Demagogen erhielten die verworfenen Elemente
des Beamtenthums freies Spiel.


Am Rhein hatte ſich Kamptz mit dem Inſtinkt der Gemeinheit grade
die Männer ausgeſucht, welche den preußiſch-deutſchen Geiſt in der ſchwie-
rigen Provinz vertraten. So ward in Köln der Procurator L. v. Mühlen-
fels verhaftet, ein ſchwärmeriſcher Patriot, der ſeinen verwegenen Muth
bei Dennewitz bewährt hatte; er war mit den Gebrüdern Follen bekannt,
aber nie in ihre geheimſten Pläne eingeweiht worden. Gleichzeitig ward
in Bonn bei Arndt und den Brüdern Welcker Hausſuchung gehalten.
Umſonſt verbürgte ſich Humboldt für die Unſchuld ſeines jungen Freundes,
des Philologen F. G. Welcker, und legte dem Staatskanzler an’s Herz,
wie leicht die junge Hochſchule untergehen könne, wenn man ihre ſoeben
erſt ehrenvoll berufenen neuen Lehrer ſo leichtfertig bloßſtelle.*) Der
vornehme, ſinnige Kunſtforſcher F. G. Welcker hatte ſchon in Gießen
durch ſeine nationale Begeiſterung den Zorn der Rheinbündner erregt,
er war dann als Göttinger Profeſſor durch Kamptz bei der hannoverſchen
Regierung denuncirt worden und mußte jetzt noch ſechs Jahre warten,
bis Miniſter Schuckmann ihm erklärte, daß die Unterſuchung gar nichts
ergeben hätte.


Grauſamer war Arndts Schickſal. Wer in einem Zeitalter ano-
nymer Publiciſtik den Muth hat, mit offenem Viſier ſeine politiſche
Meinung zu vertheidigen, kann auf die Dauer einem ungeheuren Haſſe
nicht entgehen. Sobald die Bonner Hausſuchungen ruchbar wurden,
geriethen die zahlloſen Feinde, die ſich der Tapfere bei allen Parteien er-
worben hatte, in geſchäftige Bewegung, ſeine Wanderfahrten im Dienſte
des Vaterlandes wurden dem Monarchen als Beweiſe abenteuerlicher
Unſtetigkeit verdächtigt, und der König, der noch lange von dem Daſein
eines alle Ordnung der Geſellſchaft bedrohenden Geheimbundes feſt über-
zeugt blieb, unterſagte ihm vorläufig die Fortſetzung ſeiner Collegien. Der
Mann, der einſt zuerſt für die Wiedereroberung des deutſchen Fluſſes
ſeine Stimme erhoben hatte, empfand es als „eine fürchterliche Ironie“,
daß er hier am befreiten Rheinſtrom das Opfer eines außerordentlichen
Gerichtsverfahrens werden mußte. Er ſchrieb dem Staatskanzler: „als
[543]Arndt und die Brüder Welcker.
einen Schelm und Verräther, als einen feigen Knecht, der das Unrecht
Recht nennt, ſollen ſie mich wahrlich nicht finden.“ Noch zwei Jahr-
zehnte hindurch ſollte er unter einer Ungerechtigkeit leiden, die von allen
Sünden dieſer Demagogenjagd die häßlichſte bleibt. Bald wagte ſich der
Spüreifer der Werkzeuge Kamptz’s ſelbſt an die Vertrauten des Staats-
kanzlers. Der unaufhaltſame Grano erſchien ſelber am Rhein um
Dorows Papiere zu durchſuchen. Auch Juſtus Gruner, der tödlich er-
krankt in Wiesbaden Heilung ſuchte, empfing den Beſuch des Spürers
und ſah die letzten Tage ſeines kurzen Lebens durch eine Kränkung ge-
trübt, die den leidenſchaftlichen Mann aufs Tiefſte empörte.


Daß Hardenberg an alle Märchen der Demagogenjäger geglaubt
haben ſollte, ſcheint undenkbar. Der alte Herr zeigte auch jetzt noch zu-
weilen ſein dankbares Herz, unterſtützte die Frau des unglücklichen Jahn,
dem während ſeiner langen Haft zwei Kinder ſtarben, und ſchrieb freund-
ſchaftlich an Dorow: er möge nur getroſt ſeine Geheimniſſe aufdecken,
dann werde ſeine Unſchuld ſchon an den Tag kommen. Doch findet ſich
ſelbſt in Hardenbergs vertrauten Briefen kein Wort des Bedauerns oder
des Zweifels, vielmehr eine Menge ſcharfer Aeußerungen gegen die Ruch-
loſigkeit der Demagogen. Auch er war durch Wittgenſtein, den er ja für
ſeinen treuen Freund anſah, überzeugt worden, er glaubte an eine ſchwere
Staatsgefahr, wenngleich er nicht jeden Schritt der Verfolger billigen
mochte; und es iſt nicht richtig was ſeine Panegyriker Benzenberg und
B. Conſtant ſpäterhin behaupteten, daß er ſich nur zum Scheine an die
Spitze der reaktionären Partei geſtellt habe. Seine Verfaſſungspläne hielt
er noch immer feſt, aber ſie konnten nur verwirklicht werden, wenn der
König über die Sicherheit des Staates vollſtändig beruhigt war.


Die älteren Männer unter den Verfolgten ertrugen ihr Geſchick mit
einer ruhigen Würde, welche allein ſchon den Ungrund der Verdächtigung
hätte darthun können. Weder Arndt noch F. G. Welcker und Mühlen-
fels ließen ſich durch die erlittene Unbill jemals in ihrer monarchiſchen
Geſinnung, ihrer preußiſchen Treue beirren; mit unverwüſtlicher Tapferkeit
predigte Reimer, aller Kränkungen ungeachtet, ſeinem krankhaft verſtimmten
Freunde Niebuhr Muth und Vertrauen.*) Nur der heißblütige Karl
Theodor Welcker, ein unbedingter Bewunderer des Repräſentativſyſtems,
der ſchon beim Zuſammentritt des Wiener Congreſſes in einer Rede über
„Deutſchlands Freiheit“ ein deutſches Parlament gefordert hatte, bildete
ſich nach ſolchen Erfahrungen, menſchlich genug, ein gehäſſiges Urtheil
über den preußiſchen Staat, das bei den Liberalen des Südweſtens nur
zu williges Gehör fand. Von den Jüngeren dagegen wurden viele erſt
durch die Verfolgung dem Radikalismus zugetrieben, manche in der Blüthe
[544]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
des Lebens geknickt, andere endlich dem Vaterlande gewaltſam entfremdet,
ſo Franz Lieber, der nach langen Irrfahrten in Amerika eine neue Hei-
math fand und dort mit dem ganzen Gedankenreichthum der deutſchen
hiſtoriſchen Rechtsſchule das Ideal der Bundesrepublik verherrlichte, der
geiſtvollſte unter allen Publiciſten der modernen Demokratie.


Für Preußen und ſein Verhältniß zur Nation ward der Unſinn dieſer
Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnißvoll, obwohl die Mehrheit am
Bundestage die heilſame Strenge der preußiſchen Regierung mit unter-
thänigem Danke anerkannte.*) Wörtlich erfüllte ſich was Niebuhr
weiſſagte: „welches Leben ohne Liebe, ohne Patriotismus, ohne Freude,
voll Mißmuth und Groll entſteht aus ſolchen Verhältniſſen zwiſchen
Unterthanen und Regierungen!“ Hatten die partikulariſtiſchen Liberalen
die preußiſche Monarchie bisher ſchon ohne Grund verunglimpft, ſo ſtürzten
ſie ſich jetzt vollends mit urkräftigem Behagen auf die offene Wunde am
Leibe des deutſchen Staats. Da die Deutſch-Oeſterreicher der nationalen
Bewegung vollkommen fremd blieben und Metternich mithin wenig Gelegen-
heit zu Verhaftungen fand, ſo galt Preußen nunmehr als die Macht der
Finſterniß im deutſchen Leben, und in den Köpfen der ſelbſtgefälligen
Conſtitutionellen des Südweſtens niſtete ſich ein Vorurtheil ein, das, wie
thöricht immer, doch eine reale Macht, ein ſchweres Hinderniß unſerer
politiſchen Entwickelung geworden iſt. Das völlig nichtige Ergebniß der
Unterſuchungen gegen Arndt und Jahn rief nachher natürlich die Meinung
hervor, als wäre überhaupt gar kein Grund zu polizeilichem Einſchreiten
vorhanden geweſen. Und doch hatte man mindeſtens einen wirklichen
Verſchwörer ergriffen, Adolf Follen in Elberfeld. Bei ihm fand ſich auch
jener Entwurf für die Verfaſſung der deutſchen Republik; doch er ver-
ſtand, während ſo viele Unſchuldige leiden mußten, ſeine Unterſuchungs-
richter mit der Gewiſſenloſigkeit des Unbedingten zu täuſchen. —


Immer lauter ward das Gerücht, daß die Karlsbader Verſammlung
den deutſchen Landtagen feſte Formen und Schranken vorſchreiben werde.
Um dieſer Gefahr vorzubeugen verſuchten noch in der zwölften Stunde
zu gleicher Zeit zwei Souveräne ihre Verfaſſung ſelbſtändig zu ordnen.
Die Fürſtin-Vormünderin Pauline von Lippe-Detmold, eine der geiſt-
reichſten Frauen ihrer Zeit, lebte ſeit Langem in Streit mit ihren Ständen,
weil ſie den alten aus 32 Rittern und 7 Städtern beſtehenden Landtag
umgeſtalten und jedem der drei Stände die gleiche Stimmenzahl gewähren
wollte. Sie war die Wohlthäterin ihres Ländchens, hatte die Bürger und
Bauern Mann für Mann auf ihrer Seite und redete mit einer Unbe-
fangenheit, die in Wien übel vermerkt ward, von dem natürlichen Rechte
der Völker auf Vertretung aller Klaſſen. Mit dem poſitiven Rechte aber
nahm ſie es nach Frauenart nicht genau; auch ſie war, wie weiland König
[545]Verfaſſungskampf in Detmold.
Friedrich von Württemberg, durch den Untergang des heiligen Reichs mit
einem mächtigen Souveränitätsgefühle erfüllt worden und meinte, ſeit ſie
die kaiſerliche Majeſtät nicht mehr zu fürchten hatte, auch an die Landes-
verträge nicht länger gebunden zu ſein. Die alten Stände widerſtanden
hier ebenſo zäh wie in Württemberg und wendeten ſich klagend an den
Bund; Rath Schloſſer, derſelbe, der die Rechtsverwahrungen der jülich-
cleviſchen Stände verfaßt hatte, führte ihnen die Feder. Als die Karls-
bader Conferenzen herannahten, ahnte die Fürſtin ſogleich, daß die dor-
tigen Beſchlüſſe ihren liberalen Anſichten wenig entſprechen würden, und
raſch entſchloſſen verkündete ſie am 6. Juni ihrem Lande eine neue Ver-
faſſung. Aber der liberale Staatsſtreich mißlang. Unterſtützt von dem
Bückeburger Fürſten, der eine Mit-Landesherrſchaft behauptete, erſchienen
die alten Stände alsbald wieder beim Bunde. Nach einer tiefgeheimen
Berathung, wobei Wangenheim die ganze Fülle ſeiner conſtitutionellen
Gelehrſamkeit entfaltete, beſchloß der Bundestag den Streitenden ſeine
Vermittlung anzubieten und forderte die Fürſtin auf, die Ausführung
ihres neuen Grundgeſetzes einſtweilen einzuſtellen. Dies „Einſtweilen“
währte bis zum Jahre 1836; da kam endlich, aber ohne Mitwirkung
des Bundestags, ein Vergleich zu Stande.


Glücklicher fuhr der König von Württemberg. Wer hätte auch die
krummen Wege dieſes Meiſters der Falſchheit berechnen und durchkreuzen
können? König Wilhelm hatte einſt zuerſt den Gedanken aufgebracht,
daß der Bund den Anſprüchen der Landſtände eine feſte Schranke ſetzen
ſolle; er hatte, als er die Verhandlungen mit ſeinem Landtage abbrach,
ausdrücklich erklärt, zunächſt wolle er die Beſchlüſſe des Bundestags über
die Rechte der deutſchen Kammern abwarten, und ſeitdem war er von
dieſem Herzenswunſche nicht zurückgekommen. Sein neuer Premierminiſter
v. Maucler ſchulte das Beamtenthum, ähnlich wie Zentner in Baiern,
zu einer ſtreng gehorſamen, unbedingt abhängigen „Garde“, wie die Libe-
ralen höhnten; auch der einflußreiche Geh.-Rath v. Gros, der ſich früher
als Erlanger Profeſſor der beſonderen Gunſt Hardenbergs erfreut hatte,
war ein geſcheidter Bureaukrat von der aufgeklärten rheinbündiſchen Art.
Graf Wintzingerode endlich, der Sohn des Miniſters Friedrichs I., der
ſoeben in das Auswärtige Amt berufen wurde, hatte ſich als Geſandter
in Wien durch ſeine Gradheit und ſtreng monarchiſche Geſinnung das
volle Vertrauen Metternichs erworben.*) Alles an dieſer Regierung trug
das Gepräge eines ſtrengen und verſtändigen Abſolutismus. Die lärmende
Freiheit der Studenten ſchien dem ſoldatiſchen Monarchen entſetzlich, und
Wintzingerode erwog bereits mit ihm die Frage, ob man nicht der Tübinger
Univerſität eine neue Karlsſchule mit halbmilitäriſcher Zucht an die Seite
ſetzen ſolle. Daher war ihm die Einladung zu den Karlsbader Conferenzen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 35
[546]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
keineswegs unwillkommen. Aber andererſeits wollte er doch den Namen
des liberalſten deutſchen Fürſten nicht verlieren und ſein Verfaſſungswerk
als ſouveräner Herr, unbeläſtigt durch den Bund, zu Stande bringen.


Seit zwei Jahren befand er ſich wohl bei einem Doppelſpiele, das
ſeiner ränkeſüchtigen Natur allmählich zum Bedürfniß wurde. Er gewährte
ſeiner Preſſe volle Freiheit gegen den Bund und die Großmächte, nur
wider ihn ſelber durfte ſie nichts ſagen. Er ließ in Frankfurt durch
Wangenheim, den begeiſterten Verehrer des Bundesrechts, die Gedanken
des liberalen Foederalismus vertreten, und wenn es der Heißſporn zu
arg trieb, dann mußte Wintzingerode, der ſeinerſeits die Bundesakte
für „eine widerſinnige Conception“ hielt, ihn bei der Hofburg entſchuldigen
und die hochconſervativen Anſichten des Königs betheuern. Wie erfolg-
reich ließ ſich dieſe machiavelliſtiſche Politik jetzt fortführen, wenn man
gleichzeitig mit den Karlsbader Conferenzen die Verfaſſungsberathungen
von Neuem aufnahm. Dann konnten die Landſtände durch die Angſt vor
den Karlsbader Beſchlüſſen nachgiebig geſtimmt werden; und wenn in
Karlsbad ein Vorſchlag auftauchte, der den Intereſſen des Stuttgarter
Hofes zuwiderlief, ſo mochte ſich der württembergiſche Bevollmächtigte hinter
den Landtag verſchanzen und wehmüthig verſichern, dergleichen ſei bei den
hartköpfigen Schwaben nicht durchzuſetzen. So wurde zugleich der Trotz
der Altrechtler gebrochen und dem Könige ſein liberaler Ruf gerettet.


Nicht ohne Geſchick ward dieſe politiſche Falle eingerichtet. Am
10. Juni überraſchte der König ſein Land durch die Ausſchreibung neuer
Wahlen, am 13. Juli trat der Landtag in Ludwigsburg zuſammen.
Welch ein Umſchlag der Stimmungen ſeit zwei Jahren! Die im Ganzen
wohlthätige Wirkſamkeit der königlichen Dictatur hatte manchen hitzigen
Altrechtler verſöhnt, das Mißtrauen gegen die Krone gemildert. Die Thor-
heit des verſtockten Widerſtandes der alten Stände war jetzt Vielen klar
geworden; Alle aber beherrſchte, wie der Abgeordnete Schott offen aus-
ſprach, die Furcht vor den drohenden Karlsbader Beſchlüſſen, die ſo leicht
„das koſtbarſte Recht des Landes, den freien Vertrag gefährden könnten.“
Auf dieſen Eckſtein ſchwäbiſcher Freiheit beſchränkten ſich jetzt die Hoff-
nungen der Ernüchterten; wenn nur die neue Ordnung vertragsmäßig
zu Stande kam, ſo war man bereit im Einzelnen nachzugeben. Ohne
einen vereinbarten Grundvertrag konnten ſich die Alt-Württemberger, die
ſo lange unter dem Schutze des Tübinger Vertrags und des Erbver-
gleichs gelebt, die politiſche Freiheit nicht vorſtellen; recht nach dem Herzen
ſeiner Landsleute hatte Schiller geſungen:


Und über jedem Hauſe, jedem Thron

Schwebt der Vertrag wie eine Chernbswache.

Mehrere Führer der alten Oppoſition, Waldeck, Maſſenbach, Bolley,
erſchienen in dem neuen Landtage nicht wieder; andere, wie der welt-
kluge Weishaar hatten ſich inzwiſchen der Regierung angeſchloſſen. Um
[547]Der württembergiſche Landtag.
ſeine Volksvertreter vor Verführung zu ſichern, ließ der König den eifrigen
Altrechtler Paulus, der auf Beſuch in ſein Heimathland gekommen war,
kurzerhand ausweiſen. Der Todfeind der württembergiſchen Schreiber,
der freimüthige F. Liſt, wurde durch ein ungemein einfaches Verfahren
von dem Landtage ausgeſchloſſen. Da er am Tage der Wahl ſein drei-
ßigſtes Lebensjahr noch nicht ganz vollendet hatte, ſo erklärte das Oberamt
Reutlingen, auf Befehl der Regierung, ſeinen Wählern kurzweg: ihre
Stimmzettel ſeien ungiltig, es ſolle ihnen aber geſtattet werden „am
nächſten Montag friſch zu wählen“.*) Als er darauf, nunmehr un-
zweifelhaft wählbar, in einem anderen Bezirke gewählt werden ſollte,
verwickelte man ihn in eine Unterſuchung wegen der revolutionären
Sprache ſeines Wahlaufrufs, und ſo gelang es, den unbequemen Mann
während des ganzen Landtags fern zu halten. Die Vorſicht war kaum
nöthig; denn die Oligarchie der Altrechtler hatte bereits in der Stille
ihren Frieden mit dem Miniſterium geſchloſſen. Die Verſammlung be-
gann ſogleich mit Beweiſen der Ergebenheit, welche von dem alten
Trotze ſeltſam abſtachen und wenig geeignet waren den Monarchen von
ſeiner cyniſchen Menſchenverachtung zu heilen. Sie dankte dem Könige,
weil er „von Neuem den Weg des Vertrages betreten, auf dem ſich
von jeher die Verfaſſung des Landes entwickelt hat,“ und ernannte
alsbald eine Commiſſion zur Berathung der neuen Verfaſſungsvorlage,
welche ſich von der letzten, verworfenen, weſentlich nur durch ihre ge-
drängtere, zweckmäßigere Form unterſchied. Am 2. Sept. erſtattete die
Commiſſion ihren Bericht, und hatte der alte Landtag durch pedantiſche
Langſamkeit geſündigt, ſo betrieb der neue ſeine Arbeit in raſender Eile,
weil er den Karlsbader Beſchlüſſen durch eine vollendete Thatſache zuvor-
kommen wollte.


Schon am 18. September war die Berathung beendigt, in zwei
Tagen hatte man 121 Artikel erledigt. Das früher ſo leidenſchaftlich
bekämpfte Zweikammerſyſtem wurde jetzt faſt ohne Streit angenommen,
weil die Frage bereits entſchieden ſei „durch Verhältniſſe, deren Berück-
ſichtigung unausweichlich iſt.“ Alle Parteien fühlten, daß man den
von dieſer Krone ſo ungerecht behandelten Mediatiſirten irgend ein Zu-
geſtändniß bieten müſſe um gefährliche Verhandlungen am Bundestage
zu vermeiden. Von ſolcher Furcht beherrſcht, kam man dem hohen Adel
ſogar allzuweit entgegen und gewährte der Krone nur das Recht, höchſtens
ein Drittel der Mitglieder der erſten Kammer, die geheim tagen ſollte,
zu ernennen, ſo daß unlösbare Streitigkeiten zwiſchen den beiden Kammern
ſehr leicht eintreten konnten. Auch das Idol der Altrechtler, die ſtändiſche
Steuerkaſſe ward nur noch von Uhland und einer kleinen Minderzahl matt
35*
[548]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
vertheidigt. Die Mehrheit hatte inzwiſchen gelernt, daß dieſe altväteriſche
Inſtitution ſich mit der modernen Staatseinheit nicht vertrug; wir wollen,
meinte Schott, keine Feudal-, ſondern eine Repräſentativverfaſſung. Bei
der Schlußabſtimmung widerſprach Niemand mehr, und Uhland fügte
ſeinem Ja die feierlichen Worte hinzu: „das Weſentliche beſteht, vor Allem
jener Urfels unſeres alten Rechts, der Vertrag.“ Eine durch F. Liſt ent-
worfene Adreſſe von Stuttgarter Bürgern, die ſich ſcharf gegen das über-
eilte Verfahren der Stände ausſprach, ward erſt nach Schluß der Be-
rathungen veröffentlicht. Am 24. September unterzeichnete der König
den neuen Grundvertrag; die Verfaſſung kam noch glücklich unter Dach,
einen Augenblick bevor die Karlsbader Beſchlüſſe im Lande bekannt
wurden.


So war denn endlich verwirklicht was der ſchwäbiſche Dichter ſo oft
gefordert hatte:


Daß bei dem biedern Volk in Schwaben

Das Recht beſteht und der Vertrag.

Die politiſche Brauchbarkeit der neuen Verfaſſung wurde freilich durch
dieſe vertragsmäßige Entſtehung keineswegs erhöht. Statt eines Werkes
aus einem Guſſe hatte man ein mühſeliges Compromiß zu Stande ge-
bracht, das viele jetzt nutzloſe oder gradezu unmögliche Inſtitutionen des
altwürttembergiſchen Ständeweſens mit in die neue Zeit hinübernahm.
So ſollte die lutheriſche Kirche ihren alten reichen Kirchenkaſten wieder
erhalten. Die unterthänige Commiſſion nannte dieſe Beſtimmung „einen
der ſchönſten und größten Gedanken, die je ein Regent faßte,“ und er-
klärte: „mit einer Kritik der Vorſchläge, welche von dieſer Reſtitution ab-
mahnen, wollen wir den gegenwärtigen Augenblick nicht entweihen.“ Der
große Gedanke erwies ſich aber als gänzlich unausführbar, da die Kirchen-
güter ſeit Jahren eingezogen und in verſchiedene Hände gelangt waren. So
ſollte ferner neben dem Miniſterium noch ein Geheimer Rath beſtehen, die
Staatsſchuldenkaſſe durch ſtändiſche Beamte verwaltet werden, ein ſtehen-
der Ausſchuß des Landtags in Stuttgart tagen, eine kleine ſtändiſche
Kaſſe dem Landtage, aber nur für ſeinen eigenen Aufwand, zur Verfü-
gung ſtehen — lauter Ueberbleibſel von altwürttembergiſchen Einrichtungen,
welche die moderne Verwaltung nur erſchweren konnten ohne die Macht
des Landtags zu verſtärken. Für die Ohnmacht der zweiten Kammer
hatte der ſchwäbiſche Kirchthurmsgeiſt geſorgt. Da keines der 64 Ober-
ämter auf einen eigenen Vertreter verzichten wollte, ſo ergab ſich, mit
den Vertretern der Ritterſchaft, der Geiſtlichkeit, der ſieben guten Städte,
die gewaltige Zahl von vierundneunzig Abgeordneten, deren große Mehr-
heit nothwendig aus harmloſen Naturen beſtehen mußte. König Wilhelm
durfte ſich mithin der angenehmen Hoffnung hingeben, daß er in ſeinem
ſtreng centraliſirten Staate das gewohnte ſtramm bureaukratiſche Regi-
ment auch fürderhin unbeläſtigt werde fortführen können. Die Preß-
[549]Die württembergiſche Verfaſſung.
freiheit wurde verſprochen, „jedoch unter Beobachtung der gegen die
Mißbräuche beſtehenden oder künftig zu erlaſſenden Geſetze.“ Erſt aus
ſchmerzlichen Erfahrungen ſollte das Volk lernen, daß mit ſolchen hoch-
tönenden Verheißungen allgemeiner „Grundrechte“ in Wahrheit gar nichts
geſagt, ja ſelbſt die Cenſur nicht gradezu beſeitigt war. Zum Ueberfluß
beſtimmte der Art. 3, daß alle organiſchen Beſchlüſſe des Bundestags,
wie billig, auch für Württemberg gelten ſollten.


Trotz alledem ließen ſich’s die Württemberger nicht nehmen, daß ihr
Grundgeſetz das freiſinnigſte Deutſchlands ſei. Die Verfaſſung ſtand,
gleich der badiſchen, mitteninne zwiſchen dem altſtändiſchen und dem Re-
präſentativſyſteme, da mindeſtens die Abgeordneten der Oberämter in
der zweiten Kammer das geſammte Volk, mit Ausnahme des Adels und
der Geiſtlichkeit, vertraten; ſie beſaß überdies in dem ſtehenden Landtags-
ausſchuſſe eine eigenthümliche Inſtitution, welche ſich zwar praktiſch wenig
bewährte, aber den Tagesmeinungen als ein furchtbares Bollwerk der
Volksrechte erſchien. Das Volk hatte durch zahlreiche, namentlich gegen
das Zweikammerſyſtem gerichtete Petitionen ſeine Theilnahme an den
Arbeiten des Landtags bewieſen. Die merkwürdigſte dieſer Bittſchriften
war eine Eingabe der allezeit gut deutſch geſinnten Reutlinger, welche
— zum erſten male in dieſer ſtillen Zeit — die Einberufung eines
deutſchen Parlaments forderte, weil „nur ſo alle deutſche Staaten ſich
einer wirklichen Repräſentativ-Verfaſſung erfreuen könnten.“ Unter ſtür-
miſchem Jubel beſchwor der Monarch am 25. September die Verfaſſung;
auch die Prägung der unvermeidlichen Denkmünze ward beſchloſſen, und
als drei Tage nachher König und Landtag auf dem Canſtatter Volks-
feſte erſchienen, da brach die ſchwäbiſche Freiheitsbegeiſterung in hellen
Flammen aus. Was der Bevollmächtigte dieſes volksfreundlichen Königs
unterdeſſen in Carlsbad getrieben hatte, blieb dem argloſen Volke zum
Glück verborgen.


Der nationalen Geſinnung des ſchwäbiſchen Landes brachte die
ſeltſame Entſtehungsgeſchichte des neuen Grundgeſetzes ſchweren Schaden.
Die Verfaſſung war aus einem geheimen Kampfe gegen den deutſchen
Bund hervorgegangen; alle Reden der Volksvertreter liefen hinaus auf
die Mahnung, daß man die ſchwäbiſche Freiheit gegen die Tyrannei des
Bundes ſichern müſſe. Unter ſolchen Erlebniſſen gewann der ohnehin
überſtarke Stammesſtolz der Schwaben neue Kraft. Da in der deutſchen
Centralgewalt nur die Kronen, in den Einzelſtaaten auch die Unterthanen
vertreten waren, ſo ſchlug der junge Liberalismus faſt überall eine par-
tikulariſtiſche Richtung ein, und nirgends war dieſer Sondergeiſt mäch-
tiger als in Württemberg, wo ſich von vornherein die Anſicht bildete: das
halb gegen den Willen des Deutſchen Bundes entſtandene Grundgeſetz
ſtehe über dem Bunde. —


[550]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

Am 22. Juli traf Metternich zu Karlsbad ein, in dem ſtolzen Be-
wußtſein, daß „von hier entweder das Heil oder die endgiltige Vernich-
tung der ſocialen Ordnung ausgehen werde.“ Eine Bereiſung ſeines
lombardiſch-venetianiſchen Königreichs hatte Kaiſer Franz aufgegeben,
weil die Bändigung der deutſchen Revolution dringender ſchien. Die
Vertrauten, mit denen ſich der öſterreichiſche Staatsmann zunächſt be-
ſprach, waren, außer Gentz, die beiden Freunde vom Wiener Congreſſe
her, die Hannoveraner Graf Münſter und Graf Hardenberg; auf die
hochreaktionäre Geſinnung des Tory-Cabinets durfte Metternich in allen
Fällen, wo kein Einſpruch des Parlaments zu befürchten ſtand, unbedingt
rechnen, und dankbar ſchrieb er nachher dem Prinzregenten: „Ew. K. Ho-
heit iſt man ſicher immer auf dem Wege der wahren Grundſätze zu
finden.“ Doch aller andere Beiſtand war werthlos ohne ein unbedingtes
Einverſtändniß mit der Krone Preußens. Um dieſes zu ſichern eilte Metter-
nich nach Teplitz und hielt dort am 29. Juli mit König Friedrich Wilhelm
eine geheime Unterredung, welche auf Jahre hinaus den Gang der deut-
ſchen Politik entſchied. Der König zeigte ſich auf’s Aeußerſte beunruhigt
wegen der unheimlichen demagogiſchen Pläne, welche, nach Wittgenſteins
Verſicherung, bei den jüngſten Hausſuchungen ſich enthüllt haben ſollten;
er war mit Recht verſtimmt über die Rathloſigkeit des Staatskanzlers und
die Zerfahrenheit ſeines Miniſteriums, das ihm ſeit ſieben Monaten noch
die Antwort auf ſeine drängenden Fragen ſchuldete; er klagte: „es fehlen
mir Leute“ und gab ſich vertrauensvoll den Rathſchlägen des Oeſterrei-
chers hin, der ſchon in Aachen ſo trefflichen Rath gegeben hatte. Metternich
verſtand das glühende Eiſen zu ſchmieden. Für Preußen, ſo betheuerte
er, ſei jetzt der Tag der Entſcheidung gekommen zwiſchen dem Princip
der Erhaltung und dem politiſchen Tode; in Preußen habe die große
Verſchwörung ihren Urſprung und ihren Sitz, bis in die Reihen der
höchſten Beamten reiche ſie hinauf; doch könne noch Alles gerettet werden,
wenn die Krone ſich entſchließe, ihrem Staate keine Volksvertretung in dem
modernen demokratiſchen Sinne zu geben, ſondern ſich mit Ständen zu
begnügen. Die Zuſtimmung des Königs zu dieſem Vorſchlage verſtand
ſich faſt von ſelbſt, da Hardenbergs Verfaſſungspläne ſelbſt immer nur eine
Vertretung der drei Stände, nicht eine Repräſentation des Volks als
einer ungeſchiedenen Maſſe bezweckt hatten.


Auf Befehl des Monarchen hielten nunmehr Hardenberg, Bernſtorff
und Wittgenſtein mit dem Oeſterreicher vertrauliche Berathungen. Am
1. Auguſt unterzeichneten Hardenberg und Metternich eine, unverkennbar
von Letzterem verfaßte, Punktation über die gemeinſamen Grundſätze der
Bundespolitik der beiden Großmächte.*) Die Verabredung ſollte auf
[551]Zuſammenkunft in Teplitz.
ewige Zeiten geheim bleiben, wegen „der Vorurtheile, welche von vielen
deutſchen Regierungen gegen die engere, ſo heilſame Vereinigung der
beiden Höfe“ gehegt würden. Die Vertragſchließenden erinnerten zunächſt
an den verfaſſungsmäßigen Zweck des durch Europa garantirten Deutſchen
Bundes und erklärten ſodann (Art. II), daß ſie als europäiſche Mächte
berufen ſeien über dem politiſchen Daſein des Bundes zu wachen, als
deutſche Bundesſtaaten aber verpflichtet für die Befeſtigung der Bundes-
verfaſſung zu ſorgen. Daher dürften im Innern des Bundes keine mit
ſeiner Exiſtenz unvereinbaren Grundſätze angewendet, alle Beſchlüſſe des
Bundestages müßten als Geſetze des Bundes unverbrüchlich ausgeführt,
werden. Der Artikel der Bundesakte, welcher dem Bunde die Sorge für
die innere Sicherheit Deutſchlands auferlegte und unzweifelhaft nur be-
ſtimmt war der Gefahr des Landfriedensbruchs vorzubeugen, erhielt alſo
eine ganz neue, völlig willkürliche Auslegung: er ſollte dazu dienen auch
die innern Verhältniſſe der Bundesſtaaten einer gleichmäßigen Regel zu
unterwerfen. Der gegenwärtige Augenblick, da die revolutionäre Partei das
Daſein aller Regierungen bedrohe — ſo ſagte die Punktation weiter — müſſe
benutzt werden, um eine engere Verbindung der deutſchen Höfe herbeizu-
führen und am Bundestage die Herrſchaft der Mehrheit zu ſichern Dazu
bedürfe es zunächſt einer Verabredung über den Art. 13 der Bundesakte,
und hier folgte eine erſtaunliche Zuſage, welche für Metternich den Kern
der Punktation bildete. „Preußen, hieß es im Art. VII, iſt entſchloſſen,
erſt nach völlig geregelten inneren und Finanz-Verhältniſſen den Artikel
13 in ſeinem reinen Begriffe auf ſeine eigenen Staaten anzuwenden,
d. h. zur Repräſentation der Nation keine allgemeine, mit der geographi-
ſchen und inneren Geſtaltung ſeines Reichs unverträgliche Volksvertretung
einzuführen, ſondern ſeinen Provinzen landſtändiſche Verfaſſungen zu er-
theilen und aus dieſen einen Central-Ausſchuß von Landesrepräſentanten
zu bilden.“


Dieſer Satz enthielt der Sache nach freilich eine gegenſeitige Ver-
pflichtung, da Kaiſer Franz unzweifelhaft ebenfalls entſchloſſen war, keine
allgemeine Volksvertretung einzuführen; er ſagte im Grunde auch nichts
Neues, denn Hardenberg war längſt gewillt, die Verfaſſung erſt nach der
Vollendung der neuen, dem Abſchluß nahen Finanzgeſetze zu verkündigen,
und daß die Landesrepräſentation aus den Provinzialſtänden hervorgehen
ſollte, war durch die Verordnung vom Mai 1815 ausdrücklich vorge-
ſchrieben. Um ſo ſchmählicher erſchien die Form des Verſprechens. Wie
ein reuiger Sünder, ohne jede förmliche Gegenleiſtung gab die Monarchie
Friedrichs des Großen einer fremden Macht eine Zuſage über innere
Angelegenheiten, deren Regelung jeder ſelbſtbewußte Staat ſich ſelber vor-
behalten muß; und frohlockend meldete Metternich ſeinem Kaiſer „das
Engagement Preußens, keine Volksvertretung zu geben.“ Es war die
ſchimpflichſte Demüthigung, welche Hardenberg jemals über Preußen ge-
[552]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
bracht hat; die Politik des friedlichen Dualismus beſtand jetzt ihre Probe
und ſie erwies ſich als die Unterwerfung Preußens unter Oeſterreichs
Leitung. Der Staatskanzler unterſchrieb, weil er kein anderes Mittel ſah
um ſich das erſchütterte Vertrauen ſeines Monarchen zu erhalten, und weil
das Verſprechen, wörtlich genommen, allerdings nichts enthielt, was den
bisherigen Grundſätzen der preußiſchen Politik zuwiederlief. Beide Theile
aber hegten bei der Abrede ihre Hintergedanken. Hardenberg verſtand unter
dem Central-Ausſchuß, wie er bald durch die That beweiſen ſollte, einen
mächtigen Allgemeinen Landtag, Metternich hingegen dachte, wie ſchon
in Aachen, nur an einen kleinen Ausſchuß von etwa einundzwanzig
Mitgliedern und hoffte insgeheim, ſelbſt dies Schattenbild einer preußi-
ſchen Centralvertretung, das ſeinem Kaiſer hochbedenklich vorkam, dereinſt
noch zu vereiteln. Preußen hatte ſich alſo die neue Wiener Doctrin,
wonach der Art. 13. nur Stände, nicht Volksvertreter verheißen ſollte,
vollſtändig angeeignet. Beide Mächte verpflichteten ſich, „den Staaten
welche unter dem Namen von Ständen bereits Volksvertretungen einge-
führt haben, zur Rückkehr zu einem, dem Bunde mehr angemeſſenen Ver-
hältniß behilflich zu ſein“ und deßhalb zunächſt die Anträge dieſer Re-
gierungen ſelbſt abzuwarten.


Den zweiten Gegenſtand der Karlsbader Berathungen ſollte die Preſſe
bilden. Die beiden Großmächte vereinigten ſich über die Grundſätze einer
Gentziſchen Denkſchrift, die mit grellen Farben ſchilderte, wie bei der Gleich-
heit der Cultur und dem vielfältigen Verkehre der Deutſchen kein einzelner
Staat ſich vor Anſteckung ſchützen könne und mithin jeder Fürſt, welcher
den Preß-Unfug in ſeinem Lande dulde, Hochverrath gegen den Bund begehe.
Darum iſt ein ſtrenges Bundes-Preßgeſetz nothwendig, insbeſondere
„müſſen die deutſchen Regierungen ſich wechſelſeitig verbinden, keinem der
heute berüchtigten Redacteurs den Eintritt in neue Zeitungs-Redactionen
zu geſtatten und überhaupt die vielen Zeitungsblätter zu vermindern“.


Zum Dritten ſollte ſich die Conferenz mit den Univerſitäten und
Schulen beſchäftigen. Metternich dachte zwar ſehr niedrig von der poli-
tiſchen Befähigung der Profeſſoren und begründete dies Urtheil, bezeichnend
genug, mit der Behauptung, daß kein Gelehrter den Werth des Eigen-
thums zu ſchätzen wiſſe; aber mittelbar ſchien ihm die politiſche Wirkſam-
keit dieſer unpraktiſchen Leute ſehr gefährlich, da ſie „die Vereinigung der
Deutſchen in ein Deutſchland“ lehrten und das heranwachſende Geſchlecht
„zu dieſem verruchten Zweck“ erzögen. Darum lag ihm ſo viel an der
ſchleunigen Abſetzung demagogiſcher Lehrer, und Hardenberg war ſchwach
genug, alle die verſtändigen Grundſätze jener Eichhorn’ſchen Denkſchrift,
welche Graf Bernſtorff erſt vor wenigen Tagen dem Bundestage über-
ſendet hatte, ſofort über Bord zu werfen. Er verſtand ſich zu der Ab-
rede, „daß notoriſch ſchlechtgeſinnte und in die Umtriebe des heutigen
Studenten-Unfugs verflochtene Profeſſoren alsbald von den Lehrſtühlen
[553]Die Teplitzer Punktation.
entfernt werden, und daß kein ähnliches von einer deutſchen Univerſität
entferntes Individuum auf den Univerſitäten in anderen deutſchen Staaten
Anſtellung erhalte“. Zum Schluß ward noch ausbedungen, daß dieſe
Maßregeln auch auf das Schulweſen erſtreckt werden ſollten.


So der Inhalt des unſeligen Vertrags. Es war, als ob ein finſteres
Verhängniß dieſem unglücklichen, ſo mühſam aus der Zerſplitterung empor-
ſteigenden Volke jede Möglichkeit der Selbſterkenntniß, jeden Weg zur poli-
tiſchen Macht gewaltſam abſchneiden wollte. Manche traurige Verirrungen
der deutſchen Patrioten in ſpäteren Jahren laſſen ſich nur erklären aus
der vollkommenen Verwirrung aller politiſchen Begriffe, welche der un-
natürliche Bund der beiden Großmächte nothwendig hervorrufen mußte.
Die beiden Mächte beabſichtigten der Gewalt des Deutſchen Bundes die
unzweifelhaft dringend nöthige Verſtärkung zu bringen; ſie erweiterten
ſeine Befugniſſe weit über die Vorſchriften der Bundesakte hinaus; ſie
geſtatteten ihm Eingriffe in das innere Leben der Einzelſtaaten, welche
ſich mit dem Weſen eines völkerrechtlichen Staatenbundes nicht mehr
vertrugen; ſie ſprachen ſogar von einer Felonie deutſcher Fürſten gegen
den Bund, als ob die Souveränität von Napoleons Gnaden bereits ver-
nichtet und die Majeſtät des alten Reichs wieder hergeſtellt wäre. Aber
dieſe unitariſche Politik entſprang nicht der nationalen Geſinnung, ſondern
dem öſterreichiſchen Partikularismus: nur darum ſollte der Deutſche Bund
die Machtbefugniſſe einer Staatsgewalt erhalten, damit den Deutſchen
die Luſt „ſich in ein Deutſchland zu vereinigen“ für immer verginge,
damit der Seelenſchlummer der Völker Oeſterreichs von der höheren
Cultur, den regeren geiſtigen Kräften ihrer deutſchen Nachbarn ungeſtört
bliebe. Auf das Beſtimmteſte, auf wiederholten Befehl ſeines Monarchen,
ſprach Metternich aus, er wolle den Deutſchen Bund durch Oeſterreichs
Mitwirkung retten oder die k. k. Staaten von Deutſchland trennen, um
Oeſterreich allein zu retten; und noch fand ſich Niemand in der Nation,
der das namenloſe Glück dieſer Trennung begriffen und den befreienden
Ruf erhoben hätte: los von Oeſterreich!


Verderblich, undeutſch wie die Ziele dieſer Politik waren auch ihre
Mittel. Der deutſche Bund beſaß noch weder ein Bundesheer, noch ein
Bundesgericht, überhaupt keine gemeinſame nationale Inſtitution außer
dem Bundestage; und ein ſolcher Bund, der die Deutſchen nicht einmal
gegen das Ausland zu ſchützen verſtand, ſollte jetzt — nach den Worten
der Teplitzer Verabredung — „im reinen Begriffe der Foederation“ be-
fugt ſein, das Allerheiligſte der Nation Martin Luthers, die freie Be-
wegung der Gedanken durch Verbote und Verfolgungen zu ſtören. So
ſank die deutſche Politik, wie ein treffendes Wort ſagt, zur deutſchen
Polizei herab; Jahrzehntelang ging faſt das geſammte Leben des Bundes-
tags in polizeilichen Nothmaßregeln auf. Der natürliche Gegenſatz zwiſchen
der abſolutiſtiſchen Centralgewalt und den conſtitutionellen Gliederſtaaten
[554]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
verſchärfte ſich bis zur unverſöhnlichen Feindſchaft; wer den Glauben an
die politiſche Freiheit nicht aufgab, ſah ſich fortan genöthigt den deutſchen
Bundestag zu bekämpfen, und ſo ward die liberale Partei, die doch faſt
allein den Gedanken der nationalen Einheit mit Begeiſterung ergriffen hatte,
wider Wiſſen und Willen dem Partikularismus in die Arme getrieben.
Auf dem Wiener Congreſſe hatten alle Parteien gefühlt, daß man der
Nation einige „Rechte der Deutſchheit“, ein von Bundeswegen gewähr-
leiſtetes beſcheidenes Maß politiſcher Freiheit zugeſtehen müſſe, und nur
weil ſich der Dünkel der rheinbündiſchen Souveränität über dies Minimum
nicht zu einigen vermochte, war die Bundesakte bei einigen allgemein
gehaltenen Verſprechungen ſtehen geblieben. Jetzt ward mit einem male
Alles auf den Kopf geſtellt. Nicht ein geringſtes, ſondern ein höchſtes Maß
politiſcher Rechte feſtzuſetzen ſollte dem Bunde obliegen; er ſollte der Nation
nicht mehr der Bürge ihrer Freiheit ſein, ſondern ihr vorſchreiben, welche
Grenze die Rechte der Landtage, der Preſſe, der Univerſitäten niemals
überſchreiten dürften. Und mit welcher unerhörten Frivolität dachte man
kurzerhand „die heute berüchtigten Redacteurs, die notoriſch ſchlecht-
geſinnten Lehrer“ ihrer geſetzlichen Rechte zu berauben, als ob die Ge-
waltſtreiche des Wohlfahrtsausſchuſſes wider die Verdächtigen auf dem
friedlichen deutſchen Boden ſich erneuern ſollten!


Und warum dies finſtere Mißtrauen gegen ein treues, geſetzliebendes
Volk? Die Landtage von Baiern und Baden hatten im Eifer ihrer
jugendlichen Unerfahrenheit einige thörichte Anträge angenommen; und
doch lehrte ſoeben die zahme Haltung der württembergiſchen Stände, daß
die Regierungen nur die Zügel etwas ſtraffer anzuziehen brauchten, um
den Uebermuth ihrer harmloſen Volksvertreter zu bändigen. Die Preſſe
ſodann hatte durch zielloſes Poltern und Schelten ſchwer geſündigt, und
es war nicht ganz unrichtig, was Gentz in ſeiner Denkſchrift über den
Preß-Unfug behauptete: „daß es heute nicht eine einzige als Privatunter-
nehmung erſcheinende Zeitſchrift in Deutſchland giebt, welche die Wohl-
geſinnten als ihr Organ betrachten könnten, ein Fall, der ſelbſt in dem
Zeitpunkte der blutigſten Anarchie in Frankreich ohne Beiſpiel iſt.“ Aber
die Preſſe war in Deutſchland unzweifelhaft nicht die öffentliche Meinung,
die Maſſe der Nation nahm an der Entrüſtung der Journaliſten wenig
Antheil, und wer die Tadelſucht der Deutſchen kannte, mußte furchtlos
vorausſehen, daß die große Mehrheit ihrer Zeitungen zu allen Zeiten
der Oppoſition angehören würde. Die ſchwächlichen Urtheile ſo vieler
gebildeter Männer bewieſen freilich, daß ein Theil der höheren Stände
an der beſtehenden Ordnung zu verzweifeln begann; doch eine Politik
blinder und roher Verfolgung war ſicherlich das beſte Mittel, um dieſe
Verzweiflung noch zu ſteigern. Die radikalen Tollheiten der akademiſchen
Jugend endlich verdienten unleugbar ſtrenge Ahndung, aber ſie beſchränkten
ſich auf drei oder vier Univerſitäten und auch da nur auf kleine Kreiſe,
[555]Beginn der Karlsbader Verhandlungen.
und es hieß den patriotiſchen Geiſt der jungen Leute muthwillig auf Ab-
wege treiben, wenn man jetzt amtlich die Hochſchulen als die Pflanzſtätten
des Hochverraths bezeichnete.


Das Entſetzlichſte blieb doch, daß der Staat, der den Deutſchen ihre
Freiheit wiedergewonnen, der von der nationalen Einheit Alles zu hoffen,
nichts zu fürchten hatte, jetzt zuerſt und freiwillig das Joch der öſter-
reichiſchen Fremdherrſchaft auf ſeinen Nacken nahm und alſo dem Theile
der Nation, der nicht über den nächſten Tag hinaus ſah, als ein ge-
ſchworener Feind erſchien. Das lichte Geſtirn des fridericianiſchen Staates
war verdunkelt durch das Gewölk des Argwohns; die Beſorgniß eines
edlen, durch verblendete Rathgeber belogenen Monarchen und die alters-
ſchwache Rathloſigkeit Hardenbergs lenkten ihn ab von den Bahnen,
auf denen er zur Größe aufgeſtiegen war; und zufrieden erklärte Metter-
nich dem ruſſiſchen Geſandten, nachdem Oeſterreich die Teplitzer Ernte
eingeheimſt: „Preußen hat uns einen Platz überlaſſen, welchen ein Theil
der Deutſchen dem preußiſchen Staate zudachte!“ —


Sobald die beiden Großmächte ſich ohne Vorbehalt geeinigt hatten, war
der Sieg der öſterreichiſchen Politik entſchieden. In der Karlsbader Ver-
ſammlung fand ſie keinen einzigen grundſätzlichen Gegner. Zu den beiden
Hannoveranern war inzwiſchen noch der Sachſe Graf Schulenburg hin-
zugekommen, gleich ihnen ein ſtrenger Anhänger des altſtändiſchen Staats-
weſens; der Mecklenburger Frhr. v. Pleſſen, ein ungleich freierer, be-
weglicherer Kopf mußte ſich, nach den Traditionen ſeiner Heimath, dieſer
Richtung im Weſentlichen anſchließen. Auch die Vertreter der ſogenannten
conſtitutionellen Staaten zeigten eine tadelloſe Gefügigkeit. Graf Rech-
berg, der eigentliche Urheber der bairiſchen Staatsſtreichspläne, hegte zwar
nach Münchener Brauch einiges Mißtrauen gegen Oeſterreich, aber noch
weit mehr Furcht vor der Revolution. Frhr. v. Berſtett erging ſich in
ſo gräßlichen Schilderungen von der Verworfenheit der Karlsruher Land-
ſtände, daß Gentz meinte: ihn zu hören ſei zugleich ein Gräuel und ein Feſt.
Der Naſſauer Marſchall überbot noch den reaktionären Fanatismus des
Badeners, und ſelbſt Graf Wintzingerode ließ mindeſtens an Feindſelig-
keit gegen die Demagogen nichts zu wünſchen übrig, wenngleich ihm die
dornige Aufgabe zufiel, den Ruhm des conſtitutionellen Muſterkönigs
nicht ganz bloßzuſtellen.


