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Carl May's
geſammelte Reiſeromane.


Band II:
Durchs wilde Kurdiſtan.

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Freiburg i. B.:
Verlag von Friedrich Ernſt Fehlenfeld.
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Durchs
Wilde Kurdiſtan

Reiſeerlebniſſe


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Freiburg i. B.:
Verlag von Friedrich Ernſt Fehlenfeld.

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Inhalt des zweiten Bandes.



  • Erſtes Kapitel. Der Opfertod des Heiligen … Seite 1
  • Zweites Kapitel. Dojan … 109
  • Drittes Kapitel. In der Feſtung … 148
  • Viertes Kapitel. Aus der Feſtung… 221
  • Fünftes Kapitel. Unter Bluträchern … 373
  • Sechſtes Kapitel. Bären- und Menſchenjagd … 440
  • Siebentes Kapitel. Der Geiſt der Höhle … 533

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Erſtes Kapitel.
Der Opfertod des Heiligen.



Wir kehrten von dem Beſuche des Häuptlings der
Badinankurden zurück. Als wir auf der letzten Höhe
ankamen und das Thal der Teufelsanbeter überblicken
konnten, bemerkten wir ganz in der Nähe des Hauſes,
welches dem Bey gehörte, einen ungeheuern Haufen von
Reisholz, der von einer Anzahl von Dſcheſidi immer
noch vergrößert wurde. Pir Kamek ſtand dabei und warf
von Zeit zu Zeit ein Stück Erdharz hinein.


„Das iſt ſein Opferhaufen,“ meinte Ali Bey.


„Was wird er opfern?“


„Ich weiß es nicht.“


„Vielleicht ein Tier?“


„Nur bei den Heiden werden Tiere verbrannt.“


„Dann vielleicht Früchte?“


„Die Dſcheſidi verbrennen weder Tiere noch Früchte.
Der Pir hat mir nicht geſagt, was er verbrennen wird,
aber er iſt ein großer Heiliger, und was er thut, wird
keine Sünde ſein.“


Noch immer ertönten von der gegenüberliegenden
Höhe die Salven der ankommenden Pilger, und noch
immer wurde denſelben im Thale geantwortet: und doch
bemerkte ich, als wir unten ankamen, daß dieſes Thal
kaum noch mehr Menſchen zu faſſen vermöge. Wir über-
II. 1
[2] gaben unſere Tiere und gingen nach dem Grabmale. An
dem Wege, welcher zu demſelben führte, lag ein Spring-
brunnen, der von Platten eingefaßt war. Auf einer der-
ſelben ſaß Mir Scheik Khan und ſprach mit einer An-
zahl von Pilgern, die in ehrerbietiger Haltung und Ent-
fernung vor ihm ſtanden.


„Dieſer Brunnen iſt heilig, und nur der Mir, ich
und die Prieſter dürfen auf dieſen Steinen ſitzen. Zürne
alſo nicht, wenn du ſtehen mußt!“ ſagte Ali zu mir.


„Eure Gebräuche werde ich achten.“


Als wir uns nahten, gab der Khan den Umſtehenden
ein Zeichen, worauf ſie Platz machten, ſo daß wir zu
ihm kommen konnten. Er erhob ſich, kam uns einige
Schritte entgegen und reichte uns die Hände.


„Willkommen bei eurer Rückkehr! Nehmt Platz zu
meiner Rechten und Linken!“


Er deutete dem Bey zur Linken, ſodaß mir die rechte
Seite übrig blieb. Ich ſetzte mich auf die geheiligten
Steine, ohne daß ich bei einem der Anweſenden den ge-
ringſten Verdruß darüber bemerkt hätte. Wie ſehr ſtach
ein ſolches Verhalten gegen dasjenige ab, welches man bei
den Mohammedanern zu beobachten hat!


„Haſt du mit dem Häuptling geſprochen?“ fragte der
Khan.


„Ja. Es iſt alles in der beſten Ordnung. Haſt du
den Pilgern bereits eine Mitteilung gemacht?“


„Nein.“


„So wird es Zeit ſein, daß die Leute ſich verſam-
meln. Gieb den Befehl dazu!“


„Ich bin der Regent des Glaubens, und alles andere
iſt deine Sache. Ich werde dir den Ruhm, die Gläu-
bigen beſchützt und die Feinde beſiegt zu haben, niemals
verkürzen.“


[3]

Auch dies war eine Beſcheidenheit, welche bei den
mohammedaniſchen Imams niemals zu finden iſt. Ali
Bey erhob ſich und ſchritt von dannen. Während ich
mich mit dem Khan unterhielt, bemerkte ich eine Bewegung
unter den Pilgern, welche mit jeder Minute größer wurde.
Die Frauen blieben an ihren Plätzen ſtehen, die Kinder
ebenſo; die Männer aber ſtellten ſich am Bache entlang
auf, und die Anführer der einzelnen Stämme, Zweige
und Ortſchaften bildeten einen Kreis um Ali Bey, der
ihnen die Abſichten des Muteſſarif von Moſſul bekannt
machte. Dabei herrſchte eine Ruhe, eine Ordnung, wie
bei der Parade einer europäiſchen Truppe, ganz verſchieden
von dem lärmenden Durcheinander, welches man ſonſt bei
orientaliſchen Kriegern zu ſehen und zu hören gewohnt
iſt. Nach einiger Zeit, in welcher die Anführer den Ihrigen
die Mitteilung und die Befehle des Bey überbracht hatten,
ging die Verſammlung ohne Unordnung wieder auseinan-
der, und ein jeder begab ſich an den Platz, den er vorher
inne gehabt hatte.


Ali Bey kam zu uns zurück.


„Was haſt du befohlen?“ fragte der Khan.


Der Gefragte ſtreckte den Arm aus und deutete auf
einen Trupp von vielleicht zwanzig Männern, die den Pfad
emporſtiegen, auf dem wir vorhin herabgekommen waren.


„Siehe, das ſind Krieger aus Aïran, Hadſchi Dsho
und Schura Khan, welche dieſe Gegend ſehr gut kennen.
Sie gehen den Türken entgegen und werden uns von deren
Kommen rechtzeitig benachrichtigen. Auch gegen Baadri
hin habe ich Wachen ſtehen, ſo daß es ganz unmöglich iſt,
uns zu überraſchen. Bis es Nacht wird, iſt noch drei
Stunden Zeit, und das genügt, um alles Ueberflüſſige
nach dem Thalde Idiz zu bringen. Die Männer werden
aufbrechen, und Selek wird ihnen den Weg zeigen.“


[4]

„Werden ſie bei dem Beginne der heiligen Hand-
lungen zurückgekehrt ſein?“


„Ja; das iſt ſicher.“


„So mögen ſie gehen!“


Nach einiger Zeit ſchritt ein ſehr, ſehr langer Zug
von Männern, welche Tiere mit ſich führten oder ver-
ſchiedene Habſeligkeiten trugen, an uns vorüber, wo ſie,
immer einer nach dem andern, hinter dem Grabmale ver-
ſchwanden. Dann kamen ſie über demſelben auf einem
Felſenpfade wieder zum Vorſcheine, und man konnte von
unſerm Sitz aus ihren Weg verfolgen, bis derſelbe oben
in den hohen, dichten Wald verlief.


Jetzt mußte ich mit Ali Bey gehen, um das Mahl
einzunehmen. Nach demſelben trat der Baſchi-Bozuk zu mir.


„Herr, ich muß dir etwas ſagen!“


„Was?“


„Uns droht eine große Gefahr!“


„Ah! Welche?“


„Ich weiß es nicht; aber dieſe Teufelsmänner haben
mich ſeit einer halben Stunde mit Augen angeſehen, welche
ganz fürchterlich ſind. Es ſieht grad ſo aus, als ob ſie
mich töten wollten!“


Da der Buluk Emini ſeine Uniform trug, ſo konnte
ich mir das Verhalten der von den Türken bedrohten
Dſcheſidi ſehr leicht erklären; doch war ich vollſtändig
überzeugt, daß ihm nichts geſchehen werde.


„Das iſt ſchlimm!“ meinte ich. „Wenn ſie dich töten,
wer wird dann den Schwanz deines Eſels bedienen?“


„Herr, ſie werden den Eſel auch mit erſtechen! Haſt
du nicht geſehen, daß ſie die meiſten Büffel und Schafe,
die vorhanden ſind, bereits getötet haben?“


„Dein Eſel iſt ſicher, und du biſt es auch. Ihr gehört
zuſammen, und man wird euch nicht auseinanderreißen.“


[5]

„Verſprichſt du mir dies?“


„Ich verſpreche es dir!“


„Aber ich hatte Angſt, als du vorhin abweſend warſt.
Gehſt du wieder fort von hier?“


„Ich werde bleiben; aber ich befehle dir, ſtets hier
im Hauſe zu ſein und dich nicht unter die Dſcheſidi zu
miſchen, ſonſt iſt es mir unmöglich, dich zu beſchützen!“


Er ging, halb und halb getröſtet, von dannen, der
Held, den der Muteſſarif mir zu meinem Schutze mit-
gegeben hatte. Aber es kam auch noch von einer andern
Seite eine Warnung: Halef ſuchte mich auf.


„Sihdi, weißt du, daß es Krieg geben wird?“


„Krieg? Zwiſchen wem?“


„Zwiſchen den Osmanly und den Teufelsleuten.“


„Wer ſagte es?“


„Niemand.“


„Niemand? Du haſt doch wohl gehört, was wir
heute früh in Baadri bereits davon geſprochen haben?“


„Nichts habe ich gehört, denn ihr ſpracht türkiſch,
und dieſe Leute ſprechen die Sprache ſo aus, daß ich ſie
nicht verſtehen kann. Aber ich ſah, daß es eine große
Verſammlung gab und daß nach derſelben alle Männer
die Waffen unterſuchten. Nachher haben ſie ihre Tiere
und Güter fortgeſchafft, und als ich zu Scheik Moham-
med hinauf auf die Plattform kam, war er beſchäftigt,
die alte Ladung aus ſeinen Piſtolen zu nehmen, um ſie
gegen eine neue zu vertauſchen. Sind dies nicht genug
Zeichen, daß man eine Gefahr erwartet?“


„Du haſt recht, Halef. Morgen früh beim Anbruch
des Tages werden die Türken von Baadri und auch von
Kaloni her über die Dſcheſidi herfallen.“


„Und das wiſſen die Dſcheſidi?“


„Ja.“


[6]

„Wie hoch zählen die Türken?“


„Fünfzehnhundert Mann.“


„Es werden viele von ihnen fallen, da ihr Plan ver-
raten iſt. Wem wirſt du helfen, Sihdi, den Türken oder
den Dſcheſidi?“


„Ich werde gar nicht kämpfen.“


„Nicht?“ erwiderte er getäuſcht. „Darf ich nicht?“


„Wem willſt du helfen?“


„Den Dſcheſidi.“


„Ihnen, Halef? Ihnen, von denen du glaubteſt, daß
ſie dich um das Paradies bringen würden?“


„O Sihdi, ich kannte ſie nicht; jetzt aber liebe
ich ſie.“


„Aber es ſind Ungläubige!“


„Haſt du ſelbſt nicht ſtets jenen geholfen, die gut
waren, ohne ſie zu fragen, ob ſie an Allah oder an einen
andern Gott glauben?“


Mein wackerer Halef hatte mich zum Moslem machen
wollen, und jetzt ſah ich zu meiner großen Freude, daß
er ſein Herz für ein ganz und gar chriſtliches Gefühl ge-
öffnet hatte. Ich antwortete ihm:


„Du wirſt bei mir bleiben!“


„Während die andern kämpfen und tapfer ſind?“


„Es wird ſich für uns vielleicht Gelegenheit finden,
noch tapferer und mutiger zu ſein, als ſie.“


„So bleibe ich bei dir. Der Buluk Emini auch?“


„Auch er.“


Ich ſtieg hinauf auf die Plattform zu Scheik Moham-
med Emin.


„Hamdullillah, Preis ſei Gott, daß du kommſt!“ ſagte
er. „Ich habe mich nach dir geſehnt wie das Gras nach
dem Tau der Nacht.“


„Du biſt ſtets hier oben geblieben?“


[7]

„Stets. Es ſoll mich niemand erkennen, weil ich ſonſt
vielleicht verraten werden möchte. Was haſt du neues er-
fahren?“


Ich teilte ihm alles mit. Als ich geendet hatte, deutete
er auf ſeine Waffen, welche vor ihm lagen.


„Wir werden ſie empfangen!“


„Du wirſt dieſer Waffen nicht bedürfen.“


„Nicht? Soll ich mich und unſere Freunde nicht ver-
teidigen?“


„Sie ſind ſtark genug. Willſt du vielleicht in die Hände
der Türken, denen du kaum entgangen biſt, fallen, oder
ſoll dich eine Kugel, ein Meſſerſtich treffen, damit dein
Sohn noch länger in der Gefangenſchaft von Amadijah
ſchmachtet?“


„Emir, du ſprichſt wie ein kluger, aber nicht wie ein
tapferer Mann!“


„Scheik, du weißt, daß ich mich vor keinem Feinde
fürchte; es iſt nicht die Angſt, welche aus mir ſpricht.
Ali Bey hat von uns verlangt, daß wir uns vor dem
Kampfe hüten ſollen. Er hegt übrigens die Ueberzeugung,
daß es gar nicht zum Kampfe kommen werde, und ich bin
ganz derſelben Meinung wie er.“


„Du denkſt, die Türken ergeben ſich ohne Widerſtand?“


„Wenn ſie es nicht thun, ſo werden ſie zuſammen-
geſchoſſen.“


„Die Offiziere der Türken taugen nichts, aber die
Soldaten ſind tapfer. Sie werden die Höhen ſtürmen und
ſich befreien.“


„Fünfzehnhundert gegen vielleicht ſechstauſend Mann?“


„Wenn es gelingt, ſie zu umzingeln!“


„Es wird gelingen.“


„So müſſen wir alſo mit den Frauen nach dem Thale
Idiz gehen?“


[8]

„Du, ja.“


„Und du?“


„Ich werde hier zurückbleiben.“


„Allah kerihm! Wozu? Das würde dein Tod ſein!“


„Das glaube ich nicht. Ich bin im Giölgeda padi-
ſchahnün, beſitze die Empfehlungen des Muteſſarif und
habe einen Buluk Emini bei mir, deſſen Anweſenheit ſchon
genügend wäre, mich zu ſchützen.“


„Aber was willſt du hier thun?“


„Unheil vermeiden, wenn es möglich iſt.“


„Weiß Ali Bey davon?“


„Nein.“


„Oder der Mir Scheik Kahn?“


„Auch nicht. Sie erfahren es noch immer zur rechten
Zeit.“


Ich hatte wirklich große Mühe, den Scheik zur Billigung
meines Vorhabens zu überreden. Endlich aber gelang es mir.


„Allah il Allah! Die Wege des Menſchen ſind im
Buche vorgeſchrieben,“ meinte er; „ich will dich nicht be-
wegen, von dieſem Vorhaben abzulaſſen, aber ich werde
hier bei dir bleiben!“


„Du? Das geht nicht!“


„Warum?“


„Sie dürfen dich nicht finden.“


„Dich auch nicht.“


„Ich habe dir bereits auseinandergeſetzt, daß ich keine
Gefahr laufe; dich aber, wenn du erkannt wirſt, erwartet
ein anderes Loos.“


„Das Ende des Menſchen ſteht im Buche verzeichnet.
Soll ich ſterben, ſo muß ich ſterben, und dann iſt es gleich,
ob es hier geſchieht oder dort in Amadijah.“


„Du willſt in dein Unglück rennen, aber du vergiſſeſt,
daß du auch mich darein verwickelſt.“


[9]

Dies ſchien mir der einzige Weg, ſeiner Hartnäckigkeit
beizukommen.


„Dich? Wieſo?“ fragte er.


„Bin ich allein hier, ſo ſchützen mich meine Firmans;
finden ſie aber dich bei mir, den Feind des Muteſſarif,
den entflohenen Gefangenen, ſo habe ich dieſen Schutz ver-
loren und verwirkt. Dann ſind auch wir verloren, du
und ich, alle beide!“


Er blickte nachdenklich vor ſich nieder. Ich ſah, was
ſich in ihm gegen den Rückzug nach dem Thale Idiz
ſträubte, aber ich ließ ihm Zeit, einen Entſchluß zu faſſen.
Endlich ſagte er mit halber, unſicherer Stimme:


„Emir, hältſt du mich für einen Feigling?“


„Nein. Ich weiß ja, daß du tapfer und furchtlos biſt.“


„Was wird Ali Bey denken?“


„Er denkt ganz ſo wie ich, ebenſo Mir Scheik Khan.“


„Und die andern Dſcheſidi?“


„Sie kennen deinen Ruhm und wiſſen, daß du vor
keinem Feinde flieheſt. Darauf kannſt du dich verlaſſen!“


„Und wenn man an meinem Mute zweifeln ſollte,
wirſt du mich verteidigen? Wirſt du öffentlich ſagen, daß
ich mit den Frauen nach Idiz gegangen bin, nur um dir
zu gehorchen?“


„Ich werde es überall und öffentlich ſagen.“


„Nun wohl, ſo werde ich thun, was du mir vorge-
ſchlagen haſt!“


Er ſchob reſigniert die Flinte von ſich fort und wendete
ſein Angeſicht wieder dem Thale zu, das ſich bereits in
den Schatten des Abends zu hüllen begann.


Grade jetzt kamen die Männer zurück, welche vorher
nach Idiz gegangen waren. Sie bildeten einen Zug ein-
zelner Perſonen, der ſich im Thale vor uns auflöſte.


Da erſcholl vom Grabe des Heiligen her eine Salve,
[10] und zu gleicher Zeit kam Ali Bey herauf zu uns mit den
Worten:


„Es beginnt die große Feier am Grabe. Es iſt noch
nie ein Fremder dabei zugegen geweſen, aber der Mir
Scheik Khan hat mir im Namen aller Prieſter die Ge-
nehmigung erteilt, euch einzuladen.“


Das war nun allerdings eine ſehr hohe Ehre für
uns; aber Scheik Mohammed Emin lehnte ſie ab:


„Ich danke, dir, Herr; aber es iſt dem Moslem
verboten, bei der Anbetung eines andern als Allah zu-
gegen zu ſein.“


Er war ein Moslem; aber er hätte dieſe Abweiſung
doch in andere Worte kleiden können. Er blieb zurück,
und ich folgte dem Bey.


Als wir aus dem Hauſe traten, bot ſich uns ein ſelt-
ſamer, unbeſchreiblich ſchöner Anblick dar. So weit das
Thal reichte, flackerten Lichter unter und auf den Bäumen,
am Waſſer unten und auf jedem Felſen in der Höhe, um
die Häuſer herum und auf den Plattformen derſelben.
Das regſte Leben aber herrſchte am Grabmale des Heili-
gen. Der Mir hatte an der ewigen Lampe des Grabes
ein Licht angebrannt und trat damit heraus in den
innern Hof. An dieſem Lichte zündeten die Scheiks
und Kawals ihre Lampen an; von dieſen liehen wieder
die Fakirs ihre Flammen, und nun traten ſie alle heraus
in das Freie, und Tauſende ſtrömten herbei, um ſich an
den heiligen Feuern zu reinigen.


Wer den Lichtern der Prieſter nahe zu kommen ver-
mochte, fuhr mit der Hand durch die Flamme derſelben
und beſtrich dann mit dieſer Hand die Stirn und die
Gegend des Herzens. Männer ſtrichen dann zum zweiten-
mal durch die Flamme, um den Segen derſelben ihren
Frauen zu bringen. Mütter thaten ganz dasſelbe für ihre
[11] Kinder, welche nicht die Kraft beſaßen, durch die dichte
Menge zu dringen. Und dabei herrſchte ein Jubel, eine
Freude, die gar nichts Anſtößiges hatte.


Auch das Heiligtum wurde illuminiert. In jede der
zahlreichen Mauerniſchen kam eine Lampe zu ſtehen, und
über die Höfe hinweg zogen ſich lange Guirlanden von
Lampen und Flammen. Jeder Zweig der dort befindlichen
Bäume ſchien der Arm eines rieſigen Leuchters zu ſein,
und Hunderte von Lichtern liefen an den beiden Türmen
bis zu den Spitzen derſelben empor, zwei rieſige Giran-
dolen bildend, deren Anblick ein zauberiſcher war.


Die Prieſter hatten jetzt, zwei Reihen bildend, im
inneren Hofe Platz genommen. Auf der einen Seite ſaßen
die Scheiks in ihren weißen Anzügen und ihnen gegenüber
die Kawals. Dieſe letzteren hatten Inſtrumente in der
Hand, abwechſelnd je einer eine Flöte und der andere ein
Tamburin. Ich ſaß mit Ali Bey unter der Rebenlaube.
Wo Mir Scheik Khan war, konnte ich nicht bemerken.


Da ertönte aus dem Innern des Grabes ein Ruf,
und die Kawals erhoben ihre Inſtrumente. Die Flöten
begannen eine langſame, klagende Melodie zu ſpielen, wozu
ein leiſer Schlag auf das Tamburin den Takt angab.
Dann folgte plötzlich ein lang ausgehaltener viertöniger
Akkord; ich glaube, es war ein Terzquartſextakkord, zu
welchem auf den Tamburins mit den Fingerſpitzen ge-
trillert wurde, erſt pianiſſimo, dann piano, ſtärker, immer
ſtärker bis zum Fortiſſimo, und dann fielen die Flöten
in ein zweiſtimmiges Tonſtück ein, für welches keiner
unſerer muſikaliſchen Namen paßt, deſſen Wirkung aber
doch eine ſehr angenehme und befriedigende war.


Am Schluſſe dieſes Stückes trat Mir Scheik Khan
aus dem Innern des Gebäudes heraus. Zwei Scheiks be-
gleiteten ihn. Der eine trug ein hölzernes Geſtell vor ihm
[12] her, das einem Notenpulte glich; dieſes wurde in die
Mitte des Hofes geſetzt. Der andere trug ein kleines Gefäß
mit Waſſer und ein anderes, offenes, rundes, worin
ſich eine brennende Flüſſigkeit befand. Dieſe beiden Ge-
fäße wurden auf das Pult geſtellt, zu dem Mir Scheik
Khan trat.


Er gab mit der Hand ein Zeichen, worauf die
Muſik von neuem begann. Sie ſpielte eine Einleitung,
nach welcher die Prieſter mit einer einſtimmigen Hymne
einfielen. Leider konnte ich mir ihren Inhalt nicht
notieren, da dies aufgefallen wäre, und der eigentliche
Wortlaut iſt meinem Gedächtniſſe entſchwunden. Sie war
in arabiſcher Sprache verfaßt und forderte zur Reinheit,
zum Glauben und zur Wachſamkeit auf.


Nach derſelben hielt Mir Scheik Khan eine kurze
Anſprache an die Prieſter. Er ſchilderte in kurzen Worten
die Notwendigkeit, ſeinen Wandel von jeder Sünde rein
zu halten, Gutes zu thun an allen Menſchen, ſeinem
Glauben ſtets treu zu bleiben und ihn gegen alle Feinde
zu verteidigen.


Dann trat er zurück und ſetzte ſich zu uns unter den
Weinſtock. Jetzt brachte einer der Prieſter einen lebenden
Hahn herbei, der mittels einer Schnur an das Pult
befeſtigt wurde; zur Linken von ihm wurde das Waſſer
und zur Rechten das Feuer geſtellt.


Die Muſik begann wieder. Der Hahn hockte in ſich
gekehrt am Boden; die leiſen Klänge der Flöten ſchien er
gar nicht zu beachten. Da wurden die Töne ſtärker, und
er lauſchte. Den Kopf aus dem Gefieder ziehend, blickte
er ſich mit hellen, klugen Augen im Kreiſe um und be-
merkte dabei das Waſſer. Schnell fuhr er mit dem Schnabel
in das Gefäß, um zu trinken. Dieſes freudige Ereignis
wurde durch ein helles, jubelndes Zuſammenſchlagen der
[13] Tamburins verkündet. Dies ſchien das muſikaliſche Inter-
eſſe des Tieres zu erregen. Der Hahn krümmte den Hals
und horchte aufmerkſam. Dabei bemerkte er, daß er ſich
in einer gefahrvollen Nähe von der Flamme befand. Er
wollte ſich zurückziehen, konnte aber nicht, da er feſtgehalten
wurde. Darüber ergrimmt, richtete er ſich auf und ſtieß
ein lautes „Kik-ri-kih!“ hervor, in welches die Flöten und
Tamburins einfielen. Dies ſchien in ihm die Anſicht zu
erwecken, daß man es auf einen muſikaliſchen Wettſtreit
abgeſehen habe. Er wandte ſich mutig gegen die Muſikan-
ten, ſchlug die Flügel und ſchrie abermals. Er erhielt
dieſelbe Antwort, und ſo entwickelte ſich ein Tongefecht,
welches den Vogel ſchließlich ſo erzürnte, daß er unter
einem wütenden Gallicinium ſich losriß und in das Innere
des Grabens floh.


Die Muſik begleitete dieſe Heldenthat mit dem aller-
ſtärkſten Fortiſſimo; die Stimmen der Prieſter fielen
jubelnd ein, und nun folgte ein Finale, welches allerdings
ganz geeignet war, ſowohl die Muſikanten als auch die
Sänger zu ermüden. Am Schluß des Stückes küßten die
Kawals ihre Inſtrumente.


Sollte dieſes laute, ſtürmiſche Finale auf irgend eine
Weiſe einmal Gelegenheit gegeben haben, die Dſcheſiden
mit den unlautern Cheragh Sonderan, oder wie es in
kurdiſcher Sprache lautet, Tſcherah ſonderahn *) zu ver-
wechſeln? Das religiöſe Gefühl eines Chriſten ſträubt ſich
allerdings gegen die Vorführung dieſes Vogels, aber etwas
Immoraliſches habe ich dabei nicht beobachten können.


Jetzt ſollte der Verkauf der Kugeln erfolgen, von
denen ich bereits geſprochen habe. Vorher aber traten die
Prieſter herbei und machten Ali Bey und mir ein Ge-
ſchenk davon. Er erhielt ſieben und ich ſieben. Sie waren
[14] vollſtändig rund und mit einem arabiſchen Worte verſehen,
das man mit einem ſpitzigen Inſtrumente eingegraben
hatte. Von meinen ſieben Kugeln zeigten vier das Wort
„El Schems“, die Sonne.


Der Verkauf fand im äußeren Hofe ſtatt, während
im Innern des ummauerten Raumes die Inſtrumente
und der Geſang noch ertönten. Ich verließ das Heilig-
tum. Ich dachte, daß das Thal von der Höhe aus einen
wundervollen Anblick bieten müſſe, und ging, um mir
Halef zur Begleitung zu holen. Ich fand ihn auf der
Plattform des Hauſes bei dem Buluk Emini ſitzen. Sie
ſchienen ſich in einem ſehr animierten Geſpräch zu be-
finden, denn ich hörte ihn ſagen:


„Was? Ein Ruſſe wäre es geweſen?“


„Ja, ein Ruſſikow, dem Allah den Kopf abſchneiden
möge; denn wenn er nicht geweſen wäre, ſo hätte ich meine
Naſe noch! Ich haute wie wütend um mich; dieſer Kerl
aber holte nach meinem Kopfe aus; ich wollte ausweichen
und trat zurück. Der Hieb, welcher den Kopf treffen
ſollte, traf bloß die — — —“


„Hadſchi Halef!“ rief ich.


Es machte mir wirklich Spaß, die berühmte Geſchichte
von der Naſe auch einmal unterbrechen zu können. Die
beiden ſprangen auf und traten auf mich zu.


„Du ſollſt mich begleiten, Halef; komm!“


„Wohin, Sihdi?“


„Dort hinauf zur Höhe, um zu ſehen, wie ſich die
Illumination des Thales ausnimmt.“


„O Emir, laß mich mit dir gehen!“ bat Jfra.


„Ich habe nichts dagegen. Vorwärts!“


Wir ſtiegen die nach Baadri zu gelegene Höhe hinan.
Ueberall trafen wir Männer, Frauen und Kinder mit
Fackeln und Lichtern, und von allen wurden wir mit einer
[15] wirklich kindlichen Freude begrüßt und angeredet. Als
wir die Höhe erreichten, bot ſich uns ein geradezu unbe-
ſchreiblicher Anblick dar. Mehrere der Dſcheſidi waren
uns gefolgt, um uns zu leuchten: ich aber bat ſie, zurück-
zugehen oder ihre Fackeln zu verlöſchen. Wer den Genuß
vollſtändig haben wollte, mußte ſich ſelbſt im Dunkeln
befinden.


Da unten im Thale flutete Flamme an Flamme.
Tauſend leuchtende Punkte kreuzten, hüpften und ſchlüpften,
tanzten, ſchoſſen und flogen durcheinander, klein, ganz klein
tief unten, je näher aber zu uns, deſto größer werdend.
Das Heiligtum wallte förmlich von Glanz und Licht, und
die beiden Türme leckten empor in das Dunkel der Nacht
wie flammende Hymnen. Dazu ertönte von unten herauf
zu uns das dumpfe Wogen und Brauſen der Stimmen,
oft unterbrochen von einem lauten, nahen Jubelrufe. Ich
hätte ſtundenlang hier ſtehen und mich an dieſem An-
blicke weiden und ergötzen können.


„Was iſt das für ein Stern?“ ertönte da neben mir
eine Frage in kurdiſcher Sprache.


Einer der Dſcheſidi hatte ſie ausgeſprochen.


„Wo?“ fragte ein anderer.


„Siehe die Rea kadiſahn *) da rechts!“


„Ich ſehe ſie.“


„Unter ihr flammte ein heller Stern auf. Jetzt wie-
der! Siehſt du ihn?“


„Ich ſah ihn. Es iſt der Kjale be ſcheri **).“


Die vier Sterne, welche in unſerm Sternbilde den
Rücken des Bären bilden, heißen nämlich bei den Kurden
„der Alte“. Sie meinen, daß ſein Kopf hinter einer be-
nachbarten Sternengruppe verſteckt ſei. Die drei Sterne,
welche bei uns den Schwanz des großen Bären bilden
[16] (oder die Deichſel des „Wagens“, wie dieſes Sternbild
auch genannt wird), heißen bei ihnen die „zwei Brüder
und die blinde Mutter des Alten“.


„Der Kjale be ſcheri? Der hat doch vier Sterne!“
meinte der erſte Frager. „Es wird Kumikji ſchiwan *) ſein.“


„Der ſteht höher. Jetzt leuchtet es wieder. Ah, wir
ſind irr; es iſt ja im Süden! Es wird Meſchin **) ſein.“


„Meſchin hat auch mehrere Sterne. Was meinſt du,
Herr, daß es iſt?“


Dieſe Frage war an mich gerichtet. Mir ſchien das
Phänomen auffällig.


Die Fackeln und Lichter unter uns warfen einen Schein
in die Höhe, der es uns unmöglich machte, die Sterne
genau zu erkennen. Der Glanz aber, welcher von Zeit zu
Zeit da drüben aufblitzte, um ſofort wieder zu verſchwin-
den, war intenſiv. Er glich einem Irrlichte, das plötz-
lich aufleuchtete und augenblicklich wieder verlöſchte. Ich
beobachtete noch eine Weile und wandte mich dann zu
Halef:


„Hadſchi Halef, eile ſofort hinab zu Ali Bey und
ſage ihm, daß er ſehr ſchnell zu mir heraufkommen möge!
Es handle ſich um etwas Wichtiges.“


Der Diener verſchwand mit ſchnellen Schritten, und
ich trat noch eine Strecke weiter vor, teils, um den ver-
meintlichen Stern beſſer beobachten zu können, teils auch,
um allen weiteren Fragen zu entgehen.


Glücklicherweiſe hatte Ali Bey gehört, daß ich herauf-
gegangen ſei, und den Entſchluß gefaßt, mir zu folgen.
Halef traf ihn eine nur kleine Strecke unter uns und
brachte ihn zu mir.


„Was willſt du mir zeigen, Emir?“


Ich ſtreckte den Arm aus.


[17]

„Blicke feſt dorthin! Du wirſt einen Stern aufblitzen
ſehen. Jetzt!“


„Ich ſehe ihn.“


„Er iſt wieder fort. Kennſt du ihn?“


„Nein. Er liegt ſehr tief und gehört zu keinem Bilde.“


Ich trat an einen Buſch und ſchnitt einige Ruten
ab. Die eine davon ſteckte ich in die Erde und ſtellte mich
dann einige Schritte vorwärts von ihm auf.


„Kniee genau hinter dieſer Rute nieder. Ich werde
in der Richtung in welcher der Stern wieder blitzt, eine
zweite aufſtecken. — Sahſt du ihn jetzt?“


„Ja. Ganz deutlich.“


„Wohin ſoll die Rute? Hierher?“


„Einen Fußbreit weiter nach rechts.“


„Hierher?“


„Ja; das iſt genau.“


„So! Nun beobachte weiter!“


„Jetzt ſah ich ihn wieder!“ meinte er nach einer kleinen
Weile.


„Wo? Ich werde eine dritte Rute ſtecken.“


„Der Stern war nicht am alten Platze. Er war viel
weiter links.“


„Wie weit? Sage es!“


„Zwei Fuß von der vorigen Rute.“


„Hier?“


„Ja.“


Ich ſteckte die dritte Rute ein, und Ali Bey beob-
achtete weiter.


„Jetzt ſah ich ihn wieder,“ meinte er bald.


„Wo?“


„Nicht mehr links, ſondern rechts.“


„Gut! Das war es, was ich dir zeigen wollte. Jetzt
magſt du dich wieder erheben.“


II. 2
[18]

Die andern hatten meinem ſonderbaren Gebaren mit
Verwunderung zugeſehen, und auch Ali konnte den Grund
desſelben nicht einſehen.


„Warum läſſeſt du mich dieſes Sternes wegen rufen?“


„Weil es kein Stern iſt!“


„Was ſonſt? Ein Licht?“


„Nun, wenn es nur ein Licht wäre, würde es ſchon
merkwürdig ſein; aber es iſt eine ganze Reihe von Lichtern.“


„Woraus vermuteſt du dies?“


„Ein Stern kann es nicht ſein, weil es tiefer ſteht,
als die Spitze des Berges, der dahinter liegt. Und daß
es mehrere Lichter ſind, haſt du ja aus dem Experimente
geſehen, das wir vorgenommen haben. Da drüben gehen
oder reiten viele Leute mit Fackeln oder Laternen, von
denen zuweilen die eine oder die andere herüberblitzt.“


Der Bey ſtieß einen Ausruf der Verwunderung aus.


„Du haſt recht, Emir!“


„Wer mag es ſein?“


„Pilger ſind es nicht, denn dieſe würden auf dem
Wege von Baadri nach Scheik Adi kommen.“


„So denke an die Türken!“


„Herr! Wäre es möglich?“


„Das weiß ich nicht, denn dieſe Gegend iſt mir un-
bekannt. Beſchreibe ſie mir, Bey!“


„Hier grad aus geht der Weg nach Baadri, und hier
weiter links der nach Aïn Sifni. Teile dieſen Weg in
drei Teile; gehe das erſte Drittel, ſo haſt du dieſe Lichter
dann dir zur Linken nach dem Waſſer zu, welches von
Scheik Adi kommt.“


„Kann man am Waſſer entlang reiten?“


„Ja.“


„Und auf dieſe Weiſe nach Scheik Adi kommen?“


„Ja.“


[19]

„So iſt ein großer, ein ſehr großer Fehler vorge-
kommen!“


„Welcher?“


„Du haſt Vorpoſten geſtellt nach Baadri und Kaloni
hin, aber nicht nach Aïn Sifni zu.“


„Dorther werden die Türken nicht kommen. Die Leute
von Aïn Sifni würden es uns verraten.“


„Aber wenn die Türken nicht nach Aïn Sifni gehen,
ſondern bei Dſcheraijah den Khauſſer überſchreiten und
dann zwiſchen Aïn Sifni und hier das Thal zu erreichen
ſuchen? Mir ſcheint, ſie würden dann dieſelbe Richtung
nehmen, in der ſich dort jene Lichter bewegen. Siehe, ſie
ſind bereits wieder nach links vorgerückt!“


„Emir, deine Vermutung iſt vielleicht die richtige. Ich
werde ſofort mehrere Wachen vorſchicken!“


„Und ich werde mir einmal dieſe Sterne näher be-
trachten. Haſt du einen Mann, der dieſe Gegend genau
kennt?“


„Niemand kennt ſie beſſer als Selek.“


„Er iſt ein guter Reiter; er ſoll mich führen!“


Wir ſtiegen ſo ſchnell wie möglich hinab. Der letztere
Teil der Unterredung war von uns leiſe geführt worden,
ſo daß niemand, und beſonders auch der Baſchi-Bozuk
nicht, etwas davon vernommen hatte. Selek war bald ge-
funden; er erhielt ein Pferd und nahm ſeine Waffen zu
ſich. Auch Halef mußte mit. Ich konnte mich auf ihn
mehr als auf jeden andern verlaſſen. Zwanzig Minuten
ſpäter, nachdem ich den Stern zuerſt geſehen hatte, jagten
wir auf dem Wege nach Aïn Sifni dahin. Auf der nächſten
Höhe blieben wir halten. Ich muſterte das Halbdunkel
vor uns und ſah endlich das Aufleuchten wieder. Ich
machte Selek auf dasſelbe aufmerkſam.


„Emir, das iſt kein Stern, das ſind auch keine
[20] Fackeln, denn dieſe würden einen umfangreicheren Schein
verbreiten. Das ſind Laternen.“


„Ich muß hart an ſie heran. Kennſt du die Gegend
genau?“


„Ich werde dich führen; ich kenne jeden Stein und
jeden Strauch. Halte dich nur hart hinter mir und nimm
dein Pferd ſtets hoch!“


Er wandte ſich von dem Waſſer nach rechts, und
nun ging es über Stock und Stein im Trabe vorwärts.
Es war ein ſehr böſer Ritt, aber bereits nach einer reich-
lichen Viertelſtunde konnten wir genau mehrere Lichter
unterſcheiden. Und nach einer zweiten Viertelſtunde,
während welcher uns dieſelben hinter einem vor uns
liegenden Bergrücken verſchwunden waren, langten wir
auf dem letzteren an und ſahen nun ſehr deutlich, daß
wir einen ziemlich langen Zug vor uns hatten. Von
wem derſelbe gebildet wurde, war von hier aus nicht zu
unterſcheiden; das aber bemerkten wir, daß er plötzlich
verſchwand und nicht wieder erſchien.


„Giebt es dort wieder einen Hügel?“


„Nein. Hier iſt Ebene,“ antwortete Selek.


„Oder eine Vertiefung, ein Thal, in welchem dieſe
Lichter verſchwinden können?“


„Nein.“


„Oder ein Wald — — —“


„Ja, Emir,“ fiel er ſchnell ein. „Dort, wo ſie ver-
ſchwunden ſind, liegt ein kleines Olivenwäldchen.“


„Ah! Du wirſt mit den Pferden hier bleiben und
auf uns warten. Halef aber begleitet mich.“


„Herr nimm mich auch mit,“ bat Selek.


„Die Tiere würden uns verraten.“


„Wir binden ſie an!“


„Mein Rappe iſt zu koſtbar, als daß ich ihn ohne
[21] Aufſicht laſſen dürfte. Und übrigens verſtehſt du auch
das richtige Anſchleichen nicht. Man würde dich hören
oder gar ſehen.“


„Emir, ich verſtehe es!“


„Sei ſtill!“ meinte da Halef. „Auch ich dachte, ich
verſtände es, mich mitten in ein Duar zu ſchleichen und
das beſte Pferd wegzunehmen; aber als ich es vor dem
Effendi machen mußte, habe ich mich ſchämen müſſen, wie
ein Knabe! Aber tröſte dich, denn Allah hat nicht ge-
wollt, daß aus dir eine Eidechſe werde!“


Wir ließen die Gewehre zurück und ſchritten voran.
Es war grad ſo licht, daß man auf fünfzig Schritte einen
Menſchen ſo leidlich erkennen konnte. Vor uns tauchte
nach vielleicht zehn Minuten ein dunkler Punkt auf, deſſen
Dimenſionen von Schritt zu Schritt zunahmen — das
Olivenwäldchen. Als wir ſo weit heran waren, daß wir
es in fünf oder ſechs Minuten zu erreichen vermocht
hätten, hielt ich an und lauſchte angeſtrengt. Nicht der
mindeſte Laut war zu vernehmen.


„Gehe genau hinter mir, daß unſere Perſonen eine
einzige Linie bilden!“


Ich hatte nur Jacke und Hoſe an, beide dunkel; auf
dem Kopfe trug ich den Tarbuſch, von dem ich das
Turbantuch abgewunden hatte. So war ich nicht ſo leicht
vom dunklen Boden zu unterſcheiden. Mit Halef war
ganz dasſelbe der Fall.


Lautlos glitten wir weiter. Da vernahmen wir das
Geräuſch knackender Aeſte. Wir legten uns nun auf die
Erde nieder und krochen langſam vorwärts. Das Knacken
und Brechen wurde lauter.


„Man ſammelt Aeſte, vielleicht gar um ein Feuer zu
machen.“


„Gut für uns, Sihdi!“ flüſterte Halef.


[22]

Bald erreichten wir den hinteren Rand des Gehölzes.
Das Schnauben von Tieren und Männerſtimmen wurden
hörbar. Wir lagen ſoeben hart neben einem dichten Buſch-
werke. Ich deutete auf dasſelbe und ſagte leiſe: „Verbirg
dich hier und erwarte mich, Halef.“


„Herr, ich verlaſſe dich nicht; ich folge dir!“


„Du würdeſt mich verraten. Das unhörbare Schleichen
iſt in einem Walde ſchwieriger als auf offenem Felde. Ich
habe dich nur mitgenommen, um mir den Rückzug zu decken.
Du bleibſt liegen, ſelbſt wenn du ſchießen hörſt. Wenn
ich dich rufe, ſo kommſt du ſo ſchnell wie möglich.“


„Und wenn du weder kommſt noch rufeſt?“


„So ſchleichſt du dich nach einer halben Stunde vor-
wärts, um zu ſehen, was mit mir geſchehen iſt.“


„Sihdi, wenn ſie dich töten, ſo ſchlage ich alle tot!“


Dieſe Verſicherung hörte ich noch, dann war ich fort;
aber noch hatte ich mich nicht ſehr weit von ihm entfernt,
ſo hörte ich eine laute, befehlende Stimme rufen:


„Et ateſch — brenne an, mache Feuer!“


Dieſe Stimme kam aus einer Entfernung von vielleicht
hundert Fuß. Ich konnte alſo unbeſorgt weiter kriechen.
Da vernahm ich das Praſſeln einer Flamme und bemerkte
zugleich einen lichten Schein, der ſich zwiſchen den Bäumen
faſt bis zu mir verbreitete. Das erſchwerte mir natürlich
mein Vorhaben bedeutend.


„Taſchlar ateſch tſchewreſinde — lege Steine um das
Feuer!“ befahl dieſelbe Stimme.


Dieſem Befehle wurde jedenfalls ſofort Folge geleiſtet,
denn der lichte Schein verſchwand, ſo daß ich nun beſſer
vorwärts konnte. Ich ſchlich mich von einem Stamme
zum andern und wartete hinter einem jeden, bis ich mich
überzeugt hatte, daß ich nicht bemerkt worden ſei. Glück-
licherweiſe war dieſe Vorſicht überflüſſig; ich befand mich
[23] nicht in den Urwäldern Amerikas, und die guten Leute,
welche ich vor mir hatte, ſchienen nicht die mindeſte Ahnung
zu haben, daß es irgend einem Menſchenkinde einfallen
könne, ſie zu belauſchen.“


So avancierte ich immer weiter, bis ich einen Baum
erreichte, deſſen Wurzeln ſo zahlreiche Schößlinge getrieben
hatte, daß ich hinter denſelben ein recht leidliches Verſteck
zu finden hoffte. Wünſchenswert war dies beſonders des-
halb, weil ganz in der Nähe des Baumes zwei Männer
ſaßen, auf die ich es abgeſehen hatte, zwei türkiſche Offiziere.


Mit einiger Vorſicht gelang es mir, mich hinter den
Schößlingen häuslich niederzulaſſen, und nun konnte ich
die Scene vollſtändig überblicken.


Draußen vor dem kleinen Gehölze ſtanden — vier
Gebirgskanonen oder vielmehr zwei Kanonen und zwei
Haubitzen, und am Saume des Gehölzes waren ungefähr
zwanzig Maultiere angebunden, die zum Transporte
dieſer Geſchütze erforderlich geweſen waren. Man braucht
zu einem Geſchütze gewöhnlich vier bis fünf Maultiere;
eins muß das Rohr, eins die Lafette und zwei bis vier
müſſen die Munitionskäſten tragen.


Die Kanoniere hatten es ſich bequem gemacht; ſie
lagen auf dem Boden ausgeſtreckt und plauderten leiſe
miteinander. Die beiden Offiziere aber wünſchten Kaffee
zu trinken und ihren Tſchibuk zu rauchen; darum war
ein Feuer gemacht worden, über welchem ein kleiner Keſſel
auf zwei Steinen ſtand. Der eine der beiden Helden war
ein Hauptmann und der andere ein Lieutenant. Der
Hauptmann hatte ein recht biederes Ausſehen; er kam
mir grade ſo vor, als ſei er eigentlich ein urgemütlicher,
dicker deutſcher Bäckermeiſter, der auf einem Liebhaber-
theater den wilden Türken ſpielen ſoll und ſich dazu für
anderthalbe Mark vom Maskenverleiher das Koſtüm ge-
[24] liehen hat. Mit dem Lieutenant war es ganz ähnlich.
Juſt ſo wie er mußte eine ſechzigjährige Kaffeeſchweſter
ausſehen, die auf den unbegreiflichen Backfiſchgedanken
geraten iſt, in Pumphoſen und Osmanly-Jacke auf die
Redoute zu gehen. Es war mir ganz ſo, als müſſe ich
jetzt hinter meinem Baume hervortreten und ſie über-
raſchen mit den geflügelten Worten:


„Schön guten Abend, Meiſter Mehlhuber; 'pfehle
mich, Fräulein Lattenſtengel; 'was Neues? Danke, danke,
werde ſo frei ſein!“


Freilich waren die Worte, welche ich zu hören be-
kam, etwas weniger gemütlich. Ich lag ihnen ſo nahe,
daß ich alles hören konnte.


„Unſere Kanonen ſind gut!“ brummte der Hauptmann.


„Sehr gut!“ flötete der Lieutenant.


„Wir werden ſchießen, alles niederſchießen!“


„Alles!“ ertönte das Echo.


„Wir werden Beute machen!“


„Viel Beute!“


„Wir werden tapfer ſein!“


„Sehr tapfer!“


„Wir werden befördert werden!“


„Hoch, äußerſt hoch!“


„Dann rauchen wir Tabak aus Perſien!“


„Tabak aus Schiras!“


„Und trinken Kaffee aus Arabien!“


„Kaffee aus Mokka!“


„Die Dſcheſidi müſſen alle ſterben!“


„Alle!“


„Die Böſewichter!“


„Die Buben!“


„Die Unreinen, die Unverſchämten!“


„Die Hunde!“


[25]

„Wir werden ſie töten!“


„Morgen früh gleich!“


„Natürlich, das verſteht ſich!“


Ich hatte nun genug geſehen und gehört; darum zog
ich mich zurück, erſt langſam und vorſichtig, dann aber
raſcher. Ich erhob mich dabei ſogar von der Erde, wor-
über Halef ſich nicht wenig wunderte, als ich bei ihm
ankam.


„Wer iſt es, Sihdi?“


„Artilleriſten. Komm; wir haben keine Zeit!“


„Gehen wir aufrecht?“


„Ja.“


Wir erreichten bald unſere Pferde, ſtiegen auf und
kehrten zurück. Die Strecke nach Scheik Adi wurde jetzt
natürlich viel ſchneller zurückgelegt, als vorhin. Wir
fanden dort noch dasſelbe rege Leben.


Ich hörte, daß Ali Bey ſich beim Heiligtum befinde,
und traf ihn mit dem Mir Scheik Khan in dem inneren
Hofe desſelben. Er kam mir erwartungsvoll entgegen und
führte mich zum Khan.


„Was haſt du geſehen?“ fragte er.


„Kanonen!“


„Oh!“ machte er erſchrocken. „Wie viele?“


„Vier kleine Gebirgskanonen.“


„Welchen Zweck haben ſie?“


„Scheik Adi ſoll damit zuſammengeſchoſſen werden.
Während die Infanteriſten von Baadri und Kaloni an-
greifen, ſoll die Artillerie jedenfalls da unten am Waſſer
ſpielen. Der Plan iſt nicht ſchlecht, denn von dort aus
läßt ſich das ganze Thal beſtreichen. Es handelte ſich
nur darum, die Geſchütze unbemerkt über die Höhen zu
bringen; dies iſt gelungen; man hat ſich der Maultiere
bedient, mit deren Hilfe die Kanonen in einer Stunde
[26] von dem Lagerplatze aus bis nach Scheik Adi gebracht
werden können.“


„Was thun wir, Emir?“


„Gieb mir ſofort ſechzig Reiter mit und einige La-
ternen, ſo ſiehſt du binnen zwei Stunden die Geſchütze
mit ihrer Bedienung hier in Scheik Adi!“


„Gefangen?“


„Gefangen!“


„Herr, ich gebe dir hundert Reiter!“


„Nun wohl, gieb mir ſofort achtzig und ſage ihnen,
daß ich ſie unten am Waſſer erwarte.“


Ich ging und traf Halef und Selek noch bei den
Pferden.


„Was wird Ali Bey thun?“ fragte Halef.


„Nichts. Wir ſelbſt werden thun, was gethan
werden ſoll.“


„Was iſt das, Sihdi? Du lachſt! Herr, ich kenne
dein Geſicht; wir holen die Kanonen?“


„Allerdings! Ich möchte aber die Kanonen haben,
ohne daß Blut vergoſſen wird, und darum nehmen wir
achtzig Reiter mit.“


Wir ritten dem Ausgange des Thales zu, wo wir
nicht lange warten durften, bis die achtzig kamen.


Ich ſandte Selek mit zehn Mann voran und folgte
mit den andern eine Strecke hinter ihnen. Wir erreichten,
ohne einen Feind zu ſehen, die Anhöhe, auf der Selek
vorhin auf uns gewartet hatte, und ſtiegen ab. Zunächſt
ſandte ich einige Leute aus, welche für unſere eigene Sicher-
heit zu wachen hatten; dann ließ ich zehn Mann bei den
Pferden zurück und gebot ihnen, den Platz ohne meinen
Befehl nicht zu verlaſſen, und nun ſchlichen wir andern
auf das Wäldchen zu. In paſſender Entfernung vor
demſelben angekommen, wurde Halt gemacht, und ich ging
[27] allein vorwärts. Wie vorher gelangte ich auch diesmal
ohne Hindernis zu dem Baume, unter dem ich bereits
gelegen hatte. Die Türken lagen in einzelnen Gruppen
beiſammen und plauderten. Ich hatte gehofft, daß ſie
ſchliefen. Die militäriſche Wachſamkeit und die Erwartung
des bevorſtehenden Kampfes ließen ſie jedoch nicht ſchlafen.
Ich zählte mit den Unteroffizieren und den beiden Offi-
zieren vierunddreißig Mann und kehrte zu den Meinen
zurück.


„Hadſchi Halef und Selek, geht und holt eure Pferde!
Ihr reitet einen Bogen und kommt an der andern Seite
des Wäldchens vorüber. Man wird euch anhalten. Ihr
ſagt, daß ihr euch verirrt habt und zu dem Feſte nach
Scheik Adi kommen wollt. Ihr werdet ſo die Aufmerk-
ſamkeit der Osmanly von uns ab- und auf euch lenken.
Das übrige iſt unſere Sache. Geht!“


Die übrigen ließ ich zwei lange, hintereinander-
ſtehende Reihen bilden, die den Zweck hatten, das Ge-
hölz von drei Seiten zu umfaſſen. Ich gab ihnen die
nötige Anweiſung, worauf wir uns zu Boden legten und
vorwärts krochen.


Natürlich kam ich am ſchnellſten voran. Ich hatte
meinen Baum wohl bereits ſeit zwei Minuten erreicht,
als laute Hufſchläge erſchallten. Das Feuer brannte noch
immer; darum war es mir möglich, die ganze Scene
leidlich zu überblicken. Die beiden Offiziere hatten wahr-
ſcheinlich während der ganzen Zeit meiner Abweſenheit
geraucht und Kaffee getrunken.


„Scheik Adi iſt ein böſes Neſt!“ hörte ich den Haupt-
mann ſagen.


„Ganz bös!“ antwortete der Lieutenant.


„Die Leute beten dort den Teufel an!“


„Den Teufel; Allah zerhacke und zerquetſche ſie!“


[28]

„Das werden wir thun!“


„Ja, wir werden ſie zerreißen!“


„Ganz und gar!“


Bis hierher konnte ich die Unterhaltung vernehmen,
dann aber hörte man das erwähnte Pferdegetrappel. Der
Lieutenant hob den Kopf empor.


„Man kommt!“ ſagte er.


Auch der Hauptmann lauſchte.


„Wer mag das ſein?“ fragte er.


„Es ſind zwei Reiter; ich höre es!“


Sie erhoben ſich, und die Soldaten thaten dasſelbe.
In dem Scheine, den das Feuer hinauswarf, wurden
Halef und Selek ſichtbar. Der Hauptmann trat ihnen
entgegen und zog ſeinen Säbel.


„Halt! Wer ſeid ihr?“ rief er ſie an.


Sie waren ſofort von den Türken umringt. Mein
kleiner Halef betrachtete ſich die Offiziere vom Pferde
herunter mit einer Miene, welche mich erraten ließ, daß
ſie auf ihn den gleichen Eindruck machten, den ſie auch
auf mich hervorgebracht hatten.


„Wer ihr ſeid, habe ich gefragt!“ wiederholte der
Hauptmann.


„Leute!“


„Was für Leute?“


„Männer!“


„Was für Männer?“


„Reitende Männer!“


„Der Teufel verſchlinge euch! Antwortet beſſer, ſonſt
erhaltet ihr die Baſtonnade! Alſo wer ſeid ihr?“


„Wir ſind Dſcheſidi,“ antwortete jetzt Selek mit klein-
lauter Stimme.


„Dſcheſidi? Ah! Woher?“


„Aus Mekka.“


[29]

„Aus Mekka? Allahil Allah! Giebt es dort auch
Teufels-Anbeter?“


„Grad fünfmalhunderttauſend.“


„So viele! Allah kerihm; er läßt viel Unkraut unter
dem Weizen wachſen! — Wohin wollt ihr?“


„Nach Scheik Adi.“


„Ah, habe ich euch? Was wollt ihr dort?“


„Es wird dort ein großes Feſt gefeiert.“


„Ich weiß es. Ihr tanzt und ſingt mit dem Teufel
und betet dabei einen Hahn an, der durch das Feuer der
Dſchehennah ausgebrütet worden iſt. Steigt ab! Ihr
ſeid meine Gefangenen!“


„Gefangen? Was haben wir gethan?“


„Ihr ſeid Söhne des Teufels. Ihr müßt geprügelt
werden, bis euer Vater von euch gewichen iſt. Herunter
von den Pferden!“


Er griff ſelbſt zu, und die beiden Männer wurden
förmlich von den Pferden heruntergezogen.


„Gebt eure Waffen her!“


Ich wußte, Halef würde das nie thun, ſelbſt unter
den gegenwärtigen Verhältniſſen nicht. Er ſah ſuchend
nach dem Feuer hin, und ſo hob ich den Kopf ſo weit
empor, daß er mich erblickte. Nun wußte er, daß er ſicher
ſein könne. Aus dem vielen leiſen Raſcheln hinter mir
hatte ich bereits erkannt, daß die Meinen das Lager voll-
ſtändig umſchloſſen hatten.


„Unſere Waffen?“ fragte Halef. „Höre, Jüs Baſchi,
erlaube, daß wir dir etwas ſagen!“


„Was?“


„Das können wir nur dir und dem Mülaſim mit-
teilen.“


„Ich mag nichts von euch erfahren!“


„Es iſt aber wichtig, ſehr wichtig!“


[30]

„Was betrifft es?“


„Höre!“


Er flüſterte ihm einige Worte in das Ohr, welche
den augenblicklichen Erfolg hatten, daß der Hauptmann
einen Schritt zurücktrat und den Sprecher mit einer ge-
wiſſen achtungsvollen Miene muſterte. Später erfuhr ich,
daß der ſchlaue Halef geflüſtert hatte: „Euern Geldbeutel
betrifft es!“


„Iſt das wahr?“ fragte der Offizier.


„Es iſt wahr!“


„Wirſt du darüber ſchweigen?“


„Wie das Grab!“


„Schwöre es mir!“


„Wie ſoll ich ſchwören?“


„Bei Allah und dem Barte des — — doch nein,
ihr ſeid ja Dſcheſidi. So ſchwöre es mir beim Teufel,
den ihr anbetet!“


„Nun wohl! Der Teufel weiß es, daß ich nachher
nichts ſagen werde!“


„Aber er wird dich zerreißen, wenn du die Unwahr-
heit ſagſt! Komm, Mülaſim; kommt, ihr beiden!“


Die vier Männer traten zum Feuer herbei; ich konnte
jedes ihrer Worte vernehmen.


„Nun, ſo rede!“ gebot der Hauptmann.


„Laß uns frei! Wir werden dich bezahlen.“


„Habt ihr Geld?“


„Wir haben Geld.“


„Wißt ihr es nicht, daß dieſes Geld bereits mir ge-
hört? Alles, was ihr bei euch führt, iſt unſer.“


„Du wirſt es nie finden. Wir kommen von Mekka
her, und wer eine ſolche Reiſe macht, der weiß ſein Geld
zu verbergen.“


„Ich werde es finden!“


[31]

„Du wirſt es nicht finden, ſelbſt wenn du uns töteſt
und alles ganz genau durchſuchen läſſeſt. Die Teufels-
anbeter haben ſehr gute Mittel, ihr Geld unſichtbar zu
machen.“


„Allah iſt allwiſſend!“


„Aber du biſt nicht Allah!“


„Ich darf euch nicht freilaſſen.“


„Warum?“


„Ihr würdet uns verraten.“


„Verraten? Wie ſo?“


„Seht ihr nicht, daß wir hier ſind, um einen Kriegs-
zug zu unternehmen?“


„Wir werden dich nicht verraten.“


„Aber ihr wollt nach Scheik Adi gehen!“


„Sollen wir nicht?“


„Nein.“


„So ſende uns, wohin es dir beliebt!“


„Wolltet ihr nach Baaweiza gehen und dort zwei Tage
warten?“


„Wir wollen es.“


„Wie viel wollt ihr uns für eure Freiheit zahlen?“


„Wie viel verlangſt du?“


„Fünfzehntauſend Piaſter *) für jeden.“


„Herr, wir ſind ſehr arme Pilger. So viel haben wir
nicht bei uns!“


„Wie viel habt ihr?“


„Fünfhundert Piaſter können wir dir vielleicht geben.“


„Fünfhundert? Kerl, ihr wollt uns betrügen!“


„Vielleicht bringen wir auch ſechshundert zuſammen.“


„Ihr gebt zwölftauſend Piaſter und keinen Para weni-
ger. Das ſchwöre ich euch bei Mohammed. Und wollt ihr
[32] nicht, ſo laſſe ich euch ſo lange prügeln, bis ihr ſie gebt.
Ihr habt geſagt, daß ihr Mittel beſitzt, euer Geld un-
ſichtbar zu machen; ihr habt alſo viel bei euch, und ich
habe das Mittel, eure Piaſter wieder ſichtbar zu machen!“


Halef that, als erſchrecke er.


„Herr, thuſt du es wirklich nicht billiger?“


„Nein.“


„So müſſen wir es dir geben!“


„Ihr Schurken, jetzt ſehe ich, daß ihr viel Geld bei
euch habt! Nun werdet ihr nicht für zwölftauſend Piaſter
frei, ſondern ihr müßt das geben, was ich zuerſt verlangte,
nämlich fünfzehntauſend.“


„Verzeihe, Herr, das iſt zu wenig!“


Der Hauptmann ſah den kleinen Hadſchi Halef ganz
erſtaunt an.


„Wie meinſt du das, Kerl?“


„Ich meine, daß ein jeder von uns mehr wert iſt,
als fünfzehntauſend Piaſter. Erlaube, daß wir die fünf-
zigtauſend geben!“


„Menſch, biſt du verrückt?“


„Oder hunderttauſend!“


Der Bäckermeiſter-Jüs Baſchi blies ganz ratlos die
Backen auf, blickte dem Lieutenant in das hagere Geſicht
und fragte ihn:


„Lieutenant, was ſagſt du?“


Dieſer hatte den Mund offen und geſtand freimütig:


„Nichts, ganz und gar nichts!“


„Ich auch nichts! Dieſe Menſchen müſſen ungeheuer
reich ſein!“


Dann wandte er ſich wieder zu Halef:


„Wo habt ihr das Geld?“


„Mußt du es wiſſen?“


„Ja.“


[33]

„Wir haben einen bei uns, der für uns bezahlt. Du
kannſt ihn aber nicht ſehen.“


„Allah beſchütze uns! Du meinſt den Teufel!“


„Soll er kommen?“


„Nein, nein, niemals! Ich bin kein Dſcheſidi, ich
verſtehe nicht, mit ihm zu reden! Ich würde tot ſein vor
Schreck!“


„Du wirſt nicht erſchrecken, denn dieſer Scheitan
kommt in der Geſtalt eines Menſchen. Da iſt er ſchon!“


Ich hatte mich hinter dem Baume erhoben, und mit
zwei ſchnellen Schritten ſtand ich vor den beiden Offi-
zieren. Sie fuhren entſetzt auseinander, der eine nach rechts
und der andere nach links. Da ihnen aber meine Geſtalt
doch nicht ganz und gar ſchrecklich vorkommen mochte, ſo
blieben ſie ſtehen und ſtarrten mich wortlos an.


„Jüs Baſchi,“ redete ich ſie an, „ich habe alles gehört,
was ihr heute abend und heute morgen geſprochen habt.
Ihr ſagtet, Scheik Adi ſei ein böſes Neſt!“


Ein ſchwerer Atemzug erſcholl als einige Antwort.


„Ihr ſagtet, Allah möge dort die Leute zerhacken und
zerquetſchen.“


„Oh, oh!“ ertönte es.


„Ihr ſagtet ferner, ihr wolltet die Böſewichter, die
Buben, die Unreinen, die Unverſchämten, die Hunde nieder-
ſchießen und große Beute machen!“


Der Mülaſim war halb tot vor Angſt, und der Jüs
Baſchi konnte nichts als ſtöhnen.


„Ihr wolltet dann befördert werden und Tabak aus
Schiras rauchen!“


„Er weiß alles!“ brachte der dicke [Hauptmann] angſt-
voll hervor.


„Ja, ich weiß alles. Ich werde euch befördern. Weißt
du, wohin?“


II. 3
[34]

Er ſchüttelte den Kopf.


„Nach Scheik Adi, zu den Unreinen und Unverſchäm-
ten, die ihr töten wolltet. Jetzt ſage ich zu euch das, was
ihr vorhin zu dieſen beiden Männern ſagtet: Ihr ſeid
meine Gefangenen!“


Die Soldaten konnten ſich den Vorgang nicht er-
klären; ſie ſtanden in einem dichten Knäuel beiſammen.
Der Wink, den ich bei meinen letzten Worten gab,
genügte. Die Dſcheſidi brachen hervor und umringten ſie.
Nicht ein einziger dachte daran, Widerſtand zu leiſten.
Alle waren ganz verblüfft. Die Offiziere aber ahnten nun
doch den wahren Sachverhalt und griffen in den Gürtel.


„Halt, keine Gegenwehr!“ ermahnte ich ſie, indem ich
den Revolver zog. „Wer zur Waffe greift, wird augen-
blicklich niedergeſchoſſen!“


„Wer biſt du?“ fragte der Hauptmann.


Er ſchwitzte förmlich. Der brave Fallſtaff dauerte
mich einigermaßen, und die Don Quixote-Geſtalt neben
ihm gleichfalls. Um ihre Beförderung war es nun geſchehen.


„Ich bin euer Freund und wünſche deshalb, daß ihr
nicht von den Dſcheſidi niedergeſchoſſen werdet. Gebt eure
Waffen ab!“


„Aber wir brauchen ſie doch!“


„Wozu?“


„Wir müſſen damit die Geſchütze verteidigen!“


Dieſer beiſpielloſen Naivität war nicht zu widerſtehen,
ich mußte laut auflachen. Dann beruhigte ich ſie:


„Seid ohne Sorgen; wir werden die Kanonen behüten!“


Es ward zwar noch einiges hin und her geſprochen,
dann aber ſtreckten ſie doch die Waffen.


„Was werdet ihr mit uns thun?“ fragte jetzt der be-
ſorgte Jüs Baſchi.


„Das kommt ganz auf euer Verhalten an. Vielleicht
[35] werdet ihr getötet, vielleicht aber auch erlangt ihr Gnade,
wenn ihr gehorſam ſeid.“


„Was ſollen wir thun?“


„Zunächſt meine Fragen der Wahrheit gemäß beant-
worten.“


„Frage!“


„Kommen noch mehr Truppen hinter euch?“


„Nein.“


„Ihr ſeid wirklich die einzigen hier?“


„Ja.“


„So iſt der Miralai Omar Amed ein ſehr unfähiger
Menſch. In Scheik Adi halten mehrere tauſend Bewaff-
nete, und hier ſchickt er dreißig Männer mit vier Kanonen
gegen ſie. Er mußte euch wenigſtens einen Alai Emini
mit zweihundert Mann Infanterie als Bedeckung mit-
geben. Dieſer Mann hat gemeint, die Dſcheſidi ſeien ſo
leicht zu fangen und zu töten, wie die Fliegen. Welche
Befehle hat er euch gegeben?“


„Wir ſollen die Geſchütze unbemerkt bis an das Waſſer
ſchaffen.“


„Und dann?“


„Und dann an demſelben aufwärts gehen, bis eine
halbe Stunde vor Scheik Adi.“


„Weiter!“


„Dort ſollen wir warten, bis er uns einen Boten
ſendet. Darauf müſſen wir bis zum Thale vorrücken und
die Dſcheſidi mit Kugeln, Kartätſchen und Granaten be-
ſchießen.“


„Das Vorrücken iſt euch geſtattet; ihr werdet ſogar
noch weiter kommen als nur bis zum Eingange des Thales.
Das Schießen aber werden andere übernehmen.“


Nun es einmal geſchehen war, ergaben ſich die Türken
als echte Fataliſten ganz ruhig in ihr Schickſal. Sie
[36] mußten zuſammentreten und wurden von den Dſcheſidi
eskortiert. Die Geſchützſtücke waren auf die Maultiere
geladen worden und folgten unter Bedeckung. Natürlich
machten wir uns wieder beritten, als wir bei den Pferden
ankamen.


Eine halbe Stunde vor dem Thale von Scheik Adi
ließ ich die Kanonen unter dem Schutze von zwanzig Mann
zurück. Es geſchah dies um des Boten willen, welcher
von dem Miralai erwartet wurde.


Gleich an dem Eingange zum Thale trafen wir auf
eine bedeutende Menſchenmenge. Das Gerücht von unſerer
kleinen Expedition hatte ſich ſehr bald unter den Pilgern
verbreitet, und man hatte ſich hier verſammelt, um das
Ergebnis ſo bald wie möglich zu vernehmen. Infolge-
deſſen war auch jedwedes Schießen im Thale eingeſtellt
worden, ſodaß nun eine tiefe Stille herrſchte. Man
wollte die Schüſſe hören, falls es zwiſchen uns und den
Türken zu einem ernſtlichen Kampfe kommen ſollte.


Der erſte, welcher mir entgegenkam, war Ali Bey.


„Endlich kommſt du,“ rief er ſichtlich erleichtert;
dann ſetzte er beſorgt hinzu: „aber ohne Kanonen! Und
auch Leute fehlen!“


„Es fehlt kein Mann, und auch kein einziger iſt ver-
wundet.“


„Wo ſind ſie?“


„Bei Halef und Selek draußen bei den Geſchützen,
die ich zurückgelaſſen habe.“


„Warum?“


„Dieſer Jüs Baſchi hat mir erzählt, daß der Miralai
an die Stelle, wo die Kanonen ſtehen, einen Boten ſenden
werde. Sie ſollen dann vorrücken und Scheik Adi mit
Vollkugeln, Kartätſchen und Granaten beſchießen. Haſt
du Leute, welche ein Geſchütz zu bedienen verſtehen?“


[37]

„Genug!“


„So ſende ſie hinaus. Sie mögen mit den Türken
die Kleidung wechſeln, den Boten gefangen nehmen und
dann ſofort einen Schuß löſen. Dies wird für uns das
ſicherſte Zeichen ſein, daß der Feind nahe iſt, und dieſen
ſelbſt wird es zu einem übereilten Angriff verleiten. Was
thuſt du mit den Gefangenen?“


„Ich ſchicke ſie fort und laſſe ſie bewachen.“


„Im Thale Idiz?“


„Nein. Dieſen Ort darf keiner ſehen, der nicht ein
Dſcheſidi iſt. Aber es giebt eine kleine Schlucht, in der
es möglich iſt, die Gefangenen nur durch wenige Leute
feſtzuhalten. Komm!“


In ſeinem Hauſe erwartete mich ein ſehr reichliches
Nachteſſen, wobei mich ſeine Frau bediente. Er ſelbſt war
nicht zugegen, denn er mußte die Umkleidung der Ge-
fangenen beaufſichtigen, welche dann abgeführt wurden.
Diejenigen, welche die Uniformen der Türken erhielten,
waren geſchulte Kanoniere und rückten bald ab, um ſich
zu den Geſchützen zu begeben.


Die Sterne begannen bereits zu erbleichen, als Ali
Bey zu mir kam.


„Biſt du bereit, aufzubrechen, Emir?“


„Wohin?“


„Nach dem Thale Idiz.“


„Erlaube, daß ich hier bleibe!“


„Du willſt mitkämpfen?“


„Nein.“


„Dich uns nur anſchließen, um zu ſehen, ob wir
tapfer ſind?“


„Ich werde mich euch auch nicht anſchließen, ſondern
hier in Scheik Adi bleiben.“


„Herr, was denkſt du!“


[38]

„Ich denke, daß dies das Richtige ſein wird.“


„Man wird dich töten!“


„Nein. Ich ſtehe unter dem Schutze des Großherrn
und des Muteſſarif.“


„Aber du biſt unſer Freund; du haſt die Artilleriſten
gefangen genommen; das wird dir das Leben koſten!“


„Wer wird das den Türken erzählen? Ich bleibe
hier mit Halef und dem Baſchi-Bozuk. So kann ich für
euch vielleicht mehr thun, als wenn ich in euren Reihen
kämpfe“


„Du magſt recht haben, Emir; aber wenn wir
ſchießen, kannſt auch du verwundet oder vielleicht gar ge-
tötet werden!“


„Das glaube ich nicht, denn ich werde mich hüten,
mich euern Kugeln auszuſetzen.“


Da öffnete ſich die Thüre, und ein Mann trat herein.
Er gehörte zu den Poſten, welche Ali Bey ausgeſtellt hatte.


„Herr,“ meldete er ihm, „wir haben uns zurückge-
zogen, denn die Türken ſind bereits in Baadri. In einer
Stunde ſind ſie hier.“


„Kehre zurück und ſage den Deinen, daß ſie immer
in der Nähe der Türken bleiben, ſich aber von ihnen nicht
ſehen laſſen ſollen!“


Wir gingen vor das Haus. Die Frauen und Kinder
zogen an uns vorüber und verſchwanden hinter dem Heilig-
tume. Da kam ein zweiter Bote atemlos gelaufen und
meldete:


„Herr, die Türken haben Kaloni längſt verlaſſen und
marſchieren durch die Wälder. In einer Stunde können
ſie hier ſein.“


„Poſtiert euch jenſeits des erſten Thales und zieht
euch, wenn ſie kommen, zurück. Die Unſerigen werden
euch oben erwarten!“


[39]

Der Mann kehrte zurück, und der Bey entfernte ſich
auf einige Zeit. Ich ſtand am Hauſe und ſah auf die
Geſtalten, die an mir vorüberzogen. Als die Frauen
und Kinder vorbei waren, ſchloſſen ſich ihnen lange Reihen
von Männern an, zu Fuße und zu Pferde; aber ſie ver-
ſchwanden nicht hinter dem Heiligtume, ſondern erſtiegen
die nach Baadri und Kaloni gelegenen Höhen, um den
Türken das Thal freizugeben. Es war ein eigentümliches
Gefühl, das ich beim Anblick dieſer dunklen Geſtalten
empfand. Ein Licht nach dem andern wurde ausgeblaſen;
eine Fackel nach der andern erloſch, und nur das Grabmal
mit ſeinen beiden Türmen ſtreckte ſeine flammende Doppel-
zunge noch immer zum Himmel empor. Ich war allein
hier. Die Angehörigen des Bey waren fort; der Buluk
Emini ſchlief droben auf der Plattform, und Halef war
noch nicht zurück. Da aber hörte ich den Galopp eines
Pferdes. Halef ſprengte heran. Als er abſaß, erdröhnten
von unten herauf zwei ſtarke, krachende Schläge.


„Was war das, Halef?“


„Die Bäume ſtürzen. Ali Bey hat befohlen, ſie zu
fällen, um unten das Thal zu ſchließen und die Kanonen
gegen einen Angriff der Türken zu ſchützen.“


„Das iſt klug gehandelt! Wo ſind die andern von
den zwanzig?“


„Sie mußten auf Befehl des Bey bei den Geſchützen
zurückbleiben, und er hat außerdem noch dreißig andere
Männer zu ihrer Bedeckung beordert.“


„Alſo zuſammen fünfzig Mann. Dieſe könnten ſchon
einen Angriff aushalten.“


„Wo ſind die Gefangenen?“ fragte Halef.


„Bereits fort unter Aufſicht.“


„Und dieſe Männer hier ziehen ſchon zum Kampfe?“


„Ja.“


[40]

„Und wir?“


„Bleiben hier zurück. Ich bin begierig, die Geſichter
der Türken zu ſehen, wenn ſie bemerken, daß ſie in die
Falle geraten ſind.“


Dieſer Gedanke ſchien Halef zu befriedigen, ſodaß
er nicht über unſer Hierbleiben murrte. Er mochte ſich
auch ſagen, daß dieſes Bleiben wohl gefährlicher ſei, als
der Anſchluß an die Streiter.


„Wo iſt Ifra?“ fragte Halef noch.


„Er ſchläft auf der Plattform.“


„Er iſt eine Schlafmütze, Sihdi, und darum wird
ihm ſein Hauptmann den Eſel gegeben haben, welcher die
ganze Nacht hindurch ſchreit. Weiß er bereits etwas von
dem, was geſchehen wird?“


„Ich glaube nicht. Er ſoll auch nicht wiſſen, wie
weit wir dabei beteiligt waren; verſtehſt du?“


Da kam Ali Bey noch einmal zurück, um ſein Pferd
zu holen. Er machte mir noch allerlei Vorſtellungen,
die aber nichts fruchteten, und ſo war er gezwungen,
mich zu verlaſſen. Er that dies mit dem herzlichſten
Wunſche, daß mir nichts Böſes geſchehen möge, und ver-
ſicherte wiederholt, er würde alle fünfzehnhundert Türken
niederſchießen laſſen, wenn ich von ihnen ein Leid erdulden
müſſe. Zuletzt bat er mich, das große weiße Tuch, das
in der Stube hing, auf die Plattform des Hauſes,
die er von der Höhe ganz gut überblicken konnte, zu
legen, zum Zeichen, daß ich mich wohl befinde. Sollte
das Tuch fortgenommen werden, ſo werde er ſchließen,
daß ich mich in Gefahr befinde, und werde ſofort dem ge-
mäß handeln.


Nun ſtieg er auf und ritt davon, der letzte von all
den Seinen.


Der Tag begann zu grauen; der Himmel lichtete ſich,
[41] und wenn man zu ihm emporblickte, vermochte man bereits
die einzelnen Aeſte der Bäume zu unterſcheiden. Droben
an der gegenüberliegenden Thalwand verhallten die Huf-
ſchläge von Ali Beys Pferd. Ich war nun, da auch mein
Dolmetſcher mich verlaſſen mußte, mit den beiden Dienern
ganz allein in jenem viel beſprochenen Thale eines geheim-
nisvollen und auch jetzt mir immer noch rätſelhaften Kul-
tus. Allein? Ganz allein? War es wirklich ſo, oder
hörte ich nicht Schritte dort in dem kleinen, El Schems
geweihten Hauſe?


Eine lange, weiße Geſtalt trat hervor und blickte ſich
um. Da ſah ſie mich und kam auf mich zu. Ein langer,
ſchwarzer Bart hing ihr über die Bruſt herab, während
das Haupthaar ſchneeweiß über den Rücken wallte. Es
war Pir Kamek; ich erkannte ihn jetzt.


„Du noch hier?“ fragte er, als er vor mir ſtand, mit
beinahe harter Stimme. „Wann folgeſt du den andern nach?“


„Ich bleibe hier.“


„Du bleibſt? Warum?“


„Weil ich euch hier mehr nützen kann, als auf andere
Weiſe.“


„Das iſt möglich, Emir; aber dennoch ſollteſt du
gehen!“


„Ich richte dieſelbe Frage an dich: Wann geheſt du
den andern nach?“


„Ich bleibe!“


„Warum?“


„Haſt du dort den Scheiterhaufen nicht geſehen?“
antwortete er finſter. „Er hält mich zurück.“


„Warum er?“


„Weil es nun an der Zeit iſt, das Opfer zu bringen,
wegen deſſen ich ihn errichten ließ.“


„Die Türken werden dich ja ſtören!“


[42]

„Sie werden mir ſogar das Opfer bringen, und ich
werde heute den wichtigſten Tag meines Lebens feiern.“


Faſt wollte es mir unheimlich werden bei dem Klange
dieſer hohlen, tiefen Stimme. Ich überwand jedoch dieſes
Gefühl und fragte:


„Wollteſt du nicht heute noch mit mir über dein Buch
ſprechen, welches mir Ali Bey geliehen hatte?“


„Kann es dir Freude machen und Nutzen bringen?“


„Gewiß!“


„Emir, ich bin ein armer Prieſter; nur dreierlei ge-
hört mir: mein Leben, mein Kleid und das Buch, von
dem du redeſt. Mein Leben bringe ich dem Reinen, dem
Mächtigen, dem Erbarmenden zurück, der mir es geliehen
hat; mein Kleid überlaſſe ich dem Elemente, in welchem
auch mein Leib begraben wird, und das Buch ſchenke ich
dir, damit dein Geiſt mit dem meinigen ſprechen könne,
wenn Zeiten, Länder, Meere und Welten uns voneinander
trennen.“


War dies nur eine blumige, orientaliſche Ausdrucks-
weiſe, oder ſprach aus ihm wirklich die Ahnung eines
nahen Todes? Es überlief mich ein Schauder, den ich
nicht abſchütteln konnte.


„Pir Kamek, deine Gabe iſt groß; faſt kann ich ſie
nicht annehmen!“


„Emir, ich liebe dich. Du wirſt das Buch erhalten,
und wenn dein Blick auf die Worte fällt, die meine
Hand geſchrieben hat, ſo denke an das letzte Wort, wel-
ches dieſe Hand ſchreiben wird in das Buch, darinnen
verzeichnet ſteht die blutige Geſchichte der Dſcheſidi, der
Verachteten und Verfolgten.“


Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn umarmen.


„Ich danke dir, Pir Kamek! Auch ich liebe dich, und
wenn ich dein Buch öffne, ſo wird vor mich treten deine
[43] Geſtalt, und ich werde hören alle Worte deines Mundes,
die du zu mir geſprochen haſt. Jetzt aber ſollteſt du Scheik
Adi verlaſſen, denn noch iſt es nicht zu ſpät!“


„Sieh dort das Heiligtum, in welchem Der begraben
liegt, welcher verfolgt und getötet wurde. Er iſt nie ge-
flohen. Steht nicht auch in deinem Kitab, daß man ſich
nicht fürchten ſoll vor jenen, die nur den Leib töten kön-
nen? Ich bleibe hier, da ich weiß, daß die Osmanly mir
nicht zu ſchaden vermögen. Und wenn ſie mich töteten,
was wäre es? Muß nicht der Tropfen emporſteigen zur
Sonne? Stirbt nicht El Schems, die Glänzende, täglich,
um auch täglich wieder aufzuerſtehen? Iſt nicht der Tod
der Eingang in eine lichtere, in eine reinere Welt? Haſt
du jemals gehört, daß ein Dſcheſidi von einem andern
ſagt, daß er geſtorben ſei? Er ſagt nur, daß er verwan-
delt ſei; denn es giebt weder Tod noch Grab, ſondern
Leben, nichts als Leben. Darum weiß ich auch, daß ich
dich einſt wiederſehen werde!“


Nach dieſen Worten ſchritt er ſchnell davon und kam
hinter der Außenmauer des Grabmales außer Sicht.


Ich trat in das Gebäude und ging nach der Platt-
form. Droben vernahm ich Stimmen. Halef und Ifra
redeten miteinander.


„Ganz allein?“ hörte ich den letzteren fragen.


„Ja.“


„Wohin ſind die andern, die vielen, die Tauſende?“


„Wer weiß es!“


„Aber warum ſind ſie fort?“


„Sie ſind geflohen.“


„Vor wem?“


„Vor euch.“


„Vor uns? Hadſchi Halef Omar, ich verſtehe nicht,
was du ſageſt!“


[44]

„So will ich dir es deutlicher ſagen: Sie ſind ge-
flohen vor deinem Muteſſarif und vor deinem Miralai
Omar Amed.“


„Aber warum denn?“


„Weil der Miralai kommt, um Scheik Adi zu über-
fallen.“


„Allah akbar, Gott iſt groß, und die Hand des
Muteſſarif iſt mächtig! Sage mir, ob ich bei unſerem
Emir bleiben darf, oder ob ich unter dem Miralai kämpfen
muß!“


„Du mußt bei uns bleiben.“


„Hamdullilah, Preis und Dank ſei Allah, denn es
iſt gut ſein bei unſerm Emir, den ich zu beſchützen habe!“


„Du? Wann haſt du ihn denn beſchützt?“


„Stets, ſo lange er unter meinem Schirme wandelt!“


Halef lachte und erwiderte:


„Ja, du biſt der Mann dazu! Weißt du, wer der
Beſchützer des Emir iſt?“


„Ich!“


„Nein, ich!“


„Hat ihn nicht der Muteſſarif ſelbſt in meine Obhut
gegeben?“


„Hat er ſich nicht ſelbſt unter meinen Schutz be-
geben? Und wer gilt da mehr, der Sihdi oder dein Nichts-
nutz von Muteſſarif?“


„Halef Omar, hüte deine Zunge! Wenn ich dieſes
Wort dem Muteſſarif ſage!“


„Glaubſt du, ich werde mich dann vor ihm fürchten?
Ich bin Hadſchi Halef Omar Ben Hadſchi Abul Abbas
Ibn Hadſchi Dawuhd al Goſſarah!“


„Und ich heiße Ifra, gehöre zu den tapfern Baſchi-
Bozuk des Großherrn und wurde für meine Heldenthaten
zum Buluk Emini ernannt! Für dich ſorgt nur eine
[45] Perſon, für mich aber ſorgt der Padiſchah und der ganze
Staat, den man den osmaniſchen nennt!“


„Ich möchte wirklich wiſſen, welchen Vorteil du von
dieſer Fürſorge haſt!“


„Welchen Vorteil? — Ich will es dir auseinander-
ſetzen! Ich erhalte einen Monatsſold von fünfunddreißig
Piaſtern und täglich zwei Pfund Brot, ſiebzehn Lot Fleiſch,
drei Lot Butter, fünf Lot Reis, ein Lot Salz, anderthalb
Lot Zuthaten nebſt Seife, Oel und Stiefelſchmiere!“


„Und dafür verrichteſt du Heldenthaten?“


„Ja, ſehr viele und ſehr große!“


„Die möchte ich ſehen!“


„Was? Du glaubſt das nicht! Wie bin ich da zum
Beiſpiel um meine Naſe gekommen, welche ich nicht mehr
habe! Das war nämlich bei einem Streite zwiſchen den
Druſen und Maroniten des Dſchebel Libanon. Wir wur-
den hingeſchickt, um Ruhe und Achtung der Geſetze zu
erkämpfen. In einer dieſer Schlachten ſchlug ich wie
wütend um mich herum. Da holte ein Feind nach meinem
Kopfe aus. Ich wollte ausweichen und trat zurück und
nun traf der Hieb ſtatt meinen Kopf meine Na— — —
oooh — aaah — — was war das?“


„Ja, was war das? Ein Kanonenſchuß!“


Halef hatte recht; es war ein Kanonenſchuß, der den
kleinen Buluk Emini um den Schluß ſeiner intereſſanten
Erzählung gebracht hatte. Das war jedenfalls der Signal-
ſchuß, den unſere Artilleriſten abgegeben hatten, um uns
anzuzeigen, daß der Adjutant des Miralai von ihnen ge-
fangen genommen worden ſei. Die beiden Diener kamen
ſofort von oben herunter geeilt.


„Sihdi, man ſchießt!“ rief Halef, nach den Hähnen
ſeiner Piſtolen ſehend.


„Mit Kanonen!“ fügte Ifra hinzu.


[46]

„Schön! Holt die Tiere herein und ſchafft ſie nach
dem innern Hof!“


„Auch meinen Eſel?“


„Ja. Dann ſchließt ihr die Thür!“


Ich ſelbſt holte den weißen Shawl und breitete ihn
oben auf der Plattform aus. Dann ließ ich mir einige
Decken kommen und legte mich in der Weiſe darauf, daß
ich von unten nicht bemerkt werden konnte. Die beiden
Diener nahmen ſpäter unweit von mir Platz.


Es war mittlerweile ſo licht geworden, daß man
ziemlich deutlich ſehen konnte. Der Nebel wallte bereits
im Thale auf; aber noch immer brannten die Lichter und
Flammen des Heiligtums, ein Anblick, der dem Auge wehe
zu thun begann.


So vergingen fünf, ja zehn erwartungsvolle Minuten.
Da hörte ich drüben am Abhange ein Pferd wiehern, noch
eins, und dann antwortete ein drittes hüben von der
andern Seite. Es war klar: die Truppen rückten zu
gleicher Zeit an beiden Seiten in das Thal hernieder.
Die Befehle des Miralai wurden mit großer Pünktlichkeit
befolgt.


„Sie kommen!“ meinte Halef.


„Ja, ſie kommen!“ beſtätigte Ifra. „Herr, wenn ſie
uns nun für Dſcheſidi halten und auf uns ſchießen?“


„Dann läſſeſt du deinen Eſel hinaus, an welchem ſie
dich ſofort erkennen werden!“


Kavallerie war jedenfalls nicht dabei; die Pferde,
welche gewiehert hatten, waren Offizierspferde. Man hätte
das Pferdegetrappel hören müſſen. Nach und nach aber
ließ ſich ein Geräuſch bemerken, das immer hörbarer
wurde. Es war der Tritt vieler Menſchen, die näher
kamen.


Endlich ertönten Stimmen von dem Grabmale her,
[47] und zwei Minuten ſpäter vernahmen wir den Marſch-
ſchritt einer geſchloſſenen Kolonne. Ich erhob den Kopf
und ſchaute hinab. Es waren vielleicht zweihundert
Arnauten, prächtige Geſtalten mit wilden Angeſichtern,
angeführt von einem Alai Emini und zwei Hauptleuten.
Sie zogen in geſchloſſenen Gliedern das Thal hinab.
Hinter ihnen aber kam eine Bande Baſchi-Bozuk, die
ſich nach rechts und links zerſtreute, um die unſichtbaren
Bewohner des Thales aufzuſuchen. Dann folgte eine kleine
Kavalkade von lauter Offizieren: zwei Jüs Baſchi, zwei
Alai Emini *), zwei Bimbaſchi **), ein Kaimakam ***),
mehrere Kol Agaſſi und an der Spitze der Truppe ein
langer, hagerer Menſch, mit einem außerordentlich grob
zugehackten Geſichte, in der reichen, von Gold ſtrotzenden
Uniform eines Regimentskommandeurs.


„Das iſt der Miralai Omar Amed!“ meinte Ifra
in achtungsvollem Tone.


„Wer iſt der Civiliſt an ſeiner Seite?“ fragte ich.


An der Seite des Oberſten nämlich ritt ein Mann,
deſſen Züge höchſt auffällig waren. Ich weiß, daß man
einen Menſchen nicht mit einem Weſen aus dem Tier-
reiche vergleichen ſoll; aber es giebt wirklich menſchliche
Phyſiognomien, welche ganz unwillkürlich an beſtimmte
Tiere erinnern. Ich habe Geſichter geſehen, die etwas
Affen-, Bullenbeißer- und Katzenartiges hatten; ich habe
bei gewiſſen Geſichtsſchnitten ſofort an einen Ochſen, einen
Eſel, eine Eule, ein Wieſel, ein Rüſſeltier oder einen
Fuchs oder Bären denken müſſen. Mag man nun Phre-
nolog und Phyſiognomiker ſein oder nicht, man wird doch
bald bemerken, daß auch die Haltung, der Gang, die Aus-
drucksweiſe, das ganze Thun und Treiben eines ſolchen
[48] Menſchen eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der Art und Weiſe
des Tieres beſitzt, an das man durch die Phyſiognomie
erinnert wurde. Das Geſicht des Mannes nun, den ich
jetzt ſah, hatte etwas Raubvogelähnliches; es war ganz
das eines Stößers.


„Es iſt der Makredſch *) von Moſſul, der Vertraute
des Muteſſarif,“ antwortete der Buluk Emini.


Was wollte, oder was ſollte dieſer Makredſch mit
den Truppen hier? Ich konnte meinen Vermutungen
darüber nicht nachhängen, denn jetzt ertönte plötzlich ein
Kanonenſchuß und noch einer. Ein wirres Heulen,
Schreien und Rufen erſcholl, und dann hörte ich ein
Stampfen, als ob viele Menſchen im Galoppe herbeige-
ſprungen kämen. Die Kavalkade hatte grad unter meinem
Beobachtungspoſten angehalten.


„Was war das?“ rief der Miralai.


„Zwei Kanonenſchüſſe!“ antwortete der Makredſch.


„Sehr richtig!“ bemerkte der Oberſt ſpöttiſch. „Ein
Offizier wäre wohl ſchwerlich auf dieſe Antwort gekom-
men. Aber, Allah, was iſt das!“


Die Arnauten, welche ſoeben erſt vorüber marſchiert
waren, kamen in größter Unordnung und ſchreiend zurück-
geflohen; viele unter ihnen blutig und zerfetzt, alle aber
von höchſtem Schreck ergriffen.


„Halt!“ donnerte der Oberſt. „Was iſt geſchehen?“


„Man hat mit Kartätſchen auf uns geſchoſſen. Der
Alai Emini iſt tot und ebenſo einer der Hauptleute; der
andere liegt verwundet dort.“


„Allah onlari boza-uz — Allah vernichte ſie! Auf
ihre eigenen Leute zu feuern! Ich laſſe ſie alle totpeitſchen.
Naſir Agaſſi, reite vor und kläre dieſe Hunde auf!“


Dieſer Befehl war an einen der Kol Agaſſi gerichtet,
[49] die ſich in ſeinem Gefolge befanden. Es war derſelbe,
den ich am Bache von Baadri überraſcht und dem ich
dann wieder zu ſeiner Freiheit verholfen hatte. Er gab
ſeinem Pferde die Sporen, kehrte aber in kürzeſter Zeit
wieder zurück.


„Herr, es ſind nicht die Unſerigen, ſondern es ſind
Dſcheſidi, welche geſchoſſen haben. Sie ließen mich heran-
kommen und riefen es mir zu.“


„Wo ſind unſere Geſchütze?“


„Die befinden ſich in ihren Händen; mit ihnen haben
ſie geſchoſſen; ſie haben die Geſchütze heute nacht dem Jüs
Baſchi abgenommen.“


Der Oberſt ſtieß einen fürchterlichen Fluch hervor.


„Dieſer Halunke ſoll es mir büßen! Wo iſt er?“


„Gefangen mit allen ſeinen Leuten.“


„Gefangen? Mit allen? Alſo ohne ſich gewehrt zu
haben!“


Er ſtieß ſeinem Pferde vor Wut die Sporen ſo in
die Weichen, daß es kerzengerade emporſtieg, dann fragte
er weiter:


„Wo ſind die Dſcheſidi, die Teufelsmänner, dieſe
Giaurs unter den Giaurs? Ich wollte ſie fangen, peitſchen,
töten, aber keiner läßt ſich ſehen! Sind ſie verſchwunden?
Man wird ſie finden. Vorher aber holt mir die Geſchütze
zurück! Die von Diarbekir haben ſich geſchloſſen. Vor-
wärts mit ihnen, und dann die Hunde von Kjerkjuk
hinterher!“


Der Kol Agaſſi ſprengte zurück, und ſofort ſetzten
ſich die Infanteriſten von Diarbekir in Bewegung. Der
Oberſt ging mit ſeinem Stab zur Seite. Sie marſchierten
an ihm vorüber. Weiter konnte ich nichts ſehen, da das
Thal eine Wendung machte; aber kaum war eine Minute
vorüber, ſo dröhnte ein Kanonenſchuß, ein zweiter, dritter
II. 4
[50] und vierter, und dann erfolgte ganz dieſelbe Scene wie
vorher: die Verſchonten und Leichtverwundeten kamen
zurückgeflohen, indem ſie die Toten und Schwerverwundeten
hinter ſich ließen. Der Oberſt ritt mitten unter ſie hinein
und züchtigte ſie mit der flachen Klinge ſeines Säbels.


„Steht, ihr Feiglinge; ſteht, ſonſt ſchicke ich euch mit
eigener Hand in die Dſchehennah! Agaſſi, die Dragoner
herunter!“


Der Adjutant eilte davon. Die Flüchtigen ſammelten
ſich, und viele der Baſchi-Bozuk kamen herbei, um zu
melden, daß ſie alle Gebäude leer gefunden hätten.


„Zerſtört die Neſter, brennt alles nieder und ſucht
mir Spuren. Ich muß wiſſen, wo dieſe Ungläubigen hin-
gekommen ſind!“


Jetzt war es Zeit für mich, wenn ich überhaupt hier
etwas nützen ſollte.


„Halef, wenn mir etwas Uebles geſchieht, ſo nimmſt
du dieſes weiße Tuch hinweg. Es iſt ein Zeichen für Ali
Bey!“


Nach dieſen Worten richtete ich mich empor und
wurde ſofort bemerkt.


„Ah,“ rief der Miralai, „da iſt ja einer! Komm
herunter, du Sohn eines Hundes; ich will Auskunft
haben!“


Ich nickte und trat zurück.


„Halef, du verſchließeſt die Thüre hinter mir und
läſſeſt ohne meine Erlaubnis niemand ein. Wenn ich
deinen Namen rufe, öffneſt du ſofort!“


Ich nahm ihn mit hinab und trat vor das Haus;
die Thüre ſchloß ſich hinter mir. Sofort hatten die Offi-
ziere einen Kreis um mich gebildet.


„Wurm, der du biſt, antworte auf meine Fragen,
ſonſt laſſe ich dich ſchlachten!“ befahl mir der Oberſt.


[51]

„Wurm?“ fragte ich ruhig. „Nimm und lies!“


Er blitzte mich wütend an, ergriff aber doch den groß-
herrlichen Ferman. Als er das Siegel erblickte, drückte
er das Pergament an ſeine Stirn, aber nur leicht und
beinahe verächtlich, und überflog den Inhalt.


„Du biſt ein Franke?“


„Ein Nemtſche.“


„Das iſt gleich! Was thuſt du hier?“


„Ich kam, um die Gebräuche der Dſcheſidi zu ſtu-
dieren,“ antwortete ich, indem ich den Paß wieder in
Empfang nahm.


„Wozu das! Was geht mich dieſes Bu-djeruldi an!
Warſt du in Moſſul beim Muteſſarif?“


„Ja.“


„Haſt du von ihm die Erlaubnis, hier zu ſein?“


„Ja. Hier iſt ſie.“


Ich reichte ihm das zweite Blatt entgegen; er las
es und gab es mir wieder.


„Das iſt richtig: aber — — —“


Er hielt inne, denn es praſſelte jetzt drüben am Ab-
hange ein ſehr kräftiges Gewehrfeuer los, und zu gleicher
Zeit vernahmen wir den Hufſchlag ſchnell gehender Pferde.


„Scheïtan! Was iſt das da oben?“


Dieſe Frage war halb an mich gerichtet; daher ant-
wortete ich:


„Es ſind die Dſcheſidi. Du biſt umzingelt, und jeder
Widerſtand iſt vergebens.“


Er richtete ſich im Sattel auf.


„Hund!“ brüllte er mich an.


„Laß dieſes Wort, Miralai! Sagſt du es noch ein-
mal, ſo gehe ich!“


„Du bleibſt!“


„Wer will mich halten? Ich werde dir jede Auskunft
[52] erteilen, aber wiſſe, daß ich nicht gewohnt bin, mich unter
einen Miralai zu ſtellen. Ich habe dir gezeigt, unter
welchem Schutze ich ſtehe, und ſollte dies nicht helfen, ſo
weiß ich mich ſelbſt zu ſchützen!“


„Ah!“


Er erhob die Hand, um nach mir zu ſchlagen.


„Halef!“


Mit dieſem lauten Rufe drängte ich mich zwiſchen
die Pferde hindurch; die Thüre öffnete ſich, und kaum
hatte ich ſie hinter mir zugeſchoben, ſo knirſchte die Kugel
einer Piſtole im Holze. Der Miralai hatte auf mich
geſchoſſen.


„Das galt dir, Sihdi!“ meinte Halef beſorgt.


„Komm herauf!“


Noch während wir die Treppe erſtiegen, vernahmen
wir draußen ein wirres Rufen, untermiſcht mit Roſſe-
geſtampf, und als ich oben anlangte, ſah ich die Nachhut
der Dragoner hinter der Krümmung des Thales verſchwin-
den. Es war der reine Wahnſinn, ſie gegen die Geſchütze
zu jagen, die nur durch einen Schützenangriff von den
Seiten des Berges aus hätten zum Schweigen gebracht
werden können. Der Miralai war ſich über ſeine Situa-
tion ja gar nicht klar, und ein Glück war es für ihn,
daß Ali Bey das Leben der Menſchen ſchonen wollte;
denn droben am Heiligtume und auf den Pfaden bis zur
halben Höhe des Berges ſtanden die Türken ſo dicht, daß
jede Kugel der Dſcheſidi ein oder gar mehrere Opfer finden
mußte.


Da erdröhnte der Donner der Kanonen von neuem.
Die Kartätſchen und Granaten mußten, wenn gut gerichtet
war, eine fürchterliche Verwüſtung unter den Reitern
hervorbringen, und dies beſtätigte ſich nur gar zu bald;
denn der ganze untere Teil des Thales bedeckte ſich mit
[53] fliehenden Reitern, laufenden Dragonern und reiterloſen
Pferden.


Jetzt war der Miralai ganz ſteif vor Wut und Ent-
ſetzen; aber es mochte ihm dabei die Erkenntnis kommen,
daß er anders zu handeln habe. Er bemerkte meinen
Kopf, der nach unten ſchaute, und winkte mir. Ich er-
hob mich wieder.


„Komm herab!“


„Wozu?“


„Ich habe dich zu fragen.“


„Und auf mich zu ſchießen?“


„Es galt nicht dir!“


„Nun wohl, ſo frage! Ich werde dir von oben ant-
worten; du hörſt dann meine Worte ebenſo deutlich, als
wenn ich bei dir ſtünde. Aber“ — und dabei gab ich
Halef, der mich ſofort verſtand, einen Wink — „aber
ſiehſt du dieſen Mann? Er iſt mein Diener; er hat die
Büchſe in der Hand und zielt auf dich. Sobald ſich eine
einzige Waffe gegen mich erhebt, erſchießt er dich, Mira-
lai, und dann werde ich grad ſo ſagen wie du, nämlich:
Es galt nicht dir!“


Halef kniete hart am Rande der Plattform und hielt
ſeine Büchſe auf den Kopf des Oberſten gerichtet. Dieſer
wechſelte die Farbe, ob vor Angſt oder vor Wut, das
weiß ich nicht.


„Thut das Gewehr fort!“ rief er.


„Es bleibt!“


„Menſch, ich habe faſt zweitauſend Soldaten hier;
ich kann dich zermalmen!“


„Und ich habe dieſen einen bei mir; ich kann dich
mit einem Winke zu deinen Vätern ſenden!“


„Die Meinen würden mich fürchterlich rächen!“


„Es würden viele von ihnen zu Grunde gehen, ehe
[54] es ihnen gelänge, in dieſes Haus zu dringen. Uebrigens iſt
das Thal von viertauſend Kriegern umſchloſſen, denen es ein
Leichtes iſt, euch innerhalb einer halben Stunde aufzureiben.“


„Wie viele, ſagſt du?“


„Viertauſend. Schau hinauf auf die Höhen! Siehſt
du nicht Kopf an Kopf? Dort ſteigt ein Mann hernieder,
der mit ſeinem weißen Turbantuche weht. Es iſt gewiß
ein Bote des Bey von Baadri, der mit dir verhandeln
ſoll. Gewähre ihm ein ſicheres Geleite und empfange ihn
der Sitte gemäß; das wird zu deinem Beſten dienen!“


„Ich brauche deine Lehren nicht. Die Rebellen ſollen
nur kommen! Wo ſind die Dſcheſidi alle?“


„Laß dir erzählen! Ali Bey hörte, daß du die Pilger
überfallen ſollteſt. Er ſandte Boten aus und ließ die
Truppen aus Moſſul, Diarbekir und Kjerkjuk beobachten.
Die Frauen und Kinder wurden in Sicherheit gebracht.
Er ſtellte deinem Anzuge nichts in den Weg, aber er ver-
ließ das Thal und ſchloß dasſelbe ein. Er iſt dir weit
überlegen an Anzahl der Krieger und auch in Beziehung
auf das Terrain. Er befindet ſich in Beſitz deiner Artillerie
mit ihrer ganzen Munition. Du biſt verloren, wenn du
nicht freundlich mit ſeinem Abgeſandten verhandelſt!“


„Ich danke dir, Franke! Ich werde erſt mit ihm
verhandeln und dann auch mit dir. Du haſt das Bu-
djeruldi des Großhern und den Ferman des Muteſſarif
und machſt doch gemeinſchaftliche Sache mit ihren Fein-
den. Du biſt ein Verräter und wirſt deine Strafe finden!“


Da drängte Naſir Agaſſi, der Adjutant, ſein Pferd
zu ihm heran und ſagte ihm einige Worte. Der Oberſt
deutete auf mich und fragte:


„Dieſer wäre es geweſen?“


„Er war es. Er gehört nicht zu den Feinden; er iſt
zufällig ihr Gaſt und hat mir das Leben gerettet.“


[55]

„So werden wir weiter darüber reden. Jetzt aber
kommt in jenes Gebäude!“


Sie ritten nach dem Tempel der Sonne, ſtiegen vor
demſelben ab und traten ein.


Mittlerweile war der Parlamentär, von Fels zu
Fels ſpringend, in grader Linie herab in das Thal und
über den Bach herübergekommen. Er trat auch in den
Tempel ein. Kein Schuß fiel; es herrſchte Ruhe, und nur
der Schritt der Soldaten ertönte, welche ſich von dem
oberen Teile des Thales, wo ſie ſich zu ſehr bloßgeſtellt
ſahen, mehr nach unten ausbreiteten.


Wohl über eine halbe Stunde verging. Da trat der
Parlamentär wieder in das Freie, aber nicht allein, ſon-
dern er wurde — geführt. Man hatte ihn gebunden. Der
Miralai, welcher auch am Eingange des Gebäudes er-
ſchien, blickte ſich um, ſah den Scheiterhaufen und deutete
auf denſelben. Es wurden zehn Arnauten herbeigerufen;
dieſe nahmen den Mann in ihre Mitte und ſchleppten ihn
zum Holzſtoß. Während mehrere ihn hielten, griffen die
andern nach ihren Gewehren — er ſollte erſchoſſen werden.


„Halt!“ rief ich zum Oberſten hinüber. „Was willſt
du thun? Er iſt ein Abgeſandter, alſo eine unverletzliche
Perſon!“


„Er iſt ein Rebell, wie du. Erſt er, dann du; denn
nun wiſſen wir, wer die Artilleriſten überfallen hat!“


Er winkte; die Schüſſe krachten; der Mann war tot.
Da aber geſchah etwas, was ich nicht erwartet hatte:
durch die Soldaten drängte ſich ein Mann. Es war der
Pir Kamek. Er erreichte den Scheiterhaufen und kniete
bei dem Toten nieder.


„Ah, ein zweiter!“ rief der Oberſt und ſchritt hinzu.
„Erhebe dich und antworte mir!“


Weiter konnte ich nichts hören, denn die Entfernung
[56] wurde zu groß. Ich ſah nur die feierlichen Geſten des
Pir und die zornigen des Miralai. Dann bemerkte ich,
daß der erſtere die Hände in den Haufen ſteckte, und
einige Sekunden ſpäter züngelte eine Flamme blitzſchnell
an demſelben empor. Eine Ahnung durchzuckte mich. Großer
Gott, ſollte er ein ſolches Opfer, eine ſolche Strafe, eine
ſolche Rache an dem Mörder ſeiner Söhne und ſeines
Weibes gemeint haben!


Er wurde ergriffen und von dem Haufen weggeriſſen,
aber bereits war es zu ſpät, die Flamme zu löſchen, die
in dem Erdpeche eine furchtbare Nahrung gefunden hatte.
In der Zeit von kaum einer Minute war ſie bereits zur
hellen Lohe geworden, welche hoch zum Himmel ſchlug.


Der Pir ſtand umringt und feſtgehalten; der Miralai
ſchien den Platz verlaſſen zu wollen. Da aber kehrte er
um und ging zu dem Prieſter zurück. Sie ſprachen zu-
ſammen, der Oberſt erregt, der Pir aber ruhig und mit
geſchloſſenen Augen. Doch plötzlich öffnete er ſie, warf
die zwei, welche ihn hielten, von ſich und packte den Oberſt.
Mit der Körperkraft eines Rieſen hob er ihn empor —
zwei Sprünge, und er ſtand vor dem Scheiterhaufen;
noch einer — ſie verſchwanden in der lohenden Glut, die
über ihnen zuſammenſchlug. Eine Bewegung im Innern
derſelben ließ vermuten, daß die beiden dem Flammen-
tode Geweihten miteinander kämpften; der eine, um ſein
Leben zu retten, der andere, um ihn ſterbend feſtzuhalten.


Es war mir, als ſei ich bei der grimmigſten Winter-
kälte in das Waſſer geſtürzt. Alſo darum war dieſer
Tag „der wichtigſte ſeines Lebens“, wie er, der Prieſter,
zu mir geſagt hatte! Ja, der wichtigſte Tag des Lebens
iſt derjenige, an welchem man dieſes Leben verläßt, um
ſich den brandenden Fluten der Ewigkeit anzuvertrauen.
Alſo dieſe fürchterliche Rache an dem Miralai war das
[57] „letzte Wort“, welches ſeine Hand verzeichnen ſollte in
jenes Buch, darinnen verzeichnet ſteht die blutige Ge-
ſchichte der Dſcheſidi, der Verachteten und Verfolgten?
Alſo dieſes Feuer war das „Element“, in dem ſein Leib
begraben werden ſollte, und dem er darum auch ſein Kleid
überlaſſen wollte?


Schrecklich! Ich ſchloß die Augen. Ich mochte nichts
mehr ſehen, nichts mehr wiſſen; ich ging hinunter in die
Stube und legte mich auf das Polſter, mit dem Geſicht
an die Wand. Noch einige Zeit lang war es draußen
verhältnismäßig ruhig, dann aber begann das Schießen
von neuem. Mich ging das nichts an. Wenn mir Gefahr
drohte, würde mich Halef ganz ſicher benachrichtigen. Ich
ſah nur die langen weißen Haare, den wallenden ſchwarzen
Bart und die goldblitzende Uniform in dem Brodem des
Scheiterhaufens verſchwinden. Mein Gott, wie wertvoll,
wie unendlich koſtbar iſt ein Menſchenleben, und dennoch
— dennoch — dennoch — — —!


So verging eine geraume Zeit; da hörte das Schießen
auf, und ich vernahm Schritte auf der Treppe. Halef
trat ein.


„Sihdi, du ſollſt auf das Dach kommen!“


„Weshalb?“


„Ein Offizier verlangt nach dir.“


Ich ſtand auf und begab mich wieder hinauf. Ein
einziger Blick belehrte mich über den Stand der Dinge.
Die Dſcheſidi hielten nicht mehr die Höhen beſetzt, ſie
waren vielmehr nach und nach hernieder geſtiegen. Hinter
jedem Stein, hinter jedem Baum oder Strauch hielt ſich
einer verborgen, um aus dieſer ſichern Stellung ſeine
Kugel zu verſenden. Im untern Teile des Thales hatten
ſie ſogar, durch die Geſchütze gedeckt, bereits die Sohle
erreicht und ſich in dem Gebüſch am Bache eingeniſtet.
[58] Es fehlte nur noch eins: wenn die Geſchütze nur eine
kurze Strecke noch herauf avancieren, ſo konnten mit
einigen Salven ſämtliche Türken vernichtet werden.


Vor dem Hauſe ſtand Naſir Agaſſi.


„Herr, wirſt du noch einmal mit uns ſprechen?“
fragte er.


„Was habt ihr mir zu ſagen?“


„Wir wollen einen Boten zu Ali Bey ſenden, und
weil der Miralai, dem Allah das Paradies ſchenken möge“
— er deutete dabei nach dem noch immer qualmenden
Scheiterhaufen — „den Boten der Dſcheſidi getötet hat,
ſo kann keiner von uns gehen. Willſt du es thun?“


„Ich will. Was ſoll ich ſagen?“


„Der Kaimakam wird es dir befehlen. Er führt
jetzt das Kommando und iſt in jenem Hauſe. Komm
herüber!“


„Befehlen? Euer Kaimakam hat mir nicht das min-
deſte zu befehlen. Was ich thue, das thue ich freiwillig.
Der Kaimakam mag kommen und mir ſagen, was er mir
zu ſagen hat. Dieſes Haus ſteht ihm offen, aber nur ihm
und höchſtens noch einer zweiten Perſon. Wer ſich ſonſt
naht, den laſſe ich niederſchießen.“


„Wer iſt außer dir im Hauſe?“


„Mein Diener und ein Kawaß des Muteſſarif, ein
Baſchi-Bozuk.“


„Wie heißt er?“


„Er iſt der Buluk Emini Ifra.“


„Ifra? Mit ſeinem Eſel?“


„Ja,“ lachte ich.


„So biſt du der Fremdling, welcher den arnautiſchen
Offizieren die Baſtonnade erlaſſen hat und die Freund-
ſchaft des Muteſſarif erlangte?“


„Ich bin es.“


[59]

„So warte ein wenig, Herr! Der Kaimakam wird
gleich kommen.“


Es währte wirklich nur kurze Zeit, ſo trat der Kai-
makam drüben aus dem Tempel und kam auf das Haus
zu. Nur der Makredſch begleitete ihn.


„Halef, öffne ihnen und führe ſie in die Stube. Die
Thür ſchließeſt du wieder, und dann kehrſt du hierher zu-
rück. Sollte ſich ein Unberufener dem Hauſe nähern, ſo
ſchießeſt du auf ihn!“


Ich ging hinab. Die beiden Männer traten ein.
Sie waren hohe Beamte; das durfte mich jedoch nicht
kümmern; ich empfing ſie daher in ſehr gemeſſener Haltung
und winkte ihnen nur, ſich niederzulaſſen. Als ſie dies
gethan hatten, fragte ich, ohne ſie beſonders willkommen
zu heißen:


„Mein Diener hat euch eingelaſſen. Hat er euch ge-
ſagt, wie man mich zu nennen hat?“


„Nein.“


„Man nennt mich hier Hadſchi Emir Kara Ben
Nemſi. Wer ihr ſeid, weiß ich. Was habt ihr mir zu
ſagen?“


„Du biſt ein Hadſchi?“ fragte der Makredſch.


„Ja.“


„Du warſt alſo in Mekka?“


„Ja. Siehſt du nicht den Kuran an meinem Halſe
hangen und das kleine Fläſchchen mit dem Waſſer des
Zem-Zem?“


„Wir glaubten, du ſeiſt ein Giaur!“


„Seid ihr gekommen, mir dies zu ſagen?“


„Nein. Wir bitten dich, in unſerem Auftrage zu
Ali Bey zu gehen.“


„Werdet ihr mir ſicheres Geleite geben?“


„Ja.“


[60]

„Mir und meinen Dienern?“


„Ja.“


„Was ſoll ich ihm ſagen?“


„Daß er die Waffen ſtrecken und zum Gehorſam
gegen den Muteſſarif zurückkehren möge.“


„Und dann?“ fragte ich, neugierig, was noch kommen
werde.


„Dann ſoll die Buße, welche der Gouverneur über
ihn verhängt, ſo gnädig wie möglich ſein.“


„Du biſt der Makredſch von Moſſul, und dieſer
Mann iſt Kaimakam und Befehlshaber der Truppen,
welche hier ſtehen. Er iſt es, welcher mir ſeine Aufträge
zu erteilen hat, nicht aber du.“


„Ich bin bei ihm als Beauftragter des Muteſſarif.“


Der Mann mit der Stößerphyſiognomie warf ſich
bei dieſen Worten ſo viel wie möglich in die Bruſt.


„Haſt du ſchriftliche Vollmacht?“


„Nein.“


„So giltſt du hier ſo wenig wie jeder andere!“


„Der Kaimakam wird es mir bezeugen!“


„Nur eine ſchriftliche Vollmacht kann dich legitimieren,
ſonſt nichts. Gehe und hole dir dieſelbe. Der Muteſſarif
von Moſſul wird nur einem Manne von Kenntniſſen er-
lauben, ihn zu vertreten.“


„Willſt du mich beleidigen?“


„Nein. Ich will nur beſtätigen, daß du kein Offizier
biſt, von militäriſchen Dingen nichts verſtehſt und hier
alſo ſchweigſt.“


„Emir!“ rief er, indem er mir einen wütenden Blick
zuwarf.


„Soll ich dir die Wahrheit meiner Worte beweiſen?
Ihr ſeid ſo eingeſchloſſen, daß kein einziger von euch
entkommen kann; es bedarf nur einer kleinen halben Stunde,
[61] ſo ſeid ihr hilflos in die Erde hineingeſchoſſen. Und bei einem
ſolchen Stande der Dinge ſoll ich dem Bey ſagen, daß er die
Waffen ſtrecken ſoll? Er würde mich für wahnſinnig
halten. Der Miralei, dem Allah gnädig und barmherzig
ſein möge, hat fünfzehnhundert wackere Krieger durch ſeine
Unvorſichtigkeit in das Verderben geführt. Dem Kaimakam
fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, ſie dieſem Verderben zu
entreißen; wenn ihm dies gelingt, ſo hat er, wie ein guter
Offizier und wie ein Held gehandelt. Mit hochtrabenden
Worten aber, hinter denen Furcht und die Heimtücke
lauern, wird es ihm nicht gelingen. Ich habe nur mit
ihm zu reden. In militäriſchen Angelegenheiten ſoll nur
ein Krieger zu beſtimmen haben.“


„Und doch ſollſt du auch mich anhören!“


„Ich wüßte nicht, worin!“


„Es ſind auch Dinge zu verhandeln, welche das Geſetz
betreffen, und ich bin ein Makredſch!“


„Sei, was du willſt! Du kannſt mir keine Voll-
macht zeigen, und darum ſind wir miteinander fertig!“


Ich hatte einen entſchiedenen Widerwillen gegen dieſen
Menſchen, aber es wäre mir nicht eingefallen, demſelben
einen ſo kräftigen Ausdruck zu geben, wenn er anders
aufgetreten wäre und ich nicht eine ſehr deutliche Ahnung
gehabt hätte, daß er die meiſte Schuld an den gegenwärtigen
Verhältniſſen trage. Warum hatte ſich dieſer Gerichts-
menſch überhaupt der Expedition angeſchloſſen? Doch wohl
nur, um den Dſcheſidi nach ihrer etwaigen Ueberwindung
auf dem Wege des moslemitiſchen Geſetzes die Uebermacht
der Osmanly fühlbarer zu machen.


Ich wandte mich nun an den Kaimakam:


„Was ſoll ich dem Bey ſagen, wenn er mich fragt,
warum ihr Scheik Adi überfallen habt?“


„Weil wir uns zwei Mörder holen wollen, und
[62] weil die Dſcheſidi den Haradſch *) nicht regelmäßig be-
zahlen.“


„Er wird ſich über die Gründe ſehr wundern. Die
Mörder müßt ihr bei euch ſelbſt ſuchen; das wird er euch
beweiſen, und den Haradſch konntet ihr auf einem andern
Wege erlangen. Was ſoll ich ihm von deinen jetzigen
Entſchlüſſen ſagen?“


„Sage ihm, daß er mir einen Mann ſenden möge,
mit dem ich über die Bedingungen verhandeln kann, unter
denen ich abziehe!“


„Und wenn er mich nach der Grundlage dieſer Be-
dingungen fragt?“


„Ich verlange im Namen des Muteſſarif unſere Ge-
ſchütze zurück; ich verlange für jeden unſerer Toten oder
Verwundeten ein Sühnegeld; ich verlange den verweigerten
Haradſch, und ich verlange die Auszahlung einer Summe,
die ich noch beſtimmen werde, als Brandſchatzung.“


„Allah kehrim, Gott iſt gütig! Er hat dir einen
Mund gegeben, welcher ſehr gut zu fordern weiß. Du
brauchſt mir weiter nichts zu ſagen; es iſt genug, und
das übrige magſt du Ali Bey ſelbſt mitteilen. Ich werde
ſofort zu ihm gehen und euch die Antwort entweder ſelbſt
bringen oder ſie euch durch einen Boten wiſſen laſſen.“


„Sage ihm nur noch, daß er unſere Artilleriſten frei
laſſen und ihnen ihren Schreck vergüten muß!“


„Ich werde ihm auch dies noch mitteilen; aber ich
befürchte, daß er von euch auch eine Vergütung der Ueber-
raſchung verlangt, welche ihr ihm bereitet habt. Jetzt
ſind wir fertig; ich werde mich aufmachen, warne euch
aber vorher noch in einer Beziehung. Wenn ihr in Scheik
Adi Schaden anrichtet, dann wird der Bey gegen euch
keine Schonung kennen.“


[63]

Ich ſtand auf. Sie thaten dasſelbe und gingen.


Jetzt rief ich Halef und Ifra herab, welche die Tiere
ſatteln mußten. Dies nahm nur kurze Zeit in Anſpruch.
Dann verließen wir das Haus und ſtiegen auf.


„Haltet hier; ich komme gleich zurück!“


Nach dieſen Worten ritt ich zunächſt ein Stück das
Thal hinab, um die Wirkung der Geſchütze in Augenſchein
zu nehmen. Sie war eine grauenhafte, doch wurde ſie
dadurch gemildert, daß die Dſcheſidi die verwundeten
Türken aufgehoben hatten, um ihnen möglichſt Hilfe an-
gedeihen zu laſſen. Wie anders wäre es wohl geweſen,
wenn den Osmanly ihr Ueberfall geglückt wäre! Ich
wandte mich ab, trotzdem mir die Sieger von ihrer Ver-
ſchanzung her erfreut zuriefen, nahm Halef und Jfra auf
und ritt nun am Bache hinan, um auf dem Weg nach
Baadri zu gelangen; denn da oben auf dieſer Seite mußte
ich den Bey vermuten.


Als ich an dem Tempel vorüberkam, ſtand der Kai-
makam mit ſeinem Stabe vor demſelben. Er winkte mir,
und ich ritt zu ihm hin.


„Sage dem Scheik noch, daß er eine Summe bezahlen
muß als Sühne für den Tod des Miralai!“


„Ich glaube ſehr, daß der Makredſch von Moſſul
ſich große Mühe giebt, immer neue Forderungen zu ent-
decken, und ich vermute, daß der Bey eine ſehr bedeutende
Sühne verlangen wird für ſeinen ermordeten Parlamentär.
Doch werde ich ihm deine Worte ſagen.“


„Du haſt einen Baſchi-Bozuk bei dir?“


„Wie du ſiehſt!“


„Wer hat ihn dir gegeben?“


„Der Muteſſarif.“


„Brauchſt du ihn noch?“


„Ja.“


[64]

„Wir brauchen ihn auch.“


„So hole dir einen Befehl vom Gouverneur. Wenn
du mir dieſen vorzeigſt, werde ich dir den Buluk Emini
zurückgeben!“


Ich ritt weiter und kam an lauter finſteren Geſichtern
vorüber. Gar manche Hand zuckte nach dem Dolche, aber
Naſir Agaſſi begleitete mich, bis ich in Sicherheit war,
dann aber nahm er Abſchied.


Der Abſchied war kurz, denn die Zeit drängte.


„Effendi, werden wir uns wiederſehen?“ fragte Naſir
Agaſſi.


„Allah weiß alles, auch dieſes, wir aber nicht.“


„Du biſt mein Retter; ich werde dich nie vergeſſen
und danke dir. Sollten wir uns einmal wiederſehen, ſo
ſage mir dann, ob ich dir dienen kann.“


„Gott ſchütze dich! Vielleicht ſehe ich dich einmal als
Miralai; dann möge deiner ein beſſeres Kismet warten,
als das des Omar Amed!“


Wir reichten einander die Hände und ſchieden. Auch
ihn habe ich zu einer Zeit wieder geſehen, wo ich am
wenigſten an ihn dachte.


Nur wenige Schritte weiter empor trafen wir hinter
einem Buſche den erſten Dſcheſidi, welcher ſich ſo weit
herangewagt hatte, um beim Wiederbeginn des Kampfes
ein ſicheres Ziel zu haben. Es war der Sohn Seleks,
mein Dolmetſcher.


„Emir, biſt du wohl erhalten?“ rief er mir entgegen.


„Ganz wohl. Haſt du das Buch des Pir Kamek
bei dir?“


„Nein. Ich habe es an einem Ort verſteckt, an dem
es keinen Schaden leiden kann.“


„Aber wenn du gefallen wäreſt, ſo wäre es verloren
geweſen!“


[65]

„Nein, Effendi. Ich habe mehreren offenbart, wo es
liegt, und dieſe hätten dir es mitgeteilt.“


„Wo iſt der Bey?“


„Oben auf der Klippe, von welcher aus man das
Thal am beſten überblicken kann. Erlaube, daß ich dich
führe!“


Er nahm das Gewehr über die Schulter und ſchritt
voran. Wir erreichten die Höhe, und es war von Inter-
eſſe, hier hinabzublicken auf die Verſtecke, hinter denen
die Dſcheſidi ſtanden, ſaßen, hockten und lagen, ganz be-
reit, bei dem Zeichen ihres Anführers den Kampf nun im
vollen Ernſte zu beginnen. Hier kam man noch beſſer als
unten zu der Ueberzeugung, daß die Türken verloren wären,
wenn es ihnen nicht gelänge, mit ihren Gegnern einig zu
werden. Hier an derſelben Stelle hatte ich mit Ali Bey
geſtanden, als wir die vermeintlichen Sterne beobachteten,
und jetzt, nur wenige Stunden ſpäter, ſtand die kleine
Sekte, welche es gewagt hatte, den Kampf mit den Truppen
des Großherrn aufzunehmen, bereits als Sieger da.


Wir ritten nun links weiter, bis wir zu einem Felſen
gelangten, der ſich ein weniges über den Rand des Thales
hervorſtreckte. Hier ſaß der Bey mit ſeinem Stabe, wel-
cher nur aus drei barfüßigen Dſcheſidi beſtand. Er kam
mir erfreut entgegen.


„Ich danke dem Allgütigen, der dich geſund und un-
verſehrt erhalten hat!“ ſagte er herzlich. „Iſt dir Uebles
begegnet?“


„Nein, ſonſt hätte ich dir das Zeichen gegeben.“


„Komm her!“


Ich ſtieg ab und folgte ihm auf den Felſen. Man
konnte von hier aus alles deutlich ſehen, das Heiligtum,
das Haus des Bey, da unten die Batterie hinter der Ver-
ſchanzung und die beiden Seitenwände des Thales.


II. 5
[66]

„Siehſt du die weiße Stelle auf meinem Hauſe?“
fragte er.


„Ja. Es iſt der Shawl.“


„Wäre er verſchwunden, ſo hätte ich ein Zeichen ge-
geben, und fünfhundert meiner Leute wären Sturm hinab-
gelaufen, unter dem Schutze der Kanonen, welche den Feind
zurückgehalten hätten.“


„Ich danke dir, Bey. Es iſt mir nichts geſchehen,
als daß der Miralai einmal nach mir ſchoß; aber ohne
mich zu treffen.“


„Das ſoll er büßen!“


„Er hat es bereits gebüßt.“


Ich erzählte ihm alles, was ich geſehen hatte, und
berichtete ihm auch die Worte, in denen der Abſchied des
Pir von mir enthalten war. Er hörte aufmerkſam und
in tiefſter Bewegung zu; aber als ich geendet hatte, ſagte
er nichts als:


„Er war ein Held!“


Dann verſank er in ein tiefes Sinnen, aus welchem
er erſt nach einer Weile wieder erwachte.


„Und was ſagſt du? Sie haben meinen Boten getötet?“


„Sie haben ihn hingerichtet, erſchoſſen.“


„Wer hat den Befehl dazu erteilt?“


„Jedenfalls der Miralai.“


„O lebte er noch!“ knirſchte er. „Ich ahnte, daß
dem Boten etwas widerfahre. Ich hatte ihm geſagt, daß
ich den Kampf wieder beginnen werde, wenn er binnen
einer halben Stunde nicht zurückgekehrt ſei. Aber ich werde
ihn rächen; ich werde jetzt das Zeichen geben, daß nun
endlich Ernſt gemacht werden ſoll!“


„Warte noch, denn ich habe vorher mit dir zu reden.
Der Kaimakam, welcher jetzt das Kommando führt, hat
mich zu dir geſandt.“


[67]

Ich erzählte ihm nun wortgetreu meine ganze Unter-
redung mit dem Oberſtlieutenant und dem Makredſch.
Als ich den letzteren in Erwähnung brachte, zog er die
Brauen finſter zuſammen, doch hörte er mich ruhig bis zu
Ende an.


„Alſo der Makredſch iſt dabei! O, nun weiß ich,
wem wir das alles zu verdanken haben! Er iſt der ſchlimmſte
Feind der Dſcheſidi; er haßt ſie; er iſt ihr Vampyr, ihr
Blutſauger, und er hat auch jenem Morde die Wendung
gegeben, welche zur Handhabe geworden iſt, durch dieſen
Ueberfall eine Kontribution von uns zu erzwingen. Aber
meine Geſandtſchaft, welche nach Stambul gegangen iſt,
wird auch zum Anadoli Kaſi Askeri *) gehen, um ihm
einen Brief von mir zu überbringen, den mir der Pir
Kamek noch geſchrieben hat. Beide kannten ſich und hatten
ſich lieb, und der Pir iſt lange Zeit ſein Gaſt geweſen.
Er weiß die Lüge von der Wahrheit zu unterſcheiden und
wird uns Hilfe bringen.“


„Das wünſche ich dir von Herzen. Aber wen wirſt
du zu dem Kaimakam ſenden? Ein gewöhnlicher Mann
darf es nicht ſein, ſonſt wird er überliſtet.“


„Wen ich ſenden werde, frageſt du? Niemand werde
ich ſenden, keinen Menſchen. Nur ich ſelbſt werde mit
ihm ſprechen. Ich bin das Haupt der Meinen; er iſt
der Anführer der Seinen, und wir beide haben zu ent-
ſcheiden. Aber ich bin der Sieger, und er iſt der Beſiegte;
er mag zu mir kommen!“


„So iſt es recht!“


„Ich werde ihn hier erwarten. Ich werde ihm freies
Geleit geben; aber wenn er in dreißig Minuten noch
nicht zur Stelle iſt, ſo laſſe ich die Beſchießung beginnen
[68] und halte nicht eher ein, als bis keiner der Osmanly
mehr lebt!“


Er trat zu ſeinen Adjutanten und ſprach kurze Zeit
mit ihnen. Darauf entfernten ſich zwei von ihnen. Der eine
ergriff einen weißen Shawl, legte ſeine Waffen ab und
ſtieg links da hinab, wo ich jetzt heraufgekommen war;
der andere aber ſchritt längs des Randes der Höhe hin
und klimmte dann rechts hinab nach dem Punkte hin, an
welchem die Geſchütze ſtanden.


Nun gab Ali Bey einigen Dſcheſidi, welche in der
Nähe hielten, den Befehl, ein Zelt für uns zu errichten.
Die zu demſelben gehörigen Requiſiten lagen bereit. Wäh-
rend ſie ſeinem Gebote Folge leiſteten, bemerkte ich, daß
ſich unten die Verſchanzung öffnete. Die Kanonen wurden
durch die entſtandene Lücke vorgezogen und avancierten
längs des Baches bis an die Linie derjenigen Dſcheſidi,
welche auf der Sohle des Thales feſten Fuß gefaßt hatten.
Dort gab es mehrere Felsblöcke, welche mit einigen ſchnell
umgehauenen Bäumen eine neue Verſchanzung bildeten.


Es waren ſeit der Abſendung des Dſcheſidi noch nicht
zwanzig Minuten vergangen, ſo nahte ſich der Kaimakam.
Er war von drei türkiſchen Soldaten begleitet, und an
ſeiner Seite ritt — der Makredſch. Das war eine große
Unklugheit von dem letzteren; ich ſah es dem finſteren
Blicke an, mit welchem Ali Bey ihn betrachtete.


Der Bey trat in das Zelt, welches mittlerweile auf-
gerichtet worden war, und ließ ſich auf den Teppich nie-
der, welcher den Fußboden desſelben bildete. Ich empfing
die Kommenden. Die drei Soldaten blieben vor dem Zelte
halten; die beiden andern aber traten ein.


„Sallam!“ grüßte der Kaimakam.


Der Makredſch grüßte nicht. Er als der Vorſteher
eines großherrlichen Gerichtshofes erwartete, daß der Bey
[69] der Teufelsanbeter ihn bewillkommnen werde. Dieſer aber
nahm weder von ihm Notiz, noch beantwortete er den
Gruß des Oberſtlieutenants. Er deutete nur auf den
Teppich und meinte:


„Kaimakam, komar-ſen — du darfſt dich ſetzen!“


Der Angeredete nahm in würdevoller Weiſe Platz,
und der Makredſch ließ ſich an ſeiner Seite nieder.


„Du haſt uns gebeten, zu dir zu kommen,“ begann
der Offizier. „Warum biſt du nicht zu uns gekommen?“


„Du irrſt!“ antwortete Ali Bey ſehr ernſt. „Ich
habe dich nicht gebeten, ſondern ich habe dir nur kund
gethan, daß ich die Osmanly niederkartätſchen laſſen
werde, wenn du nicht kommſt. Iſt das eine Bitte? Du
fragſt ferner, warum ich nicht zu dir gekommen bin. Wenn
ich von Scheik Adi nach Moſſul komme, werde ich dich
aufſuchen und nicht verlangen, daß du dich zu mir be-
müheſt; du biſt von Moſſul nach Scheik Adi gekommen
und wirſt die Geſetze der Höflichkeit kennen, welche dir
gebieten, dich zu mir zu bemühen. Deine Frage ver-
anlaßt mich übrigens, dir gleich die Stellung klar zu
machen, von welcher aus wir gegenſeitig zu einander ſprechen
werden. Du biſt ein Diener, ein Beamter des Großherrn
und des Muteſſarif, ein Offizier, der im günſtigen Falle
ein Regiment kommandiert; ich aber bin ein freier Fürſt
der Kurden und Oberfeldherr aller meiner Krieger. Glaube
darum nicht, daß dein Rang höher ſei, als der meinige —“


„Ich bin nicht ein Diener des — — —“


„Schweige! Ich bin gewohnt, daß man mich hört
und mich ausreden läßt; merke dir das, Kaimakam! Du
biſt ohne alles Recht und ohne vorherige Ankündigung
in mein Gebiet eingebrochen, wie ein Dieb, wie ein Räuber
mit bewaffneter Hand. Einen Räuber fange und töte ich,
ganz wie es mir gefällt; da du aber ein Diener des Groß-
[70] herrn und des Muteſſarif biſt, ſo will ich vorher, ehe ich
meine ganze Macht entwickle, in Güte mit dir reden.
Daß du noch lebſt, du und die Deinen, das habt ihr nur
meiner Milde und Nachſicht zu verdanken. Nun ſage, wer
das Recht hat, zu erwarten, daß der andere zu ihm komme,
du oder ich!“


Der Kaimakam machte ein ganz erſtauntes Geſicht,
denn eine ſolche Ausführung hatte er jedenfalls nicht er-
wartet. Er beſann ſich noch, was er ſagen ſolle; doch der
Makredſch, über deſſen Stößerphyſiognomie es wie ein
flammender Grimm zuckte, ergriff das Wort:


„Ali Bey, was wageſt du! Du nennſt uns Diebe
und Mörder, uns, die wir als Vertreter des Padiſchah
und des Generalgouverneur hier ſitzen! Nimm dich in
acht, ſonſt wirſt du es bereuen!“


Der Bey wandte ſich in vollkommenſter Ruhe an den
Offizier:


„Oberſtlieutenant, wer iſt dieſer Verrückte?“


Der Gefragte machte eine erſchrockene Gebärde.


„Wahre deine Zunge, Ali Bey! Dieſer Effendi iſt
der Makredſch von Moſſul!“


„Du ſcherzeſt! Ein Makredſch muß im Beſitze ſeiner
Beſinnung ſein. Der Makredſch von Moſſul hat den
Muteſſarif zu dem Kriegszuge gegen mich beredet; er
würde, wenn er nicht verrückt iſt, es nie wagen, zu mir
zu kommen; denn er muß wiſſen, was in dieſem Falle
ſeiner wartet!“


„Ich ſcherze nicht. Er iſt es wirklich.“


„Ich ſehe, daß du weder träumſt, noch betrunken
biſt; darum muß ich dir glauben. Aber bedenke, daß ich
nur dich allein zu mir gefordert habe!“


„Er iſt mit mir gegangen als Vertreter und Abge-
ſandter des Muteſſarif.“


[71]

„Das iſt möglich, denn du ſageſt es; aber kannſt du
mir es beweiſen?“


„Ich ſage und bezeuge es!“


„Das darf hier nichts gelten. Ich vertraue dir; aber
ein jeder andere, der in einer ſolchen oder in einer ähn-
lichen Angelegenheit zu mir kommt, muß beweiſen können,
daß er das Recht und den Auftrag hat, mit mir zu ver-
handeln; ſonſt läuft er Gefahr, daß ich ihn ſo behandle,
wie ihr meinen erſten Boten behandelt habt.“


„Ein Makredſch kann niemals in eine ſolche Gefahr
kommen!“


„Ich werde dir das Gegenteil beweiſen!“


Er klatſchte in die Hände, und ſogleich trat der
Dſcheſidi ein, welcher den Kaimakam geholt hatte.


„Haſt du dem Kaimakam ein ſicheres Geleite ver-
ſprochen?“


„Ja, Herr.“


„Wem noch?“


„Keinem.“


„Den drei Soldaten nicht, welche draußen ſtehen?“


„Nein, und dem Makredſch auch nicht.“


„Die drei werden abgeführt; ſie ſind gefangen; und
dieſen Mann, welcher ſich für den Makredſch von Moſſul
ausgiebt, nimmſt du auch mit. Er iſt ſchuld an allem,
auch an der Ermordung meines Parlamentärs.“


„Ich proteſtiere!“ rief der Kaimakam.


„Ich werde mich zu verteidigen und auch zu rächen
wiſſen,“ drohte der Makredſch, indem er einen Dolch zog,
den er im Gürtel ſtecken hatte.


In demſelben Augenblick aber hatte ſich Ali Bey
emporgeſchnellt und ſchlug ihm die Fauſt mit ſolcher Ge-
walt in das Geſicht, daß der Getroffene rückwärts nieder-
ſtürzte.


[72]

„Hund, wagſt du es, in meinem Zelte die Waffe
gegen mich zu ziehen! Fort, hinaus mit ihm!“


„Halt!“ gebot der Kaimakam. „Wir ſind gekommen,
zu unterhandeln; es darf uns nichts geſchehen!“


„Auch mein Bote kam zu euch, um zu unterhandeln,
und dennoch habt ihr ihn ermordet, habt ihn als einen
Verräter hingerichtet. Hinaus mit dieſem Menſchen!“


Der anweſende Dſcheſidi faßte den Makredſch und
ſchaffte ihn fort.


„So werde auch ich gehen!“ drohte der Kaimakam.


„So gehe. Du wirſt die Deinen unverletzt erreichen;
aber ehe du zu ihnen kommſt, werden ihrer viele getötet
ſein. Emir Kara Ben Nemſi, tritt hinaus auf den Felſen
und erhebe die Rechte. Es iſt das Zeichen, daß die
Kanonade beginnen ſoll!“


„Bleibe!“ wandte ſich der Kaimakam ſchnell zu mir.


„Ihr dürft nicht ſchießen.“


„Warum nicht?“ fragte Ali Bey.


„Das wäre Mord, denn wir können uns nicht wehren.“


„Das wäre kein Mord, ſondern Strafe und Ver-
geltung. Ihr wolltet uns überfallen, ohne daß wir eine
Ahnung davon hatten; ihr kamt mit Säbeln, Flinten und
Kanonen, um uns niederzuhauen, niederzukartätſchen. Nun
aber eure Kanonen ſich in unſeren Händen befinden, nun
ihr von uns gebührenderweiſe empfangen worden ſeid,
ſagt ihr, derjenige, welcher ſchießt, ſei ein Mörder! Kai-
makam, laſſe dir zürnen, aber laſſe dich nicht verlachen!“


„Du wirſt den Makredſch freigeben!“


„Er iſt Repreſſalie für den gemordeten Parlamentär!“


„Du wirſt ihn töten?“


„Vielleicht. Es kommt ganz darauf an, ob wir beide
uns verſtändigen.“


„Was verlangſt du von mir?“


[73]

„Ich bin bereit, deine Zugeſtändniſſe zu vernehmen.„


„Zugeſtändniſſe? Wir ſind gekommen, um Forde-
rungen zu machen!“


„Ich habe dich bereits gebeten, dich nicht auslachen
zu laſſen! Sage mir zunächſt, aus welchem Grunde ihr
uns überfallen habt!“


„Es ſind Mörder unter euch.“


„Ich weiß, welchen Fall du meinſt, aber ich ſage
dir, daß du falſch unterrichtet biſt: nicht zwei von den
Unſerigen haben einen der Eurigen, ſondern drei der
Eurigen haben zwei der Unſerigen ermordet. Ich habe
bereits dafür geſorgt, euch dies beweiſen zu können: denn
der Kiajah *) des Ortes, wo die That geſchehen iſt, wird
in kurzer Zeit mit den Angehörigen der Ermordeten hier
ſein.“


„Vielleicht iſt dies ein anderer Fall!“


„Es iſt nur der nämliche, aber der Makredſch hat
ihn verdreht. Er wird es nicht wieder thun. Und wenn
es ſo wäre, wie du ſagſt, ſo iſt dies ganz und gar kein
Grund, mit bewaffneter Macht unſer Gebiet zu überfallen.“


„Wir haben noch einen zweiten Grund.“


„Welchen?“


„Ihr habt den Haradſch nicht bezahlt.“


„Wir haben ihn bezahlt. Was nennſt du überhaupt
Haradſch? Wir ſind freie Kurden; was wir zahlen, das
zahlen wir freiwillig. Wir haben die Kopfſteuer bezahlt,
welche jeder, der nicht ein Moslem iſt, für ſeine Befreiung
vom Militärdienſte zu entrichten hat. Nun wollt ihr auch
den Haradſch, und doch iſt dieſer nichts anderes als dieſe
bereits entrichtete Kopfſteuer! Und wenn ihr in eurem
Rechte wäret, und wenn wir dem Muteſſarif eine Steuer
ſchuldig geblieben wären, iſt dies eine genügende Veran-
[74] laſſung, uns zu überfallen? Muß er da juſt Scheik Adi
überfallen, wo jetzt Tauſende von Menſchen ſind, die nicht
nach Moſſul gehören, und die ihm auf keinen Fall etwas
ſchuldig ſind? Kaimakam, du und ich, wir beide wiſſen
ſehr genau, was es eigentlich iſt, was der Gouverneur
von uns will: Geld und Beute. Es iſt ihm nicht ge-
lungen, uns zu berauben, und ſo wollen wir alſo nicht
weiter über ſeine Gründe ſprechen. Du biſt weder ein
Juriſt noch ein Steuereinnehmer; du biſt Offizier, und
darum habe ich mit dir nur das zu beſprechen, was deine
militäriſche Aufgabe betrifft. Du ſollſt reden, und ich
werde hören!“


„Ich habe von dir den Haradſch und die Mörder zu
verlangen, ſonſt muß ich auf Befehl des Muteſſarif Scheik
Adi und alle Ortſchaften der Dſcheſidi zerſtören und einen
jeden töten, der mir Widerſtand leiſtet.“


„Und alles mit dir nehmen, was die Dſcheſidi be-
ſitzen?“


„Alles!“


„So lautet der Befehl des Gouverneur?“


„So lautet er.“


„Und du wirſt ihn erfüllen?“


„Mit allen Kräften.“


„Thue es!“


Er erhob ſich, zum Zeichen, daß die Unterredung be-
endet ſei. Der Kaimakam machte eine Bewegung, ihn
zurückzuhalten.


„Was wirſt du beginnen, Bey?“


„Du wirſt die Dörfer der Dſcheſidi zerſtören und die
Einwohner derſelben berauben, und ich, das Oberhaupt
der Dſcheſidi, werde meine Unterthanen zu beſchützen wiſſen.
Ihr ſeid ohne vorherige Anmeldung bei mir eingebrochen;
ihr verteidigt das mit Gründen, welche Lügen ſind; ihr
[75] wollt ſengen und brennen, rauben und morden: ihr habt
ſogar meinen Boten getötet, eine That, welche ganz und
gar gegen das Recht der Völker iſt. Daraus folgt, daß
ich euch nicht als Krieger betrachten kann, ſondern als
Räuber behandeln muß; Räuber aber ſchießt man einfach
über den Haufen. Wir ſind fertig! Kehre zu den Deinen
zurück. Jetzt ſtehſt du noch unter meinem Schutze; dann
aber biſt du vogelfrei!“


Er verließ das Zelt und erhob den Arm. Die Ar-
tilleriſten mochten längſt auf dieſes Zeichen gewartet haben
— ein Kanonenſchuß krachte, und noch einer.


„Herr, was thuſt du!“ rief der Kaimakam. „Du
brichſt den Waffenſtillſtand, noch während ich bei dir bin!“


„Haben wir einen Waffenſtillſtand abgeſchloſſen?
Habe ich dir nicht geſagt, daß wir fertig ſind? Hörſt du?
Das waren Kartätſchen — und das Granaten; dieſelben
Geſchoſſe, welche für uns beſtimmt waren; nun aber treffen
ſie euch. Allah hat gerichtet; er trifft den Sünder mit
demſelben Streiche, mit dem dieſer geſündigt hat. Du
hörſt das Schreien deiner Leute. Gehe zu ihnen und
befiehl ihnen, unſere Dörfer zu zerſtören!“


Wirklich ſchien der dritte und vierte Schuß außer-
ordentlich gewirkt zu haben; das konnte man aus dem
wilden Heulen ſchließen, welches aus der Tiefe ſcholl.


„Halt ein, Ali Bey! Gieb das Zeichen, mit dem
Feuer wieder einzuhalten, damit wir weiter verhandeln
können!“


„Du kennſt den Befehl des Muteſſarif, und ich kenne
meine Pflicht; wir ſind fertig.“


„Der Muteſſarif hatte ſeine Befehle nicht mir, ſon-
dern dem Miralai gegeben, und nun iſt es meine Pflicht,
meine Leute nicht wehrlos niederſchießen zu laſſen. Ich
muß ſie zu retten ſuchen.“


[76]

„Willſt du dieſen Gedanken feſthalten, ſo bin ich
bereit, die Verhandlung wieder aufzunehmen.“


„So komm herein!“


Ali Bey wand ſein Turbantuch los und wehete da-
mit nach unten, dann ging er wieder in das Zelt.


„Was verlangſt du von mir?“ fragte der Kaimakam.


Der Bey blickte nachdenklich zur Erde, dann ant-
wortete er:


„Nicht du biſt es, dem ich zürne, und darum möchte
ich dich ſchonen; jedes endgültige Uebereinkommen aber,
welches wir treffen könnten, würde dein Verderben ſein,
weil meine Bedingungen für euch mehr als ungünſtig
ſind. Darum werde ich nur mit dem Muteſſarif ſelbſt
verhandeln, und du biſt aller Verantwortung ledig.“


„Ich danke dir, Bey!“


Der Kaimakam ſchien kein ſchlimmer Mann zu ſein;
er war froh, daß der Angelegenheit eine ſolche Wendung
gegeben wurde, und darum kam ſein Dank ganz ſichtlich
aus einem aufrichtigen Herzen.


„Aber eine Bedingung habe ich natürlich auch an
dich,“ fuhr Ali fort.


„Welche?“


„Du betrachteſt dich und deine Truppen als kriegs-
gefangen und bleibſt mit ihnen in Scheik Adi, bis ich mich
mit dem Muteſſarif geeinigt habe.“


„Darauf gehe ich ein, denn ich kann es verantworten.
Der Miralai iſt an allem ſchuld; er iſt zu unvorſichtig
vorgegangen.“


„Du giebſt alſo die Waffen ab?“


„Das iſt ſchimpflich!“


„Könnt ihr als Kriegsgefangene die Waffen behalten?“


„Ich erkläre mich nur inſoweit für kriegsgefangen,
als ich in Scheik Adi bleibe und keinen Durchbruch ver-
[77] ſuche, bis ich weiß, wie der Muteſſarif über uns ver-
fügen wird.“


„Der Durchbruch würde dein Verderben ſein; er
würde euch aufreiben.“


„Bey, ich will ehrlich ſein und zugeben, daß unſere
Lage eine ſehr ſchlimme iſt; aber weißt du, was tauſend
Mann vermögen, wenn ſie zur Verzweiflung getrieben
werden?“


„Ich weiß es, aber es kommt dennoch keiner von euch
davon.“


„Aber es wird auch mancher von euch fallen! Und
bedenke, daß dem Muteſſarif noch das Linien- und Dra-
gonerregiment zur Verfügung ſteht, deſſen größter Teil
in Moſſul zurückgeblieben iſt. Rechne dazu die Hilfe,
welche er aus Kjerkjuk und Diarbekir, aus Sulimanijah
und andern Garniſonen erhalten kann; rechne dazu die
Artillerie, welche ihm noch zur Verfügung ſteht, und du
wirſt einſehen, daß du zwar Herr der jetzigen Situation
biſt, es aber wohl nicht bleiben wirſt.“


„Soll ich auf einen Sieg und ſeine Ausnutzung ver-
zichten, weil ich ſpäter vielleicht geſchlagen werden kann?
Der Muteſſarif mag mit ſeinen Regimentern kommen;
ich werde ihm ſagen laſſen, daß es euch das Leben koſtet,
wenn er mich nochmals angreift. Und wenn ihm weitere
Hilfe zur Verfügung ſteht, ſo iſt dies bei mir ebenſo der
Fall. Du weißt, daß es nur meines Aufrufes bedarf,
um ſo manchen tapfern Stamm der Kurden zur Erhebung
gegen ihn zu bringen. Doch ich liebe den Frieden und
nicht den Krieg. Ich habe zwar heute Dſcheſidi aus ganz
Kurdiſtan und den angrenzenden Provinzen um mich ver-
ſammelt und könnte die Fackel des Aufſtandes unter ſie
ſchleudern; aber ich thue es nicht, ſobald der Muteſſarif
mir erlaubt, die Rechte der Meinigen zu wahren. Ich
[78] will dir und deinen Truppen jetzt noch die Waffen laſſen;
aber ich habe einem Verbündeten Gewehre verſprochen,
und die wird der Gouverneur auf alle Fälle liefern müſſen.“


„Wer iſt dieſer Verbündete?“


„Kein Dſcheſidi verrät ſeinen Freund. Alſo du be-
hältſt deine Waffen, aber alle Munition lieferſt du mir
ab, und dafür verſpreche ich dir, für den Proviant zu
ſorgen, deſſen du bedarfſt.“


„Gebe ich dir die Munition, ſo iſt es genau ſo, als
ob du auch die Waffen hätteſt!“


Ali Bey lächelte.


„Wohl, ſo ſollſt du auch die Munition behalten;
doch ſage ich dir: wenn deine Leute Hunger bekommen
und du mich um Proviant bitteſt, ſo werde ich dir den-
ſelben nur gegen Flinten, Piſtolen, Degen und Meſſer
verkaufen. Alſo auf dieſe Weiſe ſeid ihr nicht kriegsgefan-
gen, ſondern wir ſchließen nur einen Waffenſtillſtand ab.“


„So iſt es, und darauf kann ich eingehen.“


„Du ſiehſt, daß ich ſehr nachſichtig bin. Nun aber
höre meine Bedingungen: Ihr bleibt im Thale Scheik
Adi; ihr bleibt ohne alle Verbindung mit außen; ihr
enthaltet euch aller Feindſeligkeit gegen die Meinigen; ihr
ehrt unſere Heiligtümer und unſere Wohnungen; erſtere
dürft ihr gar nicht betreten und die letzteren nur mit
meiner Erlaubnis; der Waffenſtillſtand dauert ſo lange,
bis euch ein Befehl des Muteſſarif zugeht, und zwar wird
dieſer Befehl euch in meiner Gegenwart gegeben; jeder
Fluchtverſuch, auch eines einzelnen, und jede Zuwider-
handlung gegen unſere Vereinbarung hebt den Waffen-
ſtillſtand ſofort auf; ihr behaltet eure gegenwärtige Stel-
lung und ich die meinige. Dagegen mache ich mich ver-
bindlich, daß ich bis zu der angegebenen Zeit mich aller
Feindſeligkeiten enthalten werde. Biſt du einverſtanden?“


[79]

Nach einem kurzen Bedenken und einigen unweſent-
lichen Hinzufügungen und Ausführungen nahm der Kaima-
kam die Bedingungen an. Er verwandte ſich ſehr für den
Makredſch und verlangte die Auslieferung desſelben, doch
ging Ali nicht darauf ein. Es wurde Papier herbei-
geſchafft; ich entwarf den Vertrag, und beide unterzeich-
neten: der eine durch die Unterſchrift ſeines Namens und
der andere mit ſeinem Bu-kendim *). Dann kehrte der Offi-
zier in das Thal zurück, wobei es ihm erlaubt wurde,
ſeine drei Soldaten wieder mitzunehmen.


Nun wartete Pali auf die Befehle ſeines Vorgeſetzten.


„Willſt du mir einen Brief an den Muteſſarif ſchrei-
ben?“ fragte mich dieſer.


„Gern! Was willſt du ihm mitteilen?“


„Die jetzige Lage ſeiner Truppen. Dann ſollſt du
ihm ſagen, daß ich mit ihm zu verhandeln wünſche, daß
ich ihn entweder hier erwarte oder in Dſcherraijah mit
ihm zuſammentreffen will. Er darf aber eine Begleitung
von höchſtens fünfzig Mann mitbringen und hat ſich aller
Feindſeligkeiten zu enthalten. Die Zuſammenkunft findet
übermorgen bis zum Mittag ſtatt. Verſäumt er, zu kom-
men, ſo töte ich den Makredſch und laſſe ſeine Truppen
ihre eigenen Kartätſchen fühlen. Dies geſchieht auch dann,
ſobald ich bemerke, daß er geſonnen iſt, die Feindſelig-
keiten fortzuſetzen. Kannſt du dies ſchreiben?“


„Ja.“


„Ich werde Pali noch ganz beſondere Aufträge er-
teilen. Schreibe ſo ſchnell wie möglich, damit er bald auf-
brechen kann!“


Einige Minuten ſpäter ſaß ich im Zelte und ſchrieb
mit meinem Bleiſtifte, nach orientaliſcher Manier das
[80] Papier auf dem Knie, von der Rechten zur Linken hin-
über den Brief an den Gouverneur, der ſicher beim Leſen
desſelben keine Ahnung hatte, daß er von ſeinem Schütz-
linge verfaßt worden war. Und kaum eine halbe Stunde
ſpäter jagte das Pferd, welches Pali trug, im Galopp
auf dem Wege nach Baadri hin. —


Das Feſt der Dſcheſidi hatte eine außerordentliche Stö-
rung erfahren, aber das Bedauern darüber war nicht ſo
groß, wie die Freude, daß es gelungen war, das große
Unglück abzuwenden, welches der Verſammlung in Scheik
Adi gedroht hatte.


