von
St.Petersburg
bei Johann Friedrich Hartknoch.
[][[I]]
Inhalt des zweyten Theils.
Neunter Abſchnitt.
Induſtrie.
- Allgemeine Bemerkungen über die Entwickelung und
den Gang der Kultur; insbeſondere in Rußland.
— Handel. Anzahl der jährlich ankommenden
Schiffe nach den Nationen. Anzahl der ruſſiſchen
Schiffe. (Ueber den ruſſiſchen Aktivhandel.) Ge-
genſtände und Mengen der Ausfuhr. Umſatz und
Transport der Waaren aus dem Innern des
Landes nach St. Petersburg. Fahrzeuge und Pro-
dukte die durch den ladogaiſchen Kanal hierher
gebracht werden. Gegenſtände und Mengen der
Einfuhr. Gültigkeit der Zollregiſter. Geldwerth
der Aus- und Einfuhr. Bilanz. Zunahme des
Handels. Handelsrang von St. Petersburg. Gang
und Geſchäfte des Petersburgiſchen Handels.
Kaufleute. Handelsgeiſt der Ruſſen. — Manu-
facturen und Fabriken. KaiſerlicheTape-
ten-Porzellain-Fayence-Bronzefabriken, Stein-
ſchleiferey. Privatmanufakturen. Gegenſtände
und Verarbeitungen derſelben. — Handwerke
und Gewerbe, nur von Ruſſen und Deutſchen be-
trieben. Große Anzahl und fortwährendes Ein-
ſtrömen der Deutſchen. Ruſſiſche Gewerbe. Deut-
ſche Handwerker. Künſte und Gewerbe des Luxus.
*
[II] Gold- und Silberarbeiter und Sticker. Putzma-
cherinnen. Wagenmacher. Tiſchler und Ebeniſten;
Röntgen’s anßerordentliche Kunſtarbeiten. Kunſt-
gärtner. Seite 1
Zehnter Abſchnitt.
Wiſſenſchaften und Kuͤnſte.
- Verhältniß der Reſidenz in wiſſenſchaftlicher Kultur
zu der Hauptſtadt. — Gelehrte Geſellſchaf-
ten. Akademie der Wiſſenſchaften. Idee Peters
des Großen bey der Stiftung derſelben. Jetziger
Zuſtand. Mitglieder. Thätigkeit. Bürgerliche Lage
der Akademiker. — Ruſſiſche Akademie. Zweck
und Verfaſſung. Anekdote von der Sprachkennt-
niß der Kaiſerinn. Parallele in dieſer Hinſicht mit
Friedrich dem Zweiten. — Oekonomiſche Geſell-
ſchaft. Einrichtung und Zweck. Thätigkeit. Ihr
Verdienſt um die Verbreitung ökonomiſcher Kennt-
niſſe. Litterariſcher Werth ihrer Arbeiten. Gemein-
nützige Preisaufgaben. — Bibliotheken. Bibl.
der Akad. der Wiſſenſch. Kurze Geſchichte derſel-
ben. Itzige Verfaſſung. Mängel und Reichthü-
mer. Originalmannſkripte Peters des Großen und
Katharina der Zweiten. Ruſſiſche Bibliothek.
Slavoniſche und ruſſiſche Handſchriften. Tangu-
tiſche und mongoliſche Manuſkripte. Chineſiſche
Bücher. Koſtbare Originalgemälde aus der Natur-
geſchichte. Lokale und Einrichtung. — Bibl. des
Alexander-Newski-Kloſters und des Landkadet-
tenkorps. — Kaiſerliche Bibl. in der Eremi-
tage — Großfürſtliche Bibliotheken. Privatbi-
bliotheken. — Sammlungen von Natur-
[III] und Kunſtſeltenheiten. Muſeum der Akad.
der Wiſſenſch. Geſchichte dieſes Inſtituts. Schätze
aus den drey Naturreichen. Ruyſh’s anatomiſche
Präparate. Alterthümer und Koſtbarkeiten. Denk-
mäler aus den ſibiriſchen Gräbern. Modelle. Me-
chaniſche Kunſtwerke. Gallerie orientaliſcher Na-
tionen. Kabinett Peters des Großen. Erd- und
Himmelskugeln. Phyſikaliſcher und aſtronomiſcher
Apparat. Münz- und Medaillenkabinett. Aeußere
Einrichtung. — Lieberkühniſche Sammlung im
Kabinett des mediziniſchen Kollegiums. — Mine-
ralienſammlung und künſtliches Gebirge im Berg-
kadettenkorps. — Großes Modellkabinett. —
Kai[ſ]erliches Muſeum in der Eremitage. — Pri-
vatſammlungen. — Botaniſche Gärten. — Ge-
lehrte Hülfsmittel. Buchdruckereyen. Cen-
ſur. Buchhandel, Leſegeſellſchaften. — Ueber-
ſicht der petersburgiſchen Litteratur
während der Regierung Katharinens
der Zweiten Frühere Kultur der Ruſſen. —
Theologie. — Rechtsgelehrſamkeit. — Medizin.
— Philoſophie, Politik, Staats- und Land-
wirthſchaft. — Phyſik und Naturgeſchichte. —
Mathematiſche Wiſſenſchaften. — Geſchichte.
Herausgegebene Manuſkripte älterer und neuerer
Annaliſten. — Geographie. Katharinens Ver-
dienſt um dieſelbe. Karten. Der kalugiſche Atlas,
ein außerordentliches Unternehmen. — Pädago-
gik. Geſchichte und Verfaſſung des ruſſiſchen
Schulweſens. Schulbücher. — Sprachkultur.
— Alte Litteratur. Ueberſetzungen griechiſcher und
römiſcher Schriftſteller. — Dichtkunſt. Sumaro-
kow. Knjäſhnin. Derſchawin. Cheraskow. Pe-
* 2
[IV] trow. — Proſaiſche Schriftſteller. Romane. —
Zeitſchriften. — Deutſche Litteratur. — Künſte.
Akademie der Künſte. — Künſtler. Maler. Kup-
ferſtecher. Bildhauer Architekten. Muſiker, u. ſ. w.
— Mechaniſche Künſte. Inſtrumentenmacher von
aller Art. Kulibin, ein großes mechaniſches Ge-
nie. Schnoor’s typographiſche Bemühungen. Seite 67
Eilfter Abſchnitt.
Lebensgenuß.
- Volksbeluſtigungen. Frohſinn des gemeinen Ruſſen.
Nationalgeſänge und Tänze. Kabacken. Bade-
häuſer. Spiele. Volksfeſte. Schaukeln um Oſtern.
Eisberge in der Butterwoche. — Vergnügungen
der höhern Klaſſen. Allgemeine Karakteriſtik der-
ſelben. Klubbs. Der muſikaliſche, der engliſche,
der adliche, der bürgerliche, der amerikaniſche,
die beyden Tanzklubbs. Das ältere und neue
Liebhabertheater. Geiſt und Ton dieſer Geſellſchaf-
ten. — Oeffentliche Spazierplätze. Der Som-
mergarten. Die Kays der Newa. Die Fontanka.
Der italieniſche Garten. Der Park des tauriſchen
Pallaſt. Der Garten des Landkadettenkorps. Die
Arkaden von Goſtinnoi Dwor. Ländliche Prome-
naden außerhalb der Reſidenz. Liberalität des
ruſſiſchen Adels. — Oeffentliche Spazierfahrten.
Schlittenfahrten. Schlittenrennen. Waſſerfahrten.
— Kaffehäuſer. Gaſthäuſer. Spiethäuſer. Wet-
ſchurinki, Mädchenbälle. — Freudenmädchen.
Heroiſcher Edelmuth eines ermordeten Mädchens
gegen ihre Mörder. — Theater. Ruſſiſche Schan-
[V] ſpiele, Operetten und Opern, Oteg, eine große
heroiſche Oper mit ſeltnen Prachtſcenen. Franzö-
ſiſches Schauſpiel. — Muſikaliſche Belnſtigungen.
— Tanzgeſellſchaften und Maskaraden. — Hof-
feſte. Maskarade und Erleuchtung in Peterhof, ein
durchaus einziges Schanſpiel. Ablaufen eines Kriegs-
ſchiffs vom Stapel der Admiralität. Großes Feſt
des Fürſten Potemkin. Seite 266
Zwoͤlfter Abſchnitt.
Lebensart und Sitten.
- Klaſſifikation der Einwohner, nach den Beſtimmun-
gen der Kultur und des Wohlſtandes. — Erſte
Klaſſe, das Volk. Veſtandtheile dieſer Maſſe. Die
Leibeigenſchaft, eine Quelle der Bevölkerung in
den Städten. Nationalkleidung. Wohnung und
häuslicher Zuſtand. Nahrungsmittel. Lebensart der
Finnen. Schickſal und Verfaſſung der untern
Volksklaſſen. Geringer Druck der Leibeigenſchaft.
Leidliche phyſiſche Exiſtenz. Schutz der Geſetze. —
Zweyte Klaſſe, der ausländiſche Handwerker. Vor-
theile ſeiner Lage. Luxuriöſe Lebensart. Erziehung
und Beſtimmung der Kinder. Anmaßender Ton.
Kultur. Eigenthümliches Gepräge. Täglicher Le-
bensgang. — Dritte Klaſſe, der höhere Mittel-
ſtand. Wohnung. Hausgeräth. Tafel. Bedienung.
Equipage. Kleidung. Bedürfniſſe und Koſten einer
Haushaltung. Allgemeiner Karakter der Lebensart.
Große Geſelligkeit und Gaſtfreyheit. Ton der Ge-
ſellſchaften und Zirkel. Unterhaltungen. Tafelfreu-
den. Kartenſpiel. Konverſation. Mehrheit gangba-
* 3
[VI] rer Sprachen. Petersburgiſches Deutſch. Taufna-
men, die gewöhnliche Anrede. Begrüßungen. Haus-
feſte. Annehmlichkeiten welche die gute Geſell-
ſchaft giebt und Forderungen welche ſie macht.
Geld und Rang, nothwendige Bedingungen. Bö-
ſes Schickſal der Fußgänger. Bilanz. Auch ſonder-
bare Karaktere gefallen ſich hier. Häusliches Le-
ben. Familienglück. Wirthſchaftlichkeit mit der
Sorge für äußern Anſtand. Kindererziehung. Frü-
hes Auftreten junger Leute in der Welt. Stim-
mung des weiblichen Geſchlechts. Freundſchaft und
Egoismus. — Vierte Klaſſe, die Großen. Reich-
thum und Benutzung der Leibeigenen. Lebensart.
Liberalität und Popularität. Hofton. Seite 354
Dreyzehnter Abſchnitt.
Karakterzuͤge.
- Große Miſchung von Nationen, Sitten und Spra-
chen. Auffallende Wirkung hievon: Mangel einer
ſtarkhervorſpringenden allgemeinen Denkungsart.
— Petersburgiſche Deutſche. Großes Veyſpiel
deutſcher Ehrlichkeit, von einer deutſchen Frau ge-
geben. Franzoſen. Engländer. Uebrige Nationen.
Orientalen. Aſiaten. — Allgemeine Karakterzüge.
Religiöſe, politiſche und geſellſchaftliche Toleranz.
Achtung für Stand und Rang. Gutmüthigkeit und
Jovialität. Geld- und Rangſucht. Freygebigkeit.
Leichtſinn. Unbeſtändigkeit. Seite 479
Gemaͤhlde von St. Petersburg.
Zweiter Theil.
A
[[2]][[3]]
Neunter Abſchnitt.
Induſtrie.
Allgemeine Bemerkungen über die Entwickelung und den
Gang der Kultur; insbeſondere in Rußland. —
Handel. Anzahl der jährlich ankommenden Schiffe
nach den Nationen. Anzahl der ruſſiſchen Schiffe.
(Ueber den ruſſiſchen Aktivhandel.) Gegenſtände und
Mengen der Ausfuhr. Umſatz und Transport der
Waaren aus dem Innern des Landes nach St. Pe-
tersburg. Fahrzeuge und Produkte die durch den la-
dogaiſchen Kanal hierher gebracht werden. Gegen-
ſtände und Mengen der Einfuhr Gültigkeit der Zoll-
regiſter. Geldwerth der Aus- und Einfuhr. Bilanz.
Zunahme des Handels. Handelsrang von St. Peters-
burg. Gang und Geſchäfte des Petersburgiſchen
Handels. Kaufleute. Handelsgeiſt der Ruſſen. —
Manufacturen und Fabriken. Kaiſerliche
Tapeten-Porzellain-Fayence-Bronzefabriken, Stein-
ſchleiferey Privatmanufacturen. Gegenſtände und
Verarbeitungen derſelben. — Handwerke und
Gewerbe, nur von Deutſchen und Ruſſen betrie-
ben. Große Anzahl und fortwährendes Einſtrömen
der Deutſchen. Ruſſiſche Gewerbe. Deutſche Hand-
A 2
[4] werker. Künſte und Gewerbe des Luxus. Gold- und
Silberarbeiter und Sticker. Putzmacherinnen. Wa-
genmacher. Tiſchler und Ebeniſten; Nöntgeo’s auſ-
ſerordentliche Kunſtarbeiten. Kunſtgärtner.
Der Handel, die Schiffahrt und die Ge-
werbe von St. Petersburg ſind ſo hervorſte-
chende Zuͤge in der Karakteriſtik dieſer Reſi-
denz, daß es dem Gemaͤhlde derſelben an
Wahrheit, Vollſtaͤndigkeit und Intereſſe feh-
len wuͤrde, wenn man eine kurze Schilderung
dieſer Gegenſtaͤnde vermißte. So wenig ſie
alſo in einem Buche uͤbergangen werden duͤr-
fen, welches gerade nur durch jene Eigenſchaf-
ten einen Werth erhalten kann: ſo ſchwierig
iſt doch die Behandlung derſelben fuͤr einen ſo
eigenthuͤmlich modifizirten Zweck als der unſri-
ge. Anders ſtellt der Statiſtiker ſeine geſam-
melten Data auf; ihm iſt Vollſtaͤndigkeit das
hoͤchſte Geſetz, und oft macht eben das gering-
fuͤgigſte und trockenſte Detail den Werth ſeiner
Arbeit. Hier, wo Intereſſe der letzte Zweck
iſt, genuͤgt es dem Schriftſteller, fruchtbare
Reſultate an einander zu reihen, aus denen
[5] der wirkliche Zuſtand der Dinge ſich dem Leſer
von ſelbſt darbietet, und die ihn zu Betrach-
tungen und Folgerungen fortreiſſen, uͤber wel-
chen er der eigenthuͤmlichen Trockenheit des Ge-
genſtandes vergißt.
Der Anblick menſchlicher Thaͤtigkeit hat
etwas Befriedigendes fuͤr den Beobachter; die
Muſterung der Werke des Fleißes, der Er-
findung, der Induſtrie, gewaͤhrt eine Art ed-
len und feinen Genuſſes, der oft die Quelle
nuͤtzlicher und großer Beſtrebungen geworden iſt.
Der muͤhſame Fleiß welcher der Erde ihre Schaͤtze
abgewinnt; die kunſt- und erfindungsreiche
Emſigkeit die dieſe rohen Erzeugniſſe auf un-
endlich mannichfaltige Art veredelt und zu den
tauſendfachen Benutzungen der Nothdurft, der
Bequemlichkeit und des Luxus bereitet; der
kuͤhne Handelsgeiſt, der die Produkte der ent-
fernteſten Weltgegenden gegen einander ver-
tauſcht und die ganze Erde zum Vaterlande
jedes Einzelnen macht; ſelbſt der Wucher, der
die Beduͤrfniſſe des Lebens in Magazinen an-
haͤuft und Nationen in ſeine Abhaͤngigkeit
bringt — dieſes Leben, dieſes Gewuͤhl, dieſe
ungeheuren Kombinationen bilden ein Gemaͤhlde,
A 3
[6] welches auch die Blicke der leidenſchaftloſeſten
Zuſchauer feſſelt und ihr Gefuͤhl zu einer theil-
nehmenden Stimmung erhoͤht.
Die erwerbende Klaſſe iſt der weſentlichſte
und unentbehrlichſte Stand des Menſchenge-
ſchlechts; alles uͤbrige ſind die Verzierungen,
die mit der Zeit aus dem Schooß derſelben
hervorgegangen ſind. Staatsverfaſſungen, Ge-
ſetze und Armeen ſind das Werk der Noth-
durft; Kuͤnſte und Wiſſenſchaften das Werk
der Kultur und des Luxus; aber beides ſetzt
Exiſtenz voraus, und dieſe giebt der erwerben-
de Stand. Wir arbeiten um zu leben, und
leben um zu genießen: in dieſen Worten liegt
das Syſtem aller menſchlichen Verhaͤltniſſe
und das Ziel alles menſchlichen Beſtrebens.
Die Befriedigung des bloßen Beduͤrfniſſes iſt
die erſte Stufe der Ausbildung des Menſchen:
ſobald er dieſe errungen hat, entwickelt ſich
ſein Sinn fuͤr Genuß. Ein mehr oder minder
veredeltes Beduͤrfniß wird zur Bequemlichkeit,
und bey dem nimmer zu erſaͤttigenden Triebe
zur Verbeſſerung ſeines Zuſtandes, vertauſcht
er auch die Bequemlichkeit bald gegen den Lu-
xus. Dieſe drey Perioden ſind es durch welche
[7] alle Nationen ihren einfoͤrmigen Gang zur
Ausbildung gewandelt ſind; bey der letzten
ſcheint die Natur der Profektibilitaͤt des Men-
ſchen die Grenze geſteckt zu haben, denn von
hieraus gehen ſie alle den naͤmlichen Kreislauf
zu ihrer urſpruͤnglichen Barbarey zuruͤck, und
die Geſchichte ſtellt kein einziges Beyſpiel auf,
welches als Ausnahme von dieſer Regel gelten
koͤnnte.
Der Uebergang vom erſten rohen Beduͤrf-
niß zur kleinſten, unbedeutendſten Bequemlich-
keit iſt der entſcheidende Moment fuͤr den Fort-
ſchritt einer Nation. Sobald ſie ſich einmal
uͤber das bloße Beduͤrfniß erhebt, iſt auch die
Bahn zur hoͤhern Kultur gebrochen. Aber oft
ſteht ein Volk Jahrhunderte lang an der
Grenzlinie, ohne das Mittel zum Uebergange
zu finden; dieſes Mittel, das einzige welches
die Erfahrung uns kennen lehrt, iſt — Ver-
theilung der Arbeit. So lange der unkultivir-
te Menſch ſein eigner Schneider, Schuſter,
Koch und Zimmermann iſt, ſo lange arbeitet
er nur fuͤrs Beduͤrfniß und oft auch fuͤr dieſes
nicht zureichend; die Mannichfaltigkeit ſeiner
Beſchaͤftigungen hindert ihre Vollkommenheit;
A 4
[8] ſeine von der Noth des Augenblicks erzwunge-
ne Arbeit traͤgt das Gepraͤge dieſes Zwanges.
Sobald aber die Beſchaͤftigungen vertheilt
ſind, erhebt ſich die rohe Arbeit zur Kunſt;
die unaufhoͤrliche Uebung lehrt Handgriffe und
Vortheile kennen, bahnt den Weg zu neuen Er-
findungen und bringt ſchon vorhandene zur
Vollkommenheit und Reife. Wenn man wiſſen
will, ſagt ein beruͤhmter Schriftſteller, ob
ein Volk kultivirt ſey, ſo frage man, ob es
Muͤnzen habe; ich wuͤrde fragen: giebt es
Schuſter, Schneider, Zimmerleute unter dem-
ſelben?
Wenn ein Volk einmal dieſe Schwierigkeit
uͤberwunden hat, ſo iſt kein Zweifel mehr, daß
es betraͤchtliche Fortſchritte in ſeiner Kultur
thun kann; aber eben dieſe Fortſchritte werden
ihm um deſto eher fuͤhlbar machen, daß es eine
zweyte Grenze zu durchbrechen hat, um unge-
hindert ſeinen großen Gang zur endlichen Ver-
vollkommung zu gehen. Mit der Vertheilung
der Arbeit waͤchſt die Menge ihrer Produkte.
Jedes abgetheilte Geſchaͤft begreift mehrere ein-
zelne; auch dieſe werden immer weiter vertheilt,
bis endlich das hoͤchſte Raffinement des Kunſt-
[9] fleißes, um ein Beyſpiel zu geben, ſiebzehn
Menſchen in ſiebzehnerley verſchiedenen auf ein-
ander folgenden Beſchaͤftigungen zur Verferti-
gung einer Stecknadel gebraucht. Durch dieſe
Vereinzelung der Arbeit wird der Mechanismus
derſelben zur hoͤchſten Vollkommenheit gebracht,
und alſo die Produktion in einem nicht zu be-
rechnenden Verhaͤltniß vergroͤßert. Der kleine
Markt, den die Nachbarſchaft dem Kuͤnſtler
darbietet, wird bald mit ſeinen Produkten uͤber-
laden; der Preis derſelben faͤllt, und er ſieht
ſich gezwungen, entweder zu hungern, oder —
einen neuen und groͤßern Markt zu ſuchen. So
entſteht der Handel, ohne welchen keine Ver-
theilung der Arbeit, folglich keine Vervollkomm-
nung derſelben, folglich keine Bequemlichkeit,
kein Luxus ſtatt finden kann.
Dieſe und aͤhnliche Betrachtungen, in wel-
che ſich der Beobachter beym Anblick menſchlicher
Thaͤtigkeit verliert, ſind der fruchtbarſte Kom-
mentar uͤber die Schilderungen, die wir von
dem wirklichen Zuſtande einzelner Voͤlker in die-
ſem oder jenem Zeitpunkte ihrer Kultur erhalten.
Bald reißt die Groͤße des Gegenſtandes und die
Kuͤhnheit des menſchlichen Unternehmungsgei-
A 5
[10] ſtes uns zum Erſtaunen hin; bald feſſelt die
Schwierigkeit des Zwecks und die Beharrlichkeit
der Ausfuͤhrung unſere Bewunderung; wir ſe-
tzen aus einzelnen Thatſachen das Gemaͤhlde des
Ganzen zuſammen, und berechnen mit Zuverlaͤ-
ßigkeit die Grade der Bildung und den ſchnellern
oder langſamern, fortſtrebenden oder zuruͤckwei-
chenden Gang der Nationen.
Die Groͤße des ruſſiſchen Reichs, welches
einen Flaͤchenraum von mehr als 300,000 Qua-
dratmeilen und eine Ausdehnung von 32 Gra-
den der Breite und 165 Graden der Laͤnge be-
greift; die außerordentliche Verſchiedenheit der
Klimate, des Bodens, der Menſchen, und folg-
lich der Beduͤrfniſſe, der Produkte, des Karak-
ters — waͤren hinreichend geweſen, den Keim
der Kultur aus der Mitte dieſer großen Men-
ſchengeſellſchaft allein zu entwickeln und ohne
Verbindung mit irgend einem andern Lande zu
einem gewiſſen Grade von Reife zu bringen.
Allein die unzulaͤngliche Bevoͤlkerung der noͤrd-
lichſten Gegenden und des ganzen aſiatiſchen
Theiles, die weite Entfernung der Wohnplaͤtze
und die, trotz dem vortrefflichen Flußſyſtem,
nicht hinreichende Waſſerkommunikation wuͤrden
[11] den Gang der einheimiſchen Ausbildung erſchwert
und verzoͤgert haben, und die Selbſtſtaͤndigkeit
der Nation wuͤrde auf Koſten ihres ſchnellern
Fortſchritts erkauft ſeyn. Als daher Peter
der Große ſeinem Reiche Kuͤſten am balti-
ſchen Meere verſchaffte und die innere Waſſer-
verbindung durch Kanaͤle vervollkommte, war
ſein Zweck kein andrer als dieſer, den Markt
fuͤr die ruſſiſchen Produkte zu vergroͤßern, oder,
welches einerley iſt, den Gang der Kultur und
Induſtrie zu befoͤrdern. Dieſe hatte zwar ſchon
im Innern des Reichs hie und da Wurzel gefaßt
und ſich in fruͤhern Zeiten durch die Hanſa und
ſpaͤterhin durch die Englaͤnder einen Abſatz fuͤr
ihre Erzeugniſſe verſchafft; aber der traͤge Gang
dieſes Handels, die Schwierigkeiten der Schif-
fahrt auf dem weißen Meer und der Mangel der
innern Kommunikation legten der Ausbreitung
der Kultur Feſſeln an, die Peter zu zerbrechen
das Verdienſt hatte. In dem letzten Dezenni-
um des vorigen Jahrhunderts betrug die Aus-
fuhr aus Archangel gegen 900,000 Rubel jetziger
Waͤhrung; itzt betraͤgt ſie uͤber zwey Millionen.
Damals war dieſer Hafen beynah der einzige
Stapelplatz ruſſiſcher Waaren; itzt ſteht er un-
[12] ter der Rivalitaͤt aller Haͤfen des baltiſchen und
kaspiſchen Meeres. Ich weiß kein auffallenderes
Factum, die Vergroͤßerung der Produktion und
die Zunahme der Kultur des ruſſiſchen Reichs zu
beweiſen.
Den Plan, den Peter der Große mit
ſo gutem Erfolge begann, hat Katharina
die Zweyte vollendet. Die neuen Kuͤſten die
Rußland gewonnen hat, die Wiederherſtellung
eingegangener Handlungskanaͤle, die Erweite-
rung des Buchhandels haben den Markt fuͤr die
ruſſiſchen Produkte ſo außerordentlich vergroͤ-
ßert, daß auch der ſtaͤrkſte Ertrag derſelben die
Forderungen der Kaͤufer nicht uͤbertreffen kann,
und ſo bleibt der menſchlichen Thaͤtigkeit ein
Spielraum der ihre Kraͤfte erhoͤht. Wuͤrden
unſere Zeitgenoſſen es wol glauben, wenn es
nicht eine notoriſche, von Zolliſten und unver-
daͤchtigen In- und Auslaͤndern beglaubigte That-
ſache waͤre, daß jetzt der Handel von Peters-
burg und Riga allein ſo viel betraͤgt, als im
Jahr 1762 der geſammte Handel des Reichs?
daß dieſer jetzt mehr als noch einmal ſo viel aus-
macht wie in jener Epoke? und daß der Antheil
von St. Petersburg ſich uͤber die Haͤlfte des
[13] Ganzen belaͤuft? Welch ein ungeheurer Abſtand
in den Summen der Produktionen und folg-
lich in den Graden des Fleißes, der Induſtrie!
Nirgend wird dieſe Vergleichung auffal-
lender, als bey der Unterſuchung des ehema-
ligen und jetzigen Handelszuſtandes von
St. Petersburg. Im Jahr 1703 ward
dieſe Reſidenz durch die Ankunft des erſten hol-
laͤndiſchen Schiffes zu ihrer neuen Beſtimmung
eingeweiht. Die langſamen Fortſchritte, die
der Handel in den erſten Jahren machte, laſ-
ſen ſich hinlaͤnglich aus der nicht genug ver-
breiteten Kultur und aus dem Mangel der
noͤthigen Kommunikation erklaͤren. Sobald
aber dieſes letzte Hinderniß gehoben, der Markt
geoͤffnet, und der Erwerbfleiß durch die Kou-
kurrenz der Kaͤufer aufgemuntert und in Gang
gebracht war, erſchien ein Reichthum von
Produkten, der bisher noch in keiner ruſſiſchen
Stapelſtadt geſehen war. Schon im Jahr 1742
betrug die Ausfuhr gegen drittehalb Millionen
Rubel. Von dieſem Zeitpunkt bis zum Jahr
1763 ſtieg ſie bis auf fuͤnf Millionen. Fuͤr
den außerordentlichen Zuwachs, den der Han-
del von St. Petersburg unter der weiſen und
[14] aufgeklaͤrten Regierung Katharinens der
Zweyten gewonnen hat, wird folgende Dar-
ſtellung ſeines jetzigen Zuſtandes der ſicherſte
und deutlichſte Maaßſtab ſeyn.
Nach einem Durchſchnitt von vierzehn
Jahren (von 1775 bis 1790) wird Petersburg
jaͤhrlich von 770 Schiffen beſucht. Dieſe An-
gabe, die wie alle hier folgende, aus der Ver-
gleichung mehrerer Jahre herausgehoben iſt,
um den Leſern nicht mit ganzen Seiten voll
Zahlen beſchwerlich zu fallen, iſt fuͤr die letz-
tern Jahre zu gering, in welchen gegen und
uͤber tauſend Schiffe in den hieſigen und kron-
ſtaͤdtiſchen Hafen eingelaufen ſind. Der An-
theil den die handelnden Nationen an dieſem
Beſuch haben, erhellt aus folgendem ſtufen-
maͤßigen Anſchlage, der ebenfalls das Reſul-
tat des angegebenen vierzehnjaͤhrigen Zeitraums
iſt. Es erſchienen waͤhrend deſſelben jaͤhrlich
im Durchſchnitt
- 350 engliſche
- 73 hollaͤndiſche
- 63 preußiſche
- 486 Schiffe.
[15]
- Latus 486 Schiffe.
- 50 daͤniſche
- 46 luͤbeckiſche
- 42 ſchwediſche
- 41 franzoͤſiſche
- 31 roſtockiſche
- 16 ſpaniſche
- 15 italieniſche
- 13 portugieſiſche
- 8 hamburgiſche
- 7 oſtendiſche
- 6 amerikaniſche
- 5 danziger und
- 2 bremiſche; in allem
- 768 Schiffe.
Die Mittelzahl der in dieſem Zeitraum
angekommenen und abgegangenen ruſſiſchen
Schiffe war 33. Der ruſſiſche Aktivhandel
von St. Petersburg betraͤgt alſo nur ein Vier-
undzwanzigtheil, oder unter 24 Schiffen die
hier ankommen, iſt nur Ein ruſſiſches. Die-
ſes Verhaͤltniß ſcheint beym erſten Anblick ſo
nachtheilig zu ſeyn, als es gering iſt; folgen-
de Betrachtung, deren excentriſcher Inhalt
[16] eine kleine Entſchuldigung nothwendig macht,
wird dieſes Vorurtheil widerlegen.
Nicht nur der Handel von St. Peters-
burg, ſondern Rußlands geſammter auswaͤr-
tiger Handel, iſt faſt gaͤnzlich ein Paſſivhan-
del; das heißt, es verſendet ſeine Produkte
und erhaͤlt ſeine Beduͤrfniſſe groͤßtentheils durch
fremde Schiffe. Dieſer Umſtand hat ununter-
richtete Patrioten ſo oft zu lauten Klagen ver-
leitet, daß es wol der Muͤhe lohnt, die Vor-
theile die Rußland aus dieſem Umſtande zieht,
zu beleuchten. Einmal iſt nicht jeder Paſſiv-
handel ein Verluſthandel, ſo wie nicht jeder
Aktivhandel ein Gewinnhandel iſt. Die Groß-
brittanniſche Handlung mit Rußland liefert
hievon den beſten Beweis. Bey aller Wichtig-
keit derſelben, bey allen Vortheilen die Eng-
land durch Handelstraktate genoß, und trotz
des großen Abſatzes ſeiner Manufacturwaaren,
iſt dieſer Handel, der von Seiten Englands
gaͤnzlich ein Aktivhandel war, beſtaͤndig nach-
theilig fuͤr dieſes Land geweſen, und in dem
Verhaͤltniß ſeiner Zunahme immer nachtheiliger
geworden, wie folgende aus einem engliſchen
Schrift-
[17] Schriftſteller entlehnte Ueberſicht zeigt *). Eng-
land fuͤhrte jaͤhrlich im Durchſchnitt
Wichtiger noch als dieſes Beyſpiel iſt die
Betrachtung, daß der Verluſt des Aktivhan-
dels in dem Weſen deſſelben liegt. Ein jeder
einzelner Kaufmann, ſagt Buͤſch**), in deſ-
ſen Haͤnden er iſt, findet fuͤr ſich keinen Vor-
theil in der uͤberwiegenden Bilanz deſſelben,
weil ſie ihn noͤthigt, ſeine Beſtellungen nicht
in Waaren, ſondern in baarem Gelde zu ziehen.
Er wird ſich daher bemuͤhen, eine Retour-
handlung in Gang zu ſetzen, auf welcher er
einen zweyten Gewinn machen kann; die Ruͤck-
fracht ungerechnet, die bey Waaren viel mehr
Zweiter Theil. B
[18] als bey baarem Gelde einbringt. Der Kauf-
mann, der ſeine Waaren in der Ferne verſen-
det, ſieht ſich zuweilen gezwungen, dieſe mit
Verluſt loszuſchlagen; bey baarer Bezahlung
in Wechſeln waͤre ſein Verluſt entſchieden; er
nimmt alſo lieber Waaren zuruͤck, in der Hoff-
nung ſeinen Verluſt zu erſetzen. Der Kredit
den er in ſo vielen Faͤllen geben muß, noͤthigt
ihn, nach einem Kunſtausdruck, auf ſeine Be-
deckung zu denken; er verſchreibt alſo Waa-
ren, die er ohne dies nie wuͤrde gezogen ha-
ben. Oft iſt er auch gezwungen, Waaren
ſtatt der Bezahlung zu nehmen, die er ſonſt
nie in ſein Vaterland gebracht haben wuͤrde.
Ueberhaupt aber lehrt die Erfahrung, daß ein
Volk, welches in einem lebhaften Aktivhandel
viel von dem Seinigen verkauft, auch wieder
viel, und oft die entbehrlichſten Dinge von
der Welt einkauft. So geht es England, um
ein Beyſpiel zu geben, mit portugieſiſchen Di-
amanten. Endlich hat der Aktivhandel den
Nachtheil, daß er dem Kaufmann der paſſiv-
handelnden Nation ſeine Waaren in Verkaufs-
kommiſſion zuſenden, oder ihm fuͤr die Re-
tourwaaren die Einkaufskommiſſion uͤbertra-
[19] gen, und auf dieſe Weiſe bey jedem Ausſchlage
ſeiner Unternehmungen einen ſo großen und
ſichern Gewinn vorausgeben muß. — Dieſe
und andere Gruͤnde beweiſen, daß der Paſſiv-
handel nicht ſo nachtheilig iſt, als er von fal-
ſchen Theoretikern verſchrien wird. Ihnen
kommen noch zwey wichtige Erfahrungen zu
Huͤlfe; einmal, daß der Aktivhandel weit mehr
natuͤrliche und politiſche Vortheile vorausſetzt,
als der Paſſivhandel; und dann, daß es in
dem Produktenhandel weit mehr Beyſpiele ei-
ner vortheilhaften Paſſiv- als Aktivhandlung
giebt. Rußland liefert hier, ſo wie Norwegen,
Polen, Spanien, die Levante, China, Oſtin-
dien und andere Laͤnder den Beweis fuͤr die
letztere Behauptung, daher ſie keiner weitern
Ausfuͤhrung bedarf; und alles, was ſich fuͤr
die erſtere, mit Ruͤckſicht auf Rußland ſagen
laͤßt, kann ſich nur auf folgende allgemein an-
erkannte Thatſachen gruͤnden.
Die politiſchen Vortheile, die Rußland
zum Aktivhandel aufmuntern, moͤgen ſo groß
ſeyn, als ſie nur immer von einer aufgeklaͤr-
ten und maͤchtigen Regierung zu erwarten ſind,
ſo werden ſie doch nie den natuͤrlichen Hinder-
B 2
[20] niſſen voͤllig das Gegengewicht halten koͤnnen.
Die Lage dieſes Reichs, welches fuͤr ſeine
Groͤße und zu dieſem Zweck noch immer zu
wenig Kuͤſten hat; das Klima der nordlichen
Gegenden, durch welches die Schiffahrt in
denſelben nur auf wenige Monate moͤglich ge-
macht wird; das politiſche Verhaͤltniß in wel-
chem Rußland, wegen der Durchfahrten in
groͤßere Meere, mit ſeinen Nachbarn ſteht;
endlich der natuͤrliche Gang der Induſtrie, der
bey den individuellen Umſtaͤnden dieſer Nation
ſich auf eine vortheilhaftere Weiſe zu einhei-
miſchen Beſchaͤftigungen zu lenken ſcheint —
alle dieſe Urſachen und ihre Wirkungen zuſam-
mengenommen, ſind, meiner Meynung nach,
fuͤr das Schickſal des ruſſiſchen Aktivhandels
entſcheidend.
Ich lenke von dieſer kleinen Digreſſion
wieder zu meinem Hauptgegenſtande, dem pe-
tersburgiſchen Handel, ein. Das ganze, gro-
ße und verwickelte Geſchaͤfte, welches dieſe
Benennung begreift, zerfaͤllt ſeinem Weſen
nach natuͤrlich in folgende Zweige: Ausfuhre,
Einfuhre und Umſatz. Mit jedem derſelben
wollen wir uns itzt einzeln beſchaͤftigen.
[21]
Es iſt nicht gut moͤglich, ſich von dem
Werth, dem Umfange und der Beſchaffenheit
der Ausfuhre eine richtige Vorſtellung zu
machen, ohne ſich der trocknen Durchſicht der
Zollregiſter zu unterziehen. Die Publizitaͤt,
die hier uͤber Gegenſtaͤnde dieſer Art ſtatt fin-
det, hat den Sammlern ſtatiſtiſcher Nachrich-
ten die Muͤhe erleichtert, Licht uͤber dieſen
Zweig der Nationalbeſchaͤftigung zu verbreiten;
folgende Angaben ſind die Reſultate eines zehn-
jaͤhrigen Zeitraums (von 1780 bis 1790). Es
wurden waͤhrend deſſelben jaͤhrlich ausgeſchifft
- 2,655,038 Pud Eiſen
- 19,528 — Salpeter
- 2,498,950 — Hanf
- 792,932 — Flachs
- 2,907,876 Arſch. Servietten und Leinewand
- 214,704 Stuͤck Segeltuch und Zwillich
- 106,763 Pud Tauwerk
- 167,432 — Hanf- und Leinoͤl
- 192,328 — Leinſaamen
- 52,645 — Toback
- 129 — Rhabarber
- 105,136 — Weizen
- 271,976 — Roggen
- 35,864 Pud Gerſte
- 200,000 — Hafer
- 1,456 Stuͤck Maſten
- 1,193,125 — Planken
- 85,647 — Bretter
- 7,487 Pud Harz
- 9,720 — Pech
- 37,336 — Theer
- 81,386 — Thran
- 10,467 — Wachs
- 943,618 — Talg und Talglichte
- 31,712 — Pottaſche
- 5,516 — Hauſenblaſe
- 8,958 — Kaviar
- 5,635 — Pferdehaare
- 69,792 Stuͤck Pferdeſchwaͤnze
- 29,110 Pud Schweineborſten
- 106,045 Stuͤck Baſtmatten
- 621,327 — Pelzwerk
- 292,016 — Bockfelle
- 144,876 Pud Juchten und Sohlleder
- 9,982 Stuͤck Ochſenzungen
- 73,350 — Ochſenknochen.
Dieſes Verzeichniß, welches bis auf einige
minder betraͤchtliche Rubriken vollſtaͤndig iſt,
[23] enthaͤlt außer den Artikeln: Servietten, Lin-
nen, Segeltuch, Tauwerk, Talglichte, Pott-
aſche, Hauſenblaſe, Kaviar, Pelzwerk und Le-
der, keine verarbeitete Waaren, und ſelbſt ei-
nige von dieſen haben bloß eine fuͤr den Trans-
port und die Aufbehaltung der Produkte noth-
wendige Zubereitung erhalten. Die Beſchaͤfti-
gung der Nation, ſo betraͤchtlich ſie auch ſeit
Peter dem Großen zugenommen hat, iſt
alſo noch immer mehr auf Erzeugung als Ver-
edlung gerichtet. Dies iſt der natuͤrliche Gang
jeder ſich zur Kultur hinaufarbeitenden Men-
ſchengeſellſchaft; und Rußland wird ſich ſo
lange auf die bloße Erzeugung und den Pro-
duktenhandel begrenzen, bis das Maaß ſeiner
Bevoͤlkerung und Beſchaͤftigung fuͤr die Ver-
edlung ſeiner Erzeugniſſe hinreichen wird.
Der Einkauf der in vorſtehender Liſte
angegebenen Waaren und ihre Herbeyſchaf-
fung aus den mittlern und zum Theil aus
den entlegenſten Gegenden des Reichs, macht
einen wichtigen Zweig des innern Handlungs-
gewerbes. Die mehreſten dieſer Produkte wer-
den an den gluͤcklichen Ufern der Wolga er-
zeugt; dieſer unſchaͤtzbare Fluß, der in ſeinem
B 4
[24] Lauf die entfernteſten Provinzen verbindet, iſt
zugleich der Kanal der Beſchaͤftigung und der
Induſtrie. Ueberall wo ſein Waſſer die fetten
und fruchtbaren Ufer beſpuͤlt, iſt Fleiß und Ar-
beitſamkeit einheimiſch geworden; ſein Lauf
bezeichnet den Gang der innern Kultur. Aber
auch aus einer Entfernung von fuͤnf bis ſechs-
tauſend Werſten, aus dem Schooß des metall-
reichen kalten Sibiriens empfaͤngt St. Peters-
burg die Vorraͤthe ſeiner ungeheuren Waaren-
lager. Der groͤßte Theil derſelben, wenigſtens
die ſchweren Waaren, werden aus den oͤſtlich-
ſten Gegenden Sibiriens faſt gaͤnzlich zu Waſ-
ſer hierher gebracht. Die Selenga empfaͤngt
und uͤbergiebt ſie dem Baikal, aus welchem ſie
durch die Angara in den Jeniſey, und aus
dieſem durch den Ob in den Tobol gehen; von
hier werden ſie eine Strecke von ungefaͤhr vier-
hundert Werſten zu Lande bis in die Tſchuſſo-
waja, aus dieſer in die Kamma und dann in
die Wolga gebracht, von welcher ſie durch die
Schleuſen bey Wiſchnei-Wolotſchok in den
Wolchow und aus dieſem in den ladogaiſchen
Kanal gehen, aus welchem ſie endlich, nach
einer durch zwey Welttheile vollbrachten Reiſe,
[25] in der Newa an ihrem Beſtimmungsort an-
langen. Dieſer erſtaunenswuͤrdige Transport
wird noch intereſſanter durch den Gedanken,
daß dieſe aus der Nachbarſchaft des nordoͤſtli-
chen Weltmeers herbeygeſchafften Produkte
hier nur wenige Wochen verweilen, um als-
dann eine zweyte, vielleicht groͤßere, Reiſe an-
zutreten, oder nach ihrer Verſchiffung in ent-
fernte Laͤnder unter veraͤnderter Form wieder
hierher und durch einen langſamern und ſchwie-
rigern Ruͤckweg in ihr Mutterland zuruͤckzu-
kehren. Wie manche Senſe des ſibiriſchen
Bauers mag dieſes Schickſal gehabt haben.
Die Anzahl der Fahrzeuge, welche nach
einem zehnjaͤhrigen Durchſchnitt (von 1774 bis
1784) durch den ladogaiſchen Kanal nach St.
Petersburg kamen, war
- 2861 Barken
- 797 Halbbarken
- 508 einmaſtige Schiffe
- 1113 Schaluppen.
- 5339. Dazu
- 6739 Floͤſſe von Balken.
- 12,078.
B 5
[26]
Der ungeheure Geldwerth dieſer Produkte
wird durch das Beduͤrfniß, welches Rußland
an verarbeiteten Waaren hat, und durch den
immer weiter um ſich greifenden Luxus ſo ſehr
herunter geſetzt, daß der Vortheil in der Bi-
lanz verhaͤltnißmaͤßig nur ſehr gering iſt. Ein
Verzeichniß der Gegenſtaͤnde des Handels, mit
welchen St. Petersburg jaͤhrlich einen Theil
des Reiches verſorgt, liefert Stoff zu dem
intereſſanteſten ſtaatswirthſchaftlichen Kommen-
tar; es zeigt, welche Kanaͤle der Induſtrie
und des Nationalfleißes noch zu eroͤffnen ſind,
es beweiſt, wie unabhaͤngig Rußland in ſeiner
aͤußern und innern Oekonomie ſeyn koͤnnte,
wenn es ſeine Produktionen ſelbſt veredeln und
wenn der alles verzehrende Luxus erſtickt oder
geſchwaͤcht wuͤrde; es giebt endlich Licht uͤber
den Zuſtand des Numerarreichthums der Na-
tion, und hellt Dunkelheiten auf, deren Auf-
ſchluß man ſonſt uͤberall vergeblich ſuchen
wuͤrde.
Es wurden in dem zehnjaͤhrigen Zeitraum
von 1780 bis 1790 jaͤhrlich in St. Petersburg
eingefuͤhrt:
[27]
- Seidne Zeuge fuͤr 2,500,000 Rubel.
- Wollne Zeuge fuͤr 2,000,000 R.
- Tuch fuͤr 2,000,000 R.
- Baumwollne Zeuge fuͤr 534,000 R.
- Seidne und baumwollne Struͤmpfe 10,000
Dutzend Paare. - Galanteriewaaren fuͤr 700,000 R.
- Taſchenuhren 2,000 Stuͤck.
- Kurze Waaren fuͤr 50,000 R.
- Spiegel fuͤr 50,000 R.
- Engliſches Steinzeug fuͤr 43,850 R.
- Engliſche Pferde 250 Stuͤck.
- Kaffee 26,350 Pud.
- Zucker 372,000 Pud.
- Toback 5,000 Pud.
- Zitronen fuͤr 101,500 R.
- Friſches Obſt fuͤr 65,000 R.
- Heeringe 14,250 Tonnen.
- Baumoͤl fuͤr 20,000 R.
- Porter und engliſch Bier fuͤr 262,000 R.
- Franzbranntewein 50,000 Maaß.
- Champagner u. Burgunder 4,000 Faͤſſer.
- Andere Weine 250,000 Oxhoft.
- Mineraliſche Waſſer fuͤr 12,000 R.
- Papierarten fuͤr 42,750 R.
[28]
- Buͤcher fuͤr 50,150 R.
- Kupferſtiche fuͤr 60,200 R.
- Alaun 25,500 Pud.
- Indigo 3,830 Pud.
- Kochenille 1,335 Pud.
- Glas und Glaswaaren fuͤr 64,000 R.
- Senſen 325,000 Stuͤck, u. ſ. w.
Ein ſehr großer Theil dieſer koſtbaren und
entbehrlichen oder entbehrlich zu machenden
Waaren bleibt in St. Petersburg und wird
hier konſumirt. Der Reſt wird durch Fuhr-
leute zu Lande in das Reich verfuͤhrt, weil
die Flußſchiffahrt gegen den Strom langwieri-
ger und theurer iſt. Die Wagen oder Schlit-
ten, mit welchen dieſer Transport geſchieht,
ſind meiſtens nur mit Einem Pferde beſpannt;
die Fuhrleute fahren in Karavanen von 25 bis
100 Wagen, wobey gewoͤhnlich nur auf das
dritte Fuhrwerk ein Fuͤhrer gerechnet wird.
Die Angaben der Aus- und Einfuhr, die
ich meinen Leſern vorgelegt habe, ſind auf
Zollregiſter gegruͤndet. Um den Werth
und die Guͤltigkeit derſelben beurtheilen zu koͤn-
nen, iſt es noͤthig, folgendes zu bemerken.
[29] Alle ankommende Schiffe werden hier und in
Kronſtadt ſcharf unterſucht und muͤſſen am
Packhofe loͤſchen. Der Zoll unterſucht die
Waaren nach der Angabe der Kaufleute, die
nicht nur die Gattung derſelben, ſondern
(wenn der Zoll vom Werth bezahlt wird)
auch dieſen Werth beſtimmen muß; wenn nun
die Unterſuchung ausweiſt oder vermuthlich
macht, daß die Waaren unter ihrem eigenthuͤm-
lichen Werth angegeben ſind, ſo iſt der Zoll
berechtigt, ſie fuͤr dieſen Angabepreis und eine
Verguͤtung von Zwanzig vom Hundert zu be-
halten. Dieſe Einrichtung, die man das Un-
terſchreiben nennt, zwingt die Kaufleute, ſolche
Einfuhrartikel eher zu hoch als zu niedrig an-
zugeben, und in ſo fern haben alſo die Zoll-
regiſter eine große Authenticitaͤt fuͤr ſich. Ob
aber uͤberall kein Unterſchleif in Anſchlag zu
bringen ſey, iſt eine Frage, deren Entſchei-
dung nur von daher zu erwarten iſt, wo man
das groͤßte Intereſſe hat, ſie zu verneinen.
Faſt allgemein iſt uͤbrigens die Meynung, daß
die Vorſichtsanſtalten nirgend im Reiche ſo gut
ſind und folglich der Zollbetrug nirgend ſo
ſchwierig iſt als hier. Daß dies nicht von allen
[30] Zollaͤmtern geſagt werden kann, iſt aus der
Erfahrung der letztern Jahre erweislich, waͤh-
rend welchen die polniſchen Grenzzollaͤmter auf-
gehoben waren. Doch dieſe Gegenſtaͤnde qua-
lificiren ſich erſt nach mehrern Jahren fuͤr die
Staatiſtik, da der Zeitpunkt zu nah iſt, um
ſichre Data und Reſultate zu liefern. Ich be-
merke nur noch, daß die Einfuhr der Diaman-
ten, der Buͤcher und der Inſtrumente u. dgl.
zollfrey iſt, und daß alſo dieſe betraͤchtlichen
Rubriken in den Zollregiſtern entweder keinen
Platz haben, oder nach Gutbefinden angege-
ben werden.
Nach dieſen Vorausſetzungen ſind wir nun
im Stande, den Geldwerth der Ein- und
Ausfuhr und die Bilanz des petersburgiſchen
Handels zu beſtimmen. Nach der wahrſchein-
lichſten Schaͤtzung betrug im Durchſchnitt von
zehn Jahren (von 1780 bis 1790)
- die Ausfuhr 13,261,942 Rubel.
- die Einfuhr12,238,319 „
- der Gewinn 1,023,623 Rubel.
[31]
- An gemuͤnztem und unge-
muͤnztem Gold und Silber
wurden in den drey letzten
Jahren jaͤhrlich eingefuͤhrt 337,064 Rubel. - Dieſe mitgerechnet, macht 1,360,687 Rubel.
Der Betrag des ganzen Handels
war alſo in dem angegebenen Zeitraum von
1780 bis 1790 jaͤhrlich 25,837,325 Rubel.
Die Zunahme des Handels erſcheint
in folgenden Angaben in der auffallendſten Pro-
greſſion.
Der Handelsrang von St. Petersburg
iſt das Reſultat obiger Angaben. Wenn man
nach der wahrſcheinlichſten Berechnung an-
nimmt, daß der geſammte Handel des Reichs
ungefaͤhr 50 Millionen Rubel betraͤgt, ſo folgt,
daß St. Petersburg an ſeinem Antheil uͤber
die Haͤlfte deſſelben hat. Den naͤchſten Rang
nach der Reſidenz behauptet Riga; ſein ge-
[32] ſammter Handel laͤßt ſich gegen 6 Millionen
ſchaͤtzen. Aus dieſem abſtechenden Verhaͤltniß
ergiebt ſich der Werth des erſten, und der Rang
der auf Riga folgenden Handlungsplaͤtze. —
Dieſe angefuͤhrten Thatſachen uͤber den pe-
tersburgiſchen Handel geben ein allgemeines aber
wichtiges Bild von dem itzigen Zuſtande deſſel-
ben; jetzt wollen wir ſehen, auf welche Weiſe
er den kaufmaͤnniſchen Theil der Einwohner die-
ſer Reſidenz beſchaͤftigt.
Der Handel von St. Petersburg iſt, wie
wir ſchon wiſſen, bis auf eine unbetraͤchtliche
Ausnahme, gaͤnzlich ein Paſſivhandel; ſeiner
Natur nach muß er alſo durch Kommiſſio-
nairs gefuͤhrt werden. Dieſe Klaſſe von Kauf-
leuten, welche beynahe nur aus Auslaͤndern be-
ſteht, macht den angeſehenſten und betraͤchtlich-
ſten Theil der hieſigen Boͤrſe aus. Im Jahr
1790 befanden ſich unter den auslaͤndiſchen
Handlungshaͤuſern, die nicht zu den Gilden ge-
hoͤrten, acht und zwanzig engliſche, ſieben deut-
ſche, zwey ſchweizeriſche, vier daͤniſche, mehrere
preußiſche, ſechs hollaͤndiſche, vier franzoͤſiſche,
zwey portugieſiſche, ein ſpaniſches und ein italie-
niſches. Außer dieſen waren zwoͤlf namhafte
Buͤr-
[33] Buͤrger, und von der erſten Gilde 106, nebſt
46 auslaͤndiſchen und 17 zu andern Staͤdten
gehoͤrigen Kaufleuten, wiewol ſich mehrere in
dieſe Gilde einſchreiben laſſen, die nicht eigent-
lich Kaufleute ſind.
Um ſich von dem Umſatz und dem Gan-
ge des Handels einen Begriff zu machen,
wird folgende kurze Darſtellung hinreichend
ſeyn. Die ruſſiſchen Kaufleute aus dem In-
nern des Reichs finden ſich zu beſtimmten Zei-
ten in St. Petersburg ein, und ſchließen mit
den hieſigen Kommiſſionnairs uͤber den Ver-
kauf ihrer Waaren, nach beſtimmten Sorten,
Kontrakte, wobey ſie gewoͤhnlich den halben
oder ganzen Verkaufspreis auf der Stelle be-
zahlt erhalten, ihre Waaren aber nicht eher,
als im folgenden Fruͤhlinge oder Sommer, mit
den durch den ladogaiſchen Kanal hierher kom-
menden Barken oder auf andere Art, liefern.
Ueber die Guͤte der Waaren entſcheiden als-
dann beeidigte Braker nach den im Kontrakt
beſtimmten Sorten. — Die Artikel der Ein-
fuhr ſind entweder von ruſſiſchen Kaufleuten
durch die hieſigen Kommiſſionnairs beſtellt,
oder dieſen von auswaͤrtigen Handelsplaͤtzen zum
Zweiter Theil. C
[34] Verkauf uͤbertragen; in beyden Faͤllen erhaͤlt
der ruſſiſche Beſteller dieſe Waaren gewoͤhnlich
mit der Bedingung, ſie in Terminen von
ſechs, zwoͤlf und mehreren Monaten zu bezah-
len. Der ruſſiſche Kaufmann verkauft alſo
gegen Vorausbezahlung und kauft auf Kredit;
er wagt keinen Seeſchaden, und iſt von den
verdruͤßlichen Geſchaͤften des Zolls, der Ver-
ladung und des Ausladens befreyt.
Das Loͤſchen der Schiffe, der Transport
der Waaren in die Packhofsgewoͤlbe, das Um-
packen, Verladen und Verſenden derſelben,
mit einem Wort, das ganze große Gewuͤhl,
welches mit der Handlung einer Seeſtadt ver-
knuͤpft iſt, hat ſeinen Sitz zunaͤchſt und eigent-
lich in Kronſtadt, und dann auf Waſſili-
Oſtrow. Hier ſind die Boͤrſe, der Zoll, und
in der Nachbarſchaft dieſer Inſel die Packhaͤu-
ſer und Magazine befindlich, in welchen der
Reichthum ſo vieler Laͤnder und Welttheile
vertauſcht und aufbewahrt wird. In allen
uͤbrigen Theilen der Stadt iſt dieſes Gewuͤhl
ſo ſelten und unmerklich, daß ein Fremder,
der, ohne es zu wiſſen, in dieſelbe verſetzt
wuͤrde, gewiß nie auf die Vermuthung gera-
[35] then ſollte, ſich in der erſten Handelsſtadt des
ruſſiſchen Reichs zu befinden. Die reichen
Kaufleute haben ihre Wohnungen und Kom-
toirs in den ſchoͤnſten und praͤchtigſten Stadt-
theilen; ihre Haͤuſer, Thorwege und Boͤden,
ſind nicht, wie in Hamburg und Riga, mit
Balken von Waaren barrikadirt und beladen;
hier ſieht man, außer dem Komtoir, keine
Spur von kaufmaͤnniſcher Beſchaͤftigung. Die
Geſchaͤfte des Zolls werden durch eigne von
den Handelshaͤuſern angeſtellte und beſoldete
Leute beſorgt, die man Expeditoren nennt,
und die Handarbeit wird durch die Artelſcht-
ſchiki verrichtet, deren zunftaͤhnliche Verfaſſung
man aus einem der vorigen Abſchnitte kennt.
Der Kommiſſionnair uͤbergiebt die einge-
fuͤhrten Waaren dem ruſſiſchen Kaufmann, und
dieſer verſendet ſie entweder auf die oben an-
gegebene Art in das Reich, oder verkauft ſie
im Einzelnen hier zur Stelle. Dieſer Verkauf,
der durch die Beduͤrfniſſe und den Luxus einer
ſo großen und uͤppigen Stadt einen ſehr wich-
tigen und betraͤchtlichen Theil des hieſigen Ge-
werbes macht, geſchieht auf den Maͤrkten,
in den Magazinen und Kramlaͤden, und durch
C 2
[36] die Umtraͤger, deren Schilderung meinen Le-
ſern noch im Gedaͤchtniß ſeyn wird.
Es iſt nicht zuviel geſagt, wenn man be-
hauptet, daß nicht leicht ein Volk mehr Han-
delsgeiſt und kaufmaͤnniſche Induſtrie beſitzt,
als die Ruſſen. Der Handel iſt ihr liebſtes
Gewerbe; jeder gemeine Ruſſe, wenn es ihm
nur irgend gelingt, einen kleinen Geldvorrath
zuſammenzuſparen, wie dies bey ſeiner fruga-
len und aͤrmlichen Lebensart leicht moͤglich iſt,
verſucht es, Kaufmann zu werden. Den An-
fang dieſer Karriere macht er gewoͤhnlich als
Rosnoſchtſchik oder Umtraͤger; der Gewinn
dieſes Gewerbes und ſeine Sparſamkeit ſetzen
ihn bald in den Stand eine Lawka zu miethen;
hier kann ihn der Wucher, der Vortheil im
Geldwechſeln, und die Benutzung kleiner Hand-
griffe des Metiers bald zu einem reichen Mann
machen. Alsdann kauft und baut er Haͤuſer
und Kramlaͤden, die er wieder an andere ver-
pachtet oder ſelbſt mit Waaren verſieht und
durch Bediente verwalten laͤßt, faͤngt einen
Großhandel an, uͤbernimmt Podrjaͤde, Kon-
trakte mit der Krone, Lieferungen, u. ſ. w.
Die haͤufigen Beyſpiele, die man von dem
[37] ſchnellen Gluͤck ſolcher Leute ſieht, uͤberſteigen
faſt alle Vorſtellungen. Auf dieſem Wege ward
ein ruſſiſcher Kaufmann, der unlaͤngſt ſtarb,
aus einem Fiſchhaͤndler ein Kapitaliſt von meh-
rern Millionen. Viele dieſer Guͤnſtlinge des
Gluͤcks ſind anfangs leibeigene Bauern, die
von ihren Gutsherrn Paͤſſe erhalten, und mit
dieſen in den Staͤdten des Reichs umherwan-
dern, um als Arbeiter, Maurer, Zimmer-
leute, ein beſſeres Fortkommen zu ſuchen, als
ſie auf dem Lande hinter ihrem Pfluge zu fin-
den hoffen konnten. Einige derſelben bleiben,
wenn das Schickſal ſie gehoben hat, auch bey
großen Reichthuͤmern noch Sklaven, die ihren
Herren nach dem Maaßſtabe ihres Vermoͤgens
einen Obrock oder eine jaͤhrliche Abgabe zahlen
muͤſſen. Unter den Leuten dieſer Klaſſe hier
in Petersburg ſind viele, die dem Grafen
Scheremetjew, dem reichſten Privatmann
in Rußland, gehoͤren, und ihm fuͤr ihre
Paͤſſe jaͤhrlich tauſend und mehrere Rubel ent-
richten. Zuweilen behalten dieſe Kaufleute,
auch in den glaͤnzendſten Gluͤcksumſtaͤnden,
ihre Nationaltracht und ihren langen Bart
bey, und es iſt nichts ſeltenes, ſie in dieſem
C 3
[38] Aufzuge in den eleganteſten Equipagen durch
die Straßen der Reſidenz fahren zu ſehn. —
Bey allem dem iſt es ſehr auffallend, daß es
noch aͤußerſt wenigen ruſſiſchen Haͤuſern ge-
gluͤckt hat, ſich des auswaͤrtigen Kommiſſions-
handels zu bemaͤchtigen; ein Beweis, daß
außer der Induſtrie und der Sparſamkeit noch
Etwas zum kaufmaͤnniſchen Kredit gehoͤre,
was den Ruſſen bis itzt gefehlt haben muß.
Alle Nahrungszweige der erwerbenden
Klaſſe ſtehen in genauer Verbindung. Die Er-
zeugung der Produkte, ihre Veredlung und
ihre Vertauſchung ſind eins wie das andere
das Kapital der Nation und die Quelle ihres
Wohlſtands und Reichthums. Doch der erſte
dieſer Gegenſtaͤnde liegt außer den Grenzen
unſers Zwecks, und die Schilderung der bey-
den letztern kann nur aus den hingeworfenen
Zuͤgen eines iſolirten Theils des Ganzen beſte-
hen. Was vorhin von dem Handel der Reſi-
denz galt, das gilt nicht in eben der Ausdeh-
nung von ſeinen uͤbrigen buͤrgerlichen Gewer-
ben; St. Petersburg iſt die erſte Handels-
ſtadt des ruſſiſchen Reichs, aber es iſt nicht
der vorzuͤglichſte Sitz des verarbeitenden Fleißes.
[39] Dieſer wurzelt ſeiner Natur nach lieber in dem
Innern des Landes, wo der niedrigere Preis
der Lebensmittel, eine groͤßere, weniger be-
ſchaͤftigte Volksmenge, und die Vortheile der
Lage fuͤr die Herbeyſchaffung der erſten Mate-
rien ſeinem ſchnellern Wachsthum foͤrderlich
ſind. Gegenſeitig aber iſt die Reſidenz der em-
pfaͤnglichſte Boden fuͤr alle Verarbeitungen, de-
nen der Luxus zu Huͤlfe kommen muß, die des
Beyſtandes der bildenden Kuͤnſte beduͤrfen,
oder deren Exiſtenz nicht ohne den Schutz und
die Unterſtuͤtzung des Staats beſtehen kann. —
Durch dieſe Bemerkung vorbereitet, werden
wir hier weder große Anſtalten fuͤr die Vered-
lung ruſſiſcher Produkte erwarten, noch uͤber
das Mißverhaͤltniß erſtaunen, in welchem ſich
die Gattungen des nuͤtzlichen Kunſtfleißes mit
den eiteln Fabrikaten der Pracht und des Luxus
befinden.
Unter den Manufakturen die dem
Dienſt dieſer Gottheiten gewidmet ſind, zeich-
nen ſich die kaiſerlichen Etabliſſements durch
Groͤße der Anlage und Reichthum und Voll-
kommenheit der Produktionen ſo vortheilhaft
aus, daß ſie ohne Nachtheil die Vergleichung
C 4
[40] mit den beruͤhmteſten Anſtalten ihrer Gattung
in andern Laͤndern wagen duͤrfen. Die Tape-
tenmanufaktur, welche Hauteliſſe und Baſ-
ſeliſſe webt, liefert ſo vortreffliche Arbeit, daß
ich mich nicht erinnere, im Garde-Meuble zu
Paris beſſere geſehn zu haben. Der Umſtand,
daß hier jetzt nur geborne Ruſſen arbeiten,
erhoͤht den Werth und die Merkwuͤrdigkeit die-
ſer Anſtalt. Nirgend vielleicht iſt dem Frem-
den der Fortſchritt der Nation in der Kultur
auffallender als in den weitlaͤuftigen Werkſtaͤt-
ten dieſer Manufaktur. Bey meinem erſten
Beſuch in derſelben ward ich von einem ange-
nehmen Erſtaunen uͤberraſcht, in einer Kunſt,
die als ein Reſultat der feinſten Raffinements
des menſchlichen Erfindungsgeiſtes gelten kann,
Meiſterſtuͤcke aus den Haͤnden ruſſiſcher Juͤng-
linge hervorgehen zu ſehen. Die vorzuͤglichſten
Produkte, welche dieſe Anſtalt geliefert hat,
befriedigen, nach dem unparteyiſchen Zeugniß
einſichtsvoller Kenner, alle Forderungen, die die
Kunſt an den Kuͤnſtler thun kann. — Auch
die Porzellaͤnfabrik hat, außer den Mo-
dellirern und dem Arkaniſten, nur ruſſiſche Ar-
beiter, deren in allem vierhundert ſind, und
[41] liefert Produkte, die an Geſchmack und Fein-
heit der Ausfuͤhrung ihren beſten Muſtern nahe
kommen. Den Thon erhielt dieſe Fabrik ehe-
dem aus dem Ural, itzt aber aus der Ukraine,
und den Quarz aus den oloneziſchen Gebirgen.
Sie arbeitet nur fuͤr Rechnung der Krone, der
ſie jaͤhrlich 15,000 Rubel an Beſoldungen koſtet,
und nimmt Beſtellungen an. Aber ihre Arbeit
iſt theuer und die Dauerhaftigkeit derſelben hat
nicht das allgemeine Vorurtheil fuͤr ſich. —
Die Fayencefabrik hat bisher nur vergeb-
liche Verſuche gemacht, das engliſche Steinzeug
zu verdraͤngen; aber die ſchoͤnen und geſchmack-
vollen Stubenoͤfen die ſie verfertigt, erheben ſie
zu einer ſehr nuͤtzlichen Anſtalt. Faſt alle neuer-
bauten Haͤuſer werden mit den trefflichen Arbei-
ten dieſer Werkſtatt verſehen und auch in die
Provinz gehen große Beſtellungen. — Eine
Bronzefabrik, die zum Behuf des Baues
an der Iſaakskirche angelegt wurde, nun aber
auch fuͤr den Hof und fuͤr Privatleute arbeitet,
verdient wegen ihrer ſaubern und geſchmackvol-
len Produkte eine ehrenvolle Erwaͤhnung. —
Merkwuͤrdiger durch die Mechanik ihrer Arbeit
iſt die Steinſchleiferey in Peterhof. Alle
C 5
[42] Inſtrumente derſelben, Saͤgen, Drehwerke,
Schleif- und Poliermaſchienen, werden unter
dem Fußboden des Fabrikgebaͤudes durch Waſſer
in Bewegung geſetzt, ſobald man ſie in das
Triebwerk haͤngt. Funfzig Arbeiter ſind hier
mit der Veredlung fremder und vorzuͤglich ruſſi-
ſcher Steinarten beſchaͤftigt, die zu Tafeln, Va-
ſen, Urnen, Doſen, Saͤulen und andern groͤ-
ßern oder kleinern Verzierungen umgeformt wer-
den. — Unter den vielen kaiſerlichen Fabrik-
anſtalten fuͤr die Beduͤrfniſſe der Armee, fuͤr
die Muͤnze, u. ſ. w. zeichnen ſich mehrere durch
ihre Groͤße und die Guͤte ihrer Produktionen
aus, aber eine naͤhere Schilderung derſelben
liegt außer den Grenzen dieſes Buchs.
Die Anzahl der Privatmanufakturen,
die jetzt in St. Petersburg beſtehen, belaͤuft
ſich gegen hundert. Ein Verzeichniß, welches
einer meiner Freunde, ein aufmerkſamer Beob-
achter dieſer Gegenſtaͤnde der Kunſt und des Flei-
ßes, geſammelt hatte, machte deren 89 nam-
haft, und doch waren unter denſelben mehrere
vergeſſen, von deren Exiſtenz ich Kenntniß hat-
te. Die Gegenſtaͤnde der Verarbeitung dieſer
theils ſehr großen, theils auch ſehr eingeſchraͤnk-
[43] ten Anſtalten ſind, nach ihrer Wichtigkeit, vor-
zuͤglich folgende: Leder, Papier, Gold und
Silber, Zucker, Seide, Toback, gebrannte
Waſſer, Wolle, Glas, Thon, Wachs,
Kattun und Zitz. — Das Leder iſt bekannt-
lich unter den ruſſiſchen Fabrikaten, welche aus-
geſchifft werden, eins der wichtigſten; auch die
ſechzehn Lederfabriken welche hier im Gange ſind,
liefern Waare fuͤr die Ausfuhr. Eben ſo viele
Manufakturen ſind mit der Verfertigung und
Veredlung des Papiers beſchaͤftigt. Zu der
letztern Rubrik gehoͤren die Papiertapeten,
deren Gebrauch hier ſo allgemein iſt, daß die
Verfertigung derſelben ein ſehr nuͤtzlicher Zweig
der einheimiſchen Induſtrie genannt werden kann.
Zwoͤlf Gold- und Silberfabriken liefern
Faden, Borten, Treſſen, Platten,
Lahn, und außer dieſen ſind mehrere einzelne
Werkſtaͤtte fuͤr die Verarbeitung dieſer Metalle
zu Hausgeraͤthen und Schmuck vorhan-
den. Acht Zuckerſiedereyen bereiten den rohen
Zucker. Fuͤr ſeidne Waaren, als Flor,
Tuͤcher, Struͤmpfe und Zeuge, ſind
ſieben Manufakturen vorhanden; fuͤr die Be-
reitung des Schnupf- und Rauchtobacks
[44] mehrere kleine, u. ſ. w. Zu den merkwuͤrdig-
ſten Anſtalten aber gehoͤren die großen Glas-
huͤtten, die der Fuͤrſt Potemkin anlegte,
und in welchen Kryſtall, Hohl-Tafel-
und Spiegelglas verfertigt wird. Mit die-
ſen Fabriken iſt eine fuͤr die Verfertigung der
Spiegel verbunden, welche Produkte von ſo
außerordentlicher Groͤße und Schoͤnheit liefert,
daß man etwas aͤhnliches ſelbſt in den beruͤhmten
Werkſtaͤtten zu Murano und Paris vergeblich
ſuchen wird. Außer dieſen genannten und meh-
rern, theils unbedeutenden, theils nicht zu
meiner Kenntniß gekommenen Manufakturen,
ſind hier fuͤnf Schriftgießereyen, eine
Uhrenfabrik, u. ſ. w. befindlich.
Daß in einer ſo großen und reichen Stadt,
in der Reſidenz eines der glaͤnzendſten Hoͤfe, die
nothwendigſten und nuͤtzlichſten Gewerbe im
Gange ſeyn muͤſſen, wird Jeder von ſelbſt ver-
muthen; vielleicht aber iſt es nicht jedem meiner
Leſer bekannt, daß in dieſer jungen Stadt fuͤr
das unentbehrlichſte ſowol als frivolſte Beduͤrf-
niß, fuͤr die einfachſten ſowohl als erkuͤnſtelten
Bequemlichkeiten, fuͤr den gemeinſten und ſel-
tenſten Luxus Kuͤnſtler und Werkſtaͤtten aller
[45] Gattungen vorhanden ſind. Durch das Be-
duͤrfniß einer großen Stadt und den Aufwand
des Hofes herbeygelockt, haben viele tauſend ar-
beitſame und talentvolle Fremdlinge ſich hier nie-
dergelaßen, und durch ihr fortwaͤhrendes Ein-
ſtroͤmen und die Mittheilung ihrer Kunſtfertig-
keiten dieſe Reſidenz nicht nur zu dem Hauptſitz
aller verfeinerten Gewerbe, ſondern auch zu einer
Quelle der Induſtrie gemacht, welche ſich von hier
in wohlthaͤtigen Ausſtroͤmungen uͤber die benach-
barten Theile des Landes verbreitet. Keine un-
ter allen fremden Nationen hat ſo großen Antheil
an dieſer heilſamen Veraͤnderung, als die Deut-
ſche; alle nuͤtzliche Gewerbe und ein großer
Theil der Kuͤnſte des Luxus werden nur von
Deutſchen und Ruſſen betrieben. Auf die Deut-
ſchen folgen in dieſer Ruͤckſicht die Schweden;
nur einzelne wenige Franzoſen leben hier als
Garkoͤche, Friſeurs, Uhrmacher und in eini-
gen andern Gewerben; ob außer einigen Bier-
brauereyen auch andre Handthierungen von
Englaͤndern betrieben werden, iſt mir unbewußt.
Dieſes Verhaͤltniß findet nach glaubwuͤrdi-
gen Berichten und den Erfahrungen die ich ſelbſt
zu machen Gelegenheit hatte, auch in London
[46] und Paris ſtatt. Auch in dieſen großen Staͤd-
ten ſind die Deutſchen unter allen Fremdlingen
die nuͤtzlichſten; und wenn andere Laͤnder ſich
durch Auswanderungen des uͤberfluͤßigſten Theils
ihrer Bevoͤlkerung entledigen, ſo verliert Deutſch-
land gerade ſeine brauchbarſten Buͤrger. Dieſe
unmerkliche Emigration macht zwar nicht ſo viel
Aufſehn in der Zeitgeſchichte, als die beruͤhmte
Vertreibung der franzoͤſiſchen Proteſtanten un-
ter Ludwig dem Vierzehnten; aber ſie
iſt gewiß nicht minder wichtig fuͤr die Laͤnder,
welche ihre vortheilhaften und nachtheiligen Wir-
kungen treffen. Dem bloßen Anſchein nach, denn
Berechnungen finden hier gar nicht ſtatt, muͤſ-
ſen bey der ehemaligen Bevoͤlkerung von Paris
wenigſtens 50,000 Deutſche daſelbſt in buͤrgerli-
chen Gewerben gelebt haben; London hat deren
vielleicht noch mehrere, und auch in Holland,
Italien, Polen vertheilt ſich dieſe arbeitſame
Nation, und leiht ihre Induſtrie und ihre Ar-
me fremden Nachbarn, zum Schaden ihres
Vaterlandes. Doch den anſehnlichſten und nuͤtz-
lichſten Theil dieſer Emigranten hat Rußland
ſeit Peter dem Großen aufgenommen.
Ueberall im Reiche ſind Deutſche vertheilt; uͤber
[47] 20,000 Familien leben jetzt in der Krimm und an
den Ufern der Wolga; in Moskau, Archangel
und einigen innern Provinzen ſind viele und zum
Theil anſehnliche Geſchlechter ſeit und vor dem
Anfange dieſes Jahrhunderts einheimiſch, und
taͤglich nimmt dieſe Einwanderung zu. In die-
ſem Jahr fanden ſich bey meiner Erkundigung
nur auf einem einzigen hier angekommenen luͤbek-
kiſchen Schiff 86 Deutſche Handwerker und
Kuͤnſtler, von denen nach aller Wahrſcheinlich-
keit nicht ſechs wieder in ihr Vaterland zuruͤck-
kehren. So leitet das Schickſal die Kultur des
Menſchengeſchlechts von einem Volk zum an-
dern: Franzoſen waren es, die durch ihre Aus-
wanderungen die ſchoͤne und wohlthaͤtige Flam-
me der Induſtrie nach Deutſchland heruͤber
brachten, und Deutſche ſind es, die ſie jetzt
auf dem Altar des Nordens niederlegen, von
wo aus ſie ihre Waͤrme und ihren Glanz bis in
die oͤſtlichen Laͤnder des benachbarten Aſiens ver-
theilt.
Die mehreſten Handwerker fuͤr die gemei-
nern Beduͤrfniſſe des Lebens ſind unter den Ruſ-
ſen und Deutſchen vertheilt; einige derſelben
aber werden bloß von dieſen oder jenen betrieben.
[48] Zu den Gewerben mit welchen ſich die Ruſſen
bis itzt faſt ausſchließlich beſchaͤftigen, gehoͤrt
vorzuͤglich das Maurer- und Zimmerhand-
werk. Außer den hier anſaͤßigen Maurern und
Steinmetzen kommen jaͤhrlich uͤber 6,000 derſel-
ben aus den Provinzen, um waͤhrend des kur-
zen Sommers hier zu arbeiten. Große und
ſchoͤne Gebaͤude werden gewoͤhnlich nach der An-
gabe eines Architekten, unter denen der Hof
mehrere Kuͤnſtler vom erſten Range in ſeinem
Dienſte hat, und unter der Aufſicht eines Bau-
meiſters errichtet; alle uͤbrige Arbeit aber wird
durch die ruſſiſchen Maurer zu Stande gebracht.
Dieſe und die Steinmetzen ſind großentheils
Bauern, die ihre Freypaͤſſe zum Verdienſt in
der Reſidenz benutzen. Man muß uͤber das
Talent der Nachahmung erſtaunen, welches die
hervorſtechende Eigenſchaft dieſer Nation iſt,
wenn man ſieht, wie ſchnell dieſe rohen, von
allen Begriffen der Kunſt entbloͤßten Menſchen
ſich die hoͤchſte Fertigkeit und den richtigſten Takt
in dieſen Handthierungen erwerben; und ſicher-
lich gewinnt der polirte Marmor, der an un-
ſern Tempeln und Pallaͤſten prangt, einiges
Intereſſe mehr fuͤr den Beobachter, wenn man
den
[49] den Gedanken damit verknuͤpft, daß dieſe
Denkmaͤler der Pracht und der Kunſt ihre
Entſtehung zum Theil den nachbildenden Haͤn-
den ruſſiſcher Bauern verdanken. Die Zim-
merleute (Plotniki) ſind durch ihre eigenthuͤm-
liche Kunſtfertigkeit und die einfache Benutzung
ihrer Axt, die ihnen ſtatt aller Werkzeuge
dient, auch in Deutſchland bekannt. Mit die-
ſem Inbegriff aller Inſtrumente bauen ſie
Haͤuſer, verfertigen ſie Tiſche, Stuͤhle, Fuhr-
werke, kurz alle Beduͤrfniſſe des gemeinen
Mannes, deren Material Holz iſt. Sie wer-
den ihrer Geſchicklichkeit und der Wohlfeilheit
ihrer Arbeit wegen, auch bey dem Bauen
ſteinerner Haͤuſer gebraucht, wo ſie die groͤ-
bere Zimmerarbeit verrichten.
Auch das Toͤpfer- und Lichtzieher-
handwerk wird faſt nur von Ruſſen betrie-
ben. In beyden haben ſie es ſehr weit ge-
bracht, wovon die zierlichen, fuͤr unſer Kli-
ma ſo zweckmaͤßigen Oefen und die uͤberall hin
verfuͤhrten ruſſiſchen Lichte den Beweis geben.
Die Struktur der hieſigen Oefen iſt ſo vor-
trefflich, daß man ſie auch in Deutſchland
einzufuͤhren verſucht hat. Ein luͤbeckiſcher
Zweiter Theil. D
[50] Kaufmann ließ ſich vor einiger Zeit zu dieſem
Endzweck einen hieſigen Ofen, und einige Ar-
beiter ſchicken, die denſelben in ſeinem Hauſe
aufſtellen ſollten. Da die Handwerker der
Stadt gegen eine ſolche Neuerung proteſtirten,
ſchlug er ihnen vor, daß die Arbeit in ihrem
Beyſeyn verrichtet, der Ofen ſogleich wieder
niedergeriſſen, und alsdann von ihnen ſelbſt,
nach Anleitung der Ruſſen, aufgeſetzt werden
ſollte. Da ſie ſich aber auch dieſen Vorſchlag
nicht gefallen laſſen wollten, ſah der Unter-
nehmer ſich genoͤthigt, ſeine Abſicht aufzuge-
ben, und die Vortheile, welche das noͤrdliche
Deutſchland aus derſelben haͤtte ziehen koͤnnen,
unterblieben durch den Handwerksneid und Ei-
genduͤnkel einiger Zunftgenoſſen.
Außer dieſen Gewerben beſchaͤftigen ſich
die Ruſſen ebenfalls ausſchließlich mit dem
Gaͤrtner- und Fleiſcherhandwerk. In
dem erſtern leiſten ſie alles, was in Ruͤckſicht
auf Klima und Boden nur immer gefordert
werden kann. Da der groͤßte Vortheil dieſes
Gewerbes hauptſaͤchlich darin beſteht, die Pro-
dukte zu außerordentlichen Jahreszeiten zu lie-
fern, ſo iſt das groͤßte Beſtreben dieſer Leute
[51] auch hierauf gerichtet, und man kann vielleicht
nirgend unter gleichem Himmelsſtrich alle Er-
zeugniſſe der Kuͤchengaͤrtnerey ſo fruͤh und ſo
ſpaͤt in ſo großer Vollkommenheit genießen, als
hier. Dieſes Gewerbe wird groͤßtentheils von
Bauern aus Roſtow und der umliegenden Ge-
gend betrieben, die nach einem kuͤrzern oder
laͤngern Aufenthalt mit einem durch ihre In-
duſtrie erworbenen Kapitale zuruͤck in ihre Pro-
vinz ziehn. Wie eintraͤglich dieſer Nahrungs-
zweig bey dem herrſchenden Tafelluxus ſeyn
muß, laͤßt ſich leicht denken. — Als der
Fuͤrſt Potemkin, waͤhrend ſeines letzten Au-
fenthalts in der Reſidenz, eines Tages bey dem
Grafen Tſcherniſchew ſpeiſte, meldete ſich
ein raffinirender Selenſchtſchik (Gruͤnhaͤndler)
mit fuͤnf außerordentlich ſchoͤnen Gurken, die
gerade und um dieſe Jahrszeit ſehr ſelten wa-
ren und die der Fuͤrſt uͤberaus gerne aß. Der
Haushofmeiſter nimmt ſie in Empfang und
uͤberreicht ſie ſeinem Herrn, der eben mit dem
Fuͤrſten zur Tafel ſaß. Die Gurken werden
ſogleich verzehrt, und der Graf laͤßt dem Gruͤn-
haͤndler, als ein Geſchenk fuͤr die angenehme
Ueberraſchung, hundert Rubel einhaͤndigen,
D 2
[52] Dieſer aber, der ſchon erfahren hatte, daß
ſeine Waare nicht mehr vorhanden ſey, lehnt
das Geſchenk ab, und fordert eine Bezah-
lung von 500 Rubeln, bis man ihn endlich
mit Muͤhe uͤberredete, ſich eine kleinere Sum-
me gefallen zu laſſen.
Dieſe und einige andere minder betraͤchtli-
che Gewerbe ſind es, welche die Ruſſen faſt
ausſchließlich betreiben. In allen uͤbrigen Hand-
thierungen ſind die Deutſchen eben ſo zahl-
reich und oft zahlreicher als die Ruſſen. Dies
iſt vorzuͤglich bey allen Handthierungen der
Fall, in denen ſich die Form nach der Mode
aͤndert, weil hier das Vorurtheil die Auslaͤn-
der beſonders beguͤnſtigt. So ſind z. B. weit
mehr deutſche Schneider als Schuſter, im
Verhaͤltniß zu den Ruſſen, vorhanden. Unter
den erſtern giebt es hier viele wohlhabende und
ſogar reiche Leute, die ihre eigne Haͤuſer und
Landſitze haben, Equipage halten, und deren
Frauen Brillianten tragen. Ich kenne mehrere
derſelben, die woͤchentlich Konzerte und Geſell-
ſchaften geben, und denen die Tafel an ihren
Familienfeſten hundert bis hundert und funfzig
Rubel zu ſtehen kommt. Leute dieſer Art er-
[53] heben ſich uͤber ihr Handwerk; ſie ſind Kuͤnſt-
ler; es iſt nicht ſowol die Arbeit als die Form,
wofuͤr ſie ſich bezahlen laſſen. Einer dieſer
Kleiderkuͤnſtler, den das gute Gluͤck und ſein
Ruf zu einem betraͤchtlichen Reichthum verhol-
fen haben, laͤßt ſich oft nur darauf ein, die
Kleider zuzuſchneiden, worauf ſie denn von
andern Schneidern zuſammengeſetzt werden;
eine Bemuͤhung, die ihm, unter der Rubrik:
pour la façon, mit 25 Rubeln bezahlt wird.
Ueberdem ſind Leute dieſer Art nicht bloße
Schneider, ſondern gehoͤren zu der Klaſſe, die
man in Frankreich marchands-tailleurs nennt.
Ihr groͤßter Vortheil beſteht im Einkauf; ſie
machen Vorſchuͤſſe und geben den Großen Kre-
dit, bey welchen ſie oft mehrere Tauſende zu
fordern haben. — Außer dieſem iſt das
Schmiedehandwerk eins der eintraͤglichſten,
weil die Meiſter zu den groͤbern Arbeiten auch
Bauern brauchen koͤnnen, die eben erſt vom Lan-
de kommen, daher ſie wohlfeil ſind. Die mei-
ſten deutſchen Schmiede ſtehen ſich gut, bauen
große Haͤuſer, und laſſen ihre Kinder zu etwas
beſſerm erziehen. — Ueberhaupt aber lebt der
deutſche Handwerker, im Ganzen genommen,
D 3
[54] wol nirgend ſo gut als hier, weil[l] er nirgend ſo
leicht und ſo viel verdient. Das Geſchaͤfte des
Meiſters beſteht den Tag uͤber in der Aufſicht
uͤber ſeine Arbeiter, in der Anordnung des Ta-
gewerks und in der Annahme der Beſtellungen
und dem Einkaſſiren der Schulden. Mittags
ſetzt er ſich an ſeine wohlbeſetzte Tafel und den
Abend bringt er in einem der vielen hier befindli-
chen Klubbs zu. — Doch das Gemaͤhlde ſeiner
Lebensart gehoͤrt in das Kapitel der Sitten.
Weit ſchlechter behilft ſich der ruſſiſche Hand-
werker. Seine Arbeit iſt in einigen Faͤllen —
aber gewiß nicht in allen, denn der deutſche
Meiſter hat ja oft auch nur ruſſiſche Geſellen und
Lehrlinge — freylich etwas ſchlechter; aber der
Preis ſeiner Waare iſt immer um vieles gerin-
ger als der Werth ſeiner Arbeit. In ſehr vie-
len Handwerken leiſten die Ruſſen ſchon alles
was man fodern kann, und hiedurch und durch
die Inſolenz der deutſchen Meiſter wird das Pu-
blikum ihrer Konſumenten jaͤhrlich groͤßer und
groͤßer.
Die mehreſten Gewerbe des Luxus
werden hier in einer ſolchen Ausdehnung und
Vollkommenheit betrieben, daß ſie, wenigſtens
[55] fuͤr die Reſidenz, einen großen Theil auslaͤndi,
ſcher Prachtartikel entbehrlich machen. Den
vorzuͤglichſten Platz unter dieſen Gewerben be-
haupten die verſchiedenen Beſchaͤftigungen, die
es mit der Verarbeitung edler Metalle zu thun
haben. Es leben hier 44 ruſſiſche und 139 aus-
laͤndiſche, in allem alſo 183 Gold-Silber-
und Galanteriearbeiter, als Meiſter,
und außer dieſen noch mehrere Vergolder und
Verſilberer. Ein ungeheures Verhaͤltniß,
wenn man es mit den Beſchaͤftigungen der nuͤtz-
lichſten und unentbehrlichſten Gewerbe vergleicht!
Die Pracht des Hofes und der Luxus der Gro-
ßen und Reichen hat den Geſchmack in Arbeiten
dieſer Art ſo allgemein gemacht und die Kunſt
ſelbſt zu einer ſolchen Hoͤhe getrieben, daß man
hier die außerordentlichſten Gegenſtande derſelben
antreffen kann. Mehrere dieſer Anſtalten haben
eine fabrikaͤhnliche Ein ichtung; man findet in
Einem Hauſe alle die verſchiedenen Arbeiter und
Werkſtaͤtten, die zur hoͤchſten Veredlung der
Form eines rohen Goldklumpens gehoͤren. —
Auch die Gold- und Silberſticker machen
wenn gleich keine eigne Zunft, doch ein merkwuͤr-
diges Gewerbe des Luxus aus. Die ſchoͤne und
D 4
[56] geſchmackvolle Arbeit die ſie liefern, wird haͤufig
in den Magazinen fuͤr engliſche oder franzoͤſiſche
Waare verkauft, und ſie ſteht ſicherlich in keinem
Betrachte nach. Dieſe Beſchaͤftigung, welche
eine anſtaͤndige Quelle des Erwerbs fuͤr viele
Wittwen und unverſorgte Frauenzimmer wird,
mindert durch dieſen Umſtand die Schaͤdlichkeit
ihres Zwecks. Vielleicht iſt die Bemerkung
nicht uͤberfluͤßig, daß hier nirgend, ſelbſt auf
den Theatern nicht, die unaͤchte Stickerey ge-
braͤuchlich iſt. — Auch gehoͤrt in dieſe Rubrik
das Heer der Putzmacherinnen, die groͤß-
tentheils franzoͤſiſchen Gebluͤts, und hier, wie
in Paris, neben ihrer Induſtrie, gemeiniglich
mit mancherley angenehmen und eintraͤglichen
Talenten verſehen ſind. Ihre Menge nimmt
taͤglich zu, und wunderbar! je groͤßer ihre An-
zahl wird, deſto beſſer ſcheinen ſie hier zu gedei-
hen. So niedlich, elegant und geſchmackvoll ih-
re Arbeiten ſind, ſo ungeheuer iſt der Preis der-
ſelben; eine Modenhaͤndlerinn, die ihr Hand-
werk verſteht, kann den Weg zum Reichthum
nie verfehlen. Die mehreſten unter ihnen ſteu-
ern nur auf dieſes Ziel los, welches ſie denn
auch, ſpaͤter oder fruͤher, gewiß erreichen und
[57] alsdann in ihr Vaterland zuruͤckkehren. Eine
hier ehemals beruͤhmte Dame von dieſem Metier,
die jetzt in Paris lebt, hat der Freygebigkeit des
ruſſiſchen Adels und ihrer Dankbarkeit uͤber den
Portal ihres Hotels ein oͤffentliches Denkmal in
ruſſiſcher Sprache geſetzt.
Eins der wichtigſten Gewerbe fuͤr hieſiges
Beduͤrfniß und Luxus zugleich, iſt die Verfer-
tigung der Wagen. Die großen Werk-
ſtaͤtte in denen dieſe Arbeit in ihrem Zuſammen-
hange von der einfachen Schraube bis zum kuͤnſt-
lichen Lack verfertigt wird; die Guͤte und Dau-
erhaftigkeit, die Schoͤnheit und der Geſchmack
der Produkte dieſer Werkſtaͤtten; die Menge
der Menſchen welche in denſelben beſchaͤftigt
ſind; endlich die großen Summen, welche in
dieſen Verarbeitungen liegen, und die außerdem
fuͤr dieſen Artikel nach andern Laͤndern gehen
wuͤrden, machen das Gewerbe der Wagenma-
cher zu einem der wichtigſten der Reſidenz. Nach
dem Urtheil der Kenner und dem Gefuͤhl eines
Jeden leiſten die hieſigen Kuͤnſtler in dieſer Gat-
tung alles; in der Bereitung des Lacks uͤbertref-
fen ſie jetzt ſelbſt die Englaͤnder; nur in der
Dauerhaftigkeit ſollen ihre Produkte hinter
D 5
[58] denen dieſer beruͤhmten Nation zuruͤckſtehen,
und als eine Urſache hievon wird der Mangel
des guten, trocknen Holzes angegeben. Bey
allen dieſen Vorzuͤgen, und trotz des großen
Unterſchiedes im Preiſe, der bey den auswaͤrts
hereinkommenden Wagen durch den ſtarken Zoll
erhoͤht wird, werden deren jaͤhrlich noch fuͤr
eine betraͤchtliche Summe eingefuͤhrt, woran
groͤßtentheils das Vorurtheil der hieſigen Eng-
laͤnder ſchuld iſt. Die Ruſſen haben ſich dieſen
Zweig der Induſtrie zur groͤßern Haͤlfte zuzu-
eignen gewußt; die Form ihrer Wagen iſt
ſehr modig, der Lack vortrefflich und das Aeuſ-
ſere uͤberhaupt geſchmackvoll und ſchoͤn; aber
ſie ſtehen wegen ihrer Dauer in noch ſchlech-
term Ruf als die hieſigen deutſchen Produkte.
Dieſer Vorwurf trifft alle ruſſiſche Manufak-
turen; ihr Aeußeres iſt oft ohne Tadel, aber
es fehlt ihnen an der Soliditaͤt, durch welche
ſich die auswaͤrtigen Waaren empfehlen. Zur
Entſchuldigung der Ruſſen darf ich nicht ver-
geſſen zu bemerken, daß ſie ein Hinderniß wi-
der ſich haben, welches ihnen unmoͤglich macht,
ſo viel Zeit, Fleiß und Auslagen auf ihre Ver-
arbeitungen zu wenden, als zur groͤßten in-
[59] nern Vollkommenheit derſelben erforderlich waͤ-
ren, und welches, ſo lange es dauert, die
Fortſchritte der Nationalinduſtrie hemmt und
erſchwert. Dieſes Hinderniß iſt das allgemeine
Vorurtheil fuͤr engliſche Waaren, welches zwar
mehr oder weniger in allen Laͤndern ſtatt fin-
det, aber nirgend in ſo hohem Grade und mit
ſo ausſchweifenden Wirkungen, als hier. Der
ruſſiſche Manufakturiſt ſucht daher natuͤrlich
ſeine Produkte den fremden unterzuſchieben
und ſie unter fremdem Namen den Kaͤufern
in die Haͤnde zu ſpielen; wo dies nicht moͤg-
lich iſt, (wie bey den Wagen in der Jaͤmskoi,
von denen Jedermann weiß daß es ruſſiſche
ſind) da ſieht er ſich gezwungen, die Solidi-
taͤt dem aͤußern Anſehn aufzuopfern, weil er
nur fuͤr dieſes bezahlt zu werden erwarten darf.
Ein von hieſigen deutſchen Meiſtern verfertigter
zweyſitziger Wagen iſt nicht unter ſechs bis ſie-
benhundert Rubel zu haben; einen ruſſiſchen
erhaͤlt man beynah fuͤr die Haͤlfte, wobey es
ſich zuweilen trifft, daß dieſe ſogar dauerhaf-
ter gearbeitet ſind, als jene.
