ſatyriſcher
Schriften.
Mit allergnaͤdigſten Privilegien.
Jm Verlage Johann Gottfried Dycks.
1751.
Beweis,
daß die Reime in der deutſchen Dichtkunſt
unentbehrlich ſind,
bey einer gewiſſen Gelegenheit im Jahr 1737
verfertigt.
bricht endlich los.
groß,
A 2Vor
[4]Die Unentbehrlichkeit der Reime
Wenn
[5]in der deutſchen Dichtkunſt.
A 3So
[6]Die Unentbehrlichkeit der Reime
Der Reim? Wie? Dieſer Zwang, der das Gedicht entſeelet?
Daß
[7]in der deutſchen Dichtkunſt.
(Gleich brachte mich der Reim auf unſer Chriſtenthum,)
Tartuͤff, der alte Schalk betruͤgt die ganze Welt;
A 4Und
[8]Die Unentbehrlichkeit der Reime.
bey,
[[9]]
Ein Traum
von
den Veſchaͤfftigungen
der abgeſchiednen Seelen.
‒ ‒ ‒ Locus eſt et pluribus vmbris.
A 5
[[10]][11]
Die Seelen beſchaͤfftigen ſich nach der Trennung
von ihren Koͤrpern am liebſten mit denen
Sachen, an welchen ſie im Leben auf dieſer
Welt ihr groͤßtes Vergnuͤgen gefunden haben.
Dieſer philoſophiſche Lehrſatz, welcher noch etwas
aͤlter iſt, als ich und Leibnitz, faͤngt wieder von
neuem an, Mode zu werden; und weil ich eine
ziemlich dauerhafte Natur habe, ſo hoffe ich, es noch
zu erleben, daß er die beſte Welt, und den zureichen-
den Grund verdraͤngen ſoll. Nur will ich wuͤn-
ſchen, daß es nicht dem Grunde des Widerfpruchs
eben ſo gehen moͤge. Denn wenn dieſe drey Stuͤ-
cke alle auf einmal abkommen ſollten; So duͤrften
unſre philoſophiſchen Stutzer in dreyßig Jahren
eine ſehr altvaͤteriſche Miene machen, und ihre tief-
ſinnigſten Schriften, welche ſie und ihre Verleger
itzt bewundern, eben dem Schickſale unterworfen
ſeyn, welches diejenigen Familiengemaͤlde betrifft,
die man, wenn es hoch koͤmmt, bloß der alten Tracht
wegen als eine Raritaͤt noch auf hebt, gemeiniglich
aber in die dunkelſten Winkel des Hauſes ſtellt, um
niemanden zu aͤrgern. Dem ſey, wie ihm wolle;
eine jede Sache iſt der Mode unterworfen, und die
Philoſophie am meiſten *. Wenigſtens ich werde
mich
[12]Ein Traum
mich uͤber den Verluſt dieſer drey philoſophiſchen
Univerſalrecepte troͤſten laſſen, wenn ich nur erfah-
re, daß meine abgeſchiednen Seelen ihren Werth
behalten. An der Betrachtung dieſes Grundſatzes
finde ich mehr Vergnuͤgen, als an allen elektriſchen
Experimenten. Jch habe demſelben oftmals viele
Stunden lang nachgedacht, und allemal bin ich dar-
uͤber in eine ſolche Entzuͤckung gerathen, in welcher
kaum ein Poet ſeyn kann, der im Namen eines An-
dern fuͤr Geld und gute Worte die Augen einer
Phyllis beſingt.
Eben dieſes iſt Urſache, daß ich heute meinen
Leſern einen Traum von den Beſchaͤfftigungen
der abgeſchiednen Seelen nach der Trennung
von ihren Koͤrpern vorlege. Jm voraus aber
muß ich eines und das andre erinnern, welches die
Einrichtung meines Traums, und verſchiedne Frey-
heiten betrifft, ſo ich mir darinnen genommen habe.
Jch will es niemanden im Ernſte zumuthen,
daß er glauben ſolle, ich habe wirklich alſo getraͤu-
met, ungeachtet es eben nicht unwahrſcheinlich iſt.
Jch kann es zwar nicht laͤugnen, der Traum iſt
ziemlich lang gerathen; aber in der Stadt, wo ich
mich aufhalte, ſchlafen die Leute viel laͤnger, als an
andern Orten, und alſo traͤumen ſie auch laͤnger.
Wer wollte mir es wehren, wenn ich ihn in Archan-
gel getraͤumt haͤtte, wo man zu gewiſſen Zeiten lau-
ter
*
[13]von den abgeſchiednen Seelen.
ter Nacht, und faſt gar keinen Tag hat? Allein, ich
habe nicht Urſache, ſo viel Umſtaͤnde zu machen.
Jch will es nur frey bekennen, ich habe getraͤumt,
damit ich ſchreiben wollte. Dieſes kann genug
ſeyn, mein Verfahren zu rechtfertigen, und wer
mehr Beweis fodert, der muß von dem gelehrten
Herkommen gar nichts verſtehen. Ohne Ruhm
zu melden, weis ich alles, was zu einem orthodoxen
Traume gehoͤrt. Man denkt nach; man ſchlaͤft
uͤber dieſem Nachdenken unvermerkt ein; man ſagt
im Traume etwas, das man vielmals nicht ſagen
wuͤrde, wenn man wachend, und ſeiner Sinne maͤch-
tig waͤre; man erwacht unvermuthet. Kein einzi-
ges von dieſen Stuͤcken habe ich in meinem Traume
ſo beobachtet, wie es nach den Regeln eigentlich
haͤtte ſeyn ſollen. Jch habe nicht nachgedacht, denn
ich bin ein Autor nach der neueſten Mode; ich bin
nicht unvermerkt daruͤber eingeſchlafen; und was
meinen Leſern etwan wiederfahren ſollte, dafuͤr
kann ich nichts. Jch habe von allem dem, was hier
ſteht, nicht ein Wort im Traume gehoͤrt und gere-
det; ja, da ich ein Advocat bin, ſo kann ich bey mei-
nem zarten Gewiſſen bezeugen, daß mich dieſer
Traum um manche Stunde Schlaf gebracht hat.
Jch bin nicht unvermerkt aufgewacht; dieſes braucht
keines Beweiſes, man darf nur bis zum Ende leſen.
Mit einem Worte; alles dieſes wird man in gegen-
waͤrtiger Schrift nicht finden, und dennoch muß ſie,
trotz allen Kunſtrichtern, ein Traum ſeyn, eben ſo
gut, als Herrn Zſchepens Traͤume, nach ſeiner Mey-
nung, mathematiſche Beweiſe ſeyn ſollen.
Von
[14]Ein Traum
Von den Freyheiten muß ich noch etwas ſagen,
welche ich mir in meinem Traume genommen habe.
Jch habe meine abgeſchiednen Seelen niemals ohne
Kleider, und dergleichen Geraͤthe, erſcheinen laſſen.
Jch kann eben nicht ſagen, daß dieſes aus einer be-
ſondern Schamhaftigkeit geſchehen waͤre, und ich
muß zur Beruhigung unſrer jungen Herren und ei-
niger meiner Leſerinnen hier anmerken, daß meine
Frauenzimmerſeelen keine Halstuͤcher, ſondern
wenn es hochkoͤmmt, nur fluͤchtige Palatine tragen.
Jch habe wichtige Urſachen, warum ich will, daß
meine Seelen auch noch im Tode ihre Kleidung bey-
behalten ſollen. Wie viele derſelben wuͤrde ich
nicht ungluͤcklich machen, wenn ich ihnen ihre praͤch-
tigen Kleider naͤhme! Und waͤre ich ſo unbarmher-
zig, einigen ihre reichen Weſten zu rauben, wie viel
hochwohlgebohrne Seelen wuͤrde ich nicht unter den
Poͤbel verſtoßen, welche doch in ihrem Leben zum
unſterblichen Ruhme ihres Vaterlandes und ihrer
Ahnen beym pyrmontiſchen Brunnen geſchimmert
haben. Das iſt noch lange nicht genug. Wenn
ich meiner Nachbarinn, dem witzigſten Frauenzim-
mer unſrer Gaſſe, ihre Baͤnder, Spitzen, Schmink-
fleckchen, und andre weſentliche Stuͤcke ihres Ver-
ſtandes contreband gemacht haͤtte; was wuͤrde ſie
in dieſer philoſophiſchen Ewigkeit fuͤr lange Weile
haben! Celinde wuͤrde einen noch einmal ſo ſchwe-
ren Todeskampf ausſtehen, wenn ſie befuͤrchten
muͤßte, daß ſie in jenem Leben ohne Reifrock und
Faͤcher erſcheinen ſollte. Wie klaͤglich wuͤrde es um
die Seelen unſrer galanten Stutzer ſtehen, wenn ich
ihnen
[15]von den abgeſchiednen Seelen.
ihnen nicht erlauben wollte, Fernglaͤſer zu brauchen,
oder wenn ich ſo pedantiſch waͤre, und ihnen ver-
wehrte, zu traͤllern, und zu pfeifen! Nein, das ſey
fern! Sie ſollen traͤllern! Sie ſollen pfeifen! und
Celinde kann freudig ſterben, ſo bald es ihr gefaͤllt,
denn ſie ſoll auch ihren Mops mit nehmen!
Nunmehr waͤre der erſte Zweifel gruͤndlich und
muthig aus dem Wege geraͤumt, und es fehlt dieſer
Erlaͤuterung nichts weiter, als daß ich entweder
ſchimpfe, oder vier beruͤhmte Buchſtaben dazu ſetze,
durch deren magiſche Kraft man aus nichts et-
was machen kann; ſo muͤßte ſie auch fuͤr einen ge-
lehrten Beweis gelten. Es wird mich bey weitem
ſo viel Muͤhe nicht koſten, die andern Freyheiten zu
entſchuldigen, welche ich mir genommen habe. Jch
habe es gewagt, die Seelen einiger Auslaͤnder in un-
ſre Gegend zu bannen. Jch habe Grund dazu.
Wenn es wahr iſt, daß die Seelen nach ihrem Ab-
ſchiede aus dieſem Leben, dasjenige am liebſten thun,
womit ſie ſich in der Welt am meiſten beſchaͤfftigt
haben: So muß folgen, daß die deutſchen Seelen
in fremde Laͤnder, und fremde Seelen in unſer Land
kommen. Unſer gelehrter Herr Profeſſor Quin-
tus Calpurnius, deſſen gruͤndliche Noten und
edirte Schriftſteller ihn wenigſtens auf drey Jahre
verewigt haben, wallt zwar dem Leibe nach unter
uns deutſchem Poͤbel, aber man merkt es ihm an den
Augen, an ſeinen Geſpraͤchen, und an ſeiner ganzen
Auffuͤhrung an, daß ſeine Seele weit von hier iſt;
und ich muͤßte mich ſehr irren, wenn ſie nicht ſo
gleich nach ihrer Aufloͤſung vom Koͤrper unter die
ver-
[16]Ein Traum
verfallnen Gemaͤuer des alten Latiens ſich verkrie-
chen, oder vielleicht gar in dem gelehrten Schutte
Griechenlands wuͤhlen ſollte, um ihren edeln Hun-
ger nach Antiquitaͤten zu ſtillen. Die Seele des
kleinen Junkers mit rothen Abſaͤtzen, welcher dort
am Markte wohnt, wird man gewiß nirgends an-
ders antreffen, als in den Thuillerien zu Paris;
es muͤßte denn ſeyn, daß ihn der Wohlſtand noͤthig-
te, nach Verſailles zu eilen, um den Koͤnige fruͤh-
morgens beym Aufſtehen das Hemde zu reichen;
denn eben dieſes iſt dasjenige, was er ſich itzt am
meiſten wuͤnſcht, und wozu er nach dem Urtheile der
vernuͤnftigſten Leute ſich am beſten ſchickt. Soll-
ten alſo die Seelen der Auslaͤnder bey uns nicht eben
ſo wohl etwas finden, welches ſie neugierig machte,
hierher zu kommen? Jch zweifle gar nicht dran.
Burmanns Seele, die Seele des Bentley, die ver-
ketzernde Seele des Jurieu werden in Deutſchland
an mehr als einem Orte die angenehmſte Beſchaͤff-
tigung und hundert theure Mitglieder der gelehrten
Welt finden, welche ihnen den Rang ſtreitig zu ma-
chen ſcheinen. Vielleicht iſt Addiſon mehr als ein-
mal auf meiner Studierſtube geweſen, um zu ſehen,
wie ſich ein Deutſcher geberdet, wenn er ein Chro-
noſtichon macht. Sollte es wohl mit den abge-
ſchiednen Seelen der Franzoſen anders beſchaffen
ſeyn? Sie moͤgen uns gleich hundertmal Verſtand
und Witz abſprechen; darinnen ſind ſie doch einig,
daß unſer Brod nahrhaft iſt, und ie mehr ſie auf
uns laͤſtern, deſto dienſtfertiger ſind wir, ſie zu er-
naͤhren, ſo, wie ein Papagoy bloß dadurch das
Futter
[17]von den abgeſchiednen Seelen.
Futter verdient, daß er ſeinen Herrn einen Hahnrey,
und die gnaͤdige Frau eine Hure heißt. Was iſt
wohl natuͤrlicher, als daß ſie auch nach ihrem Ab-
ſterben in dasjenige Land kommen, wo keiner ein
Narr iſt, der franzoͤſiſch reden kann. Vielleicht flat-
tert itzt, indem ich dieſes ſchreibe, mancher hungrige
Marqvis uͤber unſrer Stadt, und ſchimpft uns, da-
mit er eine Ritterzehrung erhalten moͤge. Denn
ſo vernuͤnftig und beſcheiden ſind ſie nicht alle, wie
der Marquis d’ Argens.
Dieſer Vorbericht war noͤthig. Jch komme
nunmehr zum Hauptwerke.
Mir traͤumte, ich ſey geſtorben. Jch ſahe den
Koͤrper, von dem ſich meine Seele getrennt hatte,
auf dem Bette mit eben der Gleichguͤltigkeit liegen,
mit welcher man eine abgelegte Redutenmaske,
oder Koch ſeine theatraliſche Kleidung anſieht, in
welcher er nach Gelegenheit entweder als Prinz be-
fohlen, oder als Kammerdiener Befehle angenom-
men hat. Jch werde nicht gern ſehen, wenn mir
jemand hierinnen widerſprechen, oder mich gleich
anfangs in meiner Abhandlung ſtoͤren, und laͤugnen
wollte, daß eine Seele ihren Koͤrper ſo gleichguͤltig
anſehen koͤnnte. Bey mir iſt dieſes gar nicht un-
wahrſcheinlich. Jch bin in einer kleinen Stadt ge-
boren und erzogen, in welcher kein junger Herr
war, als des Amtmanns Sohn, und der Stadt-
ſchreiber. Jch habe um deswillen niemals Exem-
pel genug gehabt, welche meine Seele verleitet haͤt-
ten, ſich mit ihrem Koͤrper am meiſten zu beſchaͤffti-
gen: zu geſchweigen, daß mein Koͤrper eben nicht ſo
Zweyter Theil. Bgebaut
[18]Ein Traum
gebaut geweſen, daß er mich in dieſem Stuͤcke zu
einer merklichen Eigenliebe, oder zu beſonders ſorgfaͤl-
tigen Beſchaͤfftigungen bewogen haͤtte. Jch berufe
mich hierinnen auf den guten Geſchmack meiner ver-
ſtorbnen Frau, welche in ihrem Leben viel Koͤrper
gekannt hat, in deren Umgange ſie weit mehr an-
nehmliches und artiges zu finden vermeynte, als
bey mir. Jch verlange alſo, daß man wenigſtens
meiner Frau glaube, wenn auch mein Zeugniß ver-
daͤchtig ſeyn ſollte. Jn Sachen, welche die Koͤr-
per und Menſchengeſichter angehen, kann man
dem Ausſpruche ſolcher Frauenzimmer, wie mein
liebes Weib war, ſicher trauen; in andern Dingen
hingegen, welche den Verſtand betreffen, bin ich gar
wohl zufrieden, daß man gruͤndliche Beweiſe fo-
dere. Dieſe kleine Ausſchweifung iſt um ſo viel
noͤthiger geweſen, je mehr einem Geſchichtſchreiber
daran liegt, daß man gegen ſeine Erzaͤhlungen nicht
mistrauiſch ſey, oder ſeine Nachrichten fuͤr verdaͤch-
tig halte. Jch erwarte alſo von meinen Leſern ohne
weitere Complimente, daß ſie in dieſe Gleichguͤltig-
keit meiner Seele gegen ihren Koͤrper weiter keinen
Zweifel ſetzen. Der einzigen Chloris will ich nicht
zumuthen, ſolches zu glauben; denn dieſe beſchaͤfftigt
ſich mit nichts, als mit ihrem Geſichte, und einigen
ſeufzenden Schaͤfern, denen nichts, als ihr Koͤrper,
und ſehr wenig von der Seele bekannt iſt, es muͤß-
ten denn eine zaͤrtliche Seele, eine holde Seele, ei-
ne grauſame Seele, eine verzweifelnde Seele, oder
andre dergleichen Seelen ſeyn, welche die arkadi-
ſchen Dichter mit verliebten Haͤnden alle Stunden
ſchaffen
[19]von den abgeſchiednen Seelen.
ſchaffen und wieder zernichten koͤnnen. Chloris
mag es alſo immer nicht glauben; ich bin es zufrie-
den. Sie ſoll mir es aber auch nicht verwehren, zu
behaupten, daß ihre Seele nach dem Tode beſtaͤn-
dig um ihren Nachttiſch vor ihrem Spiegel, und um
ihren Koͤrper herumflattern, und vielleicht ſelbſt be-
ſchaͤfftigt ſeyn wird, dieſen noch im Sarge zu putzen.
Jch komme wieder auf mich.
Sobald ich meinen erblaßten Koͤrper vor
mir ſahe, ſo eilte ich zu meinem Schreibepulte.
Das habe ich gedacht, wird die erbitterte Chloris
aus Rachbegierde rufen, das habe ich gleich ge-
dacht! Die muͤrriſchen Gelehrten werfen uns be-
ſtaͤndig den Nachttiſch vor, und vielmals begehen
ſie doch vor ihrem Schreibepulte eben diejenigen
Schwachheiten, welche man an uns vor unſerm
Nachttiſche kaum warnehmen wird. Mit ihrer Fe-
der und Dinte treiben ſie mehr Eitelkeiten, als wir
mit unſrer Schminke und mit dem Brenneiſen. Jn
ihren Schriften bewundern ſie vielmals ihre praͤchti-
ge Groͤße und gelehrte Schoͤnheit mehr, und doch mit
wenigerer Gewißheit, als wir uns in Spiegeln. Jhre
Eigenliebe, ihr Stolz, ihre Begierde, andern zu ge-
fallen, ihre Eiferſucht ‒ ‒ ‒ ‒ Es iſt alles wahr,
Chloris, aber itzt will ich weiter erzaͤhlen! Auf
meinem Pulte lag der Entwurf zu einer Schrift,
welche ich noch den Abend vorher zu Papiere ge-
bracht hatte. Jch wollte mich mit aller der Hitze,
welche mir und vielen Gelehrten ſo natuͤrlich iſt,
der Feder bemaͤchtigen, um zum Troſte meiner
kritiſchen Mitbruͤder dieſe wichtige Schrift zu Stan-
B 2de
[20]Ein Traum
de zu bringen. Allein, wie groß war nicht mein
Entſetzen, da meine abgeſchiedne Seele, als ein Geiſt,
nicht vermoͤgend war, die Feder aufzuheben, noch
weniger aber, zu ſchreiben! Jch bin nicht im Stan-
de, das Schrecken auszudruͤcken, welches mich des-
wegen uͤberfiel, und dergleichen Angſt empfindet
wohl niemand, als ein Poet, welcher einen Reim
ſucht, und ihn nicht erhaſchen kann. Siebenmal,
und noch ſiebenmal bemuͤhte ich mich zu ſchreiben,
aber allemal umſonſt. Jch wollte ein gewiſſes
Regiſter aufſchlagen, welches mir ſo oft in meinen
gelehrten Wehen geholfen hatte, aber auch dieſes
zu thun war ich nicht im Stande. Jch ſchlug die
Haͤnde uͤber dem Kopfe zuſammen, und bedauerte
wegen dieſes unerſetzlichen Verluſts meiner entworf-
nen Schrift den Verleger, mein Vaterland, die
Nachwelt; ja ich wuͤrde ſagen, daß ich mich ſelbſt
bedauert haͤtte, wenn es unter uns Gelehrten ein-
gefuͤhrt waͤre, in dieſem Punkte ſo offenherzig zu
ſeyn. Genug, ich ſahe, daß es mit meiner ganzen
Gelehrſamkeit aus war, weil ich nicht mehr ſchrei-
ben konnte. Das einzige, was ich zu meiner Beru-
higung that, war dieſes, daß ich zum Buͤcherſchranke
eilte, und mit einer recht vaͤterlichen Zaͤrtlichkeit alle
diejenigen Buͤcher uͤberſahe, welche durch meine un-
ermuͤdeten Haͤnde ihr Daſeyn erhalten hatten.
Hier ſtund ich ſo vergnuͤgt, und entzuͤckt, wie Ael-
tern, welche zwar ſelbſt keine Kinder mehr zeugen
koͤnnen, aber doch an denen, welche ſie bereits
ans Licht der Welt gebracht haben, aus ſchmeichle-
riſcher Eigenliebe ſo viel Verſtand, und Geſchicklich-
keit
[21]von den abgeſchiednen Seelen.
keit bewundern, als außer ihnen ſonſt niemand wahr-
nehmen kann.
Vielleicht wuͤrde ich in dieſer Stellung noch
lange geblieben ſeyn, wenn ich nicht im Traume
das freudige Schrecken wahrgenommen haͤtte, wel-
ches meine ungeduldigen Erben uͤberfiel. Sie
eilten ſo hungrig zu meinem Bette, als wenn ein
Raub auszutheilen waͤre. Jſt er todt? Jſt er
auch gewiß todt? ſchrien ſie. Ja! Endlich einmal
iſt er im Ernſte todt! Geſchwinde ſchickt nach dem
Sarge, daß wir ihn unter die Erde bringen! ant-
wortete ein Vetter von mir, und eine Muhme, wel-
che durch mein Abſterben alle diejenigen Tugenden
zu erben hoffte, welche gewiſſe gruͤndliche Liebhaber
bey ihr zeither vergebens geſucht, und ihr um des-
willen die Freyheit zu ihrem großen Verdruſſe nicht
geraubt hatten; dieſe Muhme vergoß viel Thraͤnen,
und wuͤrde mich, wegen ihrer unvermutheten Be-
kuͤmmerniß in großer Ungewißheit gelaſſen haben,
wenn ſie nicht alsbald, unter herzlicher Aufhebung
ihrer Haͤnde, mit lauter Stimme geſeufzet haͤtte:
Der ehrliche Vetter! Troͤſte ihn Gott! Es iſt ihm
recht wohl! Wir wollen ihm ſeine Ruhe goͤnnen!
Dieſes war die Loſung zum Pluͤndern. Den erſten
Sturm hatte meine Geldeaſſe auszuſtehen. Mei-
nen Kleidern und meinem Geraͤthe gieng es eben ſo.
Sie thaten alles in eine Kammer, welche ſie, wie ich
hoͤrte, wollten verſiegeln laſſen, und zwar von einem
gewiſſen Manne, deſſen Name mir entfallen iſt, wel-
cher aber ein ehrlicher und glaubwuͤrdiger Mann
ſeyn ſollte, weil er ein großes Petſchaft und zween Zeu-
B 3gen
[22]Ein Traum
gen hatte. Bis hieher hatte ich meinen Erben ganz
gelaſſen zugeſehen; Als ich aber merkte, daß es uͤber
meine Papiere hergehen ſollte, ſo fieng ich an, zu zittern.
Alles ward aufs ſorgfaͤltigſte durchgeſucht. Gegen alle
Briefe, in denen die Worte ſtunden: Leiſte gute Zah-
lung, und nehme Gott zu Huͤlfe! hatten ſie eine ſo
andaͤchtige Ehrfurcht, daß ſie dieſelben ſorgfaͤltig auf-
hoben; aber uͤber ein paar Laus Deo ſchuͤttelten ſie die
Koͤpfe gewaltig, denn dergleichen Latein konnten ſie
gar nicht leiden. Endlich traf die Reihe meine gelehr-
ten Concepte, welches mich recht wuͤtend machte. Jch
eilte voll Verzweiflung hinzu, ſie zu vertheidigen;
vielleicht aber wuͤrde ich dennoch zu unvermoͤgend
geweſen ſeyn, wenn nicht meiner Schweſter Sohn, ein
Meiſter von ſieben freyen Kuͤnſten, wider ſeinen Wil-
len mir beygeſtanden, und das ganze Packet unter
den Tiſch geworfen haͤtte, mit der Verſicherung: Es
ſey nur Maculatur. Der Jgnorant! Als meine
Erben noch mit dieſer Hausſuchung beſchaͤfftigt wa-
ren, merkte ich einen Haufen Bediente, welche im
Namen ihrer Herrſchaft ein gewiſſes Compliment
herſagen mußten, daß ſie das herzliche Beyleid
nannten. Die Bekuͤmmerniß uͤber meinen Tod
mochte in der ganzen Stadt gleich ſtark, und all-
gemein ſeyn, denn ihre Formulare endigten ſich
alle mit den Worten: Daß der Himmel den betruͤb-
ten Hinterlaßnen dieſen empfindlichen Verluſt durch
anderweitige Gluͤcksfaͤlle reichlich erſetzen moͤchte!
Allein der kraͤftigſte Troſt lag ſchon in der Kammer,
und meine Muhme war ſo boshaft, einer gewiſſen
Nachbarinn, welche ihr den Sohn eines reichen
Kauf-
[23]von den abgeſchiednen Seelen.
Kaufmanns abſpaͤnſtig gemacht hatte, anwuͤnſchen
zu laſſen, daß der Himmel dieſelbe vor dergleichen
Trauerfaͤllen jederzeit bewahren ſollte.
Nunmehr ward alles zu meiner Beerdigung ver-
anſtaltet, man eilte damit ganz ungewoͤhnlich, und,
ſo bald der Schneider alles gekauft und zurechte ge-
macht hatte, was zu einer ſchmerzlich gebeugten
Miene gehoͤrt; ſo gab man Geld uͤber Geld, mich
aus dem Hauſe zu bringen. Dieſes geſchahe endlich
unter einer anſehnlichen Begleitung. Man brachte
meinen Koͤrper in die Kirche, mit Beobachtung al-
ler derer klaͤglichen Gebraͤuche, ſo diejenigen ver-
dienen, welche ein ruͤhmliches Ende nehmen, und Mit-
tel hinterlaſſen. Zuletzt trat noch ein Redner auf,
welchem meine Erben in einem verſiegelten Paͤcktchen
vorher alle meine Tugenden begreiflich gemacht
hatten. So zufrieden ich jederzeit in meinem Leben
mit mir ſelber geweſen bin, ſo zweifelhaft war ich
doch uͤber dieſer Lob- und Trauerrede, ob ich es auch
wirklich ſey, welchen er meyne. Jch ſahe mich in
der ganzen Kirche um, in der Meynung, vielleicht
noch eine andre Leiche zu finden, auf welche alle dieſe
Lobeserhebungen gehen ſollten; ich fand aber der-
gleichen nirgends, und nunmehr merkte ich, daß ich
es ſelbſt in ganzem Ernſte ſeyn muͤßte. Er nennte
mich einen großen, beruͤhmten, gruͤndlichgelehrten
Mann, eine Stuͤtze der Wiſſenſchaften, ſeinen Maͤ-
cenaten. Und das mochte noch gehen; fuͤr zwoͤlf
Ducaten war es eben nicht zu viel. Er verſchwen-
dete mehr, als zwanzig Figuren, die Bekuͤmmerniß
abzuſchildern, welche meine Erben uͤber das fruͤh-
B 4zeitige
[24]Ein Traum
zeitige Abſterben ihres Herrn Vetters empfunden,
und dieſe waren aus Dankbarkeit ſo beſcheiden, daß
ſie ſich unter dem Flore verſteckten, um ihn nicht
oͤffentlich zu widerlegen. Er ſchrieb ihnen verſchied-
ne andaͤchtige Recepte vor, welche bey Stillung
der Thraͤnen ſehr probat ſeyn ſollten, das haͤtte der
ehrliche Mann wohl erſparen koͤnnen! Jch hoͤrte ihm
aber dennoch mit vieler Geduld zu. Endlich mach-
te er es gar zu arg. Er ſchwur, und er ſchwur mit
einer ſolchen Heftigkeit, daß er ganz braun im Ge-
ſichte ward; er ſchwur, ſage ich, daß ich zwar ein groſ-
ſer Gelehrter, aber noch ein groͤßerer Menſchen-
freund, ein ſtarker Befoͤrderer der ſchoͤnen Kuͤnſte
und Wiſſenſchaften, aber noch ein weit ſtaͤrkerer Ver-
theidiger der Wittwen und Waiſen geweſen waͤre.
Meine vergnuͤgte und begluͤckte Ehe ſey eine ſicht-
bare Vergeltung dieſer ſeltnen Tugenden gewe-
ſen. Brechet hervor! rief er, brechet aus eurer
Gruft hervor, ihr vermoderten Gebeine der wei-
land Hochedelgebornen Frauen, Frauen ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ Himmel; wie erſchrack ich, als ich hoͤrte, daß
er meine verſtorbne Frau citirte! Jch floh, ohne
mich umzuſehen. Jch floh voll Angſt zur Kirche
hinaus.
Aus Furcht, die hochedelgebornen Gebeine
moͤchten mir nachkommen, ſchwang ich mich in die
Hoͤhe, und erblickte daſelbſt eine große Menge abge-
ſchiedner Seelen, welche mir theils fremd, theils
bekannt waren. Dieſer unvermuthete Anblick ſetz-
te mich in Erſtaunen. Jch machte vor Verwun-
derung ein paar ſo große Augen, wie ein Wuͤrzkraͤ-
mer
[25]von den abgeſchiedenen Seelen.
mer in Ritzebuͤttel, wenn er in ſeinem Leben zum
erſtenmale auf die Boͤrſe nach Hamburg koͤmmt.
Eine ſo zahlreiche Verſammlung von Geiſtern haͤtte
ich mir an dieſem Orte nimmermehr vermuthet.
Alle ihre Beſchaͤfftigungen kamen mir fremd und
ungewoͤhnlich vor. Jch war neugierig, und doch un-
entſchloſſen. Jch wußte nicht, wo ich mich zuerſt hin-
wenden ſollte, und gleichwohl war ich noch nicht be-
herzt genug, mich zu einer von dieſen abgeſchiednen
Seelen zu nahen, und ſie um dasjenige zu befragen,
was mir zweifelhaft war.
Eine ſehr lebhafte Seele, wie etwan die Seelen
der jungen Herren ſeyn moͤgen, merkte dieſe meine
Befremdung am erſten. Wir kannten beide ein-
ander nicht; aber ſie war ſo gefaͤllig, daß ſie auf
mich zuflog, mich tauſendmal auf das vertrauteſte
umarmte, und ſagte: “Ganzunterthaͤniger Diener,
„mein allerliebſter Herr Bruder! Jch bin erfreut,
„daß ich die Ehre haben ſoll, Sie hier zu finden.
„Kann ich Jhnen in etwas dienen, ſo bitte ich ganz
„gehorſamſt, befehlen Sie nur. Nichts auf der Welt
„ſoll mir angenehmer ſeyn, als wenn ich im Stande
„bin, Jhnen eine Gefaͤlligkeit zu erzeigen. Sie koͤn-
„nen Sich ſicher auf meine Verſchwiegenheit und
„Bereitwilligkeit verlaſſen. Nehmen Sie es nicht
„fuͤr ein bloßes Compliment an! Es iſt, hohl mich
„der Teufel! mein Ernſt; ich ſtehe allemal zu De-
„ro Befehl.„ Er umhalſte mich von neuem, und
ich war eben im Begriffe ein ſo liebreiches Anerbie-
ten mit vielem Danke anzunehmen, als er ſich auf
dem Abſatze herumdrehte, mit dem Munde pfiff,
B 5mich
[26]Ein Traum
mich allein ließ, und im Fortgehen mit einer hei-
ſchern Stimme einige Verſe ſang, von denen ich wei-
ter nichts, als dieſe Worte, verſtehen konnte:
Jch ſahe, daß er einige Schritte von mir eine glei-
che Dienſtfertigkeit einer andern Seele, unter vielen
Kuͤſſen und Umarmungen, zuſchwur, welche er viel-
leicht eben ſo wenig kannte, als mich. Wenigſtens
verließ er ſie eben ſo geſchwind wieder, und ich konn-
te daraus ſchließen, daß ſeine ganze Beſchaͤfftigung
nur in Freundſchaftsverſicherungen beſtuͤnde.
Dieſer Vorfall hatte mich noch zweifelhafter ge-
macht, als ich anfangs geweſen war. Jch hatte das
Herz nicht, mich nach demjenigen, was ich ſah, zu
erkundigen; aus Furcht, ich moͤchte noch einmal in
die dienſtfertigen Haͤnde eines jungen Herrn fallen.
Jn dieſer Ungewißheit erblickte ich, nicht weit von
mir, eine Seele, welche auf alles dasjenige aufmerk-
ſam zu ſeyn ſchien, was in dieſer Gegend vorgieng.
Jch merkte deutlich an ihr, daß ſie noch etwas wich-
tigers, als eine bloße Neugierigkeit, aufmerkſam
machte. Zuweilen ſchienen ihre Mienen ernſthaft
zu ſeyn, zuweilen aber verriethen ihre Blicke etwas
ſpottendes, und, wenn ſie auch lachte, ſo geſchah
dieſes doch mit einer ſo edlen Art, daß man die deut-
lichſten Spuren von Mitleid und Liebe dabey wahr-
nahm. Jch wuͤrde ſie um deswillen fuͤr niemand
anders, als fuͤr die abgeſchiedne Seele des engliſchen
Zuſchauers gehalten haben, wenn ſie nur ein kurzes
und
[27]von den abgeſchiednen Seelen.
und breites Geſicht gehabt haͤtte. Weil ich es alſo
nicht ſelbſt errathen konnte, ſo faßte ich das Herz,
mich ihr zu naͤhern. Jch eroͤffnete ihr mein Anlie-
gen, und ich merkte, daß ſie uͤber meine Fragen ver-
gnuͤgt war. Sie reichte mir die Hand, und ſagte:
Jch will dein Verlangen erfuͤllen. Seitdem ich von
meinem Koͤrper getrennt worden, ſeitdem iſt die-
ſes mein einziges Vergnuͤgen, daß ich auf die
Handlungen der abgeſchiednen Seelen Acht habe.
Eben dieſes war vormals meine Beſchaͤfftigung, daß
ich auf meine Mitbuͤrger Achtung gab. Jch zeigte
ihnen in Schriften, worinnen ſie fehlten, und wo-
durch ſie ihre Gluͤckſeligkeit befoͤrdern koͤnnten.
Folge mir! Du wirſt alles erfahren, was dir nuͤtzlich
ſeyn kann. Jch bat ſie, mir ihren Nahmen zu ſa-
gen. Sie that es, nachdem ich ihr vorher in die-
ſem Stuͤcke alle Verſchwiegenheit verſprechen muͤſ-
ſen. Meine Leſer werden mir verzeihen, daß ich
hierinnen mein Verſprechen halten muß. Die ab-
geſchiednen Seelen ſind noch etwas gewiſſenhafter,
als die Seelen der Liebhaber. Vielleicht war es
die Seele eines Biedermanns? Eines Einſiedlers?
Eines Patrioten? Eines Freymaͤurers? Ja, vielleicht;
doch ich werde mich daruͤber nicht weiter erklaͤren.
Vielleicht war es aber auch die Seele des Rubens.
Nicht weit von uns ſah ich einen großen Zulauf
von Seelen, und das Getuͤmmel, welches ſie verur-
ſachten, machte mir Luſt, naͤher hinzuzugehen. Mein
Fuͤhrer warnte mich anfaͤnglich, mit der Verſiche-
rung, daß man in dieſem Gedraͤnge gar leicht
Schlaͤge bekaͤme. Jch wagte es aber dennoch, und
bat
[28]Ein Traum
bat ihn, mich zu begleiten. Jch will es endlich
thun, ſagte derſelbe, allein, entdecke mir vor allen
Dingen, ob du ein Poet biſt? Dieſer Zweifel gieng
mir durch die Seele, und in meinem Leben haͤtte ich
es niemanden rathen wollen, eine ſo unbehutſame
Frage an mich zu thun. Jch empfand den ſchmerz-
lichen Verluſt meiner zuruͤckgelaßnen Schriften auf
einmal wieder. Jch war ſo thoͤricht, daß ich um-
kehren, und einige gedruckte Beweiſe holen wollte.
Jch gab ſolches meinem Fuͤhrer zu verſtehen; allein,
er machte mir eine ſo ernſthafte Miene, daß ich mich
uͤber meine Autorſchaft zum erſtenmale ſchaͤmte. Jch
verſicherte ihn alſo nur mit furchtſamen Geberden,
daß ich in meinem Leben kein Feind der Dichtkunſt
geweſen waͤre. Das iſt gut, ſagte er, ich habe die-
ſe Frage deswegen an dich gethan, weil man ſich
in dieſer Gegend, welche du betrachten willſt, ohne
eine Kenntniß der Gemuͤthsarten, und Ausſchwei-
fungen der Poeten in gar nichts finden kann.
Du wirſt wunderliche Gegenſtaͤnde ſehen. Es
ſcheint, als ob ſich die Natur an dieſem Orte ver-
loren haͤtte, und du wirſt finden, daß daſelbſt alle
Handlungen nicht ſo ſind, wie ſie natuͤrlicher Weiſe
zu ſeyn pflegen, weil dergleichen Poeten nicht ſo den-
ken, wie ſie natuͤrlich denken ſollten. Die ganze
Gegend, fuhr er fort, wird beſonders von einer
Seele in Bewegung geſetzt, welche ſich in ihrem Le-
ben durch poßierliche Handlungen von andern unter-
ſchieden hat. Jhr ganzer Aufzug ſieht einem Trau-
me aͤhnlicher, als einer wirklichen Begebenheit,
welches eben daher koͤmmt, daß dieſe Seele mit
der-
[29]von den abgeſchiedenen Seelen.
dergleichen Traͤumereyen ſich in ihrem Leben an mei-
ſten beſchaͤfftigte. Sie hat in jener Welt die edlen
Bemuͤhungen vernuͤnftiger Maͤnner um den guten
Geſchmack ſehr uͤbel verſtanden. Was jene durch
Wiſſenſchaft und Beſcheidenheit erhielten, das ſuch-
te ſie durch Geſchrey und Ungeſtuͤm vergebens zu
erhalten.
Mein Fuͤhrer wollte weiter reden, allein,
ich war aus Neubegierde ſo ungeduldig, daß ich
ihn bey der Hand faßte, und mich durch den Poͤbel
draͤngte. Jch ſahe auf einem hohen Geruͤſte eine
Seele, in der gewoͤhnlichen Pracht eines Markt-
ſchreyers, fuͤr welchen ich ihn gewiß gehalten haben
wuͤrde, wenn nicht, wie gedacht, mein Fuͤhrer mir
vorher geſagt haͤtte, daß es ein Charlatan des gu-
ten Geſchmacks ſey. Er hatte ſich auf einem erhab-
nen Orte, wo er alles uͤberſehen, und ein jeder auch
ihn wahrnehmen konnte, das Geruͤſte erbaut. Je-
doch war die Architektur daran ſehr gothiſch und ab-
geſchmackt, und die Verzierungen waren ganz un-
gleich. Einige Stuͤcke davon beſtunden in Schnitz-
werke, welche ſehr praͤchtig und mit vieler Kunſt aus-
gearbeitet zu ſeyn ſchienen. Mein Fuͤhrer verſicherte
mich, daß dieſer Charlatan ſolche aus alten Tempeln
entwendet, in welchen man ſie als merkwuͤrdige Ueber-
reſte der griechiſchen und roͤmiſchen Architektur auf-
gehoben, verſchiedne aber durch einige ſeiner Ban-
de, ſo er zu Londen und Paris deswegen unterhal-
ten, erbeutet haͤtte, und nunmehr ſo unverſchaͤmt
ſey, ſolches fuͤr ſeiner eignen Haͤnde Arbeit aus-
zugeben, ungeachtet man ihn mehr als einmal
ſeiner
[30]Ein Traum
ſeiner Dieberey zu uͤberfuͤhren gewußt, und ihm ſo
gar die Oerter genannt, wo er ſie herbekommen habe.
Dieſe Nachricht ſchien mir ſehr glaublich, denn ich
ſah, daß dieſe gekaperten Zierrathen kaum den
vierten Theil ſeines Theaters ausmachten, die
uͤbrigen drey Theile aber aus Kloͤtzern, und ungeho-
beltẽ Bretern, zum Theile aber aus Puppenwerke und
ſolchem Geraͤthe beſtunden, welches man den Kindern
zum Spielen giebt. Alles dieſes war ſehr unordent-
lich zuſammen genagelt, und es ſchien ſo baufaͤllig zu
ſeyn, daß es alle Augenblicke einzufallen drohte. Es
wuͤrde vermuthlich auch geſchehen ſeyn, wenn nicht
verſchiedne Perſonen, welche ſeine Liverey trugen, ſol-
ches mit vieler Sorgfalt unterſtuͤtzt haͤtten.
Gleichwohl ſchien bey dieſen mißlichen Umſtaͤnden
ihr Principal ganz unbeſorgt zu ſeyn. Er gieng mit
ſtarken Schritten auf dieſem Geruͤſte hin und wie-
der, und ſo oft er ſeine Medicamente anpries, ſo re-
dete er mit einer ſolchen zuverſichtlichen Stimme,
daß das ganze Gebaͤude davon erſchuͤtterte. Nie-
mals habe ich etwas uͤbermuͤthigers geſehen, als
dieſen Charlatan. Jn ſeinem Geſichte war er ſehr
haͤßlich und ungeſtalt; gleichwohl konnte man es
ihm von weitem anſehen, daß er ſich geſchminkt hatte,
und dem ungeachtet war er ſo eitel, zu glauben,
daß er der ſchoͤnſte Charlatan ſeiner Zeit ſey. Man
hat es, wie mir mein Fuͤhrer erzaͤhlt, vielmals ver-
ſucht, ihm aus ſeinem Jrrthume zu helfen, und ihm
um deswillen Spiegel vorgehalten; Allein dadurch
iſt er jedesmal ſo erbittert geworden, daß er nicht
allein die Augen feſt zugedruͤckt, ſondern auch den
Spiegel
[31]von den abgeſchiednen Seelen.
Spiegel ſelbſt mit einem Knittel, den er gemeinig-
lich ſeinen Beweis zu nennen pflegte, zerſchlagen,
und auf diejenigen losgepruͤgelt, welche es mit ihm
ſo redlich gemeynt, und ihm ſeine Haͤßlichkeit zeigen
wollen. Seine Kleidung ſah natuͤrlich ſo aus,
wie das fuͤrſtliche Gewand eines von denen thea-
traliſchen Prinzen, welche in kleinen Staͤdten die
Jahrmaͤrkte beſuchen, und ihre ganze Monarchie auf
dem Schubkarren herumfuͤhren. Sie war an
verſchiednen Orten dergeſtalt zerriſſen, daß ſie
nicht einmal ſeine Bloͤße voͤllig bedeckte, welchem
Uebel er dadurch abzuhelfen ſuchte, daß er uͤber die
Loͤcher verſchiedne Sinngedichte und Heldenoden
klebte, welche ſeine Anhaͤnger ihm zu Ehren verfer-
tigt hatten. Bey den gemeinen Marktſchreyern
habe ich gefunden, daß ſie ihr Theater durch Ankle-
bung verſchiedner Zeddel anſehnlich machen, wel-
che dem Poͤbel von ihren verrichteten Wunderwer-
ken Nachricht geben, und daß ſie ihre Geſchicklich-
keit durch die erdichteten Privilegien von Allerun-
uͤberwindlichſten, Allerdurchlauchtigſten, und Groß-
maͤchtigſten Haͤuptern glaubwuͤrdig machen wollen.
Jn dieſem Stuͤcke war es hier ganz anders be-
ſchaffen. Sein Theater war uͤber und uͤber mit
Dedicationen und Vorreden beklebt, und an denen
Orten, welche am meiſten in die Augen fielen, war
ſein Bildniß unter vielerley Geſtalten zu ſehen,
welche jedoch wenigſtens darinnen einander aͤhnlich
ſahen, daß ſie allerſeits entweder mit Lorbeerzwei-
gen oder mit einem gewiſſen Glanze ausgeziert waren,
der die Unſterblichkeit vorſtellen ſollte. An ſtatt
der
[32]Ein Traum
der Privilegien aber fuͤhrte er einen großen Blaſebalg
in der Hand, welchen er allemal zuſammen druͤckte, ſo
oft er von der Liebe zum Vaterlande redete.
Einen Umſtand kann ich nicht unberichtet laſ-
ſen, weil er mir einige Nachricht von der Religion
unſers Charlatans gab. Auf der erſten Seite
des Theaters ſtund das Goͤtzenbild eines Frauen-
zimmers, in eben der Geſtalt, wie es ein großer
engliſcher Autor beſchrieben hat; den ich aber nicht
nennen will, weil man ſonſt gar zu leicht errathen
wuͤrde, wem ich dieſe Erzaͤhlung zu danken habe.
Dieſes Goͤtzenbild trug eine Krone von Federſpuh-
len, welche nach Art der Amerikaner in einer Run-
dung aufgeſteift waren. An derſelben hiengen
die Namen verſchiedner alter und neuer Schrift-
ſteller, welche ſie als Ketzer zum Tode verdammt
hatte, weil ſie ſich geweigert, ſie als eine Gottheit
anzubeten. Jhr Kopf, welcher keine Augen hatte,
war ungeheuer, noch groͤßer aber ihr Bauch, und
hierinnen habe ich nichts aͤhnlichers geſehen, als den
Abgott der alten Deutſchen, welchen ſie den dicken
Puͤſter nennten, und deſſen ſich die Betruͤgerey der
heydniſchen Prieſter zum Schrecken des Volks zu
bedienen wußte, wenn ſie ihn durch ein geheimes
Triebwerk Feuer ſpeyen ließen; ungeachtet er nur
ein Klotz war. Jhre Haͤnde waren ſehr ſtark und
plump. Jn der linken hielt ſie ein Fernglas, wel-
ches ſie aber nicht brauchen konnte, weil ſie blind
war; gleichwohl merkte ich, daß ſie es vor ihr Ge-
ſicht hielt, um den Mangel der Augen zu verbergen.
Jn der rechten Hand hatte ſie ein Gefaͤß voll Dinte,
das
[33]von den abgeſchiednen Seelen.
das ſie denen in die Augen zu ſchuͤtten drohte, welche
ſich nicht entſchließen konnten, ſie fuͤr eine Gottheit
zu erkennen. Sie ſaß auf einem ſehr erhabnen Thro-
ne, welcher aber nur aus einem aufgeblaſenen
Schlauche beſtund, ſo wie etwan diejenigen geweſen
ſind, in denen die Goͤtter der Heiden ihre Winde
verwahrten. Unter ihren Fuͤßen lag ein nacktes
Frauenzimmer, deſſen Name mir unbekannt blieb,
welches aber vermuthlich ihre aͤrgſte Feindinn ſeyn
mochte. Dieſem Goͤtzenbilde nahte ſich unſer Charla-
tan, ſo oft er merkte, daß ſeine Hitze und ſein Eifer fuͤr
das allgemeine Wohl einigermaaßen nachließ. Er
betete ſie mit eben der Niedertraͤchtigkeit an, mit wel-
cher er ſelbſt verehrt ſeyn wollte, und opferte ihr je-
desmal auf einem kleinen Altare einige gelehrte Blaͤt-
ter, welche bloß dadurch das Feuer verdient hatten,
weil nicht er, ſondern ein andrer, ſie geſchrieben.
Das ſicherſte Zeichen einer gnaͤdigen Erhoͤrung war
dieſes, wann ihm unter ſeiner andaͤchtigen Beſchaͤff-
tigung der Schaum vor den Mund trat, und er ein
gelehrtes Zucken in ſeinen Haͤnden empfand, ſo wie
es etwa bey den heftigſten Paroxyſmis neidiſcher und
zaͤnkiſcher Schriftſteller ſeyn mag. Dieſes Augen-
blicks bediente er ſich mit großem Nutzen, und als-
dann war er am geſchaͤfftigſten, ſeine gelehrten Medi-
camente unter die Zuſchauer austheilen, ihnen die
probateſten Recepte des guten Geſchmacks vorzu-
ſchreiben, und von denen Wundern zu erzaͤhlen, wel-
che dieſe Univerſalarzneyen bey verſchiednen ſeiner
kindlichgehorſamſten Patienten gewirkt, die ſie mit
offnem Munde verſchlungen hatten.
Zweyter Theil. CSein
[34]Ein Traum
Sein groͤßtes Geheimniß beſtund in einer gewiſ-
ſen Art Pillen. Eine jede Doſe davon wickelte er
in eine von den Lobſchriften, welche man ihm zu Eh-
ren, und der Nachwelt zur Erbauung, verfertigt
hatte, und dadurch erlangte er einen doppelten Nu-
tzen, weil er auf ſolche Art den Leuten ſeine Pillen, und
ſeinen Ruhm, zugleich beybrachte. Jn der That hat-
ten dieſe Pillen eine erſtaunende Wirkung. Kaum
hatte ſie der Patient eingenommen, als er ein hefti-
ges Grimmen im Gehirne empfand, das ſo lange
anhielt, bis ſich die Natur half, welches aber nicht
nach dem ordentlichen Laufe der Natur geſchah; ſon-
dern alle Unreinigkeiten giengen durch die Finger
weg, und was mir dabey am ſeltſamſten vorkam, ſo
fiengen die meiſten der Patienten dieſe Unreinigkeiten
mit einem Papiere auf, welches ſie ſodann mit einer
demuͤthigen Verbeugung ihrem Arzte ſelbſt widme-
ten, und zu fernerer Befoͤrderung des guten Ge-
ſchmacks uͤberreichten. Sodann erhielten ſie von ihm
die Gewalt, unter ſeiner Aufſicht andre zu curiren.
Jch habe gemerkt, daß ſie in ihrer Cur oftmals viel
heftiger waren, als ihr Oberhaupt, und ich habe es
mit meinen Augen geſehen, daß einer derſelben nur
einige Schritte von mir einem der Zuſchauer eine
ziemliche Anzahl Pillen in den Hals ſteckte, um ihn
auch wider ſeinen Willen von dem uͤbeln Geſchmacke
zu curiren. Jch habe vergeſſen, zu erinnern, daß
der Anfuͤhrer dieſer kleinen Charlatane erſchreckliche
Abentheuer von ſeinen Curen zu erzaͤhlen wußte.
Das war ihm viel zu wenig, zu ſagen: Dieſen oder
jenen gebrechlichen Mann habe ich durch meine
herr-
[35]von den abgeſchiednen Seelen.
herrlichen Elixiere, durch meine vortrefflichen Pillen
curirt! Nein! Zum wenigſten ſein ganzes Vater-
land war es, dem er geholfen hatte, und ſo oft ſeine
Pillen bey einem Patienten ſo, wie ich oben erzaͤhlt
habe, durchſchlugen, ſo oft gratulirte er auch dem
ganzen gemeinen Weſen. Beynahe haͤtte ich den
wichtigſten Umſtand ganz mit Stillſchweigen uͤber-
gangen. Ordentlicher Weiſe haben unſre Markt-
ſchreyer etliche Schnuren angereihter Zaͤhne an
dem Halſe hangen, welche ſie preßhaften Patienten
ausgeriſſen haben, und nunmehr als Siegeszeichen
herumtragen. Meine Leſer koͤnnen wohl glauben, daß
unſer Arzt dergleichen redende Zeugen ſeiner Ge-
ſchicklichkeit und Erfahrung eben ſo wohl an ſich han-
gen hatte. Zwar waren es keine Zaͤhne, an deren
Stelle aber eine große Schnur zuſammengereihter
und auserleſener Donatſchnitzer, welche er aus den
Schriften gelehrter Maͤnner herausgehoben hatte.
Jch konnte mich bey dem Anblicke dieſer koſtbaren
Pracht unmoͤglich des Lachens enthalten; zu meinem
groͤßten Ungluͤcke aber ward ich von einem dieſer witzi-
gen Adepten daruͤber entdeckt, weicher ſich durch die
andern Geiſter draͤngte, und, indem er auf mich zu-
eilte, einmal uͤber das andre rief: Halt auf! Halt
auf! Jch ſuchte, mich unter dem Volke zu verber-
gen, er fand mich aber dennoch, und als er mich an-
gepackt hatte, ſagte er: Laſſe ſich der Herr curiren!
Der Herr hat den Staar, einen gefaͤhrlichen Staar!
Er koͤmmt nicht aus meinen Haͤnden, bis ich ihm
denſelben geſtochen habe! Halte der Herr im Guten,
oder ich brauche Gewalt! Hier half weder Bitten
C 2noch
[36]Ein Traum
noch Drohen; er fiel uͤber mich her, warf mich zu
Boden, und ich wuͤrde gewiß die erſchrecklichſten
Experimente haben ausſtehen muͤſſen, wenn nicht
mein Begleiter, ich weis nicht mehr, was fuͤr ein
Mittel, ausfuͤndig gemacht haͤtte, mich den Klauen
meines barbariſchen Wohlthaͤters zu entreißen.
Jndem ich noch vor Schrecken außer mir war,
ſo kam ein Schatten, welcher dieſe Gewaltthaͤtigkei-
ten von ferne wahrgenommen haben mochte, in
vollem Laufe auf mich zu. „Proteſtiren Sie, mein
„Herr, rief er, als er wohl noch zehen Schritte von
„mir war, proteſtiren ſie! Ergreifen ſie das heilſa-
„me beneficium appellationis! Sie koͤnnen es be-
„zahlen, ich ſehe es Jhnen an, Sie haben die gerech-
„teſte Sache von der Welt. Jch diene Jhnen mit
„Vergnuͤgen, und ich will es billig machen, Sie ſollen
„es erfahren. Wir wollen unſern Gegner ermuͤ-
„den, bis er ſelbſt kommen, und einen Vergleich
„anbieten ſoll. Jch will Jhnen fuͤr ein weniges
„Geld Zeugen ſchaffen, ſo viel Sie verlangen. Be-
„fehlen Sie etwan alte Documente? Jch will gleich
„welche zurechte machen. Wir wollen die Sache
„durch alle Jnſtantien durchſetzen, und verlangen
„Sie es, ſo muͤßte ich meine Praxin ſchlecht verſte-
„hen, wenn ich es nicht in moͤglichſter Kuͤrze dahin
„bringen wollte, daß Jhr Rechtshandel in dreyßig
„Jahren noch eben ſo verwirrt ausſehen ſollte, als
„er itzt iſt. Jch bin recht dazu geboren, meinen
„bedraͤngten Clienten beyzuſtehen. Feige werde
„ich, dem Himmel ſey Dank, auch durch nichts, und
„im Schreiben bin ich unermuͤdet, ſo lange ich noch
einen
[37]von den abgeſchiedenen Seelen.
„einen Finger ruͤhren kann. Aber Geld muͤſſen
„Sie freylich haben; denn ich und Jhr Richter koͤn-
„nen ohne Geld die Sache nicht recht einſehen. Was
„betreffen denn Jhre Streitigkeiten? Machen Sie
„mir nur einen kleinen ſtatum cauſſæ, einen ganz
„kleinen ſtatum cauſſæ! Aber ja kurz, ſo kurz als
„immer moͤglich, denn ich bin kein Liebhaber von
„Weitlaͤuftigkeiten.„ Jch erſtaunte uͤber die bos-
hafte Dienſtfertigkeit dieſer kleinen geſchwaͤtzigen See-
le, welche ihr kurzer Mantel kenntlich machte, und
die ſo voll Begierde nach meiner gerechten Sache
um mich herum ſprang, daß ſie nicht ein Auge von
meinem Schubſacke verwandte. Jch fieng ſchon
an, zu zweifeln, ob ich den praktiſchen Haͤnden mei-
nes rechtlichen Beyſtandes entgehen, und ohne Pro-
ceß von ihm loskommen wuͤrde, als ich mich be-
ſann, ihn zu bitten, daß er mir ſein Wort halten,
und in einer ſehr wichtigen, meine Ehre und ganze
Gluͤckſeligkeit betreffenden, Sache, die ich ihm gleich
entdecken wuͤrde, treulich beyſtehen, vor allen Din-
gen aber bey meinem Richter es dahin bringen ſoll-
te, daß ich das Armenrecht erlangen moͤchte. „Das
„Armenrecht! rief er mit einer kleinmuͤthigen Stim-
„me. Jch wollte Jhnen gern dienen, aber ich ma-
„che mir ein Gewiſſen daraus, eine Sache anzuneh-
„men, welche ich gleich beym erſten Anblicke unbil-
„lig finde. Streiten Sie ja nicht, Sie haben das
„groͤßte Unrecht von der Welt! Vergleichen Sie Sich
„in der Guͤte, ich rathe es Jhnen wohlmeynend.
„Zum wenigſten werde ich mich wohl huͤten, an Jh-
„rem boshaften Vorhaben Theil zu nehmen. Sie
C 3ſollten
[38]Ein Traum
„ſollten ſich ſchaͤmen, einem ehrliebenden und gewiſ-
„ſenhaften Advocaten, wie ich bin, dergleichen An-
„trag zu thun! Leben ſie wohl!„
Jch freute mich, daß ich ein Mittel gefunden
hatte, mich auf eine ſolche Art von dieſem verdruͤß-
lichen Handel los zu wickeln. Doch dieſe Freude
war nur von kurzer Dauer. Denn ehe ich mir
es verſah, ſprang eine Seele mit einem großen Ko-
ber hinter einem Buſche hervor, und auf mich los.
Jch erſchrack, wie leicht zu glauben iſt, da ich mir
an dieſem einſamen Orte von einem ſo unvermuthe-
ten Ueberfalle nichts gutes verſprechen konnte. Jch
floh, ohne mich umzuſehen, und war vor Angſt außer
mir, als ich fuͤhlte, daß man mich bey den Haaren
hielt. Jch wandte mich um, in der Abſicht, mei-
nem Verfolger zu ſagen, daß ich kein Geld haͤtte.
Aber wie groß war mein Erſtaunen, als dieſer ſich
mit einer demuͤthigen Geberde, jedoch ohne meine
Haare loszulaſſen, vor mir buͤckte, und zu mir ſagte:
Der Ehrfurcht gieb es Schuld, geprieſner Maͤcenat,
Das ich aus reger Glut mit demuthsvollen Haͤnden
Den Wunſch ‒ ‒ ‒ ‒
Jch habe nicht einen Dreyer in meinem ganzen Ver-
moͤgen; war meine Antwort. Darauf ließ er mich
mit einer veraͤchtlichen Miene los, und ich ſah ihn zu
einem großen Schwarme kleiner Geiſter eilen, welche
einer dicken Seele nachliefen, aus deren praͤchtigem
Anzuge man ihre großen Verdienſte und Gaben ei-
nigermaaßen wahrnehmen konnte. Jhr Geſchrey
war ſo verwirrt, daß ich anfangs nicht zu errathen
vermochte, was es bedeuten ſollte.
Jch
[39]von den abgeſchiednen Seelen.
Jch wagte es aber, naͤher hinzuzugehen, und
hoͤrte einen Miſchmaſch von Altaͤren, von Zierde des
Vaterlandes, von Wundern ſeiner Zeit, von Nach-
welt, von Unſterblichkeit, und von hundert ſchoͤnen
Sachen, deren eine jede, durch die Bank gerechnet,
wenigſtens einen Gulden werth war. Beſonders
kam mir eine etwas klare Stimme ſehr bekannt vor,
welche um ihr Anliegen recht feurig zu verſtehen zu
geben, immer uͤber das dritte Wort, O! rief. Es
war luſtig anzuſehen, wie unermuͤdet dieſe kleinen
Geiſter ihrem beſungnen Helden nachliefen, welcher,
wie man deutlich merken konnte, von dem vielen
Weihrauche mehr und mehr aufſchwoll, und durch
ſeine hohen Blicke zu verſtehen gab, daß er ſich die-
ſes Ruhms allerdings nicht unwuͤrdig erkennte.
Endlich erbarmte er ſich ſeiner Clienten, kehrte ſich
um, und blieb ſtehen. Dieſes vermehrte den Laͤrm.
Die kleinen Seelen ſtolperten uͤber einander weg,
und draͤngten ſich, weil eine jede die naͤchſte ſeyn
wollte. Sie hielten die offnen Haͤnde empor, und
ſahen alle mit ſehnlichen Blicken auf den patrioti-
ſchen Geldbeutel ihres theuern Goͤnners, welcher
auch in der That großmuͤthig genug war, und durch
eine reiche Spende ihren ehrfurchtsvollen Magen
befriedigte. Jch fragte eine davon, welche ſich vor
andern hervorgethan, und ganz aus dem Athem ver-
goͤttert hatte; wer denn dieſer beruͤhmte und tugend-
hafte Mann ſey? wie er heiße? wodurch er ſich um ſein
Vaterland ſo verdient, und eines ſo ausnehmenden
Lobes wuͤrdig gemacht haͤtte? Das weis ich alles
nicht, antwortete ſie mir kaltſinnig; aber heute iſt ſein
Geburtstag!
C 4Zwo
[40]Ein Traum
Zwo Seelen, die ich anfangs fuͤr Bierſchroͤter
anſahe, welche aber, wie ich von meinem Begleiter
erfuhr, in ihrem Leben Critici, und ganz abſcheulich
gelehrte Maͤnner geweſe[n] ſeyn ſollten, verurſachten
einen großen Auflauf in der Gegend vor dem Stadt-
thore, wo ſich ſonſt zu gewiſſen Zeiten die Ringer und
Klopffechter von dem Poͤbel bewundern laſſen. Sie
hatten einander auf die grimmigſte Art bey den Haa-
ren angefaßt, und ein jeder bemuͤhte ſich den andern
zu uͤberwaͤltigen. Dieſer Kampf war merkwuͤrdig,
aber auch ungewiß, weil ſie einander beide gewach-
ſen waren. Jch war nicht im Stande, einige Nach-
richt von den Urſachen ihrer Verbitterung zu erfah-
ren, denn alles, was ich noch hoͤren konnte, waren
ſolche Schimpfwoͤrter, welche vielmals der witzigſte
Kutſcher nicht gelernt hat, wenn er auch in ſeiner
Mutterſprache noch ſo ſtark iſt. Endlich fiel der eine
mit großer Heftigkeit zu Boden. Sein Ueberwin-
der mochte vermuthlich gerechte Sache haben, denn
er ſchlug, aus Liebe zum Vaterlande und zu den
ſchoͤnen Wiſſenſchaften, ganz unbarmherzig mit ge-
ballter Fauſt auf ihn zu. Sie beſudelten ſich beide,
und erregten einen ſolchen Staub, daß ich nicht ver-
moͤgend war, weiter etwas von ihnen zu ſehen.