„Was wird nun aus dem Feſte?“ fragte ich Ali Bey.


„Die Osmanly können noch mehrere Tage lang da unten
verweilen müſſen, und eine ſo lange Zeit dürften die
Dſcheſidi doch nicht warten wollen.“


„Ich werde ihnen ein Feſt geben, welches größer iſt,
als ſie erwartet haben,“ antwortete er. „Weißt du den
Weg nach dem Thale Idiz noch genau?“


„Ja.“


„Du haſt Zeit. Reite hin und hole Mir Scheik Khan
mit den Scheiks und Kawals herbei. Wir wollen ſehen,
ob ſich die Ueberreſte des Pir Kamek finden laſſen, und
ſie im Thale Idiz begraben.“


Das war allerdings ein Gedanke, welcher bei den
Dſcheſidi zünden mußte, und mir war es außerordentlich
lieb, bei dem Begräbniſſe eines Dſcheſidi gegenwärtig ſein
zu können. Ich nahm nur Halef mit, den Buluk Emini
aber ließ ich zurück.


Zwar hatte ich geſagt, daß der Weg nach dem Thale
Idiz mir bekannt ſei, aber ich war ja nicht von Scheik
Adi, ſondern von Baadri aus dorthin gekommen. Jeden-
falls glaubte der Bey, daß ich mit dem Sohne Seleks
über Scheik Adi geritten ſei, und ich klärte ihn nicht auf,
[81] weil es mir Vergnügen machte, zu ſehen, ob ich das Thal
finden werde, ohne den Weg zu kennen. In der Rich-
tung konnte ich mich nicht irren, und die Spuren der
Dſcheſidi vom Tage vorher mußten mich ja ganz genau
führen. Ich ritt alſo an der Kante des Thales hin, bis
ich oberhalb des Heiligtumes anlangte. Bis hierher kam
ich an zahlreichen Dſcheſidi vorüber, welche den Abhang
eng beſetzt hielten; dann aber wandte ich mich links in
den Wald hinein. Einem geübten Auge war es ſelbſt
vom Pferde herab nicht ſchwer, die Spur zu erkennen.
Wir folgten ihr und langten bald an der Stelle an, an
welcher ich mit meinem Dolmetſcher hinabgeſtiegen war.
Hier ſtand eine Wache, welche den Auftrag hatte, jeden
Unberufenen abzuweiſen. Wir ſtiegen von den Pferden
und ließen dieſelben oben.


Als wir die Steilung hinunterkletterten, bot ſich uns
ein ſeltſamer, lebensvoller Anblick dar. Tauſende von
Frauen und Kindern hatten ſich in den maleriſchſten
Stellungen dort unten gelagert. Pferde graſten; Rinder
weideten; Schafe und Ziegen kletterten an den Felſen her-
um; aber kein Laut war zu hören, denn ein jeder redete
leiſe, damit das Verſteck ja nicht durch einen unvorſich-
tigen Laut verraten werde. Am Waſſer ſaß Mir Scheik
Khan mit ſeinen Prieſtern. Sie empfingen mich mit großer
Freude; denn ſie hatten bisher nur erfahren, daß der
Angriff des Feindes allerdings mißlungen ſei, aber einen
ausführlichen Bericht hatten ſie noch nicht erhalten.


„Iſt das Heiligtum erhalten?“


Das war die erſte Frage, welche der Khan an mich
richtete.


„Das Heiligtum iſt unverſehrt, und ebenſo alle an-
deren Gebäude.“


„Wir hörten das Schießen. Iſt viel Blut gefloſſen?“


II. 6
[82]

„Nur das der Osmanly.“


„Und die Unſrigen?“


„Ich habe nicht gehört, daß einer während des Kampfes
verletzt worden ſei. Zwei allerdings ſind tot, doch ſtarben
ſie nicht im Streite.“


„Wer iſt es?“


„Der Sarradſch *) Heſi aus Baazoni und — —“


„Heſi aus Baazoni? Ein frommer, fleißiger und
tapferer Mann. Nicht im Kampfe? Wie ſtarb er denn?“


„Der Bey ſandte ihn als Parlamentär zu den Os-
manly, und ſie erſchoſſen ihn. Ich mußte zuſehen, ohne
ihn retten zu können.“


Die Prieſter neigten die Häupter, falteten die Hände
und ſchwiegen. Nur Mir Scheik Khan ſagte mit ernſter,
tiefer Stimme:


„Er iſt verwandelt. El Schems wird ihm hier nicht
mehr leuchten, aber er wandelt unter den Strahlen einer
höheren Sonne in einem Lande, wo wir ihn wiederſehen
werden. Dort giebt es weder Tod noch Grab, weder
Schmerz noch Kummer; dort iſt ewig Licht und Wonne;
denn er iſt bei Gott!“


Dieſe Art und Weiſe, die Nachricht von dem Tode
eines Freundes hinzunehmen, war ergreifend. Nicht ein
böſes Wort traf die Mörder. Dieſe Prieſter trauerten,
aber ſie gönnten dem Toten ſeine Verwandlung. Einer
ſolchen Ergebenheit iſt der Islam niemals fähig; ſie
konnte nur eine Folge der chriſtlichen Ideen und Anſchau-
ungen ſein, welche die Dſcheſidi aufgenommen und feſt-
gehalten haben.


„Und wer iſt der andere?“ fragte nun der Khan.


„Du wirſt erſchrecken!“


[83]

„Ein Mann erſchrickt nie vor dem Tode, denn der
Tod iſt der Freund des Menſchen, das Ende der Sünde
und der Anfang der Seligkeit. Wer iſt es?“


„Pir Kamek.“


Sie zuckten dennoch alle wie unter einem plötzlichen
Schmerze, aber keiner ſagte ein Wort. Auch jetzt ſprach
Mir Scheik Khan zuerſt wieder.


„Ewlija dejiſchtirmis — der Heilige iſt verwandelt.
Chüda bujurdi — Gott hat es gewollt! Erzähle uns
ſeinen Tod!“


Ich berichtete ſo ausführlich, als ich nur konnte. Sie
hörten alle tief ergriffen zu, und dann bat der Khan:


„Brüder, laßt uns ſeiner gedenken!“


Sie ſenkten die Köpfe tief herab. Beteten ſie? Ich
weiß es nicht; aber ich ſah, daß die Augen mehrerer ſich
befeuchteten und daß ihre Rührung wohl eine wahre und
herzliche war. Man hat behauptet, daß nur der Deutſche
das beſitze, was man „Gemüt“ nennt. Wenn dies wahr
ſein ſollte, ſo waren dieſe Dſcheſidi den Deutſchen ſehr
ähnlich. Wie wollte ich es ihnen gönnen, wenn die gött-
liche Milde und Klarheit des Chriſtentums die Schatten
ihrer Thäler erleuchten und die Spitzen ihrer Berge ver-
golden dürfte!


Erſt nach einer längeren Weile wich ihre Andacht
der gewöhnlichen Stimmung, ſo daß ich wieder zu ihnen
reden konnte.


„Nun ſendet mich Ali Bey, um euch zu ihm zu holen.
Er will es verſuchen, ob die Ueberreſte des Heiligen noch
zu finden ſeien, damit ſie in dieſem Falle heute noch be-
graben werden.“


„Ja, das iſt eine wichtige Aufgabe, welche wir zu
löſen haben. Die Gebeine des Pir dürfen nicht da ruhen,
wo diejenigen des Miralai liegen!“


[84]

„Ich befürchte ſehr, daß wir nicht Gebeine, ſondern
nur Aſche finden werden!“


„So laßt uns eilen!“


Wir brachen auf, das heißt, ſämtliche Prieſter und
Kawals; die Fakirs aber blieben zur Beaufſichtigung von
Idiz zurück. Als wir oberhalb Scheik Adi bei dem Zelte
des Bey anlangten, ſprach dieſer mit einem Mann, den
er an den Kaimakam mit der Frage geſendet hatte, ob
die Türken den Prieſtern der Dſcheſidi erlauben würden,
den Scheiterhaufen zu unterſuchen. Der Offizier hatte be-
jahend geantwortet und nur die Bedingung ausgeſprochen,
daß die betreffenden Perſonen keine Waffen bei ſich führen
ſollten.


Ali Bey konnte die Scheiks nicht begleiten, da er
ſtets anderweit zur Dispoſition ſein mußte. Ich bat, mich
anſchließen zu dürfen, und das wurde mir gern geſtattet.
Faſt hätte man die Hauptſache vergeſſen: ein Gefäß, wel-
ches die Aſche des Heiligen aufnehmen ſollte. Auf eine
darauf bezügliche Frage zeigte der Bey, daß er auch be-
reits an dieſen Umſtand gedacht habe.


„Mir Scheik Khan, du weißt, daß der berühmte
Töpfer Raſſat in Baazoni meinem Vater Huſſein Bey
eine Urne machte, welche einſt ſeinen Staub aufnehmen
ſoll, wenn es Zeit iſt, ihn aus dem Grabe zu entfernen,
damit er nicht mit dem Mehle des Sarges vermengt und
verunreinigt werde. Dieſe Urne iſt ein Meiſterſtück des
berühmten Töpfers und wohl wert, die Ueberreſte des
Heiligen aufzunehmen. Sie ſteht in meinem Hauſe zu
Baadri, und ich habe bereits Boten ausgeſandt, ſie herbei-
zuholen. Sie wird ankommen, noch ehe ihr am Scheiter-
haufen eure Arbeit beendet habt.“


Dies war genügend, und ſo ſetzte ſich die Prozeſſion
nach niederwärts in Bewegung. Wir kamen bei der Batterie
[85] vorüber und langten an dem Orte an, wo der „Heilige“
ſich und ſeinen Feind der Rache geopfert hatte. Wir ſahen
einen Aſchenhügel, aus dem die halb verbrannten Stum-
mel ſtarker Hölzer hervorragten. Vor demſelben lag die
Leiche des erſchoſſenen Parlamentärs. Die Hitze des Feuers
hatte wohl ſeine Kleider, nicht aber ſeinen Körper zerſtört.
Er wurde entfernt, eine Arbeit, bei welcher unſere Ge-
ruchsnerven nicht wenig zu leiden hatten.


Die Aſche war erkaltet. Die nahe liegenden Häuſer
lieferten die nötigen Werkzeuge, und nun begann man eine
vorſichtige, nur Zoll für Zoll fortſchreitende Wegräumung
der Aſchendecke. Dieſe Abräumung mußte ſo ſorglich vor-
genommen werden, daß ſie eine ſehr lange Zeit in An-
ſpruch nahm, während welcher ein Dſcheſidi mit einem
Maultiere anlangte, auf deſſen Rücken die Urne befeſtigt
war. Ihre Form glich über dem Fuße derjenigen eines
umgeſtürzten Glasſchirmes, wie wir ſie auf unſeren Lam-
pen zu ſehen pflegen, und darauf ruhte ein Deckel, wel-
chen eine Sonne krönte. Auf dieſem Gefäße waren eine
Abbildung und einige Worte im Kurmangdſchi eingebrannt.


Es ſchien mir ganz unmöglich, die Ueberreſte des
„Heiligen“ von denen des Scheiterhaufens zu unterſcheiden;
allein ich ſollte mich bei dieſer Annahme geirrt haben.
Als die Aſche beinahe bis zum Boden herab fortgeräumt
worden war, wurden zwei formloſe Klumpen bloßgelegt,
denen die Prieſter ihre ganze Aufmerkſamkeit zuwandten.
Sie ſchienen nicht ins Reine kommen zu können, und Mir
Scheik Khan winkte mich hinzu.


Es war keine leichte Aufgabe, dieſe Gegenſtände genau
zu unterſuchen; man mußte ſich Mund und Naſe dabei
verſchließen. Wir hatten wirklich die Körper der beiden
Toten vor uns. Sie waren halb verbraten und halb ver-
kohlt, auf ein Dritteil ihrer früheren Größe zuſammen-
[86] geſchrumpft und von einer ziemlich ſtarken Kruſte umgeben,
welche, wie ſich bei der näheren Unterſuchung ergab, aus
den unverbrennlichen Beſtandteilen des Erdpeches und der
daran angeklebten Aſche beſtand.


„Es ſind die Toten,“ meinte ich. „Ihr habt es
dieſem Erdpeche zu verdanken, daß ihr euren ‚Heiligen‘
begraben könnt.“


„Aber welcher iſt es?“


„Sucht ihn heraus!“


Ich wollte ſehen, wie weit der Scharfſinn dieſer
Männer gehe. Sie gaben ſich die größte Mühe, ver-
mochten es aber nicht, die ſcheinbar ſchwierige und doch
ſo leichte Frage zu entſcheiden.


„Es iſt unmöglich, den Pir zu erkennen,“ meinte
endlich der Khan in ziemlicher Ratloſigkeit. „Wir müſſen
entweder darauf verzichten, ſeiner Aſche die gebührende
Ehre zu erweiſen, oder wir ſind gezwungen, beide Körper
in die Urne zu legen, Freund und Feind, den Frommen
und den Gottloſen. Oder weißt du einen beſſern Rat,
Emir Kara Ben Nemſi?“


„Ich weiß einen.“


„Wie lautet er?“


„Nur allein die Gebeine des Pir in die Urne zu
thun.“


„Aber du haſt ja gehört, daß wir dieſelben nicht von
denen des Miralai unterſcheiden können!“


„Das iſt ja nicht ſchwer! Dieſer hier iſt der ‚Heilige‘,
und dieſer hier iſt der Türke.“


„Woraus erkennſt du das? Kannſt du es beweiſen?“


„So ſicher, wie ihr es nur wünſchen möget. Der
Pir hatte keine Waffen bei ſich; der Miralai aber trug
ſeinen Säbel, einen Dolch und zwei Piſtolen. Seht ihr
die krumm gezogenen Piſtolenläufe und die Meſſerklinge
[87] an dieſem Körper kleben? Die Schäfte und der Griff ſind
verbrannt. Und hier grad unter ihm ſieht die Säbelſpitze
aus der Aſche heraus. Dieſer iſt alſo unbedingt der
Miralai geweſen.“


Jetzt nun wunderten ſich die Dſcheſidi, daß ſie nicht
ſelbſt auch auf dieſen ſo einfachen Gedanken gekommen
waren. Sie alle ohne Ausnahme ſtimmten meiner Anſicht
bei und machten ſich daran, die Reſte des Pir in die Urne
zu bringen.


Während des ganzen Vorganges hatte der Kaimakam
mit mehreren ſeiner Offiziere in der Nähe gehalten. Ihm
wurde die Leiche ſeines früheren Vorgeſetzten überlaſſen,
und dann kehrten wir wieder zur Höhe zurück. Dort bat
Ali Bey den Khan um ſeine Befehle in Beziehung auf
die Beſtattungsfeierlichkeit.


„Wir müſſen ſie auf morgen verſchieben,“ antwortete
dieſer.


„Warum?“


„Pir Kamek war der Frömmſte und der Weiſeſte
unter den Dſcheſidi; er ſoll würdig beſtattet werden, und
dazu iſt es heute zu ſpät. Ich werde anordnen, daß man
ihm im Thale Idiz ein Grabmal errichte, und dieſes
kann erſt morgen fertig ſein.“


„So wirſt du Maurer und Zimmerleute brauchen?“


„Nein. Wir werden einen einfachen Bau aus Fels-
blöcken errichten, der keines Kittes bedarf, und jeder Mann,
jedes Weib und auch ein jedes Kind ſoll einen Stein dazu
herbeibringen, je nach ſeinen Kräften, damit keiner der
verſammelten Pilger ausgeſchloſſen werde, dem Verwan-
delten das ihm gebührende Denkmal zu ſtiften.“


„Aber ich brauche die Krieger zur Bewachung der
Türken!“ wendete Ali Bey ein.


„Sie werden ſich ablöſen; dann ſtehen dir immer
[88] genug von ihnen zu Gebote. Laß uns beraten, welche
Geſtalt wir dem Baue geben!“


Da ich hierbei unbeteiligt war, ſuchte ich meinen Dol-
metſcher auf, um mir das Manuſkript des Verſtorbenen
geben zu laſſen. Er hatte es in das Innere eines hohlen
Thinarbaumes verſteckt, und wir ließen uns in der Nähe
desſelben nieder, wo ich meinen Sprachübungen ungeſtört
obliegen konnte.


Darüber verging der Tag, und der Abend kam heran.
Auf den Höhen, welche das Thal von Scheik Adi um-
gaben, leuchtete ein Wachtfeuer neben dem andern auf.
Es war den Türken unmöglich, zu entkommen, ſelbſt wenn
der Kaimakam gegen ſein Verſprechen die Nacht zu einem
Durchbruche hätte benutzen wollen. Die Zeit der Dunkel-
heit verging ohne alle Störung, und am Morgen kehrte
Pali zurück. Die Schnelligkeit und Ausdauer ſeines guten
Pferdes hatte die Entfernung zwiſchen Scheik Adi und
Moſſul bedeutend abgekürzt. Ich hatte in dem Zelte des
Bey geſchlafen und befand mich noch dort, als der Bote
eintrat.


„Haſt du den Muteſſarif getroffen?“ fragte ihn Ali.


„Ja, Herr; noch ſpät am Abend.“


„Was ſagte er?“


„Erſt wütete er und wollte mich tot peitſchen laſſen.
Dann ließ er viele Offiziere und ſeinen Diwan effendiſi *)
kommen, mit denen er ſich lange Zeit beraten hat. Dann
durfte ich zurückkehren.“


„Bei dieſer Beratung wareſt du nicht zugegen?“


„Nein.“


„Welche Antwort haſt du erhalten?“


„Einen Brief an dich.“


„Zeige ihn!“


[89]

Pali zog ein Schreiben hervor, welches mit dem
großen Möhür muteſſarifün *) verſchloſſen war. Ali Bey
öffnete und betrachtete die Zeilen. In dem großen
Schreiben lag ein kleiner, offener Brief. Er reichte mir
beide Schriftſtücke.


„Lies du, Emir! Ich bin begierig, zu erfahren, was
der Muteſſarif beſchloſſen hat.“


Die Zuſchrift war von dem Schreiber des Statt-
halters verfaßt und von dem letzteren unterzeichnet wor-
den. Er verſprach, am andern Morgen mit zehn Mann
Begleitung, in Dſcherraijah zu ſein, und ſtellte die Be-
dingung, daß Ali Bey auch nur von einer ſo geringen
Anzahl begleitet werde. Er erwartete, daß der Ausgleich
ein friedlicher ſein werde, und bat, dem Kaimakam den
inneliegenden ſchriftlichen Befehl zu übergeben. Dieſer
enthielt die allerdings ſehr friedliche Weiſung, bis auf
weiteres jede Feindſeligkeit einzuſtellen, den Ort Scheik
Adi zu ſchonen und die Dſcheſidi als Freunde zu behan-
deln. Angeſchloſſen war dann die Bemerkung, dieſen
Befehl recht genau zu leſen.


Ali Bey nickte befriedigt mit dem Kopfe.


Nach einer kleinen Pauſe machte der Dſcheſidi-Häupt-
ling ſeinem vollen Herzen mit den Worten Luft:


„Wir haben gewonnen und dem Muteſſarif eine nach-
haltige Lehre erteilt; merkſt du dies, Emir? Der Kai-
makam ſoll dieſen Brief erhalten, und morgen werde ich
in Dſcherraijah ſein.“


„Wozu dem Kaimakam dieſe Zuſchrift geben?“


„Sie gehört ihm.“


„Iſt aber überflüſſig, da er ſich ja bereits verbind-
lich gemacht hat, das zu thun, was ihm hier geboten wird.“


[90]

„Er wird es um ſo ſicherer und treuer thun, wenn
er ſieht, daß es auch der Wille des Muteſſarif iſt.“


„Ich muß dir geſtehen, daß dieſer ſchriftliche Befehl
meinen Verdacht erweckt.“


„Warum?“


„Weil er überflüſſig iſt. Und wie eigentümlich klingen
die letzten Worte, daß der Kaimakam den Befehl ja ganz
genau leſen möge!“


„Dies ſoll uns von dem guten Willen des Muteſſarif
überzeugen und den Kaimakam zum pünktlichſten Gehorſam
ermuntern.“


„Dieſe Pünktlichkeit iſt ſelbſtverſtändlich, und darum
ſcheint mir der Befehl mehr als überflüſſig.“


„Dieſer Brief gehört nicht mir; der Gouverneur hat
ihn meiner Ehrlichkeit anvertraut, und der Kaimakam ſoll
ihn erhalten.“


Es war, als wolle der Zufall dieſem Vorſatze des
Bey ſeine ganz beſondere Genehmigung erteilen, denn
gerade jetzt meldete ein eintretender Dſcheſidi:


„Herr, es kommt ein Reiter aus dem Thal herauf.“


Wir gingen hinaus und erkannten nach einiger Zeit in
dem Nahenden den Kaimakam, der allerdings ohne alle Be-
gleitung heraufgeritten kam. Wir erwarteten ihn im Freien.


„Seni ſelamlar-im — ich begrüße dich!“ ſagte er
beim Abſteigen erſt zum Bey und dann auch zu mir.


„Choſch geldin-ſen, effendi — ſei willkommen, Herr!“
antwortete Ali. „Welcher Wunſch führt dich zu mir?“


„Der Wunſch meiner Krieger, welche kein Brot zu
eſſen haben.“


Das war ohne alle Einleitung geſprochen. Ali lächelte
leiſe.


„Ich mußte das erwarten. Aber haſt du dir gemerkt,
daß ich Brot nur gegen Waffen verkaufe?“


[91]

„So ſagteſt du; aber du wirſt dennoch Geld nehmen!“


„Was der Bey der Dſcheſidi ſagt, das weiß er auch
zu halten. Du brauchſt Speiſe, und ich brauche Waffen
und Munition. Wir tauſchen, und ſo iſt uns beiden dann
geholfen.“


„Du vergiſſeſt, daß ich die Waffen und die Munition
ſelbſt brauche!“


„Und du vergiſſeſt, daß ich des Brotes ſelbſt bedarf!
Es ſind viele tauſend Dſcheſidi bei mir verſammelt; ſie
alle wollen eſſen und trinken. Und wozu brauchſt du die
Waffen? Sind wir nicht Freunde?“


„Doch nur bis zum Schluſſe des Waffenſtillſtandes!“


„Wohl auch noch länger. Emir, ich bitte dich, ihm
den Brief des Gouverneur einmal vorzuleſen!“


„Iſt ein Brief von ihm angekommen?“ fragte der
Oberſtlieutenant ſchnell.


„Ja. Ich ſandte einen Boten, welcher jetzt zurück-
gekommen iſt. Lies, Emir!“


Ich las das Schreiben, welches ich noch bei mir
hatte, vor. Ich glaubte, in der Miene des Kaimakam
eine Enttäuſchung zu bemerken.


„So wird alſo Friede zwiſchen uns werden!“ meinte er.


„Ja,“ antwortete der Bey. „Und bis dahin wirſt
du dich freundlich zu uns verhalten, wie dir der Mu-
teſſarif noch beſonders gebietet.“


„Beſonders?“


„Er hat einen Brief beigelegt, den ich dir geben ſoll.“


„Einen Brief? Mir?“ rief der Offizier. „Wo
iſt er?“


„Der Emir hat ihn. Laß ihn dir geben!“


Schon ſtand ich im Begriff, ihm das Schreiben hin-
zureichen; aber die Haſt, mit welcher er danach langte,
machte mich denn doch ſtutzig.


[92]

„Erlaube, daß ich ihn dir vorleſe!“


Ich las, aber nur bis zu der letzten Bemerkung,
welche meinen Verdacht ſo ſehr erregt hatte. Doch da
fragte er:


„Iſt dies alles? Steht weiter nichts da?“


„Noch zwei Zeilen. Höre ſie!“


Ich las nun bis zu Ende und hielt dabei den Blick
halb auf ihn gerichtet. Nur einen kurzen Moment lang
öffneten ſich ſeine Augen weiter als gewöhnlich, aber ich
wußte nun ſicher, daß dieſer Satz irgend eine uns unbe-
kannte Bedeutung habe.


„Dieſer Brief gehört mir. Zeige ihn her!“


Bei dieſen Worten griff er ſo ſchnell zu, daß ich
kaum Zeit behielt, meine Hand mit dem Papiere zurück-
zuziehen.


„Warum ſo eilig, Kaimakam?“ fragte ich, ihn voll
anſehend. „Haben dieſe Zeilen etwas ſo ſehr Wichtiges
zu bedeuten, daß du deine ganze [Selbſtbeherrſchung] ver-
lierſt?“


„Nichts, gar nichts haben ſie zu bedeuten; aber dieſes
Schreiben iſt doch mein!“


„Der Muteſſarif hat es dem Bey geſandt, und auf
dieſen allein kommt es an, ob er es dir geben oder dich
nur mit dem Inhalte bekannt machen will.“


„Er hat es dir ja bereits geſagt, daß ich den Brief
erhalten ſoll!“


„Da dieſes Papier dir ſo wichtig zu ſein ſcheint,
trotzdem du ſeinen Inhalt bereits kennſt, ſo wird er mir
erlauben, es zuvor einmal genau zu betrachten.“


Mein Verdacht hatte ſich noch mehr befeſtigt. An-
ſtatt gehoben zu werden, war er bereits zu einer be-
ſtimmten Vermutung geworden. Ich hielt das Papier
mit ſeiner Fläche ſenkrecht zwiſchen das Auge und die
[93] Sonne; ich konnte nichts Auffälliges bemerken. Ich be-
fühlte und beroch es, aber ohne Erfolg. Nun hielt ich
es wagrecht ſo, daß ich die darauf fallenden Sonnen-
ſtrahlen mit dem Auge auffing, und da endlich zeigten ſich
mir mehrere, allerdings nur einem ſehr ſcharfen Blicke
bemerkbare Stellen, welche zwar mit der Farbe des Papiers
beinahe verſchwammen, aber dennoch die Geſtalt von
Schriftzeichen zu haben ſchienen.


„Du wirſt das Papier nicht bekommen!“ ſagte ich
zum Kaimakam.


„Warum nicht?“


„Weil es eine geheime Schrift enthält, welche ich
unterſuchen werde.“


Er verfärbte ſich.


„Du irrſt, Effendi!“


„Ich ſehe es genau!“ Und um ihn zu verſuchen, fügte
ich hinzu: „Dieſe geheime Schrift wird zu leſen ſein, wenn
ich das Papier in das Waſſer halte.“


„Thue es!“ antwortete er mit einer ſichtbaren Genug-
thuung.


„Du haſt dich durch die Ruhe deiner Worte verraten,
Kaimakam. Ich werde das Papier nun nicht in das
Waſſer, ſondern über das Feuer halten.“


Ich hatte es getroffen; das erkannte ich an dem nicht
ganz unterdrückten Erſchrecken, welches ſein zu offenes
Geſicht überflog.


„Du wirſt den Brief ja dabei verbrennen und zer-
ſtören!“ mahnte er.


„Trage keine Sorge! Ein Effendi aus dem Abend-
lande weiß mit ſolchen Dingen recht wohl umzugehen.“


Der Bey war ganz erſtaunt.


„Glaubſt du wirklich, daß dieſer Brief eine verbor-
gene Schrift enthält?“


[94]

„Laß ein Feuer anmachen, ſo werde ich es dir be-
weiſen!“


Noch war Pali zugegen. Auf einen Wink Alis ſuchte
er dürre Aeſte zuſammen und ſteckte ſie in Brand. Ich
kauerte mich nieder und hielt das Papier vorſichtig über
die Flammen. Da that der Kaimakam einen ſchnellen
Sprung auf mich zu und ſuchte es mir zu entreißen. Ich
hatte das erwartet, wich ebenſo ſchnell zur Seite, und er
fiel ſtrauchelnd zu Boden. Sofort kniete Ali Bey auf ihm.


„Halt, Kaimakam!“ rief er; „du biſt falſch und treu-
los; du biſt jetzt zu mir gekommen, ohne dich vorher
meines Schutzes zu verſichern, und ich mache dich zu mei-
nem Gefangenen!“


Der Offizier wehrte ſich, ſo gut er es vermochte, aber
wir waren ja drei gegen einen, und zudem kamen auch
andere Dſcheſidi, welche in der Nähe gehalten hatten,
herbei. Er wurde entwaffnet, gebunden und in das Zelt
geſchafft.


Nun konnte ich mein Experiment vollenden. Die
Flamme erhitzte das Papier beinahe bis zum Verſengen,
und nun kamen ſehr deutliche Worte zum Vorſcheine,
welche an dem Rande der Zeilen ſtanden.


„Ali Bey, ſiehſt du, daß ich recht hatte?“


„Emir, du biſt ein Zauberer!“


„Nein; aber ich weiß, wie man ſolche Schriften
ſichtbar machen kann.“


„O, Effendi, die Weisheit der Nemtſche iſt ſehr groß!“


„Hat der Muteſſarif dieſes Zauberſtück nicht ebenſo
verſtanden? Es giebt Stoffe, aus denen man eine Tinte
machen kann, welche nach dem Schreiben verſchwindet und
mit einem andern Mittel gezwungen wird, wieder ſichtbar
zu werden. Die Wiſſenſchaft, welche dieſe Mittel kennt,
heißt Chemie oder Scheidekunſt. Sie wird bei uns mehr
[95] gepflegt als bei euch, und darum haben wir auch beſſere
Mittel als ihr. Wir kennen viele Arten von geheimen
Schriften, welche ſehr ſchwer zu entdecken ſind; die euren
aber ſind ſo einfach, daß keine große Klugheit dazu gehört,
eure unſichtbaren Worte ſichtbar zu machen. Rate einmal,
womit dieſe Worte geſchrieben worden ſind.“


„Sage es!“


„Mit Harn.“


„Unmöglich!“


„Wenn du mit dem Harne eines Tieres oder eines
Menſchen ſchreibſt, ſo verſchwindet die Schrift, ſobald ſie
eingetrocknet iſt. Hältſt du das Papier dann über das
Feuer, ſo werden die Züge ſchwarz, und du kannſt ſie
leſen.“


„Wie lauten dieſe Worte?“


Ich komme übermorgen, um zu ſiegen.“


„Iſt dies wahr? Irreſt du dich nicht?“


„Hier ſteht es deutlich!“


„Wohlan, ſo gieb mir dieſen Brief!“


Er ging in großer Erregung einige Male auf und
ab; dann blieb er wieder vor mir ſtehen.


„Iſt dies Verrat oder nicht, Emir?“


„Es iſt Heimtücke.“


„Soll ich dieſen Muteſſarif vernichten? Es liegt in
meiner Hand!“


„Du wirſt es dann mit dem Padiſchah zu thun be-
kommen!“


„Effendi, die Ruſſen haben ein Wort, welches lautet:
‚der Himmel iſt hoch, und der Zar iſt weit.‘ So iſt es
auch mit dem Padiſchah. Ich werde ſiegen!“


„Aber du wirſt viel Blut vergießen. Sagteſt du mir
nicht kürzlich, daß du den Frieden liebſt?“


„Ich liebe ihn, aber man ſoll ihn mir auch laſſen!


[96]

Dieſe Türken kamen, um uns die Freiheit, das Eigentum
und das Leben zu rauben; ich habe ſie dennoch geſchont.
Jetzt ſpinnt man neuen Verrat. Soll ich mich nicht
wehren?“


„Du ſollſt dich wehren, aber nicht mit dem Säbel!“


„Womit ſonſt?“


„Mit dieſem Briefe. Tritt mit demſelben vor den
Muteſſarif, und er wird beſiegt und geſchlagen ſein.“


„Er wird mir einen Hinterhalt legen und mich ge-
fangen nehmen, wenn ich morgen nach Dſcherraijah gehe!“


„Wer hindert dich, dasſelbe auch mit ihm zu thun?
Er iſt dir ſicherer als du ihm, denn er hat keine Ahnung,
daß du ſeine Abſichten kennſt.“


Ali Bey ſah eine ganze Weile nachdenklich vor ſich
nieder; dann antwortete er:


„Ich werde mich mit Mir Scheik Khan beſprechen.
Willſt du mit mir nach dem Thale Idiz reiten?“


„Ich reite mit.“


„Vorher aber will ich dieſe Menſchen da unten un-
ſchädlich machen. Tritt nicht mit ein, ſondern erwarte
mich hier!“


Warum ſollte ich ihn nicht in das Zelt begleiten?
Seine Hand lag am Dolche, und ſein Auge blickte ent-
ſchloſſen. Wollte er mich verhindern, eine raſche That
zu verhüten? Ich ſtand wohl eine halbe Stunde allein,
und während dieſer Zeit hörte ich die zornigen Töne einer
ſehr erregten Unterhaltung. Endlich kam er wieder. Er
hatte ein Papier in der Hand und gab es mir.


„Lies! Ich will hören, ob es ohne Falſchheit iſt.“


Es enthielt die kurze, gemeſſene Weiſung an die be-
fehligenden Offiziere, alle Waffen und auch die Munition
ſofort an diejenigen Dſcheſidi zu übergeben, deren An-
führer dieſen Befehl vorzeige.


[97]

„Es iſt richtig. Aber wie haſt du das erlangt?“


„Ich hätte ihn und den Makredſch ſofort erſchießen
laſſen und die Kanonade begonnen. In einer Stunde
wären wir mit ihnen fertig geweſen.“


„Nun bleibt er gefangen?“


„Ja. Er wird mit dem Makredſch bewacht.“


„Und wenn ſich die Seinen nicht fügen?“


„So werde ich meine Drohung wahr machen. Bleibe
hier, bis ich zurückkehre, und du wirſt ſehen, ob mich die
Türken reſpektieren.“


Er erteilte noch einige Befehle und ſtieg dann nach
der Batterie hinab. In der Zeit von zehn Minuten
waren alle Dſcheſidi kampfbereit. Die Schützen lagen mit
aufgenommenen Schießgewehren in ihren Verſtecken, und
die Artilleriſten ſtanden zum Schuſſe fertig bei den Ge-
ſchützen. Ihre Verſchanzung öffnete ſich, um gegen zwei-
hundert Dſcheſidi und wohl an die dreißig Mauleſel
durchzulaſſen. Dieſe Tiere beſtanden meiſt aus denen,
die wir mit den Kanonieren gefangen genommen hatten.
Der Zug blieb in einiger Entfernung halten, während
der Anführer desſelben vorſchritt und den Platz aufſuchte,
wo ſich die Offiziere der Oſmanen befanden.


Ich konnte von meinem Standpunkte aus dies alles
ſehr genau beobachten. Es gab eine ziemlich lange Zeit
der Verhandlung. Dann jedoch traten die Soldaten in
Trupps zuſammen, welche einer nach dem andern bis in
die Nähe der Maultiere vormarſchierten, um dort die
Waffen abzulegen. Dies lief nun allerdings nicht ganz
glatt und ruhig ab, beſonders da auch ſämtliche Chargen
gezwungen waren, ſich von Säbel und Piſtole zu trennen;
aber es blieb nur bei leeren Kraftworten, da die Türken
wußten, daß jeder thatſächliche Widerſtand mit Kartätſchen
gebrochen werden ſolle.


II. 7
[98]

Ali Bey war kaum eine Stunde lang entfernt ge-
weſen, ſo kehrte er zurück. Ihm folgten die mit den
Waffen beladenen Maultiere, deren Treiber beordert
waren, die koſtbare Beute nach dem Thale Idiz zu bringen.
Auch der Kaimakam wurde von einigen Kriegern in Sicher-
heit gebracht. Man führte ihn dorthin, wo der Makredſch
das Glück hatte, die Geſellſchaft des dicken Artilleriehaupt-
mannes und ſeines tapfern Lieutenants zu genießen. Er
konnte mit dieſen beiden auf Beförderung warten und
unterdeſſen „Tabak aus Schiras“ rauchen.


Nun machten auch wir uns auf den Weg. Halef
ritt mit. Mein Baſchi-Bozuk war nicht zu ſehen; jeden-
falls hatte er aus Langeweile ſeinen Eſel ſpazieren ge-
ritten. Auf dem Wege nach dem Thale Idiz begegneten
wir einer langen Reihe zurückkehrender Dſcheſidi. Sie
hatten ihren Beitrag zum Baue des Grabmales geleiſtet
und ſollten nun zu demſelben Zwecke eine gleiche Anzahl
ihrer Gefährten ablöſen. Sie teilten uns mit, daß der
Bau raſch vor ſich ſchreite.


Als wir den Eingang erreichten, bot ſich uns das
Bild eines ſehr bewegten Lebens dar. In der Mitte des-
ſelben war eine große Anzahl von Frauen verſammelt,
die auf großen, flachen Steinen Mehl aus Körnern be-
reiteten; andere ſaßen an Gruben, die ſie durch Feuer
erhitzten, um Brot zu backen; noch andere machten Fackeln
oder richteten die Lampen und Laternen, die man vor-
geſtern aus Scheik Adi mitgenommen hatte, zu der bevor-
ſtehenden Feier her. Am regſamſten aber ging es im
oberen Teile des Thales zu, wo das Grabmal errichtet
wurde. Es ſtellte eine ungeheure Felspyramide dar, deren
hintere Seite ſich an die ſteile Wand des Felſens lehnte.
Das Fundament beſtand aus großen Blöcken, deren Trans-
port und Aufbau jedenfalls bedeutenden Kraftaufwand
[99] gekoſtet hatte. In der Mitte der vorausſichtlichen Höhe
war ein hohler Raum gelaſſen, der die Geſtalt einer
zwölfſtrahligen Sonne hatte und von deren Mittelpunkt
die Urne aufgenommen werden ſollte. Mehrere hundert
Männer arbeiteten daran, und noch mehr Frauen und
Kinder waren beſchäftigt, Steine herbeizuwälzen, oder
hingen wie Eichhörnchen an den Vorſprüngen der Felſen-
wand, um von oben herab dem Baue förderlich zu ſein.


Die Prieſter waren teils mit der Beaufſichtigung des
Werkes beſchäftigt, teils legten ſie ſelbſt mit Hand an.
Mir Scheik Khan ſaß in der Nähe der Pyramide. Wir
gingen zu ihm. Ali Bey erzählte ihm die heutigen Vor-
kommniſſe und zeigte ihm auch die beiden Schreiben des
Muteſſarif. Der Khan verſank in tiefes Nachdenken;
dann aber fragte er:


„Was wirſt du thun, Ali Bey?“


„Du biſt der ältere und der weiſere; ich komme, mir
deinen Rat zu erbitten.“


„Du ſagſt, ich ſei der ältere. Das Alter liebt die
Ruhe und den Frieden. Du ſagſt, ich ſei der weiſere.
Die größte Weisheit iſt der Gedanke an den Allmächtigen
und Allgütigen. Er macht den Schwachen ſtark; er be-
ſchützt den Unterdrückten; er will nicht, daß der Menſch
das Blut ſeines Bruders vergieße.“


„Sind dieſe Türken unſere Brüder? Sie, die wie
wilde Tiere über uns und die Unſerigen herfallen?“


„Sie ſind unſere Brüder, obgleich ſie nicht als Brüder
an uns handeln. Töteſt du einen Bruder, der dir übel
will?“


„Nein.“


„Du ſprichſt mit ihm freundlich oder ſtreng, aber du
forderſt nicht ſein Leben. So ſollſt du auch mit dem
Muteſſarif reden.“


[100]

„Und wenn er nicht auf mich hört?“


„Der Allerbarmer gab dem Menſchen den Verſtand,
um zu denken, und ein Herz, um zu fühlen. Wer nicht
die Rede eines andern überdenkt, und wer nicht die Ge-
fühle ſeines Bruders empfindet, der hat den Erbarmenden
verlaſſen und verleugnet, und dann, erſt dann darf der
Zorn und die Strafe über ihn kommen.“


„Mir Scheik Khan, ich werde nach deinen Worten
handeln!“


„So wiederhole ich meine Frage: Was wirſt du
thun?“


„Ich werde mit zehn Männern nach Dſcherraijah
gehen, mir aber genug Krieger folgen laſſen, um den
Muteſſarif gefangen zu nehmen. Vorher aber, bereits
noch heute werde ich Kundſchafter nach Moſſul, Kufjund-
ſchik, Telkeif, Baaweiza, Ras ul Aïn und Khorsabad
ſenden, die mich rechtzeitig von ſeinen Plänen benach-
richtigen werden. Ich werde in Liebe mit ihm reden,
dann mit Strenge, wenn er nicht hört. Achtet er auch
dann nicht auf mich, ſo laſſe ich ihn ſeinen geheimen Brief
ſehen und gebe das Zeichen, ihn zu ergreifen. Während
ich bei ihm bin, werden meine Männer Dſcherraijah um-
ringen. Er kann mir nicht entgehen.“


„Vielleicht wird er auch Kundſchafter ſenden, um zu
erfahren, wie du dich auf die Zuſammenkunft mit ihm
vorbereiteſt.“


„Er wird nichts erfahren, denn meine Leute werden
bereits während der Nacht von hier abgehen, und zwar
nicht auf der Straße über Baadri, ſondern rechts bis faſt
nach Bozan hinüber. Sie werden am Morgen am Bache
im Weſten von Dſcherraijah ſein.“


„Und wer wird während deiner Abweſenheit in Scheik
Adi befehligen?“


[101]

„Willſt du es thun?“


„Ich will.“


Das klang ſo einfach. Hier übergab der weltliche
Beherrſcher der Dſcheſidi ihrem geiſtlichen Regenten ſeine
Gewalt ohne die leiſeſte Regung einer kleinlichen Eifer-
ſucht, ohne alles Mißtrauen und Bedenken. „Willſt du?“
fragte der eine. „Ich will,“ antwortete der andere.
Welchen Klang mag wohl das Wort „Kulturkampf“ in
einem der Dialekte dieſer Teufelsanbeter haben!


Es wurde nun die Verproviantierung der in Scheik
Adi eingeſchloſſenen Türken beſprochen und dann das heu-
tige Feſt. Unterdeſſen wanderte ich von Gruppe zu Gruppe,
um einen oder den andern ſprachlichen Fund zu thun.
Da kam es hinter mir heran gekeucht, und eine nach Atem
ſchnappende Stimme rief:


„Weiche aus, Sihdi!“


Ich wandte mich um. Es war mein Halef, der ſeine
ganze Körperkraft anſtrengte, ein mächtiges Felsſtück vor
ſich herzurollen.


„Was thuſt du hier?“ fragte ich erſtaunt.


„Mein Beitrag zum Monument.“


„Wird er angenommen? Du biſt ja kein Dſcheſidi!“


„Sehr gern! Ich habe gefragt.“


„So hole ich auch einen Stein!“


Nicht weit von unſerm Standorte lag ein ziemlicher
Felsbrocken. Ich legte die Waffen und das Oberkleid
ab und machte mich daran, ihn fortzuſchaffen. Er wurde
von den Scheiks mit Dank angenommen und, nachdem ich
mit dem Dolche meinen Namen eingegraben hatte, mit
Anwendung von Seilen emporgezogen, wo er ſeine Sellung
grad über der Sonne bekam.


Mittlerweile hatte Ali Bey den Zweck ſeines Be-
ſuches erreicht. Er wollte wieder aufbrechen und fragte
[102] mich, ob ich ihn gerner begleiten oder lieber hier bleiben
wolle.


„Wie werde ich die Feierlichkeit am beſten beobachten
können?“


„Wenn du mit mir geheſt,“ antwortete er. „Die
Urne wird heute abend beim Glanze der Fackeln und Later-
nen von Scheik Adi nach dem Thale Idiz übergeführt.“


„Ich denke, ſie iſt bereits hier!“


„Nein. Sie ſteht am kühlen Waſſer im Walde und
wird erſt in das Heiligtum gebracht.“


„Trotz der Türken?“


„Sie können uns nicht hindern.“


„So reite ich mit.“


„Du haſt bis zum Abend Zeit. Willſt du mir eine
Liebe erweiſen?“


„Gern, im Falle es mir möglich iſt!“


„Du weißt, daß ich dem Häuptling der Badinan-
Kurden Gewehre verſprochen habe. Wirſt du den Ort fin-
den, wo er ſeine Hütten hat?“


„Sehr leicht. Jedenfalls braucht man gar nicht bis
dorthin zu reiten, da er den Paß und die Seitenthäler
beſetzen wollte. Es wird übrigens an der Zeit ſein, ihm
einmal Nachricht zu geben.“


„Willſt du dies übernehmen?“


„Ja.“


„Und ihm ſeine Gewehre bringen?“


„Wenn du ſie mir anvertrauſt!“


„Er ſoll hundert haben und auch Munition dazu.
Drei Maultiere können dies tragen. Wie viele Männer
wünſcheſt du als Begleitung?“


„Iſt ein Angriff oder ſonſt eine Feindſeligkeit zu er-
warten?“


„Nein.“


[103]

„Gieb mir zehn Krieger mit. Ich werde auch Moham-
med Emin mitnehmen, der dort von der Höhe kommt.“


Ich hatte vorhin erfahren, daß der Scheik der Hadde-
dihn auf die Jagd gegangen ſei. Ich war überhaupt in
den letzten Tagen gar nicht mit ihm zuſammengetroffen.
Er wollte ſich ſo wenig wie möglich zeigen, damit ſeine
Anweſenheit nicht öffentlich zur Sprache komme, und er
hatte wohl auch ſein Vorurteil gegen die Teufelsanbeter
nicht ganz überwunden. Darum war es ihm lieb, daß er
mit mir gleich wieder aufbrechen konnte.


Es währte nur kurze Zeit, ſo waren die Maultiere
beladen, und unſer kleiner Zug ſetzte ſich in Bewegung.
Zunächſt hielten wir auf Scheik Adi zu, und dann wichen
wir links ab, um den Weg nach Kaloni zu gewinnen.
Meine Vermutung beſtätigte ſich; ich traf eine Anzahl
der Badinankurden bereits auf der erſten Höhe hinter
Scheik Adi und wurde von ihnen zu ihrem Häuptlinge
geführt, der mich dieſes Mal mit ſehr großer Ehrerbietung
empfing. Ich mußte bei ihm bleiben, um ein Mahl ein-
zunehmen, das uns ſein Weib bereitete. Er war mit
den Gewehren ſehr zufrieden und zeigte ſich ganz beſon-
ders erfreut über den Säbel des Kaimakam, den Ali Bey
mir als Extrageſchenk für ihn mitgegeben hatte. Moham-
med Emin fand an den Badinankurden ein ſolches Wohl-
gefallen, daß er ſich entſchloß, hier zurückzubleiben und
mich zu erwarten, obgleich er nicht Kurdiſch verſtand. Ich
verſuchte nicht, ihm abzuraten, da ſeine Anweſenheit in
Scheik Adi doch noch von den Türken bemerkt und dann
der eigentliche Zweck unſers Rittes in die Berge gefährdet
werden konnte. Ich kehrte alſo ohne ihn zurück.


Der Tag war doch ſo ziemlich vergangen, als ich
wieder bei Ali Bey anlangte und ihm von den Badinan
berichtete. Ich bemerkte, daß die Türken ſich mehr nach
[104] der Mitte des Thales zurückgezogen und das Heiligtum
alſo freigegeben hatten.


„Wann beginnt die Feier?“ fragte ich den Bey.


„Sobald es dunkel geworden iſt. Nimm deine Ge-
wehre mit; es wird viel geſchoſſen.“


„Gieb mir eins von den deinigen. Ich muß meine
Patronen ſchonen, die ich hier nicht durch neue erſetzen
kann.“


Ich war wirklich ſehr neugierig auf dieſe Begräbnis-
feierlichkeit, deren Zeuge ich werden ſollte. Es war ja
ſehr leicht möglich, daß vor mir noch niemals ein Europäer
dem Begräbniſſe eines der angeſehenſten Teufelsanbeter
beigewohnt hatte. Ich ſaß an der Kante des Thales und
blickte hinab, bis ſich die Schatten der Nacht niederſenkten.
Da leuchteten rundum die Wachtfeuer wieder auf, und
zugleich wuchs über dem Heiligtume langſam eine Doppel-
pyramide von Lichtern empor, grad ſo wie am erſten
Abend, den ich in Scheik Adi zugebracht hatte. Die beiden
Thüren des Grabmales wurden mit Lampen behangen.


„Komm!“ ermunterte mich Ali Bey, der mit einigen
Bevorzugten zu Pferde ſtieg.


Der Baſchi-Bozuk blieb zurück. Halef begleitete uns.
Wir ritten in das Thal hinab und langten vor dem
Heiligtume an, welches vollſtändig erleuchtet worden war.
Der Platz vor demſelben wurde von einer doppelten Reihe
bewaffneter Dſcheſidi eingeſchloſſen, um jedem Türken den
Zutritt zu verſagen. Im Heiligtume ſelbſt befand ſich
nur Mir Scheik Khan mit den Prieſtern; andern außer
Ali Bey und mir war der Eintritt nicht geſtattet. Im
innern Hofe ſtanden zwei eng neben einander gekoppelte
Maultiere, die ein quer über ihre Rücken liegendes Geſtell
trugen, auf welchem die Urne befeſtigt war. Um dieſe
beiden Tiere hatten die Prieſter einen Kreis gebildet. Sie
[105] begannen bei unſerm Erſcheinen in ſehr langſamem Tempo
einen monotonen Geſang, in welchem die Worte „dſchan
dedim — ich gebe meine Seele hin“ ſehr oft wiederkehrten.
Nach demſelben wurden die Maultiere mit Waſſer aus
dem heiligen Brunnen getränkt und erhielten einige Hand-
voll Körner, um anzudeuten, daß der, den ſie trugen, eine
weite Reiſe vor ſich habe. Nun machte der Mir Scheik
Khan einige Zeichen mit der Hand, deren Bedeutung ich
nicht verſtand, und jetzt begann ein zweiter Geſang, leiſe
und harmoniſch. Er hatte vier Abſätze, deren jeder mit
den Worten: „Tu Chode dehabini, keif inim — du liebſt
Gott, genieße Ruhe“ begann. Leider verſtand ich zu wenig
Kurdiſch, um das Ganze begreifen und merken zu können.


Als dieſer Geſang beendet war, gab der Khan ein
Zeichen. Er ſtellte ſich an die Spitze; zwei Scheiks nahmen
die Maultiere am Zügel; ihnen folgten paarweiſe die an-
dern Scheiks und Kawals, denen ſich Ali Bey mit mir
anſchloß. Der Zug ſetzte ſich in Bewegung und wurde,
als er aus dem Heiligtume trat, von einer Salve der
Wachehaltenden empfangen.


Sofort krachten auf den Höhen Hunderte von Schüſſen,
und aber Hunderte trugen die Botſchaft, daß wir aufge-
brochen ſeien, dem Thale Idiz entgegen.


Wir zogen langſam zur Höhe empor. Als wir den
Weg nach dem Thale erreichten, bot ſich uns ein zaube-
riſcher Anblick dar. Die Dſcheſidi hatten von Scheik Adi
bis Idiz ein Spalier gebildet, deſſen Doppelglieder un-
gefähr dreißig Schritte auseinander ſtanden. Jeder dieſer
Männer trug eine Fackel und eine Flinte, und jedes dieſer
Glieder ſchloß ſich unter Abfeuern der Gewehre hinter
uns an. So bildete ſich ein Zug, der mit jedem Augen-
blicke und mit jedem Schuſſe immer länger wurde. Das
Licht der Fackeln ſchmückte den dunkeln Wald, welcher
[106] hier meiſt aus hohen Eichen beſtand, mit unbeſchreiblichen
Tinten, und der Donner der Salven wurde von den
dunkeln Gründen des tiefen Forſtes ununterbrochen zurück-
geworfen.


Wahrhaft überwältigend aber wurde das Schauſpiel,
als wir endlich das Thal erreichten. Dasſelbe ſchien der
mächtige Krater eines Vulkanes zu ſein, in deſſen Grunde
rieſige Flammen loderten, zwiſchen denen Tauſende von
Geiſtern mit Leuchten und Lichtern irrten. Ein mehr-
tauſendſtimmiger Ruf hieß uns willkommen und in der
Zeit einiger Sekunden hatten ſich ſämtliche Lichter zu bei-
den Seiten der Thalſohle geordnet. Der große, weite
Keſſel war förmlich tageshell erleuchtet. Das größte Licht
aber verbreiteten zwei gigantiſche Feuer, deren Flammen,
von rieſigen Scheiterhaufen genährt, zu beiden Seiten der
Felſenpyramide an der nackten Wand des Thales empor-
kletterten. Es überkam mich jenes „ſüße Grauen,“ wel-
ches, wohlthuend und niederbeugend zu gleicher Zeit, das
Menſchenherz ergreift, ſobald etwas Erhabenes hereingreift
in die Grenzen unſerer kleinen inneren Welt.


Wir zogen den Abhang hinunter, zwiſchen dem wallen-
den Meere der Fackeln hindurch, und hielten vor dem
Denkmale. In der ſonnenförmigen Aushöhlung desſelben
ſtanden zwei Prieſter, deren weiße Gewänder von dem
dunkeln Geſtein lebhaft abſtachen. Hoch oben hatten ſich
mehrere Männer poſtiert, welche die Seile hielten, an
denen die Urne emporgezogen werden ſollte.


Sobald die Maultiere vor der Pyramide anlangten,
verſtummten die Schüſſe; es trat eine tiefe Stille ein. Die
Urne wurde abgeladen und an die Seile befeſtigt. Ein
anderes Seil, unten an die Urne gebunden, diente dazu,
das zerbrechliche Gefäß von den Steinen abzuhalten. Der
Mir Scheik Khan winkte, und die Seile wurden ange-
[107] zogen. Die Urne ſchwebte höher und höher und erreichte
die Sonne. Die Prieſter griffen zu und zogen ſie hinein.
Sie wurde von ihnen aufgeſtellt, und dann hingen ſie ſich
ſelbſt an die Seile, um herabgelaſſen zu werden.


Nun gab der Khan das Zeichen, daß er ſprechen
wolle. Er hielt eine kurze Rede. Seine langſam, deutlich
und ſehr laut geſprochenen Worte klangen über das ganze
Thal dahin, und obgleich ich die wenigſten derſelben ver-
ſtand, fühlte ich mich doch unter dem Eindrucke des außer-
gewöhnlichen Vorganges tief ergriffen. Als er geendet
hatte, begann der Chor der Prieſter einen freudigen Ge-
ſang, von welchem ich nur den Refrain der einzelnen
Teile verſtehen konnte: „Ro dehele — die Sonne geht
auf.“ Bei dem letzten Tone erhoben alle die Hände, und
da krachte aus allen Gewehren eine Salve, wie ich eine
ſolche noch nie gehört hatte.


Damit war die eigentliche Feierlichkeit beendet. Nun
aber begann ſich das Leben erſt zu regen. Es giebt nichts,
womit ich dieſe Nacht im Thale Idiz vergleichen könnte,
dieſe Nacht der Flammen und Fackeln zwiſchen himmelan
ſtrebenden Felſen, dieſe Nacht der Fragen und Klagen
unter den Verachteten und Geſchmähten, dieſe Nacht unter
den Bekennern einer Anbetungsform, deren Grundzug in
der irre geleiteten und daher unbefriedigten Sehnſucht nach
jenem Lichte beſteht, das einſt den drei Scheiks leuch-
tete, die, vielleicht aus dem nämlichen Lande, in dem ich
mich jetzt befand, nach Bethlehem pilgerten, um vor der
Krippe das Bekenntnis abzulegen: „Wir haben im Mor-
genlande ſeinen Stern geſehen und ſind gekommen, ihn
anzubeten.“


Ich ſaß bei den Prieſtern bis lange nach Mitter-
nacht; dann erloſchen die Fackeln, und die Feuer fielen
zuſammen. Nur die beiden Flammen am Denkmale brann-
[108] ten noch, als ich mich unter einem Baume in meinen
Burnus wickelte, um den Schlaf zu ſuchen. Da oben ſtand
die Urne mit den Gebeinen des „Heiligen“. Dieſer „Merd-
es-Scheïtan“ war der Unterrichtetſte unter allen ſeinen
Glaubensgenoſſen, und dennoch hatte er den rechten Weg
zur Wahrheit nicht finden können.


Wie glücklich ſind jene zu preiſen, deren Wiege be-
reits an dieſem Wege ſteht, und doch wie ſchwer wird es
ihnen oft, dieſes Glück zu erkennen und zu ſchätzen! Ich
ſchloß die Augen, und es gelang mir endlich, einzuſchla-
fen; aber ich träumte von Fackelzügen und Salven, von
Scheiterhaufen und Urnen, aus denen Gerippe ſtiegen, die
mich, den Chriſten, mit Grinſen umtanzten. Sie wollten
mich ergreifen; da aber erſchien der Pir Kamek, wehrte
ſie von mir ab und ſagte:


„Er hat ein heiliges Kitab, darinnen geſchrieben ſteht:
‚Oghuldſchikler, ſizi oranizde ſewyn-iz — Kindlein, liebet
euch untereinander!‘“ — — —


[109]

Zweites Kapitel.
Dojan.



Preſter Johann, von Gottes und unſers Herrn
Jeſu Chriſti Gnaden König der Könige, an Alexios
Komnenos
, Statthalter zu Konſtantinopel. Geſundheit
und glückliches Ende.


Unſere Majeſtät hat in Erfahrung gebracht, daß du
von unſerer Herrlichkeit gehört haſt und daß dir über
unſere Größe Mitteilungen gemacht worden ſind. Was
wir zu wünſchen wiſſen, iſt, ob du mit uns am wahren
Glauben hängſt und in allen Dingen an unſern Herrn
Jeſum Chriſtum glaubſt.


Wenn du zu wiſſen wünſcheſt die Größe und Herr-
lichkeit unſerer Macht und welchen Umfang unſere Länder
haben, ſo wiſſe und glaube, ohne zu zweifeln, daß wir
ſind Preſter Johann, der Diener Gottes: daß wir an
Reichtum alles unter dem Himmel und an Tugend und
Macht alle Könige der Erde übertreffen. Siebenzig Könige
ſind uns zinspflichtig. Wir ſind ein frommer Chriſt und
beſchützen und unterſtützen mit Almoſen jeden armen Chri-
ſten, der ſich in dem Bereiche unſerer Gnade befindet.
Wir haben ein Gelübde gethan, das Grab unſers Herrn,
wie es ſich für den Ruhm unſerer Majeſtät gebührt, mit
einer großen Armee zu beſuchen und gegen die Feinde des
Kreuzes Chriſti Krieg zu führen, ſie zu demütigen und
ſeinen heiligen Namen zu erhöhen.


[110]

Unſere Herrlichkeit regiert über die drei Indien, und
unſere Beſitzungen gehen über das äußerſte Indien hinaus,
in welchem der Körper des heiligen Apoſtels Thomas
ruht; von dort aus über die Wildnis, welche ſich nach
dem Aufgange der Sonne zu erſtreckt, und geht rückwärts,
nach Sonnenuntergang zu, bis Babylon, das verlaſſene,
ja ſogar bis zum Turme zu Babel.


Zweiundſiebenzig Provinzen gehorchen uns, von denen
einige chriſtliche Provinzen ſind, und jede hat ihren eigenen
König. Und alle ihre Könige ſind uns zinspflichtig. In
unſern Ländern werden Elefanten, Dromedare und Ka-
mele gefunden, und faſt alle Arten von Tieren, die es
unter dem Himmel giebt. In unſern Ländern fließt Milch
und Honig. In einem Teile unſeres Staates kann kein
Gift ſchaden; in einem andern wachſen alle Arten von
Pfeffer; ein anderer iſt ſo dicht mit Hainen verſehen, daß
er einem Walde gleicht, und er iſt in allen Teilen voller
Schlangen. Dort iſt auch eine ſandige See ohne Waſſer.
Drei Tagereiſen von dieſer See entfernt ſind Gebirge,
von denen Ströme von Steinen herabkommen. In der
Nähe dieſer Gebirge befindet ſich eine Wüſte zwiſchen
unwirtbaren Hügeln. Unter dieſen fließt ein unterirdiſcher
Bach, zu dem kein Zugang iſt, und dieſer Bach fällt in
einen größeren Fluß, in den Leute aus unſern Beſitzungen
hineingehen und Edelſteine in großem Ueberfluſſe darin
finden. Ueber dieſen Fluß hinaus wohnen zehn Stämme
Juden, welche, obgleich ſie behaupten, ihre eigenen Könige
zu haben, deſſenungeachtet unſere Diener und uns zins-
pflichtig ſind.


In einer andern unſerer Provinzen, in der Nähe
der heißen Zone, ſind Würmer, welche in unſerer Sprache
Salamander genannt werden. Dieſe Würmer können nur
im Feuer leben und machen ein Gehäuſe um ſich herum,
[111] wie die Seidenwürmer. Dieſes Gehäuſe wird von unſern
Palaſtdamen fleißig geſponnen, und es giebt die Zeuge zu
unſern Kleidern. Es kann aber nur im hellen Feuer ge-
waſchen werden.


Vor unſerer Armee werden dreizehn große Kreuze
von Gold und Edelſteinen hergetragen; wenn wir aber
ohne Staatsgefolge ausreiten, wird nur ein Kreuz, welches
nicht mit Figuren, Gold und Juwelen geziert iſt, damit wir
immer unſeres Herrn Jeſu Chriſti eingedenk ſeien, und
eine mit Gold gefüllte Silbervaſe, damit alle Leute wiſſen,
daß wir der König der Könige ſind, vor uns hergetragen.


Alljährlich beſuchen wir den Leib des heiligen Daniel,
welcher in Babylon in der Wüſte iſt. Unſer Palaſt iſt
von Ebenholz und von Schittimholz und kann vom Feuer
nicht beſchädigt werden. An jedem Ende ſeines Daches
ſind zwei goldene Aepfel, und in jedem Apfel zwei Kar-
funkel, damit das Gold bei Tage ſcheinen und die Kar-
funkel bei Nacht leuchten mögen. Die größeren Thore
ſind von mit Horn gemiſchtem Sardonyx, damit niemand
mit Gift eintreten könne; die kleineren ſind von Ebenholz.
Die Fenſter aber ſind von Kryſtall. Die Tiſche ſind von
Gold und Amethyſt, und die Säulen, welche ſie tragen,
von Elfenbein. Das Zimmer, in welchem wir ſchlafen,
iſt ein wundervolles Meiſterſtück aus Gold, Silber und
jeder Art von Edelſteinen. In ihm brennt beſtändig
Weihrauch. Unſer Bett iſt von Saphir. Wir haben die
ſchönſten Frauen. Täglich unterhalten wir dreißigtauſend
Menſchen, außer den gelegentlichen Gäſten. Und alle dieſe
beziehen täglich Summen aus unſerer Kämmerei zur Unter-
haltung ihrer Pferde und zu anderweitiger Verwendung.
Während jedes Monats werden wir von ſieben Königen
(von jedem der Reihe nach), von fünfundſechzig Herzogen
und von dreihundertfünfundſechzig Grafen bedient. In
[112] unſerem Saale ſpeiſen täglich zu unſerer Rechten zwölf
Erzbiſchöfe und zu unſerer Linken zwanzig Biſchöfe, außer-
dem noch der Patriarch von Sankt Thomas, der Proto-
papas von Salmas und der Archiprotopapas von Suſa,
in welcher Stadt der Thron unſeres Ruhmes und unſer
kaiſerlicher Palaſt ſich befindet. Aebte, der Zahl nach
mit den Tagen des Jahres im Einklange, verwalten das
geiſtliche Amt vor uns in unſerer Kapelle. Unſer Mund-
ſchenk iſt ein Primas und König; unſer Haushofmeiſter
iſt ein Erzbiſchof und ein König; unſer Kammerherr iſt
ein Biſchof und ein König; unſer Marſchall iſt ein Archi-
mandrit und ein König, und unſer Küchenmeiſter iſt ein
Abt und ein König; wir aber nehmen einen niedrigeren
Rang und einen demütigeren Namen an, auf daß wir
unſere große Demut zeigen.“ — —


So lautet im Auszuge ein Brief, den der berühmte,
aber geſchichtlich vielleicht doch fragliche Tartarenkönig
Presbyter Johann an den griechiſchen Kaiſer geſchrie-
ben hat oder doch geſchrieben haben ſoll. Mag der Brief
untergeſchoben ſein oder nicht, er enthält neben verſchie-
denen beluſtigenden Merkwürdigkeiten, die ihren Grund
in den falſchen Anſchauungen früherer Jahrhunderte haben,
doch auch Thatſachen und Einzelheiten, welche von Marco
Polo, Sir John Mandeville und andern Reiſenden oder
Forſchern beſtätigt worden ſind, und ich wurde lebhaft
an ihn erinnert, als ich jetzt auf der öſtlichen Höhe von
Scheik Adi hielt und einen Blick nach Morgen richtete,
wo ſich die Berge von Surgh, Zibar, Haïr, Tura Ghara,
Baz, Dſchelu, Tkhoma, Karitha und Tijari erhoben.


In den Thälern, welche zwiſchen ihnen liegen, wohnen
die letzten jener chriſtlichen Sektierer, denen dieſer Tar-
tarenkönig angehörte. Zu ſeiner Zeit waren ſie mächtig
und einflußreich; die Sitze ihrer Metropolitanen lagen
[113] über den ganzen aſiatiſchen Kontinent zerſtreut, von den
Küſten des kaſpiſchen Meeres bis zu den chineſiſchen Seen
und von den allernördlichſten Grenzen Skythiens bis zum
äußerſten ſüdlichen Ende der indiſchen Halbinſel. Sie
waren die Ratgeber Mohammeds und ſeiner Nachfolger.
Die chriſtlichen Anklänge des Kuran ſind meiſt ihren
Büchern und Lehren entnommen. Aber mit dem Falle
der Khalifen brach auch ihre Macht zuſammen und zwar
mit reißender Schnelligkeit; denn ihre innere, geiſtliche
Konſtitution entbehrte der göttlichen Reinheit, welche die
Kraft eines unbeſiegbaren Widerſtandes verleiht. Bereits
unter der Regierung des Kaſſan, der ein Sohn des Arghun
und ein Enkel des berühmten Eroberers von Baghdad,
Hulaku Khan, war, begannen die Verfolgungen gegen ſie.
Dann aber brach der große Tamerlan unbarmherzig über
ſie herein. Mit unerſättlicher Wut verfolgte er ſie, zer-
ſtörte ihre Kirchen und brachte alle, denen es nicht gelang,
in die unzugänglichen Berge Kurdiſtans zu entkommen,
mit dem Schwerte um. Die Urenkel dieſer Entkommenen
leben noch heute an Plätzen, die Feſtungen verglichen
werden können. Sie, die Ueberreſte des einſt ſo mächtigen
aſſyriſchen Volkes, ſehen allzeit das Schwert der Türken
und den Dolch der Kurden über ſich ſchweben und haben
in neuerer Zeit Grauſamkeiten zu ertragen gehabt, bei
deren Erzählung ſich die Haare ſträuben. Einen großen
Teil der Schuld daran haben jedenfalls jene überſeeiſchen
Miſſionäre zu tragen, die ihren Schul- und Bethäuſern
das Anſehen von Fortifikationen gaben und dadurch das
Mißtrauen der dortigen Machthaber erweckten. Damit
und durch ähnliche Unvorſichtigkeiten haben ſie ſowohl
ihrem Werke als auch den Anhängern desſelben gleich
großen Schaden bereitet.


Auf meinem Ritt nach Amadijah kam ich voraus-
II. 8
[114] ſichtlich auch in Ortſchaften, die von dieſen chaldäiſchen
Chriſten bewohnt wurden; Grund genug, an jenen Brief
zu denken, der ihre Vergangenheit am lebhafteſten illu-
ſtriert. Einſt Miniſter und Berater von Fürſten und
Khalifen, ſind ſie jetzt, ſoweit ſie nicht zur heiligen chriſt-
katholiſchen Kirche zurückgekehrt ſind, ſo ohne alle innere
und äußere Kraft, daß Männer wie der berüchtigte Beder
Khan Bey und ſein Verbündeter Abd el Summit Bey die
fürchterlichſten Metzeleien unter ihnen anrichten konnten,
ohne den geringſten Widerſtand zu finden. Und doch
hätte das ſchwer zugängliche Terrain, das ſie bewohnen,
ihnen die erfolgreichſte Verteidigung an die Hand gegeben.


Wie ungleich männlicher hatten ſich dagegen die
Dſcheſidi verhalten!


Nach jener Flammennacht im Thale Idiz war Ali
Bey nach Dſcherraijah geritten, ſcheinbar nur von zehn
Männern begleitet. Aber noch vor ſeinem Aufbruche hatte
er eine hinreichende Anzahl von Kriegern in die Nähe von
Bozan vorausgeſandt.


Der Muteſſarif war wirklich mit einer gleich großen
Begleitung eingetroffen, aber Ali Bey hatte durch ſeine
Kundſchafter erfahren, daß zwiſchen Scio Khan und Ras
ul Aïn eine beträchtliche Truppenmacht zuſammengezogen
worden ſei, um noch desſelben Tages nach Scheik Adi
vorzugehen. Auf dieſe Kunde hin hatte er den Muteſſarif
einfach einſchließen laſſen und zum Gefangenen gemacht.
Um ſeine Freiheit wieder zu erhalten, hatte dieſer ſich nun
gezwungen geſehen, alle hinterliſtigen Pläne aufzugeben
und die friedlichen Vorſchläge des Bey einzugehen.


Die Folge davon war, daß das unterbrochene Feſt
der Dſcheſidi wieder aufgenommen und mit einem Jubel
begangen wurde, deſſen Zeuge Scheik Adi wohl noch nie
geweſen war.


[115]

Nach Ablauf dieſer Feſte wollte ich nach Amadijah
aufbrechen, erfuhr aber, daß Mohammed Emin ſich in den
Bergen von Kaloni den Fuß vertreten hatte, und ſo war
ich gezwungen, drei Wochen lang ſeine Wiederherſtellung
abzuwarten. Indes ging mir dieſe Zeit nicht ungenützt
vorüber, da ſie mir die höchſt willkommene Gelegenheit
bot, mich mit dem Kurdiſchen vertrauter als bisher zu
machen.


Endlich benachrichtigte mich der Haddedihn durch
einen Boten, daß er zum Aufbruche bereit ſei, und ſo
hatte ich mich in aller Frühe aufgemacht, um ihn bei
dem Häuptlinge der Badinankurden abzuholen. Mein
Abſchied von den Dſcheſidi war ein herzlicher, und ich
mußte verſprechen, auf der Rückkehr noch einige Tage
bei ihnen zu verweilen. Zwar hatte ich mir jede Beglei-
tung verbeten, aber Ali Bey ließ es ſich nicht nehmen,
mich wenigſtens zu den Badinan zu bringen, um auch
Mohammed Emin lebewohl ſagen zu können.


Jetzt alſo hielten wir auf der öſtlichen Höhe von
Scheik Adi und ließen die Ereigniſſe der letzten Wochen
an uns vorüberfliegen. Was werden die nächſten Tage
bringen? Je weiter nach Nordoſt hinauf, deſto wilder
werden die Bergvölker, die keinen Ackerbau kennen und
nur von Raub und Viehzucht leben. Ali Bey mochte
mir dieſen Gedanken von der Stirn ableſen.


„Emir, du gehſt beſchwerliche und gefährliche Wege,“
meinte er. „Wie weit hinauf willſt du in die Berge?“


„Zunächſt nur bis nach Amadijah.“


„Du wirſt noch weiter müſſen.“


„Warum?“


„Dein Werk in Amadijah mag gelingen oder nicht,
ſo bleibt die Flucht dein Los. Man kennt den Weg, wel-
chen der Sohn Mohammed Emins einzuſchlagen hat, um
[116] zu ſeinen Haddedihn zu gelangen, und man wird ihm
denſelben verlegen. Wie willſt du dann reiten?“


„Ich werde mich nach den Umſtänden zu richten haben.
Wir könnten nach Süden gehen und auf dem Zab Ala
oder zu Pferde längs des Akra-Fluſſes entkommen. Wir
könnten auch nach Norden gehen, über die Berge von
Tijari und den Maranan-Dagh, und dann den Khabur
und den Tigris überſchreiten, um durch die Salzwüſte
nach dem Sindſchar zu kommen.“


„In dieſen Fällen aber werden wir dich niemals
wiederſehen!“


„Gott lenkt die Gedanken und Schritte des Men-
ſchen; ihm ſei alles anheimgeſtellt!“


Wir ritten weiter. Halef und der Baſchi-Bozuk folg-
ten uns. Mein Rappe hatte ſich weidlich ausruhen kön-
nen. Er hatte früher nur Balahat-Datteln gefreſſen und
ſich jetzt an anderes Futter gewöhnen müſſen, war mir
aber doch faſt ein wenig zu fleiſchig geworden und zeigte
einen Ueberfluß an Kräften, ſo daß ich ihn derb zwiſchen
die Schenkel nehmen mußte. Ich war übrigens halb neu-
gierig und halb beſorgt, wie er ſich bewähren werde, wenn
es gälte, die Schneeberge Kurdiſtans zu überwinden.


Wir langten bald bei den Badinan an und wurden
von ihnen mit gaſtlicher Fröhlichkeit empfangen. Moham-
med Emin war reiſefertig, und nachdem wir noch ein
Stündchen geplaudert, geſchmauſt und geraucht hatten,
brachen wir auf. Ali Bey gab uns allen, und mir zu-
letzt, die Hand. Im Auge ſtand ihm eine Thräne.


„Emir, glaubſt du, daß ich dich lieb habe?“ fragte
er bewegt.


„Ich weiß es; aber auch ich ſcheide in Wehmut von
dir, den meine Seele lieb gewonnen hat.“


„Du gehſt von hinnen, und ich bleibe; aber meine
[117] Gedanken werden dich begleiten, meine Wünſche werden
weilen in den Spuren deiner Füße. Du haſt Abſchied
genommen von dem Mir Scheik Khan, aber er hat mir
ſeinen Segen mitgegeben, daß ich ihn im Augenblicke des
Scheidens auf dein Haupt legen ſoll. Gott ſei mit dir
und bleibe bei dir zu aller Zeit und auf allen Wegen;
ſein Zorn treffe deine Feinde, und ſeine Gnade erleuchte
deine Freunde! Du gehſt großen Gefahren entgegen, und
der Mir Scheik Khan hat dir ſeinen Schutz verſprochen.
Er ſendet dir dieſen Melek Ta-us, damit er dir als Talis-
man diene. Ich weiß, du hältſt dieſen Vogel nicht für ein
Götzenbild, ſondern für ein Zeichen, an welchem du als
unſer Freund erkannt wirſt. Jeder Dſcheſidi, welchem du
dieſen Ta-us zeigeſt, wird für dich ſein Gut und ſein Leben
opfern. Nimm dieſe Gabe, aber vertraue ſie keinem andern
an, denn ſie iſt für dich allein beſtimmt! Und nun lebe
wohl, und vergiß nie diejenigen, welche dich lieben!“


Er umarmte mich, ſtieg dann ſchnell auf ſein Pferd
und ritt, ohne ſich umzuſehen, von dannen. Es war mir,
als ſei ein Stück meines Herzens mit ihm davongegangen.
Es war ein großes, ein ſehr großes Geſchenk, das mir
der Mir Scheik Khan durch ihn gemacht hatte. Wie viel
iſt über das Vorhandenſein eines Melek Ta-us geſtritten
worden! Und hier hatte ich dieſes rätſelhafte Zeichen in
meiner eignen Hand. Es war ein ganz ungewöhnliches
Vertrauen, deſſen mich der Khan würdigte, und es ver-
ſtand ſich ganz von ſelbſt, daß ich mich der Figur nur im
äußerſten Notfalle bedienen würde.


Sie war aus Kupfer und ſtellte einen Vogel dar,
der ſeine Schwingen zum Fluge entfaltete, und auf dem
unteren Teile zeigte ſich das Kurmangdſchi-Wort „Hemd-
ſcher“, d. i. Freund oder Genoſſe, eingegraben. Eine ſeidene
Schnur diente dazu, ſie um den Hals zu befeſtigen.


[118]

Die Badinan wollten uns eine Strecke weit das Ge-
leit geben; ich mußte es geſtatten, machte aber die Be-
dingung, daß ſie bei ihrem Dorfe Kalahoni umkehren
ſollten. Dieſes liegt vier Stunden von Scheik Adi ent-
fernt. Seine Häuſer waren faſt ausnahmslos aus Stein
gebaut und hingen wie rieſige Vogelneſter zwiſchen den
Weingärten hoch über dem Flußbette des Gomel. Sie
erhielten ein ſehr durables Ausſehen durch die rieſigen
Steinblöcke, welche als Oberſchwellen der Thüren und als
Ecken des Gebäudes dienten.


Hier wurde Ade geſagt, dann ritten wir zu vieren
weiter.


Auf einem ſehr ſteilen Wege, der unſern Tieren
große Beſchwerden bereitete, erreichten wir das kleine
Dörfchen Bebozi, das auf dem Gipfel einer bedeutenden
Höhe liegt. Es giebt hier eine katholiſche Kirche, denn
die Einwohner gehören zu den Chaldäern, die bekehrt
worden ſind. Wir wurden von ihnen ſehr freundlich auf-
genommen und erhielten unentgeltlich Trank und Speiſe.
Sie wollten mir einen Führer mitgeben; da ich dies aber
ablehnte, ſo wurde mir der Weg zum nächſten Orte ſo
genau beſchrieben, daß wir ihn gar nicht verfehlen konnten.


Er führte uns zunächſt längs der Höhe hin durch
einen Wald von Zwergeichen und ſtieg dann in das Thal
hinab, in welchem Cheloki liegt. In dieſem Orte machten
wir einen kurzen Halt, und ich nahm den Baſchi-Bozuk vor:


„Buluk Emini, höre, was ich dir ſage!“


„Ich höre es, Emir!“


„Der Muteſſarif von Moſſul hat dir den Befehl
gegeben, für alles zu ſorgen, was ich brauchen werde.
Du haſt mir bisher noch keinen Nutzen gebracht; von
heute an aber wirſt du deines Amtes warten.“


„Was ſoll ich thun, Effendi?“


[119]

„Wir werden dieſe Nacht in Spandareh bleiben. Du
reiteſt voraus und trägſt Sorge, daß bei meiner Ankunft
alles für mich bereitet iſt. Haſt du mich verſtanden?“


„Sehr gut, Emir!“ antwortete er mit amtlicher
Würde. „Ich werde eilen, und wenn du kommſt, wird
dich das ganze Dorf mit Jubel empfangen.“


Er ſtieß ſeinem Eſel die Ferſen in die Seiten und
trollte von dannen.


Von Cheloki bis hinüber nach Spandareh iſt nicht
weit, aber doch brach die Nacht bereits herein, als wir
dieſes große Kurdendorf erreichten. Es hat ſeinen Namen
von der großen Anzahl von Pappeln, die dort vor-
kommen; denn Spidar, Spindar und auch Spandar heißt
im Kurmangdſchi die Weißpappel. Wir fragten nach der
Wohnung des Kiajah, erhielten aber ſtatt einer Antwort
nur grimmige Blicke.


Ich hatte meine Frage türkiſch ausgeſprochen; jetzt
wiederholte ich ſie kurdiſch, indem ich nach dem Malkoe-
gund, welches Dorfälteſter bedeutet, fragte. Dies machte
die Leute augenblicklich willfähriger. Wir wurden vor
ein größeres Haus geführt, wo wir abſtiegen und ein-
traten. In einem der Räume wurde ein ſehr lautes Ge-
ſpräch geführt, das wir ſehr deutlich hören konnten. Ich
blieb ſtehen und horchte.


„Wer biſt du, du Hund, du Feigling?“ rief eine
zornige Stimme. „Ein Baſchi-Bozuk biſt du, der auf
einem Eſel reitet. Das iſt für dich eine Ehre, für den
Eſel aber eine Schande; denn er trägt einen Kerl, der
dümmer iſt, als er. Und du kommſt herbei, mich hier zu
vertreiben!“


„Wer biſt denn du, he?“ antwortete die Stimme
meines tapfern Ifra. „Du biſt ein Arnaute, ein Gurgel-
abſchneider, ein Spitzbube! Dein Maul ſieht aus wie das
[120] Maul eines Froſches, deine Augen ſind Krötenaugen;
deine Naſe gleicht einer Gurke, und deine Stimme klingt
wie das Schreien einer Wachtel! Ich bin ein Buluk Emini
des Großherrn; was aber biſt denn du? Ein Khawaß,
ein einfacher Khawaß, weiter nichts.“


„Menſch, ich drehe dir das Geſicht auf den Rücken,
wenn du nicht ſchweigeſt! Was geht dich meine Naſe an?
Du haſt gar keine! Du ſagſt, dein Gebieter ſei ein ſehr
großer Effendi, ein Emir, ein Scheik des Abendlandes?
Man darf nur dich betrachten, dann weiß man, wer er
iſt! Und du kommſt, mich hier fortzujagen?“


„Und wer iſt denn dein Gebieter? Auch ein großer
Effendi aus dem Abendlande, ſagſt du? Ich aber ſage
dir, daß es im ganzen Abendlande nur einen einzigen
großen Effendi giebt, und das iſt mein Herr. Merke dir
das!“


„Hört,“ begann eine dritte Stimme ſehr ernſt und
ruhig; „ihr habt mir zwei Effendi angemeldet. Der eine
hat eine Schrift vom Onſul *) der Franken, die vom
Muteſſarif unterzeichnet worden iſt; das gilt. Der andere
aber iſt im Giölgeda padiſchahnün; er hat Schriften vom
Onſul, vom Großherrn, vom Muteſſarif und hat auch
das Recht auf den Diſch-paraſſi; das gilt noch mehr.
Dieſer letztere wird hier bei mir wohnen; für den an-
dern aber werde ich eine Schlafſtätte in einem andern
Hauſe bereiten laſſen. Der eine wird alles umſonſt er-
halten; der andere aber wird alles bezahlen.“


„Das leide ich nicht!“ klang die Stimme des Ar-
nauten. „Was dem einen geſchieht, das wird dem andern
auch geſchehen!“


„Höre, ich bin hier Nezanum **) und Gebieter; was
[121] ich ſage, das gilt, und kein Fremder hat mir Vorſchriften
zu machen. Söjle-dim — ich habe geſprochen!“


Jetzt öffnete ich die Thür und trat mit Mohammed
Emin ein.


„Ivari 'l kher — guten Abend!“ grüßte ich. „Du
biſt der Herr von Spandareh?“


„Ich bin es,“ antwortete der Dorfälteſte.


Ich deutete auf den Buluk Emini.


„Dieſer Mann iſt mein Diener. Ich habe ihn zu
dir geſandt, um mir deine Gaſtfreundſchaft zu erbitten.
Was haſt du beſchloſſen?“


„Du biſt der, welcher unter dem Schutze des Groß-
herrn ſteht und das Anrecht auf den Diſch-paraſſi hat?“


„Ich bin es.“


„Und dieſer Mann iſt dein Begleiter?“


„Mein Freund und Gefährte.“


„Habt ihr viele Leute bei euch?“


„Dieſen Buluk Emini und noch einen Diener.“


„Ser ſere men at — Ihr ſeid mir willkommen!“


Er erhob ſich von ſeinem Sitze und reichte uns die Hand
entgegen. „Setzt euch nieder an mein Feuer, und laßt
es euch in meinem Hauſe gefallen! Ihr ſollt ein Zimmer
bekommen, wie es euer würdig iſt. Wie hoch ſchätzeſt
du deinen Diſch-paraſſi?“


„Für uns beide und den Diener ſei er dir geſchenkt,
aber dieſem Baſchi-Bozuk wirſt du fünf Piaſter *) geben.
Er iſt der Beauftragte des Muteſſarif, und ich habe nicht
das Recht, ihm das Seinige zu entziehen.“


„Herr, du biſt nachſichtig und gütig; ich danke dir!
Es ſoll dir nichts mangeln an dem, was zu deinem Wohle
gehört. Doch erlaube, daß ich mich eine kleine Weile mit
dieſem Khawaſſen entferne!“


[122]

Er meinte den Arnauten. Dieſer hatte uns ſehr
finſter zugehört; jetzt nun zürnte er:


„Ich gehe nicht fort; ich verlange das gleiche Recht
für meinen Herrn!“


„So bleibe!“ meinte der Nezanum einfach. „Wenn
aber dein Gebieter keine Wohnung findet, ſo iſt es deine
Schuld.“


„Was ſind dieſe beiden Männer, welche ſagen, daß
ſie unter dem Schutze des Großherrn ſtehen? Araber ſind
es, welche in der Wüſte rauben und ſtehlen und hier in
den Bergen die Herren ſpielen — — —“


„Hadſchi Halef!“ rief ich laut.


Der kleine Diener trat ein.


„Halef, dieſer Khawaß wagt es, uns zu ſchmähen;
wenn er noch ein einziges Wort ſagt, welches mir nicht
gefällt, ſo gebe ich ihn in deine Hand!“


Der Arnaut, der bis unter die Zähne bewaffnet war,
blickte mit offenbarer Verachtung auf Halef herab.


„Vor dieſem Zwerge ſoll ich mich fürchten, ich, der
ich — —“


Er konnte nicht weiter ſprechen, denn er lag bereits
am Boden, und mein kleiner Hadſchi kniete über ihm, in
der Rechten den Dolch zückend und die Linke um ſeinen
Hals klammernd.


„Soll ich, Sihdi?“


„Es iſt einſtweilen genug; aber ſage ihm, daß er
verloren iſt, wenn er noch eine feindſelige Miene macht!“


Halef ließ ihn los, und er erhob ſich. Seine Augen
blitzten in zorniger Tücke, aber er wagte doch nichts zu
unternehmen.


„Komm!“ gebot er dem Dorfälteſten.


„Du willſt dir die Wohnung anweiſen laſſen?“ fragte
dieſer.


[123]

„Ja, einſtweilen. Wenn aber mein Herr angekom-
men iſt, dann werde ich ihn herbeiſenden, und es wird
ſich entſcheiden, wer in deinem Hauſe ſchläft. Er wird
auch richten zwiſchen mir und dieſem Diener der beiden
Araber!“


Sie gingen miteinander fort. Während der Abweſen-
heit des Nezanum leiſtete uns einer ſeiner Söhne Geſell-
ſchaft, und bald wurde uns geſagt, daß der Ort, an dem
wir ſchlafen ſollten, für uns bereitet ſei.


Wir wurden in ein Gemach geführt, in welchem
mittels Teppichen zwei weiche Lager bereitet waren; in
der Mitte desſelben aber hatte man das Abendeſſen ſer-
viert. Dieſe Schnelligkeit und das ganze Arrangement
ließen vermuten, daß der Dorfälteſte nicht zu den armen
Bewohnern des Ortes zählte. Sein Sohn ſaß bei uns,
nahm aber nicht teil am Mahle; es war dies eine Re-
ſpektserweiſung, auf welche wir uns etwas einbilden
konnten. Die Frau und eine Tochter des Vorſtehers be-
dienten uns.


Zunächſt wurde uns Scherbet gereicht. Wir tranken
ihn aus ſehr hübſchen Findſchani ferfuri *), hier in Kur-
diſtan eine ſehr große Seltenheit. Dann erhielten wir
Valquapamaſi, Weizenbrot in Honig gebraten, wozu der
dazu gebotene Findika **) allerdings nicht recht paſſen wollte.
Nun folgte ein junger Vizihn ***) mit Reisklößen, die in
feiner Brühe ſchwammen, dazu Bera aſch †) die ihrem
Namen vollſtändig entſprachen. Zwei kleine Braten,
welche die Fortſetzung bildeten, kamen mir recht appetitlich
vor. Sie waren recht ſchön „knuſperig“ gebräunt; ich
hielt ſie unbedingt für Tauben. Sie waren wirklich delikat,
[124] hatten aber doch einen Geſchmack, der mir etwas fremd
erſchien.


„Iſt dies Kewuk?“ *) fragte ich den jungen Mann.


„Nein. Es iſt Bartſchemik,“ **) antwortete er.


Hm! Eine recht hübſche gaſtronomiſche Ueberraſchung!
Jetzt trat der Vorſteher herein. Auf meine Einladung
ſetzte er ſich zu uns nieder und nahm teil an dem Mahle,
in deſſen ganzem Verlaufe auf einer blechernen Platte
duftendes Maſtir brannte. Jetzt, da der Hausherr zu-
gegen war, wurde die Hauptſchüſſel aufgetragen. Sie
enthielt Quapameh, Hammelbraten in ſaurer Sahne ge-
backen, und dazu wurde Reis gegeben, der mit Zwiebeln
abgeſotten war. Als wir zur Genüge davon gekoſtet hat-
ten, winkte der Vorſteher. Man brachte eine zugedeckte
Schüſſel, die er mit ſehr wichtiger Miene in Empfang
nahm.


„Rate, was das iſt!“ bat er mich.


„Zeige es!“


„Das iſt ein Gericht, welches du nicht kennſt. Es
iſt nur in Kurdiſtan zu haben, wo es ſtarke und mutige
Männer giebt.“


„Du machſt mich neugierig!“


„Wer es genießt, deſſen Kräfte verdoppeln ſich, und
er fürchtet ſich vor keinem Feinde mehr. Rieche einmal!“


Er öffnete den Deckel ein wenig und ließ mich den
Duft koſten.


„Dieſen Braten giebt es nur in Kurdiſtan?“ fragte ich.


„Ja.“


„Du irrſt; denn ich habe dasſelbe Fleiſch bereits ſehr
viele Male gegeſſen.“


„Wo?“


„Bei den Urus und den andern Völkern, beſonders
[125] aber in einem Lande, das Amerika genannt wird. Dort
wächſt das Tier viel größer und iſt auch viel wilder und
gefährlicher, als bei euch.“


„Du biſt es, der ſich irrt; denn nur hier in Kurdiſtan
lebt dieſes Tier.“


„Ich bin noch nie in Kurdiſtan geweſen und erkenne
dieſes Fleiſch doch bereits am Geruche; alſo muß ich es
auch ſchon in andern Ländern gegeſſen haben.“


„Was iſt es für ein Tier?“


„Es iſt Bär. Habe ich recht?“


„Ja wirklich, du kennſt es!“ rief er erſtaunt.


„Ich kenne es noch beſſer, als du meinſt. Ich habe
noch nicht in dieſe Schüſſel geblickt und wette dennoch
mit dir, daß das Fleiſch die Tatze vom Bären iſt!“


„Du haſt es erraten! Nimm und iß!“


Nun ging es an das Erzählen von Jagdgeſchichten.
Der Bär iſt in Kurdiſtan allerdings ſehr häufig anzu-
treffen, aber bei weitem nicht ſo gefährlich, wie der große
graue Petz von Nordamerika. Zu den gedämpften Bären-
tatzen gab es ein dickes Mus von gedörrten Birnen und
Pflaumen, dem ein gepanzertes Gericht folgte, nämlich
geſottene Krebſe, zu denen eine Zuſpeiſe gereicht wurde,
die mir ſehr fremd und kompliziert erſchien. Ich erlaubte
mir, mich zu erkundigen, und die Frau des Vorſtehers
gab mir bereitwillig Auskunft:


„Nimm Kürbiſſe und koche ſie zu Brei,“ meinte ſie.
„Thue Zucker und Butter dazu, rühre klaren Käſe und
geſchnittenen Knoblauch hinein und füge zerdrückte Maul-
beeren und weichgequollene Kerne von Sonnenblumen
hinzu. Dann haſt du dieſe Speiſe, welcher keine andere
gleichkommt!“


Ich koſtete dieſe unvergleichliche Miſchung von Kürbis
und Sonnenblume, Käſe und Zucker, Butter, Maulbeeren
[126] und Knoblauch und fand, daß der Geſchmack derſelben
nicht ſo ſchlimm war, wie der Klang der Ingredienzien.
Den Schluß des Mahles bildeten getrocknete Aepfel und
Weintrauben, zu denen ein Schluck Racki getrunken wurde.
Dann kamen die Tabakspfeifen zu ihrem Rechte.


Während wir den ſtarken, rauhen und nur wenig
fermentierten Tabak von Kelekowa in Brand ſteckten, ließ
ſich unten ein lautes Geſpräch vernehmen. Der Vorſteher
ging hinaus, um nach der Veranlaſſung desſelben zu ſehen,
und da er den Eingang offen ließ, konnten wir jedes
Wort vernehmen.


„Wer iſt da?“ fragte er.


„Was will er?“ hörte ich eine andere Stimme in
engliſcher Sprache fragen.


„Er fragt, wer da iſt,“ antwortete ein dritter, gleich-
falls engliſch.


„Was heißt türkiſch: ich?“


„Ben.“


Well! Ben!!!“ rief es dann zum Wirte herauf.


„Ben?“ fragte dieſer. „Wie iſt dein Name?“


„Was will er?“ fragte dieſelbe klappernde Stimme,
die mir ſo außerordentlich bekannt war, daß ich vor Ver-
wunderung über die Anweſenheit dieſes Mannes aufge-
ſprungen war.


„Er fragt, wie ſie heißen.“


„Sir David Lindſay!“ rief er herauf.


Im nächſten Augenblicke ſtand ich unten neben ihm
im Flur. Ja, da lehnte er vor mir, beleuchtet vom Feuer
des Herdes. Das war der hohe, graue Cylinderhut, der
lange, dünne Kopf, der breite Mund, die Sierra-Morena-
Naſe, der bloße, dürre Hals, der breite Hemdkragen, der
graukarrierte Schlips, die graukarrierte Weſte, der grau-
karrierte Rock, die graukarrierte Hoſe, die graukarrierten
[127] Gamaſchen und die ſtaubgrauen Stiefel. Und wahrhaftig,
da in der Rechten trug er die berühmte Hacke, welche die
edle Beſtimmung hatte, Fowling-bulls und andere Alter-
tümer zu inſultieren!


„Maſter Lindſay!“ rief ich aus.


Well! Ah, wer ſein? Oh — ah — Ihr ſeid es?!“


Er riß die Augen auf und den Mund noch viel mehr
und ſtaunte mich mit den genannten Organen wie einen
Menſchen an, der vom Tode erſtanden iſt.


„Wie kommt Ihr nach Spandareh, Sir?“ fragte ich,
beinahe ebenſo erſtaunt, wie er.


„Ich? Well! Geritten!“


„Natürlich! Aber was ſucht Ihr hier?“


„Ich? Oh! Hm! Euch und Fowling-bulls!“


„Mich?“


Yes! Werde erzählen. Vorher aber zanken!“


„Mit wem?“


„Mit Mayor, mit Bürgermeiſter von Dorf. Schau-
derhafter Kerl!“


„Warum?“


„Will nicht haben Engliſhman, will haben Araber!
Miſerabel! Wo iſt Kerl, he?!“


„Hier ſteht er,“ antwortete ich, auf den Aelteſten
zeigend, der unterdeſſen herbeigetreten war.


„Ihm zanken, räſonnieren!“ gebot Lindſay dem Dol-
metſcher, welcher neben ihm ſtand. „Mach Quarrel, mach
Scold, ſehr, laut, viel!“


„Erlaubt, Sir, daß ich dies übernehme,“ meinte ich.


„Die beiden Araber, über welche Ihr Euch ärgert, werden
Euch nicht im Wege ſein. Sie ſind Eure beſten Freunde.“


„Ah! Wo ſind?“


„Der eine bin ich, und der andere iſt Mohammed
Emin.“


[128]

„Moh — — — ah! Emin — — ah! Wo iſt?“


„Droben. Kommt mit herauf!“


Well! Ah, ganz außerordentlich, immenſe, unbe-
greiflich!“


Ich ſchob ihn ohne Umſtände die ſchmale Stiege
empor und wies ſowohl den Dolmetſcher als auch den
Arnauten, die uns folgen wollten, zurück. Bei den kur-
diſchen Damen erregte das Erſcheinen der langen, grau-
karrierten Geſtalt ein gelindes Entſetzen; ſie zogen ſich in
die entfernteſte Ecke zurück. Mohammed Emin aber, der
ſonſt ſo ernſthafte Mann, lachte laut, als er den dunklen
Krater erblickte, den der offene Mund des erſtaunten Eng-
länders bildete.


„Ah! Good day, Sir, Maſter Mohammed! How do
you do
— wie befinden Sie ſich?“


„Maſchallah! Wie kommt der Inglis hierher?“ fragte
dieſer.


„Wir werden es erfahren.“


„Kennſt du dieſen Mann?“ fragte mich der Herr des
Hauſes.


„Ich kenne ihn. Er iſt derſelbe Fremdling, welcher
ſeinen Khawaß vorhin ſandte, um bei dir zu bleiben. Er
iſt mein Freund. Haſt du eine Wohnung für ihn beſorgt?“


„Wenn er dein Freund iſt, ſo ſoll er in meinem
Hauſe bleiben,“ lautete die Antwort.


„Haſt du Raum für ſo viele Leute?“


„Für Gäſte, welche willkommen ſind, iſt immer Raum
vorhanden. Er mag Platz nehmen und ein Mahl ge-
nießen!“


„Setzt Euch, Sir,“ ſagte ich alſo zu Lindſay, „und
laßt uns wiſſen, was Euch auf den Gedanken gebracht
hat, die Weidegründe der Haddedihn zu verlaſſen und
nach Spandareh zu kommen!“


[129]

Well! Aber erſt verſorgen.“


„Was?“


„Diener.“


„Die mögen für ſich ſelbſt ſorgen, denn dazu ſind
ſie da.“


„Pferde.“


„Die werden von den Dienern verſorgt. Alſo, Maſter?“


„Hm! War tedious, fürchterlich langweilig!“


„Habt Ihr nicht gegraben?“


„Viel, ſehr viel.“


„Und etwas gefunden?“


Nothing, nichts, gar nichts! Fürchterlich!“


„Weiter!“


„Sehnſucht, ſchreckliche Sehnſucht!“


„Wonach?“


„Hm! Euch, Sir!“


Ich lachte.


„Alſo aus Sehnſucht nach mir!“


Well, very well, yes! Fowling-bulls nicht finden.
Ihr nicht da — ich fort.“


„Aber, Sir, wir hatten doch beſtimmt, daß Ihr bis
nach unſerer Rückkehr bleiben ſolltet!“


„Keine Geduld, nicht aushalten!“


„Es gab doch Unterhaltung genug!“


„Mit Arabern? Pſhaw! Mich nicht verſtehen!“


„Ihr hattet einen Dolmetſcher!“


„Fort, weg, ausgeriſſen.“


„Ah! Der Grieche, dieſer Kolettis iſt entflohen? Er
war doch verwundet!“


„Loch im Bein, wieder gewachſen. Halunke früh-
morgens weg!“


„Dann allerdings konntet Ihr Euch nicht gut ver-
ſtändlich machen. Wie aber habt Ihr mich gefunden?“


II. 9
[130]

„Wußte, daß Ihr nach Amadijah wolltet. Ging nach
Moſſul. Konſul gab Paß; Gouverneur unterſchrieb Paß,
gab Dolmetſcher mit und Khawaß. Ging nach Dohuk.“


„Nach Dohuk? Warum dieſen Umweg?“


„War Krieg mit Teufelsmännern; konnte nicht durch.
Von Dohuk nach Duliah und von Duliah nach Mun-
gayſchi. Dann hierher. Well! Euch finden. Sehr gut,
prachtvoll!“


„Aber nun?“


„Zuſammenbleiben, Abenteuer machen, ausgraben!
Fowling-bulls ſchicken, Traveller-Klub, London, yes!


„Schön, Maſter Lindſay! Aber wir haben jetzt andere
Dinge zu thun.“


„Was?“


„Ihr kennt doch den Grund, welcher uns nach Ama-
dijah führt!“


„Kenne ihn. Schöner Grund, tapferer Grund, Aben-
teuer! Maſter Amad el Ghandur holen. Werde ihn mit-
holen!“


„Ich glaube, daß Ihr uns nicht viel Nutzen bringen
würdet.“


„Nicht! Warum?“


„Ihr verſteht ja nur engliſch.“


„Habe Dolmetſcher!“


„Wollt Ihr ihn mit in das Geheimnis ziehen? Oder
habt Ihr vielleicht gar bereits davon geſprochen?“


„Kein Wort!“


„Das iſt gut, Sir, ſonſt wären wir ungemein ge-
fährdet. Ich muß Euch offen geſtehen, daß ich gewünſcht
habe, Euch erſt ſpäter wiederzuſehen.“


„Ihr? Mich? Well, ab! Habe geglaubt, daß Ihr
Freund von mir! Das aber nicht, folglich ab! Reiſe nach
— nach — nach — — —“


[131]

„Ins Pfefferland, ſonſt nirgends wo anders hin!
Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß Ihr mein Freund
ſeid, und ebenſo bin ich der Eurige; aber Ihr müßt doch
einſehen, daß Ihr uns Schaden bringt!“


„Schaden? Warum?“


„Ihr fallt zu ſehr auf!“


Well, nicht mehr auffallen! Was muß ich thun?“


„Hm, das iſt eine höchſt unangenehme Affaire!
Zurückſchicken kann ich euch nicht; hier laſſen kann ich
Euch nicht; ich muß Euch mitnehmen; wahrhaftig, es
geht nicht anders!“


„Schön, ſehr ſchön!“


„Aber Ihr müßt Euch nach uns richten.“


„Richten? Well, werde es!“


„Ihr jagt Euern Dolmetſcher und auch den Khawaß
fort.“


„Müſſen fort, zum Teufel, yes!


„Auch dieſe Kleidung muß fort!“


„Fort? Ah! Wohin?“


„Weg, ganz weg. Ihr müßt wie ein Türke oder
wie ein Kurde gehen.“


Er ſah mich mit einem unbeſchreiblichen Blicke an,
grad ſo, als ob ich ihm zugemutet hätte, ſich ſelbſt auf-
zuſpeiſen. Seine Mundſtellung wäre dazu wohl nicht
ungeeignet geweſen.


„Wie ein Türke? Wie ein Kurde? Horribel, ſchau-
derhaft!“


„Es geht nicht anders!“


„Was anziehen?“


„Türkiſche Pumphoſen oder ſchwarzrote kurdiſche Bein-
kleider.“


„Schwarzrot! Ah, ſchön, ſehr gut! Schwarz und rot
karriert!“


[132]

„Meinetwegen. Wie wollt Ihr Euch tragen? Als
Türke, oder als Kurde?“


„Kurde.“


„So müßt Ihr allerdings ſchwarzrot gehen; das iſt
die kurdiſche Leibfarbe. Alſo kurdiſche Hoſen. Eine Weſte,
ein Hemd, welches über die Hoſe getragen wird.“


„Schwarzrot?“


„Ja.“


„Karriert?“


„Meinetwegen! Es muß vom Hals bis auf die Knöchel
reichen. Dann einen Rock oder Mantel darüber.“


„Schwarzrot?“


„Natürlich!“


„Karriert?“


„Meinetwegen! Sodann einen Turban von der rie-
ſigen Größe, wie ihn vornehme Kurden zu tragen pflegen.“


„Schwarzrot?“


„Auch!“


„Karriert?“


„Meinetwegen!“


„Dann einen Gürtel, Strümpfe, Schuhe, Waffen — —“


„Schwarzrot?“


„Habe nichts dagegen!“


„Und karriert?“


„Laßt Euch meinetwegen auch noch das Geſicht ſchwarz-
rot karrieren!“


„Wo kaufen dieſe Sachen?“


„Da weiß ich ſelbſt keinen Rat. Einen Bazar finden
wir ja erſt in Amadijah. Vielleicht aber giebt es auch
hier einen Händler, denn Spandareh iſt ein großes Dorf.
Und — — — Ihr habt ja Geld, viel Geld, nicht?“


„Viel, ſehr viel, well! Werde alles bezahlen!“


„Werde einmal fragen.“


[133]

Ich wandte mich an den Vorſteher:


„Giebt es hier einen Urubadſchi *)?“


„Nein.“


„Giebt es einen Mann, der jetzt nach Amadijah reiten
und für dieſen Fremdling Kleider holen könnte?“


„Ja, aber der Bazar wird erſt morgen offen ſein,
und die Kleider können alſo erſt ſpät eintreffen.“


„Oder iſt ein Mann hier, der uns ein Kleid bis
Amadijah leihen würde?“


„Du biſt mein Gaſt; ich habe ein neues Panbukah **);
ich werde es ihm ſehr gern leihen.“


„Auch einen Turban?“


„Es giebt hier keinen, der zwei Turbane hätte; aber
eine Mütze kannſt du ſehr leicht erhalten.“


„Was für eine Art?“


„Ich gebe dir eine Kulik ***), die ihm paſſen wird.“


„Welche Farbe hat ſie?“


„Sie ſieht rot und hat ſchwarze Bänder.“


„So bitte ich dich, dies alles für morgen früh zu
beſorgen. Du giebſt uns einen Mann mit, den wir be-
zahlen. Wir werden ihm in Amadijah den Anzug für
dich zurückgeben. Aber ich wünſche, daß von dieſer Sache
nicht geſprochen werde!“


„Wir beide werden ſchweigen, ich und mein Bote!“


Jetzt kam das Nachtmahl für den Engländer. Er
bekam einige Reſte, welche wir übrig gelaſſen hatten und
denen ein neues Anſehen gegeben worden war. Er ſchien
nicht bloß Appetit, ſondern ſogar Hunger zu haben; denn
zwiſchen ſeinen langen, breiten, gelb glänzenden Zähnen
verſchwand der größte Teil deſſen, was ihm vorgelegt
[134] wurde. Mit innerlicher Genugthuung bemerkte ich, daß
man ihm auch einen jener kleinen Braten ſervierte, welche
ich für Tauben gehalten hatte. Er ließ nicht das kleinſte
Knöchelchen davon übrig. Später ſetzte man ihm unter
anderem einen zierlich gearbeiteten Holzteller vor, der ein
niedliches Gerichtchen enthielt, welches die Form eines
Beefſteak hatte und einen ſolchen Wohlgeruch verbreitete,
daß ich ſelbſt noch Appetit bekam, obgleich ich ganz gegen
meine ſonſtige Gewohnheit bereits ſehr reichlich gegeſſen
hatte. Ich mußte wiſſen, was dies war.


„Sidna, was iſt dies für ein ſchönes Gericht?“
fragte ich die Frau, welche den Engländer bediente.


„Es iſt Tſchekurdſchek *),“ antwortete ſie.


„Wie wird es bereitet?“


„Die Heuſchrecken werden geröſtet, klein geſtoßen und
in die Erde gelegt, bis ſie anfangen, zu riechen. Dann
habe ich den Teig in Olivenöl gebraten.“


Auch nicht übel! Ich nahm mir vor, dieſes höchſt
wichtige Recept meinem guten Maſter Fowling-bull nicht
lange vorzuenthalten. Während er noch aß, ging ich
hinab, um nach den Pferden zu ſehen. Sie waren wohl
verſorgt. Bei ihnen ſtanden Halef, der Dolmetſcher, der
Boluk Emini und der Arnaute, im heftigen Streite, der
aber bei meinem Erſcheinen ſofort abgebrochen wurde.


„Was zanket ihr, Halef?“ fragte ich dieſen.


Er deutete auf den Arnauten.


„Dieſer Menſch ſchändet dich, Sihdi. Er hat ge-
droht, dich und mich zu ermorden, weil ich ihn auf
deinen Befehl niedergeworfen habe.“


„Laß ihn reden! Thun wird er wohl nichts.“


Da legte der Arnaute die Hand an die Piſtole
und rief:


[135]

„Schweig, Menſch! Oder willſt du dich mit dieſen
deinen Knechten heute noch in der Dſchehenna treffen?“


„Tſchit-i, ker, werujem, ti ſzi ſzlep — ſei ſtill, Hund!
Ich glaube, du biſt vollſtändig blind!“ antwortete ich
ihm arnautiſch. „Siehſt du nicht die Gefahr, in welche
du dich begiebſt?“


„In welche?“ fragte er ganz verdutzt.


„Male ti pucſhke ne gadſchaju dobo — dieſe Piſtolen
treffen nicht gut!“ antwortete ich, auf ſeine Waffen deutend.


„Warum?“


„Budutſchi um-e-m öno bölje — weil ich es beſſer
kann!“


Zu gleicher Zeit hielt ich ihm meinen Revolver ent-
gegen. Ich hatte die Gewaltthätigkeit dieſer arnautiſchen
Soldaten genugſam kennen gelernt, um ſelbſt einen ſo ein-
fachen Fall nicht zu leicht zu nehmen. Der Arnaute
achtet das Leben eines Menſchen gleich nichts. Er ſchießt
wegen eines Schluck Waſſers einen andern ruhig nieder
und beugt dann dafür mit derſelben Ruhe ſein Haupt
unter das Schwert des Henkers. Wir hatten dieſen
Khawaß beleidigt; ein Schuß war ihm zuzutrauen. Den-
noch nahm er die Hand von den Piſtolen und fragte im
Tone der Verwunderung:


„Du ſprichſt die Sprache von Schkiperia *)?“


„Wie du hörſt!“


„Biſt du ein Schkipetar?“


„Nein.“


„Was ſonſt?“


„Ich bin ein Nematz **), und ich ſage dir, daß die
Leute aus Nemacſchka ***) es verſtehen, mit deinesgleichen
umzuſpringen.“


„Ein Nematz biſt du nur? Kein Madſchar, kein Rusz,
[136] kein Szrbin *) und kein Turcſchin? Obictz-i dſchawo-wraga
— fahre zum Teufel!“


Er erhob blitzſchnell die Piſtole und drückte los.
Hätte ich nicht das Auge feſt auf die Mündung der
Waffe gehalten, ſo wäre mir die Kugel in den Kopf ge-
gangen; ſo aber fuhr ich mit dem Kopf raſch zur Seite
nieder, und die Kugel ging über mich hinweg. Ehe er
den zweiten Lauf abfeuern konnte, hatte ich ihn unter-
laufen und preßte ihm die Arme an den Leib.


„Soll ich ihn erſchießen, Sihdi?“ fragte Halef.


„Nein. Bindet ihn!“


Um ſeine Arme nach hinten zu bekommen, mußte ich
ſie einen Augenblick freigeben. Das benutzte er, riß ſich
los und ſprang davon. Im nächſten Augenblicke war
er zwiſchen den Bäumen, welche die Häuſer trennten, ver-
ſchwunden. Alle Anweſenden eilten ihm nach, aber ſie
kehrten bald wieder zurück, ohne ihn geſehen zu haben.


Der Schuß hatte auch die andern herbeigelockt.


„Wer hat geſchoſſen, Sir?“ fragte Lindſay.


„Euer Khawaß.“


„Auf wen?“


„Auf mich.“


„Ah! Fürchterlich! Weshalb?“


„Aus Rache.“


„Iſt richtiger Arnaut! Hat getroffen?“


„Nein.“


„Ihn erſchießen, Sir; ſofort!“


„Er iſt entflohen.“


Well; laufen laſſen! Kein Schade!“


Damit hatte er allerdings ſehr recht. Der Arnaute hatte
mich nicht getroffen, warum alſo blutdürſtig ſein? Zurück
[137] kam er ſicherlich nicht wieder, und ein hinterliſtiger An-
fall ſtand wohl auch nicht zu befürchten. Der Engländer
brauchte nun, da er mich gefunden hatte, weder ihn noch
den Dolmetſcher, und ſo wurde auch dieſer letztere ab-
gelohnt, und zwar mit der Weiſung, daß er morgen früh
Spandareh verlaſſen und nach Moſſul zurückkehren könne.


Die übrige Zeit des Abends verbrachten wir mit
den Kurden in lebhafter Unterhaltung, die mit einem
Tanze ſchloß, der uns zu Ehren veranſtaltet wurde. Man
lud uns ein, in den Hof zu kommen. Dieſer bildete ein
Viereck, das von einem niederen Dache eingeſchloſſen
wurde, auf dem ſämtliche anweſende Männer Platz nah-
men. Hier lagen, hockten und knieten ſie in den maleriſch-
ſten Stellungen, während ſich gegen dreißig Frauen in
dem Hofraume zum Tanze verſammelt hatten.


Sie bildeten einen doppelten Kreis, in deſſen Mitte
ein Vortänzer ſtand, der einen Wurfſpieß ſchwang. Das
Orcheſter beſtand aus einer Flöte, einer Art von Geige
und zwei Tamburins. Der Vortänzer gab das Zeichen
zum Beginne durch einen lauten Ruf. Seine Tanzkunſt
beſtand aus den mannigfaltigſten Arm- und Beinbewe-
gungen, die er immer auf ein und derſelben Stelle aus-
führte. Der Kreis der Frauen ahmte dieſelben nach. Ich
fand nicht, daß dieſem einfachen Tanze irgend ein Ge-
danke, irgend eine Idee zu Grunde liege; aber dennoch
gewährten dieſe Frauen mit ihren eckigen Turbanmützen,
von denen lange, über den Rücken geſchlungene Schleier
herabwallten, bei der ungewiſſen Fackelbeleuchtung einen
ganz hübſchen Anblick.


Als dieſer einfache Tanz beendet war, gaben die
Männer ihre Zufriedenheit durch ein lautes Murmeln zu
erkennen, ich aber zog ein Armband hervor und rief
die Tochter des Vorſtehers, die mich beim Eſſen bedient
[138] hatte und ſich jetzt mit unter den Tänzerinnen befand,
zu mir herauf. Es beſtand aus gelben Glasſtücken und
hatte das täuſchende Anſehen jenes rauchigen, halbdurch-
ſichtigen Bernſteines, der im Oriente ſo beliebt, geſucht
und teuer iſt. Bei einem deutſchen Tabulettkrämer hätte
ich dieſes Armband mit fünfzig bis ſechzig Pfennigen be-
zahlt; hier aber richtete ich vorausſichtlich eine Freude
damit an, die mir bedeutend höher angerechnet wurde.


Das Mädchen kam herbei. Alle Männer hatten ge-
hört, daß ich ſie zu mir verlangte, und wußten, daß es
ſich um eine Belobigung handeln werde. Ich mußte der
Höflichkeit meiner Erzieher Ehre zu machen ſuchen.


„Komme herbei, du lieblichſte Tochter der Kurden
von Miſſuri! Auf deinen Wangen glänzt das Licht
Schefag *), und dein Antlitz iſt lieblich wie der Kelch
Sumbul **). Deine langen Locken duften wie der Hauch
Gulilik ***), und deine Stimme klingt wie der Geſang
Bulbuli †). Du biſt das Kind der Gaſtfreundſchaft, die
Tochter eines Helden, und wirſt die Braut eines weiſen
Kurden und eines tapferen Kriegers werden. Deine Hände
und Füße haben mich erfreut wie der Tropfen, der den
Durſtigen labt. Nimm dieſes Bazihn ††), und denke meiner,
wenn du dich damit ſchmückeſt!“


Sie errötete vor Freude und Verlegenheit und wußte
nicht was ſie antworten ſollte.


„Az khorbane ta, Hodia — ich bin dein eigen †††),
o Gebieter!“ liſpelte ſie endlich.


Dies iſt ein gebräuchlicher Gruß der kurdiſchen
Frauen und Mädchen, einem vornehmen Manne gegen-
über. Auch der Dorfälteſte war ſo erfreut über die ſeiner
Tochter gewordene Auszeichnung, daß er ſogar die orien-
[139] taliſche Zurückhaltung ganz vergaß und ſich das Geſchenk
reichen ließ, um es zu betrachten.


„O wie herrlich, wie koſtbar!“ rief er aus und ließ
das Armband ringsum von Hand zu Hand gehen. „Das
iſt Bernſtein, ſo guter, prächtiger Bernſtein, wie ihn der
Sultan nicht köſtlicher an ſeiner Pfeife trägt! Meine
Tochter, dein Vater kann dir keine ſolche Hochzeitsgabe
ſchenken, wie ſie dieſer Emir dir gegeben hat. Aus ſeinem
Munde ertönt die Stimme der Weisheit, und von den
Haaren ſeines Schnurrbartes träufelt die Güte. Frage
ihn, ob er es dir erlaubt, ihm ſo zu danken, wie eine
Tochter ihrem Vater dankt!“


Sie errötete noch mehr als vorhin; aber ſie fragte
dennoch:


„Erlaubſt du es, Herr?“


„Ich erlaube es.“


Da bog ſie ſich zu mir, der ich auf dem Boden ſaß,
hernieder und küßte mich auf den Mund und auf die
beiden Wangen; dann aber eilte ſie ſchnell davon.


Ich war über dieſe Art, ſeine Dankbarkeit zu be-
weiſen, nicht erſtaunt; denn ich wußte, daß es den
Mädchen der Kurden erlaubt iſt, Bekannte auch mit
einem Kuſſe zu begrüßen. Einem höher Stehenden gegen-
über würde eine ſolche Vertraulichkeit eine Beleidigung
ſein, und daher hatte ich eigentlich meine Güte verdoppelt,
indem ich den Kuß geſtattete. Dies ſprach der Vorſteher
auch ſofort aus.


„Emir, deine Gnade erleuchtet mein Haus, wie das
Licht der Sonne die Erde erwärmt. Du haſt meine
Tochter begnadigt, damit ſie ſich deiner erinnern möge;
erlaube, daß auch ich dir ein Andenken verehre, damit
du Spandareh nicht vergeſſen mögeſt!“


Er bog ſich über die Kante des Daches vor und rief
[140] das Wort „Dojan“ *) in den Hof hinab. Sogleich ertönte
ein freudiges Gebell; eine Thüre wurde geöffnet, und ich
bemerkte, daß die unten Stehenden einem Hunde Platz
machten, damit er über die Treppe herauf zu uns kommen
könne. Nur einen Augenblick ſpäter ſtand derſelbe vor
dem Aelteſten und liebkoſete ihn. Es war einer jener
koſtbaren gelbgrauen und außergewöhnlich großen und
ſtarken Windhunde, die in Indien, Perſien und Tur-
keſtan bis nach Sibirien hinein Slogi genannt werden.
Bei den Kurden wird dieſe ſeltene Raſſe Tazi genannt.
Sie ereilen die flüchtigſte Gazelle; ſie holen oft ſelbſt den
wilden Eſel und das windſchnelle Tſchiggetai ein und
fürchten ſich vor keinem Panther und vor keinem Bären.
Ich muß geſtehen, daß mich der Anblick dieſes Tieres
mit lebhafter Bewunderung erfüllte. Er war als Hund
ebenſo koſtbar, wie mein Rappe dieſes Prädikat als Pferd
verdiente.


„Emir,“ meinte der Vorſteher, „die Hunde der Miſ-
ſurikurden ſind berühmt weit über unſere Berge hinaus.
Ich habe manchen Tazi erzogen, auf den ich ſtolz ſein
konnte; keiner aber hat dieſem hier geglichen. Er ſei dein!“


„Nezanum, dieſe Gabe iſt ſo wertvoll, daß ich ſie
nicht annehmen kann,“ antwortete ich ihm.


„Willſt Du mich beleidigen?“ fragte er ſehr ernſt.


„Nein, das will ich nicht,“ lenkte ich ein. Ich wollte
nur ſagen, daß deine Güte größer iſt als die meinige.
Erlaube, daß ich den Tazi annehme, aber geſtatte mir
auch, dir dieſes Fläſchlein zu geben!“


„Was iſt es? Ein Wohlgeruch aus Perſien?“


„Nein. Es iſt von mir gekauft worden beim Beith
Allah in der heiligen Stadt Mekka und enthält das
Waſſer vom Brunnen Zem-Zem.“


[141]

Ich machte es vom Halſe los und reichte es ihm.
Er war ſo gewaltig erſtaunt, daß er vergaß, zuzugreifen.
Ich legte es in ſeinen Schoß.


„O Emir, was thuſt du!“ rief er endlich entzückt.
„Du bringſt in mein Haus die herrlichſte Gabe, welche
Allah der Erde verliehen hat. Iſt es dein Ernſt, daß
du ſie mir ſchenkeſt?“


„Nimm ſie hin, ich gebe ſie dir ſehr gern!“


„Geſegnet ſei deine Hand, und ſtets weile das Glück
auf deinem Pfade! Kommt her, ihr Männer, und be-
fühlt dieſe Flaſche, damit die Güte des großen Emir
auch euch beglücken möge!“


Die Flaſche ging von Hand zu Hand. Ich hatte
mit ihr die größte Freude geſtiftet, die es nur geben kann.
Als ſich das Entzücken des Vorſtehers einigermaßen ge-
legt hatte, wandte er ſich wieder zu mir:


„Herr, dieſer Hund iſt nun dein. Spucke ihm drei-
mal in das Maul, und nimm ihn heut unter deinen
Mantel, wenn du ſchlafen geheſt, ſo wird er dich nie
wieder verlaſſen!“


Der Engländer hatte das alles mit angeſehen, ohne
den Vorgang recht zu verſtehen. Er fragte mich:


„Zem-Zem verſchenkt, Maſter?“


„Ja.“


Well! Immer fort damit! Waſſer iſt Waſſer!“


„Wißt Ihr, was ich dafür bekommen habe?“


„Was?“


„Dieſen Hund.“


„Wie? Was? Nicht möglich!“


„Warum nicht?“


„Zu koſtbar. Kenne die Hunde! Dieſer iſt fünfzig
Pfund wert!“


„Noch mehr. Aber dennoch gehört er mir.“


[142]

„Warum?“


„Weil ich der Tochter des Ortsvorſtehers das Arm-
band geſchenkt habe.“


„Schrecklicher Kerl! Koloſſales Glück! Erſt Pferd
von Mohammed Emin, gar nichts zu bezahlen, und nun
auch Windhund! Ich Pech dagegen. Nicht einen einzigen
Fowling-bull gefunden. Schauderhaft!“


Auch Mohammed bewunderte den Hund, und ich
glaube gern, daß er ein klein wenig eiferſüchtig auf mich war.
Ich muß geſtehen, ich hatte Glück. Kurz bevor ich mich
zur Ruhe begab, ging ich noch einmal zu den Pferden.
Der Vorſteher traf mich dort.


„Emir,“ fragte er halblaut, „darf ich eine Frage aus-
ſprechen?“


„Sprich!“


„Du willſt nach Amadijah?“


„Ja.“


„Und noch weiter?“


„Das weiß ich noch nicht.“


„Es iſt ein Geheimnis dabei?“


„Das vermuteſt du?“


„Ich vermute es.“


„Warum?“


„Du haſt einen Araber bei dir, der nicht vorſichtig
iſt. Er ſchlug den Aermel ſeines Gewandes zurück, und
dabei habe ich die Tättowirung ſeines Armes geſehen. Er
iſt ein Feind der Kurden und auch ein Feind des Mu-
teſſarif; er iſt ein Haddedihn. Habe ich richtig geſehen?“


„Er iſt ein Feind des Muteſſarif, aber nicht ein
Feind der Kurden,“ antwortete ich.


Dieſer Mann war ehrlich; ich konnte ihn nicht be-
lügen. Es war jedenfalls beſſer, ihm zu vertrauen, als ihm
eine Unwahrheit zu ſagen, die er doch nicht geglaubt hätte.


[143]

„Die Araber ſind ſtets Feinde der Kurden; aber er
iſt dein Freund und mein Gaſt; ich werde ihn nicht ver-
raten. Ich weiß, was er in Amadijah will.“


„Sage es!“


„Es iſt viele Tage her, daß die Krieger des Muteſſa-
rif einen gefangenen Araber hier durchführten. Sie ſtiegen
bei mir ab. Er war der Sohn des Scheik der Haddedihn
und ſollte in Amadijah gefangen gehalten werden. Er
ſah deinem Freunde ſo ähnlich wie der Sohn dem Vater.“


„Solche Aehnlichkeiten kommen ſehr oft vor.“


„Ich weiß es, und ich will dir dein Geheimnis gar
nicht rauben; aber eins will ich dir ſagen: Kehreſt du
von Amadijah zurück, ſo kehre bei mir ein, es mag am
Tage ſein oder mitten in der Nacht, im geheimen oder
öffentlich. Du biſt mir willkommen, auch wenn der junge
Araber bei dir iſt, von dem ich geſprochen habe.“


„Ich danke dir!“


„Du ſollſt mir nicht danken! Du haſt mir das
Waſſer des heiligen Zem-Zem gegeben; ich werde dich
beſchützen in jeder Not und Gefahr. Wenn dich aber
dein Weg nach einer andern Richtung führt, ſo mußt
du mir eine Bitte erfüllen.“


„Welche?“


„Im Thale von Berwari liegt das Schloß Gumri.
Dort wohnt der Sohn des berühmten Abd el Summit
Bey; eine meiner Töchter iſt ſein Weib. Grüße ſie und
ihn von mir. Ich werde dir ein Zeichen mitgeben, an
dem ſie erkennen, daß du mein Freund biſt.“


„Ich werde es thun.“


„Sage ihnen jede Bitte, die du auf dem Herzen haſt;
ſie werden ſie dir gern erfüllen, denn kein wackerer Kurde
liebt die Türken und den Muteſſarif von Moſſul.“


Er trat in das Haus. Ich wußte, was der brave
[144] Mann bezweckte. Er erriet, was wir vorhatten, und
wollte mir auf alle Fälle nützlich ſein. Ich ging nun
ſchlafen und nahm den Windhund mit. Als wir am
andern Morgen erwachten, erfuhren wir, daß der Dol-
metſcher des Engländers Spandareh bereits verlaſſen habe.
Er hatte den Weg nach Bebozi eingeſchlagen.


Ich hatte mit Mohammed Emin in demſelben Ge-
mache geſchlafen; dem Engländer aber war ein anderer
Raum angewieſen worden. Er trat jetzt zu uns herein
und — wurde mit einem hellen Gelächter empfangen.
Niemand kann ſich den Anblick denken, welchen uns der
brave Maſter Lindſay bot. Vom Halſe bis herab zu den
Füßen war er vollſtändig rot und ſchwarz, allerdings
noch nicht karriert, und auf dem hohen, ſpitzigen Kopfe
ſaß wie ein umgekehrter Kaffeeſack die kurdiſche Mütze,
von welcher lange Bänder wie die Fangarme eines Po-
lypen herabhingen.


Good morning! Warum lachen?“ grüßte er ſehr
ernſt.


„Vor Freude über Euer außerordentlich amüſantes
Exterieur, Sir.“


Well! Freut mich!“


„Was tragt Ihr hier unter dem Arme?“


„Hier? Hm! Ein Paket, denke ich!“


„Das ſehe ich allerdings auch. Was enthält es?“


„Iſt mein Hat-box, meine Hutſchachtel.“


„Ah!“


„Habe den Hut eingewickelt, auch Gamaſchen und
Stiefel. Well!


„Das konntet Ihr alles hier laſſen!“


„Hier? Warum?“


„Wollt Ihr Euch mit dieſen unnützen Kleinigkeiten
ſchleppen?“


[145]

„Unnütz? Kleinigkeiten? Schauderhaft! Brauche ſie
doch wieder!“


„Aber wohl nicht gleich.“


„Kehren wir zurück nach hier?“


„Das iſt zweifelhaft.“


„Alſo! Hat-box wird alſo mitgenommen! Verſteht
ſich!“


Das weite Gewand ſchlotterte ihm um den hagern
Leib wie ein altes Tuch, das man einer Vogelſcheuche
umgehangen hat. Das ſtörte ihn aber nicht. Er nahm
würdevoll an meiner Seite Platz und meinte ſiegesbewußt:


„Nun bin ich Kurde! Well!


„Ein echter und richtiger!“


„Famos, ausgezeichnet! Prachtvolles Abenteuer!“


„Eins aber fehlt Euch noch!“


„Was?“


„Die Sprache.“


„Werde lernen.“


„Das geht nicht ſo ſchnell, und wenn Ihr uns nicht
ſchaden wollt, ſo ſeid Ihr gezwungen, unter zwei Ent-
ſchlüſſen einen zu faſſen.“


„Welche Entſchlüſſe?“


„Entweder Ihr geltet für ſtumm — — —“


„Stumm? Dumb? Abſcheulich! Geht nicht!“


„Ja, für ſtumm oder gar taubſtumm.“


„Sir, Ihr ſeid verrückt!“


„Danke! Es bleibt aber doch dabei. Alſo, entweder
Ihr geltet für ſtumm, oder Ihr habt ein Gelübde ge-
than — — —“


„Gelübde? Well! Schöner Gedanke! Intereſſant!
Welches Gelübde?“


„Nicht zu ſprechen.“


„Nicht zu reden? Kein Wort? Ah!“


II. 10
[146]

„Kein einziges!“


„Keine Silbe?“


„Keine! Nämlich nur dann, wenn wir beobachtet
ſind. Befinden wir uns aber allein, ſo könnt Ihr reden
nach Herzensluſt.“


„Iſt gut! Nicht ganz übel! Werde Gelübde thun!
Wann geht es an?“


„Sofort, nachdem wir Spandareh verlaſſen haben.“


Well! Einverſtanden!“


Nach dem Morgenkaffee erhielten wir noch allerhand
Proviant eingepackt; dann ſtiegen wir zu Pferde. Wir
hatten Abſchied von allen Mitgliedern des Hauſes, außer
dem Hausherrn ſelbſt, genommen und ſagten auch den
andern, die ſich verſammelt hatten, lebewohl. Der Vor-
ſteher hatte ſatteln laſſen, um uns eine Strecke Weges zu
begleiten.


Hinter Spandareh gab es einen ſehr beſchwerlichen,
kaum reitbaren Weg, der uns zu den Tura-Ghara-
Bergen emporführte. Es gehörten faſt die Füße von
Gemſen dazu, dieſen Felſenpfad zu überwinden, aber wir
langten glücklich auf der Höhe an. Hier hielt der Vor-
ſteher ſein Pferd an, nahm aus der Satteltaſche ein Paket
und ſagte:


„Nimm dies und gieb es dem Manne meiner Tochter,
wenn du nach Gumri kommen ſollteſt. Ich habe ihr ein
perſiſches Tuch und ihrem Manne für ſeine Mehin *) einen
Dizgin **) verſprochen, wie ihn die Kurden von Pir Mani
führen. Wenn du ihnen dieſe Sachen bringſt, ſo wiſſen
ſie, daß du mein Freund und Bruder biſt, und werden
dich ſo aufnehmen, als ob ich es ſelber wäre. Aber ich
wünſche um deinetwillen dennoch, daß du wieder zu mir
zurückkehren mögeſt.“


[147]

Er deutete auf einen Reiter, der uns gefolgt war
und bei Halef und dem Baſchi-Bozuk hielt.


„Das iſt der Mann, der mir den Anzug dieſes
Fremdlings wieder bringen wird. Ihm könnteſt du auch
das Paket geben, wenn du merkſt, daß dich dein Weg
nicht nach Gumri führt. Und nun ſcheiden wir! Aaleïk
ſallam, u rahhmet Allah — der Friede und die Barm-
herzigkeit ſei mit dir!“


Wir umarmten und küßten uns, dann gab er auch
den andern die Hand und kehrte um. Ich hatte in ihm
einen Mann kennen gelernt, an den ich noch heute mit
Achtung und Wohlwollen zurückdenke.


[148]

Drittes Kapitel.
In der Feſtung.



Wir ritten weiter. Der Weg ging bergab in das
Thal von Amadijah hinunter. Dieſes Thal wird von
einer Sandſteinablagerung gebildet und von ſehr vielen
Schluchten durchſchnitten, in denen rauſchende Waldbäche
ſtrömen. Sie führen alle ihr Waſſer dem Zab entgegen.
Die Schluchten und Gelände ſind mit kräftigen Eichen-
waldungen beſtanden, die bedeutende Galläpfelernten lie-
fern, mit denen die Bewohner einen einträglichen Handel
treiben. In der Ebene liegen zahlreiche chaldäiſche Dörfer,
die aber entweder öde und verlaſſen ſind, oder nur wenige
Bewohner zählen, da die Chaldäer ſich vor den Be-
drückungen der Türken und den Einfällen räuberiſcher
Kurdenſtämme gern in die Berge zurückziehen.


Durch dieſe Landſchaft, deren Eichen mich heimatlich
anmuteten, ritten wir unſerm Ziele entgegen.


„Darf ich reden?“ fragte Lindſay leiſe.


„Ja. Wir ſind ja unbelauſcht.“


„Aber der Kurde hinter uns?“


„Kommt nicht in Betracht.“


Well!


„Dorf hieß Spandareh?“


„Ja.“


„Wie Euch gefallen?“


[149]

„Sehr. Und Euch, Sir?“


„Prächtig! Guter Wirt, gute Wirtin, feines Eſſen,
ſchöner Tanz, prachtvoller Hund!“


Bei dem letzten Worte blickte er auf das Windſpiel,
welches neben meinem Pferde hertrabte; ich war ſo vor-
ſichtig geweſen, es mittels einer Leine an meinen Steig-
bügel zu binden. Uebrigens hatte der Hund bereits
Freundſchaft mit meinem Pferde geſchloſſen und ſchien es
genau zu wiſſen, daß ich ſein Herr geworden ſei. Er
blickte mit ſeinen großen, klugen Augen ſehr aufmerkſam
zu mir empor.


„Ja,“ antwortete ich. „Alles war ſchön, beſonders
das Eſſen.“


„Excellent! Sogar Taube und Beefſteaks!“


„Hm! Glaubt Ihr wirklich an die Taube?“


Well! Warum nicht?“


„Weil es keine war.“


„Nicht? Keine Taube. War welche!“


„War keine!“


„Was ſonſt?“


„Es war das Tier, das von den Zoologen den la-
teiniſchen Namen Vespertilio murinus oder myotis er-
halten hat.“


„Bin kein Zoolog. Auch nicht Latein!“


„Dieſe Taube heißt gewöhnlich Fledermaus.“


„Fleder — — —“


Er hielt inne. Seine Geſchmacks- und Verdauungs-
nerven wurden beim Klange dieſes Wortes in eine An-
ſtrengung verſetzt, durch welche ſein Mund in eine tra-
pezoïde und perennierende Höhlenöffnung verwandelt wurde,
in welcher man die ſchönſte Entdeckungsreiſe vornehmen
konnte. Sogar die lange Naſe ſchien in Mitleidenſchaft
gezogen zu ſein, denn ihre Spitze bekam jene weiße Fär-
[150] bung, von welcher der Dichter geſungen haben ſoll: „Ich
weiß nicht, was ſoll es bedeuten, daß mir ſo traurig iſt!“


„Ja, Fledermaus war es, Sir. Fledermaus habt
Ihr gegeſſen.“


Er hielt ſein Pferd an und ſtarrte in das Blaue.


Endlich hörte ich einen lauten Klapp; der Mund
war wieder zugefallen, und ich ahnte, daß ihm nun auch
das Vermögen, ſeine Gefühle in Worte zu faſſen, zurück-
gekommen ſei.


„— — — maus!!!“


Mit dieſer kleinen Silbe ſetzte er das vorhin begon-
nene „Fleder — — —“ fort; dann langte er von ſeinem
Pferde herüber und faßte mich am Arme.


„Sir!“


„Was?“


„Vergeßt die Achtung nicht, die man einem jeden
Gentleman ſchuldig iſt!“


„Habe ich ſie Euch gegenüber vergeſſen?“


„Sehr, ſage ich!“


„Inwiefern?“


„Wie könnt Ihr behaupten, daß Sir David Lindſay
Fledermäuſe ißt!“


„Fledermäuſe? Ich habe nur von einer einzigen ge-
ſprochen.“


„Gleich! Eine oder mehrere, die Injurie bleibt ſich gleich
Ihr werdet mir Genugthuung geben! Satisfaktion! Well!


„Die habt Ihr ja bereits!“


„Ich habe? Ich hätte? Ah! Wie?“


„Ihr habt eine Satisfaktion erhalten, die Euch voll-
ſtändig genügen wird.“


„Welche? Weiß von keiner!“


„Ich habe ſelbſt auch Fledermaus gegeſſen; auch
Mohammed Emin.“


[151]

„Auch? Ihr und er? Ah!“


„Ja. Auch ich hielt es für Taube. Als ich mich
aber erkundigte, hörte ich, daß es Fledermaus ſei.“


„Fledermaus hat Häute!“


„Waren weggeſchnitten.“


„Alſo wirklich wahr?“


„Wirklich.“


„Kein Scherz, kein Spaß?“


„Ernſt!“


„Fürchterlich! Oh! Bekomme Kolik, Cholera, Ty-
phus, oh!“


Er machte ein wirkliches Cholerageſicht; ich mußte
Erbarmen zeigen:


„Fühlt Ihr Euch unwohl, Sir?“


„Sehr! Yes!


„Soll ich helfen?“


„Schnell! Womit?“


„Mit einem homöopathiſchen Mittel.“


„Habt Ihr eins? Mir iſt wirklich übel! Armſelig!
Welches Mittel?“


Similia similibus.


„Wieder Zoologie? Latein?“


„Ja. Latein iſt es: gleiches mit gleichem. Und zoo-
logiſch iſt es auch, nämlich Heuſchrecken.“


„Was! Heuſchrecken?“


„Ja, Heuſchrecken.“


„Gegen das Uebelſein? Soll ich eſſen?“


„Ihr ſollt ſie nicht eſſen, ſondern Ihr habt ſie be-
reits gegeſſen.“


„Habe bereits? Ich?“


„Ja.“


Dulness, Dummheit! Unmöglich! Wann?“


„Geſtern abend.“


[152]

„Ah! Erklärung!“


„Ihr ſagtet vorhin, die Beefſteaks ſeien ſehr gut geweſen.“


„Sehr! Ungeheuer gut! Well!


„Es waren keine Beefſteaks.“


„Keine? Keine Beefſteaks! Bin Engliſhman! Waren
welche!“


„Waren keine! Ich habe ja gefragt.“


„Was ſonſt?“


„Es waren in Olivenöl gebratene Heuſchrecken. Wir
Deutſche nennen dieſe delikaten Springer ſogar zuweilen
Heupferde.“


„Heu — — —“


Wieder blieb ihm wie vorhin das Wort auf halbem
Wege ſtecken, aber diesmal geſtattete er ſeinem Munde
nicht, allzu offenherzig zu werden, ſondern er preßte die
Lippen mit ſolcher Charakterſtärke zuſammen, daß ſie ihre
Ausdehnung, anſtatt in die Weite, ſo ſehr in die Breite
nahmen, daß es ihm bei nur einigem guten Willen mög-
lich geweſen wäre, mit jedem Mundwinkel ein Ohrläppchen
abzukneipen. Und die Naſe war über das Verſchwinden
der ihr ſo ſympathiſchen Oeffnung ſo beſtürzt, daß ſie ihre
Spitze weit herunterbog, um nachzuſehen, wie dem Ver-
luſte abzuhelfen ſei.


Da endlich näherten ſich die Dimenſionen wieder
ihrem früheren Zuſtande; die Restitutio in integrum ſtellte
ſich ein, und die Lippen ließen voneinander ab.


„— — — pferde!“


So ließ er die Fortſetzung ſeines unterbrochenen
„Heu — — —“ vernehmen, und die Naſenſpitze ſchnellte
ſich befriedigt in die Höhe.


„Ja, Heupferde habt Ihr gegeſſen.“


„Ah! Schauderhaft! Habe ſie ja aber gar nicht ge-
ſchmeckt!“


[153]

„Wißt Ihr ſo genau, wie ſie ſchmecken?“


Er machte mit Armen und Beinen eine Bewegung,
als wolle er ſich auf dem Pferde um ſeine eigene Achſe
drehen.


No, at no time, niemals!“


„Ich verſichere Euch, daß es Heuſchrecken waren.
Sie werden geröſtet und zerrieben; dann legt man ſie in
die Erde, bis ſie haut gout erhalten, und ſchmort ſie in
dem Oele der friedlichen Olive. Ich habe mir dieſes
Rezept von der Frau des Dorfälteſten geben laſſen und
weiß alſo ſehr genau, was ich ſage.“


„Entſetzlich! Bekomme Magenkrampf!“


„Seid Ihr mit meiner Satisfaktion zufrieden?“


„Habt auch Heupferd gegeſſen?“


„Nein.“


„Nicht? Warum nicht?“


„Weil ich keines vorgeſetzt bekam.“


„Nur ich?“


„Nur Ihr allein; jedenfalls als ehrenvolle Auszeich-
nung für Euch, Sir!“


„Habt Ihr gewußt?“


„Erſt nicht. Aber während Ihr aßt, fragte ich.“


„Warum mir nicht gleich geſagt?“


„Weil Ihr jedenfalls etwas gethan hättet, wodurch
unſer Wirt beleidigt worden wäre.“


„Maſter, will mir das verbitten! Yes! Hinterliſt!
Heimtücke! Schadenfreude! Werde mich mit Euch ſchlagen,
boxen oder — — —“


Er hielt inne, denn es fiel ein Schuß, und die Kugel
riß mir einen Fetzen aus dem Turban.


„Herab, und hinter die Pferde geſtellt!“ rief ich.


Zugleich warf ich mich vom Pferde, keinen Augen-
blick zu früh, denn ein zweiter Knall ertönte, und die


[154]

Kugel pfiff über mich hinweg. Mit einem ſchnellen Griffe
zog ich die Schnur, an welche der Hund gebunden war,
aus dem Halsbande desſelben.


„Sert — halte feſt!“


Nur einen kurzen Laut ſtieß der Hund aus, der faſt
ſo klang, als ob er mir ſagen wollte, daß er mich ver-
ſtanden habe; dann ſchoß er in das Gebüſch.


Wir befanden uns in einer Schlucht, deren Seiten
von dicht ſtehenden jungen Eichen bewachſen waren. Selbſt
einzudringen, war zu gefährlich, da wir uns der Waffe
des unſichtbaren Schützen ausgeſetzt hätten. Wir ſchützten
uns durch die Körper unſerer Pferde und horchten.


„Maſchallah! Wer mag es ſein?“ fragte Mohammed
Emin.


„Der Arnaute,“ antwortete ich.


Da hörten wir einen Schrei und gleich darauf ein
lautes, rufendes Anſchlagen des Hundes.


„Dojan hat den Thäter,“ meinte ich ſo ruhig wie
möglich. „Buluk Emini, gehe hin und hole ihn!“


„Allah illa Allah! Emir, ich bleibe; es könnten zehn
oder gar hundert ſein, und dann wäre ich verloren!“


„Und dein Eſel wäre ein Waiſenkind geworden, du
Haſenfuß! Paß auf die Pferde auf! Kommt!“


Wir drangen in das harte Geſtrüpp ein und brauchten
nicht weit zu gehen. Ich hatte mich nicht geirrt; es war
der Arnaute. Der Hund ſtand nicht, ſondern er lag auf
ihm, und zwar in einer Stellung, welche mich über die
außergewöhnliche Klugheit des Tieres erſtaunen ließ. Der
Arnaute hatte nämlich ſeinen Dolch gezogen, um ſich gegen
den Angreifer zu verteidigen; der Hund hatte alſo eine
mehrfache Aufgabe. Darum hatte er ihn niedergeriſſen
und ſich ſo auf den rechten Arm des Arnauten gelegt, daß
dieſer denſelben nicht bewegen konnte. Dabei hielt er ihn
[155] mit den Zähnen am Halſe, zwar leicht, aber doch ſo, daß
der Ueberwundene bei der geringſten Bewegung verloren
war.


Ich nahm dem Meuchler erſt den Dolch aus der
Hand und dann die eine Piſtole aus dem Gürtel; die
andere, abgeſchoſſene lag am Boden; er hatte ſie beim
Angriffe des Hundes fallen laſſen.


„Geri — zurück!“


Auf dieſen Befehl ließ Dojan den Arnauten los.
Dieſer erhob ſich und griff ſich unwillkürlich an den Hals.
Ich ſagte zu ihm:


„Menſch, du mordeſt ja! Soll ich dich niederſchlagen?“


„Sihdi befiehl es, und ich hänge ihn auf!“ bat Halef.


„Pah! Er hat keinen von uns getroffen. Laßt ihn
laufen!“


„Emir,“ meinte Mohammed, „er iſt ein wildes Tier,
welches unſchädlich gemacht werden muß!“


„Er hat auf mich geſchoſſen und wird keine Gelegen-
heit haben, es wieder zu thun. Packe dich, Schurke!“


Im Nu war er zwiſchen den Büſchen verſchwunden.
Der Hund wollte ihm augenblicklich folgen, aber ich hielt
ihn zurück.


„Sihdi, wir müſſen ihm nach; er iſt ein Arnaute
und bleibt uns gefährlich!“ rief Halef.


„Wo will er uns gefährlich ſein? Etwa in Amadi-
jah? Dort darf er ſich nicht ſehen laſſen, ſonſt laſſe ich
ihm den Prozeß machen.“


Auch Mohammed und der Engländer erhoben hef-
tigen Widerſpruch, aber ich kehrte zu den Pferden zurück
und ſtieg auf. Der Hund folgte mir ungeheißen; ich
merkte, daß ich ihn nicht anzubinden brauchte, und fand
dies in der Folge auch beſtätigt.


Gegen Mittag erreichten wir ein kleines Dorf,
[156] Namens Bebadi; es ſah ſehr ärmlich aus und hatte ne-
ſtorianiſche Bewohner, wie ich zu bemerken glaubte. Wir
machten da eine kurze Raſt und hatten Mühe zu unſerm
Proviant einen Schluck Scherbet zu erhalten.


Nun hatten wir den kegelförmigen Berg vor uns,
auf welchem Amadijah liegt. Wir erreichten es ſehr bald.
Zur Rechten und zur Linken des Weges, der uns empor-
führte, bemerkten wir Fruchtgärten, die eine leidliche
Pflege zu genießen ſchienen; der Ort ſelbſt aber machte
ſchon von außen keinen ſehr imponierenden Eindruck auf
uns. Wir ritten durch ein Thor, das jedenfalls ein-
mal ganz verfallen und dann nur notdürftig ausgebeſſert
worden war. Einige zerlumpte Arnauten ſtanden da, um
Sorge zu tragen, daß kein Feind die Stadt überfalle.
Einer von ihnen ergriff mein Pferd, und ein anderer
das des Haddedihn beim Zügel.


„Halt! Wer ſeid ihr?“ fragte er mich.


Ich deutete auf den Buluk Emini.


„Siehſt du nicht, daß wir einen Soldaten des Groß-
herrn bei uns haben? Er wird dir Antwort geben.“


„Ich habe dich gefragt, aber nicht ihn!“


„Fort, auf die Seite!“


Bei dieſen Worten nahm ich mein Pferd in die Höhe;
es that einen Sprung, und der Mann fiel auf die Erde.
Mohammed folgte meinem Beiſpiele, und wir ritten da-
von. Hinter uns aber hörten wir die Arnauten fluchen
und den Baſchi-Bozuk ſich mit ihnen zanken. Ein Mann
begegnete uns, der einen langen Kaftan trug und ein altes
Tuch um den Kopf geſchlungen hatte.


„Wer biſt du, Mann?“ fragte ich ihn.


„Herr, ich bin ein Jehudi *). Was befiehlſt du mir?“


„Weißt du, wo der Muteſſelim **) wohnt?“


[157]

„Ja, Herr.“


„Führe uns nach ſeinem Serai!“


Je ſicherer man im Oriente auftritt, deſto freund-
licher wird man behandelt. Zudem war dieſer Mann ein
Jude, alſo nur ein in Amadijah Geduldeter; er wagte
es nicht, ſich zu widerſetzen. Wir wurden von ihm durch
eine Reihe von Gaſſen und Bazars geführt, die alle den
Eindruck des Verfallens auf mich machten.


Dieſe wichtige Grenzfeſtung ſchien ſehr vernachläſſigt
zu werden. Es gab kein Leben in den Straßen und Lä-
den; nur wenige Menſchen begegneten uns, und die,
welche wir ſahen, hatten ein krankhaftes, gedrücktes Aus-
ſehen und waren lebende Zeugniſſe für die bekannte Un-
geſundheit dieſer Stadt.


Der Serai verdiente ſeinem Aeußern nach den Namen
eines Palaſtes nicht im geringſten. Er glich einer aus-
gebeſſerten Ruine, vor deren Eingang nicht einmal eine
Wache zu ſehen war. Wir ſtiegen ab und übergaben
Halef, dem Kurden und dem Buluk Emini, der uns
wieder eingeholt hatte, unſere Pferde. Nachdem der Jude
ein Geſchenk erhalten hatte, wofür er ſich enthuſiaſtiſch
bedankte, traten wir ein.


Erſt nachdem wir einige Gänge durchwandert hatten,
kam uns ein Mann entgegen, der bei unſerem Anblick
ſeinen langſamen Gang in einen ſchnellen Lauf verwandelte.


„Wer ſeid ihr? Was wollt ihr hier?“ fragte er mit
zorniger Stimme.


„Mann, rede anders, ſonſt werde ich dir zeigen, was
Höflichkeit iſt! Wer biſt du?“


„Ich bin der Aufſeher dieſes Palaſtes.“


„Iſt der Muteſſelim zu ſprechen?“


„Nein.“


„Wo iſt er?“


[158]

„Ausgeritten.“


„Das heißt, er iſt daheim und hält ſeinen Kef!“


„Willſt du ihm gebieten, was er thun und laſſen ſoll?“


„Nein; aber ich will dir gebieten, mir die Wahrheit
zu ſagen!“


„Wer biſt du, daß du ſo mit mir redeſt? Biſt du
ein Ungläubiger, daß du es wagſt, mit einem Hunde in
den Palaſt des Kommandanten einzutreten?“


Er hatte recht, denn neben mir ſtand der Windhund
und beobachtete uns mit Augen, die mir deutlich ſagten,
daß er nur auf meinen Wink warte, um ſich auf den Tür-
ken zu ſtürzen.


„Stelle Wachen vor das Thor,“ antwortete ich ihm;
„dann wird niemand Zutritt erhalten, dem derſelbe nicht
erlaubt worden iſt. In welcher Zeit kann ich mit dem
Muteſſelin ſprechen?“


„Zur Zeit der Abenddämmerung.“


„Gut. So ſage ihm, daß ich kommen werde!“


„Und wenn er mich fragt, wer du biſt?“


„So ſageſt du, ich ſei ein Freund des Muteſſarif
von Moſſul.“


Er wurde verlegen; wir aber kehrten um und ſtiegen
wieder zu Pferde, um uns eine Wohnung zu ſuchen. Eine
ſolche war eigentlich ſehr leicht zu finden, denn wir be-
merkten, daß viele Häuſer leer ſtanden; doch konnte es
nicht meine Abſicht ſein, heimlich von einem derſelben
Beſitz zu ergreifen.


Indem wir ſo, die Gebäude muſternd, dahinritten,
kam uns eine rieſige, martialiſche Geſtalt entgegen. Der
Mann ging breitſpurig wie ein oſterländiſcher Zwölf-
ſpänner. Seine Samtjacke war ebenſo wie ſeine Hoſe
von Goldſtickereien bedeckt; ſeine Waffen hatten keinen
geringen Wert, und von dem Tſchibuk, welchen er mit
[159] großem Selbſtbewußtſein im Gehen rauchte, hingen, wie
ich ſpäter zählte, vierzehn ſeidene Quaſten herab. Er
blieb ſeitwärts von uns ſtehen, um meinen Rappen mit
wichtiger Kennermiene zu betrachten. Ich hielt an und
grüßte ihn.


„Sallam!“


„Aaleïkum!“ antwortete er mit einem ſtolzen Neigen
ſeines Hauptes.


„Ich bin hier fremd und mag mit keinem Birkadſchi *)
reden. Erlaube, daß ich mich bei dir erkundige!“ ſagte
ich wenigſtens ebenſo ſtolz.


„Deine Rede ſagt mir, daß du ein Effendi biſt. Ich
werde deine Fragen beantworten.“


„Wer biſt du?“


„Ich bin Selim Agha, der Befehlshaber der Alba-
neſen, welche dieſe berühmte Feſtung verteidigen.“


„Und ich bin Kara Ben Nemſi, ein Schützling des
Padiſchah und Abgeſandter des Muteſſarif von Moſſul.
Ich ſuche mir ein Haus in Amadijah, in dem ich einige
Tage wohnen kann. Kannſt du mir eins nennen?“


Er ließ ſich zu einer Bewegung militäriſcher Ehr-
erbietung herab und meinte:


„Allah ſegne deine Hoheit, Effendi! Du biſt ein
großer Herr, der in dem Palaſte des Muteſſelim Auf-
nahme finden muß.“


„Der Aufſeher des Palaſtes hat mich fortgewieſen,
und ich — — —“


„Alla verderbe dieſe Kreatur,“ unterbrach er mich.
„Ich werde gehen, um ihn in Stücke zu zerreißen!“


Er rollte die Augen und fuchtelte mit beiden Armen.
Dieſer Mann war wohl nur ein Bramarbas gewöhnlicher
Sorte.