Das eigentliche Tiſchlerhandwerk
wird von den Ruſſen ſowol als von den Deut-
[60] ſchen betrieben; aber jene feinere Verarbeitung
des Holzes, bey welcher der Preis der Erfin-
dung und der Kunſt den Werth des Materials
uͤbertrifft, iſt bis itzt nur das Eigenthum ei-
niger Auslaͤnder, unter denen ſich die Deut-
ſchen zu ihrer Ehre auszeichnen. Die Kuͤnſt-
ler dieſer Nation liefern von Zeit zu Zeit Mei-
ſterſtuͤcke, die ſie in ruhigen Zwiſchenzeiten un-
ter dem Einfluß des Genies und des Kunſtflei-
ßes verfertigen, und deren Verkauf ihnen, in
der Reſidenz eines großen und geſchmackvollen
Hofes, gewiß iſt. So ſtellte vor einiger Zeit
ein hieſiger Tiſchler einen Schrank aus, der
an Erfindung, Geſchmack und Vollkommen-
heit der Arbeit alles uͤbertraf was ich je in
dieſer Gattung geſehen hatte. Der Preis die-
ſes Kunſtwerks war ſiebentauſend Rubel, und
dennoch verſicherte der Kuͤnſtler, daß er mit
dieſer Summe nicht fuͤr die jahrelange An-
ſtrengung bezahlt werden koͤnne, die ihm die
Verfertigung deſſelben gekoſtet habe. Ein an-
deres Denkmal des deutſchen Kunſtfleißes be-
wahrt die Akademie der Wiſſenſchaften in dem
Modell einer Bruͤcke, nach der Angabe des
Etatsrath von Gerhard. Dieſe Bruͤcke die
[61] das praͤchtigſte Werk ſeiner Art in unſerm
Welttheil werden muͤßte, wenn die Moͤglich-
keit der Ausfuhrung gewiß bewieſen waͤre, hat
eilf Bogen, eine Zugbruͤcke zum Durchlaſſen
der Schiffe, abgeſonderte erhobene Trottoirs
und Landungsplaͤtze, u. ſ. w. Die Schoͤnheit
des Modells und die Vollkommenheit der Aus-
fuͤhrung laͤßt alles hinter ſich. Die Kaiſerinn
belohnte den Kuͤnſtler mit einem Geſchenk von
viertauſend Rubeln, und er arbeitet ſeitdem
fuͤr den Hof. — Unter den groͤßern Unter-
nehmern in dieſer Gattung giebt es Leute, die
ſchon verarbeitete Produkte in ihren Magazi-
nen zum Verkauf fertig liegen haben. So
kenne ich einen Tiſchler, der fuͤr viele tauſend
Rubel eingelegte oder parquettirte Fußboͤden
von allen Holzgattungen und Farben im Vor-
rath hat, die nur zuſammengeſetzt werden duͤr-
fen, welches in einigen Tagen geſchehen kann.
Ein anderer giebt ſich bloß mit der Verferti-
gung von Saͤrgen ab, deren er eine Menge
von jeder Form und Groͤße, und zu jedem
Preiſe bereit hat. Mehrere dieſer ihr Hand-
werk im Großen treibenden Tiſchler haben we-
der Werkſtatt, noch Handwerksgeraͤth, noch
[62] Geſellen; dieſe laſſen ſich nur auf Podyaͤde ein,
z. B. alle Boiſerie in einem neuerbauten Hauſe
zu verfertigen, und ſchaffen alsdann die noͤthi-
gen Arbeiter herbey, uͤber welche ſie die Auf-
ſicht fuͤhren. — Ehe ich dieſen Gegenſtand
verlaſſe, muß ich hier eines Mannes und ſei-
ner Arbeiten erwaͤhnen, der ſeinem deutſchen
Vaterlande zur Ehre gereicht, und in ſeiner
Gattung alles uͤbertroffen hat, was die raffi-
nirteſte Induſtrie der Englaͤnder und Franzo-
ſen in derſelben leiſtet. Dieſer Mann heißt
Roͤntgen, iſt in Neuwied zu Hauſe, und
bekennt ſich zur Sekte der Herrnhuter. Er
hat ſich mehrere Jahre zu verſchiedenen Zeiten
hier aufgehalten, und die Pallaͤſte der Kaiſe-
rinn und der Großen des Hofes mit den er-
ſtaunenswuͤrdigen Produkten ſeiner Kunſt ver-
ſchoͤnert und bereichert. In der kaiſerlichen
Eremitage ſtehen eine Menge Moͤbels, Schraͤn-
ke, Uhren und andere Sachen von ſeiner Er-
findung und Ausfuͤhrung. Sie ſind von den
verſchiedenſten Holzarten, denen der Kuͤnſtler
durch gewiſſe Vorbereitungen eine beſondere
Haͤrte und Dauerhaftigkeit zu geben weiß, und
die durch die muͤhſamſte und außerordentlichſte
[63] Politur einen Glanz erhalten haben, der zu ſei-
ner Erhaltung keines Fro[t]tirens bedarf. Die
Arbeit an dieſen Stuͤcken iſt eben ſo bewunderns-
wuͤrdig als ihre Erfindung; keine Fuge iſt ſicht-
bar, alles paßt ſo genau an einander, als ob
es aus einem Guß gegoſſen waͤre; einige ſind
mit Bronzearbeit von der ſchoͤnſten und man-
nigfaltigſten Vergoldung, andere mit Basre-
liefs, Gemmen und Antiken eingelegt. Das
unuͤbertrefflichſte Produkt dieſes Kuͤnſtlers aber
iſt ein Buͤreau oder Schreibepult, welches die
Kaiſerinn dem Kunſtkabinett der Akademie der
Wiſſenſchaften vor einigen Jahren ſchenkte.
Hier hat das Genie des Erfinders ſeinen Reich-
thum und ſeine Fruchtbarkeit an die mannigfal-
tigſten Kompoſitionen verſchwendet: alles ſcheint
Zauberey zu ſeyn. Wenn man dieſes wunder-
bare Pult oͤfnet, ſo erblickt man in der Mitte
eine ſchoͤne Gruppe von Basreliefs in Bronze,
die bey dem leiſeſten Druck einer Feder ver-
ſchwindet und einer koſtbaren Tafel mit einge-
legten Gemmen Platz macht. Der Raum, den
dieſe Tafel verdeckt, iſt der Aufbewahrung wich-
tiger Papiere oder Gelder gewidmet; die kuͤhne
Hand, die ſich an dieſem Fleck vergreifen wollte,
[64] wuͤrde ihr eigner Verraͤther ſeyn; denn bey
der mindeſten Beruͤhrung der Tafel laͤßt ſich ſo-
gleich eine ſanfte liebliche Muſik hoͤren, deren
Organe man an der Ruͤckſeite in dem Unterge-
ſtell des Pults ſehen kann. Mehrere kleine,
zum Behuf der Schreibmaterialien u. ſ. w. ein-
gerichteter Schublaͤden, ſpringen ebenfalls bey
dem Druck ihrer Federn auf, und ſchließen ſich
eben ſo ſchnell, ohne daß eine Spur ihres Da-
ſeyns uͤbrig bleibt. Wenn man den Schreibe-
tiſch in ein Leſepult verwandeln will, ſo draͤngt
ſich aus dem Obertheil eine Tafel hervor, aus
welcher ſich mit unglaublicher Geſchwindigkeit
alle Theile eines bequemen und wohleingerichte-
ten Leſepults entwickeln. Doch der Mechanis-
mus dieſes Kunſtprodukts, ſo wie ſeine aͤußern
Verzierungen, muͤſſen geſehen, nicht beſchrieben
werden. Der Erfinder bot dieſes ſeltne und
merkwuͤrdige Stuͤck der Kaiſerinn fuͤr zwanzig-
tauſend Rubel an; aber dieſe großmuͤthige Ken-
nerinn und Schaͤtzerinn aller Verdienſte glaubte
mit einer ſolchen Summe nur die Arbeit be-
zahlen zu koͤnnen: ſie beſtimmte dem Talent
noch ein außerordentliches Geſchenk von fuͤnf-
tauſend Rubeln.
Unter
[65]
Unter den Gewerben des Luxus darf ich
endlich auch die Kunſtgaͤrtnerey nicht ver-
geſſen, welche hier von einigen Fremden, vor-
zuͤglich Hollaͤndern, betrieben wird. Die koͤſt-
lichen Fruͤchte und lieblichen Blumen die ſie
fuͤr den Genuß der Reichen erziehen, werden
mit ungeheuern Preiſen bezahlt, daher dieſes
Gewerbe, nach Verhaͤltniß, eines der eintraͤg-
lichſten iſt. Ein Beſuch in den Treibhaͤuſern
dieſer Gaͤrtner, den Werkſtaͤtten einer ſanften,
ruhigen und arbeitſamen Menſchenklaſſe iſt ein
lehrreicher, intereſſanter Unterricht fuͤr den
Beobachter. Welch ein Abſtand in den Ge-
ſchaͤften des buͤrgerlichen Lebens, von dem nuͤtz-
lichen und unentbehrlichen Fleiſcher, der, fuͤr
unſer Bedrfniß, in den Eingeweiden der Thiere
wuͤhlt, die ſeine Fauſt mordete — bis zu dem
uͤppigen und entbehrlichen Gaͤrtner, der, fuͤr
unſere Schwelgerey, der Natur ihre Mecha-
nik ſtiehlt, um Leben zu erzeugen und um ſich
her zu verbreiten! So wie jener, durch ſei-
nen ewigen Krieg gegen die Natur allmaͤlig zu
einer Fuͤhlloſigkeit herabſinkt, in welcher er ſich
als den natuͤrlichen Feind aller lebenden Ge-
ſchoͤpfe anſieht, ſo erhoͤht die Beſchaͤftigung
Zweiter Theil. E
[66] des Andern ſeine Empfindung unmerklich zu
dem ſanften theilnehmenden Wohlwollen, wel-
ches ihm mit leiſer Stimme zufluͤſtert, daß er
der Freund und der Erhalter ſeiner organiſir-
ten Geſchoͤpfe ſey. Ich habe ihn nicht geſe-
hen, den Mann aus dieſem Gewerbe, deſſen
Sitten rauh geweſen waͤren, oder der die Zoͤg-
linge ſeines Fleißes nicht mit einer Art von
vaͤterlicher Waͤrme geliebt haͤtte. Ich kenne
ihn aber, den Mann, der einen Roſenſtock
nicht weggeben wollte, weil er ihn fuͤr das
liebenswuͤrdigſte Kind ſeiner Familie und das
gelungenſte Produkt ſeiner Erziehung anſah,
und eine große Summe ausſchlug, um ſich
nicht von dem Lieblinge ſeines Herzens zu
trennen.
[67]
Zehnter Abſchnitt.
Wiſſenſchaften und Kuͤnſte.
Verhältniß der Reſidenz in wiſſenſchaftlicher Kultur zu
der Hauptſtadt. — Gelehrte Geſellſchaften.
Akademie der Wiſſenſchaften. Idee Peters des Groſ-
ſen bey der Stiftung derſelben. Jetziger Zuſtand.
Mitglieder. Thätigkeit. Bürgerliche Lage der Akade-
miker. — Ruſſiſche Akademie. Zweck und Verfaſ-
ſung. Anekdote von der Sprachkenntniß der Kai-
ſerinn. Parallele in dieſer Hinſicht mit Friedrich dem
Zweiten. — Oekonomiſche Geſellſchaft. Einrichtung
und Zweck. Thätigkeit. Ihr Verdienſt um die Ver-
breitung ökonomiſcher Kenntniſſe. Litterariſcher Werth
ihrer Arbeiten. Gemeinnützige Preisaufgaben. —
Bibliotheken. Bibl. der Akad. der Wiſſenſch.
Kurze Geſchichte derſelben. Itzige Verfaſſung. Män-
gel und Reichthümer. Originalmanuſkripte Peters
des Großen und Katharina der Zweiten. Ruſſiſche
Bibliothek. Slavoniſche und ruſſiſche Handſchriften.
Tangutiſche und mongoliſche Manuſkripte. Chineſiſche
Bücher. Koſtbare Originalgemälde aus der Naturge-
ſchichte. Lokale und Einrichtung. — Bibl. des
Alexander-Newski-Kloſters und des Landkadetten-
E 2
[68] korps. — Kaiſerliche Bibl. in der Eremitage —
Großfürſtliche Bibliotheken. Privatbibliotheken. —
Sammlungen von Natur- und Kunſtſel-
tenheiten. Muſeum der Akad. der Wiſſenſch. Ge-
ſchichte dieſes Inſtituts. Schätze aus den drey Na-
turreichen. Ruyſh’s anatomiſche Präparate. Alter-
thümer und Koſtbarkeiten. Denkmäler aus den ſibiri-
ſchen Gräbern. Modelle. Mechaniſche Kunſtwerke.
Gallerie orientaliſcher Nationen. Kabinett Peters des
Großen. Erd- und Himmelskugeln. Phyſikaliſcher
und aſtronomiſcher Apparat. Münz- und Medaillen-
kabinett. Aeußere Einrichtung. — Lieberkühniſche
Sammlung im Kabinett des mediziniſchen Kollegiums.
— Mineralienſammlung und künſtliches Gebirge im
Bergkadettenkorps. — Großes Modellkabinett. —
Kaiſerliches Muſeum in der Eremitage. — Privat-
ſammlungen. — Botaniſche Gärten. — Gelehrte
Hülfsmittel. Buchdruckereyen. Cenſur. Buch-
handel. Leſegeſellſchaften. — Ueberſicht der
petersburgiſchen Litteratur während der
Regierung Katharinens der Zweiten.
Frühere Kultur der Ruſſen. — Theologie. — Rechts-
gelehrſamkeit. — Medizin. — Philoſophie, Po-
litik, Staats- und Landwirthſchaft. — Phyſik und
Naturgeſchichte. — Mathematiſche Wiſſenſchaften.
— Geſchichte. Herausgegebene Manuſkripte älterer
und neuerer Annaliſten — Geographie. Kathari-
nens Verdienſt um dieſelbe. Karten. Der kalugiſche
Atlas, ein außerordentliches Unternehmen. — Pä-
dagogik. Geſchichte und Verfaſſung des ruſſiſchen
Schulweſens. Schulbücher. — Sprachkultur —
Alte Li[e]teratur. Ueberſetzungen griechiſcher und römi-
[69] ſcher Schriftſteller. — Dichtkunſt. Sumarokow.
Knjäſhnie. Derſchawin. Cheraskow. Petrow. —
Proſaiſche Schriftſteller. Romano. — Zeitſchriften.
— Deutſche Litteratur. — Künſte. Akademie
der Künſte. — Künſtler. Maler. Kupferſtecher.
Bildhauer Architekten. Muſiker, u. ſ. w. — Me-
chaniſche Künſte. Inſtrumentenmacher von aller Art.
Kulibin, ein großes mechaniſches Genie. Schnoor’s
typographiſche Vemühungen.
In allen monarchiſchen Staaten iſt die Reſi-
denz der eigentliche Heerd gelehrter und wiſ-
ſenſchaftlicher Kultur. Durch die Aufmunte-
rungen der Fuͤrſten, den Beyfall eines großen
gebildeten Publikums und die wahrſcheinlichere
Ausſicht auf Gewinn und Ruhm gelockt, ver-
ſammeln ſich die beſten Koͤpfe der Nation in
Einen Mittelpunkt, den der Wetteifer des Ge-
nies und des Fleißes, von oͤffentlichen Anſtal-
ten unterſtuͤtzt, bald zur Wuͤrde eines Natio-
naldepots der Aufklaͤrung und des Geſchmacks
erhebt. Dies iſt der Fall in Frankreich, Eng-
land, Daͤnemark, Schweden, und mehr noch,
als in allen dieſen Laͤndern, in Rußland. Hier,
wo keine Univerſitaͤten und gelehrte Geſell-
E 3
[70] ſchaften im Innern des Reiches bluͤhen, wo
der Buchhandel und die Circulation litterari-
ſcher Kenntniſſe noch in ihrer Kindheit ſind,
kann die Reſidenz mit Recht als der Maaßſtab
fuͤr den extenſiven Zuſtand der Nationalkultur
gelten; ein Vorzug, den ſie jedoch mit der
alten Hauptſtadt des Reichs in gleichen Ver-
haͤltniſſen theilt. Dieſer letztere Umſtand mag
meine Leſer warnen, das Gemaͤlde welches wir
itzt von dem Zuſtande der Wiſſenſchaften und
Kuͤnſte in St. Petersburg entwerfen werden,
nicht fuͤr einen vollendeten Abriß des geſamm-
ten wiſſenſchaftlichen Zuſtandes der Nation
anzunehmen. Nirgend im Reiche leben ſo
viele Fremde in Staatsbedienungen und ge-
lehrten Aemtern, als hier; nirgend werden
daher die verſchiedenen Zweige der auslaͤndi-
ſchen Litteratur mehr kultivirt, als hier. Aber
ſo viele achtungswuͤrdige und zum Theil aus-
gezeichnete ruſſiſche Schriftſteller die Reſidenz
hervorgebracht hat, ſo hat Moskau deren
doch noch mehr aufzuweiſen, und die meiſten
und beſten Werke in der Nationalſprache ha-
ben dort ihr Daſeyn erhalten. Der feinere
und gebildete Theil des ruſſiſchen Adels lebt
[71] dort in einer ſorgenfreyen Muſſe, die den Mu-
ſen guͤnſtiger iſt, als die geraͤuſchvolle Zer-
ſtreuung und die anziehende Laufbahn des Ho-
fes. Staats- und Geſchaͤftmaͤnner, die die
groͤßere Haͤlfte ihres Lebens in gemeinnuͤtziger
Thaͤtigkeit zugebracht haben, ſuchen gewoͤhn-
lich auf ihren praͤchtigen Villa’s im Umkreiſe
der Hauptſtadt eine Ruhe, die nicht ſelten
fruchtbar fuͤr die Litteratur und die Wiſſen-
ſchaften wird. Selbſt die Sprache, die nir-
gend ſo fein und in ſo großer Reinigkeit ge-
ſprochen werden ſoll, als in Moskau, gewaͤhrt
dem Schriftſteller dort einen Vortheil, deſſen
er hier zuweilen entbehrt. — Aber auch den
uͤbrigen Theil des Landes denke man ſich nicht
durchaus als ein oͤdes Feld fuͤr die Wiſſen-
ſchaften. In mehreren Statthalterſchaften
herrſcht ein edler Wetteifer fuͤr die Aufnahme
und Bearbeitung der vaterlaͤndiſchen Littera-
tur, deſſen Wirkungen hauptſaͤchlich in der
Geſchichte und Statiſtik des Reichs ſichtbar
zu werden anfangen. Ueberall erwacht unter
Katharinens weiſer und milder Regierung
die Liebe zu Wiſſenſchaften und Kuͤnſten, der
Geſchmack an einem feinern und geiſtigern
E 4
[72] Genuß des Lebens. Man ſieht Buͤcher unter
Druckoͤrtern, deren Namen der Welt bisher
unbekannt waren; kuͤrzlich erhielt die Biblio-
thek der Akademie der Wiſſenſchaften die er-
ſten Stuͤcke einer Monatsſchrift aus Irkuzk:
naͤchſtens wird ſie vielleicht eine aus Kamt-
ſchatka erhalten.
In keiner Stadt des Reichs giebt es ſo
viele gelehrte Aſſociationen als in der
Reſidenz, und dieſen Vorzug, wenn es einer
iſt, hat ſie ſelbſt vor Moskau voraus. Be-
kanntlich beweiſen oͤffentliche Anſtalten dieſer
Art aͤußerſt wenig fuͤr den wiſſenſchaftlichen
Zuſtand einer Nation uͤberhaupt. Dieſe Er-
fahrung, deren Guͤltigkeit hier noch durch den
Umſtand verſtaͤrkt wird, daß der groͤßere Theil
der Mitglieder ſolcher Geſellſchaften aus her-
beygerufenen Auslaͤndern beſteht, darf uns
nicht hindern, ihnen hier einen Platz anzuwei-
ſen, da ſie durch ihre Wirkſamkeit einen mehr
oder weniger merklichen Einfluß auf die Kultur
der Nation erlangen. Urd dies iſt zugleich
der Geſichtspunkt, aus welchem wir die hier
folgenden Gegenſtaͤnde einer unpartheyiſchen
Muſterung unterwerfen.
[73]
Unter allen in der Reſidenz befindlichen ge-
lehrten Anſtalten hat keine einen ſo unbeſtimm-
ten und zugleich ausgebreiteten Wirkungskreis,
als die Akademie der Wiſſenſchaften.
Der eigentliche Zweck aller Stiftungen von
dieſer Gattung: Erweiterung der Grenzen des
gelehrten Wiſſens, ſollte hier zugleich mit der
populaͤren Beſtimmung verbunden ſeyn, ge-
meinnuͤtzige Kenntniſſe unter das Volk zu ver-
breiten. Man hat es Petern dem Groſ-
ſen haͤufig zu einem Vorwurf gemacht, daß
er bey ſeinem Plan fuͤr die Volksbildung eher
an eine Akademie als an Schulen gedacht ha-
be; aber dieſer Vorwurf iſt ungegruͤndet. Die
Grundlage die dieſer große Fuͤrſt fuͤr die Kul-
tur ſeiner Nation entwarf, war viel tiefer be-
rechnet und viel zweckmaͤßiger angeordnet, als
ſeine unbeſonnenen Tadler nur geahndet ha-
ben. Man ſieht aus dem Reglement, welches
der unſterbliche Kaiſer fuͤr die, nach ſeinem
Tode geſtiftete, Akademie beſtimmte, daß ſie
eigentlich nach ſeiner Idee die Mutter aller
kuͤnftig in Rußland zu gruͤndenden Unterrichts-
anſtalten werden ſollte. Aus ihrer Mitte ſoll-
ten Volkslehrer hervorgehn, die Wiſſenſchaften
E 5
[74] und nuͤtzliche Kenntniſſe in der Landesſprache
vortragen und ihnen auf dieſe Weiſe den leich-
teſten und ſicherſten Eingang bey der Nation
verſchaffen konnten. Zu dieſem Endzweck ward
mit der Akademie zugleich ein Gymnaſium und
eine Univerſitaͤt verbunden, und die Verord-
nung gemacht, daß nur einheimiſche Zoͤglinge
in dieſen Anſtalten aufgenommen, ausgebildet
und zu Adjunkten der Akademie befoͤrdert wer-
den ſollten. Waͤre man dieſem Plan getreu
geblieben, ſo wuͤrden die Akademie und die
von ihr abhaͤngigen Inſtitute bald nur mit
Ruſſen beſetzt worden ſeyn; es wuͤrde vielleicht
mancher glaͤnzende Name auf ihren Liſten feh-
len, aber ſie wuͤrde dieſen Schimmer durch
eine ausgebreitete, nuͤtzliche und ſichere Wirk-
ſamkeit erſetzen. Nach der itzigen Verfaſſung
iſt von allen dieſen Einrichtungen nur das
Gymnaſium uͤbrig, in welchem Juͤnglinge ruſ-
ſiſcher und anderer Nationen zu gelehrten Be-
ſtimmungen gebildet und zuweilen nach aus-
waͤrtigen Univerſitaͤten verſendet werden.
Unter dieſen Umſtaͤnden ſchraͤnkt ſich die
Akademie jetzt vorzuͤglich auf die allgemeine
Beſtimmung aller ihrer Mitſchweſtern ein.
[75] Sie iſt ein Inſtitut fuͤr die Vervollkommnung
und Erweiterung der ihr anvertrauten Wiſ-
ſenſchaften. Wie viel ſie in dieſem Kreiſe ih-
rer Wirkſamkeit geleiſtet hat, iſt ſo bekannt,
daß ich dieſen Gegenſtand mit Stillſchweigen
uͤbergehe, um ſogleich eine kurze Schilderung
ihrer jetzigen Verfaſſung zu geben.
Die Akademie theilt ſich nach ihren Be-
ſchaͤftigungen in vier Klaſſen: die mathemati-
ſche, phyſiſchmathematiſche, aſtronomiſche und
phyſikaliſche, welche auch die Naturgeſchichte,
Chemie und Anatomie begreift. In jeder der-
ſelben hat ſie Maͤnner von Werth und zum
Theil auch von ausgebreitetem Ruf aufzuwei-
ſen. Die Anzahl ihrer Mitglieder belaͤuft ſich
jetzt auf achtzehn, unter welchen acht geborne
Ruſſen ſind. Zur erſten Klaſſe gehoͤren die
Herren Aepinus, Kotel’nikow, Fuß,
und Schubert, welchem letztern auch das
Fach der Geographie uͤbertragen iſt. Zur zwey-
ten, die Herren Euler und Krafft; zur drit-
ten, die Herren Rumowski und Ino-
chodzow, und zur vierten, nach ihren abge-
ſonderten Wiſſenſchaften, folgende Herren:
Anatomie: Protaſſow und Wolff. Zoo-
[76] logie: Pallas. Botanik: Lepechin. Mi-
neralogie: Herrmann. Naturgeſchichte uͤber-
haupt: Oſerezkowski und Sujew. Che-
mie: Georgi und Sokolow. — Fuͤr das
Fach der Geſchichte: Herrn Stritter, in
Moskau. Außer dieſen, welche wirkliche Mit-
glieder ſind und gewoͤhnlich Profeſſoren ge-
nannt werden, zaͤhlt die Akademie noch drey
Adjunkten, zwoͤlf Korreſpondenten und meh-
rere einheimiſche und auswaͤrtige Ehrenmit-
glieder, unter welchen ſich der Thronfolger des
Reichs und einige regierende Fuͤrſten befinden.
Die Geſchaͤfte, zu welchen ein wirkliches
Mitglied verpflichtet iſt, beſtehen — das eigne
Forſchen und Fortſchreiten ausgenommen, wel-
ches weder gefordert noch bezahlt wird — in
dem Beſuch der akademiſchen Konferenz und
in der Ausarbeitung der Abhandlungen, welche
in die acta Academiae kommen, und von wel-
cher jedes Mitglied halbjaͤhrlich Eine zu liefern
gehalten iſt. Mit beyden Forderungen wird
es eben nicht aufs ſtrengſte genommen; ſo ein-
geſchraͤnkt die Sphaͤre dieſer litterariſchen Thaͤ-
tigkeit iſt, ſo fehlt es doch nicht an Beyſpie-
len, daß einzelne Mitglieder ſich derſelben meh-
[77] rere Zeit hindurch zum Theil oder gaͤnzlich
entzogen haben, wie die Regiſter der Konfe-
renz und die acta beweiſen. Der allgemeine
Vorwurf, der alle gelehrte Geſellſchaften trifft,
daß ſie im Ganzen weniger leiſten, als die
iſolirten Bemuͤhungen ſo vieler einzelnen Ge-
lehrten leiſten koͤnnten, iſt mit dem groͤßten
Recht auch auf dieſe beruͤhmte Anſtalt anwend-
bar. Ueberall ſind es nur einzelne Maͤnner,
die den Ruhm der Akademie und die Erwei-
terung des menſchlichen Geſichtskreiſes durch
muͤhſame Anſtrengungen zu erhalten ſuchen:
der groͤßere Theil entledigt ſich ſeiner erhabnen
Beſtimmung mit dem lauen Eifer, den ein
alltaͤgliches Brodgeſchaͤft einfloͤßt.
Bey alle dem iſt die Akademie dem Staat
und der Nation auf mancherley Weiſe nuͤtzlich
geworden. Ihre gelehrten Abhandlungen frey-
lich fallen hier auf einen unfruchtbaren Bo-
den, denn ſie finden vielleicht nicht zehn Leſer
im ganzen Reiche; aber deſto gemeinnuͤtziger
wird ſie durch ihre Aufklaͤrungen uͤber die Ge-
ſchichte und die natuͤrliche Beſchaffenheit dieſes
unermeßlichen, noch bey weitem nicht genug
unterſuchten Landes. Die Reiſen der Akade-
[78] miker ſind ein eben ſo ruͤhmliches Denkmal fuͤr
die Akademie, als ſie einen unverwerflichen
Beweis von dem ſcharfen Blick und der rich-
tigen Einſicht der Monarchin geben, auf de-
ren Geheiß ſie anbefohlen und zu Stande ge-
bracht wurden. — Auch durch die Beſorgung
des Kalenderweſens und der Zeitungen, durch
die Veranſtaltung ruſſiſcher zweckmaͤßiger Zeit-
ſchriften, und durch den oͤffentlichen Vortrag
nuͤtzlicher Wiſſenſchaften in der Landesſprache *),
erwirbt ſich die Akademie ein Verdienſt um die
Nation, das von jedem aufgeklaͤrten Patrio-
ten anerkannt zu werden verdient.
Die Akademie bildet, ſelbſt in politiſcher
Ruͤckſicht, ein ſehr anſehnliches Korps. Außer
dem Protektor, wozu ſich der jedesmalige Mo-
narch erklaͤrt, hat ſie einen Praͤſidenten und
[79] in gewiſſen Faͤllen auch einen Direktor, welche
Stelle jetzt die gelehrte und im Auslande be-
kannte Fuͤrſtinn Daſchkaw bekleidet. Die
Wuͤrde eines Praͤſidenten iſt ſeit 1767 da der
Graf Wolodimir Orlow Direktor ward,
ein bloßer Titel, den der Graf Raſumowsky
fuͤhrt. Die oͤkonomiſchen Geſchaͤfte werden
durch eine Kanzelley beſorgt. Wenige gelehrte
Geſellſchaften in Europa ſind ſo gut dotirt,
als die petersburgiſche; ihre beſtimmten Ein-
kuͤnfte betragen 53,000 Rubel, und dieſe wer-
den durch den Gewinn ihrer Druckerey, ihres
Buchhandels und durch den Debit der Kalen-
der und Zeitungen bis gegen 70, oder 80,000
Rubel gehoben. Der Gehalt eines wirklichen
Akademikers iſt zwiſchen 800 und 1500 Rubel.
Die Adjunkten erhalten 360 Rubel. Außerdem
beſoldet die Akademie unter ihren auswaͤrtigen
Mitgliedern und Korreſpondenten einige mit
100 bis 200 Rubeln.
Der buͤrgerliche Zuſtand der Akademiker,
unter denen es, wie wohl keinem meiner Leſer
unbekannt ſeyn wird, Maͤnner von den glaͤn-
zendſten Talenten und der groͤßten Erudition
gegeben hat und noch giebt, iſt uͤberaus ver-
[80] ſchieden. Einige derſelben haben, außer ihren
akademiſchen Stellen, wichtige und eintraͤgliche
Bedienungen bey Hofe oder im Staate, und
dieſe ſind ſowohl in Ruͤckſicht ihres Ranges
als ihrer Einkuͤnfte ſehr gut verſorgt. Alle
diejenigen aber, die bloß von ihren akademi-
ſchen Aemtern leben — und dies gilt von den
meiſten — koͤnnen ſich nur einer mittelmaͤßigen
Exiſtenz erfreuen, da die Preiſe aller Dinge
ſo ſehr geſtiegen ſind, daß die ehemals ziem-
lich vortheilhaft berechneten Beſoldungen jetzt
kaum zur Unterhaltung einer Familie hinrei-
chen. Die mehreſten dieſer Herren ſehen ſich
daher gezwungen, Lehrſtellen in den oͤffentli-
chen Erziehungsanſtalten zu uͤbernehmen, wo-
durch der ohnehin nur geringe Grad von Ach-
tung, den der große Haufe gelehrten Aemtern
zufließen laͤßt, noch vermindert wird.
Eine zweyte gelehrte Geſellſchaft, die ruſ-
ſiſche Akademie, iſt dem Anbau, der Ver-
vollkommnung und Ausbildung der Landes-
ſprache gewidmet. Sie entſtand im Jahr
1783 auf den Vorſchlag der Fuͤrſtinn Daſch-
kaw und durch die großmuͤthige Befoͤrderung
der Kaiſerinn, die das werdende Inſtitut unter
ihren
[81] ihren Schutz nahm, es zu dem Rang einer
kaiſerlichen Akademie erhob, und demſelben
dreyzehntauſend Rubel zum Ankauf eines Hau-
ſes und fuͤnftauſend Rubel jaͤhrlicher Einkuͤnfte
ſchenkte. Dieſe Geſellſchaft hat ſechszig Mit-
glieder, deren Wahl, aus den feinſten und ge-
bildetſten Staͤnden, fuͤr den Zweck ihrer Be-
muͤhungen vortheilhafte Ausſichten giebt. Ue-
berall ſind es die hoͤhern Klaſſen, unter denen
eine Sprache Feinheit, Geſchmeidigkeit und
Eleganz erhaͤlt; wo dieſe die Landesſprache
vernachlaͤßigen, da kann ſie wohl durch die
Bemuͤhungen der Gelehrten eine gebildete Buͤ-
cherſprache, aber nie eine geſprochene, wer-
den. Aus dieſer Urſache entbehrt die ſonſt ſo
ſehr kultivirte deutſche Sprache jene Leichtig-
keit, jene feinen Saillien, jene Empfaͤnglichkeit
fuͤr den edlern Konverſationston, die wir an
der franzoͤſiſchen ſo ſehr bewundern und ſo oft
vergebens nachzubilden geſtrebt haben. Die ruſ-
ſiſche Sprache war der Gefahr ſehr nahe,
durch einen aͤhnlichen Hang zur Gallomanie
aus den Zirkeln der großen Welt verwieſen
zu werden; aber das patriotiſche Beyſpiel der
Kaiſerinn hat ſie von dieſem Uebel gerettet.
Zweiter Band. F
[82] Gleich vertraut mit den Sprachen der kulti-
virteſten Nationen, von Geburt eine Deutſche,
und Franzoͤſinn wenn ſie an Voltaire ſchreibt,
giebt dieſe außerordentliche Frau in ihren
Schriften und Unterhaltungen der ruſſiſchen
Sprache den Vorzug, weil ſie wohl weiß,
daß ihr Beyſpiel allein der einreißenden Ver-
nachlaͤßigung derſelben unter den Großen zu
ſteuern vermag. Daß ſie das Idiom ihres
Volks in ſeinem ganzen Reichthum und mit
der Leichtigkeit eines geuͤbten Kuͤnſtlers zu be-
nutzen verſteht, davon zeugen ihre unſterbli-
chen Schriften; aber daß ſie dem Umfang deſ-
ſelben bis in ſeine verborgenſten Quellen nach-
geſpuͤrt und die Kenntniß dieſer Sprache zu
ihrem Studium gemacht hat, das iſt vielleicht
nicht ſo allgemein bekannt, und verdient durch
folgende Anekdote, die ich einem glaubwuͤrdi-
gen Zeugen nacherzaͤhle, naͤher bewieſen zu
werden.
Die ruſſiſche Akademie hatte, als ſie ihr
großes Woͤrterbuch anfieng, die Einrichtung
getroffen, daß jeder Buchſtabe auf ſehr brei-
tem Papier abgedruckt wurde, damit die Mit-
glieder und andere Kenner der Sprache ihre
[83] Zuſaͤtze oder Bemerkungen beyfuͤgen konnten,
ehe der eigentliche Abdruck fuͤrs Publikum ge-
ſchah. Ein Exemplar dieſer Probebogen ward
auch der Kaiſerinn uͤberreicht, nachdem alle
Beytraͤge eingeſchaltet waren und der Buch-
ſtabe als vollendet angeſehen werden konnte.
Als das Exemplar wieder bey der Akademie
einlief, fand man drey Worte am Rande be-
merkt, die im Verzeichniß gefehlt hatten. Von
zweyen derſelben erkannte man die Bedeutung
ſogleich, aber das dritte ſchien allen Anweſen-
den exotiſch. Die gelehrteſten Mitglieder ga-
ben ſich alle erſinnliche Muͤhe dies raͤthſelhafte
Wort zu entziffern, und als es keinem unter
ihnen gelang, ſah man ſich genoͤthigt, bey der
Quelle ſelbſt um die Erklaͤrung anzuſuchen.
Statt der Antwort erfolgte eine Nachweiſung
auf einen alten Chroniker, mit genauer Be-
zeichnung der Stelle, wo dieſes Wort, das
der Beybehaltung ſehr werth iſt, geſtanden
hatte.
Es ſey mir bey dieſer Gelegenheit erlaubt,
eine Parallele zwiſchen den beyden groͤßten Sou-
verains unſers Jahrhunderts zu ziehen, die in
ſo mancher andern Ruͤckſicht Stoff zu einer
F 2
[84] intereſſanten Zuſammenſtellung geben. Frie-
drich der Zweyte liebte die Wiſſenſchaften
wie Katharina, ſeine erhabene Freundinn;
wie ſie, beſchuͤtzte und pflegte er die Muſen,
denen er, wie ſie, in ſeinen ſorgenfreyen Stun-
den manches Opfer brachte. Gleich ihr,
ſuchte er unter ſeinem Volk Kenntniſſe und
Geſchmack zu verbreiten, die Morgenroͤthe der
Philoſophie uͤber der Daͤmmerung der Vorur-
theile und des Pedantismus herbeyzufuͤhren
und den Kuͤnſten Tempel zu weihen. — Aber
Friedrich, ein deutſcher Fuͤrſt, kannte die
Sprache ſeines deutſchen Volkes nicht, hatte
den Eigenſinn, ſie nicht kennen zu wollen, ſelbſt
da ſie ſeiner Schaͤtzung werth geworden war,
ſelbſt da ſeine Vertrauten ihn auf die Fort-
ſchritte ſeiner Nation aufmerkſam machten.
Ueberall ein großer Mann, ließ er ſich hier
von einem laͤngſt gefaßten und oft widerlegten
Vorurtheil beſiegen; ein Vorurtheil, welches
der deutſchen Nation ſeinen aufmunternden
Beyfall entzog und ihr die unerſetzliche Ehre
raubte, den groͤßten aller gekroͤnten Schrift-
ſteller den ihrigen nennen zu koͤnnen. — Ka-
tharina die Zweyte, durch Geburt und
[85] Erziehung mit zwey Sprachen vertraut, lernt
die dritte, die ſchwierigſte unter allen, mitten
im berauſchenden Gewuͤhl eines glaͤnzenden Ho-
fes, unter den Sorgen einer unermeßlichen
Herrſchaft, unter dem Jubelgetoͤn errungener
Siege — aus dem Gefuͤhl ihrer Pflicht, und
aus patriotiſchem Intereſſe fuͤr die Kultur ih-
res Volks! — Deutſcher Leſer! fuͤr dich iſt
kein Anſtoß in dieſer Vergleichung. Auch Sie
iſt ja dein, wie Er es war.
So ruͤhmlich die Bemuͤhungen der ruſſi-
ſchen Akademie fuͤr die Aufnahme der vater-
laͤndiſchen Litteratur ſind, ſo zweckmaͤßig und
dem groͤßten Nationalbeduͤrfniß entſprechend iſt
die Thaͤtigkeit der freyen oͤkonomiſchen
Geſellſchaft, eines Inſtituts, welches ſeine
Entſtehung und Fortdauer lediglich der patrio-
tiſchen Theilnahme aufgeklaͤrter Privatperſo-
nen verdankt. Sie ward im Jahr 1765, auf
Veranlaſſung des Fuͤrſten Orlow und durch
den Beytritt einiger Staatsmaͤnner und Ge-
lehrten geſtiftet, und in eben dieſem Jahr er-
folgte die Beſtaͤtigung der Kaiſerinn, begleitet
von einem Geſchenk von ſechstauſend Rubeln
und der Erklaͤrung, daß das kaiſerliche Ka-
F 3
[86] binett die Druckkoſten der herauszugebenden
Werke auf immer uͤbernehmen werde. Zugleich
erhielt die Geſellſchaft die Erlaubniß, ſich des
Privatſiegels der Kaiſerinn zu bedienen, in
welchem ein Bienenkorb mit der ruſſiſchen Ue-
berſchrift: nuͤtzlich, befindlich iſt. Durch das
kaiſerliche Geſchenk und freywillige Beytraͤge
ward ſie in den Stand geſetzt, ſich ein Haus
zu bauen, deſſen Miethertrag nebſt dem Vor-
theil, den ſie aus dem Verkauf ihrer Werke
zieht, die beſtimmten Einkuͤnfte derſelben aus-
machen. Woͤchentlich verſammelt ſie ſich einmal,
und jaͤhrlich, an ihrem Stiftungstage, ſetzt ſie
einen Preis von 25 bis 30 Dukaten auf die
beſte Beantwortung einer Frage, oder als Be-
lohnung der beſten Ausfuͤhrung irgend einer
oͤkonomiſchen Aufgabe aus; mehrentheils aber
erbieten ſich vornehme oder beguͤterte Glieder
zu Preiſen fuͤr Aufgaben, die ſie ſelbſt machen
oder der Geſellſchaft uͤberlaſſen. Die Anzahl
ihrer Mitglieder belaͤuft ſich jetzt auf mehr
als zweyhundert, unter welchen etwa die Haͤlfte
Ruſſen, und viele auswaͤrtige in andern Laͤn-
dern lebende Ehrenmitglieder ſind. Seit kur-
zem hat ſie auch eine Klaſſe fuͤr Korreſponden-
[87] ten errichtet. Die Direktion des Inſtituts iſt
einem Praͤſidenten anvertraut, der jaͤhrlich am
Stiftungstage erwaͤhlt wird; eine Wahl, die
nun ſchon mehrere Jahre hindurch den Gra-
ſen zu Anhalt getroffen hat, der ſich durch
ſeinen lobenswuͤrdigen Eifer fuͤr die Aufnahme
der Geſellſchaft ein unverkennbares Verdienſt
um dieſelbe erwirbt. Sie hat ferner zwey be-
ſtaͤndige Sekretaire, einen fuͤr die ruſſiſchen
und den andern fuͤr die deutſchen Geſchaͤfte;
jene Stelle bekleidet der wirkliche Staatsrath
Nartow, dieſe der Hofrath und Akademikus
Euler. Die Aufſicht uͤber das Archiv und
die Bibliothek uͤbernimmt der Brigadier Ruͤ-
dinger, und uͤber die Modellſammlung der
Staatsrath Gerhardt. — Bey den Sitzun-
gen, Wahlen und allen Verhandlungen der
Geſellſchaft herrſcht eine voͤllige Gleichheit,
wie es der Zweck und Geiſt einer freyen litte-
rariſchen Stiftung erheiſcht.
Seit ſeiner Entſtehung hat dieſes nuͤtzliche
Inſtitut eine zwar zuweilen erſchlaffte, doch
nie ganz unterbrochene Thaͤtigkeit gezeigt; nie
und in keinem Zeitpunkt ſeiner Dauer aber iſt
es ſo ſehr und mit ſo gluͤcklichem Erfolge wirk-
F 4
[88] ſam geweſen, als itzt. Ohne gerade durch
praktiſche Anlagen im Großen der vaterlaͤndi-
ſchen Landwirthſchaft Vorſchub zu thun —
ein Ziel, welches von keiner gelehrten Geſell-
ſchaft erreicht werden kann — hat ſie ſich den-
noch nicht bloß auf die Sphaͤre der Spekula-
tion begrenzt. Die Frage, was ſie geleiſtet
hat, ſchließt zugleich die Beſtimmung ihres
relativen Nutzens in ſich: eine kurze Beant-
wortung des erſtern Punkts wird alſo auch
fuͤr den zweyten hinreichend ſeyn.
Die Abhandlungen und Preisſchriften,
welche die Geſellſchaft in ruſſiſcher Sprache
herausgegeben hat, ſind itzt zu einer Samm-
lung von beynahe funfzig Baͤnden angewach-
ſen. So viele gute Aufſaͤtze, neue Entdeckun-
gen und Bereicherungen ſie auch enthaͤlt, ſo
iſt dieſer Vorzug doch nicht die verdienſtvollſte
Seite derſelben. Ungleich wichtiger iſt der
Umſtand, daß jetzt die Nation in dieſer Samm-
lung einen reichhaltigen Schatz praktiſcher und
groͤßtentheils auf das Lokalbeduͤrfniß angepaßter
Grundſaͤtze uͤber den weſentlichſten Zweig der
Induſtrie in der Landesſprache beſitzt.
Es kommt hier nicht ſo ſehr auf die Neuheit
[89] der vorgetragenen Sachen an, da uͤberall dem
Unwiſſenden alles neu iſt; es gilt hier nur das
Verdienſt, nuͤtzliche Aufklaͤrungen unter einer
Volksklaſſe zu verbreiten, die deren bedarf und
bisher entbehrte. Dieſer große und ſchoͤne
Zweck iſt von der oͤkonomiſchen Geſellſchaft,
wenn auch nicht in ſeinem ganzen Umfange,
ſo doch hin und wieder auf mannigfaltige Art
erreicht worden. Landedelleute im Innern des
Reichs ſind durch die Leſung der oͤkonomiſchen
Schriften aufmerkſam auf die Quellen ihres
Wohlſtands geworden; reiche Guͤterbeſitzer,
denen die Geſellſchaft die Ehre der Mitglied-
ſchaft ſchenkte, haben ſich der praktiſchen Be-
waͤhrung theoretiſcher Vorſchlaͤge, der Aus-
breitung landwirthſchaftlicher Kenntniſſe, un-
terzogen, und ſelbſt die unterſte Klaſſe des
Volks, der Bauer, hat den Einfluß dieſer pa-
triotiſchen Thaͤtigkeit gefuͤhlt. Als der Gene-
rallieutenant Konownizin, Gouverneur von
St. Petersburg, im Jahr 1790 bey allen
Volksſchulen der St. Petersburgiſchen Statt-
halterſchaft Leſebibliotheken zum Gebrauch des
Publikums anlegte, ſchenkte er jeder derſelben
ein Exemplar von den Werken der Geſellſchaft.
F 5
[90] Es iſt mir aus dem Zeugniß glaubwuͤrdiger
Maͤnner bekannt, daß mehrere Landedelleute
einzelne Theile oder Abhandlungen unter ihre
Bauern zum Leſen herumgehen laſſen.
Aber dieſe Gemeinnuͤtzigkeit iſt auch nicht
ohne litterariſches Verdienſt. Die Werke der
oͤkonomiſchen Geſellſchaft enthalten eine Menge
ſehr durchdachter, zum Theil auch neuer Vor-
ſchlaͤge und Entwuͤrfe, die das Gebiet der
Wiſſenſchaft, als ſolcher, erweitern und ver-
vollkommnen helfen. Ich darf hier nur auf
die deutſche Ueberſetzung derſelben, und auf
die Auswahl verweiſen, die zum Beſten des
deutſchen Publikums beſorgt wird und von
welcher bis itzt drey Baͤnde erſchienen ſind.
Die gute Aufnahme, die dieſes Werk bey Ken-
nern und Kunſtrichtern geſunden hat, die Ach-
tung mit welcher die oͤkonomiſchen Societaͤten,
ſelbſt ſehr entfernter Laͤnder, ſich um eine Ver-
bindung mit der hieſigen bewerben, ſind ent-
ſcheidende Beweiſe fuͤr den Werth ihrer Be-
muͤhungen.
Unter den Preisaufgaben zeichnen ſich die
mehreſten durch ihre ſorgfaͤltig berechnete Zweck-
maͤßigkeit und durch die anſehnlichen Summen
[91] aus, mit welchen der Patriotismus einzelner
Glieder das Talent und den Fleiß zur Beant-
wortung derſelben anzufeuern ſuchte. Als ei-
nen Beweis hievon wollen wir nur einige der
merkwuͤrdigſten und auffallendſten aus dem
großen Regiſter derſelben herausheben. Ein
Ungenannter ſchenkte der Geſellſchaft tauſend
Dukaten, mit dem Beding, eine verhaͤltniß-
maͤßige Summe auf die Beantwortung der
Frage zu ſetzen: „Iſt es dem gemeinen We-
ſen nuͤtzlicher, daß der Bauer Land, oder daß
er bloß bewegliches Eigenthum habe? Und
wie weit kann ſich ſein Recht auf das eine oder
andere erſtrecken?“ Eine Aufgabe von ſo ein-
leuchtender Wichtigkeit fuͤr das ruſſiſche Volk
und die geſammte Menſchheit mußte natuͤrlich
ſehr viele Konkurrenten erwecken; unter hun-
dert vier und ſechszig eingelaufenen Beantwor-
tungen erhielt Herr Bearde de Labry in
Aachen den ausgeſetzten Preis von hundert
Dukaten. — Fuͤnf und dreyßig Dukaten fuͤr
die beſte kleine Schrift, die unter der Auf-
ſchrift Bauernſpiegel den Landleuten gruͤnd-
lich und faßlich zeigt, wie ſie ihre Kinder zu
geſunden, guten Menſchen und Landwirthen
[92] erziehen koͤnnen, mit einer kurzen Anweiſung
zum Ackerbau und zur Viehzucht. — Ein
Feyerkleid, 25 bis 30 Rubel an Werth, fuͤr
die ingermannlaͤndiſche Baͤurin, welche in ei-
nem beſtimmten Zeitraum die meiſte Hauslein-
wand verfertigt haben wird. — Dreyhundert
Dukaten fuͤr den beſten Entwurf zu den Aus-
gaben und der Haushaltung eines Mannes,
der in St. Petersburg oder Moskau drey bis
zwoͤlftauſend, oder dreyzehn bis dreyßigtauſend
Rubel Einkommen hat, wobey auf eine an-
ſtaͤndige Befriedigung ſeiner verhaͤltnißmaͤßigen
Beduͤrfniſſe Ruͤckſicht genommen wird. — Fuͤnf
und zwanzig Dukaten dem Manne, der in ei-
nem Jahr im kymmenegorodiſchen Kreiſe (in
Finnland) den meiſten Moraſt zu Ackerland
austrocknen wird. — „Wie koͤnnen Rußlands
Einwohner mittlern Standes alle ihre Beduͤrf-
niſſe nach der jetzigen Lebensart, nicht nur zur
Nothdurft, ſondern auch mit Ruͤckſicht auf
Wohlſtand, Bequemlichkeit, Vergnuͤgen und
Erhaltung der Geſundheit bloß mit ruſſiſchen,
rohen oder verarbeiteten Produkten befriedi-
gen?“ Die Praͤmie von fuͤnf und dreyßig Du-
katen ward dem Akademikus Georgi zuer-
[93] kannt. — Angabe zweckmaͤßiger Nebenbeſchaͤf-
tigungen fuͤr den ruſſiſchen Landmann, eben-
falls von Herrn Georgi beantwortet. —
„Iſt das fruͤhe Bewohnen unſerer neuen Stein-
haͤuſer der Geſundheit unſchaͤdlicher als in neuen
Haͤuſern des Auſſenlandes? oder ſind wir nur
weniger aufmerkſam auf die Folgen? Und
welches ſind die ſicherſten Mittel der Schaͤd-
lichkeit dieſer Gewohnheit zu begegnen?“ Der
Doktor und Profeſſor Born in Kronſtadt er-
hielt den Preis von fuͤnf und zwanzig Duka-
ten. — Hundert Dukaten von einem Unge-
nannten fuͤr die beſte Anweiſung, wo und wie
die Kultur des Weinſtocks und Oelbaums im
ruſſiſchen Reiche zu befoͤrdern ſey. — Im
Jahr 1792 machte die Geſellſchaft eine ſte-
hende Preisaufgabe bekannt, deren Praͤmie
an jedem Stiftungstage demjenigen zuerkannt
werden ſoll, der eine von ihm ſelbſt gewaͤhlte
Statthalterſchaft, in oͤkonomiſcher Hinſicht,
am genaueſten und zweckmaͤßigſten beſchrieben
haben wird. Zu dieſem Endzweck hat die So-
cietaͤt einen Entwurf drucken laſſen, nach wel-
chem ſie die Beobachtungen geordnet zu ſehen
wuͤnſcht; eine Idee, die fuͤr die Kenntniß des
[94] innern Zuſtandes von Rußland ſehr wichtige
Aufklaͤrungen erwarten laͤßt. — Ich uͤbergehe
eine Menge intereſſanter Aufgaben fuͤr die
Theorie der Landwirthſchaft, Ausfuhrpraͤmien
und Belohnungen fuͤr Kuͤnſtler, Handwerker
und Landleute, weil aus den gegebenen Pro-
ben der Geiſt und die Verfahrungsart der Ge-
ſellſchaft ſich hinlaͤnglich erſehen laͤßt. Viel-
leicht habe ich mich ſchon zu lange bey einem
Gegenſtande verweilt, der gerade nicht das
groͤßte Intereſſe fuͤr alle Leſer haben kann;
aber es ſchien mir Pflicht, ein Inſtitut naͤher
zu karakteriſiren, das ſich ſo ſehr von dem
großen Haufen aͤhnlicher Anſtalten unterſchei-
det; das in ſeiner ſtillen Wirkſamkeit, ohne
oͤffentliche Unterſtuͤtzung, durch die freywillige
Theilnahme unbeſoldeter Mitglieder, mehr
wahrhaft Nuͤtzliches ſtiftet und der Nation
und der Menſchheit wohlthaͤtiger wird, als
alle die großen und koſtbaren gelehrten Innun-
gen, die mit ihren tiefſinnigen Produkten al-
lenfalls den geiſtigen Luxus vergnuͤgen, deren
Daſeyn aber das menſchliche Wohl oder Elend
um kein Haar erhoͤht oder mindert.
[95]
Wir gehen jetzt zur Schilderung der lit-
terariſchen Huͤlfsmittel uͤber, deren die
Reſidenz ſo viele und zum Theil ſeltne und
ausgezeichnete enthaͤlt, daß wir uns von der
Muſterung derſelben eine angenehme Befriedi-
gung verſprechen duͤrfen. Zu den weſentlichſten
Gegenſtaͤnden dieſer Rubrik gehoͤren die oͤf-
fentlichen Bibliotheken. St. Peters-
burg hat aus dieſer Gattung nur Eine aufzu-
weiſen, aber die Anzahl großer Privatbiblio-
theken, deren leicht zu erhaltender Zutritt je-
nen Mangel einigermaßen erſetzt, belaͤuft ſich
uͤber zwanzig. Wir fangen, der Ordnung nach,
mit jener an: dies iſt die Bibliothek der
Akademie der Wiſſenſchaften.
Ein ſo merkwuͤrdiges Inſtitut in einer ſo
jungen Stadt, von deſſen Entſtehung ſelbſt
noch Zeitgenoſſen unter den Lebenden vorhan-
den ſind, verdient eine kurze Ueberſicht ſeiner
Geſchichte. Der Krieg, dieſer Zerſtoͤrer und
Feind aller Kuͤnſte des Friedens, ward die Ver-
anlaſſung zur Grundlage deſſelben. Eine Buͤcher-
ſammlung von ungefaͤhr 2500 Baͤnden, die Pe-
ter der Große in Kurland erbeutet hatte,
und nach ſeiner neuen Reſidenz bringen ließ, gab
[96] den erſten Vorrath her, welcher durch man-
cherley Beytraͤge, hauptſaͤchlich durch die Ein-
verleibung der Bibliothek des verſtorbenen Ar-
chiaters Areskin, betraͤchtlich vermehrt wurde.
Bis dahin war die Bibliothek fuͤr den Ge-
brauch des Kaiſers beſtimmt; als dieſer aber
ſtarb, und im Jahr 1725 die Akademie eroͤf-
net wurde, ſchenkte ſeine Nachfolgerinn die
ganze Sammlung an das neue Inſtitut, und
mit dieſem Zeitpunkt beginnt ſie als oͤffentliche
Bibliothek, da der Eintritt in dieſelbe zwey-
mal in der Woche Jedermann frey gelaſſen
wurde. Die erſte Bereicherung, die ſie in die-
ſem neuen Zuſtande erhielt, waren die Buͤ-
cher, Plane und Karten, deren ſich ihr großer
Stifter ſelbſt bedient hatte; ein Geſchenk,
welches mehr zu einer ehrwuͤrdigen Reliquie,
als zu einer wirklichen Vergroͤßerung dienen
konnte. Der Zuwachs, den die Bibliothek
nach dieſer Zeit, theils durch den Ankauf wich-
tiger Werke in Holland, theils durch zufaͤllige
Acquiſitionen erhielt, machte ein Verzeichniß
derſelben nothwendig, welches auch im Jahr
1742 in drey Oktavbaͤnden erſchien, aber ſo
unzweckmaͤßig abgefaßt war, daß es fuͤr den
Litte-
[97] Litterator wenig oder keinen Werth haben
konnte. Die Bibliothek des Staatsrath San-
chez und andere Vermehrungen fiengen eben
an dem werdenden Inſtitut einigen Glanz zu
geben, als ein ploͤtzlicher Ungluͤcksfall dieſe
ſchoͤnen Ausſichten auf eine Zeitlang unter-
brach. Das Feuer, dieſes gefaͤhrliche Element,
welches faſt alle beruͤhmte Sammlungen be-
droht oder zerſtoͤrt hat, ward auch hier
die Urſache einer Verwuͤſtung, deren Folgen
weniger durch den erlittenen Verluſt, als
durch die Unordnung nachtheilig waren, in
welche die Bibliothek durch dieſen Unfall ge-
rieth, und die nicht eher gehoben werden
konnte, als bis das neue Gebaͤude wieder her-
geſtellt war, in welchem ſie noch jetzt aufbe-
wahrt wird. Unter Katharinens Regie-
rung ward der Krieg zum zweytenmal ein
Wohlthaͤter dieſer Sammlung; ſie erhielt im
Jahr 1772 die beruͤhmte Radzivil’ſche Bi-
bliothek, die bisher zu Nesviz, in Litthauen,
geſtanden hatte. Dies war der letzte große
Zufluß, den ſie bekam; ihre ſpaͤtern Bereiche-
rungen verdankt ſie der Großmuth der Kai-
ſerinn und dem Wohlwollen einzelner Freunde
Zweiter Theil. G
[98] der Wiſſenſchaften, denn der Fonds, der fuͤr
ihre Vermehrung ausgeſetzt iſt und jaͤhrlich
fuͤnftauſend Rubel betraͤgt, wird oft auch zu
andern Beſtimmungen angewendet. Ihr Reich-
thum beſteht nach der juͤngſten Zaͤhlung in
30,200 Werken, die wahrſcheinlich uͤber 60,000
Baͤnde enthalten.
Schon dieſe Angabe beweiſt, daß ſie ſich
nicht mit ihren groͤßten und vorzuͤglichſten
Schweſtern in Europa meſſen darf, und ihr
innerer Zuſtand vermehrt ihre Anſpruͤche nicht.
Da ihre weſentlichſten Beſtandtheile ohne Wahl,
ohne Ruͤckſicht auf einen beſtimmten Plan,
und groͤßtentheils durch den Zufall zuſammen-
getragen ſind, da man nie außerordentliche
Summen zu ihrer Vervollkommnung aufge-
wendet hat; ſo laͤßt ſich, bey dem Wetteifer
aller gebildeten Nationen fuͤr die Ehre ihrer
Sammlungen und bey dem hohen Alter der
mehreſten unter dieſen, der Platz leicht beſtim-
men, den ſie auf der Rangtafel der großen
Bibliotheken behaupten kann. Dieſe ſtrenge
Wuͤrdigung, die den einheimiſchen Bibliogra-
phen außer den Verdacht einer Partheylichkeit
ſetzen wird, thut dem wahren Werth einer in
[99] vieler Ruͤckſicht koſtbaren und reichhaltigen
Sammlung deswegen keinen Abbruch. Die
große Menge ſeltner und wichtiger Buͤcher in
mehreren Faͤchern des menſchlichen Wiſſens,
die in der bekannten Schrift des ehemaligen
Bibliothekars Bacmeiſter uͤber die Biblio-
thek und das Muſeum der Akademie aufge-
fuͤhrt werden, [giebt] hinreichende Beweiſe fuͤr
ihre Wichtigkeit. Da nicht leicht einem deut-
ſchen Litterator dieſes Buch unbekannt ſeyn
wird, und da die uͤbrigen Leſer, die keine Lit-
teratoren ſind, wahrſcheinlich wenig Intereſſe
an fremden Buͤchertiteln finden, ſo uͤbergehe
ich hier die genauere Angabe der groͤßten Merk-
wuͤrdigkeiten der Bibliothek, um eine allge-
meine Schilderung ihres gegenwaͤrtigen Zu-
ſtandes zu entwerfen.
Unter den wichtigen und nothwendigen
Theilen einer oͤffentlichen Bibliothek iſt das
Fach der ſchoͤnen Wiſſenſchaften verhaͤltniß-
maͤßig am ſchlechteſten beſetzt, und auch die
nordiſche Geſchichte iſt bey weitem nicht ſo
vollſtaͤndig, ols es zu wuͤnſchen waͤre; eine
Erfahrung, die jeder Litteraturfreund mit ſo
groͤßerer Befremdung macht, je groͤßer die Er-
G 2
[100] wartung, von der letzten Klaſſe hauptſaͤchlich,
in der Hauptſtadt eines nordiſchen Reiches
ſeyn muß. Einen angenehmen Kontraſt mit
dieſen Maͤngeln machen folgende Rubriken,
die ſich durch den Reichthum, den Werth und
die Seltenheit ihres litterariſchen Vorraths
vortheilhaft auszeichnen: Geſchichte, Alter-
thuͤmer, Numismatik, Naturgeſchichte, ma-
thematiſche Wiſſenſchaften und Litterargeſchichte.
— Die Faͤcher welche uͤberall zum Luxus der
Bibliotheken gehoͤren, Manuſcripte und alte
oder ſeltne Editionen, ſind hier auch nicht die
glaͤnzendſte Seite. An alten Handſchriften
fehlt es beynahe gaͤnzlich; die neuern ſind
großentheils von geringer Bedeutung, drey
ausgenommen, die durch ihren erhabenen Ur-
ſprung und individuellen Karakter als Heilig-
thuͤmer der Nation angeſehen werden und eine
allzu merkwuͤrdige Seltenheit ausmachen, um
hier nicht eine kurze Erwaͤhnung zu verdienen.
Das erſte iſt ein Dankgebet Peters des
Großen nach der Schlacht bey Poltawa,
das zweyte, ein Seewoͤrterbuch ganz von der
eignen Hand dieſes Fuͤrſten. Das dritte —
und durch ſeinen Inhalt das merkwuͤrdigſte —
[101] iſt das Manuſcript der beruͤhmten Inſtruk-
tion, die den Namen Katharinens allein
verewigen muͤßte, wenn er auch nicht ſo viele
andere gerechte Anſpruͤche an die Unſterblich-
keit haͤtte. Dieſe Schrift, das Denkmal des
aufgeklaͤrteſten Kopfs und des edelſten Her-
zens, der Stolz zweyer Nationen und unſers
Jahrhunderts, iſt, bis auf zwey oder drey
einzelne Stellen, durchaus von der Hand der
Kaiſerinn, groͤßtentheils franzoͤſiſch, hin und
wieder auch ruſſiſch, in ſehr fluͤchtigen Zuͤgen
geſchrieben und an einzelnen Stellen durchſtri-
chen und geaͤndert. Sie wird in einem emble-
matiſch verzierten und vergoldeten Kaͤſtchen be-
wahrt. Jeder denkende und gefuͤhlvolle Menſch
naht ſich dieſer Merkwuͤrdigkeit mit der Ehr-
furcht, mit welcher man ſich einem Heiligthum
naͤhert, und verlaͤßt ſie nicht, ohne ſeine Ach-
tung und Verehrung gegen die erhabene Urhe-
berinn derſelben erhoͤht zu fuͤhlen.
Die ruſſiſchen Buͤcher ſind beſonders
aufgeſtellt; ihre Anzahl betraͤgt etwa dreytau-
ſend. Da der Akademie von jedem in Ruß-
land gedruckten Buche ein Exemplar zugeſtellt
werden muß, und da ſie ohnehin die beſten
G 3
[102] Mittel hat, ſich die Produkte der einheimi-
ſchen Litteratur zu verſchaffen, ſo iſt es ſehr
wahrſcheinlich, daß die Summe aller in ruſſi-
ſcher Sprache vorhandenen gedruckten Werke
nicht viel uͤber jene Anzahl hinausgeht. In-
tereſſanter als dieſe faſt durchaus ſehr junge
Sammlung, ſind die ruſſiſchen Hand-
ſchriften, von denen die Bibliothek einen
großen und fruchtbaren Reichthum beſitzt. Un-
ter den ſlavoniſchen Manuſcripten ſind
die aͤlteſten aus dem dreyzehnten Jahrhundert.
Man findet eine zahlreiche Folge ruſſiſcher
Annaliſten, und von dem wichtigſten derſel-
ben, dem Neſtor, ein Exemplar, das fuͤr
das aͤlteſte aller vorhandenen gilt. Zu den lit-
terariſchen Kurioſitaͤten gehoͤrt auch das aͤlteſte
in ſlavoniſcher Sprache gedruckte Buch, ein
Pentatevchus von 1519.
Ein anderer, noch unbenutzter, Schatz,
den dieſe Bibliothek vor allen ihren Schweſtern
ausſchließlich beſitzt, beſteht in einer betraͤcht-
lichen Sammlung tangutiſcher und mon-
goliſcher Manuſcripte. Sie wurden im
Jahr 1720 in Sibirien aufgefunden und nach
St. Petersburg uͤberſandt. Peter der Große
[103] ſchickte einige Hefte davon nach Paris an die
Akademie der Wiſſenſchaften, um zu erfah-
ren was ſie enthielten, und die Herren Aka-
demiker entledigten ſich dieſes Auftrags als
wahre Franzoſen. Ein gewiſſer Abbe Bignon
lieferte dem Kaiſer die Ueberſetzung in lateini-
ſcher Sprache, wobey er jedoch ſelbſt einige
Zweifel uͤber die Treue ſeiner Dollmetſchung
aͤußerte. Spaͤterhin fand ſichs, daß kein Wort
davon im Originale ſtand. — Die Akademie
unterhaͤlt jetzt einen Mann unter dieſen Voͤl-
kerſchaften, um die Sprache zu erlernen. Er
iſt ein Deutſcher und heißt Jaͤhrig; ich habe
ihn, bey ſeinem letzten Aufenthalt in der Re-
ſidenz, perſoͤnlich kennen gelernt. Er hatte da-
mals ſechszehn Jahre unter den Mongolen ge-
lebt, war mit ihren Sitten ſo vertraut ge-
worden, und hatte dieſe ſo lieb gewonnen,
daß ihm unſere europaͤiſche Bequemlichkeiten
ſehr zuwider waren. Auch von ihrer Weisheit
hatte er ſo vortheilhafte Begriffe, daß er
glaubte, wir Europaͤer koͤnnten in vielen Din-
gen aus jenen Gegenden Aufklaͤrung holen.
So gewiß dieſer Mann die mongoliſche Sprache
voͤllig beſaß, ſo unmoͤglich war es doch, in
G 4
[104] ſeinen Dollmetſchungen den Zuſammenhang zu
finden, den er mit der groͤßten Anſtrengung
hineinzulegen ſtrebte. Um den Nachdruck und
die Eigenthuͤmlichkeiten des Originals zu errei-
chen, hatte er eine Menge neuer Worte ge-
ſchaffen, die bey aller Sonderbarkeit ihres
Gepraͤges zuweilen uͤberaus karakteriſtiſch, wie-
wohl nicht ſelten auch voͤllig unverſtaͤndlich wa-
ren. Einer meiner gelehrten Freunde hier in
St. Petersburg hat itzt ein Manuſcript von
ihm in Haͤnden, welches die Ueberſetzung einer
mongoliſchen Schrift enthaͤlt, die vielleicht der-
einſt im Publikum erſcheinen wird, wenn der
Verſuch, den oft ſehr raͤthſelhaften Sinn zu
entziffern, gelingen ſollte. Nach einem kurzen
Aufenthalt in der Reſidenz, waͤhrend welchem
Jaͤhrig ſich verheyrathet hatte, zog er wie-
der zu ſeinen geliebten Mongolen zuruͤck, um
den Reſt ſeines Lebens unter ihnen zu verle-
ben. Bey ſeiner Abreiſe faßte er einen Ent-
ſchluß, der fuͤr die Kultur dieſes Volks ſehr
merkwuͤrdig werden kann. Er nahm eine
Sammlung von guten Buͤchern aus verſchie-
denen Faͤchern der Wiſſenſchaften mit ſich, um
ſie dort zu uͤberſetzen und unter den Mongolen
[105] bekannt zu machen. Unter dieſen Werken be-
fanden ſich verſchiedene naturhiſtoriſche, geo-
graphiſche und andere Lehrbuͤcher, aber kein
philoſophiſches, weil er in dieſem Zweige
menſchlicher Erkenntniß ſeinen Mongolen mehr
als den Europaͤern zutraute.
Nicht ſo ſelten als die mongoliſchen Ma-
nuſcripte, aber immer merkwuͤrdig genug, um
die Zierde einer Bibliothek zu machen, ſind die
chineſiſchen Buͤcher, von welchen die
Akademie eine Sammlung von zweytauſend
achthundert Baͤnden oder Buͤndeln beſitzt. Die
erſte Acquiſition dieſer litterariſchen Seltenheit
ward im Jahr 1730 durch einen ruſſiſchen
Reſidenten am khaniſchen Hofe gemacht, der
ſie von jeſuitiſchen Miſſionarien in Peking er-
halten hatte. Die Baͤnde ſind ſehr duͤnn, etwa
wie unſere Journale, brochirt und auf Sei-
denpapier oder geglaͤtteter Bambusrinde ge-
druckt. Ihr Inhalt iſt nicht voͤllig ſo unbe-
kannt, als der der mongoliſchen Handſchriften, da
Rußland beſtaͤndig Kommiſſarien oder Reſiden-
ten in China oder an der Grenze unterhaͤlt.
Man hat nicht nur ein Regiſter von den Buͤ-
chertiteln, ſondern ſogar ruſſiſche Ueberſetzun-
G 5
[106] gen von einzelnen Werken. Die hier vorhan-
dene Sammlung enthaͤlt philoſophiſche, ſtaats-
wiſſenſchaftliche, hiſtoriſche und geographiſche,
mathematiſche, mediziniſche und philologiſche
Aufſaͤtze und Schriften.
Die letzte Merkwuͤrdigkeit deren wir hier
erwaͤhnen wollen, gehoͤrt zu der Gattung der
nuͤtzlichen und ſeltnen zugleich. Sie beſteht in
zwey auserleſenen Sammlungen von Gemaͤl-
den aus der Naturgeſchichte. Die aͤl-
tere enthaͤlt Schmetterlinge, Pflanzen und an-
dere Gegenſtaͤnde des Naturreichs, und hat
ihr Daſeyn der beruͤhmten Frau Merian zu
danken, die zwey Jahre in Surinam zubrachte,
um daſige Inſekten nach allen ihren Verwand-
lungen, zugleich mit den Blumen, Fruͤchten
und Pflanzen, auf denen ſie ſich am liebſten
aufhalten, zu malen. Die zweyte, deren Ac-
quiſition die Akademie erſt im Jahr 1782
machte, iſt die bekannte vortreffliche Samm-
lung des D. Fothergill in England; eine
Reihe von Abbildungen aus dem Gebiet der
Thier- und Pflanzenwelt von den groͤßten
brittiſchen Kuͤnſtlern. Die Kaiſerinn kaufte
ſie fuͤr fuͤnftauſend Pfund Sterling und ſchenkte
[107] ſie der Akademie, wo ſie jetzt fuͤr das Vergnuͤ-
gen und den Unterricht des Publikums aufbe-
wahrt wird.
Alle dieſe litterariſchen Schaͤtze und Sel-
tenheiten ſind in zwey großen Saͤlen aufge-
ſtellt, deren jeder ungefaͤhr 77 Fuß lang und
49 breit iſt. Einer derſelben hat eine Gallerie,
welche die ruſſiſche, tangutiſche und chineſiſche
Buͤcherſammlung enthaͤlt. Die Schraͤnke ſind
von Eichenholz und die Thuͤren mit Gegitter
von Eiſendrath verſehen. In der Eintheilung
der Klaſſen iſt man der gewoͤhnlichen Ordnung
gefolgt; uͤber jedem Schrank iſt ein Schild be-
findlich, welches die Klaſſe der darinn enthal-
tenen Werke anzeigt. Die Bibliothek hat ei-
nen Ober- und Unterbibliothekar; jene Stelle
bekleidet der Akademikus Kotel’nikow, dieſe
der Herr Buſſe, ein Deutſcher, der ſich durch
ſeine Gefaͤlligkeit, auf einem Poſten wo dieſe
etwas ſeltnes iſt, allgemein beliebt gemacht hat.
Obgleich keine eigentliche Zeit fuͤr den Zutritt
des Publikums beſtimmt iſt, ſo fehlt es doch
nicht an Gelegenheiten, die Bibliothek zu be-
nutzen. Fremden kommt dieſe Erlaubniß nur
dann zu ſtatten, wenn ſie die Akademie ſelbſt
[108] beſuchen; aber alle Mitglieder dieſes gelehrten
Korps ſind befugt, die Buͤcher deren ſie be-
duͤrfen, gegen einen Empfangſchein abzuholen
und einen Monat lang zu behalten.
Unter den Bibliotheken die mit oͤffentlichen
Anſtalten verbunden, und daher auf gewiſſe
Weiſe fuͤr den Gebrauch des Publikums be-
ſtimmt ſind, verdient die Buͤcherſammlung des
Alexander-Newski-Kloſters den erſten
Platz. Sie zeichnet ſich, nach Bacmeiſters
Urtheil, durch Wahl und Anzahl ihrer Werke
vor andern ruſſiſchen Bibliotheken vortheilhaft
aus. Ihr Reichthum erſtreckt ſich nicht nur
auf ſlavoniſche Manuſcripte und theologiſche
Schriften griechiſcher Kirchenlehrer, ſondern
er verbreitet ſich auch mit muſterhafter Tole-
ranz uͤber die Hauptwerke anderer Konfeſſio-
nen, vorzuͤglich der proteſtantiſchen. Auſſer
dem theologiſchen Fach iſt das philoſophiſche und
hiſtoriſche am beſten beſetzt.
Die Bibliothek des adlichen Land-
kadettenkorps erhielt ihre Grundlage durch
die vortreffliche Sammlung des Generals von
Eggers, der als Kommandant in Danzig
ſtarb, worauf die Kaiſerinn ſie kaufte und
[109] dieſem Inſtitut ſchenkte. Sie enthaͤlt eine reiche
Auswahl der beſten militairiſchen Schriftſteller
in 7,000 Baͤnden, die von Zeit zu Zeit mit
aͤltern und neuerſcheinenden Werken aus der
Geſchichte, Philoſophie, Laͤnderkenntniß und
ſchoͤnen Litteratur, in franzoͤſiſcher, deutſcher
und ruſſiſcher Sprache bereichert wird. Der
Graf zu Anhalt, der den ruͤhmlichen Eifer
beſitzt, alle Anſtalten die unter ſeiner Direk-
tion ſtehen, ſo gemeinnuͤtzig als moͤglich zu
machen, hat den oͤffentlichen Gebrauch dieſer
Bibliothek aufs moͤglichſte erleichtert. Die An-
zahl ihrer Baͤnde reicht itzt an zehntauſend.
Auch die uͤbrigen oͤffentlichen Unterrichts-
anſtalten haben Buͤcherſammlungen, deren Be-
ſchaffenheit nach den verſchiedenen Zwecken der
Inſtitute modifizirt iſt. Obgleich die mehreſten
derſelben noch im Entſtehen ſind, ſo koͤnnen
ſie hier doch nicht mit Stillſchweigen uͤber-
gangen werden, weil Freunde der Wiſſenſchaf-
ten mehr oder weniger Befriedigung und leich-
ten Zutritt bey denſelben erhalten.
Die Bibliothek fuͤr den Privatge-
brauch der Kaiſerin iſt in der Eremitage
aufgeſtellt und enthaͤlt drey verſchiedene Samm-
[110] lungen, von denen ich hier nur die Urheber,
ohne naͤhere Beſtimmung des Reichthums und
Werths, angeben kann. Die erſte iſt die des
Herrn von Voltaire, welche die Kaiſerin,
nebſt deſſen litterariſchen Nachlaß, von ſeinen
Erben erſtand. Die zweyte, der Buͤcherſchatz
des Philoſophen Diderot, ward ſchon bey
Lebzeiten ihres Sammlers gekauft und bezahlt.
Die dritte gehoͤrte dem beruͤhmten Abbe Gag-
liani. Hiezu kommt der eigne Ankauf der
Kaiſerinn, der, nach einigen Umſtaͤnden zu ur-
theilen, die mir bekannt ſind, ſehr betraͤchtlich
ſeyn muß. Eine Fuͤrſtinn, die mit leidenſchaft-
licher Liebe fuͤr die Wiſſenſchaften und der
ſeltenſten Freygebigkeit ſammelt, und ſo gut
bedient wird, als die Kaiſerinn von den groͤßten
Buchhaͤndlern in Europa iſt — laͤßt etwas
außerordentliches von einer Sammlung ihres
Geſchmacks erwarten.
Merkwuͤrdig durch ihren Reichthum und
ihre Auswahl iſt auch die großfuͤrſtliche
Bibliothek, deren Stifter der gelehrte und
verdienſtvolle Praͤſident der Akademie, von
Korff, war. Sie verbreitet ſich uͤber die
mehreſten wiſſenſchaftlichen Faͤcher und iſt be-
[111] ſonders in der Geſchichte vortreflich verſehen.
Die Zahl der Baͤnde belaͤuft ſich auf 28,000. —
Die Handbibliothek des Großfuͤrſten
verdankt ihr Daſeyn der Wahl und dem Ge-
ſchmack ihres Beſitzers, und enthaͤlt, vorzuͤg-
lich im Fach der neuern auslaͤndiſchen — auch
deutſchen — Litteratur, einen ſchaͤtzbaren Vor-
rath, der mit jedem Jahre gewinnt.
Unter den Privatbibliotheken der
Großen und der Liebhaber ſind viele von
ſolchem Umfange und Werth, daß ſie die Auf-
merkſamkeit des Litteratoren in hohem Grade
verdienen. Es waͤre ſehr zu wuͤnſchen, daß
die Beſitzer dieſer koſtbaren Sammlungen, der
edlen Liberalitaͤt mit welcher ſie ſolche gemein-
nuͤtzig zu machen ſuchen, dadurch ein Verdienſt
mehr gaͤben, daß ſie wohl geordnete Verzeich-
niſſe derſelben drucken ließen. Wie manches
ſeltne und wichtige Buch, das der Kenner
vergebens ſucht, enthalten dieſe Depots, un-
gekannt und ungenuͤtzt. — Zu den nennens-
wuͤrdigſten Schaͤtzen dieſer Art gehoͤren die
Bibliotheken der Grafen Tſcherniſchew,
Stroganow, Schuwalow, der Fuͤrſtinn
Daſchkaw, des Geheimenraths Bezkoi,
[112] der Fuͤrſten Juſupow, Kurakin u. m. a.
Auch bey Privatleuten verſchiedener Staͤnde
findet man zuweilen ſehr gute Buͤcherſamm-
lungen, da der Geſchmack und die Liebhaberey
fuͤr Lektuͤre haͤufig durch Wohlhabenheit unter-
ſtuͤtzt wird. Unter dieſen verdient wenigſtens
Eine angefuͤhrt zu werden, weil ſie in ihrer
Art vielleicht einzig iſt. Sie enthaͤlt eine ziem-
lich vollſtaͤndige Sammlung der vortreflichſten
deutſchen, engliſchen, franzoͤſiſchen und italieni-
ſchen Werke, im Fach der Geſchichte, Philo-
ſophie und ſchoͤnen Litteratur, ſaͤmmtlich in
den beſten Originalausgaben, und die griechi-
ſchen und roͤmiſchen Klaſſiker, nach den vor-
zuͤglichſten Editionen. Wodurch ſie ſich aber
ganz beſonders auszeichnet, iſt der merkwuͤr-
dige Umſtand, daß ſie nicht ein einziges
ſchlechtes oder auch nur mittelmaͤßiges
Buch enthaͤlt. Hieraus ergiebt ſich von ſelbſt,
daß die Anzahl ihrer Baͤnde nicht ſehr groß
ſeyn kann. Der Sammler und Beſitzer dieſer
ſeltnen Bibliothek iſt der Obriſtlieutenant
Klinger, der ſich durch ſeine dramatiſchen
Werke und philoſophiſchen Romane beruͤhmt
gemacht hat.
Wir
[113]
Wir beſchließen dieſe Muſterung, um uns
jetzt mit den merkwuͤrdigſten Sammlungen
der Natur- und Kunſtſeltenheiten be-
kannt zu machen, deren Schaͤtze unſere Auf-
merkſamkeit in noch hoͤherem Grade verdienen,
weil die Reſidenz in dieſer Ruͤckſicht mit den
vorzuͤglichſten wiſſenſchaftlichen Depots in Eu-
ropa wetteifern kann.
Das Muſeum der Akademie der
Wiſſenſchaften, die Krone aller Inſtitute
dieſer Gattung, datirt ſeinen Urſprung, wie
die mit demſelben verbundene Bibliothek, aus
der Regierungsepoke des unſterblichen Kaiſers,
von deſſen Liebe fuͤr die Wiſſenſchaften ſo viele
andre Anſtalten zeugen. Waͤhrend ſeiner erſten
Reiſe kaufte Peter der Große einige Na-
turalien in Holland auf, die zuerſt nach Mos-
kau, und hernach, mit den dort vorhandenen
Praͤparaten der Oberapotheke bereichert, nach
St. Petersburg gebracht wurden. Gleich die
erſten Vermehrungen, welche dieſe junge Samm-
lung erhielt, legten den Grund zu ihrer nach-
maligen Vollkommenheit; das Kabinet, wel-
ches der Kaiſer von dem Apotheker Seba in
Amſterdam fuͤr 15,000 hollaͤndiſche Gulden er-
Zweiter Theil. H
[114] ſtand, verſchaffte dem neuen nordiſchen Mu-
ſeum den vortheilhafteſten Ruf in auswaͤrtigen
Laͤndern. Kurze Zeit nachher machte es eine
noch wichtigere Acquiſition an der vortreflichen
und in vieler Ruͤckſicht einzigen Sammlung
des beruͤhmten Ruyſch, welche fuͤr 30,000
Gulden gekauft wurde und zwey beſondere Kol-
lektionen enthielt. In der erſten befanden ſich
uͤber tauſend Stuͤcke an vierfuͤßigen Thieren,
Voͤgeln und Amphibien, außer einer unzaͤhligen
Menge Inſekten, und ein Herbarium von
einigen tauſend getrockneten Kraͤutern; die
zweyte beſtand aus den beruͤhmten anatomi-
ſchen Praͤparationen, die Ruyſch’s Namen
und ſeinen bewundernswuͤrdigen Fleiß auf die
Nachwelt gebracht haben. Zu dieſen und an-
dern, minder betraͤchtlichen, Vermehrungen,
geſellten ſich die Acquiſitionen, die man im
Lande ſelbſt machte, wo das Beyſpiel des Kai-
ſers und ſeine Befehle eine allgemeine Auf-
merkſamkeit auf die inlaͤndiſchen Merkwuͤrdig-
keiten der Natur und Kunſt erregten. Die
letzten Bereicherungen, die das Kabinet unter
ſeinem Stifter erhielt, beſtanden vorzuͤglich in
Muͤnzen und in der Sammlung mathemati-
[115] ſcher und phyſikaliſcher Inſtrumente, die Mu-
ſchenbroek beſeſſen hatte. Selbſt der Tod
des großen Mannes, ſo nachtheilig er auch in
einer andern Beziehung fuͤr das werdende In-
ſtitut ſeyn mußte, hatte die wohlthaͤtige Folge,
daß der Nachlaß des Kaiſers an Modellen und
Inſtrumenten dem Muſeum zufiel. Zu den
merkwuͤrdigſten Erwerbungen in dieſen und den
folgenden Jahren gehoͤrt die Sammlung von
Mineralien, Muſcheln und aſiatiſchen Selten-
heiten des Archiaters Areskin; eine große
Menge goldner Gefaͤße, die man in den Graͤ-
bern der Tatarn in Sibirten gefunden hatte,
und deren Gewicht uͤber 74 Pfund betrug;
endlich eine ſehr reiche Sammlung von Sel-
tenheiten aller Art, die der Doktor Meſſer-
ſchmidt waͤhrend ſeiner achtjaͤhrigen Reiſe in
Sibirien zuſammengebracht hatte. — Mit dem
Jahr 1728 begann eine neue Epoke fuͤr das
Muſeum. Die Vollendung des akademiſchen
Gebaͤudes und die Aufſtellung in demſelben
erhob es zu dem Rang einer oͤffentlichen An-
ſtalt. Eben dieſes Jahr zeichnete ſich durch
mehrere wichtige Acquiſitionen aus, unter wel-
chen eine Sammlung von tauſend Stuͤck tata-
H 2
[116] riſcher Muͤnzen, eine andere von 276 Stuͤck
Medaillen in Bronze uͤber die Begebenheiten
der Regierung Ludwigs des Vierzehn-
ten, und eine dritte von ſchwediſchen Muͤnzen
von Karlſtein und Hedlinger bemerkens-
werth ſind. Bis zum Jahr 1742 hin erhielt
das Kabinet die Wachsfigur und die Kleidungs-
ſtuͤcke Peters des Großen, die Sammlung
von Natur- und Kunſtſeltenheiten des Feld-
marſchalls, Grafen Bruͤce, aſiatiſche Merk-
wuͤrdigkeiten von den Akademikern Muͤller
und Gmelin waͤhrend der kamtſchadkiſchen
Expedition eingeſchickt u. ſ. w. — Ein ſolcher
Reichthum der ſeltenſten Schaͤtze aller Art
ſchien ein wohlgeordnetes Verzeichniß derſelben
nothwendig zu machen; die Akademie entwarf
hiezu einen Plan, der in zwey Abtheilungen
alle Natur- und Kunſtmerkwuͤrdigkeiten be-
greifen ſollte. Duͤ Vernoy und Wilde
ordneten die anatomiſchen Praͤparate; Gme-
lin, Amman und Steller das Thier- und
Pflanzenreich. Die Beſchreibung der Minera-
lien wurde von Gmelin angefangen, und
von Lomonoſſow vollendet. Krafft ordnete
die phyſikaliſchen und mathematiſchen Inſtru-
[117] mente, und Cruſius die Medaillen und an-
tiken Seltenheiten. In dem letztgenannten
Jahr erſchien endlich ein Katalog in zwey
Theilen, unter dem Titel: Muſeum Petropo-
litanum. Nach dieſem Verzeichniß enthielt
das Thierreich 2144 Stuͤck anatomiſche Praͤ-
parate, 212 vierfuͤßige Thiere, 755 Voͤgel,
900 Amphibien, 470 Fiſche, 218 Cruſtaceen
und Seethiere, ohne Inſekten und Muſcheln,
deren Anzahl ſich auf viele Tauſende belief.
Die uͤbrigen Theile des Katalogs erſchienen
im Jahr 1745. Man war im Begriff, dieſes
Verzeichniß ins Rußiſche zu uͤberſetzen und die
merkwuͤrdigſten Stuͤcke der Sammlung malen
und in Kupfer ſtechen zu laſſen, als die Feuers-
brunſt ausbrach, deren wir ſchon bey der Ge-
ſchichte der Bibliothek erwaͤhnt haben, und
wodurch das Muſeum einen Verluſt erlitt,
der zum Theil unerſetzlich war. Die Vermeh-
rungen, die es ſeitdem erhielt, konnten keine
Entſchaͤdigung fuͤr einen ſo nachtheiligen Unfall
ſeyn. Eine Sammlung chineſiſcher und tata-
riſcher Merkwuͤrdigkeiten und den Reſt der
ſebaͤiſchen Kollektion ausgenommen, waren die
uͤbrigen Acquiſitionen nur unbetraͤchtlich. Un-
H 3
[118] ter der Regierung Katharina der Zwey-
ten hat das Muſeum ſeinen Verluſt auf eine
glaͤnzende Weiſe verbeſſert. Zu den wichtigſten
Erwerbungen dieſes Zeitraums gehoͤren: eine
Sammlung amerikaniſcher Seltenheiten, die
ein ſchwediſcher Obriſter Dahlberg aus Su-
rinam mitgebracht hatte, und welche die Kai-
ſerinn fuͤr das akademiſche Kabinett kaufte;
ſie enthielt, unter mehrern, uͤber 700 in Wein-
geiſt aufbewahrte Thiere. Ferner: Denkmaͤ-
ler der Vorzeit aus den Graͤbern an den weſt-
lichen Ufern des Dnjeprs; die Mineralien-
ſammlung des beruͤhmten Bergraths Henkel,
welche uͤber 2,000 Stuͤcke enthielt; ruſſiſche
Merkwuͤrdigkeiten aller Art, die durch Sen-
dungen der reiſenden Akademiker zuſammenge-
bracht wurden; Naturprodukte, Waffen, Klei-
der und Geraͤthſchaften von den kuriliſchen
Inſeln; das Mineralienkabinett des Staats-
raths Nartow, welches fuͤr 8,000 Rubel er-
kauft wurde, und eine Menge einzelner Sel-
tenheiten, deren Aufzeichnung dieſes Regiſter
allzuſehr verlaͤngern wuͤrde.
Dieſe Hauptmomente aus der Geſchichte
eines ſo merkwuͤrdigen Inſtituts geben zum
[119] Voraus einen Begriff von dem Werth und
dem Reichthum deſſelben. So viele einzelne
Sammlungen, an denen der bewundernswuͤr-
digſte Fleiß, die groͤßte Wohlhabenheit und die
leidenſchaftlichſte Liebhaberey ſich erſchoͤpft hat-
ten, floſſen hier in Eine Schatzkammer zuſam-
men, wo ſie zum Erſtaunen und fuͤr den Un-
terricht der Mitwelt und Nachwelt in großen
Gruppen aufgeſchichtet liegen. So intereſſant
und lehrreich es iſt, mitten unter dieſen Wun-
dern der Schoͤpfung zu ſtehen, und die ſchoͤn-
ſten ſo wie die abentheuerlichſten organiſirten
Formen, die Produktionen des heiſſeſten ſo wie
des kaͤlteſten Klima um ſich her verſammelt zu
ſehen: ſo trocken und langweilig wuͤrde doch
die Herzaͤhlung, ſelbſt der merkwuͤrdigſten Ge-
genſtaͤnde, ſeyn. Ein Buch wie dieſes, das
nicht fuͤr bloße Naturforſcher geſchrieben iſt,
beruͤhrt daher nur das allgemein Intereſſante,
und ſucht durch ſummariſche Ueberſichten die
relative Vollkommenheit des Inſtituts begreif-
lich zu machen.
Der Reichthum des Kabinetts erſtreckt ſich
uͤber Gegenſtaͤnde der Natur und der Kunſt;
unſere Schilderung beginnt mit jenen, um,
H 4
[120] nach einer leichten Folge, von dem Einfachſten
zu dem Kuͤnſtlichſten uͤberzugehen.
Die Mineralienſammlung enthaͤlt
nach den neueſten Verzeichniſſen, uͤber 10,000
Stuffen, unter welchen, nach Bacmeiſter,
210 Gold- 935 Silberminern, u. ſ. w. befind-
lich waren, deren Anzahl aber jetzt betraͤchtli-
cher ſeyn muß, da die von den reiſenden Aka-
demikern eingeſchickten Stuͤcke in dieſer Angabe
nicht mit begriffen ſind. Die ganze Samm-
lung iſt nach dem Wallerius geordnet und
in zwey Zimmern aufgeſtellt, deren eines die
ruſſiſchen, und das andere die auslaͤndiſchen
Mineralien in ſich ſchließt. Unter jenen wer-
den fuͤr die merkwuͤrdigſten Stuͤcke gehalten:
zwey Stufen von reinem gediegenen Golde,
etwa 69 Dukaten ſchwer; eine große und
ſchwere Silberminer aus der Baͤreninſel; ein
Stuͤck gewachſenes Kupfer von außerordentli-
cher Groͤße, aus der oͤſtlich von Kamtſchadka
gelegenen Kupferinſel, und ein, 40 Pud ſchwe-
rer, Eiſenklumpen, der fuͤr die Naturgeſchichte
wichtig iſt, weil er den Zweifel, ob es uͤberall
gediegenes Eiſen gebe, wo nicht widerlegt,
doch ſehr unwahrſcheinlich macht. Zu den
[121] merkwuͤrdigen Nationalprodukten gehoͤren fer-
ner mehrere große und ſtarke Magneten, große
und ſchoͤne Malachiten, ſibiriſcher Lapis Lazuli,
eine Sammlung edler Kieſel, u. ſ. w. Eine
aus einheimiſchen Edelſteinen zuſammengeſetzte
Pyramide zeigt den Reichthum und die Man-
nigfaltigkeit dieſer Steingattungen, wie auf
einer Muſterkarte. Auch an auffallenden ruſ-
ſiſchen Verſteinerungen fehlt es nicht. Man
ſieht z. B. ein großes wurmſtichiges Baum-
ſtuͤck in weißen Sandſtein verwandelt, zwey
voͤllig mineraliſirte Eichenſtaͤmme von acht bis
neun Fuß im Umfange, u. ſ. w. — Unter
den auslaͤndiſchen Mineralien findet ſich eine
Maſſe von gediegen gewachſenem Golde aus
China, deren Gewicht uͤber hundert Dukaten
betraͤgt; etwas uͤber ein Pfund buchariſchen
Goldſand, in kleinen, runden, gediegenen Koͤr-
nern; eine ſieben Pfund ſchwere, in Form
eines Horns gewachſene, Maſſe reines Silber;
ein Stuͤck gediegenes Silber von ſolcher Rein-
heit, daß man aus demſelben, ohne es durchs
Feuer zu laͤutern, Muͤnzen geſchlagen hat, von
welchen eine bey dieſem ſeltenen Produkt auf-
bewahrt wird; ein verſteinerter Meduſenkopf,
H 5
[122] das Skelet eines in Schiefer eingedruͤckten Fi-
ſches von drittehalb Fuß, u. m. a.
Die großen Schaͤtze, die das Muſeum aus
dem Pflanzenreich aufbewahrt, ſind aus
den Sammlungen mehrerer beruͤhmten Bota-
niker, eines Buxbaum, Ruyſch, Sloane,
Gmelin, Steller, Meſſerſchmidt,
Heinzelmann, und durch die Einſendungen
der reiſenden Akademiker aus dem ganzen Ge-
biete des ruſſiſchen Reichs entſtanden. Trotz
des verwuͤſtenden Brandes, der dieſen Theil
des Muſeums vorzuͤglich traf, belief ſich die
Zahl der Pflanzen ſchon zu Baemeiſters
Zeiten (1775) auf 16,000. Die Menge ſelt-
ner einheimiſcher Produkte aus dieſem Na-
turreich, welche mit der groͤßten Schwie-
rigkeit aus Steppen und auf Gebirgen, an
den Ufern des Eismeers und auf den Grenz-
alpen Sibiriens zuſammengeſucht ſind, giebt
dieſer Sammlung einen Vorzug, den ſie mit
keiner andern theilt, und deſſen Werth ihr nur
von den vorzuͤglichſten und auserleſenſten Ka-
binetten in Europa ſtreitig gemacht werden kann.
Je groͤßer indeſſen dieſer Vorzug iſt, um deſto
dringender wird das Beduͤrfniß einer beſſern
[123] Anordnung und eines neuen Verzeichniſſes,
welchen das Publikum ſchon lange entgegen
ſieht.
Die Sammlungen aus dem Thierreich
enthalten faſt alles, was in Kabinetten fuͤr
ſelten und merkwuͤrdig gilt, und vieles, was
nirgend als hier geſucht werden darf. Unter
dieſe letztere Bezeichnung gehoͤrt ſogleich die
in ihrer Art einzige Sammlung der Ruyſchi-
ſchen anatomiſchen Praͤparate, die in
achtzehn Glasſchraͤnken, nach der eignen An-
ordnung ihres Urhebers, aufbewahrt wird.
So wenig Gegenſtaͤnde dieſer Art zu den all-
gemein unterhaltenden gehoͤren, ſo unverzeih-
lich waͤre es doch, uͤber einen wiſſenſchaftlichen
Schatz von ſo hohem Werth gaͤnzlich zu ſchwei-
gen. Einen Theil dieſer außerordentlichen Kol-
lektion bilden die zur Erlaͤuterung der Gene-
ration des Menſchen dienenden Stuͤcke. Sie
beſtehen aus einer Folge von hundert und zehn
Embrionen, von der Groͤße eines Aniskerns
an bis zum voͤllig ausgebildeten Kinde. Eben
ſo merkwuͤrdig fuͤr den Kenner und eben ſo
einzig in ihrer Gattung ſind die Praͤparate
des Auges, der Pia Mater, der kortikaliſchen
[124] und der markigten Subſtanz, in denen Ruyſch
die Kunſt der Injektion zu der erſtaunenswuͤr-
digſten Vollkommenheit gebracht hat *). Die
[125] Sammlung von widernatuͤrlichen, im menſch-
lichen Koͤrper entſtehenden Dingen, als Wuͤr-
mer, Polypen, Haare, u. ſ. w. belaͤuft ſich auf
200 Stuͤcke. Eben ſo reichhaltig iſt die Folge
von menſchlichen Monſtren, mit deren Be-
ſchreibung und Erlaͤuterung der Akademikus
Wolf, ein Gelehrter von anerkanntem Ver-
dienſt im Fach der Anatomie, ſchon ſeit meh-
rern Jahren her beſchaͤftigt iſt.
