der neueſten Zeit.
Fünfter Theil.
Verlag von S. Hirzel
1894.
[[III]]
im
Neunzehnten Jahrhundert
Bis zur März-Revolution.
Verlag von S. Hirzel
1894.
[[IV]]
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
Vorwort.
Durch ein langes Augenleiden iſt die Fortſetzung dieſes Buches ver-
zögert worden, und ich will nur wünſchen, daß man dem Bande nicht
anmerke, wie ſchwer mir zuweilen die Arbeit fiel.
Noch weit mehr als ſeine Vorgänger verdankt der vorliegende Band
den Beiträgen freundlicher Leſer. Ohne dieſen gütigen Beiſtand, aus
amtlichen Quellen allein hätte ich manche Ereigniſſe nicht verſtehen können,
und ich bitte auch für die Schilderung der Revolutionsjahre herzlich um
ſolche Mittheilungen. Die Aufgabe wird immer ſchwieriger, je mehr die
Erzählung ſich der Gegenwart nähert.
Ein Mangel läßt ſich bei allem Fleiße nicht ganz beſeitigen. Das
Leben der breiten Maſſen des Volks bleibt in einem Zeitalter reflectirter
Bildung immer geheimnißvoll, und wie viel der Hiſtoriker auch an wirth-
ſchaftlichen, politiſchen, religiöſen Erklärungsgründen vorbringen mag, zu-
letzt kann er doch nur einfach die Thatſache feſtſtellen, daß die Stimmung
der Zeit reif wurde für eine Revolution.
Die Geſchichte dieſer acht Jahre wirkt wie ein erſchütterndes Trauer-
ſpiel. Zuerſt hohe Entwürfe, glänzende Hoffnungen, überſchwängliche
Träume, nachher faſt überall ein klägliches Mißlingen, ein unvermeidlicher
Zuſammenbruch. Den tragiſchen Ernſt, der im Stoffe ſelber liegt, darf
der Darſteller nicht durch vornehmen Gleichmuth künſtlich zu verwiſchen
ſuchen.
Welchen Mißbrauch treibt man doch heute mit dem Ausſpruch: sine
ira et studio — einem Worte, das Niemand weniger befolgt hat als
ſein Urheber. Gerecht ſoll der Hiſtoriker reden, freimüthig, unbekümmert
[VI]Vorwort.
um die Empfindlichkeit der Höfe, ungeſchreckt durch den heute viel mäch-
tigeren Haß des gebildeten Pöbels. Aber ſo gewiß der Menſch nur ver-
ſteht was er liebt, ebenſo gewiß kann nur ein ſtarkes Herz, das die
Geſchicke des Vaterlandes wie ſelbſterlebtes Leid und Glück empfindet, der
hiſtoriſchen Erzählung die innere Wahrheit geben. In dieſer Macht des
Gemüths, und nicht allein in der vollendeten Form, liegt die Größe der
Geſchichtſchreiber des Alterthums. —
Berlin, 10. Auguſt 1894.
Heinrich von Treitſchke.
[[VII]]
Inhalt.
Fünftes Buch.
König Friedrich Wilhelm der Vierte
1840—1848.
- Seite
- 1. Die frohen Tage der Erwartung 3
- Der König und ſeine Umgebungen 6
- Huldigung in Königsberg und Berlin 29
- 2. Die Kriegsgefahr 61
- Der Londoner Vertrag der vier Mächte 61
- Bedrohung der Rheingrenze. Deutſchlands Rüſtungen 80
- Friedliche Löſung. Der Meerengen-Vertrag 109
- Bisthum Jeruſalem. Preußen und England 120
- 3. Enttäuſchung und Verwirrung 138
- Provinziallandtage von 1841. Poſen 138
- Neubildung des Miniſteriums. Schön und Rochow 154
- Kölner Domfeſt. Die Vereinigten Ausſchüſſe 168
- Der Kampf mit der Preſſe 189
- Neues Leben in Berlin 213
- Das Miniſterium Eichhorn 229
- Provinziallandtage von 1843. Verfaſſungspläne des Königs. Arnim’s
Rücktritt 258 - 4. Die Parteiung in der Kirche 276
- Verſöhnung Preußens mit dem Vatican 277
- Die Miniſterien Abel und Blittersdorff 305
- Der Deutſchkatholicismus 335
- Altlutheraner und freie Gemeinden 349
- Die erſte preußiſche Generalſynode 361
- 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft 370
- Die politiſche Poeſie 372
- Roman und Drama 383
- Die bildenden Künſte 395
- Hiſtoriker und Politiker 408
- Die neue Naturwiſſenſchaft 423
- 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft 433
- Erweiterung des Zollvereins. Luxemburg. Braunſchweig 434
- Kampf zwiſchen Schutzzoll und Freihandel 448
- Eiſenbahnen und Geldmächte. Sociale Unruhen 493
- Seite
- 7. Polen und Schleswigholſtein 524
- Europäiſche Lage ſeit dem Meerengen-Vertrage 524
- Aufſtände in Polen. Einverleibung Krakaus 540
- Der Offene Brief. Schleswigholſteins Erhebung 564
- 8. Der Vereinigte Landtag 591
- Ständiſche Bewegung. Das Patent 591
- Die Vereinigten Landſtände und ihr Ausſchuß 615
- 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes 649
- Verfall der monarchiſchen Gewalt in den Mittelſtaaten 649
- Gelehrtenverſammlungen. Preußens Bundesreformpläne 684
- 10. Vorboten der europäiſchen Revolution 702
- Auflockerung der Allianzen. Oeſterreich und Italien 702
- Sonderbundskrieg. Preußen und Neuenburg 725
- Beilagen.
XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft 745 - XXVII. Denkwürdigkeiten des Prinzen Emil von Heſſen 753
- XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing 755
- XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus 756
- XXX. Römiſche Verhandlungen des Grafen Brühl 763
- XXXI. Das Märchen vom Flüchtling Heine 764
- XXXII. Liſt an König Friedrich Wilhelm 766
- XXXIII. Graf Chriſtian Bernſtorff und Schleswigholſtein 767
- XXXIV. Der Prinz von Preußen und die Verfaſſungspläne 769
- XXXV. Kühne an Bodelſchwingh 773
Berichtigungen.
- S. 55, Z. 2 v. o. lies: Baier ſtatt Franke.
- ‒ 63, ‒ 20 v. o. lies: welche ſtatt welchen.
- ‒ 71, ‒ 10 v. u. lies: dergeſtalt ſtatt dargeſtellt.
- ‒ 97, ‒ 13 v. u. lies: eingenommen ſtatt eigenommen.
- ‒ 103, 1. Fußnote lies: 1841 ſtatt 1891.
- ‒ 118, Z. 2 v. u. lies: Beilage 29 ſtatt 19.
- ‒ 133, ‒ 11 v. o. lies: Hinreiſe ſtatt Heimreiſe.
- ‒ 133, ‒ 16 v. o. lies: Heimreiſe ſtatt Hinreiſe.
- ‒ 142, ‒ 3 v. u. lies: ſei ſtatt ſe.
- ‒ 194, ‒ 6 v. o. lies: linken ſtatt rechten.
- ‒ 204, ‒ 20 v. o. lies: verboten ſtatt vorboten.
- ‒ 206, ‒ 19 v. o. lies: nicht ſtatt nich.
- ‒ 206, ‒ 27 v. o. lies: Lügen ſtatt Lügent.
- ‒ 222, ‒ 18 v. u. iſt doch hinter: Kopf zu ſtreichen.
- ‒ 280, ‒ 10 v. u. lies: längſt ſtatt unlängſt.
- ‒ 282, ‒ 12 v. u. lies: das Eine ſtatt der Eine.
- ‒ 289, ‒ 9 v. u. lies: Geburtstagsgeſchenk ſtatt Geburtagsgeſchenk.
- ‒ 313, ‒ 14 v. u. lies: plötzlich ſtatt pötzlich.
- ‒ 379, ‒ 1 v. u. lies: Beilage 31.
- ‒ 427, ‒ 2 v. o. lies: ſtets Fachwiſſenſchaften ſind.
- ‒ 467, ‒ 21 v. u. lies: Tengoborski ſtatt Tegoborski.
- ‒ 645, ‒ 1 v. o. lies: Mißſtimmung im Lande.
[[1]]
Fünftes Buch.
König Friedrich Wilhelm der Vierte.
1840—1848.
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 1
[[2]][[3]]
Erſter Abſchnitt.
Die frohen Tage der Erwartung.
Am 9. Juni 1840 verſammelte Fürſt Metternich die ſämmtlichen in
Wien anweſenden deutſchen Geſandten zu einem Feſtmahle und gedachte
in bewegter Rede jenes ſchönen Bundes, der nunmehr ſeit einem Viertel-
jahrhundert den Deutſchen Glück und Frieden ſichere. Fürſtin Melanie
weinte tiefgerührt; denn jeden Augenblick erwartete man aus Berlin die
Kunde vom Tode des erkrankten Königs, und was mochte die herauf-
ſteigende neue Zeit bringen? An der Tafel ſaß auch der Bundespräſi-
dialgeſandte Münch-Bellinghauſen, der nach ſeiner Gewohnheit die letzten
acht Arbeitsmonate an der Donau zugebracht hatte, um demnächſt wäh-
rend der heißen Jahreszeit die Ferien des Bundestags wieder zu unter-
brechen. Mancher der Gäſte ſogar konnte ſich der unmuthigen Frage nicht
enthalten, ob dieſer von der Hofburg ſo geringſchätzig behandelte Bund wohl
eines Feſtes werth ſei.*) In der Nation ward der Erinnerungstag des
Deutſchen Bundes nirgends beachtet, kaum daß da oder dort ein Zeitungs-
blatt einen der landesüblichen bittern Scherze über das rothe Frankfurter
„Incompetenzgebäude“ brachte.
Wer ſollte auch jubeln über die Saat des Unfriedens, die in dieſen
fünfundzwanzig Friedensjahren aufgeſchoſſen war? Schroffer, unverſöhn-
licher denn je traten die alten großen Gegenſätze unſerer Geſchichte ein-
ander entgegen. Während die deutſche Bundesverfaſſung nur durch die
Freundſchaft der beiden Großmächte aufrecht erhalten werden konnte und
der Geſandte in Wien, Graf Maltzan, zur lebhaften Befriedigung des
alten Königs, den Grundgedanken der correcten preußiſchen Staatskunſt
in dem Satze zuſammenfaßte: „nicht unter, aber ſtets mit Oeſterreich“**),
hatte derſelbe Monarch bereits einen Weg eingeſchlagen, welcher un-
ausweichlich zur Trennung von Oeſterreich führen mußte. Das ſtolze
Werk dieſer neu aufgenommenen fridericianiſchen Politik, der Zollverein,
1*
[4]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
ſtand ſchon ſo feſt, die Gemeinſchaft der Arbeit zwiſchen den Deutſchen
außerhalb Oeſterreichs erſchien ſchon ſo unzerreißbar, daß Michel Chevalier
eben jetzt, nach einer Reiſe durch Deutſchland, bewundernd ſagte: „In
der europäiſchen Politik weiß ich nichts Merkwürdigeres als die Wieder-
herſtellung der Einheit Deutſchlands. Welch ein prächtiges Schauſpiel,
das eines großen Volkes, deſſen Trümmer ſich nähern, das zur Natio-
nalität, das heißt zum Leben, zurückkehrt!“
Der grelle Widerſpruch zwiſchen dieſem jungen vollſaftigen wirth-
ſchaftlichen Leben und den Formen des ſtarren, jeder Verbeſſerung ſpotten-
den Bundesrechts mußte die öffentliche Meinung verwirren. Die Einen
träumten noch dahin in dem Stillleben eines gedankenloſen Particula-
rismus, der durch die großen Verhältniſſe des neuen nationalen Marktes
ſchon überwunden war; Andere wiederholten noch wie vor zehn Jahren
die Schlagworte des radikalen Weltbürgerthums; in den beſten Klaſſen
des Volkes aber erwachte allmählich ein leidenſchaftlicher, reizbarer Natio-
nalſtolz. Sie ahnten, daß hier eine ungeheuere Volkskraft durch tauſend
verfitzte und verſchrobene politiſche Rückſichten künſtlich unterbunden war.
Verwegene Anſprüche, wie ſie vordem nur vereinzelte Schwärmer gewagt
hatten, wurden zum Zeitungsgeſpräche. Man begann zu fragen, warum
dieſer junge Zollverein nicht, wie einſt die Hanſa, ſeine Flagge auf dem
Weltmeere entfalte und durch ſeine Orlogsſchiffe beſchütze, warum er nicht
theilnehme an der Eroberung der transatlantiſchen Welt. Nach allen
entfremdeten Tochterlanden unſeres Volkes, bis nach Flensburg, bis nach
Riga und Reval ſchweiften die verlangenden Blicke der patriotiſchen
Schriftſteller; und als in dieſem wechſelreichen Sommer die Rheingrenze
von Neuem bedroht ſchien, da erhob ſich mit elementariſcher Gewalt ein
Sturm nationalen Zornes, der deutlich bekundete, daß der Geiſt der Be-
freiungskriege nicht erſtorben war, daß die Zeiten der Erfüllung unſerem
ringenden Volke endlich nahten. Mit dem nationalen Stolze wuchſen
auch die Freiheitshoffnungen. Nach ſo vielen Kämpfen und Enttäuſchun-
gen begannen ſich die Liberalen um dieſe Zeit das theoretiſche Ideal des
parlamentariſchen Staates zu formen, das ſie ſeitdem feſthielten bis mit
dem Jahre 1866 der monarchiſche Staatsgedanke wieder erſtarkte. Einer
ihrer Führer, der Braunſchweiger Karl Steinacker erklärte jetzt kurzab:
„die Regierung im Repräſentativſtaate iſt immer die Darſtellung der
Majorität im Staate;“ der beſonnene, wohlmeinende Mann ahnte nicht,
daß er mit dieſer Lehre dem Königthum jede ſelbſtändige Macht raubte
und nur den Weg ebnete für die republikaniſchen Ideen, die unter den
Flüchtlingen, unter der aufgeregten Jugend gewaltig überhandnahmen.
Wie weitab von ſolchen beſtändig ſteigenden doctrinären Anſprüchen
des Liberalismus lag die Wirklichkeit der deutſchen Zuſtände: die über-
aus beſcheidene Macht der ſüddeutſchen Landtage und die dreiſte Willkür
des Welfenkönigs, der ungeſtraft ſein Landesrecht mit Füßen trat. Auch
[5]Gegenſätze des deutſchen Lebens.
auf dem Gebiete der Theorie erſtanden der liberalen Lehre einflußreiche
Gegner. Unklare Erinnerungen aus Haller und den Werken der hiſto-
riſchen Rechtsſchule lieferten dem jungen Fürſten Ludwig zu Solms-
Lich den Stoff zu ſeinem Büchlein „Deutſchland und die Repräſentativ-
verfaſſungen“ (1838), einer Schrift, die in der vornehmen Welt, zumal
am Berliner Hofe lebhafte Bewunderung erregte, von dem alten Hans
Gagern aber mit dem treffenden Vorwurfe abgefertigt wurde: „Es kom-
men uns, vorzüglich aus dem Norden, allerlei ſophiſtiſche myſtiſche Be-
hauptungen zu, die wie die Nebel von den Sonnenſtrahlen des natürlichen
Verſtandes zerſtreut werden.“ Deutlich war in den verſchwommenen Sätzen
nur das Eine, daß der fürſtliche Verfaſſer die ganze neue Geſchichte des
deutſchen Südens für eine große Verirrung anſah und ihr die preußi-
ſchen Provinzialſtände als lichtes Gegenbild entgegenhielt. Ebenſo un-
friedlich geſtalteten ſich die wirthſchaftlichen Zuſtände. Kaum begann unter
dem Schutze des Zollvereins die junge Großinduſtrie aufzublühen, ſo
zeigte ſich auch ſchon die finſtere Schattenſeite der neuen Verhältniſſe;
weithin durch die lange Kette der mitteldeutſchen Hungergebirge erklang
der Jammerruf der Arbeiter; die grimme Noth ſtimmte die Maſſen em-
pfänglich für communiſtiſche Träume.
Eine ſchwere ſociale Erſchütterung ſchien im Anzuge, und ſie drohte
um ſo verheerender zu wirken, da auch das kirchliche Leben tief zerklüftet
war. Derweil das römiſche Prieſterthum ſeit dem Kölniſchen Biſchofs-
ſtreite ſeine Macht täglich wachſen ſah und der Glaubensernſt der wieder-
erwachten evangeliſchen Frömmigkeit ſich in fruchtbaren Liebeswerken be-
thätigte, verhöhnten die Kritiker der junghegelſchen Schule jede Form des
Chriſtenthums; der Bodenſatz der alten Aufklärung wirbelte wieder empor,
weite Kreiſe der Gebildeten vermochten noch gar nicht zu begreifen, daß
es mit der Religion wieder Ernſt ward. Als ein Zeichen der Zeit er-
ſchien am hundertſten Gedenktage der Thronbeſteigung die Jubelſchrift
„Friedrich der Große und ſeine Widerſacher“ von dem jungen C. F. Köppen,
ein geiſtreiches Buch, das die erhabene Sittlichkeit des ſchaffenden und
wiſſenden Heros wider die moraliſchen Splitterrichter ſiegreich vertheidigte,
aber auch die katholiſchen Wölfe im Schafskleide, die proteſtantiſchen Schafe
im Wolfskleide, die aus allen Pfützen quakenden glaubensſeligen Fröſche mit
ätzendem Hohne überſchüttete. Die reiche Gedankenarbeit dreier Genera-
tionen, welche die Herrſchaft der Ideen Voltaire’s in Deutſchland gebrochen
hatte, ſchien für dieſe radicale Jugend gar nicht vorhanden zu ſein. Und
welche Gegenſätze endlich in der Literatur. Neben der ſtrengen Forſchung
der hiſtoriſchen und der Naturwiſſenſchaft trieb eine freche und flache Tages-
ſchriftſtellerei ihr Weſen, durch und durch tendenziös, in Vers und Proſa
alle überlieferte Ordnung verſpottend, immer nur auf den flüchtigen Er-
folg des Augenblicks bedacht.
Deutſchland war in einem Zuſtande bedenklicher Gährung, und einer
[6]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
der wenigen Franzoſen, welche den Schickſalen des Nachbarlandes mit Ver-
ſtändniß folgten, Saint-René-Taillandier, meinte beſorgt: ſolche Anarchie
der Geiſter erinnere an die Zuſtände Frankreichs vor der Revolution.
Aber in den deutſchen Wirren offenbarte ſich nicht wie einſt in Frank-
reich die Fäulniß einer ſittlich zerſetzten Geſellſchaft, ſondern der unklare
Jünglingsmuth eines edlen aufſtrebenden Volkes, das ſeine Kraft zu
fühlen begann. Wie leicht eine große Idee alle dieſe hadernden Köpfe
unter einen Hut zwingen, alle dieſe durch einander fluthenden Gedanken,
von denen keiner die Nation ganz beherrſchte, völlig überſchatten konnte,
das lehrte jener wunderbare Einmuth kriegeriſcher Begeiſterung, der die
Deutſchen ergriff als ſie ihre Weſtmark gefährdet ſahen. Wenn der Nach-
folger Friedrich Wilhelm’s III. durch freien königlichen Entſchluß, wie bis-
her noch alle die großen Wendungen unſerer Geſchichte ſich entſchieden
hatten, durch eine rechtzeitige weiſe Gewährung ſeine heimiſchen Verfaſſungs-
händel ſchlichtete, wenn er alſo zugleich das Anſehen ſeiner Krone ſtärkte
und die Kluft überbrückte, welche ſein Preußen von den kleinen deutſchen
Staaten abſchied, wenn er das edle Vermächtniß der Befreiungskriege,
das erſtarkte religiöſe Leben treu behütete, ohne die freie Forſchung von
ſich zu ſtoßen, dann durfte er wagen die fridericianiſchen Gedanken in
einem großen und freien Sinne wieder aufzunehmen, das Werk des Zoll-
vereins zu vollenden und mit dem Degen in der Hand für den Staat,
der das Arbeitsleben der Nation bereits beherrſchte, auch die Leitung der
deutſchen Politik zu fordern. —
Selten hat ſich ſo fühlbar die alte Wahrheit beſtätigt, daß Männer
den Lauf der Zeiten beherrſchen. Friedrich Wilhelm der Vierte blieb acht
Jahre hindurch der Mann des Schickſals für Deutſchland; die Kräfte,
die er weckte, und weit mehr noch die Gegenkräfte, die er wider ſich auf-
rief, trieben unſer Volk der Revolution entgegen. Aber ſelten auch ward
ſo anſchaulich, daß die Zeit ſich ihre Männer bildet. Der räthſelhafte
Charakter des neuen Königs war ſelbſt nur eine letzte feine Blüthe der
langen, kaum erſt überwundenen Epoche äſthetiſcher Ueberſchwänglichkeit;
erſt den thatkräftigeren Söhnen eines anderen abgehärteten Geſchlechts,
das die Gräuel der Revolution durch die Gaſſen hatte raſen ſehen, ſollte
gelingen was dieſen weichen Händen mißrathen mußte. Eine ſo eigen-
artige Anſicht von der Vollgewalt des Königthums, wie dieſer Fürſt ſie
in begeiſtertem Herzen hegte, hatte mit der frivolen Selbſtvergötterung der
Bourbonen, mit der gedankenloſen Ruheſeligkeit der Wiener Hofburg gar
nichts, mit der pfäffiſchen Königskunſt der Stuarts auch nur wenig ge-
mein; ſie konnte, gleich dem künſtleriſchen Abſolutismus König Ludwig’s
von Baiern, nur auf deutſchem Boden erwachſen, nur auf dem Boden
jener romantiſchen Weltanſchauung, welche in der ſchrankenloſen Entfal-
tung aller Gaben, in der Selbſtgewißheit und dem Selbſtgenuſſe des
ſtolzen Ichs ihr Ideal fand. In der gedrückten und beengten Zeit rief
[7]Friedrich Wilhelm’s Anſchauung vom Königthum.
Jedermann nach Freiheit, Niemand lauter als der neue König. Aber vor
Allen wollte er ſelber frei ſein, um auf den Höhen des Lebens ſich aus-
zuleben, die Fülle ſeiner königlichen Weisheit und Geſtaltungskraft zu be-
thätigen. Er glaubte an eine geheimnißvolle Erleuchtung, die den Königen
vor allen anderen Sterblichen durch Gottes Gnade beſchieden ſei; er hegte
ein warmes Zutrauen zu den Menſchen und meinte die Zeit zu verſtehen,
weil er allem Schönen und Großen was ſie bot mit feinſinniger Empfäng-
lichkeit gefolgt war. Darum dachte er kraft ſeiner königlichen Vollgewalt
ſeinem geliebten Volke mehr wahre Freiheit zu ſchenken als jemals eine
geſchriebene Verfaſſung gewähren könne.
Friedrich Wilhelm hatte das fünfundvierzigſte Lebensjahr faſt erreicht,
und ſeine gedunſene Geſtalt mit den geiſtreichen, aber ſchlaffen, bartloſen Ge-
ſichtszügen erſchien trotz der jugendlich unruhigen Bewegungen ſchon etwas
gealtert. Wie viel hatte er auch ſchon erlebt in dieſen langen Jahren des
Wartens, welche Huldigungen waren ihm zu Theil geworden von jenen
fernen Tagen an, da die alte Albertina den dreizehnjährigen Knaben zu
ihrem Rector erwählte, und am letzten Geburtstage ſeiner Mutter „des Vater-
landes blühende Hoffnung“ durch eine Denkmünze geehrt wurde, bis herab
zu den ſpäteren Zeiten, da Goethe weiſſagte, dies große Talent müſſe neue
Talente wecken, und Jedermann die Geiſteshoheit des Kronprinzen bewunderte.
Seit Langem ſchon führte er den Vorſitz im Staatsrathe wie im Miniſterium
und glaubte daher das geſammte Getriebe des Staats zu überſehen. Sein
Vater ſorgte jedoch mit ſeinem ſchlichten Menſchenverſtande dafür, daß dieſe
einem Thronfolger wenig angemeſſene glänzende Stellung nicht zu einer
Mitregentſchaft entartete. Der alte König war in ſeinem Hauſe weit
mehr der Herr als im Staate; ſeine Kinder blickten zu ihm alle empor
mit jener ſcheuen Ehrfurcht, welche ernſte, wortkarge Väter ſelbſt begabteren
Söhnen einzuflößen wiſſen. Der politiſche Einfluß des Kronprinzen
reichte nicht ſehr weit. Einzelnen Perſonen, zumal rechtgläubigen Geiſtlichen
konnte er wohl durch ſeine Fürſprache vorwärts helfen; auch die wenig
erheblichen Verhandlungen mit den Provinzialſtänden blieben faſt ausſchließ-
lich ſeiner Leitung überlaſſen. Aber alle entſcheidenden Beſchlüſſe faßte der
alte Herr ſo ganz nach eigenem Ermeſſen, daß der Thronfolger ſeine
Ohnmacht bald ſehr ſchmerzlich empfand und einen ſtillen, beſtändig wach-
ſenden Groll gegen das alte Regiment faßte.
Er haßte nicht nur die bureaukratiſche Formenſtrenge, die er als
„Diener-Anmaßung“ abzufertigen liebte, ohne ihre großen Vorzüge zu
würdigen; er verabſcheute noch mehr den ganzen Geiſt dieſer Regierung,
der ihm von der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts nur wenig
abzuweichen ſchien. Wenn er als Kronprinz in Charlottenhof dicht unter
dem Hügel von Sansſouci weilte, in der roſenumrankten Villa, die ihm
der Vater geſchenkt und Schinkel mit italieniſcher Anmuth ausgeſchmückt
hatte, dann verglichen die Gäſte zuweilen in erregten Geſprächen Ver-
[8]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
gangenheit und Zukunft. Das aufſtrebende junge Geſchlecht meinte der
alten Zeit durch den Schwung, die Gläubigkeit, die Gemüthstiefe, die
Ironie der Romantik weit überlegen zu ſein. Friedrich Wilhelm’s Herzens-
freund Prinz Johann von Sachſen beſang in feierlichen Trochäen die
kalte Marmorpracht der Königsſäle da droben:
und ſchilderte dann in hüpfenden Daktylen das Gartenhaus drunten mit
ſeiner jugendlichen Fröhlichkeit:
Bald nach ſeiner Thronbeſteigung ſchlug der neue König ſelbſt in
dem Schloſſe des großen Friedrich ſein Hoflager auf, was keiner ſeiner
beiden Vorgänger gewagt hatte. Die unausbleiblichen erdrückenden Ver-
gleichungen erſchreckten ihn nicht, denn er hoffte, daß jetzt zum zweiten
male von dieſem „hiſtoriſchen Hügel“ herab ein neuer Geiſt ſich über das
Land ergießen würde, ein anderer freilich als der fridericianiſche, der Geiſt
des chriſtlichen Staates. In ernſter Arbeit und ſchweren Seelenkämpfen
hatte er die rationaliſtiſchen Lehren ſeiner Jugenderzieher längſt über-
wunden und den Glauben als die höchſte Potenz der Vernunft begriffen.
Unauslöſchlich ſtand in ſeinem Herzen der Spruch des heiligen Auguſtin:
das unwandelbare Licht Gottes war über mir, weil es mir das Daſein
gegeben, und ich war unter ihm weil es mich erſchaffen hat. Daraus
ergab ſich ihm „der unausſprechliche Unterſchied des Schöpfers
und Geſchöpfes, daher auch der Wahnſinn, die Gottheit aus dem eigenen
Weſen, als einem Analogon der Gottheit!!! zu conſtruiren.“*) Nichts
war ihm darum haſſenswürdiger, als „die Drachenſaat des Hegel’ſchen
Pantheismus“; tiefſinniger als Hegel erkannte er, daß jedes Zeitalter
nicht bloß als eine Entwicklungsſtufe für die Zukunft etwas bedeutet, ſon-
dern ſeinen ſelbſtändigen Werth, ſeine eigene Beziehung zu Gott hat. Die
neue Zeit aber, die jetzt heraufgraute, ſollte mit der Erbſchaft der alten
Aufklärung gründlich aufräumen, die Revolution durch die Freiheit, die
fleiſchliche Freiheit durch die chriſtliche, den mechaniſchen durch den chriſt-
lichen Staat überwinden.
Eine Welt herrlicher Pläne hatte er ſich mit künſtleriſcher Phantaſie
ſchon ausgeſonnen, und nun, da er der Herr war, drängte ihn ſein liebe-
volles Gemüth, das überall augenblicklich Freude bereiten, überall glück-
liche Geſichter um ſich ſehen wollte, ſie alle zu verwirklichen. Er dachte
die provinzialſtändiſche Verfaſſung durch die Einberufung eines ſtändiſch
gegliederten Reichstags zu vollenden, nimmermehr durch eine papierene
[9]Friedrich Wilhelm’s Pläne.
Conſtitution; denn obwohl er allen politiſchen Theorien ſeine Verachtung
auszuſprechen liebte, ſo war er doch ſelbſt ganz durchdrungen von einer
unwandelbaren politiſchen Doctrin. Jener künſtliche Gegenſatz des revo-
lutionären Repräſentativſyſtems und des legitimen Ständeweſens, welchen
Gentz einſt in der Karlsbader Denkſchrift vom Jahre 1819 geſchildert
hatte, erſchien ihm als eine unumſtößliche Wahrheit; wie die alte Natur-
rechtslehre an ein abſtraktes, über allen poſitiven Geſetzen erhabenes Ver-
nunftrecht glaubte, ſo er an ein hiſtoriſches Recht der Stände, das ohne
Zuthun der Staatsgewalt entſtanden, auch von ihr nur anerkannt, nicht
aufgehoben werden könne. Die Wahrheit, daß der rechtsbildende Gemeingeiſt
der modernen Völker ſich am ſtärkſten in ihren Staatsgeſetzen bethätigt, ver-
achtete er als eine Verirrung der hegelianiſchen Staatsvergötterer; von
dieſer „Staatsallmacht“ ſollte ſeine chriſtliche Monarchie ſich allezeit fern
halten. Haller’s Staatslehre feierte jetzt da ihr Urheber ſchon das ſiebzigſte
Jahr überſchritten hatte, ihren höchſten Triumph, nur daß dieſe derbproſaiſche
Machttheorie ſich in der Seele Friedrich Wilhelm’s zu einem reichgeſchmückten
künſtleriſchen Bilde ausgeſtaltete: die Idee der Staatseinheit galt ihm
gar nichts, genug wenn alle Stände und alle Landſchaften ſeines weiten
Reichs ſich frei und farbenprächtig in ihrer hiſtoriſchen Eigenart entfalteten,
auch die Wenden, auch die Litthauer, die Kaſſuben, die Maſuren ſich un-
geſtört ihrer volksthümlichen Sprache und Sitte erfreuten.
Alle Härten des alten Syſtems dachte er zu mildern; alſo Verzeihung
für die Demagogen, auch für die Polen, die er als widerrechtlich Unter-
drückte bemitleidete; Freiheit für die Preſſe, und vornehmlich für die Kirche.
Den Groll der Katholiken über den Kölniſchen Biſchofsſtreit hoffte er durch
hochherzige Zugeſtändniſſe zu verſöhnen. Die evangeliſche Landeskirche
aber und die oberſtbiſchöfliche Gewalt des Königthums betrachtete er kaum
als zu Recht beſtehend: wenn der Proteſtantismus nur erſt alle ungläu-
bigen Elemente ausgeſtoßen hätte, dann ſollten ſich die Gemeinden der
Gläubigen aus eigener Kraft, ungeſtört von der Staatsgewalt, ihre Kirche
neu erbauen, und alſo die unſichtbare Kirche ſichtbar werden. Auch die
knappe Sparſamkeit des alten Regiments betrachtete er längſt mit Un-
willen: um eine prächtige, geſchmackvolle, des hohenzollerſchen Namens
würdige Hofhaltung hoffte er Alles zu verſammeln was Deutſchlands
Kunſt und Wiſſenſchaft an großen Namen beſaß. Schon als Kronprinz
hatte er den Ausbau der Marienburg und des Kölner Domes gefördert,
zu Caſtel auf der Felsplatte hoch über der Saar die Gruftkirche ſeiner
lützelburgiſchen Ahnen, auf Stolzenfels das Rheinſchloß der trieriſchen
Kurfürſten ſtattlich hergeſtellt, auf Stahleck die Pfalzgrafenburg der
Altvordern ſeiner Gemahlin wieder zugänglich gemacht; jetzt ſollten über-
all die halbzertrümmerten Bauten der deutſchen Vorfahren prächtig auf-
erſtehen und zugleich den ſchöpferiſchen Talenten des jungen Künſtler-
geſchlechts eine Fülle neuer Aufgaben geſtellt werden. Jeder friſchen Kraft
[10]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
des vaterländiſchen Lebens wollte der chriſtliche Monarch ſorgſam gerecht
werden: dem Handel, dem Gewerbfleiß, dem Verkehre und nicht zuletzt
den arbeitenden Maſſen, deren wachſende Macht er ſchon als Kronprinz,
früher als die meiſten Zeitgenoſſen, ſcharfſichtig würdigte.
Von der überlieferten auswärtigen Politik war er nicht gemeint ſich
gänzlich loszuſagen; er betrachtete den Bund der Oſtmächte als den Schutz-
wall wider die Revolution, ſeine alte Verehrung für Metternich’s Weis-
heit hatte ſich mit den Jahren nur geſteigert, und gegen den ruſſiſchen
Schwager zeigte er ſich ſchwächer als ſein Vorgänger. Der alte Herr
hatte „den lieben Niks“ wie einen Sohn geliebt, aber ihn in ſeiner ſtillen
Weiſe immer in Schranken gehalten. Dem neuen Könige war die Härte
des Czaren tief zuwider, und vor Vertrauten äußerte er ſich oft ſehr bitter
über „Seine Autokratiſche Majeſtät“, doch er empfand vor ihm jene geheime
Furcht, welche der überlegene Wille dem überlegenen Geiſte aufzwingt.
Dabei fühlte er doch ſehr lebhaft, daß ſeine innere Politik weder mit dem
gemüthlichen Seelenſchlafe des alten Oeſterreichs, noch mit der knechti-
ſchen Stille des Czarenreichs irgend etwas gemein haben durfte, und
erſehnte die Zeit, da England wieder in den alten Vierbund eintreten,
Preußen aber, geſtärkt durch ein engeres Bündniß der beiden proteſtan-
tiſchen Großmächte, etwas freiere Hand in Europa erhalten würde. Dieſem
ſtammverwandten Inſelvolke widmete er ſeit einigen Jahren eine feurige
durch Bunſen’s enthuſiaſtiſche Briefe beſtändig geſchürte Bewunderung.
Mit Freuden nahm er wahr, wie die Anglomanie ſeit dem Ende der
dreißiger Jahre überall in Mitteleuropa, bis nach Ungarn hinein, unter
dem Adel überhandnahm, Trachten und Sitten der engliſchen Sportsmen
von der vornehmen Welt eifrig nachgeahmt wurden. Er ſah in der briti-
ſchen Verfaſſung das Muſterbild jener organiſchen Entwicklung, die er,
in anderen Formen freilich, für ſeinen eigenen Staat erhoffte, und theilte
die unter dem liberalen Adel wie im Bürgerthum weit verbreitete Mei-
nung, daß England unſer natürlicher Bundesgenoſſe ſei. Immerhin
hatte er ſchon mehr politiſche Erfahrung geſammelt als die freiwilligen
Staatsmänner des Liberalismus und erkannte wohl, daß die Verbindungen
der Staaten nicht allein durch ihre innere Verwandtſchaft beſtimmt wer-
den; nur wenn der alte Oſtbund unerſchütterlich fortbeſtehe, hielt er das
engere Bündniß der zwei proteſtantiſchen Mächte für möglich.
Noch lebhafter beſchäftigte ihn Preußens deutſche Politik. Er rechnete
nicht auf ein langes Leben und ſagte bald nach ſeiner Thronbeſteigung:
ob dieſe kurze Regierung ruhmreich werde, das wiſſe er nicht, aber einen
deutſchen Charakter ſolle ſie tragen. Da er „die Vorurtheile“ des fride-
ricianiſchen Zeitalters verachtete und dem alten Kaiſerhauſe neidlos den
Vortritt überließ, ſo hielt er den Deutſchen Bund mitſammt der fried-
lichen Zweiherrſchaft für eine höchſt ſegensreiche Einrichtung, und ſein
Ehrgeiz ging nur dahin, daß Preußen dieſe trefflichen Inſtitutionen be-
[11]Europäiſche und deutſche Politik.
leben, dem Bunde die wirkſame Leitung des Heerweſens, der Verkehrs-
verhältniſſe, der Handelspolitik verſchaffen müſſe. Wie die erweiterte
Bundesgewalt ſich mit dem Zollvereine vertragen ſollte, der doch ohne
und gegen den Bund entſtanden war — ſolche Fragen legte er ſich kaum
vor; denn ſein preußiſches Staatsgefühl blieb allezeit ſchwächer als die
unbeſtimmte Begeiſterung für Deutſchlands Einigkeit, und der Gedanke,
im Kampfe mit Oeſterreich die Führung der Nation für Preußen zu
fordern, lag gänzlich außerhalb ſeines Geſichtskreiſes. Unter allen hohen-
zollerſchen Königen war er der friedfertigſte, friedfertiger noch als ſein
Vater und darum auch der einzige, der nie einen ernſten Krieg geführt
hat. Auf eines ſeiner Muſeen ließ er den alten Cäſarenſpruch ſetzen:
Melius bene imperare quam imperia ampliare — ein Wort, das dem
Beherrſcher eines Weltreiches wohl anſtand, doch wahrlich nicht dem Könige
eines jungen, unfertigen Staates mit lächerlichen Grenzen. Er war kein
Mann des Degens; nur ungern beſtieg der Kurzſichtige ein Roß, und
wenngleich er bei den Manövern die Offiziere oft durch ſeine ſcharfſin-
nigen kritiſchen Bemerkungen überraſchte, ſo fühlten ſie doch alle, daß er
dieſe kriegeriſchen Pflichten nur aus Gewiſſenhaftigkeit, ohne Freude er-
füllte. Sein Herz hing an dem Glücke des Friedens. Alle die fried-
lichen Segnungen aber, welche ſein Volk unter der chriſtlich-ſtändiſchen
Monarchie zu erwarten hatte, ſollten allein ausgehen von der Weisheit
der Krone; denn wie ein Patriarch des Alten Teſtaments verſtand er
ſeine Würde, recht eigentlich als eine väterliche von Gott ſelbſt zur
Erziehung der Völker eingeſetzte Gewalt erſchien ihm das Königthum.
Auf die Perſon des Monarchen bezog er Alles was im Staate geſchah.
Der höchſte Zweck der freien Preſſe war ihm „das Aufdecken von Miß-
bräuchen und Unbilden, von denen Ich auf keinem anderen Wege unter-
richtet werden dürfte“;*) und wenn er ſeinen Unterthanen zürnte, dann
ſagte er drohend: „ungezogene Kinder zur rechten Zeit die Ruthe fühlen
zu laſſen iſt ſchon durch Salomon und Sirach empfohlen.“**)
Wenn ſich nur unter allen dieſen vielverheißenden Plänen des Thron-
folgers ein einziger völlig ausgereifter, ſtaatsmänniſch durchdachter Ent-
wurf befunden hätte! Indeß jene leidenſchaftliche Luſt am Erfolge, ſelbſt
am verkümmerten Erfolge, welche den Mann der That bezeichnet, war
ihm völlig fremd. Er liebte an der Fülle ſeiner Gedanken wie an einem
künſtleriſchen Spiele ſich zu weiden, und in den langen Jahren des
Harrens verlernte er faſt zu fragen, wie alle dieſe Herrlichkeit ins Leben
treten ſolle. Sogar den Plan der Befreiung der evangeliſchen Kirche,
der ihm unter allen das Herz am ſtärkſten bewegte, dachte er nur ſieben
Jahre lang mit ganzem Ernſt zu fördern; zeige ſich dann der Widerſtand
[12]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
unüberwindlich, ſo wollte er das Buch zuſchlagen. So ſprach nicht ein
geborener Herrſcher, ſondern ein phantaſiereicher Kopf, der ſich den Ein-
drücken des Lebens mehr hingab als ſie ſelbſt beſtimmte, eine weiche Natur,
die im Vertrauen auf Gott und die Menſchen allezeit hoffte, die Dinge
würden nach ihren Wünſchen gehen und dann das Mißlingen nicht der
eigenen Schwäche, ſondern dem unerforſchlichen Rathſchluſſe der Vor-
ſehung zuſchrieb. Auf ſeinem Schreibtiſch in Sansſouci ſtanden neben
einander die Statuetten der Venus von Melos, des frommen Gellert,
des Czaren Nikolaus, beredte Zeugen einer wunderbaren Empfänglichkeit,
die in Kunſt und Wiſſenſchaft, in Staat und Kirche alles Bedeutende zu
verſtehen ſuchte, ohne irgendwo ganz heimiſch zu werden.
Im Geſpräche mit den Helden des deutſchen Geiſtes zeigte er eine
ſo blendende Ueberlegenheit, daß Leopold Ranke ſtaunend ſagte: er iſt
unſer Aller Meiſter. Und doch war er kein Meiſter, ſondern nur der
größte aller jener geiſtreichen Dilettanten, an denen die vielgeſtaltige
moderne Cultur ſo reich iſt. Auf keinem der unzähligen Gebiete des
geiſtigen Lebens, die ſein ruheloſer Geiſt zu umfaſſen ſtrebte, zeigte er
ſich wahrhaft mächtig, wahrhaft ſchöpferiſch, am wenigſten in ſeinem poli-
tiſchen Berufe. In ſpäteren Jahren wetterte einmal ein klagender Bauer,
der von dem Monarchen an den Staat gewieſen wurde, über dieſen
„Racker von Staat“, und der König pflegte dies geflügelte Wort halb im
Scherz zu wiederholen. In ſeinem Munde war es leider mehr als ein
Scherzwort; die unerbittliche Regelmäßigkeit der Staatsgeſchäfte widerte
ihn ebenſo tief an wie die Härte der politiſchen Machtkämpfe, obgleich er
die Arbeiten ſeines königlichen Amts mit gewiſſenhaftem Fleiße, bis in die
tiefe Nacht hinein beſorgte. Immer athmete er auf ſobald er ſich aus
dieſer Welt der Nüchternheit in ſein eigenes reiches Ich zurückziehen konnte,
und nie war er glücklicher, als wenn er, berauſchend und berauſcht, die Fluth
ſeiner Gedanken und Gefühle in begeiſterter Rede ausſtrömen ließ. „Es
ließ mir keine Ruh’, ich mußte reden,“ ſo ſagte er dann, durchaus ehr-
lich, zu ſeinen Freunden.*) Nur die ihn nicht kannten, beſchuldigten ihn
einer ſchauſpielernden Berechnung, welche ſeinem Charakter fern lag. Sein
volles Herz auszuſchütten, an der Pracht hoher Bilder, an dem Wohl-
laut der heißgeliebten, mit Meiſterhand gepflegten Mutterſprache ſich zu
erfreuen war ihm Bedürfniß. Die Wirkung dieſer geſprochenen Selbſt-
bekenntniſſe ſtellte er dem barmherzigen Himmel anheim, ganz anders als
ſein Ahnherr Friedrich, der, auch ein geborener Redner, immer zum Zwecke
ſprach, jeden Satz auf den Willen der Hörer berechnend, und nie ver-
gaß, daß Königsworte nur wenn ſie Thaten ſind in der Nachwelt fort-
leben. Jenen unbewußten Schauſpielerkünſten freilich, welche jedem be-
gabten Redner nahe liegen, unterlag er oftmals; wenn er an froher
[13]Selbſtherrſchaft des Königs.
Tafelrunde in allen Augen den Abglanz ſeiner eigenen ſiegreichen Per-
ſönlichkeit widerſtrahlen ſah, dann ſagte er oft mehr als in ſeinem
Willen lag.
Und ſeltſam, während ſonſt Naturen von ſo vielſeitiger Empfänglich-
keit ſich Anderen anzuſchmiegen pflegen, ſtand Friedrich Wilhelm ganz auf
eigenen Füßen. Hier lag das Räthſel dieſes ſeltſamen Charakters, hier
der Grund, warum er ſelbſt von großen Köpfen ſo oft überſchätzt wurde.
In ſorgloſer Heiterkeit, ganz unanthunlich, wie die Holländer ſagen, ſchritt
er durch das Leben; kraft der Weihe ſeines königlichen Amtes, kraft ſeiner
perſönlichen Begabung glaubte er alle Welt weit zu überſehen, und es
gefiel ihm zuweilen, ſeine Abſichten in ein ahnungsvolles Dunkel zu hüllen,
durch halbe, unklare Worte die kleinen Sterblichen in Verwirrung zu
ſetzen. Ohne durchgreifende Willenskraft, ohne praktiſchen Verſtand, blieb
er doch ein Selbſtherrſcher im vollen Sinne. Niemand beherrſchte ihn;
aller Glanz und alle Schmach ſeiner Regierung fiel auf ihn ſelbſt allein
zurück. Auf den Widerſpruch ſeiner Räthe ließ er wohl einen Lieblings-
plan plötzlich fallen, und dann ſchien es eine Weile, als ob die Gedanken
in dieſem unruhigen Kopfe wechſelten wie die Bilder im Wandelglaſe —
bis ſich endlich mit einem male zeigte, daß der König an ſeinem urſprüng-
lichen Plane mit einer ſeltſamen ſtillen Zähigkeit feſtgehalten hatte und,
trotz Allem was dazwiſchen lag, zu ihm zurückkehrte. Er gab nichts auf und
ſetzte wenig durch. Neigungen des Gemüths und fertige Doctrinen beſtimmten
ſeine Entſchlüſſe; Gründe der politiſchen Zweckmäßigkeit konnten dawider
nicht aufkommen.
Und dieſe Unabhängigkeit von fremdem Urtheile war ein Glück für
den Monarchen; denn aller Menſchenkenntniß baar zeigte er eine höchſt
unglückliche Hand in der Wahl ſeiner Rathgeber, eine wunderliche Nei-
gung, bedeutende Männer an die falſche Stelle zu ſetzen oder ſie durch
unmögliche Zumuthungen raſch zu vernutzen, ſo daß, außer den beiden
perſönlichen Vertrauten Thile und Stolberg, nur ein einziger ſeiner Mi-
niſter, Eichhorn, die acht Jahre bis zur Märzrevolution ganz bei ihm
ausgehalten hat. In Allem abweichend von der unzugänglichen Schüch-
ternheit des Vaters, liebte er Jedermanns Meinung zu befragen; in der
Unterhaltung hörte er freimüthigen Widerſpruch gern, ja er ſchien ihn
durch kecke Behauptungen faſt herauszufordern. Den Freunden betheuerte
er ſeine Zuneigung mit einer Ueberſchwänglichkeit, die ihn oft in den
Verdacht der Falſchheit brachte, obwohl ſie ſtets der unwillkürliche Aus-
druck ſeiner Stimmung war. Feinſinnig errieth er alle Wünſche ſeiner
Getreuen und erfüllte ſie mit königlicher Freigebigkeit, zart und rückſichts-
voll ſchonte er ihre menſchlichen Schwächen. Wenn er gewinnen wollte,
dann entfaltete er eine bezaubernde Liebenswürdigkeit und verſchmähte
ſelbſt die kleinen weiblichen Künſte des Schmollens nicht. Gleichwohl
fühlte er ſich durch ſeine königliche Würde ſo hoch erhoben, daß ihm die
[14]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Perſonen im Grunde wenig galten. Mit erſtaunlicher Kälte konnte er
ſich von altbewährten Vertrauten trennen, wenn ſie ihre abweichende Mei-
nung öffentlich kundgaben und ihm ſeine Zirkel ſtörten. In jedem er-
klärten politiſchen Gegner ſah er einen perſönlichen Feind, und nach der
Weiſe aller Gemüthsmenſchen behandelte er dann die entfremdeten Freunde
ebenſo hart und ungerecht wie vordem zärtlich und liebevoll, obgleich er
es oft als ſeinen heißeſten Herzenswunſch ausſprach gegen Jedermann
ſtreng gerecht zu ſein.
Nicht bloß ſeine äußere Erſcheinung, auch ſein edel aber unglücklich
angelegter Geiſt gemahnte an das Dichterbild des Hamlet. Wie reich war
er an ſchönen, hohen Gedanken, und doch ſo unſicher in ſeinen Ent-
ſchlüſſen, daß ſeine Miniſter beim Schluſſe einer Sitzung nie errathen
konnten, ob er noch dieſelbe Meinung hegen würde wie am Anfang. Seine
Frömmigkeit kam aus den Tiefen eines gottbegeiſterten Herzens, ſeine
milde Hand ſchwelgte in den Werken einer jeden Schein verſchmähenden
chriſtlichen Barmherzigkeit; und dieſer Gütige konnte, wenn der Jähzorn
ihn übermannte, ſich bis zur Grauſamkeit verfolgungsſüchtig zeigen. Selber
ſittenſtreng urtheilte er hart, faſt prüde über lockeren Lebenswandel; das
ſchloß nicht aus, daß er an ſaftigen Eulenſpiegeleien und Berliner Straßen-
witzen ſeine Freude fand. Wie groß war ſein Wiſſen und ſein Wiſſens-
drang; aber die reinſte Blüthe aller Bildung, die Einfachheit des Fühlens
und Denkens blieb ihm unverſtändlich und unerreichbar; überall ſuchte
er das Abſonderliche, weitab von der Heerſtraße; immer mußte er witzig
und geiſtreich ſein, ſelbſt wenn er durch einen paradoxen Einfall den Er-
folg eines politiſchen Geſchäfts gefährdete. Die männliche Kraft des Leibes
und der Seele, welche allein ſo viele widerſprechende Gaben im Einklang
halten konnte, war ihm verſagt, und zuweilen ließen ſich ſchon die Spuren
einer ſchlechthin krankhaften Anlage erkennen.
Der alte König hatte immer, oft allzu ängſtlich, die Gegenſätze zu
beſchwichtigen verſucht, immer gehandelt nach dem alten Grundſatze, daß
die erſte Pflicht jeder Regierung gebietet beſtimmte politiſche Ueberliefe-
rungen feſtzuhalten; zuletzt, in den Tagen ſeines erſtarrenden Alters, war
es dahin gekommen, daß Miniſter Alvensleben beruhigt ſagte: wir kennen
die Meinungen des Monarchen ganz genau und können unſere Berichte
ſtets alſo abfaſſen, daß wir der Genehmigung ſicher ſind.*) Wie anders
der neue Herrſcher. Er beabſichtigte ebenfalls die Traditionen ſeiner alten
Monarchie in Ehren zu halten; doch durch ſeine vielverheißenden Reden,
durch die Fülle ſeiner Pläne, durch ſein unſtet abſpringendes Weſen, durch
das beſtändige Ausſprechen perſönlicher Gefühle wirkte er überall ſo
aufregend und aufreizend, daß bald ein Sturm der Leidenſchaften ſein
ruhiges Land durchtobte und er ſelbſt dem Schickſal des Zauberlehrlings
[15]Friedrich Wilhelm’s Verhältniß zu ſeiner Zeit.
verfiel. Die Schwäche jeder neuen Regierung, die Unberechenbarkeit aller
Verhältniſſe, währte unter dem vierten Friedrich Wilhelm nahezu acht
Jahre, bis eine furchtbare Niederlage des Königthums die ganze Lage
veränderte. Und wenn nur die Zeit und ihr königlicher Erwecker einander
irgend verſtanden hätten! Er aber hatte ſich in einem ſeltſam verſchlun-
genen Entwicklungsgange ſo eigenthümliche Ideale gebildet, daß er zu-
weilen in den Worten, niemals in der Sache mit der Durchſchnitts-
meinung der Zeitgenoſſen übereinſtimmen konnte; er redete eine andere
Sprache als ſein Volk. Man jauchzte ihm zu, weil er nach dem Wunſche
aller Welt dem Zwange, der Stille des alten Syſtems ein Ende bereitete,
und auch durch die Form ſeiner Reden ſchien er zu beweiſen, daß Niemand
ſich völlig von ſeiner Zeit losſagen kann; denn ganz wie die Poeten
des jungen Deutſchlands, die er ſo tief verabſcheute, liebte er durch das
Ungewöhnliche zu blenden und verſchmähte Schlichtes ſchlicht zu ſagen.
Doch wenn er von Freiheit ſprach, ſo meinte er ſein althiſtoriſches Stände-
weſen, das nur die Macht des Beamtenthums, nimmermehr die monar-
chiſche Gewalt beſchränken ſollte, während ſeine Zuhörer an das Reprä-
ſentativſyſtem dachten, das man allmählich für die einzige eines geſitteten
Volkes würdige Staatsform anſah. Wenn er die deutſche Einheit pries,
ſo dachte er an den Deutſchen Bund und deſſen friedliche Fortbildung, der-
weil die Gebildeten das ganze Treiben in der Eſchenheimer Gaſſe ſchon
längſt als einen geſpenſtiſchen Mummenſchanz verurtheilten. Wenn er
von der Selbſtändigkeit der Kirchen redete, ſo ſtimmte ihm Jedermann
zu, denn wer konnte dem Zauberworte der Freiheit widerſtehen? — aber
die chriſtliche Geſinnung, die er für die freien Gemeinden der Gläubigen
verlangte, war den Wortführern des Zeitgeiſtes völlig fremd, und alle die
edlen Stiftungen ſeiner großartigen Wohlthätigkeit, die von ihren Pfleg-
lingen noch heute dankbar geſegnet werden, galten der Welt für Fröm-
melei und Muckerei. Wenn er der Kunſt und Wiſſenſchaft freie Bahn
verſprach, ſo dachte er an die alte Naturphiloſophie und die romantiſche
Dichtung, geiſtige Mächte, welche das ſelbſtgefällige neue Geſchlecht längſt
überwunden zu haben glaubte.
So ward die erſte Zeit ſeiner Regierung eine lange Kette von Miß-
verſtändniſſen, und an dieſer wechſelſeitigen Verkennung trug der König
ebenſo viel Schuld wie die unklar gährende Zeitſtimmung, die ihn erſt
für ihren Helden hielt, um ihn dann mit der ganzen Bitterkeit der Ent-
täuſchung zu bekämpfen. Selbſt General Gerlach, der getreue Freund
und Diener, ſagte zuweilen: „die Wege des Herrn ſind wunderbar,“ und
der nicht minder ergebene Bunſen ſchrieb neben die Klage des Königs:
„Niemand verſteht mich, Niemand begreift mich“ die verzweifelte Rand-
bemerkung: „Wenn man ihn verſtände, wie könnte man ihn begreifen!“
Friedrich Wilhelm vermochte nicht, wie ſein ebenſo phantaſiereicher bairi-
ſcher Schwager, durch despotiſche Härte und durchtriebene Schlauheit ſich
[16]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
aus ſelbſtverſchuldeten Verwicklungen herauszufinden; er rieb ſich auf in
unfruchtbaren Verſuchen, bis die Geſchichte über ihn hinwegſchritt. Weder
zum herzhaften Genuſſe, noch zu herzhafter That beſaß er die Kraft, und
obwohl ihn die angeborene muntere Laune nie ganz verließ, ſo fühlte er
ſich doch innerlich unbefriedigt. Er erkannte bald mit Schmerz, daß ihm
nichts gelinge, und die aufgeregte Zeit war nicht in der Stimmung, dieſem
ſtillen Leiden eines hochbegabten Geiſtes menſchliche Theilnahme zu zollen.
Der von dem Berufe der Könige von Gottes Gnaden ſo überſchwänglich
hoch dachte, mußte noch erleben, daß ſein Regiment den Glauben an das
Königthum in einem altmonarchiſchen Volke tief, zum Glück nicht für
immer, erſchütterte. Es war, als wollte die Vorſehung dieſem überbildeten
und den Werth der Bildung maßlos überſchätzenden Geſchlechte an einem
tragiſchen Beiſpiele zeigen, wie wenig in den Machtkämpfen des Staats-
lebens Geiſt, Wiſſen, Edelſinn, Herzensgüte vermögen ohne die ſchlichte
Kraft eines männlichen Willens. In dem großen Zuſammenhange der
deutſchen Geſchichte erſcheint dieſe tief unglückliche Regierung doch als
eine nothwendige, heilſame Schickung; denn unter einem ſtärkeren Könige
wäre der unvermeidliche Uebergang der ſtolzen preußiſchen Monarchie zur
conſtitutionellen Staatsform ſchwerlich ohne furchtbare Kämpfe erfolgt. —
Das Schickſal fügte, daß faſt zu gleicher Zeit mehrere der wichtigſten
Staatsämter durch Todesfälle erledigt wurden. Wenige Wochen vor dem
alten Könige war Altenſtein geſtorben, ſchon etwas früher ſein frommer
Rathgeber Nicolovius. Noch ehe das Jahr zu Ende ging, ſtarb der treue
Stägemann, der ſo lange in allen vertraulichen Angelegenheiten die Feder
für den Monarchen geführt hatte. Schinkel wurde in der Kraft ſeiner
Jahre von einer ſchrecklichen Krankheit ergriffen, die ſeinen Geiſt um-
nachtete und ihn bald dahinraffen ſollte. Den Tod des Grafen Lottum
und des Kriegsminiſters General Rauch erwartete man binnen Kurzem;
Beide fühlten ſich altersmüde. Der ebenfalls hochbejahrte Fürſt Wittgen-
ſtein hielt ſich gefliſſentlich von den Geſchäften zurück und äußerte bitter,
mit dieſer verwandelten Welt wolle er nichts mehr gemein haben. So
ward denn überall Raum für friſche Kräfte, und aufjubelnd ſchrieb Peter
Cornelius: „es naht eine Feſt- und Frühlingszeit für ganz Deutſchland!“
Deutſchland hatte aber in dieſem Vierteljahrhundert erſtaunlich raſch ge-
lebt, und durch die lange Regierungszeit des alten Königs wurde die
natürliche Folge der Generationen verſchoben. Die neuen Männer, welche
jetzt in die Höhe kamen, gehörten nicht der Jugend an; ſie waren zu-
meiſt, gleich ihrem königlichen Gönner, aufgewachſen unter den beſtimmen-
den Eindrücken der Befreiungskriege, der Zeit der Reſtauration und der
religiöſen Erweckung; manche von ihnen bewahrten auch noch die Frei-
heitsideale der älteſten Burſchenſchaft treu im Herzen. Das allerjüngſte
radicale Geſchlecht jedoch belächelte ſie ſchon als Reactionäre, ihre chriſtlich-
germaniſchen Ideen erſchienen der neuen Aufklärung der Junghegelianer
[17]Königin Eliſabeth.
ſogar noch haſſenswürdiger als die trocken verſtändige Bureaukratie des
alten Syſtems.
Unter Allen ſtand Königin Eliſabeth dem Herzen des Königs am
nächſten. Ihr widmete er eine unbegrenzte Zärtlichkeit, faſt über das
Maß hinaus, das einem Herrſcher erlaubt iſt. Als er ſich, von Thränen
überſtrömt, ganz in Rührung zerfließend vom Todesbette ſeines Vaters
erhob, ſagte er zu ihr: „Jetzt ſtütze mich, Eliſe, nun bedarf ich der Kraft.“
Wenn er gepeinigt von der jeden Entſchluß erſchwerenden Ueberfülle ſeiner
Gedanken, aufgeregt durch die Geſchäfte zu ihr heimkehrte, dann empfing
ſie ihn immer gleich heiter, geiſtreich, liebevoll; nur wenn der Jähzorn ihn
ganz aus der Faſſung brachte, ſchaute ſie ernſten Blicks im Zimmer um-
her und ſprach: „ich ſuche den König.“ Sein glückliches Haus ſuchte er ſich
ſo gemüthlich einzurichten als es die Fürſtenſitte erlaubt; zum Weihnachts-
markte ging das königliche Paar ſelbſt auf den Schloßplatz herunter, und
am Sylveſterabend mußte der Nachtwächter ins Schloß kommen um mit
ſeinem Horne das neue Jahr anzukündigen. Was der König ſeiner Ge-
mahlin nur an den Augen abſehen konnte, that er mit Freuden. Hoch-
herzig überwand ſie den ſtillen Kummer über die kinderloſe Ehe; ſie ließ
es ſich nicht nehmen, ihren Neffen Friedrich Wilhelm, den vermuthlichen
Thronfolger, ſelbſt über die Taufe zu halten und wurde dem Knaben eine
zweite Mutter. Ihr höchſtes Glück aber fand ſie in unerſchöpflichem Wohl-
thun; ſie half dem Gemahl bei den unzähligen Unternehmungen ſeiner
chriſtlichen Milde und ſteuerte aus eigenen Mitteln ſehr große Summen,
mindeſtens 60,000 Thaler jährlich bei; in allen den entlegenen Stadt-
vierteln Berlins, wo die neu gegründeten Krankenhäuſer und Kinderbewahr-
anſtalten ſich erhoben, kannte Jedermann den Wagen der Königin mit den
vier Apfelſchimmeln. Trotzdem war ſie im Volke nicht beliebt. Die Katholiken
des Weſtens verziehen ihr den Uebertritt nie; in den hartproteſtantiſchen
alten Provinzen aber, zumal in Berlin, wo der Geiſt des Jeſuitenriechers
Bieſter noch immer umging, erzählte man überall, ſogar in den Kreiſen der
Hofdienerſchaft, mit der höchſten Beſtimmtheit, die Königin ſei im Herzen
katholiſch geblieben und wolle ihren Gemahl zur römiſchen Kirche bekehren.
Das Gerücht ward eine Macht, ſchädlich für das Anſehen des Königs, und
entbehrte doch jedes Grundes. Aus freier Ueberzeugung, nach ernſtem
Nachdenken war Eliſabeth einſt zum evangeliſchen Glauben übergetreten,
und noch in ſpäten Jahren ſagte ſie dem Papſte Pius IX. mit ihrer
gewohnten ſchönen Wahrhaftigkeit ins Geſicht: „wenn man zum Gemahl
einen ſolchen König hat, der das Evangelium vorlebt, dann wird man im
evangeliſchen Glauben gewiß.“ Freilich trug ihre kirchliche Geſinnung
eine romantiſche Färbung, welche der Freigeiſterei der Zeit verdächtig blieb;
das Ideal der einen chriſtlichen Kirche ſtand ihr ſo hoch wie ihrem Ge-
mahl. Die ſtreng legitimiſtiſchen Anſchauungen der baieriſchen Schweſtern
verleugnete ſie nie; mit den Höfen von Wien, Dresden, München blieb
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 2
[18]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
ſie in unabläſſigem Verkehre, und wenn ſie das Anſehen des Königthums
gefährdet glaubte, dann konnte die leutſelige Fürſtin Manchem kalt und
ſtolz erſcheinen; daher ſchrieb man ihr einen verderblichen politiſchen Ein-
fluß zu, obwohl ſie während dieſer erſten Jahre ſich ſeltener als ſpäterhin
mit Staatsgeſchäften befaßte.
Etwas weiter reichte die politiſche Wirkſamkeit des Grafen Anton
Stolberg, der anfangs neben dem Fürſten Wittgenſtein, nachher als deſſen
beſtallter Nachfolger die Leitung des Hausminiſteriums übernahm. Er
hatte ſchon bei Jena tapfer gefochten, darauf die Verfolgungen der könig-
lich weſtphäliſchen Polizei glücklich überſtanden — Dank den treuen Harzern,
die den Sohn des altbeliebten Harzgrafengeſchlechts immer zu verſtecken
wußten — dann im Befreiungskriege mit dem älteren Prinzen Wilhelm,
mit Gneiſenau und York als treuer Waffengefährte Freundſchaft ge-
ſchloſſen. Dieſe Kriegserinnerungen blieben ihm immer heilig; als er
nach dem Frieden heimkehrte um ſeinen Vater bei der Regierung der
Grafſchaft zu unterſtützen, ließ er ſogleich auf den Felſen des Ilſenſteins
den gefallenen Freunden zu Ehren ein eiſernes Kreuz aufrichten. Erſt
weit ſpäter trat er in den Verwaltungsdienſt und erwarb ſich als Prä-
ſident in Düſſeldorf wie in Magdeburg allgemeines Vertrauen durch jene
vornehme und doch ſchlicht menſchliche Liebenswürdigkeit, welche ſein
edles Geſchlecht von jeher ausgezeichnet hat. Lebendiger als ſein po-
litiſcher Sinn war ſein religiöſes Gefühl. Er ſchloß ſich früh den Krei-
ſen der „Erweckten“ an, unterſtützte in Düſſeldorf die beiden Wohl-
thäter des Niederrheins, den Grafen v. d. Recke und den Paſtor Fliedner
bei ihren Liebeswerken und übernahm die Leitung des neuen Diakoniſſen-
vereins. Dieſe lautere, durchaus duldſame Frömmigkeit gewann ihm das
Herz Friedrich Wilhelm’s. Alsbald nach dem Thronwechſel mußte „Graf
Anton“ nach Charlottenhof überſiedeln, damit er dem Könige als ein
getreuer Eckart immer zur Hand ſei bei jeder Gewiſſensfrage der Politik,
und er entſprach dem Vertrauen durch freimüthige Offenheit. Aber,
ſelbſt ein Gemüthsmenſch und darum trotz ſeiner natürlichen Milde zu-
weilen ungerecht, vermochte er den Stimmungen des Monarchen nicht
das Gegengewicht zu halten; von ſeiner Geſchäftskenntniß und der Schärfe
ſeines Verſtandes ſprach er ſelber ſehr beſcheiden.*) Das religiöſe Leben
ſeines Hauſes bewegte ſich in Formen, welche den proteſtantiſchen Ge-
wohnheiten widerſprachen; wenn er allabendlich mit ſeinen frommen lieb-
reichen Töchtern und dem geſammten Hausgeſinde auf den Knien lag,
ſo waren im neuen Berlin nur Wenige duldſam genug um die ganz
ungeheuchelte Inbrunſt ſolcher Andachtsübungen zu achten.
Dieſe kirchliche Strenge zeigte ſich noch ſchärfer ausgeprägt in der
Geſinnung des Generals v. Thile, der fortan als Cabinetsminiſter, wie
[19]Anton Stolberg. Thile.
vordem Graf Lottum, die regelmäßigen politiſchen Vorträge hielt. Ein
ernſter gläubiger Sinn, redlich und ohne Wortprunk war in der preußi-
ſchen Armee von jeher heimiſch; faſt alle ihre berühmten Führer meinten
mit dem alten Deſſauer: ein Soldat ohne Gottesfurcht iſt nur ein Matz;
ſie thaten unbefangen ihre Pflicht und ſtellten das ungewiſſe Schickſal des
Kriegers demüthig dem Herrn der Heerſchaaren anheim. Jetzt, unter
einem theologiſirenden friedfertigen Könige, gewann ein neuer, ganz un-
preußiſcher Schlag von Offizieren die Gunſt des Hofes, Männer, denen
das Gebetbuch theuerer war als der Degen, Soldaten nicht ohne mili-
täriſches Verdienſt — denn Alle hatten ſie im letzten Kriege ſich ritter-
lich gehalten — aber ohne den rechten, die ganze Seele erfüllenden mili-
täriſchen Ehrgeiz. Ihre ſalbungsvolle Frömmigkeit erinnerte an Cromwell’s
gottſelige Dragoner; von der fürchterlichen Härte der Puritaner beſaßen
dieſe ſanften romantiſchen Gläubigen freilich nichts. Zu ihnen zählte auch
Thile. Dem unſcheinbaren kleinen Manne ſah man nicht ſogleich an, wie
brauchbar er in den Geſchäften war, fleißig, gewiſſenhaft, federgewandt
und that es noth auch beredſam. An ſeinem Charakter haftete kein Makel;
in ſtillem Wohlthun war er unermüdlich, ſelbſt einen perſönlichen Feind,
der ins Unglück gerathen war, unterſtützte er jahrelang unerkannt aus
ſeinen beſcheidenen Mitteln. Befreundet mit Boyen und manchen an-
deren Offizieren von freierer Richtung, hielt er ſich den politiſchen Ex-
tremen fern und ſcheute ſich nie dem heißgeliebten Monarchen ehrlich zu
widerſprechen. Jedoch zu ſelbſtändigen ſtaatsmänniſchen Ideen erhob er
ſich nicht, und nur zu oft ward ſein politiſcher Blick getrübt durch eine
überſpannte, myſtiſche Frömmigkeit, die ihm bei den Berliner Spöttern
den Namen des Bibel-Thile verſchaffte. Noch vor Kurzem hatte er ernſt-
lich daran gedacht, als Miſſionär nach Auſtralien oder Afrika zu gehen.
Ebenſo leidenſchaftlich wie Friedrich Wilhelm verabſcheute er jene neuen
Philoſophen, welche, wie man bei Hofe ſagte, die Bibel hegelten und den
Hegel bibelten; noch tiefer als der König war er durchdrungen von der
Ueberzeugung, daß jetzt der entſcheidende Kampf zwiſchen Glauben und
Unglauben herannahte und neben dieſem einen großen Gegenſatze alle con-
feſſionellen Unterſchiede verſchwänden. Er glaubte nicht nur an die gött-
liche Führung der Geſchichte mit einer fataliſtiſchen Zuverſicht, welche ihm
leicht die freie Thatkraft hemmte; er glaubte auch an die unmittelbare
Einwirkung der himmliſchen Gnade auf die weltlichen Entſchlüſſe, und in
ſolchen Augenblicken der Verzückung ward ſeine politiſche Haltung ſchlechthin
unberechenbar. Als er einmal dem Grafen Stolberg ſeine Meinung
über die Neuenburger Händel auseinandergeſetzt hatte, ſchrieb er dem
Freunde ſchon nach wenigen Stunden: „Heute früh ſah ich nur mit
dem Auge des natürlichen Menſchen in der Sache und faßte ſie nur
von der ſogenannten politiſchen Seite auf.“ Dafür wurde ich am Abend
beſchämt, als „mir die Worte entgegengetragen wurden, daß über alle
2*
[20]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Macht von Roß und Reutern die Macht eines mit ſeinem König im
Gebet vereinten Volkes ſteht. .. In Sachen des Gebets zählen nur die
Beter, und wenn Gottes Wort wahr iſt, ſo werden ſie über die Spötter
ſiegen.“*) Mit dieſen Sätzen begründete er eine Veränderung ſeines
politiſchen Urtheils. Ein ſolcher Mann konnte dem Könige wohl als
pflichtgetreuer Gehilfe dienen, doch nimmermehr ihn ergänzen.
In dem etwas eintönigen Verkehre mit dieſen beiden alltäglichen
Vertrauten fühlte ſich der König immer erquickt, wenn ein anderer Freund
aus dem alten Kreiſe der Wilhelmſtraße, Oberſt Joſeph v. Radowitz in
der Hauptſtadt erſchien. Dann rief er fröhlich: Petz iſt wieder da!
Radowitz ſtammte aus einem alten, wenig bekannten ungariſchen Ge-
ſchlechte; ſein Großvater erſt war als Kriegsgefangener nach Preußen ge-
kommen und dann in Deutſchland geblieben. Der merkwürdig frühreife
Knabe wurde für den weſtphäliſchen Dienſt beſtimmt und auf franzöſi-
ſchen Kriegsſchulen ausgebildet. Mit fünfzehn Jahren war er ſchon Offizier,
im Jahre darauf erwarb er ſich bei Bautzen das Kreuz der Ehrenlegion,
mit achtzehn Jahren übernahm er, nach der Auflöſung des Königreichs Weſt-
phalen, die erſte Lehrerſtelle für Kriegswiſſenſchaften am Caſſeler Kadetten-
hauſe. Dann wurde er aus Heſſen vertrieben, weil er für die mißhandelte
Kurfürſtin ritterlich eintrat,**) und fand ehrenvolle Aufnahme im preußiſchen
Heere, wo er bei der Leitung der Militär-Bildungsanſtalten und bei der
Neugeſtaltung der Artillerie einſichtig mitwirkte. Der Gluthblick der tief-
liegenden kurzſichtigen Augen unter der hohen Stirn, die gebräunte und
doch bleiche Hautfarbe, die feinen, von dunklem Schnurrbart überſchatteten
Lippen gaben ſeinem ſcharfgeſchnittenen Kopfe ein fremdländiſches Gepräge.
Ueber ſeinem ganzen Weſen lag ein geheimnißvoller Zauber; die feierlich
würdevolle Haltung der hohen, ſtarken Geſtalt verbot jede Vertraulichkeit.
In Geſellſchaften ſaß er gern abſeits, zeichnend oder in einem Buche
blätternd, bis er plötzlich eine geiſtreiche Bemerkung in das Geſpräch ein-
warf und den Plaudernden zeigte, daß er jedes Wort vernommen hatte.
Leibliche Bedürfniſſe ſchien er kaum zu kennen; er aß wenig, trank nur
Waſſer, und man merkte ihm an, daß er niemals jung geweſen war.
Von früh auf beherrſchte ihn ein unerſättlicher Wiſſensdrang; Bücher
waren ſeine einzige Leidenſchaft, und in ſeinem ſtarken Gedächtniß ſpei-
cherte er allmählich eine erſtaunliche Fülle vielſeitiger Kenntniſſe auf. Schon
ſeine Jugendſchrift über die Ikonographie der Heiligen bewies, wie gründ-
lich er in der Geſchichte der Sitten, der Kunſt, der Kirche bewandert war.
In den Salons des Kronprinzen ward er bald ein unentbehrliches Orakel,
das Berliner Wochenblatt verdankte ihm mehrere ſeiner beſten Aufſätze.
Obgleich er durch ſeine Verheirathung mit einer Gräfin Voß in die
[21]Radowitz.
Kreiſe des alten Landesadels eingetreten war, blieb er den ſtrengen Alt-
preußen noch lange als Fremdling verdächtig. Manche nannten den edlen,
alle Ränkeſucht mißachtenden Mann einen neuen Caglioſtro, die Meiſten
einen verkappten Jeſuiten. Der eifrig proteſtantiſche, den conſtitutionellen
Ideen zugeneigte Kriegsminiſter Witzleben hielt endlich für nöthig, dieſen
katholiſchen Legitimiſten aus der Umgebung des Kronprinzen zu entfernen —
um dieſelbe Zeit, da auch General Gröben und Oberſt Gerlach in die
Provinz verſetzt wurden. Der alte König genehmigte den Antrag, aber
in ſeiner gerechten Weiſe: er ernannte den kaum vierzigjährigen Stabs-
offizier zum Nachfolger des Generals Wolzogen bei der Militärcommiſſion
des Bundestags. Auch dort wurde Radowitz durch Fleiß und geiſtige
Ueberlegenheit den bequemeren Amtsgenoſſen bald ſehr läſtig. Der Sohn
einer gemiſchten Ehe und in der Kindheit evangeliſch erzogen, hatte er
ſich erſt in ſeinen reiferen Jugendjahren, mit wachem Bewußtſein der
römiſchen Kirche zugewendet und in ihr ſo gänzlich ſeinen Frieden gefun-
den, daß er kurzweg ausſprach, jede Wahrheit ſei katholiſch. Sein ent-
ſagendes Denkerleben führte ihn zu einer mönchiſch ſtrengen Auffaſſung
der ſittlichen Welt. Niemals erkannte er, daß das ſittliche Ideal der
Proteſtanten, die Einheit des Denkens und des Wollens, dem ſchwachen
Sterblichen weit ſchwerere Pflichten auferlegt als die Werkheiligkeit der
Katholiken. In dem Cölibate ſah er nicht ein Meiſterſtück päpſtlicher
Politik, ein klug erſonnenes Machtmittel, das den Clerus als eine ge-
ſchloſſene Prieſterkaſte von der bürgerlichen Geſellſchaft abtrennen ſoll,
ſondern eine hohe ſittliche Idee; den Kampf der Proteſtanten wider dieſe
frevelhafte Verſtümmelung der Natur konnte er ſich nur aus der Fleiſches-
luſt erklären, obgleich er ſelbſt in einer glücklichen, mit Kindern geſegneten
Ehe lebte. Bei ſolcher Geſinnung mußte er den Kölniſchen Biſchofſtreit
mit tiefem Kummer betrachten. Die Freude an ſeinem neuen preußiſchen
Vaterlande erlitt plötzlich einen ſchweren Stoß, und er pries es als eine
gnädige Fügung, daß ſein Amt ihn nicht nöthigte in dieſem Kampfe
öffentlich Farbe zu bekennen.
Ebenſo einſeitig war auch, trotz aller Gelehrſamkeit, ſein äſthetiſches
Urtheil. Goethe’s warme Sinnlichkeit blieb ihm ſo unverſtändlich wie die
geſammte Bildhauerkunſt, weil ſie in der Darſtellung heidniſcher Nackt-
heit ihr Höchſtes leiſtet, und den letzten Quell aller modernen Sünden
ſuchte er in der großen Zeit des Cinquecento, in der Wiederbelebung des
claſſiſchen Heidenthums. Daher verabſcheute er, ganz in Haller’s Sinne,
die Revolution als ein teufliſches Princip und bekämpfte die geſammte
neuere Staatslehre, weil ſie den Staat nicht als den Schutzherrn, ſon-
dern als den Schöpfer des Rechts betrachte. Noch war ihm nicht klar,
daß der rechtsbildende Gemeingeiſt der modernen Völker ſich gerade in
ihrer Geſetzgebung ausſpricht, und die hiſtoriſche Entwicklung des Rechts
heute nicht mehr ohne die Mitwirkung frei geordneter Staatsgewalten
[22]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
erfolgen kann. Dem „pſeudo-liberalen Getriebe“ des Beamtenthums ebenſo
gründlich abgeneigt wie ſein königlicher Herr, behauptete er ſtolz „den
höheren Standpunkt, der ſich erhebt über die Anſicht vom abſoluten
Staate.“*) Er hoffte auf eine große chriſtlich germaniſche Monarchie
— denn ob eine chriſtlich-germaniſche Republik überhaupt möglich ſei,
ſchien ihm mindeſtens zweifelhaft — und ſo feſt hielt ihn in dieſen drei-
ßiger Jahren der Bannkreis der Haller’ſchen Ideen noch umfangen, daß
er ſogar den Satz wiederholte, die Macht der Krone beruhe auf dem fürſt-
lichen Grundbeſitze — eine doctrinäre Behauptung, die in Preußen, wo
alle Domänen längſt dem Staate gehörten, jeden Sinn verlor.
Trotzdem ward er niemals zum Sklaven einer Theorie; ſcharfen
Blickes ſchaute er in die Welt der Wirklichkeit, ſtets bereit ſeine Meinungen
zu berichtigen. Er erkannte ſehr früh — was ſich freilich erſt nach langen
wirrenreichen Jahren als wahr erweiſen ſollte — daß die Herzensſehnſucht
der Deutſchen ſich nicht eigentlich auf die conſtitutionellen Formen richtete,
ſondern auf wirkliche politiſche Güter: auf Rechtsſicherheit, Nationalität,
Selbſtverwaltung. Auch der ſociale Untergrund der politiſchen Bewegung
entging ihm nicht. Er ſah, wie die Mittelklaſſen ſich zur Herrſchaft heran-
drängten, und meinte, die Liberalen ſeien nur mächtig weil ſie ſich als
Vertreter des Volks gebährdeten; darum müſſe die Krone durch eine
ſchöpferiſche ſociale Geſetzgebung beweiſen, daß die Maſſen des Volks nur
bei ihr Fürſorge und wirkſamen Schutz finden könnten. Am ſchärfſten
aber — weit richtiger als der König ſelbſt oder irgend einer ſeiner Freunde
— urtheilte Radowitz über die deutſche Bundespolitik. Da er in der
römiſchen Kirche nicht eine bildungsfeindliche Macht, ſondern die Vollen-
dung aller Cultur ſah, ſo konnte er ohne gehäſſiges Vorurtheil die öſter-
reichiſchen Zuſtände mit den preußiſchen vergleichen, und gleichwohl kam
der ſtrenge Katholik zu dem Schluſſe: dies zur Sonne aufſtrebende Preußen
bedürfe des Lichtes, der öſterreichiſche Schwamm gedeihe nur im Schatten.
Die geiſtloſe Unfruchtbarkeit der in ſo mannichfache europäiſche Intereſſen
verflochtenen und darum der deutſchen Nation entfremdeten Wiener Politik
durchſchaute er ebenſo ſcharfſinnig, wie die oberflächliche Halbbildung der
öſterreichiſchen Völker, die dem platten Joſephinismus und der liberalen
Phraſe gar kein Gegengewicht zu bieten hätten. Stolz hielt er dieſem ver-
ſumpften Leben die geſunde, kerndeutſche Kraft des preußiſchen Volkes und
Staates entgegen. Schon vor dem Thronwechſel (1839) ſprach er aus,
Preußen allein könne die Führung der Nation übernehmen, Deutſchlands
Fürſten und Völker müßten lernen, in Berlin die Vertheidigung ihrer Rechte
und Intereſſen zu ſuchen. Darum verlangte er Fortbildung des Zollvereins
und vor Allem Schutz der Rechte aller Deutſchen durch die Krone Preußen
— eine heilige Pflicht, welche leider in den hannoverſchen Verfaſſungs-
[23]Radowitz’s Geſpräche. Bunſen.
händeln ſo ſündlich verabſäumt worden ſei. So begann ihm jetzt ſchon
die Idee des preußiſchen Reiches deutſcher Nation aufzudämmern, und er
verhehlte nicht, daß er ſich zuerſt als einen Deutſchen, dann erſt als einen
Preußen fühlte. Der König befragte und benutzte den alten Freund bei
allen Fragen der deutſchen Bundespolitik, doch er vermochte weder den
Gedanken dieſes Rathgebers ganz zu folgen, noch ihn an die entſcheidende
Stelle zu ſetzen.
In den Geſprächen über Staat und Kirche (1846) faßte Radowitz
ſeine politiſchen Ideen zuſammen. Das anonyme Buch wurde von Vielen
für ein Werk des Königs ſelbſt gehalten, obgleich die keuſche Einfachheit
dieſer muſterhaften Proſa mit dem aufgeregten Pathos Friedrich Wilhelm’s
gar nichts gemein hatte. Es war ſeit Paul Pfizer’s Briefwechſel unzweifel-
haft das bedeutendſte Werk der deutſchen Publiciſtik. Aber wie anders hatte
einſt der tapfere Schwabe verſtanden, die erſte Aufgabe des Publiciſten zu
erfüllen, den Willen der Leſer auf ein feſtes Ziel zu richten; er benutzte die
Form des Dialoges nur um alle Einwendungen ſiegreich zu widerlegen,
und ſchließlich mit höchſter Beſtimmtheit zu ſagen was er ſelber wollte: die
Einheit Deutſchlands unter Preußens Führung. In Radowitz’s Geſprächen
hingegen tauſchten der hochkirchliche Offizier, der liberale Fabrikant, der
ſtrenge Bureaukrat, der jugendliche Socialiſt ihre Anſichten aus, alle höf-
lich, alle in ſauber gewählten Worten. Dann trat Waldheim dazwiſchen,
unverkennbar das Ebenbild des Verfaſſers, um mit ſtaatsmänniſcher Ruhe
Jedem die Beſchränktheit ſeiner Parteigeſinnung nachzuweiſen; über ſeine
eigenen Meinungen äußerte er ſich nur ſelten, kühl, zurückhaltend, un-
maßgeblich. So hinterließ die Schrift doch den Eindruck einer geiſtreichen
Hilfloſigkeit, welche trotz oder wegen der Mannichfaltigkeit ihrer Geſichts-
punkte ſchwer zu einem einfachen Entſchluſſe gelangte. Ihr fehlte die Macht
der Begeiſterung. Ihre Gedanken waren nicht aus einer Wurzel heraus
mächtig emporgeſchoſſen, ſondern am Spalier gezogen, mehr ausgezeichnet
durch edle Form als durch urſprüngliche Kraft. Sie bewies, wie frei und
unbefangen ihr Verfaſſer dachte, der in der That, entwicklungsfähiger als
der König, von der Unentbehrlichkeit der conſtitutionellen Staatsform ſich
bald überzeugen ſollte. Aber ſie zeigte auch ihn angekränkelt von jenem
vornehmen Dilettantismus, der ſich wie ein Mehlthau über alle Um-
gebungen König Friedrich Wilhelm’s lagerte. Radowitz war von Allem
etwas, weder ganz Soldat, noch ganz Staatsmann, noch ganz Gelehrter;
auch ſein feiner und reicher, allen anderen preußiſchen Staatsmännern
dieſer Epoche überlegener Geiſt vermochte der Zeit nicht zu bieten was
ſie brauchte: die furchtbare Einſeitigkeit einer dämoniſchen Willenskraft.
Wäre es mit Plänen, Einfällen, edlen Vorſätzen gethan geweſen,
dann hätte Bunſen der Zeit helfen können. Was kümmerte es ihn, daß
die Berliner Geheimenräthe ihm den ſo kläglich mißlungenen Kampf gegen
Rom nachtrugen und ihn, von wegen der Anconer Note, nur noch den
[24]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Ritter von Ancona nannten? Der Gunſt des neuen Königs war er
ſicher, und mit jugendlicher Wageluſt ſpannte er an ſeinem glückhaften
Schiffe alle Segel auf. Schon vor Jahren hatte er von der Regierung
dieſes Fürſten erhofft, daß ſie das heilige Reich aufrichten werde:
Nun ſollte Berlin, bevor Größeres ſich vollendete, zunächſt ein deutſcher
Muſenhof werden wie einſt Weimar, und ſofort begann der Eifrige einen
Briefwechſel mit Gelehrten und Künſtlern um ſie für die Hauptſtadt zu
gewinnen. Für ſich ſelbſt wünſchte er, da der Berner Geſandtſchafts-
poſten ſeinen Anſprüchen nicht genügte, den Vorſitz in einem großen Aus-
ſchuſſe für Kirche und Unterricht; ſo konnte er, unbeläſtigt von den lang-
weiligen Verwaltungsgeſchäften, nach ſeiner Neigung anregen, belehren,
Ideen wecken und fördern.
Nicht ganz ſo nahe ſtand General v. Canitz dem Monarchen. Er
hatte ſich als Kriegsmann wie als militäriſcher Schriftſteller ausgezeichnet,
dann aus Diebitſch’s Lager über den ruſſiſch-polniſchen Krieg ebenſo ein-
ſichtig als unparteiiſch berichtet, endlich auf den ſchwierigen Geſandtſchafts-
poſten zu Caſſel und Hannover eine ſo ſelbſtändige Haltung eingenommen,
daß er trotz ſeines feinen Taktes dem Unwillen des Kurprinzen und des
Welfenkönigs nicht entgehen konnte. Eng befreundet mit den romantiſchen
Genoſſen Clemens Brentano’s und Savigny’s, hielt er die Befreiung der
Kirche von der Staatsgewalt und die Aufrichtung der ſtändiſchen Mon-
archie für die beiden großen Aufgaben der neuen Regierung. Indeſſen
hatte er nicht umſonſt in dem unruhigen Caſſel gelebt; er ſah ein, daß
Preußen, um die Politik des Zollvereins durchzuführen, ſich auch in ſeinem
inneren Leben den kleinen conſtitutionellen Nachbarlanden annähern, mit-
hin ſeinen Reichstag, allerdings einen ſtändiſch gegliederten, ſchleunigſt
einberufen müſſe. Harte Parteigeſinnung blieb ihm fremd. Eine ſchöne
vornehme Erſcheinung, geſprächig, geiſtreich, ſarkaſtiſch, ließ er im Verkehre
von ſeinen ſtreng kirchlichen Grundſätzen gar nichts merken; die in dieſem
romantiſchen Kreiſe ſo gröblich verkannten Verdienſte des preußiſchen Be-
amtenthums würdigte er gern; mit den Liberalen, ſogar mit Varnhagen
kam er freundlich aus. Unter allen den frommen Freunden des Königs
zeigte er am meiſten das unbefangene Weſen des Weltmannes.
Von anderem Schlage war General Graf Karl v. d. Gröben, der
Schwiegerſohn Dörnberg’s, ein langer, hagerer altpreußiſcher Hüne, dem
der weiße Mantel des Deutſchen Ordens noch um die Schultern zu hängen
ſchien. Dem Ritter ohne Furcht und Tadel ließ es keine Ruhe bis er noch
im hohen Alter die Pilgerfahrt in das gelobte Land unternehmen konnte.
Wie freudig hatte er einſt bei der Vorbereitung des Befreiungskrieges und an
dem Kampfe ſelbſt theilgenommen; mit Gneiſenau und Arndt, mit Schenken-
dorf und Görres war er ſo innig verbrüdert, daß er eine Zeit lang ſogar
[25]Canitz. Gröben. Die Gebrüder Gerlach.
den Argwohn der Demagogenverfolger erregte.*) Die enthuſiaſtiſche Kreuz-
fahrergeſinnung jener frommen Tage bewahrte er ſein Leben lang. Was
ihm an politiſchem Urtheil abging erſetzte er durch unverbrüchliche Treue
gegen ſeinen chriſtlichen König und durch eine allgemeine Menſchenliebe,
welche Gerechte und Ungerechte ſo ohne jeden Unterſchied ſanftmüthig um-
faßte, daß Königin Eliſabeth einmal ſagte: der gute Gröben wird uns näch-
ſtens von dem lieben, vortrefflichen Nero ſprechen.
Während Gröben nur das ritterliche Gefühl unbedingter Königstreue
hegte, waren die drei Brüder v. Gerlach erklärte Hallerianer. Sie
ſtammten von jenem hochangeſehenen alten Kammerpräſidenten, der einſt
ſeine Kurmark gegen die napoleoniſchen Erpreſſungen unerſchrocken ver-
theidigt, nachher, verſtimmt über die Reform der Verwaltung, den Staats-
dienſt verlaſſen und gleich darauf das Oberbürgermeiſteramt von Berlin
übernommen hatte.**) Der Muth, die Vaterlandsliebe, die conſervative
Geſinnung des Vaters vererbten ſich auf die Söhne; zwei von ihnen
trugen das eiſerne Kreuz. Der zweite Sohn, der Gerichtspräſident Lud-
wig war ein gelehrter, ſcharfſinniger Juriſt, gerecht nach oben wie nach
unten, ſehr eiferſüchtig auf die Unabhängigkeit des Richterſtandes. Wie
weit ihn aber ſein kirchlicher Feuereifer führen konnte, das hatte er ſchon
vor Jahren gezeigt, als er die halliſchen Rationaliſten durch die rückſichts-
loſe Veröffentlichung ihrer Katheder-Ausſprüche bekämpfte und dafür den
Beifall ſeines kronprinzlichen Freundes fand.***) Der chriſtliche Staat,
die freie rechtgläubige Kirche und vornehmlich die Zweiherrſchaft der beiden
Großmächte im Deutſchen Bunde — dieſe Ideale ſtanden ihm ſo uner-
ſchütterlich feſt, daß er ſogar die Freunde Radowitz und Canitz wegen ihrer
freieren Anſichten über Oeſterreich bald als Abtrünnige beargwöhnte und
des radikalen „Germanismus“ beſchuldigte. Ueberhaupt urtheilte er, wie
ſein Bruder Leopold, über politiſche und kirchliche Gegner mit fanatiſcher,
unchriſtlicher Härte; er verhehlte nicht, daß ihm der Gegenſatz der Mei-
nungen noch wichtiger ſchien als ſelbſt der Gegenſatz der Nationalitäten.
Von eigenen ſtaatsmänniſchen Gedanken beſaß ſein weſentlich kritiſcher
Geiſt wenig; er vermochte wohl die Sünden der gottloſen Zeit mit erbar-
mungsloſer Schärfe zu geißeln, doch wenn es ſich fragte was zu thun ſei,
dann entdeckten der junge Otto v. Bismarck und die anderen praktiſchen
Talente unter ſeinen Anhängern mit Erſtaunen, daß der geiſtreiche Mann
immer nur ſchulmeiſterte und eigentlich an Allem zu tadeln fand. Darum
konnte er nur der gefürchtete Schriftſteller der hochconſervativen Partei
werden, niemals ihr Führer. Und wie wenig ſtimmte doch die unzweifelhaft
ernſt gemeinte fromme Salbung ſeiner mit Bibelſprüchen überladenen poli-
[26]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
tiſchen Aufſätze zu dem ſprudelnden Witze, der gewinnenden Munterkeit des
liebenswürdigen Geſellſchafters. Einige Spuren von dieſem Dualismus
altromantiſcher Ironie zeigten ſich auch in dem Charakter des jüngſten
Bruders, des Predigers Otto. Der waltete ſeines ſchweren Seelſorger-
amtes unter den Berliner Armen mit apoſtoliſcher Hingebung, glaubens-
froh, bibelfeſt, ein unermüdlicher Tröſter und Erbarmer.*) Zweimal
trotzte er der angedrohten Amtsentſetzung, weil er leichtfertig Geſchiedene
nicht wieder trauen wollte. Und doch geſchah es zuweilen zum Entſetzen
der Stillen im Lande, daß er auf der Kanzel ſchöne Stellen aus Shake-
ſpeare vortrug; ſo ſeltſam vermiſchten ſich in dieſem geiſtreichen romanti-
ſchen Kreiſe die religiöſen und die äſthetiſchen Ideale.
Am liebſten unter den drei Brüdern war dem Monarchen der älteſte,
der General Leopold. Er wurde ſchon aus ſeiner Provinzial-Garniſon
öfters an das Hoflager gerufen, dann nach Berlin zurückverſetzt und dort
bei allen wichtigen Entſchließungen zu Rathe gezogen; doch täuſchte er
ſich nicht über ſeinen Einfluß und geſtand offen, keiner der perſönlichen
Günſtlinge des Königs beſitze wirkliche Macht. Seine ſchönſten Erinne-
rungen hafteten an dem ſchleſiſchen Hauptquartiere, dem er mit großer
Auszeichnung angehört hatte;**) nachher war er lange Adjutant des jün-
geren Prinzen Wilhelm, der ihm auch ſpäterhin, als ihre politiſchen Wege
ſich trennten, ſtets aufrichtige Hochachtung bewahrte. Ganz und gar kein
Höfling, gab er ſelbſt dem gefürchteten Czaren zur rechten Zeit eine derbe
preußiſche Antwort; das knechtiſche Weſen und der ſchablonenhafte Ord-
nungsſinn der Moskowiter blieb ihm tief widerwärtig, obgleich er ſie für
Preußens natürliche Verbündete hielt. Das eigenthümliche Selbſtgefühl des
Romantikers erging ſich gern in kühnen Paradoxen, Napoleon nannte er
einen gutmüthigen, übrigens etwas dummen Kerl. In ſeinen politiſchen
Anſichten ging der grundgeſcheidte, vielſeitig gebildete Offizier faſt noch
weiter als ſein Bruder Ludwig; unauslöſchlichen Haß widmete er dem
Despotismus der Miethlings-Officianten, zu denen er doch eigentlich ſelbſt
gehörte. An Gottes unmittelbare Einwirkung auf die gekrönten Häupter
glaubte er feſt und ſagte ſtreng: Prätendenten die der Allmächtige ſelbſt
aus ihrem hohen Amte geſtrichen hat, gehören ins Feldlager oder ins
Kloſter, nicht in den Strudel höfiſcher Genüſſe. Indeß war auch er in
der Kritik ſtärker als in eigenen politiſchen Gedanken.
Eine mächtige Stütze fanden die Brüder an Ludwig’s Schwager,
dem Freiherrn Senfft v. Pilſach auf Gramenz, der im Hausminiſterium
angeſtellt, auf den Domänen, mit erheblichen Koſten aber nur ſelten mit
Erfolg, großartige Entwäſſerungspläne ausführte. Ueber ſeine politiſche
Wirkſamkeit enthalten die amtlichen Papiere faſt gar nichts. Gleichwohl
[27]Senfft v. Pilſach und die Erweckten.
wußten alle Eingeweihten, daß der König auf das Urtheil dieſes Mannes,
ſoweit er überhaupt einer fremden Meinung zu folgen vermochte, ſehr
großen Werth legte. Schon als Kronprinz hatte er ſich des Freiherrn
angenommen, als dieſer, unbekümmert um die Verbote der rationaliſti-
ſchen Stettiner Regierung, ſeinen hinterpommerſchen Bauern gottſelige
Predigten hielt, und in hellem Zorne geſchrieben: „das Betragen dieſer
Regierung iſt wirklich ſo ungeheuer dumm, daß es zum Erbarmen iſt.“*)
Senfft kannte die Eigenart Friedrich Wilhelm’s ganz genau, er wußte
ſeine vertraulichen Berichte und Geſpräche ſtets der augenblicklichen Stim-
mung des Monarchen anzupaſſen; er ſcheute ſich auch nicht dem Könige,
oft ſehr unverblümt, zu ſagen, was man im Volke über ihn redete.
Alſo, bald aufrichtig, bald berechnend, gewann er mit ſeiner zähen ſtillen
Ausdauer doch einigen Boden, und immer kam ſein Rath den Hochcon-
ſervativen zu gute. Durch ſeinen und Ludwig Gerlach’s gemeinſamen
Schwager v. Thadden-Trieglaff unterhielt er regen Verkehr mit einem
Kreiſe altgläubiger hinterpommerſcher Edelleute, der ſich durch chriſtlichen
Wandel und edle Wohlthätigkeit ebenſo ſehr auszeichnete wie durch reac-
tionäre Geſinnung.
Auch was ſonſt noch dem Herzen des Königs nahe ſtand, trug hoch-
kirchliche Farbe: ſo der Geheime Rath v. Voß-Buch, ſeit Jahren vor-
tragender Rath des Kronprinzen und auch jetzt noch mit wichtigen Ar-
beiten, namentlich im Juſtizweſen, betraut, nebenbei berühmt durch ſeine
unvergleichlichen Junggeſellen-Gaſtmähler; ſo Friedrich Wilhelm’s Jugend-
geſpiele, der Kammergerichtspräſident v. Kleiſt, von den Demagogen der
blutige Kleiſt genannt, ein eiſerner Ultra, der nachher den Abſchied nahm,
als er die neue Verfaſſung beſchwören ſollte; ſo der Hallerianer C.
W. v. Lancizolle, vormals Lehrer des deutſchen Staatsrechts für die
königlichen Prinzen; ſo der gelehrte Juriſt Götze, der kindlich fromme
General Carl v. Röder u. A. m., die einſt in den erſten Friedensjahren
den Conventikeln der Erweckten oder dem Maikäfervereine der jungen
Berliner Romantiker angehört hatten.**) Einen ehrbareren Hof hat es
nie gegeben; Geiſt, Wiſſen, Edelſinn war in dieſen Kreiſen reichlich vor-
handen, aber wenig Willenskraft, wenig Verſtändniß für die Bedürfniſſe
der Zeit.
Wie ein Fremdling erſchien in dieſer chriſtlichen Umgebung der regel-
mäßige Genoſſe der königlichen Abendcirkel Alexander v. Humboldt. Der
Geiſt zog den Geiſt an, der König und der große Gelehrte konnten von
einander nicht laſſen, und unwillkürlich gedachten die. Zeitgenoſſen der
Freundſchaft zwiſchen Friedrich und Voltaire — eine Vergleichung, die
doch nur wenig zutraf. Voltaire hatte auf das äſthetiſche Urtheil des
[28]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
großen Königs entſcheidend, auf ſeine philoſophiſche Ueberzeugung mit-
beſtimmend eingewirkt, der preußiſchen Politik wurde er unnachſichtlich
immer fern gehalten. Humboldt konnte auf die längſt fertige Weltan-
ſchauung ſeines königlichen Freundes ſchon darum keinen Einfluß ge-
winnen, weil er halb unter halb über ihr ſtand. Dem Jünger der alten
Aufklärung, der ſchon in ſeinen jungen Tagen den preußiſchen Beamten
zu Baireuth für einen Jacobiner gegolten hatte, fehlte jedes Verſtändniß
für das neue religiöſe Leben, das den Deutſchen tagte und von dem
Könige ſo freudig begrüßt wurde; andererſeits würdigte er weit unbefangener
als Friedrich Wilhelm die liberalen Ideen des emporſteigenden Mittel-
ſtandes. Alſo faſt in Allem verſchieden fanden ſich die Beiden nur zu-
ſammen in der leidenſchaftlichen Freude des Forſchens und Erkennens.
Humboldt fühlte bald heraus, daß dieſer König kein Mann des Handelns
ſei und das Glück, deſſen er doch bedurfte, niemals finden würde; darum
beſchied er ſich, auf dem einzigen Gebiete der Politik, das ihm offen blieb,
Segen zu ſtiften, die mäcenatiſchen Neigungen des Königs zu nähren,
alle aufſtrebenden Kräfte deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft wirkſamer zu
fördern als es unter dem ſparſamen, ſchwer zugänglichen alten Herrn mög-
lich geweſen. Mit ungewöhnlicher Offenheit ſprach er ſich darüber ein-
mal gegen Bunſen aus: „Ich habe die Schwachheit zu wollen, daß die,
deren Talent ich früh erkannt und verehrt habe, etwas Großes hervor-
bringen. Dadurch hält man ſich gegenſeitig in der Welt und trägt dazu
bei die Achtung vor geiſtigen Beſtrebungen wie ein heiliges Feuer zu
nähren und zu bewahren.“
Er wollte der anerkannte Fürſt ſein im Reiche des Wiſſens, aber
dieſe Macht auch in großem Sinne gebrauchen, um das perikleiſche Staats-
ideal zu verwirklichen, das ihm ſo hoch ſtand wie ſeinem Bruder Wilhelm;
ohne die Pflege des Wahren und des Schönen war ihm ſelbſt der ſtark-
gerüſtete und wohlgeordnete Staat werthlos. An Allem was Friedrich
Wilhelm für die Wiſſenſchaft that hatte Humboldt ſeinen reichen Antheil.
Das alte Familienhaus in der Oranienburger Straße ward ein Wall-
fahrtsort für alle jungen Talente. Dort fanden Hermann Helmholtz und
manche andere vielverheißende Anfänger Rath und Hilfe. Dort ſaß der
kleine Greis unter Thürmen von Büchern, Karten, Briefen und Sen-
dungen jeder Art, die ihm aus allen Theilen der Erde zuflogen — ihm
gegenüber auf der grünen Wand die große Weltkarte — und ſchrieb die
langen Nächte hindurch, über ſein Knie gebückt, bald an ſeinem Kosmos,
bald Entwürfe für wiſſenſchaftliche Anſtalten oder auch ungezählte Empfeh-
lungsbriefe; es war, als ob alle Fäden aus dem unermeßlichen Reiche der
Forſchung in der Hand des alten Zauberers zuſammenliefen. Der König
überſchüttete ihn mit Ehren und Geſchenken, ohne doch hindern zu können,
daß der aller Wirthſchaft Unkundige ſchließlich der Schuldknecht ſeines
eigenen Hausdieners wurde. In den Briefen an ſeinen theuerſten Alexan-
[29]A. v. Humboldt bei Hofe.
dros entfaltete Friedrich Wilhelm alle Zartheit, alle Wärme ſeines guten
Herzens; als Humboldt erkrankte, ſaß er ſtundenlang an ſeinem Bette
und las ihm vor. Ueber Alles ſollte der Alles Wiſſende Auskunft geben,
bald über ein ernſtes Problem, bald über ein müßiges Curioſum, ſo über
die Frage, warum die Produkte der Zahl 9 immer die Zifferſumme 9 ergeben.
Wenn der König ſeinen Freund Abends im Potsdamer Schloſſe beſuchte,
dann mußten die Diener mit den Windlichtern oft tief in die Nacht hinein
warten, weil ihr Herr nach dem allerletzten Abſchied das beglückende Ge-
ſpräch noch auf der Treppe von Neuem eröffnete.
Minder liebenswerth als bei ſolchen geiſtreichen Zwiegeſprächen zeigte
ſich der große Gelehrte auf den Hoffeſten, wo er, angethan mit der Kammer-
herrn-Uniform und dem großen Bande des ſchwarzen Adlerordens, jedem
nichtigen Menſchen etwas Verbindliches ſagte, oder auf den kleinen Thee-
Abenden der königlichen Familie. Von Paris her war er gewöhnt den
Mittelpunkt des Salongeſprächs zu bilden, und er konnte ſich’s nicht ver-
ſagen auch hier in Sansſouci oder Charlottenburg Aller Augen auf ſich zu
ziehen. Da ſtand er denn vor der mürriſch ſchweigenden Königin, die ihm
immer mißtraute, vor neidiſchen Hofleuten und politiſchen Gegnern und
berichtete aus neuen Büchern, aus Zeitſchriften, aus eigenen Aufzeichnungen
über die Höhe des Popocatepetl oder die Iſothermen oder die Gefängniſſe,
immer geiſtvoll, immer lehrreich, aber der Mehrzahl der Anweſenden unver-
ſtändlich. Der König allein hörte aufmerkſam zu, und auch er war zuweilen
zerſtreut und blätterte in Zeichnungen. Für den verhaltenen Aerger und
die Langeweile dieſer unerquicklichen Abende, die er doch nicht miſſen wollte,
nahm Humboldt ſeine ſtille Rache; er trug dem Freunde Varnhagen,
der jedes Schmutzbächlein wie ein Schwamm aufſog, allerhand boshaften
Hofklatſch zu, lieblos ſelbſt gegen den liebevollen König, und zeigte durch
ſein Mediſiren, daß in den Hauptſtädten, zumal in dem afterredneriſchen
Berlin, ſelbſt der hochbegabte Menſch klein wird, wenn er die Dinge allzu
nahe ſieht. Eines freilich ging aus ſeinen gehäſſigen Berichten unzweifel-
haft hervor: dieſem ſo mannichfach bewegten Hofe fehlte der beherrſchende
Kopf. —
„Lebt wohl nun, Freuden, Spiele, Töne! Mein höchſter Gott iſt
meine Pflicht“ — ſo hatte vor hundert Jahren König Friedrich nach ſeiner
Thronbeſteigung an Voltaire geſchrieben. Von dieſer entſchloſſenen Sicher-
heit des Ahnherrn zeigte der Nachkomme nichts. Friedrich Wilhelm war
völlig faſſungslos, als Czar Nikolaus, der noch in der letzten Stunde
am Sterbebette des Schwiegervaters erſchienen war, ihm den erſten Segens-
wunſch zur Thronbeſteigung ausſprach; auch nachher brauchte er noch
lange Zeit um ſeinen Schmerz zu bewältigen und ſich in der neuen Lage zu-
rechtzufinden. „Ach“, ſchrieb er an Metternich, „wer Ihr warmes Herz
mit Ihrem kalten Kopf vereinigte! Das iſt das gewiſſe Mittel immer
[30]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Recht zu behalten und richtig zu ſteuern. Ich fühle nur zu deutlich, daß
dieſer Verein mir abgeht, denn ich vermag mich nicht von dem Schlage
zu erholen, der uns niedergeſchmettert hat, und meine Lage erſcheint mir
wie ein Traum, aus welchem ich ſehnlich das Erwachen wünſche.“ Das
ganze Land theilte die Trauer des Königs. In feierlichem Schweigen
ſtanden die Maſſen, als in der Nacht des 11. Juni die Leiche den breiten
Mittelweg der Linden entlang hinausgeführt wurde nach dem Charlotten-
burger Mauſoleum, wo der Verblichene neben ſeiner Luiſe ruhen wollte;
die Laternen waren ausgelöſcht, nur der Mond warf zuweilen aus den
Wolken vortretend ſein fahles Licht auf die ſchwarzen Wagen, die lautlos
über den weichen Sandboden dahinzogen. Auf allen Kanzeln von der Memel
bis zur Saar wurde gepredigt über den Text „der Herr hat Dich geſegnet
in allen Werken Deiner Hände“; die Stadt Berlin beſchloß, dem Entſchla-
fenen, dem ſie ſo viel verdankte, draußen auf einem waldigen Hügel ein
Denkmal zu errichten und nannte die Stelle ihm zu Ehren den Friedrichshain.
Noch einmal wurde dann allen Preußen die Erinnerung an den Ver-
ſtorbenen lebendig, als der neue Monarch die beiden einzigen letztwilligen
Verfügungen veröffentlichen ließ, welche der alte Herr, außer einer Vor-
ſchrift über ſeine Beſtattung, hinterlaſſen hatte. Er fügte den Aeußerungen
des Vaters einige tief empfundene Worte hinzu; offenbar im Hinblick
auf die Kriegsrüſtungen der Franzoſen, ſagte er zuverſichtlich: ſollte
je das Kleinod des theuer errungenen Friedens gefährdet werden, „ſo
erhebt ſich mein Volk auf meinen Ruf wie ein Mann, wie ſein Volk ſich
auf ſeinen Ruf erhoben hat“. Die beiden Teſtamente waren ſchon vor
dreizehn Jahren niedergeſchrieben, lange bevor die Julirevolution das
deutſche Leben erſchütterte, und ganz in dem patriarchaliſchen Stile jener
ſtillen Tage gehalten. Das eine, „Mein letzter Wille“ überſchrieben, er-
ging ſich in frommen Betrachtungen; das andere mit den Eingangsworten
„auf Dich, meinen lieben Fritz“, warnte den Thronfolger vor Neuerungs-
ſucht und unpraktiſchen Theorien, aber auch vor der zu weit getriebenen
Vorliebe für das Alte, und mahnte ihn, den Bund mit Oeſterreich und
Rußland „als den Schlußſtein der großen europäiſchen Allianz zu be-
trachten“. Der Berliner Magiſtrat ließ dieſe Vermächtniſſe des alten
Königs für ſeine Bürgerſchaft abdrucken, und noch viele Jahre hindurch
hingen ſie unter Glas und Rahmen in unzähligen preußiſchen Häuſern.
Aber die Zeit, der ſie angehörten, war vorüber; mit dieſem letzten Zolle
der Dankbarkeit ſchien die Vergangenheit abgeſchloſſen; erwartungsvoll
wendeten ſich alle Blicke dem neuen Herrſcher zu.
Das Erſte, was er von ſich hören ließ, waren Kundgebungen des
Herzens; die Härten früherer Tage auszugleichen, erſchien ihm als heilige
Pflicht. Allen den Abgeſandten, die ſich ihm nahten, ſagte er freundliche,
ermuthigende Worte; ſogar die Juden Berlins, die er ſehr wenig liebte,
empfingen die Verſicherung, daß er kein Anhänger der blinden Vorurtheile
[31]Die Amneſtie.
früherer Jahrhunderte ſei. Dann wurde General Boyen, der lange miß-
handelte, durch ein überaus gnädiges Handſchreiben in den Staatsrath
zurückgerufen, und alle Welt betrachtete dieſe erſte That der neuen Re-
gierung als ein Zugeſtändniß an den Liberalismus. Gleich darauf durfte
Arndt wieder in ſein Lehramt eintreten; mit hellem Jubel begrüßten die
Bonner Gelehrten den treuen Mann — nur A. W. Schlegel, der alte
Feind, hielt ſich abſeits — und erwählten ihn ſogleich zum Rector für
das nächſte Jahr. Keinen Augenblick war er irre geworden an ſeinem
Staate; mitten im Elend der unverſchuldeten Verfolgung hatte er ſeinem
Vaterlande zugeſungen:
Nun ward ihm doch noch ein ehrenreiches, durch die Liebe ſeiner Deut-
ſchen verklärtes Alter. Auch der alte Jahn wurde der polizeilichen Auf-
ſicht entledigt und nachträglich noch mit dem eiſernen Kreuze geſchmückt.
Am 10. Auguſt unterzeichnete Friedrich Wilhelm eine Verordnung, welche
allen politiſchen Verbrechern Amneſtie gewährte, auch den Flüchtlingen,
falls ſie heimkehrten, Begnadigung verſprach. Der Erlaß ſollte erſt einen
Monat ſpäter, zur Feier der Huldigung veröffentlicht werden; das weiche
Gemüth des Königs fand aber keine Ruhe, unverzüglich ließ er die Kerker
öffnen und vielen der Befreiten gewährte er Anſtellung im Staatsdienſte.
Dieſe Milde gereichte ſeinem Herzen zu hoher Ehre; denn an die Schuld
der Mehrzahl der Gefangenen glaubte er ebenſo feſt wie ſein Vater. Die
düſtere Zeit der politiſchen Verfolgungen ging alſo zu Ende, nicht ohne ein
ſchauerliches Nachſpiel. Zur ſelben Zeit, da die Demagogen frei kamen,
verfiel der boshafteſte ihrer Peiniger, Geheimer Rath Tzſchoppe, in ſchwere
Geiſteskrankheit; der Unſelige wähnte ſich verfolgt von allen den Armen,
denen er die Jugend verwüſtet hatte, und ſtarb bald nachher im Irrſinn.
Leider zeigte ſich auch ſchon jetzt, wie gefährlich die Herzensgüte des
Monarchen wirken konnte. In einer Aufwallung brüderlicher Liebe betraute
er den Prinzen Wilhelm, der den fridericianiſchen Titel eines Prinzen
von Preußen erhielt, mit dem Vorſitze im Staatsminiſterium und im
Staatsrathe. Er hoffte, ſein Bruder würde einfach in die Stellung ein-
rücken, welche er ſelbſt bisher als Kronprinz eingenommen hatte. Aber
trotz ſeiner Ehrfurcht vor dem Träger der Krone konnte der Prinz von
Preußen hinter dem nur wenig älteren Könige unmöglich ebenſo beſcheiden
zurücktreten, wie es der alte Herr von ſeinen Söhnen verlangt hatte,
der Gegenſatz des Charakters und der Geſinnung, der die beiden Brüder
trennte, mußte an den Tag kommen, und ſchon die nächſten Wochen lehrten,
daß das Amt eines Miniſterpräſidenten für einen Thronfolger zugleich zu
niedrig und zu mächtig iſt.
[32]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Von vornherein war der König darüber im Reinen, daß die land-
ſtändiſche Verfaſſung nicht in ihrem gegenwärtigen unentſchiedenen Zu-
ſtande verbleiben durfte. Er ahnte, dieſe große Frage würde den eigent-
lichen Inhalt ſeiner erſten Regierungsjahre bilden, und bei einiger Ent-
ſchloſſenheit ſchien ihre Löſung keineswegs unmöglich. Die Verheißungen
des alten Königs, wie planlos und unbedacht ſie auch waren, enthielten
nichts, was die Macht der Krone in der gegenwärtigen Lage irgend be-
drohen konnte. Nach der Verordnung vom 22. Mai 1815 war der Mon-
arch verpflichtet, eine berathende, aus den Provinzialſtänden gewählte
Landesrepräſentation einzuberufen; die Art der Erwählung konnte er als
alleiniger Geſetzgeber frei beſtimmen. Er war ferner verpflichtet, die
Grundſätze, nach denen Preußens Regierung bisher geführt worden war,
in einer ſchriftlichen Verfaſſungsurkunde auszuſprechen, deren Form und
Inhalt ihm ebenfalls frei geſtellt blieb. Endlich hatte der alte König
durch das Staatsſchuldengeſetz vom 17. Jan. 1820 verſprochen, daß dem
künftigen Reichstage über die Staatsſchulden jährlich Rechnung abgelegt,
neue Schulden nur mit ſeiner Genehmigung aufgenommen werden ſollten.
Auch hiermit war ſtreng genommen nur geſagt, daß die Reichsſtände in
regelmäßiger Wiederkehr einberufen werden mußten; die alljährliche Rech-
nungsablegung konnte ja, wenn man ſich mit ihnen verſtändigte, auch
vor einem Ausſchuſſe des Reichstags ſtattfinden. Zum Ueberfluß beſaß
der Monarch die unbeſtrittene Befugniß, die Geſetze ſeines Vorgängers,
ſofern ſie nicht die Rechte der Staatsgläubiger unmittelbar berührten,
durch neue Geſetze aufzuheben.
Hier zeigte ſich aber, daß ein conſtitutioneller Fürſt in vielen Fällen
mächtiger iſt als ein unbeſchränkter Herrſcher. Die Zurücknahme eines
übereilten Verſprechens, die im conſtitutionellen Staate, wenn der Reichs-
tag zuſtimmt, ohne jede Schwierigkeit erfolgt, mußte dem abſoluten Könige
als eine Verletzung der Ehrfurcht gegen ſeinen Vater, faſt als eine ſitt-
liche Unmöglichkeit erſcheinen. Friedrich Wilhelm fühlte ſich in ſeinem
Gewiſſen an die alten Verheißungen gebunden, und doch ſträubten ſich
alle ſeine Neigungen und Doctrinen wider ihre wörtliche Ausführung.
Ihr Kernpunkt lag offenbar in der Einberufung eines regelmäßig wieder-
kehrenden Reichstags; trat dieſer nur erſt als eine ſtehende Inſtitution
zuſammen, in wie beſcheidenen Formen immer, ſo mußte er ſich unfehl-
bar weiter entwickeln. Durch die Bildung der Provinzialſtände hatte einſt
nicht eigentlich die Reaction, ſondern der Particularismus geſiegt. Um
ſo nöthiger war es jetzt, nachdem die Provinzen in einem Vierteljahr-
hundert ſich doch leidlich zuſammengefunden hatten, dem Sondergeiſte der
Landſchaften ein ſtarkes Gegengewicht zu geben, dem ganzen Volke endlich
ein gemeinſames Arbeitsfeld zu eröffnen, auf dem ſich ein bewußtes Preu-
ßenthum, eine lebendige Staatsgeſinnung bethätigen konnte.
Das war es was Preußens Nachbarn vornehmlich befürchteten. Nicht
[33]Die Verfaſſungsfrage.
blos Fürſt Metternich und Czar Nikolaus lauſchten beſorgt auf jede Nach-
richt aus Berlin. Auch König Wilhelm von Württemberg betheuerte dem
Geſandten Rochow beſtändig: er ſei jetzt über das conſtitutionelle Weſen
ins Klare gekommen und halte die preußiſchen Provinzialſtände für die
beſte Form der Intereſſenvertretung.*) Die kleinen deutſchen Fürſten dachten
nur mit Zittern und Zagen an die Möglichkeit einer preußiſchen Verfaſſung.
Bei dem bisherigen Zuſtande befanden ſie ſich alleſammt recht behaglich, weil
ſie die Unzufriedenen daheim bald durch das abſchreckende Beiſpiel des
preußiſchen Abſolutismus beſchwichtigen, bald mit dem Unwillen der beiden
Großmächte bedrohen konnten; was ward aus ihrer Souveränität, wenn
ein preußiſcher Reichstag die Verfaſſungsherrlichkeit der Kleinen ſofort in
den Schatten ſtellte, wenn dies durch den Zollverein ſchon ſo mächtig
erſtarkte Preußen auch noch die Bühne des deutſchen parlamentariſchen
Lebens wurde und den Deutſchen täglich zeigte, welch ein Stolz es iſt
einem mächtigen Staate anzugehören?
Für dieſe einigende Kraft der Reichsſtände beſaß aber Friedrich Wil-
helm gar kein Verſtändniß, weil ihm die Energie des preußiſchen Staats-
gedankens fremd blieb. Er betrachtete die ſchöne Mannichfaltigkeit der
Provinzialſtände als einen Triumph des hiſtoriſchen Princips und warf
noch in den dreißiger Jahren zuweilen die Frage auf, ob man nicht die
alten Stände der Fürſtenthümer Magdeburg, Münſter, Paderborn als
Communallandtage wieder herſtellen könne. Das ſtand ihm feſt, daß die
Provinziallandtage der Schwerpunkt der ſtändiſchen Verfaſſung Preußens
bleiben ſollten; nur in außerordentlichen Fällen dachte er ſie alleſammt
nach Berlin zu berufen und alſo, ohne neue Wahl, einen Vereinigten
Landtag zu bilden, der ſchon wegen ſeiner Schwerfälligkeit nur ſelten zu-
ſammentreten konnte. Dieſe Gedanken entwickelte er bereits als Kron-
prinz vor Leopold Gerlach; an ihnen hielt er mit ſeiner ſtillen Hart-
näckigkeit feſt, bis er ſie nach Jahren endlich verwirklichte. Noch andere,
rein doctrinäre Bedenken gegen die alten Verheißungen konnte er nicht
überwinden. Eine ſchriftliche Verfaſſungsurkunde, wie ſie der Vater ver-
ſprochen, erinnerte den Sohn allzuſehr an Rouſſeau und Rotteck-Welcker;
niemals wollte er die freie Macht ſeiner Krone durch einen papiernen
Vertrag beſchränken. Ebenſo anſtößig ſchien ihm die Verheißung, daß die
Reichsſtände für alle Staatsſchulden die Bürgſchaft übernehmen ſollten; in
Kriegszeiten wollte er eine ſolche Beſchränkung ſeiner monarchiſchen Ge-
walt nicht dulden. Es war eine Sorge, die nur den überfeinen Scharf-
ſinn eines ganz unpraktiſchen Kopfes beunruhigen konnte. Denn für die
erſten Ausgaben eines plötzlich hereinbrechenden Krieges boten der längſt
wieder gefüllte Staatsſchatz, die reichlichen Ueberſchüſſe der Verwaltung,
dazu noch die Bank und die Seehandlung vollauf genügende Mittel; und
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 3
[34]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
war der Krieg erſt im Gange, ſo ließ ſich von der ſo oft, ſo glorreich be-
währten Vaterlandsliebe der Preußen mit Sicherheit erwarten, daß ihr
Reichstag nothwendige Kriegsanleihen nicht verweigern würde.
Von ſolchen Zweifeln gepeinigt, hatte Friedrich Wilhelm einen be-
ſtimmten Entſchluß noch nicht gefunden; nur das Eine ſagte ihm ſeine
richtige Empfindung, daß der große Augenblick der Huldigung benutzt
werden mußte um durch einen freien königlichen Befehl die Verfaſſungs-
frage ſofort zu entſcheiden. Da wurde ihm zur unglücklichen Stunde
jener Teſtamentsentwurf übergeben, welchen der Vater kurz vor ſeinem
Ableben dem Fürſten Wittgenſtein anvertraut hatte.*) Darin war vor-
geſchrieben, daß nur im Falle der Aufnahme einer neuen Anleihe ein
Vereinigter Landtag aus 32 Abgeordneten der Provinziallandtage und
ebenſo vielen Mitgliedern des Staatsraths gebildet werden dürfe; über-
dies verlangte der alte Herr für jede Aenderung der ſtändiſchen Verfaſſung
die Zuſtimmung der Agnaten. Daß dieſe Aufzeichnungen im Großen und
Ganzen der Anſicht des verſtorbenen Königs entſprachen, ließ ſich nicht
beſtreiten. Aber ſie waren rechtlich unwirkſam, da ſie weder Unterſchrift
noch Datum trugen, und konnten nur als ein väterlicher Rath und
Wunſch, nicht als ein bindendes Teſtament betrachtet werden, obgleich das
Allgemeine Landrecht die letztwilligen Verordnungen der Mitglieder des
königlichen Hauſes als privilegirte Teſtamente von den üblichen Förm-
lichkeiten befreite; denn immer blieb die Frage offen, ob die Willens-
meinung des Monarchen genau wiedergegeben ſei. Der neue König zwei-
felte lange, wie er ſich zu den Verfügungen des Vaters zu verhalten habe;
er ließ Alles was ſie über das Hausvermögen anordneten gewiſſenhaft
ausführen, und theilte das Aktenſtück ſeinen Brüdern mit. Da erwi-
derte ihm der Prinz von Preußen ſehr ernſt, die Willensmeinung des
Vaters müſſe trotz ihrer mangelhaften Form unbedingt geachtet werden,
ohne die Zuſtimmung aller erwachſenen königlichen Prinzen ſei fortan jede
Verfaſſungsänderung unzuläſſig.
Alſo gemahnt entſchloß ſich Friedrich Wilhelm, ſofort bei der Huldigung
die beabſichtigte Einberufung jenes ſeltſamen Landtags von 64 Mitglie-
dern anzukündigen, obgleich eine neue Anleihe zur Zeit gar nicht nöthig
war; auch eine Ueberſicht des Staatshaushalts wollte er den zur Huldi-
gung verſammelten Provinzialſtänden vorlegen und ihnen mittheilen, daß
er ſeinem treuen Volke zur Morgengabe einen Steuererlaß zu gewähren
denke. Durch ſolche freie Bewilligungen — ſo rechnete er — würden die
Stände leicht gewonnen werden und ſich gern entſchließen, dafür auf die
verheißene regelmäßige Berufung des Reichstags zu verzichten. Waren
dergeſtalt die Befehle des Vaters mit Genehmigung der Agnaten aus-
geführt, ſo konnte vielleicht ſpäter einmal, nach dem Ermeſſen der Krone,
[35]Das Teſtament des alten Königs.
ein großer Vereinigter Landtag, eine Verſammlung aller Provinzialſtände
einberufen werden. Ueber dieſen letzteren Plan äußerte ſich der König
vorerſt noch nicht, obwohl er ihn in der Stille unverbrüchlich feſt hielt.
Was er aber für die Huldigung beabſichtigte, das gab er ſchon zu An-
fang Juli ſeinen Miniſtern kund, und ſagte in ſeinem Handſchreiben: er
beſitze noch nicht die Autorität und das Vertrauen, welche ſein Vater ſich
einſt durch eine lange, geſegnete Regierung erworben hätte, darum dürfe
er die ſtändiſche Frage nicht unentſchieden laſſen. Auch Boyen, Voß,
Leopold Gerlach nahmen theil an den Berathungen, die ſich durch Wochen
hinzogen und zumal den Prinzen von Preußen tief erregten.
Für den Vorſchlag des Königs erklärte ſich nur einer der Befragten,
General Boyen. Der alte Kriegsmann ſah voraus, daß die erwartungs-
volle Stille im Volke nicht mehr lange anhalten konnte, und ſagte in
einer Denkſchrift vom 8. Auguſt: „In einem ſolchen zweifelhaften Falle
iſt es die Hauptfrage: ſoll die Regierung ſich drängen laſſen oder die
Initiative ergreifen?“ Ueberdies erwartete er beſtimmt einen neuen Krieg
gegen Frankreich, und wie er ſchon im Jahre 1808 die Berufung einer
Ständeverſammlung angerathen hatte, um die Krone zum Kampfe gegen
Napoleon zu ſtärken, ſo verlangte er auch jetzt, daß unſere bewaffnete
Macht „geiſtig höher“ ſtehen müſſe als die Heerſchaaren der Propaganda.
Darum betrachtete er „dieſen durch eine ſonderbare Kette von Verhält-
niſſen herbeigeführten Gedanken eines ſtändiſchen Ausſchuſſes … als das
beſte und einfachſte Mittel für unſere inneren und äußeren Staatsver-
hältniſſe. … Kann Jemand noch ein beſſeres Mittel angeben, in Gottes
Namen! Aber für die geſetzliche Lenkung des Volksgeiſtes muß etwas in
Zeiten geſchehen.“ In einem Begleitſchreiben rief er dem Könige zu:
„Wir ſtehen gegenwärtig am Rubicon, aber der Uebergang hat nicht wie
bei Caeſar die Zerſtörung zum Zweck. Nein, das Zeil iſt das muthige
Erhalten und zeitgemäße Aufbauen der vaterländiſchen Einrichtungen.
Dies iſt die von der göttlichen Vorſehung Eurer Majeſtät zugewieſene
Aufgabe.“*) So klar der General das Ziel erkannte, ebenſo ſchwer täuſchte
er ſich über die Mittel und Wege. Eine Verſammlung von 32 Provinzial-
Abgeordneten war kein Reichstag, ſondern nur ein ſtändiſcher Ausſchuß,
wie ſie Boyen ja auch ſelbſt nannte; durch eine ſo kümmerliche, faſt
ſpöttiſche Erfüllung des alten Königswortes konnten die Preußen weder
befriedigt noch begeiſtert, ſondern nur aufgereizt werden zur Forderung
ihrer verbrieften Rechte. Dieſe Gefahr lag ſo nahe, daß ſelbſt General
Thile, der ſich anfangs zu ſeinem Freunde Boyen gehalten hatte, bald
bedenklich wurde, der Prinz von Preußen aber und die anderen Miniſter
alleſammt den Monarchen dringend warnten.
Dergeſtalt bewährte Friedrich Wilhelm jetzt ſchon ſeine verhängniß-
3*
[36]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
volle Neigung, die Geſchäfte an der falſchen Stelle anzufaſſen; in beſter
Abſicht verwirrte und verwickelte er die Frage alſo, daß beide Theile
zugleich Recht und Unrecht hatten. Die Mehrzahl der Miniſter be-
trachtete die ſtändiſche Geſetzgebung der Monarchie als endgiltig abge-
ſchloſſen und verwarf jede Neuerung. Rochow vornehmlich, der vor acht-
zehn Jahren den Verhandlungen der Notabeln über die Errichtung der
Provinzialſtände beigewohnt*), verſicherte in einer Denkſchrift zuverſichtlich,
damals hätte „man allſeitig die allgemeine Verfaſſungsfrage für abgethan
gehalten“. In ähnlichem Sinne äußerte ſich Gerlach; der nachdrücklich
hervor hob, daß die zur Huldigung einberufenen Stände ſich unmöglich
für befugt halten könnten eine ſo wichtige Angelegenheit alsbald zu ent-
ſcheiden.**) Vor dieſem allgemeinen Widerſpruche verlor der König den
Muth. Er legte ſich nicht die Frage vor, ob es nicht rathſam ſei, ſtatt
der geplanten bedenklichen Halbheit vielmehr eine ganze Gewährung zu
wagen und den Preußen ſogleich bei der Huldigung die Einberufung eines
wirklichen, mit allen verheißenen Rechten ausgeſtatteten Reichstags anzu-
kündigen. Für ſolche Pläne konnte er an Radowitz oder Canitz freudige
Helfer finden. Da er aber durchaus ſelbſt regieren wollte und in ſeinen
Räthen immer nur gleichgiltige Werkzeuge ſah, ſo koſtete es ihn auch
wenig Ueberwindung, ſich vorderhand noch mit Miniſtern zu behelfen,
welche ſeinen reichsſtändiſchen Abſichten widerſtrebten. Schon halb ent-
ſchloſſen die unbequemen Pläne vorerſt zu vertagen, beſuchte er den be-
freundeten ſächſiſchen Hof und traf dort in Pillnitz, am 13. Auguſt mit
dem Fürſten Metternich zuſammen. Er beſprach ſich mit ihm über die
gemeinſamen Rüſtungen gegen Frankreich, über die nothwendige Reform
der Bundesverfaſſung, nebenbei auch über die preußiſche Verfaſſungsfrage;
und da der Oeſterreicher, wie zu erwarten ſtand, den Bedenken der preu-
ßiſchen Miniſter lebhaft beipflichtete, ſo ließ der König für jetzt von ſeinen
Vorſätzen ab. Alſo verſäumte er zum erſten male eine wunderbar günſtige
Stunde; und oft genug hat er ſpäterhin bitterlich geklagt: „ich beweine
eine neue verlorene Gelegenheit, wie deren ſo viele!!! ſeit Jahren
verloren ſind.“***) Auch jetzt ſchon war er keineswegs mit ſich zufrieden,
ſondern ſagte traurig: „man wird ſehen, welche üblen Folgen das haben
wird.“
Der Teſtamentsentwurf des alten Königs blieb alſo unausgeführt
und wurde auf Befehl des Nachfolgers fortan ſtreng geheim gehalten.
Nunmehr faßte Friedrich Wilhelm den Plan, die Befugniſſe der Pro-
vinzialſtände Schritt für Schritt zu erweitern und dergeſtalt durch die
belobte organiſche Entwicklung die dereinſtige Berufung der Reichsſtände
[37]Stände, nicht Volksvertreter.
vorzubereiten. Denn ganz etwas Anderes als die ſüddeutſchen Kammern
ſollte Preußens künftiger Reichstag werden, nicht eine Volksrepräſentation,
ſondern eine Verſammlung von Ständen, welche ihre eigenen Rechte zu
wahren hätten, eine im hiſtoriſchen Rechtsboden feſtgewurzelte Körperſchaft,
die eben deshalb weder den befreundeten Oſtmächten Anſtoß geben noch
die preußiſche Monarchie dem Staate der Julirevolution in die Arme
treiben könnte. Ganz und gar war der König erfüllt von jener alten Gentzi-
ſchen Ständelehre, welche der Fürſt von Solms-Lich den Höfen neuerdings
wieder mundgerecht vorgeſetzt hatte. Er überſah, daß der conſtitutionelle
bairiſche Landtag doch auch nach dem Grundſatze der ſtändiſchen Gliederung
gebildet war, und ahnte nicht, daß jeder preußiſche Reichstag, wenn er nur
mehr war als ein kleiner Ausſchuß, ſich ſelbſt für eine Volksvertretung
anſehen, die öffentliche Meinung an den Tag bringen mußte. Weltkundiger
als der König hatte Dahlmann ſchon vor Jahren dieſe nothwendige Entwick-
lung vorausgeſagt, als er in einem der ſchönſten Capitel ſeiner „Politik“
ausführte: dieſelbe Macht der Geſchichte, welche überall an die Stelle der
Dienſte das Geld, an die Stelle der Sitte die Einſicht, an die Stelle
der Standesmeinung eine öffentliche Meinung geſetzt habe, ſie nöthige
auch die alten Landſtände zuſammenzurücken zu einer Volksvertretung.
Solche Worte konnte der König nur für revolutionär anſehen, denn der
Führer der Göttinger Sieben warnte zugleich vor einer Doktrin, welche
„den Staat halb als Vaterhaus halb als Kirche übertünchen“ wolle.
Eben dieſe Idee des chriſtlich-germaniſchen Patrimonialſtaates war
dem Monarchen heilig; ſie wollte er verwirklichen — „auf Jahrhunderte
hinaus“, wie Fürſt Solms zuverſichtlich meinte — im bewußten Gegen-
ſatze zu den Staaten der Volksſouveränität und der papiernen Charten.
Darum durfte ihm auch kein Unterthan einreden in ſeine verborgenen
Pläne. Im buchſtäblichen Sinne verſtand er die Mahnung, die ihm
Leopold Gerlach in dieſen Tagen zurief: jeder König wird unfähig zu
regieren, wenn ihn das Volk nicht mehr für einen König von Gottes Gnaden
hält. Wie zornig hatte er vor neun Jahren auf „dieſen Pumpernickel-
Lafayette“ geſcholten, als die weſtphäliſchen Stände an das Verfaſſungs-
verſprechen zu erinnern wagten und der junge Fritz Harkort ſich durch
ſeine kühne Sprache hervorthat. Das Volk ſollte gehorſam abwarten,
was des Königs Weisheit ihm ſchenken würde; nimmermehr wollte er ſich
drängen laſſen.
Leider bekundeten jetzt ſchon mannichfache Anzeichen, wie wenig dieſe
Regierung einem anhaltenden Drängen zu widerſtehen vermochte. Zu-
gleich mit der Verfaſſungsſache hatte Friedrich Wilhelm auch die zweite
der beiden großen Fragen, welche ihm ſein Vater ungelöſt hinterlaſſen
hatte, den Biſchofsſtreit, ernſtlich ins Auge gefaßt. Er beſchloß, durch
eine Sendung nach Rom, durch unmittelbare Verhandlungen mit dem
Papſte den Zwiſt beizulegen und geſtattete ſchon am 13. Juli dem Erz-
[38]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
biſchof Droſte aus ſeiner ländlichen Heimath nach Münſter überzuſiedeln;
nach Köln wollte er den Urheber des Streites auf keinen Fall zurückkehren
laſſen. Den anderen der beiden Erzbiſchöfe hingegen, Dunin, der noch rechts-
kräftig verurtheilt in Colberg gefangen ſaß, dachte er ſogleich wieder in ſein
erzbiſchöfliches Amt einzuſetzen. Welch ein Mißgriff! Dunin war nicht
nur der ſchuldigere der beiden Prälaten, da er ganz ohne Noth ein ſeit
Jahrzehnten anerkanntes Geſetz eigenmächtig aufgehoben hatte; er gehörte
auch einer Provinz an, welche durch ihre Unbotmäßigkeit ebenſo bekannt war
wie das Rheinland durch ſeinen geſetzlichen Sinn und ſich längſt gewöhnt
hatte, jede That königlicher Milde als deutſche Schwäche zu verſpotten.
Während am Rhein die Ruhe faſt nirgends geſtört wurde, nahmen in
Poſen die Kundgebungen lärmenden Zornes kein Ende: die Geiſtlichen
verbreiteten ein Lied: „den Hirt und Vater raubt man ſeinen Kindern,
den heil’gen Glauben will man uns entreißen.“*) Grade dieſen ſchlech-
teſten Unterthanen Preußens, den Polen widmete Friedrich Wilhelm eine
ſchwärmeriſche Zärtlichkeit. Er konnte nie vergeſſen, daß Platen ihn einſt
in den Polenliedern um Schutz für „das Volk der Leiden“ angefleht und
ihm zugerufen hatte:
Mit den Radziwills und Raczynskis verband ihn alte Freundſchaft. Durch
Großmuth hoffte er die Großmüthigen, die in Wahrheit nur begehrlich
waren, zu verſöhnen.
Daher wurde ſchon am 17. Juli Geh. Rath Aulicke, ein hartkatho-
liſcher Weſtphale, der fortan in Preußens Kirchenpolitik noch lange eine
verhängnißvolle Rolle ſpielen ſollte, an den Gefangenen geſendet. Die
verſchmitzten Augen des glatten kleinen Polen leuchteten, er zerfloß in Dank-
barkeit und verſprach in einem höchſt unterthänigen Schreiben fortan Treue
und Frieden zu wahren. Darauf geſtattete ihm der König die Rückkehr
und ſprach zugleich die Hoffnung aus: „Es wird Mich freuen, durch die
Bethätigung Ihrer gegen Mich ausgeſprochenen Verheißungen Mich bald
in den Stand geſetzt zu ſehen Sie an Meinem Hoflager zu empfangen.“**)
Die Heimkehr erfolgte, um Aufſehen zu vermeiden, am ſpäten Abend des
5. Auguſt; aber natürlich hatte einer der adlichen Vertrauten des Erzbiſchofs,
Lipski, die Nachricht ſchon vorher verbreitet, ſo geſtaltete ſich denn die Ein-
fahrt zu einem brauſenden Triumphzuge, und es frommte wenig, daß der
König dem Herrn v. Lipski nachträglich ſeinen Unwillen ausſprechen ließ.***)
[39]Begnadigung Dunin’s.
Am nächſten Tage erklangen in allen Kirchen des Erzbisthums wieder die
Glocken und die Orgeln, die wegen der Gefangenſchaft des Oberhirten bis-
her geſchwiegen hatten. Die Stadt Poſen veranſtaltete eine große Erleuch-
tung zur Feier der Amneſtie für die politiſchen Verbrecher, und wochenlang
ſtrömten Tag für Tag Hunderte von Andächtigen zu dem befreiten Märtyrer.
Dunin verſäumte auch nicht in Gneſen einzuziehen, wo ihm die Bauern die
Pferde vom Wagen ſpannten; einer Pilgerſchaar, die zu der ſchwarzen Mutter
Gottes von Czenſtochau, der Regina Regni Poloniae wallfahrtete, ertheilte
er feierlich ſeinen Segen. So verhöhnte der Begnadigte die deutſche Staats-
gewalt ins Angeſicht; der ſo lange durch Flottwell’s Strenge niedergehaltene
Deutſchenhaß regte ſich wieder, während dieſer Saturnalien polniſcher Sieges-
trunkenheit wurde der erſte Keim gelegt für die Aufſtände der nächſten Jahre.
Unterdeſſen ließ der verſöhnliche Hirtenbrief, welchen Dunin dem Monar-
chen verſprochen hatte, noch immer auf ſich warten. Erſt nach langen
peinlichen Verhandlungen mit der Regierung*) kam ein geſchraubtes und
gewundenes Rundſchreiben zu Stande (27. Aug.): den Geiſtlichen wurde
zwar unterſagt das förmliche Verſprechen katholiſcher Kindererziehung zu
fordern, anderſeits aber völlig frei geſtellt, ihre Mitwirkung bei der Ab-
ſchließung gemiſchter Ehen zu verweigern. Die Entſcheidung über die
gemiſchten Ehen lag alſo fortan ausſchließlich in der Hand des römiſchen
Clerus; in Poſen wie vorher ſchon am Rhein hatte der Staat völlig
nachgegeben.**)
Damit die Poſener Verhältniſſe wieder in ruhigen Gang kämen, ver-
langte der König, daß die beiden alten Gegner, Dunin und der Oberpräſi-
dent Flottwell ſich verſöhnen ſollten. Flottwell erklärte ſich auch bereit
die ihm anempfohlene Selbſtverleugnung zu üben; der treue Mann ahnte
ſchon, die Zeit des feſten und gerechten deutſchen Regimentes werde unter
dem neuen Könige nicht mehr lange währen. Dunin dagegen weigerte ſich
den erſten Schritt zu thun, was ihm, dem Verurheilten, doch unzweifelhaft
zukam. Der Oberpräſident, ſo verſicherte er dem Könige, hätte ihn
gar zu ſchlecht behandelt: „Die dadurch hervorgerufenen Gefühle aus-
zutilgen vermag ich nicht, denn wenngleich Prieſter bin ich doch ein Menſch,
und ein Wurm krümmt ſich wenn er getreten wird.“ Zugleich fragte er
ganz verwundert, warum man ihn noch immer nicht zum Krönungsfeſte
nach Königsberg eingeladen habe.***) Vergeblich ſuchte ihn Oberſt Williſen,
ein dem Könige naheſtehender, mit dem polniſchen Adel eng befreundeter
Offizier, mindeſtens zur Wahrung des äußeren Anſtandes zu bewegen;
vergeblich erinnerte ihn Miniſter Rochow, im Auftrage des Monarchen,
an die Chriſtenpflicht der Verſöhnlichkeit. Dunin blieb bei ſeinem Trotze;
[40]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
er hatte mit ſarmatiſcher Schlauheit längſt erkannt, daß er dieſer Regierung
alles bieten durfte.*) In der That ließ ihn der König zur Krönung an
das Hoflager entbieten und gab ſich der angenehmen Hoffnung hin, der
Prälat würde den verſäumten Beſuch bei Flottwell ſpäterhin noch nachholen.
Dort in Königsberg umringte den Erzbiſchof alsbald der polniſche Adel
und begrüßte ihn als einen Vorkämpfer der Nation; mit höchſter Dreiſtig-
keit ward unter den Augen des Königs ausgeſprochen, jetzt ſei es Zeit den
Deutſchen Flottwell zu ſtürzen. Die öffentliche Meinung zeigte ſich in dieſen
polniſchen Dingen völlig urtheilslos; ſie war längſt gewöhnt in jedem poli-
tiſchen Gegner der Regierung einen ehrwürdigen Märtyrer zu ſehen und
pries dankbar die Milde des neuen Herrſchers.
Unterdeſſen wurden die Zurüſtungen getroffen für die Huldigung
in Königsberg. Sie ſollte mit beſonderer Feierlichkeit erfolgen; denn es
geſchah zum erſten male, daß ein König von Preußen als völlig ſou-
veräner Herr aller ſeiner Lande den Thron beſtieg. In dem alten
Ordenslande hatte ſich der verhaltene Partheihaß der letzten Jahre neuer-
dings noch mehr verſchärft, ſeit General Wrangel, als Nachfolger des
fein gebildeten taktvollen Natzmer, an die Spitze des erſten Armee-
corps getreten war. Die oſtpreußiſchen Cüraſſiere fühlten ſich hoch ge-
ehrt, wieder unter die Befehle des kühnen Reitersmannes zu kommen,
der ſie einſt im Befreiungskriege ſo ruhmvoll geführt hatte. Der Ober-
präſident Schön aber vermochte in ſeinem Bildungshochmuth weder die
militäriſchen Verdienſte noch die humoriſtiſche Gutmüthigkeit des derben,
polternden, ſtreng conſervativen Pommern zu würdigen; er verabſcheute
ihn ebenſo gründlich wie den orthodoxen Generalſuperintendenten Sar-
torius, und nannte ihn „das öffentlich daſtehende Standbild der Stupi-
dität und Uncultur“. Der Haß der Männer ergriff auch die Frauen-
welt Königsbergs: hier Schön’s Freundin, die geiſtreiche, liebenswürdige,
ganz demokratiſch geſinnte Freiin Florentine v. Brederlow, dort ſeine
feindliche Schwägerin Frau v. Bardeleben mit den Gottſeligen des ver-
rufenen Muckerkreiſes. Schön’s Partei aber behauptete entſchieden das
Uebergewicht. Durch ſeine langjährige Verwaltung feſt mit dem Lande
verwachſen, ſchien er Vielen ehrwürdig, Anderen ſchreckhaft, den Meiſten
unentbehrlich; er beherrſchte faſt das geſammte Beamtenthum und den
größten Theil des Landadels, desgleichen die hierzulande weit verbreiteten
Freimaurer und den ganzen Lehrerſtand, der noch durchaus vom Geiſte
des alten Dinter erfüllt war. Mit den Gelehrten ſtand er von jeher
auf gutem Fuße. Die akademiſche Jugend endlich verehrte ihn, nach
der Legende der Provinz, als den bürgerlichen York, der auch in Zukunft
der Vorkämpfer altpreußiſcher Freiheit bleiben müſſe; denn ſeit Kurzem
war auf der Albertina das politiſche Leben etwas reger geworden, bei
[41]Schön und die Altpreußen.
den alljährlichen Belle-Alliance-Feſten auf dem Galtgarbenberge verherr-
lichten Dickert, Falkſon und andere jugendliche Redner die künftige preußi-
ſche Verfaſſung. Als nun die Kunde von dem Thronwechſel kam, da
fanden die verhaltenen Wünſche den Athem wieder; die Provinz hoffte,
Alles werde jetzt anders und beſſer werden, die Einen erwarteten ein
unbeſtimmtes politiſches Glück, Andere eine Erleichterung des Druckes der
ruſſiſchen Grenzſperre, faſt Alle aber ſahen in Schön den Staatsmann
der Zukunft.