[160]

„Laß dieſen Menſchen! Er ſoll nicht die Ehre haben,
Gäſte bei ſich zu ſehen, die ihm viel Backſchiſch bringen.“


„Backſchiſch?“ fragte der Tapfere. „Du giebſt viel
Backſchiſch?“


„Ich pflege damit nicht zu geizen.“


„Oh, ſo weiß ich ein Haus, in welchem du wohnen
und rauchen kannſt, wie der Schah-in-Schah von Perſien.
Soll ich dich führen?“


„Zeige es mir!“


Er wandte ſich wieder um und ſchritt voran. Wir
folgten. Er führte uns durch einige leere Bazargaſſen,
bis wir vor einem kleinen offenen Platze hielten.


„Das iſt der Meidan jüdſchelikün, der ‚Platz der
Größe‛“, erklärte er.


Dieſer Platz hatte alle möglichen Eigenſchaften, nur
groß war er nicht, und grad darum jedenfalls hatte man
ihm dieſen hochtrabenden Namen gegeben. Daß ich mich
in einer türkiſchen Stadt befand, ſah ich hier ſehr genau;
denn es lungerten wohl an die zwanzig herrenloſe Hunde
auf dieſem Meidan jüdſchelikün herum, unter denen mehrere
räudig waren. Bei dem Anblick meines Hundes erhoben
ſie ein wütendes Geheul, dem aber Dojan, wie ein Paſcha
einem Haufen von Bettlern gegenüber, keine Aufmerk-
ſamkeit ſchenkte.


„Und hier iſt das Haus, welches ich meine,“ fügte
der Agha hinzu.


Er zeigte dabei auf ein Gebäude, das die ganze eine
Fronte des Platzes einnahm und gar kein übles Aus-
ſehen hatte. Es zeigte nach vorn heraus mehrere Peng-
dſcheri*), die mit hölzernen Gitterſtäben verſehen waren,
und um das platte Dach lief ein Schutzgeländer, gewiß
ein großer Luxus hier zu Lande.


[161]

„Wer wohnt in dieſem Hauſe?“ fragte ich.


„Ich ſelbſt, Effendi,“ antwortete er.


„Und wem gehört es?“


„Mir.“


„Du haſt es gekauft oder gemietet?“


„Keines von beidem. Es war Eigentum des be-
rühmten Ismaïl Paſcha und blieb ſeitdem herrenlos,
bis ich es in Beſitz nahm. Komm, ich werde dir alles
zeigen!“


Dieſer wackere Befehlshaber der Arnauten hatte
jedenfalls großes Wohlgefallen an meinem Backſchiſch ge-
funden. Doch war mir ſein Anerbieten ſehr willkommen,
da ihn ſeine Stellung befähigte, mir über alles Nötige
die gewünſchte Auskunft zu geben. Wir ſtiegen vor dem
Hauſe ab und traten ein. Im Flure hockte ein altes
Weib, welches Zwiebeln ſchälte und dabei mit thränenden
Augen die abgefallenen Schalen kaute. Ihrem Ausſehen
nach war ſie entweder die Urgroßmutter des ewigen Juden,
oder die von dem Tode ganz vergeſſene Tante von Me-
thuſalem.


„Höre, meine ſüße Merſinah, hier bringe ich dir
Männer!“ redete er ſie in ſehr liebenswürdigem Tone an.


Sie konnte uns vor Thränen nicht ſehen und wiſchte
ſich daher mit der Zwiebel, die ſie grad in der Hand
hielt, die Augen aus, ſo daß das Waſſer ſich verdoppelte.


„Männer?“ fragte ſie mit einer Stimme, welche dumpf
wie die Antwort eines Klopfgeiſtes aus dem zahnloſen
Munde hervorklang.


„Ja, Männer, die in dieſem Hauſe wohnen werden.“


Sie warf die Zwiebeln von ſich und ſprang mit
jugendlicher Schnelligkeit vom Boden auf.


„Wohnen? Hier in dieſem Hauſe? Biſt du toll,
Selim Agha?“


II. 11
[162]

„Ja, meine liebliche Merſina, du wirſt die Meicha-
nedſcha *) dieſer Männer ſein und ſie bedienen.“


„Wirtin? Bedienen? Allah kerihm! Du biſt wirk-
lich verrückt geworden! Habe ich nicht bereits Tag und
Nacht zu arbeiten, um nur mit dir allein fertig zu werden!
Jage ſie fort, fort auf der Stelle; das befehle ich dir!“


Er wurde ein wenig verlegen; das war ihm anzu-
merken. Die „ſüße, liebliche“ Merſinah ſchien hier ein
ſehr kräftiges Scepter zu führen.


„Deine Arbeit ſoll nicht größer werden, meine Taube.
Ich werde ihnen eine Kyzla **)halten, die ſie bedienen
wird.“


„Eine Kyzla?“ fragte ſie, und dabei klang ihre Stimme
nicht mehr dumpf und hohl, ſondern kreiſchend und über-
ſchnappend, als ob der roſige Mund der lieblichen Taube
ſich in einen Klarinettenſchnabel verwandelt hätte. „Eine
Kyzla! Und wohl eine junge, hübſche Kyzla, he?“


„Das kommt auf dieſe Männer an, Merſina.“


Sie ſtemmte die Arme in die Hüften, eine Bewegung,
welche dem Oriente ebenſo eigentümlich iſt, wie dem Abend-
lande, und holte tief Atem. Dies war ein Zeichen, daß
ſie einen bedeutenden Luftvorrat brauchen werde, um ihre
angeſtammte Herrſchaft mit dem notwendigen Nachdrucke
verteidigen zu können.


„Auf dieſe Männer? Auf mich kommt das an! Hier
bin ich Herrin! Hier habe ich allein zu befehlen! Hier
habe ich zu beſtimmen, was geſchehen ſoll, und ich gebiete
dir, dieſe Männer fortzujagen! Hörſt du, Selim Agha?
Fort, augenblicklich!“


„Aber es ſind ja gar keine Männer, meine einzige
Merſina!“


Merſinah, was im Deutſchen Myrte bedeutet, wiſchte
[163] ſich die Aeuglein abermals aus und betrachtete uns ſehr
genau. Ich ſelbſt war etwas erſtaunt über dieſe Be-
hauptung des Agha. Was denn eigentlich ſollten wir
ſein, wenn wir keine Männer waren?


„Nein,“ antwortete er. „Es ſind keine Männer,
ſondern Effendis, große Effendis, die unter dem Schutze
des Großherrn ſtehen.“


„Was geht mich der Großherr an! Hier bin ich die
Großherrin, die Sultanin Valide, und was ich ſage,
das — — —“


„Aber ſo höre doch! Sie werden ein ſehr gutes
Backſchiſch geben!“


Backſchiſch hat im Oriente eine zauberhafte Wirkung;
es ſchien auch hier das richtig erlöſende Wort zu ſein.
Die „Myrte“ ließ die Arme ſinken, verſuchte ein einlen-
kendes Lächeln, welches aber in ein höhniſches Grinſen
ausartete, und wandte ſich an Maſter David Lindſay:


„Ein großes Backſchiſch? Iſt das wahr?“


Der Gefragte ſchüttelte den Kopf und deutete auf mich.


„Was iſt mit dieſem?“ fragte ſie mich. „Iſt er über-
geſchnappt?“


„Nein,“ antwortete ich. „Laß dir ſagen, wer wir
ſind, du Seele dieſes Hauſes! Dieſer Mann, den du jetzt
fragteſt, iſt ein ſehr frommer Pilger aus Londoniſtan;
er gräbt mit ſeiner Hacke, die du hier ſiehſt, in die Erde,
um die Sprache der Verſtorbenen zu belauſchen, und hat
ein Gelübde gethan, kein Wort zu reden, bis er die Er-
laubnis dazu hat.“


„Ein Frommer, ein Heiliger, ein Zauberer?“ fragte
ſie erſchrocken.


„Ja. Ich warne dich, ihn zu beleidigen! Dieſer
andere Mann iſt der Anführer eines großen Volkes weit
im Weſten von hier, und ich bin ein Emir derjenigen
[164] Krieger, welche die Frauen verehren und Backſchiſch
geben. Du biſt die Sultana dieſes Hauſes. Erlaube uns,
es zu beſehen, ob wir für einige Tage darinnen wohnen
können!“


„Effendi, deine Rede duftet nach Roſen und Nelken;
dein Mund iſt weiſer und klüger als das Maul dieſes
Selim Agha, der ſtets vergißt, das Richtige zu ſagen,
und deine Hand iſt wie die Hand Allahs, die Segen
ſpendet. Haſt du viele Diener bei dir?“


„Nein, denn unſer Arm iſt ſtark genug, uns ſelbſt
zu beſchützen. Wir haben nur drei Begleiter: einen
Diener, einen Khawaſſen des Muteſſarif von Moſſul und
einen Kurden, welcher noch heute Amadijah wieder ver-
laſſen wird.“


„So ſeid ihr mir willkommen! Seht euch mein Haus
und meinen Garten an, und wenn es euch bei mir ge-
fällt, ſo wird mein Auge über euch wachen und leuchten!“


Sie wiſchte ſich die „Wachenden“ und „Leuchtenden“
abermals aus und ſammelte dann die Zwiebeln vom
Boden auf, um uns den Weg zu ebnen. Der tapfere
Agha der Arnauten ſchien mit dieſem Ausgange ſehr zu-
frieden zu ſein. Er brachte uns zunächſt nach einer Stube,
welche ihm als Wohnung diente. Sie war ſehr geräumig
und hatte als einziges Möbel einen alten Teppich, der
als Sofa, Bett, Stuhl und Tiſch gebraucht wurde. An
den Wänden hingen einige Waffen und Tabakspfeifen,
und auf dem Boden ſtand eine Flaſche, in deren Nähe
einige hohle Eierſchalen zu ſehen waren.


„Ich heiße euch willkommen, ihr Herren,“ meinte er.
„Laßt uns den Trunk der Freundſchaft thun!“


Er bückte ſich, um die Flaſche nebſt den Schalen auf-
zuheben, und gab von den letzteren einem jeden von
uns eine in die Hand. Dann ſchenkte er ein. Es war
[165] Raki. Wir tranken aus den hühnerognoſtiſchen Pokalen,
er aber ſetzte die Flaſche ſelbſt an den Mund und nahm
ſie nicht eher wieder fort, bis er die beruhigende Ueber-
zeugung hatte, daß das ſcharfe, ſchwefelſaure Getränk der
Bouteille keinen chemiſchen Schaden mehr thun könne.
Dann nahm er uns die Schalen aus der Hand, ſog das
heraus, was wir noch drin gelaſſen hatten, und legte
ſie ſehr behutſam auf den Boden nieder.


„Kendim idſchad eter — meine eigne Erfindung!“
meinte er ſtolz. „Wundert ihr euch, daß ich keine Gläſer
habe?“


„Du wirſt dieſe ſchöne Erfindung den Gläſern vor-
ziehen,“ antwortete ich.


„Ich ziehe ſie vor, weil ich keine Gläſer habe. Ich
bin Agha der Albaneſen und habe als Sold und Taim
monatlich dreihundertdreißig Piaſter *) zu bekommen; aber
ich warte bereits ſeit elf Monaten auf dieſes Geld. Allah
kerihm; Padiſchah kendiſi onu kullar — Gott iſt gnädig,
und der Sultan braucht es ſelber!“


Da durfte ich mich allerdings nicht darüber wun-
dern, daß das Wort Bakſchiſch für ihn eine nachhaltige
Bedeutung hatte.


Er führte uns nun in dem Hauſe herum. Es war
geräumig gebaut, aber doch auch bereits in Verfall ge-
raten. Wir nahmen uns vier Zimmer, eins für jeden
von uns und eins für Halef und den Baſchi-Bozuk. Der
Preis war gering, fünf Piaſter, alſo eine Mark pro
Woche für die Stube.


„Wollt ihr auch den Garten ſehen?“ fragte er dann.


„Natürlich! Iſt er ſchön?“


„Sehr ſchön; ſo ſchön, wie die Gärten des Para-
dieſes! Du ſiehſt da allerlei Bäume, Kräuter und Gräſer,
[166] die ich gar nicht kenne. Bei Tage leuchtet über ihm die
Sonne, und des Nachts glänzen die Augen der Sterne
auf ihn herab. Er iſt ſehr ſchön!“


„Regnet es auch auf ihn nieder?“ fragte ich beluſtigt.


„Wenn es regnet, erhält er auch ſein Teil; ja, es
iſt zuweilen ſogar Schnee auf ihn gefallen. Komm und
ſiehe!“


Im Hofe gab es einen Schuppen, den wir für die
Pferde mieteten. Auch er koſtete eine Mark. Der Garten
maß ungefähr vierzig Schritte im Gevierte, war alſo ſehr
unbedeutend. Ich ſah eine verkrüppelte Cypreſſe und
einen wilden Apfelbaum. Die „allerlei Kräuter und Gräſer“
beſtanden einfach aus wildem Kendir *), ausgewucherter
Madanos **) und einigen notoriſch armen Gänſeblümchen.
Das größte Wunder dieſes Gartens aber war ein Beet,
auf welchem Soghani ***), Sarmyſak †), Kedilan ††), eine
Stachelbeere, mehrere Pilſenkräuter und einige verblühte
Veilchen in lieblicher Eintracht nebeneinander verhungerten.


„Bir güzel bagtſche — ein ſchöner Garten! Nicht
wahr?“ fragte der Agha, indem er eine gewaltige Tabaks-
wolke auspuffte.


„Güzel-zorli — gewaltig ſchön!“ entgegnete ich.


„Pek bereketli — ſehr fruchtbar!“


„Ghajet bereketli — äußerſt fruchtbar!“


„Ile tſchok güzel dikekler — und viele ſchöne Pflan-
zen! Nicht?“


„Syz ſajyjü — ohne Zahl!“


„Weißt du, wer hier gewandelt hat?“


„Wer?“


„Die ſchönſte Roſe von Kurdiſtan. Haſt du niemals
von Esma Khan gehört, der keine andere an Schönheit
gleich gekommen iſt?“


[167]

„Sie war das Weib von Ismaïl Paſcha, dem letzten
erblichen Sohne der abbaſſidiſchen Khalifen?“


„Ja; du weißt es. Sie führte den Ehrentitel ‚Khan‘,
wie alle Frauen dieſer erlauchten Familie. Er wurde,
nämlich Ismaïl Paſcha, von dem Indſcheh Bairakdar
Mohammed Paſcha belagert; dieſer ſprengte die Mauern
des Schloſſes, welches dann im Sturm genommen wurde.
Darauf ging Ismaïl mit Esma Khan als Gefangener
nach Bagdad. Hier hat ſie gelebt und geduftet. Emir,
ich wollte, ſie wäre noch hier!“


„Hat ſie auch dieſe Peterſilie und dieſen Knoblauch
gepflanzt?“


„Nein,“ antwortete er ſehr ernſthaft; „das hat Mer-
ſinah, meine Wirtſchafterin, gethan.“


„So danke Allah, daß du an Stelle von Esma Khan
dieſe ſüße Merſinah bei dir haſt!“


„Effendi, ſie iſt zuweilen ſehr bitter!“


„Darüber darfſt du nicht murren, denn Allah teilt
die Gaben ſehr verſchieden aus. Und daß du den Duft
dieſer ‚Myrte‘ atmen ſollſt, das ſtand ja wohl im Buche
verzeichnet.“


„So iſt es! Aber ſage mir, Emir, ob du dieſen
Garten pachten willſt!“


„Wie viel verlangſt du dafür?“


„Du bezahlſt mir zehn Piaſter *) für die Woche.
Dann dürft ihr alle in den Garten gehen und an die
Esma Khan denken, ſo oft ihr wollt!“


Ich zögerte mit der Antwort. Der Garten ſtieß an
die Rückwand eines Gebäudes, in welcher ich zwei Reihen
kleiner Löcher bemerkte. Das ſah mir recht gefängnis-
mäßig aus. Ich mußte mich erkundigen:


„Ich glaube nicht, daß ich dieſen Garten mieten werde.“


[168]

„Warum nicht?“


„Weil mich dieſe Mauer ſtört.“


„Dieſe Mauer? Warum, Effendi?“


„Ich liebe es nicht, in der Nähe eines Gefängniſſes
zu ſein.“


„Oh, die Leute, welche da drinnen ſtecken, können
dich nicht ſtören. Ihre Löcher ſind ſo tief, daß ſie dieſe
kleinen Fenſter gar nicht erreichen können.“


„Iſt dies das einzige Gefängnis in Amadijah?“


„Ja. Das andere iſt eingefallen. Mein Tſchauſch *)
hat die Aufſicht über die Gefangenen.“


„Und du glaubſt, daß mich dieſe nicht ſtören werden?“


„Du wirſt nichts von ihnen ſehen und keinen Laut
von ihnen hören.“


„So werde ich dir die zehn Piaſter geben. Du haſt
alſo in Summa für die Woche fünfunddreißig Piaſter
von uns zu bekommen. Erlaube, daß ich dich für die erſte
Woche jetzt gleich bezahle!“


Er ſchmunzelte bei dieſem Anerbieten vor Vergnügen
im ganzen Geſichte. Der Engländer bemerkte, daß ich in
die Taſch griff, um zu bezahlen. Er ſchüttelte den Kopf,
zog ſeine eigne Börſe hervor und reichte ſie mir. Er
konnte eine kleine Erleichterung derſelben recht wohl ver-
ſchmerzen; darum nahm ich drei Mahbub-Zechinen hervor
und gab ſie dem Agha.


„Hier nimm! Das übrige iſt Bakſchiſch für dich.“


Das war mehr als das Doppelte von dem, was er
zu erhalten hatte; darum machte er ein ſehr vergnügtes
Geſicht und meinte ſehr reſpektvoll:


„Emir, der Kuran ſagt: ‚Wer doppelt giebt, dem
wird es Allah hundertfach ſegnen.‘ Allah iſt dein Schuld-
ner; er wird es dir reichlich vergelten!“


[169]

„Wir brauchen nun Teppiche und Pfeifen für unſere
Zimmer. Wo kann man dieſe geliehen bekommen, Agha?“
fragte ich ihn.


„Herr, wenn du noch zwei ſolche Goldſtücke giebſt,
wirſt du alles erhalten, was dein Herz begehrt.“


„Hier haſt du ſie!“


„Ich eile, um euch zu bringen, was du brauchſt.“


Wir verließen den Garten. Im Hofe ſtand Mer-
ſinah, die Seele des Palaſtes. Ihre Hände waren jetzt
von Ruß geſchwärzt. Sie rührte mit dem Zeigefinger in
einem Gefäße voll zerlaſſener Butter.


„Emir, wirſt du die Zimmer nehmen?“ erkundigte
ſie ſich.


Bei dieſer Frage mochte ihr einfallen, daß der Finger
kein integrierender Teil des Napfes ſei; ſie zog ihn alſo
heraus und ſtrich ihn ſehr behutſam an der herausgeſtreckten
Zunge ab.


„Ich werde ſie behalten; auch den Schuppen und
den Garten.“


„Er hat bereits alles bezahlt,“ bemerkte der Agha
nachdrücklich.


„Wie viel?“ fragte ſie.


„Fünfunddreißig Piaſter für die erſte Woche.“


Von dem Bakſchiſch ſagte der Schalk nichts. Ob er
wohl auch in dieſer Beziehung unter dem Paputſch *)
ſeiner „Myrte“ ſtand? Ich nahm noch eine Mahbub-
Zechine **) aus der Börſe und gab ſie ihr.


„Hier nimm, du Perle der Gaſtfreundſchaft! Das
iſt das erſte Bakſchiſch für dich. Wenn wir mit dir zu-
frieden ſind, wirſt du mehr erhalten.“


Sie griff höchſt eilfertig zu und ſteckte das Geld in
ihren Gürtel.


[170]

„Ich danke dir, o Herr! Ich werde darüber wachen,
daß du dich in meinem Hauſe ſo wohl befindeſt, wie im
Schoße des Erzvaters Ibrahim. Ich ſehe, daß du der
Emir der tapfern Krieger biſt, welche die Frauen ver-
ehren und Bakſchiſch geben. Geht hinauf in eure Zim-
mer! Ich werde euch einen ſteifen Pirindſch machen, mit
ſehr viel zerlaſſener Butter darüber!“


Dabei fuhr ſie ſelbſtvergeſſen und „in der Gewohn-
heit holder Sitte“ mit dem Finger wieder in den Napf
und begann von neuem zu rühren. Ihr Anerbieten war
ein ſehr leutſeliges, aber — brrrr!


„Deine Güte iſt groß,“ antwortete ich, „aber wir
haben leider keine Zeit, ſie anzunehmen, da wir jetzt aus-
gehen müſſen.“


„Aber du wünſcheſt doch, daß ich die Speiſen für
euch bereite, Emir?“


„Du ſagteſt doch, daß du Tag und Nacht zu ar-
beiten hätteſt, um nur den Agha zu bedienen; wir dürfen
dich alſo nicht noch mehr beläſtigen. Uebrigens ſteht zu
erwarten, daß wir oft zu Tiſche geladen werden, und
wenn dies nicht der Fall iſt, ſo werden wir unſer Eſſen
beim Jemegidſchi *) holen laſſen.“


„Aber das Ehrenmahl darfſt du mir doch nicht ver-
ſagen!“


„Nun wohl, ſo ſiede uns einige Eier; etwas anderes
dürfen wir heute nicht eſſen.“


Das war das einzige, was man füglicherweiſe aus
den Händen der zarten „Myrte“ genießen konnte.


„Eier? Ja, die ſollſt du haben, Effendi,“ antwortete
ſie geſchäftig; „aber wenn ihr ſie eſſet, ſo ſchonet der Scha-
len, denn Agha Selim gebraucht ſie als Becher, und dieſer
Unvorſichtige iſt ſo unbedachtſam, ſie alle zu zerbrechen.“


[171]

Wir zogen uns für kurze Zeit in unſere Räume
zurück, in denen der Agha bald mit den Decken, Teppichen
und Pfeifen erſchien, die er ſich bei den betreffenden Händ-
lern ausgeliehen hatte. Sie waren neu und darum rein-
lich, ſo daß wir zufrieden ſein konnten. Dann erſchien
Merſinah mit dem Deckel einer alten Holzſchachtel, wel-
cher als Präſentierteller diente. Auf demſelben befanden
ſich die Eier, welche uns zum Ehrenmahle dienen ſollten.
Daneben lagen einige halb verbrannte Teigfladen und —
auch der berühmte Butternapf ſtand dabei, umgeben von
einigen Eierſchalen, in denen ſich ſchmutziges Salz, grob
geſtoßener Pfeffer und ein ſehr zweifelhafter Kümmel be-
fand. Meſſer oder Eierlöffel gab es natürlich nicht.


Dieſe lukulliſche Empfangsgaſterei, zu welcher wir die
Höflichkeit hatten, auch Merſinah einzuladen, wurde bald
und glücklich überwunden. Sie bedankte ſich höflichſt für
die ihr erwieſene, nie geahnte Ehre und ging mit ihrem
„Alfenidegeſchirr“ in die Küche. Auch der Agha erhob ſich.


„Weißt du, Herr, wohin ich jetzt gehen werde?“
fragte er.


„Ich werde es wohl hören.“


„Zum Muteſſelim. Er ſoll erfahren, was du für
ein vornehmer Emir biſt, und wie dich der Aufſeher ſeines
Palaſtes behandelt hat.“


Er vollendete ſein dienſtliches Aeußere dadurch, daß
er ſich die Reſte der zerlaſſenen Butter, welche er mit
Merſinah allein genoſſen hatte, aus dem Schnurrbart
ſtrich, und brach auf. Jetzt waren wir allein.


„Darf ich reden, Sir?“ fragte jetzt Lindſay.


„Ja, Maſter.“


„Kleider kaufen!“


„Jetzt?“


„Ja.“


[172]

„Rotkarrierte?“


„Natürlich!“


„So wollen wir zum Bazar gehen!“


„Aber ich nicht reden! Ihr müßt kaufen, Sir. Hier
Geld?“


„Kaufen wir uns nur Kleider?“


„Was noch?“


„Einiges Geſchirr, welches wir brauchen und kluger-
weiſe dem Agha oder der Haushälterin zum Geſchenk
machen können. Sodann Tabak, Kaffee und ähnliche Dinge,
die ſich nicht gut entbehren laſſen.“


Well; bezahle alles!“


„Wir werden uns zunächſt Eurer Börſe bedienen und
ſodann miteinander abrechnen.“


„Pſhaw! Bezahle alles! Abgemacht!“


„Gehe ich mit?“ fragte Mohammed.


„Wie du willſt. Nur denke ich, daß du beſſer thuſt,
dich ſo wenig wie möglich ſehen zu laſſen. In Spandareh
hat man dich auch als einen Haddedihn erkannt, gar nicht
gerechnet, daß du deinem Sohne ſehr ähnlich ſiehſt, was
mir auch der dortige Dorfälteſte verſicherte.“


„So bleibe ich zurück!“


Wir brannten unſere Dſchibuks an und gingen. Der
Hausflur war mit Rauch erfüllt, und in der Küche huſtete
die „Myrte“. Als ſie uns bemerkte, kam ſie für einen
Augenblick hervor.


„Wo ſind unſere Leute?“ fragte ich ſie.


„Bei den Pferden. Du willſt gehen?“


„Wir begeben uns nach dem Bazar, um einiges ein-
zukaufen. Laß dich nicht ſtören, du Hüterin der Küche.
Dort läuft dir das Waſſer über.“


„Laß es laufen, Herr. Das Eſſen wird dennoch
fertig!“


[173]

„Das Eſſen? Kochſt du es in dieſem großen Keſſel?“


„Ja.“


„So iſt es jedenfalls nicht für dich und Selim
Agha?“


„Nein. Ich habe für die Gefangenen zu kochen.“


„Ah! Die ſich hier nebenan befinden?“


„Ja.“


„Giebt es viele ſolche Unglückliche in dem Hauſe?“


„Noch nicht zwanzig.“


„Die ſind alle aus Amadijah?“


„O nein. Es ſind mehrere arnautiſche Soldaten, die
ſich vergangen haben, einige Chaldäer, ein Kurde, ein
paar Einwohner von Amadijah und auch ein Araber.“


„Ein Araber? Araber giebt es hier ja gar nicht!“


„Er wurde von Moſſul gebracht.“


„Was bekommen ſie zu eſſen?“


„Brotfladen, die ich backe, und dann des Mittags
oder des Nachmittags, ganz wie es mir paßt und gefällt,
dieſes warme Eſſen.“


„Worin beſteht es?“


„Mehl in Waſſer gequirlt.“


„Wer bringt es ihnen?“


„Ich ſelbſt. Der Sergeant öffnet mir die Löcher.
Haſt du ſchon einmal ein Gefängnis geſehen, Emir?“


„Nein.“


„Wenn du es ſehen willſt, ſo darfſt du es mir nur
ſagen; ich nehme dich mit.“


„Der Sergeant würde es mir nicht erlauben!“


„Er erlaubt es dir, denn ich bin ſeine Herrin.“


„Du?“


„Ja. Bin ich nicht die Herrin ſeines Agha?“


„Das iſt wahr! Ich werde mir einmal überlegen,
ob es ſich für die Würde eines Emir ſchickt, ein Gefäng-
[174] nis zu beſuchen und denen, welche dies erlauben, ein gutes
Bakſchiſch zu geben.“


„Es ſchickt ſich, Herr; es ſchickt ſich ſehr. Du wirſt
vielleicht deine Gnade leuchten laſſen auch über die Ge-
fangenen, daß ſie mir einige Speiſen und auch Tabak ab-
kaufen können, was ſie ſonſt nicht haben!“


Nichts konnte mir lieber ſein als die Erfahrung,
welche ich hier machte; aber ich war ſo vorſichtig, ein-
gehendere Fragen jetzt noch zu vermeiden, da ich durch
dieſelben leicht hätte Verdacht erregen können. Halef, der
Buluk Emini und der Kurde aus Spandareh wurden ge-
rufen, uns zu begleiten; dann gingen wir.


Die Bazars waren wie ausgeſtorben. Kaum daß wir
eine Kaffeeſchänke fanden, wo uns ein Trank gereicht
wurde, der mir ſehr nach gebrannten Gerſtenkörnern
ſchmeckte. Dort erfuhren wir auch, was die Urſache der
jetzigen Lebloſigkeit in Amadijah war. Trotz der hohen
und freien Berge dieſer Stadt iſt ſie nämlich außerordent-
lich ungeſund, ſo daß ſich bei Anbruch der wärmeren
Jahreszeit ſchleichende Fieber erzeugen. Dann verlaſſen
die Einwohner den Ort und begeben ſich in die benach-
barten Wälder, um dort in Sommerwohnungen zu leben,
welche Jilaks genannt werden.


Nachdem wir den myſteriöſen Trank überwunden und
uns die Pfeifen neu geſtopft hatten, begaben wir uns auf
den Kleiderhandel. Der Kaffeewirt hatte uns einen Ort
beſchrieben, an dem wir das Geſuchte finden konnten. Der
Handel wurde unter der ſchweigſamen Aſſiſtenz des Eng-
länders und zu ſeiner ſichtbaren Befriedigung abgeſchloſſen.
Er erhielt ein vollſtändiges, rot und ſchwarz karriertes
Gewand für einen verhältnismäßig billigen Preis. Dann
wurden auch die übrigen Einkäufe beſorgt und die Diener
mit denſelben nach Hauſe geſchickt. Der Kurde erhielt
[175] als Geſchenk einen perlengeſtickten und gefüllten Tabaks-
beutel, den er mit ſtolzer Genugthuung ſofort an ſeinem
Gürtel befeſtigte, damit dieſer Beweis ſeiner männlichen
Würde jedermann in die Augen falle.


Nun begann ich mit dem Engländer allein einen
Gang durch die Stadt, um dieſelbe einigermaßen kennen
zu lernen, und erhielt die Ueberzeugung, daß dieſe einſt
ſo wichtige Grenzfeſtung, auf welche die Türken auch heute
noch einen nicht geringen Wert legen, von einigen hundert
unternehmenden Kurden leicht überrumpelt werden könne.
Die wenigen Soldaten, welche wir trafen, ſahen hungrig
und fieberkrank aus, und die Verteidigungswerke befanden
ſich in einem Zuſtande, der ihnen alles Recht auf dieſen
Namen raubte.


Als wir heimkehrten, wartete der Agha bereits meiner.


„Emir, ich harre ſchon lange auf dich.“


„Warum?“


„Ich ſoll dich zum Muteſſelim bringen.“


„Bringen?“ fragte ich mit lächelnder Betonung dieſes
Wortes.


„Nein, ſondern begleiten. Ich habe ihm alles er-
zählt und dieſem Aufſeher des Palaſtes die Fäuſte unter
die Naſe gehalten. Allah beſchützte ihn, ſonſt hätte ich
ihn vielleicht gar getötet oder erwürgt!“


Dabei rollte er die Augen und bog die zehn Finger
wie Zangen zuſammen.


„Was ſagte der Kommandant?“


„Emir, ſoll ich dir die Wahrheit ſagen?“


„Ich erwarte das!“


„Er iſt nicht erfreut über deinen Beſuch.“


„Ah! Warum nicht?“


„Er liebt die Fremden nicht und empfängt überhaupt
ſehr ſelten Beſuche.“


[176]

„Iſt er ein Einſiedler?“


„Nein. Aber er bekommt als Kommandant neben
freier Wohnung monatlich ſechstauſendſiebenhundertachtzig
Piaſter, und es geht ihm, wie uns allen: er hat ſeit elf
Monaten nichts erhalten und weiß nicht, was er eſſen
und trinken ſoll. Kann er ſich da freuen, wenn er wich-
tige Beſuche erhält?“


„Ich will ihn ſehen und ſprechen, aber nicht bei ihm
eſſen!“


„Das geht nicht. Er muß dich ſtandesgemäß und
würdig empfangen, und darum hat er die — die — — —“


Er wurde verlegen.


„Was? Die — die — — —?“


„Die hieſigen Juden zu ſich kommen laſſen, um fünf-
hundert Piaſter von ihnen zu leihen. Das braucht er,
um zu kaufen, was er zu deinem Empfange nötig hat.“


„Sie haben es ihm gegeben?“


„Alla illa Allah; ſie hatten ſelbſt nichts mehr, denn
ſie haben ihm bereits alles geben müſſen. Nun hat er
ſich einen Hammel geborgt und noch vieles dazu. Das
iſt ſehr ſchlimm, beſonders für mich, Emir!“


„Warum für dich?“


„Weil ich ihm dieſe fünfhundert Piaſter leihen oder
— oder — — —“


„Nun, oder — — —“


„Oder dich fragen muß, ob du — du — — —“


„Sprich doch weiter, Agha!“


„Ob du reich biſt. Oh, Emir, ich hätte ja ſelbſt auch
keinen einzigen Para, wenn du mir heute nichts gegeben
hätteſt! Und davon habe ich an Merſinah fünfunddreißig
Piaſter geben müſſen!“


Zu meinem Empfange dem Muteſſelim fünfhundert
Piaſter borgen, das heißt ſo viel wie ſchenken! Das waren
[177] ungefähr hundert Mark. Hm, ich war ja durch das Geld,
welches ich bei dem Tiere von Abu-Seïf gefunden hatte,
nicht ganz mittellos, und für unſern Zweck konnte das
Wohlwollen des Muteſſelim von großem Vorteile ſein.
Fünfhundert Piaſter konnte ich allenfalls geben, und eben-
ſoviel rechnete ich auf Maſter Lindſay, der für ein Aben-
teuer ſehr gern dieſe für ihn ſo geringfügige Summe ver-
ausgabte. Daher begab ich mich in die Stube des Eng-
länders, während der Agha auf mich warten mußte.


Sir David war grad mit dem Umkleiden beſchäftigt.
Sein langes Angeſicht ſtrahlte vor Vergnügen.


„Maſter, wie ſehe ich aus?“ fragte er.


„Ganz Kurde!“


Well; gut, ſehr gut! Ausgezeichnet!“


„Aber wie wickeln Turban?“


„Gebt her das Zeug!“


Er hatte in ſeinem Leben noch kein Turbantuch in
der Hand gehabt. Ich ſetzte ihm die Mütze auf das ſtrah-
lende Haupt und ſchlang ihm das rotſchwarze Zeug kunſt-
voll um dieſelbe herum. So brachte ich einen jener rie-
ſigen Turbane fertig, wie ſie hierzulande von Würden-
trägern und vornehmen Männern getragen werden. Eine
ſolche Kopfbedeckung hat oft vier Fuß im Durchmeſſer.


„So, nun iſt ein kurdiſcher Großkhan fertig!“


„Vortrefflich! Herrlich! Schönes Abenteuer! Amad
el Ghandur befreien! Alles bezahlen; ſehr gut bezahlen!“


„Iſt dies Euer Ernſt, Sir?“


„Warum nicht Ernſt?“


„Ich weiß allerdings, daß Ihr ſehr wohlhabend ſeid
und das zur richtigen Zeit auch anzuwenden wißt — — —“


Er blickte mich ſchnell und forſchend an und fragte
dann:


„Wollt Geld haben?“


II. 12
[178]

„Ja,“ antwortete ich einfach.


Well; ſollt es bekommen! Für Euch?“


„Nein. Ich hoffe, daß Ihr mich nicht von einer
ſolchen Seite kennen gelernt habt!“


„Iſt richtig, Sir! Alſo für wen?“


„Für den Muteſſelim.“


„Ah! Warum? Wozu?“


„Dieſer Mann iſt ſehr arm. Der Sultan ſchuldet
ihm ſeit elf Monaten ſein Gehalt. Aus dieſem Grunde
hat er jedenfalls das bekannte Syſtem aller türkiſchen
Beamten angewandt und die hieſige Bewohnerſchaft ſo
ziemlich ausgeſaugt. Nun hat niemand mehr etwas, und
kein Menſch kann ihm borgen. Deshalb bringt ihn mein
Beſuch in große Verlegenheit. Er muß mich gaſtlich
empfangen und beſitzt die dazu nötigen Mittel nicht.
Darum hat er ſich einen Hammel und verſchiedenes andere
geborgt und läßt mich unter der Hand fragen, ob ich
reich genug bin, ihm fünfhundert Piaſter zu leihen. Das
iſt nun allerdings ganz türkiſch gehandelt, und auf das
Zurückerſtatten darf man nicht rechnen. Da es aber für
uns ſehr nötig iſt, eine freundliche Geſinnung in ihm zu
erwecken, ſo habe ich beſchloſſen — — —“


Er unterbrach mich mit einer ſchnellen Handbewegung.


„Gut! Sollt eine Hundertpfundnote haben!“


„Das iſt zu viel, Sir! Das wären ja nach dem
Kurſe von Konſtantinopel elftauſend Piaſter! Ich will
ihm fünfhundert Piaſter geben und erſuche Euch, dieſelbe
Summe hinzuzufügen. Er kann damit zufrieden ſein.“


„Tauſend Piaſter! Zu wenig! Habe ja Araber-
Scheiks ſeidenes Gewand geſchenkt! Möchte ihn auch ſehen.
Wenn mit darf, dann alles bezahlen; Ihr nichts geben!“


„Mir ſoll es recht ſein.“


„So ſagt Agha, er ſoll uns machen laſſen!“


[179]

„Und was werden wir machen?“


„Unterwegs Geſchenk kaufen; Geld hinein ſtecken.“


„Aber nicht zu viel, Sir!“


„Wie viel? Fünftauſend Piaſter?“


„Zweitauſend iſt mehr als genug!“


Well; alſo zweitauſend! Fertig!“


Ich kehrte zu Selim Agha zurück.


„Sage dem Kommandanten, daß ich mit einem von
meinen Begleitern kommen werde!“


„Wann?“


„In kurzem.“


„Deinen Namen kennt er bereits; welchen Namen ſoll
ich ihm noch ſagen?“


„Hadſchi Lindſay-Bey.“


„Hadſchi Lindſay-Bey. Gut! Und die Piaſter, Emir?“


„Wir bitten um die Erlaubnis, ihm ein Geſchenk
mitbringen zu dürfen.“


„Dann muß er Euch auch eins geben!“


„Wir ſind nicht arm; wir haben alles, was wir
brauchen, und werden uns am meiſten freuen, wenn er
uns nichts als ſeine Freundſchaft ſchenkt. Sage ihm das!“


Er ging getröſtet und zufriedengeſtellt davon.


Bereits nach fünf Minuten ſaß ich mit dem Eng-
länder zu Pferde; ich hatte ihm eingeſchärft, ja kein Wort
zu ſprechen. Halef und der Buluk folgten uns. Den
Kurden hatten wir mit dem geliehenen Gewande und
vielen Grüßen nach Spandareh zurückgeſchickt. Wir ritten
durch die Bazars, wo wir geſticktes Zeug zu einem Feier-
kleide und eine hübſche Börſe kauften, in welche der Eng-
länder zwanzig goldene Medſchidje zu je hundert Piaſter
legte. In ſolchen Dingen war mein guter Maſter Lind-
ſay nie ein Knauſer; das hatte ich zu meinem Vorteile
ſehr oft erfahren.


[180]

Nun ritten wir nach dem Palaſt des Kommandanten.
Vor demſelben ſtanden etwa zweihundert Albaneſen in
Parade, angeführt von zwei Mulaſim unter dem Kom-
mando unſers tapfern Selim Agha. Er zog den Sarras
und kommandierte:


„Ajakda duryn dykkatli — ſteht genau!“


Sie gaben ſich herzliche Mühe, dieſem Verlangen
nachzukommen, bildeten aber doch eine Art Schlangenlinie,
die am Ende der Aufſtellung in einen ſehr gebogenen
Schwanz auslief.


„Tſchalghy! Islik tſcharyn: — Muſik! Pfeift!“


Drei Flöten begannen zu wimmern, und eine tür-
kiſche Trommel forcierte einen Wirbel, der wie das Leiern
einer Kaffeemühle klang.


„Daha giöre! Kuwetlirek! — lauter, ſtärker!“


Der gute Agha rollte dabei die Augen nach der ge-
ſchwindeſten Ziffer von Melzels Metronom; die Muſi-
kanten thaten es ihm nach, und während dieſes künſt-
leriſchen und für uns ſehr ſchmeichelhaften Empfanges
ritten wir vor den Eingang, um abzuſteigen. Die beiden
Lieutenants ritten herbei und hielten uns die Steigbügel.
Ich griff in die Taſche und gab jedem von ihnen ein
ſilbernes Zehnpiaſterſtück. Sie ſteckten es befriedigt zu
ſich, ohne im geringſten in ihrer Offiziersehre verletzt zu
ſein. Der türkiſche ſubalterne Offizier iſt, beſonders in
entlegenen Garniſonen, ſelbſt heute noch der Diener ſeines
nächſt höheren Vorgeſetzten und ſtets gewohnt, ſich als
ſolchen betrachten zu laſſen.


Dem Agha gab ich das Zeug und die Börſe.


„Melde uns an, und gieb dem Kommandanten dieſes
Geſchenk!“


Er ging würdevoll voran, und wir folgten. Unter
dem Thore ſtand der Nazardſchi des Palaſtes. Er em-
[181] pfing uns jetzt ganz anders als beim erſten Male. Er
kreuzte die Arme über der Bruſt, verbeugte ſich tief und
murmelte demütig:


„Bendeniz el öpir; aghamin ſize ſelami wer — Euer
Diener küßt die Hand; mein Herr läßt ſich Euch em-
pfehlen!“


Ich ſchritt an ihm vorüber, ohne ihm zu antworten,
und auch Lindſay that, als habe er ihn gar nicht bemerkt.
Ich muß geſtehen, daß mein Maſter Fowling-bull trotz
der ſchreienden Farbe ſeines Anzuges einen ganz reſpek-
tablen Eindruck machte. Der Anzug paßte, wie für ihn
gemacht, und das Bewußtſein, ein Engländer und dazu
auch reich zu ſein, gab ſeiner Haltung eine Sicherheit,
die hier ganz am Platze war.


Der Aufſeher nahm trotz ſeiner offenen Mißachtung
doch den Vortritt und führte uns eine Treppe empor in
einen Raum, der das Vorzimmer zu bilden ſchien. Dort
ſaßen die Beamten des Kommandanten auf armſeligen
Teppichen. Sie erhoben ſich bei unſerm Eintritte und
begrüßten uns ehrfurchtsvoll. Es waren meiſt Türken
und einige Kurden dabei. Die letztern machten, wenigſtens
in Beziehung auf ihr Aeußeres, einen viel beſſern Ein-
druck als die erſteren, die ſich in keiner ſo guten wirt-
ſchaftlichen Lage zu befinden ſchienen. An einer der
Fenſteröffnungen ſtand ein Kurde, den man ſofort für
einen freien Mann der Berge halten mußte. Er ſchaute
mit finſterer, ungeduldiger Miene hinaus ins Freie. Einer
der Türken trat auf mich zu:


„Du biſt der Emir Hadſchi Kara Ben Nemſi, den
der Muteſſelim erwartet?“


„Ich bin es.“


„Und dieſer Effendi iſt Hadſchi Lindſay-Bey, welcher
das Gelübde gethan hat, nicht zu ſprechen?“


[182]

„Ja.“


„Ich bin der Baſch Kiatib *) des Kommandanten.
Er läßt dich bitten, einige Augenblicke zu warten.“


„Warum? Ich bin nicht gewohnt, zu warten, und
er hat gewußt, daß ich komme!“


„Er hat eine wichtige Abhaltung, die nicht lange
währen wird.“


Was dies für eine wichtige Abhaltung war, konnte
ich bald bemerken. Nämlich ein Diener kam äußerſt eil-
fertig aus dem Zimmer des Muteſſelim geſtürzt und
kehrte nach einiger Zeit mit zwei Büchſen zurück, auf
denen die Deckel fehlten. Die größere enthielt Tabak und
die kleinere gebrannte Kaffeebohnen. Der Kommandant
hatte dieſe notwendigen Sachen erſt nach Empfang unſeres
Geldes holen laſſen können. Vor der Rückkehr ſeines
Dieners trat der Agha aus dem Zimmer des Muteſſelim.


„Effendi, verziehe noch einen Augenblick! Du wirſt
ſofort eintreten können!“


Da wandte ſich der am Fenſter ſtehende Kurde zu
ihm:


„Und wann endlich werde ich eintreten dürfen?“


„Du wirſt noch heute vorgelaſſen.“


„Noch heute? Ich bin eher dageweſen als dieſer
Effendi, und auch eher als alle dieſe andern. Meine
Sache iſt notwendig, und ich muß noch heute wieder auf-
brechen!“


Selim Agha rollte die Augen.


„Dieſe Effendis ſind ein Emir und ein Bey, du aber
biſt nur ein Kurde. Du kommſt erſt nach ihnen!“


„Ich habe ein gleiches Recht wie ſie, denn ich bin
der Abgeſandte eines tapfern Mannes, der auch ein Bey iſt!“


Das freimütige, furchtloſe Weſen dieſes Kurden gefiel
[183] mir ungemein, obgleich ſeine Beſchwerde indirekt gegen
mich gerichtet war. Den Agha aber ſchien ſie außer-
ordentlich zu erzürnen; denn er begann ſeinen Augen-
wirbel von neuem und antwortete:


„Du kommſt erſt ſpäter daran, und vielleicht auch gar
nicht. Wenn dir das nicht gefällt, ſo kannſt du gehen!
Dir iſt ja nicht einmal das Notwendigſte bekannt, um vor
einem großen, einflußreichen Manne erſcheinen zu dürfen!“


Ah, der Kurde hatte alſo das „Notwendigſte“, näm-
lich das Bakſchiſch, vergeſſen. Er ließ ſich aber nicht ein-
ſchüchtern, ſondern antwortete:


„Weißt du, was das Notwendigſte für einen Ber-
wari-Kurden iſt? Dieſer Säbel iſt es!“ Dabei ſchlug er
an den Griff der genannten Waffe. „Willſt du eine Probe
davon verſuchen? Mich ſendet der Bey von Gumri; es
iſt eine Beleidigung für ihn, wenn ich immer von neuem
wieder zurückgeſetzt werde und warten muß, und er wird
wiſſen, was er darauf zu erwidern hat. Ich gehe!“


„Halt!“ rief ich.


Er befand ſich bereits an der Thüre. Der Bey von
Gumri, an den mich der Aelteſte von Spandareh adreſſiert
hatte? Das war eine vortreffliche Gelegenheit, mich vor-
teilhaft bei ihm anzumelden.


„Was willſt du?“ fragte er barſch.


Ich ſchritt auf ihn zu und hielt ihm die Hand entgegen.


„Ich will dich begrüßen, denn das iſt ebenſo, als
ob dein Bey meinen Gruß hörte.“


„Kennſt du ihn?“


„Ich habe ihn noch nicht geſehen, aber man hat mir
von ihm erzählt. Er iſt ein ſehr tapferer Krieger, dem
meine Achtung gehört. Willſt du mir eine Botſchaft an
ihn ausrichten?“


„Ja, wenn ich es kann.“


[184]

„Du kannſt es. Aber vorher werde ich dir beweiſen,
daß ich den Bey zu ehren weiß: Du ſollſt vor mir zum
Muteſſelim eintreten dürfen.“


„Iſt dies dein Ernſt?“


„Mit einem tapfern Kurden ſcherzt man nie.“


„Hört ihr es?“ wandte er ſich zu den andern. „Dieſer
fremde Emir hat gelernt, was Höflichkeit und Achtung
bedeutet. Aber ein Berwari kennt die Sitte ebenſo.“ Und
zu mir gerichtet, fügte er hinzu: „Herr, ich danke dir:
du haſt mir mein Herz erfreut! Aber ich werde nun gern
warten, bis du mit dem Muteſſelim geſprochen haſt.“


Jetzt war er es, der mir die Hand entgegenſtreckte.
Ich ſchlug ein.


„Ich nehme es an, denn ich weiß, daß du nicht lange
zu warten haben wirſt. Aber ſage mir, ob du nach deiner
Unterredung mit dem Kommandanten ſo viel Zeit haſt,
zu mir zu kommen!“


„Ich werde kommen und dann etwas ſchneller reiten.
Wo wohneſt du?“


„Ich wohne hier bei Selim-Agha, dem Oberſten der
Arnauten.“


Er trat mit einer zuſtimmenden Kopfbewegung zu-
rück, denn der Diener öffnete die Thüre, um mich und
Lindſay eintreten zu laſſen.


Das Zimmer, in welches wir gelangten, war mit
einer alten, verſchoſſenen Papiertapete bekleidet und hatte
an ſeiner hintern Wand eine kaum fußhohe Erhöhung,
die mit einem Teppiche belegt war. Dort ſaß der Kom-
mandant. Er war ein langer, hagerer Mann mit einem
ſcharfen, wohl frühzeitig gealterten Angeſichte. Sein Blick
war verſchleiert und nicht Vertrauen erweckend. Er erhob
ſich bei unſerem Eintritte und bedeutete uns durch eine
Bewegung ſeiner Hände, zu beiden Seiten von ihm Platz
[185] zu nehmen. Mir fiel dies nicht ſchwer; Maſter Lindſay
aber hatte einige Mühe, ſich mit gebogenen Beinen in
jene Stellung zu bringen, welche die Türken „Ruhen der
Glieder“ nennen. Wer ſie nicht gewöhnt iſt, dem ſchlafen
die untern Extremitäten ſehr bald ein, ſo daß man dann
gezwungen iſt, ſich wieder zu erheben. Ich mußte alſo
aus Rückſicht auf den Engländer dafür ſorgen, daß die
Unterhaltung nicht gar zu lange dauere.


„Choſch geldin demek; ömriniz tſchok ola — ſeid mir
willkommen; euer Leben möge lang ſein!“ empfing uns
der Kommandant.


„Grad ſo, wie das deinige,“ antwortete ich ihm.
„Wir ſind von fern her gekommen, um dir zu ſagen, daß
wir uns freuen, dein Angeſicht zu ſehen. Möge Segen
in deinem Hauſe wohnen und jedes Werk gelingen, das
du unternimmſt!“


„Auch euch wünſche ich Heil und Erfolg in allem,
was ihr thut! Wie heißt das Land, das deinen Tag ge-
ſehen hat, Emir?“


„Germaniſtan.“


„Hat es einen großen Sultan?“


„Es hat ſehr viele Padiſchahs.“


„Und viele Krieger?“


„Wenn die Padiſchahs von Germaniſtan ihre Krieger
verſammeln, ſo ſehen ſie mehrere Millionen Augen auf
ſich gerichtet.“


„Ich habe dieſes Land noch nicht geſehen, aber es
muß ein großes und ein berühmtes ſein, da du unter
dem Schutze des Großherrn ſteheſt.“


Dies war natürlich ein Wink, mich zu legitimiren.
Ich that es ſogleich:


„Dein Wort iſt richtig. Hier haſt du das Bu-dje-
ruldi des Padiſchah!“


[186]

Er nahm es, drückte es an Stirn, Mund und Bruſt
und las es.


„Hier lautet doch dein Name anders als Kara Ben
Nemſi!“


Ah, das war fatal! Der Umſtand, daß ich den mir
von Halef gegebenen Namen hier beibehalten hatte, konnte
uns ſchädlich werden; doch faßte ich mich ſchnell und
meinte:


„Willſt du mir einmal den Namen vorleſen, der
hier auf dem Pergamente ſteht?“


Er verſuchte es, aber es wollte ihm nicht recht ge-
lingen. Und über den Namen des Heimatortes ſtolperte
er vollends gar hinweg.


„Sieheſt du!“ erklärte ich. „Kein Türke kann einen
Namen aus Germaniſtan richtig leſen und ausſprechen;
kein Mufti und kein Mollah bringt dies fertig, denn
unſere Sprache iſt ſehr ſchwer und wird in einer andern
Schrift geſchrieben, als die eurige iſt. Ich bin Hadſchi
Kara Ben Nemſi; das wird dir auch dieſer Brief be-
weiſen, welchen der Muteſſarif von Moſſul mir für dich
mitgegeben hat.“


Ich reichte ihm das Schreiben hin. Als er es ge-
leſen hatte, war er befriedigt und gab mir das Bu-dje-
ruldi nach der gebräuchlichen Ceremonie zurück.


„Und dieſer Effendi iſt Hadſchi Lindſay-Bey?“ fragte
er dann.


„So iſt ſein Name.“


„Aus welchem Lande iſt er?“


„Aus Londoniſtan,“ antwortete ich, um den bekannte-
ren Namen von England zu vermeiden.


„Er hat gelobt, nicht zu ſprechen?“


„Er ſpricht nicht.“


„Und er kann zaubern?“


[187]

„Höre, Muteſſelin, von der Magie ſoll man nicht
ſprechen, wenigſtens nicht zu jemand, den man noch nicht
kennt.“


„Wir werden uns kennen lernen, denn ich bin ein
großer Freund der Magie. Glaubſt du, daß man Geld
machen kann?“


„Ja, Geld kann man machen.“


„Und daß es einen Stein der Weiſen giebt?“


„Es giebt einen, aber er liegt nicht in der Erde,
ſondern im menſchlichen Herzen vergraben und kann alſo
auch nicht durch die Scheidekunſt bereitet werden.“


„Du ſprichſt ſehr dunkel; aber ich ſehe, daß du ein
Kenner der Magie biſt. Es giebt eine weiße und eine
ſchwarze. Kennſt du alle beide?“


Ich konnte nicht anders, ich mußte luſtig antworten:


„O, ich kenne auch alle andern Arten.“


„Es giebt noch andere? Welche?“


„Eine blaue, eine grüne und gelbe, auch eine rote
und graue. Dieſer Hadſchi Lindſay-Bey war erſt ein
Anhänger der graukarrierten, jetzt aber hat er die ſchwarz-
rote angenommen.“


„Das ſieht man an ſeinem Gewande. Selim Agha
hat mir erzählt, daß er eine Hacke bei ſich führt, mit
welcher er in die Erde ſchlägt, um die Sprachen der Ver-
ſtorbenen zu erforſchen.“


„So iſt es. Aber laß uns heute darüber ſchweigen.
Ich bin ein Krieger und Effendi, aber kein Schulmeiſter,
der andere unterrichtet.“


Der brave Kommandant hatte alle Hilfsquellen der
ausgeſaugten Provinz erſchöpft und ſuchte nun ſein Heil
in der Magie. Es konnte mir nicht einfallen, ihn in
ſeinem Aberglauben zu beſtärken, aber ich hatte in den
gegenwärtigen Verhältniſſen auch keine Veranlaſſung, ſie
[188] ihm wegzudisputieren. Oder hatte ihn nur die berühmte
Hacke meines Maſter Fowling-bull auf den Gedanken ge-
bracht, mit mir über die Magie zu verhandeln? Das
war auch möglich. Uebrigens machten meine letzten Worte
wenigſtens den Eindruck auf ihn, daß er in die Hände
klatſchte und Kaffee und Pfeifen bringen ließ.


„Ich hörte, daß der Muteſſarif einen Kampf mit
den Dſcheſidi gehabt habe?“ begann er ein anderes
Thema.


Dasſelbe war für mich nicht ungefährlich, aber ich
wußte nicht, wie ich es hätte abweiſen können. Es be-
gann grad wie ein Verhör: „Ich hörte!“ Und doch
mußte er als der nächſte Untergebene des Gouverneur
und als Kommandant von Amadijah die Sache nicht bloß
vom Hören-Sagen kennen. Ich trat dazu in ſeine eigenen
Fußſtapfen:


„Auch ich hörte davon.“ Und um einer Frage ſeiner-
ſeits zuvorzukommen, fügte ich hinzu: „Er wird ſie ge-
züchtigt haben, und nun kommen wohl die widerſpenſtigen
Araber an die Reihe.“


Er horchte auf und blickte mich forſchend an.


„Woraus vermuteſt du das, Emir?“


„Weil er ſelbſt mit mir davon ſprach.“


„Er ſelbſt? Der Muteſſarif?“


„Ja.“


„Wann?“


„Als ich bei ihm war, natürlich.“


„Wie kam er dazu?“ erkundigte er ſich, ohne eine
Miene des Unglaubens ganz verbergen zu können.


„Jedenfalls weil er Vertrauen zu mir hatte und ge-
willt iſt, mir in Beziehung auf dieſen Kriegszug eine
Aufgabe zu erteilen.“


„Welche?“


[189]

„Haſt du einmal etwas von Politik und Diplomatik
gehört, Muteſſelim?“


Er lächelte überlegen.


„Wäre ich Kommandant von Amadijah, wenn ich
nicht ein Diplomat wäre?“


„Du haſt ſehr recht! Aber warum zeigſt du mir es
nicht, daß du ein ſolcher biſt?“


„Bin ich undiplomatiſch geweſen?“


„Sehr!“


„Inwiefern?“


„Weil du mich nach meiner Aufgabe in ſo direkter
Weiſe fragſt, daß ich erſtaunen muß. Ich darf von ihr
nicht ſprechen, und du hätteſt es nur durch eine feine und
kluge Ausforſchung erfahren können.“


„Warum dürfteſt du es mir nicht ſagen? Der Mu-
teſſarif hat kein Geheimnis vor mir!“


„Du mußteſt mich fragen, um etwas über dieſe An-
gelegenheit zu erfahren; dies iſt doch der ſicherſte Beweis,
daß der Muteſſarif gegen mich offenherziger geweſen iſt,
als gegen dich. Wie nun, wenn ich grad in einer Sache,
die auf ſeinen Einfall in das Gebiet der Araber Bezug
hat, nach Amadijah gekommen wäre?“


„Das iſt nicht möglich!“


„Das iſt ſehr möglich! Ich will dir nur ſoviel ver-
trauen, daß der Gouverneur mich nach meiner Rückkehr
von Amadijah zu den Weideplätzen der Araber ſenden
wird. Ich ſoll dort heimlich das Terrain ſtudieren, da-
mit ich ihm meine Vorſchläge machen kann.“


„Iſt dies wahr?“


„Ich ſage es dir im Vertrauen, folglich iſt es wahr.“


„Dann biſt du ein großer Vertrauter von ihm!“


„Vermutlich!“


„Und haſt Einfluß auf ihn!“


[190]

„Wenn dies der Fall wäre, ſo dürfte ich es doch
nicht behaupten. Sonſt könnte ich dieſen Einfluß doch
ſehr leicht verlieren.“


„Emir, du machſt mich beſorgt!“


„Warum?“


„Ich weiß, daß die Gnade des Muteſſarif nicht über
mir leuchtet. Sage mir, ob du wirklich ſein Freund und
Vertrauter biſt!“


„Er hat mir mitgeteilt, was er andern vielleicht nicht
ſagen würde, ſogar von ſeinem Zuge gegen die Dſcheſidi
hat er mir vorher geſagt; ob ich aber ſein Freund bin,
das iſt eine Frage, deren Beantwortung du mir erlaſſen
mußt.“


„Ich werde dich auf die Probe ſtellen, ob du wirk-
lich mehr weißt, als andere!“


„Thue es!“ ſagte ich zuverſichtlich, obgleich ich inner-
lich einige Beſorgnis fühlte.


„Auf welchen Stamm der Araber hat er es beſonders
abgeſehen?“


„Auf die Schammar.“


„Und auf welche Abteilung derſelben?“


„Auf die Haddedihn.“


Jetzt nahm ſein ſcharfes Geſicht einen lauernden
Ausdruck an.


„Wie heißt der Scheik derſelben?“


„Mohammed Emin. Kennſt du ihn?“


„Nein. Aber ich hörte, der Muteſſarif ſoll ihn ge-
fangen genommen haben. Er hat doch ſicher davon zu
dir geſprochen, da er dir ſein Vertrauen ſchenkte und dich
zu den Arabern ſenden will!“


Dieſer gute Mann machte wirklich eine Anſtrengung,
diplomatiſch zu ſein! Ich aber lachte ihm in das Geſicht.


„O Muteſſelim, du ſtellſt mich da ſehr hart auf die
[191] Probe! Iſt Amad el Ghandur ſo alt, daß du ihn mit
Mohammed Emin, ſeinem Vater, verwechſelſt!“


„Wie kann ich ſie verwechſeln, da ich beide noch nie
geſehen habe!“


Ich erhob mich.


„Laß uns unſer Geſpräch beenden! Ich bin kein
Knabe, den man narren darf. Aber wenn du den Ge-
fangenen ſehen willſt, ſo gehe hinab in das Gefängnis;
der Sergeant wird dir ihn zeigen. Ich ſage dir nur:
Halte es geheim: wer er iſt, und laß ihn ja nicht ent-
kommen! Solange der zukünftige Scheik der Haddedihn
ſich in der Gewalt des Muteſſarif befindet, kann dieſer
letztere den Arabern Bedingungen ſtellen. Jetzt erlaube,
daß ich gehe!“


„Emir, ich wollte dich nicht beleidigen. Bleibe!“


„Ich habe heute noch anderes zu thun.“


„Du mußt bleiben, denn ich habe dir ein Mahl be-
reiten laſſen!“


„Ich kann in meiner Wohnung ſpeiſen und danke
dir. Uebrigens ſteht draußen ein Kurde, der notwendig
mit dir zu ſprechen hat. Er war eher da als ich, und
darum wollte ich ihm den Vortritt laſſen; er war aber
ſo höflich, dies abzulehnen.“


„Er iſt ein Bote des Bey von Gumri. Er mag
warten!“


„Muteſſelim, erlaube, daß ich dich vor einem Fehler
warne!“


„Vor welchem?“


„Du behandelſt dieſen Bey wie einen Feind oder doch
wie einen Mann, den man nicht zu achten oder zu fürchten
braucht!“


Ich ſah es ihm an, daß er ſich Mühe gab, eine
zornige Aufwallung zu beherrſchen.


[192]

„Willſt du mir Lehren geben, Emir, du, den ich gar
nicht kenne?“


„Nein. Wie kann ich es wagen, dich belehren zu
wollen, da du mehr als mein Alter haſt! Bereits als
wir von der Magie ſprachen, habe ich dir bewieſen, daß
ich dich für weiſer halte, als daß ich dich belehren könnte.
Aber einen Rat darf auch der Jüngere dem Aelteren
erteilen!“


„Ich weiß ſelbſt, wie man dieſe Kurden zu behandeln
hat. Sein Vater war Abd el Summit Bey, der meinen
Vorgängern und beſonders dem armen Selim Zillahi ſo
große Mühe machte!“


„Soll ſein Sohn euch dieſelbe Mühe machen? Der
Muteſſarif braucht ſeine Truppen gegen die Araber, und
einen Teil derſelben muß er ſtets gegen die Dſcheſidi bereit
halten, denen er nicht trauen darf. Was wird er ſagen,
wenn ich ihm mitteile, daß du die Kurden von Berwari
ſo behandelſt, daß auch hier ein Aufſtand zu befürchten
ſteht, wenn ſie merken, daß der Gouverneur augenblicklich
nicht die Macht beſitzt, ihn niederzudrücken? Thue was
du willſt, Muteſſelim. Ich werde dir weder eine Lehre
noch einen Rat erteilen.“


Dieſes Argument frappierte ihn; das ſah ich ihm an.


„Du meinſt, daß ich den Kurden empfangen ſoll?“


„Thue, was du willſt. Ich wiederhole es!“


„Wenn du mir verſprichſt, bei mir zu eſſen, ſo werde
ich ihn in deiner Gegenwart hereinkommen laſſen.“


„Unter dieſer Bedingung kann ich hier bleiben; denn
ich gehe meiſt ja deshalb, damit er nicht meinetwegen noch
länger warten müſſe.“


Der Muteſſelim klatſchte in die Hände, und aus einer
Nebenthüre trat der Diener ein, welcher den Befehl erhielt,
den Kurden hereinzurufen. Dieſer ſchritt in ſtolzer Hal-
[193] tung in das Zimmer und grüßte mit einem kurzen „Sellam“,
ohne ſich zu bücken.


„Du biſt ein Bote des Bey von Gumri?“ fragte der
Kommandant.


„Ja.“


„Was hat mir dein Herr zu ſagen?“


„Mein Herr? Ein freier Kurde hat nie einen Herrn.
Er iſt mein Bey, mein Anführer im Kampfe, nicht aber
mein Gebieter. Dieſes Wort kennen nur die Türken und
Perſer.“


„Ich habe dich nicht rufen laſſen, um mich mit dir
zu ſtreiten. Was haſt du an mich auszurichten?“


Der Kurde mochte ahnen, daß ich die Urſache ſei,
daß er nicht länger zu warten brauchte. Er warf mir
einen verſtändnisvollen Blick zu und antwortete ſehr ernſt
und langſam:


„Muteſſelim, ich hatte etwas auszurichten; da ich
aber ſo lange warten mußte, habe ich es vergeſſen. Der
Bey muß dir alſo einen andern Boten ſenden, der es
wohl nicht vergeſſen wird, wenn er nicht zu warten braucht!“


Das letzte Wort ſprach er bereits unter der Thüre;
dann war er verſchwunden. Der Kommandant machte ein
ganz verblüfftes Geſicht. So etwas hatte er nicht erwar-
tet, während ich mir im ſtillen ſagte, daß kein europäiſcher
Ambaſſadeur korrekter hätte handeln können, als dieſer
junge, einfache Kurde. Es zuckte mir förmlich in den Bei-
nen, ihm nachzueilen, um ihm meine Achtung und Aner-
kennung auszuſprechen. Auch der Muteſſelim wollte ihm
nachſpringen, aber in etwas anderer Abſicht.


„Schurke!“ rief er aufſpringend. „Ich werde — —“


Er beſann ſich aber doch und blieb ſtehen. Ich ſtopfte
mir ſehr gleichmütig meinen Tſchibuk und brannte an.


„Was ſagſt du dazu, Emir?“ fragte er.


II. 13
[194]

„Daß ich es ſo kommen ſah. Ein Kurde iſt kein
heuchelnder Grieche und auch kein ſchmutziger Jude, der
ſich nicht einmal krümmt, wenn man ihn tritt. Was wird
der Bey von Gumri thun, und was wird der Muteſſarif
ſagen!“


„Du wirſt es ihm erzählen?“


„Ich werde ſchweigen, aber er wird die Folgen ſehen.“


„Ich laſſe dieſen Kurden zurückrufen!“


„Er wird nicht kommen.“


„Ich will ihm ja nicht zürnen!“


„Er wird das nicht glauben. Es giebt nur einen
einzigen, der ihn bewegen kann, zurückzukehren.“


„Wer iſt das?“


„Ich bin es.“


„Du?“


„Ja. Ich bin ſein Freund; er wird vielleicht auf
meine Stimme hören.“


„Du biſt ſein Freund? Du kennſt ihn?“


„Ich habe ihn in deinem Vorzimmer zum erſtenmal
geſehen. Aber ich ſprach zu ihm wie zu einem Manne,
welcher der Bote eines Bey iſt, und das hat ihn ſicher
zu meinem Freund gemacht.“


„Du weißt jedoch nicht, wo er ſich befindet!“


„Ich weiß es.“


„Wo iſt er? Fort von Amadijah. Sein Pferd ſtand
unten.“


„Er iſt in meiner Wohnung, wohin ich ihn einge-
laden habe.“


„Du haſt ihn eingeladen? Soll er bei dir eſſen?“


„Ich werde ihn als Gaſt empfangen; die Hauptſache
aber iſt, daß ich ihm eine Botſchaft an den Bey anzuver-
trauen habe.“


Der Muteſſelim ſtaunte immer mehr.


[195]

„Was für eine Botſchaft?“


„Ich denke, du biſt ein Diplomat? Frage den Mu-
teſſarif!“


„Emir, du ſprichſt in lauter Rätſeln!“


„Deine Weisheit wird ſie ſehr bald zu löſen wiſſen.
Ich will dir aufrichtig ſagen, daß du einen Fehler be-
gangen haſt, und da du weder eine Lehre noch einen Rat
von mir annehmen willſt, ſo erlaube mir wenigſtens,
dieſen Fehler wieder gut zu machen, indem ich dem Bey
von Gumri eine ſehr friedliche Botſchaft ſende!“


„Ich darf ſie nicht wiſſen?“


„Ich will es dir im Vertrauen mitteilen, trotzdem
es ein diplomatiſches Geheimnis iſt: Ich habe ihm ein
Geſchenk zu übermitteln.“


„Ein Geſchenk? Von wem?“


„Das darf ich allerdings nicht ſagen, aber du kannſt
es vielleicht erraten, wenn ich dir geſtehe, daß der be-
treffende Beamte und Gebieter, von dem es kommt, im
Weſten von Amadijah wohnt und ſehr wünſcht, daß der
Bey von Gumri ihm nicht feindlich geſinnt werde.“


„Herr, jetzt ſehe ich, daß du wirklich der Vertraute
des Muteſſarif von Moſſul biſt; denn von ihm kommt
das Geſchenk, du magſt es nun ſagen oder nicht!“


Der Mann war ein Schwachkopf und ganz unfähig
für ſein Amt. Ich erfuhr ſpäter, daß er die Kreatur
ſeines Vorgängers geweſen war, der ſelbſt auch den Sprung
vom Nefus Emini in Zilla in Kleinaſien zum Muteſſelim
von Amadijah gethan hatte. Mein Beſuch bei dieſem Kom-
mandanten hatte eine ganz unerwartete, frappante Wen-
dung erhalten. Für was er mich nahm, das konnte ich
zwar hören und vermuten, nicht aber ſicher behaupten;
und doch führte mich der eigentümliche Gang unſers Ge-
ſpräches dazu, ihm Dinge zu ſagen, Dinge wiſſen oder
[196] ahnen zu laſſen, von denen er recht wohl auf die Abſicht
unſerer Anweſenheit hätte ſchließen können. Er hatte
wohl kaum das rechte Zeug, ein guter Dorfälteſter, viel
weniger aber Muteſſelim zu ſein; aber doch dauerte er
mich im geheimen, wenn ich an die Verlegenheit dachte,
in welche ihn das Gelingen unſers Vorhabens bringen
mußte. Die Möglichkeit, ihn dabei zu ſchonen, wäre mir
willkommen geweſen; aber es gab ſie ja nicht.


Die Fortſetzung unſeres Geſpräches wurde aufge-
ſchoben, da man das Eſſen brachte. Es beſtand aus eini-
gen Stücken des geliehenen Hammels und einem mageren
Pillau. Der Kommandant langte fleißig zu und vergaß
dabei das Sprechen; als er ſich aber geſättigt hatte,
fragte er:


„Du wirſt den Kurden wirklich bei dir treffen?“


„Ja; denn ich glaube, daß er ſein Wort hält.“


„Und ihn wieder zu mir ſchicken?“


„Wenn du es haben willſt, ja.“


„Wird er auf dich warten?“


Dies war ein leiſer Fingerzeig, der ſeinen Grund
nicht in einem Mangel an Gaſtfreundlichkeit, ſondern in
der Beſorgnis hatte, daß der Bote die Geduld auch bei
mir verlieren werde. Darum antwortete ich:


„Er will bald aufbrechen, und darum wird es ge-
raten ſein, daß ich ihn nicht ermüde. Erlaubſt du, daß
wir gehen?“


„Unter der Bedingung, daß du mir verſprichſt, heute
abend abermals mein Gaſt zu ſein.“


„Ich verſpreche es. Wann wünſcheſt du, daß ich
komme?“


„Ich werde es dir durch Selim Agha wiſſen laſſen.
Ueberhaupt biſt du mir willkommen, wann und ſo oft
du kommſt.“


[197]

Unſer Gaſtmahl hatte alſo nicht lange Zeit in An-
ſpruch genommen. Wir brachen auf und wurden in ſehr
höflicher Weiſe von ihm bis hinunter vor das Thor be-
gleitet. Dort warteten unſere beiden Begleiter mit den
Pferden auf uns.


„Du haſt einen Baſchi-Bozuk bei dir?“ fragte der
Kommandant.


„Ja, als Khawaß. Der Muteſſarif bot mir ein
großes Gefolge an, doch ich bin gewohnt, mich ſelbſt zu
beſchützen.“


Jetzt erblickte er den Rappen.


„Welch ein Pferd! Haſt du es gekauft oder groß
gezogen?


„Es iſt ein Geſchenk.“


„Ein Geſchenk! Herr, der es dir ſchenkte, iſt ein
Fürſt geweſen! Wer war es?“


„Auch das iſt ein Geheimnis; aber du wirſt ihn
vielleicht bald ſehen.“


Wir ſtiegen auf, und ſofort brüllte Selim Agha
ſeiner Wachtparade, die auf uns gewartet hatte, den Be-
fehl entgegen:


„Silahlarile niſchanlaryn — zielt mit den Gewehren!“


Sie legten an, aber nicht zwei von den Flinten bil-
deten eine Linie miteinander.


„Tſchalghy, ſchamataji kylyn — Muſik, macht Lärm!“


Das vorige Wimmern und Kaffeemahlen begann.


„Hepſi herbiri halan atyn — ſchießt alle zugleich los!“


O weh! Kaum die Hälfte dieſer Mordgewehre hatte
den Mut, einen Laut von ſich zu geben. Der Agha rollte
die Augen; die Träger der konfuſen Schießinſtrumente
rollten auch die Augen und bearbeiteten die Schlöſſer
ihrer Vorderlader, aber erſt nachdem wir bereits um die
nächſte Ecke gebogen waren, erklang hier und da ein leiſes
[198] Gekläff, welches uns vermuten ließ, daß wieder einmal
ein Pfropfen aus dem Laufe geſchlingert worden ſei.


Als wir zu Hauſe anlangten, ſaß der Kurde in
meinem Zimmer auf meinem Teppich und rauchte aus
meiner Pfeife meinen Tabak. Das freute mich, denn es
bewies mir, daß unſere Anſichten über Gaſtlichkeit ganz
dieſelben ſeien.


„Kheïr ati, hemſcher — willkommen, Freund!“ be-
grüßte ich ihn.


„Wie, du redeſt kurdiſch?“ fragte er erfreut.


„Ein wenig nur, aber wir wollen es verſuchen!“


Ich hatte Halef den Befehl gegeben, für mich und
den Gaſt bei irgend einem Speiſewirte etwas Eßbares
aufzutreiben, und konnte mich alſo dem Boten des Bey
von Gumri ruhig widmen. Ich ſteckte mir nun auch eine
Pfeife an und ließ mich an ſeiner Seite nieder.


„Ich habe dich länger warten laſſen, als ich wollte,“
begann ich; „ich mußte mit dem Muteſſelim eſſen.“


„Herr, ich habe gern gewartet. Die ſchöne Jungfrau,
welche deine Wirtin iſt, mußte mir eine Pfeife reichen,
und dann habe ich mir von deinem Tabak genommen. Ich
hatte dein Angeſicht geſehen und wußte, daß du mir nicht
darüber zürnen würdeſt.“


„Du biſt ein Krieger des Bey von Gumri; was mein
iſt, das iſt auch dein. Auch muß ich dir danken für das
Vergnügen, welches du mir bereitet haſt, als ich mich bei
dem Kommandanten befand.“


„Welches?“


„Du biſt ein Jüngling, aber du haſt als Mann ge-
handelt, als du ihm deine Antwort gabſt.“


Er lächelte und ſagte:


„Ich hätte anders mit ihm geſprochen, wenn ich allein
geweſen wäre.“


[199]

„Strenger?“


„Nein, ſondern milder. Da aber ein Zeuge zugegen
war, ſo mußte ich die Ehre deſſen wahren, der mich ge-
ſendet hat.“


„Du haſt deinen Zweck erreicht. Der Muteſſelim
wünſcht, daß du zu ihm zurückkehrſt, um deine Botſchaft
auszurichten.“


„Ich werde ihm dieſen Gefallen nicht erweiſen.“


„Auch mir nicht?“


Er blickte auf.


„Wünſcheſt du es?“


„Ich bitte dich darum. Ich habe ihm verſprochen,
dieſe Bitte an dich zu richten.“


„Kennſt du ihn? Biſt du ſein Freund?“


„Ich habe ihn noch niemals geſehen und war heute
zum erſtenmal bei ihm.“


„So will ich dir ſagen, was für ein Mann er iſt.
Eigentlich ſchildere ich dir dieſen Mann am beſten, wenn
ich dir weiter nichts ſage, als daß der Saliahn *) jetzt
nur kaum zwanzigtauſend Piaſter für Amadijah einbringt,
und daß er nicht, wie es doch an der Regel wäre, die
Pacht der Steuern hat. Die hat man ihm genommen.
Der Sultan hört ſelten eine Beſchwerde an; hier aber hat
er hören müſſen, denn es war zu himmelſchreiend. Er
plünderte die Einwohner dermaßen, daß ſie auch im
Winter im Gebirge blieben und ſich nicht in die Stadt
zurückwagten. Nun iſt der ganze Diſtrikt verarmt, und
der Hunger iſt ein ſteter Gaſt der Leute geworden. Der
Muteſſelim braucht immer Geld und borgt, und wer ihm
da nicht zu Willen iſt, der hat ſeine Rache zu befürchten.
Uebrigens iſt er ein feiger Menſch, der nur gegen den
Schwachen mutig iſt. Seine Soldaten hungern und frieren,
[200] weil ſie weder Speiſe noch Kleidung erhalten, und ihre
guten Gewehre hat er gegen ſchlechte umgetauſcht, um den
Profit für ſich zu nehmen, und wenn für die paar Kano-
nen, welche die Feſtung verteidigen ſollen, das Pulver
kommt, ſo verkauft er es an uns, um Geld zu erhalten.“


Das war alſo eine echt türkiſche Wirtſchaft! Nun
brauchte ich mich nicht über die effektvolle Schießübung zu
wundern, deren Augen- und Ohrenzeuge ich geweſen war.


„Und wie ſteht er mit deinem Bey?“ erkundigte ich
mich.


„Nicht gut. Es kommen viele Kurden nach der Stadt,
entweder um hier einzukaufen oder Lebensmittel zu ver-
kaufen. Für dieſe hat er eine hohe Steuer eingeführt, die
der Bey nicht leiden will. Auch maßt er ſich in vielen
Fällen eine Gewalt über uns an, die ihm gar nicht ge-
hört. Zwei Kurden haben ſich kürzlich in Amadijah Blei
und Pulver gekauft, und man verlangte ihnen am Thore
eine Steuer dafür ab. Das war noch nie vorgekommen;
ſie hatten nicht genug Geld zur Bezahlung der Steuer,
welche noch höher war, als der Preis der ſo ſchon teuren
Ware, und ſo wurden ſie in das Gefängnis geſteckt. Der
Bey verlangte ihre Freiheit und gab zu, daß man das
Pulver und Blei konfiszieren möge; aber der Muteſſelim
ging nicht darauf ein. Er verlangte die konfiszierte Ware,
den Zoll, eine Strafſumme und dann auch noch Bezah-
lung der Unterſuchungs- und Gefängniskoſten, ſo daß aus
zwanzig Piaſtern hundertundvierzig geworden ſind. Ehe
dieſe nicht bezahlt werden, gibt er die Leute nicht los
und rechnet ihnen zehn Piaſter für den Tag als Ver-
pflegungsgelder an.“


„In dieſer Angelegenheit wollteſt du mit ihm reden?“


„Ja.“


„Sollteſt du die Summe bezahlen?“


[201]

„Nein.“


„Nur unterhandeln? Das würde zu nichts führen.“


„Ich ſoll ihm ſagen, daß wir jeden Mann aus Ama-
dijah, der unſer Gebiet betritt, gefangen nehmen und zu-
rückhalten werden, bis die beiden Männer wieder bei
uns ſind.“


„Alſo Repreſſalien! Das würde keine großen Folgen
haben, denn ihm iſt es wohl ſehr gleich, ob ein Bewohner
Amadijahs euer Gefangener iſt oder nicht. Und ſodann
müßt ihr bedenken, daß aus einem ſolchen Verfahren ſehr
leicht bedeutende Konflikte entſtehen können. Das beſte
würde ſein, wenn es dieſen Männern gelänge, zu ent-
fliehen.“


„Das ſagt auch der Bey; aber eine Flucht iſt nicht
möglich.“


„Warum nicht? Iſt die Bewachung ſtreng?“


„O, die Wächter machen uns keine Sorge. Es iſt
ein Sergeant mit drei Männern, die wir bald überwäl-
tigt hätten; aber das könnte einen Lärm ergeben, der uns
gefährlich werden möchte.“


„Gefährlich? Hm!“


„Die Hauptſache aber: es iſt ganz unmöglich, in das
Gefängnis zu kommen.“


„Warum?“


„Die Mauern ſind zu ſtark, und der Eingang mit
zwei Thüren verſchloſſen, die mit ſtarkem Eiſen beſchlagen
ſind. Das Gefängnis ſtößt an den Garten dieſes Hauſes,
wo der Agha der Arnauten wohnt; jedes ungewöhnliche
Geräuſch kann ihn aufmerkſam machen und uns verderb-
lich werden. Wir müſſen auf den Gedanken einer Flucht
verzichten.“


„Auch wenn ihr einen Mann findet, der bereit iſt,
euch behilflich zu ſein?“


[202]

„Wer wäre dies?“


„Ich!“


„Du, Emir? O, das wäre gut! Und wie wollte ich
dir danken! Die beiden Männer ſind mein Vater und
mein Bruder.“


„Wie iſt dein Name?“


„Dohub. Meine Mutter iſt eine Kurdin von dem
Stamme der Dohubi.“


„Ich muß dir ſagen, daß ich ſelbſt hier fremd bin
und alſo nicht weiß, wie eine Flucht zu bewerkſtelligen
iſt; aber dein Bey wurde mir empfohlen, und auch dir
bin ich gewogen. Ich werde bereits morgen forſchen, was
man in dieſer Angelegenheit unternehmen kann.“


Hinter dieſer Zuſicherung verſteckte ſich allerdings
auch ein kleiner Eigennutz. Es war ja ſehr leicht möglich,
daß wir der Unterſtützung des Bey von Gumri bedurften,
und dieſer konnten wir uns am beſten verſichern, wenn
wir ſeine eigenen Leute in Schutz nahmen.


„Du meinſt alſo, daß ich zum Muteſſelim gehen ſoll?“


„Ja, gehe zu ihm und verſuche dein Heil noch ein-
mal durch Verhandlung; ich habe mir Mühe gegeben, ihn
zu bearbeiten, daß er deine Verwandten vielleicht frei-
willig entläßt.“


„Herr, hätteſt du dies wirklich gethan?“


„Ja.“


„Wie haſt du es angefangen?“


„Dir dies zu ſagen, würde zu weit führen; aber ich
werde dir einige Worte aufſchreiben, die dir vielleicht von
Nutzen ſein werden, wenn du meinem Rate Folge leiſteſt.“


„Welchen Rat giebſt du mir?“


„Sprich nicht zu ihm von Repreſſalien. Sage zu
ihm, wenn er die Gefangenen nicht heute noch freigäbe,
ſo würdeſt du ſofort zum Muteſſarif nach Moſſul reiten
[203] und ihm ſagen, daß die Berwari-Kurden ſich erheben
werden. Dabei mußt du vorübergehend erwähnen, daß
du durch das Gebiet der Dſcheſidi reiten und mit Ali
Bey, ihrem Feldherrn, reden wirſt.“


„Herr, das iſt zuviel geſagt und auch zuviel gewagt!“


„Thue es dennoch; ich rate es dir und habe meinen
Grund dazu. Er hält die Gefangenen wohl meiſt des-
halb ſo feſt, weil er euch Geld abpreſſen will, welches er
ſehr nötig brauchte; jetzt aber fällt dieſer Grund fort,
weil wir ihm ein bedeutendes Geſchenk an Piaſtern ge-
macht haben.“


„So werde ich zu ihm gehen!“


„Und zwar jetzt gleich. Dann aber kommſt du wieder
zu mir, damit ich dir meine Botſchaft an den Bey ſagen
kann!“


„Ich ſchrieb auf ein Blatt meines Notizbuches fol-
gende Worte in türkiſcher Sprache: „Erlaube mir, dir
das Anliegen dieſes Kurden an das Herz zu legen, und
vermeide es, den Muteſſarif zu erzürnen!“ Nachdem ich
meinen Namen hinzugefügt hatte, übergab ich Dohub dieſe
Zeilen, mit denen er ſich eilig entfernte.


Ich hatte die Kühnheit, mich als einflußreiche Per-
ſönlichkeit zu fühlen; ich handelte abenteuerlich, das iſt
wahr; aber der Zufall hatte mich nun einmal, ſozuſagen,
an eine Kletterſtange geſtellt und mich bis über die Hälfte
derſelben emporgeſchoben; ſollte ich wieder herabrutſchen
und den Preis aufgeben, da es doch nur einer Motion
bedurfte, um vollends empor zu kommen?


Da kam Halef zurück und brachte eine ſolche Ladung
kalter Speiſen und Früchte, als habe er uns für eine
Woche zu verproviantieren.


„Sehr reichlich, Hadſchi Halef Omar!“ ſagte ich.


„Allah akbar; Allah iſt groß, Sihdi, aber mein
[204] Hunger iſt noch größer. Weißt du, daß ich und der kleine
Ifra ſeit heute morgen in Spandareh gar nichts gegeſſen
haben?“


„So eßt! Aber trage vor allen Dingen hier auf,
damit mein Gaſt nicht hungrig von mir geht. Haſt du
Wein?“


„Nein. Du biſt ein echter Gläubiger geworden und
willſt noch immer den Trank der Ungläubigen genießen!
Allah kerihm; ich bin ein Moslem und ſoll in Amadijah
Wein verlangen?“


„So werde ich mir ſelbſt welchen holen. Verſteheſt du!“


„Nein, Sihdi, das ſollſt du nicht; aber hier reden
viele Leute kurdiſch, was ich gar nicht verſtehe, und das
Türkiſche kenne ich nur wenig. Ich kann alſo nur Dinge
kaufen, deren Namen ich weiß.“


„Wein heißt türkiſch Scharab und kurdiſch Scherab;
das iſt ſehr leicht zu merken. Maſter Lindſay will welchen
haben; alſo geh und hole!“


Er ging. Als ſich dabei die Thür öffnete, hörte ich
unten die ſcheltende Stimme Merſinahs, in welche ſich die
bittende Stimme eines Mannes miſchte, und gleich darauf
kehrte Halef zurück.


„Sihdi, es iſt ein Mann unten, den die Wirtin nicht
herauf laſſen wollte.“


„Wer iſt es?“


„Ein Bewohner von Amadijah, deſſen Tochter krank iſt.“


„Was hat dies mit uns zu thun?“


„Verzeihe, Sihdi! Als ich vorhin Brot kaufte, kam
ein Mann gerannt, der mich beinahe über den Haufen
riß. Ich fragte ihn, was er ſo eilig zu laufen habe, und
er ſagte mir, daß er nach einem Hekim *) ſuche, weil ſeine
Tochter ganz plötzlich krank geworden ſei und vielleicht
[205] ſterben müſſe. Da riet ich ihm, zu dir zu kommen, wenn
er keinen Arzt finden könne, und nun iſt er da.“


„Das haſt du dumm gemacht, Halef. Du weißt ja,
daß ich die kleine Apotheke, aus welcher ich am Nil
kurierte, gar nicht mehr beſitze!“


„O, Sihdi, du biſt ein großer Gelehrter und kannſt
einen Kranken auch ohne die Körner geſund machen, die
du damals gabſt.“


„Aber ich bin doch eigentlich kein Arzt!“


„Du kannſt alles!“


Was war zu thun? Halef hatte in Erinnerung an
die damaligen Bakſchiſch jedenfalls wieder einmal ſehr
Großes von mir berichtet, und ich war nun derjenige, der
den angeſchnittenen Apfel zu verſpeiſen hatte.


„Die Wirtin iſt klüger wie du, Halef! Aber gehe
und hole den Mann herauf!“


Er ging und ſchob bald nachher einen Mann herein,
dem der Schweiß von der Stirn in den Bart herabtropfte.
Es war ein Kurde; das ſah man an dem Tolik *), der
ihm unter dem etwas gelüpften Turban hervor über die
Stirne herabfiel; doch trug er türkiſche Kleidung.


„Sallam!“ grüßte er eilig. „O Herr, komm ſchnell,
ſonſt ſtirbt meine Tochter, die bereits von dem Himmel
redet!“


„Was fehlt ihr?“


„Sie iſt von einem böſen Geiſt beſeſſen, der ſie um-
bringen wird.“


„Wer ſagte das?“


„Der alte türkiſche Hekim, den ich holte. Er hat ihr
ein Amulet umgehangen, aber er meinte, daß es nicht
helfen werde.“


„Wie alt iſt deine Tochter?“


[206]

„Sechzehn Jahre.“


„Leidet ſie an Krämpfen oder Fallſucht?“


„Nein, ſie iſt niemals krank geweſen bis auf den
heutigen Tag.“


„Was thut der böſe Geiſt mit ihr?“


„Er iſt ihr in den Mund gefahren, denn ſie klagte,
daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die
Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund
iſt rot und auch ihr Geſicht, und nun liegt ſie da und
redet von den Schönheiten des Himmels, in den ſie
blicken kann.“


Hier war ſchleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden-
falls eine Vergiftung vor.


„Ich will ſehen, ob ich dir helfen kann. Wohneſt
du weit von hier?“


„Nein.“


„Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?“


„Nein.“


„So komm ſchnell!“


Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gaſſen
und dann in ein Haus, deſſen Aeußeres eine gewiſſe
Stattlichkeit zeigte. Der Beſitzer desſelben konnte nicht
zu den ärmeren Leuten gehören. Wir paſſierten zwei
Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem
niedrigen Polſter lag ein Mädchen lang ausgeſtreckt auf
dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende
Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der
ſeinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke
gerichtet, laute Gebete murmelte.


„Biſt du der Hekim?“ fragte ich ihn.


„Ja.“


„Was fehlt dieſer Kranken?“


„Der Teufel iſt in ſie gefahren, Herr!“


[207]

„Albernheit! Wenn der Teufel in ihr ſteckte, würde
ſie nicht von dem Himmel ſprechen.“


„Herr, das verſtehſt du nicht! Er hat ihr das Eſſen
und Trinken verboten und ſie ſchwindelig gemacht.“


„Laßt mich ſie ſehen!“


Ich ſchob die Weiber beiſeite und kniete neben ihr
nieder. Es war ein ſehr ſchönes Mädchen.


„Herr, rette meine Tochter vom Tode,“ jammerte
eine der Frauen, „und wir werden dir alles geben, was
wir beſitzen.“


„Ja,“ beſtätigte der Mann, welcher mich geholt hatte.
„Alles, alles ſollſt du haben, denn ſie iſt unſer einziges
Kind, unſer Leben.“


„Rette ſie,“ ertönte eine Stimme aus dem Hinter-
grunde des Raumes; „ſo ſollſt du Reichtum beſitzen und
Gottes Liebling ſein!“


Ich ſchaute nach dieſer Gegend hin und erblickte eine
alte Frau, deren Aeußeres mich ſchaudern machte. Sie
ſchien ihre hundert Jahre zu zählen; ihre Geſtalt war
tief gebeugt und beſtand wohl nur aus Haut und Knochen;
ihr fürchterlich hageres Geſicht machte geradezu den Ein-
druck eines Totenkopfes, aber von ihrem Haupte hingen
ſchwere weiße Haarzöpfe faſt bis auf den Boden herab.


„Ja, rette ſie, rette mein Urenkelkind!“ wiederholte
ſie, indem ſie bittend die gefalteten, ausgedorrten Hände
erhob, von denen ein Roſenkranz hernieder hing. „Ich
werde niederknieen und zur ſchmerzensreichen Mutter
Gottes bitten, daß es dir gelingen möge.“


Eine Katholikin! Hier unter den Kurden und Türken!


„Bete,“ antwortete ich ergriffen; „ich werde verſuchen,
ob hier ein Menſch noch helfen kann!“


Die Kranke lag da mit offenen, heiteren Augen; aber
ihre Pupillen waren ſehr erweitert. Ihr Angeſicht war
[208] ſtark gerötet, Atem und Puls gingen ſchnell, und ihr Hals
bewegte ſich unter einem krampfhaften Würgen. Ich frug
gar nicht, wann die Krankheit ausgebrochen ſei; ich war
Laie, aber ich hatte die Ueberzeugung, daß die Kranke
Belladonna oder Stramonium genoſſen habe.“


„Hat deine Tochter gebrochen?“ fragte ich den Mann.


„Nein.“


„Haſt du einen Spiegel?“


„Einen kleinen hier.“


„Gieb ihn her!“


Der alte Hekim lachte heiſer:


„Der böſe Geiſt ſoll ſich im Glaſe beſehen!“


Ich antwortete ihm gar nicht und ließ das durch
die Fenſteröffnung eindringende Licht der bereits nieder-
ſteigenden Sonne ſo auf den Spiegel fallen, daß es auf
das Geſicht der Kranken gebrochen wurde. Der blendende
Strahl übte keine Wirkung auf die Iris der Kranken aus.


„Wann hat deine Tochter zum letztenmal gegeſſen?“
fragte ich.


„Das weiß ich nicht,“ antwortete der Vater. „Sie
war allein.“


„Wo?“


„Hier.“


„Es iſt kein böſer Geiſt in ſie gefahren, ſondern ſie
hat ein Gift gegeſſen oder getrunken!“


„Allah il Allah! Iſt das wahr, Herr?“


„Ja.“


„Glaubt es nicht!“ mahnte der Hekim. „Der Teufel
iſt in ihr.“


„Schweig, alter Narr! Habt ihr Citronen hier?“


„Nein.“


„Kaffee?“


„Ja.“


[209]

„Könnt ihr Galläpfel bekommen?“


„Deren wachſen viel in unſern Wäldern. Wir haben
welche im Hauſe.“


„Macht ſchnell einen ſehr ſtarken, heißen Kaffee fertig
und kocht Galläpfel in Waſſer. Schickt auch nach Citronen!“


„Ha, er will den Teufel mit Galläpfeln, Citronen
und Kaffee füttern!“ verwunderte ſich der Hekim, indem
er vor Entſetzen die Hände zuſammenſchlug.


Ich ſteckte in Ermangelung von etwas anderem den
Finger in den Mund der Kranken, um ſie zum Erbrechen
zu reizen, wobei ich den Finger durch den Griff meines
Meſſers vor ihren Zähnen ſchützte. Nach einiger Mühe
gelang das Experiment, wenn auch unter der ſchmerzlichſten
Anſtrengung des Mädchens. Ich wiederholte es, doch
war die Entleerung nicht hinlänglich.


„Giebt es eine Etſchzaga *) in der Nähe?“ fragte ich,
da ein Vomitiv notwendig war.


„In derſelben Gaſſe.“


„Komm ſchnell; führe mich!“


Wir gingen. Mein Führer blieb vor einem kleinen
Laden ſtehen.


„Hier wohnt der Attar!“ **) ſagte er.


Ich trat in die kleine Budika und ſah mich von
einem Chaos von allerlei nötigen und unnötigen Dingen um-
geben. Ranzige Pomaden, Pfeifenrohre, alte vertrocknete
Pflaſter und Talglichter, Rhabarber und brauner Zucker
in einem Kaſten, Kaffeebohnen neben Lindenblüten, Pfeffer-
körner und geſchabte Kreide, Sennesblätter in einer Büchſe,
auf welcher „Honig“ ſtand; Drahtnägel, Ingwer und
Kupfervitriol, Seife, Tabak und Salz, Brillen, Eſſig,
Charpie, Spießglanz, Tinte, Hanfſamen, Gallizenſtein,
Zwirn, Gummi, Baldrian, Knöpfe und Schnallen, Teer,
II. 14
[210] eingemachte Walnüſſe, Teufelsdreck und Feigen. — Alles
lag hier friedlich bei-, neben-, unter-, über- und durch-
einander, und dabei ſaß ein ſchmutziges Männlein, welches
grad ſo ausſah, als habe es alle dieſe Mittel und In-
gredienzien ſoeben innerlich und äußerlich an ſich ſelbſt
probiert. Welches Unheil hatte dieſer Attar wohl bereits
angerichtet!


Ich konnte für meine Zwecke nur Kupfervitriol be-
kommen und nahm noch ein Fläſchchen Salmiakgeiſt mit.
Das erſtere wirkte nach unſerer Rückkehr zur Kranken
recht befriedigend. Dann gab ich ihr ſtarken Kaffee mit
Citronenſaft und dann den Galläpfelaufguß. Hierauf
ſchärfte ich zur Verhütung eines etwaigen Steck- und
Schlagfluſſes ihren Verwandten ein, ſie durch Schütteln,
Beſpritzen mit kaltem Waſſer und Riechenlaſſen an dem
Salmiakgeiſt möglichſt am Einſchlafen zu verhindern, und
verſprach baldigſt wiederzukommen.


Dieſe Behandlung war wohl keine ganz richtige, aber
ich verſtand es nicht beſſer, und — ſie hatte Erfolg.
Nun konnte ich, da die augenblickliche Gefahr entfernt zu
ſein ſchien, auch an anderes denken. Ich blickte mich im
Zimmer genau um, und ſah ein kleines Körbchen in der Ecke
ſtehen, welches noch ziemlich mit Maulbeeren gefüllt war.
Zwiſchen dieſen ſah ich mehrere — Tollkirſchen liegen.


„Willſt du den böſen Geiſt ſehen, der in die Kranke
gefahren iſt?“ fragte ich den Hekim.


„Einen Geiſt kann man nicht ſehen. Und ſelbſt wenn
dies möglich wäre, könnteſt du ihn mir nicht zeigen, da
du nicht an ihn glaubſt. Wenn das Mädchen nicht ſtirbt,
ſo hat mein Amulett geholfen.“


„Haſt du nicht geſehen, daß ich es ihr ſofort vom
Halſe nahm? Hier liegt es, ich werde es öffnen.“


„Das darfſt du nicht!“ rief er, ſchnell zugreifend.


[211]

„Laß ab, Alter! Meine Hand iſt kräftiger als die
deinige. Warum darf ich es nicht öffnen?“


„Weil ein Zauber darinnen iſt. Du würdeſt ſofort
von demſelben Geiſte beſeſſen werden, der in dem Mäd-
chen ſteckt!“


„Wollen ſehen!“


Er wollte es verhindern, aber ich öffnete das vier-
eckig zuſammengenähte Stück Kalbleder und — fand da-
rinnen eine tote Fliege.


„Laß dich nicht auslachen mit dieſem unſchuldigen
Tierchen!“ lachte ich, indem ich die Fliege zu Boden
fallen ließ und zertrat. „Nun, wo iſt dein Geiſt, der
mich befallen ſoll?“


„Warte nur; er wird kommen!“


„Ich werde dir den Teufel zeigen, der dieſe Krank-
heit verſchuldet hat. Schau her! Was iſt das? Du biſt
ein Hekim und mußt dieſe Beeren kennen!“


Ich hielt ihm die Tollkirſche entgegen, und er erſchrak.


„Allah ſei uns gnädig! Das iſt ja die Oelüm kires! *)
Wer dieſe ißt, der muß ſterben, der iſt verloren, der kann
nicht gerettet werden!“


„Nun, von dieſen Früchten hat die Kranke gegeſſen;
das habe ich an ihren Augen geſehen. Wer von ihnen
genießt, deſſen Augen werden größer; das merke dir!
Und nun ſetze deinen Turban auf und mache dich von
hinnen, ſonſt zwinge ich dich, von dieſen Todeskirſchen
zu genießen, damit du ſieheſt, ob dir eine Sin-ek **) das
Leben retten wird!“


Ich nahm die Kirſchen in die Hand und ſchritt auf
ihn zu. Da ſtülpte er in wahrer Todesangſt den Turban
auf ſein kahl geſchorenes Haupt und nahm ſehr eilig und
ohne allen Abſchied Reißaus.


[212]

Die Anweſenden ſahen ein, daß ich recht hatte. Auch
ohne meine Worte ſagte es ihnen die günſtige Veränderung,
welche mit der Kranken vorgegangen war. Sie ergingen
ſich in den ehrfurchtsvollſten Dankesbezeigungen, denen
ich nur dadurch ein Ende machen konnte, daß ich mich
ſchnell entfernte. Ich hinterließ die Weiſung, mich bei
einer etwaigen Verſchlimmerung gleich holen zu laſſen.


Als ich in meiner Wohnung anlangte, traf ich Mer-
ſinah, welche ſoeben mit wütender Gebärde und mit einem
großen Löffel in der Hand aus der Küche geſchoſſen kam.
Hinter ihr flog ein großer, naſſer Hader, der ſo vortreff-
lich gezielt war, daß er ihre kleinen, wirren Knackwurſt-
zöpfe erreichte und ſich ſehr liebevoll um ihr ehrwürdiges
Haupt herumſchlang. Zugleich ertönte aus dem Innern
des auf ſolche Weiſe entweihten Heiligtums die Stimme
von Hadſchi Halef Omar hervor:


„Warte, alter Drache!“ rief er; „du ſollſt mir noch
einmal über meinen guten Kaffee kommen!“


Sie wickelte ſich aus der feuchten Umarmung des
Hadern heraus und ballte denſelben zuſammen, jedenfalls
um ihn in eine rückgängige Bewegung zu verſetzen; da
erblickte ſie mich.


„O, Emir, wie gut iſt es, daß du kommſt! Errette
mich von dieſem wütenden Menſchen!“


„Was giebt es denn, o Roſe von Amadijah!“


„Er ſagte, er hätte in deiner Büchſe meinen Kaffee
gefunden und in meiner Tüte den deinigen.“


„Das iſt wohl auch wahr?“


„Wahr? Ich ſchwöre es dir bei Ayeſcha, der Mutter
aller Heiligen, daß ich deine Büchſe nicht angerührt
habe!“


„So, du Großmutter aller Lügnerinnen und Spitz-
buben!“ ertönte es aus der Küche. „Du biſt nicht über
[213] unſern Kaffee geraten, von dem mich zweihundert Drehm *)
fünfundzwanzig gute Piaſter koſten? Ich werde es dem
Sihdi doch beweiſen!“


Er kam aus der Küche, in der Rechten die neuge-
kaufte Kaffeebüchſe und in der Linken eine große, geöffnete
Papiertüte.


„Sihdi, du kennſt den Kaffee von Harimah?“


„Du weißt es, daß ich ihn kenne.“


„Suche einmal, wo er iſt!“


Ich unterwarf die Büchſe und auch die Tüte einer
ſehr eingehenden und ernſthaften Okularinſpektion.


„Er iſt in allen beiden, aber mit ſchlechteren Bohnen
und gedörrten Schalen vermiſcht.“


„Siehſt du wohl, Effendi! Ich habe guten Harimah
gekauft, und hier dieſe Mutter und Urgroßmutter eines
Räubers und Spitzbuben kocht nur ſchlechten Kaffee, mit
Schalen vermengt. Siehſt du nun, daß ſie über meine
Büchſe geraten iſt!“


„Sihdi, du biſt ein gewaltiger Krieger, ein großer
Gelehrter und der weiſeſte aller Richter,“ entgegnete die
‚Myrte‘, indem ſie dem Hadſchi ihren Hader ſehr unter-
nehmend vor der Naſe herumſchwenkte. „Du wirſt dieſen
Vater eines Uebelthäters und Sohn eines Verleumders
ſtreng beſtrafen!“


„Beſtrafen?“ rief Halef ganz erſtaunt. „Auch noch!“


„Ja,“ entſchied ſie ſehr beſtimmt; „denn er iſt es,
der über meine Tüte geraten iſt und mich betrogen hat.
Nur er allein hat den Kaffee vermiſcht, um mir und
meinem Hauſe vor deinen Augen Schande zu bereiten!“


„O, du Ausbund aller neununddreißig Laſter!“ zürnte
Halef ganz ergrimmt; „du willſt es wagen, mich, mich
[214] zum Diebe zu machen? Wäreſt du nicht ein Weib, ſo
würde ich dich — — —“


„Halt, Halef, zanke nicht, denn ich bin da und werde
ein gerechtes Urteil ſprechen! Merſinah, du behaupteſt,
daß dieſer Halef Omar die beiden Arten des Kaffees
untereinander gemengt hat?“


„Ja, Emir!“


„So hat er das Seinige zu dieſem ſchwierigen Rechts-
falle beigetragen. Nun thue du auch das Deinige und
lies die Sorten wieder auseinander! Ich werde bald nach-
ſehen, ob es geſchehen iſt, und dann mein Urteil ſprechen.“


Sie öffnete den Mund, um mir mitzuteilen, daß ſie
geſonnen ſei, Einſpruch oder Nichtigkeitsbeſchwerde zu er-
heben, doch Halef kam ihr zuvor:


„Das muß aber ſchnell geſchehen, denn wir brauchen
den Kaffee ſehr notwendig!“


„Warum?“ fragte ich.


„Du haſt ja Gäſte oben!“


„Wen?“


„Drei Kurden, welche auf dich warten. Derjenige,
welcher dich bereits beſuchte, iſt dabei.“


„So hole einſtweilen raſch andern Kaffee!“


Ich ſtieg haſtig die Treppe empor, denn die zwei
andern Kurden konnten doch wohl nur die beiden Ge-
fangenen ſein. Dieſe Vermutung beſtätigte ſich. Als ich
eintrat, erhoben ſie ſich, und Dohub ſprach:


„Hier iſt der Emir, der euch gerettet hat! O Effendi,
der Muteſſelim hat deine Worte geleſen und mir den
Vater und den Bruder zurückgegeben!“


„Sagteſt du ihm, daß du bald nach Moſſul gehen
würdeſt?“


„Ja. Dein Rat war gut, denn der Kommandant
wurde ſofort freundlicher, und als ich ihm deinen Brief
[215] gab, ließ er Selim Agha rufen, der die Gefangenen
bringen mußte.“


„Wie iſt es mit dem Zoll und der Strafe?“


„Er hat uns alles erlaſſen, aber das Pulver und
Blei erhielten wir nicht zurück. Emir, ſage uns, wie wir
dir danken ſollen!“


„Kennſt du den Nezanum von Spandareh?“


„O, ſehr gut! Seine Tochter iſt das Weib unſeres
Bey, und er kommt ſehr oft nach Gumri, um beide zu
beſuchen.“


„Er iſt auch mein Freund. Ich war bis heute früh
bei ihm, und er bat mich, den Bey zu beſuchen, wenn ich
nach Gumri komme.“


„Komm, Herr, komm zu uns. Dein Empfang ſoll beſſer
ſein, als wenn der Muteſſelim oder der Muteſſarif käme!“


„Ich werde vielleicht kommen; aber bis dahin dürften
wohl noch einige Tage vergehen. Der Nezanum hat mir
ein Paket übergeben, welches ich dem Bey überreichen
ſollte. Es darf nicht lange hier liegen bleiben, und darum
bitte ich euch, es mit nach Gumri zu nehmen. Grüßt
mir den Bey und ſagt ihm, daß ich ſein Freund ſei und
ihm alles Glück und Gute wünſche!“


„Das iſt die Botſchaft, die du uns aufzutragen haſt?“


„Ja.“


„Es iſt zu wenig, Herr!“


„Vielleicht könnt ihr mir ſpäter eine Liebe erweiſen.“


„Wir thun es. Komm nur und befiehl, was du von
uns wünſcheſt!“


„Würdet ihr einem Freunde von mir Schutz ge-
währen, wenn er von dem Muteſſelim verfolgt wird und
ſich zu euch flüchtet?“


„Der Kommandant würde ihn nie zu ſehen be-
kommen!“


[216]

Ich wandte mich zu dem älteren der beiden andern,
denen man die Entbehrungen anmerkte, denen ſie während
ihrer Gefangenſchaft unterworfen geweſen waren.


„Wißt ihr, wer mit euch gefangen war?“


„Nein,“ antwortete er. „Ich ſtak in einem finſteren
Loche, welches nur ganz wenig Licht erhielt, und ich konnte
weder etwas hören, noch etwas ſehen.“


Seinem Sohne war es ebenſo ergangen.


„Iſt der Sergeant, der euch bewachte, ein böſer
Mann?“


„Er hat nie mit uns geſprochen. Die einzige menſch-
liche Stimme, welche wir zu hören bekamen, war diejenige
des alten ſchmutzigen Weibes, welches uns das Eſſen
brachte.“


„Wie ſind die Wege von hier nach Gumri?“


„Du mußt zunächſt in das Thal von Berwari hinab,
und zwar auf einem Pfade, der ſo ſteil und gefährlich iſt,
daß man nicht reiten kann, ſondern die Pferde am Zügel
führen muß. Das Thal iſt reich von Eichen bewaldet
und enthält Dörfer, welche teils von Kurden und teils
von neſtorianiſchen Chaldäern bewohnt werden. Auch
durch die dürre Ebene wirſt du kommen, welche wir New-
daſcht nennen und in der das kurdiſche Dorf Maglano
liegt; dann erreicheſt du den kurdiſchen Weiler Hajis, in
welchem nur einige arme Familien wohnen. Du mußt
über viele Gewäſſer hinweg, die alle dem Zab zufließen,
und erblickſt Gumri ſchon von weitem, da es auf einem
hohen Felſen erbaut iſt, welcher ganz allein in der Ebene
ſteht.“


Nach dieſen und andern notwendigen Erkundigungen
lud ich ſie zum Eſſen ein. Die beiden frei gewordenen
Gefangenen langten mit einem Heißhunger zu, der mich
wohl erkennen ließ, wie beſorgt die alte Merſinah um
[217] das leibliche Wohl ihrer Pfleglinge ſei. Halef brachte
auch Kaffee, ein Getränk, welches die Kurden am ſchmerz-
lichſten vermißt hatten, ganz ebenſo wie den Tabak, den
ſie nachher rauchten.


Endlich brachen ſie auf, eben als Selim Agha ein-
trat, um mir zu ſagen, daß der Muteſſelim bereit ſei,
mich zu empfangen. Sie nahmen einen herzlichen Abſchied
von mir und ſchärften mir nochmals ein, daß ich ja nach
Gumri kommen möge. Dohub nahm das Paket des Dorf-
älteſten mit, und ich war überzeugt, daß ich mir Freunde
erworben hatte, auf die ich im Falle der Not wohl ſicher
rechnen könne.


Ich beſuchte nun zunächſt meine Patientin und wurde
in dem vorderen Zimmer von ihren Eltern mit Freude
empfangen.


„Wie geht es eurer Tochter?“ fragte ich.


„O, viel, viel beſſer bereits, Herr,“ antwortete der
Mann. „Deine Weisheit iſt faſt noch größer als unſer
Dank, denn ſie kann bereits wieder vernünftig reden und
hat uns auch geſagt, daß ſie wirklich von den Kirſchen
des Todes gegeſſen habe. Und deine Güte iſt noch größer,
als wir verdienen und ahnten; denn ich habe erfahren,
daß du kein Arzt biſt, der für Lohn zu den Kranken
kommt, ſondern ein großer Emir, der ein Liebling des
Großherrn und ein Freund des Muteſſarif iſt.“


„Wer ſagte dies?“


„Die ganze Stadt weiß es bereits. Selim Agha iſt
deines Lobes voll; der Muteſſelim hat dich mit Parade
empfangen und auf deinen Befehl ſogar Gefangene frei-
laſſen müſſen. Einer ſagt es dem andern, und ſo haben
auch wir es erfahren.“


„Biſt du ein Kind dieſer Stadt? Ich ſehe doch, daß
du doch wohl eigentlich ein Kurde biſt!“


[218]

„Du haſt richtig geraten, Effendi. Ich bin ein Kurde
von Lizan und für kurze Zeit nach Amadijah gezogen,
weil ich mich daheim nicht ſicher fühlte.“


„Nicht ſicher? Warum?“


„Lizan gehört zu dem Gebiete von Tijari und wird
meiſt von neſtorianiſchen Chriſten bewohnt. Dieſe haben
große Bedrückungen zu erleiden gehabt, ſo daß es ſeit
kurzem unter ihnen gärt, als ob ſie ſich einmal aufraffen
und Rache nehmen wollten. Weil ich nun kein Chriſt,
ſondern ein Mohammedaner bin, ſo habe ich mich in
Sicherheit gebracht und kann hier mein Geſchäft in Frie-
den treiben, bis die Gefahr vorüber iſt.“


„Welches Geſchäft haſt du?“


„Ich kaufe die Galläpfelernten ein und verſende ſie
nach dem Tigris, von wo aus ſie dann weiter gehen.“


„Du biſt ein Moslem, und doch iſt die alte Mutter,
welche ich bei dir ſah, eine Chriſtin. Wie kommt das?“


„Emir, das iſt eine Geſchichte, die mich und mein
Weib ſehr betrübt. Der Ahne war ein berühmter Melek *)
der Tijaris und nahm die Lehre an von Chriſtus, dem
Gekreuzigten. Sein Weib, die Ahne, die du geſehen haſt,
that dasſelbe. Aber ſein Sohn war ein treuer Anhänger
des Propheten und trennte ſich vom Vater. Dieſer ſtarb
und der Sohn ſpäter auch, der die Würde eines Melek
verloren hatte. Er war arm geworden um des Propheten
willen, trotzdem ſein Vater einer der reichſten Fürſten des
Landes war. Seine Kinder blieben auch arm, und als
ich mein Weib heiratete, die ſeine Enkelin iſt, hatte ſie
kaum ein Kleid, um ihre Blöße zu bedecken. Aber wir
liebten einander, und Allah ſegnete uns; wir wurden
reich.“


„Und die Ahne?“


[219]

„Wir hatten ſie nie geſehen, bis ſie uns einſt in
Lizan aufſuchte. Sie zählte über hundert Jahre, glaubte,
nun bald ſterben zu müſſen, und wollte ihre Kindeskinder
einmal ſehen. Seit jener Zeit hat ſie uns jährlich zwei-
mal beſucht; aber wir wiſſen nicht, woher ſie kommt und
wohin ſie geht.“


„Habt ihr ſie nicht gefragt?“


„Einmal nur, aber da antwortete ſie nicht und ver-
ſchwand auf lange Zeit. Seitdem haben wir dieſe Frage
nie wieder ausgeſprochen. Sie iſt jetzt bei der Kranken.
Willſt du dieſe ſehen?“


„Ja; kommt!“


Ich fand die Patientin bedeutend beſſer. Die Röte
war verſchwunden; der Puls ging matt, aber ruhiger,
und ſie vermochte, wenn auch mit einiger Anſtrengung,
doch geläufiger zu ſprechen, als da ich ſie zuerſt geſehen
hatte, wo ſie in der Betäubung fabulierte. Die Pupille
hatte ſich verengert, aber die Schlingbeſchwerden waren
noch vorhanden. Sie blickte mir neugierig entgegen und
erhob die Hand, um mir zu danken.


Ich riet, mit dem Kaffee und Citronenſaft fortzu-
fahren, und empfahl dabei ein heißes Fußbad; dann
wollte ich wieder gehen. Da erhob ſich die Geſtalt der Alten,
die bisher am unteren Ende des Lagers gekauert hatte.


„Herr,“ ſagte ſie, „ich habe dich für einen Hekim
gehalten. Verzeihe, daß ich dir Lohn verſprach!“


„Mein Lohn iſt die Freude, dir dein Enkelkind er-
halten zu dürfen.“


„Gott hat deine Hand geſegnet, Emir. Er iſt mächtig
in dem Schwachen und barmherzig in dem Starken. Wie
lange wird die Kranke noch leidend ſein?“


„Einige Tage ſind genug, um ihre gegenwärtige
Schwäche zu überwinden.“


[220]

„Emir, ich lebe, aber nicht in mir, ſondern in dieſem
Kinde. Ich bin geſtorben ſeit langen, langen Jahren;
aber ich ſtand wieder auf in Der, welche ich bewahrt ſehen
möchte vor jedem Flecken des Leibes und der Seele. Du
haſt nicht ihr allein, ſondern auch mir das Leben erhalten,
und du weißt nicht, wie gut dies iſt für viele, die du
weder kennſt noch jemals geſehen haſt. Du wirſt wieder-
kommen?“


„Ja, morgen.“


„So brauche ich dir heute weiter nichts zu ſagen.“


Sie wandte ſich ab und ſetzte ſich wieder an ihren
früheren Platz. Sie ſprach ſo dunkel und war ſelbſt für
ihre Verwandten ein Rätſel. Ich hätte mir Zeit genug
wünſchen mögen, dieſes Rätſel zu löſen. Ich ſollte eſſen
und trinken, ehe ich das Haus verließ, aber ich kam eben
von dem Mahle her und hatte auch bei dem Muteſſelim
vielleicht ein ſolches zu erwarten; daher mußte ich ab-
ſchlagen.


[221]

Viertes Kapitel.
Aus der Feſtung.



Als ich zu dem Kommandanten kam, waren alle ſeine
Beamten und auch die Offiziere der Beſatzung bereits um
ihn verſammelt. Es gab alſo große Soiree. Ich erhielt
den Ehrenplatz an ſeiner Seite. Wir befanden uns in
einem größeren Zimmer, welches einem kleinen Saale glich;
es wäre Raum genug zur freien Bewegung geweſen, aber
ein jeder ſaß ſtill an ſeinem Platze, rauchte ſeine Pfeife,
trank den herumgereichten Kaffee und flüſterte leiſe mit
ſeinem Nachbar. Wenn aber der Muteſſelim ein lautes
Wort ſagte, ſo neigten ſie lauſchend die Häupter, wie
vor einem mächtigen Herrſcher.


Auch meine Unterredung mit ihm wurde leiſe ge-
führt. Nach einigen Weitſchweifigkeiten ſagte er:


„Ich habe ſchon gehört, daß du heute ein Mädchen
heilteſt, welches vom Teufel beſeſſen war. Mein Hekim
hat ihn hineinfahren ſehen; er verlangte, daß ich dich
fortſchicken ſoll, weil du ein Zauberer biſt.“


„Dein Hekim iſt ein Thor, Muteſſelim! Das Mädchen
hatte eine giftige Frucht gegeſſen, und ich gab ihr ein
Mittel, durch welches das Gift unwirkſam gemacht wurde.
Von dem Teufel oder von einem Geiſte war keine Rede.“


„So biſt du ein Hekim?“


„Nein. Du weißt ja, wer und was ich bin! Aber
[222] im Weſten von hier, weit über Stambul hinaus, da, wo
ich geboren bin, hat jedermann mehr Kenntniſſe über die
Krankheiten als dein Hekim, der den Teufel durch eine
tote Fliege vertreiben wollte.“


Das war rückſichtslos und wohl auch ein wenig
mutig geſprochen; aber es konnte dieſen Leuten gar nicht
ſchaden, wenn einmal einer kam, der es wagte, an ihrer
Selbſtherrlichkeit zu rütteln.


Der Muteſſelim that, als hätte er meine ſcharfe Ant-
wort nicht gehört, und erkundigte ſich weiter:


„So kennſt du alle Krankheiten?“


„Alle!“ antwortete ich ſehr entſchieden.


„Und kannſt auch alle Tränke machen?“


„Alle.“


„Giebt es auch Tränke, die ein guter Moslem nicht
trinken darf?“


„Ja.“


„Welche ſind es?“


„Die Pakſitz *), welche aus ſolchen Dingen bereitet
werden, deren Genuß der Prophet verboten hat, zum
Beiſpiel Schweinefett und Wein.“


„Wein iſt aber auch eine Medizin?“


„Ja, eine ſehr wichtige.“


„Wann wird ſie getrunken?“


„Bei gewiſſen Krankheiten des Blut- und Nerven-
ſyſtems, ſowie auch der Verdauung als Stärkungs- oder
Erregungsmittel.“


Wieder ſtockte die Unterhaltung. Die Anweſenden
begannen wieder leiſe untereinander zu flüſtern, und nach
einer Weile wandte ſich der Muteſſelim auch ebenſo leiſe
an mich:


„Effendi, ich bin krank, ſehr krank!“


[223]

„Ah, iſt es möglich! Allah gebe dir deine Geſund-
heit zurück!“


„Er wird es vielleicht thun, denn ich bin ein guter
Moslem und ein treuer, frommer Anhänger des Pro-
pheten.“


„An welcher Krankheit leideſt du?“


„Ich habe bereits ſehr viele Aerzte gefragt; ſie ſagen
alle, daß ich leide an gewiſſen Krankheiten des Blut- und
Nervenſyſtemes, ſowie auch der Verdauung.“


Ich konnte mich kaum beherrſchen, ihm nicht geradezu
in das Geſicht zu lachen. Darum alſo dieſe eigentümliche
Einleitung, die ſich um den Rand herum bewegt hatte,
wie „die Katze um den heißen Brei“. Jedenfalls lief die
Sache auf eine kleine Bettelei hinaus.


„Haben dir deine Aerzte Mittel gegeben?“


„Ja, aber dieſe Mittel haben nicht geholfen. Dieſe
Männer waren nicht ſo klug und unterrichtet wie du.
Meinſt du nicht, daß ich der Anregung und der Stärkung
bedarf?“


„Ich bin davon überzeugt.“


„Würdeſt du mir ein ſolches Mittel geben?“


„Ich darf nicht.“


„Warum nicht?“


„Der Prophet verbietet es mir.“


„Der Prophet hat nicht gewollt, daß die wahren
Gläubigen an dem Syſteme des Blutes und der Nerven
untergehen und ſterben ſollen. Haſt du den Kuran auf-
merkſam geleſen?“


„Sehr aufmerkſam.“


„So ſage mir, ob du eine einzige Arznei gefunden
haſt, die darin verboten wird!“


„Keine!“


„Siehſt du! Alſo willſt du mir eine Anregung geben?“


[224]

„Ich habe die Sachen nicht, welche ich zur Bereitung
derſelben brauche.“


„Du ſcherzeſt wieder, denn du haſt ſie!“


„Woher wollteſt du dies wiſſen?“


„Dein Diener hat heute ſolche Dinge bei einem Juden
gekauft.“


Ah, der Muteſſelim ließ uns alſo beobachten! Er
wußte bereits, daß der kleine Hadſchi für den Engländer
Wein geholt hatte. Wir mußten alſo vorſichtig ſein, wenn
unſer Vorhaben nicht verraten werden ſollte.


„Es gehört mehr dazu, als das iſt, was mein Diener
kaufte,“ antwortete ich.


„Das Wenige iſt beſſer als gar nichts. Eben weil ich
ſehr ſchwach bin, darfſt du nicht viele Dinge zuſammen-
miſchen. Willſt du mir eine einfache Stärkung ſenden?“


„Gut; du ſollſt ſie haben!“


„Wie viel?“


„Eine Arzneiflaſche voll.“


„Emir, das iſt viel zu wenig! Ich bin Komman-
dant und ein ſehr langer Mann; der Trank wird alle ſein,
ehe er durch den ganzen Körper gekommen iſt. Siehſt du
dies ein?“


„Ich ſehe es ein, darum werde ich dir eine große
Flaſche ſenden.“


„Eine? Nimmt ein Kranker nur einmal Arznei?“


„Nun wohl, du ſollſt zwei haben!“


„Laß mich täglich einmal nehmen, und zwar eine Woche
lang!“


„Muteſſelim, ich denke, du wirſt dann zu ſtark werden!“


„O, Emir, das haſt du nicht zu befürchten.“


„So wollen wir es denn mit einer Woche verſuchen?“


„Aber eine Bitte erfüllſt du mir dabei.“


„Welche?“


[225]

„Ein Muteſſelim darf ſeinen Untergebenen nie wiſſen
laſſen, daß er ein krankes Syſtem der Nerven und der
Verdauung hat.“


„Das iſt richtig!“


„Alſo wirſt du dieſe Arznei ſo gut einpacken, daß
niemand ſieht, daß ſie in Flaſchen enthalten iſt.“


„Ich werde dir dieſen Wunſch erfüllen.“


„Haſt du auch kranke Nerven, Emir?“


„Nein. Warum ſollte ich welche haben?“


„Weil du dir dieſes Mittel kaufen ließeſt.“


„Es war nicht für mich.“


„Für wen ſonſt? Für den ſtummen Hadſchi Linſay-
Bey?“


„Du ſagteſt vorhin, daß ein Muteſſelim nicht wiſſen
laſſen dürfe, daß er ein krankes Syſtem habe. Es giebt
auch andere Männer, welche dies nicht wiſſen laſſen dürfen.“


„Oder war es für den dritten Mann, der ſich gar
nicht ſehen läßt? Er muß ſehr krank ſein, weil er nicht
aus ſeiner Stube kommt!“


Das klang wie ein Verhör. Er wollte ſich nach Mo-
hammed Emin erkundigen.


„Ja, er iſt krank,“ antwortete ich.


„Welche Krankheit hat er?“


„Eine Krankheit des Herzens.“


„Kannſt du ihn heilen?“


„Ich hoffe es.“


„Ich bedaure, daß du ihn wegen ſeiner Krankheit
nicht mitbringen konnteſt. Es iſt ein Freund von dir?“


„Ein ſehr guter Freund.“


„Wie lautet ſein Name?“


„Er hat mich gebeten, ihn dir heute noch nicht zu
nennen. Du kennſt ihn ſehr gut, und er will dir eine
Ueberraſchung bereiten.“


II. 15
[226]

„Ah!“ meinte er neugierig. „Eine Ueberraſchung?
Wann?“


„Sobald ſeine Krankheit geheilt iſt.“


„Wie lange dauert dies noch?“


„Nur einige Tage.“


„Soll ich ihn nicht lieber beſuchen, da er nicht zu
mir kommen kann?“


„Dieſer Beſuch würde ihn zu ſehr aufregen. Herz-
krankheiten ſind lebensgefährlich; das wirſt du wohl auch
wiſſen?“


„So muß ich warten.“


Wieder verſank er in Schweigen; dann begann er
von neuem:


„Weißt du, daß du mir ein Rätſel biſt?“


„Du mir auch.“


„Warum?“


„Weil du mich rätſelhaft findeſt. Sage mir, ob es
bereits jemand gewagt hat, ſo klar und offen, ſo aufrichtig
und ohne Furcht wie ich, mit dir zu reden!“


„Das iſt wahr, Effendi! Ich wollte es auch keinem
andern raten! Du aber biſt ein Emir, ſtehſt unter dem
Schatten des Großherrn und biſt mir ſehr gut von dem
Muteſſariff empfohlen; da dulde ich es.“


„Und bei all dieſer Furchtloſigkeit bin ich dir ein
Rätſel?“


„Ja.“


„Ich will dir helfen, es zu löſen. Frage mich!“


„Ich möchte vor allen Dingen wiſſen, wie du in den
Schutz des Großherrn gekommen biſt, wie der Großherr
über mich denkt und was er für Pläne hat mit dir und
mir. Aber dazu iſt heute keine Zeit. Wir werden davon
morgen reden, wenn wir allein ſind.“


Das war mir lieb. Auch hörte jetzt die Unterhaltung
[227] auf, da ein Medah*) eingelaſſen wurde, welchen der Kom-
mandant zur Unterhaltung ſeiner Gäſte engagiert hatte.
Die Pfeifen wurden von neuem geſtopft und angebrannt,
die Taſſen wieder gefüllt, und dann lauſchte man andächtig
den Worten des Erzählers.


Er ſtellte ſich in die Mitte des Raumes und erzählte
mit ſingender, lamentierender Stimme die tauſendmal ge-
hörten Geſchichten von Abu-Szaber, dem ſchiefmäuligen
Schulmeiſter, dem Liebesſklaven Ganem, von Nureddin
Ali und Bedreddin Haſſan. Dafür erhielt er zwei Piaſter
und konnte gehen.


Dann erhob ſich der Muteſſelim, zum Zeichen, daß
dieſe amüſante Soiree beendet ſei. Man ſagte ſich einige
ſulminante Höflichkeiten, verbeugte ſich gegenſeitig und
war dann froh, dem Kommandanten, dem Emir Hadſchi
Kara Ben Remſi, dem Tabak und Kaffee und dem Medah
glücklich entronnen zu ſein. Ich hatte das nachträgliche
Vergnügen, von Selim Agha unter dem Arm genommen
und nach Hauſe begleitet zu werden.


„Emir, erlaube, daß ich deinen Arm nehme!“ bat er.


„Da haſt du ihn!“


„Ich weiß, daß ich dies eigentlich nicht ſollte, denn
du biſt ein großer Emir, ein weiſer Effendi und ein Lieb-
ling des Propheten; aber ich habe dich lieb, und du mußt
bedenken, daß ich kein gemeiner Arnaute, ſondern ein ſehr
tapferer Agha bin, der dieſe Feſtung gegen fünfzigtauſend
Feinde verteidigen würde.“


„Das weiß ich. Auch ich habe dich lieb. Komm, laß
uns gehen!“


„Wer iſt das?“


Er deutete dabei auf eine Geſtalt, welche hinter der
Ecke gelehnt hatte und nun an uns vorüberſtrich und
[228] ſchnell im Dunkel der Häuſer verſchwand. Ich erkannte
den Mann. Es war der Arnaute, der uns angefallen
hatte, doch zog ich es jetzt vor, ihn nicht zu erwähnen.


„Es war wohl einer deiner Arnauten.“


„Ja, aber ich habe doch wohl dieſes Geſicht noch nicht
geſehen.“


„Das Licht des Mondes täuſcht.“


„Weißt du, Emir, was ich dir da jetzt ſagen wollte?“


„Was?“


„Hm! Ich bin krank.“


„Was fehlt dir?“


„Ich leide an dem Syſtem der Nerven und des Blutes.“


„Selim Agha, ich glaube, du haſt gehorcht!“


„O nein, Effendi! Aber ich mußte ja euer Geſpräch
hören, da ich als der Nächſte neben dem Muteſſelim ſaß.“


„Jedoch ſo weit entfernt, daß du lauſchen mußteſt!“


„Soll man nicht lauſchen, wenn man einer Stärkung
bedarf?“


„Du willſt ſie doch nicht etwa von mir verlangen!“


„Wohl von dem alten Hekim? Der würde mir Fliegen
geben!“


„Willſt du ſie in einer Arzneiflaſche oder in einer
großen Flaſche?“


„Du willſt ſagen, in einigen großen Flaſchen!“


„Wann?“


„Jetzt, wenn es dir gefällig iſt!“


„So laß uns eilen, daß wir nach Hauſe kommen!“


„O nein, Emir, denn da iſt mir Merſinah im Wege.
Sie darf niemals wiſſen, daß ich ein krankes Syſtem der
Verdauung habe!“


„Aber ſie ſollte es doch wiſſen, da ſie dir die Speiſen
bereitet.“


„Sie würde die Medizin an meiner Stelle trinken.
[229] Ich weiß einen Ort, wo man dieſen Trank in Ruhe und
Sicherheit genießen kann.“


„Wo?“


„Effendi, ein ſolcher Ort iſt allemal bei einem Juden
oder bei einem Griechen. Haſt du dies noch nicht be-
merkt?“


„Sehr oft. Aber man wird dich ſehen, und dann er-
fährt die ganze Stadt, daß du dich nicht ganz auf dein
Syſtem verlaſſen kannſt!“


„Nur wir beide werden einander ſehen. Dieſer Jude
hat eine kleine Stube, in welche nicht einmal der Mond
blicken kann.“


„So komm! Aber laß uns vorſichtig ſein, daß wir
nicht beobachtet werden.“


Alſo wieder einen Angriff auf meinen Geldbeutel!
Uebrigens war ich ganz vergnügt, den Agha als einen
Moslem kennen zu lernen, dem zwar der Wein, nicht aber
die Arznei verboten iſt, welche aus dem Blute der Trau-
ben gekeltert wird. Ein kleines Räuſchchen konnte mir
Vorteile bringen.


Nachdem wir einige enge und winkelige Gäßchen paſ-
ſiert hatten, hielten wir vor einem kleinen, armſeligen
Häuschen, deſſen Thüre nur angelehnt war. Wir traten
in den dunklen Flur, wo Selim in die Hände klatſchte.
Sogleich erſchien eine krumme, mit einem echt israelitiſchen
Geſichte ausgeſtattete Geſtalt aus der Stube und leuchtete
dem Agha in das Geſicht.


„Ihr ſeid es, Hoheit? Gott Abrahams, bin ich er-
ſchrocken, als ich ſah im Hauſe ſtehen zwei Geſtalten ſtatt
der Eurigen, die ich gewohnt bin, alle Tage die Ehre zu
haben, zu empfangen in meinem Hauſe mit Vergnügen
und ſehr tiefer Unterthänigkeit!“


„Mach auf, Alter!“


[230]

„Mach auf? Was? Die Stube, welche iſt die kleine
oder die große?“


„Die kleine!“


„Bin ich auch ſicher, daß dieſer Mann, welcher hat
die Ehre, mit Euch zu kommen in mein Haus, nicht wird
ſein ein Herr, deſſen Mund redet von Dingen, die von mir
geſchehen aus Barmherzigkeit und doch nicht ſollen werden
beſprochen, weil mich dann beſtrafen würde der mächtige
Muteſſelim?“


„Du biſt ganz ſicher. Oeffne, oder ich mache mir
ſelbſt auf!“


Der Alte ſchob einige Bretter zur Seite, hinter denen
eine Thüre zum Vorſchein kam. Sie führte in ein ſehr
kleines Gemach, deſſen Boden mit einer zerriſſenen Baſt-
matte belegt war. Einige Mooskiſſen bildeten die Sofas.


„Soll ich brennen an die Lampe?“


„Natürlich!“


„Was werden begehren die Herren zu trinken?“


„Wie immer!“


Jetzt brannten zwei Flammen, und der Jude konnte
mich, der ich bisher ſtets hinter Selim geſtanden, nun
beſſer betrachten.


„Katera Muſa *), das iſt ein hoher Effendi und ein
großer Held des Krieges! Iſt er doch behangen mit glän-
zenden Silahs **), trägt einen goldenen Kuran am Halſe
und hat einen Simbehl ***) wie Jehoſchuah, der Eroberer
des Landes Kanaan. Da darf ich nicht bringen den Ge-
wöhnlichen, ſondern ich muß gehen in eine Ecke des Kellers,
wo da liegt vergraben ein Trank, den nicht ein jeder be-
kommt.“


„Was für welcher iſt es?“ fragte ich.


„Es iſt Wein von Türbedi Haidari, aus einem Lande,
[231] welches niemand kennt und wo Trauben wachſen, deren
Beeren ſind wie die Aepfel und deren Saft kann um-
reißen die Mauern einer ganzen Stadt.“


„Bringe eine Flaſche!“ befahl der Agha.


„Nein, bringe zwei Krüge! Du mußt nämlich wiſſen,
daß der Wein von Türbedi Haidari nur in großen Thon-
krügen aufbewahrt und nur aus kleinen Krügen getrunken
wird,“ ſagte ich.


„Du kennſt ihn?“ fragte der Jude.


„Ich habe ihn oft getrunken.“


„Wo? Wo liegt dieſes Land?“


„Der Name, den du nannteſt, iſt der Name einer
Stadt, welche in Terbidſchan in Perſien liegt. Der Wein
iſt gut, und ich hoffe, daß du verſtanden haſt, ihn zu be-
handeln. Was koſtet er?“


„Du biſt ein vornehmer Herr; darum ſollſt du ihn
haben halb umſonſt. Du wirſt bezahlen dreißig Piaſter
für den Krug.“


„Das iſt halb umſonſt? Bringe die zwei Krüge, da-
mit ich ihn koſte. Dann werde ich dir ſagen, wie viel ich
gebe!“


Er ging. In einer Ecke lehnten einige Pfeifen neben
einem Käſtchen mit Tabak. Wir ſetzten uns und griffen
nach den Pfeifen, die ohne Spitze waren. Ich zog mein
Mundſtück aus der Taſche und ſchraubte es an; dann ver-
ſuchte ich den Tabak; es war ein guter Perſer.


„Was iſt drüben auf der andern Seite des Hauſes,
Selim Agha?“ fragte ich.


„Ein Spezereiladen und eine Kaffeeſtube. Hinten iſt
eine Opiumbude und eine Weinſchänke für das Volk;
hier aber dürfen nur vornehme Herren eintreten,“ erklärte
er mir mit ſelbſtgefälligem Geſichte.


Ich kann ſagen, daß ich mich auf dieſen Wein freute.
[232] Es iſt ein roter, dicker und ungemein ſtarker Naturtrank,
von dem drei Schluck genügen, um einen Menſchen, der
noch nie Wein getrunken hat, in einen gelinden Rauſch
zu verſetzen. Selim liebte das Getränk Noahs, aber ich
war überzeugt, daß ihn der Krug mehr als überwältigen
werde.


Da kam der Wirt mit zwei Krügen, von denen jeder
vielleicht einen Liter faßte. Hm, armer Selim Agha! Ich
verſuchte einen Schluck. Der Wein hatte auf der Reiſe
gelitten, ließ ſich aber trinken.


„Nun, Hoheit, wie iſt er?“ fragte der Jude.


„Er iſt ſo, daß ich dir für den Krug zwanzig Piaſter
geben werde.“


„Herr, das iſt geboten zu wenig, viel zu wenig! Für
zwanzig Piaſter werde ich wieder mitnehmen meinen Wein
und dir bringen einen andern.“


„Im Lande, wo er bereitet wird, gebe ich nach hie-
ſigem Gelde für dieſen Krug vier Piaſter. Du ſiehſt, ich
will gut bezahlen, aber wenn dir das nicht genügt, ſo
nimm ihn wieder mit!“


Ich ſtand auf.


„Was ſoll ich bringen für welchen?“


„Keinen! Ich trinke nur dieſen für zwanzig Piaſter,
den du mir auch für fünfzehn ließeſt. Bekomme ich ihn
nicht, ſo gehe ich, und du magſt ihn ſelbſt trinken.“


„So wird ihn trinken die Hoheit des Selim Agha.“


„Er wird mit mir gehen.“


„Gieb neunundzwanzig!“


„Nein.“


„Achtundzwanzig!“


„Gute Nacht, Alter!“


Ich öffnete die Thüre.


„Komm her, Effendi! Du ſollſt ihn doch haben für
[233] zwanzig Piaſter, weil es mir iſt eine Ehre, dich zu ſehen
in meinem Hauſe.“


Der Handel war alſo abgeſchloſſen, und jedenfalls
ſehr zur Zufriedenheit des Juden, der ſich, nachdem ich
ihm das Geld gegeben hatte, mit verſtecktem Schmunzeln
entfernte. Der Agha koſtete ein wenig und that dann einen
tiefen Zug.


„Allah illa Allah! Wallah, Billah, Tallah! Solchen
habe ich noch nicht bekommen. Glaubſt du, daß er gut
iſt für ein krankes Syſtem, Emir?“


„Sehr gut!“


„Oh, wenn das die ‚Myrte‘ wüßte!“


„Hat ſie auch ein Syſtem?“


„Ein ſehr durſtiges, Effendi!“


Er that einen zweiten und nachher einen dritten Zug.


„Das iſt kein Wunder,“ meinte ich. „Sie hat ſehr
viel zu ſorgen, zu ſchaffen und zu arbeiten.“


„Für mich nicht; das weiß Allah!“


„Aber für deine Gefangenen.“


„Sie bringt ihnen täglich einmal Eſſen, Brot und
Mehlwaſſer.“


„Wie viel giebt dir der Muteſſelim für jeden Ge-
fangenen?“


„Dreißig Para täglich.“


Alſo fünfzehn Pfennige ungefähr! Davon blieb ſicher-
lich die Hälfte in den Händen Selims kleben.


„Und was erhältſt du für die Beaufſichtigung?“


„Zwei Piaſter täglich, die ich aber noch niemals be-
kommen habe. Iſt es da ein Wunder, daß ich dieſe ſchöne
Arznei noch gar nicht kenne?“


Er that abermals einen Zug.


„Zwei Piaſter? Das iſt ſehr wenig, zumal dir die
Gefangenen ſehr viele Mühe machen werden.“


[234]

„Mühe? Gar keine! Was ſoll ich mir mit dieſen
Halunken für Mühe geben? Ich gehe täglich einmal in das
Gefängnis, um nachzuſehen, ob vielleicht einer geſtorben iſt.“


„Zu welcher Zeit thuſt du das?“


„Wenn es mir paßt.“


„Auch des Nachts?“


„Ja, wenn ich am Tage es vergeſſen hatte und grad
ausgegangen war. Wallahi, da fällt mir ein, daß ich
heute noch nicht dort geweſen bin!“


„Meine Ankunft hat dich geſtört.“


„Das iſt wahr, Effendi.“


„So mußt du nachſehen?“


„Das werde ich nicht thun.“


„Warum nicht?“


„Die Kerle ſind es nicht wert, daß ich mich bemühe!“


„Richtig! Aber wirſt du dir nicht den Reſpekt ver-
ſcherzen?“


„Welchen Reſpekt?“


„Du biſt doch Agha, ein hoher Offizier. Deine Arnauten
und Unteroffiziere müſſen Angſt vor dir haben! Nicht?“


„Ja, das müſſen ſie. Bei Allah, das müſſen ſie!“
beteuerte er.


„Auch der Sergeant, der im Gefängnis iſt?“


„Auch dieſer. Natürlich! Dieſer Mazir iſt überhaupt
ein widerſpenſtiger Hund. Er muß Angſt haben!“


„So mußt du ihn gut beaufſichtigen, mußt ihn zu-
weilen überraſchen, um zu ſehen, ob er im Dienſte pünkt-
lich iſt, ſonſt wird er dich niemals fürchten!“


„Das werde ich; ja, bei Allah, ich werde es!“


„Wenn er ſicher iſt, daß du nicht kommſt, ſo ſitzt er
vielleicht beim Kawedſchi *) oder bei den Tänzerinnen und
lacht dich aus.“


[235]

„Das ſoll er wagen! Ich werde ihn überraſchen,
morgen oder auch heute noch. Emir, willſt du ihn mit
überraſchen?“


Ich hütete mich wohl, einen Zweifel darüber blicken
zu laſſen, ob ich überhaupt das Recht habe, in dem Ge-
fängniſſe Zutritt zu nehmen; ich that im Gegenteile ſo,
als ob ich ihm mit meiner Begleitung eine Ehre erwieſe:


„Iſt ſo ein Kerl es wert, daß er das Angeſicht eines
Emir ſieht?“


„Du begleiteſt mich doch nicht um ſeinet-, ſondern
um meinetwillen.“


„Dann muß mir aber auch die Ehre erwieſen wer-
den, die einem Emir und Effendi, der das Geſetz ſtudiert
hat, gebührt!“


„Das verſteht ſich! Es wird ſo ſein, als ob mich der
Muteſſelim ſelbſt begleitete. Du ſollſt das Gefängnis in-
ſpizieren.“


„So gehe ich mit, denn ich bin überzeugt, daß mich
dieſe Arnauten nicht für einen Khawaſſen halten.“


Er hatte nur noch eine kleine Neige im Kruge, und
ich hatte mit ihm gleichen Schritt gehalten. Seine Augen
wurden kleiner, und die Spitzen ſeines Schnurrbartes ſtan-
den auf Krakehl.


„Wollen wir uns noch einen Krug kommen laſſen,
Selim Agha?“ fragte ich ihn.


„Nein, Effendi, wenn es dir beliebt. Ich dürfte da-
nach, dieſen Mazir zu überraſchen. Wir werden morgen
wieder hierhergehen!“


Der Sergeant wurde nur vorgeſchoben, in Wirklich-
keit aber mochte der gute Agha die Gefährlichkeit des
Weines aus Türbedi Haidari bereits verſpüren. Er legte
die Pfeife fort und erhob ſich ein wenig unſicher.


„Wie war der Tabak, Effendi?“ erkundigte er ſich.


[236]

Ich ahnte den Grund und antwortete deshalb:


„Schlecht. Er macht Kopfſchmerzen und Schwindel.“


„Bei Allah, du haſt recht. Dieſer Tabak ſchwächt das
Syſtem des Blutes und der Nerven, während man doch
gekommen iſt, es zu ſtärken. Komm, laß uns gehen!“


„Müſſen wir denn dem Juden unſere Entfernung
melden?“


„Ja.“


Er klatſchte in die Hände. Das war wieder das Zei-
chen; dann traten wir in das Freie. Das kurze Wein-
ſtudium war für mich vorteilhaft geweſen.


„Komm, Emir, gieb mir deinen Arm! Du weißt, ich
liebe dich!“


Es war weniger die Liebe als vielmehr die Schwächung
ſeines „Syſtems“, welche ihn bewog, dieſe Bitte auszu-
ſprechen; denn als ihm die friſche Abendluft entgegenwehte,
verriet er den ſichtbarſten Eifer, in jene akrobatiſche Fata-
lität zu verfallen, in welcher man den Nadir mit dem Zenith
zu verwechſeln pflegt.


„Nicht wahr, Mohammed war ein geſcheiter Kerl,
Emir?“ fragte er ſo laut, daß ein eben Vorübergehender
ſtehen blieb, um uns etwas in Augenſchein zu nehmen.


„Warum?“


„Weil er die Arzneien nicht verboten hat. Hätte er
auch dies noch gethan, ſo müßte man aus den Trauben
Tinte machen. Weißt du, wo das Gefängnis liegt?“


„Hinter deinem Hauſe.“


„Ja; du haſt immer recht, Emir. Aber wo liegt
unſer Haus?“


Das war nun eine jener leichten Fragen, die ſich doch
ſehr ſchwer beantworten laſſen, wenn nicht die Antwort
ebenſo albern ſein ſoll, wie die Frage.


„Grad vor dem Gefängniſſe, Agha.“


[237]

Er blieb ſtehen oder verſuchte vielmehr, ſtill zu ſtehen,
und ſah mich überraſcht an.


„Emir, du biſt juſt ein ebenſo geſcheiter Kerl wie der
alte Mohammed; nicht? Aber ich ſage dir, dieſer Tabak
iſt mir ſo in das Gehirn gefahren, daß ich hier rechts
das Gefängnis ſehe und dort links ebenſo. Welches iſt
das richtige?“


„Keines von beidem. Da rechts ſteht eine Eiche, und
das da oben links, das iſt eine Wolke.“


„Eine Wolke? Allah illa Allah! Erlaube, daß ich
dich ein wenig feſter halte!“


Der wackere Agha führte mich und zeigte dabei jene
merkwürdige Manie des unwillkürlichen Fortſchrittes, wel-
chen man in einigen Gegenden Deutſchlands „eine Lerche
ſchießen“ nennt. So kamen wir allerdings ziemlich ſchnell
weiter, und es gelang mir endlich, ihn vor das Gebäude
zu bringen, welches ich für das Gefängnis hielt, obgleich
ich es von ſeiner vorderen Seite noch nicht geſehen hatte.


„Iſt dies das Zindan?“ *) fragte ich ihn.


Er ſchob den Turban in das Genick und blickte ſich
nach allen Seiten um.


„Hm! Es ſieht ihm ähnlich. Emir, bemerkſt du nie-
mand in der Nähe, den man fragen kann? Ich habe dich
ſo feſt halten müſſen, daß mir die Augen wirbeln, und
das iſt ſchlimm; denn dieſe Häuſer ſprangen an mir vor-
bei wie eine galoppierende Karawane.“


„Ich ſehe keinen Menſchen. Aber es muß es ſein!“


„Wir wollen einmal probieren!“


Er fuhr mit der Hand in ſeinen Gürtel und vigi-
lierte nach etwas, was er nicht finden konnte.


„Was ſucheſt du?“


„Den Schlüſſel zur Gefängnisthüre.“


[238]

„Haſt du ihn?“


„Stets! Lange du doch einmal her und ſieh, ob du
ihn findeſt!“


Ich ſuchte und fand den Schlüſſel ſofort. Man mußte
ihn bei dem erſten Griffe fühlen, denn er war ſo groß,
daß man ihn mit einer Bärenkugel Nummer Null hätte
laden können.


„Hier iſt er. Soll ich ſchließen?“


„Ja, komm! Aber ich denke mir, daß du das Loch
nicht finden wirſt, denn dein Syſtem hat ſehr gelitten.“


Der Schlüſſel paßte, und bald knarrte die Thüre in
ihren Angeln.


„Gefunden!“ meinte er. „Dieſe Töne kenne ich ſehr
genau. Laß uns eintreten!“


„Soll ich die Thüre wieder zuſchließen?“


„Verſteht ſich! In einem Gefängniſſe muß man vor-
ſichtig ſein.“


„Rufe den Schließer!“


„Den Sergeant? Wozu?“


„Er ſoll uns leuchten.“


„Fällt mir gar nicht ein! Wir wollen doch den Schurken
überraſchen!“


„Dann mußt du leiſer ſprechen!“


Er wollte vorwärts, ſtolperte aber ſo, daß er ge-
fallen wäre, wenn ich ihn nicht mit beiden Händen ge-
halten hätte.


„Was war das? Emir, wir ſind dennoch in ein
fremdes Haus geraten!“


„Wo iſt der Raum, in dem ſich der Sergeant be-
findet? Liegt er zu ebener Erde?“


„Nein, ſondern eine Treppe hoch.“


„Und wo führt die Treppe hinauf, hinten oder vorn?“


„Hm! Wo war es nur! Ich glaube, vorn. Man
[239] hat von der Thüre aus noch ſechs bis acht Schritte zu
gehen.“


„Rechts oder links?“


„Ja, wie ſtehe ich denn? Hüben oder drüben? O
Emir, deine Seele kann die Arznei nicht gut vertragen;
denn du haſt mich ſo ſchief geſtellt, daß dieſer Hausflur
nicht gradaus läuft, ſondern von unten hinauf in die
Höhe!“


„So komm her! Hinter dir iſt die Thüre; hier iſt
rechts, und da iſt links. An welcher Seite nun geht die
Treppe empor?“


„Hier links.“


Wir ſchritten vorſichtig weiter, und mein taſtender
Fuß ſtieß wirklich bald an die unterſte Stufe einer Treppe.


„Da ſind die Stufen, Agha!“


„Ja, das ſind ſie. Falle nicht, Emir! Du warſt
noch nie in dieſem Hauſe; ich werde dich ſehr ſorgfältig
leiten.“


Er hing ſich ſchwer an mich, ſo daß ich ihn die mir
unbekannte Treppe förmlich emportragen mußte.


„Jetzt ſind wir oben. Wo iſt die Stube des Ser-
geanten?“


„Rede leiſer; ich höre alles! Rechts die erſte Thür
iſt es.“


Er zog mich fort, aber grad aus ſtatt nach rechts;
ich ſchwenkte ihn alſo herum und fühlte nach einigen
Schritten die Thüre, welche ich taſtend unterſuchte.


„Ich fühle zwei Riegel, aber kein Schloß.“


„Es giebt keins.“


„Die Riegel ſind vorgeſchoben.“


„Dann ſind wir am Ende doch in ein fremdes Haus
geraten!“


„Ich werde öffnen.“


[240]

„Ja thue es, damit ich erfahre, woran ich mit dir bin!“


Ich ſchob die ſchweren Riegel zurück. Die Thüre
ging nach außen auf. Wir traten ein.


„Giebt es ein Licht in der Stube des Sergeanten?“


„Ja. Die Lampe ſteht mit dem Feuerzeuge links
in einem Mauerloche.“


Ich lehnte ihn an die Wand und ſuchte. Das Loch
nebſt dem Nötigen wurde entdeckt, und bald hatte ich die
Lampe angebrannt.


Der Raum war eng und klein. Eine Binſenmatte
lag auf der Diele; ſie hatte als „Möbel für alles“ zu
dienen. Ein zerbrochener Napf, ein Paar zerriſſene Schuhe,
ein Pantoffel, ein leerer Waſſerkrug und eine Peitſche
ſtanden und lagen auf dem Boden herum.


„Nicht da! Wo ſteckt dieſer Menſch?“ fragte der Agha.


„Er wird bei den Arnauten ſein, die auch hier zu
wachen haben.“


Er nahm die Lampe und wankte voran, ſtieß aber
an den Thürpfoſten.


„Schiebe mich nicht, Emir. Komm, halte die Lampe;
ich will dich lieber führen, ſonſt könnteſt du mich die Treppe
hinabwerfen. Ich liebe dich und bin dein Freund, dein
beſter Freund; darum rate ich dir, nie wieder dieſe per-
ſiſche Arznei zu trinken. Sie macht dich ja ganz gewalt-
thätig!“


Ich mußte allerdings einige Gewalt anwenden, um
ihn unbeſchädigt hinabzubringen. Als wir vor der be-
zeichneten Thüre anlangten, war auch ſie verſchloſſen, und
als wir ſie öffneten, fanden wir auch dieſen Raum leer.
Er glich mehr einem Stalle als der Wohnung eines
Menſchen und ließ ſehr Trauriges über die Aſyle der
Gefangenen erraten.