Die Anzahl der im Muſeum vorhandenen
vierfuͤßigen Thiere, die theils ausge-
ſtopft ſind und theils in Weingeiſt aufbewahrt
werden, geht uͤber 500 hinaus. Unter den
auslaͤndiſchen Thiergattungen finden ſich die
ſeltenſten Arten des Affen- und Meerkatzenge-
ſchlechts, die Lanzenfledermaus, die fliegende
Katze von Ternate, die Beutelratte, Panzer-
thiere mit einem, mit ſieben und neun Schil-
den, der Ameiſenfreſſer, die mehreſten großen
Raubthiere, ein 28½ Fuß langer und 16½ Fuß
hoher Elephant, ein Foetus dieſes Thiers in
Weingeiſt, etwa einen Fuß groß, unter einer
Menge anderer, eben ſo merkwuͤrdiger Thiere,
die hier nicht genannt werden koͤnnen, ohne
dieſe Skizze einer ſyſtematiſchen Nomenklatur
[126] aͤhnlich zu machen. Vorzuͤglich intereſſant aber
ſind die Thiere des aſiatiſchen Rußlands und
der angraͤnzenden Laͤnder, weil ſie zum groͤßern
Theil, außer dieſem Kabinett, nirgend ange-
troffen werden. Zu dieſer Rubrik gehoͤren der
Dſchigittei, ein wildes, ſchnelles, dem Maul-
eſel aͤhnliches Thier; der thibetiſche Buͤffelochs
mit Pferdehaaren, aus welchen die Tuͤrken
ihre Roßſchweife bereiten; der ſibiriſche Stein-
bock; der weiſſe Baͤr des Eismeers, und viele
andere. — Von den vorhandenen Meerthie-
ren wollen wir nur den weiſſen Seehund des
Eismeers und zwey Foͤtus der Seekuh bemer-
ken, die in Weingeiſt aufbewahrt werden, und
von welchen eins die Laͤnge eines Fingers hat
und das andere etwa einen Fuß groß iſt. —
Zu den Merkwuͤrdigkeiten dieſer Abtheilung
koͤnnen auch die Knochen und Skelette ſeltner
oder unbekannter Thiere gerechnet werden.
Den wichtigſten Theil dieſer Sammlung ma-
chen die ſogenannten Mammontsknochen, oder
die Ueberbleibſel großer Thiere, die man in
Sibirien und andern Gegenden von Rußland
unter der Erde findet, und deren Daſeyn
Pallas mit eben ſo viel Scharfſinn als Ge-
[127] lehrſamkeit aus einer allgemeinen Ueberſchwem-
mung erklaͤrt. Das Muſeum beſitzt den Hirn-
ſchaͤdel eines Rhinoceros, 33 Zoll lang, und
11 Zoll 9 Linien breit; den Hirnſchaͤdel eines
itzt in allen Welttheilen unbekannten ungeheu-
ren Buͤffelochſen, von 21 Zoll Laͤnge und 13
Zoll 11 Linien Breite.
An ausgeſtopften Voͤgeln ſind uͤber 1,200
vorhanden. Man ſieht hier den Strauß, den
Kaſoar, Paradiesvoͤgel, Colibris, die ſurina-
miſche Goldſchneppe und viele andere, die
durch Groͤße, Schoͤnheit oder Seltenheit merk-
wuͤrdig ſind. Der Reichtum einheimiſcher
Voͤgel iſt noch groͤßer. Unter den Raubvoͤgeln
findet ſich auch der mongoliſche Jelloo oder
baͤrtige ſibiriſche Geyer, deſſen ausgebreitete
Fluͤgel neun Fuß betragen. Die Sammlung
von Waſſervoͤgeln, unter welchen ſich viele
nordiſche und kamtſchadkiſche, mehrere Alba-
tros des Oceans, der weiſſe ſibiriſche Kranich,
u. a. befinden, gehoͤrt zu den eigenthuͤmlichen
Vorzuͤgen des Kabinetts.
Die Sammlung von Amphibien wird
in 886 Flaſchen in Weingeiſt aufbewahrt;
wozu noch ein Reichthum von 437 Schlangen
[128] gehoͤrt. Aus der Menge ſeltner und koſtbarer
Gegenſtaͤnde wollen wir hier nur folgende an-
fuͤhren: die knorplige oder haͤutige Schildkroͤte;
die Pipa, durch ihre von der gewoͤhnlichen ab-
weichende Erzeugungsart ſo bekannt als merk-
wuͤrdig; ein Krokodill welches noch halb im
Ey ſteckt; die Sauvegarde, aus dem Geſchlecht
der Eidechſen, die in dem Ruf ſteht, daß ſie
den Menſchen durch ihr Geſchrey von der An-
naͤherung des Krokodills benachrichtigt; das
Kameleon, dem die Sage das Vermoͤgen zu-
ſchreibt, ſeine Farbe zu aͤndern. Unter den
Schlangen findet ſich die Boa, Naja, die
Klapperſchlange u. a.
Von den vorhandenen Fiſchen, deren
Anzahl uͤber 400 betraͤgt, nennen wir nur den
Krampffiſch, der durch ſeine elektriſche Kraft
die ihn beruͤhrenden Koͤrper betaͤubt; den
Meerwolf; die Mola, deren ganzer Koͤrper
Kopf zu ſeyn ſcheint; verſchiedene Gattungen
fliegender Fiſche.
Unter den Inſekten, welche 332 Flaſchen
fuͤllen, iſt eine Folge von 37 Skorpionen, eine
andere von 40 Skorpionſpinnen und Spinnen
und eine Anzahl von Taranteln merkwuͤrdig. —
Die
[129] Die Wuͤrmer und Zoophyten ſind weder ſehr
zahlreich noch gut geordnet.
Die zweyte Abtheilung des Muſeums ent-
haͤlt Kunſtſachen, Alterthuͤmer, In-
ſtrumente und Modelle, unter denen ſich
viele ſeltne und koſtbare Stuͤcke befinden, de-
ren genauere Beſchreibung, wenn ſie uͤberall
hieher gehoͤrte, fuͤr die mehreſten Leſer nicht
ohne Intereſſe ſeyn wuͤrde. Um dieſe Schil-
derung nicht zu einer unverhaͤltnißmaͤßigen Weit-
taͤuftigkeit zu bringen, koͤnnen wir nur einige
der merkwuͤrdigſten Gegenſtaͤnde einem fluͤchti-
gen Ueberblick unterwerfen.
Unter den Verzierungen, mit welchen die
Saͤle ausgeſchmuͤckt ſind, in denen ſich die
Kunſtſachen befinden, verdienen die Origi-
nalgemaͤlde von Rembrand, Huchten-
boug, Lingelbach, und die Miniaturmale-
reyen der beruͤhmten Merian bemerkt zu
werden. — Man ſieht hier mehrere koſtbare
Becher und Trinkgeſchirre. Eins derſel-
ben, welches der Koͤnig von Daͤnemark
der Kaiſerinn Katharina der Erſten
uͤberreichen ließ, iſt ganz von Gold und vor-
zuͤglich ſchoͤn gearbeitet. Der Deckel deſſelben
Zweiter Theil. J
[130] ruht auf drey blau emaillirten Delphinen, und
rund herum ſind viele antike und moderne,
von den geſchickteſten Kuͤnſtlern geſchnittenen
Steine angebracht *). — Merkwuͤrdig iſt auch
das Modell eines Springbrunnens
auf einem der oͤffentlichen Plaͤtze in Rom. Es
iſt von Silber und wiegt ſieben Pfund. Die
Dekoration dieſes Brunnens gilt fuͤr eins der
groͤßten Meiſterſtuͤcke in der Art. Sie wird
durch einen großen, an vier Stellen durchgra-
benen Felſen gebildet, auf welchem die Sta-
tuͤen der vier groͤßten Fluͤſſe des Erdbodens an-
gebracht ſind. Auf der Spitze des Felſens er-
hebt ſich ein Obelisk von rothem Granit mit
Hieroglyphen bedeckt, welchen der Kaiſer Ka-
rakalla nach Rom bringen, und der Papſt
Innozenz der Zehnte auf den Spring-
brunnen ſtellen ließ. — Unter vielen vorhan-
denen Dolchen wird einer, wegen ſeiner
ſchoͤnen antiken Skulptur, als ein Denkmal
des alten Griechenlands betrachtet. Das Ge-
[131] faͤß iſt von orientaliſchem Agath, der Knopf
zeigt das Urtheil des Paris, die Scheide ſtrei-
tende Reiter und das Ende derſelben Amors
Spiele.
Merkwuͤrdiger durch ihren hiſtoriſchen Ka-
rakter als alle dieſe Koſtbarkeiten, ſind die al-
ten Denkmaͤler aus den ſibiriſchen
Graͤbern, die man das ruſſiſche Her-
kulanum nennen koͤnnte. Dieſe Ueberbleibſel
eines der maͤchtigſten Voͤlker ſind groͤßtentheils
von gediegenem Golde und beſtehen in Be-
chern, Gefaͤßen, Diademen, militairiſchen Eh-
renzeichen, Panzern, Schilden, Geſchmeide,
Goͤtzenbildern und Abbildungen verſchiedener
Thiere. Der Geſchmack und die Schoͤnheit,
die in einigen dieſer Stuͤcke herrſchen, fuͤhren
auf die Muthmaßung, daß ſie von auswaͤrti-
gen Kuͤnſtlern in Gengiskhans und ſeiner
Nachfolger Dienſten verfertigt worden ſind.
Unter den vielen Modellen, welche das
Muſeum bewahrt, ſind vorzuͤglich die aus dem
Kabinett Peters des Großen merkwuͤrdig.
Man ſieht hier das Modell eines Kriegsſchiffs
von 120 Kanonen, ein anderes von einer Ga-
leere mit 25 Ruderbaͤnken. — Von den uͤbri-
J 2
[132] gen, uͤberall zerſtreuten Kunſtſachen nenne
ich nur noch das vortrefflich gearbeitete Schrei-
bepult, deſſen Beſchreibung der vorhergehende
Abſchnitt enthaͤlt, und das mechaniſche Kunſt-
werk eines ruſſiſchen Kuͤnſtlers. Dieſes letztere
beſteht in einer Repetiruhr, von der Geſtalt
und Groͤße eines Eyes. Das Innere derſel-
ben ſtellt das Grab Chriſti vor, welches durch
einen Stein geſchloſſen und von zwey Waͤch-
tern bewacht iſt. Wenn die Uhre aufgezogen
wird, erſcheinen die Engel, die Waͤchter fallen
nieder, der Stein verſchwindet, die heiligen
Frauen treten hervor und man hoͤrt die Me-
lodie eines bekannten ruſſiſchen Kirchenliedes,
welches in der erſten Oſternacht geſungen wird.
Dieſes Meiſterſtuͤck mechaniſcher Kunſt iſt von
ſeinem Erſinder, ohne alle Anleitung, und
ohne den Gebrauch der erforderlichen Inſtru-
mente, in einem Zeitraum von vier Jahren zu
Stande gebracht.
Eine lange Gallerie, welche um einen der
Saͤle herumgeht, enthaͤlt eine Menge orien-
taliſcher Kleidungsſtuͤcke, Putzwerk und
Geraͤthſchaften. Man ſieht hier Chineſen,
Perſer, Morduanen, Samojeden, Oſtiaken,
[133] Kirgiſen, Burjaͤten, Tunguſen, Jakuten, Ta-
taren, Mongolen, Tſchuktſchen, Kurilen, Aleu-
ten, ſibiriſche Zauberer, in Lebensgroͤße, mit
ihren Nationalphyſiognomieen, und in ihrem
eigenthuͤmlichen Koſtume. „Das Auge, ſagt
Bacmeiſter, vergnuͤgt ſich an dem verſchie-
denen Geſchmack aller dieſer Voͤlkerſchaften, der
theils durch Beduͤrfniß, theils durch bloße Fan-
taſie beſtimmt zu ſeyn ſcheint. Die Chineſen
und Perſer kleiden ſich in Atlas und Goldſtoff,
die Samojeden huͤllen ſich in die Felle wilder
Thiere, die Tataren ſchmuͤcken ſich mit Perlen
und Nippes, die Kamtſchadalen tragen Pelze
von Waſſervoͤgeln, die Schamanen oder Zau-
berer ſind mit Eiſen behangen, die chineſiſchen
Frauenzimmer tragen Schuhe die nur ſechs
Zoll lang ſind, und die Kirgiſinnen Stiefel
mit Hufeiſen und Naͤgeln beſchlagen. Nichts
iſt ſchoͤner, als die Seidenarbeiten und Naͤthe-
reyen der Chineſen; man kann aber auch der
Induſtrie ſolcher Voͤlker ſeine Bewunderung
nicht verſagen, die ſich ſtatt der Seide und
der Nadeln, mit Thierſehnen und Fiſchgraͤten
behelfen, und damit Arbeiten verfertigen, die
keiner Broderie etwas nachgeben.“ — Und
J 3
[134] nun noch die Muſterkarte von Phyſiognomien!
Von der letzten Grenze der ſchoͤnen Bildung
nach unſern Begriffen, durch alle Stufen des
Abentheuerlichen, Verzerrten, Stupiden, Thie-
riſchen, bis zum Gipfel des Haͤßlichen hinan,
findet man hier das Menſchenantlitz modifizirt.
Lange und runde Koͤpfe, platte und aufgeſtutzte
Naſen, Schweins- und Kalbsaugen, baͤrtige
und unbaͤrtige Kinnbacken wechſeln in grotesker
Mannigfaltigkeit ab.
In einem der Gewoͤlbe findet man Klei-
der, Zeuge und Geraͤthſchaften aus Otaheite
und den Suͤdſeeinſeln; einen kamtſchadaliſchen
Schlitten mit allem was zum Anſpann der
Hunde gehoͤrt, und aͤhnliche Merkwuͤrdigkeiten
aus entfernten oder bisher unbekannten Laͤn-
dern.
Eine der intereſſanteſten Parthieen des Mu-
ſeums fuͤr jede Gattung von Zuſchauern iſt un-
ſtreitig das Kabinett Peters des Groſ-
ſen. Das vollkommen aͤhnliche, vom Grafen
Raſtrelli in Wachs pouſſirte Bild des Kai-
ſers iſt hier in ſitzender Stellung unter einem
Thronhimmel befindlich. Alle Gegenſtaͤnde,
die es umgeben, haben eine Art hiſtoriſcher
[135] Merkwuͤrdigkeit. Die Peruͤke iſt aus den
Haaren des Kaiſers verfertigt; das Kleid von
blauem Gros de Tours iſt das naͤmliche, welches
er am Kroͤnungstage ſeiner Gemahlinn getra-
gen hat, und die Stickerey an demſelben iſt
die eigenhaͤndige Arbeit dieſer Fuͤrſtinn. Der
Seſſel iſt eben der, deſſen ſich Peter bey
feyerlichen Gelegenheiten zu bedienen pflegte. —
In eben dieſem Zimmer findet man auch ſeine
voͤllige Uniform des preobraſchenskiſchen Gar-
deregiments, ſeinen Ringkragen, ſeine Schaͤrpe,
ſeinen Degen, den mit einer Kugel durchſchoſ-
ſenen Hut, den er in der pultawiſchen Schlacht
getragen hat, und verſchiedene andere Klei-
dungsſtuͤcke, die durch ihren Geſchmack und
ihre Simplicitaͤt die Denkungsart des Kaiſers
bezeichnen. Noch karakteriſtiſcher ſind die
Denkmaͤler dieſes großen Mannes, die in dem
daran ſtoßenden Gemach aufbewahrt werden.
Hier ſieht man eine Drehbank und verſchie-
dene Inſtrumente und mechaniſche Werkzeuge,
deren ſich der Kaiſer in ſeinen Erholungsſtun-
den bedient hat. Unter einer Menge von ihm
ſelbſt verfertigter Kunſtſachen zeichnet ſich ein groſ-
ſer Kronleuchter von Elfenbein aus. Eine Eiſen-
J 4
[136] barre, von ihm ſelbſt geſchmiedet, als er die-
ſes Gewerbe in Gang zu bringen ſuchte, be-
duͤrfte der darauf befindlichen Inſchrift nicht,
um den Zuſchauer zum Nachdenken uͤber die
ungeheure Thaͤtigkeit und den allumfaſſenden
Geiſt des unſterblichen Fuͤrſten zu leiten.
Unter dem reichen Vorrath von Inſtru-
menten und wiſſenſchaftlichen Huͤlfsmitteln
verdient zuerſt der beruͤhmte gottorpiſche
Globus eine Erwaͤhnung. Dieſes merkwuͤr-
dige Werk, von welchem jetzt beynahe nur der
Name exiſtirt, ward im Jahr 1654 auf Befehl
des Herzogs von Hollſtein unter der Aufſicht
des Olearius und durch Johann Buſch
angefangen und nach zehn Jahren vollendet.
Im Anfange dieſes Jahrhunderts erhielt ihn
Peter der Große zum Geſchenk, und ſpaͤ-
terhin ward er der Akademie uͤbergeben. Bey
dem großen Brande litt er ſo ſehr, daß faſt
nichts als das eiſerne Gerippe uͤbrig blieb.
Die Akademie ließ ihn von neuem bekleiden
und alle ſpaͤtern Entdeckungen darauf verzeich-
nen. Jetzt hat er 14 Fuß im Durchmeſſer.
Seine Auſſenſeite ſtellt eine Erdkugel, und
ſeine innere ein Planetarium vor. Man ſteigt
[137] auf einer Treppe hinein und findet daſelbſt
Sitze und einen Tiſch. Unter dieſem iſt eine
Schraube ohne Ende angebracht, vermittelſt
welcher man den Globus drehen und dadurch
das Aufgehen der Sterne, ihren Durchgang
durch den Meridian und ihren Untergang be-
merken kann. Er ſteht in einem eignen dazu
erbauten Hauſe auf dem Platz hinter den aka-
demiſchen Gebaͤuden.
Um den Verluſt des gottorpiſchen Globus
zu erſetzen, erhielt die Akademie, kurz nach
dem ungluͤcklichen Brande, eine kupferne
Erdkugel von 7 Fuß im Durchmeſſer aus
Moskau, den die Erben des bekannten Geo-
graphen Bleau verfertigt, und die General-
ſtaaten dem Zaren Alexei Michailowitſch
geſchenkt hatten. Er wird in dem Gewoͤlbe
unter der Sternwarte bewahrt. — Zu den
vorzuͤglichſten Stuͤcken dieſer Art gehoͤrt noch
ein vortreffliches Planetenſyſtem, deſſen Me-
chanismus ſo vollkommen als moͤglich iſt; eine
Himmelskugel von vergoldetem Kupfer mit ei-
ner inwendig angebrachten Repetiruhr; eine
Erdkugel von Silber, und eine andere, die als
J 5
[138] das aͤlteſte ruſſiſche Produkt dieſer Gattung
aufbewahrt wird.
Der phyſikaliſche Apparat enthaͤlt,
außer den gewoͤhnlichen und unentbehrlichen
Sachen, ein Tſchirnhauſiſches Brennglas, deſ-
ſen Hitze im Brennpunkt die Hitze der Son-
nenſtralen in freyer Luft um 1384mal uͤber-
trifft. Bey den Verſuchen, die man in
Gegenwart der Kaiſerinn Anna anſtellte,
ſchmolzen große Stuͤcke Zinn und Bley in
dem Augenblick, da ſie den Brennpunkt be-
ruͤhrten, kleine Silbermuͤnzen kamen in Zeit
von einer Minute in Fluß, Schieferſtuͤcke wur-
den in zwey bis drey Minuten in Glas ver-
wandelt, u. ſ. w. Man findet hier ferner ei-
nen wegen ſeiner Groͤße und Wirkung merk-
wuͤrdigen metallenen Brennſpiegel; eine ſehr
große, zu den mannigfaltigſten Verſuchen ein-
gerichtete Elektriſirmaſchine; ein ovales Elektro-
phor nach Volta’s Angabe, deſſen untere
Scheibe 9 Fuß lang und 4½ Fuß breit iſt,
und welches alſo an Groͤße vielleicht alle vor-
handene uͤbertrifft. — Unter den Geraͤth-
ſchaften des Obſervatoriums befindet ſich ein
Dollondiſcher Tubus von 15 Fuß Laͤnge,
[139] ein vorzuͤglicher Mauerquadrant, und mehrere
koſtbare Inſtrumente.
Die letzte Abtheilung des Muſeums be-
greift das Muͤnz- und Medaillenkabi-
nett. Die Anzahl der conſulariſchen oder al-
ten roͤmiſchen Medaillen belaͤuft ſich, die Dou-
bletten mitgerechnet, auf 900 Stuͤck. Es giebt
nicht uͤber 178 edle roͤmiſche Familien, mit de-
ren Namen Muͤnzen bezeichnet ſind, und das
Muſeum beſitzt deren 124. Der griechiſchen
Medaillen ſind gegen 300. Die Sammlung
der Imperatoren oder Kaiſermedaillen betraͤgt
mit den Doubletten uͤber 6,000 Stuͤck. Unter
dieſen findet ſich eine große Medaille in Bronze
von Otho, deren Daſeyn haͤnfig beſtritten
worden, und die nach dem Urtheil der Ken-
ner uͤber allen Preis iſt; ein Pertinax und
ein Pescenius Niger, in Silber und
Kupfer, beyde ſehr ſelten, u. a. m. Die
neuern Medaillen, welche nur mit dem funf-
zehnten Jahrhundert anfangen, betragen 1934
Stuͤck.
Einen ganz abgeſonderten Theil dieſer
Sammlung bilden die ruſſiſchen Muͤnzen
und Medaillen. Sie ſind in neun Klaſſen ge-
[140] theilt; acht derſelben machen die Muͤnzen ohne
alle Legende, mit bloß tatariſcher, mit tatari-
ſcher und ruſſiſcher, und mit bloß ruſſiſcher
Inſchrift, bis auf Peter den Großen;
ihre Anzahl betraͤgt gegen 9,000 Stuͤck. Die
nennte Klaſſe begreift die Muͤnzen und Me-
daillen von jener Epoche bis jetzt, und enthaͤlt
gegen 200 goldene und ſilberne Medaillen *).
— Auf die ruſſiſchen Muͤnzen folgen die puni-
ſchen, gothiſchen, chineſiſchen, japaniſchen und
indiſchen, unter welchen ſich viele uͤberaus ſel-
tene finden. Ein eigenthuͤmlicher Vorzug die-
ſes Kabinetts aber ſind die arabiſchen und ta-
[141] tariſchen Muͤnzen der Kalifen von Samarkand,
Anderabe, Schaſch; der bolgariſchen, krimmi-
ſchen und aſowiſchen Khane, der goldnen Hor-
de, u. ſ. w. Alle dieſe Muͤnzen zuſammen
betragen uͤber 8,000 Stuͤck.
Ein ſo trocknes Regiſter von Merkwuͤrdig-
keiten der verſchiedenſten Art wird den groͤßern
Theil meiner Leſer wahrſcheinlich mehr ermuͤ-
det als unterhalten haben; aber ich war dem
kleinern derſelben eine kurze Notiz des wichtig-
ſten wiſſenſchaftlichen Depots in Rußland,
ſelbſt auf Koſten des allgemeinern Intereſſe,
ſchuldig. Einige Bemerkungen uͤber die aͤußere
Einrichtung des Muſeums moͤgen dieſe Rubrik
beſchließen.
Das Lokale iſt geraͤumig und gut erhellt;
eine Reihe praͤchtiger Saͤle in dem mittlern
akademiſchen Gebaͤude iſt der Aufbewahrung
dieſes koſtbaren Schatzes gewidmet. In der
Anordnung hat man mehr dem Beduͤrfniß des
Raums und dem gefaͤlligen Anblick, als einer
ſyſtematiſchen Eintheilung nachgegeben. Fuͤr
die ſorgfaͤltige Erhaltung der vorhandenen Sa-
chen buͤrgt der Bibliothekar der Akademie, wel-
cher zugleich die Aufſicht uͤber das Muſeum
[142] fuͤhrt. Bey der Eroͤfnung deſſelben mußte das
Publikum durch Bewirthungen herbeygelockt
werden; itzt iſt der Zufluß der Neugierigen ſo
groß, daß man fuͤr noͤthig gefunden hat, die
jedesmalige Erlaubniß des Direktors zur Be-
dingung des Eintritts zu machen. Da dieſe
indeſſen ohne große Schwierigkeit erhalten wer-
den kann, ſo wird es nicht leicht irgend einen
Fremden oder Einheimiſchen geben, der ſich
mit Recht uͤber dieſe Einrichtung beklagen
duͤrfte.
Nach der Muſterung einer ſo großen und
vorzuͤglichen Anſtalt kann die Ueberſicht uͤber
die oͤffentlichen Sammlungen der zweyten Gat-
tung kein lebhaftes Intereſſe erwecken; und
doch finden ſich auch unter dieſen Schaͤtze und
Seltenheiten, die man oft in den praͤchtigſten
Kollektionen vergebens ſucht. Unter dieſe Ka-
tegorie gehoͤrt ſogleich die inſtruktive Samm-
lung des beruͤhmten Arztes Lieberkuͤhn,
welche jetzt in dem anatomiſchen Kabi-
nette des med ziniſchen Kollegiums
aufbewahrt wird. Sie enthaͤlt eine Folge von
vortrefflich gearbeiteten anatomiſchen Praͤpara-
ten und in Weingeiſt aufbewahrten Sachen,
[143] ferner den ganzen Apparat chirurgiſcher und
mikroskopiſcher Inſtrumente, den der Samm-
ler beſaß. — Nicht minder merkwuͤrdig in
ſeiner Art iſt das Mineralienkabinett des
Bergkadettenkorps, welches von Kennern
fuͤr das erſte und vollſtaͤndigſte im ruſſiſchen
Reiche gehalten wird. Es enthaͤlt uͤber 36,000
Stufen, die, außer den im Lande geſammelten
Mineralien, durch den Ankauf ſehr vorzuͤgli-
cher auslaͤndiſcher Kabinette zuſammengebracht
ſind. Eben dieſe Anſtalt beſitzt auch eine
nennenswuͤrdige Sammlung phyſikaliſcher und
mathematiſcher Inſtrumente zu unterirrdiſchen
Meſſungen, Modelle von Maſchienen, eine
Probierkammer, ein kleines Obſervatorium,
und, was die neugierigen Fremden mehr als
alles dieſes herbeyzieht, ein kuͤnſtliches Ge-
birge, mit Schachten, Geſenken, Strecken
Stollen, deſſen Anlage groß genug iſt, um je-
dem Layen der Bergbaukunde einen anſchauli-
chen und befriedigenden Begriff von dem Prak-
tiſchen dieſer Wiſſenſchaft zu verſchaffen.
Ich uͤbergehe mehrere kleinere Sammlun-
gen oͤffentlicher Inſtitute, um nur noch des
großen Modellkabinetts zu erwaͤhnen,
[144] welches ſich in einem beſonders dazu erbauten
Hauſe neben der noch unvollendeten marmor-
nen Iſaakskirche befindet. Man ſieht hier
nicht nur die ſauber gearbeiteten Modelle der
praͤchtigſten ſchon vorhandenen oder projektir-
ten Monumente der Reſidenz, ſondern auch ei-
ne Sammlung der koſtbarſten ruſſiſchen Stein-
arten in polirten Probetafeln. — Auch das
Modellkabinett der oͤkonomiſchen Geſellſchaft iſt
bemerkenswerth, weil es viele neue, auswaͤrtige
und einheimiſche Erfindungen zum Behuf der
Landwirthſchaft und Haushaltung enthaͤlt.
Eine der reichſten und auserleſenſten Samm-
lungen, das kaiſerliche Muſeum, in der
Eremitage, habe ich bis itzt nicht genannt, weil
ſie weder zu den oͤffentlichen noch Privatan-
ſtalten gerechnet werden kann. Von den Merk-
wuͤrdigkeiten dieſes, wie ſich ohnehin voraus-
ſetzen laͤßt, aͤußerſt vortreflichen Kabinetts ſind
wenig Data im Publikum vorhanden. Die
fluͤchtige Durchſicht, zu welcher man in den
Sommermonaten ſehr leicht gelangen kann,
gewaͤhrt, bey der Menge von ſeltnen Gegen-
ſtaͤnden aller Art, nur eine ſehr allgemeine und
unvollkommene Kenntniß, ſelbſt wenn man dieſe
Beſu-
[145] Beſuche oft wiederholt. Die Naturallenſamm-
lung erhielt ihre vorzuͤglichſte Grundlage durch
das in allen drey Naturreichen gut beſetzte
Kabinett des beruͤhmten Pallas, welches die
Kaiſerinn fuͤr 20,000 Rubel kaufte. Die
Sammlung von Antiken, Kunſtſachen und
Koſtbarkeiten fuͤllt einen großen mit Schraͤnken
beſetzten Saal; ihre Anſicht wird nur durch
die Glasthuͤren geſtattet. Von der Idee des
unermeßlichen Werths und dem Glanz dieſer
Gold- und Edelſteinmaſſen geblendet, kehrt
man gewoͤhnlich ohne Gewinn fuͤr den Zweck
ſeines Beſuches zuruͤck. Die Kupferſtichſamm-
lung enthaͤlt uͤber 30,000 Blaͤtter von den
groͤßten und vorzuͤglichſten Meiſtern. Zu den
Sammlungen der Kaiſerinn gehoͤrt auch ein
Muͤnz- und Medaillen-, und ein Gemmen-
und Paſtenkabinett, deren Bereicherung Ka-
tharina ſich mit der Sorgfalt einer Kunſt-
liebhaberinn und mit kaiſerlichem Aufwande
angelegen ſeyn laͤßt. Wenn der Genius des
ruſſiſchen Hauſes dieſe edle Liebe fuͤr Kunſt und
Wiſſenſchaft auf dem Throne erblich macht, ſo
werden die Kenner des Alten und Schoͤnen,
ſtatt nach Rom und Griechenland zu wandern,
Zweiter Theil. K
[146] bald nach dem nordiſchen Palmyra eilen, um
ſich den Beweis zu holen, daß das Feuer zu
welchem die goͤttlichen Muſen begeiſtern, auch
unter Schnee und Eis nicht erliſcht.
Wenn etwas dieſen Beweis verſtaͤrken kann,
ſo iſt es das Beyſpiel der ruſſiſchen Großen.
In keinem Lande vielleicht giebt es ſo leiden-
ſchaftliche Sammler als hier. Aber eben die-
ſer allzugroße Eifer, ſtatt die Anzahl und Voll-
kommenheit ſolcher Privatſammlungen zu
vermehren, wird ihrer Dauer nicht ſelten nach-
theilig, wenn das, bey aller Groͤße des Reich-
thums ihrer Beſitzer, oft ſteigende Mißver-
haͤltniß der Koſtbarkeit die Aufopferung derſel-
ben erheiſcht. Man findet daher wenige Fa-
miliendepots, wie in andern Laͤndern, wo koſt-
bare Privatſammlungen von einer Generation
auf die andere forterben, und ſelbſt, wenn ſie
durch Zufall oder Erloͤſchung des Stammes
in fremde Haͤnde uͤbergehen, noch den Namen
ihrer urſpruͤnglichen Sammler und Beſitzer
verewigen helfen. Zu den merkwuͤrdigſten jetzt
in der Reſidenz beſtehenden Kabinetten dieſer
Art moͤchten etwa folgende gehoͤren. Das
Muſeum des Grafen Iwan Tſcherni-
[147] ſchew, Vicepraͤſidenten der Admiralitaͤt, eines
Herrn deſſen Reiſen, deſſen Liberalitaͤt und
Kunſtliebhaberey ſeinen Namen in den kulti-
virten Laͤndern von Europa allgemein bekannt
gemacht haben. Der Plan ſeines Kabinetts
iſt faſt eben ſo ausgedehnt, als der Inhalt
deſſelben reichhaltig iſt. Gemaͤlde, Kupferſtiche,
Werke der Skulptur; Antiken, geſchnittene
Steine, Kunſtſachen und Erfindungen; In-
ſtrumente, Seekarten, Modelle der zum See-
weſen gehoͤrigen Dinge — von allem dieſem
findet man einen ausgeſuchten und zum Theil
ſehr koſtbaren Vorrath. Die Gefaͤlligkeit des
Beſitzers, jedem geſitteten Menſchen die Durch-
ſicht ſeines Muſeums zu geſtatten, iſt dem
Aufwande gleich, mit welchem er dieſe Schaͤtze
groͤßtentheils ſelbſt zuſammengebracht hat. —
Eben ſo bekannt durch ſeine Liberalitaͤt iſt der
Graf Stroganow, deſſen Sammlungen in
einer andern Ruͤckſicht eben ſo merkwuͤrdig ſind.
Sie erſtrecken ſich hauptſaͤchlich uͤber Produkte
der Natur; auſſer einem reichen Mineralien-
kabinett iſt vorzuͤglich eine Kollektion von ana-
tomiſchen Praͤparaten der Erwaͤhnung werth;
Kunſtſachen, Gemaͤlde, Kupferſtiche, als die
K 2
[148] allgemeinſten Gegenſtaͤnde der Liebhaberey, ſind
auch hier nicht vergeſſen. — In den Kabi-
netten des Grafen Alexei Raſumowski
und des Fuͤrſten Galizuͤn finden ſich beſon-
ders Mineralien; letzterer hat ſeine ohnehin
ſchon reiche Sammlung vor nicht langer Zeit
durch die Kollektion des Generals von Soi-
monow um den Preis von 20,000 Rubeln
vermehrt. Die Olſufjew’ſche Sammlung
von Kupferſtichen wird, naͤchſt der kaiſerlichen,
fuͤr die zahlreichſte und auserleſenſte gehalten.
— Ein laͤngeres Regiſter wuͤrde hoͤchſtens nur
Reiſenden zu Statten kommen; die Leſer die-
ſes Buchs finden in den angefuͤhrten Beyſpielen
Beweiſe genug fuͤr die Behauptung, daß die
Kuͤſte des finniſchen Meerbuſens kein ſo un-
fruchtbarer Boden fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft
iſt, als ein verjaͤhrtes Vorurtheil in Deutſch-
land den großen Haufen glauben macht.
Zu den Huͤlfsmitteln der Gelehrſamkeit ge-
hoͤren endlich noch die botaniſchen Gaͤr-
ten. St. Petersburg zaͤhlt ihrer zwey von
der oͤffentlichen Gattung, die der Akademie
der Wiſſenſchaften und dem mediziniſchen Kol-
legium anvertraut ſind. Die oͤkonomiſche Ge-
[149] ſellſchaft geht mit dem Plane um, ebenfalls
einen anzulegen. Unter mehreren Privatan-
ſtalten der Art zeichnete ſich beſonders der
Garten des Kollegienrath und Akademikus Pal-
las durch ſeinen Reichthum an fremden und
ſeltnen einheimiſchen Pflanzen aus, der aber
nun wol, ſeit ſeiner Abreiſe von der Reſidenz,
andern Beſitzern zufallen duͤrfte.
Um uns voͤllig dem Ziele zu naͤhern, wel-
ches uns die Ueberſchrift des gegenwaͤrtigen
Abſchnitts vorſteckt, bleibt uns noch die Schil-
derung des Zuſtandes der eigentlichſten und
letzten Huͤlfsmittel alles gelehrten Wiſſens, der
Druckereyen und des Buchhandels,
uͤbrig. Wenn jene mit Recht die Hebammen
der Gedanken genannt werden, ſo iſt dieſer
nicht minder ein Wohlthaͤter derſelben, weil er
ihren Umlauf befoͤrdert. Beyde ſind, nach
dem jetzigen Zuſtande der Dinge, ſo nothwen-
dig, daß ein Volk, ohne ſie, keinen Anſpruch
auf Litteratur, und eine Litteratur, ohne ſie,
keinen Anſpruch auf Vollkommenheit machen
kann.
Die Reſidenz hat jetzt vierzehn Druk-
kereyen, die wir, zum Behuf einer leichtern
K 3
[150] Ueberſicht, in drey Klaſſen theilen wollen. Zur
erſten gehoͤren die mit großen Staatsdeparte-
ments verbundenen und nur fuͤr das Beduͤrf-
niß derſelben thaͤtigen Druckereyen. Es ſind
deren drey, naͤmlich die des heiligen Synods,
des Senats und des Kriegskollegiums. Die
erſte druckt nur theologiſche, meiſtens ſlawoni-
ſche Werke. — Zur zweyten Klaſſe rechnen
wir die Druckereyen, die zu oͤffentlichen gelehr-
ten Anſtalten gehoͤren und auch fuͤr das Pu-
blikum arbeiten. Die groͤßte unter dieſen iſt
die der Akademie der Wiſſenſchaften, bey wel-
cher 18 Preſſen und eine Schriftgießerey im
Gange ſind. Die Druckereyen des Land- und
Seekadettenkorps und des griechiſchen Korps
haben zum Theil ſehr ſaubere Lettern und wer-
den immer thaͤtiger. — Von den Privat-
druckereyen koͤnnen ſich die Weitbrechtiſche
und Schnooriſche mit den vorzuͤglichſten im
Auslande meſſen. Letztere hat eine tatariſche
Druckerey, welche außer Ukaſen und Schulbuͤ-
chern, auch einen mit vieler Eleganz gedruck-
ten Koran geliefert hat. Faſt alle dieſe An-
ſtalten haben ihre eigenen Schriftgießereyen; die
Breitkopfiſche Privatdruckerey druckt auch
[151] Noten. Durch die Bemuͤhungen und die In-
duſtrie der genannten Deutſchen iſt es ſo weit
gekommen, daß die ruſſiſche Druckſchrift jetzt
ihr eckiges, hoͤlzernes Anſehen faſt ganz verlo-
ren hat, und ſich in Ruͤckſicht auf gefaͤlligen
Anblick und geſchmackvolle Verhaͤltniſſe mit der
lateiniſchen oder wenigſtens uͤber die deutſche
rangiren kann. Unter den neueſten Produkten
dieſer Preſſen giebt es mehrere, die in Ruͤck-
ſicht auf typographiſche Vollkommenheit mit
den gelungenſten Verſuchen anderer Nationen
in dieſem Fache wetteifern, wovon ich nur die
lateiniſche und ruſſiſche Ausgabe von Pallas
Flora Roſſica, als ein in Deutſchland bekann-
tes Beyſpiel, anfuͤhren will. Geſtochene Titel,
Kupferſtiche und Vignetten ſind zwar bey ruſ-
ſiſchen Buͤchern nicht ſehr gebraͤuchlich; aber
dagegen kennt man hier auch das armſelige
Loͤſchpapier nicht, auf welchem in Deutſchland
noch immer die beſten Werke der Nation der
Unſterblichkeit uͤberliefert werden. Die hohen
Preiſe aller Beduͤrfniſſe in der Reſidenz und
der damit in Verhaͤltniß ſtehende Arbeitslohn,
verurſachen natuͤrlicher Weiſe, daß die Druck-
koſten eines Buchs hier nicht ſo wohlfeil zu
K 4
[152] ſtehen kommen, als in kleinern Staͤdten; aber
im Ganzen ſind dieſe nicht ſo uͤbermaͤßig hoch,
als die Theurung aller ruſſiſchen Buͤcher ver-
muthen laͤßt. Fuͤnfhundert Exemplare eines
Bogens in Medianoktav, mit Inbegriff des
Papiers, koſten in einer hieſigen Druckerey et-
wa funfzehn Rubel, alſo der Bogen drey Ko-
peken, welches der Mittelpreis zu ſeyn ſcheint.
— Wir koͤnnen dieſen Gegenſtand nicht ver-
laſſen, ohne ein paar Worte uͤber einen ſehr
nahe verwandten, die Cenſur, zur Kritik
und Beherzigung in das Archiv unſerer Nach-
richten niederzulegen.
Die großen Wirkungen, welche die Ver-
breitung ſchaͤdlicher oder fuͤr ſchaͤdlich gehalte-
ner Grundſaͤtze durch die Buchdruckerkunſt ver-
urſachen koͤnnen, haben faſt in allen Staaten
eine Wachſamkeit uͤber dieſen Zweig menſchli-
cher Thaͤtigkeit erzeugt, die ſehr oft in eine der
buͤrgerlichen Freyheit und dem Geiſt unſers
Zeitalters widerſprechende Strenge ausgeartet
iſt. Auf der andern Seite hat das Intereſſe,
welches die Menſchheit an dieſem Gegenſtande
nimmt und nehmen muß, eine Menge der
beſten Koͤpfe aller Nationen aufgefordert, ſich
[153] mit der Unterſuchung deſſelben zu beſchaͤftigen
und die Gruͤnde dafuͤr und dawider durch eine
moraliſche Feuerprobe zu laͤutern. Izt ſcheint
die große Frage beantwortet, und der Werth
oder Unwerth der Preßfreyheit und der Cen-
ſuranſtalten entſchieden zu ſeyn. Der Antheil,
welchen Rußland unter der jetzigen weiſen und
milden Regierung an den Fortſchritten der
Aufklaͤrung und Kultur des uͤbrigen Europa
genommen hat, konnte ſeinen wohlthaͤtigen
Einfluß auch in dieſem wichtigen Theil der oͤf-
fentlichen Staatsverwaltung nicht verleugnen;
eine Fuͤrſtinn, aus deren Feder die Inſtruktion
zur Geſetzgebung gefloſſen war und die mit den
groͤßten Philoſophen ihres Zeitalters in har-
moniſchem Buͤndniſſe ſtand, konnte den Gang
des menſchlichen Geiſtes auf dem Wege zu
ſeiner Veredlung mit keinen Feſſeln belaſten.
Sie ſchenkte der Nation voͤllige Preßfreyheit *);
K 5
[154] aber das edle Vertrauen auf die Menſchheit,
mit welcher ſie dies bewilligte, ward, wie uͤber-
all, gemißbraucht, und der Erfolg bewies, daß
der verſchiedene Gang der Voͤlker zur Ausbil-
dung auch unterſchiedene Maaßregeln zu ſeiner
Leitung beduͤrfe. Eine Nation, bey welcher
das Gefuͤhl ihrer Kraͤfte erwacht, und die in
den erſten Beſtrebungen, dieſe zu brauchen,
leicht irre gefuͤhrt werden kann, mag einer vor-
bildlichen Richtung nicht entbehren, mit deren
Huͤlfe ſie leiſen feſten Tritts und ohne gewalt-
ſame Konvulſionen zum Ziele gelangt.
Jetzt ſind alle Schriften die in freyen oder
Privatdruckereyen gedruckt werden, der Cen-
ſur unterworfen, welche das Polizeyamt be-
ſorgt. Die Vorſchrift, nach welcher man ſich,
ſo viel bekannt iſt, richtet, ſchraͤnkt ſich auf
*)
[155] den allgemeinen Grundſatz ein, daß nichts ge-
gen die Religion, den Staat und die guten
Sitten erſcheine. Dieſe Unbeſtimmtheit kann,
wenn ihre Auslegung einem aufgeklaͤrten Mann
anheim faͤllt, der guten Sache eben ſo foͤrder-
lich ſeyn, als ſie, im entgegengeſetzten Falle,
durch mißverſtandenen Pflichteifer oder uͤber-
triebene Aengſtlichkeit, der Litteratur ſchaͤdlich
werden muß.
Die Wachſamkeit der Polizeycenſur ver-
breitet ſich nur uͤber die in der Reſidenz, oder
vielmehr in den Privatdruckereyen herauskom-
menden Buͤcher; alle fremde litterariſche Pro-
dukte, die uͤber die Grenze hereingebracht wer-
den, ſind im eigentlichen und bildlichen Sinne
zollfrey. Die Aufſicht welche den Zollbeamten
hieruͤber anempfohlen iſt, kann, der Natur der
Sache gemaͤß, nur ſehr unvollkommen ſeyn,
da die wenigſten unter ihnen Zeit und Luſt,
Sprach- und Sachkenntniſſe genug beſitzen,
um einer ſo ſchwierigen Pflicht, wenn ſie in
ihrem ganzen Umfange gefordert wuͤrde, Ge-
gnuͤge zu leiſten. Man findet alſo in den hie-
ſigen Buchlaͤden und Leſegeſellſchaften littera-
riſche Produkte von der mannigfaltigſten Gat-
[156] tung, und ſelbſt ſolche, welche in manchen
namhaften und aufgeklaͤrten Staaten zu den
proſkribirten gehoͤren, hier aber im Bewuſtſeyn
der guten Sache, unter der Aegiede einer
wachſamen Polizey, und mit Ruͤckſicht auf das
leſende Publikum, gar wohl geduldet werden
koͤnnen. Zu eben der Zeit, da man in den
meiſten Laͤndern gewaltſamen Exploſionen mit
Zittern entgegen ſah und Vorſichtsmaßregeln
verdoppelte, da in Stockholm und ſelbſt in
Amſterdam die Einfuhre franzoͤſiſcher Zeitun-
gen und Journale verboten wurde, zu eben die-
ſer Zeit erſchien in einem angeſehenen hieſigen
Buchladen ein vollſtaͤndiges Verzeichniß fran-
zoͤſiſcher uͤber die Revolution erſchienenen Schrif-
ten. Dieſe Verguͤnſtigung, deren jeder aufge-
klaͤrte Patriot mit dankbarer Maͤßigung ge-
nießt, hat nur erſt ſeit dem Anfange dieſes
Jahres (1793) durch das allgemeine Verbot
franzoͤſiſcher Waaren eine Einſchraͤnkung erlit-
ten, da in dieſem Befehl auch die Einfuhr
franzoͤſiſcher Zeitſchriften und Tagblaͤtter un-
terſagt worden iſt. Doch wozu ſo viele Be-
weiſe, wo Einer hinreichend waͤre! Die wahr-
haft philoſophiſche Toleranz der Regierung
[157] achtet ſogar der Schandſchriften nicht, mit
welchen namenloſe, durch den Partheygeiſt er-
hitzte Schriftſteller eine Adminiſtration herab-
zuwuͤrdigen ſuchen, von deren Triebwerk ſie
keinen Begriff haben *); ſtill und groß ſchwebt
Katharinens Geiſt uͤber dem Urtheil ihres
Zeitalters und blickt nach der Unſterblichkeit
auf, die ihr Selbſtgefuͤhl und die Nachwelt ihr
ſichern.
[158]
Der Buchhandel von St. Petersburg,
der noch vor wenigen Jahren aͤußerſt unbe-
deutend war, und ſich in Ruͤckſicht der aus-
waͤrtigen Litteratur auf die Thaͤtigkeit des ein-
zigen akademiſchen Buchladens koncentrirte,
hat jetzt ſo ſehr an Ausdehnung gewonnen,
daß man etwa zehn auslaͤndiſche und vielleicht
noch einmal ſo viele ruſſiſche Buchhaͤndler zaͤh-
len kann. Dieſe ſchnelle Vermehrung, die als
*)
[159] das ſicherſte Kennzeichen der ſteigenden Kultur
angeſehen werden darf, verbreitet ihre Wir-
kungen nicht nur uͤber die Reſidenz, ſondern
auch uͤber die entfernteren Theile des Landes,
die ihren ganzen Buͤchervorrath groͤßtentheils
von hier und von Moskau erhalten. Jetzt er-
ſcheinen — eine ehemals unerhoͤrte Sache —
auch Buͤcherkraͤmer auf den Maͤrkten und
Meſſen der Provinzialſtaͤdte, die ſich bey ih-
*)
[160] rem neuen Gewerbe ſehr wohl befinden ſollen.
Auf den großen Marktplaͤtzen der Reſidenz,
unter den Arkaden von Goſtinnoi Dwor, wo
ſonſt zwar Beduͤrfniſſe aller Art, aber ſchlech-
terdings keine geiſtigen feil geboten wurden,
ſieht man jetzt große Waarenlager von Buͤchern,
in denen es ſelten ganz leer an Kaͤufern und
Neugierigen iſt. In allen ruſſiſchen Laͤden
werden die Buͤcher gebunden oder wenigſtens
broſchirt verkauft; aber dieſe Bequemlichkeit,
deren Werth ich ſehr hoch anzuſchlagen ge-
neigt bin, ſteht dennoch in keinem Verhaͤltniß
mit der außerordentlichen Theurung aller ge-
druckten Nationalprodukte.
Unter den fremden Buchhandlungen iſt die
Weitbrechtiſche, wenn man ihrem Kata-
log Glauben beymeſſen darf, die reichſte in
Hinſicht der klaſſiſchen Litteratur der Auslaͤn-
der, beſonders der Franzoſen. Aber dieſer ſo-
wol, als die uͤbrigen deutſchen und franzoͤſi-
ſchen Buchlaͤden, befriedigen ſelten oder nie-
mals das Beduͤrfniß des Augenblicks, wenn
nicht von laͤngſt erſchienenen, bekannten Wer-
ken, ſondern von Neuigkeiten des Tages die
Rede iſt. Die Schwierigkeit des Transports,
der
[161] der den langen Winter hindurch gehemmte
Seehandel, die Ungewißheit des Abſatzes und
die Gleichguͤltigkeit unſerer Buchhaͤndler, die
auch bey einer ſehr eingeſchraͤnkten Betriebſam-
keit reich zu werden verſtehen, legen dem Litte-
raturfreunde Hinderniſſe in den Weg, die er
nur durch große Zeit- und Geldaufopferungen
ſchwaͤchen oder uͤberwinden kann. Es iſt daher
nichts ungewoͤhnliches, daß Liebhaber oder
Sammler zuſammentreten und ſich ihr Buͤcher-
beduͤrfniß aus Riga oder geradezu aus Deutſch-
land verſchreiben, wobey ſie, den Zeitgewinn
abgerechnet, noch immer beſſer wegkommen,
als wenn ſie ſich den hieſigen unbarmherzigen
Monopoliſten auf Gnade und Ungnade erge-
ben. Wie aber kein Uebel in der Welt iſt,
dem nicht Eine gute Folge zuzuſchreiben waͤre,
ſo ſind es eben dieſe Schwierigkeiten, welche
den Leſegeſellſchaften hier das Daſeyn
gegeben haben. Dieſe nuͤtzlichen Inſtitute,
die, ohne ihnen ein groͤßeres Verdienſt unter-
ſchieben zu wollen, wenigſtens den Sinn fuͤr
geiſtigen Genuß und einſame, geraͤuſchloſe Un-
terhaltung erwecken und naͤhren, haben in kur-
zer Zeit ſo allgemeinen Beyfall gefunden, daß
Zweiter Theil. L
[162] es, eben des allzugroßen Euthuſiasmus wegen,
um die Dauer dieſes Modegeſchmacks ein we-
nig mißlich ausſieht. Die meiſten derſelben
zeichnen ſich durch gute Einrichtung und ſolide
Wahl der Buͤcher aus, die unbedeutenden Aus-
nahmen abgerechnet, welche der Beytritt der
Damen und der unbeſchaͤftigten jungen Stuz-
zerwelt nothwendig macht. Reiſebeſchreibun-
gen, Zeitgeſchichte und ſchoͤne Litteratur gehoͤ-
ren hier ſo gut wie in Deutſchland zur Lieb-
lingslektuͤre; nur mit dem Unterſchiede, daß der
Geſchmack hier nicht ſo ſchnellwechſelnden Lau-
nen unterworfen iſt, als dort, wo jeder Meß-
katalog die Probekarte der Moden des Augen-
blicks liefert. Die mannigfaltigen Deklinatio-
nen der deutſchen Leſewelt zum Sentimentalen,
zur Empfindeley, zur Myſtifikation, zur reinen
Vernunft, zum Kryptokatholicismus, zum Tra-
giſchen, Heroiſchen, Graͤßlichen, zu Volksmaͤr-
chen und Rittergeſchichten — alle dieſe Mode-
revolutionen, die innerhalb eines Zeitraums von
zehn bis funfzehn Jahren auf dem Schauplatz
der deutſchen Litteratur abgewechſelt haben,
ſind nicht vermoͤgend geweſen, etwas uͤber un-
ſern feſten Geſchmack — oder uͤber unſere Un-
[163] empfaͤnglichkeit zu gewinnen. Zu weit entfernt
von dem Tummelplatz der Meynungen und
Partheyen, um durch das Intereſſe der Neu-
heit zur Theilnahme aufgereizt zu werden, und
allzubeſchaͤftigt mit unſerer Sinnlichkeit, um in
einem Streite, wo fuͤr dieſe nichts zu gewin-
nen iſt, uns im Ernſte unter eine oder die an-
dere Fahne zu ſtellen; ſehen wir dem Kampfe
und der Reibung ſo lange zu, bis die errun-
genen und aus der gaͤhrenden Maſſe geſchiede-
nen Reſultate uns kuͤrzlich des Beſſern beleh-
ren; eine Methode, bey der wir um ſo gluͤck-
licher ſind, weil unſere Augen, durch keinen
Partheygeiſt geblendet, ſich der ſiegenden Wahr-
heit nur deſto williger oͤffnen.
Eine vollſtaͤndige Ueberſicht aller neuen
und merkwuͤrdigen Produkte der ruſſiſchen Lit-
teratur zu liefern, waͤre ſo ſehr gegen den
Zweck dieſes Buchs, als die Ausfuͤhrung eines
ſolchen Vorſatzes unmoͤglich ſeyn wuͤrde. Kri-
tiſche Journale, litterariſche Anzeigen, ſelbſt
große Buͤcherverzeichniſſe ſind hier noch uͤber-
aus ſelten; der Liebhaber muß ſich in den
Buchlaͤden mit den neueſten Erſcheinungen be-
kannt zu machen ſuchen, und oft gelangen
L 2
[164] wichtige und intereſſante Werke nur erſt ſehr
ſpaͤt zur Kenntniß des Publikums. Dieſe
Schwierigkeiten, die bey dem Mangel einer
hinlaͤnglichen Sprachkenntniß doppelt hinderlich
werden, laſſen von einem erſten Verſuch nur
etwas ſehr unvollſtaͤndiges erwarten. Unter-
ſtuͤtzt von einſichtsvollen Kennern wage ich
es dennoch, hier eine Ueberſicht der
merkwuͤrdigſten Produkte ruſſiſcher
Schriftſteller einzuſchalten, wobey ich mich
in Anſehung des Umfangs nur auf die Littera-
tur der Reſidenz, und in Anſehung der Zeit
nur auf die Regierung Katharina der
Zweyten begrenze. So mangelhaft und trok-
ken eine ſolche Muſterung werden muß, wenn
weder die Unbekanntſchaft des Verfaſſers mit
ſeinem Gegenſtande, noch auch die Grenzen
ſeines Plans eine kritiſche und raiſonnirte Ver-
arbeitung der Materialien geſtatten: ſo wird
ſie doch immer nicht ganz arm an Reſultaten
ſeyn, die hin und wieder zur Beurtheilung des
Zuſtandes der Nationallitteratur leiten koͤn-
nen.
Durch die Dunkelheit getaͤuſcht, die uͤber
der Geſchichte des Mittelalters ſchwebt, ſehen
[165] wir in den Ruſſen jener Zeit nur ein kriegeri-
ſches aber rohes Volk, dem Wiſſenſchaften und
Kuͤnſte fremd waren. Die Spuren einer hoͤ-
heren Kultur, die ſich in den Annaliſten vor-
finden und welche der Fleiß neuerer Geſchichts-
forſcher zu Tage gefoͤrdert hat, widerlegen die-
ſes alte Vorurtheil, und begruͤnden die Wahr-
ſcheinlichkeit, daß es ſchon vor der bekannten
Unterjochung von den Tataren einen Zeitpunkt
gegeben hat, da die ruſſiſche Nation ein civi-
liſirtes Volk genannt zu werden verdiente. Die
Kenntniß und der Gebrauch der cyrilliſchen
Schrift und die ſlawoniſche Ueberſetzung der
Bibel im neunten Jahrhunderte; die Schu-
len, welche ſpaͤterhin der Großfuͤrſt Wolodi-
mer ſtiftete; die Liebe dieſes Fuͤrſten zu den
ſchoͤnen Kuͤnſten; die poetiſche Nachahmung
der Pſalmen, welche ſchon um dieſe Zeit in
den Kirchen geſungen ward; das buͤrgerliche
Geſetzbuch, welches Jaroslaw Wladimi-
rowitſch um 1019 den Nowogradern gab;
der Glanz ſeines Hofes, deſſen ſelbſt auslaͤndi-
ſche Geſchichtſchreiber unter den Zeitgenoſſen
mit Erſtaunen erwaͤhnen; endlich die Denkmaͤ-
ler der Malerey, einer Kunſt, die in Rußland
L 3
[166] ein Jahrhundert fruͤher als in Italien wieder
auflebte — alle dieſe und unzaͤhlige andere
Zeugniſſe einer weitfortgeruͤckten Kultur laſſen
keinen Zweifel uͤbrig, daß die Ruſſen des da-
maligen Zeitalters ſchon eine Stuffe der Ver-
edlung erklimmt hatten, zu welcher die uͤbrigen
Voͤlker Europens erſt ſpaͤter gelangten. Unter
der Herrſchaft der Tataren gieng dieſe ſchoͤne
Morgenroͤthe eines ſchoͤnern Tages verloren,
und waͤhrend jener traurigen Epoke gewannen
die nachgebliebenen Nationen unſers Welttheils
einen Vorſprung, den die Ruſſen bis auf die-
ſen Augenblick, trotz der groͤßten Anſtrengung
noch nicht voͤllig haben einholen koͤnnen. Von
dem Gefuͤhl ihres Drucks zu einem unaufhoͤr-
lichen Widerſtande angefeuert, verſchmolz der
ſanfte Hang zu den Kuͤnſten des Friedens, der
ſie bisher ſo ruͤhmlich ausgezeichnet hatte, in
jene kriegeriſche Wildheit, die ihren Namen in
den letztvergangenen Jahrhunderten ſo furcht-
bar machte; bis es endlich den vereinigten Be-
muͤhungen zweyer der groͤßten Fuͤrſten gelang,
die eingeſchlafene Liebe zu den Wiſſenſchaften
und Kuͤnſten wieder zu erwecken, und den
Ruhm eines tapfern und muthigen Volks mit
[167] dem ſchoͤnern eines menſchlichen und aufgeklaͤr-
ten zu verbinden. — Mit der Regierung
Peters des Großen beginnt eine neue
Epoke fuͤr die Kultur Rußlands. Ein neues
unermeßliches Gebiet iſt den Wiſſenſchaften
erobert, nuͤtzliche Kenntniſſe werden, gleich
fremden Pflanzen, in dieſen Boden verſetzt und
gedeihen; das Nationalgenie entwickelt ſich
wieder durch den belebenden Hauch eines mil-
dern und gluͤcklichern Zeitalters; die Sprache
wird gereinigt, bereichert und ausgebildet;
Schriftſteller von Talent treten auf und lie-
fern Geiſtesprodukte, die ſich den Enthuſias-
mus der Nation und die Achtung der Aus-
laͤnder erwerben. — Eine kurze Erſchlaffung,
die dieſer glaͤnzenden Periode folgt, ſcheint
weniger die Wirkung eines allzuploͤtzlichen Auf-
ſchwungs als der Vernachlaͤßigung zu ſeyn, un-
ter welcher das einheimiſche Talent ſchmach-
tet. — Katharina die Zweyte erſcheint,
und uͤberall verbreitet ſich ein neues verdoppel-
tes Leben. Durch das Beyſpiel dieſer großen
Fuͤrſtinn aufgemuntert, die es nicht unter ih-
rer Wuͤrde haͤlt, ſelbſt dem Genius der Na-
tion vorzuleuchten, wagt ſich dieſe noch einmal
L 4
[168] und mit noch kuͤhnerer Anſtrengung in die
Schranken, um den edlen Wettkampf fuͤr das
hoͤchſte Ziel der Sterblichen, fuͤr Aufklaͤrung
und ſittliche Veredlung zu beginnen. Die
Fortſchritte die ſie auf dieſer ſchoͤnen Bahn
macht, ſind der Aufmerkſamkeit des uͤbrigen
Europa werth. Es iſt ein herzerhebendes be-
wundernswuͤrdiges Schauſpiel, dem raſchen
Gange der Ausbildung einer großen Nation
zu folgen, die, mit einer hohen Empfaͤnglich-
keit und Perfektibilitaͤt begabt, die Scheide-
wand niederreißt, welche ſie von ihren kulti-
virten Nachbarinnen trennte, und ſich nun mit
einemmal von Lichtſtroͤmen umgeben ſieht. Ein
philoſophiſches Gemaͤlde der ruſſiſchen Littera-
tur, wie ſie vor Peter dem Großen war,
was ſie durch ihn wurde und was ſie jetzt iſt,
muͤßte eins der intereſſanteſten Bruchſtuͤcke zur
Geſchichte der Menſchheit ſeyn. — Alles was
ich hier liefern kann, ſind einzelne Zuͤge, wel-
che auch bey der groͤßten innern Vollſtaͤndig-
keit, ohne Verbindung mit dem Ganzen, im-
mer nur einſeitige Reſultate geben und zu kei-
nem ſichern Urtheil fuͤhren koͤnnen.
[169]
Die Theologie, oder was man zuwei-
len ſo nannte, war uͤberall in den barbariſchen
Zeiten des Mittelalters nicht ganz vernachlaͤ-
ßigt, und bey der Wiederauflebung der Wiſ-
ſenſchaften war dies eins der erſten Faͤcher in
welchem ſich gute Koͤpfe hervorzuthun ſuchten.
Auch in Rußland blieb dieſes Feld nie ganz
unbearbeitet, wie der Reichthum der Kloſter-
bibliotheken beweiſ’t; aber dem Zeitalter Ka-
tharinens war es vorbehalten, einem gelaͤu-
terten Syſtem und einer populairen chriſtlichen
Sittenlehre das Daſeyn zu geben *). Wer
kennt nicht den Namen und die Verdienſte des
ehrwuͤrdigen Platons? Sein kurzer In-
begriff der chriſtlichen Theologie, der
L 5
[170] auch in mehrere Sprachen uͤberſetzt iſt, hat
ihm ſelbſt unter fremden Glaubensverwandten
den Ruhm eines aufgeklaͤrten Theologen und
gemeinnuͤtzigen Schriftſtellers erworben. —
Bey dem griechiſchen Gottesdienſt waren be-
kanntlich Kanzelvortraͤge ſehr ſelten; die jetzige
Kaiſerinn, die den Nutzen derſelben einſieht
und die Wirkung eines zweckmaͤßigen, von den
Gruͤnden einer hoͤhern Moral unterſtuͤtzten oͤf-
fentlichen Vortrages auf das Herz der Men-
ſchen kennt, hat die geiſtliche Beredſamkeit mit
dem groͤßten Nachdruck und dem gluͤcklichſten
Erfolge ermuntert. Unter den Praͤlaten, die
ſich durch ihr homiletiſches Talent und als
Schriftſteller ausgezeichnet haben, ſind vorzuͤg-
lich der Mitropolit von Nowgorod und Pe-
tersburg Gabriel, der Erzbiſchof von Ples-
kow und Riga Innocentius, und der Bi-
ſchof von Kaſchin und Twer’ Irineus zu
bemerken *). Die Erbauungsreden die-
ſer wuͤrdigen Gottesgelehrten nuͤtzen nicht al-
[171] lein der leſenden Klaſſe des Volks, da ſie auf
hoͤherm Befehl auch in den Kirchen vorgele-
ſen werden. — Von den neuern Veranſtal-
tungen, den erſten Unterricht in der Religion
zu befoͤrdern, und ſtatt der bloßen Anhaͤnglich-
keit an aͤußere Gebraͤuche eine vernuͤnftige Ue-
berzeugung bey dem Volk allgemeiner zu ma-
chen, wird weiter unten die Rede ſeyn.
Die Rechtsgelehrſamkeit iſt bis itzt
das aͤrmſte Fach der ruſſiſchen Litteratur. Die
Vorleſungen ausgenommen, welche auf der
moskowiſchen Univerſitaͤt gehalten werden,
giebt es keinen oͤffentlichen Unterricht in dieſer
Wiſſenſchaft; eine genaue Kenntniß der vater-
laͤndiſchen Geſetze und etwas natuͤrliche oder
erworbene Logik ſind hinreichend einen taugli-
chen Rechtsgelehrten zu bilden. Der ganze
Ertrag dieſes Feldes der Litteratur ſchraͤnkt ſich
daher auf mehrere Sammlungen ein, die
man von den aͤltern Geſetzbuͤchern und
*)
[172] von den Ukaſen Peters des Großen
und ſeiner Nachfolger veranſtaltet hat.
Die Epoke, die Katharinens Geſetzgebung
in der Geſchichte der ruſſiſchen Reichsverfaſ-
ſung macht, wird wahrſcheinlich auch der Be-
foͤrderung dieſes Studiums guͤnſtig ſeyn, da
in der neuen Einrichtung der Juſtizpflege und
in allen dahin abzweckenden Verordnungen Ein
zuſammenhaͤngender Plan herrſcht, der die wiſ-
ſenſchaftliche Verarbeitung dieſes Syſtems und
die Zuruͤckfuͤhrung deſſelben auf allgemeine
Grundſaͤtze nicht nur moͤglich, ſondern gewiſ-
ſermaßen nothwendig macht *). Eine einzelne
merkwuͤrdige Erſcheinung in dieſem Fach darf
ich nicht unangezeigt laſſen: die ruſſiſche Ue-
berſetzung von Blacſtone’s Kommentar
uͤber die engliſchen Geſetze, welche vor
einigen Jahren auf hoͤhere Veranlaſſung zu
Stande gebracht ward.
[173]
Auch die Arzneygelahrtheit war noch
vor kurzer Zeit ein ſo unbearbeitetes Feld,
daß es im Jahr 1770 vielleicht nicht drey
Buͤcher uͤber mediziniſche Gegenſtaͤnde gab.
Der Gewinn der ruſſiſchen Litteratur in die-
ſem Felde iſt um ſo bemerkenswerther, da ein
großer Theil der hieher gehoͤrigen Abhandlun-
gen und Werke in lateiniſcher Sprache ver-
faßt iſt, und hier alſo nicht angefuͤhrt werden
kann. Unter den petersburgiſchen Aerzten, die
ſich auf dieſe Art um ihre Nation verdient ge-
macht haben, ſind mir folgende bekannt. Der
Hofrath und Prof. der Entbindungskunſt,
Ambodik, ein Mann der ſich die Bereiche-
rung der ruſſiſchen mediziniſchen Litteratur vor-
zuͤglich angelegen ſeyn laͤßt. Er iſt der Ver-
faſſer eines allgemeinverſtaͤndlichen Lehrbuchs
der Entbindungskunſt, einer Phyſio-
logie, einer Materia medica und eines
anatomiſch-phyſiologiſchen Woͤrter-
buchs in ruſſiſcher, lateiniſcher und franzoͤſi-
ſcher Sprache. Eine vermehrte und umgear-
beitete Ueberſetzung von Saucerotte’s be-
kanntem Examen, unter dem Titel: Kurze
Pruͤfung eingewurzelter Vorurtheile
[174] und Meynungen, betreffend ſchwan-
gere Weiber, Kindbetterinnen und
neugeborne Kinder, ein Buch das ſchon
mehrere Auflagen erlebt hat, iſt ebenfalls ſeine
Arbeit; auch iſt er der Ueberſetzer von Schrei-
bers Anweiſung zur Kenntniß und
Kur der aͤußern und innern Krank-
heiten und von Home’sPrincipia Mcdi-
cinae.Tiſſot’s Schriften: Avis au peuple
und von der Geſundheit der Gelehr-
ten ſind ebenfalls ins Ruſſiſche uͤberſetzt; jenes
von dem Hofrath und Akademikus Oſerez-
kowski, dieſes vom Dr. Schumljanski,
der auch der Verfaſſer einer Abhandlung uͤber
die Vervollkommnung der nuͤtzlichſten
Wiſſenſchaft (der Medizin) iſt. Verſchie-
dene kleine mediziniſche Schriften des Kolle-
gienraths Tichorski kann ich nur im Allge-
meinen anfuͤhren, da ich keine naͤhere Kennt-
niß von denſelben habe. Die Verheerungen,
welche die Peſt vor mehreren Jahren in eini-
gen Gegenden des ruſſiſchen Reichs anrichtete,
haben eine Menge Schriften uͤber dieſe fuͤrch-
terliche Geiſſel des menſchlichen Geſchlechts
erzeugt, von welchen verſchiedene im Auslande
[175] ruͤhmlich bekannt geworden ſind *); bey dieſer
Veranlaſſung ward auch Richard Mead’s
Abhandlung von der Peſt ins Ruſſiſche
uͤberſetzt. Von Swieten’s Beſchrei-
bung der Krankheiten in Feldlaͤgern
hat an dem Dr. Terechowski, und des
Baron Dimsdale Methode die Blat-
tern einzuimpfen an einem Ungenannten
einen Ueberſetzer gefunden. — Mit eben ſo
ruͤhmlichem Eifer als die genannten ruſſiſchen
Aerzte, haben mehrere Deutſche, die der
Sprache hinlaͤnglich kundig waren, fuͤr die
Bereicherung dieſes Fachs gearbeitet. Von
dem Kollegienrath und aͤlteſten Admiralitaͤts-
medikus Bacheracht iſt ein Volksbuch
uͤber mehrere Krankheiten, ein anderes
uͤber die Unmaͤßigkeit im Liebesge-
nuſſe, ein Vorſchlag zur Erhaltung
der Geſundheit der Seeleute, eine
Abhandlung uͤb[er] den Skorbut, u. a. m.
vorhanden. Der Staabschirurgus (jetziger ge-
[176] lehrter Sekretair des mediziniſchen Kollegiums)
Vien hat eine ſehr vollſtaͤndige Loimologie
geſchrieben. Der Hofrath Paͤken, deſſen
Vater ſich ſchon um die ruſſiſche mediziniſche
Litteratur verdient gemacht hatte, iſt der Ver-
ſaſſer einer Phyſiologie und Pyretho-
logie zum Gebrauch bey Vorleſungen, und
der Ueberſetzer von Richters Anfangs-
gruͤnden der Wundarzneykunſt. Spe-
dikati ſchrieb eine Streitſchrift uͤber den
Skorbut gegen Bacheracht. Kuͤrzlich iſt eine
Ueberſetzung von Gaubii Institutiones Patho-
logiae medicin. vom Hofrath und Prof. Hoff-
mann herausgekommen. Eine ganz neue Er-
ſcheinung, die erſte in ihrer Art, iſt ein me-
diziniſches Wochenblatt in ruſſiſcher
Sprache, welches von zwey hieſigen Aerz-
ten, dem Dr. Uhden und dem Dr. Elli-
ſen beſorgt wird.
So viel Vergnuͤgen [d]er Ueberblick uͤber
dieſen ſchnellen Anwachs der mediziniſchen Lit-
teratur gewaͤhrt, ſo unangenehm iſt der Ue-
bergang zu der philoſophiſchen, die außer
einem Lehrbuch des Naturrechts von
Solotnizki kein Originalwerk, und außer
den
[177] den Ueberſetzungen einzelner Artikel aus
der franzoͤſiſchen Encyklopaͤdie, keine
Dollmetſchung aufzuweiſen hat, wenn man
die kleinen Broſchuͤren ausſchließt, die ins Ge-
biet der Moral gerechnet werden koͤnnen *).
Nicht ganz ſo arm iſt das Feld der Politik
und Staatswirthſchaft, obgleich der ganze
Reichthum auch hier nur aus Ueberſetzungen
beſteht. Die wichtigſte unter dieſen iſt unſtrei-
tig Kramarenkow’sEsprit des Loix von
Montesquieu. Die Abhandlung eben die-
ſes Verfaſſers sur les causes de la grandeur
er de la décadence de l’empire romain,
St. Pierre’s philoſophiſcher Traum von
Zweiter Theil. M
[178] einem ewigen Frieden, Callieres Werk
de la manière de négocier avec les Souve-
rains, u. m. a. haben ebenfalls Ueberſetzer ge-
funden. Juſti’s Grundfeſte der Macht
der Staaten iſt von dem Aſſeſſor Boga-
jewski, und das bekannte Buch, les inté-
rêts des nations de l’Europe rélativement au
commerce von Baſchilow in die ruſſiſche
Sprache uͤbergetragen. Ich erwaͤhne nur noch
der Ueberſetzung von Neckers Werk de l’ad-
ministration des finances de la France und
der Umarbeitung von Beckmann’s Forſt-
kalender fuͤr das Beduͤrfniß des ruſſiſchen
Reichs, weil dieſe Erſcheinungen unter mehre-
ren ihrer Gattung die bedeutendſten ſind. —
Ueber die Landwirthſchaft ſind eine große
Menge einzelner Abhandlungen vorhanden, die
ihre Exiſtenz großentheils der oͤkonomiſchen Ge-
ſellſchaft zu verdanken haben. Die Sammlung
derſelben, wie ſie die Geſellſchaft veranſtaltet
hat, bildet eine anſehnliche landwirthſchaftliche
Bibliothek, und betraͤgt jetzt uͤber vierzig
Baͤnde.
In der Phyſik und Naturgeſchichte,
in welchen vor zehn bis funfzehn Jahren faſt
[179] noch kein einziges Buch vorhanden war und
fuͤr welche erſt eine neue Sprache geſchaffen
werden mußte, iſt ſeit kurzem ſehr viel gelei-
ſtet worden. Die eignen Nachforſchungen, mit
denen die Akademiker Lepechin, Oſerez-
kowski, Sokolow, Sujew, u. a. dieſe
Wiſſenſchaften bereichert haben, ſind auswaͤr-
tigen Gelehrten durch die Werke der Akademie
bekannt. Die franzoͤſiſche Schrift des Grafen
Gregor Raſumowski, von den Ueber-
gaͤngen im Mineralreich, und verſchie-
dene Abhandlungen von eben dieſem Verfaſſer,
die in die Akten der helvetiſchen Geſellſchaft
eingeruͤckt ſind, geben einen Beweis, wie ſehr
die Naturkunde ſelbſt unter den Großen ge-
ſchaͤtzt und bearbeitet wird. Doch noch eine
groͤßere Aufmerkſamkeit verdienen die Bemuͤ-
hungen, die Kultur der Phyſik und Naturge-
ſchichte in der Landesſprache zu verbreiten.
Zu den groͤßten und glaͤnzendſten Unterneh-
mungen dieſer Art gehoͤrt die Herausgabe ei-
ner moͤglichſt vollſtaͤndigen Flora Rossica, oder
botaniſchen und oͤkonomiſchen Be-
ſchreibungaller in Rußland wildwach-
ſenden Pflanzen, mit vollkommen nach der
M 2
[180] Natur gezeichneten und illuminirten Kupfer-
platten, die der Akademikus Pallas auf kai-
ſerlichen Befehl uͤbernommen hat. Von dem
Erfolg dieſer Unternehmung etwas zu ſagen,
waͤre uͤberfluͤſſig, da das Publikum die Pro-
ben derſelben ſchon in Haͤnden hat, und da
ſich von dem Entwurf einer Fuͤrſtinn wie Ka-
tharina die Zweyte, von den Huͤlfsmit-
teln eines Landes wie dieſes, und von der Aus-
fuͤhrung eines Mannes wie Pallas ohnehin
etwas Außerordentliches erwarten laͤßt. Fuͤr
den ungelehrten Theil meiner Leſer merke ich
nur noch an, daß von dieſem ſo vielumfaſſen-
den als nuͤtzlichen Werke außer der lateiniſchen
auch eine ruſſiſche Ausgabe veranſtaltet wird
und daß die Anzahl der zu demſelben gehoͤri-
gen Kupfertafeln auf ſechshundert berechnet iſt.
Die Zeichnungen der Pflanzen uͤbernimmt der
petersburgiſche Kuͤnſtler, Aſſeſſor Knappe,
Mitglied der hieſigen Akademie der Kuͤnſte; in
Kupfer geſtochen und illuminirt werden ſie theils
hier, theils in Wien und Nuͤrnberg, unter
der Aufſicht der Herren von Jacquin und
Schreber. Die ruſſiſche Ausgabe, in wel-
cher die Beſchreibungen bey weitem umſtaͤnd-
[181] licher, als in der fuͤr Gelehrte beſtimmten la-
teiniſchen ſind, wird von dem Akademikus
Sujew beſorgt. Die Pracht, mit welcher
dieſes koſtbare Werk erſcheint, iſt eines ſolchen
Unternehmens wuͤrdig; es wird auf kaiſer-
liche Koſten gedruckt und iſt in allem Betracht
ein Geſchenk fuͤr die Wiſſenſchaften und das
Vaterland, weil die Exemplare beyder Ausga-
ben nur unentgeldlich vertheilt werden. — Un-
ter den Originalſchriften, welche in das Fach
der Naturgeſchichte gehoͤren, verdienen Su-
jew’s Lehrbuch dieſer Wiſſenſchaft zum Ge-
brauch der hoͤhern Volksſchulen und Lepe-
chins Abhandlung uͤber die Nothwen-
digkeit, die Heilkraͤfte innlaͤndi-
ſcher Pflanzen zu erforſchen, wegen
ihres gemeinnuͤtzigen Zwecks eine Erwaͤhnung.
Die Ueberſetzungen, durch welche man der
Nation das Studium der Naturwiſſenſchaften
zu erleichtern geſucht hat, ſind nach einer ge-
wiſſen Ordnung folgende. Locke’s Grund-
ſaͤtze der Phyſik, von einem Ungenannten.
Euler’s Briefe an eine deutſche
Prinzeſſinn vom Akademikus Rumowski.
Krafft’s Entwurf einer Experimen-
M 3
[182]talphyſik, nach der franzoͤſiſchen Hand-
ſchrift von Schirokoi. Macquer’sEle-
mens de Chemie théorique et pratique von
Florinski. Erxlebens Chemie von
Sokolow. Leske’s Naturgeſchichte
von Oſerezkowski. Cronſtedts Mi-
neralogie nach Bruͤnnichs Ausgabe von
Kurduͤman. Walch’s Steinreich und
Lehmanns Mineralogie von dem wirk-
lichen Staatsrath und Ritter des Dannebrog-
ordens Nartow. Kirwans Minera-
logie und Renovanz mineralogiſche
Beſchreibung des altaiſchen Erzge-
birges von dem Akademikus Sewergin.
Cancrin’s Anfangsgruͤnde der Berg-
und Salzwerkskunde von einem Unge-
nannten, u. a.
Die Bemuͤhungen der Nation in den ma-
thematiſchen Wiſſenſchaften ſchraͤnken ſich
nicht bloß auf die Abhandlungen ein, welche
die ruſſiſchen Akademiker, ein Kotel’nikow,
Rumowski, Inochodzow, u. a. in den
Werken der Akademie bekannt gemacht haben.
Eine Schrift von dem Erſtgenannten, uͤber
die Lehre von dem Gleichgewicht und
[183] der Bewegung der Koͤrper, Swje-
tuſchkin’s Vorſchlaͤge zur Verbeſſe-
rung der Landmeſſungskunſt, die
Lehrbuͤcher der Mathematik von Ko-
ſelski, Anitſchkow und Rumowski,
ein kleines Handbuch fuͤr Seefahrer
von einem Ungenannten, u. ſ. w. gehoͤren zu
den neuern Originalwerken. Unter den Ueber-
ſetzungen zeichnen ſich die eines Ungenannten
von WolffsCompend. Elem. Matheseos,
von Euler’sThéorie de la construction \&c.
des vaisseaux durch Golowin, und von
Weidlers Anweiſung zur unterirrdi-
ſchen Meß- und Markſcheidekunſt durch
Martow aus. Eine Ueberſetzung von des
Akademikus Fuß Lehrbuch der Algebra
wird jetzt beym Landkadettenkorps veranſtaltet
und iſt unter der Preſſe.
Ich uͤbergehe das Fach der Kriegswiſ-
ſenſchaft, welches neuerdings durch mehrere
Originalwerke und Ueberſetzungen bereichert
iſt, um meine Leſer ſogleich mit den merkwuͤr-
digſten Produkten in der Geſchichte bekannt
zu machen, welche die Reſidenz ſeit den letztern
Jahren hervorgebracht hat. In keinem Felde
M 4
[184] der Litteratur iſt ſo fleißig gearbeitet worden
und keins hat ſo vorzuͤgliche Fruͤchte aufzuwei-
ſen als dieſes. Durch das erhabene Beyſpiel
der Kaiſerinn ſelbſt aufgemuntert und von ih-
ren großmuͤthigen Veranſtaltungen zur Befoͤr-
derung dieſes Studiums unterſtuͤtzt, haben ſich
die guten Koͤpfe der Nation wetteifernd verei-
nigt, die Dunkelheit aufzuhellen, welche die
vaterlaͤndiſche Geſchichte in fruͤhern Zeiten be-
deckt. Im Jahr 1779 gab Katharina in
einer, das Kollegium der auswaͤrtigen Angele-
genheiten betreffenden Verordnung den Befehl,
daß man ſich zum Beſten der ruſſiſchen Ge-
ſchichte bemuͤhen ſolle, eine Sammlung von
alten und neuen oͤffentlichen Traktaten, nach
dem Beyſpiel des Corps diplomatique von
Duͤmont zu Stande zu bringen, und dieſes
Geſchaͤfte dem uͤber das Archiv des gedachten
Kollegiums geſetzten Staatsrath Muͤller
in Moskau aufzutragen. Spaͤterhin ergieng
ein Befehl an den Synod, daß von den alten
ruſſiſchen Handſchriften der beyden Bibliothe-
ken des Synods, unter der Aufſicht zuverlaͤßi-
ger Perſonen, zuerſt die aͤlteſten und am
ſchwerſten zu verſtehenden, nachher aber die
[185] uͤbrigen abgeſchrieben und gedruckt, zu die-
ſem Ende auch die in den uͤbrigen Kloſterbi-
bliotheken etwa befindlichen Chroniken aufge-
ſucht werden ſollten. Dieſe Befehle, die Un-
terſtuͤtzungen welcher ſich jeder Herausgeber
ſolcher Manuſcripte zu erfreuen hatte, und
die Belohnungen durch welche mehrere unter
ihnen aufgemuntert wurden, hatten die er-
wuͤnſchte und fuͤr die Aufhellung der ruſſiſchen
Geſchichte ſo wichtige Folge, daß eine Menge
merkwuͤrdiger, zum Theil bisher ganz unbe-
kannter, zum Theil ſehr ſeltner Handſchriften
ins Publikum kamen. Ich kann hier unter
denen, die in St. Petersburg ans Licht getre-
ten ſind, folgende nennen:
- Zarenbuch, oder Annaliſt uͤber die Re-
gierung des Zaren Joann Waſſil’je-
witſch, vom Sept. 1533. bis zum Maͤrz
1553. Nach einer, aus lauter einzelnen
Bogen beſtehenden Handſchrift in der mos-
kowiſchen Patriarchalbibliothek von dem
Fuͤrſten Schtſcherbatowo herausge-
geben. - Tagebuch Peters des Großen, vom
Jahr 1698 bis zum Nyſtaͤdtiſchen Frie-
M 5
[186] densſchluſſe. (Oktob. 1721.) Abgedruckt
nach der im Kabinetsarchiv befindlichen,
von des Kaiſers eigner Hand berichtigten
Handſchrift. Der Herausgeber iſt der
Fuͤrſt Schtſcherbatowo, der von der
Kaiſerinn den Auftrag hatte, das Kabi-
netsarchiv Peters des Großen durch-
zuſehen und in Ordnung zu bringen. (Un-
ter mehreren Ueberſetzungen fuͤhre ich nur
die deutſche vom Hofrath Bacmeiſter
an.) - Der Reichsannaliſt, geht von 1414 bis
1472. Der Herausgeber iſt der Fuͤrſt
Schtſcherbatowo. Das Manuſcr. be-
fand ſich in der Bibliothek des Fuͤrſten
Galizuͤn. - Jahrbuch von den innern Unruhen
und Zerruͤttungen des moskowi-
ſchen Reichs. Von 1584 bis 1655.
Hat dem Staatsrath Muͤller bey ſei-
nem Verſuch einer neuern Ge-
ſchichte von Rußland zum Leitfaden
gedient. Der Herausg. iſt unbekannt. - Fidlers Lobrede auf den Zar Boris
Godunow. A. d. lat. Handſchr. von
Woronow.
[187]
- Feldzug des Bojarins und Feld-
herrn Schein (1696) nach einer Hand-
ſchrift von Ruban. - Der alte Annaliſt, von 1254 bis 1379.
Auf Befehl der Kaiſerinn nach einer in
der Akademie der Wiſſenſchaften befindli-
chen Handſchrift von zwey Ungenannten
beſorgt. - Briefe und Ukaſen Peters des
Großen an den Viceadmiral Sinjaͤ-
win. Die Originale ſind in den Haͤn-
den ſeines Sohnes, des Admirals und
Ritters Sinjaͤwin, der auch der Her-
ausgeber iſt. - Leben des Patriarchen Nikon. Von
einem Unbekannten, nach mehreren Hand-
ſchriften. - Ein hiſtoriſches Journal, unter dem Titel:
Alte ruſſiſche Bibliothek, von No-
wikow, enthaͤlt Geſandſchaftsnachrichten,
ſeltne Briefe, Beſchreibungen alter Ge-
braͤuche, hiſtoriſche und geographiſche Merk-
wuͤrdigkeiten, Werke alter ruſſiſcher Dich-
ter, u. ſ. w. groͤßtentheils aus handſchrift-
lichen Nachrichten geſchoͤpft.
[188]
Ein ſolcher Schatz von neuentdeckten oder
bekanntgewordenen Quellen und Huͤlfsmitteln
mußte natuͤrlich die ruſſiſchen Geſchichtſchrei-
ber zur Benutzung derſelben auffordern; noch
mehr aber bewirkte das Beyſpiel der außeror-
dentlichſten Fuͤrſtinn die je auf einem Throne
geſeſſen hat. Nicht zufrieden, durch weiſe
Veranſtaltungen die Zugaͤnge zur hiſtoriſchen
Wahrheit eroͤffnet zu haben, gab Katharina
die Zweyte durch ihre in ganz Europa be-
kannten Aufſaͤtze betreffend die ruſſi-
ſche Geſchichte ein Muſter, wie die Ge-
ſchichte des Vaterlandes erforſcht und behan-
delt werden ſollte. Eine ſo große Aufforde-
rung konnte nicht ohne Erfolg bleiben; Maͤn-
ner von Talent und Scharfſinn weihten ſich
der kuͤhnen Beſtimmung, eine Bahn zu betre-
ten, auf welcher der glaͤnzendſte Geiſt unſers
Zeitalters gewandelt hatte. Ohne hier in die
Zeiten Sumarokow’s, Tatiſchtſchew’s,
Lomonoſſow’s, der erſten ruſſiſchen Ge-
ſchichtſchreiber zuruͤckzugehen, die hiſtoriſche
Kritik und Darſtellung mit einander zu ver-
binden wußten, ſchraͤnke ich mich auf eine
bloße Anzeige der merkwuͤrdigſten Originalpro-
[189] dukte ein, welche die Reſidenz waͤhrend der
letztern zwey Decennien geliefert hat. Den eh-
renvollſten Platz in dieſem Gefolge behauptet
die ruſſiſche Geſchichte des Fuͤrſten
Schtſcherbatowo, eines Mannes, der
den groͤßten Theil ſeiner unermuͤdeten Thaͤtig-
keit und ſeines ruhmvollen Lebens auf den
edlen Endzweck verwendete, der Geſchichtſchrei-
ber ſeines Vaterlandes zu werden. Von dem
Erfolge dieſer Bemuͤhung brauche ich hier um
ſo weniger zu ſagen, da das Buch ſelbſt durch
eine deutſche Ueberſetzung dem auswaͤrtigen
Publikum bekannt iſt. Die Kritik der le
Clerc’ſchen Geſchichte des alten und
neuen Rußlands von dem kuͤrzlich ver-
ſtorbenen Generalmajor Boltin wird von al-
len Kennern der ruſſiſchen Litteratur als ein
ganz vorzuͤgliches Werk geſchaͤtzt, in welchem
zweifelhafte Thatſachen und ſcheinbare ver-
jaͤhrte Irrthuͤmer mit Scharfſinn und Ge-
nauigkeit berichtigt ſind. Tſchulkow’s Ge-
ſchichte des ruſſiſchen Handels iſt ein
Werk wie es nur wenige Nationen aufzuwei-
ſen haben. Unterſtuͤtzt von der Großmuth der
Kaiſerinn und verſehen mit allen Quellen,
[190] welche Handſchriften und archivaliſche Nach-
richten dem Verfaſſer hergeben konnten, hat
er ein vollſtaͤndiges Syſtem des ehemaligen
und jetzigen ruſſiſchen Handels geliefert, wel-
ches ſowohl wegen ſeines Umfangs, als des
Reichthums an Thatſachen in der ruſſiſchen
Litteratur einzig iſt. Die Geſchichte Peters
des Großen iſt vorzuͤglich ein Gegenſtand
der Bearbeitung mehrerer Verfaſſer geworden.
Unter den beſſern Verſuchen zeichnen ſich Go-
likow’s Geſchichte des Lebens Pe-
ters des Großen und die Sammlung
verſchiedener Schriften zur Kennt-
niß des Lebens und der Thaten P. d.
G. vom Hofrath Tumanski vortheilhaft
aus. Der Oberhofmeiſter, Senateur und
Ritter Jelagin, ein Schriftſteller der ſich
ſchon durch einige ſehr gelungene Produkte in
andern Gattungen bekannt gemacht hat, iſt
itzt mit der Ausarbeitung einer ruſſiſchen Ge-
ſchichte beſchaͤftigt, die nach dem Urtheil aller
Kenner etwas Vortreffliches erwarten laͤßt.
Die hiſtoriſche Schilderung Rußlands
von dem Aſſeſſor Bogdanowitſch; Ru-
bans Chronik von Kleinrußland;
[191]Kreſtinin’s Erſtlinge vom Dwiniſchen
Volk; Tumanski’s Entwurf einer
Lebensbeſchreibung des Großfuͤrſten
Alexander Newski, u. a. gehoͤren zu den
bekannten Werken im hiſtoriſchen Fach. Eine
Geſchichte des armeniſchen Reichs
von Waganow verdient ſchon um deswegen
hier eine Stelle, weil ſie aus Schriftſtellern
dieſer Nation gezogen iſt, und daher als eine
Quelle angeſehen werden kann. — Von den
Ueberſetzungen welche theils durch die Wahl der
Urſchriften, theils durch ihren anerkannten
Werth hervorſtechen, moͤgen folgende als Bey-
ſpiele gelten. Histoire de Jean Sobieski von
Bogajewski. St. Real’s Verſchwoͤ-
rung der Spanier wider Venedig.
Vertot’sRévolutions de la république
Romaine.Mably’s griechiſche Ge-
ſchichte. Stritters Nachrichten der
byzantiniſchen Geſchichtſchreiber.
D’Alembert’sMémoires et réflexions sur
Christine, reine de Suede.Fiſchers ſibi-
riſche Geſchichte. Muͤllers Abhand-
lung uͤber die alten Bewohner Ruß-
lands. Robertſon’s Geſchichte Karls
[192] des Fuͤnften. Histoire généalogique des
Tatares par Abulgasi-Bajadur-Chan. Hi-
stoire de Dannemarc von Mallet. Puf-
fendorfs Einleitung in die Geſchichte
der vornehmſten europaͤiſchen Staa-
ten u. ſ. w.
Auch die mit der Geſchichte ſo innig ver-
bundene Geographie hat unter der jetzigen
Regierung ſo erſtaunliche Fortſchritte gemacht,
daß das ruſſiſche Reich, welches noch vor
dreyßig Jahren groͤßtentheils zur terra incog-
nita gehoͤrte, jetzt eine richtigere und beſtimm-
tere Rubrik in der Kenntniß unſerer Erdkugel
macht, als viele andere europaͤiſche Laͤnder.
Auch hier iſt das erſte Wort, welches ich nie-
derſchreiben muß, Katharinens Name.
Ueberall, in jedem Theile der Staatsverwal-
tung, in jeder Sphaͤre menſchlicher Thaͤtigkeit
hat dieſer ſchoͤpferiſche Geiſt eine neue Bahn
gebrochen. Aehnlich der Gottheit die in allem
lebt und wirkt, verbreitet er ſich in dem gan-
zen unermeßlichen Umfange ſeiner Beſtimmung,
und treibt uͤberall die ſtockenden Saͤfte zu
ſchnellerm verdoppeltem Kreislauf. Welchem
Geſchichtſchreiber, deſſen Gegenſtaͤnd ein ſolcher
Held
[193] Held iſt, kann es die Kritik verargen, wenn
ſeine Bewunderung zuweilen in Enthuſiasmus
uͤbergeht?
Schon im Jahr 1765 ordnete die Kaiſerinn
eine Grenz- und Landmeſſungsexpedition an, die
ihre Arbeiten im folgenden Jahre und zwar
im moskowiſchen Gouvernement anfieng, und
ſeither mit ſolcher Thaͤtigkeit fortgeſetzt hat,
daß jetzt weit uͤber die Haͤlfte des bewohnten
Rußlands ſo genau ausgemeſſen iſt, als es die
Privatbeſitzung eines guten Hausvaters nur
immer ſeyn kann. Dieſe weiſe und wohlthaͤ-
tige Veranſtaltung hat, außer dem unendlich
groͤßern Vortheil, den ſie fuͤr die Sicherheit
des Eigenthums und die erleichterte Staats-
verwaltung hervorbringt, auch fuͤr die Sta-
tiſtik ſehr reichliche Fruͤchte getragen, unter
welchen die zahlreiche und in Hinſicht auf die
Bereicherung geographiſcher Kenntniſſe un-
ſchaͤtzbare Sammlung von Karten uͤber das
ruſſiſche Reich zu den merkwuͤrdigſten gehoͤrt.
Um eben dieſe Zeit befahl die Kaiſerinn die
Reiſen der petersburgiſchen Akademiker, durch
welche die phyſiſche, ſtatiſtiſche, oͤkonomiſche
und ſittliche Beſchaffenheit dieſes großen und
Zweiter Theil. N
[194] bisher ſo unbekannten Landes auf eine zweck-
maͤßige Art unterſucht und erlaͤutert ward.