Jch richtete alſo meine Aufmerkſamkeit auf die
Umſtehenden, welche auf verſchiedne Art an dieſem
Abentheuer Antheil zu nehmen ſchienen. Einige
waren ſo muthwillig, daß ſie durch ein unaufhoͤrli-
ches Huß! Huß! dieſe erhitzten Vertheidiger der
Wahrheit in ihren kritiſchen Unterſuchungen noch
mehr
[41]von den abgeſchiednen Seelen.
mehr anfeuerten, und ſo oft ein Schlag geſchah,
ſo oft bezeigten ſie durch ein leichtſinniges Haͤnde-
klopfen ihren Beyfall; j [...] ich ſah ſo gar, daß ei-
nige unter ihnen den [...]mpfern Geld zuwarfen,
wodurch ſie dieſelben ganz wuͤtend zu machen wuß-
tend. Einige der Zuſchauer lachten, und dieſe
ſchienen mir am meiſten unparteyiſch zu ſeyn, weil
ſie beide fuͤr unſinnig hielten. Andre waren be-
muͤht, die Streitenden auseinander zu reißen, aber,
ſie bemuͤhten ſich nur vergebens, und verſchiedne
waren ſo ungluͤcklich, daß ſie von ihnen in dieſer
Unordnung fuͤr ihre guten Abſichten empfindliche
Stoͤße bekamen. Die meiſten nahmen Antheil
an dieſer Zerruͤttung, und es ſchien beynahe ein
allgemeiner Krieg zu werden. Ein jeder ſchlug
ſeinen Nachbar in die Augen, ohne ihn zu kennen,
oder zu wiſſen, warum? Verſchiedne, welche man
vorher gar nicht geſehen noch gekannt hatte, und
welche ganz ruhig haͤtten bleiben koͤnnen, verließen
ihren Ort, eilten hinzu, und holten ſich Schlaͤge, nur
in der Abſicht, damit man ſie kennen lernen moͤch-
te, und ſie ſchienen recht vergnuͤgt zu ſeyn, wenn
ſie ſahen, daß man auch uͤber ſie lachte.
Endlich wurden unſre beiden Fechter, welche alle
dieſe Unruhe veranlaßt hatten, ihres Streits muͤde.
Sie giengen von einander, und ich war ſo verwegen,
den Ueberwinder, welcher den andern von ſeinem gu-
ten Geſchmacke ſo handgreiflich uͤberfuͤhrt hatte, zu
fragen, was die Urſache ihres hitzigen Kampfs ge-
weſen ſey. Vermuthlich, ſagte ich zu ihm, haben Sie,
mein Herr, Sich des wahren Wohls Jhres Vaterlan-
C 5des
[42]Ein Traum
des angenommen. Vermuthlich haben Sie eine
Wahrheit zu vertheidigen gewußt, ohne welche viel
tauſend Menſchen ungluͤcklich haͤtten werden muͤſ-
ſen. Jſt es nicht das ewige, ſo wird es doch we-
nigſtens das zeitliche Wohl ihrer Mitbuͤrger ſeyn,
welches Sie mit Hindanſetzung Jhres Ruhms und
Jhrer Ehre vertheidigt haben. „Ach! Noch viel mehr!
„war ſeine Antwort; Noch etwas viel wichtigers!
„Solche Kleinigkeiten gehen mich nichts an! Be-
„denken Sie nur einmal, mein Herr, bedenken Sie nur
„einmal den Raſenden, den Unſinnigen, das Scheuſal
„der gelehrten Welt, den ‒ ‒ O! ‒ ‒ Weiter konnte er
vor Zorn nichts ſprechen. Was iſt denn aber das
Erſchreckliche, das dieſer Raſende, dieſer Unſinnige
begangen hat? „Die ganze Natur moͤchte ſich ent-
„ſetzen! antwortete er mir. Abſcheulicher iſt es nie-
„mals erhoͤrt worden! Turnus! Die Haare ſtehen
„mir zu Berge, wenn ich dran gedenke! Ueberlegen
„Sie es nur ſelbſt! Turnus, ſpricht der verſtockte
„Boͤſewicht, habe blaue Augen gehabt. Und ich,
„mein Herr, als ein ſo beruͤhmter Scholiaſt, der
„ſchon vor zweyhundert Jahren ein großer Mann
„geweſen iſt; ich habe es ihm aus einem Manuſcri-
„pte des Virgils bewieſen, daß Turnus ſchwarze
„Augen hatte, und gleichwohl hat er mir oͤffentlich
„widerſprochen, da er doch mein Schuͤler geweſen
„iſt! Jſt das wohl erhoͤrt?„
Wer war froher, als ich! Nunmehr ſahe ich,
daß die Welt wohl nicht untergegangen ſeyn wuͤrde,
wenn mein Held auch nicht Recht behalten haͤtte,
und ich freute mich, da ich hoͤrte, daß ſich ein paar
Kunſt-
[43]von den abgeſchiednen Seelen.
Kunſtrichter aus den vorigen Jahrhunderten laͤcher-
lich gemacht hatten. Denn, dem Himmel ſey Dank!
unſre Kunſtrichter machen es gar nicht ſo. Dieſe
unterſuchen die gelehrten Wahrheiten ohne die ge-
ringſte Heftigkeit, ohne Eigenliebe, ohne Vorurtheil.
Mitten in ihren Streitigkeiten ſind ſie beſcheiden.
Sie geben mit Vergnuͤgen nach, ſo bald ſie uͤber-
fuͤhrt werden, daß ihre Meynung irrig iſt, und
freuen ſich, wenn man ſie davon uͤberfuͤhrt. So
machen es unſre heutigen Kunſtrichter in dieſen ge-
ſitteten und aufgeklaͤrten Zeiten. Aber vor Alters
war es freylich ganz anders!
Dieſes waren ohngefaͤhr meine Betrachtungen,
welche ich damals bey mir anſtellte, und ich hieng
ihnen mit ſolchem Vergnuͤgen nach, daß ich meinen
Fuͤhrer nicht vermißte, welcher ſich indeſſen in die
Hoͤhe begeben hatte, und mir, als ich ihm nachſah,
winkte, daß ich ihm folgen ſollte. Er zeigte mir
von fern in der Stadt die aͤngſtliche Beſchaͤfftigung
einer abgeſchiednen Seele. Wir begaben uns naͤher
hinzu, und ich ward gewahr, daß ſie ſehr verhungert
ausſah. Sie ſchwaͤrmte um einen praͤchtigvergol-
deten Wagen, welcher vor dem Hauſe eines Kauf-
manns hielt, deſſen Name mir wohl bekannt war,
ſehr vielen aber in der Stadt noch bekannter, als
mir, iſt, weil ſie ſeinen Staat durch ihren Vorſchuß
unterhalten muͤſſen. Anfaͤnglich war ich zweifelhaft,
was die Abſicht dieſer unruhigen Seele ſeyn muͤßte,
und beynahe haͤtte mich die zerrißne, und uͤbelge-
flickte Kleidung auf die argwoͤhniſchen Gedanken ge-
bracht, es ſey eine von denen Seelen, welche in der
Welt
[44]Ein Traum
Welt eine doppelte Berufsarbeit haben, und die Rei-
ſenden entweder um ein Allmoſen anſprechen, oder
beſtehlen. Allein ich merkte meinen Jrrthum, als
ich naͤher kam, und ſah, daß es die wirthſchaftliche
Seele des Vaters von dieſem jungen Kaufmanne
war. Jch erinnerte mich, ihn in ſeinem Leben ge-
kannt zu haben. Er war der Reichſte dieſer Stadt,
und darum merkwuͤrdig, weil er ſich, mit oͤkonomi-
ſchen Haͤnden, die Schuhe und Struͤmpfe ſelbſt ge-
flickt, und es vor allen ſeinen Mitbuͤrgern in der
Kunſt, zu hungern, am weiteſten gebracht hatte. Wohl
nimmermehr haͤtte er geglaubt, daß ſein landuͤbli-
cher Wucher und ſeine exemplariſche Sparſamkeit
ſeinem Sohne Gelegenheit geben ſollte, ſich mit la-
chendem Muthe, und vollen Haͤnden, desjenigen zu
entſchuͤtten, was er unter Sorgen und Kummer ein-
zeln zuſammen geſcharrt hatte. Und eben dieſes war
die beſtaͤndige Marter, welche ſeine abgeſchiedne
Seele ſeit ihrer Trennung vom Leibe gequaͤlt hatte.
Jeder Tag gab dem Sohne eine neue Gelegenheit
zur Verſchwendung, und alſo auch jeder Tag dieſer
Seele eine neue Art von Peinigung.
Eben itzt hatte ſich der Kaufmann eine Kutſche
machen laſſen, welche gleich ſo viel koſtete, als ſein
Vater durch eine vorſichtige Abſchwoͤrung eines ei-
genhaͤndig ausgeſtellten Wechſels ſich und ſeinen
Nachkommen zum Beſten verdient hatte. Haͤtte
wohl unſrer Seele irgend etwas empfindlicher ſeyn
koͤnnen, als dieſes? Wohl hundertmal verſuchte
ſie den Kutſcher vom Sitze zu werfen, aber vergebens.
Dieſer war zu koͤrperlich, und die Seele zu aͤtheriſch.
Sie
[45]von den abgeſchiednen Seelen.
Sie fiel den Pferden in den Zuͤgel, ſie brauſten; wei-
ter konnte ſie nichts thun.
Sie verließ alſo dieſen ungluͤckſeligen Wagen
unter vielen Vermaledeyungen, und ſchwang ſich auf
einmal in die Zimmer ihres Sohnes. Jch folgte
ihr aus Neugierde nach, und ſahe Wunder. Was
konnte ihr erſchrecklicher ſeyn, als der Anblick des
koſtbaren Porcellans, der praͤchtige Aufſatz von
Glaͤſern, und der Glanz etlicher Spiegel, in welchem
allem leider ein todtes Capital von vielẽ hundert Tha-
lern ſteckte? Dreymal ſtampfte ſie [auf] das ſuͤndliche
Canapee. Fuͤnf und achzig Thaler! rief ſie, und
ſeufzte. Eine vergoldete Tapete machte ihr eine
neue Beaͤngſtigung. Sie fiel auf das Gold zu, ſie
ſuchte es abzukratzen; aber freylich vergebens. Hun-
dert Vorwuͤrfe zeigten ſich ihr, aber auch hundert
Hoͤllenmartern. Endlich erblickte ſie ein Contobuch.
Dieſes ſchien ihr einige Erquickung zu geben. Sie
las, ſie ward ruhig, aber dieſe Ruhe war nur von
kleiner Dauer. Dann in dem Augenblicke trat ihr
Sohn in das Zimmer, hielt ein ſauberbeſchriebnes
Pergament in der Hand, auf welchem ich das Wort,
Von, deutlich ſehen konnte. Er gieng zur Caſſe,
vermuthlich in der Abſicht, ſeine ritterlichen Verdien-
ſte geltend zu machen. Welcher entſetzliche Anblick
fuͤr unſre Seele! So gar das Contobuch ließ ſie lie-
gen. Sie eilte zur Caſſe, ſie ſetzte ſich drauf, ſie
ſtemmte ſich nach aͤußerſtem Vermoͤgen, deren Auf-
ſchließung zu verhindern, ſie ſuchte ſich des ungluͤck-
ſeligen Pergaments zu bemaͤchtigen; aber alles ver-
gebens!
[46]Ein Traum
gebens! Der Kaufmann ſchloß mit der groͤßten Zu-
friedenheit ſeine Caſſe auf. Er langte einen Beu-
tel heraus, welcher wenigſtens ſo wichtig war, als
ſechzehen Ahnen, und gieng im Triumphe davon. Nim-
mermehr werde ich die Verzweiflung vergeſſen, wel-
che unſre Seele von ſich blicken ließ. Sie blieb
ganz troſtlos auf der Caſſe liegen. Sie umarmte
dieſelbe, und rief mit wimmernder Stimme einmal
uͤber das andre: O Levi! O Marx! Dieſe Angſt
gieng mir nahe. Jch wollte ſie troͤſten. Jch woll-
te mir von der Urſache ihres Kummers naͤhere Nach-
richt geben laſſen. Jch nahm ſie freundlich bey der
Hand, und ſagte: „Geben ſie mir doch ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
„Was! Geben! rief ſie; ich bin ſelber ein armer un-
„gluͤcklicher Mann! Helf euch Gott! So ein großer
„Bengel kann arbeiten! Geht ins Allmoſen!„ Dieſe
Antwort verdroß mich; ich eilte davon.
Jch bezeigte gegen meinen Fuͤhrer wegen verſchied-
ner Urſachen ein Verlangen, aus der Stadt, und
wieder an dem Orte zu ſeyn, wo wir uns vorher be-
funden hatten. Er war ſo gefaͤllig, mich ohne Wei-
gerung dahin zu begleiten. Wir ſtunden ſtill, und
ſahen uns um, ob wir irgendwo eine Seele in einer
Beſchaͤfftigung erblicken moͤchten, welche unſre Auf-
merkſamkeit verdiente. Jndem rief jemand hinter
mir mit einer gebieteriſchen Stimme: Vorſehn!
Jch ſprang auf die Seite, in der Meynung, es waͤ-
re vielleicht die abgeſchiedne Seele eines Saͤnften-
traͤgers. Wie groß war nicht meine Verwunde-
rung, als ich an deren Stelle einen Schatten ſahe,
deſſen
[47]von den abgeſchiedenen Seelen.
deſſen Kleidung machte, daß ich, nach der Gewohn-
heit unſrer Stadt den Huth vor ihm abzog. Er
dankte mir mit einer ſtolzen Miene, welche mich be-
wog, ihm naͤher in die Augen zu ſehen, und ich fand
in ſeiner Geſichtsbildung eine laͤcherliche Vermi-
ſchung von Scheinh ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ chmuͤ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ juͤdiſchen und niedertraͤchtigen ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ uſuraria
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ und Waiſen ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
dennoch eifern ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ kurz ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
aͤrger ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ tuͤffens. * Unter ſeinem
Arme
[48]Ein Traum Arme hielt er ein Buch, welches ſehr gebraucht zu
ſeyn ſchien. Jch konnte aber auf dem Titel wei-
ter nichts leſen, als die Worte: Der allzeit ferti-
ge ꝛc. Er ſchien ſehr tiefſinnig zu ſeyn, und mur-
melte etwas zwiſchen den Zaͤhnen, wovon ich noch
dieſes ganz eigentlich verſtund: Der Ketzer haͤtte
mir gar wohl acht pro Cent geben koͤnnen! Jch
fragte meinen Begleiter, ob er dieſen verkappten
Wuchrer kenne? Er legte mir aber die Hand auf
den Mund, und warnte mich, nicht ein Wort
mehr von ihm zu reden.
Die Nachricht, daß ſich die Seele des Cicero in
Geſellſchaft verſchiedner Griechen und Roͤmer in
dem Garten eines nicht weit von hier gelegnen Land-
guts habe blicken laſſen, machte unter allen Geiſtern
eine große Bewegung. Ein jeder eilte aus Neu-
gier dahin, und ich ſelbſt war unter dieſer Zahl. Der
Anblick vergnuͤgte mich, und ſeine Mienen, welche et-
was großes zeigten, praͤgten mir alle diejenige Ehr-
furcht ein, welche man dieſer patriotiſchen Seele
ſchuldig
4[49]von den abgeſchiednen Seelen.
ſchuldig iſt. Jch bemerkte inzwiſchen dennoch et-
was niedergeſchlagnes an ihr, welches von einer
Scham herruͤhrte, die ich nicht errathen konnte.
Um deswillen nahm ich Gelegenheit, mich bey ei-
nem Schatten, welcher dem Cicero folgte, und ſein
Freygelaßner geweſen ſeyn mochte, darnach zu er-
kundigen. Er hat wohl Urſache, antwortete mir
dieſer, niedergeſchlagen und beſchaͤmt zu ſeyn, weil
er erfahren, daß man ihn in euerm Lande den un-
erbittlichen Haͤnden eines Geſchlechts Preis gege-
ben, welches, unter dem Vorwande, ihn zu ehren,
ihn laͤcherlich, und, wann es hoch koͤmmt, aus ei-
nem roͤmiſchen Conſul zu einem lateiniſchen Sprach-
meiſter macht. Die groͤßte Betruͤbniß fuͤr ihn iſt
noch dieſe, daß er wegen dieſer Mishandlung ſich
bey den Goͤttern ſeines Landes beſchwert, aber zur
Antwort erhalten hat; eben dieſes ſey die Strafe,
wozu ihn Pluto verdammt, weil man ihm Schuld
gegeben, daß er zum oͤftern viel Eitels, und einen
unanſtaͤndigen Hochmuth an ſich habe blicken laſ-
ſen, welcher nicht beſſer gezuͤchtigt werden koͤnne,
als durch ewige Commentatores. Jch erſchrack
uͤber dieſes ſtrenge Urtheil des Pluto, welches mir
faſt unglaublich vorkommen wollte, wenn ich nicht
durch folgende Begebenheit darinnen beſtaͤrkt wor-
den waͤre.
Ohngefaͤhr hundert Schritte von uns erblick-
ten wir eine Menge tiefſinniger Seelen in beſtaub-
ter Kleidung. Jhre Schritte waren ernſthaft, und
ihr Gang monarchiſch. Sie ſchienen ſehr uneinig
unter einander zu ſeyn, und ie naͤher ſie uns kamen,
Zweyter Theil. Ddeſto
[50]Ein Traum
deſto deutlicher hoͤrte man ihren Streit, ſo gar, daß
ihr Auffuͤhrer ſich umkehren, und mit drohender
Fauſt, und einem fuͤrchterlichen: Me Dius fidius!
Friede gebieten mußte. Dieſer Aufzug ſchien die
Seele des Cicero ſehr zu befremden. Er vermu-
thete ſich eines wichtigen Antrags, und glaubte, wie
ich nachdem erfuhr, daß es vielleicht Geſandten
eines auswaͤrtigen Volks, oder ſo genannter Bar-
baren, waͤren, welche ſich aus Hungersnoth ge-
zwungen ſaͤhen, bey dem Rathe und Volke um
Brod aus Sicilien oder Aegypten anzuſuchen. Er
empfieng ſie mit einer mitleidigen Miene; Aber
wie ſehr erſtaunte er nicht, als der Anfuͤhrer dieſer
Proceßion ihm eine ſehr wunderliche Verbeugung
aus dem Alterthume machte, welche nach Graͤvs Be-
richte zu den Zeiten des Ennius unter den jungen
Herren in Rom Mode geweſen ſeyn ſoll. Cicero
hielt dieſen erſten Anfall ſtandhaft aus, und es
ſchien, daß er den Vortrag mit einiger Ungeduld er-
wartete. Dieſer erfolgte endlich, nachdem der
Orator dieſer Geſandſchaft ſich unter vielen Ver-
zuckungen in die gewoͤhnliche rhetoriſche Poſitur ge-
ſetzt, und mit wiederholter Verbeugung ihm ein
erſchrecklichgroßes Buch uͤberreicht hatte, welches
viere der ſtaͤrkſten ſeiner Collegen auf ihren Schul-
tern trugen, und auf deſſen Ruͤcken die Worte
glaͤnzten: OPERA OMNIA. Cicero entſetzte
ſich ein wenig uͤber dieſe auslaͤndiſche Maſchine,
noch aufmerkſamer aber ward er, als ihn der An-
fuͤhrer folgendergeſtalt anredete: Omnino, ſi quid
eſt in me ingenii, quod ſentio, quam ſit exi-
guum
[51]von den abgeſchiednen Seelen.
guum ‒ ‒ ‒ exiguum ‒ ‒ ‒ quod ſentio, quam
ſit exiguum. Vermuthlich mochte dieſe unum-
ſtoͤßliche Wahrheit die Kraͤfte unſers Demoſthenes
ſo ſehr mitgenommen, oder auch der Anblick des
Cicero, welchen er ſich ganz anders vorgeſtellt hat-
te, eine ſo große Verwirrung in ſeinem Gemuͤthe
verurſacht haben. Er hielt eine lange Weile in-
nen, und ließ dem Cicero Zeit, ſich von ſeiner Ver-
wunderung zu erholen, welcher von der ganzen An-
rede nicht ein Wort verſtanden hatte, und ſeinen
Atticus fragte: Was dieſes fuͤr eine Sprache ſey?
Denn darauf waͤre er wohl niemals gefallen, daß
dieſes lateiniſch ſeyn ſollte, ſo fremd und unver-
nehmlich kam ihm die Ausſprache vor. Endlich
erholte ſich unſer Redner, nachdem er ſeine Zuflucht
zum Huthe genommen, in welchem das Concept
lag. Er verſicherte dem Cicero in dem feinſten und
in ciceronianiſchem Lateine, daß er und ſeine Ge-
ſellſchaft fuͤr Freuden außer ſich waͤren, und dieſen
Tag mit einem weißen Steine bezeichnen wollten,
an welchem ſie das Gluͤck gehabt, denjenigen ken-
nen zu lernen, welcher zu ſeiner Zeit das ſchoͤnſte
Latein geredet, und deſſen Gelehrſamkeit ihnen zu
Erlangung der Leibesnahrung und Nothdurft dien-
lich geweſen waͤre. Er ruͤhmte beſonders ſeine eig-
ne Wenigkeit, da er an den Schriften des Cicero
das Werk der Liebe und Barmherzigkeit erzeigt,
und ſie in gegenwaͤrtigem bequemen Formate durch
die koſtbarſten und tiefſinnigſten Noten, durch
Sammlung aller nur erſinnlichen Lesarten, und
durch ein erſtaunendes Regiſter brauchbar, und
D 2zugleich
[52]Ein Traum
zugleich ihrer Beiden Namen unſterblich gemacht
habe. Zum Schluſſe beſeufzte er die verſtockte
Blindheit ſeiner deutſchen Landsleute, welche von
einem Gelehrten noch etwas mehr, als lateiniſch,
fodern wollten, und ſo gar anfiengen, die Heilig-
thuͤmer Latiens durch eine Sprache, welche in
Deutſchland auch der Poͤbel verſtehen koͤnnte, fre-
ventlich zu entweihen. Hier beſchloß er ſeinen Vor-
trag mit einem freudigen Dixi! und Cicero, wel-
cher uͤberdruͤßig ſeyn mochte, einem ihm unverſtaͤnd-
lichen Gewaͤſche zuzuhoͤren, antwortete nichts wei-
ter, als: Cura, vt valeas! und ließ ihn ſtehen.
Seine Abweſenheit bewog uns, dieſen Ort auch
wieder zu verlaſſen. Wir kehrten zuruͤck, und es
begegnete uns eine Seele, welche ſich uns mit tau-
melnden und ſchleichenden Schritten zu nahen ſchien.
Sie dehnte ſich, ſie wiſchte die Augen, und gaͤhnte
zu zweyenmalen ſo laut, daß ich ſtehen blieb, um zu
ſehen, ob ſie aufwachen, oder einſchlafen wuͤrde.
Nach einer langen Weile kam ſie uns ſo nahe, daß
ich weichen mußte, aus Furcht, von ihr getreten zu
werden. Mein Fuͤhrer winkte mir, und ich merkte
bald, ſeine Meynung waͤre, daß ich mich in ein Ge-
ſpraͤch mit ihr einlaſſen ſollte. Jch that es, und
redete ſie mit lauter Stimme an, um ſie zu ermun-
tern. Kaum aber hatte ich ein paar Worte ge-
ſagt, als ſie die Augen erſchrecklich weit aufſperrte,
die Arme von ſich ſtreckte, auf den Raſen nieder-
ſank, und weiter nichts ſagte, als: Gute Nacht!
und in dem Augenblicke ſchlief ſie auch ſanft und
ruhig.
Jch
[53]von den abgeſchiednen Seelen.
Jch war verdruͤßlich, daß ich mich von meinem
Fuͤhrer hatte bewegen laſſen, dieſe traͤge Seele an-
zureden. Er lachte aber nur, und ſagte: Jch habe
wohl gewußt, daß es dir nicht anders gehen wuͤrde,
als wie es mir, und noch vielen hundert Seelen,
gegangen iſt, welche mit ihr haben reden wollen.
Dieſes iſt eben die Seele des beruͤhmten Traͤumers,
welcher in ſeinem Leben ſo oft auf dem hamburgi-
ſchen Walle nur darum ſpatzieren gefahren iſt, daß
er in ſeiner Kutſche deſto gemaͤchlicher ſchlafen koͤnn-
te. Eben darinnen beſtund ſeine einzige Arbeit.
Keine Leidenſchaft hat ihn jemals ſtoͤren koͤnnen.
Dieſes brachte ihn zu einem feiſten Koͤrper, und
ſehr hohen Alter. Man hat niemals zuverlaͤßig
erfahren koͤnnen, wie lange er gelebt habe; So viel
aber iſt gewiß, daß er etliche funfzig Jahr geſchla-
fen hat. Seine Voraͤltern hatten in ihrer Hand-
lung durch eine unermuͤdete Arbeit und Wachſam-
keit ſo viel erworben, daß ihr Sohn mit der groͤßten
Gelaſſenheit ſchlafen konnte. Er iſt eben derjeni-
ge, welcher die Sonne in ſeinem ganzen Leben nicht
hat aufgehen ſehen. Es iſt laͤcherlich genug, wenn
es wahr iſt, was mir einige Schatten von ihm er-
zaͤhlt haben. Sie ſagen, es ſey noch ſehr fruͤh
und in der Morgendaͤmmerung geweſen, als er ge-
ſtorben. Seine Seele habe ſich anfangs gar nicht
entſchließen koͤnnen, ſich von dem Bette zu entfer-
nen, worinnen es ihr ſo lange Jahre wohlgegan-
gen, und worinnen ſie jederzeit ihre groͤßte Gluͤck-
ſeligkeit gefunden. Endlich ſey ſie doch genoͤthigt
worden, ſolches zu verlaſſen, weil ſie der Laͤrm, und
D 3das
[54]Ein Traum
das geſchaͤfftige Bezeigen ihrer Hinterlaßnen beun-
ruhigt, und beynahe munter gemacht haͤtte. Sie
habe ſich mit halbgeſchloßnen Augen aus dem Zim-
mer gewagt, und ſey gleich zu der Zeit in dieſe Ge-
gend gekommen, als die Sonne hervorgebrochen.
Dieſer Anblick ſey ihr unertraͤglich geweſen, daß
ſie die Hand vor das Geſicht gehalten, und getau-
melt habe; nicht anders, als ein Gefangner, wel-
cher viele Jahre unter der Erde geſeſſen hat, und
auf einmal an das Tageslicht koͤmmt. So viel iſt
indeſſen gewiß; ſo lange ich ihn kenne, ſo lange hat
er ſich auch in dieſer Gegend aufgehalten, wo er
noch itzt ſchlaͤft, ohne ſich zu bekuͤmmern, wo er ei-
gentlich ſey, oder was um ihn herum vorgehe. Ei-
nige ſeiner Landsleute haben mich verſichert, daß er
beſtaͤndig traͤge, und unempfindlich geweſen, und
wenn er auch gegeſſen, getrunken, oder ſonſt etwas
gethan, was er zur Erhaltung ſeines Koͤrpers un-
umgaͤnglich thun muͤſſen: So habe man doch ei-
gentlich gemerkt, daß es mit der groͤßten Schlaͤfrig-
keit geſchehen ſey. Zuweilen hat er ausgeſehen,
wie ein andres vernuͤnftiges Geſchoͤpf, welches
wacht, ſo bald er aber angefangen, den Mund zu
bewegen, wie ein wachender Menſch, welcher re-
den will, ſo hat man gleich gemerkt, daß er in der
That ſehr feſt geſchlafen, denn ſeine Worte ſind
eben ſo verwirrt, und ohne Verſtand geweſen, wie
die Worte derer ſind, welche man noch vor Mitter-
nacht in ihren Traͤumen ſtoͤrt. Unterdeſſen hat
er doch ein ſehr exemplariſches Ende genommen.
Anfaͤnglich iſt er ungemein unruhig geweſen, als
ihm
[55]von den abgeſchiednen Seelen.
ihm ſein Seelſorger auf des Arztes Anrathen die
Nachricht gebracht, daß er ſterben muͤſſe. Er hat
durchaus davon nichts hoͤren wollen. Bey den er-
baulichſten und troͤſtlichſten Beſchreibungen von
der Gluͤckſeligkeit jenes Lebens, hat er mit dem
Kopfe geſchuͤttelt. Als aber ſein Beichtvater von
ohngefaͤhr die Worte ſagt: Wie gluͤckſelig ſind die,
welche zur ewigen Ruhe gelangen, und ſelig ent-
ſchlafen! ſo druͤckt er ihm die Haͤnde, gaͤhnt ihn an,
und ſtirbt.
Dieſe Erzaͤhlung machte, daß ich noch einige
Zeit vor dieſer traͤumenden Seele ſtehen blieb. Jch
konnte ſie nicht ohne Mitleid anſehen. Wie un-
gluͤckſelig, dachte ich bey mir ſelbſt, iſt ſo ein Menſch,
welcher in der Welt lebt, ohne im geringſten die
Pflichten zu erfuͤllen, die er ſich und ſeinen Mitbuͤr-
gern ſchuldig iſt. Seine Traͤgheit verhindert ihn,
des Vergnuͤgens zu genießen, welches ihm tauſend
angenehme Gegenſtaͤnde zeigen. Waͤre er nur ei-
nigermaaßen aufmerkſam, ſo wuͤrde er nicht einen
Schritt thun koͤnnen, ohne die Pracht der Natur
zu bewundern, in welcher ſich die Groͤße des allge-
meinen Schoͤpfers entdeckt. Er genießt ſein Ver-
moͤgen nicht, weil er es, wenn es hoch koͤmmt, nur
anwendet, ſich durch unordentliches Eſſen und
Trinken in ſeiner Traͤgheit zu erhalten. Des
edeln Vergnuͤgens muß er entbehren, welches die-
jenigen empfinden, die Gelegenheit ſuchen, auch
andre gluͤcklich, und durch eine vorſichtige Aus-
theilung ihres Vermoͤgens mehr, als eine Nach-
welt, ſich verbindlich zu machen. Sein Leben iſt
D 4ein
[56]Ein Traum
ein beſtaͤndiger Tod, und eine Marter fuͤr diejeni-
gen, welche mit Schmerzen auf ſein Abſterben war-
ten, weil er erſt alsdann anfaͤngt, ihnen nuͤtzlich zu
werden.
Jch glaube, ich waͤre in dieſen ernſthaften Be-
trachtungen noch weiter fortgefahren, ehe ich mir
es aber verſahe, bekam ich mit einem Pruͤgel einen
ſo heftigen Schlag auf den Kopf, daß ich ganz
ſchwindlicht daruͤber ward, und daß mir der Huth
auf die Erde fiel. Jch kehrte mich voll Verdruß
um, in der Abſicht, denjenigen zu ſehen, welcher
vermoͤgend waͤre, dergleichen niedertraͤchtige Grob-
heit zu begehen. Jhr ſeyd ſehr unbeſcheiden, mein
Freund, fuhr ich ihn mit Heftigkeit an, daß ihr
Leuten, die ihr nicht kennt, und die euch nichts
gethan haben, auf eine ſo ungeſchliffne Art bege-
gnet! Und ihr ſeyd ein ziemlicher Narr, wie ich
merke, verſetzte er mit einem lauten Gelaͤchter, daß
ihr einen witzigen Scherz uͤbel nehmt. Merkt ihr
denn nicht, daß ich ein ſatyriſcher Kopf bin? Dieſe
unverſchaͤmte Antwort bewog mich, ihn genauer
anzuſehen, und ich entſann mich, ihn gar wohl ge-
kannt zu haben, weil er erſt vor einem Jahre geſtor-
ben war, und ſich uͤber einer Satyre zu Tode ge-
ſchimpft hatte.
Jch war durch dieſe verdruͤßliche Begebenheit
ſo unruhig geworden, daß ich befuͤrchtete, es moͤch-
te mir vielleicht noch ein witziger Kopf aufſtoßen,
und mich braun und blau ſatyriſiren. Um des-
willen that ich meinem Begleiter den Vorſchlag,
daß wir uns in eine ſchattichte Gegend zuruͤck zie-
hen
[57]von den abgeſchiednen Seelen.
hen wollten, welche vor uns lag, und von der ich
glaubte, daß es darinnen, wo nicht einſamer, doch
ſicherer ſeyn wuͤrde.
Jn beiden betrog ich mich. Jch erblickte da-
ſelbſt eine große Geſellſchaft, die meiſtens aus
Frauenzimmern beſtund. Weil ſie in eben der
Stadt gelebt hatten, wo ich mich aufhielt, ſo kann-
te ich ſie alle, und ich fand ihre Beſchaͤfftigungen
nicht im geringſten veraͤndert. Sie ſpielten, ſie
tranken Caffee, manche redeten gar nichts, die mei-
ſten aber ſchlugen ein ſo lautes Gelaͤchter auf, daß
ich begierig ward, dieſe zuerſt zu beobachten. Jch
nahte mich ihnen, ich haͤtte aber nicht gemeynt, daß
eben ich die Urſache dieſer allgemeinen Lebhaftigkeit
und Freude geweſen waͤre. Je naͤher ich kam,
deſto heftiger fiengen ſie an, zu lachen. Jch ver-
langte von ihnen die Urſache zu wiſſen, aber ſie
waren ſo boshaft, und ſagten mir ſolche nicht.
Doch eine von ihnen, um welche ich mich in ihrem
Leben, durch ein ganz artiges und ſinnreiches Son-
net auf ihren Mops, ſehr verdient gemacht hatte,
war ſo dankbar, und half mir aus meiner Verwir-
rung. Jch will es Jhnen nur ſagen, ſprach ſie zu
mir, warum wir ſo luſtig ſind. Wir hatten ſchon
viel Stunden lang in der verdruͤßlichſten Stille
beyſammen geſeſſen, ohne ein Wort zu reden, weil
wir muͤde waren, die Trachten, den Gang, und die
Mienen aller der Seelen, die bey uns vorbey ge-
hen mußten, zu beurtheilen. Auch mit den Ab-
weſenden waren wir bereits fertig, ja, was das
allerbetruͤbteſte war, ſo waren wir auch ſchon dar-
D 5uͤber
[58]Ein Traum
uͤber einig, daß es heute ſchoͤnes Wetter waͤre.
Wir ſahen einander ganz niedergeſchlagen und ver-
druͤßlich an, die Zeit ward uns lang, und, wenn
dieſer artige Herr hier, einer von meinen ehemali-
gen Schaͤfern, den ſie noch wohl kennen muͤſſen,
nicht zuweilen gepfiffen haͤtte, ſo glaube ich, wir
wuͤrden vor langer Weile gar eingeſchlafen ſeyn.
Von ohngefaͤhr erblickten wir ſie von weitem, und
zwar in einer Poſitur, die wichtig genug war, daß
wir alle aus vollem Halſe lachten. Hier hielt ſie
inne, ſtemmte beide Arme in die Seite, und fieng
von neuem mit ihrer ganzen Geſellſchaft ein ſo lau-
tes Gelaͤchter an, daß ich ganz beſchaͤmt da ſtund.
Merken Sie es denn noch nicht? fuhr ſie fort, als
ſie einigermaaßen ſich erholt hatte. Um des Him-
mels willen, ſehen Sie doch ihren Huth an, wie
beſtaubt er ausſieht! Wenn dieſes allein an mir
das Laͤcherliche iſt, antwortete ich, ſo kann ich ihm
bald abhelfen. Jch erzaͤhlte ihnen, daß mir ihn
ein witziger Geiſt vom Kopfe geſcherzt haͤtte, wo-
durch er eben ſo ſtaubigt geworden waͤre. Jch
machte ihn wieder rein, und dadurch benahm ich ih-
nen auf einmal dieſe reiche Materie ihrer Lebhaf-
tigkeit, ſo gar, daß ſie von neuem in ein tiefſinniges
Stillſchweigen verfielen, ſo, daß ich ſelbſt nicht laͤn-
ger Luſt hatte, mit ihnen zu gaͤhnen.
Jch ſchlich mich um deswillen unvermerkt fort,
und traf nicht weit davon, in Geſellſchaft andrer
Frauenzimmer, die Seele eines Stutzers an, wel-
cher in ſeinem Leben eben dieſe Geſellſchaft durch
ſeine Einfaͤlle ergetzt hatte, die ſie damals galant,
unge-
[59]von den abgeſchiednen Seelen.
ungezwungen, ſinnreich, und, ich weis ſelbſt nicht
mehr, wie vortrefflich nannten. Jch fand ihn
aber, wider die Natur der andern abgeſchiednen
Seelen, ganz veraͤndert. Er war ſtumm, trocken,
nicht eine einzige Perſon in der Geſellſchaft ſchien
das artige und witzige Weſen, ſo er vormals ge-
habt, an ihm zu finden. Jch bezeigte ihm meine
Verwunderung daruͤber. Er zuckte die Achſeln
und verſicherte mich, er ſey die Ungluͤckſeligſte unter
allen Seelen. Sein Abſterben ſey ihm ſo ploͤtzlich
und unvermuthet gekommen, daß er in der Eil we-
der Uhr, noch Stockband, noch Tabaksdoſe mit ſich
genommen. Drey Sachen, rief er, in welchen
meine ganze Lebhaftigkeit, mein ganzer Witz be-
ſtund! Was iſt doch der Verſtand eines Stutzers
ohne dieſe Stuͤcke? Wenn ich einen artigen Scherz
machen will, ſo vermiſſe ich mein Stockband, und
meine feinen Einfaͤlle auf einmal. Jch bin nicht
im Stande, das geringſte Urtheil von Staats- und
gelehrten Sachen, ja nicht einmal von einem Ge-
dichte zu faͤllen, weil ich keine Prieſe Tabak neh-
men kann! Jch bedauerte dieſen entkraͤfteten Stu-
tzer um deſto aufrichtiger, da ich ſchon in meinem
Leben dergleichen Geſchoͤpfe niemals ohne herzli-
ches Mitleiden anſehen koͤnnen. Jch war nicht
im Stande, ihm zu ſeinem Witze wieder zu ver-
helfen, um deswillen erſann ich eine Urſache,
welche mich, wie ich vorgab, noͤthigte, ihn zu ver-
laſſen.
Mein Begleiter war eben im Begriffe, mir die
bekannte Geſchichte von der abgeſchiednen Seele
eines
[60]Ein Traum
eines Harlekins zu erzaͤhlen, welche ihre bunte Klei-
dung und zugleich allen Harlekinsverſtand verlo-
ren hatte; als wir durch ein neues Abentheuer ge-
ſtoͤrt wurden. Eine Frauenzimmerſeele, die ich
nicht wahrgenommen hatte, weil ich ihr den Ruͤ-
cken zukehrte, war mir nachgeſchlichen, und fiel
mir von hinten zu um den Hals, um welchen ſie
die eine Hand ſchlug, mit der andern aber die mei-
nige auf eine ſo zaͤrtliche Art druͤckte, daß ich aus
dieſer wolluͤſtigen Beredſamkeit mehr errathen
konnte, als wenn ſie ſich muͤndlich erklaͤrt haͤtte.
Jch konnte leicht merken, daß es eine von den ir-
renden Schoͤnen waͤre, und die Dunkelheit des ein-
ſamen Orts, wo wir uns befanden, vermehrte
meinen Verdacht. Sie ſchien in mich ſo verliebt zu
ſeyn, als es eine Perſon von dergleichen Charakter zu
ſeyn faͤhig iſt. Jch ſpuͤrte deutlich, daß ſie alle Au-
genblicke erhitzter, und in ihrer Vertraulichkeit im-
mer unverſchaͤmter ward. Jch war begierig, die-
ſer dreiſten Schoͤne ins Geſicht zu ſehen. Jch
fand ein Mittel, mich von ihren Armen loszuma-
chen. Jch wandte mich um. Welcher Anblick!
Jch ſprang zuruͤck! Biſt du es? ſagte ſie, und
gieng kaltſinnig fort. Meine Leſer werden es wohl
ohne Note errathen koͤnnen, daß dieſes die Seele
meiner Frau war. Sie hatte mich verkannt, darum
that ſie freundlich. So bald ſie mich ſah, ward ſie
verdruͤßlich, und floh. Jch freute mich, daß ſie gieng.
Wird nunmehr jemand noch zweifeln, daß unſre
Seelen nach dem Tode eben dasjenige thun, was
ſie am meiſten in ihrem Leben gethan haben?
Ein
[61]von den abgeſchiednen Seelen.
Ein aͤngſtliches Wimmern, welches ich nicht
weit von mir hinter einem dicken Geſtraͤuche hoͤrte,
machte mich aufmerkſam. Jch eilte aus Mitleid
hinzu, weil ich gewiß glaubte, es muͤßte dieſe aͤch-
zende Seele ein großes Ungluͤck betroffen haben.
Jch fand ſie unter einer Buche liegen, in der Klei-
dung, wie die Dichter, und unſre Comoͤdianten,
ihre Schaͤfer vorſtellen. Er hielt einen Hirtenſtab
in der Hand, an welchem ein gruͤnes Band hieng,
welches er unter tauſend Seufzern mit ſolcher Ent-
zuͤckung kuͤßte, daß er mich nicht eher gewahr ward,
als bis ich bey ihm ſtund. Endlich ſah er mich mit
zerſtoͤrten Blicken an. Er ſprang auf, fiel vor
mir nieder, umfaßte meine Knie. „Grauſame!
„rief er; haſt du dich doch endlich bewegen laſſen?
„Jch ſehe ſchon, anbetenswuͤrdige Sylvia, ich ſehe
„ſchon in deinen Augen das Mitleid, welches du ge-
„gen den ungluͤckſeligen Thyrſis hegſt!
Du irrſt dich mein Freund, ſagte ich zu ihm, ich
bin nicht deine Sylvia, und dennoch ‒ ‒ ‒ „Ja,
„verſtelle dich nur, rief er mit einer rechten Schaͤ-
„ferwut, verſtelle dich nur, du moͤrderiſche Schoͤ-
„ne! Freylich biſt du nicht meine Sylvia! Me-
„nalks Sylvia biſt du! Gluͤckſeliger Menalk!
„Ver-
[62]Ein Traum
„Verlaßner Thyrſis! Jch habe es mit meinen Au-
„gen geſehen, daß Menalk den Straus auf ſeinem
„Huthe getragen, den ich fuͤr dich, nur fuͤr dich
„allein, gebunden hatte. Jch ſetzte dich zur Re-
„de, die Hirten wiſſen es alle. Du antworte-
„teſt mir nicht einmal! Du eilteſt von mir! Du
„giengſt zu deiner Heerde! Unempfindliche Schaͤ-
„ferinn! Sind meine Flammen ſtrafbar, ſo ſtrafe
„mich, aber ſtrafe vorher dich ſelbſt, denn nur die
„Blitze deiner Augen ſind es, welche mich in Brand
„geſetzt haben.
Nunmehr fieng mir an, beynahe Angſt zu werden,
und ich wuͤnſchte mir, aus den Haͤnden dieſer
ſchwaͤrmenden Seele brfreyt zu ſeyn. Er hielt
meine Knie ſo feſt umſchloſſen, daß es nicht moͤglich
ſchien, mich von ſeiner Zaͤrtlichkeit frey zu machen.
Endlich aber gelang es mir. Jch wollte zuruͤck,
aber dadurch ward mein Schaͤfer ganz außer ſich
gebracht. Er faßte mich von neuem bey der Hand,
und ſagte: „O Sylvia! Jch bitte dich bey den
„Goͤttern dieſer Flur! Hoͤre einmal auf, grauſam
„zu ſeyn! Wenn dein Herz nicht noch haͤrter iſt,
„als jene Felſen, ſo laß dich mein Ungluͤck ruͤhren!
„Laß mich ſeufzen! Jch beſchwoͤre dich bey den
„Nymphen, welche dort hinter jenem Buſche lau-
„ſchen,
[63]von den abgeſchiednen Seelen.
„ſchen, und bey den chryſtallnen Fluthen, welche hier
„uͤber dieſe Kieſel rollen, habe Mitleiden mit dem
„Ungluͤckſeligſten!
Hier konnte ich mich nicht laͤnger enthalten, uͤber
dieſen Opernſchaͤfer zu lachen. „Und du lachſt
„noch! ſchrie er, indem er von der Erde aufſprang.
„Und du ſpotteſt noch mit meiner Verzweiflung!
Kaum hatte er dieſe Worte geſagt, als er von
mir, und in die Straͤucher eilte!
Jch erſchrack, ich befuͤrchtete; ſeine Verzweif-
lung duͤrfte nicht ohne Wirkung ſeyn. Jch wollte
ihm nachgehen, um ſeiner Raſerey Einhalt zu thun,
aber mein Fuͤhrer hielt mich zuruͤck. Du kannſt
ganz ruhig ſeyn, ſagte er. Dieſes iſt der Schat-
ten eines von den Schaͤfern, welche ihr Leben am
hoͤchſten bringen, wenn ſie alle Tage verzweifeln,
und welche ſich niemals beſſer aufbefinden, als wenn
ſie von Gift und Dolche reden. Er war in ſeinem
Leben ſehr zaͤrtlich, und glaubte, fuͤr keine Creatur
ſchicke es ſich beſſer zaͤrtlich zu ſeyn, als fuͤr einen
Schaͤfer.
[64]Ein Traum
Schaͤfer. Er ward alſo ein Schaͤfer, nur in der
Abſicht, damit er recht regelmaͤßig ſeufzen koͤnnte.
Tag und Nacht war er beſchaͤfftigt, durch Leſung
ſolcher Schriften ſich vollkommen zu machen, wel-
che von Feuer und Flammen rauchten, und von
verliebtem Mord und Todſchlaͤgen voll waren.
Und eben dadurch gerieth ſein Gehirn in ſolche
Unordnung, daß er, als ein arkadiſcher Don
Quichott, auf Abentheuer ausgieng. Dieſe grau-
ſame Sylvia, fuͤr welche er dich anſah, iſt nir-
gends anders, als in ſeiner Einbildung, moͤglich
geweſen. Sein ganzes Leben hat er in dergleichen
Entzuͤckung zugebracht, und noch auf dem Tod-
bette hat er von nichts, als Klee und Milch, ge-
redet; ja ſo gar den Arzt, als ihm dieſer an den
Puls fuͤhlen wollen, hat er auf dem Ruͤcken geſtrei-
chelt, weil er ihn fuͤr ſeinen Hylax hielt. Du darfſt
dich alſo nicht wundern, daß er dich ſchlechterdings
zu ſeiner Sylvia machen wollte. Jch glaube nicht,
daß außer ihm in der ganzen Welt noch ein Schaͤ-
fer geweſen iſt, welchen ſeine verderbte Einbildung
ſo gar ſehr wahnwitzig gemacht; doch ſoll es, wie
man mir geſagt hat, noch hin und wieder verſchied-
ne Seladonchen geben, welche einen ziemlichen An-
ſatz zu dieſer hitzigen Krankheit haben.
Zum groͤßten Ungluͤcke entdeckte mich der Schat-
ten meines ehemaligen Schneiders. Es war nicht
moͤglich, ihm aus dem Wege zu gehen, ſo ſehr ich es
auch wuͤnſchte, weil ich mich noch wohl erinnerte,
wie unertraͤglich er in ſeinem Leben, durch ſein un-
ermuͤdetes und politiſches Geſchwaͤtz, geweſen war.
Es
[65]ven den abgeſchiednen Seelen.
Es half aber nichts, ich mußte mich gefaßt machen,
ſeine tiefſinnigen Beurtheilungen von Staatsſa-
chen noch einmal auszuhalten. Die Freude war
ganz außerordentlich, die er daruͤber bezeugte, daß
er mich hier ſehen ſollte. Hundert Fragen that er
an mich, und ließ mir nicht Zeit, eine einzige zu be-
antworten. „Sie ſind doch allemal fein geſund
„geweſen; ſagte er? Sie haben ſie doch alle wohl
„verlaſſen? Und Jhre Jungfer Muhme? ‒ ‒ Sie
„werden mich wohl verſtehen? Nun das will ich
„eben nicht ſagen. Jn der That wollte ich ihr es
„goͤnnen. Das Maͤdchen iſt gut. Lebt denn der
„alte Hauptmann noch? Jch habe tauſend Spaß
„mit ihm gehabt. Was ich Jhnen ſage. Der
„konnte recht erzaͤhlen, wenn er bey Humor war!
„Den pommeriſchen Krieg, den wußte er auf ein
„Haar! Ohne Flatterie! Er wuͤrde gewiß ganz
„anders abgelaufen ſeyn, wenn er nicht abgedankt
„haͤtte. Aber hoͤren Sie nur an. Jch weis nicht,
„das Ding ſieht ſehr bunt aus. Mit meinem Wil-
„len iſt es gar nicht geſchehen, daß Prinz Carl
„uͤbern Rhein gieng. Es war doch nun mit alle
„dem, wie es war? Der Franzoſe, es mag nun
„ſeyn, wie es will, er iſt doch einmal der Franzo-
„ſe, und ein Chriſt, ſo gut als wir. Was ich Jh-
„nen ſage. Er haͤtte es koͤnnen bleiben laſſen,
„Mit alle dem mag der Rhein ein ziemlich breites
„Waſſer ſeyn. Aber hoͤren Sie nur an. Jch den-
„ke, ich denke, es ſoll bald anders werden. Der
„eine von den Herren Cantons ‒ ‒ Jch will es
Zweyter Theil. EJhnen
[66]Ein Traum
„Jhnen ſchon einmal erzaͤhlen, wenn wir allein
„ſeyn werden. Vor dem Tuͤrken? Ach! der Blut-
„hund, der darf ſich nicht breit machen! Was ich
„Jhnen ſage. Das merkte ich gleich im voraus,
„ohne Flatterie. Meine Großmutter ſeliger ‒ ‒ ‒
„ich weis nicht, ob Sie ſie werden gekannt haben.
„Es war eine kleine bucklichte Frau. Sie wohn-
„te hinten am Walle. Hoͤren Sie, das war eine
„Frau! Sie hat mich noch aus der Taufe geho-
„ben. Es gieng bey ihrem Teſtamente auch mit
„Kraͤutern zu. Was geſchehen iſt, das iſt geſche-
„hen. Jch habe, gottlob, auch mein Brod ge-
„habt. Jch ſpreche immer: Ehrlich waͤhrt am
„laͤngſten; und mein kleiner Chriſtel war noch da-
„zu ihr Pathe. Ja, was wollte ich denn ſagen,
„ich habe es ganz druͤber vergeſſen! Ja, der Tuͤr-
„ke ‒ ‒ ‒“ Ja, ja, der Tuͤrke, antwortete ich
voll Verdruß, ich kenne ihn wohl, aber hier laͤßt
es ſich davon nicht gut reden. Wir ſprechen ein-
ander ſchon weiter, itzt habe ich nicht Zeit, mich
laͤnger aufzuhalten. Jch ließ ihn ſtehen, und
gieng fort.
Jndem hoͤrte ich hinter mir ein lautes Gelaͤch-
ter. Jch wandte mich um, und erblickte eine Seele,
welche ſo verhungert ausſah, wie ein Goldmacher,
und ſo tuͤckiſch, wie ein Schatzgraͤber. Sie druͤck-
te mir ſehr vertraulich die Hand, und ſagte:
„Sie haben recht wohl gethan, daß Sie Sich
„den unſinnigen Schwaͤtzer vom Halſe geſchafft
„haben.
[67]von den abgeſchiednen Seelen.
„haben. Jch habe Jhrem ganzen Geſpraͤche zu-
„gehoͤrt, und mich uͤber Jhre Geduld gewundert.
„Es iſt ewig zu bejammern, daß es Leute giebt,
„die ſich um Sachen bekuͤmmern, welche ſie nicht
„verſtehen. Wenn es nur Schneider waͤren, wel-
„che ſich in politiſche Haͤndel miſchten, ſo moͤchte
„es allenfalls noch hingehen und es wuͤrde ſich
„vielleicht daruͤber lachen laſſen. Aber, es giebt
„Maͤnner mit großen Peruͤcken, die es nicht viel
„beſſer machen, als Jhr Schneider. An ſtatt,
„daß ſie fuͤr ihre Pflicht, und fuͤr das Beſte ih-
„res Vaterlandes ſorgen ſollten; ſo ſitzen ſie bey-
„ſammen, und plaudern uͤber die Zeitungen. Jch
„bin, wie Sie mich hier ſehen, in meinem Leben
„auch aus dem politiſchen Stande geweſen, und
„habe dabey Gelegenheit gehabt, einzuſehen, was
„das heiße, ein Land zu regieren. Mit einem
„Worte! Jch war eines Edeln Hochweiſen Raths
„Straßenbereuter, ein geſchworner Mann, und
„hatte meine theure Pflicht. Die Finanzſachen
„waren meine liebſte, und vornehmſte Arbeit, und
„wenn es nach meinem Vorſchlage gegangen waͤ-
„re, die Stadtcaſſe haͤtte alle Jahre um hundert-
„tauſend Thaler reicher ſeyn muͤſſen. Aber frey-
„lich, wie es nun geht! Wer etwas verſteht, der
„hat ſeine Feinde. Der Buͤrgermeiſter merkte,
„daß ich ihn uͤberſehen konnte, das war ſchon ge-
„nug, mich zu ſtuͤrzen. Nur mein Vaterland
„dauert mich, dem ich zu fruͤhzeitig entriſſen wor-
„den bin. Tag und Nacht habe ich mitten in
E 2„mei-
[68]Ein Traum
„meiner ſchweren Berufsarbeit auf Mittel und
„Wege geſonnen, das Wohl meiner Mitbuͤrger
„in beßre Aufnahme zu bringen. Jch merkte
„wohl, in was fuͤr einen klaͤglichen Verfall das
„Finanzweſen gerathen war, denn als ich um eine
„Zulage fuͤr meine patriotiſch geleiſteten Dienſte
„anſuchte, ſo gab man mir abſchlaͤgliche Antwort,
„und zur Urſache gab man dieſes an: Es ſey kein
„Geld in der Caſſe. Von dieſem Augenblicke an
„nahm ich mir vor, meinem Vaterlande unter die
„Arme zu greifen. Alle Tage gab ich ein neues
„Mittel an die Hand, die gemeinen Einkuͤnfte zu
„erhoͤhen, und eben dadurch verdiente ich den
„wuͤrdigen Beynamen des Projectmachers. Ja,
„mein Herr, haͤtte man mir nur gefolgt. Jch
„hatte auch meine theure Pflicht auf mir, ſo gut
„als der Buͤrgermeiſter; und gleichwohl wieſen
„ſie mich mit meinen Vorſchlaͤgen allemal ab.
„Was meynen Sie? Jch machte ein Project, daß
„man die Geiſtlichen abſchaffen, ihre Boſoldungen
„einziehen, und die Rathsherrn anhalten ſollte,
„daß ſie ſelbſt nach der Zeche, und zur Froͤhne,
„predigen muͤßten. Was haͤtte man nicht ein
„Jahr lang in der Stadt erſparen koͤnnen? Und
„den Geiſtlichen war ich ſo nicht gut, beſonders
„unſerm dicken Oberpfarrer, der haͤtte es auf die-
„ſe Art gewiß empfinden ſollen, was das heiße,
„einen geſchwornen Mann von der Kanzel zu wer-
„fen. Glauben Sie wohl, daß mein Vorſchlag
„angenommen ward? Jch verſuchte es auf eine
„andre
[69]von den abgeſchiednen Seelen.
„andre Art. Jch uͤberreichte eine Schrift, in wel-
„cher ich aufs deutlichſte ausgerechnet hatte, daß
„die Stadtcaſſe alle Monate um dreytauſend
„Thaler vermehrt werden wuͤrde, wenn eine jede
„Frau, welche die Herrſchaft uͤber ihren Mann
„fuͤhrte, monatlich drey Mark zur Einnahme er-
„legen muͤßte. Haͤtte wohl ein Vorſchlag billiger,
„und vernuͤnftiger ſeyn koͤnnen, als dieſer? Aber
„es fehlte nicht viel, daß mich nicht alle Weiber,
„von der Buͤrgermeiſterinn an bis auf meine eigne
„Frau, geſteinigt haͤtten. Jn der That durfte
„ich mich vier Wochen lang nicht ſehen laſſen, und
„das war die Belohnung fuͤr meinen wohlgemeyn-
„ten Eifer. Dennoch ward ich nicht muͤde, in der
„Hoffnung, daß wenigſtens einmal meinen Mit-
„buͤrgern die Augen zu ihrem Beſten aufgehen wuͤr-
„den. Unſer Kuͤſter, welcher auch kein Narr ſeyn
„wollte, gab mir unter den Fuß, ich ſollte eine Vor-
„ſtellung thun, daß man auf die Moͤpſe eine Kopf-
„ſteuer legen, und daß die Gratulanten ordentliche
„Hauſierzeddel loͤſen, auch alle ihre Gluͤckwuͤnſche
„auf Stempelpapier drucken laſſen ſollten. Aber
„ich weis nicht, das Ding koͤmmt mir zu uͤberſtu-
„diert vor, und ich traue Jhnen die Einſicht zu,
„daß Sie geſtehen werden, daß meine Projecte
„nicht allein die beſten und eintraͤglichſten, ſondern
„auch die vernuͤnftigſten ſind, denn ich habe meine
„theure Pflicht. Was meynen Sie davon? Sa-
„gen Sie mir es offenherzig!„
E 3Jch
[70]Ein Traum
Jch weigerte mich anfaͤnglich, endlich aber ge-
ſtund ich, nach meiner gewoͤhnlichen Aufrichtigkeit,
daß mir des Kuͤſters ſeine Einfaͤlle nicht unrecht
zn ſeyn ſchienen. Die Menge der Gratulanten
ſey ſo anſehnlich, daß aus den Hauſierzeddeln, und
aus dem Stempelimpoſt, der auf die guten Wuͤn-
ſche gelegt werden ſollte, der gemeinen Stadtcaſſe
eine große Summe zuwachſen koͤnnte. Es waͤre
dieſes auch, als eine gewiſſe und beſtaͤndige Einnah-
me, anzuſehen, da man nicht befuͤrchten duͤrfte, daß
dieſe Art von poetiſchen Jnſecten jemals vergehen
wuͤrde, wenigſtens ſo lange nicht, als es noch Leute
gaͤbe, welche ſich von Geburts- und Namensta-
gen naͤhren muͤßten. Es gereiche auch dieſes dem
gemeinen Weſen nicht zur Laſt, weil man derglei-
chen mechaniſchen Dichtern gar wohl zulaſſen koͤnn-
te, daß ſie ihre unterthaͤnigſte Devotion um etliche
Schillinge ſteigerten. Die Kopfſteuer auf die
Moͤpſe habe meinen voͤlligen Beyfall, zumal, wenn
ſie bey Strafe der Confiſcation ausgeſchrieben wuͤr-
de. Denn ich wuͤßte gewiß, ein jedes Frauenzim-
mer wuͤrde ihren Schooßhund gern mit zwoͤlf bis
funfzehen Mark loͤſen, und die Summe lieber ge-
ben, als wenn man auf die Maͤnner eine Kopf-
ſteuer legte; wenigſtens wuͤrden ſich in dieſem letz-
tern Falle viele vor der Strafe der Confiſcation
nicht fuͤrchten. Hingegen koͤnnte ich ihm nicht ver-
halten, daß durch ſeinen Vorſchlag eine große Un-
ordnung in den Familien vorgehen duͤrfte, wenn
die Weiber ihre Herrſchaft uͤber die Maͤnner mit
drey
[71]von den abgeſchiednen Seelen.
drey Mark erkaufen muͤßten. Dieſe wuͤrden es
alsdann entgelten ſollen, und ſie wuͤrden es auch
nicht einmal zulaſſen, daß die Weiber den Beytrag
entrichteten, weil ein Mann es nicht leicht zugeſtuͤnde,
daß ſeine Frau Herr ſey, ſo, wie ein jeder nur ſeinen
Nachbar fuͤr einen guten geduldigen Mann, niemals
aber ſich ſelbſt dafuͤr hielte. Der Vorſchlag wegen
Abſchaffung der Geiſtlichen waͤre ſo abgeſchmackt,
und parteyiſch, daß ich gewiß glaubte, es koͤnnte
auf denſelben niemand fallen, als ein Straßenbe-
reuter. Der geiſtliche Stand habe allemal das Un-
gluͤck, denen am meiſten zu misfallen, welche den
wenigſten Verſtand beſaͤßen, und man faͤnde, daß
ordentlich der Poͤbel ‒ ‒ ‒ „Was! Poͤbel! rief
„mein Projectmacher mit einer grimmigen Stimme;
„Weis der Herr wohl, was er redet? Weis der Herr
„wohl, wer ich bin? Weis der Herr wohl, daß ich
„ein geſchworner Mann bin? Daß ich meine theu-
„re Pflicht habe? Das ſoll er mir nicht umſonſt ge-
„than haben! Er iſt ein Verraͤther des Vaterlan-
„des! Ein Rebell! Ein Meyneidiger! Jch will ihm
„meine theure Pflicht ‒‒„ und damit fiel er uͤber
mich her, und wuͤrgte mich mit ſeinen patriotiſchen
Klauen dergeſtalt, daß ich ſeine Liebe zum Vaterlan-
de auf das erſchrecklichſte empfunden haben wuͤrde,
wenn nicht mein Begleiter mit einer Hand voll
Geld ſeine theure Pflicht beſaͤnftigt haͤtte. So
gleich ließ er mich los, und gieng fort.
Nunmehr koͤnnte ich mit Ehren von meinem
langen Traume ganz unvermuthet aufwachen. Was
E 4waͤre
[72]Ein Traum von den abgeſchiednen ꝛc.
waͤre wohl natuͤrlicher, als daß ich mich mit dem
Kopfe an das Bette ſtieße, und erwachte? Allein
ich habe noch keine Luſt, munter zu werden. Jch
hoffe, kuͤnftiges Jahr weiter fort zu traͤumen, denn
ich kenne in der Stadt, wo ich wohne, wenigſtens
noch zwoͤlf Originale, deren Tode ich mit ſchmerzli-
chem Verlangen entgegen ſehe, weil ihre Bemuͤhun-
gen in dieſer Welt ſo laͤcherlich und abgeſchmackt
ſind, daß ich mir meine Leſer gewiß verbindlich ma-
chen werde, wenn ich ihnen alsdann erzaͤhle, womit
ſich ihre Seelen beſchaͤfftigen. Es verlohnt ſich
alſo der Muͤhe noch wohl, daß ich ihren Tod
ſchlafend erwarte.
[[73]]
Abhandlung
von
Buchdruckerſtoͤcken.
E 5
[[74]][75]
Zueignungsſchrift
an die Marquiſinn von L***
Jhr werdet mir verzeihen, daß ich, als ein Deut-
ſcher, mich unterſtehe, Euern Namen vor mei-
ne Schrift, und zwar vor eine ſolche Schrift
zu ſetzen, in welcher eine der ſchwerſten Materien, nach
der Metaphyſik, abgehandelt wird. Die witzigſten
Eurer Landsleute waͤhlen ſich eine Marquiſinn zur
Schutzgoͤttinn ihrer gelehrten Werke, welche ſie in die
Welt ſenden, und ich lobe ſie darum. Derjenige
Leſer muͤßte ſehr unbeſcheiden ſeyn, der ſich an einer
Schrift vergreifen koͤnnte, welche ein Frauenzimmer
beſchuͤtzt, oder die, mit der Livrey einer Marqviſinn,
ſich unter das Volk wagt. Jch bin gar nicht ſo
ſehr fuͤr mein Vaterland eingenommen, daß ich nicht
dieſes fuͤr einen der weſentlichſten Vorzuͤge Euers
Volks erkennen, und hier oͤffentlich ruͤhmen ſollte.