„Auch fort! Emir, du hatteſt recht. Dieſe Schurken
[241] ſind fortgelaufen, ſtatt zu wachen. Aber ſie ſollen lernen,
mich zu fürchten. Ich laſſe ihnen die Baſtonnade geben;
ja, ich laſſe ſie ſogar aufhängen!“


Er verſuchte, die Augen zu rollen, aber er brachte es
nicht fertig; der Wein wirkte je länger deſto kräftiger;
ſie fielen ihm zu.


„Was thun wir nun?“


„Was meinſt du, Emir?“


„Ich an deiner Stelle würde warten, um die Ar-
nauten ſo zu empfangen, wie ſie es verdient haben.“


„Freilich werde ich dies thun. Aber wo warten wir?“


„Hier oder oben.“


„Hier. Ich ſteige nicht erſt wieder hinauf; du wirſt
mir zu ſchwer, Effendi. Sieh, wie du wankſt! Setze dich
nieder!“


„Ich denke, wir wollen die Gefängniſſe inſpizieren?“


„Ja, das wollten wir,“ ſagte er ermüdet. Aber,
dieſe Menſchen ſind es nicht wert. Es ſind lauter Spitz-
buben, Diebe und Räuber, Kurden und auch ein Araber,
welcher der ſchlimmſte von allen iſt.“


„Wo ſteckt dieſer Kerl?“


„Hier nebenan, weil er am ſchärfſten bewacht werden
ſoll. So ſetze dich doch!“


Ich ließ mich neben ihm nieder, obgleich der Boden
nur aus hartgeſtampften Lehm beſtand und den höchſten
Grad von Unreinlichkeit zeigte. Der Agha gähnte.


„Biſt du müde?“ fragte er mich.


„Ein wenig.“


„Darum gähnſt du ſo. Schlafe, bis ſie kommen. Ich
werde dich wecken. Allah illa Allah, du biſt ganz ſchwach
und unzuverläſſig geworden! Aber ich werde es mir ſo
bequem wie möglich machen.“


Er ſtreckte ſich aus, ſtemmte den Ellenbogen auf und
II. 16
[242] legte den Kopf in die Hand. Eine lautloſe Stille trat
ein, und nach einer kleinen Weile ſank der Kopf vollends
nieder — der Herr des Gefängniſſes ſchlief.


Wie oft hatte ich geleſen, daß ein Gefangener durch
die Berauſchung ſeiner Wächter befreit worden ſei, und
mich über dieſen verbrauchten Schriftſtellercoup geärgert!
Und jetzt befand ich mich in voller Wirklichkeit infolge
eines Rauſches in dem Beſitze aller Gefangenen. Sollte
ich dem Haddedihn Thor und Thüre öffnen? Das wäre
wohl unklug geweſen. Wir waren nicht vorbereitet,
augenblicklich die Stadt zu verlaſſen. Am Thore ſtanden
Wachen, welche ſicher Verdacht geſchöpft hätten. Auf den
armen Agha wäre die ganze Schuld gefallen und — ich
mußte ganz offen als der Thäter bezeichnet werden, was
mir große Gefahr bringen oder wenigſtens ſpäter viele
Ungelegenheiten bereiten konnte. Es war jedenfalls beſſer,
den Gefangenen ſo verſchwinden zu laſſen, daß ſein Ent-
kommen ganz unbegreiflich blieb. Das war jetzt in meine
Hand gegeben und machte es mir möglich, jeden Verdacht
von mir fern zu halten. Ich beſchloß alſo, heute mit dem
Haddedihn nur zu ſprechen, und die Flucht erſt dann zu
bewerkſtelligen, wenn ſie gehörig vorbereitet ſein würde.


Der Agha lag am Boden und ſchnarchte laut bei
offen ſtehendem Munde. Ich rüttelte ihn erſt leiſe und
dann ſtärker am Arme. Er erwachte nicht. Nun ergriff
ich die Lampe und verließ die Stube, deren Thüre ich
leiſe zumachte. Auch einen der Riegel ſchob ich lautlos
vor, um auf keinen Fall überraſcht zu werden. Ich hatte
bereits vorhin achtgegeben und bemerkt, daß alle Thüren
ohne Schlöſſer und nur mit zwei Riegeln verſehen waren.
Einen Schlüſſel brauchte ich alſo nicht zu ſuchen.


Es war mir doch ein wenig verändert zu Mute,
als ich ſo allein draußen auf dem Gange ſtand, deſſen
[243] Finſternis von dem kleinen Lichte der Lampe nicht durch-
drungen werde konnte. Aber ich hielt mich auf alles ge-
faßt. Wäre ein zwingender Umſtand eingetreten, ſo hätte
ich alles gewagt, um nicht ohne den Gefangenen fortzu-
kommen. Ich ſchob die Riegel zurück, öffnete und ließ
die Thüre weit offen ſtehen, um jeden Laut vernehmen
zu können, nachdem ich eingetreten war.


Ja, es war ein Loch, welches ich erblickte! Ganz
ohne die Vermittelung von einigen Stufen fiel der vor
mir liegende Raum hart hinter der Thüre über zwei
Ellen tief hinab. Er hatte eine Länge von vier und eine
Breite von zwei Schritten ungefähr und zeigte weder
Tünche, noch Holz- oder Lehmboden. Oben, dicht unter
der Decke war eines jener Löcher angebracht, die ich am
Tage von außen bemerkt hatte, und außer einem „Napfe“
mit Waſſer, wie man ihn einem Hunde vorgeſetzt haben
würde, ſah ich nichts als den Gefangenen in dieſer Höhle.


Er hatte auf der feuchten dumpfen Erde gelegen, war
aber bei meinem Erſcheinen aufgeſtanden. Hohläugig und
abgemagert, glich er einem Halbtoten, aber dennoch war
ſeine Haltung eine ſtolze, und ſein Auge blitzte zornig,
als er mich fragte:


„Was willſt du? Darf man nicht einmal ſchlafen?“


„Sprich leiſe! Ich gehöre nicht zu deinen Wächtern.
Wie iſt dein Name?“


„Warum frageſt du?“


„Sprich noch leiſer, denn man ſoll uns nicht hören.
Wie heißeſt du?“


„Das wirſt du wiſſen!“ antwortete er, aber doch mit
gedämpfter Stimme.


„Ich vermute es, aber ich will aus deinem Munde
wiſſen, wer du biſt.“


„Man nennt mich Amad el Ghandur.“


[244]

„So biſt du jener, den ich ſuche. Verſprich mir,
ganz ruhig zu ſein, was ich dir auch ſagen werde!“


„Ich verſpreche es!“


„Mohammed Emin, dein Vater, iſt in der Nähe.“


„Allah il Al — — —!“


„Schweig! Dein Ruf kann uns verraten!“


„Wer biſt du?“


„Ein Freund deines Vaters. Ich kam als Gaſt zu
den Haddedihn und habe an der Seite deines Vaters
gegen eure Feinde gekämpft. Da hörte ich, daß du ge-
fangen ſeieſt, und wir haben uns aufgemacht, dich zu be-
freien.“


„Allah ſei gelobt! Aber ich kann es nicht glauben!“


„Glaube es! Siehe, dieſes Fenſter geht in einen Hof,
welcher an einen Garten ſtößt, der zu dem Hauſe gehört,
in dem wir wohnen.“


„Wie viele Männer ſeid ihr?“


„Nur vier. Dein Vater, ich, noch ein Freund und
mein Diener.“


„Wer biſt du, und wer iſt dieſer Freund?“


„Laß das für ſpäter, denn jetzt müſſen wir eilen!“


„Fort?“


„Nein. Wir ſind noch nicht vorbereitet, und ich kam
zufällig hierher, ohne es vorher geahnt zu haben. Kannſt
du leſen?“


„Ja.“


„Aber es fehlt dir das Licht dazu.“


„Zur Mittagszeit iſt es hell genug.“


„So höre. Ich könnte dich gleich jetzt mitnehmen,
aber das wäre zu gefährlich; doch ich verſichere dir, daß
es nur ganz kurze Zeit noch dauern wird, bis du frei
ſein wirſt. Noch weiß ich nicht, was wir beſchließen
werden; aber wenn du einen Stein durch das Fenſter
[245] fallen hörſt, ſo hebe ihn auf; es wird ein Papier daran
gebunden ſein, welches dir ſagt, was du thun ſollſt.“


„Herr, du giebſt mir das Leben zurück; denn beinahe
wäre ich verzweifelt! Wie habt ihr erfahren, daß man
mich nach Amadijah geſchleppt hat?“


„Ein Dſcheſidi ſagte es mir, den du am Waſſer ge-
troffen haſt.“


„Das ſtimmt,“ antwortete er ſchnell. „O, nun ſehe
ich, daß du die Wahrheit redeſt! Ich werde warten, aber
grüße den Vater von mir!“


„Ich werde es noch heute thun. Haſt du Hunger?“


„Sehr!“


„Könnteſt du Brot, Licht und Feuerzeug verſtecken?“


„Ja. Ich grabe mit den Händen ein Loch in die
Erde.“


„Hier haſt du meinen Dolch dazu. Es iſt für alle
Fälle gut, wenn du eine Waffe haſt. Aber ſie iſt mir
koſtbar; laß ſie nicht entdeckt werden!“


Er griff haſtig zu und drückte ſie an die Lippen.


„Herr, Allah mag dir das in deiner Todesſtunde
gedenken! Nun habe ich eine Waffe; nun werde ich frei
ſein, auch wenn ihr nicht kommen könnt!“


„Wir werden kommen. Unternimm ja nichts Vor-
ſchnelles; das könnte dich und deinen Vater in große
Gefahr verſetzen.“


„Ich werde eine ganze Woche warten. Seid ihr
dann noch nicht gekommen, ſo handle ich ſelbſt.“


„Gut! Wenn es geht, werde ich dir noch dieſe Nacht
Speiſe, Licht und Feuerzeug durch das Fenſter bringen.
Vielleicht können wir auch miteinander ſprechen. Wenn
es ohne Gefahr geſchehen kann, ſollſt du die Stimme
deines Vaters hören. Jetzt, lebe wohl; ich muß gehen!“


„Herr, reiche mir deine Hand!“


[246]

Ich hielt ſie ihm entgegen. Er drückte ſie mit beiden
Händen, daß es mich ſchmerzte.


„Allah ſegne dieſe Hand, ſolange ſie ſich bewegt, und
wenn ſie ſich zum Todesſchlaf gefaltet hat, ſo möge dein Geiſt
ſich im Paradieſe freuen der Stunde, in welcher du mein
Engel wurdeſt! Jetzt gehe, damit dir nichts widerfahre!“


Ich verſchloß das Gefängnis und begab mich leiſe
zum Agha zurück. Er ſchlief und ſchnarchte noch immer,
und ich ſetzte mich nieder. So ſaß ich wohl eine ganze
Stunde lang, bis ich Schritte vernahm, welche vor der
Hausthür halten blieben. Schnell zog ich die bisher offene
Thüre zu und rüttelte den Agha munter. Es war dies
keine leichte Arbeit, beſonders da ſie ſchnell geſchehen
mußte. Ich ſtellte ihn aufrecht empor. Er ſtarrte mich
verwundert an.


„Du, Emir? Wo ſind wir?“


„Im Gefängniſſe. Raffe dich zuſammen!“


Er ſchaute ſich verdutzt um.


„Im Gefängniſſe? Ah! Wie kommen wir hierher?“


„Denke an den Juden und an die Arznei; denke auch
an den Sergeant, den wir überraſchen wollen!“


„Den Serg — — — Maſchallah, jetzt weiß ich es!
Ich habe geſchlafen. Wo iſt er? Iſt er noch nicht da?“


„Sprich leiſer! Hörſt du? Sie ſtehen noch unter der
Thüre und reden miteinander. Reibe dir den Schlaf aus
dem Geſichte!“


Der gute Selim ſah ſehr jämmerlich aus; aber er
hatte wenigſtens die Beſinnung wieder gefunden und ver-
mochte ohne Schwanken aufrecht zu ſtehen. Und jetzt, als
die Hausthür verſchloſſen wurde, nahm er die Lampe in
die Hand, ſtieß unſere Thüre auf und trat in den Gang
hinaus. Ich folgte ihm. Die Uebelthäter blieben er-
ſchrocken ſtehen, während er auf ſie zuſchritt.


[247]

„Wo kommt ihr her, ihr Hunde?“ fuhr er ſie an.


Seine Stimme klang wie Donner in dem langen,
ſchmalen Raum.


„Vom Kawedſchi,“ antwortete der Sergeant nach
einigem Zögern.


„Vom Kawedſchi! Während ihr hier wachen ſollt!
Wer hat euch die Erlaubnis erteilt, fortzugehen?“


„Niemand!“


Die Leute zitterten vor Angſt; ſie dauerten mich.
Ihre Nachläſſigkeit war mir ja von ſo großem Vorteile
geweſen. Trotz des kleinen Flämmchens ſah ich, wie
ſchrecklich der Agha ſeine Augen rollen ließ. Die Spitzen
ſeines Bartes bebten, und ſeine Hand ballte ſich vor
Wut. Aber er mochte bemerken, daß er denn doch noch
nicht ganz feſt auf den Füßen ſtehe, und daher beſann er
ſich eines Beſſeren.


„Morgen erhaltet ihr eure Strafe!“


Er ſetzte die Lampe auf eine der Treppenſtufen und
wandte ſich zu mir:


„Oder meinſt du vielleicht, Emir, daß ich gleich jetzt
das Urteil fälle? Willſt du haben, daß ich den einen
durch die andern auspeitſchen laſſe?“


„Verſchiebe ihre Züchtigung bis morgen, Selim Agha!
Sie kann ihnen ja nicht entgehen.“


„Ich thue deinen Willen. Komm!“


Er öffnete die Thüre und verſchloß ſie von draußen
wieder.


Wir gingen nach Hauſe, wo uns die ‚Myrte‘ er-
wartete.


„Wareſt du ſo lange beim Muteſſelim?“ fragte ſie
ihn argwöhniſch.


„Merſinah,“ antwortete er, „ich ſage dir, daß wir
eingeladen wurden, bis zum frühen Morgen zu bleiben;
[248] aber ich wußte dich allein zu Hauſe und habe darum die
Gaſtfreundlichkeit des Kommandanten abgeſchlagen. Ich
will nicht haben, daß dir die Ruſſen den Kopf abſchneiden.
Es giebt Krieg!“


Sie ſchlug erſchrocken die Hände zuſammen.


„Krieg? Zwiſchen wem denn?“


„Zwiſchen den Türken, Ruſſen, Perſern, Arabern
und Kurden. Die Ruſſen ſtehen bereits mit hundert-
tauſend Mann und dreitauſend Kanonen vier Stunden
von hier in Serahru.


„O Allah! Ich ſterbe; ich bin bereits tot! Mußt
du auch mitkämpfen?“


„Ja. Fette mir noch heute nacht die Stiefel ein!
Aber laß keinen Menſchen etwas wiſſen. Der Krieg iſt
jetzt noch Staatsgeheimnis, und die Leute von Amadijah
ſollen es erſt erfahren, wenn die Ruſſen morgen die Stadt
umzingelt haben.“


Sie taumelte und ſetzte ſich ganz entkräftet auf den
erſten beſten Topf, der in ihrer Nähe ſtand.


„Schon morgen! Morgen ſind ſie wirklich da?“


„Ja.“


„Und ſie werden ſchießen?“


„Sehr!“


„Selim Agha, ich werde dir deine Stiefel nicht ein-
ſchmieren!“


„Warum nicht?“


„Du darfſt nicht Krieg führen helfen; du ſollſt nicht
erſchoſſen werden!“


„Gut! Das iſt mir ſehr lieb, denn dann kann ich
ſchlafen gehen. Gute Nacht, Effendi! Gute Nacht, meine
ſüße Merſinah!“


Er trat ab. Die Blume des Hauſes blickte ihm etwas
verwundert nach; dann erkundigte ſie ſich:


[249]

„Emir, iſt es wahr, daß die Ruſſen kommen?“


„Das iſt noch ein wenig ungewiß. Ich glaube, daß
der Agha die Sache etwas zu ernſt genommen hat.“


„O, du träufelſt Balſam in mein verwundetes Herz.
Iſt es nicht möglich, ſie von Amadijah abzuhalten?“


„Wir wollen uns das überlegen. Haſt du die Kaffee-
ſorten auseinander geleſen?“


„Ja, Herr. Es iſt das eine ſehr ſchlimme Arbeit
geweſen; aber dieſer böſe Hadſchi Halef Omar ließ mir
keine Ruhe, bis ich fertig war. Willſt du es ſehen?“


„Zeige her!“


Sie brachte die Büchſe und die Tüte herbei, und ich
überzeugte mich, daß ſie ſich allerdings große Mühe ge-
geben hatte.


„Und wie wird dein Urteil lauten, Emir?“


„Es lautet gut für dich. Da deine zarten Hände
dieſe Bohnen ſo oft berühren mußten, ſo ſoll der Kaffee
dein Eigentum ſein. Auch das Geſchirr, welches ich heute
einkaufte, gehört dir; die Gläſer aber ſchenke ich dem
wackeren Selim Bey.“


„O Effendi, du biſt ein gerechter und weiſer Richter.
Du haſt mehr Güte, als ich Töpfe hatte, und dieſer
duftende Kaffee iſt ein Beweis deiner Herrlichkeit. Allah
mag das Herz der Ruſſen lenken, daß ſie nicht kommen
und dich nicht erſchießen. Denkſt du, daß ich heute noch
ruhig ſchlafen kann?“


„Das kannſt du; ich verſichere es dir!“


„Ich danke dir, denn die Ruhe iſt noch das einzige,
an dem ein geplagtes Weib ſich freuen kann!“


„Schläfſt du hier unten, Merſinah?“


„Ja.“


„Aber nicht in der Küche, ſondern nach vorn
hinaus?“


[250]

„Herr, eine Frau gehört in die Küche und ſchläft
auch in der Küche.“


Hm! Das war unangenehm. Uebrigens kam mir der
dumme Witz des Agha ſehr ungelegen. Die ‚Myrte‘
ſchlief heute gewiß nicht gleich ein. Ich ſtieg nach oben,
ging aber, anſtatt in mein Zimmer, in dasjenige des
Haddedihn. Er hatte ſich bereits ſchlafen gelegt, erwachte
aber ſofort. Ich erzählte ihm mein Abenteuer im Ge-
fängnis, und er ward des Staunens voll.


Wir packten dann Eßwaren nebſt Licht und Feuer-
zeug ein und ſchlichen uns nach einer leeren Stube, welche
an der Hochſeite des Hauſes lag. Sie hatte nur ein
Fenſter, das heißt, eine viereckige Oeffnung, welche durch
einen Laden verſchloſſen war. Dieſer war nur angelehnt,
und als ich hinausblickte, ſah ich das glatte Dach, welches
dieſe Seite des kleinen Hofes umſchirmte, nur fünf Fuß
unter mir. Wir ſtiegen hinaus und von dem Dache in
den Hof hinab. Die Thüre des letzteren war verſchloſſen;
wir befanden uns alſo allein und gingen in den Garten,
in welchem einſt die ſchöne Esma Khan geduftet hatte.
Nun trennte uns von dem Gefängniſſe nur eine Mauer,
deren Höhe wir mit der Hand erreichen konnten.


„Warte,“ bat ich den Scheik. „Ich will der Sicher-
heit wegen erſt ſehen, ob wir auch wirklich unbeobachtet
ſein werden.“


Ich ſchwang mich leiſe hinauf und drüben wieder
hinab. Aus dem erſten kleinen Fenſterloche rechts im
Parterre ſah ich einen fahlen Lichtſchein. Dort war die
Stube, in welcher der Agha geſchlafen hatte. Und dort
ſaßen jetzt wohl die Arnauten, die vor Angſt nicht ſchlafen
konnten. Das nächſte, alſo das zweite Fenſter gehörte
zu dem Raume, in welchem Amad el Ghandur auf uns
wartete.

[251]

Ich durchſuchte den ſchmalen Hofraum, ohne auf
etwas Verdachterregendes zu ſtoßen, und fand auch die
Thüre verſchloſſen, welche aus dem Gefängniſſe in den
Hof führte. Nun kehrte ich zu der Stelle der Mauer
zurück, hinter welcher der Haddedihn ſtand.


„Mohammed!“


„Wie iſt es?“


„Alles ſicher. Kannſt du herüber?“


„Ja.“


„Aber leiſe!“


Er kam.


Wir huſchten über den Hof hinüber und ſtanden nun
unter dem Fenſterchen, welches ich beinahe mit der Hand
erreichen konnte.


„Bücke dich, Scheik, ſtütze dich gegen die Wand und
ſtemme die Hände auf die Kniee!“


Er that es, und ich ſtieg auf ſeinen Rücken, welcher
jetzt eine beinahe wagrechte Lage angenommen hatte. Ich
ſtand mit dem Geſicht grad vor dem Loche des Kerkers.


„Amad el Ghandur!“ ſprach ich in dasſelbe hinein
und hielt dann ſchnell das Ohr hin.


„Herr, biſt du es?“ klang es hohl von unten herauf.


„Ja.“


„Iſt mein Vater auch da?“


„Er iſt hier. Er wird dir Speiſe und Licht an einer
Schnur herablaſſen und dann mit dir ſprechen. Warte;
er wird gleich oben ſein.“


Ich ſtieg von dem Rücken des Arabers herab.


„War ich ſchwer?“


„Lange iſt es nicht auszuhalten, denn die Stellung
iſt zu unbequem.“


„So werden wir es jetzt anders machen, da du jeden-
falls nicht nur einen kurzen Augenblick mit deinem Sohne
[252] reden willſt: du knieſt auf meine Achſeln; dann kann ich
aufrecht ſtehen und es ſo lange aushalten, wie es dir
beliebt.“


„Hat er dich gehört?“


„Ja. Er fragte nach dir. Ich habe in der Taſche
eine Schnur, an welcher du das Paket hinablaſſen kannſt.“


Die Schnur wurde befeſtigt; ich bildete mit auf dem
Rücken gefalteten Händen einen Tritt, auf welchen er den
Fuß ſetzen konnte, und er ſtieg auf. Nachdem ich meine
Hände an ſeine Kniee gelegt hatte, ſo daß er nicht ab-
rutſchen konnte, kniete er auf meinen Achſeln ſo ſicher
wie zur ebenen Erde. Er ließ das Päckchen hinab, und
nun begann ein leiſes, aber deſto eifrigeres Zwiegeſpräch,
von dem ich nur den von Mohammed Emin geſprochenen
Teil vernehmen konnte. Dazwiſchen hinein fragte mich
der Scheik zuweilen, ob er mir nicht zu ſchwer werde.
Er war ein langer, ſtarker Mann, und deshalb war es
mir ſchon recht, als er nach ungefähr fünf Minuten zu
Boden ſprang.


„Emir, er muß heraus; ich kann es nicht erwarten,“
ſagte er.


„Vor allen Dingen wollen wir gehen. Steig einſt-
weilen voran; ich will dafür ſorgen, daß man am Tage
keine Fußſpur findet.“


„Der Boden iſt ja hart wie Stein!“


„Vorſicht iſt beſſer als Nachläſſigkeit.“


Er ging voran, und ich folgte bald nach. In kurzer
Zeit waren wir auf demſelben Wege, den wir gekommen
waren, zurückgekehrt und befanden uns in dem Zimmer
des Scheik.


Er wollte nun ſogleich einen Plan zur Befreiung
ſeines Sohnes mit mir beraten; ich aber empfahl ihm,
darüber zu ſchlafen, und ſchlich mich auf mein Zimmer.


[253]

Am andern Morgen beſuchte ich zunächſt meine
Patientin; ſie hatte nichts mehr zu befürchten. Die Mutter
war ganz allein bei ihr, wenigſtens bekam ich weiter nie-
mand zu ſehen. Sodann machte ich einen Gang durch
und um die Stadt, um eine Stelle in der Mauer aus-
findig zu machen, an der es möglich war, hinaus in das
Freie zu gelangen, ohne das Thor paſſieren zu müſſen.
Es gab eine, aber ſie war nicht für Pferde, ſondern nur
für Fußgänger zu paſſieren.


Als ich wieder nach Hauſe kam, hatte ſich Selim
Agha erſt vom Lager erhoben.


„Emir, jetzt iſt es Tag,“ meinte er.


„Bereits ſchon lange,“ antwortete ich.


„O, ich meine, daß man nun beſſer als geſtern über
unſere Sache reden kann.“


„Unſere Sache?“


„Ja, unſere. Du biſt ja auch dabei geweſen. Soll
ich Anzeige machen oder nicht? Was meinſt du, Effendi?“


„Ich an deiner Stelle würde es unterlaſſen.“


„Warum?“


„Weil es beſſer iſt, es wird gar nicht davon ge-
ſprochen, daß du während der Nacht im Gefängniſſe ge-
weſen biſt. Deine Leute haben jedenfalls bemerkt, daß
dein Gang nicht ganz ſicher war, und ſie könnten dies bei
ihrer Vernehmung mit in Erwähnung bringen.“


„Das iſt wahr! Als ich vorhin erwachte, ſah mein
Anzug ſehr ſchlimm aus, und ich habe lange reiben müſſen,
um den Schmutz wegzubringen. Ein Wunder, daß dies
Merſinah nicht geſehen hat! Alſo du meinſt, ich ſoll die
Anzeige unterlaſſen?“


„Ja. Du kannſt ja den Leuten einen Verweis geben,
und deine Gnade wird ſie blenden wie ein Sonnen-
ſtrahl.“


[254]

„Ja, Effendi, ich werde ihnen zunächſt eine fürchter-
liche Rede halten!“


Seine Augen rollten wie das Luftrad einer Stuben-
ventilation. Dann ſtanden ſie plötzlich ſtill, und ſein
Geſicht nahm einen ſehr ſanftmütigen Ausdruck an.


„Und dann werde ich ſie begnadigen, wie ein Padi-
ſchah, der das Leben und das Eigentum von Millionen
Menſchen zu verſchenken hat.“


Er wollte gehen, blieb aber unter der Thüre halten;
denn draußen war ein Reiter abgeſtiegen, und ich hörte
eine bekannte Stimme fragen:


„Sallam, Herr! Biſt du vielleicht Selim Agha, der
Befehlshaber der Albaneſen?“


„Ja, der bin ich. Was willſt du?“


„Wohnt bei dir ein Effendi, welcher Hadſchi Emir
Kara Ben Nemſi heißt, und zwei Effendi, einen Diener
und einen Baſchi-Bozuk bei ſich hat?“


„Ja. Was ſoll er?“


„Erlaube, daß ich mit ihm ſpreche!“


„Hier ſteht er.“


Selim trat zur Seite, ſo daß der Mann mich ſehen
konnte. Es war kein anderer als Selek, der Dſcheſidi
aus Baadri.


„Effendi,“ rief er mit großer Freude, „erlaube, daß
ich dich begrüße!“


Wir reichten einander die Hände; dabei ſah ich, daß
er ein Pferd Ali Beys ritt, welches dampfte. Er war
jedenfalls ſehr raſch geritten. Es war zu vermuten, daß
er mir eine Botſchaft, und zwar eine ſehr wichtige, zu
überbringen hatte.


„Führe dein Pferd in den Hof und komme dann
herauf zu mir!“ wies ich ihn an.


Als wir uns in meiner Stube und alſo allein
[255] befanden, griff er in den Gürtel und zog einen Brief
hervor.


„Von wem?“


„Von Ali Bey.“


„Wer hat ihn geſchrieben?“


„Mir Scheik Khan, der Oberſte der Prieſter.“


„Wie haſt du meine Wohnung gefunden?“


„Ich frug gleich am Thore nach dir.“


„Und woher weißt du, daß zwei Effendi bei mir
ſind? Als ich bei euch war, hatte ich nur einen bei mir.“


„Ich erfuhr es in Spandareh.“


Ich öffnete den Brief. Er enthielt ſehr Intereſſantes,
einige gute Nachrichten, welche die Dſcheſidi betrafen, und
eine ſchlimme, welche ſich auf mich bezog.


„Was? Einen ſolchen Erfolg hat die Geſandtſchaft
Ali Beys gehabt?“ fragte ich. „Der Anadoli Kaſi As-
kerie *) iſt mit ihr nach Moſſul gekommen?“


„Ja, Herr. Er liebt unſern Mir Scheik Khan und
hat eine ſtrenge Unterſuchung gehalten. Der Muteſſarif
wird weggenommen; an ſeine Stelle kommt ein anderer.“


„Und der Makredſch von Moſſul iſt entflohen?“


„So iſt es. Er war an allen Fehlern ſchuld, die
der Muteſſarif gemacht hat. Es haben ſich ſehr ſchlimme
Dinge herausgeſtellt. Seit elf Monaten hat kein Unter-
Gouverneur die nötigen Gelder und kein Befehlshaber
und kein Soldat ſeinen Sold erhalten. Die Demütigung
der Araber, welche die hohe Pforte anbefohlen hatte, blieb
unterlaſſen, weil er alle Summen einſteckte, welche dazu
erforderlich waren. Und ſo noch vieles andere. Die Kha-
waſſen, welche den Makredſch gefangen nehmen ſollten,
ſind zu ſpät gekommen; er war fort. Darum haben alle
Beys und Kajahs der Umgegend den Befehl erhalten, ihn
[256] feſtzunehmen, ſobald er ſich ſehen läßt. Der Anadoli
Kaſi Askerie vermutet, daß er nach Bagdad geflohen ſei,
weil er ein Freund des dortigen Weli *) geweſen iſt.


„Das iſt wohl eine falſche Vermutung! Der Flücht-
ling iſt ſicher in die Berge geflohen, wo er ſchwerer zu
ergreifen iſt, und wird lieber nach Perſien als nach Bagdad
gehen. Das Reiſegeld kann er unterwegs ſehr leicht er-
halten. Er iſt der Oberrichter ſämtlicher Untergerichts-
höfe, deren Gelder ihm zu Gebote ſtehen.“


„Du haſt recht, Effendi! Noch geſtern abend haben
wir erfahren, daß er am Morgen des vorigen Tages in
Alkoſch und am Abend bereits in Mungayſchi geweſen
iſt. Es ſcheint, daß er nach Amadijah gehen wolle, aber
auf einem Umwege, weil er die Ortſchaften der Dſcheſidi
fürchtet, die er überfallen hat.“


„Ali Bey vermutet mit Recht, daß mir ſein Ein-
treffen hier große Schwierigkeiten bereiten kann. Er wird
mir ſehr hinderlich ſein, und ich kann leider nicht beweiſen,
daß er ſelbſt ein Flüchtling iſt.“


„O, Emir, Ali Bey iſt klug. Als er von dem
Makredſch hörte, befahl er mir, ſein beſtes Pferd zu
ſatteln und die ganze Nacht zu reiten, um noch vor dem
Oberrichter hier einzutreffen, falls dieſer wirklich die Ab-
ſicht haben ſollte, nach Amadijah zu kommen. Und als
ich Baadri verließ, gab er mir zwei Schreiben mit, die
er aus Moſſul erhalten hat. Hier ſind ſie; du ſollſt
ſehen, ob du ſie gebrauchen kannſt.“


Ich öffnete ſie und las. Das eine war der Brief
des Anadoli Kaſi Askerie an Mir Scheik Khan, in welchem
dieſem die Abſetzung des Muteſſarif und des Makredſch
mitgeteilt wurde. Das andere enthielt die amtliche
Weiſung an Ali Bey, den Makredſch feſtzunehmen und
[257] nach Moſſul zu transportieren, ſobald er ſich auf deſſen
Gebiete ſehen laſſe. Beide waren mit der Unterſchrift
und dem großen Siegel des Kaſi Askerie verſehen.


„Dieſe Papiere ſind mir allerdings ſehr wichtig. Wie
lange kann ich ſie behalten?“


„Sie ſind ganz dein.“


„Alſo vorgeſtern abend iſt der Makredſch in Mun-
gayſchi geweſen?“


„Ja.“


„So könnte er heute hier ankommen, und ich brauche
dieſe Schreiben bloß für dieſen Tag. Kannſt du ſo lange
warten?“


„Ich warte ſo lange, wie du befiehlſt, Emir!“


„So gehe jetzt zwei Thüren weiter! Dort wirſt du
Bekannte treffen, nämlich Hadſchi Halef und den Buluk
Emini.“


Die Nachricht, daß der Makredſch nach Amadijah
kommen könne, hatte mich zunächſt mit Beſorgnis erfüllt;
ſobald ich mich aber in dem Beſitze der beiden Schrift-
ſtücke ſah, mußte dieſe Beſorgnis ſchwinden, und ich konnte
ſeinem Kommen mit Ruhe entgegenſehen. Ja, ich glaubte
bereits, daß die Kunde von der Abſetzung des Muteſſarif
eine Freilaſſung des gefangenen Haddedihn zur Folge
haben könne, kam aber von dem Gedanken zurück, als ich
las, daß die Feindſeligkeiten gegen die Araber nicht als
eine Privatſache des Muteſſarif, ſondern auf Befehl der
Pforte unternommen ſeien.


Am Nachmittage trat die ‚Myrte‘ in meine Stube.


„Effendi, willſt du mit in das Gefängnis?“


Das kam mir erwünſcht, aber ich mußte doch erſt
mit Mohammed Emin reden. Darum ſagte ich:


„Ich habe jetzt keine Zeit.“


„Du haſt es mir aber doch verſprochen und auch ge-
II. 17
[258] ſagt, daß du den Gefangenen erlauben willſt, einiges von
mir zu kaufen!“


Der Roſe von Amadijah ſchien ſehr viel an dem Ge-
winne zu liegen, den dieſer kleine Handel ihr jedenfalls
einbrachte.


„Ich würde mein Wort halten; aber ich habe leider
erſt in einer Viertelſtunde Zeit.“


„So warte ich, Emir! Aber wir können doch nicht
mitſammen gehen!“


„Iſt Selim Agha dabei?“


„Nein. Er hat jetzt Dienſt bei dem Muteſſelim.“


„So befiehl dem Sergeanten, daß er mir öffnen möge.
In dieſem Falle kannſt du bereits jetzt gehen, und ich
werde nachkommen.“


Sie verſchwand mit heiterem Angeſichte. Sie ſchien
es gar nicht der Mühe wert zu halten, daran zu denken,
ob der Sergeant mir den Zutritt erlauben werde, da ich
doch weder ein Recht dazu hatte, noch die Erlaubnis
ſeines Vorgeſetzten nachweiſen konnte. Natürlich ging ich
ſofort zu Mohammed Emin und ſetzte ihn von meinem
bevorſtehenden Beſuche im Gefängnis in Kenntnis. Ich
empfahl ihm, zur Flucht bereit zu ſein und zunächſt für
ſeinen Sohn durch Halef heimlich einen türkiſchen Anzug
kaufen zu laſſen. Dann brannte ich mir einen Tſchibuk
an und ſtieg mit gravitätiſchen Schritten durch die Gaſſen.
Als ich das Gefängnis erblickte, ſah ich die Thüre des-
ſelben offen. Der Sergeant ſtand unter derſelben.


„Sallam!“ grüßte ich kurz und würdevoll.


„Sallam aaleïkum!“ antwortete er. „Allah ſegne dei-
nen Eintritt in dieſes Haus, Emir! Ich habe dir viel
Dank zu ſagen.“


Ich trat ein, und er verſchloß die Thüre wieder.


„Dank?“ fragte ich nachläſſig. „Wofür?“


[259]

„Selim Agha war hier. Er war ſehr zornig. Er
wollte uns peitſchen laſſen, aber endlich ſagte er, daß wir
Gnade finden ſollen, weil du für uns gebeten haſt. Sei
ſo gütig, mir zu folgen.“


Wir ſtiegen die Treppe empor, welche zu finden und
zu paſſieren mir der Agha geſtern ſo viele Mühe gemacht
hatte. Auf dem Gange ſtand Merſinah mit einem blecher-
nen Keſſel, welcher eine Mehlbrühe enthielt, die ganz das
Anſehen hatte, als ob ſie aus dem Spülwaſſer ihrer Küche
und Schlafſtätte beſtehe, und auf dem Boden lag das
Brot, welches ihre zarten Hände gebacken hatten. Es war
einſt auch Mehlwaſſer geweſen, hatte aber durch Feuer
und anhaftende Kohlenreſte eine feſte Geſtalt bekommen.
Neben ihr ſtanden die Arnauten, mit leeren Gefäßen in
den Händen, die von einem Scherbenhaufen aufgeleſen zu
ſein ſchienen. Sie verbeugten ſich bis zur Erde herab,
blieben aber aus Ehrfurcht ſtumm.


„Emir, befiehlſt du, daß wir beginnen ſollen?“ fragte
die ‚Myrte‛.


„Ja.“


Sofort wurde die erſte Thüre geöffnet. Der Raum, in
welchen ich blickte, war auch ein Loch, doch lag der Boden
desſelben mit dem Gange in gleicher Höhe. Ein Türke lag
darin. Er erhob ſich nicht und würdigte uns keines Blickes.


„Gieb ihm zwei Portionen, denn es iſt ein Osmanly!“
befahl der Sergeant.


Der Mann erhielt zwei Schöpflöffel voll Brühe in einem
größeren Napfe und ein Stück Brot dazu. In der nächſten
Zelle lag wieder ein Türke, welcher die gleiche Portion
erhielt. Der Inſaſſe des dritten Loches war ein Kurde.


„Dieſer Hund erhält nur eine Portion, denn er iſt
ein Mann aus Balahn!“ *)


[260]

Das war ja eine ganz allerliebſte Einrichtung! Ich
hätte den Kerl beohrfeigen mögen. Er führte dieſes Prinzip
während der ganzen Speiſeverteilung durch. Als die oberen
Gefangenen verſorgt waren, ſtiegen wir hinab in den un-
tern Gang.


„Wer befindet ſich hier?“ fragte ich.


„Die Schlimmſten. Ein Araber, ein Jude und zwei
Kurden von dem Stamme Bulamuh. Sprichſt du kurdiſch,
Emir?“


„Ja.“


„Du magſt wohl nicht mit den Gefangenen ſprechen?“


„Nein; denn ſie ſind es nicht wert!“


„Das iſt wahr. Aber wir können nicht Kurdiſch und
auch nicht Arabiſch, und dieſe Hunde haben doch ſtets
etwas zu ſagen.“


„So werde ich einmal mit ihnen reden.“


Das war es ja, was ich ſo gern wollte; nur hatte
ich nicht geglaubt, daß ich den Wächtern auch einen Ge-
fallen erweiſen werde.


Die Zelle des einen Kurden wurde geöffnet. Er hatte ſich
ganz vor geſtellt. Der arme Teufel hatte jedenfalls Hunger;
denn als er ſeinen Löffel Brühe erhielt, bat er, man möge
ihm doch ein größeres Stück Brot geben, als gewöhnlich.


„Was will er?“ fragte der Sergeant.


„Etwas mehr Brot. Gieb es ihm!“


„Er ſoll es haben, weil du für ihn bitteſt.“


Nun kamen wir zum Juden. Ich ſchwieg, weil dieſer
türkiſch reden konnte. Er hatte eine Menge Klagen vor-
zubringen, die von meinem Standpunkte aus alle ſehr
wohl begründet waren; aber er wurde nicht angehört.


Der zweite Kurde war ein alter Mann. Er bat nur,
vor den Richter geführt zu werden. Der Sergeant ver-
ſprach es ihm und lachte dabei.


[261]

Jetzt endlich wurde die letzte Zelle geöffnet. Amad
el Ghandur hockte tief unten in der Ecke und ſchien ſich
nicht rühren zu wollen, aber als er mich erblickte, erhob
er ſich.


„Iſt das der Araber?“ fragte ich.


„Ja.“


„Spricht er nicht türkiſch?“


„Er redet gar nicht.“


„Nie?“


„Kein Wort. Deshalb erhält er auch kein warmes Eſſen.“


„Soll ich einmal mit ihm reden?“


„Verſuche es!“


Ich trat näher zu ihm heran und ſagte:


„Sprich nicht mit mir!“


Er blieb infolgedeſſen ſtill.


„Siehſt du, daß er nicht antwortet!“ meinte der Ser-
geant zornig. „Sage ihm, daß du ein großer Emir biſt,
und dann wird er wohl reden!“


Nun wußte ich ja ganz genau, daß die Wächter wirk-
lich nicht Arabiſch verſtanden; und wenn auch, der Dialekt
der Haddedihn war ihnen fremdklingend.


„Halte dich heute abend bereit,“ ſagte ich zu Amad.
„Vielleicht iſt es mir heute möglich, wiederzukommen.“


Er ſtand ſtolz und aufrecht da, ohne eine Miene zu
verziehen.


„Er redet auch jetzt noch nicht!“ rief der Unteroffi-
zier. „Nun ſoll er heute auch kein Brot bekommen, da er
nicht einmal dem Effendi antwortet.“


Die Reviſion der Löcher war beendet. Nun führte
man mich auch weiter in dem Gebäude herum. Ich ließ
dies geſchehen, obgleich es keinen Zweck hatte. Endlich
waren wir fertig, und Merſinah ſah mir mit fragender
Miene in das Geſicht.


[262]

„Kannſt du den Gefangenen Kaffee kochen?“ erkun-
digte ich mich bei ihr.


„Ja.“


„Und ihnen Brot dazu geben, eine ſehr reichliche Portion?“


„Ja.“


„Wie viel koſtet das?“


„Dreißig Piaſter, Effendi.“


Alſo zwei Thaler ungefähr. Die Gefangenen erhielten
wohl kaum für eine Mark davon. Ich zog das Geld her-
aus und gab es ihr.


„Hier. Aber ich wünſche, daß alle davon erhalten.“


„Sie ſollen alle haben, Effendi.“


Ich gab der Alten und dem Sergeanten je fünfzehn
und den Arnauten je zehn Piaſter, ein Trinkgeld, wie ſie
es wohl nicht erwartet hatten. Daher erſchöpften ſie ſich
in außerordentlichen Dankſagungen, und als ich das Haus
verließ, exekutierten ſie ihre Verbeugungen ſelbſt dann
noch, als ich bereits die Gaſſe erreicht hatte und ſie nur
noch meinen Rücken ſehen konnten.


Heimgekommen, ſuchte ich Mohammed Emin auf. Ich
traf Halef bei ihm, welcher den Anzug gebracht hatte.
Dies war unbemerkt geſchehen, weil ja weder der Agha
noch Merſinah zu Hauſe war.


Ich beſchrieb dem Haddedihn meinen Beſuch.


„Alſo heute abend!“ meinte er erfreut.


„Wenn es möglich iſt,“ fügte ich hinzu.


„Aber wie willſt du es machen?“


„Ich werde, wenn nicht ein Zufall etwas Beſſeres
bringt, von dem Agha den Schlüſſel zu erhalten ſuchen
und — — —“


„Er wird dir ihn nicht geben!“


„Ich nehme ihn! Dann warte ich, bis die Wächter
ſchlafen und öffne Amad die Zelle.“


[263]

„Das iſt zu gefährlich, Emir! Sie werden dich hören.“


„Ich glaube dies nicht. Sie haben während der letzten
Nacht nicht geſchlafen und werden infolgedeſſen müde ſein.
Sodann gab ich ihnen ein Bakſchiſch, das ſie ſicher nach
und nach in Raki anlegen, und dieſer wird ihre Schläfrig-
keit befördern. Uebrigens habe ich genau aufgepaßt und
da bemerkt, daß das Schloß der Hausthüre ſich lautlos
öffnen läßt. Wenn ich einigermaßen vorſichtig bin, wird
es gelingen.“


„Aber, wenn man dich erwiſcht?“


„So habe ich doch keine Sorge. Den Wächtern gegen-
über giebt es eine Ausrede, und träfen ſie mich mit dem
Gefangenen, nun, dann müßte eben gehandelt werden,
und zwar ſchnell.“


„Wohin wirſt du Amad bringen?“


„Er wird ſofort die Stadt verlaſſen.“


„Mit wem?“


„Mit Halef. Ich reite jetzt mit dieſem aus, um in
der Umgebung der Stadt einen Ort zu ſuchen, welcher
ein Verſteck bietet. Halef wird ſich den Weg merken und
deinen Sohn hinführen.“


„Aber die Wachen am Thore?“


„Sie werden die beiden nicht zu ſehen bekommen.
Ich kenne eine Stelle, an welcher man über die Mauer
kommen kann.“


„Wir ſollten gleich ſelbſt mitgehen!“


„Wir bleiben noch wenigſtens einen Tag, damit kein
Verdacht auf uns fällt.“


„Aber Amad wird ſich unterdeſſen in großer Gefahr
befinden, denn man wird ihn in der ganzen Umgegend
ſuchen.“


„Auch dafür iſt geſorgt. Unſern des einen Thores
bildet der Felſen von Amadijah einen Abgrund, in den
[264] wohl wenige Männer hinabzuſteigen ſich getrauen. Dort-
hin ſchaffen wir einige Fetzen ſeines alten Gewandes, wel-
ches wir zerreißen. Man wird das finden und dann an-
nehmen, daß er bei ſeiner nächtlichen Flucht in die Schlucht
geſtürzt ſei.“


„Wo kleidet er ſich um?“


„Hier. Und der Bart muß ihm ſofort abraſiert werden.“


„So ſoll ich ihn ſehen! O, Emir, welche Freude!“


„Ich ſtelle aber die Bedingung, daß ihr euch ſtill
verhaltet.“


„Das werden wir ganz ſicher. Aber unſere Wirtin
wird ihn kommen ſehen; denn ſie iſt ſtets in der offenen
Küche.“


„Das wirſt du verhindern. Halef wird dich benach-
richtigen, wenn Amad kommt. Dann gehſt du hinunter
und verhinderſt die Wirtin, ihn zu bemerken. Das iſt
nicht ſchwer, und unterdeſſen bringt ihn der Diener in
deine Stube, welche du verſchließeſt, bis ich heim komme.“


Ich hörte jetzt, daß Halef die Pferde herausſchaffte,
und ging. Draußen fand ich die Thüre des Engländers
offen. Er winkte mich hinein und fragte:


„Darf ich reden, Sir?“


„Ja.“


„Höre Pferde. Ausreiten? Wohin?“


„Vor die Stadt.“


Well; werde mitreiten!“


„Ich beabſichtige einen Ritt in den Wald. Ihr würdet
gezwungen ſein, ein wenig mit durch die Büſche zu kriechen.“


„Werde kriechen!“


Er war ſchnell fertig. Sein Pferd wurde auch ge-
ſattelt, und bald ritten wir zum Thore hinaus, welches
nach Aſi und Mia führt. Es war ſo, wie mir der Kurde
Dohub erzählt hatte. Der Pfad war ſo ſteil, daß wir
[265] die Pferde führen mußten. Am Thore hatte man uns
übrigens nicht angehalten, da dort Arnauten die Wache
hatten, die mich von der geſtrigen Parade her kannten.


Unten im Thale angelangt, wären wir rechts an die
Jilaks der Einwohner von Amadijah gekommen, welche
ſich in die Berge zurückgezogen hatten. Darum wandten
wir uns nach links grad in den Wald hinein. Er war
hier ſo licht, daß er uns am Reiten nicht verhinderte,
und nach einer Viertelſtunde erreichten wir eine Blöße, wo
wir abſtiegen, um uns auf dem Boden auszuſtrecken.


„Warum hierher führen?“ fragte Lindſay.


„Ich ſuche ein Verſteck für Amad el Ghandur.“


„Ah! Bald frei?“


Ich teilte ihm meinen Plan mit.


„Prächtig!“ meinte er. „Schöne Gefahr dabei! Er-
wiſchen! Boxen! Schießen! Well; werde mitbefreien!“


„O, Maſter, Ihr könnt mir nichts nützen!“


„Nicht? Warum? Schlage jeden nieder, der uns
wehren will! Freier Engliſhman! Yes!


„Na, wollen erſt ſehen! Hier links oben liegt die
Stelle, an welcher man über die Mauer kommt. In der
hieſigen Gegend alſo müſſen wir uns ein Verſteck ſuchen.
Wollt Ihr mitſuchen?“


„Sehr!“


„So teilen wir uns. Ihr geht grad, und ich gehe
mehr zur Seite. Wer einen guten Ort gefunden hat, der
ſchießt ſein Piſtol los und wartet dort, bis der andere
kommt.“


Halef blieb bei den Pferden zurück, und wir gingen
vorwärts. Der Wald wurde dichter, aber ich ſuchte wohl
lange Zeit, ohne eine geeignete Stelle zu finden, welche
wirkliche Sicherheit bot. Da hörte ich einen Schuß mir
zur Linken. Ich ſchritt der Richtung entgegen, aus welcher
[266] der Knall gekommen war, und hörte bald einen zweiten
Schuß ganz in meiner Nähe. Der Engländer ſtand bei
einem Geſtrüpp, aus welchem vier rieſige Eichen empor-
ragten. Er war barfuß und hatte ſein Obergewand ab-
gelegt. Auch der rotkarrierte Rieſenturban lag am Boden.


„Habe zweimal geſchoſſen. Konntet mich fehlen, weil
der Schall im Wald täuſcht. Verſteck gefunden?“


„Nein.“


„Habe eins.“


„Wo?“


„Ratet! Werdet nicht erraten!“


„Wollen ſehen!“


Er war barfuß und halb entkleidet; er hatte alſo
eine Kletterpartie gemacht, und das Verſteck mußte alſo
auf einer der Eichen zu ſuchen ſein. Aber dieſe waren
ſo ſtark, daß man ſie unmöglich erklettern konnte. Doch
neben der einen ragte der ſchlanke Stamm einer Pinie
in die Höhe und verſchlang ihre doldenartige Krone mit
den breitgreifenden Zweigen der Eiche. Ziemlich hoch
oben lehnte ſich der Stamm an einen ſtarken Eichenaſt,
ſo daß von der Pinie aus dieſer leicht zu erreichen war,
und oberhalb der Stelle, an welcher er am Stamme ſaß,
ſah ich ein Loch in der Eiche.


„Ich habe es, Sir!“ meinte ich.


„Wo?“


„Dort oben. Der Stamm iſt hohl.“


Well; gefunden! War bereits oben.“


„Ihr klettert wohl gut?“


„Wie Eichhörnchen! Yes!


„Aber jedenfalls iſt der ganze Baum hohl!“


„Sehr!“


„Und wer da oben hineinkriecht, der fällt herab und
kann nicht heraus.“


[267]

„Sehr! Kann gar nicht heraus.“


„Dann iſt es ja mit dem Verſtecke nichts!“


„Verſteck iſt gut, ſehr gut. Nur dafür ſorgen, daß
nicht herunterfällt.“


„Auf welche Weiſe?“


„Ah, ihr wißt nicht? Hm, Maſter Lindſay geſcheiter
Kerl! Schönes Abenteuer! Prächtig! Möchte bezahlen,
gut bezahlen! Knüppel abſchneiden und in die Höhlung
klemmen, quer herüber. Viel Moos hier. Dieſes darauf
legen. Dann kann nicht herunterfallen. Verſteck fertig!
Schönes Landhaus! Prachtvolle Villa!“


„Da hättet Ihr recht! Wie groß iſt dort der Durch-
meſſer der Höhlung?“


„Vier Fuß ungefähr. Weiter nach unten noch mehr.
Könnt Ihr klettern?“


„Ja. Ich werde mir dieſe Gelegenheit einmal anſehen.“


„Nicht ledig hinauf. Gleich Knüppel mitnehmen!“


„Das iſt allerdings praktiſcher. Hier ſtehen genug
eichene Stangen.“


„Aber wie hinaufbringen? Klettern und auch tragen?
Geht nicht!“


„Ich habe meinen Laſſo mit. Der hat mich auf allen
meinen Reiſen begleitet, denn ſo ein Riemen iſt eine der
nützlichſten Sachen.“


Well; ſo ſchneiden wir!“


„Aber immer vorſichtig ſein, Maſter! Zunächſt wollen
wir uns überzeugen, ob wir allein ſind. Unſere engliſche
Unterhaltung kann hier kein Menſch verſtehen; ſie hätte
alſo unſer Vorhaben nicht verraten. Aber ehe wir handeln,
müſſen wir uns ſicher ſtellen.“


„So ſucht! Werde einſtweilen Stangen machen.“


Ich ging den Umkreis ab und überzeugte mich, daß
wir unbeachtet waren; dann half ich dem Engländer, der
[268] ganz erpicht war, da oben eine Villa zu bauen. Wir
ſchnitten ein Dutzend etwas mehr als vier Fuß langer
Stämmchen aus den Büſchen, aber ſo, daß wir dabei jede
Spur vermieden, und dann wand ich den Gürtelſhwal
von der Hüfte, unter welchem ich den Laſſo um den Leib
geſchlungen trug. Bis zum erſten Aſt der Pinie reichte
er. Während der Engländer die Stämmchen zuſammen-
legte und mit dem einen Ende des achtfach zuſammen-
geflochtenen, unzerreißbaren Riemens umwand, nahm ich
das andere zwiſchen die Zähne und kletterte empor. Die
hindernden Kleidungsſtücke hatte ich natürlich abgelegt.
Auf dem erſten Aſte angekommen, zog ich das Bündel in
die Höhe. Lindſay kam nachgeklettert, und ſo brachten
wir die ‚Knüppel‘ bis vor die Oeffnung, wo ſie ange-
bunden wurden. Ich unterſuchte die Höhlung. Sie hatte
die angegebene Weite, wurde nach unten immer größer
und reichte bis zur Erde hinab.


Nun begannen wir die Stämmchen einzuklemmen,
um aus ihnen einen Fußboden zu bilden. Das mußte
ſehr ſorgfältig geſchehen, damit er ja nicht hinunterbrechen
konnte. Mit Hilfe der Meſſer brachten wir es nach einiger
Anſtrengung fertig. Der Boden war feſt und ſicher.


„Nun Moos, Streu und Laub mit dem Laſſo herauf!“


Wir kletterten nun wieder hinab und hatten bald
ſo viel geſammelt, wie wir brauchten. Es wurde in
meinen Haïk und das Ueberkleid Lindſays geſchlungen,
und nach zweimaligem Auf- und Niederklettern war die
Höhlung in ein Verſteck umgewandelt, in welchem es ſich
ganz weich und ſicher liegen ließ.


„Wacker gearbeitet,“ meinte der Engländer, indem er
ſich den Schweiß von der Stirn wiſchte. „Amad wird
gut wohnen. Nun noch Eſſen und Trinken, Pfeife und
Tabak, ſo iſt der Diwan fertig!“


[269]

Wir kehrten jetzt zu Halef zurück, der bereits Sorge
um uns hegte, weil wir ſo lange Zeit fortgeblieben waren.


„Maſter Lindſay, jetzt bleibt Ihr bei den Pferden
zurück, denn ich muß nun zuvor auch unſerem Hadſchi
Halef Omar das Verſteck zeigen!“ ſagte ich.


Well! Doch bald wiederkommen! Yes!


„Kannſt du klettern?“ fragte ich Halef, als wir bei
den Eichen angekommen waren.


„Ja, Sihdi. Ich habe ja von mancher Palme die
Datteln herabgeholt. Warum?“


„Das iſt ein ganz anderes Klettern. Hier giebt es
einen glatten Stamm, der keine Stütze bietet, und auch
kein Klettertuch, wie man es beim Ernten der Datteln
in Anwendung bringt. Siehſt du das Loch an dem
Stamme der Eiche, dort grad über dem Aſte?“


„Ja, Sihdi.“


„Klettere einmal hinauf und ſiehe dir es an! Du
mußt hier an der Pinie empor und dann den Eichenaſt
entlang.“


Er verſuchte es, und ſiehe da, es ging recht leidlich.


„Effendi, das iſt ja ein Kiosk,“ meinte er, als er unten
wieder anlangte. „Den habt ihr wohl jetzt gebaut?“


„Ja. Weißt du, wo das Fort von Amadijah liegt?“


„Hier links hinauf.“


„So höre, was ich dir ſage! Ich glaube heute abend
Amad el Ghandur aus dem Gefängniſſe holen zu können.
Er muß noch während der Nacht aus der Stadt gebracht
werden, und das ſollſt du thun.“


„Herr, die Wachen werden uns ſehen!“


„Nein. Es giebt eine Stelle, an welcher die Mauer
ſo beſchädigt iſt, daß ihr ſehr leicht unbemerkt in das
Freie gelangen könnt. Ich werde dir dieſe Stelle bei
unſerer Rückkehr zeigen. Nun aber handelt es ſich darum,
[270] daß ihr trotz der Nacht hier dieſen Platz nicht verfehlt,
denn das Loch da oben ſoll dem Haddedihn zum Verſtecke
dienen, bis wir ihn von hier abholen. Darum geheſt du
von hier aus links hinauf, um den Weg, den ihr heute
abend zu nehmen habt, richtig kennen zu lernen, und kehrſt
dann zu uns zurück. Präge dir das Terrain gut ein.
Wenn er ſich in Sicherheit befindet, haſt du dafür zu
ſorgen, ungeſehen wieder in unſere Wohnung zu gelangen;
denn niemand darf wiſſen, daß einer von uns die Stadt
verlaſſen hat.“


„Sihdi, ich danke dir!“


„Wofür?“


„Dafür, daß du mir erlaubſt, wieder einmal auch
ſelbſt etwas zu thun; denn ſeit langer Zeit habe ich zu-
ſehen müſſen.“


Er ging, und ich kehrte zu Lindſay zurück, der lang
ausgeſtreckt im Mooſe lag und gen Himmel blickte.


„Prachtvoll in Kurdiſtan! Fehlt nur an Ruinen!“
ſagte er.


„Ruinen giebt es hier genug, wenn auch keine tauſend-
jährigen wie am Tigris. Vielleicht ſind wir gezwungen,
Gegenden aufzuſuchen, in denen Ihr Euch von dem Vor-
handenſein von Ruinen überzeugen könnt. Aus den
Thälern Kurdiſtans iſt der Qualm brennender Dörfer
und der Geruch von Strömen vergoſſenen Blutes zum
Himmel geſtiegen. Wir befinden uns in einem Lande,
in welchem Leben, Freiheit und Eigentum mehr gefährdet
ſind, als in jedem anderen. Wünſchen wir, daß wir uns
nicht aus eigener Erfahrung davon überzeugen müſſen!“


„Will mich aber davon überzeugen, Sir! Will Aben-
teuer haben! Möchte kämpfen, boxen, ſchießen! Werde
bezahlen.“


„Dazu giebt es vielleicht auch ohne Bezahlung Ge-
[271] legenheit, Sir; denn gleich hinter Amadijah hört das
Gebiet der Türken auf, und es beginnen diejenigen Länder,
welche von Kurden bewohnt werden, die der Pforte nur
dem Namen nach unterworfen oder tributpflichtig ſind.
Dort gewähren uns unſere Päſſe nicht die mindeſte Sicher-
heit; ja, es kann ſehr leicht der Fall ſein, daß wir feind-
ſelig behandelt werden, grad deshalb, weil wir die Em-
pfehlung der Türken und der Konſuln beſitzen.“


„Dann nicht vorzeigen!“


„Allerdings. Dieſe halbwilden gewaltthätigen Horden
macht man ſich am beſten geneigt, wenn man ſich ihrer
Gaſtfreundſchaft mit Vertrauen überläßt. Ein Araber
kann noch Hintergedanken haben, wenn er einen Fremden
in ſein Zelt aufnimmt; ein Kurde aber nie. Und ſollte
dies ja einmal der Fall ſein, und ſollte es keine andere
Möglichkeit der Rettung geben, ſo begiebt man ſich in
den Schutz der Frauen; dann iſt man ſicher geborgen.“


Well, werde mich beſchützen laſſen von den Frauen!
Prachtvoll! Sehr guter Gedanke, Maſter!“


Nach vielleicht einer Stunde kehrte Halef zurück. Er
verſicherte, das Verſteck nun ſelbſt bei Nacht ohne Irrung
auffinden zu können, ſobald es ihm nur erſt gelungen ſei,
aus der Stadt zu kommen. Der Zweck unſers Spazier-
rittes war ſomit erreicht, und wir kehrten nach Amadijah
zurück. Dort richtete ich es ſo ein, daß wir an der be-
ſchädigten Mauerſtelle vorüberkamen.


„Das iſt der Ort, den ich meine, Halef. Wenn du
nachher ausgeheſt, ſo magſt du dieſe Breſche einmal genau
unterſuchen, aber ſo, daß es nicht auffällt.“


„Das werde ich baldigſt thun müſſen, Sihdi,“ ant-
wortete er; „ denn es wird ſehr bald Abend werden.“


Der Tag war, als wir unſere Wohnung erreichten,
allerdings ſchon weit vorgeſchritten. Ich bekam keine Zeit,
[272] mich von dem Ritte auszuruhen, denn Selim Agha
empfing mich an der Thüre:


„Hamdulillah, Allah ſei Dank, daß du endlich
kommſt!“ meinte er. „Ich habe auf dich mit Schmerzen
gewartet.“


„Warum?“


„Der Muteſſelim ſendet mich, um dich zu ihm zu
bringen.“


„Was ſoll ich dort?“


„Ich weiß es nicht.“


„Du vermuteſt es auch nicht?“


„Du ſollſt mit einem Effendi reden, der vorhin ankam.“


„Wer iſt es?“


„Der Muteſſelim hat mir verboten, es dir zu ſagen.“


„Pah! Der Muteſſelim kann mir nichts verheim-
lichen! Ich wußte längſt, daß dieſer Effendi kommen
werde!“


„Du wußteſt es? Aber es iſt ja ein Geheimnis!“


„Ich werde dir beweiſen, daß ich dieſes große Ge-
heimnis kenne. Es iſt der Makredſch von Moſſul, der
gekommen iſt.“


„Wahrhaftig, du weißt es!“ rief er erſtaunt. „Aber
er iſt nicht allein bei dem Muteſſelim.“


„Wer iſt noch da?“


„Ein Arnaute.“


Ah, ich ahnte, welcher es war, und ſagte daher:


„Auch das weiß ich. Kennſt du den Mann?“


„Nein.“


„Er hat keine Waffen bei ſich.“


„Allah akbar; das iſt richtig! Effendi, du weißt alles.“


„Wenigſtens ſiehſt du, daß der Muteſſelim nicht der
Mann iſt, mir etwas zu verbergen.“


„Aber, Herr, ſie müſſen bös von dir geſprochen haben!“


[273]

„Warum?“


„Ich muß darüber ſchweigen.“


„Gut, Selim Agha, ich ſehe nun, daß du mein Freund
biſt und mich liebſt!“


„Ja, ich liebe dich, Emir; aber der Dienſt erfordert,
daß ich gehorche.“


„So ſage ich dir, daß ich dir noch heute Befehle
geben werde, denen du grad ſo gehorchen wirſt, als ob
du ſie von dem Kommandanten erhielteſt! Seit wann iſt
der Makredſch hier?“


„Seit faſt zwei Stunden.“


„Und ſo lange Zeit warteſt du bereits auf mich?“


„Nein. Der Makredſch kam allein, ganz heimlich
und ohne alles Gefolge. Ich war grad beim Komman-
danten, als er eintrat. Er ſagte, daß er heimlich komme,
weil er in einer ſehr wichtigen Sache reiſe, von welcher
niemand eine Ahnung haben dürfe. Sie unterhielten ſich
weiter, und da erwähnte der Kommandant auch dich und
deine Gefährten. Der Makredſch muß dich kennen, denn
er wurde ſehr aufmerkſam, und der Muteſſelim mußte
dich ihm beſchreiben. „Er iſt's!“ rief er dann und bat
den Kommandanten, mich hinauszuſchicken. Nachher wurde
ich gerufen und erhielt den Befehl, dich zu holen und — — —“


„Nun, und — — —“


„Und — — Emir, es iſt gewiß wahr, daß ich dich
lieb habe, und darum will ich es dir ſagen. Aber, wirſt
du mich verraten?“


„Nein. Ich verſpreche es dir!“


„Ich mußte mehrere Arnauten mitnehmen, um den
Platz zu beſetzen, daß deine Gefährten ſich nicht entfernen
können. Und auch für dich ſtehen im Palaſte einige
meiner Arnauten bereit. Ich ſoll dich feſtnehmen und in
das Gefängnis ſchaffen.“


II. 18
[274]

„Ah, das iſt ja ſehr intereſſant, Selim Agha! So iſt
wohl bereits eines deiner Löcher für mich in Bereitſchaft
geſetzt worden?“


„Ja du kommſt neben dem Araber zu liegen, und
ich mußte einige Strohdecken hineinthun laſſen; denn der
Muteſſelim ſagte, du ſeiſt ein Emir und ſollteſt feiner
behandelt werden, als die andern Spitzbuben!“


„Für dieſe Rückſicht bin ich ihm wirklich ſehr großen
Dank ſchuldig. Sollen meine Gefährten auch eingeſteckt
werden?“


„Ja, aber ich habe über ſie noch keine weiteren Befehle.“


„Was ſagt die ‚Myrte‘ dazu?“


„Ich habe es ihr geſagt. Sie ſitzt in der Küche und
weint ſich die Augen aus.“


„Die Gute! Aber du ſprachſt von einem Arnauten?“


„Ja. Er war da, noch ehe der Makredſch kam, und
hat mit dem Muteſſelim lange Zeit geſprochen. Dann
wurde ich gerufen und gefragt.“


„Wonach?“


„Danach, ob der ſchwarzrote Effendi auch in der
Wohnung kein Wort rede.“


„Was haſt du geantwortet?“


„Ich ſagte die Wahrheit. Ich habe den Effendi
noch keine Silbe reden hören.“


„So komm. Wir wollen gehen!“


„Herr, ich ſoll dich bringen, das iſt wahr; aber ich
habe dich lieb. Willſt du nicht lieber entfliehen?“


Dieſer brave Arnaute war wirklich mein Freund.


„Nein, ich fliehe nicht, Agha; denn ich habe keine
Veranlaſſung, mich vor dem Muteſſelim oder dem Ma-
kredſch zu fürchten. Aber ich werde dich bitten, außer
mir noch einen mitzunehmen.“


„Wen?“


[275]

„Den Boten, welcher zu mir gekommen iſt.“


„Ich will ihn rufen; er iſt im Hofe.“


Ich trat unterdeſſen in die Küche. Dort kauerte
Merſinah am Boden und machte ein ſo trübſeliges Ge-
ſicht, daß ich mich wirklich gerührt fühlte.


„Oh, da biſt du, Effendi!“ rief ſie aufſpringend.
„Eile, eile! Ich habe dem Agha befohlen, dich entfliehen
zu laſſen.“


„Nimm meinen Dank dafür, Merſinah! Aber ich
werde doch bleiben.“


„Sie werden dich aber einſperren, Herr.“


„Das wollen wir abwarten!“


„Wenn ſie es thun, Effendi, ſo weine ich mich zu
Tode und werde dir die beſten Suppen kochen, die es
giebt. Du ſollſt nicht hungern!“


„Du wirſt für mich nichts zu kochen haben, denn man
wird mich nicht einſtecken; das verſichere ich dir.“


„Emir, du giebſt mir das Leben wieder! Aber ſie
könnten es doch thun, und dann nehmen ſie dir alles ab.
Magſt du mir nicht dein Geld zurücklaſſen und auch die
andern Sachen, welche dir teuer ſind? Ich werde dir alles
aufbewahren und kein Wort davon ſagen.“


„Das glaube ich dir, du Schutz und Engel dieſes
Hauſes; aber eine ſolche Vorſicht iſt nicht nötig.“


„So thue, was dir gefällt! Gehe nun, und Allah ſei
bei dir mit ſeinem Propheten, der dich beſchützen möge!“


Wir gingen. Als ich über den Platz ſchritt, bemerkte
ich hinter den Thüren einiger Häuſer die Arnauten ſtehen,
von denen Selim geſprochen hatte. Es war alſo jeden-
falls ſehr ernſtlich gemeint. Auch vor dem Palaſte, im
Flur und auf der Treppe desſelben, ſogar im Vorzimmer
ſtanden Soldaten. Ich wäre doch beinahe beſorgt ge-
worden.


[276]

Der Kommandant befand ſich nicht allein in ſeinem
Raume; die zwei Lieutenants ſaßen am Eingange, und
auch Selim Agha zog ſich nicht wieder zurück, ſondern
ließ ſich nieder.


„Sallam aaleïkum!“ grüßte ich ſo unbefangen wie
möglich, trotzdem ich mich in der Falle befand.


„Aaleïkum!“ antwortete der Kommandant zurückhal-
tend und zeigte dabei auf einen Teppich, welcher ſeitwärts
in ſeiner Nähe lag.


Ich that, als ob ich dieſen Wink nicht geſehen oder
nicht verſtanden habe, und ließ mich an ſeiner Seite nieder,
wo ich ja früher ſchon geſeſſen hatte.


„Ich ſandte nach dir,“ begann er, „aber du kamſt
nicht. Wo biſt du geweſen, Effendi?“


„Ich ritt ſpazieren.“


„Wohin?“


„Vor die Stadt.“


„Was wollteſt du da?“


„Mein Pferd ausreiten. Du weißt, ein edles Roß
muß gepflegt werden.“


„Wer war dabei?“


„Hadſchi Lindſay-Bey.“


„Der das Gelübde gethan hat, nicht zu ſprechen?“


„Derſelbe.“


„Ich habe vernommen, daß er dieſes Gelübde nicht
ſehr ſtreng hält.“


„So!“


„Er redet.“


„So!“


„Auch mit dir.“


„So!“


„Ich weiß das gewiß.“


„So!“


[277]

Dieſes „So!“ brachte den guten Mann einigermaßen
in Verlegenheit.


„Du mußt dies doch auch wiſſen!“ meinte er.


„Wer hat dir geſagt, daß er ſpricht?“


„Einer, der ihn gehört hat.“


„Wer iſt es?“


„Ein Arnaute, der heute kam, um euch anzuklagen.“


„Was thateſt du?“


„Ich ſandte nach dir.“


„Warum?“


„Um dich zu vernehmen.“


„Alla illa Allah! Alſo auf die Anklage eines ſchur-
kiſchen Arnauten hin ſendeſt du zu mir, um mich, den
Emir und Effendi, wie einen eben ſolchen Schurken zu
behandeln! Muteſſelim, Allah ſegne deine Weisheit, damit
ſie dir nicht abhanden komme!“


„Effendi, bitte Gott um deiner eigenen Weisheit
willen, denn du wirſt ſie brauchen können!“


„Das klingt faſt wie eine Drohung!“


„Und dein Wort klang wie eine Beleidigung!“


„Nachdem du mich beleidigt haſt. Laß dir etwas
ſagen, Muteſſelim. Hier in dieſer Drehpiſtole ſind ſechs
Schüſſe und in dieſer anderen ebenſo viele. Rede, was
du mit mir zu reden haſt; aber bedenke, daß ein Emir
aus Germaniſtan kein Arnaute iſt und ſich auch nicht mit
einem ſolchen vergleichen läßt! Wenn mein Gefährte ſein
Gelübde nicht hält, was geht es einen Arnauten an? Wo
iſt dieſer Mann?“


„Er ſteht in meinem Dienſt.“


„Seit wann?“


„Seit lange.“


„Muteſſelim, du ſprichſt die Unwahrheit! Dieſer Ar-
naute ſtand geſtern noch nicht in deinem Dienſte. Er iſt
[278] ein Mann, von dem ich dir noch mehr erzählen werde.
Wenn Hadſchi Lindſay-Bey ſpricht, ſo hat er dies mit
ſeinem Gewiſſen abzumachen, aber einen andern geht dies
gar nichts an!“


„Du hätteſt recht, wenn ich von ihm allein nur dieſes
wüßte.“


„Was giebt es noch?“


„Er iſt der Freund eines Mannes, der mir ſehr ver-
dächtig iſt.“


„Wer iſt dieſer Mann?“


„Du ſelbſt biſt es!“


Ich that ſehr erſtaunt.


„Ich! Allah kehrim, Gott iſt gnädig; er wird auch
dir barmherzig ſein!“


„Du haſt zu mir von dem Muteſſarif geſprochen und
geſagt, daß er dein Freund ſei.“


„Ich ſagte die Wahrheit.“


„Es iſt nicht wahr!“


„Was! Du zeihſt mich der Lüge! So kann meines
Bleibens hier nicht länger ſein. Ich werde dir Gelegen-
heit geben, dieſe Beleidigung zu vertreten.“


Ich erhob mich und that, als ob ich das Selamlük
verlaſſen wollte.


„Halt,“ rief der Kommandant. „Du bleibſt!“


Ich drehte mich zu ihm um.


„Du befiehlſt es mir?“


„Ja.“


„Haſt du mir zu befehlen?“


„Hier ſteheſt du unter mir, und wenn ich dir gebiete,
zu bleiben, ſo wirſt du gehorchen!“


„Und wenn ich nicht bleibe?“


„So zwinge ich dich! Du biſt mein Gefangener!“


Die beiden Lieutenants erhoben ſich; auch Selim Agha
[279] that dies, aber ſehr langſam und ungern, wie ich be-
merken mußte.


„Dein Gefangener? Was fällt dir ein? Sallam!“


Ich wandte mich wieder nach der Thüre.


„Haltet ihn!“ gebot er.


Die beiden Lieutenants ergriffen mich, einer hüben
und der andere drüben. Ich blieb ſtehen und lachte erſt
dem rechten und dann dem linken in das Angeſicht; dann
flogen ſie, einer hinter dem andern, über den Raum hin-
weg und ſtürzten vor dem Muteſſelim zur Erde.


„Da haſt du ſie, Muteſſelim. Hebe ſie auf! Ich ſage
dir, daß ich gehen werde, wenn es mir beliebt, und keiner
deiner Arnauten ſoll mich halten! Aber ich werde bleiben,
denn ich habe noch mit dir zu ſprechen. Dies thue ich
aber nur, um dir zu beweiſen, daß kein Nemtſche einen
Türken fürchtet. Frage alſo weiter, was du zu fragen
haſt!“


Dem guten Manne war ein ſolcher Widerſtand gar
niemals vorgekommen; er war gewohnt, daß ein jeder ſich
tief vor ihm beugen müſſe, und ſchien jetzt gar nicht ſo
recht zu wiſſen, was er thun ſolle.


„Ich ſagte,“ begann er endlich wieder, „daß du kein
Freund des Muteſſarif ſeiſt.“


„Du haſt doch ſeinen Brief geleſen.“


„Und du haſt gegen ihn gekämpft!“


„Wo?“


„In Scheik Adi!“


„Beweiſe es!“


„Ich haben einen Zeugen.“


„Laß ihn kommen!“


„Ich werde dir dieſen Wunſch erfüllen.“


Auf einen Wink des Muteſſelim verließ der Agha
das Zimmer.


[280]

In einigen Augenblicken kehrte er mit — dem Ma-
kredſch von Moſſul zurück. Dieſer würdigte mich keines
Blickes, ſchritt an mir vorüber zu dem Kommandanten,
ließ ſich an derſelben Stelle nieder, an welcher ich vorher
geſeſſen hatte, und griff zu dem Schlauche der Waſſer-
pfeife, welche dort ſtand.


„Iſt dies der Mann, von dem du erzählteſt, Effendi?“
fragte ihn der Kommandant.


Er warf einen halben, verächtlichen Blick auf mich
und antwortete:


„Er iſt es.“


„Siehſt du?“ wandte ſich der Kommandant zu mir.
„Der Makredſch von Moſſul, den du ja kennen wirſt, iſt
Zeuge, daß du gegen den Muteſſarif kämpfteſt.“


„Er iſt ein Lügner!“


Da erhob der Richter die Augen voll zu mir.


„Wurm!“ ziſchte er.


„Du wirſt dieſen Wurm bald kennen lernen!“ ant-
wortete ich ruhig. „Ich wiederhole es: Du biſt ein Lüg-
ner, denn du haſt nicht geſehen, daß ich gegen die Trup-
pen des Muteſſarif die Waffen gezogen habe!“


„So ſahen es andere!“


„Aber du nicht! Und der Kommandant ſagte noch,
daß du ſelbſt es geſehen haben willſt. Nenne deine Zeugen!“


„Die Topdſchis*) haben es erzählt.“


„So haben auch ſie gelogen. Ich habe nicht mit
ihnen gekämpft; es iſt kein Tropfen Blutes gefloſſen. Sie
haben ſich und ihre Geſchütze ohne alle Gegenwehr er-
geben. Und dann, als ihr in Scheik Adi eingeſchloſſen
wurdet, habe ich den Bey zur Güte und Nachſicht gemahnt,
ſo daß ihr es nur mir zu verdanken habt, daß ihr nicht
ſamt und ſonders niedergeſchoſſen wurdet. Willſt du daraus
[281] den Beweis ziehen, daß ich ein Feind des Muteſſarif
ſei?“


„Du haſt die Geſchütze überfallen und weggenommen!“


„Das geſtehe ich ſehr gern ein.“


„Aber du wirſt dich dafür in Moſſul verantworten.“


„Oh!“


„Ja. Der Muteſſelim wird dich gefangen nehmen
und nach Moſſul ſchicken, dich und alle, welche bei dir ſind.
Es giebt nur ein einziges Mittel, dich und ſie zu retten.“


„Welches?“


Er gab einen Wink, und die drei Offiziere traten ab.


„Du biſt ein Emir aus Frankiſtan, denn die Nemſi
ſind Franken,“ begann nun der Makredſch. „Ich weiß,
daß du unter dem Schutze ihrer Konſuln ſtehſt, und daß
wir dich alſo nicht töten dürfen. Aber du haſt ein Ver-
brechen begangen, auf welchem die Strafe des Todes ſteht.
Wir müſſen dich über Moſſul nach Stambul ſenden, wo
du dann allerdings ganz gewiß die Strafe erleiden wirſt.“


Er machte eine Pauſe. Es ſchien ihm nicht leicht zu
werden, jetzt die richtige Wendung zu finden.


„Weiter!“ meinte ich.


„Nun biſt du aber ein Schützling des Muteſſarif ge-
weſen; auch der Muteſſelim hat dich freundlich aufgenom-
men, und ſo wollen dieſe beiden nicht, daß dir ein ſo
trauriges Los bereitet werde.“


„Allah denke ihrer dafür in ihrer letzten Stunde!“


„Ja! Darum iſt es möglich, daß wir von einer Ver-
folgung dieſer Sache abſehen, wenn — — —“


„Nun, wenn?“


„Wenn du uns ſagſt, wie viel das Leben eines Emirs
aus Germaniſtan wert iſt.“


„Es iſt gar nichts wert.“


„Nichts? Du ſcherzeſt!“


[282]

„Ich rede im Ernſte. Gar nichts iſt es wert.“


„Inwiefern?“


„Weil Allah auch einen Emir zu jeder Minute zu
ſich fordern kann.“


„Du haſt recht; das Leben ſteht in Allahs Hand; aber
es iſt ein Gut, welches man beſchützen und erhalten ſoll!“


„Du ſcheinſt kein guter Moslem zu ſein, denn ſonſt
würdeſt du wiſſen, daß die Wege des Menſchen im Buche
verzeichnet ſtehen.“


„Und dennoch kann der Menſch ſein Leben wegwerfen,
wenn er dieſem Buche nicht gehorcht. Willſt du dieſes thun?“


„Nun gut, Makredſch. Wie hoch würdeſt du dein
eignes Leben ſchätzen?“


„Wenigſtens zehntauſend Piaſter.“


„So iſt das Leben eines Nemtſche grad zehntauſend-
mal mehr wert, nämlich hundert Millionen Piaſter. Wie
kommt es, daß ein Türke ſo ſehr tief im Preiſe ſteht?“


Er blickte mich verwundert an.


„Biſt du ein ſo reicher Emir?“


„Ja, da ich ein ſo teures Leben beſitze.“


„So meine ich, daß du hier in Amadijah dein Leben
auf zwanzigtauſend Piaſter ſchätzen wirſt.“


„Natürlich!“


„Und das deines Hadſchi Lindſay-Bey ebenſo hoch.“


„Ich ſtimme bei.“


„Und zehntauſend für den dritten.“


„Iſt nicht zu viel.“


„Und dein Diener?“


„Er iſt zwar ein Araber, aber ein tapferer und treuer
Mann, der ebenſoviel wert iſt, wie jeder andere.“


„So meinſt du, daß auch er zehntauſend koſtet?“


„Ja.“


„Haſt du die Summe berechnet?“


[283]

„Sechzigtauſend Piaſter. Nicht?“


„Ja. Habt ihr ſo viel Geld bei euch?“


„Wir ſind ſehr reich, Effendi.“


„Wann wollt ihr bezahlen?“


„Gar nicht!“


Es war wirklich ſpaßig zu ſehen, mit welchen Ge-
ſichtern die beiden Männer erſt mich und dann ſich an-
ſahen. Dann fragte der Makredſch:


„Wie meinſt du das, Effendi?“


„Ich meine, daß ich aus einem Lande ſtamme, in
welchem Gerechtigkeit herrſcht. Bei den Nemſi iſt der
Bettler ebenſoviel wert vor dem Richter wie der König.
Und wenn der Padiſchah der Nemſi ſündigt, ſo wird er
von dem Geſetze beſtraft. Keiner kann ſein Leben erkaufen,
denn es giebt keinen Richter, der ein Schurke iſt. Die
Osmanly aber haben kein anderes Geſetz als ihren Geld-
beutel, und darum ſchachern ſie mit der Gerechtigkeit. Ich
kann mein Leben nicht bezahlen, wenn ich verdient habe,
daß es mir genommen wird.“


„So wirſt du es verlieren!“


„Das glaube ich nicht. Ein Nemtſche treibt keinen
Handel mit ſeinem Leben, aber er weiß es zu verteidigen.“


„Effendi, die Verteidigung iſt dir unmöglich!“


„Warum?“


„Deine Schuld iſt erwieſen, und du haſt ſie auch
bereits eingeſtanden.“


„Das iſt nicht wahr. Ich habe keine Schuld einge-
ſtanden, ſondern ich habe nur zugegeben, daß ich euch die
Kanonen fortgenommen habe. Und das iſt eine That, die
keine Strafe erhalten wird.“


„Das meinſt du nur. Du weigerſt dich alſo, auf un-
ſern Vorſchlag der Güte und des Erbarmens einzugehen?“


„Ich brauche kein Erbarmen.“


[284]

„So müſſen wir dich feſtnehmen.“


„Verſucht es!“


Auch der Kommandant richtete eine wohlgemeinte
Vorſtellung an mich; da ich aber nicht auf dieſelbe hörte,
ſo klatſchte er in die Hände, und die drei Offiziere er-
ſchienen wieder.


„Führt ihn ab!“ gebot er ihnen. „Ich hoffe, Effendi,
daß du dich nicht weigern wirſt, mit ihnen zu gehen.
Draußen ſtehen genug Leute, um jeden Widerſtand zu
überwinden. Du ſollſt es während deiner Haft hier gut
haben und — — —“


„Schweige, Muteſſelim!“ unterbrach ich ihn. „Ich
möchte den Mann hier ſehen, der das Zeug hätte, mich
zu überwältigen. Euch fünf thut ein Nemtſche in drei
Sekunden ab, und deine fieberkranken Arnauten reißen
vor meinem Blick aus; darauf kannſt du dich verlaſſen!
Daß ich es gut haben würde als Gefangener, verſteht ſich
ganz von ſelbſt; das gebietet euch ja euer eignes Intereſſe.
Nach Moſſul werde ich nicht geſchickt, denn das kann dem
Makredſch nichts nützen; er will bloß, daß ich mich los-
kaufe, denn er braucht Geld, um über die Grenze zu kommen.“


„Ueber die Grenze?“ fragte der Muteſſelim. „Wie
ſoll ich deine Worte verſtehen?“


„Frage ihn ſelbſt!“


Er blickte den Makredſch an, der ſich plötzlich verfärbte.


„Was meint er?“ fragte er ihn.


„Ich verſtehe ihn nicht!“ antwortete der Beamte.


„Er verſteht mich nur zu gut,“ entgegnete ich. „Mu-
teſſelim, du haſt mich beleidigt; du willſt mich gefangen
nehmen; du haſt mir einen Antrag gemacht, der ſehr
ſchwere Folgen für dich hätte, wenn ich davon ſprechen
wollte. Ihr beide habt mich bedroht; aber jetzt werde ich
die Waffe ſelbſt auch in die Hand nehmen, nachdem ich
[285] geſehen habe, wie weit ihr zu gehen wagt. Weißt du,
wer dieſer Mann iſt?“


„Der Makredſch von Moſſul.“


„Du irrſt. Er iſt es nicht mehr; er iſt abgeſetzt.“


„Abgeſetzt!“ rief er.


„Menſch!“ rief dagegen der Makredſch. „Ich er-
würge dich.“


„Abgeſetzt!“ rief der Kommandant noch einmal, halb
erſchrocken und halb fragend.


„Ja. Selim Agha, ich ſagte dir vorhin, daß ich dir
heute einen Befehl geben werde, dem du Gehorſam leiſten
wirſt. Jetzt ſollſt du ihn hören: Nimm den Mann dort
gefangen und ſtecke ihn in das Loch, in welches ich kom-
men ſollte! Er wird dann nach Moſſul geſchafft.“


Der gute Agha ſtaunte erſt mich an und dann die
beiden andern; aber er rührte natürlich keinen Fuß, um
meinen Worten nachzukommen.


„Er iſt wahnſinnig,“ meinte der Makredſch, indem
er ſich erhob.


„Du ſelbſt mußt es ſein, da du es wagſt, nach Ama-
dijah zu kommen. Warum biſt du nicht den geraden Weg,
ſondern über Mungayſchi geritten? Du ſiehſt, daß ich
alles weiß. Hier, Muteſſelim, haſt du den Beweis, daß
ich das Recht habe, ſeine Gefangennehmung zu verlangen!“


Ich übergab ihm dasjenige Schreiben, welches an Ali
Bey gerichtet war. Er blickte zunächſt nach der Unterſchrift.


„Vom Anatoli Kaſi Askeri?“


„Ja. Er iſt in Moſſul und verlangt die Ausliefe-
rung dieſes Mannes. Lies!“


„Es iſt wahr!“ ſtaunte er. „Aber was thut der Mu-
teſſarif?“


„Er iſt auch abgeſetzt. Lies auch dieſes andere Schreiben!“


Ich übergab es ihm, und er las es.


[286]

„Allah kerihm, Gott ſei uns gnädig! Es gehen große
Dinge vor!“


„Sie gehen allerdings vor. Der Muteſſarif iſt abgeſetzt,
der Makredſch ebenſo. Willſt auch du abgeſetzt ſein?“


„Herr, du biſt ein geheimer Abgeſandter des Anatoli
Kaſi Askeri oder gar des Padiſchah!“


„Wer ich bin, das kommt hier nicht in Betracht;
aber du ſiehſt, daß ich alles weiß, und ich erwarte, daß
du deine Pflicht erfüllſt.“


„Effendi, ich werde ſie thun. Makredſch, ich kann nicht
anders; hier ſteht es geſchrieben; ich muß dich gefangen
nehmen!“


„Thue es!“ antwortete dieſer.


Ein Dolch blitzte in ſeiner Hand, und im Nu war
er durch das Zimmer hinweg, auch an mir vorüber und
zur Thüre hinaus. Wir eilten nach und kamen grad recht,
zu ſehen, daß er draußen zu Boden geriſſen wurde. Selek,
der mich begleitet hatte, war es, der auf ihm kniete und
ihm den Dolch zu entringen verſuchte. Ein Entkommen
war nun allerdings unmöglich. Er wurde entwaffnet und
wieder in das Selamlük zurückgebracht.


„Wer iſt dieſer Mann?“ fragte der Kommandant,
auf Selek deutend.


„Es iſt der Bote, den mir Ali Bey von Baadri ge-
ſandt hat. Er kehrt wieder dorthin zurück, und du magſt
ihm erlauben, den Transport zu begleiten. Dann ſind wir
ſicher, daß der Makredſch nicht entkommen wird. Aber
ich werde dir noch einen Gefangenen übergeben.“


„Wen, Herr?“


„Laß nur den Arnauten kommen, der mich angeklagt
hat!“


„Holt ihn!“ gebot er.


Einer der Lieutenants ging und brachte den Mann,
[287] der eine Wendung der Dinge zu ſeinen Ungunſten nicht
vermutete.


„Frage ihn einmal,“ ſagte ich, „wo er ſeine Waffen
hat!“


„Wo haſt du ſie?“


„Sie wurden mir genommen.“


„Wo?“


„Im Schlafe.“


„Er lügt, Muteſſelim! Dieſer Mann war dem Had-
ſchi Lindſay-Bey von dem Muteſſarif mitgegeben worden;
er hat auf mich geſchoſſen und entfloh; dann unterwegs
lauerte er uns auf und gab aus dem Dickicht des Waldes
noch zwei Kugeln auf mich ab, die aber nicht trafen.
Mein Hund hielt ihn feſt, aber ich ließ Gnade walten,
vergab ihm und ließ ihn entkommen. Wir nahmen ihm
dabei die Waffen ab, welche mein Khawaß noch beſitzt.
Soll ich die Zeugen, daß ich die Wahrheit rede, kommen
laſſen?“


„Herr, ich glaube dir! Nehmt dieſen Hund gefangen
und ſchafft ihn in das ſicherſte Loch, welches ſich in dem
Gefängniſſe befindet!“


„Herr, befiehlſt du mir, den Makredſch gleich mit-
zunehmen?“ fragte Selim Agha den Kommandanten.


„Ja.“


„Muteſſelim, laß ihn zuvor binden,“ erinnerte ich.
„Er hat einen Fluchtverſuch gemacht und wird ihn wie-
derholen.“


„Bindet ihn!“


Sie wurden alle beide abgeführt, und ich blieb mit
dem Kommandanten allein zurück. Dieſer war von dem
Ereigniſſe ſo angegriffen, daß er ſich müde auf den Teppich
fallen ließ.


„Wer hätte das gedacht!“ ſeufzte er.


[288]

„Du allerdings nicht, Muteſſelim!“


„Herr, verzeihe mir! Ich wußte ja von dieſen
Dingen nichts.“


„Gewiß hat der Arnaute den Makredſch vorher ge-
troffen und ſich mit ihm verſtändigt, ſonſt hätte er es
nicht gewagt, gegen uns aufzutreten, da wir doch Grund
hatten, ihn beſtrafen zu laſſen.“


„Er ſoll auf keinen Menſchen wieder ſchießen! Er-
laube, daß ich dir eine Pfeife reiche!“


Er ließ noch ein Nargileh kommen und ſetzte es mit
eigener Hand in Brand; dann meinte er in beinahe unter-
würfigem Tone:


„Emir, glaubſt du, daß es mein Ernſt war?“


„Was?“


„Daß ich Geld von dir nehmen wollte?“


„Ja.“


„Herr, du irrſt! Ich fügte mich in den Willen des
Makredſch und hätte dir meinen Teil zurückgegeben.“


„Aber entfliehen hätte ich dürfen?“


„Ja. Du ſiehſt, daß ich dein Beſtes wollte!“


„Das durfteſt du nicht, wenn die Anklage gegen mich
begründet war.“


„Wirſt du weiter daran denken?“


„Nein, wenn du macheſt, daß ich es vergeſſen kann.“


„Du ſollſt nicht wieder daran denken, Emir. Du
ſollſt es vergeſſen, wie du bereits ein anderes vergeſſen
haſt.“


„Was?“


„Die Arznei.“


„Ja, Muteſſelim, die habe ich allerdings vergeſſen;
aber du ſollſt ſie noch heute erhalten; das verſpreche ich
dir!“


Da kam einer der Diener herein.


[289]

„Herr, es iſt ein Baſch Tſchauſch *) draußen,“ mel-
dete er.


„Was will er?“


„Er kommt aus Moſſul und ſagt, daß ſeine Bot-
ſchaft wichtig ſei.“


„Schicke ihn herein!“


Der Unteroffizier trat ein und übergab dem Kom-
mandanten ein mit einem großen Siegel verſehenes Schrei-
ben; es war das Siegel des Anatoli Kafi Askeri; ich er-
kannte es ſogleich. Er erbrach es und las. Dann gab
er dem Manne den Beſcheid, morgen früh die Antwort
abzuholen.


„Herr, weißt du, was es iſt?“ fragte er mich dann,
als der Soldat fort war.


„Ein Schreiben des Oberrichters von Anatolien?“


„Ja. Er ſchreibt mir von der Abſetzung des Muteſ-
ſarif und des Makredſch. Dieſen letzteren ſoll ich, ſobald
er ſich hier je erblicken laſſe, ſofort noch Moſſul ſenden.
Ich werde ihn morgen dieſem Baſch Tſchauſch mitgeben.
Soll ich in meinem Schreiben etwas von dir erwähnen?“


„Nein. Ich werde ſelbſt ſchreiben. Aber ſende nur
eine genügende Bedeckung mit!“


„Daran ſoll es nicht fehlen, beſonders da noch ein
anderer wichtiger Gefangener mitgehen ſoll.“


Ich erſchrak.


„Welcher?“


„Der Araber. Der Anatoli Kaſi Askeri befiehlt es
mir und ſagt, daß der Sohn des Scheik als Geiſel nach
Stambul geſandt werden ſolle.“


„Wann geht der Transport ab?“


„Am Vormittage. Ich werde jetzt gleich das Schreiben
beginnen.“


II. 19
[290]

„So darf ich dich nicht länger ſtören.“


„O Effendi, deine Gegenwart iſt mir lieber als alles!“


„Und dein Auge iſt mir wie das Auge des beſten
Freundes, aber deine Zeit iſt koſtbar; ich darf ſie dir
nicht rauben.“


„Aber morgen früh kommſt du?“


„Vielleicht.“


„Du ſollſt bei dem Abgange des Transportes zu-
gegen ſein, um zu ſehen, daß meine Sorge an alles denkt!“


„So werde ich kommen. Sallam!“


„Sallam! Allah ſei dein Führer!“


Als ich nach Hauſe kam, tönte mir ein heller Ruf
entgegen:


„Hamdulillah, Effendi, du lebſt und biſt frei!“


Es war die ‚Myrte‘. Sie nahm mich bei den
Händen und atmete tief auf:


„Du biſt ein großer Held. Deine Diener und der
fremde Bote haben es geſagt. Wenn ſie dich gefangen
genommen hätten, ſo hätteſt du den ganzen Palaſt er-
ſchlagen, und vielleicht gar Selim Agha auch.“


„Ihn nicht, aber die andern alle; darauf kannſt du
dich verlaſſen!“ antwortete ich beluſtigt.


„Ja. Du biſt wie Kelad der Starke. Dein Bart
ſteht rechts und links wie der Bart eines Panthers, und
deine Arme ſind wie die Beine eines Elefanten!“


Das war natürlich bildlich gemeint. Oh Myrte,
welch ein Attentat auf den dunkelblonden Schmuck meines
Geſichtes und auf die liebliche Symmetrie meiner unent-
behrlichſten Gliedmaßen! Ich mußte ebenſo höflich ſein:


„Dein Mund ſpricht wie der Vers eines Dichters,
Merſinah, und deine Lippen ſtrömen über wie ein Topf
voll ſüßen Honigs; deine Rede thut wohl, wie das
Pflaſter auf eine Beule, und deiner Stimme Klang kann
[291] keiner vergeſſen, der ihn einmal hörte. Hier, nimm fünf
Piaſter, um dir Khol und Henneh zu kaufen für die
Ränder deines Augenlides und die roſigen Nägel deiner
Hand. Mein Herz will ſich freuen über dich, damit meine
Seele jung werde und mein Auge ſich ergötze an der An-
mut deines Ganges!“


„Herr,“ rief ſie, „du biſt tapferer als Ali, weiſer als
Abu Bekr, ſtärker als Simſah *) und ſchöner als Hoſſeïn,
der Armadener! Befiehl was ich dir braten ſoll; oder
willſt du gekocht und gebacken haben? Ich thue für dich
alles, was du verlangſt, denn mit dir iſt Freude über
mein Haus gekommen und Segen über die Schwelle
meiner Thüre.“


„Deine Güte rührt mich, oh Merſinah; ich kann ſie
nicht vergelten! Aber ich habe weder Hunger noch Durſt,
wenn ich den Glanz deiner Augen, die Farbe deiner
Wangen und das liebliche Bild deiner Hände erblicke.
War Selim Agha da?“


„Ja. Er hat mir alles erzählt. Deine Feinde ſind
vernichtet. Gehe hinauf und tröſte die Deinen, die in
großer Sorge um dich ſind!“


Ich ging hinauf.


„Endlich zurück!“ meinte der Engländer. „Große
Sorge!“ Wollten kommen und Euch holen! Glück, daß
Ihr da ſeid!“


„Du warſt in Gefahr?“ fragte auch Mohammed.


„Nicht ſehr. Sie iſt vorüber. Weißt du, daß der
Muteſſarif abgeſetzt iſt?“


„Von Moſſul?“


„Ja, und der Makredſch auch.“


„Alſo darum iſt Selek da?“


[292]

„Ja. Hat er dir nichts erzählt, als wir am Nach-
mittage ausgeritten waren?“


„Nein. Er iſt ſchweigſam. Aber da kann doch
Amad frei werden, denn nur der Muteſſarif hat ihn ge-
fangen gehalten!“


„Ich hoffte dies auch, aber es ſteht ſchlimmer. Der
Großherr billigt das Vorgehen der Türken gegen euch,
und der Oberrichter von Anatolien hat befohlen, daß dein
Sohn als Geiſel nach Stambul gebracht werde.“


„Allah kerihm! Wann ſoll er fort?“


„Morgen vormittags.“


„Wir überfallen unterwegs ſeine Begleitung!“


„So lange wir noch Hoffnung haben, ihn durch Liſt
frei zu bekommen, ſo lange ſoll kein Menſchenleben be-
ſchädigt werden.“


„Aber wir haben nur noch die Zeit von einer Nacht!“


„Dieſe Zeit iſt lang genug.“


Dann wandte ich mich an den Engländer:


„Sir, ich brauche Wein für den Muteſſelim.“


„Wäre Wein wert, dieſer Kerl! Mag Waſſer trinken!
Kaffee, Lindenblüten, Baldrian und Buttermilch!“


„Er hat mich um Wein gebeten!“


„Schlingel! Darf doch keinen trinken! Iſt Mo-
hammedaner!“


„Die Moslemin trinken ihn ebenſo gern wie wir.
Ich möchte uns ſein Wohlwollen erhalten, ſolange wir
es brauchen.“


„Schön! Soll Wein haben! Wie viel?“


„Ein Dutzend. Ich gebe die Hälfte und Ihr die andere.“


„Pſhaw! Kaufe nicht halben Wein. Hier Geld!“


Er reichte mir die Börſe hin, ohne daß es ihm einfiel,
zu bemerken, wie viel ich ihr entnahm. Er war ein Gent-
leman und ich ein armer Teufel.


[293]

„Wie iſt's?“ fragte er. „Retten wir Amad?“


„Ja.“


„Heute?“


„Ja.“


„Wie?“


„Ich gehe mit Selim Agha Wein trinken und
ſuche — — —“


„Trinkt auch Wein?“ unterbrach er mich.


„Leidenſchaftlich.“


„Schöner Muſelmann! Verdient Prügel!“


„Grad dieſe Geſchmacksrichtung aber giebt uns Vor-
teile. Er wird einen Rauſch bekommen und dann nehme
ich ihm unbemerkt den Gefängnißſchlüſſel fort. Ich laſſe
den Araber heraus zu ſeinem Vater, wo er ſich umkleidet.
Dann führt ihn Halef nach der Villa, die Ihr für ihn
gebaut habt.“


Well! Sehr ſchön! Was thue ich dabei?“


„Zunächſt aufpaſſen. Wenn ich ihn bringe, ſo gebe
ich da drüben an der Ecke ein Zeichen. Ich werde wie
ein Rabe krächzen, der aus dem Schlafe geſtört worden
iſt. Dann eilt Halef hinunter, um die Thüre zu öffnen
und die Wirtin in der Küche feſtzuhalten. Ihr geht mit
Mohammed an die Treppe und empfangt Amad, um ihn
empor zu führen. Er zieht ſich an, und ihr wartet, bis
ich nach Hauſe komme.“


„Ihr geht wieder fort?“


„Ja. Ich muß zu Selim Agha, um keinen Verdacht
zu erregen und ihm den Schlüſſel wieder zuzuſtecken.“


„Schwere Sache für Euch! Wenn Ihr nun ertappt
werdet?“


„Ich habe eine Fauſt und, wenn das zu wenig ſein
ſollte, auch Waffen. Jetzt aber laßt uns in Gemeinſchaft
zu Abend eſſen.“


[294]

Während des Mahles wurde auch Mohammed genau
inſtruiert. Halef brachte den Wein und mußte ihn gut
verpacken.


„Den trägſt du jetzt zum Muteſſelim,“ ſagte ich ihm.


„Will er ihn trinken, Sihdi?“ fragte er erſtaunt.


„Er ſoll ihn verwenden, wozu er ihn braucht. Du
giebſt das Paket an keinen andern Menſchen als nur
an ihn und ſagſt, daß ich hier die Medizin ſende. Und
höre! Wenn ich dann mit Selim Agha fortgehe, ſo geheſt
du uns heimlich nach und merkſt dir das Haus, in welches
wir treten, aber genau! Und ſollte ich irgendwie gebraucht
werden, ſo kommſt du, mich zu holen.“


„Wo werde ich dich in dem Hauſe finden?“


„Du gehſt im Flur von der Thüre aus ungefähr
acht Schritte gradaus und pocheſt dann rechts an eine
Thüre, hinter welcher ich mich befinde. Sollte der Wirt
dich ſehen, der ein Jude iſt, ſo ſageſt du, daß du den
fremden Emir ſucheſt, der aus dem Kruge trinkt. Ver-
ſteheſt du?“


Er ging mit ſeinem Pakete fort.


Mohammed Emin befand ſich in einer unbeſchreib-
lichen Aufregung. Ich hatte ihn ſelbſt damals, als es
im Thale der Stufen galt, ſeine Feinde gefangen zu nehmen,
nicht ſo geſehen. Er hatte alle ſeine Waffen angethan
und auch die Flinte neu geladen. Ich konnte nicht dar-
über lächeln. Ein Vaterherz iſt eine heilige Sache; ich
hatte ja auch einen Vater daheim, der oft für mich der
Sorgen und Entbehrungen genug getragen hatte, und
konnte alſo das begreifen.


Endlich kam Selim Agha von dem Muteſſelim zurück.
Er verzehrte in der Küche ſein Abendbrot, und dann
gingen wir heimlich zum Juden. Selim Agha hatte die
Wirkung des ſtarken Weines zur Genüge kennen gelernt
[295] und nahm ſich daher ſehr in acht. Er trank nur in
kleinen Schlückchen und auch ſehr langſam.


Wir mochten bereits dreiviertel Stunden beim Weine
ſitzen, und noch immer zeigte derſelbe keine andere Wirkung
auf den Agha, als dieſer ſtiller und träumeriſcher wurde und
ſich ſinnend in ſeine Ecke lehnte. Schon ſtand ich im Begriff,
ihn zum Austrinken zu nötigen und zwei neue Krüge
bringen zu laſſen, als es draußen an die Thüre pochte.


„Wer iſt das?“ frug der Agha.


„Das muß Halef ſein.“


„Weiß er, wo wir ſind?“


„Ja.“


„Effendi, was haſt du gethan!“


„Aber er weiß nicht, was wir thun.“


„Laß ihn nicht herein!“


Wie gut, daß ich Halef aufmerkſam gemacht hatte!
Daß er kam, um mich zu holen, war mir Beweis, daß
etwas Beſonderes paſſiert ſei. Ich öffnete von innen und
trat hinaus auf den Flur.


„Halef!“


„Sihdi, biſt du es?“


„Ja. Was iſt's?“


„Der Muteſſelim iſt gekommen.“


„Das iſt ſchlimm; das kann uns das ganze Werk
verderben. Gehe. Wir kommen gleich nach. Aber bleibe
ſtets an der Thüre meines Zimmers, damit ich dich ſofort
habe, wenn ich dich brauche!“


Ich trat wieder in den kleinen Raum zurück.


„Selim Agha, es war dein Glück, daß ich dem Had-
ſchi ſagte, wo wir ſind. Der Muteſſelim iſt bei dir und
wartet auf dich.“


„Allah illa Allah! Komm ſchnell, Effendi!“ Was
will er?“


[296]

„Halef wußte es nicht.“


„Es muß wichtig ſein. Eile!“


Wir ließen den Wein ſtehen und ſchritten mit ſchnellen
Schritten unſerer Wohnung zu.


Als wir heim kamen, ſaß der Kommandant auf meinem
Ehrenplatze in meiner Stube, ließ ſich von der roten
Papierlaterne magiſch beleuchten und ſog an meinem Nar-
gileh. Er war, als er mich erblickte, ſo höflich, ſich zu
erheben.


„Ah, Muteſſelim, du hier in meiner Wohnung!
Allah ſegne deinen Eintritt und laſſe es dir wohlgefallen
an meiner Seite!“


Im ſtillen aber hatte ich allerdings einen nicht ganz
mit dieſer höflichen Phraſe übereinſtimmenden Wunſch.


„Emir, verzeihe, daß ich zu dir heraufſtieg. Die
Wirtin dieſes Hauſes, der Allah ein Geſicht gegeben hat
wie keiner zweiten, wies mich herauf. Ich wollte mit
Selim Agha reden.“


„So erlaube, daß ich mich wieder entferne!“


„Jetzt war er gezwungen, mich zum Hierbleiben auf-
zufordern, wenn er nicht ganz und gar gegen alle türkiſche
Bildung verſtoßen wollte.


„Bleib, Emir, und ſetze dich. Auch Selim Agha mag
ſich ſetzen; denn was ich von ihm verlange, das darfſt du
wiſſen.“


Jetzt mußten die Reſervepfeifen her. Während des
Anzündens beobachtete ich den Kommandanten ſcharf. Das
rote Licht der Laterne ließ mich ſein Geſicht nicht genau
erkennen, aber ſeine Stimme ſchien mir jenen Klang zu
beſitzen, welcher dann zu hören iſt, wenn die Zunge ihre
gewöhnliche Leichtigkeit zu verlieren beginnt.


„Was meineſt du, Effendi? Iſt der Makredſch ein
wichtiger Gefangener?“


[297]

„Ich meine es.“


„Ich auch. Darum macht mir der Gedanke, daß es
ihm vielleicht gelingen könnte, zu entkommen, ſchwere Sorge.“


„Er iſt doch ſicher eingeſchloſſen!“


„Ja. Aber das iſt nicht genug für mich. Selim
Agha, ich werde dieſe Nacht nicht ſchlafen und zwei- oder
dreimal nach dem Gefängniſſe gehen, um mich zu über-
zeugen, daß er wirklich in ſeinem Loche iſt.“


„Herr, ich werde das an deiner Stelle thun!“


„Dann ſiehſt du ihn wohl, aber ich nicht, und ich
kann dennoch nicht ſchlafen. Ich werde ſelbſt gehen. Gieb
mir den Schlüſſel!“


„Weißt du, Herr, daß du mich kränkſt?“


„Ich will dich nicht kränken, ſondern ich will mich
beruhigen. Der Anatoli Kaſi Askeri iſt ein ſehr ſtrenger
Mann. Ich würde die ſeidene Schnur bekommen, wenn
ich den Gefangenen entkommen ließe.“


Da war ja die Ausführung unſeres Planes ganz
und gar unmöglich gemacht! Gab es keine Hilfe? Ich war
ſchnell entſchloſſen. Entweder Wein oder Gewalt! Wäh-
rend der Agha ſeinem Vorgeſetzten noch Vorſtellungen
machte, erhob ich mich und trat hinaus auf den Korridor,
wo Halef ſtand.


„Bringe vom allerbeſten Tabak, und hier haſt du
Geld; gehe in das Haus, wo du mich geholt haſt, und
verlange von dem Juden ſolchen Wein von Türbedi Hai-
dari, wie ich vorhin getrunken habe.“


„Wie viel ſoll ich bringen?“


„Ein Gefäß, in welches zehn Krüge gehen von der
Sorte, die der Jude hat. Er wird dir ein ſolches Gefäß
borgen.“


„Bringe ich das Getränk des Teufels in das Zimmer
hinein?“


[298]

„Nein. Ich hole es aus deiner Stube. Aber der
Baſchi-Bozuk darf nichts wiſſen. Gieb ihm dieſes Bak-
ſchiſch. Er mag ausgehen und ſo lange bleiben, als es
ihm beliebt. Er kann ja zur Wache gehen, um ſich dem
Baſch Tſchauſch zu zeigen, mit dem er morgen reiſen wird.
So werden wir ihn los!“


Als ich wieder eintrat, reichte der Agha dem Kom-
mandanten grad den Schlüſſel hin. Dieſer ſteckte ihn in
ſeinen Gürtel und ſagte zu mir:


„Weißt du, daß der Makredſch widerſetzlich ge-
weſen iſt?“


„Ja. Er hat erſt den Agha beſtechen wollen und
ihm dann gar nach dem Leben getrachtet.“


„Er wird es büßen!“


„Und,“ fügte Selim bei, „als ich ihn aufforderte,
ſeine Taſchen zu leeren, that er es nicht.“


„Was hatte er darin?“


„Viel Geld!“


„Emir, wem gehört dieſes Geld?“ fragte mich der
Kommandant lauernd.


„Du haſt es in Empfang zu nehmen.“


„Das iſt richtig. Laß uns gehen!“


„Muteſſelim, du willſt mich verlaſſen?“ fragte ich.
„Willſt du mich beleidigen?“


„Ich bin dein Beſuch, aber nicht dein Gaſt!“


„Ich habe nicht gewußt, daß du kommſt. Erlaube
mir, dir eine Pfeife zu ſtopfen, wie man ſie hier ſelten
raucht.“


Eben trat Halef ein und brachte den Tabak; es war
Maſter Lindſays Sorte; der Kommandant fand ſie ſicher
gut. Uebrigens war ich ſehr feſt entſchloſſen, daß er ohne
meinen Willen meine Stube nicht verlaſſen ſolle. Doch,
es kam glücklicherweiſe nicht zum Aeußerſten, denn er
[299] nahm die Pfeife an. Aber im Laufe der ferneren Unter-
haltung merkte ich, daß ſeine Augen ſehr erwartungsvoll
an der Thüre hingen. Er wollte Kaffee haben. Deshalb
erkundigte ich mich:


„Haſt du die Medizin erhalten, Herr?“


„Ja. Ich danke dir, Effendi!“


„War es genug?“


„Ich habe noch nicht gezählt.“


„Und ſie auch noch nicht gekoſtet?“


„Ein wenig.“


„Wie war ſie?“


„Sehr gut. Aber ich habe gehört, daß es auch ganz
ſüße giebt!“


Der gute Agha wußte ſehr genau, wovon die Rede
war. Er ſchmunzelte lüſtern und blickte mich mit ver-
führeriſch blinzelnden Augen an.


„Es giebt ganz ſüße,“ antwortete ich.


„Aber ſie iſt ſelten?“


„Nein.“


„Und heilſam?“


„Sehr. Sie gleicht der Milch, die aus den Bäumen
des Paradieſes fließt.“


„Aber in Amadija giebt es keine?“


„Ich kann welche bereiten, überall, auch in Amadijah.“


„Und wie lange dauert es, bis ſie fertig iſt?“


„Zehn Minuten. Willſt du ſo lange warten, ſo ſollſt
du den Trank des Paradieſes ſchmecken, der Mohammed
von den Houris gereicht wird.“


„Ich warte!“


Seine Augen leuchteten ſehr vergnügt, noch vergnügter
aber die Augen des würdigen Selim Agha. Ich verließ
das Zimmer und benutzte die angegebene Pauſe, um zu
Mohammed Emin zu gehen.


[300]

„Emir, nun iſt es aus!“ empfing mich dieſer.


„Nein, ſondern nun geht es an!“


„Aber du erhältſt nun den Schlüſſel nicht!“


„Vielleicht brauche ich ihn gar nicht. Harre nur ge-
duldig aus.“


Auch Lindſay kam geſchlichen.


„Von meinem Tabak geholt! Wer raucht ihn?“


„Der Kommandant.“


„Sehr gut! Trinkt meinen Wein, raucht meinen
Tabak! Ausgezeichnet!“


„Warum ſollte er nicht?“


„Mag zu Hauſe bleiben! Flucht nicht ſtören!“


„Vielleicht befördert er ſie. Ich habe nach Wein geſchickt.“


„Wieder?“


„Ja. Nach perſiſchem. Reißt einen Elefanten nieder.
Süß wie Honig und ſtark wie ein Löwe!“


Well! Trinke auch perſiſchen!“


„Habe dafür geſorgt, daß für euch auch da iſt. Ich
werde die beiden Leute luſtig machen, und dann werden
wir ſehen, was zu thun iſt.“


Nun ging ich in die Küche und ließ Feuer machen.
Ehe es ordentlich brannte, kam Halef zurück. Er brachte
ein großes Gefäß des gefährlichen Trankes. Ich ſetzte
einen Topf voll davon über das Feuer und empfahl ihn
der Fürſorge Merſinahs. Dann kehrte ich zum Engländer
zurück.


„Hier iſt Perſer! Aber gebt Gläſer her; ſie ſind bei
Euch.“


Als ich in meine Stube trat, blickten mir die beiden
Türken erwartungsvoll entgegen.


„Hier bringe ich die Medizin, Muteſſelim. Koſte ſie
zunächſt, da ſie kalt iſt. Dann ſollſt du auch ſehen, wie
ſie das Herz begeiſtert, wenn man ſie heiß genießt.“


[301]

„Sage mir ganz genau, Effendi, ob es Wein iſt oder
Medizin!“


„Dieſer Trank iſt die beſte Medizin, die ich heute
kenne. Trinke ſie und ſage mir, ob ſie nicht deine Seele
erfreut!“


Er koſtete und koſtete abermals. Ueber ſeine ſcharfen,
aber matten Züge legte ſich ein Schein der Verklärung.


„Haſt du ſelbſt dieſen Trank erfunden?“


„Nein, ſondern Allah giebt ihn denen, die er am
liebſten hat.“


„So meinſt du, daß er uns lieb hat?“


„Gewiß.“


„Von dir weiß ich es, daß du ein Liebling des Pro-
pheten biſt. Haſt du noch mehr von dieſem Tranke?“


„Hier. Trinke aus!“


Ich ſchenkte wieder ein.


Seine Augen funkelten noch vergnügter als vorher.


„Effendi, was iſt Ladakia, Djebeli und Tabak von
Schiras gegen dieſe Arznei! Sie iſt beſſer als der feinſte
Duft des Kaffees. Willſt du mir das Rezept geben, wie
ſie bereitet wird?“


„Erinnere mich daran, ſo werde ich es aufſchreiben,
noch ehe ich Amadijah verlaſſe. Aber hier ſteht der Krug.
Trinkt! Ich muß hinab zur Küche, um die andere Arznei
zu bereiten.“


Ich ging mit Vorbedacht ſehr leiſe zur Treppe hinab
und öffnete unhörbar die Küchenthüre ein wenig. Richtig!
Da ſtand die ‚Myrte‘ vor meinem Topfe und ſchöpfte mit
einer kleinen türkiſchen Kaffeetaſſe den jetzt bereits ziemlich
heißen Wein unaufhaltſam zwiſchen ihre weit geöffneten
Lippen, welche nach jeder Taſſe mit einem herzlich ſchmatzen-
den Laute zuſammenklappten.


„Merſinah, verbrenne deine Zähne nicht!“


[302]

Sie fuhr erſchrocken herum und ließ die Taſſe fallen.


„O, Sihdi, es war ein Oerümdſchek *) in den Topf
gelaufen, und den wollte ich wieder herausfiſchen!“


„Und dieſe Spinne haſt du dir in den Mund ge-
goſſen?“


„Nein, Effendi, ſondern nur das Wenige, was an
der Spinne hängen geblieben iſt.“


„Gieb mir den kleinen Topf von da unten herauf!“


„Hier, Emir!“


„Fülle ihn dir mit dieſem Tranke!“


„Für wen?“


„Für dich.“


„Was iſt es, Emir?“


„Es iſt die Arznei, welche ein perſiſcher Hekim erfun-
den hat, um das Alter wieder jung zu machen. Wer genug
davon trinkt, dem iſt die Seligkeit gegeben, und wer davon
trinkt, ohne jemals aufzuhören, der hat das ewige Leben!“


Sie dankte mir in blühenden Ausdrücken, und ich trug
das übrige nach oben. Die beiden Trinker waren trotz
ihres Rangunterſchiedes ſehr nahe zuſammengerückt und
ſchienen ſich ganz angenehm unterhalten zu haben.


„Weißt du, Effendi, worüber wir ſtreiten?“ fragte
mich der Kommandant.


„Ich hörte es ja nicht!“


„Wir ſtritten, weſſen Syſtem am meiſten leiden muß,
das ſeinige oder das meinige. Wer hat recht?“


„Das will ich euch ſagen: Wem die Arznei die größte
Hilfe bringt, deſſen Syſtem hat am meiſten gelitten.“


„Deine Weisheit iſt zu groß, als daß wir ſie be-
greifen könnten. Was haſt du in dieſem Topfe?“


„Das iſt Itſchki itſchkilerin **), denn ihm kommt kein
anderer gleich.“


[303]

„Und du willſt, daß wir ihn probieren ſollen?“


„Wenn du es wünſcheſt, ſo ſchenke ich dir davon ein.“


„Gieb mir!“


„Mir auch, Effendi,“ bat der Agha.


Sie hatten beide bereits das, was der Spiro-Zoologe
einen „Käfer“ zu nennen pflegt, ja, es ſchien bereits ein
bedeutender Hirſchkäfer zu ſein, der alle Anlagen zeigte,
ſich nach und nach in einen bekannten Vierhänder zu ver-
wandeln. Es war nur heißer Wein, ohne alles Gewürz,
den ſie jetzt koſteten, aber er brachte ſie dem „Seid um-
ſchlungen, Millionen!“ ſehr nahe; ſie tranken bereits nur
noch aus einem Glaſe, und der Muteſſelim wiſchte ſo-
gar ſeinem Agha einmal den Bart ab, als einige Tropfen
der herrlichen Arznei ſich in den Wald desſelben verlaufen
hatten. Die dabei geführte Unterhaltung war diejenige
zweier Perſonen, die im „edlen Kampfe voller Humpen“
noch vollſtändige Laien ſind: närriſch und kauderwelſch.
Selbſt ich, der ich nur that, als ob ich trinke, wurde in
Mitleidenſchaft gezogen; denn der Muteſſelim umarmte
mich ein über das andere Mal, und der Agha hielt trau-
lich ſeinen Arm um meinen Nacken geſchlungen.


Da erhob ſich einmal der letztere, um eine neue Lampe
für die rote Laterne zu holen. Er kam ganz glücklich in
die Höhe, dann aber ſtreckte er die Arme zuckend aus und
trillerte unſicher mit den Knieen wie einer, der zum erſten-
mal Schlittſchuhe läuft.


„Was iſt dir, Agha?“ fragte der Kommandant.


„O, Herr, ich bekomme das Baldyr tſchekmiſch *). Ich
glaube, ich muß mich wieder ſetzen!“


„Setze dich! Ich werde dir helfen!“


„Kennſt du ein Mittel?“


„Ein ſehr gutes. Setze dich!“


[304]

Der Agha nahm wieder Platz. Der Kommandant
richtete ſich ein wenig empor und erkundigte ſich mit liebe-
voller Herablaſſung:


„In welcher Wade haſt du den Krampf?“


„In der rechten.“


„Gieb mir einmal das Bein!“


„Der Agha ſtreckte es ihm hin, und ſein Vorgeſetzter
begann, an demſelben mit allen Kräften zu zerren und zu
ziehen.


„O jazik — o wehe, Herr; ich glaube, daß es doch
in der linken iſt!“


„So gieb dieſe her!“


Selim reichte ihm ſein anderes Vehikel hin, und der
Helfer in der Not zog aus Leibeskräften. Es war komiſch-
rührend, zu ſehen, daß dieſer hochgeſtellte Beamte, der
gewohnt war, ſich auch im Allerkleinſten bedienen zu laſſen,
ſeinem Untergebenen mit ſo brüderlicher Bereitwilligkeit
die Wade zog und klopfte.


„Gut! Ich glaube, es iſt nun weg!“ ſagte der Agha.


„So ſtehe einmal auf und probiere es!“


Selim erhob ſich und gab ſich dieſes Mal Mühe. Er
ſtand kerzengrad. Aber mit dem Gehen! Ich ſah es ihm
an, daß es ihm war wie einem flüggen Vogel, der ſich
zum erſtenmal der unſicheren Luft anvertrauen will.


„Laufe einmal!“ gebot der Muteſſelim. „Komm; ich
werde dich unterſtützen!“


Er wollte ſich mit der gewohnten Schnelligkeit auf-
richten, verlor aber die Balance und kam ſehr ſchnell in
ſeine vorige Stellung zurück. Aber er wußte ſich zu hel-
fen. Er legte ſeine Hand auf meine Achſel und ſtand auf.
Dann machte er die Beine breit, um eine feſtere Stellung
zu bekommen, und ſtarrte ganz verwundert auf die rote
Lampe.


[305]

„Emir, deine Lampe fällt herab!“


„Ich glaube, ſie hängt feſt!“


„Sie fällt, und das Papier brennt an. Ich ſehe ſchon
die Flammen zucken!“


„Ich ſehe nichts!“


„Maſchallah! Ich ſehe ſie fallen, und dennoch bleibt
ſie oben! Wackele nicht ſo, Selim Agha, ſonſt wirſt du
umſtürzen!“


„Ich wackele nicht, Effendi!“


„Ich ſehe es ſehr genau!“


„Du ſelbſt wackelſt, Herr!“


„Ich? Agha, mir wird es ſehr bange um dein Syſtem.
Deine Nerven ſchieben dich hin und her, und die Ver-
dauung iſt dir in die Beine geſunken. Du ſchüttelſt die
Arme und ſchlingerſt mit dem Kopfe, als ob du ſchwim-
men wollteſt. O, Selim Agha, dieſe Medizin war zu
herrlich und zu ſtark für dich. Sie wird dich zu Boden
werfen!“


„Herr, du irrſt! Was du mir ſagſt, das iſt mit dir
der Fall. Ich ſehe deine Füße tanzen und deine Arme
hüpfen. Dein Kopf dreht ſich rund herum. Effendi, du biſt
ſehr krank. Allah möge dir Hilfe ſenden, daß das Syſtem
deines Blutes nicht ganz und gar zu Grunde gehe!“


Das war dem Muteſſelim denn doch zu viel. Er
machte eine Fauſt und drohte:


„Selim Agha, nimm dich in acht! Wer da ſagt, daß
mein Syſtem nicht in Ordnung ſei, den laſſe ich peitſchen
oder einſtecken! Wallah! Habe ich denn den Schlüſſel zu
mir geſteckt?“


Er fuhr ſich nach dem Gürtel und fand das Geſuchte.


„Agha, mache dich auf und begleite mich! Ich werde
jetzt das Gefängnis unterſuchen. Emir, deine Medizin iſt
wirklich wie die Milch des Paradieſes; aber ſie hat deinen
II. 20
[306] Magen umgedreht; du willſt immer mit dem Kopfe nach
unten. Erlaubſt du, daß wir gehen?“


„Wenn es dein Wille iſt, den Gefangenen zu be-
ſuchen, ſo darf ich dich in der Erfüllung deiner Pflicht
nicht hindern.“


„So gehen wir. Wir danken dir für das Gute, das
du uns heute ſchmecken ließeſt. Wirſt du bald wieder
Medizin bereiten?“


„Sobald du es wünſcheſt.“


„Die heiße iſt noch beſſer als die kalte, aber ſie geht
dem Menſchen durch Mark und Bein und ſchiebt ihm
die Knochen ineinander. Allah behüte dich und gebe dir
eine gute Ruhe!“


Er ging auf den Agha zu und nahm ihn beim Arme.


Sie gingen ab und ich folgte ihnen. An der Treppe
blieben ſie ſtehen.


„Selim Agha, ſteige du zuerſt hinunter!“


„Herr, dieſe Ehre gebührt ja dir!“


„Ich bin nicht ſtolz; das weißt du ja.“


Der Agha ſetzte, während er ſich mit den Händen an-
hielt, einen Fuß um den andern ſehr vorſichtig auf die
Stufen. Der Muteſſelim folgte ihm. Es wollte nicht recht
ſicher bei ihm gehen, zumal ihm die Treppe unbekannt war.


„Effendi, biſt du noch da?“ fragte er.


„Ja.“


„Weißt du, daß es Sitte iſt, ſeine Gäſte bis vor die
Thüre zu begleiten?“


„Ich weiß es.“


„Aber du begleiteſt mich ja nicht!“


„So erlaube, daß ich es thue!“


Ich nahm ihn beim Arme und ſtützte ihn. Nun ging
es beſſer. Unten vor der Thüre blieb er ſtehen, um tief
Atem zu holen.


[307]

„Emir, dieſer Makredſch iſt eigentlich auch dein Ge-
fangener,“ meinte er.


„Wenn man es recht betrachtet, ja.“


„So mußt du dich auch überzeugen, ob er noch da iſt!“


„Ich werde euch begleiten.“


„So komm, gieb mir deinen Arm!“


„Du haſt zwei Arme, Effendi,“ meinte der Agha;
„gieb mir den andern!“


Die beiden Männer hingen ſchwer an mir, aber ihr
Rauſch befand ſich doch noch immer innerhalb desjenigen
Stadiums, in welchem man noch leidlich Herr ſeiner ſelbſt
iſt. Ihr Gang war unſicher, doch kamen wir raſch vor-
wärts. Die Gaſſen lagen finſter und öde da. Kein Menſch
begegnete uns.


„Deine Arnauten werden erſchrecken, wenn ich komme,“
ſagte der Muteſſelim zum Agha.


„Und ich mit dir!“ brüſtete ſich dieſer.


„Und ich mit euch!“ vervollſtändigte ich.


„Iſt der Araber noch da?“


„Herr, glaubſt du, ich laſſe ſolche Leute ausreißen?“
fragte Selim Agha ſehr beleidigt.


„Ich werde auch nach ihm ſehen. Hat er auch Geld
gehabt?“


„Nein.“


„Wie viel denkſt du, daß der Makredſch bei ſich hat?“


„Ich weiß es nicht.“


„Er muß es hergeben. Aber, Selim, deine Arnauten
ſollten dann eigentlich nicht dabei ſein.“


„So gebiete ich ihnen, fortzugehen.“


„Und wenn ſie lauſchen?“


„Ich riegele ſie ein.“


„Gut. Aber wenn wir fort ſind, werden ſie mit dem
Gefangenen reden.“


[308]

„Sie bleiben eingeriegelt.“


„So iſt es richtig. Dieſes Geld gehört in die Kaſſe
des Muteſſelim, welcher dem Agha der Arnauten ein ſehr
gutes Bakſchiſch giebt.“


„Wie viel, Herr?“


„Das kann ich jetzt noch nicht wiſſen, denn ich muß
erſt ſehen, wie viel er bei ſich führt.“


Wir kamen bei dem Gefängniſſe an.


„Schließe auf, Selim Agha!“


„Herr, du ſelbſt haſt doch den Schlüſſel!“


„Ja, richtig!“


Er langte in den Gürtel und zog den Schlüſſel her-
vor, um zu öffnen. Er probierte und probierte, fand aber
das Schlüſſelloch nicht.


Darauf hatte ich allerdings gerechnet. Darum bat ich:


„Erlaube, Effendi, daß ich dir öffne!“


Ich nahm den Schlüſſel aus ſeiner Hand, machte
auf, zog ihn wieder ab, trat in den Flur und ſteckte den
Schlüſſel von innen wieder in das Schloß.


„Tretet ein. Ich werde wieder verſchließen!“


Sie kamen herein. Ich that, als ob ich zuſchließen
wolle, drehte aber den Schlüſſel ſchnell wieder zurück und
verſuchte ſcheinbar, ob auch wirklich feſt zugeſchloſſen ſei.


„Es iſt zu. Hier haſt du deinen Schlüſſel, Muteſſelim!“


Er nahm ihn. Da kamen aus der hintern Zelle und
auch von oben die Arnauten herbei, mit den Lampen in
der Hand.


„Iſt alles in Ordnung?“ fragte der Muteſſelim mit
Würde.


„Ja, Herr.“


„Iſt keiner entwiſcht?“


„Nein.“


„Auch der Araber nicht?“


[309]

„Nein.“


„Aber der Makredſch?“


„Auch nicht,“ antwortete der Sergeant bei dieſem
geiſtreichen Verhöre.


„Das iſt euer Glück, ihr Hunde. Ich hätte euch tot-
peitſchen laſſen. Packt euch hinauf in eure Stube! Selim
Agha, ſchließe ſie ein!“


„Emir, willſt du es nicht thun?“ fragte mich dieſer.


„Gern!“


Das war mir lieb. Der Agha nahm eine der Lam-
pen, und ich führte die Leute nach oben.


„Warum werden wir eingeſchloſſen, Herr?“ fragte
der Sergeant.


„Die Gefangenen werden verhört.“


Ich ließ ſie in ihre Zelle treten und ſchob die Riegel
vor, dann ſtieg ich wieder die Treppe hinab. Da der
Kommandant und der Agha bereits nach hinten gingen,
lag die Außenthüre im Dunkeln. Ich huſchte hin und
öffnete ſie, ſo daß ſie nur angelehnt blieb. Dann ſchritt
ich ſchnell den beiden nach.


„Wo liegt er?“ hörte ich den Muteſſelim fragen.


„Hier.“


„Und wo liegt der Haddedihn?“ fragte ich, um dem
Oeffnen der andern Thüre zuvorzukommen; denn ich mußte
darauf ſehen, daß bei dem Araber zuerſt aufgemacht wurde.


„Hier hinter der zweiten Thüre.“


„So mache einmal auf!“


Der Kommandant ſchien mit meinem Verlangen ein-
verſtanden zu ſein. Er nickte mit dem Kopfe, und nun
machte Selim auf.


Der Gefangene hatte unſer lautes Kommen gehört und
ſtand aufrecht in ſeinem Loche. Der Muteſſelim trat näher.


„Du biſt Amad, der Sohn von Mohammed Emin?“


[310]

Er erhielt keine Antwort.


„Kannſt du nicht reden?“


Es erfolgte dasſelbe Schweigen.


„Hund, man wird dir den Mund zu öffnen wiſſen!
Morgen wirſt du fortgeſchafft!“


Amad ſprach keine Silbe, hielt aber das Auge auf
mich gerichtet, um ſich keine meiner Mienen entgehen zu
laſſen. Ich gab ihm durch ein ſchnelles Aufziehen und
Sinkenlaſſen der Brauen zu verſtehen, daß er aufmerken
ſolle; dann ſchob Selim die Riegel wieder vor.


Jetzt wurde die andere Thüre geöffnet. Der Makredſch
ſtand an die Mauer gelehnt. Sein Auge war erwartungs-
voll auf uns gerichtet.


„Makredſch, wie gefällt es dir?“ fragte der Kom-
mandant ein wenig ironiſch, wohl infolge des Weines.


„Wollte doch Allah, daß du an meiner Stelle wäreſt!“


„Das wird der Prophet verhüten! Dein Schickſal
iſt ein ſehr ſchlimmes?“


„Ich fürchte mich nicht!“


„Du haſt den Agha hier ermorden wollen.“


„Er iſt es wert!“


„Haſt ihn beſtechen wollen.“


„Er iſt die Dummheit ſelbſt!“


„Haſt ihn gleich bezahlen wollen.“


„Der Kerl verdiente, gehängt zu werden!“


„Vielleicht wären deine Wünſche zu erfüllen,“ meinte
der Kommandant mit ſchlauer Miene. Infolge des Wein-
genuſſes und vor Erwartung der hoffentlichen Beute
ſtrahlte ſein Angeſicht.


„Wie?“ zuckte der Makredſch auf. „Sprichſt du im
Ernſte?“


„Ja.“


„Du willſt mit mir handeln?“


[311]

„Ja.“


„Wie viel wollt ihr haben?“


„Wie viel haſt du bei dir?“


„Muteſſelim, ich brauche Reiſegeld!“


„Wir werden ſo billig ſein, es dir zu laſſen.“


„Gut, ſo wollen wir verhandeln. Aber nicht in
dieſem Loche!“


„Wo ſonſt?“


„In einem Raume, der für Menſchen, nicht aber für
Ratten iſt.“


„So komm herauf!“


„Gebt mir die Hand!“


„Selim Agha, thue es!“ meinte der Kommandant,
der ſeinem Gleichgewichte nicht zu trauen ſchien.


Dem Agha aber kam ganz dasſelbe Bedenken, denn
er gab mir einen Stoß in die Seite und ermahnte mich:


„Effendi, thue du es!“


Ich ſtreckte alſo, um die Sache nicht zu verzögern,
meinen Arm aus, faßte den Makredſch bei der Hand und
zog ihn heraus.


„Wohin ſoll er?“ fragte ich.


„In die Wächterzelle,“ antwortete der Kommandant.


„Soll ich dieſe Thüre auflaſſen oder — — —?“


„Lehne ſie nur an!“


„Ich machte mir mit der Thüre zu ſchaffen, um die
drei erſt in die Zelle eintreten zu laſſen, aber das ging
nicht; der Kommandant wartete auf mich. Ich mußte
alſo an etwas anderes denken.


Voran trat der Makredſch ein, hinter ihm der Kom-
mandant mit der Lampe, dann der Agha und endlich ich.
In dem Augenblicke, in welchem dieſe Ordnung aufgelöſt
wurde, genügte ein ſchneller, bei dem Agha vorüber
geführter Stoß meiner Hand an den Ellenbogen des
[312] Kommandanten, um dieſem die Lampe aus der Hand zu
werfen.


„Agha, was thuſt du?“ rief dieſer.


„Ich war es nicht, Herr!“


„Du ſtießeſt mich! Nun iſt es finſter. Schaffe eine
andere Lampe!“


„Ich werde ſie von den Arnauten holen,“ meinte ich
und verließ die Zelle. Ich verſchloß ſie, trat an die
Thüre der Nachbarzelle und ſchob leiſe die Riegel zurück.


„Amad el Ghandur!“


„Herr, biſt du es?“


„Ja. Komme ſchnell herauf.“


Er ſtieg mit meiner Hilfe empor, und ich ſchob den
Riegel wieder vor.


„Sprich nicht, ſondern eile ſehr!“ flüſterte ich.


Ich faßte ihn, führte ihn raſch an die Außenthüre
des Gefängniſſes, trat mit ihm hinaus und zog die Thüre
wieder heran.


Die friſche Luft trieb ihn faſt zurück. Er war ſehr
ſchwach.


Ich nahm ihn wieder bei der Hand; im Fluge ging
es fort, um zwei Ecken hinum, und bei der dritten hielten
wir. Seine Lungen atmeten laut.


„Faſſe dich! Dort iſt meine Wohnung, und dort iſt
auch dein Vater.“


Ich ſtieß das verabredete Krächzen aus, und ſofort
erblickte ich einen Lichtſchein, an dem ich erkannte, daß
die Hausthüre aufgeſtoßen worden war.


Wir eilten über den Platz hinüber. Unter der Thüre
ſtand Halef.


„Schnell hinein!“


Nun eilte ich zurück. Ich erreichte das Gefängnis
in einer Zeit von ſicher nicht zwei Minuten, nachdem wir
[313] es verlaſſen hatten, machte die Thüre zu und ſprang die
dunkle, mir aber nun bekannte Treppe hinauf, um mir
von den Arnauten eine Lampe geben zu laſſen. In
einigen Sekunden befand ich mich wieder unten und kehrte
in die Wächterzelle zurück.


„Du warſt lange fort, Effendi!“ bemerkte der Muteſſelim.


„Die Wächter wollten wiſſen, warum ſie eingeſchloſſen
ſind.“


„Hätteſt du ihnen eine Ohrfeige ſtatt einer Antwort
gegeben! Warum haſt du uns eingeſchloſſen?“


„Herr, es war ja ein Gefangener bei euch!“


„Du biſt vorſichtig, Emir; du haſt recht gethan.
Setze die Lampe her und laß uns beginnen!“


Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß der Komman-
dant nicht beabſichtigte, den Gefangenen gegen das Geld
desſelben freizugeben. Er wollte das Geld nur durch eine
Liſt an ſich bringen, weil er den Widerſtand des Makredſch
fürchtete. Aber dieſe Liſt war eine Hinterliſt, eine Treu-
loſigkeit und zugleich jedenfalls eine große Unvorſichtig-
keit. Sie beide befanden ſich in einem angetrunkenen Zu-
ſtande; der Makredſch konnte ſie überwältigen, ihnen den
Schlüſſel abnehmen und entfliehen, ohne daß es den ein-
geriegelten Arnauten möglich geweſen wäre, ihnen beizu-
ſtehen.


„Nun ſage, wie viel Geld du bei dir haſt!“ begann
der Kommandant.


„Sage mir lieber, wie viel ihr von mir verlangt!“


„Ich kann erſt dann eine Summe ſagen, wenn ich
weiß, ob du ſie auch bezahlen kannſt.“


„Verſuche es einmal!“


„Giebſt du dreitauſend Piaſter?“


„Das iſt mir zu viel,“ meinte der Makredſch zurück-
haltend.


[314]

„So giebſt du viertauſend.“


„Herr! Du ſteigſt ja in die Höhe!“


„Makredſch, du ſteigeſt ja abwärts! Ein Muteſſelim
braucht nicht mit ſich feilſchen zu laſſen. Sagſt du nicht
ja, ſo gehe ich noch höher.“


„Ich habe es nicht. Zweitauſend könnte ich dir
geben!“


„Deine Hand iſt verſchloſſen, aber du wirſt ſie gern
noch öffnen. Jetzt verlange ich fünftauſend!“


„Herr, ich will dir die drei Tauſend geben!“


„Fünf habe ich geſagt!“


Die Augen des Makredſch hafteten wütend auf dem
Kommandanten, und die Angſt um ſein Geld ſtand ihm
deutlich auf der Stirn geſchrieben. Aber die Sorge für
ſeine Freiheit war noch größer.


„Verſprichſt du mir, mich hinaus zu laſſen, wenn ich
dich bezahle?“


„Ich verſpreche es dir.“


„Schwöre es mir bei dem Propheten!“


„Ich ſchwöre es!“


Dieſe Worte ſprach der Muteſſelim unbedenklich aus.


„So zähle!“ ſagte der Makredſch.


Er langte in die Taſchen ſeiner weiten Beinkleider
und zog ein Paket hervor, welches in ein ſeidenes Tuch
geſchlagen war. Er öffnete es und begann, die Summe
auf dem Fußboden aufzuzählen, wobei der Agha leuchtete.


„Iſt es richtig?“ fragte er, als er fertig war.


Der Muteſſelim zählte nach und ſagte dann:


„Es ſind Kaime *) mit dem Zahlwerte von fünf-
tauſend Piaſter. Aber du wirſt wiſſen, daß dieſes Geld
den vollen Wert nicht hat. Das Pfund Sterling koſtet,
mit Kaime bezahlt, jetzt einhundertvierzig ſtatt einhundert-
[315] zehn Piaſter, und du haſt alſo noch zweitauſend Piaſter
daraufzulegen!“


„Herr, bedenke, daß die Kaime ſechs Prozent Zinſen
tragen!“


„Früher war dies der Fall, aber auch nur bei einem
Teile dieſes Geldes; doch der Großherr zahlte auch für
ihn keine Zinſen. Lege zweitauſend dazu.“


„Herr, du biſt ungerecht!“


„Gut! Gehe in dein Loch!“


Dem Makredſch ſtand der Schweiß auf der Stirn.


„Aber zweitauſend macht es ja nicht!“


„Wie viel denn?“


„Dreizehnhundertunddreiundſechzig.“


„Das bleibt ſich gleich! Was ich ſage, das habe ich
geſagt. Du giebſt noch zweitauſend!“


„Herr, du biſt grauſam wie ein Tiger!“


„Und dich wird der Geiz noch töten!“


Mit Grimm im Angeſichte zählte der Makredſch von
neuem auf.


„Hier, nimm!“ ſagte er endlich, tief Atem holend.


Der Muteſſelim zählte wieder nach, ſchob die Scheine
zuſammen und ſteckte ſie zu ſich.


„Es ſtimmt!“ meinte er. „Danke dem Propheten,
daß er dein Herz zur Einſicht bekehrt hat, denn ſonſt hätte
ich noch mehr gefordert!“


„Nun laß mich gehen!“ forderte der andere, ſein
Tuch wieder um die übrig gebliebenen Scheine ſchlagend.


Der Kommandant ſah ihn mit ſehr gut geſpielter
Verwunderung an.


„Gehen laſſen? Ja, aber erſt dann, wenn du bezahlt haſt!“


„Ich habe es doch gethan!“


„Ja, mich haſt du bezahlt, aber noch nicht dieſen
Agha der Arnauten!“


[316]

„Alla illa Allah!“ rief der Gefangene zornig. „Du
haſt doch nur fünftauſend Piaſter verlangt!“


„Allah hat dir deinen Verſtand verdunkelt. Warum
fragteſt du nicht, für wen dieſe fünftauſend Piaſter ſeien?
Sie waren nur für mich. Der Agha hat ſeinen Teil noch
zu erhalten.“


„Wie viel?“


„Ebenſo viel wie ich!“


„Herr, der Satan redet aus dir!“


„Bezahle, ſo wird er ſchweigen!“


„Ich bezahle nicht!“


„So kehreſt du in dein Loch zurück!“


„Oh, Mohammed, oh, ihr Khalifen, ihr habt ſeinen
Schwur gehört! Der Scheïtan iſt bereits in ihm; er wird
ihn umbringen!“


„Das Oel dieſer Lampe geht zur Neige. Wirſt du
bezahlen oder nicht?“


„Ich gebe ihm tauſend!“


„Fünftauſend! Handle nicht, ſonſt ſteige ich höher!“


„Ich habe ſie nicht!“


„Du haſt ſie. Ich habe es geſehen, daß es langen
wird.“


„So gebe ich — — —“


„Soll ich etwa ſechstauſend fordern?“


„Du biſt ein Tyrann, ja, du biſt der Teufel ſelbſt!“


„Makredſch, wir ſind miteinander fertig!“


Er erhob ſich langſam und vorſichtig.


„Halt!“ rief der Gefangene. „Ich werde bezahlen!“


Die Freiheit ſtand ihm ſchließlich doch noch höher
als das Geld. Er begann von neuem aufzuzählen, wäh-
rend der Kommandant ſich wieder ſetzte. Das Paket langte
wirklich; aber es blieben ihm nur noch einige Scheine
übrig.


[317]

„Hier liegt es,“ meinte er, „und Allah verdamme
den, der es nimmt!“


„Du haſt recht geſagt, Makredſch,“ antwortete ſein
früherer Verbündeter und jetziger Gegner ſehr ruhig.
„Dieſer Agha der Arnauten wird das Geld nicht nehmen.“


„Warum?“


„Es ſind nur die fünf Tauſend. Du haſt vergeſſen,
die zwei Tauſend daraufzulegen.“


Der Makredſch machte eine Bewegung, als wolle
er ſich auf den Kommandanten ſtürzen; aber er beſann
ſich noch.


„Ich habe nichts mehr als dieſe drei Papiere.“


„So ſchließe ich dich ein. Vielleicht beſinnſt du dich
dann, daß du noch mehr Geld bei dir trägſt. Komm!“


Der Makredſch machte eine Miene, als ob er erſticken
wolle, dann langte er abermals in die Taſche und zog
einen Beutel hervor, den er ſo hielt, daß nur er ſelbſt
den Inhalt ſehen konnte.


„So will ich verſuchen, ob ich es noch zuſammen-
bringe! Dein Herz iſt von Stein, und deine Seele hat
ſich in einen Felſen verwandelt. Ich habe hier nur kleine
Silberſtücke mit einigen goldenen Medſchidje darunter.
Dieſe letzteren ſollſt du erhalten, wenn ſie reichen.“


Er legte die drei Scheine hin und dann ſehr langſam
ein Goldſtück nach dem andern hinzu.


„Hier! Nun bin ich arm, denn ich habe höchſtens
noch vierzig Piaſter bei mir, und dieſe muß ich haben,
wenn ich nicht verhungern will!“


Ich muß geſtehen, daß ich mit dem Manne Bedauern
empfand; aber ich ſah vorher, daß er auch den letzten
Heller werde geben müſſen. Es war als ob der Anblick
des Geldes den Muteſſelim vollſtändig ernüchtert hätte.
Und auch an dem Agha war nicht die Spur eines Rauſches
[318] zu bemerken. Dieſer langte haſtig zu, um die Summe an
ſich zu nehmen.


„Halt!“ wehrte ihm der Kommandant. „Ich werde
dieſes Geld einſtweilen aufbewahren.“


Er ſchob es zuſammen und ſteckte es ein.


„Jetzt endlich bin ich frei!“ ſagte der Makredſch.


Der Kommandant ſchüttelte in höchſter Verwun-
derung den Kopf.


„Frei! Haſt du denn bezahlt?“


„Sind dir deine Sinne abhanden gekommen? Du
haſt ja das Geld eingeſteckt!“


„Das meinige und das dieſes Selim Agha. Aber
dieſer Emir hat noch nichts erhalten!“


„Er hat ja gar nichts zu bekommen!“


„Wer ſagt dir das? Er iſt ja hier, und muß alſo
auch bezahlt werden!“


„Aber er hat ja über mich nicht das mindeſte zu
gebieten!“


„Hat er dich nicht gefangen nehmen laſſen? Du haſt
das Fieber, Makredſch, ſonſt würdeſt du erkennen, daß
er eigentlich noch mehr zu bekommen hat, als wir beiden
anderen zuſammen.“


„Er hat nichts zu erhalten!“ rief der Gepeinigte nun
förmlich wütend. „Er bekommt nichts, denn ich habe
nichts mehr, und ich würde ihm keinen Piaſter und keinen
Para geben, ſelbſt wenn ich Millionen bei mir trüge!“


„Du haſt noch Geld!“


„Vierzig Piaſter, wie ich dir ſchon ſagte!“


„Oh Makredſch, wie dauerſt du mich! Glaubſt du, daß
ich den Klang des Goldes von dem des Silbers nicht
unterſcheiden kann! Dein Beutel iſt noch voll goldener
Medſchidje zu hundert und fünfzig Piaſter, und ſein
Bauch iſt ſo umfangreich, daß du mehr zuſammenbringſt,
[319] als was du brauchſt, um den Emir zu bezahlen. Du
haſt dich ſehr gut mit Reiſegeld verſehen!“


„Du irrſt!“


„Zeige mir den Beutel her!“


„Er gehört mir!“


„So behalte ihn, aber bezahle!“


Der Makredſch wand ſich wie ein Wurm unter den
unnachſichtlichen Forderungen des geldgierigen Mannes.
Es war eine widerwärtige Scene, aber ſie warf ein deut-
liches Licht auf die Zuſtände der türkiſchen Verwaltung
beſonders jener Provinzen, welche dem Padiſchah am
fernſten liegen.


„Ich kann nicht!“ erklärte der Makredſch entſchieden.


„So folge uns in dein Loch!“


„Ich gehe nicht. Ich habe dich bezahlt!“


„Wir werden dich zu zwingen wiſſen.“


„So gieb mir mein Geld wieder heraus!“


„Es gehört mir. Bedenke, daß ich dich gefangen
habe und verpflichtet bin, dir alles abzunehmen, was du
bei dir trägſt!“


„Ich würde auch dieſe Summe bezahlen, wenn ich
ſie hätte!“


„Du haſt ſie. Und wenn dein Beutel ja zu wenig
enthält, ſo habe ich eine ſchöne Uhr bei dir geſehen, und
an deinen Fingern glänzen Ringe, welche viel mehr wert
ſind, als das, was ich noch zu verlangen habe.“


„Es bleibt dabei, ich kann nicht! Fünfhundert Piaſter
will ich dieſem Manne geben, der mein größter Feind iſt.“


Er blitzte mir mit Augen entgegen, in denen der grim-
migſte Haß zu leſen war. Ich konnte nicht an ſeiner
Feindſchaft zweifeln.


„So haſt du dein letztes Gebot gethan?“ fragte der
Kommandant.


[320]

„Ja.“


„Dann vorwärts! Folge uns!“


Er ſtand entſchloſſen auf; auch der Agha that dies.
Ich ſtand an der Thüre und trat zur Seite, um
dem Muteſſelim den Vortritt zu laſſen. Aus dem Gürtel
desſelben blickte der Schlüſſel hervor. Die Augen des
Gefangenen leuchteten auf. Er that einen Sprung, riß
den Schlüſſel heraus, warf den Kommandanten auf den
Agha, daß beide taumelnd an mich flogen und ich faſt
niedergeriſſen wurde, ſprang zur Thüre hinaus und eilte
den finſtern Gang hinauf. Die Lampe war umgeſtürzt
und Finſternis umhüllte auch uns.


„Ihm nach!“ rief der Kommandant.


Der Makredſch wäre gerettet geweſen, wenn er die
Geiſtesgegenwart gehabt hätte, die Thüre hinter ſich zu-
zuwerfen und den Riegel vorzuſchieben. Zeit dazu hätte
er gehabt, denn die beiden Männer verwirrten ſich in-
einander, ſo daß ich, um ſchnell hinauszukommen, ſie
faſſen und von der Thüre zurückſchleudern mußte.


Schon hörte ich den Schlüſſel im Schloſſe klirren.
Der Umſtand, daß die Thüre bereits von mir geöffnet
war, wurde dem Makredſch verderblich. Er wandte die
Kraft der Verzweiflung an, mittels des Schlüſſels den
Riegel zurückzubewegen, ohne das Oeffnen der Thüre zu
verſuchen. Der Riegel aber konnte nicht nachgeben. Jetzt
war ich dort und faßte ihn. Er hatte ſich gegen mich
gewendet und die Vorſicht gebraucht, nach meinem Gürtel
zu langen. Ich fühlte dies und griff nieder. Es war
ihm gelungen, mein Meſſer zu ergreifen, denn die Schneide
desſelben ſtrich, mich verwundend, über die Außenfläche
meiner Hand hinweg. Es war ſo dunkel, daß ich ſeine
Bewegungen nicht ſehen konnte. Ich griff ihm alſo, in-
dem ich ihn mit der Rechten feſthielt, mit der Linken
[321] nach ſeiner rechten Achſel und fuhr von derſelben aus
längs des Armes herab, um ſein Handgelenk zu faſſen.
Es war grad die rechte Zeit geweſen, denn er hatte be-
reits den Arm erhoben, um zuzuſtoßen.


Mittlerweile waren die beiden anderen ſchreiend bei
uns angekommen. Der Kommandant packte mich an.


„Laſſe los, Muteſſelim, ich bin es ja!“


„Haſt du ihn feſt?“


„Ja. Schließe die Thüre ſchnell zu, und brenne
Licht an. Er kann uns nicht entkommen!“


„Kannſt du ihn allein halten, Emir?“ fragte der Agha.


„Ja.“


„So werde ich Licht holen!“


Der Kommandant verſchloß die Thüre, getraute ſich
dann aber nicht, uns nahe zu kommen. Ich hatte den
Gefangenen an die gegenüberliegende Wand gebracht,
konnte ihn aber nicht zu Boden drücken, weil ich die Hand
nicht frei bekam, welche mich vor dem Meſſer zu ſchützen
hatte. Ich hielt ihn aber feſt, bis nach einer ſehr langen
Zeit der Agha mit Licht erſchien. Er hatte erſt oben bei
dem Sergeanten Oel holen müſſen. Er ſtellte die Lampe
auf eine der Treppenſtufen und kam herbei.


„Nimm ihm das Meſſer,“ bat ich.


Er entriß es ihm, und nun hatte ich freie Hand.
Ich faßte den Makredſch bei der Bruſt. Er griff nach
mir, aber augenblicklich bückte ich mich, und während
ſeine beiden Hände in die Luft langten, faßte ich ihn am
Unterbeine und riß dasſelbe empor, ſo daß er das Gleich-
gewicht verlor und niederſtürzte.


„Bindet ihn!“ ſagte ich.


„Womit?“


„Mit ſeinem Gürtel.“


Sie thaten es. Er lag ſtill und ruhig und ließ es
II. 21
[322] geſchehen. Nach der großen Anſtrengung war das Ge-
fühl einer Ohnmacht über ihn gekommen.


„Halte ihm die Beine!“ gebot der Muteſſelim dem
Agha.


Der Erſtere leerte nun vor allen Dingen die Taſchen
des Gefangenen; dann zog er ihm auch die Ringe ab und
ſteckte alles zu ſich. Hierauf packte der Agha den Gefangenen
bei einem der Beine und zog ihn bis vor ſeine Zelle, in
welche er ihn hinabgleiten ließ. Dann wurde dieſelbe
zugeſchloſſen. Nun mußte Selim hinauf, um die Wächter
frei zu laſſen und ihnen die größte Wachſamkeit einzu-
ſchärfen.