Die Entdeckungsreiſen, welche Katharina
zum Beſten der geographiſchen Kenntniß des
oͤſtlichen und noͤrdlichen Weltmeers anordnete;
die Befehle und Inſtruktionen, welche ſie ih-
ren Gouverneuren zur Erforſchung des ſtatiſti-
ſchen Zuſtandes der Provinzen gab; die oft
wiederholten Volkszaͤhlungen welche ſie veran-
ſtaltete; die Tabellen welche ſie uͤber das Ver-
haͤltniß der Gebornen und Geſtorbenen, uͤber
die Preiſe der Lebensmittel, uͤber Zoͤlle, Aus-
fuhr und Einfuhr anzufertigen und bey der
Akademie der Wiſſenſchaften einzuſchicken ge-
bot; die Publizitaͤt, mit welcher ſie die Re-
ſultate ihrer ſtaatswirthſchaftlichen Einrichtun-
gen bekannt machte — alle dieſe und viele an-
dere Veranſtaltungen ſind eben ſo viele und
große Verdienſte um die Geographie und Sta-
tiſtik, und haben den Eifer fuͤr dieſe Wiſſen-
ſchaften in Rußland allgemein gemacht. Un-
ter den litterariſchen Produkten, welche dieſen
Bemuͤhungen ihr Daſeyn verdanken, gebuͤhrt
den Tagebuͤchern der akademiſchen
Reiſen mit Recht die erſte Stelle. Da die
[195] Sammlung derſelben uͤberall in Europa be-
kannt iſt, ſo bedarf es nur der Anzeige daß
die deutſch geſchriebenen Reiſen ſaͤmtlich ins
Ruſſiſche uͤberſetzt ſind, und dadurch auch je-
dem Eingebornen, der ſich um die Kenntniß
ſeines Vaterlandes bewirbt, nuͤtzlich werden
koͤnnen. Originalwerke, welche die ruſſiſche
Statiſtik zum Gegenſtande haben, vervielfaͤlti-
gen ſich ſeit einiger Zeit ſo ſehr, daß ich hier
nur die Titel einiger aͤltern Schriften dieſer
Art anmerken kann. Dahin gehoͤrt z. B. des
Generalmajor Pleſchtſchejew ſtatiſtiſche
Ueberſicht des ruſſiſchen Reichs, ein
Werk, welches auf wenigen Bogen eine ſolche
Menge von wichtigen, theils ganz neuen, theils
berichtigten Angaben und Thatſachen enthaͤlt,
daß die Rubrik des ruſſiſchen Reichs in allen
Erdbeſchreibungen dadurch eine ganz veraͤn-
derte Geſtalt gewinnt. Die deutſche Ueber-
ſetzung dieſes Buchs iſt nach der erſten Aus-
gabe gemacht und ſteht ſehr weit hinter der
vierten Auflage des Originals zuruͤck, die kuͤrz-
lich erſchienen iſt. Einen neuen Zuwachs ge-
winnt die Geographie durch des Akademikus
Sujew’s Reiſe von St. Petersburg
N 2
[196]nach Cherſon, Taurien und Konſtan-
tinopel, welche der deutſche Fleiß wahrſchein-
lich auch fuͤr Auslaͤnder brauchbar machen
wird, wenn es nicht ſchon geſchehen ſeyn ſollte.
Des Admirals Tſchitſchagow Reiſe nach
dem Eismeer iſt durch eine deutſche Ueber-
ſetzung bekannt. Ruban’s geographiſche,
politiſche und hiſtoriſche Nachrichten
von Kleinrußland (deutſch, von Haſe);
eines Ungenannten topographiſche Be-
merkungen uͤber die weißruſſiſchen
Statthalterſchaften; des Prieſters Iro-
dionow hiſtoriſch-geographiſche Nach-
richten von der Stadt Toropez und
ihrem Diſtrikt; die vortreffliche topogra-
phiſche Beſchreibung der kalugiſchen
Statthalterſchaft, u. a. gehoͤren zu den
aͤltern Erſcheinungen in dieſem Fach. Eine
hiſtoriſch-geographiſche Beſchrei-
bung von St. Petersburg von Bog-
danow, welche Ruban vermehrt, bis zum
Jahr 1779 fortgeſetzt und herausgegeben hat,
wird itzt von der ruſſiſchen Ueberſetzung oder
vielmehr Umarbeitung der Georgi’ſchen
Beſchreibung verdraͤngt werden, die ſchon
[197] unter der Preſſe iſt, und deren Ausgabe zwey
Deutſche, der Lehrer am Landkadettenkorps
Wuͤrſt, und der Lieutenant bey eben dieſem
Korps Beſack, beſorgen. Nach dem Fleiß
und der Genauigkeit zu ſchließen, mit welcher
dieſe Herausgeber verfahren, muß die ruſſiſche
Ausgabe ein ſehr vollkommenes Werk werden.
Sie haben nicht nur die ſchon geſammelten
Zuſaͤtze und Berichtigungen des Verfaſſers an
ſich gekauft, ſondern auch alle Angaben von
neuem, zum Theil nach beſſern Quellen ge-
pruͤft und ſogar einzelne Bogen umdrucken
laſſen, wenn eingeſchlichene Irrthuͤmer zu ſpaͤt
entdeckt wurden. Ein großer Vorzug den die-
ſes Werk vor allen vorhandenen Nachrichten
uͤber Petersburg erhalten wird, beſteht in ei-
ner vollſtaͤndigen Beſchreibung aller Merkwuͤr-
digkeiten der kaiſerlichen Eremitage, zu wel-
chem Behuf Georgi die ausdruͤckliche Erlaub-
niß von der Kaiſerinn erhalten hat, ſo oft es
ihm gefaͤllt in dieſen Pallaſt zu gehen und von
jeder Sache genaue Erkundigung einzuziehen.
— Eine große Anzahl einzelner Abhand-
lungen uͤber geographiſche und ſtatiſtiſche Ge-
genſtaͤnde des ruſſiſchen Reichs finden ſich in
N 3
[198]Kalendern, Zeitſchriften, u. dergl. zer-
ſtreut. Beſonders reichhaltig iſt in dieſer Ruͤck-
ſicht der hiſtoriſch-geographiſche Ka-
lender der Akademie der Wiſſenſchaf-
ten, zu welchem Pallas, Guͤldenſtaͤdt,
Oſerezkowski, u. a. wichtige und intereſ-
ſante Beytraͤge geliefert haben und noch lie-
fern. — Auch uͤber fremde Laͤnder erſcheinen
zuweilen, wiewohl ſeltner, Nachrichten und
Reiſen, wie z. B. Pleſchtſchejews Reiſe
von Paros nach Syrien (auch deutſch),
die Beſchreibung des Archipels und
der barbariſchen Kuͤſte vom Brigadier
Kokowzow, welche Tumanski herausge-
geben hat, u. a. Des Aſſeſſors Hackmann
zwey Lehrbuͤcher uͤber die allgemeine und
ruſſiſche Geographie zum Gebrauch der
hoͤhern Volksſchulen, ſind ein ſehr brauchbarer
Leitfaden, und um ſo mehr zu ſchaͤtzen, da es
in der ruſſiſchen Sprache noch an ſyſtemati-
ſchen Darſtellungen dieſer Wiſſenſchaft fehlt. —
Unter einer Menge von Ueberſetzungen geogra-
phiſcher Werke nenne ich nur die von Buͤ-
ſchings großer Erdbeſchreibung, als
die wichtigſte
[199]
Die zahlreichen Sammlungen von geo-
graphiſchen Karten welche Rußland in
neuern Zeiten geliefert hat, ſind ſowol wegen
ihres innern Werths, der ſich großentheils auf
neue Entdeckungen gruͤndet, als auch wegen
ihrer Schoͤnheit und Sauberkeit im Auslande
beruͤhmt. Die ruſſiſche Bibliothek des Hof-
raths Bacmeiſter macht mehr als 60 ſolcher
Sammlungen namhaft, die in einem Zeitraum
von 16 Jahren erſchienen ſind, und von de-
nen ſehr viele aus mehreren und einige aus
20 bis 40 Blaͤttern beſtehen. Da ich mich
uͤberall nur auf das Merkwuͤrdigſte einſchraͤn-
ken muß, um dieſen Abſchnitt nicht zu der
Groͤße eines Buchs anwachſen zu laſſen, ſo
werde ich aus einer ſo großen Anzahl nur eini-
ge der wichtigſten, gleichſam als Beyſpiele,
nennen. In dieſe Rubrik gehoͤren die zwey
Specialkarten des moskowiſchen
Kreiſes im moskowiſchen Gouvernement,
welche von der Landmeſſungsexpedition beſorgt
worden ſind. Eine derſelben, die nur gezeich-
net nie geſtochen iſt, haͤlt 50
Arſchinen.
Die andere iſt auf zwey Blaͤttern Imperial-
fol. bey der Akademie der Wiſſenſchaften er-
N 4
[200] ſchienen. — Ferner, die Generalkarte des
ruſſiſchen Reichs, nach der neuen Ein-
theilung in Statthalterſchaften und Kreiſe,
verfertigt unter der Anordnung des (nunmehr
verſtorbenen) wirkl. Geheimen Raths, Gene-
ralprokureurs und Ritters, Fuͤrſten Wjaͤſems-
koi, bey dem in ſeinem Hauſe arbeitenden
geographiſchen Departement durch den Land-
meſſer Petin. 1785. 8 Blaͤtter. 3¾ Arſch.
lang und 1¾ A. hoch. — Atlas der Akade-
mie der Wiſſenſchaften vom ruſſiſchen
Reiche. Seit dem Jahr 1767 fieng die Aka-
demie an, einen neuen Atlas des ganzen ruſ-
ſiſchen Reichs zu liefern. Die Form war die
gewoͤhnliche Homanniſche und es wurden
zwey Ausgaben, eine ruſſiſche und eine lateini-
ſche beſorgt. Jede Karte enthielt eine Pro-
vinz mit den angrenzenden Landſtrichen; einige
Karten beſtehen aus zwey Blaͤttern. Waͤhrend
der Herausgabe dieſes Atlaſſes gewann das
Reich durch die Verwandlung der alten Pro-
vinzen in Statthalterſchaften eine neue Ge-
ſtalt, und ſeit der Zeit faͤhrt die Akademie
fort, Karten nach dieſer neuen Eintheilung zu
liefern. — Der große Atlas der kalugi-
[201] ſchen Statthalterſchaft iſt das vorzuͤg-
lichſte Unternehmen in dieſer Art, ein Unter-
nehmen welches außer Frankreich vielleicht in
keinem Lande ſeines Gleichen hat. Auch die-
ſer Atlas iſt eine Frucht der Bemuͤhungen der
Landmeſſungsexpedition, und beſteht aus drey
Theilen. 1) Die Generalkarte der kalugiſchen
Statthalterſchaft. 2) 12 Plane von den zwoͤlf
Kreisſtaͤdten; illuminirte Grundriſſe jeder Stadt,
mit ihren Sloboden, Gaͤrten, und dergl. 3) 28
Plane der 12 Kreiſe. Auf dieſen Planen ſind
Ackerland und Waldung, Wege und Bruͤcken
angezeigt. Jede Beſitzung, die einer Stadt
oder Privatperſon angehoͤrt, iſt eingeſchloſſen
und mit Buchſtaben oder Zahlen bezeichnet,
die auf die zum Atlas gehoͤrende Beſchreibung
verweiſen. Wo die Grenze noch ſtreitig iſt,
zeigt eine ausgezackte Linie an. Wenn die Be-
ſitzungen ſo klein ſind, daß keine Zahl Platz
findet, ſo ſind ſie auf einer Kartouche neben-
bey groͤßer abgebildet. Auf einen engliſchen
Zoll in der Generalkarte gehen 8 Werſt, in
den mehreſten Planen der Staͤdte 50, in den
uͤbrigen 100 Klafter, in den Planen der Kreiſe
2 Werſt, in den vergroͤßerten Stuͤcken 200
N 5
[202] Klafter. Die Pracht, mit welcher dieſes außer-
ordentliche Unternehmen ausgefuͤhrt iſt, ent-
ſpricht ſeinem Nutzen. — Die zum Atlas ge-
hoͤrige Beſchreibung enthaͤlt unter eilf Kolum-
nen, die ſich mit ihren Zeichen auf den Atlas
beziehen: a) Die Nummer auf dem Plan des
Diſtrikts. b) den Namen des Eigenthums und
den ſeines Beſitzers. c) die Anzahl der Wohn-
plaͤtze. d) die Anzahl der Menſchen nach bey-
den Geſchlechtern. e) die Arealgroͤße der
Wohnplaͤtze. f) des Ackerlandes. g) des Wie-
ſenlandes. h) des Gehoͤlzes. i) des untaug-
lichen Landes. k) die Summe der einzelnen
Angaben von e bis i. l) Kurze oͤkonomiſche
Bemerkungen. — Sobald die Grenzſtreitig-
keiten abgemacht und die zur Appellation ver-
goͤnnten Friſten abgelaufen ſeyn werden, ſoll
ein beſonderer Anhang anzeigen, wem der Be-
ſitz des ſtreitigen Grenzſtuͤcks zugeſprochen iſt.
— Die Fortſetzung dieſer Arbeit, die zu den
heiligſten und ehrwuͤrdigſten Denkmaͤlern von
Katharinens Regierung gehoͤrt, wird mit
dem groͤßten Eifer betrieben.
Wir brechen hier ab, um einen Blick auf
die paͤdagogiſche Litteratur zu werfen. Daß
[203] auch dieſes Feld vor wenigen Jahren noch
wuͤſt und unbearbeitet war, und nur durch die
Vorſorge der jetzigen Kaiſerinn bluͤhend ge-
worden iſt, bedarf wol keiner Anzeige. Ihre
Stiftungen und Verordnungen be-
treffend die Erziehung und den Un-
terricht der Jugend in Rußland*)
ſind im Auslande zu ſehr bekannt und haben
in der ſittlichen Geſchichte der ruſſiſchen Na-
tion eine allzumerkwuͤrdige Epoke gemacht, als
daß ſie irgend einem Leſer von einiger Kultur
fremd ſeyn ſollten. Die großen Erziehungs-
und Unterrichtsanſtalten, welche der Gegen-
ſtand und die Folge dieſer weiſen Anordnun-
gen waren, habe ich in dem achten Abſchnitte
dieſes Buchs zu ſchildern verſucht; hier iſt der
Ort, etwas uͤber die ſpaͤtere, eben ſo wohl-
thaͤtige und in Ruͤckſicht ihres Umfanges noch
wichtigere Revolution zu ſagen, welche Ka-
tharina die Zweyte in der allgemeinen
Volksbildung bewirkt hat. Bekanntlich errich-
[204] tete die Kaiſerinn im Jahr 1782 eine Schul-
kommiſſion, die aus mehreren einſichtsvol-
len Staatsmaͤnnern beſtand, und den Auftrag
hatte, ein Schulweſen fuͤr das ruſſiſche Reich
zu erſchaffen. Der wirkliche Staatsrath Ae-
pinus entwarf einen Plan, in welchem er den
Vorſchlag that, von dem roͤmiſchen Kaiſer ſo
viele Lehrer zu verlangen, als zu den erſten
drey oder vier zu errichtenden Normalſchulen
erforderlich ſeyn moͤchten. Kurz darauf trat
der jetzige Kollegienrath und Ritter Janko-
witſch de Miriewo, ein Serbier griechi-
ſcher Religion aus dem Temeswarer Bannat,
als nachheriges Mitglied der Schulkommiſſion
und Direktor der Volksſchulen in ruſſiſche
Dienſte. Es ward in der Reſidenz ein Inſti-
tut zur Bildung der Lehrer errichtet, und als
dieſes ſeine Zoͤglinge zu ihrer Beſtimmung
vorbereitet hatte (wozu, wenn ich nicht irre, ein
Zeitraum von drey Jahren hinreichend gewe-
ſen war) vertheilten ſich die neuen Lehrer in
verſchiedene Provinzen und die Schulen wur-
den eroͤffnet. Die Ordnung (Uſtaw) fuͤr
die Volksſchulen im ruſſiſchen Reiche,
welche 1786, von den Gliedern der Kommiſſion
[205] unterſchrieben, und durch die kaiſerliche Unter-
zeichnung ſanktionirt, im Publikum erſchien,
enthaͤlt ſo viele Data zur naͤhern Kenntniß
dieſer wichtigen Einrichtung, daß ein kurzer
Auszug aus derſelben um ſo weniger uͤberfluͤ-
ßig ſeyn wird, da, außer der Anzeige in der
ruſſiſchen Bibliothek *) keine deutſche Nach-
richt daruͤber vorhanden iſt.
In einer jeden Gouvernementsſtadt ſoll
eine Hauptvolksſchule ſeyn, die aus vier
Klaſſen beſteht. Es wird gelehrt in der erſten
Klaſſe: Leſen, Schreiben, Anfangsgruͤnde des
Chriſtenthums, Sittenlehre, bibliſche Geſchichte,
Zahlen ſchreiben und ausſprechen und Anfangs-
gruͤnde der Grammatik. In der zweyten: die
Fortſetzung dieſer Gegenſtaͤnde und uͤberdem
Rechnen, nach dem erſten Theil der Arithme-
tik, und Zeichnen. In der dritten: Zeichnen,
Chriſtenthum, Rechnen nach dem zweyten Theil
der Arithmetik, Univerſalgeſchichte, Geographie
von Europa uͤberhaupt und von Rußland be-
ſonders, und ruſſiſche Grammatik. In der
vierten: Ruſſiſche Geographie, Zeichnen, Uni-
[206] verſalgeſchichte, ruſſiſche Grammatik, praktiſche
Anleitung Briefe, Rechnungen u. dergl. abzu-
faſſen, ruſſiſche Geſchichte, allgemeine und ma-
thematiſche Geographie, Geometrie, Mechanik,
Phyſik, Naturgeſchichte und Baukunſt. —
Ueberdem werden in jeder Hauptſchule kuͤnfti-
ge Lehrer der kleinen Schulen vorbereitet; fer-
ner, Schuͤler, die das Studiren auf hoͤhern
Schulen fortſetzen wollen, in allen vier Klaſſen
in der lateiniſchen Sprache; alle Schuͤler aber in
allen Klaſſen in einer auslaͤndiſchen Sprache, die
in der Nachbarſchaft geredet wird, unterrichtet.
— Eine jede Hauptſchule hat eine Sammlung von
Buͤchern, Naturalien, mathematiſchen und
phyſikaliſchen Geraͤthen, Zeichnungen, Model-
len, u. ſ. w. — und ſechs Lehrer: viere zu
den oben verzeichneten Kenntniſſen, einen Zei-
chenmeiſter und einen Lehrer einer auslaͤndi-
ſchen Sprache.
Eine kleine Volksſchule iſt von der
erſten und zweyten Klaſſe einer Hauptſchule
nur darinn unterſchieden, daß in ſelbiger keine
auslaͤndiſche Sprache gelehrt, und in der zwey-
ten Klaſſe, außer dem erſten, auch der zweyte
Theil der Rechenkunſt durchgegangen wird.
[207] Kleine Schulen ſollen in ſolchen Gouverne-
mentsſtaͤdten, die an der Hauptſchule nicht ge-
nug haben, wie auch in den Kreisſtaͤdten und
wo es ſonſt noͤthig ſeyn moͤchte, angelegt
werden.
Alle Lehrer uͤberhaupt ſollen von den Schuͤ-
lern nicht die geringſte Belohnung fuͤr den Un-
terricht fordern. Die Beſoldung der zwey Leh-
rer der beyden hoͤhern Klaſſen iſt fuͤr jeden
400 Rubel. Die vier erſten Lehrer einer Haupt-
ſchule haben in dem Schulhauſe freye Woh-
nung, Holz und Licht. Die ganze Unterhaltung
einer Hauptſchule koſtet jaͤhrlich 2500 Rubel.
Lehrer und Lernende muͤſſen ſich nach den
vorgeſchriebenen Regeln richten. Die Gegen-
ſtaͤnde des Unterrichts der drey erſten Klaſſen
ſollen in Einem Jahre und die Wiſſenſchaften
der vierten Klaſſe in zwey Jahren durchgegan-
gen werden.
Der Gouverneur hat, als Kurator aller
Schulen ſeines Gouvernements, naͤchſt dem
Statthalter, die oberſte Fuͤrſorge fuͤr dieſelben
auf ſich. — Der Direktor der Volksſchu-
len wird vom Statthalter gewaͤhlt und einge-
ſetzt. Er hat in Schulſachen Sitz und Stim-
[208] me in dem Kollegium der allgemeinen Fuͤr-
ſorge. Er muß Acht haben, daß die antreten-
den Lehrer, vornaͤmlich in der erſten und zwey-
ten Klaſſe, die Lehrmethode wiſſen. Er hat
die unmittelbare Aufſicht auf die Lehrer. Er
muß die Volksſchulen in der Gouvernements-
ſtadt woͤchentlich und die in den Kreiſen jaͤhr-
lich wenigſtens einmal beſuchen. Er hat auch
auf die ſogenannten Penſionen oder Hausſchu-
len zu ſehen. — In jeder Kreisſtadt wird
von dem Kurator einer von ihren Einwohnern
zum Inſpektor der Schulen beſtellt, die
er woͤchentlich zweymal beſuchen muß.
Die Volksſchulen eines jeden Gouverne-
ments ſtehen unter dem Kollegium der
allgemeinen Fuͤrſorge. Dieſes muß
nicht allein Acht haben, daß die Schulordnung
in ihrem ganzen Umfange befolgt wird, ſon-
dern auch ſelbſt die Unterhaltung der Schulen
beſorgen. Insbeſondere ſoll es darauf ſehen,
daß immer Schulbuͤcher genug ſowol zum
Verkauf, als zur unentgeldlichen Austheilung
vorraͤthig ſeyn moͤgen. Es muß zu gewiſſen
Zeiten vollſtaͤndige Berichte uͤber den Zuſtand
der Schulen an die Oberſchuldirektion ſchicken.
„Alle
[209]
„Alle jetzige und kuͤnftige Volks- und
Hausſchulen ſind von der Oberdirektion
der Schulen im ruſſiſchen Reiche abhaͤngig.
Dieſe ſteht unmittelbar unter Ihro Kaiſer-
lichen Majeſtaͤt und traͤgt Ihrer Maje-
ſtaͤt ſelbſt die Schulangelegenheiten vor.
(Solche Oberdirektion iſt von Ihrer Maje-
ſtaͤt der fuͤr die Schulen im Reich errichteten
Kommiſſion anvertraut worden.) Sie ver-
ſammelt ſich an geſetzten Tagen, um uͤber al-
les, was zum Nutzen und zum beſſern Fort-
gange des Unterrichts in den Schulen dienen
kann, zu rathſchlagen und zu entſcheiden; muß
aber auch fuͤr die Befolgung der Schulord-
nung in ihrem ganzen Umfange wachen.“
Dieſer kurze Auszug wird hinreichend ſeyn,
einen Begriff von der Einrichtung und Ver-
faſſung des Schulweſens zu geben. Jetzt
wollen wir uns mit dem zweyten Hauptgegen-
ſtande deſſelben, mit den Lehrbuͤchern, be-
kannt zu machen ſuchen. Ein genaues Detail,
ſo intereſſant es auch fuͤr jeden Leſer ſeyn
moͤchte, der Sinn fuͤr dieſe unbeſchreiblich
wichtige Staats- und Menſchenangelegenheit
hat, iſt auch hier unmoͤglich, wenn wir nicht
Zweiter Theil. O
[210] die Grenzen unſers Zwecks gaͤnzlich aus dem
Geſichte verlieren wollen. Eine bloße Anzeige,
hin und wieder durch ein kleines Beyſpiel er-
laͤutert, iſt alles, was uns dieſer erlaubt.
Folgende in den Jahren 1782 bis 87
herausgekommene Lehrbuͤcher umfaſſen den
ganzen vorhin angegebenen Unterricht. Sie
ſind unter der Aufſicht der Schulkommiſſion,
mit beſtaͤndiger Hinſicht auf das Beduͤrfniß der
Nation und auf den einmal angenommenen
Plan, von verdienſtvollen Gelehrten und
Schulmaͤnnern verfaßt, und fuͤhren ſaͤmmtlich
auf dem Titel die Worte: zum Gebrauch der
Volksſchulen herausgegeben auf den hoͤchſten
Befehl der regierenden Kaiſerinn Katharina
der Zweyten. Der Preis iſt jedesmal auf
dem Titelblatte bemerkt. Von den mehreſten
ſind ſchon deutſche Ueberſetzungen, ebenfalls
auf kaiſerliche Koſten, veranſtalte, und es iſt
zu vermuthen, daß alle Schulbuͤcher in dieſe
Sprache uͤbergetragen werden.
- 1. Anweiſung fuͤr die Lehrer der er-
ſtenund zweyten Klaſſe der Volks-
ſchulen des ruſſiſchen Reichs. (20
Kop.) In vier Theilen. — Lehrart. Ge-
[211] genſtaͤnde des Unterrichts. Amt, Eigen-
ſchaften und Auffuͤhrung eines Lehrers.
Schulordnung. - 2. Regeln fuͤr die Lernenden. (4
Kop.) - 3. Ruſſiſches A B C Buch. (6 Kop.)
Enthaͤlt ſlawoniſche (in Kirchenbuͤchern ge-
braͤuchliche) und neuruſſiſche Schrift, Ge-
bete, Moral, Erzaͤhlungen, Zahlen und
das Einmaleins. - 4. Anweiſung zum Zierlichſchreiben.
(5 Kop.) Mit einer Kupfertafel. - 5. Kurzgefaßter Katechismus. Mit
Fragen unter dem Text. (10 Kop.) I. Vom
Daſeyn Gottes, von ſeinem Weſen, und
von der Verehrung die wir ihm ſchuldig
ſind. II. Vom evangeliſchen Glauben.
„Der Glaube iſt eine aufrichtige Anneh-
mung des Evangeliums. Die Lehre von
dem Glauben iſt in der h. Schrift — ent-
halten — abgekuͤrzt aber in dem Glau-
bensſymbolum“ der erſten Nicaͤiſchen
Kirchenverſammlung. Dieſes Symbolum
iſt ganz eingeruͤckt. Dann [folgen] Erklaͤ-
rungen uͤber jeden der zwoͤlf Artikel, wo-
O 2
[212] rinn es eingetheilt iſt. — Vom goͤttlichen
Geſetz. Enthaͤlt die zehn Gebote, mit ei-
ner Erklaͤrung. — Das Gebet des Herrn,
mit Erlaͤuterungen. Dieſes, die zehn Ge-
bote und das Symbolum ſind ſlawoniſch,
das ganze Buch aber neuruſſiſch, obgleich
mit ſlawoniſchen Lettern gedruckt. Am
Schluß ſteht: Durchgeſehen von dem heil.
Synod. - 6. Daſſelbe Buch, ohne Fragen. (6 Kop.)
- 7. Ausfuͤhrlicher Katechismus. (20
Kop.) Iſt von dem vorhergehenden nur
dadurch unterſchieden, daß unter dem Text
ſehr viele Beweisſtellen aus der Bibel
woͤrtlich abgedruckt ſind, und daß ausfuͤhr-
lich von den Sakramenten gehandelt wird. - 8. Erklaͤrungen der Sonntags- und
Feſttagsevangelien. (30 Kop.) Es
ſind 59 Abhandlungen uͤber eben ſo viele
Evangelien. Z. B. der Text; der Inhalt,
tabellariſch auseinandergeſetzt; Erklaͤrung;
chriſtliche Lehre; Sittenlehre. - 9. Kurze Religionsgeſchichte der
Kirche des Alten und Neuen Teſta-
ments. (15 Kop.) Die Geſchichte des
[213] letztern bezieht ſich beſonders auf die mor-
genlaͤndiſche und hernach auf die griechiſch-
ruſſiſche Kirche. — Den Geiſt dieſes
Buchs mag folgende Stelle bezeichnen:
„Zum Ungluͤck des menſchlichen Geſchlechts
dauerten dieſe Spaltungen (im 9. und 16
Jahrhunderte) eine geraume Zeit fort;
als aber die aufgeklaͤrten Zeiten kamen,
in welchen die regierenden Fuͤrſten ſich der
Erhaltung der allgemeinen Wohlfart des
Volks annahmen, und die Kirchenlehrer
anfiengen, aus der h. Schrift, anſtatt ſie,
wie vorher geſchehen war, zur Bedraͤn-
gung anderer Religionspartheyen zu ge-
brauchen, die wahre Lehre Chriſti zu pre-
digen, naͤmlich die aͤchte chriſtliche Liebe,
Einigkeit und Sanfmuth gegen Jeder-
mann, nebſt denjenigen edlen Pflichten,
durch welche ſich tugendhafte Chriſten und
gutgeſittete Buͤrger auszeichnen: ſo er-
lebte die chriſtliche Kirche in dieſem Jahr-
hunderte ihr ruhiges und gluͤckliches Zeit-
alter, in welchem man vornaͤmlich auf die
Unterthanen der weiſen Katharina ſe-
hen, und mit Vergnuͤgen bemerken muß,
O 3
[214] wie ſie ſo einig, als wenn ſie alle nicht
nur der einzigen chriſtlichen Religion, ſon-
dern auch einer einzigen Parthey derſel-
ben zugethan waͤren, unter einander leben
und den einigen Gott in verſchiedenen
Sprachen preiſen.“ - 10. Von den Pflichten des Menſchen
und des Buͤrgers. Ein Leſebuch.
(45 Kop.) Es war eine große und ſchoͤne
Idee, Kinder ſchon bey ihrem erſten Un-
terricht mit den Verhaͤltniſſen und Pflich-
ten bekannt zu machen, in welche ſie einſt
treten ſollen. Von ihrer Ausfuͤhrung moͤ-
gen folgende Proben zeugen. Das ganze
Werk zerfaͤllt in vier Theile. I Von der
Bildung der Seele. Tugenden; Pflichten
gegen Gott, gegen den Naͤchſten, gegen
uns ſelbſt; was ein Tugendhafter vermei-
den ſoll. II. Sorge fuͤr den Leib. Ge-
ſundheit; Wohlſtand. III. Geſellſchaftli-
che Pflichten. Geſellſchaftsbande uͤber-
haupt; Ehe; Eltern und Kinder; Herr
und Diener; Staat und Buͤrger
(letzteres mit vielen Unterabtheilungen).
IV. Haushaltungskunſt. — In einem be-
[215] ſondern Artikel des dritten Theils wird
von der Liebe zum Vaterlande gehandelt.
„Im eigentlichen Verſtande heißt das Va-
terland diejenige große Geſellſchaft, zu
welcher Jemand als ein Mitglied gehoͤrt,
das iſt, derjenige Staat, deſſen Unterthan
Jemand iſt, weil er entweder daſelbſt ge-
boren wurde oder ſich dahin zu wohnen
begeben hat. Eine ſolche große Geſell-
ſchaft, die zuweilen uͤber viele Laͤnder aus-
gebreitet iſt, wird deswegen das Vater-
land genannt, weil darinn das Wohl aller
Einwohner oder Mitglieder durch eine
Macht und durch Geſetze eben ſo erhal-
ten und befoͤrdert wird, als in einem
Hauſe das Wohl der Kinder durch die
Fuͤrſorge des Vaters beſorgt wird. Und
daher ſind alle diejenigen, welche unter
Einer Regierung oder unter Einer Ober-
herrſchaft ſtehen, Soͤhne Eines Vaterlan-
des.“ - 11. Daſſelbe Buch, mit Fragen unter dem
Text. (25 Kop.) - 12. Anweiſung zur Rechenkunſt. Er-
ſter Theil. (15 Kop.) Erklaͤrung der er-
O 4
[216] ſten Begriffe. Ruſſiſche Muͤnz-Maaß-
und Gewichtſorten. Die vier gewoͤhnli-
chen Rechnungsarten in genannten Zah-
len. - 13. Deſſ. Buchs zweyter Theil. (20 Kop.)
Von den Bruͤchen, Quadrat- und Kubik-
zahlen, Proportionen, Regel de Tri, Re-
gula falſi. - 14. Anleitung zur Phyſik. (25 Kop.)
Mit drey Kupfertafeln. - 15. Anleitung zur Mechanik. (30 Kop.)
Mit ſechs Kupfertafeln. - 16. Abriß der Naturgeſchichte. Zwey
Theile. (70 Kop.) - 17. Anleitung zur Geometrie. (35
Kop.) Mit ſechs Kupf. - 18. Geographie des ruſſiſchen
Reichs. - 19. Allgemeine Geographie.
- 20. Ruſſiſche Geſchichte.
- 21. Univerſalgeſchichte. Von dieſen
letzten acht Lehrbuͤchern koͤnnen hier nur
die Titel angezeigt werden, da jeder Aus-
zug, wenn er den Zweck haben ſollte, den
Leſern einen Begriff von dem Inhalt und
[217] der Behandlung zu geben, ſchlechterdings
zu weitlaͤuftig fuͤr den Plan dieſes Auf-
ſatzes werden muͤßte.
Eine ſolche Anzahl zweckmaͤßig abgefaßter
Lehrbuͤcher uͤber die nothwendigſten und nuͤtz-
lichſten Kenntniſſe des geſellſchaftlichen und
buͤrgerlichen Lebens koͤnnte auf eine Zeitlang
fuͤr das Beduͤrfniß der Nation hinreichend
ſeyn. Dem ungeachtet machen Ueberſetzungen
auslaͤndiſcher paͤdagogiſcher Schriften noch im-
mer ihr Gluͤck. Man lieſt jetzt in ruſſiſcher
Sprache, außer mehreren theils ſchon angefuͤhr-
ten Kompendien, den vortrefflichen Effai d’édu-
cation nationale von Chalotais, Rollin’s
Manière d’enseigner les belles-lettres,
Campens Kinderbibliothek, Wolke’s
Buch fuͤr Anfaͤnger im Leſen und
Denken, den Lehrmeiſter, das Magazin
des enfans, und viele andere Werke dieſer Art.
Die Kultur der Nationalſprache
hat ſeit Lomonoſſow’s Zeiten einen Gang
genommen, der fuͤr die Vervollkommung der-
ſelben ſehr viel erwarten laͤßt. Sie iſt nicht
nur auf Grundſaͤtze und Regeln zuruͤckgefuͤhrt,
O 5
[218] die ihren eigenthuͤmlichen Bau fuͤr Zerſtoͤrung
bewahren, ſondern ſie hat durch das Beyſpiel
guter Schriftſteller an ihrer Urquelle, der ſla-
woniſchen Sprache, einen ſo reichhaltigen
Stoff zur Veredlung und Bereicherung erhal-
ten, daß ſie keines erborgten Vorſchuſſes be-
darf, um Bezeichnungen fuͤr jeden nur erdenk-
lichen Begriff zu finden. Daß dennoch ſo
manche fremde Worte, beſonders im Geſpraͤch
des Umgangs, in der ruſſiſchen Sprache cir-
kuliren, ruͤhrt von der Heteromanie her, die
jedem Volke anklebt, welches einen Theil ſeiner
Kultur von fremden Nationen empfaͤngt. Die
Deutſchen ausgenommen, giebt es ſicherlich
kein Volk, welches ſich ſo ſehr mit der Litte-
ratur und den Sprachen fremder Voͤlker
beſchaͤftigt. Die Beweiſe hievon ſind in die-
ſem Buche ſo haͤufig, daß es unnoͤthig waͤre,
dies mit Beyſpielen zu belegen. Aber einer
kurzen Anzeige iſt es werth, daß die Ruſſen
auch Sprachen kultiviren, die in dem uͤbrigen
Europa unbekannt ſind. Ich habe oben des
Translateurs Jaͤhrig erwaͤhnt, den die
Akademie der Wiſſenſchaften fuͤr die Kenntniß
der mongoliſchen Sprache unterhaͤlt; ein ſchon
[219] verſtorbener Schriftſteller, der Kanzelleyrath
Leontjew bey dem Kollegium der auswaͤrti-
gen Geſchaͤfte, iſt der Ueberſetzer einer Menge
philoſophiſcher, politiſcher und hiſtoriſcher
Schriften der Chineſen. Als eine Probe, wie
wichtig die Kultur dieſer Sprache fuͤr die Be-
reicherung der Kenntniſſe werden kann, die wir
von den Chineſen haben, fuͤhre ich nur ein
Paar dieſer Ueberſetzungen an. S’uͤſchu
ghjei, d. i. vier Buͤcher mit Ausle-
gungen. Erſtes Buch des Philoſophen Kon-
fuzius. — Nachricht von dem Kriege
der Chineſen mit den Sengoren von
1677 bis 1698. Mit einer Vorrede vom Kai-
ſer Kanſi. — Beſchreibung der Staͤd-
te, Einkuͤnfte, u. ſ. w. des chineſiſchen
Reichs, aus der unter dem jetzigen Khan
Kjan-Lun zu Pecking gedruckten Reichsgeo-
graphie. Eine aͤchte chineſiſche Statiſtik! u.
m. a. — Auch die in dem Umfange des ruſ-
ſiſchen Reichs bisher nur geſprochenen Dialek-
te und Sprachen ſucht man allmaͤlig unter ge-
wiſſe Regeln zu bringen, wie die Verſuche be-
weiſen, die man mit der Grammatik der
wotjakiſchen und tſcheremiſſiſchen
[220] Sprache gemacht hat. Von den mehreſten
europaͤiſchen Sprachen hat man itzt ſchon
Sprachlehren im Ruſſiſchen, vorzuͤglich von
ſolchen, die in der Nachbarſchaft geredet wer-
den. Die Woͤrterbuͤcher vervielfaͤltigen ſich
ebenfalls und werden mit immer groͤßerer Ge-
nauigkeit verfertigt; unter den neueſten Unter-
nehmungen dieſer Art verdient das große
franzoͤſiſch-ruſſiſche Lexikon, welches
Weitbrecht herausgiebt, als das beſte unter
den itzt vorhandenen angefuͤhrt zu werden.
Die alte Litteratur findet zwar, im
Ganzen genommen, keine ſo gute Aufnahme
in Rußland als in manchen andern Laͤndern;
aber ſie wird doch nicht vernachlaͤßigt. Es
kommen jaͤhrlich mehrere Schriften nicht nur
in lateiniſcher, ſondern ſogar in griechiſcher
Sprache heraus; der Unterricht in denſelben
wird fuͤr nuͤtzlich und nothwendig gehalten,
und ſehr vornehme und angeſehene Leute laſ-
ſen ihre Kinder wenigſtens Eine von beyden
erlernen. Von den vorzuͤglichſten Schriftſtel-
lern des Alterthums ſind jetzt Ueberſetzungen
vorhanden, und auch dieſe nuͤtzliche Veranſtal-
tung hat man der jetzigen Kaiſerinn zu dan-
[221] ken. Sie ſetzte im Jahr 1768 jaͤhrlich 5,000
Rubel fuͤr ruſſiſche Ueberſetzungen guter Buͤ-
cher aus, und uͤbertrug den Grafen Schu-
walow und Orlow und dem Staatsrath
Koſizki die zweckmaͤßige Verwendung dieſer
Summe. Man erklaͤrte gleich anfangs, daß
man vorzuͤglich auf Dollmetſchungen griechi-
ſcher und roͤmiſcher Schriftſteller ſehen wuͤrde,
und dies hatte den guten Erfolg, daß die
ruſſiſche Litteratur in dieſem Zweige eine Be-
reicherung gewann, die ſie außerdem wohl noch
lange haͤtte entbehren muͤſſen. Eine kurze Ue-
berſicht einiger in Bacmeiſters Bibliothek
angezeigten Ueberſetzungen wird dies am beſten
beweiſen.
Griechen. Plato’s Werke, von Si-
dorowski und Pachomow. — Heſiod’s
Werke, von Frjaſinowski. — Homer’s
Batrachomyomachie, von Ruban. In
Proſe, mit einigen erlaͤuternden mythologi-
ſchen Anmerkungen. (Schon zu Peters des
Großen Zeit ward die B. von einem gewiſ-
ſen Kopiewski uͤberſetzt, der ſie, nebſt Ae-
ſops Fabeln in Amſterdam herausgab.) —
Homer’s Iliade, von Jekimow in
[222] Proſe die ſich dem ſlawoniſchen naͤhert. —
Lucians Todtengeſpraͤche, von Sido-
rowski und Pachomow. — Diodors
von Sizilien hiſtoriſche Bibliothek,
von Alexejew. Wird fuͤr gut gehalten. —
Theophraſts Sittenſchilderungen,
nach der lat. Caſauboniſchen und franz. Bruye-
riſchen Ueberſetzung u. ſ. w. — Roͤmer. Ta-
citus, vom alten Germanien, von
Swjetow. — Ovids Verwandlungen,
zwey Buͤcher, vom verſtorbenen Staatsrath
Koſizki, Mitglied der Akademie der Wiſſen-
ſchaften. In Proſe. Wird fuͤr ſehr gut ge-
halten. Terenz von Chwoſtow, Golo-
win, Richmann, Florinski, Moj-
ſjeenkow und Sinski. Nach le Mon-
nier’s Ausgabe, weil ſie ſich, bey andern
Vorzuͤgen, durch eine ſehr wahrſcheinlich rich-
tige Eintheilung der Auftritte empfiehlt. Ho [...]-
razens Oden von Popowski. Cicero
de finibus, von Posnikow; consolatio; de
natura Deorum, von Komow. Die poeti-
ſchen Stellen ſind in ruſſiſche Verſe uͤberge-
tragen. Julius Caͤſar. Vellejus Pat.
Valerius Max. Suetonius. Virgils
[223] Georgikon. Virgils Aeneis, von Je-
kimow, und von dem Kollegienrath Petrow
(einem beruͤhmten Dichter, wie man weiter
unten ſehen wird) in Alexandrinern. Letztere
wird fuͤr ſehr vorzuͤglich gehalten; man machte
ihr aber den Vorwurf, daß ſie durch allzu-
haͤufig eingemiſchte ſlawoniſche Wendungen und
Redensarten bisweilen unverſtaͤndlich wuͤrde.
Der Verfaſſer hat ſich daher einer zweyten
neuen Ueberſetzung unterzogen, die ſo eben die
Preſſe verlaͤßt u. ſ. w.
Katharinens Zeitalter, das den Muſen
uͤberall ſo guͤnſtig iſt, hat auch fuͤr die Dicht-
kunſt eine glaͤnzende Epoke hervorgebracht.
Nach dem Tode Lomonoſſows und Su-
marokows ſchien die ruſſiſche Litteratur ver-
waiſet zu ſeyn; dieſe beyden gluͤcklichen Ge-
nies, die die Morgenroͤthe des guten Geſchmacks
verkuͤndigten, ſchienen ſie auch zugleich mit ih-
rem Ruhm wieder in das Grab zu nehmen.
Die Bahn auf welcher ſie gewandelt hatten,
blieb eine Zeitlang unbetreten, aber dieſer
dunkle Zwiſchenraum war von keiner langen
Dauer. Nie, in keinem Zeitpunkte der ruſſi-
ſchen Litteratur hatte dieſe eine ſo große An-
[224] zahl gluͤcklicher und zum Theil ausgezeichneter
Dichter aufzuweiſen, als jetzt.
Die ſchoͤnſte Epoke von Sumarokows
dichteriſcher Laufbahn fiel in die Regierung
Katharinens der Zweyten*). Aus
dieſer Urſache und weil mit ihm das erſte Zeit-
alter der ruſſiſchen Dichtkunſt ſchließt, koͤnnen
wir nicht umhin, ſeiner hier zu erwaͤhnen.
Gluͤcklich in jedem Felde, in welches ſich ſein
kuͤhner Genius wagte, aber gluͤcklicher nir-
gend, als in der dramatiſchen Sphaͤre, ſchien
Sumarokow beſtimmt, ſeiner vaterlaͤndi-
ſchen Litteratur in jeder Gattung Muſter zu
hinterlaſſen. Eine lebhafte, aber in Zuͤgel ge-
haltene Phantaſie, ein gereinigter, durch das
Studium der Alten und Neuern ausgebildeter
Geſchmack, und eine klaſſiſche Sprache ſind
die karakteriſtiſchen Eigenſchaften ſeiner Pro-
dukte. Beweiſender als dieſes allgemeine Ur-
theil
[225] theil wuͤrden freylich Beyſpiele ſeyn; aber wenn
es auch moͤglich waͤre, die eigenthuͤmlichen
Schoͤnheiten des Originals in eine ihrem gan-
zen Weſen nach ſo verſchiedene Sprache uͤber-
zutragen: ſo erlaubt es doch der Plan und
die Abſicht dieſer Blaͤtter nicht, gerade von
den groͤßten Meiſterſtuͤcken dieſes Dichters,
von ſeinen dramatiſchen Werken, Proben zu
liefern. Um indeſſen den Leſer einigermaßen
von der Wahrheit des gefaͤllten Urtheils zu
uͤberzeugen, ſchalte ich hier ein paar kleinere
Gedichte, nach einer woͤrtlichen Ueberſetzung
des H. Bacmeiſter ein *).
Zweiter Theil. P
[226]
[227]
P 2
[228]
Folgende Ode uͤber die Groͤße Gottes hat
eine auffallende Aehnlichkeit mit einzelnen Ge-
danken eines der beſten deutſchen Dichter.
[229]
Das letzte Beyſpiel mag eine Stelle aus
dem Lehrgedichte uͤber die Dichtkunſt ſeyn, in
welcher die Schilderung der Ode ſo lautet:
P 3
[230]
So ehrenvoll der Platz iſt, den Sumaro-
kows Muſe in dem Ehrentempel der ruſſiſchen
Litteratur behauptet, ſo groß iſt auch die An-
zahl derer, die um die naͤchſte Stelle neben
ſeinem Denkmal buhlen. Unter die Dichter
dieſer Klaſſe, uͤber welche die Nachwelt ſchon
ihr Urtheil ſprechen kann, gehoͤrt der unlaͤngſt
verſtorbene Hofrath Knjaͤſhnin, der ſich in
mehreren Dichtungsarten als ein gluͤcklicher
Nachfolger ſeines Vorgaͤngers gezeigt hat. Die
dramatiſchen Werke mit welchen er das Thea-
[231] ter bereichert hat, vereinigen große Schoͤnhei-
ten der Kompoſition mit einem leichten harmo-
niſchen Versbau und einer tiefen Kenntniß des
Reichthums und der Staͤrke der Sprache. Zu
den beruͤhmteſten Produkten dieſer Gattung
rechnet man ſein Tranerſpiel Dido und ſein
Luſtſpiel der Großpraler. Eine große An-
zahl vermiſchter Gedichte, unter welchen ſich
einige ſehr gelungene Epiſteln und Satiren be-
finden, die Ueberſetzung der Henriade in reim-
loſe Verſe und verſchiedene proſaiſche Aufſaͤtze
ſichern ihm den Ruhm eines der beſten Schrift-
ſteller ſeiner Nation. — Unter den jetztleben-
den Dichtern ſcheint keiner gerechtere Anſpruͤche
an eine kuͤnftige Unſterblichkeit zu machen, als
der wirkliche Staatsrath und Ritter, Herr
von Derſchawin, ein eben ſo verehrungs-
wuͤrdiger Staatsmann, Patriot und Menſchen-
freund, als er ein liebenswuͤrdiger Schriftſtel-
ler iſt. Die unermuͤdlichſte Thaͤtigkeit in ſei-
nem großen und wichtigen Wirkungskreiſe laͤßt
dieſem vortrefflichen Manne noch immer Zeit
genug uͤbrig, um den Muſen, ſeinen Vertrau-
ten, einzelne Augenblicke zu ſchenken, und die
Litteratur ſeines Vaterlandes mit den Pro-
P 4
[232] dukten ſeines originellen, durch die hoͤchſte Kul-
tur veredelten Talents zu bereichern. Eigen-
thuͤmlichkeit, Feinheit und Eleganz ſind der Ka-
rakter dieſes Schriftſtellers; unnachahmlich iſt
die Harmonie ſeiner Diktion und der Wohllaut
ſeines leichten Versbaues; er hat das Mittel
gefunden, die uͤppigſte Einbildungskraft und den
gereinigteſten Geſchmack zu verſchwiſtern. So
lautet das Urtheil der Kenner.
Gerne verſchaffte ich meinen Leſern den
Genuß, einzelne Proben dieſes Dichters mit
ihrer Kritik zu vergleichen. Ueberſetzungen ſind
faſt von allen ſeinen Werken vorhanden; aber
wie grob und koͤrperlich iſt hier uͤberall die
Huͤlle, durch welche der feine Geiſt des Origi-
nals durchſchimmern ſoll. Keine Sprache, die
ich kenne, legt dem Ueberſetzer ſo unuͤberwind-
liche Schwierigkeiten in den Weg, als die ruſ-
ſiſche. Der ganz eigenthuͤmliche Karakter der-
ſelben macht freye Nachahmungen faſt unmoͤg-
lich; und bey einer treuen, woͤrtlichen Dollmet-
ſchung iſt es nicht ſelten der Fall, daß die edel-
ſte Wendung oder der erhabenſte Ausdruck
matt und alltaͤglich wird, den großen Verluſt
der Verſifikation nicht einmal zu rechnen. In
[233] dem folgenden Verſuche des Herrn von Kotze-
bue ſind dieſe Schwierigkeiten zwar nicht ſo
gluͤcklich beſiegt als es zu wuͤnſchen waͤre, aber
ich gebe ihn dennoch wie er iſt, um meine Le-
ſer nicht in einer gaͤnzlichen Unbekanntſchaft
mit einem der vortrefflichſten Dichter dieſer
Nation zu laſſen.
P 5
[234]
[235]
[236]
[237]
[238]
[239]
[240]
froh-
[241]
Zweiter Theil. Q
[242]
Unter den Dichtern die ſich einen großen
und bleibenden Ruhm erworben haben, darf
ich den wirklichen Staatsrath und Ritter
[243]Cheraskow nicht vergeſſen, ob er gleich
ſeit langer Zeit nicht mehr unter die Schrift-
ſteller von St. Petersburg gezaͤhlt werden
kann. Seine Heldengedichte: die Roſſiade
und die Schlacht bey Tſchesme ſind die
erſten gelungenen Produkte der Nation in der
epiſchen Gattung; aber nicht minder gluͤcklich
iſt dieſer Dichter in andern Faͤchern der Litte-
ratur geweſen. Er hat Trauerſpiele und Luſt-
ſpiele geſchrieben, die ſich noch jetzt, lange
nach ihrer erſten Erſcheinung, auf den Buͤh-
nen erhalten, und immer mit Vergnuͤgen ge-
ſehen werden. In fruͤheren Zeiten gab er auch
Oden, Fabeln und Idyllen heraus. Seine
neuern Produkte ſind der Numa Pompi-
lius, ein hiſtoriſcher Roman, in der Manier
des Telemachs; Kadmus und Harmonia,
ein erzaͤhlendes Gedicht, u. ſ. w. Alle dieſe
Werke ſtehen in großer Achtung bey der Na-
tion. — Seine Gemahlinn, Eliſabeth Che-
raskowa hat ſich ebenfalls als Dichterinn ei-
nen Namen gemacht. Man hat von ihr Ele-
gieen und anakreontiſche Oden.
W. Petrow, Kollegienrath und Biblio-
thekar der Kaiſerinn, trat etwa um das
Q 2
[244] Jahr 1775 als Gelegenheitsdichter auf; aber
ſchon ſeine erſten Verſuche erhielten einen Bey-
fall, den ſeit Lomonoſſow keiner in dem
Maaße genoſſen hatte. Eine kuͤhne, ſchwelge-
riſche Phantaſie, eine bilderreiche Sprache und
eine Kompoſition die Kultur und Geſchmack
verraͤth, zeichnen ſeine Muſe auf eine ſehr
vorzuͤgliche Weiſe aus. Mit den großen Mu-
ſtern des Alterthums vertraut, hat er ſich dieſe
nicht nur zum Studium, ſondern ſogar zum
Ziel ſeiner litterariſchen Thaͤtigkeit gemacht.
Seine poetiſche Ueberſetzung der Aeneis, die
vorhin ſchon angefuͤhrt iſt, wird von Kennern
fuͤr ein Meiſterſtuͤck gehalten; aber der unbe-
friedigte Verfaſſer hat ſie einer gaͤnzlichen Um-
arbeitung unterworfen. Ein langer Aufenthalt
in England floͤßte ihm eine Vorliebe fuͤr die
brittiſche Litteratur ein, die ihn zu dem ſchwe-
ren Unternehmen begeiſterte, Milton’s ver-
lornes Paradies in ſeine Mutterſprache
uͤberzutragen. Auch dieſe Ueberſetzung, die in
Proſe verfaßt iſt, hat ſeinen Ruhm auf eine
gerechte Weiſe vergroͤßert. Von ſeinen lyri-
ſchen Gedichten, die vor einigen Jahren ge-
ſammelt und verbeſſert herausgekommen ſind,
[245] mag folgende Verdeutſchung des H. Bac-
meiſter als eine Probe gelten.
Q 3
[246]
[247]
Q 4
[248]
Die ruſſiſche Buͤhne hat kuͤrzlich einen ſehr
großen Verluſt an dem verſtorbenen Staats-
rath van Wiſin*) erlitten. Dieſer Dichter,
[249] der der Moliere des ruſſiſchen Theaters zu
werden verſprach, vereinigte alle Eigenſchaften,
die eine ſolche Beſtimmung erfordert. In ſei-
nen beſten Stuͤcken, dem Brigadier und
dem Njedorosl*), herrſcht ein gutgehalte-
nes Intereſſe, ein lebhafter Dialog und eine
Regelmaͤßigkeit, die man ſelten in aͤhnlichen
Produkten ſo beyſammen findet. Seine Gei-
ßel greift herrſchende Vorurtheile und glaͤnzen-
de Laſter mit einer bewundernswuͤrdigen Kuͤhn-
heit an; ſeine Suͤjets ſind national, und ma-
chen um deswegen eine ſo groͤßere Wirkung.
Er iſt auch der gluͤckliche Ueberſetzer des
Mark Aurels von Thomas und des Jo-
ſephs von Bitaubé. — Des Oberhofmei-
ſters und Senateurs H. von Jelagin iſt ſchon
bey Gelegenheit der ruſſiſchen Geſchichte ge-
dacht, an welcher er jetzt arbeitet. Auch als
Dichter hat er ſeinen Namen auf eine ruͤhm-
Q 5
[250] liche Weiſe bekannt gemacht. Außer mehreren
lyriſchen Gedichten und Satiren iſt er vorzuͤg-
lich als der Ueberſetzer vieler Schauſpiele des
de la Touche bemerkenswerth. — Der
Kollegienrath Koſadawlew, ein liebenswuͤr-
diger Schriftſteller, deſſen Produkte ſich durch
einen hohen Grad von Feinheit und Eleganz
auszeichnen, hat Thuͤmmels Wilhelmine
mit ſo außerordentlichem Gluͤck auf den ruſſi-
ſchen Boden verpflanzt, daß es ſehr zu wuͤn-
ſchen waͤre, er moͤchte ſeiner Nation auch mit
den Reiſen duch die mittaͤglichen Provinzen
von Frankreich ein aͤhnliches Geſchenk machen.
— Der Staatsrath Chrapowizki, der
Geheimerath und Senateur Alexei Na-
riſchkin, der Generallieutenant Potemkin
der Kammerjunker Murawjew, der Gehei-
merath und Senateur Rſhewski, der Gen.
Lieut. Swiſtunow, der Staatsrath Lukin,
und mehrere Herren von hohem Range haben
ſich als Dichter in verſchiedenen Faͤchern um die
Litteratur ihres Vaterlandes verdient gemacht.
— Unter den Ueberſetzern poetiſcher Werke
zeichnen ſich der Aſſeſſor Bogdanowitſch
durch ſeine Pſyche von Lafontaine; Ka-
[251] rabanow durch ſeine Alzire von Voltai-
re; Dmitriew durch ſeine Fabeln nach la
Fontaine, Sacharow durch ſeinen Tele-
mach und Tod Abels, Popow durch ſein
befreytes Jeruſalem, u. m. a. ſehr vor-
theilhaft aus. Kapniſt und Krilow haben
ſich im Fach der Satire Ruhm erworben.
Oſſipow hat einen traveſtirten Aeneas,
in der Manier des Blumaueri’ſchen gelie-
fert, und alle fremde Anſpielungen nationali-
ſirt. — Ich breche hier ab, weil dieſe Liſte,
die ſich um das vierfache vergroͤßern ließe, oh-
ne eine genauere Karakteriſtik der Dichterwerke
ſelbſt, kein Intereſſe fuͤr auswaͤrtige Leſer ha-
ben kann.
Gute proſaiſche Schriftſteller in
mehreren Gattungen ſind ſchon ſo haͤufig in
dieſer Schilderung aufgefuͤhrt, daß es unnoͤ-
thig waͤre, ihre Namen hier wieder zu-
ſammenzuſtellen. Kein Fach der ruſſiſchen Lit-
teratur iſt ſo zahlreich meublirt, als das der
Romane. Der groͤßte Theil derſelben beſteht
aus Ueberſetzungen, die denn nicht allemal,
weder von Seiten der Auswahl noch der
Sprache, Muſter genannt werden koͤnnen.
[252] Die matteſten Produkte der vergangenen De-
zennien, die in Deutſchland ſchon lange ver-
geſſen ſind, erhalten hier oft zum zweytenmal
eine Exiſtenz und helfen den Geſchmack der
Nation verderben. Daß es auch ſehr vorzuͤg-
liche Ausnahmen giebt, verſteht ſich natuͤrlich
von ſelbſt. Zu dieſer Klaſſe gehoͤren die Ue-
berſetzungen des Humphry Klinker von
Sacharow, des Gilblas vom Geheimen-
rath Tjeplow, des Joſeph Andrews,
des Tom Jones, die neuere Ueberſetzung
von Werthers Leiden, die von Flori-
an’s Numa Pompilius, le Sage
diable boiteux, und der Nouvelles nouvelles
von Florian durch Beſack, u. a. m.
Zeitſchriften haben bisher kein ſonder-
liches Gluͤck im Publikum gemacht. So viele
ihrer auch aufgetreten ſind, ſo hat ihre Exiſtenz
doch ſelten uͤber drey oder vier Jahre gedau-
ert. Die St. Petersburgiſche gelehrte
Zeitung, die im Jahr 1778 herauskam, war
das erſte Unternehmen dieſer Art, gieng aber
wegen des nachtheiligen Verlags bald wieder
ein. Ein aͤhnliches Schickſal hatte die Mo-
natsſchrift: Akademiſche Nachrichten,
[253] welche von 1779 bey der Akademie der Wiſ-
ſenſchaften ausgegeben wurde, und den Geiſt
der vorzuͤglichſten neuen Werke, Erfindungen,
u. ſ. w. enthalten ſollte. Sie dauerte nur bis
1781. Der Gehuͤlfe der Liebhaber der
ruſſiſchen Sprache, ein Journal welches
ſehr beruͤhmte Mitarbeiter hatte, gieng mit
dem Schluß des erſten Jahrgangs ein. Unter
den jetzt fortdauernden Zeitſchriften, ſind die
monatlichen Abhandlungen, welche ſeit
1786 bey der Akad. der Wiſſ. herauskommen,
und der ruſſiſche Merkur von Kluſchin
und Krilow die bekannteſten.
Hier ſchließt ſich unſere Ueberſicht der pe-
tersburgiſchen Litteratur waͤhrend eines Zeit-
raums von etwa zwanzig Jahren. So un-
vollſtaͤndig die Materialien waren, nach denen
ſie entworfen werden ſollte, ſo bin ich dennoch
gezwungen geweſen, viele derſelben abſichtlich
unbenutzt zu laſſen, um nicht in ein ermuͤden-
des Detail zu verfallen, das, bey der groͤßten
Ausfuͤhrlichkeit, doch nicht unterrichtender fuͤr
den Leſer haͤtte werden koͤnnen. Die Reſul-
tate, welche ſich ſelbſt aus dieſer leicht gezeich-
neten Schilderung ergeben, ſind allzuauffallend,
[254] als daß ſie hier einer weitlaͤuftigen Auseinan-
derſetzung beduͤrften.
Auch die Auslaͤnder, vorzuͤglich die Deut-
ſchen, bilden hier ein gelehrtes Publikum,
unter welchem ſich Schriftſteller von großem
Ruf und großen Verdienſten [befinden]. Wie
thaͤtig dieſe zum Theil fuͤr die Aufnahme der
ruſſiſchen Litteratur mitwirken, davon findet
man haͤufige Beyſpiele unter den eben geleſenen
Rubriken. Die Akademiker Aepinus, Pal-
las, Georgi, Fuß, Herrmann, u. a.
haben ſich außer ihrer akademiſchen Sphaͤre
durch nuͤtzliche Werke, Entdeckungen, u. dergl.
im Auslande ſo bekannt gemacht, daß ich hier
nur ihre Namen anzufuͤhren brauche. Unter
den deutſchen Schriftſtellern, die ſich bemuͤht
haben, die Kenntniß des ruſſiſchen Reichs im
Auslande zu verbreiten, wird ſich jeder meiner
Leſer an die Namen Arndt, J. und H. L. C.
Bacmeiſter, Grot und an die eben ge-
nannten, Pallas, Georgi, Herrmann,
u. a. erinnern. Der, durch mehrere aſtrono-
miſche und oͤkonomiſche Preisſchriften bekannte
Schroͤter, der Chemiſt Lowiz, der Minera-
log Renovanz, die Aerzte Mohrenheim,
[255] Uhden, u. a. ſind gewiß keinem Leſer vom
Metier unbekannt, ſo wenig als die Namen
Nikolai, Klinger, Soltau (der Ueber-
ſetzer des Hudibras) und der Frau von Krook
es den Liebhabern der ſchoͤnen Litteratur ſeyn
werden.
Ueber den Zuſtand der Kuͤnſte in St.
Petersburg laͤßt ſich in einem Buche dieſer
Art keine ausfuͤhrliche Nachricht erwarten.
Der ungeheure Reichthum an Gegenſtaͤnden
den eine vollſtaͤndige Schilderung umfaſſen
muͤßte, wuͤrde ein eigenes Werk und einen ei-
genen Schriftſteller erfordern. Einzelne Par-
thieen, die auf dieſe Weiſe bearbeitet ſind, ge-
ben eine Idee von dem Umfange und Inte-
reſſe, welche ein ſolches Werk haben koͤnnte.
Die Akademie der Kuͤnſte, als Erzie-
hungsanſtalt, iſt ſchon in einem andern Ab-
ſchnitte *) geſchildert; hier iſt der Ort, die
Nachricht von dieſem Inſtitut zu ergaͤnzen.
Sie ward im Jahr 1758 von der Kaiſerinn
Eliſabeth, als eine Klaſſe der Akademie der
Wiſſenſchaften geſtiftet und hatte in dieſem
[256] Zuſtande 40 Zoͤglinge. Katharina die
Zweyte ſonderte dieſe beyden Anſtalten ab,
gab im J. 1764 der Akademie der Kuͤnſte eine
eigne fuͤr ſich beſtehende Exiſtenz, ließ einen
praͤchtigen Pallaſt fuͤr ſie bauen, und ſetzte ihr
jaͤhrlich 60,000 Rubel Einkuͤnfte aus. Nach
dem Etat hat ſie einen Praͤſidenten, den
wirkl. Geheimenrath Bezkoi; einen Direk-
tor, den Staatsrath Veldten; drey Rek-
toren, zwey Adjunktprofeſſoren der Anatomie,
Optik, u. ſ. w.; Maler in allen Theilen dieſer
Kunſt, Graveurs, Steinſchneider, Juſtrumen-
tenmacher, u. ſ. w. in allem 28 beſoldete Aka-
demiſten. Unter ihre Chrenmitglieder zaͤhlt ſie
den Großfuͤrſten Pawel Petrowitſch und
einige benachbarte europaͤiſche Fuͤrſten.
Die Gallerie der Akademie der Kuͤnſte,
welche jaͤhrlich im Sommer vierzehn Tage
hindurch fuͤr Jedermann geoͤffnet wird, hat ei-
nen betraͤchtlichen Reichthum an alten und
neuern Kunſtſachen und Gemaͤlden großer und
beruͤhmter Meiſter. Um eben dieſe Zeit findet
auch die oͤffentliche Ausſtellung der akademi-
ſchen Arbeiten ſtatt, bey welcher die Zoͤglinge
um den Preis wetteifern. — Von den vor-
zuͤg-
[257] zuͤglichſten Sammlungen und Kabinetten iſt
hin und wieder, beſonders aber in dieſem Ab-
ſchnitte, ſchon die Rede geweſen.
Es wird nicht leicht eine ſchoͤne Kunſt ge-
ben, in welcher St. Petersburg nicht Einen
oder mehrere Meiſter vom erſten Range auf-
zuweiſen haͤtte. Die mehreſten derſelben ſind
Auslaͤnder, welche theils hieher berufen worden
und in kaiſerlichen Dienſten ſtehen, theils auch
freywillig ihren Aufenthalt hier waͤhlen und
von dem Erwerbe ihres Talents leben. Schon
ein vollſtaͤndiges Namenregiſter aller Kuͤnſtler
aufzufuͤhren, iſt eine unmoͤgliche Sache, da
viele unter ihnen keinen beſtimmten Wohnort
haben, andere nur eine kurze Zeit hier leben
und jaͤhrlich mehrere Fremdlinge ſich auf die-
ſem Platze einfinden. Das unvollſtaͤndige Ver-
zeichniß welches hier folgt, mag alſo nur als
ein Beyſpiel gelten, daß es in der Reſidenz
große und ausgezeichnete Kuͤnſtler in jeder Gat-
tung giebt.
Maler. Groth; ein Deutſcher. Akade-
mierath. Einer der groͤßten jetztlebenden Thier-
maler. — Huͤne, ein Deutſcher. Adjunkt-
profeſſor der Akademie. Hiſtorienmaler. Schuͤ-
Zweiter Theil. R
[258] ler von Tiſchbein, Torelli, Mengs.
(Die Beſitznehmung Tauriens, ein großes alle-
goriſches Gemaͤlde.) — Knappe, ein Deut-
ſcher. Thier- und Pflanzenmaler. Von die-
ſem Kuͤnſtler, deſſen Arbeiten ſehr geſchaͤtzt
werden, ſind die Zeichnungen zur Flora Roſſica,
von welchen oben die Rede war. — Meys,
aus dem Hennegau. Hiſtorienmaler. (Die
Reiſe der Kaiſerinn nach Taurien; iſt auch in
Kupfer geſtochen.) Tiſchbein, ein Deutſcher.
Hofarchitekt, Theatermaler und Erfinder der
Dekorationen. Er hat den Vorhang im
Opernhauſe gemalt. — Mayr, ein Deut-
ſcher, im Dienſt der Akademie der Wiſſenſchaf-
ten. Zeichner und Maler. — Stahn, ein
Deutſcher, Arkaniſt der kaiſ. Porzellanfabrik
und vorzuͤglicher Porzellanmaler. — Metten-
leither, ein Schweizer, bekannter Land-
ſchaftsmaler. — Gonzago, einer der groͤß-
ten Dekorationsmaler. — Lewizki, ein Ruſſe.
Prof. der Akad. Ein beruͤhmter Portraitma-
ler. — Voilta, de la Pierre, Gutſch,
ebenfalls Portraitmaler. — Unter den juͤngſt
verſtorbenen iſt der Kollegienrath Koslow,
ein Ruſſe, Adjunktdirektor bey der Akademie,
[259] Direktor der Hauteliſſefabrik, ein Hiſtorienma-
ler, vorzuͤglich merkwuͤrdig.
Kupferſtecher. Skorodumow, ein
Ruſſe, und ehemaliger Zoͤgling der Akademie.
Seine Arbeiten ſind ſo bekannt als ſein Name.
— Walker, ein Englaͤnder, im Dienſt des
Hofes. Unter ſeine Meiſterarbeiten gehoͤren
die Kaiſerinn in Reiſekleidern, Fuͤrſt Potem-
kin, General Lanskoi, Admiral Greigh
u. a. — Schlepper, ein Petersburger. —
Pellerini, ein Italiener. — Mayr,
Nabholz, Muͤller, Deutſche.
Bildhauer. Rachette, ein Franzoſe,
Profeſſor der Akademie, Modellirer der kaiſ.
Porzellanfabrik. (Die Cybele im Graͤfl. Bes-
borodko’ſchen Garten; Buͤſte von Leon-
hard Euler, u. a.) — Schubin, ein
Ruſſe, bey der Akad. (Buͤſten der kaiſerlichen
Familie.) — Moſchalow, ein Ruſſe, Kuͤnſt-
ler im Metallguß, ein Zoͤgling der Akad. (Der
farneſiſche Herkules und die Flora in Zars-
koje Selo.) — Iwanow, ein Ruſſe und
Zoͤgl. der Akad. Jetzt Aſſeſſor im Kolleg. der
auswaͤrtigen Geſchaͤfte. (Die Taufe der Olga.)
— Gardejew, ein Ruſſe. Prof. in der Akad.
R 2
[260] — Frediani, ein Italiener. — Chailow,
ein Ruſſe. (Hat Antheil an dem Guß der
Statuͤe Peters des Großen.)
Architekten. Koſelow, ein Ruſſe.
(Pella.) — Guarenghi, ein Italiener, und
einer der beruͤhmteſten Kuͤnſtler in ſeinem Fach.
(Die neue Boͤrſe, das Hoftheater und eine
Menge anderer Pallaͤſte.) — Veldten, aus
Petersburg, Staatsrath, Direktor der Akade-
mie. (Die Katharinen-Annen- und armeniſche
Kirche, der Lombard, und viele andere Ge-
baͤude.) — Starow, ein Ruſſe. Hofrath
und Hofarchitekt. (Das Pantheon, die neue
Kirche im Newskiſchen Kloſter.) — Trom-
bara, ein Italiener. (Das neue Jaͤgerkorps,
der neue Stallhof.) — Cameron, ein Eng-
laͤnder, Hofarchitekt in Zarskoje Selo. (Daſelbſt
das neue Bad, die haͤngenden Gaͤrten und vie-
les andere.)
Muſiker. Die Kapellmeiſter, Aſtarita,
Cimaroſa, Martini. — Violinen. Der
Virtuoſe Tiez, ein Petersburger. Cannobi,
Maſener, Chandoſchkin. — Klavier.
Palſchow, Virtuoſe, ein Daͤne. Haͤßler
und Bauerſchmidt, zwey beliebte Kuͤnſt-
[261] ler, jener hauptſaͤchlich auf der Orgel. —
Behr, Virtuoſe auf dem Klarinett. — Ma-
reſch, ein Boͤhme, Miterfinder der beruͤhm-
ten Jagdmuſik. — Pratſche, hat den groͤß-
ten Theil der ruſſiſchen Volkslieder auf Noten
geſetzt. — Baron von Wanſchura, bey
der Theaterdirektion; ein Kuͤnſtlergenie in meh-
reren Faͤchern, hauptſaͤchlich in der Muſik.
Die vorzuͤglichſten Suͤjets in der Tanz-
und Schauſpielkunſt werden im folgenden
Abſchnitte vorkommen. — In der Garten-
kunſt iſt der Englaͤnder Buſch, Hofgaͤrtner
in Zarskoje Selo, als ein eigentlicher Kuͤnſtler
beruͤhmt. — Als Steinſchneider, Pa-
ſtenmacher, Medailleurs ſind Gaß,
Zoͤllner, Koͤnig, Lamoni, Radi, Ju-
din u. a. bekannt.
Man ſieht aus dieſem kurzen Verzeichniß,
in welchem gewiß kaum die Haͤlfte aller hier
befindlichen Kuͤnſtler genannt, und vielleicht
auch einige beruͤhmte Namen vergeſſen ſind,
daß St. Petersburg deren ſo viele und große
aufzuweiſen hat, als die mehreſten europaͤiſchen
Reſidenzen. Die Rubrik der mechaniſchen
Kuͤnſte wuͤrde nicht weniger zahlreich werden,
R 3
[262] wenn es moͤglich waͤre, ihr einige Vollſtaͤndig-
keit zu geben. Folgende Beyſpiele koͤnnen dies
hinlaͤnglich beweiſen.
Man verfertigt hier muſikaliſche In-
ſtrumente aller Art in der groͤßten Vollkom-
menheit. Die beruͤhmteſten Kuͤnſtler in die-
ſem Fach ſind Kirſchnek, Gabram,
Waͤchter (fuͤr Geigen), Jakſon, u. a. —
Mathematiſche und phyſikaliſche In-
ſtrumente werden zwar haͤufig aus dem
Auslande verſchrieben, aber auch Keſſarew,
ein Ruſſe, bey der Akademie der Wiſſenſchaf-
ten, Morgan, ein Englaͤnder, u. a. liefern
deren ebenfalls eine große Menge fuͤr das
innlaͤndiſche Beduͤrfniß. — Als Verfertiger
chirurgiſcher Inſtrumente iſt Koſchen-
kow, ein Ruſſe, im Dienſt des mediziniſchen
Kollegiums, bekannt. — Als Mechaniker
nenne ich nur den Ruſſen Kulibin, das
groͤßte Genie in dieſem Fach, welches die Na-
tion hervorgebracht hat. Von ihm iſt das
Oſterey mit dem kuͤnſtlichen Uhrwerk, deſſen in
der Beſchreibung des Muſeums der Akademie
der Wiſſenſchaften gedacht worden iſt. Als
Bauer geboren und Mehlhaͤndler ſeiner ehe-
[263] maligen Beſchaͤftigung nach, ohne Anleitung,
ohne wiſſenſchaftliche Kenntniß, entwickelte ſich
ſein Talent voͤllig aus ſich ſelbſt, und das er-
ſte Produkt ſeiner Erfindung mit welchem er
ſich bekannt zu machen ſuchte, war jenes oben
beſchriebene Kunſtwerk. Katharina die
Zweyte entriß ihn ſeinem armſeligen Zuſtan-
de, ſchenkte ihn der Beſtimmung zu welcher die
Natur ihn auf eine ſo vorzuͤgliche Weiſe aus-
gezeichnet hatte, und beehrte ihn mit einer
goldnen Medaille, die er an einem blauen
Bande um den Hals traͤgt. Jetzt iſt er Me-
chanikus der Akademie der Wiſſenſchaften. In
dieſer Lage entwarf er den kuͤhnen Plan, eine
hoͤlzerne Bruͤcke von einem einzigen Bogen
uͤber die Newa zu bauen, und verfertigte hie-
zu ein Modell, deſſen Laͤnge den funfzehnten
Theil von der Breite der Newa hat. Es
beſteht aus liegenden Balken, von denen die
obern immer etwas uͤber die untern vorſprin-
gen, bis ſie in der Mitte der Bruͤcke zuſam-
mentreffen und ſo nur Einen großen Bogen
bilden. Das Modell hielt zwar in Ruͤckſicht
ſeiner Staͤrke alle Proben aus; aber in der
Ausfuͤhrung wuͤrde die Bruͤcke die Hoͤhe eines
R 4
[264] Thurms erhalten und der Ausbeſſerung große
Schwierigkeiten verurſacht haben. — Als
Buchdrucker iſt Schnoor, unter vielen
andern, ein merkwuͤrdiger Mann. Durch Fleiß
und Talent hat dieſer Kuͤnſtler es unter man-
cherley Hinderniſſen ſo weit gebracht, daß ſeine
ruſſiſchen Lettern nun ſchon in vielen andern
Druckereyen gebraucht und nachgeahmt wer-
den. Er iſt es, dem die Anlegung einer tata-
riſchen Druckerey uͤbertragen wurde und der
dieſen Auftrag ſo gluͤcklich ausgefuͤhrt hat, daß
ſelbſt Gelehrte jener Nation ſeine Lettern al-
len in England, Holland, Venedig, Rom und
Wien befindlichen den Vorzug geben, weil ſie
die hoͤchſte Aehnlichkeit mit den gewoͤhnlichen
ſchriftlichen Zuͤgen haben. Schnoor naͤmlich
hatte ſich dieſe von einem Mullah, oder tata-
riſchen Geiſtlichen, vorzeichnen laſſen, und
zwey geſchickte Stempelſchneider mußten nach
dieſem Muſter ihre Stempel ſo lange bearbei-
ten, bis ſie von dem Mullah als vollkommen
richtig anerkannt wurden. So entſtanden die
Ponzonen zu drey Sorten von Schriften, zu
der krimmiſch-tatariſchen, der kaſaniſch-tatari-
ſchen, und der arabiſchen. Im Jahr 1785
[265] beſtand dieſe Druckerey aus vier Preſſen, und
ihre erſten Produkte waren die Ueberſetzungen
der Verordnungen zur Verwaltung der Gou-
vernements und ein Alkoran.
R 5
[266]
Eilfter Abſchnitt.
Lebensgenuß.
Volksbeluſtigungen. Frohſinn des gemeinen Ruſſen. Na-
tionalgeſänge und Tänze. Kabacken. Badehäuſer.
Spiele. Volksfeſte. Schaukeln um Oſtern. Eisberge
in der Butterwoche. — Vergnügungen der höhern
Klaſſen. Allgemeine Karakteriſtik derſelben. Klubbs.
Der muſikaliſche, der engliſche, der adliche, der bür-
gerliche, der amerikaniſche, die beyden Tanzklubbs.
Das ältere und neue Liebhabertheater. Geiſt und
Ton dieſer Geſellſchaften. — Oeffentliche Spazier-
plätze. Der Sommergarten. Die Kays der Newa.
Die Fontanka. Der italieniſche Garten. Der Park
des tauriſchen Pallaſt. Der Garten des Landkadet-
tenkorps. Die Arkaden von Goſtinnoi Dwor. Länd-
liche Promenaden außerhalb der Reſidenz. Liberalität
des ruſſiſchen Adels. — Oeffentliche Spazierfahrten.
Schlittenfahrten. Schlittenrenner. Waſſerfahrten. —
Kaffehäuſer. Gaſthäuſer. Spielhäuſer. Wetſchurinki,
Mädchenbälle. — Freudenmädchen. Heroiſcher Edel-
muth eines ermordeten Mädchens gegen ihre Mörder.
— Theater. Ruſſiſche Schauſpiele, Operetten und
Opern. Oleg, eine große heroiſche Oper mit ſeltnen
[267] Prachtſcenen. Franzöſiſches Schauſpiel. — Muſika-
liſche Beluſtigungen — Tanzgeſellſchaften und Mas-
karaden. — Hoffeſte. Maskarade und Erleuchtung in
Peterhof, ein durchaus einziges Schauſpiel. Ablaufen
eines Kriegsſchiffs vom Stapel der Admiralität. Gro-
ßes Feſt des Fürſten Potemkin.
Die Vergnuͤgungen und Luſtbarkeiten der fei-
nern Menſchenklaſſen in allen Laͤndern ſind
durch die Verbreitung der Kultur und die naͤ-
here Bekanntſchaft der Nationen unter einan-
der ſo gleichfoͤrmig geworden, daß die Ge-
ſchichte derſelben von einer Hauptſtadt ſo gut
als von der andern gilt, unterdeſſen die Volks-
vergnuͤgungen noch faſt uͤberall den Stempel
einer gewiſſen Individualitaͤt zu tragen pfle-
gen und nicht ſelten als merkwuͤrdige Beytraͤ-
ge zur Sittengeſchichte angeſehen werden koͤn-
nen. Wenn es ferner wahr iſt, daß die fein-
ſten Zuͤge und Eigenheiten des Nationalkarak-
ters ſich vorzuͤglich in der Art aͤußern, wie ein
Volk ſeines Daſeyns froh zu werden ſucht, ſo
iſt es wol der Muͤhe werth, ſich auf einige
Augenblicke den eleganten Zirkeln zu entreiſſen,
[268] in welchen die Freude nur, wie eine Muͤnze,
unter dem Gepraͤge des konventionellen Wohl-
ſtands ausgeſpendet wird, um ſich unter den
großen Haufen zu miſchen, wo ſich Jedermann
freuen darf, wie er will.
Der Ruſſe iſt, im Ganzen genommen, ein
froͤhlicher Menſch. Ein gluͤcklicher Leichtſinn
und eine ihm vorzuͤglich eigene Sorgloſigkeit
begleiten ihn durch ſein ganzes Leben. Das
elendeſte Schickſal und die muͤhſeligſte Arbeit
laſſen ihm noch immer einiges Gefuͤhl fuͤr den
Genuß ſeines Daſeyns. Jenes bekuͤmmert ihn
nicht, da ſein Ideenkreis ſich ſelten bis zu der
Vorſtellung einer edlern und verfeintern Exi-
ſtenz erweitert; dieſe verſuͤßt er ſich durch ſei-
nen Geſang und ſein Schaͤlchen. Die Grenz-
linie, auf welcher dieſe ſchoͤne Grundfarbe im
Volkskarakter allmaͤlig verſchwindet, iſt die
Scheidewand zwiſchen Poͤbel und Buͤrger. Je
hoͤher die Klaſſen der Menſchen, um deſto we-
niger natuͤrlicher Frohſinn. In unſern Logen
und glaͤnzenden Zirkeln ſind die Geſichter ſo
finſter, als in irgend einer Hauptſtadt von
Europa. Ein ſtarker Beweis, daß Zufriedenheit
[269] und Gluͤckſeligkeit nicht an den Boden der
Kultur und des Reichthums gefeſſelt ſind!
Der frohe Sinn des gemeinen Ruſſen aͤu-
ßert ſich hauptſaͤchlich durch den Geſang,
der die allgemeinſte Beluſtigung deſſelben ge-
nannt zu werden verdient. Jedes Geſchaͤft,
auch das muͤhſamſte, verſuͤßt ſich der Ruſſe
durch Singen, und jede Freude, jedes Gelag
wird dadurch belebt und erheitert. Es giebt
ſicherlich keine Nation in Europa, bey welcher
der Hang zu dieſer Ergoͤtzung ſo herrſchend
waͤre, als hier. In Frankreich ſingt das
Volk auch; aber nur Opernarien und Vaude-
villes, die den Beyfall des großen Publikums
haben; in Rußland hoͤrt man wahre Volksge-
ſaͤnge, deren Dichter und Komponiſten [eben-
falls] aus den unterſten Volksklaſſen ſind, und
die von Petersburg bis Irkuzk auf eben die-
ſelbe Weiſe geſungen werden. Das National-
intereſſe welches in dieſen Geſaͤngen liegt, ihre
hoͤchſt einfache aber melodiſche Manier, die
muſikaliſchen Anlagen und die groͤßtentheils
gluͤcklichen Organe der Ruſſen, machen eine
ſehr angenehme und uͤberraſchende Wirkung
auch auf unmuſikaliſche Fremde und Auslaͤn-
[270] der. Es iſt daher ein ſehr gebraͤuchliches Ver-
gnuͤgen der hoͤhern Staͤnde in St. Peters-
burg, ſich auf den Schaluppen bey Waſſer-
fahrten und ſelbſt bey Tafel von einem Chor
geuͤbter Saͤnger ruſſiſche Volkslieder vorſingen
zu laſſen. Im Sommer iſt die Newa mit
Fahrzeugen bedeckt, von denen dieſer Geſang
ertoͤnt, der, beſonders in ſchoͤnen Naͤchten,
durch ſeine ſanfte melankoliſche Weiſe den ein-
ſamen Spaziergaͤnger in ſuͤſſe Empfindungen
wiegt.
Wenn der ruſſiſche Poͤbel in Geſellſchaft
froh ſeyn ſoll, ſo darf auch der Tanz nicht
fehlen. Ohne dieſen und ohne Geſang laͤßt
ſich kein Volksgelag denken. Ausdrucksvoller
und ſchoͤner, als der Nationaltanz, den man
gewoͤhnlich den Taubentanz (Golubez) nennt,
iſt gewiß kein Volkstanz irgend eines Landes,
und ſchoͤn getanzt wird er nicht nur in den
feinern Zirkeln der gebildeten Staͤnde, ſondern
ſelbſt unter dem Poͤbel. Er beſchaͤftigt ge-
woͤhnlich zwey Perſonen verſchiedenen Ge-
ſchlechts, die ſich in einiger Entfernung einander
gegenuͤber ſtellen. Sein Inhalt iſt eine Lie-
beserklaͤrung, die durch ſehr ſprechende Panto-
[271] mimen angetragen, ausgeſchlagen, nachgeſucht
und bewilligt wird, und wobey das perſoͤnliche
Talent der Taͤnzer die beſcheidene Zudringlich-
keit des Liebhabers und die kaͤmpfende Schaam
der Geliebten mehr oder weniger nuͤanciren
hilft. Die Taͤnzer naͤhern und entfernen ſich
hiebey mit gewiſſen abgemeſſenen Schritten,
die jedoch nicht ſehr genau an die Muſik ge-
bunden ſind. Da dieſer Tanz durchaus natuͤr-
liche redende Pantomime iſt, ſo kann die Kunſt
wenig oder nichts zu ſeiner Veredlung thun;
ich habe ihn oͤfter unter dem Volk als in hoͤ-
hern Zirkeln gut, aber nur einmal von geuͤb-
ten Volkstaͤnzern bis zum Entzuͤcken ſchoͤn tan-
zen ſehen. — Die Muſik von welcher er be-
gleitet wird, iſt ſehr einfach; oft bedarf es
nicht einmal eines Inſtruments, ſondern die
Zuſchauer ſingen im Chor irgend ein Volks-
lied dazu.
Die Vergnuͤgungshaͤuſer des Poͤbels ſind
die Kabacken (Schenken). Hier verſammelt
er ſich in muͤßigen Stunden zur froͤhlichen
Geſellſchaft, zum Trinken und Singen. Der
Mißbrauch, den hier der rohe Menſch von
ſeinem ſauer erworbenen Gelde und von ſeinem
[272] Hange zum ſinnlichen Genuß zuweilen macht,
empoͤrt nicht ſelten das Gefuͤhl, wenn man zu-
faͤlliger Weiſe Augenzeuge davon wird; aber
er hat mich nie bewegen koͤnnen, dieſe Zu-
fluchtsoͤrter der gedruͤckteſten und geplagteſten
Volksklaſſe zu verdammen. Wer hat das
Herz, dieſen armen Menſchen, die zur Ent-
ſchaͤdigung fuͤr alle die unzaͤhligen Muͤhſelig-
keiten ihres Daſeyns nur den Branntewein,
als das einzige Mittel, kennen, ihrer auf einen
Augenblick zu vergeſſen — wer hat das Herz,
ihnen dieſe Taͤuſchung zu rauben, ohne ihnen
eine beſſere unterzuſchieben? Ich uͤbergehe
hier die Gruͤnde, die man aus dem Klima, der
harten Lebensart, der aͤrmlichen Koſt und den
ſtrengen Faſten des ruſſiſchen Volks herneh-
men koͤnnte, um den Gebrauch dieſes Nepen-
the zu vertheidigen, und appellire nur an die
Menſchlichkeit meiner Leſer, um ein ſchonendes
Urtheil uͤber die grellen Tinten dieſer Karakte-
riſtik zu erhalten. Weit entfernt die allge-
meine Schaͤdlichkeit und die oft ſehr ſchreckli-
chen Folgen des Hanges zur Trunkenheit mil-
dern oder beſchoͤnigen zu wollen, iſt es viel-
mehr der innigſte Wunſch meines Herzens,
daß
[273] daß das ruſſiſche Volk bald durch eine Vered-
lung ſeiner noch ſehr rohen Menſchheit eines
ſo traurigen Behelfs entbehren lerne: aber ihn
verdammen — kann ich, nach den vorhande-
nen Umſtaͤnden, nicht.
Zu den Vergnuͤgungshaͤuſern der untern
Volksklaſſen laſſen ſich auch die oͤffentlichen
Badehaͤuſer rechnen, die hier, wie in Rom
und Griechenland, nicht nur zum Beduͤrfniß,
ſondern auch zur Ergoͤtzung dienen, nachdem
ſie ſelbſt ihre erſte Beſtimmung in den meiſten
Laͤndern Europens verloren haben. Der ge-
meine Ruſſe beſucht ſie woͤchentlich wenigſtens
einmal; der Tag, an welchem ihm dieſer Be-
ſuch vergoͤnnt wird, iſt ein Feſttag fuͤr ihn.
Die Reſidenz hat eine Menge ſolcher oͤffentli-
chen Badehaͤuſer, die gewoͤhnlich an Fluͤſſen
und Kanaͤlen angelegt werden, und deren in-
nere Einrichtung hier mit einigen Worten er-
waͤhnt zu werden verdient. Alle ruſſiſche Baͤ-
der ſind Dampfbaͤder; das Badezimmer hat
einen großen gewoͤlbten Ofen, der ſo ſtark ge-
heizt wird, daß die Feldſteine, die den obern
Theil deſſelben ausmachen, gluͤhend werden.
Um die Hitze zu vermehren, ſprengt man Waſ-
Zweiter Theil. S
[274] ſer auf dieſe Feldſteine, wodurch das Badezim-
mer zugleich mit feuchten Duͤnſten angefuͤllt
wird. Rings umher an den Waͤnden ſind
Baͤnke oder Stufen befindlich, die Jedem die
Wahl laſſen, eine mehr oder minder heiſſe
Atmosphaͤre zu ſuchen, je nachdem man hoͤher
ſteigt oder dem Fußboden nahe bleibt. Die
Badenden ſitzen oder liegen in dieſer feuchten
Hitze, die zuweilen bis auf 45 Grade R. ſteigt,
und eine Ausduͤnſtung bewirkt, von der man
ſich nur durch eigne Erfahrung einen Begriff
machen kann. Um dieſe noch mehr zu befoͤr-
dern, laſſen ſich die Badenden gewoͤhnlich mit
trocknen belaubten Birkenreiſern ſanft ſchlagen
und mit wollenen Lappen reiben. Von Zeit
zu Zeit ſteigen ſie auf den Fußboden herab,
um ſich warmes oder kaltes Waſſer uͤber den
Kopf und den ganzen Leib zu gieſſen. Viele
unter ihnen ſpringen im Sommer aus dieſem
Dampfbade in den vorbeyfließenden Fluß, oder
waͤlzen ſich, wenn es Winter iſt, im Schnee.
Die oͤffentlichen Baͤder der Reſidenz haben ge-
raͤumige Hoͤfe mit vielen Baͤnken verſehen, wo
ſich die Badenden im Sommer aus und an-
kleiden. Faſt mit allen Hospitaͤlern und oͤffent-
[275] lichen Anſtalten ſind ſolche Baͤder verbunden,
und ſelbſt unter den beſſern Klaſſen der hieſi-
gen Einwohner iſt das Baden Beduͤrfniß und
Vergnuͤgen.
Die Spiele, die dem ruſſiſchen gemeinen
Mann zur Erholung und Ergoͤtzung dienen,
ſind ſaͤmtlich ſehr einfach und erfordern gemei-
niglich koͤrperliche Anſtrengung und Gewand-
heit. Ihr Urſprung iſt durchaus national, und
der Poͤbel der Reſidenz hat durch ſeine lange
Bekanntſchaft mit Auslaͤndern keine fremde
Sitte in ſeinen Zeitvertreib miſchen gelernt.
Je mannigfaltiger dieſer iſt, um deſto weniger
gehoͤrt er in den Plan dieſes Buchs, deſſen
Zweck nicht die Schilderung der Nation ſeyn
kann. Ich erwaͤhne daher nur einiger der
uͤblichſten Spiele, die jedem Fremden bey ſei-
nem Aufenthalt in der Reſidenz auffallen
moͤchten.
Ueberall, auf allen Gaſſen, vorzuͤglich im
Winter, ſieht man Kerle oder Jungen mit ein-
ander ringen oder boxen. Dieſe Beluſti-
gung, die ſelten oder niemals durch Zank und
Erbitterung, gewoͤhnlich durch eine gutmuͤthige
Herausforderung, vielleicht auch im Winter
S 2
[276] durch die Abſicht ſich zu erwaͤrmen, veranlaßt
wird, iſt jedoch ſehr von dem engliſchen Wett-
kampf verſchieden. Die Streitenden ſtellen ſich
neben einander; jeder ſchlaͤgt mit geballter Fauſt
auf ſeinen Gegner los und ſucht ihn durch das
Unterſchlagen der Fuͤße zu Boden zu werfen.
Sobald dies gelingt, iſt der Sieg entſchieden,
und des Turnier, unter dem muthwilligen
Gelaͤchter das umherſtehenden Volks, geendigt.
Eben ſo allgemein iſt das Ballſpiel,
welches beſonders die Iswoſchtſchiks beſchaͤf-
tigt, die im Winter auf den Gaſſen halten.
Sie werfen einen großen ausgeſtopften Ball
mit den Fuͤßen in bogenfoͤrmiger Richtung in
die Luft. Der Sieger erhaͤlt gewoͤhnlich einen
Preis an Nuͤſſen oder Gelde. — Auch das
Schach- und Damenſpiel iſt uͤberaus ge-
braͤuchlich unter dem ruſſiſchen Volk. Auf den
großen Plaͤtzen, unter den Arkaden von Go-
ſtinnoi Dwor, ſieht man taͤglich Leute aus den
niedrigſten Staͤnden mit dieſen Spielen be-
ſchaͤftigt und nicht ſelten giebt es große Mei-
ſter unter ihnen. — Seltner iſt das Ring-
werfen, welches in der Kunſt beſteht, einen
ſchweren ſpitzigen eiſernen Nagel, den man an
[][]
[277] der Spitze faßt, durch einen Umſchwung ſo
zu werfen, daß er innerhalb eines kleinen Rin-
ges ſtecken bleibt.
Ich uͤbergehe die uͤbrigen Gattungen der
minder gebraͤuchlichen Spiele, um meinen Le-
ſern noch eine kurze Schilderung der großen
oͤffentlichen Volksbeluſtigungen zu geben, die
man hier zuweilen in ihrer glaͤnzendſten Son-
derbarkeit zu ſehen bekommt. Zu den allge-
meinſten und beliebteſten derſelben gehoͤrt das
Schaukeln, welches uͤberall und zu jeder
Zeit eine Ergoͤtzung aller Staͤnde iſt, um Oſtern
aber Gelegenheit zu einem großen Volksfeſt
giebt. Um ſich einen Begriff von dieſer Be-
luſtigung zu machen, muß man mit der Me-
chanik der hieſigen Schaukeln bekannt ſeyn.
Es giebt drey Arten derſelben; einige haben
eine ſchwingende Bewegung, und dies ſind die
allgemeinſten, auch in Deutſchland bekannten;
andere werden in ſenkrechter und noch andere
in waſſergleicher Richtung umgerrieben. Die
erſtern dieſer beyden Gattungen beſtehen aus
zwey hohen Saͤulen, auf welchen eine Achſe
ruht, an der zwey paar Stangen in ihrer
Mitte befeſtigt ſind. Jede dieſer Stangen hat
S 3
[278] an ihren beyden Enden einen Seſſel, der an
einer beweglichen Achſe haͤngt. Die Schaukler
drehen die Achſe die auf den beyden Saͤulen
ruht, und folglich machen alle acht Seſſel ei-
nen ſenkrechten Kreis, wobey ſie bald dicht an
den Boden und bald hoch in die Luft getrie-
ben werden. Die letzte Gattung von Schau-
keln beſteht aus Seſſeln, Wagen, Schlitten,
u. ſ. w. die an langen Stangen befeſtigt ſind
und von dem Mittelpunkt aus in waſſergleicher
Richtung im Kreiſe fortbewegt werden. Alle
dieſe Arten von Schaukeln werden um Oſtern
auf den oͤffentlichen Plaͤtzen der Reſidenz er-
richtet, und da das Volk dieſe Beluſtigung ſehr
liebt, ſo iſt dies eine der froͤhlichſten Zeiten des
Poͤbels, der ſich alsdann ſeinem National-
hange zur Luſtigkeit ganz uͤberlaͤßt. Auch die
feinern Klaſſen verſammeln ſich hier als Zu-
ſchauer, wodurch ein zweytes ſehr intereſſantes
Schauſpiel gebildet wird. Der zahlreiche Zu-
ſammenfluß von Leuten aus allen Staͤnden,
die ſich und ihre geſchmackvollen und glaͤnzen-
den Equipagen im Kreiſe zur Schau fuͤhren,
die gutmuͤthige Froͤhlichkeit des Volks, das
außerordentliche Intereſſe, mit welchem es dieſe
[279] Beluſtigung genießt, das Auffallende und Son-
derbare der Spiele ſelbſt, geben dieſem Volks-
feſt einen ſo eigenthuͤmlichen Karakter, daß der
Beobachter, der ſich die Muͤhe nehmen will,
die Nation auch auf dieſem Tummelplatz ih-
res Vergnuͤgens zu ſtudiren, ſehr kraͤftige
Pinſelſtriche zu ihrer Schilderung auffinden
kann. Er wird die allgemeine Froͤhlichkeit nicht
verkennen, mit welcher Alte und Junge, Kin-
der und Greiſe beſeelt ſind, und die hier nicht
auf einen voruͤbergehenden Augenblick erweckt,
ſondern durch eine angenehme Veranlaſſung
gehoben und in ihr gefaͤlligſtes Licht geſtellt iſt.