Die Verſammelten beſtärkten einander wechſelſeitig in ihrer Angſt
vor der großen Verſchwörung, und Metternich verſtand ſie ſo geſchickt
zu behandeln, daß Bernſtorff dem Staatskanzler ſchreiben konnte: „Hier
iſt Alles durchzuſetzen, ſpäter nichts mehr!“ Sie lebten ſich in die
öſterreichiſche Anſchauung der deutſchen Dinge ſo gänzlich ein, daß ſie zu-
letzt faſt alleſammt ein großes und gutes Werk zu verrichten glaubten
und ſich der ſchönen patriotiſchen Einigkeit der deutſchen Kronen aufrichtig
freuten. „Der Erfolg ſteht in Gottes Hand, ſchrieb Bernſtorff nach voll-
[556]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
brachter Arbeit, aber immer ſcheint es ein Großes zu ſein, daß die deut-
ſchen Fürſten dahin gelangt ſind in dem Sturme der Zeit ihre Grund-
ſätze und Abſichten offen, beſtimmt und einmüthig auszuſprechen.“*) Das
Gefühl der Befriedigung war um ſo ſtärker, da die deutſchen Staats-
männer ganz unter ſich blieben und keine auswärtige Macht auch nur
verſuchte einen Einfluß auf die Karlsbader Verhandlungen zu gewinnen.
Noch ließ ſich’s Niemand träumen, daß dies ſchöne Schauſpiel nationaler
Selbſtändigkeit und Eintracht nichts anderes war als die Unterwerfung
der deutſchen Nation unter die Fremdherrſchaft Oeſterreichs.


Dafür war freilich in der Mannichfaltigkeit des deutſchen Lebens
geſorgt, daß jedes Gewicht irgendwo ein Gegengewicht finden und ſelbſt dieſer
glänzende Triumph des Hauſes Oeſterreich durch einen kleinen Mißerfolg
erkauft werden mußte. Die beiden Großmächte waren übereingekommen,
der Karlsbader Verſammlung zunächſt nur drei Gegenſtände aus dem
Programme der Teplitzer Punktation zu ſofortiger Beſchließung vorzulegen:
es ſollten die Nothgeſetze wider die Preſſe, die Univerſitäten, die Dema-
gogen alsbald vereinbart, dagegen die anderen Maßregeln zur Verſtär-
kung der Bundesgewalt, und namentlich die Auslegung des Art. 13 bis
zu den Miniſter-Conferenzen des nächſten Herbſtes verſchoben werden. In
dieſem Sinne ſprach ſich Metternich aus, als er am 6. Auguſt die erſte
der dreiundzwanzig Conferenzen, welche fortan bis zum 13. Auguſt faſt
allabendlich gehalten wurden, mit einer langen Rede eröffnete; er legte
der Verſammlung zugleich eine Punktation vor, welche mehrere Sätze
der Teplitzer Verabredung wörtlich wiederholte, aber Alles, was ſich auf
die beiden Großmächte allein bezog, wohlweislich verſchwieg. Alle An-
weſenden erklärten mit lebhaftem Dank ihre Zuſtimmung; nur Wintzin-
gerode beantragte, auch die Auslegung des Art. 13 unter die dringenden
Gegenſtände der Berathung aufzunehmen. Sein König war gern bereit,
eine von Bundeswegen feſtzuſtellende „Grenzlinie“ für die Rechte der
Landtage, wie er ſie früher ſelbſt in Frankfurt beantragt, auch jetzt noch
anzunehmen und alſo die Anſprüche ſeines Ludwigsburger Landtags herab-
zuſtimmen; nur ſollte dieſe Grenzlinie den beſonderen Intereſſen Würt-
tembergs entſprechen.


Mit Freuden ging Metternich auf dieſen unerwarteten Antrag ein.
Er faßte die Hoffnung, wie er ſeinem preußiſchen Freunde geſtand, „wo-
möglich der Abſchließung eines übereilten Vertrages zwiſchen dem König
von Württemberg und den Ständen ſeines Landes vorzubeugen,“ und ent-
wickelte ausführlich die neue öſterreichiſche Doctrin, wonach der Art. 13
nur Stände, nicht Repräſentativverfaſſungen erlauben ſollte; eigne ſich
der Bund dieſe allein richtige Auslegung förmlich an, dann ſeien auch
Baiern und Baden verpflichtet, ihre Verfaſſungen im ſtändiſchen Sinne
[557]Gentz über die deutſchen Landſtände.
abzuändern. Die große Mehrzahl ſtimmte eifrig zu; ſelbſt Baiern und
Baden ſchienen anfangs geneigt, ſich die Wiener Auslegungskünſte gefallen
zu laſſen;*) und im Rauſche des Sieges, „in einer Art von Inſpiration“,
wie er ſelbſt bekennt, verfaßte Gentz am 19. Auguſt eine große Denkſchrift
„über den Unterſchied zwiſchen den landſtändiſchen und Repräſentativ-
Verfaſſungen“ — das Aeußerſte vielleicht, was die federgewandte Ge-
wiſſenloſigkeit politiſcher Sophiſtik je geleiſtet hat.


Mit geſchickter Benutzung einiger Sätze Hallers und Adam Müllers
führte er darin aus, wie die alten deutſchen Landſtände auf den von Gott
ſelbſt geſtifteten Standes- und Rechtsunterſchieden beruhten, das fremd-
ländiſche Repräſentativſyſtem auf dem revolutionären Wahne der Volks-
ſouveränität und der allgemeinen Rechtsgleichheit; dort eine ſtarke, nur
in der Ausübung einzelner Rechte beſchränkte monarchiſche Gewalt, hier
die Unterwerfung der Krone unter die Willkür der Volksvertreter, eine
Anarchie, die mit den Rechten des Bundes völlig unvereinbar, ſchließlich
zur Bildung einer Volksdeputirten-Kammer neben dem Bundestage, mit-
hin zur allgemeinen Revolution führen müſſe. Wird den deutſchen Fürſten,
die bei der Bildung ihrer Verfaſſungen den einzig zuläſſigen Sinn des
Art. 13 verfehlten, nicht zu einer anſtändigen Rückkehr die Hand geboten,
„ſo bleibt uns allen nichts übrig als dem Bunde zu entſagen.“ Kein
Satz in dieſer Arbeit, der nicht allbekannten hiſtoriſchen Thatſachen dreiſt
ins Geſicht ſchlug; denn unzweifelhaft hatte ſich die moderne deutſche
Monarchie nur in beſtändigem Kampfe mit den alten Ständen ihre Stärke
erworben, die Macht der Krone ſtand in den neuen conſtitutionellen
Staaten ungleich höher als in den altſtändiſchen Territorien Sachſen,
Hannover, Mecklenburg, wo das ganze Staatsweſen einen oligarchiſchen
Charakter trug; und ebenſo gewiß waren die Landtage der ſüddeutſchen
Staaten nicht allgemeine Volksvertretungen, ſondern halbſtändiſche Körper-
ſchaften, höchſtens die badiſche zweite Kammer konnte als eine Repräſen-
tation im neufranzöſiſchen Sinne gelten. Gleichwohl verbarg ſich hinter
der ſcheinbar ſo willkürlich ausgeklügelten Doctrin eine ſehr beſtimmte
politiſche Abſicht. Wenn Gentz wider das revolutionäre Repräſentativ-
ſyſtem eiferte, ſo hatte er die Theorie Rottecks im Auge, der allerdings
die Rechte der Volksvertretung aus dem Grundſatze der Volksſouveränität
ableitete; und wenn er die alten deutſchen Landſtände feierte, ſo dachte
er dabei nicht an die ſtürmiſchen Zeiten der ſtändiſchen Libertät, ſondern
an die wohlgezähmten Poſtulatenlandtage des neuen Oeſterreichs; dies
Stillleben der k. k. Kronlande ſollte für ganz Deutſchland das Muſter
werden.


Gentz’s Denkſchrift wirkte in der Geſchichte der deutſchen Parteikämpfe
lange nach; ſie bezauberte damals ſchon den erregbaren Geiſt des Kron-
[558]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
prinzen von Preußen, der hier endlich eine meiſterhafte Formulirung ſeiner
eigenen Ideen fand, und bildete ſpäterhin, als ſie auch weiteren Kreiſen
bekannt wurde, lange Zeit hindurch das große Arſenal, aus dem ſich die
altſtändiſche Partei in Preußen ihre Waffen holte. In jenem Augenblicke
aber war ſie ein ſchwerer politiſcher Fehler, nachtheilig für Metternichs
eigene Pläne. Die Vertreter von Baiern und Baden wetteiferten mit
dem Grafen Münſter in ſcharfen Anklagen wider den Uebermuth der
Kammern. Wintzingerode empfahl dringend, durch ein Bundesgeſetz
das Wahlrecht auf die anſehnlichen Grundbeſitzer zu beſchränken und
vornehmlich die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen zu unter-
ſagen, dieſe ausländiſche Erfindung, die von allen Staatsmännern in
Karlsbad einſtimmig als ſchlechthin demagogiſch gebrandmarkt wurde; er
beantragte dies, ſicherlich nicht ohne Ermächtigung, in demſelben Augen-
blicke, da ſein König dem Landtage in Ludwigsburg die Oeffentlichkeit
und ein wenig beſchränktes Wahlrecht anbieten ließ. Bei ſolcher Geſin-
nung der ſüddeutſchen Höfe ließ ſich ein Bundesgeſetz, das die Rechte der
Landtage zu Gunſten der Kronen beſchränkte, unfehlbar durchſetzen, wenn
Oeſterreich klug verfuhr.


Statt deſſen verlangte Metternich die Rückkehr zu den alten Land-
ſtänden, und dies war für den Württemberger „der Uebel ärgſtes“, eine
ſchlechthin unannehmbare Zumuthung. In ſeinem langen Streite mit
den Altrechtlern hatte König Wilhelm nur zu ſchmerzlich erfahren, daß
die gerühmten altdeutſchen Stände leicht gefährlicher werden konnten als
eine moderne Volksvertretung. Hier blieb er feſt, nicht aus Liberalismus,
ſondern weil er für die Macht ſeiner Krone fürchtete. Eine ganze Reihe
württembergiſcher Denkſchriften, zweideutig, widerſpruchsvoll, in allen
Farben ſchillernd, wie die Politik des Schwabenkönigs ſelber, bekämpfte
den Vorſchlag Oeſterreichs. Einmal verſtieg ſich Wintzingerode zu der
kühnen Behauptung: der Grundſatz der Volksſouveränität ſei bereits zu-
geſtanden: „die Partie iſt angefangen, die Regierungen haben dieſen Point
vergeben zu können geglaubt; wie ſehr ſie es bereuen mögen, die Partie
muß ausgeſpielt werden.“ Ein andermal wollte er umgekehrt dies gefähr-
liche Princip von Bundeswegen verboten wiſſen. In allen dieſen Win-
dungen und Wendungen blieb nur Eines ſicher: daß der württembergiſche
Miniſter die Wiederherſtellung der alten Landſtände unter keinen Um-
ſtänden zugeben durfte. Inzwiſchen war es ihm auch gelungen, die
Miniſter von Baiern, Baden und Naſſau zu ſich hinüberzuziehen; alle
dieſe rheinbündiſchen Höfe kannten keinen ſchlimmeren Feind ihrer monar-
chiſchen Vollgewalt als den Adel, der durch die Erneuerung der alten
Landſtände unvermeidlich an Macht gewinnen mußte. So trat die mo-
dern-bureaukratiſche Staatsanſicht des Südens mit einem male den alt-
ſtändiſchen Anſchauungen Oeſterreichs und der norddeutſchen Mittelſtaaten
ſcharf und beſtimmt gegenüber. Der preußiſche Miniſter, der ſich lebhaft
[559]Auslegung des Art. 13.
gegen das Repräſentativſyſtem, dies fremde auf einen alten Stamm ge-
pfropfte Reis ausgeſprochen hatte, fand es jetzt doch räthlich, um der
Eintracht willen „die Verlegenheiten der württembergiſchen Regierung nach
Möglichkeit zu berückſichtigen“.*)


Man beſchloß endlich, wie Oeſterreich urſprünglich beabſichtigt hatte,
die bundesgeſetzliche Auslegung des Art. 13 auf die Wiener Conferenzen
zu verſchieben und ſich vorderhand mit der Aufſtellung eines allgemeinen
Grundſatzes zu begnügen, welchem alle Bundesſtaaten beiſtimmen könnten.
Gentz mußte ſeine Denkſchrift vorläufig zurücklegen und arbeitete nun-
mehr einen Präſidialvortrag aus, der als Einleitung der Karlsbader Be-
ſchlüſſe dem Bundestage vorgeleſen werden ſollte: darin ward feierlich
Verwahrung eingelegt gegen die demokratiſchen Grundſätze, mit denen man
das unzweideutige landſtändiſche Princip fälſchlicherweiſe verwechſelt habe,
und die Erwartung ausgeſprochen, daß die deutſchen Regierungen, bis
zum Erlaß eines Bundesgeſetzes, dem Art. 13 nur eine „der Aufrecht-
erhaltung des monarchiſchen Princips und des Bundesvereins vollkommen
angemeſſene Auslegung“ geben würden. Dieſe neue Formel fand ein-
ſtimmige Annahme und ſie entſprach auch, trotz ihrer gefährlichen Dehn-
barkeit, den gegebenen Zuſtänden beſſer als die alte, da dieſer Bund mit
ſeiner abſolutiſtiſchen Centralgewalt nur beſtehen konnte, wenn in ſeinen
Gliederſtaaten die monarchiſche Macht lebendig blieb. Dergeſtalt ward der
Verſuch einer gänzlichen [Umdeutung] des Art. 13 für diesmal vereitelt,
allerdings durch den Widerſpruch der ſüddeutſchen Höfe, aber wahrlich
nicht durch ihre Verfaſſungstreue, ſondern durch ihre Furcht vor den
alten Ständen.


Die anderen Verhandlungen dagegen verliefen ſo leicht und ſchnell,
daß Bernſtorff ſelbſt durch dies Uebermaß der Einmüthigkeit in Verlegen-
heit gerieth und dem öſterreichiſchen Miniſter erklärte: ſein König ſei nur
an die Teplitzer Punktation gebunden und müſſe ſich für alles Weitere
die Genehmigung vorbehalten.**) Das Geheimniß der Berathungen blieb
unverbrüchlich bewahrt. Buol und Goltz in Frankfurt empfingen nur
den lakoniſchen Befehl, den Beginn der Ferien des Bundestags für jetzt
noch hinauszuſchieben. Erſt am 18. Auguſt, als die Verhandlungen
ſich ſchon dem Ende zuneigten, ſendeten Metternich und Bernſtorff an
den König von Dänemark, als Herzog von Holſtein, eine kurze vertrau-
liche Mittheilung über den Zweck der Conferenzen und baten zugleich das
Kopenhagener Cabinet, ſeinen Bundesgeſandten zur unbedingten Annahme
der bevorſtehenden Präſidialanträge anzuweiſen: Eile ſei nöthig, wegen
der nahenden Ferien des Bundestags, desgleichen volle Einträchtigkeit,
wegen des Eindrucks auf die Nation; alſo „wetden Ew. Exc. Sich durch
[560]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
jeden Tag, um den früher Sie den k. Geſandten ermächtigen werden,
ein wahres Verdienſt um Deutſchland erwerben.“ Beigelegt war dieſem
Schreiben nichts weiter als der Entwurf des proviſoriſchen Bundes-Preß-
geſetzes.*) Wenn ein königlicher Hof mit ſo kärglichen Nachrichten abge-
ſpeiſt wurde, ſo nahm man vollends auf die kleinen Staaten gar keine
Rückſicht. Den meiſten traute man den Muth des Widerſtandes nicht
zu und verſagte ihnen jede Mittheilung. Andere wurden unter der Hand
bedroht; „gegen ungeziemende Bemerkungen der freien Städte haben wir
uns vorgeſehen,“ meldete Bernſtorff dem Staatskanzler.**) Um den
ſtörriſchen Kurfürſten von Heſſen nicht allzu ſehr zu reizen, lud man
nachträglich deſſen Wiener Geſandten, Frhr. v. Münchhauſen ein, der
ſich dann noch an den ſechs letzten Sitzungen betheiligen durfte. Miniſter
v. Fritſch dagegen ward mit offenbarem Hohne behandelt, als er im Auf-
trage des Großherzogs Karl Auguſt zu Karlsbad erſchien, um zu erfahren,
was dort vorgehe. Metternich ließ ihn nur als Gaſt einer einzigen, wenig
bedeutſamen Sitzung beiwohnen und ſchickte ihn dann ohne jede weitere
Auskunft wieder heim; Gentz aber ſchrieb zufrieden in ſein Tagebuch: die
unſchuldige Geſellſchaft habe jetzt Karlsbad verlaſſen.


Um die Ausführung der Nothgeſetze wider die Demagogen zu ſichern,
wurde zunächſt eine proviſoriſche Executionsordnung beſchloſſen, welche den
Bundestag ermächtigte, die Vollziehung aller Bundesbeſchlüſſe durch eine
Commiſſion zu überwachen und nöthigenfalls gegen einen widerſetzlichen
Bundesſtaat militäriſche Zwangsmittel zu gebrauchen. Bernſtorff, der
eine ſo weite Ausdehnung der Rechte des Bundes bedenklich fand, erhielt
aus Berlin die beſtimmte Weiſung zur Annahme des Geſetzes: „ohne
kräftige executive Maßregeln, ſchrieb ihm der Staatskanzler, werden wir
keinen Bundesbeſchluß durchſetzen,“ ſonſt könnte ſelbſt ein Staat wie
Bremen jede Wirkſamkeit des Bundes vereiteln.***) So erhielt denn der
Bundestag eine Befugniß zugewieſen, welche ſcharf gehandhabt wohl
zur Bändigung des Partikularismus führen konnte; aber ſelbſt dieſe
an ſich heilſame Verſtärkung der Centralgewalt erregte im Volke nur Un-
willen, weil ſie lediglich den Zwecken der Demagogenverfolgung dienen ſollte.


Darauf folgte der zweite Geſetzentwurf über die Univerſitäten. Gentz
hatte dazu einen einleitenden Präſidialvortrag ausgearbeitet, der von fri-
volen Anſchuldigungen überfloß. Er behauptete, die Hochſchulen ſeien
ihrem urſprünglichen Charakter, ihrem in beſſeren Zeiten erworbenen
Ruhme fremd geworden, und beſchuldigte „einen großen Theil der akade-
miſchen Lehrer“, daß ſie die Köpfe der Jugend mit dem Phantom einer
ſogenannten weltbürgerlichen Bildung erfüllt hätten — wahrlich das
[561]Executions-Ordnung. Univerſitäten.
Letzte, was ſich den chriſtlich-germaniſchen Hitzköpfen vorwerfen ließ. Auf
ſolche Erwägungen geſtützt, verlangte das Geſetz an jeder deutſchen Uni-
verſität die Anſtellung eines außerordentlichen Regierungs-Bevollmäch-
tigten, der die Ordnung zu überwachen, den Geiſt der Lehrer zu beobachten
und ihm „eine heilſame Richtung zu geben“ hätte. Wer wegen Pflicht-
verletzung oder Verbreitung verderblicher Lehren vom Katheder entfernt
würde, ſollte — gemäß dem alten Lieblingsgedanken Metternichs — in
keinem deutſchen Staate jemals ein Lehramt erhalten. Endlich wurden
die alten Geſetze gegen die akademiſchen Verbindungen wieder eingeſchärft
und insbeſondere auf die Burſchenſchaft ausgedehnt, da „dieſem Verein die
ſchlechterdings unzuläſſige Vorausſetzung einer fortdauernden Gemeinſchaft
und Correſpondenz zwiſchen den verſchiedenen Univerſitäten zum Grunde
liegt“. Alſo ward der naturgemäße Verkehr zwiſchen den einzigen Staats-
anſtalten Deutſchlands, welche noch nicht gänzlich dem Partikularismus
anheimgefallen waren, jetzt von Bundeswegen verboten. Das Geſetz war
nach Form und Inhalt eine rohe Beleidigung der deutſchen Univerſitäten
und würde die akademiſche Freiheit vernichtet haben, wenn ihm nicht die
meiſten Regierungen, ihren guten alten Traditionen getreu, eine ziemlich
milde Auslegung gegeben hätten.


Bernſtorff, neben Gentz der Beſtgebildete unter den Karlsbader
Staatsmännern, wollte dieſe ſchwierige Frage nicht ſo über das Knie
gebrochen ſehen; er beantragte, man ſolle hier nur einige allgemeine
disciplinariſche Grundſätze vereinbaren und das Weitere den gründlicheren
Berathungen des Bundestags überlaſſen. Aber alle ſeine Genoſſen er-
widerten einſtimmig, daß Gefahr im Verzuge ſei, und da auch Harden-
berg, der jetzt ganz in Wittgenſteins Fahrwaſſer ſegelte, die Anſicht der
Mehrheit theilte, ſo konnte Bernſtorff nur noch die eine Milderung durch-
ſetzen, daß die Rechte des Regierungsbevollmächtigten unter Umſtänden
auch dem bisherigen Curator übertragen werden durften, alſo doch nicht
alle Univerſitäten förmlich unter polizeiliche Aufſicht geſtellt wurden. Im
Uebrigen nahm man die öſterreichiſchen Vorſchläge faſt unverändert an;
der maßvolle und ſachkundige Bericht der Bundestagscommiſſion über die
Univerſitäten, der noch während der Conferenzen dem Fürſten Metternich
zuging, blieb unbeachtet liegen.*)


Die treibende Kraft der Conferenzen, die Angſt des Kaiſers Franz vor
jeder Beunruhigung ſeiner Erblande, verrieth ſich am deutlichſten in dem
dritten Entwurfe, dem proviſoriſchen Preßgeſetze. Auch zu dieſem Geſetze,
wie zu allen übrigen, hatte Gentz einen einleitenden Präſidialvortrag aus-
gearbeitet, der in grellen Farben ſchilderte, wie jeder Bundesſtaat durch
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 36
[562]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
die Preßfreiheit ſeiner deutſchen Nachbarlande gefährdet ſei, und wie dieſe
Gefahr neuerdings durch die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen
noch geſteigert werde. Noch unzweideutiger ſprach ſich Metternich in den
Sitzungen aus: es liege im Weſen des Bundes, daß ſeine Glieder ein-
ander ihre moraliſche und politiſche Unverletzlichkeit, auch gegen Angriffe
von Seiten der Preſſe, verbürgten; die Preßfreiheit ſei aber unzweifelhaft
ſchädlicher für die großen Staaten, die in Deutſchland von dreißig Mittel-
punkten zugleich angegriffen werden könnten, als für die kleinen, deren
Schriftſteller ſtets bereit ſein würden die heimiſche Regierung zu ſchonen,
wenn ſie nur gegen die mächtigen Nachbarn freies Spiel behielten. Alſo
um ſich ſelber vor den Angriffen der deutſchen Preſſe zu ſchützen, bean-
tragte Oeſterreich, daß „die Nothwendigkeit vorbeugender Maßregeln“, die
Cenſur, als Regel anerkannt würde — der Sache nach eine offenbare
Verletzung des Art. 18 der Bundesakte, der zwar die Cenſur nicht aus-
drücklich verbot, aber die Preßfreiheit als Grundſatz aufſtellte. Alle Zeit-
ſchriften und alle Bücher unter zwanzig Bogen ſollten während der
nächſten fünf Jahre der Cenſur unterliegen, doch ſtand es jedem Bundes-
ſtaate frei, auch größere Werke der Cenſur zu unterwerfen; auch hier
wollte man nicht ein mindeſtes Maß der Freiheit, ſondern eine unüber-
ſchreitbare letzte Grenze vorſchreiben.


Da mithin die Zeitungen fortan nichts ohne Genehmigung der
Staatsgewalt veröffentlichen durften, ſo zog das Preßgeſetz ſofort den
Schluß, daß jede deutſche Regierung dem Bunde wie den einzelnen
Bundesſtaaten für das Wohlverhalten ihrer Preſſe verantwortlich ſei:
auf Anrufen einer beleidigten Regierung oder nach freiem eigenen Er-
meſſen ſollte der Bundestag auch ſeinerſeits Zeitſchriften und Bücher ver-
bieten; der Herausgeber einer alſo unterdrückten Zeitung aber durfte —
gemäß der Teplitzer Abrede — binnen fünf Jahren nicht wieder zu einer
Redaktion zugelaſſen werden. Dieſe Verantwortlichkeit der ſouveränen
deutſchen Fürſten vor einer Geſandtenconferenz war allerdings eine ſtaats-
rechtliche Ungeheuerlichkeit; aber da die Karlsbader Staatsmänner alle-
ſammt die Preſſe als ihren gemeinſamen Feind betrachteten, ſo nahmen
ſie ſelbſt dieſen Eingriff in das Heiligthum der Souveränität ohne Wider-
ſpruch hin, ſie hielten für ſelbſtverſtändlich, daß jede wohlgeſinnte Re-
gierung unter allen Umſtänden die Unterdrückung einer Zeitung freudig
begrüßen würde. Hardenberg zeigte auch diesmal, wie vollſtändig ihn die
Partei Wittgenſteins jetzt beherrſchte. Auf ſeinen ausdrücklichen Befehl
mußte Bernſtorff durchſetzen, daß die Cenſurfreiheit erſt für Schriften von
mehr als zwanzig Bogen erlaubt wurde; Oeſterreich hatte ſchon die
Schriften von mehr als fünfzehn Bogen frei geben wollen.*)


Auch für ein anderes Gebiet unſeres politiſchen Lebens wurden dieſe
[563]Bundes-Preßgeſetz.
Preßverhandlungen [folgenreich]. Unter den Gründen nämlich, welche die
Nothwendigkeit der Cenſur erweiſen ſollten, hob Metternich mit beſonderem
Nachdruck hervor, daß die Demagogen die Aburtheilung der Preßvergehen
ganz folgerichtig den Geſchworenen anheimzugeben hofften. Das Schwur-
gericht aber, ſammt dem öffentlichen und mündlichen Verfahren, ward
von ſämmtlichen Mitgliedern der Conferenzen als ein Axiom der Revo-
lution, wie Gentz ſich ausdrückte, unbedingt verworfen. Die thörichten Lob-
preiſungen, welche der badiſche Landtag dm Palladium der Volksfreiheit
geſpendet hatte, fanden jetzt die unvermeidliche Antwort. Es war der Fluch
dieſer Tage des Haſſes und des Argwohns, daß beide Parteien ſich nun-
mehr einen Katechismus ſtarrer politiſcher Dogmen bildeten, die von
beiden Seiten mit der ganzen Verbiſſenheit deutſchen Parteihaſſes feſtge-
halten, auf Jahrzehnte hinaus jede Verſtändigung verhinderten. Das ge-
heime Gerichtsverfahren, das doch nur dazu diente, den im Ganzen höchſt
achtungswerthen deutſchen Richterſtand unverdienten Verdächtigungen aus-
zuſetzen, erſchien den Doktrinären der Reaktion als eine Stütze des „mon-
archiſchen Princips“.


Etwas lebhafter, aber auch keineswegs unfriedlich verliefen die Ver-
handlungen über das vierte Geſetz, das die Unterdrückung der demago-
giſchen Umtriebe bezweckte. Obwohl bisher noch kein Anzeichen einer
revolutionären Bewegung entdeckt worden war, zu deren Bändigung die
beſtehenden Gerichte nicht ausgereicht hätten, ſo ſtimmten doch alle Theil-
nehmer der Conferenzen überein in der Anſicht, daß die ungeheuere über
ganz Deutſchland verzweigte Verſchwörung nur durch eine außerordentliche
Bundes-Centralbehörde bewältigt werden könne. Zweifelhaft blieb nur,
ob der Bund blos die Unterſuchungen leiten oder auch richten ſolle.
Durch die Einſetzung eines außerordentlichen Bundesgerichts wäre die be-
ſtehende Gerichtsverfaſſung aller Bundesſtaaten ſchwer verletzt und der
allgemein anerkannte Grundſatz, daß Niemand ſeinem natürlichen Richter
entzogen werden dürfe, gebrochen worden. Daher wünſchte Bernſtorff,
daß man ſich mit einer Central-Unterſuchungscommiſſion begnüge.*) Der
Staatskanzler aber fragte Kircheiſen und Kamptz um Rath, und dieſer,
noch im erſten wilden Eifer der Demagogenjagd, fürchtete nichts ſo ſehr
wie eine mögliche Freiſprechung der Bonner Demagogen durch die rhei-
niſchen Schwurgerichte, von denen in dieſem Falle allerdings kein unpar-
teiiſcher Wahrſpruch zu erwarten ſtand. Als tüchtiger Juriſt wußte Kamptz
aber auch beſſere Gründe für ſeine Anſicht anzuführen. Glaubte man
im Ernſt an eine ſchwere den ganzen Bund bedrohende Gefahr — und
dieſer Wahn beſtand leider am preußiſchen Hofe — ſo war die Ein-
ſetzung einer Bundes-Unterſuchungscommiſſion unbeſtreitbar eine gefähr-
liche halbe Maßregel; denn bei der Mannichfaltigkeit der deutſchen Ge-
36*
[564]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
richtsverfaſſungen konnte es gar nicht ausbleiben, daß die Urtheile der
Gerichte über die Demagogen einander widerſprachen, und die Bundes-
behörde, welche die Unterſuchungen leitete, alſo dem allgemeinen Haß und
Spott verfiel. Darum erwiderte Hardenberg, die Bundes-Centralcom-
miſſion ſei nur dann wirkſam, wenn ſie auch richten dürfe; auch im alten
Reiche hätten die Reichsgerichte den Landfriedensbruch ſtets unmittelbar
vor ihr Forum gezogen.*) Er überſendete zugleich einen Entwurf für die
Errichtung eines proviſoriſchen Bundesgerichts, welchen Bernſtorff nun-
mehr vertheidigen mußte.


Die meiſten der Karlsbader Staatsmänner zeigten ſich anfangs dem
preußiſchen Vorſchlage geneigt, auch Metternich ſtimmte aus vollem Herzen
bei. Da erhob ſich ganz unerwartet ein mächtiger Gegner: Kaiſer Franz.
Es war wohl der einzige menſchlich verſöhnende Zug in der Politik dieſes
ſtarren Despoten, daß er die beſtehende Ordnung gegen Hoch und Niedrig
mit Ernſt zu wahren ſuchte; ſeine Schmeichler nannten Gerechtigkeit,
was im Grunde nur ein pedantiſches Haften am Althergebrachten war.
Wenn ſich Rebellen wieder ihn ſelber erhoben, dann ſchrak er vor Kriegs-
gerichten und grauſamen Ausnahmemaßregeln keineswegs zurück; aber ſo
lange ihm die Gefahr nicht nahe auf den Leib rückte, ſollte die Juſtiz
ihren gewohnten Gang gehen. Dazu kam ſein altes Mißtrauen gegen
die unruhigen Deutſchen draußen im Reich; auf ſeine k. k. Gerichte konnte
er ſich verlaſſen, deutſchen Richtern wollte er einen öſterreichiſchen Hoch-
verräther nicht anvertrauen. Dazu kam endlich — und dies war der
Humor der Sache — daß er an die große deutſche Verſchwörung ſelber
nicht recht glaubte und nur die Angſt der anderen Höfe ausbeuten wollte;
darum befürchtete er, ein außerordentliches Bundesgericht werde vielleicht
gar kein ernſtes Ergebniß bringen und alſo lächerlich werden. Sein
oberſter Richter, Freiherr v. Gärtner, ein alter Reichsjuriſt aus Kamptz’s
Schule, mußte für die Conferenzen ein Gutachten abfaſſen, das unter
Berufung auf die privilegia de non evocando der Kurfürſten ausführte,
die Souveränitätsrechte der deutſchen Fürſten blieben nur dann gewahrt,
wenn die Bundes-Centralcommiſſion ſich auf die Leitung der Unterſu-
chungen beſchränke.


Umſonſt verſuchte Kamptz ſeinen alten Schüler zu belehren. „Die
in Karlsbad ausgeſprochenen laudes Gaertnerianae — ſchrieb er ihm
mit gewohnter Aufgeblaſenheit — waren mir um ſo angenehmer als ſie
größtentheils mir gebühren, weil, wie Du hoffentlich noch jetzt dankbar
erkennſt, Du meinem Beiſpiel und meinen guten Lehren das was Du
weißt verdankſt.“ Dann ſetzte er ihm auseinander, wie gefährlich es ſei,
wenn man das Urtheil über die Demagogen ſo vielen ſubalternen Richtern
überlaſſe, ihrer Schwäche, ihrem Buhlen um die Volksgunſt, ihrer Furcht
[565]Die Central-Unterſuchungscommiſſion.
vor den Zeitungen; das heiße das coimperium der Schreier, das doch
jetzt vernichtet werden ſolle, von Neuem befeſtigen.*) Vergeblich ſendete
Hardenberg dies Schreiben nach Karlsbad und gab den Conferenzen zu
erwägen, daß man ein vom Deutſchen Bunde eingeſetztes Tribunal doch
nicht als ein fremdes Gericht betrachten dürfe; eine blos unterſuchende
Centralcommiſſion, das ſagte er voraus, werde ſich als völlig nutzlos
erweiſen und nur böſes Blut erregen.**) Kaiſer Franz ließ ſich nicht
überzeugen. Am 28. Auguſt gab er ſeine letzte Entſcheidung: „Ich
werde mich nie entſchließen zu beſtimmen: wer ſoll richten? — bis ich
nicht genau geſehen habe: was ſoll gerichtet werden? Was wäre es, wenn
die gemeinſchaftliche Commiſſion nicht ſehr erhebliche oder wenige Data
von Wichtigkeit fände? Was wäre es, wenn die Glieder dieſer Com-
miſſion ſelbſt nicht gleiche Anſichten hegten?“***) Dieſe Haltung des
Kaiſers genügte, um die Mehrheit in Karlsbad umzuſtimmen.†)


Auch Metternich hatte, ſehr ungern, im Sinne ſeines Monarchen
reden müſſen und ganz ſo cyniſch wie dieſer ausgeſprochen: man wiſſe
ja noch gar nicht, „wie viele Hochverräther ſich als Reſultat der Com-
miſſion ergeben würden“; ein feierliches Bundesgericht „mit einem kleinen
Reſultate könne weit eher compromittirend als heilbringend ſein“. So
blieb es denn dabei, daß die Central-Commiſſion nur die Unterſuchung
gegen die Demagogen leiten ſollte; doch behielt man dem Bundestage
das Recht vor, ihr nöthigenfalls auch richterliche Befugniſſe beizulegen.
Auf das Dringendſte bat Metternich den preußiſchen Miniſter, ſich in das
Mißgeſchick zu fügen und die Streitfrage nicht am Bundestage nochmals
anzuregen: „ſo würden wir unſer Spiel verlieren;“ je nach dem Er-
gebniß der Unterſuchung bleibe es ja noch immer möglich, die Central-
commiſſion zu einem Bundesgerichte zu erweitern.††) Vierzehn Tage nach
gefaßtem Bundesbeſchluſſe ſollte die Commiſſion in Mainz zuſammen-
treten, ſofort den geſammten Thatbeſtand der demagogiſchen Umtriebe
feſtzuſtellen ſuchen, Weiſungen an die Unterſuchungsbehörden der Einzel-
ſtaaten ertheilen, die Akten von ihnen einfordern, auch nach Gutdünken
einzelne Verdächtige ſelber verhören und ſchließlich zur Aufklärung der
Nation einen umfaſſenden Bericht über die Ergebniſſe erſtatten. Um die
Erneſtiner und die freien Städte fern zu halten, einigte man ſich in
Karlsbad zugleich über die ſieben Staaten, welche die ſieben richterlichen
Mitglieder der Centralcommiſſion ernennen ſollten; man wählte Oeſter-
reich, Preußen, Baiern, Hannover, Baden, Naſſau und dazu noch Darm-
[566]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
ſtadt, damit die von den Conferenzen ausgeſchloſſenen Höfe doch auch
einen Vertreter fänden.


Dergeſtalt ward durch den Kaiſer Franz verhindert, daß dieſelben
Höfe, welche auf dem Wiener Congreſſe das von Preußen vorgeſchlagene
ordentliche Bundesgericht verworfen hatten, vier Jahre darauf ein außer-
ordentliches Bundestribunal zur Abſtrafung der Demagogen einſetzten.
Was man ſtatt deſſen beſchloß war freilich faſt noch ärger. Ein Tribual
bot durch die Formen des gerichtlichen Verfahrens doch immerhin einige
Sicherheit gegen die Willkür; die neue Central-Unterſuchungscommiſſion
hingegen, die nur durch Anzeigen, Befehle und Verhaftungen in die
regelmäßige Rechtspflege eingreifen durfte, erſchien von Haus aus als ein
Werkzeug der Tyrannei, ſie erhielt im Volke ſogleich den Namen der
ſchwarzen Commiſſion, wurde durch die widerſprechenden Urtheile der
Landesgerichte Tag für Tag Lügen geſtraft und verfiel, wie Hardenberg
vorhergeſehen, dem allgemeinen Abſcheu. —


Die vier Geſetze waren alleſammt genehmigt, und was zur Aus-
legung des Art. 13 noch fehlte, konnte auf den Wiener Conferenzen, zu
denen man ſich im November wieder zuſammenfinden wollte, leicht nach-
geholt werden, da alle Theile über „die Aufrechterhaltung des monarchi-
ſchen Prinzips“ einig waren. Selbſt eine Erweiterung der Rechte der
Mehrheit am Bundestage, wie ſie die beiden Großmächte in Teplitz geplant
hatten, ließ ſich in Wien vielleicht noch erreichen. Der Erfolg übertraf alle
Erwartungen Metternichs;*) niemals, ſo ließ er ſich vernehmen, hat eine
muſterhaftere Eintracht und Unterwürfigkeit geherrſcht als auf unſeren
Conferenzen. Als man am 1. Sept. noch einmal zum Abſchied zuſammen
trat, war Alles glückſelig, und einer der Miniſter fühlte ſich ſo hoch begeiſtert,
daß er den Genoſſen vorſchlug, den Ambroſianiſchen Lobgeſang anzu-
ſtimmen. Natürlich ward am Schluſſe „dieſer auf immer denkwürdigen
Vereinigung“ dem Meiſter der Staatskunſt, der Alles ſo wohl geleitet,
„der vereinte Ausdruck unbegrenzter Verehrung und Dankbarkeit“ dar-
gebracht und auch dem großen Talente des Hofraths v. Gentz das ver-
diente Lob gezollt. Wunderbar in der That, was in wenigen Tagen
gelungen war. Dieſer ſchwerfällige Bund, der zu jeder Entwickelung
unfähig ſchien, riß plötzlich mit revolutionärem Ungeſtüm politiſche Rechte
an ſich, welche dem alten Reiche nie zugeſtanden hatten; er maßte ſich
die Herrſchaft an ſelbſt über ſolche Zweige des inneren Staatslebens,
welche die kraftvolle Centralgewalt des heutigen Deutſchen Reichs den
Territorien unverkümmert überläßt; er ſchritt über die Schranken ſeines
Grundgeſetzes ſo rückſichtslos hinaus, daß ſcharfſinnige Staatsrechtslehrer
wie Albrecht behaupten konnten, ſeit den Karlsbader Beſchlüſſen habe der
deutſche Bund den Charakter eines völkerrechtlichen Staatenbundes auf-
[567]Ergebniß der Conferenzen.
gegeben und ſich in einen Bundesſtaat verwandelt — eine Anſicht, welche
auch von manchen Gehilfen Metternichs, namentlich von Ancillon, getheilt
wurde. Und alle dieſe Beſchränkungen ihrer Souveränität ließen ſich
Deutſchlands Fürſten ohne Widerſpruch durch Oeſterreich auferlegen.
Triumphirend ſchrieb Metternich: „Wenn der Kaiſer bezweifelt, daß er
Kaiſer von Deutſchland iſt, ſo irrt er ſich ſehr.“


Niemals ſeit es eine preußiſche Großmacht gab, niemals mehr ſeit
den Tagen Karls V. und Wallenſteins hatte das Haus Oeſterreich der
deutſchen Nation den Fuß ſo hart auf den Nacken ſetzen dürfen. Ganz
ſo herriſch wie einſt Kaiſer Karl auf dem geharniſchten Reichstage den
beſiegten Schmalkaldenern das Augsburger Interim aufzwang, rief jetzt
Metternich einer neuen nationalen Bewegung der Deutſchen ſein Halt zu;
ebenſo verächtlich wie damals Granvella über die peccata Germaniae
lachte, höhnte Gentz über die Bedrängniß des Weimariſchen Altburſchen
und ſeines liberalen Anhangs; und faſt ſo ergeben wie damals der ſchwache
Joachim II. ſtand jetzt wieder ein Hohenzoller neben dem öſterreichiſchen
Herrſcher. Und doch mußte Oeſterreich bald erfahren, daß jene Krone,
welche ſich Kaiſer Franz einſt ſelber vom Haupte geriſſen hatte, durch die
Gaunerkünſte einer verlogenen Diplomatie nicht wieder zu gewinnen war.
Auch in früheren Zeiten war Oeſterreichs Herrſchaft für die Deutſchen
immer ein Unheil geweſen; je lichter das Geſtirn der Habsburger er-
glänzte, um ſo tiefer ſtets lag die deutſche Nation darnieder. Jener große
Kaiſer, der einſt in Augsburg den Proteſtantismus bändigen wollte, bot den
Deutſchen immerhin einen Erſatz für die verlorene Freiheit, einen mächtigen
Gedanken, der einen Julius Pflugk begeiſtern konnte, die grandioſe Idee
des katholiſchen Weltreichs. Was aber vermochten dieſe kleinen Seelen,
die jetzt in Kaiſer Karls Fußtapfen zu treten verſuchten, der Nation zu
bieten? Nichts als Druck und Zwang, nichts als eine gewiſſenloſe Ver-
bildung des Bundesrechts, welche den Deutſchen ihre einzige nationale
Inſtitution zum Ekel machen mußte, und in den Kauf noch die Lüge, daß
Deutſchland vor einer eingebildeten Gefahr gerettet worden ſei.


Für die realen Intereſſen der Nation hatte Metternich nur ein
ſpöttiſches Lächeln. Eine Mahnung der kleinen Höfe an das noch immer
ungelöſte Verſprechen der deutſchen Verkehrsfreiheit fertigte der öſterrei-
chiſche Staatsmann mit einigen leeren Redensarten ab. Dem preußiſchen
Miniſter hatte er verſprechen müſſen, daß der widerliche Streit über
die Bundesfeſtungen jetzt endlich zum Abſchluß kommen ſolle; auf Preußens
Verlangen waren auch Langenau und Wolzogen bereits in Karlsbad er-
ſchienen, der Letztere zum Schrecken der ſtrengen öſterreichiſchen Partei,
die ihn als einen Sendling der deutſchen Revolutionäre beargwöhnte. Aber
Metternich fand über ſo vielen wichtigeren Geſchäften keine Zeit, um mit
den beiden Generalen die verabredete Berathung zu halten.*) Was galt
[568]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
auch dieſer Staatskunſt die Sicherung der deutſchen Grenzen neben den
großen Culturaufgaben der Cenſur und der Studentenverfolgung? Und
wie die neuen Beherrſcher Deutſchlands unvergleichlich kleiner und nichtiger
waren als weiland die habsburgiſchen Helden des Schmalkaldener und des
dreißigjährigen Krieges, wie ſie ihren Erfolg nicht der Macht ſiegreicher
Waffen, ſondern allein der thörichten Angſt der deutſchen Höfe verdankten,
ſo trat auch der unvermeidliche Rückſchlag nicht jäh und gewaltſam ein,
wie einſt in den Tagen Moritz’s und Guſtav Adolfs; er erfogte langſam,
unmerklich, aber um ſo ſicherer. Oeſterreich hatte den Deutſchen einen
Stein ſtatt eines Brotes gereicht. Sobald dann Preußen den Entſchluß
faßte, ſich der Noth dieſes Volkes ehrlich anzunehmen und ihm die wirth-
ſchaftliche Einheit zu bringen, welche allein Preußen ſchaffen konnte, von
dieſem Augenblicke an verſank das Geſpenſt des deutſchen Dualismus,
das jetzt noch einmal ſeine grinſenden Züge gezeigt hatte, nach und nach
im Nebel, und der denkende Theil der Nation begann zu erkennen, daß der
in Karlsbad ſo übermüthig angedrohte Austritt Oeſterreichs aus dem
Deutſchen Bunde die einzig mögliche Rettung des Vaterlandes war.