„Nimm ihnen den Schlüſſel zum Thore ab!“ rief
ihm der Kommandant zu. „Dann kann niemand öffnen,
und auch ſie nicht.“


Selim that dies, und dann verließen wir das Ge-
fängnis.


Draußen blieb der Muteſſelim ſtehen. Er war jetzt
vollſtändig ernüchtert, indem er ſagte:


„Agha, ich werde nun das Verzeichnis von allem
anfertigen, was der Makredſch bei ſich hatte; denn ich
habe alles mit ihm nach Moſſul zu ſenden. Du wirſt es
unterzeichnen, damit ich beweiſen kann, daß ich die Wahr-
heit geſchrieben habe, falls ihm einfallen ſollte, zu be-
haupten, daß er mehr gehabt habe!“


„Wann ſoll ich kommen?“ fragte Selim.


„Zur gewöhnlichen Zeit.“


„Und den Schlüſſel behältſt du?“


„Ja. Vielleicht gehe ich des Nachts noch einmal
hierher. Gute Nacht, Emir! Du warſt mir heute von
großem Nutzen und wirſt mir ſagen, wie ich dir dankbar
ſein kann.“


Er ging, und wir wandten uns unſerer Wohnung zu.


[323]

„Effendi!“ meinte der Agha mit ſehr bedenklicher
Stimme.


„Was?“


„Ich hatte ſiebentauſend Piaſter am Boden liegen!“


„Und freuteſt dich darauf?“


„Sehr!“


„Laß ſie dir geben!“


„Ich? Geben? Weißt du, wie es morgen ſein wird?“


„Nun?“


„Er wird ein Verzeichnis aufſtellen, in welchem ſteht,
daß der Makredſch tauſend Piaſter bei ſich gehabt hat,
und ich werde es unterſchreiben. Das übrige, die Uhr
und die Ringe behält er zurück, und ich werde dafür die
große Summe von hundert Piaſtern erhalten.“


„Und wirſt dich auch darüber freuen!“


„Zu Tode ärgern werde ich mich!“


„Das Verzeichnis erhält der Baſch Tſchauſch?“


„Ja.“


„So wirſt du mehr erhalten.“


„Wer ſollte es mir geben?“


„Der Muteſſelim oder ich.“


„Ich weiß, daß du ein barmherziges Herz beſitzeſt.
Oh Effendi, wenn du nur wenigſtens noch ein wenig von
deiner Arznei übrig hätteſt!“


„Ich habe noch davon. Willſt du ſie haben?“


„Ja.“


„Ich werde dir davon in die Küche bringen.“


Wir fanden die Thüre nicht verſchloſſen. In der
Küche lag die ‚Myrte‘ auf einigen alten Fetzen, die ihr
des Tages als Hadern und des Nachts als Lager dienten,
und ſchlief den Schlaf der Gerechten.


„Merſinah!“ rief der Agha.


Sie hörte nicht.


[324]

„Laß ſie ſchlafen,“ bat ich. „Ich werde dir die Arznei
bringen, und dann magſt du dich zur Ruhe begeben, die
du ſo nötig brauchſt.“


„Allah weiß es, daß ich ſie verdient habe!“


Ich fand oben die Beteiligten alle in der Stube des
Haddedihn verſammelt. Sie brachten mir einen zu lauten
Schwall von Worten entgegen, ſo daß ich Ruhe gebieten
mußte. Ich befriedigte zunächſt den Agha und überzeugte
mich, daß er ſchlafen ging; dann kehrte ich zu ihnen zurück.


Amad el Ghandur hatte die neue Kleidung angelegt
und war von ſeinem Vater raſiert und gereinigt worden.
Nun bot er einen ganz andern Anblick dar, als vorher
in der Zelle. Die Aehnlichkeit mit ſeinem Vater war
ganz unverkennbar. Er hatte ſich erhoben und trat mir
entgegen.


„Emir, ich bin ein Beni Arab und kein plaudernder
Grieche. Ich habe gehört, was du meinem Stamme und
mir gethan. Mein Leben gehört dir, auch alles, was ich
habe!“


Das war einfach geſprochen, aber es kam aus einem
vollen Herzen.


„Noch biſt du nicht in Sicherheit. Mein Diener
wird dich in dein Verſteck bringen,“ antwortete ich.


„Ich bin bereit. Wir warteten nur auf dich.“


„Kannſt du klettern?“


„Ja. Ich werde das Verſteck erreichen, trotzdem ich
ſchwach geworden bin.“


„Hier haſt du meinen Laſſo. Wenn dir die Kräfte
fehlen, ſo mag Hadſchi Halef Omar voranklettern und
dich ziehen. Haſt du Waffen?“


„Dort liegen ſie; der Vater hat ſie mir gekauft. Hier
haſt du deinen Dolch. Ich danke dir!“


„Und Nahrung?“


[325]

„Es iſt alles eingepackt.“


„So geht! Wir werden dich bald abholen.“


Der Sohn des Scheik verließ mit Halef vorſichtig
das Haus, und bald ſchlich auch ich mich fort, ſeine alten
Kleider am Arme. Ich gelangte unbemerkt in die Nähe
der Schlucht, riß den Haïk in Fetzen und hing dieſelben
an die Felskanten und Zweige des Geſtrüppes, welches
dort ſtand.


Zu Hauſe angekommen, wurde ich von dem Eng-
länder in ſeine Stube geführt. Er hatte ein ſehr zorniges
Angeſicht.


„Herein kommen und ſetzen, Sir!“ ſagte er. „Schlechte
Wirtſchaft! Miſerabel hier!“


„Warum?“


„Sitze bei dieſen Arabern und verſtehe kein Wort!
Mein Wein wird alle, mein Tabak wird alle, und ich
werde auch alle! Yes!


„Ich ſtehe Euch ja zu Dienſten, um alles zu erzählen!“


Ich mußte ihm ſeinen Willen thun, obgleich ich
mich nach Ruhe ſehnte. Doch hätte ich immerhin erſt
Halefs Rückkehr erwarten müſſen. Dieſer ließ ſehr lange
auf ſich warten, und als er kam, begann bereits der Tag
zu grauen.


„Wie iſt's?“ fragte Maſter Lindſay. „Glücklich an-
gekommen auf Villa?“


„Mit einiger Mühe!“


Well! Halef hat Kleider zerriſſen. Hier, Halef,
Bakſchiſch!“


Der Hadſchi verſtand die engliſchen Worte nicht,
wohl aber das letzte des Satzes. Er ſtreckte die Hand aus
und erhielt ein Hundertpiaſterſtück.


„Neuen Mantel kaufen; ſagt es ihm, Sir!“ — — —


So war denn dieſer ſchlimme Abend vorüber, und
[326] ich konnte mich, wenigſtens für einige Stunden, zur Ruhe
legen, die ich denn auch in einem ſehr tiefen, traumloſen
Schlafe genoß. Ich erwachte nicht von ſelbſt aus dem-
ſelben, ſondern es weckte mich eine ſehr laute, haſtige
Stimme:


„Effendi! Emir! Wache auf! Schnell!“


Ich blickte von meinem Lager empor. Selim Agha
ſtand vor mir, ohne Oberkleid und Turban. Die Scheitel-
locke hing ihm ſchreckensmatt in das Geſicht hinab; der
Schnurrbart ſträubte ſich voll Entſetzen zu ihr empor,
und die von dem genoſſenen Weine noch trüben Augen
verſuchten ein Rollen, welches ſehr unglücklich ausfiel.


„Was giebt es?“ fragte ich ſehr ruhig.


„Erhebe dich! Es iſt etwas Entſetzliches geſchehen!“


Erſt nach und nach brachte ich aus ihm heraus, daß
der Muteſſelim die Flucht des jungen Arabers entdeckt
habe und nun in fürchterlicher Wut ſei. Der geängſtigte
Agha bat mich inſtändig, mit ihm in das Gefängnis zu
gehen und den Muteſſelim zu beſchwichtigen.


In kurzer Zeit befanden wir uns auf dem Wege.
Unter der Gefängnisthüre wartete der Muteſſelim auf den
Agha. Er dachte gar nicht daran, mich zu begrüßen,
ſondern faßte Selim beim Arme und zog ihn in den Gang
hinein, in welchem die zitternden Wächter ſtanden.


„Unglücklicher, was haſt du gethan!“ brüllte er ihn an.


„Ich, Herr? Nichts, gar nichts habe ich gethan!“


„Das iſt ja eben dein Verbrechen, daß du nichts, gar
nichts gethan haſt! Du haſt nicht aufgepaßt!“


„Wo ſollte ich aufpaſſen, Effendi?“


„Hier im Gefängniſſe natürlich!“


„Ich konnte ja nicht herein!“


Der Muteſſelim ſtarrte ihn an. Dieſer Gedanke
ſchien ihm noch gar nicht gekommen zu ſein.


[327]

„Ich hatte ja keinen Schlüſſel!“ fügte der Agha hinzu.


„Keinen Schlüſſel — — —! Ja, Agha, das iſt wahr,
und das iſt auch dein Glück, ſonſt wäre dir ſehr Uebles
widerfahren. Komm her und ſieh einmal in das Loch
hinab!“


Wir ſchritten den Gang entlang. Die Zellenthüre
war geöffnet, und in dem Loche war nichts zu ſehen, als
das Loch.


„Fort!“ meinte der Agha.


„Ja, fort!“ zürnte der Muteſſelim.


„Wer hat ihm aufgemacht?“


„Ja, wer? Sage es, Agha!“


„Ich nicht, Herr!“


„Ich auch nicht! Nur die Wächter waren da.“


Der Agha drehte ſich nach dieſen um.


„Kommt einmal her, ihr Hunde!“


Sie traten zögernd näher.


„Ihr habt hier geöffnet!“


Der Sergeant wagte es, zu antworten:


„Agha, es hat keiner von uns einen Riegel berührt.
Wir haben die Thüren erſt am Nachmittage zu öffnen,
wenn das Eſſen gegeben wird, und ſo iſt nicht eine einzige
geöffnet worden.“


„So war ich der erſte, welcher dieſe Thüre hier
öffnete?“ fragte der Kommandant.


„Ja, Effendi!“


„Und als ich öffnete, war das Loch leer. Er iſt
entflohen. Aber wie hätte er herausgekonnt? Geſtern
abend war er noch da; jetzt iſt er fort. Zwiſchen dieſer
Zeit ſeid nur ihr dageweſen. Einer von euch hat ihn
herausgelaſſen!“


„Ich ſchwöre bei Allah, daß wir dieſe Thüre nicht
geöffnet haben!“ verſicherte zitternd der Sergeant.


[328]

„Muteſſelim,“ nahm ich jetzt das Wort, „dieſe Leute
haben keinen Thorſchlüſſel gehabt. Wenn einer von ihnen
den Gefangenen herausgelaſſen hätte, ſo müßte er noch im
Hauſe ſein.“


„Du haſt recht; ich habe ja alle beide Schlüſſel,“
meinte er. „Wir werden alles durchſuchen.“


„Und ſchicke auch auf die Wache, um die Mauern der
Stadt und die Klippen zu unterſuchen. Wenn er die
Stadt verlaſſen hat, ſo iſt es ſicher nicht durch eines der
Thore, ſondern über die Mauer weg geſchehen, und dann
glaube ich beſtimmt, daß eine Spur von ihm gefunden
wird. Seine Kleidung iſt in dieſem Loche ſo verſchimmelt
und vermodert, daß ſie den Weg über die Felſen gewiß
nicht ausgehalten hat.“


„Ja,“ gebot er einem der Arnauten, „laufe eilig zur
Wache und bringe meinen Befehl, daß die ganze Stadt
durchſucht werde.“


Es begann jetzt ein ſehr ſorgfältiges Durchſuchen des
Gefängniſſes, welches wohl eine ganze Stunde dauerte.
Natürlich aber wurde nicht die geringſte Spur von dem
Entflohenen entdeckt. Eben wollten wir das Gefängnis
verlaſſen, als zwei Arnauten erſchienen, welche mehrere
Kleiderfetzen trugen.


„Wir fanden dieſe Stücke draußen über dem Abgrund
hangen,“ meldete der eine.


Der Agha nahm das Zeug in die Hand und prüfte es.


„Effendi, das iſt von dem Ueberkleide des Gefan-
genen,“ berichtete er dem Muteſſelim. „Ich kenne es
genau!“


„Biſt du deſſen ſicher?“


„So ſicher wie meines Bartes.“


„So iſt er dennoch aus dieſem Hauſe entkommen!“


„Aber wohl in den Abgrund geſtürzt,“ fügte ich hinzu.


[329]

„Laßt uns gehen und nachſehen!“ gebot er.


Wir verließen das Gefängnis und kamen an den
Ort, an welchem ich das Gewand zerriſſen und verteilt
hatte. Ich wunderte mich jetzt am Tage, daß ich nicht
während der nächtlichen Dunkelheit hinab in den Schlund
geſtürzt war. Der Muteſſelim beſah ſich das Terrain.


„Er iſt hinuntergeſtürzt und ſicher tot. Von da unten
iſt kein Auferſtehen! Aber wann iſt er entkommen?“


Dieſe Frage blieb natürlich unbeantwortet, ſo ſehr
ſich der Kommandant während einiger Stunden auch Mühe
gab, dem Geheimniſſe auf die Spur zu kommen. Er
wütete und tobte gegen einen jeden, der ihm nahe kam,
und ſo war es kein Wunder, wenn ich ſeine Nähe mied.
Die Zeit wurde mir trotzdem nicht lang, denn ich hatte
genug zu thun. Zunächſt wurde ein Pferd für Amad el
Ghandur eingekauft, und dann ging ich zu meiner Pa-
tientin, die ich bis jetzt vernachläſſigt hatte.


Vor der Thüre des Hauſes ſtand ein geſatteltes
Maultier; es war für ein Frauenzimmer beſtimmt. Im
Vordergemach ſtand der Vater, welcher mich mit Freuden
bewillkommnete.


Ich fand die Kranke aufrecht ſitzend; ihre Wangen
waren bereits wieder leicht gerötet und ihre Augen frei
von allen Spuren des Unfalles. An ihrem Lager ſtanden
die Mutter und die Urahne. Dieſe letztere befand ſich
in Reiſekleidern. Sie hatte über ihr weißes Gewand
einen ſchwarzen, mantelähnlichen Umhang geſchlagen und
auf ihrem Kopfe war ein ebenfalls ſchwarzer Schleier be-
feſtigt, welcher jetzt über den Rücken hinabhing. Das
Mädchen reichte mir ſofort die Hand entgegen.


„Oh, ich danke dir, Effendi, denn nun iſt es ſicher,
daß ich nicht ſterben werde!“


„Ja, ſie wird leben,“ ſagte die Alte. „Du biſt das
[330] Werkzeug Gottes und der heiligen Jungfrau geweſen, mir
ein Leben zu erhalten, welches mir teurer iſt, als alles
auf Erden. Reichtümer darf ich dir nicht bieten, denn du
biſt ein großer Emir, der da alles hat, was er braucht;
aber ſage mir, wie ich dir danken ſoll, Effendi!“


„Danke Gott anſtatt mir, dann kommt dein Dank
an die rechte Stelle; denn er iſt es geweſen, der dein
Enkelkind gerettet hat!“


„Ich werde es thun und auch für dich beten, Herr,
und das Gebet eines Weibes, welches bereits nicht mehr
der Erde angehört, wird Gott erhören. Wie lange bleibſt
du in Amadijah?“


„Nicht lange mehr.“


„Und wohin geheſt du?“


„Das ſoll niemand wiſſen, denn es wird vielleicht
Gründe geben, es zu verſchweigen. Euch aber kann ich
ſagen, daß ich nach Sonnenaufgang reiten werde.“


„So geheſt du nach derſelben Gegend, nach welcher
auch ich abreiſe, Herr. Mein Tier wartet meiner bereits
vor dem Hauſe. Vielleicht ſehen wir uns niemals wieder;
dann nimm den Segen einer alten Frau, die dir nichts
weiter geben darf, aber auch nichts Beſſeres geben kann!
Aber ein Geheimnis will ich dir verraten, denn es kann
dir vielleicht von Nutzen ſein. Ueber den Oſten von hier
brechen böſe Tage herein, und es iſt möglich, daß du einen
dieſer Tage erlebſt. Kommſt du in Not und Gefahr an
einer Stelle, welche zwiſchen Aſchiehtah und Gunduktha,
dem letzten Orte von Tkhoma, liegt, und es kann dir
niemand helfen, ſo ſage dem erſten, der dir begegnet,
daß dich der Ruh 'i kulyan*) beſchützen wird. Hört
er dich nicht, ſo ſage es weiter, bis du einen findeſt, der
dir Auskunft giebt.“


[331]

„Der Ruh 'i kulyan? Der Höhlengeiſt? Wer führt
dieſen ſonderbaren Namen?“ fragte ich die Hundertjährige.


„Das wird dir niemand ſagen können.“


„Aber du ſprichſt von ihm und kannſt mir wohl
Auskunft geben?“


„Der Ruh' i kulyan iſt ein Weſen, das niemand
kennt. Er iſt bald hier, bald dort, überall wo ein Bitten-
der iſt, der es verdient, daß ſeine Bitte erfüllt werde.
An vielen Dörfern giebt es einen beſtimmten Ort, an
welchem man zu gewiſſen Zeiten mit ihm reden kann.
Dahin gehen die Hilfeſuchenden um Mitternacht und ſagen
ihm, was ſie von ihm begehren. Er giebt dann Rat
und Troſt, aber er weiß auch zu drohen und zu ſtrafen,
und mancher Mächtige thut, was er von ihm begehrt.
Nie wird vor einem Fremden von ihm geſprochen; denn
nur die Guten und die Freunde dürfen wiſſen, wo er zu
finden iſt.“


„So wird mir dein Geheimnis keinen Nutzen bringen.“


„Warum?“


„Man wird mir nicht ſagen, wo er zu finden iſt,
obgleich man ſieht, daß ich ſeinen Namen kenne.“


„So ſage nur, daß ich dir von ihm erzählt habe:
dann wird man dir den Ort ſagen, wo er zu finden iſt.
Mein Name iſt bekannt im ganzen Lande von Tijari,
und die Guten wiſſen, daß ſie meinen Freunden ver-
trauen dürfen.“


„Wie lautet dein Name?“


„Marah Durimeh heiße ich.“


Das war eine geheimnisvolle Mitteilung, die aber
ſo abenteuerlich klang, daß ich nicht den mindeſten Wert
auf ſie legte. Ich verabſchiedete mich und ging nach
Hauſe. Dort merkte ich, daß es ungewöhnlich laut in
der Küche herging. Es mußte der edlen ‚Myrte‘ etwas
[332] widerfahren ſein, was ihren Unmut erweckt hatte. Unter
den gegenwärtigen Umſtänden konnte das kleinſte Ereignis
für mich Wert beſitzen, und ſo trat ich ein. Merſinah
hielt dem tapfern Agha eine Strafpredigt, das ſah ich
auf den erſten Blick. Sie ſtand mit drohend erhobenen
Armen vor ihm, und er hielt die Augen niedergeſchlagen
wie ein Knabe, der von ſeinem Erzieher einen Verweis
erhält. Sie ſahen mich eintreten, und ſofort bemächtigte
ſich die ‚Myrte‘ meiner.


„Siehe dir einmal dieſen Selim Agha an!“


Sie deutete mit gebieteriſcher Miene auf den armen
Sünder, und ich machte mit meinem Kopfe eine Viertel-
wendung nach rechts, um ihn pflichtſchuldigſt in Augen-
ſchein zu nehmen.


„Iſt dieſer Mann ein Agha der Arnauten?“ fragte
ſie nun.


„Ja.“


Ich gab dieſe Antwort natürlich in dem Tone meiner
feſteſten Ueberzeugung, aber grad dieſer Ton ſchien einen
Rückfall ihres Raptus über ſie zu bringen.


„Was! Alſo auch du hältſt ihn für einen Befehls-
haber tapferer Krieger? Ich werde dir ſagen, was er
iſt; ein Agha der Feiglinge iſt er!“


Der Agha ſchlug die Augen auf und verſuchte, einen
verweiſenden Blick zu ſtande zu bringen. Es gelang
ihm leidlich.


„Erzürne mich nicht, Merſinah, denn du weißt, daß
ich dann ſchrecklich bin!“ ſagte er dabei.


„Worüber ſeid ihr ſo ergrimmt?“ wagte ich jetzt zu
fragen.


„Ueber dieſe fünfzig Piaſter!“ antwortete die ‚Myrte‘,
indem ſie mit der verächtlichſten ihrer Mienen auf die
Erde deutete.


[333]

Ich blickte nieder und ſah nun zwei ſilberne Zwanzig-
und ein ebenſolches Zehn-Piaſterſtück am Boden liegen.


„Was iſt's mit dieſem Gelde?“


„Es iſt vom Muteſſelim.“


Jetzt begann ich das übrige zu ahnen und fragte:


„Wofür?“


„Für die Gefangennehmung des Makredſch. Effendi,
du weißt ungefähr, wie viel Geld dieſer bei ſich hatte?“


„Ich ſchätze es auf ungefähr vierundzwanzigtauſend
Piaſter.“


„So hat Selim mir doch die Wahrheit geſagt. Dieſes
viele ungeheure Geld hat der Kommandant dem Makredſch
abgenommen und von demſelben dieſem tapfern Agha der
Arnauten fünfzig Piaſter gegeben!“


Bei dieſen Worten bildete ihr ganzes Geſicht ein
empörtes Ausrufezeichen. Sie ſchob die Silberſtücke mit
dem Fuße fort und fragte mich:


„Und weißt du, was dieſer Agha der Arnauten ge-
than hat?“


„Was?“


„Er hat das Geld genommen und iſt davongegangen,
ohne ein einziges Wort zu ſagen! Frage ihn, ob ich
dich belüge!“


„Was ſollte ich thun?“ entſchuldigte ſich Selim.


„Ihm das Geld in den Bart werfen! Ich hätte es
ganz ſicherlich gethan. Glaubſt du das, Effendi?“


„Ich glaube es!“


Mit dieſer Verſicherung ſagte ich die Wahrheit. Sie
beehrte mich mit einem Blicke der Dankbarkeit und fragte
mich dann:


„Soll er es ihm wiedergeben?“


„Nein.“


„Nicht?“


[334]

Ich wandte mich an den Agha:


„Haſt du das Verzeichnis, welches der Kommandant
nach Moſſul ſchicken muß, unterſchrieben?“


„Ja.“


„Wie viel hat er angegeben?“


„Vierhundert Piaſter in Gold und einundachtzig Piaſter
in Silber.“


„Weiter nichts?“


„Nein.“


„Die Uhr und die Ringe?“


„Auch nicht.“


„Er iſt dein Vorgeſetzter, und du darfſt ihn dir nicht
zum Feinde machen; darum iſt es gut, daß du das Geld
ruhig genommen haſt. Weißt du noch, was ich dir ver-
ſprochen habe?“


„Ich weiß es!“


„Ich werde mein Wort halten und mit dem Kom-
mandanten ſprechen. Tauſend Piaſter wenigſtens ſollſt
du erhalten.“


„Iſt das wahr, Effendi?“ frug Merſinah.


„Ja. Das Geld gehört weder dem Muteſſelim noch
dem Agha, aber es kommt auf alle Fälle in Hände, welche
kein Recht daran haben, und ſo mag es bleiben, wo es
iſt. Aber der Agha ſoll nicht ſo ſchmählich betrogen werden!“


„Er ſollte doch wohl ſiebentauſend erhalten?“


„Die bekommt er nicht. Das wurde nur als Vor-
wand geſagt. Selim, iſt der Baſch Tſchauſch ſchon fort?“


„Nein, Effendi.“


„Er ſollte doch am Vormittage fortgehen.“


„Der Muteſſelim hat ja einen neuen Bericht zu ſchreiben,
weil er in dem alten ſagte, daß er den Araber ſchicken
werde. Vielleicht ſoll der Baſch Tſchauſch warten, bis
wir den Entflohenen wieder haben.“


[335]

„Dazu iſt wohl keine Hoffnung vorhanden.“


„Warum?“


„Weil er ſich an den Felſen zu Tode geſtürzt hat.“


„Und wenn wir uns getäuſcht hätten?“


„Wieſo?“


„Der Muteſſelim ſcheint jetzt zu glauben, daß er
noch lebt.“


„Hat er dir nähere Mitteilung darüber gemacht?“


„Nein; aber ich hörte es aus verſchiedenen Worten,
welche er ſprach.“


„So wünſche ich ihm, daß er ſich nicht irren möge!“


Ich begab mich nach meinem Zimmer. Sollte ein
von mir oder von uns unbeachteter Umſtand den Verdacht
des Kommandanten erregt haben? Möglich war es. Aber
dann war es auch geraten, ſich auf alles gefaßt zu machen.
Doch ehe ich meinen Gefährten eine Mitteilung machte,
ging ich im Geiſte noch einmal alles Geſchehene durch.
Ich konnte nichts finden, was mir hätte auffallen können,
und noch war ich mit mir nicht im klaren, als der Agha
die Treppen emporkam und bei mir eintrat.


„Effendi, es iſt ein Bote des Muteſſelim da. Er
läßt uns ſagen, daß wir nochmals in das Gefängnis
kommen ſollen.“


„Er iſt bereits dort?“


„Ja.“


„Erwarte mich unten. Ich komme ſogleich!“


War es in Frieden oder war es Feindſeligkeit, daß
er mich kommen ließ? Ich beſchloß mich auch auf letz-
tere vorzubereiten. Die beiden Revolver waren geladen.
Ich ſteckte auch die Piſtolen zu mir und []ging dann
zu Halef. Dieſer war allein in ſeiner Stube.


„Wo iſt der Buluk Emini?“


„Der Baſch Tſchauſch hat ihn geholt.“


[336]

Das war nichts Beſonderes, fiel mir aber doch auf,
weil ich einmal Verdacht gefaßt hatte.


„Wie lange iſt es her?“


„Gleich als du fortgingſt, um das Pferd zu kaufen.“


„Komm mit herüber zum Haddedihn!“


Dieſer lag rauchend am Boden.


„Emir,“ empfing er mich, „Allah hat mir nicht die
Geduld verliehen, lange auf ein Ding zu warten, nach
dem ich mich ſehne. Was thun wir noch in dieſer Stadt?“


„Vielleicht verlaſſen wir ſie in kurzer Zeit. Es hat
faſt den Anſchein, als ob wir verraten ſeien.“


Jetzt erhob er ſich langſam und in der Art und
Weiſe eines Mannes, der zwar überraſcht wird, ſich aber
ſtark genug fühlt, dieſe Ueberraſchung zu verbergen und
ihren Folgen zu begegnen.


„Woraus ſchließeſt du das, Effendi?“


„Ich ahne es einſtweilen nur. Der Kommandant
hat zu mir geſchickt, daß ich in das Gefängnis kommen
ſoll, wo er mich erwartet. Ich werde gehen, aber die
Vorſicht nicht vergeſſen. Komme ich in einer Stunde nicht
zurück, ſo iſt mir ein Uebel widerfahren.“


„Dann ſuche ich dich!“ rief Halef.


„Du wirſt nicht zu mir können, denn ich werde mich
vielleicht in dem Gefängniſſe befinden, und zwar als Ge-
fangener. Ihr könnt dann wählen: — entweder ihr flieht,
oder ihr ſucht, mich frei zu machen.“


„Wir werden dich nicht verlaſſen!“ verſicherte der
Haddedihn mit ruhiger Stimme.


Wie er jetzt ſtolz und aufrecht vor mir ſtand; im
langen, weißen Bart, der bis auf den Gürtel herab wallte,
bot er ganz das Bild eines kühnen, aber doch beſonnenen
Mannes.


„Ich danke dir! Sollten ſie mich gefangen nehmen,
[337] ſo ſteht doch ſo viel feſt, daß es nur nach einem heißen
Kampfe geſchieht. Binden aber laſſe ich mich auf keinen
Fall, und dann wird es wohl möglich ſein, euch die Zelle
zu bezeichnen, in der ich mich befinde.“


„Wie willſt du dies thun, Sihdi?“ fragte Halef.


„Ich werde verſuchen, an der Mauer in die Höhe
zu kommen, und euch das Zeichen mit einem meiner
Kleidungsſtücke geben, welches ich ſoweit im Loche vor-
ſchiebe, daß ihr es ſehen könnt. Dann iſt es euch viel-
leicht möglich, mir durch den Agha oder durch Merſinah
eine Botſchaft zu ſenden. Lange bin ich keinenfalls ge-
fangen. Auf alle Fälle aber haltet ihr eure Pferde ge-
ſattelt. Ueberlegt euch die Sache ſelbſt weiter; ich habe
keine Zeit, denn der Muteſſelim wartet, und ich muß
noch zum Engländer.“


Auch dieſer ſaß auf ſeinem Teppich und rauchte.


„Schön, daß Ihr kommt, Sir!“ begrüßte er mich.
„Wollen fort!“


„Warum?“


„Iſt nicht geheuer hier!“


„Sprecht deutlicher!“


Er erhob ſich, trat in die Nähe der Fenſteröffnung
und deutete auf das Dach des gegenüberliegenden Hauſes.


„Seht dort!“


Ich blickte ſchärfer hinüber und erkannte die Geſtalt
eines Arnauten, welcher auf dem Bauche lag und unſere
Wohnung beobachtete.


„Werde auch auf unſer Dach ſteigen,“ ſagte Lindſay
ruhig, „und dem Manne dort eine Kugel geben!“


„Ich gehe jetzt nach dem Gefängniſſe, wo mich der
Muteſſelim erwartet. Wenn ich in einer Stunde nicht
zurück bin, ſo iſt mir etwas geſchehen, und ich ſitze feſt.
In dieſem Falle ſtecke ich irgend ein Kleidungsſtück aus
II. 22
[338] dem Loche heraus, in welchem ich hocke. Ihr könnt es
von den hintern Fenſtern oder von dem Dache aus ſehen.“


„Sehr ſchön; wird großes Vergnügen ſein; ſollen
Maſter Lindſay kennen lernen!“


„Verſtändigt Euch mit Halef. Er ſpricht ja einige
Brocken Engliſch.“


„Werden Pantomimen machen. Yes!


Ich ging. Ueber mich wachten drei Männer, auf
die ich mich verlaſſen konnte. Uebrigens war Amadijah
bereits menſchenleer; die Hälfte der Garniſon laborierte
am Fieber, und den Muteſſelim hatte ich in meiner Hand.


Selim Agha ſtand bereits unter der Thüre. Die
beiden Beſprechungen hatten ihm zu lange gedauert, und
er ſuchte das Verſäumte durch einen ſchnellen Schritt
wieder einzuholen. Wie bereits heute morgen, ſtand der
Kommandant auch jetzt wieder unter der geöffneten Ge-
fängnisthüre. Er trat zurück, als er uns erblickte. Seit
meinem Austritte aus der Wohnung bis hierher hatte ich
ſcharf geſpäht, aber keinen Menſchen geſehen, der den
Auftrag hätte haben können, mich zu beaufſichtigen. Die
zwei Gaſſen, durch welche wir kamen, waren leer, und
auch in der Nähe des Gefängniſſes ließ ſich niemand
ſehen. Der Kommandant begrüßte mich ſehr höflich, aber
mein Mißtrauen entdeckte ſehr leicht, daß hinter dieſer
Höflichkeit ſich eine Argliſt barg.


„Effendi,“ begann er, als er die Thüre hinter ſich
und uns verſchloſſen hatte, „wir haben den Körper des
Entflohenen nicht gefunden.“


„Haſt du in der Schlucht ſuchen laſſen?“


„Ja. Es ſind Leute an Stricken hinabgelaſſen worden.
Der Gefangene iſt nicht dort hinab.“


„Aber ſeine Kleider lagen dort!“


„Vielleicht hat er ſie dort nur abgelegt!“


[339]

„Dann würde er ja ein anderes Gewand haben
müſſen!“


„Vielleicht hat er das gehabt. Es iſt geſtern ein
vollſtändiger Anzug gekauft worden.“


Er blickte mich bei dieſen Worten forſchend an. Er
meinte jedenfalls, ich werde mich durch eine Miene ver-
raten; im Gegenteil aber hatte er ſich durch dieſe Be-
merkung bloßgeſtellt, denn nun wußte ich ganz genau,
was ich von ihm zu erwarten hatte.


„Für ihn?“ fragte ich ungläubig lächelnd.


„Ich glaube es. Ja, man hat ſogar ein Reitpferd
gekauft!“


„Auch für ihn?“


„Ich denke es. Und dieſes befindet ſich noch in der
Stadt.“


„Er will alſo offen und frei zum Thore hinausreiten?
Oh, Muteſſelim, ich glaube, dein Syſtem iſt noch nicht in
Ordnung gekommen. Ich werde dir Medizin ſenden müſſen!“


„Ich werde nie wieder eine ſolche Medizin trinken,“
antwortete er einigermaßen verlegen. „Ich habe die Ueber-
zeugung, daß er zwar hier aus dem Gefängniſſe entkom-
men iſt, ſich aber noch in der Stadt befindet.“


„Und weißt du auch, wie er entkommen iſt?“


„Nein; aber davon bin ich nun überzeugt, daß weder
der Agha noch die Wächter die Schuld tragen, daß es
ihm gelang.“


„Und wo ſoll er ſich verſteckt halten?“


„Das werde ich ſchon noch entdecken, und dabei ſollſt
du mir helfen, Effendi.“


„Ich? Gern, wenn ich es vermag.“


Ich hatte bei meinem Eintritte einen raſchen Blick
zur Treppe emporgeworfen und oben mehr Arnauten ſtehen
ſehen, als vorher hier poſtiert geweſen waren. Man hatte
[340] alſo wohl die Abſicht, mich hier feſtzuhalten. In dieſer
Ueberzeugung beſtärkten mich natürlich die unvorſichtigen
Reden des Kommandanten. Ein Blick auf das offene
Geſicht des Agha ergab, daß er von dem Vorhaben des
Muteſſelim ganz ſicher keine Kenntnis hatte. Alſo auch er
ſtand im Verdacht, und daraus ſchloß ich, daß man den
Entſprungenen in ſeiner und in meiner Wohnung vermute.


„Ich habe gehört,“ meinte der Kommandant, „daß
du ein großer und geſchickter Kenner aller Spuren biſt.“


„Wer hat dir das geſagt?“


„Dein Baſchi-Bozuk, dem dein Diener Halef es erzählte.“


Alſo er hatte den Baſchi-Bozuk verhört. Darum alſo
war derſelbe von dem Baſch Tſchauſch geholt worden!
Der Kommandant fuhr fort:


„Und darum bitte ich dich, dir einmal das Gefäng-
nis anzuſehen.“


„Dies habe ich doch bereits gethan!“


„Aber nicht ſo genau, wie es geſchehen muß, wenn
man Spuren entdecken will. Dann iſt oft ein ganz kleines
Ding, welches man erſt gar nicht beachtet hat, von ſehr
wichtiger Bedeutung.“


„Das iſt richtig. Alſo das ganze Haus ſoll ich durch-
ſuchen?“


„Ja. Aber du wirſt wohl mit dem Loche beginnen
müſſen, in dem er geſteckt hat, denn dort hat auch ſeine
Flucht begonnen.“


O ſchlauer Türke! Hinter mir hörte ich auf den Treppen-
ſtufen etwas kniſtern. Die Arnauten kamen leiſe herab.


„Das iſt ſehr richtig,“ bemerkte ich ſcheinbar ahnungs-
los. „Laß die Thüre zu der Zelle öffnen!“


„Mache auf, Selim Agha!“ gebot er.


Der Agha ſchob die Riegel zurück und legte die
Thüre ganz bis an die Wand hinum.


[341]

Ich trat näher, aber ſo vorſichtig, daß mich kein Stoß von
hinten hinabwerfen konnte, und blickte aufmerkſam hinein.


„Ich ſehe nichts, was mir auffallen könnte, Muteſſelim!“


„Von hier aus kannſt du auch nichts ſehen. Du
wirſt wohl hinabſteigen müſſen, Effendi!“


„Wenn du es für nötig hältſt, werde ich es thun,“
erwiderte ich unbefangen.


Ich trat zur Seite, faßte die Thüre, hob ſie aus den
Angeln und legte ſie quer vor der Thüröffnung auf den
Boden nieder, ſo daß ich ſie von dem Loche aus ſtets im
Auge behalten konnte. Das hatte der gute Kommandant
nicht erwartet; es machte ihm einen ſehr dicken Strich
durch ſeine Rechnung.


„Was thuſt du da?“ fragte er enttäuſcht und ärgerlich.


„Ich habe die Thüre ausgehoben, wie du ſiehſt,“
antwortete ich.


„Warum?“


„O, wenn man Spuren entdecken will, ſo muß man
ſehr vorſichtig ſein und alles im Auge behalten!“


„Aber das Abnehmen der Thüre iſt doch nicht not-
wendig. Du erhältſt dadurch nicht mehr Licht in das Loch,
als vorher.“


„Richtig! Aber weißt du, welche Spuren die ſicher-
ſten ſind?“


„Welche?“


„Diejenigen, welche man in dem Angeſichte eines Men-
ſchen findet. Und dieſe“ — dabei klopfte ich ihm vertrau-
lich auf die Achſel — „weiß ein Effendi aus Germani-
ſtan ganz ſicher zu finden und zu leſen.“


„Wie meinſt du das?“ fragte er betroffen.


„Ich meine, daß ich dich wieder einmal für einen
großen Diplomaten halte. Du verſtehſt deine Geheimniſſe
und Abſichten ausgezeichnet geheim zu halten. Und darum
[342] werde ich dir auch deinen Willen thun und jetzt hinunter-
ſpringen.“


„Was meinſt du für Abſichten?“


„Deine Weisheit hat dich auf den ganz richtigen Ge-
danken geführt, daß ein Gefangener es am beſten erraten
könne, wie es einem andern Gefangenen möglich geweſen
ſei, zu entkommen. Allah ſei Dank, daß er ſo kluge Män-
ner geſchaffen hat!“


Ich ſprang hinunter in das Loch und bückte mich,
um zu thun, als ob ich am Boden ſuche. Dabei jedoch
ſah ich unter dem Arm hinweg und bemerkte einen Wink,
den der Muteſſelim dem Agha gab. Beide bückten ſich,
um die ſchwere Thüre aufzunehmen und in die Angeln
zu bringen. Ich drehte mich um.


„Muteſſelim, laß die Thüre liegen!“


„Sie ſoll dahin, wohin ſie gehört.“


„So gehe ich auch wieder dahin, wohin ich gehöre!“


Ich machte Anſtalt, mich emporzuſchwingen, was
nicht ſehr leicht zu bewerkſtelligen war, weil das Loch eine
bedeutende Tiefe hatte.


„Halt, du bleibſt!“ gebot er mir und gab zugleich
einen Wink, auf welchen mehrere bewaffnete Arnauten
herbeitraten. „Du biſt mein Gefangener!“


Der gute Selim erſchrak. Er ſtarrte erſt den Muteſſe-
lim und dann mich an.


„Dein Gefangener?“ fragte ich. „Du ſcherzeſt!“


„Es iſt mein voller Ernſt!“


„So biſt du über Nacht verrückt geworden! Wie
kannſt du glauben, daß du der Mann ſeiſt, der mich ge-
fangen nehmen kann!“


„Du biſt ja ſchon gefangen und wirſt nicht eher wieder
frei kommen, als bis ich den Entflohenen entdeckt habe.“


„Muteſſelim, ich glaube nicht, daß du ihn entdecken wirſt!“


[343]

„Warum?“


„Dazu gehört ein Mann, welcher Mut und Klug-
heit beſitzt, und mit dieſen beiden Eigenſchaften hat dich
Allah in ſeiner Weisheit verſchont.“


„Du willſt mich verhöhnen? Siehe zu, wie weit du
mit deiner eignen Klugheit kommſt! Legt die Thüre an
und ſchiebt die Riegel vor!“


Jetzt zog ich eine der Piſtolen.


„Laßt die Thüre liegen, das rate ich euch!“


Die braven Arnauten blieben ſehr verlegen ſtehen.


„Greift zu, ihr Hunde!“ gebot er drohend.


„Laßt euch nicht erſchießen, ihr Leute!“ ſagte ich,
indem ich die Hähne ſpannte.


„Wage es, zu ſchießen!“ rief der Muteſſelim.


„Wagen? O, Muteſſelim, das iſt ja gar kein Wag-
nis. Mit dieſen Leuten werde ich ganz gut auskommen,
und du biſt der erſte, den meine Kugel trifft!“


Die Wirkung war eigentümlich, denn der kühne Held
von Amadijah verſchwand ſofort von der Thüröffnung.
Aber ſeine Stimme ertönte:


„Schließt ihn ein, ihr Schurken!“


„Thut es nicht, ihr Männer, denn ich werde den,
der dieſe Thüre zu ſchließen wagt, ganz ſicher in die
Dſchehennah ſchicken!“


„So ſchießt ihr wieder!“ ertönte es von der Seite her.


„Muteſſelim, vergiß nicht, wer ich bin! Eine Ver-
letzung meiner Perſon würde dich deinen Kopf koſten.“


„Wollt ihr gehorchen, ihr Buben! Oder ſoll ich es
ſein, der euch erſchießt? Selim Agha, greif zu!“


Der Neffe des Schwagers von der Schweſter des
Enkelſohnes der Mutter von der Stiefſchweſter der ‚Myrte‘
war dem Beiſpiele ſeines Vorgeſetzten gefolgt und hatte
ſich in der Entfernung an die Mauer gedrückt. Er befand
[344] ſich jetzt gewiß in ſehr großer Verlegenheit, aus der ich
ihn erretten mußte.


„Tretet ein wenig zurück, ihr Männer, denn jetzt
geht es los!“


Ich richtete die Mündung der Waffe auf ſie und
bekam die Oeffnung frei. Nach einer ſchnellen Kraft-
anſtrengung ſtand ich oben vor dem Kommandanten, dem
ich die Piſtole unter die Naſe hielt.


„Muteſſelim, ich habe da unten keine Spur gefunden!“


„Alla illa Allah! Emir, thue dieſe Waffe weg!“


Daß er ſelbſt ein ſolches Schießding, mit dem er ſich
ja wehren konnte, im Gürtel trug, ſchien ihm gar nicht
einzufallen.


„Sie kommt erſt dann zurück an ihre Stelle, wenn
dieſe Wächter zurückgekehrt ſind nach oben. Selim Agha,
ſchaffe ſie fort!“


Dieſem Befehle leiſtete der Agha augenblicklich Folge:


„Packt euch, und laßt euch nicht wieder ſehen!“


Sie retirierten ſchleunigſt die Treppe empor.


„So, jetzt ſtecke ich die Waffe ein. O, Muteſſelim,
in welche Schande haſt du dich gebracht! Deine Liſt iſt
nicht gelungen, deine Gewalt hat nichts genützt; und nun
ſteheſt du da wie ein Fakara günakiar *), der um Gnade
bitten muß. Warum wollteſt du mich einſchließen laſſen?“


„Weil ich bei dir ausſuchen muß.“


„Darf ich nicht dabei ſein?“


„Du hätteſt dich gewehrt.“


„Ah, du haſt alſo Reſpekt vor mir? Das höre ich
gern! Und du meinſt, daß die andern ſich nicht gewehrt
hätten?“


„Du biſt der ſchlimmſte, ſie aber hätten wir nicht
gefürchtet.“


[345]

„Du irrſt, Muteſſelim. Ich bin der gütigſte von
ihnen allen. Mein Hadſchi Halef Omar iſt ein Held; der
Hadſchi Lindſay-Bey iſt ein Wüterich, und der dritte, den
du noch nicht geſehen haſt, der übertrifft noch beide. Du
wäreſt nur tot von ihnen weggekommen! Wie lange aber,
glaubſt du, daß ich mich hier in dieſem Loche befunden
hätte?“


„So lange es mir beliebte!“


„Meinſt du? Sieh dieſe Waffen und dieſen Beutel
mit Kugeln und Patronen! Ich hätte die Riegel oder die
Angeln aus der Thüre geſchoſſen und in zwei Minuten
da geſtanden, wo ich jetzt ſtehe. Und bereits bei dem
erſten Schuſſe hätten meine Leute gewußt, daß ich in Ge-
fahr war. Sie wären herbeigeeilt, um mir zu helfen.“


„Sie hätten nicht herein gekonnt.“


„Eine Büchſenkugel öffnet dein altes Schloß ganz
leicht. Komm her, ich will dir etwas zeigen!“


Ich drehte ihn nach der Zelle zu und deutete nach
dem Fenſterloche, durch welches man ein Stückchen des
Himmels erblicken konnte; jetzt aber ſah man in dem
Rahmen des Loches eine Geſtalt, welche ein ſchwarz und
rot karriertes Gewand trug, eine Büchſe in der Hand
hielt und aufmerkſam nach dem Gefängniſſe herüberblickte.


„Kennſt du dieſen Mann?“ fragte ich.


„Hadſchi Lindſey-Bey!“


„Ja, er iſt's. Er ſteht auf dem Dache meiner Woh-
nung und wartet auf das Zeichen, welches wir verabredet
haben. Muteſſelim, dein Leben hängt an einem Haare.
Was haſt du gegen mich?“


„Du haſt den Entflohenen befreit!“


„Wer ſagte das?“


„Ich habe Zeugen.“


„Mußt du mich da gefangen nehmen, mich, einen
[346] Effendi und Bey, einen Emir, der viel höher ſteht, als du,
der das Budjeruldi des Großherrn beſitzt und dir ſchon
viele Beweiſe gegeben hat, daß er keinen Menſchen fürchtet?“


„Ja, du fürchteſt niemand, und eben darum wollte
ich dich hier ſicher haben, ehe ich deine Wohnung durch-
ſuchte.“


„Du kannſt ſie in meiner Gegenwart durchſuchen!“


„Herr, nun thue ich es nicht. Ich werde meine Leute
ſenden.“


Ah, er fürchtete jetzt den ‚Helden‘, den ‚Wüterich‘
und den, der dieſe beiden noch übertraf.


„Auch das werde ich geſtatten, wenn es ohne Auf-
ſehen geſchieht. Sie können jeden Winkel durchſtöbern;
ich habe nichts dagegen. Du ſiehſt alſo, daß du mich nicht
einzuſperren brauchteſt, Muteſſelim!“


„Das wußte ich nicht!“


„Dein größter Fehler aber war, daß du glauben
konnteſt, ich ſei mit Blindheit geſchlagen und werde mich
ruhig einſperren laſſen. Thue das nicht wieder, denn ich
ſage dir: dein Leben hing an einem Haar.“


„Aber, Emir, wenn wir den Gefangenen bei dir ent-
decken, ſo werde ich dich doch gefangen nehmen müſſen!“


„Dann werde ich mich nicht weigern.“


„Und ich kann dich jetzt nicht nach Hauſe gehen laſſen.“


„Warum?“


„Ich muß ſicher ſein, daß du nicht den Befehl giebſt,
den Gefangenen zu verſtecken.“


„Gut. Aber ich ſage dir, daß meine Gefährten dann
die Wohnung nicht durchſuchen laſſen. Sie werden im
Gegenteile einen jeden niederſchießen, der ſie zu betreten
wagt.“


„So ſchreibe ihnen, daß ſie meine Leute eintreten
laſſen ſollen!“


[347]

„Das will ich thun. Selim Agha kann den Brief
gleich hintragen.“


„Nein. Dieſer nicht!“


„Warum?“


„Er könnte von allem wiſſen und ſie warnen.“


„Oh, der Agha iſt dir treu und weiß kein Wort über
den Gefangenen zu ſagen oder zu verſchweigen! Nicht
wahr, Selim Agha?“


„Herr,“ meinte dieſer zu ſeinem Vorgeſetzten, „ich
ſchwöre dir, daß ich nicht das Geringſte weiß, und daß
auch der Effendi ganz unſchuldig iſt!“


„Das letztere kannſt du nicht beſchwören, das erſtere
aber möchte ich glauben um deinetwillen. Emir, du gehſt
mit zu mir, wo wir dann weiter über dieſe Sache reden
werden. Ich werde dich deinen Anklägern gegenüber-
ſtellen.“


„Das verlange ich auch!“


„Einen derſelben kannſt du gleich jetzt hören.“


„Wer iſt es?“


„Der Arnaute, der um deinetwillen dort in dem Loche
ſteckt.“


„Ah! Dieſer?“


„Ja. Ich durchſuchte heute noch einmal die Zellen
und fragte jeden Gefangenen, ob er heute nacht etwas
gemerkt habe. Ich kam auch zu ihm und hörte von ihm
etwas, was dir ſehr ſchädlich iſt.“


„Er will ſich rächen! Aber willſt du nicht lieber einen
der Wächter nach meiner Wohnung ſenden? Wenn ich
einen Brief ſchreibe, könnte doch ein Irrtum unterlaufen,
oder meine Gefährten könnten glauben, daß ihn ein anderer
geſchrieben habe.“


„Sie werden dem Wächter noch viel weniger glauben!“


„Das meine ich auch nicht. Dieſer Mann ſoll aber
[348] meinen Diener holen, der ſich überzeugen kann, daß ich
ſelbſt die Erlaubnis gebe, die Wohnung zu durchſuchen.“


„Du wirſt nur in meiner Gegenwart mit ihm
ſprechen?“


„Ja.“


„So werde ich ihn holen laſſen.“


Er rief einen der Arnauten und gab ihm den be-
treffenden Befehl; dann mußte Selim Agha den Kerker
öffnen, in welchem der frühere Khawaß des Engländers
eingeſchloſſen war.


„Stehe auf,“ gebot ihm der Muteſſelim, „und gieb
mir Rede und Antwort! Behaupteſt du das, was du mir
heute ſagteſt, auch jetzt noch?“


„Ja.“


„Wiederhole es!“


„Der Mann, den du Hadſchi Lindſay-Bey nannteſt,
iſt ein Inglis. Er nahm mich und einen Dolmetſcher von
Moſſul mit, und dieſem hat er erzählt, daß er einen
Mann ſuche, der ausgezogen iſt, einen Gefangenen zu
befreien.“


Alſo hatte Maſter Fowling-bull dennoch geplaudert!


„Hat er dieſen Mann genannt?“ fragte ich den Ar-
nauten.


„Nein.“


„Hat er dem Dolmetſcher den Namen des Gefangenen
geſagt, welcher befreit werden ſoll?“


„Nein.“


„Auch nicht den Ort, wo dieſer Gefangene iſt?“


„Nein.“


„Muteſſelim, hat dieſer Arnaute noch mehr zu ſagen?“


„Das iſt alles.“


„Nein; das iſt gar nichts! Selim Agha, ſchließe
wieder zu! Oh, Muteſſelim, du biſt wirklich ein ſo großer
[349] Diplomat, daß ich in Stambul gewiß deine Verdienſte
ſehr viel rühmen werde! Man wird ſich dann beeilen,
dir eine noch viel höhere Stellung als die jetzige zu geben.
Vielleicht macht dich der Padiſchah gar zum Vicekönig
von Bagdad. Hadſchi Lindſay-Bey will einen Mann
aufſuchen. Hat er geſagt, daß ich dieſer Mann ſei? Dieſer
Mann will einen Gefangenen befreien. Hat er geſagt,
daß es dein Gefangener ſein ſoll? Wird ein Inglis ſein
Vaterland, welches beinahe tauſend Kameltagreiſen von
hier entfernt iſt, verlaſſen, um einen Araber aus der Ge-
fangenſchaft zu befreien? Er hatte, als er es verließ, noch
niemals einen Araber geſehen.“


„Aber du, du biſt ein Freund von Amad el Ghandur?“


„Ich ſage dir, daß ich ihn noch nie geſehen hatte,
als bis ich ihn hier in dem Loche ſah! Hadſchi Lindſay-
Bey verſteht nicht Türkiſch und nicht Arabiſch, und ſein
Dolmetſcher konnte nicht gut engliſch ſprechen. Wer weiß,
was dieſer Mann gehört und verſtanden hat. Vielleicht
hat der Hadſchi ihm nur ein Märchen erzählt.“


„Aber er redet doch nicht!“


„Damals ſprach er noch. Er hat ſein Gelübde erſt
ſpäter gethan.“


„So komm, du ſollſt auch den andern Zeugen hören!
Man klopft. Es wird dein Diener ſein.“


Er öffnete den Eingang. Der Arnaute brachte Halef,
dem ich ſagte, daß ich mit der Hausſuchung einverſtanden
ſei, und fügte bei:


„Ich will dem Muteſſelim beweiſen, daß ich ſein
Freund bin. Die Leute ſollen überall hingelaſſen werden.
Nun gehe!“


„Wo geheſt denn du jetzt hin?“


„Zum Muteſſelim.“


„Wann kommſt du wieder?“


[350]

„Ich weiß es noch nicht.“


„In einer Stunde kann ſehr viel gethan und ge-
ſprochen werden. Biſt du bis dahin noch nicht zurück, ſo
werden wir kommen und dich holen!“


Er ging. Der Kommandant machte ein ſehr zweifel-
haftes Geſicht. Das mannhafte Weſen meines kleinen
Halef hatte ihm imponiert.


In dem Vorzimmer ſeines Selamlüks befanden ſich
mehrere Beamte und Diener. Er winkte einem der erſteren,
welcher mit uns eintrat. Wir ſetzten uns, aber eine Pfeife
erhielt ich nicht.


„Das iſt der Mann!“ meinte der Muteſſelim, indem
er auf den Beamten zeigte.


„Was für ein Mann?“


„Der dich geſehen hat.“


„Wo?“


„Auf der Gaſſe, welche zum Gefängniſſe führt.
Ibrahim, erzähle es!“


Der Beamte ſah, daß ich mich auf freiem Fuße be-
fand; er warf einen unſichern Blick auf mich und berichtete:


„Ich kam vom Palaſte, Herr. Es war ſehr ſpät,
als ich meine Thüre öffnete. Eben wollte ich ſie wieder
ſchließen, da hörte ich Schritte, die ſehr eilig herbeikamen.
Es waren zwei Männer, die ſehr ſchnell gingen; der eine
zog den andern mit ſich fort, und dieſer andere hatte
keinen Atem. An der Ecke verſchwanden ſie und gleich
darauf hörte ich einen Raben ſchreien.“


„Haſt du die beiden Männer erkannt?“


„Nur dieſen Effendi. Es war zwar finſter, aber ich
erkannte ihn an ſeiner Geſtalt.“


„Wie war die Geſtalt des andern?“


„Kleiner.“


„Haben ſie dich geſehen?“


[351]

„Nein, denn ich ſtand hinter der Thüre.“


„Du kannſt gehen!“


Der Mann trat ab.


„Nun, Emir, was ſageſt du?“


„Ich war den ganzen Abend bei dir!“


„Aber einige Minuten biſt du fort geweſen, nämlich
als du die Lampe holteſt. Da haſt du den Gefangenen
fortgeſchafft, wie ich vermute, und dabei ſolche Eile ge-
habt, weil wir auf dich warteten.“


Ich lachte.


„Oh, Muteſſelim, wann endlich wirſt du einmal ein
guter Diplomat werden! Ich ſehe, daß dein Syſtem wirk-
lich einer Stärkung bedarf. Erlaube mir einige Fragen.“


„Rede.“


„Wer hatte den Schlüſſel zur Außenthüre des Ge-
fängniſſes?“


„Ich.“


„Konnte ich alſo hinaus, ſelbſt wenn ich gewollt
hätte?“


„Nein,“ antwortete er zögernd.


„Mit wem bin ich nach Hauſe gegangen?“


„Mit Selim Agha.“


„Iſt dieſer Agha der Arnauten länger oder kürzer
als ich?“


„Kürzer.“


„Und nun, Agha, frage ich dich: Sind wir langſam
gegangen wie die Schnecken oder mit ſchnellen Schritten?“


„Schnell,“ antwortete der Gefragte.


„Haben wir uns geführt oder nicht?“


„Wir führten uns.“


„Muteſſelim, kann ein Rabe, der im Traume ein
wenig krächzt oder ruft, in Beziehung zu dem Entflohenen
ſtehen?“


[352]

„Emir, das trifft ja wunderbar!“ antwortete er.


„Nein, das trifft nicht wunderbar, ſondern das iſt
ſo einfach und natürlich, daß ich über die Kleinheit deiner
Gedanken erſchrecke! Ich werde ganz beſorgt um dich!
Du hatteſt den Schlüſſel, und niemand konnte heraus
das mußteſt du wiſſen. Ich bin mit dem Agha nach
Hauſe gegangen, und zwar durch die Gaſſe, in welcher
jener Mann wohnt; das wußteſt du auch. Und auf eine
Erzählung hin, die nur geeignet wäre, mich zu recht-
fertigen, willſt du mich verurteilen? Ich war dein Freund.
Ich gab dir Geſchenke; ich führte den Makredſch, deſſen
Feſtnehmung dir Ehre und Beförderung in Ausſicht ſtellt,
in deine Hände; ich gab dir Arzenei, um deine Seele zu
erfreuen und das alles dankſt du dadurch, daß du mich
in das Gefängnis ſtecken willſt. Geh! Ich werde irre an
dir! Und was ebenſo ſchlimm iſt: du wirfſt dein Miß-
trauen ſogar auf den Agha der Arnauten, deſſen Treue
du kennſt, und der für dich kämpfen würde, ſelbſt wenn
er dabei das Leben verlieren müßte!“


Da richtete ſich Selim Agha um einige Zoll höher auf.


„Ja, das iſt wahr!“ beteuerte er, indem er an ſeinen
Säbel ſchlug und die Augen rollen ließ. „Mein Leben
gehört dir, Herr. Ich gebe es für dich hin!“


Das war zu viel der Beweiſe. Der Kommandant
reichte mir die Hand und bat:


„Verzeihe, Emir! Du biſt gerechtfertigt, und ich werde
in deiner Wohnung nicht nachſuchen laſſen!“


„Du wirſt ſuchen laſſen. Ich verlange es nun ſelbſt!“


„Es iſt ja unnötig geworden!“


„Ich beſtehe aber auf meinem Verlangen.“


Der Muteſſelim erhob ſich und ging hinaus.


„Effendi, ich danke dir, daß du mich von ſeinem Ver-
dachte gereinigt haſt!“ ſagte nun der Agha.


[353]

„Du wirſt gleich hören, daß ich noch mehr für dich
thue.“


Als der Kommandant wieder eintrat, machte er ein
ſehr verdrießliches Geſicht und begann:


„Draußen ſteht jetzt der Baſch Tſchauſch, der nach
Moſſul gehen ſoll — — —“


„Der meinen Baſchi-Bozuk holte,“ unterbrach ich ihn,
„damit du ihn über mich verhören konnteſt! Haſt du wohl
ein Wort von ihm erfahren, das mich verdächtigt?“


„Nein, er war deines Lobes voll. Aber ſage mir,
was ich dem Anatoli Kaſi Askeri über den entſprungenen
Gefangenen ſchreiben ſoll!“


„Schreibe die Wahrheit!“


„Das wird mir großen Schaden machen, Effendi.
Denkſt du nicht, daß ich ſchreiben könnte, er ſei geſtorben?“


„Das iſt deine Sache!“


„Würdeſt du mich verraten?“


„Ich habe keinen Grund dazu, ſolange du mein
Freund biſt.“


„Ich werde es thun!“


„Aber wenn es dir gelingt, ihn wieder zu ergreifen?
Oder wenn er glücklich ſeine Heimat erreicht?“


„So hat ſich der abgeſetzte Muteſſarif geirrt und mir
einen Mann geſchickt, den er zwar für Amad el Ghandur
hielt, der es aber nicht war. Und wenn ich ihn wieder
ergreife — — Effendi, es wird das beſte ſein, daß ich
gar nicht nach ihm ſuchen laſſe!“


Das war eine echt türkiſche Weiſe, ſich aus der Not
zu helfen; mir jedoch kam ſie ſehr willkommen.


„Aber der Baſch Tſchauſch weiß ja, daß der Araber
entflohen iſt?“


„Das iſt ein anderer Araber geweſen, kein Haddedihn,
ſondern ein Abu Salman, der mir den Zoll verweigerte.“


II. 23
[354]

„So eile, damit du der Sorge um den Makredſch
ledig wirſt. Wenn es auch dieſem gelingen ſollte, zu ent-
kommen, ſo biſt du verloren.“


„In einer Stunde ſoll der Transport abgehen.“


„Haſt du ſchon das Verzeichnis von den Sachen fertig,
welche der Makredſch bei ſich hatte?“


„Es iſt fertig und von mir und Selim Agha unter-
zeichnet.“


„Du haſt eine Unterſchrift vergeſſen, Muteſſelim.“


„Welche?“


„Die meinige.“


„O, Effendi, dieſe iſt gar nicht nötig.“


„Aber wünſchenswert.“


„Aus welchem Grunde?“


„Man könnte mich in Moſſul oder Stambul über
dieſe Sache fragen, wenn etwas nicht ſtimmen ſollte. So
wird es beſſer ſein, ich unterzeichne mich jetzt; dann iſt
alles in Ordnung. Auch dir muß es willkommen ſein,
einen Zeugen mehr zu haben; denn ich traue dem Ma-
kredſch gar ſehr zu, daß er dich verleumdet, um ſich an
dir zu rächen.“


Der Kommandant befand ſich augenſcheinlich in großer
Verlegenheit.


„Das Verzeichnis iſt bereits verſchloſſen und ver-
ſiegelt,“ ſagte er.


„Zeige es!“


Er erhob ſich wieder und ging in die Nebenſtube.


„Effendi,“ flüſterte der Agha ängſtlich, „verrate nicht,
daß ich dir alles geſagt habe.“


„Sei ohne Sorge!“


Der Muteſſelim kehrte zurück und hielt ein verſiegeltes
Schreiben in der Hand. Er reichte es mir ohne Bedenken.


Ich nahm es, um mich zu überzeugen, daß es auch
[355] das rechte ſei. Ich drückte die langen Bauchſeiten zuſam-
men, ſo daß ſich eine Röhre bildete, in deren Inneres ich
blicken konnte. Da es nicht couvertiert war, ſah ich zwar
aus einzelnen Wörtern, daß der Kommandant mich nicht
getäuſcht habe; doch befanden ſich die Ziffern, welche ich
ſuchte, nicht an einer Stelle, die ich hätte leſen können.
Gleichwohl aber that ich, als ob ich ſie ſähe, und las
laut und langſam:


„Vierhundert Piaſter in Gold — einundachtzig Piaſter
in Silber — —! Muteſſelim, du wirſt dieſes Schreiben
öffnen müſſen; du haſt dich ſehr verſchrieben!“


„Herr, dieſe Angelegenheit iſt nicht die deinige, ſon-
dern die meinige!“


„So war es alſo nur die deinige, als ich dir bei-
ſtehen mußte, den Makredſch feſtzuhalten und ihm ſein
Geld abzunehmen?“


„Ja,“ antwortete er naiv.


„Gut! Aber du verſprachſt mir fünftauſend Piaſter,
auf welche noch zweitauſend zu legen ſind, weil das Papier-
geld keinen vollen Wert beſitzt. Wo iſt dieſe Summe?“


„Emir!“


„Muteſſelim!“


„Du ſagſt, du ſeiſt mein Freund, und willſt mich
dennoch peinigen!“


„Du ſagſt, du ſeiſt mein Freund, und willſt mich
dennoch hintergehen!“


„Ich muß das Geld nach Moſſul ſenden.“


„Vierhunderteinundachtzig Piaſter, ja. Deine Pflicht
iſt es aber, alles Geld des Makredſch ſamt der Uhr und
den Ringen einzuſenden. Thuſt du dies, ſo habe ich nichts
zu fordern; thuſt du es aber nicht, ſo verlange ich den
mir gebührenden Teil.


„Du haſt ja gar nichts zu bekommen,“ erklärte er.


[356]

„Du auch nicht, und Selim Agha auch nicht. Hat
er etwas erhalten?“


„Siebentauſend Piaſter in Papier,“ antwortete er
ſehr ſchnell, um dem Agha die Antwort abzuſchneiden.
Dieſer ſchnitt ein Geſicht, daß ich beinahe in lautes Lachen
ausgebrochen wäre.


„Nun, alſo,“ ſagte ich, „warum willſt du mir da
meinen Teil vorenthalten?“


„Du biſt ein Fremdling und keiner meiner Beamten.“


„Du ſollſt recht behalten; aber dann trete ich meinen
Teil an den Padiſchah ab. Sage alſo dem Baſch Tſchauſch,
daß er nach meiner Wohnung kommen ſoll, ehe er abreiſt.
Ich werde ihm meinen Bericht an den Anatoli Kaſi As-
keri mitgeben. — Lebe wohl, Muteſſelim, und erlaube,
daß ich dich heute abend beſuche.“


Ich ging zu der Thüre, hatte dieſe aber noch nicht
erreicht, als er rief:


„Wie viel Geld wirſt du angeben?“


„Die runde Summe von fünfundzwanzigtauſend Pia-
ſter, eine Uhr und vier Brillantringe.“


„Wie viel willſt du davon haben?“


„Meinen vollen Teil. Siebentauſend Piaſter in Papier,
oder fünftauſend in Gold oder Silber.“


„Effendi, es war wirklich nicht ſo viel Gold!“


„Ich kann den Klang des Goldes ſehr gut von dem
des Silbers unterſcheiden, und der Beutel hatte einen ſehr
dicken Bauch.“


„Du biſt reich, Emir, und wirſt mit funfhundert
Piaſter zufrieden ſein!“


„Zweitauſend in Gold, das iſt mein letztes Wort!“


„Allah kerihm, ich kann es nicht!“


„Lebewohl!“


Wieder ging ich nach der Thüre. Er wartete, bis
[357] ich ſie geöffnet hatte, dann rief er mich zurück. Ich ging
jedoch weiter und war bereits auf der Straße, als mir
eilige Schritte folgten. Es war Selim Agha, der mich
zurückrief.


Als ich wieder in das Selamlük trat, war der Kom-
mandant nicht da, bald aber kam er aus dem Nebenzim-
mer. Sein Blick war finſter und feindſelig, und ſeine
Stimme vibrierte heiſer, als er mich fragte:


„Alſo zweitauſend willſt du?“


„In Gold!“


Er ſetzte ſich nieder und zählte mir zwanzig Hundert-
piaſterſtücke auf den Teppich.


Ich bückte mich, nahm das Gold auf und ſteckte es
ein. Er wartete einige Augenblicke, dann fragte er mit
finſterer Stirn:


„Und du bedankſt dich nicht?“


„Ich? Ich erwarte im Gegenteile deinen Dank, weil
ich dir dreitauſend Piaſter geſchenkt habe!“


„Du biſt bezahlt und haſt mir nichts geſchenkt. Wann
reiſeſt du ab?“


„Ich weiß es noch nicht.“


„Ich rate dir, noch heute die Stadt zu verlaſſen!“


„Warum?“


„Du haſt dein Gold, nun gehe! Aber komme ja nie
wieder!“


„Muteſſelim, ſpiele keine Komödie mit mir, ſonſt
lege ich dir die Piaſter wieder her und ſchreibe einen Be-
richt. Wenn es mir beliebt, zu bleiben, ſo bleibe ich, und
wenn ich zu dir komme, wirſt du mich höflich empfangen.
Aber um dir deine Sorge vom Herzen zu nehmen, will
ich dir ſagen, daß ich noch heute abreiſe. Vorher aber
werde ich kommen, um von dir Abſchied zu nehmen, und
dann hoffe ich, daß wir in Frieden ſcheiden.“


[358]

Jetzt verließ ich ihn und kehrte zu den Gefährten
zurück. Ehe ich das Haus erreichte, begegnete mir eine
Truppe Arnauten, welche ſich ſcheu zur Seite ſtellten und
mich vorüber ließen. Unter der Thüre ſtand Merſinah
und blickte ihnen nach. Ihr Angeſicht glühte vor Zorn.


„Emir, iſt ſchon einmal ſo etwas geſchehen?“ ſchnaubte
ſie mir entgegen.


„Was?“


„Daß ein Muteſſelim bei ſeinem eignen Agha der
Arnauten hat ausſuchen laſſen?“


„Das weiß ich nicht, o Engel des Hauſes, denn ich
bin noch niemals ein Agha der Arnauten geweſen.“


„Und weißt du, was man ſuchte?“


„Nun?“


„Den entflohenen Araber! Einen Flüchtling bei dem
Aufſeher zu ſuchen! Aber kommt nur dieſer Selim Agha
nach Hauſe, ſo werde ich ihm ſagen, was ich an ſeiner
Stelle gethan hätte.“


„Zanke nicht mit ihm. Er hat Leid genug zu tragen.“


„Worüber?“


„Daß ich mit meinen Gefährten abreiſe.“


„Du?“


Sie machte ein ganz unbeſchreiblich erſchrockenes Geſicht.


„Ja. Ich habe mich mit dieſem Muteſſelim gezankt
und mag nicht länger an einem Orte bleiben, wo er ge-
bietet.“


„Allah, Tallah, Wallah! Herr, bleibe hier. Ich
werde dieſen Menſchen zwingen, dir mit Ehrerbietung zu
begegnen!“


Das war ein Verſprechen, deſſen Ausführung bei-
zuwohnen höchſt intereſſant geweſen wäre. Ich hielt ſie
aber leider für unmöglich und ließ Merſinah unten ſtehen,
wo ihre Stimme fort grollte, wie ferner Donner. Droben
[359] ſtand der Baſchi-Bozuk vor der Treppe. Er hatte meine
Stimme gehört und auf mich gewartet.


„Effendi, ich will Abſchied von dir nehmen!“


„Komme herein; ich will dich bezahlen!“


„Oh, Emir, ich bin ſchon bezahlt.“


„Von wem?“


„Von dem Manne mit dem langen Geſichte.“


„Wie viel hat er dir gegeben?“


„Das!“


Er fuhr mit freudeglänzenden Augen in den Gürtel
und holte eine ganze Hand voll großer Silberſtücke her-
vor, die er mir zeigte.


„So komme nur. Wenn dies ſo iſt, ſo hat der Mann
mit dem langen Geſichte dich bezahlt, und ich werde nun
den Eſel bezahlen.“


„Allah kerihm, den verkaufe ich nicht!“ rief er er-
ſchrocken.


„Ich meine nur, daß ich ihm ſeinen Lohn auszahlen
will!“


„Maſchallah, da komme ich!“


Er ging mit in meine Stube, die leer war. Hier
ſtellte ich ihm ein Zeugnis aus und gab ihm noch einiges
Geld, über welches er vor Freuden faſt ganz außer ſich
geriet.


„Emir, ich habe noch niemals einen ſo guten Effendi
geſehen, wie du biſt. Ich wollte, du wäreſt mein Haupt-
mann oder mein Major oder Oberſt! Dann würde ich
dich in der Schlacht beſchützen und um mich ſchlagen wie
damals, als ich meine Naſe verlor. Das war nämlich
in der großen Schlacht bei — — —“


„Laß das ſein, mein guter Ifra. Ich bin von deiner
Tapferkeit völlig überzeugt. Du biſt heute bei dem Mu-
teſſelim geweſen?“


[360]

„Der Baſch Tſchauſch holte mich zu ihm, und ich
mußte Antwort geben auf ſehr viele Fragen.“


„Auf welche?“


„Ob ein Gefangener bei uns ſei; ob du bei den
Dſcheſidi viel Türken ermordet haſt; ob du vielleicht ein
Miniſter aus Stambul biſt, und noch vieles andere, was
ich mir gar nicht gemerkt habe.“


„Euer Weg, Ifra, führt euch nach Spandareh. Sage
dem Dorfälteſten dort, daß ich heute nach Gumri auf-
breche, und daß ich dem Bey von Gumri das Geſchenk
bereits überſandt habe. Und in Baadri gehſt du zu Ali
Bey, um das zu vervollſtändigen, was ihm Selek er-
zählen wird.“


„Dieſer geht auch fort?“


„Ja; wo iſt er?“


„Bei ſeinem Pferde.“


„Sage ihm, daß er ſatteln kann. Ich werde ihm
einen Brief mitgeben. Und nun lebe wohl, Ifra. Allah
behüte dich und deinen Eſel. Mögeſt du nie vergeſſen,
daß ein Stein an ſeinen Schwanz gehört!“ — —


Die drei Gefährten ſaßen kampfgerüſtet in der Stube
des Engländers beiſammen. Halef umarmte mich beinahe
vor Freude, und der Engländer reichte mir mit einem
ſo frohen Geſichte die Hand, daß ich erkennen mußte, er
ſei in herzlichſter Sorge um mich geweſen.


„Gefahr gehabt, Sir?“ fragte er.


„Ich ſtak bereits in demſelben Loche, aus welchem
ich Amad el Ghandur geholt habe.“


„Ah! Prächtiges Abenteuer! Gefangener geweſen!
Wie lange Zeit?“


„Zwei Minuten.“


„Selbſt wieder freigemacht?“


„Selbſt! Soll ich Euch die Geſchichte erzählen?“


[361]

„Verſteht ſich! Well! Yes! Schönes Land hier,
ſehr ſchön! Alle Tage beſſeres Abenteuer!“


Ich erzählte ihm in engliſcher Sprache und fügte dann bei:


„In einer Stunde ſind wir fort.“


Des Engländers Geſicht nahm ganz die Stellung
eines außerordentlich erſchrockenen Fragezeichens an.


„Nach Gumri,“ fügte ich hinzu.


„Oh, war ſchön hier, ſehr ſchön! Intereſſant!“


„Noch geſtern hieltet Ihr es nicht für ſchön, Maſter
Lindſay!“


„War Aerger! Hatte nichts zu thun! Iſt aber
trotzdem ſchön geweſen, ſehr ſchön! Romantiſch! Yes!
Wie iſt es in Gumri?“


„Noch viel romantiſcher.“


Well! So gehen wir hin!“


Er erhob ſich ſofort, um nach ſeinem Pferde zu ſehen,
und nun hatte ich Zeit, auch den beiden andern meine
letzten Erlebniſſe mitzuteilen. Keiner war über unſere
Abreiſe ſo erfreut wie Mohammed Emin, deſſen Herzens-
wunſch es war, mit ſeinem Sohne baldigſt zuſammen zu
kommen. Auch er erhob ſich eiligſt, um ſich zur Abreiſe
fertig zu machen. Nun begab ich mich in meine Stube
zurück, um einen Brief an Ali Bey zu ſchreiben. Ich
meldete ihm in gedrängten Worten alles und ſagte ihm
Dank für die beiden Schreiben, die mir ſo große Dienſte
geleiſtet hatten. Dieſe Schreiben übergab ich nebſt dem
Briefe Selek, welcher dann Amadijah ſogleich verließ.
Er ſchloß ſich dem Transport nicht an, ſondern zog als
Dſcheſidi vor, ganz allein zu reiſen.


Da hallten die eiligen Schritte zweier Perſonen auf
der Treppe. Selim Agha trat mit Merſinah ein.


„Effendi, iſt es wirklich dein Ernſt, daß du Amadijah
verlaſſen willſt?“ fragte er mich.


[362]

„Du haſt es ja bei dem Muteſſelim gehört.“


„Sie ſatteln ſchon!“ ſchluchzte die ‚Myrte‘, welche
ſich die Thränen aus den Augen wiſchen wollte, mit der
Hand aber leider nur bis an die ebenſo betrübte Naſe kam.


„Wohin gehet ihr?“


„Das braucht der Muteſſelim nicht zu erfahren, Selim
Agha. Wir reiten nach Gumri.“


„Dahin kommt ihr heute nicht.“


„So bleiben wir unterwegs über Nacht.“


„Herr,“ bat Merſinah, „bleibe wenigſtens dieſe Nacht
noch hier bei uns. Ich will euch meinen beſten Pillan
bereiten.“


„Es iſt beſchloſſen: wir reiten.“


„Du fürchteſt dich doch nicht vor dem Muteſſelim?“


„Er ſelbſt weiß am beſten, daß ich ihn nicht fürchte!“


„Und ich auch, Herr,“ fiel der Agha ein; „haſt du
ihm doch zweitauſend Piaſter abgezwungen!“


Die ‚Myrte‘ machte große Augen.


„Maſchallah, welch eine Summe!“


„Und zwar in Gold!“ fügte Selim hinzu.


„Wem gehört dieſes viele Geld?“


„Dem Emir natürlich! Emir, hätteſt du doch auch
für mich ein Wort geſprochen!“


„Haſt du das nicht gethan, Effendi?“ erkundigte ſich
Merſinah. „Du hatteſt es uns doch verſprochen!“


„Ich habe ja auch Wort gehalten.“


„Wirklich? Emir, wann haſt du mit dem Muteſſelim
darüber geredet?“


„Als Selim Agha dabei war.“


„Herr, ich habe nichts gehört!“ beteuerte dieſer.


„Maſchallah, ſo biſt du plötzlich taub geworden! Der
Muteſſelim bot mir ja fünfhundert Piaſter anſtatt der
fünftauſend, welche ich verlangte!“


[363]

„Das war ja für dich, Effendi!“


„Selim Agha, du haſt geſagt: Du liebſt mich und
ſeiſt mein Freund, und dennoch glaubſt du, daß ich mein
Wort ſo ſchlecht halte? Ich mußte ja ſo thun, als ob
es für mich wäre!“


„So thun — — —?“


Er ſtarrte mich wie verſteinert an.


„So thun?“ rief Merſinah. Aber ihr kam das Ver-
ſtändnis ſchneller. „Warum mußteſt du ſo thun? Rede
weiter, Emir!“


„Das habe ich ja dem Agha bereits erklärt — — —“


„Effendi,“ rief ſie, „erkläre dieſem Agha der Ar-
nauten nichts mehr, denn er wird es nie verſtehen! Sage
es lieber mir!“


„Wenn ich für den Agha Geld gefordert hätte, ſo
wäre der Muteſſelim ſein Feind geworden — —“


„Das iſt richtig, Effendi,“ fiel ſie eilig ein. „Ja,
es wäre noch ſchlimmeres geſchehen, denn nach deiner Ab-
reiſe hätten wir das Geld wieder hergeben müſſen.“


„So dachte ich auch, und daher that ich, als ob ich
das Geld für mich verlangte.“


„Und es war wohl nicht für dich? Oh, ſage es
ſchnell!“


Die edle ‚Myrte‘ zitterte an ihrem ganzen Gebein
vor Begierde.


„Für den Agha,“ antwortete ich ihr.


„Maſchallah! Iſt dies wahr?“


„Natürlich!“


„Und er ſoll wirklich außer dieſen fünfzig Piaſtern
noch Geld erhalten?“


„Sehr viel.“


„Wie viel?“


„Alles.“


[364]

„Allah illa Allah! Wann, wann?“


„Jetzt gleich.“


„Hamdulillah, Preis und Dank ſei Allah! Er macht
uns reich durch dich! Aber nun mußt du es uns auch
geben!“


„Hier iſt es. Komm her, Selim Agha!“


Ich zählte ihm die volle Summe in die Hand. Er
wollte die Hand ſchnell ſchließen, that es aber doch zu
ſpät, denn die ‚Myrte‘ hatte ihm mit einem ſehr geſchickten
Griff ſämtliche Hundertpiaſterſtücke weggeſtrichen.


„Merſinah!“ donnerte er.


„Selim Agha!“ blitzte ſie.


„Es iſt ja mein!“ grollte er.


„Es bleibt auch dein!“ beteuerte ſie.


„Ich kann es ſelbſt aufheben!“ murmelte er.


„Bei mir iſt es ſicherer!“ redete ſie ihm zu.


„Gieb mir nur etwas davon!“ bat er.


„Laß es mir nur!“ ſchmeichelte ſie.


„So gieb mir wenigſtens die geſtrigen fünfzig Piaſter!“


„Du ſollſt ſie haben, Selim Agha!“


„Alle?“


„Alle; aber dreiundzwanzig ſind bereits davon weg.“


„Alle! Und dreiundzwanzig ſind bereits fort! Wo
ſind ſie?“


„Fort! Für Mehl und Waſſer für die Gefangenen.“


„Für Waſſer? Das koſtet doch nichts!“


„Für die Gefangenen iſt nichts umſonſt; das merke
dir, Selim Agha! Aber, Emir, nun haſt du ja nichts!“


Jetzt nun, da ſie das Geld in den Händen hatte,
wurde ſie auch rückſichtsvoll gegen mich.


„Ich mag es nicht; ja, ich darf es nicht nehmen.“


„Du darfſt nicht? Warum?“


„Mein Glaube verbietet es mir.“


[365]

„Dein Glaube? Alla illa Allah! Der Glaube ver-
bietet doch nicht, Geld zu nehmen!“


„O doch! Dieſes Geld gehörte weder dem Makredſch,
denn er hat es jedenfalls nicht auf rechtliche Weiſe er-
worben, noch dem Muteſſelim oder dem Agha. Aber es
wäre auf alle Fälle verſchwunden und nicht in die Hände
der rechtmäßigen Beſitzer zurückgelangt. Nur aus dieſem
Grunde habe ich den Muteſſelim gezwungen, einen Teil
davon wieder herauszugeben. Wenn es denn einmal in
falſche Hände kommen ſoll, ſo iſt es beſſer, ihr habt einen
Teil davon, als daß der Muteſſelim alles behielt.“


„Effendi, das iſt ein ſehr guter Glaube!“ beteuerte
Merſinah. „Du biſt ein treuer Anhänger des Propheten.
Allah ſegne dich dafür!“


„Höre, Merſinah! Wenn ich ein Anhänger des
Propheten wäre, ſo hättet ihr nichts erhalten, ſondern ich
hätte alles in meine eigene Taſche gethan. Ich bin kein
Moslem.“


„Kein Moslem!“ rief ſie erſtaunt. „Was denn?“


„Ein Chriſt.“


„Maſchallah! Biſt du ein Neſſorah *)?“


„Nein. Mein Glaube iſt ein anderer als derjenige
der Neſſorah.“


„So glaubſt du wohl auch an die heilige Omm Allah
Marryam?“ **)


„Ja.“


„O, Emir, die Chriſten, welche an dieſe glauben, ſind
alle gute Leute!“


„Woher weißt du das?“


„Das ſehe ich an dir, und das weiß ich auch von
der alten Marah Durimeh.“


„Ah! Kennſt du dieſe?“


[366]

„Sie iſt in ganz Amadijah bekannt. Sie kommt ſehr
ſelten, aber wenn ſie kommt, ſo teilt ſie Freude aus an
alle Leute, die ihr begegnen. Auch ſie glaubt an Omm
Allah Marryam und iſt ein Segen für viele. Aber da
fällt mir ja ein, daß ich zu ihr muß!“


„Sie iſt nicht mehr da.“


„Ja, ſie iſt wieder abgereiſt; aber dennoch muß ich hin.“


„Warum?“


„Ich muß ſagen, daß du abreiſeſt.“


„Wer hat dies beſtellt?“


„Der Vater des Mädchens, welches du geſund ge-
macht haſt.“


„Bleibe hier!“


„Ich muß!“


„Merſinah, du bleibſt! Ich befehle es dir!“


Mein Rufen half nichts; ſie war bereits die Treppe
hinab, und als ich an das Fenſter trat, ſah ich ſie über
den Platz eilen.


„Laß ſie, Effendi!“ ſagte Selim Agha. „Sie hat
es verſprochen. Oh, warum haſt du mir dies viele Geld
in ihrer Gegenwart gegeben! Nun bekomme ich keinen
Para davon!“


„Verwendet ſie es für ſich?“


„Nein; aber ſie iſt geizig, Effendi. Was ſie nicht
für uns und für die Gefangenen braucht, das verſteckt ſie,
daß ich es nicht finden kann. Sie iſt ſehr ſtolz darauf,
daß ich einmal viel Geld haben werde, wenn ſie ſtirbt.
Aber das iſt nicht gut, da ich jetzt darunter leiden muß.
Ich rauche den ſchlechteſten Tabak, und wenn ich einmal
zum Juden gehe, ſo darf ich von ſeinen Medizinen nur
die billigſten trinken. Und die, die iſt nicht gut!“


Betrübt ging der wackere Agha der Arnauten von
dannen, und ich folgte ihm hinab in den Hof, wo die
[367] Pferde geſattelt wurden. Dann machte ich mit dem Eng-
länder noch einen Gang in die Stadt, um einige Ein-
käufe zu beſorgen. Als wir zurückkehrten, waren bereits
alle vor dem Eingange des Hauſes verſammelt. Bei ihnen
ſtand ein Mann, in dem ich ſchon von weitem den Vater
meiner Patientin erkannte.


„Herr, ich höre, daß du abreiſeſt,“ begann er, mir
einige Schritte entgegentretend. „Darum bin ich gekom-
men, um Abſchied von dir zu nehmen. Meine Tochter
wird bald ganz geſund ſein. Sie, mein Weib und ich,
wir werden zu Allah beten, daß er dich beſchütze. Und
damit du auch an uns denken mögeſt, habe ich ein kleines
Jadikar *) mitgebracht, welches anzunehmen ich dich innigſt
bitte!“


„Wenn es ein Ufak-Defek **) iſt, werde ich es nehmen,
ſonſt aber nicht.“


„Es iſt ſo klein und arm, daß ich mich ſcheue, es
dir ſelbſt zu geben. Erlaube, daß ich es deinem Diener
einhändige! Welcher iſt es?“


„Dort bei dem Rappen ſteht er.“


Er nahm unter ſeinem weiten Oberkleide ein ledernes,
mit Perlen geſticktes Futteral hervor und reichte es Halef
hin. Dann ſah ich, daß er außer dieſem Gegenſtande dem
Diener noch etwas gab. Ich dankte ihm, und wir ſchieden.


Jetzt kam das Schlimmſte: der Abſchied von Selim
Agha und beſonders von der ‚Myrte‘. Der Agha ging
von Pferd zu Pferd und neſtelte an Riemen und Schnallen
herum, welche ganz in Ordnung waren. Dabei rollte er
die Augen ſo fürchterlich, wie ich es ſelbſt bei ihm noch
niemals geſehen hatte. Die Spitzen ſeines Schnurrbartes
gingen auf und nieder wie Wagebalken, und hier und da
fuhr er ſich mit der Hand nach dem Halſe, als ob es ihn
[368] dort würge. Endlich reichte er Halef die Hand zum Ab-
ſchied. Er fing von unten an.


„Lebe wohl, Hadſchi Halef Omar! Allah ſei bei dir
immerdar!“


Er hörte gar nicht auf das, was ihm der kleine
Hadſchi antwortete, ſondern ſprang zu dem Pferde Mo-
hammeds, um eine Fliege tot zu ſchlagen, welche am Halſe
des Roſſes ſaß. Dann fuhr er mit einem energiſchen Rucke
herum und hielt dem Haddedihn die Hand entgegen:


„Allah ſei mit dir und allen den Deinen! Kehre wieder
bei uns ein, wenn dich dein Weg nach Amadijah führt!“


Da bemerkte er plötzlich, daß der Sattelgurt des
Engländers um den zwanzigſten Teil eines Zolles zu weit
nach hinten lag. Er eilte dort hin, kroch unter das Pferd
und ſchob und zerrte, als habe er eine ſchwere Laſt zu
bewältigen. Endlich war er fertig und ſtreckte nun dem
Reiter die Rechte hin:


„Sihdi, dein Weg ſei — — —“


Well!“ unterbrach ihn der Maſter. „Hier!“


Ein Trinkgeld fiel in die Hand des Agha, und es
war, wie ich Lindſay kannte, gewiß ſehr reichlich. Dieſe
Güte machte den gerührten Anführer der Arnauten noch
verwirrter. Er begann alſo von neuem:


„Sihdi, dein Weg ſei wie der Weg — — —


Well!“ nickte Lindſay, und eine zweite Auflage des
Bakſchiſch gelangte zur Ausgabe. Der Geber hielt die
zum Abſchiede hingeſtreckte Hand für eine Forderung.


„Sihdi,“ begann der Agha mit erhöhter Stimme,
„dein Weg ſei wie der Weg der Gerechten, und — —“


Well!“ ertönte es zum drittenmal.


Aber der Agha zog nun ſeine Hand plötzlich zurück
und nahm die Gelegenheit, daß ich eben zu Pferde ſteigen
wollte, wahr, um mir den Steigbügel zu halten. Jetzt
[369] zog es über ſein Geſicht, wie Sonnenblick und Wolken-
ſchatten über ein wogendes Feld, dann öffnete er den
Mund, aber da ſtürzte ihm plötzlich die ſo lange zurück-
gehaltene Flut aus den Augen. Das Wort, welches er
ſagen wollte, wurde zu einem unverſtändlichen Laute. Er
reichte mir die Hand; ich nahm und drückte ſie, ſelbſt tief
gerührt, und dann zog er ſich ſehr eilig in den Flur zurück.


Das hatte Merſinah abgewartet. Sie trat hervor,
wie die Sonne aus der Morgenröte. Sie wollte eben bei
Halef beginnen, da drängte ich mein Pferd heran und ſagte:


„Halef, reite mit den andern einſtweilen in das Thal
hinab. Ich muß noch einmal zum Muteſſelim und werde
ſchnell nachkommen.“ Dann wandte ich mich zu Merſinah:
„Hier, nimm meine Hand! Ich danke dir für alles. Lebe
wohl, ſtirb nie und denke an mich, ſo oft du die liebliche
Speiſe deiner Gefangenen kochſt!“


„Lebe wohl, Emir! Du biſt der großmütigſte —“


Mehr hörte ich nicht. Ich ritt ſchnell, gefolgt von
meinem Hunde, nach dem Palaſte des Kommandanten,
ließ das Pferd vor dem Thore ſtehen und trat ein. Der
Hund folgte mir; ich wollte das ſo. Im Vorzimmer
waren einige Perſonen, die ich bereits dort geſehen hatte.
Sie fuhren erſchrocken empor, als ſie den Hund erblickten.
Das hatte noch niemand gewagt.


„Wo iſt der Muteſſelim?“ fragte ich.


„Im Selamlük,“ antwortete einer.


„Iſt er allein?“


„Der Aufſeher des Palaſtes iſt bei ihm.“


Ich ließ mich gar nicht anmelden, ſondern trat ein.
Der Hund war an meiner Seite. Der Aufſeher des Pala-
ſtes machte eine Gebärde des Entſetzens, und der Muteſſe-
lim erhob ſich augenblicklich.


„Effendi, was thuſt du?“ rief er.


II. 24
[370]

„Ich komme, um Abſchied von dir zu nehmen.“


„Mit einem Hunde!“


„Er iſt beſſer als mancher Menſch. Du ſagteſt mir,
daß ich nicht wiederkommen ſolle, und ich komme mit dem
Hunde. Das iſt die Antwort eines Emir aus Germani-
ſtan. Sallam!“


Ich verließ ihn ebenſo ſchnell als ich gekommen war
und ging hinab. Unten aber, da ich mich nun im Freien
befand, nahm ich mir Zeit; aber es kam niemand, um
mich zur Rede zu ſtellen. Ich ſtieg auf und ritt davon.
Die Gefährten waren eben erſt zum Thore hinaus, als
ich ſie einholte; denn Merſinahs Abſchiedsworte an ſie
hatten einige Zeit in Anſpruch genommen.


„Was noch gemacht beim Muteſſelim?“ fragte Lindſay.


Ich erzählte es ihm.


„Ausgezeichnet! Hm! Köſtlicher Einfall! Würde gut
bezahlen, wenn Ihr ein anderer wäret! Yes!


Er brummte und lachte noch lange vor ſich hin.


Wir mußten bald abſteigen, um die Pferde den ſteilen
Weg hinabzuführen. Deſto ſchneller aber ging es unten
weiter, bis wir die Stelle erreichten, an welcher wir früher
links abgeſchwenkt hatten. Hier mußte Halef zurückblei-
ben und ſich verſtecken, um uns zu benachrichtigen, wenn
wir beobachtet würden. Wir erreichten die kleine Lich-
tung, bei welcher wir die Pferde anbanden, und drangen
dann zu Fuße in das Dickicht ein.


„Hier!“ meinte der Engländer, als wir bei den Eichen
anlangten. „Prachtvolle Villa da oben! Well! Raucht
Tabak!“


Wirklich ſah man ein kleines Tabakswölkchen nach
dem andern oben aus der ‚Villa Amad‘ hervorkräuſeln.
Der Araber lag in der Tiefe des Loches und bemerkte
unſere Gegenwart nicht eher, als bis er durch einen lauten
[371] Ruf aufmerkſam gemacht wurde. Jetzt ſteckte er den Kopf
hervor und erkannte uns. Die friſche, kräftige Waldluft
und die nahrhaften Speiſen hatten ihn wenigſtens inſo-
weit gekräftigt, daß er ohne weitere Beihilfe herabkom-
men konnte. Ich erhielt dabei auch meinen Laſſo wieder,
welchen er geſtern oben behalten hatte.


Wir verweilten keinen Augenblick, kehrten zurück und
beſtiegen die Pferde, da es uns allen darauf ankam, noch
heute eine gute Strecke Wegs zwiſchen uns und Amadijah
zu legen. Halef meldete, daß ſich nichts Verdächtiges ge-
zeigt habe, und ſo bogen wir rechts in den Weg ein,
welcher zu den Sommerwohnungen der Bewohner von
Amadijah führte.


Wir ritten in einem Thale empor, deſſen Sohle ein
breiter Bergbach bewäſſerte. Die Seiten waren mit ſchönem
Laubwald beſetzt. Weiter oben teilte ſich der Bach in
ſehr viele Arme; das Thal wurde breiter und bot den
nötigen Raum für eine Menge von Zelten und Hütten,
die in maleriſcher Unordnung im Thale und an den Ab-
hängen desſelben ſtanden. Dies waren die Jilaks oder
Sommerwohnungen.


Dieſe Stelle war außerordentlich gut gewählt. Grüne
Wald- und Fruchtbäume beſchatteten die Zelte und Hüt-
ten, und dichtes Rankengewächs bildete einen reichen Tep-
pich an den Abhängen hinauf. Dieſer geſunde Ort bot
einen grellen, aber lieblichen Gegenſatz zu der von gifti-
gen Lüften erfüllten Feſtung Amadijah.


Während die anderen im ſchnellen Tempo weiter
ritten, um Späherblicken baldigſt zu entgehen, ſtieg ich
mit dem Engländer vor der Wohnung eines Geldwechs-
lers ab, da Lindſay ſich einen Vorrat von landläufigen
Münzen einwechſeln wollte.


Die Spitze der Höhe erreichten wir nach einer halben
[372] Stunde, obgleich die Strecke zwei engliſche Meilen beträgt,
und nun ſahen wir das Thal von Berwari vor uns lie-
gen, wo wir vor jeder Verfolgung von ſeiten der Türken
in Sicherheit waren.


In der Ferne blauten die Tijariberge, von denen
uns beſonders der Kegel von Aſchiehtah in die Augen
fiel. Seine Spitze glänzte weiß, denn er war mit Schnee
bedeckt, während wir vor noch ganz kurzer Zeit auf den
Weidegründen der Haddedihn den reichen Blumenſtaub
mit den Beinen unſerer Pferde aufgewühlt hatten.


Rechts davon ſtieg hinter den waſſerreichen Thälern
des Zab das Bergland von Tkhoma empor, und weiter
nach Süden ſahen wir die Höhen des Tura-Ghara, des
Dſchebel Haïr und des Zibar-Landes. Von Tijari und
Tkhoma hatte die alte Marah Durimeh geſprochen. Ich
mußte unwillkürlich an ihr Geheimnis denken, an den
‚Geiſt der Höhle‘, der dort zwiſchen jenen Bergen hauſte.
Ob wir ihm wohl begegnen würden?!


[373]

Fünftes Kapitel.
Unter Bluträchern.



Von der Höhe hinter Amadijah führte der Pfad bergab
nach der Ebene Newdaſcht. Auf derſelben angekommen,
gaben wir den Pferden die Sporen, ſo daß wir über den
dürren Boden, der dieſe Ebene kennzeichnet, mit vogel-
hafter Schnelligkeit dahinflogen.


Wir kamen in das Dorf Maglana, von welchem Dohub,
der Kurde, mit mir geſprochen hatte. Es wird von lauter
Kurden bewohnt, welche mit den umliegenden chaldäiſchen
Chriſten in ſteter Feindſchaft leben. Wir hielten nur an,
um uns nach dem Wege zu erkundigen, und dann ging
es wieder vorwärts. Wir kamen durch verfallene Ort-
ſchaften, bei deren Untergang die Feuersbrunſt der Hütten
das Blut der Bewohner aufgeleckt hatte. Die Trümmer
lagen zerſtreut; die Tiere des Waldes hatten die Knochen,
welche wir hier und da liegen ſahen, abgenagt. Mich
ſchauderte.


In der Ferne, rechts oder links ſahen wir zuweilen
Rauch aufſteigen; es zeigte ſich uns die unbeworfene
Mauer eines Hauſes; ein einzelner Reiter tauchte vor
uns auf, bemerkte uns und ſchwenkte raſch zur Seite ab.
Wir befanden uns auf keinem friedlichen Boden, und er
ſah, daß wir ihm an Zahl überlegen waren. Genau ſo
geht es den Vögeln des Waldes, die bei jedem Flügel-
[374] ſchlage eines Feindes gewärtig ſein müſſen und dann ihr
einziges Heil in der Verborgenheit finden.


Nun dunkelte der Abend herein, und vor uns auf
der Ebene ſahen wir vielleicht dreißig Häuſer zerſtreut
liegen. Es war das kleine Dorf Tiah, wo wir zu über-
nachten dachten. Wie der Empfang ſein würde, das
wußten wir allerdings noch nicht.


Man hatte uns von weitem erblickt, und eine Anzahl
von Männern war zu Pferde geſtiegen, um uns entweder
als Feind zurückzuweiſen, oder als Freund zu empfangen.
Eine Strecke von ungefähr zweitauſend Schritten vor dem
Dorfe hielten ſie an, um uns zu erwarten.


„Bleibt ein wenig zurück!“ ſagte ich und ritt voran.


Ich ſah, wie ſie bei dem Anblick meines Pferdes
einander die Köpfe zukehrten, und ſo ſtolz mich dieſe Be-
wunderung machte, ſo bedenklich mußte ſie mir auch ſein.
Ein gutes Pferd, ſchöne Waffen und Geld: — wer eines
von dieſen drei Dingen beſitzt, der iſt bei dieſen räuberi-
ſchen Völkerſchaften nie ſicher, es zu verlieren und das
Leben dazu.


Einer von ihnen ritt einige Schritte vor.


„Ivari 'l ther — guten Abend!“ grüßte ich ihn.


Nachdem er gedankt hatte, ließ er ſeinen Blick von
meinem Turban bis zu den Hufen meines Pferdes herab-
gleiten und begann ein Verhör.


„Woher kommſt du?“


„Von Amadijah.“


„Wohin willſt du?“


„Nach Kalah Gumri.“


„Was biſt du? Ein Türke oder Araber?“


„Nein, ich bin — — —“


„Schweig!“ gebot er mir. „Ich frage dich, und du
antworteſt! Du redeſt Kurdiſch, aber ein Kurde biſt du
[375] nicht. Biſt du ein Grieche, oder ein Ruſſe, oder ein
Perſer?“


Ich verneinte, und jetzt war er mit ſeinen Kennt-
niſſen zu Ende. Dieſer Mann empfing mich ja wie ein
ruſſiſcher Grenzaufſeher! Ich durfte nicht ſagen, welchem
Volke ich angehöre, ſondern er wollte ſo ſcharfſinnig ſein,
es zu erraten. Da ihm dies nicht gelungen war, gab er
vor Aerger ſeinem Pferde mit der Fauſt einen Schlag
über das Auge, daß es vor Schmerz laut aufwieherte.


„Was biſt du denn?“ fragte er endlich.


„Ein Tſchermaka *),“ antwortete ich mit Stolz.


„Ein Tſchermaka?“ wiederholte er. „Die Tſchermaki
kenne ich. Ihr Stamm wohnt an den Ufern des Sees
von Urmiah und hat elende Hütten von Schilf.“


Dieſe Worte waren in einem ſehr verächtlichen Tone
geſprochen.


„Du irrſt,“ entgegnete ich. „Die Tſchermaki wohnen
nicht am Ufer des Urmiahſees und wohnen auch nicht in
elenden Schilfhütten.“


„Schweig! Ich kenne die Tſchermaki, und wenn du
nicht weißt, wo ſie wohnen, ſo gehörſt du nicht zu ihnen.
Wer iſt der Kurde dort?“ — Und er deutete auf den
Engländer.


„Es iſt kein Kurde; er trägt nur kurdiſche Kleidung.“


„Wenn er nur kurdiſche Kleidung trägt, ſo iſt er ja
kein Kurde!“


„Das habe ich ja bereits geſagt.“


„Und wenn er kein Kurde iſt, ſo darf er auch keine
kurdiſche Kleidung tragen. Das verbieten wir ihm. Was
iſt er?“


„Ein Inglo,“ antwortete ich kurz.


„Ein Inglo? Ich kenne die Ingli. Sie wohnen
[376] jenſeits des Berges Ararat, ſind Karawanenräuber und
freſſen Gumgumuku gaurana. *)


„Du irrſt wieder! Die Ingli wohnen nicht am
Ararat; ſie ſind keine Räuber und freſſen auch keine Eid-
echſen.“


„Schweig! Ich war im Lande der Ingli und habe
ſelbſt auch mit ihnen Gumgumuku gaurana und ſogar
Gumgumuku felana gefreſſen. Wenn er keine frißt, ſo
iſt er kein Inglo. Wer ſind die drei andern Reiter?“


„Der eine iſt mein Diener, und die andern ſind
Araber.“


„Von welchem Stamme?“


„Sie gehören zum großen Stamme der Schammar.“


Ich ſagte die Wahrheit, weil ich mich auf die Feind-
ſchaft zwiſchen den Türken und den Schammar verließ.
Ein Feind der Türken mußte ein Freund der Kurden ſein.
Zwar wußte ich, daß die ſüdlichen Stämme der Scham-
mar mit den ſüdlichen Stämmen der Kurden auch in
Feindſchaft leben, doch nur infolge der räuberiſchen
Streifereien der Kurden, welche ja ſelbſt auch wieder mit
andern Kurdenſtämmen in dem Zuſtande der Blutrache
und des ewigen Streites leben. Hier befanden wir uns
in der Mitte Kurdiſtans, wo es ſicher noch keinen feind-
lichen Araber gegeben hatte, und daher gab ich meine
Antwort in der feſten Ueberzeugung, daß ſie uns keinen
Schaden bringen werde.


„Ich kenne die Schammar,“ hob der Kurde an.
„Sie wohnen an der Mündung des Phrath, trinken das
Waſſer des Meeres und haben böſe Augen. Sie heiraten
ihre eigenen Mütter und machen Rollen **) aus dem Fleiſch
der Schweine.“


[377]

„Du irrſt abermals. Die Schammar wohnen nicht
am Meere und eſſen niemals Schweinefleiſch.“


„Schweig! Ich ſelbſt bin bei ihnen geweſen und
habe das alles geſehen. Wenn dieſe Männer ihre Mütter
nicht geheiratet haben, ſo ſind ſie keine Schammar. Auch
leben die Schammar in Blutfehde mit den Kurden von
Sar Haſan und Zibar, und darum ſind ſie unſere Feinde.
Was wollt ihr hier?“


„Wir wollen fragen, ob ihr eine Hütte habt, in
welcher wir heute nacht ruhen können.“


„Wir haben keine Hütten. Wir ſind Berwari-Kurden
und haben Häuſer. Ihr ſollt ein Haus haben, wenn ihr
uns beweiſt, daß ihr nicht unſere Feinde ſeid.“


„Womit ſollen wir dies beweiſen?“


„Dadurch, daß ihr uns eure Pferde und eure Waffen
übergebt.“


O du alter Lügner und Eidechſenfreſſer! Du hältſt
die Leute, welche Würſte machen, für recht dicke Dumm-
köpfe! Das dachte ich, aber laut ſagte ich: „Ein Mann
trennt ſich nie von ſeinem Pferde und von ſeinen Waffen.“


„So dürft ihr nicht bei uns bleiben,“ ſagte er barſch.


„So ziehen wir weiter,“ erwiderte ich kurzweg und
ritt zu meinen Gefährten zurück; auch die Kurden ſchloſſen
nun einen Kreis um ihren Führer.


„Was ſagte er?“ fragte mich der Engländer.


„Er will unſere Waffen und Pferde haben, wenn
wir hier bleiben wollen.“


„Mag ſie ſich holen,“ knurrte er.


„Um Gottes willen, Sir, heute keinen Schuß! Die
Kurden halten die Blutrache noch heiliger als die Araber.
Wenn ſie uns feindſelig behandeln und wir verwunden
oder töten einen von ihnen, ſo ſind wir verloren; denn
ſie ſind mehr als fünfmal ſo ſtark als wir.“


[378]

„Was aber thun?“ fragte er.


„Zunächſt unſern Weg fortſetzen und, wenn ſie uns
daran hindern ſollten, verhandeln.“


Ich ſagte das alles auch den übrigen, und ſie gaben
mir recht, obgleich kein Feigling unter ihnen war. Dieſe
Kurden gehörten ſicher nicht alle zum Dorfe, das keine
ſolche Anzahl erwachſener Krieger haben konnte; ſie waren
jedenfalls aus irgend einem Grunde hier zuſammengekommen,
und es ſchien, daß ſie ſich in einer ſehr kriegeriſchen
Stimmung befänden. Sie löſten jetzt den Kreis auf und
bildeten nun einen ſcheinbar ungeordneten Haufen, der ſich
nicht von der Stelle bewegte und unſern Entſchluß ab-
zuwarten ſchien.


„Sie wollen uns den Weg verſperren,“ meinte Mo-
hammed, der Häuptling der Haddedihn.


„Es ſcheint ſo,“ ſtimmte ich ihm bei. „Alſo gebraucht
die Waffen nicht, ſo lange wir uns nicht in wirklicher
Lebensgefahr befinden!“


„Wir wollen deshalb einen weiten Kreis um das
Dorf herum reiten,“ ſchlug mein kleiner arabiſcher Diener
Halef vor.


„Das müſſen wir auch. Kommt!“


Wir ſchwenkten in einem Bogen ab, aber ſogleich
ſetzten ſich die Kurden auch in Bewegung, und der An-
führer kam wieder auf mich zugeritten.


„Wo willſt du hin?“ fragte er.


„Nach Gumri,“ antwortete ich mit Nachdruck.


Meine Antwort mochte dem Kurdenanführer nicht
nach Wunſch ſein, und er entgegnete:


„Es iſt zu weit, und die Nacht bricht ein. Ihr
werdet Gumri nicht erreichen.“


„Wir werden andere Dörfer finden oder im Freien
ſchlafen.“


[379]

„Da werden euch die wilden Tiere anfallen, und ihr
habt ſchlechte Waffen.“


Das war jedenfalls nur auf den Buſch geklopft.
Vielleicht war es gut für uns, wenn ich ihn vom Gegen-
teile überzeugte, trotzdem dies auch das Gelüſte, unſere
Waffen zu beſitzen, in gefährlicher Weiſe erregen konnte.
Darum ſagte ich: „Wir haben ſehr gute Waffen!“


„Das glaube ich nicht!“ lautete ſeine Antwort.


„Oh, wir haben Waffen, von denen eine einzige ge-
nügt, um euch alle zu töten!“


Er lachte und ſagte dann: „Du haſt ein ſehr großes
Maul. Zeige mir einmal eine ſolche Waffe!“


Ich nahm einen meiner Revolver heraus und fragte
den Kurden: „Siehſt du dieſes kleine Ding?“ — Dann
rief ich meinen Diener herbei und befahl ihm: „Brich
einen Aſt von jenem Strauche, mache die Blätter weg
bis auf ſechs und halte ihn empor. Ich will danach
ſchießen!“


Er that es, und da nun die anderen Kurden merkten,
um was es ſich handelte, ſo kamen ſie näher heran. Ich
nahm mein Pferd auf die weiteſte Diſtanz zurück und
zielte. Die ſechs Schüſſe wurden ſchnell hintereinander
abgegeben, und dann reichte Halef dem Kurden den
Zweig hin.


„Katera Chodeh *),“ rief er; „ſie ſind alle ſechs ge-
troffen, die Blätter!“


„Das iſt nicht ſchwer,“ prahlte ich; „das kann bei
den Tſchermaki ein jedes Kind. Aber das Wunder beſteht
darin, daß man mit dieſem kleinen Ding ſo ſchnell und
immerfort ſchießen kann, ohne zu laden.“


Er gab den Zweig ſeinen Leuten, und während ſie
ihn betrachteten, nahm ich ſechs Patronen heraus und lud
[380] wieder den Revolver hinter dem Halſe des Pferdes, ohne
daß er es bemerkte.


„Was haſt du noch für Waffen?“ fragte er nun.


„Siehſt du jenen Tu *)? Paß auf!“


Ich ſtieg ab und legte den Henry-Stutzen an. Einer,
zwei, drei, fünf, acht, elf Schüſſe krachten. Die Kurden
erhoben bei einem jeden neuen Schuſſe einen Ausruf des
höchſten Erſtaunens und nun ſetzte ich das Gewehr wieder ab.


„Geht hin und ſeht euch den Baum an!“


Alle eilten hin, und die meiſten ſprangen, um gut
ſehen zu können, vom Pferde. Ich erhielt ſomit Zeit zu
neuem Laden. Dasſelbe Experiment mit demſelben Stutzen
hatte mich einſt bei den Comanchen in Reſpekt geſetzt, und
auch jetzt erwartete ich eine ähnliche Wirkung mit Zu-
verſicht. Da kam der Anführer wieder auf mich zu und rief:


„Chodih **), alle elf Kugeln ſtecken im Baume, eine
unter der andern!“


Daß er mich jetzt mit ‚Herr‘ anredete, ſchien ein gutes
Zeichen zu ſein.


„Du kennſt nun einige von unſern Waffen,“ ſagte
ich, „und wirſt mir glauben, daß wir uns vor euren
wilden Tieren nicht fürchten.“


„Zeige uns die andern Waffen auch!“


„Dazu habe ich keine Zeit. Die Sonne iſt hinab,
und wir müſſen weiter.“


„Warte noch ein wenig!“


Er ritt wieder zu ſeinen Leuten und verhandelte mit
ihnen. Dann kehrte er zurück und erklärte: „Ihr dürft
bei uns bleiben!“


„Wir geben weder unſere Waffen noch unſere Pferde
ab,“ erwiderte ich.


„Das ſollt ihr auch nicht. Ihr ſeid fünf Männer,
[381] und fünf von den Unſerigen haben ſich erboten, je einen
von euch bei ſich aufzunehmen. Du wirſt bei mir wohnen.“


Hm, ich mußte vorſichtig ſein. Warum gaben ſie auf
einmal nach? Warum ließen ſie uns nicht weiter reiten?


„Wir werden dennoch weiter reiten,“ erklärte ich
ihm, „weil wir uns teilen ſollen. Wir ſind Gefährten
und werden nur da bleiben, wo wir beiſammen wohnen
können.“


„So warte noch ein wenig!“


Wieder verhandelte er. Es dauerte etwas länger als
vorher, und es ſchien mir, als ob ſie uns mit Abſicht
hinhalten wollten, bis es zu dunkel zum Weiterreiten ge-
worden ſei. Endlich kam er wieder mit der Erklärung:
„Chodih, du ſollſt deinen Willen haben. Wir überlaſſen
euch ein Haus, in welchem ihr gemeinſam ſchlafen könnt.“


„Haben auch unſere Pferde Platz?“


„Ja; es iſt ein Hof an dem Hauſe, wo ſie ſtehen
können.“


„Werden wir es allein bewohnen?“


„Es ſoll niemand darin bleiben dürfen. Siehe, da
reitet ſchon einer fort, um dieſen Befehl zu überbringen.
Wollt ihr die Speiſen geſchenkt erhalten, oder werdet ihr
ſie bezahlen?“


„Wir wünſchen, eure Gäſte zu ſein. Verſprichſt du
mir das?“


„Ich verſpreche es.“


„Du biſt wohl der Nezanum *) dieſes Dorfes?“


„Ja, ich bin es.“


„So reiche mir deine beiden Hände und ſage, daß ich
dein Hemſcher **) bin!“


Er that es, aber doch mit einigem Widerſtreben.
Jetzt fühlte ich mich ſicher und winkte den Gefährten,
[382] heranzukommen. Wir wurden von den Kurden in die
Mitte genommen und dann galoppierten wir in das Dorf
hinein, wo vor einem verhältnismäßig anſehnlichen Hauſe
Halt gemacht ward.


„Das iſt euer Haus für dieſe Nacht,“ erklärte der
Nezanum. „Tretet ein!“


Ich beſah mir das Gebäude, ehe ich abſtieg, von
außen. Es hatte nur das Erdgeſchoß und auf dem platten
Dache eine Art von kleinem Schuppen, in welchem Heu
aufbewahrt zu werden ſchien. Der an das Gebäude ſtoßende
Hofraum wurde von einer breiten Mauer umgeben, welche
ungefähr drei Ellen hoch war und von einem ſchmalen
Buſchwerk überragt ward, das ſich an der hinteren Seite
der Mauer hinzog. In dieſen Hof konnte man nur durch
das Haus gelangen.


„Wir ſind zufrieden mit dieſer Wohnung. Woher
nehmen wir das Futter für unſere Pferde?“ fragte ich nun.


„Ich werde es euch ſenden,“ lautete die Antwort.


„Da oben liegt aber ja Futter,“ ſagte ich und wies
auf den Schuppen.


Er ſah ſichtlich verlegen empor und antwortete dann:


„Das iſt nicht gut; es würde euren Tieren ſchaden.“


„Und wer beſorgt uns die Speiſen?“


„Ich ſelbſt werde ſie bringen nebſt Licht. Wenn ihr
etwas wünſcht, ſo ſagt es mir. Ich wohne in jenem
Hauſe.“


Er zeigte auf ein Gebäude, welches ziemlich in der
Nähe ſtand. Wir ſtiegen ab und führten unſere Pferde
in den Hof. Dann beſahen wir uns das Innere des
Hauſes. Es beſtand nur aus einem einzigen Gemache,
welches aber durch ein dünnes Flechtwerk von Weiden in
zwei ungleiche Hälften geteilt war. Jede derſelben hatte
zwei Löcher, die als Fenſter dienten und mit einer Matte
[383] verhängt werden konnten. Dieſe Löcher waren ziemlich
hoch, aber ſo ſchmal, daß man kaum den Kopf hindurch-
ſtecken konnte. Die Diele beſtand aus geſtampftem Lehm
und war an der hintern Seite eines jeden Gemaches mit
einem Binſenteppich belegt. Eine weitere Ausſtattung gab
es nicht.


Die Thüren konnten beide mit einem ſtarken Balken
feſt verſchloſſen werden; hier wenigſtens alſo war uns
Sicherheit geboten. Im Hofe lag einiges alte Holzwerk
nebſt etlichen Gerätſchaften, deren Zweck ich nicht erraten
konnte. —


Wir befanden uns allein, denn auch der Nezanum
war draußen geblieben, und nun hielten wir großen Rat.


„Glaubſt du, daß wir ſicher ſind?“ fragte mich der
Scheik.


„Ich bin im Zweifel darüber. Der Nezanum hat
mir alles verſprochen und wird es auch halten. Wir ſind
ſeine Gäſte und die Gäſte des ganzen Dorfes. Aber es
waren viele da, die nicht zu dem Dorfe gehörten.“


„Dieſe können uns nichts thun,“ erwiderte er. „Wenn
ſie einen von uns töteten, wären ſie der Blutrache des
ganzen Dorfes verfallen, deſſen Gäſte wir ſind.“


„Und wenn ſie uns nicht töten, ſondern nur beſtehlen
wollen?“


„Was können ſie uns nehmen?“


„Die Pferde, vielleicht die Waffen, vielleicht noch
mehr.“


Der ernſte Scheik Mohammed Emin ſtreichelte jetzt
lächelnd ſeinen Bart und ſagte: „Wir würden uns wehren.“


„Und dabei der Blutrache verfallen,“ ergänzte ich.


„Warten wir es ab!“ meinte er.


Da trat auch der Engländer ein, welcher draußen im
Hofe umhergeſtöbert hatte. Seine Naſe lag auf der rechten
[384] und ſein Mund auf der linken Seite des Geſichtes, ein ganz
ſicheres Zeichen, daß ihm etwas Merkwürdiges paſſiert ſei.


„Hm!“ räuſperte er ſich. „Habe etwas geſehen! —
Intereſſant! — Yes!


„Wo? So erzählt doch nur!“


„Pſt! Nicht in die Höhe ſehen! War im Hofe.
Schmutziger Platz das! Sah die Büſche an der Mauer
und ſtieg hinauf. Schöner Ueberfall von draußen herein!
Würde prächtig gehen. Blicke auch hinauf zum Dache und
ſehe ein Bein. Well! Eines Mannes Bein. Es guckte
einen Augenblick lang aus der Hütte heraus, wo Futter iſt.“


„Habt Ihr auch recht geſehen, Sir?“


„Sehr recht! Yes!


Jetzt erſt fiel es mir ein, daß ich weder eine Treppe
noch eine Leiter geſehen hatte, um auf das Dach zu ge-
langen. Wir traten alſo hinaus in den Hof, um zu
ſuchen. Es fand ſich nichts. Auch im Innern des Ge-
bäudes war nicht zu entdecken, ob man von hier aus auf
das Dach gelangen könne, und dennoch wurde es Zeit,
nachzuſehen; denn die Nacht war ſchon ganz nahe.


Droben über der hinteren Thüre ragte ein Dachbalken
etwas aus der Mauer hervor, zwar nicht viel, aber es
genügte. Ich nahm den Laſſo, knüpfte ihn vierfach zu-
ſammen, bildete auf dieſe Weiſe eine einzige große Schlinge
und warf ſie empor. Sie hing am Balken ſo, daß ich
ſie unten faſſen konnte. Nun zog ich mich an der Schlinge
empor, trat in ſie hinein und gelangte auf dieſe Weiſe
auf das Dach. Nun ging ich auf das Behältnis zu,
welches bis zum Eingange desſelben mit Futter angefüllt
war. Ich langte hinein, fühlte aber nichts Verdächtiges;
als ich jedoch ſoweit hineinkroch, daß meine Arme bis
ganz hinter langen konnten, faßte ich den Kopf eines
Menſchen, der ſich in die fernſte Ecke verkrochen hatte.


[385]

„Wer biſt du?“ fragte ich.


„U — — ah!“ erklang es gähnend.


Der Mann wollte mich glauben machen, daß er ge-
ſchlafen habe.


„Komme heraus!“ befahl ich ihm.


„U — — ah!“ machte er noch einmal; dann ſchob
er meine Hand von ſich ab und kam langſam hervorge-
krochen. Es war noch ſo licht, um deutlich zu ſehen, daß
dieſer Mann nicht einen Augenblick geſchlafen habe. Er
gaffte mich an und that, als ob er erſtaune.


„Ein Fremder! Wer biſt du?“ fragte er mich.


„Sage nur zuerſt, wer du biſt!“


„Dieſes Haus iſt mein!“ antwortete er.


„So! Das iſt mir lieb, denn dann kannſt du mir
ſagen, wie du heraufgekommen biſt.“


„Auf der Leiter.“


„Wo iſt ſie?“


„Im Hofe.“


„Da iſt ſie nicht.“


Ich ſah mich auf dem Dache erſt jetzt näher um und
gewahrte ſie längs des Dachrandes liegen.


„Menſch, du biſt verſchlafen, denn du haſt ganz vergeſſen,
daß du die Leiter hinter dir heraufgezogen haſt! Hier liegt ſie!“


Er blickte ſich verdutzt um und ſagte dann: „Hier?
Ja. Ich habe geſchlafen!“


„Nun wache aber. Komm hinab!“ — Mit dieſen
Worten ſchob ich die Leiter hinunter, und der Mann
ſtieg mir voran und verließ hierauf das Haus, ohne ein
Wort zu ſagen. Erſt that er, als ſei er ſehr überraſcht
von der Gegenwart eines fremden Menſchen, und nun lief
er gemächlich zum Nezanum hinüber, ohne mich weiter
über mein Recht, hier in ſeinem Hauſe zu ſein, im min-
deſten zu inquirieren.


II. 25
[386]

„Wer war es?“ fragte der Engländer.


„Der Beſitzer dieſes Hauſes.“


„Was will er da oben?“


„Er that, als habe er geſchlafen.“


„Nicht geſchlafen! Kenne den Kerl! War derſelbe,
welcher fortritt. Ihr konntet das nicht bemerken, weil
Ihr mit dem Schießen zu thun hattet. Yes!


„So iſt es ſicher, daß man eine feindſelige Abſicht
hegt!“


„Denke es auch. Aber welche?“


„Unſer Leben wollen ſie nicht, aber unſer Eigentum.“


„Kerl wird hinaufgeſtiegen ſein, um zu ſehen, wann
wir ſchlafen. Dann giebt er Zeichen, andere kommen,
holen Pferde und alles.“


Derſelben Anſicht waren auch die anderen Gefährten.
Es war jetzt vollſtändig dunkel in den beiden Stuben,
ſo daß man nicht erkennen konnte, ob man von dem Dache
aus auch in das Innere des Hauſes gelangen könne;
doch ſchien mir dies wahrſcheinlich zu ſein. Schon ſtand
ich im Begriff, aus Mangel an irgend einer Beleuchtung
ein Stück Holz anzubrennen, als draußen an den Ein-
gang geklopft wurde. Ich ging hinaus und öffnete. Der
Nezanum war es mit noch zwei Männern, welche Eſſen,
Waſſer und zwei Kerzen brachten. Die Kerzen waren ſehr
roh aus ungereinigtem Wachs bereitet und konnten nur
wenig Helligkeit verbreiten. Ich zündete eine derſelben an.


Noch hatte keiner der drei Männer ein anderes Wort
geſprochen als die Namen der Gegenſtände, welche ſie auf
den Lehmboden legten. Nun aber fragte ich den Dorfvorſteher:


„Ich fand einen Mann auf dem Dache. War es
wirklich der Beſitzer dieſes Hauſes?“


„Ja,“ antwortete er einſilbig.


„Was wollte er oben?“


[387]

„Er ſchlief.“


„Warum zog er die Leiter empor?“


„Er wollte nicht geſtört ſein.“


„Du ſagteſt doch, daß wir allein hier wohnen ſollen.“


„Er lag da bereits oben! Das wußte ich nicht, und
er wußte auch nicht, daß Gäſte da ſind.“


„Er hat es gewußt.“


„Woher?“ fragte er barſch.


„Er war mit draußen vor dem Dorfe, als wir uns
trafen.“


„Schweig! Er war daheim.“


Dieſer Mann verfiel wieder in ſeinen befehlshabe-
riſchen Ton. Ich aber ließ mich nicht einſchüchtern und
begann von neuem zu fragen:


„Wo ſind die Männer, welche nicht in dein Dorf
gehören?“


„Sie ſind nicht mehr da.“


„Sage ihnen, daß ſie ja nicht wiederkommen ſollen!“


„Warum?“


„Das magſt du erraten.“


„Schweig! Ich rate nicht.“


Nun ging er wieder fort, und die beiden anderen
folgten ihm.


Das Abendeſſen war ein ſehr frugales: getrocknete
Maulbeeren, Brot, in Aſche geröſteter Kürbis und Waſſer.
Glücklicherweiſe aber hatten wir einigen Vorrat bei uns
und brauchten alſo nicht zu hungern. Während Halef
das Eſſen ordnete, ließ ich den jungen Haddedihn mit
der angezündeten zweiten Kerze hinaus auf den Flur
gehen. Die Thüre führte nämlich gleich neben der Ecke
des Hauſes in dasſelbe, und der Flur wurde alſo von
der Grundmauer und der Zimmerwand gebildet. Als
Amad mit dem Lichte draußen ſtand, ſtieg ich auf das
[388] Dach und unterſuchte den Fußboden desſelben ſehr genau.
Endlich bemerkte ich über dem Flur, welchen das Licht
Amads erhellte, eine ſehr dünne Spalte, die ein regel-
mäßiges Viereck bildete. Ich fuhr mit dem Meſſer hin-
ein und — hob einen viereckigen Deckel empor. Das Ge-
heimnis war entdeckt.


Nach weiterem Suchen fand ich über den beiden
Wohnräumen einige ſchadhafte Stellen, welche es ermög-
lichten, hinabzuſehen und nicht nur alles zu überblicken,
ſondern auch das Geſpräch der darunter Befindlichen zu
belauſchen.


Jetzt ſtieg ich wieder hinab, machte kurzen Prozeß, faßte
meinen Rappen beim Zügel und führte ihn in die Stube.


„Hallo!“ rief der Engländer. „Was iſt los?“


„Holt Euer Pferd auch herein, denn auf dieſe war
es wohl abgeſehen. Da draußen über dem Flur iſt ein
Loch, durch welches man hinabſteigen und die Thüre öff-
nen kann. Die Kurden hätten gewartet, bis wir ſchliefen,
und wären dann mit unſeren Pferden davongegangen.“


„Iſt richtig, ſehr richtig! Werden das thun! Yes!


Auch die andern waren einverſtanden. Die Fenſter
wurden verhangen, die Pferde in das hintere Gemach
gebracht; dann zog ich die Leiter in den Flur und ſchaffte
den Hund auf das Dach hinauf. Nun konnten die Kur-
den immerhin über die Mauer in den Hof ſteigen; ſie
fanden ihn leer und mußten wieder abziehen. Vielleicht
irrte ich mich auch, und ſie hegten gar keine diebiſchen
Abſichten; dann war es um ſo beſſer.


Jetzt nun konnten wir endlich auch über unſere weite-
ren Pläne ſprechen. In Amadijah war dies nicht ge-
ſchehen, weil uns da jeder Augenblick etwas Neues brin-
gen konnte, und unterwegs waren wir nur bedacht ge-
weſen, ſchnell vorwärts zu kommen. Es handelte ſich
[389] natürlich um den Weg, welcher uns zurück nach dem
Tigris führen ſollte.


„Der kürzeſte Pfad geht durch das Gebiet der Dſche-
ſidi,“ meinte Mohammed Emin.


„Den dürfen wir nicht nehmen,“ antwortete Amad.
„Man hat mich da geſehen und würde mich erkennen.“


„Er iſt auch in anderer Beziehung nicht ſicher,“ fügte
ich hinzu, „beſonders da wir nicht wiſſen, wie der Gou-
verneur von Moſſul ſeinen Bericht abgefaßt hat. Direkt
nach Weſten können wir nicht.“


„So bleiben uns zwei Wege,“ erklärte Mohammed.
„Der eine geht durch Tijari nach dem Buthan und der
andere führt uns auf den Zab hinunter.“


„Beide ſind gefährlich, weniger für den entflohenen
Gefangenen als vielmehr im allgemeinen. Aber ich ziehe
den Weg nach Süden vor, wenn er uns auch in das
Gebiet der Abu Salman bringt.“


Dieſer Anſicht ſtimmten die anderen bei, und dem
Engländer war alles recht. Es wurde daher beſchloſſen,
über Gumri nach Lizan zu reiten, von da aus dem Fluſſe
zu folgen, bis er ſeine große Wendung in das Land der
Schirwan- und Zibar-Kurden macht, und dieſen Bogen
durch einen Ritt quer über die Berge von Tura Ghara
und Haïr abzuſchneiden. Dann mußten wir an die Ufer
des Akra gelangen, der uns wieder an den Zab brachte.


Nachdem wir hierüber einig geworden waren, legten
wir uns zur Ruhe. Ich ſchlief ſehr feſt und erwachte
durch einen Stoß, den ich von dem neben mir liegenden
Engländer erhielt.


„Maſter!“ flüſterte er. „Schritte draußen! Schleicht
jemand!“


Ich horchte geſpannt, aber die Pferde waren nicht ſehr
ruhig, und ſo konnte man ſich nicht auf das Gehör verlaſſen.


[390]

„Es wird nichts zu bedeuten haben,“ meinte ich.
„Wir ſind doch nicht in einer offenen Wildnis, wo jedes
Geräuſch, von einem Menſchen verurſacht, das Nahen
einer Gefahr verkündet. Man wird im Dorfe wohl noch
nicht ſchlafen gegangen ſein.“


„Mögen es thun! Sich auf die Naſe legen! Well!
Gute Nacht, Maſter!“


Er drehte ſich auf die andere Seite. Nach einiger
Zeit aber horchte er wieder auf. Auch ich hatte jetzt deut-
lich ein Geräuſch vom Hofe her vernommen.


„Sind im Hofe,“ raunte Lindſay mir zu.


„Es ſcheint ſo. Merkt Ihr, was für einen guten
Hund ich habe? Er hat verſtanden, daß er nur auf das
Dach aufzupaſſen hat, und darum giebt er jetzt noch
keinen Laut von ſich.“


„Edle Raſſe! Will die Kerls nicht verſcheuchen, ſon-
dern fangen!“


Jetzt aber dauerte es lange, bis wir wieder einzu-
ſchlafen vermochten, vielleicht über eine halbe Stunde, da
vernahm ich an der Vorderſeite des Hauſes leiſe Schritte.
Ich ſtieß Lindſay.


„Höre es ſchon!“ meinte er. „Was aber haben ſie vor?“


„Sie werden glauben, daß wir die Pferde in den
Flur gezogen haben, und legen nun von außen eine Leiter
an, um auf das Dach und durch dasſelbe herunter zu
den Tieren zu gelangen. Wenn ihnen dieſes glückte, ſo
brauchten ſie nur die vordere Thüre zu öffnen, um mit
unſeren Pferden davonzugehen.“


„Soll ihnen nicht gelingen!“


Kaum hatte er dies geſagt, ſo erſcholl faſt grad über
uns der laute Schrei einer menſchlichen Stimme und das
kurze, kräftige Anſchlagen des Hundes.


„Hat ihn!“ jubelte Lindſay.


[391]

„Pſt, leiſe!“ mahnte ich.


Auch die andern waren aufgewacht und lauſchten.


„Werde nachſehen,“ meinte der Engländer.


Er erhob ſich und ſchlich hinaus. Es dauerte wohl
fünf Minuten, bis er zurückkam.


„Sehr ſchön! Yes! Ausgezeichnet! War oben. Da
liegt ein Kerl und über ihm der Hund. Wagt nicht, zu
reden oder ſich zu rühren. Und unten auf der Gaſſe viel
Kurden. Sprechen auch nicht.“


„So lange der Hund nicht lauter wird, ſind wir in
Sicherheit. Aber wenn ſie mehrere Leitern anlegen, ſo
müſſen wir hinauf.“


Wir lauſchten wieder eine lange Zeit. Da erſcholl
ein fürchterlicher Schrei — es war ein Todesſchrei, daran
war gar nicht zu zweifeln — und ſofort ein zweiter und
gleich darauf wieder das laute, Sieg verkündende Bellen
des Hundes.


Jetzt konnte es gefährlich werden. Wir erhoben uns.
Ich rief Halef zu mir; denn ſeiner war ich am ſicher-
ſten. Wir traten leiſe hinaus auf den Flur und ſtiegen
die Leiter empor auf das Dach. Ein menſchlicher Körper
lag auf demſelben. Ich unterſuchte ihn; er war tot; der
Hund hatte ihm das Genick zermalmt. Wo dieſer ſich
jetzt befand, verriet mir ein leiſer, leiſer Ton, mit dem
er mich bewillkommnete. Vielleicht fünf Schritte von dem
Toten lag ein zweiter Körper, und auf demſelben hatte
ſich der Hund ausgeſtreckt. Eine einzige Bewegung brachte
dem unter ihm liegenden Menſchen den ſicheren Tod.


Wenn ich die Augen recht anſtrengte, ſah ich unten
allerdings viele Leute ſtehen. Es war kein Zweifel, daß
ſich das ganze Dorf beteiligt hatte, den Pferdediebſtahl
oder gar noch etwas anderes auszuführen. Der erſte, wel-
cher das Dach erſtiegen hatte, war von dem Hunde nieder-
[392] geriſſen worden, und ſein Schrei hatte die andern zur
Vorſicht gemahnt. Als aber der zweite heraufgekommen
war, hatte ſich der Hund nicht anders zu helfen gewußt,
als daß er den vorigen erbiß, um den jetzigen packen zu
können.


Was ſollten wir thun!


Ich ſtieg hinab und ließ Halef als Wächter oben.
Eine kurze Beratung ergab, daß wir uns vollſtändig
ſchweigſam verhalten wollten, um am Morgen thun zu
können, als ob wir gar nichts gehört hätten. Gefährlich
war unſere Lage im höchſten Grade, obgleich wir uns
ſelbſt gegen einen noch zahlreicheren Feind recht gut hätten
verteidigen können; aber wir hätten das ganze vor uns
liegende Land in ein uns feindliches verwandelt, während
es uns doch auch nicht möglich war, wieder umzukehren.


Da klopfte es ſehr laut an den Eingang des Hauſes.
Die Kurden hatten Beratung gehalten, und wir ſollten
nun das Ergebnis derſelben erfahren. Wir zündeten eine
der Kerzen wieder an und traten mit unſeren Waffen hin-
aus auf den Flur.


„Wer klopft?“ erkundigte ich mich.


„Chodih, öffne!“ antwortete der Nezanum. Ich er-
kannte ihn an der Stimme.


„Was willſt du?“ fragte ich.


„Ich muß dir etwas Wichtiges ſagen.“


„Du kannſt es ſo auch ſagen.“


„Ich muß drin bei euch ſein!“


„So komm herein!“


Ich fragte ihn gar nicht erſt, ob er allein ſei; denn
es ſollte keinem zweiten gelingen, einzutreten. Die Ge-
fährten legten ihre Gewehre an; ich zog den Balken weg
und ſtellte mich ſo hinter die Thüre, daß ſie nur halb ge-
öffnet werden und alſo auch nur einem einzelnen Manne
[393] den Eintritt laſſen konnte. Als er die auf ſich gerichteten
Waffen ſah, blieb er in der Thüröffnung ſtehen.


„Chodih! Ihr wollt auf mich ſchießen?“


„Nein. Wir halten uns nur für alles bereit. Es
könnte doch auch ein anderer, ein Feind ſein!“


Er kam vollends herein, und ich ſchob den Balken
wieder vor.


„Was willſt du, daß du uns in unſerer Ruhe ſtörſt?“
begann ich nun.


„Ich will euch warnen,“ antwortete er.


„Warnen! Wovor?“


„Vor einer ſehr großen Gefahr. Ihr ſeid meine Gäſte,
und daher iſt es meine Pflicht, euch aufmerkſam zu machen.“


Sein Blick forſchte ringsum und fiel auf die Leiter
und auf das geöffnete Loch im Dache.


„Wo habt ihr eure Pferde?“ fragte er.


„Drin in der Stube.“


„In der Stube? Chodih, dieſe iſt doch nur für
Menſchen gemacht!“


„Ein gutes Pferd iſt dem Reiſenden mehr wert als
ein ſchlechter Menſch!“


„Der Beſitzer dieſes Hauſes wird zornig ſein, denn
die Hufe der Tiere werden ihm ſeine Diele zerſtampfen.“


„Wir werden ihn entſchädigen.“


„Warum habt ihr die Leiter hereingenommen?“


„Sie gehört herein, da keine Treppe vorhanden iſt.“


„Habt ihr geſchlafen?“


Ich bejahte, und er fragte weiter:


„Habt ihr Geräuſch gehört?“


„Wir hörten draußen vor dem Hauſe Leute gehen,
aber das können wir ihnen nicht verbieten. Doch wir
hörten auch Leute in den Hof ſteigen, und das war uns
nicht lieb. Der Hof iſt unſer. Wären unſere Pferde noch
[394] draußen geweſen, ſo hätten wir auf die Eindringlinge
geſchoſſen, da wir ſie für Diebe hätten halten müſſen.“


„Pferde können nicht über die Mauer fortgeſchafft
werden, und du haſt ja wohl auch den Hund im Hofe,
den ich heute bei dir geſehen habe.“


Das war eine Wendung, auf die ich nicht einging.


„Das wiſſen auch wir, daß man die Pferde nicht
über die Mauer bringt; aber man konnte ſie hier durch
den Flur führen.“


„Man kann ja nicht herein!“


„Laß deine Gedanken etwas weiter reichen, Neza-
num! Wenn man auf das Dach und von da hier her-
unter ſteigt, ſo kann man die Hof- und auch die Vorder-
thüre öffnen und alle Pferde entführen, zumal wenn man
die Stubenthüre hier mit dem Riegel verſchließt. Wir
hätten dann drin geſteckt, ohne uns wehren zu können.“


„Wer ſollte auf das Dach ſteigen!“


„Oh, es hatte ſich ja bereits ein Mann da oben ver-
ſteckt und die Leiter mit emporgezogen. Das erweckte
natürlich unſern Verdacht, und ſo haben wir die Pferde
zu uns hereingenommen. Und wenn auch nun hundert
auf das Dach ſteigen wollten, ſie würden wohl hinauf,
aber nicht in das Innere des Hauſes kommen, und am
Morgen würden ihre Leichen auf dem Dache liegen.“


„Würdet ihr ſie töten?“


„Nein, wir würden ruhig ſchlafen; denn wir wiſſen, daß
wir uns auf meinen Hund, der oben iſt, verlaſſen können.“


„Aber ein Hund gehört doch nicht auf das Dach!“


„Ein Hund gehört überall dahin, wo es gilt, wach-
ſam zu ſein, und ich will dir ſagen, daß die Hunde der
Tſchermaki des Nachts ſehr gern auf den Dächern ſpazie-
ren gehen. Aber du wollteſt uns ja warnen! Wovor?
Du haſt uns die Gefahr noch nicht genannt.“


[395]

„Es wurde vorhin einem Bewohner des Dorfes ſeine
Leiter geſtohlen, und als er ſie ſuchte, fand er ſie an
eurem Hauſe lehnen. Es ſtanden einige fremde Leute da-
bei, die aber ſchnell entflohen. Da dachten wir, daß es
Diebe ſeien, die in euer Haus eindringen wollten, und
daher bin ich gekommen, um es euch zu ſagen.“


„Ich danke dir! Aber du kannſt ruhig ſein und
wieder gehen, und auch wir werden uns wieder nieder-
legen; denn der Hund wird keinen Dieb in das Haus
kommen laſſen.“


„Aber wenn er einen Menſchen tötet!“


„Einen einzelnen tötet er nicht; er hält ihn am
Boden feſt, bis ich komme. Aber wenn ein zweiter ſo un-
vorſichtig wäre, nachzuſteigen, ſo wird er den erſten aller-
dings töten, um den zweiten packen zu können.“


„Chodih, ſo iſt bereits ein Unglück geſchehen!“


„Inwiefern denn?“


„Es iſt bereits ein zweiter emporgeſtiegen!“


„Weißt du das gewiß?“


„Ganz gewiß.“


„Oh, Nezanum, ſo biſt du alſo dabei geweſen, als
dieſe Diebe uns überfallen wollten! Was muß ich von dir
und von euer Gaſtfreundſchaft denken!“


„Ich war nicht dabei, ſondern man hat es mir geſagt.“


„So iſt jener dabei geweſen, welcher es dir ſagte!“


„Nein, er hat es auch nur erſt vernommen.“


„Das bleibt ſich gleich. Wer es zuerſt geſagt hat, iſt
doch bei den Dieben geweſen. Aber was gehen mich dieſe
an! Ich habe keinem Menſchen erlaubt, auf mein Dach
zu ſteigen, und wer es dennoch thut, der mag auch zuſehen,
wie er ohne mich wieder herunterkommt. Gute Nacht,
Nezanum!“


„So willſt du nicht nachſehen?“


[396]

„Ich habe keine Luſt dazu!“


„Laß wenigſtens mich hinauf!“


„Ich erlaube es dir, denn du biſt kein Dieb und
kommſt erſt zu mir, um mich darum zu fragen. Aber hüte
dich vor dem Hunde! Wenn er dich bemerkt, wird er
dich faſſen und vorher den andern totbeißen, falls ſchon
einer oben iſt.“


„Ich habe Waffen!“ meinte er.


„Er iſt ſchneller als du, und töten darfſt du ihn ja
nicht; denn du müßteſt ein reicher Mann ſein, um ihn
mir bezahlen zu können!“


„Chodih, gehe mit hinauf! Ich bin der Nezanum,
und meine Pflicht gebietet mir, nachzuſehen.“


„Wenn du deines Amtes zu walten haſt, ſo werde
ich dir dieſen Gefallen erweiſen. Komm herauf!“


Ich ſtieg voran, und er folgte. Droben angekommen,
ſah er ſich um und bemerkte den Toten. Unten ſtanden
noch ebenſo viele Leute, als ich vorhin geſehen hatte.


„Chodih, hier liegt einer!“ rief er.


Ich trat hinzu. Er bückte ſich und befühlte den
Mann.


„Sere men*), er iſt tot! Oh, Herr, was hat dein
Hund gethan!“


„Seine Pflicht. Klage nicht über ihn, ſondern lobe
ihn. Dieſer Mann hat wohl den Beſitzer dieſes Hauſes
überfallen wollen und nicht geahnt, daß heute Leute hier
wohnen, die ſich von keinem Diebe oder Mörder über-
fallen laſſen.“


„Aber wo iſt der Hund?“ fragte er. Ich wies auf
die Stelle, und er rief aus:


„Oh, Chodih, es liegt einer unter ihm! Rufe den
Hund weg!“


[397]

„Ich werde mich wohl hüten; aber ſage dieſem Manne,
daß er ſich ja nicht rühren und ja kein Wort ſprechen
ſoll, ſonſt iſt er verloren.“


„Du kannſt ihn doch nicht während der ganzen Nacht
hier liegen laſſen!“


„Die Leiche werde ich dir übergeben; aber dieſer
Lebende bleibt mein.“


„Warum ſoll er hier bleiben?“


„Wenn noch jemand wagt, dieſes Haus oder dieſen
Hof zu betreten, ſo wird er von dem Hunde zerriſſen.
Dieſer Mann bleibt als Geiſel hier.“


„Und ich verlange ihn!“ ſagte der Nezanum barſch.


„Und ich behalte ihn!“ lautete meine Antwort.


„Ich bin Nezanum und gebiete es dir!“


„Laß das Gebieten bleiben! Willſt du die Leiche
mitnehmen oder nicht?“


„Ich nehme beide, den Toten und den Lebendigen!“


„Ich will nicht grauſam ſein, ſondern dir verſprechen,
daß dieſer Mann nicht in dieſer unbequemen Lage bleiben
ſoll. Ich werde ihn mit herunter in die Stube nehmen.
Aber jeder Angriff gegen uns würde ſeinen Tod zur
Folge haben!“


Er legte die Hand auf meinen Arm und ſagte ernſt:


„Schon dieſer eine hier, welchen der Hund erwürgt
hat, fordert euern Tod. Oder kennen die Tſchermaki die
Blutrache nicht?“


„Was redeſt du von Blutrache? Ein Hund hat
einen Dieb erbiſſen. Das iſt kein Fall, welcher die Blut-
rache herausfordert!“


„Er fordert ſie, denn Blut iſt gefloſſen, und euer
Tier hat es vergoſſen.“


„Und wenn es ſo wäre, ſo geht es dich nichts an. Du
haſt ſelbſt zu mir geſagt, daß dieſe Diebe Fremdlinge ſind.“


[398]

„Es geht mich ſehr viel an, denn das Blut iſt in
meinem Dorfe gefloſſen, und die Anverwandten des Toten
werden die Rechenſchaft auch von mir und von allen
meinen Leuten fordern. Gieb beide heraus!“


„Nur den Toten!“


„Schweig!“ rief er nun laut, während wir bisher
ziemlich leiſe geſprochen hatten. „Ich befehle es dir aber-
mals. Und wenn du nicht gehorcheſt, ſo werde ich mir
Gehorſam zu verſchaffen wiſſen!“


„Wie wirſt du das machen?“


„Die Leiter liegt noch am Hauſe. Ich laß meine
Leute heraufkommen; ſie werden dich wohl zwingen!“


„Du vergiſſeſt dabei die Hauptſache: — unten be-
finden ſich vier Männer, die ſich vor keinem Menſchen
fürchten, und hier oben bin ich mit meinem Hunde.“


„Auch ich bin oben!“


„Du würdeſt ſofort unten ſein. Paß auf!“


Ehe er es vermuten konnte, faßte ich ihn unter dem
rechten Arm und beim linken Oberſchenkel und hob ihn
empor.


„Chodih!“ brüllte er.


Ich ließ ihn wieder nieder.


„Was hätte mich gehindert, dich hinabzuwerfen? Nun
gehe und ſage deinen Männern, was du gehört haſt!“


„Du giebſt dieſen Mann nicht heraus?“


„Einſtweilen noch nicht!“


„So behalte auch den Toten. Du wirſt ihn bezahlen
müſſen!“


Er ſtieg nicht wieder in das Innere des Hauſes,
ſondern gleich an der Leiter hinab, welche an der Außen-
ſeite desſelben lehnte.


„Und ſage deinen Leuten,“ rief ich ihm noch zu,
„daß ſie fortgehen und dieſe Leiter mitnehmen ſollen. Ich
[399] wünſche, dieſes Haus frei zu haben, und werde jedem,
der vor demſelben ſtehen bleibt, eine Kugel ſenden!“


Er hatte die Erde erreicht und ſprach leiſe mit den
Männern. Ebenſo leiſe wurde ihm geantwortet. Ich
konnte kein Wort verſtehen. Aber nach einiger Zeit
wurde die Leiter weggenommen, und die Verſammlung
zerſtreute ſich.


Erſt jetzt rief ich dem Hunde zu. Er ließ von dem
Manne ab, trat aber nur einen Schritt von ihm weg.


„Stehe auf!“ ſagte ich zu dem Kurden.


Dieſer erhob ſich ſchwerfällig und holte tief Atem.
Er war ſehr ſchmächtig von Geſtalt, und ſeine Stimme
hatte einen jugendlichen Klang, als er rief: „Chodeh!“ *)


Er ſprach nur dies eine Wort aus, aber es klang
aus demſelben die ganze Fülle der ausgeſtandenen Todesangſt.


„Haſt du Waffen bei dir?“


„Ich habe nur dieſen Dolch.“


Ich trat zur Sicherheit einen Schritt zurück.


„Lege ihn zu Boden und gehe zwei Schritte von der
der Stelle weg!“


Er that es, und ich hob den Dolch auf und ſteckte
ihn zu mir.


„Jetzt komm herunter!“


Der Hund blieb oben, und wir ſtiegen hinab, wo
die andern meiner warteten. Ich erzählte ihnen nun, was
ſich oben zugetragen hatte. Der Engländer betrachtete
ſich den Gefangenen, welcher höchſtens im Anfang der
zwanziger Jahre ſtehen konnte, und ſagte dann:


„Maſter, dieſer Kerl ſieht ſehr ähnlich! Dem Alten!
Yes!


Jetzt fand ich dies auch; vorher hatte ich es nicht
bemerkt.


[400]

„Wahrhaftig! Sollte es ſein Sohn ſein?“


„Sicher! Sehr ſicher! — Fragt ihn einmal, den
Schlingel!“


Verhielt es ſich ſo, dann war allerdings die Sorge
des Nezanum um dieſen Menſchen ſehr begründet; aber
dann lag auch ein ganz außerordentlicher Bruch der Gaſt-
freundſchaft vor.


„Wer biſt du?“ fragte ich den Gefangenen.


„Ein Kurde,“ antwortete er.


„Aus welchem Ort?“


„Aus Mia.“


„Du lügſt!“


„Herr, ich ſage die Wahrheit!“


„Du biſt aus dieſem Dorfe!“


Er zögerte nur einen Augenblick, aber es war genug,
um mir zu verraten, daß ich recht hatte.


„Ich bin aus Mia!“ wiederholte er.


„Was thuſt du hier ſo weit von deiner Heimat?“


„Ich bin als Bote des Nezanum von Mia hier.“


„Ich glaube, du kennſt den Nezanum von Mia nicht
ſo gut wie den hieſigen; denn du biſt der Sohn des
letzteren!“


Jetzt erſchrak er förmlich, obgleich er ſich Mühe gab,
dies nicht merken zu laſſen.


„Wer hat dir dieſe Lüge geſagt?“ fragte er.


„Ich laſſe mich nicht belügen — weder von dir
noch von anderen. Ich werde bereits in der Frühe wiſſen,
wer du biſt, und dann giebt es keine Gnade, falls du
mich betrogen haſt!“


Er blickte verlegen vor ſich nieder. Ich mußte ihm
zu Hilfe kommen: „Wie du dich verhältſt, ſo wirſt du
behandelt. Biſt du aufrichtig, ſo will ich dir verzeihen,
weil du zu jung warſt, um dir alles vorher zu überlegen.
[401] Verharrſt du aber in deiner Verſtocktheit, ſo giebt es keine
andere Geſellſchaft für dich, als meinen Hund!“


„Chodih, du wirſt es doch erfahren,“ antwortete er
nun. „Ja, ich bin der Sohn des Nezanum.“


„Was ſuchtet ihr in dieſem Hauſe?“ fuhr ich in
dem Verhöre fort.


„Die Pferde!“


„Wie wolltet ihr ſie fortbringen?“


„Wir hätten euch eingeriegelt und die beiden Thüren
geöffnet; dann waren die Pferde unſer.“


Dieſes Geſtändnis war gar nicht genug beſchämend
für ihn, denn bei den Kurden gilt der Pferdediebſtahl
ebenſo wie der offene räuberiſche Ueberfall für eine ritter-
liche That.


„Wer iſt der Tote, welcher oben liegt?“


„Der Beſitzer dieſes Hauſes.“


„Sehr klug! Er mußte vorangehen, weil er die
Schliche am beſten kannte. Aber warum biſt grad du
ihm gefolgt? Es waren doch noch andere und ſtärkere
Männer vorhanden!“


„Der Hengſt, welchen du ritteſt, Chodih, ſollte meinem
Vater gehören, und ich mußte dafür ſorgen, daß kein
anderer ihn beim Zügel ergriff; denn wer ein Pferd zu-
erſt ergreift, hat das Recht darauf.“


„Alſo dein Vater hat ſelbſt den Diebſtahl anbefohlen?
Dein Vater, welcher mir die Gaſtfreundſchaft zuſagte!“


„Er hat ſie dir zugeſagt, aber ihr ſeid dennoch nicht
unſere Gäſte.“


„Warum nicht?“ fragte ich verwundert.


„Ihr wohnt allein in dieſem Hauſe. Wo habt ihr
den Wirt, deſſen Gaſt ihr ſeid? Hättet ihr verlangt, daß
der Beſitzer dieſer Wohnung in derſelben bleiben ſolle,
ſo wäret ihr unſere Gäſte geweſen.“


II. 26
[402]

Hier bekam ich eine Lehre, welche mir ſpäter nützlich
ſein konnte.


„Aber dein Vater hat mir ja Sicherheit verſprochen
und gelobt!“


„Er braucht ſein Verſprechen nicht zu halten, da ihr
nicht unſere Gäſte ſeid.“


„Mein Hund hat den Wirt getötet. Iſt dies bei
euch ein Grund zur Blutrache?“


Er bejahte es, und ich examinierte weiter:


„Wer iſt der Rächer?“


„Der Tote hat einen Sohn hier.“


„Ich bin mit dir zufrieden. Du kannſt nach Hauſe
gehen!“


„Chodih,“ rief er freudig erſtaunt, „iſt dies dein Ernſt?“


„Ja. Ich habe dir geſagt, daß du behandelt werden
ſollſt ganz ſo, wie du dich verhältſt. Du biſt aufrichtig
geweſen, und ſo ſollſt du deine Freiheit haben. Sage
deinem Vater, daß die Tſchermaki ſehr friedliche Leute
ſind, die zwar keinem Menſchen nach dem Leben trachten,
aber ſich auch, wenn man ſie beleidigt oder gar angreift,
gehörig zu verteidigen wiſſen. Daß der Wirt geſtorben
iſt, das thut mir leid; aber er ſelbſt trägt die Schuld
daran, und ich werde den Rächer ſeines Blutes nicht
fürchten.“


„Du könnteſt ihm ja den Preis bezahlen. Ich will
mit ihm reden.“


„Ich bezahle nichts. Hätte der Mann uns nicht be-
rauben wollen, ſo wäre ihm nichts Uebles geſchehen.“


„Aber Herr, man wird euch töten, einen wie den
andern, ſobald der Tag anbricht!“


„Obſchon ich dir die Freiheit und das Leben geſchenkt
habe?“


„Ja, dennoch! Du biſt gut gegen mich, und darum
[403] will ich dich warnen. Man will eure Pferde, eure
Waffen und auch euer Geld haben, und ſo wird man
euch nicht erlauben, das Dorf zu verlaſſen, bis ihr dies
alles hergegeben habt. Und außerdem wird der Rächer
noch dein Blut verlangen.“


„Man wird weder unſer Geld noch unſere Waffen
und Pferde erhalten, und mein Leben ſteht in der Hand
Gottes, aber nicht in der Hand eines Kurden. Ihr habt
unſere Waffen geſehen, als ich nach einem Baum und
einem Zweige ſchoß; ihr werdet ihre volle Wirkung kennen
lernen — erſt dann, wenn wir auf Menſchen zielen.“


„Chodih, eure Waffen werden uns nichts thun; denn
wir werden uns in die beiden Häuſer legen, welche hier
gegenüber ſtehen, und können euch durch die Fenſter nieder-
ſchießen, ohne daß ihr uns zu ſehen bekommt.“


„Alſo eine Belagerung!“ bemerkte ich. „Sie wird
nicht lange dauern.“


„Das wiſſen wir. Ihr habt nichts zu eſſen und
zu trinken und müßt doch endlich geben, was wir ver-
langen,“ meinte der junge Kurde.