Und mochte er es auch ableugnen, unmöglich konnte er ſelbſt ſolchen
Hoffnungen fremd bleiben. Wie oft hatte er, alle dieſe Jahre über, ein
Cabinet „das vor dem Volke ſtehe“ gefordert. Die bisherigen Miniſter
ſchienen ihm alleſammt verächtlich, am verächtlichſten Rochow, der ſein
unglückliches Wort vom beſchränkten Unterthanenverſtande der altpreu-
ßiſchen Stadt Elbing zugeſchleudert und alſo den reizbaren Provinzialſtolz
tödtlich beleidigt hatte. Dieſen Abſcheu erwiderten die Beamten der Berliner
Centralſtellen, ohne Unterſchied der Partei, aus Herzensgrunde; ſie alle
hatten unter Schön’s ſchroffer Tadelſucht viel gelitten und oft beklagt, daß
der alte König ihm Alles nachſah. Der liberale Kühne, der mit dem
erklärten Gegner des Zollvereins in beſtändiger Fehde lebte, ſagte in
ſeinen Erinnerungsblättern geradezu: „Nie hat, ſo weit meine Bekannt-
ſchaft reicht, das Princip der Lüge und Falſchheit eine vollſtändigere Ver-
körperung erlangt als in dieſem Manne.“ War es nicht natürlich, daß
Schön dieſe ſeine geſchworenen Feinde durch Männer ſeines Vertrauens
zu verdrängen hoffte? Mit dem neuen Könige verband ihn eine lang-
jährige Freundſchaft, die allerdings, wie vormals Friedrich Wilhelm’s Ver-
hältniß zu Niebuhr, nicht auf wirklicher Geſinnungsgemeinſchaft ruhte, alſo
ernſte Prüfungen ſchwerlich aushalten konnte. In ſeinen ſittlichen Grundan-
ſchauungen hatte der rationaliſtiſche Kantianer, der Gegner der hiſtoriſchen
Schule mit dem chriſtlich germaniſchen Monarchen wenig gemein. Seit
ſeinen Kämpfen mit den Muckern war Schön in ſeinem Aufklärungs-
Eifer immer fanatiſcher geworden und behauptete jetzt geradezu: „das
rohe Gefühlsleben in den Formen der poſitiven Kirche ſchließt die Intelli-
genz aus“; ſtolz ſtellte er der Heuchelei der Jeſuiten, Herrnhuter und
Pietiſten, die ihm alle gleich galten, ſein eigenes „einfaches Chriſtenthum“
entgegen, obwohl er in ſeiner Selbſtüberhebung die chriſtlichen Tugenden
der Liebe, der Demuth, der Wahrhaftigkeit mehr und mehr verlernte. Aber
Beide waren mit Niebuhr befreundet geweſen und erwärmten ſich gern
an den großen Erinnerungen des Befreiungskrieges, Beide ſchwärmten für
England, Beide liebten leidenſchaftlich das tapfere Volk des Ordenslandes
und haßten die Bureaukratie der Hauptſtadt; auch hatten ſie ſchon oft zu-
ſammengearbeitet, bei dem Wiederaufbau der Marienburg und nachher in
den ſtändiſchen Angelegenheiten. Dem Kronprinzen war es immer eine
Freude, wenn er, geſtützt auf das Fürwort des Oberpräſidenten, die An-
[42]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
träge des preußiſchen Landtags im Staatsminiſterium vertheidigen konnte;
in den letzten Jahren glaubte er mit Schön ganz eines Sinnes zu ſein,
da ſie Beide, freilich aus ſehr verſchiedenen Gründen, die Kirchenpolitik
der Krone entſchieden mißbilligten. Er freute ſich an den immer beleben-
den Geſprächen des geiſtreichen, vielerfahrenen Staatsmannes und entwarf
ſich von ihm nach ſeiner Künſtlerweiſe ein ideales Bild, ohne zu bemerken,
wie dicht Freimuth und Verſchlagenheit, dynaſtiſche Treue und parteiiſche
Willkür, Vaterlandsliebe und Eitelkeit in dieſem ſeltſamen Geiſte bei einander
lagen. Schön’s Reformpläne gingen ſo weit nicht, wie die liberale Preſſe
der kleinen Nachbarſtaaten wähnte, die ihn jetzt beharrlich als Volksmann
und antiken Charakter verherrlichte; ein preußiſcher Reichstag von etwa hun-
dert Köpfen ſchien ihm genügend, bei der großen politiſchen Unerfahrenheit
des Volks. Nur eine raſche Entſcheidung hielt er mit Recht für nothwendig.
Zauderte die Krone, dann mußte ſie durch den preußiſchen Landtag ehrer-
bietig an die alten Verheißungen erinnert werden. Von ſeinem geliebten
Königsberg war einſt die Befreiung des Landvolks und die Erhebung gegen
Napoleon ausgegangen; warum ſollte ſich nicht nochmals aus dieſem eigent-
lichen Königreiche Preußen ein Strom des Lichtes über Seiner Majeſtät
übrige Länder ergießen?
Am 29. Auguſt hielt das Königspaar ſeinen Einzug in der alten
Krönungsſtadt. Die Schlächter ritten voran, nach dem Vorrechte, das ſie
ſich hier, wie in Berlin, vor Alters durch rühmliche Kriegsthaten erkämpft
hatten. Die anderen Innungen bildeten Spalier in den reichverzierten
hochgiebligen Gaſſen, die Schiffe auf dem Pregel prangten im Flaggen-
ſchmuck. Der König kam zu Roß neben dem Wagen ſeiner Gemahlin
daher und beantwortete die Anrede des Bürgermeiſters mit wohlgewählten
herzlichen Worten. Stürmiſch, endlos erklangen die Jubelrufe aus den
Maſſen; die Kinder ließen ſich nicht halten und drängten ſich an den
Herrſcher heran, der gütig lächelnd die kleinen Krausköpfe ſtreichelte; es
ſchien als könnte nie mehr ein Mißklang das patriarchaliſche Verhältniß
zwiſchen Fürſt und Volk ſtören. Die nächſten Tage verbrachte der König
bei den Uebungen der Truppen, auf Ausflügen in das ſchöne Samland
und bei mannichfachen Feſtlichkeiten. Mittlerweile verſammelten ſich am
5. Septbr. die preußiſchen Landſtände. Sie waren durch eine Cabinets-
ordre v. 15. Juli einberufen und beauftragt, vor der Huldigung die bei-
den Fragen zu beantworten: ob eine Beſtätigung ſtändiſcher Privilegien
zu beantragen und ob eine beſondere Vertretung des Herrenſtandes bei
der Huldigung zu erwählen ſei? Die erſte dieſer Fragen mußte, obwohl
ſie ſich nur an althergebrachte Formeln anſchloß, unter den gegenwärtigen
Umſtänden den Eindruck machen, als wollte der König ſelbſt die Stände
zu einer Aeußerung über die Verfaſſungsfrage auffordern; Friedrich Wil-
helm bemerkte die Gefahr nicht, weil er damals noch beabſichtigte den
Ständen ſelber die Berufung eines allgemeinen Landtags, nach den Plä-
[43]Der Königsberger Landtag.
nen des Vaters, anzukündigen. Inzwiſchen hatte er ſeine Abſicht geändert,
und da er jetzt mit leeren Händen kam, ſo verſchuldete er ſelbſt was er
doch verhindern wollte: daß die Krone von ihrem treuen Volke gedrängt
wurde.
Schön eröffnete den Landtag als königlicher Commiſſar. Er gedachte
zunächſt des verſtorbenen Königs und der jedem oſtpreußiſchen Herzen
theueren Reformperiode, welche „den letzten Reſt der Sklaverei“ vernichtet
habe. In ſeiner klug berechneten Rede, die er überdies noch durch eine
Denkſchrift näher begründete, legte er ſodann den Ständen die Antwort in
den Mund, welche ſie auf die Fragen des neuen Herrſchers zu geben hätten:
er rieth ihnen, dem Könige, nach ihrem alten Ehrenrechte, das herkömm-
liche Huldigungsgeſchenk von 100,000 Gulden anzubieten, dagegen auf die
Vertretung eines beſonderen Herrenſtandes zu verzichten, auch auf die
Beſtätigung ihrer alten, aus der trüben Zeit der Klöſter und der Zünfte
ſtammenden Privilegien keinen Werth zu legen. Dieſe Rathſchläge des
mächtigen Oberpräſidenten eigneten ſich die Landſtände faſt wörtlich an.
Da er durch Brünneck, die Brüder Auerswald und andere Getreue die
Verſammlung vollkommen beherrſchte, ſo läßt ſich mit Sicherheit annehmen,
daß er auch an Allem was nun folgte, insgeheim theilnahm; den Schein
der amtlichen Zurückhaltung wußte er freilich ſo vorſichtig zu wahren, daß
er nachher jede Mitwirkung in Abrede ſtellen konnte. Der Kaufmann
Heinrich aus Königsberg, ein wohlmeinender, gemäßigt liberaler Mann,
der nur dies eine mal eine Rolle in der Geſchichte Preußens ſpielen und
nachher bald wieder vergeſſen werden ſollte, beantragte nunmehr, den König
um die Erfüllung der alten Verfaſſungsverſprechen zu bitten. Im Sinne
dieſes Antrags wurde darauf eine ſtändiſche Denkſchrift ausgearbeitet. Die
Feder führte der ritterſchaftliche Abgeordnete Alfred v. Auerswald, ein
Sohn jenes wackeren alten Oberpräſidenten, der einſt, noch vor der be-
freienden Geſetzgebung des Staates, zuerſt die Hörigkeit auf ſeinen Gütern
aufgehoben hatte. Wie ſein Bruder, der jetzt als Oberbürgermeiſter der Lan-
deshauptſtadt ebenfalls dem Landtage angehörte, war Alfred Auerswald
vor Jahren auf dem Schloßhofe der alten Königsberger Ordensburg der
tägliche Spielgefährte der königlichen Prinzen geweſen und ihnen ſeitdem
in treuer Freundſchaft verbunden geblieben.
In dieſen Brüdern Auerswald, in dem zweiten Landtagsmarſchall
Saucken-Tarputſchen, in Brünneck, Bardeleben und der großen Mehr-
zahl der anderen adlichen Landſtände Altpreußens offenbarte ſich zur all-
gemeinen Ueberraſchung eine neue politiſche Kraft, die man ſeither ganz
überſehen hatte, weil ſie ſich im Stillleben der Provinziallandtage verlor.
Die alten Adelsgeſchlechter des Südens hatten bisher in ihrer großen
Mehrzahl ſich entweder dem neuen politiſchen Leben der Nation grollend
fern gehalten oder ſich der ultramontanen Partei angeſchloſſen, weil ſie
die Gewaltthaten der rheinbündiſchen Tage nicht verſchmerzen konnten;
[44]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
und es war nur menſchlich, daß der ſtarke Bürgerſtolz der Oberdeutſchen
adliche und reaktionäre Geſinnung faſt für gleichbedeutend hielt. Hier
aber trat ein patriotiſcher Adel hervor, feſt verwachſen mit ſeinem Staate,
königstreu durch und durch, ſtolz auf die kriegeriſchen Erinnerungen der
ſchwarz-weißen Fahnen des Deutſchen Ordens und des Königreichs Preußen,
und dabei altväteriſch einfach, unabhängig, freimüthig bis zur Schroffheit,
bei Weitem nicht ſo radikal wie die Kammerredner des Südens, immerhin
ſehr empfänglich für die liberalen Ideen des Zeitalters. Wer dieſen Männern
herzhaft in die Augen ſah, der mußte erkennen, daß Preußen an geſunden
conſervativen Kräften genug beſaß um eine nothwendige Reform getroſt
wagen zu können — wenn nur der König ſelber voranſchritt. In den
Verhandlungen des Landtags trat die politiſche Unreife der Zeit oft genug
zu Tage; Heinrich ſelbſt wußte in ſeinem Antrage zwiſchen der Aſſe-
curationsakte des großen Kurfürſten und den neuen königlichen Verhei-
ßungen, die doch auf einem ganz anderen ſtaatsrechtlichen Boden ſtanden,
noch nicht ſcharf zu unterſcheiden. Aber keine einzige unehrerbietige Aeuße-
rung wurde laut, Alle wetteiferten in Betheuerungen unverbrüchlicher Treue,
und mitten unter unklaren, leeren Reden fiel doch ſchon das entſcheidende
Wort, worauf alles ankam: der preußiſche Reichstag werde dem Könige
das ſicherſte und vielleicht einzige Mittel darbieten, die durch Raum,
Sprache und Sitte vielfach getrennten Stämme ſeines Volks zu einen.
Nach ernſter, gründlicher Berathung genehmigte die Verſammlung am
7. Sept. mit 89 gegen 5, durchweg adliche, Stimmen die Denkſchrift,
welche den König um Aufrechthaltung und Vollendung der von ſeinem
Vater neugegründeten verfaſſungsmäßigen Vertretung des Landes bat. Der
Landtag gab ſich der Hoffnung hin, daß Se. Majeſtät nicht anſtehen würde
„das fortdauernde Beſtehen der Provinzialſtände, und in den Wegen des
Vaters wandelnd, die verheißene Bildung einer Verſammlung von Landes-
repräſentanten Ihrem getreuen Volke allergnädigſt zuzuſichern“. Die Stände
ſagten nichts was ihnen nicht zuſtand, ſie gaben nur eine ehrerbietige
Antwort auf eine königliche Frage, und wenn eine ſolche öffentliche Mahnung
das Anſehen der Krone allerdings leicht gefährden konnte, ſo trug die
Schuld der König ſelbſt, der nicht verſtanden hatte zur rechten Zeit die
rechte Entſcheidung zu geben. Durch dieſen Beſchluß ward das Eis ge-
brochen, der vor ſiebzehn Jahren nothdürftig beſchwichtigte preußiſche Ver-
faſſungskampf von Neuem entfeſſelt.
Am Hofe fühlte man dies ſogleich. Allgemein war die Entrüſtung.
Der Prinz von Preußen, der noch ganz in den ſtreng abſolutiſtiſchen
Grundſätzen des Vaters befangen war, richtete ſobald er von dem Vor-
haben der Stände erfuhr, noch am 7. Sept. einen ſcharfen Brief an
Schön: „Es iſt in meinen Augen die höchſte Illoyalität, einem neuen
Souverän beim Antritt ſeiner Regierung Garantien abzufordern; und
wenn ſelbſt der ſelige König 1815 ſolche in Ausſicht ſtellte, ſo blieb es
[45]Ständiſche Denkſchrift. Landtagsabſchied.
ſeiner Weisheit ſowohl als der ſeiner Nachfolger vorbehalten die Zeit zu
beſtimmen, wenn ſie in Ausführung kommen ſollten. Daß der ſelige
König außerdem ſeit Einführung der Provinzialſtände an jener weiteren
Ausdehnung der ſtändiſchen Verhältniſſe nicht gearbeitet hat, beweiſt wohl,
wie in Allem, ſein tiefer und richtiger praktiſcher Blick, der ihn in der
Modernität ſolcher Inſtitutionen ringsum im Auslande nur Nachtheil,
Unruhe, Unzufriedenheit erblicken ließ … Anklang würde es bei Allen
finden, die Umſturz des Beſtehenden wollen, die Selbſtſuchts-Nährer ſind
und ihrer Eitelkeit fröhnen. Bei ſolchen Menſchen populär zu ſein iſt
nicht meine und nicht der wahren Patrioten Sache.“ Schön antwortete
beſchwichtigend: der Prinz möge der Sache keine Wichtigkeit beilegen, die
ſtändiſche Denkſchrift enthalte nichts Gefährliches, überhaupt könne ein
preußiſcher Landtag nie etwas beſchließen was dem Wohle des Königs
zuwider ſei.*) Mittlerweile ſetzte auch Miniſter Rochow alle Hebel ein
um den König gegen die Stände einzunehmen.
Als Schön am folgenden Tage im Schloſſe erſchien, fand er den
König ſehr aufgebracht und ſchon halb entſchloſſen den Landtag ſchnöde
abzufertigen. Auf das Zureden des alten Freundes beruhigte ſich Fried-
rich Wilhelm allmählich und geſtand: er wolle ja daſſelbe wie die Stände,
aber zur rechten Zeit und nach ſeinem eigenen freien Ermeſſen; er deutete
auch Einiges an von dem Plane eines großen Vereinigten Landtags, der
ihn im Stillen immer beſchäftigte. Im Vorzimmer ſagte Schön nachher
zu Alexander Humboldt — wer will entſcheiden, ob aus kluger Berech-
nung, oder in der Freude der erſten Ueberraſchung?: — „der König iſt
noch liberaler als ich.“ Dieſe Aeußerung wurde natürlich ſofort über-
all verbreitet, und Schön, der in dieſen Tagen mannichfache Beweiſe
königlicher Gnade, den ſchwarzen Adlerorden und den Titel eines Staats-
miniſters empfing, galt bei allen Oſtpreußen ſchon für den unvermeid-
lichen Nachfolger des Miniſters Rochow. Immerhin bewirkte Schön’s
Vermittlung, daß der Landtagsabſchied v. 9. Sept. eine ſehr freundliche
Form erhielt.**) Der König ſagte darin: ſein Vater habe, bewogen durch
die in anderen Ländern wahrgenommenen Ergebniſſe, ſein königliches
Wort in reifliche Erwägung gezogen und demgemäß beſchloſſen, „von den
herrſchenden Begriffen ſogenannter allgemeiner Volksvertretungen ſich fern
haltend“, ſein Wort einzulöſen durch die Einführung der provinzial- und
kreisſtändiſchen Verfaſſung. „Dieſes edle Werk treu zu pflegen und einer
immer erſprießlicheren Entwicklung entgegen zu führen“ ſei dem neuen
[46]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Herrſcher „eine der wichtigſten und theuerſten Pflichten des königlichen
Berufes“.
Die Bitte des Landtags war alſo abgeſchlagen, der König ſtellte
nicht einmal für die Zukunft irgend etwas Beſtimmtes in Ausſicht, da
es ihm gegen die Ehre ging, ſich von vorwitzigen Unterthanen treiben
zu laſſen. Darum fühlte ſich auch Czar Nikolaus ſichtlich erleichtert;
er dankte ſeinem Schwager, weil die dornige Verfaſſungsfrage jetzt „ein- für
allemal“ abgethan ſei.*) Die Abweiſung erfolgte jedoch in ſo gnädigem
Tone, und Schön wußte ſeinen Landsleuten von den freiſinnigen Ab-
ſichten des Monarchen ſo viel Herrliches zu erzählen, daß die Stände
in der That glaubten, der Landtagsabſchied enthalte, weil er doch von der
Entwicklung des Beſtehenden ſpreche, mindeſtens eine halbe Gewährung.
Sie begrüßten die Verleſung des Aktenſtückes mit freudigen Hochrufen.
So ward der Grund gelegt für ein verhängnißvolles wechſelſeitiges Miß-
verſtändniß. Wer hätte auch jetzt da der Jubel des beginnenden Hul-
digungsfeſtes Alles übertäubte, noch die Stimmung gefunden zu ruhigem
Nachdenken? Ohnehin konnte ſich der Landtag keineswegs auf eine feſte
durchgebildete Volksüberzeugung ſtützen. Da Parteien noch nicht beſtanden,
ſo mochten ſich manche der Landſtände bei dem Beſchluſſe wenig gedacht
haben, nur die Führer der Mehrheit waren ſich ihres Zweckes bewußt.
Aber auch die fünf Stimmen der Minderheit des Landtags beſaßen in
der Provinz einen ſtarken Anhang. Siebenundzwanzig der zur Huldi-
gung einberufenen adlichen Grundbeſitzer traten noch am 8. Sept., ge-
führt von dem Grafen Dohna-Schlobitten zuſammen um gegen die Denk-
ſchrift des Landtags Verwahrung einzulegen: ſie ſeien, ſo verſicherten ſie
dem Könige, mit den beſtehenden Provinzialſtänden vollauf zufrieden und
wünſchten keine Neuerung.
Im Volke fragte noch Niemand nach dieſen politiſchen Gegenſätzen,
Alles dachte nur an den königlichen Gaſt und wie man ihn verherrlichen
ſollte. Am Abend des 9. Sept. gab die Provinz dem Monarchen ein
prachtvolles Feſt; in lebenden Bildern traten die großen Geſtalten der
reichen Landesgeſchichte auf; Männer aller Stände und aller Richtungen
wirkten einträchtig zuſammen; der liberale Theolog Cäſar v. Lengerke
hatte die begleitenden Verſe gedichtet, die der junge Juriſt Eduard Simſon
mit klangvoller Stimme vortrug. Am folgenden Tage verſammelten ſich
die Deputirten der Provinzen Preußen und Poſen zur Huldigung; mehr
denn zwanzigtauſend Menſchen ſtanden in dem weiten Hofe und an den
Fenſtern des Schloſſes zuſammengedrängt; der königliche Thron prangte
auf einem Altane, von dem eine mächtige Freitreppe in den Hof hinab-
führte. Der Kanzler und der Landtagsmarſchall des Königreichs Preu-
ßen hielten ihre Anſprachen in der herkömmlichen Weiſe; nur der
[47]Huldigung in Königsberg.
Poſener Landtagsmarſchall Graf Poninski verſagte ſichs nicht ſehr deutlich zu
erinnern an „die erhabenen, väterlichen Worte des großen Königs“, der
ſeinen polniſchen Unterthanen verheißen habe ihnen Volksthümlichkeit und
Sprache zu wahren. Als darauf die Eidesformel verleſen wurde, klang
plötzlich durch die feierliche Stille grell und ſchneidend, wohl zehnmal
wiederholt, der Warnungsruf eines wahnſinnigen Weibes: Schwört nicht,
ſchwört nicht! Der unheimliche Eindruck der Störung ward aber ſogleich
vergeſſen, als der König vom Throne aufſtand und, die Rechte feierlich
erhoben, vor allem Volke gelobte, ein gerechter Richter, ein treuer, ſorg-
fältiger, barmherziger Fürſt, ein chriſtlicher König zu ſein. Dann pries
er in hochbegeiſterten Worten dies Preußen, ſeine Wehrhaftigkeit ohne
gleichen und die Einheit von Fürſt und Volk: „So wolle Gott unſer
preußiſches Vaterland ſich ſelbſt, Deutſchland und der Welt erhalten!
Mannichfach und doch eines. Wie das edle Erz, das aus vielen Metallen
zuſammengeſchmolzen, nur ein einziges edelſtes iſt, keinem anderen Roſte
unterworfen als dem verſchönernden der Jahrhunderte.“ Unbeſchreiblich
war die Wirkung dieſes rhetoriſchen Meiſterwerkes, das wie alle Werke
geborener Redner den Hörenden noch viel herrlicher erſchien als ſpäter-
hin den Leſenden; faſt Niemand fragte nüchtern, ob denn alle dieſe
ſchwungvollen Betheuerungen, alle dieſe prächtigen Bilder irgend einen
greifbaren politiſchen Inhalt hätten. Einer der neuen politiſchen Lyriker,
der Student Rudolf Gottſchall ſang:
Alles ſchwamm in Freuden, und noch einige Tage hindurch währte der
bacchantiſche Taumel.
Währenddem zeigte ſich aber ſchon wieder die mühſam verhaltene poli-
tiſche Feindſeligkeit. Umſonſt hatte Graf Poninski ſeine rührſamen Be-
merkungen über die treuen Polen nicht ausgeſprochen. Die polniſchen Abge-
ordneten beriethen unter einander über eine Adreſſe an den König, und da
ſie, wie gewöhnlich, nicht einig wurden, ſo erbat ſich Graf Eduard Raczynski
als alter Freund Friedrich Wilhelm’s eine Audienz. Mit ſarmatiſcher Fein-
heit wußte er die weiche Stimmung des Königs, der jetzt ganz in Thränen
der Rührung zerfloß, zu benutzen und hielt ihm noch einmal alle die ſchon
ſo oft auf den Provinziallandtagen beſprochenen Klagen der Polen vor: der
weiße Adler und der Name eines Großherzogthums würden der Provinz
verſagt, das Deutſchthum bevorzugt, die polniſche Sprache in den Schulen
wie bei den Behörden zurückgeſetzt, von polniſchen Beamten nur eine kleine
Zahl angeſtellt. Es war, trotz der ehrerbietigen Form, eine ſcharfe An-
klage gegen das Regiment des tapferen Flottwell.*) Der König verlangte
[48]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
zunächſt genauere Beweiſe, doch man merkte ihm an, daß ſeine Polen ihn
ſchon halb gewonnen hatten.
Nicht ganz ſo gnädig behandelte er die preußiſchen Landſtände, als
ſie ihm am 11. Sept. ihren treuherzigen Dank für den Landtagsabſchied
ausſprechen ließen. Sie ſagten in ihrer Adreſſe: „Feſter noch, iſt es
möglich, als vorher iſt das Demantband gezogen, welches um Preußens
königlichen Herrſcher und ſein treues Volk ſich ſchlingt.“ Der König aber
hielt den Abgeſandten eine lehrhafte, an feinen Bemerkungen reiche An-
ſprache, welche leider die allgemeine Verwirrung nur ſteigern konnte.
Auf das Lebhafteſte verſicherte er ſeinen Widerwillen gegen alle auf Per-
gament geſchriebenen Staatsgrundgeſetze und hob hervor, England biete,
kraft einer ganz eigenartigen Geſchichte, das einzige Beiſpiel einer glück-
lichen conſtitutionellen Verfaſſung. So ſagte er wohl was er nicht wollte;
was er ſelbſt beabſichtigte blieb im Dunkeln. Begreiflich daher, daß als-
bald ſehr verſchiedene Berichte über ſeine Rede umliefen, und Rochow in
der Königsberger Zeitung erklären ließ, die Worte des Königs ſeien miß-
verſtanden worden. Inzwiſchen reiſte Friedrich Wilhelm ab, und nun ent-
ſpann ſich ein häßlicher Zeitungskrieg, an dem auch mehrere Mitglieder
jener letzten ſtändiſchen Abgeſandtſchaft theilnahmen. Jedermann fühlte,
daß Rochow und Schön hinter den Streitenden ſtanden; die Nebenbuhler
bekämpften einander durch die Federn Dritter, Beide mit der gleichen Hef-
tigkeit perſönlichen und politiſchen Haſſes. Endlich erwirkte Rochow,
daß ihn der König durch Cabinetsordre vom 4. Oct. beauftragte die Königs-
berger Verhandlungen bekannt zu machen, „um jeder irrigen Anſicht ent-
gegenzutreten, als ob ich meine Zuſtimmung zu dem Antrage auf Ent-
wicklung der Landesverfaſſung im Sinne der Verordnung vom 22. Mai
1815 ausgeſprochen hätte“. Die Ordre ſagte im Grunde nur das Näm-
liche wie der Landtagsabſchied, doch ſie ſagte es in ſcharfem, ſchneidendem
Tone und zerſtörte mit einem Schlage alle die holden Träume der Oſt-
preußen. Wie Schuppen fiel es ihnen von den Augen, ſie glaubten ſich
in dem Könige getäuſcht zu haben, und von Stund’ an erhob die Oppo-
ſition, die während der Feſttage faſt verſchwunden geweſen, wieder ihr
Haupt. Schön aber, der die Hoffnung noch nicht aufgab, verbreitete ge-
fliſſentlich das Gerücht, dieſe unzweifelhaft die Herzensmeinung Friedrich
Wilhelm’s ausſprechende Ordre habe Rochow dem Monarchen durch Ueber-
raſchung abgeliſtet.
Außerhalb Oſtpreußens bemerkte man von dieſem unerquicklichen
Nachſpiele gar nichts; ſo gering war noch, Dank den Provinzialſtänden,
der politiſche Verkehr zwiſchen den Landestheilen der Monarchie. Die Ber-
liner wollten ſich nicht gedulden bis zu dem zweiten Huldigungsfeſte, das
in der Hauptſtadt vor den Vertretern aller deutſchen Bundeslande des
Königs abgehalten werden ſollte, ſondern verlangten das Herrſcherpaar
ſchon bei ſeiner Heimkehr feſtlich zu begrüßen, und Friedrich Wilhelm
[49]Einzug in Berlin.
willfahrte dem Wunſche durch eines jener geiſtreichen, mehr blendenden
als überzeugenden Schlagworte, mit denen er zu ſpielen liebte. Er
meinte, ſein Vater, der ſo viel für das Land gethan, hätte beſcheiden ſein
dürfen, er ſelber habe ſich dies Recht noch nicht erworben. Der Einzug
erfolgte am 21. Sept., vom Frankfurter Thore her, unter Glockengeläute
und Kanonendonner, als ob der König aus einem ſiegreichen Kriege zu-
rückkäme. Schwungvolle Reden und Gedichte betheuerten die unbegrenzte
Ergebenheit „der getreueſten Stadt des Landes“. Ehrenpforten, Fahnen,
Kränze allüberall, und in den Volksmaſſen ein raſender Jubel, wie ihn
Berlin ſelbſt bei der Rückkehr der Befreiungskämpfer nicht gehört hatte.
Als der König, ganz erſchöpft von dem Uebermaße der Freuden, endlich
die Schloßtreppe hinaufſtieg, ſagte er ahnungsvoll zum Oberbürgermeiſter
Krausnick: „Das iſt ja ein Taumel, eine wahre Trunkenheit. Wenn nur
der Katzenjammer nicht nachkommt!“
Schon lange vor dem 15. October, dem Tage der großen Huldigung
trafen die Abgeordneten, alle froh erregt, in der Hauptſtadt ein. In
dieſem heiteren geſelligen Verkehre lernten ſich die Vertreter der verſchiedenen
Provinzen zum erſten male perſönlich kennen und ſie entdeckten mit freu-
digem Erſtaunen, daß ſie trotz ſo mancher Unterſchiede doch alleſammt
gute Preußen waren. Aber während die landſchaftlichen Vorurtheile ſich
abſchliffen, beſtanden die alten ſocialen Gegenſätze noch in ungeminderter
Schärfe fort. Das zeigte ſich bei einer geringfügigen Etikettenfrage. Die
brandenburgiſche Ritterſchaft beſaß von Alters her das Vorrecht den Treu-
eid perſönlich in die Hand des Landesherrn abzuleiſten, ein Recht, das
ſie noch bei der letzten Huldigung ausgeübt hatte. Da der König ſeine
treuen Märker unmöglich eines alten Ehrenrechtes berauben konnte, ſo
beſchloß er, die ſämmtlichen Vertreter des Herrenſtandes und der Ritter-
ſchaft aus den ſechs Provinzen in ſeinen Gemächern zu empfangen; die
Abgeordneten der Städte und des Bauernſtandes ſollten nachher unter
freiem Himmel, im Luſtgarten huldigen, weil die Räume des Schloſſes
dafür nicht ausreichten. Die Anordnung war ganz harmlos gemeint;
doch ſie erregte unter den Vertretern der Städte eine lebhafte Entrüſtung,
die von der liberalen Preſſe außerhalb Preußens gefliſſentlich geſchürt
wurde. Durch eine ſolche Bevorzugung des Adels fühlte ſich der Bürger-
ſtolz beleidigt. Oberbürgermeiſter Francke von Magdeburg verſuchte mit
Hilfe des Grafen Stolberg zu vermitteln, und der König ſtellte den
Städten frei, eine Deputation in das Schloß zu ſenden. Die märkiſchen
Ritter andererſeits erklärten, nach ihrem guten Rechte, ſie würden wohl auf
Befehl des Monarchen, doch nimmermehr freiwillig ein Privilegium
ihres Landes aufgeben. Die Städter verſammelten ſich nunmehr zu
einer Berathung im Grauen Kloſter, und Rochow, der hier ſehr mild
und verſöhnlich auftrat, bewog ſie ſchließlich, ſich bei der urſprünglichen
Anordnung zu beruhigen. Aber während der Verhandlung fielen ſtarke,
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 4
[50]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
faſt drohende Worte, und man machte die überraſchende, auch für die
Zukunft bedeutſame Erfahrung, daß die Abgeordneten aus dem Weſten,
die man allgemein wegen ihres Radikalismus fürchtete, den ganzen Streit
ſehr leicht nahmen, während die Vertreter von Frankfurt, Breslau, Prenz-
lau und anderen Städten der alten Provinzen ihren lang verhaltenen
Adelshaß heftig ausſprachen.*)
Das Alles verhallte bald in dem unermeßlichen Jubel des Huldigungs-
feſtes. Der König nahm zunächſt im Schloſſe den Eid der Fürſten, der
Geiſtlichkeit, der Ritterſchaft entgegen und betheuerte ihnen, daß ſie nicht
eine ſogenannte glorreiche Regierung zu erwarten hätten, die mit Ge-
ſchützesdonner und Poſaunenton die Nachwelt ruhmvoll erfülle, ſondern
eine einfache, väterliche, echt deutſche und chriſtliche Regierung. Alsdann
begab er ſich auf den in Gold und Purpur prangenden Anbau des
Schloſſes, wo der Thron ſtand: gegenüber die flaggengeſchmückten Tribünen
für die Vertreter der Städte und des Bauernſtandes; dazwiſchen tief unten
die Innungen der getreuen Hauptſtadt mit ihren Fahnen; ringsum an den
Fenſtern und auf den Dächern des mächtigen Platzes eine ungeheuere
Menſchenmaſſe, Alles in muſterhafter Ordnung. Noch bevor der Hul-
digungseid den beiden unterſten Ständen abgefordert wurde, ſtand der
König vom Throne auf, um abermals, noch ausführlicher und eindring-
licher als in Königsberg, zu ſeinem Volke zu reden. Er gelobte im Sinne
des Vaters als ein gerechter und friedfertiger König zu regieren, und
fragte ſodann alle die Anweſenden: „Wollen Sie mir helfen und bei-
ſtehen, die Eigenſchaften immer herrlicher zu entfalten, durch welche Preußen
mit ſeinen vierzehn Millionen den Großmächten der Erde zugeſellt iſt? —
nämlich: Ehre, Treue, Streben nach Licht, Recht und Wahrheit, Vorwärts-
ſchreiten in Altersweisheit zugleich und heldenmüthiger Jugendkraft? Wollen
Sie in dieſem Streben mich nicht verlaſſen noch verſäumen, ſondern
treu mit mir ausharren durch gute wie durch böſe Tage — o, dann
antworten Sie mir mit dem klaren, ſchönſten Laute der Mutterſprache,
antworten Sie mir ein ehrenfeſtes Ja!“ Unbeſchreiblich war der Ein-
druck dieſer Worte, in denen ſich Friedrich Wilhelm’s Künſtlerſeele wie
mit elementariſcher Gewalt entlud. Der ſchönſte Laut der Mutterſprache
ertönte aus tauſenden ehrlich begeiſterter Herzen; ſelbſt ein heftiger
Regenſchauer, der plötzlich herniederpraſſelte, ſtörte die allgemeine Ver-
zückung nicht. Und nun rief der König: „Dies Ja war für mich, das
iſt mein eigen, das laſſ’ ich nicht, das verbindet uns unauflöslich in
gegenſeitiger Liebe und Treue, das giebt Muth, Kraft, Getroſtheit, das
werde ich in meiner Sterbeſtunde nicht vergeſſen!“ Darauf erſt ward der
geſetzliche Huldigungseid geleiſtet, und die ſtürmiſche Begeiſterung dieſes
[51]Huldigung in Berlin.
unvergeßlichen Augenblicks hielt noch mehrere Tage hindurch an, bis zum
Ende der prächtigen, überaus geſchmackvollen Feſtlichkeiten.
Was dieſe treuen Royaliſten in Berlin erregte war trotz der Ver-
ſchiedenheit der politiſchen Geſinnung im Grunde doch nur derſelbe Drang
nach großen Worten und großen Empfindungen, der einſt die Volks-
redner des Hambacher Feſtes beſeelt hatte. Die lyriſche Stimmung der
goldenen Tage unſerer Dichtung war noch immer nicht verflogen. Die
Berliner wie vordem die Hambacher Feſtgenoſſen wollten, nach einer ſtillen,
allzu nüchternen Zeit, ihrem ſtarken patriotiſchen Gefühle einmal Luft
machen. Wie die ſtaatloſen Pfälzer ſich nach einem Vaterlande irgendwo
in den Wolken ſehnten, ſo freuten ſich die Preußen ihres glorreichen,
waffengewaltigen Staates. Und wie einſt in Hambach die treuherzige
Begeiſterung des deutſchen Gemüths durch radikale Zuchtloſigkeit getrübt
wurde, ſo ward jetzt in Berlin durch die mächtige Aufwallung wahr-
haftiger Königstreue auch der ekle Bodenſatz jener Bedientengeſinnung
emporgewirbelt, welche ſelbſt in edlen Monarchien niemals völlig fehlt
und bei Thronwechſeln ſich in ihrer ganzen Niedertracht zu zeigen pflegt.
Manche der Feſtredner und Huldigungsdichter wußten gar kein Maß zu
halten in ihren ſchmeichleriſchen Lobſprüchen für einen König, deſſen Thaten
alle noch der Zukunft angehörten. Salbungsvolle Theologen prieſen den
Chryſoſtomus auf dem Throne, und Ludwig Tieck ſang gar:
Das Buch „der Preußen Huldigungsfeſt“, worin der alte Geheimerath
Streckfuß die Feſtlichkeiten der beiden Hauptſtädte und der Provinzen
ſchilderte, konnte von freien Männern nur mit gemiſchten Gefühlen be-
trachtet werden; es war der Unterthänigkeit gar zu viel in allen dieſen
Kundgebungen preußiſcher Treue, und der wackere Verfaſſer ſelbſt verfiel
zuweilen in einen byzantiniſchen Ton, den ſich unter dem nüchternen,
jeder Schmeichelei unzugänglichen alten Könige Niemand erlaubt hatte.
Immerhin mußte Jedermann beim Leſen dieſer Feſtberichte empfin-
den, wie ſtark und volksbeliebt Preußens Krone daſtand. Graf Maltzan
meldete aus Wien immer wieder, Metternich könne das Gefühl einer
Eiferſucht, „welche eigentlich dem vergangenen Jahrhundert angehören
ſollte,“ nicht unterdrücken; vornehmlich beunruhigte den Staatskanzler die
4*
[52]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Königsberger Rede des Poſener Landtagsmarſchalls, weil ſie die Polen in
Warſchau und Lemberg aufwiegeln müſſe. Der greiſe Erzherzog Karl
hingegen ſagte zu Maltzan hocherfreut: die Reden des Königs haben den
öffentlichen Geiſt geweckt, „ich erhoffe davon das gemeinſchaftliche Wohl
des deutſchen Vaterlandes.“*) Welch ein Abſtand doch zwiſchen dieſem feſt-
gewurzelten deutſchen Königthum und der Monarchie der Julirevolu-
tion! An dem nämlichen Tage, da dem preußiſchen Könige das jauch-
zende Ja ſeiner Getreuen entgegen ſcholl, richtete in Paris ein Mordge-
ſelle — es war ſeit zehn Jahren der fünfte — die tödliche Waffe gegen
Ludwig Philipp. Und war es nicht auch ein Triumph für die Sache
des Königthums daß ſie einen ſo glänzenden perſönlichen Vertreter fand?
Bisher hatten die Liberalen ſich im alleinigen Beſitze der Bildung und
der Beredſamkeit gewähnt, da die trockenen Geſchäftsmänner der kleinen
Regierungen als Redner gegen die Wortführer der Oppoſition nur
ſelten aufkamen. Jetzt trat ein gekröntes Haupt auf, das durch den Adel
ſeiner Rede und die Fülle ſeiner Bildung den Liberalismus ganz zu ver-
dunkeln ſchien. Die ſtrengen Hallerianer frohlockten über die ſo plötz-
lich wieder erſtarkte Macht des Königthums von Gottes Gnaden. Nun
endlich, rief das Berliner Wochenblatt, wird dem revolutionären Reprä-
ſentativſyſtem des Auslands etwas Poſitives entgegengeſtellt, der Patri-
monialſtaat: „Derjenige müßte den Irrlehren der neuzeitlichen Staatslehre
bis zum Stumpfſinn verfallen ſein, wer ein dürftiges Schreibwerk, was
die Fürſten und Völker einander mißtrauiſch gegenübergeſtellt, dieſen im
Angeſicht Gottes und der Menſchen übernommenen Verpflichtungen vor-
ziehen wollte.“
Aber nach den unmäßigen Uebertreibungen der Huldigungstage
mußte in einem verſtändigen Volke ſehr bald der Rückſchlag eintreten.
Die Ernüchterung zeigte ſich zuerſt in den Kreiſen der ſtrammen Mon-
archiſten. Sie empfanden die überſchwängliche Verherrlichung des Sohnes
als eine Undankbarkeit gegen den Vater, und man bemerkte bald, wie
nachdrücklich der Prinz von Preußen in ſeinen Anreden an die Offiziere
immer wieder die unvergeßlichen Verdienſte des verſtorbenen Königs
hervorhob.**) Eben dieſen Männern, die mit ihren Schwüren kein Spiel
treiben wollten, drängte ſich unabweisbar die Frage auf: was es denn
eigentlich bedeuten ſollte, daß der neue König außer dem Huldigungs-
eide, der ihm von Rechtswegen gebührte, noch ein zweites Verſprechen
gefordert hatte? Wer in ſolcher Weiſe ein freies Ja von ſeinen Unter-
thanen erbat, der gab ihnen auch das gefährliche Recht Nein zu ſagen.
Und war denn wirklich durch jenes feierliche Ja eine neue, über die all-
gemeine Unterthanenpflicht hinausgehende Verbindlichkeit begründet wor-
[53]Eindruck der königlichen Reden.
den? Der König ſelbſt glaubte es feſt; er meinte, durch jene Fragen,
die er den Huldigenden gleichſam über den Kopf geworfen, ſei eine ganz
eigenartige Verbindung zwiſchen ihm und ſeinem Volke entſtanden, höchſt-
perſönlich wie einſt das Verhältniß der mittelalterlichen Fürſten zu ihren
Fideles. Immer wieder kam er darauf zurück. Noch fünf Jahre ſpäter,
als die Magdeburger Stadtbehörden ſcharf, aber in geſetzlicher Form,
einer ſeiner kirchenpolitiſchen Anordnungen widerſprachen, ließ er ihnen
die zornige Frage ſtellen: „ob das die Erfüllung des feierlichen Huldigungs-
verſprechens ſei, mir beizuſtehen, mir treu zu helfen auf meiner ſchweren
Bahn?“*)
Jenes rührende Gelöbniß, das er doch nur plötzlich, fortgeriſſen von
der Größe des Augenblicks, halb erzwungen hatte, beſtärkte ihn alſo in
der unſeligen Neigung, politiſche Gegner als perſönliche Feinde, ja als
Abtrünnige oder Meineidige zu behandeln. Sobald man nur erſt anfing
ruhig nachzudenken, mußte Jedermann einſehen, daß die hochtönenden
Reden des Königs keinen einzigen politiſchen Gedanken enthielten: ſie ver-
kündeten nur den Anbruch einer neuen Zeit und ſagten ſchlechterdings
nicht was dieſe Zukunft bringen ſollte. Darum meinte der kluge ſchleſiſche
Fabrikant Milde trocken, der König ſei ein großer Komödiant — was er mit
Abſicht niemals war. Billiger urtheilte Friedrich v. Gagern; er ſagte: ſolche
Pfarrerspredigten, Domines Pratjes, bezeichnen nicht den Mann der That!
Der Wind der Volksgunſt ſetzte plötzlich um, am raſcheſten in der Haupt-
ſtadt. Die Berliner ſchämten ſich, ſo viel Gefühl gezeigt zu haben, und
nun da ſie ſich wieder auf ſich ſelbſt beſannen, begannen ſie dem Fürſten
zu zürnen, der ſie durch den Zauber ſeiner Perſönlichkeit verführt hatte,
ihre eingefleiſchte ungemüthliche Altklugheit einmal zu verleugnen. Je
ſtürmiſcher in den Feſttagen der Enthuſiasmus aufgebrauſt war, um ſo
behaglicher entfalteten ſich nunmehr alle Unarten des Berlinerthums:
die Klatſcherei, das kleinliche Afterreden, das Beſſerwiſſen in Allem und
Jedem. Mit einer Bosheit, die an die ſchmählichen Zeiten des Tilſiter
Friedens erinnerte, wurde Alles was von oben kam, bekrittelt, verhöhnt,
heruntergeriſſen; und ſchon zeigten manche Schritte des Königs, wie
unſicher er ſich im Regimente fühlte. In Königsberg hatte er bei den
üblichen Adelsverleihungen befohlen, daß der neue Titel nur mitſammt
dem Grundbeſitze der Familie auf den älteſten Sohn übergehen ſollte;
er mußte jedoch, wie vormals ſein Schwager Ludwig von Baiern, die
Erfahrung machen, daß dieſer wohlgemeinte Verſuch engliſchen Adelsbrauch
in Deutſchland einzubürgern auf den unüberwindlichen Widerſtand alt-
nationaler Sitten und Unſitten ſtieß. Bereits bei der Berliner Huldigung
ſah er ſich genöthigt die neue Anordnung abzuändern weil die alten Edel-
leute einen blos an der Scholle haftenden Adelstitel nicht für voll an-
[54]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
ſahen. Die Berliner aber begrüßten fortan jede Niederlage ihres Königs
mit lauter Schadenfreude; ſie verſpotteten ſich ſelbſt wegen der Begeiſterung
der Huldigungstage und überſetzten die damals ſo oft gehörten Worte: „das
gelobe und ſchwöre ich“ mit dem anmuthigen Satze: „dat jlobe ik ſchwerlich.“
Die nächſten Wochen brachten einige wichtige Berufungen. Geh.
Rath Eichhorn wurde zum Nachfolger Altenſtein’s ernannt, und ſeine
Beförderung befriedigte das Publikum; denn obwohl die in der Politik
gründlich unwiſſenden Hauptſtädter nie ein Wort davon erfahren hatten,
was dieſer Mann für die Geſchichte des Zollvereins bedeutete, ſo wußten
ſie doch durch das Stadtgerede, daß er in Wien als Demagog verrufen
war; und überdies beſaß er ein Verdienſt, das die Stadt der Intelligenz
einem Miniſter ſehr hoch anrechnete: er war bürgerlich. Auch die Be-
rufung der Gebrüder Grimm an die Berliner Akademie fand allgemeine
Zuſtimmung. Mit Albrecht ward ebenfalls verhandelt; er lehnte jedoch
ab, aus Dankbarkeit gegen ſeine ſächſiſchen Gönner. Man konnte nicht
leugnen, daß der König die hochherzige Abſicht hegte, die Mißhandlung
der Göttinger Sieben zu ſühnen. Die Freude währte nicht lange, denn
zur ſelben Zeit ward der Schwager der Grimms, Haſſenpflug an das
Berliner Obertribunal berufen. Der hatte ſeit ſeinen heſſiſchen Mißge-
ſchicken erſt in Sigmaringen, dann in Luxemburg als Miniſter gewirkt
und ſich in der Weſtmark redlich bemüht, die Unabhängigkeit des deutſchen
Großherzogthums gegenüber dem niederländiſchen Königreiche zu ſichern.
Niemand rechnete ihm das an; er war und blieb der öffentlichen Mei-
nung der kurheſſiſche Reaktionsminiſter. Obwohl er nur ein ſeiner großen
juriſtiſchen Befähigung durchaus entſprechendes Richteramt erhielt und
niemals auf den Gang der inneren preußiſchen Politik irgend eine Ein-
wirkung ausübte, ſo befürchtete man doch ſogleich das Aergſte, da er
mit den Gerlachs befreundet war. Ein Gedicht kam in Umlauf, zu ſingen
nach der Melodie des neuen Rheinliedes:
In ſolchem Tone redeten die Berliner ſchon über die Umgebung
ihres Königs als der tolle Jubel des Huldigungsfeſtes noch kaum verhallt
war. Die Verſe ließen zugleich errathen, wo der Grund dieſer gehäſſigen
Oppoſition lag. Politiſche Parteien kannte die Hauptſtadt noch kaum,
die ſich noch immer mit Vorliebe über Ballettänzerinnen, Opern und
Klaviervirtuoſen unterhielt. Doch ſie war die Stadt Nicolai’s, und ihre
ſelbſtgefällige Aufklärung, die ſich nach Umſtänden mit jedem beliebigen
chriſtlichen oder jüdiſchen Mantel ſchmücken konnte, trug jetzt die Farben
der Junghegelianer. Wer den Epigonen Hegel’s widerſprach war verfehmt.
[55]Haſſenpflug. Stahl.
Das mußte der Franke Julius Stahl erfahren, da er in dieſen Tagen
als Nachfolger des früh verſtorbenen Gans den Lehrſtuhl des Staats-
rechts an der Univerſität übernahm. Ein getaufter Jude wie Gans, war
er, anders als jener, von den Glaubenswahrheiten des Chriſtenthums
tief durchdrungen und ſah in der Burſchenſchaft, der er ſich mit Be-
geiſterung anſchloß, immer nur eine chriſtlich-germaniſche Verbrüderung.
Herangereift widerlegte er in dem erſten, kritiſchen Theile ſeiner Rechts-
philoſophie mit ſiegreicher dialektiſcher Kraft die Lehren des Naturrechts in
allen ihren Verzweigungen, und war jetzt eben dabei, das Ideal der ſtän-
diſchen Monarchie, das er keineswegs engherzig auffaßte, nach den An-
ſchauungen der hiſtoriſchen Rechtsſchule ſyſtematiſch auszugeſtalten. Wenn
er an ſeinem kleinen Tiſche ſaß, den Bleiſtift in der Hand, nichts vor
ſich als ein Blatt weißen Papieres, dann ſchien er die Gedanken allein
aus ſich heraus zu ſpinnen. Ein Zug von überfeinem Scharfſinn lag
in ihm, auch eine fanatiſche Ader, die ſpäterhin, als die Gegenſätze ſich
ſchärfer zuſpitzten, ihre Kraft zeigen ſollte. Aber ernſt und ſtreng, ohne
jeden perſönlichen Ehrgeiz lebte er ganz der politiſchen Idee, die ihm die
wahre ſchien; darum blieb er auch den Brüdern Grimm, die mit dem
genialen Inſtinkt ihrer erhabenen Einfalt ſich immer nur an reine Men-
ſchen anſchloſſen, allezeit treu befreundet. Als Redner dem Vorgänger
mindeſtens ebenbürtig, übertraf er ihn bei Weitem durch Tiefſinn und
Schärfe der Gedanken. Und wie pöbelhaft ward er empfangen; die
Hegelianer hatten ſich verſchworen den gefürchteten Gegner des Natur-
rechts aus dem Hörſaale hinauszuſcharren. Der ſchmächtige kleine Mann
mit den glitzernden Augen und den blaſſen ſcharfgeſchnittenen orienta-
liſchen Geſichtszügen hielt aber tapfer aus, Stunde für Stunde; er
zwang die Hörer ihm zu lauſchen und erreichte wirklich, daß ſeine Vor-
leſungen durch lange Jahre die beſtbeſuchten der Hochſchule blieben.
Schlimmer als ſolche unliebſame Berufungen wirkte der Zuſtand
unbefriedigter Erwartung. Man hatte nach allen den großen Worten
der Huldigungsfeier ſo zuverſichtlich gehofft, daß irgend etwas Außer-
ordentliches ſich ereignen müſſe, und da nun zunächſt gar nichts geſchah,
ſo wuchs, zum Erſchrecken ſchnell, von Tag zu Tag die grämliche Ver-
drießlichkeit. In dieſen Tagen der Verſtimmung unternahm Schön noch-
mals dem Monarchen ſeine helfende Hand zu reichen. Er lebte mit Ro-
chow in unaufhörlicher Fehde; der König aber, der als Selbſtherrſcher
die Zwiſtigkeiten ſeiner Werkzeuge mit gutmüthiger Geringſchätzung zu be-
trachten pflegte, ſuchte die Streitenden — ſo drückte er ſich aus — immer
wieder zuſammenzuleimen, da er Beide noch zu benutzen gedachte und die
Königsberger Vorgänge ſein Vertrauen auf Schön keineswegs erſchüttert
hatten. Mittlerweiler erſchien in einer Berliner Buchhandlung ein Bild
des alten Königs, mit einer Ehrentafel ſeiner Großthaten, unter denen auch
das von Schön verfaßte politiſche Teſtament Stein’s aus dem Jahre 1808
[56]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
prangte. Dies Teſtament bezeichnete Schön ſelbſt als ſein Lieblingskind,
auf dieſen Rechtstitel begründete er vornehmlich ſeinen hiſtoriſchen Ruhm.
Als er im Jahre 1817 die Bildung eines conſtitutionellen Miniſteriums
vorſchlug, wurde dies längſt vergeſſene Aktenſtück zum erſten male von
unbekannter Hand in einem liberalen Blatte veröffentlicht*); und bei
einiger Menſchenkenntniß durfte man wohl vermuthen, daß auch diesmal,
bei der wiederholten feierlichen Vorführung des Lieblingskindes, jene liberalen
Schriftſteller und jungen Freimaurer, welche jederzeit zu Schön’s Ver-
fügung ſtanden, irgendwie mitgewirkt hatten. Die liberale Preſſe benutzte
natürlich die willkommene Gelegenheit um die undankbare Mitwelt an
die Verdienſte des oſtpreußiſchen Staatsmannes zu erinnern; die Polizei-
behörden aber wurden ängſtlich und ließen das gefährliche Bild aus den
Buchläden entfernen. Nunmehr ſendete Schön dem Könige das Facſimile
der Urkunde, das allerdings bewies, daß er ſelbſt jene Abſchiedsworte
Stein’s im Weſentlichen verfaßt hatte; in ſeinem begleitenden Briefe
ſuchte er den doktrinären, unbeſtimmten Sätzen des Teſtamentes einen
möglichſt harmloſen Sinn unterzulegen.
So hatte er Alles umſichtig für den Hauptſchlag vorbereitet. We-
nige Tage nachher ſchickte er dem Monarchen eine anonyme Schrift
von ſechs Druckſeiten: Woher und Wohin? Ihr leitender Gedanke war
entlehnt aus einem Artikel über das Preußenthum, welchen Arnold Ruge
kürzlich unter der Maske „eines Württembergers“ in den Deutſchen Jahr-
büchern veröffentlicht hatte. Schön hielt dieſen Aufſatz für ein Werk von
Strauß und eignete ſich daraus die Behauptung an, daß Preußen als
Staat bisher katholiſch geblieben ſei, von einem politiſchen Prieſterſtande
geleitet werde. In ſtarken Zügen führte er aus, der große Friedrich hätte
einſt ein „kaum denkfähiges Volk“ vorgefunden und durch ſeine Diener-
ſchaft zu erziehen geſucht; dieſe Dienerſchaft aber habe ſich mit der
Zeit überhoben, insbeſondere den Grundadel durch eine unerträgliche Be-
vormundung erbittert, das ganze Volk am Gängelbande geleitet, die Städte-
ordnung wie die Provinzialſtände verkümmert, die Landwehr „dem Beam-
ten-Militär“ näher gebracht. Deshalb ſeien die vor dem Volke ſtehenden
begüterten Männer des Königsberger Landtages aufgetreten, um „General-
Stände“ zu fordern, welche einen großen Theil der Verwaltung ſich zu-
eignen, die Zahl der Beamten vermindern, Verſchwendungen entgegen-
treten, die Landwehr wieder dem Volke annähern, allen Kabalen und
Polizeikünſten ein ſchnelles Ende bereiten und, kraft ihrer Kenntniß der
Volksverhältniſſe, auch die Meinung des Volks ſtets für ſich haben würden.
„Nur durch General-Stände — ſo ſchloſſen die Blätter — kann und wird
in unſerem Lande ein öffentliches Leben entſtehen und gedeihen … Wenn
man die Zeit nicht nimmt wie ſie iſt, und das Gute daraus ergreift und
[57]Woher und Wohin?
es in ſeiner Entwicklung fördert, dann ſtraft die Zeit.“ In dieſer nach-
drücklichen Mahnung und in der Perſönlichkeit des Verfaſſers lag die
einzige Bedeutung der Blätter; von eigenthümlichen Gedanken enthielten
ſie nichts, und obwohl die beſtändigen Ausfälle auf „die Dienerſchaft“ un-
verkennbar auf Friedrich Wilhelm’s perſönliche Abneigung berechnet waren,
ſo mußten doch der abſprechende Ton der Darſtellung, die hochmüthige
Verunglimpfung der geſammten Vergangenheit Preußens, und vollends
gar die Berufung auf die heidniſchen Junghegelianer den König in tiefſter
Seele verletzen. Darum meinte ſein Vertrauter Geh. Rath v. Voß, als
er mit Erſtaunen den Namen des Verfaſſers erfahren hatte: „Ich fand
die Schrift ſehr albern und rieth auf einen Querkopf von Gutsbeſitzer.
Aus Schön’s Stellung heraus liegt aber in der Abfaſſung einer ſolchen
Schrift etwas völlig Verrücktes, und das hat mir ganz melancholiſche
Empfindungen gemacht.“*)
Aber wie ungeſchickt immer, dieſe Blätter waren zweifellos Schön’s
Miniſterprogramm; er wollte dadurch entweder den König gewinnen, oder,
wenn dies mißlang, durch die Forderung der Reichsſtände ein weithin
leuchtendes Panier aufſtecken, das die zerfahrene, rathloſe Oppoſition des
Landes um ſich ſammeln ſollte. Der Gedanke war wohl berechtigt, nur
mit der Stellung eines Oberpräſidenten kaum vereinbar. Späterhin be-
hauptete Schön freilich, ſein Woher und Wohin? hätte nur als eine ge-
ſchichtliche Urkunde dienen ſollen, um den Culturſtand des Königreichs Preußen
im Jahre 1840 der Nachwelt zu überliefern. Doch unmöglich konnte
der welterfahrene alte Staatsmann glauben, eine ſolche Schrift von ſol-
chem Verfaſſer würde auf die Dauer geheim bleiben, nachdem ſie in der
Königsberger Hofbuchdruckerei gedruckt, an mehrere Archive vertheilt und
fünf Freunden von ſehr verſchiedener politiſcher Geſinnung vertraulich
zugeſendet worden war. Der König ſelbſt hielt dieſe Geheimhaltung für
undenkbar und antwortete dem Oberpräſidenten am 26. Dec. ſehr offen-
herzig, jetzt ſei eine Prüfungszeit für ihre alte Freundſchaft eingetreten.
„Woher und Wohin? gefällt mir nicht.“ Das Woher, die hiſtoriſche
Darſtellung hätte ſo kurz nach dem Tode des alten Königs anders ge-
faßt werden müſſen; das Wohin aber „wird Ihren Freunden Leid, Ihren
Feinden Frohlocken bereiten“. Dann hielt er ihm alle die unbedachten
liberalen Redensarten der Schrift vor: daß die Landwehr wie ein Heer
der Volksvertreter dem Heere der Krone entgegengeſtellt würde, daß die
Generalſtände ſich die Verwaltung zueignen ſollten: „die Perſpektive iſt
ermuthigend für mich!“ Darauf betonte er nochmals den Grundgedanken
ſeiner über allem Unterthanen-Vorwitz erhabenen Politik: „Ich fühle
mich ganz und gar von Gottes Gnaden und werde mich ſo mit Seiner
Hilfe bis zum Ende fühlen. Glauben Sie mir’s auf mein königliches
[58]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Wort: zu meiner Zeit wird ſich kein Fürſt, kein Bauernknecht, kein
Bauernknabe, kein Landtag und keine Judenſchule etwas was dermalen
mit Recht oder Unrecht bei der Krone iſt zueignen, wenn ich es nicht
zuvor gegeben habe … Glanz und Liſt überlaſſe ich ohne Neid ſo-
genannten conſtitutionellen Fürſten, die durch ein Stück Papier dem Volke
gegenüber eine Fiction, ein abſtrakter Begriff geworden ſind. Ein väter-
liches Regiment iſt teutſcher Fürſten Art, und weil die Herrſchaft mein
väterliches Erbtheil, mein Patrimonium iſt, darum hab’ ich ein Herz zu
meinem Volke, darum kann ich und will ich unmündige Kinder leiten,
entartete züchtigen, würdigen wohlgerathenen aber an der Verwaltung
meines Gutes Theil geben, ihnen ihr eigenes Patrimonium anweiſen und
ſie darin vor Diener-Anmaßung ſchützen.“ Endlich befahl er dem Freunde,
die Schrift nicht in den nächſten oſtpreußiſchen Landtag hineinzuwerfen,
wo ſie nur Unheil ſtiften könne; nachher möge ſie immerhin erſcheinen,
doch nur unter Schön’s eigenem Namen.*)
Der Brief gereichte dem milden Herzen des Königs zur Ehre, nicht
ſeinem politiſchen Verſtande; denn verwarf er die Gedanken der Schrift, ſo
durfte Schön nicht länger mehr an der Spitze einer Provinz bleiben, deren
Stimmung täglich ſchwieriger ward. Doch im Grunde der Seele wünſchte
er ja ſelbſt die von Schön verlangten Reichsſtände, nur in anderer Weiſe,
und da er den theueren Freund nicht kränken wollte, ſo entſchied er end-
lich, obgleich Schön zweimal ſeine Entlaſſung anbot, am 1. Jan. 1841,
daß der Oberpräſident als ſein Freund und Bevollmächtigter das Amt
des königlichen Commiſſars bei dem nächſten Landtage übernehmen ſolle.
Alſo blieb Schön im Amte, und über ihm ſtand Rochow. Der konnte
ſich das boshafte Vergnügen nicht verſagen, dem Oberpräſidenten zu be-
deuten: eine gefährliche Schrift Woher und Wohin? ſei im Umlaufe,
gegen den unbekannten Verfaſſer müſſe man einſchreiten ſobald man ihn
erkundet habe. In einem groben Antwortſchreiben bekannte ſich Schön
als Verfaſſer und betheuerte, die Schrift ſei nicht für die Oeffentlichkeit
beſtimmt.**) Wie ſollten dieſe beiden Todfeinde einträchtig zuſammen-
wirken? Die Verfaſſungsfrage erſchien immer räthſelhafter und verwor-
rener. Auf den erſten Weckruf des preußiſchen Landtags war jetzt ſchon
der zweite gefolgt, das Banner der Reichsſtände flatterte in den Lüften,
und wenn die Krone ſich nicht rechtzeitig entſchloß, ſo konnte keine Macht
der Welt mehr hindern, daß eine in Preußen unerhörte Bewegung von
unten her anhob.
[59]Flottwell’s Sturz.
Inzwiſchen begannen Poninski’s Königsberger Rede und die Beſchwer-
den des Grafen Raczynski ihre Frucht zu tragen. Raczynski verbreitete
unter dem polniſchen Adel eine Bittſchrift, welche ſeine mündlichen Aeuße-
rungen wiederholte, und ſendete zugleich dem Monarchen die Belege für
ſeine Klagen.*) Poninski aber, der bei der Huldigung den Grafentitel
und mannichfache Gnadenbeweiſe erhalten hatte, bezeigte ſeinen Dank,
indem er an der Spitze von fünfzehn anderen polniſchen Edelleuten dem
Miniſter Rochow die unglaubliche Zumuthung ſtellte: der zu Recht beſteh-
ende Poſener Landtag müſſe aufgelöſt werden, damit bei den Neuwahlen
auch die ſoeben begnadigten Hochverräther aus den dreißiger Jahren mit-
wirken könnten.**)
Ueber dieſe polniſchen Wirren wurde im Staatsminiſterium während
der drei letzten Monate des Jahres gründlich verhandelt. General Grolman
und Oberpräſident Flottwell erſtatteten mit gewohntem Freimuth einen aus-
führlichen Bericht: nur der Adel und der Clerus ſeien feindlich geſinnt,
die polniſchen Bauern zufrieden, die Deutſchen, die ſchon zwei Fünftel der
Bevölkerung ausmachten, unverbrüchlich treu. Der Thronwechſel habe jedoch
bei den Polen unſinnige Hoffnungen erweckt, welche durch die Triumphreiſen
des begnadigten Erzbiſchofs und ſicherlich auch durch die Pariſer Propaganda
gefliſſentlich genährt würden. Dem gegenüber müſſe das bewährte Syſtem
der „allmählichen Germaniſirung“ unerſchütterlich aufrecht bleiben. Dem-
nach baten ſie den Monarchen, die Beſchwerden des polniſchen Adels rund-
weg abzuweiſen und ſodann, kraft ſeines königlichen Rechtes, dem nächſten
Poſener Landtage zu befehlen, daß dieſe erledigte Sache nicht wieder be-
rührt werden dürfe. Aus vollem Herzen ſtimmte der greiſe Stägemann
den Beiden zu. In einer Denkſchrift, die er wenige Tage vor ſeinem
Tode abfaßte, billigte er namentlich den durch die Regierung betriebenen
Ankauf polniſcher Rittergüter und ſagte mit ſeinem alten Markmannen-
ſtolze kurzab: man möge den Klagenden nur eröffnen, „daß ihre Ger-
maniſirung beabſichtigt werde“, und ſie an den Treubruch des Jahres
1830 erinnern. Selbſt General Thile konnte nicht umhin, mit einigen
Vorbehalten, ſich den Beiden anzuſchließen. Wie durfte man auch im
Ernſt von einem Sprachenzwange in Poſen reden? Die Verwaltungs-
behörden ſchrieben an Polen deutſch, aber mit beigelegter polniſcher Ueber-
ſetzung. Vor Gericht wurden die Proceſſe in der Sprache des Klägers
verhandelt; nur wenn er des Deutſchen vollkommen mächtig war verlangte
man, daß er ſich der deutſchen Sprache bediente; denn da die Polen ſich dem
Staatsdienſte fern hielten, ſo konnten von 168 Richtern nur 54 fertig
polniſch ſprechen; ihrer 33 verſtanden nur wenig, 81 gar kein polniſch.***)
[60]V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
Trotzdem wollte Friedrich Wilhelm ſeine Großmuth zeigen. In einem
großen Kronrathe am 23. Dec., dem auch Grolman und Flottwell bei-
wohnten, wurde beſchloſſen, zwar die Eingabe Raczynski’s unbeantwor-
tet zu laſſen, aber den Beſchwerden der Polen inſoweit abzuhelfen, daß
der nächſte Landtag keinen Grund mehr fände ſie zu erneuern.*) Das
war Flottwell’s Sturz. Der tapfere Deutſche mit den feurigen tiefen
Augen durfte ſich’s nicht bieten laſſen, daß man die völlig bodenloſen
Klagen ſeiner polniſchen Feinde für halb begründet erklärte. Schon am
31. Dec. wurde er, unter allen Zeichen königlicher Gnade, als Oberpräſident
nach Sachſen verſetzt. Die Polen hatten ihr Spiel gewonnen. Mit dieſer
That gutmüthiger Schwäche endete das erſte Jahr der neuen Regierung.
Was aus ſolchen Widerſprüchen noch hervorgehen würde, das ahnte Nie-
mand, nicht einmal Friedrich Wilhelm’s nächſte Vertraute. Schweren
Herzens ſchrieb um die Jahreswende Graf Anton Stolberg an den
wackeren Präſidenten von Cuny in Aachen und beſchwor den alten Freund,
keinem der umlaufenden finſteren Gerüchte Glauben zu ſchenken, ſondern
„der religiöſen aber wahrhaft freiſinnigen Richtung“ des Monarchen zu
vertrauen. „Der König will und wird gehen (das iſt ſein eigener
Ausdruck). Er wird als ſouveräner König ohne Charte gehen und die
Bedürfniſſe ſeiner Zeit erkennen, das halten was er ausgeſprochen in den
unvergeßlichen Reden zu Königsberg und Berlin.“**) Mehr wußte ſelbſt
Stolberg nicht zu ſagen.
Draußen im Reiche aber, wo man ſchon geblendet von dem neu
aufſtrahlenden Glanze der Krone Friedrich’s die Augen niedergeſchlagen
hatte, begann der alte Preußenhaß wieder hohe Wellen zu werfen. Man
rieb ſich die Hände, weil die großen Dinge wieder einmal ein kleines
Ende zu nehmen ſchienen. Recht aus dem Herzen der radikalen deutſchen
Jugend ſang der geiſtreichſte der neuen politiſchen Lyriker, der kosmopo-
litiſche Nachtwächter Franz Dingelſtedt, die höhnenden Gaſelen:
[[61]]
Zweiter Abſchnitt.
Die Kriegsgefahr.
Wie der inneren ſo ſchien ſich auch der europäiſchen Politik Preußens
in dem hoffnungsvollen Jahre des Thronwechſels eine Zeit reicher Er-
folge zu eröffnen. Auch dieſe Erwartungen blieben unerfüllt, nicht eigent-
lich durch die Schuld des neuen Königs, ſondern weil der Zuſtand des
Welttheils für große Entſcheidungen noch nicht reif und Preußen am
wenigſten in der Lage war die verſchlungenen Machtverhältniſſe Europas
frei zu überblicken. Jedem Staate kommen Zeiten, wo ihn ein über-
mächtiges Intereſſe zwingt ſeinen Geſichtskreis zu verengern. Durch die
unverſöhnliche Rachſucht der Franzoſen wurden Preußen und Frankreich
während eines Vierteljahrhunderts auf einer Stelle feſtgebannt, beide
Staaten waren verhindert ihre natürliche Intereſſengemeinſchaft zu erkennen
und der friedlichen Welteroberung, welche Englands Handelspolitik in der
Stille einleitete, rechtzeitig entgegenzutreten. So lange die franzöſiſchen
Parteien alleſammt die Vernichtung der ſo unbillig milden Pariſer Ver-
träge forderten, mußte der preußiſche Staat die Sicherung ſeiner Weſt-
grenze als ſeine nächſte, jeder anderen Rückſicht vorgehende Aufgabe be-
trachten; denn umringt von hilfloſen kleinen Nachbarſtaaten, allein an-
gewieſen auf die zweifelhafte Hilfe der beiden weit entlegenen Kaiſermächte
ſah er ſich dem erſten Angriff allein preisgegeben.
Bis an ſein Ende, und nicht ohne Erfolg hatte der alte König ſich
bemüht dieſe Gefahren abzuwenden, ein leidliches Verhältniß zu dem
neuen Machthaber Frankreichs herzuſtellen. Aber der Bürgerkönig ſtand
ſelbſt nicht feſt genug um den unberechenbaren Aufwallungen des National-
haſſes jederzeit Halt zu gebieten; und wie dankbar er auch die Freund-
lichkeit des Königs von Preußen anerkannte, ſo ſah er doch, ſcharfſinniger
als die Mehrzahl ſeiner Landsleute, beſtimmt voraus, daß dieſer deutſche
Staat dereinſt Frankreichs gefährlichſter Nebenbuhler werden müſſe. Nicht
Preußens ſondern Oeſterreichs Bundesgenoſſenſchaft faßte er ins Auge,
wenn er ſich beharrlich um die Gunſt der deutſchen Mächte bemühte.
[62]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Zwiſchen Frankreich und Rußland ward die Kluft mit den Jahren
immer breiter, obgleich die erſtarkende altmoskowitiſche Partei am Peters-
burger Hofe ein Bündniß der beiden Mächte gegen Deutſchland dringend
wünſchte, und der Czar ſeinem preußiſchen Vertrauten Oberſt Rauch oft
geſtand: außer mir ſelbſt ſind nur noch Neſſelrode und Orlow aufrichtige
Freunde der deutſchen Allianz. Noch immer wollte Nikolaus ſich nicht ent-
ſchließen dem franzöſiſchen Thronräuber zu verzeihen; er fand es ſchamlos,
daß Ludwig Philipp nach der Geburt ſeines Thronerben, des Grafen von
Paris, von der Fortdauer ſeiner Raſſe zu reden wagte, und konnte ſich
den ruhigen Schritt der preußiſchen Politik, die in Wahrheit von dem
alten Könige ſelbſt geleitet wurde, nur aus der Schwäche Ancillon’s —
„Monſieur Vacillant’s“ — erklären. Halsſtarrig blieb er bei ſeiner alten
Meinung, daß der Weltkrieg gegen den Staat der Revolution noch kommen
müſſe. Die Lage Preußens malte er ſich in den dunkelſten Farben, weil
er ſie alſo ſehen wollte und immer noch mit der Hoffnung ſpielte, ſeine
formidable ruſſiſche Reſerve würde dereinſt die Deutſchen aus den Klauen
der Jacobiner retten. Während des Kölner Biſchofsſtreites erkannte er
ſogleich, daß Oeſterreich ſich nicht als ehrlicher Freund Preußens zeigte,
und meinte: nun werde Frankreich den günſtigen Augenblick benutzen
um den Krieg alsbald auf dem rechten Rheinufer zu eröffnen. Das
Alles, ſo betheuerte er heilig, ſagte er nur „aus kindlicher Verehrung für
den geliebten Vater“. Rauch aber erwiderte ſtolz: kommt der Krieg, ſo
werden wir ſelbſt die Angreifer ſein.*) Unabläſſig, und in immer ſchärferem
Tone wiederholte der Czar ſeine Beſchwerden über die Umtriebe der pol-
niſchen Propaganda; mehrmals befahl er ſeinem Botſchafter Paris auf
längere Zeit zu verlaſſen. Seine Ungezogenheit wurde ſo widerwärtig,
daß Ludwig Philipp verzweifelnd ausrief: „ich werde mir meine Verbün-
deten anderswo ſuchen.“
Als der alte König dies erfuhr, ließ er ſeinem Schwiegerſohne ſagen:
„Ludwig Philipp hat zum Oefteren die Neigung gezeigt ſich den Conti-
nentalmächten zu nähern und in ihrem Sinne zu handeln. So lange
indeſſen der Kaiſer ſeine Antipathien gegen ihn nicht zu überwinden im
Stande iſt und ſich hierüber unverhohlen, ganz offen, ausſpricht, ſo lange
wird auch auf Ludwig Philipp wenig zu rechnen ſein und er allerdings an-
dere Alliirte ſuchen müſſen. Wollte der Kaiſer aber an ſeiner vorgefaßten
Meinung in etwas nachlaſſen, ſo wäre es auch ein großer Gewinn für
die conſervative Partei.“**) Die Mahnung fand taube Ohren. Der Czar
fuhr fort dem Bürgerkönige bei jeder Gelegenheit ſeine Mißachtung zu
zeigen, bis dieſer endlich einen tiefen perſönlichen Haß gegen den unver-
ſöhnlichen Peiniger faßte. Nach Nikolaus’ Meinung war Frankreich ſchlecht-
[63]Engliſche Welteroberung.
hin die Macht des Unheils, überall, ſogar im Mittelmeer und im Oriente,
wo die Intereſſen der beiden Mächte ſich doch keineswegs feindlich be-
rührten. Daß Rußland und Frankreich ſich über irgend eine europäiſche
Frage ehrlich verſtändigen könnten, ſchien vorderhand rein unmöglich; das
unter ſeiner ſchwachen Greiſenherrſchaft mehr und mehr erſtarrende Oeſter-
reich that auch gar nichts die beiden Feinde zu verſöhnen.
Alſo herrſchte auf dem Feſtlande wieder jener Zuſtand ſchleichenden
Unfriedens, deſſen England für ſeine Pläne bedurfte, und niemals hat
ſich die alte Wahrheit, daß Kaufmannspolitik die unſittlichſte von allen
iſt, ſo grell gezeigt wie in dieſen Jahren. Unbehelligt durch die hadernden
Großmächte durfte Palmerſton, nach ſeiner unritterlichen Weiſe, den bri-
tiſchen Uebermuth an den Schwachen auslaſſen. Mit Neapel begann
er Streit wegen des ſicilianiſchen Schwefelhandels, mit Portugal wegen
der Opfer des letzten Bürgerkrieges, eines Krieges, welchen England ſelbſt
gefliſſentlich geſchürt hatte. Mit Serbien ſchloß er einen Handelsvertrag
und verſuchte zugleich den Fürſten Miloſch zur Aufhebung der Verfaſſung
zu drängen. Mitten im Frieden wurde 1839 das Felſenneſt Aden geraubt,
der Schlüſſel zum Rothen Meere, das Gibraltar des Oſtens. Gleich
darauf begann der Opiumkrieg, der ſcheußlichſte von allen, welchen jemals
ein chriſtliches Volk geführt hat; die Chineſen wurden gezwungen den
Opium-Schmuggel aus Oſtindien zu dulden, und während England ihre
Leiber vergiftete, ſuchte es ihre Seelen durch die Bekehrungspredigten
ſeiner Miſſionäre zu retten. An ſtärkere Gegner wagte ſich Palmerſton nur
mit den Waffen der Argliſt. Jedermann ahnte, daß das neutrale England
die Tſcherkeſſen in ihrem Kampfe gegen Rußland insgeheim unterſtützte;
ruchbar ward das Geheimniß erſt, als die Ruſſen an der kaukaſiſchen
Küſte das mit Waffen befrachtete Schiff Vixen aufgriffen. Noch ſchwe-
rere Sorgen erregte dem Londoner Hofe die Beſetzung Algeriens, das
letzte und beſte Vermächtniß der franzöſiſchen Bourbonen. Nach engli-
ſcher Auffaſſung gehörte ganz Afrika von Rechtswegen den Briten. Selbſt
der friedfertige Lord Aberdeen ſagte zu dem preußiſchen Geſandten höh-
niſch: die Franzoſen haben Algier „für immer“ mit Frankreich vereinigt;
dies „für immer“ bedeutet: bis der Krieg erklärt wird, bis das erſte
engliſche Linienſchiff im Hafen von Algier erſcheint! Dieſes ſchöne zukunfts-
reiche Pflanzungsland der Franzoſen zu zerſtören war jedes Briten Herzens-
wunſch; darum konnte Frankreichs gefährlicher Feind, der heldenkühne
Abdelkader jederzeit auf Englands geheimen Beiſtand zählen.
Gegenüber einer ſolchen, völlig gewiſſenloſen, überall in der Welt
hetzenden und bohrenden Handelspolitik erſchienen alle anderen Cultur-
völker als natürliche Bundesgenoſſen. England war der Hort der Bar-
barei im Völkerrechte. England allein verſchuldete, daß der Seekrieg, zur
Schande der Menſchheit, noch immer ein organiſirter Seeraub blieb.
Allen Völkern gemeinſam lag die Aufgabe ob, auch auf den Meeren das
[64]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Gleichgewicht der Mächte herzuſtellen, das auf dem Feſtlande längſt be-
ſtand, jenes heilſame Gleichgewicht, das keinem Staate ermöglichte ſich
Alles zu erlauben und darum jedem ein menſchliches Völkerrecht ſicherte.
Die Geſittung des Menſchengeſchlechts forderte, daß die vielgeſtaltige Herr-
lichkeit der Weltgeſchichte, die einſt mit der Herrſchaft der monoſyllabiſchen
Chineſen begonnen hatte, nicht in einem troſtloſen Kreislaufe mit dem
Reiche der monoſyllabiſchen Briten endigen durfte. Sobald die orienta-
liſche Frage wieder in Fluß gerieth, mußte eine weitſchauende Staats-
kunſt darnach trachten, die erdrückende Fremdherrſchaft, welche Englands
Flotten von Gibraltar, Malta, Korfu aus aufrecht hielten, zum mindeſten
einzuſchränken, das Mittelmeer den mediterraniſchen Völkern zurückzugeben.
Der preußiſche Staat aber beſaß noch keine Flotte; er konnte und durfte ſich
zu einer ſo freien Anſchauung jener weit entlegenen Händel nicht er-
heben, ſo lange er ſelbſt die zerfahrene deutſche Welt kaum nothdürftig
zu ſchützen vermochte und eine italieniſche Großmacht noch nicht beſtand.
Der Friede zwiſchen Aegypten und der Pforte wurde nach orienta-
liſchem Herkommen von beiden Seiten unredlich gehalten. Sultan Mach-
mud dürſtete nach Rache an dem meuteriſchen Vaſallen, und der engliſche
Geſandte, der rückſichtsloſe alte Heißſporn Lord Ponſonby beſtärkte ihn in
ſeinem Haſſe, desgleichen deſſen Legationsſekretär Urquhart, der fanatiſche
Türkenſchwärmer. Mehemed Ali aber war durch das Kriegsglück ver-
wöhnt und ſchaltete in ſeinen neu errungenen Paſchaliks wie ein unab-
hängiger Fürſt. Er gewann die Freundſchaft des Tuilerienhofes, der ſchon
um Algeriens willen ſich der ägyptiſchen Flotte verſichern wollte, und die
begeiſterte Verehrung der Franzoſen. Wunderſame Märchen erzählten
den Pariſern von der genialen Herrſcherkraft dieſes Napoleon’s des Oſtens,
der als echter Orientale franzöſiſche Sitte und Sprache überall bevorzugte;
und bald galt es in Frankreich als ein politiſcher Glaubensſatz, daß nur
Mehemed Ali in dem erſtarrten Oriente ein neues Leben erwecken könne.
In Deutſchland war Fürſt Pückler-Muskau des Paſchas wärmſter Bewun-
derer. Der erregte allgemeines Aufſehen, als er von der Nilfahrt und
den Wüſtenritten heimgekehrt, im Feß auf arabiſchem Roſſe durch die
Straßen Wiens zog; bei Kaiſer Ferdinand ward er erſt vorgelaſſen nach-
dem er dem preußiſchen Geſandten verſprochen hatte, dieſen traurigen
Hof, der allerdings eine naturgetreue Schilderung kaum vertrug, in ſeinen
Reiſebüchern nicht zu erwähnen.*) Ueberall, in Wort und Schrift, ver-
kündete Semilaſſo den Ruhm des großen Aegypters.
In Wahrheit ſtand Mehemed Ali’s Macht bei Weitem nicht mehr
ſo feſt wie zur Zeit des letzten Krieges. Die ungebändigten Völker Sy-
riens ertrugen den Druck des aufgeklärten Despotismus ſchwerer als die
leidſamen Fellahs am Nil; ein Aufſtand ſchien nicht ausſichtslos, und
[65]Der zweite türkiſch-ägyptiſche Krieg.
zugleich ward Englands Feindſchaft immer bedrohlicher. Seit den Tagen
der Quadrupelallianz hegte Palmerſton einen heißen, ſtillen Groll gegen
die unzuverläſſigen franzöſiſchen Freunde. Wie oft war er damals von
Talleyrand überliſtet worden;*) dies verzieh er nie, denn nach ſeiner An-
ſchauung beſaß allein die engliſche Diplomatie das Recht, ihre Bundes-
genoſſen zu betrügen. Das gerühmte herzliche Einvernehmen der Weſt-
mächte beſtand nur noch dem Namen nach. Obwohl der Lord von den
Verhältniſſen des Orients und der Kolonien ſehr wenig wußte, ſo beſaß
er doch ein ſicheres inſtinktives Gefühl für die Größe ſeines Landes; nie-
mals glaubte er an die neue Lehre der Freihandelsſchule Richard Cobden’s,
daß jede Kolonie ſich vom Mutterlande losreißen müſſe und Großbritannien
durch ſeinen transatlantiſchen Beſitz nur geſchwächt würde. Er erkannte ſo-
gleich, Englands Machtſtellung im Mittelmeere ſei verloren, wenn Mehemed
Ali über die ſchwachen Zwiſchenländer hinweg den Franzoſen in Algier die
Hand reichte. Der ſchlaue Aegypter wußte auch ſehr wohl, wo er ſeine
Feinde zu ſuchen hatte; gefliſſentlich erſchwerte er den Briten den Verkehr
mit Indien, er verſperrte den wichtigen Handelsweg durch Vorderaſien zum
Euphrat und Orontes, bemächtigte ſich des einträglichen Kaffeehandels im
Rothen Meere, begann in Syrien und Aegypten Fabriken anzulegen, welche
die engliſche Einfuhr ſchädigten. Dieſe Handelsintereſſen beſtimmten Eng-
lands Haltung, ganz wie im Jahre 1830 bei der Preisgebung Hollands der
Groll über die niederländiſche Zoll- und Kolonialpolitik den Ausſchlag ge-
geben hatte. Mit leidenſchaftlichem Ungeſtüm ſuchte Palmerſton die ge-
fährliche Macht des Aegypters zu vernichten oder doch zu ſchwächen; alles
Gerede über den unaufhaltſamen Zerfall des türkiſchen Reichs erklärte er
kurzab für nonsense.
Schadenfroh konnte der Petersburger Hof abwarten, wie die Feind-
ſchaft der beiden Weſtmächte im Oriente ſich mehr und mehr verſchärfte.
Seit der Schließung der Dardanellenſtraße beherrſchte er das Schwarze
Meer faſt unumſchränkt, und da er durch den Vertrag von Hunkiar
Iskeleſſi berechtigt war, ſeinem türkiſchen Schützling im Kriegsfalle Hilfe
zu leiſten, ſo betrachtete er nicht ohne Behagen, wie der Sultan und
der Paſcha ſich zum Kampfe rüſteten. Mehrere Jahre hindurch ſtanden
die türkiſchen und die ägyptiſchen Truppen an der ſyriſchen Grenze einander
gegenüber. Durch dieſe gewaltigen Heeresmaſſen wurden die armen Länder
am oberen Euphrat völlig ausgeſogen und die Kraft der beiden muhame-
daniſchen Reiche dermaßen gelähmt, daß der in Petersburg erſehnte Zu-
ſammenbruch vielleicht bald eintreten konnte.
Von dem ermatteten Wiener Hofe hatten die Moskowiter wenig zu
fürchten. Deſſen ganze Weisheit lief noch immer darauf hinaus, daß der
Sultan der legitime Herrſcher, der Paſcha ein fluchwürdiger Reformer und
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 5
[66]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Empörer ſei. Metternich ſelbſt empfand zuweilen die Laſt ſeiner Jahre und
ſagte mehrmals zu Maltzan: „In meinem Alter muß man zu erhalten, nicht
zu ſchaffen ſuchen; es wäre thöricht eine Arbeit zu beginnen, die man wahr-
ſcheinlich nicht mehr ſelbſt beendigen kann.“*) Der alte unfruchtbare Streit
zwiſchen dem Staatskanzler und dem Grafen Kolowrat währte fort, und
da Erzherzog Ludwig noch immer jede Neuerung ablehnte, ſo kam unter
der Herrſchaft dieſes traurigen Triumvirats keine einzige der geplanten
Verwaltungsreformen zu Stande. Der Staatshaushalt verharrte in der
gewohnten Unordnung auch nachdem der mit der Wiener Börſe nahe be-
freundete Finanzminiſter Eichhoff endlich den Abſchied erhalten hatte.
Die Armee litt, wie Graf Maltzan bedauernd ſagte, „in faſt unglaub-
lichem Grade“ Mangel an Allem, und eben jetzt, im Januar 1840, ſtarb
General Graf Clam, der einzige Mann, der im Staatsrathe Einiges für
ihre Schlagfertigkeit gethan hatte. Schlaffheit und gedankenloſe Routine
herrſchten überall; nur das italieniſche Heer unter Radetzky’s Führung
zeigte ſich kriegstüchtig. Noch niemals war das alte Oeſterreich für einen
ſchweren Kampf weniger vorbereitet geweſen. Unter ſolchen Umſtänden
konnte der greiſe König von Preußen, der für das ſtille Erſtarken ſeines
Landes ſo dringend des Friedens bedurfte, nur den beſcheidenen Wunſch
hegen, daß die Kriegsgefahr im Oſten vorübergehen möchte.
Gleichwohl geſchah das Unausbleibliche. Im Frühjahr 1839 ver-
mochte die Pforte die Wucht ihrer Rüſtungen nicht mehr zu ertragen, der
Sultan ſeinen Haß nicht mehr zu bändigen. Der Krieg brach aus und
endigte mit einem Schlage. Die türkiſchen Truppen hatten Dank der
einſichtigen Thätigkeit der preußiſchen Generalſtabsoffiziere ſchon Einiges
gelernt, aber auch in dem langen Lagerleben durch Krankheiten furcht-
bar gelitten. Nur die Hälfte des großen kleinaſiatiſchen Heeres war unter
Hafiz Paſchas Führung bei Niſib vereinigt, und dieſe Hälfte beſtand zum
guten Theile aus feindſeligen Kurden, welche die Stunde des Abfalls er-
ſehnten. Hafiz hörte mehr auf die thörichten Reden ſeiner Mollahs und
Aſtrologen als auf den großen fränkiſchen Rathgeber, der ihm zur Seite
ſtand. Er verſäumte, wider den Rath des Hauptmanns Moltke, das Heer
Ibrahim Paſchas bei einem Umgehungsverſuche zur rechten Zeit in der
Flanke anzugreifen. Er verſchmähte ſodann, die Truppen an den Euphrat
in die feſte Stellung von Biredſchik zurückzuführen; und der Preuße legte,
das ſichere Verderben vorausſagend, ſein Amt als Rathgeber förmlich
nieder. Am nächſten Tage, 23. Juni, ward der Paſcha von dem ſieg-
gewohnten ägyptiſchen Feldherrn in höchſt ungünſtiger Stellung ange-
griffen; nach kurzem, wenig rühmlichem Widerſtande ſtob ſein Heer ausein-
ander. Wie einſt König Friedrich ſein Feldherrnleben mit dem Fluchtritte
von Mollwitz eröffnete, ſo begann der größte deutſche Krieger des neun-
[67]Schlacht von Niſib.
zehnten Jahrhunderts eine Siegeslaufbahn ohne gleichen, er ſelbſt freilich
ſchuldlos, mit der Niederlage von Niſib. An den Gräueln dieſes Rück-
zugs lernte er, was die ſittlichen Mächte im Kriege bedeuten; derweil er
das unwegſame Land durchritt behielt er immer noch Zeit und Gleich-
muth um ſeine geliebten Landkarten ebenſo gewiſſenhaft zu ergänzen, wie
er früherhin den einzigen treuen Plan von dem unüberſehbaren Gaſſen-
gewirr Konſtantinopels gezeichnet hatte. Nach der Heimkehr ſammelte er
dann ſeine Briefe aus der Türkei und ließ das claſſiſche Werk wie ein
beſcheidener Anfänger durch ein Vorwort Karl Ritter’s in die gelehrte
Welt einführen; ſeine geiſtvolle ältere Schrift über Polen hatte ja nur
wenig Leſer gefunden.
Die Niederlage war vollſtändig. Auch die anderen türkiſchen Trup-
pen in Kleinaſien löſten ſich auf, obgleich der Sohn Mehemed Ali’s, dem
eigenen Heere mißtrauend, ſeinen Sieg nicht zu verfolgen wagte. In-
mitten dieſer allgemeinen Verwirrung ſtarb Sultan Machmud plötzlich, noch
bevor die Schreckenskunde aus Niſib ihn erreichte — die letzte große tra-
giſche Geſtalt der osmaniſchen Geſchichte. Bis über die Kniee war er
im Blute gewatet um ſeinem Volke eine höhere Geſittung zu bringen,
und verzweifelnd ſank er ins Grab im Bewußtſein eines verfehlten Lebens.
Die Zeitgenoſſen verglichen ihn gern mit Peter dem Großen, die Er-
mordung der Janitſcharen mit der Vernichtung der Strelitzen. Doch der
geniale Barbar des Nordens beherrſchte ein chriſtliches und darum bei
aller Roheit bildſames Volk. Die Osmanen blieben eine Reiterhorde
des Oſtens, geſchaffen für die Zelte der Wüſte, der Cultur gänzlich un-
zugänglich, bei den anderen muhamedaniſchen Völkern ſelbſt wegen ihrer
Stumpfheit verrufen; ſie glichen jenen harmloſen wilden Hunden, welche
Tags über in den Gaſſen Stambuls ſchlafen, bei Nacht den Unrath aus
den Häuſern freſſen, aber ſobald man ſie ins Haus nimmt jeder Erziehung
trotzen und aus Sehnſucht nach der Freiheit bald dahinſterben. Nunmehr
beſtieg Abdul Medſchid den Thron, Machmud’s junger ſchwächlicher Sohn,
der nie zum Manne heranreifte. Zur ſelben Zeit ſegelte die türkiſche
Flotte von den Dardanellen ſüdwärts, nicht ohne die geheime Mitwirkung
des franzöſiſchen Admirals Lalande, und vereinigte ſich vor Alexandria
mit den Schiffen des ägyptiſchen Rebellen. Alſo ohne Heer, ohne Flotte,
ohne einen kräftigen Herrſcher ſchien das osmaniſche Reich, zum dritten
male binnen elf Jahren, dem ſicheren Untergange zu verfallen. Da
die Integrität der Türkei von allen Großmächten — ehrlich oder nicht —
für eine europäiſche Nothwendigkeit erklärt war, ſo ergriff die Geſandten
der fünf Mächte ein jäher Schrecken. Sie traten zuſammen und auf
das Andringen des öſterreichiſchen Internuntius Stürmer ermahnten ſie
die Pforte durch eine gemeinſame Note vom 27. Juli 1839, nicht eher
mit dem Aegypter abzuſchließen als bis Europa geſprochen hätte. Metter-
nich triumphirte, er meinte die Türkei gerettet und das Schickſal des
5*
[68]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Oſtens in ſeiner Hand zu haben; er nannte mit gewohnter Ruhmredig-
keit dieſe That einen der größten diplomatiſchen Erfolge ſeines Lebens
und ſchmeichelte ſich mit der Hoffnung, nunmehr würde unter ſeiner
Leitung ein europäiſcher Congreß in Wien zuſammentreten, der die orien-
taliſchen Händel, natürlich zum Nachtheil Mehemed Ali’s, beilegen ſollte.*)
Anders dachte der König von Preußen. Er ſah klar voraus, daß
dieſe ſcheinbare Einigung Europas die Hintergedanken Rußlands, das
Zerwürfniß zwiſchen den Weſtmächten ſehr bald an den Tag bringen,
vielleicht gar den allgemeinen Krieg hervorrufen mußte. Aergerlich meinte
er, die Mächte hätten beſſer gethan ſich nicht zu übereilen, ſondern dem
Sultan die Verſtändigung mit dem Paſcha zu überlaſſen.**) Weil er auf
ſeine alten Tage keinenfalls den Frieden brechen, ſeinem Volke um dieſer
entlegenen Händel willen weder Subſidienzahlungen noch Kriegslaſten
auflegen wollte, ſo ließ er den großen Höfen mehrmals auf das Beſtimm-
teſte erklären: Preußen gewähre den Verſuchen zur friedlichen Löſung der
orientaliſchen Frage nur ſeinen moraliſchen Beiſtand (appui moral) und
behalte ſich die ſtrengſte Neutralität vor falls die unmittelbar betheiligten
Mächte zu den Waffen greifen ſollten.***) Er hatte recht geahnt. Die
Abſichten der beiden Weſtmächte zeigten ſich ſofort als unvereinbar. Während
Frankreich ſeinen ägyptiſchen Schützling ſchonen wollte, beabſichtigte Pal-
merſton den Sieger von Niſib für ſeinen Sieg zu beſtrafen, ihn durch
ein ſalomoniſches Urtheil Europas eines guten Theiles ſeiner alten Be-
ſitzungen zu berauben.
Auch die Pforte blieb, trotz ihrer Schwäche, unverſöhnlich und er-
fand jetzt ein neues, ſehr wirkſames Kampfmittel wider Mehemed Ali.
Der Miniſter des Auswärtigen Reſchid Paſcha hatte als Geſandter in
London die Macht der Preſſe des Abendlandes kennen gelernt und als-
bald begriffen, welchen Vortheil dem Aegypter die brünſtigen Lobeser-
hebungen der franzöſiſchen und vieler anderen liberalen Zeitungen ge-
währten. Er rieth daher dem jungen Sultan, durch ein feierliches
Schauſpiel den Europäern zu bekunden, daß der Großherr noch weit
liberaler denke als der aufgeklärte Despot am Nil. Am 2. Nov. verſam-
melten ſich die Großwürdenträger des Reichs und die Notabeln der Haupt-
ſtadt in einem Hofe des alten Serails vor dem Kiosk von Gülhane,
nahe jener alten Platane, in deren Schatten einſt die meuteriſchen Janit-
ſcharen zu berathen pflegten. Sobald der Hofaſtrolog mit ſeinem Aſtro-
labium den günſtigen Augenblick erkundet hatte, wurde der Hattiſcherif
von Gülhane verleſen, eine mit alttürkiſchem und neufränkiſchem Wort-
[69]Die liberale Türkei.
ſchwall reich ausgeſtattete Urkunde, welche allen Unterthanen des Sultans
Sicherheit von Leib und Habe, Aufhebung der Steuerpacht, gerechte Ver-
theilung der Abgaben und des Kriegsdienſtes verhieß. Darauf beſchwor
der Sultan nebſt den hohen Beamten ſeinen Gnadenerlaß, der natürlich
niemals ausgeführt wurde, und die Batterien auf beiden Ufern des Bos-
porus donnerten ihren Feſtgruß.
Der Hattiſcherif eröffnete die lange Reihe jener „mit Honig beſchrie-
benen Papiere“, welche die klugen Moslemin fortan von Zeit zu Zeit
den unbeſchreiblich verachteten Franken vorzuhalten pflegten. Wunderbar
ſchnell, mit orientaliſcher Findigkeit lebte der Divan ſich in neue politiſche
Künſte ein; er ſpielte fortan die liberale Macht und wußte bald durch
die dienſtwilligen Federn der befreundeten Geſandtſchaften in Pera, bald
durch einfache Beſtechung die europäiſche Preſſe dermaßen zu beherrſchen,
daß die einſt im Portfolio angeſchlagenen Töne überall mächtig wieder-
klangen. Schon ſeit dem Alterthum waren die Stämme am Bosporus um
ihrer Ruchloſigkeit willen verrufen. Hier lag Lesbos, die Heimath der un-
natürlichen Wolluſt, hier Lampſakos, wo Aphrodite den ſchamloſeſten ihrer
Söhne, den Priapus gebar, hier die große Polis, wo der Auswurf dreier
Welttheile ſtinkend zuſammenrann, und mitteninne das barbariſch geſchändete
ſchönſte Gotteshaus der morgenländiſchen Chriſtenheit. In dieſen Ländern,
wo Menſchenleben wenig, Menſchenwürde nichts gilt, wo die Natur alle
ihre Reize, die helleniſchen, die byzantiniſchen, die orientaliſchen Völker
ebenſo verſchwenderiſch alle ihre Niedertracht entfaltet haben, wähnte die
Preſſe des Abendlandes eine Heimſtätte der Freiheit zu ſehen; mit Aus-
nahme der franzöſiſchen verherrlichten jetzt alle europäiſchen Blätter den libe-
ralen Sultan mitſammt ſeinem Hofaſtrologen. Der Aegypter aber, der ſeine
Leute kannte, ſagte ingrimmig: dieſer Hattiſcherif ſei nichts weiter als ein
gegen ihn gerichteter Schachzug.
Mittlerweile vollzog Rußland eine längſt vorbereitete diplomatiſche
Schwenkung. Nikolaus hatte gleich nach ſeiner Thronbeſteigung die Er-
fahrung gemacht, daß er ſeine Zwecke im Oriente dann am ſicherſten
erreichen konnte, wenn er ſich mit dem gefährlichſten Gegner, mit England
ſcheinbar verſtändigte.*) Perſönlich hegte er, ſo weit ein Czar dies ver-
mochte, faſt eine Vorliebe für die Briten; während der letzten Jahre
hatte er ſich ſtets abſichtlich gehütet die revolutionäre Politik Palmerſton’s
zu bemerken. Dies England mit Frankreich zu verfeinden, das herzliche
Einvernehmen der Weſtmächte zu zerſtören, den alten Vierbund der con-
ſervativen Mächte wiederherzuſtellen und alſo den verhaßten Staat der
Revolution gänzlich zu vereinzeln, bis vielleicht der große Kreuzzug der
Legitimität möglich würde — dahin gingen von langeher die Wünſche
des Czaren. Der Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi lief binnen Kurzem ab;
[70]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ihn zu erneuern ſchien unmöglich da die Eiferſucht der Weſtmächte längſt
erwacht war. Die friedliche Schutzherrſchaft Rußlands in der Türkei ließ
ſich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engliſchen Hofe und
den beiden deutſchen Mächten eine beſcheidene Mitwirkung bei der Rettung
des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünſchte man die Macht
des Aegypters alſo zu ſchwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als
Hausmeier des Sultans das osmaniſche Reich von innen heraus zu ver-
jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen laſſen, weil ſein
halbſelbſtändiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleiſche der Türkei
blieb. Seit der Schlacht von Niſib mußte auch Palmerſton einſehen, daß man
Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin beſtand keine ernſtliche Mei-
nungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden Mächten; ſie mußten ſich nur noch
verſtändigen über die beiden Fragen, welche Stücke ſyriſchen Landes dem be-
trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be-
waffnete Einmiſchung ausführen ſollten. Da Rußlands Streitkräfte durch
die kaukaſiſchen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geſchwächt
waren, ſo wünſchte Nikolaus im Augenblicke keinen europäiſchen Krieg;
er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu beſiegen, indem er ſich erſt mit
England, dann mit den beiden deutſchen Mächten vereinigte.
Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entſchieden ab,
weil er befürchtete dort durch Oeſterreich und die Weſtmächte überſtimmt
zu werden Metternich empfand dieſe Abſage als eine ſchwere perſön-
liche Beleidigung und erging ſich in Schmähreden wider die Schwäche
und die Thorheit des Czaren — ganz wie im Jahre 1826, als ſich Ruß-
land und England über die griechiſche Frage verſtändigten. Auch dies-
mal mußte er erfahren, daß in den orientaliſchen Händeln Rußland, nicht
Oeſterreich die führende Macht des Oſtbundes war. Im September 1839
wurde einer der jüngeren ruſſiſchen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach
London geſendet, ein ſanfter, feiner, geſchmeidiger Mann, der alsbald
eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Geſellſchaft
Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits-
concerten eifrig theilnahm. In der diplomatiſchen Welt hieß er der ruſ-
ſiſche Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiſte
und der ſchriftſtelleriſchen Größe des öſterreichiſchen Staatsmannes konnte
er ſich nicht von fern vergleichen, in den Künſten ſchlauer Unterhandlung
war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britiſchen Miniſter:
der Czar habe nichts dawider, wenn England durch ſeine Flotte den Aegyp-
ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann
nöthigenfalls ſeine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinaſien gegen
Ibrahim Paſcha vorgehen laſſen. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen
nahm Palmerſton dieſe Anerbietungen entgegen; ſie genügten ihm nicht,
da ihm vor Allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi
zu beſeitigen, der britiſchen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen
[71]Brunnow in London.
zu eröffnen. Gleichwohl hegte der Ruſſe, als er unverrichteter Dinge ab-
reiſen mußte, die ſtille Ueberzeugung, daß eine Verſtändigung wohl möglich
ſei. Auf der Heimkehr traf er am Rhein mit Metternich zuſammen. Der
Oeſterreicher zeigte ſich mürriſch, übellaunig, ſichtlich verletzt durch Ruß-
lands einſeitiges Vorgehen, aber in der Sache ſelbſt nicht feindſelig. Auch
hier empfing Brunnow den Eindruck, die vier Mächte würden ſich ohne
Frankreich wohl einigen können, und Neſſelrode ſagte nachher befriedigt,
mit dieſem Johannisberger Geſpräche ſei die peinliche erſte Epoche der
orientaliſchen Frage abgeſchloſſen.*)
In Petersburg mit neuen Weiſungen verſehen, kehrte Brunnow um
Neujahr nach London zurück und überraſchte den Lord durch die freund-
liche Erklärung: ſein Kaiſer beſtehe nicht mehr auf dem Vertrage von
Hunkiar-Iskeleſſi, er wolle im Nothfalle 15000 Mann und acht Kriegs-
ſchiffe zur Vertheidigung Stambuls ſchicken, ſei aber auch nicht dagegen
wenn die anderen Mächte dann je vier Schiffe in das Marmarameer
ſendeten. Zugleich ließ er durchblicken was die ruſſiſchen Diplomaten in
Pera ſchon vor’m Jahre angedeutet hatten: künftighin könnten vielleicht
beide Meerengen in Friedenszeiten geſchloſſen werden. Damit war das
Eis gebrochen, Palmerſton’s Mißtrauen beſchwichtigt. Im Februar 1840
vereinigten ſich die Vertreter der großen Mächte in London zu förmlichen
Conferenzen. Sie Alle, mit einziger Ausnahme des franzöſiſchen Geſandten,
betrachteten die Erhaltung des osmaniſchen Reichs als ihre höchſte Aufgabe
und ſtimmten mit Brunnow dahin überein, daß Mehemed Ali nur die erb-
liche Herrſchaft über Aegypten, außerdem noch für ſeine Lebenszeit ein Stück
Syriens, etwa das Paſchalik Akkon behalten dürfte; widerſetzte er ſich, dann
müßte man ihn durch die Waffen Europas zur Unterwerfung zwingen. Der
Sieger ſollte alſo einen Theil ſeines alten Beſitzſtandes dem Beſiegten ſchen-
ken! Die grobe Ungerechtigkeit dieſes Schiedsſpruches der europäiſchen Mächte
lag auf flacher Hand; ſelten hatte ſich ſo deutlich gezeigt, mit wie wenig
Weisheit die Welt regiert wird. Vom Rechte aber war in den ſchmutzigen
orientaliſchen Händeln nie die Rede; hier handelte es ſich nur um die Macht,
diesmal um die Frage, ob Mehemed Ali ſtark genug ſei den erleuchteten
Beſchlüſſen Europas zu widerſtehen. Dargeſtellt hatte Rußland nochmals,
wie einſt vor der Schlacht von Navarin, durch eine plötzliche Annäherung
an England die entſcheidende Stellung in der orientaliſchen Politik erlangt.
Metternich ſah ſich in die zweite Reihe gedrängt und meinte unmuthig:
nur die Germanen kennten den Begriff der Ehre, die Romanen über-
trieben ihn bis zum point d’honneur, die Slawen hätten nicht einmal
ein Wort dafür. Aber einer Staatskunſt, welche die Erhaltung des türki-
ſchen Reichs zu erſtreben vorgab, konnte er unmöglich entgegentreten.
Auch der Berliner Hof pflichtete den Anträgen Brunnow’s vorläufig bei,
[72]V. 2. Die Kriegsgefahr.
immer in der ehrlichen Hoffnung, daß Frankreich den anderen Mächten
nicht widerſprechen würde, immer mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß
Preußen nur moraliſchen Beiſtand leiſten könne.*)
Unterdeſſen geſtaltete ſich Frankreichs Lage höchſt bedrohlich. Auf-
geregt durch die Pariſer Preſſe ſchwärmte die geſammte Nation für den
aufgeklärten Mehemed Ali. Als man nun erfuhr, daß die vier Mächte
dieſen Liebling Frankreichs ungerecht mißhandeln wollten, da ging ein
Aufſchrei des Zorns durch das Land. Alles rief: England hat uns
verrathen, die entente cordiale iſt zerſtört.**) In der That hatte der
ſchlaue Bürgerkönig, der die auswärtige Politik über die Köpfe des Miniſte-
riums Soult hinweg leitete, diesmal ſich von ſeinem perſönlichen Haſſe
bethören laſſen und ganz falſch gerechnet. Da er mit dem Todfeinde
Mehemed Ali’s, mit England ſich über die orientaliſchen Wirren unmög-
lich einigen konnte, ſo mußte er mit Rußland und den deutſchen Mächten
eine Verſtändigung ſuchen. Er konnte jedoch ſeinen Groll über die Hof-
fart des Czaren nicht überwinden und richtete alle ſeine Pfeile gegen
Rußland. Wieder und wieder mußte Soult in ſpitzigen Depeſchen er-
klären, die Integrität der Türkei ſei nur ein leeres Wort, wenn ihr nicht
auch die Unabhängigkeit — das wollte ſagen: die Unabhängigkeit von
Rußland — geſichert würde. Neſſelrode rieb ſich die Hände und gab
eine hochmüthige Antwort.***) Während Ludwig Philipp ſich alſo in
einen unfruchtbaren Federkrieg gegen den Czaren verbiß, bemerkte er kaum,
wie England und Rußland einander näher traten. Da mit einem male
ſtand er zwiſchen zwei Feuern: der engliſche Freund war zu dem ruſſi-
ſchen Feinde übergegangen, und die Verſtändigung der beiden Mächte war
in ſehr rückſichtsloſer Form geſchehen, ohne daß man den franzöſiſchen
Geſandten auch nur einer genauen Mittheilung gewürdigt hätte.
Die Stellung des Tuilerienhofes ward noch ſchwieriger, als im Februar
1840 — wieder durch des Königs Schuld — das gemäßigte, bei den
Höfen leidlich angeſehene Miniſterium Soult zuſammenbrach. Ludwig Phi-
lipp hatte einſt — den uralten Geſetzen des Landes zuwider — das unge-
heuere Vermögen der Orleans, das von Rechtswegen der Krone Frankreich
gehörte, ſeinen Kindern abgetreten, und durfte jetzt nicht erwarten, daß die
Nation geneigt ſein würde den ſo ſchmählich geretteten Reichthum des unge-
liebten königlichen Hauſes noch zu vermehren. Gleichwohl verlangte der
König, als ſein zweiter Sohn der Herzog von Nemours ſich mit der reichen
Prinzeſſin von Coburg-Kohary verlobt hatte, von den Kammern eine Jahres-
rente für das junge Paar. Allgemein war der Unwille. Die Preſſe verdäch-
[73]Miniſterium Thiers.
tigte den perſönlichen Charakter des Monarchen mit einer Unehrerbietigkeit,
welche dies illegitime Königthum nicht ertragen konnte. Timon-Cormenin,
ſeit Courrier’s Tode der wirkſamſte Publiciſt der Radikalen, ſchrieb die
wüthenden „Fragen eines Jacobiners;“ er hielt den Franzoſen vor,
wie viel unfreier ſie ſeien als die Preußen, denen ihr abſoluter König die
altherkömmliche Prinzeſſinnenſteuer regelmäßig erlaſſen habe. Die Dota-
tion ward verworfen, das Miniſterium Soult trat zurück, und durch die
liberale Oppoſition emporgehoben bildete Thiers am 1. März ein neues
Cabinet — der Staatsmann, der von jeher dem Bürgerkönige beſonders
widerwärtig und in der gegenwärtigen Kriegsgefahr dreifach unwillkommen
war. Auch die vier Mächte verhehlten ihr Mißtrauen nicht. Graf Maltzan
ſchrieb aus Wien ſchwer beſorgt: „die Grundſätze von 1830 ſind wieder
am Ruder,“*) und der franzöſiſche Geſandte auf der Londoner Conferenz
ſah ſich fortan noch weniger rückſichtsvoll als bisher behandelt. Er fühlte,
wie die Vier hinter ſeinem Rücken beriethen.
Thiers ſtand bei den Höfen im Rufe eines radikalen Chauviniſten,
weil er zur Zeit der Julirevolution für die reine Parlamentsherrſchaft
gearbeitet, während des Carliſtenkrieges ſehr übermüthig geredet und durch
ſeine Geſchichtswerke die napoleoniſche Legende mächtig gefördert hatte.
Indeß war der kluge, bildſame Mann, obwohl noch weit entfernt von
der ruhigen Weisheit ſeines Alters, doch ſchon durch die Erfahrung etwas
gereift. Die peinliche diplomatiſche Lage, die er vorfand, war nicht durch
ihn verſchuldet, ſondern durch den König. Als er die Regierung übernahm,
hegte er noch keineswegs kriegeriſche Abſichten; dem ungleichen Kampfe mit
vier Großmächten dachte er ſein leidenſchaftlich geliebtes Vaterland nicht
auszuſetzen. Am wenigſten wollte er an dem engliſch-franzöſiſchen Bünd-
niß rütteln, das ihm für den Hort der Völkerfreiheit galt. Darum
ließ er durch den Geſandten Guizot dem engliſchen Hofe ernſt aber
freundſchaftlich erklären: zur Integrität der Türkei gehöre die Macht
des Paſchas ſo gut wie die Macht des Sultans, und ohne Syrien könne
der Aegypter nicht beſtehen. Nachdrücklich verwahrte er ſich gegen die be-
waffnete Einmiſchung Europas, die den alten Grundſätzen der Weſtmächte
offenbar widerſpreche.**) Und allerdings bewährte Palmerſton nur von
Neuem den grundſatzloſen Wankelmuth ſeiner Staatskunſt, wenn er, der
ſo oft die Lehre der Nichteinmiſchung feierlich verkündigt hatte, jetzt zu
den Anſichten des Troppauer Congreſſes zurückkehrte und die gewaltſame
Intervention der Großmächte wider den ägyptiſchen Rebellen empfahl.
Thiers’ Warnungen waren ehrlich gemeint; denn wie alle Franzoſen
überſchätzte er die Macht Mehemed Ali’s bei Weitem und fürchtete, der
Paſcha würde der Einmiſchung Europas einen ſo hartnäckigen Widerſtand
[74]V. 2. Die Kriegsgefahr.
entgegenſetzen, daß vielleicht die Türkei ſelbſt darüber in Trümmer gehen
könnte. Palmerſton kannte die augenblickliche Lage beſſer, er verſprach ſich
einen raſchen Erfolg von den Zwangsmaßregeln gegen den Aegypter. Die
Verhandlungen zogen ſich durch mehrere Monate ohne Entſcheidung dahin.
Unterdeſſen klagten die Geſandten der drei Oſtmächte laut und lauter
über die „ſubverſive“ Politik der Tuilerien, die Londoner Regierungsblätter
ſprachen von Frankreich in einem anmaßenden Tone, der von drüben
ebenſo kräftig erwidert wurde. Palmerſton fühlte ſich durch den hart-
näckigen Widerſpruch der Franzoſen ſchwer gereizt und ſagte in einem
Artikel ſeines Morning Chronicle drohend: England würde ſich gezwungen
ſehen den alten Vierbund der conſervativen Mächte zu erneuern. Brunnow,
der mit ſeiner glatten, kühlen Freundlichkeit dem ungeſtümen Lord immer
überlegen blieb, half in der Stille nach. Mehr und mehr befreundeten
ſich die Geſandten mit der ruſſiſchen Anſicht, daß man die orientaliſche
Frage auch zu Vieren, ohne Frankreichs Mitwirkung, löſen könne.
Dennoch zauderte Palmerſton noch lange. Die ſchwache, von Lord
Melbourne ſehr ſchlaff geleitete Whig-Regierung hatte ſich längſt über-
lebt. Schon vor’m Jahre war ſie durch das Parlament geſtürzt und nur
durch den lächerlichen Zwiſchenfall der ſogenannten Schlafſtubenfrage vor-
läufig wieder aufgerichtet worden. Damals hatte die junge Königin zum
erſten male etwas gezeigt was einem politiſchen Willen ähnlich ſah und
ſich entſchieden geweigert ihre whiggiſtiſchen Hofdamen, wie die Torys
verlangten, zu entlaſſen. Nur dieſer perſönlichen Vorliebe der Monarchin
verdankten die Whigs die Wiederherſtellung ihrer Herrſchaft, welche ſchon
ſeit Jahren nicht mehr auf eine feſte Mehrheit im Parlamente zählen
konnte. Und dies altersmüde Cabinet war über die Fragen der großen
Politik keineswegs eines Sinnes. Die Lords Holland, Clarendon, Grenville,
viele andere der nächſten Freunde und Amtsgenoſſen Palmerſton’s hielten
einen Bruch mit Frankreich für rein undenkbar; auf der entente cor-
diale oder ihrem Namen beruhte ja die ganze Stellung, welche England
während des letzten Jahrzehntes in Europa eingenommen hatte. Selbſt
unter den Torys war die Meinung weit verbreitet, daß die Quadrupel-
allianz der liberalen Weſtſtaaten den Weltfrieden, das Gleichgewicht Euro-
pas aufrecht erhalten habe und nimmermehr durch die Erneuerung des
alten conſervativen Vierbundes erſetzt werden dürfe. Alſo wurde Pal-
merſton zwiſchen den verſchiedenſten Bedenken hin und her geſchleudert
und gelangte immer wieder zu dem Schluſſe: man müſſe die Dinge hin-
zuhalten ſuchen.*) Er hoffte kaum noch den Tuilerienhof umzuſtimmen
und wollte doch den Bruch vermeiden. Noch am 11. Juni ſchrieb er
dem drängenden öſterreichiſchen Bevollmächtigten Neumann: „Ich ziehe
eine zeitweilige Verzögerung einem ſofortigen ſchlechten Ende vor.“**)
[75]Verhandlungen der vier Mächte. H. v. Bülow.
Um die Verwirrung zu vollenden ſendete Metternich von Zeit zu Zeit
übellaunige Depeſchen; der konnte ſich gar nicht darüber tröſten, daß die
Entſcheidung nicht mehr in ſeinen Händen lag und fürchtete immer, Ruß-
lands kopfloſe Politik würde ſich in den engliſchen Netzen verfangen.*)
Auch der türkiſche Geſandte Shekib Paſcha vermehrte die Mißklänge dieſes
ſeltſamen Concerts; er gehorchte blindlings den Rathſchlägen des öſterreichi-
ſchen Bevollmächtigten Neumann, der ausdrücklich beauftragt war ſich ſeiner
zu bemächtigen (s’emparer).**) Da Lord Ponſonby die Pforte, trotz ihrer
Niederlage, beſtändig zur Erneuerung des Krieges drängte, ſo zeigte ſich
der Türke ſehr zuverſichtlich und beſchwor die Mächte um baldige Ver-
urtheilung des ägyptiſchen Rebellen.***)
Die Verwicklung ward unerträglich, beinahe lächerlich. Der preußi-
ſche Geſandte Heinrich von Bülow, der zu Anfang März 1840 nach langem
Urlaub wieder in London eingetroffen war, ſchrieb im Juni, nachdem er
ſich viele Wochen hindurch vergeblich um die Ausſöhnung der Streiten-
den bemüht hatte, ganz verzweifelt: „Was iſt unter ſolchen Umſtänden
von dem Fortgang der hieſigen Verhandlungen zu erwarten? Schimpf
und Schande! Man thäte beſſer ſie abzubrechen.“†) Endlich einigten
ſich die Geſandten der drei Oſtmächte zu einem letzten Verſuche; ſie ver-
langten von Palmerſton vertrauliche Berathungen ohne Frankreich, das
man vorläufig doch nicht gewinnen könne. Seit dem 21. Juni ver-
ſammelten ſich nunmehr die Geſandten der vier Mächte, hinter Guizot’s
Rücken, zu regelmäßigen Sonntagsſitzungen bei Palmerſton; die Stille
des engliſchen Sabbaths kam dem Geheimniß zu ſtatten. Der europäiſche
Congreß, zu dem man Frankreich förmlich eingeladen hatte, verwandelte
ſich alſo in eine geheime Conferenz der Vier. Dies hinterrückige, aller-
dings durch Frankreichs Haltung mitverſchuldete Verfahren mußte den
franzöſiſchen Stolz tief verletzten ſobald es ruchbar ward. Die Gefahr
eines europäiſchen Krieges rückte ſo nahe, daß der friedfertige Miniſter Wer-
ther ſchwer erſchrocken dem Geſandten Bülow ſein Befremden ausſprach und
ihm nochmals einſchärfte, auf jeden Fall der Krone Preußen die ſo oft aus-
bedungene Neutralität vorzubehalten.††) Die Vier einigten ſich in ihren
Sonntagsſitzungen über die Grundzüge eines Vertrags zur Rettung des
Sultans, aber zum förmlichen Abſchluß gelangte man noch immer nicht,
weil Palmerſton der Zuſtimmung ſeines Cabinets nicht ſicher war.†††)
Vergeblich mahnte Metternich in mehreren Depeſchen: die Türkei könne
den Zuſtand der Ungewißheit nicht länger mehr ertragen; komme man
[76]V. 2. Die Kriegsgefahr.
zu Fünfen nicht weiter, ſo müſſe man ſelbviert vorſchreiten.*) Die dritte
Sonntagsſitzung mußte verſchoben werden, weil die britiſchen Miniſter
noch keinen Beſchluß gefaßt hatten. „Wir ſtehen auf Flugſand“ — ſagte
Bülow traurig. Guizot, der die Gefahr wohl ahnte, hielt ſie doch nicht
für nahe und verbrachte die koſtbare Zeit in geiſtreicher Unterhaltung
mit ſeiner plötzlich eingetroffenen ruſſiſchen Freundin, der Fürſtin Lieven.
Der unſchuldige Theil der vornehmen Geſellſchaft glaubte, dieſe feine viel-
gewandte Diplomatin, die beredſame Egeria der hohen Politik wollte ins-
geheim für den Franzoſen arbeiten. Wer moskowitiſche Verhältniſſe kannte,
mußte leicht errathen, daß ſie mit Brunnow in Verbindung ſtand und den
Auftrag hatte, jede Annäherung zwiſchen Guizot und Palmerſton zu ver-
hindern.
Da faßte ſich Bülow endlich das Herz zu einem entſcheidenden Rath-
ſchlag. Im Augenblicke beſaß er nicht einmal eine giltige Vollmacht, da
mittlerweile der Thronwechſel in Berlin eingetreten war; indeß wußte er,
daß der neue König noch friedlicher dachte als der alte, und ſagte zu
Neumann im Vertrauen: weil Preußen an Zwangsmaßregeln gegen
Mehemed Ali niemals theilnehmen wird, darum fühle ich mich nicht ver-
pflichtet die Anderen zurückzuhalten. Durch ſeinen langen Londoner Aufent-
halt und die enge Freundſchaft mit Palmerſton hatte er ſich in engliſche
Anſchauungen tiefer eingelebt als einem Preußen geziemte; er betrachtete
den Großtürken, nach der britiſchen Ueberlieferung, als heilig und hielt daher
Frankreichs orientaliſche Politik, die doch ihre guten Gründe hatte, ſchlecht-
hin für revolutionär. Demzufolge arbeitete der geiſtreiche Staatsmann,
der in Petersburg des Liberalismus verdächtigt wurde, arglos der ruſſi-
ſchen Politik in die Hände; er half ihr die Weſtmächte zu entzweien,
das osmaniſche Reich in einem Zuſtande hilfloſer Schwäche vorläufig zu
erhalten. Des ewigen Zauderns müde wollte er endlich Thaten ſehen.
Am 1. Juli, auf einem Lever der Königin zog ihn Lord Melbourne
abſeits und fragte ängſtlich: Was rathen Sie mir in der ägyptiſchen
Sache? Bülow erwiderte: Habt Ihr genügende Streitkräfte im Mit-
telmeer? Auf die bejahende Antwort fuhr er lebhaft fort: Dann ſeid
ſchnell und kühn! Sendet ſofort die Flotte vor Alexandria, werfet die
Truppen von Malta und den ioniſchen Inſeln nach Beirut und an
die ſyriſche Küſte, wo Mehemed Ali keinen Angriff erwartet. Vorher
ſchließen wir hier zu Vieren den Vertrag mit dem türkiſchen Geſandten
ab, ohne die Ratificationen abzuwarten. So wird Frankreich über-
raſcht und doch nicht unmittelbar beleidigt, der Pforte aber bleibt die
gefährliche ruſſiſche Hilfe erſpart. But I say again, be quick and
bold! — Bülow glaubte ganz ſicher, Frankreich würde den erſten Aerger
bald überwinden und ſchließlich doch genehmigen was nicht mehr zu än-
[77]Londoner Vertrag v. 15. Juli 1840.
dern ſei. Das Alles ſagte er, wie er ſelbſt geſtand, unbeauftragt und
unvorbereitet.*)
So geſchah das Seltſame: die friedfertigſte aller Großmächte, die im
Oriente gar kein eigenes Intereſſe zu wahren hatte, gab jetzt durch den
Mund ihres Geſandten ſelber den verhängnißvollen Rath, welcher unfehl-
bar einen Waffengang im Mittelmeer, vielleicht ſogar einen europäiſchen
Krieg heraufbeſchwören mußte. Palmerſton athmete auf. Der Gedanke,
daß man ohne Rußlands Waffenhilfe, ohne offenbare Kränkung Frank-
reichs zum Ziele gelangen könne, leuchtete ſeinen ängſtlichen Amtsgenoſſen
ein. Schon am 8. Juli konnte er den Vertretern der Oſtmächte mit-
theilen, daß er die Mehrheit im Cabinet gewonnen und dem türkiſchen
Geſandten verſprochen habe, England werde den Sultan mit den Waffen
unterſtützen.**) Für die Vorbereitung des Kampfes hatte Englands pu-
niſche Treue bereits geſorgt. Britiſche Agenten bereiſten als Kaufleute
verkleidet mit wohlgefüllten Beuteln die ſyriſchen Gebirge und hetzten das
Volk wider den geſtrengen Paſcha auf — eine offenkundige Thatſache,
welche Palmerſton ſpäterhin mit gewohnter Dreiſtigkeit in Abrede ſtellte.
Schon im Juli ſtand der ganze Libanon in Waffen. Nachher ließ auch
Metternich, wie er dem Grafen Maltzan ſelbſt erzählte, einen Sendboten
zu den Maroniten abgehen, um ihnen Freiheit des chriſtlichen Glaubens,
Sicherheit von Hab und Leben zu verbürgen, falls ſie für den Sultan
gegen den rebelliſchen Paſcha kämpften.***) Wenn Mehemed alſo zugleich
durch die Aufſtändiſchen im Lande, durch die britiſche Flotte an der Küſte
bedrängt wurde, dann mußte ſeine Macht in Syrien raſch zuſammen-
brechen. Frohen Muthes ſchritten die vier Mächte zum Abſchluß. Die
Conferenzen drängten ſich in raſcher Folge, jetzt auch an den Wochentagen.
Bülow empfing von allen Seiten Glückwünſche wegen ſeines klugen Rathes
und wiederholte mit Selbſtgefühl die Worte: Be quick and bold! Man
dachte, ſobald man fertig ſei den Pariſer Hof um nachträgliche Zuſtimmung
oder doch um mittelbaren Beiſtand zu bitten.†) Der Oeſterreicher Neu-
mann verſprach ſofort, öſterreichiſche Kriegsſchiffe ſollten mit den britiſchen
zuſammenwirken. Brunnow war die Liebenswürdigkeit ſelbſt; denn der
Petersburger Hof hatte begreiflicherweiſe nichts dawider, wenn die befreun-
deten Mächte auf ihre Koſten ſeine Geſchäfte führen wollten.
Am 15. Juli unterzeichneten die Geſandten der vier Mächte mit
Shekib Paſcha einen Vertrag, der nachher in der Preſſe den etwas über-
[78]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſchwänglichen Beinamen des Londoner Quadrupel-Allianz-Vertrags erhielt.
Der Sultan verſprach, dem Paſcha die erbliche Verwaltung Aegyptens
und für Lebenszeit das Paſchalik Akkon zu überlaſſen; die vier Mächte
verpflichteten ſich Mehemed Ali gemeinſam zur Annahme zu bewegen und
„behielten ſich vor, zu dieſem Zwecke zuſammenzuwirken nach dem Maße der
Machtmittel (moyens d’action), worüber jede von ihnen verfügen kann.“
Dieſe letzte Clauſel hatte Bülow durchgeſetzt um nöthigenfalls erklären zu
können, daß Preußen gegen den Aegypter überhaupt keine moyens d’action,
außer der moraliſchen Unterſtützung, beſitze. Zunächſt dachten England und
Oeſterreich mit ihren Flotten einzuſchreiten; rückten die Aegypter durch
Kleinaſien vor, dann wollten die vier Mächte ſich noch verabreden wegen
gemeinſamer Sicherung Konſtantinopels zu Lande und zur See. In Zu-
kunft aber ſollten beide Meerengen, Bosporus und Dardanellen, zu
Friedenszeiten allen Nationen verſchloſſen bleiben. Damit gab der Czar
den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi auf. Dieſer großmüthige Verzicht be-
deutete freilich wenig; denn der Vertrag ging ohnehin zu Ende, Rußland
aber blieb auch jetzt noch der Beherrſcher des Pontus und, nach ſeiner
geographiſchen Stellung, der nächſtberufene Beſchützer Stambuls. Da
Gefahr im Verzuge war, ſo nahmen die Geſandten, wie Bülow gerathen
hatte, Alles auf ihren Kopf und verabredeten, ohne die Ratificationen ab-
zuwarten, die ſofortige Abſendung der engliſch-öſterreichiſchen Flotte.
In Berlin erregten dieſe Nachrichten zugleich Freude und Beſorgniß.
Unzweifelhaft hatte Bülow ſeine Inſtruktionen eigenmächtig übertreten, ob-
gleich er allerdings im Augenblicke des Abſchluſſes die beiden neueſten Wei-
ſungen noch nicht beſaß, welche ihm ausdrücklich anbefahlen, einen Vierer-
Vertrag nicht eher zu unterzeichnen, als bis die drei anderen Mächte die
Neutralität Preußens für den Kriegsfall förmlich anerkannt hätten.*)
Dem preußiſchen Hofe ſtanden jetzt zwei Wege offen. Er mußte entweder
den ungehorſamen Geſandten abrufen und die Ratification verweigern,
oder wenn er das Geſchehene billigte den Vertrag kurzweg genehmigen
und deſſen gefährliche Folgen muthig auf ſich nehmen. Einem ſtolzen
Staate ſtand es wahrlich übel an, zuerſt die anderen Mächte zu kühnen
Thaten zu ermuntern und dann ſich ſelber für neutral zu erklären. Gleich-
wohl glaubte der neue König dieſen dritten Weg gehen zu können. Schon
bei dieſer erſten an ihn herantretenden großen Aufgabe europäiſcher Politik
zeigte ſich ſeine verhängnißvolle Vorliebe für unhaltbare diplomatiſche Stel-
lungen, für Alles was vom ſchlichten Menſchenverſtande abwich. Er wollte
Bülow’s eigenmächtige Schritte billigen; denn er hielt es für ſeine könig-
liche Pflicht, den legitimen Sultan im Kampfe gegen den revolutionären
Aegypter zu unterſtützen, und mit Freuden begrüßte er die Verſöhnung
ſeines geliebten Englands mit den Oſtmächten. Bei dieſer diplomatiſchen
[79]Preußens Vorbehalt.
Wendung wurden ihm alle die theuren Erinnerungen des Befreiungs-
krieges wieder lebendig. „Wir dürfen“, ſo ließ er nach Wien ſchreiben,
„den erſten Vertrag nicht abſchwächen, durch welchen das britiſche Cabinet
ſich offen von Frankreich getrennt und ſeinen Platz unter den conſervativen
Mächten wieder eingenommen hat.“*) Andererſeits ſah er wohl ein, daß
Preußen die ſchwerſte Laſt würde tragen müſſen falls ein allgemeiner Krieg
ausbräche. Um dies Unheil von ſeinem Lande abzuwenden, ließ er allen
Mächten beſtimmt erklären, er halte feſt an der friedlichen Politik ſeines
Vaters. Die Clauſel, welche Bülow dem Vertrage eingefügt, genügte ihm
nicht; er verlangte vielmehr, daß ſeinem Staate die Neutralität feierlich
verbürgt werden müſſe.**)
Mit erklärlicher Verwunderung nahmen die drei befreundeten Mächte
dieſe Mittheilungen entgegen. Palmerſton meinte kurzweg, alle vier Mächte
ſeien vertragsmäßig verpflichtet, nach dem Maße ihrer Machtmittel zu-
ſammenzuwirken, und ließ in Berlin anfragen, was demnach Preußen für
die gemeinſame Sache zu thun gedenke.***) Neſſelrode ſagte dem preußi-
ſchen Geſandten Liebermann, der ihm im Stillen nicht Unrecht geben
konnte, hoch entrüſtet: das ſei doch unerhört, daß Frankreichs zunächſt
bedrohter Nachbarſtaat, nachdem er ſich dem Vierbunde angeſchloſſen, noch
neutral bleiben wolle; und der Czar warnte freundſchaftlich, ſolche Vor-
behalte erregten in England Geringſchätzung.†) Selbſt Metternich konnte
nicht umhin, im Auguſt bei der Pillnitzer Zuſammenkunft dem Könige
vorzuſtellen: eine förmliche Erklärung der Neutralität erwecke das Miß-
trauen Englands, „das wir ſoeben zu unſerem Banner bekehrt haben“;
Thiers aber würde darin ein Zeichen der Schwäche des Vierbundes
ſehen.††) So geſchah es auch; denn kaum hatte der franzöſiſche Mi-
niſter etwas erfahren, ſo ſagte er erleichtert: alſo nicht ein Vierbund,
nur ein Dreibund ſteht uns gegenüber!†††) Mehrere Wochen hindurch
währten dieſe geheimen Verhandlungen; ſie erweckten bei allen Höfen den
Eindruck, daß Preußens Diplomatie unter dem beſcheidenen alten Regi-
ment doch weit verſtändiger und feſter geleitet worden war als unter dem
prunkhaften neuen. Endlich ward ein Vermittlungsantrag Metternich’s
angenommen und am 14. Auguſt von den vier Mächten ein geheimes
Protokoll unterzeichnet, kraft deſſen Preußen ſich für den Fall eines Krieges
„vollkommene Freiheit des Handelns und namentlich das Recht der ſtreng-
ſten Neutralität“ vorbehielt.*†) Nun erſt ratificirte Preußen den Vertrag.
[80]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Das Protokoll ſagte in ſeiner dehnbaren Faſſung ſehr wenig; denn führte
der Londoner Vertrag zu einem europäiſchen Kriege, ſo konnte Preußen ſich
dem Streite unmöglich entziehen. Unvergeßlich aber blieb die traurige Er-
fahrung, daß der Staat, der die verwegenſten Rathſchläge gab, ſich im
Handeln unter allen am kleinmüthigſten zeigte. —
Durch den Julivertrag wurde der ägyptiſche Streit zu einer euro-
päiſchen Frage, und mit einem male ſah ſich Preußen, dem dieſe orien-
taliſchen Händel ſo fern lagen, in die vorderſte Reihe der Streitenden
geſchoben. Mit der einzigen Ausnahme Rußlands beabſichtigte keine der
vier Mächte den franzöſiſchen Stolz irgend zu kränken. Sie alle meinten,
ihr eigenmächtiges Verfahren ſei durch die beſtändig ausweichende, zuwar-
tende Haltung der franzöſiſchen Diplomatie vollauf gerechtfertigt; hatte
doch Guizot in den letzten Tagen, als Palmerſton ihn fragte, ob Frank-
reich nicht mindeſtens die gänzliche Losreißung Aegyptens verhindern wolle,
nur achſelzuckend geantwortet: alors comme alors!*) Sie alle glaubten,
wie Bülow ſagte, Thiers würde gute Miene zum böſen Spiele machen mit An-
ſtand zurückweichen und ſich wohl hüten, im Bunde mit dem ägyptiſchen
Rebellen der offenbaren Uebermacht zu trotzen.**) An dem nämlichen Tage,
da der Vertrag unterzeichnet wurde, ſchrieb Palmerſton mit ungewohnter
Höflichkeit an Guizot: die vier Mächte hätten ſich nur mit tiefem Bedauern,
nur um doch etwas zu Stande zu bringen, von Frankreich getrennt; ſie hoff-
ten, dieſe Trennung würde nur von kurzer Dauer ſein und den Gefühlen
aufrichtiger Freundſchaft keinen Eintrag thun; ſie hofften ſogar, Frank-
reich würde ſeinen großen Einfluß in Alexandria benutzen um ihnen ſeinen
moraliſchen Beiſtand zu leihen und Mehemed Ali zur Nachgiebigkeit zu
bewegen.***) Noch friedfertiger redete Preußen. Bülow ſchrieb nach Paris:
„wir mußten uns der Form nach von Frankreich trennen, hoffen aber
in der Sache ſelbſt auf deſſen hilfreiche Mitwirkung;“ und Miniſter Werther
ſchlug vor, man möge den Tuilerienhof noch vor der Ratification des
Vertrags zum Beitritt einladen, damit jeder Schein eines Zerwürfniſſes
vermieden würde.†) Der öſterreichiſche Staatskanzler hegte allerdings
einen tiefen Haß gegen Thiers, „die wahre Verkörperung der Revolution
von 1830.“ In ſeinen vertrauten Briefen ſchalt er maßlos auf „dieſe
in jeder Hinſicht elende Perſönlichkeit“, die alle ſchlechten Leidenſchaften
der Franzoſen wachrufe und wie ein Trinker ſich nur durch Branntwein
ſtärken könne. Er ſagte mit boshaftem Wortſpiele: dieſer Nichtswürdige
wolle der Napoleon der Julirevolution werden und ſie wie ein Tertian-
[81]Kriegsrufe der Franzoſen.
fieber wiederkehren laſſen (il veut la faire tourner en Thiers).*) Aber
den Krieg gegen Frankreich wünſchte auch er keineswegs.
Wie wenig ahnte die Diplomatie in ihren feinen Berechnungen von
der elementariſchen Macht des franzöſiſchen Nationalſtolzes. Schon längſt
empfanden die Franzoſen mit gerechtem Unmuth, daß ihr Land ſeit der
Julirevolution in Europa weniger galt als unter den Bourbonen, ihr
Bürgerkönig ſich würdelos um die Gunſt der Oſtmächte bewarb. Die
Nation begann der Herrſchaft des Großcapitals müde zu werden; Lamar-
tine ſprach nur das Herzensgeheimniß der großen Mehrzahl ſeiner Lands-
leute aus, als er ſagte: la France s’ennuie. Und nun ward der Liebling
der Franzoſen, der aufgeklärte, von der Pariſer Preſſe vergötterte Refor-
mator des Orients durch einen offenbar ungerechten Schiedsſpruch Eu-
ropas, ohne Frankreichs Vorwiſſen, verurtheilt, durch ein hinterhaltiges
Verfahren, das noch tiefer verletzen mußte als ein offener Bruch. Als
die Nachrichten aus London allmählich bekannt wurden, bemächtigte ſich
der Nation eine furchtbare Aufregung, die allen Höfen ganz uner-
wartet kam; nur das Petersburger Cabinet hatte mit dem Scharfblicke
des Haſſes Alles vorausgeſehen. Die Franzoſen wähnten wieder von
einer Coalition bedroht zu ſein; nach ihrer nationalen Ueberlieferung,
die in Thiers’ Geſchichtswerken einen ſo beredten Ausdruck fand, waren ja
die Kriege des napoleoniſchen Zeitalters alleſammt nicht durch Frankreich
verſchuldet worden, ſondern durch die Herrſchſucht der europäiſchen Coali-
tionen. Da ſie ſich zur See den Briten nicht gewachſen fühlten, zu
Lande aber den Sieg erhofften, ſo erklang durch das Land lauter und
lauter der Ruf: An den Rhein, an den Rhein! Mit einem male erfuhr
Europa, daß Frankreich in einem Vierteljahrhundert noch immer nicht ge-
lernt hatte, den Eintagsbau des napoleoniſchen Weltreichs als unwieder-
bringlich verloren anzuerkennen.
Thiers ſelbſt ſprach anfangs noch mit Mäßigung, da er weder an die
Ausführung der geplanten Zwangsmaßregeln des Vierbundes noch an eine
mögliche Niederlage Mehemed Ali’s glaubte. Er verhehlte den Mächten
nicht, daß er den Frieden für gefährdet halte, mißbilligte offen die Feind-
ſeligkeit wider den Aegypter und behielt ſich Weiteres vor.**) Doch war
er zu ſehr Franzoſe um der nationalen Stimmung auf die Dauer zu wider-
ſtehen. Die öffentliche Meinung erhitzte ſich von Tag zu Tage. Da die
engliſche Preſſe einen unleidlich anmaßenden Ton anſchlug und kurzweg die
Unterwerfung Frankreichs unter die Befehle des Vierbundes forderte, ſo
antworteten die Pariſer Zeitungen mit revolutionären Drohungen, und ſelbſt
der Herzog von Broglie, der friedfertige Doktrinär meinte, jetzt müſſe
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 6
[82]V. 2. Die Kriegsgefahr.
der Krieg der Propaganda von Neuem beginnen. Schon am 5. Auguſt
ſah ſich Thiers genöthigt, durch königliche Ordonnanz einen außerordent-
lichen Credit von 56 Mill. fr. zu verlangen; bald darauf folgten neue
Anleihen und Truppenaushebungen, Alles trieb dem Kampfe zu.
Mit ſteigender Angſt betrachtete Ludwig Philipp dies kriegeriſche
Treiben ſeines verhaßten Miniſters. Auch er hatte Augenblicke, da er
die beſchämende Stellung ſeines Landes bitter empfand und zornig ſagte,
er würde wohl die rothe Mütze aufſetzen müſſen. Indeß ſolche Wallungen
gingen raſch vorrüber. Der kluge Kaufmann wußte wohl, daß ſeine ille-
gitime Dynaſtie einen ſiegreichen Feldherrn ebenſo wenig ertragen konnte wie
eine Niederlage. Der Ruf nach der Rheingrenze ließ ihn kalt, und wie ein
Axiom wiederholte er den Satz: wer den allgemeinen Krieg anfängt, unter-
liegt unfehlbar. Er wünſchte den Frieden um jeden Preis und ſagte ſchon
in den erſten Tagen zu dem öſterreichiſchen Botſchafter: lieber wolle er
ſein Miniſterium zerſchmettern als ſeine friedlichen Bahnen verlaſſen.
Ihm graute vor dem Radikalismus, der unausbleiblich durch den Krieg em-
porkommen müſſe; er wollte gar nicht begreifen, wie man ſeine harmloſen
Abſichten ſo ſehr verkennen, wie man ihn der Gefahr ausſetzen könne von
der Revolution überfluthet zu werden, und beſchwor den jüngeren Werther,
als den Vertreter der friedfertigſten Großmacht, für eine Verſtändigung
zu wirken: Europa ſitzt auf einem Pulverfaſſe ſo lange Frankreich ver-
einſamt daſteht!*) Eben in dieſen ſchwülen Wochen landete Prinz Ludwig
Napoleon mit einer Handvoll Getreuer bei Boulogne und wagte einen
zweiten Aufſtandsverſuch. Das Unternehmen ſcheiterte ſofort, der kühne
Abenteurer ſchien dem Fluche der Lächerlichkeit zu verfallen. Dem Könige
aber war übel zu Muthe; er ahnte, wie leicht ſein geraubter Thron einem
andern Räuber anheimfallen konnte.
Die beiden deutſchen Großmächte verſäumten nicht, den Bürgerkönig
in ſeinen löblichen Anſichten zu beſtärken. Friedrich Wilhelm ließ —
nicht ohne die halb unbewußte Selbſttäuſchung rhetoriſcher Ueberſchwäng-
lichkeit — inbrünſtig verſichern, ſeine perſönlichen Gefühle für Ludwig
Philipp ſeien ebenſo unwandelbar wie ſeine Freundſchaft für Frankreich.
Metternich aber hielt für gerathen, dem ängſtlichen Orleans das Schreckge-
ſpenſt der Revolution vorzuhalten: wolle Thiers den Krieg, ſo müſſe er die
Politik des Convents treiben, ſeinen eigenen König entthronen und Mehemed
Ali auf den Herrſcherſitz der Sultane erheben.**)
Mit dieſen Friedensmahnungen der deutſchen Mächte ſtimmte die
Haltung Rußlands und Englands wenig überein. Czar Nikolaus be-
hauptete in Stambul, wie einſt ſeine Großmutter in Warſchau, eine
[83]Rußland und England gegen Frankreich.
wohlwollende Schutzherrſchaft. Er traute ſich’s zu, dieſe Stellung, trotz
einiger kleinen Zugeſtändniſſe an die anderen Mächte, auch fernerhin auf-
rechtzuhalten und alſo den türkiſchen, wie vormals den polniſchen Schütz-
ling langſam für die Vernichtung vorzubereiten. Das Schickſal Syriens
kümmerte ihn wenig; für jetzt verfolgte er nur den einen Zweck, die beiden
Weſtmächte gründlich und für immer zu entzweien. Darum hatte ſich
Brunnow, wie man in Berlin wohl bemerkte, während der letzten Wochen
beſcheiden zurückgehalten; er ſah voraus, daß England und Frankreich
ſich doch nicht einigen würden. Jetzt aber, nachdem der Vierbund ge-
ſchloſſen war, trat der ſanfte Mann wieder hervor und führte plötzlich
eine ſehr herausfordernde Sprache gegen den Tuilerienhof. Der Czar
ſprach nunmehr offen aus, die Vereinſamung und Demüthigung des re-
volutionären Frankreichs ſei ſein Ziel. Neſſelrode erklärte hochmüthig:
wenn Frankreich ſich jetzt noch erbieten ſollte, mit den vier Mächten ge-
meinſam zur Vertheidigung Konſtantinopels mitzuwirken, ſo müſſe man
dies Unterfangen als ein feindliches Unternehmen abweiſen; ja er forderte
den Sultan im Voraus auf, jeden ſolchen Verſuch der franzöſiſchen Flotte
mit den Waffen zurückzuweiſen.*) Einige Wochen darauf enthüllte er
der Wiener Hofburg ganz unzweideutig den leitenden Gedanken der ruſ-
ſiſchen Politik; er ſchrieb: „die gegenwärtigen Meinungsverſchiedenheiten
der beiden conſtitutionellen Mächte dürfen nicht ſo vollſtändig ausgeglichen
werden, daß wir Gefahr liefen, ſie von Neuem gegen die monarchiſchen
Intereſſen verbündet zu ſehen.“**)
Während Rußland alſo an der Zerſtörung der entente cordiale
arbeitete, dachte Palmerſton nur an Englands mediterraniſche Herrſchaft.
Ungeſtüm wie er war fühlte er ſich durch Frankreichs Widerſpruch, den
er ſchon in den ſpaniſchen Händeln ſo unliebſam empfunden hatte, tief
verſtimmt. Seine Sprache ward immer heftiger; er wollte Frankreich
einſchüchtern, der Zorn erweckte ihm eine blinde Hartnäckigkeit. „Die
Abſichten der vier Mächte“, ſchrieb er kurzweg nach Paris, „ſind uneigen-
nützig und gerecht“ — eine Behauptung, die den Franzoſen wie Hohn
klingen mußte, da ſo große engliſche Handelsintereſſen auf dem Spiele
ſtanden.***) In ſolcher Stimmung hörte Palmerſton williger als ſonſt auf
die Rathſchläge Lord Ponſonby’s, der ſtürmiſch die Vernichtung des Aegyp-
ters forderte.