Er wird den Geiſt der Hoͤflichkeit und Galan-
terie bemerken, der ſich in tauſend kleinen Zuͤ-
gen, als eine nicht gleichguͤltige Schattirung
im Nationalkarakter, malt. Hier gruͤßen ſich
ein paar mit Lumpen behangene Bettler auf
die ehrerbietigſte und anſtaͤndigſte Weiſe; eine
lange Reihe von Fragen uͤber das wechſelſei-
tige Wohlſeyn eroͤfnet ihren Dialog, der ſich
ebenfalls mit einer hoͤflichen Umarmung ſchließt.
Dort bietet ein junger Kerl ſeiner von
Schminke und Branntwein gluͤhenden Dirne
die Hand, um ſie in den Seſſel zu geleiten,
S 4
[280] mit welchem beyde bald in die Luͤfte gehoben
werden. Auch in jenen hoͤhern Regionen ver-
laͤßt ihn ſeine Zaͤrtlichkeit nicht. Bey jeder
aͤngſtlichen Bewegung ſeiner Dame ſchlingt er
einen Arm um ſie, um mit dem andern ſeine
Behaglichkeit durch eine ſehr ausdrucksvolle
Pantomime zu ſchildern. — Nur einen
Schritt weiter, und das Auge ruht auf neuen
veraͤnderten Scenen. Eben die Leute, welche
ſich vorhin ſo freundſchaftlich gruͤßten, ſind in
einem Wortwechſel begriffen, der den ganzen
ungeheuren Reichthum ruſſiſcher Schimpfworte
erſchoͤpft. Alles was die Menſchheit Ernie-
drigendes und Empoͤrendes hat, findet in die-
ſer Kraftſprache ſeine Bezeichnung; dennoch
verlaͤßt die Streitenden ihre Kaltbluͤtigkeit
nicht. Mit den wuͤthendſten Geberden, mit
der groͤßten Anſtrengung ihrer Kehlen, mit
dem freygebigſten Aufwande von Schmaͤhun-
gen naͤhern ſie ſich — aber ohne jemals ins
Handgemenge zu kommen. Die Polizey, die
wol weiß, daß es bey dieſem Laͤrm kein Leben
gilt, kuͤhlt die erhitzten Partheyen durch einen
Regenguß ab, der ſo gute Dienſte leiſtet, daß
zu dieſem Behuf bey allen Volksverſammlun-
[281] gen einige Spruͤtzen in Bereitſchaft gehalten
werden. Nun iſt aller Streit geendigt; die
gefluͤchteten Partheyen eilen Arm in Arm in
die naͤchſte Schenke, um ihre erneuerte Freund-
ſchaft mit einem Glaſe Branntwein zu be-
ſiegeln.
In der Nachbarſchaft der Schaukeln ſind
gewoͤhnlich Bretterhuͤtten aufgeſchlagen, in de-
nen Volkskomedien gegeben werden. Jede
Vorſtellung dauert etwa eine halbe Stunde
und der Einlaß wird mit fuͤnf Kopeken be-
zahlt. Da der Zulauf des Volks außerordent-
lich groß iſt, und den ganzen Tag hindurch ge-
ſpielt wird, ſo iſt der Gewinn der Unterneh-
mer und Schauſpieler, den ſie unter ſich thei-
len, immer betraͤchtlich genug. Dieſe letztern
ſind, wie man leicht vermuthen wird, keine
Kuͤnſtler vom Metier, ſondern bloße Dilettan-
ten aus den unterſten Volksklaſſen, denen aber
dennoch, unter der Maske des Duraks*)
mancher kraͤftige und naive Einfall entwiſcht.
S 5
[282]
Ein zweytes oͤffentliches Volksfeſt ſind die
Eisberge, welche in der Butterwoche, der
ruſſiſchen Karnavalszeit, gewoͤhnlich auf der
Newa errichtet werden. Jeder Eisberg be-
ſteht aus einem ungefaͤhr ſechs Klafter hohen
Balkengeruͤſte, welches an der einen Seite
Treppen zum Hinaufſteigen, und an der ge-
genuͤberſtehenden eine ſteile abhaͤngige Flaͤche
hat, die mit geſaͤgten und genau verbundenen
Eisquadern belegt iſt. Mannsperſonen ſowol
als Frauenzimmer (letztere jedoch nur aus den
untern Klaſſen) fahren mit kleinen, niedrigen
Schlitten von dieſem Brettergeruͤſt auf ein
von Schnee gereinigtes Eisfeld herunter. Die
Gefahr welche mit dieſem Vergnuͤgen verknuͤpft
iſt und die uͤbrigen Umſtaͤnde die es begleiten,
ſchlieſſen freylich das beſſere Publikum von der
Theilnahme an demſelben aus; aber der bloße
Genuß des Anblicks einer ſolchen Menge froͤh-
licher Menſchen, das Nationalintereſſe welches
mit dem ganzen Schauſpiel verknuͤpft iſt, die
Geſchicklichkeit vieler jungen Leute, welche oft
ſtehend, auf Schlittſchuhen, die gefaͤhrliche
Fahrt wagen, ziehen immer eine große Anzahl
Zuſchauer herbey. Die Newa iſt an dieſen
[283] Tagen mit Wagen, Schlitten und Fußgaͤn-
gern bedeckt, es werden Haͤuſer und Buden
auf derſelben errichtet, die zu Volkstheatern
und Schenken dienen. Alle dieſe Menſchen,
Pferde, Wagen, Schlitten und Geruͤſte ſtehen
auf der Winterdecke eines großen Fluſſes, und
an einer Stelle, wo, wenige Wochen nachher,
Schiffe die Wellen durchſchneiden. Indeſſen
wenn ein gelinder Winter einfaͤllt und zu be-
fuͤrchten iſt, daß das Eis nicht Staͤrke genug
gewonnen haben moͤchte, wird der Schauplatz
dieſer Volksluſtbarkeit an das Ufer der Newa
verlegt.
Die oͤffentlichen Vergnuͤgungen
des hoͤhern Publikums in St. Peters-
burg geben keinen ſo reichhaltigen Stoff zur
Schilderung, als man nach dem allgemein
herrſchenden Hange zum Genuß und dem
Wohlſtande der Einwohner vorausſetzen ſollte.
Die Anſtalten fuͤr die oͤffentliche Beluſtigung
ſind hier weder ſo zahlreich noch ſo glaͤnzend,
als ich ſie zum oͤftern in Staͤdten von weit
geringeren Anſpruͤchen gefunden habe. Die
Urſache dieſer ſonderbaren Erſcheinung liegt
weder in der Unbereitwilligkeit des Publikums,
[284] noch in dem Mangel an Unternehmern: ſon-
dern in dem herrſchenden Ton, der ſich gegen
eine oͤffentliche und uneingeſchraͤnkte Theilnah-
me ſtraͤubt. In allen großen Staͤdten die ich
kenne, iſt dies ſo ſehr der entgegengeſetzte Fall,
daß ſie gerade hierinn ſich auf eine karakteri-
ſtiſche Weiſe von kleinern Oertern unterſchie-
den. In Paris, London, Berlin und Wien
liebt man vorzuͤglich ſolche Beluſtigungen an
denen Jedermann, ohne Einſchraͤnkung, Theil
nehmen kann. Faſt alle Arten von Ergoͤtzun-
gen ſind oͤffentlich, das heißt, ſtehen unter ge-
wiſſen Bedingungen Jedermann frey. Der
Genuß derſelben iſt mit verhaͤltnißmaͤßig ſehr
geringen Koſten verknuͤpft, und wird eben
durch die Theilnahme einer großen Menge
Menſchen um vieles erhoͤht. Das weibliche
Geſchlecht iſt bey allen Vergnuͤgungen unent-
behrlich, und mildert durch ſeine Gegenwart
den allzuſtrengen oder rauhen Ton, in der auch
die beſtgewaͤhlteſte Geſellſchaft von Maͤnnern
leicht verfaͤllt. In St. Petersburg trifft faſt
von allem dieſem das [Gegentheil] zu. Die ſo-
genannte gute Geſellſchaft zieht ſich in Fami-
lienkreiſe, Cercles, Klubbs, u. ſ. w. zuſammen,
[285] zu welchen ein Fremder, ohne Adreſſen, ſchwer-
lich zudringen kann, und deren Ton, durch den
Mangel einer hinlaͤnglichen Miſchung der Ka-
raktere und Staͤnde, ein etwas einfoͤrmiges
Gepraͤge erhaͤlt. Man findet es unanſtaͤndig
oͤffentliche Haͤuſer zu beſuchen; Leute von einem
gewiſſen Anſehn, Familienvaͤter, Staatsbe-
diente, reiche Kaufleute gehen nie in ein Kaffee-
haus. Frauenzimmer vollends duͤrfen oͤffent-
liche Oerter nur unter ſehr großen Einſchraͤn-
kungen beſuchen; aus den meiſten derſelben
ſind ſie durch die Geſetze und Einrichtungen
foͤrmlich verbannt. Daher kommt es, daß
Haͤuſer die dem oͤffentlichen Vergnuͤgen ge-
widmet ſind, hier nicht gedeihen, ſelbſt wenn
ſie mit Aufwand und Geſchmack, oder unter
dem Schutz eines Großen angelegt werden.
Um ſich fuͤr den Mangel derſelben ſchadlos
zu halten, haben die Petersburger eine Menge
Klubbs errichtet, die nach der Zahl und dem
Rang ihrer Mitglieder in groͤßerm oder ge-
ringerem Anſehen ſtehen. Auch dies ſind nicht
nur geſchloſſene ſondern ſogar ausgeſuchte Zir-
kel, in denen jedes Mitglied Leute ſeines Stan
des, ſeiner Denkungsart und ſeiner Bekannt-
[286] ſchaft vorfindet; oder Tiſchgeſellſchaften, wo
man fuͤr ein maͤßiges Geld ziemlich gut ge-
ſpeißt und getraͤnkt wird. Die Unterhaltung
ſchraͤnkt ſich gemeiniglich auf den Kartentiſch
und das Billiard ein. Dieſe großen Anſtal-
ten, trotz der Koſten die ihre Unterhaltung
verurſacht, frommen dem feinern Theil des
Publikums wenig. Der Mann von Geſchmack
entbehrt ihrer gerne; der groͤßere Haufe frey-
lich laͤuft ihnen nach: aber vermag dieſer den
Ton einer Geſellſchaft zu ſtimmen? — Eine
vortheilhafte Ausnahme von dieſer Beſchrei-
bung macht der muſikaliſche Klubb, der
zwar nach ſeiner ehemaligen Einrichtung auf-
gehoͤrt hat, aber in dieſem Jahr unter noch
guͤnſtigern Vorbedeutungen eine neue und
glaͤnzendere Exiſtenz erhielt. Schon ſeine Be-
nennung kuͤndigt einen zuſammengeſetztern,
veredeltern Endzweck an. Eine große Anzahl
Mitglieder aus den feinern und gebildeten
Klaſſen (in den letztern Zeiten des alten
Klubbs waren ihrer gegen achthundert) ver-
ſammelt ſich hier im Herbſt, Winter und
Fruͤhling einmal in der Woche, um einem der
geſchmackvollſten Konzerte beyzuwohnen. Kuͤnſt-
[287] ler vom erſten Range treten hier auf, und
werden mit anſtaͤndiger Freygebigkeit belohnt.
Die Saͤngerinn Pozzi, der große Violin-
ſpieler Giornovichi, und mehrere beruͤhm-
te einheimiſche und fremde Virtuoſen waren
eine Zeitlang die Zierde dieſer glaͤnzenden mu-
ſikaliſchen Unterhaltung; die beyden genann-
ten Kuͤnſtler erhielten fuͤr jeden Abend, an wel-
chem ſie das Publikum durch ihre Talente
entzuͤckten, hundert und mehr Rubel. — In
eben dieſem Zeitraum giebt der Klubb monat-
lich einen Ball oder eine Maskarade, bey wel-
chen ſich nur Mitglieder deſſelben einfinden
duͤrfen, die aber durch die große Anzahl derſel-
ben, durch den ungezwungenen Ton und die
anſtaͤndige Freyheit die in dieſen Verſammlun-
gen herrſcht, und durch den geſchmackvollen
Aufwand der hier uͤberall ſichtbar iſt, zu den
angenehmſten Winterluſtbarkeiten der Reſidenz
gezaͤhlt werden koͤnnen. Außer dieſen Jahrs-
zeiten und den zu Konzerten und Baͤllen be-
ſtimmten Tagen wird der Klubb weniger be-
ſucht, ob er gleich eben die Unterhaltungen
darbietet, die man in den uͤbrigen Klubbs fin-
det. Man kann hier die beſten Zeitungen in
[288] ruſſiſcher, franzoͤſiſcher, deutſcher und engliſcher
Sprache leſen; Kartenſpiel und Billiard, die
gewoͤhnlichſten Quellen des Zeitvertreibs, ſind
ebenfalls uͤblich; und auch fuͤr den Tiſch ſind
ſolche Einrichtungen getroffen, daß Mitglieder
fuͤr einen billigen Preis ſehr gut zu Mittage
und Abend ſpeiſen koͤnnen. Die Einnahmen
des alten muſikaliſchen Klubbs waren ſehr be-
traͤchtlich; das Eintrittsgeld von 30 Rubeln
machte eine Summe von 24,000 R. und der
jaͤhrliche Beytrag, der ſich auf 25 R. belief,
ungefaͤhr 20,000 R. Ungeachtet dieſer großen
Huͤlfsquellen kam die Geſellſchaft in ihren
Ausgaben zu kurz, welches auch die Urſache
ihrer Aufloͤſung wurde. Der Beytrag des neu-
errichteten Klubbs iſt auf 50 R. feſtgeſetzt; die
Zeit wird lehren, ob dieſer etwas hohe Preis
ihn fuͤr das Schickſal ſeines Vorgaͤngers ſchuͤz-
zen [kann].
Der engliſche Klubb zeichnet ſich durch
die gute Auswahl ſeiner Mitglieder aus, und
behauptet, in Ruͤckſicht ſeines Zwecks, den
naͤchſten Platz nach dem muſikaliſchen. So
ſehr auch hier das Spiel die Hauptquelle aller
Unterhaltung iſt, ſo ſchließt es doch eine ernſt-
hafte
[289] hafte und vernuͤnftige Konverſation nicht ſo
gaͤnzlich aus, wie dies bey andern Klubbs der
Fall iſt. Seinen Namen fuͤhrt er mit Un-
recht, denn er iſt weder bloß von Englaͤndern
geſtiftet, noch bloß von ihnen beſucht. Es be-
finden ſich Leute von den mehreſten hier ange-
ſeſſenen Nationen in dieſer Geſellſchaft, deren
Anzahl uͤbrigens nur auf dreyhundert beſchraͤnkt
iſt, welche 40 R. Eintrittsgeld und einen jaͤhr-
lichen Beytrag von 20 R. zahlen. Es werden
hier die beſten Zeitungen und einige Journale
gehalten; auch iſt der Anfang zu einer kleinen
aber gewaͤhlten Buͤcherſammlung gemacht.
Der unlaͤngſt errichtete Klubb fuͤr den
Adel kommt im Weſentlichen mit den ebenge-
nannten uͤberein. Man wuͤrde ſich aber ſehr
irren, wenn man glaubte, daß dieſe Geſellſchaft
allen Buͤrgerlichen den Zutritt verſagte. Das
Kaſtenſyſtem, welches in Deutſchland und an-
dern Laͤndern die Menſchen nach ihrem Ge-
burtsrang ſondert, iſt in Rußland und vor-
zuͤglich in der Reſidenz voͤllig unbekannt. Jeder
rechtliche Mann, der entweder den Dienſtadel
beſitzt, oder ſich zu den nahmhaften Buͤrgern
rechnen kann, hat Anſpruͤche an die Aufnahme.
Zweiter Theil. T
[290] Kartenſpiel, Billiard, Tanz und Unterhaltung
ſind auch hier die Zwecke des Inſtituts.
Eine der merkwuͤrdigſten Anſtalten dieſer
Gattung iſt der Buͤrgerklubb, weil ſich in
demſelben eine große Anzahl unſerer rechtlichen
und wohlhabenden Buͤrger verſammelt, und
weil er durch ſeinen Einfluß auf die Denkungs-
art, die Sitten und den Beutel dieſer Klaſſe
von Menſchen ſehr wichtig wird. Der groͤßere
Theil der Mitglieder, deren ungefaͤhr ſechs-
hundert ſind, beſteht aus Handwerkern und
Kuͤnſtlern, vorzuͤglich deutſchen. Es iſt nicht
zu viel geſagt, wenn man behauptet, daß dieſer
Klubb dem Ton und der Lebensart des hieſi-
gen geringern Mittelſtandes eine eigenthuͤm-
liche, entſcheidende Richtung gegeben hat. Das
jedem Menſchen ſo natuͤrliche Beduͤrfniß der
Erholung und Zerſtreuung nach der Arbeit iſt
durch die anziehenden Vergnuͤgungen dieſes
Inſtituts bey den Mehreſten ſo erhoͤht worden,
daß ſie ſich eher dem weſentlichſten Mangel
unterwerfen, als auf den Genuß derſelben
Verzicht thun wuͤrden. So ſehr jedem ar-
beitſamen Manne ſeine Erholungsſtunde zu
goͤnnen iſt, ſo ſchaͤdlich iſt es doch fuͤr das Beſte
[291] des Ganzen, wenn gerade die nuͤtzlichſte und
unentbehrlichſte Klaſſe von Menſchen einen gro-
ßen Theil des Tages in geſchaͤftloſer Zerſtreu-
ung verlebt. Der Luxus, der ſich uͤberall ein-
ſchleicht, hat auch hier durch die unvermeidliche
Nacheiferung ſo vieler, zum Theil wohlhaben-
den, Menſchen Wurzel gefaßt und iſt zu einer
ſolchen Hoͤhe gediehen, daß fremde unbefan-
gene Beobachter die Wirkungen deſſelben nicht
ohne Erſtaunen bemerken. Es iſt nichts ſeltnes
hier den Rober Whiſt zu zehn Rubel ſpielen,
oder einen Handwerker zu ſeiner Abendmahl-
zeit eine Flaſche Rheinwein trinken zu ſehn.
Der Aufwand, mit welchem die Frauen und
Toͤchter dieſer Leute an Balltagen erſcheinen,
iſt ſo außer allem Verhaͤltniß, daß gewiß kein
Fremder errathen wuͤrde, in welcher Geſell-
ſchaft er ſich befaͤnde. Doch unter allen Fol-
gen welche die Manie der Klubbs unter dieſer
Klaſſe hervorbringt, iſt keine unſchaͤdlicher und
laͤcherlicher, als der ſeltſame Stolz, der hier
durch die Vermiſchung mit hoͤhern Staͤnden,
durch die prachtvolle und ſchoͤne Einrichtung
des Ganzen, durch die aufmerkſame und
puͤnktliche Bedienung, und durch den Aufwand
T 2
[292] zu welchem man ſich unvermerkt hingezogen
fuͤhlt, erzeugt und genaͤhrt wird. Nichts iſt
natuͤrlicher, als daß der Meiſter Schuhmacher,
der hier in Geſellſchaft von Staatsbedienten,
Offizieren, Gelehrten und Kaufleuten Karten
ſpielt und Tobak raucht, und von wohlgekleide-
ten Livreebedienten ehrerbietig bedient wird —
daß er ſich nun erniedrigt fuͤhlt, wenn er zu
ſeinem Klubbgenoſſen, dem Hofrath, gerufen
wird, um das Maaß zu Schuhen zu nehmen.
Daher die Inſolenz dieſer Art Leute, die ſo
weit geht, daß man ſie nur mit der groͤßten
Hoͤflichkeit und Nachgiebigkeit gegen ihre Laune
bewegen kann, fuͤr gute Bezahlung ihre Ar-
beit zu liefern. — So gegruͤndet dieſe Vor-
wuͤrfe aber ſind, ſo wenig koͤnnen ſie doch,
wie ſich leicht von ſelbſt verſteht, von Allen
gelten. Der Klubb an ſich iſt ein Inſtilut,
welches ſogar ſeinen Nutzen haben kann, und
nur durch Mißbrauch entſtehen jene Folgen.
Er erhaͤlt, zum Beyſpiel, den Gemeinſinn des
Buͤrgers, verfeinert ſeine Sitten, bildet ſeinen
Geſchmack, und macht ihn wol gar, wenn das
Gluͤck wohl will, zum politiſchen Seher.
[293]
Eine zweyte faſt aus eben den Klaſſen zu-
ſammengeſetzte Geſellſchaft, die ſich durch eine
Spaltung vom Buͤrgerklubb bildete und daher
gewoͤhnlich der amerikaniſche Klubb ge-
nannt wird, beruht auf eben den Einrichtun-
gen, und hat den naͤmlichen Zweck und die
naͤmliche Wirkung.
Fuͤr den Tanz beſtehen ebenfalls zwey
Klubbs. In beyden verſammeln ſich die
Mitglieder Sonntags und Montags zum Tan-
zen, wobey zugleich ſoupirt werden kann. Der
aͤltere Tanzklubb iſt ſehr gemiſcht; der juͤngere
hingegen beſteht bloß aus Handwerkern, die
das vernuͤnftige Geſetz eingefuͤhrt haben, daß
das Frauenzimmer in ſeiner Hauskleidung er-
ſcheinen darf.
Auch die Liebhaberey fuͤr Schauſpielkunſt
hat aͤhnliche Aſſociationen erzeugt. Seit eini-
gen Jahren beſteht ein deutſches Liebha-
bertheater, welches das hieſige Publikum
fuͤr den Verluſt der deutſchen Schaubuͤhne
ſchadlos zu halten ſucht. Alle Koſten werden
von den Mitgliedern beſtritten und die Ein-
laßbillette unentgeldlich vertheilt. So vielen
Dank dieſe Unternehmung auch von Seiten des
T 3
[294] Publikums verdient, ſo iſt dennoch nicht zu
leugnen, daß die ganze Anſtalt nur in der
Sphaͤre der Mittelmaͤßigkeit vegetirt, aus wel-
cher ſie vielleicht durch einen hoͤhern Grad von
oͤffentlicher Theilnehmung und Gefuͤhl fuͤr
deutſche Art und Kunſt geriſſen werden koͤnn-
te. — Ein zweytes Liebhabertheater
wird jetzt, wie es ſcheint, unter gluͤcklichern
Auſpicien gegruͤndet.
Dieſe kurze Muſterung der petersburgi-
ſchen Klubbs iſt zugleich ſehr karakteriſtiſch fuͤr
den Geſchmack und die Kultur des Publi-
kums. Unter neun hier beſtehenden Geſell-
ſchaften dieſer Art, keine einzige die einen ge-
meinnuͤtzigen litterariſchen oder artiſtiſchen
Zweck, oder bloße Unterhaltung zur Abſicht
haͤtte. In allen, die beyden Liebhabertheater
ausgenommen, iſt das Kartenſpiel die Haupt-
ſache, wenigſtens fuͤr den bey weitem groͤßern
Theil der Mitglieder. Alle Verſuche, die man
mit der Errichtung literariſcher oder Konver-
ſationsklubbs gemacht hat, ſind durch den
Mangel an Theilnahme des Publikums ge-
ſcheitert. Vor etwa zehn Jahren gelang es
einem gelehrten und einem Militair-
[295] klubb ſich eine Art von Exiſtenz zu verſchaf-
fen; aber das Intereſſe ihres Zwecks war zu
ſchwach, um ihnen eine lange Dauer zu ſichern.
Sie giengen beyde ein, und ſeit der Zeit iſt
kein zweyter Verſuch gemacht worden, dieſe
Idee zu erneuern, obgleich die ſichtbar zuneh-
mende Verfeinerung des Geſchmacks einer aͤhn-
lichen Unternehmung jetzt einen beſſern Fort-
gang zu verſprechen ſcheint.
Es giebt vielleicht kein ſicherers Kennzei-
chen, den Ton und den Geiſt eines Publikums
zu beurtheilen, als die Einrichtung und Ab-
ſicht ſolcher freyen Aſſociationen. Je groͤßer
das Beduͤrfniß der Konverſation, oder das Be-
duͤrfniß, Ideen auszutauſchen und mitzutheilen
iſt, um deſto ſicherer kann man auf Kultur
und Ausbildung ſchließen. Dieſe Bemerkung
wird durch die Erfahrung bey allen geiſtrei-
chen und verfeinerten Nationen beſtaͤtigt. In
England, wo man weder gegen die Unterhal-
tung des Kartenſpiels noch gegen Tafelgenuß
gleichguͤltig iſt, haben ſich dennoch debating
ſocietys gebildet, in denen weder geſpielt noch
gegeſſen wird, und wo bloß eine lebhafte und
noch dazu gewiſſen Regeln unterworfene Un-
T 4
[296] terhaltung viele Hunderte von Menſchen zu-
ſammenbringt, unter denen ſich ſogar Frauen-
zimmer befinden. In dem ehemaligen Paris
exiſtirte kein oͤffentlicher Vergnuͤgungsort, in
welchem nicht Lektuͤre und Konverſation die
erſte und allgemeinſte Unterhaltung hergegeben
haͤtten. Sogar der Circus im Palais Royal,
der Mittelpunkt alles Genuſſes in dieſer wol-
luͤſtigen Hauptſtadt, konnte ſeinen Zweck nicht
erfuͤllen, ohne den Pariſern die Befriedigung
geiſtiger Beduͤrfniſſe anzubieten. Mitten unter
dem berauſchenden Gewuͤhl der raffinirteſten
ſinnlichen Freuden hatte die Weisheit eine hoͤr-
bare Stimme und aufmerkſame Zuhoͤrer; ſtatt
von jenen verdraͤngt zu werden, erhielt ſie hier
den Platz der oberſten Gottheit.
In allen großen Staͤdten ſind oͤffentliche
Promenaden vorhanden, die als allgemeine
Vergnuͤgungsoͤrter betrachtet werden koͤnnen.
Auch St. Petersburg hat deren mehrere, zum
Theil ſehr anziehende; aber ſie werden, in
Vergleichung mit den Spazierplaͤtzen anderer
großen Staͤdte, nur ſehr wenig beſucht. Der
kurze Sommer, die kothigen oder ſtaubigen
Gaſſen, die Weitlaͤuftigkeit der Reſidenz machen
[297] die Equipage zum Genuß dieſes Vergnuͤgens
beynah unentbehrlich; und der wohlhabende
Theil der Einwohner bringt die angenehmere
Jahrszeit gewoͤhnlich auf ſeinen Landhaͤuſern
zu. Der vorzuͤglichſte Spazierplatz innerhalb
der Stadt iſt der kaiſerliche Sommergar-
ten, deſſen Lokale meine Leſer aus dem erſten
Abſchnitte kennen. Seine Groͤße iſt zwar nur
mittelmaͤßig *), auch wendet man wenig
Sorgfalt auf ſeine Unterhaltung; aber den-
noch verdiente er, wenn die eben angefuͤhrten
Urſachen dies nicht hinderten, eine dankbarere
Benutzung. Bey aller Einfoͤrmigkeit des hol-
laͤndiſchen Geſchmacks, in welchem er angelegt
iſt, fehlt es nicht an intereſſanten Parthieen.
Seine ſchoͤnen, durch alte ehrwuͤrdige Linden
beſchatteten Alleen, gewaͤhren einen angeneh-
men Zufluchtsort gegen die druͤckende Hitze
unſerer langen Sommertage, und die herrliche
Ausſicht nach der Newa einen Anblick, den
man vielleicht in den praͤchtigſten Staͤdten
T 5
[298] Europens vergebens ſucht. Auch das Auge des
Kenners iſt nicht ohne Befriedigung. Einige
der vorzuͤglichſten Gaͤnge ſind mit Marmor-
und Alabaſterſtatuͤen beſetzt, die unter den
vorigen Regierungen aus Italien hierher ge-
bracht wurden. Die ſchoͤnſten Kunſtſachen aber
enthaͤlt eine Grotte, die ihre ehemalige Pracht
nur noch durch Ruinen verkuͤndigt. Hier fin-
det man zwey Statuͤen von Conradini:
Religion und Glaube, denen die Kenner einen
ehrenvollen Platz unter den Merkwuͤrdigkeiten
der Reſidenz zugeſtehen. Es ſind weibliche ver-
ſchleyerte Figuren, deren edle idealiſche Bil-
dung durch die Steinhuͤlle durchſchimmert, und
den Zuſchauer in ein deſto zauberiſchers Er-
ſtaunen verſetzt, weil ſeine Einbildungskraft die
Formen, die in der Darſtellung gleichſam nur
angekuͤndigt werden, nach einem in der Wirk-
lichkeit nicht erreichbaren Maßſtabe, vollendet.
Dieſe vortrefflichen Kunſtwerke und mehrere
kleine aber ausgeſuchte Produkte des italieni-
ſchen Meißels ſcheinen hier, mit der Grotte die
ſie einſchließt, der Vergeſſenheit und dem dank-
baren Entzuͤcken einzelner Kenner, ſo wie den
Beleidigungen der Witterung und des unge-
[299] ſchlachten Poͤbels uͤberlaſſen zu ſeyn. — Nicht
nur der Beſchuͤtzer dieſes Gartens, ſelbſt die
Natur hat demſelben ihre muͤtterliche Hand
entzogen. Noch izt ſieht man die Spuren ei-
ner großen Ueberſchwemmung, durch welche
er den groͤßten Theil ſeiner natuͤrlichen Reize
verloren haben ſoll.
Trotz dieſes widrigen Verhaͤngniſſes ver-
dient der Sommergarten dennoch beſucht zu
werden, wenn er auch nicht der einzige oͤffent-
liche und fuͤr das Publikum beſtimmte Spa-
zierplatz waͤre. Er iſt es wirklich an ſchoͤnen
Sommertagen von einzelnen Menſchen, die ihre
Neigung oder ihr Beruf in der Stadt zu le-
ben herbeyfuͤhrt. Aber auch ſeine glaͤnzenden
Tage hat der Sommergarten. Am erſten und
zweyten Pfingſttage verſammelt ſich das ganze
tongebende und geſchmackvolle Publikum in
demſelben. Wie viel oder wie wenig die liebe
Natur von dieſer Ehre auf ihre Rechnung
ſchreiben duͤrfte, mag ich nicht unterſuchen;
aber wahr iſt es, daß unſere Damen aus der
großen Welt ihre ſchoͤnen Landſitze verlaſſen,
um ſich an dieſen Tagen unter dem Gedraͤnge
der geputzten Staͤdter herumzuſtoßen, und daß
[300] man, außer der großen Allee, wo alles ſieht und
geſehen wird, nur auf einzelne unmodiſche
Spaziergaͤnger trifft.
Nicht ſo laͤndlich als der Sommergarten,
aber reicher an den ſchoͤnſten und mannigfal-
tigſten Ausſichten iſt die Promenade auf dem
Kay des linken Newaufers, deſſen
prachtvolle und in ihrer Art einzige Konſtruk-
tion noch aus der Beſchreibung des erſten Ab-
ſchnitts erinnerlich ſeyn wird. Ich verweiſe
meine Leſer dahin, um unnoͤthige Wiederholun-
gen zu vermeiden, und ergaͤnze hier nur, was
zur vollſtaͤndigen. Karakteriſtik dieſer intereſſan-
ten Parthie gehoͤrt. — Da die Granitein-
faſſung des linken Newaufers durch die Schiffs-
werſte der Admiralitaͤt unterbrochen wird, ſo
bildet ſie eigentlich zwey abgeſonderte Prome-
naden, von welchen einer der Kay des Galee-
renhofes und der andere der Kay der Million
genannt wird. Beyde ſind ſich in ihrer Ein-
richtung gleich, aber durch die Mannigfaltigkeit
der Standpunkte, die ſie gewaͤhren, von ſehr
verſchiednem Intereſſe. Von dem Kay des
Galeerenhoſes hat man die Ausſicht auf eine
lange Reihe ſchoͤner und praͤchtiger Gebaͤude,
[301] die das Ufer von Waſſili Oſtrow bekraͤnzen.
Der Anblick der Newa, die dieſe Inſel von
unſerm Standpunkt trennt, iſt keiner der ge-
ringſten Vorzuͤge derſelben. Die hin und wie-
der ſchwimmenden, oder mit vollen Segeln
herbeyeilenden Schiffe, das Gewuͤhl der See-
leute und Schaluppenfahrer, erregen einen an-
genehmen Kontraſt mit der ſtaͤdtiſchen Lebhaf-
tigkeit die am Ufer herrſcht. Ueberall wo das
Auge hintrifft, ſtoͤßt es auf ſeltne Denkmaͤler
der menſchlichen Kunſt und des menſchlichen
Fleißes. Eine ſchoͤnere Gaſſe, als die Haͤuſer-
reihen zu beyden Seiten der Newa hier bil-
den, giebt es vielleicht nirgend. Aber ſchoͤner
noch iſt der Standpunkt am Ende des Kays,
wo er durch die Admiralitaͤt unterbrochen
wird. Hier umfaßt der Blick mit einemmal
das Ufer von Waſſili Oſtrow, die Schiffbruͤcke,
den Petersplatz, die Admiralitaͤt: eine Gruppe,
die durch ſo viele außerordentliche Monumente
der Kunſt und durch das große Gewuͤhl des
Luxus und der Betriebſamkeit ausgefuͤllt wird.
Doch ich fuͤhle, wie unzulaͤnglich jede Beſchrei-
bung werden muß, die ſich an Gegenſtaͤnde
dieſer Art wagt, da ſelbſt die ſchoͤnen Abbil-
[302] dungen, die wir geſchickten Malern von dieſem
Standpunkt verdanken, nur den Zweck eines
leichten Umriſſes erfuͤllen, zu welchem die Ein-
bildungskraft, durch die Erinnerung des Geſe-
henen, die kraͤftigſten Pinſelſtriche hinzufuͤgen
muß.
Nicht minder ſchoͤn und vielleicht noch
mannigfaltiger iſt die Promenade auf dem
Kay der Million. Daß wir hier laͤngs dem
kaiſerlichen Schloß, der Eremitage, dem Mar-
morpallaſt und einer unabſehbaren Reihe praͤch-
tiger und eleganter Gebaͤude fortgehen, will
ich nur bemerken, um meine Leſer ſogleich mit
den abwechſelnden Ausſichten der gegenuͤberſte-
henden Ufer bekannt zu machen. Dadurch,
daß dieſe ſich in Inſeln theilen und weil die
Newa hier die groͤßte Breite hat, erhaͤlt man
durchgehends einen viel freyern und ausge-
dehntern Geſichtskreis, als auf dem Kay des
Galeerenhofes. Wenn man ſeinen Stand-
punkt am Schloſſe waͤhlt, hat man die oͤſtliche
Spitze von Waſſili Oſtrow, und auf derſelben
die Gebaͤude der Akademie der Wiſſenſchaften
und die neue Boͤrſe, im Geſicht. In dieſer
Gegend liegen, den Sommer hindurch, beſtaͤn-
[303] dig eine Menge Schiffe vor Anker. Dem
Marmorpallaſt gegenuͤber ſteht die Feſtung,
deren Granitwaͤlle unmittelbar von den Wel-
len beſpuͤlt werden, und die mit dem vergol-
deten Thurm ihrer Kirche einen der ſchoͤnſten
Geſichtspunkte giebt. Weiter hinauf wird die
Ausſicht laͤndlich; dem Stuͤckhofe gegenuͤber
liegt ein großes Dorfaͤhnliches Quartier. Alle
dieſe Gegenſtaͤnde ſind ſo weit von einander
entfernt und durch lebendige Zwiſchenraͤume
ausgefuͤllt, daß man, waͤhrend dem Gehen,
unaufhoͤrlich abwechſelnde Geſichtspunkte hat.
Dieſe ſchoͤnen Spaziergaͤnge, die ſelbſt nach
der ſchwachen Schilderung die ich gegeben
habe, keine gemeine oder alltaͤgliche Idee er-
wecken koͤnnen, werden vorzuͤglich in Som-
mernaͤchten intereſſant, wenn das Gewuͤhl der
Arbeitſamkeit ſich in das ſanfte Leben genießen-
der froͤhlicher Menſchen verliert. Ungequaͤlt
von dem erſtickenden Staube und dem unauf-
hoͤrlichen Geraſſel, welche ſich des Tages uͤber
zu der ſtechenden Sonne geſellen, um die Lun-
gen und das Gehoͤr der Fußgaͤnger auf die
ſchmerzlichſte Art zu beleidigen, ſucht ſich als-
dann der zuruͤckgebliebene Staͤdter fuͤr die ent-
[304] behrten Freuden des Landlebens zu entſchaͤdi-
gen. So ſchoͤn die Gegenſtaͤnde umher im
Glanz der Mittagsſonne erſcheinen, ſo lieblich
gruppiren ſie ſich bey der Daͤmmerung unſerer
Sommernaͤchte in abwechſelnde, halb verwor-
rene Geſtalten. Das taktmaͤßige Plaͤtſchern
der herumirrenden Schaluppen, der uͤberall er-
toͤnende Volksgeſang, die hoͤrbaren Schritte
der Spaziergaͤnger, zuweilen auch die majeſtaͤ-
tiſchen Toͤne der Jagdmuſik, ſind die einzigen
Unterbrechungen der Stille in welche die ganze
Natur verſenkt zu ſeyn ſcheint. — Außer die-
ſer Jahrszeit, die leider eben ſo kurz als ange-
nehm iſt, wird der Kay vorzuͤglich an ſchoͤnen
Winter- und Fruͤhlingstagen beſucht, wenn der
reiche und uͤppige Theil der Einwohner durch-
aus in det Reſidenz verſammelt iſt. Zum be-
quemern Genuß dieſes Vergnuͤgens reinigt man,
den Winter hindurch, die Trottoirs mit der
muͤhſamſten Sorgfalt vom Schnee und be-
ſtreut ſie mit grobem Sande. Unter der Huͤlle
des Winters erhaͤlt freylich die Ausſicht eine
ſehr veraͤnderte Geſtalt; aber die eigenthuͤmli-
chen Schoͤnheiten abgerechnet, die auch dann
nicht ganz verloren gehen, werden die zufaͤlli-
gen
[305] gen durch andere, dem Auge des Fremden viel-
leicht noch ſonderbarere, erſetzt. Die Eisdecke
der Newa iſt in dieſer Jahrszeit mit unzaͤhli-
gen ſich durchkreuzenden Fahrwegen und Fuß-
ſteigen bezeichnet, von denen die erſtern ge-
woͤhnlich zu beyden Seiten mit Tannenbaͤumen
abgeſteckt werden. Der kontraſtirende Anblick
des blendenden Schneefeldes und dieſer gruͤ-
nen Alleen; das beſtaͤndige Gewuͤhl von Schlit-
ten und Fuhren, welche ſich auf dieſen ſeltſa-
men Heerſtraßen draͤngen, iſt keine ſo unange-
nehme Veraͤnderung, daß man ſie ohne Be-
denken gegen die rauſchende Thaͤtigkeit der
Sommerſcene vertauſchen moͤchte. Intereſſan-
ter noch wird dieſe Winterpromenade, wenn
die Eisberge und Rennbahnen das Volk belu-
ſtigen. Alsdann wimmelt es auf dem Kay
von Herren und Damen aus der großen und
feinen Welt, und die Blicke des Beobachters
irren von einem Schauplatz zum andern, un-
gewiß auf welchem die reichſte Ausbeute zum
Stoff fuͤr ein philoſophiſches Selbſtgeſpraͤch
zu erhalten waͤre.
Einen weit weniger intereſſanten, aber doch
durch ſchoͤne Gebaͤude und abwechſelnde Ge-
Zweiter Theil. U
[306] genſtaͤnde unterhaltenden Spaziergang bieten
die Trottoirs des Fontankakanals an,
die in einer Laͤnge von beynahe ſechs Werſten
ununterbrochen fortlaufen. Beſonders ange-
nehm wird mir dieſe Promenade durch den
Anblick der taͤglichen Verſchoͤnerungen und der
Wirkungen des außerordentlichen Baugeiſtes,
der nirgend ſo ſehr als hier in ſeinem Glanze
erſcheint. Jeder neue Beſuch, den ich dieſer
Gegend nach einem kurzen Zeitraum abſtatte,
gewaͤhrt neue Ueberraſchung und erzwingt
groͤßeres Erſtaunen. Pallaͤſte ketten ſich an
Pallaͤſte, ganze Felder werden in einigen Som-
mermonaten mit Haͤuſern bedeckt, und alle
dieſe Entſtehungen verbinden den edelſten Ge-
ſchmack in der Baukunſt mit dem hoͤchſten
Raffinement fuͤr Bequemlichkeit und Noth-
durft. Welche Stadt in unſerm Welttheil
darf ſich mit St. Petersburg meſſen, wenn
dieſe Gaſſe vollendet ſeyn wird!
Zu den weniger beſuchten Promenaden in-
nerhalb der Reſidenz gehoͤrt der kaiſerliche
italieniſche Garten auf dem Stuͤckhofe.
Beſchraͤnkt in ſeinem Umfange, einfoͤrmig in
ſeiner Anlage und vernachlaͤſſigt wie er iſt,
[307] kann er allerdings keinen Anſpruch auf Merk-
wuͤrdigkeit machen, in einer Stadt, wo der
außerordentlichen Merkwuͤrdigkeiten ſo viele
ſind.
Der Garten des Pantheons oder des
tauriſchen Pallaſts in eben dem Stadt-
theile iſt um deſto eher eines Beſuchs werth.
Seine Groͤße und die liebliche Einfalt ſeines
Plans, der ganz im engliſchen Geſchmacke iſt,
ſind ſeine Vorzuͤge. Huͤgel und Seen, Ge-
buͤſche, kleine Waſſerfaͤlle, machen ihn aͤußerſt
romantiſch. Seine weite Entfernung vom
Mittelpunkte der Stadt iſt die Urſache, wes-
wegen er nicht ſo haͤufig beſucht wird, als er
es verdiente.
Unter mehreren Gaͤrten im Bezirke der
Stadt, die zu den Pallaͤſten der Großen ge-
hoͤren, und daher nicht zu den oͤffentlichen ge-
zaͤhlt werden koͤnnen, verdient noch der Gar-
ten des Landkadettenkorps eine Er-
waͤhnung, weil er, unter der Direktion des
Grafen zu Anhalt, Sonntags zur Benuz-
zung des Publikums offen ſteht. Seine Merk-
wuͤrdigkeit iſt nicht groß, aber er wird, durch
U 2
[308] das bunte Gewuͤhl eines zahlreichen und an-
ſtaͤndigen Publikums intereſſant.
Endlich kann auch der große Handelshof,
Goſtinnoi Dwor, hierher gerechnet wer-
den, weil ſeine bedeckten Arkaden einen ange-
nehmen Spaziergang anbieten, der durch das
beſtaͤndige Gewuͤhl beſchaͤftigter Leute ganz un-
terhaltend wird.
Außer dieſen innerhalb der Reſidenz befind-
lichen Promenaden, giebt es in den entfern-
tern Stadttheilen und auf den Inſeln der
Newa ſehr anmuthige und reizende Gaͤrten,
die von ihren Beſitzern gewoͤhnlich mit nach-
ahmungswuͤrdiger Liberalitaͤt fuͤr das Vergnuͤ-
gen des Publikums geoͤfnet werden. — Die
großfuͤrſtliche Inſel, Kammennoi Oſtrow,
hat nicht nur ſehr viele und ſchoͤne Privatgaͤr-
ten, ſondern der erlauchte Beſitzer vergoͤnnt
Jedermann die Freyheit, ſich hier auf eine
anſtaͤndige Weiſe zu vergnuͤgen. Die roman-
tiſche Wildniß dieſer Inſel, ihre Lage zwiſchen
andern laͤndlichen Vergnuͤgungsoͤrtern, der
Fiſchfang und ein wohleingerichteter Gaſthof
ziehen an ſchoͤnen Sommertagen ein großes
Publikum herbey. — Eine andere Inſel,
[309]Kreſtowski Oſtrow, die dem Grafen Ra-
ſumowski gehoͤrt, iſt durchaus mit Wald
bedeckt, der hin und wieder zu großen, herr-
lichen Alleen ausgehauen iſt. Auch hier iſt es
Jedermann erlaubt, die natuͤrlichen Schoͤnhei-
ten zu genießen; ein kleines Dorf auf dieſer
Inſel iſt den Sommer hindurch faſt bloß von
Stadtleuten bewohnt. An Sonn- und Feſt-
tagen iſt hier ein großer Zuſammenfluß von
Staͤdtern aus den niedern Klaſſen, die ſich auf
ihre Weiſe ungeſtoͤrt vergnuͤgen duͤrfen. Auch
Jelagins Inſel, die ſchoͤnſte unter allen,
ſteht dem Publikum zur Benutzung frey, ſo
wie im wiburgiſchen Stadttheil die Gaͤrten der
Grafen Stroganow und Besborodks.
Die beyden erſteren haben ſeit einigen Jahren
ein Vauxhall eroͤfnet, welches ſehr haͤufig von
dem hoͤhern und niedern Publikum beſucht
wird. Die Geſellſchaft vergnuͤgt ſich mit
Spazierengehen und Tanzen, wozu die Eigen-
thuͤmer eine gutbeſetzte tuͤrkiſche Muſik unter-
halten, mit dem Fiſchfange, mit Schaukeln
und Kegeln, und Abends wird zuweilen ein
Feuerwerk abgebrannt. Der Herr von Jela-
gin nimmt gewoͤhnlich ſelbſt Theil an dem
U 3
[310] Vergnuͤgen, welches er um ſich her verbreitet,
und ſeine Toͤchter fangen zuweilen ſelbſt den
Tanz mit irgend einer anweſenden Mannsper-
ſon an. Daß der Genuß aller dieſer Ergoͤz-
zungen unentgeldlich iſt, brauche ich wol nicht
zu erinnern.
Unter den reizendſten Spaziergaͤngen außer-
halb der Stadt wuͤrde der peterhofſche
Weg unſtreitig den erſten Platz verdienen,
wenn ſeine Vorzuͤge nicht durch den erſticken-
den Staub, den die unaufhoͤrlich vorbeyrollen-
den Equipagen verurſachen, vermindert wuͤr-
den. So groß dieſe Unbequemlichkeit iſt, ſo
haͤlt ſie doch den vornehmſten und glaͤnzendſten
Theil der Einwohner nicht ab, dieſe Gegend
zu dem vorzuͤglichſten Sammelplatz ihres Ver-
gnuͤgens zu machen. Meine Leſer wiſſen aus
der Beſchreibung dieſer praͤchtigen Heerſtraße,
daß ſie zu beyden Seiten mit den geſchmack-
vollſten und ſchoͤnſten Landhaͤuſern bekraͤnzt iſt.
Die mehreſten derſelben gehoͤren Privatleuten,
die ſie zu ihrem und ihrer Freunde Vergnuͤ-
gen auf eine ſehr gaſtfreye Art benutzen. Aber
mit noch groͤßerer Liberalitaͤt machen einige
Herren von Stande ihre Gaͤrten zu oͤffentli-
[311] chen Vergnuͤgungsoͤrtern, die dem ganzen an-
ſtaͤndigen Publikum offen ſtehn. Vorzuͤglich
gehoͤren die Landhaͤuſer der beyden Herren von
Nariſchkin hierher, die des Sonntags von
einer großen Anzahl Perſonen aus den hoͤch-
ſten Klaſſen beſucht werden. Eine freundliche
Einladung an alle rechtliche Menſchen, die uͤber
dem Eingange des Gartens auf einer Tafel
angebracht iſt, berechtigt Jedermann, der in
dieſe Rubrik gehoͤrt, ſich ungeſtoͤrt nach ſeinem
Geſchmack zu vergnuͤgen. In verſchiedenen
Pavillons findet man Muſik zum Tanzen; in
andern ſtehen Seſſel bereit, eine Geſellſchaft
zu empfangen, die ſich aus dem großen Ge-
wuͤhl zu einer Unterredung verſammeln will;
mehrere Parthieen haben Schaukeln, Kegel-
bahnen, und andere Spiele; auf den Kanaͤlen
ſchwimmen Gondeln, zum Selbſtrudern einge-
richtet, oder Faͤhren; und wem dies alles nicht
genug iſt, fuͤr den ſind auch Erfriſchungen be-
reit. Dieſe edle Gaſtfreyheit bleibt nicht un-
genutzt; der Zuſammenfluß von Leuten aller
Staͤnde, vom Ordensbande bis zum ſimpeln
wohlgekleideten Buͤrger, bildet eine ſo bunte
Maſſe und zuweilen auch ſo grell abſtechende
U 4
[312] Gruppen, daß es ſchon aus dieſer Urſache der
Muͤhe lohnt, einmal Theil an dieſem Vergnuͤ-
gen zu nehmen.
So groß die Anzahl der hier genannten
Spazierplaͤtze iſt, ſo wenig iſt das Regiſter
aller in und um der Reſidenz vorhandenen be-
endigt. Um mir und meinen Leſern Wieder-
holungen zu erſparen, wollen wir dieſen Zweig
der oͤffentlichen Beluſtigungen verlaſſen, um
uns mit einer andern ſehr nahe verwandten
Gattung derſelben zu unterhalten.
Das Spazierengehen hat Freunde in St.
Petersburg, aber das Fahren noch ungleich
mehrere. Eine Bequemlichkeit, die in dieſer
großen, kothigen Stadt ſo ſehr Beduͤrfniß iſt,
mußte bald in Luxus ausarten. Die Noth-
wendigkeit, Pferde fuͤr den Gebrauch zu hal-
ten, iſt in die ausſchweifendſte Verſchwendung
uͤbergegangen: nirgend iſt das Fahren ſo ſehr
Beluſtigung, als hier.
Der gute Ton hat gewiſſe Tage feſtgeſetzt,
die zu allgemeinen oͤffentlichen Promena-
den beſtimmt ſind. Am erſten May verſam-
melt ſich die feine Welt in den glaͤnzendſten
Equipagen in dem Waͤldchen von Katharinen-
[313] hof, wie es ſcheint, um die Ankunft des jungen
Fruͤhlings zu feyern. Alles was der Geſchmack
und Aufwand des reichen Publikums in dieſem
Zweige des Luxus aufzuweiſen hat, kann man
hier beyſammen finden, weil eine Menge neuer
Equipagen bis zu dieſem Tage in den Remi-
ſen verſchloſſen gehalten werden. Wirklich be-
ſtimmt dieſer Aufzug die Mode in der Form
und Farbe der Wagen bis zur naͤchſten großen
Muſterung. So praͤchtig der Zug mehrerer
tauſend zum Theil uͤberaus eleganter und rei-
cher Equipagen auch iſt, ſo und noch ſonderba-
rer iſt doch der Zweck und die Abſicht dieſes
geſuchten Vergnuͤgens. Die Wagen fahren in
zwey bis vier Reihen dicht neben und hinter
einander; man ſieht und wird geſehen, und
nach einigen Stunden eilt Jeder vergnuͤgt und
befriedigt nach Hauſe. Der Poͤbel, der ſich
in zahlreicher Menge verſammelt, hat auch
hier, wie gewoͤhnlich, das beſſere Loos gezo-
gen; luſtig und froh bey ſeinem Glaſe Brant-
wein, ſieht er unter Zelten dem bunten Ge-
wimmel der Eitelkeit zu: fuͤr ihn iſt das
Schauſpiel. Der Philoſoph ergoͤtzt ſich an dem
ſonderbaren Kontraſt dieſer großen aus ſo un-
U 5
[314] gleichartigen Theilen zuſammengeſchmolzenen
Menſchenmaſſe, und Jeder glaubt fuͤr ſeinen
Gang bezahlt zu ſeyn. — Aehnliche Wagen-
promenaden werden um Oſtern bey den Schau-
keln gehalten.
Eigenthuͤmlicher und allgemeiner, als dieſe
Vergnuͤgungen, ſind die Schlittenfahrten,
eine Beluſtigung, von welcher man ſich, ſelbſt
in Deutſchland, nur einen ſehr ſchwachen Be-
griff machen kann. Zwar haͤlt man hier keine
ſolenne Zuͤge in Schlitten, wie dort gewoͤhn-
lich iſt; aber die Beſchaffenheit unſers Win-
ters und die Schnelligkeit unſerer Pferde ge-
ben dieſem Vergnuͤgen in Rußland einen ganz
eigenen Reiz. Die hier gebraͤuchlichen Schlit-
ten ſind ſehr einfach, da man die Formen von
Muſcheln, Gondeln, u. ſ. w. fuͤr abentheuer-
liche und geſchmackloſe Verzierungen haͤlt.
Wenn ſie zweyſitzig ſind, werden ſie mit zwey
Pferden beſpannt, von welchen eins in Stan-
gen, und das andere nebenbey an einem aus-
gehaͤngten Baume zieht *). In der Regel
[315] muß jenes traben und dieſes galloppiren. Das
groͤßte Intereſſe dieſer Winterluſtbarkeit beſteht
in der außerordentlichen Schnelligkeit mit wel-
cher man faͤhrt; wie weit es unſere Iswoſcht-
ſchiki und Pferde hierinn gebracht haben, mag
ich meinen Leſern nicht erzaͤhlen, um nicht alle
Glaubwuͤrdigkeit bey ihnen zu verlieren. —
Die einſitzigen Schlitten, deren ſich unſere Ele-
gants zu ihren Morgenpromenaden bedienen,
ſind gewoͤhnlich ſehr ſchoͤn und ihre Pferde
vorzuͤgliche Laͤufer; der Fahrende regiert ſelbſt,
und neben dem Pferde reitet ein ſchoͤn geklei-
deter Huſar, um den Zuͤgel zu halten. — An
angenehmen Wintertagen werden oͤffentliche
Schlittenrennen auf der Newa gehalten.
Die Bahn iſt ungefaͤhr dreyhundert Klafter
lang und mit Schranken umgeben. Liebhaber
und Iswoſchtſchiki wetten hier mit einander
auf die Geſchwindigkeit ihrer Pferde, oder be-
nutzen die Rennbahn bloß zu ihrem Vergnuͤ-
*)
[316] gen. Das zahlreich verſammelte Publikum
der Zuſchauer, fuͤr welches auch einige Geruͤſte
erbaut werden, giebt dieſem unterhaltenden
Schauſpiel noch ein Intereſſe mehr. — Das
Spazierenreiten iſt hier nicht bloß ein
Vergnuͤgen des maͤnnlichen Geſchlechts; auch
die Damen ſind durch den Ton zum Genuß
deſſelben auf eine anſtaͤndige Weiſe berechtigt.
Der vorzuͤglichſte Sammelplatz fuͤr dieſe Be-
luſtigung iſt der peterhofſche Weg.
Die Newa und die Kanaͤle von denen St.
Petersburg durchſchnitten iſt, gewaͤhren den
Einwohnern die Bequemlichkeit und das Ver-
gnuͤgen der Waſſerfahrten in ſolcher Voll-
kommenheit, als man ſie nur in ſehr wenigen
Staͤdten von Europa genießen kann. Nicht
nur weite Wege außerhalb der Stadt und
nach den Inſeln, ſondern ſelbſt kurze Fahrten
in den bebauteſten Theilen derſelben kann man
auf dieſe angenehme Art zuruͤcklegen. An den
Ufern der Newa liegen beſtaͤndig eine Menge
Schaluppen bereit, die theils von einigen
Buͤreaux, theils von einzelnen Privatperſonen
unterhalten werden. In Anſehung ihrer
Groͤße ſind ſie ſehr verſchieden, denn es giebt
[317] zwey, vier, ſechs, acht, und zwoͤlfrudrige
Schaluppen; aber ihre Einrichtung iſt im All-
gemeinen dieſelbe. Der hintere Theil vor dem
Steuerruder iſt gewoͤhnlich mit einem Him-
mel bedeckt und mit Vorhaͤngen verſehen, die
beym Regen zugezogen werden. Hier ſind
Sitze fuͤr die Fahrenden befindlich, die mehr
oder weniger bequem, aber doch allezeit mit
Kiſſen bedeckt ſind. Das Aeußere iſt immer
ſehr elegant, und bey herrſchaftlichen Schalup-
pen oft praͤchtig. Die Ruderer ſind als Ma-
troſen und auf einerley Art gekleidet; auf dem
Kopf tragen ſie Muͤtzen mit hohen Federbuͤ-
ſchen. Ihre Geſchicklichkeit im Rudern iſt ſo
groß, daß ſelbſt die engliſchen Matroſen ihnen
hierinn den Vorzug zugeſtehen. Alle Bewe-
gungen richten ſich mit der ſtrengſten Puͤnkt-
lichkeit nach dem Kommando des Steuer-
manns. Bey ſeinem erſten Zuruf ſchweben
alle Ruder in der Luft, beym zweyten fallen
ſie mit einemmal ins Waſſer, und beym drit-
ten beginnt das Rudern, ſo taktmaͤßig und
mit ſolcher gleichbleibenden Anſtrengung, als
ob die Bewegung durch das Triebwerk einer
Maſchiene hervorgebracht wuͤrde. Sobald die
[318] Fahrt flußab geht und wenn die Fahrenden es
verlangen, ſtimmen die Matroſen ihren Volks-
geſang an, den der Steuermann mit einer aus
Birkenrinden gedreheten Schalmey (Roſhok)
dirigirt und begleitet. — Alles zuſammenge-
nommen, gehoͤren dieſe Waſſerfahrten zu den
anziehendſten Vergnuͤgungen der Reſidenz.
Es iſt ſchon einmal in dieſem Abſchnitt ge-
ſagt worden, daß der Geſchmack des Publi-
kums oͤffentliche Verſammlungsoͤrter wenig be-
guͤnſtigt. So reichhaltig dieſe Rubrik in der
Karakteriſtik anderer großen Staͤdte iſt, ſo
wenig laͤßt ſich hier daruͤber ſagen. Die Ka-
backen fuͤr den Poͤbel abgerechnet, giebt es
keine Weinhaͤuſer; und die Kaffeehaͤuſer,
die in allen Hauptſtaͤdten von Europa der
Vereinigungspunkt der Fremden und des muͤſ-
ſigen Publikums ſind, ſpielen hier nur eine
ſehr untergeordnete Rolle. Sie ſind nicht
zahlreich, ihre Einrichtung iſt durchgaͤngig ohne
Geſchmack und Aufwand, und das Publikum,
welches ſich in denſelben verſammelt, aͤußerſt
gemiſcht. Einzelne wenige Kaffeehaͤuſer machen
zum Theil Ausnahmen von dieſer Beſchrei-
bung; dieſe beſſern werden, obgleich auch nur
[319] ſparſam, von iſolirten Fremden oder Auslaͤn-
dern beſucht. Selten wird die Unterhaltung
lebhaft und allgemein; wenn das gewoͤhnliche
Beduͤrfniß der Zeitungslektuͤre befriedigt iſt,
ſetzt man ſich zum Schach- oder Damenſpiel
nieder. Karten habe ich niemals in dieſen
Haͤuſern ſpielen ſehen; ich vermuthe daher,
daß ſie verboten ſind. Die Preiſe der gewoͤhn-
lichen Erfriſchungen und Getraͤnke werden
uͤberall auf eine uͤbermaͤßige Weiſe geſteigert.
Es iſt ſchwerlich zu erwarten, daß dieſe Gat-
tung der oͤffentlichen Vergnuͤgungsoͤrter eine
beſſere und geſchmackvollere Einrichtung er-
halten duͤrfte, ſo lange die Manie der Klubbs
in St. Petersburg waͤhrt.
Eines deſto reichlichern Zuſpruchs erfreuen
ſich die Gaſthaͤuſer, vorzuͤglich außerhalb
der Stadt, weil dieſe gewoͤhnlich das Ziel der
Promenaden und Spazierfahrten des Publi-
kums ſind, und weil ſie den Petersburgern die
beliebteſten Arten des geſellſchaftlichen Genuſ-
ſes — Kartenſpiel und Speiſetiſche, gewaͤhren.
Ueberall wo dieſe edlen Zweige der Unterhal-
tung bluͤhen, kann man gewiß ſeyn, zahlreiche
Verſammlungen von Menſchen aus allen
[320] Staͤnden zu finden. Ein Gaſtwirth, der auch
nur Eine Art von Speiſen auf eine vorzuͤg-
liche Weiſe zu bereiten verſteht oder ſich mit
beſonders guten Getraͤnken verſorgt, kann ſich
den ausgebreiteſten Ruf und die glaͤnzendſte
Kundſchaft verſchaffen. Ein Gaſthof auf dem
peterhofſchen Wege, in welchem vorzuͤglich gute
Waffeln gebacken werden, ſteht dieſes ausneh-
menden Vorzugs wegen ſchon ſeit vielen Jah-
ren in dem groͤßten Kredit und wird uͤberaus
haͤufig von der feinen Welt beſucht. Ein
Franzoſe, der ſich vor kurzem auf eben dieſem
Luſtwege, etwas naͤher bey der Stadt, nieder-
ließ, erwarb ſich durch die Guͤte ſeiner Tafel
einen ſo außerordentlichen Zuſpruch, daß man
mehrere Tage vorher bey ihm beſtellen mußte,
weil man ſonſt in Gefahr ſtand, abgewieſen
zu werden.
Eigentliche Spielhaͤuſer, die bloß zu
dieſer Beſtimmung eingerichtet waͤren, moͤgen
im Verborgenen wol vorhanden ſeyn, ob ſie
gleich keiner oͤffentlichen, geduldeten oder auto-
riſirten Exiſtenz genießen. In den mehreſten
Gaſthaͤuſern in und außer der Reſidenz findet
man Billards und Gelegenheit zum Karten-
ſpiel,
[321] ſpiel, wovon jedoch die Hazardſpiele eine Aus-
nahme machen. — In einigen derſelben wer-
den haͤufig Baͤlle gegeben, die ihres niedrigen
Einlaſſes wegen, von einem ſehr gemiſchten
Publikum beſucht ſind, und bey welchen die
feinere Klaſſe der hieſigen Luſtmaͤdchen die
große Rolle ſpielt. Man nennt dieſe Baͤlle
Wetſchurinki. Es iſt fuͤr den Beobachter
der Muͤhe werth, einmal einen Abend aufzu-
opfern, um den Ton dieſer Klaſſe von Men-
ſchen kennen zu lernen. Statt der franzoͤſi-
ſchen Galanterie oder der deutſchen Fadeur,
mit welchen in Paris oder Berlin die
jungen und alten Wolluͤſtlinge um die Maͤd-
chen der Freude herumzuhuͤpfen pflegen, ſind
dieſe armen Geſchoͤpfe hier den plumpen An-
faͤllen oder den brutalen Launen roher Men-
ſchen uͤberlaſſen. Kein ſuͤſſes Geſchwaͤtz, keine
feine Liebkoſung taͤuſcht uͤber die Abſicht der
Verſammlung und den Stand dieſer Maͤd-
chen; nicht einmal die allgemeine Schonung
die man uͤberall dem ſchwaͤchern Geſchlechte
zugeſteht, wird hier beobachtet. Ein Maͤdchen,
welches ſo ungluͤcklich iſt, eine Mannsperſon
an dieſen Orten zu beleidigen, hat die ſchreck-
Zweiter Theil. X
[322] lichſte Beſchimpfung zu erwarten, ohne auf
den Beyſtand auch nur Eines Mannes rech-
nen zu duͤrfen. Selten wagen ſie es daher
anders als mit der Begleitung und unter dem
Schutz eines handfeſten Kerls zu erſcheinen,
der die Rechte ihres Geſchlechts in Nothfaͤllen
geltend zu machen verſteht. Uebrigens faͤllt
nichts in dieſen Verſammlungen vor, was den
guten Sitten zuwider waͤre; man ſieht ſich
nur, wie auf einem Marktplatz, um zu waͤh-
len und den Preis zu beſtimmen.
Ueberall, in allen großen Staͤdten, ſind die
Freudenmaͤdchen ein vorzuͤglich intereſſan-
ter Gegenſtand der Karakteriſtik; hier nicht.
Der oͤffentliche Anſtrich von Ehrbarkeit, den
unſere Sitten haben, ſchließt zwar keineswe-
ges den mannigfaltigſten und ausſchweifendſten
Genuß der Liebe aus; aber er verſchleyert
ihn ſo gut, daß ein ſehr ſcharfes Auge und
eine lange Bekanntſchaft mit unſerer Lebens-
art dazu gehoͤrt, um das wahre Maaß und
die Modifikationen deſſelben zu entdecken.
Kein Fremder, der nur acht Tage in London,
Paris oder Berlin verweilt und die oͤffentli-
chen Oerter beſucht hat, wird umhin koͤnnen,
[323] zu geſtehen, daß in dieſen Staͤdten Ausſchwei-
fung und Zuͤgelloſigkeit herrſchend ſind. In
St. Petersburg kann man lange Zeit leben,
ohne auffallende Zuͤge zu dieſem Theil der
Sittengeſchichte ſammeln zu koͤnnen. Die oͤf-
fentlichen Vergnuͤgungsoͤrter, die Spazierplaͤtze,
das Theater, die Baͤlle, die Konzerte, die
Klubbs, werden von Freudenmaͤdchen wenig
oder gar nicht beſucht; aus den letztern ſind
ſie durch die Geſetze des Wohlſtandes ohne-
hin verbannt. Sie erſcheinen nirgend im Pu-
blikum, als in den Wetſchurinki, wo ſie ge-
wiſſermaßen ein Recht zum Eintritt haben. —
Ungeachtet dieſer mißlichen Exiſtenz iſt es doch
ſehr wahrſcheinlich, daß die Anzahl dieſer un-
gluͤcklichen Geſchoͤpfe im Verhaͤltniß hier ſo
groß als irgendwo ſey. Bey weitem der
groͤßte Theil derſelben lebt iſolirt von dem Ge-
winn ſeiner traurigen Induſtrie, denn, ein
paar unbetraͤchtliche Ausnahmen abgerechnet,
giebt es hier keine oͤffentliche Tempel der paphi-
ſchen Goͤttinn. Die Kourtiſannen von der hoͤ-
hern Klaſſe werden unterhalten, und machen
zuweilen ein glaͤnzendes Gluͤck, aber niemals
gelangen ſie zu dem Ruf und dem Einfluß,
X 2
[324] wodurch dieſe Toͤchter der Freude in andern
Hauptſtaͤdten oft ſo intereſſant und ſo merk-
wuͤrdig werden. Der groͤßte Theil der Entre-
tenues iſt aus der niedrigſten Klaſſe; bey ſehr
eingeſchraͤnkten Talenten ſind ihre Anſpruͤche
dennoch ſehr groß. Ohne Grazie, ohne die
Kunſt zu gefallen, von jedem hoͤhern Reiz ent-
bloͤßt, machen ſie ungeheure Forderungen, die
ihnen auch wegen des Mangels beſſerer Mit-
bewerberinnen gerne zugeſtanden werden. Ein
Maͤdchen, welches ihrem Liebhaber hier tau-
ſend und mehr Rubel koſtet, wuͤrde in Paris
kaum den Geſchmack eines Kohlentraͤgers be-
friedigen. Nicht ſelten bringen daher unſere
junge Herren aus der großen Welt ihre Ge-
faͤhrtinnen aus fremden Laͤndern mit; aber
ſeltner gelingt es ihnen, ſie zu feſſeln. Bey
einiger Kenntniß ihres Werths auf dem Platz
wo ſie ſich befinden, wird es ihnen nicht ſchwer
ſich in eine hoͤhere Sphaͤre zu ſchwingen. Die
Beyſpiele, daß Maͤdchen dieſer Art ſich weit
uͤber ihr Schickſal erheben und vortheilhafte
Heyrathen machen, ſind eben ſo gewoͤhnlich,
als die Erfahrung, daß ſie ſich in dieſem Fall
durch ihr ſittliches Betragen die Achtung zu
[325] verdienen wiſſen, die ihnen der Zufall ver-
ſchafft.
Die Luſtmaͤdchen von der gemeinſten Gat-
tung, die ſich dem Dienſt des ganzen Publi-
kums widmen, leben in einer Crapuͤle, von der
man ſich ſchwerlich einen Begriff machen wird,
und die auch den luͤſternſten Menſchen, wenn
er nur einiges Gefuͤhl beſitzt, von ihrer Hul-
digung zuruͤckſchrecken kann. Ohne den min-
deſten Anſpruch auf natuͤrliches oder erworb-
nes Talent zu gefallen, und herabgewuͤrdigt
durch die Brutalitaͤt der Mannsperſonen, trei-
ben ſie ihr Gewerbe mit dem Eigennutz eines
Wucherers und mit der gefuͤhlloſen Gleichguͤl-
tigkeit eines Pferdevermiethers. So allgemein
dieſe Karakteriſtik gelten kann, ſo giebt es doch,
zur Ehre der Menſchheit, Beyſpiele, daß ſelbſt
unter dieſer verwahrloſeten und verderbten
Klaſſe die menſchliche Natur ihren angeſtamm-
ten Adel nicht ganz verleugnet. Ich eile, mei-
nen Leſern eins derſelben zu erzaͤhlen, um den
Eindruck der widrigen Zuͤge zu verloͤſchen, die
ich ihnen, nach dem Geſetz der hiſtoriſchen
Treue, vorzulegen gezwungen war. — Ein
Maͤdchen dieſer Gattung, das bey einem auf
X 3
[326] ihrem Zimmer entſtandenen Streit ihrer Gaͤſte
ſich zum Vermittler hatte aufwerfen wollen,
ward dafuͤr von ihnen zum Fenſter hinausge-
worfen, und fiel ſo ungluͤcklich, daß ſie wenige
Stunden hernach ihren Geiſt aufgeben mußte.
Kurz vor ihrem Tode tritt ein Polizeybeamter
vor ihr Bette und verlangt ihre Ausſage uͤber
die Umſtaͤnde dieſes abſcheulichen Vorfalls.
Aus den Fragen ergab ſich, daß die Urheber
deſſelben gefluͤchtet waren und daß man keine
Nachricht von ihnen hatte. Kaum war die
Sterbende hievon uͤberzeugt, als ſie ſich ſtand-
haft weigerte, die Namen der Thaͤter zu nen-
nen, oder irgend etwas auszuſagen, was dieſe
haͤtte verrathen koͤnnen: und trotz der eindrin-
gendſten Vorſtellungen eines Prieſters und dem
Verſprechen fuͤr ihre nachbleibende alte Mutter
zu ſorgen, beharrte ſie bis zu ihrem letzten
Athemzuge heldenmuͤthig auf dem ſchoͤnen Ent-
ſchluß, ihren Moͤrdern zu verzeihen und ſie
nicht ungluͤcklich zu machen.
Wir gehen jezt zu einer der glaͤnzendſten
und vorzuͤglichſten oͤffentlichen Beluſtigungen,
dem Theater, uͤber. Schon nach der allge-
meinen Vorſtellung, die man uͤberall von der
[327] Pracht des ruſſiſchen Hofes hat, wird man
unter dieſer Rubrik etwas außerordentliches
erwarten, und wirklich iſt man noch jezt zu
dieſer Erwartung berechtigt, obgleich die Schau-
ſpiele der Reſidenz nicht mehr ſo zahlreich ſind,
als ſie ehedem waren. Noch vor kurzem be-
ſtanden in St. Petersburg vier oͤffentliche
Theater: das ruſſiſche, das franzoͤſiſche, das
deutſche und die italieniſche Oper. Die beyden
letztern ſind nicht mehr, aber dagegen hat man
den erſtern eine deſto groͤßere Vollkommenheit
zu geben geſucht. Auch zu dieſem, wie zu je-
dem andern geiſtigen Genuß, mußte das Pu-
blikum ehedem aufgemuntert werden; der Hof
beſtritt alle Koſten und der Eintritt in das
Schauſpiel war unentgeldlich. Izt iſt dieſe
Gattung der oͤffentlichen Vergnuͤgungen einer
kaiſerlichen Theaterdirektion unterworfen; die
Vorſtellungen fuͤr das Publikum werden theils
im großen Opernhauſe, theils im hoͤlzernen
Theater gegeben, und der Eintritt wird bezahlt.
So betraͤchtlich aber auch die Einnahmen ſind,
ſo wenig reichen ſie zur Unterhaltung hin, da-
her der Hof einen jaͤhrlichen Zuſchuß von mehr
als 174,000 Rbl. macht.
X 4
[328]
Das ruſſiſche Theater giebt Trauer-
ſpiele, Luſtſpiele, komiſche und ernſthafte Opern.
Der erſte tragiſche Schauſpieler dieſer Buͤhne,
Dmitrewski, ein Kuͤnſtler der mit dem
hervorſtechendſten Talent einen ſeltnen Grad
von Ausbildung verbindet und ſich unter den
Augen der groͤßten Meiſter ſeiner Kunſt in
Paris und London zu dem Roſcius ſeines Va-
terlandes gehoben hat, erſcheint, ſeines Alters
wegen, nur ſelten vor dem dankbaren Publi-
kum. Unter vielen bemerkenswerthen Suͤjets
der komiſchen und tragiſchen Buͤhne nenne ich
nur dieſen Einen, weil ſein Ruhm fuͤr klaſſiſch
gehalten wird, und weil es, bey einer in vieler
Ruͤckſicht unzulaͤnglichen Kenntniß des Natio-
nalgeſchmacks und der Sprache, ſchwer iſt,
ein raͤſonnirtes und richtiges Urtheil uͤber den
Werth der Andern zu faͤllen. Im Ganzen iſt
es gewiß, daß nicht leicht eine Nation mehr
natuͤrliche Anlagen zur koͤrperlichen Darſtellung
beſitzt, als die Ruſſen. Wer ſich hiervon uͤber-
zeugen will, darf nur irgend einem lebhaften
Geſpraͤch unter dem Poͤbel zuſehen; ohne ein
Wort von der Sprache zu verſtehen, wird er
den Gegenſtand deſſelben aus der leidenſchaft-
[329] lichen und ausdrucksvollen Mimik errathen.
Die ſichtbare Verfeinerung des Geſchmacks,
das Beyſpiel anderer Nationen, der Unterricht
den angehende Kuͤnſtler in den dazu beſtimm-
ten Schulen erhalten, die Kultur die ſie ſich
auf Reiſen in fremden Laͤndern erwerben: alle
dieſe Huͤlfsmittel treffen hier zuſammen, um
die gluͤcklichen Dispoſitionen der Natur zu ent-
wickeln und zur Reife zu bringen. Unter ſol-
chen Beguͤnſtigungen iſt es zu erwarten, daß
das ruſſiſche Theater ſich uͤber das Mittelmaͤ-
ßige erheben und ſeines Zwecks nicht verfeh-
len kann, ein anziehender und befriedigender
Genuß fuͤr die feinſten und gebildetſten Klaſ-
ſen der Nation zu ſeyn
Das ruſſiſche Trauerſpiel hat, ſowol der
Form als dem Inhalt nach, einen franzoͤſi-
ſchen Zuſchnitt erhalten. Der gegruͤndete
Ruhm dieſes Theaters und das Zeitalter in
welchem die ruſſiſche Buͤhne ihre Muſter ſuch-
te und fand, rechtfertigen eine Nachahmung,
die in Deutſchland, gewiß immer nicht ohne
Grund, aber doch vielleicht etwas zu voreilig
verworfen wurde. Die Manier des Dichters
und des Schauſpielers iſt franzoͤſiſch; jene feſ-
X 5
[330] ſelt ſich gewiſſenhaft an die Einheiten und Re-
geln der dramatiſchen Kunſt und zwaͤngt ihren
Dialog in den Rythmus der Verſe; dieſe for-
dert eben das Pathos, eben die abgemeſſenen
Bewegungen und Schritte, die den franzoͤſi-
ſchen Kothurn ſo ſonderbar karakteriſiren. —
Das Luſtſpiel hat hier wie dort einen ausge-
dehntern Geſichtskreis. Proſe und Verſe ſind
ein ſchickliches Gewand, und die Manier iſt
nicht ſo entſchieden franzoͤſiſch, daß ſie nicht
auch Nachahmungen anderer Nationen duldete.
In dieſer Gattung zeichnet ſich der National-
geſchmack ſtaͤrker; ruſſiſche Sitten werden auf
die Buͤhne gebracht und gefallen nach dem
Maaß ihrer Originalitaͤt. Der Schauſpieler,
der hier ein freyes Feld hat, ſein natuͤrliches
Talent geltend zu machen, erhebt ſich leichter
uͤber die Sphaͤre des Mittelmaͤßigen, und wird
ein gutes Original wo er eine ſchlechte Kopie
geworden waͤre.
Noch intereſſanter und karakteriſtiſcher ſind
die komiſchen Opern oder pieces en vau-
devilles, die hier, wie ehemals in Paris, den
Lieblingsgeſchmack des großen Publikums ver-
gnuͤgen. In dieſer Gattung, wo das Genie
[331] des Dichters und Kuͤnſtlers am wenigſten be-
ſchraͤnkt iſt, zeigt es ſich auch in ſeiner groͤßten
Eigenthuͤmlichkeit und Staͤrke. Die niedlichen
Produkte dieſer Dichtungsart haben, nach dem
Urtheil der Kenner, eine verhaͤltnißmaͤßige Voll-
kommenheit, die in andern Gattungen nur
einzeln gefunden wird. Unter den Stuͤcken,
welche den meiſten Beyfall erhalten, und noch
jetzt, lange nach ihrer erſten Erſcheinung, von
Eingebornen und Auslaͤndern mit immer neuem
Vergnuͤgen geſehen werden, nenne ich nur den
Muͤller und den Sbiten’ſchtſchik*)
weil ſie die Quarantaine ihres Ruhms uͤber-
ſtanden haben, und zu den klaſſiſchen Werken
dieſer Gattung zu zaͤhlen ſind. Die treueſte
Darſtellung der Nationalſitten, ein gewiſſer
humoriſtiſcher Anſtrich, und der Reiz der Muſik
geben dieſen kleinen dramatiſchen Misgeburten
ein Intereſſe, das durch ein lebhaftes hinreiſ-
ſendes Spiel noch um vieles erhoͤht wird, und
dem erwaͤrmten Zuſchauer keine Zeit laͤßt, an
[332] die Regeln der kritiſchen Dichtkunſt zu den-
ken. Die komiſche Oper iſt ſehr gut beſetzt,
und nirgend ſcheinen die Schauſpieler mehr
con amore zu ſpielen. Das Talent, das an-
genehme Organ und die anziehende Figur der
Madame Sandunow machen ſie zur Koͤni-
ginn dieſer Buͤhne. Der Italiener Martini,
der ſeinen Namen durch die Opern coſa rara und
arbore di Diana hinlaͤnglich bekannt gemacht
hat, iſt der Komponiſt fuͤr dieſes Theater. Er
hat das ſchwere Problem, die ruſſiſche Natio-
nalmuſik zu veredeln, zur Befriedigung der
Kenner geloͤſt. Seine Manier iſt ſo geſchmei-
dig, daß ſie ſich den Volksgeſaͤngen anpaßt,
ohne daß dieſe ihre Eigenthuͤmlichkeit und jene
ihren Adel und ihre Feinheit verlieren.
Das praͤchtigſte Schauſpiel der Reſidenz
iſt jetzt die ruſſiſche Oper. Von der Kon-
kurrenz des freygebigſten Aufwands und der
groͤßten Talente laͤßt ſich ohnehin nichts gemei-
nes erwarten; aber wo die Theilnahme des
Souverains ſo unmittelbar auf die Kunſt wirkt,
als hier, da hoͤrt der gewoͤhnliche Maaßſtab
auf. Ein oͤffentliches, uͤberall verbreitetes Ge-
ruͤcht nennt Katharina die Zweyte als
[333] Verfaſſerinn einiger Dichtungen dieſer Art, in
denen ſich die Wuͤrde des Suͤjets und der
Werth der Behandlung, mit allem Reiz der
Kunſt und mit aller Pracht der Ausfuͤhrung
verbinden, um den außerordentlichſten Eindruck
zu erregen. Unter den neueſten Erſcheinungen
die man dieſer erhabenen Quelle zuſchreibt,
nenne ich nur den Oleg, eine große ernſthaf-
te Oper, deren Gegenſtand der Nachfolger
Rjurik’s iſt, der ſich Kiew unterwarf und
Konſtantinopel zittern machte. Die Groͤße des
Helden und die Dunkelheit ſeines Zeitalters
haben hier dem Genie und der Dichtungskraft
die Hand geboten, um ein fuͤr jeden Patrioten
ſehr herzerhebendes Gemaͤlde zu bilden, welches
durch mancherley Beziehungen auf ſpaͤtere
Begebenheiten noch ein ſtaͤrkeres Intereſſe er-
haͤlt. Die Pracht der Ausfuͤhrung laͤßt alles
hinter ſich, was ich in dieſer Gattung in Pa-
ris und andern großen Staͤdten geſehen habe.
Die Koſtbarkeit der Kleidungen, die ſaͤmtlich
im alten ruſſiſchen Koſtume, und an denen alle
Stickerey aͤcht iſt, der blendende Glanz der
Perlen, des Waffenſchmucks und der Geraͤth-
ſchaften, die Kunſt in den haͤufig wechſelnden
[334] Dekorationen, uͤbertrifft ſelbſt die kuͤhnſte Er-
wartung. Man ſieht hier romantiſche Gegen-
den, Lager und Gezelte, ſchwimmende Flotten,
Staͤdte und alte koſtbar verzierte Pallaͤſte.
Man wohnt den Berathſchlagungen der Feld-
herrn und den haͤuslichen Feſten der Fuͤrſten
bey, in welchen die Sitten und der Geſchmack
der alten Zeit auf eine uͤberraſchende und un-
terhaltende Art hervorſtechen. Choͤre von
Saͤngern ſingen Loblieder auf die Thaten der
Helden. Am Hofe des griechiſchen Kaiſers
wird Oleg mit großen Feyerlichkeiten empfan-
gen; beym Anfange des letzten Akts, wenn der
Vorhang aufgezogen wird, ſieht man einen
weiten Circus, und rund herum auf den Tri-
buͤnen den griechiſchen Hof und eine große
Menge Zuſchauer aus dem Volk. Hier wer-
den Wettkaͤmpfe aller Art gehalten; Gladia-
toren ringen mit einander; andere laufen nach
dem Ziel, und endlich verſchwindet ein zwey-
ter Vorhang, wo auf einer Buͤhne eine thea-
traliſche Vorſtellung gegeben wird.
Die Ballette entſprechen dem Glanz der
Oper. Ohne hier eine Beſchreibung der gro-
ßen pantomimiſchen Vorſtellungen zu liefern,
[335] die ſich immer beſſer ſehen als leſen laſſen,
wird es genug ſeyn, die Namen der Kuͤnſtler
zu nennen, um eine Idee von dieſem Theile
unſers Theaters zu geben. Fuͤr die muſikali-
ſche Kompoſition der Opern und Ballette ſor-
gen die Italiener Cimaroſa und Sarti,
Namen, welche keinem Dilettanten der Kunſt
unbekannt ſeyn koͤnnen. Canziani und le
Picq uͤbernehmen die Kompoſition der Bal-
lette und Taͤnze; jener hat fuͤnftauſend Rubel
Gehalt, und dieſer, der zugleich der erſte So-
lotaͤnzer iſt, ſechstauſend. Unter den weiblichen
Suͤjets gehoͤren die erſte Solotaͤnzerinn, Mad.
de Roſſi, und Mdlle Grekow, eine Ruſ-
ſinn, zu den vorzuͤglichſten; erſtere iſt Kuͤnſtle-
rinn im eigentlichſten Sinne des Worts. Die
Anzahl der Sauteurs, Figuranten, u. ſ. w.
reicht zu den groͤßten Vorſtellungen hin. Der
Dekorationsmaler Gonzago gehoͤrt zu den
groͤßten Kuͤnſtlern ſeines Fachs.
Wenn die eigenthuͤmlichen Vorzuͤge der
franzoͤſiſchen dramatiſchen Dichterwerke die
Vorſtellung derſelben auch nicht zu einem ſo
reichhaltigen Genuß fuͤr jedes kultivirte und
empfaͤngliche Publikum machten, ſo wuͤrde St.
[336] Petersburg doch ſehr viel entbehren, wenn es
ein franzoͤſiſches Theater entbehren
muͤßte. Fuͤr die große Anzahl ſeiner fremden
Einwohner, wohin auch das corps diplomati-
que gehoͤrt, denen die Unbekanntſchaft mit der
Landesſprache den Genuß der ruſſiſchen Buͤhne
ſo außerordentlich verringert, iſt das franzoͤſi-
ſche Schauſpiel eine ſehr angenehme und wuͤn-
ſchenswerthe Reſſource. Vielleicht iſt dieſes
mitunter eine der Urſachen, weswegen die
Direktion dem ebengenannten Theater eine ſo
vorzuͤgliche Sorgfalt und Aufmerkſamkeit wid-
met, daß man ſelbſt in den groͤßten Provinzial-
ſtaͤdten von Frankreich oft nach einer ſo guten
und gleichbeſetzten Geſellſchaft vergebens ſuchen
wuͤrde. Zu den ausgezeichneteſten Gliedern
derſelben gehoͤren Aufresne und Floridor,
erſterer fuͤr die erſten tragiſchen und Vaͤter-
letzterer fuͤr die Liebhaberrollen. Unter meh-
reren zum Theil vortrefflichen Schauſpielerin-
nen, ragt die Kuͤnſtlerinn Huis durch uͤber-
wiegendes Talent und hinreiſſende Darſtellung
hervor. Ihr Fach ſind die erſten tragiſchen
Rollen und Liebhaberinnen. — Das deutſche
Publikum ſcheint den Geſchmack an dramatur-
giſchen
[337] giſchen Skizzen und Raͤſonnements verloren
zu haben, ſonſt waͤre hier der Stoff zu einer
langen Digreſſion uͤber den Werth dieſer
Kuͤnſtler.
Die Dauer des jetzt erloſchenen deutſchen
Theaters war bey dem Zuſtande von
Schwaͤche und Unbedeutenheit in welchem es
ſich erhielt, auch von den Freunden der deut-
ſchen Buͤhne nicht zu wuͤnſchen. Der weit
allgemeinere Geſchmack am franzoͤſiſchen Thea-
ter verhinderte ſie, jemals empor zu kommen,
und die unbegreifliche, aber freylich durch die
Erfahrung uͤberall beſtaͤtigte Gleichguͤltigkeit
des deutſchen Publikums gegen vaterlaͤndiſche
Art und Kunſt trug nicht wenig zu dieſer Er-
niedrigung bey. Es muͤßte allerdings mit ei-
nem Wunder zugehen, wenn andere Nationen
Achtung fuͤr eine Litteratur bekommen ſollten,
die unter ihren Sprachverwandten ſelbſt Ver-
aͤchter hat.
Alle vorgenannte Schauſpielergeſellſchaften
geben woͤchentlich mehrere Vorſtellungen fuͤr
das Publikum. Der Hof beſucht dieſe nur
ſehr ſelten, gewoͤhnlich aber ſpielt eine Ge-
ſellſchaft um die andere abwechſelnd im Theater
Zweiter Theil. Y
[338] der Eremitage, wo die Zuſchauer aus den er-
ſten Klaſſen namentlich ernannt werden.
Die muſikaliſchen Beluſtigungen
der Reſidenz ſind weniger zur Gattung der oͤf-
fentlichen als der Privatvergnuͤgungen zu rech-
nen. In einer Stadt, wo der ſinnliche Ge-
nuß ſo viele Verehrer und Befoͤrderer hat und
wo faſt jeder Kunſt ein praͤchtiger Tempel ge-
widmet iſt, ſcheint es befremdend, nicht einmal
eine kleine Kapelle fuͤr die ſuͤßeſte und bezau-
berndſte aller Kuͤnſte zu finden. Die Kon-
zerte, die im muſikaliſchen Klubb gegeben wer-
den, ſind nur den Gliedern dieſer Geſellſchaft
zugaͤnglich, und wenn ſich zuweilen reiſende
Virtuoſen hoͤren laſſen, ſo iſt dies nur ein
Privatunternehmen. Wer indeſſen aus dieſem
Umſtande die Folge ziehen wollte, daß hier
keine Liebhaberey fuͤr Muſik herrſchen muͤſſe,
der wuͤrde ſehr irren. Es giebt in den hoͤch-
ſten wie in den mittlern Staͤnden Dilettanten
aller Art, ſelbſt ſolche, die hin und wieder fuͤr
Virtuoſen gelten koͤnnen, und dieſen fehlt es
auch nicht an Gelegenheit, ihren Geſchmack zu
befriedigen. In mehreren großen Haͤuſern
werden woͤchentlich Konzerte gegeben, zu wel-
[339] chen der Zutritt wahren Liebhabern ſehr leicht
iſt. Kuͤnſtler, die einigen Ruf haben, unter-
nehmen haͤufig Konzerte in oͤffentlichen Haͤu-
ſern, von welchen das Publikum durch die
Zeitungen benachrichtigt wird, und wo der
Einlaß gewoͤhnlich einen bis drey Rubel ko-
ſtet. Oft verbinden ſich mehrere Virtuoſen zu
dieſer Abſicht, und werden von Freunden und
Liebhabern unterſtuͤtzt.
Der Tanz iſt die allgemeine Liebhaberey
aller Staͤnde; nirgend vielleicht wird ſo viel
und ſo ſchoͤn getanzt, als hier. Das erſtere
beweiſen die vielen Tanzgeſellſchaften, deren
wir ſchon in dieſem Abſchnitt einige namhaft
gemacht haben. Alle Klubbs, der einzige eng-
liſche ausgenommen, geben den Winter hin-
durch Baͤlle oder Maskaraden, und zwey der-
ſelben, die nur von den untern Klaſſen be-
ſucht werden, ſind ausſchließlich dieſem Ver-
gnuͤgen gewidmet. Hier verſammelt ſich eine
und dieſelbe Geſellſchaft an zwey auf einander
folgenden Tagen der Woche; ein Beyſpiel,
daß die Liebhaberey fuͤr das Tanzen bey vie-
len wirklich Leidenſchaft iſt. In einem dieſer
Klubbs machte ſich noch vor kurzem ein alter
Y 2
[340] Mann durch ſeine Manie fuͤr dieſes Vergnuͤ-
gen merkwuͤrdig, die an ihm um ſo auffallen-
der war, weil ſie mit ſeinem Gewerbe auf eine
ſonderbare Art kontraſtirte, denn er war ein
Sargmacher. Da er ſein Handwerk im Gro-
ßen trieb, ſo verdiente er viel Geld, welches er
nicht nur dazu anwandte, alle Tanzgeſellſchaf-
ten zu beſuchen, wo ihm der Eintritt geſtattet
wurde, ſondern auch neue Taͤnze mit ihrer
Muſik aus fremden Laͤndern zu verſchreiben,
die er ſich auf der Poſt ſchicken ließ, um ſie
fruͤher als Andere zu bekommen. — Auch
außer den Klubbs fehlt es nicht an Gelegen-
heiten zum Tanzen. Die oͤffentlichen Baͤlle
und Maskaraden im Opernhauſe, in der Gal-
lerie des anitſchkowiſchen Pallaſts und außer-
halb der Stadt, in den Gaſthaͤuſern, ſind zum
Theil ſehr geſchmackvoll und werden von ei-
nem zahlreichen und glaͤnzenden Publikum be-
ſucht. Keine dieſer Privatunternehmungen
aber iſt einer großen praͤchtigen Reſidenz wuͤr-
diger, als die Tanzgeſellſchaften und Maskara-
den im gallizinſchen Pallaſt, deren Unterneh-
mer ein Franzoſe, Namens Lion, iſt. Die
außerordentliche Groͤße des Hauptſaals, die
[341] verſchwenderiſche Erleuchtung, die mannigfalti-
gen Unterhaltungen die man in den verſchie-
denen Zimmern dieſes weitlaͤuftigen Gebaͤudes
findet, der Zuſammenfluß mehrerer Tauſende
von praͤchtig gekleideten oder in Karrikaturen
verhuͤllten Menſchen — ein ſolches Enſemble
findet ſich nur in den groͤßten Staͤdten von
Europa, und darf in dieſen nicht uͤberall ge-
ſucht werden. — Alle hier aufgefuͤhrte Gele-
genheiten zum Tanzen befriedigen den Hang des
Publikums noch nicht genug; gewoͤhnlich ent-
ſteht jeden Winter durch Unterzeichnung eine
engliſche, und eine ſogenannte deutſche Ballge-
ſellſchaft, welche letztere jedoch auch Mitglieder
aus andern Nationen aufnimmt.
Zu den oͤffentlichen Vergnuͤgungen der Re-
ſidenz gehoͤren endlich auch diejenigen, welche
bey beſondern Veranlaſſungen vom Hofe, von
den Großen und reichen Privatleuten gegeben
werden. Den Glanz des ruſſiſchen Hofes ha-
ben ſo viele Reiſebeſchreiber zum Gegenſtande
ihrer Schilderung gemacht, daß ich mich hier
auf eine kleine, aber wie ich hoffe, nicht ganz
unfruchtbare Nachleſe einſchraͤnken kann.
Y 3
[342]
In den erſten Zeiten der jetzigen Regierung
war kein Hof glaͤnzender und geraͤuſchvoller
als der petersburgiſche. Die unendlich koſtba-
ren und geſchmackvollen Feſte, die bey der
Vermaͤhlung des Thronfolgers, bey der Ge-
burt des Großfuͤrſten Alexander, bey der
Anweſenheit des Prinzen Heinrich, des jetzi-
gen Koͤnigs von Preußen, des Kaiſers Jo-
ſeph, und des Koͤnigs von Schweden gege-
ben worden ſind; die Luſtbarkeiten in Peter-
hof, das große Karouſſel, und eine Menge
aus beſondern Veranlaſſungen entſtandener
Feyerlichkeiten, haben nach dem Ausſpruch aller
Einheimiſchen und Fremden nicht leicht ihres
Gleichen gehabt. Jetzt iſt freylich dieſe ge-
raͤuſchvolle Pracht vermindert; doch verdient
der petersburgiſche Hof noch immer in Ruͤck-
ſicht auf geſchmackvollen Aufwand die erſte
Stelle unter den Fuͤrſtenſitzen unſers Welt-
theils. Wer ſich hievon uͤberzeugen will, der
darf ihn nur an feſtlichen Kourtagen beſuchen,
wenn die Kaiſerinn oͤffentlich ſpeiſt und von
ihren Hofaͤmtern bedient wird. Der Zutritt
iſt an dieſen Tagen, wie gewoͤhnlich, allen
wohlgekleideten Leuten erlaubt, und fuͤr die
[343] Zuſchauer iſt im Speiſeſaal eine Gallerie, wo
ſie ungeſtoͤhrt zuſehen und des Anblicks der
Pracht, ſo wie des Vergnuͤgens der trefflichen
Muſik genießen koͤnnen. Auch bey oͤffentlichen
Hofmaskaraden iſt das Publikum von der
Theilnahme nicht ausgeſchloſſen. Gewoͤhnlich
werden mehrere tauſend Billets ausgetheilt
und das Gewuͤhl von Menſchen iſt unbe-
ſchreiblich. Nicht ſelten geben auch einige un-
ter den Großen oͤffentliche Feſte, die zuweilen
zwey bis drey Tage dauern, und zu welchen
erſt der Adel, dann die Kaufmannſchaft, u. ſ.
w. eingeladen wird.