Bis dahin war noch ein weiter Weg. Vorderhand ſchwelgte die
Hofburg im Siegesjubel. In einem zärtlichen Handbillet dankte Kaiſer
Franz dem Könige von Preußen für das kräftige gemeinſame Wirken
„gegen die Störer der Ordnung der Dinge, auf welcher der Beſtand der
Throne ruht.“*) Gentz rühmte „dieſe größte retrograde Bewegung, die
ſeit dreißig Jahren in Europa ſtattgefunden,“ und Metternich ſprach dem
Geſandten in London die Hoffnung aus, daß dieſe rettende That in ganz
Europa ihren Widerhall finden würde. Und wirklich hatten die Ideen
der reinen Reaktion bisher nur in Spanien einen ſo durſchlagenden Er-
folg errungen. Unter den großen Culturvölkern gab Deutſchland zuerſt
das Beiſpiel eines Staatsſtreichs von oben, ein Beiſpiel, das elf Jahre
nachher den franzöſiſchen Juli-Ordonnanzen zum Vorbilde gedient hat.
Die Politik der Mäßigung, welche der Vierbund bis zum Aachener Con-
greſſe eingehalten, ging zu Ende; die Macht, welche die Führerſtelle in
der europäiſchen Allianz errungen hatte, bekannte ſich fortan offen zu den
Grundſätzen der Unterdrückung. —


Noch blieb eine ſchwere geheime Arbeit übrig, bis — nach Metternichs
Worten — die Bombe in Frankfurt platzen konnte. Was man in Karls-
bad erreicht hatte war nur eine nach Bundesrecht ungiltige Verabredung
von neun Bundesſtaaten, die allerdings über die Mehrheit des engeren
Raths geboten. Zu einer Erweiterung und Veränderung der Bundesakte,
wie ſie in den Karlsbader Beſchlüſſen enthalten war, bedurfte man aber
der Einſtimmigkeit. Es galt alſo, dreißig Bundesſtaaten zur ſchweigenden
Unterwerfung unter die Befehle der Neun zu vermögen, die zu Teplitz
[569]Die Karlsbader Beſchlüſſe vor dem Bundestage.
beabſichtigte Mehrheitsherrſchaft im engeren Rathe des Bundestags that-
ſächlich zu erzwingen. Die Hebel der Angſt und der Einſchüchterung, welche
in Karlsbad ſo gute Dienſte gethan, mußten in Frankfurt nochmals ange-
ſetzt werden. Metternich wünſchte jede Berathung am Bundestage zu ver-
hindern; eine kritiſche Beleuchtung konnten die Beſchlüſſe der Karlsbader
Verſchwörung allerdings nicht ertragen. Seine kurzſichtige Schlauheit be-
merkte nicht, wie thöricht es war, die deutſche Centralgewalt alſo vor allem
Volke zu entwürdigen in demſelben Augenblicke, da man ihr erweiterte
und der öffentlichen Meinung verhaßte Befugniſſe übertragen wollte. Noch
am 1. Sept. theilte Metternich die Karlsbader Beſchlüſſe dem Präſidial-
geſandten mit, befahl ihm für ſchleunige Annahme derſelben zu ſorgen
und dann ſogleich die Ferien eintreten zu laſſen. Dieſelbe Weiſung erging
gleichzeitig an Graf Goltz, der nunmehr endlich durch Buol, Pleſſen und
Marſchall in die Karlsbader Geheimniſſe eingeweiht wurde.*) Andere der
Karlsbader Verſchworenen hielten nicht einmal für nöthig ihre eigenen
Bundesgeſandten aufzuklären. Der Karlsruher Hof ſendete ſeinem Bun-
desgeſandten erſt am 13. Sept. den lakoniſchen Befehl: „da nach einge-
gangenen Nachrichten in einer der nächſten Sitzungen der k. k. Geſandte
über die Karlsbader Conferenzen einen Vortrag erſtatten werde“, ſo ſolle
der Badener „der k. k. Abſtimmung ſich ohne Weiteres anſchließen“ und
zu Mitgliedern der Central-Unterſuchungscommiſſion die ſieben in Karls-
bad bezeichneten Staaten wählen.**)


Den von den Conferenzen ausgeſchloſſenen Regierungen wurde auch
jetzt noch jede genaue Nachricht vorenthalten. Bernſtorff begnügte ſich, den
preußiſchen Geſandtſchaften an den kleinen Höfen eine kurze Ueberſicht über
die Ergebniſſe der Conferenzen zu ſchicken, die ganz ebenſo ſummariſch
gehalten war wie unlängſt die vorläufige Mittheilung an den däniſchen
Hof.***) Unbeſehen wie einſt die Rheinbundsakte von den Getreuen Na-
poleons ſollten die Karlsbader Beſchlüſſe von den Vaſallen Oeſterreichs
genehmigt werden. In ſchönem Wetteifer erklärten die Diplomaten der
neun Eingeweihten an allen kleinen Höfen, nur die Eintracht aller Re-
gierungen könne Deutſchland aus ſeiner ſchweren Bedrängniß erretten;
und wo es noth that, da ſpielte der k. k. Geſandte noch ſeinen letzten
Trumpf aus und drohte mit dem Austritt Oeſterreichs. Einzig der Darm-
ſtädter Hof, dem man ja einen Platz in der Central-Unterſuchungscom-
miſſion zugedacht hatte, ward einer gründlicheren Mittheilung gewürdigt.
Die Geſandten der beiden Großmächte, Handel und Otterſtedt, begaben
ſich zu dem Großherzoge, erzählten ihm das Weſentliche und beſchworen
ihn „das Heil des gemeinſamen Vaterlands durch die unbedingte Ein-
[570]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
müthigkeit aller Bundesglieder“ zu ſichern. Der würdige alte Herr zeigte
ſich wenig erfreut über die drohende Beſchränkung ſeiner Souveränität,
aber auch er glaubte an die große Demagogengefahr und behielt ſich nur
vor, bei der Verkündigung der Karlsbader Beſchlüſſe ſeinem Lande zu-
gleich zu verſprechen, daß die Verfaſſung bis zum 1. Mai 1820 erſcheinen
ſolle; die Regierungen, ſo warnte er, dürfen ſich nicht den Anſchein geben,
als ob ſie Anderer Willkür beſchränken wollten, nur ihre eigene nicht.*)


Alſo war Alles für den großen Schlag vorbereitet. Am 14. Sep-
tember gab Buol dem Bundestage die erſte vertrauliche Mittheilung über
die Karlsbader Conferenzen. Am 16. verlas er den ihm von Metternich
zugeſendeten großen Präſidialvortrag und beantragte ſodann die ſchleunige
Annahme der verabredeten Bemerkungen über den Art. 13, ſowie der
vier Geſetze. Die meiſten der Bundesgeſandten lernten jetzt zum erſten
male den Text der Karlsbader Beſchlüſſe kennen. Es war die wichtigſte
und umfangreichſte Vorlage, welche dem Bundestage je unterbreitet worden,
und für die Erledigung dieſer Aufgabe ſetzte Buol, ohne daß ein Wider-
ſpruch laut ward, eine Friſt von vier Tagen, eine Friſt, welche bei den
Verkehrsverhältniſſen jener Zeit nicht einmal zur Einholung der Inſtruk-
tion ausreichte. Am 20. September ſollte die Abſtimmung ſtattfinden,
während die Geſchäftsordnung eine Friſt von mindeſtens vierzehn Tagen
verlangte; die große Mehrzahl der deutſchen Regierungen war alſo von
dem Wortlaut der Beſchlüſſe noch gar nicht unterrichtet, als ſie in Frank-
furt durchgingen. Auch die verfaſſungsmäßige Berathung der Anträge
unterblieb gänzlich, und kein Geſandter unterſtand ſich dies zu rügen.


Am Tage der Abſtimmung wagte zwar Niemand förmlich zu wider-
ſprechen; aber zum Schrecken Oeſterreichs ergab ſich, daß trotz allen Dro-
hungen doch nur ein Theil der Geſandten zur unbedingten Genehmigung
bevollmächtigt war. Viele warteten noch auf Inſtruktionen, Andere hatten
nach deutſcher Weiſe allerhand Bedenken und Wünſche kundzugeben. So
fand der Dresdner Hof die Karlsbader Beſchlüſſe noch zu liberal und
ließ die Hoffnung ausſprechen, daß überall in Deutſchland, wie im König-
reich Sachſen, alle Druckſchriften ohne Ausnahme der Cenſur unter-
worfen würden. Auch Wangenheim brachte eine ganze Reihe von Aus-
ſtellungen vor — ein neuer Beweis für die Treuloſigkeit des württem-
bergiſchen Hofes, nachdem Wintzingerode in Karlsbad allen vier Geſetzen
freudig zugeſtimmt; er hatte partikulariſtiſche Bedenken gegen die Execu-
tionsordnung, er fand es zu hart, daß jeder Bundesſtaat für die Haltung
ſeiner Preſſe verantwortlich ſein ſollte u. ſ. w. Desgleichen Kurheſſen
konnte eine Klage über die Executionsordnung, die ſo tief in die Rechte
der Souveränität einſchneide, nicht unterdrücken.


[571]Genehmigung der Karlsbader Beſchlüſſe.

Mit der höchſten Spannung ſah die Verſammlung darauf der Ab-
ſtimmung des luxemburgiſchen Geſandten entgegen. Jedermann wußte, daß
ſein königlicher Herr, der alle deutſchen Dinge mit gefliſſentlicher Gering-
ſchätzung behandelte, ihn ohne Inſtruktion gelaſſen. Aber Buol und Goltz
hatten ihm zugeredet, und Graf Grünne erklärte unbefangen: obwohl ohne
Vollmacht „wolle er ſich von einem förmlich verfaßten Beſchluß nicht länger
ausſchließen“ — worauf dann einige nichtsſagende Vorbehalte zu Gunſten
der luxemburgiſchen National-Eigenthümlichkeiten folgten. Jetzt erſt war,
wie Goltz ſeinem Könige meldete, das Spiel gewonnen, „weil nur dadurch
ſcheinbare Einſtimmigkeit erlangt und der fünfzehnten und ſechzehnten
Curie ſowie den freien Städten der Vorwand zu abweichenden Aeuße-
rungen benommen werden konnte.“*) Wenn der Vertreter des Königs
der Niederlande ſich ſo ſanftmüthig fügte, wie ſollten die Kleinen wider-
ſtehen? Die Geſandten der erneſtiniſchen Häuſer und der ſechzehnten
Curie ſprachen ihr Ja, obgleich ſie geſtehen mußten, daß ſie erſt von einigen
ihrer Committenten Weiſungen erhalten hätten. Unter den ausdrück-
lich Zuſtimmenden war auch Weimar. Der Stimmführer der fünfzehnten
Curie ſcheute ſogar eine Lüge nicht und verſicherte von Ihren Hochfürſt-
lichen Durchlauchten zur Beiſtimmung angewieſen zu ſein, obwohl er
nachweislich von den beiden Schwarzburg keine Inſtruktion empfangen
hatte. Nach Alledem blieb auch den Geſandten der freien Städte nichts
übrig als „ſich in Ermangelung einer beſonderen Inſtruktion der bereits
ausgeſprochenen Einſtimmigkeit anzuſchließen“.


Die Stimmeneinheit war erzielt, der Bundestag hatte ſich den Be-
ſchlüſſen der Neun unterworfen. Aber konnte man es wagen, dieſe ſelt-
ſame Abſtimmung, wie ſie vorlag, mit allen ihren Clauſeln und Vorbe-
halten, der Ordnung gemäß in den Protokollen zu veröffentlichen? Sie
bewies doch nur zu deutlich — Goltz ſelbſt geſtand es ſeinen Monarchen —
„daß die Bereitwilligkeit ſich nicht überall auf Ueberzeugung, ſondern mehr
auf Ergebung in die Umſtände gründete.“ Sollte die öffentliche Meinung,
auf deren Unwillen man allerſeits gefaßt war, durch eine großartige Kund-
gebung des Einmuths der deutſchen Kronen zum Schweigen gebracht
werden, dann durfte Oeſterreich nach allen den Schlichen und Lügen dieſes
unſauberen Handels auch vor einer letzten Fälſchung nicht mehr zurück-
ſchrecken. Von Goltz und Pleſſen lebhaft unterſtützt, ſtellte Buol den
Genoſſen vor, daß es „zur Erhöhung des zu machenden Eindrucks“ unum-
gänglich ſei, das öffentliche Protokoll von allen Bemerkungen frei zu
halten.**) Alle fügten ſich ohne Zaudern. So ward denn die wirk-
liche Abſtimmung in einer tiefgeheimen Regiſtrande vergraben, die „nur
als ein Beleg der Akten“ dienen und vielleicht bei ſpäteren Berathungen
[572]II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
noch benutzt werden ſollte.*) Das veröffentlichte Protokoll aber erzählte
von der „einmüthigen“ Annahme der Karlsbader Beſchlüſſe und beſtimmte,
daß alle vier Geſetze „ſogleich in allen Bundesſtaaten in Vollziehung
treten“ ſollten. Erſchütternd war der Eindruck, als die Deutſchen plötzlich
erfuhren, daß der Bundestag, der für alle dringenden Anliegen der Nation
immer taub geweſen, die zur Knebelung ihres geiſtigen Lebens beſtimmten
Zwangsgeſetze in ſo würdeloſer Haſt, mit offenbarer Mißachtung der Vor-
ſchriften der Bundesakte, angenommen hatte. Die kleinen Höfe ſelbſt
empfanden die Vergewaltigung ſo lebhaft, daß der preußiſche Geſandte
ſeiner Regierung dringend rieth, den Bogen nicht zu überſpannen und zu
den Wiener Conferenzen alle Regierungen ohne Ausnahme einzuladen.
Nach vollbrachtem Werke gab der Präſidialgeſandte ſeinen Genoſſen ein
glänzendes Feſtmahl. Graf Goltz aber empfing Verzeihung für frühere
Mißgriffe und die warme Anerkennung ſeines Hofes für die glückliche
Löſung der ſchwierigen Aufgabe.**)


Unter ſolchen Anzeichen, mit einer gefälſchten Abſtimmung, begann
die Herrſchaft des Hauſes Oeſterreich am Deutſchen Bundestage. Mit
einer anderen gefälſchten Abſtimmung, mit der erſchlichenen Kriegserklärung
gegen Preußen ſollte ſie im Jahre 1866 ihr würdiges Ende finden. —


[[573]]

Zehnter Abſchnitt.
Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.


Auf den Zorn der liberalen Parteien war Fürſt Metternich von Haus
aus gefaßt, als er, nach ſeinem beſcheidenen Geſtändniß, „in drei Wochen
vollendet hatte, was dreißig Jahre der Revolution nicht zu Stande bringen
konnten“. Den Charakter des deutſchen Volkes kennen zu lernen, hatte er
freilich nie der Mühe werth gehalten; er ahnte nicht, wie hoch dieſe idea-
liſtiſche Nation die Freiheit des Gedankens ſchätzte und wie furchtbar ſie
grade durch einen Angriff auf die Preſſe und die Hochſchulen gekränkt wer-
den mußte. Die Karlsbader Beſchlüſſe verwirrten und verwüſteten die
öffentliche Meinung von Grund aus. Die Hoffnung auf eine friedliche
Fortbildung der deutſchen Dinge ging auch den Gemäßigten verloren. Re-
publikaniſche Gedanken, denen in unſerer monarchiſchen Geſchichte jeder
Boden fehlte, begannen überhand zu nehmen, ſeit Deutſchlands Fürſten
als die verſchworenen Feinde der Volksfreiheit auftraten; die bisher nur
theoretiſche Begeiſterung für den großen Freiſtaat Amerikas ward bei Vielen
zur praktiſchen Parteigeſinnung. Das wüſte Lied der Unbedingten „Fürſten
zum Land hinaus!“ drang jetzt erſt in weitere Kreiſe.


Die Nation ward irr an ihrem Staate, an ihren ſchönſten hiſtoriſchen
Erinnerungen. Die edle vaterländiſche Begeiſterung der letzten Jahre ver-
rauchte. Von Aller Lippen klang die bittere Klage, das Blut von Leipzig
und Belle Alliance ſei umſonſt gefloſſen. Wenn die deutſchen Liberalen
vorher nur halb unbewußt einzelne jakobiniſche Grundſätze bei ſich aufge-
nommen hatten, ſo zogen ſie jetzt, da man ihnen unter dem Namen des
alten deutſchen Rechtes Druck und Verfolgung bot, mit fliegenden Fahnen
in das franzöſiſche Lager hinüber und berauſchten ſich an einer conſtitutio-
nellen Theorie, welche das republikaniſche Ideal kaum noch nothdürftig ver-
barg. Die Sieger ſammelten begierig jeden Brocken politiſcher Afterweis-
heit, der von dem Tiſche der Beſiegten abfiel; die deutſche liberale Politik
beugte ſich vor den franzöſiſchen Ideen ſo knechtiſch wie einſt die Dichtung
in den Tagen Ludwigs XIV. Die neuen, aus den Tiefen des germa-
niſchen Lebens geſchöpften Gedanken der hiſtoriſchen Rechtsſchule fielen in
Mißachtung, und wer die Verirrungen der entarteten conſervativen Partei
[574]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
bekämpfte, wendete ſich jenen revolutionären Naturrechtslehren zu, die von
der deutſchen Wiſſenſchaft längſt überwunden waren. Im Zorn über das
erlittene Unrecht gerieth der deutſche Liberalismus recht eigentlich außer ſich;
er vergaß des unſchätzbaren Segens der Befreiungskriege, er begann die
Helden jener Kämpfe als Betrogene oder Betrüger gering zu ſchätzen und
verfiel nach und nach einer weltbürgerlichen, radikalen Schwärmerei, die
für ein werdendes Volk ſchlechthin verderblich werden mußte.


Obwohl die Preſſe unter der Obhut der ſofort in Wirkſamkeit treten-
den Cenſur nur wenig ſagen durfte, ſo konnte doch ſelbſt der Diplomatie
der allgemeine Zorn nicht entgehen. In Frankfurt, in Stuttgart, in
München, überall äußerte ſich die Entrüſtung der gebildeten Stände in
heftigen Reden, überall verglich man die neue ſchwarze Commiſſion mit
dem Wohlfahrtsausſchuſſe des Convents.*) Niemand aber empfand die
Unbill ſchwerer als die Profeſſoren, die ſich wegen der Thorheiten einiger
Jenenſer jetzt alleſammt von Bundeswegen geſchmäht und verleumdet ſahen.
Was mußten Dahlmann und Falck, die beiden Vorkämpfer des deutſchen
Rechts in Kiel empfinden, als Holſtein und zugleich auch das nicht zum
Bunde gehörige Schleswig jetzt als erſtes Geſchenk von dem befreiten
Deutſchland die Cenſur empfingen, nachdem ſie fünfzig Jahre lang, ſeit
den Tagen Struenſees, unter der abſoluten Herrſchaft der däniſchen Allein-
gewalt-Erbkönige ſich der unbeſchränkten Preßfreiheit erfreut hatten. Die
Kieler Blätter gingen ein, weil ſie ſich keinem Cenſor unterwerfen wollten.
Dahlmann aber, der noch ſo oft für die Empfindungen des empörten natio-
nalen Gewiſſens das rechte Wort finden ſollte, nannte die deutſchen Uni-
verſitäten durch jene Bundesbeſchlüſſe „unvergeßlich herabgewürdigt und be-
leidigt“. Er kündigte dem Freiherrn vom Stein die Mitarbeiterſchaft an
den Monumenta Germaniae auf, ſo lange an der Spitze des Unternehmens
jene Bundesgeſandten ſtünden, welche an der Beſchimpfung des deutſchen
Gelehrtenſtandes Theil genommen: „Mein guter Name iſt mir mehr werth
als ein wiſſenſchaftliches Unternehmen. Ich möchte nicht, daß es gelänge,
auf dem mit Unterdrückung und Verfolgung — und womit vielleicht bald?
— befleckten Boden edle Früchte der Wiſſenſchaft durch gebundene Hände zu
ziehen.“ Zum Geburtstage des König-Herzogs trat er ſodann in akademiſcher
Feſtrede unerſchrocken als Anwalt der verläumdeten Univerſitäten auf; er
nannte das Majeſtätsverbrechen „das einzige und eigenthümliche Verbrechen
derer, welche nie ein Unrecht gethan“; er vertheidigte das Recht der neuen
Zeit ſich ihre eigenen politiſchen Formen zu finden: „ein Neuerer iſt auch
wer das Veraltete herzuſtellen ſucht“ — und ſagte voraus, die neuen Bundes-
geſetze würden, da ſie den leeren Formen des Friedens ſein inneres Weſen
opferten, nur polizeiliche Ruhe, nicht den Frieden begründen.


[575]Die öffentliche Meinung und die Karlsbader Beſchlüſſe.

Selbſt in den höchſten Kreiſen der Geſellſchaft fehlte es nicht an ſcharfem
Tadel. Hans von Gagern richtete an ſeinen Freund Pleſſen einen warnen-
den Brief, der neben vielen Wunderlichkeiten auch manche beherzigenswerthe
Mahnung ausſprach: „Hintergehen Sie Ihre Herren nicht, bringen Sie
ihnen nicht den Glauben bei, als ob Alles das, was jetzt vorgeht, Neue-
rung und Neuerungsſucht, von ihrer Seite nur Langmuth und Gnade
ſei!“ Sogar Stein, der über die Thorheiten der Jenenſer Profeſſoren
und der Karlsruher Adelsfeinde ſehr ſtreng urtheilte, verdammte die Ein-
ſetzung der neuen Regierungsbevollmächtigten als eine Beleidigung der
Univerſitäten; und als die Spürer der Demagogenjagd nun gar den Frei-
herrn ſelber der Theilnahme an der großen Verſchwörung bezichtigten, da
brach ſein Zorn furchtbar los. „Vox faucibus haeret, rief er aus, über
eine ſolche viehiſche Dummheit oder eine ſolche teufliſche Bosheit oder einen
ſolchen nichtswürdigen und aus einem durchaus verfaulten Herzen ent-
ſtehenden Leichtſinn.“ Auch den Fürſten, die ihr Haupt unter das Joch ge-
beugt, fiel es nachher ſchwer auf die Seele, daß niemals ein deutſcher Kaiſer
den geringſten ſeiner Reichsfürſten ſo ſchmählich behandelt hatte, wie jetzt
der Wiener Hof den geſammten Bundestag. „Dieſer Eingriff in die noch
junge Conſtitution Deutſchlands, ſchrieb der Herzog von Oldenburg, hat
nur die Unbefangenen erſchreckt, die öffentliche Meinung beleidigt und den
Tadel gereizt.“ Die Verſtimmung der kleinen Höfe begann recht bedenklich
zu werden; nach alledem hielt es Metternich doch für gerathen, die War-
nung des preußiſchen Bundesgeſandten zu beherzigen und verabredete mit
dem Berliner Kabinet, daß von den Miniſterconferenzen des Winters kein
deutſcher Hof ausgeſchloſſen werden ſolle.*)


In der Preſſe des Auslands fand der allgemeine Groll lauten Wider-
hall. Nur die franzöſiſchen Ultras frohlockten und deuteten vernehm-
lich an, daß auch für Frankreich ein Karlsbader Staatsſtreich heilſam
werden könne. Aber ſchon der Moniteur wagte die Thaten Oeſterreichs
nicht offen zu billigen: in Frankreich, ſo ließ er ſich vernehmen, ſeien ſolche
Geſetze unanwendbar, für den Despotismus biete Europa keinen Raum
mehr. Die liberalen Publiciſten vollends überboten einander in ſtürmiſcher
Entrüſtung. Zuerſt natürlich war der unvermeidliche Erzbiſchof de Pradt
wieder zur Stelle mit einer jener umfänglichen Schriften, die man,
nach Gentz’s Urtheil, beliebig von vorn, von hinten oder aus der Mitte
heraus leſen konnte; ſchon im Auguſt, noch bevor er von den Verhand-
lungen in Böhmen ein Wort kannte, ließ er das erſte Heft ſeiner Schrift
über „den Karlsbader Congreß“ erſcheinen und verkündete, die Zeiten von
Pillnitz und Brunswic kehrten wieder. Noch lauter tobte Etienne in der
Minerva, desgleichen der Cenſeur, der Independant, faſt alle liberalen
Blätter Frankreichs und Englands. Die Deutſchen, hieß es da, ſeien durch
[576]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
eine ſchimpfliche Sklaverei „aus der Menſchheit ausgeſtoßen“, den Pro-
ſcriptionen des Sulla, der Tyrannei des Tiberius verfallen; überall ſonſt
ſuche die Willkür nach einer Verkleidung, nur in Deutſchland ſchreite ſie
ſchamlos, ohne Larve einher.


Der alſo angeſchlagene Ton ward ſeitdem treulich eingehalten. Das
den Nachbarn ſo unbequeme Erſtarken Mitteleuropas ſchien jetzt nicht
mehr gefährlich ſeit der deutſche Bund ſich ſchweigend dem Hauſe Oeſterreich
unterworfen hatte. Dreißig Jahre lang blieb Deutſchland fortan für die
Preſſe des Weſtens das claſſiſche Land aller politiſchen Erbärmlichkeit, der
Beachtung freier Briten und Franzoſen völlig unwerth, und die Nation,
welche zweimal binnen zwei Jahren ihre ſiegreichen Fahnen auf dem Mont-
martre aufgepflanzt hatte, ward von ihren beſiegten Nachbarn mit gering-
ſchätzigem Wohlwollen als ein gutmüthiges Philiſtervolk behandelt, das bei
Bier, Tabak und Philoſophie die Zeit verträume und in richtiger Selbſt-
erkenntniß auf alle Pläne politiſcher Macht und Freiheit gemächlich ver-
zichtet habe. Die Deutſchen aber hatten ſich in das Bewußtſein des hoff-
nungsloſen „deutſchen Elends“ bald ſo gründlich eingelebt, daß ſie ſolche
Kundgebungen urtheilsloſen Hochmuths als Beweiſe der Ueberlegenheit weſt-
europäiſcher Kultur willig hinnahmen und ſich in ihrer weltbürgerlichen
Bruderliebe nicht mehr ſtören ließen.


Trotz dem Unwillen der Nation wurden die Karlsbader Beſchlüſſe
überall mit einer Pünktlichkeit vollzogen, wie ſeit unvordenklichen Zeiten
kein Reichs- oder Bundesgeſetz. Die Central-Unterſuchungscommiſſion
trat ſofort zuſammen. Ihr bösartigſtes Mitglied war der Baier Hör-
mann, jener fanatiſche Bonapartiſt, der ſeit Jahren in der Alemannia
die Boruſſomanen verfolgte und nun ſie gänzlich auszurotten hoffte.
Der Badener Pfiſter und der Naſſauer Muſſet gingen mit ihm Hand in
Hand. Preußen hatte anfangs den elenden Grano bevollmächtigt, aber
bald regte ſich in Berlin die Scham über eine ſolche Vertretung; man
rief den Menſchen zurück und erſetzte ihn durch den Präſidenten v. Kaiſen-
berg, einen ausgezeichneten Juriſten, der ſein widerwärtiges Amt mit großer
Umſicht und Mäßigung führte, unter fortwährenden Kämpfen mit Hör-
mann viel Unheil und Willkür abwendete.


Unverzüglich begannen die Cenſoren und die Univerſitätsbevollmäch-
tigten überall ihre Thätigkeit. Die Jenenſer Burſchen ſprachen dem Groß-
herzog in einem ruhig gehaltenen Briefe ihr Bedauern aus, daß man ſie
öffentlich verkannt habe, und löſten am 26. November gehorſam ihre Ver-
bindung auf. Beim Scheiden erklangen die Verſe von Binzer:


Das Band iſt zerſchnitten,

War ſchwarzrothundgold.

Und Gott hat es gelitten.

Wer weiß was er gewollt! —

ſentimentale Klagen, die wahrhaftig nicht auf revolutionäre Entſchlüſſe
deuteten. Einige der Getreueſten traten noch in der nämlichen Nacht zu-
[577]Auflöſung der Burſchenſchaft.
ſammen, um den aufgelöſten Bund von Neuem zu ſchließen. Dieſe neuen
geheimen Burſchenſchaften, die ſich nunmehr faſt auf allen Univerſitäten
zuſammenthaten, trugen, da ſie mit der Polizei in beſtändigem Kampfe
lebten, von Haus aus eine radikalere Färbung als der alte allgemeine
Burſchenbund und waren doch im Grunde noch ungefährlicher. Denn die
ernſthaften Soldaten des Befreiungskriegs verließen jetzt alleſammt die
Hochſchulen; der junge Nachwuchs beſtand wieder aus gewöhnlichen Schul-
füchſen, die ſich die Freuden des Burſchenlebens nicht verkümmern ließen
und die Raufhändel mit ihren Gegnern, den überall neu entſtehenden Corps
und Landsmannſchaften, zumeiſt weit eifriger betrieben als die politiſche Rede-
kunſt. Aber die heilſame ſittliche Wirkung der burſchenſchaftlichen Bewegung
blieb den Univerſitäten unverloren; die entſetzliche Roheit der guten alten
Zeit kehrte in ſolchem Maße niemals wieder. Die Jenenſer Lehrer blieben
nach Okens Entlaſſung unbeläſtigt; nur Fries mußte, in Folge jenes
thörichten Briefes über die hochwohlgebornen franzöſiſchen Affen, einige
Jahre lang ſeine Vorleſungen einſtellen. Welch ein klägliches Ergebniß,
nachdem der öſterreichiſche Präſidialgeſandte den geſammten deutſchen Pro-
feſſorenſtand vor aller Welt mit Anklagen überſchüttet hatte!


Die Ausführung der neuen Bundesgeſetze erfolgte überall unter der
unmittelbaren Aufſicht der Geſandten Oeſterreichs und Preußens. Dem
Bundestage wollten die beiden Großmächte dieſe Ueberwachung nicht über-
laſſen. Er war durch Zank und Unthätigkeit und zuletzt noch durch die
erzwungene Abſtimmung vom September gänzlich entwürdigt; in Wien
und an den befreundeten Höfen erwog man ſchon ſeit Monaten die Frage,
ob es nicht gerathen ſei, alle wichtigen Bundesgeſchäfte unmittelbar durch
die Regierungen zu erledigen und die Bundesverſammlung als eine be-
ſcheidene Tagſatzung alljährlich nur auf drei Monate nach Mannheim ein-
zuberufen.*) Die k. k. Geſandten erhielten demnach gemeſſenen Befehl, die
Handhabung der Cenſur und der akademiſchen Disciplin in den kleinen
Staaten ſorgſam zu beaufſichtigen. In ſeinen eigenen Bundeslanden konnte
Kaiſer Franz freilich für die Vollziehung der Karlsbader Beſchlüſſe gar nichts
thun; in dieſer friedſamen öſterreichiſchen Welt war weder ein Demagog noch
ein Burſchenſchafter noch eine liberale Zeitung aufzutreiben. Nur um ihren
guten Willen zu beweiſen, veranſtaltete die Wiener Polizei im Oktober ein
Treibjagen auf die zahlreichen Hauslehrer aus der Schweiz; doch da ſich
bei den Verhafteten nur „einige Briefe mit ſchlechten Grundſätzen“ vor-
fanden, ſo mußte ſich der Kaiſer begnügen, ſie noch eine Weile gefangen
zu halten und dann über die Grenze abſchieben zu laſſen.**)


Faſt noch eifriger zeigte ſich der Berliner Hof. Der König war und
blieb von der Nothwendigkeit der Ausnahmegeſetze tief durchdrungen, befahl
allen ſeinen Geſandten in Deutſchland die Ausführung zu überwachen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 37
[578]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
und ließ den größeren Bundesſtaaten mittheilen, daß er feſt auf ihre thätige
Mitwirkung zähle. Nur das treu verbündete England-Hannover bedurfte
keiner ſolchen Mahnung. Die verdächtigen thüringiſchen Höfe dagegen
wurden gleich den Hanſeſtädten blos auf die ernſte Willensmeinung des
Königs verwieſen, aber ausdrücklich keines vertrauensvollen Wortes ge-
würdigt.*) An die Geſandten im Auslande erging (28. September) ein
von Ancillon verfaßtes Circularſchreiben, das mit theologiſcher Salbung
ſchilderte, wie die vier Mächte die Legitimität und das Eigenthum wieder
hergeſtellt, Deutſchland aber dieſe Politik jetzt von Neuem befeſtigt hätte:
„durch ſeine geographiſche Lage iſt Deutſchland der Mittelpunkt oder, beſſer
geſagt, das Herz Europas, und das Herz kann nicht ſchadhaft oder krank
ſein, ohne daß man dies bald bis in die äußerſten Glieder des politiſchen
Körpers fühlen müßte.“ Als dies Aktenſtück von Paris aus widerrechtlich
veröffentlicht wurde, erſcholl durch die geſammte liberale Preſſe Europas
ein Weheruf über Preußen.


Bald nachher, am Jahrestage der Leipziger Schlacht, befahl der König
die Bekanntmachung der Karlsbader Beſchlüſſe. Am nämlichen Tage ge-
nehmigte er das Cenſur-Edikt, das der Staatskanzler in höchſter Eile hatte
ausarbeiten laſſen. Die beiden magnetiſchen Zauberer Schöll und Koreff,
dieſelben nichtigen Geſellen, welche Wittgenſtein als Hardenbergs liberale
Verführer zu verdächtigen pflegte, waren ihrem Gönner dabei dienſtwillig
zur Hand gegangen;**) die im Frühjahr zur Ausarbeitung des Preßgeſetzes
berufene Commiſſion wurde nicht einmal befragt. Das neue Edikt, im
Weſentlichen eine Umarbeitung der Wöllner’ſchen Cenſurordnung vom Jahre
1786, ging noch weit über die Karlsbader Vorſchriften hinaus und be-
ſtimmte gleich im Eingang, daß alle Druckſchriften ohne Ausnahme, wie
bisher, der Cenſur unterliegen ſollten; ſogar die alte Cenſurfreiheit der
Akademie und der Univerſitäten ward für die fünfjährige Dauer des Edikts
aufgehoben. Einige Gewähr gegen die Willkür bot nur das neu errichtete
Ober-Cenſur-Collegium; aber dieſe Recurs-Inſtanz erlangte unter der
ſchlaffen Leitung des Legationsraths v. Raumer niemals eine kräftige Wirk-
ſamkeit. Unterdeſſen arbeiteten Ancillon, Nicolovius und Köhler, die Mit-
glieder der alten Preßgeſetz-Commiſſion, unverdroſſen weiter; ſie hielten an
den Grundſätzen ihres mittlerweile verſtorbenen Berichterſtatters Hagemeiſter
feſt und überreichten am 9. November dem Staatsminiſterium einen Ent-
wurf, der, im ſchärfſten Gegenſatze zu dem Cenſur-Edikt, die Preßfreiheit als
Regel ausſprach, nur für politiſche Zeitſchriften die Cenſur vorbehielt.***)
[579]Das preußiſche Preßgeſetz. Görres.
Das wohlgemeinte Werk blieb nunmehr unbeachtet liegen, ein redendes
Zeugniß für den plötzlichen Umſchwung der Hardenbergiſchen Politik. Be-
deutſamer noch war die Haltung Ancillons, der es über ſich gewann, gleich-
zeitig dies liberale Preßgeſetz auszuarbeiten und der Diplomatie die ſtrenge
Vollziehung der Karlsbader Beſchlüſſe einzuſchärfen. Auch über die Disciplin
der Univerſitäten ergingen einige ſcharfe Verordnungen, denen Altenſteins
Wohlwollen zum Glück durch milde Auslegung die Spitze abbrach.


Seit den Verhaftungen des Juli hatten Kamptz’s Werkzeuge im ganzen
Bereiche des Staates nur noch zwei namhafte Demagogen aufſpüren können.
Jener unbegreifliche Brief von de Wette an Sands Mutter wurde bekannt
und dem Könige vorgelegt. Sobald der Thatbeſtand erwieſen war, ver-
fügte Friedrich Wilhelm, unbeirrt durch die Bitten der Berliner Univer-
ſität, die Abſetzung des Theologen: „es würde, ließ er dem Entlaſſenen
ſchreiben, Sr. Majeſtät Gewiſſen verletzen, wenn Sie einem Manne, der
den Meuchelmord unter Bedingungen und Vorausſetzungen für gerecht-
fertigt hält, den Unterricht der Jugend ferner anvertrauen wollten.“ De
Wette ertrug die harte, aber gerechte Strafe mit einer chriſtlichen Ergebung,
die nur von Neuem bewies, wie wenig revolutionäre Kraft in dem theore-
tiſchen Radicalismus dieſer Gelehrtenkreiſe lag; in dem Augenblicke, da
man ihn aus Preußen vertrieb, erflehte er noch Gottes Segen für dieſen
König und dieſen Staat, denen er mit ſeiner beſten Kraft gedient habe.


Trotziger trat Görres auf. Von ſeinem Freunde Willemer rechtzeitig
gewarnt entzog er ſich, als ſein Buch über Deutſchland und die Revolution
erſchienen war, der drohenden Verhaftung durch die Flucht und forderte
dann von Straßburg aus freies Geleit: nur vor den Geſchworenen ſeiner
rheiniſchen Heimath wolle er Rede ſtehen. Auf ſolche Verhandlungen mit
einem Angeklagten durfte die Krone ſich nicht einlaſſen; aber auch das
Schwurgericht wollte ihm der König nicht bewilligen, denn nachdem die
Stadt Coblenz ſich ſoeben in einer recht anmaßenden Bittſchrift für ihren
Mitbürger verwendet hatte, ließ ſich unſchwer vorausſehen, daß die Rhein-
länder dieſen Proceß zu einer gehäſſigen Kundgebung gegen die preußiſche
Herrſchaft mißbrauchen würden. Nach den Anſchauungen des alten Abſolu-
tismus hielt ſich der König berechtigt, in Fällen politiſcher Gefahr ſelber
die Richter zu bezeichnen und ward auch nicht anderen Sinnes, als die
rheiniſchen Staatsprocuratoren erklärten, zu einer Criminalunterſuchung
liege kein Anlaß vor; er meinte ſeine Befugniſſe nicht zu überſchreiten, da
er den Flüchtigen durch Hardenberg bedeuten ließ: zuerſt habe Görres dem
Haftbefehle zu gehorchen und dann abzuwarten, vor welches Gericht der
Monarch ihn ſtellen werde. Görres aber ſah in dem Verfahren des
Königs einen Eingriff in die rheiniſche Freiheit und weigerte ſich Straßburg
zu verlaſſen.


Die ohnehin verſtimmte öffentliche Meinung brauſte in hellem Zorne
auf, als der Herausgeber des Rheiniſchen Merkurs dergeſtalt — zwar
37*
[580]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
nicht ohne Grund, aber doch nur wegen unbedachter Worte und unter
Verletzung der Rechtsformen — von dem preußiſchen Staate ausgeſtoßen
und von ſeinen alten Todfeinden, den Franzoſen, denen er jetzt freilich
nicht mehr ſchaden konnte, mit unverhohlener Schadenfreude großmüthig
beſchützt wurde. Im Verkehr mit den Straßburger Jeſuiten ward Görres
bald gänzlich für jene clericalen Beſtrebungen gewonnen, denen er ſich
ſchon in Coblenz genähert hatte; der unſtete Romantiker, der einſt in
mächtigen Dithyramben die Siegesflüge des ſchwarzen Adlers gefeiert, ent-
warf ſich jetzt, durch kirchlichen und politiſchen Haß verblendet, ein gräß-
liches Zerrbild von der preußiſchen Monarchie, dem Staate der proteſtan-
tiſchen Verſtandesdürre und der todten bureaukratiſchen Regel. Dieſen
„ungeſtalten ſtarren Knochenmann“ im Namen deutſcher und katholiſcher
Freiheit zu bekämpfen blieb fortan ſein Stolz.


Außer Görres hatten ſich auch C. Th. Welcker und gegen fünfzig von
der Demagogenverfolgung bedrohte Schriftſteller, Studenten, Buchdrucker
in Straßburg eingefunden. Dies Elſaß, das die Deutſchen vor vier Jahren
vom wälſchen Joche hatten befreien wollen, bot jetzt den deutſchen Unzu-
friedenen ein Aſyl, und mancher der Vertriebenen geſtand ſeinen radikalen
Straßburger Freunden, ſie hätten doch recht gethan bei dem freien Frank-
reich auszuhalten! Es war im Plane, dort an der Grenze eine freie
deutſche Zeitung zu gründen, jedoch die hilfloſe Armuth der Flüchtlinge
und ein ſtrenges von Berlin ausgehendes Verbot aller im Auslande er-
ſcheinenden deutſchen Zeitſchriften vereitelten die Abſicht. Die Central-
Unterſuchungscommiſſion erſtattete dem Bundestage ſofort Bericht über die
gefährlichen Straßburger Umtriebe, und beide Großmächte forderten den
Karlsruher Nachbarhof zu ſcharfer Wachſamkeit auf. Mit Feuereifer ent-
ledigte ſich Miniſter Berſtett ſeines Auftrags; er trat mit dem legiti-
miſtiſchen Maire von Straßburg in Verbindung, ließ auch de Wette, der
ſoeben nach Heidelberg kam, polizeilich überwachen, betheuerte mit unter-
thänigſter Begeiſterung, Baden betrachte ſich als den Vorpoſten Deutſch-
lands und ſetze ſeine Ehre darein, das Vaterland vor den ſchwarzen An-
ſchlägen „unſerer teutoniſchen Jakobiner“ auf dem linken Rheinufer zu be-
hüten.*)


Nur zwei deutſche Staaten, Baiern und Württemberg verſuchten eine
ſchwächliche Oppoſition gegen die Bundesgeſetze; aber da beide Regierungen
Allem was geſchehen ſchon unbedingt zugeſtimmt hatten, ſo waren ihre
nachträglichen Widerſtandsverſuche von Haus aus unredlich, kleinlich, aus-
ſichtslos. In München offenbarte ſich wieder jene ſchimpfliche Schwäche,
welche dieſen Hof ſeit Montgelas’ Fall auszeichnete. Graf Rechberg wurde,
als er aus Böhmen heimkehrte, von ſeinen Amtsgenoſſen Lerchenfeld und
[581]Baierns Vorbehalt.
Reigersberg mit Vorwürfen überhäuft. Jener befürchtete den Untergang
der politiſchen Freiheit und hatte bereits in einem leidenſchaftlichen Briefe
an ſeinen Freund Wangenheim ſeinen liberalen Unwillen über die Karls-
bader Beſchlüſſe ausgeſprochen*); dieſer zitterte für Baierns europäiſche
Machtſtellung und meinte ſtolz, Baiern ſei ſich ſelbſt genug, könne des
Bundes entrathen. Auch Montgelas half in der Stille nach; der alte
Gegner Oeſterreichs hoffte jetzt wieder an’s Ruder zu kommen. Als die
Karlsbader Beſchlüſſe dem Miniſterrathe vorgelegt wurden, beſchuldigten
Lerchenfeld und Reigersberg den Miniſter des Auswärtigen, daß er ſeine
Inſtructionen überſchritten habe. Und allerdings hatte Rechberg die
Weiſung erhalten nichts zu bewilligen was der Souveränität und der Ver-
faſſung des Königreichs zuwiderliefe; die bairiſche Conſtitution war die ein-
zige unter den neuen Verfaſſungen, welche die Rechtsverbindlichkeit der
Bundesgeſetze nicht förmlich ausſprach.


König Max Joſeph aber war, ſoweit er einen Entſchluß zu faſſen
vermochte, durchaus erfüllt von der Furcht vor den Demagogen, und da
der Einzige, der ihn vielleicht hätte bekehren können, der Kronprinz grade
in Italien weilte, ſo nahm er ſich Rechbergs an. Aergerlich über den
Zwieſpalt ſeiner Räthe hatte er dem Miniſterrathe nicht ſelber beiwohnen
wollen und ſtatt ſeiner den getreuen Wrede entſendet. Der legte, ſobald
Rechberg angegriffen wurde, raſch entſchloſſen die Hände auf die Akten und
erklärte im Namen des Königs: das Vergangene ſei abgethan, nur über
die Annahme der Karlsbader Beſchlüſſe dürfe jetzt noch berathen werden.**)
Dergeſtalt war der Angriff auf Rechberg abgeſchlagen, und nach neuem
lebhaftem Streite einigten ſich die beiden Parteien des Miniſteriums über
ein kümmerliches Compromiß. Die Karlsbader Beſchlüſſe wurden veröffent-
licht, aber mit dem Zuſatze: ſie ſollten gelten „mit Rückſicht auf Unſere
Souveränität, nach der Verfaſſung und den Geſetzen Unſeres Königreichs.“


Wenn dieſer Vorbehalt überhaupt einen Sinn haben ſollte, ſo be-
deutete er die Losſagung Baierns von jenen Beſchlüſſen, welchen der
Münchener Hof bereits zweimal, in Karlsbad wie in Frankfurt, feierlich
zugeſtimmt hatte. Sofort rüſteten ſich die beiden Großmächte zur Ab-
wehr; und nach den Staatsſtreichsplänen, welche die bairiſche Krone ihnen
kürzlich vorgelegt, erſchien dieſer Vorbehalt in der That unehrenhaft.
Kaiſer Franz ſprach dem bairiſchen Geſandten perſönlich ſein Befremden
aus***), ſendete ſeinem Schwiegervater einen eigenhändigen Brief um ihn
vor den Umtrieben „der Partei“ zu warnen, gab ſeinem Geſandten in
München ſtrenge Weiſungen. Noch kräftiger legte ſich Bernſtorff ins Zeug.
[582]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
„Wenn die bairiſche Regierung daran zurückdenkt — ſo ſchrieb er am
1. November an Zaſtrow — in welchem Gedränge ſie ſich noch vor wenig
Monaten befand, welchen Rath ſie damals von uns begehrte, und in welchem
Maße der Wunſch, ihr für die Zukunft einen feſten Standpunkt gegen
unbefugte Anmaßung zu geben, bei den Karlsbader Beſchlüſſen mitgewirkt
hat“, ſo wird ſie unſere Verwunderung begreifen; will ſie ſich „von dem
Bunde trennen und ſich für künftige Fälle auf ihre eigene, vielleicht nicht
immer zureichende Kraft beſchränken“, ſo müſſen wir mit den gleichgeſinnten
Bundesſtaaten zu Rathe gehen um „dieſem erſten Abweichen von den
Bundesbeſchlüſſen“ entgegenzutreten. Als General Zaſtrow dieſe gleich-
zeitig nach Wien mitgetheilte und dort mit freudiger Dankbarkeit begrüßte
Weiſung dem bairiſchen Miniſter vorlas,*) da fühlte ſich Graf Rechberg tief
zerknirſcht und bat den Preußen, ihm eine Note zu übergeben, die er ſeinen
Amtsgenoſſen vorlegen könne. Zaſtrow willfahrte der Bitte (8. Nov.), und
nunmehr brach der bairiſche Heldenmuth jählings zuſammen. In einer
demüthigen Antwort erklärte Rechberg, ſein König „habe nie dem Gedanken
Raum gegeben ſich von dem Bunde zu trennen“ und durch die Form der
Bekanntmachung „blos die Beruhigung der königlichen Unterthanen“ be-
zweckt.**)


Die Thaten entſprachen den Worten. Die Cenſur und die Beauf-
ſichtigung der Univerſitäten wurde in Baiern mit der äußerſten Strenge
gehandhabt, und die Abſendung Hörmanns in die Mainzer Commiſſion
geſtattete vollends keinen Zweifel mehr über die Geſinnungen des Mün-
chener Hofes. Eine Petition des unermüdlichen Hornthal gegen die Karls-
bader Beſchlüſſe fand bei den Miniſtern eine ſcharfe Abfertigung. Einige
Offiziere, die in Regensburg und Kehlheim zuſammentraten, um das bai-
riſche Verfaſſungsrecht gegen die Angriffe des alten Landesfeindes Oeſter-
reich zu verwahren, wurden von dem wackeren Oberſt Zoller an die Pflichten
der militäriſchen Mannszucht erinnert und bald zum Schweigen gebracht.***)
Zur Herzſtärkung der reuigen Sünder ſendete Ancillon dann noch (7. De-
cember) eine wohlgeſalbte Denkſchrift: „Die Wahrheit hat eine eigene Ge-
walt, der man ſich am Ende doch unterziehen muß. Alles, was Deutſch-
lands Einigkeit vermehrt, befördert ſeine Einheit. Die Souveränität hat
keine andern Feinde als gerade diejenigen, die eine argwöhniſche Ehrfurcht
für dieſelbe heucheln, zu bekämpfen.“†) Zugleich verſicherte Ancillon, daß
ſein König die Beſeitigung der bairiſchen Verfaſſung nicht im Entfernteſten
wünſche; genug, wenn ſie im ſtreng monarchiſchen Sinne gehandhabt
werde. Preußen widerrieth alſo die Einführung einer bairiſchen Provincial-
[583]Baiern unterwirft ſich.
ſtände-Verfaſſung, welche der Geſandte in Petersburg, Graf Bray, auf
Metternichs Rath dem Münchener Hofe ſoeben empfohlen hatte.*)


Nunmehr fühlte ſich der ſchwankende Max Joſeph völlig beruhigt; er
wußte jetzt, daß er mit dem preußiſchen Hofe Hand in Hand gehen konnte,
ohne ſeinen Verfaſſungseid zu verletzen. Auch Wrede, der ſich in ſeiner
fahrigen Weiſe eine Zeit lang für die bairiſche Souveränität ſehr beſorgt
gezeigt hatte, wurde durch ein ſchmeichelhaftes Handſchreiben Metternichs
bekehrt und betheuerte dem preußiſchen Geſandten ſeinen tiefen Abſcheu
gegen die liberalen Anſichten Lerchenfelds. Dieſer ſelbſt hatte Mühe ſich
auf ſeinem Poſten zu behaupten, da ſein demagogiſcher Brief an Wangen-
heim dem Könige in die Hände geſpielt wurde und den äußerſten Zorn
des Monarchen erregte.**) Die Demüthigung des Münchener Hofes war
vollſtändig, und um den Sieg der beiden Großmächte auch für die Zu-
kunft zu ſichern, weigerte ſich Rechberg nunmehr zu den Wiener Miniſter-
conferenzen zu gehen. Er wollte in München bleiben, um den unberechen-
baren König nicht aus den Augen zu laſſen. In Wien ſollte Zentner
die bairiſche Krone vertreten, und Rechberg ſagte mit feiner Menſchen-
kenntniß voraus, dieſer des Liberalismus verdächtigte Bureaukrat werde
als ein warmer Verehrer Metternichs von der Donau heimkehren.***)


Die Unredlichkeit des bairiſchen Hofes erſchien immerhin noch achtungs-
werth neben dem Verhalten der Krone Württembergs. König Wilhelm
ließ ſchon am 1. Oktober die Karlsbader Beſchlüſſe ohne Vorbehalt veröffent-
lichen und noch am ſelben Tage die Cenſur einführen; gleichwohl hatte er
wenige Tage zuvor die neue Verfaſſung beſchworen, welche die Preßfreiheit
verhieß und auch ſonſt den Karlsbader Erklärungen des Miniſters Wintzin-
gerode vielfach widerſprach. Mit gewundenen Verſicherungen ſuchte man
dieſe Zweizüngigkeit vor den beiden Großmächten zu entſchuldigen. Nach
Allem was geſchehen, betheuerte Wintzingerode dem preußiſchen Geſandten,
ſei die Krone ihrem Volke einen Beweis des Vertrauens ſchuldig geweſen;
dem Kaiſer Franz aber, der ihn in einem eigenhändigen Briefe an die
Karlsbader Zuſagen gemahnt hatte, antwortete der König: wenn man ihm
die Mittel dazu biete, ſo wolle er gern das übereilte Verfaſſungswerk wieder
zurücknehmen.†) Als die Stadt Eßlingen ſich in einer Bittſchrift gegen
die Karlsbader Beſchlüſſe ausſprach, ertheilte Witzingerode dem Cenſor,
welcher dies gefährliche Aktenſtück durchgelaſſen hatte, einen ſcharfen Ver-
weis. Derſelbe Miniſter bereitete gleichzeitig einen diplomatiſchen Feldzug
für die Wiener Conferenzen vor und ließ, um ſeinem Hofe einen Anhang
unter den Kleinen zu werben, zunächſt die Karlsbader Conferenzprotokolle,
[584]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
deren Geheimhaltung angelobt war, für mehrere der ausgeſchloſſenen kleinen
Höfe abſchreiben.