So oft ich ein Buch ſehe, es mag in Coͤlln, oder auf
Koſten der Compagnie herausgekommen ſeyn, ſo iſt
eine Marqviſinn allemal das erſte, was mir in die Au-
gen faͤllt. Niemals ſehe ich dieſes, ohne die Gluͤck-
ſeligkeit Euers Volks zu beneiden, und mein Deutſch-
land, dieſes rauhe und unwitzige Land, zu beklagen,
in welchem kein Autor beruͤhmt werden kann, weil er
keine Marqviſinn hat. Jhr wuͤrdet ſehr grauſam
ſeyn, Madame, wenn Jhr mir verwehren wolltet, die-
ſen
[76]Zueignungsſchrift.
ſen natuͤrlichen Mangel dadurch zu erſetzen, daß ich
Euern Namen borge. Eure Landsleute ſind ſo ge-
faͤllig, daß ſie uns mit allen denen Moden verſor-
gen, die uns Deutſche zu leibhaften Franzoſen, oder,
welches einerley iſt, zu vernuͤnftigen Creaturen ma-
chen. Jch glaube alſo, ſie werden es nicht uͤbel
nehmen, daß ich mit Euch, Marqviſinn, eben ſo groß
thue, als mit meinem Aermel, von dem mein Schnei-
der mich verſichert hat, daß dergleichen noch zur Zeit
in Paris niemand trage, als ein gewiſſer Chevalier,
ein gewiſſer Marqvis, und ein gewiſſer Prinz vom
Gebluͤte, den er auch nicht nennen koͤnnte. Viel-
leicht iſt es nicht wahr, was mein Schneider ſagt,
und vielleicht iſt in ganz Frankreich kein ſolcher Aer-
mel, als der meinige. Es mag ſeyn! Das will ich
nicht unterſuchen. Das aber wuͤrde mich aͤrgern,
wenn ſich jemand die Frage einfallen ließe: Ob auch
wirklich eine Marqviſinn von L*** in der Welt
ſey. Denn auf dieſe Art wuͤrde man an meinem
groͤßten Verdienſte zweifeln wollen. Chloris hat ei-
ne ſolche Hochachtung gegen meinen pariſiſchen Aer-
mel, daß ſie mich geſtern fruͤh fuͤr den vernuͤnftigſten
unter ihren Liebhabern erklaͤrte; und ich verlange
nicht zu viel, wenn ich glaube, meine Landsleute ſind
ſchuldig zu bekennen, ich ſey unter allen denen Schrift-
ſtellern, welche ſich ſeit der letzten Michaelsmeſſe
verewigt haben, der gelehrteſte, gruͤndlichſte, und tief-
ſinnigſte, weil ich die Ehre habe, der Marqviſinn
von L*** gegenwaͤrtige Blaͤtter zuzueignen. Wie
gluͤcklich waͤre ich! Aber, ich wuͤnſche mir wohl zu
viel. Doch ich will es wagen, Jhr werdet mir dieſe
Ruhm-
[77]Zueignungsſchrift.
Ruhmredigkeit verzeihen, wenn ich Euch, Madame,
geſtehe, daß ich mir kein groͤßres Gluͤck vorſtellen
koͤnnte, als wenn meine Leſer in gegenwaͤrtiger Ab-
handlung einen ſo feinen Geiſt faͤnden, daß ſie an-
fiengen, zu zweifeln, ob ſie auch wirklich ein deut-
ſches Original, und nicht vielmehr aus dem Franzoͤ-
ſiſchen uͤberſetzt waͤre. Allen meinen Gerechtſamen
auf die Nachwelt wollte ich entſagen, wenn ich dieſes
Gluͤck erlebte. Niemals kann ich ohne eine kleine
Eiferſucht an den deutſchen Verfaſſer gewiſſer be-
kannter Briefe gedenken, dem der glaubwuͤrdige Vor-
redner dieſes ſchmeichelhafte Zeugniß giebt: Es ha-
be dieſe Briefe zwar freylich nur ein Deutſcher ge-
ſchrieben, aber gleichwohl waͤren ſie ſo vortrefflich ab-
gefaßt, daß ſie verdienten, von einem Franzoſen ge-
ſchrieben zu ſeyn. Auf Euch allein, Madame, wird,
es ankommen, ob ich in meiner Hoffnung gluͤcklich,
oder ungluͤcklich ſeyn ſoll. Gewinne ich nur Euern
Beyfall, ſo weis ich gewiß, kein Abt in Paris wird
es wagen, mir den Ruhm eines großen Gelehrten
und die Ewigkeit abzuſprechen. Jch verdiene es,
weil ich die Ehre habe zu ſeyn,
Madame,
der Eurige,
Woldamar von Tzſchaſchlau.
N. S.
Aus großer Begierde, ein witziger Kopf, ein Fran-
zoſe, und unſterblich zu ſeyn, habe ich vergeſſen,
mich bey Euch, Madame, zu entſchuldigen, daß ich
Euch
[78]Zueignungsſchrift.
euch eine Schrift widme, welche ſo gelehrt iſt,
daß Jhr nicht ein Wort davon verſtehen werdet.
Aber dieſes thut zur Sache nichts. Jch verlan-
ge gar nichts weiter von Euch, als daß Jhr die Zu-
eignungsſchrift leſen ſollt, denn eben um deswillen
ſeyd Jhr eine Marqviſinn, und ich bin ein Autor.
Jch will mein Verfahren mit hundert Exempeln
Eurer witzigſten Landsleute rechtfertigen wenn ich
Euch kuͤnftig eine Abhandlung von Kegelſchnitten,
einige algebraiſche Galanterien, und eine kritiſche
Unterſuchung von den Schriften des Covarru-
vias zueigne. Ja, Jhr ſeyd nicht eine Stunde
ſicher, daß ich Euch nicht mit einer politiſchen De-
duction von dem oͤſterreichiſchen Succeßions-
kriege heimſuche. Jhr werdet wohl thun, wenn
Jhr Euch auf alle Faͤlle gefaßt macht. Jch kuͤſſe
Euch die Haͤnde.
[79]
Abhandlung
von Buchdruckerſtoͤcken.
Jch nehme mir itzt vor, eine Sache auszufuͤhren,
welche ſo ſchwer und tiefſinnig iſt, daß ich von
meinen Leſern noch etwas mehr, als eine ge-
woͤhnliche Aufmerkſamkeit verlange. Ein einziges
Wort, welches ſie unachtſam uͤberſehen, kann machen,
daß ihnen eine ganze Reihe von Wahrheiten dunkel,
und unbegreiflich vorkoͤmmt. Um deswillen halte ich
fuͤr billig, einige der ſchwerſten Saͤtze vorher zu erklaͤ-
ren, und verſchiedne der wichtigſten Begriffe aus ein-
ander zu wickeln, damit ich nicht das geringſte verab-
ſaͤume, wodurch ich mich um meine Leſer verdient ma-
chen kann. Die Gelehrten, welche im Denken geuͤbt
ſind, wie ich, werden dieſer Einleitung freylich nicht
noͤthig haben, ich erwarte alſo den Dank fuͤr dieſe Be-
muͤhung nur von dem ſchoͤnen Theile meiner Leſer.
Bloß dieſem zu gefallen, werde ich zwar buͤndig, aber
doch deutlich, und mit einem Worte, ſo ſchreiben, wie
verſchiedne unſrer Philoſophen zu thun pflegen, wenn
ſie den Eingang zu einer Abhandlung machen, welche
vielmals bey weiten ſo wichtig nicht iſt, als die meinige.
„Jch nehme dieſes, als einen Heiſcheſatz, an, daß
„die Vorſtellungskraft der Seele ſich nach der Lage
„der Koͤrper richtet. Es gruͤndet ſich dieſes auf die
„vorherbeſtimmte Uebereinſtimmung von Leib und
„Seele. Zu mehrerm Beweiſe koͤnnte ich den Satz
„des nicht zu unterſcheidenden anfuͤhren, wann nicht
„bereits
[80]Abhandlung
„bereits ausgemacht waͤre, daß unmoͤglich ein Ding
„zugleich ſeyn, und nicht ſeyn kann. So wenig ge-
„genwaͤrtig meine Abſicht iſt, das Lehrgebaͤude der ge-
„legentlichen Urſachen uͤber einen Haufen zu werfen;
„So wenig werde ich auch itzt unterſuchen, ob die Ge-
„ſichtspunkte der Vorſtellungskraft, welche ſich bis
„in die Zirbeldruͤſe fortpflanzen, nur einfach oder vie-
„lerley ſind. Genug, daß der Grund dasjenige in
„der Urſache iſt, woraus man das darinnen gegruͤn-
„dete erklaͤrt. Denn das Ganze zuſammen genom-
„men iſt ſeinen Theilen gleich; und wenn die Urſa-
„che geſetzt wird, ſo wird auch die Wirkung geſetzt.
„Es iſt zwar andem, daß es unendliche Wahrſchein-
„lichkeiten giebt; doch ſind dieſe Wahrſcheinlichkeiten
„der Vermuthungen eben ſo gewiß, als die Erwei-
„ſe von vorne. Es thut nichts, daß das Maaß der
„Kraͤfte in der Welt einerley iſt; ſo lange noch die
„Koͤrper untheilbar ſind, und ſo lange der Raum aus-
„gedehnt iſt, dennoch aber keine Eigenſchaft hat. So
„deutlich alle dieſe Wahrheiten an und fuͤr ſich ſind;
„ſo werde ich mich doch noch beſſer erklaͤren koͤnnen;
„wenn ich ſie in folgenden Schluß zuſammen faſſe:
„Die Seele iſt ein Spiegel, in welchem ſich die an-
„dern Monaden alle im Kleinen abbilden, und wenn
„man die dunkeln Jdeen einer Seele kennen ſollte,
„ſo wuͤrde man die Eigenſchaften aller Weſen erken-
„nen. Nun iſt aber außer Streite, daß die einfa-
„chen Dinge, jedes fuͤr ſich, beſtehen, durch die ver-
„wirrte Vorſtellung aber nur ein Haufen zu ſeyn
„ſcheinen. Alſo folgt von ſelbſt, daß etwas dasjeni-
„ge iſt, was ſeyn kann, in dem die Bewegung die
„Ver-
[81]von Buchdruckerſtoͤcken.
„Veraͤnderung eines Orts, der Ort aber die vorge-
„ſtellte Verhaͤltniß unterſchiedner von einander ab-
„ſtehender Dinge iſt. W. Z. E. W.„
Dieſes wird genug ſeyn, meinen Leſer zu demjeni-
gen vorzubereiten, was ich ſagen will. Jch laͤugne
gar nicht, daß es mich viel Muͤhe gekoſtet hat, alles
in ein voͤlliges Licht zu ſetzen. Vorſtehender Be-
weis hat meine Leibes- und Gemuͤthskraͤfte ſehr mit-
genommen. Aber deſto gelehrter iſt er auch. Jch
denke ſtark, wie ein Philoſoph, dennoch aber trage
ich meine Gedanken ſehr deutlich vor, wie man ſehen
kann, und eben dieſes iſt der Grund, warum ich einen
merklichen Vorzug vor andern nicht unbillig verlan-
gen kan. Jch ſchreite nunmehr zur Hauptſache.
Buchdruckerſtoͤcke nenne ich diejenigen Verzierun-
gen und Bilder, welche theils uͤber die gedruckten
Schriften, theils bey dem Anfangsbuchſtaben, theils
aber zum Schluße derſelben geſetzt werden. Jch
bin nicht geſonnen, ihre Genealogie zu unterſuchen.
So viel aber iſt wohl gewiß, daß ſie nicht viel juͤnger
ſeyn koͤnnen, als Fauſt und Guttenberg. Es iſt dieſes
ein neuer Beweis, durch welchen wir unſre Vor-
zuͤge vor andern Voͤlkern, und beſonders vor den
eingebildeten Franzoſen, behaupten koͤnnen. Sind
wir Deutſche die Erfinder der Buchdruckerkunſt, wie
ſolches vor einigen Jahren in allen Zeitungen mit
mehrerm ausgefuͤhrt worden iſt: So will ich denje-
nigen ſehen, welcher ſo verwegen ſeyn, und uns die
Erfindung der Buchdruckerſtoͤcke abſprechen wird.
Die Meynung derer iſt bereits von vielen widerlegt
worden, welche ſie den Gothen zuſchreiben wollen, de-
Zweyter Theil. Fnen
[82]Abhandlung
nen wir die witzigen Verzierungen an unſern Kir-
chen und Thuͤrmen zu danken haben. Jch bin alſo
der Muͤhe uͤberhoben, dieſes Vorurtheil itzt zu be-
ſtreiten.
Haͤtte ich die boshafte Abſicht, in der gelehrten
Republik ein neues Feuer anzurichten: So wuͤrde
ich hier die ſchoͤnſte Gelegenheit dazu finden. Waͤre
wohl etwas leichters, als ein Dutzend widrige Mey-
nungen zu erſinnen, welche einige Feinde der Buch-
druckerſtoͤcke gehabt haben koͤnnten? Jch duͤrfte nur
erdichten, daß ein gewiſſer beruͤhmter Mann, den
ich nicht kenne, und den auch ſonſt niemand kennt,
ſich habe verlauten laſſen; dergleichen Buchdrucker-
ſtoͤcke waͤren nichts anders, als was die Tonnen
bey den Wallfiſchen ſind, welche man ihnen vor-
wirft, damit ſie das Schiff in Ruhe laſſen. Man
gaͤbe naͤmlich dem geneigten Leſer ein Bildchen in
die Hand, daß er damit ſpielen, und die Schrift
ſelbſt verſchonen ſollte. Beſaͤße ich ſo viel Unver-
ſchaͤmtheit, als mancher Autor beſitzt, der in der ge-
lehrten Hiſtorie noch lange ſo beruͤhmt nicht iſt, als
ich: So wuͤrde ich, ohne roth zu werden, meinem
Leſer eine Unwahrheit ſagen, und ihn verſichern,
daß der große Engellaͤnder Will Lightbury in ſei-
nen Various and curious Anecdotes for the Ad-
vantage of Learning Libro ſexto, ſectione quarta
§. 9. ſqs. pag. mihi 419. ſich ſehr merkwuͤrdiger
Worte bedienet habe, welche im Deutſchen unge-
faͤhr alſo lauteten: „Um deswillen muß ich Jhnen,
„Mylord, aufrichtig bekennen, daß meiſtentheils
„die ſchoͤnſten, und wichtigſten Buchdruckerſtoͤcke
vor
[83]von Buchdruckerſtoͤcken.
„vor den magerſten, und abgeſchmackteſten Abhand-
„lungen ſtehen. Sie kommen mir daher nicht viel
„anders vor, als diejenigen Tafeln, auf welchen
„die koſtbarſten Speiſen und Getraͤnke gemalt ſind,
„und welche oͤfters vor ſolchen Gaſthoͤfen haͤngen,
„in denen man gleichwohl kaum ſo viel bekommen
„kann, als zur Stillung des Hungers und Durſtes
„noͤthia iſt.„ So weit unſer Will Lightbury,
koͤnnte ich ſagen; und es waͤre allerdings verwegen
genug von mir gehandelt, wenn ich ſprechen wollte,
daß dieſe Stelle in einem engliſchen Scribenten
ſtuͤnde, da in der ganzen Welt niemals ein Will
Lightbury geweſen, und uͤberhaupt von allem dem
nicht ein Wort wahr iſt, was dieſer ſoll geſagt haben.
Dem ohngeachtet wuͤrde ich dieſe dreiſte Luͤgen mit
dem wohlhergebrachten Rechte der Autoren, und
mit den herrlichſten Exempeln bewaͤhrter Schrift-
ſteller beweiſen koͤnnen, welche im Falle der Noth
mit eignen Haͤnden alte Manuſcripte und Docu-
mente verfertigen, und noch oͤfterer ſehr umſtaͤnd-
lich ſich auf die Zeugniſſe großer Maͤnner beziehen,
welche ſie gleichwohl ſo wenig kennen, und geleſen
haben, als ich und meine Leſer den Will Lightbury.
Ja, was noch mehr, ich erlebte wohl gar in kurzer
Zeit das Vergnuͤgen, daß andre in mehr, als einer
philoſophiſchen Diſputation, auf Treu und Glau-
ben ſich auf den Ausſpruch meines Will Lightbu-
rys beruften; und wer weis, ob ſich nicht jemand
des gemeinen Beſtens ſo vaͤterlich annaͤhme, und
eine Schrift unter dieſem Titel abfaßte. „Ver-
„ſuch einer abgenoͤthigten Vertheidigung wider die
F 2„gefaͤhr-
[84]Abhandlung
„gefaͤhrlichen Meynungen des Will Lightbury in ſei-
„nen bekannten Various and curious Anecdotes for
„the Advantage of Learning, libro ſexto, ſectione
„quarta §. 9. ſqs. pagina mihi 419. zur Aufnahme
„des guten Geſchmacks und aus Liebe zum wer-
„then Vaterlande in moͤglichſter Kuͤrze ſehr eilfer-
„tig, jedoch mathematiſch, entworfen von N. N. auf
„Koſten des Verfaſſers.„ So leicht wuͤrde mir
es ſeyn, Verwirrungen und Befehdungen unter vie-
len unſrer Gelehrten anzurichten, wenn ich nicht be-
daͤchte, daß ein Gelehrter, welcher ſeinen Namen zur
Nachwelt bringen will, noch etwas mehr Gewiſſen
brauche, als mancher Advocat, welcher nur ſo lange
fuͤr einen ehrlichen Mann angeſehen zu ſeyn wuͤnſcht,
als der Proceß gangbar iſt, und um deswillen in
einer Stunde ſo viel Urkunden und Zeugen machen
kann, als er zu ſeinem rechtlichen Verfahren voritzt
noͤthig hat.
Um deswillen verſichre ich meine Leſer, daß weder
ein gewiſſer beruͤhmter Mann, noch ein Will Light-
bury, noch auch, ſo viel mir bekannt iſt, ſonſt jemand
etwas zum Nachtheile der Buchdruckerſtoͤcke geſchrie-
ben hat. Jch kann alſo mit ruhigem Gemuͤthe in
meiner Abhandlung fortfahren. Jch werde meine
Abſicht lediglich dahin gerichtet ſeyn laſſen, daß ich
in verſchiednen Exempeln zeige; „was vornehmlich
„bey der Wahl, und geſchickten Einrichtung der
„Buchdruckerſtoͤcke, nach Beſchaffenheit einer jedwe-
„den Schrift, und deren weſentlichem Jnnhalte, zu
„beobachten ſey, damit die Natur der Sache allent-
„halben beybehalten, und dem Leſer ein aufrichtiger
Be-
[85]von Buchdruckerſtoͤcken.
„Begriff von demjenigen beygebracht werde, weſ-
„ſen er ſich zu dieſer Schrift und ihrem Verfaſſer zu
„verſehen habe.„
Niemals habe ich ohne Wehmuth an den uͤbeln
Geſchmack denken koͤnnen, welcher bisher bey den
juriſtiſchen Schriften in Anſehung der Buchdrucker-
ſtoͤcke geherrſcht hat. Da ich ſelbſt ein Prieſter der
Gerechtigkeit bin, und ſo gut liquidiren kann, als ein
Pachtamtmann: So liegt mir viel daran, daß ich auch
in dieſem Stuͤcke der eingerißnen Unordnung nach
Vermoͤgen Einhalt thue. Koͤnnte ich dieſem Uebel
dadurch ſteuern, wenn ich aufrichtig geſtuͤnde, daß
mich dieſer Misbrauch mehr, als einmal, die bitterſten
Thraͤnen gekoſtet hat: So wuͤrde ich dieſes wehmuͤ-
thige Bekenntniß mit Vergnuͤgen thun. Weil aber
unſer großer Alciatus in ſeiner Gloſſa ad l. 4. D. de
Iuſtitia et Iure §. fruſtra enim 14. aus der Er-
fahrung ſehr gruͤndlich angemerkt hat, daß ein Ad-
vocat nicht auf die Augen, ſondern auf die Haͤnde
ſeiner Clienten ſehen muͤſſe, und es allerdings wi-
der den Stylum curiae laufen wuͤrde, wenn ein Rechts-
gelehrter ſich durch Thraͤnen bewegen ließe: So halte
ich es fuͤr ſehr vergebens, dieſes Bekenntniß meiner
Betruͤbniß oͤffentlich abzulegen. Es wird genug ſeyn,
wenn ich einige Vorſchlaͤge thue, was kuͤnftig in An-
ſehung der Buchdruckerſtoͤcke bey juriſtiſchen Schrif-
ten zu beobachten ſey.
Unter ſechs praktiſchen Abhandlungen de eo,
quod iuſtum eſt, circa, wird man wenigſtens fuͤnfe
antreffen, uͤber welchen die Gerechtigkeit mit verbund-
nen Augen, mit dem Schwerdte, und mit der Wage
F 3ſitzt.
[86]Abhandlung
ſitzt. Jch weis es wohl, daß dieſes ihr gewoͤhnli-
cher Aufzug iſt, und ich wuͤrde dabey gar nichts er-
rinnern, wenn man ſie nur uͤber ſolche Schriften ſetz-
te, welche von den Rechten unſrer Vorfahren, der
alten Deutſchen, handeln. Von dieſen allenfalls will
ich glauben, daß bey ihnen die Gerechtigkeit verbund-
ne Augen, und in den Haͤnden Schwerdt und Wa-
ge gehalten habe. Allein, die Zeiten aͤndern alles.
Bey uns iſt dieſe Tracht gar nicht mehr Mode. Wie
laͤcherlich wuͤrde es ausſehen, wenn ich jenen Land-
junker, der nichts thut, als daß er trinkt, und ſpielt, mit
Helme und Harniſche malen wollte, wie ſein Groß-
vater gemalt iſt, der in denen rauhen Zeiten lebte,
in welchen man es noch fuͤr ruͤhmlich hielt, fuͤrs Va-
terland zu ſterben. Nein, itzt ſind unſre Zeiten weit
geſitteter und aufgeklaͤrter, und ich halte es fuͤr billig,
daß auch wir, jeder in ſeinem Stande, uns nach dem
heutigen Geſchmacke richten lernen. Jch rathe es
alſo meinen Collegen aufrichtig: Wenn ſie nuͤtzliche
Anleitungen zur guͤldnen Praxis ſchreiben wollen; ſo
muͤſſen ſie den Buchdruckerſtock ſo waͤhlen, daß die
Goͤttinn der Gerechtigkeit nicht allein die Augen ver-
bunden habe, ſondern ſie muͤſſen ihr die Binde auch
uͤber die Ohren recht feſt machen, daß ſie weder hoͤrt,
noch ſieht. Die Haͤnde hingegen muͤſſen ſie ihr
ſchlechterdings frey laſſen, damit ſie zugreifen kann,
wann die Parteyen ihren Beweis und Gegenbeweis
uͤbergeben, es beſtehe nun dieſer in baarem Gelde
oder in Victualien.
Aber ſo ſtrenge will ich doch nicht ſeyn, daß ich die
Wage ganz und gar abſchaffen wollte. Nein! Sie hat
noch
[87]von Buchdruckerſtoͤcken.
noch ihren guten Nutzen. Jn den Werken, wel-
che de iuſtitia diſtributiua handeln, iſt die Wa-
ge ganz unentbehrlich. Schriebe ich nur fuͤr Ju-
riſten, ſo wuͤrde es nicht noͤthig ſeyn, mich zu
erklaͤren, was iuſtitia diſtributiua in verſchiednen
Richterſtuben heiße. Aber dem ſchoͤnen Ge-
ſchlechte zu gefallen, muß ich anmerken, dieſes
ſey: Eine praktiſche Kunſt, zu unterſuchen, wie
ſich die Sache eines Armen gegen die Sache eines Rei-
chen, und ein Kober Krebſe, den uns ein armer ge-
druͤckter Bauer, als Klaͤger, bringt, gegen ein
wildes Schwein verhaͤlt, das uns ſein gnaͤdiger
Herr, als Beklagter, zu Aufmunterung unſers
Eifers fuͤr die gerechte Sache zuſchickt. Dieſes
heißt iuſtitia diſtributiua.* Und in dieſem Falle iſt
die Wage ganz unentbehrlich. Jch wollte aber
doch auch wohlmeynend rathen, daß man die Gerech-
tigkeit bey dergleichen Gelegenheit mit offnen,
und unverbundnen Augen vorſtellte, denn es traͤgt
dieſes viel dazu bey, den ſtatum cauſſae recht ein-
zuſehen.
F 4Jch
[88]Abhandlung
Jch beſitze ein Buch, aber der Titel iſt weggeriſſen,
um deswillen iſt mir der Verfaſſer, und die Jahrzahl,
wenn es herausgekommen, unbekannt. So viel kan
ich aus dem Drucke ſchließen, daß es ziemlich alt ſeyn
mag, und die ſogenannten Summarien der Capitel
zeigen durchgaͤngig, daß es von der Handhabung des
Rechts und der Gerechtigkeit, oder, wie mein unbe-
kannter Autor ſich ausdruͤckt, de vltimo fine cauſſidi-
corum, handelt. Von der Sache, welche darinnen
ausgefuͤhrt worden, will ich nichts gedenken, weil ſie
auf unſre Zeiten gar nicht paßt. Allein dieſes muß ich
doch als einen Beweis des guten Geſchmacks anfuͤh-
ren, den man in vorigen Zeiten gehabt, daß man da-
ſelbſt beſonders drey Stuͤcke antrifft, welche außeror-
dentlich wohl gewaͤhlt ſind. Der erſte ſteht gleich uͤber
dem Anfange der Vorrede, und iſt ein feiner Holz-
ſchnitt, der eine Wollſchur, und im Proſpecte den
Tempel der Gerechtigkeit ganz zierlich vorſtellt, mit
der Ueberſchrift: Paſtoris eſt, tondere pecus! Der
Anfangsbuchſtabe iſt ein A, ſo auf einem Expensbu-
che ſteht. Zum Schluße der Abhandlung iſt eine zu-
ſammengekruͤmmte Schlange, ungefaͤhr ſo, wie man
die Ewigkeit malt. Jn dem innern Raume derſelben
erblickt man die Worte: In ſaecula ſaeculorum. Ob
dieſes letztere nur ein andaͤchtiger Wunſch ſeyn ſoll, den
der Verfaſſer, an ſtatt des ſonſt gewoͤnlichen, in un-
ſern Zeiten aber auch altvaͤteriſch gewordenen; Soli
Deo gloria, angehangen hat? das weis ich nicht. Jch
glaube aber, daß dieſe Stoͤcke ſich alle dreye gar
fuͤglich auf den abgehandelten Satz: De vltimo fine
cauſſidicorum deuten laſſen.
Anfaͤng-
[89]von Buchdruckerſtoͤcken.
Anfaͤnglich hatte ich mir vorgeſetzt, einen Buch-
druckerſtock auszudenken, den man vor eine Schrift
ſetzen koͤnnte, in welcher von der Billigkeit, ſich der
Wittwen und Waiſen, ohne Eigennutz und redlich,
anzunehmen, gehandelt wuͤrde. Es hat mir es
aber ein gewiſſer vornehmer Mann ausgeredet,
und zur Urſache angefuͤhrt, daß dergleichen Stoͤcke
gar uͤberfluͤßig waͤren, da dieſe Materie nur un-
ter die theoretiſchen Wahrheiten gehoͤrte, welche
wenig Leſer, und um deswillen ſchwerlich einen
Verleger finden wuͤrden. Aus Hochachtung gegen
dieſen großen Mann, bin ich zwar ſeinem Rathe
gefolgt, nur befuͤrchte ich, daß mir dadurch die Ge-
legenheit genommen werde, von verſchiednen ju-
riſtiſchen Saͤtzen zu handeln, welche man eben ſo
wohl fuͤr ſolche theoretiſche Wahrheiten, als jene,
halten, und glauben wird, daß ſie weder Leſer,
noch Verleger, finden duͤrften. Nunmehr darf
ich es in der That nicht wagen, etwas von der
Natur und Eigenſchaft eines Advocatengewiſſens,
von Wiedererſtattung des unrechterworbnen Gu-
tes, welches man mit aller Legalitaͤt ſeinen Clienten
entwendet hat, von der Wichtigkeit der Eidſchwuͤre,
von der Strafe der Erbſchleicher, und von hundert
andern Sachen zu reden. Ja nach eben dieſer Re-
gel wird es vergebens ſeyn, von der Taxordnung
etwas zu gedenken. Und dennoch glaube ich, alle
dieſe Stuͤcke ſollten die ſchoͤnſten Erfindungen zu den
zierlichſten Buchdruckerſtoͤcken geben. Jch kann die-
ſen Verluſt kaum verſchmerzen. Geſetzt auch, daß
alle dieſe Dinge nicht mehr Mode, und hoͤchſtens nur
F 5theo-
[90]Abhandlung
theoretiſche Wahrheiten ſind! Darf man denn des-
wegen nicht weiter davon ſchreiben? Kann man ſie
denn nicht wenigſtens unter die juriſtiſchen Alterthuͤ-
mer rechnen? Sollten dergleichen Abhandlungen
nicht wenigſtens eben ſo nuͤtzlich ſeyn, als die Abhand-
lungen von den Salben der Griechen, und von den
langen und kurzen Roͤcken der Roͤmer. Jch wette
darauf, wer davon ſchreibt, kann ſich den Beyfall der
beruͤhmteſten Maͤnner, und wenigſtens in vier Wo-
chenblaͤttern den Titel eines doctiſſimi, clariſſimi,
viri celeberrimi, Auctoris actatem venerandi ver-
ſprechen. Nur von der Billigkeit, ſich der Wittwen, und
Waiſen, ohne Eigennutz anzunehmen, von ſolchen
Pflichten eines Rechtsgelehrten, die unſre alten Vor-
fahren, die Barbaren, welche nichts von Gloſſis, und
Brocardicis wußten, fuͤr ſo unentbehrlich hielten; nur
davon ſoll es nicht erlaubt ſeyn, etwas zu ſchreiben,
aus Furcht, man moͤchte vergebens geſchrieben ha-
ben? Das halte ich fuͤr grauſam! Und dennoch ſe-
he ich mich gezwungen, dem mir gegebnen Rathe
dieſes großen Mannes zu folgen; weil er mein naͤch-
ſter Vetter iſt; weil er viel Verſtand, und uͤber
zwanzigtauſend Gulden beſitzt; weil er drey Aerzte
hat, die ihn alle dreye auf einmal mit Medicamenten
verſorgen, und er alſo, wofern dieſe ihr Handwerk
recht verſtehen, nicht lange mehr leben kann. Vor
der ganzen Welt muͤſſen mich dieſe Gruͤnde rechtfer-
tigen, und wer mir nunmehr noch vorwerfen wollte,
daß ich aus Eigennutze nachgegeben, und nicht die
Liebe zur Wahrheit uͤber alles gehen laſſen, der muß
ſein Lebtage keinen reichen Vetter gehabt haben.
Und
[91]von Buchdruckerſtoͤcken.
Und auf ſolcher Leute ihr bloͤdes Urtheil gebe ich
nichts, wie billig.
Fuͤr die Schriften unſrer ſtarken Geiſter, habe
ich lange, doch vergebens, nachgedacht, einen Buch-
druckerſtock ausfindig zu machen. Ueber Wahrhei-
ten zu ſpotten, welche wir, kleine Seelen, unter ein-
ander gemeiniglich die wichtigen Wahrheiten der
Religion nennen; dazu gehoͤrt eine ſo beſondre Faͤ-
higkeit, welche man ordentlicher Weiſe bey vernuͤnf-
tigen Creaturen nicht antrifft. Jch rede gar nicht
von allen. Dem Spinoza will ich, was den tief-
ſinnigen Verſtand anbetrifft, ſein Recht gern wider-
fahren laſſen; und unſern ſtarken Geiſtern goͤnne
ich das Vergnuͤgen, ſich eben ſo wohl Spinoziſten zu
nennen, als ich mich fuͤr einen eifrigen Wolfianer
ausgab, da ich noch in Prima ſaß. Das waͤre bar-
bariſch, wenn man unſern Freygeiſtern nicht einmal
dieſen Titel einraͤumen wollte. Ein Geſchoͤpf, wel-
ches ſich ſo viel Gewalt anthut, daß es ſeine Em-
pfindung verlaͤugnet; welches Sachen behauptet, wor-
innen ihm ſein eigner Verſtand widerſpricht; wel-
ches ſeiner Vernunft entſagt, um uns die Vernunft,
als das einzige Mittel zur Gluͤckſeligkeit, anzuprei-
ſen; welches ſich der Verachtung aller Welt ausſetzt,
um unſer Lehrmeiſter zu werden; welches in dieſer
Welt ſein Gluͤck von ſich ſtoͤßt, uns zu verſichern, daß
wir in jener Welt keines zu hoffen haben; welches
ein Narr wird, um ein Autor zu heißen; ein ſol-
ches Geſchoͤpf ſolte nicht einmal ſo viel Mitleid ver-
dienen, daß wir ihm den Titel eines Spinoziſten zu-
geſtuͤnden? Der Einwurf taugt gar nichts, er iſt
abge-
[92]Abhandlung
abgeſchmackt, wenn man auf die Erfahrung trotzt,
daß der ſchwaͤchſte Kopf oftmals der ſtaͤrkſte Geiſt
ſey; daß dazu viel weniger Verſtand gehoͤre, die
Gruͤnde der geoffenbarten Religion zu laͤugnen, als
zu beweiſen; daß derjenige die Geſetze des Staats
beleidige, welcher die Geſetze der Offenbahrung uͤber
einen Haufen zu werfen ſucht, daß die Pflichten
der Geſelligkeit dadurch gebrochen wuͤrden, wenn
man ſeinen Mitbuͤrgern die Mittel, ihr Gemuͤthe
zu beruhigen, aus den Haͤnden reißt, ohne ihnen beß-
re Mittel anzugeben. Alle dieſe Einwuͤrfe ſind un-
gegruͤndet, ſie ſind abgeſchmackt. Jch habe es ſchon
oben geſagt, und hier ſage ich es noch einmal. Das
iſt ein richtiger Beweis, und noch weit gruͤndlicher,
als derjenige Beweis, welchen unſre ſtarken Geiſter
einigen Engellaͤndern treuherzig nachbeten, wenn ſie
die bibliſche Geſchichte von der Schoͤpfung der Welt
laͤcherlich machen wollen.
Aus ruͤhmlichem Eifer fuͤr die gerechte Sache
unſrer ſtarken Geiſter, bin ich von meiner Haupt-
ſache ganz abgekommen. Jch wollte von den
Buchdruckerſtoͤcken handeln, welche vor ihre Schrif-
ten gehoͤren, und gleichwohl gerathe ich in einen
ſo heftigen Eifer, mich ihrer anzunehmen, als waͤre
man ſchon im Begriffe, ſie ins Tollhaus zu ſte-
cken. Es ſchadet nichts, wenigſtens iſt es meine
Schuld nunmehr nicht, wenn man ſie ja noch da-
hin bringen ſollte, wo diejenigen eingeſchloſſen und
verwahret werden, welche aus Mangel der Vernunft
ſich und andern ſchaden koͤnnen. Das meinige habe
ich gethan, und komme nun wieder zur Hauptſache.
Meine
[93]von Buchdruckerſtoͤcken.
Meine Leſer werden ſich erinnern, daß ich
gleich anfangs erwaͤhnt, wie ich lange, und ver-
gebens nachgedacht haͤtte, einige Buchdruckerſtoͤcke
ausfindig zu machen. Dieſes bewog mich, eine
der neueſten Schriften unſrer ſtarken Geiſter aufzu-
ſchlagen, und wenn die andern alle ſo ſind, ſo
halte ich meine Sorge beynahe fuͤr uͤberfluͤßig, weil
ich finde, daß die Stoͤcke mit Einſicht gewaͤhlt
ſind. Dieſe ganz neue und, wo ich nicht irre,
die allerneueſte Abhandlung faͤngt ſich mit einem J
an. Dieſer Buchſtabe ſteht in einer viereckigten
Verzierung, auf welcher ein Fuchs ſitzt. Jn ſei-
nen Pfoten haͤlt er einen Kopf. Weil es nur ein
Holzſchnitt iſt, ſo habe ich nicht recht deutlich un-
terſcheiden koͤnnen, ob es der Kopf von einem Men-
ſchen, oder von einem unvernuͤnftigen Thiere iſt,
und eben dieſes hat mich noch bis auf dieſe Stunde
zweifelhaft gelaſſen, ob es das Bruſtbild des ge-
ſchickten Herrn Verfaſſers ſeyn, oder auf die bekannte
Fabel gehen ſoll, welche Phaͤdrus von der Maske
erzaͤhlt, welche zwar vortreflich ausgeſehen, aber kein
Gehirn gehabt hat. Jch bin hierinnen freylich
noch ungewiß, aber je mehr ich in der Abhandlung
ſelbſt leſe, deſtomehr glaube ich auch, daß der Ver-
faſſer, nach der Gewohnheit andrer großer Schrift-
ſteller, der Nachwelt ſein Bildniß mittheilen wollen.
Beylaͤufig muß ich hier gedenken, daß ich in veteri
triclinio a Jul. Vrſino exhibito in appendice ad Ci-
accon. p. 120. edit. Sanctandr. nachgeſchlagen, wo
ich unter andern gemalten Larven eine gefunden habe,
welche meinem obgedachten Herrn Autor vollkommen
aͤhnlich
[94]Abhandlung
aͤhnlich ſieht, und dieſes uͤberzeugt mich von ſeinem
guten Geſchmacke noch mehr.
Vermoͤge der natuͤrlichſten Ordnung komme ich
nunmehr auf die Philoſophen. Denn ich kenne kei-
nen einzigen Freygeiſt, welcher ſich nicht unter der
anſehnlichen Geſtalt eines Philoſophen groß, und
fruchtbar zu machen ſucht. Die Menge der philo-
ſophiſchen Schriften verdiente wohl, daß ich die ge-
lehrte Welt mit einer eben ſo großen Menge von
Buchdruckerſtoͤcken verſorgte, welche vor dieſelben
geſetzt werden koͤnnten. Man koͤnnte ſich hiervon
einen doppelten Nutzen verſprechen. Jch wuͤrde
dadurch dem Misbrauche ſteuern, welcher beſon-
ders bey dieſer Art von Schriften eingeriſſen iſt;
und uͤberdieſes wuͤrden die Leſer noch den Vortheil
haben, daß ſie bey Erblickung eines deutlichen Buch-
druckerſtocks wenigſtens etwas verſtuͤnden, da ge-
meiniglich die Abhandlungen ſelbſt ſo eingerichter
ſind, daß man, ohne beſondre Erleuchtung, nicht ein-
ſehen kann, ob es eine Abhandlung von den Monaden,
oder aus der Alchymie ſeyn ſoll. Mein Vorſatz er-
laubt mir nicht, ſo weitlaͤuftig zu ſeyn, als es das
allgemeine Beſte erfodert; und ich hoffe, ich werde
das Recht haben, meine Bequemlichkeit allen andern
Abſichten vorzuziehen, ſo lange man einem Autor das
Recht nicht abſprechen kann, mehr auf ſich, als auf
das! gemeine Beſte, zu ſehen. Um deswillen werde
ich fuͤr dießmal nur einiger gedenken. Wir fangen
nunmehr an, diejenigen gluͤckſeligen Zeiten zu er-
leben, in welchen wir durch mehr, als ein gedrucktes
Zeugniß, den Vorwurf unſrer eiferſuͤchtigen Nach-
barn
[95]von Buchdruckerſtoͤcken.
barn zu Schanden machen koͤnnen, welche glauben,
daß wir Deutſchen zu wenig Witz, und zu viel Ernſt-
haftigkeit beſitzen. Unſre muntern Juͤnglinge bre-
chen uns die Bahn. Voll edler Verwegenheit un-
ternehmen ſie Beweiſe der ſchwerſten und ernſthaf-
teſten Materien aus der Metaphyſik, und dennoch
alles mit einer ſpaßhaften Miene, und mit einer ſehr
merkwuͤrdigen Lebhaftigkeit. Wenn ſie von den
ewigen Wahrheiten der beſten Welt zu reden verſpre-
chen; ſo werden ſie uns mit lachendem Munde er-
zaͤhlen, daß die Augen ihrer Chloris reizend, und ihr
Mund ſo bezaubernd ſey, daß ſie von ihrer beſten
Welt erſt alsdann recht uͤberfuͤhrt werden koͤnnten,
wenn ſie dieſen Mund kuͤſſen duͤrften. „Das erſte
„Weſen aller Dinge legte mit weiſer Vorſicht die
„Kraͤfte in den Menſchen, die Mittel zu waͤhlen, wel-
„che zu Befoͤrderung ſeiner Gluͤckſeligkeit dienlich
„ſind, und dasjenige zu meiden, was ihm an Erlan-
„gung derſelben hinderlich ſeyn konnte.„ So praͤch-
tig klingt ihr Satz. Fragt man nach dem Beweiſe?
Der Beweis folgt unmittelbar drauf. „Jch waͤhle die
„Chloe, weil ich bey ihrer Liebe der gluͤckſeligſte bin;
„Aber mit der groͤßten Kaltſinnigkeit begegne ich
„Selinden, denn ihre Sproͤdigkeit will keine Schaͤfer,
„ſondern Sklaven, haben.„ Jſt dieſer Beweis nicht
ganz unerwartet? Jſt er nicht eben um deswillen
vortrefflich? Unſer großer Philoſoph liebt Chloen,
und flieht Selinden! Warum? Denn das erſte
Weſen aller Dinge (§. 1.) legte mit weiſer Vorſicht
(§. 4.) die Kraͤfte in denſelben (§. §. 9. 10.), durch
eine freye Wahl (§. praeced.) ſein Gluͤck und ſein
Ungluͤck
[96]Abhandlung
Ungluͤck zu befoͤrdern. Es wird einem ſolchen ſtark-
denkenden Geiſte ein leichtes ſeyn, die Exiſtenz Got-
tes auf eine ſo ſpielende und luſtige Art zu beweiſen,
daß auch der Setzer ſeiner Schrift vor hertzlicher
Ueberzeugung ſich des Lachens nicht enthalten kann,
ſo bald er die Demonſtration in die Haͤnde bekoͤmmt.
Koͤnnte wohl ein vortrefflicher Mittel, als dieſes,
ausgeſonnen werden, auch den Poͤbel von den
wichtigſten Wahrheiten der hoͤchſten Philoſophie
und der natuͤrlichen Gottesgelahrheit zu uͤberzeu-
gen? Gewiß keines! Und wer ſo unverſchaͤmt ſeyn,
und mir darinnen widerſprechen wollte, der muͤßte
‒ ‒ ich weis beynahe nicht, was ich von ihm den-
ken ſolte! Mit einem Worte; der muͤßte ſo eigen-
ſinnig, als Wolf, ſeyn. Wenn ich meine philoſo-
phiſchen Helden mit einem Blicke uͤberſehe; ſo finde
ich bey allen eine groſſe Aehnlichkeit, die ſie unter
einander haben. Der Koͤrper von ihren Abhand-
lungen iſt ernſthaft, und anſehnlich; Die Ein-
kleidung iſt luſtig und poßierlich. Jch werde alſo
fuͤr alle nur einen Buchdruckerſtock vorſchlagen.
Vielleicht ſchickte ſich dieſer am beſten, wenn ſie ſich
wollten gefallen laſſen, uͤber ihre Schriften ein
Bild zu ſetzen, welches einen griechiſchen Philoſo-
phen in ſeiner ehrwuͤrdigſten Kleidung vorſtellte;
jedoch mit dem Unterſchiede, daß er den Mantel, den
Huth, und die komiſche Stellung eines Scapins an
ſich haͤtte. Wem der Scapin nicht gefaͤllt, der mag
ſich den Pantalon waͤhlen, und wem die Kleidung
des Pantalons auch noch zu ernſthaft iſt, dem laſſe
ich die freye Wahl, die dritte Art von dergleichen
Trachten
[97]von Buchdruckerſtoͤcken.
Trachten zu nehmen, welche bey ſeiner Schrift viel-
leicht noch natuͤrlicher laͤßt.
Es giebt unter unſern Philoſophen eine gewiſſe
Secte, welche durch ihren geheimnißvollen Vortrag
ihre Meynung ſo gut zu verſtecken wiſſen, daß man
darauf ſchwoͤren ſollte, ſie verſtuͤnden ſelbſt nicht, was
ſie ſchreiben. Jhre Sprache iſt ſo dunkel, wie die
Raͤthſel der Morgenlaͤnder, und wenn ſie anfangen,
recht tiefſinnig zu demonſtriren; ſo ſollte man glau-
ben, ſie zauberten. Jch werde es verantworten
koͤnnen, wenn ich ſie um deswillen philoſophiſche Qua-
cker nenne. Bloß aus Hochachtung gegen ſie ge-
ſchieht es, daß ich ihnen dieſen Titel beylege. Jch
ſuche auch zwiſchen ihnen und den Quackern keine
Aehnlichkeit weiter, als in der Art, mit welcher
beide ihre Gedanken ausdruͤcken. Denen wuͤrde
ich es in der That ſchlechten Dank wiſſen, welche in
der Vergleichung weiter gehen, und von dem geiſtli-
chen Hochmuthe der Qvacker, von ihrem verderbten
Gebluͤte, von ihrer unachtſamen Kleidung, von ge-
wiſſen unordentlichen Trieben, welche doch ihren
Lehrſaͤtzen, wenigſtens dem Wortverſtande nach, wi-
derſprechen, und von andern dergleichen Sachen eine
Aehnlichkeit auf meiner Philoſophen herleiten wollten.
Es iſt hier der Ort gar nicht, davon zu handeln; viel-
leicht zeigt ſich im Nachfolgenden eine Gelegenheit
dazu. Jtzt will ich beym Hauptſatze bleiben, da
ich dergleichen Philoſophen, ihrer myſtiſchen Spra-
che wegen, mit den Qvackern in eine Reihe ſtelle.
Fuͤr dieſe ſchickt ſich wohl kein Buchdruckerſtock beſ-
Zweyter Theil. Gſer,
[98]Abhandlung
ſer, als derjenige, welcher die Prieſterinn zu Delphis
auf ihrem Dreyfuße mit begeiſterter Geberde, und
derjenigen heiligverzerrten Miene vorſtellt, mit wel-
cher ſie die neugierigen und zweifelnden Menſchen
durch ihre hohen Ausſpruͤche noch zweifelhafter
macht. Dieſer Buchdruckerſtock hat ſeinen zu-
reichenden Grund in dem Weſen des Dings; oder,
niedriger zu reden, er ſchickt ſich auf meine qua-
ckeriſchen Philoſophen vollkommen. Dieſe bekom-
men, uͤber ihren Erweiſen, von der Einheit, von
dem ſich ſelbſt Beſtimmenden, vom leeren Raume,
und dergleichen eben ſolche kunſtmaͤßige Verzuckun-
gen auf ihren Großvaterſtuͤhlen, als die delphiſche
Prieſterinn unter ihrem Wahrſagen auf dem Drey-
fuße bekam. Wenn dieſe ſchaͤumte, ſo redete ſie
die Sprache der Goͤtter, denn ein Sterblicher ver-
ſtund ſie nicht; und wenn dergleichen Philoſophen
buͤndig ſchreiben, ſo ſchreiben ſie unverſtaͤndlich,
denn dieſes nennen ſie die Sprache der Weisheit.
Die delphiſchen Ausſpruͤche, ſo dunkel ſie auch
waren, fanden dennoch ihre eifrigen Verehrer, und
man betete ſie aberglaͤubiſch nach, ohne zu wiſſen,
was darunter verſtanden wuͤrde. Jſt aber nicht
eben dieſes auch bey uns die Urſache, daß wir in
der Weltweisheit ſo aberglaͤubiſche Sectirer in
‒ ‒ aner finden, welche eben das denken, was ihr Lehr-
meiſter gedacht hat? Und oftmals hat dieſer nichts
gedacht. Wer ſich an dem Tempel zu Delphis ver-
greifen wollte, dem drohten die Prieſter mit den raͤ-
chenden Blitzen der Goͤtter, und ganz Griechenland
ward in Harniſch gebracht. Frevelt man aber mit
einem
[99]von Buchdruckerſtoͤcken.
einem Philoſophen, ſo erbittert man gewiß ein gan-
zes Heer junger Schriftſteller, welche das Lehrgebaͤu-
de ihres Abgotts, durch Heiſcheſaͤtze, Lehrſaͤtze, Grund-
ſaͤtze, und Aufgaben, vertheidigen, und uns wohl gar
mit a + b — x. von dem gelehrten Boden wegde-
monſtriren. Koͤmmt es aber gar ſo weit, daß ſich
ihr Anfuͤhrer ſelbſt in den Kampf mengt, ſo wer-
den wir uns gewiß keine gelindere Zuͤchtigung ver-
ſprechen koͤnnen, als daß er uns methodo mathe-
matica auf einmal aus einem Menſchen in ein un-
vernuͤnftiges Thier verwandelt. Noch mehr! Die
delphiſche Prieſterinn wahrſagte nicht eher, als bis ſie,
durch genugſame Opfer, Geſchenke und Belohnun-
gen in ihre heilige Wut gerieth: Und meine Phi-
loſophen werden niemals eher ‒ ‒ ‒ Doch ich irre
mich. Meine Philoſophen ſchreiben bloß aus Liebe
zur Wahrheit.
Unſre heydniſchen Vorfahren gaben ihren Prie-
ſtern den Barden, Schuld, daß ſie in ihren Liedern und
Geſaͤngen mit vieler Heftigkeit wider den Geiz eifer-
ten, und gleichwohl ſelbſt die geizigſten im ganzen
Volke waͤren. Da wir nunmehr Chriſten ſind, ſo
iſt freylich dieſe uͤble Gewohnheit mit noch viel an-
dern Laſtern abgekommen, welche die alten Deutſchen
an ſich hatten. Doch etwas aͤhnliches davon findet
ſich noch bey einigen unſrer Philoſophen. Jch will
ihrer nur mit wenig Worten gedenken, da ich mich
im Vorhergehenden auf gewiſſe Maaße dazu anhei-
ſchig gemacht habe. Es giebt deren zwiſchen Straß-
burg und Breßlau nur dreye, hoͤchſtens viere, welche
G 2in
[100]Abhandlung.
in ganzen Qvartanten von den Pflichten der Men-
ſchen gegen ihre Mitbuͤrger, von Erlangung des hoͤch-
ſten Gutes, von der Erkenntniß des Schoͤpfers aus
der Natur, von der Belohnung und Beſtrafung des
Guten und Boͤſen, von der Unſterblichkeit der See-
le, von der Baͤndigung aller heftigen Leidenſchaften,
und von der wahren Zufriedenheit eines Menſchen,
mit ſolcher Lebhaftigkeit und mit ſolchem Eifer ſchrei-
ben, daß ſich ihre Abhandlungen auf das erbaulich-
ſte leſen laſſen. Gleichwohl will man aus beſondern
Umſtaͤnden dieſer Moraliſten ſchließen, und fuͤr ge-
wiß verſichern, daß ſie, wenn man ſie als Menſchen,
und nicht als Philoſophen, betrachtet, nichts weniger,
als die Pflichten gegen ihre Mitbuͤrger, erfuͤllen; daß
ſie in Beſtimmung des hoͤchſten Gutes ſehr ungewiß
ſind, und ſich ſehr koͤrperliche Begriffe davon ma-
chen; daß ſie an die Erkenntniß des Schoͤpfers, an
die Vergeltung des Guten und Boͤſen, und an die
Unſterblichkeit der Seele nicht laͤnger denken, als ſie
auf der Catheder ſtehen, oder an dem Pulte ſitzen.
Niemals ſind ſie, ſagt die Gelehrtenhiſtorie unſrer
Zeit, wider den Hochmuth mehr ergrimmt, als wenn
man ihnen ihren Rang ſtreitig machen will. Nur
erſt alsdann koͤmmt ihnen der Geiz recht abſcheulich
vor, wenn ihre Glaͤubiger ſo unphiloſophiſch ſind,
und auf ihre Bezahlung dringen. Und iſt ihre Chloe;
denn die Philoſophen haben auch ihre Chloen; iſt
dieſe, ſage ich, ſo niedrig geſinnt, daß ihr die Ge-
ſchenke und Kuͤſſe eines erhitzten Stutzers lieber ſind,
als die abſtracten Seufzer ihres dogmatiſchen An-
beters: So kann man gewiß glauben, daß er in
der
[101]von Buchdruckerſtoͤcken.
der naͤchſten Meſſe, eine große Abhandlung wider
die unbaͤndigen Leidenſchaften der Wolluſt, und der
unordentlichen Liebe ſchreiben wird. Fuͤr dieſe Phi-
loſophen weis ich keinen beſſern Buchdruckerſtock vor-
zuſchlagen, als ihr eignes Bildniß. Sie ſollen die
Wahl haben, ob ſie ſich nur im Bruſtbilde, oder in
ihrer voͤlligen Groͤße wollen vorſtellen laſſen. Die
Larven, unter welchen ſie ſich ordentlich zu verbergen
ſuchen, will ich ihnen nicht ganz nehmen; Sie moͤ-
gen ſolche behalten, doch ſo, daß man wenigſtens die
Haͤlfte von ihrem wahren Geſichte ſehen kann. Ein
einziges Lineament, daß man von ihnen erblickt, wird
ſchon genug ſeyn, dem Leſer zu zeigen, wer hinter der
Larve ſteckt. Es muß artig anzuſehen ſeyn, wenn
die eine Seite des Geſichts einem Lehrer des menſch-
lichen Geſchlechts gleicht, die andre Seite aber ſol-
che Zuͤge blicken laͤßt, welche die heftigſten Leiden-
ſchaften eines eingebildeten, eines geizigen, eines aus-
ſchweifenden Gemuͤths verrathen. Jch will nicht
hoffen, daß ſich meine Philoſophen, durch dieſen wohl-
gemeynten Vorſchlag beleidigt finden werden. Ge-
ſchaͤhe dieſes aber; ſo verdienten ſie wohl, daß ſie
die Obrigkeit ſelbſt anhielte, entweder gar nicht mehr
zu ſchreiben, oder ihr Bildniß ſo vorzuſetzen, daß ſie
auch nicht einmal die Haͤlfte des Geſichts bedecken
duͤrften. Jch weis beynahe nicht, welche von die-
ſen beiden Strafen fuͤr ſie die grauſamſte ſeyn
wuͤrde.
Eben da ich im Begriffe bin, in gegenwaͤrtiger Ab-
handlung weiter fortzufahren, und gegen die uͤbri-
gen Gelehrten und Schriftſteller eben die Bereit-
G 3willig-
[102]Abhandlung
willigkeit zu zeigen die ich bisher gegen die Rechts-
gelehrten, die Freygeiſter und einige Philoſophen,
gezeigt habe; So erhalte ich von meinem guten Freun-
de, Peter Trommern in Augſpurg, einen Brief,
worinnen er meldet, daß er von meinem Vorhaben,
gegenwaͤrtige Schrift abzufaſſen, Nachricht erhalten,
und um deswillen ſich die Muͤhe gegeben habe, eini-
ge Buchdruckerſtoͤcke zu ſchneiden, wovon er mir den
Abdruck ſchickt. Er uͤberlaͤßt mir die Muͤhe, aus-
findig zu machen, vor welche Buͤcher ſie ſich eigent-
lich ſchicken, und bittet mich, ſeine Arbeit ſo wohl,
als ſein loͤbliches Vorhaben, noch mehr dergleichen
zu liefern, der gelehrten Welt bekannt zu machen.
Jch darf es ihm, als meinem Freunde, freylich nicht
wohl abſchlagen, ungeachtet ich von einigen ſeiner
Buchdruckerſtoͤcke gar nicht errathen kann, vor wel-
che Buͤcher ſie ſich eigentlich ſchicken ſollten. Weil
aber Herr Trommer vor allen andern wegen ſeiner
Geſchicklichkeit in der Kunſt, Buchdruckerſtoͤcke zu
ſchneiden, beruͤhmt iſt, ſo will ich ſie meinen Leſern
mittheilen. Hoffentlich wird ſich dieſes Verzeichniß
eben ſo anmuthig leſen laſſen, als ein Meßcatalogus,
wo man auch nur Titel von Buͤchern lieſt, und oftmals
ſolche Titel, aus denen man den eigentlichen Jnnhalt
der Buͤcher, zu welchen ſie gehoͤren, wohl nimmer-
mehr errathen ſollte. Finden ſich, wie ich gar nicht
zweifle, Liebhaber zu dieſen Buchdruckerſtoͤcken; ſo
kann ich ihnen melden, daß Herr Peter Trommer
kuͤnftige Oſtermeſſe zu Leipzig in Braͤunigs Hofe rech-
ter Hand anzutreffen, und bey ihm alles um einen
leidlichen Preis zu bekommen ſeyn wird. Jch be-
halte
[103]von Buchdruckerſtoͤcken.
halte mir die Erlaubniß vor, nach der Meſſe ei-
nige Nachricht zu geben, welche von dieſen Stoͤcken
am meiſten abgegangen ſind. Hier iſt das Ver-
zeichniß ſelber.
Mitten unter alten Gemaͤuern von eingefallnen
Tempeln und Saͤulen ſitzt derjenige Vogel, welcher
nur im Finſtern ſieht, und bey Tage blind iſt, der ſich
vom Ungeziefer und kleinen Gewuͤrme naͤhrt, deſſen
graͤßliches Geſchrey niemals etwas gutes bedeutet,
und welcher, ſo bald er zu ſchreyen anfaͤngt, alle Voͤ-
gel der ganzen Gegend wider ſich rege macht. Was
mir, bey dieſem Stocke, am beſten gefaͤllt, iſt dieſes,
daß Herr Trommer mit vieler Geſchicklichkeit dieſem
Vogel eine ſo ernſthafte Miene zu geben gewußt, daß
er alle andre Voͤgel mit Verachtung anzuſehen ſcheint,
welche nicht, wie er, unter altem Gemaͤuer und im
Dunkeln ſich beſtaͤndig aufhalten. Ein paar große
Augen, die er grimmig im Kopfe herumwaͤlzt, ein
aufgeſperrter Schnabel, und ſtarke Klauen ſcheinen
einen jeden zu warnen, dieſen Vogel nicht in ſeinem
Neſte anzugreifen.
Jn einem praͤchtigen Zimmer iſt ein Mann zu ſe-
hen, welcher, nach einer beygebrachten Anmerkung, der
roͤmiſche Kayſer Domitian ſeyn ſoll. Er thut unge-
mein geſchaͤfftig, und ſcheint ſich, durch die viele Arbeit
und heftige Bewegung, ganz ermuͤdet zu haben; un-
geachtet dieſes ſeine wichtigſte Beſchaͤfftigung iſt, daß
er Fliegen faͤngt. Das Bild iſt vortrefflich gemalt, ich
kann es nicht laͤugnen, nur weis ich ganz und gar nicht
zu begreifen, warum er dieſen Mann, nicht in roͤmi-
ſcher, ſondern in deutſcher, Kleidung vorgeſtellt hat.
G 4Der
[104]Abhandlung
Der dritte Buchdruckerſtock iſt das Bild des
griechiſchen Weiſen, welcher die Sterne ſorgfaͤltig be-
trachtet, auf den Weg aber nicht ſieht, und um des-
willen in eine Grube faͤllt. Herr Trommer hat hier-
bey den Einfall, den vielleicht der meiſte Theil der
Leſer auch haben wird, daß ſich naͤmlich dieſer Stock
am beſten vor einige aſtronomiſche Abhandlungen
ſchickte. Jch will dieſem nicht gaͤnzlich widerſpre-
chen, wenn ich bedenke, daß viele der Mathemati-
ker ſich um die Sterne mehr bekuͤmmern, als um
dasjenige, was ſie auf der Erde, und gegen ſich ſelbſt
ſo wohl, als gegen andre Menſchen, zu beobachten
haben. Es iſt wahr, es giebt deren verſchiedne,
welche ihre Haushaltung und Kinderzucht verſaͤu-
men, um der Bahn eines Kometen nachzuſpuͤren;
und welche nichts thun, als daß ſie mit elektriſchen Ex-
perimenten ſpielen, zu der Zeit, da ihre Weiber vor
langer Weile ganz andre Obſervationen anſtellen.
Gleichwohl ſollte ich meynen, daß es noch vielmehr
Arten der Gelehrten gaͤbe, welche aus eben dieſen
Urſachen einen Anſpruch auf gegenwaͤrtigen Buch-
druckerſtock machen koͤnnen. Und beſonders moͤch-
te ich ihn einem gewiſſen Mann vorſchlagen, welcher
uͤber die Unterſuchung der juͤdiſchen Alterthuͤmer
Weib und Kind vergißt, und als ein halber Rabbi-
ne in Geſellſchaften unertraͤglich wird.
Eine Geſellſchaft von Schuſtern ſitzt an einem
Tiſche beyſammen. Auf demſelben liegt eine Land-
karte von Deutſchland. Man ſieht es ihnen an ih-
ren Geſichtern ganz deutlich an, daß ſie ſehr heftig
mit einander ſtreiten. Der eine weiſt mit dem Fin-
ger
[105]von Buchdruckerſtoͤcken.
ger auf Schleſien, und ſieht ſehr bedenklich dabey
aus, zween haben einander bey den Haaren gefaßt,
und der dritte liegt ſchon unter der Bank, und uͤber-
haupt ſieht die ganze Geſellſchaft ſehr patriotiſch aus.
Mich deucht, dieſer Stock ſollte ſich ſehr gut vor eine
politiſche Monatſchrift ſchicken.
Ein Jndianer liegt, mit einem Rauchfaſſe in der
Hand, vor einem Altare, und betet ein Goͤtzenbild an,
welches den Bauch von einem Menſchen, die uͤbri-
gen Gliedmaaßen aber, und beſonders die um den
Kopf herum, von verſchiednen Thieren hat. Herr
Trommer hat mich ſehr gebeten, ihm einen Kaͤufer
zu dieſem Buchdruckerſtocke zu verſchaffen. Jch
kenne nicht mehr, als einen einzigen guten Freund,
welcher im Stande iſt, Buͤcher zu ſchreiben, vor wel-
che ſich ein ſolcher Stock ſchickt; und wenn ſich
dieſer nicht entſchließt, ſolchen zu kaufen, ſo zweifle
ich faſt, ob er einen Liebhaber finden wird. Allen-
falls muß ſich Herr Trommer entſchließen, ihn nach
‒ ‒ zu ſchicken, wo er ihn gewiß an Mann bringen
kann.
Die Fabel iſt bekannt, welche uns erzaͤhlt, daß ein
Mann ſich Muͤhe gegeben, eine Menge Affen zu un-
terweiſen, und ſie dahin zu bringen, daß ſie wenig-
ſtens vor den Leuten ihre natuͤrlichen Spruͤnge, und
affenmaͤßigen Handlungen verbergen, und ſich in ih-
ren Poſituren, wie Menſchen, anſtellen ſollen. Als
er es durch gute und ſcharfe Mittel endlich ſo weit
gebracht, daß ſie einigermaaßen menſchlich gethan:
So verderbt ihm ein Spoͤtter ſeine ganzen Bemuͤ-
hungen, da er Nuͤße und Aepfel unter ſie wirft, wo-
G 5durch
[106]Abhandlung
durch ſie auf einmal aus ihrer natuͤrlichen Stellung
gebracht werden, und ſich ſo zeigen, wie ſie natuͤr-
lich ſind. Dieſe Fabel hat mein augſpurgiſcher
Freund ſehr lebhaft in einem Stocke ausgedruckt.