Mehemed Ali verhandelte mittlerweile mit zwei Abgeſandten von Thiers,
erſt mit einem Sohne Caſimir Perier’s, dann mit einem Sohne Napoleon’s
dem Grafen Walewski, der damals dem Geſchichtſchreiber des Kaiſerreichs
ſehr nahe ſtand, und erbot ſich ſchließlich, einen guten Theil ſeines Be-
6*
[84]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſitzes, Kreta, das wichtige Grenzland Adana ſowie die heiligen Stätten
Mekka und Medina dem Sultan auszuliefern, wenn ihm dafür Aegypten
erblich, Syrien auf Lebenszeit zur Verwaltung überlaſſen würde. Dieſe
Anerbietungen klangen aus dem Munde des Siegers von Niſib nicht
unbillig; der preußiſche Hof ſelbſt fand ſie befriedigend, doch den anderen
Mächten genügten ſie nicht, am wenigſten der Pforte.*) Seit der Sultan
an dem Vierbunde wieder einen Rückhalt beſaß, flammte der alte Haß
der Osmanen wider den Aegypter mächtig auf, und im September
wurde Mehemed Ali, auf Lord Ponſonby’s Andrängen, durch einen Fer-
man des Großherrn abgeſetzt, obgleich der Divan verſprochen hatte, nicht
einſeitig ohne den Beirath Europas vorzugehen. Eine ſolche Gewaltthat
konnten die vier Mächte unmöglich billigen; ſie mußte ebenſo erfolglos
bleiben, wie die Acht welche Sultan Machmud vor acht Jahren über den
ägyptiſchen Vaſallen verhängt hatte. Immerhin bewies ſie, daß der Streit
der beiden orientaliſchen Herrſcher nicht ohne Waffengewalt zu ſchlichten
war. Die Gefahr des allgemeinen Krieges rückte näher.
Wunderbar ſtark und von nachhaltigem Segen war die Rückwirkung
dieſer Ereigniſſe auf das deutſche Volksleben. Die Deutſchen hatten von
den verwickelten Londoner Unterhandlungen nur wenig erfahren und an
die Möglichkeit eines europäiſchen Krieges kaum gedacht. Es traf ſie wie
ein Blitz vom hellen Himmel, als plötzlich bei der Einweihung der Juli-
ſäule auf dem Baſtilleplatze die Marſeillaiſe, diesmal in drohendem Ernſt,
erklang und alle franzöſiſchen Blätter den Feldzug an den Rhein forderten.
Daß Frankreich wegen einiger ſyriſchen Paſchaliks die deutſche Weſtmark
bedrohen wollte, erſchien Allen als ein Beweis raſenden Uebermuths, und
ſofort antwortete dem galliſchen Kriegsgeſchrei aus allen Gauen Deutſch-
lands der alte Schlachtruf der Germanen: her, her! Deutſchland war
einig in dem Entſchluſſe, ſein altes ſo glorreich wiedergewonnenes Erb-
theil ritterlich zu behaupten. Die wälſchen Ideale des vergangenen Jahr-
zehnts ſchienen wie weggeblaſen, die Heldengeſtalten von Dennewitz und
Leipzig traten den Deutſchen wieder leuchtend vor die Augen; auch die
äſthetiſche Begeiſterung für das ſchöne Rheinland wirkte mit, die ſich wäh-
rend der jüngſten Jahre durch die Bilder der Düſſeldorfer und die Lieder
der letzten Romantiker in weiten Kreiſen verbre’tet hatte. In jedem an-
deren Volke hätte ſich ein ſolcher Entſchluß von ſelbſt verſtanden; den
Deutſchen aber traute das Ausland nationalen Stolz nicht zu, und un-
geheuer war der Eindruck, als hier plötzlich, ganz frei und naturwüchſig,
an hundert Stellen zugleich der Volkszorn ſeine mächtige Stimme erhob.
Man fühlte überall: dieſe Empfindung war tiefer, mächtiger als die
Kriegsbegeiſterung der Franzoſen, die freilich auch aus dem Herzen kam,
[85]Deutſche Kriegsbegeiſterung.
aber von der Pariſer Preſſe künſtlich gefördert und geleitet wurde. Sogar
die allezeit ſtreitluſtigen Elſaſſer erſchraken; die Straßburger Zeitungen
ſagten kleinmüthig, auf das preußiſche Rheinland müſſe Frankreich wohl
für immer verzichten, nur die Pfalz ſei noch zu gewinnen.
Sofort ſtand außer Zweifel, daß die Deutſchen dieſen Krieg, wenn
er kam, ſogar noch einträchtiger führen würden als den Feldzug von
Belle Alliance; denn gerade in den Landſchaften, welche bisher für fran-
zöſiſche Ideen eine beſondere Vorliebe gezeigt hatten, flammte das kriege-
riſche Feuer am hellſten. Wie oft hatten die preußiſchen Rheinländer
beim Schoppen über den Ehrenbreitſtein und die anderen „Zwing-Uris“
ihres Königs geſpottet; jetzt fühlten ſie alle dankbar, daß ſie hinter dieſen
Bollwerken deutſcher Freiheit ſo wohlgeborgen ſaßen. Den Süddeutſchen
aber fiel es ſchwer auf’s Herz, wie gröblich ihre Regierungen und Land-
tage ſich durch falſche Sparſamkeit an dem großen Vaterlande verſündigt
hatten; ſie ſahen ſich wehrlos und alle wendeten ihre Blicke hilfeſuchend
auf den neuen König von Preußen. Recht aus dem Herzen der verſtän-
digen Süddeutſchen heraus ſagte Nebenius in einer anonymen Flugſchrift
über „das ſüdweſtliche Deutſchland und ſeine Stimmungen“: unſer Süden
bedürfe vor Allem einer Landwehr nach preußiſchem Muſter, damit er
ſich endlich aus eigener Kraft zu vertheidigen lerne. Auch die bairiſche
Pfalz, vor acht Jahren noch die Heimſtätte des wüſten Radicalismus,
hielt ſich ſo muſterhaft, daß der Regierungspräſident Fürſt Wrede den
Pfälzern mit vollem Rechte ſagen konnte, ihr Nationalſinn hätte ihn „mit
wahrer Bewunderung erfüllt“.*) Die tollen Reden des Hambacher Feſtes
waren ja doch nur der unbeſtimmten Sehnſucht nach einem großen Vater-
lande entſprungen; ſeitdem hatte die Langeweile des Bourgeois-Regiments
die franzöſiſchen Sympathien ſehr abgekühlt, die unwiderſtehliche Intereſſen-
gemeinſchaft des Zollvereins das deutſche Nationalgefühl mächtig gefördert;
und ſobald Noth an Mann kam zeigte ſich ſogleich, daß der Pfälzer ebenſo
gut ein Deutſcher war wie der Märker oder der Pommer. In ſchönem
Einmuth hielten alle Stämme zuſammen; höchſtens im Königreich Sachſen
und den anderen Kleinſtaaten des Oſtens, die ſich nicht unmittelbar bedroht
fühlten, erklang noch zuweilen ſchüchtern eine Stimme philiſterhafter Frie-
densſeligkeit.**)
Und wie das Volk ſo ſeine Fürſten. Von jener rheinbündiſchen
Geſinnung, die noch im Jahre 1815 zu Stuttgart und Karlsruhe ſo dreiſt
herausgetreten war, fand ſich nirgends mehr eine Spur. Der geſammte
hohe Adel der Nation ſchaarte ſich ehrenhaft um das Banner des Vaterlandes:
von dem alten Welfen an, der als grimmiger Reaktionär den Vernichtungs-
kampf wider die Revolution erſehnte, bis hinüber zu dem Teutſcheſten der
[86]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Teutſchen, König Ludwig von Baiern, der ſeine Vaterſtadt Straßburg noch
als die ſtarke Bundesfeſtung unſeres Südens zu begrüßen hoffte.*) Die
franzöſiſchen Geſandten in Deutſchland fühlten ſich wie verrathen und ver-
kauft als ſie in dieſem gutherzigen, gaſtfreundlichen Volke auf einmal den
Haß auflodern ſahen. Graf Breſſon in Berlin, ein bekannter Heißſporn,
gebärdete ſich wie ein Unſinniger; er klagte, Frankreich ſei erniedrigt,
entehrt, von Europa geächtet,**) und verkroch ſich bei dem nächſten Hoffeſte,
um nur den König nicht ſprechen zu müſſen, hinter einem Fenſtervorhang,
wo man ihn ruhig ſtecken ließ. Der Geſandte in München wollte gar
nicht verſtehen, was man gegen ihn habe, da doch Frankreich immer
das deutſche Gleichgewicht vertheidigte;***) der in Darmſtadt bat um Schutz
für ſein Haus, weil er ſich durch den Lärm der Preſſe perſönlich bedroht
glaubte.†) Offenbar kam es den Franzoſen ganz unerwartet, daß die
Deutſchen ſich als eine Nation fühlten.
Die öffentliche Meinung hielt ſich ganz frei von dem fratzenhaften
Franzoſenhaſſe der Zeiten der alten Burſchenſchaft. Man wagte nicht
einmal die Wiedereroberung des Elſaſſes zu fordern, ſondern wollte nur
tapfer das deutſche Hausrecht wahren. Major Moltke erwies freilich in
einem beredten Aufſatze über die weſtliche Grenzfrage, „daß wenn Frank-
reich und Deutſchland je mit einander abrechnen, alles Soll auf ſeiner,
alles Haben auf unſerer Seite ſteht“, und ſprach die Erwartung aus,
in dieſem Falle würde Deutſchland „das Schwert nicht eher in die Scheide
ſtecken bis Frankreich ſeine ganze Schuld an uns bezahlt“ hätte. Solche
Hoffnungen mochten in der Stille von Vielen, zumal von preußiſchen
Offizieren gehegt werden; in der Preſſe fanden ſie nur ſehr ſelten einen
Widerhall. Mitten während des Krieglärms wurden in Deutſchland Samm-
lungen für die Ueberſchwemmten zu Lyon veranſtaltet, und weil die Em-
pfindung der Nation ſo einfach war, darum fand ſie auch ihren natürlichen
Ausdruck in den ſchlichten Worten eines Mannes aus dem Volke. Niklas
Becker, ein junger Gerichtsſchreiber im preußiſchen Rheinlande, dichtete in
guter Stunde das Lied:
Als die Kölner im October ihrem neuen Könige huldigten, wurde dies
Lied zum erſten male geſungen, und feurige rheiniſche Patrioten, die noch
halb unbewußt unter dem Einfluſſe der franzöſiſchen Verbildung des letzten
Jahrzehntes ſtanden, ſchlugen vor, das Gedicht, als ein Gegenſtück der
[87]Becker’s Rheinlied.
Marſeillaiſe, die Colognaiſe zu nennen. Gewaltig war die Wirkung.
Mehr als zweihundertmal wurde das Rheinlied in Muſik geſetzt; und
eben wegen dieſer überſchwänglichen Begeiſterung konnte es nicht im Ge-
dächtniß des Volkes dauern, da keine der unzähligen Melodien die anderen
aus dem Felde zu ſchlagen vermochte. Ein Heer von Nachahmern ſtimmte
in Becker’s Weiſen ein, unter ihnen auch ein unbekannter junger Schwabe
Schneckenburger. Der dichtete in der Schweiz ein Lied „die Wacht am
Rhein“, das als Dichtung dem Vorbilde weit nachſtand. Doch bei einem
Volksliede bedeutet die Melodie faſt Alles, der Text wenig; Dank der
kräftigen, volksthümlichen Compoſition Wilhelm’s ſollte Schneckenburger’s
Lied nach einem Menſchenalter der rauſchende Kriegsgeſang der deutſchen
Sieger werden. Damals ſprach Niemand davon; Alles ſchwärmte für
Niklas Becker, deſſen poetiſche Kraft freilich mit dieſem einen glücklichen
Wurfe erſchöpft war. König Friedrich Wilhelm bewies ihm in Wort und
That ſeine Anerkennung; Ludwig von Baiern ſendete ihm als Pfalzgraf
bei Rhein einen Ehrenbecher und ſchrieb: „Aus dieſem vergoldeten, ſil-
bernen, von mir angegeben wordenen Pokal trinken Sie oft, das ſingend:
Sie ſollen ihn nicht haben!“
Von franzöſiſcher Seite antwortete zuerſt Lamartine mit einer „Mar-
ſeillaiſe des Friedens“, die in den Träumen allgemeiner Menſchenliebe
ſchwelgte:
Mit ſolcher Gefühlsſeligkeit konnte der franzöſiſche Uebermuth ſich un-
möglich zufrieden geben. Erſt Alfred de Muſſet fand das rechte Wort
für die nationale Empfindung, als er den Deutſchen zurief:
und ſie höhnend aufforderte, im freien Rheine ihre Bedientenjacke zu
waſchen. In ähnlichem Tone pries Victor Hugo den Kyklopen Frank-
reich und ſein eines Auge, Paris; ein anderer Poet ſang gar: nous
l’aurons quand nous le voudrons — und mußte ſich von den Deutſchen
an den Fuchs, dem die Trauben zu ſauer ſchienen, erinnern laſſen.
Mehrere Monate hindurch währte dieſer poetiſche Wettſtreit, in dem die
Deutſchen entſchieden die Oberhand behielten; von allen den drohenden
und prahlenden Geſängen der Franzoſen hielt keiner den Vergleich aus
mit dem friſchen Rheinweinliede Georg Herwegh’s:
[88]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Die Geſinnung der Nation ſprach ſich ſo unwiderſtehlich aus, daß ſelbſt
Jakob Venedey, der Häuptling der Pariſer „Geächteten“, der abgeſagte
Feind Preußens nicht umhin konnte in ſeinem phraſenreichen Buche „der
Rhein“ ehrlich einzugeſtehen, die Rheinfrage dürfe für deutſche Männer
keine Frage ſein. Sogar in Oeſterreich regte ſich zuweilen das deutſche
Blut. Auf den Straßen Wiens wurde das Rheinlied geſungen, und
für den Oeſterreichiſchen Beobachter, der vor Kurzem noch die höchſt-
gefährliche Idee der deutſchen Einheit ſo ingrimmig verfolgt hatte, ſchrieb
jetzt der junge Liberale Franz Schuſelka die „deutſchen Worte eines Oeſter-
reichers“. Von den Gegnern wagten ſich nur einzelne mit der Sprache
heraus; ſo W. Cornelius, der Demagog aus den Hambacher Zeiten, der
ließ in einem biſſigen Gedichte den Vater Rhein ſeinen Sängern antworten:
„nennt mich weder deutſch noch frei.“ Heinrich Heine fühlte ſich wie be-
täubt, als der kunſtvolle Prachtbau der wälſchen Phraſen des letzten Jahr-
zehntes ſo jählings zuſammenbrach und die verhaßten Teutonen ſich ſo
ungebärdig wider ſein geliebtes Frankreich erhoben; indeſſen zog er vor,
für jetzt noch klüglich zu ſchweigen.
Der fremdbrüderliche Liberalismus der dreißiger Jahre war mit
einem Schlage vernichtet. Niemand empfand dies ſchwerer als Rotteck,
den die tragiſche Gerechtigkeit des Schickſals eben jetzt, im November 1840,
inmitten der Lärmrufe der teutoniſchen Kriegsbegeiſterung aus dem
Leben abberief. Auf ſeine Weiſe hatte der ehrliche Doktrinär ſein Vater-
land immer geliebt; aber die Möglichkeit eines Krieges gegen das liberale
Frankreich war ihm während der letzten Jahre ganz unfaßbar geworden.
In der verwandelten Zeit fand er ſich nicht mehr zurecht, und noch auf
ſeinem Sterbebette fragte er traurig: in welche Hände wird nun das Ver-
nunftrecht kommen? Er ahnte nicht, daß dieſe Hände ſich niemals finden
ſollten. Die ſchöpferiſche Wiſſenſchaft war über die Träume des Ver-
nunftrechts längſt hinweggeſchritten, die verſtändigen Liberalen begannen
ſchon, nach Dahlmann’s Vorgang, ihre Ideale den gegebenen Zuſtänden
anzupaſſen; die jungen Schwarmgeiſter aber, die noch an das Wahnbild
eines unwandelbaren, in den Sternen geſchriebenen Rechtes glaubten,
gingen weit über Rotteck hinaus, ſie hofften auf ein Reich der unbedingten
Freiheit und Gleichheit. So ſtarb der Führer des badiſchen Liberalismus
zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm, in einem Augenblicke, da er den Deut-
ſchen nichts mehr ſein konnte.
Zum erſten male ſeit unvordenklichen Zeiten war die deutſche Nation
mit ihren Fürſten ganz einig, und Metternich, der jetzt im Alter die
Dinge bequem zu nehmen liebte, meinte zufrieden, dieſe nationale Be-
wegung ſei ganz unberührt von den revolutionären Gedanken der Be-
freiungskriege. Czar Nikolaus dagegen ſagte beſorgt zu dem preußiſchen
Geſandten, es ſcheine rathſam die ſtürmiſche nationale Geſinnung der
Deutſchen zu überwachen, denn ſie äußere ſich am lauteſten in den Kreiſen
[89]Niedergang des fremdbrüderlichen Liberalismus.
der Männer, welche bisher die Regierungen bekämpft hätten.*) Der
Ruſſe ſah ſchärfer als der Oeſterreicher. Es war in der That der Geiſt
von 1813, der aus allen dieſen Gedichten, Reden und Zeitungsartikeln
ſprach; es war der Stolz einer endlich erwachenden ſtarken Nation, der
zum vollen Selbſtbewußtſein gereift der Fremdherrſchaft Oeſterreichs ebenſo
verderblich werden mußte wie den hohlen Formen der Bundesverfaſſung.
Die Kugel ſtand auf ſcharfer Kante; ein leichter Stoß genügte ſie ins
Rollen zu bringen. Der Krieg war erklärt, ſobald Preußen eine ernſte
Anfrage wegen der franzöſiſchen Rüſtungen nach Paris ergehen ließ und
ſie veröffentlichte.
Ein König von fridericianiſcher Kühnheit hätte dieſer Verſuchung
ſchwerlich widerſtanden. Alle die tapferen Männer des preußiſchen Heeres,
welche ſeit Jahren ſchon den dritten puniſchen Krieg für unvermeidlich
hielten, vereinigten ſich in der Meinung, jetzt ſei die rechte Zeit zum
Schlagen. Der Prinz von Preußen lebte und webte in dem Gedanken
des rheiniſchen Feldzugs. In ernſter Rede mahnte er die Offiziere der
Garde, den vaterländiſchen Sinn wach zu halten in dem Heere, „der
Schöpfung des ſeligen Königs,“ die ſich mehr denn je das Vertrauen
des befreundeten Auslands erworben habe.**) Er ſchrieb ſich das Rhein-
lied eigenhändig ab, und unter die Schlußworte:
ſetzte er jenen kühnen Federzug, der ſpäterhin aus der Namesunterſchrift
des Sedanſiegers der weiten Welt bekannt werden ſollte. Auch Radowitz
rieth ſeinem geliebten Könige, ſich jetzt durch einen verwegenen Entſchluß
eine Stellung ohne gleichen zu gewinnen. Die Lage ſchien für Preußen
wunderbar günſtig. Thiers hoffte zwar den Krieg in Italien zu beginnen,
um dadurch Deutſchland neutral zu halten; er war aber ganz außer
Stande, die galliſche Kriegsbegier, ſobald ſie einmal entfeſſelt wurde, von
ihrem eigentlichen Ziele, dem Rheinlande abzulenken, und mit vollem Rechte
ließ daher die preußiſche Regierung in Paris erklären, ſie müſſe jeden
Angriff auf Italien als einen Kriegsfall betrachten. Wenn Frankreich
alſo gezwungen wurde ſeine Streitkräfte zu theilen, ſo konnte nach menſch-
lichem Ermeſſen den preußiſchen Waffen der Sieg nicht entgehen, trotz
der vorausſichtlich elenden Beihilfe der kleinen deutſchen Bundesgenoſſen.
Aber ſo wahrſcheinlich der kriegeriſche Erfolg, ebenſo gewiß war ſchließlich
die diplomatiſche Niederlage; denn auch dieſer Krieg hätte wie der Feld-
zug von Belle Alliance unter dem Neide und der Halbheit aller Coali-
tionskriege verkümmern müſſen; er konnte nach aller Wahrſcheinlichkeit
nur damit enden, daß Preußen mit ungeheueren Opfern die perſönliche
[90]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Rachſucht des Czaren befriedigt, Englands mediterraniſche Herrſchaft be-
feſtigt und für ſich ſelbſt nichts davon getragen hätte als einige werthloſe
Grenzplätze in Elſaß-Lothringen.
König Friedrich Wilhelm ließ ſolche Erwägungen gar nicht an ſich
herankommen; für ihn hatte der Gedanke eines dritten Pariſer Einzugs
keinen Reiz. Er wollte den Frieden, nichts als den Frieden. Erſt als
die franzöſiſchen Drohungen unſere Weſtgrenze gefährdeten, rüſtete er ſich
zur Abwehr, und für dieſen beſcheidenen Zweck der Vertheidigung Deutſch-
lands arbeitete die preußiſche Politik, die ſich in den internationalen Lon-
doner Verhandlungen ſo ſchwächlich, ſo widerſpruchsvoll gezeigt hatte, mit
ehrenwerther Umſicht und Beharrlichkeit. Der König dachte die Gelegen-
heit zu benutzen und mit dem Bundesheerweſen zugleich die geſammte
deutſche Bundespolitik, die ſeinem Herzen ſo theuer blieb, neu zu beleben.
„Zu Frankfurt“, ſo geſtand er einem Vertrauten, „brau’ ich mein Eigenſtes;
zu keiner Geſandtſchaft ſteh’ ich in ſo unmittelbarem Verhältniß als zu
dieſer.“*) Er wußte, wie eifrig ſein Vater ſich während der letzten Jahre
bemüht hatte, in Frankfurt durch Radowitz eine Verbeſſerung der elenden
Bundeskriegsverfaſſung zu bewirken, und wie kläglich alle dieſe Bemüh-
ungen an der Gleichgiltigkeit Oeſterreichs geſcheitert waren. Gerade in
den Tagen des Thronwechſels berichtete Radowitz hoffnungslos über die
Haltung der Hofburg: „Bei völliger Kenntniß und Einſicht in die vor-
handenen Gebrechen iſt dennoch das Intereſſe an deren Heilung nicht
groß genug oder die Berückſichtigung anderweiter Motive zu vorwiegend.“**)
Durch den Zauber ſeiner Beredſamkeit hoffte der neue König dieſen Wider-
ſtand zu überwinden; ſchon auf der Pillnitzer Zuſammenkunft ſagte er
zu Metternich tiefbewegt, fortan müſſe eine neue Zeit auch für die Bundes-
politik kommen. Der Oeſterreicher wich aber aus und vermied auch ferner-
hin ängſtlich jedes Geſpräch über den Deutſchen Bund.
Metternich verbrachte den Auguſt und September in Königswart,
wohin er die Geſandten aller Großmächte nebſt dem päpſtlichen Nuntius
eingeladen hatte. Mit Spannung beobachtete die diplomatiſche Welt dieſen
geheimnißvollen Congreß. Fleißiger denn je arbeitete Metternich’s Feder;
ungezählte Depeſchen flogen aus ſeinem böhmiſchen Schloſſe in alle Welt
und ſie klangen alle in hohem Tone. „Die Frage iſt ganz einfach die
des die Pforte zu ſeinem Vortheil freſſen wollenden Paſchas von Aegypten,“
ſo ſchrieb er nach Frankfurt. Die orientaliſche Verwicklung war und
blieb ihm nur ein Kampf zwiſchen der Revolution und dem legitimen
Sultan; den Bürgerkönig ſuchte er zu erſchrecken durch den Bericht eines
k. k. Agenten, der ſeit Jahren allen Pariſer revolutionären Clubs ange-
hörte und beſtimmt verſicherte, die Radikalen planten einen neuen Streich
[91]Preußens Vertheidigungspläne.
wider die Krone.*) In Wahrheit verbarg ſich hinter dieſem vielgeſchäftigen
Treiben nur die Angſt. Der greiſe Staatskanzler wollte ſchlechterdings
nicht an die Möglichkeit eines europäiſchen Krieges glauben, weil er ſeinem
morſchen Reiche nicht mehr die Kraft zutraute ſolchen Gefahren zu wider-
ſtehen; er beabſichtigte von vornherein, die dem Sultan verheißene Unter-
ſtützung nur durch die Abſendung einiger Kriegsſchiffe, nimmermehr durch
Landtruppen zu leiſten, und zeigte eine ſorgloſe Sicherheit, welche Graf
Maltzan ganz unbegreiflich fand, da ja bekanntlich alle Rüſtungen in
Oeſterreich nur ſchwer und langſam zu Stande kämen.**) Endlich gingen
dem Preußen die Augen auf. Am 11. Sept. geſtand er ſeinem Monarchen:
wir ſind Alle von Metternich betrogen, Alle „in der poſſierlichſten Weiſe
hineingefallen“; der Fürſt hat uns nur in Königswart hingehalten, weil
er nicht nach Wien gehen, unliebſame Erörterungen mit ſeinem überſpar-
ſamen, den gefährlichen Vierbund verabſcheuenden Nebenbuhler Kolowrat
vermeiden will.***) So ſtand es in der That. Metternich regierte Oeſter-
reich nicht, er konnte auf die Unterſtützung des Triumvirats nicht zählen;
alle die verroſteten Räder der unförmlichen Staatsmaſchine knarrten und
knirſchten.
Wie hochbedenklich mußten einem ſolchen Hofe die immerhin etwas
herzhafteren preußiſchen Vertheidigungspläne erſcheinen. Schon am 25.
Auguſt erklärte Maltzan, ſein Monarch halte für nöthig, daß die beiden
deutſchen Großmächte ſich über die gemeinſame Abwehr verſtändigten und
dann die kleinen Höfe zur Mitwirkung aufforderten. Preußen könne binnen
acht Wochen 200,000 Mann am Rhein verſammeln; wie viele Truppen
denke Oeſterreich in Vorarlberg aufzuſtellen? Dort ſtanden augenblick-
lich kaum 1000 Mann. Metternich antwortete „aufs höchſte entzückt“
mit einigen allgemeinen Redensarten.†) So ging es weiter, viele Wochen
hindurch, ohne jedes Ergebniß. Noch in den erſten Octobertagen ſprach
der Oeſterreicher von bewaffneter Neutralität und ſchrieb an Neumann
in London: eben weil Frankreich rüſtet dürfen die vier Mächte nicht
rüſten. Maltzan ſagte entſetzt: Welche Logik! Und Preußen iſt Frank-
reichs Nachbar! Er faßte ſich ein Herz und ſchrieb nach Berlin: „Heute
tauſchen Oeſterreich und Preußen ihre Rollen. Der Geiſt des kaiſerlichen
Cabinets iſt weſentlich friedlich. Preußen dagegen, ſtark durch ſeine phy-
ſiſche und ſittliche Kraft, überbietet Oeſterreich und iſt offenbar berufen,
die Bewegungen der beiden Großmächte und Deutſchlands ſowohl hervor-
zurufen als zu leiten.“††) Nach neuem lebhaftem Andrängen des preu-
ßiſchen Hofes ſendete Metternich am 9. Oct. an König Friedrich Wilhelm
[92]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ein Schreiben, das, ohne beſtimmte Zuſagen zu geben, doch mindeſtens
die Hoffnung erweckte, Preußen und Oeſterreich würden „als die erſten
Glieder des Deutſchen Bundes in geſchloſſener Stellung auftreten“. Auch
dies blieben nur leere Worte, die Verhandlungen rückten nicht von der
Stelle. Schon waren vier Monate ſeit dem Julivertrage verfloſſen, Frank-
reichs Rüſtungen wurden immer gefährlicher, die Kriegsdrohungen der
Pariſer Preſſe immer lauter, und noch war für Deutſchlands Vertheidi-
gung nur das Eine geſchehen, daß Preußen ſeine rheiniſchen Feſtungen
in der Stille ausrüſtete, die Mobilmachung des Heeres vorbereitete.
Alles wartete auf den neuen König, und nun endlich ſah er ein, daß
er, die Ehrfurcht von dem k. k. Erzhauſe überwindend, ſelber die Vorhand
übernehmen mußte. Am 16. Novbr. erſchienen in Wien General Grol-
man, Preußens angeſehenſter Heerführer, und Oberſt Radowitz, der unter-
wegs den ſächſiſchen Hof beſucht hatte. Derweil die auswärtigen Diplo-
maten noch ihre Anſtalten trafen um die erwarteten langwierigen Ver-
handlungen zu belauſchen, wurden die beiden Preußen ſchon nach zwei
Tagen mit General Ficquelmont handelseins. Grolman’s heldenhafter
Gradſinn und Radowitz’s umfaſſende Sachkenntniß ergänzten einander
ſehr glücklich. Sie ſetzten durch, daß jener preußiſche Kriegsplan vom
Jahre 1831, der damals ſo peinliche Berathungen veranlaßt hatte, jetzt
wieder aufgenommen wurde.*) Nur wollte man diesmal kühner ver-
fahren und im Kriegsfalle ſogleich zum Angriff ſchreiten. Alſo ein preu-
ßiſch-norddeutſches Heer abwärts von Mainz; ein ſüddeutſches, durch
preußiſche Truppen verſtärkt, am Oberrhein, endlich in Oberſchwaben eine
öſterreichiſche Reſerve-Armee, deren Stärke Ficquelmont auf 150,000 Mann
anſchlug.**) Dieſen zuverſichtlichen Zahlenangaben traute Grolman freilich
ebenſo wenig wie den Prahlereien Metternich’s, der den kleinen deutſchen
Geſandten beharrlich verſicherte, Oeſterreich ſei vollkommen gerüſtet; der Ge-
neral wußte nur zu wohl, in welchem elenden Zuſtande ſich das k. k. Heer
befand, und wie dringend Radetzky, immer vergeblich, um Verſtärkung
mindeſtens der italieniſchen Armee flehte.***) Indeſſen zog er vor keinen
Widerſpruch zu erheben. Ihm genügte, daß die Hofburg, im Gefühl
ihrer Ohnmacht, den Oberbefehl über die deutſchen Kleinſtaaten thatſäch-
lich an Preußen überließ, auch auf den alten Lieblingsplan des k. k. Hof-
kriegsraths, auf den Zug durch die Schweiz nicht mehr zurückkam Von
der lächerlichen Bundeskriegsverfaſſung war ohnehin, wie immer in Zeiten
der Gefahr, gar nicht mehr die Rede.
Da die günſtigen Nachrichten vom orientaliſchen Kriegsſchauplatze den
Muth der Hofburg mittlerweile etwas gehoben hatten, ſo beſchloſſen die
[93]Sendung von Grolman und Radowitz.
beiden Mächte, durch ein Rundſchreiben die deutſchen Höfe zur Wachſam-
keit aufzufordern und zugleich in Paris vertraulich wegen der franzöſiſchen
Rüſtungen anzufragen. Bei Alledem hegte man in Berlin wie in Wien
noch durchaus friedliche Abſichten. Der preußiſche Hof hatte dem fran-
zöſiſchen die Sendung der beiden Offiziere nach Wien ſchon im Voraus
freundſchaftlich angezeigt und die Betheuerung hinzugefügt, durch die Ein-
tracht des Deutſchen Bundes werde die allgemeine Ruhe am beſten ge-
ſichert.*) Nur für den Fall daß die Kriegspartei den friedlichen Bürger-
könig überwältigte, wollte man ſich gedeckt halten. Frankreichs Rüſtungen
bewirkten einen Zuſtand des „bewaffneten Friedens“ — ſo lautete der
neue Modeausdruck der Diplomaten und der Zeitungen. Deutſchland
mußte auf der Wacht ſtehen. Dieſe unſchuldige Abſicht hatte der König
durch die Sendung ſeiner Offiziere in der That erreicht, und mit hohem
Selbſtgefühle ſagte Maltzan zu Metternich: unſer Monarch achtet Oeſter-
reichs Stellung in Deutſchland, er iſt jedoch unabänderlich entſchloſſen,
den Deutſchen Bund aus dem Zuſtande der Entwürdigung zu reißen
und ihn „in die Reihe der Mächte wieder emporzuheben“.**) Friedrich
Wilhelm’s dichteriſche Phantaſie trug ſich wirklich mit dem Wahne, daß
der Deutſche Bund neben Oeſterreich und Preußen noch eine ſelbſtändige
Macht bilden und Deutſchland alſo mit der Wucht dreier Großmächte in
die Geſchicke der Welt eingreifen würde. Metternich’s Nüchternheit konnte
dieſe traumhaften Vorſtellungen von den Rieſenkräften Baierns und
Darmſtadts unmöglich theilen; er hielt jedoch für klug in den weihevollen
Ton des preußiſchen Hofes einzuſtimmen und redete fortan in Geſprächen
und Denkſchriften hochpathetiſch von „dem Deutſchen Bunde, dem Staate
des europäiſchen Feſtlandes, der unter allen nach dem Umfange ſeiner
Machtmittel den erſten Rang einnehme“, im Kampf gegen Frankreichs
bewaffneten Frieden die erſte Rolle zu ſpielen berufen ſei und als
fünfte Macht dem Vierbunde beitreten müſſe.***)
Wie dieſe fünfte Macht in Wirklichkeit beſchaffen war, das ſollte
Radowitz ſofort erfahren, als er nunmehr die Höfe von München, Stutt-
gart, Karlsruhe, Darmſtadt, Wiesbaden beſuchte, die alleſammt ſchon
durch die preußiſche Bundesgeſandtſchaft über die europäiſche Lage und
die Kriegsgefahr unterrichtet waren.†) Etwas ſpäter kam auch, mit gleich-
lautenden Weiſungen verſehen, General Heß, einer der tüchtigſten Sol-
daten aus Radetzky’s Schule. Ueberall wurde der Preuße mit offenen
Armen aufgenommen, überall empfing er bundesfreundliche Zuſagen und
die vertrauliche Betheuerung, daß Süddeutſchland weder der Kraft noch
[94]V. 2. Die Kriegsgefahr.
dem guten Willen des Wiener Hofes vertraue, alſo nur unter Preußens
Führung kämpfen wolle.*) Graf Bismarck, der früherhin als Bona-
partiſt verrufene württembergiſche Geſandte in Berlin, ſprach jetzt be-
geiſtert von dem Nationalkriege und drängte die Preußen zu raſchem
Handeln. König Ludwig von Baiern, der ſich noch kürzlich, während
des Kölner Biſchofſtreites ſo gehäſſig gegen Preußen gezeigt hatte, erſchien
ſchon ſeit Jahresfriſt wie verwandelt. Er merkte, daß er zu weit ge-
gangen war, denn die für Baiern ſo überaus vortheilhaften Zollvereins-
verträge liefen nächſtens ab. Immer wieder betheuerte er jetzt dem preu-
ßiſchen Geſandten: ich bin ſtets für Preußen geweſen und nur ſcheinbar
von dieſem Syſteme abgewichen; noch brünſtiger verſicherte er ſeine Be-
geiſterung für den Zollverein — was den alten König Friedrich Wilhelm
zu der trockenen Bemerkung veranlaßte: „das glaube ich wohl, da Baiern
dabei ſo viel gewinnt als Preußen verliert.“**) Nun vollends, da ſein
geliebter Schwager den preußiſchen Thron beſtiegen hatte, ſang der Wittels-
bacher hochbegeiſtert:
Er ſchien jetzt ganz in der preußiſchen Politik aufzugehen, überhäufte
Radowitz mit Ehren und gefiel ſich darin, den Grafen Dönhoff vor den
Augen des franzöſiſchen Geſandten gefliſſentlich auszuzeichnen.***) Auch
in Hannover fand Radowitz warmen Empfang. Der alte Welfe war
der erſte der Bundesfürſten, der die Pferdeausfuhr nach Frankreich ver-
bot und dadurch Preußen, nachher auch den Deutſchen Bund zur Nach-
folge zwang.†)
Doch was leiſteten dieſe kleinen Höfe, die alſo von patriotiſchen
Worten überfloſſen, für die Vertheidigung des Vaterlandes? Unglaublich,
wie dies neue Jahrzehnt conſtitutioneller Kammerherrlichkeit die Wehr-
kraft des deutſchen Südens von Grund aus zerſtört hatte. In Baiern
zählte die Compagnie auf Kriegsfuß 172 Mann, davon wurden 62 Mann
gar nicht eingeſtellt; von den alſo verbleibenden 110 beurlaubte man
nach der kurzen Exercirzeit ſtets 85 Mann, ſo daß ein Infanteriebataillon
während der längſten Zeit des Jahres 100 (Mißtrauiſche behaupteten
ſogar: nur 60) Mann unter der Fahne behielt. Und angeſichts ſolcher
Zuſtände meinte König Ludwig ſchon ein Großes zu thun, als er wegen
der Kriegsgefahr zwei Batterien auf Kriegsfuß ſetzen und für ſein ganzes
Heer etwa 250 Pferde, ſtatt der fehlenden 5000, ankaufen ließ.††) Er
[95]Süddeutſchlands Wehrloſigkeit.
verſprach den Mißbrauch der ſtändigen Beurlaubungen endlich abzuſtellen,
kam aber nicht über den guten Vorſatz hinaus. Kaum beſſer ſtand es
in Württemberg. Dort hatte das in zwei Bataillone eingetheilte Infan-
terieregiment zur Sommerszeit 401, im Winter 307 Mann bei der Fahne.
Aufgeregt durch die bedenklichen Pariſer Nachrichten ſprach König Wil-
helm wieder viel von einer ſchwäbiſchen Landwehr; er meinte aber nicht
das preußiſche Landwehrſyſtem, das ſeinen Landſtänden viel zu koſt-
ſpielig ſchien, ſondern wollte nur durch ein Geſetz die Aushebung neuer,
ganz unausgebildeter Mannſchaften ermöglichen für den Fall, daß Linie
und Reſerve bereits ausgerückt wären. An die allgemeine Wehrpflicht,
die von der Ritterſchaft und vom Beamtenthum verabſcheut wurde, ließ
ſich vollends gar nicht denken; der Geſandte Rochow ſchrieb: „das Ein-
ſteher-Weſen iſt hier wie eine eherne Mauer“ und fand es „für einen
Preußen kaum begreiflich“, wie ſehr man ſich hier vor der mißleiteten
öffentlichen Meinung fürchte.*) In Baden geſchah für das Heer ſehr
wenig, weil Miniſter Blittersdorff den Argwohn hegte, hinter allen dieſen
Kriegsvorbereitungen verbärgen ſich nur Preußens hegemoniſche Gelüſte.
Auch in Darmſtadt hielt du Thil alle Rüſtungen für überflüſſig; er
hatte längſt bemerkt, daß Oeſterreich nur mit halber Seele bei der Sache
war, nur um Preußen nicht allein das Feld zu überlaſſen an den mili-
täriſchen Verhandlungen theilnahm.**) Ohnehin glaubten dieſe Klein-
ſtaaten alleſammt ihren Bundespflichten ſchon überreichlich genügt zu haben;
hatten ſie doch im letzten Herbſt am unteren Neckar gemeinſame Ma-
növer des 7. Bundesarmeecorps veranſtaltet, die erträglich ausfielen und
als ein Beweis thatkräftiger Bundestreue ſelbſt von dem preußiſchen
Generalſtabschef Krauſeneck nachſichtig belobt wurden.***) Auch hinter
patriotiſchen Bedenken wußte ſich die Schlaffheit zu verſchanzen; als
Neſſelrode, taktlos genug, die kleinen Höfe durch ein Rundſchreiben zur
Kriegsbereitſchaft mahnen ließ, da hieß es überall: nimmermehr dürfe
ſich das ſtolze Deutſchland von Rußland drängen laſſen.†) Radowitz’s
Rundreiſe brachte zunächſt nur ein greifbares Ergebniß: die ſüddeutſchen
Staaten traten im Febr. 1841 zu Karlsruhe zuſammen und beſchloſſen
— aus Rückſicht auf Baierns Stolz, zum großen Aerger des ehrgeizigen
Schwabenkönigs — den zukünftigen Oberbefehl über das zukünftige Süd-
heer dem Prinzen Karl von Baiern zu übertragen. In Norddeutſchland
war ſelbſt eine ſolche Einigung unerreichbar, da die kleinen Fürſten des
10. Armeecorps alleſammt Bedenken trugen, ihre Truppen dem verrufenen
hannoverſchen Welfen anzuvertrauen.††)
[96]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Der Bundestag trieb unterdeſſen trotz der ſchweren Zeiten ſeine
gewohnte Kurzweil. Die Staaten der ſechzehnten Curie hatten bisher
an dem reichen Frankfurter v. Leonhardi einen überaus wohlfeilen gemein-
ſamen Bundesgeſandten beſeſſen, der die Geſchäfte nur zu ſeinem Ver-
gnügen führte, und zankten ſich nunmehr, als dieſer göttliche Philiſter
geſtorben war, mit ſolcher Ausdauer über den Gehalt des Nachfolgers,
daß der Poſten drei Jahre unbeſetzt blieb. Der Landgraf von Homburg,
der im Jahre 1817 dem Bunde nachträglich beigetreten war, forderte
ſtürmiſch das ihm gebührende Stimmrecht und erlangte endlich nach fünf-
undzwanzigjährigen Kämpfen Einlaß in die ſechzehnte Curie. Die Erne-
ſtiner konnten ſich über den Vorrang bei der Unterſchrift nicht einigen,
und ihr neuer Bundesgeſandter mußte daher mit vier gleichlautenden
Vollmachten ausgerüſtet werden.*) Derweil man ſich alſo vergnügte,
ſuchte Graf Münch, unbekümmert um die dringenden Mahnungen des
preußiſchen Geſandten mehrere Monate hindurch jede Berathung über die
Kriegsbereitſchaft des Bundes zu vereiteln. Er wußte wohl, daß dieſe
Zögerung den ſtillen Wünſchen faſt aller kleinen Höfe entſprach; hatte
doch ſelbſt König Ludwig von Baiern in Berlin vorſichtig erklären laſſen:
erſt wenn die Rüſtung Süddeutſchlands ganz vollendet ſei, dürfe der
Bund in Paris eine Anfrage ſtellen.**)
Endlich am 13. März 1841, acht Monate nach dem Juli-Vertrage,
beantragte Münch, die Militärcommiſſion ſolle aufgefordert werden über
die näheren Bedingungen der Kriegsbereitſchaft ein Gutachten zu er-
ſtatten. Voran ging ein langer Vortrag, deſſen hochpatriotiſcher Ton
von dem dürftigen Inhalte lächerlich abſtach: „die Pflicht ſämmtlicher
deutſchen Regierungen, für die Ehre des deutſchen Namens ſowie für
die Sicherheit der Völker Deutſchlands Sorge zu tragen, erheiſcht, daß
überall die Wehrkraft der Bundesſtaaten allen eintretenden Wechſelfällen
zu genügen im Stande ſei.“ Dieſe tiefſinnigen Worte hatte Metternich
ſelbſt in den Präſidialvortrag eingefügt, an der Stelle eines etwas ſchär-
feren, von General Heß vorgeſchlagenen Satzes.***) Die Hofburg wollte
Alles vermeiden was dem Souveränitätsdünkel der kleinen Höfe auch nur
wie ein leiſer Zwang erſcheinen konnte. Natürlich wurde der Antrag,
unter den üblichen Dankesbezeigungen gegen die allezeit fürſorgliche Prä-
ſidialmacht, pflichtſchuldigſt angenommen; die vertraulichen Eröffnungen
in Paris überließ man den beiden Großmächten. Es ſtand noch immer
wie in den Regensburger Zeiten. Der Bundestag durfte ſich der ange-
nehmen Erwartung hingeben, daß ſein Beſchluß gar keine Folgen haben,
ſondern entweder durch eine friedliche Wendung der europäiſchen Händel
oder durch eine Kriegserklärung Frankreichs überholt werden würde.
[97]Einführung der Bundesinſpectionen.
Dem alten Könige war kurz vor ſeinem Tode noch einmal recht
deutlich geworden, was von der Opferwilligkeit ſeiner deutſchen Bundes-
genoſſen zu erwarten ſei. Damals (1839) hatte er mit einem Aufwande
von Millionen drei ſeiner Armeecorps auf Kriegsfuß geſetzt um den end-
lichen Abſchluß des ſchmählichen Luxemburgiſchen Streites zu erzwingen,
und bei dieſem Unternehmen, das doch allein der Sicherung des Bundes-
gebietes galt, am Bunde keinerlei Unterſtützung, nicht einmal durch
Worte gefunden. Jetzt mußte ſein Nachfolger, kaum auf den Thron
geſtiegen, ſchon die gleiche Erfahrung machen. Er konnte ſich nicht mehr
darüber täuſchen, daß die kleinen Höfe gern bereit waren ſich durch Preu-
ßens ſtarken Arm aus der Noth retten zu laſſen, aber nicht im mindeſten
beabſichtigten die ſchimpfliche Wehrloſigkeit, welche ein volles Drittel des
tapferſten aller Völker darniederhielt, zu beſeitigen. Trotz Alledem hielt
der neue König ſeine Bundesreformpläne feſt; an der Bildſamkeit dieſer treff-
lichen Bundesverfaſſung wollte er nimmermehr verzweifeln. Am 6. Januar
1841 ſendete er an die Wiener Geſandtſchaft einen Erlaß, worin er beſtimmt
ausſprach, er werde allein vorgehen falls Oeſterreich ſeine Mitwirkung ver-
weigere.*) Dieſe Drohung wirkte für den Augenblick. Auf Preußens
Andrängen beſchloß der Bundestag (29. Juni), daß fortan aller drei
Jahre Bundesinſpectoren ſich von dem Zuſtande der Streitkräfte der ver-
bündeten Staaten überzeugen ſollten,**) und noch im Herbſte 1841 wurde
die erſte Bundesinſpection ins Werk geſetzt.
Alſo doch endlich ein beſcheidener Fortſchritt, denn bisher waren
nur die lächerlichen Truppen der Reſerve-Infanteriediviſion von Bundes-
wegen gemuſtert worden. Der Beſchluß kam unter ſchweren Kämpfen zu
Stande; manche der wohl durchdachten Vorſchläge des Oberſten Radowitz,
der jetzt ſeinen Sitz in der Bundesmilitärcommiſſion wieder eigenommen
hatte, mußten geopfert werden. Oeſterreich zeigte eine wohlbegreifliche
Scheu, ſein aus ſo verſchiedenen Völkerſchaften gemiſchtes Heer dem Ur-
theile von Ausländern zu unterwerfen. Die Mecklenburgiſchen Höfe
hatten ihren Bundesgeſandten Schack bereits angewieſen gegen die Bundes-
inſpection förmliche Verwahrung einzulegen, und gaben erſt nach, als König
Friedrich Wilhelm ſeine Verwandten in Strelitz perſönlich beſucht hatte.
Ihre trotz der Bundesgeſetze gänzlich verwahrloſten Reſerven wollten die
Kleinſtaaten ſchlechterdings nicht muſtern laſſen; Mecklenburg erklärte
entrüſtet: „die jährliche Einberufung der Reſerve wäre eine wahre Landes-
calamität.“***) Auch eine Beſtimmung über die Dauer der jährlichen
Uebungszeit ließ ſich nicht durchſetzen. „Specielle Zeitbeſtimmungen, meinte
Württemberg, würden hier nichts nützen ſondern ſchaden,“ da Alles auf
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 7
[98]V. 2. Die Kriegsgefahr.
die Intelligenz des Volksſtammes ankommt und „die dieſſeitige Infanterie,
wenn ſie auch wenig Paradedreſſur haben mag, doch deſto felddienſttüch-
tiger erſcheint.“*) Nicht einmal zu gemeinſamen Vorſchriften für den
Wachtdienſt und den militäriſchen Gruß wollte ſich der Bundestag ver-
ſtehen.
Nachdem man ſich alſo mit Müh und Noth über einen möglichſt
inhaltloſen Beſchluß geeinigt hatte, begann alsbald ein neuer Zank wegen
der Frage, welche Staaten die Bundesinſpectoren ſtellen ſollten. König
Wilhelm von Württemberg hatte ſehr lange widerſtrebt und ſich erſt durch
das Zureden ſeines alten Waffengefährten FML. Latour davon überzeugen
laſſen, daß ſeiner Souveränität keine Gefahr drohe. Indeß wollte er ſeine
Schwaben weder durch Oeſterreich noch durch Hannover muſtern laſſen,
weil er den alten tiefen Groll gegen die Hofburg noch nicht verwunden
hatte und mit dem verhaßten Welfenkönige noch immer um den Vorrang
ſtritt. Er erzwang auch, daß ſtatt des Hannoveraners ein däniſcher
General nach Stuttgart kam; den Oeſterreicher aber erließ man ihm nicht,
und er rächte ſich nach ſeiner Weiſe, indem er den k. k. Feldmarſchall-
leutnant Sunſtenau mit ausgeſuchter Grobheit behandelte.**)
Auch dieſer Streit hörte endlich auf, und jeder der zehn Inſpections-
bezirke wurde wirklich von drei Generalen anderer Bundesſtaaten beſichtigt.
Als aber die Berichte der Inſpectoren einliefen, da zeigte ſichs mit er-
ſchreckender Klarheit, wie die große Lüge dieſer Bundesverfaſſung Alles
was mit ihr in Berührung kam anſteckte und ſogar die ſprichwörtliche Ehr-
lichkeit des deutſchen Offizierſtandes verdarb. Die inſpicirenden Generale,
unter denen ſich viele Prinzen befanden, waren durch mannichfache poli-
tiſche Rückſichten beengt; die meiſten dachten auch mit ſtiller Angſt an
den Jammer ihres heimathlichen Heerweſens und verfuhren wie die Krähen,
ſie urtheilten ſanftmüthig um nicht ihr eigenes engeres Vaterland hartem
Tadel auszuſetzen. Sogar die preußiſchen Generale, die in den Klein-
ſtaaten durch ihre ſtrenge Wachſamkeit und den Freimuth ihrer Rügen
überall Schrecken erregten, ſprachen in den amtlichen Berichten doch bei
Weitem nicht ſo ſcharf wie in ihren vertrauten Briefen. Daher lobte
die Bundesmilitärcommiſſion, als ſie nach faſt zwei Jahren (Juli 1843)
über das Geſammtergebniß der Inſpection berichtete, mit warmen Worten
„den echt föderativen Geiſt“ der Regierungen und verſicherte, es ſeien
„die Armeecorps zum größeren Theil in ganz vollkommen kriegsver-
faſſungsmäßigem Stande“; der preußiſche Bundesgeſandte aber bemerkte
ſarkaſtiſch: zu einer zweiten Inſpection wird ſich der Bundestag wohl
ſchwerlich entſchließen, da ja dieſe erſte faſt gar keine Mängel im Bundes-
heere aufgefunden hat.***) Wer zwiſchen den Zeilen der höflichen Be-
[99]Ergebniß der erſten Bundesinſpection.
richte las, konnte ſolche Mängel, und darunter manche wunderſame, aller-
dings entdecken.
In Baiern erhielten die Inſpectoren, nach einer geheimen Weiſung
des Königs, keinerlei vertrauliche Mittheilungen von Seiten der Militär-
behörden.*) Sie fanden dort eine Landwehrpflicht vor, welche ſich bis
zum ſechzigſten Lebensjahre jedes Wehrfähigen erſtreckte und natürlich nur
auf dem Papiere ſtand; die Artillerie und Infanterie der Linie wurde
nur aller zwei Jahre zu viermonatlichen Uebungen einberufen. Der
Präſenzſtand war ſo niedrig, daß ſelbſt die Bundesmilitärcommiſſion den
beſcheidenen Wunſch nicht unterdrücken konnte, es möchte künftighin bei
der Infanterie ein Sechſtel der gemeinen Mannſchaft ſtets im Dienſte
ſein. Trotzdem erklärten die drei inſpicirenden Generale (ein Oeſter-
reicher, ein Sachſe, ein Darmſtädter) dies Heer für ſehr lobenswerth.
Ueber die Reiterei ſagten ſie liebevoll: Von der Friedenspräſenzſtärke
iſt nur die Hälfte vorhanden, und die Leute dienen nur ſechs Monate,
„was ſpecielle Unvollkommenheiten mit Grund entſchuldigen kann.“ Die
naheliegende Frage, ob ſich die ſechsmonatliche Dienſtzeit der bairi-
ſchen Reiterei ſelbſt entſchuldigen laſſe, übergingen ſie mit Stillſchwei-
gen. Noch weniger ſprachen ſie von der Menge der gebrechlichen alten
Stabsoffiziere, dem allgemeinen Uebelſtande dieſer langen Friedenszeit,
der nirgends greller hervortrat als in Baiern. Darum ſagte Prinz
Karl von Baiern traurig zum Grafen Dönhoff: der Bericht iſt viel zu
ſanft, er wird auf König Ludwig keinen Eindruck machen.**) In Sachſen
war das ſtehende Heer recht tüchtig, aber für die Reſerve ſchlechterdings
gar nicht vorgeſorgt; und als die Bundes-Militärcommiſſion dies leiſe zu
rügen wagte, da erwiderte der Dresdner Hof ſpitzig: er könne ſich nicht
erklären, warum Sachſen in Frankfurt nicht dieſelbe Berückſichtigung fände
wie andere Bundesſtaaten, die ebenſo wenig für ihre Reſerve gethan
hatten.
In Luxemburg mußte die Muſterung unterbleiben, weil ein Bundes-
contingent dort noch immer nicht beſtand. Der König von Dänemark
hatte ſich gradezu geweigert, ſeine Holſten an gemeinſamen Uebungen des
10. Bundesarmeecorps theilnehmen zu laſſen; er ſcheute den Vergleich mit
den beſſer ausgerüſteten Hannoveranern, die freilich bisher auch noch nie-
mals zu einem Diviſions-Manöver zuſammengetreten waren.***) Völlig
troſtlos lauteten die Berichte des preußiſchen Generals Ditfurth über die
Bückeburger und die Mehrzahl der anderen Contingente, welche die Re-
ſerve-Infanteriediviſion des Bundes bilden ſollten. Zog man ſchonungs-
los die Summe, ſo waren die Bundesgeſetze nur in einem einzigen Staate,
7*
[100]V. 2. Die Kriegsgefahr.
in Preußen ganz gewiſſenhaft ausgeführt worden. Hier genügte ein
Drittel des Heeres um dieſen wahrlich beſcheidenen Anforderungen zu ent-
ſprechen. Der alte König hatte ſich immer geweigert einen beſtimmten
Theil ſeines Heeres als Bundescontingent zu bezeichnen, weil er alle
ſeine Truppen ſchlichtweg für deutſche Soldaten hielt. Jetzt wurden drei
von den neun Armeecorps für die Bundesinſpection beſtimmt, und die
Manöver in Schleſien verliefen ſo gut, daß ſelbſt Erzherzog Ferdinand,
der nach öſterreichiſchem Brauche jedem Volksheere mißtraute, ehrlich
eingeſtehen mußte: nun erſt habe ich meine Zweifel an dem preußiſchen
Landwehrſyſtem aufgegeben.*) Da die Zuſammenſetzung der preußiſchen
Armeecorps, in Folge des Landwehrſyſtems, von den Ziffern der Bundes-
kriegsverfaſſung ein wenig abwich, ſo befahl der König überdies im März
1843, daß fortan fünf ſeiner Armeecorps das Bundescontingent bilden
ſollten, damit den Bundesgeſetzen bis auf den letzten Buchſtaben genügt
würde.
Das war der Zuſtand der deutſchen Wehrkraft in einer Zeit, da
die Liberalen der kleinen Landtage beſtändig über die unerſchwinglichen
Heereskoſten klagten; und doch hatte dieſe Oppoſition nicht Unrecht, denn
die Ausgaben für ein ſolches Heer waren wirklich Verſchwendung. Am
letzten Ende bewirkten Friedrich Wilhelm’s wohlgemeinte Anträge nur, daß
einige der ganz gewiſſenloſen kleinen Höfe ſich fortan aus Furcht vor den
Bundesinſpectionen ein wenig in Acht nahmen. Doch mit ſo ſanften
Mitteln war die dreißigköpfige Anarchie nicht zu heilen; und dies konnte
der König, als warmer Verehrer der unwandelbaren Bundesverfaſſung,
nicht begreifen.
Etwas beſſer gelangen ſein Bemühungen für die Bundesfeſtungen.
Während der letzten Jahre hatte Baiern ſeine Feſtung Germersheim
ausgebaut; nur der unentbehrliche Brückenkopf auf dem badiſchen rechten
Rheinufer fehlte noch, weil Baden ſich hartnäckig weigerte die kleine
Landſtrecke abzutreten. Ueber den Zuſtand von Mainz erſtattete der
öſterreichiſche Gouverneur Landgraf von Heſſen-Homburg, ſobald das
Kriegsgeſchrei durchs Land ging, einen Bericht, der ſo beſchämende
Vorwürfe enthielt, daß die Bundesverſammlung beſchloß ihn nicht in ihre
Protokolle aufzunehmen. An der Rheinkehle, der wichtigſten Stelle des
Platzes war die Mauer faſt ſpurlos verſchwunden — ſo verſicherte der Land-
graf — allerhand Gewerbtreibende hatten dort ihre Lager und Werk-
ſtätten aufgerichtet, „der Hauptſchlüſſel zu den deutſchen Landen iſt an ſeiner
Kehle ein vollkommen offener Ort.“ Das Weiſſenauer Lager und die we-
nigen anderen neuen Feſtungswerke gereichten ihren öſterreichiſchen Erbauern
nicht zur Ehre; den größten Theil der Feſtungsgelder hatte man ver-
wendet um Kaſernen zu bauen und für die Amtswohnungen der com-
[101]Die ſüddeutſchen Bundesfeſtungen.
mandirenden Offiziere Möbel anzuſchaffen, welche, Dank der mangelhaften
Controle, ſchon wieder faſt ganz zerſtört waren. So ſchimpflich das Alles
war, Graf Münch meinte achſelzuckend: ein Neubau könne für dieſen
Krieg doch nichts mehr nützen und nur gefährliches Aufſehen erregen.
Selbſt Radowitz hielt für gerathen, jetzt für Mainz nichts zu fordern,
denn ſonſt wäre die Berathung über die ſüddeutſchen Bundesfeſtungen,
welche dem Könige zunächſt am Herzen lag, nie zum Abſchluſſe gelangt.*)
Seit dem Jahre 1836 ward dieſe ſo ſündlich verſchleppte Angelegen-
heit wieder ernſtlich beſprochen. Die Parteien ſtanden noch wie vor zwei
Jahrzehnten. Während die Süddeutſchen, nach Sinn und Wortlaut der
Verträge, eine Bundesfeſtung „am Oberrhein“ alſo Raſtatt verlangten,
beſtand Oeſterreich noch immer auf der Befeſtigung von Ulm. Der k. k.
Hofkriegsrath wollte ſeine Kaiſerſtadt gegen die Gefahren eines neuen
napoleoniſchen Donaufeldzugs decken und verfocht hartnäckig die doktri-
näre Behauptung, daß die Franzoſen den nächſten Krieg unfehlbar mit
einem Zuge durch die Schweiz eröffnen, mithin die oberrheiniſchen Lande
von vornherein umgehen würden. Dieſen Anſichten, die nur zu leb-
haft an den wunderſamen Feldzugsplan von 1814 erinnerten, pflichtete
in Berlin nur ein einziger namhafter Offizier bei: der immerdar öſter-
reichiſch geſinnte Kneſebeck. Alle andern Generale, voran der Kriegs-
miniſter Rauch und der Generalſtabschef Krauſeneck ſtanden auf der Seite
der oberrheiniſchen Höfe. Krauſeneck ſagte mit preußiſchem Gradſinn:
„die Süddeutſchen wollen eine ſie ſchützende Feſtung haben ohne den
Oeſterreichern dienſtpflichtig zu werden; dieſe, welche die Revolution zum
Geſpenſt machen, mit dem ſie die Cabinette einſchüchtern, wollen eine
öſterreichiſche Feſtung mit deutſchem Gelde erbaut wiſſen.“ Aber die
ſüße Gewohnheit, deutſche Kräfte für öſterreichiſche Zwecke auszubeuten,
war in Wien ſeit Jahrhunderten zu feſt eingebürgert; der Hofkriegsrath
blieb unbelehrbar. Daher kam Friedrich Wilhelm III. ſchon frühe zu der
Einſicht, der unwürdige Streit laſſe ſich nur dann beilegen, wenn man
beide Plätze, Ulm und Raſtatt zugleich befeſtige. Auch General Aſter
meinte, es gebe keinen anderen Ausweg. Der Petersburger Hof, der es
nun einmal nicht laſſen konnte die Vertheidigung unſerer Weſtgrenze wie
ſeine eigene Sache zu behandeln, äußerte ſich in gleichem Sinne gegen
die deutſchen Großmächte.
Der alte Herr erlebte noch die Freude, daß die ſüddeutſchen Staaten
ſich im April 1840, auf einer Conferenz zu Karlsruhe, über den preußi-
ſchen Vermittlungsvorſchlag einigten und auch Baden endlich ein Stück
Landes für den Germersheimer Brückenkopf abtrat.**) Aber erſt ſein
[102]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Nachfolger brachte die Sache vor den Bundestag. Die kriegeriſche Stim-
mung des Augenblicks geſchickt benutzend ließ der neue König den un-
ermüdlichen Radowitz noch einmal an den ſüddeutſchen Höfen umherreiſen
und verſprach hochherzig, zu den noch bei Amſchel Rothſchild aufbe-
wahrten franzöſiſchen Contributionsgeldern einen beträchtlichen Zuſchuß
zu leiſten. Weil die für den Bau der vierten Bundesfeſtung beſtimmten
20 Mill. Fr. franzöſiſcher Contributionsgelder vorausſichtlich für zwei
Feſtungen nicht ausreichten, ſo erklärte er ſich bereit einen beträchtlichen
Zuſchuß (noch gegen 10 Mill. Fr.) zu zahlen, obgleich Preußen bereits die
niederrheiniſchen Feſtungen, gutentheils aus ſeinen eigenen Mitteln, er-
baut hatte. Alſo bewirkte er, daß die Bundesverſammlung am 26. März
1841 endlich den Bau beider Feſtungen beſchloß. Ulm ſollte als ſüd-
deutſcher Hauptwaffenplatz dienen, Raſtatt nur als Verbindungs- und
Grenzfeſtung, aber zugleich auch als Waffenplatz für das achte Bundescorps,
obwohl bisher noch nie ein Staat auf den wunderſamen Gedanken gerathen
war, ſeine Militärvorräthe in einer Grenzfeſtung unterzubringen. Nur
für ein ſolches, den Anſprüchen Aller zuſagendes Compromiß konnte
man die Mehrheit gewinnen. König Friedrich Wilhelm war überglücklich
und ließ der Verſammlung ſeine Freude über ihre föderative Geſinnung
ausſprechen. Geh. Rath v. Sydow aber, der nach dem Tode des Generals
Schöler die Geſchäfte der deutſchen Bundesgeſandtſchaft führte, ſagte weh-
müthig voraus: „Auch die diesjährige Arbeitszeit wird ganz vorübergehen,
ohne daß man in Ulm oder Raſtatt eine Schaufel bewegt.“*)
Er kannte ſeine Leute. Schon bei der Abſtimmung hatte Herr v. Mieg
einen der beliebten bairiſchen Vorbehalte geſtellt, da „die deutſch-patriotiſche
Geſinnung“, welche König Ludwig bei dem Bau von Germersheim bewährt
habe, beſondere Rückſichten verdiene.**) Bald darauf verlangte er nach-
drücklich, der Gouverneur von Ulm müſſe abwechſelnd von Baiern und
von Württemberg ernannt werden; denn die alte Reichsſtadt ſelbſt
war württembergiſch, das kleine Neu-Ulm auf dem rechten Donauufer
bairiſch. Dawider der Schwabenkönig hochentrüſtet: er habe ſchon genug
Opfer gebracht, indem er ſeine gute Stadt zur Bundesfeſtung hergegeben.
Alſo entſpann ſich zwiſchen dieſen beiden Königen, welche die liberale
Partei vor Zeiten als die Bannerträger der nationalen Einheit gefeiert
hatte, ein grimmiger Zank um das Commando einer Feſtung, die noch
gar nicht gebaut war. Dies Schauſpiel freundnachbarlicher Eintracht
entfaltete ſeinen ganzen Reiz erſt als Mieg eine Zeit lang die württem-
bergiſche Stimme führte und mithin genöthigt war ſich ſelber die ſchwä-
biſchen Anzüglichkeiten vor dem Bundestage feierlich vorzuleſen. Ein
voreiliger Bundesbeſchluß, erklärte Württemberg, könne die Verſtändigung
[103]Ulm und Raſtatt.
nur erſchweren.*) In der That mußte Preußen wieder ins Mittel
treten. Radowitz der vielgeplagte reiſte im Januar 1842 nochmals nach
Wien, München, Stuttgart und brachte mit unſäglicher Mühe einen Ver-
gleich zu Stande, kraft deſſen Württemberg den Gouverneur, Baiern den
Commandanten der zukünftigen Feſtung ernennen ſollte.**) Ein Glück
nur, daß der preußiſche Major Prittwitz, einer der tüchtigſten Ingenieure
aus Aſter’s Schule, ſich durch ſein anſpruchsloſes Weſen und unbeſtreit-
bares Talent das perſönliche Vertrauen König Wilhelm’s gewann; ſo
ließ man ihn bei ſeinen Ulmer Bauplänen ziemlich frei gewähren.
Im October 1844 wurde der Grundſtein für die beiden Feſtungen
gelegt, und nunmehr ſchritt der Bau langſam aber ununterbrochen vorwärts.
Rothſchild mußte die 20 Mill. Fr. die ihm ſo vielen Segen gebracht, nach
und nach herauszahlen; er hatte ſie in den letzten Jahren, auf Preußens
Andringen, etwas höher als früher, mit 3—3½ Procent verzinſt; jetzt
zog er bei jeder Rückzahlung ½ Procent Proviſion ab, und der Bundes-
tag ließ ſich dieſe vertragswidrige Uebervortheilung gefallen, weil die Frank-
furter Bankiers, die es mit dem mächtigen Hauſe nicht verderben wollten,
inbrünſtig betheuerten, günſtigere Bedingungen könne Niemand ſtellen.***)
Das war das einzige werthvolle Geſchenk, das der Deutſche Bund
ſeinem begeiſterten königlichen Verehrer verdankte, und es ward dargebracht
mit einer Großmuth, welche der wohlberechtigten Anſprüche Preußens gar
nicht gedachte. Friedrich Wilhelm verſuchte nicht einmal, für ſeine Truppen
das Mitbeſatzungsrecht in den oberdeutſchen Bundesfeſtungen zu fordern,
ſondern bewilligte ganz unbedenklich, daß Oeſterreich im Frieden für Ulm
einen Theil der Artillerie, für Raſtatt die Pioniere, im Kriege für beide
Feſtungen ein Drittel der Beſatzung ſtellen ſollte; ließ man die Oeſter-
reicher alſo bis zum Oberrhein vorgehen, ſo ſchien der preußiſche Staat
auf die Vertheidigung Süddeutſchlands, die er doch 1831 und 1840 für
ſich gefordert hatte, für die Zukunft freiwillig zu verzichten. Daß Raſtatt
jemals, ſo wie es im Jahre 1870 wirklich geſchah, einen Angriff auf Straß-
burg unterſtützen könnte, ward noch gar nicht als möglich angenommen;
nur Vertheidigungszwecken ſollte die neue Bundesfeſtung dienen und auch
die Arbeiten der ſüddeutſchen Generalſtabsoffiziere erörterten immer nur
die klägliche Frage, wohin man ſich bei einem franzöſiſchen Angriffe
zurückziehen müſſe.
Seit im Frühjahr 1841 die Kriegsrufe der Franzoſen ſchwächer wurden,
ließ der politiſche Eifer der kleinen Höfe überall nach; ſie alle prieſen ſich
im Stillen glücklich, daß der Deutſche Bund wieder in ſeine Nichtigkeit
zurückſank. Baden hatte noch zu Anfang des Jahres einen recht ver-
[104]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſtändigen Landwehrplan für Süddeutſchland ausarbeiten laſſen, den ein-
zigen, der die Landwehr aus geſchulten alten Linienſoldaten bilden wollte
und ſich einigermaßen an das bewährte preußiſche Vorbild anſchloß.*)
Nach wenigen Monaten war von Alledem keine Rede mehr, und Prinz
Emil von Heſſen ſagte nachher traurig zu dem preußiſchen Bundesge-
ſandten: die beſte Gelegenheit, das preußiſche Heerweſen im Süden einzu-
führen, iſt verſäumt.**) Metternich ſchrieb noch im Frühjahr triumphirend
an den König von Württemberg: Durch das erwachte Nationalgefühl „hat
ſich die gediegenſte der Mächte in innerer Kraft und Kopfzahl, der Deutſche
Bund ſeit ſeinem Entſtehen zum erſten male auf dem Felde der euro-
päiſchen Politik gezeigt. Die Erfahrung hat bewieſen, was der Bund zu
ſein vermag wenn er einig daſteht.“ Die Antwort des Schwabenkönigs
aber klang entſchieden mißtrauiſch: „Dieſe nämlichen Reſultate werden
ſich ſtets wieder erneuern, ſo lange die Grundregeln des Bundes — gleiche
Rechte und gleiche Pflichten — beobachtet, und ebenſo nur im deutſchen
Intereſſe ſolche Opfer verlangt werden, welche Regierungen und Völker
bringen können.“***) Unter Freunden äußerte ſich König Wilhelm noch
weit ſchärfer; dem ſächſiſchen Geſandten Noſtitz-Jänkendorf klagte er: ſo
weit iſt ſelbſt Napoleon nicht gegangen, daß er die Rheinbundstruppen ge-
muſtert hätte!†)
Und wie ſollten auch die kleinen Fürſten Vertrauen faſſen, wenn
die Hofburg, die alte Feindin der nationalen Idee, jetzt plötzlich das deutſche
Nationalgefühl feierte! Der letzte Grund der deutſchen Zerriſſenheit lag
in Wien. „Die moraliſchen Kräfte Oeſterreichs ſchlummern; Alles was
ſich dieſer Luft nähert, wird davon angeſteckt,“ ſo ſchrieb Maltzan, der
Freund Metternich’s um Neujahr 1841; und ſein Nachfolger Canitz, der
dem k. k. Staatskanzler noch näher ſtand, ſagte ein Jahr nachher: „Man
ſcheint hier zu glauben, daß die Maſchine des Deutſchen Bundes zer-
brechen würde ſobald man verſuchte ſie in Bewegung zu ſetzen. Da
man immer fürchtet zu viel zu thun, ſo liebt man gar nichts oder ſo
wenig als möglich zu thun.“††) So lange der König von Preußen dieſe
Wahrheit nicht einſah, mußten alle ſeine hochherzigen Reformpläne ein
Stückwerk bleiben. Er aber wollte ſie nicht einſehen. Er ging darüber
hinweg, daß die Allgemeine Zeitung den preußiſchen Staat eben jetzt in
höchſt gehäſſigen Artikeln befehdete, welche erſichtlich aus Metternich’s
nächſter Umgebung herrührten; er fand es nicht einmal anſtößig, daß Hof-
[105]Ende der Demagogenverfolgung.
rath Berly, der Vertraute des Grafen Münch, in der Frankfurter Ober-
poſtamtszeitung (3. April 1841) höhniſch ſagte: Preußen denkt nicht „an
das Schreckgeſpenſt der deutſchen Einheit“, das die Franzoſen ſich vor-
halten; dergleichen mochte zur Zeit der Schlacht von Roßbach vielleicht
zutreffen; Friedrich Wilhelm IV. aber weiß, daß Friedrich von Hohen-
zollern in demſelben Jahre Burggraf wurde, da Rudolf von Habsburg
die Kaiſerkrone empfing!
Ganz ohne heilſame Nachwirkung blieb die ſchöne nationale Begeiſte-
rung dieſer unruhigen Tage mit nichten; in den weltbürgerlichen Taumel
des letzten Jahrzehnts konnte der deutſche Liberalismus nie wieder ganz
zurückfallen. Aber ſehr merklich war doch die Abkühlung als die Kriegsgefahr
verſchwand. Da alle Kriegsrufe, denen kein offener Kampf folgt, nachträglich
komiſch erſcheinen, ſo ſäumten die Spötter nicht an dem „defenſiven En-
thuſiasmus“ Niklas Becker’s ihren ſtumpfen Witz zu wetzen; unter den
radikalen Philiſtern aber entſtand die Meinung, jede deutſche Erhebung,
die von den Fürſten gebilligt werde, ſei von Haus aus verdorben. Unter-
deſſen verſank die Bundes-Militärcommiſſion bald wieder in ihr gewohntes
Scheinleben. Sie berieth gründlich über die Wiedererſetzung eines vor-
zeitig zerriſſenen Taues am Rothen Brunnen zu Luxemburg; ſie brauchte
Jahre um Frieden zu ſtiften zwiſchen den hadernden Staaten des neunten
Armeecorps. Für dieſes hatte bisher vertragsmäßig das Königreich Sachſen
allein die Pontoniere geſtellt; da kam der heſſiſche Prinzregent plötzlich
auf den Einfall, daß ſich auch Kurheſſen den Genuß eines eigenen Brücken-
trains geſtatten dürfe, und kündigte eigenmächtig den Vertrag. Der artige
Dresdener Hof konnte darauf nicht umhin „das lebhafte dieſſeitige Be-
dauern über die jenſeitigen Abſichten“ auszudrücken; Naſſau und Luxem-
burg pflichteten ihm bei. Der Heſſe aber erwiderte entrüſtet: er glaube
noch Dank zu verdienen für ſeinen vaterländiſchen Eifer, denn ſein Brücken-
train ſei 126 Fuß lang, während Kurheſſen nach den Bundesgeſetzen nur
für 110 Fuß Brückenlänge zu ſorgen habe.*) Ueber ſolchen wichtigen
Berathungen geriethen die Rügen der Bundes-Inſpectoren faſt überall
in Vergeſſenheit. In Württemberg betrug der Präſenzſtand der Compag-
nie bald wieder nur 15 Mann; und ſollte die Stuttgarter Garniſon bei
Eröffnung des Landtags Spalier bilden, dann mußten in Eile die Be-
urlaubten einberufen werden.**)
Auch auf den anderen Gebieten der Bundespolitik vermochte König
Friedrich Wilhelm von ſeinen guten Abſichten faſt gar nichts durchzu-
ſetzen. Er erreichte nur, da er ſelbſt mit dem guten Beiſpiele der Am-
neſtie vorangegangen war, daß die Demagogenverfolgung endlich aufhörte
und die Bundes-Centralbehörde im Auguſt 1842 vertagt wurde — denn
[106]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſie gänzlich aufzulöſen ſchien den Wiener Staatsmännern zu gefährlich.
Er ließ dabei die Hoffnung ausſprechen, die Heimkehr der Mitglieder der
Centralbehörde werde „als ein neues ſicheres Zeichen einer günſtigeren
Geſtaltung der Dinge und des Vertrauens der Regierungen“ in ganz
Deutſchland freudig begrüßt werden. Doch ſeine eigenen Beamten ver-
mochten dieſe Hoffnungen nicht zu theilen. Nach dem Tode des trefflichen
bairiſchen Geſandten v. Mieg geſtand Geh. Rath v. Sydow traurig: jetzt
könne der Bundestag ſelbſt ſehr mäßigen Anſprüchen nicht mehr genügen,
und nur noch durch einen durchgreifenden Perſonenwechſel neues Leben
gewinnen.*) Geiſtreiche junge Männer, wie Adolf von Schack, der Sohn
des mecklenburgiſchen Bundesgeſandten, wurden durch die abſchreckende
Nichtigkeit des Frankfurter Diplomatenlebens in das Lager des Liberalis-
mus hinübergeſcheucht. In der Hofburg betrachtete man dieſen Jammer
mit unverwüſtlichem Gleichmuth; ja Metternich kam, zur Verzweiflung
König Friedrich Wilhelm’s, mehrmals zurück auf ſeinen alten Vorſchlag:
ob man nicht den ſtändigen Bundestag durch eine von Zeit zu Zeit wieder-
kehrende Geſandtenconferenz erſetzen ſolle?
Wie weit die Deutſchen noch von einem lebendigen, inſtinktiven Na-
tionalgefühle entfernt waren, das lehrte mitten in dieſen Tagen vater-
ländiſcher Begeiſterung ein aberwitziger Streit, der ſich auf den viel-
beſungenen grünen Wogen des freien deutſchen Rheines abſpielte. In
ſeiner inneren Politik conſervativ bis zum Starrſinn, blieb Miniſter du
Thil doch der beſte Deutſche unter den ſüddeutſchen Staatsmännern. Er
hatte bei der Begründung des Zollvereins bewieſen, wie hoch er über
allem partikulariſtiſchen Kleinſinne ſtand, und verhehlte keineswegs, daß
er die Militärhoheit der kleinen Fürſten für einen gemeinſchädlichen Miß-
brauch hielt; aber — das war der Fluch dieſer Bundesverfaſſung — ſo
lange die Souveränität der kleinen Staaten beſtand wollte er der Würde
ſeines Großherzogs nicht das Mindeſte vergeben.**) Dies gewaltige heſſen-
darmſtädtiſche Selbſtgefühl veranlaßte manche ergötzliche Zwiſtigkeiten.
Darmſtadt unterſtand ſich einen Orden Philipp’s des Großmüthigen zu
ſtiften. In Kaſſel hingegen wurde der gemeinſame Stammvater der heſſiſchen
Häuſer als ein kurheſſiſcher Nationalheld betrachtet und die Selbſtüber-
hebung der jüngeren Linie allgemein verurtheilt; es währte mehrere Jahre
bis der Zorn ſich legte und kurheſſiſche Beamte die Erlaubniß erhielten
den Orden zu tragen. Noch kräftiger regte ſich der darmſtädtiſche Stolz,
als die neue Taunusbahn von Frankfurt über Caſtel nach Biebrich er-
öffnet wurde. Die Bahn war, da ſie durch ein Stück heſſiſchen Gebietes
führte, unter Mitwirkung du Thil’s zu Stande gekommen. Es zeigte ſich
jedoch bald, daß ſie den Mainzer Handel ſchädigte. Während die vordem
[107]Der Biebricher Rheindamm.
ſo ſchwunghafte Schifffahrt auf dem unteren Maine zu erlahmen begann,
eröffnete die Naſſauer Regierung zu Biebrich einen Freihafen, in der
freundnachbarlichen Abſicht auch den Rheinverkehr des Mainzer Hafens
an ſich zu reißen, und ließ ſodann Strombauten ausführen, welche das
Fahrwaſſer von Mainz hinweg nach dem rechten Ufer ablenken ſollten.
Da der Bundestag ſeine Pflichten gegen die deutſche Schifffahrt
gänzlich verabſäumt hatte, ſo beruhten alle Rechtsverhältniſſe des Rhein-
ſtroms lediglich auf Treu und Glauben, auf Verträgen zwiſchen den
ſouveränen Uferſtaaten, und Niemand hätte für möglich gehalten, daß
ein deutſcher Staat ſich erdreiſten würde den vereinbarten Thalweg eigen-
mächtig zu verändern. Um ſo lauter alſo der Zorn der benachtheiligten
Rheinheſſen. Die Mainzer tobten: durch die Genehmigung der Taunus-
bahn hätten „die garſtigen Hackeln“ — ſo hießen die Darmſtädter Be-
amten nach den Tannenzapfen ihrer Nadelwälder — ſchon des Unheils
genug angeſtiftet, nun ſollten ſie dem goldenen Mainz mindeſtens ſein
altes Fahrwaſſer retten. Denn die Dampfſchifffahrt auf dem Rheine
nahm neuerdings erfreulich zu, Preußen unterſtützte ſie durch Nachlaß
an den Flußzöllen; ſchon begann man auch die Moſel mit Dampfern zu
befahren; Antheil zu behalten an dieſem neuen Verkehrsmittel war für
jede Rheinſtadt eine Lebensfrage. Die Rheinſchifffahrts-Commiſſion der
Uferſtaaten in Mainz vermochte nicht zu helfen; ſie bemühte ſich ſeit
Jahren durch treufleißige Verhandlungen, bei denen Naſſau und Darm-
ſtadt ſtets als die ärgſten Zänker auftraten, einen gemeinſamen Tarif
für die Flußzölle zu vereinbaren, was ihr im Jahre 1845 endlich gelang;
doch eine obrigkeitliche Gewalt beſaß ſie nicht, ſie konnte das ſouveräne
Naſſau nicht zwingen. Die Mainzer durch eine linksrheiniſche Eiſenbahn
zu entſchädigen war auch unmöglich; denn in militäriſchen Kreiſen herrſchte
damals die ängſtliche Meinung, daß eine Verbindungsbahn zwiſchen den
großen Rheinfeſtungen nur den Franzoſen die Eroberung des Landes er-
leichtern würde, und noch viele Jahre hindurch blieb die kleine Bonn-
Kölner Bahn die einzige Eiſenbahn am linken Ufer.
So gerieth du Thil in arge Verlegenheit. Wie verächtlich auch der
bureaukratiſche Hochmuth der Darmſtädter „Dienerſchaft“ auf die öffent-
liche Meinung herabzublicken pflegte: vor der ungeſtümen Beredſamkeit
der liberalen Rheinheſſen fürchtete man ſich doch, denn ſie gab auf
den Landtagen oft den Ausſchlag. Der heſſiſche Miniſter verſuchte zu-
nächſt, durch dringende Vorſtellungen und Beſchwerden die naſſauiſche
Regierung zur Wiederherſtellung des alten Thalwegs zu bewegen. Als
er immer nur höhniſche Antworten erhielt, entſchloß er ſich endlich das
Fauſtrecht zu gebrauchen und bereitete, mit eifriger Beihilfe der Rhein-
heſſen, einen Gewaltſtreich vor. In der Nacht des 28. Febr. 1841 fuhr
ein Zug von 103 ſchweren Rheinſchiffen durch die geöffnete Mainzer
Schiffbrücke thalwärts; die Schiffer gaben den Feſtungsbehörden an, daß
[108]V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſie Steine zum Kölner Dombau führten, und ſangen bei der Durchfahrt:
„ſie ſollen ihn nicht haben“, wobei ſie allerdings an die Naſſauer, nicht
an die Franzoſen dachten. Nahe beim Biebricher Hafen hielt die Flotte
plötzlich an, mehrere der Schiffe verſanken angebohrt, die anderen löſchten
ihre Ladung in den Rhein, ein Offizier mit 20 Gensdarmen behütete
die Arbeiter, und nach wenigen Stunden war der rechte Rhein-Arm
zwiſchen der Inſel Petersau und dem Biebricher Ufer durch einen mäch-
tigen Steindamm faſt völlig abgeſperrt.*)
Mit heller Schadenfreude begrüßten die Rheinheſſen am anderen Mor-
gen das ſeltſame Bauwerk. Du Thil hatte ſein ganzes Land hinter ſich
und rühmte ſich noch im hohen Alter dieſer darmſtädtiſchen Heldenthat.**)
Unter dem heiligen Reiche hatte der Rhein ſolcher freundnachbarlicher Streiche
ja ſchon viele geſehen. Wie oft waren damals die kurkölniſchen oder die
bergiſchen Bauern bei Nachtzeit auf Geheiß ihrer Amtleute ausgezogen um
die Faſchinen am Ufer gegenüber zu zerſtören. Die Naſſauer aber ſchimpf-
ten weidlich auf „unſere Nachbarn jenſeits des neuen Steindammes“, die
fremden Diplomaten am Bundestage höhnten, und alle Witzbolde des lu-
ſtigen Rheinlands trieben ihren Schabernack mit dieſem neuen Waſunger
Kriege. Ein in der Frankfurter Gegend weitverbreitetes Lied beſang die Stein-
leiden des alten Rheins mit einem cyniſchen Witze, der einer ſolchen Sache
würdig war, und ſchloß mit der tröſtlichen Verſicherung: „Der Deutſche
Bund verſpricht von Herzen Ihm Hoffnung — Anno Siebenzig.“***)
Indeß die Friedensſtörung war doch allzu roh; ſelbſt das geduldige k. k.
Gouvernement in Mainz konnte nicht umhin wegen Verletzung ſeiner
Würde und Uebertretung der Rayons-Vorſchriften Klage zu erheben, da der
heſſiſche Kyklopenbau noch innerhalb des Feſtungsgebietes lag.†) Die
Bundesgeſandten bemühten ſich wetteifernd, den ärgerlichen Handel aus
der Welt zu ſchaffen. Am gaſtlichen Tiſche des Grafen Münch traten
die Miniſter der beiden ſtreitenden Mächte, Graf Walderndorff und du
Thil einander näher.††) Der Heſſe verſprach, den Steindamm ſo weit
hinwegzuräumen, daß zwei Dampfſchiffe neben einander einlaufen könnten,
verlangte aber um ſo nachdrücklicher die Wiederherſtellung des alten
Thalwegs. Darüber entbrannte der Zwiſt ſofort wieder, und erſt nach
dritthalb Jahren, im Auguſt 1843 kam unter Vermittlung des Bundes
ein Vergleich zu Stande, der im Weſentlichen den Wünſchen der Heſſen
[109]Frankreichs Bedrängniß.
entſprach.*) Du Thil machte die angenehme Erfahrung, daß unter dieſem
Bundestage Selbſthilfe am ſicherſten ihr Ziel erreichte. —
Mittlerweile ging die europäiſche Kriſis unter mannichfachen Schwan-
kungen ihrer unvermeidlichen friedlichen Löſung entgegen. Keine der
Großmächte, vielleicht mit Ausnahme Rußlands, wünſchte in vollem Ernſt
den allgemeinen Krieg, ſie alle wurden durch wechſelſeitiges Mißtrauen
in Schach gehalten. Darum erklärten auch die vier Mächte am 17. Sept.,
in einem Zuſatzprotokolle zum Julivertrage, dem türkiſchen Geſandten
feierlich, daß ſie im Oriente weder beſondere Vortheile noch Gebiets-
erweiterungen für ſich erſtrebten.**) Gleichwohl gerieth Thiers in die
peinlichſte Lage. Kühne Pläne für Frankreichs afrikaniſche Machtſtellung
hegte er nicht, die feſtländiſche Politik lag ſeinem Gedankenkreiſe näher.
Aber eine öffentliche Beſchämung Frankreichs konnte ein Mann von ſeiner
Vergangenheit kaum ruhig hinnehmen, und tief empörte ihn die heuch-
leriſche Sprache in der Preſſe und den Denkſchriften der vier Mächte.
Ihr werft uns vor, ſo ſagte er zu Apponyi, daß wir durch die Begün-
ſtigung Mehemed Ali’s die Revolution nährten, und Ihr ſelber hetzt
durch Eure Agenten die Völker Syriens zum Aufſtande gegen ihren
Paſcha!***) Doch wie ſollte er den ungleichen Kampf wagen? Seine
leiſen Anfragen, ob nicht Preußen und der Deutſche Bund neutral bleiben
würden, begegneten ſcharfer Ablehnung.†) Der Turiner Hof, der anfangs
an Neutralität dachte, empfing von Metternich die Zurechtweiſung: „der
Krieg iſt nur möglich entweder mit Niemand oder mit aller Welt.“††)
Fuhr das Schwert aus der Scheide, ſo ſtand Frankreich der geſchloſſenen
Phalanx des legitimen Europas gegenüber. Thiers ſchwankte lange, der-
weil er die Rüſtungen eifrig fortſetzte; noch zu Ende Septembers war
er mit ſich nicht im Reinen.†††) Die Preſſe aber erwies ſich wieder als
eine Macht des Unheils für das neue Frankreich, und Thiers am wenig-
ſten konnte ihrem wilden Drängen widerſtehen, da er ſeine Laufbahn
gutentheils den Zeitungen verdankte. Seine nächſten Freunde im Con-
ſtitutionnel drohten: Wir haben ihn erhoben und wir laſſen ihn fallen
wenn er Frankreich preisgiebt; „die Gefahr der Schande iſt für eine
Regierung ſchlimmer als die Gefahren des Krieges.“
[110]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Nun kam noch die Nachricht, daß die engliſch-öſterreichiſche Flotte
den Angriff gegen die Küſtenplätze Syriens begonnen und die Wider-
ſtandskraft der Aegypter ſich weit ſchwächer gezeigt hatte als man in
Paris hoffte. Da wallte das heiße Provenzalenblut des Miniſters hoch
auf; beſſer im Rheine als in der Goſſe ſterben, rief er zornig. Er ver-
langte im Miniſterrathe, ohne durchzudringen, die ſofortige Abſendung
der Flotte zum Schutze von Alexandria*), und redete in ſeinen Depeſchen
als ob er den Krieg der revolutionären Propaganda eröffnen wollte. Der
Bund der vier Mächte, ſo ließ er ſich vernehmen, „ähnele nur zu ſehr
jenen Coalitionen, welche ſeit fünfzig Jahren Europa mit Blut bedeckt
hätten“, und habe bereits den ſegensreichen Bund der Weſtmächte zer-
ſtört. „Fraget die Völker von Cadix bis zu den Ufern der Oder und
der Elbe! Fraget ſie, und ſie werden antworten, daß dieſer Bund ſeit
zehn Jahren den Frieden und die Unabhängigkeit der Staaten erhalten
hat ohne der Freiheit der Völker zu ſchaden.“**) Dabei hütete er ſich
noch immer, die diplomatiſchen Formen allzu gröblich zu verletzen. Den
Chartiſten Attwood, der mit einer Verbrüderungs-Geſandtſchaft radikaler
Briten nach Paris kam, weigerte er ſich zu empfangen, weil ihm der
engliſche Geſandte ſagte, man werde das in London übel aufnehmen.***)
Als aber die Kammern ſich wieder verſammelten, rieth Thiers dem Könige,
ſtolz aufzutreten und in der Thronrede zu ſagen: er werde dem Frieden
nicht das ihm von der Revolution anvertraute geheiligte Kleinod der na-
tionalen Unabhängigkeit und Ehre opfern.
Dieſen Mißgriff hatte Ludwig Philipp nur abgewartet um ſich des
verhaßten Miniſters zu entledigen. Er verweigerte ſeine Zuſtimmung zu
der gefährlichen Drohung. Darauf trat Thiers zurück, und am 30. Oct.
bildete Guizot ein neues Cabinet, in der erklärten Abſicht, die Verſöh-
nung mit den vier Mächten herbeizuführen.†) Der Bürgerkönig ver-
leugnete alle dieſe Zeit über ſeine Friedensſeligkeit niemals und geſtand
bereits im September dem preußiſchen Geſchäftsträger: ich betrachte den
Kriegslärm als ein Mittel um die längſt nöthige Vermehrung des Heeres
und die Befeſtigung von Paris durchzuſetzen. Dies embastillement de
Paris — wie die Radikalen ſpotteten — hatte ſchon vor einem Viertel-
jahrhundert der Kaiſer Franz den Bourbonen anempfohlen; Ludwig XVIII.
war jedoch nicht darauf eingegangen, da er der Treue ſeiner Franzoſen
ſicher zu ſein glaubte. Jetzt nahm man die alten Entwürfe wieder auf:
[111]Rücktritt des Miniſteriums Thiers.
Ludwig Philipp weil er ſich gegen einen Pariſer Straßenaufruhr decken
wollte, Thiers weil er weiter ſchauend erkannte, was die befeſtigte Haupt-
ſtadt im Kriegsfalle für die Vertheidigung dieſes centraliſirten Landes
leiſten konnte.*) Durch Thiers’ volksthümlichen Namen wurde die libe-
rale Preſſe für den anfangs wenig beliebten Plan gewonnen, und nach-
dem dies Ziel erreicht war, konnte der König leichten Herzens den un-
bequemen Mann fallen laſſen. Das neue Friedensminiſterium war ſein
eigenſtes Werk, und nach alter Gewohnheit ſuchte er nunmehr die vier
Mächte zu einiger Nachgiebigkeit zu bewegen indem er ihnen das Schreck-
geſpenſt der Revolution vorhielt. „Wenn das gegenwärtige Cabinet fällt,
ſo ſchrieb er, dann gebt Euch keiner Täuſchung hin: was dann folgt iſt
der Krieg um jeden Preis und nachher ein vervollkommnetes 1793.“**)
Auch ſein Schwiegerſohn König Leopold bemühte ſich eifrig für den
Frieden. Der hatte den Juli-Vertrag von Haus aus als einen Fehler
betrachtet und ſogleich an Metternich warnend geſchrieben: „Bedenken Sie,
welchen Zündſtoff Sie in die Hände von Lord Ponſonby, Napier und
Anderen dieſes Schlages gelegt haben.“ Auf der Freundſchaft der Weſt-
mächte ruhte ſeine eigene Herrſchaft; und da er richtig erkannte, daß die
Friedensſtörung diesmal von England und Rußland ausging, ſo eilte er
ſchwer beſorgt nach Windſor um ſeine königliche Nichte vor dieſem „mon-
ſtröſen“ Kriege zu warnen, und verſuchte zugleich durch Bülow, der ihm
von lange her nahe ſtand, auf Palmerſton einzuwirken.***) Sobald das
neue Cabinet in Paris gebildet war, beſchwor er den Preußen (3. Nov.),
die vier Mächte möchten dem franzöſiſchen Hofe eine goldene Brücke
bauen: „Laſſen wir das jetzige Miniſterium fallen, ſo bekommen wir Thiers
als Chef der geſammten Linken ins Miniſterium, der unglückliche König
muß ſich dann unterwerfen, und ein Krieg und Unheil jeder Art iſt un-
fehlbar.“ Noch drängender ſchrieb er vier Tage darauf, „da man ja
natürlich annehmen muß, daß man es mit Downing-Street und nicht
mit Bedlam zu thun hat: Ihre Hand hat mit den trefflichen Traktat
unterzeichnet; ſie muß uns daher auch wieder von den Segnungen dieſes
Traktats befreien, an denen wir Alle ſchlagähnlich darniederliegen. Laſſen
Sie mir das gute jetzige Miniſterium umwerfen, ſo armire ich hier ganz
beſtimmt, und das wird dann Deutſchland auch zum Armiren encoura-
giren.Ҡ)
Dies emſige Treiben des ſchlauen Coburgers mußte den vier Mächten
hochverdächtig erſcheinen, weil er offenbar nur ſagte was ſein Schwieger-
vater ihm eingab. Sie waren, als ſie einſt in ſo vielen Verträgen,
[112]V. 2. Die Kriegsgefahr.
zuletzt noch in dem Schlußvertrage vom 19. April 1839, die vollſtändige
Neutralität Belgiens ausbedungen hatten, alleſammt von der Voraus-
ſetzung ausgegangen, daß die Unabhängigkeit des jungen Staates nur
von Frankreich her bedroht werden könne. Nun erfuhren ſie, auf wie
lockerem Grunde alle dieſe papierenen Verheißungen ſtanden; ſie durften
nicht dulden, daß dies neutrale Land ſich erdreiſtete als europäiſche Macht
aufzutreten, und ließen daher in Brüſſel ſehr nachdrücklich erklären: in
der gegenwärtigen Lage bedeute die bewaffnete Neutralität Belgiens nichts
anders als den Anſchluß an Frankreich, den Bruch aller europäiſchen
Verträge.*)
Alle dieſe Wechſelfälle beirrten den König von Preußen nicht in ſeiner
faſt unbedingten Friedfertigkeit. Mit einer Wärme, welche weit über das
Maß ſeiner wirklichen Gefühle hinaus ging, betheuerte er dem Bürger-
könige beſtändig ſeine perſönliche Verehrung. Die Londoner Conferenz
wünſchte er nach Wien zu verlegen, wo man Frankreich zuziehen könne
und den Uebermuth Palmerſton’s nicht zu fürchten habe. Als er damit
nicht durchdrang, ließ er dem ruſſiſchen Hofe ausſprechen, wie viel Schmerz
ihm perſönlich die ablehnende Haltung Brunnow’s bereite.**) Noch deut-
licher ſchrieb Werther nach Petersburg: Rußland lege dem Julivertrage
einen ausſchließlichen und aufreizenden Sinn unter, welchen Oeſterreich
und Preußen niemals billigen könnten; ihnen ſei es nie eingefallen, Frank-
reich für immer von den orientaliſchen Verhandlungen auszuſchließen.
Rußland ſtütze ſich auf Wüſten und auf friedliche Nachbarn und könne
ſich daher wohl die Genugthuung geſtatten, das Scheinbild des in Wahr-
heit nicht mehr beſtehenden Bundes der Weſtmächte zu zerſtören. Preu-
ßen dagegen, obwohl feſt entſchloſſen einen aufgezwungenen Vertheidigungs-
kampf mit voller Kraft zu führen, müſſe den Frieden wünſchen, da bei
der Schwäche Oeſterreichs und der kleinen Staaten „die ganze Laſt eines
deutſchen Krieges auf Preußen fallen würde. Die Hilfe, welche uns Ruß-
land leiſten könnte, würde, wie die Erfahrung gelehrt hat, verſpätet, un-
vollſtändig und von tauſend Uebelſtänden begleitet ſein.“ An der Ver-
nichtung Mehemed Ali’s wolle Preußen auf keinen Fall theilnehmen;
ſein Ziel ſei die Erhaltung des osmaniſchen Reichs unter Mitwirkung
Frankreichs.***) Ganz ebenſo friedlich äußerte ſich Metternich, obwohl er
ſeinen Abſcheu gegen „Thiers’ verworfene Perſönlichkeit“ mit ſtarken Worten
bekundete;†) in langen lehrhaften Depeſchen verſuchte er den Mächten
zu zeigen, wie man Frankreich in das europäiſche Concert zurückführen könne.
[113]Die Entſcheidung im Mittelmeere.
Dieſer verſöhnlichen Politik der deutſchen Mächte widerſtand der Peters-
burger Hof lange mit hochmüthiger Schroffheit. Nikolaus verhehlte nicht
ſeine Schadenfreude über den Londoner Vertrag; er hoffte dem franzöſiſchen
Thronräuber wo nicht eine Niederlage auf dem Schlachtfelde, ſo doch
eine beſchämende öffentliche Demüthigung zu bereiten. Unter mannich-
fachen Vorwänden lehnte Brunnow alle Vermittlungsvorſchläge ab.*)
Auf jeden Fall, meinte der Czar, müſſe Frankreich den erſten Schritt
zur Verſöhnung thun: „wenn die Initiative für das franzöſiſche Cabinet
ſchwer iſt, ſo iſt ſie für uns noch viel ſchwerer, und ganz gewiß werden
wir ſie nicht ergreifen.“**) Und Neſſelrode ſchrieb den deutſchen Höfen:
jeder Verſöhnungsverſuch wird Frankreichs Uebermuth nur ſteigern; jetzt
iſt die Zeit „dem franzöſiſchen Volke eine Lektion zu geben, die ihm ebenſo
nöthig iſt wie ſie für uns vortheilhaft ſein wird;“ nach den Kriegsdroh-
ungen der Franzoſen können die vier Mächte heute Vieles nicht mehr
bewilligen was früher annehmbar erſchien.***) Faſt ebenſo herausfordernd
redete zuweilen das engliſche Cabinet. Obgleich Palmerſton anfangs,
gleich den anderen Mächten, die Abſetzung Mehemed Ali’s verurtheilt hatte,
ſo blieb er doch auf die Dauer nicht unempfänglich für die Berichte Pon-
ſonby’s, der polternd und ſchmähend den fanatiſchen Haß des Divans
noch zu überbieten ſuchte. Derſelbe Lord Feuerbrand, der in Europa jede
muthwillige Empörung ſchadenfroh begünſtigte, entblödete ſich nicht, die
Doktrin der ſtarren Legitimität auf den Orient anzuwenden, wo für ein
legitimes Recht gar kein Boden war, und meinte jetzt mit Ponſonby:
man dürfe dem Sultan die jedem Souverän zuſtehende Befugniß, einen
rebelliſchen Statthalter abzuſetzen, nicht beſtreiten. Der preußiſchen Re-
gierung ließ er, da ſie den Gewaltſtreich des Sultans nach wie vor miß-
billigte, mit gewohnter Ungeſchliffenheit ſagen: ſie habe ſich „nicht die
Mühe gegeben dieſe Sache und ihre Folgen zu ergründen.“†) Bis zur
Vernichtung Mehemed Ali’s wollte er allerdings nicht gehen; er wünſchte
vielmehr, der rebelliſche Paſcha möge ſich dem Oberlehnsherrn bald unter-
werfen, um dann vom Sultan begnadigt und mit der Erbherrſchaft über
Aegypten neu belehnt zu werden.††)
Die Meinungsverſchiedenheit im Schooße der vier Mächte begann ſchon
bedrohlich zu werden; da fiel die Entſcheidung auf dem orientaliſchen
Kriegsſchauplatze. Die Flotte der Verbündeten, mit einer Handvoll tür-
kiſcher Truppen an Bord eroberte, nicht ohne die Beihilfe des engliſchen
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 8
[114]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Goldes, die ſyriſchen Küſtenplätze Byblus, Beirut, Saida. Am 2. Nov.
wurde nach kurzer Beſchießung das Banner des Großherrn neben den
Fahnen Oeſterreichs und Englands auf den Wällen der unbezwinglichen
Feſtung Akkon aufgepflanzt. Der junge Erzherzog Friedrich, ein Sohn
des Siegers von Aspern zeichnete ſich bei dieſen Kämpfen rühmlich aus,
und groß war die Freude in Wien, da die Welt jetzt zum erſten male
von einer Waffenthat der öſterreichiſchen Flotte hörte. Währenddem tobte
im Innern Syriens der Aufruhr, und die Verbündeten trugen kein Be-
denken die Empörer mit Waffen zu verſehen. Alſo zugleich von der Küſte
und vom Binnenlande her bedroht entſchloß ſich Ibrahim Paſcha die
Trümmer ſeines zerrütteten Heeres nach Aegypten zurückzuführen. Die
Herrſchaft ſeines Vaters über Syrien war vernichtet. Nun ſegelte Com-
modore Napier, der gefeierte britiſche Seeheld jener Tage, der auch in
Syrien das Beſte gethan hatte, mit ſeinem Geſchwader auf die Höhe von
Alexandria und ſchloß dort am 27. Nov. mit dem erſchreckten Paſcha
einen Vertrag, kraft deſſen Mehemed Ali verſprach ſich dem Sultan zu
unterwerfen und die geraubte türkiſche Flotte wieder auszuliefern; dafür
ſollte er, mit Genehmigung der vier Mächte, als Vaſall des Großherrn die
ägyptiſche Erbherrſchaft wieder erhalten.
Die eigenmächtige That des tapferen Commodores erregte an den
Höfen allgemeine Verwunderung. Metternich ſchrieb entrüſtet: „Das iſt
eine ſaubere Tollheit. Napier hat bewieſen, daß er ſich trefflich aufs
Fenſtereinwerfen verſteht, er verſteht indeſſen auch die Vernunft in Stücke zu
ſchlagen.“*) Palmerſton aber, deſſen Uebermuth ſeit den ſyriſchen Erfolgen
ſehr hoch geſtiegen war, heuchelte wieder legitimiſtiſche Bedenklichkeiten; er
ſagte ſalbungsvoll: „es iſt unvereinbar mit den Grundſätzen der engliſchen
Regierung einem Unterthan eine politiſche Gewalt, welche ihm ſein Souve-
rän gewährt hat, förmlich zu verbürgen.“**) Bei ruhiger Prüfung mußte
man doch allerſeits zugeben, daß Napier’s derber Seemannsverſtand ge-
nau die Löſung gefunden hatte, welche den Ergebniſſen des kurzen Feld-
zuges und den neuen Machtverhältniſſen entſprach. Schon vor dem Vertrage
von Alexandria, ſchon am 17. Nov. hatte Bülow, der unermüdliche Ver-
mittler, auf der Londoner Conferenz durchgeſetzt, daß man dem Paſcha
den erblichen Beſitz Aegyptens gewähren müſſe. Ward im Oriente ein
Waffenſtillſtand auf ſolche Bedingungen hin abgeſchloſſen, ſo konnte Frank-
reich ſeine Zuſtimmung kaum mehr verweigern, weil Syrien doch für Mehe-
med Ali verloren war, und das in Berlin ſo ſehnlich gewünſchte Ein-
verſtändniß aller europäiſchen Mächte ſtellte ſich faſt von ſelbſt wieder
her.***)
[115]Miniſterium Guizot.
Die Stellung Guizot’s und ſeines Friedenscabinets blieb gleichwohl
noch lange ſehr peinlich. Seit Monaten befand ſich das franzöſiſche
Volk in einem krampfhaften Zuſtande kriegeriſcher Aufregung. Alles jauchzte,
da aus Algier die Nachricht kam von einem großen Siege, der bei Maſa-
gran über die Horden Abdel-Kader’s erfochten ſein ſollte; und als ſich
die Siegesbotſchaft bald nachher als eine plumpe Erfindung erwies, da
wagte keine einzige Pariſer Zeitung die Lüge zu widerlegen, jeder Fran-
zoſe blieb fortan verpflichtet an die märchenhafte Heldenthat zu glauben,
deren Ruhm in allen großen Städten Frankreichs durch die neuen Rues de
Masagran verewigt wurde. Alſo geſtimmt konnte die Nation durch die wahr-
lich beſcheidenen ſyriſchen Siege der Verbündeten nur noch mehr erbittert
werden. Zumal die leichte Eroberung jenes Akkon, das einſt einem Bona-
parte widerſtanden hatte, erſchien den Pariſer Boulevardiers wie eine perſön-
liche Beleidigung. Das Kriegsgeſchrei hielt den ganzen Winter hindurch an
und ward für die Regierung immer kränkender. Die öffentliche Meinung
beſänftigte ſich auch nicht, als Ludwig Philipp die Aſche Napoleon’s nach
Paris zurückführen ließ und in dem pomphaften Leichenzuge mit einem male
die verſchliſſenen Uniformen der kaiſerlichen Tage wieder auftauchten. Guizot
freilich ſagte in ſeiner verblendeten Selbſtgewißheit: es war ein bloßes Schau-
ſpiel; Prinz Ludwig Napoleon aber, der im Schloſſe zu Ham die Strafe für
ſeinen zweiten abenteuerlichen Aufſtandsverſuch abbüßte, ahnte ſiegesfroh,
daß die napoleoniſche Legende wieder Macht gewann über die Herzen der
Franzoſen. Dieſem ſtolzen Volke konnte die Vergleichung der großen Ver-
gangenheit mit der kleinen Gegenwart nur tief ſchmerzliche Gefühle erregen.
Indeß die Unmöglichkeit, das verlorene Syrien dem Lieblinge der Pariſer
zurückzugewinnen lag klar am Tage, früher oder ſpäter mußte ſich Frank-
reich in die vollendeten Thatſachen finden.
Noch blieben auf der Londoner Conferenz große Schwierigkeiten zu
überwinden. Von dem Oeſterreicher Neumann unterſtützt that Bülow
ſein Beſtes um den Knoten, den er ſelber mit geſchürzt, wieder zu löſen.
Palmerſton zögerte, weil er ſich zu tief in den Streit verbiſſen hatte, und
der beſtändig durch Ponſonby’s brutale Drohungen aufgeſtachelte Hoch-
muth der Pforte wollte ſich lange zu keinem Zugeſtändniß an den ägyp-
tiſchen Rebellen bequemen.*) Am früheſten bekehrte ſich Rußland zu den
verſöhnlichen Anſchauungen der beiden deutſchen Höfe. Mit ganz unge-
wöhnlicher Freundlichkeit ſchrieb Neſſelrode ſchon im December nach Paris:
er vertraue „der muthigen Offenheit“ Guizot’s, keine der vier Mächte
wünſche Frankreich von dem allgemeinen Einverſtändniß auszuſchließen.**)
Müde des ewigen Zauderns der engliſchen Regierung, erklärte Bülow
8*
[116]V. 2. Die Kriegsgefahr.
endlich, gemeinſam mit dem Oeſterreicher: die deutſchen Mächte müßten
dem Divan ihren Beiſtand entziehen.*) Dieſe Drohung wirkte. Nur
vier Tage nachher (30. Jan. 1841) richteten die Geſandten der vier
Mächte an Shekib Effendi eine gemeinſame Note, welche den Sultan
dringend aufforderte dem Paſcha die erbliche Herrſchaft über Aegypten
zu gewähren und dergeſtalt den Streit beizulegen.**)
„Unſer großes Geſchäft iſt alſo nahezu beendigt“, ſchrieb Palmerſton
erleichtert; „noch bleibt uns übrig der Krieg gegen den bewaffneten
Frieden.“***) Auch dieſer Sorge ſollten die vier Mächte bald enthoben
werden. Aufs Eifrigſte bemühte ſich König Leopold, der im Februar
nochmals nach London kam, den Franzoſen eine goldene Brücke zu bauen.
Da Guizot mittlerweile die Gewißheit gewonnen hatte, daß die Kammern
die Befeſtigung von Paris genehmigen würden, ſo durfte er jetzt unbe-
denklich dem Protokolle zuſtimmen, das zwiſchen den vier Mächten am
5. März vereinbart wurde und dem Paſcha die erbliche Herrſchaft über
Aegypten ſowie den lebenslänglichen Beſitz von Akkon beließ.†) Nun
galt es nur noch, mit Frankreich gemeinſam einen Vertrag über die
orientaliſchen Dinge abzuſchließen um die wiederhergeſtellte Eintracht
Europas feierlich zu bekunden. Viel Neues konnte dies Abkommen aller-
dings nicht bringen; denn obwohl alle Staatsmänner mit dem Ernſte
der Auguren die Unantaſtbarkeit der Türkei als „ein politiſches Axiom“
bezeichneten, ſo wollte doch weder Frankreich noch Rußland eine förmliche
Bürgſchaft für den Beſtand dieſes Reichs übernehmen.††) Mit naiver
Dreiſtigkeit bemerkte Brunnow, die häßlichſten Erinnerungen der mosko-
witiſchen Politik wieder wach rufend: ſolche Bürgſchaften ſeien nutzlos; das
habe man ſeiner Zeit bei der Theilung Polens geſehen.†††) Der ſoge-
nannte Meerengen-Vertrag, der am 15. Juli 1841 zwiſchen der Türkei
und den vier Mächten vereinbart, gleich darauf auch von Frankreich an-
genommen wurde, enthielt demnach, außer den Verabredungen über Mehe-
med Ali, nur noch jene Zuſage, welche der Petersburger Hof gleich beim
Beginne der Verwicklung gegeben hatte: beide Meerengen, Bosporus
und Dardanellen, ſollten fortan in Friedenszeiten den Kriegsſchiffen aller
Nationen verſchloſſen bleiben. Somit ward der gefürchtete Vertrag von
Hunkiar-Iskeleſſi noch kurz vor ſeinem Ablauf geopfert, und mit erha-
benem Stolze prieſen die ruſſiſchen Diplomaten dieſen neuen Beweis der
verſöhnlichen Großmuth ihres Czaren.
[117]Der Meerengen-Vertrag.
Dergeſtalt nahm dieſer große diplomatiſche Kampf, der langwie-
rigſte welchen Europa ſeit dem belgiſchen Streite erlebt hatte, ein armſe-
liges Ende. Im Grunde konnte ſich nur der Sultan des Ausgangs freuen.
Er war durch die vier Mächte vor den Folgen einer ſchmählichen Nieder-
lage bewahrt worden und durfte nunmehr hoffen, unbeläſtigt durch einen
thatkräftigen Hausmeier ſein nichtiges Schlummerleben noch eine gute
Weile fortzuführen. Selbſt die Erbherrſchaft des Rebellen am Nil ließ
ſich zur Noth ertragen. Den Osmanen galt ſie keineswegs für eine un-
abänderliche Thatſache, weil Mehemed Ali’s Geſchlecht nicht heilig war
und der Orient ein geſichertes Thronfolgerecht kaum kennt. Die Fäul-
niß des Reiches der Sultane hatte ſich freilich ſo grell offenbart, daß
ſogar H. v. Moltke, der den Türken ſo viel edle Kraft geopfert hatte, jetzt
in der Allgemeinen Zeitung rundweg ausſprach, ein chriſtlich-byzantiniſches
Reich müſſe dereinſt die Erbſchaft am Bosporus antreten. Vorläufig je-
doch ſtand der Halbmond auf der Kuppel der Hagia Sophia wieder feſt,
und bei der Eiferſucht der Franken blieb es ſehr zweifelhaft, wann jemals
das Kreuz wieder über dem Chriſtendome Juſtinian’s glänzen würde. Noch
mehr, die Türkei war jetzt zum erſten male in eine europäiſche Conferenz
als vertragſchließende Macht eingetreten und hatte alſo, vornehmlich
durch Englands Schuld, in der Völkergeſellſchaft des Abendlandes eine
Stellung erlangt, welche ihr in keiner Weiſe gebührte; denn das euro-
päiſche Völkerrecht beruht auf der chriſtlichen Idee der Verbrüderung der
Nationen, der Koran hingegen kennt nur zwei Reiche auf Erden, das
Reich des Islams und das Reich des Krieges, mithin darf ein muha-
medaniſcher Staat die Grundgedanken völkerrechtlicher Gleichheit und
Gegenſeitigkeit nicht ehrlich anerkennen. Die vielverheißene Gleichberech-
tigung der Rajahvölker mußte ein leeres Wort bleiben, weil die Herr-
ſchaft der Gläubigen über die Ungläubigen eben das Weſen dieſer un-
wandelbaren theokratiſchen Verfaſſung ausmachte; noch immer diente kein
einziger Chriſt im türkiſchen Heer, das ja ausdrücklich zur Knebelung der
Chriſten beſtimmt war. Die Aufnahme eines ſolchen Staates in die
Rechtsgemeinſchaft der chriſtlichen Völker war eine häßliche Unwahrheit;
ſie wurde jedoch von der aufgeklärten liberalen Welt, die ſich der chriſtlichen
Grundlagen unſerer Cultur nur ungern erinnerte, als ein erfreulicher Fort-
ſchritt der Geſittung geprieſen; praktiſch ſchien ſie darum erträglich, weil
die Pforte im Gefühle ihrer Schwäche ſich bald von einer bald von meh-
reren der chriſtlichen Mächte leiten ließ.
Wie man in Petersburg die Londoner Verträge anſah, das hat Neſſel-
rode 1850 ausgeſprochen in einem Rechenſchaftsberichte über die auswärtige
Politik des letzten Vierteljahrhunderts, den er dem Czaren zum Regierungs-
jubelfeſte überreichte. Da ſchilderte er — aufrichtig wie er unter vier
Augen ſprechen durfte, und mit einer faſt mongoliſchen Ruhmredigkeit:
— erſt die Julirevolution habe der Regierung des Kaiſers „den wahren
[118]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Charakter aufgeprägt, der ſie in der Zukunft auszeichnen würde.“ Seit-
dem ſei Nikolaus „für die Welt der Vertreter der monarchiſchen Idee,
die Stütze der Grundſätze der Ordnung, der unparteiiſche Vertheidiger
des europäiſchen Gleichgewichts geworden,“ und, wenn auch oft gehemmt
durch „die Furchtſamkeit“ ſeiner deutſchen Verbündeten, doch endlich 1841
dahin gelangt, das feindſelige und verderbliche engliſch-franzöſiſche Bünd-
niß zu ſprengen. Ueber Rußlands orientaliſche Politik ſagte er ſehr deut-
lich: „Indem Ew. Maj. ſorgſam vermieden, ſich durch eine Bürgſchaft
für den Länderbeſtand eines verfallenden Staates zu binden, um nicht
im Voraus die Zukunft Rußlands feſtzulegen, befolgten Sie immer den
Grundſatz, für jetzt die Unantaſtbarkeit der ottomaniſchen Beſitzungen zu
wahren, da die Nachbarſchaft dieſes Staates, in dem Zuſtande verhält-
nißmäßiger Schwäche worin ihn unſere früheren Eroberungen gelaſſen
haben, unter den gegenwärtigen Umſtänden das für unſere politiſchen und
Handels-Intereſſen günſtigſte Verhältniß darbietet. Sonderbare Wirkung
des Wechſels, den das Glück in den gegenſeitigen Beziehungen hervorge-
bracht hat! Die Macht, die man früher als den natürlichen Feind der
Türkei betrachtete, iſt ihre feſteſte Stütze und ihr treueſter Verbündeter
geworden.“ Demgemäß hat Rußland zweimal den Sultan vor dem ägyp-
tiſchen Rebellen gerettet. „Die zweite dieſer Kriſen, weniger glänzend
vielleicht, hat beſſer geſicherte Ergebniſſe herbeigeführt. Der Vertrag von
Hunkiar-Iskeleſſi, wogegen Frankreich und England ſich vergeblich verwahrt
hatten, wurde ſcheinbar vernichtet, in Wahrheit unter einer anderen Form
verewigt. Der neue, von allen Mächten anerkannte Vertrag, der an ſeine
Stelle trat, unterſagte den Kriegsſchiffen die Einfahrt in die Dardanellen
und ſichert uns fortan gegen jeden Angriff von der Seeſeite.“*)
Ganz ſo glänzend, wie dieſe prahleriſche Denkſchrift behauptete, waren
Rußlands Erfolge nicht. Dem Czaren wurde freilich die Freude, daß der
verhaßte Weſtbund ſich eine Zeit lang ſpaltete; doch die Trennung war
keineswegs unwiderruflich. Durch den Meerengenvertrag opferte der Peters-
burger Hof zwar wenig oder nichts, da das Schwarze Meer jetzt faſt ſo
vollſtändig den Ruſſen gehörte wie vor hundert Jahren den Osmanen;
gleichwohl war ſeine Machtſtellung in Pera erſchüttert, der Divan zeigte
den unbedingten britiſchen Freunden mehr Vertrauen als dem trotz alles
Selbſtlobes immerdar zweifelhaften ruſſiſchen Gönner. Und wie un-
ſicher blieb das neugegründete freundliche Einverſtändniß mit England.
Nikolaus überhäufte den engliſchen Geſandten mit Artigkeiten und zeigte
gefliſſentlich überall ſeine Vorliebe für britiſches Weſen.**) Solche gottor-
piſche Schauſpielerkünſte konnten doch den tiefen Gegenſatz, welcher die
beiden um Aſiens Beherrſchung ringenden Mächte trennte, nicht beſeitigten.
[119]Ergebniſſe des Meerengen-Vertrags.
Das mußte Brunnow erfahren, als er während der Londoner Conferenzen
bei Wellington anklopfte, ob England und Rußland ſich nicht in Freund-
ſchaft über ihr aſiatiſches Machtgebiet verſtändigen könnten. Weder Palmer-
ſton noch der eiſerne Herzog wollte ſich auf ſolche Verhandlungen ein-
laſſen; denn augenblicklich drang England überall auf aſiatiſchem Boden
ſiegreich vor, in Syrien, in Afghaniſtan, in China, derweil die Ruſſen
gegen Chiwa einen unglücklichen Feldzug führten, und ſich für die Zukunft
die Hände zu binden widerſprach allem engliſchen Brauche.*) Alſo war
der Czar mit Frankreich verfeindet, mit England und der Pforte nur
loſe verbunden, von der Hofburg beargwöhnt und ſelbſt der preußiſchen
Freundſchaft nicht mehr ſo ſicher wie vormals.
Auch England erfreute ſich keines ungetrübten Triumphes. Seine
Herrſchaft im Mittelmeere war freilich von Neuem geſichert; aber Palmer-
ſton’s ſchnödes Verfahren hatte die Franzoſen dermaßen aufgebracht, daß
Ludwig Philipp den Lord gradezu als den Urheber des franzöſiſchen Miß-
geſchicks bezeichnete, und ſelbſt in Guizot’s kaltem Herzen ein Stachel zurück-
blieb. Eine Vergeltung konnte alſo ſehr bald eintreten; der jetzt von den
Torys ſelbſt für unentbehrlich gehaltene Bund der Weſtmächte war nur
nothdürftig wiederhergeſtellt. Auf Frankreichs inneren Frieden wirkten die
orientaliſchen Händel wahrhaft verderblich ein. Was man auch zur Be-
ſchwichtigung ſagen mochte, die Nachgiebigkeit Ludwig Philipp’s in einer
Sache, wo er doch keineswegs Unrecht hatte, erſchien nach ſo lauten und
anhaltenden Kriegsdrohungen wie eine Demüthigung Frankreichs. Die
Deutſchen vermochten trotz ihrer Friedfertigkeit den Spott doch nicht ganz zu
verbeißen; als Thiers bald nach dem Meerengenvertrage durch Berlin kam,
ſangen die Studenten vor ſeinen Fenſtern: ſie ſollen ihn nicht haben! Un-
möglich durfte eine ehrgeizige Nation, die von jeher gewohnt war die auswär-
tige Politik mit argwöhniſcher Wachſamkeit zu verfolgen, eine ſolche Niederlage
verzeihen. Guizot handelte klug und verſtändig, da er einem hoffnungsloſen
Kampfe auswich; allein nicht jederzeit iſt Mäßigung die höchſte Tugend des
Staatsmannes, nicht jederzeit iſt ihm erlaubt die Vorurtheile ſeiner Nation
zu mißachten. Der Schimpfname „Miniſterium des Auslandes“, der ſchon
ſo vielen verhaßten Cabinetten beigelegt und immer wieder raſch vergeſſen
worden war, blieb an Guizot’s Regierung haften; denn ganz ſinnlos war
er diesmal nicht. Durch die Gunſt des Königs und die Machtmittel
amtlicher Wahlbeherrſchung behauptete ſich das Friedensminiſterium viele
Jahre hindurch am Ruder; im Volke ward es nie beliebt. Die Fran-
zoſen wußten nunmehr, daß die Orleans kein Herz für die Ehre des
Landes beſaßen, und einen ſolchen Makel konnte eine illegitime Dynaſtie
ſchwerlich ertragen. Der Meerengen-Vertrag ward ein Nagel zum Sarge
des Julikönigthums.
[120]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Auch die wohlgemeinte Politik Preußens erntete in dieſem diploma-
tiſchen Spiele keine Lorbeeren. Friedrich Wilhelm hatte ſich durch Pal-
merſton und Bülow unbedacht in einen Streit verwickeln laſſen, welcher
dem Machtgebiete ſeines Staates fern lag, und war alsdann den engliſch-
ruſſiſchen Ränken ſo lange gefolgt, bis er endlich gezwungen wurde, ſich
unter manniſchfachen, wenig rühmlichen Windungen aus einer ſelbſtver-
ſchuldeten falſchen Stellung wieder hinauszuretten. Er wünſchte auf-
richtig den Beſtand des Julikönigthums, das er früher gehaßt hatte, jetzt
aber als ein letztes Bollwerk der bürgerlichen Ordnung hochſchätzte; und
doch half er ſelbſt mit, durch den Julivertrag die Grundlagen dieſer Monar-
chie zu erſchüttern, eine neue franzöſiſche Revolution vorzubereiten, welche
ihre Brandfackel leicht nach Deutſchland hinüberſchleudern konnte. Als die
Rheingrenze bedroht ward erfüllte er ehrenhaft ſeine Pflicht gegen das
Vaterland; aber wie unklar erſchien ſeine hochherzige Bundespolitik. Wo
war denn jener Deutſche Bund, der in den Depeſchen der Hofburg als
die erſte der europäiſchen Mächte gefeiert wurde? Auf der Londoner Con-
ferenz beſaß er nicht einmal einen Vertreter. Es zeigte ſich zur Beſchä-
mung der Phantaſten, daß für Europa ein Deutſchland neben Oeſterreich
und Preußen überhaupt nicht vorhanden war. Friedrich Wilhelm’s deut-
ſche Politik rechnete mit Faktoren, welche nirgends beſtanden. Und zu
Alledem noch die klägliche Ohnmacht des altersſchwachen Oeſterreichs, die
ſich durch Metternich’s hochtrabende Denkſchriften längſt nicht mehr be-
mänteln ließ.
Nach dem großen Verſöhnungsfeſte des Meerengen-Vertrages war
Europa tiefer denn jemals zerſpaltet. Von den alten Allianzen ſtand
keine mehr ganz feſt, neue hatten ſich nicht gebildet. Das Staatenſyſtem
der Wiener Verträge trieb rathlos einer furchtbaren Erſchütterung ent-
gegen, wenn ſich nicht noch in der elften Stunde ein genialer Wille fand,
der die zerſplitterten Kräfte Mitteleuropas zu einer geſchloſſenen Macht
zuſammenballte. —
Schwerlich wäre König Friedrich Wilhelm an die Gefahren eines
allgemeinen Krieges ſo nahe herangetreten, wenn nicht die religiöſe Be-
geiſterung bei ſeinen Entſchlüſſen mitgewirkt hätte. Indem er ſich für
die Unantaſtbarkeit der Türkenherrſchaft ausſprach, glaubte er, ſeltſam
genug, den philhelleniſchen Geſinnungen ſeiner Jugend keineswegs untreu
zu werden. Das herriſche Eingreifen der europäiſchen Mächte in die
inneren Verhältniſſe des Orients erſchien ihm vielmehr wie eine Erneue-
rung der Kreuzzüge, wie ein Sieg des Kreuzes über den Halbmond, und
von vornherein ſprach er die Erwartung aus, dieſe Gelegenheit müſſe be-
nutzt werden um allen chriſtlichen Kirchen auf dem Berge Zion eine
Heimath zu ſichern. Jeruſalem war die heiligſte Stätte der Chriſtenheit,
[121]Bisthum Jeruſalem.
freilich auch die Stätte, wo ſich der Glaubenshaß der kirchlichen Parteien
allezeit am roheſten bekundete; an jedem großen Kirchenfeſte mußten in
der Kapelle des heiligen Grabes die muhamedaniſchen Kawaſſen da-
zwiſchen fahren um mit ihren Stöcken und Krummſäbeln Frieden zu
ſtiften unter den raufenden Mönchen der Lateiner und der Orthodoxen.
Unter Mehemed Ali’s geſtrengem Regimente war die Ordnung leidlich
gewahrt worden; er hatte ſogar den Judenmiſſionaren der Proteſtanten
geſtattet ihre Thätigkeit im gelobten Lande zu beginnen. Jetzt da die
Herrſchaft der Pforte durch die chriſtlichen Waffen wiederhergeſtellt wurde,
machte man die demüthigende Erfahrung, daß die Lage der Chriſten ſich
verſchlechterte.
Das rohe türkiſche Recht erkannte nur ſolche Kirchen an, welche ſich um
ein ſichtbares Oberhaupt ſchaarten, die Proteſtanten waren mithin recht-
los. Darum verlangte Friedrich Wilhelm in einer Denkſchrift, welche
ihm ſein Radowitz ausgearbeitet hatte: in Jeruſalem ſollten drei Reſidenten
ihren Wohnſitz aufſchlagen um, mit Hilfe einer gemeinſamen Garniſon
der Großmächte, die Rechte der drei großen Kirchen Europas zu beſchützen.
Die Denkſchrift hatte lediglich kirchliche Zwecke im Auge; an ein deutſch-
chriſtliches Fürſtenthum Paläſtina, wie es H. v. Moltke damals für mög-
lich hielt, dachte der König nicht von fern. Rußland aber war keineswegs
gewillt die Vortheile, deren die Orthodoxen von Altersher in Vorderaſien
genoſſen, mit anderen Kirchen zu theilen. Freundlich warnte Neſſelrode
vor einem Unternehmen, das die Souveränität der Pforte anzutaſten
drohe; er und Orlow meinten bedenklich: wenn man in Jeruſalem ein
religiöſes Krakau ſchaffe, ſo würden die Verlegenheiten des Sultans
nur wachſen. Auch Metternich ſchützte Beſorgniſſe vor wegen der poli-
tiſchen Gefahren einer ſolchen kirchlichen Republik; in Wahrheit betrach-
tete der Wiener Hof jedes Erſtarken des Proteſtantismus ganz ebenſo
mißtrauiſch wie der Petersburger. Nur Frankreich ſchien den preußiſchen
Vorſchlägen günſtig.*)
Friedrich Wilhelm mußte daher einen Theil ſeiner Pläne fallen laſſen
und verſuchte nur noch der evangeliſchen Kirche in Jeruſalem die Gleich-
berechtigung neben den Lateinern, den Griechen, den Armeniern zu ver-
ſchaffen. Da die engliſche Staatskirche auf dem Berge Zion bereits
Grundbeſitz erworben und eine Gemeinde gebildet hatte, ſo wünſchte der
König, daß ein anglikaniſcher Biſchof die Leitung des evangeliſchen Kirchen-
lebens übernähme und von den deutſchen Proteſtanten, die in Paläſtina
zerſtreut lebten, als ſichtbares Oberhaupt anerkannt würde. Eine ſolche
Unterordnung ſchien ihm mit der evangeliſchen Freiheit wohl vereinbar,
weil er die durch Handauflegung geweihten Biſchöfe als rechtmäßige Nach-
[122]V. 2. Die Kriegsgefahr.
folger der Apoſtel, ihr Amt als das wahrhaft katholiſche anſah, und gern
war er bereit, die Hälfte der Koſten, ein Kapital von 15,000 ₤ für dies
anglikaniſche Bisthum zu zahlen, wenn nur die engliſche Kirche der preu-
ßiſchen „eine ſchweſterliche Stellung“ geſtatten wolle.
Mit dieſen Aufträgen wurde Bunſen im Sommer 1841, als die
orientaliſche Verwicklung eben zu Ende ging, nach London geſendet, und
kühner noch als einſt auf dem Capitole erhoben ſich jetzt die Hoffnungen
des diplomatiſchen Theologen. Er ſah die Arche der Kirche ſchon auf
ihrem Ararat gelandet, die Chriſtenheit im katholiſchen Apoſtolate wieder
vereinigt, das jüdiſche Volk in ſeiner Heimath für den chriſtlichen Glauben
gewonnen und dadurch der Anfang gemacht zur Herſtellung Israels —
und das Alles durch die jugendliche Kraft der evangeliſchen Kirche, denn
„der Tod der beiden alten Kirchen“, ſo ſagte er mit gewohnter Zuverſicht,
„iſt nirgends ſichtbarer als im gelobten Lande“. Der König ſelbſt hielt
für nöthig dieſe überſchwänglichen Erwartungen etwas zu dämpfen; er
meinte, für jetzt wäre es genug, wenn die Evangeliſchen den Türken gegen-
über ſich durch ein ſichtbares Oberhaupt deckten, wenn eine evangeliſch-
deutſche Zunge ſich im Oriente zuſammenfände und dieſe evangeliſche
Kirche vielleicht den Mittelpunkt bildete für die Juden-Chriſten. Palmer-
ſton aber empfing Bunſen’s Vorſchläge zunächſt mit Befremden. Als
echter Brite witterte er böſe Hintergedanken, da ſo plötzlich Irus kam
den Kröſus zu beſchenken; denn ſo ſtark der confeſſionelle Ehrgeiz des
Königs, ebenſo ſchwach war der nationale. Nur die Machtſtellung der
evangeliſchen Geſammtheit lag ihm am Herzen, für ſeine preußiſche Landes-
kirche forderte er gar nichts. Er ergab ſich darein, daß die engliſche
Staatskirche die in Preußen ordinirten Geiſtlichen nicht anerkannte, wäh-
rend die preußiſche Kirche die anglikaniſche Ordination unbedenklich als
rechtsgiltig anſah; nur für ſich perſönlich als den Mitſtifter forderte er
das Recht, abwechſelnd mit der Königin von England den Biſchof von
Jeruſalem zu ernennen.
Eine ſo überaus beſcheidene ſchweſterliche Stellung konnte ſelbſt der
Erzbiſchof von Canterbury, der anfangs mit phariſäiſchem Dünkel über
„die minder vollkommenen Einrichtungen“ des feſtländiſchen Proteſtantis-
mus ſprach, der deutſchen evangeliſchen Kirche unmöglich verſagen; waren
doch zwei Deutſche, Nicolayſen und Pieritz, die erſten Bahnbrecher der
Judenmiſſion in Paläſtina und auch ſonſt überall in Vorderaſien deutſch-
evangeliſche Miſſionäre thätig. Zum Glück eiferten Puſey, Newman, alle
die fanatiſchen Kryptokatholiken unter den Anglikanern lebhaft wider die
Pläne des Königs, und eben dieſer Zorn der verhaßten Puſeyiten-Partei
ließ der öffentlichen Meinung die Annäherung an das ungläubige Deutſch-
land minder verdächtig erſcheinen.
Im November 1841 wurde der erſte evangeliſche Biſchof von Jeru-
ſalem durch den Erzbiſchof von Canterbury geweiht, ein Breslauer Jude,
[123]Verſtimmung der deutſchen Proteſtanten.
der in der Taufe den Namen Alexander angenommen hatte und ſein
ſchwieriges Amt ſehr würdig ausfüllte. Die Weihepredigt feierte den Biſchof-
ſitz auf Zion als die Erſtlingsfrucht der Union aller Evangeliſchen. So
ſchenkte Preußen dem neuen anglikaniſchen Bisthum außer der Hälfte
der Unterhaltungskoſten auch die Perſon des Biſchofs. Bunſen ſchwamm
in Wonne; er glaubte wieder einmal einen großen diplomatiſchen Sieg
errungen zu haben, da er die Briten zur Annahme der preußiſchen Ge-
ſchenke bewogen hatte, und vernahm mit Entzücken, wie ſein gottſeliger
Freund Lord Aſhley Preußens chriſtlichen Monarchen als „den beſten
und herrlichſten König dieſer Welt“ pries. Nicht ohne Schadenfreude
bemerkte er, daß die anderen Großmächte alleſammt das evangeliſche Bis-
thum mit ſcheelen Augen betrachteten.*) Rußland und Frankreich bewarben
ſich ſeit dem Dardanellen-Vertrage wieder wetteifernd um Englands Gunſt
und konnten nicht wünſchen, durch Preußen überboten zu werden, während
Metternich von der Freundſchaft der beiden proteſtantiſchen Großmächte
unbeſtimmte Gefahren für die katholiſche Kirche befürchtete, und ſein ge-
treuer Neumann in London ängſtlich ſagte: Bunſen ſoll hier einen neuen
ſchmalkaldiſchen Bund gründen.
Aber auch die deutſchen Proteſtanten zeigten ſich mißtrauiſch. Ganz
vergeblich verſuchten General Gerlach in der Augsburger Allgemeinen
Zeitung, Hengſtenberg in ſeiner Kirchenzeitung das Werk ihres königlichen
Gönners zu rechtfertigen.**) Geradezu abſchreckend wirkte das weihevolle
Büchlein über „das evangeliſche Bisthum in Jeruſalem“, das von Bunſen
gemeinſam mit einem anderen theologiſchen Diplomaten, dem jungen
Abeken ausgearbeitet war und über die unermeßliche Zukunft des chriſtia-
niſirten Paläſtinas mit einer Sicherheit redete, als ob die Weltgeſchichte
verpflichtet wäre ihre Schauplätze niemals zu verändern. Die liberale
Welt wollte ſich zu kirchlichen Unternehmungen überhaupt ein Herz faſſen;
ſie lächelte über die Berliner „diplomatiſche Romantik“ und fragte ſpöttiſch,
warum nur dieſer König, der ſeine preußiſchen Juden ſo wenig liebe, für
das Volk Gottes in der Urheimath ſo zärtlich ſorge. Aber auch „ſehr gut
geſinnte Männer“ in Preußen und in Süddeutſchland fanden, wie General
Thile berichtete, die Unterordnung deutſcher Gemeinden unter einen angli-
kaniſchen Biſchof höchſt anſtößig; das längſt verbreitete Gerücht von den
katholiſchen Neigungen des Königs ſchien jetzt ſeine volle Beſtätigung zu
empfangen. Als Biſchof Alexander den erſten Jahrestag ſeines Einzugs
in Jeruſalem durch eine Dankſagung feiern wollte und der König die
Gemeinden ſeiner Landeskirche „in aller Freiheit“ zur Mitwirkung auffor-
dern ließ, da zeigte ſich nur an wenigen Orten aufrichtige Theilnahme.***)
[124]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Da die evangeliſche Kirche ſich auf dem Worte aufbaut, ſo gewährt ſie
der Perſönlichkeit, mithin auch der volksthümlichen Eigenart der Prediger
einen großen, oft allzu großen Spielraum; die Deutſchen vermißten in
den trockenen, ſchablonenhaften Anſprachen der Anglikaner gänzlich die
durchgebildete homiletiſche Kunſt ihrer heimiſchen Predigten. Die vorherr-
ſchende Meinung der Landeskirche bekundeten zwei ſtreng gläubige Theo-
logen, Schneckenburger und Hundeshagen in einer geharniſchten Schrift
„das anglo-preußiſche Bisthum zu St. Jakob“; ſie nannten es unwürdig,
daß Deutſchlands Proteſtantismus hinter ſeiner jüngeren Schweſter zurück-
ſtehen ſolle: ſei ſeine ſchlichte Wahrhaftigkeit etwa weniger chriſtlich als
die werkheilige Selbſtbeſpiegelung jener Staatskirche, welche Milton ſchon
mit der Diana von Epheſus verglichen hatte?
Der König ließ ſich durch alle ſolche Einwürfe nicht beirren, und er er-
lebte nach einigen Jahren die Freude, daß ſeine fromme Stiftung gedieh, weit
beſcheidener freilich als Bunſen geträumt hatte. Die Judenmiſſion fand im
Vaterlande Israels begreiflicherweiſe einen ſehr undankbaren Boden; indeſſen
mehrte ſich die Zahl der Proteſtanten nach und nach durch Einwanderung
und vereinzelte Bekehrungen. Neben der Jakobskapelle auf Zion entſtanden
bald ein Hospital, ein Waiſenhaus, eine treffliche Schule. Drei Gemein-
den, eine deutſche, eine engliſche, eine arabiſche, erkannten den Biſchof als
geiſtliches Oberhaupt an ohne doch ihre Selbſtändigkeit aufzugeben; die
deutſche hielt ihren Gottesdienſt nach der Liturgie, welche Bunſen einſt
auf dem Capitol eingeführt hatte. Als Alexander’s Nachfolger Biſchof
Gobat Alles auf anglikaniſchen Fuß zu ſetzen verſuchte, mußte er raſch
wieder einlenken und ſah ſich genöthigt, zuweilen ſelbſt deutſchen Gottes-
dienſt zu halten.*) Alſo erblühte auf Zion ein geſundes evangeliſches
Kirchenleben, vielgeſtaltig und doch einträchtig, wie es der Idee des Pro-
teſtantismus entſpricht; und die Macht des jungen Bisthums reichte bald
weit genug um den Proteſtanten überall in Vorderaſien eine Stütze zu
bieten. Auf die Dauer aber konnten die Deutſchen unmöglich ertragen,
daß ihren Geiſtlichen die Gleichberechtigung verweigert wurde; und da der
britiſche Hochmuth ſchlechterdings nicht nachgab, ſo ſah ſich die Krone
Preußen nach einem halben Jahrhundert (1887) genöthigt, das phan-
taſtiſche Unionsbisthum aufzugeben, ihre Gemeinde auf Zion ganz ſelb-
ſtändig auszugeſtalten.
Als politiſcher Vertrag war das von Bunſen geſchloſſene Abkommen
eine Ungeheuerlichkeit, weil England allein ohne jede Gegenleiſtung die
Vortheile daraus zog, und erfahrene Diplomaten meinten ſchon: jetzt
werde dem theologiſchen Eindringling doch endlich das Handwerk gelegt
werden. Friedrich Wilhelm dachte anders. Politiſche Pläne hatte er bei
[125]Bunſen Geſandter in London.
dieſen Verhandlungen überhaupt nicht verfolgt, ſondern immer wieder be-
ſcheiden gemahnt: „effaciren wir uns;“ und da er nun das chriſtliche
Liebeswerk, das ihm allein am Herzen lag, geſichert ſah, ſo beſchloß er
ſeinen Unterhändler glänzend zu belohnen. Seit dem Herbſt 1841 begann
er die längſt geplante Verſchiebung im diplomatiſchen Corps durchzuführen.
Miniſter Werther erhielt ein hohes Hofamt, und an ſeine Stelle trat
Graf Maltzan, bisher Geſandter in Wien. Bülow, deſſen Talente der
König ſehr hoch anſchlug, wurde zum Danke nach Frankfurt verſetzt um
friſchen Zug in die Bundespolitik zu bringen. Bei der Ernennung des
Nachfolgers zeigte Friedrich Wilhelm ein galantes Zartgefühl wie es in
der Geſchichte der Diplomatie unerhört war; er ließ der jungen Königin
ſelbſt die Wahl zwiſchen drei Namen: Graf Arnim, Graf Dönhoff, Bunſen.
Die Antwort konnte kaum zweifelhaft ſein, da Bunſen während der jüngſten
Verhandlungen allen engliſchen Wünſchen ſo geſchmeidig nachgegeben hatte.
Nach Rückſprache mit der Königin erwiderte Lord Aberdeen: „wir können
nichts Beſſeres thun als zu behalten was wir haben,“ alſo Bunſen; die
beiden anderen Herren kennen wir nicht.*)
Unmöglich konnte England eine beſſere Wahl treffen, unmöglich
Preußen eine ſchlechtere. Die ſchwächſte der großen Mächte brauchte als
Vertreter Männer von ſtarkem preußiſchem Stolze, Männer, welche die
Selbſtändigkeit ihres bei den älteren Großmächten noch kaum für voll
angeſehenen Staates rückſichtslos wahrten. Daran hatte es ſchon Bülow
zuweilen fehlen laſſen, da er ſich mit den Jahren bis zur Selbſtver-
geſſenheit in engliſche Anſchauungen eingelebt hatte. Bunſen aber war
bereits als er ſein Amt antrat durch den Einfluß ſeiner britiſchen Gattin
halb zum künſtlichen Engländer geworden; mehrere ſeiner Kinder nahmen
die Nationalität der Mutter an; das Unglück ſo vieler Diplomatenfami-
lien, die internationale Verſchwommenheit ließ ſich von dieſem Hauſe gar
nicht abwenden. Welch eine Genugthuung für den ſelbſtzufriedenen Mann,
als er, ſo bald nach ſeinen römiſchen Niederlagen, aus dem ſtillen Land-
hauſe auf dem Hubel bei Bern plötzlich nach dem ſtattlichen Pruſſia-
Houſe auf Carlton-Terrace verſetzt wurde. Dort ſah er in ſeiner näch-
ſten Nachbarſchaft den Buckingham-Palaſt der Königin, den Weſtminſter-
palaſt des Parlaments, das Auswärtige Amt in Downingſtreet, die alten
Bäume des St. James-Parkes, überall die Zeugen einer großen Ge-
ſchichte. Hellauf leuchtete das Flackerfeuer ſeiner leicht entzündlichen Be-
geiſterung; Staat und Kirche, Land und Leute der reichen Inſel erſchienen
ihm in roſigem Lichte. Sein eigenes Amt hielt er für den wichtigſten
diplomatiſchen Poſten Preußens, und hoch beglückte ihn das Bewußtſein,
[126]V. 2. Die Kriegsgefahr.
daß er berufen ſei „die hiſtoriſche Allianz“ der beiden ſtammverwandten
Nationen wieder feſter zu ſchließen. Dieſe hiſtoriſche Allianz war ſeit
dem Thronwechſel ein Lieblingswort der preußiſchen Diplomatie; Niemand
fragte, was der preußiſche Staat durch die engliſche Freundſchaft einſt
gewonnen habe und ob er jetzt nicht ſtark genug ſei ihrer zu entrathen.
Hoffnungsſelig wie einſt in Rom betrachtete Bunſen auch in London
jede perſönliche Freundlichkeit die ihm widerfuhr als einen politiſchen Sieg
und glaubte im Ernſt, das ungemüthlichſte aller Völker durch Gemüth-
lichkeit gewinnen zu können; er hoffte harmlos, die Briten würden der
Erweiterung des Zollvereins nichts in den Weg legen und falls Deutſch-
land Kolonien erwürbe, dieſe liebevoll mit ihrer Flotte beſchützen. Die
Engländer betrachteten ihren glühenden Bewunderer mit ſtiller Ironie
und verſäumten nicht ſeine unerwiederte Liebe ſich zu nutze zu machen.
Ritter Bunſen — ſo hieß er bei Hofe — wurde bald eine gefeierte
Größe der Londoner Geſellſchaft, ein Liebling der Zeitungsreporter. Er
machte es möglich, neben der Unmaſſe ſeiner immer geiſtreichen aber immer
unpraktiſchen Depeſchen und Denkſchriften auch noch an ſeinem Buche
über Aegyptens welthiſtoriſche Stellung zu ſchreiben und ſeine liturgiſchen
Studien fortzuführen. So ſtand er den diplomatiſchen, den gelehrten,
den kirchlichen Kreiſen Londons gleich nahe und konnte immer wieder mit
gerechtem Selbſtgefühle berichten, wie er einem Feſte beim Lord Mayor
oder beim Erzbiſchof von Canterbury als einziger Foreigner beigewohnt,
wie ſein in tadelloſem Engliſch gehaltener speech irgend eine Verſamm-
lung begeiſtert, wie die Univerſität Oxford, dankbarer als die deutſchen
Hochſchulen, ihn durch ihren Doktorhut geehrt habe. Er benutzte dieſe
glänzende geſellſchaftliche Stellung um für die Deutſchen Londons man-
nichfache gemeinnützige Anſtalten zu gründen und zumal den jungen
deutſchen Gelehrten, die ihm bei ſeinen Arbeiten zur Hand gingen vor-
wärts zu helfen. Nach der Meinung des großen Publicums gereichte
es auch dem preußiſchen Staate zum Vortheil, daß von dem Prussian
Minister in der Rieſenſtadt immer und überall die Rede war. In Wahr-
heit brachte ſeine politiſche Wirkſamkeit in London wie vormals in Rom
dem Vaterlande nur Schaden. Auf die kalten engliſchen Geſchäfts-
männer konnte ein Enthuſiaſt, der ſo leicht mit biederen Worten abzu-
ſpeiſen war, unmöglich Einfluß gewinnen. Am preußiſchen Hofe aber
wurden durch Bunſen’s ſanguiniſche Berichte grundfalſche Vorſtellungen
von Englands deutſcher Politik hervorgerufen, verhängnißvolle Irrthümer,
welche ſich ſpäterhin als Schleswig-Holſteins Schickſal auf dem Spiele
ſtand ſchwer beſtrafen ſollten.