Intereſſanter und merkwuͤrdiger ſind die
Maskaraden in Peterhof, die jetzt ſelt-
ner als ehemals ſtatt haben. Der Zeitpunkt
dieſer Feſte faͤllt in die ſchoͤnſte Jahrszeit,
denn ſie werden gegen das Ende des Juny,
am Namenstage des Thronfolgers, gefeyert.
Alles was empfaͤnglich fuͤr Genuß iſt, verlaͤßt
alsdann die Stadt, um Theil an einem Ver-
gnuͤgen zu nehmen, das wirklich einzig genannt
zu werden verdient. Die Heerſtraße iſt mit
Equipagen, Reitern und Fußgaͤngern ſo bedeckt,
daß dieſe einer großen Karavane gleichen.
Y 4
[344] Schon in einiger Entfernung von dem Luſt-
ſchloſſe reihen ſich die Wagen ſo dicht an ein-
ander, daß ſie nur langſam und mit Unter-
brechungen fortruͤcken koͤnnen. Die ganze Ge-
gend ſieht einer Wagenburg aͤhnlich; uͤberall
im Park und im Garten ſind einzelne Grup-
pen vertheilt; zahlreiche Geſellſchaften halten
ihr Mittagsmahl unter freyem Himmel, und
jede Hecke, jeder Gang wimmelt von Men-
ſchen. Gegen Abend, ſobald die Daͤmmerung
einbricht, bereitet ſich dem Auge das entzuͤk-
kendſte und außerordentlichſte Schauſpiel: in
wenigen Minuten iſt der ganze Garten er-
leuchtet; das Laub an den Baͤumen, das Waſ-
ſer in den Springbrunnen ſcheint in Feuer
verwandelt zu ſeyn. Die vortreffliche Lage
von Peterhof und ſein Reichthum an Waſſer-
kuͤnſten bieten hier den Wirkungen der Pyro-
technik die Hand, um ein großes magiſches
Gemaͤlde hinzuzaubern, das man einmal ſieht,
um es nie zu vergeſſen. Meine Leſer kennen
aus dem zweyten Abſchnitte das Lokale der
Scene; moͤgen ſie ſich nun den Anblick den-
ken von der Terraſſe hinunter uͤber eine in
gluͤhendem Schmelz ſtehende Landſchaft, wo
[345] die widerſprechendſten Elemente ſich unaufhoͤr-
lich mit einander gatten; den Kanal mit
Fahrzeugen bedeckt, die bis an den Wimpel er-
leuchtet ſind; am Geſtade eine rieſenmaͤßige
Feuerpyramide, und hinter derſelben das
ſchwarze Meer, an deſſen Horizont eine Flotte
von Kriegsſchiffen ſchwebt. Die Waſſerſtroͤme
der Kaskaden waͤlzen ſich uͤber buntfarbige
Lampen, die Blaͤtter der Baͤume zittern im
Schimmer von Millionen gebrochener Licht-
ſtralen, und ſelbſt der Sand ſcheint die flam-
mende Bewegung des Elements nachzuahmen,
mit welchem er uͤberall, ich moͤchte ſagen,
durchwirkt iſt.
Mitten unter dieſen Wundern der Feerey
wandeln Tauſende von Menſchen, deren Fuß-
tritte kaum hoͤrbar ſind, und die in ihren
ſchwarzen ſeidenen Gewaͤndern den Schatten
der Unterwelt gleichen. Hie und da ſchallt
aus dem Gehoͤlze die unausſprechlich ſanfte
und majeſtaͤtiſche Harmonie der ruſſiſchen Jagd-
muſik, deren Toͤne in der reinen Abendluſt
verhallen. Mit dem maͤßigſten Antheil von
Einbildungskraft verſetzt man ſich hier an die
Ufer der elyſiſchen Geſilde, vorzuͤglich, wenn
Y 5
[346] man das ſchoͤne Baſſin vor ſich hat, in deſſen
Mitte ein erleuchteter Pavillon ſteht.
In den Zimmern des Pallaſtes draͤngt ſich
unterdeſſen das bunte Maskengewuͤhl an wohl-
beſetzte Tafeln oder zum Tanz. Pracht und
Ueberfluß, die gewoͤhnlichen Begleiter koͤnigli-
cher Feſte, geſellen ſich hier zu der ungezwun-
genen Froͤhlichkeit, die ſonſt aus den Regionen
der Erdengoͤtter verbannt zu ſeyn pflegt. Ue-
berall zum Genuß aufgefordert, uͤberlaͤßt man
ſich willig dem magiſchen Rauſche, bis die em-
porſteigende Sonne die ſchoͤne Taͤuſchung zer-
ſtoͤrt, und das Feuermeer der vergangenen
Nacht in armſeligen Lampenſchein verwandelt.
Ein nicht minder großes und außerordent-
liches Schauſpiel, wiewol von anderer Art,
giebt das Ablaufen eines Kriegsſchiffs
vom Stapel der Admiralitaͤt. Dieſe Begeben-
heit, die durch die perſoͤnliche Gegenwart der
Kaiſerinn eine große Feyerlichkeit erhaͤlt, kann
als ein oͤffentliches Feſt angeſehen werden, und
wird auch wirklich von der Polizey in allen
Haͤuſern angekuͤndigt. Der furchtbare Koloß,
der den Gegenſtand deſſelben ausmacht, ſteht
zwiſchen dicken Balken wie eingemauert; zu
[347] beyden Seiten ſeiner Bahn, hart am Ufer,
ſind Pavillons fuͤr den Hof angebracht; auf
dem Platze paradiren Admiralitaͤtsſoldaten;
die Ufer ſind mit Zuſchauern bedeckt; auf dem
Fluſſe ſchwimmen geputzte Gondeln, Schiffe
und kaiſerliche Jagden, und die Bruͤcke iſt
auseinander genommen, um durch die bevor-
ſtehende Revolution des Waſſers nicht erſchuͤt-
tert und beſchaͤdigt zu werden. — Die Feyer-
lichkeit beginnt mit der prieſterlichen Weihe,
wobey das neue Kriegsſchiff ſeinen Namen er-
haͤlt. Die Kaiſerinn erſcheint, von den Gro-
ßen ihres Hofes umgeben; ein Signal be-
ſtimmt den Moment, in welchem ſich der kuͤnſt-
liche Widerſtand loͤſet, und unter Kanonendon-
ner, Kriegsmuſik und Jubelgeſchrey ſenkt ſich
die Rieſenmaſſe langſam und feyerlich in den
Fluß. Die Bahn raucht, die Newa ſchaͤumt
und ſchlaͤgt Wellen, das truͤbe Waſſer verkuͤn-
digt ſeinen Aufruhr und ſpielt mit den tanzen-
den Gondeln. Alle Schiffe und Jagden feyern
dieſen Augenblick durch wehende Wimpel und
Flaggen. Die neue Waſſerveſte folgt eine Zeit-
lang der Richtung des Stroms, und legt im
Angeſicht der Bruͤcke vor Anker.
[348]
Den Beſchluß dieſes Abſchnitts mag eine
kurze Erzaͤhlung des merkwuͤrdigen Feſtes ma-
chen, welches Fuͤrſt Potemkin der Taurier
bey ſeiner letzten Anweſenheit in der Reſidenz
zu Ehren der Beherrſcherinn des ruſſiſchen
Reiches in ſeinem Pantheon *) gab. Mit
Lorbeeren bekraͤnzt und von Siegen ermuͤdet
eilte der Feldherr nach der Reſidenz zuruͤck,
um ſeines Triumphs unter dem Sonnenblick
der Majeſtaͤt zu genießen, und in den Zirkeln
der Freude die ihn erwarteten, das blutige
Schlachtfeld auf einen Augenblick zu vergeſ-
ſen. Eine dunkle Ahndung ſchien ihm zu ſa-
gen, daß dies die letzten Augenblicke ſeyn wuͤr-
den, die er auf dem glaͤnzenden Schauplatz
ſeiner Groͤße zubringen duͤrfte, und dieſe zu
genießen war ſein Zweck. Er entwarf den
Plan zu einem Feſte, welches ihm die Gele-
genheit verſchaffen ſollte, der erhabenen Schoͤp-
ferinn ſeines Gluͤcks in ſeinem eignen Hauſe,
vor den Augen des ganzen verſammelten Hofes
[349] ſeine Dankbarkeit zu Fuͤßen zu legen. Groß
und außerordentlich, wie alle ſeine Entwuͤrfe,
war auch dieſer. Ein ganzer Monat verfloß
unter Zuruͤſtungen; Kuͤnſtler aller Art waren
beſchaͤftigt; ganze Magazine wurden ausge-
leert, um die Nothwendigkeiten herbeyzuſchaf-
fen; taͤglich verſammelten ſich mehrere hundert
Menſchen, um die Ausfuͤhrung vorzubereiten,
und jeder dieſer Tage war ein glaͤnzendes Feſt.
Endlich erſchien der Augenblick, welchem das
ganze Publikum der Reſidenz, durch ſo große
Veranſtaltungen aufs hoͤchſte zur Erwartung
geſpannt, mit Sehnſucht entgegen geſehen
hatte. Die Zuſage der Kaiſerinn und des kai-
ſerlichen Hauſes, dieſen Tag durch ihre Ge-
genwart zu verherrlichen, war gegeben; der
Hof, die fremden Miniſter, der Adel und ein
großer Theil des anſtaͤndigen Publikums waren
geladen. Man verſammelte ſich Abends um
ſechs Uhr in Maskaradenkleidung. Als der
Wagen der Kaiſerinn gefahren kam, ward auf
ein gegebnes Zeichen die Kokagne fuͤr das Volk
eroͤffnet, welches ſich in Menge vor dem Pal-
laſt eingefunden hatte. Große Haufen von
Kleidungsſtuͤcken, aufgethuͤrmte Pyramiden von
[350] Eßwaaren und ein hinlaͤnglicher Vorrath an
Getraͤnken wurden hier der Willkuͤhr des Poͤ-
bels preis gegeben.
Die Kaiſerinn trat in das Veſtibuͤle, und
ploͤtzlich begann eine rauſchende Muſik, die ſich
von der Hoͤhe der Gallerie in den weiten Saal
ergoß. Das Orcheſter war mit dreyhundert
Perſonen beſetzt, und Inſtrumente wechſelten
mit Menſchenſtimmen. — Einige Augenblicke
nachher begab ſich die Kaiſerinn in den Haupt-
ſaal und die anweſende Menge folgte ihr nach.
Sie nahm ihren Sitz auf einem etwas erhoͤh-
ten Platz, der mit transparenten Vorſtellun-
gen verziert war; das Publikum vertheilte ſich
unter den Kolonnaden und in den Logen, und
nun begann die zweyte Scene dieſes außeror-
dentlichen Schauſpiels. Vierundzwanzig Paare
der reizendſten Maͤdchen und Juͤnglinge aus
edlen Geſchlechtern, unter welchen ſich auch
die Großfuͤrſten Alexander und Konſtan-
tin befanden, eroͤffneten eine Quadrille. Alle
waren weiß gekleidet, und nur durch die Far-
ben ihrer Guͤrtel und Scherpen unterſchieden.
Der Werth ihres Schmucks ward auf zehn
Millionen geſchaͤtzt. Die Muſik nach welcher
[351] ſich der Tanz richtete, war mit Geſang beglei-
tet, und der große Kuͤnſtler Picq ſchloß dieſe
Scene mit einem Solo.
Nun trat man in ein anderes, mit koſtba-
ren Teppichen behangenes Zimmer. Hier ſtand
ein kuͤnſtlicher Elephant, mit Smaragden und
Rubinen behangen. Der Perſer der ihn re-
gierte ſchlug an eine Glocke, und dies war
das Signal einer neuen Veraͤnderung.
Ein Vorhang flog auf und man ſah eine
praͤchtig dekorirte Buͤhne. Zwey Ballette und
eine theatraliſche Vorſtellung unterhielten hier
die Zuſchauer auf eine gewiß außerordentliche
Weiſe. Die vollſtaͤndigſte und ſchoͤnſte Muſik,
von Saͤngerchoͤren unterbrochen, der reizendſte
Tanz, eine ungeheure Pracht und der Anblick
der mannigfaltigſten Nationaltrachten in ihrem
gefaͤlligſten Koſtume, ergoͤtzten hier alle Sinne
zugleich. Als das Schauſpiel geſchloſſen war,
vertheilte ſich die Geſellſchaft in alle Zimmer
des Pallaſts. Eine praͤchtige Erleuchtung uͤber-
raſchte jetzt uͤberall wo man hinſah. Waͤnde
und Saͤulen ſchienen in Feuer zu ſtehen; große
Spiegel, die hin und wieder verſteckt ange-
bracht oder als Pyramiden und Grotten auf-
[352] geſtellt waren, verdoppelten die Wirkung die-
ſes ſeltnen Anblicks, und ſelbſt der ganze Park
ſchien mit funkelnden Steinen uͤberzogen zu
ſeyn.
Eine Tafel, die dem Glanz des Feſtes
entſprach, erwartete jetzt die Geſellſchaft[.]
Sechshundert Perſonen ſaßen zu Tiſch und die
uͤbrigen wurden im Herumgehen bewirthet.
Man ſah kein anderes Tiſchgeraͤth als Gold
und Silber; ſtatt der gewoͤhnlichen Kerzen
ward die Tafel durch farbige Vaſen erleuch-
tet, in welchen Lampen angebracht waren.
Eine ungeheure Anzahl praͤchtiggekleideter Be-
dienten und Hausoffizianten war mit der Auf-
wartung beſchaͤfftigt, und uͤberall bedurfte es
nur eines Winkes, um zu haben was man
verlangte. Aus dem ganzen Gebiete der
Schwelgerey konnte man fordern, ohne verge-
bens gefordert zu haben.
Die Kaiſerinn machte an dieſem Tage —
gewiß zum erſtenmal ſeit vielen Jahren —
eine Ausnahme von ihrer gewoͤhnlichen regel-
maͤßigen Lebensart; ſie blieb bis Mitternacht,
um dem Wirth und der Geſellſchaft die Freude
nicht zu verderben. Als ſie wieder in das
Veſti-
[353] Veſtibuͤle trat, begann ein Chor von Men-
ſchenſtimmen einen Hymnus, deſſen Gegenſtand
Katharinens Ruhm war. Die Kaiſerinn,
uͤberraſcht und geruͤhrt, wollte ſich zu dem Fuͤr-
ſten wenden, als dieſer, hingeriſſen von ſeinem
Gefuͤhl, auf die Knie fiel, ihre Hand ergriff
und ſie mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Eine dun-
kle Ahndung ſchien ihn zu erſchuͤttern. Es
war das letztemal, daß er ſeiner großmuͤthigen
Beſchuͤtzerinn auf dieſer Stelle ſeinen Dank
ſtammeln konnte.
Zweiter Theil. Z
[354]
Zwoͤlfter Abſchnitt.
Lebensart und Sitten.
Klaͤſſiſikation der Einwohner, nach den Beſtimmungen
der Kultur und des Wohlſtandes. — Erſte Klaſſe,
das Volk. Veſtandtheile dieſer Maſſe Die Leibeigen-
ſchaft, eine Quelle der Bevoͤlkerung in den Staͤdten.
Nationalkleidung. Wohnung und haͤuslicher Zuſtand.
Nahrungsmittel. Lebensart der Finnen. Schickſal
und Verfaſſung der untern Volksklaſſen. Geringer
Druck der Leibeigenſchaft. Leidliche phyſiſche Exiſtenz.
Schutz der Geſetze. — Zweyte Klaſſe, der auslaͤndi-
ſche Handwerker. Vortheile ſeiner Lage. Luxurioͤſe
Lebensart. Erziehung und Beſtimmung der Kinder.
Anmaßender Ton. Kultur. Eigenthuͤmliches Gepraͤge.
Taͤglicher Lebensgang. — Dritte Klaſſe, der hoͤhere
Mittelſtand. Wohnung. Hausgeraͤth. Tafel. Bedie-
nung. Equipage. Kleidung. Beduͤrfniſſe und Koſten
einer Haushaltung. Allgemeiner Karakter der Lebens-
art. Große Geſelligkeit und Gaſtfreyheit. Ton der
Geſellſchaften und Zirkel. Unterhaltungen. Tafelfreuden.
Kartenſpiel. Konverſation. Mehrheit gangbarer Spra-
chen. Petersburgiſches Deutſch. Taufnamen, die gewoͤhn-
liche Anrede. Begruͤßungen. Hausfeſte. Annehmlich-
[355] keiten welche die gute Geſellſchaft giebt und Forde-
rungen welche ſie macht. Geld und Rang, nothwen-
dige Bedingungen. Böſes Schickſal der Fußgaͤnger.
Bilanz. Auch ſonderbare Karaktere gefallen ſich hier.
Haͤusliches Leben. Familiengluͤck. Wirthſchaftlichkeit
mit der Sorge fuͤr aͤußern Anſtand. Kindererziehung.
Fruͤhes Auftreten junger Leute in der Welt. Stim-
mung des weiblichen Geſchlechts Freundſchaft und
Egoismus. — Vierte Klaſſe, die Großen. Reich-
thum und Benutzung der Leibeigenen. Lebensart.
Liberalitaͤt und Popularitaͤt. Hofton.
Um das Gemaͤlde zu vollenden, zu welchem
wir bisher die einzelnen Zuͤge aufgeſtellt haben,
bleibt uns nur noch die Schilderung der herr-
ſchenden Lebensweiſe uͤbrig; eines Gegenſtan-
des der ſo viele Schattirungen hat, daß wir,
um nicht mißverſtanden zu werden, eine kurze
Einleitung uͤber den Plan dieſer Skizze vor-
anſchicken muͤſſen.
Keinem meiner Leſer wird die Bemerkung
entgehen, daß eine ſo große und zahlreiche
Menſchenmaſſe, als die Bewohner von St.
Petersburg bilden, die ihrem Urſprunge und
ihrer Verfaſſung nach aus ſo verſchiedenarti-
Z 2
[356] gen Theilen zuſammengeſetzt iſt, bey mehreren
allgemeinen Zuͤgen, doch in ihrem Aeußern und
Innern, in ihrer Lebensart und in ihrem Ka-
rakter, eine außerordentliche Mannigfaltigkeit
haben muͤſſe. So beſtimmt dieſe Vorſtellung
iſt, ſo viele Schwierigkeiten hat ihre Anwen-
dung auf den Gegenſtand, deſſen Schilderung
wir entwerfen. Die Modifikationen deſſelben,
die durch die verſchiedenen Grade der Kultur
und des Wohlſtandes veranlaßt werden, kuͤndi-
gen ſich nur in ſehr leiſen Umriſſen an; durch
unzaͤhlige Abſtuffungen verliert ſich unbemerk-
bar das Beduͤrfniß Einer Menſchenklaſſe in
den Luxus der andern, und wir ſind in Gefahr
uͤberall mit dieſen Worten keinen, oder nur
einen ſehr undeutlichen Begriff zu verbinden.
— Um dieſem Uebel auszuweichen, wollen wir
die geſammte Maſſe von Menſchen, mit deren
naͤherer Kenntniß wir es zu thun haben, nach
den vorhin angegebenen Beſtimmungen in fol-
gende Klaſſen theilen, deren Unterſcheidungen
um ſo auffallender ſeyn muͤſſen, weil in keinem
Lande die Abweichungen der aͤußern Exiſtenz
bey den verſchiedenen Staͤnden groͤßer ſind, als
in Rußland.
[357]
Zur erſten Klaſſe rechnen wir die Großen
des Hofes und die reichen Landeigenthuͤmer;
ihre Lebensart iſt die allgemeine europaͤiſche,
mit mehr oder weniger Nationalſitte verſetzt.
In die zweyte gehoͤrt der feinere Mittelſtand,
der die wohlhabenden und beguͤterten Einwoh-
ner, die hoͤhern Civil- und Militairbeamten,
den Kaufmann, den Gelehrten, den Kuͤnſtler,
und uͤberhaupt alle Auslaͤnder dieſer Gattung
begreift. Ich zaͤhle alle dieſe Staͤnde zu Einer
Klaſſe, weil ihre Lebensart, die Schattirungen
abgerechnet, welche der groͤßere oder geringere
Wohlſtand veranlaßt, ungefaͤhr dieſelbe iſt, weil
ſie ein eignes Publikum ausmachen, ſich unter
einander kennen, mit einander umgehen und
in Familienverbindungen treten. Der auslaͤn-
diſche, vorzuͤglich deutſche Handwerker bildet
die dritte Klaſſe. Seine Lebensart ſchließt ſich
an die der vorigen, nuͤancirt ſich aber durch
viele Eigenthuͤmlichkeiten. Die vierte und letzte
Klaſſe faͤngt mit dem geringern ruſſiſchen
Kaufmann an, und begreift die Handwerker
dieſer Nation und die ganze Volksklaſſe, die
man gemeinhin den Poͤbel nennt. Da ſie die
zahlreichſte, unentbehrlichſte und hungrigſte iſt,
Z 3
[358] ſo wollen wir mit ihrer Schilderung den An-
fang machen.
Unter einer weit uͤberwiegenden Anzahl von
Ruſſen und Finnen, die dieſe Klaſſe eigentlich
bilden, finden ſich doch auch Ehſten, Letten,
Tataren, Kalmuͤcken, ja ſogar Deutſche, Schwe-
den, und andere Nationen, deren Loos in die-
ſem Fall gewoͤhnlich haͤrter, als bey den Ein-
gebornen zu ſeyn pflegt. Dieſe letztern ſind
groͤßtentheils Leibeigene, die entweder zum
Dienſt ihrer Eigenthuͤmer herbeygerufen wer-
den, oder Paͤſſe erhalten, um ſich durch eine
ſelbſtgewaͤhlte Art von Induſtrie in den Staͤd-
ten fortzuhelfen. Es iſt naͤmlich bey den ruſſi-
ſchen Landbeſitzern die Sitte, wenn ſie ihre
Guͤter nicht ſelbſt bewirthſchaften, von ihren
Bauern nur eine Perſonenſteuer zu erheben,
die im Allgemeinen ziemlich gering iſt, und oft
weniger, ſelten aber mehr als fuͤnf Rubel fuͤr
jeden maͤnnlichen Kopf betraͤgt. Um die Quelle
dieſer Einahme ergiebiger zu machen, ertheilt
man den Bauern Paͤſſe, die ihnen die Erlaub-
niß geben, ihren Boden zu verlaſſen und in
den Staͤdten reichlichere Erwerbmittel aufzu-
ſuchen. Hiedurch erklaͤrt ſich, was ſonſt fuͤr
[359] jeden Auslaͤnder ein Raͤthſel ſeyn muͤßte, wie
der Poͤbel und die untern Staͤnde in den
Staͤdten ſo zahlreich werden konnten, ehe
Rußland einen dritten Stand und freye Volks-
klaſſen hatte. Durch den Reichthum ihrer zu-
ruͤckkehrenden Mitbruͤder gereizt, ſtroͤmen die
Landleute jaͤhrlich in betraͤchtlicher Menge nach
der Reſidenz, wo manche unter ihnen ein
Gluͤck machen, das ſie unendlich uͤber ihre ei-
gentliche Sphaͤre erhebt. Die Lebhaftigkeit der
Nation, ihre Bildſamkeit und Empfaͤnglichkeit
erleichtert dieſen rohen Menſchen den Ueber-
gang zu jedem edlern und kuͤnſtlichern Ge-
ſchaͤfte; eine Uebung von wenigen Wochen
macht aus dem einfaͤltigſten Bauer einen ge-
wandten Bedienten, einen geſchickten Stein-
metz, einen induſtrioͤſen Rasnoſchtſchik, der
bald von ſeinem Gewerbe zu einem noch ein-
traͤglichern uͤbergeht, wenn ihm irgend das
Gluͤck laͤchelt. Mit jeder Verbeſſerung ſeines
Zuſtandes erhoͤhen ſich die Einkuͤnfte ſeines
Herrn *), und auch der Landbau gewinnt in
Z 4
[360] gewiſſer Ruͤckſicht, weil die mehreſten dieſer
Leute, wenn ſie ſich eine namhafte Summe er-
worben haben, nach ihrem ehemaligen Stand-
orte zuruͤckkehren, wohin ſie denn aber frey-
lich nebſt ihrem Gelde, ihren Kunſtfertigkeiten
und ihren verfeinerten Begriffen, auch den
Luxus und die Laſter großer Staͤdte mitneh-
men.
Wir haben die Klaſſe dieſer Leute in zwey
Abtheilungen geſondert, und dieſer Unterſchied
iſt wichtig. Alle leibeigene Domeſtiken, die
im Dienſt ihrer Herrſchaften ſtehen, ſind in
Beziehung auf ihren phyſiſchen Zuſtand durch-
aus von dieſen abhaͤngig, und haben alſo ein
beſſeres oder ſchlechteres Schickſal, je nachdem
es ihren Eigenthuͤmern gefaͤllt. Zur Ehre der
Menſchheit und des ruſſiſchen Adels werden
die Beyſpiele von Haͤrte und Strenge immer
ſeltner, die man aus der Sage vergangener
Zeiten kennt. Eine menſchenfreundliche Geſetz-
*)
[361] gebung zuͤgelt die tyranniſche Willkuͤhr, und
der Geiſt einer liberalen und milden Erziehung
bereitet in den hoͤhern Staͤnden eine wohlthaͤ-
tige Revolution in Sitten und Grundſaͤtzen
vor. Im Ganzen iſt das Schickſal der Be-
dienten in herrſchaftlichen Haͤuſern ſo gut, daß
ſie dadurch nicht ſelten zu einer Inſolenz ver-
fuͤhrt werden, die den ſtaͤrkſten Beweis von
ihrem Wohlleben und von der nachſichtigen
Behandlung giebt, unter welcher ſie ſtehen.
Der geringe ruſſiſche Kaufmann, der Hand-
werker, der beſſere Poͤbel, kurz alle freye oder
mit Paͤſſen verſehene Leute dieſer Klaſſe ſind
ſich in ihrer Lebensweiſe und in ihren Sitten
ſo gleich, daß wir die Schilderung derſelben
hier fuͤglich in Eins zuſammenfaſſen koͤnnen.
Die Kleidung des gemeinen Ruſſen iſt noch
voͤllig die alte Nationaltracht, deren Beybe-
haltung uͤberall ſehr vernuͤnftig waͤre, weil ſie
den Beduͤrfniſſen des Klima angemeſſen, be-
quem, und dem Koͤrperbau vortheilhaft iſt.
Sie beſteht in einem langen, bis an die Fer-
ſen reichenden Rock, der eng an den Leib
ſchließt, und deſſen Schoͤße uͤberaus viele Fal-
ten haben. Vorne wird er, wie unſere Ueber-
Z 5
[362] roͤcke, mit denen er einige Aehnlichkeit hat,
uͤbereinander geſchlagen und zugeknoͤpft. Um
den Leib windet der Ruſſe einen Guͤrtel, in
welchen er ſeine Handſchuhe, ſeine Peitſche
oder ſeine Axt zu ſtecken pflegt. Statt des
Hemdes traͤgt er ein Wammes, gewoͤhnlich von
buntgeſtreifter Leinewand. Sein Hals iſt voͤl-
lig entbloͤßt, und die Stelle der Hoſen vertritt
eine weite leinene Bekleidung *). Den Ge-
brauch der Struͤmpfe kennt er nicht; er um-
windet ſeine Fuͤße mit Tuchlappen, und zieht
weite Stiefel daruͤber, die er zuweilen mit
Schuhen von Baſt oder Leder, ohne Schnal-
len, vertauſcht. Seine Kopfbedeckung iſt ein
heruntergeſchlagener ſehr tiefer Hut, gerade
von der Form, wie ihn jetzt die Stutzer in
England tragen. Im Winter verwechſelt er
dieſen mit einer Muͤtze, und ſeinen Rock mit
[363] einem Pelz, den er ebenfalls mit einem Ku-
ſchak umguͤrtet.
Dieſe Beſchreibung paßt nur auf die ein-
fachſte und aͤrmlichſte Kleidung. Wohlhabende
Leute, die die Nationaltracht beybehalten, tra-
gen Hemden, Hoſen, Stiefel und Struͤmpfe;
ihre Roͤcke ſind von feinem Tuch und werden
im Winter mit koſtbarem Pelzwerk gefuttert;
alle aber, ſie moͤgen reich oder arm ſeyn, tra-
gen ſchlichtes, heruntergekaͤmmtes, ungepuder-
tes Haar, und laſſen ihren Bart wachſen. —
Der Anblick eines wohlgemachten Mannes in
dieſer Tracht hat etwas Edles und Gefaͤlliges,
wogegen die Schnoͤrkeleyen unſerer Modeklei-
dung ſtark kontraſtiren. Was aber dieſe an
ſich ſehr vortheilhafte Kleidung noch mehr er-
hebt, iſt der leichte Anſtand und die Gewand-
heit der Ruſſen. Kein Volk hat in dieſer
Ruͤckſicht mehr Aehnliches mit den Franzoſen.
Die Art, wie der Ruſſe ſeinen Hut oder ſeine
Muͤtze ſetzt, ſein leichter feſter Schritt, die Be-
hendigkeit ſeiner Bewegungen, alles hat, ſogar
bey dem Landvolk, eine gewiſſe ungekuͤnſtelte
Grazie, zwar nicht von der Art, wie man ſie
[364] auf Opernbuͤhnen ſieht, die aber doch beym er-
ſten Anblick einnimmt und gefaͤllt.
Die Weiber ſind durch ihre Kleidung nicht
ſo ſehr gegen die Unfreundlichkeit des Klima
geſchuͤtzt; aber ihre ſitzende, haͤusliche Lebens-
art macht ihnen dieſen Vortheil entbehrlich.
Sie tragen einen gewoͤhnlichen Weiberrock und
ein Mieder ohne Aermel, an deren Stelle ein
reinliches aufgekrauſtes Hemde zu ſehen iſt.
Wohlhabendere Weiber bekleiden ſich mit einem
langen, an den Leib paſſenden Anzuge, der den
ganzen Koͤrper bedeckt. Ihr Kopfputz beſteht
in einem großen ſeidenen Tuche, welches ſie
auf eine eigene Art um den Kopf winden, oder
in einer kleinen Haube, von koſtbarem Zeuge,
mit Spitzen und Perlen beſetzt. Die Totlette
einer nur maͤßig wohlhabenden Frau erfordert
uͤberaus viele Nippes, goldne Ketten, Ohrge-
henke, Perlenſchnuͤre, Ringe, und dergleichen.
An ihre Hauben pflegen ſie, beym Ausgehen,
noch ein ſehr großes ſeidnes Tuch zu ſtecken,
welches uͤber die Schultern und den Ruͤcken
hinunter haͤngt.
Dieſe Kleidung, die theuer zu ſtehen kommt,
wenn ſie nur einigermaßen gut ſeyn ſoll, er-
[365] hebt zwar die natuͤrlichen Reize eines ſchoͤnen
Weibes, daher ſie auch von Damen aus den
hoͤhern Staͤnden, die ſich ihrer Vorzuͤge be-
wußt ſind, gerne zur Maskenverkleidung ge-
waͤhlt wird; aber ein haͤßliches Geſicht oder
ein mißgeformter Koͤrper ſtechen unter dieſer
Huͤlle deſto greller hervor. Daß die Schminke
bey allen ruſſiſchen Weibern den weſentlichſten
Theil der Toilette ausmacht, iſt ſchon anders-
wo in dieſem Buche geſagt. Ihre ſitzende Le-
bensart, ihr leidenſchaftliches Temperament
und die Pflege die ſie bey einiger Wohlhaben-
heit auf ihren Koͤrper wenden, giebt ihnen ge-
woͤhnlich ſchon in ihrem bluͤhendſten Alter ein
Embonpoint, wodurch ſie das Anſehn von Ma-
tronen erhalten.
Ein großer Theil der unterſten Volksklaſſe
iſt kaum unter die Bewohner der Reſidenz zu
rechnen, weil in derſelben ein unaufhoͤrlicher
Ab- und Zufluß herrſcht. Den Sommer hin-
durch beſchaͤftigen ſich viele tauſend Menſchen
als Zimmerleute, Maurer, Steinmetzen, Pfla-
ſterer, die beym Anfange des Winters in ihre
Heymath zuruͤckkehren, und deren Bevoͤlkerung
durch andere Tauſende erſetzt wird, die ſich
[366] wieder als Iswoſchtſchiki, Eisgraͤber, u. ſ. w.
naͤhren. Die mehreſten unter ihnen haben alſo
auch keine bleibende Staͤtte und kein Eigen-
thum, als das Werkzeug ihrer Induͤſtrie. Sie
wohnen theils in den entlegenſten Stadtthei-
len, theils in den Doͤrfern um der Reſidenz,
wo ſie in groͤßerer oder klemerer Anzahl in
Artels zuſammentreten und ihre Beduͤrfniſſe
aus einer gemeinſchaftlichen Kaſſe beſtreiten.
Viele unter ihnen, die als Maurer, Zimmer-
leute oder dergleichen einen Bau oder eine Ar-
beit uͤbernommen haben, verlaſſen nicht ein-
mal den Platz ihrer Beſchaͤftigung, ſondern
ſchlafen unter freyem Himmel, zwiſchen Schutt-
haufen oder unter Thorwegen, um am folgen-
den Morgen deſto fruͤher bey der Arbeit zu
ſeyn. Eine zahlreiche Volksmenge lebt und
webt den Sommer hindurch auf den Barken
und Floͤſſen, die unter ihrer Begleitung nach
St. Petersburg kommen.
Der ruſſiſche Handwerker, den ſein Ge-
werbe zu einer ſitzenden Lebensart zwingt,
wohnt gewoͤhnlich in den Kellergeſchoſſen ſtei-
nerner Haͤuſer, oder miethet ſich eine armſe-
lige hoͤlzerne Huͤtte: denn Sparſamkeit iſt ein
[367] hervorſtechender Zug der untern Volksklaſſen.
Da faſt alle Haͤuſer der Reſidenz nach italie-
niſcher Sitte ein bewohnbares Kellergeſchoß
haben, ſo finden dieſe Leute auch in den beſten
Gegenden Wohnungen, die uͤbrigens ſo ſehr
geſucht werden, daß oft die Keller ſchon mit
Menſchen angefuͤllt ſind, wenn noch im zwey-
ten oder dritten Stockwerk gebaut wird. Hier
leben zahlreiche Familien in Eine Stube zu-
ſammengedraͤngt; nicht ſelten iſt die Bevoͤlke-
rung des ganzen Hauſes geringer, als die des
Kellergeſchoſſes. Die niedrige Lage, der kleine
Raum, die unbetraͤchtliche Hoͤhe der Zimmer
und die Ausduͤnſtungen der feuchten Mauern,
muͤſſen unter der ganzen in Souterrains woh-
nenden Menſchenmenge Verheerungen anrich-
ten, fuͤr die unſere Sterbeliſten wahrſcheinlich
keine Rubrik haben. — Eine gleiche Bewand-
niß hat es mit den Lawken oder Kellerbuden,
deren feuchte kalte Luft ſelbſt von Voruͤberge-
henden bemerkt werden kann. Zuweilen hat
der Kraͤmer nicht einmal ein Zimmer zu ſeiner
Wohnung, ſondern ißt und trinkt und ſchlaͤft
in ſeinem Laden, den er nicht heitzen darf.
Nicht viel beſſer wohnt der geringe ruſſiſche
[368] Kaufmann, und wenn das Gegentheil auch
hin und wieder der Fall iſt, ſo fehlt es doch
an der Reinlichkeit, ohne welche die praͤchtig-
ſten Zimmer ungeſund ſind.
Die Berichte der Reiſebeſchreiber von der
Reinlichkeit der ruſſiſchen Nation widerſprechen
ſich oft. Einige nennen die Ruſſen ein reinli-
ches, andere ein unreinliches Volk, und beyde
Theile koͤnnen Recht haben. Das haͤufige Ba-
den, zum Beyſpiel, beweißt fuͤr die gute Seite;
aber ihre Rauchſtuben, der uͤble Geruch, den
man in den meiſten Wohnungen gemeiner Leute
findet, beweiſen eben ſo viel fuͤr das entgegen-
geſetzte Extrem. Die Wahrheit iſt, daß der
Ruſſe noch keinen Sinn fuͤr Reinlichkeit hat,
daß aber gluͤcklicher Weiſe einige alte Natio-
nalſitten, von denen er ſich aus Gewohnheit
nicht losſagen mag, ihn in einer ertraͤglichen
Mittelbahn halten. So wird man, zum Bey-
ſpiel, in allen Bauerhuͤtten, ſehr weißge-
ſcheuerte Tiſche finden; aber des Ungeziefers
achtet er nicht, oder ſchont deſſen aus einer
Art von herkoͤmmlichem Reſpekt. Seinen Koͤr-
per waͤſcht er zwar zwey bis dreymal in der
Woche; aber ſeine Kleidungsſtuͤcke, ſie moͤgen
auch
[369] auch ſo unſauber ſeyn als moͤglich, legt er
nicht eher als in der Badſtube ab, wo ſie zu-
gleich mit ausgewaſchen werden. — Ein groͤſ-
ſerer Wohlſtand und hoͤhere Kultur giebt dem
Ruſſen nicht allemal dieſen fehlenden Sinn,
deſſen Mangel oft mit dem Luxus der beſſern
Lebensart auf eine ſonderbare Weiſe kon-
traſtirt.
Die Nahrungsmittel des gemeinen Man-
nes ſind im zweyten Abſchnitte geſchildert. Die
Speiſen die man dort angefuͤhrt findet, ma-
chen die taͤgliche Tafel aller der Menſchen,
die zu unſerer vierten Klaſſe gehoͤren, wobey
die Abſtuffungen des Wohlſtandes nur ſehr ge-
ringen Einfluß haben. Der reichſte Kaufmann
oder Podrjaͤdſchik, wenn er nach alter ruſſi-
ſcher Sitte lebt, ſetzt kein auslaͤndiſches Ge-
richt auf ſeinen Tiſch, und bereitet oft ſeine
Faſtenſpeiſen um nichts appetitlicher, als der
armſeligſte Bauer. Nur in den Getraͤnken
unterſcheidet ſich die Tafel des wohlhabenderen
Theils dieſer Klaſſe; denn ſo wenig der ge-
meine Ruſſe die Gourmandiſe kennt, ſo gern
er ſich mit der ſchlechteſten vaterlaͤndiſchen Koſt
behilft, ſo groß iſt auch ſeine Liebhaberey fuͤr
Zweiter Theil. A a
[370] ſtarke Getraͤnke, und er erwirbt ſich oft hie-
rinn einen Takt, der dem feinſten Dilettanten
aus den hoͤhern Staͤnden Ehre machen wuͤrde.
Das arme Volk kann dieſe guten Anlagen
freylich nur durch den Branntwein kultiviren:
aber wer Etwas mehr zu verzehren hat, legt
ſich auch auf die Kenntniß auslaͤndiſcher Biere
und Weine. Die Konſumtion dieſer Getraͤnke
iſt in den Gaſthaͤuſern, die von den niedrig-
ſten Volksklaſſen beſucht werden, ſehr groß,
und ich habe ſelbſt einmal bey einer oͤffentli-
chen Gelegenheit, wo das Publikum zahlreich
verſammelt war, einen Haufen Iswoſchſchtiki
einige Dutzend Bouteillen Porter unter ſich
ausleeren ſehn.
Obgleich das gemeine Volk ſich gerne und
fruͤh verheyrathet, ſo haben doch nur die We-
nigſten ihre Weiber bey ſich, wenn ſie in der
Reſidenz leben. Da ein großer Theil derſelben
auch keine eigentliche Wohnung hat, und
Viele, ihres Gewerbes wegen, den ganzen
Tag auf der Gaſſe oder weit von ihrer Hey-
math zubringen muͤſſen, ſo hat die Induſtrie
ihrer Mitbruͤder dafuͤr geſorgt, daß ſie uͤberall,
an allen Gaſſenecken, auf allen Plaͤtzen, ihren
[371] Hunger befriedigen koͤnnen. Faſt alle die Spei-
ſen und Getraͤnke, die in dem vorhin ange-
fuͤhrten Abſchnitte namhaft gemacht ſind, wer-
den von Umtraͤgern feil geboten, die ihre klei-
nen Feldtiſche da wo ſie Kaͤufer vermuthen,
aufſchlagen. Dieſe Einrichtung gewaͤhrt nicht
nur dem Poͤbel, ſondern auch allen Leuten
welche Domeſtiken halten, eine ſehr große Be-
quemlichkeit. Man kann ſeine Bediente zu je-
der Stunde brauchen, weil der gemeine Ruſſe
ſich mit ſeiner Mahlzeit an keine beſtimmte
Zeit bindet, und einige wenige Kopeken taͤglich
reichen hin, um ihn auf dieſe Art ſatt zu ma-
chen, dagegen er ſelten zufrieden iſt, wenn er
aus der Kuͤche ſeines Herrn geſpeiſt wird.
Ich habe bis izt der Finnen, die naͤchſt
den Ruſſen den groͤßten Theil der unterſten
Volksklaſſe bilden, in dieſer Schilderung nicht
erwaͤhnt. Ihre Lebensart iſt beynah dieſelbe,
und unterſcheidet ſich nur durch die Folgen ihrer
moraliſchen Individualitaͤt. Dahin gehoͤrt vor-
zuͤglich die Unreinlichkeit, die nebſt dem außer-
ordentlichſten Phlegma karakteriſtiſche Kenn-
zeichen dieſer Nation ſind. Die maͤnnliche
Kleidung der Finnen iſt ganz nach ruſſiſcher
A a 2
[372] Sitte; aber kein fremder Beobachter, der nur
einige Tage hier gelebt hat, wird durch dieſe
Aehnlichkeit verfuͤhrt werden, ſie mit Ruſſen
zu verwechſeln. Der zerriſſene Rock und die
uͤberall hervorſtechende Unſauberkeit ſtempeln
ſie auf eine ſo unterſcheidende Weiſe, daß man
nicht einmal den traͤgen Gang und die Natio-
nalphyſiognomie zu bemerken braucht, um in
ihrer Erkennung gewiß zu ſeyn. Die Weiber
und Maͤdchen kleiden ſich mehr nach deutſchem
Geſchmack, und behaupten, ſelbſt unter dieſem
verwahrloſeten Menſchenſtamm, den feinern
Sinn fuͤr Reinlichkeit und Ordnung, der dem
ſchoͤnern und ſanftern Geſchlechte vorzugsweiſe
eigen zu ſeyn ſcheint. In der Zubereitung ih-
rer Speiſen weichen die Finnen zwar von den
Ruſſen ab; aber wo ſie mit dieſen gemein-
ſchaftlich leben, da ſind ſie auch mit ruſſiſcher
Koſt zufrieden. Die Liebhaberey fuͤr ſtarke
Getraͤnke iſt bey ihnen eben ſo allgemein, doch
ohne den Luxus, deſſen vorhin erwaͤhnt wurde,
weil ihre Armuth ſie nur auf die einfachſte
Befriedigung ihrer Beduͤrfniſſe einſchraͤnkt.
Wir haben in dieſem und mehreren vor-
hergehenden Abſchnitten die Beduͤrfniſſe, die
[373] Gewerbe, die Vergnuͤgungen und die Lebensart
der untern Volksklaſſen in der Reſidenz ge-
ſchildert; ihr phyſiſcher Zuſtand und ihr Schick-
ſal ſind das Reſultat dieſer Darſtellung, die
auf anerkannte, notoriſche Thatſachen gegruͤn-
det und durch keinen verſchoͤnernden Pinſel
ausgemalt iſt.
In allen großen Staͤdten von Europa giebt
es Eine Klaſſe von Einwohnern die viel, und
Eine die wenig oder nichts hat. Dieſer Un-
terſchied, der ſeinen erſten Grund in der Kul-
tur ſucht, iſt an ſich ſo wenig dem Zweck der
menſchlichen Geſellſchaft entgegen, daß er viel-
mehr die Erreichung deſſelben beſchleunigen
hilft; eine Wahrheit, die nur von unſinnigen
Volksverfuͤhrern und Demagogen, oder von
fanatiſchen ſouverainen Ohnehoſen geleugnet
werden kann. Das — wahre oder eingebil-
dete — Beduͤrfniß auf der einen, und das
Vermoͤgen zu bezahlen, auf der andern Seite,
ſind die Hebel der menſchlichen Induſtrie, und
gewiſſermaßen auch ſeiner Vervollkommung,
die, zu eben der Zeit, da ſie die Kultur der
buͤrgerlichen Geſellſchaft befoͤrdern helfen, auch
den allzugroßen Abſtand der armen arbeitenden
A a 3
[374] und der reichen genießenden Klaſſe auszuglei-
chen bemuͤht ſind. In eben dem Maaß, in
welchem die Kultur ſich uͤber Europa verbrei-
tet, gehen die Laͤndereyen der Grundbeſitzer in
die coffres-forts des Handelsſtandes und der
Gewerbleute uͤber. Den geringſten Antheil an
dieſer Cirkulation hat freylich das Volk, das
immer die groͤßte Maſſe jeder Nation aus-
macht; aber Geld wuͤrde aufhoͤren Geld zu
ſeyn, ſobald Jedermann deſſen genug haͤtte.
Wo alle reich waͤren, da wuͤrden alle arm
ſeyn; eine voͤllige Gleichheit des reellen und
repraͤſentirenden Reichthums, ſo unmoͤglich ſie
auch nur fuͤr eine Dauer von vierundzwanzig
Stunden iſt, muͤßte, wenn ſie ſtatt finden
koͤnnte, die menſchliche Geſellſchaft in den Zu-
ſtand der roheſten Unkultur zuruͤckſtoßen.
So unleugbar dieſe Praͤmiſſen ſind, ſo we-
nig folgt hieraus, daß eine allzugroße Un-
gleichheit des Vermoͤgens vortheilhaft oder auch
nur unſchaͤdlich waͤre. Ohne den Kalkul ſtaats-
wirthſchaftlicher Kenner zu Rathe zu ziehen,
empoͤrt ſich unſer menſchliches Gefuͤhl gegen ei-
nen Grundſatz, den nur die habſuͤchtigſte Ty-
rannei der entarteten und geblendeten Vernunft
[375] aufdringen kann. Das Verhaͤltniß des Wohl-
ſtandes der verſchiedenen Volksklaſſen laͤßt ſich
allerdings nach keinem ſyſtematiſchen Typus
modeln; aber wenn einmal von Idealen die
Rede iſt, ſo duͤrfte vielleicht der Zuſtand die
groͤßte Zuſtimmung in dem unſichtbaren Areo-
pagus der Weiſen und Guten erhalten, in wel-
chem das Volk, bey einem menſchlich zugewo-
genen Antheil von Lebensgenuß, noch Sporn
genug zu fortſchreitender Thaͤtigkeit behielte.
Dieſen Sporn, deſſen Nothwendigkeit alle
Kenner der menſchlichen Natur gerne eingeſte-
hen werden, giebt Beduͤrfniß und Eigenthum
her.
Ich habe da ein großes Wort geſagt, das
mich auf meinen Gegenſtand zuruͤckfuͤhrt. Fuͤr
das Beduͤrfniß, hoͤre ich meine Leſer rufen,
ſorgt ſichs wol, wo das Eigenthum fehlt! —
Es iſt wahr, daß die unterſte Volksklaſſe der
ruſſiſchen Nation kein Eigenthum beſitzt, wel-
ches durch Staatsverfaſſung oder Geſetze ge-
gen Eingriffe der willkuͤhrlichen Gewalt ſicher
geſtellt waͤre; aber ich getraue mir zu behaup-
ten, daß ſie deswegen um nichts ungluͤcklicher
genannt werden kann, als die große Maſſe des
A a 4
[376] Volks in den meiſten europaͤiſchen Laͤndern.
Ich wuͤrde hier den Zuſtand der Odnodworzi
und der Kronbauern anfuͤhren, die bekanntlich
eine ſehr betraͤchtliche Ausnahme von dieſer
Schilderung machen; oder mich auf die man-
nigfaltigen Verordnungen berufen, die in neu-
ern Zeiten der Willkuͤhr des Adels Schranken
geſetzt haben, wenn ich nicht einen weit kraͤfti-
gern Beweis meiner Behauptung aus der Er-
fahrung hernehmen koͤnnte, von der jeder un-
befangene Beobachter, der zur Stelle iſt, ſich
ſelbſt uͤberzeugen kann. Kein Volk, unter allen
von welchen ich eine unmittelbare oder hiſtori-
ſche Kenntniß beſitze, iſt im Ganzen ſo zufrie-
den mit ſeinem Zuſtande, als die Ruſſen; bey
keinem Volke findet ſich ein groͤßerer Antheil
von Nationalfroͤhlichkeit und Reſignation, eine
groͤßere Theilnahme an oͤffentlichen Feſten;
wenige Nationen unter aͤhnlichen Umſtaͤnden
werden eine ſolche Menge wohlhabender und
reicher, und in ſolchem Grade reicher Bauern
aufzuweiſen haben *). Selbſt die Entſagung,
[377] die Induſtrie und die Anſtrengung, mit wel-
cher der beurlaubte Bauer ſich etwas zu er-
werben ſtrebt, iſt ein Beweis, daß er den
Glauben an die Sicherheit ſeines Eigenthums
hat. Waͤre dies nicht, ſo wuͤrde er die Hoff-
nung reich zu werden, dem augenblicklichen Ge-
nuß aufopfern; aber die Erfahrung beweiſ’t
das Gegentheil auf die unwiderſprechlichſte
Art. Kein gemeiner Ruſſe verzehrt was er
erwirbt; oft ſetzt er ſeine aͤußerſt frugale Le-
bensart auch dann noch fort, wenn ſeine Be-
triebſamkeit ihn ſchon fuͤr die Beſorgniß eines
kuͤnftigen Mangels geſichert hat. — Aus die-
ſen Thatſachen ſoll und kann zwar die Folge-
rung nicht gezogen werden, als ob der Zuſtand
A a 5
*)
[378] des ruſſiſchen Bauern keiner Verbeſſerung faͤ-
hig waͤre — ein Sophism, welches dem men-
ſchenfreundlichen, mutterliebenden Herzen Ka-
tharinens und den aufgeklaͤrten Geſinnun-
gen des Adels eben ſo veraͤchtlich ſcheinen wird,
als es dem Intereſſe der Menſchheit ſchaͤdlich
iſt —; aber ſie ſollen und koͤnnen beweiſen,
daß die untern Volksklaſſen in Rußland die
bedauernswuͤrdigen Sklaven nicht ſind, fuͤr
die das auswaͤrtige Publikum, durch einige
gallfuͤchtige Beobachter und oberflaͤchliche Phi-
lantropen bethoͤrt, noch immer ſein unnuͤtzes
Mitleid verſchwendet.
Was hier von der guten, oder wenn man
will, ertraͤglichen, Seite des Volkszuſtandes
geſagt iſt, gilt uͤberall in der Reſidenz in noch
hoͤherem Grade. Der milde Geiſt der Regie-
rung, der hier an ſeiner Quelle die Wirkun-
gen verdoppelt; die groͤßere Kultur des Adels;
der Umſtand, daß der uͤberwiegende Theil des
Volks aus freygelaſſenen oder mit Paͤſſen ver-
ſehenen Bauern beſteht; endlich auch die
Stimmung dieſer Volksklaſſe ſelbſt — ver-
ſchleyern das Daſeyn des Menſcheneigenthums
hier ſo ſehr, daß der fremde Zuſchauer, dem
[379] die Tradition es nicht verrathen haͤtte, uͤber
dieſen Gegenſtand lange getaͤuſcht werden
koͤnnte.
Alle Kanaͤle des buͤrgerlichen Erwerbs ſte-
hen dem Volke frey. Wie vortheilhaft es
dieſe benutzt, davon ſind unter mehreren Ru-
briken dieſes Buchs ſo vielfaͤltige Beyſpiele an-
gefuͤhrt, daß hier fuͤglich daruͤber geſchwiegen
werden kann. Der Gewinn des geringſten
Tageloͤhners iſt groͤßer als wir ſein taͤgliches
Beduͤrfniß annehmen duͤrfen, ohne dieſes mit
dem Gefuͤhl eines Gefangenwaͤrters zu berech-
nen. So wenig anlockend ſeine Tafel ver-
woͤhntern Gaumen ſeyn mag, ſo gewiß iſt es
doch, daß der gemeine Ruſſe, wenn er nicht in
den Hotels der Reſidenz erzogen iſt, die fein-
ſten Schuͤſſeln verſchmaͤhen wird, um ſich an
ſeinem Schtſchi und ſeiner Kaſcha zu ſaͤttigen.
Seinen leidenſchaftlichſten Sinn, den Durſt
nach ſtarken Getraͤnken, zu befriedigen, bedarf
er nur wenige Kopeken; er muͤßte ſehr arm,
oder welches einerley iſt, ſehr faul ſeyn, um
ſich dieſen Genuß nicht wenigſtens woͤchentlich
Einmal gewaͤhren zu koͤnnen. Seine Beklei-
dung iſt immer zulaͤnglich, und niemals, außer
[380] etwa bey einem Bettelbuben, auf die man aͤu-
ßerſt ſelten ſtoͤßt, fehlt etwas Weſentliches an
dieſem Theil ſeiner Nothwendigkeiten. Jeder
Ruſſe ohne Ausnahme hat ſeinen Schaafpeltz;
nie ſieht man, wie in andern Laͤndern, die
aͤrmſte Klaſſe bey ſtarker Kaͤlte ohne dieſe Be-
deckung Die Stubenwaͤrme iſt ein großes
Beduͤrfniß des gemeinen Volks; auch dieſe
entbehrt es nirgend. Die ſogenannten Schwarz-
ſtuben in allen Haͤuſern werden auf eine uͤber-
maͤßige Weiſe geheizt, und verurſachen oft ei-
nen groͤßern Aufwand an Holz als ſelbſt die
herrſchaftlichen Zimmer.
Alle Volksklaſſen ſtehen hier unter dem
Schutz der Geſetze. Wenn dieſer Vortheil
dem leibeigenen Bedienten weniger zu ſtatten
kommt, weil das Recht der ſtrengern Haus-
zucht nur durch die Grenzen der peinlichen
Gerichtsbarkeit eingeſchraͤnkt wird; ſo macht
der uͤbrige Theil des Volks ſich der Befug-
niſſe ſeiner durch Katharinens philoſophi-
ſche Geſetzgebung anerkannten buͤrgerlichen
Exiſtenz auf eine deſto vollguͤltigere Art zu
Nutze. Alle eigenmaͤchtige koͤrperliche Beſtra-
fung iſt ſtreng unterſagt; Niemand, ſelbſt der
[381] gemeinſte Bauer nicht, darf anders als vor
Gericht mit Schlaͤgen behandelt werden.
Wenn einzelne Menſchen ein ſolches widerrecht-
liches Verfahren an ſich erdulden, ſo iſt Klein-
muth, gewohnter Sklavenſinn, oder Unbekannt-
ſchaft ihrer Rechte Schuld daran; aber der
bey weitem zahlreichere Theil des Poͤbels der
Reſidenz kennt ſeinen Schutz und weiß ihn
geltend zu machen. In einem ſolchen Fall
wird es dem Beklagten nicht ſelten ſchwer,
ſich zu rechtfertigen, oder Genugthuung zu er-
halten, wenn er ſich berechtigt glaubt, dieſe
zu fordern. Die Polizey, das gewoͤhnliche
Tribunal ſolcher Vorfaͤlle, iſt nach der Lage
der Dinge natuͤrlich geneigt, immer eher auf
die Seite der bisher unterdruͤckten Parthey zu
treten; einzelne unangenehme Erfahrungen die-
ſer Art haben die hoͤhern Staͤnde behutſam
gemacht, und manchem Uſurpatoren unter den-
ſelben Achtung fuͤr Menſchenwerth durch die
Schaͤrfe des Geſetzes gepredigt.
In keinem Lande iſt der Abſtand in der
Lebensart der unterſten Volksklaſſe und des
geringern Mittelſtandes ſo groß als in Ruß-
land. Wenn jene noch ganz nach alter Natio-
[382] nalſitte, zum Theil ſehr aͤrmlich, und mehr
oder weniger unter einer Art von phyſiſcher
und moraliſcher Bedruͤckung lebt; ſo findet
man bey dieſem ſchon auslaͤndiſche Sitten, ei-
nen hohen Grad von Luxus, und eine buͤrger-
liche Achtung und Freyheit, deren er in dem
Maaße vielleicht nirgend genießt. Die Klaſſe
von der wir hier reden, begreift den gerin-
gern Mittelſtand und vorzuͤglich den aus-
laͤndiſchen Handwerker und Kuͤnſtler.
Eingedenk des Vorzugs ſeiner freyen Geburt,
ſtolz auf das Uebergewicht ſeiner groͤßern Kul-
tur und ſeiner Kunſtfertigkeiten, und uͤbermuͤ-
thig gemacht durch die Vergleichung ſeines
beſſern Zuſtandes und ſeines leichten und ſtar-
ken Gewinns — betrachtet er ſich nur als
freyen Auslaͤnder, als Lehrmeiſter ſeiner ruſſi-
ſchen Mitbuͤrger, als ein Weſen hoͤherer Art.
Dieſer Wahn, der ſich allerdings auf einige
Realitaͤt gruͤndet und durch die Nachgiebigkeit
der hoͤhern, ſo wie durch die Unterwerfung der
geringern Staͤnde genaͤhrt wird, hat einen ent-
ſcheidenden Einfluß auf die Sitten und Den-
kungsart dieſer Menſchen.
[383]
Der Zuſtand des auslaͤndiſchen Handwer-
kers und Kuͤnſtlers iſt im Ganzen ſo vortheil-
haft, ſeine Erwerbmittel ſind ſo ergiebig und
die Anreizungen zum Genuß und Aufwande
ſo verfuͤhreriſch, daß man ohne Uebertreibung
behaupten kann, ſeine Lebensart ſey, England
ausgenommen, nirgend beſſer als hier. In
den eintraͤglichſten Gewerben, zu welchen hier
vorzuͤglich das Schneider-Baͤcker-Tiſchler-
Schmiede- und Sattlerhandwerk und die Be-
arbeitung der edlen Metalle gehoͤren, giebt es
viele Meiſter, die eigne Haͤuſer beſitzen, und
ſelbſt diejenigen, deren Gewerbe nicht ſo ſchnell
zum Wohlſtande fuͤhren, oder die nur kurze
Zeit anſaͤßig ſind, wohnen groͤßtentheils ge-
maͤchlich, bequem, und ihrer Nahrung wegen
auch in den beſten Stadttheilen. Selten fin-
det man eine Familie in den Werkſtaͤtten bey-
ſammen; gewoͤhnlich ſind dieſe in einem abge-
legenen Theile des Hauſes oder der Woh-
nung, und in den Prunk- oder Wohnzimmern
iſt keine Spur der Handwerksbeſchaͤftigung
ſichtbar. Das Hausgeraͤth iſt im Allgemeinen
nur einfach und ſolid; in dieſem Theil des Lu-
xus hat die Verſchwendung weniger uͤberhand
[384] genommen. Ein deſto groͤßerer Aufwand
herrſcht in der Kuͤche. Mehrere gut und oft
lecker zubereitete Speiſen Mittags, eine ver-
haͤltnißmaͤßige Abendtafel, Schaͤlchen, Fruͤh-
ſtuͤck, zweymal taͤglich Kaffee und einmal Thee,
nicht ſelten Nachmittags ein Glaͤschen Punſch,
gehoͤren zur gewoͤhnlichen Lebensart der Hand-
werker, wozu bey ſehr Vielen noch Wein und
Porter, als eine weſentliche Rubrik hinzuge-
fuͤgt werden muß. Daß eine ſolche Wirth-
ſchaft, beſonders in zahlreichen Familien und
wo viele Arbeiter vorhanden ſind, eine große
Anzahl Domeſtiken erfordert, laͤßt ſich erwar-
ten; aber maͤnnliche Bediente, die zur Auf-
wartung im Hauſe gebraucht wuͤrden, ſind
doch nicht allgemein. Viele Handwerker hal-
ten Wagen und Pferde, und um dazu berech-
tigt zu ſeyn, laſſen ſie ſich als Buͤrger in eine
der Gilden einſchreiben, denen dieſer Vorzug
zugeſtanden iſt. Wer dieſen Aufwand nicht er-
ſchwingen kann, unterhaͤlt wenigſtens ein Ka-
briolet oder eine Droſchke mit Einem Pferde,
denn das zu Fuße gehn verlernt ſich hier bey
einigem Wohlſtande ſehr leicht. Auch der
Kleiderluxus iſt hin und wieder ſehr groß, be-
ſonders
[385] ſonders unter dem Frauenzimmer, welches an
oͤffentlichen Orten zuweilen weder durch Form
noch Guͤte und Koſtbarkeit ſeines Anzugs von
Damen aus den hoͤhern Staͤnden unterſchie-
den werden kann.
Bey dieſer Lebensart (deren Schilderung
natuͤrlich nur auf die wohlhabenden, aber un-
ter dieſen auf die groͤßte Anzahl paßt; denn
wenn es Einige giebt, die ſchlechter leben, ſo
giebt es auch Mehrere, die in Ton und Auf-
wand mit den beſten Haͤuſern des Mittelſtan-
des wetteifern) eruͤbrigt der Handwerker und
Kuͤnſtler nicht ſelten ſo viel, daß er ſeinen
Kindern eine gute oder modiſche Erziehung
verſchaffen und ihnen ein anſtaͤndiges Erbtheil
hinterlaſſen kann; ein Fall der gewiß noch
weit haͤufiger ſeyn wuͤrde, als er iſt, wenn die
Mehreſten nicht ihren ganzen Gewinn dem
augenblicklichen Genuß aufopferten. Selten
oder niemals beſtimmt der wohlhabende Hand-
werker ſeinen Sohn zu dem nuͤtzlichen Ge-
werbe, welchem er ſeinen Wohlſtand verdankt;
ein mißverſtandner Ehrgeiz ſpornt ihn an, ſich
wenigſtens in ſeinen Kindern zu einer dem An-
ſchein nach geachtetern Klaſſe der buͤrgerlichen
Zweiter Theil. B b
[386] Geſellſchaft aufzuſchwingen, und der junge
Menſch, der ein reicher Schneider oder Tiſchler
geworden waͤre und ſein Gewerbe im Großen
haͤtte fortſetzen koͤnnen, zehrt als Offizier oder
Kanzelleybediente von der Arbeitſamkeit und
Induſtrie ſeines Vaters. Dieſes Emporſtre-
ben iſt auch die Leidenſchaft der Weiber, und
wird von der Denkungsart des Publikums
beguͤnſtigt, welches auf die Rangordnung des
Herkommens uͤberall keinen großen Werth ſetzt.
Die Tochter eines Handwerkers, bey welcher
auf eine gute Mitgift zu rechnen iſt, findet
immer eine Verſorgung in den hoͤhern Staͤn-
den; die Soͤhne ruͤcken durch Talent oder Pro-
tektion in anſehnliche Militair- und Civilſtel-
len; ſelbſt der Vater, wenn er ſeiner Scheere
oder ſeines Hobels uͤberdruͤßig wird, ſtempelt
ſich zum Kaufmann um.
Die Erziehung in wohlhabenden Haͤuſern
dieſer Art iſt der Abſicht angemeſſen, zu wel-
cher die Kinder gewoͤhnlich beſtimmt ſind. Die
Soͤhne lernen mehrere Sprachen plaudern, die
Toͤchter widmen ſich der Muſik und allen hol-
den und gefallenden Kuͤnſten. Zuweilen wird
jenen ein Reitpferd und dieſen eine Gouver-
[387] nante gehalten. Schon fruͤhzeitig erſcheinen
junge Leute aus dieſer Klaſſe in den Klubbs
und an allen oͤffentlichen Orten wo ihnen der
Zutritt geſtattet iſt, um ſich zum Ton der
großen Welt auszubilden.
Haͤuslichkeit, Sparſamkeit und einfache
wirthſchaftliche Erziehung ſind ſeltner in dieſen
als in manchen Haͤuſern der hoͤhern Staͤnde,
wo eine verhaͤltnißmaͤßig geringe Einnahme
dieſe Tugenden nothwendig macht, um die
Auſſenſeite zu retten. Wie mancher Staats-
bediente geht zu Fuß zu ſeinem Handwerker,
wenn dieſer ſich in ſeinen Wagen oder Phae-
ton wirft, um ſeinen vornehmen Schuldnern
die Morgenviſite zu machen. Ueberall hoͤflich
empfangen, weil er uͤberall zu fordern hat,
verwechſelt er nur gar zu leicht ſeine perſoͤn-
liche Wichtigkeit mit der Bilanz ſeines Konto-
buchs, und ſchreibt jener Wirkungen zu, welche
nur von dieſer ihren Urſprung empfangen.
Daher die Inſolenz dieſer Art Leute gegen
Jeden, den ſie nach ihren Begriffen nicht fuͤr
vollwichtig halten. Dieſer Karakter, dem der
Mangel einer gehoͤrigen Kultur zur Folie
dient, auf welcher er deſto heller hervorglaͤnzt,
B b 2
[388] hat den Ruſſen — die, beylaͤufig geſagt, einen
ſehr feinen Takt fuͤr Menſchen beſitzen —
Gelegenheit zu einer eigenthuͤmlichen Bezeich-
nung gegeben. Sie nennen den Auslaͤnder,
vorzuͤglich den Deutſchen, der große Anmaa-
ßungen mit Dummheit oder koͤrperlicher Unge-
ſchicktheit verbindet, Schmerz; eine Benen-
nung, uͤber deren Urſprung vielerley Muth-
maßungen vorhanden ſind, die aber durch den
Gebrauch uͤberaus karakteriſtiſch geworden iſt.
So ſehr der beſſere Theil der Handwer-
ker alles kennt, was zur guten Lebensart ge-
hoͤrt, ſo ſchwer wird es ihm doch, die Rinde
abzuſchleifen, die ihm noch aus den Lehrjahren
anklebt. Die Weiber, obgleich groͤßtentheils
in der Reſidenz zu Hauſe, ſind ihrer altmodi-
ſchen Erziehung wegen auch nicht gaͤnzlich frey
von der eigenthuͤmlichen Auſſenſeite ihres
Standes; aber dieſe verwiſcht ſich doch bey
ihnen allmaͤlig, wenn ſie fleißig nach guten
Muſtern an ſich bilden. Die Maͤnner hinge-
gen behalten gewoͤhnlich das karakteriſtiſche
Gepraͤge, an welchem ein feiner Beobachter
ſie in der glaͤnzendſten Geſellſchaft, unter der
eleganteſten Verkappung erkennt.
[389]
Die taͤglichen Beſchaͤftigungen des groͤßern
Theils der Handwerker ſind ſchon unter einer
andern Rubrik geſchildert. Der Vormittag,
hoͤchſtens einige Stunden nach Tiſche werden
der Arbeit gewidmet; der Abend verfließt in
Kraͤnzchen und Klubbs, am Kartentiſch oder
beym Billard. Kirchen-Staats- und Hausfeſte
werden mit Schmaͤuſen oder durch Parthieen
außer der Stadt gefeyert; einige der reichſten
Handwerker haben an beſtimmten Tagen Ge-
ſellſchaft zu Mittage oder zu Abend, geben
Konzerte und Baͤlle, und leben den Sommer
hindurch auf ihren Landhaͤuſern.
Unmerklich fließt dieſe Lebensart in die des
hoͤhern Mittelſtandes uͤber. Keine Klaſſe
von Einwohnern, den Poͤbel ausgenommen, iſt
zahlreicher, und in keiner finden ſich ſo große
Verſchiedenheiten des Wohlſtands als in die-
ſer. Die Schilderung ihrer Lebensart kann
alſo uͤberall nur von dem groͤßern Theile
gelten.
Im Ganzen genommen, lebt der Mittel-
ſtand in St. Petersburg mit mehr Aufwand,
Gemaͤchlichkeit und Prunk als in den meiſten
großen Staͤdten von Europa. Dieſer Luxus,
B b 3
[390] der jedem Fremden in den erſten Tagen ſei-
nes Hierſeyns auffallend wird, aͤußert ſich nicht
bloß in dieſem oder jenem Theile der Lebens-
art, ſondern geht durch alle Zweige derſelben.
Wohnung, Tiſch, Kleidung, Bedienung, Equi-
page, alles traͤgt hier eine hoͤhere Farbe.
Unter der Klaſſe von Menſchen, von wel-
cher itzt die Rede iſt, wird es in den großen
Staͤdten anderer Laͤnder nur einzelne Fami-
lien geben, die außer ihren Wohnzimmern noch
eine beſondere Anzahl Gemaͤcher dem bloßen
Prunk widmen; in St. Petersburg iſt dieſer
Unterſchied allgemein. Eine Familie aus dem
Mittelſtande bedarf, außer der eigentlichen
Wohngelegenheit, einen Geſellſchaftsſaal (ſalle
de compagnie), ein Beſuchzimmer, ein Spei-
ſezimmer und eine Vorſtube fuͤr den Aufent-
halt fremder Bedienten. Wer nicht auf die-
ſem Fuße wohnt, lebt ſehr eingeſchraͤnkt und
darf ſich ſchwerlich zu den Leuten von Ton
zaͤhlen. Aber ſelbſt der nothwendige Raum
wird hier nach einem groͤßern Maaßſtabe be-
rechnet. Selten entbehrt der Herr vom Hauſe
ſein Arbeitszimmer und die Frau vom Hauſe
ihr Putzgemach. Ein eignes Kinderzimmer
[391] wird als etwas unentbehrliches betrachtet. Fuͤr
die Bediente ſind in allen Haͤuſern ſogenannte
Schwarzſtuben vorhanden, aber den weibli-
lichen Domeſtiken werden außerdem beſondere
Zimmer angewieſen. Alle dieſe Nothwendig-
keiten, mit dem zur Equipage gehoͤrigen Raum,
den Kellern *), Boͤden, Holzplaͤtzen, u. ſ. w.
machen ein ſo weitlaͤuftiges Ganze, daß in ei-
nem mittelmaͤßig großen Hauſe nur Eine bis
zwo Familien hinlaͤnglich Platz finden. Dies
iſt auch die Urſache, weswegen die Haͤuſer, die
man nicht fuͤr ſich, ſondern zum Vermiethen
baut, gewoͤhnlich von ſo außerordentlicher
Groͤße ſind. Die mehreſten derſelben bilden
ein Viereck, in welchem die Vorderſeite die
beſten Wohnungen enthaͤlt; in den Fluͤgelge-
baͤuden ſind gemeiniglich Wagenremiſen, Staͤlle
und Wirthſchaftszimmer angebracht; uͤber den-
ſelben finden ſich zuweilen wohlfeilere Wohn-
gelegenheiten.
B b 4
[392]
Ich kenne wenige große Staͤdte, in wel-
chen die Haͤuſer durchgaͤngig mit ſo ſorgfaͤlti-
ger Ruͤckſicht auf guten Geſchmack und Be-
quemlichkeit erbaut werden, als hier. Schoͤne,
breite, ſteinerne Treppen; hohe, geraͤumige
Zimmer; Balkons in den Saͤlen; gut ange-
brachte Fenſter mit großen hellen Glasſchei-
ben; geſchmackvolle Oefen und Kamine; par-
kettirte Fußboͤden, u. dergl. gehoͤren zu den
ſehr gewoͤhnlichen Erforderniſſen einer Woh-
nung. — Der Luxus, mit welchem die Haͤu-
ſer des Mittelſtandes moͤblirt ſind, grenzt an
den engliſchen, ſo wie der Geſchmack dieſer
Nation vorzuͤglich herrſchend iſt. Ueberall
ſieht man Moͤbeln von Mahagonyholze, deſſen
Verbrauch ſeit einiger Zeit ſo allgemein ge-
worden iſt, daß ſelbſt auf dem Markt fuͤr
Holzwaaren in Newski, wo nur geringe Leute
ihre Beduͤrfniſſe ſuchen, Tiſche und Schraͤnke
von dieſer Holzgattung feil geboten werden.
Lackirte Seſſel, Polſter mit Saffian oder Zitz
uͤberzogen, große Spiegel, marmorne Wandti-
ſche, kryſtallne Lampen und Kronleuchter,
Tiſchuhren, Fußteppiche, bemalte oder mit Ta-
peten bekleidete Waͤnde, u. ſ. w. alle dieſe
[393] Dinge ſind hier ſo alltaͤglich, daß ihr Daſeyn
gar keine Aufmerkſamkeit erregt. Dieſe Schil-
derung paßt nicht etwa nur auf die Lebensart
der hoͤhern und reichern Staͤnde, ſondern die
mehreſten Haͤuſer der Kaufleute und Staats-
bedienten, zum Theil auch der Kuͤnſtler und
Gelehrten, ja ſogar einzelner Handwerker ſind
auf keine ſchlechtere Weiſe eingerichtet. Der
Sinn fuͤr die Gemaͤchlichkeiten des Lebens und
fuͤr eine gewiſſe aͤußere Eleganz iſt ſo allge-
mein und der Wohlſtand der mehreſten Klaſſen
ſo groß, daß man fuͤr ſehr geſchmacklos oder
arm gehalten wird, wenn man in dieſer Gat-
tung des Luxus zuruͤckbleibt. Es iſt nicht zu
leugnen, daß der Anblick ſo niedlich aufgeputz-
ter Zimmer, als man ſie hier faſt in allen
Haͤuſern ſieht, eine angenehme Befriedigung
gewaͤhrt; aber noch gefaͤlliger iſt die große
Reinlichkeit, die ſich faſt uͤberall, vorzuͤglich
bey den Auslaͤndern, zu dieſer Eleganz geſellt.
Die glaͤnzende Politur aller Moͤbeln, die weiß-
geſcheuerten Fußboͤden und Treppen, die Farbe
der Neuheit und Friſche welche ſo ſorgfaͤltig
an allen Gegenſtaͤnden erhalten wird, er-
quicken das Auge hier um ſo mehr, da es
B b 5
[394] nicht ſelten in den niedern Klaſſen durch Sce-
nen des Ekels beleidigt wird.
Groͤßer noch als der Aufwand, den die
Petersburger in ihrer Wohnung und haͤusli-
chen Einrichtung machen, iſt der Tafelluxus,
der nach dem Urtheil aller Reiſenden hier wei-
ter getrieben wird, als in Wien und Ham-
burg. Eigentliche Gaſtmaͤhler ſind hier ſelt-
ner, und ſelbſt an ſolchen Tagen wo gebetne
Gaͤſte erſcheinen, laͤßt ſich der Reichthum un-
ſerer Tafeln nicht mit dem Ueberfluß verglei-
chen, der bey aͤhnlichen Gelegenheiten in Ham-
burg, mehr zum Prunk als fuͤr den Genuß
aufgetragen wird; aber der Petersburger hat
taͤglich eine wohlbeſetzte Tafel und iſt taͤglich
darauf eingerichtet, Gaͤſte zu empfangen und
zu bewirthen, da der Hamburger, außer ſei-
nen lange vorher angekuͤndigten Schmauſe-
reyen, ſich mit der ſogenannten Hausmanns-
koſt behilft und ohne foͤrmliche Einladung ſel-
ten oder niemals Beſuch zu Tiſche erwartet.
Der Luxus in dieſem Theil der Lebensart iſt
alſo nicht ſo auffallend, aber gewiß um deſto
groͤßer.
[395]
In der Zubereitung der Speiſen herrſcht
im Ganzen ein ſonderbares Gemiſch von deut-
ſcher, franzoͤſiſcher, engliſcher und ruſſiſcher
Kochart. Man ſieht auf einer und derſelben
Tafel halbrohen Roaſtbeaf, pikante Saucen,
zerkochtes Fleiſch und in Teig gebackene Fiſche.
Bey aller Zuſammenſetzung ſind dieſe Artikel
dennoch auf den feinſten Wohlgeſchmack be-
rechnet, und der Takt der Petersburger iſt
hierinn im Allgemeinen ſo ſicher, daß man
ſelbſt mit der eigenſinnigſten Gourmandiſe keine
Gefahr laͤuft, bey einer ſo buntbeſetzten Tafel
hungrig zu bleiben.
In den meiſten Haͤuſern beginnt die Mahl-
zeit mit einer kalten Schuͤſſel, auf welche die
Suppe, groͤßtentheils in franzoͤſiſchem Ge-
ſchmacke, folgt. An dieſe reihen ſich eine
Menge von Zwiſchenſpeiſen, bald auf dieſe,
bald auf jene Art zugerichtet; uͤberall ſehr viel
Fleiſch, welches man hier in jeder Gattung
von vorzuͤglicher Guͤte findet; Gemuͤſe nach
der Jahrszeit, das heißt, faſt immer einige
Wochen fruͤher, als es unter freyem Himmel
zur Reife gelangt, denn ſobald dies der Fall
iſt, erſcheint es in vielen Haͤuſern gar nicht
[396] mehr auf der Tafel; Fiſche von der leckerſten
Art und in der groͤßten Mannigfaltigkeit, ſo
wie ſie uns der Reichthum unſerer nahen und
entfernten Gewaͤſſer liefert — Stoffs genug
zu den ſchmackhafteſten Kompoſitionen! — Die
Liebhaberey fuͤr feſte nahrhafte Speiſen mag
ihren Grund wol in dem Klima, und bey den
Ruſſen auch in den Faſten haben, die ihnen
den Genuß des Fleiſches anziehender machen.
Auslaͤndiſche Leckereyen ſind ſelbſt in mittelmaͤ-
ßigen Haͤuſern nichts ſeltnes, da Petersburg
zu Waſſer damit verſorgt werden kann, und
der Markt oft ſo ſehr mit denſelben uͤberfuͤllt
wird, daß ſie unter ihren einheimiſchen Preis
fallen. Die Kultur der Gartengewaͤchſe iſt
ſeit einigen Jahren ſo weit gediehen, daß man
jetzt zu jeder Jahrszeit ſeinen Tiſch mit den
wohlſchmeckendſten Fruͤchten beſetzen kann,
wenn man im Stande iſt, den, freylich unge-
heuern, Preis zu bezahlen; wohlhabende Leute
verſorgen ſich mit dieſen Artikeln aus ihren
eigenen Treibhaͤuſern etwas wohlfeiler. —
Die Zahl der Schuͤſſeln richtet ſich uͤberall
nach dem Geſchmack eines Jeden, ohne von
irgend einem Etikettegeſetz beſtimmt zu werden.
[397] In ruſſiſchen Haͤuſern wird ſehr auf die Menge
der Speiſen geſehen; an den Tafeln der Aus-
laͤnder findet man deren wenigere, aber die
Auswahl iſt deſto ſorgfaͤltiger. Der Gebrauch,
zu jeder Zeit ungebetne Gaͤſte aufzunehmen,
zwingt jede Wirthinn ſich auf einige Kouverts
mehr gefaßt zu machen. — Kurz vor Tiſche
wird allezeit das ſogenannte Schaͤlchen *)
herumgereicht; in vielen, beſonders ruſſiſchen
Haͤuſern findet man eine beſondere Vorkoſt
dabey, die in kalten, ſalzigen und ſauren Spei-
ſen beſteht, und wovon Jeder im Herumge-
hen etwas genießt, um den Appetit zu reizen
und die Zwiſchenzeit auszufuͤllen. — Das ge-
woͤhnliche Getraͤnk bey Tiſche iſt Wein; ohne
dieſen kann man ſchlechterdings Niemanden
bey ſich aufnehmen, und ſein Verbrauch iſt
hier ſo allgemein, als in den Weinlaͤndern
ſelbſt. In vielen guten Haͤuſern wird nur
Eine Sorte aufgetragen; hin und wieder, wo
man den Ton der Vornehmern nachahmt, fol-
gen gegen das Ende der Mahlzeit feinere
[398] Weine. Porter und engliſches Bier findet
man ebenfalls beynah uͤberall; Meth und
Fruchtweine hingegen ſeltner und nur an ruſſi-
ſchen Tafeln.
Eins der koſtbarſten Beduͤrfniſſe fuͤr alle
Leute welche keine Guͤterbeſitzer ſind, iſt die
Bedienung. Nothwendigkeit und Sitte haben
den Gebrauch, viele Domeſtiken zu halten, all-
gemein gemacht. In den herrſchaftlichen Haͤu-
ſern, wo alle Bediente Leibeigene ſind, uͤber-
ſteigt ihre Anzahl oft allen Glauben; dieſes
Beyſpiel hat auf der einen Seite den Mittel-
ſtand zur Nachahmung gereizt, und auf der
andern unter dem Volk die Faulheit beguͤn-
ſtigt. Eben die haͤuslichen Beſchaͤftigungen,
zu welchen in Deutſchland Eine Magd hinrei-
chend iſt, erfordern hier wenigſtens drey Men-
ſchen. Weibliche Bediente werden zu keiner
Verrichtung gebraucht, bey welcher ſie in den
Prunkzimmern erſcheinen oder uͤber die Gaſſe
gehen muͤßten; ihre Beſtimmung iſt die Kuͤche,
die Waͤſche und die Wartung der Kinder.
Alle uͤbrige Dienſte werden durch maͤnnliche
Domeſtiken beſorgt. Faſt fuͤr jede Beſchaͤfti-
gung ſieht man ſich gezwungen einen eignen
[399] Menſchen zu halten, und dennoch ſind die For-
derungen dieſer Leute ſehr groß. Ein Bedien-
ter, der das Friſiren und Raſiren verſteht, er-
haͤlt zwoͤlf bis funfzehn Rubel monatlich; eine
Koͤchinn fuͤnf bis ſechs und mehr, nebſt freyer
Koſt. Alle Dienſtkontrakte werden auf den
Termin eines Monats geſchloſſen; dieſer Um-
ſtand, die große Leichtigkeit wieder in Dienſt
zu kommen, und die Entbehrlichkeit eines Zeug-
niſſes uͤber das Wohlverhalten ſind die Haupt-
urſachen der ſchlechten Beſchaffenheit des hie-
ſigen Geſindes, uͤber welches Jedermann klagt.
— Alle dieſe Unbequemlichkeiten treffen dieje-
nigen weniger, welche Erbleute beſitzen oder
kaufen duͤrfen; letzteres iſt ein Vorrecht, wel-
ches nur dem Adel und den Militair- und
Civilbedienten vom Oberoffiziersrange zuſteht.
Der Mittelpreis eines jungen Kerls iſt 300,
der eines Maͤdchens 100 Rubel.
Die mannigfaltigen Maͤngel des hieſigen
Lehnfuhrwerks, vorzuͤglich der Dreſchken, ver-
urſachen, daß es nur ein Behelf fuͤr die nie-
drigern und aͤrmern Volksklaſſen iſt, da man
es fuͤr unanſtaͤndig haͤlt, ſich derſelben zu jeder
Zeit zu bedienen. Natuͤrlich wird hiedurch das
[400] Beduͤrfniß, eigne Equipage zu halten, ſehr
groß, und gewiß giebt es in keiner Stadt von
Europa nach Verhaͤltniß deren ſo viele als
hier. Selbſt unverheyrathete Leute vom bon
Ton halten Pferde und Wagen, und bey der
Einrichtung eines Hausſtandes iſt dies einer
der weſentlichſten Artikel. Fuͤr jeden, der durch
Geſchaͤfte genoͤthigt wird, oft außer dem Hauſe
zu ſeyn, iſt nichts unentbehrlicher.
Um eigne Equipage zu unterhalten, hat
man nicht noͤthig, Pferde zu kaufen, und ſich
den Verdruͤßlichkeiten auszuſetzen, die mit der
Beſorgung derſelben verknuͤpft ſind. Faſt alle
unverheyrathete Leute und ſehr viele herrſchaft-
liche Haͤuſer und Familien miethen ſolche mo-
natlich von den Iswoſchtſchicks; eine Einrich-
tung, die außer vielen andern Vortheilen auch
dieſen hat, daß man die Pferde weniger ſcho-
nen darf. Der Miethpreis fuͤr ein paar
Pferde iſt itzt auf 40 bis 45 Rubel geſtiegen;
wer keinen eignen Wagen beſitzt, muß fuͤr bey-
des 70 bis 80 Rubel bezahlen.
Da es faſt gewoͤhnlicher iſt, mit Mieth-
pferden zu fahren, als ſelbſt welche zu halten,
ſo ſieht man, einzelne Gallatage ausgenommen,
wenige
[401] wenige durchaus ſchoͤne Equipagen. Selbſt die
Großen und Reichen fahren haͤufig mit Mieth-
pferden, um bey weiten Wegen, bey ſchlechtem
Wetter und bey der außerordentlichen Schnel-
ligkeit mit welcher man hier faͤhrt, ihrer beſ-
ſern und theuern Pferde zu ſchonen. Daher
iſt es auch ein gewoͤhnlicher Anblick, einen
praͤchtigen oder eleganten Wagen mit vier bis
ſechs elenden Maͤhren beſpannt zu ſehen, die
oft von ungleicher Farbe, und ſtatt des Ge-
ſchirrs mit Stricken an den Wagen gebunden
ſind. Unter dem Kutſcherbock ragt ein Buͤn-
del Heu hervor, weil die Miethpferde ſelten
abgelaſſen werden, ſondern den ganzen Tag
und oft die halbe Nacht auf der Gaſſe und
an den Haͤuſern halten muͤſſen. Nicht ſelten
kontraſtirt der zerriſſene ſchmutzige Kittel des
Iswoſchtſchiks mit der praͤchtigen Livree hin-
ter dem Wagen. An feſtlichen Tagen hinge-
gen wird die Menge geſchmackvoller ſchoͤner
Equipagen ſichtbar. Die Großen fahren als-
dann haͤufig mir deutſchen Zuͤgen; aber auch
der ruſſiſche Anſpann faͤllt ſehr vortheilhaft ins
Auge, wenn er gut und ſauber iſt.
Zweiter Theil. C c
[402]
Da die Anzahl der Pferde, welche man in
der Stadt vorſpannen darf, ſich nach dem
Range beſtimmt, den Jeder bekleidet, ſo hat
der Luxus den Gebrauch, mit mehr als zweyen
zu fahren, bey den hoͤhern Staͤnden allgemein
gemacht. Nirgend ſieht man haͤufiger ſechs-
ſpaͤnnige Equipagen als hier. Jedes Paar
Pferde hat einen Vorreiter; dies ſind durchge-
hends kleine Jungen von acht bis zwoͤlf Jah-
ren, die gegen die auslaͤndiſche Sitte gewoͤhn-
lich auf dem Pferde rechter Hand ſitzen, und
durch ein unaufhoͤrliches Geſchrey aus voller
Kehle die Voruͤbergehenden und Fahrenden
auf ihren Weg aufmerkſam machen. Das
Loos dieſer kleinen Geſchoͤpfe iſt ſehr hart; ſie
kommen oft den ganzen Tag nicht vom Pferde
und muͤſſen dem Ungeſtuͤm der herbſten Witte-
rung trotzen. Der Kutſcher traͤgt, nach ruſſi-
ſcher Sitte, einen langen Bart; anfangs ſtoͤßt
ſich das Auge hieran, aber die Gewohnheit
macht dieſen Anblick bald ertraͤglich. — Wahr-
ſcheinlich faͤhrt man in keiner Stadt ſo ſchnell
als hier; es iſt nichts ungewoͤhnliches, einen
Wagen mit Sechſen im geſtreckten Gallop
durch die Straßen jagen zu ſehn.
[403]
Nach ſo vielen Zeugniſſen uͤber den Luxus
der in allen Theilen der petersburgiſchen Le-
bensart herrſcht, wird man zum Voraus er-
warten, daß die Bewohner der Reſidenz auch
im Kleideraufwande nicht zuruͤckgeblieben ſind.
In der maͤnnlichen Kleidung iſt ſeit einigen
Jahren der engliſche Geſchmack herrſchend.
In allen Geſellſchaften kann man im Frak und
Gillet erſcheinen, einzelne Faͤlle ausgenommen,
wo die Achtung gegen Hoͤhere eine etikettemaͤ-
ßige Kleidung erfordert. So bequem dieſe
Sitte ſcheint, ſo koſtſpielig iſt ſie doch, wegen
des ſchnellen Wechſels der Moden, wenn man
den kindiſchen Ehrgeiz hat, dieſen uͤberall fol-
gen zu wollen. Nirgend jedoch iſt dieſe Thor-
heit weniger verfuͤhreriſch als hier, da Jeder-
mann ſich nach ſeiner Laune kleiden kann, ohne
laͤcherlich zu werden. Neue Trachten die an
Uebertreibung graͤnzen, werden nicht leicht all-
gemein, und uͤberhaupt beobachtet das weibli-
che ſowol als das maͤnnliche Publikum im
Ganzen hierinn ein gewiſſes Dekorum, das
ihm in den Augen aller vernuͤnftigen Beobach-
ter ſehr zur Ehre gereicht. Die groteske
Pracht, in welcher ſich die Stutzer einiger
C c 2
[404] deutſchen Reſidenzen noch immer ſo wohl ge-
fallen, iſt hier ſchon laͤngſt aus allen Zirkeln
des Mittelſtandes verbannt, und wird nur
von den Großen des Hofes, und auch von die-
ſen nur als eine laͤſtige aber konventionelle
Sitte beybehalten, die man durch einen beſſern
Geſchmack zu veredeln ſucht.
Die gewoͤhnliche Kleidung in welcher Un-
tergebene vor ihren Chefs erſcheinen, oder
Niedere Hoͤheren die Cour machen, iſt die pe-
tersburgiſche Statthalterſchaftsuniform: ein
hellblauer Rock mit ſchwarzen Aufſchlaͤgen,
gelben Knoͤpfen und weißen Unterkleidern.
Ehemals ſah man ſie auch haͤufig in Geſell-
ſchaften; aber jetzt gehen Offiziere ſowol als
Civilbeamte lieber im Frak, weil ſie auf dieſe
Weiſe weniger ausgezeichnet und weniger ge-
nirt ſind.
In der Kleidung und dem Putz der Frau-
enzimmer herrſcht wie billig ein groͤßerer Auf-
wand. Die engliſche Simplicitaͤt hat zwar
den Gebrauch der theuren ſeidnen Stoffe ver-
draͤngt, aber ohne Gewinn fuͤr den Beutel der
Vaͤter und Maͤnner, weil die weiſſen engli-
ſchen und oſtindiſchen Zeuge ihrer Farbe und
[405] geringen Haltbarkeit wegen um ſo ſchneller
verſchleißen. Der groͤßte Luxus der Damen
ſcheint in ihrem Kopfputz zu herrſchen. Die
große Anzahl der Putzmacherinnen, vor deren
Laͤden man oft zehn und mehrere Wagen ſieht,
der ungeheure Preis mit welchem ſie ſich ihre
leichten Fabrikate bezahlen laſſen, der ſchnell-
errungene Reichthum Einiger und die Banke-
rotte Anderer berechtigen zu der Vermuthung,
daß durch dieſen Zweig der weiblichen Beduͤrf-
niſſe ungeheure Summen in Cirkulation ge-
ſetzt werden muͤſſen.
Da alles ſich der Simplicitaͤt naͤhert, ſo
nimmt auch die Mode, ſich mit glaͤnzenden
Steinchen zu ſchmuͤcken, im Mittelſtande all-
maͤhlig ab. Der gute Geſchmack der peters-
burgiſchen Damen und ihr feiner Sinn fuͤr
Eleganz und Grazie geben ihnen hinreichende
Mittel an die Hand, dieſen koſtbaren Schmuck
durch kunſtloſere und gefaͤlligere Nippes zu
erſetzen.
Eine ſo kurze und gedraͤngte Schilderung
der Lebensart des Mittelſtandes kann natuͤrlich
nur ſehr unvollſtaͤndig ſeyn: aber ſelbſt in die-
ſen leicht hingeworfenen Zuͤgen erkennt man
C c 3
[406] den Luxus und das Wohlleben, die den Haupt-
karakter derſelben beſtimmen. Es gehoͤrt, um
mich eines vulgaren Ausdrucks zu bedienen,
hier ſehr viel zum Leben; die Lokalbeſchaffen-
heit und das Klima der Reſidenz erzeugen
eine Menge Beduͤrfniſſe, die man an andern
Orten wenig kennt; aber unſer Hang zur
Gemaͤchlichkeit, der durch einen ziemlich allge-
meinen Wohlſtand beguͤnſtigt und durch das
Beyſpiel der Großen und Reichen aufgereizt
wird, vervielfaͤltigt die Nothwendigkeiten des
Lebens ſo ſehr, daß ſelbſt Auslaͤnder den Maaß-
ſtab leicht verlieren, nach welchem ſie zu Hauſe
die Grenze des Noͤthigen und Entbehrlichen
abzumeſſen gewohnt waren. Der Luxus der
hier in allen Zweigen der Lebensart herrſcht,
weit entfernt von dem Vorfall den man ihm
ſchon ſeit mehreren Jahrzehenden prophezeyht,
wird durch viele zuſammentreffende Urſachen
noch immer im Steigen erhalten, und es iſt
nicht zu leugnen, daß er bey manchen Staͤn-
den im Ganzen die Kraͤfte der Individuen
uͤberſteigt. Nur noch einige Schritte weiter,
und der beſſere Theil des minder wohlhaben-
den Publikums wird ſich zu einer oͤffentlichen
[407] Entſagung bequemen, die ſich ſchon izt im
Stillen vorbereitet, zu der man ſich aber, ohne
die aͤußerſte Noth, ſchwerlich entſchließt. Bis
dahin zwingt die Lage der Dinge einen gro-
ßen — vielleicht den groͤßten Theil des Mit-
telſtandes zu der Gattung von Lebensart, die
man in Frankreich ſauver les apparences
nennt: ſtrenge Sparſamkeit im Innern, und
anſtaͤndiger Aufwand bey allem was ins Auge
faͤllt.
Es wird vielleicht manchem Leſer intereſſant
ſeyn, zu wiſſen, wie viel zur anſtaͤndigen Un-
terhaltung einer Familie in dieſer Reſidenz ge-
hoͤrt. Aehnliche Berechnungen uͤber London,
Paris und Wien, die in den Haͤnden des Pu-
blikums ſind, koͤnnen zu einer Vergleichung
des verhaͤltnißmaͤßigen Koſtenaufwandes die-
nen, den eine gleich weit von Ueberfluß und
Mangel entfernte Haushaltung an dieſen Or-
ten erfordert. — Eine Familie von vier bis
fuͤnf Perſonen, die zwar nicht in den beſten,
aber doch auch in keinem der aͤußerſten Stadt-
theile und hier ſehr anſtaͤndig wohnt — einen
haͤuslichen, gutverſehenen und allen Hausfreun-
den offenen Tiſch fuͤhrt — ſich einfach, aber
C c 4
[408] doch nach allgemeiner Sitte kleidet — und et-
wa fuͤnf Domeſtiken nebſt einem Wagen und
zwey Pferden unterhaͤlt: bedarf, nach einem
ſorgfaͤltigen und genauen Ueberſchlage und un-
ter Vorausſetzung der ſtrengſten Sparſamkeit,
etwa folgende Summen zu ihren großen Be-
duͤrfniſſen.