Der Mann, welcher ſich Muͤhe giebt, die Affen zu
unterweiſen, ſcheint ſich ſein Amt ſo angelegen ſeyn
zu laſſen, als wenn er mit der wichtigſten Sache von
der Welt zu thun haͤtte. Aber die unterſchiednen
Stellungen ſeiner Schuͤler geben deutlich genug zu
verſtehen, daß ſie nur aus Zwange vernuͤnftig thun,
und laͤnger nicht, als er vor ihnen ſteht, und ihnen
droht. Unter der menſchlichen Kleidung guckt das
Affengeſicht allemal hervor. Verſchiedne bloͤken gar
die Zaͤhne wider ihn, und der eine Affe beſonders,
welcher vor andern anſehnlich iſt, droht, ihn zu kra-
tzen. Von ferne zeigt ihnen ein Zuſchauer einen
Korb voll Obſt, nach welchem ſie alle mit luͤſternen
Blicken ſehen, und auf dem Sprunge zu ſtehen ſchei-
nen, Lehre und Zwang zu verlaſſen, um ihren natuͤrli-
chen Trieben wieder zu folgen. Dieſer Buchdrucker-
ſtock findet wegen ſeiner außerordentlichen Sauber-
keit, mit der er gezeichnet iſt, vor allen andern mei-
nen Beyfall, und ungeachtet er ſich vor gegenwaͤrti-
ge Abhandlung gar nicht ſchickt: So wuͤrde ich doch
dem Verleger ſehr verbunden ſeyn, wenn er die weni-
gen Koſten nicht ſcheuen, und dieſen Stock kaufen
wollte, damit er meiner Schrift vorgeſetzt werden
koͤnnte. Jch weis gewiß, er iſt zu gefaͤllig, als daß
er mir dieſe kleine Bitte abſchlagen
ſollte.
[[107]]
Hinkmars von Repkow
Noten ohne Text.
[[108]][109]
Nunmehr thue ich den erſten Schritt in die
gelehrte Welt. Schon vor dreyßig Jahren
hatte mich die Natur mit ſo ſtarken und
dauerhaften Gliedmaaßen begabt, als zu einem
Scribenten erfodert werden. Dennoch habe ich, wel-
ches faſt unglaublich iſt, jedesmal uͤber mich ſelbſt
ſo viel Gewalt gehabt, daß meine Gelehrſamkeit
noch niemals zum wirklichen Ausbruche gekommen
iſt, ich nehme einige kritiſche Verſuche aus, welche
ich im Jahre 1719 bey der damaligen großen Theu-
rung mir und dem guten Geſchmacke zum Beſten,
doch jedesmal unter fremdem Namen, der Welt
mittheilen mußte. Seit dreyßig Jahren alſo habe
ich nur einen Zuſchauer unter den Gelehrten abge-
geben. Meine ganze Aufmerkſamkeit war dahin
gerichtet, zu ſehen, welches die ſicherſten und
leichteſten Mittel waͤren, ſich auf einmal uͤber
andre zu ſchwingen, und bis auf die ſpaͤteſte Nach-
welt beruͤhmt zu werden. Jch habe angemerkt, daß
die Bemuͤhungen der Geſchichtſchreiber, der Phi-
loſophen, der Dichter, und aller uͤbrigen Gelehrten,
ſo beſchwerlich, ſo ungewiß, und ſo gefaͤhrlich ſind, daß
ich mich wohl huͤten werde, mich mit einer von die-
ſen Arten Schriften zu vermengen. Hingegen ge-
traue ich mir, durch hundert Exempel zu behaupten,
daß man durch kein Mittel in der Welt leichter zur
gehoͤrigen Autorgroͤße gelangen kann, als durch
die Beſchaͤfftigung, die Schriften andrer Maͤnner
durch Noten zu vermehren, und zu verbeſſern. Leu-
te,
[110]Hinkmars von Repkow
te, von denen man ſchwoͤren ſollte, daß ſie die Na-
tur zu nichts weniger, als zu Gelehrten, geſchaffen
haͤtte; Leute, welche, ohne ſelbſt zu denken, die Gedan-
ken der Alten und andrer beruͤhmten Maͤnner erklaͤ-
ren; ſolche Leute ſind es, die ſich groß, und furchtbar
machen; und wodurch? Durch Noten! Noten alſo
ſind der rechte Weg, zu demjenigen Zwecke zu gelan-
gen, welchen alle Gelehrte auf verſchiedne Arten, aber
mit ungleichem Erfolge, ſuchen. Jch brauche nicht, zu
beweiſen, daß bey einem dergleichen Buche des Herrn
Verfaſſers Noten allemal das vornehmſte und wich-
tigſte ſind, der Text ſelbſt aber nur etwas zufaͤlliges,
wenigſtens von der Erheblichkeit lange nicht iſt, als
die angehaͤngten Noten. Jch beziehe mich auf die
Vorreden, ſo man vor dieſen Buͤchern findet, und
worinnen mein Satz allemal, nur auf verſchiedne
Art, behauptet iſt. Einem ſolchen Verfaſſer wuͤrde es
daher gleich viel gelten, wenn der Text auch gar unter-
gienge. Nur um ſeine Noten darf die Nachwelt nicht
kommen; dieſer Verluſt waͤre unerſetzlich. Dieſe
Betrachtung hat mich zu dem Entſchluſſe gebracht,
Noten zu ſchreiben, ohne um einen Text beſorgt zu
ſeyn, da dieſer, wie gedacht, ohnedem nur ein Neben-
umſtand bey einem Buche iſt. Jch uͤberlaſſe die Be-
ſchaͤfftigung, einen Text zu gegenwaͤrtigen Noten zu
machen, andern, die weder diejenige Erfahrung, noch
Geſchicklichkeit, beſitzen, die ich mit gutem Gewiſſen
von mir ſelbſt ruͤhmen kann. Es ſollte mir lieb ſeyn,
wenn ich dadurch unſrer itzigen Jugend Gelegenheit
gaͤbe, ſich in Texten zu uͤben. Es kann gleich viel gel-
ten, ob ſie eine Materie von den itzigen politiſchen
Um-
[111]Noten ohne Text.
Umſtaͤnden, oder aus der Arzneykunſt, oder aus
den buͤrgerlichen Rechten dazu waͤhlen wollen.
Eine Abhandlung von dem leeren Raume ſollte ſich
auch nicht unrecht dazu ſchicken, denn dergleichen
Betrachtungen werden nicht ſehr geleſen, und ſolche
Texte braucht ein Notenautor, wie ich bin, am
liebſten. Jch wollte wuͤnſchen, daß ſich bald wie-
der ein Komet ſehen ließe. Meine Noten ſollten
ſich ganz vortrefflich ausnehmen, wenn ſie unter ei-
ner Abhandlung davon ſtuͤnden. Man wird zwar
darinnen nicht ein einziges Wort von Kometen fin-
den. Aber deſto beſſer waͤre es; denn natuͤrlicher
Weiſe haben dergleichen Noten, wie die meinigen
ſind, ohnedem mit dem Texte weiter kein Verhaͤlt-
niß, als das, welches ihnen der Setzer giebt. Mit
einem Worte; mit dem Texte mag ich gar nichts zu
thun haben, den uͤberlaſſe ich kleinen Geiſtern. Jch
bin ein Gelehrter, und zwar ein Gelehrter bey Jah-
ren, darum ſchreibe ich Noten; denn das iſt ein
wichtiges Werk! Jch erſtaune, wenn ich zuruͤcke
ſehe, und eine unzaͤhlbare Menge Maͤnner hinter
mir erblicke, welche ſich ſo viele Jahre lang mit ſo vie-
ler Sorge, auf ſo verſchiedne Art, um den Na-
men eines Gelehrten bemuͤht haben, von mir aber in
einer Zeit von zween Tagen, auf die beqvemlichſte
Art von der Welt, und ohne meinem Verſtande und
Nachdenken die geringſte Gewalt anzuthun, einge-
holt, ja weit uͤbertroffen ſind. Allen meinen En-
keln will ich es anrathen. Noten ſollen ſie machen!
Und, wollen ſie es ſo hoch bringen, wie ihr Groß-
vater, ſo machen ſie Noten ohne Text! Eine Sache,
wel-
[112]Hinkmars von Repkow
welche, außer mir, wohl noch kein Deutſcher ge-
wagt hat. Nun werden es die uͤbermuͤthigen Fran-
zoſen doch auch glauben, daß es in Deutſchland
Schoͤpfer gebe, welche von ſich ſelbſt etwas hervor-
bringen, und noch mehr thun koͤnnen, als nachah-
men. Wie ſehr werde ich mich vergnuͤgen, wenn ein
gelehrter Mann und Befoͤrderer der ſchoͤnen Kuͤn-
ſte und Wiſſenſchaften ſich beruͤhmt, und Noten
uͤber meine Noten machen wird! „Der große
„Repkow, wird es einmal heißen, bedient ſich, in
„ſeinen gelehrten Noten ohne Text, unter andern
„folgender ſehr nachdenklichen Worte ꝛc. Kann
ein Schriftſteller zu ſeiner Beruhigung wohl mehr
verlangen, als wenn ſich ein andrer Schriftſteller
auf ihn beruft? Wie praͤchtig wird es klingen, wenn
ein gelehrter Abt des kuͤnftigen Jahrhunderts in der
franzoͤſiſchen Akademie ſeine Meynung durch mein
Anſehen behaupten, und ſagen wird: „Voyez le
„Savant Allemand, Monſieur Enkemar de Repikof
„dans ſes remarques ſans Texte \&c. Und wer
iſt mir wohl dafuͤr gut, daß nicht vielleicht, ſo bald
gegenwaͤrtige Abhandlung nur die Preſſe verlaſſen
hat, ſchon irgendswo ein beruͤhmter Mann mit
Schmerzen auf meinen Tod wartet; nur, daß er
in ſein hiſtoriſches Univerſallexicon, unter dem Buch-
ſtaben R dieſe Nachricht ſetzen koͤnne: „Repkow
„(Hinkmar von) auf Budigaß, ein Nachkomme
„des großen Ecko von Repkow, ſchrieb Noten oh-
„ne Text, und ſtarb. Er war ein billiger Vereh-
„rer ſeiner eignen Schriften, und uͤberhaupt ein
„ſehr gelehrter Mann. Seine vortrefflichen No-
„ten
[113]Noten ohne Text.
„ten ohne Text hat man in viele Sprachen, und
„ſo gar ins Norwegiſche, uͤberſetzt. Die verſchied-
„nen Auflagen davon ſind unzaͤhlich, doch iſt die-
„jenige wegen ihres breiten Randes und der arti-
„gen Leiſte die beſte, welche wir dem Fleiße des ge-
„ſchickten Herrn Cowley Lizards in Londen zu
„danken haben. Von ihm ſtammt die beruͤhmte
„Secte derer Avtonotiſten ab, und er iſt der Urhe-
„ber des berufnen methodi Repkovianae. Meh-
„rere Nachricht von ihm findet man in dem theatro
„Budigaſſiano de claris Repkoviis.„ Gewiß! von
wem die Nachwelt ein ſolches Urtheil faͤllt, deſſen
Muͤhe iſt reichlich vergolten, denn dieſes begreift
alles dasjenige in ſich, was der Ehrgeiz eines Ge-
lehrten wuͤnſchen kann.
Vor Entzuͤcken uͤber die dankbare Nachwelt ver-
geſſe ich beynahe meine itztlebenden Leſer, welche
es vielleicht zufrieden ſeyn wuͤrden, wenn ich von
mir ſelbſt etwas weniger redete. Jch will zwar
abbrechen, aber mich nicht entſchuldigen; denn al-
les, was ich bisher geſagt habe, das vertritt die
Stelle einer Vorrede, zu gegenwaͤrtigen Noten
ohne Text. Die Vorreden aber ſchreibt der Ver-
faſſer wohl nicht leicht um des geneigten Leſers wil-
len, ſondern ſeinetwegen. Mein Troſt iſt, daß ich
im Nachſtehenden noch oͤfters Gelegenheit haben
werde, von mir ſelbſt ausfuͤhrlich, doch ohne die
geringſte Parteylichkeit, zu reden.
Hinkmar von Repkow.
Zweyter Theil. HNoten
[114]Hinkmars von Repkow
Noten
Zur Zueignungsſchrift.
OMuſen, helfet mir!) Ueberhaupt muß ich
errinnern, daß dergleichen Anrufung der
Muſen bey gluͤckwuͤnſchenden Dichtern
nichts weiter iſt, als ein bloßes Compliment. Die
Muſen moͤgen nun helfen oder nicht, dadurch wird
ſich der Dichter doch nicht irre machen laſſen. Die-
ſe Formel ſagt eben ſo wenig, als diejenige, wenn
man ſpricht:
Erlaube, theurer Mann!
Wenn es auch gleich der theure Mann nicht erlau-
ben wollte: So wuͤrde er dennoch, auch wider ſei-
nen Willen, hoͤren muͤſſen, daß er die vollkommen-
ſte Creatur unter allen Creaturen ſey; denn das
Carmen iſt einmal gedruckt, und mit gutem Gewiſ-
ſen kann er es dem ehrlichen Dichter nicht zumu-
then, daß er die Unkoſten umſonſt ſollte aufgewandt
haben. Jch misbillige darum dieſe Anrufung der
Muſen gar nicht. Es ſind die poetiſchen honneurs,
die wir unſern Maͤcenaten machen. Eine Schild-
wache thut nur ihre Schuldigkeit, wenn ſie bey der
Ankunft eines vornehmen Mannes: Jns Gewehr!
ruft, und auf dem Parnaſſe iſt die groͤßte Ehrenbe-
zeugung dieſe, wenn wir alle neun Muſen paradi-
ren laſſen. Jch halte es um deswillen denen ſehr
fuͤr uͤbel, welche dieſe gute Caͤremonie abſchaffen
wol-
[115]Noten ohne Text.
wollen. Sie bringen den armen Dichter um ein
paar Verſe, die ihm nicht ſauer werden koͤnnen, und
die zum wenigſten nichts ſchaden, wenn ſie auch
nichts helfen ſollten.
Dieß ſchwere Werk, dich, Goͤnner aller
Goͤnner) Es iſt allerdings vielmals ſehr ſchwer,
denjenigen mit einiger Wahrſcheinlichkeit zu ruͤh-
men, an den die Zuſchrift gerichtet iſt. So leicht
es iſt, Reinbecken, als einen groſſen Gottesgelehr-
ten, Wolfen, als einen Philoſophen, Hofmannen,
als einen geſchickten Arzt, und Canitzen, als einen
Dichter vorzuſtellen: So ein ſchweres Werk iſt es
hingegen, wenn ich den Aberglauben, als einen
Mann, auf deſſen Bruſt Licht und Recht glaͤnzen,
oder Starrkatern in Eulenburg, deſſen der hambur-
giſche Patriot gedenkt, als einen Prieſter der Ge-
[r]echtigkeit abbilden ſoll. Wie viel Muͤhe koſtet es
nicht, wenn wir denjenigen zum Apollo unſrer Zei-
ten machen, welcher mit einem Gelehrten weiter
keine Aehnlichkeit hat, als die groſſe Peruͤcke! Wir
beſchwoͤren das Alterthum, und bannen alle Wei-
ſen Griechenlands und Roms zuſammen, damit ſie
zu ihrer Beſchaͤmung anhoͤren ſollen, daß in unſern
Tagen ein Mann lebt, der Davus heißt.
Eben dieſe Lobſucht iſt noch das einzige Mittel, wel-
ches unſern Dichtern bey ihren Zuſchriften die groͤß-
H 2ten
[116]Hinkmars von Repkow
ten Schwierigkeiten erleichtern hilft. Sie wollen
loben! Das iſt genug! Ob aber die Zuͤge in ihrer Lob-
ſchrift dem Originale aͤhnlich ſind; das iſt eine Sa-
che, die man eben ſo genau nicht unterſuchen, noch
viel weniger aber von ihnen verlangen darf. Sie glei-
chen darinnen einer gewiſſen Art von Malern, welche
die Bildniſſe großer Fuͤrſten und Herren feil haben.
Alle dieſe ſehen einander aͤhnlich, und die Bilder von
Ludwig dem vierzehnten an, bis auf den General
Menzel haben nur ein Geſicht. Der einzige Unter-
ſchied beſteht in der Tracht und Farbe des Kleides,
und, wenn es hoch koͤmmt, in einem Schnurrbar-
te. Dem ungeachtet weis man, wen es vorſtel-
len ſoll, und derjenige muß blind ſeyn, der es nicht
aus der Unterſchrift ſehen ſollte. Machen es die
meiſten unſrer heutigen Scribenten in ihren Zu-
ſchriften wohl anders? Sie haben nur eine Art zu
loben, und ein jeder, den das Verhaͤngniß dazu er-
ſehen hat, daß er unter ihre Haͤnde gerathen, und
ihr Maͤcenat werden ſoll, den ſtellen ſie uns allemal,
als den vollkommenſten, als den tugendhafteſten
Sterblichen vor. Kurz, auch ihre Goͤnner und
Helden haben nur ein Geſicht, den Unterſchied
macht weiter nichts, als der Titel des Goͤnners.
Mit Zittern wagt mein Kiel] Jch bin
ein Poet, das iſt ein poſtulatum, und ich will es
keinem Menſchen rathen, mir zuzumuthen, daß ich
dieſen Satz beweiſen ſoll. Wenn man alſo im
obigen Texte die Worte; mit Zittern wagt mein
Kiel, nicht von der demuͤthigen Poſitur verſtehen
woll-
[117]Noten ohne Text.
wollte, mit welcher einige Dichter von meiner Art
ihre Goͤnner anzureden, und ihnen die Proben ih-
rer unterthaͤnigſten Ehrfurcht zu uͤberreichen pfle-
gen: So wuͤrde es allerdings ſehr unnatuͤrlich ſeyn,
zu ſagen, daß der Dichter zittere. Wir, die wir
mit Goͤttern eben ſo vertraut umgehen, wie mit ei-
ner Schaͤferinn, wir werden vor keinem Sterbli-
chen zittern. Ein Dichter, der von ſeiner Fertig-
keit zu reimen, von ſeinem Geldmangel, und von
den Capitalen ſeines Goͤnners gewiß uͤberzeugt iſt,
iſt das unerſchrockenſte Geſchoͤpf unter allen Thieren.
Laͤßt ſich alſo wohl mit Grunde von ihm ſagen, daß
er zittere? Jch glaube es nicht, und wenn er ja zit-
tert, ſo geſchieht es doch nur dem Reime und dem
Sylbenmaaße zu Gefallen.
[Und wenn du, großer Held,] Dieſes Bey-
wort iſt ſo gewoͤhnlich, daß ich kein Bedenken tra-
ge, ſolches dem unbekannten Goͤnner beyzulegen,
welchem gegenwaͤrtiges Werk kuͤnftig einmal dedi-
ciret werden koͤnnte. Ein Autor ſchmiegt ſich ge-
meiniglich in ſeinen Zueignungsſchriften dergeſtalt,
vor den Fuͤßen ſeines Goͤnners, daß ihm derſelbe
natuͤrlicher Weiſe nicht anders, als groß, vorkom-
men muß, und einen Helden nenne ich ihn um des-
willen, weil ich zum voraus ſetze, daß die Zueig-
nungsſchrift an keinen von buͤrgerlichem Stande,
ſondern an jemanden meines gleichen gerichtet wird.
Wir ſind Ritter. Alle Ritter ſind, vermoͤge der Er-
fahrung, Helden, und große Helden werden wir,
ſo bald uns ein Autor braucht. Hierbey faͤllt mir
eine Geſchichte ein, welche ich anfuͤhren muß. Als
H 3ich
[118]Hinkmars von Repkow
ich dem Pfarrer in meinem Dorfe ſeinen Sohn zum
Subſtituten gab: So ward, wie man leicht glau-
ben kann, dieſer wichtige Umſtand der Kirchenhi-
ſtorie von mehr, als einem Rohre, beſungen. Es
wuͤrde zu weitlaͤuftig ſeyn, alle die ſchoͤnen Gedanken
anzufuͤhren, welche bey dieſer vortrefflichen Gele-
genheit verſchwendet wurden. Keiner aber hat mich
ſo ſehr geruͤhrt, als derjenige, da ein Dichter den
jungen Subſtituten des großen Vaters großen
Sohn nennte. Jch bin verſichert, daß dieſer praͤch-
tige Ausdruck bey dieſer Gelegenheit nicht zum er-
ſtenmale angewandt iſt, und ſonder Zweifel auch in
folgenden Zeiten ſeine Liebhaber finden wird. Aber
eben dadurch ſuche ich auch obige Worte meines
Textes zu rechtfertigen. Denn ſchickt er ſich fuͤr
einen Dorfpfarrer, und ſeinen Subſtituten, ſo wird
man ihn einem Kirchenpatron gewiß nicht ſtreitig
machen koͤnnen.
Mich Deiner Gunſt empfohlen) Gunſt
heißt hier, und bey andern dergleichen Zuſchriften,
in poetiſchem Verſtande, ſo viel, als baares Geld.
Du ſelbſt ein Dichter biſt, der Ewigkeit
entgegen) oder wie es im Zuſammenhange des
Textes heißen wuͤrde: Du ſiehſt der Ewigkeit ent-
gegen, weil du ſelbſt ein Dichter biſt. Man ſieht
wohl, daß dieſe Zueignungsſchrift in Verſen abge-
faßt iſt; und weil ſie in Verſen abgefaßt iſt; So
folgt natuͤrlicher Weiſe, daß der Verfaſſer ein Poet
ſeyn muß, denn eben dadurch unterſcheidet ſich ein
Poet von andern Geſchoͤpfen, daß er Verſe macht.
Es iſt alſo nichts neues, wenn ein Poet glaubt, er
koͤnne
[119]Noten ohne Text.
koͤnne ſeinem Goͤnner nicht angenehmer ſchmeicheln,
als wenn er ihn auch einen Dichter heißt. Es erklaͤrt
ſich dieſes aus den Regeln der Eigenliebe, welche eine
jedwede Art der Schriftſteller fuͤr ihr Handwerk
hat. Wird ein Arzt ein Schriftſteller, ſo wird er
ſagen, daß ſein Maͤcenat, an den die Zueignungs-
ſchrift gerichtet iſt, auch ein Arzt ſey, und ein ſchrei-
bender Rechtsgelehrter macht alle ſeine Goͤnner zu
Ulpianen. Jch kenne einen Kunſtrichter, welcher
zu der Freygebigkeit eines ziemlich beguͤterten Land-
kramers ein ſo großes Vertrauen hatte, daß er ihm
ein Buch zueignete, welches von den kritiſchen Strei-
tigkeiten unſrer Zeiten handelt. „Jch widme dir
„dieſe Blaͤtter, ſagte der Verfaſſer in ſeiner Zueig-
„nungsſchrift, da du ſo gluͤcklich biſt, ſelbſt ein Cri-
„tikus zu ſeyn.„ Der Landkramer erſchrack. Er
fragte ſeinen Jnformator, was ein Critikus fuͤr ein
Ding ſey? Und weil ihm dieſer eine verhaßte Be-
ſchreibung davon machte: So fehlte nicht
viel, daß jener den Verfaſſer nicht
rechtlich belangte.
H 4Noten
[120]Hinkmars von Repkows
Noten zur Vorrede.
Und mit Anmerkungen] Anmerkungen heiſ-
ſen diejenigen Zeilen, welche der Buchdrucker
unter den Text ſetzt. Mit dieſem haben ſie keine
Verbindung weiter, als daß ſie auf eben der Seite
ſtehen, oder, wofern der Raum dieſes nicht zulaſſen
will, wenigſtens ſich allemal auf diejenige Seite be-
ziehen, wo die Worte des Textes zu finden ſind.
Beſonders zweyerley wird dabey erfodert. Sie
muͤſſen in die Augen fallen, und unerwartet ſeyn.
Jenes geſchieht, wenn man ſagt, was andre ſchon
geſagt haben, oder, kunſtmaͤßig zu reden, wenn
man die Alten und Neuen fein haͤufig anfuͤhrt, und
die Gelehrten, welche gegen alle vier Winde woh-
nen, citirt. Das Unerwartete hingegen beſteht dar-
innen, wenn ich Sachen ſage, welche kein Menſch
in meinen Anmerkungen ſuchen wuͤrde. Zum
Exempel: Jm Texte ſteht das Wort; Cicero, und
in der Anmerkung unterſuche ich die Frage: Ob
Nebucadnezar auch wirklich Gras gefreſſen habe,
wie ein Vieh?
Zu dieſer Vorrede] Denn eine Vorrede
heißt nur um deswillen eine Vorrede, weil ſie gleich
auf das Titelblatt, oder die Zueignungsſchrift folgt.
Der Herr Verfaſſer darf ſich gar kein Gewiſſen ma-
chen, wenn er darinnen Sachen ſagt, die zum Bu-
che gar nicht gehoͤren.
Erlaͤu-
[121]Noten ohne Text.
Erlaͤutert) Das iſt ein erſchrecklicher Druck-
fehler, und ſoll erweitert heißen, welches ein jeder
ehrenguͤnſtiger Leſer in ſeinem Exemplare zu aͤn-
dern beliebe. Jch waͤre nicht werth, daß ich ein
Autor hieße, wenn ich bey dieſen Anmerkungen die
Abſicht gehabt haͤtte, den eigentlichen Verſtand des
Textes zu erklaͤren, oder zu erlaͤutern, zu geſchweigen,
daß vielmals ein Text keinen eigentlichen Verſtand
hat. Aber das iſt die wahre Pflicht vieler unſrer
heutigen Scribenten, daß ſie eine Sache weitlaͤuftig
dehnen, und dasjenige auf etlichen Bogen ſagen,
was der ungelehrte Poͤbel in wenig Zeilen faſſen
wuͤrde.
Jch weis aber nicht, ob ich dieſer meiner
Schrift die Ewigkeit verſprechen darf:)
Das iſt nur eine beſcheidne Verſtellung von mir,
ich weis dieſes aber ganz gewiß, denn ich bin ein
Autor. Dieſe Formel iſt der ſo gewoͤhnliche vaͤterli-
che Seegen, welchen wir unſern Buͤchern mittheilen,
wenn wir ſie in die Welt ſchicken. Von dem Nach-
drucke dieſes Seegens kann niemand beſſer urthei-
len, als wer Gelegenheit gehabt hat, entweder durch
die Erfahrung, oder auf andre Wege ſich einen hin-
laͤnglichen Begriff von derjenigen innbruͤnſtigen Zaͤrt-
lichkeit zu machen, welche man die vaͤterliche Liebe
nennt. Ein Schriftſteller empfindet dieſe in dem
ſtaͤrkſten Grade. An unſern Kindern halten wir
dasjenige fuͤr Schoͤnheiten und Artigkeiten, was
wir an den Kindern andrer Leute fuͤr Leibesgebre-
chen und Laſter anſehen. Ein Autor, welcher die
Maͤngel andrer Schriften aufs ſchaͤrfſte beurtheilt,
H 5iſt
[122]Hinkmars von Repkow
iſt dennoch oftmals von einer blendenden Liebe ge-
gen ſeine eigne Arbeit dergeſtalt eingenommen, daß
er denjenigen fuͤr einen neidiſchen Kluͤgling, fuͤr einen
Verraͤther des Vaterlandes ausſchreyen wird, wel-
cherſich unterſteht, ihm und andern zu ſagen, daß ſei-
ne gelehrte Geburt nur ein Kruͤpel, oder gar eine
Misgeburt ſey. Er wird ergrimmen, wie ein Baͤr,
dem man ſeine zottige Brut raubt, und wer ihm
in dieſer Wut begegnet, der iſt verloren. Jch
getraue mir, noch mehr zu behaupten. Jch glaube,
daß die Liebe eines Scribenten gegen ſeine witzige
Zucht diejenige Neigung weit uͤbertrifft, welche Ael-
tern ordentlicher Weiſe gegen ihre Kinder haben.
Ein Vater wird dasjenige Kind niemals, ohne ekel-
haften Widerwillen, anſehen koͤnnen, von dem er ge-
wis weis, daß es nicht ſein iſt; ein Scribent aber
keinesweges. Oefters iſt dieſer bemuͤht, der Welt
diejenigen Sachen, als ſeine leiblichen Kinder, an-
zupreiſen, welche ihr ganzes Weſen und Daſeyn
dem Fleiße andrer Gelehrten, ihm aber weiter
nichts, als den Namen, zu danken haben. Dennoch
erkennt er ſie fuͤr die Seinigen. Derjenige greift
ihm ans Herz, welcher ihm den Titel eines Vaters
abſprechen will. Hundert Gelehrte von verſchied-
nen Voͤlkern koͤnnte ich hier zum Beweiſe meines
Satzes [a]nfuͤhren; ich habe aber fuͤr die Franzoſen
eine ſolche Hochachtung, daß ich niemanden nennen
will, als ihren Abt Desfontaines. Da
nun unſre Gelehrten und Schriftſteller ſo ge-
neigt ſind, ihren Gedichten und Buͤchern die Ewig-
keit zu prophezeihen; wie empfindlich, wie ſchmerz-
haft
[123]Noten ohne Text.
haft muß es nicht einem ſo liebreichen und zaͤrtlichen
Vater fallen, wenn er ſieht, daß er das Werk ſeiner
Haͤnde, welches er der Nachwelt zugedacht hatte,
noch ſelbſt uͤberleben muß! Koͤmmt dieſes fruͤhzei-
tige Abſterben von der ſchwaͤchlichen Natur, und der
hinfaͤlligen Beſchaffenheit unſrer Schriften her:
So iſt allerdings noch einiger Troſt dabey. Ge-
ſchieht es aber, daß ſie durch einen gewaltſamen Tod
dahin geriſſen, und durch die unerbittlichen Haͤnde
eines grauſamen Kunſtrichters aufgerieben werden:
So kann ich mir in der That keine verzweifeltern
Umſtaͤnde vorſtellen, als diejenigen ſind, in welchen
ſich ein ſo gebeugter, und in die tiefſte Trauer ver-
ſetzter, Scribent befinden muß. Er iſt deſto ungluͤck-
licher, da ihm nicht leicht jemand ſein Beyleid bezei-
gen, und dieſen unverhofften Verluſt beklagen wird.
Ein Troſt, den zum wenigſten andre Vaͤter, bey
dem Tode ihrer Kinder, zu gewarten
haben.
[224[124]]Hinkmars von Repkow
Noten zur Abhandlung.
Farrago libelli:) Bey dieſen Worten,
welche ich aus dem Juvenal zur Ueberſchrift
uͤber gegenwaͤrtige Abhandlung gewaͤhlt habe, muß
ich vor allen Dingen verſchiednes errinnern. Die
Verſe des Juvenals heißen eigentlich ſo:
Jch habe aber mit Fleiße nur die letzten Worte da-
von behalten, weil ich befuͤrchten mußte, viele meiner
Leſer moͤchten ein gar zu ſchlechtes Vertrauen zu
dieſer Schrift bekommen, wenn ſie durch die angezo-
gnen Verſe des Juvenals auf die Meynung gebracht
wuͤrden, als wollte ich Sachen darinnen abhandeln,
welche, gewiſſer Urſachen wegen, nicht allemal gern
geleſen werden.
Jndeſſen ſchicken ſich dieſe Worte, farrago
libelli, hieher. Jch weis ſie nicht nachdruͤcklicher zu
uͤberſetzen, als durch das Wort, Miſchmaſch; und
dieſes zeigt meinen Leſern auf einmal an, was ſie, in
dieſen Noten ohne Text, zu ſuchen haben.
Jch bin ſo neidiſch gar nicht, daß ich mich dieſer
Ueberſchrift ganz allein anmaaßen, und andern
Schriftſtellern verwehren wollte, ſich derſelben, in
gleichem Falle, zu bedienen. Nichts wuͤnſche ich
eifriger, als daß ich in dieſem Stuͤcke Nachfolger
finden moͤge, welche mit der gelehrten Welt eben ſo
offen-
[125]Noten ohne Text.
offenherzig umgehen, als ich thue. An ſtatt der
ausſchweifenden Titel: Kurze, doch gruͤndliche,
Abhandlung von ꝛc. Neue, und hoͤchſtnoͤ-
thige Wahrheiten ꝛc. Exegetiſch-theoretiſch-
praktiſche Unterſuchung, ob ꝛc. Unumſtoͤßli-
cher Beweis, daß ꝛc. Verſuch einer heilſa-
men und erbaulichen ꝛc. Abgenoͤthigte, doch
mit vieler Beſcheidenheit abgefaßte, und in
der Wahrheit ſelbſt gegruͤndete, Vertheidi-
gung wider ꝛc. Univerſal ꝛc. An ſtatt aller
dieſer Titel wuͤrden die meiſten ihrer Verfaſſer mit
weit beſſerm Rechte, und mit mehrerer Wahrheit
ſich dieſer Worte bedienen, Farrago libelli; und die
Nachwelt hat es bloß meiner Bemuͤhung zu danken,
daß naͤchſtens ein guter Freund von mir ſich eben
dieſer Worte, bey ſeinem Buche, bedienen wird, wel-
ches er von dem eigentlichen Grunde des Natur-
und Voͤlkerrechts, und zwar methodo mathema-
tica abgefaßt hat.
Jch kann dieſe Gelegenheit nicht vorbey laſſen,
ohne von dergleichen Ueberſchriften noch etwas uͤber-
haupt zu gedenken. Jch finde einen großen Mis-
brauch darinnen, daß ſich die meiſten ſolcher Senten-
zen aus alten Poeten und Philoſophen anmaaßen,
welche ſie, ohne die Wahrheit zu beleidigen, und
ihr Autorgewiſſen zu beſchweren, vor ihre Schriften
gar nicht ſetzen ſollten. Jch will an deren Stelle
einige andre vorſchlagen, und ich traue meinen Le-
ſern ſo wohl, als den zukuͤnftigen Autoren, ſo viel
Geſchmack und Einſicht zu, daß ſie die Wahl, vor
welche
[126]Hinkmars von Repkow
welche Buͤcher eiue jede dieſer Ueberſchriften gehoͤre,
ſelbſt treffen werden, ohne, daß ich noͤthig habe, mich
daruͤber zu erklaͤren. Dieſe Arbeit iſt wenigſtens
ſo wichtig, und dem Vaterlande eben ſo vortheilhaft,
als die Bemuͤhung des Herrn Woldamars von
Zſchaſchlau, welcher* ſeinen muthwilligen Witz an
einer Abhandlung von Buchdruckerſtoͤcken ver-
ſchwendet hat, und dabey gewiſſe eigenſinnige Regeln
vorſchreiben wollen, welche die Fruchtbarkeit un-
ſrer Schriftſteller zu merklichen Schaden der ge-
lehrten Nahrung auf einmal niederſchlagen wuͤrden,
wenn dieſe nicht bereits viel zu großmuͤthig waͤren,
als daß ſie den pedantiſchen Vorſchriften der Ver-
nunft Gehoͤr geben ſollten. Hier ſind meine Ue-
berſchriften, und finde ich, daß die Welt erkennt-
lich genug iſt: So behalte ich mir vor, in einer be-
ſondern, und hoffentlich ſehr weitlaͤuftigen, Ab-
handlung deren mehr zu liefern.
‘Duceris, ut neruis alienis mobile lignum.’ ()
Horat.
‘‒ ‒ ‒ Nihil mea carmina curas?
Nil noſtri miſerere? Mori me denique cogis?’ ()
Virgil.
‘Scilicet oblitus patriae, patrisque, LATINE?’ ()
Horat.
‘Quid faciam, præſcribe. Quieſcas. Ne faciam, inquis,
Omnino verſus? Aio. Peream male, ſi non
Optimum erat. Verum nequeo dormire ‒ ‒’ ()
Horat.
Quos
[127]Noten ohne Text.
‘Quos ego! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒’ ()
Virgil.
‘‒ ‒ ‒ ‒ ‒ Procumbit humi ‒ ‒’ ()
Virgil.
‘‒ ‒ ‒ Κυνος ὀμματ᾽ ἐχ [...].’ ()
Homer.
‘Grammatici certant, ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ rabies armavit, ‒ ‒
‒ ‒ ‒ et usque
Certantes, donec cantor, Vos plaudite! dicat.’ ()
Horat.
‘Quae virtus, et quanta ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Nec meus hic ſermo eſt ‒ ‒ ‒ ‒ ‒’ ()
Horat.
‘Felices errore ſuo ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒’ ()
Lucan.
‘Dic aliquid dignum promiſſis. Incipe: nil eſt.’ ()
Horat.
‘‒ ‒ ‒ Dî te, Damaſippe, Deaeque
Verum ob conſilium donent tonſore ‒ ‒’ ()
Horat.
Dieſes wuͤrde genug ſeyn koͤnnen, zu zeigen, wie
redlich ich es mit meinem gelehrten Vaterlande
meyne. Jch will aber noch mehr thun, und
den Witz aller muntern Koͤpfe in Deutſchland in
Bewegung bringen. Virgil ſagt an einem gewiſ-
ſen Orte:
Hiermit
[128]Hinkmars von Repkow
Hiermit fodre ich alles auf, was nur einen Fin-
ger regen, und ſchreiben kann! Derjenige, welcher
die gruͤndlichſte Nachricht geben wird, vor welches
Buch ſich dieſe Ueberſchrift ſchicke, der ſoll bey dem
Verleger ſechs Dukaten zum Preiſe erhalten! Mit
Freuden ſehe ich dem aͤmſigen Laͤrmen entgegen,
welcher, wegen dieſer anſehnlichen Belohnung,
unter unſern Gelehrten entſtehen wird. Dieſes
verlange ich noch, daß ſie ihre Briefe poſtfrey ein-
ſenden, und ihre Namen verſiegelt beylegen, zu-
gleich auch eine Anweiſung geben, an wen der Preis
gezahlt werden ſoll. Als einen kleinen Nebenum-
ſtand muß ich nur dieſes noch erinnern, daß ich
ſelbſt an der Aufloͤſung dieſer gelehrten Aufgabe
mit arbeiten werde. So viel kann ich inzwiſchen
bey aller der Aufrichtigkeit verſichern, welche mir
und allen Scribenten meiner Art bey dergleichen
Faͤllen ſo eigen iſt, daß ich zur Zeit nicht weis,
welche Art von Buͤchern ich zu dieſer Ueberſchrift
eigentlich vorſchlagen ſollte. Weil ich aber doch
aus der Erfahrung weis, daß ich, im Vertrauen
zu ſagen, gar oͤfters ganz feine und ſcharfſinnige
Einfaͤlle habe; So will ich nicht gut dafuͤr ſeyn,
daß ich dieſen aufgeſetzten Preis nicht ſelbſt verdie-
nen ſollte.
Und die friedfertige Antwort jenes Land-
edelmanns iſt zu bekannt, als daß ich ꝛc.
Weil nicht alle meine Leſer Gelegenheit haben, die-
ſe Worte in dem vortrefflichen Theatro Europaeo
ſelbſt nachzuleſen: So will ich ſolche allhier mit ein-
ruͤcken: „Jch bin auf meiner vaͤterlichen Hufe ge-
boren,
[129]Noten ohne Text.
„boren, und erzogen. Niemals habe ich die ge-
„ringſte Neigung gehabt, mich in die Haͤndel der
„Welt zu m[i]ſchen, oder mit dem Degen in der
„Fauſt dasjenige zu thun, was die meiſten mei-
„ner unruhigen Nachbarn, fuͤrs Vaterland fechten,
„nennen. Jch habe allemal geglaubt, es ſey beſſer,
„bey geſundem Koͤrper unbekannt, als bey verſtuͤm-
„meltem Koͤrper beruͤhmt zu ſeyn. Der Lorbeer
„auf dem Haupte, und ein hoͤlzerner Arm oder Fuß
„iſt fuͤr mich niemals eine ſo reizende Vorſtellung
„geweſen, daß ich mich haͤtte bewegen laſſen, mei-
„ner Ruhe, und Bequemlichkeit zu entſagen. Das
„ganze Dorf weis, und mein Pfarrer wird es ſub
„fide paſtorali, und manu propria bezeugen koͤn-
„nen, daß ich nichts weniger, als blutduͤrſtig bin; ich
„nehme diejenige Zeit aus, da die Jagd offen iſt.„
So redet unſer Junker.
Kritiſch und gelehrt) Dieſes iſt ein Pleonas-
mus. Man denke ja nicht, als waͤren es zwoganz
unterſchiedne Sachen, kritiſch und gelehrt zu ſchrei-
ben. Keineswegs! Ein Critikus von der Art, de-
ren unſer Text erwaͤhnt, iſt ein Mann, welcher al-
lemal Recht hat, und ein Gelehrter, nach meinem
Begriffe, darf niemals andern Recht geben. Jener iſt
mit keinem Menſchen, mit ſich ſelbſt aber gar wohl
zufrieden; ein Gelehrter auch. Kurz die Critik
iſt von der Gelehrſamkeit ſo unzertrennlich, als die
gruͤndliche Wiſſenſchaft der Rechte von einem con-
ſultiſſimo Juris utriusque Doctore, oder Verſtand
und Tugend von einem Capitaliſten.
Zweyter Theil. JDie
[130]Hinkmars von Repkow
Die Groͤße deiner Gaben) Wenn ein Dich-
ter an ſeinem Helden die Groͤße ſeiner Gaben ruͤhmt,
ſo verſteht der Leſer ordentlicher Weiſe deſſen Ge-
muͤchsgaben darunter. Dasjenige nennt man
zwar auch Gaben, was er, fuͤr ſein ſaubereinge-
bundnes Carmen, von ſeinem großmuͤthigen Goͤn-
ner erhaͤlt. Allein ſo unbeſcheiden iſt nicht leicht ein
Dichter, daß er dieſer Gaben ausdruͤcklich geden-
ken ſollte. Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß
er ſich und der Wahrheit ſo große Gewalt nicht
umſonſt anthun, und Tugenden ruͤhmen wird, wel-
che vielmals derjenige, der ſie beſitzen ſoll, ſelbſt
nicht an ſich gemerkt hat. Mancher wuͤrde nicht
beſungen werden, wenn ſich der Dichter nicht auf
die Groͤße ſeiner Gaben Rechnung machte. Simo-
in des ſollte einen Wettſtreit mit Mauleſeln beſingen.
Derjenige, deſſen Mauleſel den Preis davon getragen
hatten, mochte ſein Geld ſo lieb haben, als ſeine Eh-
re, und bot um deswillen dem Dichter nur eine ge-
ringe Belohnung an. Dieſes empfand Simoni-
des uͤbel. Jch, ſagte er, beſinge keine Mauleſel!
So bald man ihm aber die Belohnung erhoͤhte: So
bald ſang er von Mauleſeln, und rufte:
Χαιρετ᾽ ἀελλοποδων ϑυγατρες ἱππων!
Mich duͤnkt, wir ſingen heut zu Tage noch ebenſo!
Hierbey muß ich einen kleinen Handgriff anra-
then, welcher im gemeinen Leben ſeinen guten prak-
tiſchen Nutzen hat. Jſt ein Dichter von der Frey-
gebigkeit ſeines Goͤnners ſchon hinlaͤnglich verſi-
chert: So wird er am beſten thun, wenn er mit einer
philoſophiſchen Großmuth alle vergaͤnglichen Reich-
thuͤmer
[131]Noten ohne Text.
thuͤmer unter ſeine Fuͤſſe tritt, die Geldbegierde, als
das unanſtaͤndigſte Laſter eines Gelehrten, verflucht,
und die poetiſche Maͤßigkeit mit den lebhafteſten
Farben abſchildert.
Wofern es aber bekannt iſt, daß unſer Goͤnner
die Muſen zwar liebt, aber nicht bezahlt, und nur
poetiſche Froͤhner haben will; So wollte ich einem
jeden, dem ſein eigner Magen lieb iſt, wohlmey-
nend gerathen haben, daß er ſich wegen ſeiner
Hauptabſicht etwas deutlicher erklaͤrte. Er lobe
den Verſtand ſeines Goͤnners, ſeine Freygebigkeit
aber noch mehr. Er erzaͤhle ihm die betruͤbte Ge-
ſchichte jenes griechiſchen Fechters, an welchem die
Goͤtter ſichtbarliche Zeichen und Wunder gethan,
und ihn um deswillen zerſchmettert haben, weil er
ſo unverſchaͤmt geweſen, und den ehrlichen Si-
monides um zwey Drittheile ſeines ſauerverdien-
ten Lohnes betruͤgen wollen. Pindar, der Schutz-
gott aller Poeten, die ums Geld loben, hat dieſe
Kunſt auch verſtanden. Die Stelle iſt bekannt,
da er dem Xenocrates unter die Augen ſagt, „daß
„die Mode, umſonſt zu ſingen, ſchon vorlaͤngſt ab-
„gekommen, und altvaͤteriſch geworden ſey. Zwar
„ehedem, ſpricht er, waren die Muſen nicht gewinn-
„ſuͤchtig, keine ließ ſich fuͤr Geld dingen, und Terpſi-
„chore verkaufte ihre Lieder noch nicht. Nunmehr
„aber iſt es gar wohl erlaubt, dem gegruͤndeten
„Ausſpruche jenes Argiers nachzuleben, welcher
„zwar ſelbſt weder Geld noch Freunde hatte, den-
„noch aber ſagte: Das Geld, nur das Geld macht
J 2einen
[132]Hinkmars von Repkow
„einen Mann! Du biſt ein kluger Mann! Xeno-
„krates, du wirſt mich verſtehen!
Das Anſehen dieſes großen Dichters ſchuͤtzt uns wi-
der alle Vorwuͤrfe. Es iſt zwar allerdings, wie
Horaz uns warnet, ſehr gefaͤhrlich, dem Pindar
nachzuahmen, aber nur in dieſem Stuͤcke nicht.
Denn, ſind wir nicht ſo feurig, wie Pindar, ſo
ſind wir doch wenigſtens eben ſo geldgierig! Man
ſage ja nicht, daß ich mich an ſo beruͤhmte Leute des
Alterthums wohl aus andern Urſachen, als wegen
ihrer Fehler, errinnern koͤnnte. Es geſchieht gar
nicht, dieſelben zu verkleinern, ſondern die großen
Beyſpiele unſrer Zeiten durch andre große Bey-
ſpiele zu rechtfertigen, und dadurch zu zeigen, wie
ſehr ſich bereits die meiſten meiner Landsleute den
Alten genaͤhert haben. Es iſt uͤberdieſes noch zu
erweiſen, ob das Verlangen nach einer verdienten
Belohnung ein Fehler iſt. Jch glaube es nicht,
und kenne, zu meiner Beruhigung, Leute genug,
welche meiner Meynuug ſind.
Ohne eigennuͤtzige Abſichten, ohne Vor-
urtheil, bloß zur Befoͤrderung des gemein-
ſchaftlichen Wohls und zur Aufnahme der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften) Eine jede Znnft der
Gelehrten, und derer, welche ſich zu den Gelehrten
rechnen, hat ihre gewiſſen Formeln, unter welchen
ſie ihre wahre Abſichten zu verbergen weis. So
viel ich Quackſalber gehoͤrt habe: So viele haben auch
verſi-
[133]Noten ohne Text.
verſichert, daß ſie nicht etwan deswegen oͤffentlich
ausſtaͤnden, um ihren Vortheil dabey zu ſuchen.
Nein, keinesweges! Nur preßhaften Perſonen bey-
zuſpringen, und ihren Nebenchriſten aus Mitleid
die Zaͤhne auszubrechen; dieſes iſt die wahre Urſa-
che, warum ſie von Stadt zu Stadt ziehen, und die
Jahrmaͤrkte beſuchen. Zu Befoͤrderung der heil-
ſamen Juſtiz, zu Vertheidigung der Unrechtleiden-
den, und vermoͤge der aufhabenden theuern Pflicht
werden die Sporteln gemacht, und wenn eine ge-
wiſſe Art der Rechtsgelehrten, ſo der unſtudierte Laͤye
Rabuliſten nennt, die Wittwen und Waiſen um ih-
re Haͤuſer bringen will, ſo geſchieht es zwar, aber
wie? Allemal mandatario nomine, nobiliſſimnm
iudicis officium deſuper implorando. Ja, ich
kenne einen hochwohlehrwuͤrdigen Mann, welcher
in ſeinem Berufe niemals unermuͤdeter iſt, als wenn
er liqvidiren ſoll. Allezeit aber geſchieht dieſes, welches
ja wohl zu merken iſt, Amts und Gewiſſens wegen.
Dieſes koͤnnte ſchon genug ſeyn, obige Worte meines
Textes zu erklaͤren, wenn ein Autor ſagt, er ſchreibe
ohne eigennuͤtzige Abſichten, ohne Vorurtheil, bloß
zur Befoͤrderung des gemeinſchaftlichen Wohls, und
zur Aufnahme der ſchoͤnen Wiſſenſchaften. Dieſe
Formel iſt allemal das Weſentliche einer Schrift,
und da ich in einem freyen Lande wohne, wo weder
die ſaͤchſiſchen Whigs, noch die ſchweizeriſchen Tor-
rys, zu fuͤrchten ſind: So getraue ich mir, ohne Scheu
zu behaupten, daß bey vielen unſrer heutigen Scri-
benten die Bewegurſachen eigennuͤtzig, und vol-
ler Leidenſchaften ſind. Freylich ſagen wir dieſes
J 3nicht
[134]Hinkmars von Repkow
nicht ausdruͤcklich. Aber das waͤre auch wider al-
les Herkommen. Wir verſichern vielmehr den Le-
ſer, daß unſre Schriften das Tageslicht nimmer-
mehr wuͤrden erblickt haben, wenn uns nicht die Er-
bauung des Nebenchriſten, die Beſſerung der Ge-
muͤther, die Befoͤrderung des Wohls unſrer Mit-
buͤrger, die ſchwere Amtspflicht, die ernſthafte Auf-
munterung unſrer Obern, das Anliegen des Buch-
haͤndlers, und noch hundert andre ruͤhmliche Urſa-
chen dazu bewogen haͤtten. An unſerm eignem
Ruhme iſt uns ſo wenig gelegen, daß wir verſichern,
wir wuͤrden ganz gleichguͤltig bey den Urtheilen des
Leſers ſeyn. Ja, wir erniedrigen uns vielmals ſo
weit, daß wir bitten, man moͤchte uns unſre Fehler
zeigen, und uns auf den rechten Weg fuͤhren. Aber,
dem mag der Himmel gnaͤdig ſeyn, der dieſes nur
einmal verſucht! Man wage es nur, und ſage uns,
daß unſer Vortrag unordentlich und trocken ſey,
daß unſre Wahrheiten ſehr alte Wahrheiten waͤren,
daß kein Menſch einen Nutzen aus unſern Schrif-
ten erlangen koͤnnte, daß wir unſrer Amtspflicht ei-
ne beſſere Gnuͤge geleiſtet haben wuͤrden, wenn wir
gar geſchwiegen haͤtten; man ziehe in Zweifel, ob
unſre Obern, und nicht vielmehr wir ſelbſt, uns auf-
gemuntert haben: Jn was fuͤr eine Wut wird man
uns Patrioten bringen! Wie grimmig werden wir
mit ihnen verfahren! Nicht das Vaterland, nicht
die Erbauung des Nebenchriſten, nicht das Wohl
unſrer Mitbuͤrger, nein; uns ſelbſt, unſre beleidigte
Ehre werden wir vertheidigen!
Und
[135]Noten ohne Text.
Und ein jeder glaubt, es werde noch in
tauſend Jahr[e]n Scholiaſten geben, welche
ſeine gelehrte Schrift mit kritiſchen Anmer-
kungen bereichern, und uͤber eine zweifel-
hafte Lesart andern Scholiaſten Verſtand
und guten Namen abſprechen.) Und ich glau-
be, daß mir ſelbſt dieſes widerfahren wird. Eine
ſo ſchmeichelhafte Eigenliebe, als diejenige iſt, wo-
von unſer Text redet, iſt niemanden zu gute zu hal-
ten, als mir, weil außer mir niemand ein ſo
wichtiges Werk geſchrieben hat, als gegenwaͤrti-
ge Noten ohne Text ſind. Jch ſtelle mir hierbey
deren ſpaͤtes Schickſal auf das lebhafteſte vor. Jch
uͤberſehe, mit einem ehrgeizigen Blicke, eine Reihe
von vielen Jahrhunderten, und empfinde eine ſtaͤr-
kende Beruhigung in mir ſelbſt, wenn ich an unſre
ſpaͤteſten Nachkommen gedenke, wie ſie mit einer
abgoͤttiſchen Ehrfurcht den Verſtand und Witz des
Hinkmars von Repkow bewundern werden. Ja,
ich gehe in dieſen prophetiſchen Betrachtungen noch
weiter. Damals hießen unſre alten Deutſchen noch
Barbaren, als man zu Rom, fuͤr die Aufnahme des
guten Geſchmacks in der Dichtkunſt und Bered-
ſamkeit, mit eben der Sorgfalt, doch vielleicht nicht
mit eben der Hitze, kaͤmpfte, mit welcher wir, die ge-
ſitteten Nachkommen dieſer barbariſchen Deutſchen
ſo viel gelehrte Kriege, in unſerm eignem Vaterlande,
auf das muthigſte unternommen, und fortgefuͤhrt
haben. Jſt wohl alſo im geringſten zu zweifeln,
daß nach Verlaufe vieler Jahrhunderte eben dieſes
die wichtigſte Beſchaͤfftigung ſolcher Voͤlker ſeyn
J 4kann,
[136]Hinkmars von Repkow
kann, die wir itzt fuͤr eben ſolche Barbaren halten,
fuͤr welche die Roͤmer unſre Vaͤter anſahen? Haͤt-
ten es dieſe Roͤmer wohl geglaubt, daß eine Zeit
kommen koͤnnte, in welcher die Nachkommen der al-
ten Myſen Zeit und Kraͤfte verſchwenden wuͤrden,
die wahre Geſtalt ihre Schuhe ausfindig zu ma-
chen. Und wer leiſtet denn uns die Gewaͤhr, daß
nicht itzt ein Volk in Wildniſſen und Waͤldern her-
um irrt, deſſen witzige Kinder nach tauſend Jahren
mit aͤngſtlicher Bemuͤhung unterſuchen werden, ob
die Huͤthe der alten Deutſchen unter der Regierung
Kaiſer Carls des Siebenten hoch aufgeſteift, oder
niedrig geweſen ſind? Jch verehre den Fleiß desje-
nigen großen Mannes, welcher ſich, unſerm Vater-
lande zum Beſten, ſo manche unruhige Stunde,
ſo viele ſchlafloſe Naͤchte, um ein V, oder, we-
gen eines zweifelhaften Manuſcripts, Chriſten zu
Heyden macht. Jſt es aber wohl unmoͤglich, daß
auf eben derjenigen Stelle, wo itzt, indem ich dieſes
ſchreibe, ein raͤuberiſcher Tartar unter ſeinem Zelte
auf Mord und Beute denkt, ſein witziger Enkel
kuͤnftig eine Catheder erbauen, ſich auf derſelben,
als Kunſtrichter, blaͤhen, und um ein deutſches Wort
uͤber ſeine kritiſchen Widerſacher ein grauſames
Blutgerichte halten wird? Jch getraue mir, es zu
verantworten, wenn ich fuͤr mein Vaterland ſo viel
Hochachtung habe, daß ich glaube, wir werden
in tauſend Jahren den Tartarn eben dasjenige ſeyn,
was die alten Roͤmer uns itzt ſind. Ja; ich bin fuͤr
Freuden außer mir, wenn ich bedenke, daß alsdann
melne Noten ohne Text vielleicht ein Auctor Claſſi-
cus
[137]Noten ohne Text.
cus fuͤr die jungen Tartarn in Oczakow ſeyn wer-
den. Und vielleicht ſteht gar einmal ein kalmuki-
ſcher Graͤv auf, welchen mein Ruhm und die Be-
gierde nach abendlaͤndiſchen Alterthuͤmern in mein
Vaterland treibt; welcher unter dem Schutte ei-
ner Stadt in Deutſchland ſo viele Weisheit hervor
zieht, als kaum in eilf Folianten Raum hat, und
welchen die glückliche Ergaͤnzung einer verloſchnen
Grabſchrift, der Himmel weis, von welcher Schnei-
dersfrau, in ſeinem Vaterlande unſterblich macht.
Wie ich zum Exempel,) Dieſe Worte wer-
den ſehr oft in meinem Texte vorkommen, weil es
der gelehrte Gebrauch erfodert, daß ein Schriftſtel-
ler von ſich ſelbſt bey allen Gelegenheiten am mei-
ſten redet. Bey den uͤbrigen Stellen werde ich die
Noten weglaſſen; Hier aber kann ich es unmoͤglich
uͤber mein Herz bringen, davon zu ſchweigen, was
die Worte, wie ich zum Exempel, eigentlich ſa-
gen wollen. Jch zeige dadurch die Groͤße meiner
Arbeit, und die Wichtigkeit derjenigen Bemuͤhun-
gen an, mit welchen ich mich in meinen Schuljahren
beſchaͤfftigt habe. Denn ein junger Dichter war,
nach dem Begriffe eines meiner ehmaligen Lehrmei-
ſter, nichts anders, als ein Ding, welches lateiniſche
Verſe ſcandiren, und eine gewiſſe Anzahl Woͤrter
von verſchiedner Laͤnge, nach dem Sylbenmaaße, in
Ordnung ſtellen konnte. Dieſes war auch die ein-
zige Urſache, warum ich die alten Poeten las, und
vielmals mit exemplariſchem Nachdrucke dazu an-
gehalten wurde. Jch ſollte lateiniſche und griechi-
ſche Verſe machen lernen, und ich lernte es auch; we-
J 5nig-
[138]Hinkmars von Repkow
nigſtens traf ich die Melodey der Alten. Jch ha-
be den Nutzen davon nach der Zeit deutlich erkannt.
Jch weis wohl, daß man viele Geſchicklichkeit ha-
ben muß, wenn man gute lateiniſche Verſe machen
will; Jch weis aber auch, daß ſolche Arbeiten von
den meiſten nicht deswegen gelobt werden, weil ſie
gut ſind, ſondern weil ſie mit roͤmiſchen Buchſtaben
gedruckt ſind. Die Erfahrung hat mich auch ge-
lehrt, daß es allemal ſicherer ſey, lateiniſch, als
deutſch, zu dichten. Der beſte deutſche Poet iſt in
den Augen der lateiniſchen Welt weiter nichts, als
ein deutſcher Michel, oder hoͤchſtens ein leidlicher
Versmacher. Ein jeder glaubt, er habe Geſchicklich-
keit genug, ein Werk ſeiner Mutterſprache aufs un-
barmherzigſte zu richten. Schreibt aber jemand
ein lateiniſches Carmen: So ſieht man es, als eine
ehrwuͤrdige Nachahmung des gelehrten Alterthums,
an, und ſagt, der Dichter habe uns ein geiſtreiches
Werk geliefert. Um deswillen verabſcheue ich das
freche Urtheil des le Clerc, welcher ſpricht; viele
der Neuern, welche lateiniſche und griechiſche Verſe
machen, waͤren den Alten ſo aͤhnlich, als die Affen
den Menſchen. Sie ahmten mehr ihre Fehler, als
ihre guten Eigenſchaften, nach.
Multa tulit, fecitque puer, ſudauit et alſit.
Dieſes ſind die eigentlichen Worte des mir ertheil-
ten Schulzeugniſſes, welche auf nichts anders ziel-
ten, als auf den ruͤhmlichen Eifer, den ich bezeigte,
ſo oft ich mit Jamben und Trochaͤen zu kaͤmpfen
hatte. So ſauer mir oftmals meine Siege gewor-
den ſind, ſo groß war auch meine Zufriedenheit,
wenn
[139]Noten ohne Text.
wenn ich eine kurze oder lange Sylbe uͤberwunden,
und meinen Zeilen diejenige Form gegeben hatte,
welche man an den Gedichten des Horaz und Vir-
gils erblickt. Was dieſe beiden Dichter nur ſchoͤ-
nes und goͤttliches geſagt hatten, das fand man auch
von Wort zu Wort in meinen Verſen, und vielmals
wuͤrde ein unparteyiſcher Leſer zweifelhaft gewor-
den ſeyn, ob er einen lateiniſchen Neujahrwunſch von
Hinkmarn von Repkow, oder ein Stuͤck aus des
Virgils Aeneis laͤſe. Mein redlicher Lehrmeiſter
war daruͤber ſo erfreut, daß er mich beſtaͤndig ſeinen
kleinen Hannibal nennte, der die Schaͤtze Latiens
pluͤnderte, und ſein Vaterland damit bereicherte.
Erb-Lehn- und Gerichts-Herr,) Dieſes
iſt eine bekannte Geſchichte, welche Muͤller in ſei-
nen Annalibus umſtaͤndlich erzaͤhlt. Er nennt ihn
Martin Qvaaſt, und berichtet, daß er ein Qvack-
ſalber in Koͤnigſee geweſen ſey, welcher durch ſeine
koͤſtlichen, bewaͤhrten, und von roͤmiſchkaͤyſerlicher
Majeſtaͤt privilegirten Pulver, beſonders aber durch
die Einfalt der eingebildeten Kranken ſich ſo viel
verdient, daß er unweit Langenſalza ein Vorwerk
an ſich gekauft, und ſich um deswillen unter allen
ſeinen Recepten Erb-Lehn- und Gerichts-Herr auf
Braunsdorf, Juxaroda, Scharfenpoͤlß, Thura,
Koͤltſchau, Knechtendorf, und Lehneroda geſchrie-
ben, ungeachtet er an allen dieſen Doͤrfern weiter
keinen Anſpruch zu machen gehabt, als daß ihm
zween oder drey Bauern daraus einige Huͤhner und
Kaͤſe zu einem jaͤhrlichen Erbzinſe entrichten muͤſſen.
Noch dieſes muß ich, als einen ſehr wichtigen Um-
ſtand,
[140]Hinkmars von Repkow.
ſtand, errinnern, daß Martin Qvaaſt bereits unter
Johann Georg dem andern geſtorben iſt. Jch be-
merke dieſes um deswillen, damit ſich mein Leſer
nicht uͤbereilen, und dieſen ritterlichen Pedanten un-
ter den Jtztlebenden ſuchen.
Des Dichters Leyer klingt) Zum ewigen
Ruhme meiner Landsleute muß ich hier errinnern,
daß wir dem Geſchmacke und den Vorſchriften der
Alten weit mehr folgen, als vielleicht die Auslaͤnder
von uns glauben. Zwar dieſes will ich eben nicht
behaupten, daß wir uns angelegen ſeyn ließen, die
natuͤrlichen Ausdruͤcke, die erhabnen Gedanken,
die lebhaften Erfindungen, die lehrreichen Spruͤche,
und andre Schoͤnheiten nachzuahmen, welche man in
alten Zeiten fuͤr weſentliche Stuͤcke eines goͤttlichen
Dichters anſahe; Allein, dieſes wird uns niemand
ſtreitig machen, daß wir noch eben ſo wohl auf dem
Rohre blaſen, noch eben ſo wohl leyern, und unſre
Saiten noch eben ſo wohl ſtimmen, als Homer, Ana-
kreon, und die Dichter Roms gethan haben. Alle
unſre Hochzeit- und Leichenverſe zeugen davon. Kein
Poet iſt zu klein, er wird ſeinen Maͤcen verſichern,
daß er, nur ihm zu Ehren, die deutſche Laute
ſtimme. Und was iſt gemeiner, als die Sprache
der Dichter, welche uͤber ihr heiſchres Rohr ſeufzen.
Ja viele haben es ſo weit gebracht, daß ſie zugleich auf
der Floͤte blaſen, zugleich die Saiten ruͤhren, zugleich
auf der Leyer ſpielen, und welches faſt unbegreiflich
iſt, zugleich ſich auf den Pegaſus ſchwingen, und den
geſchaͤrften Kiel in die Hippokrene eintauchen koͤn-
nen; und zwar dieſes alles in einer Zeit von vier
Verſen.