In Berlin war der Boden für ſolche gemüthliche Selbſttäuſchungen
nur zu wohl vorbereitet. Friedrich Wilhelm’s alte, urſprünglich wohl
durch Niebuhr’s Vorträge geweckte Vorliebe für England hatte neuerdings
noch an Wärme gewonnen, ſeit mit der jungen Königin an den vormals
[127]Prinz Albert.
ſo leichtlebigen Hof eine bürgerliche Wohlanſtändigkeit eingezogen war,
welche ſelbſt der Sittenrichter-Strenge des preußiſchen Königspaares ge-
nügte. Die wenigen entſchiedenen Monarchiſten, welche England noch
beſaß, hegten den verſtändigen Wunſch, daß Victoria ſich mit ihrem faſt
gleich alten Vetter, dem Prinzen Georg von Cambridge vermählen möchte;
dann konnte ein Wechſel der Dynaſtie, der das Anſehen der Krone immer
ſchädigt, dem Lande erſpart bleiben. Die Königin aber wollte gut bürger-
lich ihrer Neigung folgen, und ihr Oheim König Leopold hatte ſchon dafür
geſorgt, daß ihr Herz nicht weit von den Wegen des Hauſes Coburg ab-
irren konnte. Sein Neffe, der ſchöne, für die Brautfahrt ſorgfältig vor-
bereitete Prinz Albert errang ſich die Hand Victoria’s, die ſo lange ver-
geblich erſtrebte Stellung eines engliſchen Prinzgemahls ward wirklich
einem Coburger gewonnen, die vierte Königskrone ſtand den Wettinern
in Ausſicht, der luftige Bau der ſächſiſchen Hauspolitik kam unter Dach.
Prinz Albert bekam anfangs den Deutſchenhaß der Briten ſchwer zu
empfinden. Zahlreiche Zerrbilder ſtellten ihn dar inmitten ſeines bärtigen,
rauchenden, biertrinkenden Gefolges; man bezweifelte boshaft, ob dieſer
Sohn des älteſten Bekennergeſchlechtes der Proteſtanten evangeliſch ſei,
da ja ſeine Vettern, die Coburg-Koharys ſich der römiſchen Kirche zuge-
wendet hatten; ſein Jahreseinkommen ward vom Parlamente unanſtändig
knapp bemeſſen, der Titel eines König-Gemahls, den ihm die zärtliche
Gattin zudachte, ſtieß auf allgemeinen Widerſpruch, und ein Mitglied des
Geheimen Raths ſagte höhniſch zu Bunſen: wir können ihn doch nicht
gegebenen Falles König-Wittwer nennen.*) Selbſt den Namen eines Prinz-
gemahls gewährte man dem Deutſchen erſt nach Jahren, und Zeit ſeines
Lebens gelang es ihm nie das Mißtrauen des Inſelvolkes gänzlich zu
überwinden.
Gleichwohl gewann er durch Klugheit, Takt, ernſte gemeinnützige
Thätigkeit nach und nach einigen Boden. Die Damen waren von vorn-
herein für den ſchönen Prinzen, und die beiden großen Adelsparteien
fanden es bald rathſam ſich ſeiner Unterſtützung zu verſichern.**) Die
Briten freuten ſich an dem wohlgeordneten Haushalt und dem Familien-
glück der Königin, das alljährlich mit großer Pünktlichkeit, ſobald die von
den Naturgeſetzen gebotene Zwiſchenzeit ablief, durch die Geburt eines
Kindes verſchönt wurde. Der Hof wurde endlich wieder eine ſociale Macht,
obgleich er nie mehr, wie einſt in den Tagen der Stuarts, den Mittel-
punkt des hauptſtädtiſchen Lebens bilden konnte, und die gründlich fri-
vole vornehme Geſellſchaft Londons mußte ſich mindeſtens in ihrer äußeren
Haltung nach den ehrbaren höfiſchen Sitten richten. Zum erſten male ſeit
der Thronbeſteigung der Welfen zeigte das königliche Haus wieder einiges
[128]V. 2. Die Kriegsgefahr.
Verſtändniß für das geiſtige Leben der Nation, eine Theilnahme, die aller-
dings nicht in die Tiefe ging; denn Prinz Albert war, wie alle Coburger,
ohne warmes religiöſes Gefühl, eine ſchwungloſe proſaiſche Natur, die
ſich leicht daran gewöhnte, nach engliſcher Weiſe Alles very interesting
zu finden; er hatte ſich zu Brüſſel tief eingelebt in die mechaniſche Welt-
anſchauung des Statiſtikers Quetelet, der alle Erſcheinungen des ſocialen
Lebens, auch die ſittlichen, aus dem Walten blinder Naturgeſetze erklärte.
Das Kunſtgewerbe ſtand ihm höher als die Kunſt, die Technik höher als
die Wiſſenſchaft, das Merkwürdige höher als das Ideale. Den eigen-
thümlich trockenen Ton dieſes ſittſamen Hofes gaben ſpäterhin Victoria’s
„Blätter aus unſerem Leben in den Hochlanden“ getreulich wieder, unbe-
ſtreitbar das langweiligſte unter den vielgenannten Büchern des neunzehn-
ten Jahrhunderts.
Der Prinz betrachtete, gleich ſeinem Oheim Leopold, den Oranier
Wilhelm III. als ſein Muſter, und obwohl er weder die Macht noch das
Genie ſeines Vorbildes beſaß, ſo wirkte er doch auf die Entwicklung der
engliſchen Verfaſſung nachhaltig ein. Er gewöhnte die Krone, ohne Wider-
ſpänſtigkeit und unter Wahrung der äußeren Würde die neutrale Stellung
einzunehmen, welche ihr nach dem Verlaufe der Geſchichte dieſes Landes
allein noch zukam: die Stellung nicht über, ſondern unter den Parteien.
Als er nach England kam, fand er die Whigs noch am Ruder und die
Königin ernſtlich gewillt die Freunde ihrer Jugend im Beſitze der Macht
zu erhalten. Albert ſelbſt ſtand als Fremdling den Parteien unbefangener
gegenüber und wurde von ſeinem getreuen Stockmar dringend ermahnt
ſich dieſe Freiheit zu erhalten. Als nun die Whig-Regierung bald nach
ihrem letzten Erfolge, dem Meerengen-Vertrage rettungslos zuſammen-
brach, da war er es, der die Königin bewog, den jetzt unvermeidlichen
Torys mit Wohlwollen entgegenzukommen und ſelbſt die Damen ihrer
Umgebung aus den Reihen der herrſchenden Partei zu wählen. In ſpäteren
Jahren trug er ſich mehrmals mit der Abſicht die Macht der Krone zu
verſtärken, den perſönlichen Willen des Monarchen nach deutſcher Weiſe
zur Geltung zu bringen. Sobald er jedoch die Unmöglichkeit ſolcher
Pläne erkannte, gab er ſeiner Gemahlin den Rath, jedes Miniſterium,
das der Mehrheit im Parlamente ſicher ſei, ohne Hintergedanken zu unter-
ſtützen. Der Rath wirkte, und die Krone ward nach und nach ſo an-
ſpruchslos, daß die Königin nicht einmal mehr wagte bei der Wahl der
Perſonen für das Cabinet mitzureden, ſondern dem leitenden Staats-
manne der Mehrheit des Unterhauſes die Bildung der neuen Regierung
ſtets unbeſchränkt überließ.
Fortan herrſchte Eintracht zwiſchen Krone und Parlament, während die
früheren Könige des Welfenhauſes unwillkommene Miniſter immer durch
kleine Bosheiten zu ſchädigen geſucht hatten; und es ergab ſich, daß eine
klug berathene Frau die Rolle eines parlamentariſchen Schattenkönigs faſt
[129]Das engliſche Muſterkönigthum.
noch beſſer zu ſpielen vermag als ein Mann. Denn eine Fürſtin darf, ohne
Aergerniß zu erregen, mit der naiven Unbeſcheidenheit der Weiber Alles was
unter ihrem Namen geſchieht für ihr eigenes Werk ausgeben, und die Galan-
terie der Männer geſtattet den Frauen jederzeit über unverſtandene Dinge
zuverſichtlich abzuſprechen. Von dieſen beiden Vorrechten ihres Geſchlechtes
machte Königin Victoria ausgiebigen Gebrauch. Sie ſprach geläufig über
alle Einzelheiten der Verwaltung, erzählte dem ironiſch aber ehrfurchtsvoll
zuhörenden General Natzmer mit der größten Beſtimmtheit von den Ver-
beſſerungen, welche ſie im Heerweſen eingeführt habe, und ließ ſich gern eine
andere Eliſabeth nennen, obſchon die Welfin mit der minder tugendhaften
aber großen Tochter des Hauſes Tudor eigentlich nichts gemein hatte als den
weiblichen Eigenſinn. Alſo lernte das Königthum durch den Prinzgemahl,
ſeine Nichtigkeit mit Anſtand zu ertragen; dafür ward der Trägerin der
Krone überall mit Worten tiefſter Ergebenheit gehuldigt. Die Phraſe
der Unterthänigkeit, der constitutionel cant der Briten blühte wie nie
zuvor; wer aufrichtig genug war die junge Königin nicht ſchön zu finden
lief Gefahr von der vornehmen Welt für toll gehalten zu werden.
Ein ſolches Schauſpiel inneren Friedens mußte grade die gemäßigten
deutſchen Liberalen mit Bewunderung erfüllen; enttäuſcht durch das Ränke-
ſpiel des Julikönigthums begannen ſie ſich von den franzöſiſchen Freiheits-
gedanken der dreißiger Jahre abzuwenden und fanden nunmehr in dem
Staate der Königin Victoria das conſtitutionelle Ideal verwirklicht. Nur
Wenige bemerkten, wie der ariſtokratiſche Unterbau des altengliſchen Par-
lamentarismus ſeit der Reformbill zerbröckelte, wie die Entſcheidung im
Unterhauſe allmählich in die Hände der Schotten und der Iren kam,
und alſo neue demokratiſche Umgeſtaltungen ſich vorbereiteten. Zugleich
erlebte Großbritannien eine Zeit beiſpielloſen wirthſchaftlichen Aufſchwungs.
Sein Gewerbfleiß erſtarkte dermaßen, daß er ſich nunmehr zutraute alle
Märkte der Welt zu beherrſchen und darum das Banner des Freihandels
aufpflanzte. Eine gewaltige Auswanderung eroberte ihm weite Kolonien,
welche ſelbſt wenn ſie die politiſche Herrſchaft des Mutterlandes vielleicht
dereinſt abſchüttelten, doch ſeiner Geſittung unverloren blieben und alſo
dem angelſächſiſchen Volksthum einen großen Vorſprung vor dem teuto-
niſchen ſicherten; nicht lange, ſo lag in jedem Winkel des Erdballs ein
Land, das die glückhaften Namen Victoria und Albert führte. Befangen
in ihren Parteikämpfen und ihrer nachbarlichen Eiferſucht beachteten die
Völker des Feſtlandes kaum, wie alſo in aller Stille das größte Reich
der Weltgeſchichte heranwuchs. Ja die deutſchen Anglomanen pflegten Eng-
land als eine muſterhaft friedfertige Macht zu preiſen, die in ihrer Harm-
loſigkeit mit einem kleinen Söldnerheere auskomme; und doch war dies neue
Karthago der einzige Staat Europas, der beſtändig, häufiger ſogar als
Rußland, Kriege führte, freilich Kriege, in denen das Gold noch mehr
bedeutete als das Eiſen.
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 9
[130]V. 2. Die Kriegsgefahr.
An der Seite der Herrſcherin eines ſolchen Weltreichs mußte ein
kleiner deutſcher Prinz in die nämliche Lage gerathen wie eine ins Aus-
land verheirathete Prinzeſſin: er konnte ſein Volksthum nicht behaupten.
Prinz Albert wurde bald ganz zum Engländer, obwohl er im Familien-
kreiſe meiſtens deutſch ſprach und die liebreiche Gemahlin, zum Entſetzen
aller frommen Britenherzen, ihm ſogar erlaubte beim Fiſcheſſen ein ſilber-
nes Meſſer zu benutzen. Als er wenige Jahre nach ſeiner Heirath Deutſch-
land wieder beſuchte, trug er die britiſchen Sitten gefliſſentlich zur Schau
und hielt im grauen Sommer-Ueberrock die Heerſchau über die Mainzer
Garniſon, ſo daß die preußiſchen Generale erzürnt fragten, ob dieſer junge
Wettiner denn gar nicht mehr wüßte, daß deutſche Fürſten die vaterlän-
diſchen Fahnen im Waffenſchmucke ehrten. In dem kalten, freudloſen
engliſchen Leben verlor er jene menſchenfreundliche Heiterkeit, welche den
gebildeten Deutſchen auszeichnet, und wurde ſteif, pedantiſch, in ſeinen
Urtheilen ſchroff und lieblos, ſo daß ihm auch die Arbeit der Kinder-
erziehung, die er mit großem Pflichteifer betrieb, nur bei einigen ſeiner
Töchter, bei dem Thronfolger gar nicht gelang. Sein Selbſtgefühl ward
durch die berechneten Schmeicheleien der britiſchen Parteiführer und die
harmloſen Lobeserhebungen der feſtländiſchen Conſtitutionellen ſehr hoch
geſteigert. Auf ſeine durchlauchtigen Genoſſen daheim ſah er mit Hoch-
muth herab; er glaubte die deutſche Politik beſſer als ſie zu verſtehen,
obgleich er durch die lange Abweſenheit die Fühlung mit den vaterlän-
diſchen Dingen längſt verloren hatte, und meinte nichts Arges zu thun,
wenn er die deutſchen Fürſten in hofmeiſterndem Tone aufforderte allezeit
den Wegen Englands zu folgen. Derſelben Anſicht huldigte auch die
Königin. Sie liebte ihren Gemahl ſo innig, daß ſie auch ſein Vaterland
mit ins Herz ſchloß und nach Frauenart ſich berechtigt glaubte über deſſen
Wohl zu wachen. Wie ihre Vorfahren als Könige von Hannover, ſo
wähnte ſie als Herzogin zu Sachſen dem Deutſchen Bunde mit anzu-
gehören, und die deutſchen Höfe boten für die zarten Künſte der Damen-
politik einen ungleich dankbareren Boden als das engliſche Parlament.
Zwiſchen London, Brüſſel, Wiesbaden und Coburg wurde, mit Ab-
zweigungen nach Paris und Liſſabon, eine Kurierkette eingerichtet, welche
die Vertrauten des Hauſes Coburg in regelmäßigem Verkehr erhielt.
Während die engliſche Preſſe in ihrem blinden Fremdenhaſſe den angeb-
lichen „deutſchen Einfluß“ am Londoner Hofe bekämpfte, konnte Deutſchland
mit beſſerem Rechte über engliſch-coburgiſchen Einfluß klagen. Des Prinz-
gemahls älterer Bruder, der gut deutſch geſinnte Herzog Ernſt von Coburg
empfand dies ſelbſt ſehr lebhaft; bald nachdem er ſeinen kleinen Thron
beſtiegen hatte, ſchrieb er dem Oheim Leopold: „wir müſſen wieder ehrlich
deutſch werden,“ denn bisher haben wir uns meiſt nur als Verwandte
der großen Höfe des Weſtens gezeigt, darum gilt Coburg für ein Neſt
undeutſcher Ränke und ultraliberaler Ideen. Doch leider blieb es bei
[131]Friedrich Wilhelm’s Anglomanie.
den edlen Vorſätzen. Klugen Rechnern wie Leopold und Albert mußten
die großen weſteuropäiſchen Intereſſen ihrer weltbürgerlichen Dynaſtie wich-
tiger erſcheinen als das kleine deutſche Stammland; und noch oft ſollten
die Rathſchläge der Coburger dem deutſchen Volke ſchädlich werden, um
ſo ſchädlicher, da dies überall vom Schickſal begünſtigte Haus auch das
ſeltene Glück hatte, nicht von gemeinen höfiſchen Schmeichlern, ſondern
von angeſehenen und ehrlichen Schriftſtellern literariſch verherrlicht zu
werden. Alle die tüchtigen deutſchen Gelehrten, welche ſich in London
der Gönnerſchaft Bunſen’s und Stockmar’s erfreuten, wurden zu Apoſteln
der Coburgiſchen Legende und erzählten in gutem Glauben den Lands-
leuten daheim, wie wunderbar der Prinzgemahl verſtanden habe zugleich
ein ganzer Brite zu werden und ein ganzer Deutſcher zu bleiben.
Niemand hörte auf ſolche Erzählungen williger als König Friedrich
Wilhelm. Er zeigte ſchon ſeine Thronbeſteigung auch dem Prinzgemahl
in einem eigenhändigen Briefe an, was die Königin hoch beglückte,*) und
erwies fortan dem jungen Paare beſtändig zarte Aufmerkſamkeiten. Sein
weltkundiger Vater hatte ſich nie darüber getäuſcht, daß Palmerſton den
Unfrieden auf dem Feſtlande abſichtlich nährte.**) Er aber meinte wieder
klüger zu ſein und glaubte den Berichten Bülow’s, der ihm nach den
Verſicherungen engliſcher Staatsmänner treuherzig betheuerte, Palmerſton
ſei nur durch die Schroffheit der Oſtmächte wider ſeinen Wunſch ge-
zwungen worden ſich von ihnen zu trennen und mit dem Vierbunde
von 1840 zu ſeinen urſprünglichen Anſichten zurückgekehrt.***) Als nun
gar die Torys ans Ruder kamen, Lord Aberdeen, der altbewährte An-
hänger Metternich’s in das Auswärtige Amt wieder eintrat, da floß man
in Berlin von Vertrauensſeligkeit über. Ein Miniſterialſchreiben an die
Geſandtſchaft ſagte: ſelbſt unter den Whigs ſeien zwiſchen den beiden
hiſtoriſch verbundenen Mächten die Fäden niemals ganz abgeriſſen; um
ſo herzlicher werde ſich jetzt das Verhältniß zu Aberdeen geſtalten.†) Der
Führer des neuen Cabinets, Robert Peel gewann ſich durch Gradſinn
und ernſte Frömmigkeit das Herz Friedrich Wilhelm’s; ſelbſtändig genug
um nöthigenfalls die Dogmen der Partei zu verletzen, hielt er ſich auch
frei von nationaler Gehäſſigkeit und betrachtete Deutſchland mit einiger
Theilnahme. Wenn ihm Bunſen von dem Deutſchen Bunde als einer
Macht erſten Ranges ſprach, dann war Peel ſo höflich dieſe allerneueſte
Doktrin des Berliner Hofes mit ſeinen guten Wünſchen zu begleiten.
Als bald nachher dem neuen ſächſiſch-welfiſchen Königshauſe ein Thron-
folger geboren wurde, da beſchloſſen die Eltern, auf Stockmar’s Rath, den
König von Preußen durch eine klug berechnete Aufmerkſamkeit in ſeiner
9*
[132]V. 2. Die Kriegsgefahr.
freundſchaftlichen Geſinnung zu beſtärken und baten ihn zu Gevatter.
Sie ſelbſt legten, nach Coburgiſchen Grundſätzen, auf kirchliche Feier-
lichkeiten wenig Werth. Friedrich Wilhelm hingegen ſah in der Einladung
ein feierliches Symbol des Bundes der beiden proteſtantiſchen Großmächte
und erklärte ſich bereit, zu der Taufe perſönlich zu erſcheinen. Aberdeen
war außer ſich vor Freude, wie Bunſen behauptete, desgleichen der edle,
heroiſche neue Biſchof von Jeruſalem. Metternich aber befürchtete von
dieſer engliſchen Reiſe eine gefährliche Aufregung proteſtantiſcher Partei-
leidenſchaften, und Czar Nikolaus ließ dem Schwager beſorglich vorſtellen,
unterwegs würde ſich eine Zuſammenkunft mit dem Bluſenkönige Leopold
oder einem der franzöſiſchen Prinzen kaum vermeiden laſſen.*) Im Januar
1842 kam Friedrich Wilhelm auf dreizehn Tage nach England und wurde
von der amtlichen Welt mit dem höchſten Glanze empfangen. Nur ein
Theil der Preſſe ſchmähte auf den deutſchen Spion, Idioten und Heuchler,
und Lord Brougham ſprach im Oberhauſe die höfliche Erwartung aus,
der Preuße würde von Englands Freiheit etwas lernen, die Verſprechungen
ſeines Vaters endlich ausführen. Feſt folgte auf Feſt, feierliche Trink-
ſprüche verherrlichten die Freundſchaft der beiden proteſtantiſchen Nationen.
Victoria entfaltete ihre ganze Liebenswürdigkeit, ſchmückte ihren Gaſt eigen-
händig mit dem Hoſenbandorden und trug bei den Feierlichkeiten ein
Armband mit ſeinem Bildniß. Auch ein junger Coburg-Kohary war zu-
gegen, dem der unerſättliche Brüſſeler Eheſtifter, wie Jedermann bei Hofe
erzählte, ſchon die Hand der Königin Iſabella von Spanien zugedacht
hatte.
Der König zeigte ſich hoch entzückt von allen den britiſchen Inſtitu-
tionen, die er doch daheim keineswegs nachahmen wollte und wohnte
der Eröffnung des Parlaments nicht als ſchlichter Zuſchauer bei, ſon-
dern — wunderlich genug — gleichſam als großbritanniſcher Reichsver-
wandter, in vollem Schmuck auf einem beſonderen Sitze, der ihm zwiſchen
dem Throne der Königin und den Plätzen der Lords bereitet war. Er
hörte den Gottesdienſt in St. Paul mit großer Andacht und ſcheute
nicht die beſtändigen dem deutſch-proteſtantiſchen Gefühle ſo widerwärtigen
Kniebeugungen; er beſuchte, begleitet von der gottſeligen Quäkerin Mrs.
Fry das Gefängniß von Newgate und bewunderte mit der Aufmerkſamkeit
des literariſchen Feinſchmeckers die Aufführung Shakeſpeariſcher Luſtſpiele
in ihrer urſprünglichen Geſtalt. So verging die kurze Friſt ſehr genuß-
reich, aber ohne wirkliche Belehrung und ohne jedes politiſche Ergebniß.
Den nüchternen britiſchen Staatsmännern gefiel Friedrich Wilhelm’s
Reiſebegleiter, der unerſchöpflich mittheilſame Humboldt weit beſſer als
ſein Herr, der trotz ſeiner geiſtreichen Liebenswürdigkeit doch nicht den
[133]Die Taufreiſe nach England.
Eindruck eines beherrſchenden politiſchen Kopfes hinterließ. Stockmar
erſchrak gradezu über die phantaſtiſchen Einfälle des Königs, als ihm
dieſer ſehr ausführlich und ernſthaft vorhielt, Belgien müſſe um ſeiner
Sicherheit willen durchaus in den Deutſchen Bund eintreten — ein im
Frieden ſchlechthin unausführbarer Plan, da ja Belgien auf Preußens
eigenen Antrag von allen Großmächten als neutral anerkannt war.
Unterwegs wurde, trotz der dringenden Einladungen des Geſandten
Breſſon, der franzöſiſche Boden und jede Berührung mit den Orleans
ſorgfältig vermieden. Leopold von Belgien aber hatte, zur Entrüſtung
des Czaren, den deutſchen Nachbarn ſchon auf der Heimreiſe in Oſtende
begrüßt; und da Friedrich Wilhelm den für den Zollverein wichtigen
belgiſch-luxemburgiſchen Grenzverkehr friedlich zu ordnen wünſchte, ſo
entſchloß er ſich ſchweren Herzens, ſeinem geliebten Vetter, dem neuen
Könige Wilhelm II. der Niederlande einen Freundſchaftsdienſt zu erweiſen
und den belgiſchen Uſurpator auf der Hinreiſe zu beſuchen, in demſelben
Schloſſe, das einſt den oraniſchen Verwandten gehört hatte. „Je Vous
porterai un véritable sacrifice, ſchrieb er dem Oranier; j’irai le
trouver en chemin (à Laeken!!!—!—!—!!!) pour le travailler.“*)
Trotz dieſes Beſuchs bei dem liberalen Belgier blieb die engliſche Reiſe den
aufgeklärten Berlinern hoch verdächtig; ſie meinten in ihrer Tadelſucht, der
König ſei drüben ganz in die Netze der Hochtorys und der Anglikaner
gerathen. In ihm aber klangen die religiöſen Stimmungen dieſer Tauf-
fahrt noch lange nach. Nach einer ſchönen Zeichnung von Cornelius
ließ er für ſein Pathenkind einen ſilbernen Glaubensſchild fertigen, der
in der Mitte einen Chriſtuskopf, darunter die Darſtellungen der beiden
evangeliſchen Sakramente, an den Rändern neben dem Einzuge Jeſu in
Jeruſalem auch ein Bild der Meerfahrt des Pathen zeigte: da fuhr der
chriſtliche König in Pilgerhut und Muſchelmantel auf einem Schiffe, das
ein Engel lenkte und der gefeſſelte Höllengeiſt des Dampfes ſchnaubend
vorwärts trieb, neben ihm Humboldt mit einem Oelzweige in der Hand,
Anton Stolberg und General Natzmer; drüben am Strande erwartete
ihn Englands Schutzpatron, der heilige Georg, mit dem Prinzgemahl
und Wellington — eine Zuſammenſtellung, welche dem Coburgiſchen Welt-
kinde insgeheim wohl ebenſo fragwürdig erſcheinen mochte wie dem un-
gläubigen deutſchen Naturforſcher und im radikalen Lager widerwärtige
Hohnreden hervorrief.
Auch das Auswärtige Miniſterium fuhr noch lange fort, dem bri-
tiſchen Cabinet unerwiderte Zärtlichkeitsbetheuerungen zu ſenden, zumal
ſeit Bülow dem ſchon nach wenigen Monaten unheilbar erkrankten Grafen
Maltzan im Amte gefolgt war. Bülow blieb als Miniſter wie vordem
[134]V. 2. Die Kriegsgefahr.
als Geſandter ein ſo unbedingter Verehrer Englands, daß Stockmar ihn
befriedigt für den fähigſten aller preußiſchen Diplomaten erklärte. Auf
die Nachricht von neuen aſiatiſchen Erfolgen der Engländer ließ er durch
Bunſen die Glückwünſche ſeines Hofes ausſprechen und fügte hochentzückt
hinzu: „mit Großbritannien verbunden durch die Bande einer langen
Allianz und einer beſtändigen innigen Freundſchaft, ſind wir gewohnt
Alles was den Ruhm und das Wohlſein des britiſchen Reichs vermehrt
faſt ebenſo anzuſehen als wäre es uns ſelbſt widerfahren.“*) So un-
eigennützig übernahmen dieſe Gemüthspolitiker im Namen ihres ehren-
haften deutſchen Staates gleichſam die Mitverantwortlichkeit für Englands
ſchmachvollen Opiumkrieg! Freilich war man in Berlin über die orientali-
ſchen Dinge ſchlecht unterrichtet, da Bunſen ſeinen britiſchen Freunden Alles
glaubte und entrüſtet heim berichtete, wie ſündlich ſein England wegen des
Opiumhandels verleumdet worden ſei.**)
Sehr lange konnte dieſe Anglomanie, die doch nur den perſönlichen
Neigungen des Königs und ſeiner Vertrauten entſprach, unmöglich vor-
halten. Zu einem politiſchen Bündniß der beiden Mächte lag gar kein
Anlaß vor, ja ihre volkswirthſchaftlichen Intereſſen gingen augenblicklich
ſehr weit auseinander. Sobald Preußen einige ſeiner Zölle um ein
Geringes erhöhte, zeigte ſich Peel tief entrüſtet, gleich als ob England, deſſen
eigene Zölle noch weit höher ſtanden, in ſeinen Rechten gekränkt worden
wäre; und wenngleich Bunſen friedfertig erwiderte: „der Zollverein iſt noch
immer der beſte Kunde Euerer Induſtrie,“ ſo konnte doch ſein königlicher
Herr ſelbſt nicht verkennen, daß der deutſche Gewerbfleiß darnach trachten
mußte dieſer Abhängigkeit zu entwachſen.***) Wie wenig dem engliſchen
Volke an dem deutſchen Bündniß gelegen war, das zeigte eben in dieſen
Jahren Macaulay’s Aufſatz über Friedrich den Großen. So hochmüthig,
ſo verſtändnißlos, ſo roh hatten ſelbſt die Franzoſen, die den Philoſophen
von Sansſouci doch immer gelten ließen, noch nie über Preußen abge-
ſprochen, und der glänzende Eſſayiſt ſagte hier wie überall nur was der
Durchſchnitt ſeiner gebildeten Landsleute dachte. Auch Friedrich Wilhelm’s
kunſtſinniger Freund Graf Raczynski machte ſeine Erfahrungen an der
britiſchen Selbſtgenügſamkeit. Als er, bei Hofe freundlich aufgenommen,
die Frage aufwarf, ob man nicht deutſche Künſtler einladen ſolle zur Ein-
führung der hierzulande noch faſt unbekannten Freskomalerei, da wider-
ſprachen die engliſchen Maler ſehr heftig, und Sir Morton Shee erwiderte
ſtolz: unſere Schule iſt die anerkannt erſte der Welt.†)
Mit der Zeit fühlte auch der König ſelber, wie fremd ihm im Grunde
die ganz moderne Weltanſchauung des Coburgiſchen Hauſes war. Ein
[135]Der Coburgiſche Hoheitstitel.
lächerlicher Titelſtreit brachte ihm dies zum Bewußtſein. Schon längſt
ſtrebten die erneſtiniſchen Herzoge nach ſchöneren Titeln, weil ſie bei der
großen Rangerhöhung der rheinbündiſchen Zeiten leer ausgegangen waren.
Seit das Haus Coburg ſo kühn emporgeſtiegen, meinte ſich vornehmlich
der alte Herzog von Coburg als Vater und Bruder gekrönter Häupter
wohlberechtigt den Namen eines Großherzogs oder einer königlichen Hoheit
zu führen. Die engliſchen Verwandten unterſtützten ihn dabei lebhaft;*)
denn die Coburger bewährten ſich auch darin als treue Jünger der alten
Aufklärung, daß ſie zwar mit Worten gern über leere Standesunterſchiede
ſpotteten, in der That aber ihren Rang ſehr eiferſüchtig wahrten. Nach
ſtrengem Rechte konnte der Coburgiſche Herzenswunſch nur durch einen
Bundesbeſchluß erfüllt werden, weil der Bund über der Rangordnung
ſeiner Mitglieder zu wachen, auch die Mediatiſirten ſchon gewiſſenhaft in
Durchlauchten und Erlauchten eingetheilt hatte. In Frankfurt aber lagen
die Dinge höchſt ungünſtig. Der Präſidialhof war über das ſelbſtbewußte
Auftreten des Herzogs von Coburg-Kohary, der doch unzweifelhaft zu den
Unterthanen der Stephanskrone gehörte, längſt ſehr aufgebracht, ſeine
Diplomaten redeten mit der äußerſten Gehäſſigkeit über den Coburger
Hof.**) Auch der König von Preußen wollte den althiſtoriſchen Titel
Durchlaucht nicht gern ändern. Nun gar die kleineren Fürſten meinten
ſich alleſammt, und manche mit Recht ſchwer beeinträchtigt; ſie beruhigten
ſich auch nicht, als Coburg ſeine Anſprüche herabſetzte und nur noch den
Titel Hoheit verlangte. Da wünſchten Naſſau und Braunſchweig, von
wegen ihrer größeren Macht, Großherzoge zu werden; in Baden, das ja
einſt den Kurhut getragen hatte, ſprach man ſchon von der Annahme
des Königstitels; der Kurfürſt von Heſſen dachte ſeiner verunglückten Katten-
krone, der Großherzog von Darmſtadt dem ſtolzen alten Mainzer Kurhute
den Majeſtätstitel beizulegen; Homburg wollte landgräfliche, Schwarzburg
fürſtliche Hoheit heißen; der Fürſt von Hechingen ließ die Hoheit für
Naſſau nicht gelten, weil ſein Haus früher als Naſſau in den Fürſten-
rath des alten Reichstags gelangt war.***) So zeigte ſich an einem ab-
geſchmackten und doch ſehr heftigen, die Bundesgenoſſen tief verſtimmenden
Zwiſte, daß jene ruheloſe ſociale Eitelkeit, welche beſtändig nach oben
drängend, den Herrennamen zum Gemeingut Aller, die Mädchen zu Fräu-
lein, die ſchlichten Marſchälle und Seneſchälle zu Großwürdenträgern ge-
macht hat, auch in demokratiſchen Jahrhunderten bei Hoch und Niedrig
ihren Spuk treibt.
Mittlerweile hatte der unternehmende junge Herzog Ernſt II. die
Regierung in Coburg angetreten. Er merkte bald, daß auf dieſem Markte
[136]V. 2. Die Kriegsgefahr.
der Eitelkeiten nur vollendete Thatſachen entſcheiden konnten, und ſchloß
im April 1844 mit ſeinen Vettern von Meiningen und Altenburg einen
Hausvertrag, kraft deſſen die ſächſiſchen Herzoge eigenmächtig den Titel
Hoheit annahmen. Alles zürnte über dieſe Umgehung der Bundesgewalten,
und auf Metternich’s Befehl brachte Graf Münch am 20. Juni die Sache
am Bundestage zur Sprache. Dringend verlangte er zugleich Wahrung
des Geheimniſſes, da die Verhandlungen ſich von Haus aus ſehr ſtürmiſch
anließen. Während mehrere Regierungen der ſelbſtgeſchaffenen neuen
Hoheit die Anerkennung verweigern wollten, erklärte der Geſandte der
erneſtiniſchen Herzoge hochtrabend, jeder Bundesbeſchluß in dieſer Frage
ſei unzuläſſig, ſei ein Eingriff in die Souveränitätsrechte. Eine ſolche
Sprache ſchien dem Könige von Preußen, der den Bundestag ſo warm
verehrte, ganz unerträglich. Er ſchrieb entrüſtet: „Der Zuſtand dieſer
ebenſo ridikülen als für die deutſche Sache und Einheit bedrohlichen Sache
reducirt ſich nach der letzten inqualifiablen Erklärung der ſächſiſch herzog-
lichen Häuſer auf die Frage, ob der Bund und in specie der Bundestag
ein alter Eſel iſt, der ſich ſolche Dinge bieten läßt.“ Er ließ ſie ſich bieten;
denn ihm fehlte jede Macht ſouveräne Fürſten zu zwingen, und die großen
Höfe des Weſtens hatten ſich inzwiſchen ſchon beeilt die Coburger als
Hoheiten zu begrüßen. Wohl wies der preußiſche Geſandte Graf Dönhoff
die bundesfeindlichen Behauptungen der Erneſtiner in ſcharfer Rede zurück;
zuletzt mußte man ſich doch in das Geſchehene ergeben, und der Bund
beſchloß (16. Aug.), alle regierenden Herzoge Deutſchlands fortan Hoheit
zu benamſen.*) Dann währte der Zank noch ein Jahr lang fort; Dön-
hoff fürchtete ſchon, Frankreich könnte die Majeſtäts-Gelüſte Badens und
Heſſens für einen neuen Rheinbund ausbeuten, bis ſich endlich der kur-
fürſtliche und die großherzoglichen Höfe begnügten die Titel ihrer Prinzen
angemeſſen zu verſchönern.**)
Friedrich Wilhelm brauchte lange bis er dem Hauſe Coburg dieſen
Streich gegen die Würde ſeines geliebten Bundestags verzieh, und auch
der engliſche Hof zeigte bald, daß er ſich durch ſeinen kirchlichen und
politiſchen Liberalismus wie durch ſeine Familienintereſſen weit ſtärker zu
dem Bürgerkönige hingezogen fühlte als zu dem Könige von Preußen. Die
enge, durch die Heirathen Leopold’s von Belgien und des Herzogs von
Nemours begründete Verbindung der Häuſer Orleans und Coburg wurde
während der nächſten Jahre durch zwei neue Prinzenhochzeiten noch mehr
befeſtigt, und im Herbſt 1843 ſahen die Franzoſen, was ſeit Jahrhunderten
unerhört war, den engliſchen Hof an ihrer Küſte landen um das Königs-
paar im Schloſſe Eu zu beſuchen. Der lebhafte Verkehr, der ſich nun-
[137]Preußen, England und Frankreich.
mehr zwiſchen den beiden bluts- und wahlverwandten Höfen entſpann,
wurde von den gemäßigten Parteien dieſſeits wie jenſeits des Canals
nicht ungern geſehen; denn der alte Nationalhaß war wirklich erloſchen,
die Idee der Verbrüderung des freien Weſtens kam trotz mancher Ir-
rungen immer wieder obenauf. Freilich ſtanden an der Spitze beider
Höfe kühle Kaufleute, die ihre dynaſtiſchen Sonderintereſſen niemals aus
den Augen verloren, und wie leicht konnten dieſe begehrlichen Hinter-
gedanken eine Freundſchaft ſprengen, welche immer des Vertrauens ent-
behrte.
Preußen aber ſtand in der diplomatiſchen Welt ſo einſam wie ſeit
Jahren nicht. Sein König hatte verſtanden, in kurzer Zeit die alten
Freunde Oeſterreich und Rußland mit Mißtrauen zu erfüllen; er hatte
mit ſeinen Freundſchaftswerbungen in England wenig Anklang gefunden,
und kaum war die Kriegsgefahr vorüber, ſo bemerkte man bald, daß
Preußen jetzt auch an den kleinen deutſchen Höfen weniger geachtet war als
einſt unter dem alten Könige. Die ruhige Würde des Vaters erweckte
Vertrauen, die bewegliche Geſchäftigkeit des Sohnes Zweifel und Arg-
wohn. —
[[138]]
Dritter Abſchnitt.
Enttäuſchung und Verwirrung.
Während der drei letzten Jahre ſeiner Regierung hatte Friedrich
Wilhelm III. die Prooinziallandtage nicht mehr verſammelt, weil er die
Beſprechung des Kölniſchen Biſchofsſtreites vermeiden wollte. Der neue
König berief ſie alleſammt ſchon auf das Frühjahr 1841 zur regelmäßigen
Tagung; er hoffte — ſo ließ er ihnen ausſprechen — „mit wahrer Freudig-
keit auch für die ſtändiſchen Verhältniſſe eine lebendigere Zeit zu beginnen“.
Da erinnerte ihn, gerade als die erſten Landtage zuſammentraten, zum
dritten male ein Mahnruf aus Oſtpreußen an die Verheißungen des
Vaters. Im Februar erſchienen die „Vier Fragen, beantwortet von einem
Oſtpreußen“ — eine den Ständen Altpreußens gewidmete Flugſchrift, die
der unklaren Sehnſucht der Liberalen endlich ein brauchbares Programm,
ein handliches Schlagwort darbot. In ſcharfer, zuverſichtlicher, beinah
drohender Sprache forderte ſie für dies längſt mündige hochgebildete Volk
„Oeffentlichkeit und wahre Vertretung“ ſtatt der Beamtenallgewalt und
der politiſchen Nichtigkeit aller ſelbſtändigen Bürger; ſie behauptete friſch-
weg, das Verſprechen der Volksrepräſentation vom Mai 1815 ſei giltiges
Geſetz, und gelangte dann, ohne in die ſchwierigen Rechtsfragen tiefer
einzugehen, mit der ſchnellfertigen Logik des Radikalismus zu dem ein-
fachen Schluſſe: Preußens Provinzialſtände ſollten „das was ſie bisher
als Gunſt erbeten, nunmehr als erwieſenes Recht in Anſpruch nehmen.“
Otto Wigand in Leipzig, der unermüdliche Verleger der radikalen Partei
hatte die Vier Fragen gedruckt; auf dem Titel ſtand aber der Name:
Heinrich Hoff in Mannheim, eine Firma, die fortan oftmals von preu-
ßiſchen Schriftſtellern vorgeſchoben wurde und in der nächſten Zeit als
Herberge der Oppoſition eine ähnliche Rolle ſpielte wie vor zweihundert
Jahren die holländiſche Scheinfirma Peter Hammer in Köln.
Der ungenannte Verfaſſer war Johann Jacoby, ein jüdiſcher Arzt
in Königsberg. Er gehörte ſchon zu dem neuen Geſchlechte, das die Be-
freiungskriege nicht mit Bewußtſein durchlebt hatte, ſeine Ideale der Juli-
[139]Jacoby’s Vier Fragen.
Revolution und dem polniſchen Aufſtande verdankte. Jung war er nie ge-
weſen, die Welt des Schönen blieb ihm ſo fremd wie das Spiel des
Scherzes. In gebückter Haltung, und doch feierlich ſchritt der kahlköpfige
kleine Mann daher, ein tiefer Ernſt lag in den ſcharfgeſchnittenen Geſichts-
zügen, in den durchdringenden ſtechenden Blicken der großen blauen Augen.
Alles verrieth ſogleich den ſittenſtrengen, fleißigen, bedürfnißloſen Stuben-
gelehrten. Obgleich er als ſpinoziſtiſcher Freidenker die Synagoge grund-
ſätzlich nie betrat, ſo meinte er ſich doch berufen im Namen ſeiner Glaubens-
genoſſen zu reden und ſchrieb ſchon als junger Mann ein geharniſchtes
Büchlein für die bürgerliche Gleichſtellung der Israeliten. Dieſe Schrift
und eine zweite noch ſchärfere wider die preußiſche Cenſur verſchafften ihm
bald ein hohes Anſehen unter den Liberalen Königsbergs; bei den Samm-
lungen für die Göttinger Sieben erſchien er ſchon wie ein Parteiführer. Da
die Oſtpreußen von allen Deutſchen am beſten verſtehen ſich ihre Juden zu
erziehen, ſo war auch Jacoby weit mehr Oſtpreuße als Jude. Nur die
vordringliche Dreiſtigkeit erinnerte an die orientaliſche Abſtammung; den
Grundzug ſeines Charakters bildete jener ſtarre altpreußiſche Rechts- und
Freiheitstrotz, der ſchon ſo viel Ruhm und ſo viel Elend, den Befreiungs-
krieg ſo gut wie den Eidechſenbund und die polniſche Herrſchaft über das
alte Ordensland gebracht hatte. Was er für Recht hielt, dabei blieb er,
unerſchrocken und unbelehrbar; wer anders dachte war dem Fanatiker
kaum mehr denn ein Thor oder ein Schurke. Auch den ſtarken Provinzial-
ſtolz theilte er mit ſeinen Landsleuten; ſprach er von der Stadt, „wo einſt
Kant die Welt erleuchtete,“ dann klang durch ſeine allezeit ernſthafte Rede
ein Ton hohenprieſterlicher Salbung. Von politiſchem Talente beſaß er
freilich gar nichts. Wie einſt Bailly, Condorcet und ſo viele andere in
das Staatsleben verſchlagene radikale Naturforſcher lebte er der Meinung,
daß man in der Politik jener Sachkenntniß, welche die exakten Wiſſen-
ſchaften verlangen, nicht bedürfe, ſondern mit einigen abſtrakten natur-
rechtlichen Sätzen und etwas kecker Dialektik wohl auskomme. Darum
konnte er ſich nur in einer Zeit der Erwartungen, der Wünſche, der Pro-
gramme einen Eintagsruhm erringen. Sobald die Tage des Bauens und
Geſtaltens kamen, da ward ſeine politiſche Unfruchtbarkeit offenbar, und
die unaufhaltſame Logik ſeines harten Verſtandes, der die Ehrfurcht vor
der hiſtoriſchen Welt niemals lernte, trieb ihn dann von einer doktrinären
Folgerung zur anderen, bis er endlich in einen bodenloſen, Vaterland und
Geſittung zugleich zerſtörenden Radikalismus verſank. Unverkennbar ſtand
ihm bei ſeinem Büchlein die Schrift von Sieyes Qu’est-ce que le tiers
état? vor Augen. Gleich dem Franzoſen verſtand er die Stimmungen
des Augenblicks ſicher zu treffen, gleich ihm ſchritt er hochmüthig über die
hiſtoriſche Welt hinweg, und der Gedanke eine Revolution zu entfeſſeln
hatte auch für ihn keine Schrecken.
Der König nannte die Vier Fragen ſofort eine revolutionäre Schrift.
[140]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Ihm entging nicht, wie nahe ſich ihre Gedanken mit Schön’s Woher und
Wohin? berührten, und da er den alten Freund noch immer zartfühlend
ſchonen wollte, ſo ſchrieb er ihm vertraulich: der Verfaſſer ſolle unver-
folgt bleiben, falls Schön ihn dem Monarchen nenne und ſeine Strafloſig-
keit verlange. Doch mittlerweile hatte Jacoby im Bewußtſein ſeiner Un-
fehlbarkeit ſelbſt die Flugſchrift an den König geſendet, ſich als Verfaſſer
bekannt und ſein Büchlein geradezu unter den Schutz der Krone geſtellt.
Dies nahm Friedrich Wilhelm für eine abſichtliche Beleidigung, weil die
ſcharfen Vorwürfe, perſönlich überreicht, ihm noch ſchärfer klangen. Um
ſich nicht zu übereilen berief er einige „Doktoren der Rechte“ zu ſich —
ein Titel, dem er hohen Werth beilegte — und erſt als dieſe ſich für
die Einleitung eines Strafverfahrens ausſprachen, gab er Schön zu wiſſen,
er habe „Jacoby’s Herausforderung angenommen“. Nunmehr blieben alle
Fürbitten des liberalen Oberpräſidenten vergeblich. Die Unterſuchung
nahm ihren Anfang, der Bundestag verbot, auf Preußens Antrag, den
Vertrieb der Schrift, die gleichwohl in Aller Händen war; der Königs-
berger aber gewann, ohne alle Opfer und Leiden, die Stellung des po-
litiſchen Märtyrers, welche ſolchen Rechtsfanatikern beſonders zuſagt und
ihre Macht verſtärkt.
Sehr tief wurmte den König, daß die Königsberger Judenſchaft ihren
beherzten Wortführer auf den Schild hob. „Getaufte Juden“, ſchrieb er
an Schön, „zähle ich nicht zu meinen Oſtpreußen. Das iſt ein wahrer
Troſt für mich. Machen Sie nur, daß unbeſchnittene Männer von alter
Treue und die ein Herz zu mir haben, die Schmach gut machen, welche
die Beſchnittenen Oſtpreußen angethan.“*) In ſolchem Tone bekundete
er fortan immer ſeinen Judenhaß; ſeine heftigen, der Würde des König-
thums wenig geziemenden Aeußerungen wurden von der mächtig angewach-
ſenen Schaar der israelitiſchen Zeitungsſchreiber emſig umhergetragen und
erweckten in der geſammten Judenſchaft eine unauslöſchliche Rachgier,
welche den Ruf ſeiner Regierung noch ſchwer ſchädigen ſollte.
Jacoby’s Schrift wurde an alle Provinziallandtage verſendet, ſie
fand aber dort vorerſt nur wenig Anklang; denn die Stände traten über-
all in gehobener Stimmung zuſammen. Durch die herzliche Sprache und
die reichen Gewährungen ſeines Propoſitionsdekrets gewann der König das
allgemeine Vertrauen für kurze Zeit wieder. Um ſeinen getreuen Pro-
vinzialſtänden zu beweiſen, wie ernſtlich er ſie ehre, welchen Werth er
auf das Erſprießliche ihrer Wirkſamkeit lege, geſtattete er ihnen ihre Pro-
tokolle zu veröffentlichen und verhieß ſie fortan regelmäßig aller zwei Jahre
zu berufen. Für die Zwiſchenzeit ſollten aus allen Landtagen Ausſchüſſe
gewählt werden, damit der Monarch ſich „ihres Rathes bedienen und
ihre Mitwirkung in wichtigen Landesangelegenheiten ſtattfinden laſſen“
[141]Verheißung der Vereinigten Ausſchüſſe.
könne; auch behielt er ſich vor, dieſe Ausſchüſſe je nach Umſtänden zu ge-
meinſamer Berathung zu vereinigen. Dergeſtalt begann die von Friedrich
Wilhelm ſo lang geplante organiſche Entwicklung der ſtändiſchen Inſtitu-
tionen. Er ahnte nicht, wie weit ſie führen mußte. Die erweiterte Oeffent-
lichkeit, die er den Landtagen gewährte, hatte er freilich ſehr eng umgrenzt;
denn er kannte alle Uebelſtände des conſtitutionellen Syſtems nur zu ge-
nau, er fürchtete die Eitelkeit der parlamentariſchen Redner und wußte
auch, wie ſelten die Zeitungen ein treues Bild von den Landtagsverhand-
lungen geben; darum verbot er die Namen der Redner zu erwähnen.
Doch wie leicht ließ ſich dies ängſtliche Verbot umgehen. Die klugen
Rheinländer wußten ihre Protokolle alsbald ſo einzurichten, daß Jeder-
mann auf die Hauptredner mit Fingern weiſen konnte. Mit dem Ge-
heimniß der Verhandlungen brach aber ein Grundpfeiler des alten Stände-
weſens zuſammen. Landtage, die ſich dem Urtheil der öffentlichen Meinung
preisgaben, konnten ſich auf die Dauer nicht mit unmaßgeblichen Rath-
ſchlägen begnügen, ſie mußten fordern, daß ihnen irgend ein Recht der
Beſchließung gewährt würde und die Räthe der Krone ihnen perſönlich
Rede ſtünden. Mehrere Miniſter ſagten dies dem Monarchen ſogleich
voraus; er hörte ſie nicht.
Noch unklarer blieb, was die Vereinigten Ausſchüſſe und ihre ver-
heißene „Mitwirkung“ bedeuten ſollten. Die Geſandten der kleinen Höfe
ſahen in ihrer Herzensangſt ſchon das Schreckbild einer parlamentariſchen
Regierung emporſteigen.*) Aber auch mancher ruhige Mann zog den
bündigen Schluß: die Vereinigten Ausſchüſſe ſollen aus den Provinzial-
ſtänden gewählt werden, ſie ſind mithin nichts anders als die in der Ver-
ordnung vom 22. Mai 1815 verheißene Repräſentation des Volks und
können ſobald ſie in Berlin zuſammentreten, alle Rechte einer ſolchen
verlangen. Der König hingegen betrachtete die Ausſchüſſe, deren Beru-
fung ihm Rochow zuerſt vorgeſchlagen hatte, lediglich als ein Mittel um
ſeine Preußen nach und nach für einen künftigen Vereinigten Landtag
zu erziehen. Seinem Schön erklärte er: „In den Ausſchüſſen hab’ ich
mir Elemente geſchaffen, durch welche ich in den landtagloſen Jahren die
wichtigſten Geſetze für die nächſten Landtage vorbereiten und Dinge all-
gemeinen Intereſſes von den vorigen Landtagen her ausgleichen kann;
† mit einem Worte, die Möglichkeit, ſchon jetzt und ſobald ſich das Be-
dürfniß zeigt, alle Vortheile der Generalſtände zu genießen, ohne die Er-
ſchütterungen, welche ihre plötzliche Einführung mit ſich führt, befürchten
zu müſſen; und kommen die Fälle, die in des ſeligen Königs Geſetzen
vorgeſehen ſind, wo ein Allgemeiner Landtag unumgänglich iſt, ſo iſt der
Ideen-Austauſch und das Berathen mit Männern aus allen Ländern
nichts Ungewohntes mehr. † Kurz, ich habe einen Bau begonnen, der ohne
[142]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
die ſündlichen Poſſen, die tiefe Unwahrheit und das häßliche Theaterſpiel
moderner Conſtitutionen und Grundgeſetz-Wiſche in die Region wahrer
Freiheit hinaufreichen kann .. Heute, ich ſage es getroſt, können nur Ja-
cobiner, Perrücken oder Eſel über meine ehrliche Liebe zur Freiheit in
Zweifel ſein … Den Ständen allen im Lande und denen von Preußen
an der Spitze aller, wird die Wahl zwiſchen Israel und mir nicht ſchwer
fallen … Den Reuigen, auch den Beſchnittenen, werde ich mit Freuden
die begnadigende Hand reichen.“*) Die Stelle ſeines Briefes, welche er
zwiſchen Kreuzen eingeſchloſſen hatte, befahl der König ſtreng geheim zu
halten. Er erwartete alſo, ſeine Unterthanen würden ohne nur zu fragen
ſich unbedingt der Leitung ſeiner überlegenen Weisheit überlaſſen; und
doch lagen ſeine Abſichten in ſo räthſelhaftem Dunkel, daß ſelbſt Schön,
der Empfänger des Briefes, ſie gänzlich mißverſtand und dem Monarchen
hoffnungsvoll erwiderte: mit der Einberufung der Ausſchüſſe ſei das Ver-
faſſungsverſprechen vom Mai 1815 erfüllt.
Im Volke konnte man noch weniger begreifen, wo hinaus dieſe ge-
heimnißvolle Staatskunſt wollte. Aber die alte Treue ſtand noch uner-
ſchütterlich feſt; man ſcheute ſich der Krone vorzugreifen, und dem Könige
ward die Freude, daß keiner ſeiner Provinziallandtage den Lockungen Is-
raels Folge leiſtete. Mit gerührten Worten dankten ſie ihm alle für ſeine
Gewährungen. Die preußiſchen Stände wieſen eine in Jacoby’s Sinne
gehaltene Petition von dreihundert Königsbergern kurzerhand ab, weil der
König ſelbſt ſchon im Begriffe ſtehe die ſtändiſche Verfaſſung weiter aus-
zubauen. In ähnlicher Weiſe ward eine Petition preußiſcher Grundbe-
ſitzer abgefertigt, die den Landtag aufforderte ſeine Bitten vom vorigen
September zu erneuern. Sie ſprach ſchon ſehr bitter von getrübten Hoff-
nungen; zum Schluß erinnerte ſie ſcharf mahnend an die Verſe: „nicht
Roß, nicht Reiſige ſchützen die ſteile Höh’ wo Fürſten ſtehn,“ und ſeitdem
ward es in den Kreiſen der aufgeregten Oppoſition üblich, dieſe Worte
des Königsliedes wie eine Drohung gegen das königliche Haus zu richten.**)
Auch der ſchleſiſche Landtag ließ ſich durch eine liberale, mit Zeitungs-
ſchlagwörtern reichlich ausgeſchmückte Petition der Breslauer Stadtbe-
hörden nicht hinreißen, ſondern beſchloß mit allen gegen acht Stimmen,
es lediglich der Weisheit des Königs anheimzuſtellen, ob, wann und auf
welche Art die Reichsſtände zu berufen ſeien. An der Verhandlung im
Plenum betheiligten ſich nur Vertreter der Städte, und ſogar unter ihnen
geſtanden mehrere aufrichtig, der Wunſch nach Reichsſtänden ſe noch keines-
wegs allgemein.
Noch war der König in der Lage, den Verfaſſungsbau ganz nach
[143]Die Provinziallandtage von 1841.
ſeinem Ermeſſen zu vollenden, wenn er nur raſch handelte und auf dem
Boden des Rechts blieb. Aber die Stunde drängte. Selbſt die Verhand-
lungen dieſer ſo überaus beſcheidenen Stände zeigten, daß eine neue Zeit
gekommen war, deren Anſprüche beſtändig wuchſen. Zum erſten male
ſeit langen Jahren bewies das Volk den Landtagen wieder lebhafte Theil-
nahme, eine unerhörte Menge von Petitionen ward ihnen zugeſandt; und
wie ſorgſam man ſich auch hütete die Gefühle des Königs zu verletzen,
die beengenden Schranken der Geſchäftsordnung ließen ſich doch nicht ein-
halten, immer wieder ſprachen die Redner über allgemeine Landesange-
legenheiten.
Im Auslande erweckten ſchon die erſten leiſen Regungen des neuen
preußiſchen Parteilebens tiefen Argwohn; man wußte dort von Altersher,
obwohl man es ungern ausſprach, daß das deutſche Volk gleich dem edlen
Roſſe ſeine Stärke nicht kannte. Schwer geängſtigt hielt Metternich dem
Grafen Maltzan vor: durch die Reden des Poſenſchen Landtags würden
Oeſterreichs Czechen und Polen aufgeſtachelt, während zugleich der ge-
ſammte deutſche Liberalismus hoffend auf Preußen blicke; er wußte aus
aufgefangenen Briefen, daß Rauſchenplatt und andere Flüchtlinge den ſüd-
deutſchen Genoſſen vorläufig Ruhe empfahlen, weil der Erfolg in Berlin
zuletzt nicht fehlen könne.*) Auch der franzöſiſche Hof hielt den Sieg des
conſtitutionellen Syſtems, bei dem liberalen Geiſte des preußiſchen Be-
amtenthums, für unvermeidlich.**) Nun gar der Czar wähnte ſeinen
Schwager ſchon ganz in den Klauen der Revolution; er empfing außer
den verſtändigen Berichten ſeines Berliner Geſandten Meyendorff auch
Meldungen von ſubalternen Agenten ſeiner geheimen Polizei, die dem
Selbſtherrſcher gern nach dem Munde redeten, und ſprach ſeine Beſorg-
niſſe für Preußen laut vor dem Hofe aus. Ruhiger ward er erſt, als
der Prinz von Preußen zur Hochzeit des Großfürſten-Thronfolgers nach
Petersburg kam und ihm die preußiſchen Zuſtände nicht ohne Bedenken,
aber ohne Furcht ſchilderte.***)
In der That bewieſen die Landtage wie in der Verfaſſungsfrage ſo auch
in den Finanzſachen dem Könige ein wahrhaft kindliches Vertrauen. Fried-
rich Wilhelm verlangte ihren Rath wegen eines Steuererlaſſes von etwa
1½ Mill. Thlr., den er ſeinem Volke zu gewähren dachte falls die Kriegs-
gefahr vorüberginge, und befahl darum eine Ueberſicht der außerordent-
lichen Ausgaben der jüngſten Zeit für die Stände zuſammenzuſtellen. Die
Miniſter Alvensleben und Rother unterzogen ſich, mit Beihilfe des Geh.
Raths Voß, dieſer Aufgabe und berechneten (11. Febr.) den außerordent-
lichen Aufwand der elf Jahre 1830—40 im Ganzen auf 63,222,527 Thaler.
[144]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Ausführliche Mittheilungen an die Landtage ſchienen ihnen gefährlich, weil
man im In- und Auslande den Zuſtand der Finanzen, auf denen die
Kraft Preußens doch vornehmlich beruhe, für günſtiger halte als er ſei;
und wie leicht könnten genaue Angaben über die Mobilmachungen oder
die Chauſſeebauten den Argwohn des Auslandes, die Eiferſucht der Provinzen
erregen.*) Offenbar erſchreckt durch dieſe Warnungen des alten Beamten-
thums ließ der König noch im letzten Augenblicke reichlich 2 Mill. von
der Rechnung abſetzen, ſo daß die Propoſitionsdekrete vom 23. Febr. nur
61,208,590 Thlr. als außerordentlichen Aufwand angaben.
Alſo erfuhren die getreuen Stände zum erſten male von Amtswegen
was die Einſichtigeren freilich längſt geahnt hatten: daß in Preußen ſchon
ſeit langen Jahren neben dem veröffentlichten ordentlichen noch ein geheimes
außerordentliches Budget beſtand, und dies wurde ihnen auch jetzt nicht ein-
mal in ſeiner Geſammtſumme vollſtändig mitgetheilt. Dieſem Unweſen der
doppelten Budgets hatte das Finanzminiſterium, zu Kühne’s Verzweiflung,
ſchon längſt ſeine ganze Rechnungsweiſe angepaßt. Man berechnete die wahr-
ſcheinlichen Einnahmen nicht nach dreijährigem Durchſchnitte, ſondern be-
trachtete die Mehreinnahmen größtentheils als Ergebniſſe vorübergehender
günſtiger Umſtände, ſo daß, Dank dem beſtändigen Wachsthum des Volks-
wohlſtandes, regelmäßig bedeutende Ueberſchüſſe, im Jahre 1840 wieder
6,8 Mill. Thlr., für außerordentliche Ausgaben verwendet werden konnten.**)
Der ſoeben veröffentlichte Etat für 1841 ſchloß in Einnahme und Aus-
gabe wieder ſäuberlich mit 55,867,000 Thlr. ab, und unmöglich konnte
man noch an die Richtigkeit dieſer Zahlen glauben. Gleichwohl ergingen
ſich die Landtage alleſammt nur in Dankſagungen für den verheißenen
Steuererlaß; Niemand ſchien mehr zu wiſſen, daß der alte König die Be-
kanntmachung der Etats einſt ausdrücklich deßhalb angeordnet hatte, da-
mit Jedermann ſich von der Nothwendigkeit der Abgabenlaſt ſelbſt über-
zeugen könnte.***)
Durch Freimuth und Selbſtgefühl übertrafen die Preußen und die Rhein-
länder alle anderen Provinzialſtände; jene dachten mit Stolz an ihren
Kant, dieſe an die Ideen von 89, die Einen wie die Anderen ließen ſich’s
wohlgefallen, daß ihre beiden Provinzen von der ſüddeutſchen Preſſe als
die Bannerträger der Civiliſation im preußiſchen Staate gefeiert wurden.
Aber ſelbſt dieſe beiden Landtage wagten die Aufhebung der Cenſur nicht
förmlich zu verlangen, weil die Krone ſelbſt ſchon einige Erleichterungen
in Ausſicht geſtellt hatte. Die Preußen kleideten ihre Beſchwerde über
die harte Behandlung der Preſſe in ſo ehrfurchtsvolle Formen, daß der
König ſie durch Schön’s Schwager Brünneck ausdrücklich beloben ließ.
[145]Der Rheiniſche Provinziallandtag.
In Düſſeldorf beantragte Dr. Monheim, der Abgeordnete von Aachen,
der Landtag möge von der Krone verlangen, daß ſie den Erzbiſchof Droſte
entweder wieder einſetze oder vor Gericht ſtelle; der Antrag wurde jedoch
nach lebhafter Verhandlung mit Zweidrittel-Mehrheit verworfen, wie vor-
her ſchon ein ähnlicher Antrag im weſtphäliſchen Landtage. Die Stände
beruhigten ſich vorderhand, weil ihnen der König bei der Eröffnung
ſo herzlich verſichert hatte: er umfaſſe alle Unterthanen beider Bekennt-
niſſe mit gleicher Liebe und hoffe den geſtörten Einklang der Gemüther
wiederherzuſtellen. Nur die Städte Aachen und Coblenz bekundeten durch
feierlichen Empfang ihrer clericalen Abgeordneten, wie tief die Pro-
vinz den kirchenpolitiſchen Kampf empfand. Ueber die zugeſtandene be-
ſchränkte Oeffentlichkeit urtheilten die Provinzen ſehr verſchieden. Wäh-
rend die allezeit conſervativen Brandenburger und Pommern ſogar die
Gewährungen des Königs bedenklich fanden und ſich gradezu weigerten
ihre Protokolle herauszugeben, baten die meiſten anderen Landtage um
erweiterte Oeffentlichkeit; eine Petition von tauſend Einwohnern Kölns
verlangte ſchon, daß der Zutritt zu den Ständeſälen Jedermann freiſtehen
müſſe. Noch etwas ungeduldiger trat das Selbſtgefühl der Mittelklaſſen
heraus: faſt ſämmtliche Landtage wünſchten, daß die ſo unbillig ſchwache
Vertretung der Städter und der Bauern endlich verſtärkt würde, und ver-
langten auch die Wiederherſtellung des Handelsminiſteriums, damit die
Intereſſen der aufſtrebenden Großinduſtrie zu ihrem Rechte kämen.
In hoffnungsvoller Stimmung kehrten die Stände nach vollbrachter
Arbeit heim. Wie peinlich aber wurden ſie an den Unterſchied von Sonſt
und Jetzt erinnert, als im Spätſommer und Herbſt die Landtagsabſchiede
erſchienen. Der alte König hatte ſeine getreuen Stände immer ſchlicht
und trocken beſchieden, ihre Wünſche indeß, ſo weit es möglich ſchien, er-
füllt; der neue Herr antwortete ihnen in gnädigen, gefühlvollen Worten,
doch faſt alle ihre beſcheidenen Bitten ſchlug er rundweg ab, und auch
jetzt noch ſagte er ihnen nicht deutlich, was er eigentlich mit ſeinen ſtän-
diſchen Ausſchüſſen bezwecke. Nur das Eine erfuhren ſie, daß er nicht be-
abſichtigte die Befugniſſe der Provinziallandtage an die Ausſchüſſe zu über-
tragen. Niemand ahnte, welchen Zielen die angekündigte organiſche Entwick-
lung der ſtändiſchen Inſtitutionen zuführen ſolle. Da begannen die kaum
wieder erwachten Hoffnungen abermals zu ſchwinden, und auch mancher
treu ergebene Mann ward beſorgt: ſo mit verbundenen Augen konnte ein
denkendes Volk ſeinem Herrſcher nicht folgen. —
Trotz und Anmaßung zeigte unter allen Landtagen allein der Poſener;
hier trug die widerſpruchsvolle Schwäche des neuen Regiments ſchon arge
Früchte. Der Landtag wurde am 28. Febr. noch durch Flottwell als
königlichen Commiſſar eröffnet; noch einmal mußte der polniſche Adel dem
verhaßten ſtolzen Deutſchen in die flammenden Augen blicken. Auch in
ſeinen Propoſitionsdekreten ſchien der König anzudeuten, daß er an dem
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 10
[146]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
bisherigen Syſteme feſthalte. Er gab den Ständen zu wiſſen, daß er die
zahlreichen Beſchwerden aus der Provinz ernſtlich geprüft habe; die Ver-
waltung ſei aber ſtreng nach den Geſetzen verfahren, und ihre weſent-
lichen Grundſätze denke er nicht aufzugeben. Darauf hielt er den Polen
vor: ſie ſelber trügen die Hauptſchuld an den Mißſtänden, da ſie abſicht-
lich dem Staatsdienſte wie dem höheren Lehramte fern blieben; und ſei
es denn nicht wider ihre eigene Ehre, wenn ſie dem preußiſchen Be-
amtenthum zumutheten, an polniſche Candidaten geringere Anforderungen
zu ſtellen? Zum Schluß ſprach er die Hoffnung aus, daß der Landtag
ſich weitgehender Anträge enthalten würde. Doch wie ſollten die Polen
dieſe Warnungen beherzigen, da ſie alle wußten, daß der gefürchtete Ober-
präſident ſchon zu Neujahr nach Magdeburg verſetzt war und nur noch
die Geſchäfte des gegenwärtigen Landtags abwickeln ſollte?
Die alte Feſtigkeit der deutſchen Herrſchaft war dahin: das lehrte
außer ſo manchen weichmüthigen vertraulichen Aeußerungen des Königs
vornehmlich ſeine Cabinetsordre vom 15. Jan. über die Gerichtsſprache.
Seit 1817 beſtand in Poſen die Vorſchrift, daß alle Civilproceſſe in der
Sprache des Klägers, falls er aber beider Sprachen gleich mächtig ſei, in
deutſcher Sprache verhandelt werden ſollten — ſicherlich eine ſehr milde
Beſtimmung in einem weſentlich deutſchen Staate, der nur mit Mühe pol-
niſch redende Richter auftreiben konnte und für die polniſchen Parteien
ſtets eine Ueberſetzung der deutſchen Akten anfertigen ließ. Der ſarma-
tiſche Adel indeſſen betrieb die Verhöhnung der preußiſchen Geſetze längſt
wie einen ſtandesgemäßen Sport. So hatte auch der als gewandter deutſcher
Redner wohlbekannte Oberſt Niegolewski ſich das Vergnügen geſtattet
ſeinem Landgerichte polniſch zu ſchreiben und darum, da die Richter keinen
Scherz verſtanden, einen Proceß ſowie eine Vormundſchaft verloren. Dies
ſelbſtverſchuldete Mißgeſchick ſeines Standesgenoſſen hatte Graf Raczynski
dem Könige ſehr rührſam geſchildert, und daraufhin wurde durch jene
Cabinetsordre befohlen, daß alle Civil-Proceſſe ohne Unterſchied in der
Sprache des Klägers zu verhandeln ſeien. Dem polniſchen Edelmanne
ſtand es alſo fortan frei, den königlichen Richtern ihre Amtsſprache vor-
zuſchreiben. Zugleich wurden die Belohnungen für die polniſch lernenden
deutſchen Beamten abermals erhöht, alle Landräthe und Bezirkscommiſ-
ſäre der Provinz, auch die der deutſchen Kreiſe, angehalten, ihren Ver-
fügungen polniſche Ueberſetzungen beizulegen.
Seitdem jubelten die Polen, die Politik des Germaniſirens ſei zu Ende,
und mit dreiſter Zuverſicht begannen ſie auf dem Landtage den An-
ſturm wider das Deutſchthum. Gleich als der Landtagsmarſchall Poninski
die Sitzungen mit ſchwungvollen Worten einleitete, wurde der geſetzwidrige
Antrag geſtellt, dieſe Eröffnungsreden ſollten künftighin in beiden Sprachen
gehalten werden. Nun folgten die alten Beſchwerden über die Begünſtigung
der deutſchen Sprache. Glaubte man dieſen Rednern, ſo war die Unwiſſen-
[147]Der Poſener Provinziallandtag.
heit und Faulheit der Polen ein Rechtstitel, kraft deſſen ihrer Sprache die
Herrſchaft gebührte, denn unter den Deutſchen verſtehe der dritte oder vierte
Mann, unter den Juden faſt jeder auch polniſch, während von je ſechs
Polen nur einer deutſch rede. Daß dieſe zweiſprachige Provinz einem Staate
von elf Millionen Deutſchen angehörte, kam gar nicht in Betracht. Vor
acht Jahren ſchon hatte der alte König eine Summe von 16000 Thalern
für die Errichtung eines Poſenſchen Convicts an der Landesuniverſität
Breslau bewilligt, Erzbiſchof Dunin aber dies bereits angenommene Ge-
ſchenk wieder zurückgewieſen und trotzig verlangt, ſeine Theologen, die mit
ſeltenen Ausnahmen aller geſellſchaftlichen und gelehrten Bildung ent-
behrten, müßten in Rom, München, Wien oder Prag ſtudiren. Der Be-
ſuch deutſcher Hochſchulen ward grundſätzlich verworfen. Die von dem
neuen Könige berufenen Profeſſoren der ſlawiſchen Sprachen in Berlin und
Breslau fanden kaum Zuhörer, ſelbſt um die ſoeben vermehrten Stipen-
dien für polniſche Studenten bewarben ſich nur Wenige. Angeſichts ſolcher
Thatſachen forderten die Landſtände eine theologiſch-philoſophiſche Facultät
für die Stadt Poſen, ferner für die Provinz mehrere Gymnaſien mit
vorherrſchend polniſchem Unterrichte, endlich polniſche Schulſprache in den
Elementarſchulen aller der Ortſchaften, wo die polniſche Bevölkerung
überwöge; zugleich rügten ſie, daß die deutſche Regierung zufrieden ſei,
wenn die deutſchen Schüler ein leichtes polniſches Buch geläufig über-
ſetzen könnten.
Der Landtag ſcheute ſich nicht, das ſo frech mißbrauchte Recht der
Erwählung der Landräthe als einen Schutz für das Großherzogthum zu-
rückzufordern, damit die Provinz ſich durch ihre eigenen Beamten gegen
die deutſche Krone vertheidigen könnte. Er verlangte Aufhebung der Di-
ſtrikts-Commiſſare, deren Verdienſte um die bürgerliche Ordnung er doch
ſelbſt anerkennen mußte; er erklärte, das Aufkaufen überſchuldeter polniſcher
Güter durch die Regierung hätte die Herzen der Polen mit Wehmuth er-
füllt, und bat die Krone, ſie möchte den Warſchauiſchen Offizieren, welche
an dem letzten Aufſtande theilgenommen, ihre Penſionen wieder auszahlen.
Allen dieſen Anträgen der Ritterſchaft ſchloſſen ſich die Vertreter der
deutſchen Städte und Dörfer „aus Rückſichten der Billigkeit“ an; ſo kräftig
verſtand der polniſche Adel alle Künſte der Einſchüchterung anzuwenden,
und ſo wirkſam unterſtützten ihn die deutſchen liberalen Zeitungen, die
noch immer ohne Sinn für die nationalen Machtkämpfe der Oſtmark, jede
Oppoſition, auch die der Feinde Deutſchlands grundſätzlich verherrlichten.
Worauf die Polen ausgingen, das verrieth ſich deutlich als der Ober-
Bürgermeiſter Naumann von Poſen, auf Andringen ſeiner Bürgerſchaft,
die Berufung der preußiſchen Reichsſtände befürwortete; da klang es lär-
mend von allen Seiten: als Polen ſtimmen wir dagegen. Die Frage
wegen des Steuererlaſſes beantworteten die Polen mit der Bitte: der
König möge lieber jeder Provinz eine Summe jährlich zu freier Ver-
10*
[148]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
wendung zuweiſen. So in Allem und Jedem dachten ſie für ſich zu
bleiben.
Dies Uebermaß des Undanks fand ſelbſt der langmüthige Friedrich
Wilhelm unerträglich. Erzürnt ſchrieb er ſeinen Miniſtern: der Landtag habe
Mißbrauch getrieben mit dem Worte: polniſche Nationalität, und ſolle
daher nachdrücklich darüber belehrt werden, daß die Krone dieſer Provinz
keine politiſche Abſonderung geſtatten könne.*) Demgemäß ſagte der Land-
tagsabſchied ſehr ernſt: das Großherzogthum ſei eine Provinz wie alle
andern, einverleibt der Monarchie, zu deren deutſchem Kerne die Polen
ganz ebenſo ſtünden wie die Litthauer oder die Wallonen; der nationale
Gegenſatz finde ſeinen Vereinigunspunkt in dem Namen Preußen. Die
meiſten Bitten des Landtags wurden abgeſchlagen; die Kreisſtände ſollten
das Recht der Landrathswahl, die alten Offiziere ihre Penſionen erſt wieder
erhalten, wenn ſie ſich der Gnade würdig zeigten.
Die deutſche liberale Preſſe wollte gar nicht begreifen, warum der
freiſinnige König die freiſinnigen Polen ſo hart anließ. Am Peters-
burger Hofe dagegen, wo die Poſener Wirren mit wachſender Sorge ver-
folgt wurden, athmete man befriedigt auf, der Czar zeigte dem preußiſchen
Geſandten wieder eine lang vermißte Vertraulichkeit und Neſſelrode dankte
ihm herzlich für die würdige Abweiſung des ſarmatiſchen Uebermuthes.**)
Die polniſchen Edelleute klagten laut, in der Stille rieben ſie ſich zu-
frieden die Hände; denn der Landtagsabſchied enthielt unter vielen Ver-
ſagungen eine Gewährung und ſie betraf grade die wichtigſte aller natio-
nalen Beſchwerden. Der König verſprach nämlich, daß die von der Regierung
aufgekauften überſchuldeten Landgüter fürderhin auch an Polen veräußert
werden ſollten. Bisher hatte der Staat faſt allein ſolche Güter angekauft,
deren adliche Herren durch hochverrätheriſche Umtriebe herabgekommen
waren. Wenn er dieſe Beſitzungen ſeiner geſchworenen Feinde gegen reich-
liche Zahlung an ſich brachte und ſie dann zuverläſſigen Deutſchen anver-
traute, ſo arbeitete er nicht nur mit den mildeſten Mitteln an dem großen
Werke deutſcher Koloniſation, das hier ſeit ſechs Jahrhunderten im Gange
war, er erwies auch den Polen ſelbſt eine Wohlthat, allerdings nicht dem
Adel, wohl aber den kleinen Leuten; denn auf allen dieſen verwahrloſten
Gütern ſaßen dienſtpflichtige Hinterſaſſen, und bei jedem Verkaufe ließ Flott-
well die bäuerlichen Laſten ablöſen oder in billiger Weiſe neu ordnen. Das
Verfahren des deutſchen Beamtenthums war ſo unanfechtbar, daß ſelbſt
General Thile, der den polniſchen Neigungen ſeines königlichen Gönners
ſo weit als möglich nachgab, nichts dawider einzuwenden wußte. Friedrich
Wilhelm aber meinte, die Verwaltung hätte ſich dieſer friedlichen Ger-
maniſirungspolitik zu ſchämen, weil er den Märchen Glauben ſchenkte, die
[149]Flottwell’s Denkſchrift.
im Palaſte Radziwill umhergetragen wurden, und betheuerte kleinlaut, ſchon
bisher ſeien dieſe Güter auch an polniſche Erwerber verkauft worden, was
aber nur in ganz ſeltenen Ausnahmefällen geſchehen war;*) fortan, ſo
verhieß er, würde jeder Unterſchied zwiſchen den beiden Nationen hinweg-
fallen. Wie ſollte ſolche Nachgiebigkeit auf dieſe Adelskreiſe wirken, deren
Damen bei der Verhaftung Dunin’s Trauerkleider angelegt hatten um
ſie beim Tode des alten Königs ſchleunigſt wieder auszuziehen!
Mittlerweile verließ Flottwell das Großherzogthum und überſandte
dem Monarchen (15. März) noch eine Denkſchrift über ſeine zehnjährige
Verwaltung, ein herrliches Zeugniß für den Freimuth, die Einſicht, die
Thatkraft des alten Beamtenthums. Ganz unumwunden ſprach er hier
aus, um der menſchlichen Geſittung willen hätte er die deutſche Bildung
befördert, die dem preußiſchen Staatsleben widerſtrebenden polniſchen Ge-
wohnheiten zu bekämpfen geſucht; dann ſchilderte er mit gerechtem
Selbſtgefühle, was alles in dieſer ſchönſten Zeit der Poſener Landesge-
ſchichte geleiſtet worden. Wie nachdrücklich hatte vor wenigen Jahren der
alte König ſeine getreuen Beamten belobt, als Flottwell ihm nachgewieſen,
die ſcheinbare Zunahme der Vergehen in der Provinz ſei nicht ein Zeichen
wachſender Verwilderung, ſondern ein Ergebniß des wachſamen Kampfes,
welchen die neugebildeten dreißig Land- und Stadtgerichte mitſammt den
neuen Diſtrikts-Commiſſären wider die polniſche Geſetzloſigkeit führten. So
einfach vermochte der Sohn nicht zu handeln; ſeine Gutherzigkeit und
ſeine Neigung für das Abſonderliche verwickelten ihn ſtets in Widerſprüche,
welche den Verdacht der Falſchheit hervorriefen. Er dankte dem ſcheiden-
den Oberpräſidenten auf’s wärmſte für den Bericht, wie für ſeine kräftige
patriotiſche Verwaltung, und verlieh ihm einen hohen Orden.**) Die pol-
niſchen Edelleute murrten, denn Flottwell’s Denkſchrift ward ihnen, ver-
muthlich aus den befreundeten Hofkreiſen, bald verrathen und erſchien allen
wie das frechſte Selbſtbekenntniß deutſcher Zwingherrſchaft. Doch zur
nämlichen Zeit erklärte Friedrich Wilhelm dem neuen Oberpräſidenten
Grafen Arnim-Boitzenburg ſeine beſtimmte Abſicht dies ſoeben belobte
alte Verwaltungsſyſtem aufzugeben.
Er wünſchte womöglich alle Oberpräſidentenſtellen der Monarchie
mit vornehmen Grundherren zu beſetzen, die nach der Weiſe engliſcher
Lordlieutenants den Adel der Landſchaft in ihrem gaſtfreien Hauſe verſammeln
ſollten. Da das durchaus in demokratiſchen Sitten aufgewachſene preu-
ßiſche Volk wohl dem königlichen Beamten, doch keineswegs dem Edelmanne
Ehrerbietung zu zeigen pflegte, ſo mußte dieſer Plan ſchon in anderen
Provinzen auf manches Hemmniß ſtoßen. Um wie viel mehr in Poſen,
wo nur der Adel und der Clerus unzuverläſſig, die Mehrzahl der kleinen
[150]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Leute treu ergeben war. Arnim wurde für dieſe Stelle ausgewählt, weil
er mehrere der angeſehenſten Edelleute der Provinz von der Univerſität
her kannte und als Regierungspräſident in Aachen mit den aufgeregten
Katholiken gut ausgekommen war; zu der liebenswürdigen Gräfin ſagte
der König, ſie ſolle ihm die Herzen der Polen gewinnen. Der neue
Oberpräſident zeigte ſich als trefflicher Geſchäftsmann und hielt ein großes
Haus; ſeine gemeſſene Ruhe behagte Vielen mehr als das ungeſtüme
Weſen Flottwell’s, der, wie er ſelbſt geſtand, gern mit jungen Pferden
fuhr, ſeine raſchen Entſchlüſſe am liebſten durch feurige junge Männer
ausführen ließ.*) Das dem Monarchen überreichte Programm der neuen
Verwaltung ſagte behutſam: das Großherzogthum dürfe nur als Provinz
behandelt, das Ziel der Germaniſirung nie aus den Augen verloren
werden, obwohl man die Polen ſchonen und allein edle Mittel anwenden
wolle; denn das für Preußen weſentliche Deutſchthum ſei auch in Poſen,
wie Fürſt Sulkowski ſelbſt zugeſtehe, der Träger aller Cultur. Darum
ſolle, unter Vermeidung jedes Zwanges, das Deutſche doch Staatsſprache
bleiben und in allen Schulen nach Bedarf als Haupt- oder Nebenſprache
gelehrt werden; der Kirche müſſe man, unbekümmert um die öffentliche
Meinung, nach dem Befehle des Königs ihr volles Recht gewähren, aber
auch nicht mehr.**)
Selbſt dieſe ſanften Worte klangen dem Monarchen noch zu deutſch;
er antwortete mit der Mahnung: „jeden Anſchein einer verſuchten Ver-
drängung oder Beeinträchtigung des polniſchen Elements durch das deutſche
zu vermeiden.“***) Mangelhaft unterrichtet, empfahl er ſeinem Oberprä-
ſidenten das löbliche Beiſpiel der Franzoſen im Elſaß, während in Wahr-
heit die Wälſchen gegen das Deutſchthum weit ſchärfer vorgingen als die
Deutſchen gegen das Slawenthum: längſt waren in den elſaſſer Volks-
ſchulen durchweg franzöſiſche Lehrbücher eingeführt; jetzt verlangte die
Pariſer Regierung auch franzöſiſche Sprache für den Religionsunterricht,
ſo daß außer den Proteſtanten, die allezeit tapfer für ihre lutheriſche
Bibel ſtritten, auch der ſchmiegſame Biſchof Räß von Straßburg erbittert
wurde und der Krone erwiderte, ſein Gewiſſen verbiete ihm die Religions-
ſtunden anders als in der Mutterſprache der Kinder ertheilen zu laſſen.
Graf Arnim aber lernte bald durch ſchmerzliche Enttäuſchungen, daß er
das launiſche, nach Weiberart bald trotzende bald ſchmeichelnde Polenthum
minder richtig beurtheilt hatte als ſein in dieſer Grenzerwelt aufgewachſener
Vorgänger. Die polniſchen Jugendfreunde, von denen er ſo viel Hilfe
erwartet hatte, zeigten ihm wie allen königlichen Beamten nur glatte Höf-
lichkeit, doch weder Vertrauen noch guten Willen. Der kluge und edle
[151]Graf Arnim in Poſen.
Mann ſtand nicht an, dem Könige ſeinen Irrthum zu bekennen. Bereits
nach zwei Monaten berichtete er (14. Aug.): die Scheidewand zwiſchen
Deutſchen und Polen ſcheine doch weit ſchroffer als er gedacht; „das
Umlenken aus einer ſeit zehn Jahren verfolgten Bahn“ biete große
Schwierigkeiten, da man die erprobten Werke jenes Jahrzehnts nicht um-
ſtoßen wolle, und „Gott gebe, daß es nicht zu ſpät dazu iſt“. Hierzulande
ſei das Beamtenthum Alles, tüchtige Männer fehlten unter den Polen
faſt ganz, „die Aufrichtung des geſunkenen Volkes“ laſſe ſich noch gar nicht
abſehen.*) Seitdem ward er wachſamer und begann nachzudenken über die
Warnung des großen Friedrich: man darf den Polen keine Complimente
machen, das verdirbt ſie nur. Aber noch bevor er ſich in ſeinem ſchwie-
rigen Amte ganz zurechtgefunden hatte, ſchon nach Jahresfriſt, berief ihn
der König auf einen Miniſterpoſten.
Durch ſo jähe Wechſelfälle gewannen die polniſchen Edelleute die
tröſtliche Ueberzeugung, daß keine ſtarke Hand mehr das Steuer führte.
An den Zwangsverkäufen ihrer Güter betheiligte ſich der Staat nicht mehr,
und freiwillig veräußerten ſie nur noch ſelten eine Scholle an einen
Deutſchen; das Sprichwort kam auf: große Verräther verkaufen ihr Vater-
land im Ganzen, kleine morgenweiſe. Von den Volksſchulen fürchteten
ſie auch nicht mehr viel, weil der König, um die römiſche Kirche ganz zu-
frieden zu ſtellen, die Aemter der Schulinſpectoren häufig an polniſche
Prieſter übertragen ließ. Selbſt das höhere Schulweſen hofften ſie der-
einſt noch dem Polenthum zu unterwerfen: war doch ſoeben ein polniſcher
Geiſtlicher zum Rector des Poſener Marien-Gymnaſiums ernannt wor-
den; und die Regierung hatte bewilligt, daß dort künftighin blos polniſch,
nur in den zwei oberſten Klaſſen auch deutſch unterrichtet würde. Der
König ahnte nicht, wie ſchwer er dadurch die geſellſchaftliche Stellung
ſeiner polniſchen Schützlinge ſelber ſchädigte; ohne gründliche Kenntniß
der deutſchen Sprache konnte in Preußen ja längſt niemand mehr zu irgend
einer höheren bürgerlichen Wirkſamkeit gelangen. Selbſt ein polniſcher Ju-
gendbildungsverein, deſſen eigentlicher Zweck keinem Deutſchen in der Pro-
vinz zweifelhaft blieb, wurde von der Regierung freundlich begünſtigt. Nach
alter Gewohnheit dankten die ſarmatiſchen Edelleute der deutſchen Schwäche
durch Untreue und Verſchwörungen. Daß dieſe Regierung mit Hochver-
räthern ſtreng umgehen würde, ſtand ja doch nicht zu befürchten: dem
Landtagsabſchied zuwider erhielten die warſchauiſchen Offiziere alleſammt
bald nachher ihre verwirkten Penſionen wieder ausbezahlt.
Zwar beſtand, namentlich unter den reichen und bejahrten Grund-
herren, eine kleine gemäßigte Partei, die auf das friedliche Erſtarken des
polniſchen Volksthums hoffte. „Werden wir beſſer, gebildeter, reicher als
die Deutſchen“, ſo ſagte Graf Eduard Raczynski, „dann ſind wir die Herren
[152]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
in Poſen.“ Und Eugen von Breza hatte den Muth, in einer Flugſchrift
über Poſener Zuſtände auszuſprechen: der beſte Pole ſeit Caſimir dem
Großen ſei der Bauernbefreier Friedrich Wilhelm III. geweſen. Aber ſolche
vereinzelte Stimmen wurden durch den Terrorismus der Revolutionäre
raſch niedergedonnert; gegen Breza ſchrieb Aug. Hatzfeld eine höhniſche
Erwiderung, die unzweifelhaft die Meinung der polniſchen Mehrheit wieder-
gab. Die „Centraliſation“ der polniſchen Propaganda in Paris und Ver-
ſailles unterhielt ſeit Jahren, durch Palmerſton beſchützt, mit den Poſener
Landsleuten einen geheimen Verkehr, den die engliſche Geſandtſchaft in
Berlin vermittelte;*) und trotz der Beſchwerden des preußiſchen Hofes hörte
dieſe Verrätherei der britiſchen Freunde ſelbſt als die Torys zur Regie-
rung gelangten nicht gänzlich auf. Auch unmittelbar wurden, mit Um-
gehung der Poſt, regelmäßige Botſchaften zwiſchen Paris und Poſen aus-
getauſcht.**)
Gerade die Großpolen um Poſen und Gneſen beſaßen im höchſten
Maße jenen tolldreiſten, abenteuerlichen Sinn, welcher den Polen bei
ihren öſtlichen Nachbarn den Namen der Hirnloſen verſchafft hatte. Nach
den Erfahrungen des Flottwell’ſchen Regiments mußten ſie auch wohl
glauben, daß Gefahr im Verzuge ſei, und das Deutſchthum im polniſchen
Rom dereinſt noch ſiegen könnte. Als Menſchen, ſo ſagten ſie oft, befin-
den wir uns beſſer, als Polen ſchlechter denn unſere Brüder in Galizien
und Warſchau. Seit dem Jahre 1842 ſuchte die Centraliſation grades-
wegs einen neuen Aufſtand vorzubereiten; ſie gründete in Verſailles eine
eigene Kriegsſchule, Mieroslawski und Wyſocki hielten militäriſche Vor-
träge, viele junge Polen beſuchten franzöſiſche Militärbildungsanſtalten.
Jedermann fühlte, daß ein Sturm in der Luft lag. Erzbiſchof Dunin,
der kaum begnadigte, gebärdete ſich wie der Herr des Landes; das ge-
ſchmeidige Pfäfflein mit dem violetten Käppchen lächelte verſtändnißinnig,
wenn ihm der Adel als dem Primas von Polen huldigte. Zum Dank
für ſeine Befreiung ernannte er den Official Brodzizewski, den eigent-
lichen Anſtifter des Kirchenſtreites***) zum Weihbiſchof von Gneſen und
verlangte, daß alle Schulbücher der Provinz der erzbiſchöflichen Curie zur
Genehmigung eingereicht würden. Er wagte in ſeinen Rundſchreiben
an den Clerus die Regierung offen anzugreifen und beklagte ſich vor
dem Monarchen über „die unerhörte Arroganz“ der königlichen Beamten
in ſo frechem Tone, daß ihm Eichhorn einen ſcharfen Verweis ſenden
mußte.†) Das perſönliche Verhältniß zwiſchen Deutſchen und Polen
ward um ſo kälter, je leiſer die Regierung auftrat; ſelbſt Graf Raczynski,
[153]Gährung in Poſen.
den ſeine Standesgenoſſen wegen ſeines guten Einvernehmens mit den
Deutſchen beargwöhnten, warnte nachdrücklich, dieſe beiden Nationen ſollten
wohl friedlich neben einander leben doch niemals ſich vermiſchen. Unter
ſich waren die Polen keineswegs einig. Neben den Geheimbünden des
Adels bildete ſich ein radikaler Verein unter den Gewerbtreibenden der
Provinzialhauptſtadt und einem Theile jener müſſigen Händler und Schenk-
wirthe, welche in den kleinen Städten den fehlenden Handwerkerſtand
vertraten; ſeine von Dr. Libelt herausgegebene Zeitſchrift, das Jahr, ſtand
den Lehren des Communismus nahe. Gegen die Deutſchen aber hielten
alle Parteien zuſammen. Schon wurde die Loſung ausgegeben, man
dürfe nur bei Landsleuten kaufen, und in Poſen ein Bazar auf Aktien
gegründet, deſſen Läden die Geſellſchaft ausſchließlich an Polen vermiethete;
auch für ein polniſches Theater ward geſammelt.
In Folge der beſtändigen Warnungen der ruſſiſchen Geſandtſchaft
erhielten die Landräthe den Befehl, auf die geheimen Umtriebe der Polen
ſcharf aufzumerken. Da ſich indeſſen die moskowitiſchen Berichte zum Theil
als falſch oder übertrieben erwieſen, ſo ließ ſich die deutſche Gutmüthigkeit
bald wieder einſchläfern. Ein berüchtigter Agent der Propaganda Trzemski
wurde, als man ihn nach Jahren endlich einfing, wieder losgegeben, weil
er ſich auf die Amneſtie des neuen Königs berief;*) und über den gefähr-
lichſten aller Preußenfeinde des Landes, Titus Dzialynski urtheilte das
Auswärtige Amt unſchuldig: dieſer Graf ſei viel zu vornehm zum Ver-
ſchwörer.**) Harmloſer noch als ſeine Beamten war der König ſelbſt. Als
er im Sommer 1842 auf der Durchreiſe Poſen berührte, da ließ er ſich,
wie man ſagte, durch die Bitten der Radziwills bewegen, dort einige Tage
zu verweilen, und die Polen bereiteten ihm eine jener lärmenden Hul-
digungen, welche der ſlawiſchen Leichtlebigkeit gar nichts koſten. Entzückt
ſchilderte er, wie man ihn über alle Erwartung gut empfangen und wie
er beim Feſtmahle 205, meiſt adliche Magen habe füllen müſſen.***) Nach
dem kurzen Aufenthalte verlieh er zum Abſchied noch 55 Orden an dieſe
ungetreue Provinz, die er ſchon bei der Königsberger Huldigung mit Aus-
zeichnungen überſchüttet hatte; ſelbſt Dunin wurde durch einen Orden geehrt.
Dergeſtalt trieb man arglos dem großen Verrathe der Polen entgegen. Ein
genialer, ſeiner Macht ſicherer Staatsmann darf wohl zuweilen abweichen
von der alten Regel, daß die Staatsgewalt ſich auf ihre Freunde, nicht
auf ihre Feinde ſtützen ſoll. Eine ſchwache Regierung verräth nur ihre
eigene Haltloſigkeit, wenn ſie in kurzſichtiger Ueberſchlauheit unbelehrbaren
Gegnern zu ſchmeicheln verſucht. So geſchah es hier: die Polen wurden
nicht gewonnen, die treuen Deutſchen aber fühlten ſich wie verrathen und
[154]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
verkauft, da ſie den König die Politik Flottwell’s beloben und doch ſelbſt
den genau entgegengeſetzten Weg einſchlagen ſahen. —
Inzwiſchen wurde das Miniſterium nach und nach völlig neu ge-
ſtaltet. Im März 1841 erhielt Boyen, trotz ſeiner ſiebzig Jahre, die
Leitung der Kriegsverwaltung, zum Schrecken der alten mecklenburgiſch-
welfiſchen Partei, die er noch vor wenigen Jahren durch eine freimüthige
Schrift über Scharnhorſt abermals gekränkt hatte. Der König ward nicht
müde, den alten Herrn für die Unbill vergangener Jahre durch eine faſt
kindliche Verehrung und durch ſinnig gewählte Auszeichnungen zu ent-
ſchädigen. Er gab ihm ſofort, nach dem Dienſtalter, die erſte Stelle im
Miniſterium, ſchmückte ihn am Grabe Gneiſenau’s zu Sommerſchenburg,
als dort das Denkmal des Helden enthüllt wurde, mit dem ſchwarzen
Adlerorden, ernannte ihn zum Chef des erſten Infanterie-Regiments, in
dem der General einſt ſeine Soldatenlaufbahn begonnen hatte, ließ
zum Jubelfeſte ſeiner ſechzigjährigen Dienſtzeit eine ſchöne Denkmünze
ſchlagen. Boyen aber täuſchte ſich nicht über die Bedeutung dieſer Gnaden-
beweiſe. Aufgewachſen in den Ideen Kant’s, klar, beſtimmt, verſtändig
in Allem, auch in ſeiner innigen Frömmigkeit, fühlte er klug heraus, wie
wenig er Friedrich Wilhelm’s romantiſchen Träumen zu folgen vermochte, und
hielt ſich der großen Politik in der Regel fern; nur zuweilen, wenn er einen
verhängnißvollen Mißgriff befürchtete, warnte er den König mit ſeiner
kräftigen oſtpreußiſchen Treuherzigkeit. Auch in ſeinem eigenen Miniſte-
rium machte er bald die Erfahrung, daß er vor fünfundzwanzig Jahren,
trotz der vielbeklagten Unentſchloſſenheit des alten Königs und trotz der
Feindſeligkeit der Maulwürfe, wie er ſeine Gegner nannte, doch weit raſcher
vorwärts gekommen war als jetzt. Gleich zu Anfang hatte er, wie der König
ſagte, „ein Stückchen Schwerenoth“ mit dem Chef des Militärcabinets
General Lindheim, und es gelang ihm den rechthaberiſchen Gegner zu
verdrängen, indem er offen ausſprach: ich habe das Amt nur angenommen
„um dem König einen Beweis meiner treuen Anhänglichkeit zu geben; ſo-
bald ich aber ſehe, daß meine Wirkſamkeit gelähmt wird, ſo hat die Stelle
keinen Werth für mich.“*)
Freie Hand jedoch gewann er dadurch noch nicht, denn der König er-
ſchwerte ihm, wie allen übrigen Miniſtern das planvolle Arbeiten durch
plötzliche Vorſchläge und Entwürfe, die er dann oft ebenſo plötzlich wieder
aufgab. „Es liegen“, ſagte Thile, „im Geiſte Sr. Maj. noch ſo viele Keime
für die raſchere Entwicklung unſerer Staatsverhältniſſe in mannichfacher
Richtung.“ Selbſt die Formen des Geſchäftsganges ſtanden nicht mehr
[155]Boyen. Kamptz.
feſt. Friedrich Wilhelm ließ ſich zwar, wie ſein Vater, in der Regel von
dem Cabinetsminiſter Vortrag halten, berief aber auch zuweilen kurzweg
einen oder mehrere der andern Miniſter oder erſchien unerwartet im
Miniſterrath; ſo überlaſtete er ſich und fand ſchwer ein Ende.*) Um ſich
gegen die unberechenbaren Einfälle des Monarchen zu decken, verſammelte
Boyen häufiger als er vordem pflegte berathende Commiſſionen, in deren
ſchwerfälligen Verhandlungen mancher gute Plan ſtecken blieb. Dergeſtalt
ward ſeine zweite Amtsführung, wenn auch nicht unfruchtbar, doch weit
weniger erfolgreich als die erſte. Er empfand oft ſchmerzlich die Laſt
ſeiner Jahre, obgleich Andere ſich über ſeine jugendliche Friſche verwunder-
ten, und in ſeinen Augen noch immer jene verdeckte Gluth brannte, die
ihm einſt den Namen des ſtillen Löwen verſchafft hatte. Mehr als das
Alter hemmte ihn die Unſicherheit ſeiner Stellung; alle Rathgeber Fried-
rich Wilhelm’s überkam bald das drückende Gefühl, daß man in einer un-
möglichen Zeit lebte.
Auch im Juſtizminiſterium ward ein Perſonenwechſel unvermeidlich.
Schon gleich nach ſeiner Thronbeſteigung (29. Juni 1840) hatte der König
eine dankenswerthe Reform in der Rechtspflege herbeigeführt, indem er
erklärte, es widerſtrebe ſeinem Gefühl, die Todesurtheile förmlich zu be-
ſtätigen. Die Krone verzichtete alſo auf jede unmittelbare Ausübung ihrer
alten oberſtrichterlichen Gewalt, ſie begnügte ſich fortan mit dem Rechte
der Begnadigung; wenn ſie von dieſem Rechte keinen Gebrauch machen
wollte, dann befahl ſie einfach, der Gerechtigkeit freien Lauf zu laſſen,
ſo daß die Unabhängigkeit der Gerichte jetzt auch in der Form ſtreng ge-
wahrt wurde. Dieſer erſten Reform ſollten größere folgen, vornehmlich
eine Neugeſtaltung des Strafverfahrens. Wie hätte Friedrich Wilhelm
für ſolche Pläne den alten, ihm perſönlich widerwärtigen Kamptz gebrauchen
können, der mit allem ſeinem Fleiße das Werk der Geſetzreviſion kaum von
der Stelle gebracht hatte und, befangen in der todten Gelehrſamkeit ſeines
geliebten Reichskammergerichts, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit als Re-
liquien aus den Kinderzeiten der Rechtspflege bemitleidete? Vor Kurzem
erſt, bei ſeinem Jubiläum waren dem Demagogenverfolger mannichfache Aus-
zeichnungen, ſogar das Ehrenbürgerrecht der Hauptſtadt zu Theil geworden.
Er hielt ſich für unentbehrlich, ging im Sommer 1841 wohlgemuth nach
Gaſtein, dem Jungbrunnen der Greiſe, und wollte ſeinen Augen kaum
trauen, als ihm General Thile dorthin ſchrieb: bei ſeiner „Lebens- und
Geiſtesfülle“ bedürfe der König jüngerer Diener. Kamptz ſträubte ſich
noch heftiger denn vor drei Jahren, als man ihm die rheiniſche Juſtiz-
verwaltung nahm;**) flehentlich bat er den General, ſelbſt zu beurtheilen
„ob ich jemals mit meinen Kräften zurückgeblieben bin“, und beſchwor
[156]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
den König, ihm die Arbeiten der Geſetzreviſion zu laſſen, da ihm „Gott
dieſe Kräfte ungeſchwächt erhalten habe“.*)
Alles vergeblich. Der König hatte die Stelle bereits ſeinem Freunde
Savigny zugedacht und verlangte von dieſem Vorſchläge für eine zweck-
mäßige Einrichtung der Geſetzreviſion. Die Denkſchrift, welche Savigny
darauf (im Januar 1842) dem Monarchen überreichte, enthielt in vornehmer,
gemeſſener Form eine entſchiedene Abſage der neuen hiſtoriſchen Rechts-
lehre an die Wetzlariſche Gelahrtheit des alten Jahrhunderts. Sie brach
den Stab über Kamptz’s geſammte Amtsführung und zeigte mit ſiegreicher
Klarheit: grade das Landrecht, grade dieſe ſo ausführliche, ſo in’s Ein-
zelne gehende Codification habe den wiſſenſchaftlichen Geiſt des trefflichen
preußiſchen Richterſtandes gelähmt; darum ſei auch nicht, wie bisher immer,
eine Umarbeitung des ganzen Landrechts zu erſtreben, ſondern zuvörderſt
eine Neugeſtaltung des Proceſſes, damit die Richter in ihrer ganzen
Thätigkeit freier geſtellt, unabhängiger nach oben, entlaſtet von fremd-
artigen Amtsgeſchäften, wieder mit der Wiſſenſchaft in lebendige Wechſel-
wirkung träten. Am materiellen Rechte wollte Savigny nur verändern,
was durch die Erfahrung widerlegt ſei und den Bedürfniſſen der heu-
tigen Geſellſchaft widerſpreche. Er forderte alſo, wie ſein Lieblingsſchüler
Ludwig v. Gerlach ſagte, ſtatt todter Codification lebendige Legislation;
und bei dem freudigen Verſtändniß, das Friedrich Wilhelm den Ideen
ſeines Lehrers immer gewidmet hatte, ſchien die Hoffnung wohlberechtigt,
daß Preußens Geſetzgebung ſich fortan auf der Höhe der Wiſſenſchaft
halten würde.
Als Savigny auf Grund jenes Programmes im März den Miniſter-
poſten erhielt, da meinten faſt alle guten Köpfe an den Hochſchulen wie
an den Gerichten, eine glücklichere Wahl hätte der König nicht treffen
können; denn durch ſein Wirken im Staatsrathe und neuerdings durch
ſein Syſtem des heutigen römiſchen Rechts war der größte Rechtsgelehrte
des Jahrhunderts auch bei den Praktikern zu hohem Anſehen gelangt.
Schon Stein hatte einſt vorausgeſagt, der würde einſt ein würdiger Nach-
folger des Großkanzlers Carmer werden. Nur die Radikalen, die ihm ſeine
Kämpfe gegen das Vernunftrecht nicht verzeihen konnten, ergingen ſich in
wohlfeilen Spöttereien über den Mann, der einſt unſerer Zeit den Beruf
zur Geſetzgebung abgeſprochen hätte und nun ſelbſt das Miniſterium der
Geſetzreviſion übernähme; ſie hielten ihm vor, daß er, der Proteſtant,
ſeinen Sohn ſtreng katholiſch erziehen ließ, daß er einſt Gans bekämpft
und Stahl beſchützt hatte, daß er jetzt Gerlach ſogleich in ſein Miniſterium
berief; ſie weiſſagten dem „chriſtlich-germaniſchen Solon“ ein ſchlimmes
Ende. Und ſeltſam, dieſen Parteifanatikern gab der Erfolg ſchließlich mehr
Recht als den Einſichtigen und Unbefangenen. Es zeigte ſich bald, daß
[157]Savigny. Alvensleben. Bodelſchwingh.
Friedrich Wilhelm auch diesmal wieder einen bedeutenden Mann an die
falſche Stelle geſetzt hatte; Savigny’s Thätigkeit im Miniſterrathe beraubte
die Wiſſenſchaft auf einige Jahre einer unvergleichlichen Kraft und förderte
die preußiſche Geſetzgebung nur wenig.
Leichter als Kamptz trennte ſich Graf Alvensleben von ſeinem Amte.
Er hatte vor Jahren der romantiſchen Maikäfergeſellſchaft der Gebrüder
Gerlach angehört und wurde von dieſen Jugendfreunden noch immer zu
den zuverläſſigen Geſinnungsgenoſſen gezählt. Durch ſeine lange Amts-
führung war er jedoch an den geräuſchloſen ſtätigen Gang des alten Re-
giments gewöhnt und ſagte zu Rochow von vornherein: jetzt ſei für ſie
Beide kein Platz mehr, der neue Herr wolle in Allem allein regieren, ſelbſt
die Einzelheiten der Verwaltung durch oft willkürliche oder unpraktiſche
Befehle regeln, und umgebe ſich darum abſichtlich nur mit Männern,
die er weit überſehe. Längſt entſchloſſen ſich bei rechter Gelegenheit zu-
rückzuziehen, erhielt der Graf im October 1841 einen ſcharfen Verweis,
weil er bei den ſchwebenden Verhandlungen über die Zuckerzölle den Ab-
ſichten des Monarchen zuwider gehandelt hätte. Sofort verlangte er
ſeinen Abſchied.*) Das hatte Friedrich Wilhelm nicht beabſichtigt; denn er
ſchätzte Alvensleben ſehr hoch, und war vor’m Jahre ſchon nahe daran
geweſen ihm das wichtige Cultusminiſterium zu übertragen. Um den ge-
kränkten Miniſter zu beſchwichtigen dachte der König in der erſten Ver-
legenheit, alle Schuld an dem Streite auf den pedantiſchen alten General-
ſteuerdirector Kuhlmayer abzuwälzen. Da trat ihm Thile entgegen und
ſagte freimüthig: das würde die erſte wirkliche Ungerechtigkeit in der Re-
gierungszeit Sr. Majeſtät ſein, denn Kuhlmayer habe immer nur genau
die Weiſungen des Miniſters befolgt.**) So blieb es denn dabei, daß
Alvensleben aus der Finanzverwaltung austrat; mit ihm ſchied auch
Kuhlmayer.
Der König war jedoch nicht geſonnen, ſich gänzlich von dem alten
Freunde zu trennen; er ließ durch Leopold Gerlach, nachher durch die
Königin mit ihm verhandeln, und Alvensleben entſchloß ſich endlich als
Cabinetsminiſter neben General Thile einen Theil der politiſchen Vorträge bei
dem Monarchen zu übernehmen. Mittlerweile wurde der Oberpräſident
v. Bodelſchwingh zum Eintritt in das erledigte Amt aufgefordert, und
nach den Anſchauungen des alten Beamtenthums betrachtete er es als
ſeine Dienſtpflicht dem Rufe des Königs zu gehorchen, obgleich er ſehr un-
gern ſeinen ſchönen rheiniſchen Wirkungskreis verließ.***) Im Mai 1842
trat er das Amt an, unter ihm Geh. Rath Kühne als Generalſteuer-
direktor. Endlich wieder ſchien ein friſcherer Geiſt in die etwas erſtarrte
[158]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Finanzverwaltung einzuziehen, da zwei ſo ausgezeichnete Beamte, beide noch
im kräftigſten Alter, perſönlich befreundet und in ihren handelspolitiſchen
Grundſätzen ganz gleichgeſinnt, die Zügel ergriffen.
Ungleich wichtiger als alle dieſe Aenderungen erſchien der öffentlichen
Meinung der hartnäckige Kampf zwiſchen Schön und Rochow. Deſſen
Ausgang, ſo glaubte alle Welt, mußte über den Charakter der neuen Re-
gierung endlich entſcheiden. Rochow galt nun einmal für den Banner-
träger der Reaction. Nicht ganz mit Recht. Eben jetzt vollendete er,
durchaus nach den Wünſchen des Provinziallandtages, die Landgemeindeord-
nung für Weſtphalen vom 31. Oct. 1841, die an die Stelle von vier
rheinbündiſch-franzöſiſchen Gemeindegeſetzen trat und offenbar eine Mittel-
linie einhalten ſollte zwiſchen dem napoleoniſchen Verwaltungsdespotismus
und der patriarchaliſchen Selbſtverwaltung des Oſtens. Die althiſtoriſchen
Ortsgemeinden wurden wiederhergeſtellt, ſofern ſie eigenen Haushalt be-
ſaßen; den Gemeindevorſteher ernannte der Landrath, nach franzöſiſchem
Brauche, die Gemeinderäthe jedoch ſollten fortan von den Meiſtbeerbten
frei gewählt werden und erhielten erweiterte Befugniſſe. Eine oder meh-
rere Gemeinden bildeten einen Landesverwaltungsbezirk, das Amt, unter
einem ernannten Amtmann. Die Rittergüter konnten in der Regel nur
mit Zuſtimmung beider Theile aus dem Gemeindeverbande ausſcheiden.
Das Geſetz zeigte gar nichts von ſtaatsmänniſchen Gedanken; es war
der Nothbehelf eines wohlmeinenden Beamtenthums, das den im Weſten
vorherrſchenden und darum liberal genannten Anſchauungen nach Kräften
entgegenzukommen ſuchte. Aber auch dies Zugeſtändniß an den Liberalis-
mus vermochte den Haß, der auf Rochow’s Namen laſtete, nicht zu ſänf-
tigen. Und ihm gegenüber ſtand Schön, der Abgott der Zeitungen.
Der hatte die Verhandlungen des jüngſten oſtpreußiſchen Landtags
durch ſeine Getreuen ſehr klug geleitet; denn er ſtand dem Könige per-
ſönlich dafür ein, daß unter den Ständen ſeines Lieblingslandes kein un-
ehrerbietiges Wort fallen ſollte. Nichtsdeſtoweniger fuhr er fort, die radi-
kale Verſtimmung, die in Königsberg ſeit dem Erſcheinen der Vier Fragen
überhandnahm, gefliſſentlich zu ſchüren durch ſeine maßloſe Tadelſucht,
durch ſein hoffärtiges Abſprechen über alles was aus Berlin kam, neuer-
dings auch durch geheimnißvolle Andeutungen über des Königs Ver-
faſſungspläne. Mehrmals warnte General Wrangel die Krone vor dieſem
aufreizenden Treiben des Oberpräſidenten; immer ward ihm die Antwort,
dem Freunde des Königs ſei nichts Arges zuzutrauen. Mit ſeinem Vor-
geſetzen Rochow war Schön bereits ſeit dem Huldigungslandtage gänzlich
lich zerfallen. Jetzt ſandte Rochow eine gehäſſige Anfrage wegen eines
albernen radikalen Gedichts, das dem Oberpräſidenten zuſang, er habe
„das große Wort der Freiheit uns gelehrt“. Schön’s Erwiderungen
wurden immer gröber; es ſchien als ob er den Miniſter verhöhnen
wollte. Zugleich verklagte er ihn, freimüthig aber ohne irgend einen Be-
[159]Weſtphäliſche Landgemeindeordnung. Schön und Rochow.
weis beizubringen, vor dem Könige als einen gemeinſchädlichen Staats-
diener. In den Berliner Regierungskreiſen äußerte man ſchon: wenn
Rochow nur einen Funken von Klugheit beſäße, ſo müßte er dieſen
Gegner fordern.*) Beide Feinde zeigten ſich gleich herrſchſüchtig, beide
gleich wenig wähleriſch in den Mitteln: während Schön’s liberale Gefolg-
ſchaft den Miniſter in den Blättern der Oppoſition ſchmähte, ließ Rochow,
wie die Oſtpreußen bald erfuhren,**) in ſeinem Bureau gehäſſige Artikel
gegen den Oberpräſidenten ſchmieden und wußte manche davon ſogar in
der Augsburger und der Leipziger Allgemeinen Zeitung unterzubringen.
Trotz dieſes offenkundigen Skandales wünſchte der beiden Gegnern
gleich wohlgeneigte Monarch beide im Amte zu halten; denn im ſtolzen
Gefühle ſeiner Selbſtherrlichkeit legte er auf die Streitigkeiten ſeiner Diener
gar keinen Werth. Auch glaubte er keineswegs, daß eine grundſätzliche
Feindſchaft die Beiden trennte. Hatte er doch als Kronprinz jahrelang mit
Beiden friedlich in der landſtändiſchen Commiſſion zuſammen gearbeitet und
von Rochow ſoeben noch Rathſchläge für die Fortbildung der Ständeverfaſ-
ſung empfangen. Zwiſchen dem Könige und ſeinem alten oſtpreußiſchen
Freunde hatte ſich nach und nach ein gefährliches gegenſeitiges Mißverſtänd-
niß gebildet, wie es nur zwiſchen ſo ſeltſamen Charakteren entſtehen konnte.
Da Schön Alle die nicht ſeines Sinnes waren als „Männer der finſteren
Zeit“ tief verachtete, ſo glaubte er wirklich, ſein geliebter König würde nur
durch die reaktionären Hofleute verhindert, die conſtitutionellen Pläne aus-
zuführen, die er doch in ſolcher Weiſe gar nicht hegte. Friedrich Wilhelm
ſeinerſeits wähnte, „der Schön“ laſſe ſich nur zuweilen „durch ſeinen jüdi-
ſchen Freundepöbel“ zu liberalen Aeußerungen verleiten, die in Wahrheit die
Herzensgeſinnung des Kantianers wiedergaben. Wieder und wieder ſendete
er dem Freunde herzliche Briefe und mahnte ihn zur Verſöhnlichkeit: das
Minimiſſimum, das ich zu fordern berechtigt bin, iſt eine Explication mit
Rochow, den Sie ungerecht beſchuldigt haben; Ihnen fehlt die Liebe, die
auch mit Gegnern für das Ganze zuſammenwirkt.***) Gewandt eingehend
auf dieſe ihm ſonſt wenig geläufige bibliſche Sprache erwiderte Schön:
der Spruch „Und hätte ich die Liebe nicht“ ſtehe mit Flammenſchrift in
ſeinem Herzen. Dem Miniſter aber wollte er ſeine Hand nicht bieten.
Vergeblich hielt ihm ſein Landsmann Boyen in einem gemüthlichen Schreiben
vor: die Verſöhnung mit Rochow ſei zugleich die Verſöhnung mit dem
Monarchen, vergeblich verſuchte des Königs vertrauter Adjutant, Oberſt
Below, einer der erſten Grundherren der Provinz, im Verein mit einigen
anderen oſtpreußiſchen Edelleuten den Erzürnten zu überreden.†)
[160]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Schön ließ ſich über die Schärfe des vorhandenen Gegenſatzes nicht
täuſchen; er blieb dabei, A und Non A könnten nicht zuſammengehen.
Zweimal erbat er ſeinen Abſchied, offenbar weil er noch immer hoffte,
den Gegner zu ſtürzen. Er wußte längſt, daß der König mehrmals daran
gedacht hatte, ihm das Handelsminiſterium zu übertragen—allerdings ein
ſonderbarer Einfall, da Schön zwar reiche techniſche Kenntniſſe beſaß, aber
als unbelehrbarer Feind des Zollvereins in der Handelspolitik ſicherlich
Unheil angeſtiftet hätte—und er war nicht nur bereit dieſem Rufe zu folgen,
er traute ſich’s auch zu, den geſammten Miniſterrath zu leiten. Immer
wieder kam er in Briefen und Geſprächen auf den allein rettenden Ge-
danken zurück: wir brauchen „ein regulirtes Miniſterium“, an deſſen
Spitze „ein wiſſenſchaftlich gebildeter Staatsmann mit voller Erfahrung“
ſtehen muß; und von ſolchen Staatsmännern beſaß die Monarchie nach
ſeiner Meinung nur einen einzigen!
Mit leidenſchaftlicher Erregung verfolgte die Provinz dieſe Kämpfe;
denn von allen deutſchen Stämmen halten die Oſtpreußen, neben den
Holſten, den Schwaben und den Schleſiern, am feſteſten unter einander
zuſammen; und Schön liebte, alle Vorwürfe, die ihm aus Berlin zu-
kamen, als Verdächtigungen der Treue ſeines Heimathlandes aufzufaſſen,
um ſie dann mit hoher patriotiſcher Entrüſtung zurückzuweiſen*). So
erſchien Rochow bald jedem ſtolzen Oſtpreußen faſt wie ein perſönlicher
Feind. Mittlerweile verbreitete ſich in der Provinz plötzlich das Gerücht
von zahlreichen Brieferbrechungen; Schön ſprach darüber als ob ein
Zweifel gar nicht möglich wäre. Der König aber, der ſchon nach ſeiner
Thronbeſteigung, zum Kummer des alten Nagler, alle ſolche ſchlechte
Künſte ſtreng unterſagt hatte, ſendete ſofort den Oberſten Below mit außer-
ordentlichen Vollmachten in ſeine Heimath, um eine ſcharfe Unterſuchung
vorzunehmen. Sie brachte ſchlechterdings nichts Bedenkliches an den Tag;**)
indeſſen ließen ſich die Altpreußen ihren Verdacht nicht nehmen.
Nun begann auch die ſchwache conſervative Partei der Provinz ſich
zu regen. Unter dem Vorſitze des übelberufenen Landraths v. Hake
verſammelten ſich im Februar einige Grundbeſitzer zu Preußiſch-Holland,
um zu erklären, daß ſie die Adreſſe der Freunde Jacoby’s mißbilligten
und dem abſoluten Könige unbedingt vertrauten. Hocherfreut erwiderte
Rochow einem der Theilnehmer, der Monarch habe die loyalen Grund-
ſätze der Verſammlung mit Wohlgefallen aufgenommen.***) Da liefen
von verſchiedenen Seiten Anzeigen gegen Hake ein; man beſchuldigte ihn
eines Caſſendefekts, und Schön beeilte ſich in einem grimmigen Berichte die
Nichtswürdigkeit dieſes politiſchen Gegners mit grellen Farben zu ſchildern.
[161]Schön’s Entlaſſung.
Rochow aber verſuchte anfangs den Handel mit Stillſchweigen zu über-
gehen und ward erſt durch einen ausdrücklichen Befehl des erzürnten
Monarchen gezwungen die Unterſuchung anzuordnen, die mit Hake’s Ver-
urtheilung endigte.*) Seitdem war der König über die Parteilichkeit des
Miniſters ebenſo ungehalten wie über die geheime Oppoſition des Ober-
präſidenten. So ſchleppte ſich der Streit noch durch Monate dahin.
Schön triumphirte und verſicherte dreiſt, in ſeiner treuen Provinz gäbe es keine
Parteien, allein die winzige Partei des Verbrechers Hake ausgenommen.
In Wahrheit war das Ordensland tief aufgewühlt, faſt ſo erbittert wie vor
zweihundert Jahren, als die edlen freien Preußen den märkiſchen Des-
potismus bekämpften. Unerſchütterlich feſt ſtand die Sage, daß der König
bei der Krönung conſtitutionelle Zuſagen gegeben und ſie nachher zurück-
genommen hätte; nichts aber verzeiht dieſer kräftige Stamm ſchwerer als
die Unbeſtändigkeit. Als Schön im October den Sitzungen des Staatsraths
beiwohnte, wollten ihm die Berliner Liberalen ein Ständchen bringen, was
er nur mit Mühe verhinderte; bei ſeiner Heimkehr begrüßten ihn ſeine
Königsberger Anhänger mit beflaggten Schiffen und erleuchteten Fenſtern als
den Helden des Landes, und die Königsberger Polizei meldete dem Miniſte-
rium beſchwichtigend: allgemein ſei die Theilnahme doch nicht geweſen.**)
So ſtand es bereits: die oſtpreußiſchen Polizeibehörden erſtatteten
Bericht über ihren eigenen Oberpräſidenten! Daß ſolche Zuſtände nicht
dauern konnten, mußte ſchließlich auch dem langmüthigen Monarchen ein-
leuchten. Als Schön im Januar 1842 zum dritten male ſeinen Abſchied
erbat, nahm ſich der König faſt drei Monate Bedenkzeit und genehmigte
endlich das Geſuch durch Cabinetsordre vom 31. März. Aber dieſe Ordre
blieb tiefgeheim, auch der Zeitpunkt des Austritts noch vorbehalten, und
weder der Oberpräſident noch die wenigen anderen Eingeweihten hielten
die Entſcheidung für unwiderruflich; Miniſter Alvensleben klagte bitter:
„das Vertrauen des Königs zu Schön beſteht nach wie vor.“***) Noch im
Mai reiſte Schön, ſchwerlich ganz ohne Hoffnung, wieder nach Berlin zu
den Verhandlungen des Staatsraths. Dort traf ihn die erſchreckende Nach-
richt, daß ſeine Abhandlung: Woher und Wohin? ſoeben auf dem Bücher-
markte erſchienen ſei. Die Schrift war, wie ſich kaum anders erwarten
ließ, bei einem der fünf Freunde, denen Schön ſie anvertraut, von un-
befugter Hand abgeſchrieben und einem radikalen Buchhändler verrathen
worden.†) Der Diogenes der deutſchen Demagogen, der Flüchtling Georg
Fein, Hambacher Angedenkens††), ließ ſie alsdann in ſeinem ſicheren Straß-
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 11
[162]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
burg zu billigem Preiſe erſcheinen und fügte ein langes Nachwort hinzu,
das in thörichten Schmähungen gegen Preußens Staat und Regierung
ſchwelgte. Da ward Friedrich Wilhelm geſchildert als „ein höchſt ſchlauer,
lebensgewandter Ariſtokrat, der ſich ſowohl auf die Schwächen als auf die
ſchönſten Eigenſchaften des deutſchen Volkes verſteht und beide mit nicht
gewöhnlicher Verſtellungskunſt für ſeine Herrſcherzwecke zu benutzen und
auszubeuten weiß.“
Sofort mußte Thile auf Befehl des Königs den Oberpräſidenten
„wegen des Verrathes ſeiner fatalen Schrift“*) befragen, und Schön
äußerte ſich natürlich hoch entrüſtet über Fein’s „Schändlichkeit“. Gleich-
wohl unterließ er was die Pflicht des Anſtands und der Treue ge-
bieteriſch erheiſchte; er erklärte nicht öffentlich, daß er an dem unbe-
fugten Nachdruck keinen Antheil habe und das radikale Nachwort ent-
ſchieden mißbillige. Der König in ſeinem argloſen Edelſinne muthete
ihm eine ſolche Erklärung auch gar nicht zu, ſondern unterſagte jede Ver-
folgung „des Woher und Wohin mit dem Drachenſchwanze“, damit das
Gericht des Publikums „unedles, ja ehrloſes Gebahren nach Gebühr be-
handeln“ könne.**) Wie gründlich täuſchte er ſich doch über die Urtheils-
fähigkeit der öffentlichen Meinung, die zwiſchen gemäßigter und radikaler
Oppoſition noch keineswegs zu unterſcheiden verſtand. Da das Machwerk
Fein’s unbehelligt umlief, ſo glaubten die Leſer alleſammt, der Straß-
burgiſche Demagog und der Freund König Friedrich Wilhelm’s hegten im
Grunde die nämliche Geſinnung. In ſolcher Geſtalt dargeboten wirkte
Schön’s Abhandlung in der That wie eine Brandſchrift, und ſein Verbleiben
im Amte wurde rein unmöglich.
Und doch war Schön nicht ganz im Irrthum, wenn er von dem
unberechenbaren Charakter des Königs bis zuletzt noch eine Sinnesän-
derung erhoffte. Friedrich Wilhelm hatte mit dem alten Freunde noch
nicht ganz gebrochen; und in demſelben Augenblicke da er Schön’s Ent-
laſſung genehmigte, ſtrafte er zugleich deſſen Feinde. Am 7. April wurde
General Wrangel zu ſeinem ſchmerzlichen Erſtaunen nach Stettin ver-
ſetzt, weil der König meinte: der bärbeißige Soldat würde in Königsberg
zu früh ſchießen laſſen. Zugleich brach auch über Rochow das Verhäng-
niß herein. Friedrich Wilhelm hielt ſich verpflichtet, die offenbare Partei-
lichkeit, welche der Miniſter während des langen Streites gezeigt hatte,
nicht ungerügt zu laſſen; es entging ihm nicht, daß Rochow’s officiöſe
Zeitungsſchreiber an der Zügelloſigkeit der liberalen Preſſe mitſchuldig
waren; dennoch brachte er es nicht über das Herz dem Freunde die ganze
Wahrheit zu geſtehen. Am 9. April ſagte er dem Ueberraſchten in einem
[163]Rochow’s Entlaſſung.
liebevollen Briefe: er hätte erfahren, daß Rochow ſeiner Geſundheit
halber auszutreten wünſche, und könne ihn nur unter Thränen ſcheiden
ſehen. „Ich habe“, ſo fuhr er fort, „den kalten Verſtand zu Hilfe rufen
müſſen, und Sie wiſſen, lieber Freund, daß der nicht immer kommt wenn
ich ihn rufe. Er iſt aber diesmal Gottlob gekommen, und jetzt —
billige ich Ihre Wünſche … Es muß nothwendig ſo eingerichtet
werden, daß auch die Bosheit nicht behaupten könne, Sie würden Schön
zum Opfer gebracht. Wenn Sie kurz nach Schön’s Abgang Ihre Stel-
lung verändern, ſo iſt dies politiſch gut und erſprießlich.“ Dann ließ er
ihm die Wahl zwiſchen mehreren hohen Aemtern. Fünf Tage nachher
ſendete Rochow das ihm alſo aufgezwungene Entlaſſungsgeſuch ein. Er
fühlte ſich tief verletzt durch die freundſchaftlichen Worte, die ihm unter
ſolchen Umſtänden faſt wie Heuchelei erſcheinen mußten, und ſagte in ſeinem
Begleitſchreiben ſehr deutlich, daß er die Gründe ſeines Sturzes wohl errathen
hatte. Die ſchwierige Stellung, ſo ſchrieb er, iſt unter den ſeit 1840 ein-
getretenen Verhältniſſen nur dann auszufüllen, wenn den Miniſter „der
Beſitz des Einverſtändniſſes, des offenen Vertrauens und des Schutzes
ſeines Souveräns dazu befähigt einen beſtimmt bezeichneten Weg conſe-
quent und mit friſchem Muthe zu verfolgen.“ Das Geſuch ward genehmigt,
und zugleich verfügte der König, daß Rochow, da er kein anderes Amt
annahm, den Sitz im Miniſterium wie im Staatsrathe behalten ſolle.*)
Auch dieſe Befehle wurden vorläufig noch ſtreng geheim gehalten;
und ſo konnte das Seltſame geſchehen, daß Rochow, der ſeinen Abſchied
bereits in der Taſche hatte, noch über die Schrift des ebenfalls ſchon ent-
laſſenen Schön ſein Gutachten abgeben mußte. Im Juni wagte der König
endlich abzuſchließen; am 3. wurde Schön’s, am 13. Rochow’s Entlaſſung
veröffentlicht; Schön erhielt die Würde eines Burggrafen von Marienburg,
verlor aber ſeinen Sitz im Staatsminiſterium. So lagen denn beide
Gegner am Boden, obſchon beide noch bis zuletzt auf eine günſtige Wen-
dung gehofft hatten; und keine Partei wußte recht ob ſie klagen oder
jubeln ſollte. Zufrieden waren vorerſt nur die Clericalen, weil Schön und
Rochow beide für Vertreter der alten harten Kirchenpolitik galten. Sehr
bald zeigte ſich jedoch, daß die wunderliche Entſcheidung nur den Liberalen
Schaden brachte. Als Nachfolger Schön’s wurde Geh. Rath Bötticher
berufen, ein tüchtiger Juriſt, der ſich in hohen Richterſtellen bewährt
hatte, in der Verwaltung aber nur wenig leiſtete und unter den Oſt-
preußen niemals ein geſichertes Anſehen erlangte; ſeine hochconſervative
Geſinnung war allbekannt, und der König ſprach bei ſeinem nächſten Be-
ſuche auf Marienburg öffentlich aus, daß er ihn nur deshalb zum Ober-
präſidenten ernannt hätte. Die Stelle des commandirenden Generals er-
11*
[164]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
hielt der mit Bötticher nahe befreundete Graf Friedrich Dohna, Scharn-
horſt’s Schwiegerſohn, ein alter treuer Genoſſe des Gerlach-Stolberg’ſchen
Kreiſes; er konnte ſchon weil er dem altbeliebten oſtpreußiſchen Grafen-Ge-
ſchlechte angehörte, leichter als Wrangel in Königsberg Boden gewinnen
und trat der Partei Schön’s zwar in etwas milderen Formen doch ebenſo
beſtimmt entgegen wie ſein Vorgänger. Zu Wrangel aber ſagte der König
noch in dieſem Sommer vertraulich: er habe ihn leider einen Augenblick
verkannt und jetzt erſt durch bittere Erfahrungen gelernt, daß Schön mit
ſeinen Freunden in der That ſehr gefährlich wirke.
Die Stimmung des entlaſſenen Oberpräſidenten verbitterte ſich mehr
und mehr. Er mahnte Boyen an das ſchöne Beiſpiel Espartero’s, der die
Garde aufgehoben habe, er empfahl den Freigeiſt Alexander Humboldt zum
Cultusminiſter; er verſicherte dreiſt, Preußen hätte drei Millionen Thaler
für Don Carlos bezahlt und fand des Scheltens wider die Rotte Korah gar
kein Ende mehr. Die große Mehrzahl der Oſtpreußen empfand Schön’s Ver-
abſchiedung wie eine Beleidigung des Landes. Die Stadt Königsberg verlieh
ihm alsbald das Ehrenbürgerrecht, die Ritterſchaft wählte ihn zum Abgeord-
neten für den Provinziallandtag; die Königsberger Hartungſche Zeitung, die
jetzt anfing Leitartikel unter der Ueberſchrift „Inländiſche Zuſtände“ zu
bringen, verherrlichte den Geſtürzten und ſchlug gegen die Krone einen ge-
reizten, faſt drohenden Ton an. Da fürchtete der König, Schön könnte auf
dem nächſten Landtage die Führung der Oppoſition übernehmen. Um vorzu-
beugen ſendete er ihm zu Weihnachten (21./27. Dec.) einen neun Folio-
ſeiten langen Brief, eine feurige Anſprache, worin ſich das alte noch immer
nicht erloſchene Freundſchaftsgefühl mit verhaltenem Unwillen und ſchmei-
chelnder Weiberſchlauheit gar ſeltſam vermiſchte. Halb zweifelnd halb ver-
trauend ſprach er die Erwartung aus, daß Schön unter den Landſtänden
die Vergiftung der öffentlichen Meinung bekämpfen würde. „In meinem
geliebten Oſtpreußen allein herrſcht ſchnöder Friede!! In dem Lande,
welches Gott der Herr als ein Bollwerk teutſchen Weſens in das ſlaviſche
und ſarmatiſche Wirrleben vorgeſchoben hat, wird das teutſche Wort in
Bann, ja in ſchimpfliche Bande gethan durch eine Clique, die mit Fran-
zoſen-Sinn und Franzoſen-Mitteln wirkt: mit Lüge! mit Lüge!… Sehen
Sie, lieber Schön, die Lüge, vor der fürchte ich mich.“ Dieſer Clique,
die doch unzweifelhaft zu ſeiner eigenen Partei gehörte, ſollte Schön ent-
gegentreten im Verein mit edlen treuen Männern und laut verkünden:
„daß das Vorgeben dem König zu dienen, den König zu lieben
eine infame Lüge iſt, wenn man zugleich ſeine Regierungs-
Maſchine, die Ausführer ſeiner Abſichten antaſtet und als
Feinde des Volks und des Lichts darſtellt.“ Insbeſondere ſollte
Schön die unter Mißbrauch ſeines Namens umhergetragene Lüge wider-
legen, daß der König conſtitutionelle Pläne hegte: „Ich will keine Felo-
nie gegen meinen treuen Lehnsherrn treiben und weder von einem
[165]Schön und Dohna.
menſchlichen Tage noch von einem Stück Pergament die Rechte meiner
Krone nehmen. Ich will nicht die Verfaſſung meines Landes ändern.
Und Alles dies weil ich nicht darf.“ Darum verlangte er
Schön’s „Hilfe gegen das Streben der Dunkelmänner, Juden und Juden-
genoſſen“ und trug ihm auf, das Schreiben den oſtpreußiſchen Freunden
zu zeigen.
Er fühlte jedoch insgeheim, daß Schön dieſem Befehle kaum nachkom-
men konnte ohne ſich ſelbſt bloszuſtellen, und ließ daher Abſchriften ſeines
Briefes dem neuen Oberpräſidenten ſowie anderen namhaften Männern
der Provinz zugehen. Als ihm nun Bötticher meldete, daß Schön über
„den köſtlichen königlichen Brief“ beharrlich ſchwieg,*) da gerieth er in
ſchweren Zorn. Vergeblich hielt ihm Schön’s Schüler Flottwell vor: man
dürfe die Oſtpreußen nicht mit dem gewöhnlichen Maßſtabe meſſen, da
dort die Mehrzahl der einſichtigen und zugleich treu ergebenen Männer
„durch die Ideen von Kant wie die Erde von den Strahlen der herbſt-
lichen Sonne auf eine wunderbare Weiſe erleuchtet, erwärmt, ja durch-
glüht würde“**). Neue Kundgebungen Jacoby’s und ſeiner Königsberger
Freunde brachten den Unmuth des Monarchen zum Ausbruch, und er
wiederholte was er zu Schön geſagt noch nachdrücklicher in einem Briefe
an General Dohna (24. Febr. 1843)***). „Ich möchte“, ſchrieb er hier,
„wie aus Roland’s Horn einen Ruf an die edlen treuen Männer in
Preußen ergehen laſſen, ſich um mich wie treue Lehensmänner zu ſchaaren,
die kleineren Uebel über das anwachſende große, jammerſchwangere Uebel
zu vergeſſen und auf meiner Seite den unblutigen geiſtigen Kampf zu
kämpfen, der allein aber gewiß den blutigen Kampf unmöglich macht …
Solch’ Unglück iſt für Preußen und für Königsberg insbeſondere die Exiſtenz
und das Walten jener ſchnöden Judenclique mit ihrem ſchwanzläppiſchen
und albernen Kläffer!! Die freche Rotte legt täglich durch Wort, Schrift
und Bild die Axt an die Wurzel des teutſchen Weſens; ſie will nicht
(wie ich) Veredlung und freies Nebeneinanderſtellen der Stände, die allein
ein teutſches Volk bilden; ſie will Zuſammenſudeln aller Stände … Ich
würde Gott, meinem Volke und mir ſelbſt lügen, gäbe ich je eine Con-
ſtitution, eine Charte und meinem Volke mit ihnen die nothwendigen
Bedingungen zu endloſen Unwahrheiten: erlogene Unfehlbarkeit des Königs,
unwahre Budgets, Lüge des Angriffs und des Vertheidigung, Lüge des
Lobes und des Tadels, Comödie vor und hinter den Kuliſſen, wie
ſolches zum Schaden und zum Ekel in den conſtitutionellen Staaten
zu ſehen iſt, wo nur eine Wahrheit waltet: die, daß eine Partei ſich
[166]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
an die Stelle der anderen ſetzen will.“ General Dohna beeilte ſich na-
türlich dieſen Brief überall zu verbreiten, und von conſtitutionellen Plänen
des Königs konnte fortan Niemand mehr reden.
Ein Jahr nach Schön’s Entlaſſung, 8. Juni 1843, feierten die Oſt-
preußen den fünfzigſten Jahrestag ſeines Eintritts in den Staatsdienſt.
Einige angeſehene Männer des Landes hatten eine Sammlung veran-
ſtaltet, und — ſo ſtark war ſchon die Macht der liberalen Legende —
ſelbſt aus Süddeutſchland liefen Beiträge ein, obgleich der eingefleiſchte
oſtpreußiſche Particulariſt ſich um die übrigen Deutſchen nie viel geküm-
mert hatte. Der Ertrag reichte aus um Schön’s Familiengut Arnau
von Schulden zu entlaſten; mit dem Ueberſchuſſe wollte man ihm noch
bei Lebzeiten ein Denkmal, einen Obelisken in Königsberg, errichten, ein
in jener Zeit ganz unerhörter Plan, den der König genehmigte, doch ohne
dem Jubilar ſonſt noch eine Gnade zu erweiſen. Schön ſträubte ſich
lange dem Feſte der Grundſteinlegung beizuwohnen, er wollte, wie er mit
verblüffender Kindlichkeit ſagte, keine Untreue gegen ſich ſelbſt begehen.
Die Mitglieder des Feſtausſchuſſes mußten ihn erſt mehrfach durch Briefe
und Beſuche bedrängen bis ſie ſich endlich rühmen konnten „einmal im
Leben ſeinen Entſchluß geändert zu haben“. Faſt die ganze Provinz
nahm theil, als nunmehr „großartiger Bürgertugend die Huldigung dar-
gebracht“ wurde; nur die Strengkirchlichen und einige aus den conſerva-
tiven Adelskreiſen hielten ſich fern. Nicht blos der aufgeklärte Theolog
Cäſar von Lengerke ließ ſeine den Liberalen allezeit gefällige Leier erklingen;
ſelbſt Eichendorff, der gut katholiſche Dichter, der während ſeiner Königs-
berger Amtszeit das Land und deſſen langjährigen Beherrſcher lieben ge-
lernt hatte, ſendete „dem braven Schiffer“ ſeinen Feſtgruß:
Auch die Univerſität überreichte ihren Glückwunſch; denn faſt überall
war das Profeſſorenthum ſchon für den Liberalismus gewonnen. Die
Hauptrede hielt Friedrich von Fahrenheid, der volksbeliebteſte Mann vom
liberalen oſtpreußiſchen Adel, ein transcendentaler Pferdezüchter, wie Schön
ihn nannte, vielſeitig gebildet, menſchenfreundlich, hochverdient um Wieſen-
bau und Wettrennen. Beſcheiden wies der Gefeierte die Lobſprüche von
ſich und ſagte, durchaus nach dem Sinne der Oſtpreußen: alles Verdienſt
ſeines ganz der Idee gewidmeten Lebens gebühre ſeinem großen Lehrer Kant.
Es war ein großes Familienfeſt der Provinz, und auch fernerhin blieb der
alte Herr bei der Mehrzahl ſeiner Landsleute in ſolchem Anſehen, daß jeder
Zweifel an ſeiner Größe faſt wie ein Landesverrath betrachtet wurde;
denn in einer langen Amtsführung war ſein Name unzertrennlich mit
der Provinz verwachſen, die mannichfachen guten Früchte ſeines Wirkens
[167]Graf Arnim Miniſter des Inneren.
mußte ſelbſt ſein Nachfolger Bötticher anerkennen*), und in ſeinem ſtreit-
baren Weſen zeigten ſich ſcharf ausgeprägt viele Charakterzüge des oſt-
preußiſchen Volksthums, nur leider nicht der ſchönſte: die Wahrhaftigkeit.
Er zog ſich nach ſeinem ſtillen Arnau im Pregelthale zurück, gründete
den landwirthſchaftlichen Centralverein, deſſen Vorſitz er übernahm, und
war auch ſonſt vielfach für gemeinnützige Zwecke thätig. Noch lebhafter
beſchäftigte ihn die Sorge um den eigenen Nachruhm: unabläſſig bemühte
er ſich bald junge Gelehrte ganz mit ſeinem Geiſte zu durchtränken, bald
älteren Hiſtorikern jene kunſtvollen Geſchichtsdarſtellungen zu übermitteln,
die er ſich zu ſeiner eigenen Verherrlichung erſonnen und dann ſo un-
zählige mal wiedererzählt hatte, daß er ſchließlich ſelbſt daran glaubte.
Zu einer großen politiſchen Wirkſamkeit gelangte er nie mehr, obgleich
der König ihm die perſönliche Freundſchaft mit rührender Treue be-
wahrte. —
An Rochow’s Stelle wurde Graf Arnim aus Poſen berufen. Man
begrüßte ihn mit großen Erwartungen; man glaubte allgemein, der kräf-
tige, noch nicht vierzigjährige Mann, der ſich auch ſofort mit jungen
Räthen umgab, würde die geſammte Richtung des Cabinets beſtimmen.
Ein Neffe Stein’s hatte Arnim ſeines ariſtokratiſchen Stolzes nie ein
Hehl; er nannte es einen unſchätzbaren Vorzug, daß ſein Haus eine der
Stätten ſei, wo Recht geſprochen, wo das Unrecht geſtraft, wo die Ord-
nung geſchützt würde. An den engliſchen Moden und Paſſionen, welche
damals in die vornehme Welt Deutſchlands und Oeſterreichs einzudringen
begannen, fand der Graf viel Freude; ſeine hohe, etwas ſteife, ſtets ele-
gant gekleidete Geſtalt erinnerte mehr an einen Lord als an den Sohn
eines alten deutſchen Kriegergeſchlechtes; nicht ohne Herablaſſung ſchaute
der blonde Kopf zwiſchen den mächtigen Vatermördern — wie man die
neuen Hemdkragen nannte — auf die gewöhnlichen Sterblichen hernieder.
Aber gleich ſeinem großen Oheim war er ganz durchdrungen von dem
Grundſatze des Gleichgewichts der Rechte und der Pflichten; er verlangte,
daß der preußiſche Adel ſich ſeine Machtſtellung durch politiſche Arbeit
verdiene und wünſchte dringend baldige Berufung eines Reichstags auf
den vorhandenen ſtändiſchen Grundlagen. Dem Könige konnten ſolche
Gedanken, ſchon weil ſie ſo einfach und zweckmäßig waren, unmöglich
zuſagen; in ſeinem ſelbſtherrlichen Stolze hatte er es indeß gar nicht
für nöthig gehalten, ſich mit dem neuen Miniſter, der ihm perſönlich ge-
fiel und ja doch nur Werkzeug ſein ſollte, im Voraus zu verſtändigen.
Auch in ihren religiöſen Anſchauungen ſtimmten die Beiden nicht zu-
ſammen, da Arnim zwar ein gläubiger Chriſt, doch jeder Art des Pietis-
mus feind war und die alte ſtaatskirchliche Politik Altenſtein’s zwar be-
hutſam weiterführen doch keineswegs aufgeben wollte. Arnim übernahm
[168]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ſein Amt mit einem Gefühle der Entſagung. Er war bereit, den Tadel
für alle Mißgriffe und Mißerfolge ſeines königlichen Herrn ritterlich auf
ſich zu nehmen; aber der große ſtaatsmänniſche Ehrgeiz, der ſeinem Zeit-
alter die Richtung geben will, blieb ihm fremd, und für einen ſo ſelb-
ſtändigen Willen war in dieſen Jahren auch kein Raum.
Wie das neue Syſtem in Poſen durch Arnim’s plötzliche Abberufung
geſtört wurde, ſo kam auch die für Frankfurt geplante unternehmende Bundes-
politik ſogleich wieder in’s Stocken, da Graf Maltzan nach kurzer Amtsfüh-
rung tödlich erkrankte, und nunmehr der Bundesgeſandte Heinrich von Bülow
im Frühjahr 1842 das Auswärtige Amt übernahm. In Petersburg und
Wien ward dieſe Ernennung mit Mißtrauen aufgenommen, da der
Freund Lord Palmerſton’s dort für einen ſchlimmen Liberalen galt; in
Berlin erwartete man von dem geiſtreichen Manne, der einſt an der Begrün-
dung des Zollvereins ſo rührig theilgenommen hatte, eine entſchloſſene
nationale Handelspolitik. Gleich darauf ſtarb der alte Ladenberg, und
Graf Stolberg übernahm neben dem Hausminiſterium noch die Verwal-
tung der Domänen. Alſo war nach zwei Jahren das Staatsminiſterium
endlich ganz neu geſtaltet. In ihren alten Stellen blieben nur noch: der
kränkelnde Nagler, der ſich, ärgerlich über die neue Zeit, ganz auf ſein
Poſtfach beſchränkte, der ebenfalls ſtark gealterte Rother und der Juſtiz-
miniſter Mühler. —
Der veränderte Charakter des Regiments offenbarte ſich auch in
der unruhigen Reiſeluſt des neuen Herrſchers, der gern unterwegs war
ſo weit es die mangelhaften Verkehrsmittel irgend erlaubten. Auf die
Huldigungsreiſen folgte im Spätſommer 1841 ein längerer Aufenthalt in
Schleſien. Den Breslauer Stadtbehörden ließ der König ſagen, daß er von
ihnen weder ein Feſt noch einen feierlichen Empfang annehmen wolle, weil
ſie beim ſchleſiſchen Landtage die Berufung der Reichsſtände befürwortet und
alſo „offene Oppoſition“ getrieben hätten. Die Breslauer antworteten
ehrfurchtsvoll, das ſei ihr gutes Recht geweſen, und als ſie dann nochmals
durch Abgeſandte einluden ließ der Zürnende ſich beſänftigen. Er wurde
glänzend empfangen, freute ſich tiefbewegt des patriotiſchen Jubels ſeiner
treuen Schleſier, die zugleich den hundertſten Jahrestag ihrer Vereinigung
mit Preußen feierten, und bezauberte wieder alle Herzen, als er zum Ab-
ſchied in begeiſterter Rede der alten Stadt „noch tauſend Jahre wie dieſe
hundert“ wünſchte. Den Stadträthen aber ſagte er in einer Audienz: was
ihm eine fünfundzwanzigjährige Erfahrung als unzweckmäßig gezeigt das
laſſe er ſich durch keine Macht der Erde abzwingen; ſie ſollten ſich hüten
der Zeit vorzugreifen; was kommen ſolle, komme doch. So verlangte er
wieder unbedingtes Vertrauen auf Pläne, deren Sinn Niemand ent-
räthſeln konnte.
[169]Ruſſiſche Reiſe.