- Tafel und Getraͤnke _ _ 1000 R.
- Miethe _ _ 400 —
- Holz und Licht _ _ 150 —
- Bedienung _ _ 300 —
- Equipage _ _ 400 —
- Kleidung _ _ 300 —
- Erziehung zweyer Kinder _ _ 400 —
- 2950 R.
Man ſieht leicht, wie viel fuͤr unberechnete
zufaͤllige Ausgaben und Vergnuͤgungen dieſer
Summe noch hinzugefuͤgt werden muß, und
daß es ſehr ſchwer haͤlt, mit einer Familie an-
ſtaͤndig und ohne Sorgen zu leben, wenn man
nicht wenigſtens auf eine Einnahme von vier-
tehalbtauſend Rubeln Rechnung machen kann.
Dieſer Kalkul wird vielleicht manchen meiner
[409] Leſer befremden, der ſich aus ſeiner Statiſtik
an die Gehalte des ruſſiſchen Civil- und Mi-
litairetats, und aus ſeinen Reiſebeſchreibern
und ſelbſt aus dieſem Buch an die Lebensart
eines großen Theils deſſelben erinnert. Um
dieſes Raͤthſel zu loͤſen, muß man wiſſen, daß
in keinem Lande die Nebeneinkuͤnfte und Reſ-
ſourcen buͤrgerlicher Aemter und hoͤherer mili-
tairiſcher Stellen ſo groß ſind, als in Ruß-
land. Es gehoͤrt freylich Talent dazu, dieſe
Vortheile zu kennen und mit Geſchicklichkeit
zu benutzen; aber wem ſeine Unempfaͤnglichkeit
dieſen Weg zum Gluͤck verſchließt, der ſucht
ſich auf andern, mehr oder minder betretnen
Pfaden fortzuhelfen. Ueberall ſind große
Staͤdte ſeltſamen Unternehmungen und kuͤhnen
Abentheuern guͤnſtig, und nirgend vielleicht ge-
deiht ein lebhafter erfinderiſcher Geiſt ſo gut
als hier. Schnelle, außerordentliche Gluͤcks-
wechſel ſind etwas alltaͤgliches, und Peters-
burg wimmelt von Parvenuͤ’s, denen bey ihrer
Geburt keine Muhme das Horoskop ihres
Schickſals geſtellt haben mag. — Noch giebt
es eine Klaſſe von Leuten, welche, entbloͤßt
von Gluͤcksguͤtern und bey eingeſchraͤnkten Be-
C c 5
[410] ſoldungen, ohne auf der breiten Heerſtraße
Nebeneinkuͤnfte zu ſuchen, den aͤußern Anſtand
und ſelbſt zum Theil den Modeton in ihrer
Lebensart halten. Bey dieſen erſetzt eine große
Sparſamkeit und jene Kunſt, die Außenſeite
zu retten, den Ueberfluß, der in einer unklugen
Wirthſchaft ohne Genuß und ohne bemerkt zu
werden verfliegt. Der große Vortheil, deſſen
ſich viele unter ihnen erfreuen, indem ſie Woh-
nung, Licht und Holz von der Krone erhalten,
vermindert ihre Ausgaben um eine ſehr ſtarke
Rubrik; mit einigen Stellen iſt auch der Vor-
theil der freyen Bedienung verknuͤpft. Der
Erziehung ihrer Kinder koͤnnen ſie ſich, wenn
ſie ihnen laͤſtig wird, ſehr leicht entledigen,
denn die Kinder aller im Range eines Ober-
offiziers ſtehenden Beamten haben Anſpruch
an die Aufnahme in die kaiſerlichen Inſtitute.
Dieſe und andere Bequemlichkeiten ſetzen die
Familien der Staatsbedienten in den Stand,
mehr auf das Aeußere zu wenden; der groͤßte
Theil derſelben erſcheint daher unter einem
vortheilhaftern Geſichtspunkt, als eine naͤhere
Kenntniß der wahren Lage erwarten laͤßt.
[411]
Die Ausnahmen, welche die aͤrmere Klaſſe
des Mittelſtandes von der angefuͤhrten Berech-
nung macht, ſind kaum ſo zahlreich als die der
reichern. Man werfe nur in Geſellſchaften
die Frage auf: wie viel zur Beſtreitung einer
eingeſchraͤnkten aber anſtaͤndigen Wirthſchaft
gehoͤre? und man wird einſtimmig eine viel
groͤßere Summe nennen hoͤren, als ich in An-
ſchlag gebracht habe. Ein Beweis, daß die
Beduͤrfniſſe und Ausgaben der Mehreſten ſich
uͤber jene Berechnung hinaus erſtrecken. Unter
dem geringen Adel, unter beguͤterten Kronbe-
dienten und Kaufleuten giebt es wenige Haͤu-
ſer, die nicht fuͤnf bis ſechstauſend Rubel ver-
zehren; einigen giebt das Geruͤcht eine Haus-
haltung von mehr als zwanzigtauſend Ru-
beln.
Sehr intereſſant iſt es, ſich von alten Leu-
ten eine Ueberſicht der ſchnellen Veraͤnderung
des hieſigen Tons und der Lebensart des Mit-
telſtandes geben zu laſſen. — Wo biſt du hin-
geflohen, gute goldne Zeit, da der erſte Mini-
ſter des ruſſiſchen Reichs in dem hoͤlzernen
Haͤuschen wohnte, welches jetzt einem Kauf-
mann zur laͤndlichen Behauſung dient! da ein
[412] Beamter ſich gluͤcklich duͤnkte, wenn ſein Ge-
halt fuͤnfhundert Rubel betrug, und da dieſe
zur Ernaͤhrung einer Familie hinreichend wa-
ren! da der reichſte Bankier in ſeiner einſpaͤn-
nigen Kariole an die Boͤrſe fuhr und unſere
Damen ihre Viſiten zu Fuß ablegten! —
Nirgend vielleicht hat der Luxus mit der Ver-
feinerung der Sitten ſo gleichen Schritt ge-
halten; nie hat ein Publikum den Kreislauf
von der hoͤchſten Simplicitaͤt bis zum hoͤchſten
Raffinement des Lebensgenuſſes ſo ſchnell
durchlaufen.
Genuß iſt die große Loſung, das Ziel aller
Thaͤtigkeit, der Sporn alles Wetteifers, die
Axe um welche ſich unſer taͤglicher Lebensgang
dreht. Ein Theil des Publikums freylich ar-
beitet, um zu genießen; aber auch ein ſehr
großer Theil genießt, ohne zu arbeiten. Selbſt
der beſchaͤftigte Petersburger wuͤrde erſchrecken,
wenn er ſein Tagewerk mit der Laſt verglei-
chen koͤnnte, die in andern Laͤndern den Ruͤcken
der arbeitenden Klaſſe von Staatsbuͤrgern
kruͤmmt.
Der Tag beginnt fuͤr die feinere Welt zu
ſehr verſchiedenen Zeiten. Es iſt noch fruͤh,
[413] ſagt der Kaufmann, wenn er ſich um neun
oder zehn Uhr Vormittags in ſeinem weichen
Lager dehnt, unterdeſſen der Bedienſtete und
der Sollicitant ſchon ſeit ſechs Uhr im Vorzim-
mer ihrer Chefs und Patrone warten. Das
Leben in den Straßen, die Thaͤtigkeit des ge-
meinen Volks, richtet ſich im Winter nach dem
Anbruch des Tages; im Sommer lockt der
ſchoͤne Morgen und die kaum untergehende
Sonne manchen traͤgen Staͤdter fruͤher aus
dem Bette, und der Rauch draͤngt ſich ſchon
aus den Schornſteinen, wenn im Winter um
die naͤmliche Zeit noch Alles in tiefem Schlum-
mer begraben liegt. Sobald das Fruͤhſtuͤck und
die Toilette beendigt ſind, faͤngt der Vormit-
tag an, die Zeit der eigentlichen Geſchaͤfte.
Alles was geſucht und betrieben werden ſoll,
muß in dieſem Zeitraum, bis zur Mittagsta-
fel, geſchehen: das Gewuͤhl in den Gaſſen und
die Stille in den Haͤuſern iſt niemals groͤßer
als in dieſen Stunden. Unterdeſſen die maͤnn-
liche Haͤlfte der Einwohner ſich den Geſchaͤften
weiht und buͤrgerliche Frauen der Wirthſchaft
und ihrem Hausweſen obliegen, laͤßt ſich der
hoͤhere Theil des weiblichen Publikums durch
[414] die Gaſſen rollen, um neue Putzhaͤndlerinnen
aufzufinden und Morgenbeſuche zu machen.
Der Stutzer, dies zweydeutige Geſchoͤpf, das
von keinem Geſchlecht ausgeſchloſſen werden
darf und zu keinem gehoͤrt, promenirt unter-
deſſen durch Buchlaͤden und Magaſins, um
fuͤr die Geſellſchaft des Tages neumodiſche
Nippes und Gedanken zu ſammeln. Im
Fruͤhling und Herbſt werden die Kays und der
Sommergarten das Rendezvous der muͤſſigen
Welt aus den hoͤheren Staͤnden.
Unter dieſen mannigfaltigen Beſchaͤftigun-
gen ruͤckt die Mittagsſtunde heran, und jeder
Zweck, jedes Intereſſe verſchmilzt in dem kos-
mopolitiſchen Gedanken: zu ſchmauſen und
ſchmauſen zu laſſen. Jetzt ſetzt ſich das zahl-
reiche Heer der dineurs en ville in Bewe-
gung und die Geſellſchaftsſaͤle fuͤllen ſich an.
In den meiſten Haͤuſern ſetzt man ſich um
zwey Uhr zur Tafel; einzelne Kaufleute ſpei-
ſen vor, die mehreſten aber nach der Boͤrſe,
das heißt, zwiſchen drey und vier Uhr Nach-
mittags. Englaͤnder und die fuͤr ſolche gelten
wollen, halten ihre Mittagstafel auch wol
Abends um fuͤnf; ſo daß man gar fuͤglich an
[415] Einem Tage in drey Haͤuſern zu Mittage ſpel-
ſen kann. — Die Dauer der Mahlzeiten rich-
tet ſich natuͤrlich nach der Menge der Schuͤſ-
ſeln, der Ergiebigkeit des Geſpraͤchs und dem
hie und da eingefuͤhrten Gebrauch; aber ſel-
ten ſind ſie unter drey bis vier Stunden been-
digt, weil nach Tiſche die Unterhaltung beym
Kaffee noch eine Zeitlang fortgeſetzt wird. —
Der Nachmittag, oder welches hier einerley
iſt, der Abend iſt nur in dringenden Faͤllen
Geſchaͤften gewidmet. Wo die Geſellſchaft
beyſammen bleibt, werden ſogleich die Karten
ausgeboten, mit welchen man ſich bis zum
ſpaͤten Souper unterhaͤlt. Gewoͤhnlich aber
entfernen ſich die Mittagsgaͤſte bald nach Ti-
ſche, und ſpaͤterhin verſammelt ſich ein neuer
Zirkel zum Thee und zur Abendtafel. In die-
ſen Stunden ſind wenigſtens neun Zehntheile
des geſelligen Publikums an Kartentiſchen be-
ſchaͤftigt. Um Mitternacht, oder in Haͤuſern
wo eine regelmaͤßige Lebensart herrſcht, um
zehn Uhr, beginnt das Souper, bey welchem
der Luxus einen Ueberfluß eingefuͤhrt hat, der
fuͤr eine entbehrte Mittagsmahlzeit hinlaͤnglich
entſchaͤdigen koͤnnte. Der Augenblick in wel-
[416] chen das Souper geſchloſſen wird, iſt das Sig-
nal des Aufbruchs fuͤr die Geſellſchaft. Um
dieſe Zeit rollen die Wagen in allen Gaſſen,
und brechen die oͤde Stille, in welche die
Stadt, beſonders im Winter, waͤhrend der
dunkeln Abende, einige Stunden hindurch be-
graben liegt.
So iſt der taͤgliche Lebensgang des groͤßten
Theils der Menſchen, die ſich zu den feinern
und hoͤhern Staͤnden rechnen. Viele Haͤuſer
ſtehen taͤglich zum Beſuch offen; in andern
ſind gewiſſe Wochentage der Geſellſchaft be-
ſtimmt. In dieſen verſammelt ſich ein ge-
ſchloſſener Zirkel von Bekannten und Freun-
den, in jenen iſt jeder Gaſt willkommen, der
durch einen Bekannten eingefuͤhrt wird. Wer
geſtern in ſeinem Hauſe Geſellſchaft hatte,
geht heute zu ſeinem Freunde; ein Wirbel
von Zerſtreuungen reißt Jeden mit ſich fort,
der Theil nehmen will oder kann; das Leben
gleicht einem fortwaͤhrenden Rauſche, aus wel-
chem man nur zuweilen erwacht, um von
neuem nach dem Becher zu greifen, und nur
der Sonderling oder der Mann von Grund-
ſaͤtzen ſteht außerhalb dem magiſchen Kreiſe
und
[417] und ſieht dem allgemeinen Taumel mit Mit-
leiden oder Verwunderung zu.
Ueber den Umfang der hieſigen Gaſtfrey-
heit iſt in dieſem Buche ſchon vieles geſagt;
hier iſt der Ort, etwas uͤber die Art, wie ſie
ausgeuͤbt wird und uͤber die Quelle derſelben
hinzuzufuͤgen. Man kann dreiſt behaupten,
daß dieſe edle Tugend der Vorzeit in keiner
großen Stadt von Europa in ſo unbeſchraͤnk-
tem Maaße ausgeuͤbt wird, als hier; ein
Zeugniß, welches durch die dankbare Beyſtim-
mung aller Fremden, die ſich hier eine kuͤrzere
oder laͤngere Zeit aufgehalten haben, bewaͤhrt
wird. Der Urſprung dieſer wohlthaͤtigen
Sitte iſt ohne Zweifel national; aber die Pe-
tersburger haben ſich von ſo vielen Gebraͤu-
chen und Gewohnheiten ihres ruſſiſchen Va-
terlandes losgeſagt, daß man mit Recht ein
ſtaͤrkeres Motiv, als die Achtung fuͤr das Her-
kommen, annehmen muß, um ſich die Beybe-
haltung einer ſo koſtſpieligen Nationaltugend
zu erklaͤren. Dieſes Motiv iſt der Hang zur
Geſelligkeit, der die Petersburger, faſt ohne
Ausnahme, beherrſcht; ein Karakterzug, der
ihnen ebenfalls gar ſehr zur Ehre gereicht, da
Zweiter Theil. D d
[418] er oft die Quelle edler und menſchlicher Ge-
fuͤhle und Handlungen wird. Es hieße jedoch
zu viel gefordert, wenn man uͤberall, beym
großen Haufen ſowol, als bey dem feinern
und gebildetern Theile des Publikums jenes
Motiv in aller Lauterkeit aufſuchen wollte.
Leerheit des Kopfs und des Herzens, Unbe-
kanntſchaft mit ſtillen geiſtigen Erholungen,
Durſt nach Unterhaltung, das Vergnuͤgen zu
ſehen und geſehen zu werden, die Abſicht Ver-
bindungen zu ſtiften, der Hang zum Spiel
und hundert andre edlere und niedrigere Zwecke
treiben hier ſo gut wie anderswo die Menſchen
zu einander, weil ſie hier ſo gut wie anderswo
— Menſchen ſind. So ſtark und dringend
aber auch der Ruf zur Geſelligkeit ſeyn moͤch-
te, ohne die Mittel ihn zu befriedigen, wuͤrde
der innere Zug und das aͤußere Verhaͤltniß
vergebens zu ſeinem Vortheile wirken. Eine,
wenigſtens bey den mehreſten Klaſſen, allge-
mein verbreitete Wohlhabenheit erleichtert den
Petersburgern den vorzuͤglichſten Zweck ihres
Treibens und Seyns: geſellſchaftlichen Ge-
nuß. Ohne dieſen gluͤcklichen Umſtand wuͤrde
die Tugend der Geſelligkeit einer lebloſe
[419] Schoͤnheit gleichen, deren Reize Bewunderung
einfloͤßen koͤnnten, ohne Empfindung und Theil-
nahme zu erregen. Beguͤnſtigt wie wir ſind,
erhebt ſie ſich zu einer Gottheit, auf deren
Altar Jeder opfert, und die dafuͤr mit milder
Hand jedem Sterblichen ſeinen Genuß zu-
theilt. Der Reiche und der Arme gehen zu
gleichen Theilen; jener giebt, dieſer empfaͤngt,
und beyde genießen.
Die Geſelligkeit hat hier einen ganz an-
dern Karakter, als in den meiſten Laͤndern
von Europa, deren Sitten und Gebraͤuche wir
kennen. Sie wurzelt nicht etwa bloß unter
Freunden und genauen Bekannten, wie in Eng-
land, wo die Geſelligkeit eigentlich gar nicht,
die Freundſchaft hingegen deſto mehr zu Hauſe
zu ſeyn ſcheint. Sie ſchraͤnkt ſich nicht bloß
auf Unterhaltung ein, wie in Deutſchland,
wo man mit geſaͤttigter Seele und hungri-
gem Magen ſich gegen die Zeit der Abend-
mahlzeit trennt, oder wo ſich ein ganzer Zir-
kel zum Genuß einer Taſſe Kaffee verſammelt.
Unſere Geſelligkeit beſteht im gemeinſchaftli-
chen Genuß aller Freuden des Lebens. Nur
Geſchaͤfte und Sorgen behaͤlt man fuͤr ſich
D d 2
[420] und ſeine Vertraute; alles uͤbrige iſt ein ge-
meinſchaftliches Eigenthum, das dem Haupt-
intereſſenten weniger als ſeinen Mittheilhabern
zu gehoͤren ſcheint. Nicht etwa die leeren
Stunden, die man ſonſt zwiſchen Wachen und
Schlaf hinbringen muͤßte; nicht etwa einzelne
feſtliche Tage, an denen die Kargheit ſich mit
dem Mantel des anſtaͤndigen Aufwandes
ſchmuͤckt; nicht die Ueberbleibſel eigennuͤtziger
Schwelgerey opfert man dem geſelligen Ge-
nuß: nein, alle von Arbeit und Sorgen be-
freyte Augenblicke, jeder frohe Tag und jeder
gute Biſſen ſind der Theilnahme gewidmet.
Die eigentliche Zeit, da der wohlhabende
Petersburger am liebſten Beſuch erwartet, iſt
gerade die, welche man in Deutſchland zum
Beyſpiel am ſorgfaͤltigſten vermeidet: die Zeit
der Mittags- und Abendtafel. Hier iſt Jeder-
mann leichter an Sorgen und offner ums
Herz, freyer von allen Geſchaͤften und aufge-
legter zur Unterhaltung. Wer einmal in ei-
nem Hauſe vorgeſtellt iſt, hat auf immer Zu-
tritt, wenn er gefaͤllt. Gewoͤhnlich entſcheidet
dies ſchon der erſte Beſuch; denn wenn beym
Abſchiednehmen keine weitere Einladung er-
[421] folgt, ſo iſt es rathſam, eine ſolche Bekannt-
ſchaft nicht zu kultiviren. Iſt der Gaſt dem
Wirthe angenehm, ſo zeigt dieſer Jenem zu
Ende des erſten Beſuchs ſeine Geſellſchafts-
tage an, wenn er welche haͤlt, oder bittet ihn,
ſein Haus recht oft zu beſuchen. Ein junger
Mann der nur einiges Talent fuͤr die Geſell-
ſchaft hat, ſieht ſich in Petersburg der Sorge
fuͤr ſeine Wirthſchaft ganz uͤberhoben; wer in
ſechs bis acht guten Haͤuſern bekannt iſt, kann
taͤglich auf Koſten ſeiner Freunde und in ſehr
angenehmen Zirkeln ſpeiſen. Dieſe Lebensart,
die unter unverheyratheten Leuten aller Staͤnde
uͤberaus allgemein iſt, fuͤhrt ſchlechterdings
nichts Veraͤchtliches mit ſich. Der Aufwand
in der Kleidung den ſie nothwendig macht
und das Spiel zu welchem ſie verleitet, wie-
gen den Vortheil auf, den das Paraſitenleben
fuͤr den Beutel hervorbringen koͤnnte. Hiezu
kommt das Beduͤrfniß der Geſellſchaft, wel-
ches die mehreſten Petersburger ſo lebhaft
empfinden. Wenn alle unverheyrathete Maͤn-
ner ihre eigne Kuͤche halten oder in Gaſthoͤfen
ſpeiſen wollten, ſo wuͤrde der groͤßte Theil der
guten Haͤuſer oͤde und leer ſeyn. Kein fuͤrch-
D d 3
[422] terlicheres Geſchenk fuͤr unſere eleganten Zir-
kel, als die Einſamkeit!
So groß die Geſelligkeit und Gaſtfreyheit
in Ruͤckſicht auf die eben bezeichnete Klaſſe
von Menſchen iſt, ſo viele Einſchraͤnkungen
leidet ſie doch unter Familienbekanntſchaften
und verheyratheten Leuten. Da jedes Haus
ſeinen eigenen Zirkel verſammelt, ſo bleibt den
wenigſten Familien Zeit und Beduͤrfniß genug
uͤbrig, Geſellſchaften außer dem Hauſe zu ſu-
chen. Der Unterſchied der Lebensart und des
Aufwandes ſetzt ebenfalls eine Scheidewand
und trennt oft Menſchen, die lange im ver-
traulichſten Umgange lebten. Viele, die als
garçons in großen und reichen Haͤuſern taͤg-
liche Gaͤſte waren, ſehen ſich, wenn ſie heyrathen,
gezwungen, dieſe Bekanntſchaften abzubrechen,
weil ſie nicht gleichen Schritt im Aufwande
halten koͤnnen. Dieſe kleinen Verhaͤltniſſe, de-
ren Aufzaͤhlung manchem Leſer hier unbedeu-
tend ſcheinen moͤchte, haben einen entſcheiden-
den Einfluß auf den geſellſchaftlichen Ton, und
geben ihm ein eignes karakteriſtiſches Ge-
praͤge. Natuͤrlich beſteht der groͤßte Theil aller
Zirkel aus Mannsperſonen, da unverheyrathete
[423] Frauenzimmer keine Beſuche geben, und die
verheyratheten Geſellſchaft bey ſich erwarten;
oft iſt die Frau vom Hauſe die einzige Dame
an einem Tiſche von zehn bis zwanzig Perſo-
nen. Dieſes Uebergewicht welches die Maͤn-
ner bey weitem in den mehreſten Geſellſchaften
haben, giebt der Unterhaltung eine ernſthaftere
Richtung. Politik und Geſchaͤfte ſind der
große Gegenſtand aller Tiſchgeſpraͤche, und die
Damen ſehen ſich gezwungen, an dieſer Kon-
verſation Theil zu nehmen, oder gaͤnzlich zu
ſchweigen. Die kleinen Aufmerkſamkeiten, mit
welchen das ſtaͤrkere Geſchlecht in andern Laͤn-
dern dem ſchwaͤchern zu huldigen pflegt, wer-
den hier oft gar ſehr vernachlaͤſſigt, und die
natuͤrliche Folge iſt, daß die Damen ſich uͤber-
all wo ſie nicht ganz iſolirt ſind, durch eine
nachdruͤckliche Oppoſition an der Majoritaͤt zu
raͤchen ſuchen. Bey Tiſche ſetzen ſie ſich neben
einander, in den Zirkeln ſondern ſie ſich ab;
werden ſie in ein Geſpraͤch oder Spiel ver-
flochten, ſo ſind ſie die Trockenheit ſelbſt, und
ſchrecken durch ihren kalten Ton und ihre weg-
werfenden Manieren ſogar diejenigen ab, die
ſie bey einiger Nachgiebigkeit fuͤr ihr Intereſſe
D d 4
[424] gewinnen koͤnnten. — Niemand wird wol ſo
einſeitig ſeyn, dieſe Schilderung ſo ſehr zu
generaliſiren, als ob es gar keine Ausnahmen
gaͤbe; aber ſolche Ausnahmen ſind ſelten und
ſetzen ſich gewoͤhnlich in keinen ſonderlichen
Kredit bey dem Geſchlechte zu welchem ſie ge-
hoͤren.
Dieſe Maͤngel abgerechnet, hat der Ton
der petersburgiſchen Geſellſchaften auch von
der Kritik des ſchwierigſten Weltmanns wenig
zu fuͤrchten. Jene liebenswuͤrdige Ungebun-
denheit, welche ſich eben ſo ſehr von der ſteifen
Etikette der Deutſchen, als von der allzuweit-
getriebenen Lizenz der Franzoſen entfernt, iſt
die Seele aller Zirkel vom guten Ton. Die
kleinen Ceremonialgeſetze, uͤber welchen man
anderwaͤrts noch immer ſo ſtrenge haͤlt, ſind
hier voͤllig unbekannt. An ihre Stelle tritt
eine ſtillſchweigende Uebereinkunft, ſo intereſ-
ſant und ſo gefaͤllig zu ſcheinen, und der Ge-
ſellſchaft ſo viel von ſeiner Eigenthuͤmlichkeit
aufzuopfern, als man nur immer vermag.
Dieſes zuvorkommende Beſtreben, dem Andern
zu ſeyn, was er wuͤnſchen koͤnnte, daß man
ihm ſeyn moͤchte, glaͤttet freylich die alltaͤgli-
[425] chen Karaktere eben ſo ſehr, als es die indivi-
duellen hervorſtechend macht; aber man zeige
uns das Mittel, in einem zahlreichen gemiſch-
ten Zirkel den geſellſchaftlichen Ton mit den
Launen jedes Einzelnen uͤbereinſtimmend zu
machen. Das Opfer, das Jeder der Geſell-
ſchaft bringt, iſt eben ſo freywillig, als der
Entſchluß, durch welchen man die Dauer deſ-
ſelben beſtimmt. Hier findet kein Bitten, kein
Noͤthigen ſtatt; wer ſich in einem Hauſe ge-
faͤllt, geht ſo oft dahin, als er es ſeiner Kon-
venienz angemeſſen findet, ohne in dem einen
Fall verdruͤßliche Minen uͤber allzuoft wieder-
holte Beſuche, oder in dem andern kleinſtaͤdti-
ſche Vorwuͤrfe wegen ſeines langen Auſſenblei-
bens befuͤrchten zu duͤrfen, wenn er in beyden
Faͤllen nicht das Maaß uͤberſchreitet, welches
durch den herrſchenden Gebrauch oder durch
leicht zu fuͤhlende Privatverhaͤltniſſe geſteckt
iſt. Kein Etikettegeſetz beſtimmt die Dauer
des Beſuchs oder die Art und Weiſe des Ab-
ſchiednehmens. Man koͤmmt als ein ungebe-
tener aber erwarteter Gaſt; man bleibt, ſo
lange man ſich gefaͤllt, und man entfernt ſich
gewoͤhnlich in der Stille, ohne durch ein ge-
D d 5
[426] raͤuſchvolles Ceremoniel die ganze Geſellſchaft
in Aufruhr zu bringen.
Eine Frage, die jeder Leſer dieſer Schilde-
rung ſehr natuͤrlich aufwerfen wird, iſt dieſe:
womit ſich ein ſo geſellſchaftliebendes Publi-
kum in ſeinen Zirkeln beſchaͤftigt? Allerdings
wuͤrden hier die gewoͤhnlichen Huͤlfsmittel der
Unterhaltung unzureichend ſeyn, wenn man
ihnen nicht einen erhoͤheten Reiz zu geben
wuͤßte, der ſie ſelbſt fuͤr kaͤltere Menſchen an-
ziehend macht und den Ueberdruß des ewigen
Einerleys verhuͤtet. Tafelfreuden, Kartenſpiel
und Geſpraͤche geben hier wie uͤberall den
Stoff her, aus welchem ſich Jeder, nach dem
verſchiedenen Maaß der Empfaͤnglichkeit und
der Mittheilungsgabe, ſeine Unterhaltung
herausſpinnt; aber die Art, wie man dieſe
Quellen des geſellſchaftlichen Vergnuͤgens be-
nutzt, iſt ſo eigenthuͤmlich, daß ſie zur Karak-
teriſtik der Petersburger einzelne auffallende
Zuͤge hergiebt.
Man ſetzt ſich freylich uͤberall in der Welt
zu Tiſche, um ein natuͤrliches Beduͤrfniß und
mehr oder weniger auch die Sinnlichkeit zu be-
friedigen; an wenigen Orten aber iſt das Letz-
[427] tere ſo ſehr Zweck aller Geſellſchaften, als
hier. Die angenehmſten Zirkel und eine fru-
gale Tafel werden immer weniger Liebhaber
finden, als ein wohlbeſetzter ausgeſuchter Tiſch
und eine trockne Unterhaltung. — Das Kar-
tenſpiel iſt in allen großen Staͤdten von Eu-
ropa das gewoͤhnlichſte Mittel des Zeitver-
treibs; aber hier ſpielt man weniger ſich die
Zeit zu vertreiben, als ſeine Leidenſchaften
durch ein großes Intereſſe in Bewegung zu
ſetzen. Ein kleines Spiel, deſſen Ausſchlag
im unguͤnſtigſten Falle keinen betraͤchtlichen
Verluſt nach ſich ziehen koͤnnte, wuͤrde den
Petersburgern ein Zeitverderb ſcheinen. Pfand-
ſpiele, Raͤthſel, Charaden, Boutrime’s, und
wie die geſellſchaftlichen Erholungen heißen
moͤgen, bey denen man in den Familienkreiſen
in Deutſchland ſo froh und witzig iſt, finden
hier nirgend Eingang, weil ſie weder die Sinn-
lichkeit reizen, noch den Verſtand befriedigen,
noch auch den Leidenſchaften Spielraum ge-
ben. Kartenſpiele in denen das Gluͤck oder der
Zufall am freyſten wirken koͤnnen, ſind die
beliebteſten; in Haͤuſern wo keine Hazardſpiele
geduldet werden, haͤlt man ſich daher an ſolche
[428] die dieſen am naͤchſten kommen. Aus dieſer
Urſache mußte das Whiſt dem Boſton weichen,
weil in dem letztern der Zufall ein freyeres
Spiel hat, und weil es den Petersburgern ge-
lungen war, durch ein Raffinement des Luxus
die Kombinationen dieſes Wageſpiels zu ver-
mehren.
Die eigentliche Konverſation iſt uͤberall die
letzte Reſſource, ein Mittel, die leeren Mo-
mente auszufuͤllen, die das Spiel und die Ta-
fel uͤbrig laſſen. Nichts deſtoweniger hat die-
ſer Zweig der Unterhaltung ſo intereſſante
und karakteriſche Seiten, daß es wol der
Muͤhe lohnt, ihn naͤher kennen zu lernen. Ein
eigenthuͤmlicher Vorzug unſerer Zirkel, den
ſelbſt groͤßere Staͤdte in dem Maaße entbeh-
ren, iſt die Miſchung von Menſchen aus allen
Staͤnden und Laͤndern, von allen Religions-
partheyen und aus den verſchiedenſten und
ungleichartigſten Verhaͤltniſſen. Nirgend iſt
dieſer Zuſammenfluß ſo groß, und nirgend
geht die gegenſeitige Duldung und Vertraͤg-
lichkeit ſo weit als hier. Es iſt nichts unge-
woͤhnliches, Generale, hohe Staatsbeamte, de-
korirte Perſonen, Kaufleute, Gelehrte und
[429] Kuͤnſtler in Einer Geſellſchaft, an Einer Tafel
beyſammen zu ſehen, oder in einem Zirkel
von zehn bis zwoͤlf Perſonen Ruſſen, Deut-
ſche, Franzoſen, Englaͤnder, Spanier und
Schweden zu finden. Der erſte Vortheil, den
dieſe Amalgamation von Menſchen bewirkt, iſt
— Toleranz. Das wechſelſeitige Beduͤrfniß,
zu dulden, um geduldet zu werden; das Ge-
fuͤhl des Wohlſtands, durch welches die ſtaͤr-
kere Parthey bewogen wird, ſich ihrer Ueber-
macht zu entaͤußern, um der ſchwaͤchern ihr
geſellſchaftliches Daſeyn nicht zu verleiden;
endlich, die Gewohnheit, die ſelbſt den fremd-
artigſten Gegenſtaͤnden, Sitten und Meynun-
gen ihr Auffallendes nimmt; alle dieſe Urſa-
chen zuſammen haben in den Ton der guten
Geſellſchaft eine ſo harmoniſche Stimmung
verwebt, daß man eine Zuſammenkunft von
genauen Bekannten vorausſetzen ſollte, wo ſich
in der That Menſchen unter den entfernteſten
Verhaͤltniſſen und Standpunkten verſammeln.
Die erſte Forderung an einen guten Geſell-
ſchafter iſt natuͤrlich dieſe: keine Seite zu be-
ruͤhren, die bey irgend einem Anweſenden auf
eine unſchickliche Art das Gefuͤhl ſeiner Indi-
[430] vidualitaͤt oder ſeiner iſolirten Lage erregen
koͤnnte; aber es gehoͤrt freylich eine große Be-
hutſamkeit und ein gewiſſer Takt dazu, um
in ſehr gemiſchten oder unbekannten Zirkeln
nicht gegen dieſe Regel einer verfeinerten Kon-
venienz zu verſtoßen. Große Anſpruͤche, ein
entſcheidender Ton, abſprechende Urtheile, ſind
daher eben ſo abgeſchmackt und laͤcherlich, als
eine unuͤberlegte Wahl des Geſpraͤchs nach-
theilig und gefaͤhrlich werden kann.
Nirgend vielleicht iſt es ſchwerer, durch
ſeltſame Begebenheiten, außerordentliche Schick-
ſale, weite Reiſen und große Bekanntſchaften
Aufſehen zu erregen, als hier. Die mehreſten
jungen Ruſſen von Stande und Erziehung ha-
ben die große Tour gemacht; viele unter ihnen
ſind mit den Gebraͤuchen und Merkwuͤrdigkei-
ten von Paris, Rom und London eben ſo gut
und beſſer bekannt, als mit denen ihres Va-
terlandes; eine Menge Menſchen werden durch
Geſandſchaften mit den [entfernteſten] Nationen
vertraut; Abendtheurer, die in mehr als Einem
Welttheil ihr Gluͤck verſucht haben, ſtroͤmen
hier in betraͤchtlicher Anzahl zuſammen. Jeder
bringt ſeinen Antheil von Erfahrungen in die
[431] Geſellſchaft mit; die Maſſe von Kenntniſſen,
die dadurch in den feinern Zirkeln in Umlauf
gebracht wird, macht dieſe um ſo intereſſan-
ter. Der Horizont eines Jeden erweitert ſich;
man verliert den alltaͤglichen und kleinlichen
Geſichtspunkt aus den Augen, unter welchem
man, bey einer eingeſchraͤnktern Welt- und
Menſchenkenntniß die Dinge zu betrachten ge-
wohnt war. Das große Spiel der Leiden-
ſchaften und Intriguen, welches uͤberall auf
einem ſo glaͤnzenden und ausgedehnten Thea-
ter durch ſtaͤrkere Triebfedern gehoben wird,
lehrt die Menſchen von einer ganz andern
Seite kennen, als unſere Buͤcher und die Re-
ſultate eines einfoͤrmigen Lebensganges ſie ſchil-
dern. Die Quellen merkwuͤrdiger Begeben-
heiten, die wahre Verkettung entfernt ſchei-
nender Urſachen und Wirkungen offenbaren
ſich hier leichter dem Blick des aufmerkſamen
Forſchers. Wenn auf der Einen Seite Miß-
trauen und Glaube an die Schlechtigkeit des
menſchlichen Herzens der Gewinn dieſer Er-
fahrungen iſt, ſo lehren ſie auf der andern
Behutſamkeit und die Ausuͤbung des goldnen
Spruͤchelchens: nil admirari.
[432]
Nach dieſen Vorausſetzungen laͤßt ſich er-
warten, daß es in feinern Zirkeln und unter
gebildeten Leuten nicht leicht an Stoff zu in-
tereſſanten Unterredungen fehlen wird. Die
Geſchichte des Tages macht freylich hier wie
uͤberall die Grundlage der Konverſation; aber
ſelbſt dieſe iſt hier reichhaltiger, als ſie es in
kleinern Staͤdten und auf einem eingeſchraͤnk-
tern Schauplatz menſchlicher Thaͤtigkeit ſeyn
kann. Auf der Ordnung des Tages ſtehen
die politiſchen und Hofneuigkeiten oben an,
die auch bey der groͤßten Unbedeutenheit alle-
mal weniger ekelhaft ſind, als die faden Wet-
terdiskurſe, die hie und da den Eingang zum
Geſpraͤche bahnen. Das ungeheure Theater
eines großen, maͤchtigen Hofes, der ſeine glaͤn-
zende Rolle mit einem ſo entſcheidenden Ein-
fluß auf das Staatenverhaͤltniß von Europa
und Aſia ſpielt, liefert taͤglich mehr als hin-
reichenden Stoff zur mannigfaltigſten Unter-
haltung. Selbſt die kleinen Vorfaͤlle des Au-
genblicks, die Chronique ſcandaleuſe und die
Antichambreanekdoten haben hier zur Stelle
ein gewiſſes Intereſſe, das auch den philoſo-
phiſchen Sonderling fortreißt und zur Theil-
nahme
[433] nahme zwingt. Der Hof und die Reſidenz
bilden ein großes lebendiges Gemaͤlde, in wel-
chem ſich die kleinen Zuͤge und Schattirun-
gen unaufhoͤrlich veraͤndern; eine Begebenheit
draͤngt die andere; der Held des Tages iſt es
morgen nicht mehr; kaum von unſerm Blick
gefaßt, verſchwindet er unter der unbemerkten
Menge, und wir ſelbſt fuͤhlen uns erſtaunt
durch den Strom der Zeit und den Wechſel
der Dinge in neue Sphaͤren und unbekannte
Verhaͤltniſſe fortgewaͤlzt. Eine Abgeſchieden-
heit von wenigen Tagen iſolirt den Weltmann,
der au courant zu leben gewohnt iſt; er ſieht
ſich fremd in einer Welt, in der er ſich zu
Hauſe glaubte.
Wo die großen Gegenſtaͤnde der Konverſa-
tion nicht zureichen, da nimmt man ſeine Zu-
flucht zur Litteratur. Bey der Miſchung von
Staͤnden die hier in allen Geſellſchaften ſtatt
findet, iſt es natuͤrlich, daß die eigentlichen Ge-
lehrten nirgend das Uebergewicht haben; aber
Maͤnner von praktiſcher Weltkenntniß und Lek-
tuͤre, unterrichtete und gebildete Leute aus al-
len Klaſſen vertheilen ſich in den Haͤuſern vom
beſſern Ton und geben hin und wieder der
Zweiter Theil. E e
[434] Unterhaltung die Farbe. Der Vortheil, der
hieraus entſpringt, iſt von großem Werthe;
ſelten oder niemals erhebt ſich eine disputir-
ſuͤchtige Stimme, die allein gehoͤrt zu werden
verlangt; der Egoismus, der dem Gelehrten
vom Metier uͤberall anklebt, verſchmilzt in
eine kosmopolitiſche Nachgiebigkeit, und ſtatt
der chrienmaͤßigen Auseinanderſetzung eines wiſ-
ſenſchaftlichen Streitpunkts hoͤrt man freund-
ſchaftliche, im Konverſationston vorgetragene
Debatten, bey denen die gute Laune der
Gruͤndlichkeit den Schleyer umzuwerfen ſucht.
Zirkel dieſer Art, die freylich uͤberall zu den
ſeltnern gehoͤren, ſind der befriedigendſte Ge-
nuß fuͤr den Mann von Kopf und Herz, der
von ſeinem ernſtern Tagewerk ermuͤdet, auch
in ſeinen Erholungen Gewinn fuͤr beyde
ſucht.
So viel uͤber den Stoff unſerer Konverſa-
tion, und nun ein Wort uͤber die Form der-
ſelben. So mannigfaltig jener durch die Mi-
ſchung der Staͤnde und Karaktere wird, ein
ſo buntes Anſehn erhaͤlt dieſe durch die Viel-
heit der Sprachen die man in Geſellſchaften
hoͤrt. In allen großen Staͤdten giebt es Aus-
[435] laͤnder, aber nirgend nach Verhaͤltniß ſo viele
als hier; uͤberall ſind dieſe Auslaͤnder Fremde,
Reiſende; hier ſind ſie groͤßtentheils angeſeſ-
ſene Leute. Nirgend findet man es daher noth-
wendig, ſich ihrentwegen einen Zwang aufzu-
legen, den man hier duldet, weil ohnedies ein
großer Theil des geſellſchaftlichen Vergnuͤgens
verloren gehen wuͤrde. Hiezu kommt, daß die
ruſſiſche Sprache im Auslande nur wenig be-
kannt und ihre Erlernung mit vielen Schwie-
rigkeiten verknuͤpft iſt, fremde Sprachen hin-
gegen bey den gebildetern Klaſſen der Nation
ſelbſt in der gewoͤhnlichen Unterhaltung ſehr
gangbar ſind. Bey alledem iſt die ruſſiſche
Sprache die gebraͤuchlichſte in den Zirkeln der
Eingebornen, und nur aus Gefaͤlligkeit gegen
Auslaͤnder vertauſcht man ſie mit der allge-
meinbekannten franzoͤſiſchen, die das Vereini-
gungsmittel der gemiſchteſten Geſellſchaften iſt.
Die Petersburger tragen den Vorwurf,
daß ſie die Landesſprache durch fremde Wen-
dungen und Konſtruktionen verfaͤlſchen und in
der Feinheit der Ausſprache weit hinter den
Moskowiten zuruͤckbleiben. Dieſer Vorwurf
ſcheint im Allgemeinen, ſo weit ein Nichtruſſe
E e 2
[436] hieruͤber urtheilen kann, gegruͤndet zu ſeyn.
Die haͤufige Vermiſchung in welcher Ruſſen
und Auslaͤnder leben und der Umſtand, daß
Kinder gewoͤhnlich zwey bis drey Sprachen
zugleich hoͤren und lernen, ſind die Urſache die-
ſes Uebels, welches ſich ſo weit verbreitet hat,
daß es in gewiſſen Zirkeln herrſchender Ton
geworden iſt, die Konverſation halb in dieſer,
halb in jener Sprache zu fuͤhren, oder zwi-
ſchen drey bis vier ruſſiſchen Worten einige
franzoͤſiſche einzuſchieben. So gerecht dieſer
Tadel iſt, ſo wahr iſt auch das Zeugniß, wel-
ches Jedermann den Petersburgern uͤber die
Vollkommenheit giebt, mit welcher ſie das
Franzoͤſiſche Sprechen. Es iſt ein allbekanntes
Urtheil, von ſachkundigen Maͤnnern gefaͤllt,
daß nicht uͤberall in, und nirgend außerhalb
Frankreich dieſe Sprache mit ſolcher Fertig-
keit, Eigenthuͤmlichkeit, Feinheit und Eleganz
geſprochen wird, als hier unter den hoͤhern
Staͤnden. Die deutſche Sprache ſteht dagegen
ein wenig im Schatten; die Schwierigkeiten
die mit ihrer Erlernung verknuͤpft ſind, das
Uebergewicht welches die franzoͤſiſche Sprache
bey Hofe, in oͤffentlichen Geſchaͤften und in
[437] den Zirkeln der feinen Welt erlangt hat, ſetzen
ihrer allgemeinern Einfuͤhrung große Hinder-
niſſe entgegen. Demungeachtet ſteht ſie doch
bey der Nation in groͤßerer Achtung als irgend
eine andere Sprache, die franzoͤſiſche ausge-
nommen; Leute vom hoͤchſten Range widmen
ſich ihrer Erlernung, und wenn ſie nicht haͤu-
figer geſprochen wird, ſo ruͤhrt dies groͤßten-
theils von den Schwierigkeiten ihrer Ausſprache
her, die den Ruſſen vorzuͤglich viele Muͤhe
macht. Selten wird man einen kultivirten
Petersburger finden, der nicht dieſe drey Spra-
chen in groͤßerer oder geringerer Vollkommen-
heit inne haͤtte; das Engliſche hingegen iſt mehr
eine Liebhaberey einzelner Menſchen.
Dieſes Verhaͤltniß, welches die Franzoſen
ſo vorzuͤglich beguͤnſtigt, macht ihnen natuͤrlich
den Beſitz der Landesſprache eben ſo entbehr-
lich, als er den Deutſchen nothwendig wird,
wenn ſie das Franzoͤſiſche nicht mit einiger Ge-
laͤufigkeit ſprechen. Viele unter dieſen bringen
es hier in der letztern ſo weit, als ob ſie eine
Zeitlang in Frankreich gelebt haͤtten; andere
und die Mehreſten legen ſich mit der dem
Deutſchen ſo eigenthuͤmlichen Gedult und Aus-
E e 3
[438] dauer auf die Erlernung der Nationalſprache,
in welcher ſie oft zu einer Vollkommenheit ge-
langen die das Erſtaunen ſelbſt der Eingebor-
nen erregt. Beyſpiele dieſer Art werden dem
Leſer aus der Geſchichte der deutſchen Littera-
tur und noch mehr aus dem zehnten Abſchnitte
dieſes Buchs erinnerlich ſeyn. Zu wuͤnſchen
waͤre es, daß dieſe lobenswuͤrdige Anſtrengung
nicht zu der Affektation verfuͤhrte, die hin und
wieder in deutſchen Haͤuſern herrſchend iſt,
uͤberall und ohne Veranlaſſung ruſſiſche Brocken
in die Unterredung zu miſchen. Ein Theil die-
ſes Vorwurfs freylich verliert dadurch ſeine
Staͤrke, daß es oft unmoͤglich iſt, gewiſſe Na-
tionalbenennungen mit eben der Beſtimmtheit
in einer fremden Sprache auszudruͤcken, ohne
mißverſtanden zu werden oder in eine laͤcher-
liche Pedanterie zu verfallen. Beyſpiele von
ſolchen Faͤllen kommen ſelbſt in dieſem Buche
haͤufig genug vor. Wer wuͤrde ſich z. B. ge-
trauen, die Worte: Iswoſchtſchik, Podrjaͤd-
ſchik, Droſchka, Artel, u. a. zu verdeutſchen?
Eine Menge taͤglich vorkommender Beduͤrfniſſe
und eigenthuͤmlicher Bezeichnungen ſind eben
ſo unuͤberſetzbar; aber es iſt dennoch nicht zu
[439] leugnen, daß die deutſche Sprache dadurch in
dem Munde unſerer Herren und Damen ein
ſehr buntſcheckiges Anſehen gewinnt. Jeden
Augenblick hoͤrt man die Redensarten: „Iſt
die Leſchanka *) geheizt? Die Kalitka **) ſteht
offen. Der Plotnik ***) iſt gekommen. Hat
man den Pogrebſchtſchik †) beſtellt?“ und un-
zaͤhlige andere die geduldet werden muͤſſen,
weil ſie ohne Affektation nicht verdeutſcht wer-
den koͤnnen. Je unausweichlicher dieſer Ue-
belſtand iſt, um ſo weniger iſt es zu verzeihen,
wenn man ohne Noth ruſſiſche Worte ge-
braucht, die ſich gar fuͤglich durch allgemein
E e 4
[440] gebraͤuchliche deutſche erſetzen laſſen. Aber ſo
hoͤrt man faſt uͤberall: Tſchulan ſtatt Vor-
rathskammer, Kriſchka ſtatt Ofendeckel, Luzkoi
ſtatt Volksſtube, Agarodnik ſtatt Kuͤchengaͤrt-
ner, Liteina ſtatt Stuͤckhof, oder wohl gar:
„Befehlen Sie Kaffe mit oder ohne Slifki
(Sahne, Schmand)? Es fehlt ein Pribor
(Gedeck)“ u. ſ. w. Daß die hier gebornen
Deutſchen eine Menge Ruthenismen in ihre
Sprache verwebt haben, laͤßt ſich ohnehin er-
warten. Die Redensarten: „ich liebe nicht
das zu eſſen; er hat es an mich geſagt“ und
dergleichen mehr ſind zuweilen ſogar unter ge-
bildeten Leuten uͤblich. Deutſche Provinzialis-
men hoͤrt man ſeltner, und der Accent wird
durch das Zuſammenſchmelzen ſo vieler Dia-
lekte eigenthuͤmlich ſanft und wohlklingend.
Hier iſt der Ort, einer liebenswuͤrdigen
Nationalſitte zu erwaͤhnen, die ſich auch unter
den Deutſchen verbreitet hat, und welche vor-
zuͤglich viel dazu beytraͤgt, den Ton des Ge-
ſpraͤchs freundſchaftlich und zwanglos zu ma-
chen, und Menſchen von entfernten Staͤnden
und Altern, wenigſtens dem Anſchein nach,
naͤher zu bringen. Es iſt unter den Ruſſen
[441] ſelten gebraͤuchlich, ſich bey den Familienna-
men zu nennen, oder Jemanden in der Anrede
das Praͤdikat ſeines Ranges zu geben. Ge-
woͤhnlich bedient man ſich des Taufnamens *)
mit welchem man den des Vaters verbindet.
Wenn z. B. der Anzuredende Feodor (Theo-
dor) und deſſen Vater Iwan (Johann) heiſ-
ſen, ſo wird der erſtere Feodor Iwannowitſch
(Johannsſohn) genannt. Ein Frauenzimmer
welches Maria und deren Vater Johann heißt,
wird Marja Iwannowna genannt, u. ſ. w.
Nur bey voͤllig Unbekannten oder ſehr vorneh-
men Perſonen leidet dieſer Gebrauch Ausnah-
men, in allen uͤbrigen Faͤllen iſt er ſelbſt in
den feinſten Zirkeln geltend. Auch in ſehr vie-
len deutſchen Haͤuſern hat dieſe Sitte Eingang
gefunden; wenigſtens fuͤgt ſich jeder Deutſche
nach derſelben, um dem gemeinen Ruſſen, der
E e 5
[442] an auslaͤndiſche Familiennamen nicht gewoͤhnt
iſt, die Anrede zu erleichtern. Wer einen
Taufnamen hat, der im Ruſſiſchen nicht ſtatt
findet, verwechſelt ihn mit einem Aehnlichklin-
genden, z. B. Heinrich mit Andrej, oder be-
haͤlt ihn bey, wie dies zuweilen mit den Na-
men Karl, Chriſtoph, u. a. geſchieht.
Aehnlicher Nationalſitten, die eine gewiſſe
Vertraulichkeit in die Geſellſchaft bringen,
giebt es mehrere; aber ſie verlieren ſich in
dem Maaße in welchem auslaͤndiſcher Ton
und fremde Gebraͤuche uͤberhand nehmen. So
war es zum Beyſpiel ehemals in allen Staͤn-
den und iſt noch itzt unter den geringeren uͤb-
lich, ſich beym Empfange und Abſchiednehmen
oder wenn man einander begegnet, zu kuͤſſen.
Dieſer Gebrauch, der in den hoͤhern Klaſſen
nur unter denen ſtatt findet, oder dieſen vom
maͤnnlichen Geſchlecht als eine Art von Hul-
digung dargebracht wird, verwechſelt ſich itzt
allmaͤhlig gegen die allgemeine europaͤiſche Sitte.
Ruſſiſche Frauenzimmer und auch viele Aus-
laͤnderinnen gruͤßen auf keine andere Weiſe als
die Mannsperſonen, naͤmlich mit einer bloßen
Sonkung des Kopfs, ohne die Kniee zu beugen.
[443]
Unter einem ſo geſellſchaftlichen und ge-
nußliebenden Publikum als das petersburgiſche,
geht nicht leicht eine Veranlaſſung zu Schmaͤu-
ſen und Feſten ungenutzt voruͤber. Namens-
und Geburtstage werden vorzuͤglich in ruſſi-
ſchen Haͤuſern mit großen Gaſtmaͤlern oder
Baͤllen gefeyert, bey welchen ſich Freunde und
Bekannte gewoͤhnlich ohne foͤrmliche Einladung
verſammeln. Die Geburt eines Kindes, die
Erlangung eines Amts, der Ankauf eines Hau-
ſes, kurz jedes gluͤckliche Ereigniß giebt Gele-
genheit zu einem haͤuslichen Feſte. Auch hier
vermißt man jene Ungebundenheit nicht, die
den Karakter der hieſigen Lebensart ſo ange-
nehm nuͤanzirt. Kein Gebrauch iſt ſo allge-
mein, daß man nicht ohne Unbequemlichkeit
eine Ausnahme machen koͤnnte; nirgend giebt
es weniger Foͤrmlichkeiten, und nirgend zieht
die Vernachlaͤßigung derſelben weniger Tadel
und Nachrede zu. Hochzeiten, Kindtaufen und
Beerdigungen werden auf die mannigfaltigſte
Art begangen; kein Etikettegeſetz ſchreibt den
Aufwand vor, und kein Ceremoniel wacht uͤber
die Beobachtung kleinſtaͤdtiſcher Formen.
[444]
Aus dieſen leicht hingeworfenen Zuͤgen laͤßt
ſich ſchließen, wie viele Annehmlichkeiten der
Aufenthalt in der Reſidenz gewaͤhren kann.
In der That kenne ich keine unter den groͤßern
Staͤdten Europens die ich beſucht habe, in
welcher ſo viel ſinnlicher Genuß um ſo wohl-
feilen Preis einzutauſchen waͤre, als hier.
Dieſe außerordentliche Gaſtfreyheit, dieſer gut-
muͤthige Ton, dieſe Leidenſchaft fuͤr das ge-
ſellige Leben, dieſe Entfernung von Zwang
und Etikette finden ſich uͤberall nur einzeln und
nirgend in ſo hohem Grade beyſammen. Aber
auch fuͤr den Liebhaber des geiſtigen Genuſſes
iſt Petersburg keine Wuͤſte. In den hoͤheren
Staͤnden trift man oft genug auf Menſchen
von der ſeltenſten Ausbildung des Kopfs und
Herzens, die mit dem gruͤndlichſten Studium
oder mit dem glaͤnzendſten Talent eine reife
Erfahrung und eine unter Menſchen geſam-
melte Welt- und Menſchenkenntniß verbinden.
Zirkel dieſer Art, wenn ſie gleich nicht ſo
haͤufig gefunden werden als in manchen an-
dern Staͤdten vom erſten Range, halten deſto
feſter an einander, und werden durch das Ge-
fuͤhl des Beduͤrfniſſes zur wechſelſeitigen Scho-
[445] nung und Duldung veranlaßt. Die Tempel
des Geſchmacks, die wiſſenſchaftlichen Vorraͤthe
mit welchen die Reſidenz geſchmuͤckt und an-
gefuͤllt iſt, bieten dem Sinn fuͤr Schoͤnheit
und Kunſt eben ſo reichliche Nahrung, als
dem Wiſſensdurſt emſiger Forſcher. — Mit
dem maͤßigſten Antheil von Genuͤgſamkeit kann
man ſich auf einem ſolchen Standpunkt gefal-
len; und der Beyſpiele ſind nicht wenige, daß
ſelbſt Leute mit den unbeſchraͤnkteſten Praͤten-
ſionen und einem ſchwer zu befriedigenden Ge-
nußhunger ſich nach einem mehrmaligen Wech-
ſel ihres Aufenthalts nirgend beſſer gefielen
als hier.
Man wird nach allem dieſem begierig ſeyn,
zu wiſſen, welches die Anſpruͤche ſind, die Je-
mand in die Geſellſchaft bringen muß, um
ſeinen Antheil an der Maſſe des gemeinſchaft-
lichen Genuſſes behaupten zu koͤnnen. Die all-
gemeinen Erforderniſſe eines kultivirten Men-
ſchen abgerechnet, die man uͤberall ſo ziemlich
nach einerley Maaßſtabe vorausſetzt, hat jedes
Land noch eine beſondere Forderung an den
der ſich der Geſellſchaft widmet, und in der-
ſelben gut aufgenommen zu werden verlangt.
[446] In dem ehemaligen Frankreich mußte man
liebenswuͤrdig ſeyn; in England heißt dieſe
Forderung: Reichthum. In Holland em[-]
pfiehlt ein Adreßbrief von einem anſehnlichen
Handlungshauſe, und in Deutſchland ein be-
ruͤhmter Name oder ein Adelsdiplom. In
Rußland iſt Geld und Rang der Schluͤſſel
zur guten Geſellſchaft. Ohne dieſe Bedingun-
gen ſieht man ſich, mit allen uͤbrigen, in jene
zahlreich bevoͤlkerte und dunkle Sphaͤre ver-
ſetzt, die in allen großen Staͤdten ſo ſehr ne-
ben den glaͤnzenden Zirkeln vom bon Ton ab-
ſticht.
Geld alſo iſt die erſte Forderung an den
Weltmann. Nicht jener Reichthum, der in
England den Mann zum Manne macht, ſon-
dern ein verhaͤltnißmaͤßiges Einkommen, um
den nothwendigen und anſtaͤndigen Aufwand
in Kleidung und Equipage beſtreiten und in
Klubbs und Zirkeln das gewoͤhnliche Spiel
mitmachen zu koͤnnen. Der Reichthum fuͤr
ſich iſt hier keine Empfehlung; um die Quel-
len des Erwerbs bekuͤmmert ſich Niemand;
genug, wenn der Mann in ſeinem Aeußern
einen gewiſſen Wohlſtand durchblicken laͤßt und
[447] die Konvenienz nicht beleidigt. Um billig zu
ſeyn, muß man eingeſtehen, daß die Peters-
burger nicht zu ſtrenge ſind, wenn ſie dieſe
Forderung machen. Das Spiel iſt einmal
ihre große Reſſource; wer kann es ihnen ver-
argen, daß ſie den Geſchmack einzelner Men-
ſchen der herrſchenden Neigung Aller unter-
werfen? In Staͤdten und Laͤndern wo das
Spiel nicht ſo allgemein iſt, faͤllt auch dieſe
Bedingung weg; aber es treten andere dafuͤr
an die Stelle. — Nicht weniger verzeihlich
iſt es, wenn man eine anſtaͤndige und reinliche
Kleidung zur conditio sine qua non des Ein-
tritts in gute Geſellſchaften macht. Wirklich
iſt man in dieſer Forderung noch ſehr billig.
Werth und Form der Kleidungsſtuͤcke ſind
gleichguͤltiger als man glauben ſollte, und was
den Punkt der Dezenz betrift, ſo bedarf der
wol keiner Entſchuldigung. In Frankreich ver-
zieh man es großen Geiſtern, witzigen Koͤpfen
und ſingulaͤren Menſchen, wenn ſie die Regel
der Schicklichkeit in ihrem Anzuge verletzten;
bey uns ſind weder die erſten noch die letzten
ſo gangbare Muͤnze, daß man ihrentwegen
noͤthig haͤtte eine Ausnahme zu machen. In
[448] andern Laͤndern iſt der Sinn fuͤr Reinlichkeit
und Eleganz nicht ſo allgemein, ein nachlaͤßi-
ger Anzug erregt daher weniger Aufmerkſam-
keit as hier. — Die Equipage endlich iſt we-
niger eine Bedingung der Konvenienz, als ein
Beduͤrfniß, welches aus den Unbequemlichkei-
ten des Lokale entſpringt, und deſſen Noth-
wendigkeit jeder ſelbſt empfindet, der ſich zur
guten Geſellſchaft rechnet und die Freuden nicht
entbehren will, die ihn in den Zirkeln der
feinen Welt erwarten. In dieſen als Fuß-
gaͤnger zu erſcheinen, iſt zu gewiſſen Jahrs-
zeiten voͤllig unmoͤglich. Ueberall in der Welt
iſt es kein glaͤnzendes Loos zu Fuße zu gehn,
aber nirgend geht ſichs ſchlechter als hier.
Der Winter iſt die goldne Zeit des Fuß-
gaͤngers; auch ſegnet er den fallenden Schnee,
der ihm die muͤhſelige Bahn ſeiner Wallfahr-
ten erleichtert und ebnet. Alsdann ſucht er
ſeine beſſere Kleidung hervor, erſcheint ſeit lan-
ger Zeit zum erſtenmal wieder in Schuhen,
und eilt halbvergeſſene Bekanntſchaften wieder
anzuknuͤpfen, die ihn die boͤſe Jahrszeit zu un-
terbrechen zwang. Hat er weite Wege zu
machen, ſo bringt ein Iwannuſchka ihn, zwar
nicht
[449] nicht ſehr ſchnell, aber doch zu billigem Preiſe,
an den Ort ſeiner Beſtimmung. Ueberall
wird er mit der verwunderungsvollen Frage:
wo ſind Sie ſo lange geweſen? empfangen,
und oft raubt ihm noch obenein die falſche
Schaam den Troſt, die wahre Urſache ſeines
Außenbleibens zu nennen, und ſeinem Herzen
Luft zu machen, das ſtets von Galle gegen
den Herbſt kocht. Deſto dankbarer gegen die
wohlthaͤtige Kaͤlte iſt er der große Lobredner
des Winters. Wettet man um den Zeitpunkt
des Eisbruchs der Newa, ſo haͤlt er es ſicher-
lich mit dem ſpaͤteſten. — Aber ach! der
Gang der Natur laͤßt ſich durch keine Wetten
beſtimmen. Der Fruͤhling kommt, und mit
ihm erneuen ſich die Plagen des vergangenen
Herbſts. Je heitrer die Sonne laͤchelt, deſto
finſtrer wird die Stirne des Fußgaͤngers. Der
ſchmelzende Schnee uͤberſchwemmt die Stra-
ßen und bildet ſtehende Seen und Baͤche.
Jetzt iſt es unmoͤglich, zu Fuße zu gehn; aber
auch in den kleinen niedrigen Schlitten, die
ſich zwiſchen den vorbeyrollenden Wagen durch-
winden, ſetzt ſich der arme Fußgaͤnger der Ge-
fahr aus, umgeworfen oder doch mit Koth
Zweiter Theil. F f
[450] beſpruͤtzt zu werden. Indeſſen trocknet die
waͤrmere Sonne die Gaſſen, der Sommer
naͤhert ſich — wird ſich das Schickſal des
Fußgaͤngers beſſern? Leider nein! Jetzt be-
reitet ſich ein anderes Element ihn zu quaͤlen.
Die Fruͤhlingsſtuͤrme jagen den getrockneten
Gaſſenkoth in dicken Staubwolken empor, und
wenn dieſe ermuͤden, ſo ſengt die brennende
Sonne ſeinen Scheitel. Ein Theil ſeiner Be-
kanntſchaften verlaͤßt die Stadt, und mit die-
ſen muß er ſich waͤhrend der ſchoͤnen Jahrs-
zeit allen Umgang verſagen; ſelbſt bey ſeinen
Stadtbeſuchen langt er, nach einer Fußreiſe
von einer oder mehreren Werſten, mit Staub
und Schweiß bedeckt, von Durſt und Muͤdig-
keit erſchoͤpft, an. Trifft ihn auf dieſen Wan-
derungen ungluͤcklicherweiſe ein ploͤtzlicher Re-
gen, ſo muß er ſeinen Schutz unter dem naͤch-
ſten Thorwege ſuchen, und oft, nach ſtunde-
langem Warten, dennoch ſeinen Ruͤckweg nach
Hauſe antreten, wo er durchnaͤßt und ver-
druͤßlich uͤber ſeinen vereitelten Vorſatz an-
langt. So traurig dieſe Schickſale ſind, lie-
ber Leſer, ſo ſpare dein Mitleid doch fuͤr den
kommenden Herbſt auf, denn gegen dieſen ſind
[451] die Muͤhſeligkeiten des Sommers nur ein
leichtes Joch und eine angenehme Buͤrde.
Bey ſeinem Eintritt bedeckt ſich der Horizont
mit dicken grauen Wolken, durch die kein Son-
nenſtral dringt; feuchte Nebel verfinſtern Mor-
gens und Abends die Luft; ein ſelten unter-
brochener Regen uͤberſchwemmt die Gaſſen
und verurſacht einen Koth, gegen den die
groͤßte Gedult des Fußgaͤngers und das beſte
engliſche Sohlleder es nicht aushalten. Nur
gezwungen verlaͤßt er ſeine Stube; unter ſich
einen Moraſt und uͤber ſich den ſchwarzen
Himmel tritt er ſeine Wanderſchaft an; Kaͤlte
und Regen durchdringen bald ſeine Bedeckung,
die ein breiter Saum von Gaſſenkoth ziert.
Von uͤbermuͤthigen Equipagen verfolgt, ſieht
er ſich aus ſeinem ſorgfaͤltig gewaͤhlten Fuß-
ſteige vertrieben und in die haͤßlichſten Pfuͤtzen
gejagt; oft lernt er auf ſchmalen Brettern
und ſchluͤpfrigen Balken die Geſetze des Gleich-
gewichts kennen, und nicht ſelten bezahlt er
das Lehrgeld dieſer Kunſt mit einem Fall, bey
welchem er gelegentlich das Verdienſt hat, dem
umherſtehenden Poͤbel auf einen Augenblick
F f 2
[452] den Stoff zu einer kleinen Gemuͤthsergoͤtzung
zu liefern.
Dieſes drollige, aber nach der Natur ge-
zeichnete Bild der Leiden und Schickſale eines
petersburgiſchen Fußgaͤngers rechtfertigt den
allgemeinen Gebrauch der Equipage, der nir-
gend groͤßer, aber auch nirgend dringender iſt,
als hier. Ein milderer Himmel und groͤßere
Bequemlichkeiten machen in andern Reſidenzen
die Equipage zum Luxus reicher und verwoͤhn-
ter Menſchen; hier iſt ſie das Beduͤrfniß eines
Jeden, und wer ihrer entbehren muß, opfert
der Nothwendigkeit einen großen Theil ſeines
Lebensgenuſſes.
So viel ſich aber zur Entſchuldigung die-
ſer und der vorhin angefuͤhrten Forderungen
der guten Geſellſchaft ſagen laͤßt, ſo wenig
mag ich der Lobredner des großen Maaßſtabes
ſeyn, nach welchem man, faſt durchgaͤngig, den
Werth und die Verhaͤltniſſe der Menſchen
berechnet. Hier iſt die erſte Frage: welchen
Rang hat der Mann? In England: wie
viel gilt er? — Es giebt keine treffendere Pa-
rallele als dieſe.
[453]
Ein Mann ohne Rang gehoͤrt, wenn er
nicht reich iſt, zu den unbedeutendſten Geſchoͤp-
fen nach den Begriffen des großen Haufens.
Der Urſprung dieſer ſonderbaren Klaſſifikation
liegt in einer, nach andern Ruͤckſichten ſehr
lobenswuͤrdigen und zweckmaͤßigen Staatsein-
richtung. Es giebt naͤmlich fuͤr den Civiletat
eine Stufenleiter des Ranges, die mit der
militairiſchen in dem abgemeſſenſten Verhaͤlt-
niß ſteht. Der Kapitain z. B. entſpricht dem
Titulairrath; der Kollegienaſſeſſor dem Major;
der Hofrath dem Obriſtlieutenant; der Staats-
rath dem Obriſten, u. ſ. w. Dieſe Rangſtufen
unterſcheiden ſich weſentlich von den Aemtern,
denn zuweilen ſind beyde mit einander ver-
bunden, zuweilen nicht. Es kann Jemand
viele Jahre in einem und dem naͤmlichen Amte
bleiben, und waͤhrend dieſer Zeit eine oder
mehrere Stufen im Range ſteigen. Daher
kommt es, daß man ſich gewoͤhnlich nicht nach
der Stelle die Jemand bekleidet, ſondern im-
mer zuerſt nach ſeinem Range erkundigt, um
auf eine beſtimmte Art ſein Verhaͤltniß zu
kennen. Der Einfluß, den dieſe Einrichtung
auf die Denkungsart der Menſchen hat, iſt
F f 3
[454] ſehr groß, aber er verurſacht dennoch keine
merklich grelle Schattirungen in dem geſell-
ſchaftlichen Ton, der unter Leuten von Kultur
und Erziehung herrſcht. Auffallend iſt es, daß
eben hier, wo man ohne Rang nichts iſt, die
Vorzuͤge der Geburt ſo aͤußerſt wenig gelten.
Ich habe es verſucht, den Genuß welchen
die gute Geſellſchaft dem Weltmanne darbie-
tet, und die Forderungen welche ſie an ihn
macht, neben einander zu ſtellen. Beydes ge-
nau abgewogen, wird die Schaale noch immer
zum Vortheil des Kaͤufers ſinken. Wer ſich
auf dieſem Marktplatz nur mit der kleinſten
Baarſchaft verſieht, dem kann es nie an
Waare fehlen. Und wer ſo gar arm iſt, daß
er weder Geld noch Geldeswerth zum Tauſche
anbieten kann — nun, fuͤr den iſt nirgend in
der Welt etwas kaͤuflich. So Mancher frey-
lich ſteht mit ſeinem gefuͤllten Seckel da, und
ſucht nach Dingen die er hier nicht ſuchen
muͤßte; Mancher andere tadelt alles ohne et-
was zu kaufen, und Viele finden den Markt-
preis zu hoch. Der Meynung bin ich nun
nicht. Wer zu genießen verſteht, der wird
auf dieſem Standpunkt ſelten uͤber Hunger
klagen.
[455]
Es giebt eine Gattung von Leuten, die ihre
ſtaͤrkere Individualitaͤt in den flachen Karak-
teren der Alltagsmenſchen wie in einem Hohl-
ſpiegel vergroͤßert erblicken. Dieſe ſind nicht
fuͤr Petersburg, und Petersburg iſt nicht fuͤr
ſie. Dennoch ſtehen ſie unter dem Schutz der
allgemeinen Toleranz, die Jedem ſeine Eigen-
heiten verzeiht, ſo lange ſie der Geſellſchaft
nicht laͤſtig werden. Leben ſie iſolirt, ſo ver-
gißt man ihrer; erſcheinen ſie wieder auf dem
Schauplatz, ſo wird ihnen Niemand die Frage
entgegen tragen: was haben Sie ſo lange ge-
macht?
Menſchen, denen der taͤgliche Lebensgang
des großen Haufens anekelt, die in den ge-
woͤhnlichen Zerſtreuungen und Unterhaltungen
keine Reſſource fuͤr ihre edlere Genußfaͤhigkeit
finden, ſehen ſich hier auf einem Platz wo jeder
Augenblick die Scene veraͤndert, wo jeder Tag
neue Erſcheinungen auf die Buͤhne bringt,
wo die moraliſchen Karrikaturen ſich ſo ſchnell
verdraͤngen, daß der Blick des Beobachters
ihnen kaum von ferne nachfolgen kann. Das
große Buch der Erfahrung liegt offen da; es
bedarf nur der Muͤhe, die Blaͤtter umzuwen-
F f 4
[456] den und ſich von dem Geleſenen Rechenſchaft
zu geben. Welch eine Quelle der lehrreichſten
Selbſtbeſchaͤftigung, fuͤr den, der ſie zu be-
nutzen verſteht!
Selbſt jene unbeſtimmten Karaktere, die
ſich an Alles anſchließen und durch nichts ge-
feſſelt werden, die heute verabſcheuen was ſie
morgen entzuͤckt, die ſich uͤberall und nirgend
gefallen — ſelbſt dieſe finden hier ihren Stand-
punkt. Mit eben der Leichtigkeit, mit welcher
man Bekanntſchaften macht, trennt man ſie
wieder. Nichts iſt gewoͤhnlicher, als Leute die-
ſer Art ploͤtzlich aus allen Zirkeln verſchwin-
den zu ſehn, in denen ſie vorher lebten. Sie
ſuchen und finden dann neue, in welchen ſie
ſich uͤber kurz oder lang eben ſo wenig gefal-
len. Niemand wird ſie mit Vorwuͤrfen ver-
folgen, oder ihnen ihren Wankelmuth fuͤhlbar
machen, wenn ſie wieder unter ihren alten
Bekannten erſcheinen.
So findet hier jeder ſeinen Antheil am Le-
bensgenuß, von welchem Standpunkte er auch
ausgehen und welche Forderungen er auch
thun mag. Der Weltmann und der Sonder-
ling, der Stutzer und der Philoſoph, der Ge-
[457] ſellige und der Egoiſt, der Sykophant und der
Stoiker — jeder trifft Weſen ſeiner Art, an
die er ſich ſchließen, ein Plaͤtzchen auf welchem
er wurzeln und unter dem Schatten der ge-
ſelligen Duldung Fruͤchte treiben kann. Nur
der Unzufriedene gefaͤllt ſich nirgend.
Wir haben die hervorſtechenden Seiten des
geſelligen Lebens gemuſtert; ein Blick in
das haͤusliche mag dieſes Sittengemaͤlde be-
ſchließen. So gleichfoͤrmig der Karakter des
erſtern iſt, ſo mannigfaltig ſind die Schatti-
rungen die ſich in den des letztern verweben.
Nachahmungsſucht und Konvenienz ſtimmen
vor den Augen der Welt alles auf einen glei-
chen Ton; aber im Innern der Familien ver-
liert ſich dieſer ſcheinbare Einklang, und die
wahre Denkungsart der Menſchen ſpringt
aus dem dunkeln Hintergrunde deſto ſtaͤrker
hervor.
Die Maſſe der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit
und ihre Vertheilung zu berechnen, waͤre wol
ein eben ſo gewagtes als unnuͤtzes Unterneh-
men; aber moͤglich und intereſſant iſt es, bey
einem langen und ausgebreiteten Umgange die
Privatverhaͤltniſſe der Menſchen ins Auge zu
F f 5
[458] faſſen, und die Modifikationen derſelben mit
ſeiner Erfahrung und ſeinem Gefuͤhl zu ver-
gleichen. Dieſes Geſchaͤft, welchem ich mich
ſeit mehreren Jahren unterzogen habe, hat
mich zu der individuellen Ueberzeugung ge-
fuͤhrt, daß haͤusliches Gluͤck hier, wo nicht
ſeltner als in andern großen Staͤdten, doch
immer nur ſelten vorhanden iſt. Dieſes Ur-
theil, welches, ich wiederhole es, nur das
Reſultat meiner Ueberzeugung iſt, kann viel-
leicht durch eine groͤßere Erfahrung und einen
tiefern Blick in die feinen Kombinationen des
Familiengluͤcks widerlegt werden; aber um
deſto nothwendiger finde ich es, die Gruͤnde
meiner Ueberzeugung hier einer Entſcheidung
beyzufuͤgen, welche ohnedies das Anſehn eines
laͤcherlichen Machtſpruchs haben wuͤrde.
Große, uͤppige und luxurioͤſe Staͤdte ſind
uͤberall nicht der Boden, auf welchem die zarte
Pflanze der ſtillen haͤuslichen Gluͤckſeligkeit ge-
deiht. Die haͤufigen und anreizenden Gelegen-
heiten zu oͤffentlichen Vergnuͤgungen und rau-
ſchenden Ergoͤtzlichkeiten machen den Geſchmack
an denſelben herrſchend, und ſchwaͤchen den
ſanften Eindruck, den die einfachen Freuden im
[459] Familienkreiſe gewaͤhren. Zu dieſen Nach-
theilen geſellt ſich in St. Petersburg der Hang
zur Geſellſchaft, das entgegengeſetzte Extrem
jeder haͤuslichen Neigung. In einen unauf-
hoͤrlichen Wirbel von Geſchaͤften, Ergoͤtzlichkei-
ten und Geſellſchaften verwickelt, giebt es nur
wenige Monate, in denen der Gatte ſeiner
Gattinn, der Vater ſeinen Kindern angehoͤrt.
Selbſt in Ehen, wo wechſelſeitige Liebe das
Band knuͤpfte, werden Mann und Frau ein-
ander nicht ſelten um ſo fremder, je laͤnger
ſie mit einander leben; wieviel mehr in ſol-
chen, wo Konvenienz oder Zwang zwey un-
harmoniſch geſtimmte Weſen in das engſte
Verhaͤltniß brachte. Wenn der Zwang hier
weniger Ehen ſtiftet, ſo iſt die Konvenienz eine
deſto gluͤcklichere Kupplerinn. Unſere Maͤd-
chen, ſchon in der Kindheit an erkuͤnſtelte Be-
duͤrfniſſe, an Wohlleben und Luxus gewoͤhnt,
und unbekannt mit den ſtillen Tugenden und
dem ſtillen Gluͤck eines einfachen haͤuslichen
Lebens, ſehnen ſich natuͤrlich nach einer Ver-
ſorgung die ihnen die Befriedigung ihrer
Wuͤnſche verſpricht. Der reiche Mann iſt
daher in ihren Augen gewoͤhnlich der lie-
[460] benswuͤrdige, und nicht wer das Gluͤck —
wie das alte Sprichwort ſagt — ſondern wer
das Geld hat, fuͤhrt die Braut nach Hauſe.
Sollte es wol noͤthig ſeyn, fuͤr irgend ei-
nen kurzſichtigen oder haͤmiſchen Leſer anzu-
merken, daß hier nur von der Mehrheit die
Rede iſt, und daß es gluͤckliche Familien, zaͤrt-
liche Ehegatten, unintereſſirte Verbindungen
giebt, die eine beneidenswerthe Ausnahme von
dieſer Schilderung machen? Aber ſo zahlreich
dieſe Ausnahme ſeyn mag — in Staͤdten von
eben dem Range, wo weniger Luxus und eine
einfachere Erziehung ſtatt finden, iſt ſie groͤßer.
Bey allem Mangel an Haͤuslichkeit fehlt
es den Frauen aus dem Mittelſtande nicht an
jener Wirthſchaftlichkeit, die im Innern und
im Detail des Hausweſens zu ſparen ſucht,
um im Aeußern und bey oͤffentlichen Vorfaͤl-
len einen deſto groͤßern Aufwand behaupten zu
koͤnnen. Wer ſich von dem Ameublement, der
Kleidung und dem Tafelluxus an Geſellſchafts-
tagen verfuͤhren ließe, auf die taͤgliche Lebens-
art und den Wohlſtand der Familien zu ſchlie-
ßen, wuͤrde ſich in ſehr vielen Faͤllen zu ſei-
nem Erſtaunen getaͤuſcht ſehen. Der Wunſch,
[461] nach dem herrſchenden Ton zu leben, zwingt
die Hausfrauen in den minder wohlhabenden
Klaſſen des Mittelſtandes zu einer kuͤnſtlichen
und erfinderiſchen Sparſamkeit, und nirgend
vielleicht iſt der weibliche Geiſt in dieſem Raf-
finement gluͤcklicher geweſen als hier. Nicht
ſelten ſcheitern aber auch allzukuͤnſtlich berech-
nete Plane, und dann zwingt die Noth zu ei-
ner herben oͤffentlichen Entſagung. Erhoͤheter
Luxus und ſteigende Preiſe gehen hier Hand
in Hand; viele Familien bequemen ſich daher
freywillig zu einer eingeſchraͤnktern Lebensweiſe,
deren Ausfuͤhrung ihnen durch den Zuſammen-
fluß mehrerer Umſtaͤnde erleichtert wird. Jeder
kann hier ſo iſolirt leben, als er es fuͤr gut
findet; die Veraͤnderung des Wohnorts aus
einem Stadttheile in einen andern entfernten
beguͤnſtigt das Zuruͤckziehen aus dem Zirkel
ehemaliger Bekanntſchaften; die zerſtreute Le-
bensart in den Sommermonaten giebt leicht
Veranlaſſung und Vorwand, den Gang des
geſellſchaftlichen Lebens zu aͤndern und ſich von
den Zirkeln loszuſagen, die man ehemals bey
ſich verſammelte. Solche Kataſtrophen gehen
zwar nicht ganz ohne alles Aufſehen ab; aber
[462] das Geſchwaͤtz daruͤber verhallt außerhalb dem
Kreiſe engerer Bekanntſchaften, und das fort-
reiſſende Intereſſe der Begebenheiten des Ta-
ges macht ſie morgen vergeſſen.
Nach den Zuͤgen der petersburgiſchen Le-
bensart, die in dieſem Abſchnitte zuſammenge-
ſtellt ſind, wird jeder Leſer erwarten, daß eine
ſorgfaͤltige und haͤusliche Kindererziehung nur
in den wenigen Familien ſtatt finden kann, die
mehr ſich als der Welt, mehr dem Zweck ihres
ſtillen Daſeyns als den Geſchaͤften und Ver-
gnuͤgungen einer glaͤnzenden Kaiſerſtadt leben.
So zaͤrtlich man hier auch fuͤr das Wohl ſei-
ner Kinder beſorgt iſt, ſo viel man an ihre
Ausbildung wendet, ſo ſelten iſt doch der Fall,
daß Eltern ſelbſt die naͤhere Aufſicht, oder
Muͤtter die erſte phyſiſche Erziehung uͤberneh-
men. Der Ton der Lebensart iſt einer ſol-
chen Sorgfalt ganz zuwider. Um ihren
Saͤuglingen ſelbſt die erſte Nahrung zu rei-
chen, muͤßten die Muͤtter ſich ihren Zirkeln
entziehen, und die natuͤrlichen Unbequemlichkei-
ten der Wartung vertragen ſich nicht mit der
Reinlichkeit und Eleganz in den Prunkzim-
mern. — Sobald die erſte muͤhſelige Lebens-
[463] periode uͤberſtanden iſt, giebt man die Kinder
in den Penſionen ab, wo man große Sum-
men fuͤr ſie bezahlt und damit alles gethan zu
haben glaubt. Die Zwiſchenzeiten in welchen
ſie das vaͤterliche Haus beſuchen, werden ih-
nen durch Zerſtreuungen, Geſchenke, Ergoͤtzlich-
keiten und durch die Aeußerungen einer miß-
verſtandenen Zaͤrtlichkeit ſo werth gemacht,
daß ſie nur mit Widerwillen zu ihren Erzie-
hern zuruͤckkehren. Man wirft den hieſigen
Penſionen vor, daß ſie aus den jungen Maͤd-
chen weniger gute Hauswirthinnen als Damen
nach dem Ton zu bilden ſuchen. In der That
iſt dieſer Vorwurf gerecht, aber wer kann es
den Unternehmern ſolcher Anſtalten verdenken,
daß ſie ſich nicht mit einer Waare verſehen,
die nirgend Kaͤufer finden wuͤrde? Jenen
Zweck, den Verſtand und das Aeußere zu kul-
tiviren, erreicht dieſe Art von Erziehung ge-
woͤhnlich ſehr gut, da Beyſpiel und Nacheife-
rung hier vorzuͤglich mitwirken.
Sobald die Toͤchter aus den Penſionen
und die Soͤhne aus den Schulen und oͤffentli-
chen Erziehungsanſtalten heraustreten, finden
ſie ſich ploͤtzlich auf dem Schauplatz der gro-
[464] ßen Welt. Dieſer ſchnelle Uebergang und die-
ſes fruͤhe Erſcheinen auf einem Standpunkt
wo Grundſaͤtze und Erfahrung oft nicht vor
Fehlern und Thorheiten ſichern koͤnnen, ſchadet
auf der Einen Seite der Moralitaͤt eben ſo
ſehr, als es auf der andern die Reife des
Verſtandes beſchleunigt und zur praktiſchen
Welt- und Menſchenkenntniß fuͤhrt. Man
ſieht daher ſehr junge Leute mit allen Talen-
ten des Umgangs, mit allen Manieren der
feinen Zirkel und mit jenem Takt fuͤr die
Menſchen ausgeruͤſtet, der ſonſt nur der An-
theil eines hoͤhern Alters zu ſeyn pflegt. Fruͤh-
zeitig ſchon werden Knaben in Geſchaͤfte ge-
bracht, bey welchen ſie natuͤrlich mehr Rou-
tine fuͤr ihre kuͤnftige Laufbahn einſammeln,
als ſie Grundſaͤtze und Kenntniſſe zu derſelben
mitbringen koͤnnen. Der Wunſch, Gluͤck zu
machen und ein ausgezeichnetes Ziel zu errei-
chen, der in andern Laͤndern durch unzaͤhlige
Schwierigkeiten ſo beſchraͤnkt, hier aber durch
eine große Moͤglichkeit und taͤgliche Beyſpiele
des Gelingens ſo ſehr genaͤhrt wird, befeuert
Eltern, ihren Kindern ſchon vor ihrem Eintritt
in die große Welt eine anſtaͤndige Laufbahn
zu
[465] zu eroͤffnen, und Jeder ſieht ſich gezwungen,
dieſem Gebrauch zu folgen, um wenigſtens kei-
nen Vortheil wider ſich zu haben.
Maͤdchen, welche aus der Penſion in das
vaͤterliche Haus zuruͤckkehren, vertauſchen ihr
ſchlicht herunterhaͤngendes Haar mit einem ele-
gantern Kopfputz, ihre einfache Kleidung mit
den Nippes des Luxus und der herrſchenden
Mode, ihre bisherige Einſamkeit mit den Zir-
keln, und die trockne Beſchaͤftigung Buͤcher
zu leſen mit der angenehmern ſich zu putzen
und den Thee fuͤr die Geſellſchaft zu beſorgen.
Sogleich ſammelt ſich ein Kreis von Anbetern
um ſie her, wenn ſie ſchoͤn oder reich ſind.
Alle Kuͤnſte der Verfuͤhrung und der Stutzer-
welt werden aufgeboten, ein junges unerfahre-
nes Herz zu belagern; aber gewoͤhnlich ſchei-
tert der Eroberungsplan, wenn Rang oder
Geld nicht die wirkſamſten Geſchuͤtze ſind.
Kein Vorwurf den man der jungen Maͤdchen-
welt machen koͤnnte, waͤre ungerechter, als
wenn man ſie der Neigung zu verliebten
Abentheuern beſchuldigen wollte. Keine Spur
jener Empfindſamkeit und Treuherzigkeit, mit
welcher ſich die deutſchen Emilien und Maria-
Zweiter Theil. G g
[466] nen ſchon vor ihrem zehnten Jahr an einen
lieben Jungen haͤngen; keine ſuͤßen Unterre-
dungen mit dem holden Vertrauten der Nacht,
und — dem Himmel ſey’s gedankt! — auch
keine Siegwarte giebt es hier. Alle Liebesge-
ſchichten eines Jahres zuſammengenommen
wuͤrden kaum Stoff zu dem magerſten Roman
hergeben, aber — deſto mehr liefern die Eh-
ſtandsgeſchichten.
Bey aller Geſelligkeit ſind wahre dauer-
hafte Freundſchaften ſelten genug. Man be-
ſucht viele Jahre hindurch Haͤuſer in denen
man gut aufgenommen wird, ohne jemals zur
Kenntniß der Familienverhaͤltniſſe zu gelangen.
Die Verſchloſſenheit auf der einen, und die
Gleichguͤltigkeit auf der andern Seite gehen
oft ſo weit, daß man ein alter Bekannter des
Hauſes ſeyn kann, ohne gerade die Anzahl der
Kinder zu wiſſen, oder von der Exiſtenz eines
abweſenden nahen Verwandten unterrichtet zu
ſeyn. In den gewoͤhnlichen Zirkeln iſt nur
von allgemeinen Dingen die Rede; hier er-
ſchoͤpft man ſeine Theilnahme fuͤr alltaͤgliche,
oft unintereſſante Begebenheiten, unterdeſſen
man Freuden und Leiden in ſeinem Buſen
[467] verſchließt. Eben die Zuruͤckhaltung der man
ſich ſelbſt unterwirft, wird auch gegen Andere
beobachtet. Die mindeſte Neugier, das Ver-
haͤltniß und die Lage ſeiner Bekannten von
ihnen ſelbſt zu erforſchen, wuͤrde indiskret ſeyn
und hieße gegen die Geſetze des guten Tons
fehlen. Hieraus erklaͤrt ſich die große Unem-
pfindlichkeit, die man ſo durchgaͤngig bey den
Abwechſelungen des Schickſals ſeiner Freunde
und Bekannten aͤußert. Ununterrichtet von
dem Gewebe widriger Vorfaͤlle, durch welches
man ſie ploͤtzlich vor ſeinen Augen verſtrickt
ſieht, kann ihr Schickſal nur jene Theilnahme
erregen, welche aus dem allgemeinen Wohl-
wollen oder aus dem Intereſſe entſpringt, das
der Ungluͤckliche als Menſch, als Geſellſchafter
einzufloͤßen wußte. Zuweilen giebt ſelbſt die
Blutsverwandtſchaft keine hinlaͤnglichen An-
ſpruͤche auf eine hoͤhere und thaͤtige Theilnah-
me; ein Fall der jedoch unter den Ruſſen bey
weitem ſeltner als unter den Auslaͤndern vor-
zukommen pflegt. — Wie ſich aber uͤberall
Extreme in der moraliſchen Welt begegnen, ſo
auch hier. Wo die Freundſchaft einmal Wur-
zel gefaßt hat, da aͤußert ſie ſich oft in un-
G g 2
[468] gewoͤhnlicher Spannung und ſeltſamen auffal-
lenden Wirkungen. Ueberhaupt iſt die Mit-
telbahn nicht das Gleis der Menſchen unter
dieſem Himmelsſtrich; Waͤrme und Kaͤlte ſte-
chen hier nicht greller ab, als die uneinge-
ſchraͤnkteſte Dahingebung und der zuruͤckſchrek-
kendſte Egoismus.
Wir laſſen den Vorhang vor dieſem in-
tereſſanten Schauplatz fallen, und eilen dem
letzten Gegenſtande zu, der unſere Aufmerk-
ſamkeit in der Region der Sitten beſchaͤftigen
wird.
Um ſich von der Lebensart der Großen
einen deutlichen Begriff zu machen, iſt es noͤ-
thig ſich an das Verhaͤltniß zu erinnern, in
welchem dieſe Klaſſe hier zu den uͤbrigen ſteht.
Wer den Zuſtand eines reichen deutſchen Edel-
mannes mit der Lage eines ruſſiſchen Großen
vergleichen wollte, der wuͤrde in zwey ſehr un-
gleichartigen Gegenſtaͤnden eine Aehnlichkeit
finden. Nicht der außerordentliche Reichthum
allein, der in dieſer Klaſſe vertheilt iſt, ſon-
dern auch die Abhaͤngigkeit einer groͤßern oder
geringern Anzahl von Menſchen, deren koͤr-
perliche und geiſtige Kraͤfte dem Eigenthuͤmer
[469] voͤllig zu Gebote ſtehen, muß in Anſchlag ge-
bracht werden, um einen richtigen Maaßſtab
fuͤr den Spielraum des Unternehmungsgeiſtes
und die Groͤße der Huͤlfsmittel zu erhalten.
Reich heißt unter dieſer Klaſſe nur derje-
nige, der das Ziel ſeines Aufwandes uͤber die
hier gewoͤhnliche Grenze hinausſtecken kann.
Wir ſind aus dem Vorhergehenden mit den
Beduͤrfniſſen des Mittelſtandes bekannt; es
wird nicht ſchwer ſeyn, ſich nach dieſer Vor-
ausſetzung eine Vorſtellung von der Lebensart
der hoͤhern Staͤnde zu verſchaffen. Ein Land-
eigenthuͤmer der jaͤhrlich 20 bis 25,000 Rubel
von ſeinen Bauern erhebt, kann ſich in der
Groͤße ſeines Aufwandes nicht ſehr uͤber den
reichen Theil der gewerbtreibenden Klaſſe er-
heben. Ein doppelt ſo großes Einkommen
macht ſeinen Beſitzer nur wohlhabend, wenn
er in der Reſidenz und am Hofe lebt; aber
eine drey- oder vierfach groͤßere Revenuͤe ſetzt
ihn erſt in die Klaſſe der Reichen, und hier
beginnt eine neue Stufenleiter, die nur eine
Vergleichung mit den landesherrlichen Ein-
kuͤnften kleiner europaͤiſchen Souveraine zu-
laͤßt.
G g 3
[470]
Doch dieſer Reichthum iſt nur Eine Reſ-
ſource fuͤr den Aufwand der Großen. Eine
andere ſehr betraͤchtliche Huͤlfsquelle liegt in
der willkuͤhrlichen Benutzung der Bauern.
Die Livree, dieſer auffallende Zweig des hieſi-
gen Luxus, wird durchgaͤngig aus den Erbleu-
ten gehoben, und der geringſte Vortheil der
hieraus fließt, iſt die Erſparung des Dienſt-
lohns. Dieſe Heere von Bedienten (einige
Haͤuſer halten deren uͤber 200) *) wuͤrden wirk-
lich durch ihren Muͤßiggang allzuſehr zur Laſt
fallen, wenn man ſie nicht auf eine andere Art
nuͤtzlich zu machen wuͤßte. Man laͤßt ſie da-
her, nach Maaßgabe ihrer phyſiſchen und mo-
raliſchen Beſchaffenheit, in allen Gewerben
und Handthierungen unterrichten, die fuͤr das
Beduͤrfniß eines großen Hauſes paſſend ſind.
Schneider, Schuſter, Tiſchler, Tapezierer,
Koͤche, Gaͤrtner, Friſeurs werden auf dieſe
Weiſe gezogen, und wenn es einer unter ih-
nen zu einer gewiſſen Vollkommenheit gebracht
[471] hat, wird er der Lehrmeiſter ſeiner rohen Mit-
bruͤder. Ein gewandter Kerl, der zu mehr
als Einem Fache taugt, hat nicht ſelten meh-
rere ſehr abſtechende Beſtimmungen. Weibliche
Bediente erhalten Anweiſung in den feinern
Arbeiten der Nadel, oder werden zu Putzma-
cherinnen in die Lehre gegeben, um hernach
Andern ihre Kunſtfertigkeit mittheilen zu koͤn-
nen. Große, die Liebhaberey von der Muſik
machen, bilden ſich aus ihren Leuten eine Ka-
pelle, bey welcher nur der Direktor ein eigent-
licher Kuͤnſtler zu ſeyn braucht. Zuweilen ſen-
den Landbeſitzer die faͤhigſten Koͤpfe unter ih-
ren Leibeigenen in fremde Laͤnder, um ſie fuͤr
einen beſtimmten Zweck ausbilden zu laſſen;
mir iſt ein Beyſpiel bekannt, da ein ruſſiſcher
Bauer auf eine deutſche Univerſitaͤt geſchickt
wurde, um dort die Phyſik und Aſtronomie zu
ſtudieren, und nach ſeiner Zuruͤckkunft ein Buch
ſchrieb, welches er ſeinem Erbherrn zueignete.
Auch auf ſeinen Guͤtern etablirt der Adel Hand-
werker und Manufakturiſten, unter deren An-
fuͤhrung die Bauern oft Produkte liefern, die
den beſten Arbeiten der Auslaͤnder wenig nach-
geben. Die große Empfaͤnglichkeit der ruſſi-
G g 4
[472] ſchen Nation erleichtert dieſe Maaßregel gar
ſehr; es giebt keine mechaniſche Fertigkeit, zu
welcher der roheſte Bauer nicht einige Anlage
haͤtte, und der Stock, das große Zaubermit-
tel, kultivirt dieſes Talent ſo vortrefflich, daß
man in unglaublich kurzer Zeit aus dem ein-
faͤltigſten Kerl machen kann was man will. —
Rechnet man zu allen dieſen Vortheilen noch
den Gewinn an den Landesprodukten, welche
der Adel fuͤr ſein Beduͤrfniß nach der Reſidenz
ſchaffen laͤßt, ſo wird man ſich einen Begriff
von den Huͤlfsquellen machen koͤnnen, die den
ruſſiſchen Großen bey ihrer mit aſiatiſchem
Luxus verwebten Lebensart offen ſtehn.