[141]Noten ohne Text.
Verſen. Heißt das nicht die Alten nachahmen, ja
ſo gar uͤbertreffen?
Sein Argwohn) Dieſer gieng ſo weit, daß
man niemals eines ſchlechten Poeten erwaͤhnen konn-
te, ohne ihn auf die empfindlichſten Gedanken zu brin-
gen, er ſelbſt ſey dadurch gemeynt.
Und eine ſolche Critik, ſo ſcharf ſie auch iſt,
wird dennoch mehr Nutzen, als Schaden brin-
gen.) Der Einwurf iſt ungegruͤndet, wenn man
glaubt, es werde dieſes eine große Verwirrung und
Unordnung in dem demokratiſchen Reiche des Wi-
tzes erregen, und ein ſolcher unerbittlicher Kunſtrich-
ter beſchwere nur ſein Gewiſſen, indem er ſonder
Zweifel manche junge und ſtreitbare Muſe ſchuͤch-
tern mache, wenn er ihren Werken, und beſonders
den Streitſchriften, eine ewige Dauer und das
Gluͤck, der Nachwelt bekannt zu werden, gaͤnzlich
abſpricht. Geſetzt auch, wie ich es denn gewiß
glaube, daß alle die Streitſchriften, welche in unſern
Tagen die Haͤnde der Setzer beſchaͤfftigt, und die
Geduld der Leſer ermuͤdet haben, in wenig Jahren
ihren Untergang erfahren! Benimmt man ihnen
denn dadurch ihren Werth gaͤnzlich? Ein Kalender
iſt eines der nuͤtzlichſten Buͤcher von der Welt.
Wenn das neue Jahr koͤmmt: So kaufen wir ihn
mit der groͤßten Begierde; das ganze Jahr uͤber le-
ſen wir darinnen, und wenn das Jahr vorbey iſt,
ſo iſt auch der Werth unſers Kalenders vorbey.
Wuͤrde wohl etwas laͤcherlicher ſeyn koͤnnen, als
wenn man dieſen Beweis dazu brauchen wollte,
den
[142]Hinkmars von Repkow
den Nutzen und den Werth der Kalender zu beſtrei-
ten? Jch kenne viele Buͤcher, beſonders viele prakti-
ſche und pol[i]tiſche Schriften, der philoſophiſchen,
der Kuͤrze wegen, nicht zu gedenken, welche mit Fug
nicht mehr verlangen koͤnnen, als ein Kalenderalter.
Sie werden gedruckt, gekauft, und in kurzer Zeit
findet man ſie da, wo man die alten Kalender fin-
det. Geſchieht nicht dieſes alles nach dem ordentli-
chen Laufe der Natur, und darf man wohl der Cri-
tik dasjenige zur Suͤnde rechnen, was natuͤrlicher
Weiſe nicht anders geſchehen kann? Jch habe noch
auf keiner Bibliotheck eine Sammlung von Kalen-
dern gefunden, und wer um des willen der gelehrten
Welt ihren verderbten Geſchmack vorwerfen wollte,
der wuͤrde in meinen Augen noch laͤcherlicher ſeyn,
als der beruͤhmte Scribent, welcher in der Vorſtadt
wohnt, und mir, ſo oft er mich ſieht, mit Seufzen
erzaͤhlt, daß es mit der Poeſie ganz und gar aus
ſey, weil ſich niemand ſo viel Gewalt anthun kann,
ſeine Werke mehr zu leſen.
Gemeiniglich aber glauben wir, dieſes
gehe nicht uns, ſondern unſern Nachbar,
an.) Hier wird im Texte dasjenige weiter aus-
gefuͤhrt, was vorher nur kuͤrzlich beruͤhrt worden iſt.
Allerdings iſt die Beſorgniß, daß dadurch manche
junge und ſtreitbare Muſe ſchuͤchtern gemacht wer-
de, ſo ungegruͤndet, und abgeſchmackt, als Stre-
phons Beweis von der beſten Welt. Jch weis
gewiß, viele werden die Stellen von der Vergaͤng-
lichkeit ſolcher Schriften mit der freudigſten Zuver-
ſicht leſen, daß ihre Werke von einer weit dauer-
haftern
[143]Noten ohne Text.
haftern Natur, als andre, und der gelehrten Ver-
weſung gar nicht, oder wenigſtens doch ſo geſchwind
nicht, unterworfen ſind. Und vielleicht ſind ſie es
dennoch. Herr Grobbens, jener beruͤhmte Kauf-
mann, geht niemals lieber in die Comoͤdie, als
wenn des Moliere Geiziger geſpielt wird. Er lacht
aus vollem Halſe uͤber den betrognen Harpagon,
dem man ſeinen Geldkaſten entwendet, und zu glei-
cher Zeit greift er in den Schubſack, zu fuͤhlen, ob
er auch den Schluͤſſel zu ſeiner Caſſe noch wohl ver-
wahret habe. Herr Grobbens iſt geizig, das wiſſen
wir alle; aber daß er und ſeines gleichen auf dem
Theater gemeynt ſey, das glaubt Herr Grobbens nicht.
Es faͤllt mir noch etwas ein. Sollte eine junge
und ſtreitbare Muſe, wie man ſie nennen will,
ſchuͤchtern gemacht werden; wie viel Selbſterkennt-
niß und Ueberlegung wuͤrde dazu gehoͤren? Zwo
Sachen, welche man, ohne ſeine Uebereilung und Un-
wiſſenheit in der Gelehrtenhiſtorie zu verrathen,
bey denen gewiß nicht ſuchen darf, welche uns
alle Meſſen mit ihren Witze, und beſonders mit
Streitſchriften, heimſuchen. Aber der fruchtbare
Herr Magiſter Stucker, deſſen Schriften in der
Oſtermeſſe verkauft, und noch vor der Michaels-
meſſe vergeſſen werden, dieſer unermuͤdete Mann iſt
ganz kleinmuͤthig geworden, als unlaͤngſt ſeinen Wer-
ken eine dergleichen traurige Nativitaͤt geſtellt wor-
den iſt. Jch raͤume dieſes ein. Kann das meinen
Satz uͤber den Haufen werfen? Ein einziges Exempel
macht noch lange keine Moͤglichkeit wahrſcheinlich.
Wohl hundert kleine Stuckers ſehe ich alle Tage
durch
[144]Hinkmars von Repkow.
durch meine Gaſſe laufen, durch deren ſtandhafte Un-
verſchaͤmtheit ich meinen Satz wider alle Einwuͤrfe be-
weiſen, und vertheidigen kann.
Ja, eden dadurch gewinnen ſie vielmals
mehr, als ſie verlieren.) Dieſe Materie iſt ſo
unerſchoͤpflich, daß ich nicht Umgang nehmen kann,
noch eine Note davon zu verfertigen. Was iſt es
denn nun auch fuͤr ein großes Ungluͤck fuͤr diejenigen
Schriften, welche die Zeit noch in ihrer Jugend,
und, wenn ich ſo ſagen darf, in der Wiege dahin
rafft? Bekoͤmmt die Nachwelt von ihnen nichts zu
ſehen: So haben ſie auch den wichtigen Vortheil da-
von, daß die Nachwelt von ihnen dasjenige nicht er-
faͤhrt, was wir von ihnen wiſſen, und wir wiſſen von
ihnen dasjenige, was ich hier, um ihren guten Na-
men zu ſchonen, nicht ſchreiben mag. Bleiben aber
von ihren Werken noch einige Fragmente uͤbrig, (denn
das iſt ſo gar unmoͤglich eben nicht, daß in drey Alpha-
beten wenigſtens ein vernuͤnftiger Gedanke ſeyn
kann,) gut! So wird vielleicht einmal in jenen Ta-
gen ein Scholiaſt aufſtehen, welcher uͤber den uner-
ſetzlichen Verluſt eines ſo wichtigen und gelehrten
Buchs aͤngſtlicher thut, als wir nimmermehr thun
wuͤrden, wenn man die Gewaltthaͤtigkeit ausuͤbte,
und uns zwaͤnge, eben dieſes Buch zu leſen, da es noch
nicht verloren gegangen iſt.
Denn nur ſeit vorgeſtern haben die Deut-
ſchen angefangen, maͤnnlich und ſtark zu
denken, und, durch die Proben ihres reifen
Witzes, den Witz der Franzoſen und Engel-
laͤnder zu uͤbertreffen.) Wem dergleichen
Aben-
[145]Noten ohne Text.
Abentheuer von den Deutſchen unwahrſcheinlich
vorkommen moͤchte, dem muß ich durch eine Note
aus ſeinem Zweifel helfen. Es iſt eben itzt acht
und vierzig Stunden, daß ich mit Abfaſſung gegen-
waͤrtiger Noten ohne Text beſchaͤfftigt bin. Alles,
was vorher in Deutſchland geſchrieben worden iſt,
das koͤmmt mir, wenn ich es gegen dieſe meine Ab-
handlung betrachte, ſo rauh, und barbariſch vor,
daß ich uͤber die Blindheit erſchrecken muß, in wel-
cher mein Vaterland getappt hat. Seit vorgeſtern
fange ich an, zu ſchreiben, und ich wuͤnſche meinen
Deutſchen Gluͤck dazu, daß ich mich entfchloſſen ha-
be, zu ſchreiben. Jch bin nicht der erſte, welcher
zu ſeinen Arbeiten ein dergleichen Vertrauen hat
und glaubt, daß ohne ihn der deutſche Witz und
Verſtand in einer ewigen Nacht wuͤrden verborgen
geblieben ſeyn, und welcher den Zeitpunkt des guten
Gechſmacks von demjenigen Augenblicke feſtſtellt,
da er ſich aus mitleidigem Erbarmen, bewegen laſ-
ſen, die Feder einzutaugen, und ſein unwiſſendes
Vaterland zu lehren. Kuͤnftig alſo wird ſich die
Epoche der deutſchen Gelehrſamkeit von vorgeſtern
anfangen, und wollte jemand ſo verblendet, und ge-
gen meine Verdienſte ſo undankbar, ſeyn, daß er
dieſe meine Zeitrechnung nicht gehorſam, und ohne
Murren, annaͤhme, dem ſey Trotz geboten! Denn
ſchimpfen kann ich auch!
Der von ihm gemachte Eharakter aber
ſoll ſehr ungleich, und hin und wieder ſich ſelbſt
Zweyter Theil. Kwider-
[146]Hinkmars von Repkow
widerſprechend ſeyn.) Das kann wohl ſeyn,
und dennoch halte ich es fuͤr keinen Fehler. Jch
ſehe mich genoͤthigt, etwas weitlaͤuftiger davon zu
handeln, weil ich dadurch Gelegenheit bekomme,
noch ein Blatt zu beſchreiben. Man kann meines
Erachtens einen Kunſtrichter gar fuͤglich, als einen
Mann, vorſtellen, der auf die Heftigkeit der Kunſt-
richter, und verſchiedne Schooßſuͤnden der Gelehr-
ten, mit der groͤßten Heftigkeit, voller Eigenliebe
und kritiſchen Hochmuths eifert, gleichwohl aber
bey verſchiednen Gelegenheiten, wo man es am we-
nigſten vermuthen ſollte, ſehr vernuͤnftig und gelaſ-
ſen urtheilt. Don Qvichott blieb dennoch der Held
von Mancha, wenn er gleich ſeinem Sancho Panſa
die erbaulichſten und vernuͤnftigſten Lehren gab. Er
hatte das Barbierbecken auf dem Kopfe, die verro-
ſtete Lanze in der Hand, und ſaß auf ſeiner Roſſi-
nante; gleichwohl waren ſeine Unterredungen ſo
tiefſinnig und philoſophiſch, als vielmals die Unter-
redungen eines außerordentlichen Lehrers der Welt-
weisheit nicht ſind. Nur erſt alsdann ward er ein
Narr, wenn er von Rieſen traͤumte, und Wind-
muͤhlen beſtuͤrmte. Wenn ich mich recht entſinne,
ſo habe ich geleſen, daß Cervantes, eben durch die-
ſen ungleichen und abwechſelnden Charakter, ſich und
ſeinen Don Qvichott beruͤhmt gemacht hat. Das
iſt ja nicht eben ſo gar unwahrſcheinlich, daß ein
Menſch bey gewiſſen Faͤllen vernuͤnftig ſeyn kann,
welcher uns doch auf einer andern Seite laͤcherlich
ſcheint. Jch kenne einen gewiſſen Rechtsgelehrten,
welcher
[147]Noten ohne Text
welcher das Orakel aller unruhigen Bauern, die
Zuflucht aller zaͤnkiſchen Nachbarn, und ein Vor-
mund aller Schelme und Diebe iſt. Wer ihn auf
der Richterſtube hoͤrt, oder ſeine eingebrachten Saͤ-
tze lieſt, der ſollte gewiß glauben, es wuͤrde Witt-
wen und Waiſen und dem ganzen Vaterlande ſehr
erſprießlich ſeyn, wenn er in den naͤchſten vier Wo-
chen gehangen wuͤrde. Und dennoch weis dieſer
Prieſter der Gerechtigkeit, in gewiſſen Geſellſchaften,
von der Liebe des Naͤchſten, von den Pflichten der
Menſchen, von den wichtigſten Wahrheiten jenes
Lebens, ſo geſetzt und ſo lehrreich zu reden, daß ein
gewiſſer Edelmann nur ohnlaͤngſt zweifelhaft war,
ob er, wo nicht ein Qvacker, doch wenigſtens ein
Mißionarius ſey, welcher Heiden bekehren wollte.
Wenn Doctor Purgan vor dem Krankenbette ſteht,
und mit einer raͤthſelhaften Miene an den Puls fuͤhlt:
So ſind ſeine Geſpraͤche ſo kunſtmaͤßig und grie-
chiſch, daß man darauf ſchwoͤren ſollte, er habe das
Fieber ſelbſt. Und eben dieſer Herr Doctor Pur-
gan kann bey jener Kaufmannsfrau, deren Leibarzt
er iſt, ſo deutlich und vernehmlich reden, als kein
Schaͤfer bey ſeiner Phyllis. Wuͤrde es nicht verwe-
gen ſeyn, wenn ich diejenigen nicht fuͤr Philoſo-
phen halten wollte, welche eigennuͤtzig, rachſuͤchtig,
wolluͤſtig, hochmuͤthig, mit einem Worte, welche
auf der Catheder große Weltweiſen, und, in ihrem
Hauſe, die kleinſten Geiſter ſind? Jener Heuchler,
mit gefaltnen Haͤnden, welcher uns woͤchentlich ‒ ‒ ‒.
So weit geht die Note; das uͤbrige erklaͤrt unſer
Text.
K 2Und
[148]Hinkmars von Repkow
Und deſſen ungegruͤndete Meynung.) Jch
wuͤrde hierbey Gelegenheit haben, uͤber ſeine einfaͤl-
tigen Vorurtheile ziemlich zu ſpotten, und er verdien-
te es wohl! Weil er aber meiner in ſeiner letzten
Vorrede ſehr ruͤhmlich gedacht, ja ſo gar nur un-
laͤngſt in ſeine Werke ein poetiſches Sendſchreiben
an mich eingeruͤckt hat: So verſichre ich meine Le-
ſer, daß ich noch niemanden gefunden habe, welcher
in Befoͤrderung des guten Geſchmacks, und der ſchoͤ-
nen Wiſſenſchaften in Deutſchland ſo unermuͤdet und
gluͤcklich geweſen, als eben dieſer beruͤhmte Mann.
Bey denen man um Feſſeln fleht.) Dieſe
ſchoͤne Stelle recht zu verſtehen, muß man wiſſen,
daß unſre Dichter niemals verliebter ſind, als wenn
ſie in Ketten und Banden liegen. Es gehoͤrt die-
ſes zu denen Moden in der Poeſie, von welchen ich,
in einer abſonderlichen Schrift, umſtaͤndlich han-
deln werde. Man ſollte glauben, ein Liebha-
ber, der auf allen vieren kriecht, wuͤrde wenig Ein-
druck machen; aber bey den poetiſchen Schoͤnen iſt
es ganz anders. Ein reimender Liebhaber ohne
Feſſel iſt etwas unerhoͤrtes, denn alle ihre Gebiete-
rinnen ſind Koͤniginnen, und zwar recht grauſame
Koͤniginnen, aber welches wohl zu merken iſt, auch
nur in poetiſchem Verſtande. Denn wir leſen in der
arkadiſchen Chronike, daß dergleichen gefeſſelte Lieb-
haber beherzt genug geweſen ſind, in einer Woche
wohl drey ſolche Koͤniginnen vom Throne zu ſtoßen,
und bey der vierten um Feſſeln zu flehen.
Nach-
[149]Noten ohne Text.
Nach Gruͤnden) Denn eben itzt iſt die merk-
wuͤrdige Zeit, da man nichts ohne zureichenden
Grund thut.
Das Gedicht aber auf ſeine Ehefrau)
Man findet darinnen alles dasjenige zaͤrtliche und
verbindliche, was die Sprache einer vernuͤnftigen
Liebe erfodert. Und denen, welche die groſſe Welt
kennen, hat es um deßwillen ſehr wahrſcheinlich vor-
kommen wollen, daß dieſes Gedicht unter die lehr-
reichen Fabeln, oder poetiſchen Erzaͤhlungen, gehoͤ-
re. Es ſey nirgends erhoͤrt, ſprechen ſie, daß ein
paar Eheleute einander, bey lebendigem Leibe, ſo
viele Schmeicheleyen in Verſen vorſagen koͤnnten.
Es ſey gar nicht mehr gebraͤuchlich, daß ein vereh-
lichter Dichter, bey dem Leben ſeiner Frau, ihr zu
Ehren, nur die Haͤlfte von dem Weihrauche ver-
ſchwende, welchen er ſonſt mit vollen Haͤnden auf
fremden Altaͤren geopfert. Gemeiniglich kaͤmen
ſie nicht eher ins poetiſche Feuer, bis die Wohlſe-
ligverſtorbne auf der Bahre liege, und die haͤufi-
gen Proben der Wittwerthraͤnen ließen uns noch
vielmals ungewiß, ob der Schmerzlichgebeugte un-
ter ſeinem Flore vor Freuden, oder vor Schmerzen,
geweint habe. Allein mir ſcheinen dieſe Urtheile
und angefuͤhrten Gruͤnde ſehr ſeichte. Jch koͤnnte
unterſchiedne geſammelte Proben von dergleichen
Gedichten hier einruͤcken, aus denen man gleich
in den erſten Zeilen ſieht, daß der betruͤbte Witt-
wer ſeiner nicht maͤchtig geweſen iſt. Jch will mich
K 3aber
[150]Hinkmars von Repkow
aber lieber auf das guͤltige Zeugniß des ſo glaub-
wuͤrdigen Berkenmeyers beziehen, welcher uns von
einem gewiſſen unbekannten und ſehr weit entlegnen
Volk erzaͤhlt, „daß ihre Ehen die gluͤckſeligſten
„und vergnuͤgteſten Ehen waͤren, und daß ein je-
„der glaube, die beſte Frau zu haben. Die Wei-
„ber unter dieſem fremden Volke waͤren gefaͤllig,
„treu, und verehrten die Maͤnner, als ihre Herren.
„Man faͤnde unter ihnen Weiber, welche in der
„zwar etwas rauhen Sprache ihres Landes die
„Redlichkeit ihrer Maͤnner beſaͤngen, und Maͤn-
„ner, welche die Zaͤrtlichkeit ihrer Weiber mit glei-
„chen Liedern vergaͤlten.„ Dieſes ſind des vor-
trefflichen Berkenmeyers eigne Worte, und wer
ſolches fuͤr ein Maͤhrchen aus Amerika halten woll-
te; der wuͤrde ſich an Berkenmeyern und an unſerm
Frauenzimmer ſehr verſuͤndigen. Jch weis es,
daß es eine haͤmiſche Lobſchrift auf die boͤſen Maͤn-
ner a), und eine boshafte Trauerrede eines Witt-
wer b) giebt. Das wirft aber meinen Satz
noch gar nicht um. Wir wiſſen es gar wohl, daß
die erſte ein erbittertes Frauenzimmer gemacht
hat, an welcher es gar nicht liegt, daß ſie, als
Jungfer, alt und Lebens ſatt ihren Geiſt aufgeben
muß; und von dem Verfaſſer der Trauerrede
iſt es in ganz Leipzig bekannt, daß er auf dieſen
verzweifelten Entſchluß, ſeine Rede zu machen,
nicht eher gefallen, als da man ihm, wegen ſeiner
beſon-
[151]Noten ohne Text.
beſondern Verdienſte, den ſiebenten Korb zugeſchickt
hatte. Wahrhaftig, ein edles paar von Lobred-
nern, welche mit ihren Zungenſuͤnden wohl ver-
dient haͤtten, durch Urtheil und Recht an einander
verheyrathet zu werden!
Welche Zigeuner und elende Poeten) die-
ſen verwegnen Ausdruck ſucht er alſo zu rechtfer-
tigen:
Jch ſoll mich verantworten, wie ich es habe wa-
gen koͤnnen, die elenden Poeten mit den Zigeunern
zu vergleichen. Jch will es thun, mein Herr, un-
geachtet ich geglaubt haͤtte, daß ein fluͤchtiger Ein-
fall, den man zuweilen in Geſellſchaft vertrauter
Freunde vorbringt, dergleichen Schutzſchrift nicht
noͤthig haͤtte.
Meine Meynung iſt gar nicht dieſe geweſen, als
waͤre zwiſchen Zigeunern und elenden Dichtern, eine
durchgaͤngige Aehnlichkeit. Wenn es aber auch
meine Meynung waͤre, ſo wollte, ich mir doch ge-
trauen, ſie zu vertheidigen. Ein Zigeuner wuͤrde
vielleicht eine ganz andre Lebensart erwaͤhlen, wenn
er zu etwas beſſern geſchickt waͤre; und ein reimen-
der Scribent muͤßte ſo gar den Ueberreſt desjenigen
Verſtandes verloren haben, den ihm die erbarmende
Natur, wiewohl mit kargen Haͤnden, zugeworfen hat,
wenn er ſo klaͤgliche Schriften verfertigte, wofern
er anders im Stande waͤre, etwas kluͤgers vorzu-
K 4nehmen
[152]Hinkmars von Repkow
nehmen. Die Verwunderung, die ſich ein Zigeu-
ner bey dem Poͤbel durch ſein Wahrſagen zuwege
bringt, iſt der Verwunderung ſehr gleich, die ein Rei-
mer durch ſeinen betaͤubenden Witz bey dem leſenden
Poͤbel erhaͤlt. Unter den leſenden Poͤbel aber rech-
ne ich Leute von allerley Stande; und wollte man
mich gerichtlich anhalten, dieſe Art von Poͤbel ge-
nauer zu beſtimmen; ſo koͤnnte es freylich geſchehen,
daß man Maͤnner in Magiſter- und Doctorhuͤthen,
Maͤnner mit Sternen auf der Bruſt, Maͤnner in ehr-
wuͤrdiger Kleidung darunter antraͤfe. Was die Raͤu-
bereyen der Zigeuner anbelangt, ſo haben ſich meine
Poeten gar nicht zu ſchaͤmen, wenn man auch dar-
innen viel aͤhnliches zwiſchen ihnen und den Zigeu-
nern zu finden glaubt. Sie pluͤndern eben ſowohl
als jene. Aber ſie pluͤndern ebenfalls nur aus Hun-
gersnoth; und aus Hungersnoth zu rauben, iſt,
wie bekannt, den buͤrgerlichen Rechten nach, kein
Diebſtahl. Sie rauben alſo nur Berufs wegen!
Jch weis nicht, warum ich mich ſo gern elender
Schriftſteller annehme. Vielleicht geſchieht es bloß
aus einer allgemeinen Menſchenliebe: Vielleicht aber
koͤmmt es auch von einigen Vorurtheilen her, die
ich noch von meiner erſten Jugend behalten habe,
und welche machen, daß ich dergleichen Scribenten
nicht anſehen kann, ohne mitleidig geruͤhrt zu wer-
den. „Schreib, mein Sohn! Schreib, und ſchaͤ-
„me dich nicht! Schreib unermuͤdet; denn die
„Natur hat dir geſunde Finger gegeben!„ Die-
ſes
[153]Noten ohne Text.
ſes war der letzte Segen, den mir mein Vater, troͤ-
ſte ihn Gott, er war auch ein Scribent! noch auf
ſeinem Todbette ertheilte. Er verließ mir ein ſchlech-
tes Vermoͤgen, es iſt wahr; aber dieſe Vermah-
nung hat mich ſo aufgemuntert, daß ich niemals hung-
rig zu Bette gegangen bin, ſo lange ich derſelben ge-
folgt habe. Jch ſchrieb aus allen Leibeskraͤften,
und es gedeihte mir ganz wohl. Seit der Zeit hat
ſich freylich viel geaͤndert. Jch habe dieſes Autor-
handwerk niedergelegt. Jch fand Urſachen, wel-
che mir riethen, mich von dergleichen Scribenten
abzuziehen; zugleich aber fand ich auch ganz unuͤber-
ſteigliche Hinderniſſe, ein guter Scribent zu werden;
um deswillen ſchreibe ich, wie Sie, mein Herr, wiſſen,
gar nichts mehr.
Jm Ernſte zu reden, ſo iſt es eine ſehr betruͤbte
Sache um gute Scribenten. Sie laſſen ſichs blut
ſauer werden, und doch geht es ihnen nicht von der
Hand. Haben ſie auch ja ein Werk in ihrer Art
zu Stande gebracht; welcher Buchhaͤndler wird ſo
viel wagen, es zu verlegen? Sie muͤſſen noch Geld
zugeben, wenn ſie ihren Namen gedruckt ſehen wol-
len; und ſind ſie auch gedruckt, wohl gut! Wieviel
finden ſie denn Leſer? Sehr wenig; oder ich muͤßte
unſre Zeiten gar nicht kennen. Heute Nachmittags
ging ich vors Thor. Jch ſah einen großen Zu-
lauf von Leuten, welcher mich bewog, naͤher hinzuge-
hen. Jch fand einen Mann in der groͤßten Beſchaͤff-
tigung, ſeine Paͤcktchen unter den gewoͤhnlichen Be-
K 5theu-
[154]Hinkmars von Repkow
theurungen, und mit Berufung auf die erſtaunenden
Curen, ſo er gethan, und auf ſeine vortrefflichen Pri-
vilegien, auszutheilen. Kurz, es war ein Markt-
ſchreyer. Was fuͤr ein Unterſchied, dachte ich bey
mir ſelbſt, iſt nicht zwiſchen dieſem Marktſchreyer,
und meinem Arzte in der Stadt, den jeder fuͤr einen
geſchickten, behutſamen und erfahrnen Mann haͤlt,
in deſſen Vorzimmer aber nicht der zwanzigſte Theil
der Leute iſt, wie bey dieſem Quackſalber. Aber
woher koͤmmt das? Er verſichert nichts, wovon er
nicht uͤberzeugt iſt. Er kann ſich nicht uͤberwinden,
ſeine Medicamente mit einer etwas zuverſichtlichern
Miene anzupreiſen; er iſt zu ehrlich, als daß er an-
dre Aerzte neben ſich verkleinern ſollte; mit einem
Worte, er macht nicht Wind genug, und hat kei-
nen Hanswurſt bey ſich, welcher den Poͤbel unter-
halten, und ihm ein Vertrauen zu ſeinen Arzneyen bey-
bringen kann: Mein Arzt iſt ein vernuͤnftiger Mann,
und jener Marktſchreyer ein Windmacher! Welche
Ausſchweifung; werden Sie ſagen! Von elenden
Scribenten auf die Quackſalber zu kommen! Sie
haben Recht, mein Herr, es iſt allerdings eine Aus-
ſchweifung, welche vielleicht nur alsdann zu entſchul-
digen ſeyn wuͤrde, wenn zwiſchen den niedertraͤchti-
gen und unverſchaͤmten Aufſchneidereyen, der Un-
wiſſenheit und dem gewinnſuͤchtigen Handwerke die-
ſes Marktſchreyers, und zwiſchen dem Betragen und
den Abſichten elender Scribenten die geringſte Gleich-
heit waͤre. Aber dieſes iſt freylich nicht, und um
deswillen iſt meine Ausſchweifung gar nicht zu ent-
ſchuldi-
[155]Noten ohne Text.
ſchuldigen. Es ſey darum! Jch mag es nicht aus-
ſtreichen. Jn meinen jungen Jahren, als ich noch
ein Autor war, wußte ich mich, in dergleichen Faͤl-
len, recht leicht zu troͤſten. Wollte ich gar nichts
ſchreiben, waren damals meine Gedanken, als was
ſich reimt, und was auf eine vernuͤnftige Weiſe zu-
ſammen haͤngt; ſo ſchreibe ich mich an den Bettel-
ſtab, und meinen Verleger ins Hoſpital. Unge-
faͤhr ſo dachte ich damals; und Sie wiſſen wohl
daß einem alternden Autor dergleichen Jugendfehler
noch immer anhaͤngen. Jch kann Jhnen nicht hel-
fen, mein Herr, Sie muͤſſen alles leſen, was ich ge-
ſchrieben habe; es mag zuſammen klingen, wie es
will. Sehen Sie es ebenfalls als eine kleine Ra-
che an, daß Sie mich genoͤthigt haben, meinen Ge-
danken ſchriftlich zu vertheidigen. Vielleicht ma-
chen Sie kuͤnftig nicht ſo viel Schwierigkeiten, mir
auf mein Wort zu glauben.
Und Kohlharts Beyſpiel) Wer Kohlhar-
ten auf der neuberiſchen Buͤhne ſpielen ſehen, der
wird ihm, und wenn er auch ein Franzoſe waͤre,
den billigen Ruhm zugeſtehen muͤſſen, daß ihm nur
ſehr wenig in der Kunſt, die Leidenſchaften der Men-
ſchen lebhaft und natuͤrlich vorzuſtellen, beygekom-
men ſind. Hatte er die Rolle des Brutus zu ſpielen; ſo
vergaß man Kohlharten ganz, und beweinte den Bru-
tus. Und eben dieſer, welcher uns heute Thraͤnen
abzwang, machte, daß wir den Tag darauf vor La-
chen außer uns waren, wenn er den eingebildeten
Kranken
[156]Hinkmars von Repkow
Kranken vorſtellte. So bald ſich Kohlhart ſehen
ließ; ſo bald ward das ganze Theater aufgeweckt.
Er war im Stande, durch ſeine Geſchicklichkeit die
groͤßten Fehler des Schauſpiels zu verdecken. Ja
ich glaube beynahe, daß er vermoͤgend geweſen waͤre,
durch ſeine verfuͤhreriſche Kunſt die elendeſten Schau-
ſpiele ertraͤglich zu machen. Dieſer vortreffliche
Kohlhart ward bey zunehmendem Alter durch ſeine
kraͤnklichen Umſtaͤnde ſehr gehindert. Zu manchen
Zeiten konnte er gar nicht reden; er erſchien nur ſel-
ten auf der Schaubuͤhne. Nach und nach fieng
man an, ihn zu vergeſſen, und es fehlte nicht viel,
daß er nicht noch bey ſeinem Leben unbekannt ge-
worden waͤre. Nur wenig Tage vor ſeinem Tode
habe ich ihn noch auf der Schaubuͤhne geſehen. Sei-
ne Bruſtbeſchwerung verhinderte ihn, zu reden; er hat-
te alſo nur die Rolle einer ſtummen Perſon, und
mußte in der Kleidung eines Bedienten den Stuhl
einem tragiſchen Helden zurechte ſetzen, welcher we-
gen ſeiner Ungeſchicklichkeit kaum verdiente, auf der
reibhandiſchen Buͤhne eine ſtumme Perſon vorzu-
ſtellen. Jch ſchaͤme mich nicht, zu geſtehen, daß ich
mich kaum der Thraͤnen enthalten konnte, als ich
unſern Kohlhart in dieſer geringen und unedlen Be-
ſchaͤfftigung erblickte: So bald er den Stuhl hinge-
ſetzt hatte, trat er ab. Jch ſah ihm mitleidig nach,
und in dem ganzen Trauerſpiele ſchien mir dieſer
Auftritt der traurigſte zu ſeyn. Wenig Tage dar-
auf ſtarb er. Kaum erfuhr ich ſeinen Tod, als mir
alle dieſe Umſtaͤnde aufs lebhafteſte wieder beyfielen.
Dieſer
[157]Noten ohne Text.
Dieſer Mann, dachte ich bey mir ſelbſt, welcher in
ſeinen juͤngern Jahren das Haͤndeklatſchen des Par-
terre, und die Bewunderung der Logen erregte;
dieſer koͤmmt bey zunehmendem Alter ſo weit herun-
ter, daß er, als er das letztemal in ſeinem Leben ſich
auf der Schaubuͤhne zeigt, eine ſtumme Perſon, und
eine ſo gleichguͤltige Handlung vorſtellen muß, in der
er von dem wenigſten Theile der Zuſchauer bemerkt
worden iſt. Dieſer Gedanke bekraͤftigte bey mir die
Wahrheit des bekannten Satzes; daß die ganze
Welt eine Schaubuͤhne ſey. Wie mancher Staats-
miniſter, welcher die Bewunderung und die Schmei-
cheleyen des ganzen Volks erzwingt, wird vor ſeinem
Ende ſo weit gebracht, daß man ihn, da er noch lebt,
ſchon vergißt, und oft ſieht er ſich gezwungen, als
Greis mit einer ehrerbietigen Miene unter dem ge-
ſchwaͤtzigen Poͤbel der Bedienten in der Antiachambre
desjenigen aufzuwarten, welcher im vorigen Jahre
bloß durch ſeine gnaͤdige Vermittelung aus dem
Staube erhoben worden iſt.
Jch habe nicht noͤthig, bloß am Hofe dieſe Aehn-
lichkeit zu ſuchen; ich finde ſie auch in andern Staͤn-
den. Es wird kaum vierzig Jahr ſeyn, daß Climene
die Koͤniginn aller zaͤrtlichen Herzen war. Nie-
mand hieß damals galant, der nicht um Climenen
ſeufzte, und alle junge Herrchen unſrer Stadt, flat-
terten um dieſe Schoͤne herum. Verſchiedne, wel-
che ſich fuͤr viel zu witzig hielten, als daß ſie den
Gottesdienſt beſuchen ſollten, beſuchten ihn doch;
aber
[158]Hinkmars von Repkow
aber nur um Climenens willen. Wie fluͤchtig iſt
doch der Ruhm der Menſchen! Am Sonntage ſah
ich dieſe vergoͤtterte Climene ganz gebuͤckt aus der
Kirche ſchleichen. Jhre Runzeln verriethen ihr
Schickſal. Es begegneten ihr verſchiedne junge
Stutzer, deren Vaͤter vor vierzig Jahren uͤber ihre
Unempfindlichkeit beynahe verzweifelt waren. Und
itzt konnten ſich die muthwilligen Soͤhne dieſer zaͤrt-
lichen Vaͤter kaum entſchließen, der veralteten Cli-
mene aus dem Wege zu treten. Sie wuͤrden ſie,
glaube ich, gar nicht wahrgenommen haben, wenn
nicht ein großes Gebetbuch, das ſie unter ihrem zit-
ternden Arme trug, ſie aufmerkſam, und ihren leicht-
ſinnigen Witz munter gemacht haͤtte.
Haben viele unſrer Gelehrten wohl ein beßres
Schickſal zu erwarten? Jch glaube es nicht. Der
Ruhm der Gelehrten iſt beynahe noch vergaͤnglicher,
als die Vergoͤtterung der Schoͤnen; denn die Ge-
lehrſamkeit aͤndert die Moden faſt noch oͤfter, als das
Frauenzimmer. Syſtemata der verſchiednen
Diſciplinen, die vor wenig Jahren auf hohen Schu-
len bewundert wurden, ſind itzt laͤcherlich. Qven-
ſtaͤdt muß aufs Land zu den Dorfpfarren fluͤchten,
und vielleicht weis in zehen Jahren kein Gerichts-
verwalter etwas mehr von Ludewigs Anzeigen, es
muͤßte ihn denn ſeine Vorrede verewigen. Dich-
ter, welche nicht ſicher auf der Straße gehen konn-
ten, ohne von Buchhaͤndlern und Kaufmannsdien-
nern bewundert zu werden; dieſe gedemuͤthigten
Dich-
[159]Noten ohne Text.
Dichter koͤnnen nunmehr auf oͤffentlichem Markte
ganz ungeſtoͤrt hin und wieder gehen, man ſieht ſie
nicht mehr, man hat ſie vergeſſen, und wollen ſie
nicht gar verhungern, ſo muͤſſen ſie ſich der ſparſa-
men Großmuth eines Buchdruckers uͤberlaſſen, wel-
cher ſie als Corrector in ihrer Druckerey ernaͤhrt.
So klaͤglich war doch Kohlharts Schickſal noch
nicht!
Wie wird es mir einmal gehen! Da mich der
Himmel verdammt hat, ein Autor zu ſeyn: So
wuͤnſche ich mir von ihm nur dieſes, daß er mich
nicht laͤnger leben laͤßt, als meine Schriften. Habe
ich auf der Schaubuͤhne der gelehrten Welt die
Thorheiten der Menſchen vorſtellen muͤſſen; habe
ich dieſes mit einigem Beyfalle gethan: O! ſo
wuͤnſche ich mir, daß der Vorhang bald niederge-
laſſen werde, indem ich noch ſpiele. Wie vergnuͤgt
will ich abtreten, wenn ich noch bey der letzten Rol-
le das Plaudite von dem gruͤndlichen Geſchmacke
witziger Kenner fodern darf! Aber, o Himmel, iſt
mir auch Kohlharts trauriges Schickſal beſtimmt,
ſo gieb mir nur auch einen vernuͤnftigen Freund, der
mich ſo bedauert, wie ich Kohlharten bedauert
habe!
Conata laceſſere Teucros) Die Verdienſte
welche ſich dieſes Frauenzimer in der gelehrten
Welt erworben, ſind ſo weſentlich und wichtig, daß
ich nicht begreifen kann, warum es ſich durch eine
ſolche
[160]Hinkmars von Repkow
ſolche Befehdung, und durch die Vorrechte ih-
res Geſchlechts zu vertheidigen geſucht hat. Mir
ſcheint es wenigſtens, daß ſie nicht die beſte Art ge-
waͤhlt habe, mit welcher ſie ihr Misvergnuͤgen uͤber
das unfreundliche Bezeigen eines ihrer Gegner aus-
druͤcken, und die Leſer uͤberfuͤhren will, daß man
ſich an ihr verſuͤndigt habe. „Die Hochachtung,
„ſchreibt ſie, welche man unſerm Geſchlechte ſchul-
„dig iſt, iſt zu allen Zeiten unter geſitteten Voͤlkern
„fuͤr etwas ſo unverbruͤchliches gehalten worden,
„daß ich hoffe, man werde dieſe Verletzung derſel-
„ben gegen eine Perſon, die ſolches auf keinerley
„Weiſe verdient hat, nicht mit gleichguͤltigen Augen
„anſehen.„ Wer die kleinen Balgereyen ſchon
weis, welche ſeit einiger Zeit zwiſchen den witzigen
Koͤpfen vorgefallen ſind, der wird es zufrieden ſeyn,
daß ich die eigentlichen Umſtaͤnde dieſer gelehrten
Mordgeſchichte hier nicht anfuͤhre; und wer ſie
nicht weis, der kann ſich allenfalls troͤſten, wenn
ihm eine ſolche Kleinigkeit noch ferner unbekannt
bleibt. Jch bin hierinnen ganz unparteyiſch, und
ſo wenig Vergnuͤgen ich uͤber die Auffuͤhrung ihres
Gegners empfunden, welches ſie ein ungezognes Ver-
fahren nennen will: So uͤberfluͤßig wuͤrde es auch
ſeyn, die Vertheidigung ihrer Sache zu uͤberneh-
men, da man aus ihrer Vorrede wohl ſieht, daß ſie
ſelbſt Muth genug hat, ſich mit dem Natur- und
Voͤlkerrechte zu wehren, und eine Sprache zu fuͤhren,
von welcher eine gewiſſe Art unſrer heutigen Kunſt-
richter ſelbſt geſtehen wird, daß ſie maͤnnlich genug
ſey.
[161]Noten ohne Text.
ſey. Meine Gedanken, welche ich bey Leſung die-
ſer Vorrede gehabt, ſind ungefaͤhr dieſe.
Jch ſelbſt habe fuͤr das Frauenzimmer alle billi-
ge Hochachtung; es klingt mir aber ein wenig zu
hart, wenn ein Frauenzimmer dieſe Hochachtung
ſelbſt verlangt, und ſich auf die ruhige Poſſeß bezieht,
in welcher ſie und ihre Vorfahren ſeit hundert und
mehr Jahren geweſen ſind.
Da unſre Verfaſſerinn bey dieſer ganzen Strei-
tigkeit, nicht bloß als ein Frauenzimmer, ſondern
als eine Scribentinn anzuſehen iſt, ſo hat ſie um ſo
viel weniger Urſache, ſich auf dieſe wohl hergebrach-
te Hochachtung zu ſteifen, welche ſie von uns aus
ruͤhmlichern Gruͤnden verlangen kann. Ein gelehr-
tes Frauenzimmer kann dieſe weiter nicht fodern, als
eine gelehrte Mannsperſon. Beide koͤnnen unſre
Hochachtung erlangen, wenn ihre Gelehrſamkeit
und ihr Witz ſolche verdienen. Jſt dieſes nicht;
ſo habe ich ſchon genug gethan, wenn ich ihnen nicht
unhoͤflich begegne, und ich muß das Recht haben,
auf die gelehrten Eitelkeiten und Fehler eines
ſchreibenden Frauenzimmers mit eben der Bitterkeit
loszugehen, welche man in gleichem Falle wider die
Scribenten maͤnnlichen Geſchlechts ohne Beleidi-
gung des Wohlſtands brauchen darf.
Jn meinen Augen verdient kein Stand mehr
Ehrfurcht und Hochachtung, als der Stand der
Zweyter Theil. LGeiſt-
[162]Hinkmars von Repkow
Geiſtlichen. So bald ſich aber ein Geiſtlicher auf
eine ungluͤckliche Art unter die Schriftſteller mengt,
und durch ſein Exempel den alten und wahren Satz
bekraͤftigt, daß ein ehrwuͤrdiger Mann gar wohl
ein elender Autor ſeyn koͤnne: So bald vergeſſe ich
den Prieſter, und lache uͤber den Schmierer. Wie
unzeitig wuͤrde der Eifer ſeyn, wenn mich dieſer
Mann um deswillen verketzern, und ſagen wollte;
ich haͤtte die Hochachtung beleidigt, welche man ſei-
nem Amte nach den goͤttlichen und weltlichen Rech-
ten ſchuldig ſey, und welche unter allen Voͤlkern fuͤr
etwas ſo unverbruͤchliches gehalten worden?
Jch befuͤrchte, der Witz duͤrfte dadurch ſehr viel
leiden, wenn wir die Galanterie ſo hoch treiben, und
die Fehler einer Scribentinn dulden, oder gar be-
wundern wollten, bloß darum, weil ſie von den
Haͤnden eines Frauenzimmers kaͤmen. Wir haben
bereits unter unſern Mannsperſonen eine ſo große
Menge erbaͤrmlicher Schriftſteller, daß es ſehr un-
verantwortlich ſeyn wuͤrde, auch die andre Haͤlfte
des menſchlichen Geſchlechts mit dieſer Autorſeuche
zu verwahrloſen. Jch wuͤnſchte wohl, daß alle
Frauenzimmer einen Geſchmack an den ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaften faͤnden; aber das wolle der Himmel nicht,
daß alle Frauenzimmer dasjenige praͤchtig drucken
laſſen, was ſie mittelmaͤßig gedacht haben! Jhren
Freunden moͤgen ſie es vorleſen, und ich werde es
ſelbſt mit Vergnuͤgen anhoͤren, wenn es gleich hin
und wieder fehlerhaft iſt; nur gedruckt mag ich es
nicht
[163]Noten ohne Text.
nicht ſehen. Diejenige unumſchraͤnkte Gewalt,
welche wir dem Frauenzimmer aus Hoͤflichkeit und
Hochachtung an ihrem Nachttiſche zugeſtehen; dieſe
hoͤrt gleich auf, ſo bald wir einander in dem Buch-
laden antreffen. Sie ſey witzig, ſie ſuche ihren Ge-
ſchmack auszubeſſern, ſie ſchreibe, um ihren Verſtand
zu ſchaͤrfen; aber ſie ſchreibe nur fuͤr ſich, nicht fuͤr
die Welt, ohne ihre Kraͤfte vorher wohl zu pruͤfen.
Thut ſie es aber doch, ſo behalte ich mir vor, mit
naͤchſtem ein Kochbuch zu ſchreiben, und wollte das
Frauenzimmer anfangen uͤber mein Kochbuch zu
ſpotten, da ich wirklich ein ſehr ſchlechter Koch bin,
ſo hoffe ich, die geſitteten Voͤlker werden dieſe Ver-
letzung der Herrſchaft, welche dem Mannsvolke zu
allen Zeiten eigen geweſen iſt, und die Beleidigung
einer Perſon, die ſolches auf keinerley Weiſe ver-
dient hat, nicht mit gleichguͤltigen Augen anſehen.
Ein Frauenzimmer, welches vor ihre Schriften
ihr Kupferbild ſetzt, oder in der Vorrede deswegen
um Pardon ruft, weil ſie ein Frauenzimmer iſt,
verraͤth entweder ihr boͤſes Gewiſſen und die Unge-
rechtigkeit ihrer Sache, oder glaubt, daß die Kunſt-
richter voll Leidenſchaften, und eben ſo wohl zu blen-
den ſind, als die Richter der Phryne, welche ihren
Rechtshandel verſpielt haben wuͤrde, wenn ſie nicht
den Schleyer zuruͤckgeſchlagen haͤtte.
Aus dem, was ich bisher angefuͤhrt habe, wird
man urtheilen koͤnnen, wie billig es ſey, einem Frau-
L 2enzim-
[164]Hinkmars von Repkow
enzimmer kein Qvartier zu geben, welches ſich in ge-
lehrte Streitigkeiten mengt, und fuͤr eine ungerechte,
oder doch zweifelhafte, Sache mit zu vieler Hitze und
einer maͤnnlichen Wut kaͤmpft. Jch habe noch
keinen Scholiaſten gefunden, welcher den Aruns fuͤr
ungeſittet oder fuͤr ungezogen gehalten, daß er
Camillen im Treffen verfolgt, und ihrem Wuͤrgen
Einhalt gethan. Sie wagte ſich unter das Heer
ſtreitender Maͤnner, und die Goͤtter erhoͤrten den
Aruns, welcher unbekannt zu ſterben wuͤnſchte, wenn
er nur durch den Sieg uͤber die kriegriſche Camilla
den Tod ſeiner Landsleute raͤchen koͤnnte. Jch
zweifle nicht, Aruns wuͤrde bey einer andern Gele-
genheit der Camilla mit aller der Galanterie begeg-
net haben, welche den Trojanern eigen war; aber
hier erblickte er ſeine Feindinn, und begegnete ihr, als
einem Feinde. Ein Frauenzimmer, welches ſich in
den Krieg der Kunſtrichter miſcht, wagt viel, und be-
giebt ſich ſelbſt der Rechte, die außerdem ein Frauen-
zimmer hat.
Niſi quod ſit dictum prius) Jch will die Ge-
wohnheit eben nicht tadeln, welche einige unſrer Ge-
lehrten an ſich haben, wenn ſie ihre Schriften durch
die
[165]Noten ohne Text.
die Sentenzen alter und neuer Autoren ausputzen;
aber dieſes wuͤrde ich doch gern ſehen, wenn ſie da-
mit etwas ſparſamer umgiengen, als die meiſten zu
thun pflegen. Jch finde zwiſchen dergleichen Schrif-
ten und unſern Luſtgaͤrten in dieſem Stuͤcke eine ziem-
liche Aehnlichkeit. Es iſt dem Geſichte angenehm,
wenn man in denſelben einige wohlgearbeitete Sta-
tuen erblickt; nur muͤſſen deren nicht gar zu viel
ſeyn, wenn der Garten nicht das Anſehen eines Bil-
derſaals gewinnen ſoll. Es kann auch daraus fuͤr
den Gaͤrtner noch dieſer empfindliche Schaden er-
wachſen, daß man ſich bloß mit Betrachtung der
Statuen beſchaͤfftigen, und auf den Garten entweder
ſeine Aufmerkſamkeit gar nicht richten, oder doch ziem-
lich gleichguͤltig dabey ſeyn wuͤrde. Wo ich mich nicht
ſehr irre, ſo laͤuft ein Schriftſteller bey ſeinem Wer-
ke eine gleiche Gefahr. Wenn ich auf einer jedwe-
den Seite ein, auch mehrere, Sentenzen der Alten
und Neuern finde, ſo wird mich dieſes ſo zerſtreuen,
daß ich den Spruch des Horaz bewundere, und
meinen Autor daruͤber vergeſſen werde; oder ver-
geſſe ich ihn auch nicht gaͤnzlich; ſo wird er doch mei-
ne Aufmerkſamkeit mit den Horaz theilen muͤſſen,
die er ſonſt ganz zu fodern haͤtte. Zu geſchweigen,
daß es bey vielen eine große Unbedachtſamkeit ver-
raͤth, wenn ſie den Leſer zu oft an den Witz der Al-
ten und Neuern Gelehrten erinnern. Sie verwoͤh-
nen ihn dadurch, und machen, daß er lauter gleich
witzige Sachen von ihnen verlangt. Jſt der Ver-
faſſer nicht im Stande, ſeinen Leſer mit dergleichen
L 3beſtaͤn-
[166]Hinkmars von Repkow
beſtaͤndig zu unterhalten; ſo wird er es demſelben
auch nicht verargen koͤnnen, wenn ihm ſeine Schrift
ekelhaft wird. Jch habe heute Nachmittags ein
Frauenzimmer beſucht, welche zwar nicht ſchoͤn,
aber doch noch ganz leidlich haͤßlich iſt. Sie hatte
den Fehler begangen, verſchiedne andre Frauenzim-
mer zu ſich zu bitten, welche ſo ſchoͤn waren, daß ſie
meine Aufmerkſamkeit, und die Bewunderung aller
andern Mannsperſonen, erweckten. Wir vergaßen
uns ſo weit, daß wir uns nur mit dieſen Schoͤnen
beſchaͤfftigten, und an unſre nicht ſo ſchoͤne Wirthinn
beynahe gar nicht dachten. Gegen dieſe bezeugten
wir nichts als nur die allgemeinen und noͤthigſten
Hoͤflichkeiten, deren wir ohne Beleidig[u]ng des Wohl-
ſtandes nicht uͤberhoben ſeyn konnten. Es war ein
Fehler von uns, ich will es nicht laͤugnen; aber,
es war auch ein großer Fehler von unſerer Wirthinn,
daß ſie uns in eine Geſellſchaft brachte, welche an-
genehmer, und reizender war, als ihre Perſon.
Die Anmerkung, die ich hier gemacht habe, ge-
hoͤrt nur fuͤr diejenigen Scribenten, welche gut, oder
doch noch ziemlich gut ſind. Es wuͤrde mir ſehr leid
ſeyn, wenn ſich die elenden Scribenten darnach rich-
ten wollten. Aus Liebe zu mir und zu allen Le-
ſern, will ich ihnen von ganzem Herzen anrathen, daß
ſie allemal uͤber die dritte Zeile den Homer, den Ho-
raz, den Boileau, den Hagedorn, und alle Schrift-
ſteller, die anders ſind, als ſie, anfuͤhren. Sie wer-
den ihre Werke dadurch noch ertraͤglich machen, und
die
[167]Noten ohne Text.
die Kaͤufer haben Gelegenheit, wegen ihres aufge-
wandten Geldes ſich deſtomehr zu beruhigen. Ja
was noch mehr iſt, ſie locken vielleicht dadurch, ihre
Schriften zu leſen, viele an, welche außerdem ſo viel
Selbſtverlaͤugnung wohl nicht haben werden, dieſes
zu thun. Alsdann geht es dergleichen Leſern, wie
den Liebhabern der Alterthuͤmern, welche in den be-
truͤbteſten Wuͤſteneyen, und mitten unter altem
Schutte ſich mit dem groͤßten Vergnuͤgen aufhalten
koͤnnen, weil ſie noch hin und wieder, den praͤchtigen
Reſt der alten Baukunſt zu bewundern, Gelegen-
heit finden.
Und ſeine Vorreden ſchloß er niemals,
ohne zu ſeufzen, zu ſchimpfen, und zu drohen.)
Bey dieſer Gelegenheit muß ich zum Schluſſe noch
dieſes erinnern, daß kuͤnftig bey meinem Verleger
eine Schrift in Octav, zwey Alphabete, ſechs Bo-
gen ſtark, zu bekommen ſeyn wird, welche den Titel
fuͤhrt: „Abgenoͤthigte Vertheidigung wider ver-
„ſchiedne parteyiſche und abgeſchmackte Einwuͤrfe
„und Critiken, in moͤglichſter Kuͤrze, auf Anſuchen
„vieler Freunde entworfen, und ans Licht geſtellt,
„durch Hinkmarn von Repkow.„ Es giebt Leute,
welche Schriften tadeln, die ſie nicht verſtehen, und
auch niemals geleſen haben. Das Beyſpiel dieſer
großen Maͤnner hat mich aufgemuntert, merkwuͤr-
dige Streitſchriften im Voraus zu verfertigen, und
Gegner laͤcherlich zu machen, die ich nicht kenne, und
von denen ich noch weniger weis, was ſie wider ge-
L 4gen-
[168]H. v. Repkow Noten ohne Text.
genwaͤrtige Abhandlung zu erinnern haben duͤrften.
Es thut dieſes zur Sache nichts. Wer mich tadeln
will, der iſt nicht meiner Meynung; und wer nicht
meiner Meynung iſt, den bin ich, als ein Gelehrter
wohl befugt, nach aͤußerſtem Vermoͤgen zu verun-
glimpfen. Jch werde die Namen meiner zukuͤnfti-
gen Feinde nach alphabetiſcher Ordnung im Anhan-
ge mit beydrucken laſſen, und wer unter den Herren
Gelehrten mich ſchimpfen will, der wird die Guͤtig-
keit haben, ſeine Werke noch vor kuͤnftiger Frank-
furter Meſſe gegen Erhaltung eines Exemplars der
abgenoͤthigten Vertheidigung poſtfrey einzuſenden.
Jch weis es wohl; es wird dadurch in der ge-
lehrten Welt ein heftiges Feuer entſtehen; aber ich
kann mir nicht helfen. Mein Verleger hat mich
gebeten, zu ſchreiben; ich kriege meine Muͤhe redlich
bezahlt. Schriebe ich nicht; ſo wuͤrde ich der un-
geſundeſte Menſch von der Welt ſeyn. Auf dieſe
Art aber werde ich noch mehr bekannt, ich werde
unſterblich; kurz ich muß ſchreiben, denn ich ſchreibe,
wie alle meine Collegen, aus Liebe zur
Wahrheit.
[[169]]
Verſuch
eines
deutſchen Woͤrterbuchs.
L 5
[[170]][171]
Da einige Gelehrte unter uns ſo muthig ſind,
und es wagen, ihrer deutſchen Mutterſprache
ſich nicht weiter zu ſchaͤmen: So werde ich es ver-
antworten koͤnnen, daß ich mir vorgenommen habe,
durch gegenwaͤrtigen Verſuch den Plan zu einem
vollſtaͤndigen deutſchen Woͤrterbuche zu entwerfen.
Jch habe gefunden, daß viele deutſche Woͤrter
ſo unbeſtimmt ſind, daß oftmals derjenige, der ſie
braucht, etwas ganz anders dabey denkt, als er
eigentlich denken ſollte; und derjenige, der ſie hoͤrt,
wird, wo nicht gar betrogen, doch leicht irre gemacht.
Es will daher unumgaͤnglich noͤthig ſeyn, daß
die Gelehrten ſich mit vereinten Kraͤften bemuͤhen,
die wahrhaften Bedeutungen der Woͤrter feſt zu ſtel-
len. Der Vortheil, den wir im gemeinen Leben
davon haben werden, iſt unausſprechlich. Wir
werden einander beſſer, und mit voͤlliger Zuverlaͤßig-
keit, verſtehen; alle Zweydeutigkeiten werden ſich ver-
lieren; und mancher, den man itzt aus Misbrauch
einen gepriesnen Mecaͤnat genannt hat, wird
kuͤnftig hoͤren, daß er ein Dummkopf ſey.
Jch erſuche meine Landsleute um ihren Beytrag
zu dieſem Woͤrterbuche. Fuͤr mich allein iſt dieſes
Werk viel zu groß und wichtig. Vielleicht bin ich
zu offenherzig, daß ich dieſes Bekenntniß von mir
ſelbſt
[172]Verſuch
ſelbſt thue. Bey denen, welche glauben, derjenige
ſey noch kein rechter Gelehrter, der nicht wenigſtens
ſechs Folianten ediren koͤnne; bey dieſen werde ich
mich, durch meine Beſcheidenheit, in ſchlechte Hoch-
achtung ſetzen. Aber es ſey drum! Koͤmmt nur
mein Woͤrterbuch zu Stande: So wird es ſich als-
dann ſchon zeigen, ob dieſe arbeitſamen Creaturen,
noch ferner Gelehrte genannt werden koͤnnen, ohne
der Sprache Gewalt zu thun.
Von der Einrichtung dieſes Woͤrterbuchs habe
ich nicht noͤthig, etwas weiter zu erinnern. Aus
denen Proben, welche ich davon liefere, wird man
meine Abſicht deutlicher ſehen koͤnnen. Jch verlange
darinnen etwas mehr, als eine grammatiſche Ab-
handlung. Meinethalben mag man es ein Reallexikon
nennen. Jch bin es zufrieden. Glaubt man, daß
ich bey einigen Artikeln zu weitlaͤuftig geweſen ſey,
und Sachen ausgefuͤhrt habe, welche die Abſicht
und die Graͤnzen eines Woͤrterbuchs uͤberſchreiten:
So will ich dieſen Vorwurf doch lieber leiden, als
etwas ausſtreichen. Jch will hundert Artikel im
Bayle aufweiſen, wo man deutlich ſieht, daß der Ti-
tel der Anmerkungen wegen daſteht, und dennoch
bleibt es Baylens Woͤrterbuch.
Jch habe weiter nichts zu erinnern, als daß ich
mein Vorhaben den Gelehrten nochmals aufs beſte
empfehle, damit ich dieſes wichtige Werk durch ihre
Beyhuͤlfe, ſo bald nur moͤglich, zu Stande bringen
koͤnne.
Compli-
[173]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
Compliment,
Gehoͤrt unter die nichtsbedeutenten Woͤrter.
Einem ein Compliment machen, iſt eine gleich-
guͤltige Bewegung eines Theils des Koͤrpers, oder
auch eine Kruͤmmung des Ruͤckens und Bewegung
des einen Fußes; und ordentlicher Weiſe hat weder
Verſtand noch Wille einigen Antheil daran.
Ein Gegencompliment iſt alſo eine hoͤfliche
Verſicherung des andern, daß er den Ruͤcken auch
beugen koͤnne, ohne etwas dabey zu denken. Aus
der Kruͤmme des Ruͤckens kann man urtheilen, wie
vornehm diejenigen ſind, welche einander begegnen,
und dieſes iſt auch beynahe der einzige Nutzen, wel-
chen die Complimente haben. Ein Menſch ohne
Geld, er mag ſo klug, und geſchickt ſeyn, als er will,
kann ſich nicht tief genug buͤcken, denn er iſt der ge-
ringſte unter allen ſeinen Mitbuͤrgern. Ein beguͤ-
terter Mann aber, den der Himmel bloß dazu er-
ſchaffen hat, daß er ſo lange ißt und trinkt, bis er
ſtirbt, der hat das Recht, nur mit den Lippen ein
wenig zu wackeln, wenn ihm jener begegnet. Ge-
ſtern ſah ich einen alten ehrwuͤrdigen Buͤrger, wel-
cher in ſeiner Jugend das Vaterland vertheidigt,
bey zunehmendem Alter ſich von ſeinem Handwerke
ehrlich genaͤhrt, dem Landesherrn ſeit vierzig Jahren
Steuern und Gaben richtig abgetragen, dem ge-
meinen Weſen ſechs Kinder wohl erzogen, und bey
allen
[174]Verſuch
allen ſeinen Nachbarn den Ruhm eines redlichen
Mannes hatte. Dieſer machte einem jungen und
beguͤterten Rathsherrn ein zwar altvaͤteriſches,
doch ſehr tiefes Compliment. Der junge Raths-
herr beugte ſeinen ehrenfeſten Nacken nur ein klein
wenig, und uͤberließ ſeinem Bedienten die Muͤhe,
den Huth abzunehmen. Hieraus ſieht man die
Verhaͤltniſſe der Complimente eines Armen gegen
einen Reichen ſehr deutlich. Jch aber ſah bey die-
ſer Gelegenheit noch etwas daraus, wovon ſich in
einem deutſchen Woͤrterbuche nicht ausfuͤhrlich han-
deln laͤßt. Dieſes mag genug ſeyn von den Com-
plimenten, ſo weit ſie die mechaniſche Stellung des
Koͤrpers betreffen.
Die Formulare ſind gewoͤhnlich, wenn wir ſpre-
chen: Jch bitte dem Herrn mein Compliment
zu machen; und: Machen ſie dem Herrn wie-
der mein Compliment! Was aber dieſes eigent-
lich heiße, das laͤßt ſich im Deutſchen gar nicht er-
klaͤren, weil es, ſelbſt im franzoͤſiſchen Grundtexte
nicht das geringſte bedeutet.
Ohne Complimente, mein Herr, ich bitte
gehorſamſt, ohne alle Complimente; wir ſind
ja gute Freunde! Wenn ich dieſes nach dem rech-
ten Sprachgebrauche uͤberſetzen ſollte, ſo koͤnnte es
ungefaͤhr alſo lauten: „Jch wuͤrde ſie fuͤr den groͤb-
„ſten Menſchen von der Welt halten, wenn ſie
„glaubten, daß wir wirklich ſo gute Freunde waͤren,
„daß
[175]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
„daß ſie nicht noͤthig haͤtten, mir ſo viel Compli-
„mente zu machen.
Unterthaͤniger Diener; ganzunterthaͤni-
ger Diener; unterthaͤnigſter Diener; ich ver-
harre Eure Hochedl. gehorſamſt ergebenſter ꝛc.
ich verbleibe mit aller geziemenden Devotion ꝛc.
ich werde zeitlebens nicht ermangeln, zu ſeyn
Deroſelben ꝛc. Dieſes ſind lauter Complimente,
und bedeuten unter Leuten, welche nach der wahren
Mode der heutigen Welt artig und galant ſind, nichts.
Wenn dergleichen Leute ſolche Formeln unter
ihre Briefe ſetzen, ſo denken ſie dabey eben ſo wenig,
als mein Schneider, bey den Worten: Laus Deo!
oder ein Kaufmann, welcher in der Zahlwoche ban-
kerott machen will, und zum Anfange der Meſſe
unter ſeine Wechſel ſchreibt: Leiſte gute Zahlung,
und nehme Gott zu Huͤlfe!
Eidſchwur.
Jn den alten Zeiten kam dieſes Wort nicht oft
vor, und daher geſchah es auch, daß unſre ungeſitte-
ten Vorfahren, die einfaͤltigen Deutſchen, glaubten,
ein Eidſchwur ſey etwas ſehr wichtiges. Heut zu
Tage hat man dieſes ſchon beſſer eengeſehen, und ie
haͤufiger dieſes Wort ſo wohl vor Gerichte, als im
gemeinen Leben, vorkoͤmmt, deſtoweniger will es
ſagen.