„Das fragt ſich ſehr! Sage deinem Vater, daß wir
Freunde des Bey von Gumri ſind.“


„Darauf wird er nicht hören. Ein Pferd iſt mehr
wert als die Freundſchaft eines Bey.“


„So ſind wir fertig. Du kannſt gehen; hier iſt dein
Dolch!“


„Chodih, wir werden euch die Pferde und alles an-
dere nehmen, aber wir werden euch als wackere und gute
Männer ehren!“


Das war ſo naiv, wie nur ein Kurde ſein kann.
Ich ließ ihn zur Thür hinaus, während ſich hinter mir
laute Stimmen erhoben.


„Maſter,“ rief Lindſay, „Ihr laßt ihn frei?“


[404]

„Weil es beſſer für uns iſt.“


„So erzählt doch! Was ſagte er? Muß alles
wiſſen! Yes!


Ich berichtete mein ganzes Geſpräch mit dem Kurden,
und die Nachricht, daß der Nezanum es ſei, dem wir den
Ueberfall zu verdanken hatten, brachte mir eine Flut der
kräftigſten Ausdrücke zu Gehör.


„Und du haſt dieſen Dieb freigelaſſen, Emir!“ ſagte
Mohammed Emin vorwurfsvoll. „Aber warum?“


„Zunächſt aus Teilnahme für ihn, ſodann aber auch
aus Berechnung. Behalten wir ihn hier, ſo iſt er uns
hinderlich, und wir müſſen ihn ſpeiſen, während wir ſelbſt
Mangel haben. Nun aber iſt er voll von Dankbarkeit
gegen uns und wird eher zur Sühne als zum Streite
raten. Wir wiſſen nicht, was vorkommen kann, und
werden nur dann ſicher ſein und ohne Erſchwerung han-
deln können, wenn wir unter uns allein ſind.“


Dieſe Anſicht erhielt die Zuſtimmung aller. Vom
Schlafe war ohnehin keine Rede mehr, und ſo beſchloſſen
wir, auf unſerer Hut zu ſein.


Da ſtieß mich Halef am Arm und ſagte:


„Sihdi, da haſt du doch nun Zeit, an das Geſchenk
zu denken, welches mir der Mann in Amadijah für dich
gegeben hat.“


Ja richtig, an das Etui hatte ich ja gar nicht mehr
gedacht.


„Bringe es her!“


Ich öffnete und konnte einen Ruf der Bewunderung
nicht unterdrücken. Das Etui war von ſehr ſchöner, ſau-
berer Arbeit, aber was war es im Vergleich zu ſeinem
Inhalt! Ein perſiſches Kaliuhn *) zum Tabakrauchen beim
Reiten befand ſich darin. Es war eine teuere Pfeife, um
[405] deren Beſitz mich ſogar der Engländer beneiden wollte.
Schade, daß ich ſie nicht gleich anrauchen konnte, da wir
nur einige Schlücke Waſſer hatten!


„Gab er dir auch etwas, Halef?“ fragte ich den Diener.


„Ja, Sihdi. Fünf goldene Medſchidje. Sihdi, es
iſt doch manchmal gut, daß Allah auch tolle Kirſchen
wachſen läßt, wie du jene Beere nennſt. Allah illa Allah!
Er weiß am beſten, was er thut!“ — —


Als der Tag zu grauen begann, begaben wir uns
auf das Dach, von wo aus wir den größten Teil des
Dorfes überblicken konnten. Wir ſahen nur in der Ferne
einige Männer ſtehen, welche unſer Haus zu beobachten
ſchienen; in der Nähe aber regte ſich niemand. Nach
kurzer Zeit that ſich jedoch die Thüre eines der gegen-
überliegenden Häuſer auf, und es traten zwei Männer
hervor, welche zu uns herüberkamen. Auf der Mitte des
Weges blieben ſie ſtehen.


„Werdet ihr ſchießen?“ fragte der eine.


„Nein. Ihr habt uns ja noch nichts gethan,“ ant-
wortete ich.


„Wir ſind ohne Waffen. Dürfen wir den Toten
holen?“


„Kommt herauf!“


Halef ſtieg hinab, um die Thüre zu öffnen, und die
beiden Kurden kamen auf das Dach.


„Seid ihr verwandt mit dem Toten?“ redete ich ſie an.


„Nein. Wenn wir Verwandte desſelben wären,
kämen wir nicht herauf zu dir, Chodih.“


„Warum nicht?“


„Wir könnten ihn beſſer rächen, wenn du uns nicht
kennſt.“


Wieder eine Lehre, welche mir bewies, wie viel ein
Menſch zu lernen hat.


[406]

„Schafft ihn fort!“ ſagte ich.


„Wir haben dir zuvor eine Botſchaft von dem Ne-
zanum auszurichten.“


„Was läßt er uns ſagen?“


„Er ſendet dir ſeinen Dank dafür, daß du ihm den
Sohn geſchickt haſt, der doch in deinen Händen war.“


„Iſt dies alles?“


„Sodann fordert er von euch die Pferde, die Waffen
und alles Geld, das ihr bei euch habt. Dann ſollt ihr
in Frieden ziehen dürfen. Eure Kleider hat er nicht ver-
langt, weil du barmherzig gegen ſeinen Sohn geweſen biſt.“


„Sagt ihm, daß er nichts bekommen wird.“


„Du wirſt es dir anders überlegen, Chodih! Aber
wir haben dir auch noch eine andere Botſchaft zu bringen.“


„Von wem?“


„Von dem Sohne dieſes Toten.“


„Was läßt er mir ſagen?“


„Du ſollſt ihm dein Leben geben.“


„Ich will es ihm geben.“


„Herr, iſt dies wahr?“ fragte der Mann erſtaunt.


„Ja. Sage ihm, er ſoll zu mir kommen und es ſich
mitnehmen!“


„Herr, du ſcherzeſt in einer ernſten Sache. Wir haben
den Auftrag, dein Leben oder den Blutpreis zu fordern.“


„Wie viel verlangt er?“


„Vier ſolche Gewehre, wie du haſt, mit denen man
immerfort ſchießen kann, und fünf ſolche kleine Piſtolen,
aus der du ſechs Schüſſe thateſt. Sodann drei Pferde
und zwei Maultiere.“


„Ich habe dieſe Sachen nicht!“


„So ſchickſt du nach ihnen und bleibſt ſo lange hier,
bis ſie kommen.“


„Ich gebe nichts!“


[407]

„So wirſt du ſterben müſſen. Siehſt du den Gewehr-
lauf dort aus dem Fenſter ragen? Das iſt ſein Gewehr.
Von dem Augenblick an, da ich ihm deine Antwort bringe,
wird er auf dich ſchießen.“


„Er mag es thun.“


„Und ihr wollt auch das andere nicht geben?“


„Nein. Holt euch ſelbſt unſere Habe!“


„So mag der Kampf beginnen!“


Sie hoben ihren Toten auf und trugen ihn auf der
Leiter hinab und zum Hauſe hinaus. Wir verriegelten
hinter uns die Thüre. Natürlich mußte ich den Gefährten
die Forderung der beiden Abgeſandten verdolmetſchen.
Die Araber waren ſehr ernſt; ſie kannten die Tücken und
Grauſamkeiten der Blutrache zu genau; aber der Eng-
länder ſchnitt ein vergnügtes Geſicht.


„Oh, herrlich! Belagerung! Bombardement! Breſche
ſchießen! Sturm laufen! Well! Werden es aber nicht
thun, Sir!“


„Sie werden es thun, Maſter Lindſay; ſie werden
uns bombardieren und auf uns ſchießen, ſobald wir uns
ſehen laſſen, denn — — —“


Als augenblickliche Beſtätigung meiner Worte fiel ein
Schuß, noch einer, drei, vier — — — und dazu hörten
wir Dojan laut auf dem Dache bellen. Ich eilte zur
Leiter empor und ſteckte den Kopf vorſichtig aus der Boden-
öffnung heraus. Es bot ſich mir ein ſpaßhafter Anblick.
Man ſchoß aus den beiden Häuſern da drüben auf den
Hund. Dieſer merkte das und bellte die an ihm vorüber-
fliegenden Kugeln an. Ich rief ihn zu mir her, nahm
ihn auf die Arme und trug ihn hinab.


„Seht Ihr's, Maſter, daß ich recht habe? Sie
ſchoſſen bereits auf den Hund.“


Well! Werde probieren, ob auch auf Menſchen!“


[408]

Er öffnete die Thüre des Hauſes und trat zwei
Schritte vor dasſelbe hinaus.


„Was fällt Euch ein, Sir! Wollt Ihr gleich herein-
kommen?“


„Pſhaw! Haben ſchlechtes Pulver. Hätten ſonſt den
Hund getroffen!“


Drüben krachte ein Schuß, und die Kugel flog in die
Mauer. Lindſay ſah ſich um und deutete mit dem Zeige-
finger auf das Loch, welches ſie gebohrt hatte, um dem
Schützen zu zeigen, daß er auf beinahe vier Ellen weit
gefehlt habe. Eine zweite Kugel hätte ihn beinahe ge-
troffen; da trat ich hinaus, faßte ihn und ſchob ihn hinein.
Nun erſcholl drüben ein lauter Schrei; ein dritter Schuß
krachte, und die Kugel traf ganz in der Nähe meiner
Achſel an die Kante der Thüre. Das war ſicher des
Toten Sohn geweſen, welcher mir durch ſeinen Ruf
andeuten wollte, daß die Kugel aus dem Gewehre des
Bluträchers komme. Es war alſo nun wirklich Ernſt
geworden.


„Sihdi,“ meinte Halef, „ſchießen wir nicht auch?“


„Jetzt noch nicht.“


„Warum jetzt nicht? Wir ſchießen beſſer wie ſie, und
wenn wir auf ihre Fenſter zielen, ſo werden ſie ſich ſehr
in acht zu nehmen haben.“


„Das weiß ich. Aber wir wollen zunächſt ſehen, ob
wir ihnen nicht entrinnen können, ohne einen von ihnen
töten zu müſſen. Es iſt genug an dem Erbiſſenen.“


„Wie wollen wir entrinnen? Sobald wir mit den
Pferden vor die Thüre kommen, werden wir Kugeln er-
halten.“


„Aber dieſe Leute wollen ja die Pferde haben und
werden dieſe alſo nicht treffen wollen. Wenn wir uns
hinter die Tiere verſtecken, ſo ſchießen ſie vielleicht nicht.“


[409]

„Oh, Sihdi, ehe ſie uns mit den Pferden entkommen
laſſen, werden ſie dieſelben lieber töten!“


Das war allerdings wahr. Ich ſann und ſann, um
ein Mittel zu finden, uns ohne Blutvergießen aus dieſer
fatalen Lage zu befreien; vergeblich! Da erbarmte ſich der
Engländer meiner.


„Worüber nachdenken, Sir?“


Ich ſagte es ihm.


„Warum ſollen wir nicht ſchießen, wenn ſie ſchießen?
Dann ſind einige kurdiſche Diebe weniger! Was weiter?
Könnten fortkommen, ganz gut! Ohne einen Schuß! —
Hm! Geht aber nicht!“


„Warum nicht?“


„Blamieren uns! Würde ausſehen wie Flucht! Wäre
ſkandalös!“


„Das kann uns gleichgültig ſein. Ihr wißt, Sir,
daß ich mich gewiß nicht zu etwas entſchließen werde, was
uns in Wirklichkeit blamiert. Alſo ſagt mir Euren Plan.“


„Müſſen erſt wiſſen, ob wir auch von hinten belagert
werden.“


„Da giebt es kein Gebäude.“


„Aber vom Felde aus!“


„Nun, weiter!“


„Könnten ja ein Loch in die Mauer machen!“


„Ah, wirklich; das iſt kein übler Gedanke!“


Well! Sehr gut! Ausgezeichnet! Kommt von Maſter
Lindſay! Yes!


„Aber die Werkzeuge fehlen uns!“


„Habe ja meine Hacke!“


Allerdings hatte er ſein ‚Häcklein‘ ſtets am Sattel
mit ſich geführt; das Ding aber paßte wohl, um das Loch
für eine Pflanze in ein Gartenbeet zu machen, nicht aber,
um eine Mauer einzureißen.


[410]

„Dieſe Hacke iſt zu ſchwach, Sir. Vielleicht iſt im
Hofe ein Werkzeug zu finden. Kommt heraus!“


Ich teilte den anderen den Plan des Engländers
mit, und ſie begleiteten uns. Ich ſtieg auf die Mauer
und ſah, daß man dieſer Seite des Hauſes gar keine Be-
achtung geſchenkt habe; denn nirgends war ein Menſch
zu ſehen. Die Kurden nahmen jedenfalls an, daß wir der
Pferde wegen das Haus nur durch den vorderen Eingang
verlaſſen könnten, und daß ſie infolgedeſſen nur dieſen
zu blockieren brauchten, um uns in der Falle zu fangen.


„Hier!“ hörte ich Lindſay rufen. „Hier iſt etwas,
Sir!“


Das Ding, welches er triumphierend in die Höhe hob,
glich einem an ſeiner Spitze mit Eiſen beſchlagenen Hebe-
baume und war ganz geeignet, ein Stück der alten Mauer
in Breſche zu legen.


„Das geht! Nun haben wir dafür zu ſorgen, daß
wir ungeſtört arbeiten können und bei den Schützen da
drüben keinen Verdacht erwecken. Halef mag die Pferde
in den Hof ſchaffen; Amad legt ſich auf das Dach, um
Wache zu halten, damit niemand bemerkt, was wir hier
thun. Ich und Lindſay werfen die Mauer um, und
Mohammed mag zuweilen durch das Fenſter einen Schuß
abgeben, damit ſie denken, daß wir uns alle in der Stube
befinden. Gelingt es uns, auf dieſe Weiſe hinauszukom-
men, ſo brauchen wir doch darum noch keine ehrloſe Flucht
zu ergreifen, ſondern wir reiten in Parade an ihnen vor-
über. Sie werden vor Erſtaunen ganz ſicher das Schießen
vergeſſen.“


Dieſe Arbeitsteilung bewährte ſich ganz vortrefflich.
Halef beſchäftigte ſich mit den Pferden; der Haddedihn
hielt in aller Gemütsruhe ſeine Schießübungen, und der
Engländer bohrte energiſch an der Mauer herum. Es
[411] galt dabei, das Zerſtören der Mauer nicht oben, wo es
ſehr leicht geworden wäre, zu beginnen; denn das hätte
uns verraten können. Wir mußten von innen und unten
arbeiten, damit man unſere Abſicht erſt dann bemerken
könnte, wenn einige kräftige Stöße genügten, das Werk
zu vollenden.


Endlich hatten wir den erſten, großen Stein heraus,
und nun folgten die anderen Steine bald nach. Als wir
faſt zu Ende waren, wurden die beiden Haddedihn ge-
rufen. Ein jeder ſtellte ſich an ſein Pferd. Maſter Lindſay
ergriff den Hebebaum zum letzten Stoße.


„Jetzt alles umrennen! Yes!


Er nahm einen Anlauf, ſtürzte vorwärts und prallte
mit ſolcher Wucht an die Mauer, daß er niederſtürzte;
aber die letzten Steine praſſelten auch zu Boden. Nun
wurde in dem Schutt noch ein wenig Bahn gebrochen,
dann ſtiegen wir auf die Pferde. Ein tüchtiger Satz
brachte uns über das Geröll hinweg und durch die Breſche
hinaus ins Freie. Die Not war zu Ende, noch ehe ſie
begonnen hatte, und wir verließen eine Herberge, ohne die
Rechnung berichtigen zu müſſen.


„Wohin jetzt?“ fragte Lindſay.


„Im langſamen Trab um die Ecke des Hauſes herum
und dann im Schritt durch das Dorf. Reitet Ihr voran!“


Er that es. Ihm folgten die drei Araber, und ich
machte den Schluß. Wir kamen zwiſchen unſerer ver-
laſſenen Wohnung und den beiden Häuſern, aus denen
man auf uns geſchoſſen hatte, hindurch, und meine Vor-
ausſetzung traf wirklich ein: — es fiel kein einziger Schuß
auf uns. Aber wir waren noch gar nicht weit gekommen,
ſo erhoben ſich hinter uns laute Rufe. Jetzt gaben wir
den Pferden die Sporen und jagten zum Dorfe hinaus.


Hier ſahen wir, daß die ſämtlichen Pferde des Dorfes
[412] ſich auf der Weide befanden. Sie graſeten in ziemlicher
Entfernung von dem Dorfe, ſo daß wir hoffentlich einen
guten Vorſprung gewannen, ehe ſie von ihren Reitern
beſtiegen werden konnten.


Der Weg ging durch ebenes, aber wohl bewäſſertes
Land, welches uns Gelegenheit gab, die Schnelligkeit
unſerer Pferde vollſtändig zur Entfaltung zu bringen;
nur nicht in Beziehung auf meinen Rappen, der ver-
langend in die Zügel knirſchte und doch gezügelt wurde,
weil ſonſt die andern weit zurückgeblieben wären.


Endlich bemerkten wir hinter uns eine breite Linie
von Reitern, welche uns verfolgten.


Mohammed Emin warf jetzt einen beſorgten Blick auf
das Pferd, welches ſein Sohn ritt, und ſagte: „Wenn
wir dieſes Pferd nicht hätten, ſo würden ſie uns wohl
nicht erreichen.“


Er hatte recht. Es war das beſte Pferd, welches in
Amadijah überhaupt zu bekommen geweſen, und dennoch
hatte es einen harten Gang und eine ſo mühſame Atmung,
daß es bei einem langen Schnellritt ſicherlich ſehr bald
zuſammengebrochen wäre.


„Sihdi,“ fragte Halef, „du willſt keinen Kurden töten!“


„So lange es zu vermeiden iſt, nein.“


„Aber auf ihre Pferde können wir doch wohl ſchießen?“


„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben.“


Er nahm ſeine lange, arabiſche Flinte von der Schulter
und ſah nach dem Schloſſe. Auf fünfhundert Schritt Ent-
fernung hatte er mit dieſem Gewehre ſein Ziel noch nie
verfehlt, und meine Büchſe trug noch weiter.


Die Verfolger kamen uns immer näher. Ihr lautes
Geſchrei klang ganz anders als dasjenige, welches man
bei einer Phantaſia, einem Dſcheridwerfen, einem Schein-
gefechte zu hören bekommt: ſie machten Ernſt. Einer ritt
[413] allen andern voran. Sie näherten ſich auf vielleicht fünf-
hundertfünfzig Schritt; er aber jagte näher, hielt ſein Roß
an, zielte und ſchoß. Dieſer Mann beſaß eine gute Flinte.
Wir ſahen ganz in unſerer Nähe von einem Steine, wel-
chen die Kugel getroffen hatte, einige Splitter abfliegen.
Es war ein noch junger Kurde, vielleicht der Bluträcher.


Well!“ meinte der Engländer, indem er ſeine Büchſe
nahm und das Pferd herumwandte; „geh herunter, Boy!“


Er legte an und drückte ab. Das Pferd des Kurden
that einen Satz, taumelte und brach zuſammen.


„Kann nach Hauſe gehen! Yes!


Dieſem kaltblütigen, ſicheren Schuſſe folgte ein lautes
Schreien der Kurden. Sie hielten an und ſprachen mit-
einander, folgten uns aber alsbald wieder nach. In kurzer
Zeit erreichten wir einen breiten Bach, über den es keine
Brücke gab. Er war reißend und tief, ſo daß wir eine
Stelle ſuchen mußten, an welcher der Uebergang ſich am
beſten bewerkſtelligen ließ. Dies gab uns natürlich Blößen.
Die Kurden hielten. Einige von ihnen aber ritten etwas
vor, ſaßen ab und ſtellten ſich hinter ihre Pferde. Wir
ſahen, daß ſie die Läufe ihrer Flinten über die Rücken
ihrer Pferde legten.


Schnell waren wir auch von unſeren Tieren und
thaten dasſelbe. Einen Augenblick nach ihren Schüſſen —
nur ich ſchoß noch nicht — krachten auch die unſerigen,
welche zeigten, daß wir die beſſeren Schießeiſen beſaßen.
Von unſeren vier Schüſſen erreichten drei ihr Ziel, wäh-
rend nur eine einzige Kurdenkugel das Pferd des Eng-
länders am Schwanz geſtreift hatte. Lindſay ſchüttelte
den Kopf.


„Haben ſchlechte Begriffe!“ meinte er. „Miſerable
Begriffe! Wollen ein Pferd von hinten erſchießen! Kann
nur Kurden paſſieren!“


[414]

„Sucht eine Furt!“ riet ich nun. „Halef und ich
werden die Kerle in Reſpekt halten!“


Die Beſitzer der getroffenen Pferde waren eilig zu
den Ihrigen zurückgekehrt. Zwei aber hielten noch ſtand.
Ich ſah, daß ſie wieder luden.


„Sihdi, ſchieße nicht,“ bat Halef. „Laß mir allein
die Ehre!“


„Gut ſo!“


Er lud ſeinen abgeſchoſſenen Flintenlauf wieder und
legte an. Gleichzeitig mit ihren Schüſſen ließ er auch zwei-
mal hintereinander krachen. Der kleine Hadſchi hatte ganz
gut getroffen. Eines der Pferde brach an Ort und Stelle
zuſammen — er hatte es wohl durch den Kopf geſchoſſen
— und das andere ſprang wiehernd in langen Sätzen über
die Ebene dahin. Von den Kugeln der beiden Kurden
aber hatten wir nichts geſpürt.


„Wenn dies ſo fortgeht, Sihdi,“ lachte Halef, „ſo
haben ſie ſehr bald keine Pferde mehr und tragen das
Sattelzeug ſelbſt nach Hauſe. Siehſt du, wie ſie zurück-
laufen zu den andern? Sag' dieſen doch, daß auch ſie ſich
zu nahe herangewagt haben!“


„Eine Warnung ſollen ſie allerdings haben.“


Sie hielten wieder beiſammen, und einige Schritte
vor ihnen befand ſich der Nezanum, welcher eifrig mit
ihnen ſprach. Sie hatten wohl noch kein Gewehr gekannt,
deſſen Kugel eine ſolche Strecke, wie die zwiſchen uns
liegende, zu durchfliegen vermochte, und hielten ſich alſo
für vollſtändig ſicher. Sie ſahen daher auch erſtaunt nach
mir, als ich hinter meinem Pferde hervortrat und die
Büchſe anlegte. Ein Knall — und im nächſten Moment
lag der Nezanum am Boden, und ſein Pferd wälzte ſich
über ihm. Ich zielte etwas weiter nach rechts und traf
auch das nächſte Pferd. Die Kurden jagten nun mit einem
[415] lauten Geſchrei weit zurück, und die pferdeloſen Reiter
ſprangen unter Verwünſchungen hinter ihnen drein. Dieſe
Leute hatten von geſtern her zu viel Reſpekt vor unſern
Waffen, ſonſt wären wir doch verloren geweſen.


Jetzt ließen ſie uns Muße, eine Furt zu ſuchen, die wir
auch bald fanden. Wir gingen über den Bach und eilten
dann ſo ſchnell vorwärts, als das Pferd Amads laufen konnte.


Das Thal von Berwari wird durch viele Flüßchen
bewäſſert, welche von dem Gebirge herabſtrömen und ſich
mit einem Arme des Khabur vereinigen, der in den großen
Zab mündet. Dieſe Waſſerläufe ſind mit Gebüſch um-
ſäumt und die zwiſchen ihnen liegenden Ebenen von zahl-
reichen Eichen, Pappeln und anderen Laubbäumen beſtan-
den. Bewohnt wird das Thal teils von Berwari-Kurden,
teils von neſtorianiſchen Chriſten; doch ſind die Dörfer
der letzteren meiſt verlaſſen.


Wir hatten die Verfolger aus dem Geſicht verloren
und kamen zu einigen Dörfern, die wir aber in einem
möglichſt weiten Bogen umritten, da wir nicht wiſſen
konnten, wie man uns begegnen werde. Einige einzelne
Männer, welche im Freien beſchäftigt waren, bemerkten
uns aber doch. Wir ritten raſch weiter.


Leider kannten wir den Weg nicht genau, welchen
wir einzuſchlagen hatten. Ich wußte nur, daß Gumri im
Norden liege; dies war die einzige Kenntnis, die uns als
Führer dienen konnte. Die vielen Waſſerläufe, welche wir
paſſierten, hielten uns auf und nötigten uns zu manchem
Umweg. Endlich gelangten wir an ein Dorf, welches nur
aus einigen Häuſern beſtand. Es war nicht gut zu um-
reiten, weil es auf der einen Seite an das tiefe Bett
eines Baches und auf der andern Seite an ein ziemlich
dichtes Gehölz ſtieß. Das Dorf ſchien ganz verödet zu
ſein, und wir ritten völlig unbeſorgt darauf los.


[416]

Schon waren wir an dem erſten Hauſe vorbei, da
krachten Schüſſe. Sie kamen aus den Fenſteröffnungen
der Häuſer. —


Zounds!“ rief der Engländer und griff ſich an den
linken Oberarm.


Eine Kugel hatte ihn getroffen. Ich ſelbſt lag am
Boden, und mein Pferd rannte im Galopp davon. Ich
ſtand auf, eilte ihm nach und kam glücklich zum Dorfe
hinaus, obgleich auch aus den anderen Häuſern mehrere
Schüſſe auf mich fielen. Eine Blutſpur zeigte mir, daß
mein Rappe verwundet worden ſei. Da dachte ich nicht
mehr an die Gefährten; ohne umzublicken, rannte ich vor-
wärts und fand das Pferd an dem Rande jenes Gehölzes,
wo es ſtehen geblieben war. Die Kugel hatte es hart
hinter dem Genick am oberen Hals geſtreift und eine zwar
nicht gefährliche, aber doch ſchmerzhafte Wunde geriſſen.
Ich war noch mit der Unterſuchung derſelben beſchäftigt,
als die Gefährten mich erreichten. Sie hatten einige un-
nütze Kugeln verſchoſſen und waren mir dann gefolgt,
ohne weiteren Schaden zu erleiden. Der Engländer blutete
am Oberarm.


„Iſt's gefährlich, Sir?“ fragte ich ihn.


„Nein. Ging nur ins Fleiſch. Wißt Ihr, wer es
war? Der Nezanum!“


„Nicht möglich!“


„Schoß vom Dache herab. Habe ihn deutlich geſehen!“


„So haben ſie uns den Weg abgeſchnitten und uns
in dieſem verlaſſenen Dorf einen Hinterhalt gelegt. Ein
Glück für uns, daß ſie ſich nicht alle auf die Dächer po-
ſtierten! Wir wären verloren geweſen. Aus den Fenſter-
ſpalten aber kann man auf Vorüberreitende keinen ſichern
Schuß haben.“


„Seid ſchön heruntergeflogen, Maſter!“ neckte er mich.


[417]

„War ſehr intereſſant, als man Euch dem Gaul nach-
laufen ſah! Yes!


„Ich gönne Euch dieſe Freude, Sir. Doch vorwärts
jetzt!“


„Vorwärts? Ich denke, wir müſſen ihnen vorher
unſern Dank abſtatten!“


„Damit würden wir uns in neue Gefahr begeben,
und übrigens iſt es notwendig, Euch zu verbinden, und
dies muß doch nicht hier in ſo unmittelbarer Nähe des
Feindes geſchehen!“


Well! So kommt!“


Der kleine Hadſchi Halef Omar war damit nicht ein-
verſtanden.


„Sihdi,“ meinte er, „wollen wir dieſen Kurden nicht
eine Lehre geben und es ihnen unmöglich machen, uns
weiter zu verfolgen?“


„Wie willſt du dies thun?“


„Wo glaubſt du, daß ſie ihre Pferde haben?“


„Einige davon vielleicht in den Häuſern, die anderen
aber ganz ſicher außerhalb des Dorfes in irgend einem
Verſteck.“


„So laß uns dieſen Verſteck ſuchen und ihnen die
Tiere wegnehmen! Schwer wird dies nicht ſein; ſie ge-
trauen ſich im offenen Felde ſicher nicht an uns heran
und haben wohl auch keine zahlreiche Bewachung bei den
Pferden gelaſſen.“


„Willſt du ein Pferdedieb werden, Halef?“


„Nein, Sihdi. Aber willſt du das, was ich dir vor-
ſchlage, einen Diebſtahl nennen?“


„In dieſem Fall der Notwehr wohl nicht; doch wäre
es wenigſtens ſehr unvorſichtig gehandelt. Wir würden
Zeit brauchen, um das Verſteck zu finden, und müßten
vielleicht mit den Wächtern kämpfen, was ganz unnötig
II. 27
[418] iſt, da wir Gumri bald erreichen werden und uns als-
dann in Sicherheit befinden.“


Wir ſetzten alſo unſern Ritt fort und bemerkten nach
einiger Zeit, daß die Kurden uns wieder folgten. Sie
hielten ſich ſo weit von uns entfernt, daß wir uns in voll-
ſtändiger und gegenſeitiger Sicherheit befanden. Später
verloren wir ſie an einer Krümmung aus dem Auge und
erblickten ſie dann wieder vor uns. Sie hatten uns um-
ritten, um entweder uns abermals den Weg zu verlegen,
oder um uns in Gumri zuvorzukommen. Wir bemerkten
ſehr bald, daß letzteres beabſichtigt ſein müſſe; denn vor
uns ſtiegen nun, allerdings in noch weiter Entfernung, die
Umriſſe des iſolierten Felſens empor, auf welchem Kalah
Gumri liegt. Dieſes iſt eigentlich nur ein ſchwaches, aus
Lehm erbautes Fort, mit dem einige wenige Geſchütze leicht
fertig werden könnten; es wird aber von den Kurden für
eine ſehr ſtarke Feſtung gehalten.


Wir hatten uns dieſem Ort bis auf eine Entfernung
von vielleicht einer engliſchen Meile genähert, als uns
plötzlich ein wildes Geſchrei umtobte und aus den nahen
Büſchen mehrere hundert kurdiſche Krieger hervorſprangen
und auf uns eindrangen. Lindſay riß die Büchſe empor.


„Um Gottes willen, Sir, nicht ſchießen!“ rief ich ihm
zu und ſchlug ihm den Lauf des Gewehres nieder.


„Warum?“ fragte er. „Fürchtet Ihr Euch, Maſter?“


Ich hatte keine Zeit zur Antwort. Die Kurden waren
ſchon bei uns und zwiſchen uns und drängten uns aus-
einander. Ein junger Menſch trat auf meinen im Steig-
bügel ruhenden Fuß, ſchwang ſich empor und holte mit
dem Dolch zum Stoße aus. Ich riß ihm die Waffe aus
der Hand und ſchleuderte ihn hinab. Dann packte ich einen
anderen beim Arm.


„Du biſt mein Beſchützer!“ rief ich ihm zu.


[419]

Er ſchüttelte den Kopf.


„Du biſt bewaffnet!“ antwortete er.


„Ich vertraue dir alle Waffen an. Hier, nimm ſie!“


Er nahm meine Waffen an und legte dann die Hand
auf mich.


„Dieſer iſt mein auf den ganzen Tag,“ erklärte er
laut.


„Und die andern auch,“ fügte ich hinzu.


„Sie haben nicht um Schutz gebeten,“ wehrte er ab


„Ich thue es an ihrer Stelle. Sie reden eure Sprache
nicht.“


„So mögen ſie ihre Waffen ablegen, dann will ich
ihr Hal-am *) ſein.“


Die Entwaffnung ging ſehr ſchnell vor ſich, obgleich
keiner der Gefährten mit meinem Verfahren zufrieden war.
Ausgenommen den einen, welcher den Dolch auf mich ge-
zückt hatte, ſchien es, als ob die Kurden jetzt weniger nach
unſerem Leben als vielmehr danach trachteten, unſere Per-
ſonen in ihre Gewalt zu bekommen. Jener eine aber
fixierte mich mit ſo grimmigen Blicken, daß ich in ihm
den Bluträcher vermuten mußte, und dies beſtätigte ſich
auch ſehr bald; denn als wir uns in Bewegung ſetzten,
erſah er die Gelegenheit, zog den Dolch und warf ſich auf
meinen Hund. Doch dieſer war ſchneller als der Mann.
Er fuhr zurück, um dem Stoße auszuweichen, und faßte
dann den Feind gleich über dem Griffe des Dolches am
Handgelenk. Wir hörten zwiſchen den gewaltigen Zähnen
des Tieres die Knochen knirſchen. Der Kurde ſtieß einen
Schrei aus und ließ den Dolch fallen. Sofort riß ihn der
Hund zu Boden und packte ihn an der Kehle. Einige
Dutzend Flinten richteten ſich auf das mutige Tier.


[420]

„Katera Chodeh!“ rief ich. „Um Gottes willen die
Flinten weg, ſonſt erwürgt er ihn!“


Eine Kugel, welche den Hund nicht augenblicklich
tötete, wäre der Tod des Kurden geweſen. Die Krieger
ſahen das ein, und da keiner von ihnen ſeines Schuſſes
ganz ſicher ſein mochte, ſo ſenkten ſie die Gewehre.


„Rufe den Hund weg!“ gebot mir einer.


„Dieſe Beſtie war es, die meinen Nachbar tötete!“
rief eine andere Stimme. Dieſelbe gehörte dem Nezanum
an, der hinter einem Strauch hervortrat. Er hatte die
weiſe Vorſicht gebraucht, ſich bis jetzt in gehöriger Ent-
fernung zu halten.


„Du haſt recht, Nezanum,“ antwortete ich. „Und er
wird auch das Genick dieſes Mannes zermalmen, wenn
ich es ihm gebiete.“


„Rufe ihn weg!“ wiederholte der vorige Sprecher.


„Sage mir zuvor, ob dieſer Mann da der Rächer iſt!“


„Er iſt es, der den Heif *) hat.“


„So will ich euch zeigen, daß ich ihn nicht fürchte.
— Dojan, geri — zurück!“


Der Hund ließ von dem Kurden ab. Dieſer erhob
ſich. Der Schmerz ſeiner Hand war ſo groß, daß er ihn
kaum verwinden konnte; noch größer aber war ſeine Wut.
Er trat hart zu mir heran und ſchüttelte drohend das
verwundete Glied.


„Dein Hund hat mir die Kraft meines Armes ge-
nommen,“ knirſchte er. „Aber glaube ja nicht, daß ich
nun die Rache einem andern überlaſſen werde. Ez heïfi
cho-e deſti cho-e bigerim tera — ich werde mit eigner Hand
an dir Rache nehmen!“


„Du redeſt wie ein Bak **), vor deſſen Quaken ſich
[421] niemand fürchten kann!“ antwortete ich. „Reiche mir deinen
Arm, daß ich ihn unterſuche und verbinde!“


„Du biſt ein Arzt? Ich mag von dir kein Derman
haben, und wenn ich ſterben müßte. Aber du wirſt Der-
man *) von mir erhalten, und zwar ſo viel, daß du genug
daran haben ſollſt. Das verſpreche ich dir!“


„Ich höre, daß dich bereits das Ta **) ergriffen hat,
ſonſt würdeſt du deine Hand zu retten ſuchen.“


„Die Deka ***) von Gumri wird mir helfen. Sie iſt
ein größerer Arzt als du!“ antwortete er verächtlich. „Du
und dieſer Tazi, ihr ſeid zwei Hunde und ſollt auch wie
Hunde ſterben!“


Er wickelte die Hand in einen Zipfel ſeines Gewan-
des und hob den Dolch auf. Wir wurden in die Mitte
genommen, und der Zug ſetzte ſich in Bewegung. Keiner
der Kurden hatte ein Pferd bei ſich; die Tiere waren in
Gumri zurückgelaſſen worden. Ich war ein wenig beſorgt
um uns, aber wirkliche Angſt empfand ich nicht.


Schweigend ſchritten die Kurden neben uns her und
waren augenſcheinlich nur darauf bedacht, uns nicht ent-
fliehen zu laſſen. Auch mein kleiner Halef und die beiden
Araber ſprachen kein Wort, aber der Engländer konnte
ſeinen Aerger nicht ganz verwinden.


„Schöne Suppe, Sir, die Ihr uns eingebrockt habt!“
brummte er; „hätten die Kerle alle erſchießen ſollen!“


„Das hätten wir nicht fertig gebracht, Sir. Sie
kamen zu ſchnell über uns.“


Yes! Und nun ſind ſie um uns herum und wir
in ihnen drin. Die Waffen abgegeben! Fatale Geſchichte!
Schauderhaft! Werde mit Euch wieder einmal nach Kur-
diſtan gehen. Wie heißt Eſel auf Kurdiſch, Maſter?“


[422]

„Ker. Und Eſelin, ein junger, ein kleiner Eſel heißt
Daſchik.“


Well! So haben wir Vier wie Daſchiks und Ihr
habt wie ein ſehr alter und ſehr großer Ker gehandelt.
Verſtanden?“


„Sehr verbunden, Maſter Lindſay! Nehmt meinen
innigſten Dank für die Anerkennung! Wollt Ihr denn
nicht bedenken, daß es gradezu ein Wahnſinn genannt
werden müßte, wenn fünf Männer ſich einbilden, mit
zweihundert, die ihnen bereits bis auf den Frack gerückt
ſind, fertig zu werden?“


„Wir hatten beſſere Waffen als ſie!“


„Konnten wir ſie in ſolcher Nähe gebrauchen? Und
hätten wir uns dieſe Kurden damit vom Leibe gehalten,
ſo wäre jedenfalls viel Blut gefloſſen; das unſerige wohl
auch mit. Und dann die Blutrache! Wo denkt Ihr hin!“


Da bemerkten wir einen Reiter, der uns im Galopp
entgegenkam. Als er ſich ſoweit genähert hatte, daß ſeine
Geſichtszüge zu ſehen waren, erkannte ich Dohub, den
Kurden, deſſen Verwandte in Amadijah gefangen geweſen
waren. Unſer Trupp hielt bei ſeinem Erſcheinen an.
Er drängte ſich ungeſtüm bis zu mir hindurch und reichte
mir die Hand.


„Chodih, du kommſt; du biſt gefangen!“


„Wie du ſiehſt!“


„Oh, verzeihe! Ich war fort von Gumri, und als
ich jetzt heimkehrte, erfuhr ich, daß man fünf fremde Männer
fangen wollte. Ich dachte gleich an dich und bin eilig
herbeigekommen, um zu ſehen, ob meine Gedanken richtig
geweſen ſind. Chodih, az kolame ta — Herr, ich bin dein
Diener. Befiehl, was du von mir wünſcheſt!“


„Ich danke dir! Aber ich bedarf deiner Hilfe nicht,
denn dieſer Mann iſt bereits unſer Beſchützer.“


[423]

„Für welche Zeit?“


„Für einen Tag.“


„Emir, erlaube mir, daß ich es ſei für alle Tage,
ſo lange ich lebe!“


„Wird er es dir geſtatten?“


„Ja. Du biſt unſer aller Freund, denn du wirſt
der Mivan *) des Bey ſein. Er hat auf dich geharrt
und freut ſich, dich und die Deinen willkommen zu heißen.“


„Ich werde nicht zu ihm gehen können.“


„Warum nicht?“


„Kann ein Emir ſich ohne Waffen ſehen laſſen?“


„Ich ſah bereits, daß man ſie euch genommen hat.“
Und er wandte ſich zu unſerer Eskorte mit den Worten:
„Gebt die Waffen zurück!“


Dagegen erhob der verwundete Kurde Einſpruch:


„Sie ſind Gefangene und dürfen keine Waffen tragen!“


„Sie ſind frei, denn ſie ſind die Gäſte des Bey!“
lautete die Gegenrede.


„Der Bey hat uns ſelbſt befohlen, ſie gefangen zu
nehmen und zu entwaffnen!“


„Er hat nicht gewußt, das es die Männer ſind, die
er erwartet.“


„Sie haben mir den Vater ermordet. Und ſiehe dieſe
Hand. Ihr Hund hat ſie mir zerbiſſen!“


„So mache das mit ihnen ab, ſobald ſie nicht mehr
Gäſte des Bey ſind. Komm, Chodih, nimm deine Waffen
und erlaube, daß ich dich führe!“


Wir erhielten alles zurück, was wir abgegeben hatten;
dann trennten wir uns von den andern und ritten in
raſchem Tempo nach Gumri hinauf.


„Nun, Sir,“ fragte ich Lindſay, „was denkt Ihr jetzt
von dem Ker und dem Daſchik?“


[424]

„Habe von Eurem Gerede nichts verſtanden!“


„Aber die Waffen habt Ihr doch bereits zurück!“


Well! Und was weiter?“


„Wir werden die Gäſte des Bey von Gumri ſein.“


„Will Euch Satisfaktion geben, Maſter: der Eſel,
der war ich!“


„Danke, Sir! Gratuliere zu dieſer edlen Selbſt-
erkenntnis!“


Jetzt war alle Beſorgnis verſchwunden, und mit er-
leichtertem Herzen ritt ich durch das enge Thor des Ortes
ein. Dennoch aber konnte ich mich eines Grauens nicht
erwehren bei dem Anblick der Reſidenz des berüchtigten
Abd el Summit Bey, der in Verbindung mit Beder
Khan Bey und Nur Ullah Bey die chriſtlichen Bewohner
von Tijari zu Tauſenden hingemordet hatte. Der Ort
ſah ſehr kriegeriſch aus. Die engen Gaſſen waren von
bewaffneten Kurden ſo belebt, daß die Mehrzahl dieſer
Leute wohl nicht zu den Bewohnern von Gumri gehören
konnte. In dieſer Beziehung machte die kleine Berwari-
Feſtung einen ganz andern Eindruck als das öde, lebloſe
Amadijah.


Da ſchritt, die lange Schilflanze in der Hand, der
Kurde von Serdaſcht uns entgegen. Er machte den Ein-
druck eines armen Schluckers gegenüber den Balani und
Schadi, die ich hier nicht vermutet hätte. Ein Alegan-
kurde vom Bohtangebirge plauderte mit einem Omerigan,
der aus der Gegend von Diarbekr herbeigekommen war.
Dann begegneten uns zwei Angehörige des Amadi-manan-
Stammes, zwiſchen denen ein Dilmamikan-Kurde aus
Eſi ſchritt. Da gab es Krieger vom Stamme der Bula-
nuh, der Hadir-ſohr, der Haſananluh, der Delmamikan,
der Karatſchiur und Kartuſchi-baſchi. Sogar Leute aus
Kazikan, Semſat, Kurduk und Kendali waren zu ſehen.


[425]

„Wie kommen dieſe Fremden nach Gumri?“ fragte
ich Dohub.


„Es ſind meiſt Bluträcher, welche hier zuſammen-
kommen, um ſich gegenſeitig auszugleichen, und Boten aus
vielen Gegenden, in denen man einen Aufſtand der Chriſten
befürchtet.“


„Habt ihr hier eine ähnliche Befürchtung zu hegen?“


„Ja, Emir. Die Chriſten in den Tijaribergen heulen
wie die Hunde, welche man angekettet hat. Sie wollen
gern los ſein, aber ihr Bellen hilft ihnen nichts. Wir
haben vernommen, daß ſie in das Thal von Berwari ein-
fallen wollen; ja, ſie haben bereits einige Männer unſers
Stammes getötet; aber das Blut derſelben wird ſehr bald
über ſie kommen. Ich war heute in Mia, wo morgen
eine Bärenjagd abgehalten werden ſoll, und fand das
ganze untere Dorf verlaſſen.“


„Es giebt wohl zwei Dörfer, welche Mia heißen?“


„Ja; ſie gehören unſerm Bey. Das obere Dorf wird
vur von echten Moslemim und das untere nur von chriſt-
lichen Neſtorah bewohnt. Dieſe letzteren ſind plötzlich
verſchwunden.“


„Warum?“


„Man weiß es nicht. Aber Chodih, hier iſt die
Wohnung des Bey. Steige ab mit den Deinen und er-
laube, daß ich dem Bey deine Ankunft verkündige!“


Wir hielten vor einem langen, unſcheinbaren Ge-
bäude, deſſen Ausdehnung allein verriet, daß es die
Wohnung eines Anführers ſei. Auf ein Wort Dohubs
kamen einige Kurden herbei, um unſere Pferde in Em-
pfang zu nehmen und in den Stall zu führen. Er ſelbſt
aber kehrte bereits nach wenigen Augenblicken zurück und
führte uns zu dem Bey. Wir fanden denſelben in einem
großen Empfangsraume, bis zu deſſen Thüre er uns ent-
[426] gegenkam. Einige Dutzend Kurden, die ſich bei unſerm
Eintritte erhoben, waren bei ihm. Er war ein Mann
am Ende der zwanziger Jahre, hoch und breit gewachſen;
ſein edles Angeſicht zeigte den reinen kaukaſiſchen Typus
und wurde von einem ſtarken, ſchwarzen Vollbart einge-
rahmt. Sein Turban hatte wenigſtens zwei Ellen im
Durchmeſſer; an ſeinem Halſe hingen an einer ſilbernen
Kette verſchiedene Talismane und Amulette; ſeine Jacke
war ebenſo wie ſeine Hoſe mit reicher Stickerei verſehen,
und in ſeinem Gürtel funkelte neben einem Dolche und
zwei mit Silber ausgelegten Piſtolen ein wunderſchön
damascierter Schnur *) ohne Scheide. Der Bey machte
nicht den Eindruck eines halbwilden Anführers von Räu-
bern und Pferdedieben; ſeine Züge waren bei aller Männ-
lichkeit doch weich und ſanft, und ſeine Stimme klang
freundlich und angenehm, als er uns begrüßte:


„Sei mir willkommen, Emir! Du biſt mein Bruder.
und deine Gefährten ſind meine Freunde.“


Er reichte uns allen die Hand. Auf ſeinen Wink
wurden beinahe ſämtliche Kiſſen, welche ſich in dem
Raume befanden, zuſammengetragen, um uns als Sitz zu
dienen. Wir nahmen Platz, während die andern ſtehen
blieben.


„Ich habe gehört, daß ich mit dir in kurdiſcher
Sprache reden kann?“ fragte er.


„Dieſe Sprache iſt mir nur ſehr wenig verſtändlich,
und meine Freunde verſtehen ſie gar nicht,“ antwortete ich.


„So erlaube, daß ich türkiſch oder arabiſch mit dir
ſpreche!“


„Bediene dich derjenigen Sprache, welche deine Leute
hier verſtehen,“ ſagte ich zu ihm aus Höflichkeit.


„Oh, Emir, ihr ſeid meine Gäſte, und ſo wollen wir
[427] ſo ſprechen, daß deine Freunde mitreden können. Welche
Sprache reden ſie am liebſten?


„Die arabiſche. Aber, Bey, befiehl vorher deinen
Leuten, daß ſie ſich ſetzen! Sie ſind nicht Türken und
Perſer, ſondern freie Kurden, die nur zum Gruße ſich zu
erheben brauchen.“


„Chondekar*), ich ſehe, daß du ein Mann biſt, welcher
die Kurden kennt und ehrt; ich werde ihnen erlauben,
ſich niederzulaſſen.“


Er gab ihnen ein Zeichen, und die Blicke, welche ſie
ſich beim Niederſetzen zuwarfen, ſagten mir, daß ſie meine
Höflichkeit anerkannten. Ich hatte es hier jedenfalls mit
einem intelligenten Häuptling zu thun, denn im Innern
von Kurdiſtan iſt ein Mann, der neben einigen Dialekten
ſeiner Mutterſprache auch das Türkiſche und Arabiſche
verſteht, eine Seltenheit. Es ließ ſich erwarten, daß der
Bey ſich auch noch des Perſiſchen zu bedienen verſtand,
und im Verlaufe meines leider nur ſehr kurzen Bei-
ſammenſeins mit ihm erfuhr ich, daß ich mit dieſer Ver-
mutung das Richtige getroffen hatte.


Es wurden Pfeifen gebracht, zu denen man uns einen
lieblich ſchmeckenden Reisbranntwein kredenzte, dem die
Kurden mit großem Eifer zuſprachen.


„Was denkſt du von den Kurden von Berwari?“
fragte mich der Bey.


Dieſe Frage ſollte wohl ohne alle Verfänglichkeit
nur als Einleitung dienen.


„Wenn alle ſo ſind wie du, dann werde ich von
ihnen nur Gutes erzählen können.“


„Ich weiß, was du mir ſagen willſt. Du haſt bis-
her nur Uebles von ihnen erfahren,“ bemerkte er.


[428]

„Oh, nein! Habe ich nicht an Dohub und ſeinen
beiden Verwandten nur Freunde gefunden?“


„Du haſt dir ihre Freundſchaft und auch die meinige
ſehr reichlich verdient. Wir aber haben dir mit Undank
vergolten. Willſt du mir verzeihen? Ich wußte nicht,
daß du es warſt.“


„Verzeihe auch du mir! Es hat einer von deinen
Leuten ſein Leben eingebüßt; aber wir tragen keine Schuld
daran.“


„Erzähle mir, wie es zugegangen iſt!“


Ich gab ihm einen ausführlichen Bericht und fragte
ihn dann, ob hier ein Grund zur Blutrache vorliege.


„Nach der Sitte dieſes Landes muß er allerdings
den Tod ſeines Vaters rächen, wenn er ſich nicht die
Verachtung aller erwerben will.“


„Es wird ihm wohl ſchwer gelingen!“


„Du biſt mein Gaſt, und ſo lange du dich bei mir
und in meinem Lande befindeſt, biſt du vollſtändig ſicher.
Aber er wird dir ſpäter folgen auf Schritt und Tritt,
auch wenn du bis an das Ende der Erde gehen wollteſt.“


„Ich fürchte ihn nicht.“


„Du magſt ſtark genug ſein, um ihn im offenen
Kampfe zu überwinden; dann aber würden neue Rächer
erſtehen. Und kannſt du dich gegen eine Kugel wehren,
die aus dem Verborgenen abgeſchoſſen wird? Willſt du
nicht den Preis bezahlen?“


„Nein!“ antwortete ich mit Nachdruck.


„Allah gab dir vielen Mut, einen Rächer zu ver-
achten. Ich werde dafür ſorgen, daß dieſer Mut dich
nicht in das Verderben bringt. — Du warſt bei dem
Vater meines Weibes in Spandareh?“


„Ich war ſein Gaſt und wurde ſein Freund.“


„Ich weiß es. Wäreſt du nicht ſein Freund, ſo
[429] hätte er dir nicht das Geſchenk für uns anvertraut. Allah
hat Wohlgefallen an dir, denn er läßt dich überall
Freunde finden.“


„Allah giebt Gutes und Böſes; er erfreut die Seinen
und betrübt ſie auch zuweilen, um ſie zu prüfen. Ich
habe auch Feinde in Amadijah gefunden.“


„Wer war dein Feind? Der Muteſſelim?“


„Dieſer war mir weder Freund noch Feind; er
fürchtete mich. Aber es kam ein Mann zu ihm, der mich
haßte und die Schuld trug, daß ich ſogar gefangen ge-
nommen werden ſollte.“


„Wer war es?“


„Der Makredſch von Moſſul.“


„Der Makredſch?“ fragte der Bey ſehr aufmerkſam.
„Er iſt ein Feind der Kurden; er iſt ein Feind aller
Menſchen, was wollte er in Amadijah?“


„Er befand ſich auf der Flucht nach Perſien; denn
der Anadoli Kaſi Askeri iſt gekommen, um ihn und den
Muteſſarif von Moſſul abzuſetzen.“


Dieſe Kunde erregte die allergrößte Ueberraſchung
bei dem Bey. Er teilte die Neuigkeit ſofort den Seinigen
mit, von denen ſie mit demſelben Erſtaunen aufgenommen
wurde. Ich mußte alles ſehr ausführlich erzählen.


„So wird der Muteſſelim wohl auch abgeſetzt?“ fragte
der Bey.


„Das kann man nicht wiſſen. Er war der Kerker-
meiſter des Muteſſarif, der einen jeden, der aus Moſſul
verſchwinden ſollte, nach Amadijah ſandte.“


„Doch wohl nur Verbrecher?“


„Nein. Haſt du nicht gehört von Amad el Ghandur,
dem Sohne des Scheik der Haddedihn?“


„Iſt auch er gefangen genommen und nach Amadijah
geſchickt worden?“


[430]

„Ja. Er hat nichts von ihrer Hinterliſt geahnt.“


„Wäre ich ein Haddedihn, ſo zöge ich nach Amadijah,
um den Sohn meines Scheik zu befreien.“


„Bey, das iſt eine ſchwere Sache!“


„Und dennoch würde ich es thun. Die Liſt iſt oft
eine beſſere Waffe als die Gewalt.“


„So wiſſe denn, daß es einen Haddedihn giebt,
welcher nach Amadijah gegangen iſt.“


„Einen einzigen?“


Ich bejahte es.


„So kann ihm nichts gelingen,“ meinte der Bey.
„Zu einem ſolchen Werke gehören viele.“


„Und dennoch iſt es ihm gelungen,“ entgegnete ich.


„Tu katiſcht nezani — was du nicht weißt! Er hat
den Sohn des Scheik wirklich befreit? Durch Liſt oder
Gewalt?“


„Durch Liſt.“


„So iſt er ein tapferer und entſchloſſener, aber auch
ein kluger Mann geweſen. War er ein einfacher Krieger?“


„Nein. Es war der Scheik Mohammed Emin ſelbſt.“


„Chodih, du berichteſt mir ein Wunder! Aber ich
glaube es, weil du es ſageſt. Werden ſie unangefochten
nach ihren Weideplätzen kommen?“


„Das weiß nur Allah und du.“


„Ich? Wie meinſt du das?“


„Ja, du. Ich habe gehört, daß ſie ſich nicht nach
Weſten, ſondern in das Land Berwari wenden werden,
um den Zab zu erreichen und auf ihm hinab zu fahren.“


„Emir, das iſt ein großes Abenteuer. Die beiden
Helden ſollten mir willkommen ſein, wenn ſie zu mir
kämen. Wann iſt die Flucht gelungen?“


„In der Nacht vor geſtern.“


„Woher weißt du dies ſo genau? Haſt du ſie geſehen?“


[431]

„Beide. Auch du ſiehſt ſie, denn ſie ſitzen an deiner
Seite. Dieſer Mann iſt Mohammed Emin, der Scheik
der Haddedihn, und dieſer iſt Amad el Ghandur, ſein
Sohn.“


Der Kurdenhäuptling ſprang auf und fragte:


„Wer iſt dieſer andere?“


„Mein Diener.“


„Und dieſer?“


„Mein Freund, ein Mann aus dem Abendlande.
Wir haben uns vereinigt und den Gefangenen aus Ama-
dijah geholt,“ ſagte ich ohne Prahlerei.


Jetzt entſtand ein vollſtändiges Redegewirr von kur-
diſchen Erklärungen, türkiſchen Ausrufungen und arabiſchen
Begrüßungen. Es kam alles zur Sprache, was die Kurden
von den Haddedihn gehört hatten; auch ihr Kampf im
Thale der Stufen. Ich mußte dabei den Dolmetſcher
machen, geſtehe aber gern, daß mir bei dieſer Arbeit der
Schweiß in hellen Tropfen von der Stirne ſchoß. Meine
Kenntnis des Kurdiſchen war gering, und das Arabiſche
wurde ebenſo wie das Türkiſche in einem Dialekt ge-
ſprochen, bei dem ich die Bedeutung der Worte und der
Wortverbindungen mehr erraten als verſtehen mußte.
Dies gab Veranlaſſung zu zahlreichen Verwechslungen
und Verdrehungen, über welche trotz aller unſerer Würde
lebhaft gelacht wurde.


Am Schluſſe dieſer außerordentlich angeregten Unter-
haltung gab uns der Bey die Verſicherung, daß er alles
thun werde, um unſer Fortkommen zu ermöglichen. Er
verſprach uns die zu mehreren Flößen notwendigen Häute,
einige ſichere Führer, welche den Waſſerlauf des Khabur
und des oberen Zab Ala genau kannten, und auch Em-
pfehlungen an die Schirwan- und Zibar-Kurden, durch
deren Gebiet wir auf dieſer Fahrt kommen mußten. Von
[432] einem Ritte über das Tura-Gharagebirge nach dem Akra-
fluſſe wollte er nichts wiſſen, da nach dieſer Gegend hin
ſein Schutz uns mehr Schaden als Nutzen bringen würde.


„Dort giebt es,“ fügte er hinzu, „ſehr viele chriſtliche
Neſtorah, auch Teufelsanbeter und kleine Kurdenſtämme,
mit denen die Berwari in Feindſchaft leben. Dieſe Leute
ſind lauter Räuber und Mörder, und die Gebirge ſind
ſo wild und unzugänglich, daß ihr nie den Zab erreichen
würdet. Nun aber ruht euch aus und erlaubt mir, hier
meines Amtes zu warten, bevor wir das Mahl einnehmen.
Ich habe heute viel zu verhandeln, da ich morgen nicht
in Gumri ſein werde.“


„Du willſt nach Mia gehen?“ fragte ich.


„Ja. Wer ſagte es dir?“


„Ich habe von Dohub gehört, daß du dort einen
Bär jagen willſt.“


„Einen? Es ſind zwei ganze Familien, die den dor-
tigen Herden ſehr viel Abbruch thun. Du mußt nämlich
wiſſen, daß es im Lande der Kurden zahlreiche Bären
giebt, und“ — fügte er mit einigem Stolze hinzu — „die
Giaurs dieſes Landes ſagen, daß es zwei große Plagen
für ſie gebe, von denen die eine grad ſo ſchlimm ſei, wie
die andere, nämlich die Kurden und die Bären.“


„Wirſt du uns erlauben, mitzugehen?“


„Ja, wenn du es wünſcheſt. Ihr ſollt zuſehen können,
ohne dabei in Gefahr zu kommen.“


„Wir wollen nicht zuſehen, ſondern mitkämpfen!“


„Emir, der Bär iſt ein gefährliches Tier!“


„Du irrſt. Der Bär, welcher die kurdiſchen Schluchten
und Wälder bewohnt, iſt ein ſehr unſchädliches Wild.
Es giebt Länder, in denen die Bären doppelt ſo groß
und ſtark ſind, wie die eurigen.“


„Ich habe davon gehört. Es ſoll ein Land geben,
[433] wo man nur Eis und Waſſer findet, und dort haben die
Bären ein weißes Fell und werden von den dortigen
Arabern Hirtſch el Buz *) genannt. Haſt du ſolche weiße
Bären geſehen?“


„Ja, obgleich ich nicht in jenen Ländern geweſen bin.
Man fängt dort die Bären, um ſie in anderen Gegenden
für Geld ſehen zu laſſen. Aber es giebt noch ein Land
mit fürchterlich großen Bären, welche ein graues Fell
beſitzen; das ſind die ſtärkſten und gefährlichſten. Ein
ſolcher Bär iſt gegen einen kurdiſchen wie ein Pferd gegen-
über einem Hund, vor dem man ſich hütet, ohne ihn grad
zu fürchten.“


„Und dieſen haſt du auch geſehen?“ fragte der Bey
verwundert.


„Ich habe mit ihm gekämpft.“


„So biſt du Sieger geblieben, denn du lebſt noch.
Ihr ſollt auch mit unſern Bären kämpfen.“


Er führte uns jetzt in eine Stube, in deren Mitte
ein niedriges Sufra **) ſtand, um welches fünf Kiſſen ge-
legt waren. Nachdem er uns verlaſſen hatte, erſchien eine
Frau, und hinter ihr kamen einige Dienerinnen, welche
ein kleines Vorgericht auftrugen, für den Fall, daß wir
zu ſehr Hunger hätten, um bis zum eigentlichen Mahle
warten zu können. Es beſtand aus einem Zicklein, welches
zuerſt gebraten und dann in Sahne gebacken war; dazu
kamen getrocknete Weintrauben, eingelegte Maulbeeren und
ein Salat von Pflanzenblättern, die ich nicht kannte; es
ſchien eine Neſſelart zu ſein.


„Ser ſere men at — ihr ſeid mir willkommen!“
grüßte ſie. „Wie habt ihr meinen Vater verlaſſen, den
Nezanum von Spandareh?“


II. 28
[434]

„Wir haben ihn bei gutem Wohlſein verlaſſen, und
auch die andern hat Allah geſund erhalten,“ antwortete ich.


„Nehmet und eſſet einſtweilen und habt die Güte,
mir von Spandareh zu erzählen. Es iſt eine lange Zeit,
daß ich nichts gehört habe.“


Ich erfüllte ihr den Wunſch ſo ausführlich wie mög-
lich. Sie war ganz glücklich, mit mir über ihre Heimat
plaudern zu können, und ließ ſogar den Windhund aus
dem Stalle holen, um ihm mit den Reſten des Zickleins
einen Beweis ihrer Freundſchaft zu geben. Es gab hier
ein Zuſammenhalten der Familienglieder, welches mich
ſehr angenehm berührte.


Als wir ihrer Dienſte nicht mehr bedurften, verließ
ſie uns, und wir machten es uns auf den an die Wand
geſchobenen Kiſſen ſo bequem wie möglich. In dieſem
ſüßen Nichtsthun wurden wir durch den Eintritt eines
Mannes geſtört, den wir nicht erwartet hätten. Es war
der verwundete Kurde. Er trug den Arm in einer Binde,
die er ſich um den Hals befeſtigt hatte.


„Was willſt du?“ fragte ich ihn.


„Ein Bakſchiſch, Herr!“


„Ein Bakſchiſch? Wofür?“


„Daß ich dich nicht töten werde.“


„Ich höre, daß dich das Fieber noch nicht verlaſſen
hat. Wenn einer von uns beiden aus dem Grunde,
welchen du angiebſt, ein Bakſchiſch verdient hat, ſo bin
nur ich es allein. Ich habe dir nicht bloß verſprochen,
dich nicht zu töten, ſondern dir bereits das Leben erhalten,
als du dich unter den Zähnen meines Hundes befandeſt.
Was aber haſt du für mich gethan? Nach mir geſchoſſen
und geſtochen haſt du. Und dafür verlangſt du einen
Bakſchiſch? Gehe ſchnell fort, damit du nicht höreſt, daß
wir über dich lachen müſſen!“


[435]

„Herr, nicht dafür, daß ich auf dich geſchoſſen und
nach dir geſtochen habe, verlange ich ein Bakſchiſch, ſondern
dafür, daß ich den Blutpreis angenommen habe.“


„Den Blutpreis? Von wem?“


„Vom Bey. Er hat ihn bezahlt.“


„Wie viel hat er gegeben?“


„Ein Pferd, eine Luntenflinte und fünfzig Schafe.“


„Alſo bedeutend weniger, als du von mir verlangteſt.“


„Er iſt mein Scheik; ich mußte auf ihn hören. Aber
weil es ſo wenig iſt, darum ſollſt du mir ein Bakſchiſch
geben.“


„Wäre ich ein freier, ſtolzer Kurde, ich würde nicht
wie ein türkiſcher Hammal *) um ein Bakſchiſch betteln.
Da du es aber dennoch thuſt, ſo ſollſt du es erhalten;
aber nicht jetzt, ſondern erſt dann, wenn wir Abſchied
nehmen.“


„Wie viel wirſt du mir geben?“


„Das kommt ganz darauf an, wie du dich gegen uns
verhalten wirſt.“


„Und wird unſer Nezanum auch etwas erhalten?“


„Hat er dir geboten, mich darüber zu fragen?“


„Ja, er that es.“


„So ſage ihm, daß ich nur dann einem Bettler etwas
gebe, wenn er mich ſelbſt bittet. Iſt der Nezanum ein
Mann, der von der Empfehlung des Propheten lebt, ſo
ſoll er von jedem von uns gern eine Gabe erhalten; aber
er mag dann ſelbſt zu uns kommen. Uebrigens habe ich
ihm bereits das Leben ſeines Sohnes geſchenkt, und das
iſt mehr als jede andere Gabe.“


Der Kurde ging. Er hatte den Blutpreis erhalten,
aber ſein Geſicht ſah ganz ſo aus, als ob ich mich hüten
müſſe, ihm einmal unter andern Umſtänden zu begegnen.


[436]

„Was wollte der Kerl?“ fragte Lindſay.


„Der Bey hat ihm an unſerer Stelle den Blutpreis
bezahlt, und nun — —“


„Wie? Der Bey?“


„Aus Gaſtlichkeit!“


„Nobel! Sehr nobel! Yes! Wie viel?“


„Ein Pferd, eine Luntenflinte und fünfzig Schafe.“


„Wie viel iſt dies an Geld?“


„Nicht mehr als fünf Pfund oder hundert Mark.“


„Werde es ihm wiedergeben.“


„Das wäre eine große Beleidigung, Sir. Wir müſſen
das durch ein Geſchenk auszugleichen ſuchen.“


„Gut! Schön! Was geben wir?“


„Darüber wollen wir uns den Kopf jetzt noch nicht
zerbrechen.“


„Und nun verlangt dieſer Menſch noch ein Bakſchiſch?
— Maſter, was heißt auf Kurdiſch ein Backenſtreich, eine
Ohrfeige oder eine Maulſchelle?“


„Sileik.“


Well! Warum habt Ihr ihm nicht einige Sileiks
gegeben?“


„Weil es nicht am Platze war. Ich habe ihm im
Gegenteil ein Bakſchiſch verſprochen, welches er erhalten
ſoll, ſobald wir von hier fortgehen.“


„So erlaubt, daß ich es ihm gebe. Soll ihm zugleich
zur Erinnerung und zur Beſſerung dienen!“


Als der Bey ſeine Amtsgeſchäfte erledigt hatte, kam
er, um uns hinab in den Hof zu führen, wo das Mahl
eingenommen werden ſollte. Es waren zu demſelben wohl
an die vierzig Perſonen geladen, und außerdem kamen
noch viele andere, um ſich nach orientaliſcher Sitte ganz
ungeniert ſelbſt zu Gaſte zu bitten.


Gegen Ende des Mahles ſtellte es ſich heraus, daß
[437] die Speiſen nicht für alle langten, und ſo erhielten die
‚Trollgäſte‘ ein lebendiges Schaf, welches ſie ſich gleich
ſelbſt zubereiteten. Der eine machte ein Loch in die Erde;
andere holten Steine und Holz zur Feuerung herbei.
Derjenige, welchen die Wahl getroffen hatte, ergriff das
Schaf, ſchnitt ihm die Kehle durch und hing es mit den
zuſammengebundenen Vorderbeinen an einen Balkenpflock
auf. Die Eingeweide wurden nicht herausgenommen, ſon-
dern der Kurde nahm einen Mund voll Waſſer, hielt die
Lippen an . . . . des Tieres und blies das Waſſer hinein.
Er fuhr in dieſer poſſierlichen Beſchäftigung ſo lange fort,
bis die Eingeweide vollſtändig aufgebläht und nach oben
hinaus ausgeſpült waren. Dann wurden die Gedärme in
ſo viele Stücke zerſchnitten, als Männer von dem Schafe
eſſen ſollten; auch das Fleiſch des Schafes wurde in eben
ſo viele Teile zerlegt. Nun wickelte ein jeder ſein Stück
Darm um ſein Fleiſch und legte dieſes Präparat in das
mit den Steinen ausgekleidete Loch, über welches ein Feuer
angemacht wurde. Schon nach kurzer Zeit ward dasſelbe
hinweggenommen, und die halbgaren Stücke gingen zwi-
ſchen den Zähnen der Kurden ihrer nützlichen Beſtimmung
entgegen.


Nach dem Eſſen zeigte uns der Bey ſeinen Stall.
Es befanden ſich in demſelben über zwanzig Pferde, doch
war unter ihnen nur ein Schimmel, der einer beſonderen
Aufmerkſamkeit würdig war. Dann gab es Kampfſpiele
und Lieder, zu denen ein zweiſaitiges Tambur *) die Be-
gleitung wimmerte, und endlich wurden von einem Manne
Märchen und Geſchichten erzählt, Geſchichten, Tſchiroka:
Baka ki mir — vom ſterbenden Froſch; Gur bu ſchevan
— der Wolf als Hirt; Schyeri kal — der alte Löwe;
Ruvi u bizin — der Fuchs und die Ziege.


[438]

Die Verſammlung hörte dieſen Vorträgen mit größter
Aufmerkſamkeit zu, mir aber war es ſehr lieb, als ſie zu
Ende waren und wir uns zur Ruhe begeben konnten. Zu
dieſem Zweck führte uns der Bey in eine große Stube,
an deren Wänden rundum Diwans ſtanden, die uns zum
Lager dienen ſollten. Da in dieſem Raume gar nichts
Merkwürdiges zu ſehen war, ſo wunderte ich mich über
die geſpannten Blicke, mit denen der Bey uns beobachtete.
Es waren ganz die Blicke eines Menſchen, der er-
wartet, daß man bei ihm eine außerordentliche Entdeckung
machen und bewundern werde. Endlich erkannte ich aus
der ſo oft wiederkehrenden Richtung ſeiner Augen den
Gegenſtand, den wir entdecken und bewundern ſollten,
und natürlich brach ich ſofort in das größtmögliche Er-
ſtaunen aus:


„Was iſt das! Oh, Bey, mit welch einem großen
Reichtum hat Allah dich geſegnet! Deine Schätze ſind
größer als diejenigen des Bey von Rewandoz oder des
Beherrſchers von Dſchulamerik!“


„Was meinſt du, Emir“ fragte er mit einer gewiſſen
Koketterie.


„Ich meine das koſtbare Dſcham *), mit welchem du
deinen Palaſt geſchmückt haſt.“


„Ja, es iſt ſehr ſelten und teuer,“ antwortete er mit
ſtolzer Beſcheidenheit.


„Von wem haſt du es?“


„Ich kaufte es von einem Israel **), der es aus
Moſſul brachte, um es dem Schah von Perſien zu ver-
ehren.“


Es wäre unhöflich geweſen, nach dem Preiſe zu
fragen. Der Jude hatte das Märchen vom perſiſchen
Schah erfunden und den Bey jedenfalls ganz tüchtig ge-
[439] prellt. Das Glas war nämlich ein kleines Stück einer
zerbrochenen Fenſterſcheibe und hatte die Größe von kaum
zwei Mannshänden. Es war als der größte Schmuck des
Zimmers an das geölte Papier des Fenſters geklebt wor-
den und ließ den Raum nun allerdings über alle Neben-
buhlerſchaft erhaben erſcheinen. Der Bey wünſchte uns
eine gute Nacht in dem Bewußtſein, uns mit dieſem
Fenſter außerordentlich imponiert zu haben.


Wir waren müde und ſehnten uns nach Ruhe, die
wir nun in vollkommener Sicherheit genießen konnten.


[440]

Sechſtes Kapitel.
Bären- und Menſchenjagd.



Am andern Morgen weckte uns der Bey in eigner
Perſon mit den Worten:


„Emir, erhebet Euch, wenn Ihr wirklich mit nach
Mia wollt! Wir werden ſehr bald aufbrechen.“


Da wir nach dortiger Gewohnheit in unſern Kleidern
geſchlafen hatten, ſo konnten wir ihm faſt augenblicklich
folgen. Wir erhielten Kaffee und kalte Bratenſtücke, und
dann ſetzte man ſich zu Pferde. Der Weg nach Mia führte
durch mehrere kurdiſche Dörfer, welche von gut bewäſſerten
Gärten umgeben waren. Kurz vor dem Dorfe erhebt ſich
das Terrain bedeutend, und wir hatten einen Paß zu
überſchreiten, an dem wir von einigen Männern erwartet
wurden. Dies ſchien dem Bey aufzufallen, denn er fragte
ſie, warum ſie nicht in Mia geblieben ſeien.


„Herr, es iſt ſeit geſtern vieles geſchehen, was wir
dir berichten müſſen,“ antwortete einer von ihnen. „Daß
die Neſtorah das untere Dorf verlaſſen haben, wird dir
Dohub geſagt haben. Heute in der Nacht nun iſt einer
von ihnen in dem oberen Dorfe geweſen und hat einem
Manne, dem er Dank ſchuldet, dringend geraten, ſchnell
aus Mia fortzugehen, wenn er ſein Leben retten wolle.“


„Und da fürchtet ihr euch?“ fragte der Bey.


„Nein, denn wir ſind ſtark und tapfer genug, es mit
[441] dieſen Giaurs aufzunehmen. Aber wir haben in der Frühe
erfahren, daß die Chriſten bereits moslemitiſche Einwohner
von Zawitha, Minijaniſch, Murghi und Lizan getötet
haben, und hier in der Nähe von Seraruh ſind einige
Häuſer weggebrannt worden. Wir ritten dir entgegen,
damit du dieſe Kunde ſo bald wie möglich empfangen
ſollteſt.“


„So kommt. Wir wollen ſehen, was davon zu glau-
ben iſt!“


Wir ritten im ſcharfen Tempo die Höhe hinunter
und kamen bald an die Stelle, wo der Weg ſich nach dem
obern und dem untern Dorfe zu teilt. Wir ſchlugen die
erſtere Richtung ein, da der Bey in dem oberen Dorfe
ein Haus beſaß. Er wurde an demſelben von einer Schar
Kurden erwartet, welche mit langen Lanzen und vielen
kurzen Wurfſpießen bewaffnet waren. Es war die Jagd-
geſellſchaft.


Wir ſtiegen ab, und der Aufſeher des Hauſes brachte
uns Speiſe und Trank herbei. Während wir uns labten,
hielt der Bey draußen vor dem Hauſe ein Verhör bezüg-
lich der Unruhen der Neſtorianer. Das Ergebnis des-
ſelben ſchien ein ſehr befriedigendes zu ſein, denn als er
bei uns eintrat, lächelte er wie ein Mann, der unnötiger-
weiſe beläſtigt worden iſt.


„Iſt Gefahr vorhanden?“ fragte ich ihn.


„Gar nicht. Dieſe Neſtorah haben uns verlaſſen, um
hinfort keine Dſcherum *) mehr bezahlen zu müſſen, und
da drüben bei Seraruh iſt ein altes Haus verbrannt.
Nun reden dieſe Memmen von Aufſtand und Blutvergießen,
während die Giaurs doch froh ſind, wenn wir ſie unge-
ſchoren laſſen. Kommt; ich habe Befehl zum Aufbruch
gegeben. Wir reiten nach Seraruh zu, und da haben wir
[442] ſogleich Gelegenheit, zu erfahren, daß die Männer von
Mia zu ängſtlich geweſen ſind.“


„Werden wir uns teilen?“ fragte ich nun.


„Warum?“ erwiderte er, einigermaßen erſtaunt.


„Du ſprachſt von zwei Bärenfamilien.“


„Wir werden beiſammen bleiben und erſt die eine und
dann die andere Familie vernichten.“


„Iſt es weit von hier?“


„Meine Männer haben die Spuren verfolgt. Sie
ſagten mir, daß wir nur eine halbe Stunde zu reiten haben.
Willſt du wirklich mit uns gegen die Bären kämpfen?“


Ich bejahte, und er ſagte dann:


„So will ich dir einige Wurfſpieße geben.“


„Wozu?“


„Weißt du nicht, daß keine Kugel einen Bären tötet?
Er ſtirbt erſt dann, wenn viele Spieße in ihm ſtecken.“


Das brachte mir keinen guten Begriff von den Kur-
den und ihren Waffen bei. Entweder waren die erſteren
feig oder die letzteren ſchlecht.


„Du magſt deine Spieße immerhin behalten; es reicht
eine Kugel vollſtändig hin, um einen Bären zu töten.“


„Thue, was du willſt,“ meinte er überlegen, „aber
bleibe ſtets in meiner Nähe, damit ich dich beſchützen
kann.“


„Allah erhalte dich, ſo wie du mich erhalten willſt!“


Wir ritten zum Dorfe hinaus. Der ganze Reiter-
trupp hatte das Ausſehen, als ob wir auf die Gazellen-
jagd auszögen, ſo wenig gediegen erſchien mir alles. Es
ging erſt in das Thal hinab und dann drüben wieder
empor über Berge, durch Schluchten und Wälder, bis wir
endlich in einem Buchenwalde halten blieben, in dem es
viel Unterholz gab.


„Wo iſt das Lager der Tiere?“ fragte ich den Bey.


[443]

Er deutete nur ſo vor ſich hin, ohne einen beſtimmten
Punkt anzugeben.


„Man hat die Spuren gefunden?“


„Ja, auf der andern Seite.“


„Ah! Du läſſeſt das Lager umſtellen?“


„Ja, die Tiere werden auf uns zugetrieben. Du ſollſt
zu meiner Rechten bleiben, und dieſer Emir aus dem
Abendlande, der auch keinen Wurfſpieß haben will, zu
meiner Linken, damit ich euch beſchützen kann.“


„Sind die Bären alle drin?“ fragte ich wieder.


„Wo ſollen ſie ſein? Sie gehen nur des Nachts ſtehlen.“


Es war eine wunderbare Anordnung, welche jetzt ge-
troffen wurde. Wir waren ſämtlich zu Pferde und bil-
deten einen Halbkreis, deſſen einzelne Glieder beim Be-
ginne des Treibens etwa vierzig Schritte voneinander
halten ſollten.


„Sollen wir ſchießen, wenn der Bär kommt?“ fragte
ich ungeduldig.


„Ihr könnt es thun, aber ihr werdet ihn nicht töten;
dann jedoch flieht ſofort!“


„Und was thuſt du?“


„Wenn der Bär kommt, ſo wirft ihm der nächſte den
Dſcherid *) in den Leib und flieht ſo ſchnell, als das Pferd
laufen kann. Der Bär ſetzt ihm nach, und der nächſte Jäger
verfolgt den Bären. Er wirft ihm auch ſeinen Dſcherid
in den Leib und flieht. Nun wendet ſich der Bär, und
der erſte Jäger auch. Es kommen mehrere herbei. Wer
ſeinen Spieß geworfen hat, der wendet ſich raſch zur Flucht,
und der Bär wird von den andern abgehalten. Er be-
kommt ſo viele Spieße in den Leib, daß er ſich endlich
verbluten muß.“


Ich überſetzte das dem Engländer.


[444]

„Feige Jagd!“ räſonnierte er. „Schade um den Pelz!
Wollen wir einen Handel machen, Sir!“


„Welchen?“


„Will Euch den Bären abkaufen.“


„Wenn es mir gelingt, ihn zu erlegen.“


Pshaw! Wenn er noch lebendig iſt.“


„Das wäre kurios!“


„Meinetwegen! Wie viel wollt Ihr haben?“


„Ich kann doch den Bären nicht verkaufen, wenn ich
ihn noch gar nicht habe!“


„Sollt ihn eben gar nicht haben! Wenn er ja hier
herauskommt, ſo werdet Ihr mir ihn wegſchießen. Aber
ich ſelbſt will ihn ſchießen, und darum werde ich ihn Euch
abkaufen.“


„Wie viel gebt Ihr?“


„Fünfzig Pfund, Sir. Iſt's genug?“


„Mehr als genug. Aber ich wollte nur ſehen, wie
viel Ihr bietet. Ich verkaufe ihn nämlich nicht.“


Er machte mir ein ſehr grimmiges Geſicht.


„Warum nicht, Sir? Bin ich nicht Euer Freund?“


„Ich ſchenke ihn Euch. Seht, wie Ihr mit ihm fertig
werdet!“


Er zog das gewohnte Parallelogramm ſeines Mundes
ſo in die Breite, nämlich vor Vergnügen, daß es ſchien,
als ob ſich unter der Rieſennaſe ein Bewäſſerungsgraben
von einem Ohre zum anderen befinde.


„Sollt die fünfzig Pfund dennoch haben, Maſter!“
ſagte er.


„Nehme ſie nicht!“


„So werden wir auf andere Weiſe quitt! Yes!


„Ich ſtehe bereits weit höher in Eurer Schuld. Aber
eine Bedingung muß ich dennoch ſtellen. Ich bin begierig,
die Art und Weiſe kennen zu lernen, wie dieſe Kurden
[445] den Bären jagen, und darum wünſche ich nicht, daß Ihr
ſofort ſchießt. Laßt ihm erſt einige Speere geben! Nicht?“


„Werde Euch den Gefallen thun.“


„Aber nehmt Euch wohl in acht! Schießt ihm in
das Auge oder grad in das Herz, ſobald er ſich erhebt.
Die hieſigen Bären ſind zwar nicht ſehr ſchlimm, aber
man kann doch immerhin Gefahr laufen.“


„Ha! Wollt Ihr mir einen Gefallen thun?“


„Recht gern, wenn ich kann.“


„Tretet mir für dieſe Weile Eure Büchſe ab. Sie
iſt viel beſſer als die meinige. Tauſcht Ihr mit mir ſo
lange?“


„Wenn Ihr mir verſprecht, daß ſie dem Bären nicht
zwiſchen die Tatzen kommen ſoll!“


„Werde ſie in meinen eigenen Tatzen behalten!“


„So gebt her!“


Wir tauſchten die Gewehre. Der Engländer war
ein guter Schütze, aber ich war doch neugierig, wie er ſich
einem Bären gegenüber verhalten werde.


Die Schar der Kurden löſte ſich auf. Die Hälfte
derſelben ritt mit den Hunden fort, um als Treiber zu
dienen, und wir andern blieben zurück, um die bezeich-
nete Linie zu bilden. Halef und die beiden Araber hatten
Wurfſpieße angenommen und wurden in die Zwiſchen-
räume eingereiht; ich aber mußte mit dem Engländer bei
dem Bey halten bleiben. Meinen Hund hatte ich nicht
zum Treiben hergegeben; er blieb an meiner Seite.


„Eure Hunde holen den Bären nicht, ſondern ſie
treiben ihn?“ fragte ich den Bey.


„Sie können ihn nicht holen oder ſtellen, denn er
flieht vor ihnen.“


„So iſt er feig!“


„Du wirſt ihn kennen lernen.“


[446]

Es dauerte eine geraume Weile, ehe wir an dem
Lärmen merkten, daß ſich die Treiber in Bewegung ge-
ſetzt hatten. Dann erſcholl lautes Bellen und Halla-Rufen.
Das Bellen näherte ſich ſchnell, das Rufen etwas lang-
ſamer. Nach einigen Minuten verkündete uns ein lautes
Geheul, daß einer der Hunde verwundet worden ſei.
Nun krachten Schüſſe, und die Meute fiel mit verdoppelter
Stärke ein.


„Paß auf, Emir!“ warnte der Bey. „Jetzt wird
der Bär kommen.“


Er hatte richtig vermutet. Es knackte in dem nahen
Unterholze, und ein ſchwarzer Bär erſchien. Es war kein
Goliath; ein guter Schuß mußte ihn töten. Bei unſerm
Anblick blieb er ſtehen, um ſich gemächlich zu überlegen,
was unter ſo mißlichen Umſtänden zu thun ſei. Ein halb-
lautes Brummen verriet ſeinen Verdruß, und ſeine Aeug-
lein blitzten mißmutig zu uns herüber. Der Bey ließ
ihm keine Zeit. Da wo wir hielten, ſtanden die Bäume
lichter, ſo daß man ſich zu Pferde genügend bewegen konte.
Er ritt auf das Tier zu, ſchwang einen ſeiner Spieße
und warf ihn dem Bären in den Pelz, wo er ſtecken blieb.
Dann aber riß er ſein aus Furcht vor dem Bären
zitterndes Pferd herum.


„Fliehe, Emir!“ rief er mir noch zu, dann ſauſte er
zwiſchen mir und dem Engländer hindurch.


Der Bär ſtieß ein lautes ſchmerzliches Brummen aus,
ſuchte den Spieß von ſich abzuſchütteln, und da ihm dies
nicht gelang, ſo rannte er dem Bey nach. Sofort brachen
die beiden nächſten Nachbarn von uns hinter ihm her
und warfen bereits von weitem ihre Spieße, von denen
nur einer traf, aber ohne ſtecken zu bleiben. Sofort
wandte ſich der Bär nach ihnen. Der Bey merkte dies,
kehrte um, ritt wieder auf ihn zu und warf den zweiten
[447] Spieß, welcher noch tiefer eindrang, als der erſte. Das
jetzt wütende Tier erhob ſich und verſuchte, den Schaft
abzubrechen, während die beiden anderen Reiter von
neuem auf dasſelbe eindrangen.


„Soll ich jetzt, Sir?“ rief mir Lindſay zu.


„Ja, macht der Qual ein Ende!“


„So haltet mein Pferd.“


Er ritt, da wir dem Bären ausgewichen und dabei
auseinander gekommen waren, wieder auf mich zu, ſtieg
ab und übergab mir das Pferd. Schon wollte er ſich
abwenden, da praſſelten die Zweige nieder und es er-
ſchien ein zweiter Bär. Es war die Bärin, welche nur
langſam zwiſchen den Büſchen hervortrat, weil ein ſchutz-
bedürftiges Junges bei ihr war. Sie war größer als
das Männchen, und ihr zorniges Brummen konnte ſchon
mehr ein Brüllen genannt werden. Es war ein nicht
ungefährlicher Augenblick: dort der Bär, hier die Bärin,
und wir zwiſchen ihnen. Aber die Kaltblütigkeit meines
Maſter Fowling-Bull kam nicht aus der Faſſung.


„Die Bärin, Sir?“ fragte er mich.


„Gewiß!“


Well! Werde galant ſein. Die Dame hat den
Vorzug!“


Er nickte vergnügt, ſchob ſich den Turban aus der
Stirn und ſchritt mit angelegter Büchſe auf die Bärin
zu. Dieſe ſah den Feind kommen, zog das Junge zwiſchen
ihre Hinterbeine und erhob ſich, um den Nahenden mit
ihren Vorderpranken zu empfangen. Dieſer trat bis auf
drei Schritte zu ihr heran, hielt ihr die Mündung des
Gewehres ſo ruhig, als ob er auf ein Bild ſchieße, vor
den Kopf und drückte ab.


„Zurück!“ warnte ich ihn.


Es war unnötig, denn er war ſofort auf die Seite
[448] geſprungen und hielt das Gewehr für den zweiten Schuß
bereit. Dieſer war nicht nötig. Die Bärin ſchlug die
Tatzen in die Luft, drehte ſich langſam und zitternd herum
und ſtürzte zu Boden.


„Iſt ſie tot?“ fragte Lindſay.


„Ja, aber wartet noch, ehe Ihr ſie berührt.“


Well! Wo iſt der andere?“


„Da drüben!“


„Bleibt hier. Werde ihm die zweite Kugel geben.“


„Gebt die Büchſe her! Ich will zuvor den leeren
Lauf laden.“


„Dauert mir zu lange!“


Er ſchritt dem Platze zu, wo ſich der verwundete
Bär noch immer mit ſeinen Verfolgern abmühte. Eben
wollte der Bey dem Tiere einen neuen Spieß geben, als
er den Engländer ſah und erſchrocken inne hielt. Er hielt
ihn für verloren. Lindſay aber blieb ruhig ſtehen, als
er ſah, daß der Bär auf ihn losrannte. Er ließ ihn
herankommen, wartete, bis er ſich zur tödlichen Umarmung
erhob, und drückte los. Der zweite Schuß hatte den-
ſelben Erfolg wie der erſte: — das Tier war tot.


Es erhob ſich ein lauter Jubel, der nur von dem
Geheul der Hunde übertönt wurde, die mit Mühe von
den toten Bären abzuhalten waren. Der Engländer aber
kehrte ſehr gleichmütig zu ſeinem Pferde zurück und
übergab mir die Büchſe.


„Jetzt könnt Ihr wieder laden, Sir! Yes!


„Da, nehmt Euer Pferd!“


„Wie habe ich die Sache gemacht?“


„Sehr gut!“


Well! Freut mich! Iſt ſchön in Kurdiſtan, wunder-
ſchön!“


Die Kurden kamen aus dem Erſtaunen nicht heraus;
[449] es war ihnen unerhört, daß ein Fußgänger mit nur einem
Gewehre mit zwei Bären fertig zu werden vermochte.
Allerdings hatte ſich Maſter Lindſay mehr als muſterhaft
benommen. Ein größeres Rätſel noch war es mir, die
Bärenfamilie beiſammen zu finden, da das Junge bereits
ziemlich erwachſen war. Die Kurden hatten ſehr große
Mühe, es zu überwältigen und zu binden, da der Bey
es lebendig in Gumri zu haben wünſchte.


Nun wurde das Lager der Tiere aufgeſucht. Es
befand ſich im dichteſten Geſtrüpp, und die vorhandenen
Spuren zeigten, daß die Familie nur aus den Alten mit
dieſem einen Jungen beſtanden hatte. Einer der Hunde
war tot, und zwei waren verwundet. Wir konnten mit
dieſer Jagd zufrieden ſein.


„Herr,“ ſagte der Bey zu mir, „dieſer Emir aus
dem Abendlande iſt ein ſehr tapferer Mann!“


„Das iſt er.“


„Ich wundere mich nicht mehr, daß euch die Ber-
wari geſtern nicht überwältigen konnten, bis ſie euch zu
ſchnell überraſchten.“


„Auch da hätten ſie uns nicht überwältigt; aber ich
gebot den Gefährten, ſich nicht zu wehren. Ich bin dein
Freund und wollte deine Leute nicht töten laſſen.“


„Wie iſt es möglich, alle beide Bären in das Auge
zu treffen?“


„Ich habe einen Jäger gekannt, der jedes Wild
und jeden Feind in das Auge traf. Er war ein guter
Schütze und hatte ein ſehr gutes Gewehr, welches niemals
verſagte.“


„Schießeſt du auch ſo?“


„Nein. Ich habe ſehr viel geſchoſſen, aber nur in
ſchlimmen Fällen auf das Auge gezielt. Wo iſt der
zweite Jagdplatz?“


II. 29
[450]

„Nach Oſten, näher nach Seraruh hinüber. Wir
wollen aufbrechen.“


Es wurden einige Männer mit den erbeuteten Tieren
zurückgelaſſen; wir andern ritten weiter. Wir verließen
den Wald und kamen in eine Schlucht hinab, in welcher
ein Bach floß, deſſen Ufern wir zu folgen hatten. Der
Bey ritt mit den beiden Haddedihn bei den Führern an
der Spitze des Zuges; Halef befand ſich im dichteſten
Haufen der Kurden, mit denen er ſich mittels Gebärden
zu unterhalten ſuchte, und ich ritt mit dem Engländer
hinterher. Wir waren im Geſpräche über irgend einen
Gegenſtand vertieft und merkten nicht, daß wir ſoweit
zurückgeblieben waren, daß wir die Kurden nicht mehr
ſehen konnten. Da fiel ein Schuß vor uns.


„Was iſt das?“ fragte der Engländer. „Sind wir
ſchon bei den Bären, Sir?“


„Wohl nicht.“


„Wer ſchießt aber?“


„Werden es ſehen; kommt!“


Da krachte eine ganze Salve, als ob der Schuß vorher
nur als Signal gegolten habe. Wir ſetzten unſere Pferde
in Galopp. Mein Rappe flog wie ein Pfeil über den
ſchmierigen Boden, aber — da blieb er mit dem Hufe
an einer Schlingwurzel hangen; ich hatte ſie geſehen und
wollte ihn emporreißen, aber es war bereits zu ſpät. Er
überſchlug ſich, und ich wurde weit aus dem Sattel ge-
ſchleudert. Das war in zwei Tagen zum zweitenmale;
aber ich fiel jetzt nicht ſo glücklich, wie geſtern. Ich mußte
mit dem Kopfe aufgefallen ſein, oder ich hatte mir den
Büchſenkolben an die Schläfe geſchlagen — ich blieb
völlig beſinnungslos liegen.


Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich eine Er-
ſchütterung, die mir den ganzen Körper ſchmerzen machte.
[451] Ich öffnete die Augen und ſah mich zwiſchen zwei Pferden
hangen. Man hatte Stangen an die Sättel befeſtigt
und mich darauf gebunden. Vor und hinter mir ritten
gegen dreißig kriegeriſche Geſtalten, von denen mehrere
verwundet zu ſein ſchienen, und unter ihnen befand ſich
— Maſter Lindſay, aber gefeſſelt. Der Anführer der
Schar ritt meinen Hengſt und trug auch meine Waffen.
Mir hatte man nur Hemd und Hoſe gelaſſen, während
Lindſay außer dieſen beiden notwendigen Kleidungsſtücken
auch noch ſeinen ſchönen Turban behalten durfte. Wir
waren vollſtändig ausgeraubt und gefangen.


Da wendete einer der Reiter den Kopf und ſah, daß
ich die Augen geöffnet hatte.


„Halt!“ rief er. „Er lebt!“


Sofort ſtockte der Zug. Alle hielten an und bildeten
einen Kreis um mich. Der Anführer drängte meinen
Hengſt heran und fragte mich: „Kannſt du reden?“


Schweigen konnte zu nichts führen; ich antwortete
daher mit einem Ja.


„Du biſt der Bey von Gumri?“ begann er das Verhör.


„Nein.“


„Lüge nicht.“


„Ich rede die Wahrheit.“


„Du biſt der Bey!“


„Ich bin es nicht!“


„Wer biſt du ſonſt?“


„Ein Fremder.“


„Woher?“


„Aus dem Abendlande.“


Er lachte höhniſch.


„Hört ihr's? Er iſt ein Fremdling aus dem Abend-
lande, geht mit den Leuten von Gumri und Mia auf die
Bärenjagd und ſpricht die Sprache dieſes Landes!“


[452]

„Ich war ein Gaſt des Bey, und daß ich eure
Sprache nicht gut ſpreche, das müßt ihr hören. Seid ihr
Neſtorah?“


„So nennen uns die Moslemim.“


„Auch ich bin ein Chriſt!“


„Du?“ Er lachte wieder. „Du biſt ein Hadſchi;
du hatteſt den Kuran am Halſe hängen; du trägſt die
Kleidung eines Moslem; du willſt uns betrügen.“


„Ich ſage die Wahrheit!“


„Sage uns, ob Sidna Marryam die Mutter Gottes
iſt!“


„Sie iſt es.“


„Sage uns, ob ein Prieſter ein Weib nehmen ſoll!“


„Er ſoll unvermählt bleiben.“


„Sage mir, ob es mehr oder weniger als drei Sakra-
mente giebt!“


„Es giebt mehr.“


Es fiel mir trotz der Gefahr, in welcher ich ſchwebte,
nicht ein, meinen Glauben zu verleugnen. Die Folge be-
kam ich ſofort zu hören:


„So wiſſe, daß Sidna Marryam nur einen Menſchen
geboren hat, daß ein Prieſter ſich verheiraten darf, und
daß es nur drei Sakramente giebt, nämlich das Abendmahl,
die Taufe und die Ordination. Du biſt ein Moslem,
und wenn du ja ein Chriſt biſt, ſo biſt du ein falſcher
Chriſt und gehörſt zu jenen, welche ihre Prieſter ſenden,
um die Kurden, Türken und Perſer gegen uns aufzuhetzen,
und das iſt noch ſchlimmer, als wenn du ein Anhänger
des falſchen Propheten wäreſt. Deine Leute haben einige
von uns verwundet; du wirſt dieſe Schuld mit deinem
Blute bezahlen.“


„Ihr wollt Chriſten ſein und dürſtet nach Blut! Was
haben wir beide euch gethan? Wir wiſſen nicht einmal,
[453] ob ihr den Bey angefallen habt, oder ob ihr von ihm
angefallen worden ſeid.“


„Er wurde von uns erwartet, denn wir wußten, daß
er in die Schlucht auf die Jagd kommen würde; aber er
iſt uns mit all den Seinen entkommen. Das wollen
wir dir ſagen.“


„Wohin führt ihr uns?“


„Das wirſt du erfahren, wenn wir dort ſind.“


„So befreit mich wenigſtens aus dieſer Lage, und
laßt mich auf einem Pferde ſitzen.“


„Das iſt auch uns lieber. Aber wir werden dich
anbinden müſſen, damit du uns nicht entkommen kannſt.“


„Thut es immerhin!“


„Wer iſt dein Gefährte? Er hat zwei Männer von
uns verwundet und ein Pferd erſchoſſen und redet in
einer Sprache, die wir nicht verſtehen.“


„Er iſt ein Engländer.“


„Ein Engländer? Er trug ja kurdiſche Kleidung!“


„Weil ſie in dieſem Lande die bequemſte iſt.“


„Iſt er ein Miſſionar?“


„Das iſt er nicht.“


„Was will er hier?“


„Wir reiſen in Kurdiſtan, um zu ſehen, was es hier
für Menſchen, Tiere und Pflanzen, für Städte und
Dörfer giebt.“


„Das iſt ſehr ſchlimm für euch, denn dann ſeid ihr
Spione. Was habt ihr euch um dieſes Land zu kümmern!
Wir kommen auch nicht in das eurige, um eure Menſchen,
Städte und Dörfer auszukundſchaften. — Setzt ihn auf
das Pferd und bindet ihn mit dem Manne zuſammen,
der ein Engländer ſein ſoll. Auch ihre beiden Tiere
hängt ihr aneinander!“


Dieſem Befehle wurde Folge geleiſtet. Dieſe Leute
[454] führten ſo viele Stricke und Riemen bei ſich, daß ſie ſicher
auf einen viel größeren Fang ausgegangen waren, als
ſie mit uns gemacht hatten. Es wurden Stricke zwiſchen
mir und Lindſay herüber und hinüber gezogen, ſo daß
die Flucht eines einzelnen von uns gar nicht möglich war.
Der Engländer ſah dieſe Veranſtaltungen mit einem un-
beſchreiblichen Blick über ſich ergehen; dann wandte er
ſich mit einem Geſichte zu mir, an welchem alle bitteren
Gefühle der Welt herumzerrten. Der feſt zuſammenge-
kniffene Mund bildete einen Halbkreis, deſſen Enden das
Kinn abknüpfen wollten, und die Naſe hing farblos
nieder, wie eine eingeſchneite und ſteif gefrorene Trauer-
flagge.


„Nun, Sir?“ fragte ich.


Er nickte ſehr langſam zwei- oder dreimal und ſagte
dann:„Yes!


Er brauchte nicht mehr zu ſagen, als dieſes eine
Wort, denn in dem Tone desſelben lag eine ganze Welt
voll Ausrufezeichen.


„Wir ſind gefangen,“ hob ich an.


Yes!


„Und halb nackt.“


Yes!


„Wie iſt das gekommen?“


Yes!


„Geht zum Kuckuck mit Eurem Yes! Ich habe ge-
fragt, wie es gekommen iſt, daß wir gefangen werden
konnten.“


„Wie heißt Schelm oder Spitzbube auf Kurdiſch?“


„Schelm heißt Heilebaz, und Spitzbube Herambaz.“


„So fragt dieſe Heile- und Herambazes, wie es ihnen
gelungen iſt, uns wegzufiſchen!“


Der Anführer mußte die kurdiſchen Ausdrücke ver-
[455] nommen haben. Er drehte ſich um und fragte:„Was
habt ihr zu reden?“


„Ich laſſe mir von meinem Gefährten erzählen, wie
wir in eure Hände geraten ſind,“ erwiderte ich.


„So redet kurdiſch, damit wir es auch hören!“


„Er verſteht ja das Kurdiſche nicht!“


„So redet ja nicht etwa Dinge, die wir nicht er-
lauben können!“


Er drehte ſich wieder hinum, wohl in der Ueber-
zeugung, uns einen guten Befehl gegeben zu haben. Ich
war jedoch ſehr froh, daß er uns das Sprechen nicht über-
haupt verboten hatte. Ein Kurde hätte dies ſicherlich
gethan. Auch waren unſere Feſſeln keineswegs beſchwer-
licher Art. Unſere Füße waren ſo zuſammengebunden,
daß der Strick unter dem Bauche des Pferdes hinweglief,
und von meinem linken Arme und Beine führte je eine
Leine zu den genannten rechten Gliedmaßen des Englän-
ders. Außerdem waren unſere Pferde zuſammengekoppelt;
die Hände aber hatten wir frei — man ließ uns die
Zügel führen. Unſere jetzigen Herren hätten in einem
Kurſus bei den wilden Indianern ſehr viel lernen können.


„Alſo, erzählt, Sir!“ bat ich Lindſay.


Well! Ihr ſchlugt einen Purzelbaum, grad wie geſtern.
Scheint überhaupt ſeit neueſter Zeit in dieſer Motion
etwas zu leiſten! Ich ritt hinter Euch. Verſteht Ihr wohl!“


„Verſtehe ſehr gut; fahrt fort!“


„Mein Pferd ſtürzte über Euren Rappen, der jetzt
dieſem Gentleman gehört, und ich — — hm! Yes!


„Aha! Ihr ſchlugt auch einen Purzelbaum?“


Well! Aber der meinige gelang beſſer als der
Eurige —“


„Vielleicht habt Ihr in dieſer Motion eine größere
Uebung als ich!“


[456]

„Sir, was heißt Schnabel auf Kurdiſch?“


„Nekul.“


„Schön! Gebt alſo auf Euren Nekul beſſer acht,
Maſter!“


„Danke für die Warnung, Sir! Eure Ausdrucksweiſe
ſcheint ſich, ſeit Ihr Euch mit dem Kurdiſchen beſchäftigt,
ſehr veräſthetiſiert zu haben. Nicht?“


„Iſt auch kein Wunder bei dieſem Aerger! Alſo ich
kam zur Erde zu liegen und konnte nur langſam wieder
auf. Es mußte ſich etwas in mir verbogen haben. Die
Büchſe war weit fortgeſchleudert und der Gürtel aufge-
gangen; alle Waffen lagen an der Erde. Da kamen dieſe
Herambaz und machten ſich über mich her.“


„Ihr wehrtet Euch?“


„Natürlich! Ich konnte aber nur das Meſſer und
eine der Piſtolen erwiſchen; darum gelang es ihnen, mich
zu entwaffnen und zu binden.“


„Wo blieb der Bey mit ſeinen Leuten?“


„Habe keinen von ihnen zu ſehen bekommen, hörte
aber weiter vor uns noch ſchießen.“


„Sie werden zwiſchen zwei Abteilungen dieſer Leute
hier geraten geweſen ſein.“


„Wahrſcheinlich. Als man mit mir fertig war,
machte man ſich an Euch. Ich dachte ſehr, daß Ihr tot
wäret. Man hat Beiſpiele, daß ſelbſt ein ſchlechter Reiter
einmal den Hals entzweifällt; nicht, Sir?“


„Möglich!“


„Ihr wurdet zwiſchen die zwei Mähren gebunden;
dann ging es fort, nachdem man unſere beiden Pferde
annektiert hatte.“


„Hat man Euch verhört?“


„Sehr! Habe auch geantwortet! Und wie! Yes!


„Wir müſſen zunächſt aufmerken, in welcher Richtung
[457] wir transportiert werden. Wo liegt die Schlucht, in der
uns das Unglück paſſierte?“


„Grad hinter uns.“


„Dort ſteht die Sonne; wir reiten alſo Oſtſüdoſt.
Gefällt es Euch noch ſo in Kurdiſtan wie vorhin, als
Ihr die Bären getroffen hattet?“


„Hm! Ein miſerables Land zuweilen! Wer ſind dieſe
Leute?“


„Es ſind Neſtorianer.“


„Vortreffliche chriſtliche Sekte! Nicht, Sir?“


„Sie ſind von den Kurden oft mit einer ſolchen un-
menſchlichen Grauſamkeit behandelt worden, daß man ſich
nicht wundern darf, wenn ſie einmal Vergeltung üben.“


„Konnten aber damit warten bis zu einer andern
Zeit! Was iſt nun zu thun, Sir?“


„Nichts, wenigſtens jetzt.“


„Nicht fliehen?“


„In dem Zuſtande, in welchem wir uns befinden?“


„Hm! War ein ſchöner Anzug! Wunderſchön! Nun
iſt er fort! In Gumri werden wir andere Kleider er-
halten.“


„Das wäre das wenigſte. Aber ohne mein Pferd
und meine Waffen fliehe ich nicht. Wie ſteht es mit Eurem
Gelde?“ fragte ich.


„Fort! Und das Eurige?“


„Fort! Es war übrigens nicht ſehr viel,“ lautete
meine Antwort.


„Schöne Wirtſchaft, Sir! Was glaubt Ihr, daß ſie
mit uns thun werden?“


„In Lebensgefahr befinden wir uns nicht. Sie wer-
den uns früher oder ſpäter entlaſſen. Aber ob wir unſer
Eigentum zurückerhalten, das iſt ſehr zu bezweifeln.“


„Laßt Ihr Eure Waffen im Stich?“


[458]

„Nie, und müßte ich ſie einzeln in Kurdiſtan wieder
zuſammenſuchen!“


Well; ich ſuche mit!“


Wir ritten durch ein breites Thal, welches zwei
Höhenzüge trennte, die ſich von Nordweſt nach Südoſt
erſtreckten; dann ging es links zwiſchen den Bergen empor,
bis wir auf eine Hochebene gelangten, von welcher aus
man im Oſten die Häuſer mehrerer Ortſchaften und einen
Fluß erblickte, in welchen ſich mehrere Bäche ergoſſen. In
dieſer Gegend mußten Murghi und Lizan liegen, denn nach
meiner Anſicht waren wir bereits über Seraruh hinaus.


Hier oben wurde unter Eichen Halt gemacht. Die
Reiter ſtiegen von den Pferden. Auch wir durften herab,
wurden aber miteinander an den Stamm eines Baumes
gebunden. Ein jeder holte hervor, was er an Eßwaren
bei ſich hatte, und wir erhielten die Erlaubnis, zuzuſehen.
Lindſay räuſperte ſich verdrießlich und knurrte:


„Wißt Ihr, worauf ich mich gefreut hatte, Sir?“


„Nun auf was?“


„Auf Bärenſchinken und Bärentatzen.“


„Dieſes Gelüſte laßt Euch vergehen! Habt Ihr
Hunger?“


„Nein, bin ſatt vor Aerger! Schaut den Kerl! Kann
ſich mit den Revolvern nicht zurechtfinden!“


Die Leute konnten jetzt mit Ruhe alles betrachten,
was ſie uns abgenommen hatten. Wir ſahen unſer Eigen-
tum durch alle Hände wandern, und nächſt dem Gelde,
welches aber ſehr ſorgfältig wieder aufgehoben wurde,
erregten beſonders unſere Waffen die Aufmerkſamkeit der
neuen Inhaber. Der Anführer hielt meine beiden Re-
volver in der Hand. Er konnte über ſie nicht klug wer-
den, drehte ſie hin und her und wandte ſich endlich an
mich mit den Worten: „Das ſind Waffen?“


[459]

„Ja.“


„Zum Schießen?“


„Ja.“


„Wie macht man es?“


„Das kann man nicht ſagen, ſondern man muß es zeigen.“


„Zeige es uns!“


Dem Manne kam es nicht in den Sinn, daran zu
denken, daß das kleine Ding ihm gefährlich werden könne.


„Du würdeſt es nicht begreifen,“ ſagte ich.


„Warum nicht?“


„Weil du zuvor den Bau und die Behandlung des
anderen Gewehres begriffen haben müßteſt.“


„Welches Gewehr meinſt du?“


„Das zu deiner Rechten liegt.“


Es war der Henryſtutzen, den ich meinte. Er war
ebenſo wie die Revolver mit einer Sicherung verſehen,
welche der Mann nicht zu behandeln verſtand.


„So erkläre es mir!“ ſagte er.


„Ich habe dir ja bereits geſagt, daß man dies nur
zeigen muß!“


„Hier haſt du das Gewehr!“


Er reichte es mir, und ſobald ich es in meiner Hand
fühlte, war es mir, als ob ich nichts mehr zu befürchten
brauche.


„Gieb mir ein Meſſer, damit ich den Hahn öffnen
kann,“ ſagte ich nun.


Er gab mir ein Meſſer, und ich nahm es, ſchob die
Sicherung mit der Spitze desſelben zurück, obgleich ich
dies mit dem leiſeſten Druck meines Fingers hätte thun
können, und behielt das Meſſer dann noch in der Hand.


„Sage mir, was ich dir ſchießen ſoll?“ hob ich nun an.


Er blickte ſich um und ſagte dann: „Biſt du ein
guter Schütze?“


[460]

„Ich bin's!“


„So ſchieße mir einen jener Galläpfel herab!“


„Ich werde dir fünf herunterſchießen und doch nur
einmal laden.“


„Das iſt unmöglich!“


„Ich ſage die Wahrheit. Soll ich laden?“


„Lade!“


„So mußt du mir den Beutel geben, der an meinem
Gürtel hing. Du haſt ihn da an deinen eigenen Gürtel
befeſtigt.“


„Das Gewehr war vollſtändig geladen, aber es war
mir um meine Patronen zu thun.“


„Was ſind das für kleine Dinger, welche ſich darin
befinden?“ fragte er.


„Das werde ich dir zeigen. Wer ſo ein Ding hat,
braucht weder Pulver noch Kugel, um ſchießen zu können.“


„Ich ſehe, daß du kein Kurde biſt; denn du haſt
Sachen, die es noch nie in dieſem Lande gegeben hat. Biſt
du wirklich ein Chriſt?“


„Ein guter Chriſt.“


„Sage mir das Vaterunſer!“


„Ich ſpreche nicht gut das Kurdiſche, aber du wirſt
es mir verzeihen, wenn ich einige kleine Fehler mache.“


Ich gab mir Mühe, die Aufgabe zu löſen. Er fiel
zwar einige Male verbeſſernd ein, weil ich die Worte
‚Verſuchung‘ und ‚Ewigkeit‘ nicht kannte, meinte aber dann
doch befriedigt: „Du biſt wirklich kein Moslem, denn ein
ſolcher würde das Gebet der Chriſten niemals ſagen. Du
wirſt das Gewehr nicht mißbrauchen, und darum will ich
dir den Beutel geben.“


Seine Gefährten ſchienen ſein Verfahren nicht an-
ſtößig und unvorſichtig zu finden. Sie gehörten alle einer
Bevölkerungsklaſſe an, der durch die Gewalt ihrer Unter- [461]
drücker eine lange Zeit die Waffen aus der Hand ge-
rungen geweſen waren, und verſtanden darum den Wert
derſelben in den Händen eines entſchloſſenen Mannes kaum
zu ſchätzen. Und übrigens waren alle wohl neugierig auf
die Unterweiſung, welche ich geben ſollte.


Ich nahm eine der Patronen heraus und that, als
ob ich lud. Dann zielte ich in die Höhe und gab den
Zweig an, von welchem fünf Galläpfel verſchwinden ſollten.
Ich drückte fünfmal los, und die Aepfel waren fort. Das
Erſtaunen dieſer einfachen Leute war grenzenlos.


„Wie vielmal kannſt du mit dieſem Gewehre ſchießen?“
fragte mich der Anführer.


„So vielmal, als ich will.“


„Und hier mit dieſen kleinen Gewehren?“


„Auch ſehr vielmal. Soll ich ſie dir erklären?“


„Thue es!“


„Zeige ſie einmal her!“


Ich legte den Stutzen neben mich und langte nach
den beiden Revolvern, welche er mir gab. Lindſay beob-
achtete eine jede meiner Bewegungen mit der größten
Spannung.


„Ich habe euch geſagt, daß ich ein Chriſt aus dem
Abendlande bin. Wir töten niemals ungezwungen einen
Menſchen, aber wenn wir angegriffen werden, ſo kann
man uns nie beſiegen; denn wir haben wunderbare Waffen,
gegen die es keine Rettung giebt. Ihr ſeid über dreißig
tapfere Krieger; aber wenn wir zwei nicht an dieſen Baum
gebunden wären und euch töten wollten, ſo würden wir
mit dieſen drei Gewehren in drei Minuten damit fertig
ſein. Glaubſt du das?“


„Wir haben auch Waffen!“ antwortete er mit einem
leiſen Anflug von Beſorgnis.


„Ihr würdet ſie nicht brauchen können, denn der
[462] erſte, der nach ſeiner Flinte, nach ſeiner Lanze oder nach
ſeinem Meſſer griffe, wäre auch der erſte, welcher ſterben
müßte. Verſuchtet ihr aber keine Gegenwehr, ſo würden
wir euch nichts zuleide thun, ſondern in Frieden mit
euch reden.“


„Das alles könnt ihr nicht, denn ihr ſeid an den
Baum gebunden.“


„Du haſt recht; aber wenn wir wollten, würden wir
bald frei ſein,“ antwortete ich in einem ruhigen, erklären-
den Tone. „Dieſer Strick geht nur um unſern Leib und
um den Baum. Ich würde meinem Gefährten dieſe beiden
kleinen Gewehre geben, ſo wie ich jetzt thue; dann nähme
ich dein Meſſer, und ein einziger Schnitt mit demſelben
zertrennt den Strick, und wir ſind frei. Sieheſt du wohl?“


Grad ſo, wie ich geſprochen, hatte ich es auch gethan.
Ich ſtand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindſay
neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit ſeinem
breiteſten Lächeln zu, geſpannt auf alles, was ich that, da
er meine Worte nicht verſtehen konnte.


„Du biſt ein kluger Mann,“ ſagte der Anführer;
„aber dieſen Strick brauchteſt du uns nicht zu ruinieren.
Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden
kleinen Gewehre!“


„Ich habe dir bereits zweimal geſagt, daß man das
nicht erklären, ſondern zeigen muß. Und zeigen werde ich
es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver-
lange.“


Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich
Ernſt machte. Er ſtand auf, und auch die andern erhoben
ſich, nach ihren Waffen greifend.


„Was verlangſt du?“ fragte er drohend.


„Höre mich ruhig an! Wir ſind keine gewöhnlichen
Krieger, ſondern Emire, denen man Achtung ſchuldig iſt,
[463] ſelbſt wenn ſie in Gefangenſchaft geraten. Ihr aber habt
uns beraubt und gefeſſelt, als ob wir Diebe und Räuber
ſeien. Wir verlangen, daß ihr uns alles zurückgebt, was
ihr uns genommen habt!“


„Das werden wir nicht thun!“


„So werde ich deinen Wunſch erfüllen und dir den
Gebrauch unſerer Waffen zeigen. Merke wohl auf: der
erſte, der auf uns ſchießen oder ſtechen will, wird auch
der erſte ſein, der ſterben muß! Es iſt beſſer, wir ſprechen
in Frieden miteinander, als daß wir euch töten.“


„Ihr werdet auch fallen!“


„Aber die meiſten von euch vorher!“


„Wir müſſen euch binden, denn wir müſſen euch zu
unſerm Melek bringen.“


„Ihr bringt uns nicht zu eurem Melek, wenn ihr
uns feſſeln wollt; denn wir werden uns wehren. Aber
wenn ihr uns alles wiedergebt, was uns gehört, ſo werden
wir euch freiwillig folgen; denn wir können dann als
Emire vor ihm erſcheinen.“


Dieſe guten Leute waren gar nicht blutgierig und
hatten eine große Angſt vor unſern Waffen. Sie blickten
einander an, flüſterten leiſe, und endlich fragte der An-
führer:


„Was verlangſt du zurück?“


„Die Kleider alle.“


„Die ſollſt du haben.“


„Das Geld und alles, was in unſern Taſchen war.“


„Das müſſen wir behalten, um es dem Melek zu
geben.“


„Und die Waffen.“


„Auch ſie müſſen wir behalten, ſonſt gebraucht ihr
ſie gegen uns.“


„Und endlich verlangen wir unſere Pferde.“


[464]

„Du verlangſt das Unmögliche!“


„Nun gut; ſo habt ihr allein die Schuld, wenn wir
uns ſelbſt nehmen, was uns gehört. Du biſt der An-
führer und haſt unſer Eigentum eingeſteckt. Ich muß dich
töten, um es wieder zu bekommen.“


Ich erhob das Gewehr. Lindſay hielt ſeine beiden
Läufe vor.


„Halt, ſchieße nicht!“ gebot der Mann. „Folgeſt du
uns wirklich, wenn wir euch alles geben?“


„Ja,“ erwiderte ich.


„Schwöre es uns!“


„Ich ſage es. Das gilt wie ein Schwur!“


„Und wirſt auch deine Waffen nicht gebrauchen?“


„Nein; es ſei denn aus Notwehr.“


„So ſollſt du alles haben.“


Er ſprach wieder leiſe mit den Seinen. Es ſchien,
als ob er ihnen erkläre, daß unſer Eigentum ihnen ja
ſicher bleibe. Endlich wurde uns alles hingelegt, ſo daß
wir nicht den geringſten Gegenſtand zu vermiſſen hatten.
Wir zogen unſere Kleider an, und während dieſer Be-
ſchäftigung forderte mich Lindſay auf, ihm das Ergebnis
meiner Verhandlung mitzuteilen. Als ich ſeiner Auf-
forderung nachgekommen war, legte ſich ſein Geſicht in
ſehr bedenkliche Falten.


„Was habt Ihr gethan, Sir! Hatten unſere Freiheit
ſo ſchön in den Händen!“


„Glaubt Ihr? Es hätte auf alle Fälle einen Kampf
gegeben.“


„Hätten ſie alle erſchoſſen!“


„Fünf oder zehn, dann aber wäre es aus mit uns
geweſen. Seid froh, daß wir unſere Sachen wieder haben;
das weitere wird ſich dann auch noch finden!“


„Wohin führen ſie uns?“


[465]

„Das werden wir erſt noch erfahren. Uebrigens
könnt Ihr verſichert ſein, Sir, daß uns unſere Freunde
nicht verlaſſen werden. Von Halef weiß ich es ganz genau,
daß er alles in Bewegung ſetzen wird, um uns nützlich
zu ſein.“


„Glaube es auch. Braver Kerl!“


Als wir alles zu uns genommen hatten, ſtiegen wir
auf und ſetzten unſern Ritt fort. Es hätte mich jetzt nur
einen Schenkeldruck gekoſtet, um wieder frei zu ſein; aber
ich hatte mein Wort gegeben, und das mußte ich halten.
Ich ritt an der Seite des Anführers, der ſeine beſorgten
Blicke nicht von uns wendete.


„Ich frage dich abermals, wohin du uns führſt?“
hob ich an.


„Das wird der Melek entſcheiden.“


„Wo befindet er ſich?“


„Wir werden am Abhange des Gebirges auf ihn
warten.“


„Welcher Melek iſt es?“


„Von Lizan.“


„So iſt er jetzt in Lizan und wird ſpäter kommen?“


„Er iſt dem Bey von Gumri nachgejagt.“


„Ah! Und warum habt ihr euch von ihm getrennt?“


„Er bedurfte unſerer Hilfe nicht, weil er ſah, daß
der Bey ſo wenige Leute bei ſich hatte, und als wir um-
kehrten, trafen wir auf euch.“


Nun war das Rätſel gelöſt. Der Feind war ſo zahl-
reich geweſen, daß es unſeren Freunden nicht möglich ge-
worden war, ſich durchzuſchlagen und zu uns zu kommen.


Unſer Weg führte uns ſehr bald wieder bergab und
wir ſahen das Thal des Zab in einer Länge von vielen
Stunden vor uns liegen. Nach Verlauf von vielleicht
zwei Stunden gelangten wir an einen einſamen Weiler,
II. 30
[466] der nur aus vier Gebäuden beſtand, von denen drei aus
Lehm aufgeführt waren, während das vierte ſtarke Stein-
mauern beſaß. Es hatte ein Stockwerk über dem Erd-
geſchoß und einen ziemlich großen Garten an ſeiner hin-
teren Seite.


„Hier bleiben wir,“ meinte der Anführer.


„Wem gehört dieſes Haus?“


„Dem Bruder des Melek. Ich werde dich zu ihm
führen.“


Wir hielten vor dem Gebäude ſtill, und eben als ich
am Abſteigen war, vernahmen wir ein lautes, heulendes
Schnaufen. Wir drehten uns um und ſahen einen Hund,
der in gewaltigen Sätzen den Abhang herabgeſprungen
kam. Es war mein Dojan, den ich kurz vor dem Ueber-
fall der Obhut Halefs übergeben hatte. Die Schnur, an
welcher ihn der Diener geführt hatte, war zerriſſen, und
ſein Inſtinkt hatte das brave Tier auf meine Spur ge-
führt. Er ſprang laut jauchzend an mir empor, und ich
hatte alle Mühe, ihn zur Ruhe zu bringen. Ich gab ihm
den Zügel meines Pferdes zwiſchen die Zähne und war
nun ſicher, daß niemand es mir unbemerkt entführen
könne. Dann wurden wir in das Haus gewieſen. Der
Anführer ſtieg mit uns eine Treppe empor und bedeutete
uns, in einem Zimmerchen auf ihn zu warten. Es dauerte
eine ganze Weile, ehe er zurückkehrte.


„Ihr ſollt kommen,“ meinte er. „Aber legt vorher
die Waffen ab.“


„Warum dieſe Zumutung?“


„Der Bruder des Melek iſt ein Prieſter.“


„Bei dem du ſelbſt deine Waffen getragen haſt!“


„Ich bin ſein Freund.“


„Ah! Er fürchtet ſich vor uns?“


„So iſt es.“


[467]

„Du kannſt ruhig ſein. Wenn er es ehrlich meint,
wird er ſich bei uns in keiner Gefahr befinden.“


Der Mann führte uns durch eine Thüre in ein Ge-
mach, in welchem der Beſitzer des Hauſes ſich befand. Es
war ein ſchwacher, ältlicher Mann, deſſen blatternarbiges
Geſicht auf mich keinen ſehr angenehmen Eindruck machte.
Er winkte, und der Führer entfernte ſich.


„Wer ſeid ihr?“ fragte er, ohne uns zu begrüßen.


„Wer biſt du?“ fragte ich in ganz demſelben kurzen
Tone wie er.


Er runzelte die Stirn.


„Ich bin der Bruder des Melek von Lizan.“


„Und wir ſind Gefangene des Melek von Lizan.“


„Dein Benehmen iſt nicht ſo, als ob du ein Ge-
fangener ſeiſt.“


„Weil ich freiwillig ein Gefangener bin und ſehr
genau weiß, daß ich es nicht lange bleiben werde.“


„Freiwillig? Man hat dich doch gefangen genommen!“


„Und wir haben uns wieder frei gemacht und ſind
euren Männern aus freiem Willen gefolgt, um nicht ge-
zwungen zu ſein, ihnen das Leben zu nehmen. Iſt das
dir nicht erzählt worden?“


„Ich glaube es nicht.“


„Du wirſt es glauben lernen.“


„Du biſt bei dem Bey von Gumri geweſen!“ fuhr
er fort. „Wie kommſt du zu dieſem?“


„Ich hatte ihm Grüße von einem Verwandten aus-
zurichten.“


„So biſt du nicht ein Vaſall von ihm?“


„Nein. Ich bin ein Fremdling in dieſem Lande.“


„Ein Chriſt, wie ich hörte?“


„Du haſt die Wahrheit gehört.“


„Aber ein Chriſt, der an die falſche Lehre glaubt!“


[468]

„Ich bin überzeugt, daß ſie die wahre iſt.“


„Du biſt kein Miſſionar?“


„Nein. Biſt du ein Prieſter?“ fragte ich dagegen.


„Ich wollte einſt ein ſolcher werden,“ antwortete er.


„Wann wird der Melek hier ankommen?“


„Noch heute; die Stunde aber iſt unbeſtimmt.“


„Ich ſoll bis dahin in deinem Hauſe bleiben?“


Er nickte, und ich fragte weiter:


„Aber als was?“


„Als das, was du biſt, als Gefangener.“


„Und wer wird mich feſthalten?“


„Meine Leute und dein Wort.“


„Deine Leute können mich nicht halten, und mein
Verſprechen habe ich bereits erfüllt. Ich ſagte, daß ich
ihnen folgen würde; das habe ich gethan.“


Er ſchien zu überlegen.


„Du magſt recht haben. So ſollſt du alſo nicht mein
Gefangener, ſondern mein Gaſt ſein.“


Er klatſchte in die Hände. Ein altes Weib erſchien.


„Bringe Pfeifen, Kaffee und Matten!“ gebot er ihr.


Die Matten wurden zuerſt gebracht, und wir mußten
zu beiden Seiten des Mannes Platz nehmen, der ein
Prieſter genannt wurde, weil er einſt gewillt geweſen
war, ein ſolcher zu werden. Er wurde jetzt freundlicher,
und als die Pfeifen mit dem Tabak gebracht wurden,
hatte er ſogar die Herablaſſung, ſie uns ſelbſt anzubren-
nen. Ich erkundigte mich bei ihm nach den Verhältniſſen
der neſtorianiſchen Chaldäer und erfuhr allerdings Dinge,
bei deren Erzählung einem ſich die Haare ſträuben konnten.


Die Krieger hatten ſich um das Haus gelagert; es
waren, wie ich erfuhr, arme, einfache Ackerbauer, alſo un-
angeſehene Leute nach den Begriffen der Nomaden und
anderen Bevölkerungsklaſſen, welche das Handwerk des
[469] Krieges treiben. Sie kannten den Gebrauch der Waffen
nicht, und einige unbewachte Andeutungen unſers Wirtes
brachten mich zu der Ueberzeugung, daß von zehn ihrer
Luntenflinten kaum fünf losgegangen wären.


„Nun aber werdet ihr ermüdet ſein,“ meinte er, als
auch der Kaffee eingenommen war. „Erlaubt, daß ich
euch ein Zimmer anweiſe, welches das eurige ſein ſoll!“


Er erhob ſich und öffnete eine Thüre. Scheinbar aus
Höflichkeit ſtellte er ſich zur Seite, um uns zuerſt ein-
treten zu laſſen; kaum aber hatten wir die Schwelle über-
ſchritten, ſo warf er die Thüre zu und ſchob den Riegel vor.


„Ah! Was iſt das?“ fragte Lindſay.


„Heimtücke. Was weiter!“


„Habt Euch übertölpeln laſſen!“


„Nein. Ich ahnte ſo etwas.“


„Warum tratet Ihr ein, wenn Ihr es ahntet?“


„Weil ich mich ausruhen wollte. Mir thun die Glieder
noch weh von dem Sturze.“


„Das konnten wir wo anders thun und nicht hier
als Gefangene!“


„Wir ſind nicht gefangen. Seht Euch dieſe Thüre an,
die ich mir bereits während der Unterhaltung betrachtet
habe. Einige Fußtritte oder ein guter Kolbenſtoß reichen
hin, ſie zu zertrümmern.“


„Wollen das ſofort thun!“


„Wir befinden uns in keiner Gefahr.“


„Wollt Ihr warten, bis noch mehr Leute kommen?
Jetzt fällt es uns nicht ſchwer, aufzuſitzen und fortzureiten.“


„Mich reizt dieſes Abenteuer. Wir haben jetzt die
beſte Gelegenheit, die Verhältniſſe dieſer chriſtlichen Sek-
tierer kennen zu lernen.“


„Bin nicht ſehr neugierig darauf; die Freiheit iſt
mir lieber!“


[470]

Da hörte ich meinen Hund zornig knurren und dann
in jener beſtimmten Weiſe anſchlagen, die mir ſagte, daß
er ſich gegen einen Angreifer zu wehren habe. Die einzige
Fenſteröffnung, welche es in dem Raume gab, und die ſo
klein war, daß man den Kopf nicht hindurchſtecken konnte,
befand ſich an der andern Seite. Ich konnte alſo nicht
ſehen, was es gab. Da hörte ich ein kurzes Bellen und
bald darauf einen Schrei. Unter dieſen Umſtänden war
hier oben meines Bleibens nicht.


„Kommt, Sir!“


Ich ſtemmte mich mit der Achſel gegen die Thüre —
ſie gab nur wenig nach.


„Nehmt den Kolben!“ meinte Lindſay, indem er zu-
gleich ſeine eigne Büchſe ergriff.


Einige Schläge genügten, die Thüre zu zertrümmern.
In dem Raume, wo wir vorhin geſeſſen hatten, ſtanden
vier Männer, welche jedenfalls die Aufgabe hatten, uns
zu bewachen; denn ſie traten uns mit erhobenem Gewehr
entgegen, hatten aber gar nicht das Ausſehen, als ob ſie
Ernſt machen würden.


„Halt! Bleibt hier!“ meinte der eine ſehr freundlich.


„Thut dies einſtweilen an unſerer Stelle!“


Ich ſchob ihn beiſeite und eilte hinab, wo die An-
weſenden einen weiten Kreis um unſere Pferde geſchloſſen
hatten. Bei denſelben lag der gaſtfreundliche Wirt an der
Erde und der Hund auf ihm.


„Fort, Sir?“ fragte Lindſay.


„Ja.“


Im nächſten Augenblick ſaßen wir auf.


„Halt! Wir ſchießen!“ riefen mehrere Stimmen.


Es richteten ſich allerdings mehrere Gewehre gegen
uns, aber wir achteten nicht darauf.


„Dojan, geri!“


[471]

Der Hund ſprang auf. Ich nahm die Büchſe in die
Hand, wirbelte ſie um den Kopf; Lindſay that dasſelbe,
und unſere Pferde ſchnellten durch den Kreis hindurch.
Zwei einzelne Schüſſe fielen hinter uns: ſie ſchadeten uns
nicht. Aber ſämtliche Neſtorah ſtiegen unter lautem Ge-
ſchrei zu Pferde, um uns zu verfolgen. Das Abenteuer
hatte ſeit dem Augenblick unſerer Gefangennehmung einen
beinahe komiſchen Verlauf genommen; es bildete einen ſehr
überzeugenden Beleg dazu, daß die Tyrannei im ſtande
iſt, ein Volk zu entnerven. Was wären wir zwei gegen
dieſe Uebermacht geweſen, wenn die Neſtorianer noch einiges
Mark beſeſſen hätten!


Wir achteten gar nicht weiter auf ſie und ritten ſo
ſchnell wie möglich den Weg zurück, auf welchem wir
gekommen waren. Als wir die Höhe erreicht hatten, waren
die Verfolger weit hinter uns geblieben.


„Vor dieſen ſind wir ſicher!“ meinte Lindſay.


„Aber vor den andern nicht.“


„Warum nicht?“


„Sie können uns begegnen.“


„So weichen wir ihnen aus!“


„Das iſt nicht an jeder Stelle möglich.“


„So hauen wir uns durch! Well!


„Sir, das würde uns wohl ſchwerlich gelingen. Ich
habe nämlich die Ahnung, daß unſere Neſtorianer in der
Schar des Melek nur der überflüſſige, mutloſe und ſchlecht
bewaffnete Troß geweſen ſind, den er zurückgeſchickt hat,
um nicht gehindert zu ſein. An uns haben ſie ſich gewagt,
da wir nur zu zweien waren und uns in keiner verteidi-
gungsfähigen Lage befanden.“


„Laſſe mich aber nicht wieder fangen! Yes!


„Ich habe auch nicht Luſt dazu, aber der Menſch
kann nicht wiſſen, was ihm begegnet.“


[472]

Wir kamen ſchnell über die Hochebene zurück, auf
welcher wir vorher Raſt gehalten hatten. An dem dies-
ſeitigen Rande derſelben hielten wir an, und ich zog das
Fernrohr aus der Satteltaſche, um die unter uns liegen-
den Thäler und Abhänge zu betrachten. Ich konnte nichts
Beſorgnis Erregendes bemerken, und ſo ſetzten wir unſern
Weg thalabwärts fort. Endlich gelangten wir nach lan-
gem Ritt auch an die Stelle, an welcher wir gefangen
genommen worden waren. Lindſay wollte nach rechts ab-
biegen, weil dorthin Mia und unſer Jagdplatz lag, aber
ich hielt zaudernd an.


„Wollen wir nicht einmal hier links hinab, Sir?“
fragte ich. „Dort ſind die Unſrigen überfallen worden. Es
iſt beinahe notwendig, ſich den Kampfplatz anzuſehen.“


„Wir werden alle in Mia oder Gumri treffen!“ ent-
gegnete er.


„Gumri liegt nach links. Kommt!“


„Ihr werdet Euch in neue Gefahr begeben, Sir!“


Ich ſchwenkte ohne weitere Antwort links ab, und
er folgte mir ein wenig verdroſſen.


Hier ſah ich die Wurzel, über welche mein Pferd ge-
ſtrauchelt war, und vielleicht achthundert Schritte weiter
abwärts fanden wir ein getötetes Pferd daliegen, dem
man Sattel und Zaum abgenommen hatte. Der ſpärliche
Graswuchs und das niedrige Geſtrüpp war zertreten; auch
das mit Blut beſpritzte Geſtein zeigte, daß hier ein Kampf
ſtattgefunden habe. Die Spuren desſelben führten ab-
wärts: die Kurden waren geflohen und die Neſtorianer
ihnen gefolgt. Das regte den Engländer auf. Er dachte
nicht mehr an ſeine vorige Warnung und ſetzte ſein Pferd
in Trab.


„Kommt, Sir! Müſſen ſehen, wie es gegangen iſt!“
rief er mir zu.


[473]

„Vorſichtig!“ warnte ich. „Das Thal iſt breit und
offen. Wenn der Feind grad jetzt zurückkehrt, wird er
uns bemerken; dann iſt es aus mit uns.“


„Geht mich nichts an! Müſſen den Unſerigen helfen!“


„Sie werden uns jetzt nicht mehr brauchen!“


Er aber ließ ſich nicht halten, und ich war gezwun-
gen, ihm auf dem offenen Terrain zu folgen, während ich
mich lieber unter den Schutz der Bäume zurückgezogen hätte.


Weit unten machte das Thal eine Krümmung. Die
innere Ecke derſelben ſtieß beinahe bis an das Ufer des
Baches heran und hinderte uns, weiter zu ſehen. Unweit
davon lag ein nackter Leichnam. Es war ein toter Kurde;
das ſah man an dem Haarbüſchel. Wir bogen um die
Ecke. Kaum aber hatten wir hundert Schritte gemacht,
ſo raſchelte es in den Bäumen und Sträuchern der Thal-
wand, und wir ſahen uns augenblicklich von einer Menge
bewaffneter Geſtalten umringt. Zwei von ihnen hielten
die Zügel meines Pferdes, und mehrere faßten mich an
den Beinen und am Arme, um mich an der Gegenwehr
zu verhindern. So ging es auch dem Engländer, der in
einem ſolchen Knäuel von Feinden ſtak, daß ſein Pferd
ſich kaum zu bewegen vermochte. Er wurde angerufen,
konnte aber nichts verſtehen und deutete auf mich.


„Wer ſeid ihr?“ fragte mich einer.


„Wir ſind Freunde der Neſtorah. Was wollt ihr
von uns?“


„Wir ſind keine Neſtorah. So nennen uns nur unſere
Feinde und Bedrücker. Wir ſind Chaldäer. Aber ihr ſeid
Kurden?“


„Wir beide ſind weder Kurden, noch Türken, noch
Araber. Wir tragen nur die Tracht dieſes Landes. Wir
ſind Feringhis *).“


[474]

„Woher ſeid ihr?“


„Ich bin ein Nemtſche, und mein Gefährte iſt ein
Inglis.“


„Die Nemtſche kenne ich nicht, aber die Inglis ſind
böſe Menſchen. Ich werde euch zum Melek führen, der
über euch urteilen mag.“


„Wo iſt er?“


„Weiter unten. Wir ſind die Vorhut und ſahen euch
kommen.“


„Wir werden euch folgen. Laßt mich los!“


„Steige ab!“


„Erlaube mir, daß ich ſitzen bleibe! Ich habe einen
Fall gethan und kann nicht gut gehen.“


„So mögt ihr reiten, und wir werden eure Pferde
führen. Aber ſobald ihr verſucht, zu fliehen oder eure
Waffen zu gebrauchen, werdet ihr erſchoſſen!“


Das klang ſehr beſtimmt und kriegeriſch. Dieſe Männer
machten allerdings einen ganz andern Eindruck als die-
jenigen, welche uns vorher gefangen genommen hatten.
Wir wurden thalabwärts geführt. Mein Hund ſchritt,
die Augen immer auf mich gerichtet, neben mir her;
er hatte keinen der Feinde angegriffen, weil ich mich ruhig
verhalten hatte.


Ein kleines Nebenwaſſer floß von rechts her in den
Bach. Es kam aus einem Seitenthale, welches bei ſeiner
Mündung in das Hauptthal eine ziemlich breite Einbuch-
tung bildete. Hier lagerten wohl gegen ſechshundert Krie-
ger in vielen Gruppen beieinander, während ihre Pferde
in der Umgebung weideten. Unſer Erſcheinen erregte Auf-
ſehen; aber niemand rief uns an.


Wir wurden zu einer der größten Gruppen geführt,
in deren Mitte ein kräftig gebauter Mann ſaß, welcher
unſern Begleitern zunickte.


[475]

„Ihr bringt ſie?“ ſagte er zu ihnen. „Kehrt wieder
auf euren Poſten zurück!“


Man hatte ihm alſo unſer Kommen bereits gemeldet,
als wir im Begriffe waren, ihnen ahnungslos in die
Hände zu laufen. Der Melek hatte einige Aehnlichkeit mit
ſeinem Bruder, aber meine Augen richteten ſich von ihm
ab und auf eine andere Gruppe. Dort ſaßen der Bey von
Gumri, Amad el Ghandur und Halef nebſt mehreren
Kurden unbewaffnet und rings von Wächtern umgeben;
aber keiner von ihnen war gebunden. Sie hatten die Geiſtes-
gegenwart, ſich bei unſerm Anblick ruhig zu verhalten.


Der Melek winkte uns, abzuſteigen.


„Kommt näher!“ gebot er.


Ich trat in den Kreis und ſetzte mich ungeniert neben
ihm nieder. Auch der Engländer that ſo. Der Anführer
blickte uns etwas überraſcht an, ſagte aber nichts über
unſer dreiſtes Benehmen.


„Habt ihr euch bei eurem Ergreifen gewehrt?“ fragte er.


„Nein,“ antwortete ich kurz.


„Ihr tragt doch Waffen!“


„Warum ſollen wir die Chaldäer töten, da wir ihre
Freunde ſind? Sie ſind Chriſten, wie wir.“


Er horchte auf und fragte dann:


„Ihr ſeid Chriſten? — Aus welcher Stadt?“


„Die Stadt, aus der wir ſtammen, kennſt du nicht.
Sie liegt weit von hier im Abendlande, wohin noch kein
Kurde gekommen iſt.“


„So ſeid ihr Franken? Vielleicht aus Ingliſtan?“


„Mein Gefährte ſtammt aus Ingliſtan. Ich aber
bin ein Nemtſche.“


„Ich habe noch keinen Nemtſche geſehen. Wohnen ſie
mit den Inglis in einem Lande?“


„Nein; es liegt ein Meer zwiſchen ihnen.“


[476]

„Das haſt du wohl von andern gehört, denn ein
Nemtſche biſt du nicht.“


„Warum nicht?“


„Ich ſehe, daß du einen Kuran trägſt, wie ihn die
Hadſchi tragen.“


„Ich kaufte ihn nur, um zu ſehen, was die Moslemim
für einen Glauben und für eine Lehre haben.“


„So handelſt du ſehr unrecht. Ein Chriſt darf keine
andere Lehre kennen lernen, als nur die ſeinige. Aber
wenn ihr Franken ſeid, warum kommt ihr in unſer Land?“


„Wir wollen ſehen, ob wir mit euch Handel treiben
können.“


„Welche Waren habt ihr mitgebracht?“


„Wir haben noch nichts mitgebracht. Wir wollen
erſt ſehen, was ihr braucht, und es dann unſern Kauf-
leuten erzählen.“


„Warum tragt ihr ſo viele Waffen, da ihr doch nur
des Handels wegen zu uns kommt?“


„Die Waffe iſt das Recht des freien Mannes; wer
ohne Waffen reiſt, der wird für einen Knecht gehalten.“


„So ſagt euren Kaufleuten, daß ſie uns Waffen ſen-
den ſollen; denn hier giebt es ſehr viele Männer, welche
frei werden wollen. Ihr müßt ſehr mutige Männer ſein,
daß ihr euch in ſo ferne Länder wagt. Habt ihr jemand,
der euch hier beſchützt?“


„Ja. Ich habe ein Bu-djeruldi des Großherrn bei
mir.“


„Zeige es her!“


Ich gab ihm den Paß, und ich ſah, daß er leſen
konnte. Dieſer Melek war alſo ein unterrichteter Mann.
Er gab mir das Schreiben wieder.


„Du ſteheſt unter einem Schutze, welcher dir hier
nichts helfen kann; aber ich ſehe, daß ihr keine gewöhn-
[477] lichen Krieger ſeid, und das iſt gut für euch. Warum redeſt
du allein und warum ſpricht nicht auch dein Gefährte?“


„Er verſteht nur die Sprache ſeiner Heimat.“


„Was thut ihr hier in dieſer entlegenen Gegend?“


„Wir ſahen die Spuren des Kampfes und ſind ihnen
gefolgt.“


„Wo habt ihr die letzte Nacht geſchlafen?“


„In Gumri,“ antwortete ich ohne Zögern.


Er erhob den Kopf mit einem überraſchten, ſcharfen Blick.


„Das wagſt du, mir zu ſagen?“


„Ja, denn es iſt die Wahrheit.“


„So biſt du ein Freund des Bey! Wie kam es, daß
du nicht an ſeiner Seite kämpfteſt?“


„Ich war zurückgeblieben und konnte ihn in der Ge-
fahr nicht mehr ereilen, denn deine Männer kamen zwi-
ſchen ihn und uns.“


„Sie griffen euch an?“


„Das thaten ſie.“


„Ihr habt euch gewehrt?“


„Wenig. Wir beide waren in dem Augenblick, als
ſie kamen, mit unſern Pferden geſtürzt; ich lag ganz ohne
Beſinnung, und mein Gefährte hatte die Waffen verloren.
Es wurde ein Pferd getötet, und zwei Männer ſind ver-
wundet.“


„Was geſchah dann?“


„Wir wurden ausgezogen bis auf die Unterkleider,
auf die Pferde gebunden und zu deinem Bruder geführt.“


„Und jetzt ſeid ihr wieder hier! Wie iſt das ge-
kommen?“


Ich erzählte ihm alles genau vom erſten Augenblick
unſerer Gefangenſchaft an bis zur gegenwärtigen Minute.
Seine Augen wurden immer größer, und zuletzt brach er
in einen Ausruf des größten Erſtaunens aus:


[478]

„Katera Aïſa. — Um Jeſu willen, Herr, das alles
ſagſt du mir? Entweder biſt du ein großer Held oder
ein ſehr leichtſinniger Mann, oder du ſuchſt den Tod!“


„Es iſt keines von dieſen dreien der Fall. Ich ſagte
dir alles, weil ein Chriſt nicht lügen ſoll und weil mir
dein Angeſicht gefällt. Du biſt kein Räuber und kein
Tyrann, vor dem man zittern ſoll, ſondern ein redlicher
Fürſt der Deinen, welcher die Wahrheit liebt und ſie
auch hören will.“


„Chodih, du haſt recht, und daß du ſo handelſt,
wie du gethan haſt, das iſt dein Glück. Hätteſt du die
Unwahrheit geſprochen, ſo wäreſt du verloren geweſen,
wie dieſe andern verloren ſind!“


Er deutete auf die Gruppe der Gefangenen.


„Woher hätteſt du gewußt, daß ich die Unwahrheit
rede?“


„Ich kenne dich. Biſt du nicht der Mann, der mit
den Haddedihn gegen ihre Feinde kämpfte?“


„Ich bin es!“


„Biſt du nicht der Mann, der mit den Dſcheſidi
gegen den Muteſſarif von Moſſul kämpfte?“


„Du ſagſt die Wahrheit!“


„Biſt du nicht der Mann, der Amad el Ghandur
aus dem Gefängniſſe von Amadijah befreite?“


„Das that ich!“


„Und der auch die Befreiung zweier Kurden von
Gumri bei dem Muteſſelim erzwang?“


„Es iſt ſo!“


Ich ward immer mehr erſtaunt. Woher hatte dieſer
neſtorianiſche Anführer dieſe Kenntnis über meine Perſon?


„Woher weißt du dies alles, Melek?“ fragte ich jetzt.


„Haſt du nicht ein Mädchen in Amadijah geſund
gemacht, welches Gift gegeſſen hatte?“


[479]

„Ja. Auch das weißt du?“


„Ihre Ahne heißt Marah Durimeh?“


„Das iſt ihr Name. Kennſt du ſie?“


„Sie war bei mir und hat mir viel von dir erzählt,
was ſie mit den Ihrigen von deinem Diener erfahren hat,
der dort ſich unter den Gefangenen befindet. Sie wußte,
daß du vielleicht in unſere Gegend kommen würdeſt, und
hat mich gebeten, dann dein Freund zu ſein.“


„Wie kannſt du wiſſen, daß gerade ich dieſer Mann
bin?“


„Haſt du nicht geſtern in Gumri von euch erzählt?
Wir haben einen Freund dort, der uns alles berichtet.
Darum wußten wir auch von der heutigen Jagd, und
daß du dabei ſein würdeſt. Und darum ſandte ich auch,
als ich im Hinterhalte lag und bemerkte, daß du zurück-
geblieben ſeiſt, eine Abteilung der Meinigen, die dich ge-
fangen nehmen und fortführen ſollten, damit dir im
Kampfe kein Leid geſchehe.“


Das klang ja ſo abenteuerlich, daß es kaum zu glauben
war. Und nun konnte ich auch das Verhalten der Männer,
welche uns gefangen genommen hatten, begreifen, obgleich
ſie mit der Wegnahme unſerer Kleidungsſtücke zu weit
gegangen waren.


„Was wirſt du nun thun?“ fragte ich den Melek.


„Ich werde dich mit nach Lizan nehmen, damit du mein
Gaſt ſeiſt.“


„Und meine Freunde?“


„Dein Diener und Amad el Ghandur werden frei
ſein.“


„Aber der Bey?“


„Er iſt mein Gefangener. Unſere Verſammlung wird
über ihn beſchließen.“


„Werdet ihr ihn töten?“


[480]

„Das iſt möglich.“


„So kann ich nicht mit dir gehen!“


„Warum nicht?“


„Ich bin der Gaſt des Bey; ſein Schickſal iſt auch
das meinige. Ich werde mit ihm kämpfen, mit ihm
ſiegen oder unterliegen.“


„Marah Durimeh hat mir geſagt, daß du ein Emir
biſt, alſo ein tapferer Krieger. Aber bedenke, daß die
Tapferkeit ſehr oft in das Verderben führt, wenn ſie
nicht auch beſonnen iſt. Dein Gefährte hat nicht verſtanden,
was wir ſprechen. Rede mit ihm und frage ihn, was
du beſchließen ſollſt!“


Dieſe Aufforderung kam mir ungemein erwünſcht,
denn ſie gab mir Gelegenheit, mich mit dem Engländer
zu verſtändigen.


Ich wandte mich alſo zu dieſem:


„Sir, wir haben einen Empfang gefunden, wie ich
ihn mir nicht träumen laſſen konnte!“


So! Schlimm?“


„Nein, freundlich. Der Melek kennt uns. Die alte
Chriſtin, deren Enkelkind ich in Amadijah heilte, hat ihm
von uns erzählt. Wir ſollen als ſeine Gaſtfreunde mit
nach Lizan gehen.“


Well! Sehr gut! Vortrefflich!“


„Aber dann handeln wir, ſozuſagen, undankbar an
dem Bey; denn er bleibt gefangen und wird vielleicht
getötet.“


„Hm! Unangenehm! Iſt ein guter Kerl!“


„Freilich! Vielleicht wäre es möglich, mit ihm von
hier zu entkommen.“


„Wie ſo?“


„Die Gefangenen ſind nicht gefeſſelt. Jeder von
ihnen bedarf nur ein Pferd. Wenn ſie ſchnell aufſpringen,
[481] ſich auf die Gäule werfen, die ganz in ihrer Nähe graſen,
und augenblicklich forteilen, ſo könnte ich ihnen vielleicht
den Rückzug decken, da ich Grund habe, zu glauben, daß
die Neſtorianer nicht auf mich ſchießen werden.“


„Hm! Schöner Coup! Ausgezeichnet!“


„Müßte aber ſchnell geſchehen. Seid Ihr dabei?“


Yes! Wird intereſſant!“


„Aber wir ſchießen nicht, Sir!“


„Warum nicht?“


„Das wäre undankbar gegen den Melek.“


„Aber dann werden ſie uns fangen!“


„Ich glaube nicht. Mein Pferd iſt gut, das Eurige
auch, und wenn die andern Klepper ſchlecht ſind, ſo ent-
weicht man in die Büſche. Alſo ſeid Ihr bereit?“


O, yes!


„So paßt auf!“


Ich drehte mich wieder zu dem Melek.


„Was habt Ihr beſchloſſen?“ fragte er.


„Wir bleiben dem Bey treu.“


„So lehnt ihr meine Freundſchaft ab?“


„Nein. Aber du wirſt uns erlauben, unſere Pflicht
zu thun. Wir werden jetzt gehen, doch ich ſage dir auf-
richtig, daß wir alles aufbieten werden, um ihn zu be-
freien.“


Er lächelte und ſagte:


„Und wenn ihr geht und alle ſeine Krieger ruft, ſo
werden ſie dennoch zu ſpät kommen, weil wir dann bereits
fort ſind. Aber ihr werdet gar nicht gehen, denn wenn
ihr ihm helfen wollt, ſo muß ich euch zurückbehalten.“


Ich hatte mich erhoben, und Lindſay ſtand bereits
bei ſeinem Pferde.


„Zurückbehalten?“ fragte ich, aber nur um Zeit zu
gewinnen; denn ich hatte Halef einen Wink gegeben und
II. 31
[482] dabei auf die in der Nähe graſenden Tiere und nach dem
Ausgange des Thales zu genickt. „Ich denke, ich ſoll
nicht dein Gefangener ſein?“


„Du zwingſt mich, obgleich du dir ſagen könnteſt,
daß alle deine Bemühungen erfolglos ſein werden.“


Ich ſah, daß Halef mich verſtanden hatte; denn er
flüſterte mit den andern, die ihm zunickten, und ſah dann
bedeutungsvoll zu mir herüber.


„Melek, ich will dir etwas ſagen,“ meinte ich, indem
ich zu ihm trat und ihm die Hand auf die Achſel legte;
denn ich ſah, daß der Augenblick gekommen war. „Blicke
einmal hier das Thal hinauf!“


Er drehte ſich um, ſo daß er den Gefangenen den
Rücken zuwandte, und ſagte: „Warum?“


„Während du nach dieſer Seite blickſt,“ erwiderte
ich, „wird ſich hinter deinem Rücken das begeben, was
du für unmöglich hältſt!“


„Was meinſt du?“ fragte er verwundert. Ich ant-
wortete ihm nicht ſogleich.


Wirklich waren in dieſem Moment die Gefangenen
auf- und zu den Pferden geſprungen. Sie hatten dieſelben
beſtiegen, noch ehe der erſte Alarmruf erſcholl. Auch der
Engländer ſaß auf und folgte ihnen in der Weiſe, daß
er eine Anzahl von Männern, die ſich zur Verfolgung
erhoben hatten, über den Haufen ritt.


„Deine Gefangenen entfliehen,“ antwortete ich jetzt
gemächlich.


Es war eine ſehr kindliche Liſt geweſen, die ich an-
wandte, um ſeine Augen und auch diejenigen der Um-
ſitzenden in dem entſcheidenden Moment von den Gefange-
nen abzulenken; aber ſie war gelungen. Er fuhr herum.


„Ihnen nach!“ rief er und ſprang zu ſeinem Pferde.
Es war ein kurdiſcher Falbenhengſt von ausgezeichneter
[483] Bauart. Mit dieſem Tiere wären die Flüchtlinge ſehr
bald eingeholt geweſen. Ich mußte das verhindern, ſprang
ihm nach und zog den Dolch. Eben wollte er zum Zügel
greifen, als ich das Tier in den hintern Oberſchenkel ſtach
und ihm einen derben Schlag verſetzte. Es ſchlug wie-
hernd mit allen vieren aus und ſprang davon.


„Verräter!“ rief der Melek und drang auf mich ein.


Ich ſchleuderte ihn zurück, war mit einigen Sprün-
gen bei meinem Rappen, ſchwang mich hinauf und ſauſte
davon.