Familien aus dieſer Klaſſe, die ſich gaͤnzlich
in der Reſidenz niedergelaſſen haben, beſitzen
hier gewoͤhnlich eigne Haͤuſer und Pallaͤſte, in
denen oft der ausgeſuchteſte Geſchmack und
eine fuͤrſtliche Pracht herrſchen, wenn ſie auch
einen Theil ihrer Lebenszeit in Moskau oder
auf ihren Guͤtern zubringen, wo ſie nicht ſel-
ten eben ſo gut und beſſer eingerichtet ſind.
Der Zuſammenfluß großer Kuͤnſtler und ge-
ſchickter Arbeiter in der Reſidenz erleichtert dem
reichen Adel die Ausfuͤhrung ſeiner oft rieſen-
[473] maͤßigen Entwuͤrfe. Trotz den engliſchen Lords
vertheilen ſich die ruſſiſchen Großen in den kul-
tivirten Laͤndern von Europa und ſuchen uͤberall
Kunſtwerke und Koſtbarkeiten zuſammen, um
ihre Familienſitze zu verſchoͤnern. Beweiſe
hievon finden ſich in mehreren vorhergehenden
Abſchnitten. Zuweilen aber kontraſtirt auch
der edelſte Geſchmack in der Bauart mit ein-
zelnen bizarren Ideen, oder die groͤßte Pracht
in der innern Einrichtung mit einer auffallen-
den Vernachlaͤßigung in kleinen alltaͤglichen Ge-
genſtaͤnden. Dieſe Ungleichheit wird faſt in al-
len Zweigen der Lebensart ſichtbar, wie man
aus mehreren vorhin angefuͤhrten Beyſpielen
weiß. Große, welche Liebhaberey von Pfer-
den machen und einen fuͤrſtlichen Stall unter-
halten, laſſen nicht ſelten haͤßliche Miethgaͤule
vor ihre praͤchtige Wagen ſpannen; reichge-
kleidete Huſaren ſtechen zuweilen neben alten,
ſchmutzigen Livreen ab. Nur an Gallatagen
oder bey feſtlichen Gelegenheiten ſieht man
jene Uebereinſtimmung und Ordnung, die oft
mehr gefaͤllt als die Pracht ſelbſt, hier aber
nach einer allgemeinen Konvenienz ſo leicht
vernachlaͤßigt wird.
G g 5
[474]
Ueber den herrſchenden Geſchmack in Equi-
page, Bedienung und Kleidung iſt hin und
wieder ſchon das Noͤthige geſagt. Die Tafeln
der Großen werden gewoͤhnlich von franzoͤſi-
ſchen Koͤchen beſorgt; zuweilen erſcheint ein
Nationalgericht, welches ſich durch ſeine gute
Zubereitung empfiehlt, und in manchen Haͤu-
ſern ſind franzoͤſiſche, deutſche und ruſſiſche
Koͤche vorhanden, um jeden Geſchmack befrie-
digen zu koͤnnen. An die Faſten bindet man
ſich nicht uͤberall auf das ſtrengſte; wo dies
aber auch der Fall iſt, da finden ſich gewoͤhn-
lich doppelte Schuͤſſeln, um die Auslaͤnder nicht
einem gleichen Zwange zu unterwerfen. Die
Tafel macht eine ſehr betraͤchtliche Rubrik un-
ter den Ausgaben der Großen. Es giebt Haͤu-
ſer, in welchen taͤglich hundert und mehr Ru-
bel fuͤr dieſen einzigen Artikel beſtimmt ſind,
ohne den großen Einkauf, die Getraͤnke und
den Nachtiſch zu rechnen. Leckereyen aus weit-
entfernten Laͤndern werden zuweilen ſogar durch
Eilboten herbeygeſchafft, und es hat Faͤlle ge-
geben, wo eine einzige Fiſchſuppe fuͤnf bis
ſechshundert Rubel zu ſtehen kam. In vielen
Haͤuſern iſt die Tafel taͤglich und zu allen
[475] Jahrszeiten mit den koͤſtlichſten und auserle-
ſenſten Fruͤchten beſetzt; es giebt Große die
in ihren Treibhaͤuſern jaͤhrlich gegen 20,000
Klafter Holz verbrauchen und ihren Gaͤrtner
mit tauſend Rubeln bezahlen.
Eben die Gaſtfreyheit, welche den Mittel-
ſtand in St. Petersburg auf eine ſo eigen-
thuͤmliche Art auszeichnet, iſt auch unter den
Großen und in noch hoͤherem Grade herrſchend.
Wer einmal in einem Hauſe vorgeſtellt iſt und
anſtaͤndig gekleidet erſcheint, kann ſich jedes-
mal zur Tafel einfinden, ohne gebeten zu ſeyn
und ohne wider den Wohlſtand zu verfehlen.
Die Liberalitaͤt der Großen hierinn geht ſo
weit, daß es gewiß kein ſeltner Fall iſt, wenn
der Wirth des Hauſes dieſen oder jenen Gaſt
kaum dem Namen nach kennt. Der alte Graf
Raſumowski ſah taͤglich eine große Anzahl
Leute an ſeinem Tiſch, von denen ihm die meh-
reſten einmal empfohlen waren und alſo freyen
Zutritt hatten, ohne daß er ſich weiter um ſie
bekuͤmmerte. Ein fremder Offizier, der ruſſi-
ſche Dienſte ſuchte, erſchien taͤglich an der Ta-
fel des Grafen, und ſah ſich auf dieſe Weiſe
bey einer großen Armuth im Stande zwey
[476] Jahre hindurch in der Reſidenz zu leben.
Der Graf, der ihn nicht nur an ſeinem Tiſch,
ſondern auch zuweilen in ſeiner Bibliothek an-
traf, und einen kenntnißreichen erfahrnen Offi-
zier in ihm fand, gewann ihn lieb, ohne ihn
jemals um ſeine Verhaͤltniſſe zu befragen,
und dieſe zu entdecken hatte der Offizier nicht
Entſchloſſenheit genug. Ploͤtzlich permißt man
dieſen Mann an der Tafel des Grafen, und
es findet ſich, daß Niemand, nicht einmal die
Bediente des Hauſes ſeinen Namen oder ſeine
Wohnung wiſſen. Der Graf, der einen ſo
guten Geſellſchafter ungern verlor, laͤßt uͤberall
die ſorgfaͤltigſten Nachforſchungen anſtellen;
man trifft den Fremdling nicht weit von der
Reſidenz, im Begriff ſeine Ruͤckreiſe anzutre-
ten. Er wird, ohne weitere Erklaͤrung, zuruͤck
und in das Haus des Grafen gefuͤhrt, wo er,
ſtatt einer aͤngſtlich befuͤrchteten Kataſtrophe,
eine gute Tafel findet, und ſeinen Platz ne-
ben dem Grafen einnehmen muß. Ein freund-
ſchaftliches Geſpraͤch loͤſ’t das Raͤthſel, und
was zweyjaͤhrige Bemuͤhungen dem Fremden
nicht hatten verſchaffen koͤnnen, das gewaͤhrt
ihm der Zufall: eine anſtaͤndige Stelle bey
der Armee.
[477]
Von der edlen Liberalitaͤt, mit welcher die
Großen ihre Haͤuſer und Landſitze dem Ver-
gnuͤgen des Publikums widmen, ſind in den
vorhergehenden Abſchnitten ſchon ſo viele Bey-
ſpiele angefuͤhrt, daß es uͤberfluͤßig ſcheint,
hier noch etwas daruͤber zu ſagen. Gewiß in
keinem Lande iſt dieſer populaͤre Aufwand
groͤßer.
Mit eben der guten Art, mit welcher Leute
aus den hoͤchſten Staͤnden Jedermann bey ſich
zu empfangen gewohnt ſind, nehmen ſie auch
Einladungen von Geringeren an. Es iſt et-
was ſehr gewoͤhnliches, Miniſter und Generale
vom erſten Range bey ihren Untergeordneten,
bey Kaufleuten und Buͤrgern ſpeiſen zu ſehn.
Die Großen, die hier ſo gut wie irgendwo
die Rechte ihres Standes kennen und geltend
zu machen wiſſen, glauben ſich durch dieſe Po-
pularitaͤt nicht, wie anderswo, etwas zu ver-
geben; ihre Wuͤrde verliert nichts dabey, und
Niemand wird ſich dadurch zu einer Vernach-
laͤßigung berechtigt halten; aber die Kluft,
welche in Deutſchland die hoͤhern Staͤnde von
den niedern trennt, iſt hier durch Sitten und
Gebraͤuche ausgeglichen. Nicht nur in den
[478] Haͤuſern einzelner Privatleute, auch in den
oͤffentlichen Vergnuͤgungsoͤrtern des Mittelſtan-
des ſieht man Große von allen Klaſſen unter
dem anſtaͤndigen Publikum vertheilt, wo ſie
nicht, wie ehemals in Paris, nur genießen
ſehen, ſondern ſelbſt Theil nehmen und ſich
ſogar geſellſchaftliche Aemter uͤbertragen laſſen.
Durch Erziehung und Reiſen mit den Spra-
chen und Sitten der Auslaͤnder bekannt, findet
man unter den Großen nur wenige Spuren
einer Anhaͤnglichkeit an alte vaterlaͤndiſche Ge-
braͤuche. Der Ton, der in den meiſten Haͤu-
ſern herrſcht, iſt der allgemeine europaͤiſche
Hofton, den ſich die hoͤhern Klaſſen in ſolchem
Maaße eigen gemacht haben, und den ſie mit
ſolcher Feinheit und Gewandheit uͤben, daß
dieſe Zirkel, naͤchſt denen in dem ehemaligen
Verſailles, vielleicht fuͤr die beſte Schule ei-
nes Weltmanns gelten koͤnnen.
[479]
Dreyzehnter Abſchnitt.
Karakterzuͤge.
Große Miſchung von Nationen, Sitten und Sprachen.
Auffallende Wirkung hievon: Mangel einer ſtarkher-
vorſpringenden allgemeinen Denkungsart. — Peters-
burgiſche Deutſche. Großes Beyſpiel deutſcher Ehr-
lichkeit, von einer deutſchen Frau gegeben. Franzoſen.
Engländer. Uebrige Nationen. Orientalen. Aſiaten.
— Allgemeine Karakterzüge. Religiöſe, politiſche
und geſellſchaftliche Toleranz. Achtung für Stand und
Rang. Gutmüthigkeit und Jovialität. Geld- und
Rangſucht. Freygebigkeit. Leichtſinn. Unbeſtändig-
keit.
Was meine Leſer unter dieſer letzten Rubrik
zu erwarten haben, verkuͤndigt die Ueberſchrift.
Kein großes zuſammenhaͤngendes Karakterge-
maͤlde — denn wenn es deſſen noch beduͤrfte,
ſo waͤre der Zweck dieſes ganzen Buchs ver-
[480] fehlt, und der Verfaſſer ſowol als die Leſer
haͤtten ſehr uͤbel gethan, jener zu ſchreiben und
dieſe zu leſen — ſondern einzelne aufgeſam-
melte Zuͤge, eine kleine Nachleſe von Bemer-
kungen, die uͤberall im Buche ſelbſt keinen
ſchicklichen Platz finden konnten.
In der Schilderung der Lebensart und
Sitten haben wir die Menſchen nach den
Staͤnden geſondert, weil dieſe die Grund-
lage machen, nach welcher ſich jene Gegen-
ſtaͤnde modifiziren; hier iſt es die Abſtam-
mung, welche den Unterſchied und die Eigen-
thuͤmlichkeiten hervorbringt, die ſich in dem
allgemeinen Karakter einer ſo ſehr gemiſchten
Menſchenmaſſe entdecken.
Die Auslaͤnder, welche in St. Petersburg
wohnen, machen ungefaͤhr den ſiebenten Theil
der ganzen Bevoͤlkerung aus *). Es iſt ſehr
moͤglich, daß dieſes Verhaͤltniß auch in andern
großen Staͤdten ſtatt findet, aber ſicherlich
wird es nirgend ſo auffallend als hier. Dies
ruͤhrt
[481] ruͤhrt theils daher, weil bey weitem der groͤßte
Theil der Auslaͤnder zu den gebildeten Klaſſen
gehoͤrt und daher in dieſen ſehr merklich wird;
theils auch weil nirgend ſo viele Sprachen
uͤblich ſind und weil die Auslaͤnder die ihrigen
unter ſich und mit den Ruſſen ſprechen. Die
anſaͤßigen Auslaͤnder in Paris, London, Rom,
u. ſ. w. gehoͤren nur zu den untern Volksgat-
tungen, koͤnnen ohne die Kenntniß der Landes-
ſprache ſchlechterdings nicht beſtehen, und fuͤ-
gen ſich nach den herrſchenden Sitten und Ge-
braͤuchen. Daher kommt es, daß ihre Anzahl,
ſelbſt da wo ſie ſehr groß iſt, nicht nur nicht
auffaͤllt, ſondern voͤllig unbemerkt bleibt. Hier
trifft gerade das Gegentheil zu. Ein Deutſcher
z. B. der als Fremdling hier ankoͤmmt, kann
bey deutſchen Gaſtwirthen wohnen, ſeine Be-
duͤrfniſſe bey deutſchen Handwerkern beſtellen,
deutſche Bediente miethen, deutſche hieſige
Zeitungen und Intelligenzblaͤtter leſen, deutſche
Kirchen beſuchen, ſeine Kinder in deutſche
Schulen ſchicken, deutſche Bekanntſchaften in
allen Staͤnden finden bis zum Throne hinauf,
und allen Genuß des geſellſchaftlichen Lebens
theilen, ohne die Landesſprache zu wiſſen. Er
Zweiter Theil. H h
[482] kann ſein ganzes Leben hindurch allen Geſchaͤf-
ten des buͤrgerlichen Lebens vorſtehen, ein
Hausweſen fuͤhren, ja ſelbſt oͤffentliche Aemter
bekleiden und in wichtigen Staatsbedienungen
dem Lande nuͤtzlich werden, ohne eine andere
als ſeine Mutterſprache zu ſprechen. Dieſe Ver-
faſſung iſt ſo einzig, daß ſie der eigenthuͤm-
lichſte Zug in der Karakteriſtik von Peters-
burg wird.
Die erſte auffallende Wirkung hievon iſt
der Mangel einer ſtark hervorſprin-
genden allgemeinen Denkungsart.
Der Ruſſe, als der bey weitem zahlreichſte
Theil, uͤberwiegt allerdings mit ſeinem Natio-
nalkarakter; aber er iſt, unter dieſer Vermi-
ſchung mit Auslaͤndern, die er nachahmt und
von denen er ſo oft ſeine Erziehung und Bil-
dung erhaͤlt, nicht Ruſſe genug, um ſeine in-
dividuelle Denkungsart hervorſtechend zu ma-
chen. Die uͤbrigen Nationen, vorzuͤglich die
Deutſchen und Franzoſen, haben freylich auch
einigen Einfluß auf die allgemeine Denk- und
Handlungsweiſe; aber die ſchwachen Wirkun-
gen hievon verlieren ſich unter der großen
Maſſe wider einander ſtoßender Prinzipien und
[483] Meynungen. — So bleibt alſo der Deutſche,
der Franzoſe, der Englaͤnder, wenn er gleich
mehr oder weniger Ruſſe wird, im Grunde
doch immer noch Deutſcher, Franzoſe, Englaͤn-
der — und der Ruſſe, bey ſeinem Hin- und
Herſchwanken zwiſchen dem eigenthuͤmlichen
Karakter ſeiner fremden Mitbuͤrger, noch im-
mer Ruſſe genug, um nicht verkannt zu wer-
den, ob er gleich von ſeiner urſpruͤnglichen
Individualitaͤt ſehr viel verliert. Allein trotz
dieſer Verſchiedenheit und Abſonderung in der
Denkungsart, giebt es dennoch gewiſſe Haupt-
zuͤge in derſelben, die durch ihre Allgemeinheit
karakteriſtiſch werden und den Geiſt des Pu-
blikums beſtimmen. Ehe ich es wagen darf,
dieſe zu ſchildern, muß ich vorher die Abwei-
chungen anzugeben ſuchen, durch welche ſich
der Nationalkarakter jedes Volks nach den
Lokalbeſtimmungen nuͤanzirt.
Nichts iſt unbeſtimmter, als die Vorſtel-
lung, die man faſt in allen Laͤndern von der
moraliſchen Individualitaͤt der Ruſſen hat.
Selbſt die mehreſten neueren Beobachter, die
auf pſychologiſche Entdeckungen unter dieſem
Volke ausgegangen ſind, haben ſich, aus Un-
H h 2
[484] bekanntſchaft mit der Landesſprache, auf die
unzuverlaͤßigen und uͤbertriebenen Berichte aͤl-
terer Reiſenden geſtuͤtzt, und dadurch eine
Menge ſchiefer und laͤcherlicher Urtheile von
neuem in Umlauf gebracht und mit dem Ge-
praͤge einer groͤßern Glaubwuͤrdigkeit verſehen.
Faſt allen iſt die ſo wichtige und entſcheidende
Bemerkung entgangen, daß der Nationalka-
rakter bey weitem in den mehreſten Staͤnden
ſeit Peters des Großen ſchoͤpferiſcher Re-
gierung ſich in einem Zuſtande von Gaͤhrung
befindet, der fuͤr den gegenwaͤrtigen Augenblick
jedes allgemeine Urtheil unmoͤglich macht, aber
durch ſeine vielverſprechenden Folgen die Auf-
merkſamkeit des philoſophiſchen Beobachters
aufs hoͤchſte intereſſirt. Nirgend iſt dieſe Gaͤh-
rung ſichtbarer, als in der Reſidenz, wo ſie
durch die große Miſchung aller Nationen und
die wirkſamere Leitung vom Throne herab be-
foͤrdert wird. Beyſpiele hievon anzufuͤhren
und dies weitlaͤuftiger auseinander zu ſetzen,
erlaubt der Plan dieſer Schilderung nicht, da
wir es hier weniger mit den Ruſſen als mit
den Petersburgern zu thun haben, und was
[485] dieſe vorzuͤglich karakteriſirt, davon wird in der
Folge ausfuͤhrlicher die Rede ſeyn.
Unter den Auslaͤndern ſind die Deut-
ſchen, ſowol durch ihre große Anzahl, die
der Bevoͤlkerung einer betraͤchtlichen Stadt
Ehre machen wuͤrde, als auch durch die Ver-
bindung in welcher ſie mit den Ruſſen leben
und durch den Einfluß den ſie auf dieſe haben,
vorzuͤglich merkwuͤrdig. In allen Staͤnden
giebt es hier Deutſche, und in jedem derſelben,
den Handelsſtand ausgenommen, uͤberwiegen
ſie die uͤbrigen Auslaͤnder. Da ſie ſich mehr
als dieſe an die Nation ſchließen, und die Lan-
desſprache oft bis zur groͤßten Vollkommenheit
erlernen, ſo haben ſie unter allen fremden
ſeßhaften Einwohnern beſonders Anſpruch auf
Staatsbedienungen und militairiſche Wuͤrden.
In der That giebt es hier faſt kein einziges
Departement von Wichtigkeit, in welchem
nicht Deutſche, und zum Theil in ſehr bedeu-
tenden und ehrenvollen Aemtern angeſtellt
waͤren; ein Beweis ihrer Brauchbarkeit, der
um ſo weniger zweydeutig iſt, da ſie auch hier
das Schickſal haben, welches die Deutſchen
faſt unter allen europaͤiſchen Nationen ver-
H h 3
[486] folgt — das Schickſal, keiner Nationalachtung
zu genießen. Sey es nun Mangel einer glaͤn-
zenden Auſſenſeite, oder ein kleiner Hang zum
Steifen und Pedantiſchen, oder was es ſonſt
wolle, ſonderbar genug iſt’s, daß der Deutſche,
trotz ſeiner anerkannten Vorzuͤge, uͤberall in
Europa, in Paris wie in London, in Rom wie
in Petersburg, nicht nur als Deutſcher
keiner ſonderlichen Achtung genießt, wenn er
ſich dieſe nicht durch perſoͤnliche Ueberlegenheit
zu erzwingen weiß, ſondern ſelbſt der Gegen-
ſtand eines leichten Ridicuͤle beym großen Pu-
blikum wird. Dies iſt auch hier — natuͤrlich
mit gewiſſen Ausnahmen — der Fall, und das
ruſſiſche Njemez entſpricht dem engliſchen
german und dem franzoͤſiſchen allemand voll-
kommen.
Die Urſachen dieſer, fuͤr unſere National-
ehre ſo beleidigenden Erſcheinung ſcheinen hier
vorzuͤglich folgende zu ſeyn. Unter den Deut-
ſchen die hieher kommen, befinden ſich nur die
wenigſten in der Lage, daß ſie ſich nicht ge-
noͤthigt ſehen ſollten, entweder den Beutel
des Publikums auf irgend einen gewoͤhnlichen
oder ungewoͤhnlichen Weg zu beſchatzen, oder
[487] ſich auch ſogleich um Informatorſtellen zu be-
werben, ein Metier, auf welchem hier aus
mancherley Gruͤnden eine beſondere Art von
Geringſchaͤtzung ruht. Die Zeitungen ſind voll
von Anerbietungen ſolcher Leute, die ſich aufs
Gerathewohl hier einfinden, oder vielleicht,
durch Mißgeſchick umhergeworfen, nach Pe-
tersburg, als dem letzten Hafen aller Gluͤcks-
ritter eilen. Oft finden ſich unter ihnen Maͤn-
ner von Talent und Brauchbarkeit, und die-
ſen ſchlaͤgt es ſelten fehl, ſich zu einer guͤnſti-
gern Lage hinaufzuarbeiten; da aber taͤgliche
neue Ankoͤmmlinge das vergeſſene Bild ihres
vormaligen Zuſtandes erneuern, und die Reſi-
denz faſt der einzige Kanal iſt, durch welchen
dieſe fremden Anſiedler Rußland uͤberſtroͤmen,
ſo iſt es natuͤrlich, daß der Deutſche hier we-
niger gelten muß, als irgendwo im Reiche.
Ich uͤbergehe mehrere andere Urſachen,
um nur noch die letzte und wirkſamſte, den
Mangel an Selbſtgefuͤhl und Natio-
nalſtolz, zu ruͤgen. Dieſe beyden Eigen-
ſchaften, durch welche ſich alle, auch die arm-
ſeligſten Voͤlkerſchaften des Erdbodens aus-
zeichnen, ſcheinen dem Deutſchen, und nur dem
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[488] Deutſchen, zu fehlen. Kein andres Volk
ſchmiegt ſich ſo leicht und gern an fremde
Sitten an, kein andres Volk vergißt ſo bald
ſein Vaterland, als die Deutſchen. Der Eng-
laͤnder lebt in Neapel, Liſſabon und Peters-
burg als Englaͤnder; er ſieht ſeinen Aufent-
halt, und waͤre er ein Paradies, nur als eine
Verbannung an, und kehrt zuruͤck in ſein ge-
liebtes Vaterland, ſobald ein guͤnſtiges Schick-
ſal ihm laͤchelt. Die Deutſchen verlieren im
Auslande, vorzuͤglich wenn es ihnen wohl geht,
in wenigen Jahren ſelbſt die Ruͤckerinnerung
an ihr Vaterland, was auch ihre Dichter ſin-
gen und ſagen moͤgen. Ich habe Leute ge-
kannt, die aus den ſchoͤnſten und gluͤcklichſten
Gegenden Deutſchlands in dem Alter der Ue-
berlegung hieher gekommen waren, und mich
von den Vorzuͤgen ihres Vaterlandes mit Be-
geiſterung ſprechen hoͤrten, ohne nur einen
Wunſch nach der Ruͤckkehr in daſſelbe zu aͤu-
ßern. Mehrere wohlhabende und unabhaͤn-
gige Deutſche, die ich hieruͤber befragte, gaben
mir mit der kaͤlteſten Unempfindlichkeit zu ver-
ſtehen, daß ihnen allenthalben wohl ſey, wo
— Braten und Punſch zu haben waͤre. Nur
[489] bey aͤußerſt Wenigen kann dieſe Denkungsart
ſich auf Dankbarkeit gegen das Land gruͤnden,
dem ſie ihren Wohlſtand ſchuldig ſind; ein ſo
ſeines Gefuͤhl iſt nicht die Ausſteuer des gro-
ßen Hauſens.
Da es in St. Petersburg keinen herrſchen-
den Geiſt, keine Nationaldenkungsart giebt, ſo
ſind die Deutſchen hier natuͤrlich weit weniger
Ruſſen, als ſie in Paris Franzoſen oder in
London Englaͤnder ſind; aber mehr als alle
andere hier lebende Fremdlinge haben ſie ſich
doch den Ruſſen genaͤhert. Die deutſche Frau
vom bon Ton ſpricht lieber ruſſiſch als deutſch;
es giebt Deutſche, die ſich ihres Namens ſchaͤ-
men, weil ſie ſich fuͤrchten, zu einer Nation
gezaͤhlt zu werden, wider die das Vorurtheil
ſpricht.
Die fremden Einwohner jeder Nation bil-
den einen engern Zirkel unter ſich; ſo auch die
Deutſchen. Aber jede dieſer Kolonieen hat
zugleich ein gemeinſames, mehr oder weniger
ſtarkes Intereſſe; dies haben die Deutſchen
nicht. Statt dieſes Gemeingeiſts findet man
bey ihnen jene kleinſtaͤdtiſche Theilnahme an
den Schickſalen ihrer Mitbuͤrger, die ſich auf
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[490] eine bloße unfruchtbare Neugier beſchraͤnkt.
Alles, was im vorigen Abſchnitte uͤber die
geſellſchaftliche Toleranz geſagt worden iſt, lei-
det unter den Deutſchen ſtarke Ausnahmen.
Nirgend wird der Deutſche ſchaͤrfer gefaßt
und haͤrter beurtheilt, als unter Deutſchen.
Statt alle fuͤr Einen und Einer fuͤr alle zu
ſtehen, wie dies bey mehreren Kolonieen der
Fall iſt, geben ſich die Deutſchen ſelbſt einan-
der preis.
Iſt es nicht natuͤrlich, daß ſie unter dieſen
Umſtaͤnden im Ganzen der Achtung nicht ge-
nießen, die ihnen uͤbrigens ihre mannigfaltigen
guten Seiten und das perſoͤnliche Verdienſt ſo
vieler achtungswuͤrdigen Leute aus ihrem Mit-
tel zuſichern koͤnnten? — Es ſcheint das boͤſe
Loos der Deutſchen zu ſeyn, daß ihre Natio-
nalfehler und Schwachheiten ſo hervorſtechend,
und ihre guten und trefflichen Eigenſchaften ſo
unſcheinbar ſind!
Doch, auch dieſe zeigen ſich hier nicht ſel-
ten in einem glaͤnzenden, gefaͤlligen Lichte, und
es thut mir wohl, dieſe Bemerkung nieder-
ſchreiben zu koͤnnen. Die großen Nationaltu-
genden der Deutſchen, Arbeitſamkeit und
[491]Ehrlichkeit, zeichnen dieſes Volk auch hier
auf eine ſehr ehrenhafte Weiſe aus. Es giebt
kein noch ſo muͤhſames Geſchaͤfte, in welchem
die Deutſchen hier nicht etwas geleiſtet haͤtten;
in den mehreſten Gewerben, Wiſſenſchaften
und Kuͤnſten ſind ſie die Lehrer der Ruſſen
geweſen und ſind es zum Theil noch. —
Ihre Ehrlichkeit freylich wird hier durch Bey-
ſpiel und Intereſſe ſo oft in Verſuchung ge-
fuͤhrt, daß ſie zuweilen unterliegt; aber noch
iſt der Ruf dieſer alten deutſchen Tugend un-
ter uns nicht verloren gegangen, und noch
ſind die Faͤlle nicht ſelten, da ſich dieſer Ruf
auf eine ſehr merkwuͤrdige Art bewaͤhrt. Fol-
gende, in den kleinſten Umſtaͤnden wahre Ge-
ſchichte iſt von dieſer und von mehreren an-
dern Seiten ſo karakteriſtiſch, daß ich es als
keine Abweichung von meinem Zwecke anſehen
kann, wenn ich ihr hier den kleinen Platz
goͤnne, den ſie einnimmt.
In der kleinen Kreisſtadt Oranienbaum
lebt eine Frau von neunzig Jahren, aus Holl-
ſtein gebuͤrtig. Ein kleines Haͤuschen iſt ihr
ganzer Beſitz, und der Beſuch einiger Schiffer,
[492] die auf feſtem Lande guͤnſtigen Wind abwar-
ten, ihr ganzer Erwerb.
Einsmals, da mehrere hollaͤndiſche Schiffer
bey ihr zu Abend gegeſſen hatten, findet ſie
beym Aufraͤumen einen verſiegelten Beutel mit
Geld unter dem Tiſch. Ihre Beſtuͤrzung uͤber
dieſen unerwarteten Fund iſt natuͤrlich ſehr
groß; es mußte Jemand aus der ſo eben ab-
gereiſ’ten Geſellſchaft den Beutel vergeſſen ha-
ben: aber die Schiffer waren in See, der
Wind guͤnſtig und an keine Ruͤckkehr der Gaͤſte
zu denken. Die gute Frau legt den Beutel in
ihren Schrank, wo er ſo lange ruhen ſollte,
bis ſich ſein Beſitzer melden wuͤrde. Doch,
dieſer meldet ſich nicht. Sieben Jahre
hindurch bewahrt ſie aufs ſorgfaͤltigſte ihr Un-
terpfand, oft von Gelegenheiten verſucht, noch
oͤfter vom Mangel gedraͤngt, das Geſchenk des
Zufalls zu benutzen. Doch ihre Ehrlichkeit
ſiegt uͤber jeden Reiz der Gelegenheit und uͤber
jedes Gebot des Mangels. Nach ſieben Jah-
ren bewirthet ſie abermals einige Schiffer.
Drey unter ihnen waren Englaͤnder, der vierte
ein Hollaͤnder. Unter andern Geſpraͤchen fra-
gen jene dieſen, ob er ſchon jemals in Oranien-
[493] baum geweſen ſey. — „Was ſollt’ ich nicht!“
iſt die Antwort. „Ich kenne das verdammte
Neſt nur zu gut. Es hat mich ſiebenhundert
Rubel gekoſtet.“ — Wie das? — „Je, ich
habe in der Trunkenheit einmal in einer hie-
ſigen Schenke einen Bentel mit Silbermuͤnze
liegen laſſen.“ — War der Beutel verſiegelt?
fragte die Wirthinn, die in einer Ecke der
Stube ſaß, und durch dieſe Erzaͤhlung auf-
merkſam gemacht wurde. — „Ja wohl! da,
ich trage das Petſchaft noch bey mir, womit
er zugeſiegelt war.“ — Die Frau erkannte
das naͤmliche Siegel. — Nun, ſagte ſie, ſo
kann ſich’s wol noch einmal wieder finden,
was er verloren hat. — „Ja, wiederfinden,
Mutter! Da muͤßt’ ich nicht ſo alt geworden
ſeyn, wenn ich das hoffen koͤnnte. Nein, ſo
ehrlich iſt die Welt nicht mehr! Bedenkt
’mal, ſieben Jahr’ iſt’s her! — Wollt’ ich
doch, daß der verdammte Beutel bey allen —
waͤr’. Hat mir ganz meinen guten Humor
verdorben. Noch ein Glas Punſch, Mutter!“
Waͤhrend die vier Herren beſchaͤftigt wa-
ren, das Andenken an dieſen verdruͤßlichen
Vorfall in Punſch zu ertraͤnken, hatte ſich das
[494] Muͤtterchen hinausgeſchlichen, und kam itzt
mit ihrem Beutel muͤhſam herbeygewatſchelt.
— Sieht er, daß die Ehrlichkeit nicht ſo rar
iſt als er glaubt, ſagte ſie, und ſetzte den
Beutel auf den Tiſch.
Das ſprachloſe Erſtaunen der Gaͤſte, und
bey wiederkehrendem Bewußtſeyn, ihre ver-
ſchiedenen Ausbruͤche von Dankbarkeit und
Beyfall erlaſſe ich meinen Leſern. Die vier
Herren waren ſaͤmmtlich bey ziemlichen Jah-
ren, hatten die Welt von Japan bis Terre-
neuve und vom Kap bis Archangel ebenmaͤßig
durchkreuzt; hatten mit ſchwarzen und brau-
nen Geſichtern, mit kraushaarigen und friſir-
ten Koͤpfen zu thun gehabt — daß ihr Erſtau-
nen um deſto groͤßer war, iſt freylich keine
Lobrede auf unſere Zeiten.
In keiner Seele giengen ſo große Bewe-
gungen vor, als in der des Hollaͤnders. Von
der hoͤchſten Ueberzeugung ſeines Verluſts bis
zur hoͤchſten Gewißheit des wiedererlangten Be-
ſitzes — der Sprung war zu groß, um nicht
alle Fibern ſeines phlegmatiſchen Koͤrpers in
Erſchuͤtterung zu ſetzen. Ein Blick auf die
ehrliche Frau, der er dies frohe Entzuͤcken ver-
[495] dankte, brachte ihn wieder zu ſich ſelbſt. Ein
ploͤtzlicher Anſtoß von Großmuth bemaͤchtigte
ſich ſeiner, und alle andere Empfindungen wi-
chen ehrerbietig zuruͤck. Er griff in den Beu-
tel, nahm — Einen Rubel heraus, und legte
ihn mit einer zierlichen Dankſagung fuͤr ge-
habte Bemuͤhung auf den Tiſch.
Ein Erſtaunen jagte das andere. Die Zu-
ſchauer verſtummten.
„God dam! ſagte endlich der Englaͤnder
einer und ſchlug mit der Fauſt auf den Tiſch.
Den Beutel da, Bruder, wirſt du doch nicht
fuͤr dich behalten wollen? Der gehoͤrt, hol
mich und ſtraf mich! der Frau.“ — Die bey-
den Englaͤnder, die bisher ſtumm geſeſſen hat-
ten, gaben dieſer Bill mit dem kraͤftigſten Un-
geſtuͤm ihren Beyfall. Der Hollaͤnder erblaßte
und ſuchte Troſt in den vielfaͤltigen Betheu-
rungen der Wirthinn, daß ſie gar nichts ver-
lange, daß ſie nur ihre Schuldigkeit gethan
zu haben glaube, und daß der Hollaͤnder ſo-
gar ſeinen Rubel zuruͤcknehmen muͤſſe. Doch,
ſo leicht wollten die Britten die Segel nicht
ſtreichen. Das Geſpraͤch ward hitziger, die
God dam’s folgten ſich ſchneller, und die
[496] Faͤuſte der Englaͤnder ſchickten ſich an, dem
Streit via facti ein Ende zu machen. Indeſ-
ſen ſuchte der Hollaͤnder das Korpus delikti
in ſeine Gewahrſam zu bringen.
Nach langem Debattiren, und weil er keine
Moͤglichkeit ſah, hier zu entkommen, ließ er
ſich zu funfzig Rubeln willig finden. Die Brit-
ten beſtunden auf hundert. Dieſer Vorſchlag
ſchien dem Hollaͤnder ſo unbillig, daß er er-
klaͤrte, ſich eher dem ganzen Gewicht ihrer
Faͤuſte preis geben zu wollen.
„Halt Kinder!“ rief der Englaͤnder ſeinen
Landsleuten zu, der vorhin den erſten Angriff
auf die Großmuth des Hollaͤnders gethan hatte.
„Ein Vorſchlag zur Guͤte. Der Beutel da
iſt zwar nicht euer, aber ihr ſeyd Britten,
und die Frau hier hat, bey Gott! brav ge-
handelt und muß belohnt werden. Hurtig die
Haͤnde in den Sack! Wir werfen die hun-
dert Rubel zuſammen!“
Geſagt, gethan. Der Hollaͤnder, durch
dieſen Schlag betaͤubt, hatte noch nicht Zeit
gehabt, ſich zu faſſen, als ſchon die hundert
Rubel wohlgezaͤhlt auf dem Tiſche lagen.
Das
[497]
Das war eine Nationalfehde! Wo menſch-
liches Gefuͤhl, Dankbarkeit, Großmuth und
engliſche Faͤuſte vergebliche Angriffe verſucht
hatten, da ſiegte — Nationalſtolz. Der Hol-
laͤnder drang darauf, daß die Britten ihr Geld
zuruͤcknehmen mußten, und trennte ſich mit
ſtoiſcher Gelaſſenheit von hundert geliebten,
lange bejammerten und kaum wiedergefundenen
Rubeln.
Naͤchſt den Deutſchen ſind die Franzo-
ſen unter allen Auslaͤndern die zahlreichſten.
Die Sprache, die Sitten, die Moden, die
Litteratur und das Theater dieſer Nation wer-
den allgemein geliebt, nachgeahmt und bewun-
dert; aber die Nation ſelbſt hatte nur einen
ſehr maͤßigen Antheil an dieſer Achtung, und
ſelbſt dieſer iſt jetzt, durch leicht einzuſehende
Urſachen, geſchmaͤlert. In den hoͤheren Staͤn-
den, in Staatsbedienungen, beym Militaire
und als Kaufleute leben hier nur wenige Fran-
zoſen. Der groͤßte Theil derſelben beſteht aus
Abentheurern aller Art, unter denen ſich viele
nicht zum erſtenmal auf dieſem Schauplatz
verſuchen. Kammerdiener, Friſeurs, Gar-
koͤche, Modehaͤndler, Putzmacherinnen, und
Zweiter Theil. J i
[498] wenn es mit keinem dieſer Gewerbe mehr fort
will — Hauslehrer und Informatoren. Nur
aͤußerſt wenige unter dieſen kommen als Leute
von Erziehung, mit nuͤtzlichen oder gelehrten
Kenntniſſen und einem ausgebildeten Karakter
hieher. Durch mannigfaltige Erfahrungen be-
lehrt, iſt der ruſſiſche Adel behutſamer in der
Wahl ſolcher Leute geworden, denen er die Er-
ziehung ſeiner Kinder anvertraut, und ſeit ei-
niger Zeit ſucht er hiezu lieber Schweizer und
Deutſche.
Indeſſen, was ihm an reeller Brauchbar-
keit abgeht, erſetzt der Franzoſe aus dieſer
Klaſſe durch gefaͤllige Talente mancherley Art,
die nicht ſelten der Weg zu einem guten Fort-
kommen werden. Da er ſo gluͤcklich iſt, eine
in ganz Europa bekannte und hier vorzuͤglich
beliebte Sprache zu ſprechen, die, wenn er ſie
gut ſpricht, ihm ſchon zum Verdienſt ange-
rechnet wird, ſo hat er eine große Schwierig-
keit weniger und einen großen Vortheil mehr
als jeder andere Fremdling. Das, dieſer Na-
tion ſo eigene Talent der Ueberredung, ein
gewiſſes, dem Franzoſen augenblicklich gegen-
waͤrtiges Gefuͤhl des Schicklichen, verbunden
[499] mit einer hinlaͤnglichen Doſis Dreiſtigkeit, ſetzen
ihn in den Stand Entwuͤrfe auszufuͤhren, vor
deren Kuͤhnheit der ſchwerfaͤllige, kalte Deutſche
zuruͤckbebt. Aus hundert Beyſpielen nur eins.
Bey einem ruſſiſchen Großen meldet ſich
einſt ein Franzoſe und wuͤnſcht vorgelaſſen zu
werden. Es geſchieht; der Fremdling bittet
um Protektion, und weiß ſeine Bitte mit ſo
guter Art anzubringen, daß ſie Intereſſe er-
regt. Auf die Frage, in welcher Abſicht er
hieher gekommen ſey, erfolgt die Antwort:
pour éclairer la Russic. Der Große, durch
dieſe Inſolenz aufgebracht, iſt im Begriff,
dem Franzoſen die Thuͤre zu weiſen, als die-
ſer, mit einer Manier, die den gluͤcklichen Er-
folg ſeines Einfalls entſcheidet, ſich erklaͤrt,
daß er ſeinem Gewerbe nach — ein Lichtzieher
ſey.
Die Englaͤnder in Petersburg ſind groͤß-
tentheils Kaufleute, gewinnen und verzehren
viel Geld, leben nach vaterlaͤndiſcher Sitte,
und genießen unter allen Auslaͤndern der vor-
zuͤglichſten Achtung.
Sie erlernen die Landesſprache, weil ihr
Gewerbe ſie ihnen nothwendig macht, und fuͤ-
J i 2
[500] gen ſich nach Landesgebrauch, ſo weit dieſer
mit engliſcher Sitte beſtehen kann. Ihr Na-
tionalſtolz, der daheim auf ihrer Inſel gut
Ding ſeyn mag, erhebt ſie in ihrer Meynung
auch hier uͤber Ruſſen und Auslaͤnder.
In den Haͤuſern der hieſigen Britten kann
man ſich den vollſtaͤndigſten Begriff von der
engliſchen Lebensart machen. Hausgeraͤth,
Tafel, Unterhaltung, alles iſt engliſch — bis
auf das Kaminfeuer. Bekanntlich brennt man
in England nur Steinkohlen wegen der Theu-
rung des Holzes; hier, wo das Holz wohl-
feiler iſt, brennt jeder Englaͤnder Steinkohlen.
Seit mehreren Jahren beſteht eine engli-
ſche Ballgeſellſchaft, die keinen Tanzliebhaber
zulaͤßt, der nicht zur brittiſchen Nation ge-
hoͤrt. Der deutſche Ball iſt zu tolerant, um
Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Der Galeerenhof, eine der ſchoͤnſten Ge-
genden der Stadt, war ehemals beynahe nur
von Englaͤndern bewohnt, die dieſe Gaſſe die
engliſche Linie nannten. Es ſchmeichelte ihrem
Stolz, beyſammen und abgeſondert zu woh-
nen und eine der beſten Gegenden zu behaup-
[501] ten. Itzt werden ſie allmaͤlig von ruſſiſchen
Großen und deutſchen Kaufleuten verdraͤngt.
Die Englaͤnder handeln bey allen oͤffentli-
chen Vorfaͤllen mit einem Gemeingeiſt, der ih-
nen Ehre macht. Wenn es moͤglich iſt, einen
aus ihrem Mittel vom Bankerott zu retten,
ſo geſchieht’s. Vor einigen Jahren brannte
einem hieſigen Englaͤnder von mittelmaͤßigen
Gluͤcksumſtaͤnden ſein hoͤlzernes Haus ab, und
Tags darauf erhielt er einen, unter ſeinen
Landsleuten geſammelten Beytrag von mehre-
ren tauſend Rubeln.
Unter den uͤbrigen fremden Einwohnern
zeichnet ſich keine Nation durch ihre Anzahl
oder Eigenthuͤmlichkeit aus. Die Hollaͤnder
ſind faſt ſaͤmmtlich Kaufleute oder Gaͤrtner,
leben ſtill und ſchließen ſich ziemlich an die
Deutſchen. Die wenigen Polen, Daͤnen,
Spanier, Portugieſen und Italiener
die hier anſaͤßig ſind, werden unter der großen
Maſſe von Menſchen nicht ſehr bemerklich und
koͤnnen auch zum Theil nur als periodiſche
Einwohner angeſehen werden. Zahlreicher ſind
die Schweden; ſie treiben Handwerke und
Manufakturen, ſind arbeitſam und thaͤtig,
J i 3
[502] und werden dem Lande auf mancherley Weiſe
nuͤtzlich.
Intereſſant fuͤr den Beobachter ſind auch
die Orientalen, die ſich hier von Zeit zu
Zeit einfinden und mit deren Eigenthuͤmlichkei-
ten man hier naͤher bekannt werden kann.
Waͤhrend des letzten Krieges ſah man haͤufig
gefangene Tuͤrken beyder Geſchlechter. Dieſe
Menſchen, welche durch ihr Schickſal aus den
ſuͤdlichſten Provinzen von Europa und aus
dem wolluͤſtigen aſiatiſchen Klima unter den
ſechzigſten Grad der Breite verſetzt wurden,
haben hier durchgehends eine Behandlung ge-
noſſen, die der Menſchlichkeit und Aufklaͤrung
unſers Jahrhunderts zur Ehre gereicht. Sie
lebten ſtill und friedlich unter ihren großmuͤ-
thigen Ueberwindern, lernten ſo viel von der
Landesſprache, daß ſie ſich nothduͤrftig verſtaͤnd-
lich machen konnten, und durften Theil an
allen oͤffentlichen Ergoͤtzungen nehmen. Den
Vornehmern unter ihnen waren Geſellſchafter
zugeordnet, die fuͤr ihre Beduͤrfniſſe ſorgen,
ihnen in allen Verlegenheiten aushelfen, und
ſie mit den merkwuͤrdigſten Gegenſtaͤnden die-
ſer Reſidenz bekannt machen mußten. Vor-
[503] zuͤglich viel Vergnuͤgen fanden ſie an den mi-
litairiſchen Uebungen in den hieſigen Kadetten-
korps, die ihr Erſtaunen und ihre Bewunde-
rung in hohem Grade erregten. Die jungen,
unerzogenen Tuͤrken welche hieher gebracht
wurden, ſind groͤßtentheils in herrſchaftliche
Haͤuſer aufgenommen, wo man ihre Erziehung
mit ſeltner Liberalitaͤt beſorgt.
Zu den intereſſanten Gegenſtaͤnden dieſer
Art gehoͤren endlich auch die verſchiedenen Erd-
bewohner mit gelben und braunen Geſichtern,
mit platten und breiten Naſen, mit und ohne
Schweinsaugen, u. ſ. w. die man hier faſt zu
jeder Zeit ſehen kann. — Wie ſonderbar auch
die Form beſchaffen ſeyn mag, in welche die
große unentraͤthſelte Natur ihren Stoff ge-
goſſen hat: der menſchliche Beobachter erkennt
das Weſen ſeiner Art auch unter dieſer ſeltſa-
men Huͤlle. Der freye offne Sinn des Kal-
muͤcken, die Treue und Anhaͤnglichkeit des Ta-
taren — ſind der Spiegel, der ihm das Bild
ſeines eignen Selbſt zuruͤckwirft. Leicht und
gern ſchließt er ſich an das Geſchoͤpf, an wel-
ches ein unſichtbares ſtarkes Band ihn knuͤpft,
und verſucht’s, den Funken hervorzulocken, der
J i 4
[504] in der Bruſt ſeines ungebildeten Geſchlechts-
verwandten ſchlummert.
Wo die Natur geſaͤet hat, da erndtet ſie
auch. Iſt ſie euch noch ein Problem, die
kuͤnftige Kultur dieſer Voͤlker? O ſo habt ihr
keinen Sinn fuͤr den großen harmoniſchen Plan
der mutterliebenden Natur, der kein Staͤub-
chen ihrer beſeelten Schoͤpfung gleichguͤltig iſt!
Ich habe es verſucht, die Individualitaͤten
anzudeuten, welche aus der verſchiedenen Ab-
ſtammung einer ſo gemiſchten Volksmenge
fließen; jetzt will ich es wagen, die hervorſte-
chendſten Karakterzuͤge zu zeichnen, welche dieſe
bunte Maſſe von Menſchen, als Peters-
burger, gemein hat.
Der eigenthuͤmlichſte und allgemeinſte Ka-
rakterzug dieſes Publikums iſt Toleranz;
eine Tugend, die in gewiſſem Sinne ſeit lange
bey der Nation Wurzel gefaßt hat, hier aber,
durch das Zuſammenſtroͤmen ſo vieler Men-
ſchen von der mannigfaltigſten Denkungsart,
von den verſchiedenſten Glaubensſyſtemen, von
den ungleichartigſten Sitten, Gebraͤuchen, Mey-
[505] nungen und Vorurtheilen — eine ſo allgemeine
und ausgedehnte Herrſchaft erlangt hat, daß
es gewiß nicht leicht einen Fleck auf der Erde
giebt, wo ſich’s, in dieſer Ruͤckſicht, angeneh-
mer und ruhiger leben laͤßt, als in St. Pe-
tersburg. Man ſieht wol, daß ich hier dem
Worte: Duldung, nicht jene engbruͤſtige Deu-
tung gebe, die es gewoͤhnlich zu haben pflegt,
wenn von einer erzwungenen und befohlnen
Religionsvertraͤglichkeit, oder von einer durch
Geſetze beſtimmten Exiſtenz der ſchwaͤchern Par-
they die Rede iſt. Der Begriff, den wir hier
mit dieſem Worte verbinden, ſchließt eine frey-
willige, in die Denk- und Handlungsweiſe
uͤbergegangene Schonung ein, die ſich uͤberall
und gegen Jeden aͤußert, der anders denkt
und anders handelt. Er begreift alſo nicht nur
die religioͤſe, ſondern auch die politiſche und
geſellſchaftliche Toleranz, in ſo weit ſie —
nicht als Karakter des Regierungsſyſtems —
ſondern als Karakter des Publikums merkwuͤr-
dig wird.
Daß die religioͤſe Duldung bey der
Nation ſelbſt herrſchend iſt, beweiſ’t ſich ſchon
daraus, daß die großen und ausgedehnten
J i 5
[506] Freyheiten, welche die geduldeten Religions-
partheyen unter Katharinens Schutz ge-
nießen, nirgend, weder bey dem Volk noch in
den hoͤhern Staͤnden, nicht einmal bey der
Geiſtlichkeit, die geringſte Unzufriedenheit oder
Rivalitaͤt erwecken. Praͤlaten der griechiſchen
Kirche leben mit den Religionslehrern fremder
Glaubensverwandten in freundſchaftlichem Um-
gange und laden ſie zu ihren Tafeln oder Fe-
ſten ein; ruſſiſche Geiſtliche wohnen dem Got-
tesdienſte der Proteſtanten bey, ſtudiren in
Holland, England und Deutſchland die hoͤhern
Wiſſenſchaften und hoͤren dort zuweilen theo-
logiſche Vorleſungen. Man hat ſogar das
Beyſpiel, daß ein angeſehener ruſſiſcher Geiſt-
liche ſeine Tochter einem lutheriſchen Prediger
zur Erziehung uͤbergab. — Unter den Layen
der griechiſchen Religionsparthey geht dieſe
Vertraͤglichkeit natuͤrlich noch weiter. Sie er-
ſcheinen nicht nur als erbetene Zeugen bey
feyerlichen Vorgaͤngen, ſondern auch außerdem
haͤufig in den Kirchen der Auslaͤnder, tragen
gerne zur Erhaltung der Kirchen und Schu-
len bey, laſſen ihre Kinder von Auslaͤndern
erziehen, und verheyrathen ſich mit dieſen ohne
[507] Bedenklichkeit, von welcher Religion ſie auch
ſeyn moͤgen. Im geſellſchaftlichen Umgange
iſt nun vollends keine Spur eines religioͤſen
Partheygeiſtes zu finden. Unterredungen, welche
die Religion betreffen, hoͤrt man nur aͤußerſt
ſelten; Debatten uͤber Gegenſtaͤnde dieſer Art
niemals.
Die Beyſpiele dieſer liebenswuͤrdigen Ver-
traͤglichkeit wuͤrden ſehr beſchaͤmend fuͤr die
Auslaͤnder ſeyn, wenn ſie denſelben nicht nach-
zuahmen ſtrebten. Aber auch unter dieſen
herrſcht eine gegenſeitige Duldung und Scho-
nung, wie man ſie gewiß nur ſelten, ſelbſt in
den aufgeklaͤrteſten Staaten findet. Geiſtliche
aller Religionen leben in der groͤßten Einig-
keit *), zum Theil in genauem Umgange. Vor
einigen Jahren hielten die reformirten und lu-
theriſchen Prediger woͤchentliche Zuſammen-
kuͤnfte, um ſich uͤber Religionsmaterien und
Amtsverrichtungen zu unterreden und ihre Ein-
tracht durch einen vertraulichen Umgang zu
[508] erhoͤhen. Dieſe lobenswuͤrdigen Zirkel wurden
auch zuweilen von katholiſchen und ruſſiſchen
Geiſtlichen beſucht. Noch vor kurzem, da die
Stelle eines deutſchen reformirten Predigers
erledigt war, hielt der Bibliothekar der Aka-
demie der Wiſſenſchaften, Buſſe, der ein
Lutheraner und kein Geiſtlicher iſt, eine lange
Zeit hindurch die gewoͤhnlichen Kanzelvortraͤge
in dieſer Kirche. Lutheriſche Prediger haben
ſchon oft Reformirten das Abendmahl gereicht,
und reformirte Prediger haben in lutheriſchen
Kirchen Leichenreden gehalten. Man hat ein
Beyſpiel, daß ein lutheriſcher Prediger Tauf-
zeuge bey einem Katholiken war, und es ſeyn
konnte, weil der katholiſche Geiſtliche die Fra-
gen vermied, die Jener nach dem Lehrbegriff
ſeiner Kirche nicht haͤtte bejahen koͤnnen. —
Auslaͤnder aller Religionspartheyen verheyra-
then ſich unter einander und mit Ruſſen, ohne
daß dies das allermindeſte Aufſehen erregte.
Mit ſeinen Religionsmeynungen, ſie moͤgen ſo
ſeltſam ſeyn als ſie wollen, kann hier niemand
in Gefahr gerathen, verfolgt oder verabſcheut
zu werden, wenn man ſie nicht Andern auf-
zudringen, oder auf eine unſchickliche Art gel-
[509] tend zu machen ſucht. Ein gewiß ſehr großer
Theil der hieſigen Auslaͤnder lebt außer aller
kirchlichen Verbindung, aber Niemand wird
ſich zum Glaubensinquiſitor dieſer Indepen-
denten aufwerfen, und Niemand bekuͤmmert
ſich darum. Nur an wenigen Orten hoͤrt
man ſo freymuͤthige Urtheile uͤber Gegenſtaͤnde
und Formen der Religion, und nirgend erre-
gen kuͤhne Grundſaͤtze weniger Senſation, als
hier.
Eben ſo allgemein und von eben ſo großer
Ausdehnung iſt die politiſche Duldung,
die nirgend in Europa ihres Gleichen hat.
Wem koͤnnte es unbekannt ſeyn, daß Auslaͤn-
der von jeder Nation und von jeder Glaubens-
parthey in Rußland zu allen Aemtern und
Wuͤrden, ſelbſt zu den erſten und wichtigſten,
befoͤrdert werden? Daß ihnen alle Kanaͤle
des Erwerbs und der Induſtrie, eben ſo gut
wie den Eingebornen offen ſtehn? Dieſe That-
ſache beweiſ’t nicht bloß fuͤr das tolerante
Syſtem der Regierung; ohne eine gleichge-
ſtimmte Denkungsart des Publikums und vor-
zuͤglich der Großen, wuͤrde ſie uͤberall viele
Einſchraͤnkungen leiden. In keinem Lande iſt,
[510] bey einem ſo betraͤchtlichen Antheil von Na-
tionalſtolz, die Eiferſucht gegen Auslaͤnder ge-
ringer, als in Rußland, und nirgend im Reiche
zeigen ſich die Spuren derſelben ſchwaͤcher, als
hier. Wie zahlreich ſind nicht die Beyſpiele,
da ruſſiſche Große ſich der Auslaͤnder anneh-
men, ihnen eine anſtaͤndige Laufbahn eroͤffnen,
und ſie ihr ganzes Leben hindurch mit der
großmuͤthigſten Theilnahme auf derſelben be-
gleiten. Mir ſind Faͤlle bekannt, daß einzelne
Auslaͤnder von reichen und angeſehenen Leu-
ten aus der Nation gleichſam als Glieder ih-
rer Familien aufgenommen worden ſind, Zeit-
lebens in ihren Haͤuſern bey ihnen gelebt, und
ſo betraͤchtliche Geſchenke erhalten haben, daß
ſie bey dem fruͤhern Abſterben ihrer Wohlthaͤ-
ter ein unabhaͤngiges Schickſal waͤhlen konn-
ten. Es iſt etwas ganz gewoͤhnliches, wenn
Auslaͤnder, zuweilen ſogar ohne große An-
ſpruͤche, ſich durch Heyrathen mit reichen und
angeſehenen ruſſiſchen Haͤuſern verbinden. In
den Kollegien und Departements, wo Ruſſen
neben Auslaͤndern angeſtellt ſind, iſt oft keine
Spur von Partheylichkeit oder Eiferſucht ſicht-
bar; dieſe genießen uͤberall gleiche Rechte mit
[511] jenen, und wenn hie und da zu Gunſten der
einen oder andern Parthey eine Ausnahme ge-
macht wird, hoͤrt man daruͤber keine beleidi-
gende Klagen. So angenehm es den Ruſſen
iſt, wenn ſie einen Auslaͤnder ihre Sprache
reden hoͤren, ſo gefaͤllig ſind ſie doch auch ge-
gen Jeden der ſie nicht verſteht, ſo bereitwil-
lig ihm auszuhelfen, ſich ihm verſtaͤndlich zu
machen, ſelbſt in Faͤllen wo ihr eignes In-
tereſſe oder die Pflicht des Fremden zu einer
ſtrengern Forderung berechtigen koͤnnte.
Die geſellſchaftliche Duldung iſt
im vorigen Abſchnitte hinlaͤnglich karakteriſirt,
um ihren Umfang beurtheilen zu koͤnnen. Eben
die große Miſchung von Menſchen, die es hier
verhindert, daß das Publikum keinen ſehr aus-
gezeichneten, eigenthuͤmlichen Geiſt hat, iſt
auch die wohlthaͤtige Urſache, daß wir hier
keine allgemeine Norm, kein Modell, wenn
ich ſo ſagen darf, fuͤr unſer ſittliches Betragen
haben. Jeder kann hier ſo erſcheinen wie er
iſt; ſehr excentriſche Menſchen freylich erregen
auch hier einige Bemerkung, aber ihrer giebt
es immer nur wenige und in kurzer Zeit wird
man ihrer gewohnt. Wer nicht zu dieſer
[512] Klaſſe gehoͤrt, kann ſicher ſeyn, daß ihn Niemand
wegen ſeiner Eigenheiten in Anſpruch nehmen
wird. Die Mode iſt hier nicht der ſtrenge
Tyrann, unter deſſen Szepter ſich Jedermann
beugen muß, um die Geißel der Laͤcherlichkeit
zu vermeiden. Nichts iſt hier gleichguͤltiger,
als das qu’en dira-t-on? welches ehemals
in Paris alle Menſchen in einen gleichen Zu-
ſchnitt brachte.
Es wird vielleicht beym erſten Ueberblick
auffallend ſcheinen, wie ſich dieſe geſellſchaft-
liche Toleranz mit der Achtung fuͤr Stand
und Rang vertraͤgt, die ein ſo hervorſtechen-
der Zug der Petersburger iſt. Es verurſacht
allerdings ein ſonderbares Gefuͤhl, ein in vie-
len Ruͤckſichten ſo billiges und tolerantes Pu-
blikum in dieſem Stuͤck der haͤrteſten Unduld-
ſamkeit beſchuldigen zu muͤſſen; aber freylich
laͤßt ſich dieſer moraliſche Widerſpruch ſehr
wohl durch die den Menſchen uͤberall ſo ge-
woͤhnliche Inkonſequenz erklaͤren. Es giebt
ſicherlich keine Reſidenz in Europa, in welcher
der Geburtsrang und der Adel der Abſtam-
mung weniger in Anſchlag gebracht wird. Ich
wohne jetzt ſechs Jahre in Petersburg und
lebe
[513] leben in ſehr verſchiedenen und gemiſchten Zir-
keln, aber noch nicht ein einziges Mal habe
ich dieſe oder aͤhnliche Fragen gehoͤrt: „Iſt
der Mann aus einer guten Familie? Iſt er
von Adel? Wer war ſein Vater? Was war
er, ehe er dieſen Poſten bekam?“ — Nir-
gend hat perſoͤnliches — wirkliches oder er-
borgtes — Verdienſt groͤßern Anſpruch auf
Achtung; nirgend iſt es ſchwerer, durch die
Talente und Tugenden ſeiner Vorfahren zu
glaͤnzen, als hier. Und eben dieſes Publi-
kum, welches ſich durch eine ſo aufgeklaͤrte
Denkungsart auszeichnet — iſt der Sklave
eines andern Vorurtheils, deſſen Feſſeln ſo
viel leichter abzuwerfen waͤren! Die Peters-
burger hieruͤber anklagen, hieße die menſchliche
Natur zur Rechenſchaft ziehen. Die Men-
ſchen handeln und denken uͤberall nach gewiſ-
ſen Beſtimmungen, wenn ſie ſich derſelben
gleich nicht allemal bewußt ſind. Oft ſehen
wir die Wirkung ohne die Urſache, wenn dieſe
vielleicht zu tief liegt, und dann nennen wir
jene einen Widerſpruch, weil wir ihre Verket-
tung nicht kennen. Wer alle Faͤden der mora-
liſchen Erſcheinungen uͤberſehen und jeden ver-
Zweiter Theil. K k
[514] borgenen Zuſammenhang entdecken koͤnnte,
wuͤrde ſehr oft in dem Thun und Laſſen der
Menſchen eine groͤßere Uebereinſtimmung fin-
den.
Ohne den Petersburgern alſo dieſe Inkon-
ſequenz allzuhoch anzurechnen, oder ſie deswe-
gen gar vor den Richterſtuhl der Philoſophie
zu citiren, wird der aufgeklaͤrte und billige
Beobachter dieſen Schatten in einem ſonſt ſo
lichten und lieblichen Gemaͤlde leicht uͤberſehen.
In der That, wenn die Schwachheiten der
Menſchen uͤberall durch ſo anziehende Vorzuͤge
aufgewogen wuͤrden, ſo koͤnnte man hoffen,
ſelbſt den finſterſten Miſanthropen und den
giftigſten Satirenſchreiber zu bekehren. Wer
haͤtte wol das Herz einer Menſchengattung
gram zu ſeyn, bey welcher Gutmuͤthigkeit
und Jovialitaͤt herrſchende Karakterzuͤge
ſind und jede Farbe brechen, die in dem bun-
ten Gemaͤlde ihrer Sitten, Leidenſchaften und
Launen ſpielt? Dieſe beyden Eigenſchaften ſind
es, die jedem Fremden den Aufenthalt in der
Reſidenz ſo angenehm machen, und jeden Ein-
wohner, der ſich hie und da von gewiſſen Ei-
genheiten und Thorheiten gedruͤckt fuͤhlt, wie-
[515] der mit ſeinen Mitbuͤrgern ausſoͤhnen. Wirk-
lich iſt nichts gefaͤlliger, als die Art womit
die Petersburger Gefaͤlligkeiten ausuͤben. Gleich
weit entfernt von der trocknen Soliditaͤt der
Englaͤnder und von der leeren Theilnahme der
ehemaligen Franzoſen, kennen und leiſten ſie
die Pflichten des geſelligen Lebens, ohne etwas
ſehr verdienſtliches dabey zu ahnden. Selten
werden Reiſende eine groͤßere Bereitwilligkeit
finden, ſie mit den Merkwuͤrdigkeiten, dem
Genuß und den Freuden ihres Aufenthalts be-
kannt zu machen, als hier. Nichts wird den
Petersburgern ſaurer, als eine abſchlaͤgige
Antwort geben zu muͤſſen. Auf die ſinnreichſte
Art entſchuldigt man Fehler, Eigenheiten und
Launen Anderer, um in gleichem Fall auf glei-
che Nachſicht rechnen zu duͤrfen.
Geld- und Ehrſucht beherrſchen auch
hier einen ſehr großen Theil der Menſchen,
aber als eigenthuͤmliche Karakterzuͤge koͤnnen
dieſe Fehler nicht gelten, da ſie uͤberall in gro-
ßen Staͤdten zu Hauſe ſind, wo der Genuß
des Lebens ſo anziehend und ſo vervielfaͤltigt
iſt, wo Armuth beſchimpft und Reichthum
adelt, wo der Ehrgeiz ſo großen Spielraum
K k 2
[516] hat und wo ihm ſo glaͤnzende Ziele vorgeſteckt
ſind. Schwerer wird es, die Indifferenz zu
rechtfertigen, mit welcher man ziemlich allge-
mein auf die Mittel und Wege ſieht, die hier
bisweilen zu Reichthum und Anſehen fuͤhren.
Doch, vielleicht laͤßt ſich auch dieſe Erſchei-
nung durch die Wirkungen der allgemeinen To-
leranz erklaͤren, die man jedem rechtlichen Er-
denſohne uͤber alle Dinge zugeſteht, fuͤr die er
ſelbſt verantworten kann oder mag.
So wie die Rangſucht mit der Gleichguͤl-
tigkeit gegen den Geburtsadel kontraſtirt, ſo
und noch aͤrger ſticht die Liebe und die Ver-
achtung des Geldes gegen einander ab. Es
iſt ſchon mehr als einmal geſagt: dieſes Land
iſt das Land der Extreme. Eben die Men-
ſchen, die ſich die Erlangung eines gewiſſen
Wohlſtandes zu dem Ziel ihrer Wuͤnſche ge-
macht haben, und dieſes Ziel mit der außer-
ordentlichſten Anſtrengung aller Kraͤfte, mit
der leidenſchaftlichſten Thaͤtigkeit, oft ſogar mit
der Herabwuͤrdigung ihrer Moralitaͤt zu errei-
chen ſtreben — eben dieſe Menſchen ſieht man
nicht ſelten nach der Erreichung ihres Zwecks
in eine wunderbare Gleichguͤltigkeit gegen das
[517] bisherige Idol ihrer Wuͤnſche verfallen. So
herrſchend die Geldſucht hier iſt, ſo wenig
Geizige ſieht man. Kein Laſter iſt ſeltner als
dieſes. Der Beweis hievon liegt ſchon in der
Lebensart, die ſich ſchlechterdings mit keiner
Knauſerey, geſchweige mit dem Geize vertraͤgt.
Nichts finden die Petersburger daher laͤcher-
licher, als die einzelnen Beyſpiele dieſer Thor-
heit, die dieſes oder jenes Individuum dem
Publikum zum Beſten giebt. Alltaͤgliche Zuͤge
dieſer Art, die an andern Orten gar keine
Senſation erregen wuͤrden, fallen hier zum
Erſtaunen auf, und wenn die gutmuͤthige
Laune der Petersburger irgendwo in Sarkas-
men uͤbergeht, ſo iſt es bey ſolchen Gelegen-
heiten. — Eine Folge dieſer Denkungsart iſt
der Hang zur Freygebigkeit, der als
eine ſehr allgemeine Schattirung im Karakter
ausgehoben zu werden verdient. Vorzuͤglich
eigen iſt dieſer Hang den Ruſſen, bey welchen
er durch Religionsgrundſaͤtze, Erziehung und
Beyſpiel genaͤhrt wird. Von ſeiner Allgemein-
heit kann ſich der fluͤchtigſte Beobachter uͤber-
zeugen. Selten geht ein gemeiner Ruſſe bey
einem Bettler voruͤber, ohne, auch unaufge-
K k 3
[518] fordert, in ſeine Taſche zu greifen. Wohlha-
bende Leute machen ſich’s zum Geſetz, Arme
und Gefangene zu beſtimmten Zeiten mit Geld,
Kleidungsſtuͤcken und Speiſen zu verſorgen;
die Vorraͤthe, welche woͤchentlich und beſon-
ders an gewiſſen Feſttagen in den Gefaͤngniſ-
ſen abgeliefert werden, ſind oft groͤßer als das
Beduͤrfniß ſie erheiſcht. Es iſt gewiß nur in
wenigen großen Staͤdten ſo leicht, Kollekten
und Unterzeichnungen fuͤr wohlthaͤtige Zwecke
zuſammenzubringen; Beyſpiele von der außer-
ordentlichſten Art ſind haͤufig in dieſem Buche
vorhanden. Fremde die ohne hinlaͤnglichen
Geldvorrath hier ankommen, Leute denen es
an Mitteln fehlt, nuͤtzliche Unternehmungen
zu machen oder ſich einem gewiſſen Zweck zu
widmen, finden bey einiger Bekanntſchaft im-
mer Menſchen die ſich fuͤr ſie intereſſiren und
ihrem Beduͤrfniß oft auf eine Art aushelfen,
die ihre Hoffnungen weit uͤberſteigt. Die Faͤlle
von welchen ich Augenzeuge geweſen bin, wuͤr-
den dies hinlaͤnglich beglaubigen, wenn es moͤg-
lich waͤre, ſie anzufuͤhren, ohne Geber und
Empfaͤnger zu einer gewiſſen Publizitaͤt zu
bringen.
[519]
Mit dieſen zum Theil ſehr liebenswuͤrdigen
Eigenſchaften verbinden die Petersburger einen
bey vielen Gelegenheiten auffallenden Leicht-
ſinn, und eine Unbeſtaͤndigkeit, die ih-
ren beſten Entwuͤrfen und Einrichtungen den
Untergang droht, ſo bald ſie aufgehoͤrt haben,
etwas Neues zu ſeyn. — Die Reſidenz iſt
der Mittelpunkt aller politiſchen Verbindungen,
der Hauptſitz des Handels und der Gewerbe;
jeder findet hier die Sphaͤre ſeiner Thaͤtigkeit,
das Ziel ſeines Strebens. Natuͤrlich iſt es
nirgend im Reiche leichter, Gluͤck zu machen,
als hier. Die haͤufigen Erfahrungen hievon
entfernen den Gedanken an die Zukunft, die
Vorſorge fuͤr moͤgliche, aber nicht wahrſchein-
liche Faͤlle. Die mehreſten Menſchen leben
fuͤr den Augenblick, und laſſen ihr gutes
Schickſal fuͤr das Uebrige ſorgen. Leute die
eine abhaͤngige Exiſtenz oder zahlreiche Fami-
lien haben, ſind ruhig, wenn ſie nur das Be-
duͤrfniß des Tages befriedigen koͤnnen. Viele
nehmen in Verlegenheiten ihre Zuflucht zu kri-
tiſchen und ſeltſamen Huͤlfsmitteln; aber mit
Schulden belaſtet und von Glaͤubigern ver-
folgt, bringen ſie eine heitre Stirne und die
K k 4
[520] froͤhlichſte Laune in Geſellſchaften mit. Ein
ploͤtzlicher Gluͤckswechſel, auf welchen freylich
nicht zu rechnen war, der hier aber, wie ein
wahrer deus ex machina ſo manchen Schick-
ſalsknoten loͤſet, rettet ſie vom Untergange,
und ſie behalten die naͤmliche Stimmung, ohne
ſich durch widrige oder guͤnſtige Vorfaͤlle in
ihrem Lebensgenuſſe ſtoͤren zu laſſen. Kinder
verurſachen Leuten dieſer Gattung uͤberhaupt
keine Sorgen. Die großen oͤffentlichen An-
ſtalten uͤberheben ſie der Koſten, welche die
Erziehung verurſachen wuͤrde, und mit dem
Eintritt in die Welt beginnen junge Leute ihre
eigene Laufbahn, auf der ſie ſich, auch ohne
Unterſtuͤtzung, fortzuhelfen wiſſen. Daß dieſe
Denkungsart nur bey einem Theile des Pu-
blikums allgemein iſt und in gewiſſen Klaſſen
von Menſchen große Ausnahmen leidet, bedarf
wahrſcheinlich keiner Bemerkung. — Allge-
meiner und karakteriſtiſcher iſt die Unbeſtaͤn-
digkeit. Nicht leicht wird man an irgend ei-
nem Orte ſo viele mit Enthuſiasmus angefan-
gene und ploͤtzlich aufgegebene Unternehmun-
gen gewahr werden, als hier. Gebaͤude, Gaͤr-
ten, Sammlungen von Seltenheiten, Biblio-
[521] theken, tragen den Karakter dieſer Unbeſtaͤn-
digkeit. Der leidenſchaftliche Eifer, mit wel-
chem man ſich zuweilen fuͤr einen liebenswuͤr-
digen Fremden, fuͤr große Kuͤnſtler, fuͤr einen
gemeinnuͤtzigen Vorſchlag intereſſirt, geht in
Kaͤlte uͤber, ſobald der Gegenſtand deſſelben
den Reiz der Neuheit verliert. Selbſt die
Vergnuͤgungsoͤrter des Publikums, ſo geſchmack-
voll und befriedigend ſie immer ſeyn moͤgen,
duͤrfen auf kein beſſeres Schickſal Rechnung
machen. Nirgend veraͤndert man ſeine Woh-
nung mit ſolcher Leichtigkeit, als hier; es giebt
Leute, die jedes Jahr einen a[nd]ern Stadttheil
zu ihren Aufenthalt waͤhlen Faſt alle Mieth-
kontrakte werden nur auf einen Monat ge-
ſchloſſen, und ſogar die Domeſtiken machen
ſich dieſer Einrichtung zu Nutze, um ſo oft
als moͤglich ihre Herrſchaft zu aͤndern. —
Mit dieſer Unbeſtaͤndigkeit, die ſich auch uͤber
Sitten, Gebraͤuche und Moden verbreitet,
ſticht die Anhaͤnglichkeit des gemeinen Ruſſen
an ſeine Nationallebensart auf eine ſonderbare
Weiſe ab. Aber nicht lange mehr wird dieſer
Kontraſt vorhanden ſeyn.
K k 5
[522]
Die großen Gegenſtaͤnde ſind erſchoͤpft —
und ich werfe meinen Pinſel weg. — Ich habe
es gewagt, die hervorſtechendſten Karakterzuͤge
mit Unpartheylichkeit und Schonung
zu entwerfen; einem groͤßern Maler mag es
uͤberlaſſen ſeyn, ſie zu gruppiren und in ein
Ganzes zu bringen. Auch das vollendete Ge-
maͤlde, nach dieſen Grundzuͤgen ausgebildet,
wird keine Kopie eines haͤßlichen Originals ge-
nannt werden koͤnnen. Wo Licht und Schat-
ten ſo gut vertheilt ſind, da darf der Maler
ſich kuͤhnlich an die Natur halten, ohne fuͤr
ſeine Arbeit den Dank zu erwarten, den eine
haͤßliche Schoͤne ihren Spiegel zu zollen
pflegt.
[[523]]
Appendix A Nachſchrift.
Die weite Entfernung des Verfaſſers vom
Druckorte hat, ungeachtet der groͤßten Sorg-
falt, folgende Druckfehler veranlaßt, die man
vor dem Durchleſen zu verbeſſern bittet.
- Vorerinnerung.
- S. I. Z. 3. lies unzertrennlich, ſtatt: unzertrenn-
- Anmerkung.
- S. XIII. Z. 12. lies Arſchin, ſt. Arſhin.
- ebendaſ. ‒ Tſchetwerik ſt. Tſhetwerik.
- S. XIV. Z. 7 ‒ Jer’s ſt. Jev’s.
- Im Buche ſelbſt:
- S. 3 Z. 6 von unten. Moskowiſcher ſt. Mosko-
witiſcher. - ‒ 4 ‒ 5 v. u. der Nation ſt. die Nation.
- ‒ 6 ‒ 9 v. u. außerordentlichſte ſt. außeror-
dentliche. - ‒ 6 ‒ 7 v. u. Staatsverwaltung ſt. Staats-
verfaſſung. - ‒ 17 ‒ 15 an ſt. in.
- ‒ 31 ‒ 14 wie eine ſt. wie die.
- ‒ 32 ‒ 7 v. u. muß das Wort: die, weg.
- ‒ 37 ‒ 4 v. u. zaͤhlt ſt. nennt.
[[524]]
- S. 43 Z. 4 v. u. wiſſenſchaftlichen ſt. geſell-
ſchaftlichen. - ‒ 46 ‒ 10 v. u. der obern ſt. der obere.
- ‒ 55 ‒ 1 muß vor dem Wort: Reformir-
te, das Wort Lutheraner
eingeſchoben werden. - ‒ 57 ‒ 4 muß das Wort: die, weg.
- ‒ 58 ‒ 2 Wirkung ſt. Arbeit.
- ‒ 77 ‒ 2 v. u. Lehnen ſt. Lehne.
- ‒ 86 ‒ 9 iſt mit ſt. iſt von.
- ‒ 96 ‒ 7 muß nach den Worten: mitten
unter, das Wort: den, ein-
geſchoben werden. - ‒ 100 ‒ 4 v. u. iſt an jeder Seite durch.
- ‒ 107 ‒ 9 10,160 ſt. 710,160.
- ‒ 116 ‒ 14 Orten ſt. Arten.
- ‒ 149 ‒ 6 u. 7 Sbiten’ſchtſchiki ſt. Sbiten’ſchiki.
- ‒ 181 ‒ 9 Petersburgerinn ſt. Ruſſinn.
- ‒ 183 ‒ 3 aufgegeſſen ſt. aufgegeben.
- ‒ 186 ‒ 6 von ſt. vor.
- ‒ 188 ‒ 13 muß einmal durch weggeſtrichen
werden. - ‒ 194 ‒ 2 Klubbs ſt. Klubben.
- Eben dieſe Verbeſſerung S. 226 Z. 13.
- ‒ 231 ‒ 2 v. u. den ſt. der.
- ‒ 232 ‒ 6 v. u. ruſſiſche ſt. rusiſche.
- ‒ 237 ‒ 6 v. u. Sawa ſt. Saiva.
- ‒ 284 ‒ 9 vor der ſt. vor die.
- ‒ 291 ‒ 4 v. u. ſeit kurzem ſt. ſeit kurzen.
- ‒ 294 ‒ 6 Lehrern ſt. Leuten.
[[525]]
- Zweyter Theil.
- S. 4 Z. 3 Roͤntgen’s ſt. Roͤntgeo’s.
- ‒ 7 ‒ 3 Perfectibilitaͤt ſt. Profektibilitaͤt.
- ‒ 12 ‒ 11 Landhandels ſt. Buchhandels.
- ‒ 17 ‒ 3 muß die Ueberſchrift der erſten Ru-
brik heißen: von Rußland ein,
ſt. nach Rußland ein. - ‒ 26 ‒ 10 v. u. veredelte ſt. veredeln.
- ‒ 32 ‒ 7 richtiges ſt. wichtiges.
- ‒ 51 ‒ 8 v. u. gerade um ſt. gerade und um.
- ‒ 57 ‒ 9. 10 Werkſtaͤtten ſt. Werkſtaͤtte.
- ‒ 59 ‒ 5 auslaͤndiſche ſt. engliſche.
- ‒ 62 ‒ 1 Podrjaͤde ſt. Podyaͤde.
- ‒ 64 ‒ 7 eingerichtete ſt. eingerichteter.
- ‒ 65 ‒ 11 Nach: Menſchenklaſſe muß ein
Komma ſtehen. - ‒ 65 ‒ 16 Beduͤrfniß ſt. Bedrfniß.
- ‒ 69 ‒ 2 Knjaͤſhnin ſt. Knjaͤſhnie.
- Derſchawin ſt. Derſchawin, und wo
dieſer Name ſonſt vorkommt. - ‒ 69 ‒ 3 Romane ſt. Romano.
- ‒ 117 ‒ 2 v. u ſebaiſchen ſt. ſebaͤiſchen.
- ‒ 156 ‒ 4 Aegide ſt. Aegiede.
- ‒ 284 ‒ 7 unterſcheiden ſt. unterſchieden.
- ‒ 386 ‒ 5 v. u. Droſchken ſt. Dreſchken.
- ‒ 406 ‒ 9 v. u. Verfall ſt. Vorfall.
- ‒ 442 ‒ 8 v. u. Damen ſt. denen.
- ‒ 459 ‒ 7 Momente ſt. Monate.
- ‒ 513 ‒ 1 lebe ſt. leben.
[[526]]
In dieſer Anzeige ſind nur die auffallend-
ſten Druckfehler geruͤgt, die den Sinn verder-
ben. Die hin und wieder vorkommenden Un-
gleichheiten der Orthographie wird jeder billige
Leſer von ſelbſt entſchuldigen und verbeſſern.
So findet ſich z. B. gleich auf dem Titelblatte
und ſelbſt hie und da im Buche: Gemaͤhlde
ſt. Gemaͤlde; ein Verſtoß gegen die Recht-
ſchceibung, den man hoffentlich nicht auf die
Rechnung des Verfaſſers ſetzen wird.
Die Verzoͤgerung, welche der Druck und
die Kupfer veranlaßt haben, iſt der Wahrheit
und Treue dieſes Gemaͤldes in manchen klei-
nen Zuͤgen ſchaͤdlich geworden. Ein ſo leben-
diger Gegenſtand, als der, den dieſes Buch
zu zeichnen wagt, veraͤndert in einem ſo be-
traͤchtlichen Zeitraum ſeine Schattirungen auf
mannigfaltige Weiſe. — Einzelne Thatſachen,
uͤber welche der Verfaſſer keine beſtimmte Aus-
kunft zu geben wußte, ſind ihm ſeitdem naͤher
bekannt geworden. Ein gluͤcklicher Zufall hat
ihn vor kurzem in den Beſitz aller Polizey-
zaͤhlungen von 1792 geſetzt, da die Angaben
im Buch ſaͤmtlich von den Jahren 1788 bis
1790 ſind. Unvollkommenheiten dieſer Art
liegen in der Natur der Dinge; wohl dem
Schriftſteller, welchem die Kritik keine andere
vorzuwerfen hat!
St. Petersburg, im Decbr. 1793.
[][][][][]
Seite 112.
Th. 3. S. 58.
Fürſtinn Daſchkaw, jährlich den Sommer hin-
durch unenrgeldliche Vorleſungen über die gemein-
nützigſten Grundſätze der Mathematik, Chemie und
Naturgeſchichte in ruſſiſcher Sprache von einigen Pro-
feſſoren der Akademie gehalten, die für dieſe Bemü-
hung eine beſondre Gratifikation bekommen.
ten, Entdeckungen zu bewähren, ſah ſich Ruyſch genö-
thigt, die höchſte Kunſt bei ſeinen Präparationen anzu-
wenden. Dieſe Bemühung führte ihn immer weiter und
brachte ihn auch auf die Erfindung einer neuen und voll-
kommnern Art, todte Körper einzubalſamiren. Die Auf-
opferungen, die ihm dieſe unbeſchreiblich mühſamen und
gefährlichen Arbeiten gekoſtet haben, ſchildert er ſelbſt
in einem Briefe, den er in Betreff des Verkaufs ſeiner
Sammlung nach Rußland ſchrieb. „Glauben Sie nicht,
ſagt er darinn, daß ich das alles ſo leicht entdeckt habe.
Ich bin alle Morgen um vier Uhr aufgeſtanden, ich habe
alle meine Einkünfte darauf verwendet, und oft verzwei-
felte ich, damit zu Stande zu kommen. Ich habe einige
tauſend Kadaver bearbeitet, und nicht nur friſche, ſon-
dern auch ſolche die ſchon von Würmern gefreſſen wur-
den, wodurch ich mir gefährliche Krankheiten zugezogen
habe. Faſt mein ganzes Leben iſt dieſen Unterſuchungen
aufgeopfert geweſen, an den Freuden der Welt habe ich
keinen Theil genommen, und noch jetzt arbeite ich Tag
und Nacht.“ Bacmeister, essai sur la bibliotheque \&c.
p. 151. — Das Beiſpiel dieſes Mannes beweißt, zu wel-
chen Aufopferungen die Liebe zu den Wiſſenſchaften ver-
mögen kann; ein Veweis, der unter den Zeitgenoſſen von
Tage zu Tage ſeltner zu werden anfängt.
bene Schreibepult von Röntgen ausgetauſcht, und
wird in der Eremitage aufbewahrt.
ſah ich in dem Muſeum der Akad. 94 Medaillen in Pronze,
den Anfang einer Sammlung, welche die Kaiſerinn zum
Behuf der ruſſiſchen Geſchichte ſchlagen läßt. Dieſe 94
Stück begreifen nur den Zeitraum von Rjurik bis Ja-
ropolk den Zweiten und es läßt ſich alſo ſchließen,
wie zahlreich die ganze Folge werden muß, da die merk-
würdigen Begebenheiten ſich immer mehren, je näher die
Geſchichte unſerm Zeitalter kömmt. Auf dem Avers ſieht
man jadesmal das Bruſtbild eines Fürſten, und auf dem
Revers einen wichtigen Vorfall aus ſeiner Regierung.
Der Stempel iſt von Gaß, und die Ausführung eines
ſo großen Künſtlers werth.
ſen noch durch die Verichte der Zeitgenoſſen ins Ausland
gekommen ſeyn mag, ſo iſt es doch nicht minder gewiß.
Die Sache wurde bey Gelegenheit der Eröfnung der er-
bracht (denn die mit Staatsdepartements oder wiſſen-
ſchaftlichen Inſtituten verbundenen Druckereyen haben
Cenſoren aus ihrem eigenen Mittel und damals dahin
entſchieden, daß es keiner Cenſur bedürfe, daß aber Ver-
faſſer und Drucker, wie ſich’s gehört, für etwannige Ue-
bertretungen der Landesgeſetze verantwortlich ſeyn ſoll-
ten.
Schriftſteller ſich zuweiten durch den Kitzel, etwas Auf-
fallendes zu ſagen, verführen, oder durch falſche Autori-
täten blenden laſſen, Nachrichten ins große Publikum zu
bringen, deren Ungrund und Seichtigkeit den redlichen
Wahrheitsfreund empören und bey Suchkundigen Mit-
leid erregen. Unter mehrern Beyſpielen, welche die neue-
ſten deutſchen Meßprodukte für dieſe Behauptung liefern,
ſey es an zweyen genug. In einem der vorigjährigen
Hefte der Minerva findet ſich ein Auſſatz von einem
gewiſſen Herrn von Ruthieres, der an Seichtigkeit,
Abgeſchmacktheit und Verläumdungsſucht ſchwerlich von
irgend einem noch ſo armſeligen Pasquill aus der Fabrik
ihrer ſach- und ſprachkenntnißloſen voyageurs übertroffen
werden kann; und doch giebt Herr von Archenholz
dieſes Bruchſtück als eine Probe von dem größern Werke
deſſelben Verfaſſers, auf welches er das Publikum durch
dieſes — in ſeinen Augen, wie es ſcheint, wohlgerathene
— Fragment aufmerkſam machen will. Es iſt hier
nicht der Ort zu beweiſen, daß von dem ganzen Ge-
ſchmiere faſt keine Zeile, ſo wie ſie da ſteht, wahr iſt;
ich begnüge mich daher nur mit der Bemerkung, daß
dieſes ſaubere Produkt, anſtatt die mindeſte Senſation
zu erregen, von der Regierung ſelbſt dem Hohn und der
Verachtung des Publikums preisgegeben wurde, die es
auch in reichlichem Maße erhielt.
Mit ähnlicher Unbeſonnenheit, wiewol auf eine edlere
Autorität geſtützt, hat Herr Forſter, ein eben ſo lie-
benswürdiger als talentvoller Schriftſteller, in ſeine Er-
innerungen vom Jahr 1790 ein Faktum aufge-
nommen, welches ihm, trotz alles guten Vorurtheils für
den erſten Verbreiter, doch bey der mindeſten Ueberlegung
hätte verdächtig ſcheinen müſſen. Wie hat ein ſo ſcharf-
ſinniger Kopf die Unwahrſcheinlichkeit überſehen können,
daß in einer Stadt, die in den Perioden ihrer höchſten
Bevölkerung nur etwa 26 bis 30,000 Menſchen zählt,
Krankenanſtalten vorhanden ſeyn ſollten, in welchen
allerſchlechteſte Behandlung und ein unerhört nachtheili-
ges Vethältniß annehmen, wenigſtens noch einmal ſo
viele Kranke aufgenommen haben mußten? Welches Hos-
pital in Europa rechtfertigt durch ſeinen Beſtand dieſe
Muthmaßung auch nur auf die entfernteſte Weiſe? —
Ich habe mir Mühe gegeben auf den Grund einer Nach-
richt zu kommen, die in der That ſo wichtig iſt, daß ſie
ſelbſt den Feuereifer entſchuldigt, in den Herr Forſter
durch ſeine Folgerungen geräth, und nach den glanbwür-
digſten Zeugniſſen die ich hierüber have einholen können,
ergiebt ſich, daß die Quelle des Irrthums — ein Druck-
fehler iſt, der durch die Wegnahme einer überzähligen
Null verbeſſert werden muß. — Doch, die Sache iſt von
allzugroßer Bedeutung für die Geſchichte, als daß eine be-
friedigende Erklärung hier ihren Platz finden könnte. Sie
ſoll aber zu einer andern Zeit, mit intereſſanten Belegen
verſehen, im Publikum erſcheinen.
ruſſiſche Gottesgelehrte, der das Dogma und die Unter-
ſcheidungslehren ſeiner Kirche in ein zuſammenhängendes
Lehrgebäude brachte. Sein Hauptwerk iſt in lateiniſcher
Sprache geſchrieben und führt den Titel Chriſtiana ortho-
doxa Theologia. Seine geiſtlichen Reden, die für klaſſiſche
Produkte gelten, werden häufig in den Kirchen beym Got-
tesdienſte vorgeleſen. Er ſtarb, als Erzbiſchof von Now-
gorod, i. J. 1736.
weiſe ſpreche, ſondern ſelbſt zu urtheilen ſcheine, ſo ge-
ſchieht dies nur, um die Weitläuftigkeit zu vermeiden, zu
Namen meiner Freunde oder des Publikums ſprechen
wollte. Dieſe Anmerkung gilt für die ganze Schilderung
der Litteratur.
kürzlich in Moskan ein Syſtem der ruſſiſchen Ge-
ſetzgebung erſchienen iſt.
über die Peſt, von der es eine deutſche Ueberſetzung
giebt.
tersburgiſchen Erſcheinungen in der Litteratur die
Rede iſt. Moskau hat in dieſem, wie in manchen an-
dern Fächern, gute Originalprodukte und Ueberſetzungen
geliefert. Eine unlängſt angefangene Zeitſchrift, das
moskowiſche Journal, beſtrebt ſich, dieſe Lücke
auf eine ſehr auffallende Art zu ergänzen. Außer mehre-
ten merkwürdigen Zwecken ſcheint dieſe Zeitſchrift die
Abſicht zu haben, das ruſſiſche gelehrte Publikum auf
die große Revolution aufmerkſam zu machen, die Kant
in der Philoſophie bewirkt hat.
Kurator der kaiſerl. Erziehungsanſtalten, Bezkoi. Franz.
von le Clerc. Deutſch im Neuveränderten Rußland.
Staatsrath und Ritter des St. Annenordens. Die jetzige
Kaiſerinn hatte ihm, außer vielen andern Gnadenbezeu-
gungen, eine jährliche Penſion von 2,000 Rubeln gegeben.
nicht zu erinnern, daß manche Ausdrücke, die hier alltäg-
lich oder gemein ſcheinen, in dem Original eine ganz an-
dere Wirkung thun.
Original in dieſer Ueberſetzung verloren hat, wähle ich
die zwey letzten Zeilen. In dem ganzen Gedichte herrſcht
eine ſanfte Stimmung, die ſo wenig ekſtatiſch iſt, daß
ſie zuweilen ſogar in horaziſchen Muthwillen übergeht;
nur mit dem Schluß erhebt ſich der Flug des Dichters
ſtufenweiſe immer höher, bis er endlich mit einem erha-
benen Gedanken endigt. Dieſe Gradation und folglich
auch die ganze Wirkung iſt in der Ueberſetzung verwiſcht.
Man leſe noch einmal von der Stelle: „Ich habe ſie ge-
ſungen“ — und man wird in jeder folgenden Zeile einen
höhern Schwung bemerken. Dies läßt ſich auch in der
Verdeutſchung fühlen. Aber den letzten kühnſten und er-
habenſten Gedanken hat der Ueberſetzer ſo kraftlos und
proſaiſch gegeben, daß man die Stufenleiter verliert
und ſich mit einemmal wieder auf der Erde ſieht, da man
ſich ſchon in den Wolken glaubte. Wörtlich lautet die
Stelle ſo:
Im Ruſſiſchen iſt es das Futurum: budu, ich will,
ich werde.
langer Zeit ruſſiſch.
Wort ſehr paſſend durch Mutterſöhnchen. Eigent-
lich bedeutet es einen Unmündigen, noch nicht Erwach-
ſenen.
wurſt.
und iſt ſchwer zu beſchreiben; es ſoll aber ſehr gut auf
die Bemerkung nicht unnütz, daß die Ruſſen ſich durch-
gehend vortrefflich auf die Behandlung der Pferde ver-
ſtehen.
tränks, welches man aus den erſten Abſchnitten dieſes Bu-
ches kennt.
folgende Schilderung mangelhaft ſeyn wuͤrde, findet ſich
im erſten Theil, S. 59 folg.
lich ſteigen. Z. B. der monatliche Lohn eines Bedienten
Rubel. Zwey bis vier Rubel behaͤlt er zu ſeinem Unter-
halt, das Uebrige entrichtet er ſeinem Erbherrn, Kraͤmer
und Kaufleute gewinnen und bezahlen weit mehr.
tor Fauſt die uͤbrige Menſchheit zu bringen gedenkt. Wie
ſich doch alles aͤndert! Vor hundert Jahren mußten die
Ruſſen den Vorwurf dulden, daß ſie erſt von den Deut-
ſchen das Hoſentragen gelernt haͤtten; jetzt lernen deut-
ſche Philantropen von ruſſiſchen Bauern ohne Hoſen
gehn.
welche ſich durch ſtaͤdtiſche Gewerbe zu Reichthuͤmern
ben, giebt es ſehr wohlhabende Leute. Mir iſt ein Fall
bekannt, da ein einziges Dorf freywillig 30,000 R. auf-
brachte, um den Beſitzer deſſelben, der ein gnter Herr ge-
gen ſeine Leute war, aus einer großen Geldverlegenheit
zu retten. Unter den Bauern des Grafen Schereme-
tjew ſoll es mehrere geben, die 50 bis 100,000 R. beſitzen,
und, nach der Erzählung eines neuern Schriftſtellers, zu-
weilen auf Silber und ſächſiſchem Porzellain ſpeiſen.
lern; warme (nicht geheizte, wie man wol glauben moͤch-
te) fuͤr den Winter, und kalte, mit Eis gefuͤllte fuͤr den
Sommer.
Hier franzöſiſch la challe.
Ruſſen zu ſchlafen pflegen.
Wagenthor angebracht iſt.
ſche Zimmermann auf eine ſehr verſchiedene Art ihr Ge-
werbe treiben, ſo muß dieſe Benennung fuͤr den letztern
beyhehalten werden.
iſt nirgend in die Sprache des Umgangs aufgenommen.
namen. Weiber werden nicht nach der Mutter, ſondern
nach dem Vater genannt. In der Ausſprache faͤllt die
dritte oder vierte Silbe weg. Man ſagt alſo nicht Iwan
Waſſiliewitſch, wie dieſer Fuͤrſt auf allen Kathedern
in Deutſchland heißt, ſondern Iwan Waſſillitſch.
rer 600. Der alte Graf Raſumowski unterhielt in
der Reſidenz beſtändig 927 Menſchen zu ſeiner Bedienung.
niß der Ausländer unter einander nach einer wahrſchein-
lichen Berechnung angegeben iſt.
eine Ausnahme.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Gemählde von St. Petersburg. Gemählde von St. Petersburg. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpwh.0