Von Schleſien eilte er nach Warſchau um mit Kaiſer Nikolaus zu-
ſammenzutreffen. Mehrmals hatte der Czar neuerdings dem Berliner
Hofe heilig betheuern laſſen, die Annäherung an England ſolle der älteren
und engeren Freundſchaft der drei Oſtmächte keinen Abbruch thun; er
bemühte ſich auch ſeinen Gaſt liebenswürdig zu empfangen. Aber die
harmloſen Tage waren längſt vorbei, da die Berliner immer den Czaren
meinten wenn ſie von „dem Kaiſer“ ſchlechthin ſprachen. Wie das wieder
emporkommende, von Nikolaus ſelbſt begünſtigte Altmoskowiterthum gegen
die culturbringenden Weſtler, die Deutſchen einen barbariſchen Ingrimm
zeigte, ſo war auch in Preußen die ruſſiſche Kriegsgenoſſenſchaft jetzt
gründlich vergeſſen; der Zorn der Oſtpreußen über „die chineſiſche Mauer“
der moskowitiſchen Nachbarn vereinigte ſich mit dem alten Haſſe der li-
beralen Polenfreunde, im Hohne gegen Rußland fanden ſich faſt alle
Parteien zuſammen. Unwillkürlich wurden auch die beiden Herrſcher mit
berührt von der veränderten öffentlichen Meinung ihrer Völker. Nikolaus
war etwas gealtert, aber noch immer fühlte er ſich als Gottes auser-
leſenes Werkzeug, zum Vernichtungskampfe gegen die Revolution feſt
entſchloſſen, und ſeit ſein Thronfolger kürzlich eine heſſiſche Prinzeſſin ge-
heirathet hatte meinte er ſich mehr denn je berufen über Deutſchlands
Ruhe zu wachen; die unberechenbare Neuerungsluſt Friedrich Wilhelm’s
blieb ihm verdächtig. Dem Künſtlergemüthe des Königs widerſtand die
harte menſchenverachtende ruſſiſche Zucht; er langweilte ſich bei den Ka-
ſernengeſprächen dieſes Schwagers, der im vollen Ernſte ſagte was un-
ſchuldige Leute für eine boshafte Erdichtung hielten: nichts verdirbt ein
Heer ſo ſehr wie der Krieg. Die kurze Zuſammenkunft brachte kein po-
litiſches Ergebniß, nicht einmal einen gründlichen Gedankenaustauſch;
immerhin erweckte ſie dem Könige wieder alte theuere Jugenderinnerungen.
Als er auf der Heimreiſe bei Kaliſch das Denkmal für die Jahre 1813
und 1835 erblickte, deſſen Inſchrift den Segen Gottes für das preußiſch-
ruſſiſche Bündniß erflehte, da ſchritt er tief bewegt die Stufen hinauf und
ſchrieb mit dem Finger „Amen“ unter die Zeilen — was ihm die liberale
Welt ſehr übel nahm. Im November beſuchte er ſodann den Münchener
Hof. Bald nachher verlobte ſich der vielumworbene Kronprinz Max von
Baiern mit der ſchönen Prinzeſſin Marie von Preußen, einer Tochter des
älteren Prinzen Wilhelm; und die dem Könige ſo theuere Freundſchaft
des bairiſchen Hauſes ſchien von Neuem geſichert.
Noch im ſelben Winter folgte die engliſche Reiſe. Um die doch recht
bemerkbare Eiferſucht des Czaren zu beſchwichtigen, wurde dann der fünf-
undzwanzigſte Jahrestag ſeiner Ernennung zum Chef der brandenburgiſchen
Küraſſiere mit vielem Glanze gefeiert. Als Nikolaus die Abgeſandten ſeines
Regiments empfangen hatte, ſagte er zu dem preußiſchen Geſandten nicht
ohne Wehmuth: das ſeien damals doch die glücklichſten Zeiten ſeines
Lebens geweſen, die Tage der jungen Liebe und des zwangloſen Verkehrs
[170]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
mit den preußiſchen Schwägern.*) So unſchuldig dachte die deutſche Welt
jedoch nicht mehr. Die Königsberger Zeitung forderte ſtürmiſch die Be-
feſtigung Oſtpreußens und ſprach von einem möglichen Kriege gegen Ruß-
land ſo deutlich, daß der ruſſiſche Geſandte angewieſen wurde, ſich über
die Milde der preußiſchen Cenſur zu beſchweren. Unter ſolchen Umſtänden
hielt Friedrich Wilhelm für rathſam, der ſilbernen Hochzeit des ruſſiſchen
Kaiſerpaares im Juni 1842 ſelber beizuwohnen. Das Familienfeſt ver-
lief in guter Freundſchaft, Kaiſerin Charlotte bemühte ſich redlich die
beiden Schwäger in heiterer Stimmung zu erhalten. Doch unterdeſſen
ſpielten hinten den Kuliſſen unerquickliche politiſche Verhandlungen.
Die für Preußen ſo läſtige, für Rußland ſo vortheilhafte Cartellconven-
tion war dem Ablaufe nahe, und die Königsberger Kaufmannſchaft bat den
König, den Vertrag nicht zu erneuern, worauf ihr der herriſche, an Ro-
chow’s Zeiten erinnernde Beſcheid zuging: ſolche politiſche Fragen lägen
über den Geſichtskreis der Unterthanen hinaus. Indeſſen empfand Fried-
rich Wilhelm ſelbſt, wie berechtigt die Klagen ſeiner Oſtpreußen waren.
Er nahm die Cabinetsräthe Uhden und Müller nach Petersburg mit um
in vertraulichen Unterhandlungen eine Milderung der Grenzſperre durch-
zuſetzen und unterſtützte beide mit der ganzen Macht ſeiner Beredſam-
keit.**) Ein befriedigender Abſchluß wurde noch nicht erreicht, obgleich der
Czar ſeinem königlichen Gaſte zu Ehren die nach Sibirien verbannten
preußiſchen Schmuggler begnadigte, und man trennte ſich ſchließlich nicht
ohne Verſtimmung. Im Auguſt, bald nach der Heimkehr des Königs,
befahl eine Cabinetsordre die Befeſtigung Königsbergs und des Städtchens
Lötzen in der maſuriſchen Seelandſchaft; auch Memel und einige andere
kleine Plätze an der Oſtgrenze ſollten Feſtungswerke erhalten. Der Plan
war längſt vorbereitet, denn unleugbar hatte der alte König über der Sorge
um Deutſchlands Weſtgrenze die Oſtmarken militäriſch vernachläſſigt; das
geſammte preußiſche Land öſtlich der Weichſellinie entbehrte der Feſtungen,
und ſobald General Boyen das Kriegsminiſterium übernahm, ſchritt er
ſofort daran, das ſeiner geliebten Heimath angethane Unrecht zu ſühnen.
Daß Preußen dem mächtigen polniſchen Feſtungsdreieck der Ruſſen einige
Bollwerke entgegenſtellte, konnte an der Newa billigerweiſe nicht befremden.
In dieſem Augenblicke aber erſchien die Cabinetsordre wie eine Antwort
auf den Petersburger Empfang, und man hielt das Verhältniß zwiſchen
den beiden Nachbarhöfen überall für unfreundlicher als es war.
Auf der Heimreiſe verweilte der Monarch einige Tage in Königsberg.
Er wußte, hier ſei „im Volke ein Grund edelſter Geſinnung und uralter
Treue wie vielleicht in keinem anderen Lande“. Darum kam er in den
erſten ſechs Jahren ſeiner Regierung fünfmal nach Oſtpreußen, in der aus-
[171]Die Königsberger Univerſität.
geſprochenen Abſicht durch königliche Großmuth, durch rückhaltloſe Offen-
heit dies geliebte Volk ganz für ſeine Krone zu erobern. Diesmal er-
ſchien er verſtimmt, nicht blos wegen der anwachſenden Partei Jacoby’s,
ſondern auch wegen der Univerſität, die ihm als langjährigem Rec-
tor beſonders nahe ſtand. Vor kurzem war der Mecklenburger Hä-
vernick, ein gelehrter Theolog von der ſtrengſten Hengſtenbergiſchen
Schule, durch Miniſter Eichhorn nach Königsberg berufen worden, damit
die Exegeſe des Alten Teſtaments nicht dem liberalen Lengerke allein über-
laſſen bliebe. Hävernick ſtand im Geruche eines Denuncianten, denn als
blutjunger Student hatte er einſt der Evangeliſchen Kirchenzeitung jene
Collegienhefte von Geſenius und Wegſcheider mitgetheilt, aus denen nachher
Gerlach ſich die Waffen zur Bekämpfung der Halliſchen Rationaliſten
ſchmiedete;*) und trotz der langen Jahre ſeither wollte man ihm dieſen
häßlichen Streich jugendlicher Glaubenswuth noch immer nicht verzeihen.
Die Studentenſchaft, die faſt durchweg aus Oſtpreußen, nebenbei noch
aus einigen allezeit lärmluſtigen Polen beſtand, fühlte ſich in ihrem Pro-
vinzialſtolze beleidigt und bereitete dem Neuberufenen einen ſo ſtürmiſchen
Empfang, daß er auf lange hinaus ſeine Vorleſungen einſtellen mußte;
nachher brachten die jungen Leute ſeinem Gegner Lengerke als dem Ver-
treter freier Wiſſenſchaft ein Ständchen, und der Gefeierte erwiderte wohl-
gefällig, dieſe Huldigung gelte nicht ihm, ſondern dem Geiſte ſeiner Lehre.
Anfangs wollte Friedrich Wilhelm kaum glauben, daß „meine Studenten“
ſich ſolcher Ungebühr erdreiſtet, „mein Senat“ ſie ungeſtraft gelaſſen
hätte; er drohte im erſten Zorne den Purpurmantel der Albertina abzu-
legen.**) Als er in Königsberg eintraf hatte er ſich ſchon etwas beruhigt;
er belobte die Provinzialſtände wegen der würdigen Haltung des Landtags,
an die Decane der Univerſität richtete er aber eine höchſt ungnädige An-
ſprache, die in den Zeitungen ſogleich dermaßen entſtellt wurde, daß die
Miniſter ſich zu amtlichen Berichtigungen genöthigt ſahen.***) Der letzte
Eindruck war ſehr peinlich. Die Oſtpreußen dankten dem Monarchen ſeine
Liebe wenig. Sie fanden es unköniglich, daß er auch in kleinen Dingen
regieren wollte; die beſtändige Väterlichkeit ward ihrem Selbſtgefühle läſtig.
Glücklicher verlief gleich darauf die Reiſe des Königs in die weſtlichen Pro-
vinzen. Mochte er nun in Minden mit freundlichen Worten dem alten Vincke
den ſchwarzen Adlerorden überreichen oder den Ravensbergiſchen Geiſtlichen
einſchärfen, alle Furcht vor der freien Forſchung ſei Glaubensſchwäche, oder
in Hamm „mit überfließendem Herzen“ auf das Wohl der treuen Grafſchaft
Mark trinken, oder den Bürgern von Barmen danken für die einſt dem
Kronprinzen gewährte Gaſtfreundſchaft: überall zeigte er ſich gütig, hoch-
gemuth, enthuſiaſtiſch erregt; es war als ob ihn ein wonniger Traum um-
[172]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
fange. Zu den Manövern der beiden weſtlichen Armeecorps ſodann kamen
Offiziere aus faſt allen Ländern Europas, mehrere der benachbarten Fürſten
erſchienen perſönlich; nur der Großherzog von Baden entſchuldigte ſein
Ausbleiben, er durfte ſich von den liberalen Kammerrednern nicht nachſagen
laſſen, daß er preußiſchen Rathſchlägen folge.*) Von den kriegeriſchen
Uebungen reiſte der König alsdann zu dem Feſte der zweiten Grundſtein-
legung des Kölner Doms. Auch Sulpiz Boiſſeree wollte an ſeinem Ehren-
tage nicht fehlen, und wie erſtaunte er, da er nach langjähriger Abweſen-
heit die Heimath wiederſah; Alles war anders geworden unter der preu-
ßiſchen Herrſchaft, die wieder aufgeblühten alten Städte und der mächtige
Verkehr auf dem befreiten Strome, anders auch die Geſinnung des Volkes.
Einſt in den napoleoniſchen Zeiten hatten die Kölner über ihn die Ach-
ſeln gezuckt wenn er ihnen von der Erhaltung ihres ewigen Domes ſprach,
und es keineswegs befremdlich gefunden, daß der franzöſiſche Biſchof Ber-
dollet die alte gothiſche Steinmaſſe ganz abzutragen dachte; jetzt drückten
Alle dem Herausgeber des Domwerkes freudig die Hand, Alle meinten,
den unvergleichlichen Bau wieder herzuſtellen ſei eine Ehrenpflicht der
Provinz. Und daß es ſo ſtand, daß die Rheinländer ihrer eigenen großen
Vorzeit wieder liebevoll in die Augen zu ſehen wagten, das verdankten
ſie der Krone Preußen, die dies Land ſeinem halbwälſchen Sonderdaſein
entriſſen und in die Strömung des nationalen Lebens zurückgeleitet hatte.
Gedanken, die aus der Literatur verſchwinden, klingen in den Sitten
der Geſellſchaft oft noch lange nach; ſo waren auch die romantiſchen
Stimmungen, obgleich die Chorführer der Dichtung längſt andere Wege
gingen, am Rheine noch ſehr mächtig. Eben in dieſen Jahren ſang Karl
Simrock unter dem Jubel ſeiner Landsleute die ſchalkhafte Warnung vor
dem Rhein:
Niemals früher waren die alten Gemäuer der rheiniſchen Schlöſſer ſo viel
beſucht und geprieſen worden wie jetzt, da die neuen Dampfboote täglich wein-
ſeliges junges Volk, Maler aus Düſſeldorf, Studenten aus Bonn, Sänger
aus Köln rheinaufwärts führten. Prinz Friedrich von Preußen ließ den
Rheinſtein, Bethmann-Hollweg die Burg Rheineck wieder aufbauen, Graf
Fürſtenberg auf dem Apollinarisberge die weithin das Stromthal beherr-
ſchende prächtige gothiſche Kirche errichten; auf den Mahnruf Ferdinand
Freiligrath’s, der in Unkel beim rothen Bleichert glückliche Dichtertage
verträumte, wurden Sammlungen veranſtaltet, um den eingeſtürzten Fen-
ſterbogen der Burg Rolandseck herzuſtellen; bald nachher entſtand auch
der Königsſtuhl von Rhenſe aus ſeinen Trümmern wieder. Aus dieſen
[173]Der Kölner Dom.
romantiſch-äſthetiſchen Gefühlen war die Begeiſterung für den Kölner Dom
urſprünglich hervorgegangen; mit ihnen verbanden ſich ſpäterhin der rhei-
niſche Provinzialſtolz und der katholiſche Glaubenseifer, die der Biſchofs-
ſtreit ſo mächtig erregt hatte, und neuerdings, zumal ſeit dem Kriegslärm
des Jahres 1840 auch das deutſche Nationalgefühl. Als Görres einſt
im Rheiniſchen Mercur ausſprach, dieſer unfertige Rieſenbau ſei ein Ver-
mächtniß, das die großen alten Kaiſerzeiten dem wiederbefreiten neuen
Deutſchland zur Vollendung hinterlaſſen hätten, da hörten ihn nur
Wenige. Jetzt ſprach Jedermann im gleichen Sinne: eben hier auf dem
vielumſtrittenen linken Ufer wollte man den Wälſchen zeigen was Kraft und
Einmuth der Germanen vermöchten. Wie die halbverſchollene Kyffhäuſer-
ſage erſt in dieſen Jahrzehnten durch Rückert’s Gedicht neues Leben ge-
wann, ſo kamen jetzt alterthümlich klingende Domſagen in Umlauf, von
denen ſich das Mittelalter nichts hatte träumen laſſen, alleſammt echte
Kinder der vaterländiſchen Sehnſucht des jüngſten Geſchlechts: der alte
Krahn auf dem Stummel des Thurmes war „ein rieſig Fragezeichen“,
ein Symbol der Zerriſſenheit des Vaterlandes; erſt wenn er dereinſt ver-
ſchwunden war und die beiden Thürme vollendet in die Lüfte ragten,
dann ſollte der Traum der Jahrhunderte, die Einheit Deutſchlands in
Erfüllung gehen.
Und nun geſchah was einſt Schenkendorf*) geweiſſagt:
Der Dombaumeiſter Zwirner, ein Schleſier aus Schinkel’s Schule über-
reichte dem Könige einen wohldurchdachten fertigen Plan für den Ausbau
des geſammten Domes, ein rieſiges Unternehmen, das ſelbſt Boiſſeree
früherhin für unmöglich gehalten hatte. Unterdeſſen traten die Bürger
Kölns zuſammen das Werk zu fördern. Anfangs konnten ſie ſich nicht
einigen, weil manche eifrige Katholiken meinten: ſo lange der Stuhl des
Oberhirten im hohen Chore leer ſtehe dürfe man keine Hand regen. Da
trat der junge Auguſt Reichensperger in’s Mittel, ſelbſt ein ſtrenger Cle-
ricaler aber zugleich ein guter Preuße und warmer Bewunderer der alten
rheiniſchen Kunſt; er mahnte ſeine Landsleute in einer beredten Flugſchrift,
alle Späne zu vergeſſen und den günſtigen Augenblick des Thronwechſels
zu benutzen. So ward der Widerſtand überwunden und der große Dom-
bauverein gegründet, der gleich der St. Peters-Brüderſchaft des Mittel-
alters für den Ausbau des Gotteshauſes ſammeln und arbeiten ſollte.
Nichts konnte dem Könige willkommener ſein. Seit er einſt, von Boiſſeree
geführt, zum erſten male durch das Steinlaubwerk des Chorumgangs ge-
wandert war, alle dieſe Jahre hindurch hatte ihn die Hoffnung den Wieder-
[174]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
aufbau der Marienburg noch zu überbieten, in ſeinen Träumen beſchäftigt.
Er übernahm ſofort das Protectorat des Domvereins und beſtimmte
50000 Thaler aus Staatsmitteln jährlich für den Fortbau. Die gleiche
Summe etwa dachte man aus freiwilligen Beiträgen zu gewinnen; und
da Zwirner die Geſammtkoſten auf 5 Mill. anſchlug, ſo hielten ſelbſt
hoffnungsvolle Schwärmer für wahrſcheinlich, daß erſt das zwanzigſte Jahr-
hundert die gänzliche Vollendung erleben könnte.
Am 4. September wurde der zweite Grundſtein gelegt, faſt volle
ſechshundert Jahre nachdem einſt Erzbiſchof Konrad von Hochſtaden den
Bau des hohen Chores begonnen hatte; die zerriſſene Kette der Zeiten ſollte
ſich wieder ſchließen. Der König beſuchte zuerſt den Gottesdienſt in der
proteſtantiſchen Kirche; denn heute am wenigſten wollte er ſeinen evange-
liſchen Glauben verbergen, dieſer Bau war ihm ein Werk des Bruder-
ſinnes aller Bekenntniſſe. Darauf fuhr er zum Hochamt in den Dom;
und als er dann draußen im Freien, umgeben von der Schaar ſeiner fürſt-
lichen Gäſte, von der Cleriſei und einem glänzenden Gefolge, von dem Dom-
bauvereine und einer ungeheueren Zuſchauermenge, den Hammer erhob um
den Grundſtein zu legen, da entlud ſich die Begeiſterung ſeiner Künſtler-
ſeele wieder in einer prächtigen Rede: „Hier wo der Grundſtein liegt, dort
mit jenen Thürmen zugleich, ſollen ſich die ſchönſten Thore der ganzen Welt
erheben. Deutſchland baut ſie, ſo mögen ſie für Deutſchland durch Gottes
Gnade Thore einer neuen, großen, guten Zeit werden. Der Geiſt, der dieſe
Thore baut … iſt der Geiſt deutſcher Einigkeit und Kraft. Ihm mögen
die Kölner Dompforten Thore des herrlichſten Triumphes werden! Er baue,
er vollende! Und das große Werk verkünde den ſpäteſten Geſchlechtern von
einem durch die Einigkeit ſeiner Fürſten und Völker großen, mächtigen, ja
den Frieden der Welt unblutig erzwingenden Deutſchland! Der Dom von
Köln, das bitte ich von Gott, rage über dieſe Stadt, rage über Deutſchland,
über Zeiten, reich an Menſchenfrieden, reich an Gottesfrieden, bis an das
Ende der Tage!“ Und mit der Sicherheit des geborenen Redners die Em-
pfindungen ſeiner rheiniſchen Hörer richtig herausfühlend, rief er zum Schluß
„das tauſendjährige Lob der Stadt: Alaf Köln!“ Ein unbeſchreiblicher
Jubel folgte dieſen Worten, wie einſt der Königsberger Rede; auf’s Neue
erbrauſte der Beifallsſturm, als nunmehr der alte Krahn droben in Be-
wegung gerieth und der erſte Bauſtein auf den Thurm emporſchwebte.
Auch auf dem Feſtmahle nachher, das ſiebenhundert Gäſte des Königs
unter einem großen Zelte verreinigte, herrſchte die helle Freude; alte Männer
fielen einander weinend in die Arme und prieſen ſich glücklich dieſen Tag
noch zu erleben, Friedrich Wilhelm ſelbſt überſchüttete den aus dem Getümmel
herangeholten Sulpiz Boiſſeree mit dankbarer Huld. Am Abend war die
Stadt mit ihren maleriſchen Thürmen feſtlich beleuchtet — ein unver-
geßlicher Anblick für die Tauſende, die auf reichbeflaggten Dampfern den
Rhein auf und nieder fuhren.
[175]Das Domfeſt.
Unter den namhaften Gäſten war wohl nur Einer, den die allgemeine
Glückſeligkeit kalt ließ: Fürſt Metternich. Der ſtand derweil der König redete
in deſſen nächſter Nähe und zog einen langen Kamm aus der Taſche um
ſich bedächtiglich ſein gelichtetes Haar vom Hinterkopfe nach vorn zu ſträhnen.
Nicht ohne Ironie betrachtete er jetzt ſeinen königlichen Verehrer, der
Alles in Unruhe bringe und immer ſich ſelber in’s Licht zu ſtellen ſuche;
vor Vertrauten beſpöttelte er dieſe Siege auf Schlachtfeldern, wo kein Blut
vergoſſen würde, und meinte, man wiſſe nicht, ob der hohe Herr ſich ſelbſt
oder Andere mehr berauſche. Leider lag ein Körnlein Wahrheit in dieſem
boshaften Urtheile. Friedrich Wilhelm’s Reden waren, wie der Bildhauer
Rietſchel mit congenialem Verſtändniß nachfühlte, echte Kunſtwerke, nicht
gemacht, ſondern geworden, unmittelbare Ergießungen ſeines bewegten
Inneren und eben darum, wie der Geiſt des Redners ſelbſt, ohne klaren
politiſchen Inhalt, jeder Deutung und Mißdeutung fähig. Gründlicher
als hier in Köln war der königliche Redner noch niemals mißverſtanden
worden. Der junge Poet Robert Prutz ſang ihm zu:
Und wenn auch nur ein kleiner Theil ſeiner Hörer ſo beſtimmte liberale
Wünſche hegen mochte, ſo glaubten doch alle, daß er mit ſeinen verhei-
ßungsvollen Worten eine ganz neue Ordnung der Dinge ankündigen
wolle, eine Zeit der Erfüllung, die dem Freiheits- und Einheitsdrange der
Nation endlich gerecht werden müſſe. Er aber meinte, das einige, den
Frieden unblutig erzwingende Deutſchland hätte ſich ja ſchon vor zwei
Jahren vor aller Welt bewährt, und dachte weder den Bundestag noch die
Souveränität der kleinen Kronen jemals anzutaſten.
Sobald die Nation den wahren Sinn der königlichen Worte zu er-
rathen begann, mußte der patriotiſche Hoffnungsrauſch der Feſttage ver-
fliegen. Aber die Begeiſterung für den Dombau hielt an. Raſcher als
man zu hoffen gewagt ſchritt die Arbeit vorwärts. Meiſter Zwirner’s
Bauhütte wurde eine hohe Schule der bildenden Künſte für unſeren
Weſten; Männer wie Statz und F. Schmidt gingen aus ihr hervor,
große Talente, die das Werk der Vorfahren „nach Zirkels Kunſt und
Gerechtigkeit“ weiterführten und doch die überlieferten Formen, den Ge-
fühlen des neuen Jahrhunderts gemäß, leiſe umbildeten; nur in den
maſſenhaften Sculpturwerken des Bildhauers Fuchs verrieth ſich oft
die Flüchtigkeit überhaſteten Schaffens. Die reichſten Spenden gab wie
billig das Rheinland, ſelbſt die Studenten in Bonn hatten einen akade-
miſchen Domverein gebildet; aber auch aus Berlin und anderen entlegenen
Städten kamen reiche Beiträge. Unter den Eifrigſten war König Ludwig
von Baiern. Er ſprach die Hoffnung aus, daß „ſeiner Baiern Mitwirkung“
[176]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
nicht fehlen werde wo es gelte „teutſchem Sinn und teutſcher Eintracht
ein großartiges Denkmal zu ſetzen“, und bemühte ſich einen Dombau-
verein deutſcher Fürſten zu bilden. Da dieſer Plan an den proteſtan-
tiſchen Bedenklichkeiten der Höfe von Stuttgart und Caſſel ſcheiterte, ſo
ging der Wittelsbacher allein vor und ſtellte der unter ſeiner Herrſchaft
wieder aufgeblühten Kunſt der Glasmalerei eine würdige Aufgabe; die
herrlichen Fenſter, die er dem ſüdlichen Seitenſchiffe ſchenkte, konnten den
Vergleich mit der glühenden Farbenpracht der Werke des Mittelalters
beinahe aushalten. Es war ein ſchöner Wetteifer; die Mehrheit der Na-
tion ließ ſich in ihrer politiſchen Hochherzigkeit nicht beirren durch die
leider ſehr nahe liegende Frage: ob denn die Prieſter dieſes Domes ſich
ſelbſt bekennen würden zu dem Geiſte chriſtlicher Liebe, der den könig-
lichen Protector des Baues beſeelte?
Nur die alten Rationaliſten und die jungen Atheiſten überſchütteten
das Unternehmen mit Spott und Hohn. Der halbverſchollene greiſe Bret-
ſchneider in Gotha zeterte wider den Kölniſchen Pfaffengeiſt, da ja Görres
ſoeben in einer warmen und ausnahmsweiſe friedfertigen Schrift ſeinen
alten Weckruf erneuert hatte. David Friedrich Strauß faßte einen grim-
migen, geradezu perſönlichen Haß wider den Dombau, denn nach ſeiner Mei-
nung wohnte „der Gott in keinen Tempeln mehr“. Heine aber weiſſagte
mit wiehernder Schadenfreude:
Er weidete ſich an dem Gedanken, daß man das Gotteshaus dereinſt noch
in einen Pferdeſtall verwandeln würde. So gänzlich hatte er an der
Seine die Fühlung mit ſeinem verlaſſenen Volke verloren. Die geborenen
Franzoſen dachten anders; ihrer viele geſtanden mit ſtillem Neide: zu
einem ſolchen Werke, deſſen das zerriſſene Deutſchland ſich erdreiſte, würde
romaniſcher Opfermuth ſchwerlich ausreichen.
Noch einige Wochen verweilte der König am Rhein, ſchwelgend
in den hiſtoriſchen und künſtleriſchen Reizen des Landes. Ueberall riß
er die warmherzigen Maſſen hin; ſelbſt die gegen alles preußiſche Weſen
noch ſehr mißtrauiſchen Aachener fühlten ſich geehrt als er in gütiger
Anſprache ihre Treue lobte. Darauf gab er in Brühl, dem lieblichen
Rococoſchloſſe der Kölniſchen Kurfürſten ſeinen hohen Gäſten nochmals ein
Feſt und feierte in ſeinen Trinkſprüchen erſt die beiden Helden des Be-
freiungskrieges, die Könige von Württemberg und Niederland, alsdann,
an die alte Waffenbrüderſchaft erinnernd, den Erzherzog Johann, deſſen
Name „uns anwehe wie die Bergluft der Hochalpen“. In Deutſchland
war der greiſe Erzherzog ſo gut wie unbekannt, von den wenig glücklichen
Kriegsthaten ſeiner Jugendjahre ſprach längſt Niemand mehr. In der
[177]Trinkſpruch des Erzherzogs Johann.
Hofburg dagegen galt er für verdächtig; das alte grundloſe Märchen, daß
er in den napoleoniſchen Tagen ſich ein Alpenkönigreich Rhätien hätte
ſchaffen wollen, fand dort noch immer Glauben. Seit Jahren lebte er
dem Hofe fern in der Steiermark, ein rüſtiger Landwirth und Gemsjäger,
mit vielen Gelehrten und Künſtlern befreundet, eifrig bemüht um die
wiſſenſchaftlichen Sammlungen der ſteiriſchen Hauptſtadt. Er ſah aus
wie ein ſchlichter Bauersmann, und die ſeinem Hauſe eigenthümliche Kunſt
der gemüthlichen Anbiederung verſtand er aus dem Grunde; auch wußte
man, daß er ſich unter Freunden zuweilen mit dem Unmuthe des gebil-
deten Mannes über die Thorheiten der k. k. Cenſur äußerte. So gelangte
er unverdientermaßen in den Ruf eines Oppoſitionsführers; noch lauter
ward ſeine Freiſinnigkeit geprieſen, als er ſich in die Tochter eines ein-
fachen Poſthalters verliebte und dies wackere Kind heimführte, denn der
gefühlvolle Liberalismus jener Tage ſchwärmte für Mißheirathen ganz ſo
treuherzig wie die Putzmacherinnen und die Ladenmädchen. Auf den
Trinkſpruch des Königs dankte der Erzherzog tief gerührt und ſchloß etwa
alſo: „So lange Preußen und Oeſterreich, ſo lange das übrige Deutſch-
land ſo weit die deutſche Zunge klingt einig ſind, werden wir unerſchütterlich
daſtehen wie die Felſen unſerer Berge.“ Wunderbar war die Wirkung
dieſer unſchuldigen Worte; den Zeitgenoſſen ſchien es ganz unerhört, daß
ein Erzherzog in Gegenwart Metternich’s, und mit den Worten des ver-
fehmten Arndt’ſchen Vaterlandsliedes die Einigkeit Deutſchlands geprieſen
hatte. Sofort wurde der alte Herr ein berühmter Mann; die Zeitungen
verſicherten, er hätte geſagt: kein Oeſterreich, kein Preußen mehr! ein
einig Deutſchland hoch und hehr, ein einig Deutſchland feſt wie ſeine
Berge! In Nationen, die einer großen Entſcheidung entgegenzittern,
walten die Kräfte der Mythenbildung mit räthſelhafter Stärke; ſie
warfen ſich jetzt auf den Oeſterreicher und geſtalteten ihn zu einem volks-
thümlichen Helden, ganz wie die Italiener ſich bald nachher ein phanta-
ſtiſches Idealbild von dem liberalen Papſte Pius IX. aufbauten. Der
neckiſche Humor der Weltgeſchichte war damit noch nicht erſchöpft; die
Zeit ſollte kommen, da Erzherzog Johann zur Belohnung für einen Trink-
ſpruch, den er ſo nicht gehalten, an die Spitze der deutſchen Nation be-
rufen wurde.
Nach dem Brühler Feſtmahle raſtete Friedrich Wilhelm eine Weile
auf ſeinem Stolzenfels. Dann ging er nach Trier, wo ihn die alten
Erinnerungen wieder zu einer Rede begeiſterten. Als er darauf nach
Saarbrücken, an die äußerſte Weſtgrenze ſeines Reiches kam, da ſtieg das Bild
der fernen Oſtmark vor ſeiner Seele auf, das Bild der anderen Grenzſtadt,
wo er erſt vor zwei Monaten, von Rußland heimkehrend gelandet war.
Für dies Memel hegte er ſtets eine Paſſion, wie er ſagte; dort waren
ihm einſt frohe Knabentage vergangen, dort hatte er ſo oft am Strande
geträumt, wenn die Dünenreihe der Nehrung im geheimnißvollen
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 12
[178]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Dämmerſcheine der langen nordiſchen Sommernächte wie ein grüngoldener
Schleier über dem Meere lag. In ſinnigen Worten faßte er jetzt zu-
ſammen was er für den Oſten wie für den Weſten ſeiner Lande empfand
und trank auf das Wohl der beiden Städte Saarbrücken und Memel.
So wand er ſich Roſe auf Roſe in den Kranz ſeines Lebens. Er be-
durfte des Glückes; in ſolchen Tagen poetiſcher Wanderfreuden ſprühte
er von Geiſt und Leben. Der Eindruck war ſo blendend, daß ſelbſt der
nüchterne König von Württemberg ganz bezaubert von den rheiniſchen
Feſten heimkam, und der Geſandte aus Stuttgart ehrlich berichtete: „wenn
Seine Majeſtät überhaupt ein Herz für irgend Jemand auf der Welt
haben, ſo iſt es Euerer Majeſtät zugewandt.“*)
Auch außerhalb des Rheinlandes erwarb ſich Friedrich Wilhelm durch
dieſe Feſtreden für kurze Zeit wieder die Gunſt des Volkes; denn überall
in Deutſchland herrſchte während des heißen Sommers von 1842 eine
gehobene patriotiſche Stimmung. Mehr noch als die Freude an dem
großen rheiniſchen Nationalwerke beſchäftigte die deutſchen Herzen die ge-
meinſame Theilnahme für das unglückliche Hamburg. Am 5. Mai, als
man grade die neue Eiſenbahn nach Bergedorf feſtlich zu eröffnen dachte,
wurde die Hanſeſtadt von einem ungeheueren Brande heimgeſucht. Drei
und einen halben Tag hindurch wütheten die Flammen; an zweitauſend
Häuſer, mehr als ein Fünftel der Stadt, ſanken in Aſche, darunter alle
die prächtigen neuen Gebäude des Jungfernſtiegs an dem Waſſerbecken
der Alſter; faſt zwanzigtauſend Menſchen verloren ihr Obdach, den Schaden
ſchätzte man auf 45 Millionen Thaler. Das grauenhafte Schauſpiel
erinnerte an die Sagen des Alterthums. Ein Funkenregen, wie er einſt
auf Pompeji herabſank, wurde vom mißgünſtigen Winde weithin über
die Stadt getragen; in mächtigen Springquellen ſtieg der brennende Sprit
aus den großen Weinlagern auf und nieder, das Waſſer der Fleete mit
blauen Flämmchen bedeckend; die ſchreckliche Hitze und ein feiner Staub,
der wie glühendes Mehl in alle Poren drang, benahmen den Menſchen
faſt die Sinne. Zu Anfang betrugen ſich die Behörden ſchwach und
kopflos; auch die Bürger zeigten die allen Großſtädtern bei Feuerlärm
eigenthümliche Gleichgiltigkeit und vertrauten blindlings auf ihre gerühm-
ten Löſchanſtalten. Die Größe der Gefahr ward erſt erkannt, als der
hohe Thurm der Nicolaikirche jählings auf das Kirchendach herabſtürzte,
mit ſeinen umherfliegenden Trümmern alle Häuſer ringsum entzündend,
und ſein ſchönes Glockenſpiel im Herabfallen wie in wahnſinniger Ver-
zweiflung grelle Mißtöne erklingen ließ. Nun erſt erlaubte der Senat,
daß unter der Leitung des verdienten engliſchen Ingenieurs Lindley ganze
Häuſerreihen in die Luft geſprengt oder mit Kanonen zuſammengeſchoſſen
wurden, ſogar das ehrwürdige Rathhaus, wo der Senat ein halbes Jahr-
[179]Brand von Hamburg.
tauſend hindurch getagt hatte. Am dritten Tage hatten ſich die Bürger
an die Gefahr gewöhnt und, obwohl auch ihre älteſte Kirche, St. Petri
noch in Trümmer fiel, doch die Hoffnung gewonnen, daß die Stadt nicht
ganz verloren ſei; mit wachſender Zuverſicht und zuletzt in trefflicher
Ordnung führten ſie den Kampf zu Ende.
Wie immer wenn die Sterblichen vor der Macht der Elemente ihre
Kleinheit fühlen, traten alle edlen und alle gemeinen Kräfte der menſch-
lichen Natur zugleich zu Tage. Wenn die Pulverwagen durch die bren-
nenden Straßen fuhren, dann ſetzten ſich manche wackere Bürger-Artil-
leriſten freiwillig auf die Pulverfäſſer um ſie mit ihrem Leibe gegen die
umherſtiebenden Funken zu decken. Aber auch der berüchtigte Pöbel vom
Hamburger Berge und Maſſen wüſten Geſindels vom Lande her waren
zuſammengeſtrömt; die Unholde umtanzten die Flammen mit viehiſchem
Gejohle, hielten ihre Saufgelage in den brennenden Häuſern, raubten,
plünderten, zerſtörten nach Herzensluſt; und das Bürgermilitär, das ſich
überhaupt in dieſer ernſten Probe weit beſſer hielt als ſonſt auf den
Exercirplätzen, mußte mehrmals, mit den Linientruppen vereint, den
ſcheußlichen Banden Straßengefechte liefern. Selbſt ruhige Männer
wurden krankhaft aufgeregt durch den finſteren Argwohn, der bei ſolchem
Unheil ſelten ausbleibt. Die Engländer ſtecken die Stadt an — ſo hieß
es überall, denn die große Maſchinenfabrik auf dem Grasbrook beſchäf-
tigte viele engliſche Arbeiter, die den einheimiſchen längſt verhaßt waren;
und manche Leute von engliſchem Ausſehen, auch der junge Dichter Fried-
rich Hebbel ſahen ſich von der erhitzten Menge ſchwer bedroht. In der
langen Unterſuchung nachher wurde jedoch kein einziger Fall von Brand-
ſtiftung nachgewieſen, auch die erſte Urſache des Unglücks blieb immer
verborgen. Als die Gefahr überwunden war, da zeigte ſich erſt was
Deutſchland an dem Reichthum und dem Bürgerſinne ſeiner erſten Handels-
ſtadt beſaß. Schon nach wenigen Tagen erklärte man den benachbarten
Regierungen zuverſichtlich: für den Geldverluſt könne die Stadt allein
aufkommen.*) Der Stolz der Kaufmannſchaft, die neue Börſe, war
unter der Hut beherzter Männer unverſehrt geblieben inmitten der Trüm-
mer; die Bank hatte ihre Schätze gerettet und das Abſchreiben nicht
einen Tag lang eingeſtellt, auch in den Häfen war die Arbeit nicht gänz-
lich unterbrochen worden. Salomon Heine, der reiche Oheim des Dichters
ſetzte durch, daß der Disconto nicht über vier vom Hundert ſteigen durfte;
zwanzig Firmen bildeten alsbald eine Darlehnsgeſellſchaft mit 12 Mil-
lionen Mark Banco Capital, und im Auguſt ſchon konnte die Stadt eine
große Anleihe zu 3 Procent aufnehmen. Nun wurden die weiten Trümmer-
felder abgeräumt, wobei man noch zehn Wochen nach dem großen Brande
in manchen Kellern fortſchwelendes Feuer fand, die zerſtörten Straßen
12*
[180]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ſchöner und ſtattlicher wiederaufgebaut, die Häfen erweitert, neue Verbin-
dungen mit dem linken Elbufer eingerichtet.
So erfüllte ſich was Schenkendorf in der Trübſal der napoleoniſchen
Herrſchaft vorhergeſagt: man ſah in jungen Ehren den Phönix Hamburg
wieder. Doch die Noth lehrt nicht blos beten, ſie lehrt auch in ſich gehen
und um ſich blicken. Die politiſchen Gebrechen des unbehilflichen altvä-
teriſchen Gemeinweſens waren in den Schreckenstagen doch gar zu fühl-
bar geworden; bald nachher beſchloß die angeſehene Patriotiſche Geſellſchaft,
auf den Antrag des Publiciſten Wurm, des Doctors Kirchenpauer und
anderer jüngerer Bürger, den Senat um Trennung von Rechtspflege
und Verwaltung, um ein freieres Wahlverfahren in den ſtädtiſchen Colle-
gien, endlich um Verbeſſerung des verwahrloſten Polizeiweſens zu bitten.
Der alte Bürgermeiſter Bartels aber und die Mehrzahl der Senatoren
erklärten dieſe beſcheidenen Wünſche für jacobiniſch, und da auch die Mehr-
zahl der Bürgerſchaft, ganz dahingenommen von wirthſchaftlichen Sorgen, für
politiſche Fragen jetzt keinen Sinn hatte, ſo kam von allen geplanten Re-
formen nur die eine zu Stande, daß die Juden fortan überall in der
Stadt, nicht wie bisher nur in beſtimmten Stadtvierteln wohnen durften.
Nach wenigen Jahren ſollten ſich dieſe politiſchen Unterlaſſungsſünden
ſchwer beſtrafen.
Bei dem Wiederaufbau der Stadt half die geſammte Nation brüder-
lich mit. Schon während des Brandes eilten aus allen deutſchen Nach-
barſtaaten Truppen und Löſchmannſchaften herbei, und auch nachher kam
die beſte Hilfe, wie billig, aus Deutſchland, obgleich die geſammte geſittete
Welt, namentlich das mit dem großen Freihafen der Elbe durch ſo mannich-
fache Intereſſen verbundene Nordeuropa reiche Beiträge ſpendete. Vor-
räthe aller Art wurden elbabwärts gebracht, ſo daß die kleinen Leute in
Hamburg, die nur wenig verloren aber jetzt viel zu verdienen hatten, nach
dem Brande faſt beſſer lebten denn zuvor; an baarem Gelde ſendete das
noch immer arme Binnenland in wenigen Monaten mehr denn 1,6 Mill.
Mark Banco. Selbſt im Süden, wo man die Hanſeſtädte wegen ihrer
Handelspolitik wenig liebte, bekundete ſich das Mitgefühl in manchen
rührenden Zügen; in Heidelberg bildeten ſogar die Dienſtmädchen einen
Hilfsverein. Und alle dieſe Werke der Barmherzigkeit verklärte der pa-
triotiſche Gedanke. Zahlloſe Gedichte und Aufrufe ſprachen aus: durch
den Kölner Dom und den Wiederaufbau Hamburgs müßten die Deutſchen
zeigen, daß ſie als Landsleute in Freud und Leid zuſammenſtünden. Der
Naturdrang der nationalen Einheit wallte kräftig auf, und ganz im Sinne
ſeines Volkes ſang Hoffmann von Fallersleben:
[181]Friedrich Wilhelm in Neuenburg.
Auch der König von Preußen nahm an dem Werke der Barmherzigkeit
freudig theil. Er half durch ſeine Truppen die Ordnung aufrecht halten,
ſchickte den Oberpräſidenten Flottwell hinüber um ſelbſt nachzuſehen wo
Hilfe noth thäte, ſpendete, wie die meiſten anderen deutſchen Fürſten ein großes
Geldgeſchenk, ließ überall in ſeinem Staate eine Haus- und Kirchencollecte
veranſtalten, weil er glaubte, daß ſeine Preußen dieſe Noth „als gemein-
ſame Noth empfinden würden“, und da die vom Bundestage ſo oft ver-
folgte Buchhandlung von Hoffmann und Campe durch den Brand ſchwer
gelitten hatte, ſo erlaubte er, daß ihre Verlagswerke, die in Preußen erſt
kürzlich wieder in Bauſch und Bogen verboten worden waren, fortan frei
umlaufen durften. Dieſe Gnade rechnete man ihm hoch an, weil ſie der
liberalen Sache zu gute kam, und nur Wenige bedachten, welch’ eine Willkür
doch in ſolcher Gemüthlichkeit lag.
Vom Rhein reiſte der König zu ſeinen treuen Neuenburgern, die ihm
vor Kurzem jubelnd gehuldigt und dafür die altherkömmliche Zuſage er-
halten hatten, daß er die Landſchaft nie veräußern, ihre Rechte allezeit
wahren würde. Mit allem monarchiſchen Pomp empfing der Canton
ſeinen Fürſten; die Glocken läuteten, auf den Triumphbogen wehten preu-
ßiſche und neuenburgiſche, nur ſelten ein ſchweizeriſches Banner. Die
amtliche Welt dachte durchaus royaliſtiſch, vom jüngſten Leutnant bis hin-
auf zu Baron Chambrier, dem einflußreichſten Manne des Fürſtenthums;
auch die Maſſen bekundeten lebhafte Freude, denn die im Stillen ange-
wachſene aber noch führerloſe radicale Partei hielt ſich ſcheu zurück. So em-
pfing der König die allergünſtigſten Eindrücke und ſagte oft: auf keine meiner
Unterthanen bin ich ſo ſtolz. Er ahnte nicht, wie bald das Schickſal ihn
fragen ſollte, ob er der Mann ſei dieſen Getreuen ſeinen Eid zu halten.—
Während aller dieſer Reiſen beſchäftigte den König fortwährend die
Ausbildung der ſeinem Herzen ſo theuren ſtändiſchen Inſtitutionen. Be-
glückt durch den friedlichen Verlauf der letzten Landtage, hatte er bereits
im Frühjahr die Abſicht ausgeſprochen, die neu gebildeten ſtändiſchen
Ausſchüſſe, die noch in keiner Provinz ihre Thätigkeit begonnen hatten,
ſchon in dieſem Jahre insgeſammt als Vereinigte Ausſchüſſe nach Berlin
zu berufen. Ein zwingender Grund lag freilich nicht vor; man wußte
nicht einmal, womit ſich die Ausſchüſſe beſchäftigen ſollten. Friedrich
Wilhelm fühlte ſich jedoch in der Stimmung eines glücklichen Vaters,
der es nicht erwarten kann ſeinen wohlgerathenen Kindern eine frohe
Ueberraſchung zu bereiten. Als am 11. Juni das Staatsminiſterium
mit der ſtändiſchen Commiſſion zu gemeinſamer Beſprechung zuſammen-
trat, da zeigte ſich faſt Jedermann rathlos. Niemand verſtand recht,
was dieſe Ausſchüſſe eigentlich bedeuteten. Sie waren, wie es die Ver-
ordnung vom 22. Mai 1815 für die künftigen Reichsſtände vorſchrieb,
„aus den Provinzialſtänden gewählt.“ Waren ſie nun ſelber die damals
verheißene Landesrepräſentation, oder ſollten ſie nur über Fragen, die der
[182]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Monarch ihnen nach freiem Ermeſſen vorlegte, unmaßgebliche Rathſchläge
ertheilen? Der König meinte unzweifelhaft das Letztere, er dachte nach
ſeiner patriarchaliſchen Weiſe die Preußen erſt durch die Schule der Aus-
ſchuß-Berathungen zu erziehen um ihnen ſpäterhin noch größere ſtändiſche
Rechte zu gewähren. Doch wer konnte die Rathſchlüſſe dieſer geheimniß-
vollen Staatskunſt ergründen?
Sehr nachdrücklich erklärte ſich der Thronfolger wider das Vorhaben
des Königs. Dem klaren Blicke des Prinzen von Preußen entging nicht,
wie unbedacht man das Volk erregte und die Hoffnungen der anwachſen-
den conſtitutionellen Partei aufſtachelte, wenn immer nur Tropfen für
Tropfen kleine Gewährungen aus dem verborgenen Borne königlicher
Gnade herniederſickerten. Ihm lag vornehmlich an einer ruhigen, ſtätigen
Entwicklung. Darum, ſo ſprach er, ſolle man nur erſt die neuen Aus-
ſchüſſe der einzelnen Provinziallandtage in Wirkſamkeit ſetzen und abwarten
wie ſie ſich bewährten. Was könne eine verfrühte Berufung der Ver-
einigten Ausſchüſſe, ohne einen erheblichen Gegenſtand der Berathung,
anders bewirken als falſche Erwartungen? Beſſer alſo, man verſchiebe
die Einberufung bis man wichtige Geſetzentwürfe vorzulegen habe; dann
biete ſich von ſelbſt die rechte Gelegenheit, um die lange Reihe der ſtän-
diſchen Verſprechungen endlich abzuſchließen und ganz beſtimmt zu erklären:
„daß das Gebäude der ſtändiſchen Einrichtungen hiermit vollendet und eine
weitere Conceſſion nicht zu erwarten ſei.“ Die Meinung des Prinzen
ging demnach dahin, daß die Vereinigten Ausſchüſſe, nachdem ſie einmal
leider durch den Befehl des Königs geſchaffen waren, dereinſt als die
Verſammlung der Reichsſtände anerkannt und mit ſehr beſcheidenen Rechten
ausgeſtattet werden ſollten. In ähnlichem Sinne äußerte ſich der zunächſt
betheiligte Miniſter des Innern Graf Arnim. Doch auf die Meinung
der Miniſter kam in dieſen Jahren wenig an. Der Monarch regierte
nicht nur ſelbſt; er verſtand auch die Dinge alſo einzufädeln, daß ſeine
Rathgeber zumeiſt vor halbvollendeten Thatſachen ſtanden. So ſtimmte
auch jetzt die große Mehrzahl der Verſammelten dem königlichen Plane
zu, manche mit der beſcheidenen Erklärung: der Beſchluß Sr. Majeſtät
ſtehe ja feſt und ſei ſchon in weiteren Kreiſen bekannt geworden. General
Boyen meinte mit dem Freimuthe des alten Soldaten: die Vereinigten
Ausſchüſſe würden immerhin die freiere Entfaltung des ſtändiſchen
Lebens fördern und ganz könne ſich Preußen dem Einfluſſe der benachbarten
conſtitutionellen Staaten nicht mehr entziehen.*)
Eine Cabinetsordre vom 19. Auguſt entbot nunmehr die Vereinigten
Ausſchüſſe zum 18. Oct. nach Berlin. In vieldeutigen Worten, ohne
alle juriſtiſche Schärfe ward darin ausgeſprochen: die Vereinigung der
[183]Berufung der Vereinigten Ausſchüſſe.
Ausſchüſſe iſt eine Entwicklung der ſtändiſchen Inſtitutionen, indem ſie den
ſtändiſchen Beirath der einzelnen Provinzen durch ein Element der Ein-
heit ergänzt. Kein Wunder alſo, daß die Regierung ihrem Looſe, über-
all mißverſtanden zu werden, auch diesmal verfiel. Fürſt Solms-Lich, der
begeiſterte Verherrlicher der ſtändiſchen Monarchie, war zum Marſchall
der Vereinigten Ausſchüſſe auserſehen und erſchien während der rhei-
niſchen Feſttage auf dem Stolzenfels um ſich nähere Weiſungen zu er-
bitten. Wie erſchrak der König, als dieſer Getreue, der doch „gewiß kein
Liberaler“ war, ihm in aller Unſchuld geſtand: man glaube allgemein,
die Krone beabſichtige vorſichtig zum conſtitutionellen Syſteme überzugehen;
da ſcheine es doch rathſamer den Ausſchüſſen ſogleich erweiterte Befugniſſe
zu gewähren: Petitionsrecht, Einſicht in den Staatshaushalt, Einberufung
aller drei Jahre, berathende Mitwirkung bei den Landesgeſetzen — und
zugleich ausdrücklich zu erklären, die ſtändiſche Verfaſſung habe nunmehr
ihren Schlußſtein erhalten; ſonſt würden ſich widerwärtige Adreßdebatten
in den Ausſchüſſen kaum vermeiden laſſen.*) Auch Metternich, der auf
dem rheiniſchen Schloſſe ebenfalls befragt wurde, meinte bedenklich, man
habe ſich auf eine ſchiefe Ebene gewagt. Der König aber erwiderte, die
Ausſchüſſe ſollten weder ſelbſt Reichsſtände ſein noch den Keim eines
künftigen Reichstags bilden. Um alle Mißverſtändniſſe abzuſchneiden be-
auftragte er noch unterwegs den General Radowitz mit der Ausarbei-
tung eines Manifeſtes, das den Ausſchüſſen bei ihrer Eröffnung vorge-
leſen werden ſollte.
Gleich nach ſeiner Heimkehr, in den erſten Tagen des Octobers,
ließ er die Miniſter zuſammentreten um über dieſe Bekanntmachung zu
berathen. Radowitz’s Entwurf war ſehr doktrinär gehalten. Er ſagte
über die Verfaſſungspläne des Königs nichts Beſtimmtes, ſondern bekun-
dete lediglich, daß die Theoretiker der ſtändiſchen Monarchie nur wußten
was ſie nicht wollten. „Wir werden“, hieß es da, „die deutſche fürſtliche
Herrſchaft in dieſem Reiche nicht in eine conſtitutionelle Souveränität
verwandeln, die königliche Herrſchaft nicht der Herrſchaft der Majoritäten
unterwerfen.“ Der Ton klang ſo feindſelig gegen alles conſtitutionelle
Leben, daß ſelbſt General Thile meinte: wenn man alſo rede, dann könne
man mit den ſüddeutſchen Staaten nicht mehr im Frieden leben, ſelbſt
den Zollverein kaum noch aufrecht halten.**) Auch die anderen Miniſter
fanden das Manifeſt bedenklich. Nur der Prinz von Preußen verlangte,
obwohl auch ihn der Radowitz’ſche Entwurf nicht befriedigte, in lebhafter
Rede, daß der Monarch jetzt zu den Preußen reden und deutlich angeben
ſolle, ob die ſtändiſche Geſetzgebung endlich abgeſchloſſen ſei, oder ob noch
weitere Schritte bevorſtünden. Im Volke, rief er aus, beſtehen zwei Par-
[184]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
teien, die eine voll Furcht, die andere voll Hoffnung; die Nation muß wiſſen
woran ſie iſt.*) Zuletzt beſchloß man, die Verſammlung zu eröffnen ohne
ein Manifeſt und ohne eine feierliche Anrede des Monarchen; denn die
ſtändiſchen Entwürfe, mit denen der König ſich noch trug, waren ſeinen
Räthen noch nicht mitgetheilt, und er wollte davon für jetzt nichts öffent-
lich verlauten laſſen.
Am Jahrestage der Leipziger Schlacht traten die Ausſchüſſe im Schloſſe
zu Berlin zuſammen. Von der gehobenen Stimmung, welche der große
Erinnerungstag erwecken ſollte, zeigte ſich keine Spur. Wohl ſagte Arnim
in ſeiner Eröffnungsrede, dies ſei für immer ein glorreicher Tag in der
Regierung des Königs. Die Verſammlung aber fühlte ſich unſicher, denn
ſie ſah keinen Rechtsboden unter ihren Füßen; um ſo ängſtlicher mußte
ſie ſich hüten, in die Rechte der Provinziallandtage oder des künftigen
Reichstags einzugreifen. Sie beſtand aus 98 Mitgliedern, 46 von den
Standesherren und der Ritterſchaft, 32 ſtädtiſchen, 20 bäuerlichen Abge-
ordneten. Jeder Ueberhebung war durch eine überaus kleinliche Geſchäfts-
ordnung vorgebeugt. Miniſter Bodelſchwingh erlaubte den Ausſchüſſen nicht
einmal, dem Monarchen in einer Adreſſe für die Einberufung zu danken;
ſie mußten ihren Dank in den Protokollen niederlegen. Dieſe wurden
gedruckt und enthielten — wieder ein kleines Zugeſtändniß — ſogar die
Namen der Redner, aber ſie durften nur zum Gebrauche der Mitglieder
ſelbſt dienen. Nach langem Suchen hatte das Miniſterium endlich drei
Fragen aufgefunden, welche den Ausſchüſſen zur Begutachtung vorgelegt
wurden. Die erſte betraf den beabſichtigten Steuererlaß von 2 Mill. Thlr.
und war im Grunde überflüſſig. Denn von vornherein hatte das Finanz-
miniſterium gerathen, nur eine Steuer, die bei den kleinen Leuten ver-
haßte Salzſteuer zu ermäßigen, damit der Beweis königlicher Gnade Jedem
in die Augen fiele**); dieſer Vorſchlag war von der großen Mehrzahl der
Provinziallandtage angenommen worden, und den Ausſchüſſen blieb nur
übrig das ſchon Beſchloſſene nochmals zu genehmigen. Noch weniger po-
litiſche Bedeutung hatte die dritte Frage wegen der Benutzung der Privat-
flüſſe; dieſer Geſetzentwurf konnte nur techniſche Erörterungen hervorrufen.
Sehr peinlich aber war der Eindruck, als die Regierung ihre zweite
Frage ſtellte: ob die Ausſchüſſe die baldige Ausführung eines umfaſſen-
den, die Provinzen unter ſich und mit der Hauptſtadt verbindenden Eiſen-
bahnſyſtems für nothwendig hielten? Die Frage wurde mit großer
Mehrheit bejaht, ſeit dem glücklichen Gelingen der Leipzig-Dresdener
Eiſenbahn begannen den Preußen die Augen aufzugehen. Von allen
Seiten ward anerkannt, das germaniſche Preußen müſſe „der Führer
[185]Verhandlungen der Vereinigten Ausſchüſſe.
der Zeit“ ſein, das neue Verkehrsmittel ſolle das Gefühl der Einheit in
den ſo weit entlegenen Provinzen erwecken, ihre Volkswirthſchaft kräftigen,
ihre militäriſche Vertheidigung ſichern; denn daß die Eiſenbahnen mindeſtens
Infanteriemaſſen befördern könnten, hielt man jetzt für möglich. Nur
der brandenburgiſche Landtagsmarſchall Rochow-Stülpe und einige andere
ſeiner conſervativen Landsleute wollten an den Nutzen der Neuerung noch
nicht glauben, und Graf Raczynski meinte traurig, der kümmerliche Ge-
werbfleiß der Städte Poſens könnte den Wettbewerb, den die Eiſenbahnen
bringen würden, ſchwerlich ertragen. Nunmehr erhob ſich die ſchwierigere
Frage, was der Staat für den Bau der Eiſenbahnen thun ſolle, und
bei dieſer Berathung ward Allen fühlbar, in welcher Verwirrung ſich
das Staatsrecht des Landes befand. Die große Mehrheit der Ausſchuß-
Mitglieder — Graf Arnim ſelbſt geſtand dies ſpäterhin ehrlich zu*) —
wünſchte im Stillen, daß der Staat die Hauptlinien ſelbſt bauen ſollte;
man fürchtete im Lande den Actien-Wucher der Börſen und begriff
nicht, woher die armen Oſtprovinzen das genügende Privatcapital auf-
treiben könnten. Die Regierung aber ſtand nicht auf der Höhe der Zeit;
ſie entbehrte eines ſtaatsmänniſchen Sachverſtändigen wie ihn die Badener
an ihrem Nebenius beſaßen; ſie hielt den Staatsbau für ein zweifelhaftes
Wagniß und fühlte ſich zudem unfrei, weil ſie Anleihen ohne Reichsſtände
nicht aufnehmen konnte.
Darum erklärte Bodelſchwingh auf das nachdrücklichſte, die Regierung
habe beſchloſſen, in den nächſten Jahren keine Eiſenbahn ſelbſt zu bauen,
ſie ſei jedoch bereit, wie ſie es bisher ſchon mehrmals gethan, den Pri-
vatbahnen für wenige Jahre eine mäßige Verzinſung des Anlagecapitals
zu verbürgen. Eine ſolche Zinſengarantie war im Grunde auch nichts
anderes als eine Vermehrung der Staatsſchuld. Niemand wußte das
beſſer als der kluge Generalſteuerdirektor Kühne;**) indeß mußte er ſchwei-
gend mit anhören, wie ſein vorgeſetzter Miniſter die Verſammlung dahin
belehrte: zwiſchen einem Bürgen und einem Hauptſchuldner beſtehe doch
ein großer Unterſchied. Durch die beſtimmte Weigerung des Miniſters
wurden die Ausſchüſſe verhindert, ſich über den Staatsbau zu äußern,
da ſie ja nur vorgelegte Fragen beantworten ſollten. Die Stimmung
im Saale ward recht unbehaglich, obgleich man die ruhige Haltung be-
wahrte; die Reden, die von den ungeübten Sprechern meiſt abgeleſen
wurden, klangen verlegen; auf Allen laſtete das drückende Gefühl, daß man
ſeine wahre Meinung nicht ſagen konnte. Ganz frei von der Leber weg
ſprach nur ein Heißſporn vom Rhein, Kaufmann Bruſt aus Boppard;
der meinte, ohne die Reichsſtände könne die Krone keine Zinſengarantie
übernehmen, und verlangte erſt genaue Mittheilungen über den Stand
[186]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
des Staatsſchatzes und der Staatseinnahmen, bevor man ſich über Finanz-
ſachen ausſpräche. Niemand wollte ihm folgen, denn zur Löſung der großen
Verfaſſungsfragen, die ſich hier drohend ankündigten, hatte der Ausſchuß-
tag kein Recht. Viele fühlten, welch’ eine unglückliche Halbheit es doch war,
wenn der Staat an den möglichen Gewinnſten der Eiſenbahnen nicht
theilnehmen, ſondern nur für ihre Verluſte aufkommen wollte.
Gleichwohl wurde die Frage bejaht: ob die Regierung den Eiſenbahnbau
mit allen ihr zu Gebote ſtehenden Mitteln, namentlich auch durch Zins-
garantien fördern ſolle. Es war ein Nothbehelf. Die Ausſchüſſe ſtimmten
nur zu, weil ſie nach der Erklärung des Miniſters für jetzt auf Staatseiſen-
bahnen nicht rechnen konnten, und erwieſen ihm ſodann noch die Gefälligkeit,
dieſen ganz unzweifelhaften Beweggrund ihres Beſchluſſes mit einer Mehr-
heit von drei Stimmen ausdrücklich in Abrede zu ſtellen. Da der Ca-
binetsminiſter General Thile wie ſein Vorgänger General Lottum nach
preußiſchem Soldatenbrauche in allen Geldſachen ſehr genau war, ſo be-
ſchloſſen die Ausſchüſſe ferner: die Ausführung des Eiſenbahnſyſtems er-
ſcheine nothwendig ſelbſt unter dem Vorbehalte einer möglichen Wiederer-
höhung der Steuern; doch zugleich baten ſie den König von dieſem Vor-
behalt abzuſehen, „um nicht den wohlthätigen Eindruck des Steuererlaſſes
zu ſchwächen.“
So ſchwankten ſie von einer Unklarheit zur anderen; ohne Anleihen,
ohne Reichsſtände kam dieſer Staat keinen Schritt mehr vorwärts. Die
Oſtpreußen, die überhaupt am feſteſten zuſammenhielten, zeigten ſich ſehr
unwillig über die beengende Geſchäftsordnung, die das Reden nur nach
der Reihenfolge des Alphabets geſtattete, und Rudolf von Auerswald gab
der Geſinnung ſeiner Landsleute einen lebhaften Ausdruck. Als Graf
Arnim zum Schluß im Namen des Königs vertraulich anfragte, ob die
Provinzen nicht den Bau je einiger Strebepfeiler am Kölner Dome über-
nehmen wollten, da wurde ihm in aller Ehrfurcht erwidert, es wäre wohl
einfacher, wenn die Provinziallandtage oder ihre einzelnen Mitglieder zu
freiwilligen Beiträgen aufforderten; eine Verſammlung, der die Krone gar
keine wirkſamen Rechte zugeſtand, konnte doch unmöglich Geſchenke be-
willigen.*) Am 10. Novbr., nach drei Wochen, wurde die Tagung ge-
ſchloſſen; der Erfolg war, wie der Prinz von Preußen vorausgeſagt: die
wenig fruchtbaren Verhandlungen hatten in der gährenden Zeit allerhand
unbeſtimmte Hoffnungen erweckt und keine befriedigt. Zum Abſchied be-
rief der König die Ausſchüſſe zu ſich, dankte ihnen herzlich und hielt ihnen
alsdann in einer ſonderbar lehrhaften Anſprache einen Hauptſatz der Haller-
ſchen Doctrin vor: ſie ſeien zugleich Vertreter ihrer eigenen ſtändiſchen
Rechte und völlig unabhängige Rathgeber der Krone, alſo „keine Reprä-
[187]Schluß des Ausſchußtages.
ſentanten des Windes der Meinung und der Tageslehren“. Mit Ver-
wunderung folgten die Stände dieſer dunklen Rede: glaubte der König
wirklich, daß irgend ein Mann ſich im politiſchen Leben dem Winde der
Meinung ganz entziehen könne? oder wollte er nur den liberalen Tages-
lehren Fehde anſagen? Verdrießlich und enttäuſcht ging man ausein-
ander. Die vertrauensvolle Stimmung der rheiniſchen Feſttage war ver-
ſchwunden, und ſie kehrte nicht wieder. Das Beckerſche Rheinlied ver-
ſcholl in Deutſchland bald gänzlich und tauchte erſt nach langen Jahren
in Belgien wieder auf, wo die Vlamen drohend den Franzoſen zuſangen:
zy zullen hem niet temmen, den fieren vlaamſchen Leeuw! —
Noch während die Ausſchüſſe tagten eröffnete der König neue Ver-
handlungen über die Fortbildung der ſtändiſchen Inſtitutionen. In einer
Sitzung des Miniſterraths, am 8. Nov. entwickelte er den Verfaſſungsplan,
den er fortan mit ſtiller Zähigkeit feſthielt, aber erſt nach vollen vier
Jahren ausführte. Er erkannte das Staatsſchuldengeſetz von 1820 als
verbindlich an, und da er den „für Preußen unmöglichen conſtitutionellen
Weg nie zu betreten“ entſchloſſen war, ſo dachte er der Regel nach mit
den Provinzialſtänden und ihrem Centralorgane, den Vereinigten Aus-
ſchüſſen auszukommen. Würde aber in Friedenszeiten eine Anleihe oder
die Erhöhung direkter Steuern unvermeidlich, dann wollte er die ſämmt-
lichen Provinziallandtage als Vereinigten Landtag zuſammenberufen —
am beſten wohl in eine harmloſe Provinzialſtadt, etwa nach Brandenburg;
denn ſein Lehrer Ancillon, der einſt die Anfänge der franzöſiſchen National-
verſammlung als Augenzeuge mit erlebt, hatte ihm oft beweglich vorge-
ſtellt, wie tief die Drohungen eines hauptſtädtiſchen Pöbels ein Parla-
ment entwürdigen könnten. Dieſem Vereinigten Landtage beabſichtigte er
in ſolchen Nothfällen das Recht der Steuerbewilligung einzuräumen. Er
ging alſo hochherzig ſehr weit über die Verſprechungen ſeines Vaters hinaus.
Sein Billigkeitsgefühl ſträubte ſich dawider, von einem Landtage, der keine
Abgaben zu bewilligen hatte, die Bürgſchaft für eine Anleihe zu verlangen;
auch wußte er wohl, daß die Steuerbewilligung allezeit ein gutes Recht
der alten deutſchen Stände geweſen war. Während er dergeſtalt mit der
einen Hand den Reichsſtänden neue Rechte ſchenkte, nahm er leider mit der
anderen mehrere Verheißungen des alten Königs zurück. Er fürchtete den
bei der günſtigen Lage des Staatsſchatzes höchſt unwahrſcheinlichen Fall,
daß ſchon während der geheimen diplomatiſchen Vorbereitung für einen Krieg
eine Anleihe nöthig würde, und den faſt undenkbaren Fall, daß ſeine Preußen
ihm gar während des Krieges eine Anleihe verweigern könnten; darum dachte
er den Ständen die Bürgſchaft für Kriegsanleihen zu verſagen. Ferner
wollte er die Verſammlung des Vereinigten Landtags ganz in ſeiner
Hand behalten und ſich zu keiner periodiſchen Berufung verpflichten, ob-
gleich die Reichsſtände auf Grund des Staatsſchuldengeſetzes alljährlich
Rechenſchaft von der Schuldenverwaltung verlangen durften. Auch dies
[188]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
war ein rein doktrinäres Bedenken; denn kam der Vereinigte Landtag
einmal zuſammen, ſo mußte er unfehlbar häufig wiederkehren, keine Macht
der Welt konnte dies dann noch verhindern. Endlich ſcheute der König
die Aufregung der Wahlen, obwohl doch die Erwählung der Vereinigten
Ausſchüſſe ſoeben ganz ruhig verlaufen war, und wollte darum die Reichs-
ſtände durch einfache Zuſammenberufung aller Provinziallandtage bilden.
Alle dieſe Abweichungen von den alten Geſetzen hoffte er aber auf
ſtreng rechtlichem Wege, mit Zuſtimmung ſeiner getreuen Stände ſelbſt,
durchzuführen, und ſtellte daher an den Miniſterrath drei Fragen. Er-
ſtens, kann man den Ständen, wenn man ſie auf dem Provinzialland-
tage oder in einem Vereinigten Landtage befragt und ihnen das Steuer-
bewilligungsrecht zugeſteht, die Anforderung ſtellen, daß ſie auf die Zu-
ſtimmung zu Kriegsanleihen verzichten? Zweitens, werden ſie ſich nicht
für incompetent erklären? Drittens, ſind für den Fall eines plötzlich
ausbrechenden Krieges genügende Mittel vorhanden? Die Befragten
waren ebenſo ſehr verwundert über die halb freigebigen halb kargen Ge-
währungen des Monarchen, wie über die rechtlichen Schwierigkeiten, die
er ſich durch ſeinen künſtlichen Plan ſelbſt geſchaffen hatte. Ganz ein-
verſtanden erklärte ſich nur Einer, Geh. Rath von Voß. Die große Mehr-
zahl der Miniſter, Boyen, Thile, Bodelſchwingh, Stolberg, Mühler, Eich-
horn, Savigny, Bülow, ja ſelbſt der greiſe Präſident des Staatsraths
General Müffling hielten für unmöglich, daß ſtändiſche Körperſchaften
ihre eigene Macht freiwillig beſchränken könnten; ſie ſagten dem Könige
voraus was nach vier Jahren eintraf: die Vereinigten Provinzialſtände
würden ſich nicht für befugt halten, in die Rechte des verheißenen Reichs-
tags einzugreifen. Nicht ganz ſo ablehnend, aber auch nicht zuſtimmend lau-
teten die Gutachten von Rochow, Alvensleben, Rother, Arnim. Mehrere
empfahlen die Berufung eines gewählten ſtändiſchen Ausſchuſſes. Der
Juſtizminiſter Mühler wagte ſogar die ketzeriſche Behauptung: „Gegen eine
Verfaſſungsurkunde des preußiſchen Staates läßt ſich nichts erinnern. Eine
ſolche Urkunde im Sinne des monarchiſchen Princips wäre die erſte ihrer
Art und würde dann zu den conſtitutionellen Charten anderer Länder einen
intereſſanten Gegenſatz bilden.“
Der alte Rother ſogar, der als treuer Diener des verſtorbenen Königs
nur deſſen letzten Willen auszuführen, nur einen kleinen Ausſchuß von
32 Landſtänden und eben ſo vielen Staatsräthen zu berufen vorſchlug,
fühlte ſich doch gedrungen zu der beſtimmten Erklärung: die Verwaltung
der Staatsſchulden laſſe ſich ohne irgend eine Mitwirkung von Ständen
auf die Dauer nicht mehr weiterführen. Die Schuld, ſo führte er aus,
ſei ſeit 1820 um faſt 68 Mill. Thlr., bis auf 138,86 Mill. vermindert
worden und werde in einer nahen Zukunft nur noch 100 Mill. be-
tragen. Tiefer aber dürfe ſie nicht ſinken; ſonſt triebe man das heimiſche
Capital in das Ausland oder in Schwindelgeſchäfte; darum müſſe das
[189]Berathungen über die künftige Verfaſſung.
Staatsſchuldengeſetz mit ſtändiſcher Zuſtimmung rechtzeitig abgeändert und
dann die Tilgung eingeſtellt werden.*) Selbſt dieſer Mann der alten
Hardenbergiſchen Schule hatte alſo gelernt von der verwandelten Zeit.
Die Meinung, daß Staatsſchulden ſchlechthin vom Uebel ſeien, war einſt
in den knappen Jahren nach den Kriegen aufgekommen und durch Ne-
benius’ claſſiſches Buch über den öffentlichen Credit im deutſchen Beamten-
thum zur Herrſchaft gelangt; jetzt da der Unternehmungsgeiſt erwachte
begannen ſchon viele Deutſche bewundernd auf England zu ſchauen, das
bei ſeiner rieſigen Staatsſchuld doch immer reicher wurde. Freilich blieb
Rother noch weit entfernt von der Einſicht, daß jetzt der rechte Augen-
blick gekommen war die preußiſche Staatsſchuld durch produktive Anleihen
für den Eiſenbahnbau zu vergrößern.
Die wohlgemeinten Gutachten der Miniſter konnten den König nur
verwirren; denn ſie wurden ſchriftlich eingereicht, nach und nach, ohne
gemeinſame Vorberathung, manche erſt nach Jahresfriſt, und wichen im
Einzelnen weit von einander ab. Es fehlte ein beherrſchender ſtaatsmän-
niſcher Kopf, der die Blicke der Amtsgenoſſen auf das Weſentliche ge-
richtet und im Namen des Miniſterrathes den Monarchen gebeten hätte:
er möge, ſtatt zu künſteln, feſt auf dem Boden der alten Geſetze bleiben,
an denen er ja ſelbſt als Kronprinz mitgebaut, und aus den Provinzial-
ſtänden einen Reichstag wählen laſſen, deſſen Zahl und Zuſammenſetzung
noch ganz in der Hand der Krone lagen. Ein ſolcher gemeinſamer Schritt
der Miniſter war allerdings ſehr ſchwer, bei der ſubalternen Stellung,
welche Friedrich Wilhelm ſeinen Räthen zuwies; ſie beſchieden ſich alle,
nur unmaßgebliche Rathſchläge zu ertheilen und überließen die Verant-
wortung dem Monarchen allein. Verſtimmt über die Bedenklichkeit der
Miniſter legte der König nach ſeiner Weiſe die ärgerliche Sache vorläufig
zur Seite und nahm ſich im Stillen vor, zu gelegener Stunde wieder
auf ſeinen unwandelbaren Plan zurückzukommen. Bei der zweckloſen
Berufung der Vereinigten Ausſchüſſe hatte er ſoeben Alles überhaſtet;
jetzt verlor er wieder eine köſtliche Zeit, die Thatenſcheu hielt dem Ge-
fühle ſeiner königlichen Unfehlbarkeit die Wage. Im Miniſterrathe war
fortan ein volles Jahr lang von der großen Zukunftsfrage der Monarchie
gar nicht mehr die Rede. —
Unter allen den Geſchenken, welche Friedrich Wilhelm aus dem Füll-
horn königlicher Gnade ſeinen Preußen zu ſpenden dachte, war ihm die
Entfeſſelung der Preſſe beſonders theuer. Er liebte die Freiheit nach
ſeiner patriarchaliſchen Weiſe, er hoffte durch die Freiheit die Preſſe zu
[190]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
erziehen, ſie emporzuheben aus ihrer geiſtloſen Verdumpfung. In die
Zeiten ſeiner Thronbeſteigung fiel das Jubelfeſt der Erfindung der Buch-
druckerkunſt. Der Tag wurde im Mittelpunkte des deutſchen Buchhandels,
in Leipzig glänzend gefeiert; begeiſterte Redner ſprachen die Hoffnung
aus, daß die größte aller deutſchen Erfindungen fortan unter dem Segen
der Freiheit erſt ihre volle Wirkſamkeit entfalten würde; ſelbſt der Feſt-
redner der Aula, der conſervative Gottfried Herrmann pries in elegantem
Latein die Macht des freien Wortes. Für Preußen hatte die ängſtliche
alte Regierung alle öffentlichen Feierlichkeiten unterſagt; der neue Herr
begnügte ſich, im Auguſt noch eine Nachfeier zu erlauben. Um den
Wiener Hof nicht zu verletzen ließ er es auch geſchehen, daß der Bundes-
tag im Juli 1841, nach einer Verabredung zwiſchen den beiden Groß-
mächten*), die Giltigkeit der alten Bundesgeſetze über die Preſſe und die
Univerſitäten abermals um ſechs Jahre verlängerte. Trotzdem hielt er
ſeine Befreiungspläne feſt; denn da er ſein eigenes Herz eben ſo wenig
kannte wie die Herzen Anderer, ſo traute er ſich’s zu, den Lärm der
Zeitungen gleichmüthig zu ertragen. Er dachte vorerſt der preußiſchen
Preſſe innerhalb der Schranken des Bundesrechts eine freiere Bewegung
zu geſtatten und ſpäterhin vielleicht den Bund ſelbſt zur Abänderung
ſeiner harten Geſetze zu bewegen. Darum wurde zunächſt der unentbehr-
liche Rathgeber für die Bundespolitik, Radowitz, zu einem Gutachten auf-
gefordert; der ergriff den Gedanken mit Begeiſterung und ſprach die Hoff-
nung aus: alſo würde ſein königlicher Herr in dem Geiſte der Nation
ſelbſt „den mächtigſten Verbündeten gegen die Apathie und den egoiſtiſchen
Widerwillen der Cabinette“ finden.
Darauf begannen, ſeit dem Herbſt 1841, im Staatsminiſterium ſehr
langwierige Verhandlungen über ein neues Preßgeſetz. Der Gedanke,
die Preſſe einfach dem gemeinen Rechte zu unterwerfen, lag allen deutſchen
Regierungen noch ganz fern. Jedermann in dieſen Kreiſen glaubte noch
an den alten Gentziſchen Grundſatz, daß die gefährliche Macht der Zeitungen
unter beſondere Behörden geſtellt werden müſſe. Die freieſten Köpfe ver-
langten nur eine milde Cenſur und zum Schutze gegen die Mißgriffe
dieſer „Preßpolizei“ eine eigene „Preßjuſtiz“. Präſident Gerlach, der eben-
falls befragt wurde, erklärte mit dem Stolze des preußiſchen Richters:
wolle man „die aufregende Maßregel“ einmal wagen, dann müſſe das
neue Preßgericht auch die ganze Selbſtändigkeit eines Tribunals er-
halten.**) Ueber alles Weitere war man nicht einig, und man em-
pfand bei dieſen verworrenen Berathungen zum erſten male, daß der
neue Juſtizminiſter Savigny praktiſchen Aufgaben nicht gewachſen war.
Der König wollte den Profeſſoren die Cenſurfreiheit, die ihnen vor Alters
[191]Milderung der Cenſur.
zugeſtanden, wiedergeben, er wollte die gleiche Freiheit auch anderen
Standesperſonen gewähren und dieſen Begünſtigten ſogar erlauben, die
Cenſur über die Schriften Anderer auszuüben. Da hielt ihm Thile ent-
gegen: grade unter den Gelehrten befänden ſich ſo viele unchriſtliche Ra-
dicale.*) Er dachte ferner zu verbieten, daß die Zeitungen ihn ſelber lobten,
während ſie die Regierung tadelten „und ſo die Perſon des Königs in
einem Gegenſatze mit dem Geiſte ſeiner Adminiſtration erſcheinen ließen“.
Graf Arnim aber erwiderte ritterlich: die Miniſter dürften ſich nicht hinter
dem Monarchen verſtecken.**) So zogen ſich die Verhandlungen durch viele
Monate fruchtlos hin.
Um doch etwas zu thun, gab der König den Provinzialbehörden durch
ein Miniſterialſchreiben v. 24. Dec. 1841 zu wiſſen, daß er das Bedürf-
niß einer freimüthigen, anſtändigen Publiciſtik anerkenne, und forderte ſie
auf, die beſtehenden Cenſurgeſetze milde zu handhaben; zugleich ward
die Preſſe väterlich ermahnt, ſich aller frivolen Feindſeligkeiten und Ver-
dächtigungen zu enthalten, auch nicht durch gehaltloſe Tagesneuigkeiten
und Klatſchereien auf die Neugier ihrer Leſer zu wirken. Trotz ſeines
wunderlichen patriarchaliſchen Tones erregte dieſer Erlaß allgemeine Freude;
die geknebelten Schriftſteller athmeten auf und glaubten endlich den Tag
der Freiheit zu ſehen. Im Mai 1842 wurden ſodann alle Bilder von
der Cenſur befreit; denn Friedrich Wilhelm lachte gern über geiſtreiche
Caricaturen, und da die Bundesgeſetze von einer Bildercenſur nicht ſprachen,
ſo wollte er den Zeichnern ihren harmloſen Scherz nicht verkümmern.
Ein halbes Jahr ſpäter, am 4. October, gab der König alle Bücher von
mehr als zwanzig Druckbogen frei — was nach Bundesrecht erlaubt war.
Gleich darauf befahl er den Behörden, unwahre Mittheilungen des ſchlechten
Theils der Tagespreſſe augenblicklich in dieſen Zeitungen ſelbſt zu berichtigen:
„Eben da wo das Gift der Verführung eingeſchenkt worden iſt, muß es auch
unſchädlich gemacht werden … indem man die Redaktionen zwingt, das
Urtheil über ſich ſelbſt zu veröffentlichen.“ So fielen Stein auf Stein
die alten Schranken, und alle Welt erwartete hoffnungsvoll das von der
Regierung oft verheißene umfaſſende Preßgeſetz.
Mittlerweile begann die Milderung der Cenſur ſchon ihre Früchte
zu tragen. Es ſchien als ſollte mit dem Jahre 1842 eine Zeit der Blüthe
für die preußiſche Preſſe beginnen; und ein ſolcher Umſchwung war dringend
nöthig, denn überall in Deutſchland laſtete auf den Schriftſtellern der
gleiche unerträgliche Druck, nur die Leipziger Cenſur übte zuweilen ein
klein wenig Schonung, um den großen Buchhandel nicht ganz zu verderben.
Was verſchlug es, daß einige Bundesſtaaten nur die Schriften unter
zwanzig Bogen, andere, wie Hannover, die Karlsbader Beſchlüſſe noch
[192]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
überbietend, alle Druckſachen ohne Ausnahme der Cenſur unterwarfen?
Was nicht cenſirt war unterlag überall beliebigen Verboten, ſelbſt die
cenſirten Zeitungen durften nachträglich noch confiscirt werden. Sogar
vor gerichtlicher Verfolgung war der Verfaſſer einer cenſirten Schrift nicht
immer ſicher: in Caſſel wurde der ſchreibſelige alte Sonderling Friedrich
Murhard (1844) verhaftet und, den Bundesgeſetzen zuwider,*) zu ſchwerer
Strafe verurtheilt wegen eines Artikels im Rotteck-Welckerſchen Staats-
lexicon, der längſt ſchon von der ſächſiſchen Cenſur gebilligt war. In
dem Thurn- und Taxisſchen und anderen kleinen Poſtgebieten mußten die
Zeitungen auch noch fiskaliſche Mißhandlungen ertragen, da die Poſt
ihnen die Verſendungskoſten ganz nach Willkür berechnete.
Die Baiern rühmten ſich gern, daß bei ihnen allein die Karlsbader
Beſchlüſſe nicht vollſtändig ausgeführt würden; und allerdings ließ der Mün-
chener Hof nach wie vor nur politiſche und ſtatiſtiſche Zeitſchriften cenſiren,
obgleich er doch ſelber einſt am Bundestage die Verlängerung der Karlsbader
Ausnahmegeſetze durchgeſetzt hatte. Indeſſen wußten ſeine Polizeibehörden
auch Bücher aller Art durch Verbote ſo handfeſt niederzuhalten, daß die
deutſchen Nachbarn durchaus keinen Grund fanden die Baiern zu beneiden.
Außer einigen ſchüchternen liberalen Blättchen in Franken gediehen hierzulande
nur die unſchuldigen Landboten und Landbötinnen für den Bauersmann und
die Schützlinge des Miniſteriums Abel, die ultramontanen Blätter, vom
Schlage der Neuen Würzburger Zeitung und des Fränkiſchen Kuriers.
In beiden Zeitungen trieb Zander ſein Unweſen, ein feiler Jude, der erſt
zur evangeliſchen, dann zur katholiſchen Kirche übergetreten war. Dieſen
Getreuen geſtattete die Regierung noch immer jede Schmährede wider Preu-
ßen; erſt auf wiederholte Beſchwerden des Berliner Hofs befahl ſie durch
Miniſterial-Erlaß, daß für jetzt, ſo lange die Verhandlungen zwiſchen Berlin
und Rom noch ſchwebten, „aus Rückſicht auf die katholiſche Kirche“ alle Auf-
reizungen vermieden werden ſollten.**) Eine ſo ſanfte Mahnung fruchtete
bei den Würzburger Fanatikern wenig; und wenn man ſich in Berlin nicht
die Augen verſchloß, ſo mußte man endlich einſehen, daß dieſe Partei nicht
die Kirchenpolitik des alten Königs, ſondern den preußiſchen Staat ſelber
bekämpfte.
Eine ſeltſame Ausnahmeſtellung nahm die Augsburger Allgemeine
Zeitung ein, die ſich diplomatiſch zwiſchen der bairiſchen und der öſter-
reichiſchen Cenſur hindurchwinden mußte. Ihre beiden neuen Leiter,
die Schwaben Mebold und Kolb hatten einſt als Demagogen auf dem
Hohenasperg zuſammen geſeſſen, doch in ihren politiſchen Anſichten gingen
die Freunde weit auseinander. Der gelehrte Hiſtoriker Mebold betrachtete
die preußiſchen Dinge unbefangen. Kolb war ein feiner Kenner des gei-
[193]Die ſüddeutſchen Zeitungen.
ſtigen Lebens, er erweiterte die Beilage zu einer Rundſchau über die ge-
ſammte europäiſche Literatur und förderte manches junge Talent durch
wohlwollende, einſichtige Kritik; von den landſchaftlichen Vorurtheilen ſeiner
Schwaben befreite er ſich aber niemals, und ſein Preußenhaß gab in der
Redaction faſt immer den Ausſchlag, weil ſie ihr größtes Abſatzgebiet,
Oeſterreich nicht verlieren durfte. Die Zeitung wurde keineswegs, wie
man im Norden oft argwöhnte, von Wien her beſtochen — mit ſolchen
Mitteln war dem reichen Hauſe Cotta nicht beizukommen —: ſie brachte viel-
mehr ſelbſt große Opfer um die Hofburg bei guter Laune zu halten, zahlte
glänzende Honorare an die Federn der k. k. Preßleitung, 4000 Gulden
jährlich allein an den alternden Pilat, der nur noch ſelten ſchrieb, und
nahm gehorſam Alles auf was ihr aus dieſen Kreiſen zukam. Metternich
ward aber von Tag zu Tag mißtrauiſcher gegen Preußen, zumal der
Zollvereins-Demagog Eichhorn blieb ihm unheimlich, und da er ſelbſt
die Maske der Freundſchaft nicht abnehmen durfte, ſo ließ er durch ſeine
Leute einen boshaften Federkrieg führen, der viel dazu beitrug das An-
ſehen des neuen Königs in Süddeutſchland zu untergraben. Die giftigen
Artikel der Allgemeinen Zeitung „vom Main“ floſſen meiſt aus den Fe-
dern der beiden Wiener Hofpubliciſten Zedlitz und Jarcke; der Bundes-
geſandte Graf Dönhoff wußte dies wohl und meinte traurig: ſo wird es
ſchwer ſein, „an ein wahres, aufrichtiges Zuſammenwirken von Wien und
Berlin glauben zu machen.“*) Als die preußiſche Preſſe ſich zu heben be-
gann, ließ Cotta der Hofburg melden, „daß die Allgemeine Zeitung, um
beſtehen zu können, ſich nun ebenfalls auf ein liberales Feld werde ſtellen
müſſen“. Metternich antwortete mit der verſtändlichen Drohung: wir
werden uns darnach richten.**) Seitdem ſchillerte die Zeitung noch mehr
denn ſonſt in verſchiedenen Farben, nur niemals in ſchwarz-weißen, und
mit vollem Rechte betrachtete die preußiſche Regierung das mächtigſte Blatt
des Südens als ihren gefährlichen Feind.
In Württemberg erlaubten die Cenſoren dem wackeren Schwäbiſchen
Merkur faſt nur über wirthſchaftliche Landesangelegenheiten frei zu reden.
Auch Karl Weil, ein gewandter liberaler Publiciſt, der in Stuttgart erſt den
Deutſchen Curier, dann die Conſtitutionellen Jahrbücher herausgab und ſich
vornehmlich der bedrückten Hannoveraner mit Eifer annahm, erlangte kein
rechtes Anſehen, weil ſeine Beziehungen zum Hofe Ludwig Philipp’s mit
gutem Grunde beargwöhnt wurden. Baden endlich, das gelobte Land der
liberalen Muſterverfaſſung, ward jetzt auch das Land der Muſter-Cenſur,
wie K. Mathy im Landtage treffend ſagte. Die badiſchen Cenſoren wurden
geradezu angewieſen, mißliebigen Blättern durch das Streichen der neueſten
Nachrichten die Kundſchaft zu entziehen; unter ihnen that ſich der Mannheimer
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 13
[194]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Cenſor v. Uria-Sarachaja durch ſeinen ultramontanen Fanatismus beſon-
ders hervor. Er begann einen Vernichtungskampf gegen die Mannheimer
Abendzeitung, ein radicales Blatt, das der Preuße Karl Grün erſt von
Mannheim aus, nachher, als man ihn aus Baden ausgewieſen, nach
eine Weile vom rechten pfalzbairiſchen Rheinufer aus leitete. Alle deut-
ſchen Regierungen zitterten vor Grün’s groben Ausfällen; der preußiſche
Hof mahnte den badiſchen, das Blatt zu verbieten, und erhielt die Ant-
wort: Preußen ſollte nur der Abendzeitung den Poſtdebit entziehen, dann
ginge ſie von ſelbſt ein. Da ergab ſich denn nach amtlicher Unterſuchung,
daß die gefürchtete Zeitung in ganz Preußen nur 134 Abonnenten zählte,
in Berlin und den öſtlichen Provinzen ihrer 44. So kläglich ſtand es
noch faſt überall um den Abſatz der Tagesblätter. Freilich wurden die
ſpärlichen Exemplare in den Conditoreien und Clubs von ſehr Vielen und
ſehr andächtig geleſen, ſo daß ſie mehr wirkten als heutzutage. Das
Verbot unterblieb ſchließlich, weil man das Aergerniß ſcheute.*)
Nun aber half Uria mit ſeinem unerbittlichen Rothſtift aus und zähmte
das Blatt binnen Kurzem gänzlich. Hierauf wendete ſich der kleine Wütherich
gegen das Mannheimer Journal des Rechtsanwalts Guſtav v. Struve, der
damals noch zur gemäßigten liberalen Partei gehörte. Mochten die Schrift-
ſteller des Mannheimer Journals dem Jeſuitenorden ſeine wohlbekannten
alten Fürſtenmords-Lehren vorhalten oder die nicht mehr neue Behaup-
tung aufſtellen, der Gebietsumfang der Bundesſtaaten Preußen, Baden
und Waldeck ſei doch recht ungleich, oder auch die poetiſche Gräfin Hahn-
Hahn in anzüglichen Verſen „Du adelſtolze Ida“ anreden, oder einfach
ankündigen, daß ein liberaler Profeſſor öffentliche Vorträge über Experi-
mentalphyſik zu halten gedenke: — einerlei, Uria ſtrich Alles; oder wenn
ſich gar nichts ſtreichen ließ, dann ſchrieb er mindeſtens eine grobe Be-
merkung an den Rand des Cenſur-Exemplars, als zum Beiſpiel: „iſt
zwar wieder eine Lüge, kann indeſſen paſſiren.“ Als die Regierung alle
amtlichen Bekanntmachungen ausſchließlich der wenig bekannten Mann-
heimer Morgenzeitung überwies, und viele angeſehene Einwohner, darunter
Männer wie Karl Mathy und Fecht, öffentlich erklärten, ſie würden trotz-
dem das Blatt weder leſen noch halten, da wurde ſelbſt dieſe Kundgebung
vom Cenſor unterdrückt, obſchon ſie kein beleidigendes Wort enthielt. In
ſeiner Verzweiflung verfiel Struve endlich auf einen tollkühnen Anſchlag.
Er ſammelte alle durch Uria geſtrichenen Stellen ſeines Journals und
ließ ſie zu Mannheim ſelbſt in drei cenſurfreien Zwanzigbogen-Bänden
mit rothen Lettern drucken. Niemand wagte ihn zu hindern. Ein über-
wältigender Anblick: dieſe drei Bände badiſcher Cenſurſtriche, denen die
badiſchen Gerichte nichts anhaben konnten! Draſtiſcher ließ ſich der Aber-
witz des Karlsbader Preßgeſetzes nicht erweiſen.
[195]Der Muſter-Cenſor. Norddeutſche Preſſe.
Faſt noch tiefer lag die norddeutſche Preſſe darnieder. Die Leipziger
Allgemeine Zeitung der Firma Brockhaus bemühte ſich, nach dem Vor-
bilde der Augsburger Allgemeinen, den Gebildeten aller Parteien des
Nordens einen Sprechſaal zu eröffnen; indeß klang in ihren Spalten der
proteſtantiſch-liberale Grundton noch weit vernehmlicher durch als der
öſterreichiſche in dem ſüddeutſchen Blatte. Sie brachte zahlreiche Bei-
träge von Mundt, Buhl, Rutenberg und den anderen jungen liberalen Li-
teraten, die ſich in der berühmten rothen Stube der Stehely’ſchen Conditorei
zu Berlin verſammelten. Dieſe Berliner Berichte lauteten immer boshafter,
höhniſcher, grimmiger je mehr die Stimmung in Preußen ſich verbitterte;
auch viele preußiſche Beamte ſchütteten hier, gedeckt durch die Anonymität,
ihren Unmuth aus, nicht ſelten unter Verletzung des Amtsgeheimniſſes.
Alſo wurde die Zeitung allmählich zu einer Ablagerungsſtätte für allen
preußiſchen Skandal; und da ihr in Preußen der Poſtdebit zugeſichert
war, ſo geſchah es wohl, daß unzufriedene Schleſier ihre Klagen nur
deßhalb nach Leipzig ſchickten, um die Artikel des erlaubten ſächſiſchen
Blattes nachher ungeſtraft in der Breslauer Zeitung nachzudrucken.*)
Den Berliner Behörden war es eine ganz neue Erfahrung, daß preußiſche
Zuſtände von einem nichtpreußiſchen Blatte ſo eifrig beſprochen wurden;
ſie fürchteten ſich vor dieſen perſönlichen Angriffen, und mancher Geheime
Rath fragte wenn er Morgens ſein Bureau betrat, angſtvoll: was die Leip-
ziger Allgemeine wieder geſagt hätte? Die ſtille Zeit war dahin, da die reiche
Meßſtadt ihre politiſche Bildung aus dem vielverſpotteten „ſächſiſchen Kin-
derfreunde“, der unſäglich geiſtloſen amtlichen Leipziger Zeitung geſchöpft
hatte. Der Literatenkreis an der Pleiße vermehrte ſich beſtändig durch
mißvergnügte Zuzügler aus den Nachbarlanden; aus Oeſterreich kamen
Schleſinger, Herloßſohn, Hartmann, Meißner. Wer unter dieſen Halb-
flüchtlingen etwas gelten wollte, mußte mindeſtens eine liberale Brand-
ſchrift oder ein Sonett gegen Metternich geſchmiedet haben.
Auch Arnold Ruge ſiedelte nach Sachſen über, von den liberalen
Hallenſern zum Abſchied noch mit begeiſterten Huldigungen begrüßt, und
ließ ſeine Halliſchen Jahrbücher auch fernerhin bei dem getreuen O. Wi-
gand erſcheinen, aber unter dem neuen Namen der Deutſchen Jahrbücher,
damit die preußiſchen Behörden nichts mehr dreinzureden hätten. Einige
dieſer burſchikoſen Leipziger Literaten fanden ein Unterkommen bei Heinrich
Laube’s „Zeitung für die elegante Welt“ oder bei Robert Heller’s „Roſen“;
die meiſten trieben Politik, keiner eifriger als der unſtäte kleine Böhme
Ignaz Kuranda. Der hatte in Brüſſel eine literariſch-politiſche Rundſchau,
die Grenzboten gegründet um ſeine öſterreichiſchen Landsleute aus dem
Schlummer zu rütteln, und verlegte dieſe Wochenſchrift jetzt nach Leipzig,
wo ſie dem Wiener Hofe bald läſtig wurde und mit der Zeit auch die
13*
[196]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
preußiſchen Zuſtände ſcharf zu beobachten begann. Kuranda’s treuer Ge-
hilfe war ein anderer böhmiſcher Jude, der kindlich gutherzige Jakob Kauf-
mann, ein ſchüchterner Stubengelehrter von linkiſchem Weſen, dem man gar
nicht anſah, wie klar und ſicher er über politiſche Fragen urtheilte. Ganz
unerhört aber war es in dieſem Lande des Preußenhaſſes, daß ein geborener
Kurſachſe Karl Biedermann ſich jetzt unterſtand, eine „Deutſche Monats-
ſchrift“ herauszugeben, welche den Gedanken Paul Pfizer’s, die preußiſche
Hegemonie, allerdings ohne den Geiſt und Schwung des Schwaben, aber
mit tapferem Freimuth vertheidigte. Die Monatsſchrift zeigte Verſtändniß
für das wirthſchaftliche Leben und betrachtete den Zollverein als den Kern
einer feſteren deutſchen Staatsbildung; freilich zählte ſie nur 500 Abon-
nenten, doch mehr hatten auch Ruge’s gefürchtete Jahrbücher nicht aufzu-
weiſen.
Alle dieſe Plänkler der Tagesmeinung ſahen ſich durch den Unverſtand
der Cenſurvorſchriften zu verzweifelten Zigeunerſtreichen gezwungen, zu
liſtigen Umgehungen des Geſetzes, welche, vom Volke ſtets mit Schaden-
freude begrüßt, das öffentliche Rechtsgefühl, die Würde der Obrigkeit
erſchüttern mußten. Wenn der Kölniſchen Zeitung die Correſpondenzen
„von der Murg“ geſtrichen wurden, ſo erſchienen die nämlichen Artikel
wieder mit der Aufſchrift: „von der Leine“. Die in Oeſterreich ſtreng
verbotenen Grenzboten wanderten allwöchentlich in Kiſten mit doppelten
Böden oder als Umſchläge und Einlagen erlaubter Bücher über die böh-
miſche Grenze; in die berüchtigten Freiſcheine der k. k. Cenſur pflegten
die Buchhändler ganze Reihen verbotener Bücher nachträglich einzuſchalten.
Kam in Leipzig ein gefährliches cenſurfreies Zwanzigbogenbuch zur Aus-
gabe, dann fuhr ein Wagen des Verlegers mit der geſammten Auflage
vor dem Polizeihauſe vor; kaum war das geſetzliche Pflichtexemplar abge-
liefert, ſo eilten die Pferde in raſendem Laufe durch die Gaſſen des Buch-
händlerviertels, und im Nu verſchwanden die Bücherpackete in den Com-
miſſionsgeſchäften bevor die Behörde noch Zeit fand ein Verbot auszu-
ſprechen.
Für die unglücklichen Cenſoren ſchien kein Wort der Verachtung zu
ſchlecht. In Preußen wie in den kleinen Staaten war es ſchon längſt
dahin gekommen, daß nur unbrauchbare ältere Beamte dies verhaßte
Amt übernehmen wollten. Glauben Sie denn, ich könnte meine beſten
Räthe zu Cenſoren hergeben? — ſagte der Oberpräſident der Rheinpro-
vinz zu dem klagenden Verleger der Kölniſchen Zeitung. Oft genug
mußte man ſich mit unerfahrenen Aſſeſſoren behelfen, die den Auftrag
nicht ablehnen durften. Da geſchah es einſt zu Köln, daß zwei ſolche
jugendliche Cenſoren nach einem luſtigen Gelage mit dem Nachtwächter
Händel begannen; der eine war der geiſtreiche Graf Fritz Eulenburg, der
alſo nicht ohne Geräuſch ſeinen Einzug in die preußiſche Geſchichte hielt.
Obwohl die Miſſethat durch Verſetzung und durch eine Geldſtrafe geſühnt
[197]Die Leipziger Journaliſten.
wurde, ſo erhob doch die geſammte Preſſe ein herzbrechendes Geſchrei,
als wäre noch niemals ein germaniſcher Nachtwächter geprügelt worden;
geſinnungstüchtige Liberale fragten feierlich: hat denn nicht der König
ſelbſt befohlen, daß „nur Männer von wiſſenſchaftlicher Bildung und er-
probter Rechtſchaffenheit“ zu Cenſoren ernannt werden dürfen?
Die Zahl der deutſchen Journaliſten vermehrte ſich in dieſen Jahren
beträchtlich. Viele aus dem Staatsdienſte verdrängte liberale junge Männer
flüchteten zu den Zeitungen, ſo der abgeſetzte rheinländiſche Beamte Karl
Heinzen und der entlaſſene preußiſche Leutnant Wilhelm Rüſtow; dazu
die wachſende Schaar der gebildeten Juden, die von der Beamtenlauf-
bahn ausgeſchloſſen, in der Journaliſtik das einzige Mittel ſahen auf den
Staat einzuwirken, und ſehr bald bemerkten, wie glücklich ſich ihre na-
türliche Begabung für die leichte Tagesſchriftſtellerei eignete. Faſt alle
die öſterreichiſchen Literaten in Leipzig waren Juden. Als der Jude A.
Ochſe-Stern der Kölniſchen Zeitung ihre tadelnden Bemerkungen über
ſeine „wehrloſen“ Stammverwandten verwies, da erwiderte der Verleger
Dumont trocken: dieſe Wehrloſen ſind Beſitzer vieler rheiniſchen Zeitungen!
Metternich aber ſchrieb ſorgenvoll an die Geſandtſchaft in Berlin: „Sieb-
zehn deutſche Blätter werden heute — und unter den deutſchen Produkten
nicht die wenigſt pikanten — von Judenjungen redigirt!“
Begreiflich, daß durch ſolche Elemente der Radicalismus und der
Kirchenhaß der Preſſe oft gefördert wurden. Auch beſonnene Journaliſten
gewöhnten ſich in dem ewigen Kampfe gegen die Behörden an eine verſteckte
und daher um ſo boshaftere Gehäſſigkeit; ſie wußten in kunſtvollen Sätzen
ihren Groll halb zu zeigen, halb zu verbergen, und mancher, der damals das
Handwerk erlernte, konnte auch nachher in den Tagen der Preßfreiheit den
anwinkenden Cenſurſtil nicht mehr ablegen. Indeß war dieſe Generation
deutſcher Tagesſchriftſteller noch ziemlich reich an wackeren Männern. Das
Geſchäft warf noch wenig ab, da die Deutſchen in der Kunſt der Anzeigen
und Reclamen weit hinter den Völkern des Weſtens zurückgeblieben waren,
und die Börſe jetzt erſt, ſeit der Wucher mit den neuen Eiſenbahnaktien
aufblühte, ihre Polypenarme nach den Zeitungen auszuſtrecken begann.
Ein großer Theil der Tagesſchriftſteller kämpfte ehrlich, ja enthuſiaſtiſch um
der Sache willen, und nicht wenige unter ihnen betrieben ihre Arbeit mit
jener frohmuthigen, jugendlichen Pflichttreue, welche ſpäterhin in Frey-
tag’s Journaliſten ihr Denkmal erhielt. Daneben gab es freilich auch
einen eigenthümlichen Menſchenſchlag von journaliſtiſchen Philiſtern, die ſich
demüthig in die Willkür der Cenſur ergeben hatten. Er blühte vornehmlich
in Frankfurt, wo alle Bundesregierungen zugleich für die Knebelung der
Preſſe ſorgten. Dort erſchien ein franzöſiſches Journal de Francfort für die
diplomatiſche Welt; ſodann die Oberpoſtamts-Zeitung des Hauſes Thurn
und Taxis, unter dem guten alten Hofrath Berly, der ſtets mit der Miene
des Tiefeingeweihten einherging und unterweilen von der k. k. Geſandt-
[198]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ſchaft ſeine Weiſungen empfing, ſonſt aber getreulich ſeinen offen einge-
ſtandenen Grundſatz befolgte: das öffentliche Ausſprechen einer Meinung
iſt immer ein Wagniß; dazu endlich noch das etwas liberaler gefärbte
Frankfurter Journal, das ſich mit der Oberpoſtamts-Zeitung durch einen
förmlichen Vertrag dahin vereinbart hatte, daß ſie einander gegenſeitig
weder bekämpfen noch auch nur erwähnen wollten.
In ſolcher Lage mußten die Erleichterungen, welche König Friedrich
Wilhelm der Preſſe verhieß, allgemeine Freude erregen. Der liberale
Rheinländer L. Buhl begrüßte die kommende beſſere Zeit ſogleich mit
einer begeiſterten Schrift über „den Beruf der preußiſchen Preſſe“. Als
eine der erſten Früchte der neuen Freiheit erſchien das Buch von E. von
Bülow-Cummerow „Preußen, ſeine Verfaſſung und Verwaltung“, das einen
damals noch beiſpielloſen Abſatz fand. Dieſer alte rührige Vorkämpfer
des Großgrundbeſitzes, der einſt den Kreisordnungs-Plänen Hardenberg’s
ſo lebhaft entgegengetreten war,*) hatte inzwiſchen die ritterſchaftliche Bank
für Pommern gegründet und wollte auch jetzt noch die altſtändiſchen In-
ſtitutionen des flachen Landes, gutsherrliche Polizei und Patrimonialge-
richtsbarkeit aufrechthalten. Um ſo mehr mußte es überraſchen, daß ein
ſo conſervativer Mann unumwunden ausſprach: ſeit dem Thronwechſel
befinde ſich das Land in einer Kriſis, die nur durch raſche Löſung der
Verfaſſungsfrage beendigt werden könne. Er forderte zum mindeſten
regelmäßige Berufung der Vereinigten Ausſchüſſe zur Prüfung des Staats-
haushalts und Bewilligung neuer Steuern. Mit Selbſtgefühl ſprach er
von Preußens führender Stellung im Deutſchen Bunde und ſagte ſchon
dreiſt: Oeſterreich gehöre eigentlich gar nicht zu Deutſchland, wohl aber
Holſtein. Sein ſcharfer, oftmals ungerechter Tadel wider die Finanzver-
waltung, namentlich wider die Domänenverkäufe empörte das Beamten-
thum; Kühne ſchrieb dawider geharniſchte Artikel in der Staatszeitung.
Der König aber erwies dem unruhigen alten Herrn ſein Wohlwollen;
denn Angriffe des Landadels auf die Geheimen Räthe kränkten ihn nicht,
und noch wiegte er ſich in dem hoffnungsvollen Wahne, daß er ſelber
jeden Widerſpruch ertragen könne.
Am wenigſten bemerkte man in Berlin von der freieren Bewegung
der Preſſe. Die Behörden zeigten ſich hier beſonders ängſtlich; eine neue
Zeitſchrift L. Buhl’s, der Patriot, wurde ſchon nach wenigen Monaten verboten,
obgleich ſie kaum über die Durchſchnittsmeinung des aufgeklärten Liberalis-
mus hinausgegangen war. Die Voſſiſche Zeitung begann ſchüchtern einige
Leitartikel zu bringen, während die Spener’ſche ihre gewohnten Erörte-
rungen über Straßenpflaſter und Gaslaternen treufleißig fortſetzte. Noch
war hier kein Boden für eine kräftige Publiciſtik; der politiſche Sinn der
höheren Stände zeigte ſich allein in der boshaften perſönlichen Klatſcherei
[199]Bülow-Cummerow. Die Spottbilder.
über den Hof und die Miniſter, ſonſt dachten ſie nur an Theater, Con-
certe, Literatur. In den Provinzen wurde Berlin gründlich gehaßt, ſchon
weil der Inſtinkt des Particularismus fühlte, daß die Stadt trotz alledem
zur deutſchen Hauptſtadt heranwuchs. Ihres eigenen Bürgermuthes froh
verachteten die Rheinländer und die Oſtpreußen den politiſchen Stumpf-
ſinn der Spreeſtadt; „die Berliner ſind eben Berliner“, ſo klang es überall
in den Zeitungen des Weſtens und des Oſtens. In der Stille bereitete
ſich doch ſchon eine Wandlung vor. Die in Großſtädten unvermeidliche
Demokratiſirung der Sitten wirkte auf die politiſche Geſinnung der niederen
Stände zurück. Der Berliner Philiſter ſpottete über den Prunk des
Hofes, den Hochmuth der Offiziere, die Barſchheit der Gensdarmen, am
liebſten über die Frömmigkeit der vornehmen Kirchgänger; Adolf Glas-
brenner’s bildergeſchmückte Flugſchriften, die Lieblinge der kleinen Bürger
redeten immer dreiſter, ſtachliger, politiſcher.
Ueberhaupt brachte die Aufhebung der Bildercenſur dem Könige bittere
Enttäuſchungen. Es war die Zeit da Gavarni für den Pariſer Charivari
ſeine geiſtvollen Skizzen zeichnete. Scherzbilder und Rebus kamen auch
in Deutſchland in die Mode, und dieſe Eintagsfliegen fanden überall
unmäßige Beachtung, weil ein ernſthaftes öffentliches Leben ſich noch kaum
entwickelt hatte. Unſchuldige Gemüther ergötzten ſich an dem neuen Witz-
blatte der Münchener Maler, den Fliegenden Blättern: der dicke kleine
Baron Beiſele und ſein hagerer Hofmeiſter Doktor Eiſele, die beiden harm-
loſen Reiſenden, die mit Frankfurter Kellnern, Berliner Geheimräthen
und bairiſchen Knödeleſſern ſo viel ſchnurrige Abenteuer erlebten, wurden
zu volksthümlichen Geſtalten, in Zinn und Porzellan, in Zuckerguß und
Chokolade unzählige mal nachgebildet. Doch daneben gelangten auch freche
Caricaturen in Umlauf, denen die nachträglichen Verbote nichts mehr an-
haben konnten. Es war der Fluch des perſönlichen Regiments, daß die
Satire ihre giftigſten Pfeile gegen den Monarchen ſelber richten mußte; ſeine
Räthe kamen glimpflicher davon, nur der vielverleumdete Cultusminiſter
wurde als Eichhörnchen in mannichfachen Verzerrungen dargeſtellt. Da ſah
man den König, in der einen Hand die Ordre, in der andern die Contre-Ordre,
auf ſeiner Stirne ſtand zu leſen: Désordre; oder auch zwei Eckenſteher, der
Berliner Friede und der Baier Lude hielten ſelbander ein hochromantiſche
Zwiegeſpräch; oder gar der große Friedrich ſchritt durch den Schnee, und
ſeinen Fußtapfen folgte, ſchwankenden Ganges, mit zwei Champagner-
flaſchen in den Händen, der neue Herrſcher, dazu die Inſchrift: wie Einer
immer daneben trat! Dies letzte Bild bewies zugleich, wie tief ſich die
überall ziſchelnde giftige Nachrede ſchon in die Volksmeinung eingefreſſen hatte.
Friedrich Wilhelm war wie faſt alle Hohenzollern ein ſtarker Eſſer, jedoch
im Trinken mäßig, weil er wenig Wein vertrug. Wenn er aber beim
Mahle mit geröthetem Geſicht und unruhig zuckenden Armen einen Trink-
ſpruch ausbrachte, darauf ſein volles Glas auf einen Zug leerte und vor
[200]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Aller Augen die Nagelprobe machte, dann konnten ihn Fernſtehende leicht
für berauſcht halten, und dieſe albernen Witzeleien wurden ſo beharrlich
umhergetragen, daß ſchließlich faſt ganz Deutſchland an die Trunkſucht
des Königs glaubte.
In Königsberg wagte die Hartung’ſche Zeitung nunmehr offen als
Oppoſitionsblatt aufzutreten und gewann bald großen Einfluß auf die
Stimmung der Provinz. Jacoby’s Getreue Crelinger, Jachmann, Wales-
rode lieferten ihr Beiträge; der Letztere fuhr zugleich fort in den „Unter-
thänigen Reden“ und anderen humoriſtiſchen Flugſchriften die preußiſchen
Zuſtände durchzuhecheln. Die Zeitung ſchrieb über Politik nicht unver-
ſtändig, über kirchliche Dinge ſehr höhniſch, denn die fridericianiſche Auf-
klärung galt ihr ſchlechthin für den Geiſt des preußiſchen Staates —
und immer trug ſie jenen erhabenen Tugenddünkel zur Schau, der die
liberalen Volksredner alleſammt auszeichnete. Als den Tagesblättern
befohlen wurde amtliche Berichtigungen aufzunehmen, da erwiderte ſie
ſtolz: dergleichen mag in Frankreich nöthig ſein, nicht bei uns, da „in
der inländiſchen Preſſe gegenwärtig ein geſunder Kern iſt, neben dem ab-
ſichtliche Bosheiten und Lügen nicht beſtehen können“. Auch die Schleſiſche
Zeitung wagte jetzt etwas lauter zu reden. Sie war vor einem Jahr-
hundert recht eigentlich unter den Flügeln des preußiſchen Adlers, gleich
nach der Eroberung Schleſiens entſtanden und hatte ſich allezeit ehren-
haft gehalten, beſonnener als die jüngere Breslauer Zeitung, die ſich ſchon
radikalen Meinungen zuneigte; gleichwohl wurde ſie durch die ängſtlichen
Behörden, ſelbſt in dieſem Jahre der milderen Cenſur, beſtändig gequält,
über die ruſſiſche Grenzſperre durfte ſie bald gar nichts mehr ſagen.
Alle anderen preußiſchen Blätter übertraf durch Geiſt und Kühnheit
die neugegründete Rheiniſche Zeitung. Ihre Unternehmer, lauter begabte
junge Männer, die zumeiſt den reichen Familien Kölns angehörten, Bür-
gers, Dagobert Oppenheim, Meviſſen, Rudolf Schramm, hatten ſich um
der Sache willen in fröhlicher Begeiſterung zuſammengeſchaart; ſie wollten
doch ſehen wie viel die Preſſe wagen dürfe, auf wirthſchaftlichen Gewinn
kam es ihnen nicht an; einig waren ſie freilich nur in unbeſtimmten
liberalen Hoffnungen und in der Verehrung für die Hegel’ſche Philoſo-
phie.*) Daher ſchlug der wiſſenſchaftliche Theil des Blattes von Haus
aus einen radicalen Ton an, die Gebrüder Bauer und die anderen frechen
junghegelianiſchen Kritiker fanden hier ihre Verherrlichung; auch die Zeit-
gedichte des Feuilletons redeten oft ſehr dreiſt und weiſſagten die nahe
Schlacht auf dem Walſerfelde: „ja, es wird das Blut der Böſen in der
Guten Schuhe ſchießen.“ Die politiſchen Artikel hingegen waren meiſtens
friſch geſchrieben, reich an guten Gedanken und keineswegs maßlos, obwohl
die jugendliche Unerfahrenheit noch überall durchbrach. Die Zeitung
[201]Rheiniſche Zeitung.
verlangte nur Ausbau der ſtändiſchen Inſtitutionen und, in einem ehr-
furchtsvollen Artikel zum Dombaufeſte, Aufhebung der Cenſur; ſie ſprach
mit einem kräftigen preußiſchen Stolze, wie er am Rhein noch ſelten war,
und glaubte feſt an die große Zukunft Deutſchlands, das in Religion
und Literatur dem Welttheil Geſetze gegeben habe und dereinſt auch die
Politik Europas beherrſchen werde, „ſo lächerlich das heute klingen möge“.
Die Augsburger Allgemeine Zeitung wehklagte ſchon: dieſe erwachende
preußiſche Preſſe rede mit einer Zuverſicht, als ob ihrem Staate die Hege-
monie in Deutſchland gebührte — worauf die Rheiniſche fröhlich erwiderte:
die preußiſche Hegemonie iſt nur das moraliſche Uebergewicht, das aus
dem Zollvereine, aus dem Geiſte des Fortſchritts und dem neuen Regie-
rungsſyſteme entſteht. Wenn die Regierung dieſe Angſt ihrer ſüddeut-
ſchen Feinde richtig würdigte, dann mußte ſie die übermüthige und doch
patriotiſche Jugend des mächtigen rheiniſchen Bürgerthums durch Nachſicht
zu gewinnen ſuchen. Der König aber fand den religiöſen Radicalismus
der Zeitung frevelhaft; auch ihre ſcharfen, wohlberechtigten Angriffe wider
das Treiben der rheiniſchen Ultramontanen erſchienen jetzt unbequem ſeit
ſich der Wind in Berlin gedreht hatte. Darum wurde ſie durch Cenſur-
ſtriche und Verwarnungen arg mißhandelt. Da ihr Abſatz trotzdem ſehr raſch
wuchs, ſo konnte es nicht ausbleiben, daß die Heißſporne unter den jungen
Leuten die Oberhand erlangten: der Referendar Georg Jung, ein eleganter
Lebemann, der die Oppoſition nach Heine’s Weiſe wie einen kurzweiligen
Sport betrieb, und der jüngſte unter allen, Karl Marx aus Trier, ein
kräftiger Mann von vierundzwanzig Jahren, dem die dichten ſchwarzen
Haare aus Wangen, Armen, Naſe und Ohren quollen, herriſch, ungeſtüm,
leidenſchaftlich, voll unermeßlichen Selbſtgefühles, aber tief ernſt und ge-
lehrt, ein raſtloſer Dialektiker, der mit ſeinem unerbittlichen jüdiſchen
Scharfſinn jeden Satz der junghegelſchen Lehre bis zu den letzen Folge-
rungen durchführte und jetzt ſchon durch ſtrenge volkswirthſchaftliche Stu-
dien ſeinen Uebergang zum Communismus vorbereitete. Unter Mar-
xens Leitung begann die junge Zeitung bald ſehr rückſichtslos zu reden;
die Behörden betrachteten ſie mit wachſender Beſorgniß und hegten ſogar
den ganz thörichten Argwohn, daß ſie von Frankreich bezahlt würde.*)
Die preußiſchen Skandalgeſchichten der Leipziger Allgemeinen Zeitung
wurden bald gemein und ſchmutzig; in ihrer ausſichtsloſen Oppoſi-
tionsſtellung hatten ſich die Liberalen ja längſt gewöhnt jeden Gegner wie
einen knechtiſchen Liebediener zu behandeln, ſie verfuhren in der literariſchen
Polemik meiſt unanſtändiger als die Conſervativen, die in den Worten
Maß hielten weil ſie ihre Feinde durch gewaltſamere Mittel niederwerfen
konnten. Mittlerweile waren Ruge’s Jahrbücher auf ihren dialektiſchen Irr-
fahrten bei der Selbſtkritik des Liberalismus angelangt und ſtellten die
[202]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Forderung auf: daß die Kirche in der Schule aufgehen und mit dieſer
das Heerweſen ſich verſchmelzen müſſe, dem Volke aber Selbſtregierung
und eigene Juſtiz gebühre. Das Programm der reinen Demokratie war
verkündet. Auch die Zeitgedichte wählten die Perſon des Königs gern zur
Zielſcheibe; ein weit verbreitetes Ghaſel des kosmopolitiſchen Nachtwächters
höhnte: ein König ſoll nicht witzig ſein, ein König ſoll nicht hitzig ſein,
nicht ſtrenge gegen Itzig ſein, „er wolle nicht in jedem Ding — hier ſchweig’
ich — altenfritzig ſein“.
Dieſen gewaltigen Anſturm der Oppoſition dachte Friedrich Wilhelm
hochſinnig nur durch geiſtige Waffen abzuſchlagen. Er verlangte von den
Miniſtern und den Oberpräſidenten dringend, daß ſie literariſche Talente
gewinnen, durch belehrende Leitartikel und raſche Bekanntmachung der
Motive neuer Geſetze die Verdächtigungen bekämpfen ſollten.*) Miniſter
Eichhorn ging auf die Abſichten des Monarchen eifrig ein, er dachte in
Berlin und in jeder Provinz ein großes, zuverläſſiges und doch nicht un-
freies conſervatives Blatt zu gründen. Aber wie gänzlich war die Stim-
mung im Lande umgeſchlagen. Vor zehn Jahren hatte Preußen neben
den beiden conſervativen Zeitſchriften Jarcke’s und Ranke’s keine einzige
liberale Zeitung beſeſſen, jetzt trug faſt die geſammte Journaliſtik liberale
Farben. Das Berliner politiſche Wochenblatt ging zu Neujahr 1842 ein.
Die Zeitſchrift war durch ihren legitimiſtiſchen Uebereifer ſowie durch ihre
geheimen Beziehungen zur ruſſiſchen Geſandtſchaft allmählich herabge-
kommen,**) und ſeit ihr rührigſter Mitarbeiter Jarcke in Folge des Kölner
Biſchofsſtreites ſich zurückzog, verlor ſie Geiſt und Leben. Bald nach-
her verſchwanden auch die Berliner Jahrbücher für wiſſenſchaftliche Kri-
tik, das Organ der Althegelianer; ſie konnten den Wettkampf mit den
zeitgemäßen Schriften des philoſophiſchen Radicalismus nicht mehr aus-
halten. Als der Miniſter ſie für die Regierung zu gewinnen ſuchte, lagen
ſie ſchon im Sterben. So galt es denn neue Blätter zu ſchaffen, da
die Staatszeitung auch unter der Leitung des neu berufenen tüchtigen Pub-
liciſten Zinkeiſen jene öde Langweiligkeit nicht ablegte, welche in Deutſch-
land faſt allen amtlichen Blättern anhaftet.
Unbeirrt durch kleinliche Parteirückſichten, hoffte Eichhorn die beſten
Federn der Nation für eine freimüthige Vertheidigung der preußiſchen Politik
zu gewinnen. Er wollte bei Karl Reimer, dem gleichgeſinnten Sohne des
kürzlich verſtorbenen hochangeſehenen liberalen Buchhändlers, eine Zeitung
erſcheinen laſſen, und General Thile empfahl dem Könige für die Redac-
tion Dahlmann, „einen Mann von tadelfreier Geſinnung, deſſen Name
in Deutſchland einen guten Klang hat“.***) Als aber Dahlmann, wie ſich
[203]Regierungsblätter.
nicht anders erwarten ließ, Cenſurfreiheit für das Blatt forderte, da trug
man Bedenken das Bundesgeſetz zu übertreten, obgleich doch ſchon im
letzten Jahrzehnt die durch Pertz geleitete amtliche Hannoverſche Zeitung,
unbehelligt vom Bundestage, lange ohne Cenſur erſchienen war. Die Ver-
handlungen zerſchlugen ſich; auch was ſpäter noch von ähnlichen Plänen auf-
tauchte ſcheiterte an bureaukratiſchen Bedenklichkeiten. Man begnügte ſich zu-
nächſt mit der Unterſtützung der Literariſchen Zeitung, die unter der Leitung
von K. H. Brandes ſchon ſeit einigen Jahren beſtand, und bald hieß es in
der gelehrten Welt, leider nicht ohne Grund: wer an dieſem Blatte mit arbeite,
könne am ſicherſten auf Beförderung rechnen. Die Zeitung ſchrieb maß-
voll, „in feſtem Vertrauen auf die unbeſiegliche und ewige Jugend des
chriſtlich-deutſchen Geiſtes,“ und ſagte wider die Flachheit der modiſchen
Aufklärer manches treffende Wort; aber ein begeiſterndes Ideal vermochte
ſie der liberalen Freiheitsſchwärmerei nicht entgegenzuſtellen. Ihr ſchwer-
fälliger Doctrinarismus konnte weder, wie einſt das Politiſche Wochen-
blatt, den legitimiſtiſchen Kreuzfahrerſinn aufregen, noch den naturwüch-
ſigen monarchiſchen Inſtinkt des Volks, den Stolz auf das eiſerne Kreuz
und die ſchwarzweißen Fahnen wachrufen.
Noch weniger bewährte ſich nachher der Schwabe Victor Aimé Huber,
der auf Radowitz’s Empfehlung berufen wurde,*) auch eines von den vielen
Talenten, welche der König an falſcher Stelle verbrauchte. Gedankenreich,
ernſt, tief-fromm, hatte Huber früher als die meiſten Zeitgenoſſen den
ſocialen Hintergrund des modernen Parteiweſens, den Zuſammenhang der
liberalen Doctrin mit den Intereſſen des beweglichen Capitals durchſchaut.
Aber die fruchtbaren ſocialpolitiſchen Ideen, die ihm ſpäterhin verdienten
Ruhm ſchaffen ſollten, waren noch nicht zur Reife gelangt als er nach
Berlin kam; er kannte die preußiſchen Zuſtände wenig und fühlte ſich in
der Polemik gegen den Liberalismus ſchon darum unſicher, weil er ſelbſt
die regelmäßige Berufung eines ſtändiſch gegliederten Reichstags wünſchte.
Auf dem Berliner Katheder hatte der Unbeholfene ebenſowenig Erfolg,
wie mit ſeiner Zeitſchrift Janus, die vom Könige, anfangs ſogar ohne
Vorwiſſen der Miniſter, freigebig unterſtützt wurde, auch von Leo, Gerlach,
Stahl einige Beiträge empfing und gleichwohl nur einen winzigen Leſer-
kreis gewann. In Königsberg gab der gelehrte Statiſtiker F. W. Schubert,
der dem gemäßigten Liberalismus nahe ſtand, eine conſervative Zeitung
heraus; auf den Weſten ſollte Profeſſor Bercht, ein wohlmeinender, einſt
als Demagog verfolgter Patriot, durch ſeinen Rheiniſchen Beobachter ein-
wirken. Doch beide Regierungsblätter gediehen nicht, weil das hohe Be-
amtenthum alles Zeitungstreiben tief verachtete und ſie weder mit Bei-
trägen noch mit Geldmitteln genugſam unterſtützte.
So blieb denn dieſe Regierung, die ſo hoch über ihrem Volke zu
[204]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ſtehen glaubte und die Preußen für neue Ideale erziehen wollte, faſt ohne
jede wirkſame literariſche Vertretung; und leider erwies ein plumper Lob-
redner dem Königthum eben jetzt einen ſchlimmen Dienſt. Nachdem der
geiſtreiche Präſident von Hippel unlängſt eine würdige und lehrreiche Bio-
graphie des verſtorbenen Königs veröffentlicht hatte, ließ der Biſchof Eylert
ſeine geſchwätzigen „Beiträge zur Charakteriſtik Friedrich Wilhelm’s III.“
erſcheinen. Es konnte nur Ekel erregen, wenn hier die ſchlichte Tüchtig-
keit, der ſo viel gerechter Dank gebührte, durch unterthänige Schmeichelei
verzerrt und dem wortkargen Fürſten lange ſalbungsvolle Predigten in
den Mund gelegt wurden. Fünf Bände hindurch war nur von Ihm und
Er die Rede, während der Herrgott, deſſen Namen der Biſchof ſtark miß-
brauchte, mit dem einfachen „er“ vorlieb nehmen mußte. Alte treue Diener
des Entſchlafenen mochten in dieſem Wuſt von Anekdoten liebe Erin-
nerungen wiederfinden; auf die radicale Jugend aber wirkte das Buch
wie Gift, ſie fühlte ſich beſtärkt in dem Wahne, daß monarchiſche Geſinnung
mit byzantiniſchem Sklavengeiſte Hand in Hand gehe.
Da wurde die preußiſche Preſſe plötzlich durch die Thorheit eines
liberalen Wortführers in die alte Bedrängniß zurückgeſchleudert. Der
junge Schwabe Georg Herwegh war zur Zeit der Held des Tages; die
feurig radicalen Gedichte eines Lebendigen fanden, überall vorboten, überall
begeiſterte Leſer. In einem dieſer Lieder redete er den König von Preußen
perſönlich an, um für das deutſche Volk zu flehen wie einſt Platen für die
Polen, und bekundete den dunklen, zielloſen Thatendrang der Jugend alſo:
Augenblicklich ſpielte Herwegh in der Schweiz den politiſchen Flüchtling.
Irgend eine Unbill war ihm freilich daheim nie widerfahren; zuchtlos
wie er von früh auf geweſen, hatte er ſich vielmehr dem württembergiſchen
Waffendienſte durch die Flucht entzogen. In der liberalen Welt ſtand
aber der Haß gegen die Söldlinge ſchon ſo feſt, daß ſie dem Poeten dieſe
Verletzung der allgemeinen Bürgerpflicht gar nicht verargte. Er ſelbſt
ſang prahlend:
Im Herbſt 1842 unternahm er eine Triumphreiſe durch Deutſchland;
überall, in Weimar, Jena, Leipzig, Dresden bereiteten ihm die Liberalen
einen glänzenden Empfang. Berauſcht durch ſolche Huldigungen kam er
nach Berlin und erbat ſich durch ſeinen Schweizer Freund, den geiſtreichen
Leibarzt Schönlein eine Audienz beim Könige. Friedrich Wilhelm ſchrieb
darüber nachher an General Dohna: „Ich habe mich acht Tage beſonnen,
ob ich ſeinem Wunſche mich zu ſehen entſprechen ſollte;“ ich that es weil
[205]Herwegh vor dem Könige.
ich ihn für einen wahren, begeiſterten Republikaner hielt; hätte ich gewußt,
daß er Deſerteur von einem württembergiſchen Infanterie-Regimente iſt,
„ſo hätt’ ich ihn natürlich nie geſehen.“ Vor dem Angeſichte der Majeſtät
benahm ſich der junge Schwabe linkiſch, verlegen, demüthig. Der König
lobte ſein poetiſches Talent und bedauerte ſeine radicale Richtung; er
wünſchte ihm einen Tag von Damascus — „dann erſt wird Ihr Wirken
außerordentlich groß ſein“ — und ſchloß das kurze Geſpräch mit den
gütigen Worten: wir wollen ehrliche Feinde ſein. Zum Dank brachte die
Leipziger Allgemeine Zeitung einen gehäſſig entſtellenden Bericht, worauf
Friedrich Wilhelm befahl, in der amtlichen Berichtigung ſolle bemerkt
werden: „Es verlautet, der König habe nach Leſung des Artikels geſagt:
Ich erkenne das Machwerk derjenigen Juden, über deren zudringliche
Freundſchaft Herwegh klagte. — Das iſt nämlich wörtlich geſchehen!“*) Er
ward noch unwilliger, als er Näheres über die Vergangenheit des Dichters
erfuhr, und äußerte bitter: Ein Gedicht in den Zeitungen „ſcheint mir
Herwegh zu verſpotten wegen ſeines Nackenbeugens bei mir. Grand
bien lui fasse!“**)
Mittlerweile war der Poet nach Königsberg gegangen, und hier
ſchaarte ſich um ihn die geſammte Oppoſition. Bei dem großen Feſtmahle
ſpielte man die Marſeillaiſe — was bei den liberalen Feierlichkeiten dieſer
Jahre ſchon ganz gewöhnlich war und den gedankenloſen Zuhörern kaum noch
auffiel.***) Ein Feſtgruß des jungen Dichters Wilhelm Jordan feierte
die Felſennacken der Männer Oſtpreußens und ſprach verächtlich von dem
weichlichen Berlin, wo Alles in tollem Veitstanz raſe, wenn Fanny Elsler
ihre Sylphenbeine ſchwinge:
Die Phraſe lag in der Luft, Alles überbot ſich in heroiſchem Pathos. Ein
junger Mann, aus dem nachmals ein trefflicher Gelehrter geworden iſt,
erwiderte auf Jacoby’s Frage: „Sie ſind Student?“ — feierlich: „Und
in des Worts verwegenſter Bedeutung“ — worauf er die erhabene Zu-
rechtweiſung erhielt: „Sagen Sie doch lieber: im Sinne der That.“ So-
gar der kluge Rechtsanwalt Crelinger, ein hagerer Herr mit großer Juden-
naſe, dem man den feinen, verwöhnten Gelehrten ſofort anſah, konnte
dem allgemeinen Rauſche nicht widerſtehen und redete ſo gewaltig von dem
Schwert an ſeiner Linken, daß ſeine Freunde ſelbſt ihn nicht ohne Lächeln
betrachten konnten.
Der König war empört über „die Blutlieder“ dieſes Feſtes. Wie
[206]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ward ihm aber, als ihm der Dichter noch aus Königsberg einen höchſt
unziemlichen Brief zuſendete. Herwegh beabſichtigte in der Schweiz eine
für Deutſchland beſtimmte Zeitſchrift herauszugeben; das Blatt wurde in
Preußen eben jetzt im Voraus verboten — was den Behörden geſetzlich
freiſtand, aber gleich nach jener Audienz ſich ſehr gehäſſig ausnahm —
und der Gekränkte richtete nun „ein Wort unter vier Augen“ an den
Monarchen, „ohne eine Devotion zu heucheln, die ich nicht kenne, oder
Gefühle, die ich nicht empfinde und nie empfinden werde“. Er klagte
die Diener der Fürſten an, deren „alterndem Bewußtſein“ ſein beſchränkter
Unterthanenverſtand, ſein Bewußtſein einer neuen Zeit auf ewig wider-
ſprechen müſſe; er betheuerte: „ich bin durch die Nothwendigkeit meiner
Natur Republikaner“, und drohte: „noch giebt es Menſchen, die durch nichts
zu ſchrecken ſind, und ich rechne mich zu ihnen.“ Die kindiſchen Groß-
ſprechereien verdienten keine Beachtung. Zu Weihnachten jedoch wurde der
den Königsberger Liberalen längſt mitgetheilte Brief in der Leipziger All-
gemeinen Zeitung abgedruckt, und alſo veröffentlicht erſchien er wie eine freche
Verhöhnung des Monarchen.
Am Berliner Hofe war nur eine Stimme der Entrüſtung. Man fand
es auch menſchlich niederträchtig, daß „ein Wort unter vier Augen“, nich
ohne die Mitſchuld ſeines Urhebers, verrathen wurde,*) und hielt für nöthig,
mindeſtens auf einige Zeit „einen Belagerungszuſtand“ über die Preſſe zu ver-
hängen. Zur Vorbereitung mußte die Literariſche Zeitung eine laute Wehklage
anſtimmen: die Wortführer der Freiheit haben in einem Jahre die deutſche
Preſſe um ihren hundertjährigen guten Ruf gebracht; durch Verkündigung
der vollen Preßfreiheit würde der Staat eine außer ſeinem Bereiche ſtehende
Macht anerkennen. Darauf wurde Herwegh aus Preußen ausgewieſen und
die Leipziger Allgemeine Zeitung verboten, weil ſie „eine Niederlage von Lügent
Entſtellungen und böswilligen Angriffen“ geworden ſei. In welche peinliche
Lage gerieth nun Graf Arnim-Boitzenburg. Er wünſchte dringend die
freiere Bewegung der Preſſe und war eben deshalb in den Rath der Krone
berufen worden; jetzt ſah er ſich doch genöthigt, als Miniſter des Innern
bei allen Zwangsmaßregeln voranzugehen, auf ſeinen Namen ſammelte
ſich der ganze Haß der Liberalen. Der König verlangte indeß noch weitere
Verbote.
Auf den Schutz der Gerichte glaubte er ſich nicht mehr verlaſſen zu
können; denn grade in dieſen Tagen (Jan. 1843) wurde Johann Jacoby,
der, einmal ſchon verurtheilt, ſeine Vier Fragen in zwei Rechtfertigungs-
ſchriften tapfer vertheidigt hatte, von dem Ober-Appellationsſenate des Kam-
mergerichts endgiltig freigeſprochen. Das Urtheil trug die Unterſchrift des
ehrwürdigen Präſidenten Grolman. In den ſehr ausführlichen Entſcheidungs-
[207]Unterdrückung der Oppoſitionspreſſe.
gründen äußerten ſich die Richter mit einer Unerſchrockenheit wie ſie dem
alten Ruhme dieſes Tribunals entſprach; ſie erklärten, mit der Ehrfurcht
vor dem Könige ſei freimüthiger Tadel der beſtehenden Einrichtungen wohl
vereinbar, und ſagten gradezu, einem Schriftſteller dürfe man nicht ver-
wehren, die Cenſur die ſchlimmſte Feindin der Preſſe zu nennen. Eine
Abſchrift dieſer Urtheilsgründe wurde dem Freigeſprochenen, gemäß den
Grundſätzen des geheimen Gerichtsverfahrens, nicht mitgetheilt, weil man
voraus wußte, daß er Alles ſofort veröffentlichen würde. Auch der König
verweigerte, trotz der dringenden Bitte Jacoby’s, die Erlaubniß dazu; ihm
war dieſe Freiſprechung rein unbegreiflich.
Um ſo nöthiger ſchien ihm alſo ein kräftiges Einſchreiten der Ver-
waltung. In den nämlichen Tagen wurden Ruge’s Deutſche Jahrbücher
unterdrückt — faſt gleichzeitig in Sachſen und in Preußen, nachher auch
noch durch den Bundestag — weil ſie den Liberalismus in Demokratis-
mus auflöſen, durch Herſtellung des abſoluten Staates zur Freiheit ge-
langen wollten. Nach einer ſtürmiſchen Verhandlung genehmigte der ſäch-
ſiſche Landtag dies Verbot. Gleich darauf erhielt die Rheiniſche Zeitung
den Befehl, daß ſie vom 1. April an nicht mehr erſcheinen dürfe, wegen
ihrer Zügelloſigkeit in Geſinnung und Ausdruck, ihrer ſubverſiven Richtung
gegen Staat und Kirche. Sie unterwarf ſich mit den bitteren Worten: „das
Unrecht, die falſche Baſis der Rheiniſchen Zeitung war die Begeiſterung für
das junge Licht, welches nach langem Dunkel die Gipfel der Berge zu röthen
begann; aber es war nur das prophetiſche Leuchten, nicht die Morgen-
röthe eines neuen Tages für Deutſchland.“ Im Februar 1843 wurde
dann auch noch die den Bildern gewährte Cenſurfreiheit zurückgenommen.
Das Jahr der bedingten Preßfreiheit ging zu Ende, die einflußreichſten
Organe des norddeutſchen Liberalismus waren alleſammt verſtummt.
Mit tiefem Unwillen nahm die Nation dieſe Verbote auf. An die unver-
brüchlich[e] Stille des alten Regiments hatte man ſich ſchließlich gewöhnt;
dieſe neue Regierung aber forderte das Volk beſtändig zu freimüthigem,
lautem Reden auf und verbot doch Alles was ihr nicht zuſagte. Wer
konnte das begreifen? Dazu der unausſtehliche ſchulmeiſternde Ton dieſer
Verbote, die den unterdrückten Zeitungen ſalbungsvoll ihr Sündenregiſter
vorhielten!
Und was am ſchlimmſten wirkte, der König ſelbſt konnte es nicht
laſſen, in jede Kleinigkeit des Zeitungstreibens belehrend einzugreifen.
Es zeigte ſich bald: die dicke Haut, die zum Ertragen der Freiheit gehört,
war dieſem feinen reizbaren Geiſte ganz verſagt. Immer wieder beklagte
er ſich gegen ſeine Miniſter über die Königsberger Schandzeitung und ihre
Hurenſchweſter am Rhein. Als ein oſtpreußiſcher Gutsbeſitzer Deutſch ſich
in Sachen des Elbinger Anzeigers beſchwerte, da hielt ihm der Monarch
in einem eigenhändigen Schreiben ſeine „ſchweren Irrthümer“ vor: „Gegen
Trugbilder zu Felde zu ziehen, welche von einer Partei mißbraucht werden
[208]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
um den unaufgeklärten Theil des Volks aufzuregen, iſt mein Amt zu
heilig und meine Liebe zur Wahrheit zu lebendig.“*) Noch härter wurde
Wilibald Alexis angelaſſen, als er ſich ſeiner unſchuldigen Voſſiſchen Zei-
tung gegen die Cenſur annahm. „Mit Widerwillen“, ſchrieb ihm der König,
„habe ich einen Mann von Ihrer Bildung und literariſchen Bekanntheit
in der Klaſſe derer gefunden, die es ſich zum Geſchäft machen, die Ver-
waltung des Landes durch hohle Beurtheilung ihres Thuns, durch unüber-
legte Verdächtigung ihres nicht von ihnen begriffenen Geiſtes vor der
großen meiſt urtheilsloſen Menge herabzuſetzen und dadurch ihren ſchweren
Beruf noch ſchwerer zu machen.“ Das Schreiben wurde bald bekannt,
und ſelbſt General Gerlach meinte traurig: den treuen, von den Liberalen
ſo oft ſervil geſcholtenen Dichter der Marken hätte man ſo nicht behan-
deln ſollen.
Der König betrachtete alle dieſe Verbote nur als Ausnahmemaßregeln
für den Augenblick und verſammelte mittlerweile ſeine Miniſter, auch Ra-
dowitz und Gerlach, häufig zu Berathungen über einen neuen Cenſur-
geſetz-Entwurf, den Graf Arnim ausgearbeitet hatte.**) Er hoffte dadurch
— ſo erklärte er fröhlich — die Freiheit der Zukunft zu verkündigen und
vorzubereiten. An geiſtreichen Einfällen ließ er es auch diesmal nicht fehlen.
So dachte er die Unterzeichnung aller politiſchen Artikel geſetzlich zu erzwingen;
man ſah jedoch bald ein, daß dieſer gute Gedanke um zwanzig Jahre zu ſpät
kam und die Anonymität ſich in der Preſſe ſchon unausrottbar eingebürgert
hatte.***) Desgleichen wollte er irgendwie öffentlich ausſprechen, daß ihm
begründete Mittheilungen der Preſſe über Beamtenwillkür immer willkommen
ſeien; da ſtellte ihm Thile vor: man dürfe das Publicum nicht gleichſam
zum Kampfe gegen das Beamtenthum herausfordern.†) Auch Metter-
nich, der ſchon lange die Bewegung in der preußiſchen Preſſe kummervoll
betrachtete, ſendete ſeine Rathſchläge durch die Geſandtſchaft.††) Er blieb
bei ſeiner alten Meinung, daß die moraliſche Gewalt der Preſſe nur durch
vorbeugende Mittel zu regeln ſei; denn — ſo ſchrieb er, den Wortſchatz
ſeiner Angſtſprache wieder um eine Metapher bereichernd — „iſt eine
Brut giftiger Inſekten einmal ausgeflogen, was nützt die Zerſtörung des
Neſtes? Optimiſten hoffen auf die Schwalben und Sperlinge; ich nicht.“ —
Da ſich ein Ende der Berathungen noch gar nicht abſehen ließ, ſo
wurden zunächſt einige vorläufige Anordnungen erlaſſen. Am 4. Febr. 1843
erhielten die Cenſoren, weil ſie die Befehle des Monarchen „gänzlich miß-
verſtanden“ hätten, eine neue, ſehr ſtrenge Inſtruktion; „was ich nicht
[209]Das Ober-Cenſurgericht.
will“, ſagte die Cabinetsordre, „iſt die Auflöſung der Wiſſenſchaft und Li-
teratur in Zeitungsſchreiberei, die Gleichſtellung beider in Würde und An-
ſprüchen.“ Zugleich einigte ſich der Miniſterrath nach lebhaften Kämpfen
auch über die vorläufige Organiſation der Cenſur-Behörden. Der König
ſelbſt befahl, daß bei dem Obercenſurgericht, wie in den Ländern des münd-
lichen Verfahrens, ein Staatsanwalt die Strafanträge ſtellen ſollte. Für
die Mitglieder dieſes Gerichtshofes forderten die juriſtiſchen Räthe der Krone
alleſammt geſicherte Selbſtändigkeit: Savigny verlangte ihre Anſtellung auf
Lebenszeit; Gerlach außerdem noch, daß ſie nur nach veröffentlichten Lan-
desgeſetzen urtheilen ſollten, darin liege „das Weſen und die Bedingung
aller Juſtiz“; Mühler endlich dachte ſich das Ober-Cenſurgericht als einen
durch zwei Gelehrte zu verſtärkenden Senat des Obertribunals, denn ſein
Zweck ſei die Preſſe vor der Willkür der Cenſoren zu ſchützen, und „was
man will muß man ganz wollen“.*) Schließlich wurden die Rechtsbe-
denken der Juriſten durch die polizeiliche Aengſtlichkeit doch überſtimmt;
die Mehrzahl der Miniſter beruhigte ſich bei dem Troſte, daß die neue
Einrichtung ja nur als ein Verſuch gemeint ſei. Die Verordnung vom
23. Febr. 1843 ſetzte für die Cenſurverwaltung Lokal- und Bezirkscenſoren
ein, unter der Leitung des Miniſters des Innern, und übertrug die Preß-
juſtiz einem Obercenſurgerichte, deſſen Mitglieder — ſieben Juriſten und zwei
Gelehrte — auf drei Jahre ernannt wurden und außer den Landesgeſetzen
auch die den Cenſoren ertheilten „ſpeciellen Anweiſungen befolgen“ ſollten.
Der beſte Gedanke der königlichen Reformpläne fiel alſo zu Boden.
Eine ſolche Behörde war kein unabhängiger Gerichtshof, ſie unterſchied
ſich nur wenig von dem alten Ober-Cenſurcollegium, und mit dem Frei-
muth des preußiſchen Richters erklärte Ludwig Gerlach ſofort: er ſehe ſich
außer Stande, das ihm angetragene Präſidium dieſes Cenſurgerichts zu
übernehmen.**) Statt ſeiner erhielt Staatsſekretär Bornemann den Vor-
ſitz, ein ausgezeichneter Juriſt von entſchieden liberaler Geſinnung; der
meinte traurig, man müſſe ſeinen ganzen Ruf dem Staatsintereſſe zum
Opfer bringen, und in der That ward er wegen ſeines verhaßten Amts
bald überall als Reaktionär verläſtert. Es war ein Kennzeichen dieſer
Regierung der Mißverſtändniſſe, daß unter ihr Niemand im rechten Lichte
erſchien. Am 30. Juni wurden dann noch einige Ergänzungen veröffent-
licht, die im Weſentlichen nur die alten Cenſurvorſchriften in etwas ver-
änderter Faſſung wiederholten. Mehr war für jetzt nicht zu erreichen.
Rathlos, ſteuerlos ſchwankte die Regierung zwiſchen freiſinnigen Wünſchen
und bureaukratiſcher Angſt.