Die Flüchtigen wußten, daß aufwärts im Thale ein
Vortrupp ſtand, und hatten ſich deshalb nach rechts ab-
wärts gewandt. Ich eilte an den vorderſten der Ver-
folger vorüber, bis ein Zwiſchenraum zwiſchen mir und
ihnen lag; dann hielt ich an und legte das Gewehr an
den Backen.


„Haltet an! Ich ſchieße!“


Sie hörten nicht; ich drückte alſo zweimal ab und
ſchoß die beiden erſten Pferde nieder. Die andern Reiter
ſtutzten und blieben halten; aber die hinteren drängten,
und ſo gab ich noch drei Schüſſe ab. Der dadurch ver-
urſachte Aufenthalt hatte aber doch den Flüchtlingen Zeit
gegeben, uns aus dem Geſichte zu kommen. Jetzt erſchien
der Melek auf ſeinem Falben, den er ſich wieder einge-
fangen hatte. Er überblickte die Scene und riß ſein Piſtol
heraus.


„Schießt ihn nieder!“ rief er zornig und ritt auf
mich ein.


Jetzt wandte ich mein Pferd und floh. Es kam alles
auf die Schnelligkeit des Rappen an. Ich legte ihm die
Hand zwiſchen die Ohren.


„Rih — —!“


Da bog er ſich lang und flog dahin, als ſei er von
[484] einer Sehne geſchnellt. Seine lange Mähne wehte mir
wie eine Fahne um das Knie. In einer Minute konnte
mich der Melek mit keinem Gewehr mehr erreichen. Jetzt
am hellen Tage war es noch ein ganz anderes Jagen als
damals in dunkler Nacht vom Thale der Stufen nach
dem Lager der Haddedihn zurück. Ich erreichte die erſte
Krümmung des Thales, als eben die Meinigen hinter der
zweiten verſchwanden. Da kam mir ein Gedanke. Ich
machte mich ſo leicht wie möglich in dem Sattel, und der
Hengſt ſchoß dahin, daß ſogar der Windhund weit da-
hinter blieb. In drei Minuten hatte ich die Gefährten
erreicht, die ihre Pferde auf das möglichſte anſtrengten.


„Reitet ſchneller!“ rief ich. „Nur kurze Zeit noch
ſchneller. Ich werde den Melek irre führen.“


„Wie ſo?“ fragte der Bey.


„Das kümmert euch nicht. Habe keine Zeit, es zu
erklären. Aber heut abend treffen wir uns in Gumri.“


Ich hielt mein Pferd an, während ſie fortgaloppier-
ten. Bald waren ſie hinter einer neuen Krümmung ver-
ſchwunden. Ich ritt zur vorigen zurück und ſah die Ver-
folger weit oben, den Melek ihnen allen voran. Ich
rechnete mir den Augenblick, in welchem ſie meinen jetzigen
Standort erreichen mußten, aufs ungefähre aus und
kehrte langſam wieder um, ſetzte mein Pferd in Trab und
dann abermals in Galopp. Der Windhund erreichte mich
wieder, und bald erſchienen auch die Verfolger, welche
mich erblickten und natürlich glaubten, daß ich die Ge-
fährten noch gar nicht erreicht habe, aber genau den Weg
einſchlagen werde, auf dem ſie fortgeritten waren.


Wieder kam ein kleines Waſſer aus einem Seiten-
thale hervor, und ich bog in dieſes Thal ein. Es war
ſehr ſteinig und hatte ſehr wenig Pflanzenwuchs. Ich
mußte hier langſamer reiten und ſah ſehr bald, daß der
[485] Melek mir folgte. Jedenfalls ritten auch die Seinen ihm
nach, und die Kurden waren gerettet.


Nun aber mußte ich ſehr bald eine Bemerkung machen,
die mir nicht angenehm ſein konnte. Der Falbe des Melek
war nämlich ein beſſerer Bergſteiger noch als mein Rappe.
Dieſen mußte ich immer mehr anſtrengen, und dennoch
verkleinerte ſich die Diſtanz zwiſchen mir und dem Ver-
folger. Am beſchwerlichſten war der obere Teil der Schlucht,
wo es eine ziemliche Steilung zu überwinden gab, die
aus loſem Geſtein beſtand, welches unter den Hufen des
Pferdes nachgab. Ich ſtreichelte und liebkoſte das Tier;
es ſtöhnte und ſchnaufte und that ſein möglichſtes — end-
lich waren wir oben.


Da aber krachte hinter mir auch ſchon der Schuß des
Melek; glücklicherweiſe traf er nicht.


Nun galt es vor allen Dingen, das Terrain zu über-
blicken. Ich ſah nichts als unbewaldete, kahle Höhen,
zwiſchen denen es keinen Pfad zu geben ſchien. Am gang-
barſten hielt ich eine Bergwand, welche mir zur Rechten
lag, und lenkte auf ſie zu. Die Kuppe, auf welcher ich
mich befand, war eine ziemliche Strecke lang beinahe eben;
darum gewann ich wieder etwas Vorſprung.


Jetzt ging es bergab, wo ſich mir eine natürliche
Felſenbahn zeigte, die einem Wege glich. Ich erreichte den-
ſelben und ritt auf ihm raſch vorwärts.


Ueber mir ertönte ein lauter Schrei. Der Melek
hatte ihn ausgeſtoßen. War es ein Ruf des Aergers, mich
entkommen zu ſehen? Faſt klang es aber wie ein War-
nungsruf. Ich ritt vorwärts und ſah den Melek mir
vorſichtig folgen. Die Terrainverhältniſſe wurden immer
ſchwieriger. Zu meiner Rechten ſtieg der Fels ſteil in die
Höhe, und zu meiner Linken fiel er beinahe lotrecht zur
Tiefe hinab, und dabei wurde der Pfad immer ſchmaler.
[486] Mein Pferd war von den Schammarbergen her wohl
ſolche Tiefen gewöhnt; es ſcheute nicht und ſchritt vor-
ſichtig und langſam weiter, obgleich der Pfad eine Breite
von nicht über zwei Fuß mehr hatte. Stellenweiſe aller-
dings war er breiter, und ich hoffte, als ich eine Krüm-
mung des Berges vor mir ſah, daß ſich der Fels hinter
derſelben wieder gangbar zeigen werde. Dort angelangt,
blieb das Pferd ſtehen, ohne daß ich es anzuhalten brauchte.
Wir blickten, Roß und Reiter, in eine Tiefe von mehreren
hundert Fuß hinab.


Ich befand mich in einer geradezu ſchauderhaften
Lage. Vorwärts konnte ich nicht, umwenden auch nicht,
und da hinten ſah ich den Melek an der Felſenkante leh-
nen. Vielleicht hatte er dieſe Gegend gekannt, denn er
war abgeſtiegen und mir zu Fuße gefolgt. Hinter ihm
ſah ich mehrere ſeiner Leute ankommen.


Ich konnte allerdings hinter meinem Pferde herab-
rutſchen und zurückkehren; aber dann war mein herrlicher
Rappe verloren. Darum beſchloß ich, alles zu wagen.
Ich redete ihm freundlich zu und ließ ihn rückwärts gehen.
Er gehorchte und taſtete ſich mit ungeheurer Vorſicht, aber
ſchnaubend und zitternd zurück. Wenn ihn nur ein kleiner
Schwindel überfiel, ſo waren wir verloren. Aber der
beruhigende und ermutigende Ton meiner Stimme ſchien
ihm doppelten Scharfſinn zu verleihen. Wenn es auch
langſam ging, ſo gelangten wir doch Schritt um Schritt
weiter und endlich an eine Stelle, wo der Platz mehr als
doppelt ſo breit war, als bisher.


Hier ließ ich das Pferd ausruhen. Der Melek erhob
ſein Gewehr.


„Bleib dort, ſonſt ſchieße ich!“ rief er mir zu.


Sollte ich es zum Schuſſe kommen laſſen? Wenn
mein Pferd erſchrak, konnte es mit mir in die Tiefe ſpringen.


[487]

Oder es konnte ſich eine Partie des Geſteines ablöſen und
uns zerſchmettern. Aber bleiben konnte ich nicht. Daher
beſchloß ich, ſelbſt zu ſchießen; denn wenn der Rappe die Vor-
bereitung dazu bemerkte, ſo erſchrak er wahrſcheinlich nicht.


Uebrigens war die Entfernung zwiſchen mir und dem
Melek immerhin ſo bedeutend, daß ich ſeine Kugel nicht
zu fürchten brauchte. Erreichte ſie uns aber dennoch, ſo
brauchte ſie nur das Pferd zu ritzen, um es ſcheu zu
machen. Ich drehte mich alſo im Sattel um, legte die
Büchſe an und rief:


„Geh fort, ſonſt bin ich es, welcher ſchießt!“


Er lachte und erwiderte:


„Du machſt wohl auch nur Spaß. So weit her trifft
niemand.“


„Ich werde dir ein Loch in den Turban machen!“


Ich ſchwenkte die Büchſe noch einmal weit in die
Luft und ließ den Hahn laut knacken, damit der Rappe
vorbereitet ſei. Dann zielte ich, drückte ab und wandte
mich ſofort wieder um. Dieſe letztere Vorſicht war un-
nötig, denn das Pferd ſtand ſtill. Hinter mir aber er-
ſcholl ein Ruf, und als ich mich wieder umdrehte, war
der Melek verſchwunden. Schon fürchtete ich, ihn erſchoſſen
zu haben; aber ich bemerkte bald, daß er ſich nur in
ſichere Entfernung zurückgezogen hatte.


Ich lud den abgeſchoſſenen Lauf wieder und ließ dann
das Pferd abermals rückwärts gehen. Der Hund verhielt
ſich während dieſer Zeit außerordentlich ſtill. Er blieb
ſtets in ziemlicher Entfernung von dem Pferde; es war,
als ob er wiſſe, daß er dasſelbe durch keinen Laut und
keine Bewegung ſtören dürfe.


Jetzt dauerte es ſehr lange, ehe wir wieder eine
Ruheſtelle erreichten. Sie war vielleicht fünf Ellen lang
und vier Fuß breit.


[488]

Sollte ich es wagen? Es war wohl beſſer, alles auf
einen Augenblick zu ſetzen, als uns noch ſtundenlang
zu quälen. Ich drängte den Rappen hart an den Felſen
hinan, damit er rückwärts die Platte überblicken könne.
Dann — gnädiger Gott, hilf! — gab ich dem Tiere die
Schenkel, zog es empor und riß es herum.


Einen Augenblick lang ſchwebten ſeine Vorderhufe
über der Tiefe, dann faßten ſie feſten Fuß; die gefähr-
liche Wendung war geglückt. Aber das Tier zitterte am
ganzen Leib, und es dauerte einige Zeit, ehe ich es ohne
Beſorgnis weitergehen laſſen konnte.


Nun aber war uns geholfen — Gott ſei Dank! Wir
legten den gefährlichen Pfad ſchnell zurück, dann jedoch
ſah ich mich gezwungen, halten zu bleiben. In geringer
Entfernung von mir ſtand der Melek mit vielleicht zwanzig
ſeiner Leute. Alle hatten die Gewehre angelegt.


„Halt!“ gebot er mir. „Sobald du eine Waffe er-
greifſt, werde ich ſchießen!“


Hier wäre Widerſtand ein Frevel geweſen.


„Was willſt du?“ fragte ich.


„Steige ab!“ lautete ſeine Antwort.


Ich that es.


„Lege deine Waffen ab!“ gebot er weiter.


„Das thue ich nicht.“


„So ſchießen wir dich nieder!“


„Schießt!“


Sie thaten es doch nicht, ſondern beſprachen ſich leiſe.
Dann ſagte der Melek:


„Emir, du haſt mein Leben geſchont, ich möchte dich
auch nicht töten. Willſt du uns freiwillig folgen?“


„Wohin?“


„Nach Lizan.“


„Ja, aber nur dann, wenn du mir läßt, was ich beſitze.“


[489]

„Du ſollſt alles behalten.“


„Du ſchwörſt es mir?“


„Ich ſchwöre!“


Ich ritt nun auf ſie zu, nahm aber den Revolver in
die Hand, um auf eine etwaige Hinterliſt gefaßt zu ſein.
Aber der Melek reichte mir ſeine Hand entgegen und ſagte:


„Emir, war das nicht entſetzlich?“


„Ja, in der That.“


„Und du haſt den Mut nicht verloren?“


„Dann wäre auch ich verloren geweſen. Gott hat
mich beſchützt!“


„Ich bin dein Freund!“


„Und ich der deinige.“


„Aber dennoch mußt du mein Gefangener ſein, denn
du haſt als Feind an mir gehandelt.“


„Aber doch hoffentlich mit Offenheit! Was wirſt du
in Lizan mit mir thun? Mich einſperren?“


„Ja. Aber wenn du mir verſprichſt, nicht zu fliehen,
ſo kannſt du als mein Gaſt bei mir wohnen.“


„Ich kann jetzt noch nichts verſprechen. Erlaube, daß
ich es mir noch überlege!“


„Du haſt Zeit dazu!“


„Wo ſind deine andern Krieger?“


Er lächelte überlegen und erwiderte:


„Chodih, die Gedanken deines Kopfes waren klug,
aber ich habe ſie dennoch erraten.“


„Welche Gedanken?“


„Glaubſt du, daß ich denken kann, der Bey von
Gumri werde zu Pferde in dieſe Berge fliehen, die er
ebenſo gut kennt, wie ich? Er weiß, daß er hier nicht
entkommen könnte.“


„Was hat dies mit mir zu thun?“


„Du wollteſt mich irre leiten. Ich folgte dir, weil
[490] ich des Bey ſicher bin und auch dich zugleich wieder haben
wollte. Dieſe wenigen Männer kamen mit mir; die an-
dern aber haben ſich geteilt und werden die Flüchtlinge
ſehr bald in ihre Gewalt bekommen.“


„Sie werden ſich wehren!“ warf ich ein.


„Sie haben keine Waffen.“


„Sie werden zu Fuße durch den Wald entkommen!“


„Der Bey iſt zu ſtolz, ein Pferd zu verlaſſen, welches
noch laufen kann! Du haſt umſonſt dich in Gefahr be-
geben und umſonſt unſere Tiere getötet und verwundet.
Komm!“


Wir machten denſelben Weg wieder zurück, den wir
gekommen waren. Da, wo ich aus dem Hauptteile in die
Seitenſchlucht eingelenkt hatte, hielten einige Reiter.


„Wie ging es?“ fragte ſie der Melek.


„Wir haben nicht alle wieder.“


„Wen habt ihr?“


„Den Bey, den Haddedihn, den Diener dieſes Chodih
und noch zwei Kurden.“


„Das iſt genug. Haben ſie ſich gewehrt?“


„Nein. Es hätte ihnen nichts geholfen, denn ſie
wurden umzingelt; aber einige der Kurden entſchlüpften
in die Büſche.“


„Wir haben den Anführer, und das iſt genug!“


Nun kehrten wir nach dem Orte zurück, an welchem
ich die Gefangenen zuerſt getroffen hatte. Wunderbar war
es mir, daß man den Engländer nicht erwiſcht hatte.
Wie war er entkommen, und wohin hatte er ſich gewen-
det? Er verſtand kein Kurdiſch. Was mußte da aus ihm
werden!


Als wir den Lagerplatz erreichten, ſaßen die Gefange-
nen bereits wieder an ihrem vorigen Platze, waren aber
jetzt gebunden.


[491]

„Willſt du zu ihnen oder zu mir?“ fragte mich der
Melek.


„Zunächſt zu ihnen.“


„So werde ich dich erſuchen, deine Waffen vorher
abzulegen!“


„So bitte ich dich, mich und die Gefangenen bei dir
ſein zu laſſen. In dieſem Falle verſpreche ich dir, bis
wir nach Lizan kommen, keinen Gebrauch von meinen
Waffen zu machen und auch nicht zu fliehen.“


„Aber du wirſt den andern zur Flucht verhelfen!“


„Nein. Ich hafte auch für ſie, ſtelle aber die Be-
dingung, daß ſie ihr Eigentum behalten und nicht gefeſſelt
werden.“


„So ſei es!“


Wir nahmen beieinander Platz, die meiſten wohl, das
geſtehe ich, mit einem Gefühle der Beſchämung; denn wir
hatten uns alle wieder einfangen laſſen. Da aber erſcholl
ein Ruf des Erſtaunens: — es erſchien ein Reiter, den
man zu erblicken wohl nicht erwartet hätte: Maſter Lindſay.


Er blickte ſich um, ſah uns und kam auf uns zuge-
ritten.


„Ah, Sir! Auch wieder da?“ fragte er erſtaunt.


„Ja. Good day, Maſter Lindſay!“


„Wie kommt Ihr wieder her? Waret ja über alle
Berge.“


„Wenigſtens nicht ſo freiwillig wie Ihr.“


„Freiwillig? Mußte ja!“


„Warum?“


„He! Schauderhafte Lage! Weiß nur, was Eſel heißt
und Maulſchelle im Kurdiſchen, und ſoll ganz allein durch
dieſes Land reiten! Sah, daß alles wieder gefangen wurde,
und bin langſam hinterher geritten.“


„Wo habt Ihr geſteckt, als man die andern erwiſchte?“


[492]

„War ein wenig vorangekommen, weil mein Pferd
beſſer laufen konnte, als die andern. Aber wohin waret
Ihr verſchwunden?“


„Sir, ich habe heute eine der gefährlichſten Stunden
meines Lebens gehabt; das könnt Ihr mir glauben. Steigt
ab. Ich werde es Euch erzählen!“


Er ließ ſein Pferd laufen und ſetzte ſich zu uns. Ich
erzählte ihm meinen Ritt über den Felſenſteig.


„Maſter,“ meinte er, als ich fertig war, „das iſt heut
ein ſchlimmer Tag, ein ſehr ſchlimmer! Well! Habe keine
Luſt, gleich wieder auf die Bärenjagd zu gehen! Yes!


Auch zwiſchen mir und dem Bey nebſt Halef und
Amad el Ghandur gab es viel zu erzählen. Der erſtere
hoffte, daß Mohammed Emin nach Gumri geeilt ſei, um
Hilfe zu holen, und freute ſich bereits darauf, daß die
Neſtorah noch hier im Lager überfallen würden; aber
ſeine Erwartungen erfüllten ſich nicht.


Es wurde bald, nachdem wir einen frugalen Imbiß
von unſern Beſiegern erhalten hatten, aufgebrochen. Man
nahm uns in die Mitte, und der Zug ſetzte ſich in Be-
wegung, um ganz dieſelben Wege zu paſſieren, die ich mit
dem Engländer bereits zweimal zurückgelegt hatte. Durch
die Beerdigung der liegen gebliebenen Kurden trat eine
Verzögerung ein, dann aber ging es ſo ſchnell vorwärts,
daß wir noch vor Einbruch der Nacht den Weiler er-
reichten, in welchem der Bruder des Melek wohnte.


Dort wurden wir auf eine nicht ſehr freundliche
Weiſe empfangen. Die Neſtorah, denen wir hier entkom-
men waren, hatten ſich nach einer kurzen und erfolgloſen
Verfolgung in dieſes Haus zurückbegeben. Sie empfingen
ihre Kameraden mit großem Jubel, uns aber mit drohen-
den Worten und Blicken. Der Bruder des Melek ſtand
an der Thüre, um denſelben zu begrüßen.


[493]

„Haſt du den großen Helden wiedergefangen, der
ſo tapfer iſt, daß er am liebſten flüchtet? Er iſt rück-
wärts gelaufen wie ein Keftſchinik *), der nur unreines
Fleiſch verzehrt. Binde ihm die Hände und Füße, damit
er nicht nochmals entlaufen kann!“


So fragte höhniſch der Bruder des Melek.


Das durfte ich mir allerdings nicht bieten laſſen.
Nahm ich eine ſolche Beleidigung ruhig hin, ſo war es
ganz ſicher um den Reſpekt geſchehen, deſſen wir ſo not-
wendig bedurften. Darum gab ich Halef die Zügel meines
Pferdes und trat hart an den Sprecher heran:


„Mann, du haſt zu ſchweigen! Wie kann ein Lügner
und Verräter es wagen, ehrliche Leute zu beſchimpfen!“


„Was wageſt du!“ ſchrie er mich an. „Einen Ver-
räter nennſt du mich? Sage noch einmal dieſes Wort,
ſo ſchlage ich dich zu Boden!“


Ich antwortete kühl, aber ernſt:


„Verſuche doch einmal, ob du dies zu ſtande bringſt!
Ich habe dich einen Lügner und Verräter genannt, und
das biſt du auch. Du nannteſt uns deine Gäſte, um
uns ſicher zu machen, und nahmſt uns dann gefangen,
um mein Pferd zu ſtehlen. Du biſt nicht nur ein Lügner
und Verräter, ſondern auch ein Dieb, der ſeine Gäſte
betrügt.“


Da erhob er die Fauſt; aber noch ehe er zu ſchlagen
vermochte, lag er am Boden, ohne daß ich ihn angerührt
hatte. Mein Hund war jeder ſeiner Bewegungen gefolgt
und hatte ihn niedergeriſſen. Er ſtand über ihm und
legte ſeine Zähne ſo fühlbar an die Gurgel des Mannes,
daß dieſer weder einen Laut noch eine Bewegung wagte.


„Rufe den Hund zurück, ſonſt ſteche ich ihn nieder!“
befahl mir der Melek.


[494]

„Verſuche es!“ antwortete ich. „Ehe du das Meſſer
erhebſt, iſt dein Bruder zerriſſen, und du liegſt an ſeiner
Stelle an der Erde. Dieſer Hund iſt ein Slogi von der
reinſten Raſſe. Siehſt du, daß er dich bereits im Auge hat?“


„Ich gebiete dir, ihn wegzurufen!“


„Gebieten? Pah! Ich habe dir geſagt, daß wir
dir nach Lizan folgen wollen, ohne Gebrauch von unſern
Waffen zu machen; aber ich habe dir nicht erlaubt, dich
als unſern Herrn und Gebieter zu betrachten. Dein
Bruder hat bereits einmal unter dieſem tapfern Hunde
gelegen, und ich gab ihm ſeine Freiheit wieder. Jetzt
werde ich dies nicht mehr thun, als bis ich die Ueber-
zeugung habe, daß er fortan Frieden hält.“


„Er wird es thun.“


„Giebſt du mir dein Wort darauf?“


„Ich gebe es!“


„Ich halte es feſt und warne dich, es nicht zu
brechen!“


Auf ein Wort von mir ließ Dojan von dem Chal-
däer ab. Dieſer erhob ſich, um ſich eiligſt zurückzuziehen;
aber ehe er unter der Thüre verſchwand, hob er die ge-
ballte Rechte drohend gegen mich empor. Ich hatte einen
ſchlimmen Feind an ihm bekommen.


Auch auf den Melek ſchien der unangenehme Vor-
gang einen für uns nicht vorteilhaften Eindruck hervor-
gebracht zu haben. Seine Miene war ſtrenger und ſein
Auge finſterer geworden, als vorher.


„Tretet ein!“ gebot er, auf die Thüre des Hauſes
deutend.


„Erlaube, daß wir im Freien bleiben!“ ſagte ich.


„Ihr werdet in dem Hauſe ſicherer und auch beſſer
ſchlafen,“ antwortete er in ſehr entſchiedenem Tone.


„Wenn es dir auf unſere Sicherheit ankommt, ſo
[495] glaube mir, daß wir hier beſſer aufgehoben ſind, als
unter dieſem Dache, unter welchem ich bereits einmal be-
trogen und verraten wurde.“


„Es wird nicht wieder geſchehen. Komm!“


Er nahm mich bei dem Arme; ich aber zog denſelben
zurück und trat zur Seite.


„Wir bleiben hier!“ ſagte ich ſehr beſtimmt. „Wir
ſind nicht gewohnt, uns von unſern Pferden zu trennen.
Hier wächſt Gras genug für ſie zum Futter und für uns
zum Lager.“


„Ganz wie du willſt, Chodih,“ antwortete er. „Aber
ich ſage dir, daß ich euch ſehr ſcharf bewachen laſſen
werde.“


„Thue es!“


„Sollte einer von euch zu entfliehen verſuchen, ſo
laſſe ich ihn erſchießen.“


„Thue auch das!“


„Du ſiehſt, daß ich dir deinen Willen laſſe; aber
einer muß mir doch in das Haus folgen.“


„Welcher?“


„Der Bey.“


„Warum dieſer?“


„Ihr ſeid nicht eigentlich meine Gefangenen; er aber
iſt ein ſolcher.“


„Er wird dennoch bei mir bleiben, denn ich gebe dir
mein Wort, daß er nicht entfliehen wird. Und dieſes
Wort iſt ſicherer als die Mauern, zwiſchen denen du ihn
einſchließen willſt.“


„Du bürgſt für ihn?“


„Mit meinem Leben!“


„Nun wohl, ſo geſchehe, wie du willſt. Aber ich
ſage dir, daß ich dein Leben wirklich von dir fordern
werde, wenn er ſich entfernt! Ich werde dir Matten
[496] ſchicken zum Lager, Holz zum Feuer und Speiſe und
Trank für dich und die andern. Suche dir eine Stelle,
welche dir paſſend erſcheint!“


Unweit des Gebäudes gab es einen weichen Raſen,
auf welchen wir uns niederließen. Die Pferde wurden
nach Art der Indianer „angehobbelt“, ſo daß ſie zwar
graſen, ſich aber nicht weit entfernen konnten, und wir
machten uns ein mächtiges Feuer, um welches wir auf
den uns zur Verfügung geſtellten Matten einen Kreis
ſchloſſen. Bald erhielten wir auch ein ſoeben erſt ge-
ſchlachtetes Schaf mit der Weiſung, es uns ſelbſt zu
braten. Dies geſchah, indem wir es an einen ſtarken Aſt
befeſtigten, den wir als Bratſpieß gebrauchten.


An eine Flucht war nicht zu denken, denn die ganze
Schar der Neſtorianer hatte ſich an vielen Feuern um
uns her gelagert. Sie brieten ſich ihre Hämmel und
Lämmer ganz in derſelben Weiſe, wie wir, und waren
voll des Jubels über den Sieg, den ſie heute errungen
hatten.


„Wie iſt Euch zu Mute, Maſter?“ fragte mich Lindſay,
welcher zu meiner Linken ſaß.


„Wie einem, der Hunger hat, Sir.“


Well! Habt recht!“


Er wandte ſich von mir ab und nach Halef hin,
welcher jetzt den Braten vom Feuer nahm, um ihn zu
zerlegen. Der Maſter Lindſay war zu hungrig, um dies
ruhig erwarten zu können; er zog ſein Meſſer, ſchnitt
ſich ſchleunigſt einen rieſigen Appetitsbiſſen ab und öffnete
ſeinen Mund in der Weiſe, daß die Lippen zwei Hypotenuſen
und vier Katheten bildeten, zwiſchen denen der Biſſen
ſeiner irdiſchen Auflöſung entgegen gehen ſollte.


In dieſem Momente blickte ich ganz zufälligerweiſe
nach dem Hauſe hin. Dasſelbe war von den zahlreichen
[497] Feuern ziemlich hell erleuchtet, und ſo war es mir mög-
lich, einen menſchlichen Kopf zu erkennen, welcher ſich
langſam vom Dache erhob. Dem Kopfe folgte ein Hals,
dieſem zwei Schultern, und dann gewahrte ich den
langen Lauf einer Flinte, welcher ſich grad nach un-
ſerem Feuer richtete. Im Nu hatte ich auch meine
Büchſe ergriffen und angelegt: droben blitzte ein Schuß,
und faſt zu gleicher Zeit krachte unten auch der meinige;
droben erſcholl ein Schrei, und unten wurde ein zweiter
ausgeſtoßen. Dieſer letztere Schrei kam zwiſchen den
Hypotenuſen und Katheten des Engländers hervor, welchem
die Kugel des heimtückiſchen Schützen das Meſſer ſamt
dem Biſſen vor dem Munde aus der Hand geriſſen hatte.


Zounds!“ rief er. „Wer war der Halunke, he?“


Das alles war ſo ungemein ſchnell geſchehen, daß
niemand den Schuß auf dem Dache hatte aufblitzen ſehen.
Einer der nahe lagernden Neſtorianer, welcher vielleicht
den Rang eines Unteranführers begleitete, trat herbei.


„Warum ſchießeſt du, Chodih?“ fragte er.


„Weil ich mich verteidigen muß.“


„Wer greift dich an? Ich ſehe ja keinen Feind.“


„Aber ich habe ihn geſehen,“ antwortete ich. „Er
lag dort oben auf dem Dache und ſchoß nach mir.“


„Du irrſt, Chodih!“


„Ich irre nicht. Es wird der Bruder des Melek
ſein, und weil er ſich nicht warnen läßt, ſo habe ich ihn
beſtraft.“


„Du haſt ihn erſchoſſen?“ fragte der Mann erſchrocken.


„Nein. Ich zielte auf ſeinen rechten Ellbogen und
bin ſicher, ihn dort getroffen zu haben.“


„Herr, das iſt ſchlimm für dich! Ich werde ſofort
nachſehen.“


Die ſämtlichen Neſtorianer hatten ſich von ihren
II. 32
[498] Plätzen erhoben und zu den Waffen gegriffen. Ganz
dasſelbe thaten auch wir. Nur allein der Engliſhman
ſaß noch am Boden. Sein Mund klappte in allen mög-
lichen geometriſchen Figuren auf und zu, und ſeine Naſe
war von einer ſo außerordentlichen Beſtürzung ergriffen,
daß ſie matt und hoffnungslos hernieder hing.


„Seid ihr perplex, Sir?“ fragte ich ihn.


Er holte tief Atem, nahm ſein Gewehr und ſtand
langſam auf.


„Maſter, bald hätte mich der Schlag gerührt!“ ge-
ſtand er aufrichtig.


„Eines Schuſſes wegen? Pah!“


„Oh, nicht dieſes Schuſſes wegen!“


„Weshalb ſonſt?“


„Des Hiebes wegen, den ich erhalten habe. Mein
Meſſer iſt in alle Welt gefahren, und dieſes Stück Fleiſch
vom Schafe flog mir in das Geſicht mit einer Gewalt,
als hätte ich von dem Oberſteuermann eines Orlogſchiffes
eine rieſige Ohrfeige erhalten. Da, ſeht meine Wange,
und hier liegt das Fleiſch im Graſe!“


„Sihdi, kommt es zum Kampfe?“ fragte Halef, indem
er ſeine Piſtolen im Gürtel lockerte.


„Ich glaube es nicht.“


„Und wenn auch; wir fürchten uns nicht!“


Der kleine, wackere Mann warf einen verächtlichen
Blick auf die Chaldäer, welche allerdings noch keine feind-
ſeligen Bewegungen machten, ſondern ruhig abwarteten,
was der Unteranführer für eine Botſchaft bringen werde.


Er kam ſehr bald zurück, und zwar in Begleitung
des Melek, welcher mit drohender Miene zu unſerm
Feuer trat.


„Wer hat hier geſchoſſen?“ erkundigte er ſich.


„Ich,“ antwortete ich. „Weil auf mich geſchoſſen wurde.“


[499]

„Es iſt nicht wahr! Nur dein Hund ſollte erſchoſſen
werden.“


„Wer hat dies befohlen? Etwa du ſelbſt?“


„Nein. Ich wußte nichts davon. Aber, Chodih,
nun ſeid ihr alle verloren. Du haſt eines Hundes wegen
auf meinen Bruder geſchoſſen!“


„Ich habe das Recht, einen jeden niederzuſchießen,
der meinen Hund töten will, und von dieſem Rechte
werde ich auch ferner Gebrauch machen; das merke dir.
Wie aber will dein Bruder beweiſen, daß er nicht mich,
ſondern meinen Hund töten wollte?“


„Er ſagt es.“


„So iſt er ein ſehr ſchlechter Schütze, denn er hat
nicht den Hund, ſondern dieſen Emir aus Ingliſtan ge-
troffen.“


„Er hat wirklich nur den Hund gemeint. Es giebt
keinen Menſchen, der des Abends ſeiner Kugel ſicher iſt.“


„Das iſt keine Entſchuldigung für eine ſo heimtückiſche
That. Die Kugel iſt vier Schritte entfernt an dem Tiere
vorübergegangen; eine Handbreit höher, ſo wäre dieſer
Emir eine Leiche geweſen. Uebrigens giebt es Leute,
welche auch des Nachts ſicher ſchießen; das werde ich dir
beweiſen. Ich habe nach dem rechten Ellbogen deines
Bruders gezielt, und ſicher habe ich ihm denſelben zer-
ſchmettert, obgleich ich weniger Zeit zum Zielen hatte,
als er ſelbſt.“


Er nickte grimmig.


„Du haſt ihm den Arm genommen; du wirſt's mit
deinem Leben bezahlen!“


„Höre, Melek, und ſei froh, daß ich nicht nach ſeinem
Kopfe zielte, welcher viel leichter als der Arm zu treffen
war! Ich ſehne mich nicht nach Menſchenblut, denn ich
bin ein Chriſt; aber wer es wagt, mich oder die Meinen
[500] anzugreifen, der wird uns und unſere Waffen kennen
lernen.“


„Wir fürchten ſie nicht, denn wir ſind euch überlegen.“


„So lange mein Wort uns bindet; ſonſt aber nicht.“


„Ihr werdet uns ſofort eure Gewehre geben müſſen,
damit ihr nicht ferneren Schaden damit anrichtet.“


„Und was wird dann geſchehen?“


„Ich will über die andern zu Gerichte ſitzen; dich
aber werde ich meinem Bruder überlaſſen. Du haſt ſein
Blut vergoſſen; alſo gehört das deinige nun ihm.“


„Sind die Chaldani *) Chriſten oder Barbaren?“


„Das geht dich nichts an! Gieb deine Waffen ab!“


Seine ganze Schar hatte einen weiten Kreis um uns
geſchloſſen, und es war jedes Wort zu hören, welches von
uns beiden geſprochen wurde. Bei ſeinem letzten Befehle
griff er nach meiner Büchſe.


Ich warf Sir Lindſay einige engliſche und den
andern einige arabiſche Worte zu, und dann fuhr ich
gegen den Melek fort:


„So betrachteſt du uns von jetzt an als Gefangene?“


Als er bejahte, erwiderte ich:


„Du Unvorſichtiger! Glaubſt du wirklich, daß wir
euch fürchten müſſen? Wer die Hand gegen einen Emir
aus Germaniſtan erhebt, der erhebt ſie doch nur gegen
ſich ſelbſt. Wiſſe, nicht ich bin dein Gefangener, ſondern
du biſt der meinige!“


Bei dieſen Worten faßte ich ihn mit der Linken beim
Genick und drückte ihm den Hals ſo feſt zuſammen, daß
ihm ſofort die Arme ſchlaff herniederhingen, und zugleich
bildeten die Gefährten mit nach auswärts gerichteten
ſchußfertigen Waffen einen Kreis um mich. Dies geſchah
ſo ſchnell und unerwartet, daß die Neſtorianer ganz ſprach-
[501] los auf uns ſtarrten. Ich benutzte dieſe jedenfalls nur
kurze Pauſe und rief ihnen zu:


„Seht ihr den Melek hier an meinem Arme hangen?
Es bedarf nur noch eines einzigen Druckes, ſo iſt er eine
Leiche, und dann wird die Hälfte von euch durch unſere
verzauberten Kugeln ſterben. Kehrt ihr aber ruhig an
eure Feuer zurück, ſo laſſe ich ihm das Leben und werde
mit ihm und euch in Güte verhandeln. Merkt auf! Ich
zähle bis drei. Steht dann noch ein einziger an ſeiner
jetzigen Stelle, ſo iſt der Melek verloren! — Je —, du
—, ſeh —, eins —, zwei —, drei — — — —“


Ich hatte das letzte Wort noch nicht ausgeſprochen,
ſo ſaßen die Chaldäer alle an den Feuern auf ihren
früheren Plätzen. Das Leben ihres Anführers hatte
demnach einen großen Wert für ſie. Wären Kurden an
ihrer Stelle geweſen, ſo wäre mir das gefährliche Ex-
periment ganz ſicher nicht ſo wohl gelungen. Nun aber
ließ ich den Melek los. Er fiel mit matten Gliedern
und krampfhaft verzerrtem Angeſicht zu Boden, und es
dauerte einige Zeit, ehe er ſich wieder vollſtändig bei
Atem befand. Er hatte das Haus verlaſſen, ohne eine
einzige Waffe zu ſich zu nehmen, und nun ſtand ich vor
ihm und richtete den Revolver ſcharf nach ſeinem Herzen.


„Wage es nicht, dich zu erheben!“ gebot ich ihm.
„Sobald du es ohne meine Erlaubnis thuſt, wird dich
meine Kugel treffen.“


„Chodih, du haſt mich belogen!“ ſtöhnte er, indem er
mit beiden Händen ſeinen Hals unterſuchte.


„Ich weiß nichts von einer Lüge,“ antwortete ich ihm.


„Du haſt mir verſprochen, deine Waffen nicht zu ge-
brauchen!“


„Das iſt wahr; aber ich habe dabei vorausgeſetzt,
daß wir nicht feindlich behandelt würden.“


[502]

„Du haſt mir auch verſprochen, daß du nicht fliehen
willſt!“


„Wer hat dir geſagt, daß wir fliehen wollen? Ver-
haltet euch als Freunde, ſo wird es uns bei euch ganz
wohl gefallen.“


„Du ſelbſt haſt ja die Feindſeligkeiten begonnen!“


„Melek, du nennſt mich einen Lügner und ſagſt doch
ſoeben ſelbſt eine Lüge. Ihr ſelbſt habt uns und die
Kurden von Gumri überfallen. Und als wir im Frieden
hier am Feuer lagen, hat dein Bruder auf uns geſchoſſen.
Wer alſo hat die Feindſeligkeit begonnen, wir oder ihr?“


„Es galt nur deinem Hund!“


„Deine Gedanken ſind ganz kurz, Melek! Mein Hund
ſollte getötet werden, damit er nicht mehr im ſtande ſei,
uns zu ſchützen. Er hat für mich einen größeren Wert,
als das Leben von hundert Chaldani. Wer ihm ein Haar
krümmt, oder wer nur einen Zipfel unſeres Gewandes
beſchädigt, der wird von uns behandelt, wie der Vorſichtige
einen tollen Hund behandelt, den man, um ſich zu retten,
töten muß. Das Leben deines Bruders ſtand in meiner
Hand; ich habe ihm nur eine Kugel in den Arm gegeben,
damit er ſein Gewehr nicht wieder meuchlings erheben
kann. Auch das deinige gehörte mir, und ich habe es dir
gelaſſen. Was wirſt du über uns beſchließen?“


„Nichts anderes, als was ich dir bereits ſagte. Oder
weißt du nicht, was die Blutrache bedeutet?“


„Habe ich deinen Bruder getötet?“


„Sein Blut iſt gefloſſen!“


„Er ſelbſt trägt die Schuld daran! Was überhaupt
geht denn dich ſeine Rache an?“


„Ich bin ſein Bruder und Erbe!“


„Jetzt lebt er noch und kann ſich ſelbſt rächen. Oder
iſt er ein Kind, daß du ſchon vor ſeinem Tode für ihn
[503] handeln mußt? Du nennſt dich einen Chriſten und ſprichſt
von Blutrache! Von wem haſt du dieſes Chriſtentum er-
halten? Ihr habt einen Katolihka *), einen Mutran **),
einen Khalfa ***); ihr habt Arkidjakoni †), Keſchihſchi ††),
Schammaſchi †††), Huhpodjakoni †*) und viele Karuhji †**).
Iſt denn unter dieſen vielen nicht ein einziger geweſen, der
euch geſagt hat, was der Sohn der Mutter Gottes lehrte?“


„Es giebt keine Mutter Gottes. Marrya war nur
die Mutter des Menſchen Aïſſa! “


„Ich will nicht mit dir ſtreiten, denn ich bin weder
ein Prieſter noch ein Miſſionär. Aber du glaubſt doch,
daß dieſer Menſch Aïſſa †***) zugleich wahrer Gott ge-
weſen iſt?“


„Das glaube ich.“


„So wiſſe, daß er uns und euch geboten hat: Liebet
eure Feinde; ſegnet die, welche euch fluchen; thut wohl
denen, die euch haſſen, und bittet für die, welche euch be-
leidigen und verfolgen; dann ſeid ihr Kinder eures Vaters
im Himmel!“


„Ich weiß, daß er dieſe Worte geſagt hat.“


„Warum aber gehorchſt du ihnen nicht? Warum
redeſt du von Blutrache? Soll ich, wenn ich in mein Land
zurückkehre, erzählen, daß ihr keine Chriſten, ſondern Hei-
den ſeid?“


„Du wirſt nicht zurückkehren!“


„Ich werde zurückkehren, und du am allerwenigſten
wirſt mich halten können. Siehe dieſes Holz, welches ich
in das Feuer werfe! Ehe es verbrannt iſt, biſt du eine
Leiche, oder du haſt mir verſprochen, uns als deine Gaſt-
freunde zu behandeln, deren Mißachtung die größte Schande
deines Hauſes und deines Stammes ſein würde.“


[504]

„Du würdeſt mich töten?“


„Ich würde ſofort aufbrechen und dich als Geiſel
mit mir nehmen; ich müßte dich aber töten, wenn man
mich am Weggehen hinderte.“


„Dann biſt du auch kein Chriſt!“


„Mein Glaube gebietet mir nicht, mich feig und un-
nütz abſchlachten zu laſſen, ſondern er erlaubt mir, das
Leben zu verteidigen, welches mir Gott gegeben hat, um
den Brüdern nützlich zu ſein und mich auf die Ewigkeit
vorzubereiten. Wer mir dieſe koſtbare Zeit gewaltſam
verkürzen will, gegen den werde ich mich verteidigen, ſo
weit es meine Kraft geſtattet. Und daß dieſe Kraft nicht
die eines Kindes iſt, das haſt du wohl erfahren!“


„Chodi, du biſt ein gefährlicher Menſch!“


„Du irrſt. Ich bin ein friedfertiger Menſch, aber
ein gefährlicher Feind. Blicke in das Feuer! Das Holz
iſt beinahe verbrannt.“


„Gieb mir Zeit, mit meinem Bruder zu ſprechen!“


„Nicht einen Augenblick!“


„Er verlangt dein Leben!“


„Er mag es ſich holen!“


„Ich kann dich nicht frei geben.“


„Warum nicht?“


„Weil du geſagt haſt, daß du den Bey nicht verlaſſen
willſt.“


„Dieſes Wort werde ich halten.“


„Und ihn darf ich nicht entlaſſen. Er iſt der Feind
der Chaldani, und die Kurden von Berwari werden ſicher
kommen, um uns anzugreifen.“


„Hättet ihr ſie ihres Weges ziehen laſſen! Ich er-
innere dich zum letztenmal, daß dieſes Holz bereits in
Aſche zerfällt.“


„Nun wohl, Herr; ich muß dir gehorchen, denn du
[505] biſt im ſtande, deine Drohung wahr zu machen. Ihr ſollt
meine Gäſte ſein!“


„Auch der Bey?“


„Auch er. Aber auch ihr müßt mir verſprechen,
Lizan nicht ohne meine Erlaubnis zu verlaſſen!“


„Ich verſpreche es.“


„Für dich und alle anderen?“


„Ja. Doch ſtelle ich einige Bedingungen.“


„Welche?“


„Wir dürfen alles behalten, was uns gehört?“


„Zugeſtanden!“


„Und ſobald man ſich feindſelig gegen uns verhält,
bin ich meines Verſprechens entbunden?“


„So ſei es!“


„Nun bin ich zufrieden. Reiche uns deine Hand, und
dann magſt du zu dem Verwundeten zurückkehren. Soll
ich ihn verbinden?“


„Nein, Herr! Dein Anblick würde ihn zur größten
Wut entflammen, und es wird wohl andere Hilfe geben.
Ich zürne dir, denn du haſt mich beſiegt. Ich fürchte
mich vor dir, aber ich habe dich dennoch lieb. Eßt euer
Lamm, und ſchlaft dann in Frieden. Es wird euch nie-
mand ein Leid thun!“


Er reichte uns allen die Hand und kehrte dann in
das Haus zurück. Dieſer Mann war mir nicht mehr ge-
fährlich. Und auch den Mienen der anderen ſah man es
an, daß unſer Verhalten nicht ohne tiefen Eindruck ge-
blieben ſei. Dem Mutigen gehört die Welt, und Kur-
diſtan gehört ja auch zu derſelben.


Jetzt konnten wir ohne Beſorgnis dem Spießbraten
zuſprechen, und während des Eſſens mußte ich den Ge-
fährten meine mit dem Melek geführte Verhandlung
verdolmetſchen. Der Engländer ſchüttelte bedenklich den
[506] Kopf; die vereinbarten Friedensbedingungen gefielen ihm
nicht.


„Habt doch eine Dummheit begangen, Sir!“ ſagte er.


„Inwiefern?“


„Ha! Konntet den Kerl ein bißchen feſter drücken.
Mit den anderen wären wir auch noch fertig geworden.“


„Seid nicht unverſtändig, Sir David! Es ſind der
Leute zu viel gegen uns.“


„Wir ſchlagen uns durch; Yes!


„Einer oder zwei von uns kämen vielleicht durch;
die andern aber wären verloren.“


Pshaw! Seid ihr feig geworden?“


„Ich glaube nicht. Wenigſtens rührt mich nicht gleich
der Schlag, wenn mir ein Fleiſchbiſſen noch hart vor dem
Munde abhanden kommt.“


„Danke für dieſe Erinnerung! Werden alſo dort in
Lizan bleiben? Was für ein Neſt? Stadt oder Dorf?“


„Reſidenz mit achtmalhunderttauſend Einwohnern,
Pferdebahn, Theater, Viktoria-Salon und Skating-Ring.“


Away! Hole Euch der Kuckuck, wenn Ihr keine
beſſern Witze fertig bringt! Wird gewiß ein ſchönes Neſt
ſein, dieſes Lizan.“


„Nun, es liegt ſehr ſchön an den Ufern des Zab;
aber da es wiederholt von den Kurden zerſtört wurde, ſo
wird man es nicht gerade mit London oder Peking ver-
gleichen können.“


„Zerſtört! Vieles zu Grunde gegangen?“


„Jedenfalls.“


„Herrlich! Werde nachgraben. Fowling-bulls finden.
Nach London ſchicken. Yes!


„Habe nichts dagegen, Sir!“


„Werdet mithelfen, Maſter. Auch dieſe Neſtorianer.
Bezahle gut, ſehr gut! Well!


[507]

„Verrechnet Euch nicht.“


„Inwiefern? Giebt es keine Fowling-bulls dort?“


„Gewiß nicht!“


„Warum aber ſchleppt Ihr mich ſo unnütz in dieſem
verwünſchten Lande herum?“


„Thue ich das wirklich? Oder ſeid Ihr mir nicht
von Moſſul aus ganz gegen meinen Willen nachgefolgt?“


Yes! Habt recht! War zu einſam dort. Wollte ein
Abenteuer haben.“


„Nun, das habt Ihr ja gehabt, und auch noch einige
dazu. Alſo gebt Euch zufrieden und laßt das Räſon-
nieren ſein, ſonſt laſſe ich Euch hier ſitzen, und Ihr geht
ſo zu Grunde, daß man Euch ſpäter als Fowling-bull
auffinden und nach London ſenden wird.“


Fie! Noch viel ſchlechter, dieſer Witz! Habe genug!
Mag keinen mehr hören!“


Er wandte ſich ab und gab ſo dem Bey von Gumri
Gelegenheit, einige Bemerkungen zu machen. Dieſer hatte
ſich ſehr finſter und ſchweigſam verhalten; jetzt aber ſagte
er mir aufrichtig:


„Chodih, die Bedingungen, auf welche du eingegangen
biſt, gefallen mir nicht.“


„Warum nicht?“


„Sie ſind zu gefährlich für mich.“


„Es war nicht möglich, beſſere zu erhalten. Hätten
wir dich verlaſſen wollen, ſo befänden wir übrigen uns
wohler, du aber wärſt Gefangener geweſen.“


„Das weiß ich, Herr, und darum danke ich dir. Du
haſt dich als ein treuer Freund erwieſen; aber ich werde
doch nichts als ein Gefangener ſein.“


„Du wirſt Lizan nicht verlaſſen dürfen; das iſt alles.“


„Aber dies iſt ſchon genug. Wo wird Mohammed
Emin ſich jetzt befinden?“


[508]

„Ich hoffe, daß er nach Gumri gegangen iſt.“


„Was meinſt du, daß er dort thun wird?“


„Er wird deine Krieger herbeiholen, um dich und
uns zu befreien.“


„Dies wollte ich von dir hören. Es wird alſo einen
Kampf, einen ſehr ſchlimmen Kampf geben, und du glaubſt
dennoch, daß der Melek uns als Gäſte behandeln wird?“


„Ja, ich glaube es.“


„Euch, aber nicht mich!“


„So bricht er ſein Wort, und wir können dann nach
unſerm Belieben handeln.“


„Auch mußt du bedenken, daß es gegen die Ehre iſt,
wenn ich unthätig in Lizan ſitze, während die Meinen ihr
Blut für mich vergießen. Hätteſt du doch den Melek
getötet! Dieſe Neſtorah waren ſo erſchrocken, daß wir
entkommen wären, ohne einen Schuß von ihnen zu er-
halten.“


„Die Anſicht eines kurdiſchen Kriegers iſt verſchieden
von der Meinung eines chriſtlichen Emirs. Ich habe dem
Melek mein Wort gegeben, und ich werde es halten, ſo
lange er an das ſeinige denkt.“


Mit dieſem Beſcheide mußte der Bey ſich zufrieden
geben. Unſer einfaches Mahl war verzehrt, und ſo ſtreckten
wir uns zum Schlafe auf die Matten aus, nachdem wir
zuvor die Reihenfolge der Wachen beſtimmt hatten. Ich
traute dem Melek vollſtändig, wenigſtens für heute, aber
doch war Vorſicht nicht überflüſſig, und ſo hatte ſtets
einer von uns die Augen offen zu halten.


Die Nacht verging ohne jede Störung, und am
Morgen erhielten wir abermals ein Lamm, welches wie
das am vorigen Abend zubereitet wurde. Dann kam
der Melek herbei, um uns zum Aufbruch aufzufordern.
Schon während der Nacht waren einige Gruppen der
[509] Chaldäer aufgebrochen, und ſo war unſere Begleitung
nicht ſo zahlreich wie am vorigen Tage.


Wir ritten vom Abhange des Gebirges in das hier
ſehr breite Thal des Zab hernieder. Fruchtfelder gab es
hier gar nicht. Höchſtens ſah man in der Nähe eines
einſamen Weilers ein wenig Gerſte ihren Halm erheben.
Der Boden iſt außerordentlich fruchtbar, aber die ewige
Unſicherheit benimmt den Bewohnern die Luft, eine Ernte
für ihre Feinde heranzuziehen.


Dagegen kamen wir an prächtigen Eichen- und Wal-
nußwäldern vorüber, die hier in einer Kraft und Friſche
gediehen, wie ſie ſonſt nicht häufig anzutreffen iſt.


Wir hatten eine Vor- und eine Nachhut und wurden
von dem Haupttrupp ringsum eingeſchloſſen. Mir zur
Rechten ritt der Bey, und zur Linken der Melek. Dieſer
aber ſprach nur wenig; er hielt ſich bei uns jedenfalls
nur des Beys wegen auf, welcher ein ſehr koſtbarer Fang
für ihn war, und den er nicht aus dem Auge laſſen wollte.


Höchſtens eine halbe Stunde hatten wir noch bis
Lizan zu reiten, als uns ein Mann entgegen kam, deſſen
Geſtalt ſofort in die Augen fallen mußte. Er war von
einem wirklich rieſigen Körperbau, und auch ſein kurdiſches
Pferd gehörte zu den ſtärkſten, die ich jemals geſehen
hatte. Bekleidet war er nur mit weiten Kattunhoſen und
einer Jacke aus demſelben leichten Stoffe. Ein Tuch
bedeckte anſtatt des Turbans oder der Mütze ſeinen Kopf,
und als Waffe diente ihm eine alte Büchſe, welche jeden-
falls nicht orientaliſchen Urſprunges war. Hinter ihm
ritten in ehrerbietiger Entfernung zwei Männer, die im
dienſtlichen Verhältniſſe zu ihm zu ſtehen ſchienen.


Er ließ die Vorhut an ſich vorüber und hielt dann
bei dem Melek an. „Sabbah'l ker — guten Morgen!“
grüßte er mit volltönender Baßſtimme.


[510]

„Sabbah'l ker!“ antwortete ihm auch der Melek.


„Deine Boten,“ fuhr der Ankömmling fort,„ſagten
mir, daß ihr einen großen Sieg errungen habt.“


„Katera Chodeh — Gott ſei Dank, es iſt ſo!“


„Wo ſind deine Gefangenen?“


Der Melek deutete auf uns, und der andere muſterte
uns mit finſtern Blicken. Dann fragte er:


„Welcher iſt der Bey von Gumri?“


„Dieſer.“


„So!“ ſagte gedehnt der Rieſe. „Alſo dieſer Mann
iſt der Sohn des Würgers unſerer Leute, der ſich Abd-
el-Summit-Bey nannte? Gott ſei Dank, daß du ihn ge-
fangen haſt! Er wird die Sünden ſeines Vaters zu tragen
haben.“


Der Bey hörte dieſe Worte, ohne ſie einer Entgeg-
nung zu würdigen; ich aber hielt es nicht für geraten,
dieſem Manne eine falſche Vorſtellung von uns zu laſſen.
Darum wandte ich mich nun an den Anführer mit der
Frage:


„Melek, wer iſt dieſer Bekannte von dir?“


„Es iſt der Raïs *) von Schuhrd.“


„Und wie heißt er?“


„Nedſchir-Bey.“


Das Kurmangdſchi-Wort Nedſchir bedeutet: ‚tapferer
Jäger‘, und da ſich der Rieſe zugleich den für einen Chal-
däer ſo ungewöhnlichen Titel ‚Bey‘ zugelegt hatte, ſo war
ſehr leicht zu erraten, daß er keinen gewöhnlichen Einfluß
beſitzen müſſe. Dennoch aber ſagte ich ihm:


„Nedſchir-Bey, der Melek hat dir die Wahrheit nicht
vollſtändig geſagt. Wir ſind — —“


„Hund!“ unterbrach er mich drohend. „Wer redet
mit dir? Schweige, bis du gefragt wirſt!“


[511]

Ich lächelte ihm ſehr freundlich in die Augen, zog
aber dabei mein Meſſer recht auffällig aus dem Gürtel.


„Wer giebt dir die Erlaubnis, die Gäſte des Melek
Hunde zu nennen?“ fragte ich ihn.


„Gäſte?“ ſagte er verächtlich. „Hat der Melek nicht
ſoeben euch ſeine Gefangenen genannt?“


„Eben darum wollte ich dir ſagen, daß er dir die
Wahrheit nicht vollſtändig mitgeteilt hat. Frage ihn, ob
wir ſeine Gäſte oder ſeine Gefangenen ſind.“


„Seid, was ihr wollt; gefangen hat er euch den-
noch. Aber ſtecke dein Meſſer in den Gürtel, ſonſt ſchlage
ich dich vom Pferde!“


„Nedſchir-Bey, du biſt ein ſehr ſpaßhafter Mann;
ich aber bin ſehr ernſt geſtimmt. Sei in Zukunft höflich
gegen uns, ſonſt wird es ſich zeigen, wer den andern vom
Pferde ſchlägt!“


„Hund und abermals Hund! Da haſt du es!“


Bei dieſen Worten erhob er die Fauſt und verſuchte,
ſein Pferd an das meinige zu drängen; aber der Melek
hielt ihn bei dem Arme feſt und rief:


„Beim heiligen Jeſujabos, halte ein, ſonſt biſt du
verloren!“


„Ich?“ rief der Rieſe ganz verdutzt.


„Ja, du!“


„Warum?“


„Dieſer fremde Krieger iſt kein Kurde, ſondern ein
Emir aus dem Abendlande. Er hat die Kraft des Bären
in der Fauſt und er trägt Waffen bei ſich, denen niemand
widerſtehen kann. Er iſt mein Gaſt; ſei fortan freundlich
mit ihm und den Seinigen!“


Der Raïs ſchüttelte den Kopf.


„Ich fürchte keinen Kurden und keinen Abendländer.
Weil er dein Gaſt iſt, ſo will ich ihm verzeihen; aber er
[512] mag ſich in acht nehmen vor mir, ſonſt erfährt er, wer
der Starke iſt: er oder ich. Laß uns weiterziehen; ich
kam nur, um dir Willkommen zu ſagen.“


Dieſer Mann war mir ganz ſicher an Körperſtärke
weit überlegen; aber es war nur eine rohe, ungeſchulte
Kraft, die mir keineswegs bange machen konnte. Daher
erwiderte ich zwar kein einziges Wort auf ſeine ‚Ver-
zeihung‘, fühlte aber auch nicht etwa einen übermäßigen
Reſpekt vor ihm. Dabei hatte ich eine gewiſſe Ahnung,
daß ich mit ihm doch auf irgend eine Weiſe näher zu-
ſammengeraten werde.


Wir ſetzten den unterbrochenen Ritt weiter fort und
gelangten bald an den Ort unſerer Beſtimmung.


Die elenden Häuſer und Hütten, aus denen Lizan
beſteht, liegen zu beiden Seiten des Zab, der hier ſehr
reißend iſt. In ſeinem Bette liegen zahlreiche Felsblöcke,
die das Flößen und Schwimmen außerordentlich er-
ſchweren, und die Brücke, die ihn überſpannt, iſt aus
rohem Flechtwerk gefertigt und mittels großer, ſchwerer
Steine über einige Pfeiler befeſtigt. Dieſes Flechtwerk
giebt bei jedem Schritte nach, ſo daß mein Pferd nur
ſehr ängſtlich die Brücke paſſierte; doch kamen wir wohl-
behalten alle an dem linken Ufer an.


Bereits drüben auf der andern Seite war unſer Zug
von Frauen und Kindern mit Jubelgeſchrei empfangen
worden. Die wenigen Häuſer, welche ich erblickte, waren
jedenfalls als Wohnort ſo vieler viel zu eng, und ſo ver-
mutete ich, daß unter den Anweſenden auch zahlreiche
Bewohner benachbarter Orte zu finden ſeien.


Das Haus des Melek, wo wir abſteigen wollten, lag
auf dem linken Ufer des Zab. Es war ganz nach kurdi-
ſcher Art, aber halb in das Waſſer des Fluſſes hinein-
gebaut, wo der kühlende und ſtärkere Luftzug die Mücken
[513] verſcheuchte, an denen dieſe Gegenden leiden. Das obere
Stockwerk des Gebäudes hatte keine Mauern; es beſtand
einfach aus dem Dach, welches an den vier Ecken von je
einem Backſteinpfeiler getragen wurde. Dieſer luftige Raum
bildete das Staatsgemach, in welches uns der Melek führte,
nachdem wir abgeſtiegen waren und ich mein Pferd Halef
übergeben hatte. Es lag da eine Menge zierlich geflochte-
ner Matten, auf denen wir es uns leidlich bequem
machen konnten.


Der Melek hatte natürlich jetzt nicht viel Zeit für
uns übrig; wir waren uns ſelbſt überlaſſen. Bald aber
trat eine Frau herein, die einen ſtarken, breiten, aus
Baſt geflochtenen Teller trug, der mit allerlei Früchten
und Eßwaren belegt war. Ihr folgten zwei Mädchen,
im Alter von ungefähr zehn und dreizehn Jahren, und
trugen ähnliche, aber kleinere Präſentierbretter in den
Händen.


Alle drei grüßten ſehr demütig, und dann ſtellten ſie
die Speiſen vor uns nieder. Die Kinder entfernten ſich,
die Frau aber blieb noch ſtehen und muſterte uns mit ver-
legener Miene.


„Haſt du einen Wunſch?“ fragte ich ſie.


„Ja, Herr,“ antwortete ſie.


„Sage ihn!“


„Welcher von euch iſt der Emir aus dem Abendlande?“


„Es ſind zwei ſolcher Emire hier: ich und dieſer da.“


Bei den letzten Worten deutete ich auf den Engländer.


„Ich meine denjenigen, welcher nicht nur ein Krie-
ger, ſondern auch ein Arzt iſt.“


„Da werde ich wohl gemeint ſein,“ lautete meine
Antwort.


„Biſt du es, der in Amadijah ein vergiftetes Mäd-
chen geſund gemacht hat?“


II. 33
[514]

Ich bejahte, und ſie ſagte darauf:


„Herr, die Mutter meines Mannes wünſcht ſehnlich,
einmal dein Angeſicht zu ſehen und mit dir zu ſprechen.“


„Wo befindet ſie ſich? Ich werde gleich zu ihr gehen.“


„O nein, Chodih. Du biſt ein großer Emir; wir
aber ſind nur Frauen. Erlaube, daß ſie zu dir kommt!“


„Ich erlaube es.“


„Aber ſie iſt alt und ſchwach und kann nicht lange
ſtehen — — —!“


„Sie wird ſich ſetzen.“


„Weißt du, daß in unſerm Lande ſich die Frau in
Gegenwart ſolcher Herren nicht ſetzen darf?“


„Ich weiß es, aber ich werde es ihr dennoch er-
lauben.“


Sie ging. Nach einiger Zeit kam ſie wieder herauf
und führte eine Frau am Arme, deren Geſtalt vom Alter
weit vornüber gebeugt war. Ihr Geſicht hatte tiefe Run-
zeln, aber ihre Augen blickten noch mit jugendlicher
Schärfe umher.


„Geſegnet ſei euer Eingang in das Haus meines
Sohnes!“ grüßte ſie. „Welcher iſt der Emir, den ich
ſuche?“


„Ich bin es. Komm und laß dich nieder!“


Sie erhob abwehrend die Hand, als ich auf die Matte
deutete, die in meiner Nähe lag.


„Nein, Chodih; es ziemt mir nicht, in deiner Nähe
zu ſitzen. Erlaube, daß ich mich in einer Ecke niederlaſſe!“


„Nein, das erlaube ich nicht,“ antwortete ich ihr.
„Biſt du eine Chriſtin?“


„Ja, Herr.“


„Auch ich bin ein Chriſt. Meine Religion ſagt mir,
daß wir vor Gott alle gleich ſind, ob arm oder reich,
vornehm oder niedrig, alt oder jung. Ich bin dein Bru-
[515] der, und du biſt meine Schweſter; aber deiner Jahre ſind
viel mehr als der meinigen; daher gebührt dir der Platz
zu meiner rechten Seite. Komm und laß dich nieder!“


„Nur dann, wenn du es befiehlſt.“


„Ich befehle es!“


„So gehorche ich, Herr.“


Sie ließ ſich zu mir führen und ſetzte ſich an meiner
Seite nieder; dann verließ ihre Schwiegertochter das Ge-
mach. Die Alte blickte mir lange forſchend in das Geſicht;
dann ſagte ſie:


„Chodih, du biſt wirklich ſo, wie du mir beſchrieben
wurdeſt. — Kennſt du Menſchen, bei deren Eintritt ſich
der Raum zu verfinſtern ſcheint?“


„Ich habe viele ſolche Leute kennen gelernt.“


„Kennſt du auch ſolche Menſchen, welche das Licht
der Sonne mitzubringen ſcheinen? Wohin ſie nur immer
kommen, da wird es warm und hell. Gott hat ihnen die
größte Gnade gegeben: ein freundliches Herz und ein fröh-
liches Angeſicht.“


„Auch ſolche kenne ich; aber es giebt ihrer wenig.“


„Du haſt recht; aber du ſelbſt gehörſt zu ihnen.“


„Du willſt mir eine Höflichkeit ſagen!“


„Nein, Herr. Ich bin ein altes Weib, welches ruhig
nimmt, was Gott ſendet; ich werde niemand eine Un-
wahrheit ſagen. Ich habe gehört, daß du ein großer
Krieger biſt; aber ich glaube, daß du deine beſten Siege
durch das Licht deines Angeſichtes erringſt. Ein ſolches
Angeſicht liebt man, auch wenn es häßlich iſt, und alle,
mit denen du zuſammentriffſt, werden dich lieb gewinnen.“


„Oh, ich habe ſehr viele Feinde!“


„Dann ſind es böſe Menſchen. Ich habe dich noch
nie geſehen, aber ich habe viel an dich gedacht, und meine
Liebe hat dir gehört, noch ehe dich mein Auge erblickte.“


[516]

„Wie iſt dies möglich?“


„Meine Freundin erzählte mir von dir.“


„Wer iſt dieſe Freundin?“


„Marah Durimeh.“


„Marah Durimeh!“ rief ich überraſcht. „Du kennſt ſie?“


„Ich kenne ſie.“


„Wo wohnt ſie? Wo iſt ſie zu finden?“


„Ich weiß es nicht.“


„Aber wenn ſie deine Freundin iſt, mußt du doch
wiſſen, wo ſie ſich befindet.“


„Sie iſt bald hier, bald dort; ſie gleicht dem Vogel,
welcher bald auf dieſem, bald auf jenem Zweige wohnt.“


„Kommt ſie oft zu dir?“


„Sie kommt nicht, wie die Sonne, regelmäßig zur be-
ſtimmten Stunde, ſondern ſie kommt wie der erquickende
Regen, bald hier, bald dort, bald ſpät und bald früh.“


„Wann erwarteſt du ſie wieder?“


„Sie kann noch heute in Lizan ſein; ſie kann aber
auch erſt nach Monden kommen. Vielleicht erſcheint ſie
niemals wieder, denn auf ihrem Rücken laſten viel mehr
Jahre, als auf dem meinigen.“


Das klang alles ſo wunderbar, ſo geheimnisvoll, und
ich mußte unwillkürlich an Ruh 'i Kulian, den ‚Geiſt der
Höhle‘, denken, von welchem die alte Marah Durimeh in
ebenſo geheimnisvoller Weiſe zu mir geſprochen hatte.


„So hat ſie dich beſucht, als ſie von Amadijah kam?“
fragte ich.


„Ja. Sie hat mir von dir erzählt; ſie ſagte, daß
du vielleicht nach Lizan kommen würdeſt, und bat mich,
für dich zu ſorgen, als ob du mein eigner Sohn ſeiſt.
Willſt du mir dies erlauben?“


„Gern; nur mußt du auch meine Gefährten mit in
deine Fürſorge einſchließen.“


[517]

„Ich werde thun, was in meinen Kräften ſteht. Ich
bin die Mutter des Melek, und ſein Ohr hört gern auf
meine Stimme; aber es iſt einer unter euch, dem meine
Fürbitte nicht viel helfen wird.“


„Wen meinſt du?“


„Den Bey von Gumri. Welcher iſt es?“


„Der Mann dort auf der vierten Matte. Er hört
und verſteht ein jedes deiner Worte; die andern aber
reden nicht die Sprache deines Landes.“


„Er mag hören und verſtehen, was ich ſage,“ ant-
wortete ſie. „Haſt du gehört von dem, was unſer Land
gelitten hat?“


„Man hat mir vieles erzählt.“


„Haſt du gehört von Beder-Khan-Bey, von Zeinel-
Bey, von Nur-Ullah-Bey und von Abd-el-Summit-Bey,
den vier Mördern der Chriſten? Sie fielen von allen
Seiten über uns her, dieſe kurdiſchen Ungeheuer. Sie zer-
ſtörten unſere Häuſer, verbrannten unſere Gärten, ver-
nichteten unſere Ernten, entweihten unſere Gotteshäuſer,
mordeten unſere Männer und Jünglinge, zerfleiſchten
unſere Knaben und Mädchen und hetzten unſere Frauen
und Jungfrauen, bis ſie ſterbend niederſtürzten, noch in
den letzten Atemzügen von den Ungeheuern bedroht. Die
Waſſer des Zab waren gefärbt von dem Blute der un-
ſchuldigen Opfer, und die Höhen und Tiefen des Landes
waren erleuchtet von den Feuersbrünſten, welche unſere
Dörfer und Flecken verzehrten. Ein einziger, fürchter-
licher Schrei tönte durch das ganze Land. Es war der
Todesſchrei von vielen tauſend Chriſten. Der Paſcha von
Moſſul hörte dieſen Schrei, aber er ſandte keine Hilfe,
weil er den Raub mit den Räubern teilen wollte.“


„Ich weiß es; es muß gräßlich geweſen ſein!“


„Gräßlich? O, Chodih, dieſes Wort ſagt viel zu
[518] wenig. Ich könnte dir Dinge erzählen, bei denen dir das
Herz brechen müßte. Siehſt du die Brücke, auf welcher
du über den Berdizabi *) gekommen biſt? Ueber dieſe
Brücke wurden unſere Jungfrauen geſchleppt, um nach
Tkhoma und Baz geführt zu werden; ſie aber ſprangen
hinab in das Waſſer, um lieber zu ſterben. Keine einzige
blieb zurück. Siehſt du den Berg mit ſeiner Felſenmauer
dort zur Rechten? Dort hinauf hatten ſich die Leute von
Lizan gerettet, weil ſie ſich dort ſicher glaubten, denn ſie
konnten von unten gar nicht angegriffen werden. Aber
ſie hatten nur wenig Speiſe und Waſſer bei ſich. Um
nicht zu verhungern, mußten ſie ſich Beder-Khan-Bey er-
geben. Er verſprach ihnen mit ſeinem heiligſten Eid die
Freiheit und das Leben; nur die Waffen ſollten ſie ab-
liefern. Dies geſchah; er aber brach ſeinen Schwur und
ließ ſie mit Säbel und Meſſer ermorden. Und als den
Kurden von dieſer blutigen Arbeit die Arme weh thaten,
da machten ſie es ſich leichter: ſie ſtürzten die Chriſten
von der neunhundert Fuß hohen Felſenwand herab: Greiſe,
Männer, Frauen und Kinder. Von mehr als tauſend
Chaldani entkam nur ein einziger, um zu erzählen, was
da oben geſchehen war. Soll ich dir noch mehr erzählen,
Chodih?“


„Halte ein!“ wehrte ich ſchaudernd ab.


„Und nun ſitzt der Sohn eines dieſer Ungeheuer hier
im Hauſe des Melek von Lizan. Glaubſt du, daß er
Gnade finden wird?“


Wie mußte es bei dieſen Worten dem Bey von Gumri
zu Mute ſein! Er zuckte mit keiner Wimper; er war zu
ſtolz, um ſich zu verteidigen. Ich aber antwortete:


„Er wird Gnade finden!“


„Glaubſt du dies wirklich?“


[519]

„Ja. Er trägt nicht die Schuld von dem, was an-
dere thaten. Der Melek hat ihm Gaſtfreundſchaft ver-
ſprochen, und ich ſelbſt werde nur dann Lizan verlaſſen,
wenn er ſich in Sicherheit an meiner Seite befindet.“


Die Alte ſenkte nachdenklich den ergrauten Kopf.
Dann fragte ſie:


„So iſt er dein Freund?“


„Ja. Ich bin ſein Gaſt.“


„Herr, das iſt ſchlimm für dich!“


„Warum? Denkſt du, daß der Melek ſein Wort
brechen wird?“


„Er bricht es nie,“ antwortete ſie ſtolz. „Aber der
Bey wird bis an ſeinen Tod hier gefangen bleiben, und
da du ihn nicht verlaſſen willſt, ſo wirſt du deine Heimat
niemals wiederſehen.“


„Das ſteht in Gottes Hand. Weißt du, was der
Melek über uns beſchloſſen hat? Sind wir nur auf dieſes
Haus beſchränkt?“


„Du allein nicht, aber die andern ſämtlich.“


„So darf ich frei umhergehen?“


„Ja, wenn du dir einen Begleiter gefallen läſſeſt.
Du ſollſt nicht Gaſtfreundſchaft wie ſie, ſondern Gaſt-
freiheit erhalten.“


„So werde ich jetzt einmal mit dem Melek ſprechen.
Darf ich dich geleiten?“


„O Herr, dein Herz iſt voller Güte. Ja, führe mich,
damit ich rühmen kann, daß mir noch niemals ſolche
Gnade widerfahren iſt!“


Sie erhob ſich mit mir und hing ſich an meinen Arm.
Wir verließen das luftige Gemach und ſtiegen die Treppe
nieder, die in das untere Geſchoß führte. Hier trennte
ſich die Alte von mir, und ich trat hinaus auf den freien
Raum vor dem Hauſe, wo eine große Anzahl der Chal-
[520] däer verſammelt war. Nedſchir-Bey ſtand bei ihnen. Als
er mich erblickte, trat er auf mich zu.


„Wen ſucheſt du hier?“ fragte er mich in rohem Tone.


„Den Melek,“ antwortete ich ruhig.


„Er hat keine Zeit für dich; gehe wieder hinauf!“


„Ich bin gewöhnt, zu thun, was mir beliebt. Befiehl
deinen Knechten, nicht aber einem freien Mann, dem du
nichts zu gebieten haſt!“


Da trat er näher an mich heran und ſtreckte ſeine
mächtigen Glieder. In ſeinen Augen funkelte ein Licht,
das mir ſagte, daß der erwartete Zuſammenſtoß jetzt
geſchehen werde. So viel ſtand ſicher: wenn ich ihn nicht
gleich auf der Stelle unſchädlich machte, ſo war es um
mich geſchehen.


„Wirſt du gehorchen?“ drohte er.


„Knabe, mache dich nicht lächerlich!“ entgegnete ich
lachend.


„Knabe!“ brüllte er. „Hier nimm den Lohn!“


Er ſchlug nach meinem Kopfe; ich parierte mit dem
linken Arme den Hieb und ließ dann meine rechte Fauſt
mit ſolcher Gewalt an ſeine Schläfe ſauſen, daß ich
glaubte, ſämtliche Finger ſeien mir zerbrochen. Er
ſtürzte lautlos zuſammen und lag ſteif wie ein Klotz.


Die Umſtehenden wichen ſcheu zurück; einer aber rief:


„Er hat ihn erſchlagen!“


„Ich habe ihn betäubt,“ antwortete ich. „Werft ihn
in das Waſſer, ſo wird er die Beſinnung bald wieder
finden.“


„Chodih, was haſt du gethan!“ erſcholl es hinter mir.


Ich wandte mich um und erblickte den Melek, welcher
ſoeben aus der Thür getreten war.


„Ich?“ fragte ich. „Haſt du dieſen Mann nicht vor
mir gewarnt? Er ſchlug dennoch nach mir. Sage ihm, [521]
er ſoll es ja nicht wieder thun, ſonſt werden ſeine Töchter
weinen, ſeine Söhne klagen, und ſeine Freunde trauern!“


„Iſt er nicht tot?“


„Nein. Beim nächſten Male aber wird er tot ſein.“


„Herr, du bereiteſt deinen Feinden Aerger und deinen
Freunden Sorge. Wie ſoll ich dich ſchützen, wenn du
dich nach immerwährendem Kampfe ſehnſt?“


„Sage dies dem Raïs, denn es iſt ſehr wahrſchein-
lich, daß du zu ſchwach biſt, ihn vor meinem Arme zu
beſchützen. Erlaubſt du ihm, mich zu beleidigen, ſo gieb
nicht mir die Schuld, wenn ich ihn Anſtand lehre.“


„Herr, gehe fort; er kommt jetzt wieder zu ſich!“


„Soll ich vor einem Manne fliehen, den ich nieder-
geſchlagen habe?“


„Er wird dich töten!“


„Pah! Ich werde keine Hand zu rühren brauchen.
Paſſe auf!“


Meine Gefährten hatten von ihrer offenen Wohnung
aus den ganzen Vorgang mit angeſehen. Ich winkte
ihnen mit dem Auge, und ſie wußten, was ich von ihnen
begehrte.


Man hatte den Kopf des Raïs mit Waſſer gewaſchen.
Jetzt richtete er ſich langſam empor. Auf einen Fauſt-
kampf durfte ich es nicht ankommen laſſen, denn ſowohl
mein Arm, mit dem ich ſeinen Hieb pariert hatte, als
auch meine rechte Hand war in den wenigen Augenblicken
ganz beträchtlich angeſchwollen; ich mußte froh ſein, daß
mir dieſer Goliath nicht den Arm zerſchmettert hatte. —
Jetzt erblickte er mich, und mit einem heiſeren Wutſchrei
ſtürzte er auf mich zu. Der Melek ſuchte ihn zu halten;
auch einige andere griffen zu, aber er war ſtärker als ſie
und rang ſich los. Jetzt wandte ich das Geſicht nach
dem Hauſe hin und rief ihm zu:


[522]

„Nedſchir-Bey, blicke da hinauf!“


Er folgte der Richtung meiner Augen und ſah die
Gewehre aller meiner Gefährten auf ſich gerichtet. Er
hatte doch genug Beſinnung, um dieſe Sprache zu ver-
ſtehen. Er blieb halten und erhob die Fauſt.


„Mann, du begegneſt mir wieder!“ drohte er.


Ich zuckte nur die Achſel, und er ging davon.


„Chodih,“ meinte der noch vor Anſtrengung keuchende
Melek, „du befandeſt dich in einer großen Gefahr!“


„Sie war ſehr klein. Ein einziger Blick hinauf nach
meinen Leuten hat dieſen Mann unſchädlich gemacht.“


„Hüte dich vor ihm!“


„Ich bin dein Gaſt. Sorge dafür, daß er mich
nicht beleidigt!“


„Man ſagte mir, daß du mich ſucheſt?“


„Ja. Ich wollte dich fragen, ob ich frei in Lizan
umhergehen kann.“


„Du kannſt es.“


„Aber du wirſt mir eine Begleitung geben?“


„Nur zu deiner Sicherheit.“


„Ich verſtehe dich und füge mich darein. Wer wird
mein Aufſeher ſein?“


„Nicht Aufſeher, ſondern Beſchützer, Chodih. Ich
gebe einen Karuhja an deine Seite.“


Alſo einen Vorleſer, einen Geiſtlichen! Das war mir
lieb und recht.


„Wo iſt er?“ fragte ich.


„Hier im Hauſe wohnt er bei mir. Ich werde ihn
dir ſenden.“


Er trat in das Innere des Gebäudes, und bald
darauf kam ein Mann heraus, der in den mittleren
Jahren ſtand. Er trug zwar die gewöhnliche Kleidung
dieſer Gegend, aber in ſeinem Weſen hatte er etwas an
[523] ſich, was auf ſeinen Beruf ſchließen ließ. Er grüßte mich
ſehr höflich und fragte nach meinem Begehr.


„Du ſollſt mich auf meinen Wegen begleiten!“ ſagte ich.


„Ja, Herr. Der Melek will es ſo.“


„Ich wünſche vor allen Dingen, mir Lizan anzuſehen.
Willſt du mich führen?“


„Ich weiß nicht, ob ich darf, Chodih. Wir erwarten
jeden Augenblick die Nachricht von dem Eintreffen der
Berwarikurden, welche kommen werden, um euch und
ihren Bey zu befreien.“


„Ich habe verſprochen, Lizan nicht ohne den Willen
des Melek zu verlaſſen. Iſt dir dies genug?“


„Ich will dir trauen, obgleich ich verantwortlich bin
für alles, was du während meiner Gegenwart unternimmſt.
Was willſt du zunächſt ſehen?“


„Ich möchte den Berg beſteigen, von welchem Beder-
Khan-Bey die Chaldani herabſtürzen ließ.“


„Es iſt ſehr ſchwer emporzukommen. Kannſt du gut
klettern?“


„Sei ohne Sorge!“


„So komm und folge mir!“


Während wir gingen, beſchloß ich, den Karuhja
nach ſeinen Religionsverhältniſſen zu fragen. Ich war
mit denſelben ſo wenig vertraut, daß mir eine Aufklärung
nur lieb ſein konnte. Er kam mir mit einer Frage recht
glücklich entgegen:


„Biſt du ein Moslem, Chodih?“


„Hat dir der Melek nicht geſagt, daß ich ein Chriſt
bin?“


„Nein; aber ein Chaldani biſt du nicht. Gehörſt
du vielleicht zu dem Glauben, welchen die Miſſionare aus
Ingliſtan predigen?“


Ich verneinte, und er ſagte:


[524]

„Das freut mich ſehr, Herr!“


„Warum?“ fragte ich.


„Ich mag von ihrem Glauben nichts wiſſen, weil
ich von ihnen ſelbſt nichts wiſſen mag.“


Mit dieſen wenigen Worten hatte dieſer einfache
Mann alles geſagt, was ſich überhaupt über dieſe Leute
ſagen läßt.


„Biſt du mit einem von ihnen zuſammengetroffen?“
fragte ich.


„Mit mehreren; aber ich habe den Staub von meinen
Füßen geſchüttelt und bin wieder fortgegangen. Kennſt
du die Lehren unſers Glaubens?“


„Nicht genau.“


„Du möchteſt ſie wohl auch nicht kennen lernen?“


„O doch, ſehr gern. Habt ihr ein Glaubensbe-
kenntnis?“


„Jawohl, und ein jeder Chaldani muß es täglich
zweimal beten.“


„Bitte, ſage es mir!“


„Wir glauben an einen einzigen Gott, den allmäch-
tigen Schöpfer und Vater aller ſichtbaren und unſichtbaren
Dinge. Wir glauben an den Herrn Jeſus Chriſtus, den
Sohn Gottes, der da der einzig geborene Sohn ſeines
Vaters iſt vor aller Welt, der nicht geſchaffen wurde,
ſondern der da iſt der wahre Gott des wahren Gottes;
der da iſt von demſelben Weſen mit dem Vater, durch
deſſen Hände die Welt gemacht und alle Dinge geſchaffen
wurden; der für uns Menſchen und zu unſerer Seligkeit
vom Himmel herabgeſtiegen iſt, durch den heiligen Geiſt
Fleiſch ward und Menſch wurde, empfangen und geboren
von der Jungfrau Maria; der da litt und gekreuzigt
wurde zur Zeit des Pontius Pilatus, und ſtarb und
wurde begraben; der da am dritten Tage wieder aufer-
[525] ſtand, wie in der Schrift verkündigt war, und fuhr gen
Himmel, um zu ſitzen zur Rechten ſeines Vaters und
wiederzukommen, um zu richten die Lebendigen und die
Toten. Und wir glauben an einen heiligen Geiſt, den
Geiſt der Wahrheit, welcher ausging von dem Vater, den
Geiſt, der da erleuchtet. Und an eine heilige, allgemeine
Kirche. Wir erkennen zur Erlaſſung der Sünden eine
heilige Taufe an und eine Auferſtehung des Leibes und
ein ewiges Leben!“


Nach einer Pauſe fragte ich:


„Haltet ihr auch die Faſten?“


„Sehr ſtreng,“ antwortete er. „Wir dürfen während
hundertzweiundfünfzig Tagen keine Nahrung aus dem Tier-
reiche, auch keinen Fiſch eſſen, und der Patriarch genießt
überhaupt nur Nahrung aus dem Pflanzenreiche.“


„Wie viele Sakramente habt ihr?“


Er wollte mir eben antworten; aber unſere für mich
ſo intereſſante Unterhaltung wurde von zwei Reitern
unterbrochen, die im Galopp auf uns zugeſprengt
kamen.


„Was giebt es?“ fragte er ſie.


„Die Kurden kommen,“ ertönte die Antwort.


„Wo ſind ſie?“


„Sie haben bereits die Berge überſchritten und
kommen in das Thal hernieder.“


„Wie viel ſind ihrer?“


„Viele Hunderte.“


Dann ritten ſie weiter. Der Karuhja blieb halten.


„Chodih, laß uns umkehren!“


„Warum?“


„Ich habe es dem Melek verſprochen, falls die Ber-
wari kommen ſollten. Du wirſt nicht wollen, daß ich
mein Wort breche!“


[526]

„Du mußt es halten. Komm.“


Als wir den Platz vor dem Hauſe des Melek er-
reichten, herrſchte dort eine außerordentliche Aufregung;
aber ein planvolles Handeln gab es nicht. Der Melek
ſtand mit einigen Unteranführern beiſammen; auch der
Raïs war bei ihnen.


Ich wollte ſtill vorübergehen und in das Haus ein-
treten; aber der Melek rief mir zu:


„Chodih, komm her zu uns!“


„Was ſoll er hier?“ zürnte der rieſige Raïs. „Er iſt
ein Fremder, ein Feind; er gehört nicht zu uns!“


„Schweig!“ gebot ihm der Melek; dann wandte er
ſich zu mir: „Herr, ich weiß, was du im Thale Deradſch
und bei den Dſcheſidi erfahren haſt. Willſt du uns einen
Rat geben?“


Dieſe Frage kam mir natürlich ſehr willkommen, den-
noch aber antwortete ich:


„Dazu wird es bereits zu ſpät ſein.“


„Warum?“


„Du hätteſt ſchon geſtern handeln ſollen.“


„Wie meinſt du dies?“


„Es iſt leichter, eine Gefahr zu verhüten, als ſie zu
bekämpfen, wenn ſie ſchon eingetreten iſt. Hätteſt du die
Kurden nicht angegriffen, ſo brauchteſt du dich heute nicht
gegen ſie zu verteidigen.“


„Das will ich nicht hören.“


„Aber ich wollte es dir dennoch ſagen. Wußteſt du,
daß heute die Kurden kommen würden?“


„Wir alle haben es gewußt.“


„Warum haſt du nicht die jenſeitigen Päſſe beſetzt?
Du hätteſt feſte Stellungen erhalten, die gar nicht einzu-
nehmen waren. Nun aber haben die Kurden das Gebirge
bereits hinter ſich und ſind dir überlegen.“


[527]

„Wir werden kämpfen!“


„Hier?“


„Nein, in der Ebene von Lizan.“


„Dort alſo willſt du ſie empfangen?“ fragte ich ver-
wundert.


„Ja,“ antwortete er zögernd.


„Und du ſtehſt noch hier mit deinen Leuten?“


„Wir müſſen ja erſt unſer Hab und Gut und die
Unſrigen retten, ehe wir fort können!“


„O Melek, was ſeid ihr Chaldani für große Krieger!
Seit geſtern wußtet ihr, daß die Kurden kommen würden,
und habt nichts gethan, um euch zu ſichern. Ihr wollt
mit ihnen kämpfen und ſprecht doch davon, die Euren und
euer Eigentum zu flüchten. Ehe ihr damit fertig ſeid,
iſt der Feind bereits in Lizan. Geſtern habt ihr die Kur-
den überraſcht, und darum wurden ſie beſiegt, jetzt aber
greifen ſie ſelbſt euch an und werden euch verderben!“


„Herr, das mögen wir nicht hören!“


„So werdet ihr es erfahren. Leb wohl, und thue,
was du willſt!“


Ich machte Miene, in das Haus zu treten; er aber
hielt mich am Arme zurück.


„Chodih, rate uns!“


„Ich kann euch nicht raten; ihr habt mich vorher
auch nicht um Rat gefragt.“


„Wir werden dir dankbar ſein!“


„Das iſt nicht notwendig; ihr ſollt nur vernünftig
ſein. Wie kann ich euch beiſtehen, diejenigen Männer zu
beſiegen, welche herbeigekommen ſind, um mich und meine
Gefährten zu befreien?“


„Ihr ſeid ja nur meine Gäſte, nicht aber meine Ge-
fangenen!“


„Auch der Bey von Gumri?“


[528]

„Herr, dränge mich nicht!“


„Nun wohl, ich will nachgiebiger ſein, als ihr es
verdient. Eilt dem Feinde entgegen und nehmt eine Stel-
lung, an welcher er nicht vorüber kann. Die Kurden
werden nicht angreifen, ſondern einen Boten ſenden, der
ſich zuvor nach uns erkundigen ſoll. Dieſen Boten bringt
hierher, und dann will ich euch meinen Rat erteilen.“


„Gehe lieber mit, Chodih!“


„Das werde ich gern thun, wenn ihr mir erlaubt,
meinen Diener Halef mitzunehmen, der dort hinter der
Mauer bei den Pferden iſt.“


„Ich erlaube es,“ ſagte der Melek.


„Aber ich erlaube es nicht,“ entgegnete der Raïs.


Es entſpann ſich jetzt ein kurzer, aber heftiger Streit,
in welchem ſchließlich der Melek recht behielt, da die
andern alle auf ſeiner Seite ſtanden. Der Raïs warf
mir einen wütenden Blick zu, ſprang auf ſein Pferd und
ritt davon.


„Wo willſt du hin?“ rief ihm der Melek nach.


„Das geht dich nichts an!“ ſcholl es zurück.


„Eilt ihm nach und beſchwichtigt ihn,“ bat der Melek
die andern, während ich Halef rief, mein Pferd und das
ſeinige bereit zu machen.


Dann ſtieg ich in unſern Raum hinauf, um die Ge-
fährten zu inſtruieren.


„Was iſt los?“ fragte der Engländer.


„Die Kurden von Gumri kommen, um uns zu be-
freien,“ antwortete ich.


„Sehr gut! Yes! Brave Kerls! Meine Flinte her!
Werde mit dreinſchlagen! Well!


„Halt, Sir David! Fürs erſte werdet Ihr noch ein
wenig hier bleiben und meine Rückkehr erwarten.“


„Warum? Wo wollt Ihr hin?“


[529]

„Hinaus, um zu unterhandeln und die Sache viel-
leicht im Guten beilegen zu helfen.“


Pshaw! Sie werden wenig Kram mit Euch machen.
Sie werden Euch erſchießen! Yes!


„Das iſt höchſt unwahrſcheinlich.“


„Darf ich nicht mit?“


„Nein. Nur ich und Halef.“


„So geht! Aber wenn ihr nicht wiederkommt, ſchlage
ich ganz Lizan in Grund und Boden! Well!


Auch die andern fügten ſich. Nur der Bey machte
eine Bedingung:


„Chodih, du wirſt nichts ohne meinen Willen thun?“


„Nein. Ich werde entweder ſelbſt kommen oder dich
holen laſſen.“


Damit nahm ich meine Waffen, ſtieg hinab und ſprang
in den Sattel. Der Platz vor dem Hauſe war leer ge-
worden. Nur der Melek wartete auf mich, und einige
Bewaffnete waren geblieben, um die gefangenen ‚Gäſte‘ zu
bewachen.


Wir mußten die gebrechliche Brücke wieder paſſieren.
Drüben auf der andern Seite des Stromes ging es wirr
zu. Landesverteidiger zu Fuß und zu Roß ritten und
liefen bunt durcheinander. Der eine hatte eine alte Flinte,
der andere eine Keule. Ein jeder wollte kommandieren,
aber nicht gehorchen. Dazu war das Terrain mit Felſen,
Bäumen und Büſchen beſetzt, und bei jedem Schritte hörte
man eine andere Neuigkeit von den Kurden. Zuletzt kam
gar die Kunde, daß der Raïs von Schuhrd mit ſeinen
Leuten davongezogen ſei, weil ſich der Melek mit ihm
geſtritten hatte.


„Herr, was thue ich?“ fragte der Melek in nicht
geringer Sorge.


„Suche zu erfahren, wo ſich die Kurden befinden.“


II. 34
[530]

„Das habe ich ja bereits gethan, aber ein jeder bringt
mir eine andere Kunde. Und ſiehe meine Leute an! Wie
ſoll ich mit ihnen zum Kampf ziehen?“


Der Mann dauerte mich wirklich. Es war ſehr leicht
zu erkennen, daß er ſich auf ſeine Leute nicht verlaſſen
könne. Der ſo lange auf ihnen laſtende Druck hatte ſie
entmannt. Zu einem hinterliſtigen Ueberfall hatten ſie
geſtern den Mut gehabt; heute aber, wo es nun galt, die
Folgen davon zu tragen, mangelte es ihnen an der nötigen
Thatkraft. Es war nicht eine Spur von militäriſcher
Zucht zu bemerken; ſie glichen einer Herde von Schafen,
welche gedankenlos den Wölfen entgegen rennen.


Auch der Melek ſelbſt machte nicht den Eindruck
eines Mannes, der die jetzt ſo nötige Willenskraft und
Widerſtandsfähigkeit beſaß. Es war mehr als Sorge, es
war faſt Angſt, die ſich auf ſeinem Angeſicht abſpiegelte,
und vielleicht wäre es von Nutzen für ihn geweſen, wenn
Nedſchir-Bey ſich noch an ſeiner Seite befunden hätte.
Es war mir ſehr klar, daß die Chaldäer gegen die Ber-
wari-Kurden den kürzeren ziehen würden. Daher ant-
wortete ich auf die Klage des Melek:


„Willſt du meinen Rat hören?“


„Sage mir ihn!“


„Die Kurden ſind euch überlegen. Es giebt nur zwei
Wege, die du jetzt einſchlagen kannſt. Du ziehſt dich
mit den Deinen ſchleunigſt auf das andere Ufer des Fluſſes
zurück und verteidigſt den Uebergang. Dadurch gewinnſt
du Zeit, Verſtärkungen an dich zu ziehen.“


„Dann aber muß ich ihnen alles opfern, was am
rechten Ufer liegt.“


„Sie werden dies ohnehin nehmen.“


„Welches iſt der zweite Weg?“


„Du unterhandelſt mit ihnen.“


[531]

„Durch wen?“


„Durch mich.“


„Durch dich? Chodih, willſt du mir entfliehen?“


„Das fällt mir gar nicht ein, denn ich habe dir ja
mein Wort gegeben.“


„Werden ſich dieſe Kurden auf Unterhandlungen ein-
laſſen, nachdem wir ſie geſtern überfallen haben?“


„Iſt nicht ihr Anführer dein Gefangener? Das giebt
dir eine große Macht über ſie.“


„Du biſt ihr Gaſtfreund; du wirſt ſo mit ihnen ver-
handeln, daß ſie den Nutzen, wir aber den Schaden haben.“


„Ich bin auch dein Gaſtfreund; ich werde ſo mit
ihnen reden, daß beide Teile zufrieden ſein können.“


„Sie werden dich feſthalten; ſie werden dich nicht
wieder zu mir zurückkehren laſſen.“


„Ich laſſe mich nicht halten. Sieh mein Pferd an!
Iſt es nicht zehnmal mehr wert, als das deinige?“


„Fünfzigmal, nein, hundertmal mehr, Herr!“


„Glaubſt du, daß ein Krieger ſo ein Tier im Stiche
läßt?“


„Niemals!“


„Nun wohl! Laß uns einſtweilen tauſchen! Ich laſſe
dir meinen Rapphengſt als Pfand zurück, daß ich wieder-
komme.“


„Iſt dies dein Ernſt?“


„Mein vollſtändiger. Vertrauſt du mir nun?“


„Ich glaube und vertraue dir. Willſt du deinen
Diener auch mitnehmen?“


„Nein, er wird bei dir bleiben; denn du kennſt mein
Pferd nicht genau. Es muß jemand bei dir ſein, der den
Hengſt richtig zu behandeln verſteht.“


„Hat es ein Geheimnis, Herr?“


„In der That.“


[532]

„Chodih, dann iſt es für mich gefährlich, das Roß
zu reiten. Dein Diener mag es beſteigen, und du nimmſt
das ſeinige, während er bei mir zurückbleibt.“


Das war es ja eben, was ich wünſchte. Mein Pferd
war in den Händen des kleinen Hadſchi Halef Omar jeden-
falls beſſer aufgehoben, als in denen des Melek, der nur
ein gewöhnlicher Reiter war. Dann antwortete ich:


„Ich füge mich in deinen Willen. Erlaube, daß ich
ſofort die Tiere wechſele!“


„Sogleich, Herr?“


„Allerdings. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“


„Wirſt du die Kurden wirklich finden?“


„Sie werden ſchon dafür ſorgen, daß ſie gar zu bald
gefunden werden. Aber, könnten wir nicht meine beiden
Vorſchläge vereinigen? Wenn deine Leute mit den Ber-
wari ins Handgemenge kommen, ehe man mich gehört hat,
ſo iſt alles verloren. Gehe mit ihnen über den Fluß
zurück, ſo habe ich mehr Hoffnung auf Erfolg!“


„Aber wir geben uns da in ihre Hände!“


„Nein, ihr entkommt ihnen und gewinnt Zeit. Wie
wollen ſie euch angreifen, wenn ihr die Brücke beſetzt?“


„Du haſt recht, Herr, und ich werde ſofort das Zeichen
geben.“


Während ich vom Pferde ſprang und Halefs Tier
beſtieg, ſetzte der Melek eine Muſchel an den Mund, die
an ſeiner Seite gehangen hatte. Der dumpfe, aber kräf-
tige Ton war weithin vernehmbar. Die Chaldani kamen
von allen Seiten zurückgeeilt, denn dieſe Richtung behagte
ihnen weit mehr als diejenige eines gefährlichen Angriffes
auf die tapfern und wohlbewaffneten Kurden. Ich hin-
gegen ritt vorwärts, nachdem ich Halef einige Verhal-
tungsmaßregeln erteilt hatte, und befand mich bald ganz
allein, da auch Dojan zurückgeblieben war.


[533]

Siebentes Kapitel.
Der Geiſt der Höhle.



Meine Aufgabe ſchien mir gar nicht ſchwierig zu ſein.
Von den Kurden hatte ich wohl nichts zu fürchten, und
da ſie Rückſicht auf das gefährdete Leben ihres Beys zu
nehmen hatten, ſo ließ ſich erwarten, daß ein Vergleich
zu ſtande kommen werde.


So ritt ich langſam vorwärts und horchte auf jedes
Geräuſch. Ich gelangte auf den Rücken einer niedrigen
Bodenwelle, wo Wald und Buſch weniger dicht ſtanden,
und erblickte von hier aus einen Krähenſchwarm, der
weiter unten über dem Walde ſchwebte, ſich zuweilen auf
die Zweige niederlaſſen wollte, aber immer wieder aufflog.
Es war gewiß, daß dieſe Vögel aufgeſtört wurden, und
ich wußte nun, wohin ich mich zu wenden hatte. Ich ritt
den kleinen Hügel hinab, war aber noch gar nicht weit
gekommen, als ein Schuß fiel, deſſen Kugel jedenfalls mir
gelten ſollte; ſie traf aber nicht. Im Nu ſchnellte ich
mich vom Pferde und ſtellte mich hinter dasſelbe. Ich
hatte den Blitz des Pulvers geſehen und wußte alſo, wo
der ungeſchickte Schütze ſtand.


„Kur'o*), thue dein Kirbit**) zur Seite!“ rief ich.
„Du triffſt ja eher dich als mich!“


„Fliehe, ſonſt biſt du des Todes!“ klang es mir entgegen.


[534]

„Ehz be vïa kenïam — darüber muß ich lachen!
Welcher Mann ſchießt ſeine Freunde tot?“


„Du biſt nicht unſer Freund; du biſt ein Naſarah!“


„Das wird ſich finden. Du gehörſt zu den Vorpoſten
der Kurden?“


„Wer ſagt dir das?“


„Ich weiß es; führe mich zu deinem Anführer!“


„Was willſt du dort?“


„Mein Gaſtfreund, der Bey von Gumri, ſendet mich
zu ihm.“


„Wo iſt der Bey?“


„In Lizan gefangen.“


Während dieſer Verhandlung bemerkte ich recht wohl,
daß noch mehrere Geſtalten herbeikamen, die aber hinter
den Bäumen verborgen bleiben wollten. Der Kurde fragte
weiter:


„Du nennſt dich den Gaſtfreund des Bey. Wer
biſt du?“


„Ein Emir giebt nur einem Emir Auskunft. Führe
mich zu deinem Anführer, oder bringe ihn her zu mir.
Ich habe als Bote des Bey mit ihm zu reden.“


„Herr, gehörſt du zu den fremden Emirs, die auch
gefangen worden ſind?“


„So iſt es.“


„Und biſt du wirklich kein Verräter, Herr?“


„Katiſcht, baqua — was, du Froſch!“ rief da laut
eine andere Stimme. „Siehſt du denn nicht, daß es der
Emir iſt, welcher ohne Aufhören ſchießen kann? Gehe zur
Seite, du Wurm, und laß mich hin zu ihm!“


Zugleich kam ein junger Kurde hinter einem Baume
hervor, trat mit größter Ehrerbietung zu mir heran und
ſagte:


„Allahm d'allah — Gott ſei Dank, daß ich dich
[535] wiederſehe, Herr! Wir haben große Sorge um euch ge-
habt.“


Ich erkannte ſogleich in ihm einen der Männer,
welche geſtern dem Melek glücklich entkommen waren, und
antwortete:


„Man hat uns wieder ergriffen, aber wir befinden
uns wohl. Wer iſt euer Anführer?“


„Der Raïs von Dalaſcha, und bei ihm iſt der tapfere
Emir der Haddedihn vom Stamme der Schammar.“


Das war mir lieb, zu hören; alſo hatte Mohammed
Emin doch, wie ich vermutet hatte, den Weg nach Gumri
gefunden und kam nun, uns zu befreien.


„Ich kenne den Raïs von Dalaſcha nicht,“ ſagte ich.
„Führe mich zu ihm!“


„Herr, er iſt ein großer Krieger. Er kam geſtern
am Abend, um den Bey zu beſuchen, und da er hörte,
daß dieſer gefangen ſei, ſo ſchwur er, Lizan der Erde gleich
zu machen und alle ſeine Bewohner in die Hölle zu ſenden.
Jetzt iſt er unterwegs, und wir gehen voran, damit er
nicht überrumpelt wird. Aber Herr, wo haſt du dein
Pferd? Hat man es dir geraubt?“


„Nein, ich ließ es freiwillig zurück. Doch komm, und
führe mich!“


Ich nahm mein Tier am Zügel und folgte ihm. Wir
waren nicht viel über tauſend Schritte gegangen, ſo ſtießen
wir auf eine Gruppe von Reitern, unter denen ich zu
meiner großen Freude Mohammed Emin erblickte. Er
befand ſich zu Pferde und erkannte auch mich ſofort.


„Hamdulillah,“ rief er, „Preis ſei Gott, der mir die
Gnade giebt, dich wiederzuſehen! Er hat dir den Pfad
erleuchtet, daß es dir glückte, dieſen Naſarah zu entkom-
men. Aber,“ fügte er erſchrocken hinzu — „du biſt ent-
flohen, ohne dein Pferd mitzunehmen?“


[536]

Dies war ihm ein ganz unmöglicher Gedanke, und
ich beruhigte ihn auch auf der Stelle:


„Ich bin nicht entflohen, und das Pferd gehört noch
mir. Es befindet ſich in der Obhut von Hadſchi Halef
Omar, bei dem es ſicher iſt.“


„Du biſt nicht entflohen?“ fragte er erſtaunt.


„Nein. Ich komme als der Abgeſandte des Bey von
Gumri und des Melek von Lizan. Wo iſt der Mann,
der hier zu gebieten hat?“


„Ich bin es,“ antwortete eine tiefe Stimme.


Ich ſah mir den Mann ſcharf an. Er ſaß auf einem
ſtarkknochigen, zottigen Pferde, das nur mit Palmen-
faſer aufgezäumt war. Es war ſehr lang und außer-
ordentlich hager gebaut. Ein ungeheurer Turban bedeckte
ſeinen Kopf, und ſein Angeſicht ſtarrte von einem ſo bor-
ſtigen und dichten Bart, daß man nur die Naſe und zwei
Augen erblickte, die mich jetzt unheimlich forſchend an-
funkelten.


„Du biſt der Raïs von Dalaſcha?“ fragte ich ihn.


„Ja. Wer biſt du?“


Mohammed Emin antwortete an meiner Stelle:


„Es iſt Kara Ben Nemſi Emir, von dem ich dir
erzählt habe.“


Der Kurde grub ſeinen Blick abermals tief in den
meinigen, und es ſchien dann, als ob er ſich im klaren
über mich befände. Er ſagte:


„Er ſoll uns ſpäter erzählen und mag ſich uns jetzt
anſchließen. Vorwärts!“


„Laß halten; ich habe mit dir zu ſprechen,“ bat ich.


„Schweig!“ fuhr er mich an. „Ich bin der General
dieſer Truppen, und was ich ſage, das hat ohne Wider-
rede zu geſchehen. Ein Weib redet, ein Mann aber han-
delt. Jetzt wird nicht geplaudert!“


[537]

Ich war nicht gewohnt, in einem ſolchen Tone mit
mir reden zu laſſen. Auch Mohammed Emin gab mir
unbemerkt einen aufmunternden Wink. Der Raïs war
bereits einige Schritte fort; ich trat vor und griff ſeinem
Pferde in die Zügel.


„Halt! Bleib! Ich bin der Abgeſandte des Bey!“
warnte ich ihn mit ernſter Stimme.


Ich habe immer gefunden, daß ein furchtloſes Weſen,
unterſtützt durch ein wenig Leibesſtärke, dieſen halbwilden
Leuten imponiert. Hier aber ſchien es, daß ich mich ver-
rechnen ſollte; denn der Mann erhob die Fauſt und
drohte:


„Menſch, die Hand vom Pferde, ſonſt ſchlag ich!“


Ich erkannte, daß meine Sendung vollſtändig ver-
unglückt ſei, wenn ich mich nur im geringſten von ihm
einſchüchtern ließe. Darum ließ ich wohl mein Pferd
fahren, nicht aber das ſeinige, und antwortete:


„Ich bin hier an Stelle des Bey von Gumri und
habe zu befehlen; du aber biſt nichts als ein kleiner Kiaja *),
der augenblicklich zu gehorchen hat. Steige ab!“


Da riß er die Flinte von der Schulter, faßte ſie beim
Laufe und wirbelte ſie um den Kopf.


„Ker, ſeri te tſchar tan kim,“ brüllte er, „ich ſpalte
dir den Kopf in vier Teile, du Dummkopf!“


„Verſuche es, doch zuerſt gehorche!“ entgegnete ich
lachend.


Mit einem raſchen Ruck riß ich ſein Pferd auf die
Hinterbeine nieder und ſchlug dem Tiere dann den Fuß
mit ſolcher Gewalt an den Bauch, daß es erſchrocken
wieder emporprallte. Dieſe beiden Bewegungen folgten
ſo ſchnell aufeinander, daß der Kiaja augenblicklich abge-
ſchleudert wurde. Ehe er ſich erheben konnte, hatte ich
[538] ihm die Flinte und das Meſſer entriſſen und erwartete
ſeinen Angriff.


„Sa — Hund!“ brüllte er, indem er emporſchnellte
und ſich auf mich warf; „ich zermalme dich!“


Er ſprang auf mich ein; ich hob nur den Fuß bis
zur Gegend ſeiner Magengrube — ein Tritt, und er über-
ſchlug ſich rückwärts zur Erde nieder. Nun nahm ich
ſein eigenes Gewehr empor und zielte auf ihn.


„Mann, bleib weg von mir, ſonſt ſchieße ich!“ gebot
ich ihm.


Er raffte ſich empor, hielt ſich die Magengegend und
blickte mich mit wutfunkelnden Augen an, wagte aber doch
keinen Angriff mehr.


„Gieb mir meine Waffen!“ grollte er drohend.


„Später, wenn ich mit dir geſprochen habe!“


„Ich habe nichts mit dir zu ſprechen!“


„Aber ich mit dir, und ich bin gewohnt, mir Gehör
zu verſchaffen; das merke dir, Kiaja!“


„Ich bin kein Kiaja; ich bin ein Raïs, ein Nezanum!“


Obgleich dieſer Vorgang bis jetzt nur wenige Augen-
blicke in Anſpruch genommen hatte, war er doch von den
anrückenden Kurden bemerkt worden, und es hatte ſich
eine bedeutende Anzahl derſelben, die ſich immer mehr
vergrößerte, um uns verſammelt. Doch ſagte mir ein
einziger Blick, daß keiner von ihnen gewillt war, vor-
eilig Partei zu ergreifen. Darum antwortete ich unbeſorgt:


„Du biſt weder ein Raïs noch ein Nezanum; du
biſt nicht einmal ein freier Kurde, wie dieſe tapferen
Männer hier, denen du befehlen willſt.“


„Beweiſe es!“ rief er in höchſter Wut.


„Du biſt der Dorfälteſte von Dalaſcha; aber die ſieben
Orte Dalaſcha, Chal, Serſchkiutha, Beſchukha, Behedri,
Biha und Schuraiſi gehören zu dem Lande Chal, welches
[539] dem Statthalter von Amadijah Tribut bezahlt und folg-
lich dem Paſcha von Moſſul und alſo auch dem Groß-
herrn in Stambul unterthänig iſt. Der Aelteſte eines
Dorfes, welches dem Padiſchah Tribut entrichtet, iſt aber
nicht ein freier Nezanum, ſondern ein türkiſcher Kiaja.
Wenn mich ein freier, tapferer Kurde beleidigt, ſo fordere
ich mit der Waffe Rechenſchaft von ihm; denn er iſt der
Sohn eines Mannes, der vor keinem Menſchen ſein Knie
beugte. Wagt es aber ein türkiſcher Kiaja, der ein Diener
des Muteſſarif iſt, mich einen Hund zu nennen, ſo werfe
ich ihn vom Pferd herab und gebe ihm die Sohle meines
Fußes auf den Leib, damit er die Demut lerne, die er
jedem tapfern Manne ſchuldig iſt! Sagt mir, ihr Män-
ner: Wer hat den Tribut-Einſammler eines türkiſchen
Dorfes zum Anführer der berühmten Kurden von Ber-
wari gemacht?“


Ein lautes Murmeln ließ ſich rundum hören. Dann
antwortete einer:


„Er ſelbſt.“


Ich wandte mich an den Sprecher:


„Kennſt du mich?“


„Ja, Emir, die meiſten von uns kennen dich.“


„Du weißt, daß ich ein Freund und Gaſt des Bey bin?“


„Wir wiſſen es!“


„So antworte mir: Gab es unter den Berwari keinen,
der würdig geweſen wäre, die Stelle des Bey zu ver-
treten?“


„Es giebt ihrer viele,“ antwortete er ſtolz; „aber
dieſer Mann, den du Kiaja nennſt, iſt oft in Gumri. Er
iſt ein ſtarker Mann, und da er eine Blutrache mit dem
Melek von Lizan hat und wir mit einer langen Wahl
keine Zeit verlieren wollten, ſo haben wir ihm den Befehl
übergeben.“


[540]

„Er iſt ein ſtarker Mann? Habe ich ihn nicht vom
Pferde geworfen und dann zu Boden getreten? Ich ſage
euch, daß ſein Leib die Erde nicht wieder verlaſſen, ſeine
Seele aber zur Dſchehennah fahren ſoll, wenn er es noch
ein einziges Mal wagt, mich oder einen meiner Freunde
zu beleidigen! Die Fauſt eines Emir aus Tſchermaniſtan
iſt wie Kumahſch *) für den Gefährten, für den Feind aber
wie Tſchelik **) und Demihr ***).“


„Herr, was forderſt du von ihm?“


„Der Bey iſt in Lizan gefangen. Er ſendet mich zu
euch, um mit eurem Anführer zu beſprechen, was ihr thun
ſollt. Dieſer Mann aber will dem Bey nicht gehorchen;
er will nicht mit mir reden und hat mich einen Hund
genannt.“


„Er muß gehorchen — er muß dich hören!“ rief es
im Kreiſe.


„Gut,“ antwortete ich. „Ihr habt ihm den Befehl
übertragen, und ſo mag er ihn behalten, bis der Bey
wieder frei iſt. Aber wie ich ihm ſeine Ehre gebe, ſo ſoll
er mir auch die meinige erweiſen. Der Bey hat mich ge-
ſandt; ich ſtehe hier an ſeiner Stelle; will dieſer Kiaja
in Frieden mit mir verkehren und mich behandeln, wie
ein Emir behandelt werden muß, ſo gebe ich ihm ſeine
Waffen zurück, und der Bey ſoll bald wieder in eurer
Mitte ſein.“


Ich blickte mich forſchend im Kreiſe um. Es ſtan-
den, ſo weit ich ſie ſehen konnte, weit über hundert Män-
ner zwiſchen den lichten Büſchen umher, und alle riefen
mir ihre Zuſtimmung zu. Darauf wandte ich mich zu
dem Kiaja:


„Du haſt meine Worte gehört; ich erkenne dich als
Anführer an und werde dich deshalb jetzt Agha nennen.
[541] Hier haſt du deine Flinte und dein Meſſer. Und nun
erwarte ich, daß du auf meine Worte hörſt.“


„Was haſt du mir zu ſagen?“ brummte er höchſt
mißmutig.


„Rufe alle deine Berwari zuſammen. Sie ſollen nicht
eher vorgehen, als bis unſere Beſprechung zu Ende iſt.“


Er blickte mich ſehr erſtaunt an.


„Weißt du denn nicht, daß wir Lizan überfallen
wollen?“ fragte er mich.


„Ich weiß es; aber es geſchieht auch ſpäter noch zur
rechten Zeit.“


„Wenn wir zaudern, ſo werden die Naſarah über
uns herfallen. Sie wiſſen, daß wir kommen; ſie haben
uns geſehen.“


„Eben weil ſie es wiſſen, ſendet der Bey mich zu
euch. Sie werden euch nicht überfallen; ſie haben ſich
über den Zab zurückgezogen und werden die Brücke ver-
teidigen.“


„Weißt du dies genau?“


„Ich ſelbſt habe es ihnen angeraten.“


Er blickte finſter vor ſich nieder, und auch aus dem
Kreiſe rings umher wurde mancher mißbilligende Blick
auf mich geworfen. Dann entſchied er ſich:


„Herr, ich werde thun, was du verlangſt; aber glaube
nicht, daß wir von einem Fremden einen ſchlechten Rat
annehmen werden!“


„Das thue, wie du willſt! Laß einen freien Platz
ausſuchen, wo wir Raum genug haben, um die Verſamm-
lung überblicken zu können. Die Aſſiretah *) mögen zur
Beratung kommen, die andern aber ſollen den Ort be-
wachen, damit ihr keine Sorge zu haben braucht.“


Er gab die nötigen Befehle, und nun kam reges
[542] Leben in die Leute. Dabei hatte ich Zeit, einige Worte
mit Mohammed Emin zu ſprechen. Ich erzählte ihm
unſere Erlebniſſe ſeit unſerer Trennung und wollte ihn
nun auch nach den ſeinigen fragen, als gemeldet wurde,
daß ein paſſender Platz gefunden ſei. Wir mußten auf-
brechen.


„Sihdi,“ ſagte der Haddedihn, „ich danke dir, daß
du dieſem Kiaja gezeigt haſt, daß wir Männer ſind!“


„Hat er dies an dir nicht auch bemerkt?“


„Herr, ich habe kein ſolches Glück wie du. Ich wäre
von dieſen Männern zerriſſen worden, wenn ich ihm nur
halb ſo viel geſagt hätte, wie du. Und dann bedenke,
daß ich nur wenige kurdiſche Worte reden kann; ſie aber
haben nur einige unter ſich, die etwas Arabiſch verſtehen.
Dieſer Kiaja muß ein berüchtigter Dieb und Räuber ſein,
weil ſie ſolchen Reſpekt vor ihm haben.“


„Nun, du ſiehſt, daß ſie mich nicht weniger achten,
obgleich ich kein Dieb und Räuber bin. Wenn er mich
beleidigt, ſchlage ich ihm ins Geſicht; das iſt das ganze
Geheimnis der Scheu, die ſie vor mir haben. Und
das merke dir, Mohammed Emin: — nicht die Fauſt
allein thut es, ſondern wer einen guten, fruchtbaren Hieb
austeilen will, bei dem muß zugleich auch der Blick des
Auges und der Ton der Stimme ein Schlag ſein, der
den Gegner niederſtreckt. Komm, man erwartet uns;
wir trennen uns nicht wieder.“


„Welche Vorſchläge haſt du zu machen?“


„Du wirſt ſie hören.“


„Aber ich verſtehe euer Kurdiſch nicht.“


„Ich werde dir das Nötige von Zeit zu Zeit ver-
dolmetſchen.“


Wir gelangten zwiſchen den weit auseinander ſtehen-
den Büſchen und Bäumen hindurch an eine Lichtung, die
[543] genug Raum zur bequemen Verhandlung bot. Rundum
waren die Pferde angebunden. Etwa zwanzig martialiſche
Krieger ſaßen mit dem Agha in der Mitte des Platzes;
die übrigen aber hatten ſich ehrerbietig zurückgezogen, ent-
weder bei den Pferden oder tiefer im Buſche ſtehend, um
für unſere Sicherheit zu ſorgen. Es war ein maleriſcher
Anblick, den dieſe ſonderbar gekleideten Kurden mit ihren
ſo verſchieden aufgeſchirrten Tieren boten; doch hatte ich
keine Zeit, weitere Betrachtungen darüber anzuſtellen.


„Herr,“ begann der Agha, „wir ſind bereit, zu hören,
was du uns zu ſagen haſt. Aber gehört dieſer auch mit
zu den Aſſiretha?“


Er deutete dabei auf Mohammed Emin. Dieſen bös
gemeinten Hieb mußte ich ſofort zurückgeben.


„Mohammed Emin iſt der berühmte Emir der Beni
Haddedihn vom Stamme der Arab-eſch-Schammar. Er iſt
ein weiſer Fürſt und ein unüberwindlicher Krieger, deſſen
grauen Bart ſelbſt der Ungläubige achtet. Noch niemand
hat es gewagt, ihn vom Pferde zu werfen oder ihm den
Fuß auf den Leib zu ſetzen. Sage noch ein einziges Wort,
welches mir nicht gefällt, ſo kehre ich zum Bey zurück,
nehme dich aber vor mich auf das Pferd und laſſe dir
in Lizan die Fußſohlen peitſchen!“


„Herr, du wollteſt in Frieden mit mir reden!“


„So halte du ſelbſt dieſen Frieden, Menſch! Zwei
Emire wie Mohammed Emin und ich laſſen ſich von tau-
ſend Männern nicht beleidigen. Mit unſeren Waffen
brauchen wir dein ganzes Land Chal nicht zu fürchten.
Wir ſtellen uns unter das Odſchag *) dieſer Berwari-
Kurden, die nicht zugeben werden, daß die Freunde ihres
Bey beleidigt werden.“


Wer das Odſchag anruft, dem iſt der beſte Schutz
[544] auf alle Fälle ſicher, und ſo erhob ſich auch ſofort der
älteſte der Krieger, nahm Mohammed und mich bei der
Hand und beteuerte mit drohender Stimme:


„Wer dieſe Emire kränkt, der iſt mein Feind. Ser
babe men — beim Haupte meines Vaters!“


Dieſer Schwur des angeſehenſten Kurden war kräftig
genug, uns von jetzt an gegen die Beleidigungen des Kiaja
zu ſchützen. Dieſer fragte nun:


„Welches iſt die Botſchaft, die du uns auszurichten
haſt?“


„Ich habe euch zu ſagen, daß der Bey von Gumri
der Gefangene des Melek von Lizan iſt —“


„Das wußten wir vorher; dazu brauchſt du nicht zu
uns zu kommen.“


„Wenn du in die Dſchehennah zu deinen Vätern
kommſt, ſo bedanke dich bei ihnen dafür, daß ſie dich zu
einem ſo höflichen Mann gemacht haben. Nur bei den
Negern und Adſchani *) iſt es Sitte, einander nicht voll-
ſtändig ausſprechen zu laſſen; dein Chodſchah **) aber hat
die Rute verdient!“


Trotzdem ich die Zurechtweiſung alſo ſelbſt über-
nommen hatte, zog doch auch der alte Kurde ſeine Piſtole
hervor und meinte gleichmütig:


„Ser babe men — beim Haupte meines Vaters! Viel-
leicht wird man bald die Stimme dieſes Gewehres ver-
nehmen! Fahre weiter fort, Emir!“


Es war gewiß eine eigentümliche Lage. Wir beiden
Fremdlinge wurden gegen den eigenen Anführer in Schutz
genommen. Was würde wohl ein civiliſierter Kavallerie-
rittmeiſter dazu ſagen? Solche Dinge können nur im wilden
Kurdenlande vorkommen! Ich folgte der Aufforderung
und redete weiter:


[545]

„Der Melek von Lizan verlangt das Blut des Bey.“


„Warum?“ fragte es umher.


„Weil durch die Kurden ſo viele Chaldani gefallen
ſind.“


Dieſe Behauptung brachte unter meinen Zuhörern
eine ganz bedeutende Aufregung hervor. Ich ließ ſie einige
Zeit gewähren und bat ſie dann, mich ruhig anzuhören:


„Ich bin der Abgeſandte des Bey; aber ich bin zu
gleicher Zeit auch der Bote des Melek; ich liebe den Bey,
und auch der Melek hat mich gebeten, ſein Freund zu ſein.
Darf ich einen von ihnen betrügen?“


„Nein,“ antwortete der Alte.


„Du haſt recht geſprochen! Ich bin fremd in dieſem
Lande; ich habe weder mit euch noch mit einem Naſarah
eine Rache und darum muß ich das Wort des Propheten
befolgen: ‚Dein Wort ſei der Schutz deines Freundes!‘
Ich werde zu euch ſo ſprechen, als ob der Bey und der
Melek hier ſtänden und mit euch redeten. Und Allah
wird eure Herzen erleuchten, daß kein ungerechter Ge-
danke eure Seele verdunkelt.“


Wieder nahm der Alte das Wort.


„Rede getroſt, Herr; rede auch für den Melek, denn
auch er hat dich geſandt. Du wirſt nur die Wahrheit
ſagen, und wir glauben, daß du uns nicht beleidigen und
erzürnen willſt!“


„So hört, meine Brüder! Es iſt noch nicht viele
Jahre her, da gab es ein großes Geſchrei auf den Bergen
und ein großes Wehklagen in den Thälern; die Menſchen
weinten auf den Höhen, und die Kinder der Menſchen
heulten in den Tiefen; das Schwert wütete wie die erſte
Stunde des jüngſten Tages, und das Meſſer lag in der
Hand des tauſendfältigen Todes. Saget mir, wer führte
dieſes Schwert und dieſes Meſſer?“


II. 35
[546]

„Wir!“ erſcholl es triumphierend rundum im Kreiſe.


„Und wer waren jene, welche untergingen?“


Dieſes Mal kam der Anführer allen zuvor:


„Die Naſarah, die Allah verderben möge!“


„Was hatten ſie euch gethan?“


„Uns?“ fragte er verwundert. „Sind ſie nicht Giaurs?
Glauben ſie nicht an drei Götter? Beten ſie nicht Men-
ſchen an, welche längſt geſtorben ſind? Predigen nicht die
Ulemas *) die ewige Vernichtung gegen ſie?“


Es wäre hier die größte Unvorſichtigkeit geweſen,
theologiſche Streitfragen aufzugreifen; darum antwortete
ich einfach:


„Alſo ihr habt ſie wegen ihres Glaubens getötet!
Ihr gebt zu, daß ihr ſie getötet habt, Hunderte und
Tauſende?“


„Viele Tauſende!“ ſagte er ſtolz.


„Nun wohl, ihr kennt die Thar, die Blutrache. Dürft
ihr euch wundern, daß die Verwandten der Gemordeten
ſich jetzt erheben und euer Blut fordern?“


„Herr, ſie dürfen das nicht; ſie ſind Giaurs!“


„Du irrſt, denn Menſchenblut bleibt Menſchenblut.
Das Blut Abels war nicht das Blut eines Moslem, und
dennoch ſprach Gott zu Kain: ‚Das Blut deines Bruders
ſchreit mir von der Erde empor.‘ Ich war in vielen
Ländern und bei vielen Völkern, deren Namen ihr nicht
einmal kennt; ſie waren keine Moslemim, aber die Blut-
rache hatten ſie doch, und ſie wundern ſich nicht darüber,
daß auch ihr den Tod der Eurigen rächt. Ich ſtehe hier
als ein unparteiiſcher Bote; ich darf nicht ſagen, daß nur
ihr allein das Recht zur Blutrache habt, denn auch eure
Gegner haben ihr Leben von Gott erhalten, und wenn
ſie es nicht gegen euch verteidigen ſollen, ſo ſeid ihr feige
[547] Mörder. Ihr gebt zu, daß ihr Tauſende von ihnen ge-
tötet habt; nun dürft ihr euch nicht wundern, wenn ſie
das Leben eures Bey von euch fordern, der in ihre Hände
gefallen iſt. Eigentlich hätten ſie das Recht, grad ſo viele
Leben von euch zu fordern, als ihr ihnen genommen habt.“


„Die Giaurs mögen kommen!“ murrte der Agha.


„Sie werden auch kommen, wenn ihr ihnen nicht die
Hand der Verſöhnung reicht.“


„Der Verſöhnung? Biſt du toll?“


„Ich bin bei Sinnen. Was wollt ihr ihnen thun?
Der Zab liegt zwiſchen ihnen und euch, und es würde
euch ſehr viele Leben koſten, um die Brücke oder eine Furt
zu erſtürmen. Und bis euch dies gelänge, hätten ſie ſo
viele Helfer aus Aſchihtha, Serſpitho, Zawitha, Mini-
janiſch, Murghi und aus andern Orten erhalten, daß ſie
euch erdrücken würden.“


Da erhob ſich der Anführer mit der Miene eines
Anklägers vom Boden.


„Weißt du, wer daran ſchuld iſt?“ fragte er.


„Wer?“ erwiderte ich ruhig.


„Du ſelbſt, nur du allein.“


„Ich? Inwiefern?“


„Haſt du uns nicht vorhin ſelbſt geſtanden, daß du
ihnen den Rat gegeben haſt, ſich hinter den Fluß zurück-
zuziehen?“ — Und zu den andern gewendet, fügte er
hinzu: „Seht ihr nun, daß er nicht unſer Freund, ſon-
dern ein Verräter iſt?“


Ich entgegnete ihm:


„Grad weil ich euer Freund bin, habe ich ihnen
dieſen Rat gegeben; denn ſobald der erſte Mann von
ihnen unter euren Waffen gefallen wäre, hätten ſie den
Bey getötet. Soll ich vielleicht zurückkehren und dem
Bey ſagen, daß ihr ſein Leben für nichts achtet?“


[548]

„So meinſt du alſo, daß wir gar nicht angreifen
ſollen?“


„Das meine ich allerdings.“


„Herr, hältſt du uns für Feiglinge, die nicht einmal
den Tod jener Männer rächen, welche geſtern gefallen
ſind?“


„Nein. Ich halte euch für tapfere Krieger, jedoch
aber auch für kluge Männer, welche nicht unnötigerweiſe
in den Tod rennen. Ihr kennt den Zab; wer von euch
will hinüberkommen, wenn drüben der Feind liegt und
jeden einzelnen von euch mit einer Kugel zu empfangen
vermag?“


„Daran biſt nur du allein ſchuld!“


„Pah! Ich habe damit dem Bey das Leben gerettet.
Soll dies umſonſt geſchehen ſein?“


„Du haſt nicht ihm, ſondern dir das Leben retten
wollen!“


„Du irrſt. Ich und meine Gefährten, wir ſind Gäſte
des Melek. Nur der Bey und die Kurden, welche mit-
ergriffen wurden, ſind Gefangene. Sie ſterben, ſobald ihr
die Feindſeligkeiten beginnt.“


„Und wenn wir nicht glauben, daß du der Gaſt des
Melek biſt, wie willſt du es uns beweiſen?“


„Stände ich hier, wenn ich Gefangener wäre?“


„Er könnte dich auf dein Wort entlaſſen haben. Aus
welchem Grunde hat er dich unter den Schutz ſeines
Hauſes genommen? Wer hat dich ihm, dem Melek von
Lizan, empfohlen?“


Ich mußte eine Antwort geben, und ich geſtehe offen,
daß ich mich ſchämte, den Namen eines Weibes nennen
zu müſſen.


„Ich wurde ihm empfohlen zwar nur von einem
Weibe, auf deſſen Wort er aber ſehr viel zu geben ſcheint.“


[549]

„Wie heißt dasſelbe?“


„Marah Durimeh.“


Ich hatte gefürchtet, mich lächerlich zu machen, und
war daher überraſcht von der ganz entgegengeſetzten Wir-
kung, welche dieſer Name hervorbrachte. Der Agha machte
ein ſehr überraſchtes Geſicht und meinte:


„Marah Durimeh? Wo haſt du ſie getroffen?“


„In Amadijah.“


„Wann?“ forſchte er weiter.


„Vor wenigen Tagen.“


„Wie biſt du ihr begegnet?“


„Ihre Enkeltochter hatte Gift gegeſſen, und da ich
ein Hekim bin, ſo wurde ich geholt. Ich traf Marah
Durimeh dort und rettete die Kranke.“


„Haſt du der Alten geſagt, daß du nach Gumri und
Lizan gehen würdeſt?“


„Ja.“


„Hat ſie dich nicht gewarnt?“


„Ja.“


„Und als du bei deinem Vorſatze bliebſt, was that
ſie da? Beſinne dich. Vielleicht hat ſie dir ein Wort
geſagt, welches ich dir nicht nennen darf.“


„Sie ſagte, wenn ich in Gefahr komme, ſo ſolle ich
nach dem Ruh 'i kulyan fragen. Dieſer werde mich be-
ſchützen.“


Kaum hatte ich dieſes Wort genannt, ſo ſtand der
Sprecher, welcher ſich erſt mir ſo feindſelig geſinnt gezeigt
hatte, vor mir und reichte mir die Hand entgegen.


„Emir, das habe ich nicht gewußt. Verzeihe mir!
Wem Marah Durimeh dieſes Wort geſagt hat, dem darf
kein Leid geſchehen. Und nun wird deine Rede vor unſern
Ohren Achtung finden. Wie ſtark ſind die Naſarah?“


„Das werde ich nicht verraten. Ich bin ebenſo ihr
[550] Freund wie der eurige; ich werde auch ihnen nicht ſagen,
wie ſtark ihr gekommen ſeid.“


„Du biſt vorſichtiger, als es nötig iſt. Glaubſt du
wirklich, daß ſie den Bey töten werden, wenn wir ſie an-
greifen?“


„Ich bin überzeugt davon.“


„Werden ſie ihn freigeben, wenn wir uns zurück-
ziehen?“


„Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Der Melek
wird auf meine Rede hören.“


„Aber es ſind mehrere der Unſrigen getötet worden:
ſie müſſen gerächt werden.“


„Habt ihr nicht vorher Tauſende der Naſarah ge-
tötet?“


„Zehn Kurden gelten höher als tauſend Naſarah!“


„Und die Chaldani denken, daß zehn Naſarah höher
gelten, als tauſend Kurden.“


„Würden ſie uns den Blutpreis bezahlen?“


„Ich weiß es nicht, aber ich geſtehe euch offen, daß
ich an ihrer Stelle es nicht thun würde.“


„So wirſt du ihnen den Rat geben, es nicht zu thun?“


„Nein, denn ich rede ſowohl bei euch als auch bei
ihnen nur das, was zum Frieden dient. Sie haben wenige
von euch getötet, ihr aber Tauſende von ihnen; alſo wären
nur ſie es, die einen Preis zu fordern hätten. Außerdem
haben ſie den Bey in ihrer Gewalt, und wenn ihr ernſt-
lich nachdenkt, ſo werdet ihr erkennen, daß ſie euch gegen-
über im Vorteile ſind.“


„Sind ſie ſehr kriegeriſch geſtimmt?“


Eigentlich hätte ich jetzt „Nein“ ſagen ſollen, ich zog
es aber vor, eine ausweichende Antwort zu geben:


„Habt ihr ſie geſtern vielleicht feig geſehen? Meßt
das Blut, welches den Zab hinabgefloſſen iſt; zählt die
[551] Knochen, welche noch heute das Thal des Fluſſes füllen,
aber fragt ja nicht, ob der Zorn der Hinterlaſſenen groß
genug zur Rache iſt!“


„Haben ſie viele und gute Gewehre?“


„Das werde ich nicht verraten. Oder ſoll ich auch
ihnen ſagen, wie ihr bewaffnet ſeid?“


„Haben ſie auch ihre Habe auf das andere Ufer ge-
rettet?“


„Nur der Unkluge läßt ſeine Habe zurück, wenn er
ſich flüchtet. Die Chaldani haben übrigens ſo wenig
Eigentum, daß es ihnen nicht ſchwer fallen kann, es mit
ſich zu nehmen.“


„Tritt zurück! Wir werden jetzt beraten, nachdem
wir alles gehört haben, was ich wiſſen wollte.“


Ich folgte dieſem Gebote und erhielt dadurch Ge-
legenheit, Mohammed Emin mit dem bisherigen Inhalte
unſerer Verhandlung bekannt zu machen. Noch bevor die
Kurden zu einem Entſchluſſe gekommen waren, näherten
ſich einige ihrer Krieger und brachten einen unbewaffneten
Mann herbei.


„Wer iſt das?“ fragte der Agha.


„Dieſer Mann,“ antwortete einer, „ſchlich heimlich
in unſerer Nähe herum, und als wir ihn ergriffen, ſagte
er, daß er von dem Melek an dieſen Emir abgeſandt
worden ſei.“


Bei den letzten Worten deutete der Sprecher auf mich.


„Was ſollſt du bei mir?“ fragte ich den Chaldani.


Dieſe Sendung wollte mir verdächtig oder doch wenig-
ſtens ſehr unvorſichtig erſcheinen. Jedenfalls aber gehörte
ein ungewöhnlicher Mut dazu, ſich unter die feindſeligen
Kurden zu wagen.


„Herr,“ antwortete er, „du bliebſt dem Melek zu
lange aus, und ſo ſandte er mich, um dir zu ſagen, daß
[552] der Bey getötet wird, wenn du nicht ſehr ſchnell zurück-
kehrſt.“


„Seht ihr, daß ich euch recht berichtet habe?“ wandte
ich mich an die Kurden. „Laßt den Mann ſchleunigſt
umkehren. Er mag dem Melek ſagen, daß mir nichts
geſchehen iſt und daß er mich in kurzer Zeit wieder bei
ſich ſehen wird.“


„Führt ihn fort!“ gebot der Agha.


Man gehorchte, und dann wurde die Verhandlung
ſchnell wieder aufgenommen.


Ich mußte mir geſtehen, daß das Erſcheinen dieſes
Boten von günſtigem Einfluſſe auf die Entſchließungen
der Kurden ſein werde; dennoch aber kam es mir ſonder-
bar vor, daß dieſer Mann abgeſchickt worden war. Der
Melek hatte ſich doch kurz vorher nicht gar ſo blutdürſtig
gezeigt, und aus Rückſicht auf mich war die Drohung
auch nicht nötig, da ich als Gaſtfreund des Bey doch von
den Kurden nichts zu fürchten hatte.


Endlich waren die Aſſiretah zu einem Entſchluß ge-
kommen, und ich wurde wieder herbeigerufen. Der An-
führer nahm das Wort:


„Herr, du verſprichſt uns, bei den Naſarah kein Wort
zu ſagen, welches zu unſerm Schaden iſt?“


„Ich verſpreche es.“


„So wirſt du jetzt zu ihnen zurückkehren?“


„Ich und mein Freund Mohammed Emin.“


„Warum ſoll er nicht bei uns bleiben?“


„Iſt er euer Gefangener?“


„Nein.“


„So kann er gehen, wohin es ihm beliebt, und er
hat beſchloſſen, an meiner Seite zu bleiben. Was ſoll ich
dem Melek ſagen?“


„Daß wir die Freiheit unſeres Bey verlangen.“


[553]

„Und dann?“


„Dann mag der Bey beſtimmen, was geſchehen ſoll.“


Dieſe Beſtimmung konnte einen gefährlichen Hinter-
gedanken haben; darum erkundigte ich mich:


„Wann ſoll er ausgeliefert werden?“


„Sofort, mit ſeinen Begleitern.“


„Wohin ſoll er kommen?“


„Hierher.“


„Ihr werdet nicht weiter vorwärts dringen?“


„Für jetzt nicht.“


„Aber dann wohl, wenn der Bey ausgeliefert wor-
den iſt?“


„Es wird dann geſchehen, was der Bey beſtimmt.“


„Und wenn der Melek ihn erſt dann ausliefern will,
wenn ihr friedlich nach Gumri zurückgekehrt ſeid?“


„Herr, darauf gehen wir nicht ein. Wir ziehen nicht
eher von hier fort, als bis wir den Herrſcher von Gumri
bei uns ſehen.“


„Was begehrt ihr noch?“


„Nichts weiter.“


„Dann hört, was ich euch noch zu ſagen habe. Ehrlich
habe ich gegen euch gehandelt und werde dies auch gegen
den Melek thun. Ich werde ihn zu keinem Zugeſtändnis
bereden, welches ihm Schaden bringt. Und vor allem
merkt euch dies, daß der Bey ſofort getötet wird, wenn
ihr dieſen Ort verlaßt, ehe der Friede vollſtändig ge-
ſchloſſen iſt.“


„Willſt du etwa dem Melek zu dieſem Mord raten?“


„Allah behüte mich davor! Aber ich werde auch nicht
zugeben, daß ihr den Bey nur zu dem Zweck zurück-
erhaltet, daß er euch dann gegen Lizan führt.“


„Herr, du redeſt ſehr kühn und aufrichtig!“


„So merkt ihr wenigſtens, daß ich es mit meinen
[554] Freunden ehrlich meine. Schicket euch in Geduld, bis ich
wiederkehre!“


Ich ſtieg aufs Pferd, Mohammed Emin ebenſo. Wir
verließen den Platz, und kein Kurde begleitete uns.


„Welche Botſchaft haſt du auszurichten?“ fragte der
Haddedihn.


Ich erklärte ihm meinen Auftrag und auch meine
Bedenken. Während dieſer Auseinanderſetzung gingen
unſere Pferde einen ſchnellen Schritt, und wir hatten bei-
nahe den Fluß erreicht, als ich zur Seite von uns ein
verdächtiges Raſcheln zu vernehmen glaubte. Ich wandte
mein Geſicht der Gegend zu und ſah in demſelben Augen-
blick das Aufleuchten zweier Schüſſe, welche auf mich und
Mohammed gerichtet waren. Sofort nach dem Doppel-
knalle rannte das Pferd des Haddedihn mit ſeinem Reiter
durch die Büſche; auf das meinige aber hatte man beſſer
gezielt: es brach augenblicklich zuſammen, und da der
Vorfall ganz unerwartet und blitzſchnell über uns kam,
ſo fand ich nicht einmal Zeit, meine Füße aus den Steig-
bügeln zu befreien. Ich ſtürzte mit und kam halb unter
das Pferd zu liegen. Im nächſten Augenblick ſah ich acht
Männer beſchäftigt, ſich meiner Waffen zu bemächtigen
und mich zu binden. Einer von ihnen war derjenige,
welcher vorhin als ein Bote des Melek bei mir geweſen
war. So hatte mich mein Mißtrauen alſo doch nicht
betrogen!


Ich vermutete eine Schurkerei des Raïs von Schohrd,
des Nedſchir-Bey, und wehrte mich aus Leibeskräften.
Ich lag an der Erde, und mein rechtes Bein ſteckte unter
dem Pferde; aber ich hatte doch die Arme zur Verfügung,
und wenn man ſie mir auch feſtzuhalten und zu feſſeln
ſuchte, ſo gelangen mir doch noch einige gute Stöße, ehe
ich wehrlos gemacht wurde. Mit acht kräftigen Männern
[555] aber fertig zu werden, davon war natürlich keine Rede,
zumal ſie mir beinahe noch während des Sturzes die
Waffen entriſſen hatten.


Nun zogen ſie mich unter dem Pferde hervor, ſo daß
ich mich auf die Füße erheben konnte. Es war nicht das
erſte Mal, daß ich mich in Feſſeln befand, aber auf eine
ſo niederträchtige Weiſe war ich doch noch nicht gebunden
worden. Man hatte mir nämlich Riemen an die Hand-
gelenke geſchlungen und mittels derſelben den rechten Arm
über die Bruſt hinweg auf die linke Achſel, den linken
Arm aber auf die rechte Achſel gezogen und dann im
Nacken die Riemen ſo feſt geknotet, daß mir die Bruſt
faſt bis zur Atmungsunfähigkeit zuſammengepreßt ward.
Außerdem wurden die Kniee ſo miteinander verbunden,
daß ich keine weiten Schritte zu gehen vermochte; und um
das Maß voll zu machen, ward ich mit dem einen Ell-
bogen an den Steigbügel eines der Buſchklepper geſchnallt,
— ſie waren zu Pferde, hatten aber ihre Tiere vor dem
Ueberfalle hinter die Büſche verſteckt.


Von dem Aufblitzen der Schüſſe an bis zu dem Augen-
blick, wo ich an dem Pferde befeſtigt war, waren kaum
drei Minuten vergangen. Ich hoffte, Mohammed Emin
werde zurückkehren, wollte aber nicht um Hilfe rufen, um
mir dieſen Menſchen gegenüber keine Blöße zu geben.
Reden aber mußte ich nun doch einmal:


„Was wollt ihr von mir?“ fragte ich.


„Nur dich wollen wir,“ antwortete der mutmaßliche
Anführer. „Auch dein Pferd wollten wir, aber du hatteſt
es nicht bei dir.“


„Wer ſeid ihr?“


„Biſt du ein Weib, daß du ſo neugierig biſt?“


„Pah! Ihr ſeid Hunde im Dienſte Nedſchir-
Beys. Er hat ſich nicht an mich gewagt; drum ſendet
[556] er ſeine Meute, damit ihm ja die Haut nicht geritzt
werde!“


„Schweig! Weshalb wir dich gefangen nehmen, das
wirſt du bald erfahren. Doch verhalte dich ſtill und
ſchweigſam, ſonſt bekommſt du einen Knebel in den Mund!“


Die Männer ſetzten ſich langſam in Bewegung. Wir
kamen an den Fluß, ritten — natürlich außer mir, da
ich gehen mußte — eine Strecke an demſelben hinab und
hatten dann wohl eine Furt erreicht, denn wir gingen in
das Waſſer.


Am jenſeitigen Ufer ſtand eine Schar Bewaffneter,
die ſich aber bei unſerm Anblick ſofort unſichtbar machte.
Jedenfalls war es Nedſchir-Bey, welcher das Gelingen
ſeines Streiches dort abgewartet hatte und ſich nun be-
friedigt zurückzog.


Das Bett des Fluſſes war hier mit ſcharfkantigen,
ſchlüpfrigen Steinen beſäet; das Waſſer reichte mir ſtellen-
weiſe bis an die Bruſt, und da ich zu eng an das Pferd
gefeſſelt war, ſo hatte ich mehr als genug auszuſtehen,
ehe wir das andere Ufer erreichten. Dort blieben ſechs
von den Reitern zurück, während mich die übrigen zwei
weiter ſchleppten.


Es ging am Fluſſe abwärts bis an ein wildes Berg-
waſſer, welches ſich hier von der linken Seite her in den
Zab ergießt. Nun ritten die beiden längs dieſes Waſſers
aufwärts. Es war für mich ein beſchwerlicher Weg, zu-
mal die Eskorte nicht die mindeſte Rückſicht auf mich
nahm. Kein Menſch begegnete uns. Nachher ging es
ſeitwärts hin über wildes Gerölle, durch wirres Dorn-
geſtrüpp, und ich merkte, daß man auf dieſe Weiſe das
Dorf Schohrd vermeiden wolle, deſſen ärmliche Hütten und
Häuſertrümmer ich bald unter uns erblickte.


Später bogen wir wieder nach rechts und gelangten
[557] in eine wilde Schlucht, welche in das Thal von Raola
hinabzuführen ſchien. Hier kletterten wir eine Strecke
weiter, bogen um einige Felſen und gelangten endlich an
ein Bauwerk, das einem vier bis fünf Ellen hohen,
kubiſchen Steinhaufen glich und nur eine einzige niedrige
Oeffnung zeigte, welche zugleich als Thür und als Fenſter
zu dienen ſchien.


Vor dieſem Steinwürfel ſtiegen ſie ab.


„Madana!“ rief der eine.


Sogleich ließ ſich in dem Innern der Hütte ein hei-
ſeres Grunzen vernehmen, und einige Augenblicke ſpäter
trat ein altes Weib aus dem Loch hervor. Madana heißt
auf deutſch: „Peterſilie“. Wie die Alte zu dieſem wür-
zigen Namen gekommen war, weiß ich nicht; aber als ſie
jetzt ganz nahe vor mir ſtand, duftete ſie nicht nur nach
Peterſilie, ſondern es entſtrömte ihr eine Atmoſphäre,
welche aus den Gerüchen von Knoblauch, faulen Fiſchen,
toten Ratten, Seifenwaſſer und verbranntem Hering zu-
ſammengeſetzt zu ſein ſchien. Hätte mich die Feſſel nicht
an dem Pferde feſtgehalten, ſo wäre ich einige Schritte
zurückgewichen. Gekleidet war dieſe ſchöne Bewohnerin
des Zabthales in einen kurzen Rock, den man bei uns
wohl kaum als Scheuerlappen hätte benutzen mögen; der
Rand desſelben reichte nur wenig bis über die Kniee
herab und ließ ein Paar geſpenſtiſche Gehwerkzeuge ſehen,
deren Ausſehen vermuten ließ, daß ſie bereits ſeit langen
Jahren nicht mehr gewaſchen worden ſeien.


„Iſt alles bereit?“ erkundigte ſich der Mann und
ſtellte eine lange Reihe von kurzen Fragen, die alle mit
„Ja“ beantwortet wurden.


Jetzt wurde ich losgebunden und mit weit nieder-
gebogenem Haupte in die Hütte geſchoben. Es gab doch
einige Ritzen in der Mauer, durch welche ein Lichtſtrahl
[558] einzudringen vermochte, und ſo konnte ich das Innere des
Bauwerkes ziemlich genau erkennen. Dasſelbe bildete einen
kahlen, viereckigen, roh aufgemauerten Raum, in deſſen
hinterſter Ecke man einen ſtarken Pfahl tief und feſt in
die Erde gerammt hatte. Neben demſelben lag ein mäßiger
Haufen von Streu und Blätterwerk, und in der Nähe
erblickte ich neben einem gefüllten Waſſernapfe einen großen
Scherben, der früher wohl einmal zu einem Krug gehört
hatte, jetzt aber als Schüſſel benützt wurde und eine Maſſe
enthielt, welche halb aus Tiſchlerleim und halb aus Regen-
würmern oder Blutegeln zu beſtehen ſchien.


Zwar hätte ich mich trotz meiner Feſſeln doch immer-
hin einigermaßen zu ſträuben vermocht, aber ich ließ es
ruhig geſchehen, daß ich mit einem ſtarken Strick an den
Pfahl gebunden wurde. Dies geſchah in der Weiſe, daß
ich auf die Streu zu liegen kam. Meine Arme blieben
nach wie vor auf den Achſeln befeſtigt.


Das Weib war draußen vor dem Eingang ſtehen
geblieben. Der eine meiner Begleiter verließ ſchweigſam
die Hütte, der andere jedoch hielt es für notwendig, mir
einige Verhaltungsmaßregeln zu erteilen.


„Du biſt gefangen,“ bemerkte er ebenſo treffend wie
geiſtreich.


Ich antwortete nicht.


„Du kannſt nicht entfliehen,“ belehrte er mich in ſehr
überflüſſiger Weiſe.


Ich antwortete wieder nicht.


„Wir gehen jetzt,“ fuhr er fort; „aber dieſes Weib
wird dich ſehr ſtreng bewachen.“


„So ſage ihr wenigſtens, daß ſie draußen bleiben
ſoll!“ bemerkte ich endlich doch.


„Sie muß in der Hütte bleiben,“ erwiderte er; „ſie
darf dich nicht aus den Augen laſſen und ſoll dich auch
[559] füttern, wenn du Hunger haſt; denn du kannſt deine
Hände nicht gebrauchen.“


„Wo iſt das Futter?“


„Hier!“


Er deutete auf den wackern Scherben, deſſen Inhalt
mir ſo verführeriſch entgegenlachte.


„Was iſt es?“ erkundigte ich mich.


„Ich weiß es nicht, aber Madana kann kochen, wie
keine zweite im Dorfe.“


„Warum ſchleppt ihr mich hierher?“


„Das habe ich dir nicht zu ſagen; du wirſt es von
einem andern erfahren. Mache keinen Verſuch, dich zu
befreien, ſonſt giebt Madana ein Zeichen, und es kommen
einige Männer, um dich noch ſchlimmer zu feſſeln.“


Jetzt ging auch er fort. Ich hörte die ſich entfer-
nenden Schritte der beiden Männer; dann kam die holde
„Peterſilie“ hereingekrochen und kauerte ſich neben dem
offenen Eingang in der Weiſe nieder, daß ich grad vor
ihrem Blicke lag.


Es war zwar keine angenehme Lage, in welcher ich
mich befand, ſie machte mir doch weniger Sorgen als der
peinigende Gedanke an die Gefährten in Lizan. Der
Melek lauerte mit Schmerzen auf mich, und die Kurden
erwarteten wohl längſt ſchon meine Wiederkehr. Und
hier lag ich angebunden, wie eine Dogge in der Hunde-
hütte! Was mußte daraus entſtehen!


Einen Troſt hatte ich doch. War Mohammed Emin
nach Lizan gekommen, ſo hatte man ſicher ſofort den Platz
aufgeſucht, an welchem ich überfallen worden war. Man
fand das tote Pferd und die Spuren des Kampfes, und
im übrigen mußte ich dann auf den Scharfſinn und die
Verwegenheit meines treuen Halef bauen.


So lag ich längere Zeit in Gedanken verſunken und
[560] zermarterte mir vergebens den Kopf, um eine Art und
Weiſe, wie die Flucht gelingen könne, zu erſinnen. Da
ſtörte mich die Stimme der holden Madana auf. Sie
war ein Weib; warum ſollte ſie ſo lange ſchweigen!


„Willſt du eſſen?“ fragte ſie mich.


„Nein.“


„Trinken?“


„Nein.“


Das Geſpräch war zu Ende, aber die duftende Peter-
ſilie kam herbeigekrochen, ließ ſich in der unmittelbaren
Nähe meiner armen Naſe häuslich nieder und nahm dann
den von mir verſchmähten Scherben auf ihren Schoß.
Ich ſah, daß ſie mit allen fünf Fingern der rechten Hand
in das geheimnisvolle Amalgam langte und dann den
zahnloſen Mund wie eine ſchwarzlederne Reiſetaſche aus-
einanderklappte — ich ſchloß die Augen. Eine Zeitlang
hörte ich ein mächtiges Geknatſch; ſodann vernahm ich
jenes ſanfte, zärtliche Streichen, welches entſteht, wenn die
Zunge als Wiſchtuch gebraucht wird, und endlich erklang
ein langes, zufriedenes Grunzen, welches ganz hörbar aus
einer wonnetrunkenen Menſchenſeele kam. O Peterſilie,
du Würze des Lebens, warum dufteſt du nicht draußen
im Freien!


Nach langer Zeit erſt öffnete ich die Augen wieder.
Mein Schirm und Schutz ſaß noch immer vor mir und
hielt die Augen forſchend auf mich gerichtet. In dieſen
Augen ſchimmerte ein wenig Mitleid und viel Neugierde.


„Wer biſt du?“ fragte ſie mich.


„Weißt du es nicht?“ antwortete ich.


„Nein. Du biſt ein Moslem?“


„Ich bin ein Chriſt.“


„Ein Chriſt und gefangen? Du biſt kein Berwari-
Kurde?“


[561]

„Ich bin ein Chriſt aus dem fernen Abendlande.“


„Aus dem Abendlande!“ rief ſie erſtaunt. „Wo die
Männer mit den Frauen tanzen? Und wo man mit
Schaufeln ißt?“


Alſo der Ruhm unſerer abendländiſchen Kultur war
bereits bis zu den Ohren der Peterſilie gedrungen: ſie
hatte von unſerer Polka und von unſern Löffeln gehört.


„Ja,“ nickte ich.


„Aber was willſt du hier in dieſem Lande?“


„Ich will ſehen, ob hier die Frauen ſchön ſind,
wie die unſerigen.“


„Und was haſt du gefunden?“


„Sie ſind ſehr ſchön.“


„Ja, ſie ſind ſchön,“ ſtimmte ſie bei, „ſchöner als in
einem andern Lande. Haſt du ein Weib?“


„Nein.“


„Ich bedaure dich! Dein Leben gleicht einer Schüſſel,
in der weder Sarmyſak noch Saljanghoſch iſt!“


Sarmyſak und Saljanghoſch, Schnecken in Knoblauch?
Sollte dies das fürchterliche Gericht ſein, welches vorhin
in der „Reiſetaſche“ verſchwand! Und das hatte die Peter-
ſilie ohne „Schaufeln“ bewältigt!


„Willſt du dir kein Weib nehmen?“ erkundigte ſie
ſich weiter.