Mittlerweile ſuchte König Wilhelm auch noch das Einzige zu zerſtören
was in dieſer düſtern Epoche unſerer Geſchichte erfreulich war, den Ein-
muth der deutſchen Kronen gegenüber dem Auslande. Im Oktober ging
er nach Warſchau, um ſeinen kaiſerlichen Schwager gegen die beiden deut-
ſchen Großmächte aufzuwiegeln; Metternich aber befahl ſofort dem Ge-
ſandten Lebzeltern, ſich ebenfalls in der polniſchen Hauptſtadt einzufinden.*)
Die Vorſicht war kaum nöthig. Czar Alexander empfing ſeinen Schwager
ſehr kühl; dies Uebermaß der Falſchheit ekelte ihn doch an, obwohl er
ſelber die krummen Wege nicht immer verſchmähte. Er ſcheute ſich nicht
vor den fremden Diplomaten offen auszuſprechen: erſt zweimal die Karls-
bader Beſchlüſſe förmlich annehmen, dann ihnen zuwiderhandeln und ſchließ-
lich noch meine Hilfe anrufen, das nenne ich ein ſchlechtes Handwerk (de
la mauvaise besogne);
den Feinen zu ſpielen iſt immer die übelſte Politik.**)
Der Württemberger mußte unverrichteter Dinge abziehen und verſuchte dann
noch einmal bei einem Beſuch in Karlsruhe, den badiſchen Hof zu einem
liberalen Sonderbunde zu verleiten; aber weder der Großherzog, noch der
hochconſervative Berkheim, der ihm jetzt zur Seite ſtand, wollte ſich auf
dieſe Zettelungen einlaſſen. Zur ſelben Zeit ließ König Wilhelm die bai-
riſche Regierung dringend bitten, daß ſie doch ja bei der Ausführung der
Karlsbader Beſchlüſſe keine unnützen Bedenklichkeiten zeigen möge; denn
nachdem er ſelber jene Beſchlüſſe ohne Vorbehalt bekannt gemacht, durfte
kein anderer deutſcher Fürſt liberaler ſcheinen als er.***)


Und dieſen König, der ſo würdelos zwiſchen despotiſchen Neigungen
und liberaliſirendem Ehrgeiz ſchwankte, pries ſein treues Völkchen, in harm-
loſer Unkenntniß, als den Hort und Halt germaniſcher Freiheit. „Nie
hat Württemberg eine ruhmwürdigere Stellung gehabt“, ſchrieb Wangen-
heim glückſelig, „und wird ſie ganz begriffen und einſichtsvoll behauptet,
ſo gewinnt es eine innere Stärke, die jeder äußeren gewachſen bleibt.“†)
Als König Wilhelm aus Warſchau heimkehrte, erwarteten ihn die Bürger
Stuttgarts in hellen Haufen draußen am Thor, ſpannten ihm die Pferde
aus, zogen den Wagen ſelber vor das Schloß. Dort ſtanden die Schul-
kinder und ſangen „Nun danket Alle Gott!“ Alles Volk ſtimmte mit ein,
ernſte Männer vergoſſen Thränen der Rührung. Am Abend flammten
die Freudenfeuer auf den Bergen, und im Theater ward Uhlands Ernſt
von Schwaben aufgeführt. Das Haus erdröhnte von Beifall, als ein
[585]Württembergiſche Ränke.
ſchwunghafter Prolog den Fürſten feierte, der in wildverworrener Zeit hoch-
herzig ſeinem Volk die Hand reiche: „Noch ſteigen Götter auf die Erde
nieder.“ Um dem Glanze ſchwäbiſcher Freiheit einen wirkſamen Hintergrund
zu geben, ſchilderte der Dichter auch die tiefe Finſterniß der preußiſchen
Zuſtände und ſagte, mit Anſpielung auf Görres:


Das iſt der Fluch des unglückſel’gen Lands,

Wo Freiheit und Geſetz darniederliegt,

Und die noch jüngſt des Landes Retter hießen

Sich flüchten müſſen an des Fremden Heerd.

So feierte ein deutſcher Stamm einen Fürſten, der ſoeben die Ruſſen
auf ſeine deutſchen Bundesgenoſſen zu hetzen verſucht hatte; des gemein-
ſamen Vaterlands gedachte Niemand mehr in dem Rauſche württembergiſcher
Freiheitsbegeiſterung. Seit der Deutſche Bund ſich dem Volke entfremdet
hatte, erhob der Partikularismus wieder frech ſein Haupt. In Ulm trat
eine große Anzahl württembergiſcher Offiziere unter der Führung des
Generals Hügel zuſammen und ſendete dem Könige eine von rheinbünd-
leriſchem Größenwahnſinn überſtrömende Adreſſe.*) Die Bittſteller verherr-
lichten zunächſt ihre „von dem Geiſte der Wahrheit gezeugte, von der Liebe
des Rechts empfangene“ Verfaſſung und ergingen ſich ſodann in wüthenden
Schimpfreden gegen jene „fremden Regierungen, welche das Glück des würt-
tembergiſchen Volkes mit Schmähſucht betrachten und ſich in thörichtem
Wahne vermeſſen, den Württemberger vor eine fremde Inquiſition in das
Ausland zu ſchleppen, um ihn dort nach unwürttembergiſchen Geſetzen zu
richten.“ Sie forderten ſchließlich — noch deutlicher als einige Monate zuvor
die Liberalen der bairiſchen Kammer — gradezu den Krieg gegen die beiden
Großmächte, „den rühmlichſten Kampf für die heiligſten Güter eines mün-
digen Volkes: das ganze Volk wird begeiſterungsvoll unſere Reihen ver-
ſtärken!“ Wie kindiſch auch dieſe Prahlereien klangen, in Wien und Berlin
ward der Vorfall doch ſehr ernſt genommen; denn was ſollte aus dem
deutſchen Bundesheere werden, wenn jener zuchtloſe politiſche Parteigeiſt,
der ſich bereits im bairiſchen Heer mehrmals geäußert hatte, nun auch in
andere der kleinen napoleoniſchen Contingente hinüberdrang? Beide Groß-
mächte verlangten in Stuttgart ſtrenges Einſchreiten gegen die Unterzeichner
der Adreſſe. König Wilhelm gehorchte, aber die Strafen fielen ſo mild
aus, daß man ſeine wahre Meinung leicht errathen konnte. Eine ſolche
Politik, unwahr und widerſpruchsvoll in jedem Worte, konnte den Triumph-
zug Oeſterreichs wahrlich nicht aufhalten. —


Die Warſchauer Reiſe König Wilhelms erſchien um ſo thörichter, da
die ruſſiſche Politik jenen Zuſtand rathloſer Unſicherheit, dem ſie ſeit dem
Frühjahr 1818 verfallen war, noch immer nicht überwunden hatte. Neſſel-
rode zeigte ſich nach wie vor als ergebener Schüler Metternichs, billigte
[586]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
unbedingt Alles was in Karlsbad vorging;*) Kapodiſtrias ſprach ebenſo
lebhaft dawider; der Czar ſelbſt war im Grunde mit Neſſelrode einver-
ſtanden, aber nicht feſt genug um die liberalen Anſichten ſeines griechiſchen
Freundes kurzweg zurückzuweiſen. Sofort nach den Karlsbader Conferenzen
hatte Kaiſer Franz dem Czaren in einem Handſchreiben dargelegt, wie
ſchwer die Ruhe Europas gefährdet ſei durch die ſträfliche Nachſicht der
kleinen deutſchen Kronen „gegen die Narren und Schreier“. Beide deutſche
Großmächte legten ſodann nach vollbrachter Arbeit die neuen Bundesbe-
ſchlüſſe dem Czaren vor und fanden warmen Dank. Alle auswärtigen
Diplomaten meldeten übereinſtimmend, wie tief Alexander von der Gefahr
einer allgemeinen revolutionären Schilderhebung überzeugt ſei; nur deshalb,
äußerte er wiederholt, bleibe das ruſſiſche Heer auf Kriegsfuß.**)


Unterdeſſen trieb Kapodiſtrias liberale Politik auf eigne Hand. Er
ſtellte die Vertreter Baierns und Badens ernſtlich zur Rede, warum ihre
Höfe die Souveränität ſo leichtſinnig preisgegeben hätten? Wie nun, fragte
er den Badener Blittersdorff, wenn der Bundestag einmal der Krone
Baiern die Execution gegen Baden übertrüge! „Die Furcht iſt immer ein
ſchlechter Rathgeber, und ſie ſcheint die Karlsbader Beſchlüſſe diktirt zu
haben. Sind die deutſchen Fürſten darum Souveräne um ſich irgend
einer Autorität zu unterwerfen, nun wohl, ſo ſollen ſie ſich ein Oberhaupt
wählen, aber eines, nicht achtunddreißig.“ Möge der Karlsruher Hof, ſo
ſchloß er, ſich’s zweimal überlegen bevor er auf den Wiener Conferenzen
neuen Beſchlüſſen zuſtimmt, welche den Deutſchen Bund in einen Bundes-
ſtaat verwandeln werden!***) Die ruſſiſchen Geſandten an den kleinen
Höfen, Anſtett in Frankfurt, Pahlen in München, Koſelowsky in Stuttgart
vermochten ſich in dieſen ſeltſamen Widerſprüchen nicht zurechtzufinden: ſie
hielten ſich alſo an den altmoskowitiſchen Grundſatz, daß der Unfriede in
Deutſchland für Rußland heilſam ſei, und verſäumten nichts, was den
Widerſtand gegen die deutſchen Großmächte ermuthigen konnte.


Am 30. November trat Kapodiſtrias endlich etwas kühner auf und
verſendete gleichzeitig vier umfangreiche Denkſchriften: eine Antwort an den
öſterreichiſchen Geſandten Lebzeltern, eine Verbalnote an die beiden deutſchen
Großmächte, eine Circulardepeſche an die ruſſiſchen Geſandten in Deutſch-
land und endlich noch ein Memoire über die Folgen der letzten Bundes-
beſchlüſſe.†) Der gewaltige Wortprunk dieſer Aktenſtücke bewies nur zu
klar, daß der Grieche ſeine ganze Meinung nicht ſagen durfte. Kaiſer
Alexander — das war der langen Rede kurzer Sinn — begrüße in den
[587]Rathloſigkeit des ruſſiſchen Hofes.
Karlsbader Beſchlüſſen einen neuen Beweis der hochherzigen Abſichten
ſeiner Alliirten. Aber er vermöge dem Geſchehenen nicht ſo unbedingt
ſeinen Beifall zu geben, wie der preußiſche Hof erwarte; denn er be-
merke mit tiefem Schmerz, daß unter den deutſchen Regierungen ſelber
kein Einmuth beſtehe; manche von ihnen „mißbilligen heute durch die That
was ſie geſtern im Grundſatz angenommen haben“. Angeſichts dieſer Zwie-
tracht und der ſchweren Krankheit Deutſchlands, die ſich auch in der be-
ginnenden Auswanderung bekunde, könne der Kaiſer keine beſtimmte Mei-
nung ausſprechen bevor er den Hof von St. James um Rath gefragt
habe.


Alſo Rußland ſuchte Rath bei ſeinen geſchworenen Feinden, den engli-
ſchen Torys, und dies England ſtand unerſchütterlich auf Oeſterreichs
Seite! Graf Münſter, noch immer der einzige Rathgeber Lord Caſtlereaghs
in allen deutſchen Fragen, betrieb die Karlsbader Politik faſt noch freudiger
als Metternich ſelber, er hatte noch von Böhmen aus den Geheimen Räthen
des Herzogthums Braunſchweig, das unter der vormundſchaftlichen Regie-
rung des Prinzregenten ſtand, die neue correcte Doctrin von den deutſch-
rechtlichen Landſtänden nachdrücklich eingeſchärft. Einen ſo namenlos un-
geſchickten Fechterſtreich abzuſchlagen konnte den deutſchen Großmächten
nicht ſchwer fallen. Hardenberg ſchrieb ſogleich an Caſtlereagh (30. Dec.),
forderte ihn freundſchaftlich auf, dieſem Sophiſten Kapodiſtrias, „der uns
ſchon in Aachen ſoviel Noth gemacht“, ernſtlich heimzuleuchten; der Czar
ſelber ſei durchaus gutgeſinnt. Aehnlich ſchrieb Metternich.*) Der Lord beeilte
ſich natürlich ſeinen alten Freunden zu erwidern, daß er alle ihre Unterneh-
mungen mit ſeinen glühenden Wünſchen begleite, und ſendete dem ruſſiſchen
Hofe eine Antwort (14. Januar), welche „die Viſionen des Grafen Kapo-
diſtrias“ gründlich zerſtörte. In der Form war ſeine Erwiderung freilich
ſehr vorſichtig gehalten. Er durfte die Whigs im Parlamente nicht reizen,
die ihm ſoeben wieder, in einer donnernden Rede Lord Minto’s „den
Bund der Höfe gegen die Völker“ vorgeworfen hatten; daher weigerte er
ſich auch mit den anderen Höfen des Vierbundes gemeinſame Maßregeln
für den Fall von Ludwigs XVIII. Tode zu verabreden, wie Metternich ihm
vorgeſchlagen, und gab ſeinem Schreiben an den ruſſiſchen Geſandten die
Wendung, daß England den Grundſatz der Nichteinmiſchung feſthalten
müſſe.**) Doch in der Sache ſprach er ſich entſchieden für Oeſterreich aus,
er billigte den Kampf gegen die Revolution und fand keinen Anlaß zu irgend
welchen Beſchwerden. Auch die badiſche Regierung hielt ſich verpflichtet
die Warnungen des Griechen ſcharf zurückzuweiſen: „die Bundesakte, ſchrieb
ihm Berſtett, iſt heute für Deutſchland das Geſetz und die Propheten.“***)
[588]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
Seitdem ward Kapodiſtrias ganz ſtill, Neſſelrode gewann wieder für einige
Zeit die Oberhand.*) Aus den Tuilerien verlautete auch kein Wort des
Widerſpruchs.


Ungeſtört, in ſtolzer Sicherheit durfte Metternich ſeines Weges ziehen.
Ueberall in Europa meinte er bereits die ſegensreichen Folgen ſeiner
„diplomatiſchen Contrerevolution“ zu bemerken: ſcharf wie ſeit Langem
nicht mehr traten die franzöſiſchen Miniſter den Independenten entgegen,
und im engliſchen Parlament erfocht das Tory-Cabinet einen Sieg nach
dem andern.**) Gentz hatte niemals ſtolzer, zuverſichtlicher geſchrieben als
in dieſem geſegneten Winter. Auf die Angriffe der franzöſiſchen Preſſe
erwiderte er höhniſch: „der Augenblick iſt vielleicht nicht ferne, wo alle
guten Väter in Deutſchland erkennen werden, daß das, was Verblendung
oder Erbitterung den Todesſtreich der deutſchen Univerſitäten nannte, der An-
fang ihrer Wiedergeburt war.“ Als die franzöſiſchen Abgeordneten in einem
Anfall zügelloſer Parteiwuth den Königsmörder Gregoire darauf aus der
Kammer verſtießen, da feierte der Oeſterreichiſche Beobachter die preis-
würdige That mit dem ſtaatsmänniſchen Ausſpruch: „das Reſultat muß
für die Wünſche der Gutgeſinnten heilbringend ſein, weil es die Gegner
in Troſtloſigkeit verſenkt hat.“ Adam Müller aber rief dem Freunde zu:
„Nunmehr beſteht diesſeits und jenſeits des Rheines eine ſolidariſch ver-
bundene Gemeinde für die Sache Gottes und der Wahrheit, und ſie iſt
Ihr Werk.“ Was man in Wien unter der Sache Gottes und der Wahr-
heit verſtand, darüber wurden die Deutſchen in der Weihnachtszeit noch
einmal gründlich belehrt. Eben in dieſen Tagen, da die deutſchen Dema-
gogen in den Kerker wanderten, ſetzte Kaiſer Franz den General Mack,
der einſt bei Ulm capitulirt hatte, in alle ſeine Ehren und Würden wieder
ein. Durch „ein Uebermaß kaiſerlicher Gnade“ — wie General Kruſemark
nicht umhin konnte zu bemerken — wurde dem Helden auch noch der
geſammte Gehalt, den man ihm ſeit dem Ulmer Ruhmestage vorenthalten,
nachträglich ausbezahlt.***)


Ungleich werthvoller als die freundliche Haltung der fremden Mächte
wurde für die Hofburg ein Kampf im preußiſchen Miniſterium, der zwar
nur mittelbar mit den Karlsbader Beſchlüſſen zuſammenhing, aber mit
einem Siege der öſterreichiſchen Partei endigte. Frohen Muthes war der
Staatskanzler am 5. Auguſt nach Glienicke zurückgekehrt; er meinte ſich
durch den Teplitzer Vertrag das Vertrauen des Königs von Neuem ge-
ſichert zu haben und ſchritt jetzt hoffnungsvoll an die Vollendung ſeiner
[589]Der neue preußiſche Verfaſſungsausſchuß.
Reformpläne. Die neuen Steuer- und Staatsſchuldengeſetze waren dem
Abſchluß nahe; Hardenberg wünſchte auch Steins Urtheil darüber zu ver-
nehmen, erkannte ihn in einem gewinnenden Briefe willig als ſeinen Meiſter
im Finanzfache an und bat ihn freundlich: „Warum können wir nicht
zuſammen arbeiten?“ Der ſtolze Reichsfreiherr aber blieb unwandelbar
in ſeinem Haſſe, überſchüttete die Hardenbergiſchen Entwürfe, die er gar
nicht kannte, mit leidenſchaftlichem Tadel. Mittlerweile erhielt auch der
Verfaſſungsplan ſeine endgiltige Geſtalt. Die böſen Zungen der Haupt-
ſtadt erzählten freilich mit großer Zuverſicht, der Staatskanzler denke
längſt nicht mehr an ſeine conſtitutionellen Pläne; man verſicherte allgemein,
auf die erſte Nachricht von Kotzebues Ermordung hätte er ausgerufen:
„nun iſt eine Verfaſſung für Preußen unmöglich!“ Einen Ohrenzeugen
wußte jedoch Niemand zu nennen; das geflügelte Wort war entweder er-
funden oder nur ein unwillkürlicher Ausruf des erſten jähen Schreckens.
Sicher bleibt, daß Hardenberg grade jetzt, unter den ungünſtigſten Ver-
hältniſſen, die Verfaſſungsarbeit wieder aufnahm. Am 11. Auguſt legte
er dem Könige ſeinen letzten Entwurf vor, und nach neuen vertraulichen
Berathungen in Charlottenburg, zu denen auch Witzleben zugezogen wurde,
befahl Friedrich Wilhelm, daß aus der Verfaſſungscommiſſion des Staats-
raths ein Ausſchuß gebildet werden ſollte um die Verfaſſung nach Harden-
bergs Vorſchlägen auszuarbeiten. Mitglieder waren außer dem Staats-
kanzler ſelbſt: Humboldt, Schuckmann, Ancillon, Daniels, Eichhorn.*)
Wieder vergingen ſechs Wochen, da Daniels durch die Geſchäfte der rhei-
niſchen Juſtiz-Organiſation daheim zurückgehalten wurde. Endlich am
12. Oktober hielt der Ausſchuß ſeine erſte Sitzung, und Hardenbergs Ent-
wurf — „Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen“ — trat
aus dem Dunkel hervor.


Die Arbeit bewies, daß die Jahre dem greiſen Staatsmanne wohl
die Kraft des Willens, doch nicht die Kühnheit und Schärfe der Gedanken
hatte ſchmälern können.**) Ganz nach der gründlichen alten preußiſchen
Weiſe, in ſcharfem Gegenſatze zu den improviſirten Verfaſſungen des Sü-
dens, wollte er die parlamentariſchen Rechte aufrichten auf der breiten
Unterlage der Selbſtverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz. Der
Siebzigjährige traute ſich noch die Kraft zu, für einen Umbau der ge-
ſammten Staatsverwaltung von unten nach oben. Von jenen bureau-
kratiſch-liberalen Anſichten, die er einſt beim Erlaß des Gensdarmerie-
Edikts bekundet, zeigte ſich jetzt keine Spur mehr, und nichts konnte unge-
rechter ſein als der Vorwurf Steins: dieſer Mann biete nur „liberale
Phraſen und despotiſche Realitäten, ohne Rückſicht auf das Beſtandene“.
Vielmehr ging Hardenberg, ganz wie Stein ſelber, von dem Grundſatze
[590]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
aus: „Wir haben lauter freie Eigenthümer;“ an den freien Grundbeſitz
ſollten ſich alle ſtändiſchen Rechte anſchließen. Daher ward eine Communal-
Ordnung, welche den Gemeinden die Verwaltung ihrer eigenen Angelegen-
heiten übertragen ſollte, als das nächſte dringende Bedürfniß bezeichnet.
Aus indirekten Wahlen der ländlichen ſowie der ſtädtiſchen Gemeinden und
aus direkten Wahlen der Rittergutsbeſitzer geht ſodann der Kreistag her-
vor, eine Vertretung von drei (oder wo ſich Standesherren vorfinden, von
vier) Ständen, die aber eine ungetheilte, nicht an Mandate gebundene Ver-
ſammlung bilden. Alſo nicht der Landadel, ſondern der geſammte Großgrund-
beſitz ſoll eine beſondere Vertretung erhalten; die Rittergutsbeſitzer heißen
zwar Kreisſtände, doch ſie erhalten nicht Virilſtimmen, ſondern blos das
Wahlrecht für die Kreistage. Wählbar iſt jeder mündige, unbeſcholtene
chriſtliche Grundbefitzer. Auf den Kreistagen werden dann die Vertreter
der drei Stände für den Provinziallandtag gewählt, zu denen die Standes-
herren und die Biſchöfe hinzutreten; eine Vertretung der Univerſitäten hatte
der König ſelbſt, ſofern ſie nicht Grundbeſitzer ſeien, für bedenklich erklärt.
Alle dieſe ſtändiſchen Körperſchaften befaſſen ſich weſentlich mit der Ver-
waltung ihrer Communalanſtalten, dem Schuldenweſen, der Steuerver-
theilung. Dagegen ſoll der aus Provinziallandtagen gewählte Allgemeine
Landtag gar keine eigene Verwaltung haben, ſondern lediglich jährliche
Ueberſichten über den Gang der Verwaltung, vornehmlich über den Stand
der Finanzen, von den Miniſtern erhalten und die neuen Geſetze für die
geſammte Monarchie berathen.


Hier zeigte ſich’s nun, wie anders als Metternich der preußiſche Staats-
kanzler die Zuſagen des Teplitzer Vertrages verſtand: er wollte im Ernſt
einen angeſehenen, wenn auch nicht allzu zahlreichen preußiſchen Landtag,
nicht einen kümmerlichen Centralausſchuß, und gab der Verfaſſungscom-
miſſion zu erwägen, ob das Ein- oder das Zweikammerſyſtem für dieſe
Geſammtvertretung der drei Stände vorzuziehen ſei. Auch die ſchwierigen
Fragen der Initiative, der Oeffentlichkeit, der Verantwortlichkeit der Mi-
niſter hielt er noch vorſichtig offen. Desgleichen die Frage, ob die Pro-
vinziallandtage ſich an die neugebildeten Provinzen oder an die altſtändi-
ſchen Territorien anſchließen ſollten. Die auswärtigen Angelegenheiten und
die militäriſchen Verhältniſſe, ſoweit ſie nicht perſönliche Verpflichtungen
beträfen, ſollten den Berathungen der Stände entzogen bleiben. Dann
folgte noch die Aufzählung einiger Grundrechte: Gleichheit vor dem Geſetz,
Gewiſſensfreiheit u. ſ. w. Auch Vorſchriften über die Preßfreiheit und die
öffentliche Rechtspflege waren in Ausſicht genommen. Und Alles dies in
dem nämlichen Augenblick, da Hardenberg die Karlsbader Politik förderte;
in ſeinen Augen waren die neuen Bundesgeſetze nur Ausnahmegeſetze für
wenige Jahre der Noth. Zum Schluß betonte der Staatskanzler nach-
drücklich die Befeſtigung des monarchiſchen Princips und erinnerte an den
Grundſatz: salus publica suprema lex esto.


[591]Hardenbergs Verfaſſungsplan.

Der Entwurf bot der anfechtbaren Stellen genug. Eine einzige Com-
munalordnung für die geſammte Monarchie war bei der unendlichen Mannich-
faltigkeit der ſocialen Zuſtände des flachen Landes offenbar unmöglich. Noch
bedenklicher erſchien die ausſchließliche Wahlberechtigung des Grundbeſitzes,
die in den Städten zu widerſinnigen Verhältniſſen führen mußte; ſodann
die als möglich angenommene Wiederherſtellung der alten Territorien, deren
verwickeltes Schuldenweſen allerdings nicht ohne Mühe in eine neue Pro-
vinzialverfaſſung eingefügt werden konnte; endlich und zu allermeiſt das
unglückliche Syſtem der vierfach indirekten Wahlen. Die Gefahr lag nahe,
daß ein alſo — nicht gewählter, ſondern delegirter Allgemeiner Landtag
ſich der Nation entfremdete, die Monarchie den Charakter eines Föderativ-
ſtaats annähme. Und dennoch, wie die Dinge lagen, kam Alles darauf
an, daß ein Parlament für die geſammte Monarchie berufen wurde; an
den Formen lag wenig. Hardenbergs Vorſchläge liefen im Weſentlichen
hinaus auf einen Vereinigten Landtag, wie er im Jahre 1847 zuſammen-
trat; unmöglich war es nicht, daß eine ähnliche Verſammlung, um das
Jahr 1820 berufen, den Staat binnen eines Menſchenalters allmählich
und friedlich in die Bahnen des reinen Repräſentativſyſtems hätte hinüber-
führen können.


Jeder Satz der Denkſchrift verrieth den ernſten und ehrlichen Entſchluß
des Staatskanzlers. Umſichtig hatte er Alles entfernt was den König be-
denklich ſtimmen konnte und darum namentlich das Heerweſen ſowie die
auswärtige Politik der Einwirkung der Stände entzogen. Auch den Be-
gehren der altſtändiſchen Partei war er ſo weit als möglich entgegenge-
kommen, und doch enthielt der Entwurf, in dem unſcheinbaren Abſchnitt
über die Kreistage, eine tief einſchneidende, kühne Reform: wurde die Ritter-
ſchaft ihrer Virilſtimmen auf den Kreisverſammlungen beraubt und auf
eine mäßige, den wirthſchaftlichen Machtverhältniſſen der Gegenwart ent-
ſprechende Stimmenzahl beſchränkt, ſo war eine der ſchwerſten und beſtbe-
rechtigten Klagen der Bauern im Oſten beſeitigt, die ſtändiſche Herrſchaft
des Adels auf dem flachen Lande brach zuſammen, und an ihre Stelle
trat eine Intereſſenvertretung von drei ſocialen Gruppen, welche der Ritter-
ſchaft zwar noch ein ſtarkes Uebergewicht, doch nicht mehr die alleinige
Entſcheidung gewährte. Was Hardenberg plante war in der That der
Abſchluß der Reformen von 1807—12, die Zerſtörung der letzten Trümmer
des feudalen Gemeinweſens; und mit begreiflichem Zorne ſchalt die altſtän-
diſche Partei am Hofe auf den alten Jakobiner: hatte er denn nicht ſelber
in dem ungeſchickten Schlußwort ſeiner „Ideen“ verrathen, daß er das
salut public als das höchſte der Geſetze verehre?


Freilich, der Staatskanzler bot dem Ausſchuſſe nur den Entwurf eines
Entwurfs, nur eine leichte Skizze, die ſich zu Humboldts Verfaſſungsdenk-
ſchrift verhielt wie ein Skelett zu einem lebendigen Körper. Alles kam
darauf an, wie der Ausſchuß dieſe Umriſſe ausfüllen würde. Ein grund-
[592]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
ſätzlicher Widerſpruch ſchien von keinem ſeiner Mitglieder zu erwarten.
Eichhorn und Daniels ſtimmten den Hauptſätzen des Entwurfs willig zu.
Humboldt fand in den kurzen Monaten ſeiner Miniſterlaufbahn nur
zweimal die Gelegenheit, ſich über die Prinzipienfragen des Verfaſſungs-
ſtreites auszuſprechen und bewies in beiden Fällen, daß Hardenbergs ver-
mittelnde Richtung auch die ſeine war. Als zwei verfallene Landarmen-
häuſer, welche der Staat vor Zeiten den kurmärkiſchen Ständen zur Benutzung
überlaſſen, wieder eingezogen werden ſollten und die Stände, nach ihrer Ge-
wohnheit, ſich wider die angebliche Rechtsverletzung verwahrten, da ant-
wortete Humboldt: er leugne nicht, „daß meinem Gefühle nach Alles, was
nur entfernt mit ſtändiſcher Verfaſſung zuſammenhängt, jetzt einer ſehr
großen Schwierigkeit unterliegt“, und rieth dem Monarchen einen Mittel-
weg einzuſchlagen: die Regierung möge die unaufſchiebliche Reform des kur-
märkiſchen Landarmenweſens ſogleich ſelber vornehmen, aber den Ständen
verſprechen, daß ſie nachträglich gehört werden ſollten, ſobald die neue
Provinzialvertretung beſtehe. Den Ständen der Grafſchaft Mark, die noch-
mals um die Herſtellung der markaniſchen Verfaſſung baten, erwiderte er
feſt und freundlich: die Provinzen würden nicht ohne ſtändiſche Vertretung
bleiben; aber das Bedürfniß der Staatseinheit mache es unmöglich „das-
jenige, was bisher unter ganz verſchiedenen Umſtänden obwaltete, auch jetzt
noch einzeln und unverändert ſtehen zu laſſen.“*) Es war als ob Harden-
berg ſelbſt die Antwort diktirt hätte. Auch Ancillon zeigte ſich dem Plane
des Staatskanzlers noch günſtig; er hatte ſoeben in ſeinem Buche „über
die Staatswiſſenſchaft“ die Vorzüge des Zweikammerſyſtems lebhaft em-
pfohlen. Selbſt Schuckmann war bisher noch immer für den Verfaſſungs-
plan aufgetreten.


Sobald ſich die Nachricht, daß Humboldt in einem neuen Verfaſſungs-
ausſchuß thätig ſei, im Publikum verbreitete, begannen die halb erloſchenen
Hoffnungen der Liberalen wieder aufzuleben. Regierungsrath Grävell, der alte
unermüdliche publiciſtiſche Vorkämpfer der Verfaſſung, gab im November
jenes berufene Sendſchreiben des jungen Gentz an König Friedrich Wilhelm
wieder heraus und meinte in ſeinem geharniſchten Vorwort: „Zwei große
Tage erſcheinen im Leben der Völker: der Tag der Thronbeſteigung, wo
die Zeit — und der Tag der Verfaſſungsverleihung, wo die Weisheit einen
neuen Bund ſchließt zwiſchen Fürſt und Volk. Friedrich Wilhelms Volk
erlebt jetzt den zweiten großen Tag, das Jahr 1820 bringt ihm das Evan-
gelium der Zukunft, den Tag der Gründung einer ſtändiſchen Verfaſſung.“
Sogar das radikale Weimariſche Oppoſitionsblatt weiſſagte noch im De-
cember, daß im nächſten Jahre eine preußiſche Conſtitution den kühnſten
Wünſchen entſprechend erſcheinen werde.


Die herausfordernde Sprache der alten Stände, die ſeit den Karls-
[593]Hardenberg gegen die alten Stände.
bader Beſchlüſſen immer dreiſter auftraten, beſtärkte den Staatskanzler nur
in ſeinen conſtitutionellen Plänen. „Durch die neueſten Beſchlüſſe der hohen
deutſchen Bundesverſammlung mit Troſt und Hoffnung erfüllt“, wendete
ſich die weſthavelländiſche Ritterſchaft an den König (17. November), um
ihre Entrüſtung über „die unanſtändige Vermeſſenheit der ſogenannten
Volksrepräſentanten anderer deutſchen Länder“ auszuſprechen. „Bekannt
mit der Stimmung des kräftigſten Theiles der Nation, des Landvolks, dürfen
wir behaupten, daß dieſer im Allgemeinen weit davon entfernt ſei, den
überall verbreiteten volksverführenden Umtrieben Gehör zu geben, ſondern
vielmehr das Fortbeſtehen früherer Einrichtungen, aus denen das Günſtige
ſeiner bisherigen Lage erwächſt, eifrig wünſcht. Alle deutſchen Länder ver-
danken ihr Glück ſeit einem halben Jahrtauſend dem Beſtand von land-
ſtändiſchen Verfaſſungen, an denen nur durch Vertrag geändert werden
konnte.“ Darauf die Bitte um Wiederherſtellung des alten Rechts, und
dazu noch ein trotziges Begleitſchreiben an Hardenberg, das die Aufhebung
der ſtändiſchen Vorrechte als einen Eingriff in das Eigenthum verdammte.
Bald nachher verlangten die Stände der Grafſchaft Ruppin, die Krone
möge erwählte Deputirte der alten Stände aus den einzelnen Provinzen
nach einander in den Verfaſſungsausſchuß berufen — eine Bitte, die bald
praktiſche Bedeutung erhalten ſollte. Beide Eingaben wies der Staats-
kanzler ſcharf zurück.*)


Gleichwohl gewann ſeine neue Verfaſſungscommiſſion kein kräftiges
Leben. Sie beſchloß zunächſt einen allgemeinen Plan für das Ganze der
ſtändiſchen Einrichtungen zu entwerfen, alsdann ſchrittweiſe aufſteigend zu
der Communalordnung, dann zu den Kreis-, den Provinzial- und den
Reichsſtänden überzugehen. Aber ſie hielt bis zum Jahresſchluſſe nur zwei
Sitzungen, und nur zwei ihrer Mitglieder, Ancillon und Eichhorn, äußerten
ſich ſchriftlich über den allgemeinen Plan; Beide forderten das Zweikammer-
ſyſtem und für die Reichsſtände „nicht allein eine berathende, ſondern eine
geſetzgebende Stimme“.**) Die Wirkſamkeit des Ausſchuſſes ward von Haus
aus gelähmt durch die Feindſchaft Hardenbergs und Humboldts, die eben
jetzt in einem erbitterten Ringen ſich mit einander maßen. —


Nach Beendigung ſeiner Frankfurter Geſchäfte war Humboldt erſt am
12. Auguſt in das Miniſterium eingetreten und hatte vom erſten Tage
an das beleidigende Mißtrauen Hardenbergs ertragen müſſen. Der Mi-
niſter für die ſtändiſchen Angelegenheiten erfuhr wochenlang kein Wort
von den „Ideen“ des Staatskanzlers und war als der Verfaſſungsplan
endlich zu Tage kam ganz ebenſo überraſcht wie die übrigen Mitglieder
des Ausſchuſſes. Dieſe kränkende Haltung Hardenbergs hatte freilich gute
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 38
[594]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
Gründe; denn ſeit dem Tage der Uebernahme ſeines Amts arbeitete Hum-
boldt unabläſſig darauf hin, ſich und den übrigen Miniſtern die ſelb-
ſtändige, verantwortliche Stellung zu erobern, welche nach ſeiner Ueber-
zeugung nothwendig aber mit den Rechten des Staatskanzlers unvereinbar
war. Sein letztes Ziel blieb der Sturz Hardenbergs; er verbarg es kaum
noch, daß er den Staatskanzler für einen unheilvollen Mann hielt, und
alsbald bot ſich ihm die Gelegenheit den Kampf zu eröffnen. Am 9. Auguſt
hatte der König dem Miniſterium ſein berechtigtes Mißfallen kundgegeben,
weil die Cabinets-Ordre vom 11. Januar noch immer nicht beantwortet
war.*) Der Miniſterrath trat zuſammen um dem königlichen Befehle
endlich zu genügen, und es gelang dem neu eingetretenen Mitgliede, die
weit auseinander gehenden Meinungen ſeiner Amtsgenoſſen auf einen be-
ſtimmten Gedanken zu vereinigen.


Humboldt fand den tiefſten Grund der vorhandenen Mißſtände in
der Machtſtellung des Staatskanzlers und gewann die Mehrheit der Mi-
niſter für ſich, da Bernſtorff und Klewiz abweſend waren, Wittgenſtein
den Sitzungen behutſam fern blieb. Umſonſt verſuchte Hardenberg abzu-
mahnen; kaum acht Tage nach Humboldts Eintritt war die Stimmung
im Miniſterium ſchon ſo ſchwierig, daß der Staatskanzler bereits die
Nothwendigkeit eines Miniſterwechſels vorausſah.**) Am 26. Auguſt unter-
zeichnete das Staatsminiſterium ein von Humboldt verfaßtes Antwort-
ſchreiben an den König, das von den früher abgegebenen Gutachten der
einzelnen Miniſter ſeltſam abſtach. Die Hauptfragen der Cabinetsordre
vom 11. Januar, hinſichtlich des Erziehungsweſens, der Preſſe, der Unbot-
mäßigkeit der Beamten, berührte Humboldts Bericht nur obenhin; der
Kern ſeiner Ausführungen lag in der mehrfach wiederholten Behauptung,
daß in Folge der Stellung des Staatskanzlers „von dem Begriff einer
Centraliſirung der Verwaltung im Staatsminiſterium mit gemeinſamer
Verantwortlichkeit kaum eine Spur zu erkennen ſei“. Er verlangte demnach
völlige Verſchmelzung des Staatskanzleramts mit dem Miniſterium, ſo daß
der Staatskanzler den Vorſitz im Staatsminiſterium führen, über Alles
Auskunft erhalten, in dringenden Fällen auch unmittelbar verfügen ſollte;
die Protokolle des Staatsminiſteriums ſeien fortan dem Könige einzureichen,
und kein Vorſchlag dürfe an den Monarchen gelangen ohne Vorwiſſen des
betheiligten Miniſters.


Im Uebrigen wußten die Miniſter nur wenig poſitive Vorſchläge auf-
zuſtellen. Sie deuteten leiſe an, daß „Einige von uns“ mit noch ſtärkerer
Zuverſicht als Se. Majeſtät auf den geſunden Sinn der Mehrheit der
Nation vertrauen; ſie ſprachen die Hoffnung aus, über die letzten polizei-
lichen Unterſuchungen noch näher unterrichtet zu werden, und wünſchten,
[595]Humboldts Kampf gegen das Staatskanzleramt.
daß die geheime Polizei „in dem was ſie gethan hat das Licht nicht ſcheuen
müſſe“. Dazwiſchen hinein dann einige ganz unbeſtimmte Klagen über
„das Schwankende der Haupt-Verwaltungsgrundſätze“ und manche völlig
ungerechte oder gradezu frivole Beſchwerden. So ward im Voraus der
Stab gebrochen über die unumgängliche Steuerreform: „neue Auflagen,
die ſehr bedenklich ſind, ſollten vermieden werden.“ So ward der König
gebeten die Verfaſſung nicht ohne den Rath des Staatsminiſteriums dem
Lande zu verleihen; und doch gehörten ſämmtliche Miniſter zu der großen
Verfaſſungscommiſſion vom Jahre 1817, welcher die Entwürfe des neuen
kleinen Ausſchuſſes ſelbſtverſtändlich noch vorgelegt werden ſollten.*)


Der Bericht mußte, falls er die Genehmigung des Monarchen fand,
unvermeidlich den Rücktritt des Staatskanzlers herbeiführen, obgleich von
allen Miniſtern wohl nur Humboldt ſelbſt dieſe Wirkung beabſichtigte.
Da Hardenberg kein Fachminiſterium mehr bekleidete und wegen ſeiner
Taubheit den Vorſitz im Staatsminiſterium ſchlechterdings nicht führen
konnte, ſo wurde er durch Humboldts Vorſchläge jeder Macht beraubt,
und an die Stelle der beſtehenden Einheit, deren ſchwere Gebrechen ſich
allerdings nicht verkennen ließen, trat ein vielköpfiges collegialiſches Re-
giment ohne Willen, ohne Leitung. Wer konnte einen ſolchen Wechſel
wünſchen nach allen den kläglichen Beweiſen von Zwietracht und Rath-
loſigkeit, welche dies Miniſterium in den letzten Monaten gegeben? Auch
dieſer neueſte Bericht war, obgleich er ſelbſt das Gegentheil behauptete,
erſt nach lebhaftem Streite zu Stande gekommen.


Hardenberg ſetzte ſich ſofort zur Wehr. Er verſicherte nochmals, daß
er gern bereit ſei, auf den Befehl des Königs ſich „mit dem dankbarſten
Herzen in die Einſamkeit zurückzuziehen“, und bat den Monarchen, „dem
Miniſterium alle von ihm gewünſchte Selbſtändigkeit zu geben“, auch die
Einſendung der Miniſterial-Protokolle zu genehmigen; aber dem Staats-
kanzler müſſe der regelmäßige Vortrag bei dem Monarchen verbleiben,
„nach den mir zuzuſendenden Berichten der Miniſter.“ Sichtlich gereizt
wies er ſodann darauf hin, wie der Bericht alles Uebrige leicht abfertige
und die Beſchränkung der Macht des Staatskanzlers als „die einzige
Panacee“ betrachte. Die Auflegung neuer Steuern erklärte er für „unver-
meidlich und nothwendig zum Beſten des Staates“. Mehrmals warf er
den Miniſtern vor, daß ſie „die Verirrungen des Zeitgeiſtes, die Gefahr
einer künftigen Generation von Revolutionsmännern“ viel zu leicht nähmen;
und mit Entrüſtung nahm er ſich ſchließlich ſeines Freundes Wittgenſtein
an, „welcher in den ſieben Jahren wo er die geheime Polizei leitete keinen
Schritt gethan, den ich nicht genau weiß.“


Das Zerwürfniß zwiſchen den beiden Nebenbuhlern war jetzt offen-
38*
[596]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
kundig und verſchärfte ſich dermaßen, daß Bernſtorff und Wittgenſtein
für nöthig hielten ſich von dem regelmäßigen Beſuche der Sitzungen des
Staatsminiſteriums entbinden zu laſſen. General Witzleben, der den beiden
Streitenden perſönlich nahe ſtand und beide für unentbehrlich hielt, be-
mühte ſich umſonſt für einen Ausgleich.*) Hardenberg drohte mit ſeinem
Rücktritt und erreichte, nachdem der König einen allzuſcharfen Entwurf
zurückgewieſen hatte, am 21. Oktober den Erlaß einer immerhin noch ſehr
ungnädigen Cabinetsordre, welche dem Miniſterium das Befremden des
Monarchen über die Oberflächlichkeit des letzten Berichts ausſprach und
den Staatskanzler in allen ſeinen Befugniſſen beſtätigte: in Zukunft ſollten
die Berichte der Miniſter zwar unmittelbar an die Krone geſendet werden,
aber dem Kanzler gebühre das Recht zu beſtimmen, über welche dieſer Be-
richte er ſelber Vortrag halten wolle.**) Die Miniſter verblieben mithin
in einer abhängigen Stellung, welche ihnen ſelber läſtig und der raſchen Er-
ledigung der Geſchäfte vielfach nachtheilig, aber ſo lange das Staatskanzleramt
beſtand ſchlechthin unvermeidlich war. Zum Schluß rügte der König noch,
daß ihm die Abſtimmungen der einzelnen Miniſter, ſeinem Befehle vom
11. Januar zuwider, nicht eingereicht worden ſeien. Die Ueberſendung
dieſer Gutachten hatten die Miniſter bisher wohlweislich unterlaſſen; auf
den wiederholten Befehl des Monarchen mußten ſie jetzt das Verſäumte
nachholen,***) und nunmehr ergab ſich unwiderſprechlich, daß der Kampf
gegen den Staatskanzler allein durch Humboldt veranlaßt war. In ihren
früheren Gutachten hatten nur drei der Miniſter über Hardenbergs Vor-
mundſchaft geklagt,†) erſt ſeit Humboldts Eintritt war ihnen allen plötz-
lich die Erkenntniß gekommen, daß der Urgrund des Uebels in der Macht-
ſtellung des Staatskanzlers zu ſuchen ſei. In ſolcher Lage konnte ein
neuer Vermittlungsverſuch des wackeren Witzleben zu keinem Ergebniß
führen.††) Humboldt mußte zurücktreten, nachdem Hardenberg zum zweiten
male ſeine Angriffe abgeſchlagen hatte. —


Mit dieſem Machtkampf verkettete ſich nunmehr der ungleich wichtigere
Streit über die jüngſte Wendung der Bundespolitik. Am 8. September brachte
Humboldt die Demagogenverfolgung zur Sprache und bewog die Miniſter,
gegen den Widerſpruch Bernſtorffs und Schuckmanns, bei dem Monarchen
anzufragen, ob die ergriffenen Sicherheitsmaßregeln als geſetzliche oder als
außerordentliche Maßregeln zu behandeln ſeien. Eine ſtrenge Mahnung zum
[597]Die Karlsbader Beſchlüſſe vor dem Staatsminiſterium.
Gehorſam war die Antwort (16. September). Darauf wurden die neuen
Bundesbeſchlüſſe dem Staatsminiſterium vorgelegt und in drei Sitzungen
erwogen (5. 27. Okt., 3. Nov.).*) Es kam zu ſtürmiſchen Auftritten; die
Berliner wollten wiſſen, daß Humboldt die Karlsbader Beſchlüſſe „ſchändlich,
antinational, ein denkendes Volk beleidigend“ genannt habe. Von ſolcher
Kühnheit war in dem langen Berichts-Entwurfe, welchen er am 5. Oktober
dem Miniſterium vorlegte, keine Spur zu finden. Seine Bedenken
ſtützten ſich ausſchließlich auf die gefährdete Souveränität Preußens. „Wir
verkennen gewiß, ſo führte er aus, das wohlthätige Band nicht, welches
Preußen an Deutſchland knüpft; aber das Gefühl, einer ſelbſtändigen und
Deutſchland nicht einverleibten Monarchie anzugehören, iſt immer vorherr-
ſchend in uns geweſen.“ Durch die Karlsbader Beſchlüſſe erlange der Bundes-
tag das gefährliche Recht ſich in die inneren Angelegenheiten der Monarchie
einzumiſchen; überdies werde Preußen, da Alles auf Oeſterreichs Antrag
beſchloſſen ſei, „in die ganze Reihe der ſich gewiſſermaßen leidend verhaltenden
Staaten geſtellt“. Der Art. 13 der Bundesakte berühre den preußiſchen
Staat nicht, da der König ſchon vorher ſeiner geſammten Monarchie, auch
den nichtdeutſchen Provinzen eine Verfaſſung verſprochen habe. Die Polizei-
berichte über die Demagogen bewieſen, „daß weder die Zahl dieſer Menſchen
groß noch ihre Stellung in der bürgerlichen Geſellſchaft bedeutend ſei.“
Auf ſolche Erwägungen geſtützt beantragte Humboldt: es ſolle am Bundes-
tage die Verkündigung der Karlsbader Beſchlüſſe als außerordentlicher Maß-
regeln für zwei Jahre verlangt werden; es ſolle ferner der Miniſter des
Auswärtigen die Vollmacht erhalten, über Bundesbeſchlüſſe, welche innere
Angelegenheiten beträfen, mit den betheiligten Miniſtern Rückſprache zu
nehmen.