Das neue Cenſurgericht bewährte ſich nicht. Derweil die Nation
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 14
[210]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ihren Abſcheu gegen alles Cenſurweſen täglich lauter bekundete, verbiß
ſich dieſe Behörde in einen Kampf wider das freie Wort; ihre Urtheile,
die anfangs glimpflich gelautet hatten, wurden allmählich, zumal ſeit
Bornemann wieder ausgeſchieden war, immer härter, ja ſie klangen
zuweilen ſo unſinnig, daß ſie den Vergleich mit den Thaten des Badeners
Uria wohl aushalten konnten. Bei dem liberalen Königsberger Buch-
händler Voigt erſchienen ſchon ſeit längerer Zeit heftweiſe, von der Cenſur
ungehindert, die „Materialien zur Regierungsgeſchichte Friedrich Wil-
helm’s IV.“, eine dem Hiſtoriker noch heute willkommene Tageschronik,
welche die Ereigniſſe der preußiſchen Zeitgeſchichte ohne jede Zwiſchenrede
aufzählte; nur an der Auswahl des Stoffs ſowie an einzelnen ironiſchen
Redewendungen konnte man errathen, daß der Sammler wohl dem Kreiſe
Schön’s und Jacoby’s angehören mochte. Gegen dies Buch beantragte
der Staatsanwalt beim Ober-Cenſurgerichte ein Debitsverbot (1845) und
bot damit dem Vertheidiger Anwalt Crelinger die heiß erſehnte Gelegen-
heit, eine Regierung, die ſich alſo vor der Erzählung ihrer eigenen Thaten
fürchtete, mit ſiegreichem Hohne zu bekämpfen. Trotzdem wurde das Ver-
bot ausgeſprochen, einfach wegen der „entſchieden hervortretenden feind-
ſeligen Tendenz“ der Schrift, und der Staat mußte dem Verleger, da
das Heft mit inländiſcher Cenſur gedruckt war, eine Entſchädigung zahlen.
Crelinger aber wurde zur Strafe in einen kleinen Ort verſetzt und nahm
ſeinen Abſchied.
Und wie fruchtlos blieb alle dieſe Härte und Willkür. Zwar die
Leipziger Allgemeine war gebändigt; ſie lebte nach einigen Monaten unter
dem Namen der Deutſchen Allgemeinen Zeitung wieder auf, und ihr neuer
Herausgeber, der als Cenſor wohlbekannte Profeſſor Bülau vermied ängſt-
lich jedes kecke Wort. Auch Arnold Ruge gewann das Anſehen, das er
durch ſeine Jahrbücher erlangt hatte, niemals wieder — weſentlich durch
ſeine eigene Schuld. Er ging nach Frankreich und vermaß ſich, „ein an-
deres Volk zu machen“, eine das Jahrhundert beherrſchende, eine welt-
gewinnende Literatur der Aufklärung zu erzeugen; auf die Männer der
ſtrengen Wiſſenſchaft, auf „die Bildung der Herren Tweſten, Trendelen-
burg und Ranke“ ſah er aus Himmelshöhen ebenſo verächtlich hernieder
wie auf den „reaktionären Idealismus“ Arndt’s und Jahn’s. Im Herzen
blieb der grundehrliche Polterer noch immer der Jüngling von Rügen,
wie ſeine Jugendfreunde ihn nannten; er war nicht eigentlich verbittert,
das erlaubte ſeine Gutmüthigkeit nicht, nur der Rauſch der abſoluten Kritik
trieb ihn zur dialektiſchen Vernichtung Alles deſſen was deutſchen Herzen
heilig iſt. Vor nicht gar langer Zeit war Börne in den alten Jahrbüchern
der ſchamloſe Therſites des deutſchen Volkes genannt worden; und jetzt
gründete Ruge in Paris die „Deutſch-franzöſiſchen Jahrbücher“, deren
Schmähreden jenen älteren Therſites faſt noch überboten. Da hieß es:
„Der deutſche Geiſt, ſoweit er zum Vorſchein kommt, iſt niederträchtig,
[211]Deutſch-franzöſiſche Jahrbücher. Brüggemann.
und ich trage kein Bedenken zu behaupten: wenn er nicht anders zum
Vorſchein kommt, ſo iſt dies lediglich die Schuld ſeiner niederträchtigen
Natur.“ Dieſe Läſterungen ſtanden freilich in einem fingirten Brief-
wechſel; ſie gaben aber ſo unzweifelhaft Ruge’s eigene Anſicht wieder,
daß ſein alter Freund Robert Prutz ſich als treuer Patriot gedrungen
fühlte warnend zu widerſprechen. „Wer iſt noch patriotiſch? Die Reak-
tion. Wer iſt es nicht mehr? Die Freiheit. Das wahre Vaterland
des Freiheit ſuchenden Menſchen iſt die Partei. Nur freie Männer haben
keine Religion —“ in dem Labyrinthe ſolcher ſeichten und frechen Kraft-
worte bewegte ſich Alles was Ruge in den nächſten Jahren ſchrieb.
Seine Deutſch-franzöſiſchen Jahrbücher geriethen alsbald in’s Stocken; von
dem erſten Hefte wurde faſt die ganze Auflage an der pfälziſchen Grenze
confiscirt, und manche der franzöſiſchen Radicalen, die ſich Ruge zu Mit-
arbeitern auserſehen hatte, entſetzten ſich über die gottloſen Doktrinen
des deutſchen Philoſophen, deſſen politiſche Unſchädlichkeit ſie nicht durch-
ſchauten. Auch in Deutſchland begann man, obſchon der politiſche Ra-
dicalismus beſtändig zunahm, der ſcholaſtiſchen Formeln der Junghege-
lianer müde zu werden. Nachdem die ſouveräne Kritik jeden möglichen
und unmöglichen Standpunkt überwunden hatte, wußte ſie der Nation
nichts mehr zu ſagen; das junge Geſchlecht aber verlangte nach praktiſcher
Freiheit, nicht nach Gedankenſpielen.
Die Rheiniſche Zeitung hingegen wurde bald durch die Kölniſche
erſetzt. Dies alte, durch die Inſerate der gewerbreichen weſtlichen Pro-
vinzen wohlgeſicherte Blatt war eine Zeit lang hinter der übermüthigen
jungen Nebenbuhlerin zurückgetreten und hob ſich jetzt wieder ſchnell, da
viele Mitarbeiter der unterdrückten Zeitung zu ihm übergingen. Der
Verleger Joſeph Dumont, ein kräftiger Altkölner voll reichsſtädtiſchen
Stolzes und preußiſcher Königstreue, machte plötzlich die Entdeckung, daß
die Regierung einen ſeiner Hauptredacteure, Dr. Hermes beſtochen hatte —
was in Preußen ganz unerhört und ſicherlich auch ohne Vorwiſſen des
Monarchen geſchehen war; er entließ den Mann ſofort und vertraute
ſeine Zeitung zuverläſſigeren Händen an. Etwas ſpäter übernahm der
Weſtphale K. H. Brüggemann die Leitung. Der hatte ſeine Hambacher
Feſtrede und die Schwärmerei ſeiner Studentenjahre auf der Feſtung
Poſen abgebüßt; aber unverbittert durch die lange Haft, ſchrieb er nach-
her (1843) das geiſtreiche Büchlein „Preußens Beruf in der deutſchen
Staatsentwicklung“, ein Programm der Wünſche, welche das liberale
Bürgerthum des Weſtens bewegten: er verlangte ſtändiſche Vertretung
ohne allgemeine Wahlen, Freiheit der Preſſe, des Handels, der Gewerbe,
Selbſtverwaltung der Gemeinden, Aufhebung aller Privilegien neben Aner-
kennung der ſtändiſchen Unterſchiede, und ſprach ſchon die beſtimmte Er-
wartung aus, daß Preußen an die Spitze der deutſchen Nation treten
würde. Wenn der Miniſter Bodelſchwingh für nöthig hielt, dieſen Ver-
14*
[212]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
treter des gemäßigten Liberalismus vor „ſubverſiv-communiſtiſchen Ten-
denzen“ zu warnen, ſo bewies er damit nur, wie völlig die Regierung
durch ihre Angſt verblendet war: ſie vermochte die grundverſchiedenen
Richtungen, die ſich augenblicklich in der Oppoſition zuſammenfanden,
gar nicht mehr zu unterſcheiden. Da Brüggemann ſich als erfahrener Pu-
bliciſt vor den Cenſoren ſelten eine Blöße gab, auch dem kirchenfeindlichen
Treiben der Junghegelianer fern blieb, ſo gewann die Kölniſche Zei-
tung ſtarken Anhang. Mit ihren 9000 Abonnenten oder mehr wuchs ſie
bald zu einem großen Blatte heran und wurde der Regierung grade
durch ihre ruhigere Haltung faſt noch läſtiger als vordem die Rheiniſche
Zeitung.
Für die Leipziger Allgemeine aber boten die demokratiſchen Buchhand-
lungen, die ſich überall dicht vor der deutſchen Südweſtgrenze aufthaten,
der Skandalſucht der Leſewelt reichlichen Erſatz. In Winterthur hatte
der Thüringer Julius Fröbel das Literariſche Comptoir gegründet, das
ſich zuerſt durch Herwegh’s Gedichte einen Namen erwarb. Mehrere
wirkliche oder vorgebliche Flüchtlinge halfen mit, eine Zeit lang auch einer
der Gebrüder Follen, der ſchöne Adolf, vormals von den Unbedingten
als deutſcher Kaiſer gefeiert. Ein ehrenhafter, aber durchaus doktrinärer
Demokrat, hielt Fröbel in den mannichfachen Wandlungen ſeiner poli-
tiſchen Anſichten viele Jahre hindurch nur einen Gedanken unverbrüchlich
feſt, den Haß gegen Preußen; er ſprach offen die Abſicht aus, durch ſeinen
wilden Verlag die Macht der Cenſur für immer zu untergraben. Zu-
gleich eröffnete Wirth, der Volksredner des Hambacher Feſtes, in Bellevue
bei Conſtanz die Druckerei der deutſchen Volkshalle; ähnliche Unterneh-
mungen entſtanden in Straßburg, Bern, Zürich.
Alſo aus ſicherer Ferne praſſelte ein Hagel radicaler Schriften über die
deutſche Grenze herein. Alle wurden begierig geleſen; manche erregten gro-
ßes Aufſehen, ſo eine aus Wahrheit und Dichtung gemiſchte Darſtellung des
Proceſſes Weidig, ſo zwei von Schmutz ſtarrende Bücher des jungen Schwaben
Joh. Scherr, das enthüllte Preußen und Württemberg i. J. 1844. Auch die
kleinen deutſchen Nachbarſtaaten mußten manche Schmähſchrift gegen Preu-
ßen ſtillſchweigend dulden, ſie hatten den Muth ſchon verloren und waren
froh, wenn ſie ſich ihrer eigenen Haut wehren konnten. Der Rheinländer
Karl Heinzen, der roheſte aller preußiſchen Demagogen, ließ ſeine unfläthigen
Bücher über die preußiſche Bureaukratie, die Oppoſition und wie ſie ſonſt
hießen, in Darmſtadt drucken oder bei dem radicalen Buchhändler Hoff in
Mannheim; nur wenn er offen Meuterei und Hochverrath predigte, wie in
den „dreißig Kriegsartikeln“ für das deutſche Heer, dann nannte er einen
beliebigen Druckort. Heinzen hatte nach einer abenteuerlichen Jugend als
ein Schiffbrüchiger ein Unterkommen im preußiſchen Subalterndienſte gefun-
den und dort zwar die Demüthigungen erfahren, die in ſolcher Lage keinem
gebildeten Manne erſpart bleiben, doch niemals ein Unrecht erlitten; gleich-
[213]Glanz des Hofes. Die Pickelhauben.
wohl meinte er ſich berechtigt, das preußiſche Beamtenthum wie eine Aus-
geburt der Hölle zu behandeln. Ein vielbelachtes Zerrbild ſtellte den
König dar, wie er die Zeitungen mit Füßen trat und dazu rief: ich liebe
eine geſinnungsvolle Oppoſition! Was wollte der preußiſche Hof gegen
alle dieſe Freibeuter ausrichten? Er fühlte ſich gänzlich waffenlos; auch
ſeine Cenſoren daheim konnten ſchließlich nicht mehr unterdrücken was in
der Luft lag. Der alte Preßzwang ward unhaltbar. Im Septbr. 1847
ſang ihm Miniſter Bodelſchwingh ſelbſt das Todtenlied und geſtand: „Die
Cenſur iſt altersſchwach, ſie hat ausgedient;“ es fragt ſich nur noch, wie ſie
zu erſetzen ſei.*)
Die neue Zeit, die ſo oft verkündigte, zeigte ſich einem Jeden
handgreiflich in der geſchmackvollen Pracht des neuen Hofes. Der König
liebte in reichen, vier- oder ſechsſpännigen Wagen daherzufahren; er gab
der Hofdienerſchaft ſchöne ſilberne, mit ſchwarzen Adlern geſtickte Kragen
an ihre Uniformen, den Pagen wieder die maleriſche rothe Tracht aus den
Zeiten Friedrich’s I., den Marſchällen der Landſtände Marſchallsſtäbe, den
Profeſſoren der Univerſitäten würdige Talare; die Ritter vom ſchwarzen
Adler ließ er im Capitel wieder die rothen Ordensmäntel anlegen und
die Richter des Rheinlandes wollte er nicht anders als in der feierlichen
Robe der franzöſiſchen Magiſtratur vor ſich ſehen. Das Alles war ihm
mehr als Form; er hielt ſich verpflichtet das Königthum von Gottes Gna-
den ſowie alle ſeine Diener wieder in ſtandesmäßigem Glanze auftreten
zu laſſen. Als ihm General Thile einmal vorſtellte, die Einfachheit der
preußiſchen Monarchen, namentlich Friedrich Wilhelm’s III. hätte allge-
meine Ehrfurcht erweckt, die neuen glänzenden Formen würden vom Volke
nicht verſtanden, ja vielleicht für theatraliſch gehalten werden, da dankte
er dem treuen Freunde für ſeine Offenheit und erklärte: „Dennoch können
offenbare Irrthümer mich in meinen Anſichten nicht wankend machen.
Gewiß iſt’s, daß viel, ſehr, ſehr viel Anſtand verloren gegangen iſt. Das
iſt, weit entfernt mich zu veranlaſſen ſo fortzufahren, die Urſach, warum
ich den Anſtand und als ſolchen Zeichen verliehener Würden wieder ein-
führe. Darum die Amtstracht des Magnificus und der Profeſſoren,
darum die Amtstracht der Richter, darum den Marſchällen Marſchalls-
ſtäbe. Bei der Landtags-Eröffnung werde ich mir, wie bei der Huldigung,
die Reichs-Inſignien vortragen laſſen. Suum cuique.“**)
Den breiten Maſſen dieſes kriegeriſchen Volkes kam der Wandel der
Zeiten erſt ganz zum Bewußtſein, als in den Jahren 1842 und 43 das Heer
[214]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
eine neue Kleidung erhielt: kleidſame Waffenröcke ſtatt der abgeſchmackten
Fräcke, Helme ſtatt der Tſchakos. Eine Fluth von Spötterei ergoß ſich über
die Pickelhauben, die mittelalterliche Erfindung königlicher Romantik. Sehr
bald begann man doch zu fühlen, daß Friedrich Wilhelm ſeinen Trup-
pen die zweckmäßigſte und ſchönſte Kleidung gegeben hatte, welche je ein
modernes Heer getragen; er hielt mit ſeinem feinen künſtleriſchen Ge-
ſchmacke glücklich die Mitte ein zwiſchen der Steifheit der altruſſiſchen und
der ſeiltänzeriſchen Buntheit der neufranzöſiſchen Uniformen, und in einem
glorreichen halben Jahrhundert iſt dieſe Kleidung der Nation ſo vertraut
geworden, als ob deutſche Krieger in anderer Tracht gar nicht auftreten
könnten.
Wie anders als unter dem alten Herrn erſchienen nunmehr die
Schlöſſer in Berlin und Potsdam, die ſich ſo lange nur zu großen Hof-
feſten geöffnet hatten; jetzt drängten ſich Maskenbälle, Concerte, lebende
Bilder, Theateraufführungen. Nicht ſelten bat ſich der Monarch auch ſelbſt
zu Gaſte im Palaſte des Fürſten Radziwill, dem Sammelplatze des katho-
liſchen Adels, oder bei dem Grafen Pourtalès, dem Grafen Redern, wo
zuweilen Jenny Lind und Franz Liſzt ſich hören ließen, oder bei der
ſchönen Herzogin von Sagan-Kurland, die in ihren reifen Jahren noch
einen ſo beſtrickenden Zauber auf Männerherzen ausübte, daß der viel-
bewunderte Fürſt Felix Lichnowsky ihr wie ein Schatten folgte. Das
diplomatiſche Corps zeichnete ſich aus durch eine große Zahl bedeutender
Männer; da war der Amerikaner Wheaton, der gelehrte Kenner des
Völkerrechts, der kluge hochgebildete Belgier Nothomb, und Lord Weſtmore-
land, ein glühender Bewunderer der deutſchen Muſik; ſelbſt die türkiſche
Geſandtſchaft beſaß an ihrem Sekretär Davoud Oghlu einen gediegenen
Gelehrten, der es in der deutſchen Rechtsgeſchichte mit den Deutſchen
ſelber aufnehmen konnte, und die Gattin des ſardiniſchen Geſandten,
des Grafen Roſſi, Henriette Sontag entzückte jetzt die Gäſte ihres Hauſes
wie vormals die Beſucher des Königſtädtiſchen Theaters, durch ihren herr-
lichen Geſang.
Ueber dieſe reich bewegte vornehme Geſellſchaft dachte Friedrich Wilhelm
das ganze Füllhorn deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft auszuſchütten. Er
verhehlte nicht, daß er ſeinen bairiſchen Schwager überbieten, Berlin zur
Hauptſtadt der nationalen Cultur erheben wollte, und der Wittelsbacher
klagte bald bitterlich, die Berliner entführten ihm jedes großes Talent.
Dem Preußen fehlten aber die zähe Ausdauer und die berechnende Umſicht,
welche den Baiern befähigten alle ſeine Unternehmungen zu Ende zu
führen, und während dieſer ſeine Künſtler nur ſelten durch ein Macht-
wort in ihrer Arbeit ſtörte, meinte jener ſelbſt ein Künſtler zu ſein, dem
freien Schaffen meiſternd die Bahnen weiſen zu können. Auf allen Ge-
bieten der Kunſt zugleich ſchienen dem Könige die edelſten Kräfte der Na-
tion zu Gebote zu ſtehen. Welch ein Viergeſpann! — ſchrieb Bunſen
[215]Die Potsdamer Gärten.
in ſchöner Freude — Schinkel, Cornelius, Rauch, Mendelsſohn! Da
trat das Unheil ein, das über den künſtleriſchen Charakter der neuen Re-
gierung von vornherein entſchied. Schinkel ſtarb, der einzige Mann, der
durch ſeine allſeitige Bildung, ſeine unerſchöpfliche Phantaſie, ſeinen weſent-
lich architektoniſchen Genius vielleicht vermocht hätte, dem verwandten
aber unſtät in’s Weite ſchweifenden Geiſte des Monarchen Halt und Rich-
tung zu geben. Unter den Baumeiſtern, mit denen ſich Friedrich Wil-
helm nunmehr begnügen mußte, waren viele treffliche Männer, doch kein
wahrhaft beherrſchender Kopf; und ſo wurde dieſem königlichen Mäcenas,
der ſo viel Geiſt und Geſchmack, ſo viel Arbeit und Opfer für das Schöne
aufwendete, doch das grauſame Schickſal, daß er nur an einer Stelle,
in Potsdam, Werke hinterließ, welche ſein eigenſtes Weſen der Nachwelt
getreu überliefern.
Lenné, der größte Gartenkünſtler des Jahrhunderts, der auf dem
Alten Zoll zu Bonn, im Hofgarten der kölniſchen Kurfürſten aufgewachſen,
ſchon unter dem alten Könige begonnen hatte den Berliner Thiergarten
und die Parks von Potsdam zu verſchönern, erhielt jetzt erſt freie Hand
für ſeine Entwürfe. Die moderne Technik bot die Mittel, um die präch-
tigen Waſſerkünſte endlich auszuführen, mit denen Friedrich der Große
immer vergeblich verſucht hatte ſein Sansſouci zu ſchmücken; und an
dem Potsdamer Perſius gewann ſich Friedrich Wilhelm einen Architekten,
der wohl vertraut mit der ſtillen Schönheit dieſer Havellandſchaften,
ſeine Bauten in den Rahmen der Wälder und der Wieſen, der Hügel
und der Seen ſinnig einzufügen wußte. Alſo, durch das Zuſammen-
wirken aller Künſte, ließ er hier vollenden und zu einem Ganzen abrunden
was ſeine Ahnen ſtückweiſe begonnen hatten. Die majeſtätiſche Kuppel
der Potsdamer Nikolaikirche gab dem Landſchaftsbilde ſeinen beherrſchenden
Mittelpunkt; am Fuße des Hügels von Sansſouci begann Perſius das
Lieblingswerk des Königs, die Friedenskirche, einen edlen Bau nach der
Weiſe der altitalieniſchen Baſiliken, der ſich mit ſeinen Säulenhöfen und
dem ragenden Campanile im ſtillen Weiher wiederſpiegelte, eine Heim-
ſtätte gläubigen Friedens neben der ſorgenloſen Weltlichkeit da droben.
Hier in den meilenweiten Parkgeländen war Raum genug für die vielſeitige
Phantaſie des königlichen Bauherrn, hier verlebte er in heller Künſtler-
freude ſeine beſten Stunden, und hier allein, unter den ſchlichten Leuten
der Haveldörfer iſt er auch in den unglücklichen Jahren ſeiner Regierung
immer volksbeliebt geblieben. Unabläſſig, bis zum Ende ſeiner geſunden
Tage, ließ er hier bauen und bilden: dicht am Ufer des blauen Stromes
die weihevolle kleine Heilandskirche; auf einſamer Waldhöhe das bairiſche
Häuschen für die Königin; in den Gebüſchen und Baumgängen marmorne
Exedren und leuchtende Statuen, unter denen auch Meiſter Lenné’s Herme
nicht fehlen durfte; auf dem Pfingſtberge die hohen Ausſichtsthürme, präch-
tige Propyläen einer Villenanlage, die, groß gedacht wie eines Dichters
[216]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Traum, durch die Stürme der Revolution unterbrochen wurde; endlich
in den letzten Jahren noch den reichen Palladio-Bau der Orangerie.
Es waren Werke von allerlei Stil, dem eklektiſchen Geſchmacke des Königs
entſprechend, und ſie hinterließen doch nicht den Eindruck ſtilloſer Bunt-
heit, weil ſie auf weiten Räumen vertheilt, zwiſchen den Bäumen einge-
rahmt ſtanden. Jeder Beſchauer mußte fühlen, daß ein reicher und
hoher Geiſt hier ſinnvoll waltete.
Für Berlin reichte eine ſolche, mehr ſchmückende und ſpielende als
ſchöpferiſche Kunſtthätigkeit nicht aus. Sollte der Kunſt der Hauptſtadt
die verheißene neue Blüthezeit erſcheinen, ſo mußten monumentale Bauten
von mächtiger Eigenart den Werken Schlüter’s und Schinkel’s gegenüber-
treten, welche den architektoniſchen Charakter Berlins bisher beſtimmt hatten,
und dieſer Aufgabe war weder der unruhige Geiſt Friedrich Wilhelm’s
ſelbſt gewachſen, noch das feine, geſchmackvolle, zierliche Talent des Thü-
ringers Stüler, der dem Monarchen fortan nach Perſius’ frühem Tode faſt
bei allen ſeinen Bauplänen zur Hand ging. Mit liebevollem Eifer und
meiſt auch mit glücklichem Erfolge bemühte ſich der König zunächſt, die
Bauwerke ſeiner Vorfahren zu vollenden und zu zieren. Dem Muſeum
gab er auf Dach und Treppe reichen Skulpturenſchmuck, wie den Treppen-
wangen des Schauſpielhauſes, die Säulenhalle davor wurde mit den Fres-
ken nach Schinkel’s Entwürfen geziert; über den Pfeilern der breiten
Schloßbrücke ließ er ſchöne Marmorgruppen lernender und kämpfender
Krieger aufrichten, unbekümmert um den proſaiſchen Spott ſeiner Berliner,
die ſich an dieſe nackten Puppen gar nicht gewöhnen wollten. An der neuen
Terraſſe vor dem Schloſſe prangten die vom Czaren Nikolaus geſchenkten
Roſſebändiger des Weſtphalen Clodt; auch ſie wurden von dem Witze der
Hauptſtädter als Bilder des gehemmten Fortſchritts und des geförderten
Rückſchritts verhöhnt, während ſich Rauch an der vollendeten Naturwahrheit
der beiden Roſſe kaum ſatt ſehen konnte. Das abgebrannte Opernhaus
Friedrich’s des Großen wurde ganz nach Knobelsdorff’s urſprünglichem
Plane, nur reicher und ſtattlicher wiederhergeſtellt; die ebenfalls eingeäſcherten
Mühlen über dem rauſchenden Wehr der Spree ſtanden in der Geſtalt
einer maleriſchen Ritterburg wieder auf. Dann erhielt auch die ſchwere
etwas eintönige Maſſe des Hohenzollernſchloſſes ſelbſt kräftigen Abſchluß
und deutliche Gliederung durch Stüler’s beſtes Werk, die gewaltige Schloß-
kuppel über dem römiſchen Triumphbogen.
Alle dieſe Zier- und Umbauten galten dem Könige nur als Beiwerk zu
der großen Umgeſtaltung, die er für die Mitte der Hauptſtadt beabſichtigte.
Er dachte die lange Spreeinſel hinter dem alten Muſeum in eine Weiheſtätte
der Künſte umzuwandeln, die durch Säulengänge von dem Treiben des All-
tags abgetrennt, eine ganze Reihe von Muſentempeln umſchließen ſollte, und
wie er allezeit liebte ſich in Plänen zu übernehmen, ſo ſchwelgte er jetzt in
immer neuen Entwürfen für die Ausführung dieſer entzückenden Idee. Was
[217]Neues Muſeum. Berliner Dom.
von Alledem ſchließlich zu Stande kam war doch nur ein Bruchtheil und
wenig erfreulich. In Schinkel’s altem und Stüler’s neuem Muſeum ſpiegelte
ſich der Charakter der Regierungen des dritten und des vierten Friedrich
Wilhelm treulich wieder. Dort einfache Würde, ruhige Hoheit; hier ein
anſpruchsvoller alexandriniſcher Prachtbau, der dem Auge nirgends ein
Geſammtbild darbot, im Innern eine unüberſehbare Fülle köſtlicher Samm-
lungen, die Räume trotz mannichfacher Einzelſchönheiten bunt, unruhig,
überladen, das Ganze mehr gelehrt als ſchön und in der Anlage ſo will-
kürlich, daß unſchuldige Beſchauer das rieſige Treppenhaus mit ſeinen
Wandgemälden und Gipskoloſſen nicht für ein dienendes Glied, ſondern
für den Mittelpunkt des Gebäudes halten mußten. Der neue General-
direktor, der ſtrengultramontane Weſtphale Ignaz v. Olfers war ein ge-
lehrter Kenner der kirchlichen Alterthümer und ſorgte unter des Königs
unmittelbarer Leitung eifrig für die Vermehrung der Sammlungen; für
die Kunſt der Lebenden zeigte er kein Verſtändniß. Noch trauriger
mißrieth das zweite große Bau-Unternehmen des Königs. Er faßte den
glücklichen Gedanken, an der Stelle des unſcheinbaren fridericianiſchen
Domes im Luſtgarten eine reiche Kathedrale zu errichten, das prächtigſte
Gotteshaus der feſtländiſchen Proteſtanten, zum würdigen Abſchluß des
ſchönen Straßenzuges vom Brandenburger Thore her; doch die Jahre
vergingen über Entwürfen und Gegenentwürfen, und zuletzt ward nichts
vollendet, als der koſtſpielige, in das Bett des Fluſſes hineingeſchobene
Unterbau der Chor-Abſchlüſſe, ſo daß die Berliner höhnten, hier wachſe
das theuerſte Gras von Europa.
Es war eine herbe Enttäuſchung; denn dieſer Dom ſollte die Krone
werden über den 300 Kirchen, welche der fromme Monarch in zwei Jahr-
zehnten theils wieder herſtellte theils neu baute. Aus dem Gemäuer der
römiſchen Baſilica zu Trier erhob ſich eine neue evangeliſche Kirche; der
karolingiſche Kuppelbau im Aachener Münſter erſtand wieder in ſeiner
alten Pracht; nahe ſeinem geliebten Erdmannsdorf, in dem Föhrenwalde
auf halber Höhe der Schneekoppe, ließ der König das uralte romaniſche
Holzkirchlein Wang aus Norwegen wieder aufrichten. Seine Neubauten
verleugneten nirgends den feinen Geſchmack des Bauherrn, indeß erſchienen
die meiſten nur wie leicht hingeworfene Zeichnungen eines geiſtreichen
Dilettanten, ohne Kraft und künſtleriſche Durchbildung; die dürftigen Bet-
ſäle im Inneren entſprachen dem zierlichen Aeußeren nur ſelten, während
Schinkel als guter Proteſtant ſich die evangeliſchen Gotteshäuſer immer
als Innenbauten gedacht hatte. Die eleganten kleinen Kirchen des neuen
Berlins verſchwanden faſt zwiſchen den hohen Häuſermaſſen, und eigentlich
nur Soller’s katholiſche Michaeliskirche erweckte den Eindruck eines bedeu-
tenden Architekturbildes, wie ſie ſo ſtattlich daſtand an dem breiten Hafen
des Engelbeckens, jenſeits des Waſſers der heitere Terracottenbau von
St. Thomas und die düſtere Kloſterburg des Diakoniſſenhauſes Bethanien.
[218]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Das Mißgeſchick des Dombaus wurde verhängnißvoll auch für die
Entwicklung der Berliner Malerei. Mit hellem Frohlocken folgte Peter
Cornelius, nachdem er mit ſeinem wittelsbachiſchen Gönner gebrochen
hatte, dem Rufe Friedrich Wilhelm’s; er war auserwählt, die monumentale
Malerei an der Spree einzubürgern, die Königsgruft der Hohenzollern,
den Campo Santo, der ſich neben dem Dome erheben ſollte, mit bibliſchen
Fresken auszuſchmücken. Hoch begeiſtert, wie der König ſelbſt, für ein
allgemeines evangeliſches Chriſtenthum, dachte er hier das chriſtliche Epos,
das er in der Münchener Ludwigskirche nur theilweis hatte vollenden können,
zum herrlichen Abſchluß zu bringen, den apokalyptiſchen Sagenkreis von den
letzten Dingen, die geheimnißvolle Welt, wo Irdiſches und Ewiges ſich be-
rühren, in grandioſen, jedes Chriſtenherz erſchütternden Bildern darzuſtellen.
Da ward ihm die Höllenpein, die furchtbarſte für einen ſchöpferiſchen Geiſt,
Jahr für Jahr nur planen und planen zu müſſen, denn die Wände, die
er ſchmücken ſollte, blieben unvollendet. Wie konnte es ihn tröſten, daß
ihm vor dem Brandenburger Thore, neben der lieblichen Villa ſeines
Freundes, des Grafen Athanaſius Raczynski ein würdiges Künſtlerheim
bereitet wurde? daß der König ihn mit Gnaden überſchüttete, bei allen
Prunkgeſchenken und Denkmünzen dieſer feſtluſtigen Jahre nach ſeinem
Griffel verlangte? Der jugendliche Schaffensdrang des Siebzigjährigen
lechzte nach dem Einen was ihm jetzt das Leben war. Und da nun wie-
der Jahre um Jahre in vergeblichem Harren dahingingen, ſo zeichnete er ſtill
entſagend an ſeinen rieſigen Cartons weiter, ohne Hoffnung, nur um der
Stimme des eigenen Genius zu gehorchen. Anfangs mit hohen Ehren
aufgenommen, lernte er bald den eigenthümlichen demokratiſchen Geiſt des
Berliner Lebens kennen, der im Grunde gar nichts gelten läßt und zwar
junge Talente heilſam ſtacheln, ſtolze, gereifte Naturen aber leicht ver-
ſtimmen kann. Auch die wohlweiſen Kritiker der Hauptſtadt fühlten ſchnell,
daß dieſer herriſche kleine Mann mit den ſtreng geſchloſſenen Lippen, den
ſtechenden dunklen Augen unter der ſchwarzen Perrücke nicht ihres gleichen
war, und ſie rächten ſich nach ihrer Weiſe durch hämiſche Angriffe.
Unter allen den mannichfachen Geſtalten menſchlicher Beſchränktheit
erſcheint keine gedankenreichen Köpfen ſo unleidlich wie die Dummheit, die
Alles am beſten weiß; und da dieſe Form der Dummheit in Berlin vor-
herrſchte, ſo wurde die ungemüthliche Stadt dem großen Künſter verleidet.
Hier fand er weder die ſchönheitsfrohe Welt ſeines geliebten Roms, noch
die fröhliche Zecherluſt der Münchener Kumpanei. Angeekelt durch die
Berliner Aufklärung kehrte er im Alter zurück zu ſtrengkatholiſchen An-
ſchauungen, die er in früheren Tagen überwunden hatte. Unterdeſſen be-
gann die Geſchichte über ihn hinwegzuſchreiten; die verwandelte Zeit ver-
langte mit Recht von den Malern Farbenglanz und Naturwahrheit. Cor-
nelius ſelbſt mußte bezweifeln, ob ſich unter dem jungen Geſchlechte noch
Künſtler fänden, die ſeine Cartons je ausführen könnten oder wollten. Alſo
[219]Cornelius. Berliner Muſik.
beſchied ihm ein hartes Schickſal, bei voller Schaffenskraft den eigenen
Ruhm zu überleben, und dieſe Berliner Jahre, die ihm den Lohn für
ein reiches Künſtlerwirken hatten bringen ſollen, geſtalteten ſich zu einer
tragiſchen Leidenszeit.
Ebenſo wenig konnte Felix Mendesſohn-Bartholdy, der alsbald vom
Könige glänzende Anträge erhielt, ſich an der Spree wieder heimiſch fühlen.
Er hatte ſich ſchon vor Jahren der Vaterſtadt entfremdet, weil ſie ihm die
Direktion der Singakademie nicht anvertrauen wollte, und ſeitdem, durch
die geniale Leitung der Gewandhausconcerte, Leipzig zum Mittelpunkte
des idealen deutſchen Muſiklebens erhoben. Zweifelnd, ungern kehrte er
heim; die dankbare, harmlos empfängliche Hörerſchaft, die ihm in Sachſen
und auf den rheiniſchen Muſikfeſten zugejauchzt hatte, konnte er in der
Stadt der kritiſchen Ueberbildung nicht wiederfinden. Nach ſeinem guten
Rechte verlangte er ein Orcheſter und einen Chor, die ſich ſeiner Herr-
ſchaft fügen ſollten; gleichwohl ward ihm kein beſtimmter Wirkungskreis
angewieſen, da der König zunächſt nur, planlos und ungeduldig, große
Namen für Berlin gewinnen wollte; und ſo gerieth der Vielgeliebte und
Vielverwöhnte, den man überall ſonſt auf den Händen trug, bald in
widerwärtige Händel mit der Amts-Eiferſucht der königlichen Muſikbehör-
den. Schon nach drei Jahren zog er ſich verſtimmt wieder in ſeine fried-
lichere Leipziger Thätigkeit zurück.
Mittlerweile war Spontini dem Volkshaſſe erlegen, der ſich ſeit Jahren
gegen den herriſchen Fremdling angeſammelt hatte. Eine leidenſchaftliche
öffentliche Antwort auf die Angriffe Rellſtab’s und anderer Kritiker bewirkte,
daß er wegen Majeſtätsbeleidigung verfolgt wurde. Der gütige Monarch
ſchlug die Unterſuchung nieder, weil er fühlte, daß der heißblütige, des
Deutſchen kaum mächtige Italiener den Sinn ſeiner Worte nicht recht erwogen
hatte; der Groll des Publicums ließ ſich aber jetzt nicht mehr bändigen. Ein
pöbelhafter Theaterſcandal verjagte Spontini von dem Pulte, auf dem er ſo
lange als unumſchränkter Herrſcher gethront hatte. An ſeine Stelle wurde Gia-
como Meyerbeer berufen. Dem Könige war es eine frohe Genugthuung, die
großen Muſiker, die Berlin unter ſeinen Söhnen beſaß, beide zugleich an
ſeinem Hofe zu ſehen; er bedachte nur nicht, daß dieſe beiden grundverſchiedenen
Naturen, die ſich grade durch das Bewußtſein der gemeinſamen Abſtam-
mung von einander abgeſtoßen fühlten, unmöglich zuſammenwirken konnten.
Meyerbeer leitete eine Zeit lang die Oper mit großem Erfolge, er ver-
herrlichte alle Hoffeſte durch prächtige Märſche und Tänze, und da er auf
ſeine Weiſe immer ein ſtolzer Preuße blieb, ſo componirte er zur Wiederer-
öffnung des eingeäſcherten Opernhauſes das Feldlager in Schleſien, die
einzige nationale ſeiner Opern, ein Werk voll Feuer und Leben, in dem
die kriegeriſche Begeiſterung des fridericianiſchen Zeitalters kräftig wieder-
hallte. In der Stadt kannte alle Welt den freundlichen kleinen Mann,
der an jedem Mittag mit ſeinem rothen Regenſchirm im Thiergarten ſpa-
[220]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
zieren ging. Auf die Dauer ward ihm doch nicht wohl. Wie Mendels-
ſohn’s keuſcher Künſtlerſinn ſich nach der friedlichen Stille einer deutſchen
Mittelſtadt zurückſehnte, ſo ſtrebte dieſer Virtuos des rauſchenden Erfolges
hinaus nach der großen Bühne der internationalen Kunſt, die für ihn die
natürliche Heimath war. Nach einigen Jahren ſchied auch er, um fortan
wieder in Paris zu leben und die Vaterſtadt nur alljährlich auf kurze
Zeit zu beſuchen.
Seltſames Mißgeſchick! Von dem glänzenden Viergeſpann, das
Bunſen vor den Wagen des königlichen Kunſtfreundes zu ſpannen hoffte,
konnte nur Einer im neuen Berlin ſeine ganze Stärke zeigen: Chriſtian
Rauch. Ihm blieb bis in’s hohe Alter der ſtätig anhaltende Athemzug
künſtleriſcher Kraft und nicht minder die treue Hingebung an das könig-
liche Haus. Er arbeitete alle dieſe Jahre hindurch an dem Rieſenwerke
des Friedrichsdenkmals. Doch ein ſolches Unternehmen bedurfte langer
Zeit; die Berliner bekamen von dem Altmeiſter lange nichts Neues mehr
zu ſehen außer dem ſchönen Grabmale des alten Königs, das neben dem
Sarkophage der Königin Luiſe im Charlottenburger Mauſoleum errichtet
wurde. Was hatte man nicht Alles erwartet von dieſem hochſinnigen
Fürſten, der, ſelbſt ein Künſtler, mit dem berühmteſten Kunſtkenner der
Zeit, dem Freiherrn v. Rumohr nahe befreundet war. Nun ließ ſich
doch nicht mehr verkennen, daß in dieſen acht Jahren von bleibenden
Kunſtwerken weniger zu Stande kam als weiland unter dem nüchternen
alten Herrn. Die krankhaft aufgeregte Tadelſucht ſpottete, dieſe Regierung
ſei auch darum echt modern, weil ihren großen Intentionen die verkümmerte
Ausführung niemals entſpräche.
Wie die beiden erſten Muſiker ſo wünſchte Friedrich Wilhelm auch
den namhafteſten Dichter unter den lebenden Berlinern in die Vaterſtadt
zurückzurufen. Ludwig Tieck kam, und der König zeigte ſich ſehr herzlich,
eingedenk der Wonnen, die ihm einſt in ſeiner Jugend die Märchenpracht
des Phantaſus bereitet hatte. Der Dichter erhielt ſeine verkaufte Biblio-
thek durch des Königs Freigebigkeit zurückgeſchenkt und im Parke von
Sansſouci ein Haus angewieſen, damit er immer zur Hand wäre, wenn
ſein Gönner an einem ſtimmungsvollen Abend eine dramatiſche Vorleſung
zu hören wünſchte. Aber ſeine ſchöpferiſche Kraft war ſchon verſiegt; die
neue Zeit mit ihrem Lärm widerte den Romantiker ſo tief an, daß er nicht
einmal die Eiſenbahn nach Potsdam benutzen mochte, ſondern in ſeinem
Wagen daneben herfuhr. Vom Alter gebeugt verbrachte er den größten
Theil dieſer Berliner Jahre in hoffnungsloſem Siechthum. Die Vor-
leſungen bei Hofe wurden ſeltener und ſeltener, da der König nicht lange
bei der Stange bleiben konnte. Selbſt eine ſtille Gemeinde, wie ſie in
Dresden das Leſepult des Altmeiſters umſtanden hatte, ließ ſich in dem
unruhigen, zerſtreuenden Treiben der Hauptſtadt nicht zuſammenbringen;
blos vereinzelte Beſucher, treue Hausfreunde oder dann und wann ein
[221]Tieck und Rückert.
junger Poet, freuten ſich an ſeinem ſeelenvollen Geſpräche und dem wunder-
baren Blicke der dunklen Dichteraugen.
Nur für dramaturgiſche Aufgaben nahm man ſeine Kraft noch mehrmals
in Anſpruch. Er richtete die Antigone des Sophokles für die Bühne ein,
Mendelsſohn ſetzte die erhabenen Chorgeſänge in Muſik, die Aufführung ge-
lang über alle Erwartung, und in ſeiner dankbaren Freude ließ der König eine
prächtige Medaille prägen, welche die Antigone mit der Urne und dazu über
griechiſchen Verſen die Bilder ihrer beiden Wiedererwecker zeigte. Auch Shake-
ſpeare’s Sommernachtstraum erweckte, wie ihn die Beiden dem modernen
Theater angepaßt hatten, allgemeinen Beifall. Als aber der König auch noch
den Oedipus auf Kolonos, dann ſogar, gegen Tieck’s eigenen Wunſch, den
Geſtiefelten Kater und den Blaubart aufführen ließ, da zeigte die ablehnende
Haltung der Hörer, daß die Bühne ſich zu gelehrten oder phantaſtiſchen
Experimenten nicht hergeben darf. Vollends Racine’s Athalie, dies ein-
tönige Stück, deſſen ſalbungsvolles Pathos den Deutſchen meiſt ſchon auf
der Schulbank verleidet wird, brachte die Berliner faſt zur Wuth; ſie
witterten jetzt überall pfäffiſche Anſchläge und riefen in Gegenwart des
Hofes ungebärdig: wir wollen keine Predigten. Ein ſo genügſamer ſtand-
hafter Theaterbeſucher wie ſein Vater konnte Friedrich Wilhelm, der ſelbſt
ſchon ſo viel gedacht und empfunden hatte, niemals werden, denn ideen-
reichen Köpfen fällt das Hören immer ſchwerer als das Sehen; nur von
Zeit zu Zeit reizte ihn das Außerordentliche, Seltſame, Fremdartige. Er
ſprach oft enthuſiaſtiſch von der Verjüngung des deutſchen Theaters, je-
doch die aufſtrebenden dramatiſchen Talente, an denen die Zeit nicht arm
war, ließen ihn kalt, weil ſie alleſammt zur Oppoſition gehörten. Alſo
brachte ſeine Regierung auch der Bühne kein friſches Leben. Der neue
aus München berufene Theaterdirektor v. Küſtner waltete ſeines Amts
mit Kraft und Eifer, er zeigte ſich auch nicht unfreundlich gegen die jungen
Poeten; die Herrſcherin im königlichen Schauſpielhauſe blieb doch nach
wie vor die gute Charlotte Birch-Pfeiffer.
Am allerwenigſten war Friedrich Rückert der Mann um die Pläne
einer Theaterreform, mit denen der König ſpielte, in’s Leben einzuführen.
Er warf ſich, ſeit auch er nach Berlin berufen worden, mit jugendlichem
Eifer auf dramatiſche Arbeiten, doch ſie konnten ſeinem lyriſchen Genius
nicht gelingen; eine Thätigkeit, die ihn dem Bühnenleben näher gebracht
hätte, ward ihm gar nicht angewieſen. So wurden ihm dieſe Berliner
Jahre die traurigſten und die unfruchtbarſten ſeines Lebens. „Der in-
diſche Bramane, geboren auf der Flur“ fand den Hof und die vornehme
Geſellſchaft ebenſo ungenießbar wie den Lärm der Großſtadt und ihre
reizloſe Gegend; die Handvoll Zuhörer, die ſich in der beſcheidenen Wohnung
auf der Behrenſtraße zu den orientaliſtiſchen Collegien des Dichters ein-
fand, bot ihm auch keinen Troſt, und er dankte Gott als er nach einigen
Jahren heimkehren durfte in’s fränkiſche Hügelland, um wieder in länd-
[222]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
licher Stille zu bilden und zu dichten. Eine beſondere Vorliebe hegte
der König für den Schleſier Auguſt Kopiſch, den fröhlichen Wanderer und
Schwimmer, der einſt die blaue Grotte von Capri entdeckt, auch dem Kron-
prinzen in Neapel als Cicerone gedient und, halb Maler halb Poet, das
geheimnißvolle Treiben der Kobolde und Heinzelmännchen, die glückſelige
Dummheit der deutſchen Krähwinkelei, die Luſt des Bechers und der Liebe
in manchem ſchalkhaft anmuthigen Gedichte beſungen hatte. Der wurde
jetzt im Hausminiſterium untergebracht und ſchrieb, läſſig nach Künſtler-
weiſe, viele Jahre lang ein Buch über die Potsdamer Schlöſſer.
Noch ſchlimmer fuhr der König mit dem jungen Ferdinand Freiligrath,
der den Monarchen durch die funkelnde Pracht ſeiner Sprache bezaubert
hatte und ein kleines Jahrgehalt angewieſen erhielt. Vor Kurzem erſt
war Freiligrath den politiſchen Poeten entgegengetreten mit der ſchönen
Mahnung:
worauf ihm Herwegh dreiſt erwiderte:
Die Preſſe war aber bereits gewohnt, Jeden der am preußiſchen Hofe aus-
gezeichnet wurde, als einen Volksverräther zu brandmarken. Von allen
Seiten wurde der „penſionärriſche“ Poet mit gereimten und ungereimten
Schmähungen beworfen; überall ſang man die höhniſchen Verſe Hoff-
mann’s v. Fallersleben: „wollte mir ein König geben Penſion!“ Dieſer
albernen Entrüſtung vermochte der erregbare Dichter nicht Trotz zu
bieten; war er doch ſelbſt, obwohl ein ganz unpolitiſcher Kopf, doch
nach Anlage und Bildungsgang ein radicaler Schwarmgeiſt. Nach zwei
Jahren ſchon fühlte er ſich gedrungen die Annahme des Jahrgelds zu
verweigern, und fortan ſang er ſelbſt Zeitgedichte im Geiſte der wildeſten
Oppoſition. Seltſam doch, wie unſicher und ſchwächlich die allſeitige
Empfänglichkeit des Königs ſich oft zeigte. Die ſentimentale Novelle
Godwie Caſtle der ehrbaren Frau Henriette Paalzow fand bei Hofe
unbegrenzte Bewunderung; auch der orthodoxe Paſtor Wilhelm Meinhold
erfreute ſich der königlichen Gnade, ein abgeſagter Feind der modernen
„Vieh-Philoſophie“, der in einem manierirten, alterthümelnden Romane
„die Bernſteinhexe“ einen ſcheußlichen Stoff aus der Zeit der Hexenver-
brennungen nicht ohne realiſtiſches Talent, aber roh und fanatiſch dar-
geſtellt hatte. Ungetrübte Freude wurde dem Könige, bei Allem was er
hochherzig zur Förderung der deutſchen Poeſie unternahm, eigentlich nur
einmal: als er die edle Begabung Emanuel Geibel’s erkannte und dem
Dankbaren durch gütige Unterſtützung über einige bedrängte Jugendjahre
hinweghalf.
Ein Muſenhof nach dem Vorbilde Rheinsbergs oder Weimars, wie
[223]Berliner Geſellſchaft.
ihn der König ſich zuweilen erträumte, konnte unter ſolchen Umſtänden nicht
entſtehen. An Talent und Bildung war kein Mangel. Auf der Cantian-
ſtraße nahe den Muſeen, in dem berühmten braunen Saale des General-
direktors v. Olfers verſammelte ſich allwöchentlich ein dichter Kreis von
Künſtlern, Gelehrten, Kennern, liebenswürdigen Frauen; die Hausfrau,
Stägemann’s Tochter Hedwig, brachte Jedem ein freies menſchliches Ver-
ſtändniß entgegen und erweckte in der Geſellſchaft eine Stimmung fröhlichen
Behagens; ſie wußte, wie ihre Töchter und der gelehrte Schwiegerſohn
Geh. Rath Abeken, alle die Feindſchaft, die unter ſo vielen bedeutenden
Männern nicht fehlen konnte, durch leichte Anmuth niederzuhalten. In
den unſcheinbaren Salons des greiſen Fräuleins Solmar fanden ſich noch
die letzten Vertreter einer älteren, bereits verſinkenden literariſchen Epoche
zuſammen. Und ſo gab es noch überall in der Hauptſtadt einfache gaſt-
liche Häuſer, wo bei Butterbrod und Thee eine geiſtreiche, oft allzu geiſt-
reiche Geſelligkeit blühte; die jungen Rheinländer erfreuten ſich meiſt der
beſonderen Gunſt der Berliner Damen, weil ſie als friſche Naturburſchen
von den klugen Norddeutſchen wohlthätig abſtachen. Aber all dies reiche
Leben bewegte ſich ganz ſelbſtändig, ohne jede Fühlung mit dem Hofe.
Keiner der berühmten Neuberufenen trat dem Monarchen wirklich
nahe; er ſprach mit ihnen gelegentlich, immer gütig und geiſtvoll, doch
ſein zerſtreuter, unruhiger Sinn mochte nicht lange bei den Einzelnen ver-
weilen. Bequemer als dieſe Größen war ihm eigentlich der vielbeleſene
Salon-Hiſtoriker Alfred v. Reumont, ein ultramontaner Diplomat, der,
trotz ſeiner ſpaßhaften Häßlichkeit immer elegant und zierlich, allerhand
literariſche Leckerbiſſen nicht ohne Gewandtheit aufzutragen wußte. Auch
wurde die Zeit doch zu ernſt für eine poetiſch-philoſophiſche Tafelrunde:
Friedrich war im Innern ſeines Staates der unangefochtene Herr geweſen,
den Nachfolger bedrohten ſchwere politiſche und kirchliche Kämpfe, die ihm
die unbefangene Freude an der Welt der Ideale ſtörten.
Schon längſt empfand er es als einen Widerſpruch im deutſchen
Leben, daß die Künſtler und Gelehrten in keiner anderen Nation eine
ſo beſcheidene ſociale Stellung einnahmen wie in dem Volke der Dichter
und der Denker. Er wußte wohl, wie wenig alle äußeren Auszeichnungen
das ideale Schaffen ſelbſt fördern; doch er hielt ſie, wie ſein Humboldt,
für unentbehrlich um das banauſiſche Publikum auf die Würde der geiſtigen
Arbeit hinzuweiſen—zumal in dieſem eiteln Jahrhundert, das, trotz ſeiner
Freiheitsreden, nach Rang und Titeln ſo begehrlich trachtet wie kein
anderes Zeitalter ſeit dem Untergange des Byzantinerreichs. Selbſt die
Radicalen fühlten ſich beſchämt, und Hoffmann von Fallersleben ſang
ein biſſiges Lied auf „Deutſchlands Schmach und Schande“, als der
bejahrte Jakob Grimm in dieſen Tagen ſeinen erſten Orden erhielt —
und dieſer Orden war das Kreuz der Ehrenlegion, das Guizot dem von
allen deutſchen Fürſten Vergeſſenen überſandte um im Namen des
[224]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Königs der Franzoſen deutſche Wiſſenſchaft zu ehren. Das ſollte anders
werden. Friedrich Wilhelm beſchloß, dem einzigen preußiſchen Orden,
der noch nicht durch Verſchwendung an Werth verloren hatte, dem fri-
dericianiſchen Kriegsorden pour le mérite eine Friedensklaſſe hinzuzu-
fügen, welche nur für dreißig hervorragende Gelehrte und Künſtler als
ſtimmfähige Ritter deutſcher Nation beſtimmt war, dazu noch für dreißig
ausländiſche Ritter ohne Stimmrecht. Nach Todesfällen ſollte der Orden
künftighin, damit ſein Anſehen ungeſchmälert bliebe, nur auf Vorſchlag
der Ritter ſelbſt verliehen werden. Offenbar ſchwebte dem Könige der
Gedanke vor, die Sympoſien von Sansſouci in idealer Form zu erneuern.
Humboldt, der natürlich zum Kanzler des Ordens ernannt wurde, fühlte
ſich ſo recht in ſeinem Element, als er dem Monarchen bei den erſten
Ernennungen Rathſchläge ertheilen durfte; und in der That fiel die Wahl
durchweg auf ausgezeichnete Männer. Einige Noth bereitete der greiſe Bild-
hauer Gottfried Schadow; der erklärte eigenſinnig: ich nehme den Orden
nur an, wenn mein Wilhelm — der Direktor der Düſſeldorfer Akademie
— ihn auch erhält. Da ſagte ihm der König in ſeiner unerſchöpflichen Gut-
herzigkeit zu, Wilhelm ſolle dereinſt in des Vaters Stelle eintreten und
verfügte eigenhändig: „Bei Papa Schadow muß der Sohn als erbberech-
tigt angeführt werden. Der Sohn kann aber die Dekoration tragen,
ohne Stimmrecht.“*)
Unter den dreißig Rittern war nur ein gänzlich unwürdiger: Metter-
nich. Der hatte zwar vor Jahren dem jungen Leopold Ranke die ver-
ſchloſſenen Wiener Archive geöffnet, doch ſonſt niemals etwas Nennens-
werthes für Deutſchlands Kunſt und Wiſſenſchaft gethan, ſondern das
geiſtige Leben der Nation durch die Karlsbader Beſchlüſſe nach Kräften ge-
ſchädigt. Und grade ihn betrachtete ſein königlicher Bewunderer als eine
hohe Zierde der neuen Stiftung;**) er theilte ihm die Verleihung mit, in
einem gemüthlich witzelnden Briefe, als ob Metternich durch ſeinen Bei-
tritt den anderen Rittern eine große Gunſt erwieſe, und bat ihn ſogar
den Orden zwar anzunehmen, doch niemals zu tragen, weil neben dem
Goldnen Vließe dafür kein Platz bleibe. Das war der Ton nicht, in
dem ein König von Preußen einem ausländiſchen Unterthan eine ſeltene,
ganz unverdiente Ehre ankündigen durfte. Friedrich Wilhelm ließ ſich’s
nicht träumen, daß man in Wien noch keineswegs gemeint war, den preu-
ßiſchen Staat als eine ebenbürtige Macht anzuſehen, und ahnte kaum, wie
ſeine herzliche Vertraulichkeit auf den hochmüthigen k. k. Staatskanzler
wirken mußte, der natürlich eine gewandte, hofmänniſche Antwort gab.
Im folgenden Jahre feierte der König den Jahrestag des Verduner
Vertrags, „das tauſendjährige Jubiläum von Deutſchland“, wie er es
[225]Pour le mérite. Wiſſenſchaftliche Unternehmungen.
nannte,*) durch die Stiftung eines Preiſes für Werke aus der vaterlän-
diſchen Geſchichte. Die Feſtlichkeiten, die er ſonſt noch für dieſen Tag
anbefahl, beſchränkten ſich auf die Kirchen und Schulen; nur der Alt-
teutſche Maßmann veranſtaltete ein lärmendes Turnfeſt in der Haſenheide.
Das Volk nahm wenig Antheil, denn was die Deutſchen an Feſtluſt be-
ſaßen, war in den Kölniſchen Jubeltagen draufgegangen. Die radicale
Jugend fand den Rückblick auf dies Jahrtauſend deutſcher Geſchichte wenig
erfreulich, und ſelbſt ein reifer Mann wie Kühne nannte das Feſt „einen
recht dummen Streich“. Unter dieſer verbitterten Stimmung mußte auch
der Ansbacher Bildhauer Ernſt von Bandel leiden, ein ſtürmiſcher Teutone
aus Maßmann’s Freundeskreiſen, der ſchon im Jahre 1838 den Plan ge-
faßt hatte, auf der Grotenburg im Teutoburger Walde, inmitten der weſt-
phäliſchen Gebirge, dem Cherusker Herman ein rieſiges Denkmal zu er-
richten. Er dachte dabei an den ewigen Kampf der Germanen wider
die wälſche, insbeſondere die franzöſiſche Tücke, und merkte nicht, daß er
alſo den Franzoſen einen neuen Vorwand gab, ſich ſelber für Cultur-
bringer, uns für Barbaren zu erklären. Unter ſchweren Opfern, mit
einer wunderbaren Ausdauer, der ſeine künſtleriſche Begabung leider nicht
von ferne gleich kam, lebte der begeiſterte Patriot fortan dieſem einen Ge-
danken; denn immer wenn eine Nation ſich auf ſich ſelbſt beſinnt, wendet
ſie ihre andächtigen Blicke der fernſten Vorzeit zu. Um dieſelbe Zeit, viel-
leicht angeregt durch Bandel’s Werk, ſchlug der Dichter Niccolini den Ita-
lienern vor, auf dem Gipfel des Mont Cenis ein Bild des Marius auf-
zubauen, mit drohend gen Norden gerichtetem Schwerte, und darunter die
Inſchrift: Zurück ihr Barbaren! Das Unternehmen des tapferen Franken
fand anfangs lebhaften Anklang und wurde auch durch reiche Spenden
König Friedrich Wilhelm’s gefördert; jetzt aber erkaltete der Eifer, die un-
geduldige Jugend wollte Thaten ſehen, und wirklich iſt das Werk erſt nach
drei Jahrzehnten vollendet worden, als Deutſchland auf große neue Siege
zurückſchauen konnte.
Jener hiſtoriſche Preis war nur ein Glied aus einer langen Kette
königlicher Geſchenke an die Wiſſenſchaft. Durch die Freigebigkeit der Krone
erhielt Richard Lepſius die Mittel für die große vierjährige orientaliſche Reiſe,
die der Aegyptologie erſt einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden ſchaffen ſollte.
Ebenſo wurde Karl Ritter bei ſeinen Reiſen unterſtützt; ihn liebte der König
zärtlich, denn eine ſo wunderbare Verbindung von frommer Einfalt und
tiefer Gelehrſamkeit fand ſich in der modernen Welt nur ſelten. Die Akade-
mie der Wiſſenſchaften wurde beauftragt die ſämmtlichen Werke König Fried-
rich’s herauszugeben, obgleich die gottſeligen Fanatiker mindeſtens die Ge-
dichte und die philoſophiſchen Schriften des großen Freigeiſtes von der
Veröffentlichung ausſchließen wollten; zugleich begann Freiherr von Stillfried
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 15
[226]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
die Urkundenſammlung zur älteſten Geſchichte des königlichen Hauſes, die
Monumenta Zollerana. Für Dove’s geniale Forſchungen wurde das
meteorologiſche Inſtitut eingerichtet, das bald in ganz Norddeutſchland
ſeine Beobachtungsſtationen anlegte. An die Spitze der Berliner Bibliothek
kam Pertz, der Herausgeber der Monumenta Germaniae, der damals
auf der Höhe ſeines Wirkens ſtand.
Den Univerſitäten Berlin und Königsberg bewilligte der König ſo-
gleich ein beträchtlich erhöhtes Einkommen; auch das arg vernachläſſigte
alte Greifswald ſollte gehoben werden. Und wie viele glänzende Berufungen
gleich in der erſten Zeit! Bald nach den Brüdern Grimm erhielt auch
Dahlmann einen preußiſchen Lehrſtuhl, in Bonn angewieſen. Beim Ab-
ſchied in Jena begrüßte ihn Robert Prutz mit einem Liede, das dem
brauſenden, zielloſen Thatendrange des jungen Geſchlechts treuen Aus-
druck gab:
Am Rhein wurde der Führer der Göttinger Sieben nicht minder freudig
aufgenommen, und in ſeiner Antrittsvorleſung ſagte er hoffnungsvoll: der
Tadel der Nation gegen Preußens ſelbſtändige Politik werde erſt verſtummen
„in der Fülle der Zeiten, vor dem unter Preußens Vorgange vollendeten
Werke, vor Deutſchlands großer Zukunft“. In die Berliner juriſtiſche
Facultät trat neben Stahl deſſen Landsmann Puchta ein, der natürliche
Nachfolger Savigny’s, ein tiefſinniger, in Schrift und Rede gleich ausge-
zeichneter Lehrer des römiſchen Rechts; er gehörte einer gemäßigt conſer-
vativen Richtung an, doch als Freund Schelling’s, als Anhänger der hiſto-
riſchen Rechtsſchule und ſtreng kirchlicher Proteſtant erfuhr er, wie Stahl,
in der Preſſe alsbald gehäſſige Anfeindungen. Nach ſeinem frühen Tode
wurde der Schweizer Keller berufen, auch ein trefflicher Juriſt, nur minder
glücklich als Lehrer: er hatte einſt in Zürich die Radicalen geführt, doch
angeekelt von dem ſouveränen Unverſtande, hielt er ſich in Preußen zu
der ſtreng conſervativen Partei. Als nun auch der milde, aber den Ra-
tionaliſten verhaßte Theolog Dorner neben Hävernick nach Königsberg
berufen wurde, da hieß es allgemein, der König begünſtige nur reaktionäre
Gelehrte. Man dankte ihm auch nicht, daß er Maßmann, dem Bücher-
verbrenner von der Wartburg, erlaubte in Berlin einen großen Turnplatz
einzurichten und nebenbei an der Univerſität verworrene germaniſtiſche Vor-
leſungen zu halten; die Burſchenſchafter aus der älteſten chriſtlich-ger-
maniſchen Generation galten dem neuen Liberalismus alleſammt für
Dunkelmänner. Selbſt der Baſeler Proteſtant Gelzer, ein ernſt gläubiger,
keineswegs engherziger Literaturhiſtoriker wurde, kaum nach Berlin be-
rufen, ſofort als geheimer Jeſuit verläſtert.
[227]Dahlmann. Schelling und Paulus.
Unter allen Neuberufenen erregte Schelling das größte Aufſehen.
Er war ausdrücklich auserwählt um den idealen Sinn und Zweck der
neuen Regierung vor der gelehrten Welt zu vertreten; er ſollte die Hegel-
ſchen Popularphiloſophen Vatke, Hotho, Benary, Michelet, die an der
Berliner Univerſität noch die Lehre des Meiſters in zeitgemäßer Ver-
dünnung vortrugen und bei Hofe für Verderber der Jugend galten, auf
das Haupt ſchlagen durch eine zugleich gläubige und ſtreng wiſſenſchaft-
liche Philoſophie. Seine Berufung wurde ſogleich zur Parteiſache. Sogar
Humboldt, der vor zehn Jahren ſo beſtimmt erklärt hatte, Schelling ſei
der einzig mögliche Nachfolger auf Hegel’s Lehrſtuhl, verhielt ſich jetzt
kühl, faſt feindſelig; und unter dem Wehgeſchrei der geſammten liberalen
Welt hielt der ſiebenundſechzigjährige Philoſoph ſeinen Einzug in Berlin,
wo auch er nie wahrhaft heimiſch werden ſollte. Seit einem Menſchen-
alter hatte er außer einigen akademiſchen Reden nichts mehr veröffentlicht,
als die wiederholte Ankündigung, daß „es jetzt ernſt ſei“ mit ſeinem ſo
oft verheißenen großen theoſophiſchen Werke, und einige hochmüthige Aus-
fälle gegen jüngere Philoſophen, die ihm ſeine Ideen entwendet haben
ſollten. Schweren Herzens ſchied er von München, das für ihn doch
der natürliche Boden war; denn er meinte ſich von Gott erwählt, in
der Hochburg der Hegel’ſchen Schule als Lehrer der Zeit aufzutreten.
Er vermaß ſich, die Philoſophie nicht aufzuheben, ſondern zu ergänzen
durch eine bisher für unmöglich gehaltene Wiſſenſchaft, ihr in der Offen-
barungsphiloſophie eine Burg zu gründen, worin ſie von nun an ſicher
wohnen ſolle. Und wer durfte ihm beſtreiten, daß er die neue hiſtoriſche
Weltanſchauung der Deutſchen mit begründet und reich befruchtet hatte,
daß Stahl und Puchta ihre wiſſenſchaftliche Ueberlegenheit, einem Gans
oder Rotteck-Welcker gegenüber, gutentheils ihm verdankten?
Als er nun die Vorleſungen über die Philoſophie der Offenbarung
begann, da drängte ſich das geſammte gelehrte Berlin nach dem winkligen
Auditorium maximum der Univerſität, die Meiſten feindſelig, Viele neu-
gierig, Einige in der unſchuldigen Hoffnung das größte Räthſel der Menſch-
heit gelöſt zu ſehen. Der Adel der Sprache, die gewaltige Zuverſicht der
Rede, die ſich zuweilen zu prophetiſchem Schwunge erhob, und manche
geniale Gedankenblitze verriethen wohl noch den alten Meiſter; doch zeigte
ſich bald, daß die Uneingeweihten ganz recht hatten wenn ſie dieſe neue
Wiſſenſchaft für unmöglich erklärten. Schelling ſagte ſelbſt: „die Offen-
barung muß etwas über die Vernunft hinausgehendes enthalten, etwas
aber, das man ohne die Vernunft doch nicht hat.“ Aus dieſem tiefſin-
nigen Satze zog er jedoch nicht den Schluß, daß der Philoſoph ſich be-
ſcheiden müſſe, die Grenzen des Erkennens abzuſtecken, und kritiſch feſtzu-
ſtellen, wo die geheimnißvolle, der Vernunft nie ganz zugängliche Welt
der ſubjectiven, innerlich erlebten Gemüthswahrheiten beginnt; er unter-
nahm vielmehr, die Offenbarung ſelbſt vernünftig zu begreifen, womit
15*
[228]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
doch ihr Weſen aufgehoben wird, und gerieth daher in myſtiſche Phantaſie-
ſpiele, die um ſo räthſelhafter klangen, weil der Philoſoph den Gedanken-
bau ſeines Syſtems erſichtlich noch nicht abgeſchloſſen hatte. Der gute
Steffens, der bis zum Tode die Gabe behielt Alles zu begreifen was er
begreifen wollte, bemühte ſich umſonſt den jüngeren Genoſſen die Worte
des Meiſters zu erklären. Das neue Gelehrtengeſchlecht beſaß ſchon den
ſchönen Muth der Unwiſſenheit, deſſen die vorausſetzungsloſe Wiſſenſchaft
bedarf; der junge Hiſtoriker W. Wattenbach erwiderte dem ſchwärmenden
Naturphiloſophen ehrlich: ich habe gar nichts verſtanden.
Unterdeſſen rüſtete ſich Schelling’s nächſter Landsmann, ſein Tod-
feind Paulus in Heidelberg zu einem vernichtenden Schlage. Er ließ die
Vorleſungen insgeheim nachſchreiben und gab ſie plötzlich in einem dicken
Bande heraus als „die endlich offenbar gewordene poſitive Philoſophie
der Offenbarung“ (1843); in einem Schwall polemiſcher Zuſätze entfaltete
der greiſe Rationaliſt die ganze Fülle ſeines Hohnes, ſeiner geſchwätzigen
Plattheit. Es war ein Bubenſtreich, ohne Beiſpiel ſelbſt in der wenig
zarten Geſchichte deutſcher Gelehrtenkämpfe. Mit welcher heiligen Ent-
rüſtung war vor Kurzem Hävernick’s Berufung von den Liberalen gebrand-
markt worden, weil dieſer einſt als junger Student einige Sätze aus
den Collegien der Hallenſer Rationaliſten an die Kirchenzeitung verrathen
hatte. Jetzt ſtahl ein welterfahrener, zweiundachtzigjähriger Profeſſor einem
Collegen ein ganzes Heft, in der denkbar gehäſſigſten Abſicht, um den
Gegner ſittlich zu vernichten; und faſt die geſammte liberale Preſſe nahm
Partei für den Dieb; Varnhagen jubelte und Heine feierte im Liede den edlen
Räuber Kirchenrath Prometheus. Zu ſolcher Roheit war der Parteihaß
ſchon angeſchwollen. Schelling klagte wegen Nachdrucks; er meinte, der
verſtockte alte Sünder könne nur noch durch eine Geldſtrafe empfindlich
getroffen worden. Der aber erwiderte keck, ſein Buch ſei kein Nachdruck, ſon-
dern ein Vordruck; und das Berliner Gericht ſprach ihn frei, denn der Wort-
laut des Geſetzes war nicht ganz unzweideutig, auch ließ ſich eine gewinn-
ſüchtige Abſicht dem Angeklagten nicht zutrauen. Sicherlich wirkte aber
auch eine unbewußte Parteilichkeit bei dem ſeltſamen Urtheile mit; die
vordem der öffentlichen Meinung ſo unzugänglichen preußiſchen Gerichte
wurden jetzt ſchon leiſe in das liberale Fahrwaſſer hinübergetrieben, in
den politiſchen Proceſſen mehrten ſich die Fälle unerwarteter, ja räthſel-
hafter Freiſprechungen. Auf’s Aeußerſte überraſcht erklärte Schelling nun-
mehr, wenn die Regierung ihn nicht ſchütze, ſo könne er nicht mehr lehren,
und zog ſich vom Katheder zurück. Alſo blieb auch dieſe Berufung, woran
der König ſein Herz gehängt hatte, ohne jede Frucht.
[229]Eichhorn und die Wiſſenſchaft.
Dieſer große akademiſche Skandal offenbarte zum erſten male den
tiefen Abſcheu, der ſich in der gelehrten Welt binnen Kurzem gegen den neuen
Cultusminiſter angeſammelt hatte. Eichhorn’s Bedeutung wurde bald von
Freund und Feind empfunden. Der König ſagte gradezu: „ſeine Erhal-
tung iſt für mich Selbſterhaltung,“*) und die Oppoſition pflegte das neue
Syſtem ſchlichtweg als das Miniſterium Eichhorn zu bezeichnen, da unſer
gelehrtes Volk längſt gewöhnt war den Geiſt einer Regierung nach ihrer
Unterrichtsverwaltung zu beurtheilen. Unter allen den hochbegabten Män-
nern, welche der König an falſcher Stelle vernutzte, hat keiner ſo ſchwer,
ſo tragiſch gelitten wie Eichhorn. Aus den Geſchäften des Zollvereins,
der zum guten Theile ſein Werk war und gerade jetzt ſeiner kundigen
Führung bedurfte, ſah er ſich in ſeinem zweiundſechzigſten Jahre heraus-
geſchleudert in eine grundverſchiedene Thätigkeit; aus dem Miniſterium,
das die Schlagkraft des Staates vertritt, alſo von allen ſeinen Gliedern
unbedingten Gehorſam fordern muß, trat er plötzlich hinüber zu der Leitung
des geiſtigen Lebens, das ſeinen eigenen Geſetzen folgt und vom Staate
nur mittelbar, mit ſchonender Hand gefördert werden kann. Wie ſein
Vorgänger Altenſtein erfuhr er das gemeine Menſchenſchickſal, daß die Welt
die Männer der That ſtets nach ihrer letzten Wirkſamkeit beurtheilt. Alten-
ſtein hatte das Glück, daß man die ſchweren ſtaatsmänniſchen Fehler ſeiner
früheren Jahre über ſeinen großen Verdienſten um die preußiſchen Bil-
dungsanſtalten ganz vergaß. Eichhorn mußte erleben, daß ſchon die Mit-
welt ſeines ruhmvollen Wirkens für unſere wirthſchaftliche Einheit gar
nicht mehr gedachte, ſondern ihm nur die kampferfüllten, durch Schuld
und Unglück verdorbenen, wenig fruchtbaren Jahre ſeines Alters anrechnete.
So ward er einer der beſtverleumdeten Männer des Jahrhunderts.
Ueber ſeine Ernennung grollte nur die Wiener Hofburg, die dem
Zollvereins-Demagogen allezeit gram blieb; die preußiſchen Gelehrten be-
grüßten ſie anfangs mit Freude, denn der hochgebildete, geiſtreiche, durch
und durch edle Mann hatte einſt als Syndicus der Berliner Univerſität das
akademiſche Leben aus der Nähe kennen gelernt, dann jahrelang mit
Schleiermacher und anderen namhaften Gelehrten freundſchaftlich ver-
kehrt. Und doch ſollte grade dieſer Verkehr ihm verderblich werden. Zur
Leitung des deutſchen Unterrichtsweſens gehört vor Allem eine tiefe Ehr-
furcht vor der Freiheit der Wiſſenſchaft. Unſere Univerſitäten waren
allezeit Republiken und werden es immer bleiben; der rückſichtsloſe Wahr-
heitsmuth der deutſchen Gelehrten iſt von einem oft unbequemen eigen-
ſinnigen Trotze faſt unzertrennlich, der Lehrer verwächſt mit ſeiner Lehre.
Dies wußte Wilhelm Humboldt, weil er ſelbſt ein großer Gelehrter war;
er ſagte rundweg, gelehrte Anſtalten könnten nur von innen heraus wachſen,
wie die Kryſtalle ſich langſam in der Stille „ancandirten“. Auch Alten-
ſtein empfand ähnlich, weil er noch zu den vornehmen Herren aus Harden-
[230]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
berg’s fränkiſcher Schule gehörte; wenn die Geiſter auf einander platzten.
ſo wartete er meiſt gemächlich ab, welche Kraft ſich als die lebendige er-
weiſen würde, und eigentlich nur bei der Begünſtigung der Hegel’ſchen
Philoſophie zeigte er ſich als wiſſenſchaftlicher Parteimann. Von dieſer
weltmänniſchen Gelaſſenheit Altenſtein’s beſaß Eichhorn gar nichts, ein
ganzer Gelehrter wie Humboldt war er auch nicht; im Umgang mit ſeinen
wiſſenſchaftlichen Freunden hatte er ſich jedoch eigenthümliche Anſichten
über Geiſt und Methode des akademiſchen Unterrichts gebildet, und dieſe
unfertigen, halbgereiften Gedanken wollte er jetzt den gelehrten Republiken
als bindende Vorſchriften ebenſo herriſch auferlegen, wie er einſt im Aus-
wärtigen Amte ſeinen Diplomaten Befehle ertheilt hatte. Alſo verfiel
auch er dem Fluche dieſer Regierung, dem Dilettantismus. In den
Zollvereinsgeſchäften, die er von Grund aus beherrſchte, hatte der beweg-
liche kleine Mann ſeine natürliche Lebhaftigkeit immer gebändigt, ſo daß
manche der thörichten kleinen Regierungen allein durch ſeine überlegene
Geduld gewonnen wurde; auf dem neuen Boden aber fühlte er ſich nicht
ganz ſicher und wurde heftig, reizbar, rechthaberiſch. Das ſchöne Ver-
hältniß gegenſeitigen Vertrauens, das unter Altenſtein’s gütigem Regi-
mente ſo lange zwiſchen dem Miniſterium und den Univerſitäten be-
ſtanden hatte, verſchwand binnen Kurzem gänzlich, und die Gelehrten
begannen bald ihren Vorgeſetzten als einen herrſchſüchtigen Schulmeiſter
zu beargwöhnen.
Auf dieſem Gebiete verlor Eichhorn was ſein Vorgänger gewonnen
hatte; in der Kirchenpolitik dagegen trat er eine ſehr ſchlimme [Erb-
ſchaft] an, und was ihm hier mißrieth, ward mehr durch die Ungunſt
der Verhältniſſe verdorben als durch ſeine eigenen Fehler. Aufgewachſen
im ſtrengen Lutherthum, aber ein überzeugter Anhänger der evangeliſchen
Union, dachte er über die Fragen der Kirchenhoheit freier, tiefſinniger,
weitherziger als Altenſtein. Die Aufſicht des Staates über die katholiſche
Kirche wollte er auf das Unerläßliche beſchränken, und für die Selbſtändig-
keit der evangeliſchen Kirche, für die Reform ihrer Gemeinde- und Syno-
dalverfaſſung hegte er ſeit Jahren wohlüberlegte Pläne, die ſich erſt nach
einem Menſchenalter ganz verwirklichen ſollten. Doch ſo lange die alten
Geſetze und die oberſtbiſchöflichen Befugniſſe der Krone noch beſtanden,
hielt er ſich gleich ſeinem Vorgänger auch verpflichtet, das innere Leben
der evangeliſchen Kirche im evangeliſchen Sinne zu überwachen. Da er
nun der neuen theologiſchen Kritik weit ferner ſtand als Altenſtein und,
hierin ganz Parteimann, die Hegel’ſche Philoſophie noch lebhafter verab-
ſcheute als jener ſie begünſtigt hatte, ſo verwickelte er ſich bald in Glaubens-
proceſſe und Lehrverfolgungen, die ſeinen eigentlichen Abſichten widerſprachen
und ſeinen Namen mit einem ungeheueren Haſſe beluden.
Von den perſönlichen Freunden des Königs, von Bunſen wie von
Radowitz wurde Eichhorn mit ſtillem Mißtrauen betrachtet; unter den
[231]Joh. Schulze. Eilers.
Miniſtern beſaß er nur an Thile und Savigny nahe Geſinnungsgenoſſen,
und in ſeinem eigenen Departement fand er faſt nur Gegner vor, er-
klärte Hegelianer oder aufgeklärte Beamte von dem alten rationaliſtiſchen
Schlage. Aus den Kreiſen dieſer unzufriedenen Geheimen Räthe gingen
nachher, unter Varnhagen’s eifriger Mitwirkung, viele der anonymen Zei-
tungsartikel hervor, welche den Miniſter als einen beſchränkten Pietiſten ver-
läſterten. Dem Monarchen entgingen dieſe Mißſtände nicht. Wieder und
wieder dachte er an die Berufung friſcher Arbeitskräfte ſchon weil er ſeinen
Freund „vom Todtarbeiten retten“ wollte;*) ſchließlich ſcheute er ſich doch,
durch einen umfaſſenden Perſonenwechſel das Selbſtgefühl der alten Beamten
zu verletzen. So blieb denn der Staatsmann, der eine widerſtrebende
Welt zum lebendigen Chriſtenthum zurückführen ſollte, faſt ganz allein.
Mit ſeinem Miniſterialdirektor Ladenberg lebte er in offener Feindſchaft;
dem unermüdlichen Johannes Schulze entzog er ſogleich einen Theil ſeiner
Amtsgeſchäfte, und ſchmerzlich genug vermißten die Profeſſoren bald die
collegialiſche Freundlichkeit ihres feurig aufbrauſenden und doch ſo wohl-
wollenden Ioannes parvulus, der eben erſt, durch die Berufung Ritſchl’s
nach Bonn, wieder einmal ſeinen Scharfblick bewährt hatte und auch
mit Gegnern ſo gut auskam, daß Leo ihm dankbar die Italieniſche Ge-
ſchichte widmete.
Der einzige Geheime Rath, der dem Miniſter mit freudiger Zuſtim-
mung half und demnach auch überall mitwirken mußte, war der neu be-
rufene Pädagog Gerd Eilers, ein frieſiſcher Bauernſohn, der als Knabe
zu Schloſſer’s Füßen geſeſſen und ſich dann in einem erfahrungsreichen
Leben den ſtrengen lutheriſchen Glauben ſeines Vaterhauſes, den Abſcheu
gegen alle philoſophiſche Zweifelſucht treu bewahrt hatte. Ein ehrlicher,
uneigennütziger Patriot, ein brauchbarer praktiſcher Schulmann von
mannichfachen, allerdings ungleichmäßigen Kenntniſſen, blieb Eilers doch
immer ein unklarer Kopf, geſchwätzig, formlos, verworren, wie ſeine chaotiſche
Selbſtbiographie „meine Wanderung durch das Leben“. Ueber Menſchen
und Dinge urtheilte er mit eigenſinniger Willkür. Er verehrte Schloſſer
und Dahlmann, während er Gervinus, der zwiſchen Beiden etwa in der
Mitte ſtand, für einen gefährlichen Volksverderber hielt; er verdammte
den ſüddeutſchen Liberalismus, doch dem Bannerträger der Triaspolitik,
Wangenheim zollte er warme Bewunderung. Alle dieſe rein ſubjectiven
Anſichten vertrat er mit frieſiſcher Schroffheit, und obwohl er als abge-
ſagter Feind der Metternich’ſchen Politik die Demagogenverfolgungen, denen
mehrere ſeiner nächſten Freunde zum Opfer gefallen waren, entrüſtet verur-
theilte, ſo hielt er doch für ganz natürlich, daß die Staatsgewalt Alle, die
nach ſeinem Ermeſſen offenbare Atheiſten oder Revolutionäre waren, ſich
kurzerhand aus dem Wege räumte. Ein ſolcher Rathgeber konnte auf den
[232]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Miniſter, der ihn ſehr weit überſah, keinen wirklichen Einfluß gewinnen;
und alſo ganz vereinſamt mußte Eichhorn, je heftiger die Tagesmeinung
wider ihn anbrauſte, nur um ſo tiefer in die einmal eingeſchlagene Rich-
tung hineingerathen.
Die Berufungen neuer Lehrkräfte waren alleſammt unter des Mi-
niſters eifriger Mitwirkung, zum Theil auf ſeine Anregung zu Stande
gekommen; doch man dankte ihm für dies große Verdienſt nur wenig,
weil er von vornherein, allem akademiſchen Brauche zuwider, in die kleinen
und kleinſten Angelegenheiten der Univerſitäten herriſch eingriff. Noch
in den erſten hoffnungsvollen Monaten der neuen Regierung thaten ſich
etwa 150 Hallenſer Studenten, unter der Führung des wackeren jungen
Theologen Rudolf Haym, zuſammen um den König, ihren Rector, in
einer kindlich ehrerbietigen Adreſſe zu bitten, daß er D. F. Strauß nach
Halle berufen möge. Das Unternehmen mußte Jedem, der die Meinungen
des Monarchen kannte, wunderbar naiv erſcheinen und war ebendeßhalb
unzweifelhaft harmlos; die jungen Leute gaben einfach ihrer Begeiſterung
für den Verfaſſer des Lebens Jeſu einen etwas vorlauten Ausdruck. Auf-
geſtachelt waren ſie nicht; der alte Rationaliſt Geſenius hatte ſogar väter-
lich abgemahnt.*) Dem Miniſter aber erſchien die Bittſchrift wie eine
atheiſtiſche Frevelthat, und er ruhte nicht, bis der akademiſche Senat
die bereits gegen die Urheber verhängten Strafen noch verſchärfte, worauf
ſich dann unausbleiblich ein gehäſſiger Zeitungskampf entſpann. Ebenſo
hart beurtheilte er die Königsberger Studenten, die den armen Hävernick
ausgeſcharrt hatten, und der Senat der Albertina beſchwerte ſich bei dem
Könige, natürlich umſonſt, über den Miniſter.
Seitdem ſtand die Meinung feſt, „das Eichhörnchen“ begünſtige überall
den Pietismus, und bei der gereizten Stimmung der Zeit konnte es nicht
ausbleiben, daß die Gegenpartei ſich zu manchen Ungerechtigkeiten hinreißen
ließ. Der Berliner akademiſche Senat verbot den Studenten aus Hengſten-
berg’s Schule, einen Verein zum Hiſtoriſchen Chriſtus zu bilden; er be-
gründete das Verbot mit der offenbar höhniſchen Erklärung, ſonſt müßte
man auch antichriſtliche Vereine geſtatten, und der Miniſter ſah ſich ge-
nöthigt, diesmal zum Schutze der akademiſchen Freiheit einzuſchreiten.
Strafen und Entlaſſungen, die unter Altenſtein nur ſelten vorkamen,
wiederholten ſich häufig und ſie wurden alleſammt als Zeichen der neuen
Gewiſſenstyrannei angeſehen. Man ſchalt ſogar, als dem Bonner
Privatdocenten Bruno Bauer die Erlaubniß zum Leſen entzogen wurde.
Der hatte in ſeiner Kritik der ſynoptiſchen Evangelien den Boden des
poſitiven Chriſtenthums ſo gänzlich verlaſſen, daß die Theologie, die doch
keine reine Wiſſenſchaft iſt, ihn unmöglich noch in ihren Reihen dulden
konnte. Der Miniſter ließ ſich, bevor er einſchritt, gewiſſenhaft von allen
[233]Abſetzungen. B. Bauer. Nauwerck.
theologiſchen Facultäten des Staates Gutachten erſtatten, die er ſofort
veröffentlichte. Der Entlaſſene aber ſtiftete alsbald in Berlin mit ſeinem
Bruder Edgar und einigen anderen Wortführern der ſouveränen Kritik
einen Bund „der Freien“, der durch ſeine bodenloſe Frechheit, ſeine
Läſterungen, Zoten und Unfläthereien ſelbſt den Ekel des radicalen Ruge
erregte. Gleichwohl wurde Bauer in allen Zeitungen als edler Dulder
geprieſen.
Leider konnte der König ſelbſt in ſeiner nervöſen Reizbarkeit die
akademiſche Freiheit am wenigſten ertragen; er hatte ſich ganz nach eigenem
Ermeſſen eine Grenze vorgezeichnet, welche das freie Wort nicht über-
ſchreiten ſollte. Im Nov. 1843 ſchrieb er an Thile: „Löſen Sie mir das
Räthſel, wie der p. Nauwerck, ein bekannter patentirter Revolutionär hier
an der Univerſität Privatdocent geworden iſt, und wie man ihm den
größten Hörſaal, d. h. Schelling’s und Savigny’s Katheder einräumt!!!!!!!
Ich bin tief betrübt über dieſen entſetzlichen Mißgriff, der den wer-
denden guten Geiſt der Studenten wieder ſehr ernſt gefährdet. Es
muß endlich in meinem Geiſt verfahren werden. Revolutionäre dürfen
in Preußen keine Freiſtätte unter den Fittigen der Regierung finden.“*)
Nauwerck war ein gewöhnlicher radicaler Schwätzer, der mit Mühe ein
mittelmäßiges Buch über die Geſchichte des Bundestags zu Stande
brachte. Seine ſofort gedruckte Antrittsvorleſung über die Theilnahme
am Staat enthielt nicht viel mehr als Gemeinplätze, und wenn man dies
dürftige Lichtlein ruhig brennen ließ, ſo wäre es wohl bald von ſelbſt
erloſchen. Diesmal wagte Eichhorn, der ſolche Aufwallungen des Monar-
chen ſchon oft beſchwichtigt hatte, nicht zu widerſtehen; Nauwerck mußte
den Lehrſtuhl verlaſſen und erlangte für einige Zeit einen ganz unver-
dienten Ruhm.
Weit härter noch beſtrafte ſich die Entlaſſung Hoffmann’s von Fallers-
leben in Breslau. Wer kannte ihn nicht, den frohmuthigen fahrenden
Sänger, der überall mit dabei war, wo man auf fremde Koſten Wein
trinken konnte? Die Zeche zahlte er doch redlich; denn Alles jubelte ihm
zu, wenn der Recke mit kräftiger Stimme ſeine heiteren, wohlgereimten
Geſellſchaftslieder bald ſingend bald declamirend vortrug. Ein tüchtiger Ger-
maniſt, deutſch durch und durch bis zur Ungerechtigkeit gegen alles Fremde,
kannte er namentlich unſer Volkslied aus dem Grunde und verſtand ſehr
geſchickt, ſcheinbar kunſtlos ſeine eigenen Gedichte alten volksbeliebten Texten
und Melodien einzufügen. Solche muthwillig über den Strang ſchlagende
Wildfänge kann ein großer Staat unter der Maſſe ſeiner Beamten noch
am leichteſten ertragen, und von dem kunſtſinnigen Könige ließ ſich wohl
einige Nachſicht erwarten für den weinſeligen Poeten, der neben vielen
leichten, mit der Luſt des Zechens verwehenden Liedern dem deutſchen
[234]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Volke doch auch Unvergängliches geſchenkt hatte. Am Felſenſtrande von
Helgoland dichtete er nach der Haydn’ſchen Melodie das Lied „Deutſch-
land, Deutſchland über Alles, über Alles in der Welt“, das den Grund-
gedanken des Arndt’ſchen Vaterlandsliedes einfacher, wärmer, lebendiger
wiedergab und nach langen Jahren erſt mit voller Macht auf die deutſchen
Gemüther wirken ſollte. Ein andermal in guter Stunde ſchrieb er die
einfältig ſchönen Zeilen:
Ohne alle Kenntniß der Politik, aber durch ſein ungebundenes Wander-
leben radical geſtimmt, erfreute er ſeine Hörer zuweilen auch durch politiſche
Gedichte, und der Beifall, den dieſe Improviſationen hervorriefen, berauſchte
ihn dermaßen, daß er ſich zum Freiheitsdichter berufen fühlte. Seine „Un-
politiſchen Lieder“ waren ſehr reich an kräftigen Ausfällen; manche davon
ſchmeichelten ſich durch ihre leichte ſangbare Form in jedes Ohr und
machten raſch die Runde auf allen Studentenkneipen, ſo die burſchikoſen,
einem alten Schnaderhüpfel nachgebildeten Verſe:
Eben wegen dieſer volksthümlichen Wirkſamkeit erſchien das Büchlein,
das ſchon die Feuerprobe der Hamburgiſchen Cenſur beſtanden hatte, den
preußiſchen Behörden hochgefährlich. Durch Beſchluß des Staatsminiſte-
riums wurde Hoffmann zu Neujahr 1844 ſeiner Profeſſur enthoben; der
König that nichts den grauſamen Spruch zu mildern, und der Entlaſſene
bereiſte fortan die deutſchen Städte als poetiſcher Wanderprediger des Ra-
dicalismus. Ueberall wo feurige Patrioten zuſammen zechten, deklamirte
er rührſam:
worauf denn meiſt ein geharniſchtes politiſches Lied oder auch vergnügliche
Bänkelſänger-Reime folgten. Die warmherzigen Pfälzer und Rheingauer
konnten ſich an ihm nicht ſatt hören, ſie feierten ihn als ein Opfer des
preußiſchen Despotismus. Nur bei den Holſten fand er üblen Empfang;
ihre Zeitungen ſagten barſch: hierzulande ſei man zu ernſthaft für dies
ewige Schim-ſchim-ſchim und Juch-juchhe. Als die Berliner Studenten
ſeinen alten Freunden, den Brüdern Grimm einen Fackelzug brachten, da
erſchien Hoffmann plötzlich als ungeladener Gaſt an einem Fenſter, und
die jungen Leute, deren Anführer wohl mit im Geheimniß waren, be-
grüßten auch ihn mit jauchzendem Zuruf; darauf Ausweiſung des Heimath-
[235]Hoffmann von Fallersleben.
loſen, Unterſuchung gegen die jugendlichen Ruheſtörer und eine Zeitungs-
erklärung der Brüder Grimm, die ihren königlichen Schirmherrn doch nicht
verhöhnen durften, alſo öffentlich ihre Unſchuld betheuerten. Seitdem blieb
die Polizei dem Dichter auf den Hacken; auch aus anderen Städten ward
er verwieſen, ſelbſt in ſeinem Geburtslande Hannover durfte er ſich nicht
zeigen. Endlich fand er eine Zuflucht unter dem Schutze der ritter-
ſchaftlichen Libertät Altmecklenburgs. Da ein mecklenburgiſches Staats-
bürgerrecht nicht beſtand, jeder Rittergutsbeſitzer aber befugt war, auf
ſeinen Dörfern nach Belieben das Heimathsrecht zu ertheilen, ſo entſchloß
ſich der Führer der bürgerlichen Ritterſchaft, der liberale Dr. Schnelle,
den gehetzten Mann auf ſeinem Gute Buchholz als Ortsangehörigen —
die liberalen Zeitungen logen: als Kuhhirten — aufzunehmen; und in
dieſem unangreifbaren Schnelliſchen Reiche konnte Hoffmann fortan immer
ſicher ausruhen ſobald er anderswo ausgewieſen wurde. So war das
öffentliche Recht des Deutſchen Bundes. Solche tragikomiſche Erbärmlich-
keiten erweckten ſelbſt im Auslande Spott und Hohn, und zuletzt fiel aller
Haß auf Preußen zurück.
Dem leicht erregbaren Selbſtgefühle der Gelehrten erſchienen dieſe
Entlaſſungen faſt noch erträglicher als die beſtändigen Ermahnungen und
Verweiſe von oben her. Als der Hallenſer Philoſoph Hinrichs, ein ſehr
gemäßigter Liberaler, über Politik las, wurde er herriſch bedeutet, zu ſol-
chen Vorträgen ſei er unfähig. Sogar Dahlmann, deſſen erſtes Auftreten
zu Bonn Eichhorn ſelbſt mit warmen Worten begrüßt hatte, erhielt nach-
her einen ſchnöden Verweis, da er bei einem Fackelzuge einige ganz un-
verfängliche Worte über die freien Hochſchulen, den Stolz des zerſtückelten
Deutſchlands ſprach. So oft der pflichteifrige Miniſter auf einer ſeiner
zahlreichen Dienſtreiſen eine Univerſität beſuchte, erging er ſich in lehr-
haften Anſprachen. In Breslau erinnerte er an das credo ut intelli-
gam; die Profeſſoren in Münſter mahnte er, religiöſe Geſinnung mit
wiſſenſchaftlicher Gründlichkeit zu verbinden, die Bonnenſer, das öffent-
liche Recht auf das Studium der Vergangenheit zu ſtützen und alſo dä-
moniſche Kräfte von ſich fern zu halten. Er ſchien gar nicht mehr zu
wiſſen, daß ihm doch nur die äußere Ordnung und Förderung der Uni-
verſitäten oblag, die Gelehrten aber über die Aufgaben der Wiſſenſchaft
ſicherlich mehr nachgedacht hatten als er ſelbſt. Mit vollem Rechte fühlte
ſich die geſammte Profeſſorenſchaft beleidigt, als Eichhorn dem Rationa-
liſten Wegſcheider in Halle bei deſſen Jubiläum nicht blos die übliche Aus-
zeichnung verſagte, ſondern den verdienten greiſen Gelehrten zu ſeinem
Ehrentage ſogar brieflich wegen ſeiner kirchlichen Haltung wie einen Schul-
buben abkanzelte.
Auch wohlgemeinte Verfügungen des Miniſters erſchienen durch ihre
verfehlte Form als läſtige Bevormundungsverſuche eines fahrigen Di-
lettantismus. Da Eichhorn richtig erkannte, daß die althergebrachten Katheder-
[236]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
monologe auf den Univerſitäten allzu ſehr überwogen und manche Pro-
feſſoren die Erfindung der Buchdruckerkunſt noch nicht zu kennen ſchienen,
ſo befahl er (1843) durch einen Erlaß, wobei Eilers mit ſeinen derben
Schulmeiſterhänden offenbar mit geholfen hatte, daß die akademiſchen
Lehrer Repetitorien und wiederholte Prüfungen mit ihren Vorleſungen
verbinden ſollten. Dieſe Häufung der Examina, deren Ueberzahl ja ſchon
längſt eine preußiſche Staatskrankheit war, drohte die akademiſche Freiheit
zu vernichten; man glaubte überall, freilich mit Unrecht, Eichhorn wolle
die freie Lehre durch mechaniſche Abrichtung, die Wiſſenſchaft durch Kennt-
niſſe verdrängen. Der ruhige Dahlmann meinte entrüſtet, ſo bis zu
der Erbärmlichkeit öſterreichiſcher Unterrichtsanſtalten ließen ſich die deut-
ſchen Univerſitäten nicht herabdrücken; Oberpräſident Bötticher ſogar konnte
ſich den Stimmungen der Königsberger Gelehrten nicht ganz entziehen und
klagte bitterlich über dies traurige „Vielregieren“*). An dem einmüthigen
Widerſtande der akademiſchen Welt ſcheiterten Eichhorn’s Befehle. Was
in ihnen berechtigt war verwirklichte ſich ſpäterhin von innen heraus durch
die natürliche Entwicklung des wiſſenſchaftlichen Lebens, das ſeine Ge-
brechen ſelbſt am ſicherſten zu heilen vermag. Die Mediciner und Natur-
forſcher hatten von Altersher praktiſche Uebungen abgehalten; philologiſche
Seminare beſtanden ſchon damals faſt an allen preußiſchen Univerſitäten;
die Hiſtoriker folgten nachdem Ranke den Weg gewieſen; in Greifswald
gründete G. Beſeler eine juriſtiſche Geſellſchaft, wie vorher ſchon Jacoby
in Königsberg eine mathematiſche, Trendelenburg in Berlin eine philo-
ſophiſche. Aus dieſen Keimen erwuchs allmählich in einem halben Jahr-
hundert eine Fülle von Seminaren aller Art; ein reich, faſt überreich aus-
gebildeter dialogiſcher Unterricht trat dem alten monologiſchen ergänzend
an die Seite.
Wie tief der Miniſter trotz ſeines edlen Willens ſich die Gelehrten
entfremdet hatte, das ſollte dem Könige ſelbſt greifbar vor die Augen treten
bei der Jubelfeier der Albertina. Es war wieder ein Ehrentag und zugleich
ein Verbrüderungsfeſt für unſere Nordoſtmark. In Schaaren waren ſie
herbeigeſtrömt die alten Herren, die einſt den Albertus auf der Mütze ge-
tragen, und auf aller Lippen ſchwebten die Namen der beiden Männer,
welche der Geſchichte dieſes Landes den Stempel ihres Wirkens am tiefſten
eingeprägt hatten, die Namen Herzog Albrecht’s und Kant’s. Am Vor-
abend dieſes Feſtes, das unter Kant’s Geſtirne ſtand, konnte Eichhorn
ſich nicht enthalten, die Profeſſoren in ſtrafendem Tone vor den Ver-
irrungen des kritiſchen Geiſtes zu warnen. Der Rector Burdach, ein be-
redter, geiſtreicher Mediciner noch aus der alten halb naturphiloſophiſchen
Schule, antwortete ſogleich unerſchrocken, die Univerſität ſei ſich keiner
Schuld bewußt. Bei den Feſtlichkeiten der nächſten Tage feierte der
[237]Jubelfeier der Albertina.
greiſe Philolog Lobeck den Kritiker der reinen Vernunft, dem dieſe Hoch-
ſchule ihren Ruhm verdanke, Burdach aber den volksthümlichſten Schul-
mann der Provinz, den frommen alten Rationaliſten Dinter, deſſen Lehr-
bücher die Regierung eben jetzt aus den Schulen entfernen ließ. Die
Reden klangen wie eine Kriegserklärung gegen den Miniſter, und die
brauſenden Huldigungen, welche die Feſtgenoſſen den beiden Rednern dar-
brachten, bewieſen genugſam, daß ſie ihren Landsleuten aus der Seele ge-
ſprochen hatten. Als ſchließlich der Grundſtein gelegt wurde für das neue
Univerſitätsgebäude, führte der König die erſten Hammerſchläge: „Vorwärts
ſei für und für die Looſung unſerer Hochſchule“. In dieſem Augenblicke
trat die Sonne aus den Wolken hervor, und begeiſtert fuhr er fort: „Ihr
Vorwärts ſei das des Lichts der Sonne, das gleichmäßig ausgeſtrahlt die
Finſterniß wirklich erhellt, in tiefe Höhlen dringt, das Nachtgefieder ver-
ſcheucht, Keime entwickelnd, Blüthen entfaltend, Früchte reifend, Früchte,
an deren Genuſſe die Menſchen geſunden.“ Dann mahnte er zur Gottes-
furcht, zu Thaten der Ehre unter den Fittigen des Adlers, zu „echter
Treue, die da weiß, daß man dem Fürſten nicht dient, wenn man ſeine
hohen Diener herabzieht“. Schöner, feuriger hatte er ſelten geſprochen;
doch die Hörer blieben kalt, ſie konnten die Schlußworte nicht verwinden.
Große Redner fühlen immer ſelbſt zuerſt, ob ihr Wort gezündet hat; der
König ſchied tief verſtimmt, er wußte jetzt, daß ſeine geliebten Altpreußen
ihn nicht mehr verſtanden. Der alte Schloſſer ſprach nur die allgemeine
Meinung der Gelehrten aus, da er ſagte: Euer Miniſter hat mehr aufgeregt
als er bewältigen kann. —
Die Univerſitäten hätte Eichhorn mit weiſer Zurückhaltung wohl fried-
lich leiten können; im Volksſchulweſen hingegen fand er ſchwierige Auf-
gaben vor, die ſich ohne ernſte Kämpfe nicht löſen ließen. Unzweifelhaft
hatte Altenſtein’s Verwaltung auf dieſem Gebiete Großes geleiſtet: 38
Lehrerſeminare und etwa 30,000 Volksſchulen waren in zwei Jahrzehnten
neu gegründet oder umgeſtaltet worden; die Technik der Pädagogen konnte
ſich großer Fortſchritte rühmen, die Lehrer beſaßen durchſchnittlich viel
mehr Kenntniſſe als die alten Unteroffiziere, welche Friedrich der Große
als Schulmeiſter zu verwenden pflegte. Um gut zu lehren muß man aus
dem Vollen ſchöpfen, etwas mehr wiſſen als was man lehrt — an oieſem
erprobten Grundſatze hielt Altenſtein immer feſt. Doch wie ſein Johannes
Schulze die Gymnaſien mit einer Ueberfülle von Lehrfächern belud, eben-
ſo, und in noch höherem Maße wurden die Lehrerſeminare durch einen
wohlmeinenden Bildungseifer überlaſtet, und man vergaß die nicht minder
erprobte Wahrheit, daß der Schulmeiſter nicht zu viel wiſſen darf, wenn
er nicht die Freude an ſeinem ſchönen anſpruchsloſen Berufe verlieren
ſoll. Ein Stand, der gleichſam zwiſchen zwei Stühlen ſaß, der weder an
der ſchlichten wirthſchaftlichen Thätigkeit der Volksmaſſen, noch an dem
ſchöpferiſchen Wirken der Gelehrten unmittelbar theilnahm, mußte, wenn
[238]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ihm zu viele unverarbeitete Kenntniſſe eingeprägt wurden, einer gefähr-
lichen Halbbildung und Anmaßung verfallen. Schon in den zwanziger
Jahren bemerkte Harniſch, der verdiente Direktor der Seminarien von
Breslau und Weißenfels: die althergebrachten Sünden der Roheit und
Dieberei würden unter ſeinen Zöglingen ſeltener, dafür nähmen Dünkel
und Weltſinn überhand.
Bedenklicher war, daß die Volksſchule, die ja den großen Wandlungen
der Ideen immer nur in einigem Abſtande folgen kann, an dem erſtar-
kenden religiöſen Leben der drei letzten Jahrzehnte kaum theilgenommen
hatte. Sie ſtand noch immer unter der Herrſchaft der Lehren Peſtalozzi’s.
Wohl war es einſt eine ſchöne Zeit der Erweckung geweſen, als der edle
ſchweizeriſche Sonderling den verknöcherten Schulunterricht auf die leben-
dige Anſchauung und Selbſtthätigkeit zu begründen unternahm, als er in
Lienhard und Gertrud, in dem Buche der Mütter die Erzieher lehrte ſich
liebevoll in das Seelenleben ihrer Zöglinge zu verſenken. Damals be-
wunderten ihn faſt alle namhaften Männer Deutſchlands, die gläubigen
Stein und Arndt ſo gut wie der radicale Fichte, und Königin Luiſe dankte
ihm im Namen der Menſchheit. Aber der Gedanke der abſtrakten, allge-
meinen Menſchlichkeit, der ihn, den Illuminaten, den Ehrenbürger der
franzöſiſchen Republik begeiſterte, konnte dem vertieften religiöſen Gefühle,
der ſchärferen hiſtoriſchen Kritik dieſer neuen Tage längſt nicht mehr ge-
nügen. Alle praktiſche Humanität der modernen Geſchichte — das begann
man endlich zu begreifen — wurzelte, bewußt oder unbewußt, im Chri-
ſtenthum, in der Idee der Gotteskindſchaft, in dem königlichen Geſetze der
Liebe; der Herzenshärtigkeit der heidniſchen Völker, die ſich alleſammt für
die auserwählten anſahen, war ſie immer fremd geblieben, wenngleich
einzelne große Denker ſie als ein theoretiſches Ideal verherrlichten. Zu
menſchlicher Freiheit konnte die moderne Jugend nur durch eine chriſtlich-
religiöſe Erziehung herangebildet werden; und dies galt vornehmlich von
den Volksſchulen, denn ein helleniſches Sittlichkeitsideal, wie es etwa einem
Wilhelm Humboldt vorſchwebte, war weſentlich ariſtokratiſch und ſchloß die
Banauſen aus, denen nur die demokratiſche Moral des Chriſtenthums
Troſt und Frieden zu bringen vermochte. Peſtalozzi ſelbſt hatte dieſe
Wahrheit allmählich begriffen und ſich im Alter dem lebendigen Chriſten-
glauben zugewendet. Die Mehrzahl ſeiner Schüler und Anhänger da-
gegen hing noch immer an dem alten Wahne, daß man dem Baume der
Menſchenliebe ſeine chriſtlichen Wurzeln abgraben und doch im Schatten
ſeines Wipfels ſich lagern könne. Ein freundlicher, bequemer Rationalismus
herrſchte in den Volksſchulen vor; der Religionsunterricht behauptete keines-
wegs überall ſeine natürliche Stellung in der Mitte des Lehrplans. Seit
der Cabinetsordre vom 23. März 1829 wurde die Errichtung von Simultan-
ſchulen immer begünſtigt, wenn die Gemeinden ſich darüber freiwillig einig-
ten und für confeſſionelle Schulen nicht die genügenden Mittel beſaßen;
[239]Volksſchulen. Dieſterweg.
indeß war die Zahl dieſer gemiſchten Volksſchulen noch gering, am ſtärk-
ſten in den polniſchen Landestheilen, da ſie hier zur Verbreitung der
deutſchen Sprache mitwirkten, und man bemerkte bald, daß ſie den con-
feſſionellen Gegenſatz öfter verſchärften als milderten. Wo ſich kirchliche
Gleichgiltigkeit in den Volksſchulen zeigte, da lag die Schuld meiſtens an
der Geſinnung der Lehrer, zumal der evangeliſchen.
Der anerkannt erſte Mann des preußiſchen Volksſchullehrerſtandes
war Adolf Dieſterweg, der in Naſſau-Siegen geboren, lange in Süddeutſch-
land, dann in Elberfeld und Mörs erfolgreich gewirkt hatte, und ſeit 1832
das Seminar für ſtädtiſche Lehrer in Berlin, die Muſterſchule des
Staates leitete, ein grundehrlicher Idealiſt, volksthümlich derb, arm, be-
dürfnißlos, mit vielen Kindern geſegnet, der geborene Schulmeiſter, mit
Leib und Seele bei der Sache, durch keine Wiederholung je zu ermüden.
Trotz ſeiner Lebhaftigkeit beſaß er auch die größte aller Pädagogentugen-
den, die Gabe ſich in der Schule nie zu ärgern; er verſtand wie Wenige
ſeine Schüler zum eigenen Nachdenken zu zwingen, ſie vom Concreten zum
Abſtrakten hinaufzuleiten; ſie hingen an dem Geſtrengen mit leidenſchaft-
licher Liebe, und mancher unbeholfene Gymnaſiallehrer konnte ihn um
ſeine wirkſame Lehrmethode beneiden. Unter Altenſtein genoß er das volle
Vertrauen der Schulbehörden und verfaßte in ihrem Auftrage den Weg-
weiſer zur Bildung für deutſche Lehrer. Höher hinauf durfte ſich ſeine
fruchtbare ſtreitluſtige Feder freilich nicht wagen. Als er auch „über das
Verderben der deutſchen Univerſitäten“ mit der ganzen Unfehlbarkeit des
Schulmeiſters ſchrieb, da wurde er von Leo und anderen Gelehrten in
ſeine Schranken verwieſen; denn die Welt der claſſiſchen Bildung blieb
ihm unverſtändlich, und niemals konnte er begreifen, daß die akademiſche
Freiheit Lehrer wie Lernende in edlerem Sinne erzieht als der Schul-
zwang.
Auch in ſeinem religiöſen Denken vermochte er nicht, wie ſein
Vorbild Peſtalozzi, fortzuſchreiten mit der wachſenden Zeit; er ver-
harrte vielmehr in dem Bannkreiſe des alten Rationalismus. Die
trivialen Wundererklärungen der Dinter’ſchen Schullehrerfibel ſchienen
ihm allerdings gar zu platt. Er wünſchte jedoch einen confeſſionsloſen
Unterricht im vernunftgemäßen Chriſtenthum, einen Unterricht, der ſich
auf Gebet, bibliſche Geſchichte, Sittenlehre beſchränken, Katechismus und
Geſangbuch verſchmähen ſollte, alſo in Wahrheit lediglich dem ſubjectiven
Belieben des Schulmeiſters anheimfallen mußte. Da er überall darauf
ausging, ſeine Zöglinge ſelbſt die Wahrheit finden zu laſſen, ſo hielt er
es für eine geiſtloſe Abrichtung, wenn ſie nach dem alten Schulgebrauch
gezwungen wurden, halbverſtandene Bibelverſe und Geſangbuchlieder aus-
wendig zu lernen, und auch die kirchenfeindliche Preſſe wähnte ſehr klug
zu handeln, wenn ſie beſtändig gegen das öde Memoriren eiferte. Dieſer
weltliche Wiſſensdünkel vergaß ganz, daß religiöſe Wahrheiten auch von
[240]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
dem reifen Manne nur geahnt, erſt ſobald er ſie an ſich ſelbſt erlebt
hat wirklich begriffen werden, desgleichen, daß die erhabenen Sprüche
bibliſcher Weisheit, einmal aufgenommen in das empfängliche Gedächtniß
des Kindes, in der Stille mit dem Menſchen fortleben um dann plötzlich,
in den Verſuchungen und Unglücksfällen des Lebens, eine tröſtende und
erhebende Kraft zu zeigen, welche weder dem Einmaleins noch dem ABC
noch den Kinderfabeln vom Ochs und Eſel innewohnt.
Dieſterweg dachte zu klug, zu ruhig um in dem Religionsunterrichte
ſeines Seminars die hergebrachten Formen gradezu zu verlaſſen; doch eine
lebendige Freude an der chriſtlichen Offenbarung konnte er ſeinen Zöglingen
nicht erwecken. Noch ſchädlicher wirkte die unmäßig hohe Vorſtellung, die
er in ſeinem ſtürmiſchen pädagogiſchen Feuereifer ſich von der Würde des
Lehrers gebildet hatte. Schlicht wie er ſelbſt war wollte er auch ſeine
Zöglinge aus dem Volke hervorgehen und im Volke wirken ſehen; gleich-
wohl hielt er, nach einem mißverſtandenen Ausſpruche Schleiermacher’s, den
Lehrer für den wichtigſten Mann im Staate und verlangte, die der hand-
werksmäßigen Schulmeiſterei entwachſene, zur Wiſſenſchaft erhobene Pä-
dagogik müſſe ſich zur Kunſt ausbilden. Was Wunder, daß die Schüler
den Meiſter noch überboten und überall unter den Seminariſten die
Schlagworte umliefen: Bildung macht frei, wer die Schule hat, hat die
Zukunft; kühnere Köpfe weiſſagten bereits, die Schule würde dereinſt die
Kirche ganz verdrängen. Die Lehrer verwechſelten den unſchätzbaren Werth
des heranwachſenden Geſchlechts mit dem beſcheidenen Werthe der Dienſte,
welche ſie dieſer Jugend leiſteten; weil der Beſitz einiger Elementarkennt-
niſſe in der modernen Welt Jedem ſo unerläßlich war wie einſt in ein-
facheren Zeiten die Waffentüchtigkeit, ſo hielten ſie das Unentbehrliche für
das Würdigſte und Höchſte. In den neuen Lehrerzeitungen und Lehrer-
vereinen zeigte ſich ungewöhnlich ſtark der dem ganzen Zeitalter eigenthüm-
liche Geiſt der ſocialen Unruhe, der Jeden drängte ſich über ſeinen Stand
zu erheben; hier wurde mit dem Nürnberger Trichter oft gradezu ein
Cultus getrieben, hier ſprach man nur noch von den Herren Lehrern, und
der ſchöne alte Name Schulmeiſter, der doch mehr und Beſſeres ſagt, galt
ſchon für ehrenrührig.
Dies ſtarke Selbſtgefühl der Schulmeiſter ſtand in ſchreiendem
Widerſpruche zu ihrer gedrückten wirthſchaftlichen Lage, die ſich unter
der ſparſamen alten Regierung nur wenig gebeſſert hatte; Gehalte von
50—100 Thalern jährlich waren nicht ſelten, ſelbſt die alte bettelhafte
Unſitte des Reihetiſchs beſtand noch in einzelnen abgelegenen Gegenden.
Seit das Allgemeine Landrecht die Schulen für Veranſtaltungen des
Staates erklärt hatte war der Schulmeiſter nicht mehr ſchlechtweg der
Untergebene des Pfarrers, und ſchon geſchah es zuweilen, daß er
dem Geiſtlichen als Vorkämpfer der weltlichen Aufklärung trotzig ent-
gegentrat. Von der Höhe ſeiner zur Wiſſenſchaft erhobenen Pädagogik
[241]Die Schulmeiſter.
wähnte er die Bauern weit zu überſehen, während dieſe ihn wegen ſeiner
Armuth verachteten, manche auch ganz richtig fühlten, daß zur Leitung
einer großen Bauernwirthſchaft viel mehr Kraft des Willens und des Ver-
ſtandes gehört als zum Einüben der erſten Schulkenntniſſe. So wirkten
mannichfache Verhältniſſe zuſammen um den Volksſchullehrern den be-
ſcheidenen, zufriedenen Sinn zu ſtören, und die Oppoſition wußte ſich
dieſer Verſtimmung bald zu bemächtigen. In vielen Dörfern Schleſiens,
Sachſens, Oſtpreußens ſammelte der radicale Schulmeiſter die unzufrie-
denen kleinen Leute um ſich und begann in aller Stille eine Wühler-
arbeit, deren Früchte das Revolutionsjahr an den Tag brachte. Trotz der
großen Fortſchritte der pädagogiſchen Methode blieb es zweifelhaft, ob nicht
die ſchulmeiſternden Invaliden der fridericianiſchen Zeit, Alles im Allem,
mehr Segen geſtiftet hatten als ihre kenntnißreicheren Nachfolger. Sie
hatten geholfen ein dürftig unterrichtetes, aber frommes, pflichtgetreues,
zufriedenes Geſchlecht zu erziehen; in der verbeſſerten Volksſchule wirkten
neben den aufbauenden auch zerſetzende und zerſtörende Kräfte.
Solche Mißſtände ließen ſich ſchwer heilen, weil ſie in dem geſammten
geiſtigen und ſocialen Zuſtande der Nation wurzelten. Aus manchem
widerwärtigen Skandal lernte der neue Miniſter, wie der Geiſt des Dünkels
in einem Theile des Lehrerſtandes überhandnahm. Das große Schul-
lehrerſeminar in Breslau mußte gänzlich geſchloſſen werden, weil ganze
Klaſſen der Zöglinge ſich widerſetzlich zeigten; und der ſchleſiſche Schul-
meiſter Wander, einer der frechſten Radicalen, unterſtand ſich ſogar in
einem anmaßlichen offenen Briefe den Miniſter zur vollſtändigen Neuge-
ſtaltung des Seminarunterrichts aufzufordern: durch den Beſuch der Ober-
realſchulen und das Anhören akademiſcher Collegien ſollten die Lehrer des
Volks künftighin würdig auf ihren hohen Beruf vorbereitet werden. Eich-
horn hegte den wohlerwogenen Plan, ein Ober-Schulcollegium zu errichten,
damit ſich nach und nach eine feſte, von dem Wechſel der Perſonen im
Miniſterium unabhängige Tradition bilden könnte. Er wollte ferner den
Nothſtand unter den Lehrern durch beträchtliche Erhöhung der Gehalte
beſeitigen, den überladenen Lehrplan der Seminare vereinfachen, dem Re-
ligionsunterrichte die herrſchende Stellung in der Volksſchule zurückgeben,
ſo daß ſich die anderen Lehrfächer daran anfügen ſollten. Auch wünſchte
er, hierin ganz mit Dieſterweg einig, die Seminare aus der zerſtreuenden
Unruhe der Großſtädte hinweg zu verlegen. Dieſe gute Abſicht trug freilich
nicht immer die gehofften Früchte; denn in den kleinen Städten ſpielten die
Seminare oft faſt die Rolle einer Univerſität, die Muſikaufführungen ihrer
Schüler ſtanden im Mittelpunkte des geſelligen Lebens, und dies laute
Treiben bildete keine glückliche Vorſchule für junge Menſchen aus dem Volke,
die ihre Jahre vielleicht in der Stille eines Walddorfes verbringen ſollten.
Im Jahre 1844 beſchränkte Eichhorn die Ueberzahl der Lehrbücher; Dinter’s
Fibel und einige ähnliche Bücher wurden ganz verbannt.
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 16
[242]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Währenddem arbeiteten zahlreiche Federn an den neuen Lehrplänen,
Niemand eifriger, als der Weſtphale D. W. Landfermann, Eilers’ Nachfolger
in der Coblenzer Schulrathsſtelle, ein urkräftiger Teutone, der als Burſchen-
ſchafter ſchwere Verfolgungen erlitten hatte, im Unterrichtsweſen gründlich
erfahren, in der Politik gemäßigt liberal, aber wegen ſeines kirchlichen Ernſtes
ganz mit Unrecht als Pietiſt verrufen. Viele Jahre hindurch war der Um-
ſchwung des religiöſen Lebens in den Schulen ſo gänzlich unbemerkt geblieben,
daß der ſtreng kirchlich geſinnte Karl Ritter, der große Schüler Schnepfen-
thals noch lange mit ſeinen Peſtalozzi’ſchen Lehrern vertraulich verkehrte
ohne den inneren Gegenſatz zu empfinden. Jetzt ſchieden ſich die Geiſter;
man begann einzuſehen, daß die Wahrheiten des Chriſtenthums Kindern
nur in der concreten Form eines beſtimmten Bekenntniſſes überliefert
werden können. In dieſem Sinne waren Landfermann’s Reformvor-
ſchläge gehalten. Ohne die Schule der kirchlichen Obrigkeit zu unter-
werfen, wollte er doch die Schulmeiſter auf das Bekenntniß ihrer Kirche
verpflichten, der Bibel und dem Geſangbuch wieder ihr gutes Recht ein-
räumen, eine nicht übermäßige Anzahl von Bibelſprüchen und Kirchen-
liedern den evangeliſchen Kindern gründlich einprägen laſſen, damit das
junge Geſchlecht wieder bibelfeſt würde und in das zerſtreuende moderne
Leben einen bleibenden Schatz der Erbauung mit hinübernähme.
Doch alle dieſe Entwürfe blieben unausgeführt in dem Wirrwarr kirch-
licher Kämpfe, der den Miniſter umtobte; man hörte nur zuweilen von Maß-
regeln nothwendiger Strenge gegen einzelne radicale Lehrer. Sie genügten
um das einmal feſtſtehende Urtheil über Eichhorn’s Verfolgungsſucht zu be-
kräftigen; und dies Urtheil gelangte überall zur Herrſchaft, als Dieſterweg
ſelbſt dem neuen Syſteme weichen mußte. Die Leitung des Hauptſeminars
konnte ein Mann, der den confeſſionsloſen Religionsunterricht erſtrebte,
unter dieſer Regierung nicht mehr behalten. Aber Dieſterweg’s fleckenloſer
Charakter, ſeine untadelhafte Amtsführung, ſeine großen Verdienſte erheiſchten
Schonung; die jetzt unvermeidliche Verſetzung konnte ſehr wohl in ſolchen
Formen geſchehen, daß er ſich perſönlich nicht verletzt fühlte; ſelbſt Eilers
meinte, man dürfe ihn doch nicht beſtrafen wegen einer Geſinnung, die
ihm unter Altenſtein Dank und Ehren eingebracht hatte. Leider wollte
der König von Schonung nichts hören; er verabſcheute Dieſterweg als
einen Mann des Unglaubens und empfand es als eine perſönliche Be-
leidigung, daß der Seminardirektor auf einer großen Berliner Lehrerver-
ſammlung faſt wie ein rationaliſtiſcher Gegenminiſter verherrlicht wurde.
Als Dieſterweg nach Peſtalozzi’s hundertjährigem Geburtstag um Unter-
ſtützung für ein ländliches Erziehungshaus nachſuchte, da ſchlug der König
die Bitte vorläufig ab, mit der ungnädigen Bemerkung: bei der Feier
habe ſich ein dem frommen Sinne des Gefeierten durchaus fremder Geiſt
offenbart. Bald darauf, im Frühjahr 1847 wurde Dieſterweg an eine
Blindenanſtalt verſetzt. Da er dieſer Zumuthung unmöglich entſprechen
[243]Entlaſſung Dieſterweg’s. Die Gymnaſien.
konnte, ſo trat er einſtweilen in den Ruheſtand, und der tief gekränkte
Mann wendete ſich fortan mit ſeiner einſeitigen Strenge ganz dem Ra-
dicalismus zu. Die unüberlegte Härte der Regierung rächte ſich grau-
ſam; in allen Zeitungen begannen die ergrimmten Volksſchullehrer einen
anonymen Federkrieg, der den Namen Eichhorn’s ganz in Verruf brachte.
Auch die Gymnaſiallehrer betrachteten das neue Regiment mit Miß-
trauen, da die Literariſche Zeitung den heidniſchen Geiſt des humaniſtiſchen
Unterrichts in thörichten Artikeln zu bekämpfen liebte. Die Beſorgniß war
freilich grundlos. Der König und ſein Miniſter ſtanden Beide viel zu
hoch um die befreiende Macht der claſſiſchen Bildung zu verkennen; ſie
ließen ſich weder durch jenen chriſtlichen Uebereifer beirren noch durch die
Plattheit der Nützlichkeitslehrer, die eben jetzt in einem Theile der libe-
ralen Preſſe wieder ſehr laut forderten, daß die deutſche Jugend nicht mehr
zum ſelbſtändigen Denken erzogen, ſondern durch das Einprägen mannich-
faltiger Notizen für das praktiſche Leben abgerichtet werden ſollte.
Die Gymnaſien blieben ungeſtört bei ihrem altbewährten Lehrplane,
und Eichhorn erweiterte ihn durch die dankenswerthe Wiedereinführung des
Turnens. Nur der Religionsunterricht wurde gründlich umgeſtaltet. Er war
ſeit dem Anfang des Jahrhunderts auf den meiſten evangeliſchen Gym-
naſien Preußens und der Nachbarlande ertheilt worden nach dem Lehr-
buche des Hallenſer Kanzlers Niemeyer, des gefeierten Pädagogen, der einſt
als Urenkel Francke’s die Schulſtiftungen ſeines Eltervaters lange Jahre
hindurch geleitet, mehrere der erſten Beamten Preußens, Vincke, Baſſewitz,
Merckel, Bodelſchwingh und viele andere namhafte Männer erzogen hatte.
Das Lehrbuch zeigte alle Charakterzüge des alten Rationalismus, der jetzt zu
Grabe ging: bürgerliche Ehrbarkeit, humane Milde, nüchterne Verſtandes-
dürre; und dieſelbe Macht der Geſchichte, welche vor Zeiten das Halliſche
Waiſenhaus, das eigenſte Werk des glaubensſtarken Pietismus, in die
Bahnen der Aufklärung hinübergeleitet hatte, mußte jetzt zu einem neuen
Rückſchlage führen. Dem wieder erſtarkten religiöſen Gefühle konnte Nie-
meyer’s moraliſirende Trockenheit nicht mehr genügen. Eichhorn that
nur ſeine Pflicht, er hielt Schritt mit den lebendigen Kräften der evan-
geliſchen Kirche, als er nach dem Erſcheinen der achtzehnten Auflage das
veraltete Lehrbuch aus den Schulen entfernen ließ. Umſonſt bemühte ſich
Herm. Agathon Niemeyer, der Nachfolger des alten Kanzlers in dem
Franckiſchen Familienamte, das Buch ſeines Vaters gegen den Miniſter zu
vertheidigen. Auch andere Gymnaſiallehrer, die ſich einen Primaner ohne
das Niemeyer’ſche Lehrbuch gar nicht vorſtellen konnten, betrachteten das
Verbot als ein Anzeichen hereinbrechenden Geiſtesdrucks; und gereizt wie
man war, verargte man dem Miniſter ſelbſt nothwendige Maßregeln dis-
ciplinariſcher Strenge. Oberlehrer Witt, einer von Schön’s literariſchen
Schildknappen, wurde überall in der Preſſe wie ein Glaubensheld verherr-
licht, weil er ſich weigerte aus der Redaktion der ſcharf oppoſitionellen Königs-
16*
[244]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
berger Zeitung auszutreten und dann durch gerichtlichen Spruch die ver-
diente Strafe empfing. Neben dem Rechte der ſouveränen Ueberzeugung
ſollte die Amtspflicht des Lehrers gar nichts mehr gelten.
Alſo gelangte Eichhorn in ſeiner achtjährigen Unterrichtsverwaltung
nirgends zu Neuſchöpfungen, ſondern nur zu vereinzelten Anläufen und
Eingriffen, welche das Nahen eines neuen Syſtems verkündigen ſollten;
und dieſe Verſuche genügten um die geſammte Gelehrten- und Lehrerwelt,
von Humboldt bis herab zu den Schulmeiſtern mit Groll zu erfüllen.
Die Demagogenverfolgungen der früheren Tage erſchienen nunmehr faſt
erträglich, da ſie ſich doch nur gegen vermeintliche Staatsverbrechen ge-
richtet und die Lehre nicht berührt hatten; das aber war ſeit Langem un-
erhört und widerſprach allen Lebensgewohnheiten der proteſtantiſchen Welt,
daß jetzt von oben her verſucht wurde die Wiſſenſchaft ſelber zu meiſtern
und zu gängeln. Da man aus monarchiſcher Ehrfurcht den König ſelbſt
ſchonen und den geiſtreichen Fürſten auch nicht für einen entſchiedenen
Feind des untrüglichen Zeitgeiſtes halten wollte, ſo bildete ſich in weiten
Kreiſen die grundfalſche Vorſtellung: daß der Monarch durch die Rotte
von Dunkelmännern, die ihn umgäbe, halb wider Wiſſen und Willen
der Gegenwart entfremdet würde, und der Dunkelſte dieſer Dunkeln ſollte
Eichhorn ſein.
In ſolchem Argwohn wurde die gelehrte Welt beſtärkt durch die
Wandlung, die ſich allmählich in den ſtrengkirchlichen Parteien vollzog.
Hengſtenberg hielt ſich wie immer ganz unabhängig, er verhehlte nicht,
daß ihm der neue Cultusminiſter viel zu liberal war. Gleichwohl galt
ſeine Evangeliſche Kirchenzeitung überall für ein Organ des Miniſteriums,
und ſie zeigte immer deutlicher, daß die neue, mit ihrem alten Feinde,
dem Pietismus, verſöhnte Orthodoxie gradeswegs zurückſtrebte zu dem
ſtarren Lutherthum des ſiebzehnten Jahrhunderts; jede theologiſche For-
ſchung, die über dieſe Grenze hinausging, ward als ungläubig verdammt.
So entſtand, unnatürlich genug, eine breite Kluft zwiſchen dem kirchlichen
Glauben und der modernen Wiſſenſchaft. Denn wahrlich nicht blos die
radicalen Junghegelianer, ſondern grade die beſten Köpfe der jungen em-
piriſchen Wiſſenſchaft, die eben erſt zur Freiheit vorausſetzungsloſen For-
ſchens hindurchgedrungen waren, ſträubten ſich wider die Zumuthung,
daß ſie zurückkehren ſollten zu den Ideen einer der dumpfſten Zeiten deut-
ſcher Geſchichte; nicht darum hatten ſie die Feſſeln der philoſophiſchen
Scholaſtik geſprengt um nun theologiſche Ketten zu tragen. Seit die
Orthodoxie wider die freie Wiſſenſchaft eiferte, verbreitete ſich unter den
Mittelklaſſen weiter denn jemals das alte, in der Geſchichte der neuen
deutſchen Bildung ſo tief begründete Vorurtheil, als ob der ernſte Kirchen-
glaube nur das Erbtheil der Schwachköpfe, der Duckmäuſer und der Heuchler
wäre. Zudem forderten die neuen Lutheraner, wie die alten, für das
geiſtliche Amt in der Kirche eine Herrſcherſtellung, welche ſich mit der
[245]Pietismus. Praktiſches Chriſtenthum.
evangeliſchen Idee des Prieſterthums der Laien nicht mehr vertrug, und
näherten ſich alſo, trotz des tiefen Gegenſatzes der ſittlichen Grundgedanken,
den hierarchiſchen Anſichten der Ultramontanen, während das gebildete
Bürgerthum bereits begann die conſtitutionellen Ideale der Zeit in das kirch-
liche Leben hinüberzutragen und irgend eine Form des Repräſentativſyſtems
für die evangeliſche Landeskirche erhoffte. Endlich zeigte der neue lutheriſche
Pietismus, ſcheinbar mindeſtens, eine ariſtokratiſche Färbung, welche den
ſtillen Adelshaß der bürgerlichen Klaſſen aufreizen mußte. Der alte
Pietismus hatte ſeine feſte Stütze an den kleinen Leuten gefunden, und
ſolcher Stillen im Lande gab es noch immer viele, aber an der Spitze
dieſer Erweckten ſtanden jetzt faſt überall neben den Geiſtlichen fromme
Edelleute. Da waren in Mecklenburg die Bernſtorff, Oertzen, Baſſewitz,
am Niederrhein der edle Graf von der Recke, in Pommern die Below,
Blankenburg, Kleiſt-Retzow, in Schleſien der adliche Kreis, der ſich um
die Prinzeſſin Marianne und die Gräfin Reden ſchaarte.
Nun gar in Berlin wurde die ſtrengkirchliche Geſinnung, ſeit der Hof
ſie begünſtigte, bald zur Modeſache der vornehmen Welt, und neben der ehr-
lichen Frömmigkeit trat auch oft eine ſcheinheilige Kopfhängerei zu Tage. Zu
den Bibelſtunden des Generals Thile drängte ſich manches ehrgeizige Welt-
kind; ſelbſt in militäriſchen Kreiſen ſprach man allzuviel von Wiedergeburt
und Erleuchtung, und an jedem Sonntag zog eine Schaar ſtrebſamer Leut-
nants und Referendare, mit dem Geſangbuch in der Hand, zur Kirche
um ſich nachher in der Habel’ſchen Weinſtube unter den Linden beim Früh-
ſchoppen von der ausgeſtandenen geiſtlichen Mühſal zu erholen; der Volks-
witz nannte dieſe jungen Herren die naſſen Engel. Dies Alles im Verein
verſtimmte die bürgerlichen Klaſſen; der echt proteſtantiſche Abſcheu gegen
jeden Schein von Gewiſſensdruck und der kirchenfeindliche Radicalismus
der neueſten Literatur wirkten zuſammen. Wer ein wiſſenſchaftlich ge-
ſchulter, gut bürgerlicher Liberaler war, hielt ſich verpflichtet den Geiſt der
Finſterniß am Hofe zu bekämpfen; der Name der Pietiſten wurde bald
zum Schimpfwort, und nach wenigen Jahren dieſes chriſtlichen Regiments
zeigte ſich die große Mehrheit der gebildeten Berliner wieder ſo ganz un-
kirchlich geſinnt wie einſt vor dem Jahre 1806.
Ohne jedes Verſtändniß, nicht ſelten ſogar mit frivolem Spott be-
trachtete die liberale Welt alle die ſchönen Unternehmungen chriſtlicher
Liebe, in denen die ſtrengen Schriftgläubigen ihre religiöſe Thatkraft be-
kundeten. In einer Zeit, da die Maſſen des Volks ſchon in Gährung ge-
riethen und eine furchtbare ſociale Revolution ſich ankündigte, überließ
man gedankenlos alle Arbeit des praktiſchen Chriſtenthums allein der or-
thodox-pietiſtiſchen Partei. Während im alten Trappiſtenkloſter zu Düſſel-
thal, inmitten der katholiſchen Welt, das Kinder-Rettungshaus des Grafen
v. d. Recke fröhlich aufblühte, gründete nahebei in Kaiſerswerth Paſtor
Fliedner (1836) das erſte Diakoniſſenhaus, ein unſcheinbarer kleiner Mann,
[246]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
der doch, wenn es galt für ſeine frommen Stiftungen zu bitten, eine hin-
reißende Beredſamkeit entfalten konnte. Wie ſein alter Gönner, der Frei-
herr vom Stein, empfand er es längſt als ein Gebrechen, daß der Prote-
ſtantismus, von Männern in einem männiſchen Jahrhundert geſchaffen,
dem ſtarken religiöſen Gefühle der Frauen gar keine kirchliche Wirkſam-
keit zu bieten wußte; in frohem Gottvertrauen ſchritt er an’s Werk, und
aus dem beſcheidenen Kaiſerswerther Mutterhauſe ging allmählich die
große evangeliſche Schweſterſchaft der Diakoniſſen hervor, die im Laufe
der Jahre tauſende frommer Frauen zur Armen- und Krankenpflege, zu
allen Werken chriſtlicher Barmherzigkeit heranrief. Noch höhere Aufgaben
ſtellte ſich Wichern, der Stifter des Rauhen Hauſes. Er ſah, wie kläglich
die Maſſen in Groll und Elend verkamen, und wie gleichmüthig die höheren
Stände, bethört durch die Lehre von der angeblichen Unwandelbarkeit der
volkswirthſchaftlichen Naturgeſetze, ihre Pflichten gegen die leidenden Brüder
verabſäumten. Wichtiger noch als die Heidenmiſſion erſchien ihm die Aufgabe
der „inneren Miſſion“ — der Name begann ſeit 1842 aufzukommen —
die im Vaterlande ſelbſt den ſittlichen und wirthſchaftlichen Nothſtand der
niederen Klaſſen lindern ſollte. Jedes warme Chriſtenherz, ohne Unter-
ſchied der Parteien, wollte er für dies Liebeswerk gewinnen, und ſeine
Schuld war es nicht, daß ſeine Pläne nur bei den Orthodoxen, zunächſt
in Mecklenburg Anklang fanden. Die Berliner Armenpflege verſuchte
Otto v. Gerlach in chriſtlichem Sinne neu zu geſtalten, neben ihm der
greiſe Baron Kottwitz, der ſich glücklich pries noch die Anfänge dieſer
gottſeligen Regierung zu erleben. Für die Reform des arg verwahrloſten
Gefängnißweſens wirkte ſeit Jahren ſchon Dr. Julius, ein warmher-
ziger Hamburger Jude, der ſich aus tiefer Ueberzeugung zum ſtrengen
Katholicismus bekehrt hatte; er wurde der Schöpfer der Gefängnißkunde in
Deutſchland und verlangte vornehmlich die Einführung der in der libe-
ralen Welt noch verrufenen Einzelhaft.
Allen dieſen frommen Werken folgte der König mit inniger Theilnahme;
ihm war dabei zu Muthe „wie wenn der Saft in die Bäume tritt“. Schon
als Kronprinz hatte er ſich über den Zuſtand der Zuchthäuſer und Gefäng-
niſſe Europas eifrig unterrichtet;*) jetzt berief er Julius als Hilfsarbeiter in
ſein Cabinet, und verſuchte, leider vergeblich, den edlen Deutſchamerikaner
Franz Lieber, einen der beredteſten Vertheidiger der Einzelhaft für die Leitung
der preußiſchen Strafanſtalten zu gewinnen.**) Auch ſeine engliſche Freundin
Eliſabeth Fry, die fromme Tröſterin der Gefangenen, wurde zum Beſuch ge-
laden; ſtundenlang ſaß ſie in ihrer hohen weißen Quäkermütze predigend
und lehrend zwiſchen der Königin und der Prinzeſſin Marianne; zu ihren
öffentlichen Vorträgen drängte ſich die vornehme Geſellſchaft, die Zeitungen
[247]Der Schwanenorden.
hatten nur Spott dafür. Fliedner brachte die erſten Diakoniſſen nach
Berlin, Wichern erhielt preußiſche Brüder für ſein Rauhes Haus zuge-
ſendet, Beide wurden oft um Rathſchläge und Gutachten angegangen*),
und freudig verſprach Eichhorn ſeine Unterſtützung für die Pläne der
inneren Miſſion.
Dem Könige genügte das nicht. Um den chriſtlichen Charakter ſeiner
Regierung feierlich zu bekunden, wollte er alle die Vereine, welche „das
Chriſtenthum durch Leben und That bewieſen“, zu einer großen monar-
chiſch geleiteten Geſellſchaft verbinden. Darum beſchloß er den längſt ver-
ſchollenen Schwanenorden zu erneuern, eine freie geiſtliche Genoſſenſchaft,
welche ſein Ahnherr Kurfürſt Friedrich II. vor grade vierhundert Jahren
geſtiftet hatte. Romantiſche Erinnerungen an die ſchönen Grabſteine der
Schwanenritter in der Ansbacher Stiftskirche und an die prächtige Kapelle
der geiſtlichen Adelsbrüderſchaft zu Haßfurt mochten dabei wohl mitwirken.
Zu Weihnachten 1843 verkündete er dieſe Abſicht in einem hochpathetiſchen
Patente, deſſen alterthümlich klingende Sätze er mit Eichhorn und Thile
vereinbart hatte; der Thronfolger wurde erſt nachträglich unterrichtet, offen-
bar weil man ſeine nüchterne Kritik fürchtete.**) König und Königin über-
nahmen das Großmeiſterthum des wiederhergeſtellten Ordens und hofften
auf den Zutritt von „Männern und Frauen ohne Unterſchied des Standes
und Bekenntniſſes“. Wie dieſer Eintritt erfolgen, wie die beſtehenden
Vereine ſich dem Orden angliedern ſollten, darüber ſagte das Patent nichts.
Der edel gedachte Plan war leider nur ein unreifer Einfall, ſo nebelhaft, ſo
geſtaltlos, daß ſelbſt Wichern meinte, man müſſe die Idee des Schwanen-
ordens erſt in’s Deutſche unſerer Tage überſetzen, und er erregte einen
Sturm der Entrüſtung in der öffentlichen Meinung. Nun ſchien es doch
klar erwieſen, daß die Chriſtlichkeit dieſes Hofes allein einer phantaſtiſchen
Schrulle entſprang. Ein mittelalterlicher Orden und noch dazu als höch-
ſtes Ordenszeichen das Bild der heiligen Jungfrau über dem Schwane
an goldener Kette hängend: — das vermochten die aufgeklärten Berliner
nicht zu ertragen. Der Hohn und der Abſcheu ſprachen ſich überall kräftig
aus; weder Katholiken noch Proteſtanten konnten ſich mit der ſeltſamen
Stiftung befreunden. Sogar Bunſen wurde jetzt bedenklich; und er hatte
vor Kurzem noch dieſen Orden ſchwärmeriſch begrüßt als eine chriſtliche
Centralgewalt, welche Rom vernichten müſſe. Da verlor der König den
Muth und gab den Schwanenorden ſtillſchweigend auf.
Nur einige der großen Stiftungen, die er unter ſeinem Orden hatte
vereinigen wollen, kamen zu Stande, obgleich die öffentliche Meinung, wie
General Thile ſelbſt geſtand, „dem ſpecifiſch chriſtlichen Geiſte“ dieſer An-
[248]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ſtalten auf’s Aeußerſte widerſtrebte.*) Im Herbſt 1847 wurde das mit
königlicher Freigebigkeit ausgeſtattete Krankenhaus Bethanien eröffnet. Flied-
ner’s Diakoniſſen zeigten hier zum erſten male was ſie in großen Ver-
hältniſſen zu leiſten vermochten; die erſte Oberin Marianne von Rantzau
und ihre Nachfolgerin Gräfin Anna Stolberg, des Miniſters Tochter, war-
teten ihres ſchweren Amts in chriſtlicher Treue, und nach mancher Ent-
täuſchung zuletzt mit ſo günſtigem Erfolge, daß die Spötter und die Zweifler
verſtummen mußten. Bald nachher kam der Bau des neuen Moabiter
Zellengefängniſſes zum Abſchluß; die Anſtalt ſollte nach Julius’ Grund-
ſätzen geleitet werden, und auch ſie mußte erſt lange Jahre unfertiger
Verſuche und bitterer Anfeindung überſtehen, bis ihre Wirkſamkeit allgemein
anerkannt wurde. Mehr zu erreichen war in dieſer gährenden Zeit unmög-
lich, die Regierung wagte nicht einmal Wichern nach Preußen zu berufen.
Erſt als die Noth wieder beten lehrte, als in den Kämpfen der Revolution
die Verwilderung des armen Volks den beſitzenden Klaſſen drohend unter
die Augen trat und ſie an alte Unterlaſſungsſünden mahnte, da erſt ſollte
der fruchtbare Gedanke der inneren Miſſion ſich in mannichfachen chriſtlichen
Vereinen ausgeſtalten und Anhänger werben auch unter denen, welche bisher
den Pietismus verhöhnt hatten. —
Für jetzt freilich ſtanden die Gegenſätze einander noch ganz unvermittelt
gegenüber. Das ungeheuerliche Durcheinander von Mißverſtändniſſen und
Mißerfolgen, von Verſuchen und Enttäuſchungen mußte zu einer Kataſtrophe
führen. Niemand vielleicht ſah dies früher voraus als Bettina v. Arnim.
Glückſelig hatte ſie bei der Thronbeſteigung ihres königlichen Freundes
„den Frühling des geliebten Preußenlandes“ begrüßt; doch ſchon nach
wenigen Monaten ſagte ſie in tiefer Herzensangſt mit dem Ahnungsver-
mögen des genialen Weibes: „wir müſſen den König retten.“ „Die
Schmach der Geiſtesknechtſchaft“, das glaubte ſie feſt, ging nicht von dem
Könige aus; nur ſeine pergamentnen Staatsverwalter, Eichhorn und ihr
Schwager Savigny, den ſie weit zu überſehen wähnte, beirrten ihn in
ſeinen edlen Vorſätzen. Um ihn aus ſolchen Banden zu befreien ver-
öffentlichte ſie 1843 die wunderliche Schrift: „Dies Buch gehört dem Könige.“
Groß zu denken von den Menſchen blieb ihr von jeher Bedürfniß; in
jedem Kinde Gottes erkannte ſie den geborenen Helden, wenn man ihm
nur volle Freiheit gewähre. Dieſe optimiſtiſche Weltanſchauung war frei-
lich das genaue Gegentheil der ſtolzen Menſchenverachtung, welche alle
großen Staatsmänner, alle mächtigen politiſchen Denker ausgezeichnet hat;
doch ſie entſprach den gemüthlichen Idealen der beſten und uneigennützig-
ſten Männer der deutſchen liberalen Partei. Alſo gelangte die romantiſche
Schweſter der hoch-clericalen Gebrüder Brentano zu einem Liberalismus
des Herzens. Wie ſie einſt für die Befreiungskriege der Tyroler und der
Preußen geſchwärmt hatte, ſo jetzt für den Kampf um die bürgerliche Frei-
[249]Bettina’s Königsbuch. Prutz’s Wochenſtube.
heit, und nach Frauenart erwarmte ſie noch mehr, ſeit ihr die Ideen des
neuen Geſchlechts in Fleiſch und Blut menſchlich nahe traten.
Nun da ihre Locken ergrauten und ihr Herz doch nicht altern wollte,
wendete ſie ſich mit Vorliebe an die Jugend; den Studenten widmete ſie mit
dithyrambiſcher Weiherede ihr rührendes Erinnerungsbuch „die Günderode“.
Geiſtreiche junge Männer verkehrten täglich mit ihr und begleiteten ſie auf
ihren Mondſcheinwanderungen durch den Thiergarten: ſo der liebenswür-
dige idealiſtiſche Aeſthetiker Moritz Carriere, ſo H. B. Oppenheim, ein
radicaler Publiciſt, der, als Schriftſteller ſehr langweilig, im Geſpräche,
wie ſo viele junge Juden, durch einen Zug genialiſcher Frechheit beſtach.
Und ganz jugendlich, ganz phantaſtiſch war denn auch das Idealbild des
demokratiſchen hochherzigen Fürſten, das ſie in ihrem Königsbuche ihrem
erlauchten Freunde vorhielt: im Staate allenthalben nur Milde, Nachſicht,
Verſtändniß; das Richtbeil begraben; die Freiheit jedes Einzelnen durch
die Freiheit Aller verbürgt, da ein großer Monarch ſich nicht wie ein
Schulmeiſter in jeden Stank miſchen dürfe; und über allem Haſſe der
Bekenntniſſe die eine „ſchwebende Religion“ der Zukunft, bei deren fried-
licher Schönheit jedes warme Menſchenherz ſich wohl fühlen ſollte. Das
Alles wurde von Goethe’s Mutter, der Frau Rath in lebendigen Geſprächen
verkündigt; dazwiſchen hinein hochpoetiſche Schilderungen, anmuthige Er-
zählungen von Königin Luiſe und von Weimars großen Tagen; das Ganze
ein ſo formloſes Durcheinander hoher menſchenfreundlicher Gedanken und
barocker Einfälle, daß der König enttäuſcht ſagte, er wiſſe mit dem Buche
nichts anzufangen. Greifbaren Inhalt zeigte die Schrift nur in ihren
letzten Abſchnitten, die von den ſocialen Aufgaben der Zeit handelten. Die
edle Frau empfand das Elend des armen Volks ebenſo tief wie die Dunkel-
männer der inneren Miſſion, von denen ſie doch nichts wiſſen wollte.
Sie ließ ſich’s nicht verdrießen, mit ihren jungen Freunden die entſetzlichen
Arbeiterkaſernen des Berliner Vogtlandes zu beſuchen, und erzählte nun,
nichts verhüllend, was ſie dort unter den arbeitsloſen Webern erlebt hatte.