„Ich möchte vielleicht wohl, aber ich kann nicht.“


„Warum nicht?“


„Kann man es thun, wenn man ſo gefeſſelt iſt?“


„Du wirſt warten, bis du wieder frei geworden biſt.“


„Wird man mir die Freiheit wiedergeben?“


„Wir ſind Chaldani; wir töten keinen Gefangenen.
Was haſt du gethan, daß man dich gebunden hat?“


„Das will ich dir erzählen. Ich bin über Moſſul
und Amadijah in dieſes Land gekommen, um — — —“


II. 36
[562]

Sie unterbrach mich haſtig:


„Ueber Amadijah?“


„Ja.“


„Wann warſt du dort?“


„Vor kurzer Zeit.“


„Wie lange bliebſt du dort?“


„Einige Tage.“


„Haſt du dort vielleicht einen Mann geſehen, der ein
Emir und ein Hekim aus dem Abendlande war?“


„Ich habe ihn geſehen.“


„Beſchreibe ihn mir!“


„Er hat ein Mädchen geſund gemacht, welches Gift
gegeſſen hatte.“


„Iſt er noch dort?“


„Nein.“


„Wo befindet er ſich?“


„Warum fragſt du nach ihm?“


„Weil ich gehört habe, daß er in dieſe Gegend
kommen wird.“


Sie ſprach mit einer Haſt, welche nur von dem leb-
hafteſten Intereſſe hervorgebracht ſein konnte.


„Er iſt bereits in dieſer Gegend,“ ſagte ich.


„Wo? Schnell, ſage es!“


„Hier.“


„Hier in Schohrd? Du irrſt; ich habe nichts davon
gehört!“


„Nicht hier in Schohrd, ſondern hier in deiner
Hütte.“


„In dieſer Hütte? Katera aïſſa — um Jeſu willen,
dann wärſt du's ja!“


„Ich bin der Mann, nach dem du fragſt.“


„Herr, kannſt du dies beweiſen?“


„Ja.“


[563]

„Wen trafſt du in dem Hauſe der Kranken, welche
Gift gegeſſen hatte?“


„Ich traf dort Marah Durimeh.“


„Hat ſie dir einen Talisman gegeben?“


„Nein; aber ſie hat mir geſagt, wenn ich hier in Not
kommen werde, ſo ſolle ich nach dem Ruh 'i kulyan fragen.“


„Du biſt's, du biſt's, Herr!“ rief ſie, indem ſie die
Hände zuſammenſchlug. „Du biſt der Freund von Marah
Durimeh; ich werde dir helfen; ich werde dich beſchützen.
Erzähle mir, wie du in dieſe Gefangenſchaft geraten biſt!“


Dies war heut bereits zum dritten Male, daß ich
die wunderbare Wirkung von dem Namen Marah Durimehs
erlebte. Welche Macht beſaß dieſes geheimnisvolle Weib?


„Wer iſt Marah Durimeh?“ fragte ich.


„Sie iſt eine alte Fürſtin, deren Nachkommen vom
Meſſias abgefallen und zu Muhammed übergetreten ſind.
Nun thut ſie Buße für ſie und wird ruhelos hin und
her getrieben.“


„Und wer iſt der Ruh 'i kulyan?“


„Das iſt ein guter Geiſt. Die einen ſagen, es ſei
der Engel Gabriel, und andere meinen, daß es der Erz-
engel Michael ſei, der die Gläubigen beſchützt. Er hat
hier gewiſſe Orte und gewiſſe Zeiten, wo und wann man
zu ihm kommen kann. Aber erzähle mir vorher, wie du
gefangen wurdeſt!“


Die Erfüllung dieſes Wunſches konnte mir nur Nutzen
bringen. Ich überwand die Unannehmlichkeit meiner
Körperlage und die Beſchwerden, welche mir die Arm-
feſſeln verurſachten, und erzählte meine Erlebniſſe von
Amadijah bis zur gegenwärtigen Stunde. Die Alte hörte
mir mit der größten Aufmerkſamkeit zu, und als ich ge-
endet hatte, faßte ſie faſt zärtlich die eine meiner zuſammen-
geſchnürten Hände.


[564]

„Herr,“ rief ſie, „du haſt recht vermutet: Nedſchir-
Bey iſt es, der dich gefangen hält. Ich weiß nicht,
weshalb er es gethan hat, aber ich liebe ihn nicht; er iſt
ein gewaltthätiger Mann, und ich werde dich retten.“


„Du willſt mir dieſe Feſſeln abnehmen?“


„Herr, das darf ich nicht wagen. Nedſchir-Bey wird
bald kommen, und dann würde er mich ſehr beſtrafen.“


„Was willſt du ſonſt thun?“


„Emir, heut iſt der Tag, an welchem man um
Mitternacht hier zum Ruh 'i kulyan geht. Der Geiſt
wird dich erretten.“


„Willſt du bei ihm für mich bitten?“


„Ich kann nicht zu ihm; ich bin ſehr alt, und der
Weg iſt mir zu ſteil. Aber“ — — — ſie hielt inne und
blickte nachdenklich vor ſich nieder; dann blickte ſie mich
forſchend an — — „Herr, wirſt du mir eine Lüge ſagen?“


„Ich ſage dir die Wahrheit!“


„Wirſt du fliehen, wenn du mir verſprichſt, es nicht
zu thun?“


„Was ich verſpreche, das halte ich!“


„Deine Arme ſchmerzen dich. Wirſt du hier bleiben,
wenn ich ſie dir losbinde?“


„Ich verſpreche es.“


„Aber darf ich ſie dir auch wieder feſſeln, wenn
jemand kommt?“


„Auch das.“


„Schwöre es!“


„Die heilige Schrift gebietet: Eure Rede ſei ja ja,
nein nein; was darüber iſt, das iſt unrecht. — Ich
ſchwöre nicht, aber ich verſpreche es dir und werde mein
Wort halten.“


„Ich glaube dir!“


Sie erhob ſich halb und verſuchte es, die Riemen
[565] in meinem Nacken zu löſen. Ich geſtehe reumütig, daß
mir in dieſem Augenblicke der Duft der guten „Peterſilie“
nicht im geringſten widerwärtig war. Ihr Vorhaben
gelang, und ich ſtreckte die ſchmerzenden Arme mit Wonne
aus und gönnte der ſo lange eingepreßten Bruſt einen
tiefen Atemzug. Madana aber nahm von jetzt an ihren
Platz draußen vor der Hütte, wo ſie jeden Nahenden
bereits von weitem ſehen und hören konnte. Daß unſere
Unterhaltung durch die Thüröffnung fortgeſetzt werden
könne, bewies mir die brave Alte auf der Stelle.


„Wenn jemand kommt, werde ich dich einſtweilen
wieder binden,“ ſagte ſie; „und dann — dann — —
dann — — — o Herr, würdeſt du wiederkommen, wenn
ich dir erlaube, einmal fortzugehen?“


„Ja. Wohin aber ſoll ich gehen?“


„Hinüber auf den Berg, zum Ruh 'i kulyan.“


Ich horchte erſtaunt auf. Das war ja ein Aben-
teuer, wie mir noch ſelten eines geboten worden war.
Ich ſollte heimlich aus meiner Gefangenſchaft beurlaubt
werden, um den geheimnisvollen „Geiſt der Höhle“
kennen zu lernen.


„Ich gehe, und du kannſt dich darauf verlaſſen, daß
ich ganz ſicher wiederkomme!“ verſprach ich Madana mit
Freuden. „Aber ich kenne den Weg ja nicht!“


„Ich rufe Ingdſcha, welche dich führen wird.“


Ingdſcha heißt „Perle“. Dieſer Name war viel-
verſprechend.


„Wer iſt Ingdſcha?“ erkundigte ich mich neugierig.


„Eine der Töchter von Nedſchir-Bey.“


„Von dieſem?“ fragte ich überraſcht.


„Die Tochter iſt anders als der Vater, Herr.“


„Aber wird ſie mich auf den Weg führen, da ſie
weiß, daß es ihrem Vater gilt?“


[566]

„Sie wird. Sie iſt der Liebling Marah Durimehs,
und ich habe mit ihr geſprochen von dem fremden Emir,
welcher das Gift beſiegt und deſſen Waffen niemand
widerſtehen kann.“


Alſo war mein Ruf als Wunderdoktor ſelbſt bis
hierher gedrungen. Erſtaunt fragte ich:


„Wer ſagte das?“


„Dein Diener hat es in Amadijah dem Vater der
Kranken erzählt, und Marah Durimeh hat es Ingdſcha
wiedergeſagt. Sie iſt begierig, einen Emir aus Frankiſtan
zu ſehen. Soll ich ſie rufen, Herr?“


„Ja, wenn es nicht viel gewagt iſt.“


„Dann aber muß ich dich vorher binden, doch bloß
bis ich wiederkomme.“


„So thue es!“


Ich ließ mich unter dieſen Umſtänden ganz gern
wieder feſſeln, und als dies geſchehen war, verließ die
Alte die Hütte. Bald kehrte ſie zurück und meldete, daß
Ingdſcha kommen würde. Sie entfeſſelte mir die Hände,
und ich fragte, ob ſie im Dorfe geweſen ſei, und äußerte
die Beſorgnis:


„Aber wenn man dich geſehen hat? Du ſollſt mich
doch bewachen!“


„O, die Männer ſind nicht daheim, und die Frauen,
welche mich ja geſehen haben können, werden mich nicht
verraten.“


„Wo ſind die Männer?“


„Sie ſind gen Lizan gegangen.“


„Was thun ſie dort?“


„Ich habe nicht gefragt. Was geht mich das Treiben
der Männer an! Wenn Ingdſcha kommt, wird ſie es
dir vielleicht ſagen.“


Die Alte ſetzte ſich wieder vor die Thür. Nach einiger
[567] Zeit aber ſtand ſie eilig auf und lief einer ſich nahenden
Perſon entgegen. Ich hörte vor der Hütte ein leiſes
Geflüſter, und dann verdunkelte ſich der Eingang, um die
„Perle“ einzulaſſen.


Gleich der erſte Blick auf die Eingetretene ſagte mir,
daß der Name Ingdſcha hier ganz an ſeinem Platze ſei.
Das Mädchen mochte neunzehn Jahre zählen, war hoch
gebaut und von ſo kräftigen Körperformen, daß ſie ohne
Bedenken die Frau eines Flügelmannes aus der alten,
preußiſchen Rieſengarde hätte werden können. Dennoch
war das Geſicht ein mädchenhaft weiches und hatte jetzt,
dem Fremden gegenüber, ſogar einen ſehr bemerkbaren
Anflug von Schüchternheit.


„Sallam, Emir!“ grüßte ſie mit faſt leiſer Stimme.


„Sallam!“ antwortete ich. „Du biſt Ingdſcha, die
Tochter des Raïs von Schohrd?“


„Ja, Herr.“


„Verzeihe, daß ich mich nicht erhebe, um dich zu be-
grüßen. Ich bin an dieſen Pfahl gebunden.“


„Ich denke, Madana hat dich einſtweilen frei gemacht?“


„Nur die Hände.“


„Warum nicht auch das übrige?“


Sie bog ſich ſofort zu mir nieder, um mir die Stricke
zu löſen, ich aber wehrte ab:


„Ich danke dir, du Gute! Aber ich bitte dich den-
noch, es nicht zu thun, da wir zu lange Zeit brauchen,
um mich wieder zu binden, wenn jemand kommt.“


„Madana hat mir alles erzählt,“ erwiderte ſie.
„Herr, ich werde nicht leiden, daß du hier am Boden
liegſt, du, ein Emir aus dem Abendlande, der alle Län-
der der Erde bereiſt, um Abenteuer zu erleben!“


Aha, das waren die Folgen von der Aufſchneiderei
meines kleinen Hadſchi Halef Omar. Das Mädchen hielt
[568] mich für einen abendländiſchen Harun al Raſchid, welcher
Jagd auf Abenteuer machte.


„Du wirſt es aus Vorſicht dennoch leiden müſſen,“
antwortete ich. „Komm, laß dich an meiner Seite nieder
und erlaube, daß ich dir einige Fragen vorlege!“


„Herr, deine Güte iſt zu groß. Ich bin ein armes,
geringes Mädchen, deſſen Vater dich noch dazu tödlich be-
leidigt hat.“


„Vielleicht verzeihe ich ihm um deinetwillen.“


„Nicht um meinet-, ſondern um meiner Mutter willen,
Herr. Er iſt nicht mein rechter Vater; der erſte Mann
meiner Mutter iſt geſtorben.“


„Armes Kind! Und der zweite Mann deiner Mutter
iſt wohl ſtreng und grauſam mit dir?“


Ihr Auge leuchtete auf.


„Streng und grauſam? Herr, das ſollte er nicht
wagen! Nein, aber er verachtet ſein Weib und ſeine Töch-
ter; er ſieht und hört nicht, daß ſie ſich in ſeinem Hauſe
befinden; er will nicht haben, daß wir ihn lieben, und
darum — darum iſt es keine Sünde, wenn ich dich zum
Ruh 'i kulyan geleite.“


„Wann wird dies geſchehen?“


„Grad um Mitternacht muß man auf dem Berge ſein.“


„Er befindet ſich in einer Höhle?“


„Ja. Allemal um Mitternacht am erſten Tage der
zweiten Woche.“


„Aber wie merkt man, daß er zugegen iſt?“


„An dem Lichte, welches man mitbringen muß. Man
ſetzt ein Licht vor den Eingang der Höhle und zieht ſich
zurück. Brennt es fort, ſo iſt der Geiſt nicht da; ver-
löſcht es aber, ſo iſt er zugegen. Dann tritt man wieder
hinzu, geht drei Schritte weit in die Höhle hinein und
ſagt, was man will.“


[569]

„In welchen Angelegenheiten darf man mit dem
Geiſte ſprechen?“


„In allen. Man kann ihn um etwas bitten; man
kann einen andern verklagen; man kann ſich auch nach
etwas erkundigen.“


„Aber ich denke, der Geiſt ſpricht nicht! Wie erhält
man ſeine Antwort?“


„Wenn man den Wunſch geſagt hat, ſo geht man
bis an das Bild zurück und wartet kurze Zeit. Beginnt
das Licht wieder zu brennen, ſo iſt die Bitte erfüllt, und
nach kurzer Zeit, oft ſchon in der erſten Nacht noch er-
hält man auf irgend eine Weiſe die Nachricht, welche man
erwartet hat.“


„Was iſt das für ein Bild, von dem du redeſt?“


„Es iſt ein hoher Pfahl, an welchem das Bild der
heiligen Mutter Gottes befeſtigt iſt.“


Das überraſchte mich, da ich wußte, daß die Chaldani
lehren, die heilige Maria ſei nicht die Mutter Gottes,
ſondern nur die Mutter des Menſchen Jeſus. Der ge-
heimnisvolle Ruh 'i kulyan ſchien ſonach ein guter Katholik
zu ſein.


„Wie lange bereits ſteht dieſes Bild?“ fragte ich.


„Ich weiß es nicht; es ſteht ſchon länger als ich lebe.“


„Und hat noch kein Kurde oder Chaldani geſagt,
daß es fort müſſe?“


„Nein, denn dann würde der Ruh 'i kulyan für
immer verſchwunden ſein.“


„Und dies wünſcht niemand?“


„Niemand, Herr. Der Geiſt thut Wohlthat über
Wohlthat in der ganzen Gegend. Er beglückt die Armen
und beratet die Reichen; er beſchützt die Schwachen und
bedroht die Mächtigen; der Gute hofft auf ihn, und der
Böſe zittert vor ihm. Wenn ich den Vater bitte, dich
[570] frei zu geben, ſo verlacht er mich; wenn es ihm aber der
Geiſt gebietet, ſo wird er gehorchen.“


„Warſt auch du einmal des Nachts oben bei der
Höhle?“


„Mehrere Male. Ich habe für meine Mutter und
Schweſter gebeten.“


„Wurde deine Bitte erfüllt?“


„Ja.“


„Wer brachte dir die Erfüllung?“


„Die erſten Male kam es des Nachts, und ich konnte
nichts ſehen; beim letzten Male aber war es Marah
Durimeh. Der Geiſt war ihr erſchienen und hatte ſie
zu mir geſandt.“


„So kennſt du Marah Durimeh?“


„Ich kenne ſie, ſeit ich lebe.“


„Sie iſt wohl oft bei euch?“


„Ja, Herr. Und dann gehe ich mit ihr auf die
Berge, um Kräuter zu ſammeln, oder wir beſuchen die
Kranken, welche ihrer Hilfe bedürfen.“


„Wo wohnet ſie?“


„Niemand weiß es. Vielleicht hat ſie nirgends eine
Wohnung, aber ſie iſt in jedem Hauſe willkommen, in
das ſie kommt.“


„Woher ſtammt ſie?“


„Darüber wird ſehr verſchieden geſprochen. Die
meiſten erzählen, daß ſie eine Fürſtin aus dem alten
Geſchlechte der Könige von Lizan ſei. Das war ein gar
mächtiges Geſchlecht, und ganz Tijari und Tkhoma war
ihm unterthan. Sie aßen und tranken aus goldenen Ge-
fäßen, und alles andere war von Silber und Metall
gemacht. Da aber wandten ſie ſich dem Propheten von
Medina zu, und der Herr ſchüttelte die Wolken ſeines
Zornes über ſie aus; ſie wurden verſtreut in alle Lande.
[571] Nur Marah Durimeh war ihrem Gott treu geblieben,
und er hat ſie geſegnet mit einem hohen Alter, mit einem
weiſen Herzen und mit großen Reichtümern.“


„Wo hat ſie dieſe Reichtümer, da ſie doch keine
Wohnung beſitzt?“


„Niemand weiß es. Einige ſagen, ſie habe ihr Gold
in der Erde vergraben. Viele aber behaupten, ſie habe
Macht über die Geiſter der Tiefe, welche ihr ſo viel Geld
bringen müſſen, als ſie brauche.“


„Alſo ſie hat dir von mir erzählt?“


„Ja, alles, was dein Diener in Amadijah von dir
berichtet hat. Sie hat mir befohlen, ſobald ich höre, daß
du in dieſe Gegend gekommen ſeiſt, ſolle ich hinauf zur
Höhle gehen, um den Ruh 'i kulyan zu bitten, dich vor
allem Unfall zu behüten. Nun aber wirſt du dies ſelbſt
thun.“


„Du gehſt nicht ganz mit zur Höhle?“


„Nein. Wenn du ſelbſt kommſt, ſo kann ich fern
bleiben. Haſt du nicht Hunger, Herr? Madana ſagte
mir, daß du ihr erlaubt habeſt, dein Mahl zu verzehren.“


„Wer hatte dieſes Mahl bereitet?“


„Sie ſelbſt. Der Vater hat es bei ihr beſtellt.“


„Warum nicht bei euch?“


„Weil wir nicht wiſſen ſollen, daß er einen Ge-
fangenen verbirgt. Der Mann Madanas iſt ſein beſter
Gefährte, und darum hat ſie den Befehl erhalten, dich
zu bewachen.“


„Wo ſind die Männer eures Dorfes?“


„Sie werden ſich in der Gegend von Lizan befinden.“


„Was thun ſie dort?“


„Ich weiß es nicht.“


„Kannſt du es nicht erfahren?“


„Vielleicht. Doch ſage, Herr, ob du eſſen willſt!“


[572]

Ich antwortete ausweichend:


„Ich verſchmähte das Gericht, weil ich nicht gewohnt
bin, Schnecken mit Knoblauch zu eſſen.“


„O, Emir, ich werde dir etwas anderes bringen. In
einer Stunde iſt es Nacht; ich eile, und dann komme ich
wieder, um dir von allem zu bringen, was wir haben!“


Sie erhob ſich eilig, und ich bat:


„Erkundige dich auch, was eure Männer thun!“


Sie ging, und es war dies juſt zur rechten Zeit ge-
ſchehen; denn noch waren kaum zehn Minuten vergangen,
ſo trat Madana, welche das Mädchen begleitet hatte, in
höchſter Eile herein.


„Ich muß dich feſſeln!“ rief ſie. „Mein Mann
kommt, geſandt von Nedſchir-Bey. Er darf nicht wiſſen,
daß wir miteinander geſprochen haben. Verrate mich nicht!“


Sie band mir die Arme wieder empor und hockte
ſich dann neben dem Eingang nieder. Ihr altes, runzeliges
Geſicht nahm dabei einen unnahbaren, feindſeligen Aus-
druck an.


Bereits nach wenigen Sekunden erſcholl der Hufſchlag
eines Pferdes. Ein Reiter hielt vor der Hütte an, ſtieg
ab und trat herein. Es war ein alter, hagerer Kerl,
welcher jedenfalls nicht ſeinem Innern, wohl aber ganz
gut ſeinem Aeußern nach zu meiner braven „Peterſilie“
paßte. Er trat ohne Gruß zu mir und unterſuchte meine
Feſſeln; als er dieſe in Ordnung fand, wandte er ſich
barſch an ſein Weib:


„Gehe hinaus und horche nicht!“


Sie verließ lautlos die Hütte, und er kauerte ſich
mir gegenüber auf dem Boden nieder. Ich war wirklich
neugierig, was mir dieſer Peterſilius zu ſagen habe, deſſen
Kleidern der bereits beſchriebene Duft ſeiner Madana im
Superlativ entſtrömte.


[573]

„Wie heißeſt du?“ herrſchte er mich an.


Natürlich antwortete ich ihm nicht.


„Biſt du taub? Ich will deinen Namen wiſſen.“


Wieder erfolgte das, was der Muſiker tacet nennt.


„Menſch, wirſt du antworten!“


Bei dieſem Befehle verſetzte er mir einen Tritt in
die Seite. Mit den Händen konnte ich ihn nicht faſſen,
aber die Beine konnte ich wenigſtens ſo weit bewegen,
als nötig war, ihm meine Anſicht von der Sache ohne
alle theoretiſche Auseinanderſetzungen beizubringen; ich zog
die [zuſammengefeſſelten] Kniee empor, ſtieß ſie wieder aus
und ſchnellte mittels dieſer Bewegung den Mann vom
Erdboden empor, daß er, wie von einer Katapulte ge-
ſchleudert, an die Mauer flog. Sein Knochengerüſt mußte
von einer ganz vorzüglichen Dauerhaftigkeit ſein; er beſah
ſich zwar zunächſt von allen Seiten, meinte aber dann im
beſten Wohlſein:


„Menſch, das wage nicht wieder!“


„Rede höflich, ſo antworte ich höflich!“ entgegnete
ich nun.


„Wer biſt du?“


„Spare ſolche Fragen! Wer ich bin, das weißt du
ſchon längſt.“


„Was wollteſt du in Lizan?“


„Das geht dich nichts an.“


„Was wollteſt du bei den Berwari-Kurden?“


„Auch dies geht dich nichts an.“


„Wo haſt du dein ſchwarzes Pferd?“


„Es iſt ſehr gut aufgehoben.“


„Wo haſt du deine Sachen?“


„Da, wo du ſie nicht bekommen wirſt.“


„Biſt du reich? Kannſt du ein Löſegeld bezahlen?“


„Tritt näher, wenn du es haben willſt. Merke dir
[574] einmal, Mann: ich bin ein Emir, und du biſt ein Unter-
gebener deines Raïs. Nur ich allein habe zu fragen,
und du haſt zu antworten. Glaube nicht, daß ich mich
von dir ausforſchen laſſe!“


Er ſchien es doch für das Klügſte zu halten, auf
meine Anſicht einzugehen; denn er meinte nach kurzem
Ueberlegen:


„So frage du!“


„Wo iſt Nedſchir-Bey?“


„Warum fragſt du nach ihm?“


„Weil er es iſt, der mich überfallen ließ.“


„Du irrſt!“


„Lüge nicht!“


„Und doch irrſt du. Du weißt ja gar nicht, wo du
dich befindeſt!“


„Meinſt du wirklich, daß ein Emir aus Frankiſtan
zu täuſchen iſt? Wenn ich von hier aus das Thal her-
niederſteige, komme ich nach Schohrd. Rechts davon liegt
Lizan, links Raola, und da oben auf dem Berge iſt die
Höhle des Ruh 'i kulyan.


Er konnte eine Bewegung des Erſtaunens nicht ver-
bergen.


„Was weißt du von dem Geiſte der Höhle, Fremdling?“


„Mehr wie du, mehr wie alle, die in dieſem Thale
wohnen!“


Wieder war es Marah Durimeh, welche mich zum
Herrn der Situation machte. Der Naſarah wußte offen-
bar nicht, ob er ſich nun des ihm gewordenen Auftrags
werde entledigen können.


„Sage, was du weißt,“ meinte er.


„Pah! Ihr ſeid nicht wert, von dem Geiſte der Höhle
zu hören. Was willſt du bei mir? Weshalb habt ihr
mich überfallen und gefangen genommen?“


[575]

„Wir wollen von dir zunächſt dein Pferd.“


„Weiter.“


„Deine Waffen.“


„Weiter!“


„Alle deine Sachen.“


„Weiter!“


„Und alles, was deine Begleiter bei ſich haben.“


„O Mann, du biſt beſcheiden!“


„Dann werden wir dich freilaſſen.“


„Glaubſt du? Ich glaube es nicht, denn ihr wollt
noch mehr.“


„Nichts weiter, als daß du dem Melek von Lizan
befiehlſt, den Bey von Gumri nicht loszugeben.“


„Befiehlſt? Biſt du verrückt, Alter? Du meinſt, ich
könne dem Könige von Lizan Befehle erteilen, und wagſt
es doch, mir Vorſchriften zu machen, du, ein Wurm, den
ich mit Füßen trete!“


„Herr, ſchimpfe nicht!“


„Ich ſchimpfe nicht; ich ſage die Wahrheit. Schäme
dich, Menſch! Du nennſt dich einen Chriſten und biſt doch
ein ganz gemeiner Dieb und Räuber. Auch ich bin ein
Chriſt und werde überall erzählen, daß die Chaldani
ſchlimmer ſind, als die kurdiſchen Wegelagerer. Die
Berwari haben mich, den Chriſten, mit Freuden aufge-
nommen; die Naſarah und Dſchohrd aber haben mich
hinterrücks überfallen und mich ausgeraubt.“


„Du wirſt nichts erzählen, denn wenn du nicht thuſt,
was ich dir ſage, ſo wirſt du niemals wieder ohne
Feſſeln ſein.“


„Das wird ſich finden, denn der Melek von Lizan
wird mich von euch fordern.“


„Wir fürchten ihn nicht; er hat uns nicht zu be-
fehlen, und wir werden noch heut ſehr mächtige Ver-
[576] bündete erhalten. Wirſt du thun, was ich gefordert
habe?“


„Niemals!“


„So wiſſe, daß ich erſt morgen wiederkomme. Du
bekommſt niemand zu ſehen, als nur mich und deine Wär-
terin, welche dir kein Eſſen mehr bringen darf. Der
Hunger wird dich gefügig machen! Und da du mich mit
den Füßen getreten haſt, ſo ſollſt du zur Strafe auch
dürſten müſſen.“


Er ſchüttete das Waſſer aus dem Napfe, machte noch
eine verächtliche Gebärde gegen mich und trat dann hinaus
in das Freie. Da hörte ich ihn einige Zeit lang in be-
fehlendem Tone mit ſeinem Weib reden, dann ſtieg er
aufs Pferd und ritt davon.


Ich wußte nun, warum man ſich meiner bemächtigt
hatte. Dem Raïs von Dſchohrd war an einem Kampfe
mit den Kurden gelegen, und daher ſollte ich als Ver-
mittler unſchädlich gemacht werden; nebenbei konnte man
ſich dann auch mein Eigentum aneignen. Der angebliche
Bote des Melek war von dem Raïs geſchickt worden, um
ſich zu überzeugen, wo ich mich befände.


Nach einiger Zeit trat Madana ein.


„Hat er dich beleidigt, Herr?“ war ihre erſte Frage.


„Laß es gut ſein!“


„Emir, zürne ihm nicht! Der Raïs hat es ihm ge-
boten. Aber er war ſehr zornig auf dich. Ich ſoll kein
Wort mit dir ſprechen und darf dir weder Eſſen noch
Trinken geben.“


„Wann kommt er wieder?“


„Erſt morgen, ſagte er. Er muß noch in der Nacht
nach Murghi reiten.“


„Kommen unterdeſſen andere Männer herbei?“


„Ich glaube es nicht. Es dürfen nur wenige wiſſen,
[577] wo du dich befindeſt. Er hat dir das Waſſer ausgeſchüttet;
ich werde an die Quelle gehen, um dir anderes zu holen.“


Sie that es und brachte auch einen Bündel Kien-
ſpäne herbei, um die Hütte zu erleuchten; denn es begann
bereits ſtark zu dunkeln. Eben hatte ſie den erſten bren-
nenden Span in eine Mauerlücke geſteckt, als von draußen
Schritte erſchollen. Zum Glück war ich noch nicht ent-
feſſelt worden. Aber was war das? Dieſe haſtigen
Lungentöne gehörten ſicher einem Hunde, der mit aller
Gewalt an der Leine vorwärts ſtrebte — jetzt ein kurzer
ſcharfer Laut — o, dieſen kannte ich, denn ich hatte ihn
oft genug gehört.


„Dojan!“ rief ich im froheſten Tone.


Ein lautes Bellen und ein menſchlicher Ruf war zu
vernehmen; dann ſauſte der Hund durch den Eingang
herein, riß die brave „Peterſilie“ über den Haufen und
ſtürzte ſich, vor Freude heulend, über mich her. Und
gleich im nächſten Augenblick erſchien der drohende Lauf
einer Büchſe in der Thür, und eine Stimme fragte:


„Sihdi, biſt du drin?“


„Ja, Halef!“


„Iſt Gefahr?“


„Nein. Du kannſt ohne Sorge eintreten!“


Nun ſchob der kleine Hadſchi erſt die Büchſe, dann
ſeinen zwölfhaarigen Schnurrbart und endlich ſich ſelbſt
herein.


„Hamdulillah, Sihdi, daß ich dich habe! Wie kommſt
du an dieſen fremden — — — Maſchallah, du biſt ge-
fangen, du biſt gefeſſelt! Von dieſem Weibe? Von dieſem
Drachen? Fahre zur Dſchehennah, du Ausbund aller
Häßlichkeit!“


Er riß im höchſten Grimme ſeinen Dolch heraus.


„Halt, Halef!“ gebot ich. „Ich bin zwar gefangen,
II. 37
[578] aber dieſe Frau iſt meine Freundin. Sie hätte mich er-
rettet, auch wenn du nicht gekommen wärſt.“


„Dich? Errettet, Sihdi?“


„Ja. Wir hatten uns den Plan bereits beſprochen.“


„Und ich wollte ſie erſtechen!“ — Er wandte ſich
mit ſtrahlendem Geſichte zu ihr: „Preis ſei Allah, der
dich erſchaffen hat, du ſchönſte der Frauen in Kurdiſtan!
Dein Haar iſt wie Seide, deine Haut wie die Verſchämt-
heit der Morgenröte, und dein Auge glänzt wie ein Stern
des Himmels. Wiſſe, du Holde: ich bin Hadſchi Halef
Omar Ben Hadſchi Abul Abbas Ibn Hadſchi Dawud
al Goſſarah! Du haſt meinen Freund und Gebieter mit
der Güte deines Herzens erquickt, und darum — — —“


„Halt ein!“ unterbrach ich den Fluß ſeiner Rede.
„Dieſe Frau verſteht kein Wort arabiſch, ſondern nur
kurdiſch.“


Jetzt ſuchte er ſeinen ganzen kurdiſchen Wortvorrat
zuſammen, um ihr verſtändlich zu machen, daß er ſie für
die ſchönſte und würdigſte aller Frauen halte und daß
ſie ſich für alle Tage ihres Lebens auf ſeine Freundſchaft
verlaſſen könne. Ich aber half ihm und ihr aus der
Verlegenheit, indem ich ihr erklärte:


„Madana, du ſprachſt heut von meinem Diener, der
dem Vater der Kranken in Amadijah von mir erzählt
hatte. Dieſer hier iſt es! Er hat meine Spur gefunden
und bis hierher verfolgt, um mich zu retten.“


„O Herr, was wirſt du nun thun? Wirſt du fliehen?“


„Sei unbeſorgt! Ich werde nichts thun, ohne zuvor
mit dir geſprochen zu haben. Setze dich ruhig nieder!“


Unterdeſſen hatte Halef meine Bande zerſchnitten und
neben mir Platz genommen. Ich befand mich jetzt in
Sicherheit, denn mit ihm und dem Hunde fürchtete ich
keinen Naſarah.


[579]

„Sihdi, erzähle,“ bat er.


Ich berichtete ihm auf das ausführlichſte, was mir
widerfahren war, und es verſteht ſich ganz von ſelbſt,
daß ich von ihm häufig durch die lebendigſten Ausrufungen
unterbrochen wurde. Endlich ſagte er:


„Sihdi, wäre ich ein Paſcha, ſo würde ich Madana
belohnen und Ingdſcha heiraten. Da ich aber kein Paſcha
bin und ſchon meine Hanneh habe, ſo rate ich dir: Nimm
du die ‚Perle‘ zur Frau! Sie iſt groß und ſtark —
wie du ſelbſt!“


„Ich werde es mir überlegen,“ erwiderte ich lachend.
„Nun aber, vor allen Dingen, ſage mir, wie es in Lizan
ſteht, und wie du auf meine Spur gekommen biſt.“


„O, Sihdi, das hat eine große Verwirrung gegeben.
Es geſchah, was du geſagt hatteſt: die Naſarah zogen
ſich über den Fluß zurück und warteten auf deine Rück-
kehr. Aber du kamſt nicht — — —“


„Kam nicht der Haddedihn?“


„Er kam, und als er über die Brücke reiten wollte,
wäre er beinahe erſchoſſen worden; doch ich erkannte ihn
noch zur rechten Zeit. Er erzählte, daß man unterwegs
auf euch geſchoſſen hätte. Sein Pferd war geſtreift worden
und mit ihm durchgegangen. Es dauerte längere Zeit,
bis er es zu zügeln vermochte; dann ritt er zurück und
fand mein Pferd, das du geritten hatteſt, tot am Boden
liegen; du aber warſt verſchwunden.“


„Holte er nicht ſchnell bei den Kurden Hilfe?“


„O nein, Sihdi. Er glaubte, ſie ſeien euch heim-
tückiſch nachgefolgt, um euch zu töten; denn ihr Anführer,
der Kiaja, war ein böſer Mann geweſen. Darum eilte
der Haddedihn nun ſchnell nach Lizan, um uns herbei-
zuholen.“


„Jetzt kamt ihr in Verlegenheit?“


[580]

„Ich nicht, Sihdi, aber die andern. Ich wußte, was
zu thun ſei, und habe es ſpäter auch richtig gethan. Sie
jedoch hielten einen großen Rat, und es wurde beſchloſſen,
eine Geſandtſchaft zu den Kurden zu ſchicken; ſie ſollten
dich oder deinen Leichnam herausgeben.“


„Gott ſei Dank! So weit war es nicht gekommen!“


„Herr, wäreſt du von ihnen getötet worden; — bei
Allah, ich wäre nicht eher aus dieſem Lande fortgegangen,
als bis ich alle Berwari nach und nach erſchoſſen hätte!
Du weißt es, daß ich dich lieb habe!“


„Ich weiß es, mein braver Halef. Doch weiter!“


„Die Geſandtſchaft wurde von den Kurden ſehr
ſchlimm aufgenommen —“


„Wer war dabei?“


„Mohammed Emin, zwei Kurden, die mit uns
von den Naſarah gefangen wurden, der Schreiber des
Melek und ein Naſarah, der arabiſch reden kann und den
Dolmetſcher des Haddedihn machen ſollte. Zuerſt wollten
die Kurden nicht glauben, daß du überfallen worden ſeiſt;
ſie hielten das für eine Hinterliſt von dem Melek. Als
ſie aber das tote Pferd ſahen, glaubten ſie es. Nun be-
haupteten ſie, die Naſarah hätten dich beſeitigt, weil ſie
keinen Vermittler haben wollten. Es wurden Botſchaften
hin und her geſandt. Dann kam auch Nedſchir-Bey und
ſagte, du ſeiſt von den Berwari-Kurden erſchoſſen worden;
er habe es vom andern Ufer aus geſehen — — —“


„Der Schuft!“


„Das iſt er, Sihdi. Aber er ſoll ſeinen Lohn er-
halten! So wäre es beinahe zum Kampf gekommen; da
aber ging ich zum Melek, der ſich grad bei dem Bey
von Gumri befand, und bat ihn, ſie ſollten einen Waffen-
ſtillſtand abſchließen, und ich wolle während dieſer Zeit
ſehen, ob ich dich finden könne. Sie glaubten, das ſei
[581] unmöglich; aber als ich von unſerm Hunde ſprach, be-
kamen ſie Hoffnung. Es wurde nun noch eine letzte Ge-
ſandtſchaft fortgeſchickt, mit der ich gehen ſollte. Die
Berwari zeigten ſich einverſtanden, daß beide Teile bis
morgen mittag auseinander bleiben ſollten; biſt du dann
noch nicht wieder da, ſo geht der Kampf los.“


„Nun, und du?“


„Wir gingen mit dem Hunde an die Stelle, wo das
Pferd liegt. Dojan fand ſofort deine Fährte und zog
mich fort bis an den Fluß. Es war klar, daß du über
das Waſſer hinübergeſchafft worden wareſt. Die andern
meinten, ich ſolle erſt nach Lizan zurück, um über die
Brücke an das andere Ufer zu kommen; ich aber hatte
keine Zeit dazu, denn der Abend war ſchon nahe. Ich
zog mich aus, wickelte meine Kleider um den Kopf, legte
die Waffen darauf und ging mit dem Hunde allein hinüber.“


„Fandet ihr die Spur ſofort?“


„Ja, Sihdi. Wir folgten ihr, nachdem ich mich wieder
angekleidet hatte — und da ſind wir nun, Effendi!“


„Halef, das werde ich dir nicht vergeſſen!“


„Schweig, Herr! Du hätteſt ganz dasſelbe und auch
noch mehr für mich gethan!“


„Was ſagte der Engländer?“


„Man verſteht ſeine Sprache nicht, aber er iſt ganz
wütend herumgelaufen und hat ein Geſicht gemacht, wie
ein Panther, wenn er gefangen iſt.“


„Weiß Nedſchir-Bey, daß du mich ſuchſt und den
Hund bei dir haſt?“


„Nein. Er war ſchon vorher wieder fort.“


„Sind dir hier Leute begegnet?“


„Niemand. Der Hund führte mich durch eine Gegend,
wo kein Menſch zu gehen ſcheint.“


„Wo befindet ſich mein Rappe?“


[582]

„Im Hofe des Melek. Ich habe ihn dem Haddedihn
übergeben.“


„So iſt er in guten Händen.“


Da erſchollen leichte Schritte draußen. Halef griff
nach ſeinen Waffen, und Dojan machte ſich ſprungfertig.
Ich beruhigte beide, denn es war Ingdſcha, die eintrat.


Das Mädchen blieb ganz erſtaunt am Eingange ſtehen,
als ſie den Diener und den Hund erblickte.


„Fürchte dich nicht,“ ſagte ich; „dieſer Mann und
dieſer Hund ſind dir freundlich geſinnt.“


„Wie kommen ſie hierher?“


„Sie haben mich aufgeſucht, um mich zu befreien.“


„So willſt du uns verlaſſen?“


„Jetzt noch nicht.“


„Bedarfſt du noch des Ruh 'i kulyan?“


„Ja. Willſt du mich noch zu ihm führen?“


„Gern, Emir. Hier habe ich dir Speiſe und Trank
gebracht. Nun aber wird es nicht ausreichen für zwei
und den Hund.“


Sie trug einen großen Binſenkorb, der voll be-
packt war. Es hätten fünf Männer ſich ſatt eſſen können.


„Sorge dich nicht, du Gute,“ antwortete ich; „es
reicht für mehr als für uns. Du und Madana, ihr beide
ſollt auch mit zulangen.“


„Herr, wir ſind Frauen!“


„In meinem Vaterlande werden die Frauen nicht
verachtet. Bei uns ſind ſie die Zierde und der Stolz des
Hauſes und nehmen beim Mahle den Ehrenplatz ein.“


„O, Emir, wie glücklich ſind eure Frauen!“


„Aber ſie müſſen mit Schaufeln eſſen!“ fiel die ‚Peter-
ſilie‘ in ſehr mitleidigem Tone ein.


„Das ſind keine Schaufeln, ſondern kleine, zierliche
Werkzeuge von ſchönem Metall, mit denen es ſich ganz
[583] vortrefflich und noch viel appetitlicher eſſen läßt, als mit
den nackten Fingern. Wer bei uns ſich während des
Eſſens die Hände mit Speiſe beſudelt, der gilt für einen
unreinlichen und ungeſchickten Menſchen. Ich will euch
einmal zeigen, wie ein ſolcher Kaſchyk *) ausſieht.“


Während Ingdſcha ein mitgebrachtes Tuch auf den
Boden breitete, um die Speiſen darauf zu legen, nahm
ich Halefs Dolchmeſſer und ſchnitt mit demſelben einen
tüchtigen Span aus dem Pfahle, um daraus einen Löffel
zu ſchnitzen. Er war bald fertig und erregte, als ich
ihnen den Gebrauch desſelben an dem Waſſernapfe zeigte,
die Bewunderung der beiden einfachen Frauen.


„Nun ſage ſelbſt, o Madana, kann man dieſes kleine
Ding ein Kürek *) nennen?“


„Nein, Herr,“ antwortete ſie. „Ihr braucht doch
keine ſo großen Mäuler zu haben, als ich erſt dachte.“


„Herr, was wirſt du mit dieſem Kaſchyk thun?“
fragte Ingdſcha.


„Wegwerfen.“


„O nein, Emir! Magſt du mir ihn nicht ſchenken?“


„Für dich iſt er nicht ſchön genug. Für die Perle
von Schohrd müßte er von Silber ſein.“


„Herr,“ meinte ſie errötend, „er iſt ſchön genug! Er
iſt ſchöner, als wenn er von Altyn und Gümiſch ***) ge-
macht worden wäre; denn du haſt ihn gefertigt. Ich
bitte dich, ſchenke ihn mir, damit ich eine Erinnerung
habe, wenn du uns verlaſſen haſt!“


„So behalte ihn! Aber du ſollſt mich morgen mit
Madana in Lizan beſuchen und da werde ich euch noch
etwas Beſſeres geben.“


„Wann willſt du fort von hier?“


[584]

„Das wird der Ruh 'i kulyan beſtimmen. Jetzt aber
ſetzt euch herzu. Wir wollen unſer Mahl beginnen.“


Ich mußte dieſe Bitte noch einige Male wiederholen,
ehe ſie erfüllt wurde. Halef hatte bisher gar nicht ge-
ſprochen, ſondern nur immer das ſchöne Mädchen beobachtet.


Jetzt ſtieß mein kleiner Diener einen Seufzer aus
und meinte in arabiſcher Sprache:


„Sihdi, du haſt recht!“


„Womit?“


„Selbſt wenn ich ein Paſcha wäre, ich paßte nicht
zu ihr. Nimm du ſie, Sihdi! Sie iſt ſchöner als alle,
die ich geſehen habe.“


„Es wird hier ſchon ein Jüngling ſein, den ſie lieb hat.“


„Frage ſie einmal!“


„Das geht nicht, mein kleiner Hadſchi Halef; das
würde ſehr unhöflich und zudringlich ſein.“


Ingdſcha hatte wohl bemerkt, daß von ihr die Rede
war; darum ſagte ich zu ihr:


„Dieſer Mann iſt bereits ein guter Bekannter von dir.“


„Wie meinſt du das, Emir?“


„Es iſt der Diener, von dem dir Marah Duri-
meh erzählt hat. Die andern haben alle geglaubt, daß
ich ermordet worden ſei, und nur er allein hat es ge-
wagt, mir nachzufolgen.“


„Er iſt ein kleiner, aber ein treuer und mutiger
Mann,“ meinte ſie mit einem Blick der Anerkennung auf ihn.


„Was ſagte ſie von mir?“ fragte er, da er dieſen
Blick ganz wohl bemerkt hatte.


„Sie ſagte, du ſeiſt ein ſehr treuer und mutiger
Mann.“


„Sage ihr, ſie ſei ein ſehr ſchönes und gutes Mäd-
chen, und es ſei ſehr ſchade, daß ich ſo klein und kein
Paſcha bin.“


[585]

Während ich ſeine Worte verdolmetſchte, reichte er
ihr die Hand entgegen, und ſie ſchlug lachend ein. Dabei
ſtrahlte ihr Angeſicht ſo lieb und gut, daß mich ein auf-
richtiges und warmes Bedauern überkam, indem ich an
das einförmige, freudenloſe Leben dachte, das ihrer in
dieſem Lande wartete.


„Haſt du nicht einen Wunſch, den ich dir erfüllen
könnte?“ fragte ich ſie infolge dieſer freundſchaftlichen
Aufwallung.


Sie blickte mir einige Sekunden lang nachdenklich in
das Geſicht und antwortete dann:


„Ja, Herr, ich habe einen Wunſch.“


„Sage ihn!“


„Emir, ich werde ſehr viel an dich denken. Wirſt
du dich auch zuweilen an uns erinnern?“


„Oft, ſehr oft!“


„Scheint der Mond bei euch auch ſo wie bei uns?“


„Ganz ſo.“


„Herr, blicke am Abend eines jeden Vollmondes zu
ihm empor; dann werden ſich da oben unſere Augen
treffen!“


Jetzt war ich es, der ihr die Hand hinüber reichte.


„Ich werde es thun — und ich werde auch an an-
dern Abenden deiner gedenken, wenn der Mond am Himmel
ſteht. So oft du ihn erblickſt, ſo denke, daß er dir meine
Grüße bringen ſoll.“


„Und er dir die unſrigen!“


Jetzt ſtockte die Unterhaltung; wir waren ins Ele-
giſche geraten. Doch kehrte während des weiteren Ver-
laufs des Mahles die vorige Stimmung wieder zurück.
Ingdſcha war ſogar die erſte, die das Wort von neuem
ergriff:


„Wird dein Diener mit zur Höhle gehen, Herr?“


[586]

„Nein. Er wird jetzt nach Lizan zurückkehren, um
meine Gefährten zu beruhigen.“


„Das mag er thun, denn ihnen droht Gefahr.“


„Welche?“ fragte ich anſcheinend ruhig.


„Es waren vorhin zwei Männer hier. Der eine ritt
zu dir, und der andere blieb im Dorfe zurück. Mit die-
ſem habe ich geſprochen. Er ſollte niemand etwas ſagen,
aber er hat mir doch genug verraten, was ich dir erzählen
muß. Du glaubſt, daß der Streit bis morgen mittag
ruhen ſoll?“


„Ich hoffe es.“


„Es giebt viele Leute, die dies nicht wünſchen, und
dieſe Männer haben ſich meinen Vater zum Anführer
gewählt. Er hat Eilboten nach Murghi, Minijaniſch und
Aſchitha, auch das Thal abwärts bis nach Biridſchai und
Ghiſſa geſandt, um alle waffenfähigen Männer herbeizu-
rufen. Sie werden ſich noch während der Nacht ver-
ſammeln und dann am Morgen über die Berwari her-
fallen.“


„Welche Unvorſichtigkeit! Dein Vater wird das ganze
Thal unglücklich machen!“


„Glaubſt du, daß die Berwari uns überlegen ſind?“


„An Kriegstüchtigkeit, ja, wenn auch heute noch nicht
an Zahl. Aber wenn einmal der Kampf entbrannt iſt,
ſo wird er an allen Orten auflodern, und dann ſind die
Kurden euch hundertfach überlegen; denn die Chaldani
ſind von den Stämmen der Kurden auf allen Seiten ein-
geſchloſſen.“


„O Gott, wenn du recht hätteſt!“


„Ich habe recht, das darfſt du mir glauben! Wenn
es heut und morgen nicht gelingt, einen Frieden zu ſtande
zu bringen, ſo brechen noch viel ſchlimmere Zeiten über
euch herein, als zur Zeit von Beder-Khan und Nur-Ullah-
[587] Bey. Es iſt dann ſehr wahrſcheinlich, daß die Chaldani
mit Weib und Kind vollſtändig ausgerottet werden.“


„Iſt dies wirklich dein Ernſt, Emir?“


„Wirklich und wahrhaftig!“


„O Jeſus, was ſollen wir thun?“


„Weißt du, wo dein Vater die Streitſüchtigen ver-
ſammeln will?“


„Nein; das konnte ich nicht erfahren.“


„Weißt du auch nicht, wo er ſich jetzt befindet?“


„Er reitet von einem Orte zum andern, um die
Männer zum Kampfe aufzumuntern.“


„So kann uns nur vielleicht der Ruh 'i kulyan helfen.
Bis dahin aber muß ich Vorbereitungen treffen.“


„Thue es, Herr, und alle Friedfertigen werden dein
Andenken ſegnen, wenn du längſt nicht mehr bei uns biſt!“


Das Mahl war beendet, und daher fragte ich Halef:
„Wirſt du den Weg nach Lizan finden können, doch
ſo, daß dich unterwegs niemand bemerkt?“


Er nickte, und ich fuhr fort:
„Du gehſt zum Melek und zum Bey von Gumri und
ſagſt ihnen, wie und wo du mich gefunden haſt.“


„Soll ich ſagen, wer dich überfallen hat?“


„Ja. Nedſchir-Bey hat mich gefangen genommen,
damit ich den Frieden nicht vermitteln könne. Er ver-
langt für meine Freiheit mein Pferd, mein Eigentum und
alles, was meine Gefährten bei ſich tragen.“


„Der Scheïtan ſoll's ihm geben!“


„Du ſiehſt, daß man mir bereits alles genommen hat.
Laß mir deine Piſtolen und dein Meſſer hier. Auch den
Hund behalte ich da.“


„Nimm die Flinte dazu, Sihdi! Ich komme auch
ohne Waffen nach Lizan zurück.“


„Die Flinte könnte mir hinderlich ſein. Erzähle
[588] dann dem Bey und dem Melek, daß der Raïs von Schohrd
Boten geſandt hat in alle Orte auf- und abwärts von
Lizan, um die Einwohner zum Kampfe aufzuwiegeln. Sie
ſollen ſich während der Nacht an einem Orte verſammeln,
den ich leider nicht kenne, und dann wollen ſie über die
Berwari herfallen. Auch der Raïs ſelbſt reitet überall
herum; und ich laſſe dem Melek ſagen, daß er ihn ſofort
feſtnehmen ſoll, ſobald er ihn erwiſchen kann.“


„Sihdi, ich wollte, ich träfe dieſen Menſchen jetzt
unterwegs; ich habe ihn mir genau gemerkt und würde
ihn unſchädlich machen.“


„Du allein? Das laß bleiben! Du biſt ihm nicht
gewachſen; er iſt zu ſtark für dich.“


Der kleine Mann erhob ſich mit der Miene eines
Beleidigten, reckte ſeine geſchmeidigen Glieder und rief:
„Zu ſtark für mich? Was denkſt du, Sihdi, und wo
iſt dein weiſes Urteil auf einmal hingeraten! Habe ich
nicht Abu Seif beſiegt? Habe ich nicht noch viele andere
große Thaten verrichtet? Was iſt dieſer Nedſchir-Bey gegen
den berühmten Hadſchi Halef Omar? Ein blinder Froſch,
eine lahme Kröte, die ich zertreten werde, ſobald ich ſie
erblicke. Du biſt Emir Kara Ben Nemſi, der Held aus
Frankiſtan; ſoll ich, dein Freund und Beſchützer, mich
vor einem zerlumpten Chaldani fürchten? O Sihdi, wie
wundere ich mich über dich!“


„Wundere dich meinetwegen, aber ſei vorſichtig. Es
kommt jetzt alles darauf an, daß du glücklich Lizan erreichſt.“


„Und wenn ſie nun fragen, wann du mir nachfolgen
wirſt; was ſoll ich ihnen antworten?“


„Sage ihnen, daß ich wohl bis zum Morgen bei
ihnen ſein werde.“


„So nimm hier die Piſtolen und den Dolch, auch
hier den Kugelſack, und Allah behüte dich!“


[589]

Dann trat er zu Ingdſcha und reichte ihr die Hand:


„Lebe wohl, du ſchönſte unter den Schönen! Wir
ſehen uns wohl wieder.“


Auch der guten ‚Peterſilie‘ reichte er die Hand:


„Lebe wohl, auch du, liebliche Mutter der Chaldani!
Meine Augenblicke bei dir waren ſüß, und wenn du dir
auch einen Löffel wünſcheſt, ſo werde ich dir ſehr gern
einen ſchnitzen, damit du denken kannſt an deinen Freund,
der von dir geht. Sallam, du Kluge, du Treue, Sallam!“


Sie verſtanden zwar beide nicht, was er ſagte, aber
ſie nahmen ſeine Worte freundlich auf, und Madana ver-
ließ ſogar mit ihm die Hütte, um ihn eine Strecke zu
begleiten.


Ich blickte durch den Eingang, um an dem Stand
der Sterne die Zeit zu bemeſſen; denn auch die Uhr war
mir abgenommen worden. Es mochte vielleicht zehn Uhr ſein.


„Es iſt zwei Stunden vor Mitternacht. Wann gehen
wir?“ fragte ich das Mädchen.


„In einer Stunde.“


„Meine Zeit iſt ſehr koſtbar. Kann man mit dem
Geiſt der Höhle nicht eher ſprechen?“


„Die rechte Zeit iſt genau um Mitternacht. Er wird
zornig, wenn man eher kommt.“


„Bei mir wird er nicht zornig werden.“


„Weißt du das gewiß?“


„Ganz gewiß.“


„So laß uns gehen, ſobald Madana zurückgekehrt iſt.“


„Haben wir ein Licht?“


Sie zeigte mir ſchweigend einige kurze Binſenflechten,
die mit Hammeltalg getränkt waren. Auch Feuerzeug
hatte ſie bei ſich. Dann fragte ſie:


„Herr, ich habe eine Bitte.“


„Sprich!“


[590]

„Wirſt du meinem Vater verzeihen?“


„Ja; um deinetwillen.“


„Aber der Melek wird ihm zürnen!“


„Ich werde ihn beſänftigen.“


„Ich danke dir!“


„Haſt du nicht erfahren, wer meine Waffen erhalten
hat und die anderen Sachen, die man mir abgenom-
men hat?“


„Nein. Der Vater wird ſie wohl haben.“


„Wo pflegt er ſolche Dinge aufzubewahren?“


„Nach Hauſe hat er nichts gebracht; ich hätte es
bemerkt.“


Jetzt kam Madana wieder.


„Herr,“ ſagte ſie mit ſtolzer Miene, „dein Diener iſt
ein ſehr verſtändiger und höflicher Mann.“


„Woraus ſchließeſt du dies?“


„Er hat mir etwas gegeben, was ich ſeit langer Zeit
nicht mehr erhalten habe: — einen Oepüſch *), einen großen
Oepüſch.“


Ich glaube, ich habe bei dieſem naiv-ſtolzen Bekennt-
niſſe ein ſehr verdutztes Geſicht gemacht. Halef einen
Kuß? Dieſer alten, guten, duftigen ‚Peterſilie‘? Einen
Kuß auf die ‚Reiſetaſche‘, in deren Oeffnung die Schnecken
mit Knoblauch verſchwunden waren? Das war mir ſchier
unglaublich. Daher fragte ich:


„Einen Oepiſch? Wohin?“


Sie ſpreizte mir die braunglaſierten, dürren Finger
der Rechten entgegen.


„Hierher, auf dieſe Hand. Es war ein Elöpüſch *),
wie man ihn nur einem vornehmen, jungen Mädchen giebt.
Dein Diener iſt ein Mann, deſſen Höflichkeit man rühmen
muß.“


[591]

Alſo ein Handkuß nur! Aber trotzdem eine Helden-
that meines wackern Halef, zu der ihm jedenfalls nur
ſeine Liebe zu mir die Ueberwindung gegeben hatte.


„Du kannſt ſtolz darauf ſein,“ antwortete ich. „Das
Herz des Hadſchi Halef Omar ſchlägt dir voll Dankbar-
keit entgegen, weil du dich ſo freundlich meiner angenommen
haſt. Auch ich werde dir dankbar ſein, Madana“ — hier-
bei machte ſie unwillkürlich eine Bewegung, als wolle ſie
mir die Finger zum Handkuſſe entgegenſtrecken, und da-
her fügte ich ſehr eilig hinzu: — „nur mußt du warten,
bis ich wieder in Lizan bin.“


„Ich werde warten, Herr!“


„Jetzt werde ich mit Ingdſcha zur Höhle gehen. Was
wirſt du thun, wenn jemand unterdeſſen kommt, um
nach mir zu ſehen?“


„Emir, rate mir!“


„Bleibſt du hier, ſo trifft dich der Zorn des Be-
treffenden. Daher iſt es beſſer, du verſteckſt dich, bis wir
zurückkehren.“


„Ich werde deinen Rat befolgen und an einen Ort
gehen, wo ich die Hütte beobachten und auch eure Rück-
kehr bemerken kann.“


„So wollen wir aufbrechen, Ingdſcha.“


Ich ſteckte die Waffen zu mir und nahm den Hund
an die Leine.


Die Jungfrau ſchritt voran, und ich folgte ihr.


Wir gingen eine Strecke weit den Weg zurück, auf
dem ich zur Hütte gebracht worden war; dann ſtiegen
wir rechts aufwärts und verfolgten dieſe Richtung, bis
wir die Höhe erklommen hatten. Dieſelbe war mit Laub-
wald beſtanden, ſo daß wir eng nebeneinander gehen
mußten, um uns nicht zu verlieren.


Nach einiger Zeit lichtete ſich die Holzung wieder,
[592] und wir hatten einen ſchmalen Felſenſattel zu überſchreiten,
der zu einer ſteilen Falte des Berges führte.


„Nimm dich in acht, Herr,“ warnte das Mädchen.
„Von jetzt an wird der Weg ſehr beſchwerlich.“


„Das iſt nicht gut für alte Leute, die zu dem
Geiſt der Höhle wollen. Hier können nur junge Füße
ſteigen.“


„O, auch die Alten können empor, nur müſſen ſie
einen Umweg machen. Von jenſeits führt ein ganz guter
Pfad bis in die Nähe der Höhle.“


Indem wir einander gegenſeitig ſtützten, kletterten
wir Hand in Hand empor und gelangten ſchließlich in ein
Gewirr von großen Steinblöcken, zwiſchen denen ich das
Ziel unſerer Wanderung vermutete, die bis jetzt über
eine halbe Stunde gedauert hatte.


Jetzt bildeten die Blöcke eine Art offenen Gang, in
deſſen Hintergrunde ſich eine dunkle Wand erhob. Ing-
dſcha blieb ſtehen.


„Dort iſt es,“ ſagte ſie, auf das Dunkel deutend.
„Du gehſt gradaus und wirſt am Fuße jener Wand eine
Oeffnung ſehen, in die du das Licht ſetzeſt, nachdem
du es angezündet haſt. Dann kehrſt du zu mir zurück.
Ich warte hier auf dich.“


„Kann man das Licht hier ſehen?“


„Ja. Aber es wird jetzt vergebens brennen, denn es
iſt noch lange nicht Mitternacht.“


„Ich werde es doch verſuchen. Hier iſt die Leine;
halte einſtweilen den Hund und lege ihm die Hand auf
den Kopf.“


Ich nahm die Kerzen und ſchritt vorwärts. Es war
ein Gefühl außerordentlicher Spannung, das mich jetzt
beherrſchte, und dies war gar kein Wunder; ſollte ich doch
in das Geheimnis eindringen, das den „Geiſt der Höhle“
[593] umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieſes Geheim-
niſſes ahnte ich bereits.


Ich langte vor der Felſenwand an und bemerkte die
Höhle, deren Eingang gerade ſo hoch und breit war, daß
ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte.
Ich lauſchte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min-
deſte, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich
auf den Boden der Höhle niederſtellte. Das ging ſehr
leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite beſaß.


Nun kehrte ich wieder zurück. Ich ſagte mir, daß
für einen nicht Unbefangenen ſchon ein gut Teil Mut
dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu
beſteigen, um mit einem Geiſte in Verkehr zu treten.


„Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöſchen
wird,“ ſagte Ingdſcha.


„Es geht nicht der leiſeſte Lufthauch; wenn das Licht
verlöſcht, ſo iſt es alſo ein ſicheres Zeichen, daß der Ruh
zugegen iſt.“


„Sieh!“ meinte das Mädchen, mich haſtig am Arme
faſſend. „Es iſt verlöſcht!“


„So gehe ich.“


„Ich erwarte dich hier.“


Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich
nieder, um nach dem Lichte zu fühlen — es war weg-
genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der
Geiſt ſich ganz nahe, vielleicht in einer Seitenniſche, be-
finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer
hätte nun einfach ſeine Angelegenheit in akroamatiſcher
Weiſe vorgetragen und dann ſich zurückgezogen; dies aber
lag nicht in meiner Abſicht. Ich trat zwei Schritte in
die Höhle hinein.


„Ruh 'i kulyan!“ rief ich halblaut.


Es erfolgte keine Antwort.


II. 38
[594]

„Marah Durimeh!“


Wieder keine Antwort.


„Marah Durimeh, melde dich getroſt; ich werde dein
Geheimnis nicht verraten. Ich bin der Hekim aus Fran-
kiſtan, der dein Urenkelkind in Amadijah vom Gifte
befreite, und habe augenblicklich ſehr notwendig mit dir
zu ſprechen.“


Ich hatte mich nicht getäuſcht — ſeitwärts war ein
Geräuſch zu vernehmen, als ob ſich jemand überraſcht vom
Boden erhebe; dennoch aber vergingen mehrere Sekunden,
ehe eine Antwort erfolgte. Dann erklang es:


„Du biſt wirklich der Hekim-Emir aus Frankiſtan?“


„Ja. Vertraue mir! Ich ahnte, daß du ſelbſt der
Ruh 'i kulyan biſt; ich werde dein Geheimnis bewahren.“


„Es iſt deine Stimme, aber ich kann dich nicht ſehen.“


„Verlange ein Zeichen von mir!“


„Gut! Was hatte der türkiſche Hekim in ſeinem
Amulet, mit dem er den Teufel der Krankheit vertreiben
wollte?“


„Eine tote Fliege.“


„Emir, du biſt es wirklich! Wer hat dir die Höhle
gezeigt?“


„Ingdſcha, die Tochter von Nedſchir-Bey. Sie ſteht
da draußen und erwartet mich.“


„Gehe noch vier Schritte vorwärts!“


Ich that es und fühlte mich dann von einer Hand
gefaßt, die mich nach ſeitwärts in eine Spalte zog,
wo ſie mich eine Strecke weiter führte.


„Jetzt warte. Ich werde das Licht anzünden.“


Einen Augenblick ſpäter brannte die Kerze, und ich
ſah Marah Durimeh vor mir ſtehen, eingehüllt in einen
weiten Mantel, aus dem ihr hageres Geſicht wie dasjenige
eines Totenkopfs mir entgegengrinſte. Auch heut hingen
[595] ihr die ſchneeweißen Haarzöpfe bis beinahe zur Erde herab.
Sie leuchtete mich an.


„Ja wirklich, du biſt es, Emir! Ich danke dir, daß
du gekommen biſt. Aber du darfſt keinem Menſchen ſagen,
wer der Geiſt der Höhle iſt!“


„Ich ſchweige.“


„Iſt es ein Wunſch, der dich zu mir führt?“


„Ja. Aber er betrifft nicht mich, ſondern die Chal-
dani, die einem großen Unglücke entgegengehen, das
nur du vielleicht von ihnen abzuwenden vermagſt. Haſt
du Zeit, mich anzuhören?“


„Ja. Komm und ſetze dich.“


In der Nähe lag ein langer, ſchmaler Stein, der
Raum genug für zwei bot. Er bildete wohl ſtets die
Ruhebank des Höhlengeiſtes. Wir ließen uns neben-
einander darauf nieder, während das Licht auf einer
Steinkante ſtand. Dann ſagte die Alte mit beſorgter
Miene:


„Deine Worte verkünden Unheil. Rede, Herr!“


„Weißt du ſchon, daß der Melek von Lizan den Bey
von Gumri überfallen und gefangen genommen hat?“


„Heilige Mutter Gottes, iſt das wahr?“ rief ſie,
ſichtlich im höchſten Grade erſchrocken.


„Ja. Ich ſelbſt war dabei als Gaſt des Bey und
wurde gefangen.“


„Ich weiß nichts davon, kein Wort. Ich war wäh-
rend der letzten Tage drüben in Hajſchad und Biridſchai
und bin erſt heut über die Berge gekommen.“


„Nun halten die Berwari-Kurden da unten vor Lizan,
um morgen den Kampf zu beginnen.“


„O ihr Thoren, die ihr den Haß liebt und die Liebe
haßt! Soll ſich das Waſſer wieder vom Blute röten und
das Land vom Scheine der Flammen? Erzähle, Herr,
[596] erzähle! Meine Macht iſt größer, als du denkſt; vielleicht
iſt es noch nicht zu ſpät.“


Ich folgte ihrem Gebote, und ſie lauſchte mit an-
gehaltenem Atem meiner Darſtellung. Es war, als hätte
ich den Tod neben mir ſitzen, und doch hing von dieſem
ſkelettartigen, geheimnisvollen Weſen vielleicht das Leben
von Hunderten ab. Kein Glied ihres Körpers bewegte
ſich, und keine Falte ihres Mantels zitterte; aber ſofort,
als ich geendet hatte, fuhr ſie vom Steine empor.


„Emir, noch iſt es Zeit. Willſt du mir helfen?“


„Gern.“


„Ich weiß, du mußt mir auch von dir erzählen,
aber nicht jetzt, nicht jetzt, ſondern morgen; jetzt giebt es
Nötigeres zu thun. Der Geiſt der Höhle iſt ſtumm ge-
weſen; noch nie hat ihn jemand ſprechen hören; heut aber
wird er reden, heut muß er reden. Laß dich von Ing-
dſcha führen, Herr, und eile hinab nach Lizan. Der Melek,
der Bey von Gumri und der Raïs von Schohrd ſollen
ſogleich zum Ruh 'i kulyan kommen.“


„Werden ſie gehorchen?“


„Sie gehorchen; ſie müſſen gehorchen, glaube es mir!“


„Aber der Raïs iſt nicht zu finden!“


„Emir, wenn ihn niemand findet, ſo wirſt doch du
ihn finden; ich kenne dich. Auch er muß kommen, ob
gleichzeitig oder ob ſpäter als die beiden andern; wenn
er nur bis zum Morgen erſcheint. Ich werde warten.“


„Sie werden mich fragen, von wem ich den Auftrag
erhalten habe. Ich werde antworten: ‚Vom Ruh 'i
kulyan;‘ weiter kein Wort. Iſt es ſo recht?“


„Ja. Sie brauchen nichts zu wiſſen, am aller-
wenigſten aber, wer der Geiſt der Höhle eigentlich iſt.“


„Soll ich wieder mitkommen?“


„Du kannſt ſie begleiten, aber in die Höhle darfſt du
[597] nicht mit eintreten. Was ich ihnen zu ſagen habe, iſt für
keines andern Ohr. Sage ihnen, ſie ſollen ſofort in die
Höhle treten und darin gradaus fortſchreiten, bis ſie in
einen Raum gelangen, der erleuchtet iſt.“


„Kannſt du es bewirken, daß ich wieder erhalte, was
man mir abgenommen hat?“


„Ja; trage keine Sorge. Aber jetzt gehe; morgen
ſehen wir uns wieder, und dann kannſt du mit Marah
Durimeh ſprechen, ſo lange es dir gefällt!“


Ich ging und traf Ingdſcha noch an demſelben Platze,
an dem ich ſie verlaſſen hatte.


„Du warſt lange dort, Herr,“ ſagte ſie.


„Deſto ſchneller müſſen wir jetzt gehen.“


„Du mußt doch warten, bis das Licht wieder brennt,
ſonſt weißt du nicht, ob dir deine Bitte erfüllt wird.“


„Sie wird erfüllt.“


„Woher weißt du es?“


„Der Geiſt ſagte es!“


„O Herr, hätteſt du ſeine Stimme gehört?“


„Ja. Er hat ſehr lange mit mir geſprochen.“


„Das iſt noch niemals geſchehen; du mußt ein ſehr
großer Emir ſein!“


„Ein Geiſt beurteilt den Menſchen nicht nach ſeinem
Stande.“


„Haſt du ihn vielleicht gar auch geſehen?“


„Von Angeſicht zu Angeſicht.“


„Herr, du erſchreckſt mich! Wie ſah er aus?“


„Solche Dinge darf man nicht enthüllen. Komm,
du ſollſt mich führen; ich muß ſchnell nach Lizan
hinab.“


„Was wird da aus Madana, die auf dich wartet?“


„Du bringſt mich zuerſt auf den rechten Weg, und
dann kehrſt du zu ihr zurück, um ihr zu ſagen, daß ſie
[598] nicht mehr auf mich warten ſolle. Ich werde morgen nach
Schohrd kommen.“


„Was aber ſoll ſie meinem Vater ſagen, wenn er
dich von ihr verlangt?“


„Sie ſoll ſagen, daß er ſogleich zum Geiſt der Höhle
kommen ſolle. Auch wenn du deinen Vater triffſt, ſendeſt
du ihn ſofort hinauf zur Höhle. Er muß kommen, er
mag vorhaben, was er will. Wenn er nicht auf der
Stelle gehorcht, ſo iſt es um ihn geſchehen.“


„Herr, mir wird bange. Komm, laß uns gehen!“


Ich nahm den Hund wieder bei der Leine und das
Mädchen bei der Hand. So ſtiegen wir bergab, wobei
es natürlich ſchneller ging, als vorher bergan. Als
wir die Einſattelung erreichten, wandten wir uns nun
nach rechts hinab anſtatt nach links hinüber, und das
Mädchen kannte das Terrain ſo genau und führte mich
ſo ſicher, daß wir bereits nach einer ſtarken Viertelſtunde
den Weg erreichten, der Lizan mit Schohrd verbindet.
Hier blieb ich ſtehen und ſagte:


„Nun kenne ich den Pfad; wir müſſen uns trennen.
Als ich heut hier herabgeſchleppt wurde, habe ich mir den
Weg genau angeſehen. Ich danke dir, Ingdſcha. Morgen
ſehen wir uns wieder. Gute Nacht!“


„Gute Nacht!“


Sie hatte meine Hand ergriffen und einen kaum fühl-
baren Kuß darauf gehaucht; dann eilte ſie wie ein ver-
ſcheuchtes Reh in das Dunkel der Nacht hinein. Ich
ſtand eine volle Minute lang bewegungslos, dann ſchlug
ich den Weg nach Lizan ein, während meine Gedanken
ſich — rückwärts nach Schohrd bewegten.


Ich mochte vielleicht die Hälfte der Strecke zurück-
gelegt haben, als ich den Hufſchlag eines Pferdes vor mir
erſchallen hörte. Ich trat zur Seite hinter einen Buſch,
[599] um nicht geſehen zu werden. Der Reiter kam eilig näher
und an mir vorüber — es war der Raïs. Schon war
er vorüber, da rief ich ihn an:


„Nedſchir-Bey!“


Er hielt ſein Pferd an.


Ich machte Dojan von der Leine frei, um ihn in
ſeinen Bewegungen nicht zu hindern, falls mir ſein Bei-
ſtand nötig würde, und trat dann zu dem Raïs.


„Wer biſt du?“ fragte er.


„Dein Gefangener,“ antwortete ich, ſein Pferd beim
Maule faſſend.


Er beugte ſich vor und ſah mir in das Geſicht. Dann
griff er nach mir; ich aber war ſchneller und packte ſeine
Fauſt.


„Nedſchir-Bey, höre in Ruhe, was ich dir zu ſagen
habe. Der Ruh 'i kulyan ſendet mich: du ſollſt ſofort
zur Höhle kommen.“


„Lügner! Wer hat dich befreit?“


„Wirſt du dem Rufe des Geiſtes folgen oder nicht?“


„Hund, ich töte dich!“


Er langte mit ſeiner freien Hand nach dem Gürtel,
zu gleicher Zeit aber gab ich ihm aus allen Kräften einen
plötzlichen Ruck; er wurde bügellos und flog in einem
weiten Bogen vom Pferde herab.


„Dojan, faß!“


Der Hund warf ſich auf ihn, während ich mir Mühe
geben mußte, das Pferd zu beruhigen. Als mir dies
gelungen war, ſah ich den Raïs bewegungslos am Boden
liegen; Dojan ſtand über ihm und hatte zwiſchen ſeinem
aufgeſperrten Gebiß den Hals des Mannes.


„Nedſchir-Bey, die kleinſte Bewegung oder das leiſeſte
Wort koſtet dir das Leben; dieſer Hund iſt ſchlimmer als
ein Panther. Ich werde dich binden und dich mit nach
[600] Lizan nehmen; rührſt du ein Glied falſch, oder ſagſt du
ein lautes Wort gegen meinen Willen, ſo laſſe ich dich
zerreißen.“


Er ſah den grimmigen Tod vor Augen und wagte
nicht den geringſten Widerſtand. Zunächſt nahm ich ihm
ſeine Waffen ab: — Flinte und Meſſer. Dann feſſelte
ich ihn mit der ſtarken Hundeleine grad in der Weiſe,
wie man mich gefeſſelt hatte, und endlich ſtieß ich ihn
empor und band ihn an den Steigbügel, grad ſo, wie man
es mir gemacht hatte.


„Erlaube, Nedſchir-Bey, daß ich aufſteige; du biſt
heut lang genug zu Pferde geſeſſen. Vorwärts!“


Er folgte ohne Widerſtand, denn er mußte einſehen,
daß derſelbe vollſtändig nutzlos wäre. Es fiel mir nicht
ein, meine jetzige vorteilhafte Lage zu benutzen, um den
Mann zu verhöhnen, und ſo verhielt ich mich vollſtändig
ſchweigſam. Er ſelbſt unterbrach die Stille, aber in einem
ſo vorſichtigen Tone, daß ich die Befürchtung heraushörte,
der Hund werde ihn beim erſten Laute packen.


„Herr, wer hat dich befreit?“


„Das hörſt du ſpäter.“


„Wohin bringſt du mich?“


„Das wirſt du ſehen.“


„Ich werde Madana peitſchen laſſen!“ grollte er.


„Das wirſt du bleiben laſſen! Wo haſt du meine
Waffen und die andern Sachen?“


„Ich habe ſie nicht.“


„Sie werden ſich finden. Höre, Nedſchir-Bey, haſt
du kein beſſeres Pferd als dieſes?“


„Ich habe Pferde genug!“


„Das iſt mir lieb. Ich werde ſie mir morgen an-
ſehen und mir eins derſelben auswählen für das, das du
mir heut erſchießen ließeſt.“


[601]

„Der Scheïtan wird dir eins geben. Morgen um
dieſe Zeit biſt du wieder gefangen!“


„Wollen ſehen!“


Jetzt trat wieder Stille ein. Er trabte gezwungener
Weiſe nebenher, der Hund hart an ſeinen Ferſen, und
bald ſahen wir Lizan vor uns liegen.


Der Ort hatte ſich während meiner Abweſenheit in
ein Heerlager verwandelt. Drüben auf dem rechten Ufer
des Zab herrſchte vollſtändige Dunkelheit, hüben aber
brannte Feuer an Feuer, an welchen zahlreiche Männer-
gruppen lagen oder ſtanden. Das größte Feuer brannte
vor dem Hauſe des Melek, wie ich ſchon von weitem be-
merkte. Um jeden unnützen Aufenthalt zu vermeiden,
ſetzte ich mein Pferd in Trab; der Gefangene mußte gleich-
falls traben. Dennoch erkannte man mich allenthalben.


„Der Fremde, der Fremde!“ erſcholl es, wo ich vor-
über kam. Oder es ertönte der Ruf: „Nedſchir-Bey!
Und gefangen!“


Wir hatten bald ein zahlreiches Gefolge hinter uns,
das ſich Mühe gab, mit uns Schritt zu halten. So
gelangten wir zum Hauſe des Melek. Hier waren wenig-
ſtens ſechzig Bewaffnete verſammelt. Der erſte, den ich er-
blickte, war — Sir David Lindſay, welcher behaglich an
der Mauer lehnte. Als er mich ſah, ging mit ſeinem
gelangweilten Geſichte eine gewaltige Veränderung vor:
— die Stirn ſchob ſich empor, und das Kinn fiel tief
herunter, als ſei es in Ohnmacht geſunken; der Mund
öffnete ſich, als ſolle ein ganzer Fowling-bull verſchlungen
werden, und die Naſe richtete ſich auf, wie der Hals eines
Gemsbockes, wenn etwas Verdächtiges in den Wind kommt.
Dann that der lange David einen herkuliſchen Sprung
auf mich zu und fing mich, der ich ſoeben vom Pferde
ſpringen wollte, in ſeinen geöffneten Armen auf.


[602]

„Maſter, Sir!“ brüllte er. „Wieder da? Heigh-
day-
heiſa!Huzza! Welcome! Hail, hail, hail!


„Na, erdrückt mich nicht, Sir David! Andere Leute
wollen auch etwas von mir übrig behalten!“


Eh! Oh! Ah! Wo habt Ihr geſteckt? Wo geweſen?
Wie gegangen, he? Selbſt befreit? Lack-a-day, Ge-
fangenen mitgebracht! Wunderbar! Unbegreiflich! Yes!


Da aber wurde ich bereits von der andern Seite
gefaßt.


Allah illa allah! Da biſt du ja, Effendi! Allah
und dem Propheten ſei Dank! Nun ſollſt du erzählen!“


Es war Mohammed Emin. Und Amad el Ghandur,
ſein Sohn, der neben ihm ſtand, rief:


Wallahi, das hat Gott geſchickt! Nun hat die Not
ein Ende. Sihdi, reiche uns deine Hand!“


Und dort ſeitwärts ſtand der kleine brave Hadſchi
Halef Omar. Er ſagte kein Wort, aber in ſeinen treuen
Augen funkelten zwei große Freudentropfen. Ich reichte
auch ihm die Hand:


„Halef, das habe ich zum großen Teile dir zu danken!“


„Rede nicht, Sihdi!“ antwortete er. „Was bin ich
gegen dich? Eine ſchmutzige Ratte, ein häßlicher Igel,
ein Hund, der froh iſt, wenn ihn dein Auge mit einem
Blick beglückt!“


„Wo iſt der Melek?“


„Im Hauſe.“


„Und der Bey?“


„In der verborgenſten Stube, weil er die Geiſel iſt.“


„Laßt uns hineingehen!“


Es hatte ſich eine große Menſchenmenge um uns
verſammelt. Ich ſchnürte den Raïs vom Bügel los und
bedeutete ihm, mit mir in das Haus zu treten.


„Du bringſt mich nicht hinein!“ knirſchte er.


[603]

„Dojan, paß auf!“


Dieſer Ruf genügte. Ich ging voran, das Ende
der Schnur in der Hand haltend, und der Gefangene
folgte ohne Zögern. Als die Thür geſchloſſen war, erhob
ſich draußen ein toſendes, hundertſtimmiges Murmeln:
die Menge ſuchte ſich den für ſie noch geheimnisvollen
Vorgang zu erklären. Drinnen trat uns der Melek ent-
gegen. Als er mich erblickte, ſtieß er einen Ruf der leb-
hafteſten Freude aus und ſtreckte mir beide Hände ent-
gegen.


„Emir, was ſehe ich! Du biſt wieder zurück? Heil
und unverletzt? Und hier — — ah, Nedſchir-Bey!
Gefangen!“


„Ja. Kommt herein, und laßt euch erklären!“


Wir traten in den größten Raum des Erdgeſchoſſes,
wo Platz für uns alle war. Hier ließen ſie ſich erwar-
tungsvoll auf die Matten nieder, während der Raïs
ſtehen mußte; ſeine Leine hatte der Hund zwiſchen den
Zähnen, der bei der geringſten Bewegung des Gefangenen
ein drohendes Knurren ausſtieß.


„Wie ich in die Hände des Raïs von Schohrd ge-
raten bin, und wie man mich behandelt hat, das hat euch
wohl hier Halef ausführlich erzählt?“ fragte ich.


„Ja,“ erklang es im Kreiſe.


„So brauche ich es nicht zu wiederholen und — — —“


„O doch, Emir, erzähle es noch einmal ſelbſt!“ unter-
brach mich der Melek.


„Später. Jetzt haben wir keine Zeit dazu, denn es
giebt ſehr Notwendiges zu thun.“


„Wie wurdeſt du frei, und wie ward der Raïs ſelbſt
dein Gefangener?“


„Auch das ſollt ihr ſpäter ausführlich hören. Der
Raïs hat die ganze Gegend aufgeſtachelt, ſich morgen früh
[604] auf die Berwari zu werfen. Das wäre das Verderben
der Chaldani — —“


„Nein!“ ließ ſich eine Stimme vernehmen.


„Streiten wir uns nicht! Es gab nur einen, der hier
helfen konnte, nämlich der Ruh 'i kulyan — — —“


„Der Ruh 'i kulyan!“ erſcholl es erſtaunt und er-
ſchrocken.


„Ja, und ich ging zu ihm.“


„Wußteſt du ſeine Höhle?“ fragte der Melek.


„Ich fand ſie und erzählte ihm alles, was geſchehen
war. Er hörte mir ruhig zu und ſagte mir, ich ſolle — —“


„Er hat mit dir geſprochen? Du haſt ſeine Stimme
gehört? — Emir, das iſt noch keinem Sterblichen wider-
fahren,“ rief einer der vornehmen Chaldäer, die mit uns
eingetreten waren. „Du biſt ein Liebling Gottes, und
auf deine Stimme müſſen wir hören!“


„Thut es, ihr Männer; das wird zu eurem Heile
gereichen!“


„Was ſagte der Geiſt der Höhle?“


„Er ſagte, ich ſolle ſofort nach Lizan gehen und den
Melek, den Bey von Gumri und den Raïs von Schohrd
zu ihm bringen.“


Ein lautes „Ah!“ der Bewunderung ging durch die
Verſammlung, und ich fuhr fort:


„Ich eilte herab und begegnete dem Raïs. Ich ſagte
ihm, daß er zu dem Ruh 'i kulyan kommen ſolle, und
da er dem Rufe des Geiſtes nicht gehorchen wollte, ſo
nahm ich ihn gefangen und brachte ihn hierher. Holt
den Bey herbei, damit er es erfährt!“


Der Melek erhob ſich.


„Emir, du ſcherzeſt nicht?“ fragte er.


„Dieſe Sache iſt zu ernſt zum Scherze!“


„So müſſen wir gehorchen. Aber iſt es nicht ge-
[605] fährlich, den Bey mitzunehmen? Wenn er uns entflieht,
ſo ſind wir ohne Geiſel.“


„Er muß uns verſprechen, nicht zu entfliehen, und
er wird ſein Wort halten.“


„Ich hole ihn.“


Er ging und brachte nach wenigen Augenblicken den
Bey mit ſich herein.


Als der Herrſcher von Gumri mich erblickte, eilte
er auf mich zu.


„Du biſt wieder da, Herr!“ rief er. „Alochhem
d'Allah — Gott ſei Dank, der dich mir wiedergegeben
hat! Ich habe die Kunde von deinem Verſchwinden mit
großer Betrübnis vernommen, denn ich wußte, daß meine
Hoffnung nur auf dich allein zu ſetzen ſei.“


„Auch ich habe an dich mit banger Sorge gedacht,
o Bey,“ antwortete ich ihm. „Ich wußte, daß du
wünſcheſt, mich frei zu ſehen, und Allah, der immer gütig
iſt, hat mich aus der Gewalt des Feindes errettet und
mich wieder zu dir geführt.“


„Wer war der Feind? Dieſer hier?“


Er deutete bei dieſen Worten auf Nedſchir-Bey.


„Ja,“ antwortete ich ihm.


„Allah verderbe ihn und ſeine Kinder nebſt den Kin-
dern ſeiner Kinder! Biſt du nicht der Freund dieſer
Leute geweſen, ſo wie du der meinige geweſen biſt?
Haſt du nicht geſprochen und gehandelt, wie es zu ihrem
Beſten diente? Und dafür hat er dich überfallen und
gefangen genommen! Siehſt du nun, was du von der
Freundſchaft eines Naſarah zu erwarten haſt?“


„Es giebt überall gute und böſe Leute, unter den
Muſelmännern und unter den Chriſten, o Bey; darum
ſoll der Freund nicht mit dem Feinde leiden.“


„Emir,“ entgegnete er, „ich liebe dich. Du hatteſt
[606] mein Herz erweicht, daß es Gedanken des Friedens hegte
gegen dieſe Leute. Nun aber haben ſie ſich an dir ver-
griffen, und darum mag das Meſſer zwiſchen mir und
ihnen reden.“


„Bedenke, daß du ihr Gefangener biſt!“ warf ich ein.


„Meine Berwari werden kommen und mich befreien,“
antwortete er ſtolz.


„Sie ſind ja bereits da, aber ſie ſind zu ſchwach
an Zahl.“


„Es ſind noch viele Tauſend hinter ihnen.“


„Wenn dieſe kommen, ſo iſt es um dich geſchehen.
Sie würden dich nur als Leiche finden. Du biſt als
Geiſel hier und wirſt den Angriff deiner Leute mit dem
Leben bezahlen müſſen.“


„So ſterbe ich. Allah hat alles im Buche verzeichnet,
was dem Gläubigen geſchehen ſoll. Kein Menſch kann
ſein Kismét *) ändern.“


„Bedenke, daß der Melek mein Gaſtfreund iſt! Er
hat nicht gewollt, daß mir Uebles geſchehe, und nur der
Raïs iſt es geweſen, der ohne Wiſſen der übrigen feind-
lich gegen uns gehandelt hat.“


„Wie biſt du entkommen, Herr?“


„Frage den Ruh 'i kulyan!“


„Den Ruh 'i kulyan?“ rief er verwundert. „War
er bei dir?“


„Nein, ich war bei ihm, und er wünſcht, daß auch
du zu ihm kommſt.“


„Ich? Wann?“ erkundigte er ſich faſt beſtürzt.


„Sofort.“


„Herr, du ſcherzeſt! Der Ruh 'i kulyan iſt ein ge-
waltiger, mächtiger Geiſt, und ich bin nichts als ein
armer Oelidſchi **), der vor dem Unſichtbaren zittern muß.“


[607]

„Er iſt nicht unſichtbar.“


„Haſt du ihn geſehen?“


„Ich habe ihn geſehen und mit ihm geſprochen.“


„Und du biſt nicht ſofort geſtorben?“


„Wie du ſiehſt, lebe ich noch.“


„Ja, ihr Emire aus Frankiſtan wißt, wie man mit
Geiſtern zu verkehren hat!“


„Giebt es hier nicht viele Leute, die bei dem Ruh
'i kulyan geweſen ſind, ohne darauf ſterben zu müſſen?“


„Sie haben zu ihm geſprochen, aber ſie haben ihn
nicht geſehen.“


„Ich habe dir nicht geſagt, daß du ihn ſehen wirſt.
Er hat befohlen, daß der Melek, du und Nedſchir-Bey
ſofort zur Höhle kommen ſollt. Willſt du dieſem Befehle
ungehorſam ſein? Auch der Melek wird dahin kommen!“


„Dann gehe auch ich mit.“


„Das wußte ich. Aber wirſt du dabei nicht ver-
geſſen, daß du der Gefangene des Melek biſt?“


„Glaubt er, daß ich ihm entfliehe?“


„Er muß vorſichtig ſein. Willſt du ihm verſprechen,
keinen Fluchtverſuch zu machen, und giebſt du ihm dein
Wort, freiwillig wieder hierher zurückzukehren?“


„Ich gebe ihm mein Wort.“


„Reiche ihm die Hand!“


Er that dies, und der Melek verſicherte ihm:


„Bey, ich vertraue dir und werde dich nicht bewachen,
obgleich mir der Beſitz deiner Perſon jetzt wichtiger iſt,
als große Schätze. Wir werden nicht gehen, ſondern
reiten, und du ſollſt frei auf deinem Pferde ſein.“


„Reiten?“ fragte ich. „Iſt dies nicht unmöglich bei
dieſem Wege?“


„Es giebt einen Umweg,“ antwortete er, „der zwar
länger iſt, auf dem wir aber zu Pferde die Höhle
[608] eher erreichen, als wenn wir die Höhen mühſam erklettern.
Du reiteſt mit, Herr?“


„Ja, obgleich ich nicht mit zum Geiſte gehen werde.“


„Was aber ſoll mit Nedſchir-Bey geſchehen?“


Der Genannte wartete meine Antwort gar nicht ab,
ſondern ſagte tückiſch:


„Ich gehe nicht mit; ich bleibe hier!“


„Du haſt gehört, daß dich der Ruh 'i kulyan ver-
langt,“ warnte ihn der Melek mit ernſter Stimme.


„Was dieſer Fremde ſagt, brauche ich nicht zu be-
achten!“


„So willſt du dem Geiſte nicht gehorchen?“


„Ich gehorche ihm, aber nicht, wenn er mir dieſen
Franken ſchickt!“


„Aber ich befehle es dir!“


„Melek, ich bin Nedſchir-Bey, der Raïs von Schohrd;
du haſt mir nichts zu befehlen!“


Der Melek ſah mich fragend an, darum wandte ich
mich zu meinem kleinen Hadſchi Halef Omar:


„Halef, haſt du geſehen, ob es hier Stricke giebt?“


„Siehe, dort im Winkel liegen genug, Herr,“ ant-
wortete er.


„Nimm davon und komm!“


Der kleine Hadſchi merkte, was geſchehen ſolle. Er
verſetzte dem Raïs, der ihm in der Richtung ſtand, einen
nicht ſehr freundſchaftlichen Rippenſtoß und nahm dann
die aus Leff *) gearbeiteten Stricke vom Boden auf. Ich
aber erklärte dem Melek:


„Will er nicht mit, ſo wird er gezwungen. Wir
binden ihn auf das Pferd, ſo daß er ſich nicht bewegen
kann.“


„Verſucht es,“ drohte der Raïs. „Wer mir nahe
[609] kommt, dem thue ich ſo, wie du es mit dem Manne Ma-
danas gemacht haſt!“


„Was meint er?“ fragte Halef.


„Er ſoll auf das Pferd gebunden werden, will aber
einen jeden niedertreten, der es wagt, ſich ihm zu nahen.“


„Maſchallah, der Menſch iſt verrückt!“


Bei dieſen Worten that der kleine Mann einen
Sprung, und im nächſten Augenblick lag der rieſige Chal-
dani, der allerdings an den Händen gefeſſelt war,
auf der Erde. Eine halbe Minute ſpäter waren ihm die
Beine ſo feſt und eng zuſammengebunden, daß ſeine ganze
Geſtalt ſo unbeweglich war, als ob ſie in einem Fut-
terale ſtäke.


„Aber, Halef, er ſoll ja auf dem Pferde ſitzen?“
erinnerte ich.


„Iſt nicht nötig, Sihdi,“ antwortete er. „Wir legen
dieſen Dſchadd *) mit dem Bauch auf das Pferd; ſo kann
er ſchwimmen lernen.“


„Wohl; ſchaffe ihn hinaus!“


Der Kleine faßte den Großen beim Kragen des Ge-
wandes, hob ihn halb empor, drehte ſich um, ſo daß
Rücken auf Rücken kam, und ſchleifte ihn hinaus. Die
anderen folgten. Jetzt trat Lindſay zu mir heran.


„Maſter,“ ſagte er. „Habe nichts verſtanden, nothing-
not,
weniger als nichts. Wohin geht Ihr?“


„Zum Höhlengeiſt.“


„Höhlengeiſt? Thunder-strom! Darf ich mit?“


„Hm! eigentlich nicht.“


Pshaw! Werde dieſen Geiſt nicht aufeſſen!“


„Glaube es!“


„Wo wohnt er?“


„Droben in den Felſen.“


II. 89
[610]

„Felſen? Giebt's da Ruinen?“


„Weiß nicht. Es war dunkel oben während meiner
Anweſenheit.“


„Felſen! Höhlen! Ruinen! Geiſter! Vielleicht auch
Fowling-bulls?“


„Ich glaube nicht.“


„Und dennoch gehe ich mit! War hier ſo lange
allein; kein Menſch verſteht mich. Bin froh, daß ich
Euch wieder habe. Nehmt mich mit!“


„Nun wohl; aber zu ſehen werdet Ihr wohl nichts
bekommen.“


Disagreeable, uncivil! Wollte auch einmal Geiſt
ſehen — Geiſt oder Geſpenſt! Gehe aber doch mit! Yes!


Als wir aus dem Hauſe traten, war die ganze Be-
völkerung Lizans vor demſelben verſammelt; doch herrſchte
trotz der vielen Menſchen eine tiefe Stille. Man ſah bei
dem Scheine der Fackeln ganz deutlich, daß ich mit Halefs
Hilfe den Raïs auf das Pferd befeſtigte; aber keine Lippe
regte ſich, um nach der Urſache dieſes gewiß ungewöhn-
lichen Verfahrens zu fragen. Unſere Pferde nebſt den
nötigen Fackeln wurden herbeigeſchafft, und dann erſt, als
wir aufſaßen, erklärte der Melek den Verſammelten, daß
wir im Begriffe ſtänden, den Ruh 'i kulyan aufzuſuchen.
Er befahl, bis zu unſerer Wiederkehr nicht das geringſte
zu unternehmen, und dann ritten wir zwiſchen den er-
ſtaunten Zuhörern davon.


Voran ritt der Melek mit dem Bey; dann folgte
Halef, der das Pferd des Raïs am Zügel führte, und
der Engländer beſchloß mit mir den kleinen Zug. Der
Melek und Lindſay trugen die beiden Fackeln, die den
Weg erleuchten ſollten.


Dieſer Weg war zunächſt ein gebahnter Pfad; ſpäter
wichen wir von demſelben ab, hatten aber Raum genug
[611] für zwei nebeneinander gehende Pferde. Es war ein über-
aus phantaſtiſcher Ritt. Unter uns lag das bisher nur
von höchſtens vier Europäern betretene Thal des Zab im
tiefſten, unheimlichen Dunkel. Diesſeits, rechts von uns,
glänzte die blutrote Lohe der Fackeln von Lizan zu uns
herauf; links, jenſeits des Waſſers, zeigte ein mattheller
Fleck die Stelle an, wo die Kurden lagerten; über uns
dunkelte die Bergesmaſſe, auf deren Höhe der Geiſt hauſte,
der ſelbſt mir ein Rätſel war, obgleich er mir erlaubt
hatte, ihn zu ‚rekognoszieren‘; und was nun uns ſechs
ſelbſt betraf, ſo ritten wir zwiſchen den geſpenſtiſchen Re-
flexen unſerer Kienbrände, beſtanden aus einem Araber
der Sahara, einem Engländer, einem Kurden, zwei Na-
ſarah und einem Deutſchen und hatten einen Gefangenen
in der Mitte.


Da bogen wir um eine Felſenkante; das Thal ver-
ſchwand hinter uns, und vor uns tauchten die weit aus-
einander ſtehenden Stämme des Hochwaldes auf, auf deſſen
weichem Boden wir aufwärts ritten. Das flackernde Licht
der beiden Flammen wanderte von Aſt zu Aſt, von Zweig
zu Zweig, von Blatt zu Blatt; neben, vor und hinter
uns huſchte, ſchwirrte und flatterte es wie zwiſchen den
Spalten eines Geſpenſterromanes; der ſchlafende Wald
atmete ſchwer rauſchend, und die Huftritte unſerer Pferde
in dem tiefen Humusboden klangen wie die fernher tönen-
den Wirbel eines Trommler-Trauermarſches.


„Schauerlich! Yes!“ meinte der Engländer halblaut,
indem er ſich ſchüttelte. „Möchte nicht allein da zu dem
Geiſte reiten. Well! Ihr wart allein?“


„Nein.“


„Nicht? Wer war dabei?“


„Ein Mädchen.“


A maid! Good lack! Jung?“


[612]

„Ja.“


„Schön?“


„Sehr!“


„Intereſſant?“


„Verſteht ſich! Intereſſanter als ein Fowling-bull.“


Heavens, habt Ihr Glück! Erzählt!“


„Später, Sir. Ihr werdet ſie morgen auch ſehen.“


Well! Werde beurteilen, ob ſie wirklich intereſſanter
iſt, als Fowling-bull. Yes!


Das leiſe geführte Geſpräch verſtummte wieder. Es
lag etwas Heiliges, Unberührbares in dieſer tiefen Waldes-
nacht, und von jetzt an gab es keinen andern Laut als
nur zuweilen das Schnauben eines unſerer Pferde. So
kamen wir immer weiter empor, bis wir einen Bergkamm
erreichten, wo die beiden Voranreitenden anhielten.


„Wir ſind am Ziele,“ ſagte der Melek. „Hier drüben,
zweihundert Schritte hinab ſind die Felſen, in denen ſich
die Höhle befindet. Hier ſteigen wir ab und laſſen unſere
Pferde zurück. Gehſt du mit?“


„Ja, um des Raïs willen, aber nur bis zur Höhle.
Löſcht die Fackeln aus!“


Wir banden die Pferde, bei denen Halef und Lindſay
zurückbleiben ſollten, an die Bäume und knüpften dann
den Raïs los. Damit er gehen konnte, wurden ihm auch
die Bande von den Beinen genommen. Dojan, der Hund,
ſtand dabei und beobachtete ihn mit Augen, die ſelbſt
in der Dunkelheit zu erkennen waren; ſie hatten faſt jenen
phosphoreszierenden Glanz, den man an den Augen
einer Tintorera *) bemerkt, wenn des Nachts das Meer-
waſſer leuchtet und man dieſes fürchterliche Ungeheuer in
der durchſichtigen Flut deutlich erkennen kann.


[613]

„Raïs, du folgſt dem Melek und dem Bey. Ich gehe
hinter dir. Zauderſt du, ſo lernſt du die Zähne dieſes
Hundes doch noch kennen!“


Mit dieſen Worten gab ich das Zeichen, unſern Weg
nun fortzuſetzen. Die angegebene Reihenfolge wurde bei-
behalten, und Nedſchir-Bey weigerte ſich nicht im min-
deſten, meiner Weiſung Folge zu leiſten. Wir ſchritten
quer über den Bergkamm hinüber und dann eine Steilung
hinab, von der aus ich die Felſen unter uns liegen
ſah. Nach kaum mehr als fünf Minuten ſtanden wir an
demſelben Orte, an dem Ingdſcha während meiner
Unterredung mit dem Ruh 'i kulyan auf mich gewartet
hatte.


„Ihr ſollt in die Höhle treten und dann ſo lange
gradaus gehen, bis ihr Licht findet,“ bemerkte ich.


Das Abenteuer ſchien die Beteiligten doch nicht ſo
ganz gleichgültig zu laſſen, wie ich aus ihren langen,
tiefen Atemzügen ſchloß; denn ihre Geſichter konnte ich
nicht deutlich ſehen.


„Emir, binde mir die Arme los!“ bat da der Raïs.


„Das wollen wir nicht wagen,“ antwortete ich.


„Ich entfliehe nicht; ich gehe mit hinein!“


„Schmerzen ſie dich?“


„Gar ſehr.“


„Du haſt ſie mir ganz ebenſo binden laſſen, und ich
mußte die gleichen Schmerzen noch viermal länger ertragen,
als du. Dennoch würde ich die Schnur löſen, aber ich
glaube deiner Verſicherung nicht.“


Er ſchwieg; mein Mißtrauen war alſo wohl be-
gründet geweſen. Die beiden andern nahmen ihn in ihre
Mitte.


„Herr, bleibſt du hier, oder geheſt du zu den Pferden
zurück?“ fragte der Bey.


[614]

„Wie ihr es wollt.“


„So bleibe hier. Dieſer Mann könnte es doch not-
wendig machen, dich zu brauchen.“


„So geht; ich werde euch hier erwarten.“


Sie gingen, und ich ließ mich auf einen Stein nieder.
Der Hund hatte ſeine Pflicht ſo gut begriffen, daß er
dem Raïs ſo lange folgte, bis ich ihn zurückrief. Nun
kauerte er ſich neben mir nieder, legte mir den feinen Kopf
auf das Knie und ließ ſich von meiner Hand ſtreicheln.


So ſaß ich eine lange, lange Zeit allein im Dunkel.
Meine Gedanken ſchweiften zurück über Berg und Thal,
über Land und Meer zur Heimat. Wie mancher Forſcher
hätte viel dafür gegeben, hier an meiner Stelle ſein zu
können! Wie wunderbar hatte mich Gott bis hierher ge-
leitet und beſchützt, während ganze, große, wohlausgerüſtete
Expeditionen da zu Grunde gegangen und vernichtet wor-
den waren, wo ich die freundlichſte Aufnahme gefunden
hatte! Woran lag dies? Wie viele Bücher hatte ich über
fremde Länder und ihre Völker geleſen und dabei wie viele
Vorurteile in mich aufgenommen! Ich hatte manches Land,
manches Volk, manchen Stamm ganz anders — und beſſer
gefunden, als ſie mir geſchildert worden waren. Der Gottes-
funken iſt im Menſchen niemals vollſtändig zu erſticken,
und ſelbſt der Wildeſte achtet den Fremden, wenn er ſich
ſelbſt von dieſem geachtet ſieht. Ausnahmen giebt es
überall. Wer Liebe ſäet, der wird Liebe ernten, bei den
Eskimos wie bei den Papuas, bei den Aïnos wie bei den
Botokuden. Mit ſo ganz heiler Haut war ich zwar auch
nicht davongekommen, denn einige Schmarren, Schrammen
und Löcher hatte dieſe Haut doch immerhin davongetra-
gen; aber doch nur, weil ich ſozuſagen als ‚armer Rei-
ſender‘ gewandert war, und man weiß ja, daß ſelbſt der
‚höflichſte Handwerksburſche‘ zuweilen ein ſcharfes Wort
[615] oder gar einen unſympathiſchen Klaps mit in den Kauf
nehmen muß. Dürfte ich doch ein Pionier der Civili-
ſation, des Chriſtentums ſein! Ich würde nicht zurück-
drängend oder gar vernichtend unter meine fernen Brüder
treten, die ja ebenſo Gottes Kinder ſind, wie wir ſtolzen
Egoiſten; ich würde jede Form der Kultur und auch den
kleinſten ihrer Anfänge ſchätzen; es kann ja nicht der eine
Sohn Allvaters grad ſo wie der andere ſein, und nicht
dem Eigennutze, ſondern nur der Selbſtloſigkeit kann es
gelingen, mit wirklichem Erfolge das erhabene Wort zu
lehren, das „den Frieden predigt und das Heil ver-
kündigt“. Dieſes Wort, es ſtammt ja nicht von einem
Xerxes, Alexander, Cäſar oder Napoleon, ſondern von
Dem, der in einem Stalle geboren wurde, aus Armut
Aehren aß und nicht wußte, wohin er ſein Haupt legen
ſollte, und deſſen erſte Predigt lautete: „Selig ſind die
Friedfertigen, denn ſie werden Gottes Kinder heißen!“ —


So verging weit über eine Stunde, und noch ſaß ich
allein. Ich wollte faſt befürchten, daß den Gefährten in
der Höhle ein Unfall widerfahren ſei, und ging bereits
mit mir zu Rate, ob es nicht beſſer wäre, ihnen zu folgen,
als ich endlich Schritte hörte.


Ich erhob mich. Es waren die drei, und — wie ich
gleich ſah — man hatte dem Raïs die Feſſeln gelöſt.


„Du haſt ſehr lange warten müſſen!“ bedauerte der
Melek.


„Ich bangte bereits für euch,“ antwortete ich, „und
wäre wohl in kurzem nachgekommen.“


„Das war nicht nötig. Herr, wir haben den Ruh 'i
kulyan geſehen und mit ihm geſprochen!“


„Habt ihr ihn erkannt?“


„Ja. Es war — — — ſage du zuerſt den Namen!“


„Marah Durimeh?“


[616]

„Ja, Emir. Wer hätte dies gedacht!“


„Ich! Ich habe es geahnt ſchon ſeit längerer Zeit.
Was habt ihr mit ihr geſprochen?“


„Das iſt Geheimnis und wird Geheimnis bleiben.
Herr, dieſe Frau iſt eine berühmte Meleka *), und was
ſie zu uns redete, hat unſere Herzen zum Frieden geſtimmt.
Die Berwari werden unſere Gäſte ſein und Lizan dann
als unſere Freunde verlaſſen.“


„Iſt dies wirklich ſo?“ fragte ich, herzlich erfreut.


„Es iſt ſo,“ antwortete der Bey von Gumri. „Und
weißt du, wem wir dies zu verdanken haben?“


„Dem Ruh 'i kulyan.“


„Ja, aber zunächſt doch dir. Emir, die alte Königin
hat uns befohlen, deine Freunde zu ſein, aber wir waren
es ja bereits ſchon vorher. Bleibe bei uns in dieſem Lande
als mein Bruder und als unſer aller Bruder!“


„Ich danke euch! Auch ich liebe das Land meiner
Väter und möchte einſt mein Haupt in demſelben zur Ruhe
legen; aber ich werde mit meinen Gefährten bei euch weilen
ſo lange, als es meine Zeit geſtattet. Wird Marah Duri-
meh auch fernerhin der Ruh 'i kulyan bleiben?“


„Ja, doch niemand darf es wiſſen, daß ſie es iſt.
Wir haben geſchworen, es zu verſchweigen, bis ſie ge-
ſtorben iſt. Auch du wirſt nicht davon ſprechen, Emir?“


„Zu keinem Menſchen!“


„Sie wird dich morgen nach der Zeit des Mittages
in meinem Hauſe beſuchen, denn ſie hat dich lieb, als ob
du ihr Sohn oder Enkel ſeiſt,“ bemerkte der Melek. „Jetzt
aber laßt uns gehen.“


„Und die Chaldani, die Nedſchir-Bey zuſammen-
gerufen hat?“ fragte ich raſch, denn ich wollte ſicher gehen.


[617]

Da trat der Erwähnte zu mir heran und reichte mir
die Hand entgegen.


„Herr, ſei auch mein Freund und Bruder, und ver-
zeihe mir! Ich bin auf falſchem Wege gewandelt und will
gern umkehren. Du ſollſt alles wieder erhalten, was ich
dir abgenommen habe, und ich werde gleich jetzt zum Ver-
ſammlungsorte meiner Leute gehen, um ihnen zu ſagen,
daß Frieden iſt.“


„Nedſchir-Bey, nimm meine Hand; ich verzeihe dir
gern! Aber weißt du, wer mich aus der Gefangenſchaft
befreit hat?“


„Ich weiß es. Marah Durimeh hat es mir geſagt.
Madana und Ingdſcha ſind es geweſen, und meine Tochter
hat dich dann ſelbſt zum Ruh 'i kulyan geführt.“


„Du zürneſt den beiden?“


„Ich hätte ihnen ſehr gezürnt und ſie ſehr hart be-
ſtraft; aber die Worte der alten Meleka haben mir die
Erkenntnis gebracht, daß die beiden Frauen ſehr wohl
gehandelt haben. Erlaube, daß auch ich dich beſuche!“


„Ich bitte dich darum! Nun aber kommt, ihr Brü-
der! Meine zwei Gefährten werden ſich um uns ſorgen.“


Wir verließen den geheimnisvollen Ort, klimmten
die Anhöhe empor und fanden den Engländer und Halef
wirklich in großer Sorge um mich.


„Wo bleibt ihr denn, Maſter?“ rief mir Lindſay
entgegen. „Beinahe wäre ich gekommen, um dieſen Hole-
ghost
um euretwillen totzuſchlagen!“


„Ihr ſeht, daß dieſe kühne That nicht nötig war, Sir.“


„Was gab es denn da unten?“


„Später, ſpäter; jetzt wollen wir aufbrechen.“


Da nahm mich Halef beim Arme.


„Sihdi,“ raunte er mir zu, „dieſer Mann iſt ja nicht
mehr gefeſſelt!“


[618]

„Der Geiſt der Höhle hat ihn befreit, Halef.“


„So iſt dieſer Ruh 'i kulyan ein ſehr unvorſichtiger
Geiſt. Komm, Sihdi, laß uns den Menſchen ſofort wieder
binden!“


„Nein. Er hat mich um Verzeihung gebeten, und
ich habe ihm verziehen!“


„Sihdi, du biſt ebenſo unvorſichtig wie der Geiſt!
Aber ich werde klüger ſein: ich bin Hadſchi Halef Omar
und verzeihe ihm nicht.“


„Du haſt ihm nichts zu verzeihen!“


„Ich? Nicht?“ fragte er verwundert. „O viel, ſehr
viel, Sihdi!“


„Was denn?“


„Er hat ſich an dir vergriffen, an dir, deſſen Freund
und Beſchützer ich bin, und das iſt viel ärger, als wenn
er mich ſelbſt gefangen genommen hätte. Wenn ich ihm
verzeihen ſoll, ſo mag er auch mich um Verzeihung bitten.
Ich bin ein Türke, kein Kurde und kein feiger Naſarah,
ſondern ein Radſchul el arab *), der ſeinen Sihdi nicht
beleidigen und nicht kränken läßt. Sage ihm das!“


„Vielleicht giebt es Gelegenheit dazu. Jetzt aber
ſteige auf! Du ſiehſt, die andern ſitzen bereits zu Pferde.“


Der Melek hatte neue Fackeln angebrannt, und der
Rückweg wurde angetreten. Man war jetzt nicht ſo
ſchweigſam wie aufwärts, und nur ich beteiligte mich nicht
an dem Geſpräche, das von den drei Eingeborenen in
fließendem Kurdiſch, zwiſchen Lindſay und Halef aber
mittelſt engliſcher und arabiſcher Sprachbrocken geführt
wurde, von denen die beiden gegenſeitig kaum den hun-
dertſten Teil verſtanden.


Unſer Beſuch auf dem Berge gab mir viel zu denken.
Worin beſtand die Macht, die dieſe Marah Durimeh
[619] auf den Scheik ſowohl als auch auf den Bey von Gumri
ausübte? Der Umſtand, daß ſie Königin geweſen war,
konnte an und für ſich von keiner ſolchen Wirkung ſein.
Es gehörte mehr als dies dazu, um in ſo kurzer Zeit
zwei Gegner zu verſöhnen, die ſich in Beziehung ſowohl
auf ihre Abſtammung als auch auf ihren Glauben ſo
ſchroff gegenüber ſtanden. Und faſt ebenſo wunderbar war
es, aus dem wilden, ungefügen Nedſchir-Bey ſo ſchnell einen
freundlichen, lammfrommen Mann zu machen. Warum
ſollte dies alles Geheimnis bleiben, auch für mich?
Ein anderes Menſchenkind hätte ſich mit einem ſolchen
Einfluſſe, mit einer ſolchen Macht gebrüſtet. Dieſe Marah
Durimeh war nicht nur ein geheimnisvolles Menſchenkind,
ſondern jedenfalls auch ein ungewöhnlicher, außerordent-
licher Charakter. Welch ein Sujet für einen neugierigen
Menſchen, der ſich in der weiten Welt umhertreibt,
um intereſſante Gegenſtände für ſeine Feder zu finden!
Ich geſtehe, daß mir jetzt das Geheimnis der alten Königin
weit mehr am Herzen lag, als vorher die Streitigkeit
zwiſchen den Kurden und Chaldani.


Als wir die Lichter von Lizan wieder vor uns er-
blickten, meinte der Raïs von Schohrd:


„Jetzt muß ich mich von euch trennen.“


„Warum?“ fragte der Melek.


„Ich muß an den Verſammlungsort meiner Leute,
um ihnen zu ſagen, daß Frieden iſt, ſonſt könnten ſie un-
geduldig werden und noch vor dem Morgen gegen die
Kurden losbrechen.“


„So gehe.“


Er ritt von uns rechts ab, und wir waren in zehn
Minuten in Lizan. Die Leute empfingen uns mit neu-
gierigen Geſichtern. Die laute Stimme des Melek rief
ſie zuſammen, und dann richtete er ſich in dem Sattel
[620] empor, um ihnen zu verkünden, daß aller Kampf zu Ende
ſei, weil der Ruh 'i kulyan es geboten habe.


„Wollen wir die Berwari bis morgen warten laſſen?“
fragte ich ihn dann.


„Nein. Sie ſollen es ſofort erfahren.“


„Wer ſoll der Bote ſein?“


„Ich,“ antwortete der Bey. „Sie werden keinem
ſo leicht glauben wie mir. Reiteſt du mit, Herr?“


„Ja,“ ſtimmte ich bei, „nur warte noch ein
wenig.“


Ich wandte mich zu demjenigen Chaldani, der mir
am nächſten ſtand, mit der Frage:


„Du kennſt den Weg nach Schohrd?“


„Ja, Emir.“


„So genau, daß du ihn auch im Dunkeln findeſt?“


„Ja, Emir.“


„Kennſt du dort Ingdſcha, die Tochter des Raïs?“


„Sehr gut.“


„Und vielleicht auch ein Weib, das Madana heißt?“


„Auch das.“


„So nimm jetzt ein Pferd und reite hin. Du ſollſt
dieſen beiden ſagen, daß ſie ſich ohne Sorgen zur Ruhe
legen können, denn es iſt Frieden. Der Raïs iſt mein
Freund geworden und wird ihnen nicht zürnen, daß ich
aus der Hütte entkommen bin.“


Ich fühlte mich verpflichtet, den beiden braven Frauen
Nachricht von dem glücklichen Ausgange der heutigen Ver-
wicklungen zu geben; denn ich konnte mir ja denken, daß
ſie in Beziehung auf das Verhalten des Raïs ſehr in
Sorge ſein würden. Und nun ſchloß ich mich dem Bey
von Gumri an. Wir hatten unſere Pferde bereits in
Gang gebracht, als uns der Melek nachrief:


„Bringt die Berwari mit! Sie ſollen unſere Gäſte
ſein.“

[621]

Ich kannte den Weg, trotzdem er durch Bäume und
Sträucher ſehr beſchwerlich gemacht wurde. Aber wir
hatten noch nicht viel über die Hälfte desſelben zurück-
gelegt, als uns ein lauter Zuruf entgegenſcholl:


„Wer kommt?“


„Freunde!“ antwortete der Bey.


„Sagt die Namen!“


Jetzt erkannte der Bey den Poſten an der Stimme.


„Sei ruhig, Talaf, ich bin es ſelbſt!“


„Herr, du ſelbſt biſt es? Schükr' allah — Gott ſei
Dank, daß ich den Ton deiner Stimme vernehme! Iſt
es dir gelungen, zu entfliehen?“


„Ich bin nicht entflohen. Wo lagert ihr?“


„Reite grad aus, ſo wirſt du die Feuer ſehen!“


„Führe uns!“


„Ich darf nicht, Herr!“


„Warum nicht?“


„Ich gehöre zu den Wachen, die ausgeſtellt worden
ſind, und darf dieſen Ort nicht eher verlaſſen, als bis
ich abgelöſt werde.“


„Wer befiehlt bei euch?“


„Noch immer der Raïs von Dalaſcha.“


„Da habt ihr euch einen außerordentlich klugen An-
führer gewählt. Jetzt aber bin ich da, und ihr habt nur
mir zu gehorchen. Die Wachen ſind nicht mehr nötig.
Komm und führe uns!“


Der Mann nahm ſeine lange Flinte über die Schulter
und ſchritt uns voran. Bald ſahen wir die Lagerfeuer
zwiſchen den Stämmen der Bäume leuchten und gelangten
an denſelben Platz, wo wir am vorigen Tage die Be-
ratung gehalten hatten.


„Der Bey!“ erklang es rundum.


Alle erhoben ſich voll Freude, um ihn zu begrüßen.
[622] Auch ich wurde umringt und mit manchem freundſchaft-
lichen Händedruck bewillkommnet. Nur der bisherige
Anführer ſtand von ferne und beobachtete die Scene mit
finſterem Blick. Er ſah, daß ſeine Macht am Ende ſei.
Endlich aber trat er doch herbei und reichte dem Bey
die Hand.


„Willkommen!“ ſagte er. „Du biſt entronnen?“


„Nein. Man hat mich freiwillig freigegeben.“


„Bey, das iſt das größte Wunder, welches ich erlebe.“


„Es iſt kein Wunder. Ich habe mit den Chaldani
Frieden geſchloſſen.“


„Du haſt zu ſchnell gehandelt! Ich habe nach Gumri
geſandt, und in der Frühe werden viele Hunderte von
Berwari zu uns ſtoßen.“


„Dann biſt du ſelbſt es, der zu ſchnell gehandelt hat.
Haſt du nicht gewußt, daß dieſer Emir nach Lizan ging,
um Frieden zu machen.“


„Er wurde überfallen.“


„Aber du erfuhrſt dann ſpäter, daß es nicht der
Melek war, der ihn überfallen ließ.“


„Was bekommſt du von den Chaldani für den Frieden?“


„Nichts.“


„Nichts? O Bey, du haſt zu unklug gehandelt! Sie
haben dich überfallen und mehrere der Unſerigen getötet.
Giebt es keine Blutrache und kein Blutgeld mehr im
Lande?“


Der Bey blickte ihm ruhig lächelnd in das Geſicht;
aber dieſes Lächeln war beängſtigend.


„Du biſt der Raïs von Dalaſcha, nicht?“ fragte er
mit ſehr freundlicher Stimme.


„Ja,“ antwortete der andere verwundert.


„Und mich kennſt du wohl?“


„Warum ſollte ich dich nicht kennen!“


[623]

„So ſage mir, wer ich bin!“


„Du biſt der Bey von Gumri.“


„Richtig! Ich wollte nur ſehen, ob ich mich täuſchte;
denn ich dachte, dein Gedächtnis habe dich verlaſſen. Was
glaubſt du wohl, daß der Bey von Gumri dem Manne
thun wird, der es wagt, ihn vor ſo vielen tapfern Män-
nern unklug zu nennen?“


„Herr, willſt du mir meine Dienſte mit Undank
lohnen?“


Da auf einmal nahm die Stimme des Bey einen
ganz anderen Ton an.


„Wurm!“ donnerte er. „Willſt du gegen mich ebenſo
thun, wie du es zuerſt mit dieſem Emir aus Frankiſtan
gethan haſt? Sein Mund wies dich zurecht, und ſeine
Hand hat dich gezüchtigt. Soll ich mich vor dir fürchten,
da ſich der Fremdling nicht ſcheut, dich vom Pferde zu
werfen! Welchen Dienſt haſt du mir geleiſtet, und wer
hat dich zum Anführer ernannt? Bin ich es geweſen?
Ich ſage dir, der Ruh 'i kulyan hat uns geboten, Frieden
zu ſchließen, und weil die Stimme des Geiſtes zur Milde
geraten hat, ſo will ich auch dir vergeben. Aber wage
nicht noch einmal, gegen das zu handeln, was ich rede
und was ich thue! Du ſteigſt ſofort zu Pferde und
reiteſt nach Gumri, um den Berwari zu ſagen, daß ſie
ruhig in ihren Dörfern bleiben können. Gehorchſt du
nicht vollſtändig und augenblicklich, ſo bin ich mit dieſen
Kriegern morgen in Dalaſcha, und man ſoll von Behedri
bis Schuraïſt, von Biha bis Beſchukha im ganzen Lande
Chal erfahren, wie der Sohn des gefürchteten Abd-el-
Summit-Bey den Kiaja züchtigt, der ihm zu widerſtreben
wagt. Mache dich auf und davon, Sklave der Türken!“


Die Augen des Bey leuchteten ſo unheimlich, und
ſein Arm ſtreckte ſich zu gebieteriſch aus, daß der Raïs
[624] ohne ein weiteres Wort zu Pferde ſtieg und ſchweigend
davonritt. Dann wandte ſich der Bey zu den andern:


„Holt die Wachen herbei, und folgt uns nach Lizan!
Ihr ſollt von unſern Freunden bewirtet werden.“


Mehrere eilten fort; die andern löſchten die Feuer
aus, und ohne daß ein Wort der Frage oder des Wider-
ſpruchs gefallen war, hatten wir bereits nach zehn Mi-
nuten die Lichtung verlaſſen und ritten auf Lizan zu.


Als wir dort anlangten, bot ſich uns eine ſehr
lebendige Scene dar. Man hatte mächtige Haufen Holzes
errichtet, um die Feuer zu vermehren und zu vergrößern;
viele Chaldani waren beſchäftigt, Hammel zu ſchlachten,
und ſogar zwei prächtige Ochſen lagen am Boden, um
abgehäutet, ausgenommen, zerſtückelt und dann an den
Feuern gebraten zu werden. Dazu waren alle Uejütaſch *)
des Ortes zuſammengeſchleppt worden; ſie bildeten eine
lange Reihe, und an ihnen ſaßen die Frauen und Mäd-
chen, um Körner in Mehl zu verwandeln und aus dem
Mehl dann breite Brotfladen herzuſtellen.


Man begrüßte ſich zunächſt ſtill, und die eine Schar
mengte ſich vorſichtig und noch mißtrauiſch unter die
andere; aber bereits nach einer Viertelſtunde hatte man
ſich in Freundſchaft vereinigt, und überall erklangen fröh-
liche Stimmen, die den Geiſt der Höhle lobten, weil
er das Leid in Freude verwandelt hatte.


Wir Honoratioren (ich gebrauche dieſes Wort natür-
lich mit ungeheurem Stolze) ſaßen im Parterre des Melek
vereint, um beim Schmauſe über die Begebenheiten der
letzten Tage zu reden. Natürlich war auch mein wackerer
Halef dabei, der meine öffentliche Anerkennung ſeiner
Treue und ſeines mutigen Verhaltens mit ſichtlicher Ge-
[625] nugthuung entgegennahm. Der Tag war bereits ange-
brochen, als ich mich mit den Gefährten in den oberen
Raum des Hauſes begab, um einige Stunden zu ſchlafen.


Als ich erwachte, hörte ich unten die bekannte Stimme
des Raïs von Schohrd. Ich eilte hinab und wurde von
ihm mit großer Freundlichkeit begrüßt. Er hatte mir
alles mitgebracht, was mir abgenommen worden war; es
fehlte nicht das geringſte, und dazu ſagte er mir, daß er
zu jeder Genugthuung bereit ſei, die ich von ihm
fordern möchte. Natürlich wies ich das entſchieden ab.


Vor dem Hauſe lagen Kurden und Chaldani wirr
durcheinander. Sie ſchlummerten noch friedlich.


Da ſah ich von unten herauf zwei weibliche Geſtalten
langſam nahen. Ich legte die Hand wie einen Schirm
über die Augen und erkannte Ingdſcha mit der holden
„Peterſilie“. Die alte, ſüße Madana hatte ſich wahrhaft
prachtvoll herausgeputzt, wie ich ſah, als ſie näher kamen.
Ihr Haupt wurde beſchattet von einem Hut, der bloß
noch aus einer unendlich breiten Krämpe beſtand, und
um den übrigen Teil zu erſetzen, war ein großer Buſch
von Hahnenfedern über die klaffende runde Oeffnung ge-
bunden. An Stelle der Schuhe aber waren zwei pracht-
voll rote Fußlappen um die Füße gewickelt, leider aber
war die Farbe nicht mehr zu erkennen. Von ihren Hüften
wallte ein buntſcheckiger Teppich hernieder, der die
Stelle des Rockes zu vertreten hatte und von einer Schärpe
feſtgehalten wurde, die ich an einem andern Ort für
ein altes Küchenhandtuch gehalten hätte. Ihr Ober-
körper war eingehüllt in ein Ding, für das den richtigen
Namen zu entdecken ſelbſt dem gründlichſten Garderobe-
kenner nicht gelungen wäre. Es war teils Kaſawiaka,
teils Kartoffelſack, teils Beduine und teils lateiniſches
Segel, teils Konzerttuch und teils Stuhlkappe, teils Sa-
II. 40
[626] loppe und teils Geiferlatz. Zwiſchen dieſem geheimnis-
vollen Toiletteſtück und dem Teppich guckte das Hemd
hervor — aber, o ſüße Peterſilie, iſt dies Leinen oder
Maſtrichter Sohlenleder? Giebt es denn im Zab kein
Waſſer, traute Erretterin eines Emirs aus Germaniſtan?


Ganz anders wandelte Ingdſcha nebenher. Ihr
dichtes, volles Haar hing in zwei Zöpfen weit über den
Rücken herab; auf dem Scheitel kokettierte ein kleines, in
Falten gelegtes türkiſch-rotes Tuch; ſchneeweiße, weite
Frauenbeinkleider gingen bis zu niedlichen Smyrnaer
Stiefelchen herab; ein blaues, gelbbeſchnürtes Baſchi-
Bozukjäckchen reichte grad bis zu der Taille, und darüber
trug ſie einen Saub *) von dünnem, blauen Baum-
wollenſtoff.


Als ſie näher kam und mich erblickte, färbten ſich
die Wangen ihres bräunlichen Geſichtes dunkler. Meine
„Peterſilie“ aber kam ſofort mit Siebenmeilenſchritten
auf mich losgeſtiegen, legte die Arme über die Bruſt und
forcierte eine Verbeugung, die ſo tief ging, daß die
Spitzen ihrer Hüften faſt über den wagrecht liegenden
Rücken emporragten.


„Sabahh 'l ker — guten Morgen, Herr!“ grüßte
ſie. „Du wollteſt uns heute ſehen, hier ſind wir!“


Das war eine militäriſch kurze Meldung, ich ant-
wortete:


„Seid willkommen und tretet mit mir in das Haus.
Meine Gefährten ſollen die Frauen kennen lernen, denen
ich meine Rettung verdanke.“


„Herr,“ ſagte Ingdſcha, „du haſt uns einen Boten
geſandt; wir danken dir, denn wir waren wirklich in
Sorgen.“


„Haſt du deinen Vater bereits geſehen?“


[627]

„Nein. Er iſt ſeit geſtern nicht in Schohrd geweſen.“


„Er iſt hier. Komm herein!“


Schon unter der Thür ſtießen wir auf den Raïs,
der ſoeben das Haus verlaſſen wollte. Er machte ein
einigermaßen erſtauntes Geſicht, als er ſeine Tochter
erblickte, fragte ſie aber doch mit freundlicher Stimme:


„Suchſt du mich?“


„Es iſt Krieg, und ich habe dich ſeit geſtern nicht
geſehen,“ antwortete ſie.


„Aengſtige dich nicht; die Feindſchaft iſt vorüber.
Geht zur Frau des Melek; ich habe keine Zeit.“


Es ſchritt hinaus, ſchwang ſich auf ſein Pferd und
ritt davon. Ich aber ſtieg mit den beiden nach oben,
wo die Genoſſen ſoeben ihre Morgentoilette beendet
hatten.


Heigh-day, wen bringt Ihr da, Maſter?“ fragte
Lindſay.


Ich nahm die beiden Frauen bei der Hand und führte
ſie ihm zu.


„Das ſind die beiden Ladies, welche mich aus der
Höhle des Löwen befreiten, Sir,“ antwortete ich. „Dieſe
hier iſt Ingdſcha, die Perle, und dieſe andere heißt Ma-
dana, die Peterſilie.“


„Peterſilie, hm! Aber dieſe Perle iſt prächtig! Habt
recht gehabt, Maſter! Aber beide brav, alle beide. Werde
ihnen ein Geſchenk geben, gut bezahlen, ſehr gut. Yes!


Auch die anderen waren erfreut, meinen Beſuch kennen
zu lernen, und ich darf wohl ſagen, daß den beiden Chal-
däerinnen ſehr viel Achtung und Aufmerkſamkeit entgegen-
gebracht wurde. Sie blieben da bis Mittag, wo ſie das
Mahl noch mit uns einnehmen mußten, und dann begleitete
ich ſie eine Strecke Weges nach Schohrd zu. Als ich von
ihnen ſchied, fragte Ingdſcha:


[628]

„Herr, haſt du dich wirklich mit meinem Vater aus-
geſöhnt?“


„So iſt es.“


„Und haſt du ihm vollſtändig verziehen?“


„Vollſtändig.“


„Und er zürnt mir nicht? Er wird mich nicht
ſchelten?“


„Er wird dir nicht ein unfreundliches Wort ſagen.“


„Wirſt du ihn einmal beſuchen?“


„Bin ich denn dir und ihm willkommen, Ingdſcha?“


„Ja, Herr!“


„So komme ich bald, vielleicht ſchon heute, vielleicht
auch morgen.“


„Ich danke dir. Lebe wohl!“


Sie reichte mir die Hand und ſchritt weiter.


Madana aber blieb bei mir ſtehen und wartete, bis
das Mädchen außer Hörweite war; dann fragte ſie:


„Herr, weißt du noch, was wir geſtern geſprochen
haben?“


Ich ahnte, was jetzt kommen werde, und antwortete
daher lächelnd:


„Jedes Wort.“


„Und doch haſt du ein Wort vergeſſen.“


„Ah! Welches?“


„Beſinne dich!“


„Ich glaube, alles zu wiſſen.“


„O, grad das beſte, das allerbeſte Wort haſt du ver-
geſſen.“


„So ſage es!“


„Das Wort von dem Geſchenke!“


„Meine gute Madana, ich habe es nicht vergeſſen.
Verzeihe mir, ich komme aus einem Lande, wo man die
Frauen höher hält, als alles andere. Sie, die ſo ſchön,
[629] ſo zart und liebenswürdig ſind, ſollen ſich nicht mit ſchweren
Laſten plagen. Darum haben wir euch eure Geſchenke
nicht mitgegeben. Ihr ſollt ſie nicht dieſen weiten Weg
nach Schohrd tragen müſſen, ſondern wir werden ſie euch
heute noch ſenden. Und wenn ich morgen komme, ſo wird
dein Anblick mein Herz erfreuen, denn ich werde dich ge-
ſchmückt ſehen mit dem, was ich dir aus Dankbarkeit verehre.“


Die Wolke ſchwand, und heller Sonnenſchein glänzte
auf dem runzeligen Angeſicht der guten Peterſilie. Die-
ſelbe ſchlug die Hände zuſammen und rief:


„O, wie glücklich müſſen die Frauen deines Landes
ſein! Iſt es weit bis dahin?“


„Sehr weit.“


„Wie viele Tagreiſen?“


„Weit über hundert.“


„Wie ſchade! Aber du kommſt morgen wirklich?“


„Sicher!“


„Dann lebe wohl, Herr! Der Ruh 'i kulyan hat ge-
zeigt, daß du ſein Liebling biſt, und auch ich verſichere
dir, daß ich deine Freundin bin!“


Nun gab ſie mir die Hand und eilte Ingdſcha nach.
Wäre Germaniſtan nicht ſo viele Tagreiſen entfernt ge-
weſen, ſo hätte meine Peterſilie vielleicht verſucht, aus
eigener Anſchauung kennen zu lernen, „wie glücklich unſere
Frauen ſind!“


Ich hatte den Rückweg noch nicht ſehr weit verfolgt,
als ich eine Geſtalt rechts von der Höhe herabſteigen ſah.
Es war die alte Marah Durimeh. Auch ſie hatte mich
erkannt; ſie blieb ſtehen und winkte mir. Als ſie ſah,
daß ich ihrem Winke Folge leiſtete, drehte ſie ſich um und
ſtieg mit langſamen Schritten wieder den Berg hinan,
wo ſie hinter einem Geſträuch verſchwand. Dort erwartete
ſie mich.


[630]

„Der Friede Gottes ſei mit dir, mein Sohn!“ be-
grüßte ſie mich. „Verzeihe mir, daß ich dich zu mir
heraufſteigen ließ. Meine Seele hat dich lieb, und im
Hauſe des Melek kann ich nicht allein mit dir ſein; darum
rief ich dich zu mir. Haſt du ein wenig Zeit für mich?“


„So viel du willſt, meine gute Mutter.“


„So komm!“


Sie nahm mich bei der Hand, wie es eine Mutter
mit ihrem Kinde thut, und führte mich noch einige hundert
Schritte weiter, bis wir einen moosbewachſenen Fleck
erreichten, von dem aus man die ganze Gegend über-
blicken konnte, ohne ſelbſt bemerkt zu werden. Sie ſetzte
ſich nieder.


„Komm, nimm an meiner Seite Platz!“


Ich folgte ihrem Gebote. Sie ließ den weiten
Mantel fallen, und nun ſaß ſie neben mir ſo greis, ſo
ehrwürdig, ſo Ehrfurcht gebietend, wie eine Geſtalt aus
der Zeit der Propheten Israels.


„Herr,“ begann ſie, „blicke auf, dahin zwiſchen Süd
und Oſt. Dieſe Sonne bringt Frühling und Herbſt,
bringt Sommer und Winter; ihre Jahre ſind mehr als
hundert Male über mein Haupt dahingegangen. Siehe
dieſes Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters,
ſondern das Weiß des Todes. Ich ſagte dir bereits in
Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahr-
heit geſprochen; ich bin ein — Geiſt, der Ruh 'i kulyan.“


Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl,
wie wirklich aus dem Grabe heraus; aber ſie vibrierte
doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und
die Augen, die auf das Geſtirn des Tages gerichtet
waren, zeigten einen leichten, feuchten Glanz.


„Ich habe viel gehört und viel geſehen,“ fuhr ſie fort.
„Ich ſah den Hohen fallen und den Niedern emporſteigen;
[631] ich ſah den Böſen triumphieren und den Guten zu Schanden
werden; ich ſah den Glücklichen weinen und den Unglück-
lichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angſt,
und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in ſeinen
Adern. Ich weinte und lachte mit; ich ſtieg und ſank
mit — dann kam die Zeit, in der ich denken lernte.
Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und
daß ein lieber Vater alle bei der Hand hält, den Reichen
und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden.
Aber viele ſind abgefallen von ihm; ſie lachen über ihn.
Und noch andere nennen ſich zwar ſeine Kinder, aber ſie
ſind dennoch die Kinder deſſen, der in der Dſchehennah
wohnt. Darum geht ein großes Leid hin über die Erde
und über die Menſchen, die ſich nicht von Gott ſtrafen
laſſen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut
kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, der der
Vater eines beſſeren Geſchlechtes werden kann.“


Sie machte eine neue Pauſe. Ihre Worte, der Ton
ihrer Stimme, dieſes tote und doch ſo ſprechende Auge,
ihre langſamen, müden und doch ſo bezeichnenden Geſten
machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann die
geiſtige Herrſchaft zu begreifen, die dieſes Weib auf die
intellektuell armen Bewohner dieſes Landes ausübte. Sie
fuhr fort:


„Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen;
das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, ſehr reich
an irdiſchen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott,
den ſie verworfen hatten. Mein Leben ſtarb, aber dieſer
Gott ſtarb nicht mit. Er berief mich, ſeine Dienerin zu
ſein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem
Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu
predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, nicht mit
Worten, die man verlachen würde, ſondern mit Thaten,
[632] die ſegnend auf jene fallen, die der Barmherzigkeit des
Vaters bedürftig ſind. Die alte Marah Durimeh und
der Ruh 'i kulyan ſind dir ein Rätſel geweſen; ſind ſie
es dir auch jetzt noch, mein Sohn?“


Ich konnte nicht anders, ich mußte ihre dürre Knochen-
hand erfaſſen und an meine Lippen drücken.


„Ich verſtehe dich!“


„Ich wußte es, daß es bei dir nur dieſer Worte
bedurfte; denn auch du ringſt mit dem Leben, ringſt mit
den Menſchen außer dir und mit dem Menſchen in dir
ſelbſt.“


Ich ſchaute raſch auf zu ihr. War ſie mit der Gabe
des Sehens begnadet? Wie kam es, daß ihr Auge ſo tief
drang und ſo richtig blickte? Ich antwortete nicht, und
ſie fuhr nach einer Weile fragend fort:


„Du biſt ein Emir in deinem Lande?“


„Nicht das, was bei euch ein Emir iſt. Bei uns
giebt es Emire der Geburt, Emire des Geldes, Emire des
Wiſſens und Emire des Leidens, des Duldens und des
Ringens.“


„Zu welchen gehöreſt du?“


„Zu den letzteren.“


Sie blickte mich lange forſchend an; dann fragte ſie:


„Biſt du reich?“


„Ich bin arm.“


„Arm an Gold und Silber, aber nicht arm an andern
Gütern; denn dein Herz teilt Gaben aus, die andere er-
freuen. Ich habe gehört, wie viele Freunde du dir er-
worben haſt, und auch mich haſt du beglückt. Warum
bleibſt du nicht daheim; warum geheſt du in ferne Länder?
Man ſagt, du wanderſt, um mit deinen Waffen Thaten
zu verrichten; aber dies iſt nicht wahr, denn die Waffen
töten, und du willſt den Tod des Nächſten nicht.“


[633]

„Mara Durimeh, ich habe noch keinem geſagt, wes-
halb ich die Heimat immer wieder verlaſſe; du aber ſollſt
es hören.“


„Weiß es auch in deiner Heimat niemand?“


„Nein. Ich bin dort ein unbekannter, einſamer
Mann; aber dieſe Einſamkeit thut meinem Herzen wohl.“


„Mein Sohn, du biſt noch jung. Hat dir Allah
bereits ſolches Leid beſchert, daß deine Seele einwärts
geht?“


„Das iſt es nicht, ſondern es iſt das, was dich noch
leben läßt,“ erwiderte ich.


„Erkläre es mir!“ ſagte ſie.


„Wer in der Wüſte ſchmachtet, der lernt den Wert
des Tropfens erkennen, der dem Dürſtenden das Leben
rettet. Und auf wem das Gewicht des Leides und der
Sorge laſtete, ohne daß eine Hand ſich helfend ihm ent-
gegenſtreckte, der weiß, wie köſtlich die Liebe iſt, nach der
er ſich vergebens ſehnte. Und doch iſt mein ganzes Herz
erfüllt von dem, was ich nicht fand, von jener Liebe,
die den Sohn des Vaters auf die Erde trieb, um ihr
die frohe Botſchaft zu verkünden, daß alle Menſchen Brü-
der ſind und Kinder eines Vaters. Und wie der Heiland
aus den Höhen, wohin kein Sterblicher dringen kann, auf
die kleine Erde herniederſtieg, ſo gehen nun ſeine Boten
hinaus in alle Welt, um das Evangelium der Liebe zu
verkündigen allen, die noch in Finſternis wandeln. Das
ſind die Emire des Chriſtentums, die Helden des Glau-
bens, die Meleks der Barmherzigkeit.“


„Aber nicht alle lehren das, was du jetzt geſprochen
haſt. Es giebt Sendlinge, die die Boten des echten
Glaubens verfolgen. Siehe dieſes Land an, über dem
jetzt die Sonne leuchtet. Dieſelbe Sonne hat Tauſende
hier ſterben ſehen, und derſelbe Fluß, den du hier vor
[634] uns erblickſt, hat Hunderte von Leichen mit ſich fort-
geriſſen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens,
die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura
Schina wohnten; frage die Scheiks der chriſtlichen Fürſten,
die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies
alles ruhig geſchehen ließen! Hat nicht jeder chriſtliche
Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chriſten
zu ſchützen, ſie mögen ſich befinden, wo es nur immer ſei?
Ich habe heut um Mitternacht die Chriſten dieſes Thales
vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben dieſe
Emire weniger Macht als ich? Einſt war ich Meleka;
jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören
Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich
habe heut um Mitternacht das Chriſtentum verkündet,
aber nicht das Chriſtentum des Wortes, über deſſen Sinn
die Abgefallenen ſtreiten, ſondern das Chriſtentum der
That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Böſen, und
ſie werden es euch ſpäter danken, während die Guten, die
ſich nach Erlöſung ſehnen, euer Nahen mit Freudigkeit
begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne
Funken im Meere verlöſchen, ſondern ſendet Männer,
vor denen ſich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die
Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird
Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von
einem Hirten und einer Herde ſich erfüllen. Hat nicht
dieſer eine Hirt bereits ſeinen Statthalter auf Erden?
Warum wendet ihr ſelbſt euch von ihm weg? Kehrt zu
ihm zurück; dann ſeid ihr einig, und die Macht deſſen,
der euch ſendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *)
machen, in dem Milch und Honig fließt!“


Sie hatte während ihrer Rede ſich erhoben. Ihre
vorher gebeugte Geſtalt ſtand aufrecht vor mir; in ihren
[635] erſtorbenen Zügen zeigte ſich plötzliches Leben; ihre tief
eingeſunkenen Augen leuchteten vor Begeiſterung, und ihre
Stimme erſcholl laut und voll, als ob ſie zu Tauſenden
rede. Es war ein Augenblick, den ich nie vergeſſen werde.
Jetzt hielt ſie erſchöpft inne und ſetzte ſich wieder nieder.
Dieſe Frau mußte viel geſehen und gehört, viel gefühlt
und gedacht, vielleicht auch gar manches geleſen haben.
Was ſollte ich ihr antworten?


„Marah Durimeh, tadelſt du auch mich?“ fragte
ich ſie.


„Dich? Warum meinſt du das?“


„Weil ich auch ein Bote bin.“


„Du?! Wer hat dich geſandt?“


„Niemand. Ich komme ſelbſt.“


„Um zu lehren?“


„Nein, und doch auch ja.“


„Ich verſtehe dich nicht, mein Sohn. Erkläre es!“


„Du ſelbſt haſt geſagt, daß du Boten der That
wünſcheſt, aber der That, die nicht im Meere verliſcht.
Gott teilt die Gaben nach ſeiner Weisheit aus. Dem
einen giebt er die erobernde Rede und dem andern befiehlt
er, zu wirken, bevor die Zeit kommt, da er nicht mehr
wirken kann. Mir iſt die Gabe der Rede verſagt, aber
ich muß wuchern mit dem Pfunde, das Gott mir ver-
liehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer
ruhen; ich muß immer wieder hinaus, um zu lehren und
zu predigen, nicht durch das Wort, ſondern dadurch, daß
ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin. Ich
war in Ländern und bei Völkern, deren Namen du nicht
kennſt; ich bin eingekehrt bei weiß, gelb, braun und ſchwarz
gefärbten Menſchen; ich war der Gaſt von Chriſten,
Juden, Moslemin und Heiden; bei ihnen allen habe ich
Liebe und Barmherzigkeit geſäet. Ich ging wieder fort
[636] und war reich belohnt, wenn es hinter mir erklang: ‚Dieſer
Fremdling kannte keine Furcht; er konnte und wußte mehr
als wir und war doch unſer Bruder; er ehrte unſern
Gott und liebte uns; wir werden ihn nie vergeſſen, denn
er war ein guter Menſch, ein wackerer Gefährte; er war
— — ein Chriſt!‘ Auf dieſe Weiſe verkündige ich meinen
Glauben. Und ſollte ich auch nur einen einzigen Menſchen
finden, der dieſen Glauben achten und vielleicht gar dann
lieben lernt, ſo iſt mein Tagewerk nicht umſonſt gethan,
und ich will irgendwo auf dieſer Erde mich von meiner
Wanderung gern zur Ruhe legen.“


Es entſtand eine lange, lange Pauſe. Wir beide
blickten wortlos zur Erde nieder; dann ergriff ſie langſam
mit beiden Händen meine Rechte.


„Herr,“ ſagte ſie, „ich liebe dich!“


Dabei ſahen mich die alten Augen ſo mütterlich innig
an, daß ich's nie vergeſſen werde!


„Mein Sohn,“ ſagte ſie, „wenn du dieſes Thal ver-
laſſen haſt, ſo wird mein Auge dich nie wiederſehen, aber
Marah Durimeh wird für dich beten und dich ſegnen, bis
dieſes Auge geſchloſſen iſt. Du ſollſt nun auch der einzige
ſein, der außer den dreien, die um Mitternacht beim
Ruh 'i kulyan waren, mein Geheimnis erfährt. Willſt du?“


„Wenn Schweigen beſſer iſt, ſo verzichte ich darauf;
doch willſt du es mir wirklich und gewiß gern anver-
trauen, ſo nimm meinen Dank dafür.“


„Dieſe drei haben geſchworen, nie ein Wort davon
zu ſagen — — —.“


„Auch ich werde nie darüber ſprechen.“


„Zu keinem Menſchen?“


„Zu niemand!“


„So ſollſt du alles hören.“


Und nun erzählte ſie. Es war eine Geſchichte, die
[637] als Sujet einen Autor berühmt machen könnte, eine lange
Geſchichte aus jener Zeit, in der die drei Teufel Abd-
el-Summit-Bey, Beder-Khan-Bey und Nur-Ullah-Bey das
Chriſtentum im Thale des Zab ausrotteten, eine Geſchichte,
die mir die Haare ſträuben machte. Es dauerte lange,
ehe ſie beendet war, und dann ſaß die Alte noch geraume
Zeit in tiefem Schweigen neben mir. Nur ein leiſes
Schluchzen unterbrach dann und wann die Stille, und die
knöcherne Hand langte nach den Augen, um die immerfort
rinnenden Thränen zu trocknen. Dann legte ſie ermüdet
und ganz von ſelbſt ihr Haupt an meine Schulter und
bat mit leiſer Stimme:


„Gehe jetzt! Ich wollte hinab nach Lizan gehen; aber
ich ſteige nochmals zurück, um zu warten, bis mein Herz
wieder ruhig ſchlägt. Am Abend komme ich zu euch.“


Ich achtete dieſen Wunſch und ging.


Als ich in Lizan anlangte, ſah ich keine Kurden mehr;
aber der Bey hatte auf mich gewartet.


„Emir,“ ſagte er, „meine Leute ſind fort, und auch
ich ſcheide von hier; aber ich erwarte, daß du zurück nach
Gumri kommſt.“


„Ich komme.“


„Auf lange Zeit?“


„Auf kurze Zeit, denn die Haddedihn ſehnen ſich
nach den Ihrigen.“


„Sie haben mir verſprochen, mitzukommen, und wir
werden dann beraten, wie ihr am ſicherſten den Tigris
erreicht. Lebe wohl, Emir!“


„Lebe wohl!“


Der Melek ſtand mit meinen Gefährten dabei. Der
Bey verabſchiedete ſich nochmals bei ihnen und eilte dann
davon, um ſeine Kurden zu erreichen.


Marah Durimeh hielt Wort: ſie kam des Abends;
[638] und als ſie mich ungehört ſprechen konnte, fragte ſie
mich:


„Herr, willſt du mir eine Bitte erfüllen?“


„Von Herzen gern.“


„Glaubſt du an die Macht der Amulette?“


„Nein.“


„Aber dennoch habe ich dir heut eins gemacht. Willſt
du es tragen?“


„Als Andenken an dich, ja.“


„So nimm es. Es hilft nicht, ſo lange es geſchloſſen
iſt; aber wenn du einmal eines Retters bedarfſt, ſo öffne
es; der Ruh 'i kulyan wird dir dann beiſtehen, auch
wenn er nicht an deiner Seite iſt.“


„Ich danke dir.“


Das Amulett war viereckig und in einem zuſammen-
genähten Kattunlappen eingeſchloſſen. Da es mit einem
Bande verſehen war, hing ich es mir gleich um den Hals.
Später ſollte es mir allerdings ſehr nützlich ſein, trotz
meines offen geſtandenen Unglaubens; freilich konnte ich
nicht erwarten, daß der Inhalt ein ſo überraſchender ſei. —

[][][]
Notes
*)
Lichtauslöſcher.
*)
Milchſtraße
**)
Wörtlich: der Alte ohne Kopf (große Bär.)
*)
Venus.
**)
Waage.
*)
Dreitauſend Mark ungefähr.
*)
Regimentsquartiermeiſter oder Rang-Major.
**)
Major oder Bataillons-
chef.
***)
Oberſtlieutenant.
Stabsoffizier, Adjutant.
*)
Vorſteher des Gerichtshofes.
*)
Eine auf Nicht-Mohammedaner gelegte Taxe.
*)
Oberrichter der aſiatiſchen Türkei.
*)
Vorſteher.
*)
Wörtlich: „Dieſes ich ſelbſt“ oder „Dieſes bin ich ſelbſt“ — ein ſtatt der
Namensunterſchrift geltendes Zeichen.
*)
Sattelmacher.
*)
Verſammlung der Räte.
*)
Siegel der Statthalterſchaft.
*)
Konſul.
**)
Vorſteher.
*)
Eine Mark.
*)
Porzellanſchalen.
**)
Salat aus zarten Piſtazienblättern.
***)
Ziegen-
braten † Wörtlich: Mühlſteine. Ein hohes, feſtes Gebäck in der runden Form
der Mühlſteine.
*)
Taube.
**)
Fledermaus.
*)
Kleidermacher oder Kleiderhändler.
**)
Anzug aus Wollenſtoff.
***)
Eine
Mütze aus Filz von Ziegenhaar.
*)
Heuſchrecken.
*)
So nennen die Albaneſen ihr Land.
**)
Deutſcher.
***)
Deutſchland.
*)
Serbe.
*)
Der Morgenröte.
**)
Der Hyacinthe.
***)
Der Blume.
†)
Der Nach-
tigall.
††)
Armband.
†††)
Eigentlich wörtlich: „Dein Opfer“.
*)
Falke.
*)
Stute.
**)
Zügel, Zaum.
*)
Jude.
**)
Kommandant.
*)
Ein gewöhnlicher Mann.
*)
Fenſter.
*)
Wirtin.
**)
Mädchen, Dienerin.
*)
66 Mark.
*)
Hanf.
**)
Peterſilie.
***)
Zwiebeln.
†)
Knoblauch.
††)
Katzenkraut.
*)
Zwei Mark.
*)
Sergeant.
*)
Pantoffel.
**)
Ungefähr fünf Mark.
*)
Speiſewirt.
*)
Gerichtsſchreiber.
*)
Die Vermögensſteuer.
*)
Arzt.
*)
Haarlocke über der Stirn.
*)
Apotheke.
**)
Kräuterhändler.
*)
Todeskirſche.
**)
Fliege.
*)
1½ Pfund.
*)
König, Fürſt.
*)
Unreinen.
*)
Märchenerzähler.
*)
Um Moſis Willen.
**)
Waffen.
***)
Schnurrbart.
*)
Kaffeewirt.
*)
Gefangenhaus.
*)
Oberrichter der aſiatiſchen Türkei.
*)
Vicekönig.
*)
Ein Dorf der Kazikahnkurden.
*)
Kanoniere.
*)
Sergeant-Major.
*)
Simſon.
*)
Spinne, Kreuzſpinne.
**)
Der Trank aller Tränke.
*)
Wadenkrampf.
*)
Neben dem „Sehim“ eine Art Papiergeld.
*)
Kurdiſch: Geiſt der Höhle.
*)
Armer Sünder.
*)
Neſtorianer.
**)
Mutter Gottes, Maria.
*)
Andenken.
**)
Kleinigkeit.
*)
Deutſcher.
*)
Eidechſen.
**)
Würſte.
*)
Um Gottes willen.
*)
Maulbeerbaum.
**)
Herr, Gebieter.
*)
Vorſteher.
**)
Freund, Genoſſe.
*)
Bei meinem Haupte.
*)
O Gott!
*)
Waſſerpfeife.
*)
„Hal“ = Onkel von mütterlicher, „Am“ = Onkel von väterlicher Seite.
Die Zuſammenziehung dieſer beiden Worte bedeutet Beſchützer.
*)
Rache.
**)
Froſch.
*)
Derman heißt im Kurmangdſchi Schießpulver; Derman oder Dereman
heißt aber auch Medizin, Heilmittel.
**)
Wundfieber.
***)
Hebamme.
*)
Gaſt.
*)
Säbel, Schwert.
*)
„Herrſcher“, eine Höflichkeitsſteigerung von Chodih, Herr.
*)
Wörtlich: Bär des Eiſes.
**)
Tiſch.
*)
Laſtträger.
*)
Guitarre.
*)
Fenſterglas.
**)
Juden.
*)
Geldſtrafen.
*)
Wurfſpieß.
*)
Fremde.
*)
Krebs.
*)
So nennen ſich die Neſtorianer Kurdiſtans am liebſten.
*)
Patriarch.
**)
Erzbiſchof.
***)
Biſchof.
†)
Archidiakonen.
††)
Prieſter.
†††)
Diakonen.
†*)
Subdiakonen.
†**)
Vorleſer.
†***)
Jeſus.
*)
Oberhaupt.
*)
Der obere Zab.
*)
Knabe.
**)
Zündholz.
*)
Türkiſcher Dorfſchulze.
*)
Sammet.
**)
Stahl.
***)
Eiſen.
*)
Auserleſene, hervorragende Krieger.
*)
Schutz, Hausrecht.
*)
Bei den Kurden Schimpfnamen für die perſiſchen Schiiten.
**)
Schulmeiſter.
*)
Muhammedaniſche Prieſter.
*)
Löffel.
*)
Schaufel.
***)
Gold und Silber.
*)
Kuß.
*)
Handkuß.
*)
Vorherbeſtimmung.
**)
Sterblicher.
*)
Dattelfaſer.
*)
Großvater.
*)
Mittelamerikaniſcher Haifiſch.
*)
Königin.
*)
Arabiſcher Mann.
*)
Mahlſteine.
*)
Weites Obergewand, das von den Schultern bis zum Knöchel reicht.
*)
Heiligen Lande.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). May, Karl. Durchs Wilde Kurdistan. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpq4.0