Der zweite Antrag erſchien ganz müßig, da der Miniſter des Auswärtigen
die gewünſchte Vollmacht bereits beſaß; aber auch der erſte Antrag war
ebenſo ungeſchickt als ſchwächlich. Denn als Humboldt ſeinen Bericht vor-
legte, hatte der Bundestag die Karlsbader Beſchlüſſe, mit ausdrücklicher
Genehmigung des Königs, ſchon längſt angenommen, und während das
Miniſterium noch berieth, wurden ſie in Preußen, abermals auf Befehl
des Monarchen, förmlich verkündigt. Nach dem Staatsrechte der abſoluten
Monarchie lag eine vollendete Thatſache vor; konnte man nicht den König
ſelbſt zum Abfall von der öſterreichiſchen Politik bewegen — und dazu
reichten Humboldts gewundene Sätze wahrlich nicht aus — ſo ließ ſich
an dem Geſchehenen nichts mehr ändern. Die offenbare Ausſichtsloſigkeit
des Kampfes ſtimmte die übrigen Miniſter bedenklich, obwohl ſie faſt alle-
ſammt gegen Form und Inhalt der Karlsbader Beſchlüſſe ernſte Einwen-
dungen zu erheben hatten. Nur Zwei, der Kriegsminiſter und der Groß-
[598]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
kanzler Beyme ſchloſſen ſich den Anträgen Humboldts an. General Boyen
war in ſeinem preußiſchen Stolze den Wahngebilden des friedlichen Dua-
lismus immer fremd geblieben; der gradſinnige Soldat fühlte ſich angee-
kelt durch das lichtſcheue Treiben der Demagogen, die ſogar Gneiſenau
und den chriſtlichen Romantiker Gröben nicht mit ihren Verdächtigungen
verſchonten. Der greiſe Beyme hatte in den letzten Jahren ſeine Sympa-
thien ganz dem Liberalismus zugewendet, obgleich er in ſeinem Departe-
ment nie eine praktiſche Reform zu Stande brachte, und ſich neuerdings
eng an Humboldt angeſchloſſen.


So brachte die Politik plötzlich drei Männer zuſammen, die im Grunde
ſehr wenig mit einander gemein hatten. Beymes altmodiſche weichliche
Philanthropie war das genaue Gegentheil von Humboldts helleniſcher Welt-
anſchauung; auch Boyen und Humboldt liebten ſich nicht, noch auf dem
Wiener Congreſſe hatten ſie ein Duell mit einander ausgefochten. Leider
führten die beiden Bundesgenoſſen ihre Sache nicht glücklicher als Humboldt
ſelbſt. Der Kriegsminiſter reichte ein gedankenreiches Gutachten ein, das in
markigen Zügen den natürlichen Gegenſatz der beharrenden, katholiſchen
Macht Oeſterreich und der frei aufſtrebenden Politik Preußens ſchilderte.
Das Verhältniß zu Oeſterreich wollte Boyen womöglich auf ein einfaches
Vertheidigungsbündniß beſchränken, obgleich wir wegen der Schwerfälligkeit
des k. k. Staatshaushalts und Heerweſens „den erſten Feldzug wahr-
ſcheinlich allein tragen müßten“. Die Verſtärkung der Bundesgewalt hielt
er für bedenklich, ſo lange Preußen am Bundestage keinen überwiegenden
Einfluß beſitze und der Bund ihm nicht einmal die Sicherheit ſeiner außer-
deutſchen Provinzen verbürge; „niemals richtete eines Naſſauers Stimme
über den treuen oder verirrten Sinn eines Preußen.“ Es war das frei-
müthige Glaubensbekenntniß eines fridericianiſchen Patrioten, aber zur
Entſcheidung der vorliegenden Frage trugen dieſe Betrachtungen nichts bei.
Auch Beyme ging von der Souveränität der Krone Preußen aus und er-
örterte, wie ſtark der völkerrechtliche Charakter des Bundes durch die jüngſten
Beſchlüſſe verändert werde. Den Kern der Sache berührte keiner der drei
Miniſter; keiner ſagte frei heraus, daß die Karlsbader Politik einer thö-
richten Angſt entſprungen war und die Kräftigung der Bundesgewalt nur
darum verderblich wirkte, weil ſie nicht der nationalen Macht, ſondern der
Unterjochung der Geiſter dienen ſollte.


Bernſtorff vertheidigte ſich ſehr gewandt gegen Humboldts verſteckte
Angriffe. Er geſtand offen ein: „daß der Bundesvertrag im Drange des
Augenblicks als eine unreife Frucht aus übereilten Verhandlungen hervor-
ging und ſtreitende Anſichten und Intereſſen auf eine Niemand befriedigende
Weiſe ausglich, darüber war ſich ſogleich ganz Deutſchland einig.“ In
ſolcher Lage bleibe eben nichts übrig als den unfähigen Bundestag durch
eine vertrauliche Verſtändigung zwiſchen den beiden Großmächten zu leiten.
Seien die Karlsbader Beſchlüſſe gerechtfertigt — was Humboldt ſelbſt nicht
[599]Die Oppoſition der drei Miniſter.
gradezu beſtritten hatte — ſo dürfe man auch ihre Wirkſamkeit nicht lähmen
und am Wenigſten den König mit ſich ſelber in Widerſpruch bringen. Alle
übrigen Miniſter erklärten ſich bedingt oder unbedingt gegen Humboldts
Entwurf; Altenſtein in einem charakteriſtiſchen Gutachten, das den Unmuth
des feinen Gelehrten über die Beſchimpfung der Univerſitäten ſehr deutlich
verrieth. „Alles was ich beſorge iſt einiger Druck — ſo lautete der deutſche
Troſt des wohlmeinenden Mannes — allein iſt er nur nicht ganz ver-
nichtend, ſo ſchadet er wohl nicht viel. Die Wiſſenſchaft erträgt ſolchen
und gedeihet oft unter demſelben gleich der Palme.“*)


Mittlerweile war Bernſtorff zu den Wiener Conferenzen abgereiſt.
Ohne ihn noch einmal zu befragen ſchritt das Miniſterium am 3. Novem-
ber zur Abſtimmung. Humboldts Bericht ward verworfen, aber auch über
die förmliche Billigung der Karlsbader Beſchlüſſe konnten ſich die Miniſter
nicht einigen. Das klägliche nunmehr ſeit Monaten anhaltende Schauſpiel
rathloſer Uneinigkeit fand endlich damit ſeinen würdigen Schluß, daß man
einfach das Protokoll dieſer drei Miniſterialſitzungen nebſt einigen der vor-
geleſenen Gutachten, aber ohne einen Beſchluß und ohne einen Bericht,
dem Könige überſendete. Eine ſolche Regierung durfte nicht dauern, ein
Wechſel, der ihr wieder Kraft und Einheit gab, war unabweisbar geboten.


Hardenberg erkannte, daß er ein Ende machen mußte. Um den König
für einen ſtrengen Entſchluß zu gewinnen, rief er Ancillon zu Hilfe (11.
November), ſendete ihm die Protokolle des Miniſteriums und ſchrieb: unter
dem Vorwand die Souveränität der Krone und die Rechte ihrer Bürger
zu vertheidigen, ſtelle ſich die Partei Humboldts thatſächlich auf die Seite
der Revolutionäre; ſie verſuche die Grundlagen unſerer auswärtigen Politik
umzuſtoßen, den Staatskanzler und Bernſtorff zu ſtürzen. Er ſelber ſei
entſchloſſen, nicht bei halben Maßregeln ſtehen zu bleiben, denn „ſchwanken
wir, ſo rennen wir unzweifelhaft in unſer Verderben und wir werden
Deutſchland, vielleicht Europa mit hineinreißen“. Aber um nicht Richter
in eigener Sache zu ſein, bitte er Ancillon um „das Gutachten eines auf-
geklärten und unparteiiſchen Patrioten“. Alſo Ancillon als unparteiiſcher
Schiedsrichter über Bernſtorff! Es war genau das Nämliche, wie wenn
man Bernſtorff ſelber angerufen hätte. Mit welchem fauniſchen Lächeln
mag der ſchlaue alte Staatskanzler die Antwort geleſen haben, welche
ihm Ancillon nach vier Tagen unter dem Siegel der tiefſten Verſchwiegen-
heit überſendete. Den Inhalt kannte er im Voraus.


Bernſtorffs Mentor gab ſich kaum die Mühe, die Maske des Unpar-
teiiſchen beizubehalten. Er redete geradezu in Bernſtorffs Namen: „der
Graf zählt auf die Feſtigkeit des Königs und auf die Unterſtützung Ew.
Durchlaucht. Vereinigt ſind Sie unbeſiegbar, und Deutſchlands böſer
[600]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
Genius wird beſchworen werden.“ Die Einwände der Oppoſition, „die
zugleich ein Unglück und ein Skandal iſt,“ fand er ſo kläglich, daß man
kaum noch an die ehrliche Ueberzeugung der drei Miniſter glauben könne.
Um „der Sache der Wahrheit zum Triumphe zu verhelfen“, hatte er über-
dies noch „con amore“ eine ungeheure Denkſchrift angefertigt und, wie
gewöhnlich, das Waſſer nicht halten können. Die Arbeit war ihm „unter
der Feder angewachſen“. Auf dreiundreißig eng beſchriebenen Seiten gab
er eine gräßliche Schilderung von dem Geiſte der Beweglichkeit, der ſich
erſt in Parteigeiſt, dann in revolutionären Geiſt umgeſetzt habe. Zum
Glück hätten Oeſterreich und Preußen rechtzeitig jene finſteren Pläne durch-
ſchaut, welche auf die Errichtung einer großen deutſchen Bundesrepublik
hinausliefen. Die Karlsbader Beſchlüſſe ſind, als dauernde oder als vor-
übergehende Maßregeln betrachtet, gleich weiſe. Hardenberg beendet, Bern-
ſtorff beginnt damit glorreich eine große Laufbahn.*) — Auch der Biſchof
Eylert ſendete ein Gutachten ein, ganz in Ancillons Sinne. Die Ent-
ſcheidung ließ ſich nicht länger hinausſchieben, da die auswärtigen Diplo-
maten bereits von dem Streite erfahren hatten und über die revolutionären
Gefahren, welche den ehrwürdigen Staatskanzler bedrohten, Schreckliches
zu erzählen wußten.**)


Um die Verwirrung zu vollenden, brachen jetzt noch in zwei Departe-
ments Zwiſtigkeiten aus, die, an ſich ohne politiſche Bedeutung, doch auf
die Miniſterkriſis zurückwirkten. Die unnatürliche Zerſpaltung des Juſtiz-
miniſteriums in zwei Departements hatte ſchon längſt zu widerwärtigen
Reibungen geführt. Kircheiſen leitete in den neuen Provinzen des Oſtens
die Organiſation der Gerichte ganz im Geiſte eines conſervativen altländi-
ſchen Juriſten, aber mit Geſchick und Erfolg. Beyme dagegen begutachtete
alle Vorſchläge ſeines Amtsgenoſſen ungünſtig und verſuchte einzelne In-
ſtitutionen des rheiniſchen Rechts, das ihm als ein Ideal galt, in die öſt-
lichen Provinzen zu übertragen; zudem hatte er ſoeben von den rheiniſchen
Staatsprocuratoren ein Votum über die Strafbarkeit von Görres’ neueſter
Schrift eingefordert und ſich ihrem verneinenden Ausſpruch angeſchloſſen.
Des ewigen Haders müde, wendete ſich Kircheiſen jetzt an den König (27.
November) mit der Anfrage: ob dem Miniſter Beyme eine Controle über
die Provinzen der altpreußiſchen Gerichtsverfaſſung zuſtehe? ſei dies der
Fall, dann müſſe er um ſeinen Abſchied bitten.***)


Auch der Kriegsminiſter fühlte ſich auf ſeinem Poſten nicht mehr ſicher.
Der König beſtand jetzt auf der Durchführung jenes militäriſchen Planes,
mit dem er ſich ſchon ſeit Jahren trug: er wollte die Landwehr feſter mit
[601]Die Reform der Landwehr.
der Linie verbinden, ihr ſchon im Frieden die für den Krieg beſtimmte
Formation geben. Boyen aber konnte ſich mit dem zweckmäßigen, durch-
aus unverfänglichen Unternehmen nicht befreunden; er meinte, dadurch
werde „der eigentliche Geiſt, der die Landwehr halte“, verloren gehen. Auf-
geregt durch die Kämpfe im Staatsminiſterium, erbittert über die ſchlechten
Künſte der Demagogenverfolger, begann er den finſteren Gerüchten Glauben
zu ſchenken, welche von der nahen Aufhebung der Landwehr erzählten. Im
diplomatiſchen Corps glaubte man allgemein, daß der Wiener Hof insge-
heim gegen die verhaßte demokratiſche Truppe arbeiten laſſe;*) und wahr-
ſcheinlich hat auch Herzog Karl von Mecklenburg mit ſeinem Anhang dieſe
günſtige Zeit der reaktionären Springfluth benutzt, um ſeine alten Bedenken
gegen das Landwehrſyſtem noch einmal geltend zu machen. Andererſeits
hatten die Parteiphraſen des Liberalismus das Ihrige gethan, um eine
ſtreng ſachliche Beurtheilung der Fragen der Heeresverfaſſung zu erſchweren.
Wohl lag ein kühner demokratiſcher Gedanke dem preußiſchen Wehrgeſetze
zum Grunde; eine Nation mit ſolchem Heerweſen konnte nicht gegen ihren
entſchiedenen Willen regiert werden, auch die unmittelbare Theilnahme an
der Geſetzgebung und Verwaltung ließ ſich ihr auf die Dauer nicht ver-
ſagen. Aber wie verzerrt und entſtellt erſchienen dieſe Wahrheiten in allen
den thörichten Zeitungsartikeln, welche das Volksheer der Landwehr als ein
Bollwerk gegen den Miethlingsgeiſt der Linienoffiziere verherrlichten. Die
wohlgemeinte Schrift des Hauptmanns v. Schmeling über Landwehr und
Turnkunſt erklärte die Kreisausſchüſſe, welche das Erſatzgeſchäft beſorgten,
gradezu für den erſten Keim der preußiſchen Verfaſſung und veranlaßte
die Gegner zu der entrüſteten Frage, ob ein großer Staat mit hunderten
kleiner Kreisparlamente noch regiert werden könne.


Der König ſelbſt ließ ſich von den Verirrungen des Parteigeiſtes
nicht anfechten; er hielt die Landwehr, um der Sicherheit des Staates
willen, für unentbehrlich, nur auf die Erhöhung ihrer Kriegstüchtigkeit war
ſein Plan berechnet. Aber in dieſen ſchwülen Tagen lag das Mißtrauen
in der Luft. Die öſterreichiſche Partei hatte den Kriegsminiſter ſchon ſeit
langem verdächtigt, nun übermannte ihn ſelber ein grundloſer Argwohn.
Der Organiſator des preußiſchen Volksheeres befürchtete, der neuen Forma-
tion der Landwehr werde die Zerſtörung ſeines großen Werkes folgen, und
forderte erzürnt ſeine Entlaſſung. Er wollte, wie er dem Staatskanzler
(13. Dec.) geſtand, „aus Verhältniſſen heraustreten, in denen es mir zu-
weilen ſchwer ſein könnte meine Grundſätze mit dem Wechſel der Begeben-
heiten zu vereinigen“, und beſchwor den leitenden Staatsmann zum Ab-
ſchied noch einmal, bei allen Veränderungen der Landwehrverfaſſung mit
der größten Behutſamkeit zu verfahren, „da ſie für die beſondere Lage
unſeres Staates, für die Erhaltung des Wohlſtands der Gewerbe und für
[602]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
das gute Einverſtändniß mit den Civilbehörden von der höchſten Wichtigkeit
ſind und eigentlich das Miniſterium des Innern am mehrſten betreffen.“*)


Sobald Boyen die Hoffnung aufgab, ließ auch ſein Freund Grolman
dem lange verhaltenen Mißmuth die Zügel ſchießen. Der Chef des Ge-
neralſtabs hatte in der kurzen Zeit ſeiner Amtsführung eine großartige
Thätigkeit entfaltet; er hatte den Entwurf für die Befeſtigung der öſtlichen
Provinzen ausgearbeitet, im Verein mit Baurath Crelle einen Plan für
den Chauſſeebau in der ganzen Monarchie feſtgeſtellt, die trigonometriſche
Vermeſſung des Staatsgebietes begonnen und ſeinem Departement, das
noch eine Abtheilung des Kriegsminiſteriums bildete, einen ſo bedeutſamen
ſelbſtändigen Wirkungskreis geſchaffen, daß die vollſtändige Abtrennung des
Generalſtabs von dem Kriegsminiſterium nur noch eine Frage der Zeit
war. Inmitten dieſer mannichfaltigen Arbeiten war er dem Gange der
Tagespolitik mit dem ganzen Eifer ſeiner leidenſchaftlicher Natur gefolgt.
Der geniale Mann hielt ſein Lebtag alle ſeine Grundſätze mit eiſerner
Strenge feſt; weder 1814 noch 1815 hatte er das wälſche Babylon, das
er mit ſeinem guten Degen zu bezwingen geholfen, betreten mögen. So
blieb er auch im Frieden dem idealiſtiſchen Pathos der Befreiungskriege
treu und vermochte die Erſchlaffung, welche nach dem Kampfe die gewöhn-
lichen Menſchen heimſuchte, ſchlechterdings nicht zu begreifen. Die ganze
Zeit erſchien ihm matt, klein, erbärmlich, und als Boyen ſich zurückzog,
erklärte auch er dem König (17. December), „die jetzt eingetretenen Zeitum-
ſtände und die traurigen Jahre, die er ſeit 1815 erlebt“, nöthigten ihn
um ſeine Entlaſſung zu bitten. Die ſchroffe, faſt trotzige Faſſung dieſes
Schreibens mußte den König verſtimmen; er hatte das Entlaſſungsgeſuch
Boyens anfangs wohlwollend aufgenommen, jetzt muthmaßte er, daß die
beiden Freunde in geheimem Einverſtändniß handelten und ertheilte beiden
ſichtlich unzufrieden den Abſchied. Dem Kriegsminiſter ſagte er zwar ein
Wort der Anerkennung für ſeine früheren Verdienſte, dem General Grolman
aber verhehlte er nicht, daß ihm ganz unklar ſei was er unter den trau-
rigen Jahren ſeit 1815 verſtehen ſolle.**)


Welch ein Unheil, daß zwei der treueſten und einſichtigſten Diener
des Königs alſo im Unmuth die Flinte ins Korn warfen, eben jetzt, da
alle Guten feſt zuſammenhalten mußten. Der Wiener Hof begrüßte „dieſen
neuen Triumph der guten Sache“ mit lauter Freude; dort war Boyens
fridericianiſche Geſinnung immer verrufen geweſen.***) In der Armee
ward der ſchwere Verluſt allgemein beklagt. Clauſewitz hielt ſogar für nöthig
in einer geiſtvollen Denkſchrift die politiſche Nothwendigkeit des Landwehr-
[603]Rücktritt von Boyen und Grolman.
ſyſtems darzulegen. Er zeigte, wie gering in Deutſchland die Gefahr einer
Revolution ſei, wie nahe dagegen die Möglichkeit eines feindlichen Angriffs
von zwei Seiten her, und verhehlte nicht, daß die Krone früher oder ſpäter
die Vertreter der Nation um ſich verſammeln müſſe wenn ſie die neue Heeres-
verfaſſung behaupten wolle. Nachdrücklich warnte er die Männer von 1806
„vor der Zertrümmerung eines Gebäudes, auf dem unſer großartiges
Schickſal in den Jahren 13, 14, 15 wie eine Siegesgöttin auf ihrem
Streitwagen geruht hat“.


Schon die nächſten Tage lehrten, daß alle ſolche Beſorgniſſe eitel
waren und die beiden Generale voreilig gehandelt hatten. In einer Ca-
binetsordre v. 22. December erkannte der König mit herzlichen Worten an,
wie glücklich die Landwehr bisher gediehen ſei, wie willig das Volk die ihm
auferlegten Opfer getragen habe, und befahl darauf eine neue Eintheilung
der Landwehr, welche „das Weſen des Inſtituts nicht im Mindeſten ändern“
ſollte: ſechzehn Landwehrbrigaden wurden gebildet und dem Diviſionsver-
bande der Linie einverleibt. Die Diviſion (dieſen Namen führten die alten
gemiſchten Brigaden ſeit 1818) beſtand fortan, außer den techniſchen Truppen,
aus einer Brigade Linieninfanterie, einer Brigade Landwehrinfanterie und
einer Cavalleriebrigade. Damit wurde die Formation der Landwehr ge-
ſchaffen, welche im Weſentlichen bis auf die Tage des Prinzregenten be-
ſtanden hat. Die beiden Hälften der Armee traten in eine etwas engere
Verbindung, die nur leider noch immer nicht feſt genug war; durch die ge-
meinſamen Uebungen der Diviſionen hoffte man den Unterſchied einigermaßen
auszugleichen. Die unklare Vorſtellung, als ob die Landwehr ein Daſein
für ſich führen könne, ward wenigſtens im Grundſatz aufgegeben. Tags
darauf ſtellte eine zweite Cabinetsordre die Friedenspräſenzſtärke der Linie
und ihre Cadres geſetzlich feſt; bei dem raſchen Wachsthum der Bevölke-
rung eröffnete ſich mithin die Ausſicht auf ein allmähliges Sinken der
Militärlaſt. Die Reform erwies ſich im Ganzen als heilſam, da die Land-
wehr nunmehr ohne eine weſentliche Veränderung ihrer Formation in den
Krieg geführt werden konnte. Durchgreifende Entſchlüſſe verhinderte leider
die Rückſicht auf den Staatshaushalt; der gefährlichſte Uebelſtand des neuen
Heerweſens, die Schwäche der Linienarmee, die nur 136,000 Mann
betrug, blieb unverändert. Sparen hieß jetzt die allgemeine Loſung; die
Staatsſchuld ſollte ſofort geſchloſſen werden, das Deficit für immer ver-
ſchwinden.


Für dies Syſtem ängſtlicher knapper Sparſamkeit war Boyens Nach-
folger General von Hake wohlgeeignet, derſelbe, der in Scharnhorſts
Tagen ſchon zweimal auf kurze Zeit die Kriegsverwaltung geleitet hatte,
ein fleißiger, gewiſſenhafter Arbeiter, aber pedantiſch, beſchränkt, ohne Ideen,
ohne Schwung der Seele. Während ſeiner Amtsführung erlangten die
Anſchauungen des Civilbeamtenthums wieder, wie in den erſten Jahren
Friedrich Wilhelms III., einen ungebührlichen Einfluß auf das Heerweſen.
[604]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
Manche unverkennbare Mißſtände wucherten fort weil man jedes Geld-
opfer ſcheute; ein Glück nur, daß der König die Armee unter ſeine un-
mittelbare Obhut nahm und durch perſönliches Eingreifen den militäriſchen
Geiſt wach hielt. Auf den genialen Begründer des Wehrgeſetzes folgte
ein Mann der gewöhnlichen militäriſchen Routine; kein Wunder, daß ſich
die Maſſe der Unkundigen über die Gründe dieſes Wechſels täuſchte und
den finſterſten Gerüchten Glauben ſchenkte. Erſt nach Jahren kam an
den Tag, daß General Boyen ſich diesmal in der That geirrt und einer
nothwendigen Reform widerſtrebt hatte. —


Der Rücktritt des Kriegsminiſters brachte die Kugel ins Rollen, denn
natürlich waren die Vorgänge im Miniſterrathe nicht ohne Einfluß auf
Boyens Entſchluß geweſen. Hardenberg betrachtete den Sturz des Generals
als die erſte Niederlage der Oppoſition.*) Mit Ancillons unparteiiſchem
Gutachten bewaffnet, hatte er ſogleich die Entlaſſung der drei Miniſter bean-
tragt, und da der König, noch immer auf eine Verſöhnung hoffend, die Ent-
ſcheidung über Humboldt und Beyme hinausſchob, ſo ſtellte der Staatskanzler
am 28. December förmlich die Cabinetsfrage. Es war die höchſte Zeit. Denn
Humboldt und Beyme waren inzwiſchen noch einen Schritt weiter gegangen;
ſie hatten im Staatsminiſterium, ohne Vorwiſſen des Staatskanzlers, den
Beſchluß durchgeſetzt, daß die ſämmtlichen Oberpräſidenten ſofort nach
Berlin berufen werden ſollten. Gelang dies, ſo ließ ſich mit Gewißheit
vorher ſehen, daß die Vorſtände der Provinzialverwaltung, geführt von
dem allezeit unzufriedenen Schön, wieder wie vor zwei Jahren**) eine
Maſſe berechtigter und unberechtigter Beſchwerden vor den Thron bringen
würden. Eine ſolche Oppoſition war in dieſem Augenblicke ſchlechthin
ſtaatsgefährlich. Der Staat ſtand am Vorabend einer heilſamen aber
höchſt unpopulären Reform, die nur einer ſtarken und einigen Regierung
gelingen konnte. Hardenbergs letztes großes Werk, die Geſetze über die
neuen Steuern und die Schließung der Staatsſchuld, ſollten in den nächſten
Tagen im Staatsrathe beendigt werden. Nimmermehr durfte der alte
welterfahrene Steuermann erlauben, daß ihm das hohe Beamtenthum
ſeinen Kurs ſtörte inmitten des Sturmes allgemeiner Entrüſtung, der bei
der Verkündigung der neuen Auflagen im Volke loszubrechen drohte.
Humboldt hatte bereits in ſeinen beiden Miniſterialberichten eingeſtanden,
daß er an das Vorhandenſein des Deficits noch immer nicht glaubte und
darum die neuen Steuern für unnöthig hielt — eine grundfalſche, ganz
unbegreifliche Anſicht, die aber von einer großen Anzahl der kritikluſtigen
hohen Beamten getheilt wurde; denn nach der guten altpreußiſchen Ueber-
lieferung betrachteten ſich die Häupter des Beamtenthums als berufen,
das Volk gegen fiskaliſchen Druck zu ſchützen. Durfte der Staatskanzler
[605]Humboldts und Beymes Entlaſſung.
neben ſich einen Miniſter dulden, der alſo über die Lebensfrage der nächſten
Zukunft dachte?


Wie begründet immerhin der Unmuth der drei Miniſter über die
Karlsbader Beſchlüſſe war, Hardenberg befand ſich doch im Zuſtande ge-
rechter Nothwehr; er kämpfte nicht blos für ſeine Macht, ſondern auch für
die wohldurchdachten Reformpläne, welche allein einen Erſatz für die auf-
gehobene Acciſe ſchaffen und das Gleichgewicht im Staatshaushalt wieder-
herſtellen konnten, wenn er jetzt dem Könige dringend vorſtellte: ein Zu-
ſammenwirken mit Humboldt und Beyme ſei unmöglich. Manches ge-
häſſige Wort floß dabei mit unter. Der Staatskanzler erinnerte an
Beymes Parteinahme für Görres, er behauptete beſtimmt zu wiſſen, daß
Humboldt im Staatsrathe den Steuergeſetzen widerſprechen, dann „mit
einer erſchwungenen Popularität glänzen und den Dienſt verlaſſen wolle“;
den Bericht über die geplante Berufung der Oberpräſidenten verſäumte
er nicht beizulegen. Feſter denn je glaubte er an die gefährlichen Umtriebe
der revolutionären Partei. Auch den Oberpräſidenten von Schleſien wollte
er entfernen, weil ihm Merckel zu nachſichtig gegen die Turner erſchien;
auch die Militär-Bildungsanſtalten ſollten einen neuen Direktor erhalten,
damit die jungen Offiziere nicht den teutoniſchen Jakobinern anheimfielen.*)
So wunderbar hatten ſich die Dinge verſchoben: die Neuordnung des
preußiſchen Staatshaushalts hing in jenem Augenblicke mit der Politik
der Karlsbader Beſchlüſſe unzertrennlich zuſammen.


Für den König beſtand nun keine Wahl mehr, auch wenn er nicht
ſo feſt an die Heilſamkeit der Karlsbader Politik geglaubt hätte. Konnte
Friedrich Wilhelm dem Rathe Humboldts folgen und in Frankfurt nach-
träglich beantragen, daß die Giltigkeit des proviſoriſchen Preßgeſetzes von
fünf auf zwei Jahre herabgeſetzt werde? Durfte er um einer ſolchen aus-
ſichtsloſen Halbheit willen die Grundlagen ſeiner europäiſchen Politik ver-
ändern? In dieſen Tagen der Tendenzpolitik der Legitimität war das
Syſtem der europäiſchen Allianzen unlösbar mit den inneren Verhältniſſen
der Staaten verkettet, und eine Großmacht konnte nicht, wie die Schein-
ſtaaten des Rheinbundes, zwiſchen ihrem eigenen Volke und den auswär-
tigen Mächten ein unredliches Spiel treiben. Ein nachträglicher Kampf
gegen die Karlsbader Beſchlüſſe, das bedeutete: Trennung von Oeſterreich,
Auflöſung oder doch Lockerung jenes großen Vierbundes, welchem die Mo-
narchie während der letzten Jahre ihre Sicherheit, ihr europäiſches Anſehen
verdankte. Getrennt von ſeinen alten Bundesgenoſſen ſtand der Staat
völlig vereinſamt; er fand an dem liberaliſirenden Particularismus der
deutſchen Kleinſtaaten weder mächtigen noch treuen Beiſtand, ſah ſich
vielleicht bald auf die Seite Frankreichs hinübergedrängt, jedenfalls ge-
[606]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
zwungen zu rüſten, auf der Wacht zu ſtehen; das will ſagen: er mußte
brechen mit jener Politik des Sparens, der ſtillen Sammlung der Kräfte,
die ihn allein wieder erheben konnte, undſich bereit halten, die große Macht-
frage der deutſchen Zukunft vor der Zeit zu löſen. Und durfte die ſo lange
geplante Wiederherſtellung der Ordnung im Finanzweſen jetzt nochmals
verſchoben werden — aus Rückſicht auf eine Oppoſition, welche den vor-
handenen Nothſtand einfach ableugnete und bisher nichts vorgebracht hatte
als unfruchtbare Verneinungen?


Der König that nur das Nothwendige, als er am 31. December die
beiden Miniſter mit kurzen Worten von den Geſchäften des Staatsraths
und des Staatsminiſteriums dispenſirte. Schuckmann und Kircheiſen er-
hielten wieder die ungetheilte Leitung der Miniſterien des Innern und der
Juſtiz. Zugleich wurde General Pirch zum Direktor der Militär-Erziehungs-
anſtalten ernannt.*) Beyme war ſchmerzlich überraſcht und unterwarf ſich
„mit zerriſſenem Herzen“. Humboldt ertrug den Schlag mit ſeiner ge-
wohnten philoſophiſchen Ruhe, und da er nach dem Kriege eine Dotation
erhalten hatte, ſo verzichtete er auf ſeinen Ruhegehalt, was der König
dankbar anerkannte. Er ſchied, wie er dem Monarchen ſchrieb, „mit dem
Bewußtſein, immer nur des Königs und des Staates Wohl vor Augen
gehabt zu haben“.**) Und gewiß ward der Mann, der politiſche Macht
und politiſchen Ruhm ſo niedrig ſchätzte, nicht allein durch perſönlichen
Ehrgeiz geleitet, wie ihm Hardenberg und Gneiſenau vorwarfen. Er hielt
die Macht des Staatskanzlers für verderblich und durchſchaute die Sünden
der Karlsbader Politik; aber einfach, groß und kühn hat er ſich in dieſem
Kampfe nicht gezeigt.


Der Staatskanzler frohlockte über das gewonnene Spiel. Humboldts
Uebermuth hatte nach dem Staatskanzleramte getrachtet und war dabei zu
Falle gekommen — in dieſer Färbung wurde der Miniſterwechſel den aus-
wärtigen Diplomaten geſchildert. Die Bahn ſchien frei. Sofort legte
Hardenberg dem Könige ſeine Steuer-Entwürfe vor und nach dem erſten
Vortrage ſchrieb er ſtolz in ſein Tagebuch: Nascitur novus ordo.***) War
der Staatshaushalt erſt wieder in Ordnung, dann fiel das ſchwerſte Be-
denken gegen die Verfaſſung hinweg, und der Staatskanzler ſchloß eine
Laufbahn, die in der Geſchichte Preußens ohne Gleichen war, mit der
Eröffnung der preußiſchen Reichsſtände. Erſtaunlich, welche weitausſehenden
Entwürfe der Greis noch in Angriff nahm. Und doch, wie voreilig war
ſeine Siegesfreude. Mit dem Sturze der drei Miniſter verlor der Ver-
[607]Der Kampf gegen das preußiſche Zollgeſetz.
faſſungsausſchuß ſein größtes Talent, der Miniſterrath die einzigen ſeiner
Mitglieder, welche den Abſchluß der Verfaſſung ernſtlich wollten. Nicht
Hardenberg war der Sieger in dieſem verworrenen Kampfe, ſondern Witt-
genſtein, der immer aus dem Dunkel heraus mitgeholfen hatte, und hinter
ihm Metternich. Noch eine Weile, und die öſterreichiſche Partei, welche der
Staatskanzler gegen ſeinen Nebenbuhler aufgerufen hatte, wendete ſich wider
ihn ſelber, um ihm ſein Verfaſſungswerk zu zerſtören, das jetzt nirgends
mehr am Hofe eine Stütze fand. —


Alles hiſtoriſche Werden entſpringt der beſtändigen Wechſelwirkung
zwiſchen dem bewußten Menſchenwillen und den gegebenen Zuſtänden. Wie
die Vernunft, die in den Dingen liegt, nur durch die Willenskraft eines
großen, die Zeichen der Zeit verſtehenden Mannes verwirklicht werden kann,
ſo finden auch die Sünden und Irrthümer der Politiker ihre Schranke
an dem Charakter der Staaten, an der Macht der Ideen, die ſich im Ver-
laufe der Geſchichte angeſammelt haben. Schwer hatte die Krone Preußen
gefehlt, als ſie in Karlsbad ſich den lebendigen Kräften des jungen Jahr-
hunderts entgegenſtemmte; und doch war dieſer Staat modern von Grund
aus, er konnte ſich der neuen Zeit nicht gänzlich entfremden und begann
eben jetzt eine Reform ſeines Haushalts, welche ihn befähigte in ſeiner wirth-
ſchaftlichen Entwicklung alle anderen deutſchen Staaten zu überflügeln.
Nachgiebig bis zur Selbſtvergeſſenheit war Hardenberg in Teplitz allen
Wünſchen Oeſterreichs entgegengekommen, der Glaube an die unbedingte
Intereſſengemeinſchaft der beiden Großmächte beherrſchte ihn ganz und gar;
und doch war der Gegenſatz der beiden Mächte in einer alten Geſchichte
begründet und, ſo lange die Machtfrage der deutſchen Zukunft ungelöſt
blieb, durch menſchlichen Willen nicht mehr beizulegen. Faſt in dem näm-
lichen Augenblicke, da der Berliner Hof ſich gänzlich der Führung Oeſter-
reichs zu überlaſſen ſchien, that er wieder einen Schritt vorwärts auf den
Bahnen der fridericianiſchen Politik und begann die deutſchen Nachbarlande
in ſeine Zollgemeinſchaft aufzunehmen. Es war ein winziger, nach dem
Maße der Gegenwart faſt lächerlicher Erfolg, aber der unſcheinbare Beginn
einer Staatskunſt, welche die deutſchen Staaten durch das Band wirth-
ſchaftlicher Intereſſen unlösbar an Preußen ketten und die Befreiung von
Oeſterreich vorbereiten ſollte.


Seit das preußiſche Zollgeſetz in Kraft geſetzt und den kleinen Nach-
barn zunächſt nur durch ſeine Härten fühlbar wurde, erhob ſich überall
mit erneuter Stärke der Ruf nach Aufhebung aller Binnenmauthen, und
es begann eine leidenſchaftliche Agitation für die deutſche Handelseinheit,
der Vorläufer und das Vorbild der ſpäteren Kämpfe um die politiſche Ein-
heit. Die ganze Nation ſchien einig in einem großen Gedanken; gleich-
[608]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
wohl gingen die Anſichten über die Mittel und Wege nach allen Richtungen
auseinander, und das Einzige was retten konnte, der Anſchluß an die ſchon
vorhandene Einheit des preußiſchen Marktgebietes ward in unſeliger Ver-
blendung ſo lange verſchmäht, bis ſchließlich nur die bittere Noth das Un-
vermeidliche erzwang.


Gleich nach dem Frieden begann eine regelmäßige Einwanderung in
das verarmte Preußen einzuſtrömen, etwa halb ſo ſtark als der Ueberſchuß
der Geburten; ſie beſtand überwiegend aus jungen Leuten der deutſchen
Nachbarſchaft, die in dem Lande der ſocialen Freiheit ihr Glück ſuchten.
Als nunmehr die Binnenzölle in der Monarchie hinwegfielen, da ließen
ſich die Vortheile, welche der preußiſche Geſchäftsmann aus ſeinem ausge-
dehnten freien Markte zog, zumal an den Grenzplätzen bald mit Händen
greifen: ſo ſiedelte ein Theil der Bingener Weinhändler auf das preußiſche
Ufer der Nahe über, da die Preiſe in Preußen oft dreimal höher ſtanden
als auf dem überfüllten heſſiſchen Markte. Das Beamtenthum der kleinen
Höfe war noch gewöhnt an das Zunftweſen, an die Erſchwerung der Nieder-
laſſung und der Heirathen, an die tauſend Quälereien einer kleinlichen
ſocialen Geſetzgebung; von der Ueberlegenheit der preußiſchen Handelspolitik
ahnte man hier noch gar nichts. Manchem wohlmeinenden Beamten in
Sachſen und Thüringen erſchienen die preußiſchen Steuergeſetze als eine
überflüſſige fiscaliſche Härte, weil ſein eigener Staat für das Heerweſen
nur Geringes leiſtete, alſo mit beſcheidenen Einnahmen auskommen konnte.
So entſtand unter dem Schutze der kleinen Höfe an den preußiſchen Binnen-
grenzen ein Krieg Aller gegen Alle, ein heilloſer Zuſtand, von dem wir
heute kaum noch eine Vorſtellung haben. Das Volk verwilderte durch das
ſchlechte Handwerk des Schwärzens. In die zollfreien Packhöfe, welche
überall dem preußiſchen Gebiete nahe lagen, traten alltäglich handfeſte
braune Geſellen, die Jacken auf Rücken und Schultern ganz glatt geſcheuert,
manch’ einem ſchaute das Meſſer aus dem Gürtel; dann packten ſie die
ſchweren Waarenballen auf, ein landesfürſtlicher Mauthwächter gab ihnen
das Geleite bis zur Grenze und ein Helf Gott mit auf den böſen Weg.
Der kleine Mann hörte ſich nicht ſatt an den wilden Abenteuern verwegener
Schmuggler, die das heutige Geſchlecht nur noch aus altmodiſchen Romanen
und Jugendſchriften kennt. Alſo gewöhnte ſich unſer treues Volk die Geſetze
zu mißachten. Jener wüſte Radicalismus, der allmählich in den Klein-
ſtaaten überhand nahm, ward von den kleinen Höfen ſelber gepflegt: durch
die Sünden der Demagogenjagd wie durch die Frivolität dieſer Handels-
politik.


Als die Urheber ſolchen Unheils galten allgemein nicht die Klein-
ſtaaten, die den Schmuggel begünſtigten, ſondern Preußen, das ihn ernſt-
haft verfolgte; nicht jene Höfe, die an ihren unſauberen fiscaliſchen Kniffen,
ihren veralteten unbrauchbaren Zollordnungen träge feſthielten, ſondern
Preußen, das ſein Steuerſyſtem neugeſtaltet und gemildert hatte. Unfähig,
[609]Benzenberg. Arnoldi.
die Lebensbedingungen eines großen Staates zu verſtehen, ſtellten die kleinen
Höfe alles Ernſtes die Forderung, Preußen müſſe jene reiflich erwogene,
in alle Zweige des Gemeinweſens tief einſchneidende Reform ſofort wieder
rückgängig machen, noch bevor ſie die Probe der Erfahrung beſtanden
hatte — und halb Deutſchland ſtimmte dem thörichten Anſinnen zu.


Außerhalb der preußiſchen Beamtenkreiſe wagten in dieſen erſten Jahren
nur zwei namhafte Schriftſteller das Werk Maaſſens unbedingt zu ver-
theidigen. Der unermüdliche Benzenberg bewährte in ſeinem Buche „über
Preußens Geldhaushalt und neues Steuerſyſtem“ wieder einmal ſeinen
praktiſchen Takt. Im Verkehre mit Hardenberg hatte er gelernt, den
Staatshaushalt von oben, vom Standpunkte der Regierenden zu betrachten.
Er wußte, daß jede ernſthafte Kritik eines Steuerſyſtems beginnen muß
mit der Frage: welche Ausgaben dem Staate unerläßlich ſeien? — einer
Frage, die von den meiſten Publiciſten jener Zeit gar nicht berührt wurde.
So gelingt ihm nachzuweiſen, daß Preußen ſeiner Zolleinkünfte nicht ent-
behren könne. Er ſcheut ſich nicht das Wehrgeſetz und die neuen Steuer-
geſetze als die größten Wohlthaten der jüngſten Epoche Friedrich Wilhelms III.
zu loben; er verlangt, daß man ſie gegen jeden Widerſtand aufrecht halte,
fordert die Nachbarſtaaten auf, der Einladung des Königs zu folgen und
mit Preußen wegen gegenſeitiger Aufhebung der Zölle zu verhandeln. Dem
Traumgebilde der Bundeszölle geht er hart zu Leibe. Er richtet an
F. Liſt (Auguſt 1819) einen offenen Brief und fragt, wie denn der
Bundestag, „der keine Art von Legislation hat“, eine ſolche Reform ſchaffen
oder gar die Zollverwaltung leiten ſolle? und ſei denn die Aufhebung der
Binnenmauthen möglich ohne gleichmäßige Beſteuerung des inneren Con-
ſums? Die Stimme des nüchternen Mannes verhallte in dem allgemeinen
Toben; war er doch längſt ſchon den Liberalen verdächtig, weil er ein
offenes Auge für die Eigenart des preußiſchen Staates beſaß.


Auch einer der tüchtigſten Kaufleute Deutſchlands, E. W. Arnoldi in
Gotha begrüßte das preußiſche Zollgeſetz ſchon im Januar 1819 als den
erſten Keim eines Vereines aller deutſchen Staaten. Nur herzhaft einge-
ſchlagen in die dargebotene Hand: — ſo ſprach er ſich im Allgemeinen
Anzeiger aus — Preußen ſtellt ja den Grundſatz der Gegenſeitigkeit an
die Spitze ſeines Geſetzes und erklärt ſich bereit zu Verträgen mit den
Nachbarn. Der treffliche Mann hatte einſt in Hamburg noch zu den
Füßen des alten Büſch geſeſſen und ſich dort eine freie Anſicht vom Welt-
handel gebildet, welche der binnenländiſchen Kleinlebigkeit der Mehrzahl
ſeiner Standesgenoſſen noch ganz fremd war. Ihn wurmte die kindliche
Unmündigkeit dieſer Geſchäftswelt, die ſo gar nichts that um ſich das Joch
einer widerſinnigen Handelsgeſetzgebung vom Nacken zu ſchütteln. Schon ſeit
Jahren trug er ſich mit dem Gedanken eines Bundes der deutſchen Fabri-
kanten zur Vertretung ihrer gemeinſamen Intereſſen. Dann ſtiftete er in
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 39
[610]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
ſeiner Vaterſtadt unter dem Namen Innungshalle eine Handelskammer und
eine raſch aufblühende Handelsſchule. Endlich fand er ein weites Gebiet
fruchtbarer Thätigkeit in dem Verſicherungsweſen, das noch ganz in der
Botmäßigkeit des Auslandes ſtand. Faſt an allen größeren deutſchen Plätzen
unterhielt der mächtige Londoner Phönix ſeine Agenturen und beutete die
Deutſchen durch unbillige Prämien aus, da die kleinen heimiſchen Ver-
ſicherungsgeſellſchaften, die in einzelnen Städten des Nordens beſtanden,
ihre Wirkſamkeit auf die Vaterſtadt beſchränkten. Da wendete ſich Arnoldi
(1819) an die Nation mit der Frage, wie lange ſie noch ihr Geld in die
engliſche Sparbüchſe legen wolle, und entwarf den Plan für eine deutſche,
das geſammte Vaterland umfaſſende, auf Gegenſeitigkeit beruhende Feuer-
verſicherungsbank. Zwei Jahre darauf trat dieſe Anſtalt zu Gotha ins
Leben, der erſte Anfang der großartigen Entwickelung unſeres nationalen
Verſicherungsweſens. Der allgemeine Haß gegen Englands Handelsherr-
ſchaft kam dem kühnen Unternehmer zu ſtatten. Ueberall im Binnenlande
ſchalt man auf England und die Hanſeſtädte, die den Süddeutſchen nur
als engliſche Contore galten; der wiedererwachende Napoleonscultus und
die franzöſiſchen Sympathien der Liberalen des Südens wurden durch
ſolche erregte Stimmungen gefördert. Ueber die Waffen freilich, welche den
deutſchen Gewerbfleiß vor einer erdrückenden ausländiſchen Mitwerbung
ſichern konnten, hatten die Wenigſten auch nur nachgedacht. Nur ſo viel
ſchien Allen unzweifelhaft, daß ſämmtliche neu eingeführte Zölle ſofort wieder
aufgehoben und die im Art. 19 der Bundesakte verheißene Verkehrsfreiheit
durch den Bundestag angeordnet werden müſſe.


Selbſt jener hochherzige, geiſtvolle Agitator, der mit dem ganzen Un-
geſtüm ſeiner Thatkraft gegen die Binnenmauthen auftrat, auch Friedrich
Liſt theilte den allgemeinen Irrthum. Wie Görres einſt im Rheiniſchen
Mercur die Idee der politiſchen Macht und Einheit des Vaterlandes ver-
trat, ſo verfocht Liſt die Idee der handelspolitiſchen Einheit — eine ver-
wandte Natur, feurig, hochbegeiſtert, ein Meiſter der bewegten Rede, voll
tiefer und echter Leidenſchaft, leicht hingeriſſen zu phantaſtiſchen Verirrungen.
Ein echter Reichsſtädter war er im freiheitsſtolzen Reutlingen aufgewachſen,
unter ewigen Händeln mit den württembergiſchen Schreibern; er zählte zu
jenen geborenen Kämpfern, denen das Schickſal immer neuen Hader ſendet
auch wenn ſie den Streit nicht ſuchen. Seine Mutter, ſeinen einzigen
Bruder ſah er plötzlich ſterben in Folge der Roheit brutaler Beamten;
und als er dann ſelber einige Jahre in der geiſttödenden Scheinthätig-
keit der württembergiſchen Schreibſtuben verbracht hatte, da ward ſein
Haß gegen die Herrſchſucht des rheinbündiſchen Beamtenthums grenzenlos,
und er ſetzte ſich zum Ziele ſeines Lebens den Bürger und Bauersmann
zur Selbſtthätigkeit zu erwecken, ihn aufzuklären über ſeine nächſten Inter-
eſſen, die Volkswirthſchaftslehre von den Formeln des Katheders zu be-
freien und ſie die Sprache des Volkes reden zu laſſen. Schon durch die
[611]F. Liſt.
Geburt ein Deutſcher ſchlechtweg, gleich dem Reichsritter Stein, ging er
mit ſeinen kühnen Entwürfen ſogleich über die Grenzen der ſchwäbiſchen
Heimath hinaus, ſo daß er den verſchwiegerten und verſchwägerten Württem-
bergern bald als ein wildfremder Störenfried verdächtig wurde: eine neue
Zeit handelspolitiſcher Größe, dauerhafter als einſt die Herrlichkeit der
Hanſa, ſollte dem deutſchen Vaterlande tagen. Eine ſeltene Kunſt die
Maſſen zu befeuern und zu erregen ſtand ihm zu Gebote, ein agitatoriſches
Talent, deſſen gleichen unſere an großen Demagogen ſo arme Geſchichte ſeit-
her nur noch zweimal, in Robert Blum und Laſſalle geſehen hat. Im
April 1819 ſtiftete Liſt mit mehreren Induſtriellen der Kleinſtaaten, Miller
aus Immenſtadt, Schnell aus Nürnberg, E. Weber aus Gera den Verein
deutſcher Kaufleute und Fabrikanten, dem ſich bald die Mehrzahl der großen
Firmen in Süd- und Mitteldeutſchland anſchloß, und legte raſch entſchloſſen
ſeine Tübinger Profeſſur nieder, da die württembergiſche Regierung das
Amt eines Conſulenten des Handelsvereins als unverträglich mit der Be-
amtenwürde betrachtete.