Ergreifend klang ihre Mahnung: Wer iſt des Königs Nächſter? ſein hun-
gerndes Volk!
Derber, handfeſter ging Robert Prutz dem neuen Regimente zu Leibe
in ſeiner Politiſchen Wochenſtube, einer ariſtophaniſchen Komödie, die, den
Literaturdramen Platen’s nachgebildet, doch unwillkürlich darüber hinaus-
ſtrebte; denn die Literatur war jetzt ſo eng mit der Politik verflochten,
mit einem Bilde des Bildes der Welt konnte ein heißblütiger junger Poet
ſich nicht mehr begnügen, er mußte verſuchen ein Weltenbild zu geben.
Unſagbar traurig erſchien das Bild der preußiſchen Welt, das ſich hier
entrollte. Ausgelaſſen und übermüthig, nicht ohne die Ungerechtigkeit, die
der komiſchen Muſe erlaubt ſein muß, aber mit entſchiedenem ſatiriſchem
Talente ſchilderte der Dichter in luſtigen Zerrbildern und ſaftigen Späßen
die vergeblichen Geburtswehen der Offenbarungsphiloſophie, die glänzenden
[250]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
und doch ſo unfruchtbaren Berufungen, die ewigen Verheißungen, denen
keine That folgte. Der boshafte Chorgeſang
ſprach den Grundgedanken des Gedichtes aus: allüberall nur ein großes
Mißlingen, und zuletzt nur die Hoffnung, daß dereinſt einmal ein Mann
erſtehen würde, Germania’s wahrer Bräutigam, ein Rächer dem hoffenden
Volke. Dieſe Keckheit verwickelte den Verfaſſer in eine Anklage wegen Maje-
ſtätsbeleidigung; der König aber ſchlug großmüthig das Verfahren nieder. —
Wie getreu dieſe ſpöttiſche Dichtung die erbitterten, argwöhniſchen
Stimmungen der gebildeten Klaſſen wiederſpiegelte, das mußte Friedrich
Wilhelm ſchmerzlich erfahren bei einer Reformarbeit, die ihm als heilige
Pflicht erſchien, bei dem Verſuche die Ehegeſetzgebung zu reinigen. Das
Preußiſche Landrecht hatte mit der alten willkürlichen Theologenlehre,
welche nur Ehebruch und bösliche Verlaſſung als bibliſche Scheidungs-
gründe gelten ließ, gänzlich gebrochen und, im Geiſte der neuen Aufklärung,
die Eheſcheidung ſehr erleichtert, da der große König die Vermehrung
der Bevölkerung grundſätzlich begünſtigte. Die dehnbaren Vorſchriften
des Geſetzes wurden zudem von den Untergerichten, denen die Entſchei-
dung in der Regel überlaſſen blieb, ſo leichtfertig gehandhabt, daß die
frivolen Scheidungsklagen auf Grund unüberwindlicher Abneigung oder
gegenſeitiger Einwilligung, die der Geſetzgeber nur in Ausnahmefällen
hatte zulaſſen wollen, ſich mehr und mehr häuften. Das Verfahren war
meiſt ohne Ernſt und Würde; der junge Referendar Otto v. Bismarck
fühlte ſich in tiefſter Seele empört, als er auf dem Berliner Stadtgerichte
mit anſehen mußte, wie gleichmüthig man die tragiſchen Kämpfe des
häuslichen Lebens abzuthun pflegte. Die öffentliche Meinung fand an
der bequemen Praxis der Gerichte wenig auszuſetzen; denn bewußt oder
unbewußt ſtand ſie noch unter der Herrſchaft des alten Vernunftrechts,
das in der Ehe lediglich einen freien privatrechtlichen Vertrag ſah, und aus
der neuen Dichtung hatte ſie die Lehre von dem ſchrankenloſen Rechte des
Herzens geſchöpft. Nur Wenige erkannten, daß die Ehe die ſittliche Grund-
lage alles menſchlichen Gemeinweſens iſt und darum auch dem Staats-
rechte und dem Kirchenrechte angehört. Zu dieſen Wenigen zählte der
alte König, der mehrmals, ſehr dringend noch in ſeinem letzten Regie-
rungsjahre, das unbehilfliche Geſetzgebungsminiſterium zu einer Reviſion
des Eherechts aufforderte. Damals ward auch der Kronprinz auf die
ſchreienden Uebelſtände aufmerkſam; er ließ ſich von Bunſen ein umfäng-
liches Gutachten erſtatten; und unabläſſig drängte ihn Ludwig v. Gerlach
zum Kampfe wider das Landrecht, das der geſtrenge Hallerianer kurzab
„der Feindſchaft gegen Kirche, Ehe und Recht“ beſchuldigte.*)
[251]Berathungen über die Eheſcheidung.
Nach dem Thronwechſel ward die Reform alsbald ernſtlich erwogen
es galt den chriſtlichen Staat auf dem Boden des chriſtlichen Hausweſens
aufzubauen. Gerlach erhielt den Auftrag, unter Savigny’s Oberleitung
den Entwurf eines Eheſcheidungsgeſetzes auszuarbeiten; er rühmte das
Unternehmen als „eine Sr. Majeſtät perſönlich eigene, die innerſten,
tiefſten Tendenzen der Regierung des Königs bezeichnende Maßregel“.*)
Als gewiegter Kenner der Geſchichte gab der Miniſter unbefangen zu, daß
die Staatsgewalt weder Sittlichkeit erzwingen noch Unſittlichkeit verhüten
könne; genug, wenn ſie durch den Ernſt ihrer Geſetze verhindere, daß die
Begriffe des Volks von Recht und Unrecht, Gut und Böſe ſich verwirrten.
Trotzdem genehmigte er den Entwurf ſeines Freundes, der in purita-
niſchem Eifer weit über dieſe Grundſätze hinausging. Gerlach wollte von
den Scheidungsgründen des Landrechts ihrer elf aufheben, die Eheſchei-
dung in der Regel nur nach einer vorläufigen langen Trennung von
Tiſch und Bett geſtatten, den Ehebruch auch ohne den Antrag des ver-
letzten Gatten beſtrafen; ſo blieb gar kein Raum mehr für das chriſtliche
Verzeihen und Erbarmen, das doch von ſolchen, mehr ſittlichen als recht-
lichen Streitfällen nicht ausgeſchloſſen werden darf.
Kaum hatte Savigny dieſe Vorſchläge im November 1842 dem Staats-
miniſterium unterbreitet, ſo wurden ſie ſchon widerrechtlich in den Zeitungen
veröffentlicht, gewiß nicht ohne die Mitſchuld eines der unzufriedenen
alten Geheimen Räthe, die faſt alleſammt noch auf dem Boden des Land-
rechts ſtanden. Die Wirkung war furchtbar. Auf der ganzen Linie der
liberalen Preſſe erſcholl der Lärmruf: die Grundſätze Friedrich’s des
Großen werden preisgegeben, die Krone will die Unauflöslichkeit der Ehen
anbefehlen. Der alte Argwohn gegen Friedrich Wilhelm’s katholiſche Nei-
gungen ſprach ſich überall lebhaft aus; und, wie üblich, wurde Eichhorn
wieder als der Urheber alles Unheils verläſtert, obgleich er bei dieſem
Geſetze nur in zweiter Reihe mitwirkte. Die Königsberger Zeitung ver-
herrlichte die Scheidungen auf Grund unüberwindlicher Abneigung alſo:
„wir halten dieſe Beſtimmung für die Blüthe unſerer Geſetzgebung, weil ſie
des freien Menſchen würdig iſt;“ ſie ſprach von „dem Schrei des Un-
willens in der ganzen Nation“ und ſchalt ſo ungebärdig, daß der König
das Blatt ſeinem Cabinetsminiſter ſendete mit der entrüſteten Frage:
„haben wir noch Richter, die nach dem Geſetze erkennen?“**) Auch an
frechen Geſellen fehlte es nicht, die nach den Lehren des Jungen Deutſch-
lands das freie Concubinat prieſen und die Zwangsehe der Frömmler
verhöhnten. Umſonſt vertheidigte Puchta die wohlberechtigten Grundgedanken
des Entwurfs in einer geiſtvollen Flugſchrift „die Eheſcheidungsfrage“; ſeine
ruhige Stimme verhallte in dem allgemeinen Toben.
[252]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Flehentlich beſchwor Gerlach die Krone, daß ſie ſich an den Lärm
nicht kehren möge: „Weicht man vor dem dreiſten Geſchrei der Zeitungen
in dieſer Sache zurück, bei welcher der König perſönlich ſo betheiligt iſt,
ja ſcheint es auch nur ſo — ſo wird die ſchlechte Preſſe durch ſo ecla-
tante Siege auf eine Weiſe ermuthigt werden, deren Folgen ſich nicht
berechnen laſſen.“ In gleichem Sinne ſprach Savigny; er ahnte tief be-
wegt, daß ſeine ganze Wirkſamkeit gefährdet war, wenn ſein erſter großer
Geſetzentwurf ſcheiterte.*) General Boyen hingegen konnte ſich des Ein-
drucks nicht erwehren, daß aus den verworrenen, leidenſchaftlichen Zorn-
reden der Oppoſition doch auch ein geſundes proteſtantiſches Gefühl ſprach;
es war ja der Unſegen dieſer Regierung der Mißverſtändniſſe, daß faſt
bei jedem Streite beide Theile Recht hatten, und trotz ſeiner altväte-
riſchen Frömmigkeit blieb der greiſe Kriegsmann immer in Fühlung mit
den Kantianern ſeiner oſtpreußiſchen Heimath. Er hielt ſich verpflichtet
den geliebten König zu warnen, „da ich, ſo wahr als Gott über mir iſt,
die Wendung, welche dieſe Sache in der öffentlichen Meinung genommen
hat, für höchſt bedenklich anſehe“. Dann hielt er in ſeiner herzgewinnen-
den, patriarchaliſchen Sprache dem Monarchen vor, daß die Erſchwerung
der Eheſcheidungen doch nicht überall die Sittlichkeit fördere: „Zu einer
vollſtändigen chriſtlichen Ehe gehört auch häuslicher Friede und vor Allem
chriſtliche Kinderzucht, und wo dieſem beharrlich von einer Seite entgegen-
gewirkt wird, da iſt — Ehebruch.“ Nach einer langen erbaulichen Erör-
terung mahnte er ſchließlich den König an das Beiſpiel Friedrich’s des
Großen, der auf den Wunſch einzelner Gemeinden die Einführung eines
Geſangbuchs zurückgenommen und „dabei in wahrhaft chriſtlichem Sinne
gehandelt habe“. Im erſten Augenblicke fühlte ſich Friedrich Wilhelm ſchwer
betroffen durch die Warnungen „des lieben, treuen Mannes“.**) Auf
Savigny’s Andringen beſchloß er jedoch endlich, den Entwurf, den ſchon
im Staatsminiſterium Graf Arnim lebhaft angegriffen hatte, zu er-
neuter Prüfung dem Staatsrathe vorzulegen.***)
Fünf Monate hindurch verhandelte der Staatsrath nunmehr, ſeit
dem Januar 1843, über das Geſetz. Die Berathungen wurden bald ſo
ſtürmiſch, daß der greiſe Vorſitzende General Müffling die Streitenden
kaum im Zaume halten konnte, obgleich der König perſönlich manchen Sitz-
ungen beiwohnte und ſeine Vorliebe für den Entwurf deutlich zu erkennen
gab.†) In Vielem einverſtanden, erklärte ſelbſt der Prinz von Preußen
die Verkündigung eines ſo unbeliebten Geſetzes für hochgefährlich. Am
eifrigſten bekämpfte Präſident Scheller den Entwurf, ein Harzer, der einſt
[253]Das Eheſcheidungsgeſetz.
als Richter in den weſtlichen Provinzen das rheiniſche Recht und das
öffentliche Verfahren ſchätzen gelernt hatte. Er ließ es ſich nicht verdrießen,
zweimal wöchentlich mit der Poſt von Frankfurt zu den Sitzungen hin-
überzufahren; und es war ein Zeichen der Zeit, wie er und Gerlach ſich
mit einander maßen, Beide gleich würdige Vertreter des altpreußiſchen
Richterſtandes, gelehrt, freimüthig, beredt, Beide, der Liberale wie der
Romantiker, feſt davon überzeugt, daß ſie für die wahre Freiheit kämpften,
und doch ſo grundverſchieden in ihrer ganzen Weltanſchauung. Scheller
verlangte zum mindeſten, daß die Zahl der Scheidungsgründe nicht all-
zuſehr beſchränkt würde, damit der Richter der Mannichfaltigkeit der
Lebensverhältniſſe, die ſich grade in häuslichen Händeln überall aufdrängt,
einigermaßen gerecht werden könne. Er wagte ſogar zu behaupten, Ein-
heit des Eherechts ſei erſt möglich wenn man die bürgerliche Eheſchließung
einführe. Der beſte Beweis für dieſe Anſicht, die in den alten Provinzen
noch als ketzeriſch galt, lag in dem neuen Geſetze ſelber: der Entwurf
ſollte bürgerliches Recht enthalten und gab doch Ausnahmevorſchriften
für die geſchiedenen Katholiken, deren Trauung den Geiſtlichen aller Be-
kenntniſſe unterſagt wurde.
Mittlerweile fuhren die liberalen Zeitungen in ihren Zornreden fort,
und Gerlach hielt für nöthig, daß auch ſeine orthodoxen Geſinnungsge-
noſſen ihre Stimme erhöben. Unter der Hand ließ er ſeine Freunde
wiſſen, der König würde ſich freuen, wenn die Gläubigen für das chriſt-
liche Eherecht einträten; und nicht lange, ſo wurden, vornehmlich von pom-
merſchen Geiſtlichen, zahlreiche Bittſchriften eingeſendet, welche die Annahme
des Entwurfs empfahlen. Als aber der Prinz von Preußen erfuhr, wie man
den Namen des Monarchen mißbraucht hatte, da wallte ſein fürſtliches
Selbſtgefühl hoch auf, und in einer Sitzung des Staatsraths ſtellte er
den pommerſchen Biſchof Ritſchl, der ſelbſt allerdings an dieſen Umtrieben
nicht theilgenommen hatte, zornig zur Rede; er verlangte ſtrenge Unter-
ſuchung und ſchrieb dem Bruder: „ich hoffe, daß Du Ernſt zeigen wirſt.*)“
Nun kam Gerlach’s Mitſchuld bald zu Tage; der Heißſporn der Romantik
konnte ſich im Miniſterium nicht mehr halten und wurde, nachdem man
noch eine Weile gezaudert, im April 1844 unter allen Zeichen königlicher
Gnade als Präſident des Oberlandesgerichts nach Magdeburg verſetzt.
Zur ſelben Zeit lag auch der Geſetzentwurf endlich fertig vor; er
war im Staatsrathe weſentlich gemildert und gleichwohl von der Mehrheit
nur ungern angenommen worden, von Einzelnen wohl nur aus Ehrfurcht
vor dem Könige. Kühne, einer der heftigſten Gegner des Geſetzes, ſagte
grimmig: ein dicker, ſtickender Nebel der Heuchelei und der Beängſtigung
lag über den Verhandlungen. Jetzt erſt erhob ſich die peinlichſte Frage.
[254]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Durfte man wagen, mit dieſem im Voraus verleumdeten und verläſterten
Geſetze vor die Landtage zu treten? Nach der Verfaſſung mußte
mindeſtens der materielle Theil des Entwurfs den Provinzialſtänden
vorgelegt werden, weil er in das Perſonenrecht eingriff. Der König
ſchwankte; im Miniſterium konnte man ſich nicht einigen, Graf Arnim
namentlich beharrte bei ſeinem Widerſpruche. Auch Bunſen, der doch
urſprünglich das Unternehmen mit veranlaßt hatte, warnte jetzt, da er
Berlin wieder beſuchte, dringend vor der unheildrohenden öffentlichen
Stimmung. Da vermochte Friedrich Wilhelm nicht mehr Stand zu halten.
Am 28. Juni 1844 wurde plötzlich der kleinere, formale Theil des Ge-
ſetzes, der keiner ſtändiſchen Berathung bedurfte, als „Verordnung über
das Verfahren in Eheſachen“ veröffentlicht. Es war unzweifelhaft der beſt-
gelungene Theil des Werks, eine dankenswerthe Reform, auch darum er-
freulich, weil ſie auf die Neugeſtaltung des geſammten Proceſſes hin-
deutete. Die Entſcheidung der Scheidungsklagen wurde den Obergerichten
übertragen, und das Verfahren ſo frei geſtaltet, daß dem pflichtmäßigen
Ermeſſen der Richter ein weiter Spielraum blieb; ſelbſt an die Geſtänd-
niſſe der Parteien ſollten ſie, wegen der naheliegenden Gefahr der Col-
luſion, nicht unbedingt gebunden ſein. Nach den Erfahrungen der Ober-
gerichte dachte man ſpäterhin die Reform des materiellen Eherechts von
Neuem zu beginnen. Wie die Dinge lagen war dieſer halbe Erfolg faſt
unvermeidlich. Der König aber empfand es als eine Niederlage, daß er
einen Lieblingsplan vor dem Toben einer doch ſehr unklaren öffentlichen
Meinung großentheils zurückziehen mußte. Zudem war Gerlach aus dem
Rathe der Krone verdrängt und Savigny’s Anſehen ſchwer erſchüttert,
da er nach dritthalbjähriger Arbeit nur ein ſo beſcheidenes Ergebniß ge-
wonnen hatte.
Auch was der König ſonſt noch verſuchte um chriſtliche Sitte zu be-
leben, ſtieß überall auf unüberwindlichen Widerſtand. Mit vollem
Rechte fand er es anſtößig, daß die beſtehenden, ſehr milden Vorſchriften
über die Sonntagsfeier ſo nachläſſig gehandhabt wurden. Die Behörden
zeigten wenig Sinn für das kirchliche Leben, noch weniger für die Be-
drängniß des armen Volkes: was kümmerte ſie der Geſelle und der Ar-
beiter, wenn der Ladenbeſitzer oder der Fabrikant verſicherte, ſein Geſchäft
könne keine Unterbrechung ertragen? Die Zeit ſchien ganz vergeſſen zu
haben, daß der Sabbath die größte ſociale Wohlthat war, welche das Volk
Israel einſt der menſchlichen Cultur gebracht hatte. Wohl nicht ohne
Vorwiſſen des Königs richteten die evangeliſchen Geiſtlichen Berlins in
ſeinem erſten Regierungsjahre „ein Wort der Liebe“ an ihre Gemeinden
um ihnen die Heiligung des Feiertags an’s Herz zu legen und ſie wieder
zu erinnern an die Schleiermacher’ſche Lehre, daß alle Religion ſich nur
in der Gemeinſchaft bethätige. Leider erweckte dieſe warme Anſprache
nur Mißtrauen. Die liberale Preſſe witterte alsbald Unrath; am lau-
[255]Sonntagsfeier. Rheiniſche Autonomen.
teſten lärmten die jüdiſchen Journaliſten, weil ihre Leute zwar den jüdiſchen
Sabbath ſtreng einhielten, den chriſtlichen Sonntag aber für ihre Geld-
geſchäfte mit den Bauern zu benutzen pflegten. Bald erzählte man allent-
halben, der König und ſein unheimlicher Helfershelfer Eichhorn wollten
die harte, dem deutſchen Gemüthe unerträgliche engliſche Sonntagsfeier
einführen. Für dieſe finſtere Sitte hegte Friedrich Wilhelm allerdings,
weil er alles Engliſche überſchätzte, eine theoretiſche Vorliebe; doch war
er keineswegs geſonnen ſie ſeinem Volke aufzuzwingen. Ganz leiſe, ohne
Verletzung alter Gewohnheiten, wollte er die Zügel etwas feſter anziehen;
er verlangte nur, „daß die vorhandenen Beſtimmungen in Kraft bleiben
und das Dawiderhandeln endlich einmal beſtraft werden ſolle“.*) Selbſt
dieſe wahrlich beſcheidene Abſicht konnte er, bei dem allgemeinen ſtillen
Widerſtreben, nicht durchſetzen. Ebenſo gründlich ward er mißverſtanden,
als er einigen der ſtrengeren Geiſtlichen Berlins auf ihren Wunſch er-
laubte, ihre verwilderten Gemeindemitglieder im Hauſe zu beſuchen, und
dann den Plan faßte, eigene Hilfsgeiſtliche für dieſe ganz verabſäumten
Pflichten der Seelſorge anzuſtellen. Da hieß es ſofort, eine Sittenpolizei
mit geheimen Angebern ſolle eingeführt werden, und dieſe Gerüchte wirkten
ſo aufregend, daß der Prinz von Preußen ſelbſt das Miniſterium auf-
forderte ihnen öffentlich zu widerſprechen.**)
Wie konnte bei ſolcher Stimmung des Volks das neue Adelsgeſetz
gelingen, an dem der König ſieben Jahre hindurch in der Stille beſtändig
arbeiten ließ? Der Adel war der einzige der alten Geburtsſtände, der
ſich in einer demokratiſirten Geſellſchaft unter lauter Berufsſtänden noch
erhalten hatte, und gehörte doch zugleich ſelbſt dieſen neuen Berufsklaſſen,
den höchſten wie den niederſten an; darum erſchien er den neuen beſitzen-
den Klaſſen wie eine fremdartige, feindſelige Macht oder auch wie eine
Lächerlichkeit, und nichts konnte die öffentliche Meinung ſtärker beleidigen
als eine Begünſtigung adlicher Standesrechte. Das mußte noch der alte
König erfahren, als er (16. Jan. 1836) den Häuptern der alten rhei-
niſchen Reichsritterſchaft, nachher auch noch den Häuptern einiger weſt-
phäliſchen Geſchlechter, das Recht ertheilte, nach dem Brauche früherer
Zeit wieder durch autonomiſche Beſtimmungen über ihren Nachlaß zu
verfügen. Dieſe Cabinetsordre, die man nicht einmal in der Geſetzſamm-
lung abzudrucken wagte, war durch wiederholte Bitten der rheiniſchen Ritter-
ſchaft veranlaßt***) und bezweckte nur die alten Geſchlechter im Beſitze
ihrer Stammgüter zu erhalten; ſie kränkte keinen anderen Stand in
ſeinen Rechten, da ſie ja nur den jüngeren Söhnen des Adels ſelbſt ihre
Erbanſprüche verkümmerte. Doch ſie widerſprach dem gemeinen Rechte,
und wider jede ſociale Ungleichheit, wider jede Gebundenheit des Grund-
[256]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
beſitzes ſträubten ſich die Rheinländer auf’s Aeußerſte.*) „Die rheiniſchen
ritterbürtigen Autonomen“, wie man ſie ſpottend nannte, bildeten nun-
mehr eine Adelsgenoſſenſchaft, welche die Streitigkeiten ihrer Genoſſen
durch ein Standesgericht entſchied und für ihre Söhne eine Ritteraka-
demie in Bedburg gründete. Obwohl die Führer, Freiherr v. Mirbach
und Graf Spee wegen ihrer gemeinnützigen Thätigkeit allgemein geachtet
waren, ſo zeigten ſich in dem geſchloſſenen Adelsvereine doch bald ſehr
unerfreuliche Geſinnungen: Kaſtenſtolz, clericaler Uebereifer und ein rhei-
niſcher Particularismus, der, allem preußiſchen Weſen feind, beſtändig
nach dem geliebten Erzhauſe hinüberſchielte. Als Mirbach dem Könige
vorſtellte: der Adel dürfe nicht aufgehen in dem Stande der Ritterguts-
beſitzer, weil er mit der Krone des Geburtsrecht gemein habe und darum
ſie ſtütze — da erſchrak ſelbſt Thile und mahnte beſorgt: die Edelleute
würden gut thun, wenn ſie auch die Söhne anderer Grundherren in
ihre Ritterakademie aufnähmen.**) So kam es, daß der rheiniſche Provin-
ziallandtag ſich ſofort ſehr lebhaft wider die Sonderrechte der Ritterbürtigen
erklärte; einer der beſten rheiniſchen Juriſten, Frhr. v. Mylius, ſelber ein
alter Edelmann, ſtand voran im Kampfe für die Rechtsgleichheit. Die
Aufregung im rheiniſchen Bürgerthum hielt an, ein volles Jahrzehnt
hindurch; ſie wurde ſo ſtark, daß ſelbſt der alte Arndt und ein junger
Bonner Juriſt von ebenſo gemäßigter liberaler Geſinnung, H. Hälſchner ſich
in ſtreitbaren Flugſchriften wider die ritterbürtigen Autonomen wendeten.
Solche Erfahrungen mußten dem Könige zeigen, wie viel ſocialen
Unfrieden ein Adelsgeſetz aufwühlen konnte. Und war denn die erſehnte
Adelsreform wirklich ſo unerläßlich? Hinter dem Glanze und dem
Reichthum der engliſchen Ariſtokratie blieben die kleinen landſäſſigen Ge-
ſchlechter der alten Provinzen Preußens freilich unendlich weit zurück;
aber ſo gewiß die Kraft des Adels in ſeiner politiſchen Thätigkeit liegt,
ebenſo gewiß brauchten ſie, als ein monarchiſcher Adel, den Vergleich mit
Englands parlamentariſchem Adel nicht zu ſcheuen. Neben der Krone
bedeuteten ſie wenig, doch in ihrem Dienſte hatten ſie mitgewirkt an dem
Heldenthum einer großen Geſchichte; ſie bildeten noch immer den Kern
des Offizierscorps, behaupteten ſich durch eigenes Verdienſt in den Reihen
des Beamtenthums, trugen in vielen Landestheilen die ſchwerſten Pflichten
der ländlichen Selbſtverwaltung und ergänzten ſich zumeiſt aus bürgerlichen,
im Staatsdienſte heraufgekommenen Familien, ganz ſo wie einſt die alten
Miniſterialen ſelbſt über die Gemeinfreien emporgeſtiegen waren. Bunt
gemiſcht wie er war aus altem Grundadel, neuem Dienſtadel und zahl-
reichen ſchlechten Elementen durfte ein ſolcher Stand doch verlangen, daß die
Krone ihm ſeine Traditionen nicht zerſtörte, und zu dieſen zählte der alte
[257]Das Adelsgeſetz.
deutſche Rechtsſatz, daß jeder Sohn eines Edelmanns ſelbſt ein Edelmann
war. Davon wollten die preußiſchen Adlichen ebenſo wenig abgehen, wie
ſie ſich dazu verſtanden hätten, nach engliſcher Weiſe in Folge eines Erb-
falls ihre Namen zu wechſeln. Eine Regierung, die ſich ihres hiſtoriſchen
Sinnes rühmte, durfte ſolche Thatſachen nicht verkennen; war ſie klug,
ſo mußte ſie dieſen Stand, der eigentlich gar keine ſociale Organiſation
mehr beſaß, ſich ſelbſt überlaſſen und zunächſt abwarten, welche Geſchlechter
in den ewig wogenden Klaſſenkämpfen der neuen Geſellſchaft durch Beſitz
und Verdienſt ein ariſtokratiſches Anſehen noch behaupten würden. Der
König aber konnte ſein engliſches Ideal nicht aufgeben; er wollte durch-
aus, wie er es ſchon bei den Adelserhebungen der Huldigungstage ver-
geblich verſucht hatte, einen eigentlichen Grundadel ſchaffen, der an dem
befeſtigten Grundbeſitze untrennbar haften ſollte. Beharrlich künſtelte er
an dieſen unfruchtbaren Plänen. Nach dem Grundſatze der ſtändiſchen
Gliederung dachte er auch allen Edelleuten den Eintritt in niedere Be-
rufsklaſſen zu unterſagen, um alſo die Sitten des Standes zu heben.
„Eine Hauptſache — ſo beſtimmte er in einem Briefe an Thile — iſt
die Ablegung des Adels bei gewiſſen Handtirungen, vornehmlich und un-
erläßlich aber beim Ergreifen des Comödianten-Handwerks.“ Indem er
alſo ſchrieb, begann er doch ſelbſt die Unausführbarkeit ſeiner Gedanken
zu ahnen, und ſchon leiſe einlenkend fügte er in einer Nachſchrift hinzu:
den königlichen Hofſchauſpielern würde man den Adel ſchwerlich nehmen
können.*)
Nach langen Vorbereitungen hielt er endlich am 10. Sept. 1846
in Sansſouci einen Kronrath, zu dem nur die adlich geborenen Miniſter
entboten waren. Hier erklärte ſich der Prinz von Preußen, und mit ihm
die große Mehrheit, ſehr nachdrücklich gegen den Plan, die Vererbung des
Adels auf einen Theil der Nachkommenſchaft zu beſchränken: das wider-
ſpreche der nationalen Gewohnheit und müſſe im Adel ſelbſt bedenkliche
Spaltungen bewirken.**) Der Monarch ließ ſich nicht überzeugen. Nach
ſeinen Weiſungen vollendete Savigny nunmehr, gegen Neujahr 1847,
den Entwurf eines Adelsgeſetzes, das neben dem alten Erbadel noch einen
bedingt erblichen, an der Scholle haftenden Grundadel ſchaffen wollte;
dazu drittens einen perſönlichen Adel für hohes Verdienſt und ſchließlich
gar noch eine halbadliche Ritterſchaft oder Gentry für die Söhne der
Neugeadelten.
So ſollte denn Preußens niederer Adel, der doch gerade wegen ſeiner
Ueberzahl in der öffentlichen Achtung geſunken war, noch um einige neue
Klaſſen vermehrt werden; ja ſogar die rheinbündiſche Inſtitution des Per-
ſonaladels, die in Süddeutſchland den Erbadel ſo tief heruntergebracht
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 17
[258]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
hatte, erſchien dieſer romantiſchen Staatskunſt als ein Heilmittel. Solchen
Sprüngen wollte ſelbſt Thile nicht mehr folgen. Radowitz aber, dem
der Entwurf nach Karlsruhe zugeſendet wurde, antwortete mit ſchönem
Freimuth: „Euerer K. Majeſtät Anordnungen zur Belebung und Gliede-
rung des Adels würden in den weiteſten Kreiſen nur auf Mißtrauen
und Gehäſſigkeit ſtoßen, in dieſer Atmoſphäre aller Lebenskraft von vorn-
herein ermangeln und ſtatt des gehofften Nutzens nur neue Gefahren und
Verlegenheiten bereiten.“*) Dieſe Warnung wirkte für den Augenblick.
Die Entwürfe blieben vorläufig liegen, zum Glück für die Regierung; denn
das Bürgerthum war ſchon durch die umlaufenden Gerüchte erbittert
worden und erzählte ſich überall, der König wolle eine adliche Bank am
Kammergericht errichten. Dann brach die Revolution herein und zwang
den Adel, die Reformen, die ihm der Staat nicht bringen konnte, aus
ſich ſelbſt heraus zu verſuchen, ſo weit dies noch möglich war. Seitdem
erſt begannen die Geſchlechter, die ſich noch ein ariſtokratiſches Gefühl
bewahrt hatten, durch Familientage und Satzungen, durch Stiftungen
und Familien-Geſchichtswerke den erſchlafften und oft entarteten Standes-
geiſt wieder etwas zu kräftigen. —
Hoch über allen dieſen Gegenſätzen ſtand doch die Frage der Zeit, der
Kampf um die Reichsſtände. Da die Vereinigten Ausſchüſſe ſo gar wenig
geleiſtet hatten, ſo wendete ſich die öffentliche Theilnahme wieder den Pro-
vinzialſtänden zu, die für den März 1843 zu einer neuen Tagung ein-
berufen waren. Eine Menge von Petitionen wurde vorbereitet; an ihrer
unaufhaltſam wachſenden Maſſe ließ ſich das Anſchwellen der Volksbe-
wegung ebenſo ſicher abmeſſen wie einſt im Zeitalter der Reformation an
der Zahl der neuen Drucke. Die große Mehrzahl kam aus den Städten;
der Streit war ja zum guten Theile ein Kampf der bürgerlichen Inter-
eſſen wider das Uebergewicht des Grundbeſitzes. Die ſchöne kleine Stadt
Hirſchberg am Abhang des Rieſengebirges, die ſich allezeit durch radikalen
Widerſpruchsgeiſt auszeichnete, wagte bereits die Nachbarſtädte aufzufor-
dern zur Mitunterzeichnung einer Petition, welche Vermehrung der bürger-
lichen Abgeordneten und Erweiterung des ſtädtiſchen Wahlrechts verlangte.
Oberpräſident Merckel vereitelte für diesmal noch das nach dem beſtehen-
den Rechte unerlaubte Unternehmen; doch ſeitdem begann zwiſchen den
liberalen Städten ein ſtill geſchäftiger politiſcher Verkehr, deſſen Folgen
ſich bald zeigen ſollten. Sobald die Landtage ihre Arbeit anfingen,
mußte jedem Weltkundigen einleuchten, daß der alte Verfaſſungszuſtand
ſich ſchlechterdings nicht mehr halten ließ. Statt der vergeblich erwar-
[259]Adreſſe des Poſener Landtags.
teten einen reichsſtändiſchen Verſammlung beſaß Preußen ihrer acht, die
im Wetteifer, unmaßgeblich, und eben deßhalb oft leichtfertig, vorlaut,
rückſichtslos, über alle erdenklichen Fragen der allgemeinen Geſetzgebung
Gutachten abgaben oder Wünſche äußerten und durch dies achtfache Drein-
reden ſchließlich jede Regierung unmöglich machen mußten. Ueberall
ſchritten die Provinzialſtände weit über ihre beſcheidenen Befugniſſe hin-
aus; gleichwohl ließ ſich der großen Mehrzahl weder ein zuchtloſer Ueber-
muth vorwerfen, noch eine förmliche Verletzung des Verfaſſungsrechts,
denn alle allgemeinen Geſetze berührten mittelbar auch jede einzelne Pro-
vinz insbeſondere, und irgendwo mußten die Begehren der gährenden Zeit
doch zu Worte kommen.
Gleich im Anfang wurde des Königs weiches Herz ſchmerzlich berührt
durch die Undankbarkeit ſeiner geliebten Polen. Die ſarmatiſchen Edel-
leute wollten den letzten Landtagsabſchied, der ihnen ſo väterlich ihre
Pflichten gegen den preußiſchen Staat vorgehalten hatte, nicht ruhig
hinnehmen. Ermuthigt durch die Schlaffheit der Regierung, entwarfen
ſie alsbald eine nach Form und Inhalt gleich ungehörige Adreſſe, welche
dem Landesverrathe, der Losſagung von Preußen ſehr nahe kam. Da
hieß es: „Sollen ſie, gleich den in ihrer Nationalität nicht mehr beſtehen-
den litthauiſch und walloniſch redenden Unterthanen, ihren Vereinigungs-
punkt in dem Namen Preußen finden, ſo erblicken ſie hierin eine Ge-
fährdung jener Verheißung (v. J. 1815); ſie fürchten, nicht mehr ſein
und ſich nennen zu dürfen, was ſie nach ihrer Sprache, ihren Sitten,
ihren geſchichtlichen Erinnerungen, was ſie nach feierlich geſchloſſenen Ver-
trägen und ertheilten Zuſicherungen ſind: — Polen!“ Die Adreſſe wurde,
nach polniſchem Brauche, unter wüſtem Geſchrei haſtig angenommen;
Viele wußten kaum was man beſchloß.*) Ohne die deutſche Minderheit
auch nur einer Erwähnung zu würdigen, ſprach die polniſche Mehrheit
kurzweg im Namen der geſammten Provinz; denn wie einſt die alte ſar-
matiſche Adelsrepublik alle nicht-polniſchen Nationalitäten grauſam miß-
handelt hatte, ſo ſtellte der Poſener Adel jetzt, da er wieder zu hoffen
wagte, die dreiſte Behauptung auf: die Deutſchen in Poſen, deren Stamm
ſich dort ſeit ſechshundert Jahren als Vorkämpfer der Geſittung behauptet
hatte, ſeien einfach „Polen deutſcher Abkunft“; gebe es doch auch in Breslau
und Berlin einzelne Deutſche polniſcher Abkunft. Solche Frechheiten
konnte ſich der König doch nicht bieten laſſen. „Die Adreſſe der Poſener
Stände“, ſchrieb er zornig, „iſt der Art, daß mir eine Antwort mit um-
gehender Poſt ausnahmsweiſe gerechtfertigt ſcheint.“**) Eigenhändig ent-
warf er eine ſcharfe Erwiderung, die, vom Staatsminiſterium faſt un-
verändert angenommen, am 12. März nach Poſen abging. Sie ſprach
17*
[260]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
den Landſtänden die hohe Mißbilligung des Monarchen aus und drohte:
die Poſener Stände würden nicht mehr regelmäßig verſammelt werden,
wenn es ſich zeigen ſollte, daß die in der Adreſſe ausgeſprochenen Ge-
ſinnungen nicht blos von einer Partei, ſondern von dem Landtage ſelbſt
gehegt würden. Czar Nikolaus zeigte ſich hoch erfreut und ließ dem
Schwager ſagen: nun würde er doch wohl Rußlands polniſche Politik
milder beurtheilen.*)
In Poſen aber erbitterte die Antwort nur ohne zu ſchrecken, denn
Niemand traute dem gutherzigen Könige zu, daß er ſeine Drohung aus-
führen würde. Unbelehrt erging ſich der Landtag nach wie vor in thö-
richten Beſchwerden und verlangte ſogar die Errichtung einer Univerſität
in Poſen; die Abſicht ließ ſich leicht errathen, denn bisher hatte in Breslau
wie in Berlin immer nur ein winziges Häuflein Polen ſtudirt. Der
neue Oberpräſident v. Beurmann trat, die Formen ſchonend, doch etwas
feſter auf als vor ihm Graf Arnim, und geſtand dem durchreiſenden
Czaren offen: ſeit er die Polen kennen gelernt, ſehe er wohl ein, daß
man ſie nur mit Strenge beherrſchen könne.**) Durch die Gutmüthigkeit
des Monarchen ſah er ſich jedoch überall gehemmt. Der polniſche Adel
merkte was er ſich unter dieſer Regierung erlauben durfte; ſeine Caſinos
und Leſeclubs mehrten ſich von Jahr zu Jahr; in den Agronomiſchen
Vereinen ſuchte er ſich den polniſchen Bauern wieder zu nähern; ſein
Jagdclub veranſtaltete in den weiten Wäldern Reit- und Schießübungen,
und jeder der Genoſſen wußte, daß er ſich rüſten ſollte für den erſehnten
Tag der Deutſchenjagd. —
Da die Regierung mit dem Berathen und Planen nie zu Ende kam,
ſo vermochte ſie den Provinziallandtagen nur ein wichtiges allgemeines
Geſetz vorzulegen, das ſchon unter Kamptz’s Leitung entworfene und ſeit-
dem wieder mehrfach umgearbeitete Strafgeſetzbuch. Und was konnte aus
der achtfachen Beſprechung eines ſo umfangreichen und bedeutſamen Ge-
ſetzes anders hervorgehen als ein verwirrendes Durcheinander ſubjektiver
Anſichten? Sehr mächtig zeigte ſich die philanthropiſche Gefühlsſeligkeit der
liberalen Theorie, die zu den rüſtigen Lebensgewohnheiten dieſes Volkes
in Waffen doch gar nicht ſtimmte; die allerdings ſtrengen Strafen des
Entwurfs fand man grauſam, und ſchon forderten zahlreiche Stimmen
die Abſchaffung der Todesſtrafe. Das eigentliche Hinderniß der Verſtändi-
gung bildete jedoch der veraltete Criminalproceß. Einführung der Schwur-
gerichte und des öffentlich-mündlichen Verfahrens war jetzt der allgemeine
Wunſch der liberalen Welt, und mindeſtens die letztere Forderung erkannte
auch Savigny als berechtigt an; aber während der Miniſter die ſchwierige
Reform bedachtſam vorbereitete, wurden die Provinzialſtände von dem
[261]Particularismus des Rheiniſchen Landtags.
Strome der öffentlichen Meinung fortgeriſſen, da ſie ja als blos be-
rathende Körperſchaften gar keine Verantwortung trugen. Der preußiſche
Landtag erklärte kurzab: die Reform des materiellen Strafrechts ſei erſt
möglich, wenn zu gleicher Zeit das Strafverfahren umgeſtaltet würde, und
die nämliche Anſicht ward auch auf anderen Landtagen laut.
Nur die Rheinländer gingen ihres eigenen Weges; verwöhnt durch
die unerſchöpfliche Nachſicht der Regierung, wollten ſie auch jetzt noch an
ihrem ausländiſchen Sonderrechte feſthalten. Offenbar ſühnte die Krone nur
eine alte ſchwere Unterlaſſungsſünde, indem ſie endlich das Strafgeſetzbuch
vorlegte; denn ohne Einheit des Strafrechts kann auf die Dauer weder ein
geordneter Staat beſtehen noch ein ſtarkes politiſches Gemeingefühl ſich
ausbilden; das Gewiſſen des Volks mußte irr werden an allem Rechte,
wenn im Rheinlande andere Strafen verhängt wurden als in Weſtphalen.
Kein denkender Mann am Rhein durfte ſich dieſer Einſicht verſchließen,
und zum Ueberfluß hatte der König mehrmals feierlich verſichert, daß er
der Provinz ihr hergebrachtes Gerichtsverfahren unter allen Umſtänden
erhalten würde. Es beſtand alſo gar kein vernünftiger Grund zu einem
Kampfe wider das neue Strafgeſetzbuch, das in vielen Beſtimmungen
milder, menſchlicher war als der harte Code pénal. Aber die Legende, daß
die Freiheit des Rheinlands mit dem rheiniſchen Rechte ſtehe und falle,
ſtand ſchon unumſtößlich feſt. Einſtimmig beſchloß der Düſſeldorfer Landtag
die Krone zu bitten: ſie möge für das Rheinland allein ein neues Straf-
geſetzbuch auf Grund des Code Napoléon ausarbeiten laſſen. Die Bitte
war nicht allzu ſchlimm gemeint, ſie entſprang unwillkürlich dem naiven
Sondergeiſte der Provinz; doch ſie klang faſt ebenſo ſtaatsfeindlich wie die
Adreſſe des Poſener Landtags, und das Aergerniß verſchlimmerte ſich noch,
als die Stände, ihres Beſchluſſes froh, am 4. Juli ein großes Feſtmahl
veranſtalteten. Da ward in der Luſt des Weines keck, faſt höhniſch aus-
geſprochen, dieſe Feier gelte dem Siege des rheiniſchen Rechts über das
preußiſche, und nach einem heftigen Wortwechſel verließ der Oberpräſident
v. Schaper ſammt den übrigen Beamten den Feſtſaal.
Der König war empört über „dieſe unanſtändigen Auftritte“; es
wurmte ihn gar zu tief, daß gerade die Polen und die Rheinländer, die
er doch neben den Altpreußen ſtets bevorzugt hatte, ſich ihm widerſetzten.
Im erſten Zorne ließ er (18. Juli) eine Cabinetsordre veröffentlichen,
welche das Beamtenthum vor der Theilnahme an ſolchen werthloſen De-
monſtrationen warnte: „ſie ſind nur im Stande Lärm zu erzeugen, ohne
irgend einen Einfluß auf die Sache, auf Meine Entſchließung und auf
den Gang Meiner Regierung üben zu können.“ Die Rheinländer nahmen
dieſe Rüge ſehr übel auf; nach Landesbrauch konnten ſie gar nicht be-
greifen, warum man die beim Becher geſprochenen Worte ſo auf die Gold-
wage legte; und nun wurden ihnen auch noch die Freudenfeſte, die ſie für
ihre heimkehrenden Abgeordneten vorbereitet hatten, durch die Behörden
[262]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
unterſagt. Graf Arnim, der vergeblich abgerathen hatte, berichtete nach
einigen Monaten dem Monarchen, durchaus der Wahrheit gemäß: „Von
jenem Augenblicke an wendete ſich zuerſt die Mißſtimmung am Rhein,
welche bis dahin nur gegen die Miniſter gerichtet war, auch gegen Ew.
K. Maj. (ich kann dies mit Belegen darthun); und nicht blos die Rhein-
länder, ſondern auch viele Andere beklagten es, daß Ew. K. Maj. bei ſolcher
Veranlaſſung von der Höhe des Thrones zwiſchen die Parteien getreten
waren.“*) Die Bitte des Landtags wurde verdientermaßen abgeſchlagen.
Savigny hatte einen ſtrengen Tadel beantragt gegen dieſe Particulariſten,
die ſtatt eines verbeſſerten deutſchen Strafrechts vielmehr ein neues fran-
zöſiſches Recht forderten;**) und demgemäß ſagte der Landtags-Abſchied
ſchneidend: „Den Antrag der Stände weiſen Wir um ſo entſchiedener
zurück, da Wir es Uns zu einer Hauptaufgabe geſtellt haben, deutſches
Weſen und deutſchen Sinn in jeder Richtung zu ſtärken.“
Je weniger Geſetze die Krone vorlegte, um ſo eifriger beriethen die
Landtage über die eingelaufenen Petitionen und zahlloſe Anträge ihrer
eigenen Mitglieder. Die Parteiſtellung der Provinzen war noch die alte.
Am lauteſten ſprachen die Preußen, die Rheinländer, die Poſener, auch
die Bürger und Bauern Schleſiens traten ſchon ſehr kräftig auf; ſchwächer
zeigte ſich die liberale Stimmung in Weſtphalen, ganz ſchwach in Pom-
mern, Brandenburg und ſeltſamerweiſe auch in der Provinz Sachſen,
deren Oppoſitionsluſt noch völlig in den kirchlichen Streitigkeiten aufging.
Der Antrag auf Einführung von Reichsſtänden erlangte nur in zwei
Provinzen die vorgeſchriebene Zweidrittelmehrheit. Die Preußen und die
Rheinländer wagten aber ſchon, der Krone den Weg vorzuzeichnen, der
nach Allem was geſchehen als der einfachſte erſchien; ſie baten, der König
möge den vereinigten Ausſchüſſen die Rechte der Reichsſtände zuweiſen
und alſo den Verfaſſungsbau abſchließen. Dazu dann Bitten um Preß-
freiheit, um mündliches Gerichtsverfahren, um Oeffentlichkeit der Provin-
ziallandtage und der Stadtverordneten-Verſammlungen, um Aufhebung
der Patrimonialgerichte, um Vermehrung der ſtädtiſchen und bäuerlichen
Abgeordneten, um Erweiterung des Wahlrechts, um Emancipation der
Juden, — und ſo weiter in endloſer Reihe, lauter Herzenswünſche des
liberalen Bürgerthums, manche in vier, fünf Landtagen faſt gleichlautend
ausgeſprochen.
Als Arnim dies Chaos überblickte, da konnte er ſich ſchwerer Beſorgniſſe
nicht erwehren und er gab der ſtändiſchen Immediatcommiſſion zu er-
wägen, ob man nicht das ſo gröblich mißbrauchte Petitionsrecht der Land-
tage einſchränken, den Druck ihrer Protokolle ſcharf überwachen und anderer-
ſeits, zur Belehrung des Volks, die Geſetzentwürfe immer rechtzeitig, vor
[263]Rheiniſche Gemeindeordnung.
den ſtändiſchen Berathungen veröffentlichen ſolle.*) Die Commiſſion wagte
jedoch keine Neuerung, weil man den Landtagen offenbare Ungeſetzlichkeit
nicht nachweiſen konnte. So erſchienen denn zum Jahresſchluſſe die acht
Landtagsabſchiede in der hergebrachten Form: die Anträge der Landtage
waren alle einzeln beantwortet und, ſoweit ſie allgemeine Landesangelegen-
heiten betrafen, faſt ſämmtlich abgelehnt, in einem ſchnöden, väterlich ver-
weiſenden Tone, der freie Männer beleidigen mußte. Immer wieder hieß
es: Uebereilte Berathungen ſind nicht geeignet einen Einfluß auf Unſere
wohlerwogenen Abſichten auszuüben; Wir werden Uns in der Ausführung
Unſerer wohlerwogenen Entſchlüſſe nicht hemmen laſſen; Wir werden die
Richtung, die Wir nach reiflicher Prüfung als gedeihlich erkannt haben,
einhalten. Zählte man zuſammen, ſo hatte die Krone an hundert An-
träge ihrer getreuen Stände rundweg zurückgewieſen; und welche Regierung
auf der Welt war ſtark genug, um aller zwei Jahre hundertmal feierlich
Nein zu ſagen?
Das einzige bleibende Ergebniß dieſer unfruchtbaren Tagung war
die Rheiniſche Gemeindeordnung, die nach ſo vielen vergeblichen Verſuchen**)
jetzt in neuer Faſſung dem Provinziallandtage vorgelegt und dann am
23. Juli 1845 veröffentlicht wurde. Mit ihr errangen der rheiniſche
Sondergeiſt und der napoleoniſche Verwaltungsdespotismus, der hierzu-
lande Freiheit hieß, einen vollſtändigen Sieg über die deutſchrechtlichen
Grundſätze der Krone. In Weſtphalen waren doch mindeſtens die Städte
des Segens altländiſcher Selbſtverwaltung theilhaftig geworden; am Rhein
blieb jeder rechtliche Unterſchied zwiſchen Stadt und Land beſeitigt. In
den Städten und in den ländlichen Bürgermeiſtereien ſchaltete, faſt ſo un-
umſchränkt wie einſt der Maire, der von der Regierung ernannte Bürger-
meiſter; der aus den Meiſtbeerbten gebildete Gemeinderath beſaß wenig
mehr als die kümmerlichen Befugniſſe eines franzöſiſchen Conſeils, da die
Regierung jeden ſeiner Beſchlüſſe als ungeſetzlich oder ſchädlich aufheben
konnte. Das rheiniſche Gemeindeweſen war weit unfreier als die altlän-
diſchen Städteordnungen, unfreier ſogar als die altväteriſche gutsherrliche
Selbſtverwaltung. Doch dies bureaukratiſche Regiment entſprach der Be-
quemlichkeit des Beamtenthums und den Intereſſen der großen Gewerbtrei-
benden, deren Fabriken theils auf dem Lande theils in den Städten lagen;
es entſprach den Gewohnheiten der Provinz und vornehmlich ihrem ſocialen
Gleichheitsdrange, der in der Trennung von Stadt und Land nur einen
feudalen Mißbrauch ſehen wollte. Jeder Unterſchied von Grundherren,
Städtern und Bauern ſollte verſchwinden in dem kahlen Begriffe des
Staatsbürgerthums. „Ich will es Euch nennen: Bürger heißt das
[264]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Wort!“ — ſo ſagte einer der Redner des Landtags, unter jubelndem Bei-
fall; und Mancher der Rufer dachte dabei an den Citoyen der fran-
zöſiſchen Republik. Der Mehrzahl der Rheinländer gereichte es zu hoher
Genugthuung, daß der Prüß ihrem hartnäckigen Liberalismus endlich doch
ſo viel nachgegeben hatte; ſie glaubten dem Oſten auch in ihrem Gemeinde-
leben weit überlegen zu ſein, und vernahmen nicht ohne Schadenfreude,
wie der Monarch einigen altländiſchen Provinziallandtagen, die um Reform
ihrer Landgemeindeordnungen baten, ungnädig erwiderte: er denke nichts
zu ändern an dem geſchichtlich erwachſenen Zuſtande „der Provinzen,
welche das Glück gehabt hätten, daß die Grundlagen ihrer ländlichen
Communalverfaſſung nicht durch eine revolutionäre Geſetzgebung aufgelöſt
worden ſeien“. —
Der König empfand ſchmerzlich, wie er die Fühlung mit ſeinem
Volke nach und nach verlor. Es war ein Unheil, daß Preußen in dieſe
große Kriſis ſeines Verfaſſungslebens erſt eintrat zu einer Zeit, da ſich
im übrigen Deutſchland ſchon eine fertige Theorie des allgemeinen con-
ſtitutionellen Staatsrechts gebildet hatte, und je länger ſich jetzt noch die
Entſcheidung verzögerte, um ſo höher mußten die Anſprüche der Libe-
ralen ſteigen. Dennoch kam der König noch immer nicht in’s Reine mit
den Verfaſſungsplänen, über denen er nun ſeit vierthalb Jahren brütete.
Nur der Grundgedanke, die Berufung eines großen Vereinigten Landtags
ſtand ihm unerſchütterlich feſt; über alles Einzelne wußte er ſich noch
keinen Rath, und ſein ſeltſam zerklüftetes Miniſterium konnte ihm dieſen
Rath nicht bieten. Der Vorſitzende, der Prinz von Preußen erklärte ſich
entſchieden gegen eine reichsſtändiſche Verſammlung, die durch Steuer-
verweigerungen die Wehrkraft, die ganze Machtſtellung des Staates zu
gefährden drohe. Aus vertraulichen Unterredungen erſah der König, daß
er ſich mit dem Bruder ſo leicht nicht verſtändigen könne, und der Thron-
folger blieb fortan lange ohne nähere Kenntniß von den weiteren ſtän-
diſchen Plänen des Monarchen. Der Prinz dachte von früh auf ernſt
über die jedem Thronfolger gebotene Zurückhaltung, und niemals hätte
er ſich dazu herabgelaſſen, der Führer der conſervativen Partei zu werden;
dawider ſträubten ſich ſein Fürſtenſtolz und ſeine Königstreue. Trotzdem
konnte es nicht ausbleiben, daß alle Anhänger des alten abſoluten Regi-
ments auf ihn als ihr natürliches Haupt blickten. „Es ſteht“, ſagte Graf
Arnim traurig, „eine hochachtbare Ueberzeugung an der Spitze des Mini-
ſteriums, welche es als den ihr gewordenen Beruf betrachtet, das Be-
ſtehende mit der äußerſten Feſtigkeit zu vertheidigen.“*) Das aufgeklärte
Berlin, das den Prinzen bisher wenig beachtet hatte, begann nunmehr
ihn zu beargwöhnen. Auch ſein ſchlichtes ſoldatiſches Weſen und die warme
Verehrung, die ihm das Heer entgegenbrachte, ſchadeten jetzt ſeinem Rufe;
[265]Prinz von Preußen. Entlaſſung Alvensleben’s und Mühler’s.
denn die neufranzöſiſchen Schmähreden wider das Söldnerweſen drangen
allmählich auch in Preußen ein; da alle Welt auf die Regierung ſchalt,
ſo hielt man die ſchweigende Treue der Offiziere für ſervil, und mannich-
fache häßliche Zänkereien bekundeten ſchon eine Feindſchaft zwiſchen Heer
und Bürgerthum, die in vielen Rheinbundsſtaaten wohl gute Gründe
haben mochte, in dem Lande der allgemeinen Wehrpflicht aber ſchlechthin
ſinnlos war. Genug, die böſen Zungen ließen von dem Thronfolger
nicht mehr ab: er ſollte des Königs böſer Dämon in der Politik ſein, wie
Eichhorn in den kirchlichen Dingen. Das ſchändliche Gerede fand ſchließ-
lich faſt überall Glauben; in ſolchen Zeiten, da die politiſche Leidenſchaft
ſchon erwacht iſt, aber ein öffentliches Leben noch nicht beſteht, wuchern
ja die Legenden der Parteien immer am üppigſten auf. In Wahrheit
beſaß der Prinz, trotz ſeiner hohen Staatswürden, zur Zeit gar keinen
politiſchen Einfluß; auch die zur Schau getragene Chriſtlichkeit der neuen
Gottſeligen widerſtand ſeinem einfachen Gradſinn.
Zum großen Leidweſen des Königs verlangte im Frühjahr 1844
Graf Alvensleben ſeine Entlaſſung aus dem Amte des Cabinetsminiſters,
das er nur ein Jahr lang bekleidet hatte. Sein derber Geſchäftsverſtand
konnte die Unruhe der pläneſchmiedenden Planloſigkeit nicht mehr ertragen;
und nicht blos die von Humboldt verhöhnten Montmorencys des Havel-
landes beklagten ſeinen Rücktritt, ſondern auch Kühne und alle die er-
fahrenen Beamten, die jetzt den ſtrengen Ordnungsſinn des alten Königs
überall ſchmerzlich vermißten.*) An Alvensleben’s Stelle trat Bodel-
ſchwingh, der ſich kaum erſt im Finanzminiſterium eingerichtet hatte. Es
war ein ewiges Kommen und Gehen. Für die Finanzen ſchlug Bodel-
ſchwingh ſeinen treuen Gehilfen Kühne vor, unzweifelhaft den tüchtigſten
unter den Fachmännern. Der König aber ſcheute die ſcharfe Zunge des
freigeiſtigen alten Junggeſellen und berief zum allgemeinen Erſtaunen
Flottwell — wieder einen bedeutenden Mann auf eine falſche Stelle.
Flottwell hatte, ſeit er aus Poſen verdrängt worden, in Magdeburg
abermals ſein glänzendes Verwaltungstalent bewährt; jedoch vom Finanz-
weſen verſtand er wenig, ſeine feurige, ungeſtüme Natur paßte nicht für
dieſe Geſchäfte, und die reichsſtändiſchen Pläne des Monarchen konnten
an dem Schüler Schön’s auch keine Stütze finden. Der Prinz von
Preußen ſagte betrübt: „Alvensleben’s Ausſcheiden iſt mehr wie eine
Calamität, ebenſo Bodelſchwingh’s Verlaſſen der Finanzen. Beide Stellen
ſind be- aber nicht erſetzt.“**)
Gleich darauf mußte noch einer der Miniſter des alten Königs,
Mühler zurücktreten. Er konnte ſich mit ſeinem nächſten Amtsgenoſſen
Savigny nicht verſtändigen, er hatte gegen das Ehegeſetz geſtimmt, auch in
[266]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
der Verfaſſungsſache ſeine ſtrenge Rechtsanſicht unerſchrocken feſtgehalten.
Der König wünſchte ihn auf gute Art zu beſeitigen, und bald fanden ſich
dienſtbefliſſene Leute, welche dem argloſen, leicht zu täuſchenden Monarchen
vorſpiegelten: der greiſe noch ſehr rüſtige Präſident des Obertribunals
Sack wünſche nach ſeinem Jubiläum, im nächſten Juli auszuſcheiden. So
erhielt denn der vornehmſte Richter der Monarchie zu ſeinem Jubelfeſte
neben dem wohlverdienten hohen Orden zugleich die ganz unerwartete
Mittheilung: der König würde ihm den Abſchied gern ertheilen, falls er
Altershalber darum bäte. Tief gekränkt trat er ſofort zurück, und der
geſammte Richterſtand fühlte ſich mit ihm beleidigt.*) In dies erledigte
Amt rückte Mühler ein; er behielt jedoch, wie Rochow, Sitz und Stimme
im Staatsminiſterium, das alſo immer zahlreicher und bunter wurde.
Das Miniſterium der Juſtizverwaltung erhielt der Cabinetsrath Uhden;
der König mochte wohl insgeheim hoffen, durch dieſen ſeinen perſönlichen
Vertrauten den zaudernden, gelehrten Miniſter der Geſetzgebung zu ra-
ſcherer Thätigkeit anzuſpornen.
Mittlerweile ward auch Graf Arnim ſeines Amtes müde. Hoffnungs-
voll und feſt entſchloſſen, ſeine ganze Kraft für die ſtändiſchen Pläne des
Königs ritterlich einzuſetzen, war er vor zwei Jahren in das Miniſterium
eingetreten, aber ſofort in den unſeligen Kampf mit der Preſſe verwickelt
worden. Die ganze Gehäſſigkeit jener Zeitungsverbote haftete nunmehr
an ſeinem Namen, obwohl er ſtets nur die Befehle ſeines königlichen
Herrn ausgeführt hatte. Er fühlte das und fragte den Monarchen mehr-
mals: werde ich nicht zu unbeliebt ſein, um jetzt noch im Amte bleiben
zu können, da die Zeit des Widerſtandes vorüber iſt und „eine Periode
des beſonnenen Fortſchreitens“ beginnen ſoll? Noch ſchwerer bedrückte ihn,
daß er ſich von der Unausführbarkeit der Entwürfe des Königs ſehr bald
überzeugen mußte. Anfangs ſtand er der Verfaſſungsfrage, gleich allen
ſeinen Amtsgenoſſen, noch ganz urtheilslos gegenüber; er hatte Augen-
blicke, da ihm die mecklenburgiſche Verfaſſung bewundernswerth erſchien,
und wieder andere, da er, wie auch Radowitz**), ſich der harmloſen Hoff-
nung hingab, das regere Leben der Provinziallandtage würde den reichs-
ſtändiſchen Gedanken bald ganz erſticken. Sobald er ſich aber tiefer ein-
arbeitete, gelangte er zu der nüchternen Erkenntniß, daß der Neubau der
ſtändiſchen Verfaſſung auf einem feſten unangreifbaren Rechtsboden ruhen
müſſe. Darum ſchlug er vor (Apr. 1844), aus den Virilſtimmen des
Herrenſtandes und erwählten Abgeordneten der Provinziallandtage einen
Reichstag von etwa 160 Köpfen zu bilden, der aller drei Jahre regel-
mäßig zuſammenträte, um über neue Steuern und Geſetze zu berathen,
über neue Anleihen zu beſchließen. So würden alle Verheißungen der
[267]Arnim’s erſtes Entlaſſungsgeſuch.
Geſetze von 1815—23 gewiſſenhaft eingelöſt und jedes Rechtsbedenken
abgeſchnitten. Vertheile man hingegen, nach der Abſicht des Monarchen,
die reichsſtändiſchen Befugniſſe zwiſchen den Vereinigten Ausſchüſſen und
einem Vereinigten Landtage, ſo würde das Volk weder jene noch dieſen als
Reichsſtände gelten laſſen; man hätte alſo „alle Nachtheile der vollſtändigen
Erfüllung jener Geſetze, ohne ihre Vortheile“.*) Es war die Sprache
des geſunden Menſchenverſtandes, und ehe drei Jahre verfloſſen ſollten
Arnim’s Weiſſagungen wörtlich in Erfüllung gehen. Dem Könige aber,
der alles Hohe und Feine ſo geiſtvoll faßte, war gerade das Einfache, Platt-
verſtändliche am wenigſten beizubringen. Arnim’s Vorſchläge wurden ver-
worfen, und darauf (17. Mai) erbat er ſeine Entlaſſung. In zwei Ein-
gaben ſchilderte er zugleich ſehr freimüthig die Urſachen der gegenwärtigen
Verwirrung: der König ſelbſt hätte durch ſeine erſten Reden hohe Erwar-
tungen erregt, aber dabei „einen anderen Entwicklungsgang vor Augen
gehabt als die Mehrzahl derer, die dieſe Worte vernahmen“. So ſeien
Mißverſtändniſſe entſtanden, dann heftige Angriffe, dann Unterdrückung
und jetzt endlich allgemeines Mißtrauen. Dazu noch die Uneinigkeit im
Miniſterium und die eigentlich gegenſtandsloſe, aber durch die Maß-
regeln der Regierung ſelbſt beförderte religiöſe Aufregung.**)
Durch gütiges Zureden ließ ſich Arnim endlich bewegen, ſein Ab-
ſchiedsgeſuch für jetzt zurückzuziehen; und ſo begannen denn von Neuem
die geheimen Berathungen, endlos und zwecklos, weil der König von Haus
aus entſchloſſen war, ſich von Männern, die er ſo tief unter ſich ſah, in
ſeinem Lieblingsplane nicht ſtören zu laſſen. Auch Bunſen mußte bei
ſeinem Berliner Aufenthalt ſein Gutachten abgeben, und da ihm die Ar-
beit durch ſeine gänzliche Unkenntniß der preußiſchen Verhältniſſe ſehr er-
leichtert wurde, ſo entſtiegen ſeiner ſchöpferiſchen Phantaſie alsbald mehrere
Denkſchriften, welche nicht nur die ſtändiſche Verfaſſung, ſondern auch
das Krongut, die Kirchenpolitik, die Rechte des Beamtenthums, die Neu-
bildung des Adels nach engliſchem Muſter behandelten. General Canitz,
der ebenfalls von ſeinem Geſandtſchaftspoſten zur Berathung herbeigerufen
wurde, unterzog dieſe luftigen Einfälle einer ſchneidenden Kritik, aber
eigene Vorſchläge wußte er nicht aufzuſtellen.***)
Da wurde der König durch ein gräßliches Erlebniß an den Ernſt der
Zeit gemahnt. Schon ſeit zwei Jahren waren im königlichen Cabinet zahl-
reiche Anzeigen, auch Selbſtanzeigen eingelaufen, welche von Mordanſchlägen
wider den Monarchen erzählten. Das Alles erwies ſich als leere Erfindung
und war doch nicht ganz unwichtig; man konnte daraus abnehmen, wie
leidenſchaftlich, in Haß und Liebe, alle Welt ſich mit dieſem einen Manne
beſchäftigte. Nun ſollte doch noch geſchehen, was in der Geſchichte Preußens
[268]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ohne jeden Vorgang war. Als der König am 26. Juli 1844 im Portale des
Schloſſes den Wagen beſtieg um nach Schleſien zu reiſen, wurden plötz-
lich aus nächſter Nähe zwei Piſtolenſchüſſe auf ihn abgefeuert. Die Schüſſe
trafen, der König aber trug, wunderbar genug, nur eine kaum bemerk-
bare Verletzung davon, da die dichten Falten ſeines Mantels die Kraft
der Kugeln geſchwächt hatten. Der Mörder war der Alt-Bürgermeiſter
von Storkow, Tſchech, der Sohn eines geachteten Geiſtlichen, ein harter,
tugendſtolzer, in grauenhafter Selbſtgerechtigkeit erſtarrter Menſch, der
fünfzig Jahre im ſicheren Bewußtſein vollkommener Sündloſigkeit dahin
gelebt hatte, weil er ja immer nur ſeiner Ueberzeugung folgte. Durch
ſeine herriſche Rechthaberei hatte er ſich mit den Stadtverordneten und
dem Landrathe ſeines Städtchens in Händel verwickelt und ſchließlich ent-
rüſtet ſeinen Abſchied verlangt. Als er darauf um eine Anſtellung im
Staatsdienſte bat und ihm dies völlig grundloſe Geſuch verdientermaßen ab-
geſchlagen wurde, da wähnte er nicht nur ſein eigenes Recht, ſondern alle
Gerechtigkeit im Staate zerſtört. Er brachte ſeine Bitte bis zum Thron-
folger, zur Königin, zum Könige. Auch hier abgewieſen, nahm er ſich vor,
als ein Gerechter im Namen Gottes die Strafe zu vollziehen an dem
Monarchen. Ruhig, ohne alle Gewiſſensbedenken bereitete er die That
vor und ließ zuletzt noch bei einem der Daguerreotypiſten, die jetzt über-
all in den deutſchen Städten ihre Läden aufgeſchlagen hatten, ſein Bild
aufnehmen: in hochtheatraliſcher Stellung, die Hand erhoben um Kraft
von oben zu erflehen. Auch im Gefängniß bewahrte er unerſchütterlich die
Kälte des verſtockten Fanatikers bei vollkommener Klarheit des Verſtandes.
Tſchech hatte niemals einer Partei angehört. Seine That war ge-
wiß kein eigentlich politiſches Verbrechen, aber ebenſo gewiß aus dem Geiſte
der Zeit heraus geboren. Aus ihr redete dieſelbe freche, jede Obrigkeit,
jede gegebene Ordnung des Menſchenlebens verachtende ſubjective Ueber-
hebung, die ſich ſeit den Zeiten der Jacobiner und der Unbedingten in
allen Wandlungen des modernen Radicalismus bekundet hatte. Darum
ſprach auch das öffentliche Gewiſſen nach der Unthat keineswegs ſicher
und einmüthig. Zwar die große königstreue Mehrheit der Preußen zeigte
ſich tief empört; doch in zahlloſen Geſprächen, Anſpielungen, kunſtvoll ver-
hüllten Zeitungsartikeln ward auch eine widerliche Schadenfreude laut.
Die Revolution kündigte ſich ſchon an, die Obrigkeit begann ihre Würde,
der Königsmord ſeine Schrecken zu verlieren. Ein in mannichfachen Les-
arten verbreitetes Berliner Lied „war wohl je ein Menſch ſo frech wie
der Bürgermeiſter Tſchech?“ zog das unheimliche Ereigniß in den Schmutz
der Gaſſe herab; ſeine hämiſchen Witze über das fromme Königspaar
klangen faſt, als ob der Bänkelſänger bedauerte, daß „der verruchte Atten-
täter“ nicht beſſer getroffen hätte. In den Brandſchriften der Flüchtlinge
vollends ward dies Bedauern ganz offen ausgeſprochen; Karl Heinzen
ſetzte auf die letzte Seite ſeines neueſten Pamphlets nur die eine groß
[269]Tſchech.
gedruckte Frage: „Tſchech?!“ Friedrich Wilhelm hatte nach ſeiner Er-
rettung, die er nur überirdiſcher Hilfe zuſchrieb, von Erdmannsdorf aus
das Bergkirchlein Wang beſucht und dort tief zerknirſcht, überwältigt von
der Gnade Gottes, ſeine Dankgebete gehalten. In dieſer weichen Stim-
mung wollte er den Verbrecher gern begnadigen; er hielt es für unedel,
gleichſam in eigener Sache zu richten.
Diesmal aber zeigten ſich ſeine Miniſter endlich einig; ſie fühlten alle,
wie ſchwach die Krone ſchon geworden war, und wie tief ſie ſich ſelbſt er-
niedrigte, wenn ſie nicht mehr wagte, einem ſolchen Hochverrath mit dem
ganzen Ernſte des Geſetzes entgegenzutreten. In einem gemüthvollen Briefe
hielt der alte Boyen dem Monarchen zuerſt dieſe Mahnung vor und ſprach
zugleich tief betrübt, freilich ohne einen greifbaren Rathſchlag zu geben, über
den allgemeinen Mißmuth des Volks und die Fehler der Regierung: „Es
iſt der größte Irrthum, daß man den Entwicklungsgang der Zeit beliebig
hemmen oder die öffentliche Meinung durch Verweiſe öffentlich ſchul meiſtern
könne.“*) Da der Prinz von Preußen nebſt ſämmtlichen Miniſtern den
Vorſtellungen Boyen’s beipflichtete, und die Unterſuchung gar nichts an den
Tag brachte, was die That Tſchech’s irgendwie entſchuldigen konnte, ſo ſah
Friedrich Wilhelm endlich ein, daß er der Juſtiz freien Lauf laſſen mußte.
Noch einmal verhieß er, im December, dem Verurtheilten die Begnadigung,
falls er ſein Unrecht bekennen wollte. Aber Tſchech blieb trotzig. Unter
ſtrömenden Thränen unterzeichnete der König endlich das Todesurtheil
in einem großen Miniſterrathe und ließ dem Verbrecher dann noch durch
ſeinen Vertrauten, den Präſidenten Kleiſt ſagen, daß er für ihn als ſeinen
chriſtlichen Bruder beten würde.
Die Strenge war nur zu nöthig; denn in dem gebildeten Berlin
herrſchte, Dank der giftigen Klatſcherei dieſer Jahre, eine Liederlichkeit
der Empfindung, die allem Rechte Hohn ſprach. Varnhagen und ſeine
Freunde wollten gar nicht glauben, daß in dieſem aufgeklärten Jahr-
hundert die Barbarei einer ſolchen Hinrichtung möglich wäre; rühr-
ſame Zeitungsartikel, die unverkennbar großentheils aus dieſen Kreiſen
herſtammten, erinnerten den König an das ſchöne Vorbild Ludwig Phi-
lipp’s und Victoria’s, die in ähnlichen Fällen ſtets begnadigt hatten. Man
wußte kaum noch, daß die Krone der Hohenzollern doch etwas Anderes
war als das Schattenkönigthum jener belobten Weſtländer. Als nun das
Nothwendige dennoch geſchah, da nannte man den König blutbefleckt und
der Pöbel ſchob wieder alle Schuld auf den Prinzen von Preußen. Ein
offenbar von einem gebildeten Manne verfaßtes Berliner Gaſſenlied
ſagte:
[270]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Der mittelloſen Tochter des Verbrechers nahm ſich der König gnädig
an; er ließ ſie auf ſeine Koſten bei einem braven Pfarrer in Weſtphalen
unterbringen. Das trotzige, ganz in den Gedanken des Vaters befangene
Mädchen ſah aber in der Wohlthat nur eine Strafe. Von dem badiſchen
Liberalen Hecker unterſtützt, entfloh ſie in das Elſaß, nachher in die Schweiz,
wo ſie durch Rauſchenplatt und Dulk in die Geheimbünde der wildeſten
Demagogen eingeführt wurde und ein Buch über ihres Vaters Leben ver-
faßte — eine der ruchloſeſten Schriften dieſer verworrenen Zeit: da ward
der Königsmord wie die einfachſte Sache von der Welt dargeſtellt, die gar
keiner Erklärung bedurfte, und der geſetzmäßige Richterſpruch wie ein grau-
ſamer Frevel. Derweil die Schriften der Flüchtlinge ſich in wüthenden
Schmähungen wider die Berliner Blutrichter ergingen, hielt Otto v. Ger-
lach ſeiner armen Gemeinde in der Eliſabethkirche eine erſchütternde Pre-
digt: es iſt ein Bann unter Dir, Israel. Er hatte dem Verurtheilten
während ſeiner letzten Lebenstage beigeſtanden — ſo liebevoll, daß Tſchech
ſelbſt die geiſtliche Hilfe nicht ganz ablehnte — und nach dieſen friſchen
Eindrücken ſchilderte er nun mit dem Muthe des treuen Seelſorgers das
Verbrechen, wie es wirklich war: als eine That perſönlicher Rachſucht und
zugleich als ein Zeichen des unbotmäßigen Hochmuths dieſer Tage. Die
Rede enthielt kein unwahres, kein fanatiſches Wort; als Gerlach ſie je-
doch auf den Wunſch der tief ergriffenen Hörer zum Drucke geben wollte,
da verweigerten die ängſtlichen Behörden die Erlaubniß. Sie befürchteten,
die allgemeine Aufregung würde noch ſteigen, wenn ein tapferer Mann
in die offenen Wunden der Zeit den Finger legte; daß die Schmäh-Ar-
tikel der Demagogen überall über die Grenze drangen, vermochten ſie frei-
lich nicht zu hindern. Alſo wuchs die Rathloſigkeit der Regierung, und
mit ihr die Frechheit der revolutionären Partei; noch weiter auf dieſem
Wege, und eine friedliche Löſung ward unmöglich. —
Friedrich Wilhelm ahnte das ſelbſt und begann nunmehr ſeine Ver-
faſſungspläne ernſtlich auszuarbeiten. Auf einer Reiſe durch Oeſterreich
beſprach er ſich darüber mit Metternich, der nachher noch durch den Ge-
ſandten Canitz genauere Mittheilungen erhielt, aber, wie ſich vorausſehen
ließ, nur mit ehrerbietigen Abmahnungen antwortete. Nicht eigentlich um
den Rath des Oeſterreichers war es dem Könige zu thun; er wünſchte nur
ſein Herz auszuſchütten vor dem verehrten Staatsmanne, den er für Preu-
ßens wärmſten Freund hielt, ihm die Nothwendigkeit der geplanten Refor-
men unwiderleglich zu erweiſen. Heimgekehrt brachte er ſeine Gedanken
endlich zum Abſchluß und ertheilte am 24. Dec. 1844 dem Miniſterrathe
ſeine Weiſungen für das Verfaſſungswerk. Er wollte zum erſten die Pro-
vinziallandtage erhalten mit dem Rechte der Berathung über Provinzial-
[271]Brief des Königs an Metternich.
angelegenheiten; zum zweiten die Vereinigten Ausſchüſſe, die regelmäßig zur
Berathung allgemeiner Geſetze zuſammentreten ſollten; zum dritten endlich
dachte er von Zeit zu Zeit, nach ſeinem freien Ermeſſen, die ſämmtlichen
Provinzialſtände zu einem Vereinigten Landtage zuſammenzurufen, der,
nach dem uralten Rechte deutſcher Stände, in Friedenszeiten neue Anleihen
und Steuern zu bewilligen, vielleicht auch über einzelne allgemeine Ge-
ſetze zu berathen hätte. Inmitten dieſes großen Landtags ſollte eine Art
Oberhaus beſtehen, gemeinſam berathend mit den anderen Ständecurien,
aber geſondert beſchließend. Im Jahre 1847 hoffte der König die Ver-
einigten Landſtände zuerſt zu verſammeln, vielleicht in dem ſtillen Bran-
denburg. Das war ſein alter Lieblingsgedanke, der noch aus Ancillon’s
Lehrſtunden herſtammte. Was für ſchreckliche Demüthigungen ſollte der
Argloſe noch erleben, bis wirklich einmal ein preußiſches Parlament in
Brandenburg zuſammentrat!
Wer konnte die Hochherzigkeit Friedrich Wilhelm’s in dieſen Entwürfen
verkennen? Von freien Stücken ging er weit hinaus über die Verheiß-
ungen des Vaters; an ein Steuerbewilligungsrecht ſeiner blos berathenden
Stände hatte der alte Herr ja nie gedacht. Und doch, wie verwickelt,
überladen, unhandlich war der ganze Plan: dies verhüllte Zweikammer-
ſyſtem, dieſer übergroße Reichstag, der ja nicht einmal ſeiner regelmäßigen
Wiederberufung ſicher war, dieſe überfein ausgeklügelte Vertheilung der
reichsſtändiſchen Befugniſſe an die Ausſchüſſe und an den Vereinigten
Landtag — eine Künſtelei, woraus unfehlbar die von Arnim vorherge-
ſagte allgemeine Begriffsverwirrung hervorgehen mußte. Am gefähr-
lichſten blieb doch, daß der Entwurf des Königs mit den Verheißungen der
älteren Geſetze nicht ganz übereinſtimmte. Gelang es nicht noch, dieſen
unweſentlichen, aber willkürlichen Aenderungen eine unangreifbare geſetz-
liche Form zu geben, ſo drohte ein Rechtsſtreit mit den künftigen Reichs-
ſtänden, der ſich durch den zähen juriſtiſchen Eigenſinn der Deutſchen
bald verſchärfen konnte.
Mittlerweile hatte der König dem Fürſten Metternich ſeine Ab-
ſichten noch einmal erläutert, in einem langen, vertrauensvollen Schrei-
ben, das ihn ſeit dem 8. Nov. faſt fünf Wochen lang beſchäftigte.*)
Hier ſtellte er die ſeltſame Behauptung auf, Preußen leide an einer
dreifachen Krankheit, weil die drei Geſetze von 1815, 20, 23 einander
widerſprächen; in Wahrheit lag die Urſache der Krankheit allein in
dem Doctrinarismus des Königs, der an dem Wortlaut jener Geſetze
ſo lange deutelte und brütete, bis er darin Widerſprüche entdeckte, die
ein handfeſter, entſchloſſener Staatsmann kaum bemerkt hätte. Demnach
[272]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
beabſichtigte er, das erſte Verheißungsgeſetz von 1815 aufzuheben, weil
darin der unzuläſſige Ausdruck „Landesrepräſentation“ vorkam; das Staats-
ſchuldengeſetz von 1820 wollte er „reguliren“, indem er den Reichsſtänden
nur für Friedenszeiten das Recht der Bewilligung neuer Anleihen ein-
räumte; das Provinzialſtändegeſetz von 1823 hingegen dachte er vollſtändig
zu erfüllen. Nach ſeiner Gewohnheit ſagte er wieder ſehr nachdrücklich
was er nicht wolle: „Ich will beſtimmt und entſchieden 1) keine Na-
tionalrepräſentation, 2) keine Charte, 3) keineperiodiſchen
Fieber, d. h. periodiſchen Reichstage, 4) keine Reichstagswahlen
… weil ich König von Preußen bleiben, weil ich Preußens Stellung in
Europa nicht umwerfen will.“ So hoffte er „jedes fernere Begehren
des Fortſchritts nach den Theorien des Tagesnachdrücklich und
wohlgemuth zurückzuweiſen“. Beſonders erfreulich erſchien ihm, daß durch
die Berufung des Vereinigten Landtags die Vereinigten Ausſchüſſe —
wie er auf eine frühere Warnung Metternich’s anſpielend ſagte — „auf
eine gerade Fläche geſtellt“ würden und nicht mehr verſuchen könnten ihre
Rechte zu erweitern: „Die argliſtige Abſicht, die periodiſchen Ausſchuß-
tage durch die eigene Schwere in die Reichstags-Categorie hinüberrollen
zu laſſen, iſt mauſetodt.“ Leider entging ihm, daß er ſeinen Ver-
einigten Landtag ſelbſt auf eine ſchiefe Fläche geſtellt hatte; denn unaus-
bleiblich mußte eine ſo große, mit ſo bedeutſamen Rechten ausgeſtattete
Verſammlung zum mindeſten ihre periodiſche Wiederkehr verlangen; an der
Nichtberufung der Landtage waren ja die ſtändiſchen Verfaſſungen der
preußiſchen Kronländer einſt faſt alleſammt zu Grunde gegangen.
Vergeblich bat Arnim den König, er möge ſeine Herzensergießung
mindeſtens noch ſo lange zurückhalten bis die Entſcheidung in Preußen
ſelbſt gefallen ſei: „wird nicht der öſterreichiſche Kanzler dieſe offene Schil-
derung der preußiſchen Zuſtände aus der Feder des Monarchen zum
Vortheil Oeſterreichs und zur Schwächung des äußeren Anſehens Preußens
ausbeuten und zu geeigneten Mittheilungen an andere Regierungen ver-
wenden?“*) Der Brief an Metternich ging ab; und da der König doch
fremden Einſpruch nicht mehr beachten wollte, ſo nahm er keinen An-
ſtand, auch den Czaren Nikolaus und den Neſtor der deutſchen conſtitu-
tionellen Fürſten, den König von Württemberg in ſeine Pläne einzuweihen.
Metternich wiederholte zur Antwort nur ſeine alten Warnungen, und
die beiden Monarchen erwiderten in demſelben Sinne. König Wilhelm
verſicherte dem preußiſchen Geſandten beſtändig, wie gründlich er mit
ſeinen conſtitutionellen Jugendträumen aufgeräumt hätte: dieſe Inſtitu-
tionen, ſagte er oft, ſind ein ausländiſches Gewächs, ich kann mich nur
bemühen ſie ſo unſchädlich zu machen als möglich.**) Nikolaus aber ge-
[273]Einſpruch des Prinzen von Preußen.
rieth in heftigen Zorn, als er durch den getreuen Rauch zuerſt von den
Abſichten des Schwagers erfuhr; er ſah die Revolution ſchon dicht vor
der Thür und ſagte zu den Generalen, die zur Rekrutirung in die Pro-
vinzen gingen: ich bedauere meinem Volke ſo große Laſten auflegen zu
müſſen, aber die Vorgänge in meinem weſtlichen Nachbarlande zwingen
mich, für alle Fälle mich bereit zu halten. In der Petersburger Geſellſchaft
brach der alte Deutſchenhaß wieder durch; Neſſelrode und die geſammte
vornehme Welt jammerten über das preußiſche Demagogenthum. Auch
die Geſandten unſerer kleinen Höfe betheuerten dem Kaiſer nach ihrer
bedientenhaften Gewohnheit: Preußen allein halte die deutſche Welt in
Unruhe. Der Czar ſelbſt konnte ſeinen Grimm ſo wenig bemeiſtern,
daß er ſelbſt auf der Reiſe dem preußiſchen Grenzpoſtmeiſter Nernſt in
Tilſit ſeinen nachbarlichen Kummer über die preußiſchen Neuerungen aus-
ſprach; zur Rede geſtellt, mußte er nachher ſeine Aeußerungen verlegen
ableugnen.*)
Alle dieſe Mahnungen von außen her ließen den König kalt. Auf das
Tiefſte aber fühlte er ſich gekränkt, als der Thronfolger, den man jetzt erſt,
im December, über das Geſchehene unterrichtet hatte, in einem eingehenden
Schreiben ſein Bedenken freimüthig vortrug und zugleich daran erinnerte,
daß, nach dem Teſtamente des Vaters, die Agnaten befragt werden müßten
(Jan. 1845). Das hielt der König für eine Verletzung der Ehrfurcht.
Sichtlich erregt ertheilte er dem Prinzen einen ſcharfen, völlig unverdienten
Verweis und erwiderte: er werde ſeine Pläne weiter ausarbeiten laſſen,
den Agnaten ſtehe ein Recht des Einſpruchs nicht zu.**) Er fürchtete ſo-
gar — ganz ohne Grund, wie ſich bald zeigte — der Thronfolger würde
eine förmliche Verwahrung einlegen, und ließ ſich von Savigny darüber
Bericht erſtatten, auch von zwei namhaften Rechtslehrern (vermuthlich von
Heffter und dem Rechtshiſtoriker Eichhorn) Gutachten einfordern. Da
jenes Teſtament nie vollzogen worden war, ſo ſtimmte der Bericht des
Miniſters mit den beiden Gutachten dahin überein, daß ein Proteſt der
Agnaten gegen die ſtändiſche Geſetzgebung keinen rechtlichen Boden hätte.
Dies wurde dem Prinzen von Preußen mitgetheilt, und ſeitdem blieb er
von den Verfaſſungsberathungen lange ganz ausgeſchloſſen.
Unterdeſſen fühlte auch Graf Arnim immer lebhafter, daß er dem
Könige nicht mehr folgen konnte. Er hatte nach dem Plane des Mon-
archen einen Geſetzentwurf ausgearbeitet, wagte aber zugleich noch ein-
mal ſeine eigenen Gedanken vorzulegen. Da die Berufung des Vereinigten
Landtags nunmehr ſicher war, ſo rieth Arnim jetzt, ſogleich ein klares
Zweikammerſyſtem einzuführen, den erhaltenden wie den bewegenden Ele-
menten des Staatslebens ihr eigenes Organ zu ſchaffen; denn unver-
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 18
[274]V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
kennbar drängen die Ideen des Weſtens in den Oſten vor, da gelte es
den Staat vor Ueberſtürzung zu behüten. Für die zweite Kammer wünſchte
er das Wahlrecht dergeſtalt zu erweitern, daß auch die Intelligenz, der
Handel, die Gewerbe ihre Vertretung fänden. Vor Allem aber verlangte
er wieder rechtliche Sicherheit für die neuen Inſtitutionen, und darum
eine regelmäßig wiederkehrende Berufung des Vereinigten Landtags; denn
ſonſt würden Mißtrauen, Zweifel, Uebergriffe niemals aufhören.*) Der
König aber verabſcheute grade die periodiſche Wiederkehr der Reichsſtände
als einen revolutionären Gedanken; er fürchtete ſeine königliche Würde
einzubüßen, wenn er dieſe Verſammlung nicht ganz in ſeiner Hand be-
hielte, und ſagte bitter: Arnim hat mir einen Entwurf vorgelegt, wie ich
ihn wohl von Flottwell, aber nicht von ihm erwartet hätte. Bei einem
Vortrage am 21. Mai 1845 kam es zu lebhaften Erörterungen. Arnim
entſchloß ſich, zum zweiten male um ſeinen Abſchied zu bitten.
Sein Name ſtand eben jetzt im übelſten Rufe bei den Liberalen; denn
grade in dieſen Maitagen wurden die gefeierten badiſchen Kammerredner
Itzſtein und Hecker aus Berlin ausgewieſen, als ſie angeblich eine Er-
holungsreiſe durch die preußiſchen Städte antreten wollten. In jener
Zeit war es aber noch niemals vorgekommen, daß ein Süddeutſcher in
Berlin und Königsberg Erholung geſucht hätte. Selbſt der minder
radicale Welcker hatte vor vier Jahren, als er wirklich nur wegen eines
Familienfeſtes nach Berlin kam, den Argwohn der Polizei erregt und
nach einer urkräftigen Ständchen-Rede die Stadt eilig wieder verlaſſen
müſſen. Jetzt ſuchte man ſogleich von Amtswegen zu erforſchen, was
die Beiden im Schilde führten, und es ergab ſich bald, daß ſie in den
Bürgervereinen der Städte aufregende Reden halten und Verbindungen
anknüpfen wollten; Hecker war es ja, der die Tochter Tſchech’s auf ihrer
Flucht zuerſt unterſtützte. Als Itzſtein in Berlin mit dem ſchleſiſchen
Grafen Reichenbach, einem fanatiſchen Radicalen, insgeheim zuſammen-
kam, offenbar um den Feldzugsplan zu verabreden, da befahl Arnim
ſofort die Ausweiſung.**) Die Verfügung war geſetzlich, da die Badener
nach löblichem Bundesrecht in Preußen für Ausländer galten — aber
auch ſehr unklug; denn alsbald erklang durch die liberale Preſſe ein Wuth-
geſchrei, das weit mehr ſchadete als die Redekunſt der Ausgewieſenen.
Eine angeblich in Coblenz gedruckte „Adreſſe deutſcher Preußen“ dankte
den Beiden, „daß ſie unſerer vielgeprieſenen Regierung eine eclatante Ge-
legenheit gegeben haben, ihre wahre Geſinnung an den Tag zu legen.
Sie iſt dabei zum erſten mal ganz aufrichtig geweſen, ſie hat zum erſten
mal ohne Paraphraſe ihre Herzensſprache, nämlich ruſſiſch geſprochen.“
Johannes Scherr fügte ſeinem pöbelhaften Buche „das enthüllte Preußen“
[275]Arnim’s Entlaſſung.
ſchleunigſt eine Nachrede hinzu: „Die Verjagung Itzſtein’s und Hecker’s
aus Sandjeruſalem und allen Boruſſenlanden — gewiß, dieſe brutale,
allerhöchſt befohlene Polizeiflegelei iſt ein herrliches Präludium zu dem an-
gekündigten Puppenſpiel: Eine preußiſche Verfaſſung.“ Daheim wurden
die Beiden durch geſinnungstüchtige Zweckeſſen über ihr Mißgeſchick ge-
tröſtet, gewaltige Trinkſprüche verkündeten den Zorn der Patrioten über
die preußiſche Tyrannei. Arnim glaubte nur das Nothwendige gethan
zu haben; in ſeiner ritterlichen Hingebung wollte er jedoch die Perſon des
Monarchen gegen den öffentlichen Unwillen decken und bat daher, der
König möge die Ausweiſung nachträglich mißbilligen, um ſich mit den
Liberalen zu verſöhnen, und hierauf ihn entlaſſen.*) Dies Anerbieten
wurde natürlich abgelehnt; als aber Arnim nunmehr ausſchied, da hieß
es doch überall, er falle als das Opfer ſeiner reaktionären Geſinnung.
Niemand ahnte, wie liberal dieſer Verrufene ſich in der Verfaſſungs-
berathung gezeigt hatte.
Der König nahm Arnim’s Rücktritt ungnädig auf; eine ſolche Selb-
ſtändigkeit der Geſinnung wollte er als abſoluter Herr auch ſeinen höchſten
Dienern nicht geſtatten.**) Das erledigte Amt übernahm Bodelſchwingh,
der zugleich den Vortrag als Cabinetsminiſter behielt und alſo jetzt die
mächtigſte Stellung unter ſeinen Amtsgenoſſen erlangte; er nannte ſich
jedoch ſelbſt nur beſcheiden Sr. Majeſtät erſten Schreiber. Noch im Juli
ſollte eine kleine Commiſſion von durchaus ergebenen Männern zuſammen-
treten um den Verfaſſungsplan genau nach den Weiſungen des Monarchen
auszuarbeiten. Der Prinz von Preußen war zur Seite geſchoben, der
widerſprechende Miniſter entlaſſen. Nach den verlorenen fünf Jahren
hoffte Friedrich Wilhelm nun endlich bald die Tage der Erfüllung zu
erleben, durch ſeine große ſtändiſche Monarchie die conſtitutionellen Miß-
bildungen der Zeit zu beſchämen. Sein Schiffsvolk ſchien willig, ſein Ziel
meinte er deutlich zu erkennen, und er traute ſich’s zu, daß ihm das
Steuer nicht aus der ſtarken Hand glitte.
18*
[[276]]
Vierter Abſchnitt.
Die Parteiung in der Kirche.
Nichts in der Geſchichte iſt ſo geheimnißvoll wie das religiöſe Leben
der hochgebildeten Völker, welche das naive Geſammtgefühl, das lebendige
Einverſtändniß zwiſchen den Höhen und den Tiefen der Geſellſchaft längſt
verloren haben. Ihnen geſchieht es zuweilen, daß alle Gottesfurcht, alle
Andacht aus den Kreiſen der Verſtandesbildung zu verſchwinden ſcheint,
bis plötzlich aus den Maſſen des Volkes ungeahnte Kräfte freudigen
Glaubens oder dumpfen Aberglaubens emporſteigen; aber es kommen
auch Zeiten, da ein im Grunde glaubenloſes, gleichgiltiges Geſchlecht
lärmende kirchliche Kämpfe führt, denen das Gemüth des Volkes fremd
bleibt. Eine ſolche Zeit ohne Glaubenskraft und doch voll kirchlichen
Haders erſchien jetzt den Deutſchen. Ein volles Drittel der neuen lite-
rariſchen Erſcheinungen dieſer acht Jahre beſtand aus kirchlichen Streit-
ſchriften; gleichwohl war die große Mehrheit der gebildeten Klaſſen von
Grund aus weltlich geſinnt. Von dem tiefen Glaubensernſt der Be-
freiungskriege zeigten ſich nur noch wenige Spuren, erſt die erſchüttern-
den Erfahrungen der Revolutionsjahre ſollten ihn wieder erwecken. Die
Ultramontanen allein bildeten eine feſtgeſchloſſene kirchliche Partei; und
ſie verfolgte weſentlich politiſche Zwecke, wie ſie ja auch ihre neue Macht
dem Kampfe gegen die Krone Preußen verdankte. Die rein kirchlichen
Reformgedanken, mit denen ſich Nitzſch und ſo manche andere Schüler
Schleiermacher’s trugen, fanden unter den politiſch erregten Zeitgenoſſen
ſehr wenig Verſtändniß. Auch der religiöſe Radicalismus, der in beiden
Kirchen mannichfache unglückliche Verſuche neuer Sektenbildungen wagte,
beſaß keinen Boden im Volke, das nach den Streitigkeiten der Philoſophen-
ſchulen nie gefragt hatte; er entſprang ſelten einer ſtarken ſittlichen Ueber-
zeugung; öfter ward er nur, in natürlichem Rückſchlage, durch den wach-
ſenden Uebermuth der Ultramontanen oder durch die ſtrengkirchliche Hal-
tung der preußiſchen Regierung hervorgerufen; in den meiſten Fällen
aber diente er der politiſchen Oppoſition als Deckmantel für ihre welt-
[277]Der Zuſtand der preußiſchen Bisthümer.
lichen Pläne. Noch niemals ſeit dem Niedergange der alten Aufklärung
war Deutſchland an fruchtbaren religiöſen Ideen ſo arm geweſen wie in
dieſem Jahrzehnt unabläſſigen kirchlichen Streites.
Tragiſches Schickſal, daß Friedrich Wilhelm in ſolcher Zeit das Ideal
ſeines chriſtlichen Staates zu verwirklichen unternahm. Zuvörderſt wünſchte
er die Verſöhnung mit dem Papſte. Schon längſt hatte er ſich ein holdes
Phantaſiebild von der römiſchen Kirche erſonnen, das die landläufigen
Selbſttäuſchungen der gläubigen Proteſtanten unſeres Nordoſtens noch
weit überbot. Er glaubte feſt, ſeit den Weſtphäliſchen Friedensſchlüſſen
würde die Parität der Bekenntniſſe in Deutſchland von allen Seiten ehr-
lich anerkannt, und vergaß die allbekannte Thatſache, daß der römiſche
Stuhl jene Friedensſchlüſſe wieder und wieder feierlich verdammt hatte.
Bei dem hohen Stande der Volksbildung hielt er eine ernſte Störung
des confeſſionellen Friedens nicht mehr für möglich, obwohl die Curie
ſoeben erſt, bei dem Streite über die gemiſchten Ehen, unzweideutig be-
wieſen hatte, daß ſie die evangeliſchen Chriſten nach wie vor als unreine
Ketzer anſah. Daß die römiſche Cleriſei je wieder in die Verweltlichung
früherer Zeiten zurückfallen könnte, ſchien ihm undenkbar; und doch weis-
ſagten die franzöſiſchen Clericalen bereits — was ſich auch wörtlich er-
füllen ſollte: — ihre von der Revolution ausgeplünderte Kirche würde jetzt
in einem Jahrhundert mehr Reichthümer gewinnen, als ſie vordem in
ſechzehnhundert Jahren erworben hätte. Auch die Mirakel, die Wallfahrten,
die Ausſtellung der Reliquien betrachtete der König nur als überlebte
Mißbräuche, deren ſich die römiſche Kirche bald ganz entledigen würde,
obgleich ſie augenſcheinlich von Jahr zu Jahr mehr überhandnahmen. Vor
den Biſchöfen endlich hegte er eine tiefe, ſtille Verehrung; denn das ließ
er ſich nicht nehmen, daß dies heilige Amt durch die myſtiſche Weihe der
Handauflegung in grader Linie von den Apoſteln ſelbſt herſtammte. Voll
argloſen Vertrauens trat er alſo an den Biſchofsſtreit heran und beſchloß,
da in der That kein anderer Ausweg mehr blieb, mit dem Vatican
unmittelbar zu verhandeln.
Als er den Thron beſtieg, befand ſich die volle Hälfte der preußiſchen
Bisthümer in einem unſicheren Zuſtande, der nur durch das Einverſtänd-
niß der weltlichen und der geiſtlichen Gewalt gebeſſert werden konnte.
Droſte-Viſchering und Dunin waren noch aus ihren Diöceſen entfernt.
In Trier hatte das Capitel den Domherrn Arnoldi zum Biſchof gewählt,
der alte König aber die unzweifelhaft geſetzwidrige Wahl nicht genehmigt.
In Breslau endlich war Fürſtbiſchof Sedlnitzky, weil er die Geſetze
des Staates befolgt hatte, vom Papſte zur Abdankung aufgefordert wor-
den, und es ſtand der Krone noch frei, den treuen Prälaten gegen eine
ſo willkürliche Zumuthung zu beſchützen. Dieſe Fülle von Streitpunkten
konnte dem Staate zum Vortheile gereichen, wenn er alle ſeine Karten
vorſichtig in der Hand behielt und ſich der alten Wahrheit erinnerte, daß
[278]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
man mit der zähen Hartnäckigkeit des römiſchen Stuhles immer Zug um
Zug verhandeln muß. Friedrich Wilhelm aber verſchmähte Alles was
dem Markten und Feilſchen glich. Er hielt es für königlich, alsbald durch
eine freie That ſeiner Großmuth der Curie zu zeigen, wie wohl er es mit
der Kirche meinte. Noch bevor die römiſchen Verhandlungen begannen,
gab er ſeinen geliebten Polen ihren Erzbiſchof zurück, und wenige Tage
ſpäter genehmigte er, ſehr ungern freilich, auch Sedlnitzky’s Abdankung.
Dergeſtalt waren zwei der vier ſchwebenden Fragen ſchon im Voraus zu
Roms Gunſten entſchieden.
Zum Unterhändler wurde noch im Juni 1840 ein Jugendfreund
des Königs, Oberſtleutnant Graf Brühl beſtimmt, ein in diplomatiſchen
Geſchäften noch ganz unerfahrener Offizier von liebenswürdigen Formen
und vertrauenerweckendem Gradſinn. Brühl war überzeugter Katholik,
doch keineswegs ultramontan geſinnt; mit dem milden Biſchof Sedlnitzky
unterhielt er von langeher freundſchaftlichen Verkehr, und ſeine eigenen
Töchter ließ er in dem evangeliſchen Bekenntniß der Mutter, einer Tochter
Gneiſenau’s erziehen. Noch bei Lebzeiten des alten Königs fragte Sedl-
nitzky in Wittgenſtein’s Auftrage bei ihm an, ob er nicht als Adjutant
zu dem kranken Prinzen Heinrich nach Rom gehen wolle, um dort unter
der Hand Verhandlungen mit dem Vatican einzuleiten. Damals lehnte
Brühl ab, weil er den harten Territorialismus der preußiſchen Kirchen-
politik ebenſo tief verabſcheute wie die fanatiſchen Allocutionen der Curie:
„Altenſtein mit den Seinen ſowie Lambruschini mit ſeiner Clique ſind
einander werth.“ *) Jetzt nahm er den wiederholten Auftrag unbedenklich
an: dem Rufe ſeines königlichen Freundes wollte er ſich nicht entziehen,
und ſeit dem Thronwechſel erſchien die Unterhandlung auch nicht mehr
ausſichtslos. Er ſollte ſich in Rom zunächſt aller beſtimmten Aner-
bietungen enthalten, aber der Curie feierlich verſichern, daß der König der
römiſchen Kirche in Preußen alle nur mögliche Freiheit gewähren wolle,
und ſchließlich „als einen erſten Beweis guten Willens“ verlangen: der
Papſt möge den Erzbiſchof von Köln — vielleicht als Cardinal — aus
Deutſchland abberufen um alsdann mit der Krone gemeinſam die Ver-
waltung des verwaiſten Erzbisthums endgiltig zu ordnen; **) bliebe der
römiſche Stuhl ganz unverſöhnlich, dann müßte ſich Preußen mit England
und anderen proteſtantiſchen Mächten über eine gemeinſame Kirchenpolitik
verſtändigen. Dieſe Drohung bedeutete freilich gar nichts; denn Jeder-
mann wußte, daß der Londoner Hof nie einen Finger regte, wenn er ſich
nicht in ſeinen eigenen Intereſſen bedroht glaubte, und in der That gab
Palmerſton, auf eine Anfrage des preußiſchen Geſandten, nur eine freund-
liche aber völlig nichtsſagende Antwort. ***)
[279]Erſte Sendung des Grafen Brühl.
Nach der Rückkehr Dunin’s erwartete alle Welt auch die Wieder-
einſetzung Droſte-Viſchering’s, Niemand zuverſichtlicher als der greiſe Erz-
biſchof ſelbſt. Der betheuerte, als ihm Miniſter Rochow einen abſchlägigen
Beſcheid gab, in ſeinem fürchterlichen Deutſch kurzab: dies nimmt mir
meine Hoffnung nicht, „da ſie auf die erhabene Geſinnung Sr. Majeſtät
ruht“; er ſchaffte ſich ſchon Wagen und Pferde an um triumphirend in
ſeiner Metropole einzuziehen. *) Seine Anhänger am Rhein überſchüt-
teten den Monarchen mit rührſamen Bittſchriften, und nicht Alle waren
ſo tapfer wie die Erzeugerin des berühmten Kölniſchen Waſſers, die Kloſter-
frau Martin, die ſich unbedenklich auf ihren Gutthäter, den ſeligen König
berief; Manche verſicherten treuherzig, ſie würden „aus Furcht vor den
Gegnern“ ihre Unterſchrift erſt ſpäter beifügen. **) Friedrich Wilhelm
aber beurtheilte auch dieſe politiſche Machtfrage gemüthlich, nicht als
Staatsmann, ſondern als guter Sohn. Dunin war durch gerichtlichen
Spruch verurtheilt und konnte alſo ohne Weiteres begnadigt werden.
Droſte hingegen hatte den ganzen Streit begonnen und dann ohne Urtheil
und Recht, auf unmittelbaren Befehl des verſtorbenen Monarchen ſein
Bisthum verlaſſen müſſen. Dieſen Befehl des Vaters zurückzunehmen
erſchien dem neuen Könige wie eine Verletzung der kindlichen Pietät, und
da auch ſeine Miniſter alleſammt den Polen unverdientermaßen milder
beurtheilten als den Weſtphalen, ſo mußte Brühl von vornherein erklären:
nun und nimmermehr dürfe Droſte zurückkehren, nur unter dieſer Be-
dingung ſei Dunin begnadigt worden. Zum Glück ſtimmte Friedrich
Wilhelm’s Gemüthspolitik nahezu überein mit den nüchternen Berechnungen
des Vaticans. Klüger als die preußiſche Regierung hatten die Cardinäle
in dem Kölniſchen Fanatiker von vornherein einen unbequemen deutſchen
Trotzkopf geſehen; nun war er durch ſein Martyrium der Kirche nützlich
geworden, und nur als Märtyrer vermochte er ihr auch fernerhin zu nützen.
Gebrauchen konnte man ihn ſonſt nicht mehr, denn in den drei Jahren
ſeines Exils hatten ſich die Grobheit und der zänkiſche Eigenſinn des
kränkelnden Prälaten bis zum Unerträglichen geſteigert. Daher war
man im Stillen ſchon längſt entſchloſſen, beim Friedensſchluſſe den getreuen
Weſtphalen als Sündenbock mit vaticaniſcher Gemüthsruhe abzuſchlachten.
Vorher aber mußte die Staatsgewalt noch einmal gründlich gedemüthigt
werden.
Als Graf Brühl am 20. Auguſt die Unterhandlungen begann, da
empfing ihn der Cardinal-Staatsſecretär nicht feindſelig, aber mit dem
Hochmuthe des Siegers. Lambruschini donnerte in ungeſtümen Zornreden,
die dem Preußen zuweilen theatraliſch klangen, wider das ſtaatstreue
Kölniſche Domcapitel, wider die Hermeſianer, am heftigſten wider Bunſen;
[280]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und allerdings mußte Brühl ſelbſt nach Einſicht der Akten eingeſtehen:
„der Mann war nicht wahr.“ Der mildere Cardinal Capaccini gab im
Vertrauen zu, daß Droſte für die Verwaltung des Erzbisthums völlig
ungeeignet ſei; doch auch er meinte: zuerſt müſſe der Vertriebene feierlich
wieder eingeſetzt werden, ſpäterhin könne er dann vielleicht Altershalber
abdanken und den Cardinalshut erhalten. Um Vorwände waren die
Monſignoren nicht verlegen. Bald ſagten ſie: das Domcapitel müſſe für
die Preisgebung ſeines Oberhirten gezüchtigt werden; bald wieder: die
katholiſche Preſſe verlange dieſe Sühne; oder auch: der heilige Stuhl
ſchulde eine Genugthuung dem ſchwer beleidigten Epiſkopate, der aller-
dings überall, ſelbſt in Amerika, den preußiſchen Kirchenſtreit wachſam
verfolgte und dem Märtyrer zu Münſter zahlreiche Troſtbriefe ſendete.
Die Abſicht war klar: der ketzeriſche König ſollte ſich in den Staub werfen
vor dem ungehorſamen Biſchof — ganz wie es dieſer ſelbſt vor zwei Jahren
verlangt hatte. *) Erfolglos blieb auch eine Fahrt nach dem ſchattigen
Bergſchloſſe von Caſtel Gandolfo, wo der Papſt ſeine Sommerfriſche hielt.
Gregor lebte ganz in ſeinem mönchiſchen Gedankenkreiſe; er verſtand von
Politik ſogar noch weniger als Lambruschini, las nur eine Zeitung, den
ſtreng clericalen Univers und glaubte Alles was darin ſtand. Er be-
handelte den Abgeſandten mit väterlichem Wohlwollen und ſprach dankbar
von der edlen Geſinnung des Königs; doch immer wieder brach der alte
Mönchshaß gegen das ungläubige Deutſchland durch; immer wieder hieß
es: der Papſt kann das nicht! Von „dem Papſte“ redete Gregor ſtets
wie von einem höheren Weſen, das mit ſeiner eigenen Perſon nichts ge-
mein hätte; und wenn deutſche Proteſtanten oder orthodoxe Ruſſen ihm
verſicherten, es gäbe nur ein Rom, dann pflegte er zu antworten: „Nun
liebe Kinder, kommt herein; warum bleibt Ihr draußen?“ — Nach drei
peinlichen Wochen reiſte Brühl heim, ohne jedes Ergebniß, aber mit der
feſten Ueberzeugung, daß man im Vatican ſelbſt wünſche den weſtphäliſchen
Störenfried auf gute Art zu beſeitigen. **)
Seine Ahnung trog ihn nicht. Bald nach ihm kehrte auch Wilhelm
Schadow von einer Romfahrt zurück, der berühmte Direktor der Düſſel-
dorfer Kunſtakademie, der unlängſt zur katholiſchen Kirche übergetreten
war und, nach der Weiſe der Convertiten, die allerſtrengſte clericale Ge-
ſinnung bethätigte. Schadow hatte in Rom mit Capaccini geſprochen und
erbot ſich jetzt, nach den Weiſungen des Cardinals vertraulich mit Droſte
zu verhandeln, falls der König es geſtatte. Friedrich Wilhelm genehmigte
den ſonderbaren Antrag, der ihm durch General Gröben gemeldet wurde,
und fügte ſeinerſeits die beſtimmte Weiſung hinzu: Droſte dürfe nicht nach
Köln zurückkehren, ſondern müſſe ſich’s gefallen laſſen, daß der Papſt
[281]Verhandlungen mit Droſte.
ihm für ſeine Lebenszeit einen Caadjutor ernenne. *) Begleitet von dem
Grafen Fürſtenberg-Stammheim, einem der Wortführer des ultramon-
tanen rheiniſchen Adels, reiſte Schadow um Weihnachten nach Münſter,
und der Erfolg war, wie ihn jeder Menſchenkenner vorauswiſſen mußte.
Aus Ehrfurcht vor dem großen Märtyrer wagten die beiden clericalen
Abgeſandten nicht einmal die Aufträge des Königs auszurichten; ſie
nahmen nur demüthig die Willensmeinung des Erboſten entgegen und
berichteten dann harmlos: Droſte verlange unbedingt ſeine Wiedereinſetzung,
ſpäterhin denke er ſich bei Gelegenheit aus Köln zurückzuziehen. Mit
der ganzen politiſchen Unſchuld des Künſtlers fügte Schadow hinzu: ſehr
wünſchenswerth erſcheine auch die Beglaubigung eines Nuntius beim
Bundestage; der könne unter Oeſterreichs Schutz die deutſche Kirche leiten,
Preußen brauche dann nur noch einen Geſchäftsträger für die laufenden
Angelegenheiten in Rom zu unterhalten; ſo würde freilich „eine Art
Staat im Staate“ entſtehen, aber da doch alles Heil von der katholiſchen
Kirche ausgehen müſſe, ſo komme der Segen auch den Akatholiken zu Gute!
Dieſe „ſaubere Beſcheerung“ erſchien ſelbſt dem gütigen Monarchen un-
heimlich und er ſchrieb traurig: „Der Geiſt, der das Ganze durchweht,
ſtimmt mich muthlos, nicht weil ich ſehe was ich lange weiß, daß die
beiden Herolde verſtockte Papiſten ſind, ſondern weil die ganze Einleitung
mir nun klar iſt und von Capaccini (dem ſanfteſten, nachgiebigſten der
päpſtlichen Umgebung) wahrſcheinlich noch ſo viel als möglich gemildert
worden iſt.“ **)
Unterdeſſen begann der Vatican doch zu fühlen, daß er mit einer
mächtigen Krone ſo nicht ſpielen durfte. Im Februar 1841 erſchien mit
Aufträgen des Papſtes ein neuer Unterhändler bei Droſte: der Biſchof
von Eichſtädt, Graf Reiſach. Auch dieſer Name verſprach nichts Gutes.
Reiſach war der weltkluge Führer der jeſuitiſchen Partei in Baiern
und machte dem Rufe zweideutiger Verſchlagenheit, der noch von den
napoleoniſchen Tagen her an ſeinem Hauſe haftete, alle Ehre. Unter
ihm war das liebliche Städtchen im ſtillen Felſenthale der Altmühl
zu einem kleinen bairiſchen Rom geworden; drunten im alten Dome
lag das Grab des heiligen Willibald, droben in der Bergkirche ſickerte
aus dem Felſen das wunderthätige Oel der heiligen Walpurgis; hier gab
es Mirakel ſo viel das Herz begehrte, und wieder wie einſt in den Tagen
des bairiſchen Concordats verſammelte ſich in dem ſtattlichen Reſidenz-
ſchloſſe des Biſchofs ein Eichſtädter Bund von handfeſten Ultramontanen. ***)
In den Münchener Prieſterkreiſen erzählte man ſich überall, wohl mit
[282]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
gutem Grunde: daß Reiſach vor fünf Jahren, in vertraulicher Zwieſprache
bei der Tabakspfeife, den Kölniſchen Erzbiſchof zum Kampfe gegen die
Krone zuerſt ermuntert hatte; und dieſer Prälat ſollte jetzt vermitteln!
Der Baier benutzte ſeinen Aufenthalt in Münſter nebenbei, um den jungen,
aus dem preußiſchen Staatsdienſte ausgetretenen Wilhelm v. Ketteler für
den Prieſterſtand anzuwerben. Bei Droſte aber richtete er nichts aus.
Von einem Verzichte wollte der ſtörriſche Greis nichts hören; weder der
Cardinalspurpur noch das Leben in Rom hatte für ihn einen Reiz. Den
Uneingeweihten blieb es immer dunkel, ob Reiſach eigenmächtig die Ver-
handlungen erſchwert hatte oder ob er von Rom her angewieſen war die
Dinge noch in der Schwebe zu halten.
Immerhin ſchienen dieſe geheimen Umtriebe anzudeuten, daß der
römiſche Stuhl doch nicht ganz unnachgiebig bleiben wollte. Darum wurde
Graf Brühl im December 1840 zum zweiten male nach Rom geſendet.
Diesmal kam er mit vollen Händen: er konnte dem Vatican die frohe
Botſchaft verkünden: daß der König ſich von freien Stücken entſchloſſen
habe, den Verkehr der Biſchöfe mit dem Papſte frei zu geben, das königliche
Recht des Placet einzuſchränken und im Cultusminiſterium eine eigene
katholiſche Abtheilung zu bilden. Da die Staatsgewalt am Rheine wie
in Poſen ſchon nachgegeben hatte und ein zweifaches Staatskirchenrecht
in Preußen unmöglich war, ſo ſollten fortan in der ganzen Monarchie
die gemiſchten Ehen nach dem berüchtigten päpſtlichen Breve und nach
dem Ermeſſen der Biſchöfe behandelt werden. *) Friedrich Wilhelm war
ſogar bereit, das freiere Wahlrecht, das den Domcapiteln des Weſtens
nach der Circumſcriptionsbulle zuſtand, auch den Bisthümern des Oſtens
zu gewähren, obgleich die Krone hier bisher die Biſchöfe thatſächlich allein
ernannt hatte. Ganz von ſelbſt verſtand ſich endlich nach den früheren
Erklärungen, daß der Staat die Hermeſianer nicht begünſtigen wollte.
In Allem und Jedem alſo war der König den Wünſchen des Vaticans
nicht entgegen- ſondern zuvorgekommen. Und für dieſe Fülle freiwilliger
Gewährungen verlangte man ein einziges Zugeſtändniß. „Feſt muß nur
der Eine bleiben: — ſo ſchrieb Eichhorn — keine Rückkehr des Erzbiſchofs
nach Köln, wenn auch nur auf eine Minute um in’s Thor von Köln zu
ſehen!“ **) Brühl’s erſte Reiſe war der Welt anfangs verborgen geblieben.
Jetzt aber hatte ſich das Gerücht überall verbreitet, und alsbald erbot ſich
der befreundete Turiner Hof zur Vermittlung; er wußte jedoch — gemäß
den clericalen Grundſätzen König Karl Albert’s — nur vorzuſchlagen, daß
Droſte auf kurze Zeit zurückkehren und dann ſein Amt niederlegen ſolle.
Die Vermittlung wurde mit Dank abgelehnt. ***) Friedrich Wilhelm war
[283]Brühl’s zweite Sendung.
entſchloſſen, dies Unternehmen, das er allein begonnen, auch allein zu
vollenden.
Aber auch die Gegner rüſteten ſich. Biſchof Laurens und die Jeſuiten
boten Alles auf um die Verſöhnung zu hintertreiben; aus Wien kam
Jarcke, aus München Guido Görres herbei. *) Sehr rührig arbeitete
auch Frau v. Kimsky gegen Preußen, jene Somnambüle, welche einſt den
greiſen Hardenberg mit ihren Gauklerkünſten bethört und nachher, über-
ſättigt von den Freuden dieſer Welt, ſich in den Schooß der römiſchen
Kirche geflüchtet hatte. Papſt Gregor hielt dieſes Weib alles Ernſtes für
eine fromme Heilige; freilich hatte der alte Camaldulenſermönch wohl
nur wenig Gelegenheit gehabt, ehrbare Frauen kennen zu lernen. So
tummelten ſich denn wieder zahlloſe Ränke in dem berühmten „Lügen-
ſtübchen“ des Vaticans, das die freien Geiſter des Cinquecento ſchon ver-
ſpottet hatten; der Papſt zauderte und ſchwankte, und der milde Capaccini
ſagte oft verzweifelnd zu Brühl: wer mag ihn jetzt wieder aufgeſtiftet
haben? Was der öſterreichiſche Geſandte Graf Lützow insgeheim trieb, ließ
ſich nicht erkennen; doch ſchwerlich wirkte der bigotte Convertit zu Preußens
Gunſten. Aus der Ferne arbeitete auch des Königs Stieftante, Herzogin
Julia von Köthen mitſammt ihrer Jeſuitenſchaar gegen ihren Neffen.
Unterdeſſen erhoben auch die Provinzialſtände von Rheinland und Weſt-
phalen ihre Stimme, ſicherlich nicht ohne die geheime Mitwirkung der
Freunde in Rom. In beiden Landtagen kam der Antrag auf Droſte’s
Wiedereinſetzung zwar ſchließlich zu Falle; in Münſter erklärten ſich nur
die ſämmtlichen Ritter und ein Bauer dafür, alle Fürſten und Herren,
alle Vertreter der Städte und der Landgemeinden, mit Ausnahme jenes
einen, ſtimmten dagegen. Aber wie frech erklang ſchon die Sprache der
erſtarkten ultramontanen Partei. Graf Weſtphalen ſagte im Münſterſchen
Landtage: „meine Mitſtände beſchwöre ich es auch nicht einmal ſtillſchweigend
gutheißen zu wollen, als bedürfe es nur einer ſeidenen Schnur zur mora-
liſchen Selbſttödung eines dem Gouvernement mißfälligen Bürgers;“ und
als ſeine königstreuen Landsleute ſich wider dieſen jacobiniſchen Ton
verwahrten, da verſicherte er dreiſt, mit der ſeidenen Schnur hätte er
den verſtorbenen König nicht beleidigen wollen. Bald nachher verließ
er den preußiſchen Staat, da es ihm nicht gelang ſich vor der Krone zu
rechtfertigen.
Unter ſo bedenklichen Anzeichen begann Graf Brühl ſeine zweite
Verhandlung, die ſich durch fünftehalb Monate, bis in den Mai 1841
hinzog. Indeß hatten ihm die großen freiwilligen Gewährungen des
Königs ſeinen Weg doch etwas geebnet. Die Cardinäle ſelbſt geſtanden
jetzt, der ſtarrköpfige alte Erzbiſchof, dem ſeine eigene bigotte Familie
kaum mehr zu nahen wagte, könne in Köln nur Unheil ſtiften. Da fragte
[284]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Brühl, ob nicht der Papſt ſelber, im Einverſtändniß mit der Krone, ſo-
fort einen zur Nachfolge berechtigten Coadjutor ernennen wolle — ein
Ausweg, der dem Könige ſchon gleich nach ſeiner Thronbeſteigung durch
den ſtaatstreuen Bonner Clericalen Ferdinand Walter empfohlen worden
war. Gregor ging darauf ein: ſo wurde ja das verhaßte Kölner Dom-
capitel ganz zur Seite geſchoben. Nunmehr begann man nach vatica-
niſchem Brauche einander wechſelſeitig zu betaſten und auszuforſchen
wegen eines möglichen Candidaten. Nach mannichfachen Winkelzügen
nannte Lambruschini den Jeſuitenhäuptling Reiſach, ſodann den vertrauten
Freund der Familie Droſte, Profeſſor Kellermann in Münſter, endlich
den jungen Münchener Domherrn Windiſchmann, den Sohn des Bonner
Arztes, einen tüchtigen Orientaliſten, der, mehr Gelehrter als Geiſtlicher,
doch zu der ſtrengen Jeſuitenpartei gehörte und in Görres’ gelben Blättern
ſeine Feder tummelte. Alle drei erklärte Brühl für unmöglich; ſein König
wünſchte den edlen, hochgebildeten Domcapitular Diepenbrock in Regens-
burg; den aber wies die Curie zurück. Ueber die Perſonenfrage hätte
man ſich doch einigen können, da beide Theile noch einen allerletzten
Candidaten in Bereitſchaft hielten. Ganz unlösbar aber ſchien wieder
die Frage, ob Droſte zurückkehren dürfe. Niemals! erklärte Brühl; nur
auf wenige Tage! ſagten die Monſignoren, obwohl ſie ſelbſt zugeſtanden,
daß eine ſolche Rückkehr die Rheinländer aufregen, die Proteſtanten der
alten Provinzen erbittern mußte. Dazwiſchen hinein kamen Adreſſen
von den Getreuen am Rhein, die den heiligen Vater um Rückkehr ihres
Oberhirten anflehten. Auch Droſte ſelber ſchrieb — „in ſeiner eigenthüm-
lichen unhöflichen Weiſe“, wie Capaccini ſagte: — an dem Purpur des
Cardinals lag ihm nichts, nur [Genugthuung] wollte er haben; denn es
ſtehe ſchlecht um die Kirche, wenn der Papſt ſolche Unbill den Biſchöfen
widerfahren laſſe.
Brühl hielt ſich tapfer und erfuhr aus endloſen Zerrungen und
Zettelungen, wie richtig die Römer das Weſen der Theokratie beurtheilten,
wenn ſie kurzab zu ſagen pflegten: mit Prieſtern kann man nicht ver-
handeln! Langſam, langſam zurückweichend gelangte die Curie nach Mo-
naten endlich zu dem Gegenvorſchlage: Droſte ſolle nur auf vierundzwanzig
Stunden nach Köln kommen und nicht einmal um den Coadjutor einzuſetzen,
ſondern lediglich um als envoyé du pape dem ernannten Coadjutor nach-
träglich die Biſchofsweihe zu ertheilen. Dabei wollte man unwiderruflich
bleiben. Dieſer letzte Vorſchlag bewies deutlich, daß es ſich gar nicht
mehr um die Wahrung kirchlicher Rechte handelte, ſondern um eine muth-
willige Verhöhnung der Krone Preußen. Niemand wußte dies beſſer
als der gelehrte Canoniſt Gregor; der aber ſtellte ſich ſo verzweifelt an
und ſprach ſein ewiges „der Papſt kann nicht“ in ſo herzbrechendem Tone,
daß der ehrliche Preuße ſich endlich ganz zerknirſcht fühlte. Der geiſtliche
Despot, deſſen nichtswürdige Regierung von allen ſeinen Unterthanen
[285]Nachgiebigkeit der Krone.
verflucht wurde, blieb in den Augen des gläubigen deutſchen Katholiken
doch immer der heilige Vater. Seinen Weiſungen gemäß erklärte Brühl
bis zuletzt: nun und nimmermehr dürfe der Erzbiſchof amtlich zurückkehren.
An Thile aber ſchrieb er traurig: ich bin kein Diplomat, „ich kann mit dem
Papſte nicht feilſchen“, ich vermag „den edlen Greis“ nicht mehr zu be-
drängen, da mein Gewiſſen ihm Recht giebt. *) So reiſte er zum zweiten
male heim, wieder ohne Ergebniß.
Der König, der ſchon während der Verhandlungen mehrmals ge-
ſchwankt hatte, fühlte ſich ſchmerzlich überraſcht; er meinte: die Vorſchläge
des römiſchen Stuhls „erfordern eine ſehr reife Prüfung, zumal der
Conſequenzen meines Nein’s.“ Nun kam auch noch ein Brief von
ſeinem Oheim, dem Prinzen Heinrich, der ſich ſeit langen Jahren tief in die
römiſche Welt eingelebt hatte und bei Vielen, wohl mit Unrecht, für einen ge-
heimen Katholiken galt. Der kranke Prinz ſchrieb in ſeiner munteren, geiſt-
reichen Weiſe: das ſei doch das Einfachſte von der Welt, wenn Droſte für
einen Tag nach Köln käme und ſich dann ſogleich fortſcheren müßte. **) Nach
qualvoller Ueberlegung entſchloß ſich der König, auch der letzten Zumuthung
des Vaticans zu willfahren. Er wollte wirklich erlauben, daß die rheiniſchen
Ultramontanen auf dem Grabe ſeines edlen Vaters einen Tag hindurch
ihre Triumphtänze abhielten. Droſte ſollte zur Biſchofsweihe zurückkehren,
und Brühl erhielt Befehl, mit neuen Weiſungen verſehen, zum dritten
male nach Rom zu gehen. ***)
Und noch eine neue Anmaßung des Papſtes ließ der Monarch ſich bieten.
Eben jetzt, zu Ende Aprils, war der wackere Kölniſche Generalvicar Hüsgen
geſtorben, der in dieſen ſchweren Uebergangsjahren die proviſoriſche Ver-
waltung des Erzbisthums zur vollen Zufriedenheit des alten wie des
neuen Königs geführt hatte. Das Domcapitel fragte zunächſt beim Ober-
präſidenten an, ob Droſte wieder eintreten oder bei der Wiederbeſetzung
des Generalvicariats mitwirken dürfe. Auf die verneinende Antwort wurde
die Neuwahl vollzogen, ganz in der nämlichen Weiſe wie 1837 nach
Droſte’s Wegführung, und der neue Generalvicar Canonicus Müller, ein
würdiger, friedfertiger geiſtlicher Herr gleich ſeinem Vorgänger, erhielt von
Seiten des Oberpräſidenten die Beſtätigung. Der Papſt aber ſah in
dieſem Verfahren frevelhaften Ungehorſam, denn nicht einmal für die
kurze Zeit bis zur nahen Ausgleichung wollte er dem vermaledeiten Dom-
capitel die proviſoriſche Verwaltung, die er doch bisher geduldet hatte,
erlauben. Er erklärte die Wahl für nichtig und ernannte ſeinerſeits
den Canonicus Iven, den einzigen Ultramontanen im Domcapitel, der
ſich allein der Wahl enthalten hatte und dafür auch das beſondere Lob
[286]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
des heiligen Vaters empfing. *) Währenddem erſchien in dem Heerlager
der Ultramontanen zu Würzburg eine von Hermann Müller verfaßte ano-
nyme Schrift: Die Kölniſche Kirche im Mai 1841 — ein wüthendes Libell,
das in Preußen wegen ſeiner frechen Schmähungen ſofort verboten und
gleichwohl auf Schleichwegen dem Könige in die Hände geſpielt wurde.
Der päpſtliche Machtbefehl war offenbar geſetzwidrig, da Gregor nicht
einmal für nöthig gehalten hatte den ſo grenzenlos nachgiebigen Monarchen
vorher zu benachrichtigen. Der König verſagte alſo dem Domherrn Iven
die Anerkennung; aber eingeſchüchtert durch die Drohungen der Cleri-
calen ließ er zugleich durch Brühl in Rom vertraulich ausſprechen: unter
Vorbehalt ſeiner landesherrlichen Rechte wolle er Iven’s Amtsführung
ſtillſchweigend dulden! So wankte er von einem ſchwächlichen Zugeſtänd-
niß zum andern. **)
Inzwiſchen hatte ſchon ein neuer Vermittler in die Unterhandlungen
eingegriffen: König Ludwig von Baiern. Der Wittelsbacher wünſchte jetzt
aufrichtig die Ausſöhnung, weil er den Berliner Schwager auf ſeine
Weiſe liebte und bei der noch immer drohenden Kriegsgefahr jede Schwä-
chung Preußens für bedenklich hielt, vornehmlich aber weil er durch ſeine
eigene Politik die bairiſchen Liberalen und Proteſtanten tief verſtimmt hatte
und durch das Friedenswerk ihren Groll zu beſchwichtigen hoffte; nur
ſollten auch ſein getreuer Miniſter Abel und die Ultramontanen an der
Ausgleichung ihre Freude haben. Er empfahl ſeinem Schwager den
Biſchof Geiſſel von Speier, den er unter ſeinen Landesbiſchöfen beſonders
hoch ſchätzte, zum Coadjutor für das Erzbisthum und ſagte: einen ſtärkeren
Beweis ſeiner Freundſchaft könnte er ihm unmöglich geben, als indem
er ihm einen ſolchen Mann abträte. Den nämlichen Vorſchlag hatte er,
allem Anſchein nach, ſchon vorher in Rom vertraulich ausſprechen laſſen;
denn Geiſſel war jener letzte Candidat, den ſich die Curie im Stillen vor-
behielt, ſchon im März deutete Capaccini, in einem Geſpräche mit Brühl,
vorſichtig auf dieſen Namen hin. König Friedrich Wilhelm ging auf den
Rath ein, ***) und als Graf Brühl im Juli zum dritten male nach Rom
reiſte, nahm er den Weg über München um dort das Nähere zu be-
ſprechen. Darauf forderte König Ludwig den Biſchof Geiſſel in einem
ſchmeichelhaften Briefe auf, ſich zur Annahme der Coadjutor-Stelle bereit
zu erklären. Abel unterſtützte die Bitten des Monarchen und ſagte mit
ſeiner gewohnten fanatiſchen Plumpheit rund heraus, was die Jeſuiten
von dem künftigen Kölniſchen Oberhirten erwarteten. „Sie ſollen“, ſo
ſchrieb er, „indem Sie die katholiſche Kirche Preußens wieder in ihr gutes
Recht einſetzen, durch die von da ausgehende, unabwendbare Rückwirkung
[287]Dritte Sendung Brühl’s.
auf die übrigen proteſtantiſchen Staaten in Deutſchland auch dort jenen
revolutionären Grundſätzen ein Ende machen, die aus der hehren
Himmelstochter die dienſtbare Magd des modernen Staatsthums heraus-
bilden, ſie entweihen und entwürdigen möchten.“ Wahrlich, es geſchahen
Zeichen und Wunder, ſeit die neue ultramontane Partei ſich feſt zuſammen-
geſchloſſen hatte. Wer hätte vordem für denkbar gehalten, daß ein deutſcher
Miniſter einen Prieſter gradeswegs zum Kampfe wider die Kirchenpolitik
deutſcher Regierungen auffordern könnte? Geiſſel antwortete zunächſt vor-
ſichtig ablehnend; aus den wohlgewählten Worten ließen ſich jedoch ſeine
ehrgeizigen Wünſche leicht herausleſen.
In Rom wurde Brühl diesmal, nach den neuen großen Gewährungen
des Königs, mit offenen Armen aufgenommen; und als er Geiſſel nannte,
fand weder Lambruschini noch der Papſt ſelber gegen dieſen guten Namen
etwas einzuwenden. Da mit einem male ward ein neuer Pfeil aus dem
unerſchöpflichen Köcher vaticaniſcher Verhandlungskünſte herausgeholt, ein
ſchweres, ganz unüberwindliches Bedenken. Geiſſel war ja ſchon Biſchof,
alſo konnte er auch nicht durch Droſte nachträglich die Biſchofsweihe
empfangen, und folglich — ſo ſchloſſen die Monſignoren, alle früheren
Abreden vergeſſend, mit verblüffender Unbefangenheit — folglich mußte
er nicht durch den Papſt, ſondern durch Droſte ſelbſt in das Coadjutor-
Amt eingeſetzt werden, damit der alte Erzbiſchof doch irgend eine Genug-
thuung erhielte. In Berlin hatte man ſich jedoch gegen ſolche Ueber-
fälle gerüſtet. Brühl lehnte die Zumuthung unbedingt ab, und als die
Curie nicht nachgab, erklärte er plötzlich: nun wohl, dann laſſen wir
Geiſſel fallen und verlangen den Domherrn Arnoldi in Trier — denſelben
Arnoldi, den einſt der alte König als persona minus grata von dem
Trierſchen Biſchofsſtuhle ausgeſchloſſen hatte! Nach kurzem Zögern nahm
Gregor dieſen neuen Vorſchlag an; über alles einzelne ward man ſchnell
einig, und wenige Tage ſpäter meldete Brühl zufrieden: „Das Beſchloſſene
iſt unwiderruflich;“ der Papſt ernennt Arnoldi zum Coadjutor und
ſendet nachher den alten Erzbiſchof für einen Tag nach Köln, wo die
Biſchofsweihe im Auftrage des heiligen Vaters vollzogen wird. In welche
Widerſprüche war doch der König durch ſeine Herzensgüte hineingedrängt
worden. Aus Pietät gegen ſeinen Vater hatte er Droſte’s Rückkehr unter-
ſagt und jetzt wollte er doch geſtatten, daß dieſer von dem alten Könige
wegen Ungehorſams weggewieſene Prälat auf vierundzwanzig Stunden
zurückkam um die Biſchofsweihe dem neuen Kölniſchen Coadjutor zu er-
theilen, dem der alte Herr nicht einmal das beſcheidene Bisthum Trier
hatte anvertrauen wollen! Hieß das nicht, das Andenken des Vaters
zweimal beſchimpfen? Eine ſchmachvolle Niederlage ſtand der Krone
Preußen und der Perſon ihres Trägers bevor; denn ſo gewiß der Staat
Macht iſt, ebenſo gewiß bleibt die Schwäche, auch die wohlmeinende Schwäche
unter allen politiſchen Sünden die ſchwerſte.
[288]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Daß dieſe Schande dem preußiſchen Staate erſpart blieb, war allein
dem Starrſinn Droſte’s zu verdanken. Bei dem hatten mittlerweile
Schadow und Fürſtenberg nochmals, und wieder vergeblich, ihre Ueber-
redungskünſte verſucht. Der unbeugſame Weſtphale wurde den Monſig-
noren immer läſtiger und Capaccini meinte: ein Glück nur daß er den
Purpur verſchmäht, er wäre ja im Stande hier mit Papſt und Cardi-
nälen Händel anzufangen! Gregor aber fühlte ſich beunruhigt; denn
er wußte wohl, daß der Papſt nicht befugt iſt, einem Biſchof, ohne deſſen
Einwilligung, einen Coadjutor mit ſo ausgedehnten Befugniſſen beizu-
ordnen; und ſo unbedenklich er die Rechte der weltlichen Gewalt beein-
trächtigte, ebenſo gewiſſenhaft vermied er das kanoniſche Recht zu verletzen.
Er entſchloß ſich daher, den Erzbiſchof durch einen eigenhändigen Brief
ſehr nachdrücklich zur Anerkennung des Coadjutors aufzufordern, und
ſendete zugleich den Biſchof Reiſach zum zweiten male nach Münſter,
diesmal mit den allerſtrengſten Weiſungen, ſo daß der bairiſche Jeſuit
ſeine ganze Kraft einſetzen mußte. Nach einigen Wochen peinlichen Harrens
meldete Reiſach endlich: Droſte habe ſich den Befehlen des heiligen Vaters
gänzlich unterworfen und wolle ſogar einen Hirtenbrief erlaſſen um ſeine
Heerde zum Gehorſam gegen den Coadjutor zu ermahnen. Nur die
Reiſe nach Köln zur Biſchofsweihe hatte der Alte entſchieden abgelehnt,
indem er ſeine ſchwache Geſundheit vorſchützte. *) Offenbar ging es dem
deutſchen Freiherrn wider die Ehre, jetzt noch an einem frivolen vierund-
zwanzigſtündigen geiſtlichen Poſſenſpiele theilzunehmen, nachdem ihn der
Vatican ſchnöde preisgegeben hatte; der Gegenſatz deutſcher Treue und
wälſcher Liſt zeigte ſich vom Anfang bis zum Ende dieſer Tragikomödie.
Dergeſtalt rettete der vertriebene Erzbiſchof wider Willen ſeinen König
vor einer ſelbſtverſchuldeten Demüthigung. Im Vatican aber änderte ſich
die Scene noch einmal, als die Nachrichten aus Münſter einliefen. Ver-
geſſen und verſchollen waren plötzlich alle die ſalbungsvollen Reden, mit
denen man den Preußen früherhin weich geſtimmt hatte. Die ſo inbrünſtig
verlangte Genugthuung für den beleidigten Epiſkopat wurde jetzt gar nicht
mehr erwähnt, und da man doch endlich zum Abſchluß kommen wollte,
ſo ſchien es am einfachſten wieder auf Geiſſel zurückzugreifen, der keiner
Biſchofsweihe bedurfte. Droſte hatte nichts dawider; das wußte man
ſchon aus Reiſach’s Berichten. Der Cardinal-Staatsſecretär vollzog dieſe
neue Schwenkung mit ſolcher Leichtigkeit, daß Brühl Verdacht ſchöpfte
und richtig herauswitterte: Geiſſel wäre vielleicht ſchon von langer Hand her
der eigentliche Candidat Lambruschini’s, Reiſach’s und der Jeſuiten ge-
weſen. Ahnungsvoll fügte er hinzu: auf das Urtheil des unklaren und
in katholiſchen Dingen befangenen Königs Ludwig ſei wohl wenig zu
geben. Aber nach ſeinen Weiſungen durfte er nicht mehr widerſprechen.
[289]Abſchluß der Kölniſchen Händel.
Nun ging die Verhandlung, die wieder dritthalb Monate gewährt hatte,
raſch zu Ende, und am 23. Sept. wurde die Ernennung Geiſſel’s förmlich
verabredet, durch ein geheimes Uebereinkommen, das zugleich die früheren
Zuſagen der preußiſchen Krone nochmals aufzählte. In Perugia ver-
abſchiedete ſich Brühl von dem Papſte. Gregor weilte dort in den hei-
ligen Stätten Umbriens um ein Gelübde einzulöſen; er dankte dem Könige
wie dem Unterhändler auf’s Wärmſte und pries ſich glücklich, nun in
Frieden ſterben können. *)
Der Münchener Hof, der von dem Arnoldi’ſchen Zwiſchenſpiele erſt
ſpät erfuhr, hatte ſich mittlerweile eifrig bemüht den Biſchof von Speier
zur Annahme des Coadjutor-Amtes zu bewegen. Geiſſel war mithin nicht
unvorbereitet, als er jetzt die Anfrage des heiligen Stuhls und gleich
darauf die Ernennung erhielt. Dann galt es noch das ſtaatstreue Kölner
Domcapitel zu gewinnen, und dieſer peinlichen Aufgabe mußte ſich Bodel-
ſchwingh, damals noch Oberpräſident, unterziehen. Er fand die Mehr-
zahl der Domherren aufgebracht über die Umgehung ihres Wahlrechts,
und zugleich für die Zukunft ſchwer beſorgt; denn ſie fürchteten, nun-
mehr von einem jungen kräftigen Manne in Droſte’s Geiſte beherrſcht zu
werden. Nur mühſam konnte er ſie beſchwichtigen, indem er ihnen bewies,
daß die Circumſcriptionsbulle zwar ein Staatsgeſetz, aber zwiſchen der
Krone und dem römiſchen Stuhle vereinbart ſei, alſo auch durch gegen-
ſeitiges Einverſtändniß ſuspendirt werden könne. Zuletzt beſchloß das
Capitel ſich aus Gehorſam zu unterwerfen, jedoch ohne förmliche Beiſtim-
mung. **) Auch dem Könige blieb eine That perſönlicher Selbſtüberwindung
nicht erſpart. Dem römiſchen Abkommen gemäß gab er dem alten Erzbiſchof
eine öffentliche Ehrenerklärung, worin bezeugt wurde, der einſt gegen
Droſte erhobene Vorwurf „politiſch-revolutionärer Umtriebe“ hätte ſich
als völlig grundlos erwieſen. Als Thile dieſen von Eichhorn entworfenen,
nachher noch durch den Monarchen eigenhändig ſtark umgeſtalteten Brief
am Geburtstage des Königs zur Unterzeichnung überſendete, ſchrieb er
weihevoll: „Nehmen Ew. Majeſtät das Geburtagsgeſchenk, das der Herr
Ihnen heute durch den Friedensſchluß mit dem Erzbiſchof machte, wie
eine ſchöne Ankündigung der Friedensgedanken, die er mit Ihnen hat!“ ***)
Gewiß, der Friede war geſchloſſen. Aber um welchen Preis! In
der Kölniſchen Sache erlangte die Staatsgewalt einen halben Erfolg, in
allen den anderen noch ſchwebenden kirchenpolitiſchen Händeln gab ſie
vollſtändig nach, ſogar in dem Trierſchen Biſchofsſtreite, wo ſie das klare
Recht für ſich hatte. Der Domcapitular Arnoldi war ein frommer, mild-
thätiger Geiſtlicher, als Kanzelredner ſehr beliebt, gut römiſch geſinnt, aber
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 19
[290]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
kein Fanatiker, ſondern weich, gutmüthig, beſtimmbar, alſo leicht zugänglich
den Einflüſterungen jenes geheimnißvollen geiſtlichen Hofgeſindes, das man
im katholiſchen Deutſchland den Küchen-Clerus zu nennen pflegt. Der
alte König kannte den Mann, wohl aus Bodelſchwingh’s Berichten, und
ließ ihn bei der Biſchofswahl von 1839 als minder genehm bezeichnen.
Dennoch wurde Arnoldi gewählt, den Beſtimmungen des Breves von 1821
offenbar zuwider, und die Krone verſagte von Rechtswegen ihre Geneh-
migung. *) Der Papſt aber war damals noch von wildem Haſſe gegen
Preußen erfüllt und behauptete, ohne ſich auf Gründe einzulaſſen: die
Wahl ſei kanoniſch. Nach dem Thronwechſel konnte der Handel bei gutem
Willen ſofort geſchlichtet werden; denn Arnoldi, der wenig Ehrgeiz hegte,
hatte ſchon am 1. Juni 1840 in aller Stille die Erklärung nach Rom
geſandt: er wolle um des Friedens willen verzichten, falls der Papſt es
erlaube. Dieſe Erklärung wurde in Rom ſtreng geheim gehalten, Brühl
erfuhr keine Silbe davon; erſt weit ſpäter merkte er, daß der Vatican
„ein Tauſchgeſchäft treiben wollte“ und die Trierſche Frage abſichtlich
offen ließ um in Köln deſto ſicherer ſeinen Willen durchzuſetzen. **) Hart-
näckig weigerte ſich der Papſt eine Neuwahl anzuordnen; er hatte ſogar
die Stirn zu behaupten, jenes zwiſchen der Krone und der Curie verein-
barte Breve enthalte keine bindenden Vorſchriften. ***)
Da wich der König zurück. Er forderte jetzt nur noch eine ordnungs-
mäßige Neuwahl; dabei wollte er dem Capitel unbeſchränkte Wahlfreiheit
laſſen und ſelbſt Arnoldi nicht ausſchließen; über den hatte er mittler-
weile günſtige Urtheile gehört und meinte wieder klüger zu ſein als ſein
Vorgänger. Der Ehrfurcht gegen ſeinen Vater glaubte er zu genügen, wenn
er noch an einer werthloſen, faſt lächerlichen Förmlichkeit feſthielt. Eichhorn,
der von dem erſten Verzichte auch nichts wußte, ſchrieb nunmehr freund-
lich mahnend an den Trierſchen Domherrn, worauf Arnoldi als guter
Patriot im Januar 1841 eine zweite Verzichtserklärung — immer unter
Vorbehalt der päpſtlichen Genehmigung — nach Rom ſchickte. †) Auch
jetzt noch blieb der Papſt unbeugſam, Brühl konnte in dieſer Sache gar
nichts erlangen. Erſt im Februar 1842 genehmigte Gregor den Ver-
zicht, aber ohne die frühere Wahl für nichtig zu erklären. Damit war der
Form nothdürftig genügt, und alsbald erlaubte der König dem Domcapitel,
für die Neuwahl eine Candidatenliſte einzureichen. Alſo ganz ohne Noth
ein neues Zugeſtändniß, weit über die Landesgeſetze hinaus! Wie viel
Arbeit hatte einſt Niebuhr aufwenden müſſen um die gefährlichen Liſten-
wahlen dem preußiſchen Staate fern zu halten und der Krone das Recht
der unbedingten Excluſive zu ſichern; darum polterte auch Lambruschini,
[291]Arnoldi in Trier.
gleich in ſeinem erſten Geſpräche mit Brühl, zornmuthig wider den großen
Hiſtoriker. Und nun gab Friedrich Wilhelm das wohldurchdachte Werk
ſeines verehrten Lehrers preis, allerdings nur für dies eine mal. Dann
kam was kommen mußte. Auf der Candidatenliſte ſtand Arnoldi’s Name
natürlich obenan, der König genehmigte ſie ohne Weiteres, und im Juni
wurde Arnoldi gewählt. Noch nicht genug der Schwäche. Da der Neu-
gewählte eine Stelle in dem üblichen Huldigungseide der Biſchöfe bedenk-
lich fand, ſo ſtrich Friedrich Wilhelm ſie eigenhändig aus, und im tiefſten
Herzen fühlte er ſich erquickt, als er dann, heimkehrend von dem Dom-
baufeſte, den Biſchof von Trier in ſeiner Metropole begrüßte. Eine nahe
Zukunft ſollte lehren, wie richtig der alte König den Prälaten beurtheilt
hatte.