Einen
[176]Verſuch
Einen Eid ablegen, iſt bey Leuten, die etwas
weiter denken, als der gemeine Poͤbel, gemeiniglich
nichts anders, als eine gewiſſe Caͤremonie, da man
aufrechts ſteht, die Finger in die Hoͤhe reckt, den Huth
unter dem Arme haͤlt, und etwas verſpricht, oder be-
theuert, das man nicht laͤnger haͤlt, als bis man den
Huth wieder aufſetzt. Mit einem Worte; es iſt ein
Compliment, das man Gott macht. Was aber
ein Compliment ſey, davon ſiehe Compliment!
Etwas eidlich verſichern, heißt an vielen
Orten ſo viel, als eine Luͤgen recht wahrſcheinlich
machen.
Van Hoͤken, in ſeinem allezeit fertigen Juriſten,
nennt den Eid, herbam betonicam, und verſichert,
einem den Eid deferiren, ſey nichts anders, als
ſeinem klagenden Clienten die Sache muthwillig
verſpielen; und die Formel, ſich mit einem
Eide reinigen, heiße ſo viel, als den Proceß ge-
winnen, denn zu einem Reinigungseide gehoͤre
weiter nichts, als drey geſunde Finger, und ein
Mann ohne Gewiſſen. Jene haͤtten faſt alle Men-
ſchen, und dieſes die wenigſten. Und wenn auch ja
jemand von den Vorurtheilen der Jugend eingenom-
men waͤre, und ein ſo genanntes Gewiſſen haͤtte: So
wuͤrde es doch nirgends an ſolchen Advocaten fehlen,
welche ihn eines beſſern belehrten, und fuͤr ein billi-
ges Geld aus ſeinem Jrrthume helfen koͤnnten.
Gott
[177]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
Gott ſtraf mich! oder: Der Teufel zer-
reiße mich! iſt bey Matroſen, und Musketieren
eine Art eines galanten Scherzes, und in Pommern
lernte ich einen jungen Officier kennen, der ſchwur
auch ſo; doch ſchwur er niemals geringer, als we-
nigſtens bey tauſend Teufeln, weil er von altem
Adel war.
Jch will nicht zu Gott kommen! Jch bin
des Teufels mit Leib und Seele! iſt das gewoͤhn-
liche Spruͤchwort eines gewiſſen Narrens, welcher
gar zu gern ausſehen moͤchte, wie ein Freygeiſt. Er
wuͤrde es in der That ſehr uͤbel nehmen, wenn man
ihn mit andern kleinen Geiſtern vermengen, und von
ihm ſagen wollte, daß er einen Himmel oder eine
Hoͤlle glaubte; und dennoch ſchwoͤrt er alle Augen-
blicke mit der witzigſten Miene von der Welt bey
Gott und allen Teufeln. Mir koͤmmt dieſes eben
ſo kraͤftig vor, als wenn unſer Muͤnzjude Jeſus
Maria! rufen wollte.
Seinen Eid brechen, will nicht viel ſagen,
und wird dieſe Redensart nicht ſehr gebraucht. Auf
der Kanzel hoͤrt man ſie noch manchmal; aber eben
daher koͤmmt es, daß ſie ſo geſchwind vergeſſen
wird, als die Predigt ſelbſt. Jn der That bedeu-
tet es auch mehr nicht, als die Ehe brechen. Und
um deswillen iſt ein Ehebrecher, und ein Meyneidi-
ger an verſchiednen Orten, beſonders in großen
Staͤdten, ſo viel als ein Mann, der zu leben weis.
Zweyter Theil. MDieſe
[178]Verſuch
Dieſe Bedeutung faͤngt auch ſchon an, in kleinen
Orten bekannt zu werden, denn unſre Deutſche wer-
den alle Tage witziger, und in kurzem werden wir es
den Franzoſen beynahe gleich thun.
Ewig;
Jſt ein Wort, welches ein jeder nach ſeinem
Gutbefinden, und ſo braucht, wie er es fuͤr ſeine Um-
ſtaͤnde am zutraͤglichſten haͤlt. Eine ewige Treue
zuſchwoͤren, wird gemeiniglich bey Neuverlobten
vier Wochen vor der Hochzeit gehoͤrt; allein dieſe
Ewigkeit dauert gemeiniglich nicht laͤnger, als hoͤch-
ſtens vier Wochen darnach, und in letztverwichnem
Herbſte habe ich einen jungen Ehemann gekannt,
deſſen ewige Treue nicht voͤllig vier und zwanzig
Stunden gewaͤhrt hat.
Ewig lieben, iſt noch vergaͤnglicher, und eigent-
lich nur eine poetiſche Figur. Zuweilen findet
man dergleichen noch unter unverheiratheten Perſo-
nen, und es koͤmmt hierbey auf das Frauenzimmer
ſehr viel an, wie lange eine dergleichen ewige Liebe
dauren ſoll. Denn man will Exempel wiſſen, daß
eine ſolche verliebte Ewigkeit auf einmal aus ge-
weſen ſey, ſo bald ein Frauenzimmer aufgehoͤrt habe,
unempfindlich zu ſeyn, und angefangen, eine ewige
Gegenliebe zu fuͤhlen.
Wie
[179]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
Wie es mit der Liebe iſt, ſo iſt es oftmals mit
der Freundſchaft auch. Jch errinnere mich, daß ich
in einer Geſellſchaft, wo ſehr ſtark getrunken ward,
an einem Abende drey ewige Freundſchaften, uͤber-
lebt habe. Wenn es hochkoͤmmt, ſo haͤlt eine der-
gleichen ewige Freundſchaft nicht laͤnger wieder, als
der Rauſch, welcher Schuld daran iſt, denn ceſſante
cauſſa, ceſſat effectus.
Einen ewigen Frieden ſchließen, iſt ein Gal-
licismus, bedeutet in der franzoͤſiſchen Sprache ſo
viel, als bey uns ein Waffenſtilleſtand, und, mit
einem Worte, ein Friede, welcher nicht laͤnger dau-
ert, als man ſeinen Vortheil dabey ſieht.
Sich verewigen, iſt unter einigen Gelehrten
eine gewiſſe Bewegung der rechten Hand, von der
linken zur rechten Seite, welche ohne Zuthun der
Seele und des Verſtandes, etwas auf weißes Pa-
bier ſchreibt, und es dem Drucker uͤbergiebt. Die
Schluͤſſel zur Ewigkeit alſo hat der Setzer, und
ſie beſtehen aus gewiſſen bleyernen Buchſtaben, wel-
che mit ſchwarzer Farbe beſtrichen, und auf weißes
Papier gedruckt werden.
Nach der Ewigkeit ſtreben, (ſiehe Unſterb-
lichkeit) beſteht in einer gewiſſen Krankheit, welche
nicht ſo wohl dem Patienten ſelbſt, als vielmehr an-
dern beſchwerlich iſt. Gemeiniglich uͤberfaͤllt ſie
junge Leute, und verliert ſich bey zunehmendem
M 2Alter;
[180]Verſuch
Alter; doch geſchieht es zuweilen, daß auch alte
Maͤnner damit behaftet ſind, und alsdann iſt ſie
nicht allein deſto gefaͤhrlicher, ſondern auch allen
denen ganz unertraͤglich, welche einem ſolchen
Patienten nicht ausweichen koͤnnen. Starke
und ſcharfe Mittel darwider ſind nicht zu rathen,
weil alsdenn der Paroxyſmus nur ſtaͤrker und hef-
tiger wird, und hierinnen haben dergleichen Kranke
ſehr viel aͤhnliches mit wahnwitzigen Perſonen, wel-
chen man auch nicht widerſprechen darf, ohne ihr
verderbtes Gehirn noch mehr zu erhitzen. Das be-
ſte Mittel darwider ſoll dieſes ſeyn, wenn man, ſo
oft ſich eine dergleichen preßhafte Perſon in der
menſchlichen Geſellſchaft blicken laͤßt, dennoch, ohn-
geachtet des großen Geraͤuſches, das mit dergleichen
Krankheit verknuͤpft iſt, nicht thut, als ob man ſie
hoͤrte, oder ſaͤhe, oder das geringſte von ihnen wuͤßte,
auch ihren Namen bey keiner Gelegenheit nennt,
mit einem Worte weder Gutes noch Boͤſes von ih-
nen ſpricht. Das Recept mag nicht unrecht ſeyn.
Ueber die eigentlichen Urſachen dieſer Krankheit ſind
die Arzneyverſtaͤndigen unter einander noch ſehr
ſtreitig. Einige halten ſie wegen der wunderlichen
Geberden, die der Kranke macht, und weil ſie,
wie andre epidemiſche Krankheiten zu gewiſſer Zeit
und oft wiederkoͤmmt, fuͤr eine Art der fallenden
Sucht, zumal, da ſie angemerkt haben, daß ſie da-
durch gehemmt werde, wenn man dem Patienten
den rechten Daum ausbricht, wie es bey der fallen-
den Sucht gebraͤuchlich iſt. Andre glauben, ſie
komme
[181]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
komme von einer verderbten Galle her. Galen
haͤlt ſie fuͤr nichts anders, als fuͤr einen heftigen
Magenkrampf, und der ſelige Herr Geheimderath
Hofmann in Halle nennt ſie das Autorfieber; im
dritten Capitel ſeiner Abhandlung von gelehrten
Seuchen.
Ehrwuͤrdig.
Hier will ich nur von dem figuͤrlichen Verſtande
dieſes Worts reden; denn, was es in eigentlichem
Verſtande heißt, ſolches iſt bekannt genug, und
ich trage gegen alles, was in eigentlichem Verſtan-
de ehrwuͤrdig iſt, zu viel Ehrfurcht, als daß ich es
wagen ſollte, deſſen Bedeutung in meinem Woͤrter-
buche feſt zu ſtellen. Jm figuͤrlichen Verſtande al-
ſo heißt ehrwuͤrdig ſo viel, als ſchwarz, und ein
ehrwuͤrdiger Mann ſo viel, als ein Mann in ei-
nem ſchwarzen Rocke. Jch gruͤnde dieſe Erklaͤrung
auf die Erfahrung. Denn unter dieſen Maͤnnern in
ſchwarzen Roͤcken ſind viele, an denen man nicht
das geringſte Ehrwuͤrdige findet, als das ſchwarze
Kleid. Jch koͤnnte ſie mit Namen nennen; aber
es iſt uͤberfluͤßig, denn ich weis gewiß, ſie werden
ſich bey Leſung dieſes Artikels ſelber nennen, und
ihren Namen durch einen Eifer verrathen, der in
ihrer Sprache Amtseifer, und in unſrer Sprache
das boͤſe Gewiſſen heißt. Meine Leſer duͤrfen alſo
nur auf diejenigen ſchwarzen Maͤnner Achtung ge-
M 3ben,
[182]Verſuch
ben, welche den Verfaſſer dieſes Woͤrterbuchs in
die Ketzerrolle ſetzen, und ſie koͤnnen ſich alsdann
darauf verlaſſen, daß eben dieſe und keine andern die-
jenigen ehrwuͤrdigen Maͤnner im figuͤrlichen Ver-
ſtande ſind, welche ich meyne, und welche man gewiß
fuͤr Layen anſehen wuͤrde, wenn ſie nicht ſchwarz
gekleidet giengen.
Wenn ich alſo dieſe Erklaͤrung des Worts ehr-
wuͤrdig vorausſetze; So werde ich dadurch Gele-
genheit haben, meine deutſche Mutterſprache merk-
lich zu bereichern. Ein Mann in einem ſchwarzen
Rocke, welcher den Armen aus chriſtlichem Erbar-
men Geld gegen acht und hoͤchſtens zwolf pro Cent
vorſtreckt, welcher einer nothleidenden Wittwe zu
Erhaltung ihrer unerzognen Kinder mitleidig bey-
ſpringt, und auf ein Pfand, das zweymal ſo viel
werth iſt, einige Thaler leiht, unter der billigen Be-
dingung, daß binnen Jahresfriſt das Pfand ein-
geloͤſt werden, oder verfallen ſeyn ſoll; Dieſer
Mann wird kuͤnftig ein ehrwuͤrdiger Wuche-
rer heißen, denn gienge er nicht ſchwarz gekleidet,
ſo waͤr er kein ehrwuͤrdiger, ſondern ein gemeiner
Wucherer, und nach den Geſetzen unſers Landes zu
beſtrafen. Ehrwuͤrdige junge Herren wuͤrde
man wohl in Deutſchland nicht geſucht haben; aber
ich kenne einen, welchen man gewiß fuͤr einen verklei-
deten Marqvis halten ſollte, ſo natuͤrlich weis er die
Rolle eines jungen Herrn unter ſeinem ſchwarzen
Rocke zu ſpielen. Ein ganz neuer Beweis, daß
man
[183]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
man taͤndeln, eitel thun, und laͤcherlich ſeyn kann,
ohne einen Stock, eine Schnupftabacksdoſe, und
Manſchetten zu haben!
Ein ehrwuͤrdiger Rauſch, iſt ein ganz neues
Wort, aber eine ſehr alte Sache, und ich will wohl
wetten, daß man vielmals nicht unterſcheiden ſollte,
welcher von beiden Berauſchten, der Schultheiß im
Dorfe, oder der Paſtor loci waͤre, wenn Jhro
Wohlehrwuͤrden nicht ſchwarz giengen.
Sich ein ehrwuͤrdiges Anſehen geben, heißt
bey dieſer Art Leuten ſo viel, als eine große Unterkehle
und einen ſteifen Nacken machen, und; ein ehrwuͤr-
diges Amt bekleiden, ſo viel, als den Beruf ha-
ben, Fehler oͤffentlich zu verdammen, welche man zu
Hauſe ſelbſt thut, und welche von andern nicht getadelt
werden duͤrfen, wenn ſie nicht Gefahr laufen wollen,
daß ihnen der Weg zum Gluͤcke und zum Himmel
verrannt wird.
Dieſes mag von den ehrwuͤrdigen Maͤnnern im
figuͤrlichen Verſtande, oder von ſolchen Maͤnnern,
genug ſeyn, welche man ihrer ungezognen Auffuͤh-
rung wegen im gemeinen Weſen nicht dulden wuͤr-
de, wenn ſie nicht ſchwarze Roͤcke truͤgen. Wie
wenig alſo dieſe Anmerkungen diejenigen treffen,
welche wegen ihrer tugendhaften und erbaulichen
Auffuͤhrung die groͤßte Ehrfurcht und den Namen
eines ehrwuͤrdigen Mannes im eigentlichen Ver-
M 4ſtan-
[184]Verſuch
ſtande verdienen: Solches werden alle vernuͤnftige,
aber nur die nicht einſehen, welche auf einmal laͤ-
cherlich und veraͤchtlich werden wuͤrden, wenn man
ihnen ihre ſchwarze Kleidung, und das Amt naͤhme,
in welches ſie ſich geſchlichen haben. Noch eine Re-
densart faͤllt mir ein. Ein ehrwuͤrdiges Amt
ſuchen, heißt in einigen Parochien ſo viel, als des
gnaͤdigen Herrn Kammermaͤdchen heirathen.
Gelehrt.
Das Wort gelehrt hat mit dem Worte tu-
gendhaft beynahe ein gleiches Schickſal. Alle Leute
wollen tugendhaft, alle, die ſtudirt haben, wollen
gelehrt ſeyn; aber, im Vertrauen zu ſagen, ſind es
die wenigſten. Freylich liegt dieſer Fehler nicht
an denen, welche ſich des Titels eines Gelehrten
anmaaßen, ſondern nur an etlichen eigenſinnigen
Koͤpfen, welche uns bereden wollen; es ſey noch ein
ſehr großer Unterſcheid zwiſchen einem Gelehrten,
und zwiſchen einem Manne, der keine Profeßion oder
kein Handwerk treibt, der in ſeiner Jugend die niedern
Schulen frequentirt, auf hoͤhern Schulen abſolvirt,
und endlich promovirt hat. Dieſe naͤrriſchen Rich-
ter vergehen ſich ſo weit, daß ſie nicht einmal alle
diejenigen fuͤr Gelehrte wollen gelten laſſen, welche
Buͤcher geſchrieben haben. Was bleibt aber als-
dann uͤbrig? Sollten etwan nur diejenigen den Na-
men eines Gelehrten verdienen, welche ſich den Wiſ-
ſenſchaf-
[185]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
ſenſchaften mit ganzem Ernſte widmen; die guten
Schriften der Alten und Neuern mit Aufmerkſamkeit
leſen; die hoͤhern Wahrheiten durch eignes Nachden-
ken unterſuchen; ſich bemuͤhen, ihnen noch weiter
nachzuforſchen; auf das bloße Wort ihres Lehrers
nichts treuherzig glauben; von der Gruͤndlichkeit ei-
nes jeden Satzes ſich ſelbſt uͤberfuͤhren wollen; Sa-
chen, die in der Welt zu nichts nuͤtze ſind, als hoͤch-
ſtens eine kritiſche Neugierigkeit zu befriedigen, fuͤr
Kleinigkeiten halten, und ſich auf ſolche Wiſſenſchaf-
ten legen, welche der menſchlichen Geſellſchaft wahren
Nutzen bringen; und welche dieſe Wiſſenſchaften auch
wirklich zum Nutzen andrer anzuwenden ſuchen.
Nur dieſe ſollen den Namen eines Gelehrten verdie-
nen? Das iſt beynahe zu viel! Wenn das gelten ſoll:
So ſtehe ich nicht dafuͤr, daß ein Gelehrtenlexikon,
welches itzt in zween Foliobaͤnden kaum Platz hat,
ſich nicht binnen kurzer Zeit in einen maͤßigen Octav-
band verwandeln wird. Es fehlt wahrlich weiter
nichts, als daß man noch von einem Gelehrten fo-
dert, daß er beſcheiden, ohne Eigenliebe, und eben ſo
tugendhaft, als philoſophiſch, ſey. Verlangt man
noch dieſes: Was fuͤr ein kleines Haͤuflein wird
aus unſrer großen gelehrten Welt werden? Jch
wuͤnſche mir nicht, dieſes Ungluͤck zu erleben! Viel
tauſend Menſchen wuͤrde man, auf ſolche Art, um ihre
gelehrten Titel und Aemter bringen. Und da ſie,
außer ihrer gelehrten Miene, ſonſt nichts verſtehen,
wodurch ſie ſich naͤhren koͤnnten, wie viel Bettler,
wie viel muͤßiges Volk wuͤrden wir ins Land kriegen!
M 5Selbſt
[186]Verſuch
Selbſt in meiner Familie wuͤrden wenigſtens ſechs
bis acht Maͤnner mit Weib und Kind verhungern
muͤſſen! Jch wuͤnſche es nicht, ich ſage es noch ein-
mal. Weil man eben doch nicht alle Faͤlle wiſſen
kann: So will ich gegen dieſe meine werthen An-
gehoͤrigen immer im voraus liebreich ſeyn, damit
ich ſie nicht hernach ernaͤhren darf. Jch will mei-
nen Leſern ſagen, worinnen die Gelehrſamkeit von ei-
nigen unter ihnen beſteht, wenn ſich etwan jemand
finden wollte, der ſie zu gebrauchen wuͤßte.
Den erſten Platz verdient mein Oheim, der ge-
lehrte Herr Profeſſor Titus Manlius Vermicu-
laris. Es geht nunmehr in das drey und funfzigſte
Jahr, daß er mit unermuͤdetem Eifer, Tag und Nacht,
mit Zuſetzung ſeiner eignen Geſundheit, bloß aus
Liebe zum gemeinen Beſten, und der Nachwelt zur
Warnung, Donatſchnitzer geſammelt hat; und zwar,
welches wohl zu merken iſt, aus den beſten lateiniſchen
Schriften der gelehrten Maͤnner unſrer Zeit. Der
ehrliche Mann ſollte mich ſehr dauern, wenn man ſei-
ne erbaulichen Bemuͤhungen fuͤr eine ungelehrte Ar-
beit anſehen wollte. Jch kann es theuer verſichern, er
thut dem gemeinen Weſen mit ſeiner Gelehrſamkeit
nicht den geringſten Schaden, und ich habe unter allen
ſeinen Schriften nicht eine einzige geſehen, worinnen
etwas wider Gott und den Staat geſtanden haͤtte.
Wie wuͤrde ſich mein beleſner Herr Oheim wun-
dern, wenn uͤber die Gruͤndlichkeit ſeiner Wiſſen-
ſchaften ein ſo grauſames Urtheil ergehen ſollte! Er
laͤßt
[187]eines deutſchen Woͤrterbuchs
laͤßt ſich darauf todt ſchlagen, daß er ein Gelehrter
iſt! So oft er jemanden auf ſeine grrammatiſchen
Wahrheiten tracirt; So oft heißt es immer uͤber
das andre Wort: Prout nos docti loquimur!
Denn das iſt wohl zu merken, was er redet, das
klingt, wie lateiniſch, und mit niemanden ſpricht er
deutſch, als mit ſeiner Magd, und mit dem Haus-
knechte, denn dieſe gehoͤren zum Poͤbel. Der gute
Vetter! Wenn er noch lange lebt: So bin ich nicht
fuͤr ſeinen gelehrten Ruhm Buͤrge. Jch denke aber,
er ſoll bald ſterben. Denn das Ungluͤck hat ihm
ein lateiniſches Programma zugefuͤhrt, in welchem
er ſo viel himmelſchreyende Schnitzer wider die Rei-
nigkeit der alten roͤmiſchen Sprache entdeckte, daß
ihm gleich bey Leſung der erſten Seite alle Sinne
vergiengen. Er ermannte ſich doch, und las weiter;
aber den Augenblick kriegte er den Krampf in Haͤn-
den und Fuͤßen, er keichte, und im Geſichte ward er
ganz ſchwarz. Es iſt noch wenig Hoffnung zu ſeiner
Beſſerung da; und wenn das Ding ſo fort geht: So
wird er noch an dieſem ketzeriſchen Programma
elendiglich erſticken muͤſſen. Der gelehrte Mann!
Der Hochedle, Veſte, Rechtshochgelahrte Herr
D. Valentin Vanno, iſt mein Vetter, und auch ein
Gelehrter, denn er iſt Doctor! Das will ich ihm
zwar gar nicht nachgeſagt haben, daß er das geringſte
von der Rechtsgelehrſamkeit verſtehe, aber er iſt
doch Doctor. Sein ſeliger Herr Großvater, ein
Mann, der am Verſtande nicht geſtorben iſt, war
der
[188]Verſuch
der gelehrte Doctor Pankratius Vanno. Seinen
Herr Vater habe ich noch wohl gekannt! Das war
ein ganzer Mann! Er hatte eine ſo gelehrte Unter-
kehle, als zehen andre ſeines gleichen nicht hatten,
und darum mußte er ein Doctor werden. Jhro
Hochedlen, unſer Herr Vanno hieß ſchon der kleine
Doctor, als er noch in der Kappe herumlief; und es
iſt gut, daß er es nach der Zeit in rechtem Ernſte ge-
worden iſt; er wuͤrde ſonſt gewiß noch bis auf die heu-
tige Stunde nichts ſeyn. Er hat einen einzigen Sohn,
einen allerliebſten Knaben! Das iſt der leibhafte Pa-
pa! Er iſt kaum funfzehen Jahr alt, und kann ſchon
lateiniſch leſen. Dieſer muß auch Doctor werden,
und im kurzen wird er es ſeyn! Die wackern Maͤn-
ner! Es ſteckt dieſer gelehrten Familie recht im Ge-
bluͤte, daß ſie alle Doctor ſeyn muͤſſen. Und dennoch
iſt es mir ſehr leid um ſie, ob ſie es in zehen Jahren
noch werden wagen duͤrfen, ſich Gelehrte zu nennen.
Spricht man ihnen alsdann mit der Gelehrſamkeit
auch den Doctortitel ab: So werden ſie die betruͤb-
teſte Figur von der Welt vorſtellen! Wie ſehr wuͤrde
ich meinen Leſern verbunden ſeyn, wenn ſie ſich als-
dann dieſer verungluͤckten Familie annehmen wollten!
Meiner Schweſter Sohn, George Knut, iſt
ein ſo grundgelehrter Mann, daß er die alten roͤ-
miſchen Muͤnzen weit beſſer kennt, als die Batzen.
Wenn ihm ein alter verſchimmelter Nummus in die
Haͤnde faͤllt: So ſieht er ſo luſtig und freundlich aus,
als Harpax kaum ausſehen kann, wenn er feinſilbri-
ge-
[189]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
ge Zweydrittheile einwechſelt. Nur ohnlaͤngſt iſt er
in eine ſehr heftige Verbitterung mit einem andern
auch ſo gelehrten Manne gerathen. Sie ſchimpf-
ten einander in Schriften dergeſtalt, daß die Leſer
ganz zweifelhaft wurden, welcher unter beiden ei-
gentlich der groͤßte Narr waͤre. Die ganze Mord-
geſchichte veranlaßte eine Gemma. Mein Vetter
ſagte, ſie ſtellte die Venerem victricem vor; ſein
Widerſacher aber behauptete, ſie bedeute die Vene-
rem armatam der Lacedaͤmonier. Auf beiden Sei-
ten ward die Heftigkeit zum hoͤchſten getrieben. Und
wie ungluͤcklich haͤtte nicht auch die gelehrte Welt
werden koͤnnen, wenn dieſe wichtige Wahrheit un-
ausgemacht geblieben waͤre! Venus war es gewiß;
darinnen waren dieſe großen Maͤnner einig. Ob ſie
aber victrix oder armata ſeyn ſollte, das war
noch ungewiß. Sie giengen in ihrem Eifer ſo weit,
daß eine ordentliche Zerruͤttung unter ihrer Familie
entſtund. Selbſt die Weiber dieſer beyden Gelehr-
ten gruͤßten einander nicht mehr. Sie wußten zwar
gar nicht, worauf der Streit ankam, aber dennoch
ſchimpften ſie einander ſo muthig, als ihre Maͤnner
kaum thun konnten. Endlich ward das Ding gar zu
arg. Die andern Gelehrten ſchlugen ſich ins Mittel.
Man unterſuchte die Sache. Es blieb Venus vi-
ctrix! Wie froh war mein Vetter! Er ließ die gan-
zen Streitſchriften zuſammen drucken, und war ſo li-
ſtig, daß er auf das Titelblatt die Worte ſetzen ließ:
Ueber-
[190]Verſuch
Ueber dieſen Sieg ward er und ſeine ganze Familie
ſo muthig, daß ſo gar ſeine Koͤchinn allen Leuten
erzaͤhlt, was ihr Herr Knut fuͤr ein gelehrter Mann
iſt! Aber mir iſt doch nicht wohl dabey zu Muthe.
Jch fuͤrchte immer, er werde einer von den erſten
ſeyn, welchen man die Gelehrſamkeit abſpricht, und
ich kann es meinen Leſern beynahe nicht zumuthen,
daß ſie ihn kuͤnftig ernaͤhren ſollen; denn er iſt uͤber
ſeine Antiquitaͤten ganz verwirrt geworden, und ſieht
ſo zerſtreut im Geſichte aus, daß es recht gefaͤhrlich
iſt, in der Naͤhe mit ihm zu reden.
Johann Ulrich Matz, iſt mein ſehr naher
Vetter, aber er ſchaͤmt ſich meiner, und einer ganzen
Freundſchaft, denn er behauptet, Trotz allen Genea-
logiſten, daß ſein Vater ein Hurkind von dem Cardi-
nal Mazarin geweſen ſey. Wer ſo liebreich ſeyn,
und ihn uͤberfuͤhren will, daß er ehrlicher Geburt,
und ſein Großvater ein guter ehrbarer Schneider
geweſen, der wird ſein Todfeind. Der Kuͤſter kam
ſehr ſchlimm an, als er ihn dieſes aus dem Kirchen-
buche beweiſen wollte. Das hat ein Schelm ge-
ſchrieben! rufte er, und hohlte den Mabillon her,
damit er ſehen ſollte, daß ſein Kirchenbuch nicht die
geringſte Beſchaffenheit haͤtte, welche zu einem oͤf-
fentlichen Documente oder Diploma erfodert wuͤr-
de. Gegenwaͤrtig iſt er mit den politiſchen Affai-
ren außerordentlich beſchaͤfftiget. Er iſt ſehr fran-
zoͤſiſch geſinnt; aber in Jtalien wird ihm doch das
Haus Bourbon beynahe zu maͤchtig, denn jenſeits
der
[191]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
der Alpen haͤlt er das Gleichgewicht. Er lacht
recht in die Fauſt, wenn er in Geſellſchaften von
dem Praͤtendenten ſprechen hoͤrt; denn das laͤßt er
ſich nicht ausreden, daß der Praͤtendent durch ſeine
ſchlauen Anſchlaͤge bis nach Edenburg gekommen
iſt. Weiter aber darf er durchaus nicht, oder er
macht Friede in Schleſien, denn er hat die Abſicht
gar nicht, den Koͤnig von Engelland ganz zu ruiniren.
Mit Rußland iſt er gar nicht zufrieden, und ich ha-
be ihn ſeit etlichen Tagen ſo tiefſinnig herum gehen
ſehen, daß ich ſehr befuͤrchte, es duͤrfte mit naͤchſtem
eine große Meuterey wider die Czaarinn auf ſeiner
Studierſtube ausbrechen. Denn das kann ich der
Welt zum Troſte ſagen, daß ſich ſeine politiſche Ge-
lehrſamkeit nicht weiter erſtreckt, als die vier Waͤnde
ſeiner Studierſtube gehen. Bey alle dem aber
ſchreibt er doch ſehr viel Staatsſachen, und ſo gar
politiſche Monatſchriften, doch werden ſie, dem Him-
mel ſey Dank! nicht gedruckt. Er behaͤlt ſie alle
im Concepte, und ſagt: Dieſes ſey ein heimlicher
Schatz, welchen er ſeinen Kindern ſammle. Jtzt
arbeitet er an einer Deduction, worinnen er die ge-
rechten Anſpruͤche des Koͤnigs in Frankreich an das
orientaliſche Kayſerthum ausfuͤhrt. Er hat es dem
Cardinal Tencin dedicirt, aber auch nur im Manu-
ſcripte, und nennt es in der Ueberſchrift, wie leicht
zu glauben iſt, eine gruͤndlichgelehrte Deduction.
Sollte dieſer gruͤndlichgelehrte Mann nicht noch in
dieſem Jahre, wie ich doch faſt hoffe, ins Tollhaus
geſperrt werden: So werde ich ihn doch, wenn er
kuͤnf-
[192]Verſuch
kuͤnftig in Verfall ſeiner Gelehrſamkeit gerathen
ſollte, nach Frankreich zu bringen ſuchen, daß er
alsdann in ſeinem vermeynten Vaterlande durch ein
neues Project zur Univerſalmonarchie ſeinen Biſſen
Brod ehrlich verdienen kann.
Jch weis nicht, ob ich, unter die Anzahl meiner
gelehrten Freunde den Herrn M. Hieronymus
Stephan rechnen darf. Er hat wirklich ſtudiert,
und ich habe ihn mit meinen Augen zu Leipzig in
dem Degen gehen geſehen; ſein Vater hat mir auch
die Rechnung gewieſen, nach der er ihm in drey Jahren
mehr, als zwey tauſend Thaler, auf der Univerſiraͤt zu
unterhalten gekoſtet hat. Ja, was noch mehr iſt, er
ſteht mit ſeinem ganzen Tauf- und Zunamen in dem
itztlebenden gelehrten ‒ ‒ ‒. Man wird doch nicht
etwan mehr verlangen wollen, den Titel eines Ge-
lehrten zu behaupten? Gelernt hat er nichts, nicht
das geringſte! Das kann ich die ganze Welt, als
ein ehrlicher Mann, verſichern. Jn Leipzig heira-
thete er eine Jungemagd, denn ſie wollte gern ei-
nen Herrn Magiſter haben, und er eine Frau. Noch
zur Zeit naͤhren ſie ſich ganz gut mit einander, und
ſo lange ſie noch jung iſt, und gut ausſieht, ſo lange
hat es keine Noth; es mag mit dem Gelehrten im
uͤbrigen gehen, wie es will. Sollte ſie aber
alt, oder haͤßlich werden: So laͤge freylich die
ganze Nahrung auf einmal, und ich wollte ſehr bit-
ten, daß ſich meine Leſer des guten Mannes annaͤh-
men. Er iſt in der That noch zu gebrauchen. Zu
einem
[193]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
einem Jnformator ſollte er ſich meines Erachtens
vortrefflich ſchicken. Er verſteht nichts; es iſt
wahr! Aber er wird auch die Kinder um ein Spott-
geld informiren. Und da heut zu Tage die Liebe
der Aeltern gegen ihre Kinder ſo hoch geſtiegen iſt,
daß man nicht eben darauf ſieht, wie geſchickt der
Jnformator, ſondern nur wie wohlfeil er iſt: So
zweifle ich nicht einen Augenblick mehr an ſeinem
guten Fortkommen. Geduld hat er auch, wie ein
Hahnrey; und das hat er ſeinem lieben Weibe zu
danken; eine nothwendige Tugend, die ein Menſch
haben muß, welcher in vornehmen Familien Kinder
unterweiſen will. Er iſt ſo geduldig, man kann mir
ſicher glauben; ſo geduldig iſt er, daß er ſo gar mit
der Frau im Hauſe gut wird auskommen koͤnnen,
und wer weis denn, wie hoch der ehrliche Mann
vielleicht noch ſein Gluͤck treibt, wenn er ſich gewoͤh-
nen kann, der Amme und der Koͤchinn mit gebuͤhren-
der Ehrfurcht zu begegnen. Kurz, ich mag das
Ding betrachten, wie ich will, an dieſem Vetter erle-
be ich gewiß noch die meiſte Freude, und ich habe
mir ſchon ein gewiſſes Haus in unſrer Stadt ausge-
ſehen, wohin ſich zu einen Jnformator kein Menſch
beſſer ſchickt, als mein guter Vetter Stephan.
Dieſes ſind die Abbildungen einiger meiner Ver-
wandten, und ich wollte wohl wuͤnſchen, daß ſich
Liebhaber zu ihren Kuͤnſten faͤnden. Nun kann
man einen ungefaͤhren Ueberſchlag machen, wie viel
Zweyter Theil. Nunnuͤ-
[194]Verſuch
unnuͤtze Gelehrte in Deutſchland ſeyn muͤſſen, da al-
lein in meiner Familie, welche doch die ſtaͤrkſte nicht
iſt, ſo viele ſind, denen der Titel eines wahrhaften
Gelehrten ſtreitig gemacht werden kann.
Da ich bisher unterſucht habe, was eigentlich ein
Gelehrter ſey: So muß ich noch ein paar Bedeutun-
gen des Worts gelehrt anfuͤhren. Nichts iſt ge-
woͤhnlicher, als daß man von Buͤchern das Urtheil
faͤllen hoͤrt: Es iſt ein gelehrtes Werk! Aber
die Begriffe, die ein jeder dabey hat, ſind ſehr unter-
ſchieden. Was der Philoſoph gelehrt nennt, das
koͤmmt dem Rechtsgelehrten pedantiſch vor, und ich
habe einen finſtern Mathematiker geſehen, welcher
in ſeinem Leben zum erſtenmale lachte, als er hoͤrte,
daß man eine witzige Monatſchrift unter die ge-
lehrten Buͤcher rechnen wollte. Mit einem Worte;
es geht mit der Gelehrſamkeit, wie mit der Reli-
gion. Ein jeder haͤlt nur die ſeinige fuͤr die wahre,
alle andre Religionsverwandte aber fuͤr Ketzer.
Gelehrter Hochmuth; dieſes Wort iſt von
einer ſo weitlaͤuftigen Bedeutung, daß es eine ab-
ſonderliche Abhandlung erfodert, welche wenigſtens
ſo viel Baͤnde einnehmen duͤrfte, als die europaͤiſche
Fama.
Gelehrter Wind, hievon ſiehe mit mehrern
die meiſten Vorreden.
Gelehr-
[195]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
Gelehrtes Frauenzimmer, iſt ein Pro-
blema.
Menſchenfeind.
Unter dieſem Namen verſtehen einige Sittenleh-
rer gemeiniglich diejenigen verdrießlichen und muͤr-
riſchen Leute, welche mit ihrem Schoͤpfer hadern,
daß er ſie zu Menſchen gemacht hat, und welche
niemals misvergnuͤgter ſind, als wenn ſie ſich in
Geſellſchaft andrer Menſchen befinden. Jch will
nicht unterſuchen, wie weit dieſe Sittenlehrer recht
haben. Jch glaube aber, daß noch eine andre
Bedeutung des Worts Menſchenfeind ſtatt ha-
ben kann.
Jch ſetze, und zwar, vermoͤge der Erfahrung, zum
voraus, daß gemeiniglich der Menſch nichts anders
iſt, als ein Thier, welches nur ſich fuͤr vollkommen,
alle andre menſchliche Thiere aber, die um daſſelbe
herum ſind, fuͤr fehlerhaft und laͤcherlich haͤlt; wel-
ches diejenigen Pflichten gegen andre niemals aus-
uͤbt, die es doch von andern verlangt; welches
glaubt, daß alles, was erſchaffen iſt, nur ſeinetwe-
gen erſchaffen iſt; welches ſich Muͤhe giebt, dasjeni-
ge zu ſcheinen, was es doch nicht iſt; welches ſehr
muͤhſelig lebt, um elend zu ſterben; welches thoͤricht
iſt, weil es das Vermoͤgen hat, vernuͤnftig zu ſeyn;
N 2und
[196]Verſuch
und welches nicht leiden kann, daß man ihm alle
dieſe Wahrheiten vorſagt. Wer ſo verwegen iſt,
dieſes zu thun, der iſt ſein Feind.
Menſchenfeinde alſo ſind Leute, welche die
Wahrheit ſagen. Ein haͤßliches Laſter, wodurch
man die gluͤckſelige Einbildung andrer Leute ſtoͤrt,
und zugleich ſein eignes Gluͤck hindert!
Ein Menſchenfeind wuͤrde ich ſeyn, wenn ich
ſagen wollte, daß Neran, unter dem Vorwande ſei-
ner obrigkeitlichen Pflicht, Ungerechtigkeiten ausuͤb-
te, die Buͤrger um ihre Nahrung braͤchte, mit dem
Schweiße gedruckter Unterthanen wucherte, die
Seufzer der Wittwen wider ſich reizte, und das
Vermoͤgen verlaßner Muͤndel an ſich riſſe; daß dieſe
noch in funfzig Jahren mit Thraͤnen ihren Kindern die
Raͤubereyen des Nerans wieder erzaͤhlen, und noch
im Alter ſein Andenken verfluchen wuͤrden. Alles
dieſes thut Neran; es iſt wahr. Jch aber huͤte
mich wohl, dem Neran dieſes vorzuhalten, denn ich
mag kein Menſchenfeind ſeyn. Einen Vater des
Vaterlandes, einen Prieſter der Gerechtigkeit, den
großen Neran nenne ich ihn, ſo oft ich zu ihm komme;
dieſes aber geſchieht alle Mittage um zwoͤlf Uhr, und
ich befinde mich wohl dabey. Wie Neran iſt: So
ſind noch unzaͤhlig viele andre, und ich wuͤrde von den
groͤßten Pallaͤſten anfangen, und bis in die Huͤtten
des geringſten Landmanns gehen koͤnnen, wenn ich
noͤthig
[197]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
noͤthig haͤtte, durch mehrere Exempel zu beweiſen,
daß man ein Menſchenfeind werde, ſo bald man
die Wahrheit ſagt.
Und wie froh waͤre ich, wenn meine Lehren eini-
gen Eindruck bey den boshaften, gefaͤhrlichen, un-
bedachtſamen, verſtockten (ich weis bey nahe nicht,
wie ich ſie arg genug ſchimpfen ſoll!) mit einem
Worte, bey den verhaßten Satyrenſchreibern faͤnde,
welche einen rechten Beruf daraus machen, Erb-
feinde der Menſchen zu ſeyn, und welche ſo un-
beſonnen ſind, zu glauben, daß man Tartuͤffen einen
Heuchler, und einen Narren einen Narren nennen
duͤrfe! So lange die weltliche Obrigkeit nicht An-
ſtalt macht, die Menſchenfeinde auszurotten: So
lange wird ein Betruͤger nicht eine Stunde ſicher
ſeyn koͤnnen, den angemaaßten Titel eines ehrlichen
Mannes zu behaupten, und, was das erſchrecklichſte
iſt, ſo gar Leute, welche ſich durch den Bannſtral,
den ſie in ihren drohenden Haͤnden fuͤhren, beym
Poͤbel anſehnlich und furchtbar machen, werden den-
noch dieſen verwegnen Menſchenfeinden nicht fuͤrch-
terlich genug ausſehen. Jch kann nicht ohne Zit-
tern daran gedenken, wenn ich mir vorſtelle, daß viel-
leicht morgen derjenige laͤcherlich ſeyn wird, den man
heute fuͤr ehrwuͤrdig gehalten hat.
Unter dieſen ſatyriſchen Menſchenfeinden halte ich
diejenigen fuͤr die unertraͤglichſten, welche mit lachen-
N 3dem
[198]Verſuch
dem Munde das Thoͤrichte an den Menſchen ent-
decken. Nichts erbittert mehr, als eine ſolche Wahr-
heit, die man uns mit einer ſpoͤttiſchen Miene ſagt;
denn oftmals ſind wir hierinnen den Affen gleich,
welche nie grimmiger werden, als wenn man ihnen
ſpottend nachahmet, und die Zaͤhne bloͤkt.
Zum ewigen Ruhme unſers ſchoͤnen Geſchlechts,
muß ich erinnern, daß alles, was ich bisher geſagt
habe, von ihm nicht zu verſtehen iſt. Nichts auf
der Welt iſt ihm angenehmer, als eine ungeheuchel-
te Wahrheit, und bey ihm iſt nur der ein Men-
ſchenfeind, welcher ſchmeichelt. Brigitte iſt aber-
glaͤubiſch, neidiſch, und verlaͤumdet ihren Naͤchſten;
Flavia iſt verbult, und uͤberlaͤßt ihre Gunſt an den
Meiſtbietenden; Caͤlie iſt ſo hochmuͤthig, daß ſie ih-
rer reichen Nachbarinn im Stande nicht im gering-
ſten nachgeben wuͤrde, und ſollte ſie mit ihrem Man-
ne auch Bettelbrod eſſen muͤſſen. Dennoch habe ich
das Herz, alles dieſes Brigitten, Flavien und Caͤlien
trocken unter die Augen zu ſagen, ohne von ihnen
ein Menſchenfeind genannt zu werden. Sie wer-
den ſich ſchaͤmen, ſie werden ſich beſſern, ſie werden
mir fuͤr meine Wahrheiten unendlichen Dank ſagen.
So merklich ſind die Vorzuͤge, welche ſolches Frau-
enzimmer vor uns, eingebildeten Maͤnnern, hat,
welches wir doch aus einem laͤcherlichen Stolze nur
ſchwaches Werkzeug nennen.
Pflicht.
[199]eines deutſchen Woͤrterbuchs
Pflicht.
Pflicht, Amtspflicht, theure Pflicht,
Pflicht und Gewiſſen, ſind bey unterſchiednen
Leuten, die in oͤffentlichen Geſchaͤfften ſtehen, eine ge-
wiſſe Art Formeln, welche zu den Curialien gehoͤ-
ren. Jn der That haben ſie weiter nichts zu bedeu-
ten, als was die uͤbrigen Curialien bedeuten; inzwi-
ſchen aber ſind ſie doch ſo unentbehrlich, als dieſe;
und gehoͤren mit zur Legalitaͤt.
Einen in Pflicht nehmen, wird alſo bey
dergleichen Leuten ſo viel heiſſen, als einem ein Amt
geben, worinnen er, unter dem Vorwande ſeiner
aufhabenden Pflicht, dasjenige ausuͤben kann, was
ein unverpflichteter zu thun nicht wagen darf,
ohne ſeine Leidenſchaften zu verrathen. Weil in ge-
wiſſen Gegenden ſowohl geiſtliche, als weltliche
Aemter, nicht anders, als durch viele Geſchenke und
aufzuwendende Unkoſten, erlangt werden: So iſt es
gar wohl zu verſtehen, was die geleiſtete theure
Pflicht heißt; und alsdann wird der Ausdruck,
ſeine Pflicht ſorgfaͤltig zu erfuͤllen ſuchen,
nichts anders ſagen, als wenn ich ſpreche; ſich ſorg-
faͤltig bemuͤhen, auf alle moͤgliche Art von andern
ſo viel wieder zu erpreſſen, als das Amt geko-
ſtet hat.
N 4Es
[200]Verſuch
Es laͤuft wider meine Pflicht, wird ein ge-
wiſſenhafter Richter ſprechen, wenn ihm der Be-
klagte Geſchenke anbietet. Ein vernuͤnftiger Be-
klagter aber wird es gar leicht begreifen, daß des
gewiſſenhaften Richters ſeine Frau Liebſte nicht in
Pflichten ſteht; und ſich daher mit ſeinen Ge-
ſchenken zu dieſer wenden, wenn er anders, von ih-
rem Manne, ein pflichtengemaͤßes Urthel ver-
langt. Jch habe einen Schoͤſſer gekannt, wel-
cher das Expensbuch beſtaͤndig vor ſich liegen hatte,
und daher von ſich ſelbſt ruͤhmte, daß er ſeine
Pflicht niemals aus den Augen ließe, denn
er glaubte, nur um deswillen ſey er ein verpflichte-
ter Schoͤſſer, daß er ſeinen Bauern liquidiren
koͤnne. Ex officio arbeiten, wuͤrde ein Schulmann
vielleicht durch: pflichtgemaͤß arbeiten, uͤberſe-
tzen. Aber das waͤre ein erſchrecklicher Schnitzer
wider den juriſtiſchen Donat. Wer es gruͤndlicher
lernen will, was das bedeutet, den will ich an einen
gewiſſen Amtmann weiſen. Wenn dieſer uͤber
die nahrloſen Zeiten und den Verfall der Sporteln
klagt: So ſpricht er allemal: „Ein ehrlicher Mann
„kann es faſt nicht mehr ausſtehen. Lauter Arbeit
„ex officio! Bald Armenſachen! Bald Bericht
„wegen brandbeſchaͤdigter Unterthanen! Bald we-
„gen herrſchaftlicher Sachen! Alles ex officio!„
Sachen alſo, davon in der Taxordnung nichts ſteht,
ſind Sachen ex officio, und freylich ſind dergleichen
Arbeiten bis in den Tod verhaßt.
Ver-
[201]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
Verſtand.
Weil ich hier nicht Willens bin, eine philoſo-
phiſche Abhandlung zu ſchreiben: So wird man
mir nicht zumuthen, von demjenigen Begriffe etwas
zu gedenken, welchen man ſich auf der Catheder
von dem Worte, Verſtand, macht.
Jch ſchreibe nicht fuͤr Pedanten, ſondern fuͤr die
große Welt, und in der großen Welt heißt Verſtand
ſo viel, als Reichthum.
Ein Menſch ohne Verſtand, iſt nichts an-
ders, als ein armer. Er kann ehrlich, er kann
gelehrt, er kann witzig, mit einem Wort, er kann
der artigſte, und nuͤtzlichſte Mann in der Stadt
ſeyn, das hilft ihm alles nichts; der Verſtand fehlt
ihm, denn er hat kein Geld.
Es iſt nicht fuͤr einen Dreyer Verſtand
darinnen! ſpricht mein Wirth, wenn er ein ver-
nuͤnftiges Gedicht lieſt. Warum? Mein Wirth
iſt ein Wechsler, welcher in der Welt nichts gelernt
hat, als addiren, und er glaubt, wenn er die Ode
von dem Gotteslaͤugner *) auf die Boͤrſe truͤge:
So wuͤrde er nicht einen Dreyer dafuͤr bekommen.
N 5Das
[202]Verſuch
Das Maͤdchen hat Verſtand, ſagt ein Lieb-
haber, der nur aufs Geld ſieht, wenn gleich ſein
Maͤdchen weiter nichts thut, als daß es Caffee trinkt,
Lomber ſpielt, Knoͤtchen macht, zum Fenſter her-
aus ſieht, und wenn es hoch koͤmmt, uͤber das
Nachtzeug ihrer Nachbarinn ſpottet. Jn Geſell-
ſchaften, wo ſie keines von dieſem allem thun kann,
iſt ſie nicht im Stande, etwas weiter zu ſagen, als
ein trocknes Ja und Nein; und ſpielte ſie nicht mit
ihrem Faͤcher: So wuͤrde man ſie fuͤr eine ſchoͤne
Statue anſehen. Aber, das thut alles nichts; fuͤr
ihren Liebhaber hat ſie doch viel Verſtand, denn
ihre Mutter hat ihr ein ſehr ſchoͤnes Vermoͤgen hin-
terlaſſen.
Der Menſch hat einen ſehr guten natuͤr-
lichen Verſtand, heißt ſo viel: Er hat von ſeinen
Aeltern eine reiche Erbſchaft uͤberkommen, und nicht
noͤthig gehabt, ſelbſt Geld zu verdienen.
Was alſo dieſes heiße: Er wuchert mit ſei-
nem Verſtande, das darf ich niemanden erklaͤren;
es verſteht ſich von ſich ſelbſt.
Jch bin der duͤmmſte eben nicht, denn ich habe
auch etwas weniges von Vermoͤgen, und dieſes
hat mir Gelegenheit gegeben, durch eine dreyßigjaͤh-
rige Erfahrung die verſchiednen Grade des Ver-
ſtandes kennen zu lernen. Nach gegenwaͤrtigem
Cours
[203]eines deutſchen Woͤrterbuchs.
Cours kann ich von dem Verſtande meiner Lands-
leute ohngefaͤhr folgenden Tariff machen:
- 1000. Thaler, nicht ganz ohne Verſtand;
- 6000. Thaler, ein ziemlicher Verſtand;
- 12000. Thaler, ein feiner Verſtand;
- 30000. Thaler, ein großer Verſtand;
- 50000. Thaler, ein durchdringender Verſtand;
- 100000. Thaler, ein engliſcher Verſtand;
und auf ſolche Weiſe ſteigt es mit jeden tauſend
Thalern.
Jch habe den Sohn eines reichen Kaufmanns
gekannt, welcher kaum ſo klug war, als ſein Reit-
pferd. Er beſaß aber viermal hundert tauſend Tha-
ler, und um deswillen verſicherte mich mein Corre-
ſpondent, daß er in ganz Meklenburg beynahe der
verſtaͤndigſte waͤre.
Der Kerl hat ſeinen Verſtand verloren!
wird man alſo von einem bankerotten Kaufmanne
ſagen, und ich kenne einige davon, welche dieſer
Vorwurf weit mehr ſchmerzt, als wenn man ſa-
gen
[204]Verſuch eines deutſchen Woͤrterb.
gen wollte, ſie haͤtten ihren ehrlichen Namen ver-
loren. Dieſes iſt noch der einzige Troſt fuͤr der-
gleichen Maͤnner, daß ihre Weiber, welche durch ihre
uͤble Wirthſchaft, und durch ihren unſinnigen Staat
an dieſem Verluſte gemeiniglich die meiſte Urſache ha-
ben, dennoch ihren eingebrachten Verſtand,
daß ich mich kunſtmaͤßig ausdruͤcke, oder, deutlich
zu reden, ihr eignes Vermoͤgen, und daher noch
allemal ſo viel uͤbrig behalten, als noͤthig iſt, ſich
und ihren unverſtaͤndigen Mann auf das
bequemlichſte zu ernaͤhren.
[[205]]
Beytrag
zum
deutſchen Woͤrterbuche.
[[206]][207]
Als ich es wagte, der gelehrten Welt meinen
Verſuch eines teutſchen Woͤrterbuchs mitzu-
theilen: So bat ich mir zugleich den Bey-
trag meiner Landsleute zu dieſem wichtigen und
weitlaͤuftigen Werke aus. Jch bin ſo gluͤcklich
geweſen, daß an mich verſchiedne Artikel eingeſandt
worden ſind, und mein Vergnuͤgen daruͤber iſt ſo
groß, daß ich nicht einen Augenblick laͤnger an-
ſtehen kann, ein paar davon bekannt zu machen,
welche voͤllig nach derjenigen Anlage ausgearbeitet
ſind, die ich mir zu meinem Woͤrterbuche gemacht
hatte. Jch hoffe, es werden dieſe neuen Proben
noch andre aufmuntern, ihrem Beyſpiele zu fol-
gen, und mich durch ihre geſchickte Beyhuͤlfe in
den Stand zu ſetzen, daß ich noch vor dem Schluſſe
des itzigen Jahres ſolches unter die Preſſe bringen
kann. Den Herren — E ‒ ‒ und — Gl ‒ ‒ ſtatte ich
zugleich fuͤr dieſe ihre Bemuͤhungen den verbun-
denſten Dank ab. Jch wollte wohl wuͤnſchen, daß
ich ihre voͤlligen Namen, und den Ort ihres Aufent-
halts erfahren moͤchte, damit ich Gelegenheit ha-
ben koͤnnte, ihnen einige kleine Zweifel zu eroͤffnen,
welche mir wegen der uͤbrigen von ihnen eingeſand-
ten Woͤrter beygefallen ſind. Dem Herrn Kr*
muß ich ſagen, daß er die Abſicht, welche ich bey
unſerm Woͤrterbuche habe, nicht recht eingeſehen
haben mag. Dergleichen Artikel, wie er einge-
ſendet hat, ſcheinen in ein Woͤrterbuch zu gehoͤren,
das
[208]Beytrag
das nur fuͤr eine einzige Familie geſchrieben iſt. Jn
dem Hauſe, worinnen er wohnt, mag er ein ſehr
aufgeweckter und ſchalkhafter Kopf ſeyn, welcher
ſeine ganze Familie, und vielleicht auf Unkoſten an-
drer, zu lachen macht. Nur befuͤrchte ich, ſein Witz
geht nicht weiter, als bis an die Hausthuͤre. Jn
andern Haͤuſern wird ihn ohne Beyhuͤlfe eines
Scholiaſten niemand verſtehen. Dergleichen Fa-
milienſcherze ſind gute Quodlibete, welche nur eine
geſchloßne Geſellſchaft einſieht, und belacht. An-
dern ehrlichen Leuten darf man es nicht wohl zu-
muthen, daß ſie ſolche leſen ſollten.
Verſchiedne meiner Correſpondenten haben ver-
langt, ich moͤchte ihnen einige Woͤrter vorſchlagen,
deren Bedeutung ſie unterſuchen koͤnnten. Jch will
etliche davon herſetzen, deren Bedeutung mir am
zweydeutigſten, und am unbeſtimmteſten zu ſeyn
ſcheint. Die verſchiednen Redensarten, bey wel-
chen ſie gebraucht werden, verurſachen wegen dieſer
Ungewißheit eine ſolche Verwirrung im gemeinen
Leben, daß ein jeder Patriotiſchgeſinnter nicht ei-
nen Augenblick zaudern ſollte, eine gewiſſe Bedeu-
tung davon feſtzuſtellen. Jch erwarte dieſen Bey-
trag mit dem groͤßten Verlangen. Den Nutzen
davon haben ſie und ihre Kinder zu genießen. Hier
ſind die Woͤrter ſelbſt:
- Andacht.
- Artig.
- Bezaubert.
- Demuth.
Ehr-
[209]zum deutſchen Woͤrterbuche.
- Ehrgeiz.
- Eiferſucht.
- Freyheit.
- Geſchmack.
- Geſundheittrinken.
- Gleichguͤltig.
- Großmuth.
- Jch.
- Koͤrnigt.
- Kunſtrichter.
- Rangſtreit.
- Scherzhaft.
- Sparſamkeit.
- Unparteyiſch.
- Unſchuld.
- Witz.
Dieſes mag genug ſeyn. Es giebt noch unzaͤh-
lige andre Woͤrter, welche wenigſtens ſo wichtig,
als dieſe, ſind, und deren Wahl und Ausfuͤhrung
ich meinen geſchickten Landsleuten uͤberlaſſe. Die
Briefe ſind an den Verleger zu ſenden, und ihre
Namen ſollen verſchwiegen werden, wenn
ſie es verlangen.
Zweyter Theil. ODeutſch
[210]Beytrag
Deutſch
iſt ein Schimpfwort. Die Franzoſen ſprechen:
Er hat den Fehler, daß er ein Deutſcher
iſt. Denn, wie bey vielen Franzoſen der Verſtand
uͤberhaupt ſehr ſonderbar, und merkwuͤrdig iſt: So
haben ſie gefunden, daß alle die, welche diſſeits
des Rheins gebohren ſind, weder witzig, noch
tapfer, und alſo gute ehrliche Menſchengeſichter,
mit einem Worte, Deutſche, ſind.
Es klingt alles ſo gar deutſch in ſeinen
Verſen, iſt der tiefſinnige Machtſpruch, den uͤber
deutſche Gedichte gemeiniglich diejenigen faͤllen,
welche bey ihren Franzoͤſinnen zur Noth ſo viel ge-
lernt haben, daß ſie die Uetrechter Zeitungen expo-
niren koͤnnen.
Jch kenne Leute, welche gern ihren halben Ver-
ſtand darum geben wuͤrden, wenn ſie keine Deutſche,
ſondern unter dem Conſulate des Cicero in Rom
geboren waͤren. Jhnen koͤmmt nichts ſo laͤcher-
lich vor, als die Bemuͤhung, in der deutſchen
Sprache Donatſchnitzer zu vermeiden. Den, der
ſich Muͤhe giebt, zierlich und regelmaͤßig deutſch
zu ſchreiben, koͤnnen ſie, ihrer Meynung nach, nicht
aͤrger beſchimpfen, als wenn ſie ihn einen deut-
ſchen Michel heißen. Dieſes Wort begreift
nach ihrer Grammatik wenigſtens eben ſo viel
Schan-
[211]zum deutſchen Woͤrterbuche.
Schande und Laſter in ſich, als bey den alten Ju-
den ein Samariter, oder bey den Savoyarden
ein Barbet! Jch habe angemerkt, daß die deut-
ſche Sprache unter ihren Kindern beſonders zwo
Arten von Feinden hat. Einige verfolgen ſie aus
Hochmuth und Eigennutz, andre aber verachten ſie
aus Leichtſinn. Jene geben ſich eine ernſthafte, ge-
bieteriſche und monarchiſche Miene. Sie ſind
gewohnt, ihre Wahrheiten mit aufgehabnem
Arme zu behaupten, und den Pflichten der vaͤter-
lichen Liebe mit der Ruthe Gnuͤge zu leiſten. Man
nennt ſie auch roͤmiſchgeſinnte Maͤnner, oder latei-
niſche Goͤrgen, zur ſchuldigen Vergeltung der
deutſchen Michel. Es liegt ihnen viel daran, die
deutſche Sprache zu unterdruͤcken, welche ſie ſelbſt
ſo wenig verſtehen. Jhr Anſehen duͤrfte freylich ſehr
fallen, wenn die Welt anfienge, zu glauben, ein
Mann verdiene den Namen eines wahren Gelehr-
ten noch nicht, wenn er ſchon ein lateiniſcher Sprach-
meiſter ſey. Jn Lehmanns ſpeyeriſcher Chronike
finden wir die Geſchichte eines treufleißig verordne-
ten Lehrers, welcher ein ſo abgoͤttiſcher Verehrer
des Cicero geweſen, daß er ſeinen Sohn bloß des-
wegen der lateiniſchen Sprache von Mutterlei-
be an geweihet, weil er eine Warze auf der Naſe
gehabt. Und ungeachtet ſich bey zunehmenden
Jahren geaͤußert, daß ihn die Natur nicht zu ei-
nem Cicero, ſondern hoͤchſtens zu einem deutſchen
Holzhacker geſchaffen: So hielt ſich doch dieſer ge-
lehrte Vater in ſeinem Gewiſſen fuͤr verbunden,
O 2einem
[212]Beytrag
einem ſo deutlichen Berufe, als ſein Sohn an der
roͤmiſchen Naſe trug, nicht zu widerſtreben. Ja,
er ſoll in ſeinem Eifer ſo weit gegangen ſeyn, daß
er ſein Kind, bey vermerkter Widerſpenſtigkeit,
amtsmaͤßig und mit der Ruthe in der Fauſt ge-
zwungen, die Finger auf die lateiniſche Gramma-
tik zu legen, und ſeine deutſche Mutterſprache ſo-
lemni ritu formulaque abzuſchwoͤren. Nichts
kam ihm toller vor, als deutſch zu lernen; denn
ſein Schuſter redete deutſch, und er redete es ſo
gut, als ſein Schuſter; beide aber hatten es nie-
mals gelernt, und verſtunden einander doch. Der-
gleichen lateiniſche Zeloten kann man dadurch kei-
nesweges beſaͤnftigen, wenn man ihnen gleich ein-
raͤumt, daß einem Gelehrten die griechiſche und
lateiniſche Sprache unentbehrlich ſey; daß ein
Mann, welcher kein Latein verſtehe, wenig Hoff-
nung habe, ein Gelehrter zu werden; daß man
nichts tadle, als die ſklaviſche Hochachtung, welche
ſie gegen alles dasjenige hegen, was lateiniſch
klingt; und daß man an ihnen nur die allzuaber-
glaͤubiſche Verbitterung gegen ihre Mutterſprache,
als einen laͤcherlichen Fehler, anmerke. So be-
ſcheiden auch dergleichen Einſchraͤnkungen ſind, ſo
wenig ſind ſie doch zu ihrer Beruhigung hinreichend.
Jhre ganze Maſchine geraͤth in Unordnung, wenn
ſie dergleichen Friedensvorſchlaͤge hoͤren. Ad ro-
gum! ad rogum! ſchreyen ſie, ſo bald ſie eine Ab-
handlung ſehen, welche zur Aufnahme und Verbeſ-
ſerung der deutſchen Sprache abzielt; ja einer
von
[213]zum deutſchen Woͤrterbuche.
von meinen Freunden beſitzt ein Exemplar von den
Beluſtigungen des Verſtandes und Witzes, in
welchem ein ſolcher Pflegevater unter den Namen
Jrenaͤus Maſtigophorus* mit zitternden Haͤn-
den geſchrieben hatte:
‘HVNC TV ROMANE CAVETO!’ ()
Die zweyte Art der Antideutſchen machen die-
jenigen aus, welche die deutſche Sprache nur aus
Leichtſinn verachten. Dieſe ſind von den erſten
weit unterſchieden. Wenn jene etwas leſen, das
nicht lateiniſch iſt, ſo ſchuͤttelt ſich ihre ganze Na-
tur; dieſe leichtſinnigen Feinde aber koͤnnen es noch
ſo ziemlich gelaſſen anhoͤren, wenn von der Staͤrke
und Schoͤnheit der deutſchen Sprache geredet
wird. Ja ich habe es ſo gar mit meinen Augen
geſehen, daß man einem ſolchen Undeutſchen, wel-
cher ein junges Herrchen von Profeßion war, zwey
Blaͤtter aus dem Haller vorlas, ohne daß es ihm
etwas weiter ſchadete, als daß er lachte, traͤllerte,
pfiff, ſich auf einem Beine herumdrehte. Und, ſo
bald er mit einer Priſe Tabak dem Gehirne ein
wenig Luft gemacht hatte, ſo ſagte er weiter nichts,
als: Pardieu! le miſerable jargon! Sogleich war
auch ſein Paroxyſmus vorbey, und man ſah zwi-
ſchen ihm und einer vernuͤnftigen Creatur beynahe
nicht den geringſten Unterſchied. Jn der That
O 3ver-
[214]Beytrag
verdienen dieſe Feinde der deutſchen Sprache, daß
man ſie mit Langmuth ertraͤgt. Denn, wenn ſie
die deutſche Sprache verſpotten, ſo geſchieht es
eben ſo wenig aus Bosheit, als wenn ſie uͤber den
Schnitt eines Kleides lachen, welchen die Einfalt
eines deutſchen Meiſters, und nicht der witzige
Schneiderverſtand eines erfindſamen Franzoſen
hervorgebracht hat. Sie ſpotten, weil es deutſch
heißt, und lachen, weil es nicht franzoͤſiſch iſt.