Der neue Handelsverein richtete ſogleich an den Bundestag eine Bitt-
ſchrift um Ausführung des Art. 19, Beſeitigung aller Binnenmauthen und
Erlaß eines deutſchen Zollgeſetzes, das den Zöllen des Auslands mit
ſtrengen Retorſionen begegnen ſollte, bis ſich ganz Europa über allgemeine
Handelsfreiheit verſtändigt hätte — denn noch bekannte ſich Liſt, gleich
den meiſten Süddeutſchen jener Zeit, im Grundſatz zu den Lehren des
Freihandels. In Frankfurt abgewieſen, beſtürmte Liſt ſodann die Höfe, die
Geſchäftsmänner und wen nicht ſonſt mit ſeinen Geſuchen, geißelte in
ſeiner Zeitſchrift, dem „Organ des deutſchen Handels- und Gewerbſtandes“,
unermüdlich und unerbittlich die Gebrechen deutſcher Handelspolitik. Alſo hat
er in raſtloſer Arbeit mehr als irgend einer der Zeitgenoſſen dazu bei-
getragen, daß die Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit des Beſtehenden
tief in die Nation drang. Große verwegene Träume, die erſt das lebende
Geſchlecht in Erfüllung gehen ſieht, regten ſich in ſeinem ſtürmiſchen
Kopfe: er dachte an eine gemeinſame Gewerbegeſetzgebung, an ein deutſches
Poſtweſen, an nationale Induſtrieausſtellungen, er hoffte die romantiſchen
Kaiſerträume des jungen Geſchlechts durch die Arbeit der praktiſchen natio-
nalen Politik zu verdrängen und ſah die Zeit voraus, da eine freie Ver-
faſſung, ein deutſches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde.
Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er ſelber im Uebermaße ſeines
Selbſtgefühls ſich genannt hat, kann Liſt gleichwohl keinem Unbefangenen
gelten.


Ein klares Programm, einen beſtimmten, durchgebildeten politiſchen
Gedanken aufzuſtellen und feſtzuhalten lag überhaupt nicht in der Weiſe
der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der ſüddeutſchen Mittelſtaaten
begann die conſtitutionelle Bewegung bereits feſte, deutlich ausgeſprochene
Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutſchen Geſammtſtaat
39*
[612]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
ſchrieb, begnügte ſich noch immer der elenden Gegenwart ein leuchtendes
Idealbild gegenüberzuhalten und dann im raſchen Wechſel Einfälle und
Winke für den praktiſchen Staatsmann hinzuwerfen. Wie Görres im
Rheiniſchen Mercur ein ganzes Geſchwader deutſcher Verfaſſungspläne
harmlos veröffentlichte, ſo eilte auch Liſt in jähen Sprüngen von einem
Plane zum andern über. Bald will er die deutſchen Bundesmauthen an
eine Aktiengeſellſchaft verpachten; bald ſoll Deutſchland ſich anſchließen an
das öſterreichiſche Prohibitivſyſtem; dann überfällt ihn wieder die Ahnung,
ob nicht Preußen den Weg zur Einheit zeigen werde. In ſeiner Eingabe
an den Bundestag geſtand er: „Man wird unwillkürlich auf den Ge-
danken geleitet, die liberale preußiſche Regierung, die der Lage ihrer Länder
nach vollkommene Handelsfreiheit vor allen andern wünſchen muß, hege
die große Abſicht, durch dieſes Zollſyſtem die übrigen Staaten Deutſch-
lands zu veranlaſſen, endlich einer völligen Handelsfreiheit ſich zu ver-
gleichen. Dieſe Vermuthung wird faſt zur Gewißheit, wenn man die Er-
klärung der preußiſchen Regierung berückſichtigt, daß ſie ſich geneigt finden
laſſe, mit Nachbarſtaaten beſondere Handelsverträge zu ſchließen.“ Leider
vermochte der Leidenſchaftliche nicht an dieſer einfach richtigen Erkenntniß
feſtzuhalten. Er war ein Gegner der preußiſchen Handelspolitik, ſoweit
aus ſeinem unſteten Treiben überhaupt eine vorherrſchende Anſicht erkennbar
wird; denn nach allen Abſchweifungen lenkte er immer wieder auf jenen
Weg zurück, welchen Preußen längſt als unmöglich erkannt hatte, auf die
Idee der Bundeszölle. Von den preußiſchen Zuſtänden beſaß Liſt nur
ſehr mangelhafte Kenntniß; ſein Verein ward durch die Hoffnung auf bal-
dige Wiederaufhebung des preußiſchen Zollgeſetzes zuſammengehalten und
beſaß Correſpondenten in allen größeren deutſchen Staaten, aber, bezeichnend
genug, keinen in Preußen.


Nur der Zauber, der an dem Namen Deutſchlands haftete, erklärt das
Räthſel, daß ſo viele wackere und einſichtige Männer noch immer auf eine
Handelspolitik des Deutſchen Bundes hoffen konnten. Seinerſeits hatte der
Bundestag Alles gethan, um die Schwärmer zu enttäuſchen. Die Berichter-
ſtattung über Liſts Bittſchrift wurde dem Hannoveraner Martens übertragen,
der gleich den meiſten dieſer „deutſchen Großbritannier“ die engliſche
Handelsherrſchaft auf deutſchem Boden hocherfreulich fand. Mit dem
ganzen Feuereifer polizeilicher Seelenangſt fragte er zunächſt, woher dieſer
Verein das Recht nehme, ſich zum Vertreter des deutſchen Handels-
ſtandes aufzuwerfen, und überließ es den hohen Regierungen, auf ihre be-
theiligten Unterthanen ein wachſames Auge zu richten. Zur Sache ſelbſt
brachte er nicht viel mehr vor als eine draſtiſche Schilderung der unge-
heueren Schwierigkeiten, welche ſich, ſeit die deutſchen Staaten ſouverän
geworden, der Handelseinheit entgegenſtellten (24. Mai). Einige Bundes-
geſandte wünſchten mindeſtens die Einſetzung einer Commiſſion; aber dann
hätten ja die Bittſteller wähnen können, dieſer Schritt ſei auf ihre Ver-
[613]Der Bundestag und die Verkehrsfreiheit.
anlaſſung geſchehen!*) Um einer ſo frevelhaften Mißdeutung vorzubeugen, be-
ſchloß die Bundesverſammlung nur, daß man ſich ſpäterhin einmal mit
dem Art. 19 beſchäftigen wolle. Einige Wochen nachher (22. Juli) erinnerten
die erneſtiniſchen Höfe den Bundestag nochmals an den unglücklichen Ar-
tikel; Liſts Freund E. Weber und die Fabrikanten des Thüringer Waldes
ließen ihnen keine Ruhe. Diesmal ergingen ſich Baden, Württemberg, beide
Heſſen und die Erneſtiner in wohlgemeinten, aber auch ſehr wohlfeilen
Reden zum Preiſe der deutſchen Verkehrsfreiheit und begeiſterten die Ver-
ſammlung dermaßen, daß ſie nunmehr wirklich beſchloß, nach den Ferien,
alſo 1820, ſolle eine Commiſſion eingeſetzt werden. Das war die Hilfe,
welche Deutſchlands Handel in Frankfurt zu erwarten hatte. Der preußiſche
Geſandte aber fand es mit Recht unbegreiflich, daß dieſe Verſammlung ſich’s
zutraue, ſo ſchwierige Arbeiten auch nur in die Hand zu nehmen.**)


Trotz ſolcher Erfahrungen ſollten noch viele Jahre vergehen, bis die
Unausführbarkeit der leeren Verſprechungen des Art. 19 allgemein erkannt
wurde. Mit großer Hartnäckigkeit hielt namentlich die badiſche Regierung
an dem Traumbilde des Bundeszollweſens feſt; ihr langgeſtrecktes, auf die
Durchfuhr angewieſenes Land litt unter dem Jammer der Binnenmauthen
beſonders ſchwer, und nicht ohne Beſorgniß betrachtete Miniſter Berſtett
die wachſende Erbitterung im Volke. Der beſchränkte Mann hoffte durch
wirthſchaftliches Gedeihen die Nation mit ihrer ſchimpflichen Zerſplitterung
zu verſöhnen, ihr „einen materiellen Erſatz für den Verluſt mancher chimä-
riſchen, aber liebgewordenen Ideen“ zu geben. Darum empfahl er auf den
Karlsbader Conferenzen in einer langen Denkſchrift (15. Auguſt) die Ein-
führung eines Bundes-Douanenſyſtems, das für dreißig Millionen Men-
ſchen freien Verkehr ſchaffen müſſe; über die große Frage, wie es möglich
ſein ſollte, Hannover, Holſtein, Luxemburg, Deutſch-Oeſterreich einem natio-
nalen Zollweſen einzufügen, ging das überaus unklare, widerſpruchsvolle
Schriftſtück ſchweigend hinweg. Metternich wurde durch dieſen Antrag,
welchem Oeſterreich ſich ſchlechterdings nicht fügen konnte, unangenehm
überraſcht und verſuchte ſogar die Competenz des Bundes in Zweifel zu
ziehen. „Der Handel — ſo behauptete er — ſeine Ausdehnung wie ſeine
Beſchränkung gehört zu den erſten Befugniſſen der Souveränität.“ Zur
Mißhandlung der Univerſitäten, von denen die Bundesakte kein Wort
ſagte, war der Bund, nach der k. k. Doctrin, unzweifelhaft befugt; aber
die Verkehrsfreiheit, welche der Bundesvertrag ausdrücklich in Ausſicht
ſtellte, verſtieß gegen die Souveränität der Bundesſtaaten. Draſtiſcher
konnte das Verhältniß der Hofburg zu den Lebensfragen der deutſchen
Nation unmöglich bezeichnet werden. Auf das wiederholte Andrängen Ba-
dens und Württembergs erklärte ſich der öſterreichiſche Staatsmann zuletzt
[614]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
doch bereit, die Zollfrage auf die Tagesordnung der bevorſtehenden Wiener
Conferenzen zu ſetzen. Er wußte wohl, was von ſolchen Berathungen zu
erwarten ſei.


Unterdeſſen hatte auch der beſte Kopf unter den badiſchen Finanz-
männern, Nebenius ſeine Gedanken über die Bedingungen der deutſchen
Verkehrsfreiheit in einer geiſtvollen Denkſchrift niedergelegt, einer Privat-
arbeit, welche zwar niemals, auch nicht mittelbar, auf die Entwicklung des
Zollvereins irgend einen Einfluß ausgeübt hat, aber durch Klarheit und
Beſtimmtheit Alles übertraf was damals von Privatleuten über deutſche
Handelspolitik geſchrieben wurde. Der gelehrte Verfaſſer der badiſchen
Conſtitution errang ſich ſchon in jenen Jahren durch ſeine Schrift über die
engliſche Staatswirthſchaft ein wiſſenſchaftliches Anſehen, das ſpäterhin,
ſeit dem Erſcheinen ſeines Werkes „der öffentliche Credit“ noch höher
ſtieg; dies claſſiſche Buch kann niemals ganz veralten, es wird, wie Ricardos
Werke, dem angehenden Nationalökonomen immer unſchätzbar bleiben als
eine Schule ſtrengen methodiſchen Denkens. Auch ſeine um Neujahr 1819
verfaßte handelspolitiſche Denkſchrift verräth überall den ſicheren Blick des
gewiegten Kenners. Sie wurde im April 1819 vertraulich den badiſchen
Landtagsmitgliedern mitgetheilt und dann im Winter den Wiener Confe-
renzen durch Berſtett als ein beachtenswerthes Privatgutachten überreicht.
Maaſſen freilich, Klewiz und die anderen Urheber des preußiſchen Zollge-
ſetzes konnten aus den Rathſchlägen des badiſchen Staatsmannes nichts
lernen. Für ſie war das Richtige in ſeiner Denkſchrift nicht neu, das
Neue nicht richtig.


Die Denkſchrift tritt, in den behutſam ſchonenden Formen, welche
Nebenius liebte, entſchieden gegen das preußiſche Zollgeſetz auf. Sie hebt
die Uebelſtände dieſes Syſtems ſcharf heraus, ohne die Lichtſeiten zu er-
wähnen. Sie ſtellt den Satz hin: „kein deutſcher Staat, Oeſterreich aus-
genommen, vermag ſein Gebiet gegen überwiegende fremde Concurrenz
wirkſam zu ſchützen“ — eine Behauptung, welche Preußens Staatsmänner
ſoeben durch die That zu widerlegen begannen. Die Urheber des Geſetzes
vom 26. Mai gingen aus von den Bedürfniſſen des preußiſchen Staats-
haushalts, Nebenius hebt an mit der Betrachtung der Leiden des deutſchen
Verkehrs. Darum ſteht Jenen der finanzielle, Dieſem der ſtaatswirth-
ſchaftliche Geſichtspunkt obenan. Darum wollen Jene die allmähliche
Erweiterung des preußiſchen Zollweſens unter den Bedingungen, welche das
Intereſſe der preußiſchen Finanzen vorſchreibt. Nebenius hingegen fordert,
ganz im Sinne der Durchſchnittsmeinung der Zeit, ein Syſtem deutſcher
Bundeszölle, eine vom Bundestage abhängige Zollverwaltung. Er will
mithin genau das Gegentheil der Politik, welche den wirklichen Zoll-
verein geſchaffen hat; der erſte Schritt auf dem von Nebenius vorgeſchla-
genen Wege mußte offenbar zur Aufhebung des preußiſchen Zollgeſetzes
führen, alſo grade die Grundlage des ſpäteren Zollvereins vernichten.
[615]Nebenius’ Denkſchrift.
Der handelspolitiſche Kampf jener Jahre bewegte ſich um die eine Frage:
ſoll das preußiſche Zollgeſetz aufrecht bleiben oder nicht? Und in dieſem
Streite ſtand Nebenius auf der Seite der Irrenden. Will man eine
Denkſchrift, welche alſo den leitenden politiſchen Gedanken der preußiſchen
Handelspolitik bekämpft, als den bahnbrechenden Vorläufer des Zollvereins
preiſen, ſo muß man, kraft derſelben Logik, auch Großdeutſche und Klein-
deutſche für Geſinnungsgenoſſen erklären. Beide Parteien erſtrebten be-
kanntlich die deutſche Einheit, nur leider auf entgegengeſetzten Wegen.


Der ſtaatsmänniſche Sinn des geiſtvollen Badeners ſteht keineswegs
auf gleicher Höhe mit ſeiner volkswirthſchaftlichen Einſicht. Er hegt wohl
Zweifel, ob Oeſterreich dem Zollvereine beitreten könne, zu einem ſicheren
Schluſſe gelangt er dennoch nicht. Noch im Jahre 1835 hat er den
Eintritt Oeſterreichs für möglich gehalten; dann werde der Zollverein „den
ſchönſten aller Märkte bilden“. Die ſchwerwiegenden politiſchen Gründe,
welche einen ſolchen Gedanken für Preußen unannehmbar machten, ſind
ihm niemals klar geworden. Ebenſo wenig will er begreifen, warum
Preußen als eine europäiſche Macht die Selbſtändigkeit ſeiner Zollverwal-
tung unbedingt aufrecht halten mußte; er verlangt eine in der Hand des
Bundes centraliſirte Zollverwaltung, die Mauthbeamten ſollen allein dem
Bunde vereidigt werden. Auch bei der Erörterung von Nebenfragen ver-
mag er nicht immer hinauszublicken über den engen Geſichtskreis ſeines
heimiſchen Kleinſtaats. So will er, mit wenigen Ausnahmen, die ge-
ſammte Zollerhebung allein an den Grenzen ſtattfinden laſſen, weil, nach
der Anſicht des badiſchen Beamtenthums, dieſe Einrichtung dem Grenz-
lande Baden beſonderen Vortheil bringen ſollte. Maaſſen dagegen ließ in
allen größeren preußiſchen Plätzen Packhöfe und Zollſtellen errichten, da
ohne ſolche Erleichterung ein ſchwunghafter Speditionshandel offenbar nicht
gedeihen konnte.


Neben dieſen Irrthümern der Denkſchrift ſteht freilich eine lange
Reihe tief durchdachter, praktiſch brauchbarer Vorſchläge, doch iſt kein ein-
ziger darunter, welchen das preußiſche Cabinet nicht ſchon damals gekannt und
angewendet hätte. Mit großer Klarheit entwickelt Nebenius den Satz, daß
ohne Zollgemeinſchaft die Freiheit des Verkehrs nicht möglich ſei. Dieſer
Gedanke, der uns heute trivial und ſelbſtverſtändlich erſcheint, war der
Diplomatie der Kleinſtaaten jener Zeit völlig neu. Den Berliner Staats-
männern war er wohlbekannt; denn nur jenen Staaten, die ſich dem
preußiſchen Zollſyſtem einfügen wollten, hatte Preußen freien Verkehr
angeboten. Ebenſo tief durchdacht waren die Grundzüge des Zolltarifs,
welche Nebenius entwarf. Er will mäßige Finanzzölle, namentlich auf die
Gegenſtände allgemeinen Gebrauchs, auf die Colonialwaaren, legen; die dem
heimiſchen Gewerbfleiß nothwendigen Rohſtoffe giebt er frei, die Fabrik-
waaren ſchützt er durch Zölle, die ungefähr der üblichen Schmuggelprämie
entſprechen; feindſelige Schritte des Auslands ſollen mit Repreſſalien er-
[616]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
widert werden. Treffliche Gedanken, ohne Frage; aber als Nebenius ſchrieb,
war bereits der preußiſche Tarif veröffentlicht, der durchaus auf denſelben
Grundſätzen beruhte. Selbſtändiges Nachdenken hatte den Süddeutſchen
genau auf dieſelben ſtaatswirthſchaftlichen Ideen geführt, welche Eichhorn
oftmals als den Eckſtein des preußiſchen Syſtems bezeichnete: „Freiheit,
Reciprocität, Ausſchließung der Prohibition.“ War es nicht ein ſeltſames
Zeichen der allgemeinen Unklarheit jener Tage, daß ein ſo ungewöhnlicher
Geiſt ſo dicht heranſtreifte an die Ideen des preußiſchen Zollſyſtems und
doch nicht einmal die Frage aufwarf, ob nicht der Bau der deutſchen
Handelseinheit auf dem feſten Grunde dieſes Syſtems aufgerichtet werden
ſolle? — Nebenius ſtellt ferner den Grundſatz auf, daß die Vertheilung
der Zolleinnahmen nach der Kopfzahl der Bevölkerung erfolgen ſolle. Aber
als ſeine Denkſchrift in Berlin bekannt wurde, da hatte Preußen denſelben
folgenſchweren Gedanken ſchon in einem Staatsvertrage praktiſch durchge-
ſetzt. Er erörtert ſodann, die Zollgemeinſchaft ſei unmöglich, wenn nicht
auch der innere Conſum nach gleichen Grundſätzen beſteuert werde; bis
dies Ziel erreicht ſei, müſſe man ſich mit Uebergangsabgaben behelfen.
Auch dieſe Einſicht beſtand in Berlin ſchon längſt; eben weil Eichhorn
und Maaſſen die weit abweichenden Steuerſyſteme der Nachbarſtaaten
kannten, wollten ſie nicht zu einer vorſchnellen Einigung die Hand bieten.
Sie wußten desgleichen ſo gut wie Nebenius, daß es genüge einen Zoll-
vertrag für einige Jahre abzuſchließen; gleich ihm hofften ſie zuverſichtlich,
der unermeßliche Segen der Verkehrsfreiheit werde die Wiederaufhebung
eines einmal geſchloſſenen Zollvereins verhindern.


Wenn der deutſche Durchſchnittsbiograph über den Charakter ſeines
Helden nicht viel zu berichten weiß, dann pflegt er ſtets die anſpruchsloſe
Beſcheidenheit des Mannes zu preiſen. Dieſe Phraſe iſt bereits aufge-
nommen in das Ceremoniell der hiſtoriſchen Kunſt, ſie kehrt ebenſo unver-
meidlich wieder, wie die anmuthige Behauptung, daß jeder große Plebejer
von armen aber ehrlichen Eltern abſtamme. Auch Nebenius iſt mit
ſolchem Lobe überſchüttet worden. Wer mit ihm Staatsgeſchäfte zu ver-
handeln hatte, urtheilte anders; er galt in der Diplomatie allgemein als
ein bedeutender Kopf und als ein höchſt unbequemer Unterhändler. Er
zählte zu jenen ſtillen Gelehrtennaturen, die unter ſchmuckloſer Hülle ein
ſehr reizbares Selbſtgefühl hegen, den Widerſpruch ungern, noch ſchwerer
die Widerlegung ertragen. Weit entfernt von der lauten Prahlſucht
Friedrich Liſts war er doch mit nichten geſonnen ſein Licht hinter den
Scheffel zu ſtellen. Er gab wohl zu, kein einzelner Mann könne als Ur-
heber des Zollvereins gelten. Doch er rühmte ſich, ſeine Denkſchrift habe
den Gedanken eines allgemeinen Zollverbandes zum erſten male entwickelt,
ſie habe, bis auf einen einzigen Irrthum, die Verfaſſung des ſpäteren
Zollvereins im voraus richtig gezeichnet. Er überſah, daß dieſer einzige
Irrthum grade die Lebensfrage der deutſchen Handelspolitik betraf; er
[617]Eichhorn.
überſah nicht minder, daß der beſte Theil ſeiner Denkſchrift lediglich als
Wunſch ausſprach, was Preußen durch die That ſchon vollzogen hatte.
Ihm gebührt nur das große Verdienſt, daß er, gleichzeitig mit den preußi-
ſchen Staatsmännern und unabhängig von ihnen, für einige wichtige
Fragen deutſcher Handelspolitik die rechte Löſung erdachte; jedoch die ent-
ſcheidende Frage: „Bundeszölle oder Anſchluß an das preußiſche Syſtem?“
wurde in Berlin richtig, von Nebenius falſch beantwortet. Nebenius kam
der Wahrheit näher als Liſt. Darf man dieſen mit Görres vergleichen,
ſo läßt ſich von Jenem ſagen, er habe von dem Zollvereine der Zukunft
etwa ſo viel geahnt wie Paul Pfizer von dem heutigen deutſchen Reiche.


Eine klare Vorſtellung von dem Handelsbunde, der anderthalb Jahr-
zehnte ſpäter ins Leben trat, hegte im Jahre 1819 noch Niemand. „Die
Idee hatte ſich noch gar nicht entwickelt“, pflegte Eichhorn ſpäterhin zu
ſagen. Der Aufzug des großen Gewebes war bereits ausgeſpannt. Es
beſtand das preußiſche Zollſyſtem, es beſtand der ausgeſprochene Wille
Preußens, dies Syſtem zu erweitern und den deutſchen Nachbarn ohne
Kleinſinn reichlichen Antheil an den gemeinſamen Zolleinkünften zu ge-
währen. Noch fehlte der Einſchlag. Es fehlte der gute Wille der Nach-
barſtaaten; es fehlte hüben wie drüben ein deutlicher Begriff von den loſen
und lockeren bündiſchen Formen, welche allein einen dauernden Handels-
bund zwiſchen eiferſüchtigen ſouveränen Staaten — dies noch niemals ge-
wagte Unternehmen ermöglichen konnten. Jenen guten Willen hat nachher
die Noth gezeitigt. Dieſe Verfaſſungs-Formen des Zollvereins ſind nicht
von Nebenius, noch von irgend einem Denker im Voraus erſonnen worden,
da die Theorie ſolche Aufgaben niemals löſen kann; ſie ſind gefunden
worden auf den Wegen praktiſcher Politik, durch Verhandlungen und ge-
genſeitige Zugeſtändniſſe zwiſchen den deutſchen Staaten. Der badiſche
Denker ſchrieb als ein unverantwortlicher Privatmann, er durfte kühn
ſofort die Einheit des ganzen Vaterlandes ins Auge faſſen. Er hat an
dieſem Ideale unverbrüchlich feſtgehalten, und weil er ſo hohen Flug nahm,
verfiel er auf den unmöglichen Plan der Bundeszölle. Preußens Staats-
männer hatten ein köſtliches Gut zu hüten: die ſchwer errungene und noch
immer hart bedrohte handelspolitiſche Einheit ihres Staates. Sie mußten
ſich von den Schwärmern bald des zaghaften Kleinſinns, bald des ſelbſt-
zufriedenen Dünkels zeihen laſſen, und indem ſie bedachtſam auf dem Be-
ſtehenden fortbauten, erreichten ſie das hohe Ziel. —


Zur rechten Stunde fanden die Urheber des preußiſchen Zollgeſetzes
einen mächtigen diplomatiſchen Bundesgenoſſen an dem neuen Referenten
für die deutſchen Angelegenheiten, J. A. F. Eichhorn, den ſein Chef Graf
Bernſtorff auf dem Gebiete der Handelspolitik völlig frei ſchalten ließ.
Unter den Helden der Arbeit, welche in müden Tagen die großen Ueber-
lieferungen Preußens muthig aufrecht hielten, in friedlichem Schaffen den
Grund legten für ſeine neue Größe, ſteht Eichhorn in vorderſter Reihe.
[618]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
Sein ganzer Lebensgang hatte ihn vorbereitet auf die Rolle des friedlichen
Bändigers der Kleinſtaaterei. Im Löwenſteiniſchen Wertheim war er auf-
gewachſen, an der lieblichen Ecke des Mainthales und des Taubergrundes,
ſo recht im Herzen der verkommenen Staatenwelt des alten Reichs, und
ſein tagelang blieb es ihm unvergeßlich, wie er dort noch den Boten des
Reichskammergerichts in ſeiner altfränkiſchen Tracht die Befehle von Kaiſer
und Reich hatte vollſtrecken ſehen. Begeiſtert von den Thaten Friedrichs
war er dann gen Norden gegangen, um dem Staate ſeiner Wahl zu dienen,
und auch an ihm bewährte ſich, daß Preußen die wärmſte Liebe bei jenen
Deutſchen findet, die ſich dies Gefühl erſt erarbeitet haben. Er mußte
in Cleve den Zuſammenbruch der preußiſchen Herrſchaft, dann in Hannover
1806 die fiscaliſchen Künſte einer kleinlichen Annexionspolitik mit anſehen
und ward trotz alledem nicht irr an ſeinem Staate. Dann nahm er theil
an Schills abenteuerlichem Zuge und trat zu Berlin mit Stein und Gnei-
ſenau, mit Humboldt, Altenſtein, Kircheiſen in vertrauten Verkehr; ſie Alle
ließen den unbekannten jungen Fremdling ſofort als einen Ebenbürtigen
gelten. Ein Schüler Spittlers, gründlich und vielſeitig gebildet, ward er
als erſter Syndicus der Berliner Univerſität auch perſönlich mit der ge-
lehrten Welt näher bekannt; mit Schleiermacher verband den tief religiöſen
Mann eine treue Freundſchaft, der großen Theologenfamilie der Sack ge-
hörte er durch ſeine Heirath an. Die Zeiten des Befreiungskrieges verlebte
er gehobenen Herzens erſt als Offizier in Blüchers Stabe, dann als Mit-
glied von Steins Centralverwaltung; hier fand er reiche Gelegenheit den
kleinen deutſchen Regierungen bis in das Innerſte der Seele zu blicken.
Unerſchüttert trug er die Begeiſterung jener großen Jahre hinüber in die
ſtille Zeit des Friedens.


Als er in ſeinem vierzigſten Jahre die wichtige Stellung im Aus-
wärtigen Amte erhielt, da beſeelte ihn die Hoffnung, eine ſolche Ver-
bindung, wie ſie einſt unter der Centralverwaltung nur zeitweilig, unfertig,
unbeliebt beſtanden hatte, auf die Dauer zu begründen, die deutſchen
Staaten durch die Bande des Rechts, des Vertrauens, des Intereſſes
für immer an die Krone Preußen anzuſchließen. Dies galt ihm als die
Vollendung, als die Läuterung der Träume von 1813. Er erkannte in
dem Art. 19 der Bundesakte „die gutgemeinte Abſicht der deutſchen Für-
ſten, daß unbeſchadet ihrer Souveränität den deutſchen Unterthanen die
Wohlthat eines gemeinſamen Vaterlandes gewährt werden müſſe“, und er
traute ſeinem Preußen die Kraft zu, die dem Bunde fehlte, dieſe Wohlthat
eines Vaterlandes den Deutſchen zu ſpenden. Neben der ſchneidigen Kühn-
heit, die man oft an den großen Epochen unſerer Geſchichte bewundert
hat, überſieht man leicht jene kalte, zähe, ausdauernde Geduld, welche der
preußiſchen Staatskunſt in den endlos langweiligen Händeln deutſcher
Kleinſtaaterei zur anderen Natur geworden war. Wohl keiner unſerer
Staatsmänner hat dieſe altpreußiſche Tugend mit ſolcher Meiſterſchaft
[619]Eichhorns deutſche Politik.
geübt wie Eichhorn. Da watet der geiſtvolle Mann jahraus jahrein durch
den zähen Schlamm armſeliger Verhandlungen, die ſchon beim Durchleſen
körperlichen Ekel erregen. Nichts ſchwächt ihm die Friſche des Geiſtes;
immer bleibt ihm der Gedanke gegenwärtig, welch großes Ziel hinter den
kleinen Händeln winkt; immer wieder rafft ſich ſein gebrechlicher Körper
nach ſchweren Krankheitsanfällen zu raſtloſer Thätigkeit auf. Ueberall hat
er ſeine Augen; wie der Arzt am Krankenbette überwacht er die Stimmung
der kleinen Höfe, ihre Bosheit, ihre Selbſtſucht, ihre rathloſe Thorheit.
Zuweilen hilft er ſich mit einem ſcharfen Witze über die Langeweile hinaus.
„Was wohl die herzoglich ſächſiſchen Häuſer beabſichtigen? — ſchreibt er
einmal — Ja, wenn ſie es nur ſelber wüßten!“ Und nach allem Jammer,
den ihm die Kleinfürſten zu koſten geben, bewahrt er ihnen doch Achtung
und Wohlwollen, kommt bereitwillig, mit bundesfreundlicher Geſinnung,
jedem billigen Wunſche entgegen. Oftmals ſchlugen die ſchmutzigen Wellen
der Demagogenverfolgung gegen ſeinen ehrlichen Namen an; er blieb ſich
ſelber treu, trat tapfer ein für ſeine verfolgten Freunde und behauptete
ſich doch im Vertrauen des Königs. Dann hat Fürſt Metternich viele
Jahre hindurch alle ſeine ſchlechten Künſte ſpielen laſſen gegen den ver-
haßten Patrioten, der in Wien als der böſe Dämon Preußens galt. Zu-
gleich ſchmähte die liberale Preſſe auf den Servilen. Er aber trug gelaſſen
Stein auf Stein zu dem unſcheinbaren Bau deutſcher Handelseinheit und
duldete ſchweigend die Unbilden der öffentlichen Meinung, denn jeder Ver-
ſuch einer lauten Rechtfertigung wäre ſein ſicherer Sturz geweſen. Nachher
kam doch eine Zeit, da mindeſtens die Höfe ſein Verdienſt erkannten;
ſämmtliche Orden des deutſchen Bundes, nur kein öſterreichiſcher, wurden
dem anſpruchsloſen Geheimen Rathe verliehen, und die Staatsſchriften der
dankbaren Zollverbündeten prieſen ihn als „die Seele des preußiſchen Mi-
niſteriums“. Die Nation aber erfuhr niemals ganz was ſie ihm ſchuldete.


Seine Hoffnung war, das preußiſche Zollſyſtem durch Verträge mit
den deutſchen Nachbarſtaaten allmählich zu erweitern. Für die Formen und
Grenzen dieſer Erweiterung hat er nicht im Voraus einen feſten Plan
entworfen; er ſtellte ſie, da er die Schwierigkeit des Unternehmens richtig
würdigte, dem unberechenbaren Gange der Ereigniſſe anheim. Die Frage, ob
Preußens Zollſchranken dereinſt am Main oder am Bodenſee ſtehen wür-
den, war im Jahr 1819 noch nicht praktiſch; ſie konnte den Leiter der
preußiſch-deutſchen Politik vielleicht in ſeinen Träumen, ſie durfte ihn nicht
bei ſeiner Arbeit beſchäftigen. Nur das Eine war ihm ſicher, daß das neue
Zollſyſtem aufrecht bleiben, den feſten Kern bilden müſſe für die Neu-
geſtaltung des deutſchen Verkehrs. Er verlangte freie Hand für Preußens
Handelspolitik, wies von dieſem Gebiete die Einmiſchung Oeſterreichs ent-
ſchieden zurück. Aber jede Feindſeligkeit gegen die Hofburg lag ihm fern;
der Gedanke, den Deutſchen Bund von Oeſterreich abzutrennen, blieb ihm,
dem Conſervativen, der in den Ideen von 1813 lebte, völlig fremd. Noch
[620]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
als Greis hat er Radowitz’s Unionspläne als unausführbare Träume be-
kämpft. —


Einen widerwärtigen Uebelſtand, der ſofort beſeitigt werden mußte, bot
die Lage der zahlreichen Enclaven. Die Zolllinien wurden alsbald ſoweit
vorgeſchoben, daß ſie die anhaltiſchen Herzogthümer faſt ganz und auch einen
Theil der kleinen thüringiſchen Gebiete, die mit Preußen im Gemenge lagen,
umfaßten. Alle nach dieſen Ländern eingeführten Waaren unterlagen ohne
Weiteres den preußiſchen Einfuhrzöllen. Erſt nachdem die neue Grenz-
bewachung in Kraft getreten, ließ Eichhorn, zu Anfang 1819, dieſen Staaten
die Einladung zugehen, mit dem Berliner Cabinet wegen des Zollweſens
zu verhandeln. Der König ſei bereit, nach billiger Uebereinkunft den Landes-
herren der eingeſchloſſenen Gebiete das Einkommen zu überweiſen, das ſeinen
Staats-Kaſſen aus den Enclaven zufließe. Dies kurz angebundene Ver-
fahren, das in den Papieren des Finanzminiſteriums als „unſer Enclaven-
ſyſtem“ bezeichnet ward, mußte allerdings die kleinen Höfe befremden; doch
die Nothwendigkeit gebot, dieſen Nachbarn zu zeigen, daß ſie in ihrer Han-
delspolitik von Preußen abhängig ſeien. Nur gutmüthige Schwäche konnte
das Gelingen der großen Zollreform abhängen laſſen von der vorausgehenden
Zuſtimmung eines Dutzends kleiner Herren, die nach deutſcher Fürſtenweiſe
allein für die Beredſamkeit vollendeter Thatſachen empfänglich waren. Ledig-
lich die Eitelkeit der Nachbarfürſten ward gekränkt; den wirthſchaftlichen
Intereſſen der Enclaven gereichte Preußens Vorgehen offenbar zum Segen.
Eine ſelbſtändige Handespolitik blieb in dieſen armſeligen Gebietstrümmern
ja doch undenkbar. Das Gedeihen ihrer Volkswirthſchaft wurde ſofort ver-
nichtet, wenn Preußen ſie von ſeinem Zollſyſtem ausſchloß und ſie mit ſeinen
Schlagbäumen rings umſtellte; auch der Handel innerhalb der Provinz
Sachſen erlitt ärgerliche Störung, wenn alle durch das Anhaltiſche oder
das Schwarzburgiſche gehenden Waaren verbleit und der Controle der Zoll-
ämter unterworfen werden mußten. Ebenſo wenig durfte Preußen den Ver-
kehr der Enclaven völlig unbeaufſichtigt laſſen. Was dieſe Ländchen ſelbſt
an Zolleinkünften aufbrachten, bildete freilich nur den achtzigſten Theil der
preußiſchen Zolleinnahmen; doch durch den Schmuggel konnten ſie den
Finanzen Preußens hochgefährlich werden.


Durch die heilſame Rückſichtsloſigkeit der Berliner Finanzmänner er-
hielten die Enclaven freien Verkehr auf dem preußiſchen Markte, ihre
Staatskaſſen die Zuſage eines geſicherten reichlichen Einkommens, das ſie
aus eigener Kraft niemals erwerben konnten. Die preußiſche Regierung
handelte in gutem Glauben; ſie war bereit ihr eigenes Enclavenſyſtem auch
gegen preußiſches Gebiet anwenden zu laſſen; mehrmals erklärte ſie, wenn
ein ſüddeutſcher Zollverein zu Stande komme, ſo müſſe der enclavirte Kreis
Wetzlar ſich dieſem Zollſyſtem unterwerfen.*) Ganz unhaltbar war vollends
[621]Das Enclavenſyſtem.
die von den gekränkten Kleinfürſten oft wiederholte Anklage, Preußens
Enclavenſyſtem verletze das Völkerrecht. Alle nach den Enclaven beſtimmten
Waaren unterlagen von Rechtswegen den preußiſchen Durchfuhrzöllen; und
wenn der Berliner Hof für gut fand, die Tranſitabgaben auf gewiſſen
Straßen bis zur Höhe der Einfuhrzölle hinaufzuſchrauben, ſo ließ ſich recht-
lich dawider nichts einwenden.


Indem Eichhorn die Kleinſtaaten einlud zu freundnachbarlichen Ver-
trägen über die Behandlung der Enclaven, erklärte er zugleich die Bereit-
willigkeit des Königs, auch über den Anſchluß nicht-enclavirter Gebiete zu
verhandeln. Er betonte den nationalen Charakter des Zollgeſetzes, er hob
hervor, dies Geſetz ſei im Sinne des Art. 19 der Bundesacte gedacht, ſei
beſtimmt, zunächſt in einem Theile von Deutſchland die Binnenmauthen
aufzuheben, ſodann auch anderen Bundesſtaaten den Anſchluß zu erleichtern;
der König verdiene den Dank der Bundesgenoſſen, da er begonnen habe,
den deutſchen Markt von der Herrſchaft des Auslandes zu befreien. An
dieſer nationalen Richtung hat Preußens Handelspolitik ſeitdem unerſchüt-
terlich feſtgehalten; die in ſpäteren Jahren oft auftauchenden Vorſchläge,
etwa Belgien oder die Schweiz in den Zollverein aufzunehmen, wurden in
Berlin ſtets kurzerhand zurückgewieſen. Nicht kosmopolitiſche Verkehrsfrei-
heit war Preußens Ziel, ſondern die Handelseinheit des Vaterlandes. Der
König, ſagt eine von Bernſtorff unterzeichnete Note an das Collegium der
Geheimen Räthe zu Gotha (v. 13. Juni 1819), beabſichtige durch das Geſetz
vom 26. Mai „hauptſächlich den Handel mit außerdeutſchen Landeserzeug-
niſſen zu beſteuern und die Mitbewerbung außerdeutſcher Fabriken von Ihren
Staaten und von denjenigen Ländern abzuwehren, welche ſich hierin an
Ihre Maßregeln anſchließen wollen.“ Er hege „den lebhaften Wunſch, die
nur zur Beſteuerung außerdeutſcher Verbrauchsartikel und zum Schutze der
preußiſchen Landesinduſtrie gegen die außerdeutſchen Fabriken ergriffenen
Maßregeln bundesverwandten deutſchen Staaten, ſoweit es ihre Lage irgend
geſtattet, nicht zum Nachtheil gereichen zu laſſen.“ Hierauf räth die Note,
einen thüringiſchen Handelsverein zu bilden, der alsdann mit Preußen in
Zollverbindung treten ſolle; ſie zeichnet alſo genau den Weg vor, welcher
vierzehn Jahre ſpäter zu der handelspolitiſchen Vereinigung Preußens und
Thüringens geführt hat.


Im ſelben Sinne verſicherte die Staatszeitung amtlich, „daß Preußen
ſchon ſeiner Lage wegen, mehr aber noch, weil die Vereinigung des Einzel-
Intereſſes der deutſchen Bundesſtaaten zu einem Geſammt-Intereſſe für
Preußen vorzüglich wünſchenswerth ſei, zu dem Plane einer völligen Han-
delsfreiheit zwiſchen den Bundesſtaaten die Hand zu bieten am eheſten
geneigt ſei, und daß es am liebſten die Schwierigkeiten gehoben ſehen
werde, die ſich der Ausführung entgegenzuſtellen ſchienen.“ Und als gegen
Weihnachten 1819 Abgeordnete des Liſt’ſchen Vereins nach Berlin kamen,
um die Regierung für einen deutſchen Mauthverband zu gewinnen, da er-
[622]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
hielten ſie von Hardenberg und drei Miniſtern die Verſicherung: „daß die
preußiſche Regierung, weit entfernt, durch einſeitige Maßregeln den Wohl-
ſtand der deutſchen Nachbarſtaaten untergraben zu wollen, ſich freuen
würde, wenn alle Regierungen Deutſchlands über die Grundſätze eines
gemeinſchaftlichen, die Wohlfahrt aller Theile fördernden Handelsſyſtems
ſich vereinigen könnten, wozu die preußiſche Regierung ſehr gern die Hände
bieten werde, um ihrerſeits mitzuwirken, daß dem ganzen Deutſchland die
Wohlthat eines freien, auf Gerechtigkeit gegründeten Handels zu theil
werde. Es iſt ihnen aber auch nicht verhehlt worden, daß der Zuſtand
und die Verfaſſung der einzelnen deutſchen Staaten noch keineswegs zu
gemeinſamen Anordnungen vorbereitet erſcheine; wozu auch beſonders ge-
höre, daß die gemeinſamen Anordnungen in einem gemeinſamen Sinne
von Allen gehalten würden. Die Sache ſcheine daher jetzt nur darauf zu
führen, daß einzelne Staaten, welche ſich durch den jetzigen Zuſtand be-
ſchwert glaubten, mit denjenigen Bundesgliedern, von denen nach ihrer
Meinung die Beſchwerden veranlaßt werden, ſich zu vereinigen ſuchten
und daß auf dieſem Wege übereinſtimmende Anordnungen von Grenze zu
Grenze weiter geleitet würden, welche den Zweck hätten, die inneren
Scheidewände mehr und mehr wegfallen zu laſſen.“*)


Damit war rund und nett der Grundgedanke einer nationalen Handels-
politik ausgeſprochen, welche bei der Nichtigkeit des Bundestags die einzig
mögliche war. Deutlicher als Preußen ſprach, konnte eine Regierung über
noch unfertige Entwürfe ſchlechterdings nicht reden. Aber in der epidemiſchen
Verblendung, die nunmehr über die öffentliche Meinung hereinbrach, in
dem donnernden Lärm der Anklagen, die auf das abſolutiſtiſche Peußen her-
niederpraſſelten, wurden die offenkundigen Worte und Thaten des Berliner
Cabinets völlig vergeſſen. Man redete ſich hinein in den Wahn, daß Preußen
ſich ſelbſtgefällig von dem großen Vaterlande abſondere. Alles ſchalt auf
den Berliner Hochmuth und Partikularismus, am Lauteſten jene kleinen Höfe,
welche das Enclavenſyſtem ertragen mußten. Selbſt Karl Auguſt von
Weimar betrachtete es als eine höchſt anmaßende Zumuthung, daß er ſeine
rings von Preußen umſchloſſenen Aemter Allſtedt und Oldisleben dem
preußiſchen Zollſyſtem einfügen ſollte, und ließ dem Berliner Hofe ſchreiben:
„Eine ſtrenge Durchführung des Geſetzes vom 26. Mai ſcheint mit dem
Geiſte und den Grundſätzen der Bundesacte ſo wenig in Einklang zu
ſtehen, daß nicht zu bezweifeln ſteht, es werde dieſe Angelegenheit Gegen-
ſtand der nächſten Verhandlungen des Bundestags werden und S. K. Ma-
jeſtät von Preußen als Bundesfürſt ſelbſt geruhen, conciliatoriſche Anträge
deshalb an den Bund gelangen zu laſſen.“**)


Auf ſo naive Vorſchläge konnte Eichhorn ſich nicht einlaſſen. Er durfte
[623]Verhandlungen mit Sondershauſen.
das Zollweſen der Provinz Sachſen nicht dem Belieben Oeſterreichs und
der Bundestagsmehrheit preisgeben, ſondern gab ſich der Hoffnung hin,
die Erkenntniß des eigenen Vortheils würde die kleinen thüringiſchen Dy-
naſten beſtimmen auf das Anerbieten Preußens einzugehen und ihre
enclavirten Gebietstheile durch Verträge dem preußiſchen Zollſyſtem anzu-
ſchließen. In der That wendeten ſich die kleinen Nachbarn alleſammt ſo-
gleich an den Berliner Hof, aber nur um zu fordern, daß Preußen ſein
Enclavenſyſtem alsbald wieder aufhebe; wie dies möglich ſein ſollte, wußten
ſie freilich nicht anzugeben. Beſonders hart fühlte ſich der wohlmeinende
Fürſt Anton Günther von Schwarzburg-Sondershauſen getroffen. Die
Hauptmaſſe ſeines Reiches, die Unterherrſchaft mit der Hauptſtadt, ein
Land von faſt 30,000 Einwohnern, war von preußiſchem Gebiet um-
ſchloſſen und dem preußiſchen Zollweſen einverleibt; da die Krone Preußen
als Rechtsnachfolgerin von Kurſachſen hier überdies das Poſtregal und
einige andere Hoheitsrechte ausübte, ſo blieb dem Fürſten von ſeiner
theueren Souveränität allerdings wenig übrig. Mit dringenden Bitten
mußten alſo erſt der vielgeplagte gemeinſame thüringiſche Geſandte General
Leſtocq, dann das Sondershauſener Geheime Conſilium ſelbſt den preu-
ßiſchen Hof beſtürmen um „Zurücknahme einer Anordnung, in welche
man ſchwarzburg-ſonderhauſenſcher Seits ſich nie zu fügen entſchloſſen iſt.“


Miniſter Klewiz erwiderte verbindlich, durch einen Vertrag könne die
Angelegenheit ohne Schwierigkeit geordnet werden; er gewährte auch dem
Fürſten freundnachbarlich Freipäſſe für die Verzehrung ſeines Hofhalts,
aber eine Abänderung des Geſetzes ſchlug er rundweg ab, da die Gefahr
des Schmuggels aus den kleinen Nachbarlanden gar zu groß ſei.*) In
Sondershauſen wollte man den Wink nicht verſtehen. Mehrere Monate
hindurch wurde die preußiſche Regierung immer von Neuem mit der An-
frage beläſtigt, ob ſie nun endlich bereit ſei eine Verfügung aufzuheben,
welche ſo gröblich in die Rechte der Sondershauſener Souveränität ein-
greife. Der Fürſt ſelber richtete an den König die „devoteſte Bitte“, ihn
„durch einen neuen Beweis Allerhöchſtdero allgemein verehrter und geprie-
ſener Liberalität und Großmuth zum unbegrenzteſten und devoteſten Danke
zu verpflichten.“**) Alles war vergeblich; die unterthänige Form konnte
über den anmaßenden Inhalt der Bittſchriften nicht täuſchen. Dann kam
der Kanzler v. Weiſe ſelbſt nach Berlin, ein wackerer alter Herr, der im
Verein mit ſeinem Sohne, dem Geheimen Rath, das Sondershauſener
Ländchen patriarchaliſch regierte. Auch er richtete nichts aus.


Mittlerweile hatte ſich Vicepräſident v. Motz in Erfurt des Streites
[624]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
angenommen. Er kannte alle Herzensgeheimniſſe der Kleinſtaaterei, da
ſein Regierungsbezirk mit faſt einem Dutzend kleiner Landesherrſchaften im
Gemenge lag; er war mit den beiden Weiſe als guter Nachbar vertraut
geworden und erwarb ſich jetzt um Deutſchlands werdende Handelseinheit,
die ihm bald noch Größeres verdanken ſollte, ſein erſtes Verdienſt, indem
er den Freunden vorſtellte, wie kindiſch es ſei an einer Zollhoheit feſtzu-
halten, die doch niemals in Wirkſamkeit treten konnte.*) Der kunſtſinnige
Fürſt wünſchte längſt, im freundlichen Thale der Wipper ein Sonders-
hauſener Nationaltheater zu gründen, aber die Mittel fehlten; ſchloß er
ſich dem preußiſchen Zollweſen an, ſo war ihm aus der Noth geholfen.
Dieſe Erwägung wirkte.