Wer ein gegruͤndetes Urtheil oder Beweiſe von
der Nichtswuͤrdigkeit der deutſchen Sprache von
ihnen fodern wollte, der foderte zu viel. Genug,
es iſt Mode, ſie zu verachten, und ihr Verſtand
aͤndert ſich ſo oft, als die Mode; dieſes aber ge-
ſchieht alle vier Wochen. Diejenigen, welche, daß
ich mich der Mundart des itzigen Jahrhunderts be-
diene, in allem einen zureichenden Grund ſuchen,
wollen aus den Lehrſaͤtzen der Phyſik, und aus der
Erfahrung beweiſen, daß es deswegen ſo viele lu-
ſtige Feinde ihrer Mutterſprache unter uns gebe,
weil die Franzoſen in ihrem Umgange ſo artig und
einnehmend waͤren, daß viele von unſerm deutſchen
Frauenzimmer ihnen nichts abſchlagen koͤnnten.
Jch laſſe dieſe Vermuthung an ihren Ort geſtellt
ſeyn. Unwahrſcheinlich iſt ſie freylich nicht, und
ich ſollte faſt ſelbſt glauben, daß die Natur der-
gleichen poßierliche Koͤrper nicht zur Welt brin-
gen koͤnne, ohne ſich der Verbindung eines fran-
zoͤſiſchen Papas, und einer deutſchen Mutter zu
bedienen. Dieſes mag von den unterſchiednen
Arten
[215]zum deutſchen Woͤrterbuche.
Arten der Feinde, welche die deutſche Sprache hat,
genug ſeyn.
Er iſt ein ehrlicher alter Deutſcher;
dieß wuͤrde ein Anfaͤnger in der deutſchen Spra-
che ſo erklaͤren: Er iſt ſo ehrlich, wie ein alter
Deutſcher. Aber das waͤre ein großer Sprach-
ſchnitzer; ſondern es wird gemeiniglich von Leuten
gebraucht, welche in ihrem Umgange alle diejeni-
gen Eitelkeiten mit Sorgfalt vermeiden, die man
ſonſt Hoͤflichkeiten, und, in gewiſſem Verſtande,
auch Complimente nennt. Denn hierdurch, und
durch die Gabe, zu trinken, koͤnnen wir es unſern
Vorfahren, den alten Deutſchen, noch ſo ziemlich
gleich thun.
Altdeutſch heißt daher in einigen Geſellſchaf-
ten ſo viel, als grob.
Deutſche Redlichkeit; iſt ein verbum obſo-
letum, oder hoͤchſtens nur ein Provincialwort.
Siehe hiervon mit mehrern des Panzirollus Ab-
handlung von denen Sachen, welche bey uns verlo-
ren gegangen ſind.
E ‒ ‒
[216]Beytrag
Fabel.
Eine Fabel iſt, ordentlicher Weiſe, und beſon-
ders nach dem Begriffe einiger Neuern, ein
ſolches Gedicht, uͤber welchem der Name eines
Thiers, oder ſonſt eines Dinges ſteht, das noch
etwas duͤmmer iſt, als der Verfaſſer. Wir
wuͤrden zu viel von ihm fodern, wenn wir ei-
ne poetiſche Wahrſcheinlichkeit, oder gar eine Sit-
tenlehre darinnen ſuchen wollten. Die Ausfuͤh-
rung der Fabel mag noch ſo trocken, noch ſo abge-
ſchmackt, noch ſo undeutlich ſeyn; ſo iſt doch das,
was ein ſolcher Fabeldichter im Namen ſeines Thiers
ſagt, fuͤr eine unvernuͤnftige Beſtie noch allemal
klug genug geſprochen. Er ſchreibt: Der ‒ ‒ eine
Fabel. Und ſiehe, ſo iſt es eine Fabel! Mehr ge-
hoͤrt dazu nicht.
Das Wort, Fabel, wird noch in einem andern
Verſtande, und zwar von ſolchen Erzaͤhlungen
gebraucht, welche zwar woͤglich, aber nicht
wahrſcheinlich ſind. Daß ein Frauenzimmer
ſich uͤber den vermeynten Tod ihres Liebhabers der-
geſtalt betruͤbt, daß ſie ſich ſelbſt ums Leben bringt;
und daß es Liebhaber giebt, welche uͤber den Ver-
luſt ihrer Schoͤnen ſo untroͤſtbar ſind, daß ſie in
ganzem Ernſte Anſtalt machen, ſich zu erſtechen:
Das
[217]zum deutſchen Woͤrterbuche.
Das iſt wohl moͤglich, aber nimmermehr wahrſchein-
lich, und eben um deswillen gehoͤrt die Geſchichte
des Ovids vom Piramus und von der Thisbe mit
allem Rechte unter die Fabeln.
Dieſe Beſchreibung, welche ich von dem Ver-
ſtande des Worts, Fabel, gegeben habe, oͤffnet den
Dichtern ein weites Feld zu tauſend Erfindun-
gen. Mir ſind deren ſchon ſo viele beygefallen, daß
ich der Welt mit einem ziemlich ſtarken Octavbaͤnd-
chen davon aufwarten koͤnnte. Wer weis, was
noch geſchieht? Ein Dichter bin ich zwar nicht;
aber hundert Leute machen Verſe, die doch keine
Dichter ſind; und geſetzt, ich ſchriebe nicht feurig,
ſo wuͤrde ich gewiß ziemlich fließend ſchreiben. Das
iſt ſchon genug! Und wenn mir auch hierinnen alle
vernuͤnftige Welt widerſpraͤche; ſo weis ich doch,
Strephon giebt mir ſeinen Beyfall, denn ihm gehts
auch ſo! Damit aber die gelehrte Welt vor großem
Verlangen nach meinem Baͤndchen nicht gar zu un-
geduldig werde, wie ich faſt befuͤrchten muß: So
will ich inzwiſchen von vieren meiner Fabeln nur
den Jnnhalt herſetzen. Man wird finden, daß
ſie durchgaͤngig moͤglich ſind; keine einzige aber
wahrſcheinlich iſt.
O 5Die
[218]Beytrag
Die erſte Fabel.
Der betruͤbte Wittwer.
Agenor, ein reicher Buͤrger, lernte ein Frauen-
zimmer kennen, welches weder Schoͤnheit,
noch Vermoͤgen hatte, aber deſto tugendhafter war.
Bloß ihrer Tugend wegen liebte er ſie. Er
heirathete ſie, und die ganze Stadt lobte ſeine
Wahl; denn die meiſten Buͤrger dieſer Stadt wa-
ren tugendhaft, und keiner heirathete aus eigennuͤ-
tzigen und niedertraͤchtigen Abſichten. Zwanzig
Jahre ihrer Ehe waren verfloſſen, und nicht ein ein-
zigesmal hatten ſie einander Gelegenheit zu einem
Misvergnuͤgen gegeben. Noch im zwanzigſten
Jahre liebten ſie einander eben ſo vernuͤnftig, eben
ſo zaͤrtlich, als an dem Tage ihrer Verlobung.
Auf dieſen Umſtand werden meine Leſer ja wohl
merken, denn das iſt eine Hauptfabel. Agenor
verlor ſeine Frau, welche bloß um deswillen
ſchwer zu ſterben ſchien, weil ſie ſich von ihrem Man-
ne trennen ſollte. Zehen Monate hat Agenor zu-
gebracht, ehe er ſich einigermaaßen troͤſten, und
zu einer neuen Heirath entſchließen konnte. An
fuͤnf Monaten waͤre es ſchon genug geweſen: aber
zu einer Fabel mußten es ſchlechterdings
zehen Monate ſeyn.
[219]zum deutſchen Woͤrterbuche.
Die zweyte Fabel,
noch etwas unwahrſcheinlicher, als die vorige.
Die reiche Wittwe, eine gute Frau.
Philinde, eine junge Wittwe, welche den Neran
durch ihr zugebrachtes Vermoͤgen zum reich-
ſten Manne in der Stadt gemacht hatte, liebte ihn
ſo zaͤrtlich, daß ſie ihm auch nicht ein einzigmal ſeine
Armuth vorwarf. Sie trug ſo viel Ehrfurcht ge-
gen ihn, daß es ſchiene, als haͤtte ſie beynahe gar
vergeſſen, wie groß ihr Einbringen waͤre. Konnte
ſie ja etwas betruͤben: So war es die große Behut-
ſamkeit, mit welcher Neran ſich ihres Vermoͤgens
bediente. Sie munterte ihn auf, fuͤr ſich etwas
weniger ſparſam zu ſeyn; und brauchte ſie ſelbſt ei-
niges Geld, ſo bat ſie ihren Mann mit ſo vielen
Liebkoſungen darum, als waͤre es ſein eignes Ver-
moͤgen. Neran ſtarb, und die Chronike ſagt, daß
ſie alle Jahre an demjenigen Tage ganz untroͤſtbar
geweſen, an welchem er geſtorben. Ja man will
ſo gar verſichern, daß ſie uͤber dieſen Verluſt ſich
niemals zufriedner zu troͤſten gewußt, als wenn ſie den
armen Freunden ihres verſtorbnen Mannes mit ih-
rem Vermoͤgen beyſpringen koͤnnen. Niemals ha-
be ſie dieſes anders genennt, als die Verlaſſenſchaft
ihres Nerans, an welche alle ſeine Verwandten An-
ſpruch zu machen haͤtten, welche deſſelben beduͤrftig
waͤren. So weit geht dieſe Fabel.
Die
[220]Beytrag
Die dritte Fabel.
Jch habe einen Mann gekannt, deſſen Beruf war,
eine große Geſellſchaft Leute woͤchentlich vor
allen Laſtern zu warnen. Es kam ihm beynahe kein La-
ſter verderblicher vor, als der Geiz. Den Geiz malte
er alſo aufs abſcheulichſte ab, ſo oft er hierzu Gele-
genheit fand. Das iſt nichts unmoͤgliches! Das
hoͤren wir oft! werden meine Leſer rufen. Geduld!
Jch will weiter erzaͤhlen. Dieſer Mann wußte
ſein Vermoͤgen den Armen auf eine ſo vorſichtige
Art zufließen zu laſſen, daß die wenigſten erfuhren,
von wem es herkam. Keine nothduͤrftige Witt-
we ließ er mit Thraͤnen von ſich gehen, ſie muͤßte
denn aus Dankbarkeit geweint haben. Einem
Kaufmanne, welcher ehrlich, aber in ſeiner Hand-
lung ungluͤcklich, war, lieh er ein anſehnliches Ca-
pital, ohne Verzinſung, damit er ehrlich bleiben,
und ſechs unerzogne Kinder ernaͤhren koͤnnte. Auf
Pfaͤnder lieh er gar nicht, und niemals ſoll er uͤber
fuͤnf Procent genommen haben. Eine ſchoͤne Fa-
bel, zu der ich aber den Titel nicht weis!
Die vierte Fabel.
Der billige Dichter.
Phokles war ein beruͤhmter Dichter derjenigen
Stadt, in welcher bey ſchwerer Strafe nie-
mand gelobet werden durfte, der nicht wirklich tu-
gend-
[221]zum deutſchen Woͤrterbuche.
gendhaft war. Jn dieſer Stadt ſchaͤtzte jedermann
die Dichtkunſt nach ihren Wuͤrden. Kein Reimer
ward daſelbſt geduldet, und man hat zween aus
dem Weichbilde verwieſen, welche aus Faulheit
nicht arbeiten wollten, ſondern zur Stillung ihres
Hungers reichen Kaufleuten zu ihren Namenstagen
gratulirten. Jch wollte dem Herrn Stelpo wohl-
meynend rathen, daß er ſich in dieſe Stadt nicht
wagte! Alle Leute ſuchten die Freundſchaft des
Phokles zu gewinnen, damit er ihnen die Fehler
entdecken ſollte, welche ſie an ſich haͤtten. Der
Biſchof daſelbſt bat ihn gleichfalls darum, und dieſem
ſagte er: Du biſt ein hochmuͤthiger, ein eitler,
ein niedertraͤchtiger und harter Mann; du lehreſt
deine Gemeine ſehr erbaulich, aber ſie kann deinen
Lehren nicht glauben, weil dein Leben beweiſt, daß
du ſie ſelbſt nicht fuͤr wahr haͤltſt! Dieſes bewegte
den Biſchof dergeſtalt, daß er ihn aufs zaͤrtlichſte
umarmte, und ſeine redliche Offenherzigkeit vor oͤf-
fentlicher Gemeine pries. Als er dem regierenden
Buͤrgermeiſter entdeckte, daß er ein ſehr unwiſſen-
der Mann, und nicht werth waͤre, ein Vater der
Stadt zu heißen, ſo lange er nicht unterließe, mehr
auf ſeinen Nutzen, als auf den Nutzen ſeiner Buͤr-
ger, zu ſehen: So fehlte nicht viel, daß ihn die-
ſer nicht mit Gewalt genoͤthigt haͤtte, an ſeiner
Stelle das Ehrenamt eines Buͤrgermeiſters anzu-
nehmen. Rathsherr aber mußte er doch werden;
er mochte wollen, oder nicht. Es war erſtaunlich
anzu-
[222]Beytrag
anzuſehen, mit wie viel Ehrfurcht und Freund-
ſchaft ihm die reichſten Capitaliſten begegneten.
Jn ſeiner Geſellſchaft vergaßen ſie, daß ſie Wechs-
ler waren, und redeten witzig. Alle Frauenzimmer-
geſellſchaften waren todt und ſchlaͤfrig, in welchen
Phokles nicht war. Denn damals, als Phokles
lebte, wußte man von Faͤchern nichts; Lomber
ward gar nicht geſpielt; und die Kunſt, den Naͤch-
ſten zu richten, war nur in ein paar Familien be-
kannt. So bald man den Phokles nur von wei-
tem erblickte, ſo bald ward alles vergnuͤgt, und
lebhaft. Lebte Phokles in meiner Stadt: So wuͤr-
de man hier auf die Vermuthung fallen, er ſey
um deswillen ſo beliebt geweſen, weil er dieſen
ſchoͤnen Kindern artige Schmeicheleyen vorgeſagt,
ihre ſchoͤnen Haͤnde verewigt, ihre Augen beſungen,
mit unter ein paar Takte geſeufzt, zum Spaße ein
wenig verzweifelt, und ſeine Nachbarinn Tieger und
Fels geſcholten haͤtte, weil ſie ſo unmenſchlich grau-
ſam geweſen, und ihm einen Kuß verſagt. Die-
ſes iſt gemeiniglich die Sprache unſrer heutigen
Dichter. Aber Phokles ſang ganz anders! Er
ruͤhmte die Phyllis wegen ihrer anſtaͤndigen Sitt-
ſamkeit, Cleonen, wegen ihrer vernuͤnftigen Wirth-
ſchaft. Er lobte Aeſinen, wegen ihrer ſorgfaͤltigen
Kinderzucht, wodurch ſie noch die Nachwelt ihrer
Stadt gluͤcklich zu machen ſuchte. Er beſang die
Unempfindlichkeit der Calliſte gegen die leichtſin-
nigen Bemuͤhungen eines jungen Herrn. An Eu-
phroſynen ruͤhmte er, daß ſie noch mehr tugend-
haft,
[223]zum deutſchen Woͤrterbuche.
haft, als ſchoͤn, waͤre; und vergoͤtterte Leonoren
wegen ihrer ehelichen Treue. Wegen ihrer ehelichen
Treue? Das klingt ſehr altvaͤteriſch! Es kann wohl
ſeyn; aber es iſt auch ſchon lange, daß Phokles
geſtorben iſt. Er ſtarb in eben dem Jahre, als
kein Laſterhafter gluͤcklich, kein Philoſoph ein Pe-
dant, keine junge Wittwe verbult, kein junger
Herr in ſich ſelbſt verliebt, kein vornehmer Mann
ein Veraͤchter der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, kein
Richter geldgierig, kein Advocat ein Luͤgner, kein
Wuchrer niedertraͤchtig, und noch kein Narr ge-
ehrt war. Jn dieſem Jahre ſtarb Phokles. Jſt
es alſo wohl ein Wunder, wenn uns ſeine Lobgedich-
te altvaͤteriſch vorkommen? Dieſes muß ich noch er-
innern, daß Phokles alle andern Dichter fuͤr groͤßre
Dichter hielt, als ſich ſelbſt; daß er vor Vergnuͤ-
gen außer ſich war, ſo oft er ein ſchoͤnes Gedicht
von einem andern zu leſen bekam; daß er in frem-
den Werken die Fehler andrer uͤberſah, und ent-
ſchuldigte, und nur gegen ſeine eignen Schriften
ein unparteyiſcher und unerbittlicher Richter war;
daß er niemals mehr erroͤthete, als wenn man der
Schoͤnheit ſeiner Gedichte Gerechtigkeit widerfah-
ren ließ: und daß er aus einem kleinen Eigenſinne,
oder vielmehr aus einer unzeitigen Furchtſamkeit, alle
Gelegenheit vermied, ſeine Gedichte unter die Leu-
te, oder, wie wir es heut zu Tage nennen, auf
die Nachwelt zu bringen; denn das muß man wiſſen,
daß dieſer Ausdruck damals ſehr ſelten vorkam.
Eben dieſes beſcheidne Mistrauen iſt Urſache, daß
wir
[224]Beytrag
wir von ſeinen Gedichten nur noch wenige Bogen
uͤbrig haben. Und dennoch nennt ihn jedermann,
den großen Phokles!
Welcher Miſchmaſch! ruft Maͤv. Ein Dich-
ter, der durch wenige Bogen beruͤhmt worden iſt!
Der gegen ſeine eignen Lieder unempfindlich iſt!
Der andre Dichter fuͤr groͤßer gehalten hat, als
ſich! Ein Dichter, der ein großer Mann, und doch
ſo geweſen iſt, wie Phokles! Jſt wohl was unge-
reimters? Jſt wohl jemals etwas unwahrſcheinli-
chers gefunden worden, als dieſes? Du haſt Recht,
Maͤv! Aber eben darum iſt die Geſchichte des Pho-
kles eine Fabel; und eine Fabel wird es ſeyn, ſo
bald ich der Welt erzaͤhle, daß du ein geſchickter
Dichter ſeyſt! Dieſes mag von denen Fabeln zur
Probe genug ſeyn, die ich liefern wuͤrde, wenn ich
ein Poet waͤre. Es iſt ewig Schade, daß ich kei-
ner bin.
Dieſen Augenblick hoͤre ich, daß mein Haus-
wirth in den letzten Zuͤgen liegt. Wenn er doch
nur dasmal ſtuͤrbe! Jch bin einmal in vollem
Schreiben, und die Standrede wuͤrde ich doch ver-
muthlich thun muͤſſen. Meine Leſer ſollten es auch
zu genießen haben. Jch wollte die Rede drucken
laſſen. Wie praͤchtig wuͤrde ſich das ausnehmen,
wenn mein Verleger dieſen Titel an ſeinen Laden
kleben ließe!
ΦΟΒΕΡΟ-
[[225]]
ΦΟΒΕΡΟΤΑΤΟΝ ΠΑΝΤΩΝ ΤΩΝ ΦΟΒΕΡΟΤΑΤΩΝ,
das iſt:
Das fuͤrchterlichſte unter allen fuͤrchterlichſten.
Oder:
Das unerbittliche Geſchick des ungerechten Himmels
durch einen fruͤhzeitigen Tod;
Bey der Baare
des weiland Hochedelgebornen, Veſten,
und Rechtshochgelahrten Herrn,
Herrn N. N.
Erblehn- und Gerichts-Herrn auf N. N.
beruͤhmten Doctors beider Rechte,
Welcher im vier und ſiebenzigſten Jahre ſeines ruhmvol-
len Alters, zur groͤßten Betruͤbniß ſeiner noch jungen,
und um deſto mehr untroͤſtbaren, hinterlaßnen Frauen
Wittwe, und ſaͤmtlicher in die tiefſte Trauer verſetzten
Erben, zum Schrecken aller nothleidenden Wittwen und
Waiſen, zum Ungluͤcke aller Duͤrftigen und Verlaßnen,
der ganzen Stadt zum Jammer, und zu einem unerſetzlichen
Verluſte der edeln Gerechtigkeit, viel zu fruͤh,
doch ſelig, verſchied,
in Gegenwart der leidtragenden Buͤrgerſchaft und unter
Begleitung vieler tauſend Thraͤnen,
in Form einer Standrede betrachtet.
Eine Fabel
von
N.
Auf Verlangen zum Drucke befoͤrdert.
[226]Beytrag
Eh ich dieſen Artikel von Fabeln ſchließe, muß
ich noch eine Anmerkung machen. Jch habe eben
geſagt, daß dasjenige eine Fabel ſey, was zwar
moͤglich, aber nicht wahrſcheinlich iſt. Aus die-
ſem Satze folgt, daß diejenige Erzaͤhlung den Na-
men einer Fabel nicht verdiene, welche nicht al-
lein moͤglich, ſondern auch hoͤchſt wahrſchein-
lich iſt. Jch finde dieſen Fehler beſonders in den
Fabeln des Phaͤdrus. Die Geſchichte von dem
verdorbnen Schuſter, welcher, um nicht zu verhun-
gern, ein Arzt geworden war, und welcher bekannte,
daß er ſeinen Ruhm nicht durch ſeine Geſchicklich-
keit, ſondern durch die Dummheit des Poͤbels er-
langt habe; dieſe Geſchichte iſt ſo wahrſcheinlich,
daß ich ſelbſt in meiner Stadt mehr, als zehen der-
gleichen mediciniſche Schuſter, kenne; wenigſtens
ſind es ſolche Leute, welche zu allem in der Welt
ungeſchickt ſind, und doch die Verwegenheit haben,
ſich fuͤr Aerzte auszugeben. Wie wohl wuͤrden
ſie thun, wenn ſie jedesmal uͤber ihre Recepte die
Verſe ſchrieben:
Sie koͤnnten dafuͤr die beiden griechiſchen Buch-
ſtaben, α und ω weglaſſen. Der Verluſt, den ſie
durch Weglaſſung dieſer beiden Buchſtaben litten,
waͤre
[227]zum deutſchen Woͤrterbuche.
waͤre zwar freylich groß, weil ſie gemeiniglich wei-
ter kein griechiſch verſtehen, als dieſes; aber es waͤ-
re doch fein aufrichtig gehandelt.
Jch will noch eine Probe herſetzen, damit man
deſto deutlicher ſehen koͤnne, wie ſehr Phaͤdrus
wider dieſe Regel verſtoßen habe. Jſt wohl eine Ge-
ſchichte wahrſcheinlicher, als dieſe, daß eine haͤß-
lichgebildete Schweſter ſich uͤber ihren Bruder
erzuͤrnt, welcher ſeine ſchoͤne Bildung gegen ſie
geruͤhmt; daß es einen jungen Menſchen gegeben
habe, welcher ſeine Geſtalt im Spiegel bewundert;
und daß ein Frauenzimmer um Rache geſchrien,
als ſie wegen ihrer Haͤßlichkeit verſpottet worden?
Nimmermehr gebe ich zu, daß dieſes eine Fabel
ſey; und wenn man mir widerſprechen wollte, ſo
behaupte ich, daß meine andaͤchtige Nachbarinn,
welche ihren Mann alle Wochen wenigſtens ein-
mal mit dem Pantoffel ſchlaͤgt, auch unter die
Fabeln gehoͤre. Dieſes aber wird man ihren ge-
plagten Mann, der die wirkliche Exiſtenz ſeiner
Frau gar zu wohl fuͤhlt, nimmermehr bereden.
Es ſcheint auch faſt, als ob Phaͤdrus ſeinen Fehler
ſelber gemerkt haͤtte. Er ſpricht.
‒ ‒ Illa iraſcitur.
Accipiens, (quid enim?) cuncta in contumeliam.
Zweyter Theil. P 2Dieſes
[228]Beytrag
Dieſes quid enim? wuͤrde ſich im Deutſchen nicht
beſſer ausdruͤcken laſſen, als durch: Jſt das
wohl Wunder? Machen es unſre Frauen-
zimmer nicht alle ſo? Was aber unſre Frauen-
zimmer alle thun, das iſt wohl keine Fabel.
Jch war anfaͤnglich Willens, unter dieſe fehler-
haften Fabeln des Phaͤdrus ſeine ſechſte Erzaͤhlung
im zweyten Buche von dem geſchaͤfftigen Muͤßig-
gange zu rechnen. Es hat mich aber ein guter
Freund davon abzubringen geſucht, weil er glaubt,
es ſey dieſes keine wirkliche Erzaͤhlung, ſondern
eine Allegorie, und gehe eigentlich auf die jungen
Advocaten, welchen zwar wegen ihrer Unerfahren-
heit noch niemand ſeinen Rechtshandel anvertraut,
die aber dennoch gar zu gern ſehr beſchaͤfftigt aus-
ſehen wollen, und um deswillen fluͤchtig durch die
Gaſſen laufen; niemals ausgehen, ohne ein Stuͤck-
chen Acten im Buſen zu haben; die Richterſtube
belagert halten, ohne hinein zu gehen; alle Bau-
ern, die ihnen begegnen, anreden; alle Geſell-
ſchaften mit ihrem caſu in Terminis quaͤlen; von
ihren gewonnenen Proceſſen ſo viel Aufhebens ma-
chen, als mancher junger Officier von dem ſchleſi-
ſchen Feldzuge nicht thut; welche ganz erhitzt, und
tiefſinnig ausſehen, wenn ſie Mittags um zwoͤlf
Uhr vom Rathhauſe kommen, damit man glauben
ſoll ſie haͤtten ſich mit ihrem Gegner gezankt; mit
einem Worte, welche vor langer Weile ſterben muͤß-
ten,
[229]zum deutſchen Woͤrterbuche.
ten, wenn ſie nicht die Geſchicklichkeit beſaͤßen, zum
Verdruſſe der halben Stadt auf die geſchaͤfftigſte
Art nichts zu thun. Dieſes iſt die Auslegung,
welche mein Freund von der Fabel macht. Wie
weit ſie gegruͤndet ſey, will ich nicht unterſuchen.
Recht wahrſcheinlich koͤmmt ſie mir freylich nicht
vor. Sie klingt mir gar zu deutſch, und an ſtatt,
daß ich bey deren Erzaͤhlung mit meinen Gedanken
in Rom ſeyn ſollte: So verliere ich mich unvermerkt
in meiner Vaterſtadt, und ſehe auf dem Rathhauſe
und auf dem Markte, eine Menge junger Muͤßig-
gaͤnger herum laufen, welche vor großer Beſchaͤffti-
gung, nichts zu thun, keichen. Geſetzt auch, es
ſey eine allegoriſche Erzaͤhlung, ſo kann ich doch
nicht errathen, warum Phaͤdrus eben nur eine ge-
wiſſe Art junger Advocaten gemeynt habe? Koͤnnte
es denn nicht eben ſo wohl auf die jungen Aerzte ge-
hen? Wenigſtens kenne ich einen, welcher ſo aͤngſt-
lich durch die Gaſſen laͤuft, als wenn ihn die Seelen
der Verſtorbnen verfolgten, welche an ſeinen Pil-
len haben erſticken muͤſſen. Er thut ſo unruhig,
als wenn er die halbe Stadt zu einem methodiſchen
Ende zubereiten muͤßte. Oft beſteht ſeine große
Arbeit in weiter nichts, als daß er einen Hund auf-
ſucht, ihn zu wuͤrgen, oder Rhabarbar holt, um
eine Frau zu curiren, welche der Mann durch ſeine
Vermittelung los zu werden ſucht. Dieſes ſind
meine Zweifel, welche ich uͤber die eigentliche Be-
deutung der Erzaͤhlung aus dem Phaͤdrus habe.
P 3Meine
[230]Beytrag zum deutſchen Woͤrterb.
Meine Leſer ſollen den Ausſpruch thun, ob ich oder
mein Freund Recht habe, ob die allegoriſche Er-
zaͤhlung auf die jungen Advocaten, oder auf die
jungen Aerzte, oder vielleicht auf noch andere Arten
muͤßiger, und doch geſchaͤfftiger, Gelehrten gehe?
Hier ſind die Worte des Phaͤdrus ſelbſt:
Gl **
[[231]]
Geheime Nachricht
von
D. Jonathan Swifts
letztem Willen.
P 4
[[232]][233]
Jch bin zeither nicht im Stande geweſen, Jhnen
die verlangte Nachricht von einigen beſondern
Umſtaͤnden des ſwiftiſchen Teſtaments zu geben.
Nunmehr habe ich Gelegenheit gefunden, von al-
lem naͤhere Nachricht einzuziehen, und ich hoffe,
ihre Neugierigkeit dadurch befriedigen zu koͤnnen.
Es iſt allerdings wahr, daß unſer Swift zwoͤlf-
tauſend Pfund Sterlings zu Errichtung eines neuen
Tollhauſes ausgeſetzt hat. Die Nachricht von die-
ſem loͤblichen Vorhaben war ſchon vor ſeinem Tode
bekannt; aber die Meiſten machten ſich, wie auch
Sie, Mylord, ſelbſt gethan haben, unrichtige Be-
griffe von dieſer mildreichen Stiftung. Sie glaub-
ten, dieſes Geld ſey zur Verwahrung, und zum
Unterhalte phyſikaliſcher Narren beſtimmt, welche
klug ſeyn wuͤrden, wenn ihr Koͤrper nicht ungeſund,
und ihr Gebluͤte nicht verderbt waͤre: Allein, hier-
innen betrog ſich unſre ganze Stadt.
Swift, deſſen Charakter ſie wohl gekannt ha-
ben muͤſſen, beſchaͤfftigte ſich in ſeinem Leben nie-
mals mit dieſer Art leiblicher Narren, welche er
vielmehr der Vorſorge des Magiſtrats, und den
Haͤnden der Aerzte und Barbierer uͤberließ. Sei-
ne Bemuͤhung war von einem viel weitern Um-
fange, und weit edler.
P 5Die
[234]Geheime Nachricht
Die moraliſchen Narren lagen ihm am Herzen;
Narren, welche oftmals bey geſundem Koͤrper den-
noch die gefaͤhrlichſten und anſteckendſten Krankheiten
haben.
Seine Dienſtfertigkeit erſtreckte ſich uͤber ganz
Großbritannien; und er hatte Lords und Schreiber in
ſeiner Cur. Durch eine vieljaͤhrige Erfahrung, war
ihm bekannt, daß es mit der moraliſchen Narrheit
eben die Beſchaffenheit habe, wie mit dem Podagra,
mit welchem vornehme Leute am meiſten geplagt ſind,
Leute von geringerm Stande aber nur ſelten, oder
doch wenigſtens nicht ſo heftig befallen werden.
Vor etlichen Jahren that man ihm ſo vortheil-
hafte Vorſchlaͤge, daß er ſich zu Weſtmuͤnſter nieder-
laſſen, und ſeine Curen daſelbſt treiben ſollte. Er hat
es aber allemal auszuſchlagen geſucht, weil er glaub-
te, er ſey dieſer weitlaͤuftigen Arbeit nicht gewach-
ſen, und die Menge der Narren ſey daſelbſt viel
zu zahlreich, als daß er ſie in die Cur nehmen koͤnn-
te. Jn Dublin gefiel es ihm am beſten, weil da-
ſelbſt gleich ſo viel Narren waren, als er beſtreiten
konnte. Jndeſſen war er doch ſo billig, daß er
Weſtmuͤnſter und London von Hauſe aus mit Re-
cepten verſorgte.
Er ſtarb in ſeinem neun und achtzigſten Jahre,
und doch wuͤnſchte er ſich ſelbſt, noch etliche Jahre
zu leben, weil er eben im Begriffe war, mit etlichen
angeſehnen Patienten eine wichtige Operation vor-
zuneh-
[235]von Swifts letztem Willen.
zunehmen. Dieſe liebreiche Vorſorge gegen ſeine
Mitbuͤrger verließ ihn auch auf dem Todbette nicht.
Simon Tuck, ſein Beichtvater, den das Maͤd-
chen der Mylady Wedle und ſein dicker Kopf zum
Predigtamte berufen hatten, fragte ihn nur wenig
Stunden vor ſeinem Tode; ob er freudig ſtuͤrbe?
Nicht recht freudig, antwortete ihm der ſterbende
Swift, ich wuͤnſchte mir wohl noch einige Zeit zu
leben, da ich euch kenne, und weis, daß ihr mei-
ner Cur vor andern beduͤrft.
Alle dieſe Umſtaͤnde fuͤhre ich an, Jhnen, Mylord,
zu zeigen, wie unrecht Sie gethan, daß Sie geglaubt
haben, Swift habe ſein Tollhaus fuͤr hypochon-
driſche Narren geſtiftet. Seiner Vorſorge werden
ſich ſowohl in Jrrland, als Großbritannien, ganz an-
dre Narren zu erfreuen haben. Narren, welche
ſich dieſes am wenigſten einbilden, und welchen eben
Swift zu fruͤhzeitig geſtorben iſt.
Sie koͤnnen ſich hiervon noch beſſer uͤberzeugen,
wenn ich Jhnen ſage, daß ſich Swift in ſeinem
Teſtamente auf ein Codicill berufen hat, welches
man verſiegelt in ſeinem Pulte gefunden. Es ent-
haͤlt die Namen derjenigen Perſonen, welche Swift
vor andern wuͤrdig haͤlt, in ſeinem neuen Tollhauſe
zu wohnen. Er hat das Parlament erſucht, ſein
Teſtament zur Vollziehung zu bringen. Man iſt
itzt damit beſchaͤfftigt, und ich hoffe Jhnen, Mylord,
einen Gefallen zu erzeigen, wenn ich hier das Co-
dicill von Wort zu Wort einruͤcke.
Codi-
[236]Geheime Nachricht
Codicill.
Jch Endesbezeichneter ordne mit reifem Vorbe-
dachte, als meinen letzten Willen, daß mein Toll-
haus mit nachbenannten Perſonen eingeweiht wer-
den ſoll, weil ſie dieſer Wohlthat vor allen andern
beduͤrftig ſind:
Nicolaus Earring, mein Kuͤſter, wuͤrde es
ſehr uͤbel nehmen, wenn ich ihn nicht zuerſt nennte.
Er beſitzt ſo viel geiſtlichen Hochmuth, daß er ver-
diente, Lord Erzbiſchoff zu werden, und da er ſeine
Verdienſte um die Kirche am beſten kennt, ſo ver-
zweifelt er ſelbſt noch nicht gaͤnzlich an ſeinem hoͤ-
hern Gluͤcke, es muͤßte ihm denn die Graͤfinn Yar-
mouth zuwider ſeyn, welcher er Schuld giebt,
daß ſie ihm ſchon zweymal hinderlich geweſen,
und den Koͤnig George wider ſeine Perſon einge-
nommen habe. Wenn der Hof noch weiter fort-
faͤhrt, unerkenntlich zu ſeyn: So iſt er faſt willens,
ſich zum Praͤtendenten zu ſchlagen. Er ſagt ſeinen
Freunden ins Ohr, daß er oͤfters an der Wahr-
heit ſeiner Religion zu zweifeln anfange, weil nach
derſelben unſre Geiſtlichen eine ſo unumſchraͤnkte
Gewalt nicht haͤtten, als ihnen wohl von Rechts-
wegen zukaͤme, und weil man beſonders aus
den Kuͤſtern ſo gar wenig machte, die doch bey
den Jacobiten in einem groͤßern Anſehen ſtuͤnden.
Dem ungeachtet habe ich ihn bey ſeiner Reli-
gion in andern Punkten ſehr eifrig gefunden. Er
macht
[237]von Swifts letztem Willen.
macht binnen einem Jahre weit mehr Ketzer, als
Burnet in ſeinem ganzen Leben nicht gemacht hat.
Den Gloͤckner an dem Kirchſpiele zu St. James
haͤlt er fuͤr einen Qvaͤcker, weil dieſer ihm einmal
begegnet iſt, ohne den Huth vor ihm abzunehmen;
und von unſerm Biſchoffe ſchwoͤrt er bey ſeiner See-
le, daß er ein Jacobite ſey, weil dieſer ihm un-
laͤngſt Nicolaus und nicht, Herr Nicolaus, ge-
rufen. Mit einem Worte, alle diejenigen haͤlt er
fuͤr unglaͤubig, die ihm auf einige Art zuwider ſind,
oder ihm nicht mit ſo vieler Ehrfurcht begegnen, als er
bey ſeinem ehrwuͤrdigen Kuͤſteramte fodern zu koͤnnen
glaubt. Um deswillen verlange ich, daß er in mein
Tollhaus kommen ſoll, und, um ſeinen ruͤhmlichen
Ehrgeiz recht zu befriedigen, ſoll Herr Nicolaus den
Rang uͤber alle andre Narren haben.
Der Lord Lavat verdient, ſein Nachbar zu
werden. Wenn die Ehrenſtellen in der Welt nach
Verdienſten ausgetheilet wuͤrden, ſo waͤre Lord La-
vat ein Kutſcher. Er iſt aber Lord, kraft ſeines
Uraͤltervaters, welcher auch Lord war. Er iſt ſehr
beredt, wenn er auf die Tapferkeit und die Ver-
dienſte ſeiner Voraͤltern zu reden koͤmmt; und wen
er fuͤr vernuͤnftig halten ſoll, deſſen Vorfahren
muͤſſen wenigſtens zu Wilhelm Conqueſtors Zei-
ten ſchon hochgebohrne Fuchsjaͤger geweſen ſeyn.
Aus dem Parlamente koͤmmt er allemal unzufrie-
den zuruͤck, weil er, wie er vorgiebt, jederzeit uͤber-
ſtimmt, und verhindert wird, ſeine heilſamen
Rath-
[238]Geheime Nachricht
Rathſchlaͤge zum Beſten des Vaterlandes geltend zu
machen. Gleichwohl haben mich diejenigen, welche
mit ihm im Parlamente ſitzen, verſichern wollen,
daß er ſeit dem Tode der Koͤniginn Anna nicht ein
Wort geſprochen, ſondern zu allen Billen ſtillſchwei-
gend ſeine Einwilligung gegeben habe. So viel iſt
gewiß; man findet in den Parlamentsprotocollen
nicht eine einzige Proteſtation, die er mit unterzeich-
net haͤtte. Es erſtreckt ſich ſeine Staatskunſt
weiter nicht, als auf einen Strick Hunde. Jn
der Verfaſſung andrer Laͤnder iſt er ganz unwiſ-
ſend. Jch bin ſelbſt dabey geweſen, als in einer
Geſellſchaft von den Vorzuͤgen der deutſchen Reichs-
ritterſchaft geſprochen, und auf gut brittiſch davon
geurtheilt wurde. Lord Lavat, der uns lange zuge-
hoͤrt hatte, machte dem ganzen Streite ein Ende.
Jch, rief er, ich aber lobe mir die Herren Cantons!
Denn die Cantons hielt er, nach ſeiner Erklaͤrung,
die er dabey machte, fuͤr eine alte adliche Familie
in Deutſchland. Dieſe große Unwiſſenheit und
Dummheit unſers Lords macht, daß ich befuͤrchte,
er ſey im Stande, ſich, bey der naͤchſten Gelegen-
heit, zu einer Bande misvergnuͤgter Unterthanen
zu ſchlagen, und in der Kirche und dem Regimente
große Neuerungen zu unternehmen. Das Parla-
ment wird alſo Sorge tragen, ihn in meinem Toll-
hauſe ſorgfaͤltig zu verwahren.
Da in Großbritannien die Vornehmſten des
Reichs ſich eine Ehre daraus machen, die Gelehr-
ſam-
[239]von Swifts letztem Willen.
ſamkeit empor zu bringen, und die Werke des Wi-
tzes zu befoͤrdern: So ſehe ich nicht, wie der Lord
Pellbrow verlangen kann, laͤnger unter ihnen ſo
frey, wie bisher, herumzugehen. Das iſt ihm
nicht genug, daß er ſelbſt unwiſſend, und weit
duͤmmer iſt, als ſein Pachter. Er macht ſich ſo gar
eine Ehre daraus, in ſeiner Unwiſſenheit zu bleiben.
Bey aller Gelegenheit verfolgt er die ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaften, und, wenn er recht gnaͤdig iſt, ſo
ſpricht er nur veraͤchtlich von ihnen. Jn oͤffentli-
chen Geſellſchaften laͤrmt er wider die Gelehrten,
und dennoch wird er, weil er jaͤhrlich zwanzig tau-
ſend Pfund Einkuͤnfte hat, und die Mylady Pall-
brow ſehr ſchoͤn iſt, auf dem Hydepark bewundert
und bey Hofe geduldet. Er haͤlt ſich mit vielen Un-
koſten zween Sekretaͤre auf ſeinen eignen Leib,
welche weiter nichts zu thun haben, als aus vollem
Halſe zu lachen, ſo bald er den Mund aufthut, wi-
der die Gelehrten zu ſchimpfen; ja, er ſteht im Be-
griffe, ſich noch den dritten aus Deutſchland zu ver-
ſchreiben, weil er glaubt, ein Deutſcher ſey zum
Bewundern am geſchickteſten, und zu einem Jacob
Pudding, welche Leute er ſehr hochhaͤlt, recht
von Natur gemacht. Wann er recht groß thun
will: So verſichert er mit den theuerſten Schwuͤren,
daß er in ſeinem ganzen Leben kein gedrucktes Buch
geleſen habe, als den Kalender, und den Crafts-
man. Gleichwohl haͤlt er den Milton fuͤr einen ra-
ſenden Kopf, den Grafen Schaftsbury fuͤr einen
muͤrriſchen Schulfuchs, und die ganze großbritan-
niſche
[240]Geheime Nachricht
niſche Nation fuͤr pedantiſch, weil ſie zugelaſſen
hat, daß der Versmacher Dryden in der Abtey
Weſtmuͤnſter begraben worden ſey. Wenn Lord
Pallbrow noch zwey Jahre in ſeiner Dummheit
hingeht: So iſt nichts gewiſſer, wenigſtens nichts
wahrſcheinlicher, als daß noch gar ein Freygeiſt
aus ihm wird. Er ſoll alſo ins Tollhaus, und
zwar ſo bald, als nur moͤglich.
Jhre Hochwuͤrden, der Biſchoff O-Carry
verdient auch ein Plaͤtzchen darinnen. Jch glaube
auch, ſeine Gemeine werde ihn nicht ſehr vermiſſen,
weil ſie ihn ſehr ſelten, als Biſchoff, zu ſehen be-
koͤmmt. Sein Capellan hat alle biſchoͤffliche Bemuͤ-
hungen; Jhro Hochmoͤgenden aber laſſen ſich aus Be-
ſcheidenheit nur an der Beſoldung und den Acciden-
tien begnuͤgen. Er ſchachert wie ein portugieſiſcher
Jude. Er aſſecurirt Schiffe, und wenn man
glaubt, er ſitze in ſeiner Studierſtube, ſo ſteht er
auf dem Boden, und ſieht ſich nach dem Winde
um. Er leiht ſeine Capitalien mit großer Vorſicht,
und mit weit beſſerm Nutzen aus, als irgend ein
Kaufmann auf der Boͤrſe thun kann. Jch bin ſei-
netwegen oft in Sorgen geweſen, weil ich weis,
daß auch der vorſichtigſte Wuchrer ungluͤcklich
ſeyn kann. Es wuͤrde ein ſehr wichtiger Punkt in
unſrer Kirchenhiſtorie werden, wenn ihn einmal ein
Wechſelglaͤubiger bis auf die Kanzel verfolgen ſoll-
te, oder wenn dieſer hochwuͤrdige Mann Banke-
rott machte, und in den Schuldthurm geſperrt
wuͤrde.
[241]von Swifts letztem Willen.
wuͤrde. Die armen Mitgefangnen ſollten mich
dauern, denn ich traue ihm zu, daß er die Allmo-
ſenbuͤchſe ſehr ungleich theilen, und allemal wenig-
ſtens den zehenten Theil fuͤr ſich, als Biſchoff, behal-
ten wuͤrde. Man ſchaffe alſo dieſen Wuchrer ins
Tollhaus, und wenn es moͤglich iſt, auch denjenigen,
welcher ihn zum Biſchoffe geweiht hat.
Am dritten September waren es gleich drey Jah-
re, daß ſich der junge Herr Something erhenken
wollte, weil er befuͤrchtete, daß man ihn bey der
Rathswahl uͤbergehen wuͤrde. Jch bin ſehr uͤbel
damit zufrieden, daß man ihn geſtoͤrt hat. Er
haͤtte ſich bey dem damaligen ſtarken Oſtwinde im-
mer, als ein braver Britte, haͤngen koͤnnen; ſo wuͤrde
das Land einen Phantaſten weniger, und ich keine
Sorge haben, wie ich ihn in meinem Tollhauſe un-
terbringen moͤchte. Dieſer unmuͤndige Knabe iſt,
trotz der geſunden Vernunft und ſeines keimenden
Barts, ein Vater der Stadt geworden; und nicht
die Stadt allein, ſondern auch ſein eigner Koͤrper
muß gewaltig darunter leiden; denn er hatte dieſe
ehrwuͤrdige Stelle kaum vier und zwanzig Stunden
lang bekleidet, da ſich auf einmal alle ſeine Glieder
mit der groͤßten Ernſthaftigkeit aus einander renk-
ten. Der Kopf preßte ſich zuruͤck, und blieb un-
beweglich auf dem Halſe ſtehen. Eine Unterkehle,
noch majeſtaͤtiſcher von Anſehen, als die Unterkehle
des laͤcherlichen Lords Plackney, unterſtuͤtzte die-
ſes Haupt, und die weiſe Natur erzeigte ſich da-
Zweyter Theil. Qdurch
[242]Geheime Nachricht
durch ſehr ſorgfaͤltig, da ſie wohl wußte, daß dieſes
Haupt von den ſchweren Sorgen des ganzen Stadtre-
giments angefuͤllt waͤre. Seine Augen, welche ſeit etli-
chen Monaten mit nichts beſchaͤfftigt geweſen waren,
als auf der Schaubuͤhne mit unſrer artigen Taͤnze-
rinn, der Jungfer Poper, zu bulen; dieſe fluͤch-
tigen Augen wurden auf einmal finſter, und er
ſoll, wenn es wahr iſt, was man von ihm ſagt,
ſich lange Zeit hindurch vor dem Spiegel mit eben
der Aufmerkſamkeit in ſeiner ehrwuͤrdigen Magi-
ſtratsmiene geuͤbt haben, mit welcher ſich einige
Frauenzimmer uͤben, wenn ſie zaͤrtlich und reizend
ausſehen wollen. Aber an ſeinem ganzen Koͤrper
hat nichts ſo viel ausſtehen muͤſſen, als ſein armer
unſchuldiger Bauch. Es war erbaͤrmlich anzuſehen,
mit was fuͤr Gewalt dieſer auf einmal hervorbrach.
Zuſehends ſchwoll er auf. Mehr als ein Dutzend
Schneider hat er abgedankt, welche ihm alle die
Kleider zu enge machten. Meiſter King hat ſich
bey ihm am laͤngſten erhalten, und ich kann ihm
bey ſeinem Handwerke das Zeugniß geben, daß er
vor allen andern Schneidern den anſehnlichſten
Magiſtratsbauch zuzuſchneiden weis. Ein ſolcher
praͤchtiger Bauch will gute und ſichre Beine ha-
ben, das verſteht ſich von ſich ſelbſt, und wer es nicht
glaubt, der darf nur unſerm Herrn Something zu-
ſehen, wenn er durch die Gaſſen ſteigt. Es ge-
ſchieht dieſes alles mit der behutſamſten Langſam-
keit, und das Pflaſter ſcheint unter dieſer vereh-
rungswuͤrdigen Laſt zu krechzen. Dieſes iſt unſers
Somet-
[243]von Swifts letztem Willen.
Somethings Abſchilderung nach dem Leben, und
wer dabey noch zweifelhaft bleibt, ob er ein Narr
ſey, dem will ich rathen, eine Geſellſchaft zu ſu-
chen. Was er ſpricht, das ſpricht er nur zweydeu-
tig mit halben Worten. Bey den Reden andrer
hoͤrt er aufmerkſam und argwoͤhniſch zu, ob nicht
vielleicht etwas wider die Polizey und den Staat
geredet werden moͤchte. Kuͤnftiges Jahr koͤmmt
er an das Regiment, und alsdann will er allen Un-
ordnungen abhelfen. Er kennt die Staͤrke und
die Schwaͤche des Vaterlands. Von Privilegien,
alten Gerechtigkeiten, von Exempeln, wie in glei-
chen Faͤllen geſprochen worden, weis er beynahe
noch mehr zu erzaͤhlen, als unſre jungen Ritter,
wenn ſie zum erſtenmale in dem Hauſe der Gemei-
nen geweſen, und Subſidien bewilligt haben. Wer
ihm zu ſchmeicheln weis, den verſichert er ſeines
Schutzes, und ſeiner vaͤterlichen Vorſorge, und
wer ſich vor ſeinem Bauche recht tief und kindlich
buͤckt, den wuͤrdigt er, ihm die Hand zu druͤcken, wel-
ches aber mit eben der zuverſichtlichen Miene ge-
ſchieht, mit welcher die alten Koͤnige die Kroͤpfe an-
ruͤhrten. Dieſes wird genug ſeyn, zu zeigen, war-
um ich ordne, daß Herr Something in das Toll-
haus ſoll, und, aus Liebe zum Vaterlande, will ich,
daß es noch in dieſem Jahre geſchehe, ehe er zum
Stadtregimente koͤmmt.
Anfaͤnglich war ich Willens, Herrn Somet-
hings Collegen, den guten alten Nowtell auch in mein
Q 2Toll-
[244]Geheime Nachricht
Tollhaus zu ſchaffen. Man hatte mich bereden wol-
len, er ſey an vielen Unordnungen und Ungerechtig-
keiten Schuld, welche verſchiednen unſrer Buͤrger
widerfahren waren. Aber mir kamen, aufrichtig zu
geſtehen, alle dieſe Erzaͤhlungen gleich anfangs ver-
daͤchtig vor, da ich den ehrlichen Nowtell genau
kannte, und wohl wußte, daß er zu Schelmereyen zu
dumm waͤre. Nun bin ich hinter die rechte Wahrheit
gekommen. Seine Frau iſt an allem Schuld.
Dieſe iſt es, welche die Parteyen verdammt
und loszaͤhlt, ihr Mann aber iſt weiter nichts,
als ihr unwuͤrdiger Schreiber. Dieſer einſehen-
den Frau haben wir die neue Rangordnung zu
danken, nach welcher in Dublin die Weiber
der Rathmaͤnner uͤber alle andern Frauensper-
ſonen den Vortritt behaupten. Nur ſie iſt Ur-
ſache, daß der brave Kaufmann Car ‒ ‒ er in
den ſchweren Proceß verwickelt wurde, welcher ihn
um ſein ganzes Vermoͤgen brachte, nicht etwan,
weil ſeine Sache ungerecht war, ſondern weil ſeine
Frau ſich an der Frau Nowtell groͤblich verſuͤn-
digt, und in der Kirche am Altare den Rang uͤber
ſie frevelhafter Weiſe genommen hatte. Jch habe
gar niemals begreifen koͤnnen, woher es gekommen,
daß die geiſtlichen Aemter in unſrer Stadt ſeit eini-
gen Jahren mit ſo elenden Leuten beſetzt worden.
Aber nunmehr begreife ich es wohl, da ich weis,
daß die Frau Nowtell der goͤttliche Beruf iſt,
und dieſe Stellen beſetzt hat. Eine alte Frau,
welche ihre vertraute Herzensfreundinn iſt, hat das
ius
[245]von Swifts letztem Willen.
ius praeſentandi; die Frau Nowtell vocirt
ſie; der Rath muß ſie beſolden, und die Buͤr-
ger behalten weiter keine Freyheit uͤbrig, als daß
ſie in der Predigt gaͤhnen, und ſchlafen duͤrfen.
Dieſes iſt noch der Reſt ihrer natuͤrlichen Freyheit,
deſſen ſie ſich auch ſehr wohl zu bedienen wiſſen.
Alles dieſes hat mich bewogen, meinen gefaßten
Entſchluß zu aͤndern. Die Frau Nowtell ſoll
die ihrem unſchuldigen Manne zugedachte Stelle
im Tollhauſe bekommen; ihr Mann aber, der
durch dieſen Verluſt ſeiner Frau außer Stand ge-
ſetzt wird, ein Rathsherr zu bleiben, wird wohl
thun, wenn er ſein Amt von ſich ſelbſt niederlegt, ſich
zur Ruhe begiebt, ſeine Kuͤche und Wirthſchaft
beſorgt, und bey muͤßigen Stunden ſeine Schraͤnke
bohnt.
Da ich weiter nachdenke, an wem ich unter den auf
dem Stadthauſe in Pflichten ſtehenden Perſonen mei-
ne Werke der chriſtlichen Liebe ausuͤben koͤnnte; ſo fal-
len mir unter den Sekretaͤren, Schreibern, und Ein-
nehmern eine ſo große Menge kleiner Narren mitt-
lern Standes ein, daß ich nicht weis, bey wem ich
anfangen ſoll. Meine zwoͤlftauſend Pfund Ster-
lings reichen warlich nicht zu, ſie alle zu unterhalten.
Die Commun ſollte ſich billig ihrer durch eine mil-
de Stiftung annehmen. Wie freudig wollte ich
ſterben, wenn ich die Hoffnung, daß dieſes geſche-
hen wuͤrde, mit ins Grab nehmen koͤnnte! Kurz,
ich empfehle dieſe Narren ihrem Vaterlande!
Q 3Mein
[246]Geheime Nachricht
Mein Freund, Partridge, ſtarb mir zu fruͤh; ich
haͤtte ihn ſonſt in meinem Teſtamente gewiß nicht
vergeſſen: Aber deſto treulicher will ich fuͤr ſeine
werthen Angehoͤrigen ſorgen. Er hat eine zahlrei-
che Familie hinterlaſſen. Lauter Partridgen, und
politiſche Narren, wie ihr Herr Vater! Jch zweifle
nicht, daß ich dieſen guten Leuten eine unvermuthe-
te Freude durch dieſen meinen letzten Willen ma-
chen werde. So tief ihre Einſicht in die Zukunft
iſt, und mit ſo vieler Gewißheit ſie alle Dinge zu
beſtimmen wiſſen, die im Staate, und in den Fa-
milien geſchehen ſollen: So wenig werden ſie ſich
traͤumen laſſen, daß ich itzt Anſtalt mache, ſie ins
Tollhaus zu bringen. Sie ſollen alle hinein, ich ge-
be ihnen mein Wort. Wer durch hinlaͤngliche Ur-
kunden darthun kann, daß er in abſteigender Linie
von dem weiſen Partridge herkoͤmmt, der ſoll ohne
Weitlaͤuftigkeit aufgenommen werden; und, wenn
er gar ein politiſcher Autor iſt, ſo ſoll er den Rang
noch uͤber meinen Kuͤſter haben. Jch will dieſes
ausdruͤcklich, und ordne mit gutem Vorbedachte, daß
man keinen von dieſen Partridgen uͤbergehe. Wer
dieſen meinen letzten Willen freventlich uͤbertritt,
der ſoll, zur Strafe, ſchuldig ſeyn, ihre Schriften
zu leſen, und ſich von ihnen die Nativitaͤt ſtellen zu
laſſen.
N. S. Sollten die Narren aus dieſer Familie
gar zu haͤufig anwachſen; So mag allenfalls ein
andrer Narr wegbleiben, nur kein Lord und kein
Philoſoph.
Herr
[247]von Swifts letztem Willen.
Herr Dewlapp Eſq. hat einen ſo wunderbaren
Charakter, daß ich lange Zeit nicht errathen koͤn-
nen, was er eigentlich ſey; endlich habe ich es her-
ausgebracht, daß er ein Narr iſt. Jn ſeiner Ju-
gend war er der luͤderlichſte Junker in der ganzen
Grafſchaft. Dieſes hinderte ihn, die geringſte
Kenntniß von der Religion oder von andern Wiſſen-
ſchaften zu erlangen. Jtzt wird er in ſeinem drey
und vierzigſten Jahre ſeyn, und er hat in ſeinem
ganzen Leben noch nichts geleſen, als die geſchrieb-
nen Zeddel, welche ihm ſein Koch alle Mittage
bringt. Wer ihn vor der Mahlzeit ſpricht, ſo lan-
ge noch ſeine Natur ſich ſelbſt gelaſſen iſt, der er-
ſtaunt uͤber ſeine Dummheit, denn er iſt nicht im
Stande, drey vernuͤnftige Worte ohne Anſtoß zu
reden. So bald ihm aber der Wein in den Kopf
ſteigt, und dieſes geſchieht ſchon beym andern Ge-
richte: So ſieht man den Herrn Dewlapp in ſei-
ner voͤlligen Groͤße. Auf einmal wird er beredt;
ſein ganzer Koͤrper denkt, und niemand hat es als-
dann ſchlimmer, als ſein Capellan. Dieſer iſt ihm
laͤcherlich, weil er ein Geiſtlicher iſt, denn ihm
koͤmmt nichts abgeſchmackter vor, als die Reli-
gion. Er laͤuft von Witze uͤber, wenn er auf die
goͤttlichen Wahrheiten zu reden koͤmmt, und
bringt man ihn auf den Zuſtand der Seele nach die-
ſem Leben, ſo weis er uͤber dieſe Materie auf eine
ſo feine Art zu ſpotten, wie ein Lohnkutſcher. Herr
Dewlapp weis gar nichts, und daher koͤmmt es
auch, daß er nicht weis, was er aus der Selig-
Q 4keit
[248]Geheime Nachricht
keit machen ſoll, und weil er das nicht weis, ſo
ſchließt er nach ſeiner natuͤrlichſten Art zu denken, daß
die Lehre von jenem Leben, mit unter die Maͤhrchen
von der weißen Frau, und dem Moͤnchen ohne Kopf
gehoͤren, mit welchen man zwar Kinder, aber kei-
ne Eſquires zu fuͤrchten macht. Nach dieſer Beſchrei-
bung koͤnnte man glauben, daß ich gar nicht Urſa-
che haͤtte, ihn ins Tollhaus zu bringen, ſondern ihn
ganz ſicher in ſeiner Freyheit duͤrfte herumgehen laſ-
ſen, ohne zu befuͤrchten, daß er den geringſten
Schaden in der menſchlichen Geſellſchaft anrichten
wuͤrde. Allein, er hat den Fehler, daß er reich iſt,
und dieſen Fehler misbraucht eine Menge hungri-
ger kleiner Geiſter, welche ihrem Verſtande entſa-
gen, um ihren Magen zu befriedigen. Sie beſitzen
etwas mehr Geſchicklichkeit, als ihr Wirth, den ſie
dadurch ſich verbindlich zu machen wiſſen, wenn ſie
ſeinen Gedanken eine Form geben, und ſie drucken
laſſen, daß ſie ausſehen, wie ein Buch. Dieſes iſt
der wahre Urſprung von allen denen Schrif-
ten, die ſeit dreyzehen Jahren wider die Reli-
gion herausgekommen ſind. Man hat immer nicht ge-
wußt, wie es doch zugehe, daß in allen dieſen Schrif-
ten ſo wenig Zuſammenhang, und Verſtand ſey;
Aber nun wird man es wohl begreifen koͤnnen, wenn
man bedenkt, daß es des unwiſſenden und trunk-
nen Ritters Dewlapps Tiſchreden ſind, welche von
ſeinen hungrigen Koſtgaͤngern zum Drucke befoͤrdert
worden. Damit dieſer Schwaͤrmerey geſteuert wer-
de, ſo verlange ich, daß Herr Dewlapp Eſq.
unver-
[249]von Swifts letztem Willen.
unverzuͤglich ins Tollhaus komme. Da ihm hier
der Wein fehlen wird: So hoffe ich, daß er die Re-
ligion unangetaſtet laſſen ſoll. Er wird bey einem
maͤßigen Unterhalte gar nichts denken, und in ſei-
ner natuͤrlichen Dummheit bleiben. Dieſes iſt
duͤnkt mich, fuͤr ihn, und fuͤr die Welt der kleinſte
Verluſt. Das Parlament wird Sorge tragen,
daß der dritte Theil ſeiner Einkuͤnfte zur Bekoͤſti-
gung der kleinen Freygeiſter angewendet werde.
Dieſes wird ſie, wie ich hoffe, beruhigen, und ſie
werden aufhoͤren, wider die goͤttlichen Wahrheiten
zu ſchreiben, da ſie nunmehr weiter nicht noͤthig ha-
ben, ihr Brod damit zu verdienen.
James Diaper weis aus den goͤttlichen und
buͤrgerlichen Geſetzen in beſter Form Rechtens zu
behaupten, daß dem Manne und nicht der Frau die
Herrſchaft gebuͤhre. Er ſpottet alſo uͤber diejeni-
gen, welche ſich aus der Poſſeß werfen laſſen, und
ihren Weibern folgen, wenn ihnen dieſe etwas ra-
then. Seine Frau iſt die vernuͤnftigſte Frau von
der Welt. Da ſie die unordentliche Lebensart ih-
res Mannes kennt: So ſucht ſie ihn mit den freund-
lichſten Zureden davon abzuziehen. Seine Ver-
ſchwendung ſetzt ſie in die Umſtaͤnde, daß ſie viel-
mals darben muß. Sie ertraͤgt dieſen Mangel mit
der groͤßten Gelaſſenheit. Sie bittet ihn mit Thraͤ-
nen, ſeinen Aufwand zu maͤßigen, und ſich ſeiner
armen Kinder zu erbarmen. Sie hat ihn, mit
Verſtoßung ihres Geſchmeides, zweymal aus dem
Q 5Schuld-
[250]Geheime Nachricht
Schuldthurme gerettet. Sie faͤllt ihm wimmernd
um den Hals, da er im Begriffe ſteht, ſich zum
drittenmale ohne Rettung in denſelben zu bringen.
Sollte Diaper zweifeln, daß ſeine Frau vernuͤnf-
tig ſey? Nein, daran zweifelt er nicht; aber es iſt
ſeine Frau, und ſeiner Frau darf ein rechtſchaffner
Mann nicht folgen; denn er verloͤre ſonſt die
Herrſchaft, die ihm nach goͤttlichen und weltlichen
Rechten zukoͤmmt. Er iſt dieſen Abend geſonnen,
zu Hauſe zu bleiben; ſeine Frau ſchmeichelt ihm we-
gen dieſes vernuͤnftigen Entſchluſſes. Gleich aͤndert
er ſeinen Vorſatz; er geht aus, und zwar in die luͤder-
lichſte Geſellſchaft, zu zeigen, daß nur er Herr im
Hauſe ſey, und nicht ſeine Frau. Der Kopf thut
ihm nach dem geſtrigen Rauſche weh; dieſen Abend
will er nicht trinken. Er ſagt es, und giebt [auf]
die Mienen ſeiner Frau Achtung. Dieſe Ungluͤck-
ſelige ſcheint ganz freudig daruͤber zu ſeyn. Kaum
merkt er es, als er ſich ankleidet, und die ganze
Nacht durch ſaͤuft. Er wird krank nach Hauſe ge-
bracht. Das ſchadet nichts; er hat doch ſeine
Herrſchaft behauptet. Jſt Diaper nicht ein
Narr? Jch ſollte es wohl meynen. Er ſoll ins
Tollhaus!
Der junge Thomas Swallow wird ſich wun-
dern, wenn er erfahren wird, daß er in meinem
Tollhauſe alt werden ſoll. Er iſt in der That nicht
aͤlter, als ſiebenzehen Jahr, aber bey ihm kann das
Alter nicht entſchuldigen. Er verdient meine Vor-
ſorge,
[251]von Swifts letztem Willen.
ſorge, und ich glaube, man kann nicht genug ei-
len, ihn dahin zu bringen. Sein Großvater war
ein ziemlich elender Poet, aber doch noch ertraͤg-
lich, weil er nur wenig ſchrieb. Deſſen Sohn, der
Vater meines jungen Zuͤchtlings, war ſchon weit
ſchlimmer. Er ſchrieb Gedichte uͤber Gedichte, ſo
ſchlecht, daß ſelbſt die Niederlaͤnder daruͤber ſpotte-
ten, ja, was das erſchrecklichſte war, ſo ließ er
ſeine Gedichte in einen Band zuſammendrucken.
Der junge Swallow, ein wuͤrdiger Erbe ſeines
Vaters, hat ſchon ein ziemliches Baͤndchen von ſei-
nen eignen Gedichten im Manuſcripte liegen, wel-
ches er zu ediren droht, ſo bald er muͤndig wird.
Es iſt hohe Zeit, daß man ihm Einhalt thut.
Machte ich nicht bald Anſtalt, ihn in Sicherheit zu
bringen: So wuͤrde ich es bey unſern Kindern nicht
verantworten koͤnnen. Unſre Enkel wuͤrden noch
am gluͤcklichſten ſeyn; denn bis zu ihnen duͤrfte von
ſeinen poetiſchen Werken wohl vermuthlich nichts
kommen. Was fuͤr Ungluͤck braͤchte ich nicht uͤber
das arme Land, wenn ich zuließe, daß durch unſern
jungen Dichter ſein Geſchlecht fortgepflanzt wuͤrde!
Es ſcheint, daß das Uebel in dieſer poetiſchen Fa-
milie mit jedem Grade ſteigt; und ſollte dieſer wie-
der einen Sohn zeugen: Was iſt gewiſſer zu befuͤrch-
ten, als daß man denſelben gar an Ketten ſchließen,
und ihm die Haͤnde auf dem Ruͤcken zuſammen feſ-
ſeln muͤßte, damit er nicht ſchreiben koͤnnte? Da der
Großvater abgeſchmackt, der Sohn ein Narr war,
und der Enkel ſeinen Vater ſchon itzt uͤbertrifft:
Was
[252]Geheime Nachricht
Was ſoll aus dem Urenkel werden? Man ſperre
ihn ein! Er hat es verdient, und verdient es ſchon
dadurch, daß er die elenden Gedichte ſeines Vaters
bewundert, und im Begriffe ſteht, ſie mit einer
Vorrede zum zweytenmale auflegen zu laſſen. Er
faͤngt ſchon an, ſeine eignen Gedichte andern vorzu-
leſen. Auf der Gaſſe ſo gar faͤllt er die Leute an,
und lieſt ſie ihnen mit Gewalt vor. Er iſt mis-
vergnuͤgt, wenn man ſie nicht lobt, und unverſoͤhn-
lich, wenn man ſie tadelt. Ungeachtet ſeiner Ju-
gend kann er doch ſchon ſchimpfen, wie ein Kunſt-
richter von funfzig Jahren. Was ſoll endlich noch
daraus werden? Jns Tollhaus mit ihm! Dieſes
iſt mein letzter Wille.
Wenn ich unſern Math. Pidgeon, dieſen
verſchwenderiſchen Juͤngling, fragen wollte, was
mit ſeinem alten geizigen Oheime, Hugh-Poun-
ces, anzufangen waͤre: So zweifle ich nicht, er
wuͤrde mir mit der groͤßten Ungeduld in die Rede
fallen, und mich von ganzem Herzen verſichern, daß
ſein Oheim ein Narr ſey, und in mein Tollhaus
gehoͤre. Nun getraue ich mir zwar eben nicht, zu
laͤugnen, daß Pounces ein Narr ſey, wenn ich
ſehe, daß er alle erſinnliche Anſtalt macht, auf
dem Geldkaſten Hungers zu ſterben, und ſein Ver-
moͤgen dem jungen Pidgeon zu hinterlaſſen, wel-
cher in einem Tage mehr verthun wird, als er in
einem ganzen Jahre erkargen koͤnnen. Aber doch
kann ich mich nicht entſchließen, ihn in mein Toll-
haus
[253]von Swifts letztem Willen.
haus zu nehmen. Jch werde billiger ſeyn, wenn
ich dieſe Stelle unſerm leichtſinnigen Juͤnglinge
einraͤume. Es iſt in der Philoſophie noch eine
große Streitfrage, welcher von beiden der groͤßte
Narr ſey? Derjenige, welcher bey ſeinem mistraui-
ſchen Alter, als ein reicher Geizhals, verhungert?
Oder ein unbeſonnener Juͤngling, welcher ein Ver-
moͤgen, das er nicht erworben hat, muthwillig
durchbringt, damit er im Alter aus Armuth Hun-
gers ſterbe? Wenigſtens iſt jener dem gemeinen We-
ſen nicht ſo ſehr zur Laſt, da im Gegentheile die Obrig-
keit ſich genoͤthigt ſieht, dieſen entweder, als einen
Raͤuber, zu haͤngen, oder, als einen ehrlichen Bett-
ler, im Hoſpitale zu ernaͤhren. Ein Geizhals, wel-
cher ſich von ſeinem Geldkaſten niemals zu weit
entfernt, iſt gewiſſermaaßen ſchon eingeſperrt. War-
um ſoll ich ihn in meinem Tollhauſe verſchließen?
Jch will alſo, man bringe den jungen Math.
Pidgeon dahin. Hier ſoll er bleiben, bis er
dreyßig Jahr alt iſt. Muͤßig darf er nicht gehen;
denn eben dieſes iſt ſein Ungluͤck. Er ſoll weder
Mittags noch Abends etwas zu eſſen bekommen,
wenn er nicht vorher mit ſeiner Hand ſo viel ver-
dient hat, als ſein Eſſen koſtet. Auf ſolche Weiſe
wird er erfahren, wie ſchwer es ſey, ſeinen Unter-
halt zu verdienen. Man gebe ihm ſeines Oheims
Jntereßrechnungen, dieſe ſoll er calculiren, damit
er rechnen lerne. Jch hoffe, wenn man ihn ſo
weit bringt, daß er arbeitet und rechnet, ſo wird
man ihn im dreyßigſten Jahre ſeines Alters ohne
Beden-
[254]Geheime Nachricht
Bedenken wieder frey laſſen, und ihm das Vermoͤ-
gen ſeines Oheims anvertrauen koͤnnen. Jch mey-
ne es recht gut mit ihm, und bin gewiß, das Va-
terland wird es dereinſt erkennen, daß ich ihm einen
guten Buͤrger gezogen habe.
Ueber wen das Ungluͤck es verhangen hat, in der
Nachbarſchaft der erbaulichen Sara Knidly zu
wohnen; der wird ſich nicht wundern, wenn er ſie
in meinem Codicille findet. Jhr Haus iſt einem
verwuͤnſchten Schloſſe, und ſie einem Poltergeiſte
aͤhnlich, der alle Menſchen quaͤlt, die ihm nicht
ausweichen koͤnnen. Wer es vermeiden kann, der
huͤtet ſich wohl, mit ihr unter einem Dache zu
wohnen. Den ganzen Tag ſpukt ſie im Hauſe
herum. Nirgends poltert ſie aͤrger, als in der
Kuͤche, und niemals iſt ihre Gegenwart gefaͤhrli-
cher, als wenn ſie herumgeht, und Pſalme brummt.
Jhre ungluͤckliche Magd hat es empfunden, und es
iſt nicht lange, daß dieſelbe beynahe ihr rechtes Au-
ge uͤber dem ſechſten Pſalme verloren haͤtte, denn das
andaͤchtige Geſpenſt murmelte eben den Schluß
deſſelben her, als die Magd aus Unvorſichtigkeit
das Salzfaß verſchuͤttete, und um deswillen von
den bußfertigen Haͤnden ihrer frommen Frau in
voller Andacht etliche Ohrfeigen bekam. Die gan-
ze Gaſſe, in der ſie wohnt, wird oͤde, und ich habe
gefunden, daß ſeit ſechs Jahren, (denn ſo lange iſt
Sara Knidly eine Wittwe) die Miethen um die
Haͤlfte des Preiſes gefallen ſind. Wer es vermeiden
kann,
[255]von Swifts letztem Willen.
kann, unter ihrem Fenſter wegzugehen, der thut es
gern, und nimmt lieber einen Umweg; denn, wen ſie
mit ihren Augen erreicht, der iſt ohne Barmherzigkeit
verdammt. Sie glaubt, und glaubt es ganz gewiß,
daß der langmuͤthige Himmel, bloß aus Hochach-
tung fuͤr ſie und ihre andaͤchtige Seele, das Viertheil
der Stadt, in welchem ſie wohnhaft iſt, noch zur Zeit
verſchont, und verhindert habe, daß die Erde ihren
Rachen nicht aufgethan, die boͤſe hoffaͤrtige Rotte
zu verſchlingen. Unterdeſſen wuͤnſcht ſie es doch
vielmals, und zankt mit dem langmuͤthigen Himmel
alle Morgen in ihren Gebeten, wenn ſie aufſteht,
und ſieht, daß noch Leute um ſie herum woh-
nen, welchen es wohl geht, und daß er nicht
zum wenigſten die Frauenzimmer ihrer Gaſſe in
ihrer ſuͤndlichen Eitelkeit, andern zum Schrecken,
und ihr zum freudigen Troſte, dieſe Nacht uͤber mit
Schwefel und Peche vertilgt hat. Denn wir
Mannsperſonen, wir haben noch in ihren erbar-
menden Augen einigen Vorzug; und ich hoffe gewiß,
wenn die erſchrecklichen Gerichte, mit denen ſie alle
Stunden droht, hereinbrechen werden: So wird ſie
ſich vom Himmel wenigſtens etliche ausbitten, die er
ihr zum ſonderbaren Troſte erhalten ſoll. Jch erſu-
che das Parlement, ſich dieſer Heiligen mit aller
moͤglichen Vorſicht zu bemaͤchtigen, damit ſie nicht
entwiſche, oder aus Andacht etlichen die Haͤlſe bre-
che, welche ſich ihrer Perſon verſichern wollen.
Sie ſoll in dem abgelegenſten Winkel des Tollhau-
ſes eingeſperrt bleiben, damit ſie die andern Narren
nicht
[256]Geheime Nachricht
nicht naͤrriſcher mache. Waͤre einer von dieſen
Narren gar nicht zu baͤndigen: So ſoll er zur Stra-
fe vier und zwanzig Stunden zu ihr in die Zelle ge-
ſperrt werden. Es iſt eine grauſame Strafe, ich
geſtehe es; aber ſie ſoll auch nur in ſchweren Ver-
brechen ſtatt haben. Man wird Achtung geben, daß
ein ſolcher Verbrecher niemals mit ihr allein gelaſ-
ſen werde. Ein Zuchtmeiſter ſoll in der Thuͤre ſte-
hen bleiben. Denn ich weis, daß ſie bey aller ihrer
Andacht ſehr viel irrdiſche Wuͤnſche hat, und niemals
leichter zu uͤberwinden iſt, als wenn ſie uͤber die
Schwachheit der andern ſeufzt. Man bedenke nur,
was fuͤr ein Ungluͤck daraus entſtehen koͤnnte, wenn
der Freygeiſt, Herr Dewlapp Eſq. und die andaͤch-
tige Sara Knidly zuſammen geſperrt wuͤrden, und
durch die Einſamkeit in Verſuchung geriethen, ihr
Geſchlecht zu vermehren. Erſaͤufen muͤßte man die
junge Brut! Den Augenblick muͤßte man ſie erſaͤufen!
Denn ich kann mir nicht vorſtellen, daß etwas ab-
ſcheulicher und gefaͤhrlicher waͤre, als ein Kind, deſ-
ſen Vater ein dummkoͤpfiger Freygeiſt, und die Mut-
ter eine verlaͤumderiſche Betſchweſter iſt. Man
huͤte ſich alſo ja wohl, und verwahrloſe das arme
Land nicht mit einer ſo widernatuͤrlichen Mis-
geburt.
Jch weis nicht, woher der muthwillige Knabe,
Jacob Halley, von meinem Vorhaben, ein Toll-
haus fuͤr laͤcherliche Narren zu ſtiften, etwas erfah-
ren haben mag. Vor einiger Zeit, als ich eben im
Begrif-
[257]Von Swifts letztem Willen.
Begriffe war, dieſen meinen letzten Willen zu ent-
werfen, trat er mit einer ungezognen Miene in mein
Zimmer, und verſicherte mich auf eine recht vertrau-
te Art, daß er mir hierinnen ſehr nuͤtzlich ſeyn koͤnn-
te, wenn ich ſeinen Rath annehmen wollte. Vor
ſeinen Augen, ſagte er, koͤnnten ſich die Thorheiten
der Menſchen nicht verſtecken. Er kenne ſie alle,
er verfolge ſie aufs ſchaͤrfſte, und die Liebe zur Wahr-
heit ſey bey ihm ſo ſtark, daß er ſich ſelbſt nicht ſcho-
nen wuͤrde, wenn er etwas laͤcherliches oder thoͤ-
richtes an ſich wahrnehmen ſollte. Zugleich uͤber-
gab er mir eine Rolle, in welcher, wie er ſagte, der
Kern aller Narren in Dublin verzeichnet waͤre, und
bat mich, ich moͤchte bey meiner Stiftung dieſe
Leute ja vor allen andern mir beſtens empfohlen ſeyn
laſſen. Jch fand auf dieſer Rolle zehen Perſonen,
und erſtaunte, als ich ſahe, daß gleich die erſten
fuͤnfe davon Geiſtliche waren, deren Lehren ſo ver-
nuͤnftig ſind, und deren Lebensart ſo erbaulich iſt, daß
ſie wohl verdienten, ſelbſt in den Augen der Narren
und unſrer kleinen Religionsſpoͤtter ehrwuͤrdig zu
ſeyn. Jch bezeugte ihm meine Verwunderung,
daß er dieſe Maͤnner des Tollhauſes wuͤrdig hielte;
ich fragte ihn um die Urſache. Die Antwort aber,
die ich erhielt, war ein lautes unverſchaͤmtes La-
chen, und er hatte das Herz, mich zu fragen, ob
ich nicht wuͤßte, daß die fuͤnf Maͤnner Geiſtliche
waͤren, und daß die Geiſtlichen ‒ ‒ ‒ Jch fiel ihm
ſo gleich in die Rede, weil ich merkte, daß er ſich
anſchickte, dieſem verehrungswuͤrdigen Stande alle
Zweyter Theil. Rdie
[258]Geheime Nachricht
diejenigen Fehler zur Laſt zu legen, welche von eini-
gen wenigen begangen, und an unzaͤhlig andern
Perſonen weltlichen Standes nicht einmal wahrge-
nommen werden. Der ſechſte Narr war ſein
Stiefvater, ein vernuͤnftiger und redlicher Mann,
den er aber um deswillen fuͤr einen Narren hielt,
weil er ſich haͤtte entſchließen koͤnnen, in ſeinem Al-
ter die Thorheit zu begehen, und ſeine Mutter, eine
muͤrriſche geizige Frau, und aberglaͤubiſche Bet-
ſchweſter zu heirathen, welche durch ihre verdrießli-
chen Lehren uud altvaͤteriſchen Klagen uͤber den groß-
muͤthigen Aufwand der muntern und ehrliebenden
Jugend, wie er es nennte, ſchon laͤngſt verdient
haͤtte, die ſiebente Stelle in dieſer Narrenrolle ein-
zunehmen. Da dieſer raſende Juͤngling ſeines Va-
ters und ſeiner Mutter nicht geſchont hatte: So
duͤrfen dreye ſeiner Lehrer ſich nicht wundern, wenn
ſie erfahren werden, daß er an ihre Verſorgung auch
gedacht, und ſie unter ſeine Narrencandidaten ge-
ſetzt hatte. Er gab ſie fuͤr unertraͤgliche Pedanten,
lateiniſche Wurmkraͤmer, und ich weis nicht, fuͤr
was mehr aus. So viel ich merken konnte, mochte
es wohl eine ganz andre Urſache, und vielleicht dieſe
ſeyn, daß ſich dieſe redlichen Maͤnner aus wahrer Liebe
und mit etwas mehr Ernſthaftigkeit, als dieſer
Spoͤtter vertragen konnte, hatten angelegen ſeyn laſ-
ſen, ihn vernuͤnftig zu machen. Jch ſchließe dieſes
unter andern daraus, daß er ſich gegen mich be-
ſchwerte, einer von dieſen Lehrern habe das Herz
gehabt, ihm zu ſagen, daß die Jugend die Bos-
heit
[259]Von Swifts letztem Willen.
heit nicht entſchuldige, daß ein Juͤngling, wel-
cher frech genug ſey, ſeiner Lehrer zu ſpotten, in ſeinen
aͤltern Jahren gemeiniglich das Ungluͤck habe, als
ein Rebell zu ſterben, und daß die Spoͤtterey eines
Juͤnglings nicht witzig ſeyn koͤnne, ſo lange deſſen
Herz boshaft ſey. Dieſer Vorwurf ſchmerzte ihn
darum, weil er ihn nicht verdiente, denn nur ſeine
redliche Freymuͤthigkeit, ſagte er, erweckte die Milz
ſeiner Lehrer, und er tadelte nicht die Perſon ſeiner
Lehrer, ſondern nur ihre Thorheiten waͤren ihm laͤ-
cherlich, und er wuͤrde nicht aufhoͤren, zu ſagen, daß
ſie Narren waͤren, ſo lange es noch jemanden gaͤbe,
der die Wahrheiten hoͤren wollte. Man kann glau-
ben, daß ich uͤber die Verwegenheit dieſes jungen
Menſchen ganz erſtaunt war, und weil er verſprach
mir noch mit mehrern Narren zu dienen, wenn ich
es verlangen ſollte, ſo hielt ich es fuͤr dienlich, ihn
mit einer verſtellten Gelaſſenheit zu verſichern, daß
ich mir ſeinen Eifer zu Nutze machen, und ſolche
Veranſtaltungen treffen wollte, daß des Vaterlands
Beſtes beobachtet werden, und er die billigſte Beloh-
nung dafuͤr erlangen ſollte. Jch habe ihm einen ver-
ſiegelten Brief gegeben, welchen er, nach meinem
Tode, den Vorſtehern des Teſtaments ſelbſt
einhaͤndigen ſoll. Jch erſuche alſo dieſe Herren,
demjenigen aufs genauſte und ſonder Verzug
nachzukommen, was ſie in dieſem verſiegelten Schrei-
ben veranſtaltet finden werden.
R 2Weil
[260]Geheime Nachricht
Weil ich nicht weis, wie lang ich leben moͤchte,
und ob es nicht gar geſchehen koͤnnte, daß ich einige
von meinen Narren wohl noch uͤberlebte: So will
ich zu Vermeidung aller Schwierigkeiten hier eini-
ge Recruten zu meinem Tollhauſe vorſchlagen. Jch
habe weiter nichts noͤthig, als nur ihre Namen zu
nennen; man wird ſie ſo gleich kennen, wenigſtens
werden ſie leicht zu erfragen ſeyn. Hier ſind ſie:
Johann Gale, Lady Flower, O-Saͤfety,
Carl Brackfeſt, Catharina Buckey, John
Sun, Martin Flaͤce, Caſpar Wickſtaff,
William Knall, und der Moraliſt Richard
Kinsman.
Vor allen andern, die in mein Tollhaus gehoͤren,
ſollen die Jrrlaͤnder den Vorzug haben. Nach ih-
nen folgen unmittelbar die Britten. Fuͤr die Deut-
ſchen ſoll man einen beſondern Fluͤgel bauen, und die
Sachſen ſollen, als unſre alten Landsleute, zuerſt unter-
gebracht werden. Jch kenne deren eine ziemliche An-
zahl, welche auf meine milde Stiftung einen billigen
Anſpruch machen koͤnnen. Etliche davon habe ich
in beyliegendem Promemoria aufgezeichnet. Das
Parlament wird fuͤr dieſe guten Leute ſorgen, doch
unbeſchadet den Narren unſers lieben Vaterlands.
Dieſes iſt mein letzter Wille, und das Parlament
wird dahin ſehen, daß derſelbe aufs genauſte erfuͤllt
werde. Jch bin nicht im Stande, ihnen dieſe
Muͤhe zu vergelten, ohne meinen Narren an ihrem
Gehal-
[261]von Swifts letztem Willen.
Gehalte Abbruch zu thun. Das einzige, was ich
thun kann, iſt dieſes, daß ich, als ein Patriot, wuͤn-
ſche, daß niemals ein Narr auf ihren Wollſaͤcken
ſitzen moͤge. Ein guter Wunſch, der vielleicht ſo
gar unmoͤglich nicht iſt, als er wohl ſcheint!
Dublin am \frac{17}{28} Brachmonath 1745.
(L. S.)
D. Jonathan Swift,
meine Hand.
Hier haben Sie, Mylord, eine getreue Abſchrift von
dem Swiftiſchen Codicille. Sie koͤnnen ſich darauf
verlaſſen; ich habe ſie ſelbſt gegen das Original ge-
halten. Sie koͤnnen kaum glauben, mit wie viel
Sorgfalt das Parlament bemuͤht war, ſich des letz-
ten Seegens unſers Swifts theilhaftig zu machen,
und dieſes Codicill in allen ſeinen Clauſeln und
Punkten zur Erfuͤllung zu bringen. Das erſte,
was man that, war dieſes, daß man ſich der an-
gezeigten Narren zu bemaͤchtigen ſuchte. Die
Lords Lavat und Pallbrow ſtellten ſich abſcheu-
lich ungeberdig, und der erſte wuͤrde ſich gar nicht
gegeben haben, wenn man ihn nicht zu bereden ge-
ſucht haͤtte, daß in dieſes Tollhaus kein Narr kaͤ-
me, der nicht wenigſtens ſechzehen Ahnen haͤtte.
Dieſes einzige beruhigte ihn gewiſſermaaßen, denn
er hoffte auf ſolche Art eine zahlreiche und anſehnli-
che Geſellſchaft zu finden.
R 3Der
[262]Geheime Nachricht
Der Biſchoff O-Carry wollte Feuer vom
Himmel laſſen, weil das Parlament ſo ruchlos waͤ-
re, und einen Mann des Herrn antaſtete. Aber
eben hieraus ſahe man, daß Swift recht gehabt
hatte, und Jhro Hochwuͤrden mit Leib und Seele
ins Tollhaus gehoͤrten. Der Kuͤſter, Herr Nico-
laus, machte nicht viel Umſtaͤnde, ſo bald er nur
vernahm, daß er den Rang uͤber den Biſchoff ha-
ben ſollte.
Herr Something, ſo ſehr er auch anfangs er-
ſchrack, faßte ſich doch, da man ihm verſprach, daß
er der Polizey im Hauſe vorſtehen, und mit der
Frau Nowtell wechſelsweiſe das Regiment fuͤhren
ſollte. Dieſe Frau ſpie Feuer, als man ſie ab-
holen wollte. Zu ihrer Beruhigung iſt ihr verſpro-
chen worden, daß ſie die Erlaubniß haben ſollte,
nach Ableben des Kuͤſters und Biſchoffs zween
andre Candidaten zu vociren.
Des Dewlapp Eſq. konnte man ſich leicht be-
maͤchtigen, denn man gieng nach Tiſche zu ihm, da
er beſoffen war, und ſchlief. Man will fuͤr gewiß
ſagen, daß er ſeitdem beſtaͤndig geſchlafen, wenig-
ſtens thut er ſo traͤumend, wie ein Menſch, der
im erſten Schlafe geſtoͤrt wird, und daran mag
wohl ſeine gute natuͤrliche Dummheit Schuld ſeyn.
Seine Koſtgaͤnger ſcheinen ſich zu beruhigen, da ſie
hoͤren, daß ſie von dem dritten Theile ſeines Ver-
moͤgens unterhalten werden ſollen. Es iſt große
Hoff-
[263]von Swifts letztem Willen.
Hoffnung da, daß ſie wieder klug werden duͤrften.
Der eine hat ſich ſchon eine Bibel gekauft, worin-
nen er allemal nach Tiſche ein paar Blaͤtter lieſt,
und ſich wundert, wie er ſpricht, daß in dieſem Bu-
che ſo viel vernuͤnftige Sachen ſtehen, welches er
vorher niemals geglaubt haͤtte.
James Diaper hat appellirt, und behaͤlt ſich
vor, ſeine rechtliche Nothdurft weiter auszufuͤhren.
Jnzwiſchen hat man ihn doch eingeſperrt; aber ſei-
ne arme Frau iſt ganz troſtlos. Der junge Thom.
Swallow ſaß eben an ſeinem Pulte, machte ein
Sinngedichte unter ſein Conterfay, welches er vor
den erſten Band ſeiner kuͤnftigen Werke ſetzen woll-
te. Man gab ihm Feder und Dinte mit in ſein
Gefaͤngniß, und dieſes ſchien, ihn ſehr kraͤftig zu
troͤſten. Math. Pidgeons ſchrie uͤber ſeinen al-
ten geizigen Oheim, dem er ſein Ungluͤck zuſchrieb.
Er hat recht flehentlich gebeten, ihm alle Mahl-
zeiten wenigſtens nur eine Flaſche Pontack zu ge-
ben. Es iſt ihm aber abgeſchlagen worden, er
muͤßte ſie denn mit ſeiner Handarbeit verdienen
lernen.
Nichts war luſtiger, als die Gefangennehmung
der frommen Sara Knidly. Die Wache traf
ſie eben uͤber ihrer Andacht an. So bald ſie hoͤr-
te, was man wollte, ſchmiß ſie dem Notarius mit
dem Gebetbuche ein Loch in den Kopf, und zer-
zauſte ihm die Peruͤcke. Dem Stockmeiſter kratzte
R 4ſie
[264]Geheime Nachricht
ſie in Gottes Namen ein Auge aus, und einen Par-
lamentsſchreiber, welcher von ihr ein wenig zu weit,
und in der Thuͤre ſtund, uͤbergab ſie dem Teufel.
Aber alles half nichts, ſie mußte fort, und was ihr
ganz unbegreiflich vorkam, war dieſes, daß der
Himmel nicht, ihr zu Ehren, mit Donner drein
ſchlug. Jtzt ſitzt ſie, und betet, und ſingt, und
hofft, durch ihre unermuͤdete Andacht es gewiß noch
ſo weit zu bringen, daß den Herren des Parlaments
die Zungen im Halſe verdorren ſollen; denn der
Herr, ſpricht ſie, verlaͤßt die Seinen nicht. Drey
Tage hinter einander haben die Nachbarn ihrer Gaſſe
Freudenfeuer angezuͤndet, uud es iſt ſo lebhaft darin-
nen, als ſonſt niemals. Der Preis der Miethen
ſteigt; nur in ihrem Hauſe getraut ſich noch niemand
zu wohnen.
So bald der muthige Knabe, Jacob Halley,
Swifts Tod erfuhr, und hoͤrte, daß man ſein Teſta-
ment oͤffnete: So meldete er ſich, und uͤbergab den
verſiegelten Brief; in der gewiſſen Hoffnung, eine rei-
che Belohnung ſeines Witzes zu erlangen. Man
oͤffnete ihn in ſeiner Gegenwart, und fand folgendes
darinnen:
„Das Parlament wird von mir Endesunter-
„zeichneten erſucht, ſich der Perſon des Jacob Hal-
„ley, der ihnen dieſes Schreiben verſiegelt einhaͤndi-
„gen wird, zu verſichern. Man wird aus meinem
„Codicille geſehen haben, wie groß die Bosheit
„dieſes Juͤnglings ſchon itzt iſt, und ich uͤberlaſſe
„der
[265]von Swifts letztem Willen.
„der weiſen Einſicht des Parlaments, zu urtheilen,
„wie ſchaͤdlich derſelbe kuͤnftig dem Vaterlande
„ſeyn koͤnnte, wenn er fortfahren ſollte, diejenigen
„fuͤr Narren zu halten, welche die Hochachtung des
„ganzen Landes verdienen. Es iſt zu befuͤrchten,
„daß er nimmermehr zu beſſern ſeyn werde, da er ſei-
„ne haͤmiſche Bosheit fuͤr Liebe zur Wahrheit, und
„ſeine ſchmaͤhſuͤchtige Wut fuͤr ſatyriſchen Witz
„haͤlt. Seine Raſerey, welche er bey ſeinen Aeltern
„und Vorgeſetzten anfaͤngt, wird bis an den Thron
„des Koͤnigs dringen, und eher nicht aufhoͤren, bis
„ſie das Heiligſte der Religion befleckt hat. Er iſt
„nicht wuͤrdig, in mein Tollhaus zu kommen. Jch
„ordne, daß man ihn in das allgemeine Zuchthaus zu
„denen Uebelthaͤtern bringe, welche mit ihm die Geißel
„verdient haben. Jch beſtimme hierzu zweyhundert
„Pfund, welche nach dem Tode dieſes Unſinnigen
„dem Zuchthauſe heimfallen ſollen. Jch verordne
„ſolches, kraft dieſes, als meinen letzten Willen.
Jonathan Swift.
Man las ihm dieſen Brief vor. Er erſtaunte,
als wenn er aus den Wolken fiele. Er wollte ſeine
guten Abſichten herausſtreichen; aber man ließ ihn
nicht weiter reden, ſondern eilte mit ihm ins Zucht-
haus. Jtzt ſchimpft er Tag und Nacht, und das
Parlament iſt Willens, ihm einen Beißkorb machen
zu laſſen.
R 5Bey-
[266]Geheime Nachricht
Beynahe haͤtte ich vergeſſen, zu ſagen, daß
man bereits drey Abkoͤmmlinge des Partridge
ausfindig gemacht hat. Der eine iſt ein Barbier
in der St. James Straße, bey welchen man ei-
nen Stammbaum des Praͤtendenten mit politi-
ſchen Anmerkungen, und einer Schutzſchrift fuͤr
den Ritter St. George gefunden hat. Dieſe
Schrift mag ziemlich gefaͤhrlich ſeyn, aber ſie iſt ſo
verwirrt abgefaßt, daß man ſie nicht verſtehen kann.
Der zweyte iſt ein caßirter Faͤhndrich, welcher in der
Schlacht bey Fontenoy fuͤr gut befunden hat, ſei-
ne Perſon in Begleitung zweener hollaͤndiſcher Of-
ficiere gleich im Anfange des Treffens in Sicherheit
zu bringen, und um deswillen vom Regiment gejagt
worden iſt. Er hatte einen Plan von der Schlacht
bey Dettingen bey ſich, worinnen er die Fehler ge-
zeigt, die damals die alliirte Armee begangen, und
dadurch verhindert haben ſollte, daß ſie nicht gera-
des Wegs ſelbſt vor Verſailles ruͤcken, und ſolches
uͤberrumpeln koͤnnen. Der dritte iſt ein Schuſter,
welcher eine Prophezeihung verkauft, daß im Jahr
1746. das paͤbſtliche Reich untergehen, Ludwig der
funfzehente von Huſaren gefangen, der Schach
Nadyr in Paris einfallen, und das Leder ſo theu-
er werden ſollte, als es ſeit der Koͤniginn Eliſabeth
Zeiten nicht geweſen.
Mit Aufſuchung der Narrenrecruten wird es
ſchon etwas mehr Muͤhe und Vorſicht koſten. Man
haͤlt inzwiſchen dieſen Artikel des Codicills ſo geheim,
als
[267]von Swifts letztem Willen.
als nur moͤglich iſt, und man hat auf die Narren ein
wachſames Auge, damit keiner entwiſche. Wo man
wegen Aehnlichkeit der Namen zweifelhaft iſt, da wer-
den gewiſſe Aufſeher gehalten, welche auf ihre Hand-
lungen Acht haben muͤſſen. Man kann noch bis die-
ſe Stunde nicht erfahren, wer der Johann Gale
iſt, und es ſteht ein Preis von zehen Pfund darauf,
wer ihn entdeckt. Mit der Lady Flower hat es
ſeine gute Richtigkeit. O-Saͤfety wird genau
beobachtet. John Sun, der wider ſein Ver-
muthen etwas vom Codicille erfahren, hat ſich
ſelbſt angegeben, und bittet, ihn anzunehmen, da-
mit er von ſeiner boͤſen und verſchwenderiſchen Frau
wegkomme. Man unterſucht die Sache. Die
Frau ſieht noch ganz reinlich aus; ſie hat ein paar
große ſchwarze Augen, und die Meynungen der
Richter ſind ſchon getheilt. Dem Gerichtsſchreiber
hat bey dem letzten Verhoͤre ihr Buſen gefallen; man
glaubt, der Mann werde Unrecht behalten. Sie war
ſonſt ſeine Koͤchinn, und er heirathete ſie bloß we-
gen ihres guten ehrlichen Gemuͤths. Es giebt in
Dublin zween Caſpar Wickſtaffs. Man iſt
lange zweifelhaft geweſen, welcher gemeynt ſey.
Der eine wohnt bey Williams Caffeehauſe, der an-
dre auf der Fleet-Straſſe. Man hat den erſten im
Verdachte, weil er ſich gewiſſe Gratulanten haͤlt,
die ihm viel gutes vorſagen, und alle Jahr ein
paarmal wuͤnſchen muͤſſen, daß der Himmel dieſes
theure Haupt noch lange Jahre hindurch bey ho-
hem Wohlſeyn erhalten wolle. Die uͤbrigen Narren
ſind
[268]Geheime Nachricht
ſind von keiner Wichtigkeit, ausgenommen ein paar
Autores.
Das Parlament hat zu Erbauung eines Toll-
hauſes einen ſchoͤnen Platz ausgeleſen, welcher un-
weit des Hafens gelegen, und zeither der Tummel-
platz unſrer jungen Herrchen und witzigen Stutzer ge-
weſen iſt. Die Wahl iſt gut; denn auf ſolche Art
bleibt dieſer Platz gewiſſermaaßen noch ferner, was
er geweſen iſt. Fuͤr eine gewiſſe Art Reimer, die
ſich unter einander geiſtvolle Poeten nennen, wird
noch ein ſchmaler Gang am Hafen ledig und unbe-
baut gelaſſen. Er ſoll aber mit einer Planke ver-
wahrt werden, damit kein Ungluͤck geſchehe. Jch
ſollte nicht meynen, daß es noͤthig ſey; denn, aus ih-
ren Verſen zu urtheilen, ſcheint es eben nicht, daß ſie
ſehr tiefſinnig ſeyn muͤſſen. Doch kann die Vor-
ſicht nicht ſchaden.
Der Riß iſt ſchon zu dem Seitengebaͤude ge-
macht, welches fuͤr die Deutſchen beſtimmt iſt.
Um ſich bey dieſem Volke ein groͤßeres Vertrauen
zu erwerben, hat man ihn von einem Franzoſen
verfertigen laſſen, und die Auffuͤhrung des Baues
ſoll auch an einen Franzoſen verdungen, kurz, alles
franzoͤſiſch werden. Jch habe hier etliche Deutſche
geſprochen, welche daruͤber ſehr vergnuͤgt ſind.
Die Vorſorge des Parlaments geht noch weiter.
Es iſt ein Project gemacht worden, wodurch man
im Stande zu ſeyn hofft, eine große Anzahl dieſes
Volks
[269]von Swifts letztem Willen.
Volks unterzubringen, und unterhalten zu koͤnnen.
Man hat bereits bey einigen deutſchen Hoͤfen unter
der Hand auszuwirken geſucht, daß ein jeder ihrer
Unterthanen, beſonders derjenigen Gelehrten, wel-
che das Anſehen haben wollen, weit kluͤger zu ſeyn,
als andre, zehen und mehr Reichsthaler zu dieſer
Stiftung beytragen, und dagegen eine Qvittung
in Form eines Atteſtats bekommen ſoll, daß er ein
großer, beruͤhmter, vernuͤnftiger, und gruͤndlich-
gelehrter Mann ſey, und ſeinen Verſtand mit ſo
und ſo viel Thalern geloͤſt habe. Die Na-
men dieſer Subſcribenten ſollen gedruckt werden,
und niemand ſoll alsdann, bey ſchwerer Strafe,
befugt ſeyn, an ihrer Klugheit im geringſten zu
zweifeln. Hierdurch hofft man erſtaunende Sum-
men aufzubringen. Das Parlament ſieht es
zwar zum voraus, daß die groͤßten Narren am
meiſten dazu ſteuern werden, um recht klug zu
ſcheinen. Aber es thut nichts. Es iſt doch we-
nigſtens dazu gut, daß ſie auf ſolche Art ihre
Collegen ernaͤhren helfen.
Man giebt ſich von Seiten Frankreichs viel
Muͤhe, daß die daſigen Narren auch aufgenommen
werden moͤchten, und der Herr von Hoey ſoll ein
ſehr nachdruͤckliches Empfehlungsſchreiben heruͤber
geſendet haben. Es iſt ihm aber rund abgeſchlagen
worden. Und dieſes mit Rechte. Denn unſre Na-
tion iſt durch gegenwaͤrtigen Krieg ziemlichermaaſ-
ſen erſchoͤpft, und daher nicht im Stande, eine
ſo
[270]Geheime Nachricht ꝛc.
ſo ungeheure Menge franzoͤſiſcher Narren zu un-
terhalten.
Jch habe die Ehre zu ſeyn,
Mylord,
Dublin
am \frac{10}{21} Maͤrz
1746.
Dero
gehorſamſter Diener,
Richard D’Urfey. Eſq.
N. S.
Sie werden entſchuldigen, Mylord, daß ich Jhnen
das Promemoria nicht mit beygelegt habe, wor-
innen Swift diejenigen Deutſchen genennt, die er
fuͤr wuͤrdig haͤlt, in ſein Tollhaus zu kommen.
Es iſt etwas weitlaͤuftig, und das Packet moͤch-
te gar zu ſtark werden.
[[271]]
Nachricht
von einem
Schluͤſſel zu Swifts
Codicille.
[[272]][273]
Nachricht
von einem
Schluͤſſel zu Swifts Codicille.*
Leipzig.
Bey Boetius Erben unterm Rathhauſe iſt zu
haben: Schluͤſſel zu D. Jonathan
Swifts Codicille; in Octav 3½ Bogen. Wir
haben in einer Monatsſchrift vor einiger Zeit ein
Schreiben eines Richard d’ Urfey Eſqv. an ei-
nen Mylord erhalten, worinnen von D. Jonathan
Swifts letztem Willen wegen Erbauung eines Toll-
hauſes fuͤr moraliſche Narren umſtaͤndliche Nachricht
gegeben, und zugleich Swifts Codicill eingeruͤckt
worden iſt.
Der Verfaſſer des Schluͤſſels, welcher vermuth-
lich nicht eher ruhig ſchlafen koͤnnen, bis er 3½ Bo-
gen von ſich gegeben, macht ſich dieſe Muͤhe dadurch
leicht, daß er uns einen Auszug vom Codicille lie-
fert, welcher faſt einen Bogen einnimmt. Er re-
det von der Satyre uͤberhaupt, und insbeſondere,
und macht ein trocknes Gewaͤſche von dem, wozu
man wirklich keinen Schluͤſſel braucht. Dieſes
bahnt ihm ganz natuͤrlicher Weiſe einen naͤhern Weg
Zweyter Theil. Szu
[274]Nachricht von einem Schluͤſſel
zu ſeinem Vorhaben. Er erzaͤhlt, daß man zeither
in verſchiednen Geſellſchaften zweifelhaft geweſen,
ob dieſes Codicill, und das ganze Schreiben des
Eſqv. eine Ueberſetzung aus dem engliſchen, oder
nicht vielmehr nur ein deutſches Original ſey?
Hierzu braucht er zwey Blaͤtter, ehe er die wich-
tige Entdeckung macht, es ſey in der That nur ein
deutſches Original.
Nunmehr hat er gewonnenes Spiel. Er fol-
gert hieraus recht freudig, daß alle die Namen, wel-
che im Codicille ſtehen, nur erdichtete Namen ſind.
Dieſes hat ihn aufmerkſam, und argwoͤhniſch ge-
macht. Er hat herumgeſonnen, wer unter dieſen
erdichteten Namen verſteckt ſeyn muͤſſe? Und endlich
hat er es gluͤcklich errathen.
Jhm haben wir es nunmehr zu danken, daß
wir wiſſen, was fuͤr deutſche Ehrenaͤmter unter
dem Namen der Lords verborgen liegen. Den
Lord Pallbrow kennt er, und nennt uns ſo gar
den Ritterſitz, auf dem Jhro Excellenz wohnen.
Den jungen Rathsherrn Something, hat er
gleich vom weiten am dicken aufgeblaͤhten Bauche
erkannt. Er glaubt, er ſey nach dem Leben ge-
troffen, und er laſſe mit ihm bey einem Schneider
arbeiten. Der Biſchoff O-Carry ſey kein rech-
ter Biſchoff, aber ſonſt bekannt genug. Was
uns am bedenklichſten geſchienen hat, iſt die Ent-
deckung von dem unſinnigen Dichter Thomas
Swallow.
[275]zu Swifts Codicille.
Swallow. Es ſteht im Codicille ausdruͤcklich,
daß er noch nicht muͤndig ſey, und der Verfaſſer
des Schluͤſſels nennt ihn doch Jhro Magnificenz.
Wie wenig raͤumt ſich das zuſammen? Mit einem
Worte; er hat alles auspunktirt, ſo gar, wer
Johann Gale iſt, den er fuͤr einen Thorſchreiber
haͤlt.
Wir laſſen alle dieſe Vermuthungen an ihren
Ort geſtellt ſeyn, ſowohl als den Namen des Ver-
faſſers dieſes Swiftiſchen Codicills, welcher uns
ſehr umſtaͤndlich angezeigt, und ſo gar deſſen Amt,
ſo er gegenwaͤrtig bekleidet, gemeldet wird.
Wir nehmen uns die Freyheit, nur etwas zu
errinnern.
Es iſt eine Beleidigung fuͤr einen vernuͤnftigen
Satyrenſchreiber, wenn man glaubt, daß die Namen,
deren er ſich in ſeinen Charaktern bedient, nur auf
gewiſſe einzelne Perſonen gehen muͤſſen. So enge
Graͤnzen hat nur ein Pasqvill; eine Satyre iſt viel
allgemeiner. Wenn ich den Herrn Something
nenne, ſo meyne ich wohl zwanzig hochmuͤthige
Narren auf einmal, und wir getrauen uns, zwi-
ſchen Leipzig und Hamburg mehr, als ein Dutzend
laͤcherliche Swallows, zu finden.
Noch eine groͤßere Beleidigung iſt dieſes, daß
er den Namen des Verfaſſers vom Swiftiſchen
Codicille nennt. Wir haben Urſachen, an der
Richtigkeit dieſes Angebens ſehr zu zweifeln, und
S 2waͤre
[276]Nachricht von einem Schluͤſſel ꝛc.
waͤre es auch richtig, ſo koͤnnen wir es mit keinem
gelindern Namen, als mit dem Namen einer Un-
hoͤflichkeit, belegen, daß er es wagt, einen Mann zu
nennen, den vielleicht ſein Amt oder andre Urſachen
bewegen, ſich noch zur Zeit verborgen zu halten.
Weil in dem Swiftiſchen Codicille, und beym
Schluſſe des Briefs eines Promemoria gedacht
wird, in welchem Swift diejenigen Deutſchen ge-
nannt, welche in ſeinem Tollhauſe aufgenommen
werden ſollen: So hat der Verfaſſer des Schluͤſſels
ſolches auch zum Drucke befoͤrdert. Es iſt fuͤnf
Bogen ſtark, ſehr enge gedruckt, und beſteht aus
lauter Namen; im uͤbrigen iſt es auch bey Boetius
Erben zu bekommen.
Nicolaus Stefgen in Augſpurg iſt itzt beſchaͤff-
tigt, die in dieſem Promemoria benannten Candi-
daten des Swiftiſchen Tollhauſes, wovon beynahe
zwey Drittheile Gelehrte ſind, in Kupfer zu ſte-
chen, wobey er bittet, daß diejenigen, ſo ſich in
Alongenperucken zu ſehen wuͤnſchen, ſich binnen hier
und Oſtern melden moͤchten.
Noch zur Zeit ſind wir nicht im Stande zu ur-
theilen, ob dieſes Promemoria avthentiſch ſey?
Ganz unwahrſcheinlich iſt es nicht, und wir finden
eine ziemliche Menge Narren darunter, welche uns
und der Welt dafuͤr bekannt ſind. Es ſtehen aber
auch viele darinnen, die wir zum erſtenmale kennen
lernen, und der Verfaſſer des Schluͤſſels hat
ſich bey uns ſehr verdaͤchtig gemacht.
[[277]]
Rechtliches Jnformat
uͤber die Frage:
Ob ein Poet, als Poet, zur
Kopfſteuer zu ziehen ſey?
Bey der
Magiſterpromotion eines Freundes
im Jahr 1743. gefertigt.
S 3
[[278]][279]
Rechtliches Jnformat
uͤber die Frage:
Ob ein Poet zur Kopfſteuer zu ziehen?
Ehrſamer, und Namhafter,
Guͤnſtiger Herr und guter Freund.
Als derſelbe mir eine umſtaͤndliche Speciem facti,
nebſt copeylich angefuͤgten Nachrichtungen,
Diplomatibus, und andern dahin einſchlagenden
Urkunden ſub ☉. ♂. =||_. et Δ. zugeſchickt, und
dabey ſeine billige Beſorgniß geaͤußert:
- Ob ein Poet gleich andern vernuͤnftigen Creaturen
mit Steuern beleget, zu deren Verrechtung im
Weigerungsfalle durch nachgelaſſene Zwangs-
mittel, angehalten, und alſo nach der Verfaſ-
ſung hieſiger Lande, unter andern zun Kopfſteu-
ern gezogen werden moͤge?
auch dießfalls meine Rechtsbelehrung daruͤber ge-
beten.
Demnach erachte ich nach fleißiger Verleſung und
Erwaͤgung in Rechten gegruͤndet, und zu erkennen ſeyn.
Daß ein Poet qua talis keinesweges mit Steuern
zu belegen, noch der zeitherigen Verfaſſung entge-
S 4gen,
[280]Rechtliches Jnformat
gen, zu Regiſter zu bringen, oder zu cataſtriren,
am mindeſten aber mit Nachdrucke zu terminlicher
Verrechtung der faͤlligen Kopfſteuer anzuhalten, oder
ſonſt auf dergleichen Weiſe etwas zum Nachtheile
der wohlhergebrachten Gerechtſamen zu verhaͤngen
ſey. Von Rechtswegen. Urkundlich mit meinem
Jnſiegel beſiegelt.
(L. S.)
Cajus Javolenus
J. V. D.
Rationes decidendi
in Sachen
Die Verſteuerung der Poeten, und, was
dieſem allenthalben mehr anhaͤngig, be-
treffend.
Ob es wohl das Anſehen gewinnen koͤnnte, daß ein
Poet keinesweges berechtiget ſey, ſich der allgemei-
nen Mitleidenheit zu entbrechen, da derſelbe mit den
uͤbrigen Buͤrgern gleiche Vorzuͤge zu genießen, ſich
anmaßet, und ſeine angebliche Befugniſſe zu be-
haupten, bey keiner Gelegenheit entſtehet, einfolg-
lich die Beſchwerungen von ſich auf andere zu waͤl-
zen, unbillig ſcheint;
omnes enim perſonae, quibus lucrum per hunc or-
dinem defertur, etiam gravamen, quod ab initio
erat complexum, omni, modo ſentiant, ſive in
dando
[281]ob ein Poet zur Kopfſt. zu ziehen?
dando ſit conſtitutum, ſive in quibusdam fa-
ciundis, vel in modo, vel conditionis implendae
gratia vel alia quacunque via excogitatum. Neque
enim ferendus eſt is, qui lucrum quidem ample-
ctitur, onus autem ei annexum contemnit.
l. vn. C. de Caducis tollendis §. pro ſecundo 4.
Dieſes auch, nach dem einhelligen Ausſpruche der
alten und neuen Rechtsgelehrten, um ſo viel weni-
ger bey den Poeten eine Ausnahme leidet, da wi-
drigenfalls durch die eingeſtandene Befreyung die-
ſelben nur deſto mehr in ihrer mythologiſchen Einbil-
dung verſtaͤrkt, und mit der Obrigkeit eben ſo will-
kuͤhrlich, als ſie mit ihren Goͤttern thun, zu ſchal-
ten, veranlaſſet werden moͤchten;
ideoque illis, qui ſidera vertice tangunt, frena non
relaxanda videntur,
vid. Pacificus a Lapide, de nociferis reipublicae
animalibus c. 4. §. 8.
Godofr. ad h. l.
Bellonius, de laudibus Alexandri Sauly VIII. 3.
et aequum eſt, ut ille, qui immortalitatem anhe-
lat, mortalitatis ſentiat incommoda,
Petr. ab Vbaldis, de illo quod iuſtum eſt circa
inſomnia IX. 3,
Blaſius Michalorius de Utopia, per totum.
zu dem nicht unbillig zu befuͤrchten ſteht, daß durch
dergeſtaltige Freyheiten noch mehrere angelocket
werden, und zum merklichen Nachtheile Handels
und Wandels ſich beyfallen laſſen moͤchten, ihre
beſchwerliche Berufsarbeit zu verlaſſen, und darge-
S 5gen
[282]Rechtliches Jnformat
gen in der muͤßigen Geſellſchaft der Muſen, oder in
dem Schooße einer metaphyſikaliſchen Schoͤne auf
Erſcheinungen und Reime zu warten, um deswil-
len denn bey den Roͤmern die weiſe Verordnung
geſchehen,
quod tolerandi quidem ſint Poëtae, neutiquam ta-
men gaudeant nec vllo priuilegio, nec munerum
vacatione, nec ab angariis ſeu parangariis ſint im-
munes.
Contius, in ſcholiis ad corpus iuris civilis,
Charondas in πειϑανων.ſeu veriſimilum V. 3. §. 9.
Kaevardus in protribunalibus I. 4.
Hiernaͤchſt die Ausflucht, daß ein Poet gemeinig-
lich mehr Witz, als Geld, beſitze, folglich, Abgaben
zu entrichten, nicht im Stande ſey, dadurch aus dem
Wege geraͤumt werden koͤnnte, daß dickerwaͤhnte
Poeten ordentlicher Weiſe die Gabe der Dreuſtig-
keit beſitzen, und dasjenige, was ihnen fehlet, und
ein anderer in Proſa zu verlangen, nicht Herz genug
haben wuͤrde, dennoch in Verſen ganz artig, und
deutlich zu fodern wiſſen,
id autem apud ſe quis habere videtur, de quo habet
actionem. Habetur enim, quod peti poteſt.
l. 143. ff de V. S.
ſolchergeſtalt auch einiger Abfall ihrer Nahrung
nicht zu befuͤrchten iſt, ſo lange ihnen, wie ohnehin
billig, nachgelaſſen bleibt, ſich an den Geburtstaͤgen
und Hochzeitfeſten ihrer Maͤcenaten, uͤber deren
hohes Wohlſeyn gegen die Gebuͤhr zu erfreuen,
genus
[283]ob ein Poet zur Kopfſt. zu ziehen?
genus enim eſt donum Labeo a donando dictum,
munus ſpecies: nam munus eſt donum cum cauſa,
utpote natalitium, nuptalitium.
l. 194. ff. de V. S.
et quae ſunt reliqua Poetarum Βραβεια.
Gloſſa ad hanc legem.
wie man denn die guten und austraͤglichen Umſtaͤnde
der Poeten deutlich genug aus ihrer Verſchwendung
abnehmen koͤnne, da ſie nicht, wie andere Geſchoͤpfe,
mit ordentlicher Nahrung und Beduͤrfniſſen zufrie-
den ſind, ſondern bis auf den Geringſten unter ihren
Bruͤdern, Ambra und Zibeth eſſen, Nektar trinken,
ihren Gebieterinnen, und waͤren es auch nur Kaͤm-
mermaͤdchen, korallene Lippen, Zaͤhne von Elfen-
bein, purpurne Wangen, Haare mit Perlen und
Diamanten durchflochten, und tauſenderley Pracht
zu verſchaffen wiſſen; uͤberhaupt aber jedermann
ohne Ausnahme, ſo Werbung und Handthierung
in ſaͤchſiſchen Landen treibt, und ſich darinnen ent-
haͤlt, ſein Handelsgeld, Zins, und alles ſein wer-
bend Gut und Vermoͤgen verſteuern ſoll.
C. A. P. I. p. 39. P. II. p. 1373. 1377. ſeqq.
und alſo unter dieſe allgemeine Verfaſſung die poeti-
ſche Nahrung und Gewerbe nicht unbillig gezogen
werden duͤrfte;
Sintemalen aber und nachdem die hoͤchſte Billigkeit
erfodert, daß man zwiſchen ſterblichen Buͤrgern,
und unſterblichen Dichtern, einen großen Unterſchied
mache, und die, welche in gerader Linie vom Jupiter
abſtammen, mit einigerley Abgaben nicht beſchwere,
viel-
[284]Rechtliches Jnformat
vielmehr den proſaiſchen Layen eignen und gebuͤhren
will, daß ſie die Prieſter des Apollo in Steuern und
Gaben uͤbertragen, und diejenigen in dieſer ver-
gaͤnglichen Zeitlichkeit frey halten, welche die Schluͤſſel
zur Ewigkeit in ihren Haͤnden tragen, und bey denen
es lediglich ſteht, ob uns die Nachwelt loben oder
tadeln ſolle; anbey die eingeſtreute Beſorgniß wegen
der ungezaͤumten Einbildung der Poeten ſo unnoͤthig,
als unzulaͤnglich, und bloß ein gravamen de futuro iſt;
in dubio enim quilibet praeſumendus eſt bonus.
Goveanus, in variis lectionibus.
eben ſo wenig auch zu befuͤrchten ſteht, daß durch
Nachlaſſung dergeſtaltiger Freyheiten und Privile-
gien andere zum Nachtheile des gemeinen Weſens
angelocket werden moͤchten, ſich um den Lorbeer,
und den Namen eines Poeten zu bemuͤhen, da es
bey gegenwaͤrtigen betruͤbten Zeiten faſt das Anſe-
hen gewinnt, daß man aus Eigenſinn von einem
Dichter noch etwas mehr, als Reime und Sylben,
fodern, und ihm ſo gar anſinnen will, vernuͤnftig
zu denken, welches doch nicht jedermanns Werk iſt;
am allerwenigſten aber die angezogenen roͤmiſchen
Gebraͤuche hierinnen etwas beweiſen moͤgen, da auf
eben ſolche Art behauptet werden koͤnnte, daß der
ſo unentbehrliche methodus mathematica dem ge-
meinen Weſen nachtheilig ſey;
Ars mathematica damnabilis et interdicta omnino.
l. 2. C. de maleficis, mathematicis et caeteris
ſimilibus.
Godofr, et omnes Comment, ad hunc titulum.
anbey
[285]ob ein Poet zur Kopfſt. zu ziehen?
anbey die geruͤhmte Moͤglichkeit eines reichen Poe-
ten gemeiniglich nur unter die theoretiſchen Wahr-
heiten gerechnet wird, welche wohl ſchwerlich prak-
tiſch werden duͤrfte, ſo lange ihre Maͤcenaten dasje-
nige bleiben, was ſie groͤßtentheils ſind;
et ea, quae raro accidunt, non temere in agendis
negotiis computantur. l. 64. ff. de R. J.
die Verſchwendung hingegen, welche man quaͤſtio-
nirten Poeten zur Laſt legen will, vielmehr zu Be-
hauptung ihrer Steuerfreyheit gereichen muß, da,
ohne einen ſo koſtbaren Aufwand, die wenigſten
vermoͤgend ſeyn wuͤrden, denjenigen vorzuͤglichen
Charakter zu behaupten, welcher ihnen allein an-
ſtaͤndig iſt, und da es in der That einerley waͤre, ob
man einem gemeinen Manne Feuer und Waſſer,
oder einem Poeten Nektar und Ambra, unterſagen
wollte; uͤberhaupt aber ein Poet, ſtatt der ange-
ſonnenen Beſchwerung, vielmehr eine Steuerbegna-
digung, gleich andern preßhaften Perſonen zu ver-
dienen ſcheint, indem er bloß aus Liebe zu den ſchoͤ-
nen Wiſſenſchaften, und aus Begierde, der Nach-
welt zu gefallen, ſich oͤfters in ſo verwirrte Umſtaͤn-
de ſetzt, daß er ſeiner ſelbſt nicht maͤchtig iſt, daß er
Sterne beſchwoͤrt, Todte bannt, ganze Fluͤſſe mit
ſeinen Thraͤnen aufſchwellt, Felſen betaͤubt, und den
einſamen Waͤldern die Grauſamkeit einer Doris kla-
get, eben ſo, wie jener tapfere Ritter von der trau-
rigen Geſtalt, welcher ſich in dem ſchwarzen Ge-
buͤrge die empfindlichſte Buße auflegte, um die Haͤr-
tigkeit einer unempfindlichen Prinzeßin von Toboſo
zu
[286]Rechtliches Jnformat ꝛc.
zu erweichen; endlich aber und zuletzt, die Jmmuni-
taͤt der Poeten um deſto billiger zu behaupten ſeyn
will, ie weniger man Exempel beybringen wird, daß
ſolche jemals zur Verſteuerung gezogen worden, und
ie geneigter die Rechte ſind, uns bey der vorigen
Freyheit zu erhalten;
Arrianus ait, multum intereſſe, quaeras, utrum ali-
quis obligetur, an aliquis liberetur? Vbi de obli-
gando quaeritur, propenſiores eſſe debere nos, ſi
habeamus occaſionem, ad negandum. Ubi de
liberando, ex diuerſo, ut facilior ſis ad liberatio-
nem. l. 47. ff. de O. et A.
Als iſt, wie im Reſponſo enthalten, von mir billig
erkannt.
Menſ. Febr.
1743.
Zwey Thlr. 18. Gr. — ϑ.
- Der Gluͤckwunſch folget kuͤnftig bey Abloͤſung die-
ſes Jnformats.
Ende des zweyten Theils.
[287]
Verzeichniß
der Schriften, ſo in dieſem
Theile enthalten ſind.
- I.
- Beweis, daß die Reime in der deutſchen
Dichtkunſt unentbehrlich ſind; a. d. 3. S. - II.
- Ein Traum von den Beſchaͤfftigungen der
abgeſchiednen Seelen; a. d. 11. S. - III.
- Woldemars von Tzſchaſchlau Abhandlung
von Buchdruckerſtoͤcken; a. d. 75. S. - IV.
- Hinkmars von Repkow Noten ohne
Text; a. d. 109. S. - V.
- Verſuch eines deutſchen Woͤrterbuchs;
a. d. 171. S.
VI.Bey-
[288]Verzeichniß der Schriften ꝛc.
- VI.
- Beytrag zum deutſchen Woͤrterbuche;
a. d. 207. S. - VII.
- Geheime Nachricht von D. Jonathan
Swifts letztem Willen; a. d. 233. S. - VIII.
- Nachricht von einem Schluͤſſel zu Swifts
Codicille; a. d. 273. S. - IX.
- Rechtliches Jnformat uͤber die Frage: Ob
ein Poet, als Poet, zur Kopfſteuer zu
ziehen ſey? a. d. 279. S.
finden, in meiner Vorrede zur neuen Auflage des vermehr-
ten und verbeſſerten Bruckers, welche kuͤnftige Meſſe zu
Coͤlln ans Licht treten ſoll, und worinnen ich unter andern
durch Zeugen und Documente bewieſen habe, daß der
philoſophiſchen Herrn Wrydens, die großen Manſchetten
nicht uͤberleben werde.
Stelle, welche, man weis nicht, durch was fuͤr einen
ungluͤcklichen Zufall, vermuthlich aber auf der Poſt, der-
geſtalt zerrieben, und unleſerlich gemacht worden, daß
man, aller angewandten Muͤhe ungeachtet, nicht im
Stande geweſen iſt, den eigentlichen Jnnhalt zu erra-
then, und die Luͤcken auszufuͤllen. Dieſer Verluſt iſt hoͤch-
lich zu bedauern, weil dadurch dieſe ganze Erzaͤhlung ſo
dunkel und unverſtaͤndlich gemacht worden iſt, daß man
gar nicht errathen kann, wer eigentlich dieſer Schatten
geweſen ſeyn muͤſſe, welchen der Herr Verfaſſer im Trau-
me geſehen hat. Die Kuͤrze der Zeit hat es nicht erlau-
ben wollen, ihn um eine Erlaͤuterung daruͤber zu bitten,
zumal da es demſelben gefallen hat, den eigentlichen Ort
ſeines Aufenthalts zu verſchweigen. Jnzwiſchen erſucht
man denſelben um eine vollſtaͤndige Abſchrift dieſes Cha-
rakters. Man hat es ohne ſein Vorwiſſen nicht wagen
wollen, ſolchen gaͤnzlich herauszulaſſen, und der Eingriff
wuͤrde zwar vielleicht gelehrt, aber dennoch ſtrafbar ge-
weſen ſeyn, wenn man ſolchen ſelbſt haͤtte ergaͤnzen, und
unſre Arbeit fuͤr das Original deſſelben haͤtte ausgeben
wollen. Der beſte Rath hat dieſer zu ſeyn geſchienen,
wenn
ließe, wie ſie in dem Manuſcripte noch zu erkennen gewe-
ſen. Vielleicht erlangt man dadurch bey denjenigen Ge-
lehrten einen großen Beyfall, welche in dergleichen Art
von verſtuͤmmelten Schriften, in denen kein Verſtand iſt,
die groͤßte Weisheit ſuchen, und ihren Namen durch deren
muͤhſame und wichtige Ergaͤnzung zu verewigen geden-
ken. Man erwartet von den deutſchen Grutern und
Gronoven alle billige Erkenntlichkeit fuͤr dieſe kritiſche Auf-
gabe, und will nur wuͤnſchen, daß durch deren Unterſu-
chung nicht zu neuer Heftigkeit und Verbitterung in der
gelehrten Republik Anlaß gegeben werden moͤge!
Herrn Profeſſors in Leiden, Gille Hooenhoecknomen-
clator forenſis, oder juriſtiſches Woͤrterbuch, in welchem
unter dem Buchſtaben J, obige Beſchreibung de iuſtitia
diſtributiua von Wort zu Wort ſich befindet, und noch
dieſes hinzugeſetzt iſt, daß nach verſchiedner Rechtsgelehr-
ter Meynung ein Kober Krebſe probatio ſemiplena, ein
wildes Schwein aber documentum guarentigionatum
heiße. Jch habe aber davon mit Fleiße in meinem Texte
nichts erwaͤhnen wollen, weil dieſes nur den hollaͤndiſchen
Schlendrian betrifft, und hier zu Lande ganz und gar nicht
eingefuͤhrt iſt.
a. d. 465. S.
1746. eingeruͤckt geweſen.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Sammlung satyrischer Schriften. Sammlung satyrischer Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bprj.0