Gegen Ende September erſchien der alte Weiſe wieder in Berlin, und
da er diesmal ernſtlich verhandeln wollte, ſo ward er mit großer Freund-
lichkeit aufgenommen. Maaſſen und Hoffmann führten die Unterhandlung,
unter beſtändiger Rückſprache mit Eichhorn. Noch unbekannt mit der
Nebenius’ſchen Denkſchrift ſtellte Hoffmann zuerſt den Gedanken auf: das
Einfachſte ſei doch, die gemeinſamen Zolleinnahmen ohne fiscaliſche Klein-
lichkeit nach der Volkszahl zu vertheilen.**) Damit war jener Bevölkerungs-
maßſtab gefunden, der allen ſpäteren Zollverträgen Preußens zur Grund-
lage gedient hat. Weiſe ging ſofort auf das günſtige Anerbieten ein, und am
25. Okt. 1819 wurde der erſte Zollanſchluß-Vertrag unterzeichnet, kraft
deſſen der Fürſt von Sondershauſen „unbeſchadet ſeiner landesherrlichen
Hoheitsrechte“ ſeine Unterherrſchaft dem preußiſchen Zollgeſetz unterwarf
und dafür nach dem Maßſtabe der Bevölkerung ſeinen Antheil an den Zoll-
einnahmen — vorläufig eine Bauſchſumme von 15,000 Thlr. — erhielt.
Eine Mitwirkung bei der Zollgeſetzgebung wurde dem kleinen Verbündeten
nicht zugeſtanden; er mußte die Handelsverträge Preußens und alle anderen
Aenderungen, welche das Finanzminiſterium beſchloß, einfach annehmen.
Im Uebrigen waren ſeine Hoheitsrechte ſorgſam, faſt ängſtlich gewahrt;
ſelbſt die Steuerviſitationen auf ſchwarzburgiſchem Gebiet ſollten nur durch
die fürſtlichen Beamten vollzogen werden.


Im Wipperthale herrſchte laute Freude. Der Fürſt dankte tief gerührt
für dies neue Zeichen königlicher Hochherzigkeit***); nun konnte er endlich
ſein berühmtes Rauchtheater eröffnen, wo er mit den Bürgern ſeiner Re-
ſidenz um die Wette den Muſen des Dramas und der Rauchkunſt huldigte.
Finanziell betrachtet war das Abkommen unzweifelhaft ein Löwenvertrag zu
Gunſten Sondershauſens; Preußen brachte um des politiſchen Zweckes
willen ein Geldopfer, denn das wenig bemittelte Thüringer Bergländchen
verzehrte von den einträglichſten Zollartikeln, den Colonialwaaren weit
weniger als der Durchſchnitt der öſtlichen Provinzen.


[625]Der erſte Zollanſchluß-Vertrag.

Um ſo berechtigter ſchien die Erwartung, daß die übrigen Kleinen dem
Beiſpiel Sondershauſens folgen würden. Im Eingange des Vertrags hatte
der König nochmals erklären laſſen, daß er bereit ſei ähnliche Abkommen
mit anderen Bundesfürſten zu ſchließen. Rudolſtadt begann ſchon zu ver-
handeln. Auch mit Braunſchweig, Weimar, Gotha dachte Hoffmann binnen
Kurzem ins Reine zu kommen und bereits ging er mit ſeinen Entwürfen
über die Grundſätze des Enclavenſyſtems hinaus. Die unglückliche zer-
riſſene Geſtalt ſeines Gebietes zwang den preußiſchen Staat, auch wenn er
auf alle Eroberungspläne verzichtete, mindeſtens zum handelspolitiſchen Ehr-
geiz; er konnte ſein Steuerſyſtem kaum durchführen, wenn er nicht außer
den Enclaven auch noch einige nur halb umſchloſſene Nachbarlandſchaften
ſeinem Zollgeſetze unterwarf. Da lag Anhalt-Bernburg, das auf eine kleine
Strecke Weges nicht an Preußen grenzte und alſo gewiſſenhaft als Aus-
land behandelt wurde. Was war der Dank? Ein ungeheuerer Schmuggel,
der von Monat zu Monat anwuchs und die Zolleinnahme der Provinz
Sachſen zu verſchlingen drohte. Schon im Oktober wurden 4023 Centner,
zumeiſt Colonialwaaren, in die anhaltiſchen Harzſtädtchen bei Ballenſtedt
eingeführt um alsbald ſpurlos zu verſchwinden. Mindeſtens dies Vorland,
meinte Hoffmann, müſſe ſogleich in die Zolllinie eintreten; werde der Ver-
trag mit Sondershauſen nur erſt bekannt, dann könnten ſich die kleinen
Nachbarn nicht länger mehr wider ihren eigenen Vortheil ſträuben.*)


Die Hoffnung trog. Jener Zoll-Vertrag, der uns heute ſo ſelbſtver-
ſtändlich erſcheint, ſollte während mehrerer Jahre der einzige bleiben. Kaum
ward er ruchbar, ſo erſcholl an allen Höfen ein Schrei des Zornes. Fürſt
Anton Günther mußte von ſeinen durchlauchtigen Genoſſen ernſte Vorwürfe
hören, weil er das Kleinod der Souveränität ſo würdelos preisgegeben;
die anderen kleinen Nachbarn, die ſeinem Vorgange bereits folgen wollten,
traten, eingeſchüchtert durch die allgemeine Entrüſtung, von den Verhand-
lungen zurück. An die Spitze der Gegner Preußens ſtellte ſich der Herzog
von Cöthen. Der erklärte im Namen der kleinen Fürſten: „freiwillig können
und werden ſie ſich nicht unterwerfen, wenn ſie nicht die heiligſten Pflichten
gegen ihre Unterthanen, gegen ihre Häuſer und gegen ihre eigene Ehre
verletzen wollen;“ dann forderte er getroſt, Preußen ſolle ihm einen fünf
Stunden breiten Streifen zollfreien preußiſchen Gebietes bis zur ſächſiſchen
Grenze zur Verfügung ſtellen, damit das Haus Anhalt freien Zugang zum
Welthandel erlange. Gemüthlich lauernd und im Stillen ſchürend ſtand
hinter den erbitterten Kleinen der treue Bundesgenoſſe Preußens, Oeſterreich.
Die Höfe beſchloſſen insgeheim, auf den Wiener Conferenzen mit vereinter
Kraft die Aufhebung des preußiſchen Zollgeſetzes durchzuſetzen; nur wenn
der vorhandene Anfang deutſcher Zolleinheit vom Erdboden verſchwand,
konnte der Bundestag die nationale Handelspolitik begründen! Und an
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 40
[626]II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
dieſer Raſerei partikulariſtiſcher Leidenſchaft nahm die geſammte Nation
außerhalb Preußens willig theil. Alle die Lieder und Reden zum Preiſe
der deutſchen Einheit waren vergeſſen, ſobald Preußen ſich anſchickte, den
Deutſchen „die Wohlthat eines gemeinſamen Vaterlandes zu gewähren“.


Preußens Staatsmänner hatten gehofft, ſchon in dem erſten Jahre,
da das neue Geſetz beſtand, einige der deutſchen Nachbarn für die Politik
der praktiſchen deutſchen Einheit zu gewinnen. Jetzt ſahen ſie ſich in die
Vertheidigung zurückgeworfen. Der ſiegreiche Kampf um die Behauptung,
dann um die Erweiterung des Zollgebietes blieb auf Jahre hinaus die
wichtigſte Aufgabe der preußiſchen Staatskunſt. Durch die friedlichen Er-
oberungen dieſes Kampfes hat König Friedrich Wilhelm geſühnt was in
Karlsbad gefehlt war und die Markſteine geſetzt für das neue Deutſchland.
Er war der rechte Mann für dies unſcheinbare und doch ſo folgenſchwere
Werk deutſcher Geduld. Gleichmüthig und immer bei der Sache, treu und
beharrlich, von einer Rechtſchaffenheit, die jedes Mißtrauen entwaffnete, ſtets
bereit dem bekehrten Gegner mit aufrichtigem Wohlwollen entgegenzukommen
— ſo hat er nach und nach die Trümmer Deutſchlands befreit aus den
Banden eigener Thorheit und ausländiſcher Ränke, den Weg bereitend für
größere Zeiten. Die Gegenwart aber ſoll nicht undankbarer ſein als
Friedrich der Große war, der von dem glanzloſen Arbeitsleben ſeines Vaters
ſagte: „der Kraft der Eichel danken wir den Schatten des Eichbaums, der
uns deckt.“ —


[[627]]

Beilagen
zu den zwei erſten Bänden.


40*
[[628]][[629]]

I. E. M. Arndt und Wrede.
Zu Bd. I S. 610. (613 der 3. Aufl.)


E. M. Arndt erzählt in ſeinem bekannten Buche „Meine Wanderungen und Wan-
delungen mit dem Freiherrn vom Stein“ (S. 218) Folgendes: „Steins Zorn gegen
Wrede hatte noch ſeinen beſonderen Haken. Von allen deutſchen Truppen unter fran-
zöſiſchem Kommando hatten in Norddeutſchland die Baiern und die Darmſtädter durch
Roheit, Zuchtloſigkeit und Plünderungsſucht den ſchlechteſten Ruf hinter ſich gelaſſen.
Wrede ward wohl mit Recht beſchuldigt, den Seinigen nicht nur Vieles nachgeſehen,
ſondern ihnen auch ſelbſt das böſeſte Beiſpiel gegeben zu haben. Bei einem ſolchen Bei-
ſpiel hatte ihn nun Stein erfaßt und zwar recht tüchtig angefaßt. Wrede war in Schloß
Oels in Schleſien einquartiert, im Schloſſe des Herzogs von Braunſchweig. Hier hatte
er es ganz den gierig unverſchämten franzöſiſchen Räubern nachgemacht, den Soult,
Maſſena und Ihresgleichen, welche das Silber (Löffel, Teller), womit ſie von ihren Wirthen
bedient wurden, nach der Tafel gewöhnlich einpacken und mit ihrem Gepäck wandern
ließen. So hatte Wrede in Oels ganz nach franzöſiſcher Marſchallsweiſe bei ſeinem Ab-
zuge alles herzogliche Schloßſilber mit zu ſeinem Feldgepäck legen laſſen. Der arme Schloß-
vogt hatte dem nicht wehren gekonnt, hatte aber, damit er ſelbſt nicht für den Räuber
und Dieb des herzoglichen Silberſchatzes gehalten würde, den Marſchall um einen Schein
gebeten, daß er in Kraft des Kriegsbefehls es ſich habe ausliefern laſſen. Und wirklich
hatte der Feldmarſchall ihm den genau ſpecificirten vorgelegten Schein bei ſeinem Ab-
marſch in einfältiger deutſcher Ueberraſchung unterſchrieben. Dieſes Papierchen war nun
im Jahre 1813 Steins Händen übergeben, und Wrede hatte den Werth des Raubs im
folgenden Jahre mit einer hübſchen Summe Geld zurückzahlen müſſen.“


Die Form des Berichts erweckt den Eindruck, als ob er aus Mittheilungen Steins,
alſo eines unmittelbar Betheiligten, herrührte; er enthält nichts Unwahrſcheinliches und
ſtammt aus der Feder eines Mannes, deſſen ſtrenge Wahrheitsliebe ebenſo anerkannt iſt,
wie die erſtaunliche, bis ins hohe Alter bewahrte Friſche ſeines Gedächtniſſes. In Schleſien
wurde die häßliche Geſchichte, wie ich aus beſter Quelle verſichern kann, lange bevor Arndts
Buch erſchien, in den Kreiſen der älteren Männer, welche die Franzoſenzeit erlebt hatten,
häufig erzählt. Es lag alſo kein Grund vor, an ihrer Wahrheit zu zweifeln.


Die „Wanderungen“ erſchienen in der Blüthezeit jenes mittelſtaatlichen Uebermuthes,
der bald nachher auf den Schlachtfeldern des Mainfeldzugs ſeine Strafe finden ſollte.
Die bairiſche Regierung dachte nicht vornehm genug, um die Ereigniſſe einer längſt ab-
geſchloſſenen, fünfzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit allein der hiſtoriſchen Wiſſen-
ſchaft zu überlaſſen, ſondern ließ den Verfaſſer anklagen wegen Beleidigung der bairiſchen
Armee u. ſ. w. Viele meiner Leſer werden ſich noch entſinnen, welches peinliche Auf-
ſehen dieſer Proceß in ganz Deutſchland erregte. Arndt konnte in der Einleitung des
Strafverfahrens nur eine beabſichtigte Gehäſſigkeit ſehen; er weigerte ſich vor dem bai-
riſchen Gerichte zu erſcheinen und wurde im December 1858 von dem Zweibrückener
Aſſiſengerichte in contumaciam zu zwei Monaten Gefängniß verurtheilt. Das Gericht
[630]E. M. Arndt und Wrede.
that nur was ſich von ſelbſt verſtand; denn wer für eine ehrenrührige Behauptung nicht
ſelber vor Gericht den Beweis der Wahrheit erbringt, muß ohne Weiteres der Verleum-
dung ſchuldig erklärt werden. Für den Hiſtoriker aber, den die Formen des Strafpro-
ceſſes nicht binden, war dies Urtheil werthlos.


Arndt ſelbſt hielt die Wahrheit ſeiner Erzählung unerſchütterlich aufrecht und ſtellte
im Verlaufe des langen Zeitungsſtreites, der ſich an jenen Proceß anknüpfte, einmal die
Vermuthung auf: die That Wredes möge vielleicht gegen Ende Februar 1807 geſchehen
ſein, da um dieſe Zeit, nach neueren Mittheilungen aus Schleſien, bairiſche Truppen in
Oels arg gehauſt hätten. Dieſe hingeworfene Vermuthung benutzte nun ein bairiſcher
Offizier (angeblich Major Ehrhard) um in einer anonymen Schrift (Die Beſchuldigung
Wredes durch E. M. Arndt. München 1860) die Schuldloſigkeit ſeines Helden zu erweiſen.
Er wies nach, daß allerdings die Diviſion Wrede am 23. Februar 1807, auf dem Durch-
marſch nach Polen, durch Oels gekommen iſt, Wrede ſelbſt aber zur ſelben Zeit noch
krank in Baiern lag. Auch hiermit war die Erzählung Arndts offenbar noch nicht
widerlegt. Denn da über den Zeitpunkt des Raubes nur unerwieſene Vermuthungen
aufgeſtellt wurden, ſo blieb die Möglichkeit offen, daß Wrede die That etwas ſpäter im
Jahre 1807 begangen hätte. Wrede hat ſich nachweislich zweimal während jenes Jahres
in Schleſien aufgehalten. Zuerſt zu Ende März, als er, von ſeiner Krankheit geneſen,
der Armee nachreiſte; nach den Aufzeichnungen eines Zeitgenoſſen, die ſich in der Breslauer
Stadtbibliothek befinden, iſt er am 26. März in Breslau eingetroffen. Sodann lag er
nach dem Tilſiter Frieden bis zum 2. Decbr. mehrere Monate lang mit ſeinen Truppen
in Schleſien, und da die Franzoſen und ihre Bundesgenoſſen während jener friedlichen
Occupation bekanntlich faſt eben ſo übermüthig auftraten, wie vorher im Kriege, ſo konnte
der Raub auch wohl in dieſer Zeit ſich ereignet haben. Arndt ließ ſich daher durch die
mangelhaften Argumente der Ehrhard’ſchen Schrift nicht beirren; er meinte auf ſein
gutes Gedächtniß bauen zu können und wiederholte ſeine Erzählung in den ſpäteren Auf-
lagen der „Wanderungen“ unverändert. Wie ich meinen geliebten alten Lehrer kannte,
hielt ich es für unzweifelhaft, daß er ſeine guten Gründe gehabt haben mußte, einen ſo
lebhaft beſtrittenen Bericht ſo entſchieden feſtzuhalten, und trug mithin kein Bedenken,
in einer beiläufigen Bemerkung dieſes Buches die Erzählung Arndts als unanfechtbar
zu erwähnen.


Inzwiſchen hat der bairiſche Generalmajor Heilmann eine Biographie Wredes
herausgegeben, ein lehrreiches, dankenswerthes Buch, das freilich einen erfreulicheren
Eindruck hinterlaſſen würde, wenn der Verfaſſer nicht verſucht hätte, einen vaterlandsloſen
tapferen Landsknecht mit unſeren nationalen Helden, mit Scharnhorſt, Blücher, Gneiſenau
in eine Reihe zu ſtellen. General Heilmann geht auch auf dieſe Epiſode aus dem Leben
ſeines Helden ausführlich ein, bringt aber nichts Neues bei, ſondern wiederholt einfach
die Behauptungen Ehrhards; er nimmt, ohne irgend einen Grund dafür aufzuführen,
kurzweg an, daß der Raub zwiſchen dem 23. Februar und dem 8. März geſchehen ſein
müſſe, und erweiſt dann ohne Mühe das Alibi Wredes. Die Lücken dieſer ſeltſamen
Beweisführung verdeckt er ſodann, indem er über den alten Arndt eine Fülle ſchmückender
Beiwörter ausſchüttet, welche mit den landesüblichen Formen wiſſenſchaftlicher Polemik
wenig gemein haben. Wenn Arndt ein in Fragen der hiſtoriſchen Wahrheit ſorgloſer,
in ſeinen Vorurtheilen leichtgläubiger, eigenſinniger alter Mann genannt wird, dem
„ſeine politiſchen Gehilfen noch vollends den Kopf verdreht“ hätten, ſo habe ich nichts da-
wider einzuwenden, daß auch ich mit einigen mehr kräftigen als anmuthigen Ausdrücken
beehrt werde.


Als ich kürzlich eine neue Ausgabe des erſten Bandes vorbereitete, unterwarf ich
natürlich alle von der Kritik angefochtenen Stellen einer neuen Prüfung, ſo auch jene
Bemerkung über Wrede. Das Heilmann’ſche Buch gab mir keine genügende Auskunft;
ich entſchloß mich daher ſelber zu thun, was der Biograph Wredes leider unterlaſſen
hatte, und hielt in Schleſien Nachfrage. Nachdem ich an verſchiedenen Stellen vergeblich
[631]E. M. Arndt und Wrede.
angeklopft, erhielt ich endlich aus Breslau durch die Güte des Herrn Archivdirectors
Grünhagen, und gleichzeitig aus Oels mehrere Mittheilungen, welche, im Weſentlichen
übereinſtimmend, den Bericht Arndts vollſtändig widerlegen. Daß der Alte ſeine ſo zu-
verſichtlich vertheidigte Erzählung nicht einfach aus der Luft gegriffen haben kann, wird
jedem Unbefangenen einleuchten. Wenn irgend wer, ſo darf doch ſicherlich Arndt die
Vermuthung der bona fides für ſich in Anſpruch nehmen. Man leſe nur in Heilmanns
Werke die unglaublich brutalen Briefe, in denen Wrede ſeine Wuth gegen dieſen Teufel,
dieſen Narren von Stein ausſpricht; ein ſo maßloſer Haß läßt ſich aus der politiſchen
Gegnerſchaft der beiden Männer allein kaum erklären. Aber wie iſt Arndt zu ſeinem
Irrthum gelangt? Hat Wrede an anderen Orten Gewaltthaten verübt, welche ihm den
in Schleſien einſt weit verbreiteten Beinamen des Löffeldiebs verſchafften? Oder war er
ganz ſchuldlos an dieſem üblen Leumund, und Arndt hätte etwa zwei verſchiedene Per-
ſonen verwechſelt? Ich vermag das nicht zu entſcheiden. Genug, die gegen Wrede er-
hobene Beſchuldigung iſt, wie ſie vorliegt, durchaus falſch.


Ich habe vor mir das Promemoria eines verſtorbenen herzoglich braunſchweigiſchen
Beamten, der die Zeit ſeit 1806 als junger Mann im Oelſer Schloſſe verlebte und im
Juli 1858, in Folge des durch Arndts „Wanderungen“ erregten Zeitungslärms, amtlich
vernommen wurde. Nach dieſem Berichte, der durch die Ausſagen anderer gleichzeitig
verhörter Beamten durchweg beſtätigt wird, haben Prinz Jerome Napoleon und General
Lefevre im Dezember 1806, zu der Zeit, da die Belagerung von Breslau begann, einige
Tage lang im Schloſſe Oels ihr Hauptquartier gehalten; mit ihnen kamen franzöſiſche
und bairiſche Truppen. In dieſen Tagen — alſo nicht im Februar 1807 — wurden
ein Theil des Silberzeugs und der Schimmelzug des Herzogs geraubt. Die Thäter
blieben unbekannt. Alle Berichte klagen übereinſtimmend über die Roheit der bairiſchen
Truppen, aber keiner weiß anzugeben, ob Franzoſen oder Baiern bei dem Raube be-
theiligt waren. Gewiß iſt nur, daß Wrede damals noch in Baiern weilte. Die nämliche
Denkſchrift verſichert ſodann auf das Beſtimmteſte, daß ſeitdem niemals mehr ein bairiſcher
General auf dem Schloſſe im Quartier gelegen hat. Damit fällt Arndts Erzählung
zuſammen.


So lebhaft ich bedauere, daß der Sachverhalt erſt jetzt bekannt wird, in einem
Augenblicke, da Arndt ſich über die Gründe ſeines Irrthums nicht mehr erklären kann,
ebenſo willkommen iſt es mir, dem Biographen Wredes einen kleinen Beitrag für eine
neue Ausgabe ſeines Buchs zu bieten. Vielleicht erkennt er jetzt, daß wir preußiſchen
Wilden doch beſſere Menſchen ſind. Er ſagt nach ſeiner ſanften Weiſe, Arndts „infame
Lüge werde aller hiſtoriſchen Wahrheit und aller Moralität zum Hohn“ immer wiederholt
werden. Mit Verlaub, ſie wird es nicht — ſeit die Grundloſigkeit der Beſchuldigung
endlich erwieſen iſt. So lange aber der Erzählung Arndts nichts weiter entgegenſtand
als die willkürliche und — falſche Behauptung, daß der Raub im Februar 1807 geſchehen
ſein ſollte: ebenſo lange war jeder Hiſtoriker berechtigt, den Bericht eines Buches, das
zu den beſten und zuverläſſigſten Werken unſerer Memoiren-Literatur zählt, für wahr
zu halten. Die Schuld jener napoleoniſchen Tage iſt durch treue Waffenbrüderſchaft längſt
geſühnt; wir haben die Wiederkehr der alten Bruderkämpfe nicht mehr zu fürchten. Es
wird hohe Zeit, daß wir Alle eine für immer überwundene Vergangenheit mit einigem
Gleichmuth betrachten. Auch die Baiern ſollten endlich lernen über die Sünden ihrer
Rheinbundszeit ebenſo unbefangen zu ſprechen, wie ſchon längſt jeder verſtändige Preuße
über das Jahr 1806 redet. Daran fehlt leider noch viel. Als Guſtav Freytag vor
Kurzem in dem letzten Bande ſeiner „Ahnen“ das Verhalten der Baiern in Schleſien
durchaus der hiſtoriſchen Wahrheit gemäß darſtellte, da mußte er von der bairiſchen
Preſſe die gröbſten Beleidigungen hinnehmen. So hat ſich auch General Heilmann durch
ſeinen bairiſchen Uebereifer um einen Erfolg gebracht, den ich einem ſo tüchtigen Forſcher
gern gönnen würde. Hätte er bei der Erörterung jener ſchleſiſchen Epiſode etwas weniger
Entrüſtung und etwas mehr Forſcherfleiß aufgewendet, ſo konnte er ſelber den Beweis
[632]Blücher über die Lütticher Meuterei. Die Teplitzer Punktation.
erbringen, den ich nun an ſeiner Stelle erbringen mußte: daß Wrede an dem Oelſer
Raube nicht betheiligt war.


II. Blücher über die Lütticher Meuterei.
Zu Bd. I S. 734. (738 der 3. Aufl.)


Generalfeldmarſchall Fürſt Blücher an König Friedrich Auguſt von Sachſen.


Euere Königliche Majeſtät
haben durch Ihre früher ergriffenen Maßregeln Ihre Unterthanen, einen geachteten deut-
ſchen Völkerſtamm, in das tiefſte Unglück geſtürzt.


Durch Ihre ſpäteren Maßregeln kann es dahin kommen, daß er allgemein mit
Schande bedeckt wird.


Die Rebellion, welche von Friedrichsfelde und Preßburg aus in der Armee orga-
niſirt wurde, iſt ausgebrochen, in einer Zeit ausgebrochen, wo ganz Deutſchland gegen
den allgemeinen Feind auftritt. Die Verbrecher haben Bonaparte als ihren Beſchützer
öffentlich proclamirt und mich, der ich in einer fünfundfünfzigjährigen Dienſtzeit in der
glücklichen Lage geweſen bin, nur das Blut meiner Feinde zu vergießen, genöthigt, zum
erſten Male Hinrichtungen in meiner eigenen Armee vornehmen zu müſſen.


Aus der Anlage*) werden Ew. Maj. erſehen, wie ich es bis jetzt noch verſucht
habe, die Ehre des ſächſiſchen Namens zu retten, aber es iſt der letzte Verſuch.


Wird meine Stimme nicht gehört, ſo werde ich, nicht ohne Schmerz, aber mit
der Ruhe meines guten Gewiſſens und erfüllter Pflicht, die Ordnung mit Gewalt her-
ſtellen, und ſollte ich genöthigt ſein, die ganze ſächſiſche Armee niederſchießen zu laſſen.


Das vergoſſene Blut wird dereinſt vor Gottes Gericht über den kommen, der es
verſchuldet hat, und vor dem Allwiſſenden wird Befehle geben und Befehle dulden, als
ein- und daſſelbe geachtet werden müſſen.


Ew. Maj. wiſſen, daß ein Greis von dreiundſiebzig Jahren keine anderen irdiſchen
Abſichten mehr haben kann, als daß die Stimme der Wahrheit gehört werde und das
Rechte geſchehe.


So haben Ew. Königl. Maj. dieſes Schreiben aufzunehmen.


Hauptquartier Lüttich, 6. Mai 1815.


Blücher.


III. Die Teplitzer Punktation.
Zu Bd. II S. 550.


Einige Sätze der Teplitzer Punktation ſind, wie oben erwähnt, wörtlich aufge-
nommen in die „Punktation für die Hauptgegenſtände dieſer Verhandlungen“, welche
Fürſt Metternich in der erſten Conferenz zu Karlsbad vorlegte (abgedruckt bei Welcker-
Klüber, Wichtige Urkunden für den Rechtszuſtand der deutſchen Nation, S. 185 f.). Ich
gebe im Folgenden den vollſtändigen Text und bezeichne in den Noten die Abweichungen
von der Karlsbader Punktation.


[633]Die Teplitzer Punktation.

Punktation über die Grundſätze, nach welchen die Höfe von Oeſterreich und Preußen
in den inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bundes zu verfahren entſchloſſen ſind.


Allgemeine Grundſätze.

1. Der Deutſche Bund beſteht als ein politiſcher Körper, deſſen weſentliche Be-
ſtimmungen in den Art. 1 u. 2 der Bundesakte rein ausgeſprochen ſind.


Er beſteht als eine für die Erhaltung des Gleichgewichtes und der allgemeinen
Ruhe weſentliche und wahrhafte europäiſche Inſtitution und er genießt die allgemeine
Garantie, welche die Exiſtenz jedes europäiſchen Staates in Folge der Wiener Congreß-
akte ſichert.*)


2. Oeſterreich und Preußen ſind europäiſche unabhängige Mächte und durch ihre
deutſchen Länder zugleich deutſche Bundesſtaaten. In der erſten Eigenſchaft und ins-
beſondere als vorzügliche Theilnehmer an dem Wiener Congreß-Werke und an den
ſämmtlichen politiſchen Verhandlungen der letzten Jahre ſind ſie berufen, über die poli-
tiſche Exiſtenz des Deutſchen Bundes zu wachen und auf ſelbige zu beſtehen. In der
zweiten Eigenſchaft iſt es ihre Pflicht, der gehörigen Ausbildung und Befeſtigung des
inneren Bundesweſens ihre beſondere Aufmerkſamkeit zu widmen.**)


3. Sobald der Deutſche Bund beſteht und als eine europäiſche politiſche Inſtitu-
tion beſtehen muß, dürfen in ſeinem Inneren keine Grundſätze in Anwendung gebracht
werden, welche mit deſſen Exiſtenz unvereinbar wären [oder ſogar im offenen Widerſpruch
ſtänden].***)


4. Der Deutſche Bund wird als Geſammtheit durch die Bundes-Verſammlung
repräſentirt.


Die Bundes-Verſammlung iſt demnach, in Beziehung auf den Bund und deſſen
inneres Weſen und mit ſpecieller Berückſichtigung auf die Art. 1 u. 2 der Bundesakte,
die oberſte politiſche Behörde in Deutſchland. Ihre legalen Beſchlüſſe müſſen als Geſetze
des Bundes unverbrüchlich ausgeführt und gehandhabt werden.†)


Specielle Anwendung dieſer Grundſätze.

5. Die Erfahrung hat gelehrt, daß das Föderativ-Band bisher durch ein unglückliches
Mißtrauen ſowohl von Seiten einiger deutſcher Regierungen, als durch manche der
Föderation entgegenſtrebende Nebenabſichten nicht die Feſtigkeit erhalten hat, welche das-
ſelbe im reinen Begriffe der Föderation haben ſollte. Dieſem Uebelſtande kann nur
durch die enge Vereinigung der Höfe abgeholfen werden, und die Höfe von Oeſterreich
und Preußen ſind entſchloſſen [den Augenblick zu benutzen, in welchem das ſyſtematiſche
Treiben einer revolutionären Partei, nebſt der Auflöſung der Föderation, zugleich die
Exiſtenz aller deutſchen Regierungen bedroht, um dieſe Vereinigung zu bewirken].††)


6. Die Anweſenheit der Miniſter der bedeutenden deutſchen Höfe ſoll zu der näheren
Uebereinkunft benutzt werden. Sollte der Verſuch zu glücklichen erſten Reſultaten führen,
ſo wäre dieſe Uebereinkunft durch das Zuſammentreten der deutſchen Kabinette in der
kürzeſt möglichen Zeit zu vervollſtändigen [und inſonderheit in Abſicht auf die Stimmen-
mehrheit und insbeſondere auf die Fälle, wo dieſe nicht entſcheidend ſein ſoll, eine ſcharfe,
möglichſt beſchränkte Beſtimmung zu geben, desgleichen eine Anordnung von kräftigen
Executions-Mitteln zu geben].†††)


[634]Die Teplitzer Punktation.

7.*) Die dringendſten Gegenſtände, über welche die erſte Uebereinkunft zu treffen
wäre, ſind die folgenden:


A.Die Berichtigung der Begriffe in Anſehung des Art. 13 D. B. A.


Preußen iſt entſchloſſen, erſt nach völlig geregelten inneren und Finanz-Verhältniſſen
dieſen Artikel in ſeinem reinen Begriff auf ſeine eigenen Staaten anzuwenden, d. h.
zur Repräſentation der Nation keine allgemeine, mit der geographiſchen und inneren Ge-
ſtaltung ſeines Reichs unverträgliche Volksvertretung einzuführen, ſondern ſeinen Pro-
vinzen landſtändiſche Verfaſſungen zu ertheilen und aus dieſen einen Central-Ausſchuß
von Landes-Repräſentanten zu bilden.


Welche Maßregeln zu ergreifen ſein dürften um den deutſchen Staaten, welche
unter dem Namen von Ständen bereits Volksvertretungen eingeführt haben, zur Rückkehr
zu einem, dem Bunde mehr angemeſſenen Verhältniß behilflich zu ſein, hierüber ſind
vor Allem die Anträge dieſer Regierungen ſelbſt zu erwarten; welche Anträge ſodann
von den beiden Höfen zu würdigen und unter Erwägung der Vielſeitigkeit der Rückſichten,
welche dieſer Gegenſtand fordert, in gemeſſene Ueberlegung zu nehmen ſein werden.


B.Allgemeine Verfügungen über den Art. 18 D. B. A.


Die beiden Höfe vereinigen ihre Anſichten auf die Grundſätze des anliegenden Pro-
jekts**) und ſie werden ſelbe zur allgemeinen Annahme bei ihren Mitverbündeten und
zu ihrer Anwendung auf ein Bundesgeſetz unterſtützen.


Dies Geſetz, durch die Bundes-Verſammlung ausgeſprochen, muß wo möglich noch
vor Anwendung der diesjährigen Vacanzen in Anwendung gebracht werden.


Als eine zur Ausführung des Zwecks — der täglichen Volks-Verführung auf
möglichſt ausgiebigen Wegen Schranken zu ſetzen — nöthige Maßregel müſſen die deutſchen
Regierungen ſich wechſelſeitig verbinden, keinem der heute berüchtigten Redacteurs den
Eintritt in neue Zeitungs-Redactionen zu geſtatten und überhaupt die vielen Zeitungs-
blätter zu vermindern.


C.Maßregeln in Hinſicht auf die Univerſitäten, Gymnaſien und
Schulen
.


Um dieſe mit voller Rückſicht auf das Beſte der Wiſſenſchaften und die moraliſche
Bildung der Jugend zu ergreifen, möchte eine eigene aus bewährten Männern derjenigen
Staaten, welche Univerſitäten haben, zuſammengeſetzte Commiſſion berufen werden, einen
gründlichen Vortrag über diejenigen Verfügungen auszuarbeiten, welche zu dem obge-
nannten Zwecke führen könnten. Dieſe Verfügungen möchten nicht nur die Disciplin
in Abſicht auf Studenten, ſondern auch ganz beſonders in Abſicht auf die Lehrer umfaſſen.


Als eine unumgängliche Maßregel werden die beiden Höfe bei ihren Verbündeten
den Satz der Nothwendigkeit unterſtützen, daß notoriſch ſchlechtgeſinnte und in die Umtriebe
des heutigen Studenten-Unfugs verflochtene Profeſſoren alsbald von den Lehrſtühlen ent-
fernt werden, und daß kein ähnliches von einer deutſchen Univerſität entferntes Individuum
auf den Univerſitäten in anderen deutſchen Staaten Anſtellung erhalte. Das Uebel muß
aber auch an der Wurzel angegriffen werden, und daher dieſe Maßregeln auch auf das
Schulweſen zu erſtrecken ſind.


In Berückſichtigung der Vorurtheile, welche von vielen deutſchen Regierungen gegen
die engere, ſo heilſame Vereinigung der beiden bedeutendſten deutſchen Höfe gehegt werden,
verſprechen ſich dieſelben wechſelſeitig, die gegenwärtige Punktation auf ewige Zeiten ge-
heim zu halten und ſich dahin zu beſchränken, die unter ihnen aufgeſtellten Grundſätze
nicht nur zur Richtſchnur ihres eigenen Benehmens zu erheben, ſondern denſelben durch
[635]Hardenbergs Verfaſſungsplan.
vereinte Kraft die möglichſte Ausbildung in Vereinigung mit ihren deutſchen Mitver-
bündeten zu geben.


In Folge dieſes, und zur möglichſten Bekräftigung haben die Unterzeichneten die
gegenwärtige Punktation eigenhändig unterfertigt.


Teplitz, 1. Auguſt 1819. C. F. v. Hardenberg.


F. v. Metternich.


IV. Hardenbergs Verfaſſungsplan.
Zu Bd. II S. 589.


Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen.


Das königliche Edict vom 22. Mai 1815 iſt die Vorſchrift, von der wir ausgehen.


Wir haben lauter freie Eigenthümer.


Das beſte Fundament der Verfaſſung iſt eine zweckmäßige Municipal- und Com-
munal-Ordnung. Sie iſt alſo das nächſte dringende Bedürfniß.


Jede Commune verwaltet ihre eigenen Angelegenheiten nach derſelben.


Jedes Landkirchſpiel wählt unter Leitung einer obrigkeitlichen Perſon einen Depu-
tirten aus ſeiner Mitte. Bedingungen der Wahlfähigkeit: Von einer der chriſtlichen
Confeſſionen — Grundbeſitz — Majorennität — unbeſcholtener Ruf.


Die Kirchſpielsdeputirten kommen in einem beſtimmten Orte im Kreiſe zuſammen
und wählen unter der Leitung des Landraths eine kleine, näher zu beſtimmende Anzahl
Deputirte zum Kreistage.


Jede kleine im Kreiſe belegene Stadt verfährt ganz wie die Kirchſpiele.


Jeder Beſitzer eines im Kreiſe belegenen Ritterguts, der Beſitzer ſei von Adel oder
nicht, oder eines Gutes von näher zu beſtimmender Größe, wenn es auch bisher nicht
Rittergut war, iſt Kreisſtand und kann in der Kreisſtadt erſcheinen, um dort eine An-
zahl Deputirte zum Kreistage zu wählen. Dieſe müſſen ebenfalls aus der Mitte der
Gutsbeſitzer ſein. Jeder Standesherr hat das Recht, perſönlich oder durch einen Bevoll-
mächtigten auf dem Kreistage ſich einzufinden.


Der Kreistag
beſteht alſo: unter dem Vorſitze des Landraths


  • 1. aus den Standesherren, die zum Kreiſe gehören,
  • 2. aus den Deputirten der im Kreiſe belegenen Gutsbeſitzer,
  • 3. aus den Deputirten der im Kreiſe belegenen kleinen Städte,
  • 4. aus den Deputirten der im Kreiſe belegenen Landkirchſpiele.

Die Kreistage haben zum Gegenſtande alle Communal-Angelegenheiten des Kreiſes nach
der zu revidirenden Inſtruction für die Landräthe und übrigen Kreisbeamten.


Auf ſolchen werden zugleich gewählt: von den Ständen 2, 3 und 4 eine beſtimmte,
möglichſt beſchränkte Anzahl von Deputirten zur Provinzial-Verſammlung oder
dem Provinzial-Landtage.


Dieſer beſteht alſo: unter dem Vorſitz des Chefs der Provinz


  • 1. aus den Standesherren der Provinz,
  • 2. aus den Erzbiſchöfen, Biſchöfen, wo ſie ſind.
  • 3. Ob die Univerſitäten zu den Ständen gewählt werden ſollen, ſoll nach S. Maj.
    des Königs Befehl näher in Erwägung gezogen werden, da ſie als Unterrichts-
    anſtalten ſo wenig dazu gehören dürften, als die Gymnaſien und Schulen,
    und S. Maj. dafür halten, daß ſie, inſofern ſie Grundbeſitzer ſind, als ſolche
    erſcheinen müßten.

[636]Hardenbergs Verfaſſungsplan.
  • 4. Aus den großen Städten, die einen eigenen Kreis bilden,
  • 5. aus den Deputirten der Gutsbeſitzer,
  • 6. aus den Deputirten der kleinen Städte,
  • 7. aus den Deputirten der Landkirchſpiele.

Die Zahl der Deputirten ad 5, 6 und 7 muß nach der Zahl der in der Provinz
vorhandenen Standesherren, Prälaten, Univerſitäten und großen Städte abgemeſſen und
zweckmäßig regulirt werden.


Der Gegenſtand der Provinzial-Landtage iſt Alles, was die Provinzen beſonders
betrifft, z. B. das Provinzial-Schuld- und Creditweſen, die Repartition quotiſirter Abgaben
und die Verwaltung gewiſſer Inſtitute und Anſtalten, als der Armen-, Kranken- und
Irrenhäuſer, Beſſerungs-Anſtalten, der Wegebau, inſofern er nicht große Landſtraßen
angeht u. ſ. w.


Die Einrichtung braucht nicht in allen Provinzen gleich zu ſein und richtet ſich
nach den Lokal-Umſtänden.


Geſetze und Einrichtungen, die das Ganze der Monarchie betreffen, gehören nicht
vor die Provinzialſtände, ſondern können nur in der allgemeinen ſtändiſchen Verſamm-
lung berathen werden. Aber der Fall kann vorkommen, daß die Provinzial-Landtage
von jener zu Gutachten aufgefordert werden, oder daß dieſe ſolche unaufgefordert an den
allgemeinen Landtag bringen.


Ob die Provinzen nach den älteren Verhältniſſen anzuordnen ſind oder nach der
Eintheilung in Oberpräſidenturen, iſt näher zu erwägen. Erſteres ſcheint wenigſtens
vorerſt in Abſicht au die Schulden räthlich zu ſein.


Die Provinzial-Verſammlungen wählen, jeder Stand aus ſeiner Mitte, die Depu-
tirten zum Allgemeinen Landtag,
welcher aber nie mit den Provinzial-Verſammlungen zugleich, ſondern — außer dem
erſten male, wo die Wahlen geſchehen müſſen — vorher zuſammenkommen muß.


Der allgemeine Landtag hat gar keine Verwaltung und beſchäftigt ſich mit den
allgemein, für die ganze Monarchie bindenden Gegenſtänden.


Die Deputirten zum allgemeinen Landtag ſind in möglichſt geringer Anzahl zu
beſtimmen, desgleichen wäre noch zu erwägen, ob es räthlich ſei, ſie in einer Verſamm-
lung oder in zwei Kammern zuſammentreten zu laſſen; Letzteres würde vielleicht eine
zu große Anzahl veranlaſſen und den Geſchäftsgang erſchweren. Sollten zwei Kammern
beſtimmt werden, ſo iſt zu beſtimmen, wie die erſte Kammer zuſammengeſetzt werden müſſe.


Sowohl die Deputirten der Kreis-Verſammlungen als der Provinzial-Landtage
und die zum allgemeinen Landtage folgen blos ihrer eigenen Ueberzeugung und dürfen
ſich an Mandate und Inſtructionen ihrer Wähler nicht halten.


Die Kreistage und Provinzial-Landtage müſſen alle Jahre wenigſtens einmal zu-
ſammenkommen. Wie oft dieſes in Abſicht auf den allgemeinen Landtag der Fall ſein
müſſe, wird näher zu beſtimmen ſein; desgleichen wie lange die Gewählten in Function
bleiben ſollen; ob ſie bei einer neuen Wahl wieder gewählt werden können; endlich wie
geſtimmt und ein Beſchluß gewonnen werden ſoll.


Wählbar ſind alle Staatsbürger ohne Unterſchied des Standes oder Gewerbes,
inſofern ſie zu den obengenannten Kategorien gehören.


Soll die Initiative zu neuen Geſetzen dem König vorbehalten werden, oder können
ſie auch vom allgemeinen Landtag in Antrag gebracht werden?


Vorſchläge zu ſolchen kann Jedermann, es ſei durch Druckſchriften oder ſchriftlich,
dem König oder den Staatsbehörden machen; Unterbehörden bei ihren Vorgeſetzten.


Die Miniſter bearbeiten die Geſetze, entweder auf des Königs Befehl oder aus
eigenem Antriebe. Nach Seinem Gutbefinden ſenden S. Maj. den Entwurf dem Staats-
rath zum Gutachten, und wenn der Entwurf vollendet iſt, wird er den Ständen von
dem betreffenden Miniſter vorgelegt, und die Gründe, welche das Geſetz motiviren, werden
von ihm auseinandergeſetzt, doch hat er keine Stimme bei der Berathſchlagung.


[637]Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819.

Sind die Stände damit einverſtanden oder genehmigen ihn mit Modificationen,
ſo geht er an den König zurück. Nur durch königliche Sanction kann der Entwurf
zum Geſetz erhoben werden. Er kann ſie zu jeder Zeit ganz verſagen oder Aenderungen
zur neuen Erwägung vorſtellen.


Wie es gehalten werden ſoll, wenn die Stände ein vorgeſchlagenes Geſetz verwerfen,
iſt zu beſtimmen.


Die Kreistage und Provinzial-Landtage haben in ihren Communal-Angelegenheiten
Verwaltungs-Geſchäfte; der allgemeine Landtag hat deren keine und gar keine Einmiſchung
in die Adminiſtration. Dieſe bleibt der Regierung ausſchließlich vorbehalten; jedoch
ſollen den allgemeinen ſtändiſchen Verſammlungen jährliche Ueberſichten der Verwaltung
von den Miniſtern vorgelegt werden, beſonders die Finanzen betreffend.


Nach dem Edict vom 22. Mai 1815 erſtreckt ſich die Competenz der Stände haupt-
ſächlich auf die Geſetzgebung, inſonderheit auf ſolche Geſetze, welche die perſönlichen Rechte
der Staatsbürger und ihr Eigenthum, neue Auflagen u. ſ. w. angehen. Auswärtige
Verhältniſſe, Polizei-Verordnungen und militäriſche Verhältniſſe gehören nicht für ſie,
inſofern letztere nicht perſönliche Verpflichtungen oder das Eigenthum betreffen.


Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Geſetz; Gleichheit der chriſtlichen Confeſſionen
und Duldung und Freiheit aller Religionsübungen; gleiche Pflichten gegen den König
und den Staat; das Recht eines Jeden, auf einen unparteiiſchen richterlichen Urtheil-
ſpruch zu provociren und binnen einer beſtimmten Zeit verhört und jenem Urtheils-
ſpruche unterworfen zu werden; die in der preußiſchen Monarchie ſchon lange beſtehende
Unabhängigkeit der Gerichte in Abſicht auf ihre richterlichen Ausſprüche; die Befugniß
eines Jeden, ſeine Bitten und Beſchwerden in geziemenden Ausdrücken an den Thron
zu bringen — Alles dieſes ſind Dinge, die in die Verfaſſung aufzunehmen ſind.


Desgleichen wird näher zu prüfen ſein, was in Abſicht auf die Verantwortlichkeit
der Miniſter und Staatsbeamten, auf die Preßfreiheit und ihre Mißbräuche, auf die
öffentliche Erziehung, auf die Oeffentlichkeit der Gerichte und der ſtändiſchen Verſamm-
lungen zu beſtimmen ſei.


Alles wird dahin gerichtet ſein müſſen, daß das monarchiſche Princip recht befeſtigt
werde, mit dem wahre Freiheit und Sicherheit der Perſon und des Eigenthums ganz
vereinbar ſind, und durch ſolches am Beſten und Dauerhafteſten mit Ordnung und
Kraft beſtehen. Und der Grundſatz werde aufrecht erhalten:


salus publica suprema lex esto!


V. Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819.
Zu Bd. II S. 604.


Hardenbergs Tagebücher ſind bekanntlich für die Jahre 1805—13 eine werthvolle,
zuerſt von Duncker, dann von Ranke, Oncken, Haſſel u. A. benutzte Geſchichtsquelle. In
der ſpäteren Zeit werden ſie immer lückenhafter, obgleich ſie auch dann noch dem Sach-
kundigen einzelne wichtige Aufſchlüſſe gewähren. Zuweilen hat der Staatskanzler monate-
lang kein Wort eingetragen oder auch ſeine Notizen erſt nachträglich niedergeſchrieben
(ſo ſteht im Jahre 1815 unter dem 16. Juni Ligny, unter dem 18. Belle-Alliance ver-
zeichnet). Ueber den Miniſterwechſel von 1819 ſagt das Tagebuch nahezu nichts. Da-
gegen finden ſich in Hardenbergs Nachlaß auf einem loſen Blatte einige, offenbar in
den Weihnachtstagen 1819 niedergeſchriebene Bemerkungen, welche klar erkennen laſſen,
wie der Staatskanzler jene Kriſis auffaßte. Hier der weſentliche Inhalt.


[638]Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819.

Partei im Miniſterium gebildet — ſeitdem die Cabinets-Ordre v. 11. Jan. d. J.
dem Zeitgeiſte entgegengewirkt, das Turnen, das Erziehungsweſen gerügt hat.


Boyen und Beyme. Nachher durch Humboldt Dazwiſchenkünfte ohnerachtet meiner
freundſchaftlichen Warnungen.


Feſtes Zuſammenhalten dieſer Partei, beſonders bei der Unterſuchungsſache und
den Karlsbader Beſchlüſſen.


Humboldts Berichtsentwurf. Votum von Bernſtorff: ditto Boyen und Beyme
Protokoll ad Regem ohne Concluſum und Bericht. Bernſtorff iſt nicht wieder gehört.


Der Plan liegt tief. Die Partei will die gegenwärtige Adminiſtration ſtürzen und
ſich an die Stelle ſetzen, angeblich die Finanz-Verlegenheit und Steuergeſetze dazu benutzen.


Ancillons Gutachten über die Karlsbader Sache.


Sehr ſchlimm. Es iſt die höchſte Zeit. Entweder oder. Die Beamten, viele
Offiziere, Lehranſtalten angeſteckt. Oberpräſident Merckel und Schön. Die Jugend wird
verdorben.


Componiren läßt ſich nicht. Eylerts Gutachten.


Der Tadel wird bekannt, wirkt demoraliſirend. Man ſehe nur auf alle Flugblätter
der revolutionären Partei. Es iſt einerlei Sprache.


In der größten Gefahr ſtand ich allein mit dem königlichen Vertrauen. Nur weil
ich allein konnte ich etwas leiſten. Jetzt wieder.


Der Kriegsminiſter iſt fort. Iſt viel, hilft aber nichts, wenn Beyme und Humboldt
zuſammenbleiben. B. und H. müſſen dispenſirt werden.


Finanz- und Steuerpläne.


Schulweſen reformiren (die Perſonen). Merckel zu entlaſſen.


Pirch erhält die Militär-Erziehungsanſtalten.


Niederrhein — Bülow.


Sachſen — Schönberg.


Schleſien — Ingersleben.

Appendix A

Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.


[][][]
Notes
*)
Gneiſenau an Müffling, 25. März 1816.
*)
I. 274.
*)
Kruſemarks Bericht, Wien 4. Oktbr. 1817.
**)
Bericht des Oberpräſidenten v. Ingersleben über die Zuſtände im Großherzog-
thum Niederrhein, 26. Juli 1817.
*)
Nach den Briefen Royers an Gneiſenau v. 3. Oktbr. 1815 ff., die mir Herr Dr.
H. Delbrück freundlich mitgetheilt hat. Der Grund des’ Scheiterns der Verhandlung
*)
wird in den Briefen nicht ausdrücklich angegeben; er kann aber kaum ein anderer ſein
als der im Text angeführte. Denn am 9. Novbr. berichtet Royer: nunmehr müſſe König
Friedrich Wilhelm in das Geheimniß eingeweiht werden, von deſſen Entſcheidung hänge
jetzt Alles ab; und wenige Tage ſpäter verſchwindet die ganze Angelegenheit aus dem
Briefwechſel.
*)
Kruſemarks Berichte v. 24. Febr. 1816, 1. Febr. und 23. März 1817, 7. März
und 9. April 1818.
*)
Denkſchrift der engliſchen Regierung über die Lage Europas; Metternichs Aperçu
sur le mémoire anglais
(im Auguſt und Oktober 1816 von Kruſemark an Hardenberg
geſendet).
**)
Hardenbergs Tagebuch 14. Jan., 12. März, 2. Mai 1818.
*)
Kruſemarks Bericht 8. Jan. 1817.
**)
Kruſemarks Bericht, 17. April, 13. Mai 1816.
*)
Kruſemarks Bericht 10. April 1816.
*)
Kruſemarks Bericht aus Mailand, 28. Febr., 8. März 1816; aus Wien, 4. Jan. 1817.
*)
Kruſemarks Bericht 17. April 1816.
*)
Motz, Denkſchrift „Ueber die geographiſche Verbindung der Oſt- mit der Weſt-
hälfte des preußiſchen Staates“ 1817. Humboldts Antwort 18. März 1819.
*)
Küſters Bericht 2. Sept. Weiſungen Hardenbergs v. 5. Okt. u. 1. Dec. 1815.
**)
Küſters Bericht 25. Januar 1816.
*)
Kaiſer Alexander an Max Joſeph 24. December 1815. Antwort des Königs
6. Jan. 1816.
**)
Berckheims Bericht an das bad. Miniſterium, Mailand 14. Febr. Berckheims
Proteſt 10. Febr. Metternichs Antwort 22. Febr. 1816.
*)
Blittersdorffs Berichte aus Petersburg 5. Juni ff. 4. September 1818.
*)
Kruſemarks Bericht v. 5. März. Küſters Bericht v. 14. März. Hardenbergs
Weiſungen v. 28. Febr., 4. März, 12. April 1817.
*)
Hänleins Bericht und Denkſchrift an den Staatskanzler, 23. Januar 1816.
**)
Weſſenberg an Hänlein, 11. März. Hänleins Bericht und Denkſchrift an Har-
denberg 24. März 1816.
***)
Boyen, Gedanken über die Militär-Verfaſſung von Deutſchland.
*)
Berſtetts Berichte 16., 18. December 1815.
**)
Berſtetts Bericht 12. November 1816.
*)
Reinhard, mémoire sur les légations à Francfort. Hacke, Weiſung an Ber-
ſtett, 6. März 1816.
*)
Hardenberg, Denkſchrift über die fremden Geſandtſchaften, Februar 1816. Wei-
ſung an Kruſemark 11. Mai 1816.
**)
Miniſterialſchreiben an Anſtett, Petersburg 9. Auguſt 1816.
*)
Gagern an Metternich und Hardenberg, 3. Mai. Hardenbergs Antwort 18. Juni 1816.
*)
Berſtetts Berichte 16. December 1815, 6. März 1816.
*)
Hänleins Bericht 2. Juli. Hardenbergs Antwort 9. Auguſt. Berſtetts Bericht
1. Juli 1816.
**)
So Blittersdorff in ſeiner Denkſchrift über die Bundespolitik v. 18. Febr. 1822.
***)
Veröffentlicht von C. Rößler, Zeitſchrift für preußiſche Geſchichte 1872.
*)
Humboldts Berichte 1. und 8. November 1816.
*)
Oeſterreichiſche Inſtruktion v. 24. Oktober, Preußiſche v. 30. November 1816.
**)
Metternich an Buol 2. Auguſt. Hardenberg an Metternich 30. Novbr. 1816.
*)
Goltz, Rückblick auf die erſte Seſſion der Bundesverſammlung, 5. Auguſt 1817.
*)
Jouffroys Bericht, Stuttgart, 20. Juli. Küſters Bericht, Baden, 25. Juli 1816.
*)
Berſtetts Bericht 16. März 1817.
*)
Hardenberg an Metternich, 12. April 1817.
**)
Goltz’s Bericht 19. Juli; Denkſchrift des Staatskanzlers über das Königreich
Weſtphalen, 18. Nov. 1817.
*)
Hardenberg an den König, 23. Febr. 1817.
**)
Humboldts Votum 12. Juli, Hardenbergs Denkſchrift 1. Decbr., Goltz’s Denk-
ſchrift 30. Decbr. 1817.
***)
König Friedrich Wilhelm an Hardenberg 1. Decbr. 1817.
*)
Ancillons Denkſchrift für den Wiener Hof, 5. Decbr. 1817. Metternichs Brief
und Denkſchrift an Hardenberg, 9. Januar 1818. Hardenbergs Denkſchrift, Engers
22. Februar 1818.
**)
Die zwei Gutachten Witzlebens bei Dorow, J. v. Witzleben S. 115 ff. Har-
denbergs Tagebuch 24. April 1818.
*)
Berſtetts Bericht 29. Januar 1817.
*)
Hardenbergs Inſtruktion an Kruſemark, 13. Mai 1817.
*)
Motz, Gedanken über die Militärverfaſſung des Deutſchen Bundes, insbeſondere
über Verträge mit den kleinen norddeutſchen Staaten, 24. Septbr. 1817.
*)
Goltz’s Bericht 8. Oktbr. 1817; deſſen Ueberſicht über die Bundesverhandlungen
v. 13. April 1819.
*)
Hardenberg an Goltz, 21. Februar 1818.
**)
Berckheims Bericht 8. April. Boyen an Hardenberg 31. März 1818.
*)
Weiſung an Kruſemark, 20. Mai. Kruſemarks Bericht v. 10. Juni. Goltz’s Be-
richt v. 21. Auguſt 1818.
**)
Goltz’s Bericht 28. April 1818.
*)
Weiſung an Goltz, 8. December 1818.
*)
Metternich an Hruby, 11. December 1817.
*)
Berckheims Berichte v. 18., 23., 30. Novbr., 13., 29. Decbr. 1817, vollſtändig
übereinſtimmend mit den Mittheilungen, welche Graf W. Wintzingerode (Graf E. L.
Wintzingerode, ein württembergiſcher Staatsmann, Gotha 1866, S. 31 ff.) aus würt-
tembergiſchen Aktenſtücken gibt.
*)
Kabinetsordre v. 18. Februar. Antwort Hardenbergs 10. März. Erwiderung
des Königs 21. März 1818.
*)
Hardenberg an Kruſemark 12. Juni; Raumers Denkſchrift über den Art. 18,
mit Anmerkungen des Staatskanzlers v. 18. Novbr. 1817.
*)
Berſtetts Bericht, 20. Mai 1817.
*)
Goltz’s Bericht an den König 17. Juni 1817.
*)
Eingaben des Fürſten v. Waldburg-Zeil an den König v. Württemberg 29. Sept.
1815; an Kaiſer Franz 2. April 1816; an den Fürſten v. Bückeburg 23. März; Miniſter
v. Hacke an Graf Wintzingerode 8. April 1816.
*)
Weiſungen an Goltz, 21. April, 12. Juli 1817.
*)
Hardenbergs Tagebuch, Februar 1816.
*)
Gneiſenau an Hardenberg, 26. März und 21. April 1816, 6. Febr. 1821.
**)
Kircheiſen an Hardenberg 5. Juni; Kabinetsordres an Sack 15. Januar und
13. März; Sack an den König 24. März, an Hardenberg 24. März und 16. Mai 1816.
Mirbach an Hardenberg 29. Novbr. 1815.
*)
Gruner an Hardenberg 27. Novbr. 1819.
*)
Entwurf einer „Verordnung wegen Einrichtung der Provinzialregierungen und
Finanzcollegien“, Frühjahr 1815.
*)
Eingabe der Kreisſtände von Beeskow-Storkow an den König, 31. Oktbr. 1815.
*)
Bericht des Regierungspräſidenten v. Hippel an den Staatskanzler, Marienwerder
21. Juni 1815.
**)
Kingabe der Kreiſe und Städte an den König, 9. Januar 1819. Cabinetsordre
vom 24. Mai 1819.
*)
Eingabe der Stadt Herford an Hardenberg, 6. Novbr. 1816.
**)
Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 15. Novbr. 1815.
***)
Eingabe der Oberlauſitzer Stände an den Staatskanzler, 28. Juni 1815.
*)
Protokolle des Staatsraths, erſte Sitzung.
*)
Klewiz’s Denkſchriften an Hardenberg vom 24. Sept. 1816 und 20. Febr. 1817.
*)
Schön an Hardenberg, 14. Febr. 1816, 26. Sept. 1818, 1. Nov. 1819.
*)
Denkſchrift der Oberpräſidenten vom 30. Juni 1817, mit Randbemerkungen des
Staatskanzlers. Rechtfertigungsſchreiben von Ingersleben 14. Sept., von Auerswald
15. Oktbr. 1818 u. ſ. w. Kabinetsordre an die Oberpräſidenten, 3. Nov. 1817.
**)
Motz, Denkſchrift über die Regierungen (an den Staatskanzler), Nov. 1818.
*)
Motz, Denkſchrift über die Vereinfachung der Verwaltung. Erfurt 29. Juni 1820.
*)
Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 11. Juli 1817.
*)
Bülow an Hardenberg, 10., 13., 14., 16. Juli; Hardenberg an Bülow, 12.,
17. Juli 1817.
*)
Solms-Laubach, Denkſchrift über das Abgabenweſen am Rhein, Januar 1817.
*)
Schuckmann, Denkſchrift an das Staatsminiſterium, 4. Juni 1817.
**)
Eingabe der Poſener Notabeln an den Staatskanzler, 17. Auguſt 1817. — Die
Verhandlungen der ſchleſiſchen Notabeln bei Wuttke, Die ſchleſiſchen Stände. S. 219 f.
*)
Humboldt an Hardenberg 14. Juli. Boyens Gutachten über die Finanzver-
waltung, 10. Auguſt 1817.
*)
Ich benutze hier u. A. einen handſchriftlichen Aufſatz von L. Kühne, Wer iſt der
Stifter des Zollvereins? (1841). Aus den Papieren des Herrn v. Motz.
*)
Protokolle des Staatsraths. 4. Sitzung vom 3. Juli 1817.
*)
So ſchilderte Eichhorn ſpäterhin rückblickend die Lage in einem Miniſterialſchreiben
vom 7. Febr. 1834.
*)
Eichhorn, Inſtruktion für die Geſandten an den deutſchen Höfen, 25. März 1828.
*)
Kircheiſen an Hardenberg, 7. December 1815, an Sethe 5. Januar 1816.
*)
Solms-Laubach, Darſtellung der Zuſtände in Jülich-Cleve-Berg, 18. Aug. 1819.
*)
Kircheiſen, Votum betr. die Organiſation der Juſtiz in den Rheinprovinzen,
Juli 1818.
*)
Eingaben an Hardenberg: von Schuckmann 11. Juli 1817, von Schön 21. Juni,
von Solms-Laubach 21. Sept. 1818. Schön an General Borſtell 29. Juni 1818.
*)
Klewiz, Bericht aus Poſen 24. Sept. 1817.
**)
Waffenrapport der Landwehr vom December 1819.
*)
Kleiſts Bericht an den König über die Landwehrübungen in Sachſen, 24. Nov. 1817.
*)
Der weſentliche Inhalt dieſer Denkſchrift erhellt aus Witzlebens Entgegnungsſchrift
vom 25. Januar 1818 (bei Dorow, Witzleben, S. 93). Die Perſon ihres Verfaſſers
ergiebt ſich aus einer Bemerkung in Witzlebens Tagebuch, Mai 1819.
*)
Witzlebens Tagebuch, 9. Mai 1819.
*)
Altenſtein an Hardenberg, 26. December 1817.
*)
Denkſchrift über die Rheiniſche Univerſität, dem Staatskanzler überreicht durch
Miniſter Klewiz 20. Febr. 1817. Andere Aktenſtücke bei H. v. Sybel, Die Gründung
der Univerſität Bonn (Kleine hiſtor. Schriften II 433).
*)
Nach den ſchon im 1. Bande erwähnten Aufzeichnungen des bairiſchen Obercon-
ſiſtorialraths v. Schmitt.
*)
Solms-Laubach, Bericht über die Zuſtände in Jülich-Cleve-Berg, Auguſt 1819.
*)
Zerbonis Bericht an den Staatskanzler, 21. Juni 1815.
*)
Radziwill an Hardenberg, 9. Aug. 1815. Rover an Gneiſenau, 10. Mai 1817.
*)
Joſeph v. Morawsky, Denkſchrift über die polniſche Nation, 29. December 1817.
Mémoire sur les affaires polonaises, von Royer an Gneiſenau überſendet 6. April 1817.
*)
Adreſſe des Adels im Großherzogthum Poſen an den König, dem Miniſter
v. Klewiz übergeben Sept. 1817.
*)
Hippel, Bericht an den Staatskanzler, 19. Juli 1815.
*)
Promemoria über die Reorganiſation von Neuvorpommern, von Karl Schneider
in Bergen, 3. Dec. 1815. Eingabe der Abgeordneten des Bauernſtandes, Pächter Arndt
und Schulze Lüders, an den König, 20. Juli 1816. — Bittſchrift von Bürgermeiſter und
Rath von Stralſund an den Staatskanzler, 12. Septbr. 1816.
*)
Sack, kurzer Bericht über die Verwaltung Pommerns, Schlawe, 28. Juli 1818.
*)
Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819.
*)
Hardenberg an Heydebreck, 29. Juni 1815.
*)
Eingabe der Stadt Merſeburg an den König, 3. Oktbr. 1815.
*)
Bülows Votum über die Steuervorlagen im Staatsrathe, 23. Mai 1817. Bülow
an Hardenberg 9. März, Kircheiſen an Hardenberg 2. Juni 1816.
*)
Vincke, allgemeine Darſtellung des Zuſtandes vom Herzogthum Weſtphalen,
9. Mai 1817. Vincke an Hardenberg, 17. Juli 1815, 15. Juli, 14. Auguſt 1816.
*)
Vincke, Ueberſicht über die Verwaltung Weſtphalens, Auguſt 1817.
*)
Keßler, Denkſchrift die Einführung einer ſtändiſchen Verfaſſung betreffend, Münſter
12. April 1818.
*)
Kabinetsordre vom 8. November 1816. Ueberſicht des Perſonals der rheiniſchen
Regierungen, 20. Februar 1817.
*)
Kabinetsordre an Sack, 14. Septbr. 1815.
*)
Regierungsrath Schwerz an Hardenberg, Coblenz Auguſt 1816. Bericht eines
kölniſchen Grundbeſitzers an Klewiz, Januar 1817. Oberſtltnt, v. Romberg an den
Staatskanzler 24. Auguſt 1817 u. ſ. w.
*)
Freiherr v. Wylich an Hardenberg 16. Febr., an Schuckmann 15. Mai 1816.
Berichte vom Reg.-Präſidenten v. Schmitz-Grollenburg, Coblenz 9. Okt., Reg.-Präſidenten
v. Erdmannsdorff, Cleve 31. Okt. 1817, Landrath Bitter, Hartung u. A.
**)
Solms-Laubach, Bericht an Prinz Wilhelm 18. Auguſt 1819.
*)
J. Schulze, Denkſchrift über die Kirche und Schule am Rhein, 31. Decbr. 1816.
*)
Protokolle der Interimiſtiſchen Landesrepräſentation, 7. April 1815.
*)
Eingabe der Mohrunger Kreisſtände, 4. Sept. 1816.
*)
Eingabe der Regierung zu Stargard, 29. April 1814.
**)
Bericht der Potsdamer Regierung, 6. Decbr. 1809.
***)
Eingabe der kurmärkiſchen ritterſchaftlichen Deputirten 13. Auguſt 1814.
*)
Eingabe vom 20. Juli 1816.
*)
Eingabe der Stände der Niederlauſitz 4. Decbr. 1816. Berichte der Merſeburger
Regierung, 8. Auguſt 1817, 24. Oktbr. 1819. Eingabe von bürgerlichen Gutsbeſitzern der
Oberlauſitz 1. März 1818. Eingabe der Naumburger Stadtverordneten 31. Debr. 1817.
*)
Vorſtellung der Huldigungsdeputirten der Grafſchaft Mark-an Miniſter v. d. Reck
20. Oktbr. 1815. Eingaben der Stände an den Staatskanzler 20. März, 2. Juni 1817
u. ſ. w. Erwiderungen Hardenbergs 18. Mai 1817, 10. Mai 1820.
*)
Graf Merveldt, Eingabe an Miniſter Altenſtein 20. Auguſt 1817. Bittſchrift der
Paderborner Stände an den König 31. Auguſt 1816. Eingabe der Stände des Fürſten-
thums Minden an Hardenberg, 10. April 1815.
*)
Klewiz’ Denkſchrift vom 28. April 1817, dem Staatskanzler eingereicht am 1. Juni.
*)
Klewiz, Bericht über die Bereiſung von Poſen u. ſ. w. Zerboni, Votum vom
28. Novbr. 1817.
*)
Commiſſionsakten, die Bereiſung der weſtlichen Provinzen betreffend.
**)
Beymes Bericht über die Bereiſung von Pommern und Preußen.
*)
Yorks Votum, Klein-Oels 12. Sept. 1817.
*)
Keſſelſtadts Votum in Altenſteins Reiſe-Akten.
*)
Küſters Bericht, Stuttgart, 16. März 1815.
*)
Küſters Berichte 1. Nov. 1815 ff.
*)
Ich benutze hier u. A. eine Sammlung von Briefen Wangenheims an ſeinen
Freund Geh. Rath v. Hartmann, die mir Herr Prof. Hartmann in Stuttgart mit-
getheilt hat.
*)
Küſters Bericht 11. Nov. 1815.
*)
Graf Waldeck, Vorſtellung an die Höfe von Oeſterreich, Preußen, Dänemark und
England, 31. Auguſt 1816.
*)
Küſters Berichte, 24. Okt., 11. Nov. 1815.
**)
Küſter an Hardenberg, Stuttgart 18. Januar; Weiſung des Staatskanzlers
24. Februar 1817.
*)
Wangenheim an Hartmann, 3. Februar 1832.
*)
Wangenheim an Hartmann, 1. April 1818.
*)
S. o. S. 167.
*)
Alquiers Bericht an Talleyrand, München 6. Ventoſe VII, mir mitgetheilt durch
Herrn Dr. P. Bailleu.
*)
S. I. 221.
*)
Montgelas an Wrede, 21. Okt. 1813, bei Heilmann, Fürſt Wrede, S. 268.
**)
Küſters Bericht, München 28. Auguſt 1815.
*)
Küſters Berichte, München 17. Mai, 20. Auguſt 1815 ff.
*)
Inſtruction für die Bundesgeſandtſchaft 30. Nov. 1816, § 31.
*)
Kruſemarks Bericht, Wien 8. Febr. Hardenbergs Weiſung an Küſter 25. März 1817.
*)
Küſters Berichte, 12., 16. Febr.; Hardenbergs Weiſung 4. März 1817.
*)
Zaſtrows Bericht 10. Decbr. 1817.
*)
Zaſtrows Berichte, 15. Febr., 15. April 1818.
**)
Zaſtrows Bericht 15. März 1818.
*)
Varnhagens Bericht, Karlsruhe 11. Mai 1817.
**)
Varnhagens Bericht 4. Januar 1817.
*)
Varnhagen an Berſtett, 8. Mai 1816.
*)
Varnhagens Bericht, 1. Juli 1817.
*)
Wangenheim an Goltz 13. Decbr. Goltz’s Bericht 18. Decbr. 1817.
**)
Kruſemarks Bericht, Wien 22. April. Weiſung an Kruſemark 20. Mai 1818.
*)
Kruſemarks Bericht, 18. Okt. 1817.
*)
Varnhagen an Berſtett, 8. Okt. 1817.
**)
Varnhagens Bericht, 26. Auguſt 1816.
*)
Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818.
**)
Zaſtrows Bericht, München 2. Nov. 1818.
***)
Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. Auguſt 1818.
*)
Kapodiſtrias, Mémoire sur l’Acte du 26 Septembre. Warſchau 29. März 1818.
**)
Weiſung an Varnhagen, 11. Juli 1818.
*)
Weiſungen an Varnhagen, 22. Juli, 22. Auguſt 1818.
**)
F. v. Weech, Geſchichte der badiſchen Verfaſſung. S. 93 f.
*)
Zaſtrows Berichte, 5., 30. Auguſt 1818.
*)
Note des Geſandten v. Gremp 25. Sept., Antwort Rechbergs 29. Sept. 1818.
*)
Hardenberg an Altenſtein, 8. Dec. 1817. Altenſteins Antwort, 19. Jan. 1818.
*)
Jahn an Schuckmann, Nov. 1819. Altenſtein an Hardenberg, 15. Sept. 1818.
*)
Frankenbergs Berichte, Berlin 13. Nov. 1827 ff.
*)
Protokolle des Staatsraths, 7. Juli 1817.
*)
Militär-Wochenblatt 1843, Seite 348. Geſchichte der Organiſation der Land-
wehr in Weſtpreußen (Beiheft zum M. W. Bl. 1858) Seite 120.
*)
Saul Aſcher, Germanomanie, Berlin 1815, Seite 67. Bemerkungen zu den
Schriften der Prof. Rühs und Fries über die Juden, Fraukfurt 1816, Seite 4. Ein
freundliches Wort an die Chriſten von einem Juden, o. O. 1816. M. Heß, Freimüthige
Prüfung der Schrift von Rühs, Frankfurt 1816.
**)
Patriotiſcher Aufruf eines treuen Israeliten an die Fürſten Deutſchlands, Bü-
dingen 1816.
*)
Kruſemarks Berichte, 12., 22. Nov. 1817.
*)
Cabinetsordre an Altenſtein, 7. Dec. 1817.
**)
Altenſtein an Hardenberg, 30. Nov. 1817, 25. Auguſt 1818.
***)
Hardenberg an Altenſtein und Wittgenſtein, 7. Dec., Rother an Hardenberg,
15. Dec. 1817.
*)
Weiſung Edlings an den Geſchäftsträger Müller, 26. Nov. 1817.
**)
Altenſtein an Hardenberg, 18. Aug., 15. Sept.; Bericht des bad. Geſandten
General v. Stockhorn, Berlin, 7. Febr. 1818.
*)
Cabinetsrath Albrecht an Hardenberg, 13. Mai 1817.
**)
Hardenberg an Zieten, 22. März 1816.
*)
Kruſemarks Bericht, 9. April 1818.
*)
Gneiſenaus Bemerkungen zu Royers Berichten aus Paris, 28. Dec. 1819.
*)
Miniſterialſchreiben an Kruſemark, 20. Mai; Arnims Bericht, München 10. Juni;
Schölers Bericht, Petersburg 7. Febr. 1818.
*)
Kruſemarks Bericht, 27. Sept; Weiſung Hardenbergs an Kruſemark, 23. Nov. 1817.
*)
Kruſemarks Bericht, 20. Juni 1818.
*)
Zehn Tage meines Lebens. Erinnerungen von General v. Borſtell. (Nordd.
Allg. Ztg. 10. Aug. 1879 ff.)
*)
Hardenberg an Klewiz, 8. Dec. 1817, 6. Jan. 1818.
*)
Zerboni an Klewiz, 8. März 1818.
**)
Hardenberg an Neſſelrode, 3. März 1818.
*)
Eingabe der Coblenzer Regierung vom 20. Mai 1818.
*)
Zwei Cabinetsordres vom 21. März 1818.
**)
Hardenbergs Tagebuch, 1., 7., 12. März, 26. April 1818.
*)
Eingabe des Großen Ausſchuſſes der kur- und neumärkiſchen Ritterſchaft,
17. März; Antwort des Königs, 28. März; Bericht der Merſeburger Regierung,
28. Juni; Schreiben der Berliner Stadtverordneten, 15. Januar; Bericht der Berliner
Regierung, 16. Febr. 1818.
**)
Hardenbergs Tagebuch, 6. Mai; Hardenberg an den König, 25. und 30. Mai;
Cabinetsordre an Hardenberg, 16. Sept. 1818.
*)
Humboldt an Hardenberg, 29. Mai 1818.
*)
Boyen an Schön, 26. Okt. 1818.
*)
Hardenbergs Bericht an den König, Kreuznach 18. Sept. 1818.
**)
Miniſterialſchreiben Berſtetts an Berkheim, 29. Aug. 1818.
*)
Metternich an Hardenberg, 5. Nov. 1818.
*)
Protokoll der 5. Sitzung vom 3. Okt. 1818.
**)
Kapodiſtrias, Mémoire sur l’alliance générale, 26. Sept./8. Okt.; Bernſtorff an Lottum,
10. Okt. 1818.
*)
Mémoire sur l’application des traités de 1815 aux circonstances actuelles.
14. Okt. 1818.
*)
Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Aperçu de la situation,
1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten-
ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift.
*)
Geheimes Protokoll der 33. Sitzung vom 15. Nov. 1818.
*)
Protocole militaire vom 15. November. Bernſtorff an Lottum 9. November.
Wolzogens Denkſchrift 17. Okt. Boyens Denkſchrift 15. Nov. 1818.
*)
Protokoll der 47. Sitzung vom 22. Nov. 1818.
*)
Ancillon, Mémoire sur la grande alliance. Bernſtorff an Lottum, 1. Nov. 1818.
*)
Bernſtorff an Lottum, 5., 23. Nov. 1818.
**)
König Friedrich Wilhelm an den König von Portugal, 7. Nov. Bernſtorff
an Lottum, 29. Okt., 9. Nov. 1818.
*)
Protokoll der 18. Sitzung vom 23. Okt. Bernſtorff an Lottum, 19. Nov. 1818.
*)
König Friedrich Wilhelm an den König von Schweden, 14. Nov. 1818; König
Karl XIV. Johann an Kaiſer Franz, 7. Jan. 1819; Kruſemarks Bericht, Wien Febr. 1819.
**)
Protokoll der 42. Sitzung vom 21. Nov. 1818.
***)
Ruſſiſche Denkſchrift über Buonaparte (Protokoll d. 31. Sitzung v. 13. Nov. 1818).
*)
Kruſemarks Bericht, Wien 26. Dec. 1818.
**)
Miniſteralſchreiben an Kruſemark, 6. März 1819.
*)
Separat-Protokoll über Kurheſſen, 11. Okt. Hardenbergs Weiſung an den
Geſandten v. Hänlein in Kaſſel, 14. Okt. 1818.
*)
Protokoll der 32. Sitzung vom 14. Nov. König Friedrich Wilhelm an Kur-
fürſt Wilhelm, 14. Nov. Weiſung an Hänlein, 20. Nov.
*)
Hardenbergs Denkſchrift über den Art. 50 der Wiener Schlußakte. Protokoll der
27. Sitzung vom 9. Nov. 1818.
**)
Weiſung an die preußiſchen Geſandten in Stuttgart, Karlsruhe u. ſ. w.,
21. Nov.; Hardenberg an die Fürſtin von Taxis, 15. Nov. 1818.
*)
Weiſung des Grafen v. Bentinck an Kanzleirath Mosle, Wien 5. April 1815.
Bernſtorffs Bericht (41. Sitzung vom 20. Nov. 1818).
**)
Hardenberg an Berſtett 15. Okt., an Rechberg 15. Okt. 1818.
***)
Bernſtorff an Lottum, 19. Oktober. Hardenberg und Neſſelrode an Berſtett,
17. Okt. 1818.
*)
Berſtett an Kapodiſtrias, 28. Okt.; Kapodiſtrias Antwort, 29. Okt.; Ruſſiſche
Denkſchrift, 10. Nov.; Separat-Protokoll über Baden, 20. Nov.; Caſtlereaghs Denk-
ſchrift, 20. Nov.; König Friedrich Wilhelm an König Max Joſeph, 18. Nov. 1818.
*)
Berckheims Bericht, Frankfurt 24. November; Varnhagens Bericht, Karlsruhe
27. Nov. 1818.
**)
Kruſemarks Berichte, 26., 30. Dec. 1818.
*)
Hardenbergs Tagebuch, 11. Jan. 1819.
*)
Als Metternich im Jahre 1828, nach dem Abſchluß des preußiſch-heſſiſchen Zoll-
vereins, dem Geſandten v. Maltzahn dieſe Anſichten vortrug, bemerkte Graf Bernſtorff
dazu: genau die nämlichen Rathſchläge habe ihm der öſterreichiſche Kanzler ſchon auf dem
Aachener Congreſſe gegeben. (Maltzahns Bericht, Wien 14. April 1828.)
*)
Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 11. Jan.; an Altenſtein 11. Jan. 1819.
*)
Votum von Schuckmann 20. Jan., Bernſtorff Anfang Februar, Boyen 12. Febr.,
Klewiz Febr., Altenſtein 1. März, Lottum 4. März, Bülow 5. März, Beyme ohne Datum,
Kircheiſen 2. Mai 1819.
*)
Humboldts Eingabe an den König, Aachen 13. Nov. 1818.
*)
Cabinetsordre an Humboldt 11. Jan. 1819 mit Begleitſchreiben des Staats-
kanzlers.
**)
Humboldt an den König, 24. Jan., an Hardenberg 24. Jan., Cabinetsordre an
Humboldt 31. Jan. 1819.
*)
Humboldt an den König, 11. Febr., mit Randbemerkungen des Staatskanzlers.
Cabinetsordre an Humboldt, 17. Febr., Antwort Humboldts, 27. Febr. 1819.
**)
Humboldt an Motz, 18. März 1819.
*)
Hardenbergs Tagebuch, 3. Mai 1819.
**)
Rhediger, über die Repräſentation im preußiſchen Staate, 8. Jan. 1819.
*)
Zaſtrows Bericht, 29. Januar 1819.
*)
Zaſtrows Bericht, 17. Febr. 1819.
*)
Bemerkungen über die erſten Vorgänge in der bairiſchen Ständeverſammlung.
Die Denkſchrift wurde am 10. April 1819 nach Berlin geſendet, muß aber ſchon zu
Anfang März geſchrieben ſein, da ſie die Verhandlungen des Landtags nur bis zum
15. Febr. verfolgt.
*)
Zaſtrows Bericht, 30. März; Kruſemarks Bericht, 16. April 1819.
*)
Miniſterialſchreiben an Zaſtrow, 11. Mai 1819.
**)
Zaſtrows Bericht, 19. Mai 1819.
*)
Zaſtrows Bericht, 23. Mai; Miniſterialſchreiben an Zaſtrow, 11. Juni 1819.
*)
Miniſterialſchreiben an Zaſtrow, 7. Auguſt 1819.
**)
Varnhagens Berichte, 16. Dec. 1818, 4. April 1819.
*)
Varnhagens Berichte, 19., 21. April 1819.
**)
Blittersdorffs Berichte, Petersburg 5. Jan. 1819 ff.
***)
Berſtett an Kapodiſtrias, 10. Dec. 1819.
*)
Varnhagens Bericht, 22. April 1819.
*)
Blittersdorffs Bericht, Petersburg 11. Aug. 1819.
**)
Reizenſtein an Venningen, 22. Okt. 1818.
***)
Kapodiſtrias an Berſtett, Aachen Nov. 1818.
†)
Varnhagens Bericht, 10. Jan. 1819.
*)
Miniſterialſchreiben an Blittersdorff, 30. April 1819.
*)
Varnhagens Berichte, 12. Mai, 21. Juli 1819.
*)
Küſters Bericht, Karlsruhe 22. Aug. 1820.
*)
Berkheims Bericht, Frankfurt 25. Juni; Blittersdorffs Bericht, Petersburg
14. Auguſt 1819.
*)
Dieſe Thatſachen mußten unglaubhaft erſcheinen, ſo lange ſie nur durch die Denk-
würdigkeiten des elenden Denuncianten Wit v. Dörring bezeugt waren; heute laſſen ſie
ſich nicht mehr bezweifeln, ſeit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutſch-
Amerikaner Friedrich Münch ſie wiederholt auf das Beſtimmteſte zugegeben hat. (Münch,
Erinnerungen aus Deutſchlands trübſter Zeit. St. Louis 1873. Derſelbe in der Deut-
ſchen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft ſich auf vertrauliche Mittheilungen
ſeines Freundes Paul Follen; er iſt wohl der einzige noch Ueberlebende aus dem engeren
Kreiſe der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtſchaffenheit, der an den Idealen
ſeiner Jugend noch heute feſthält, und ich ſehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver-
ſicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrſcheinliches enthalten,
unglaubhaft ſein ſollen. Das zur Vertheidigung Karl Follens geſchriebene anonyme
Büchlein „Deutſchlands Jugend in weiland Burſchenſchaften und Turngemeinden“ (von
R. Weſſelhöft) iſt nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenſchrift.
*)
Nach Paul Follens eigenem Geſtändniß (bei Münch, Erinnerungen S. 60).
Zu ergänzen durch die vorſichtigen Andeutungen H. Leo’s (Aus meiner Jugendzeit S. 227)
*)
Blittersdorffs Bericht, Petersburg 26. Mai 1819.
**)
Varnhagens Bericht, 27. März 1819.
***)
Nach einer Aufzeichnung von Hrn. Prof. G. Weber in Heidelberg.
*)
Metternich an Buol, 14. Aug.; Bernſtorff an Goltz, 15. Aug. 1819.
**)
Blittersdorffs Berichte, Petersburg 26., 30. April 1819.
***)
Kruſemarks Bericht, 21. Mai; Zaſtrows Berichte, 14. April, 4. Aug.; Mini-
ſterialſchreiben an Zaſtrow, 23. April 1819.
*)
Metternich an Berſtett, 17. April; Berſtett an Neſſelrode, 9. Mai, an Metternich,
29. Mai 1819.
*)
Bernſtorff an Varnhagen, 23. April; Kruſemarks Bericht, 16. April; Weiſungen
an Kruſemark, 17. Mai, 15. Juni 1819.
*)
Kruſemarks Berichte, 21. Mai, 30. Juni; Blittersdorffs Berichte, Petersburg
21. April, 30. Mai 1819.
**)
Zaſtrows Bericht, 9. Okt. 1819.
***)
Goltz’s Bericht, Frankf. 17. Mai; [Blittersdorffs] Bericht, Petersburg 8. Mai 1819.
*)
Kruſemarks Bericht, 21. Mai 1819.
**)
Ancillon, Weiſung an Kruſemark, 15. Juni 1819.
*)
Goltz’s Bericht an den König, 9. März 1819.
*)
Kruſemarks Bericht, 11. Jan. 1819.
**)
Kruſemarks Berichte, Rom 4. Juni, Perugia 22. Juni 1819.
*)
Goltz’s Bericht, 25. Mai 1819.
*)
Hardenbergs Tagebuch, 13. Juli 1819.
*)
Aufzeichnung des Stud. v. Wyß über ſeine Verhaftung am 7. Juli; Bericht der
Commiſſare Grano, Dambach, Eckert über die Hausſuchung bei G. A. Reimer, 11. Juli;
Polizeibericht an den Polizeidirektor v. Le Coq, 14. Nov. 1819 ff. Dieſe und andere
Papiere zur Geſchichte der Demagogenverfolgung verdanke ich Hrn. G. Reimer in Berlin.
Einiges Nähere in den Preuß. Jahrbüchern, Juli 1879.
*)
Humboldt an Hardenberg, 20. Juli 1819.
*)
Den Briefwechſel von G. A. Reimer und Niebuhr habe ich mitgetheilt in den
Preuß. Jahrbüchern, Auguſt 1876.
*)
Goltz’s Bericht, 20. Juli 1819.
*)
Kruſemarks Bericht, 4. Juni 1819.
*)
Erlaß des Oberamts Reutlingen an den Kupferſchmid Peter Votteler u. A.,
10. Juli 1819.
*)
Punktation über die Grundſätze, nach welchen die Höfe von Oeſterreich und
Preußen in den inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bundes zu verfahren entſchloſſen
ſind. Teplitz 1. Auguſt 1819. S. Beilage III.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 2. Sept. 1819.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 8., 13. Auguſt 1819.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 25. Auguſt 1819.
**)
Bernſtorff an Hardenberg, 13. Aug. 1819.
*)
Metternich und Bernſtorff an Miniſter Roſenkrantz in Kopenhagen, 18. Aug. 1819.
**)
Bernſtorff an Hardenberg, 2. Sept. 1819.
***)
Hardenberg an Bernſtorff, 17. Auguſt 1819.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 25. Aug.; Goltz’s Bericht an Bernſtorff, Frankfurt
28. Auguſt 1819.
*)
Hardenberg an Bernſtorff, 25. Aug. 1819.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 8. Aug. 1819.
*)
Hardenberg an Bernſtorff, 13. Aug. 1819.
*)
Kamptz an Gärtner, 31. Aug. 1819.
**)
Hardenberg an Bernſtorff, 25. Aug., 1. Sept. 1819.
***)
Allerhöchſte Entſchließung, Schönbrunn, 28. Aug. 1819.
†)
Bernſtorff an Hardenberg, 7. Sept. 1819.
††)
Metternich an Bernſtorff, 5. Sept. 1819, mit einer Denkſchrift über die Central-
Unterſuchungscommiſſion.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 2. Sept. 1819.
*)
Bernſtorff an Hardenberg, 25. Aug., 2. Sept. 1819.
*)
Kaiſer Franz an König Friedrich Wilhelm, 29. Auguſt 1819.
*)
Bernſtorff an Goltz, 1. Sept.; Goltz’s Bericht, 7. Sept. 1819.
**)
Miniſterialinſtruktion an den badiſchen Bundesgeſandten, 13. Sept. 1819.
***)
Bernſtorff, kurze Ueberſicht über die Reſultate der Karlsbader Verhandlungen
(ohne Datum, vermuthlich vom 9. Sept. 1819).
*)
Bernſtorff, Weiſung an Otterſtedt 1. Sept.; Otterſtedts Berichte, Darmſtadt
11., 13. Sept. 1819.
*)
Goltz’s Bericht an den König, 28. Sept. 1819.
**)
Goltz’s Berichte an den König und an Bernſtorff, 18., 22., 28. Sept. 1819.
*)
Zuerſt veröffentlicht im Jahre 1861 in der Schrift von K. L. Aegidi, Aus dem
Jahre 1819.
**)
Bernſtorff an Goltz, 9. Okt. 1819.
*)
Berichte von Goltz aus Frankfurt 22., 28. Sept., 26. Okt., von Zaſtrow aus
München 9. Okt., von Küſter aus Stuttgart 12. Okt. 1819.
*)
Kruſemarks Bericht, Wien 16. Okt. 1819.
*)
Berkheims Berichte, Frankfurt 2. April 1819 ff.
**)
Kruſemarks Bericht, 30. Okt. 1819.
*)
Weiſung an die Geſandten in Dresden, München, Stuttgart, Darmſtadt 2. Okt.;
desgleichen an Gf. Keller in Erfurt und die Geſchäftsträger in Hamburg und Frankfurt,
2. Okt. 1819.
**)
Hardenbergs Tagebuch, 4. Okt. 1819.
***)
Veröffentlicht von F. Kapp, die preuß. Preßgeſetzgebung unter Fr. Wilhelm III.
(Archiv f. Geſch. d. d. Buchhandels VI. 185).
*)
Berſtett an Metternich 2., 22. Okt., an Schuckmann 26. Nov.; Metternich an
Berſtett 30. Okt.; Schuckmann an Berſtett 1. Nov. 1819.
*)
Abgedruckt bei F. v. Weech, Correſpondenzen und Aktenſtücke zur Geſchichte der
Miniſterconferenzen von Karlsbad und Wien. S. 16.
**)
Zaſtrows Berichte 9., 20. Okt., 23. Dec. 1819.
***)
Kruſemarks Bericht 30. Okt. 1819.
*)
Bernſtorff, Weiſung an Zaſtrow, 1. Nov., an Kruſemark, 2. Nov.; Kruſemarks
Bericht, 10. Nov. 1819.
**)
Rechberg an Zaſtrow, 13. Nov. 1819.
***)
Zaſtrows Bericht, 17. Nov. 1819.
†)
Ancillon an Zaſtrow, 7. Dec. 1819.
*)
Blittersdorffs Bericht, Petersburg 25. Okt. 1819.
**)
Zaſtrows Berichte, 23. Dec. 1819, 9. Januar 1820.
***)
Zaſtrows Bericht, 27. Okt. 1819.
†)
Küſters Bericht, Stuttgart 12. Okt.; Kruſemarks Berichte, Wien 22. Sept.,
2. Okt. 1819.
*)
Weiſung an Kruſemark, 1. Okt. 1819.
**)
Lebzelterns Bericht aus Warſchau (in Kruſemarks Bericht, Wien 8. Dec.), Blitters-
dorffs Bericht, Petersburg 7. Nov. 1819.
***)
Berſtett an Großherzog Ludwig, Wien 12. Dec.; Zaſtrows Bericht, München
6. Nov. 1819.
†)
Wangenheim an Hartmann, 6. Nov. 1819.
*)
Zaſtrows Bericht, 17. Nov. 1819.
*)
Blittersdorffs Berichte, Petersburg 14. Aug. 1819 ff.
**)
Kruſemarks Bericht, 8. Dec. 1819. Bericht des ſchwediſchen Geſandten Löwenhjelm
(Beilage zu Kruſemarks Bericht, 2. Jan. 1820).
***)
Blittersdorffs Bericht, Petersburg 4. Nov. 1819.
†)
Kapodiſtrias an Lebzeltern, 30. Nov. 1819. Die drei anderen Schriftſtücke bei
F. v. Weech, Correſpondenzen S. 19 f.
*)
Kruſemarks Bericht, 2. Jan. 1820.
**)
Kruſemarks Berichte, 2. Jan., 10. April 1820.
***)
Berſtett an Kapodiſtrias, 10. Dec. 1819.
*)
Kruſemarks Berichte, 17. Jan., 12. Febr. 1820.
**)
Kruſemarks Bericht, 26. Dec. 1819.
***)
Kruſemarks Bericht, 13. Dec. 1819.
*)
Cabinetsordre an den Staatskanzler, 23. Aug. 1819.
**)
Hardenberg, Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen. S. Beilage IV.
*)
Humboldt an Schuckmann 24. Okt.; an Bodelſchwingh-Plettenberg 22. Sept. 1819.
*)
Eingabe der Ritterſchaft des weſthavelländiſchen und zauchiſchen Kreiſes an den
König, 17. Nov.; desgl. der Stände der Grafſchaft Ruppin, 21. Dec. 1819.
**)
Protokolle der Verfaſſungscommiſſion, 12., 28. Okt. Ancillon und Eichhorn,
Ideen zu der landſtändiſchen Verfaſſung.
*)
Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 9. Aug. 1819.
**)
Hardenbergs Tagebuch, 19. Aug. 1819.
*)
Bericht des Staatsminiſteriums an den König 26. Aug., mit Randbemerkungen
des Staatskanzlers vom 10. Sept. 1819.
*)
Zwei Cabinetsordres an Wittgenſtein und Bernſtorff 7. Okt. Witzleben, Denk-
ſchrift über den Bericht des Staatsminiſteriums und die Randbemerkungen des Staats-
kanzlers, Sept. 1819.
**)
Zwei Cabinetsordres an den Staatskanzler und das Staatsminiſterium, 21. Okt.
Hardenbergs Tagebuch, 12., 14. Okt. 1819.
***)
Bericht des Staatsminiſteriums an den König, 10. Nov. 1819.
†)
S. o. S. 494.
††)
Witzleben, Denkſchrift über die Cabinetsordre vom 21. Okt. 1819.
*)
Protokoll der Sitzungen des Staatsminiſteriums vom 5., 27. Okt., 3. Nov. 1819
(von Humboldt).
*)
Humboldts Bericht, 5. Okt. Vota von Bernſtorff, Anfang Okt., von Beyme
20. Okt., von Boyen 26. Okt., von Altenſtein 3. Nov. 1819.
*)
Hardenberg an Ancillon 11. Nov., Ancillons Antwort 15. Nov. 1819, mit Bei-
lage: Considérations sur les derniers décrets de la Diète.
**)
Bericht des ſchwediſchen Geſandten v. Taube an Graf Engeſtröm in Stockholm,
Berlin 9. Nov. 1819.
***)
Kircheiſens Bericht an den König, 27. Nov. 1819.
*)
Bericht des badiſchen Geſandten General v. Stockhorn, Berlin 21. Dec. 1819.
*)
Voyen an Hardenberg, 13. Dec. 1819.
**)
Witzleben an Hardenberg 18. Dec., Grolmans Eingabe an den König 17. Dec.,
Cabinetsordre an Grolman 20. Dec., an Boyen 25. Dec., Boyen an Hardenberg 17.,
27. Dec., Hardenberg an Boyen 25. Dec. 1819.
***)
Bernſtorff an Hardenberg, Wien 25. Dec. 1819.
*)
Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. S. Beilage V.
**)
S. o. S. 201.
*)
Hardenberg an den König, 28. Dec. 1819; Hardenbergs Aufzeichnungen, Weih-
nachten 1819. S. Beilage V.
*)
Drei Cabinets-Ordres v. 31. Dec. 1819 an das Staatsminiſterium, an Beyme,
an Humboldt.
**)
Beyme an den König 1. Jan., Humboldt an den König 1. Jan., Cabinetsordre
an Humboldt 6. Jan. 1820.
***)
Stockhorns Bericht, 19. Febr., Bernſtorff an Hardenberg, Wien 12. Jan., Har-
denbergs Tagebuch, 10. Jan. 1820.
*)
Berkheims Bericht, Frankfurt 25. Juni 1819.
**)
Goltz’s Bericht, 20. Juli 1819.
*)
So u. A. in einer Denkſchrift des Finanzminiſteriums vom 28. Dec. 1824.
*)
Preußiſche Staatszeitung 1819 Nr. 131. Ebendaſelbſt, 28. Dec. 1819.
**)
Schreiben der Geh.-Räthe Edling und Conta an Graf Bernſtorff, Weimar
26. Januar 1819.
*)
Leſtocq an Bernſtorff 22. Jan.; Schreiben des Sondershauſener Geh. Conſiliums
an Bernſtorff 27. Febr., an Klewiz 9. Febr.; Klewiz an Kanzler v. Weiſe 30. Jan.,
an Bernſtorff 18. März 1819.
**)
Kanzler v. Weiſe an Hoffmann, 23. April; Fürſt Anton Günther an König
Friedrich Wilhelm, 29. Juli 1819.
*)
Nach den Aufzeichnungen von Motz’s Tochter, Frau v. Brinken.
**)
Hoffmann an Maaſſen, 10. Okt. 1819.
***)
Weiſe jun. an Hoffmann, Nov. 1819.
*)
Leſtocq an Bernſtorff 29. Okt., Hoffmann an Bernſtorff 18. Dec. 1819.
*)
Beigelegt war die bekannte Proclamation Blüchers an die Soldaten des ſächſiſchen Armeecorps
vom 6. Mai 1815.
*)
Wörtlich gleichlautend mit Nr. 1 der Karlsbader Punktation
**)
Fehlt in der Karlsbader Punktation.
***)
Steht als Nr. 2 in der Karlsbader Punktation, mit Ausnahme der eingeklammerten Stelle.
†)
Steht, bis auf einige kleine ſtiliſtiſche Aenderungen, als Nr. 3 in der Karlsbader Punktation.
††)
Fehlt in der Karlsbader Punktation. Nur der eingeklammerte Satz ſteht daſelbſt, etwas ver-
ändert, als Nr. 4.
†††)
Steht als Nr. 5 in der Karlsbader Punktation, mit Ausnahme der eingeklammerten Stelle.
*)
Alles Nachfolgende fehlt in der Karlsbader Punktation.
**)
D. h. der in Karlsbad vorgelegten „Grundlinien“ eines Beſchluſſes über die Preſſe (bei Welcker
S. 193).

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TextGrid Repository (2025). Treitschke, Heinrich von. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpx9.0