Noch kläglicher faſt endeten die Breslauer Wirren, und hieran trug
der König weniger Schuld als die Friedfertigkeit des edlen, frommen
Fürſtbiſchofs, der von ſeinem Freunde Brühl ſehr hart aber leider nicht
ganz ungerecht alſo geſchildert wurde: „Sedlnitzky iſt ein unverantwort-
lich matter Menſch, kein Staatsmann, kein Biſchof. O wäre er Con-
ſiſtorial- und Schulrath geblieben!“ Kurz vor dem Thronwechſel war
der Biſchof durch ein Handſchreiben des Papſtes zur Abdankung aufge-
fordert worden. *) Dieſe formloſe Ermahnung bedeutete rechtlich gar nichts,
da ihr weder ein kanoniſches Verfahren noch eine Mittheilung an die
Krone Preußen vorangegangen war. Trotzdem fühlte der Graf den Boden
unter ſeinen Füßen wanken. Nachdem die Staatsgewalt in der Frage
der gemiſchten Ehen nachgegeben hatte, konnte er doch nicht königlicher
ſein als der König und das alte Verfahren in Eheſachen noch aufrecht-
halten. Volksbeliebt war er nicht. Die bigotten Polen Oberſchleſiens
kannten den ſtillen beſchaulichen kleinen Herrn kaum, trotz ſeiner un-
erſchöpflichen Wohlthätigkeit. Sein Domcapitel hatte ſich unter ſeiner
gutmüthigen Leitung in Fraktionen zerſplittert, und an der Spitze der
rührigen ultramontanen Partei ſtand der weltkluge, ehrgeizige Domherr
Förſter, ein auch bei den Proteſtanten beliebter Kanzelredner, der früher-
hin für liberal gegolten hatte, jetzt aber von dem Jeſuitenpater Beckx
Rathſchläge empfing. Die clericalen Heißſporne haßten den Biſchof töd-
lich, Ketteler nannte ihn einen Elenden weil er dem Staate treu und
gegen die Proteſtanten freundlich war. Eben jetzt, ſeit den letzten Jahren
des alten Königs ſchwebte eine Verhandlung wegen der Rückgabe einiger
der ſchleſiſchen Kirchen, welche einſt unter Oeſterreichs Herrſchaft den Pro-
teſtanten geraubt worden waren, und zu dieſer Unterſuchung bot Sedl-
nitzky die Hand mit einer Unbefangenheit, die ſeinem Rechtsgefühle zur
Ehre gereichte, einem Biſchof aber nach römiſchen Grundſätzen nie verziehen
werden konnte. Die Cardinäle hielten ihn, da ſie von Deutſchland ſo
19*
[292]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
gar wenig wußten, für einen Hermeſianer; in Wahrheit hatte er dieſe
Schule ſtets bekämpft; dagegen hoffte er auf die Rückkehr aller Sekten
zu der gereinigten katholiſchen Kirche, und dies Ideal des allgemeinen
Chriſtenthums verſtand er ſo ganz im Sinne der inneren Wiedergeburt,
der Metanoia, daß er früher oder ſpäter noch weit über die Hermeſianer
hinausgehen und zur Erkenntniß der evangeliſchen Wahrheit gelangen
mußte.
So ſtand er vereinſamt. Nach ſeiner ganzen Anlage konnte er die
Kraft ſeines Willens nur in der tiefen Gewiſſenhaftigkeit des religiöſen
Empfindens und Forſchens, nicht in den Kämpfen des handelnden Lebens
bethätigen; Niemand merkte ihm an, daß er wirklich ein Bruder des
durch ſeine brutale Strenge in aller Welt berüchtigten Wiener Polizeipräſi-
denten war. Nach ernſter Selbſtprüfung erwiderte er dem Papſte, daß
er bereit ſei das Amt niederzulegen, das er einſt wider ſeinen Wunſch
erhalten hatte. Dann ging er nach Berlin und beſchwor den König um
Genehmigung des Verzichtes: er könne nicht anders; bei der ultramontanen
Geſinnung und der Eitelkeit eines großen Theiles ſeines Clerus dürfe
er nicht mehr auf eine heilſame Wirkſamkeit hoffen; auch wolle er nicht
durch ſein Verbleiben den Frieden zwiſchen Staat und Kirche erſchweren. *)
Friedrich Wilhelm zeigte ſich ſehr aufgebracht über die eigenmächtige Will-
kür der Curie. Doch wie konnte der Weiche den Weichen ſtützen? Er
widerſtrebte noch mehrere Tage lang; dann genehmigte er die Abdankung
des Prälaten, dem nichts zur Laſt fiel als die treue Befolgung der alten
Staatsgeſetze, und ernannte den Grafen, mit dem Ausdruck wärmſter
Anerkennung, zu ſeinem Wirklichen Geheimen Rathe (29. Juli). Dazu
verſicherte er mündlich, nur aus Pietät gegen ſeinen Vater bewillige er
den Rücktritt; ſo wunderbar verſtand er die Dinge immer anders zu
ſehen als andere Menſchen.
In einem rührenden Abſchiedsſchreiben an das Domcapitel ſprach
der Entlaſſene aus: er denke immer innig vereint zu bleiben mit Allen
denen, die an Chriſtum wahrhaft glauben. Ein chriſtliches Wort, aber
ſicherlich kein römiſches. Männern von ſolcher Geſinnung bot die alte
Kirche keine Stätte des Wirkens mehr. Das hatte ſchon Weſſenberg
erfahren, der denn auch nicht ſäumte, aus ſeinem Altenſitze Conſtanz
dem Schickſalsgenoſſen ſeinen Gruß zu ſenden. Und noch ſtiller ſogar
als Weſſenberg einſt ſchied Sedlnitzky aus dem biſchöflichen Amte. Fort-
an lebte er in Berlin ganz der Mildthätigkeit und dem religiöſen Nach-
denken; die Predigten von Nitzſch, Stahn, Müllenſiefen erſchütterten ihn
in den Tiefen der Seele; er fühlte wo er das Weſen des Chriſtenthums
zu ſuchen habe, und bald mochte er das Biſchofskleid nicht mehr tragen.
Als er endlich hochbejahrt den nothwendigen Schluß aus ſeinen inneren
[293]Sedlnitzky’s Abdankung.
Erfahrungen zog und — der erſte katholiſche Biſchof ſeit dem Zeitalter der
Reformation — mit der Gemeinde zum evangeliſchen Abendmahle ging
(1862), da erregte dieſer Uebertritt außerhalb der theologiſchen Welt nur
wenig Aufſehen. Ein frommer Chriſt, ein treuer Patriot, ein liebens-
werther Menſch, aber kein Mann der bahnbrechenden That — ſo war
er immer geweſen. Mit warmer Theilnahme, ohne jede Bitterkeit ge-
dachte er auch fernerhin der alten Kirche, die ihn einſt in ſeinem zwölften
Lebensjahre zum Domherrn geweiht und dann ſo rauh behandelt hatte,
den Evangeliſchen aber ward er theuer als ein Vorbild ernſter tief inner-
lich erlebter Frömmigkeit und durch eine Fülle milder Stiftungen, in denen
ſein Name noch heute geſegnet fortlebt.
Nachdem der König dieſen Mann ſo ſchnell hatte fallen laſſen, be-
fahl er auch noch die Verhandlungen wegen der geraubten evangeliſchen
Kirchen ſofort einzuſtellen. Was konnte es unter ſolchen Umſtänden
frommen, daß Brühl beauftragt wurde, für die eigenmächtige Verdrängung
Sedlnitzky’s unzweideutige Genugthuung zu fordern? Einige erregte Ge-
ſpräche mit Lambruschini waren die einzige Folge. Das Verweſeramt in
dem erledigten Bisthum übernahm nunmehr, von der Krone nicht an-
erkannt *), aber geduldet, der Domherr Profeſſor Ritter, ein wilder
Ultramontaner, der den Chriſten nur die Wahl ließ zwiſchen Rom und
Fr. David Strauß, und ſoeben in einer Schrift Irenikon kurzab be-
hauptet hatte, die Kirche ſtehe über dem Staate. Da galt es denn die
Neuwahl zu beſchleunigen. Der Papſt mahnte dazu, ohne bei der Krone
anzufragen, und der König in ſeiner unerſchöpflichen Gutmüthigkeit ge-
ſtattete dem Capitel für diesmal, eine Candidatenliſte aufzuſtellen, was
allem Recht und Brauch zuwiderlief. **) Zum Danke erlaubten ſich die
Domherren ein ſchmutziges Ränkeſpiel, wie es nur unter Clerikern möglich
iſt, und nannten ſchließlich nicht weniger als zwölf Candidaten, von denen
die Mehrzahl dem Domcapitel ſelbſt angehörte; die hochwürdigen Con-
fratres hatten einander alſo wechſelſeitig gewählt. ***) Nun endlich begann
Graf Brühl, der die Breslauer Verhältniſſe genau kannte, Unrath zu
wittern. Er fürchtete nicht gerade einen neuen Gewaltſtreich des Papſtes,
„weil es weit mehr im Geiſte der hieſigen Politik liegt in eine unbewachte
Oeffnung hineinzuſchleichen, als keck Breſche zu legen und ſie mit Gewalt
zu erſtürmen.“ Doch wenn das Capitel ſich nicht rechtzeitig einigte, ſo
konnte der Papſt nach dem Rechte der Devolution ſelber den Biſchof er-
nennen, und was ließ ſich dann wieder erwarten? Darum rieth Brühl
dringend, die Krone müſſe jetzt Ernſt zeigen: mündliche Verhandlungen
mit den einzelnen Domcapitularen nützen gar nichts, ſie werden einfach
[294]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
abgeleugnet! *) In der That befahl der König höchſt ungnädig eine kano-
niſche Wahl mit Stimmenmehrheit, das Domcapitel bat demüthig um Ver-
zeihung, und nach verſchiedenen neuen Winkelzügen wurde ſchließlich
(Auguſt 1841) der von der Krone als genehm bezeichnete Prälat Knauer
gewählt, freilich ein hochbejahrter Herr, der dies zerrüttete Bisthum ſchwer-
lich bemeiſtern konnte. **)
In Allem und Jedem ſuchte der König die Gefühle des Papſtes zart,
faſt ängſtlich zu ſchonen. Als das Bisthum Jeruſalem gegründet wurde, da
ließ er in Rom — was einem evangeliſchen Monarchen doch übel anſtand
— ausdrücklich verſichern, damit ſei keinerlei Feindſeligkeit gegen die katho-
liſche Kirche beabſichtigt. ***) Wie tief mußte es ihn alſo verwunden, daß
ihm die Curie überall, ſelbſt in unpolitiſchen Dingen nur Mißtrauen und
Mißwollen zeigte. Schon als Kronprinz hatte er den Wohnſitz der preu-
ßiſchen Geſandtſchaft, den Palaſt Caffarelli auf dem Capitol durch Bunſen
kaufen laſſen. Gregor aber wollte nicht vergeſſen, daß Bunſen ſich einſt
übermüthig vermeſſen hatte, hier an dem Felſen des Capitols ſolle die
Macht des Papſtthums zerſchellen; †) ihm kochte das Blut, ſo oft er
hinüberſchaute nach dem Hügel drüben, wo die Ketzerei à la barbe du
pape gepredigt wurde — ſo ſagten die Cardinäle; auch war es den Ita-
lienern nicht zu verdenken, wenn ſie dieſe Stätte uralter nationaler Er-
innerungen nur ungern im Beſitze einer fremden Geſandtſchaft ſahen.
Gleich nach Bunſen’s Abberufung beſchwerte ſich Lambruschini bei dem
Reſidenten Buch heftig, weil die evangeliſche Gemeinde auch nicht zur
Geſandtſchaft gehörige Perſonen aufnähme, weil Preußen gewagt hätte,
ohne Erlaubniß des Papſtes ſein archäologiſches Inſtitut auf dem tarpe-
jiſchen Felſen, ja ſogar ein evangeliſches Krankenhaus zu gründen —
und was der Klagen mehr war. ††) Mit Mühe konnte Buch den Er-
grimmten halb beſchwichtigen. Nach dem Thronwechſel aber trat die Curie
plötzlich gar mit der Behauptung hervor: der Verkauf des Palaſtes
Caffarelli beſtehe nicht zu Recht. Da brauſte der König auf, dem der
Beſitz dieſer herrlichen Stelle recht eigentlich Herzensſache war. „Ich
betrachte“, ſo ſchrieb er an Brühl, „den Palaſt als mein Eigenthum. Er
war bezahlt und übergeben. Nach den Geſetzen aller Länder iſt er mein.
Ebenſo nach dem Gebrauche aller Länder, mit Ausnahme der Türkei
und, wie die Erfahrung gelehrt hat, des päpſtlichen Gebiets.“ Er ver-
bot alſo jede Nachgiebigkeit, denn jetzt am wenigſten ſei für ihn der Augen-
blick zu neuen Opfern, da 9 Mill. Evangeliſche ihm ſchon zürnten wegen
[295]Palaſt Caffarelli.
der beiden großen Opfer: der Rückkehr Dunin’s und der Abdankung
Sedlnitzky’s „Dagegen“, ſo ſchloß er, „kann die Evacuation des Capitols
gar bald vor ſich gehen, dann aber nicht um eine andere Wohnung, ſon-
dern um keine jemals wieder zu beziehen, was vielleicht zur größten Satis-
faction beider Theile geſchehen wird.“ *) Solche Drohungen aus dem
Munde des gutherzigen Monarchen konnten wenig wirken, und leider
ſtellte ſich auch bald heraus, daß wieder einmal ein idealer Genieſtreich
Bunſen’s vorlag. Der phantaſiereiche Diplomat hatte in Wahrheit nur
einen Cenſo, einen kündbaren Rentenvertrag mit Vorkaufsrecht, abge-
ſchloſſen; überdies war ein Theil des Palaſtes Fideicommiß und der Eigen-
thümer Herzog Caffarelli wurde bald nachher als Verſchwender unter
Curatel geſtellt. **) Die Curie beſaß alſo der Waffen genug um den Ver-
trag anzufechten, und es bedurfte noch ſehr langwieriger, widerwärtiger
Unterhandlungen, bis die Krone Preußen ſich endlich in Sicherheit ihres
theuer erworbenen Beſitzthums erfreuen konnte.
Ebenſo zäh zeigten ſich die beiden Erzbiſchöfe in Geldſachen. Dunin
verlangte nachträglich Diäten für ſeinen Berliner Aufenthalt, den er einſt
auf Befehl des verſtorbenen Königs angetreten, dann aber durch ſeine
Flucht eigenmächtig abgebrochen hatte; die Koſten dieſer Flucht ſtellte er
großmüthig nicht in Rechnung. Seine Forderung wurde bewilligt. ***)
Hierdurch ermuthigt, verlangte Droſte nachher Erſtattung der 12,000 Thlr.,
die ihm während der vier Jahre ſeiner Abweſenheit zur Beſoldung des
Generalvicars von ſeinem Gehalte abgezogen worden waren. Das war
mehr als Bodelſchwingh ertragen konnte; er beſchwor den König, die
Nachſicht gegen den Halsſtarrigen nicht zu weit zu treiben. Auch Mühler
und Eichhorn erklärten: ein Rechtsanſpruch ſei nicht zuzugeben, höchſtens
im Wege der Gnade könne die Erſtattung erfolgen; †) und ſo geſchah ſie
denn auch, Friedrich Wilhelm’s Großmuth gegen die römiſche Kirche kannte
keine Grenzen. Das Verfahren wider die beiden Erzbiſchöfe hatte ins-
geſammt 21,754 Thlr. 25 Sgr. 3 Pf. gekoſtet. Indem der König dieſe
Rechnung gut hieß, befahl er zugleich, daß man in Zukunft für geheime
polizeiliche Dienſte nicht Privatperſonen, ſondern Beamte von ungewöhn-
licher Ehrenhaftigkeit verwenden ſolle. ††) Damit berührte er die faulſte
Stelle dieſes unſeligen Biſchofsſtreites, der das Volk der katholiſchen Pro-
vinzen tief entſittlicht, ein ganzes Heer von Denuncianten hervorgerufen
hatte. Capaccini ſelbſt erzählte dem Grafen Brühl mit Ekel, was für
nichtswürdige geheime Berichte über den preußiſchen Hof wie über einzelne
Perſonen Tag für Tag im Vatican einliefen. †††) Um ſich gegen dies
[296]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Treiben der Clericalen zu decken hatte auch die Regierung ſelbſt oftmals
unſaubere Mittel angewendet.
Der neue Kölner Coadjutor Johannes Geiſſel theilte, wie die ge-
ängſteten Domherren richtig gewittert hatten, durchaus die Geſinnungen
Droſte’s; nur war er klüger, jünger, gewandter und darum für dieſe
ſchwache Staatsgewalt weit gefährlicher. Er hatte ſchon in jungen Jahren
an dem Mainzer „Katholiken“, der erſten Zeitſchrift der wiedererſtehenden
ultramontanen Partei eifrig mitgearbeitet, *) nebenbei auch als Dilettant
in Dichtkunſt und Geſchichte ein leichtes Formtalent bewährt und ſodann
die Diöceſe Speier ſehr geſchickt verwaltet. Als geborener Pfälzer kannte
er dies überwiegend proteſtantiſche, alles Pfaffenthum verabſcheuende
Volk genau und hütete ſich Unfrieden zu erregen. Eine ſtattliche Prälaten-
geſtalt, wohlbeleibt, mit funkelnden Augen, die zugleich Herrſchſucht und
Verſchlagenheit verkündeten, wußte er ſeine Würde ſo wohl zu bewahren,
daß er ſelbſt während der abgeſchmackten Umkleidungen beim Hochamte
niemals lächerlich erſchien; in Geſellſchaft bewegte er ſich mit der Frei-
heit des lebensfrohen Weltmannes und verſtand meiſterhaft, das leichte
Geſpräch für diplomatiſche Berechnungen auszunutzen. Ein rechter Preuße
ward er nie, weil er trotz der Gnade des Königs doch den proteſtantiſchen
Geiſt dieſes Staates herausfühlte; der Gottesſtaat der alleinſeligmachenden
Kirche blieb ſein Vaterland. Nach einer Unterredung mit Brühl, der
von dem milden, grunddeutſchen Sinne des Prälaten ganz entzückt war **),
und nach einem peinlichen Beſuche bei dem unwirſchen alten Erzbiſchof
erſchien Geiſſel um Neujahr 1842 in Berlin, wo er mit hohen Ehren
aufgenommen wurde und alsbald verlangte den Huldigungseid in die
Hand des Monarchen ſelbſt abzulegen. Solche Förmlichkeiten hatte der
alte König ſtets ſeinen Commiſſaren überlaſſen, weil er es ungerecht fand
den katholiſchen Biſchöfen, die an Würden und Ehren ſchon ſo viel mehr
genoſſen als die Geiſtlichen der evangeliſchen Landeskirche, auch noch einen
Vorzug zu geſtatten, der keinem anderen Unterthan der Krone eingeräumt
wurde. Der Sohn aber gewährte die Bitte unbedenklich.
In ſeinen Geſprächen mit dem Könige und dem Cultusminiſter wußte
Geiſſel noch eine lange Reihe kirchlicher Anliegen wirkſam vorzutragen.
Er wünſchte unter Anderem unbeſchränkte Herrſchaft über das Prieſter-
ſeminar und Entfernung der letzten Hermeſianer von der rheiniſchen Hoch-
ſchule; er verlangte ſogar die Entlaſſung des Curators der Bonner Univerſi-
tät Rehfues, der während des Biſchofsſtreites die Eingriffe Droſte’s nach
ſeiner Amtspflicht zurückgewieſen und nachher die Kirchenpolitik des alten
Königs in einer verſtändigen, ſtreng ſachlich gehaltenen Flugſchrift ver-
theidigt hatte. ***) Da Geiſſel dieſe Schrift doch nicht zu nennen wagte,
[297]Geiſſel. Freier Verkehr mit Rom.
ſo berief er ſich auf Rehfues’ hiſtoriſche Romane, die ſich über die Gräuel
des ſpaniſch-italieniſchen Mönchslebens, der Wahrheit gemäß, ſehr aufrichtig
ausſprachen. Dies genügte, und der geiſtvolle Romandichter mußte fortan
auf ſeiner ſchönen Roſenburg bei Bonn in unfreiwilliger Muße leben.
So weit war die Staatsgewalt bereits eingeſchüchtert: ein proteſtantiſcher
königlicher Curator wurde entlaſſen, weil ſeine Dichtungen einem katholiſchen
Biſchof nicht gefielen. Am Hofe lobte Jedermann den milden neuen
Erzbiſchof in partibus, der auch von dem Münchener Nuntius als „Friedens-
apoſtel“ warm empfohlen wurde.*) Geiſſel’s erſter Hirtenbrief aber war,
ſanfter in der Form, doch ganz im Geiſte des Vorgängers gehalten. Zu
gleicher Zeit wurde die einſt bei Droſte’s Verhaftung erlaſſene Bekannt-
machung amtlich zurückgenommen; und nun erſt, am 9. März ſendete
der griesgrämige alte Erzbiſchof, der bis zuletzt noch „preußiſche Kniffe“
befürchtet hatte, nachträglich auch ſeinen Hirtenbrief: „dem Moyſes, dem
Freunde Gottes nachahmend“ hob er ſeine Hände betend zum Himmel
und übergab die Heerde dem neuen Oberhirten.
Unterdeſſen hatte die Krone auch die anderen dem römiſchen Stuhle
gegebenen Zuſagen eingelöſt. Zu Neujahr 1841 gewährte ſie den Bi-
ſchöfen freien Verkehr mit dem Papſte und ermäßigte das Recht des Pla-
cet dergeſtalt, daß fortan lediglich die den Staat berührenden Erlaſſe der
kirchlichen Behörden der Anzeigepflicht unterlagen. Sie verzichtete damit
lediglich auf veraltete, unwirkſame Rechte; bei der Abdankung Sedlnitzky’s
hatte ſie ja ſoeben erſt mehrmals erfahren, wie leicht ſich das Placet in
dieſem Zeitalter freien Weltverkehrs umgehen ließ. Den Biſchöfen brachte
die neue Freiheit im Grunde nur Beläſtigungen; denn bisher hatte
ihnen die königliche Geſandtſchaft die allezeit umſtändlichen vaticaniſchen
Geſchäfte ſtets gut und pünktlich beſorgt, jetzt mußten ſie in Rom eigene
Agenten dafür halten, die ſich nicht immer bewährten.**) Immerhin
blieb es eine kühne That hochherzigen Freiſinns, daß der König freiwillig
einem Hoheitsrechte entſagte, das von den meiſten anderen Landesherren,
auch den katholiſchen, noch feſtgehalten und von der vorherrſchenden libe-
ralen Staatslehre als unentbehrlich angeſehen wurde. Mit der Be-
theuerung ewiger Dankbarkeit und unverbrüchlicher Treue begrüßten ſeine
Landesbiſchöfe dieſen „großartigen Beweis königlichen Vertrauens“.***)
Weit folgenreicher wurde die Errichtung der katholiſchen Abtheilung
im Cultusminiſterium, am 14. Februar 1841. Der erſte Vorſchlag dazu
war einſt von Württemberg ausgegangen und von dem alten Könige
genehmigt worden.†) Der Nachfolger erweiterte den urſprünglichen Plan;
[298]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
er wollte, wie er ſeinem Cultusminiſter von vornherein erklärte, um
beiden Kirchen Selbſtändigkeit zu gewähren, einerſeits ein evangeliſches
Oberconſiſtorium bilden, andererſeits die katholiſchen Biſchöfe zu regel-
mäßigen Conferenzen in Berlin verſammeln; daneben ſollten die kleinen
laufenden Geſchäfte der Kirchenpolitik durch die neue katholiſche Miniſterial-
abtheilung beſorgt werden. Jenes Oberconſiſtorium kam aber, Dank den
Parteikämpfen der evangeliſchen Kirche, in den nächſten Jahren noch nicht
zu Stande; mithin konnte auch die Biſchofsconferenz noch nicht berufen
werden, das hätte die Proteſtanten zu tief beleidigt. So ergab ſich denn
faſt von ſelbſt, daß die anfangs der Biſchofsconferenz zugedachten Be-
fugniſſe thatſächlich auf die katholiſche Abtheilung übergingen. Die Biſchöfe
behandelten dieſe Abtheilung als eine kirchliche Behörde, ſie traten mit
den katholiſchen Geheimen Räthen in vertraulichen Verkehr, ſendeten
ihnen Gutachten, Rathſchläge, Weiſungen, ſuchten die Pläne der Kirche
unmittelbar im Miniſterium ſelbſt durchzuſetzen. Dies geheime Treiben
begann ſofort, mit großer Dreiſtigkeit; denn ſchon während der erſten
römiſchen Verhandlungen hatte Friedrich Wilhelm durch Graf Brühl die
unglaubliche Zuſicherung ertheilen laſſen: er würde, wenn das Verhältniß
zur Curie ſich freundlich geſtaltete, in die katholiſche Abtheilung nur ſolche
Männer berufen, die ſich des Vertrauens des Papſtes erfreuten.*) Die
Behörde alſo, welche die Hoheitsrechte der Krone Preußen gegenüber der
Kirche zu wahren hatte, ſollte aus Vertrauensmännern der römiſchen Curie
beſtehen! Harmloſer hatte noch nie ein Staat ſeine Souveränität dem
römiſchen Stuhle preisgegeben.
Den Vorſitz erhielt Unterſtaatsſecretär v. Düesberg, ein Jugendfreund
und Waffengefährte des frommen Diepenbrock, alſo gut katholiſch, aber
nicht clerical geſinnt; er behielt ſein Amt jedoch nur kurze Zeit. Der
alte Schmedding, der ſich bei hochkirchlicher Geſinnung doch auch manche
gute Traditionen des altpreußiſchen Beamtenthums bewahrte, beſaß keinen
Einfluß. Die Seele der neuen Behörde war jener Weſtphale Aulicke, der
ſchon die Verhandlungen wegen Dunin’s Rückkehr geführt hatte,**) ein
erklärter Ultramontaner. Der fühlte ſich ſtolz als der berufene Ver-
treter der römiſchen Kirche und ſagte klagenden Geiſtlichen oft geradezu:
der Herr Biſchof erlaubt das nicht. Das katholiſche Schulweſen leitete
Cornelius’ Schwager, Geh. Rath Th. Brüggemann aus Weſtphalen, ein
ausgezeichneter Schulmann und treuer Patriot, beredt, geſchäftsgewandt,
hochgebildet. Er hatte ſich einſt zu den Hermeſianern gehalten und von
den rheiniſchen Ultramontanen manche Anfeindungen erfahren. Mit den
Jahren wendete er ſich gleich ſeinem großen Schwager ſtreng römiſchen
Anſchauungen zu; es genügte ihm bald nicht mehr, daß die katholiſchen
[299]Die katholiſche Abtheilung.
Schulen, die doch grade in Preußen meiſt Schöpfungen des Staates waren,
faſt überall unter geiſtlichen Inſpectoren ſtanden, er verlangte für die Kirche
ſogar ein förmliches Recht der Schulaufſicht, das dem Landrechte widerſprach.
Mit der mächtigen Hilfe des Hofes wagte auch der katholiſche Adel Poſens
und der weſtlichen Provinzen einen Fuß in den Bügel zu ſetzen, und
nicht lange, ſo ſaß er feſt im Sattel des Miniſteriums; im Palaſte
Radziwill wurden die meiſten Maßregeln der katholiſchen Abtheilung vor-
bereitet.
Alſo bildete ſich bald ein krankhafter, unwahrer Zuſtand, der früher
oder ſpäter neue Kämpfe hervorrufen mußte: die grundſätzlich unduld-
ſame Macht der alleinſeligmachenden Kirche beſaß eine eigene Vertretung
mitten im Schooße dieſer paritätiſchen Staatsregierung, die ohne kirchlichen
Frieden nicht zu leben vermochte. Einen Nuntius freilich wollte der König
keinen Falls in ſeiner Hauptſtadt zulaſſen, obgleich man im Vatican dieſen
Wunſch oft ſehr lebhaft ausſprach.*) Durfte ein evangeliſcher Monarch
einem römiſchen Prieſter den Vortritt im diplomatiſchen Corps einräumen,
den der Papſt für ſeine Nuntien überall verlangte? durfte er dulden, daß
ſich die Unzufriedenen aus allen katholiſchen Provinzen um den Sendboten
Roms ſchaarten? Solche Fragen drängten ſich ſelbſt dem argloſen Fried-
rich Wilhelm auf. Den Ausſchlag gab, daß er den Plan ſeiner Biſchofs-
conferenzen noch immer feſt hielt; traten dieſe erſt regelmäßig zuſammen,
ſo wurde der Nuntius überflüſſig. Darum blieb der König diesmal un-
erſchütterlich; und als die Zeitungen der beunruhigten Proteſtanten gleich-
wohl beſtändig von dem kommenden Nuntius redeten, da befahl er hoch
erzürnt, dieſe „abſcheulichen Gerüchte Schlag für Schlag zu widerlegen“.**)
Bei ſolcher Luft ſchoß der Weizen der ultramontanen Partei raſch
in Halme. Die letzten Hermeſianer wendeten ſich noch einmal nach Rom;
da Gregor’s Nachfolger Pius IX. jedoch das Verdammungsurtheil ſeines
Vorgängers beſtätigte, ſo mußten ſie fortan ihre Lehrthätigkeit einſtellen.
Der Staat konnte ſie nur im Beſitze ihres Amtes und Einkommens ſchützen,
weil die dogmatiſche Streitfrage ihn nicht berührte; und ſo ſtanden denn
die beiden Einzigen, die ſich nicht unterwarfen, die Profeſſoren Braun
und Achterfeldt viele Jahre hindurch in jedem Bonner Lektionskataloge ver-
zeichnet mit dem wehmüthigen Zuſatze: lectiones nullas habere pergent.
Geiſſel aber begnügte ſich nicht mit dem Rechte des Einſpruchs, das den
Biſchöfen bei der Ernennung theologiſcher Profeſſoren geſetzlich zuſtand;
er behauptete ſchon bei ſeinem erſten Berliner Beſuche, der Biſchof ſei
befugt den Profeſſoren eine missio canonica zu ertheilen, das will ſagen:
er wollte dieſe Staatsbeamten ſelbſt ernennen und dem Staate lediglich
erlauben die Beſoldungen zu zahlen. Die missio canonica war, wie
[300]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Schmedding ſagte, eine „formal nagelneue Erfindung“; ſie widerſprach nicht
nur den Staatsgeſetzen, ſondern auch dem canoniſchen Rechte, denn noch
niemals hatte die Kirche bisher die Univerſitäten, die ja dem ganzen katho-
liſchen Deutſchland dienen ſollten, blos als Diöceſananſtalten behandelt.
Trotzdem und trotz den Bedenken Eichhorn’s fand der König die Zu-
muthung ganz unverfänglich. Bald nachher beanſpruchte der dankbare
Dunin die Ernennung aller Religonslehrer in ſeiner Diöceſe, und auch dieſer
Anmaßung gab die Krone zuletzt im Weſentlichen nach. Eine Cabinets-
ordre vom 6. Nov. 1846 beſtimmte, daß der Miniſter ſich mit dem Biſchof
über die Perſon jedes neu zu berufenden Religionslehrers verſtändigen,
darauf der Biſchof die kanoniſche Miſſion ertheilen, und dann erſt der
Staat die Ernennung vollziehen ſolle.
Ueber die Geſinnung des neuen rheiniſchen Oberhirten konnte bald
kein Zweifel mehr beſtehen. Geiſſel beeilte ſich zwar als gewandter Hof-
mann den murrenden rheiniſchen Adel zu beſchwichtigen, dem der halbe
Sieg in dem Biſchofsſtreite noch immer nicht genügte. Er weigerte ſich
aber Diepenbrock zu ſeinem Dompropſte zu ernennen, obgleich ihn der
König dringend darum erſuchen ließ;*) der Regensburger Domherr war
ihm zu friedfertig und wohl auch zu bedeutend für einen Untergebenen.
Als vertraute Rathgeber dienten ihm erſt jener Canonicus Iven, dem der
Papſt einſt eigenmächtig die Verwaltung des Erzbisthums übertragen hatte,
nachher der Weihbiſchof Baudri, Beide erklärte Anhänger der ſtrengen
ultramontanen Partei. Von derſelben Farbe war auch der auf Geiſſel’s
Vorſchlag ernannte neue Biſchof von Speier, der Begründer des Mainzer
„Katholiken“ Weis. Wie gänzlich verkannte doch der König die Zeichen
der Zeit, wenn er arglos hoffte, die römiſche Kirche würde ihrer Ver-
weltlichung bald entwachſen. Noch niemals ſeit den Zeiten Tezel’s hatte
der Clerus unſeres Weſtens ſo wie jetzt in pomphaften Feſtlichkeiten ge-
ſchwelgt. Auf das Kölner Domfeſt folgte die Ausſtellung des heiligen Rocks
in Trier; dann wurden in Aachen die Windeln des Chriſtkindleins dem gläu-
bigen Volke gezeigt, bräunliche Fetzen, von denen ſelbſt Baudri meinte, ihre
Echtheit ſei zweifelhaft, unzweifelhaft aber ihre Heiligkeit; darauf feierte man
zu Münſter mit unerhörtem Prunk das Jubiläum des greifen blinden
Biſchofs Caspar Max Droſte, und überall war Geiſſel mit dabei.
Der heranwachſende rheiniſche Clerus zeigte, Dank den trefflichen
Unterrichtsanſtalten des preußiſchen Staates, mehr Bildung als das ältere
Geſchlecht, und ſeit dem Domfeſte auch oft ein warmes Verſtändniß für die
alte kirchliche Kunſt; dem Erzbiſchof gegenüber bekundete er aber gar keinen
eigenen Willen mehr. Die zahlreichen Succurſalpfarrer des linken Rhein-
ufers, die nach dem ſchlechten franzöſiſchen Brauche keine feſten canoniſchen
Pfründen beſaßen, ſtanden ganz in Geiſſel’s Hand; und auch die in ihrem
[301]Diepenbrock.
Amte beſſer geſicherten Pfarrer des rechten Ufers wußte er durch eiſerne
Disciplin niederzuhalten. Er gehörte nicht förmlich dem Jeſuitenorden an
wie ſein Freund Reiſach; doch in rein jeſuitiſchem Geiſte ließ er das Bonner
Convict durch Profeſſor Martin leiten. Die Seele der Bonner Facultät
war der aus Speier mit herübergekommene Schwabe Dieringer, ein Theolog
von geringer wiſſenſchaftlicher Bedeutung, aber unſchätzbar als rühriger
ultramontaner Parteimann. Da die katholiſche Abtheilung des Miniſte-
riums gern ein Auge zudrückte, ſo entſtand in der Stille eine Reihe von
Klöſtern ohne die geſetzlich nothwendige Genehmigung des Landesherrn.
Geiſſel wollte die politiſche Herrſchaft, die der Clerus am Rhein ſo lange
behauptet hatte, durch eine ebenſo wirkſame ſociale Herrſchaft erſetzen.
Weithin über das Land ſpannte ſich nach und nach ein dichtes Netz von
katholiſchen Genoſſenſchaften aller Art, die für Krankenpflege und Armen-
verſorgung manches Gute wirkten, immer aber ein hartes confeſſionelles
Gepräge trugen; bald traten auch rein geſellige, offen oder insgeheim von
Geiſtlichen geleitete Vereine hinzu. Der Verkehr zwiſchen den beiden Con-
feſſionen beſchränkte ſich mehr und mehr auf das geſchäftliche Leben; der
Haß gegen die Proteſtanten wurde den katholiſchen Familien durch die
Beichtväter ſo nachdrücklich eingeſchärft, daß nur noch ſelten evangeliſche
Dienſtboten bei katholiſchen Herrſchaften Aufnahme fanden.
Etwas erfreulicher geſtalteten ſich die kirchlichen Zuſtände in Schleſien.
Da der neue Fürſtbiſchof Knauer ſchon nach kurzer Zeit, 1844 ſtarb,
ſo wurde dem Könige die Freude, daß Melchior Diepenbrock den fürſt-
biſchöflichen Stuhl beſtieg, der edelſte Charakter unter den deutſchen Kirchen-
fürſten dieſer Zeit. Friedrich Wilhelm hatte den frommen Weſtphalen
ſchon 1840 in Regensburg durch ſeinen Radowitz, bei Gelegenheit der
militäriſchen Rundreiſe beſuchen laſſen und ſeitdem nicht mehr aus den
Augen verloren. Wohl zeigte ſchon Diepenbrock’s Einzug, wie gründlich
das kirchliche Leben verwandelt war. Der katholiſche Adel bereitete dem
Oberhirten prächtige Huldigungen, wie man ſie unter preußiſcher Herr-
ſchaft noch nie erlebt hatte. Und ſtolz genug ſchritt er einher, eine große,
ſchlanke, würdevolle Geſtalt mit ſchönen, ſchwärmeriſchen Augen; jede
Miene verkündete, wie hoch erhaben er ſich jetzt über allen Laien fühlte.
Keine Macht der Welt konnte ihn in der ſtrengſten Erfüllung ſeiner kirch-
lichen Pflichten beirren: den Fürſten Hatzfeldt, an deſſen Seite er ſoeben
in Breslau eingefahren war, excommunicirte er kaum zwei Jahre ſpäter,
weil der Fürſt ſich inzwiſchen von ſeiner Gemahlin getrennt und eine
neue Ehe geſchloſſen hatte. Auch die clericalen Strömungen der Zeit
ließen ihn nicht ganz unberührt; es währte nicht lange, ſo verlangte er
wie Geiſſel das Recht, den theologiſchen Profeſſoren der Landesuniverſität
die kanoniſche Miſſion zu ertheilen. Aber unendlich höher als die Macht
ſeiner Kirche ſtand ihm doch der lebendige Geiſt des Chriſtenthums. Als
er nach der Biſchofsweihe majeſtätiſch vor den Altar trat und den Stab
[302]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
dröhnend auf die Marmorſtufen ſtemmte, mit dem Ausrufe: Und ſo ſetze
ich denn meinen Hirtenſtab auf den ewigen Urfelſen, der da iſt Chriſtus
— da meinten viele der anweſenden Proteſtanten, das klänge mehr evan-
geliſch-chriſtlich als römiſch. Er war tief gläubig, ganz durchglüht von
religiöſer Empfindung, und dabei ein guter Preuße, der trotz ſeiner ge-
müthlichen Anhänglichkeit an das Baierland den alten königlichen Offizier
nie verleugnete und ſeine Staatstreue auch in ſchwerer Zeit furchtlos
bewährte. Die Branntweinpeſt unter den oberſchleſiſchen Polen bekämpfte
er nicht blos durch Enthaltſamkeitsvereine, ſondern durch das allein wirk-
ſame Mittel, durch geſundes Bier, das er von herbeigerufenen bairiſchen
Brauern herſtellen ließ; und als die Hungersnoth im Gebirge ausbrach,
da waren ſeine barmherzigen Brüder überall zur Stelle. Nach der Con-
feſſion wurde bei ſolchen Liebeswerken nie gefragt. Begreiflich daß der
König ihn liebte. Wenn er nach Erdmannsdorf kam bat er den Fürſt-
biſchof ſtets zu Gaſte in den engſten Familienkreis, und obwohl Friedrich
Wilhelm dem Proteſtantismus nie untreu werden wollte, ſo fiel es doch
allgemein auf, daß er keinem evangeliſchen Geiſtlichen je ſo viel Ver-
ehrung erwies wie dieſem katholiſchen Prälaten.
Die Niederlage der Krone in dem Kirchenſtreite erregte unter den
Proteſtanten nicht ſo allgemeinen Zorn, wie Friedrich Wilhelm ſelbſt ge-
fürchtet hatte. Die Staatsgeſinnung war noch wenig durchgebildet, das
Schlagwort der Kirchenfreiheit übte noch ſeinen berückenden Zauber; die
Liberalen ſchalten wenig, weil ihre Lieblinge, die Rheinländer zufrieden
waren und die Sonne ja noch immer im Weſten aufging; dem jungen
Radicalismus endlich ſchienen alle kirchlichen Fragen lächerlich. Indeß
fehlte es nicht ganz an warnenden Stimmen. Der treue Arndt, der am
Rhein längſt heimiſch geworden und dort ſeinen anerzogenen ſchwediſch-
lutheriſchen Vorurtheilen entwachſen war, ſagte doch jetzt in ſeinem Auf-
ſatze „Ein paar deutſche Notabene“ rund heraus: „Die Jeſuiten ſind
wieder da, und ſie werden, wie immer, deutſche Liebe und deutſche Treue
zerhadern und zerſplittern!“ Als Graf Anton Stolberg im Mai 1844
die weſtpreußiſchen Domänen bereiſt hatte, geſtand er dem Monarchen
ehrlich: die katholiſchen Polen träten hier überall höchſt übermüthig auf
und ſagten laut: heute muß man katholiſch ſein um bei Hofe etwas zu
gelten.*) Auch König Wilhelm von Württemberg zeigte ſich beſorgt; er
erwog mit dem preußiſchen Geſandten Rochow oftmals die Frage, ob die
proteſtantiſchen Fürſten Deutſchlands nicht unter Preußens Führung zu-
ſammentreten ſollten zur gemeinſamen Wahrung der Rechte ihrer Kirchen-
hoheit.
In der That hatte die ultramontane Partei ſchon faſt Alles erreicht
was ein paritätiſcher Staat irgend gewähren konnte. Einer ihrer Hitz-
[303]Triumph der Ultramontanen.
köpfe, der convertirte Franciscaner Gaßer, bereiſte die ſüddeutſchen Höfe
und verkündete überall prahleriſch, am Berliner Hofe könne die römiſche
Kirche Alles durchſetzen. Die Clericalen haben aber mit den radicalen
Demokraten die Unerſättlichkeit gemein, weil beide Parteien ein ſtarres, dem
ewigen Werden der Geſchichte widerſprechendes und darum unmögliches
Princip vertreten. Noch immer nicht befriedigt forderten die Ultramontanen
alsbald neue Rechte: zunächſt die vor Jahren verheißene Ausſtattung der Kirche
mit liegenden Gründen. Auf dem rheiniſchen Landtage von 1843 mahnten
mehrere Redner ſtürmiſch an dies Verſprechen Hardenberg’s, das auch Bun-
ſen in den letzten Tagen ſeiner römiſchen Wirkſamkeit leichtfertig wieder in
Erinnerung gebracht hatte; zum Glück war die alte Zuſage jetzt unerfüllbar,
da die Krone ohne Zuſtimmung der Reichsſtände das Domanium nicht mehr
ſchmälern durfte. Sodann verlangte man, daß an den beiden paritätiſchen
Univerſitäten die Hälfte der Profeſſoren, ſogar der Mediciner ſtets aus Katho-
liken beſtehen müſſe — eine rein willkürliche und bei der geringen Anzahl
der vorhandenen katholiſchen Gelehrten völlig unausführbare Forderung.
Im letzten Hintergrunde ſtand endlich der Wunſch nach einer freien katho-
liſchen — das will ſagen: ganz von der Kirche beherrſchten — Univerſität
belgiſchen Stiles; um die eigentliche Abſicht zu bemänteln klagten die
Ultramontanen beweglich, daß Baiern zwei katholiſche Univerſitäten beſitze,
das große Preußen keine einzige. Die Beſchwerde entbehrte jedes Grundes,
da die beiden paritätiſchen Univerſitäten für die Bedürfniſſe der katho-
liſchen Theologie vollkommen ausreichten. Aber bei einiger Klugheit konnte
die Krone dieſen immerhin wirkſamen Anklagen leicht einen Riegel vor-
ſchieben, wenn ſie die Münſterſche Akademie, die von dem Fluche aller
Halbheit doch nicht loskam, zu einer katholiſchen Staatsuniverſität aus-
geſtaltete und neben der katholiſch-theologiſchen Facultät dort noch drei
weltliche, allen Bekenntniſſen zugängliche Facultäten einrichtete. Dieſe
Waffe, die ſich ganz von ſelbſt darbot, wurde leider nicht gebraucht;
offenbar fürchtete der König, daß die weſtphäliſchen Proteſtanten, die
ja faſt die Hälfte der Provinz ausmachten, ſich dann ihrerſeits beſchweren
würden.
Wie mächtig das Selbſtgefühl der Ultramontanen gewachſen war,
das verkündete Görres 1842 in ſeiner Schrift: Kirche und Staat nach
Ablauf der Kölner Irrung. Das Büchlein klang wie das Jubelgeheul
eines die feindlichen Skalpe ſchwingenden Indianers. Der heißblütige
Alte, deſſen Leidenſchaft mit den Jahren nur gewachſen war, redete jetzt
gradezu von „dem rheiniſchen und weſtphäliſchen Adel katholiſcher Zunge“!
Kein Band der Volksgemeinſchaft ſollte zwiſchen den beiden Bekenntniſſen
mehr beſtehen. Zum Abſchluß ſeiner zahlloſen politiſchen Wandelungen
verherrlichte der Herausgeber des Rheiniſchen Mercurs nunmehr die rhein-
bündiſche Trias; er pries ſein Baiern als den natürlichen Führer der kleinen
Staaten, als die ausgleichende Macht zwiſchen den beiden Großmächten
[304]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
— dies Baiern, das eben jetzt wegen ſeiner ultramontanen Mißregierung
faſt von allen deutſchen Höfen tief verabſcheut wurde!
Die letzten Ziele der Clericalen enthüllte mit gewohnter Plumpheit der
greiſe Clemens Auguſt Droſte ſelbſt in einem noch während ſeines Exils
geſchriebenen Buche „über den Frieden unter der Kirche und den Staaten“.
Er führte hier nur näher aus was er ſchon vor Jahren über „die Religions-
freiheit der Katholiken“ geſchrieben hatte.*) Das neue Buch war ebenſo
ſtümperhaft wie das alte, aber bedeutſam durch den Namen ſeines Verfaſſers,
mehr noch durch ſeine erſchreckende maſſive Offenherzigkeit, ſo daß Mar-
heineke und andere evangeliſche Theologen ſich gedrungen fühlten ſofort
zu antworten. Hier wurde die römiſche Kirche kurzab für das Himmel-
reich auf Erden erklärt und dem Staate nur ein Schutzrecht vergönnt,
wie umgekehrt auch die Kirche befugt ſein ſollte den Staat zu beſchützen.
Daraus ergab ſich denn eine rein revolutionäre Staatslehre. Wie die
Jacobiner einſt ihre Menſchenrechte allem poſitiven Rechte entgegengeſetzt
hatten, ſo unterſchied Droſte die mit der Natur des Staates gegebenen,
auch die Kirche verpflichtenden „Staatsgeſetze“ von den willkürlichen
„Staaten- oder Landesgeſetzen“ der Regenten, denen die Kirche keinen
Gehorſam ſchulde. Frecher war die Doctrin der Revolution ſeit den
Tagen des Conventes nicht mehr verkündet worden; denn mochten die
Einen betend ihre Hände falten und vor den Bildern der Heiligen knien,
die Anderen um den Freiheitsbaum tanzen — wer alſo ein erträumtes
natürliches Recht über die Geſetze des lebendigen Staates ſtellte, zerſtörte
jedes Band der Treue und des Gehorſams im politiſchen Leben. Der
Staat, ſo ſchloß Droſte, muß der Kirche, der eigentlich die Herrſchaft ge-
bührt, mindeſtens die volle Gleichberechtigung gewähren, unbekümmert um
die thörichte Unzufriedenheit der Proteſtanten, die von ihrem Luther nur
gelernt haben, der Unſittlichkeit, dem Vernunftſtolze, dem Zweifel zu
fröhnen.
Mit dieſem ehrlichen Glaubensbekenntniß trat der alte Kämpfe der
alleinſeligmachenden Kirche von der politiſchen Bühne ab. Seinen Biſchofs-
ſitz ſah er niemals wieder, aber eine Pilgerfahrt nach Rom mochte er
ſich in ſeinem hohen Alter nicht verſagen; dort wohnte er bei einem
frommen weſtphäliſchen Buchdrucker und lebte, ohne nach den glänzenden
Ehrenbezeigungen des Vaticans viel zu fragen, ganz ſeiner mönchiſchen
Andacht. Und ſeltſam, dieſer Mann, der in Proſa nie einen lesbaren
Satz ſchreiben konnte, erlebte doch dann und wann Augenblicke poetiſcher
Begeiſterung. In ſolchen Stunden dichtete er das von den Kindern beider
Bekenntniſſe oft geſungene Lied „Stell’ himmelwärts, ſtell’ himmelwärts
gleich einer Sonnenuhr dein Herz“; und noch deutlicher ſprach der knor-
rige Weſtphälinger ſein innerſtes Weſen aus in den Verſen:
[305]Droſte’s Ausgang.
Im Jahre 1845 ſtarb er — eines jener blinden und dumpfen Werk-
zeuge, welche die Vorſehung zuweilen für ihre unerforſchlichen Pläne aus-
wählt; unzweifelhaft ein hiſtoriſcher Charakter, denn mit ſeinem Namen
verflicht ſich das Gedächtniß einer der folgenreichſten Wandlungen unſeres
Parteilebens. —
Noch vernehmlicher als Droſte’s Buch redeten die Thaten der ultra-
montanen Partei in Baiern. Dort behauptete ſie ein Jahrzehnt hindurch
die unbeſchränkte Herrſchaft, und es gelang ihr, das Beſte was dieſer
Staat beſaß, den kirchlichen Frieden von Grund aus zu verwüſten. „Laſſen
Sie Sich — ſo ſchrieb bald nach Sedlnitzky’s Abdankung ein clericaler
Heißſporn des Breslauer Domcapitels — durch das Gerücht, in Baiern
bereite ſich eine kirchliche Reaktion vor, nicht irre machen. Die Wider-
ſtrebenden werden mit eiſernen Ruthen niedergehalten werden. Jetzt wo
die weltliche und die kirchliche Macht den Entſcheidungskampf auch hier
in Deutſchland beginnt, müſſen die feindlichen Stützen brechen, und die
Geſchichte lehrt uns, daß der Sieg doch am Ende Rom bleibt.“*) In
der That war König Ludwig jetzt ganz in clericalen Gedanken befangen.
Nichts lag ihm ferner als der bewußte Plan, die Gleichberechtigung der
Bekenntniſſe zu ſtören, die er noch immer für ein Kleinod ſeines König-
reichs anſah. Doch ſeit den pfälziſchen Unruhen und dem ſtürmiſchen
jüngſten Landtage hielt er die Rechte ſeiner Krone für gefährdet: „jetzt
iſts noch Zeit; wie die Felswände an dem See ragen unerſchütterlich, ſo
ſtehe ich.“ Um die Krone zu retten, klammerte er ſich feſt an die neue
politiſche Heilslehre der Clericalen; in dem Kampfe zwiſchen Rom und der
Revolution ſah er fortan den Inhalt der Zeitgeſchichte. Wenn er nach
dem Vorbilde ſeines Ahnherrn, des Kurfürſten Max den deutſchen Katho-
licismus mit ſtarker Hand beſchirmte, dann hoffte er nicht nur die Re-
volution zu bändigen, ſondern auch das zugleich geliebte und beargwöhnte
Preußen zu überflügeln und nach dem mißlungenen griechiſchen Aben-
teuer dem Hauſe Wittelsbach doch noch eine große europäiſche Machtſtellung
zu gewinnen.
So lange ſolche Ideen den unſtäten Geiſt des Königs beherrſchten,
blieb Miniſter Abel für ihn der natürliche Rathgeber, ein geſchäftskundiger,
raſtlos thätiger Bureaukrat von durchfahrender, brutaler Strenge, hart,
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 20
[306]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
herrſchſüchtig, rückſichtslos, im Landtage gefürchtet durch ſeine ſchlag-
fertige, feurige Beredſamkeit. Aus Wetzlar gebürtig, war Abel einſt als
Rath der griechiſchen Regentſchaft dem pfälziſchen Proteſtanten Maurer
bei ſeinen Reformgeſetzen zur Hand gegangen und auch im Münchener
Landtage für manche Forderungen des Liberalismus eingetreten. Noch
erzählte man ſich gern, wie ſtürmiſch er damals mit ſeiner mächtigen
Stimme gegen die Cenſur gedonnert hatte, die morſche Krücke einer
ſchwachen, die lähmende Feſſel einer ſtarken Regierung. Späterhin hatte
er ſich, tief erſchüttert durch den Tod ſeiner geliebten frommen Gattin,
von den alten Genoſſen ſchroff abgewendet und in der harten Autoritäts-
lehre der Clericalen ſeinen Frieden gefunden; bei grauendem Morgen,
unbemerkt von der Welt, pflegte er fortan täglich vor einem Altare der
Theatinerkirche betend zu knien. Zu keiner Zeit, ſchrieb er dem gleich-
geſinnten Hurter, waren die Throne von ſo großen Gefahren umgeben,
nur von der Kirche iſt noch Heil und Rettung zu hoffen. Als er in die
Regierung eintrat, da erſchien es ihm wie ein Wink Gottes, daß faſt im
ſelben Augenblicke Droſte-Viſchering den Damm zerſtieß und die ultra-
montane Hochfluth über Deutſchland dahinrauſchte. Er wollte kämpfen
für Thron und Altar, ſo wie einſt Haller dieſen Kampf verſtanden hatte.
Was kümmerte es ihn in ſeinem fanatiſchen Thatendrange, daß er durch
dieſe Politik das evangeliſche Drittel des bairiſchen Volks gegen die Krone
aufreizte und die Sicherheit aller deutſchen proteſtantiſchen Dynaſtien ge-
fährdete? Je ärger die Zuſtände im proteſtantiſchen Deutſchland ſich
verwirrten, um ſo höher ſollte das Geſtirn der gläubigen Wittelsbacher
ſteigen. Gewiß war Abel weit mehr ein Politiker als ein kirchlicher Eiferer,
und da er überall den ſelbſtherrlichen Willen ſeines katholiſchen Königs
unerbittlich ausführte, ſo konnte es nicht fehlen, daß er unterweilen auch
einzelne ſeiner clericalen Freunde vor den Kopf ſtieß. Gleichwohl bewieſen
die Ultramontanen ſchwarze Untreue, als ſie den verhaßten und verrufenen
Mann nach ſeinem endlichen Sturze in hellen Haufen verließen und
verleugneten, als ob er nie zu ihnen gehört hätte. Denn ihm allein ver-
dankten ſie in Wahrheit, daß ſie an der Iſar eine Zeit lang ſo herriſch
ſchalten konnten wie vormals in der Pfaffengaſſe des heiligen Reichs.
Nirgends wußte man dies beſſer als in Rom. Sobald Abel ans
Ruder kam, erkannte die Curie ſofort, jetzt ſei der rechte Augenblick dem
Clerus in Baiern ein ebenſo behagliches Paradiesgärtlein einzurichten,
wie in Belgien. Sie war ſehr gut vertreten durch den Nuntius Viale
Prela, einen geiſtreichen, liebenswürdigen Prälaten, der Deutſchland kannte
und liebte, aber als weltkluger Wälſcher über den Feuereifer ſeiner ba-
juvariſchen Gefolgſchaft manchmal ſelbſt erſchrak. Nun fügte das gütige
Schickſal, daß in den nächſten Jahren die meiſten bairiſchen Bisthümer
ihre Oberhirten verloren. Unter Abel’s freudiger Mitwirkung wurden über-
all rüſtige junge Cleriker von jeſuitiſcher oder doch ſtreng ultramontaner
[307]Abel und ſeine Anhänger.
Geſinnung mit dem Hirtenſtabe betraut: Weis in Speier, Stahl in
Würzburg, Hoffſtätter in Paſſau, Riedel in Regensburg. An der Spitze
dieſes jungen ſtreitbaren Episcopats ſtand der Eichſtädter Reiſach; er wurde
jetzt Coadjutor des greiſen Erzbiſchofs von München, bald nachher deſſen
Nachfolger, und wie er einſt mit großem theatraliſchem Erfolge, zur Er-
bauung aller kindlichen Gemüther, als pilgernder Kuttenmann in ſeine
Wilibaldſtadt eingezogen war, ebenſo gewandt bewegte er ſich nunmehr in
der vornehmen Geſellſchaft der Hauptſtadt. Auf dem Lehrſtuhle des Kirchen-
rechts in München ſtand Phillips, der preußiſche Ueberläufer, der ſein
verlaſſenes Vaterland mit unauslöſchlichem Haſſe bekämpfte; er lehrte be-
reits, den Concilien gebühre nur eine berathende Stimme, da die Kirche
nur durch Petrus Kirche ſei, und näherte ſich alſo Schritt für Schritt
dem Dogma von der päpſtlichen Unfehlbarkeit, in dem die clericale Dia-
lektik zuletzt nothwendig ausmünden mußte. Der aus Würzburg neu be-
rufene Lehrer des Staatsrechts Moy verkündigte in anſtändigerer Form
dieſelbe Lehre von der Civitas Dei, welche Droſte-Viſchering in ſeiner
letzten Streitſchrift verfocht; alle Befugniſſe der Kirchenhoheit, alle Maje-
ſtätsrechte des Staates galten ihm nur für Erfindungen einer pſeudo-
liberalen Theorie.
Nicht umſonſt ließ der alte Görres den Schlachtruf erſchallen: „Hammer
oder Amboß iſt die Loſung des Jahrhunderts!“ Ueberall in der Welt
erhoben die Clericalen neue, bisher unerhörte Forderungen. Die Mün-
chener gelben Blätter verlangten kurzab freie Verfügung der Kirche und
ihrer Hirten über die geſammte Wiſſenſchaft und den Unterricht; mit
einem Fußtritt ſollten alle Segnungen des weltlichen deutſchen Schul-
weſens, die Arbeit dreier Jahrhunderte über den Haufen geworfen werden.
Zugleich begann Graf Montalembert in der franzöſiſchen Pairskammer
hochbegeiſtert ſeinen Kampf gegen die Staatsſchule. Dem ritterlichen
Schwärmer ſtand außer Zweifel, daß die katholiſche Kirche nur die Königin
oder gar nichts ſein könne. Da die Härte der napoleoniſchen Unterrichts-
ordnung, die geiſtloſe Gleichförmigkeit der Lyceen, die Pedanterei „der Man-
darinen der Univerſität“ in der That viele Blößen darboten, ſo glaubte
er wirklich für die Freiheit zu kämpfen wenn er die Schulen wieder in
das Joch des Clerus ſpannen wollte und die Söhne der Kreuzfahrer er-
mahnte, nicht zurückzuweichen vor den Söhnen Voltaire’s. Durch Geburt
und Bildung halb Engländer halb Franzoſe hatte ſich Montalembert
kürzlich mit einer Tochter des belgiſchen ultramontanen Parteiführers Felix
v. Merode vermählt, und dieſer eigenthümliche weltbürgerliche Zug der
römiſchen Partei zeigte ſich auch in dem Münchener Kreiſe. In der Hof-
geſellſchaft glänzten neben den alteingebürgerten ultramontanen Geſchlech-
tern Löwenſtein, Arco, Cetto, Deuxponts, Rechberg, Seinsheim auch der
unglückliche Miniſter Karl’s X. Fürſt Polignac, die gleichgeſinnten Rohans
und das carliſtiſche Haus Lichnowsky. Fürſt Felix Lichnowsky erfreute ſich
20*
[308]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
der beſonderen Gunſt Abel’s; ungeſtraft durfte er den durchreiſenden Herzog
von Naſſau, wegen eines perſönlichen Streites, zum Zweikampf heraus-
fordern und mit der Reitpeitſche bedrohen; es währte Monate bis der
proteſtantiſche Herzog die Ausweiſung ſeines hitzigen Gegners durchſetzte.*)
Zu den ariſtokratiſchen geſellten ſich aber auch demagogiſche Ele-
mente; denn es lag im Weſen dieſes Bundes der Vorkämpfer Roms, daß
er wie die Grenzen aller Länder, ſo auch alle politiſchen Parteien durchſchnitt.
Der alte Görres, der ſelber ſeine radicalen Neigungen nie ganz überwand,
empfing in ſeinem gaſtlichen Hauſe neben franzöſiſchen Legitimiſten auch
ſchweizeriſche Jeſuiten und polniſche Revolutionäre; dazu die ſehr bunt ge-
miſchte Schaar der ultramontanen Literaten: den an die halbamtliche
Münchener Zeitung neuberufenen ſtreitbaren Hiſtoriker Höfler, die Mit-
arbeiter der Augsburger Zeitſchrift Sion, nicht zuletzt die Getreuen der
gelben Blätter, die, ſonſt gegen Jedermann kampfluſtig, doch über die Ge-
brechen der bairiſchen Verwaltung nur ſelten und behutſam ſprachen, weil
ſie den unentbehrlichen mächtigen Miniſter ſchonen mußten. Harmloſer
war die heitere Tafelrunde, welche das reiche „Schweizerfräulein“, die von
Clemens Brentano angebetete, mit Cornelius, Ringseis, Diepenbrock be-
freundete fromme Convertitin Emilie Linder um ſich zu verſammeln
pflegte; hier freute man ſich noch an dem feinen Duft und Schmelz der
alten romantiſchen Bildung. Solche mildere Geſinnungen vermochten
aber nicht aufzukommen gegen den fanatiſchen Uebermuth, der in der
Münchener Congregation vorherrſchte. Mit tiefem Schmerz empfand
Möhler dieſe Wandlungen, der erſte wiſſenſchaftliche Kopf der deut-
ſchen katholiſchen Theologie. Er war kurz bevor Abel ans Ruder kam
nach München berufen worden und hatte ſoeben erſt, als er ſeine Sym-
bolik wider die Angriffe Chriſtian Baur’s vertheidigte, genugſam bewieſen,
daß er den ehrlichen wiſſenſchaftlichen Streit ſelbſt mit einem überlegenen
Gegner nicht ſcheute. Doch in die Bahnen des politiſchen Kampfes wollte
er ſeine Kirche nicht einlenken ſehen; ihm graute vornehmlich vor der
ultramontanen Preſſe, vor „dem Schweife literariſcher Niederträchtigkeit“,
der ſich an die Congregation anſetzte. Abel wußte mit dem feinfühligen
Gelehrten nichts anzufangen und verſetzte den Kränkelnden plötzlich als
Domherrn nach Würzburg; da wurde Möhler (1838) durch einen frühen
Tod aus einer unhaltbaren Lage befreit.
Vor Allem war es der wüthende Haß gegen Preußen, was die bureau-
kratiſchen, die demagogiſchen und die ariſtokratiſchen Kräfte dieſer Partei
zuſammenhielt. Darum zählte auch zu ihren rührigſten Mitgliedern der
öſterreichiſche Geſandte Graf Senfft-Pilſach, jener ſächſiſche Miniſter, der
einſt im Befreiungskriege vergeblich verſucht hatte, ſeinen König in die Wege
der Wiener Politik hinüberzudrängen und, inzwiſchen längſt von dem Glauben
[309]Oeſterreich und die bairiſchen Clericalen.
ſeines altproteſtantiſchen Geſchlechts abgefallen, der beſonderen Gunſt des
Metternich’ſchen Hauſes genoß. Er unterhielt Verbindungen mit den Cleri-
calen aller Länder und pflegte ſich mit ſeinem Freunde Abel meiſt ſchon bei
der ſtillen Morgenandacht in der Theatinerkirche zu beſprechen. Auch Met-
ternich ſelbſt begann nunmehr, gleich den beiden bairiſchen Schweſtern in
Wien, einen lebhaften Briefwechſel mit dem Münchener Hofe; die Eiferſucht
auf den Zollverein und das aufſtrebende Preußen ließ ihm keine Ruhe, nur
durch die römiſche Kirche glaubte er den nordiſchen Nebenbuhler noch bändigen
zu können. Im Herbſt 1841 verweilte er mehrere Tage in München, wo er
mit dem König und dem Nuntius viel verkehrte, durch den getreuen Jarcke
ſich die Häuptlinge der Congregation vorſtellen ließ und darauf nach Biebrich
und Stuttgart kirchenpolitiſche Weiſungen ausſendete.*) Erſtaunlich, wie
tief der Alternde ſich jetzt in kirchliche Anſchauungen einlebte, die ſeiner
luſtigen Jugend ſo fremd geweſen; er trug kein Bedenken mehr die rein
römiſche Anſicht auszuſprechen: ein Staat mit überwiegend katholiſcher
Bevölkerung ſtehe in der Kirche, weil dieſe ja die allgemeine ſei! Unter
den clericalen Schriftſtellern gefiel ihm namentlich der roheſte, Hurter.
Der war, nachdem er noch jahrelang für Rom gearbeitet und ſogar ein
geheimes Breve des Papſtes perſönlich dem Erzbiſchof von Freiburg über-
bracht hatte, endlich durch eine ehrliche Anfrage ſeiner Schaffhäuſer Amts-
brüder gezwungen worden, ſein ſo ſchamlos entweihtes evangeliſches Kirchen-
amt niederzulegen, und darauf — wieder erſt nach mehreren Jahren —
förmlich zum Katholicismus übergetreten. Abel fand an ihm jederzeit einen
thätigen Helfer. Metternich aber ſagte, als er Hurter’s Geſchichtswerk ge-
leſen, hoch entzückt: „der Verfaſſer iſt mein Mann“ und berief ihn (1845)
als k. k. Reichshiſtoriographen nach Wien, wo er zunächſt die Geſchichte
Ferdinand’s II. ſchreiben ſollte. Deutlicher ließ ſich nicht ausſprechen, daß
die Hofburg mit den joſephiniſchen Grundſätzen gänzlich gebrochen hatte.
Einer ſolchen Partei gegenüber hatte Graf Dönhoff einen ſchweren
Stand. Es konnte nicht ausbleiben, daß die bairiſchen Proteſtanten, die
den alten König ſo oft als den Beſchützer des evangeliſchen Glaubens ge-
feiert hatten**), ſich jetzt in ihrer Bedrängniß oft an den preußiſchen Ge-
ſandten wendeten, und obgleich Dönhoff ſich nach ſeiner Amtspflicht, ſo
weit es die Ehrlichkeit erlaubte, zurückzuhalten ſuchte, ſo wurde er doch
von den Ultramontanen bald als das Haupt der proteſtantiſchen Oppoſition
verläſtert. Das Lamm trübte dem unſchuldigen Wolfe das Waſſer: während
Abel den neuen Kölner Erzbiſchof gradezu zum Kampfe wider die Kirchen-
politik der evangeliſchen Höfe aufforderte, beſchuldigte er die Berliner Pie-
tiſten, die mit ihren heimiſchen Parteikämpfen wahrlich genug zu thun hatten:
ſie beanſpruchten für die Krone Preußen die Schirmherrſchaft über die bai-
[310]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
riſchen Proteſtanten. Unter den Berliner Pietiſten war zunächſt Eichhorn
gemeint, dem alle Anhänger Oeſterreichs das Aergſte zutrauten. Leider
blieb König Ludwig ſolchen Einflüſterungen nicht unzugänglich. Weil er
ſelbſt die Rolle des katholiſchen Kurfürſten Max ſpielen wollte, witterte
er jetzt überall politiſche Umtriebe des Proteſtantismus; ſogar die engliſchen
Phantaſien ſeines preußiſchen Schwagers erſchienen ihm wie eine Be-
drohung der römiſchen Kirche*), und um dem Bisthum Jeruſalem ein
Gegengewicht zu bieten, ſendete er in das gelobte Land einige bairiſche Ge-
lehrte, die ſich dort mit geringem Erfolge bemühten katholiſche Klöſter und
Hospitäler zu errichten. Als Dönhoff nachher an den Bundestag ver-
ſetzt und ſein Nachfolger Graf Bernſtorff bei dem bairiſchen Monarchen
eingeführt wurde, da beklagte ſich Ludwig bitter über die parteiiſche Haltung
des bisherigen Geſandten. Bernſtorff erwiderte mündlich und ſchriftlich:
er würde ſich niemals in das Treiben der bairiſchen Parteien miſchen,
aber auch nicht ſeine Glaubensgenoſſen von ſich ſtoßen, nicht die politiſchen
und religiöſen Sympathien ſeiner Regierung verleugnen, nicht darauf ver-
zichten, leidenſchaftliche Angriffe gegen evangeliſche Regierungen zurückzu-
weiſen. König Friedrich Wilhelm bemerkte dazu: „er hat wie ein Ehren-
mann und rechter preußiſcher Geſandter geſprochen und geſchrieben, und
es ſoll ihm meine volle Zufriedenheit zu erkennen gegeben werden.“ Auch
König Ludwig mußte die Offenheit des Preußen anerkennen.**) Trotz-
dem und trotz der perſönlichen Freundſchaft der königlichen Schwäger blieb
das Verhältniß der beiden Höfe getrübt. Es war der Fluch der ultramon-
tanen Parteiherrſchaft, daß ſie nicht blos Baierns innere Entwicklung ſtörte,
ſondern auch ſeine natürlichen Bundesgenoſſen abſchreckte.
Zum erſten male wurde König Ludwig mißtrauiſch gegen ſeine cleri-
calen Anhänger, als ſein Hofprediger Eberhard (1841) in der Michaels-
kirche eine Reihe von Predigten hielt, deren pöbelhafte Schmähungen faſt
darauf berechnet ſchienen, die maſſenhaft herbeigeſtrömten Hörer zum Kriege
gegen die Proteſtanten aufzuwiegeln: da ward Luther ein elender Betrüger
genannt, die evangeliſche Ehe Hurerei, die gemiſchte Ehe ein Sacrileg, die
katholiſche Mutter, die ihr Kind proteſtantiſch erziehen ließe, eine Frevlerin
wider die Geſetze der Natur. Das Aergerniß war ſo ſchlimm, daß mehrere
angeſehene Proteſtanten — auch Thierſch war darunter — ſich klagend
an die Krone wendeten. Diepenbrock, der damals noch dem Regensburger
Domcapitel angehörte, fand es unbegreiflich, wie man die Kanzel alſo zum
Fechtboden herabwürdigen könne, und ſein Freund, der greiſe, ſchon tödlich
erkrankte Biſchof Schwäbl hielt dem Münchener Eiferer in einem ſchönen
Briefe die Pflichten der chriſtlichen Liebe vor: „ſo redet nicht der Geiſt
[311]Uebermuth der Clericalen.
aus der Höhe, ſondern der Geiſt menſchlicher Gereiztheit.“ Eberhard gab
eine freche Antwort, die der Biſchof auf ſeinem Sterbebette empfing. Da
ſchritt der König ſelbſt ein und verbot dem Hofprediger vorläufig die Kanzel
der Michaelskirche: „wenn ſie auch nicht verkürzt, ſo hat er verbittert
doch des ſo würdigen Biſchofs von Regensburg Tage letzte.“*) Nachher
mußte Abel die Kreisregierungen durch ein Rundſchreiben anweiſen, daß
ſie die Predigten überwachen und weder Störungen des confeſſionellen
Friedens noch materialiſtiſche Lehren dulden ſollten. Das Münchener
erzbiſchöfliche Ordinariat aber, das insgeheim hinter Eberhard ſtand, ver-
wahrte ſich dawider und erklärte kurzab: die Behauptung des Rund-
ſchreibens, daß die Grundlehren des Chriſtenthums allen Confeſſionen ge-
meinſam ſeien, führe zum Indifferentismus. Dieſen Widerſpruch nahm
der geſtrenge Miniſter ſchweigend hin. Nicht lange, ſo durfte auch Eber-
hard ſeine Kanzel wieder beſteigen; und mit ihm wetteifernd donnerte
Hofſtiftsprediger Wiſer gegen die verſtockten Herzen der Proteſtanten, die
ja in Baiern überall die katholiſche Wahrheit lernen könnten.
Nachhaltiger verſtimmte den Monarchen die Haltung ſeines Clerus
bei der Beſtattung der Königin-Wittwe Karoline (Nov. 1841). Mutter ſo
vieler ſtrengkatholiſchen Töchter, Wohlthäterin der milden Stiftungen beider
Bekenntniſſe, hatte die edle Frau ihren evangeliſchen Glauben doch nie
verleugnet und das altbewährte preußiſch-bairiſche Bündniß immer hoch
geſchätzt; noch im letzten Lebensjahre des alten Königs war ſie zu ihm
nach Potsdam gereiſt um die geſtörte Freundſchaft der beiden Höfe wieder
zu befeſtigen.**) Grundes genug für den Haß der Clericalen. Die evan-
geliſche Geiſtlichkeit wollte die Leiche nach der Trauerfeier zu der Fürſten-
gruft unter der Theatinerkirche geleiten um ſie dort auszuſegnen. Dies
entſprach dem allgemeinen Brauche; denn der ſegensreiche Grundſatz des
Weſtphäliſchen Friedens, daß die deutſchen Proteſtanten nicht als Häretiker
behandelt werden dürften, war ſeit Montgelas’ Zeiten auch in Baiern
zur vollen Geltung gelangt, alle Proteſtanten Münchens beerdigten ihre
Todten mit kirchlichen Ehren auf dem katholiſch geweihten ſchönen Kirch-
hofe der Stadt. Windiſchmann aber, der Heißſporn des Domcapitels ver-
abredete ſich in tiefem Geheimniß mit Abel.***) Darauf erließ der Erz-
biſchof ein Verbot; auch den barmherzigen Schweſtern, die ihrer freigebigen
Gönnerin zum Grabe zu folgen wünſchten, wurde jede Theilnahme unterſagt.
So mußte denn die königliche Leiche bei ſtrömendem Regen draußen vor
der Thüre der Theatinerkirche ausgeſegnet werden; dann trug man ſie
raſch hinab, und die katholiſchen Prieſter ſtanden im Frack dabei ohne ſich
zu regen. Faſt ebenſo unanſtändig verlief der geſetzliche Trauergottesdienſt
in den anderen Biſchofsſtädten. Nur Biſchof Richarz von Augsburg, ein
[312]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Prälat aus der alten Schule, veranſtaltete eine würdige Feier, freilich ohne
Seelenmeſſe, und geſtand dem Monarchen ehrlich: als treuer Unterthan
habe er nicht weniger thun können, aber auch nicht mehr, aus Rückſicht
auf ſeinen Erzbiſchof; dann betheuerte er ſeine „Ueberzeugung, daß die-
jenigen, die den conſervativen Principien in der Religion und im Leben
mit Vernunft ergeben ſind, Liebe, nicht Haß zu predigen und zu üben
haben.“*)
Der König dankte dem Getreuen durch ein ſogleich veröffentlichtes
Belobungsſchreiben; er wußte ſicherlich nicht, daß ſein eigener Miniſter den
ſchmählichen Auftritt in München mit veranlaßt hatte, und erſt weit ſpäter
ward ihm kund, wie der heilige Vater ſelbſt darüber dachte. Dem alten Ca-
maldulenſermönche hatte die Verhöhnung der proteſtantiſchen Königin eine
rechte Herzensfreude bereitet. In ſolcher Stimmung richtete Gregor an den
Augsburger Ketzerfreund ein ſtrenges, doch nicht ganz ungnädiges Breve; er
tadelte ihn, weil er ſich nicht geſcheut hätte die Todte ſogar den frommen
Bitten der Gläubigen zu empfehlen, und ſchloß mit der väterlichen Mah-
nung: der Biſchof möge ſein Unrecht ſühnen, ſeine treuen Schafe beſchützen
„gegen den eitlen Trug jener Ohrenſchmeichler, welche lügneriſch aus-
breiten, ein dem katholiſchen Glauben und der katholiſchen Kirche fremder
Menſch könne, wenn auch ſo geſtorben, zum ewigen Leben gelangen“. Um
auch für die Zukunft vorzubauen ſendete der Papſt bald nachher ein zweites
Breve an den Propſt des Benediktinerkloſters Scheyern, das der König ſo-
eben wiederhergeſtellt hatte; da hieß es: der heilige Stuhl könne dieſe
Kloſterſtiftung nur dann beſtätigen, wenn die vom Stifter ausbedungenen
Trauerfeiern für das königliche Haus ausſchließlich auf die Sterbetage der
katholiſchen Wittelsbacher beſchränkt würden.**) So wagte die Curie ſchon
dem Fürſtengeſchlechte zu begegnen, das ihr unter allen in Deutſchland ſtets
die größte Hingebung gezeigt hatte. König Ludwig empfand dieſe Kränkungen
ſehr tief, obgleich er ſeine Stiefmutter nie geliebt hatte. Die ihm näher
ſtanden merkten bald, daß er fortan ſeinen Miniſter mit ſtillem Argwohn
betrachtete.
Für jetzt konnte er freilich den kräftigen Diener nicht entbehren, der
ihm ſo viele Erübrigungen für ſeine Bauten verſchaffte und die Landſtände
ſo ſcharf im Zaum hielt. Im Auslande fragte man wohl ſpottend, warum
doch der Segen der Ueberſchüſſe, den man ſich in anderen Ländern ſehn-
lich wünſchte, dem Münchener Landtage ſo viel Kummer bereitete. Die
Baiern hatten jedoch guten Grund zur Klage; denn ihre Erübrigungen,
die man für die letzten Jahre bis 1841 auf 29 Mill. Gulden ſchätzte,
wurden nur ermöglicht durch die Verwahrloſung wichtiger Verwaltungs-
[313]Abel und der Landtag.
zweige. Das Heer verkam, die ſchlecht unterhaltenen bairiſchen Landſtraßen
ſtanden bei den ſüddeutſchen Nachbarn in böſem Rufe; und wie das Unter-
richtsweſen daniederlag, das erfuhr der Landtag ſtaunend, als die Ver-
treter der drei Univerſitäten, der conſervative Lutheraner Stahl und die
Clericalen Moy und Ringseis völlig übereinſtimmend die Dürftigkeit ihrer
Hochſchulen ſchilderten. Am tapferſten ſprach Stahl; der Verfaſſung ge-
mäß beſtritt er dem Miniſterium rundweg das Recht, über die Erübrigungen
nach Belieben zu verfügen. Zur Strafe befahl ihm Abel, das Fach des
Staatsrechts aufzugeben und fortan Vorleſungen über Civilproceß zu halten.
Dieſe höhniſche Mißhandlung erleichterte ihm die Annahme des Rufs nach
Preußen; ſie hinderte freilich nicht, daß der freimüthige Gelehrte von den
aufgeklärten Berlinern ſofort als ein Serviler beſchimpft wurde. Die
Univerſitäten aber ſanken bald noch tiefer, weil Abel ihnen eine neue
Studienordnung auferlegte mit übel ausgewählten Zwangscollegien und
zahlreichen Zwiſchenprüfungen, die alle akademiſche Freiheit vernichten
mußten; er wiegte ſich in dem Wahne, daß die Künſte ohne die freie
Wiſſenſchaft auf die Dauer blühen könnten.
Der neue Landtag, der um Neujahr 1840 zuſammentrat, verlief an-
fangs ſtill, da der König kein Bedenken trug viele Abgeordnete perſönlich
unter Androhung ſeiner Ungnade zum Gehorſam zu ermahnen, andere
durch Abel’s Barſchheit eingeſchüchtert wurden.*) Wieder wie ſo oft ſchon
hatte die Regierung einer langen Reihe von Staats- und Gemeinde-
beamten den Urlaub für den Landtag verweigert; ſie beanſpruchte jetzt
ſogar das Recht, auch die Rechtsanwälte nach Belieben von der Kammer aus-
zuſchließen. Selbſt darüber kam es nicht zum Bruch, und die heikle Streit-
frage wegen der willkürlichen Verwendung der Erübrigungen wurde durch
den pötzlichen Schluß des Landtags einfach abgeſchnitten. Die evangeliſchen
Abgeordneten, die faſt ein Drittel der Kammer ausmachten, zeigten ſich
ſehr verſöhnlich; ſie wollten den Landtag nicht zum Tummelplatze con-
feſſionellen Zankes machen und beſchloſſen unter ſich, ihre kirchlichen Be-
ſchwerden in einer beſonderen Denkſchrift dem Könige ſelbſt vorzutragen.**)
Die Beſchwerdeſchrift klagte über die parteiiſche Behandlung der gemiſchten
Ehen; wurde doch ſogar das erzwungene Verſprechen katholiſcher Kinder-
erziehung durch Abel für rechtsgiltig erklärt. Sie wies ferner nach, wie
die Regierung in Neuburg, Landshut, Perlach und anderen Orten die
Bildung evangeliſcher Gemeinden verboten, auch Betſäle, die mit amt-
licher Erlaubniß ſchon eröffnet waren, wieder geſchloſſen hatte; in Ingol-
ſtadt verſuchte die vom Clerus aufgewiegelte katholiſche Bürgerſchaft ſelbſt
den Bau einer evangeliſchen Kirche zu hintertreiben. Sogar den Namen
„evangeliſch“ bezeichnete der Miniſter als unzuläſſig, als eine Beleidigung
[314]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
der Katholiken; dies Wetzlarer Kind ſchien gar nicht mehr zu wiſſen, daß
der Name „katholiſch“ noch vor vierzig Jahren durch die alten Reichs-
geſetze verboten geweſen war, während der Name des Corpus Evan-
gelicorum amtliche Geltung hatte. Und dieſe kleinlichen Bedrückungen
der Proteſtanten währten noch jahrelang fort unter demſelben Könige,
der eben jetzt, nach dem Vorbilde ſeines preußiſchen Schwagers, den Ver-
kehr der Biſchöfe mit dem römiſchen Stuhle freigab.
Die heftigſten Beſchwerden richteten ſich aber gegen die den evan-
geliſchen Soldaten aufgezwungene Kniebeugung, eine unbegreiflich ge-
häſſige Neuerung, die ſich wohl nur aus einer phantaſtiſchen Schrulle des
Königs erklärte; Ludwig hatte einen begeiſterten Zeitungsbericht über eine
prächtige Kirchenfeier der franzöſiſchen Truppen in Algier geleſen und
meinte nichts Arges zu thun, wenn er ähnliche Ceremonien auch in ſeinem
Heere einführte. Er bedachte nicht, welche widerwärtigen Erinnerungen der
Wittelsbachiſchen Geſchichte er damit wieder aufrührte; durch denſelben
Kniebeugungszwang hatte ja vor hundertundzwanzig Jahren Pfalzgraf
Johann Philipp ſeine treuen Heidelberger dermaßen erbittert, daß er ſich
gezwungen ſah nach Mannheim überzuſiedeln. Auch jetzt war der Un-
wille in der evangeliſchen Welt allgemein. Die Proteſtanten im Herzog-
thum Berg gedachten wieder der pfalzbairiſchen Zeiten und des wirkſamen
Schutzes, den ihre Vorfahren ſtets bei Kurbrandenburg gefunden hatten.
Ihre Kreisſynoden, voran die Düſſeldorfer, baten ſchon 1839 den König
von Preußen um ſeine Vermittlung beim Münchener Hofe, was der alte
Herr als gänzlich nutzlos ablehnte. In mehreren bairiſchen Garniſonen
kam es zu bedenklichen Auftritten; viele proteſtantiſche Offiziere und
Soldaten erklärten, ſie würden die ſchwere Sünde der Anbetung der Crea-
tur auf ſich laden, wenn ſie vor dem Allerheiligſten niederknieten. Selbſt
Diepenbrock und manche andere wohlmeinende katholiſche Prieſter geſtanden
zu, daß die Proteſtanten hier das klare Recht für ſich hätten.
Unterdeſſen verwendete ſich auch Graf Karl Giech, der einzige Proteſtant
unter den Regierungspräſidenten, nachdrücklich für ſeine Glaubensgenoſſen,
und da ihn Abel ſchnöde abfertigte, nahm er ſeinen Abſchied. Vor dem
Könige rechtfertigte er ſich durch eine ehrerbietige Denkſchrift, die unumwun-
den alle Sünden des Abel’ſchen Regimentes aufzählte: wie die Proteſtanten
ſchon anfingen an der Gerechtigkeit der Krone zu zweifeln, die Kreisregie-
rungen, Dank dem Erübrigungsſyſteme, mit ihren ungenügenden Arbeits-
kräften die wachſende Geſchäftslaſt nicht mehr bewältigen könnten, die Be-
amten und die Lehrer bei übervollen Staatskaſſen darben müßten.*) Des
Staatsdienſtes entledigt ließ Giech ſodann in Württemberg ein Büchlein über
[315]Beſchwerden der Proteſtanten. Abel und Wallerſtein.
die Kniebeugung der Proteſtanten erſcheinen, das in Baiern ſofort ver-
boten aber eifrig geleſen wurde. Nachher erbte er von ſeinem Bruder,
dem Schwiegerſohne Stein’s die Standesherrſchaft Thurnau und blieb
fortan viele Jahre lang eine Zierde des fränkiſchen Adels, vornehm zugleich
und leutſelig, feingebildet und lebenskundig, königstreu und freimüthig.
Der König nahm die Beſchwerden der proteſtantiſchen Abgeordneten
freundlich auf; doch merkte man ihm an, daß er nicht recht daran glaubte.
Er meinte, die Katholiken könnten ſich freuen, wenn ſie in proteſtantiſchen
Ländern ebenſo gut behandelt würden, wie die Proteſtanten in Baiern.
Sein Abel hatte ihm vorgeſpiegelt, hinter allen dieſen Klagen verſtecke ſich
nur die liberale Oppoſition.*) Während die zweite Kammer faſt jedem
Streite behutſam auswich, begann ſich unter den Reichsräthen ein uner-
warteter Widerſtand zu regen. In einem Vierteljahrhundert parlamen-
tariſchen Lebens waren manche conſtitutionelle Rechtsgrundſätze ſelbſt dieſem
hochconſervativen Adel in Fleiſch und Blut gedrungen; die Reichsräthe
klagten, jede Prüfung des Staatshaushalts würde zum leeren Schein, ſo
lange die Regierung mit den Erübrigungen nach Gutdünken ſchalte. Zu-
dem pflegte Abel mit herausforderndem Uebermuth doktrinäre politiſche
Sätze aufzuſtellen, die das ſüddeutſche Gefühl verletzten; er donnerte wider
den modernen Staatsbegriff, er wollte den Namen Staatsminiſterium
nicht hören, da man hierzulande nur königliche Miniſter kenne; er be-
hauptete, die bairiſche Verfaſſung ſei ſtändiſch, nicht repräſentativ, obwohl
ihre Urheber von dieſem neuerfundenen Unterſchiede noch gar nichts ge-
wußt hatten.
Bei den Streitigkeiten, die ſich aus ſolchen Anläſſen ergaben, hielt
Abel’s Amtsvorgänger immer die Hand im Spiele, Fürſt Oettingen-Waller-
ſtein, der einſt als Abel’s Vorgeſetzter von dieſem tief unterthänige Briefe
empfangen hatte**), jetzt aber, ſeit des Königs Ungnade auf ihm laſtete,
um ſo gröber behandelt wurde. In der Schlußſitzung der zweiten Kammer
(10. April 1840) ließ ſich Abel endlich zu einem Wuthausbruche hinreißen,
deſſen gleichen die deutſchen Ständeſäle noch nicht erlebt hatten. Die Ab-
weſenheit Wallerſtein’s unritterlich mißbrauchend, ſprach er von den Schand-
thaten dieſes tief geſunkenen Individuums und ſchmähte ſo unbändig, daß
die Reichsräthe ſofort ihre Entrüſtung über die unwürdige Beſchimpfung
ihres Mitgliedes feierlich ausſprachen. Der preußiſche Geſandte meinte:
nach einem ſolchen Vorfall müſſe Abel unfehlbar zurücktreten; denn „die
wahren monarchiſchen Grundſätze können nicht gewinnen, wenn ſie ver-
theidigt werden durch die religiöſe und politiſche Heuchelei, ohne Redlichkeit
und Gradſinn, ohne Anſtand und Würde.“***) Es kam anders. Derweil
der Landtag ſich auflöſte, traten der frühere und der gegenwärtige Miniſter
[316]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
der kirchlichen Angelegenheiten einander mit der Piſtole in der Hand gegen-
über; der Kriegsminiſter Gumppenberg und Präſident Graf Rechberg ſe-
kundirten. Nachdem jeder der beiden Gegner einmal gefeuert hatte, nahm
Abel noch auf dem Kampfplatze ſeine Beleidigungen zurück. Nachträglich
behauptete er jedoch, dieſe Zurücknahme wäre nur mit Einſchränkungen
erfolgt. Nun entſpann ſich zwiſchen den vier hochgeſtellten Männern ein
höchſt unanſtändiger Briefwechſel; alle Zeitungen beſprachen die Vorgänge
bei dem Miniſterduell auf das Gründlichſte. Und dies in einem Lande,
deſſen Preſſe von dem leitenden Miniſter öffentlich als Buhldirne gebrand-
markt und durch eine eiſerne Cenſur niedergehalten wurde. Es war einer
jener häßlichen Skandalfälle, welche gemeinhin dem Sturze eines ver-
morſchten politiſchen Syſtems voranzugehen pflegen. König Ludwig be-
gnügte ſich indeß, dem Fürſten Wallerſtein vor Zeugen ſein Bedauern
auszuſprechen. Abel blieb im Amte als wäre nichts geſchehen.
Entſetzlich, wie nunmehr die kirchliche Feindſchaft in Alles eindrang
und dem Könige ſelbſt ſeine beſten Unternehmungen verdarb. Wohl er-
lebte er ſelige Stunden, als im October 1842 die Walhalla eröffnet
wurde, der gewaltige, aus dem Dunkel deutſcher Eichen weithin über das
Donauthal ſchimmernde griechiſche Tempel; im Giebelfelde prangte die
Hermansſchlacht, Schwanthaler’s ſchönſtes Werk, bei dem ſich der ſchnell-
fertige Meiſter doch einmal Zeit gelaſſen hatte, in dem majeſtätiſchen Innen-
raume Rauch’s herrliche Victorien inmitten der Büſten der großen Deutſchen.
Aber Luther und Melanchthon fehlten; ſie zuzulaſſen konnte der katholiſche
König ſich jetzt nicht überwinden, obgleich Ernſt Rietſchel die Büſte Luther’s,
auf Ludwig’s eigene Beſtellung, ſchon vor Jahren vollendet hatte. Deshalb
begann ſofort ein wüſter Zank in Zeitungen und Flugſchriften. Zu allem
Unglück gerieth Ludwig auch noch auf den Einfall, das köſtliche Geſchenk, das
er der Nation darbot, mit einer Erläuterungsſchrift zu begleiten. Nicht ver-
geblich waren ſeinen Gedichten von ſo vielen bedeutenden Männern über-
ſchwängliche Lobſprüche geſpendet worden; ſelbſt Rückert, der niemals ſchmei-
chelnde, hatte ihm zugeſungen, das ſei recht, daß der Schutzherr aller Künſte
die Poeſie im eignen Herzen pflege:
Ludwig glaubte jetzt wirklich ein großer Schriftſteller zu ſein und ſchrieb
das Büchlein „Walhalla’s Genoſſen“, kurze Lebensbeſchreibungen der Helden
Deutſchlands, in dem geſchraubten Lapidarſtile ſeines Lieblingshiſtorikers
Johannes Müller, mit einer ſtarken Zuthat königlicher Participialconſtruc-
tionen. Im Vorworte erzählte er, wie er ſchon in den Tagen der tiefſten
Schmach des Vaterlands den Gedanken gefaßt hatte, „der fünfzig rühm-
lichſt ausgezeichneten Teutſchen Bildniſſe in Marmor verfertigen zu laſſen.
[317]Die Walhalla.
Später — ſo fuhr er fort — wurde die Zahl vermehrt, dann auf keine
beſchränkt und nur rühmlich ausgezeichneter Teutſcher, fühlend, daß ſagen
zu wollen, welche die rühmlichſten, Anmaßung wäre, wie denn auch zu
behaupten, daß es keine gäbe, die ebenſo verdienten in Walhalla auf-
genommen zu ſein, und mehr noch als manche, die es ſind. Rühmlich
ausgezeichneten Teutſchen ſteht als Denkmal und darum Walhalla, auf
daß teutſcher der Teutſche aus ihr trete, beſſer als er gekommen.“ Solche
Stilproben genügten um in der Preſſe, die überall gierig nach den Schwächen
der Mächtigen ausſpähte, ein unauslöſchliches Hohngelächter zu erwecken.
Die Deutſchen vergaßen undankbar über dem abgeſchmackten Beiwerk das
Weſentliche und Große, ſie fragten nicht mehr, wo denn ſonſt noch in der
Welt ein ſolcher Kunſtfreund lebte, ſo vaterlandsfroh, ſo hochherzig, ſo
thatkräftig.
Von der Walhalla fuhr der König nach Kelheim, um dort auf
einem anderen Felſen des Donauthals den Grundſtein zu legen für
einen grandioſen Kuppelbau, der an die Schlachten der Befreiungskriege
erinnern ſollte. Deutſchthum und bairiſcher Particularismus lagen aber
in dieſem wunderlichen Geiſte dicht bei einander. Kaum hatte er dem
großen Vaterlande ſeinen Zoll abgetragen, ſo ließ er in München den
Bau einer bairiſchen Special-Walhalla beginnen, mit der Coloſſalſtatue der
Bavaria davor. Da wurden denn alle die großen Franken Hutten, Dürer,
Viſcher, die ſich bei Lebzeiten von ſolcher Ehre nichts hatten träumen laſſen,
noch im Grabe unnachſichtlich zu Baiern ernannt und mit der deutſchen
Geſchichte ein ſo tolles Spiel getrieben, wie wenn man heute von dem
Preußen Goethe reden wollte. Alſo fand die liberale Welt ſtets neuen
Stoff für wohlfeile Spötterei. Tieferen Mißmuth erregten die unbedachten
Reden, mit denen in München die Denkmäler des Kurfürſten Max und
ſeines Tilly enthüllt wurden; in ſolchem Tone durfte man ein paritätiſches
Volk nicht an die düſteren Zeiten der Glaubenskriege erinnern.
Noch immer täuſchte ſich der König über die Stimmung ſeines Landes
wie über ſein eignes Herz. Nicht im Entfernteſten war er gemeint, die
milden Grundſätze ſeines geliebten Lehrers Biſchof Sailer zu verlaſſen;
vielmehr ſchärfte er dem neuen Biſchof von Regensburg nachdrücklich ein:
„daß Sie vorzüglich Sailer nachahmen wünſche ich.“ Und doch hielt er
den grauſamen Kniebeugungszwang hartnäckig feſt, mit einigen kleinen
Erleichterungen, die ihm Niemand dankte. Schon kam es ſo weit, daß
ein Dekan Redtenbacher ſich in einer gedruckten Anſprache geradeswegs
an die Gewiſſen der proteſtantiſchen Soldaten wendete, um ſie über die
Sündhaftigkeit der papiſtiſchen Ceremonien zu belehren. Der unerſchrockene
Geiſtliche wurde gerichtlich verurtheilt, der König aber mußte ihn begnadigen,
aus Furcht vor dem Unwillen der Proteſtanten. Mittlerweile betrieben
die Mönche und Nonnen, die jetzt überall in die Schulen und Wohl-
thätigkeitsanſtalten eindrangen, das Rettungswerk an den jungen Seelen,
[318]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und mit ſolchem Erfolge, daß viele Schulkinder, auch mehrere Zöglinge
des Münchener Blindenhauſes in die römiſche Kirche einzutreten verlangten.
Der Clerus nahm die minderjährigen Proſelyten alleſammt unbedenklich
an, obgleich das der Verfaſſung angehängte Religionsedikt den Uebertritt
Unmündiger ausdrücklich verbot. Abel indeß erklärte dreiſt, dies Verbot
widerſpreche der natürlichen Gewiſſensfreiheit und dem Concordate. Alſo
erweckte er muthwillig, bei einer höchſt gehäſſigen Veranlaſſung, die alte
noch niemals klar entſchiedene Streitfrage: ob die Verfaſſung vorgehe oder
das Concordat? Drang ſeine Anſicht durch, dann verlor die proteſtantiſche
Kirche Baierns den Rechtsboden unter ihren Füßen.
Ebenſo roh zeigte ſich die Parteilichkeit der Regierung, als der neue
Guſtav-Adolfs-Verein ſich in Baiern auszubreiten verſuchte. Dieſe Stiftung
war ſchon vor Jahren, nach der großen Erinnerungsfeier auf dem Lützener
Schlachtfelde gegründet, aber erſt ſeit 1841, in Folge eines Aufrufs des
Darmſtädter Prälaten Zimmermann, reicher ausgeſtaltet worden. Sie
ſollte vornehmlich den Proteſtanten in der Diaſpora beiſtehen, ihnen die
Gründung neuer Kirchen und Gemeinden erleichtern, alſo, gemäß dem
Geiſte des Proteſtantismus, in voller Freiheit und beſcheidener Form den
rieſigen Machtmitteln der römiſchen Propaganda entgegenwirken. Da jener
Aufruf aus den Kreiſen der liberalen Theologen kam und der gleichgeſinnte
Leipziger Superintendent Großmann bald an die Spitze trat, ſo betrachteten
die Orthodoxen den Verein anfangs mit Mißtrauen. Hengſtenberg nannte
ihn mit gewohntem Fanatismus eine große Lüge; denn allerdings waren
in den letzten Jahrzehnten die Unternehmungen evangeliſcher Werkthätigkeit
alleſammt von den ſtrengen Bibelgläubigen ausgegangen, und dieſe erſte
Regung kirchlicher Thatkraft unter den milder geſinnten Theologen eine
ganz unerhörte Erſcheinung. Auch König Friedrich Wilhelm blieb lange
argwöhniſch, bis er endlich einſah, daß der Guſtav-Adolfs-Verein wirklich
alle Parteien der evangeliſchen Kirche zum gemeinſamen Liebeswerke heran-
rufen wollte. Da übernahm er ſelbſt für Preußen das Protectorat der
Stiftung. Freilich verſicherte er zugleich ſeinen katholiſchen Landesbiſchöfen,
daß damit keine Feindſeligkeit gegen die römiſche Kirche gemeint ſei —
was viele gute Proteſtanten, ſelbſt der getreue Anton Stolberg als un-
königliche Schwäche beklagten. Seitdem nahm der Verein einen erfreu-
lichen Aufſchwung; das Vaterland der Reformation gab durch kräftige
Unterſtützung der bedrängten Glaubensgenoſſen die würdige Antwort auf
die Uebergriffe des römiſchen Stuhls.
Leider war der Name der Guſtav-Adolf-Stiftung unglücklich gewählt.
Zertheilte Völker, die ſich ihrer Einheit entgegenſehnen, zeigen oft ein
krankhaft reizbares Nationalgefühl; ſie urtheilen ungerecht über die Zeiten,
da ſie ausheimiſchen Gewalten unterlagen, und verkennen die Thatſache,
daß jedes Culturvolk Europas, ſelbſt das engliſche Inſelvolk, irgend einmal
durch das Eingreifen großer Fremdlinge in ſeiner Entwicklung gefördert
[319]Die fränkiſchen Proteſtanten.
worden iſt. So war auch damals weit verbreitet eine ganz unhiſtoriſche
Anſchauung vom dreißigjährigen Kriege, die in den Geſchichtswerken von
Gfrörer und Barthold ihren wiſſenſchaftlichen Ausdruck fand; man über-
trug den Gegenſatz der Welfen und der Ghibellinen in das Zeitalter der
Religionskriege und verurtheilte die Vertheidiger des evangeliſchen Glaubens
kurzweg als Rebellen gegen Kaiſer und Reich. Begreiflich genug, daß
dieſe pſeudo-ghibelliniſche Geſchichtsanſicht dem glühenden Verehrer des
Kurfürſten Max wohl gefiel. König Ludwig betrachtete die Guſtav-Adolf-
Stiftung ſchon um ihres Namens willen als offenbaren Landesverrath,
die Ultramontanen nannten ſie „die wahre Spottgeburt der Aufklärung
und der deutſchen Mißeinheit“. Der Verein wurde in Baiern ſtreng
verboten, die evangeliſchen Gemeinden durften nicht einmal Unterſtützungen
von ihm annehmen, derweil den römiſchen Proſelytenwerbern Thür und
Thor offen blieben.
Nur ſo grobe und hartnäckige Ungerechtigkeit konnte bewirken, daß
die alten Parteien ſich zerſetzten und die an conſervativen Kräften ſo
reichen fränkiſchen Proteſtanten alleſammt in das Lager der ergrimmten
Oppoſition hinüberzogen. In Erlangen war der alte Rationalismus zuerſt
durch die erweckenden Kanzelreden und die praktiſche Frömmigkeit des
Predigers Krafft bekämpft, nachher durch Lehmus, Harleß, Höfling, Tho-
maſius und andere neuberufene Theologen völlig überwunden worden.
Jetzt herrſchte in der theologiſchen Facultät eine ſtrenge confeſſionell-luthe-
riſche Geſinnung; die Erlanger ſtritten wider die evangeliſche Union ſo
beharrlich, daß der Vorwurf preußiſcher Geſinnung, den der Miniſter
gegen die Proteſtanten zu ſchleudern liebte, grade hier am wenigſten zutraf.
Dabei zeigten ſie ernſten wiſſenſchaftlichen Sinn und hielten ſich ganz frei
von pietiſtiſcher Kopfhängerei; das friſche, anſpruchslos fröhliche Burſchen-
leben, das dieſe kleine Hochſchule jederzeit ausgezeichnet hatte, blieb ihr
noch immer erhalten. Den leidſamen Lutheranern lag die Ehrfurcht vor
der Obrigkeit tief im Blute; erſt durch Abel’s offenbare Verfaſſungs-
verletzungen geriethen ſie in Harniſch, und fortan fühlten ſie ſich in statu
confessionis. Wie einſt in den Tagen des Augsburger Interims die
hartgläubigen Jenenſer mehr Widerſtandskraft gezeigt hatten als die Schüler
des milden Melanchthon, ſo fanden jetzt die bairiſchen Proteſtanten ihre
beſte Stütze an dem einſeitigen, charakterfeſten Confeſſionalismus der Er-
langer Theologen. An ſie ſchloſſen ſich die ebenſo conſervativ geſinnten
Edelleute, voran Graf Giech und Freiherr v. Rotenhan, dann die Nürn-
berger, die ſich der reichsſtädtiſchen Zeiten und der Kämpfe gegen die
katholiſchen bairiſchen Nachbarn wieder zu erinnern begannen, endlich das
geſammte proteſtantiſche Frankenland.
Seit Stahl’s Abgange vertrat Harleß die Erlanger Univerſität im
Landtage, der Herausgeber der ſtreng lutheriſchen Zeitſchrift für Prote-
ſtantismus und Kirche, ein tapferer und weltkluger Gelehrter, ſehr wirkſam
[320]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
als Redner auf der Kanzel wie im Ständeſaale. Er hatte ſchon 1839,
ſehr zur rechten Zeit, den Jeſuitenſpiegel herausgegeben, eine gemeinver-
ſtändliche Darſtellung der moraliſchen Caſuiſtik der Geſellſchaft Jeſu, und
damit die Ultramontanen ſchwer gereizt, weil ſein Büchlein durchweg aus un-
anfechtbaren Quellen geſchöpft war. Nun verſuchten die beiden proteſtan-
tiſchen Generalſynoden von Ansbach-Baireuth mehrmals, die Beſchwerden
ihrer Kirche vor den Thron zu bringen. Abel beſtritt ihnen das Recht
dazu und ließ, wieder ganz willkürlich, durch die königlichen Commiſſäre
ſolche Verhandlungen verbieten. Da traten die Synodalen als Einzelne
zuſammen — keiner von allen ſchloß ſich aus — und ſendeten ihre Bitt-
ſchriften unmittelbar an den Monarchen.
Unterdeſſen währte der literariſche Streit fort. Harleß, Thierſch und
die anderen Vorkämpfer der Proteſtanten bewahrten, im Bewußtſein ihres
guten Rechts, noch einige Mäßigung. Die Clericalen dagegen ſchlugen bald
einen Ton an, wie er in den ſchwülen Zeiten vor dem dreißigjährigen Kriege
üblich geweſen; ſie behaupteten — was aus dem Munde gläubiger Katholiken
wie Hohn klang — die Kniebeugung ſei ja nur ein Gruß, eine Körper-
bewegung, ohne Sinn ſo lange der Kniende ſich nichts dabei denke. Durch
pfäffiſche Gehäſſigkeit that ſich namentlich J. Döllinger hervor, der erſte Ge-
lehrte der Münchener theologiſchen Facultät ſeit Möhler’s Tode, ein ſcharf-
ſinniger und doch unfreier Geiſt, deſſen mannichfache Häutungen damals noch
Niemand ahnen konnte. Er ſagte in ſeinen Streitſchriften gegen Harleß:
auch er hätte ſich mit den Werken der Wittenberger Reformatoren beſchäftigt,
„doch niemals ohne jene geiſtigen Verwahrungs- und Abſperrungsmittel
vorzukehren, wie wir ſie körperlich anzuwenden pflegen, wenn wir unſern
Weg durch einen unſauberen Ort oder eine ſtinkende Pfütze nehmen
müſſen.“ Die evangeliſche Freiheit der Proteſtanten war ihm eitel Thor-
heit; geringſchätzig verſpottete er ihre „arme Kirche“, die ſich vor dem Ueber-
tritt der Minderjährigen fürchte, die nichts Feſtes anerkenne als Gottes
Wort und, in unzählige Parteien zerſpalten, das Ja und das Nein mit
gleicher Zuverſicht zu behaupten wiſſe. Nach dieſem Federkriege und
einigen heftigen Auftritten in der Kammer wurde Harleß plötzlich als
Conſiſtorialrath nach Baireuth verſetzt, damit er ſein Erlangen nicht mehr
im Landtage vertreten könnte. Da man ſeine Vorſtellungen nicht be-
achtete, ſo verlangte er den Abſchied und folgte einem Rufe nach Leipzig.
Wohin ſollte dieſe Parteiregierung noch gerathen, wenn ſie Gegner wie
Stahl und Harleß nicht mehr zu ertragen vermochte?
Der wachſende Unmuth der Franken zwang ſchließlich auch den con-
ſervativſten aller bairiſchen Lutheraner, den Präſidenten des Münchener
Oberconſiſtoriums K. Roth, auf den Kampfplatz hinauszutreten. Dieſer
geiſtvolle, tief gelehrte, ganz von der claſſiſchen Bildung ſeines Heimath-
landes durchdrungene Schwabe hatte ſich um die neue Blüthe der Er-
langer Univerſität große Verdienſte erworben und im fränkiſchen Schul-
[321]Roth und die bairiſchen Proteſtanten.
weſen, nach Beſeitigung des grob rationaliſtiſchen Schulraths Stephani,
wieder ein kräftiges religiöſes Leben erweckt. Neuerdings bemühte er
ſich eifrig, die pfälziſche Unionskirche, deren Vereinigungsurkunde allein
die heilige Schrift als Glaubensgrund und Lehrnorm gelten ließ, auch
zur förmlichen Anerkennung der ſymboliſchen Bücher zu bewegen; dies
Unternehmen verwickelte ihn von Neuem in Streit mit ſeinem alten
Gegner Paulus und konnte ohne Gewiſſenszwang unmöglich gelingen,
da der Rationalismus in den Gemeinden der Pfalz noch vorherrſchte.*)
Alſo in beſtändiger Reibung mit den Epigonen der Aufklärung gelangte
er zu einem verhängnißvollen Irrthum, der im Norden häufiger vor-
kommt als in dem beſſer erfahrenen Süden; er betrachtete die Ultramon-
tanen als ſeine natürlichen Bundesgenoſſen im Kampfe gegen den Un-
glauben. Der König zeichnete den hochverdienten Beamten gefliſſentlich
aus, Abel wußte ihn ſtets zu beſchwichtigen, und mit Schmerz bemerkte
der preußiſche Geſandte, wie viel Unbill das Oberconſiſtorium von den
Clericalen hinnahm.**) Endlich gingen dem glaubensſtarken Präſidenten
doch die Augen auf, und ſeit er die Bedrängniß ſeiner Kirche erkannt
hatte, vertheidigte er ihre Rechte mit kluger Entſchloſſenheit. Er war es,
der das ſchlimmſte kirchliche Aergerniß beſeitigte; durch einen freimüthigen
Brief an den König erreichte er, daß der ſchon mehrmals gemilderte
Kniebeugungsbefehl im Dec. 1845 gänzlich aufgehoben wurde. Sieben
Jahre hindurch waren alſo, ohne Sinn und Zweck, die Gewiſſen der Prote-
ſtanten geängſtigt und gequält worden. Am letzten Ende gereichten dieſe
Händel der proteſtantiſchen Kirche des Landes zum Segen. Sie hatte
durch tapfere Bekenntnißtreue ihr Gemeingefühl gekräftigt, viele Gleich-
giltige wiedergewonnen, ſelbſt die Gegner zur Achtung gezwungen; ſobald
die ultramontane Sturmfluth verrauſchte, geſtaltete ſich das Verhältniß
der beiden Kirchen grade in Baiern ſehr friedlich.
Mittlerweile war der Landtag von 1842 noch ohne heftige Stürme
vorübergegangen. Die Abgeordneten klagten über die theueren Pracht-
bauten, andererſeits über die Verwahrloſung der Schulen und die Knau-
ſerei dieſer Regierung, die ſo viele wichtige Aemter unbeſetzt ließ, alte
Beamte ſtets vor Ablauf des fünfzigſten Dienſtjahres verabſchiedete um
ihnen die volle Penſion vorzuenthalten. Doch der böſe Streit wegen der
Erübrigungen wurde wieder durch das perſönliche Einſchreiten des Königs
beſeitigt. Ludwig glaubte nur ſein Kronrecht auszuüben, wenn er über
die Erſparniſſe frei verfügte, und nachdem er mehrere Landſtände münd-
lich ermahnt, ſchrieb er einem Getreuen kurzab: „Da unthunlich, alle
gutgeſinnten, mir ergebenen Abgeordneten kommen zu laſſen, ſchreib ich
Ihnen, dem mir ſehr ergebenen Auerweck, daß Sie können den Anderen
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 21
[322]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
leſen laſſen, als wenn ich ſelbſt mit ihnen geſprochen hätte, daß ſie wirken
ſollen. Es gilt.“*) Dies genügte, der Landtag trennte ſich in Frieden.
Einige wüſte Straßenaufläufe, die in der nächſten Zeit die Hauptſtadt
beunruhigten, hatten ihren Grund lediglich in den hohen Bierpreiſen;
bedenklich war nur, daß die Truppen den angeſtammten Durſt auch nicht
verleugen konnten und dem Pöbel gegenüber ſchlechte Mannszucht hielten.
Auch ernſtere Anzeichen verriethen ſchon, daß die Regierung nicht
mehr ganz feſt ſtand. Die Liebe der Maſſen beſaß der König längſt nicht
mehr; die kleinen Bürger ſchalten auf ſeine Bauluſt, auf ſeine wiederholten
italieniſchen Reiſen, auf die knappe Verwaltung und den ewigen kirchlichen
Zank. An der Thüre der Ludwigskirche fand man mehrmals ein freches
Vater Unſer angeſchlagen, das den Vater des Baierlandes bat: erlöſe uns
von dem Uebel deiner Perſon. Als Abel im Staatsrathe vorſchlug, der
König möge den proteſtantiſchen Synoden ſein Mißfallen öffentlich aus-
ſprechen, da konnte der bisher Allmächtige ſchon nicht mehr durchdringen.
Sein alter Freund von Griechenland her, der gelehrte Maurer, trat ihm ent-
ſchieden entgegen; desgleichen der Kronprinz, den die Ultramontanen insgeheim
wegen ſeiner preußiſchen Heirath und wegen ſeines Verkehrs mit norddeut-
ſchen Gelehrten haßten; ja ſelbſt der ſtreng katholiſche junge Prinz Luitpold
verlangte, daß man den Proteſtanten ihr gutes Recht nicht verkümmere.**)
Da erſchrak der König; Gerechtigkeit war ja ſein Stolz und man hörte
ihn einmal ausrufen: „mit Abel geht es nicht mehr.“
Noch im ſelben Jahre, Dec. 1845, trat der neu gewählte Landtag
zuſammen und er zeigte ſich von Haus aus weit ſtreitbarer als ſein Vor-
gänger. Wohl betheuerte die Adreſſe der zweiten Kammer inbrünſtig:
„Unterthanen eines ſolchen Königs zu ſein iſt der Baiern Stolz;“ der
ludovicianiſche Lapidarſtil wirkte anſteckend, ihn nachzuahmen gehörte zum
Hofbrauch. Zum Präſidenten wurde jedoch Frhr. v. Rotenhan gewählt,
der tapfere proteſtantiſche Franke, und da Abel ſieben proteſtantiſchen
Abgeordneten den Urlaub verweigert hatte, ſo kam es gleich anfangs zu
heftigen Auftritten. Zwei liberale Ariſtokraten Frhr. v. Thon-Dittmer
und Max v. Lerchenfeld ſtanden an der Spitze der Oppoſition, entſchloſſene
Männer von ungewöhnlicher Beredſamkeit. Die ſchärfſten Angriffe wider-
fuhren dem Miniſter jedoch abermals im Hauſe der Reichsräthe. Die
unmäßige Begünſtigung des Kloſterweſens hatte ſelbſt in dieſer faſt durch-
aus katholiſchen Kammer Beſorgniſſe erweckt. Man zählte bereits 9 männ-
liche, 14 weibliche Orden im Lande mit mindeſtens 132 Klöſtern; Ge-
naues wußte Niemand. Die Nonnen gaben wenig Aergerniß; nur die
Lehrſchweſtern machten ſich oft unnütz durch ſeelenrettende Betriebſamkeit.
Von den Mönchen genoſſen die Benediktiner hohes Anſehen; ſie hatten ſich
[323]Wrede und Wallerſtein gegen Abel.
vor Zeiten den Schottenmönchen des heiligen Columban angeſchloſſen und
gleich dieſen auf deutſchem Boden immer deutſche Geſinnung gezeigt; ihre
jetzt aus Oeſterreich neu berufenen Brüder bemühten ſich redlich, ihre
dürftige claſſiſche Bildung zu vervollſtändigen und ertheilten auf den
Gymnaſien, die man ihnen anvertraute, leidlichen Unterricht. Bedenk-
licher erſchienen die Mönche von dem räthſelhaften „dritten Orden“ des
heiligen Franz und vornehmlich die der Geſellſchaft Jeſu affiliirten Redemp-
toriſten, die ungeſtört ihre Miſſionen halten durften, obgleich der König
den Jeſuiten ſelbſt, trotz der wiederholten Bitten der Clericalen, die Zu-
laſſung hartnäckig verweigerte.
Fürſt Wrede, des Feldmarſchalls Sohn, ein ſtark verſchuldeter, übel-
beleumdeter Herr ſtellte nun dieſe und viele andere Beſchwerden gegen die
Regierung in einer förmlichen Anklageſchrift zuſammen, die er den Reichs-
räthen übergab; dem Könige aber ſchrieb er: Abel ſei nahe daran, ihn um
die Liebe eines großen Theiles ſeines Volks zu bringen. Da glaubte Fürſt
Wallerſtein, jetzt könne er ſich wieder in den Sattel ſchwingen. In einer ſchlau
berechneten hochpathetiſchen Rede nannte er ſich ſelbſt den Ultramontanſten
der Ultramontanen, den ergebenſten aller Unterthanen und ſtellte dann
einen vorgeblichen Vermittelungsantrag, der doch auf Abel’s Sturz ab-
zielte; er beantragte, die Regierung möge keinen geiſtlichen Orden zu-
laſſen, der den religiöſen Frieden ſtören könne. In einem Briefe an den
Vertrauten des Königs Frhrn. v. d. Tann warnte er zugleich die Krone
vor der „nahen europäiſchen Kriſis“; es gehe nicht mehr an, jeden
Andersdenkenden als Feind anzuſehen.*) Wallerſtein’s Antrag wurde
von den Reichsräthen mit allen gegen ſechs Stimmen angenommen; der
Kronprinz ſelbſt ſprach und ſtimmte dafür.
In ſolcher Noth griff Abel zu demagogiſchen Mitteln. Er ließ durch
ſeine Beamten das katholiſche Volk aufwiegeln, und bald liefen aus allen
Winkeln des Landes Adreſſen ein, die der gerechten Regierung Dank und
Vertrauen ausſprachen. Der König, der von ſeinem Miniſter noch immer
nicht ganz laſſen wollte, fühlte ſich anfangs durch ſolche Vertrauensbeweiſe
beglückt und ſchrieb den Augsburgern: „Großen Undank nicht ſelten er-
fahrend, iſt mir der Dank von Augsburgs katholiſchen Bürgern um ſo
erfreulicher, der ich Katholiken und Proteſtanten in ihren verfaſſungs-
mäßigen Rechten beſchütze.“ Doch die Adreſſen mehrten und mehrten ſich,
und ihre pfäffiſche Frechheit überſchritt alles Maß. Eine Eingabe aus
München behauptete friſchweg: „jeder Baier“ verlange Freiheit für ſeine
katholiſche Kirche, der ſchon ſeine Voreltern Gut und Blut geopfert hätten.
Die Proteſtanten wurden alſo ſchon gar nicht mehr zu den Baiern ge-
rechnet. Noch gröber redeten die ungezählten Flugſchriften, die jetzt mit
einem male „gegen die neuen Kirchenfeinde und Kloſterſtürmer“ hervortraten:
21*
[324]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
aus dem bairiſchen Walde, von einem bairiſchen Katholiken, von einem
Pfarrer der Diöceſe Eichſtädt, und wie die Verfaſſer ſich ſonſt nannten.
Da hieß es: die katholiſche Kirche iſt in Baiern um ein halb Jahrtauſend
älter als das Haus Wittelsbach — oder auch: vergeſſet nicht, daß der
größte und der körperlich kräftigſte Theil des bairiſchen Volkes für die
römiſche Kirche zu kämpfen bereit iſt! Höfler aber, bei weitem noch nicht
der Wildeſte unter den Clericalen, ſagte in einer Schrift über Wrede’s
Anträge: wenn manche der hochgeborenen Reichsräthe glaubten, die Mönche
wären nicht im Geiſte der Zeit, ſo meine das Volk vielmehr, der Adel
ſei nicht mehr im Geiſte der Zeit; auf den Vorwurf, die Redemptoriſten
ſtörten den kirchlichen Frieden, erwiderte er höhniſch: dieſer Friede iſt längſt
zerſtört, ſeit Luther’s Auftreten. Alſo ſuchte die Partei, da ſie ihren Sturz
nahe ſah, ſich durch terroriſtiſche Drohungen noch krampfhaft zu halten.
Dem Könige indeſſen drängte ſich nun doch die Frage auf, ob ſein Haus
ſich auf ſolche geiſtliche Jacobiner ſtützen könne, und er verbat ſich zunächſt
weitere Adreſſen.
Hierauf gingen die Clericalen im Landtage ſelbſt zum Angriff vor.
Es genügte ihnen nicht mehr, daß der Clerus das geſetzliche Verbot des
Uebertrittes Unmündiger beharrlich umging; ſie verlangten jetzt Aufhebung
des Verbots. Zur Unterſtützung dieſes Antrags wurde der greiſe Münchener
Erzbiſchof Gebſattel von ſeinem ſtreitbaren Canonicus Windiſchmann auf-
geſtiftet. Der gutmüthige Herr veröffentlichte noch kurz vor ſeinem Tode
einen feierlichen Proteſt, der ſich auf die Großthaten der heiligen Kinder
Vitus und Agnes berief und dann zu dem bündigen Schluſſe gelangte:
da das Concordat die vigens ecclesiae disciplina anerkenne, ſo müſſe
auch der Uebertritt der Kinder geſtattet werden. Dieſer dreiſte Verſuch,
das Concordat über die Verfaſſung zu ſtellen, beunruhigte den König von
Neuem. In der Kammer drangen die Ultramontanen nicht durch. Die Libe-
ralen ließen ſich auch nicht ſchrecken als Döllinger, jetzt der feurigſte Redner
der Regierungspartei, ihnen revolutionäre Abſichten vorwarf; ſie witterten
Morgenluft und wagten ſchon wieder Anträge auf Preßfreiheit und öffent-
liches Gerichtsverfahren einzubringen. Die aufgeregten Verhandlungen
wurden zwar im Mai 1846 durch das erprobte Mittel der plötzlichen
Landtagsſchließung abgeſchnitten. Doch die Unruhe im Lande hielt an,
Graf Bernſtorff berichtete traurig: es geht nicht mehr weiter.*) Aehnlich
empfand der König ſelbſt, er bereitete ſchon einen Syſtemwechſel vor. Giſe
und Schrenck, die unfähigen Miniſter des Auswärtigen und der Juſtiz
wurden entlaſſen; der Kriegsminiſter Gumppenberg blieb freilich zunächſt
noch im Amte, obwohl die wüſte Zuchtloſigkeit in den überfüllten Münchener
Kaſernen täglich zeigte, wie gewiſſenlos die Militärverwaltung ihre Pflichten
verabſäumte.
[325]Rohmer. Beginnender Syſtemwechſel.
Ein Zeichen der Zeit war es auch, daß Friedrich Rohmer, den man
bisher oft in den Zirkeln der öſterreichiſchen Geſandtſchaft geſehen hatte,
den Ultramontanen den Handſchuh hinwarf. Dieſer ſeltſame Grübler, der
halb Philoſoph halb Abenteurer, halb vernünftig halb wahnſinnig, ſich
ſelber kurzweg für die größte Perſönlichkeit der Menſchengeſchichte erklärte,
irrte zur Zeit in Süddeutſchland und der Schweiz umher, immer um-
geben von einem kleinen Kreiſe jugendlicher Bewunderer, die ſeinem despo-
tiſchen Weſen, dem diaboliſchen Reize ſeines Aztekenkopfes nicht widerſtehen
konnten und hingebend für ſeinen koſtſpieligen Unterhalt ſorgten. Er brütete
über den Bilder- und Zahlenſpielen einer traumhaften Pſychologie und
über einer politiſchen Doktrin, die den Staat, nach der alten Unart der
Naturphiloſophen, als den vergrößerten menſchlichen Körper betrachtete.
Seine Schrift über die vier Parteien enthielt unter krauſem Unſinn nur
vereinzelte gute Gedanken; ſie wurde wenig beachtet und bewirkte lediglich,
daß Rohmer’s namhafteſter Schüler, der Schweizer J. C. Bluntſchli eine Zeit
lang auf phantaſtiſche Abwege gerieth. Zuweilen vermochte Rohmer doch, aus
dem geilen Dickicht ſeiner Theorien in das Tageslicht hinauszutreten, und
dann zeigte er — wunderbar genug — ſicheren politiſchen Inſtinkt, eine
glückliche Gabe die Dinge im Großen zu ſehen und lebendig darzuſtellen.
Die „Materialien zur Geſchichte der neueſten Politik“, die er jetzt erſcheinen
ließ, unterwarfen das Treiben der bairiſchen Ultramontanen einer un-
barmherzigen, treffenden Kritik und wirkten um ſo ſtärker, da ihr Ver-
faſſer ſich ſelbſt als einen Conſervativen bekannte.
Als das Jahr 1846 zu Ende ging hatte König Ludwig endlich ein-
geſehen, daß auf die anderen Miniſter wenig ankam und allein Abel’s
Kirchenpolitik den allgemeinen Unfrieden verſchuldete. Im December wurde
die Verwaltung der Kirchenangelegenheiten dem Miniſter des Innern abge-
nommen und dem gemäßigt conſervativen neuen Juſtizminiſter, dem Sohne
und Nachfolger des alten Frhrn. v. Schrenck, übertragen. Es war der
Anfang des Endes. Wenn der König auf dieſem Wege fortſchritt und aus
freiem politiſchem Entſchluſſe das völlig verbrauchte, grenzenlos verhaßte
Miniſterium ganz beſeitigte, dann konnte die ſelbſtverſchuldete Niederlage
der ultramontanen Parteiherrſchaft dem ganzen Deutſchland zum Heile
gereichen. Da griffen unſaubere Hände ein, und dieſer ſchuldbelaſteten
Regierung wurde noch das unverdiente Glück, daß ſie umſtrahlt von dem
Heiligenſcheine erhabener ſittlicher Entrüſtung, würdevoll von der Bühne
abtreten konnte. —
Derweil die Clericalen in Baiern herrſchten, begann in Baden ein
weltlich reactionäres Regiment, das ihnen mindeſtens befreundet war
und mittelbar ihre Zwecke förderte. Eine geſchloſſene ultramontane
Partei hatte ſich hierzulande noch nicht bilden können, obwohl die Cleriſei
des geſammten Südweſtens im Stifte Neuburg bei Heidelberg, unter dem
gaſtlichen Dache der Frau Rath Schloſſer ihre geheimen Zuſammen-
[326]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
künfte zu halten pflegte, und auch im Landtage, zumal in der erſten
Kammer immer einzelne Männer von ſtreng römiſcher Geſinnung ſaßen.
Die Mehrzahl der Beamten und der gebildeten Laien war noch ganz erfüllt
von den Grundſätzen der joſephiniſchen Kirchenpolitik; unter den älteren Geiſt-
lichen fanden nicht nur Weſſenberg’s Ideen, ſondern auch kühnere kirchliche
Reformgedanken ſtarken Anhang. Nicht weniger als 160 geiſtliche Herren
hatten i. J. 1831 die Petition um Abſchaffung des Cölibats unterzeichnet;
noch neuerdings war im Oberlande der von dem liberalen Dekan Kuenzer
geleitete Schaffhauſer Verein entſtanden, der alle kirchlichen Fragen mit un-
gebundenem Freimuth beſprach und, nach dem Vorbilde der Proteſtanten,
gemiſchte Synoden von Geiſtlichen und Laien auch für die katholiſche Kirche
verlangte. Doch mittlerweile begann ein neuer, gut römiſch geſinnter Clerus
aufzuwachſen. Die Regierungen Badens und Württembergs unterlagen
beide dem tragiſchen Schickſal, daß ſie ſich durch ihre treue Fürſorge für
die katholiſchen Facultäten der Landesuniverſitäten ſelbſt ihre Feinde her-
anzogen. Die jungen, in Freiburg unter Hirſcher und anderen keines-
wegs ultramontanen Gelehrten gebildeten Cleriker beſaßen mehr theologiſches
Wiſſen, mehr kirchlichen Sinn als das ältere Geſchlecht, darum auch mehr
prieſterliches Selbſtgefühl; die bureaukratiſche Kirchenhoheit der guten alten
Zeit erſchien ihnen unerträglich, und hier wie überall in Deutſchland
wurde der Clerus durch die Kölner Wirren zu neuen Anſprüchen ermuthigt.
Im Landtage brachte Frhr. v. Andlaw den Nothſtand der römiſchen
Kirche ſchon mehrmals zur Sprache, und 1841 erſchien als erſtes kräftiges
Lebenszeichen der werdenden ultramontanen Partei die anonyme Flug-
ſchrift „die katholiſchen Zuſtände in Baden“. Ihr Verfaſſer war, wie ſich
erſt nach ſeinem Tode herausſtellte, der Archivdirektor Mone, ein den Hiſto-
rikern durch ſeine voreiligen Hypotheſen wohlbekannter gelehrter Vielſchreiber.
Er redete, als ob die katholiſche Mehrheit des badiſchen Volkes durch die
proteſtantiſchen Beamten der proteſtantiſchen Dynaſtie bedrückt würde.
Allerdings waren die Durlacher — wie man die Beamtenfamilien der
alten proteſtantiſchen Markgrafſchaft Baden-Durlach noch zu nennen pflegte
— in den höhern Staatsämtern ſtark vertreten, weil der katholiſche Adel
des Oberlandes ſeine Söhne häufig in öſterreichiſchen Dienſt ſchickte. An
eine Bevorzugung der Proteſtanten aber dachte der gutmüthige Großherzog
nicht von fern; und wenn ſeine Behörden die Katechismen, die Geſang-
bücher, die Faſtengebote der katholiſchen Kirche argwöhniſch überwachten, ſo
mußten doch die Evangeliſchen die gleiche Aufſicht ertragen. Der allwiſſende
Bevormundungseifer lag im Weſen des Polizeiſtaats; die alte Doctrin,
die in den Geiſtlichen nur Staatsdiener ſah, wirkte noch überall nach. Im
Einverſtändniß mit dem greiſen Miniſter Reizenſtein widerlegte Nebenius
die Anklagen Mone’s durch eine würdige Gegenſchrift; aber die Saat des
Unfriedens war ausgeſtreut, die Kirche begann ſich in die ihr allezeit vor-
theilhafte Rolle der klagenden Dulderin einzuleben.
[327]Miniſterium Blittersdorff. Rotteck’s Tod.
Als Anhänger Oeſterreichs und geſchworener Feind Preußens ſtand
Miniſter Blittersdorff den ultramontanen Beſtrebungen nahe, wie er denn
auch mit Abel immer vertrauten Verkehr unterhielt. Für ſeine nächſten
Zwecke aber bedurfte er anderer Machtmittel. Er hoffte durch rückſichts-
loſen Gebrauch ſeiner bureaukratiſchen Amtsgewalt wiederherzuſtellen was
er das monarchiſche Syſtem nannte, das Beamtenthum zu ſchweigendem
Gehorſam zu zwingen und die Oppoſition im Landtage zu vernichten.
„Ich werde es“, ſagte er kurzab, „ſo weit treiben als ich vermag.“ Weder
der Großherzog noch die übrigen Miniſter ſchenkten dem Hoffärtigen volles
Vertrauen; doch ſeine dreiſte Zuverſicht ſchüchterte ſie ein, und nach der
correkten Wiener Doctrin war jeder deutſche Hof dem Bunde für das
Wohlverhalten ſeiner Kammern verantwortlich, der Miniſter des Aus-
wärtigen alſo befugt die geſammte Haltung der Regierung zu beaufſichtigen.
Gehäſſig, mit einem junkerhaften Uebermuth, der von Winter’s bürger-
licher Gemüthlichkeit widerlich abſtach, trat Blittersdorff den Abgeordneten
entgegen und verhehlte ihnen nicht, daß er, gewöhnt an die erhabenen
Geſchäfte des Bundestages, die badiſchen Kammerhändel als armſelige
Kleinmeiſterei verachtete. Dies kränkte am tiefſten; denn nirgends in
Deutſchland war die Verfaſſung ſo feſt mit dem Volke verwachſen, nirgends
das Selbſtgefühl der Abgeordneten ſo überkräftig. Da das Beamtenthum
und die Landſtände im Drange der Volksbeglückung miteinander wett-
eiferten, ſo wurden hier die Landtage ſehr häufig, faſt alljährlich einberufen
und währten ſehr lange; das Wahlrecht war wenig beſchränkt, ſelbſt die
Maſſe des Volks verfolgte die Verhandlungen mit Spannung. Nach den
Debatten über die Gründung des Zollvereins verkaufte man auf den
Jahrmärkten des Schwarzwalds Pfeifenköpfe, worauf die Abſtimmungen
der Volksvertreter verzeichnet ſtanden. Rotteck’s Hinſcheiden wurde land-
auf landab als ein nationales Unglück beklagt; die liberalen Zeitungen
nannten ihn einmüthig den erſten Volksmann des Jahrhunderts, auf
ſeinem Grabſteine prangten die Schiller’ſchen Verſe: „Er iſt hin, und
alle Luſt des Lebens wimmert hin in ein verlornes Ach!“ Maßlos wie
die Bewunderung der Getreuen zeigte ſich auch der Haß der Gegner. Als
die Oberländer ihrem tapferen Landsmann ein Standbild errichten wollten,
verbot König Ludwig von Baiern ſeinem Schwanthaler die Ausführung
des Kunſtwerks, weil „Rotteck nicht ein Ehrendenkmal, ſondern eine Schand-
ſäule verdient“ hätte. Alſo ward durch Freund und Feind die von Welcker
verkündigte „große badiſche Idee“ genährt, die Vorſtellung, daß hier am
Oberrhein der liberale Muſterſtaat Deutſchlands beſtände.
Der Stolz dieſer Volksvertretung, die wirklich auf der Höhe der
Weltgeſchichte zu ſtehen glaubte, ſchien der Regierung ſchon darum uner-
träglich, weil faſt die Hälfte der zweiten Kammer aus Staatsdienern be-
ſtand und das ohnehin ſehr unabhängig geſtellte Beamtenthum leicht dahin
gelangen konnte, ſich durch parlamentariſchen Druck ſeine eigenen Vor-
[328]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
geſetzten zu unterwerfen. Blittersdorff beſchloß daher, den Stier bei den
Hörnern zu packen, und als die Kammern 1841 ſich wieder verſammelten,
ließ er zweien der neugewählten Beamten den Urlaub verſagen. Das war
kein Rechtsbruch; denn die Verfaſſung ſagte nirgends, daß Staatsdiener
zum Eintritt in die Kammer keines Urlaubs bedürften, und die Regierung
hatte zwar vor zwanzig Jahren um des Friedens willen einige Urlaubs-
verweigerungen wieder zurückgenommen, auch ſeitdem dies kleinliche Macht-
mittel nicht mehr angewendet, aber niemals förmlich darauf verzichtet.*)
So leichthin ließ ſich gleichwohl die langjährige Uebung nicht beſeitigen. Die
zweite Kammer fühlte ſich in den Grundfeſten ihrer Macht bedroht, da ſie
der ſachkundigen liberalen Beamten nicht entbehren konnte, und erklärte
die Urlaubsverweigerungen kurzerhand für verfaſſungswidrig. Da bewog
Blittersdorff den Großherzog, perſönlich einzugreifen. Die Kammern wurden
vertagt, und in einem Manifeſte ſagte Leopold ſeinem Volke, daß er die
Verirrungen ſeiner zweiten Kammer beklage, jedoch auf beſſere Einſicht
hoffe. Zu einer ſolchen landesherrlichen Botſchaft, die doch keine geſetz-
liche Anordnung enthielt, war der Großherzog unzweifelhaft berechtigt,
wenn nicht der letzte Schatten monarchiſcher Gewalt verſchwinden ſollte.
Indeß nach der herrſchenden vernunftrechtlichen Theorie galt es für aus-
gemacht, daß der Souverän niemals ohne die Unterſchrift ſeiner Miniſter
irgend eine Willensäußerung wagen dürfte. Alsbald erhob ſich ein mäch-
tiges Wehegeſchrei, und als der Landtag um Neujahr 1842 nochmals zu-
ſammentrat, führten der alte Itzſtein und der grimmig polternde Welcker
ſofort ihr grobes Geſchütz auf. Unter brauſendem Jubel der Gallerien
wurde auch das Manifeſt des Großherzogs für verfaſſungswidrig erklärt.
Die Auflöſung des Landtags war die einzig mögliche Antwort, und
nunmehr glaubte Blittersdorff ſein Spiel gewonnen. Einen Wahlkampf,
wie er jetzt über Baden hereinbrach, hatte Deutſchland noch nicht erlebt.
Seine lang nachwirkenden Folgen zeigten ſich in der krankhaften Ver-
bitterung des Parteilebens und vornehmlich in der Geſinnungsloſigkeit
des Beamtenthums, das ſich diesmal in ſeiner großen Mehrzahl knech-
tiſch den Winken des verhaßten Miniſters fügte, alſo für die Zukunft die
Kraft verlor, den Mächten des Umſturzes zu widerſtehen. Alles ward
aufgeboten, was ſich an ſchlechten Künſten amtlicher Bedrohungen, Ein-
ſchüchterungen und Verheißungen nur irgend erſinnen ließ, und die Oppo-
ſition antwortete mit gleichen Waffen. Mannheim und Conſtanz waren
ihre feſten Burgen. Von dort ertheilte Vater Itzſtein ſeine Weiſungen
an die Wahlredner, von hier bearbeitete Joſ. Fickler die oberländiſchen
Bauern durch die demagogiſchen Artikel ſeiner Seeblätter. Und das Alles
weil der Großherzog zwei Beamten den Urlaub verſagt und nachher eine
landesväterliche Anſprache an ſeine Badener gerichtet hatte! Indeß lag
[329]Neue Blüthezeit des badiſchen Liberalismus.
der Grund des allgemeinen Haſſes tiefer: das Volk empfand dunkel, daß
Blittersdorff in der That darauf ausging die Landesverfaſſung, nöthigen-
falls mit Hilfe des Bundestages, umzugeſtalten. Wer die wüſte Hetzerei
dieſer Wahlkämpfe nüchtern beobachtete, mußte ſchon ahnen, daß eine Re-
volution herannahte.
Die Liberalen ſiegten vollſtändig, ſie erlangten zum erſten male ſeit
langer Zeit wieder eine ſichere Mehrheit in der zweiten Kammer, eine
Mehrheit freilich, die mit den Gegnern auf Tod und Leben verfeindet war.
Vater Itzſtein machte ſeinem volksthümlichen Beinamen Ehre: er hatte
trefflich verſtanden ſeiner Partei einen Nachwuchs heranzuziehen. Zu den
alten Kämpen des Liberalismus geſellten ſich jetzt der feurige, herrſchſüchtige,
von ſeinen Freunden Marat genannte Juriſt Sander; dann der Mann-
heimer Buchhändler Baſſermann, ein warmherziger Vertreter des gebil-
deten, beſitzenden Bürgerthums, der nur durch die rückhaltloſe Offenheit
ſeiner Reden in den Ruf radicaler Geſinnung kam; endlich, alle Anderen
überragend, Karl Mathy. Nach langen Jahren ſchließlich freigeſprochen,
hatte Mathy ſein ſtilles Schulmeiſteramt in der Schweiz verlaſſen und
die alte Heimath wieder aufgeſucht. In den Kreiſen der Regierung galt
er faſt für den ſchlimmſten aller Demagogen; wenn er ſich langſam erhob,
mit ſeinen großen, ruhigen blauen Augen den Miniſtern gerade in’s Ge-
ſicht ſah und dann kalt in wohlerwogenen ironiſchen Sätzen ihnen ſeine
Vorwürfe zuſchleuderte, ſo verwundete er tiefer als Welcker’s pathetiſche
Entrüſtung. Und doch war er der einzige ſtaatsmänniſche Kopf in den
Reihen der Oppoſition; er beſaß die Mäßigung, die der gründlichen Kennt-
niß entſpringt, er verſchmähte die Phraſe, ſprach immer zur Sache, am
liebſten über Finanzfragen und nur wenn ein Erfolg möglich ſchien.
Dank dem wilden Anſturm Blittersdorff’s erlebte der badiſche Libera-
lismus jetzt nochmals eine Zeit der Blüthe wie einſt auf dem großen Land-
tage von 1831. Was nützte es, daß die Miniſter beſchloſſen den Verhand-
lungen des neuen Landtags zunächſt fern zu bleiben, damit die Oppoſition
ſich durch ihre Zornreden wider die leeren Regierungsbänke lächerlich machen
ſollte? Alle Welt ſah darin nur ein Zeichen der Schwäche. Mathy’s
vielgeleſene Landtagszeitung verbreitete ausführliche, klug berechnete Mit-
theilungen aus dem Ständeſaale bis in die entlegenſten Walddörfer. Weither,
ſelbſt aus Württemberg und der bairiſchen Pfalz kamen die Neugierigen
herbei; die Kammer ward zum Theater, und die Zuſchauer ſpielten mit.
Welch ein Feſt, wenn der Präſident die überfüllten Gallerien wegen grober
Ruheſtörung räumen ließ und bald nachher auf den Antrag eines libe-
ralen Abgeordneten das ſouveräne Volk wieder eingelaſſen wurde um den
Lärm von Neuem zu beginnen. Damen ſaßen auf den Stufen des Prä-
ſidentenſtuhls, andere Gäſte mitten im Saale, als Baſſermann die ab-
weſenden Miniſter, „die Beamten des Volks“ zur ſchuldigen Rechenſchaft
vorforderte, als ergrimmte Redner die ſchmutzige Wäſche des jüngſten Wahl-
[330]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
kampfs ſorgſam ausbreiteten, die Vertheidiger der Regierung ſelbſt nur
verlegene Worte der Entſchuldigung vorzubringen wußten, und die Mehr-
heit ſchließlich, auf Itzſtein’s Antrag, dem Miniſterium ihre wohlverdiente
Mißbilligung ausſprach. Der Beſchluß bedeutete rechtlich gar nichts, da
die erſte Kammer ihm nicht zuſtimmte; gleichwohl fühlte ſich Großherzog
Leopold ſchwer betroffen. Er merkte wohl, faſt das ganze Land war einig
in dem Rufe: fort mit Blittersdorff; und doch ging es ihm gegen ſeine
fürſtliche Ehre, dem Drängen der Stände nachzugeben. Blittersdorff blieb
im Amte ohne den Landtag eines Beſuchs zu würdigen, und in begreif-
lichem Unmuth hielten die Liberalen noch manche zornige Rede über die
großen Wünſche der Zeit: Preßfreiheit, Schwurgericht, Beſchränkung der
Polizeigewalt. Auch einzelne radicale Heißſporne ließen ſich ſchon ver-
nehmen, die offenbar weit über die Ziele der liberalen Führer hinaus-
ſtrebten, aber durch Itzſtein’s diplomatiſche Väterlichkeit noch bei der Stange
gehalten wurden: ſo der unaufhaltſame burſchikoſe Großſprecher Friedrich
Hecker, ſo Bürgermeiſter Baum, der kurzab verlangte: wenn der Edelmann
im Zuchthauſe den Adel verliere, dann müſſe folgerecht der bürgerliche
Verbrecher in den Adelſtand degradirt werden. Als die Stände im Sep-
tember auseinandergingen, mochte die grollende Oppoſition nicht zu der
feierlichen Schlußſitzung erſcheinen, und der preußiſche Geſandte Radowitz
berichtete traurig: „So wurde dieſer Landtag geſchloſſen unter dem Lebe-
hoch Weniger, dem Schweigen Vieler, der peinlichen Stimmung der Mehr-
zahl.“*)
Trotzdem erweckten die großen Reden dieſes unfruchtbaren Landtags
weithin in der liberalen Welt begeiſterte Freude. Robert Prutz ſendete
„Badens zweiter Kammer“ drei Jubellieder:
Im Lande ſelbſt war der Zweckeſſen und Verſammlungen kein Ende; die
Oppoſition wußte ſich aller öffentlichen Luſtbarkeiten ſo geſchickt zu bemäch-
tigen, daß ſelbſt die Kirchenfeſte des Oberlandes daneben faſt zurücktraten.
Welcker, der vor Kurzem erſt ſeine Freiburger Profeſſur wieder erhalten
hatte, wurde nunmehr, zu Metternich’s abſonderlichem Wohlgefallen**), zum
zweiten male willkürlich abgeſetzt und ſiedelte nach Heidelberg über. Dort in
ſeiner Villa, jenſeits des Neckars, über dem rothen Steinbruche, wo einſt
der Mithrastempel der Römer geſtanden hatte, pflegten ſich die Liberalen zu
ernſten Berathungen zu verſammeln. Luſtiger ging es in Hallgarten zu,
wo Itzſtein ſeine Sommerraſt hielt; hier und in den weinſeligen Nachbar-
[331]Itzſtein. Welcker. Haber.
orten begrüßten ſich die Badener mit den Geſinnungsgenoſſen aus Naſſau
und Heſſen. Auf einem dieſer Rheingaufeſte ſtimmte Hoffmann von Fallers-
leben, der Unvermeidliche ſein „Willkommen Vater Itzſtein“ an — ein
Lied, das raſch die Runde durch Süddeutſchland machte, weil es die red-
ſelige Geſinnungstüchtigkeit der Zeit ſo gar unſchuldig wiedergab:
Bei dem Jubelfeſte der badiſchen Verfaſſung 1843 beging die Regierung
die unbegreifliche Thorheit ſich aller amtlichen Theilnahme zu enthalten,
und die Feier geſtaltete ſich zu einem lärmenden Triumphe der Oppoſition.
Vater Itzſtein vertheilte ſeine Feſtredner über alle Städte des Landes; er
ſelbſt ging nach Griesbach, wo vor fünfundzwanzig Jahren das Grund-
geſetz unterſchrieben worden war, und die Bauern begrüßten ihn überall
feſtlich als den Schirmherrn des Landesrechts. Alle die Weihereden, die
nachher Mathy in einem umfänglichen Bande geſammelt herausgab, alle
die Hochrufe auf die geliebte Verfaſſung klangen wie ein drohendes Schlacht-
geſchrei gegen Blittersdorff.
Zu allem Unheil wurde der politiſche Streit auch noch durch einen
widerwärtigen Hofſkandal vergiftet. Der berüchtigte carliſtiſche Agent Moritz
v. Haber, ein verlorener Sohn des Hofbankhauſes Salomon Haber, war
kürzlich heimgekehrt, nachdem er ſich lange im Auslande, bald als Jude
bald als Katholik bald als Proteſtant umhergetrieben, und hatte zum all-
gemeinen Erſtaunen raſch das Vertrauen der ſtolzen, geiſtvollen Groß-
herzogin Sophie gewonnen; er half ihr die zerrütteten Vermögensverhält-
niſſe ihres unglücklichen Bruders, des Prinzen von Waſa zu ordnen. Er
ſtand in Verbindung mit dem Hauſe Rothſchild und mit Benazet, dem
verrufenen Pächter der Spielbank von Baden-Baden; auch mit Blitters-
dorff verkehrte er vertraulich, da der Miniſter gewagte Geldgeſchäfte liebte.
Der Großherzog aber und ſeine Brüder betrachteten den verſchmitzten
Abenteurer mit erklärlichem Mißtrauen; das Zerwürfniß am Hofe ward
bald offenkundig, die klatſchſüchtige Reſidenz erzählte ſich Wunder von
Haber’s Verworfenheit und ſeinen reaktionären Plänen. Man nannte
ihn die Geißel des Landes. Die Geſellſchaft in Baden-Baden ſchloß ihn
von ihren Feſtlichkeiten aus, und als Haber deßhalb einen Leutnant v. Göler
forderte, entſchied das Ehrengericht, mit einem ſolchen Manne könne ein
Offizier ſich nicht ſchlagen. Da trat ein vornehmer Ruſſe für Haber ein,
und in dem Duelle, das nun folgte, fanden Göler und ſein ruſſiſcher
Gegner beide den Tod. Dieſe Nachricht entflammte die Wuth des Volkes,
[332]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
auch der alte Judenhaß mochte wohl mitwirken. Der Pöbel in Karlsruhe
rottete ſich zuſammen und zerſtörte das Haber’ſche Haus; die Polizei
that wenig, die Truppen erſchienen zu ſpät, und es ließ ſich leicht er-
kennen, daß eine mächtige Partei am Hofe dem Vertrauten der Groß-
herzogin die Züchtigung gönnte.*) Die Regierung wußte ſich nicht zu
helfen. In ihrer Herzensangſt verbot ſie den Zeitungen irgend etwas
über die ſchmählichen Vorfälle zu drucken; und mit vernichtendem Hohne
hielt ihr nachher Mathy im Landtage vor, wie gröblich ſie erſt durch
Schwäche, dann durch Härte geſündigt hätte; er weiſſagte, auf den Carne-
val dieſer Staatsweisheit würde ein Aſchermittwoch folgen. Noch nicht
genug. Ein Offizier außer Dienſt, Uria-Sarachaja beſchloß den gefallenen
Kameraden zu rächen und beſchimpfte Haber in einem veröffentlichten
Briefe dermaßen, daß ein zweites Duell unvermeidlich wurde. Haber er-
ſchoß ſeinen Feind und entzog ſich dann durch die Flucht einem dritten
ihm noch angedrohten Zweikampfe. Nun brauſte die Entrüſtung von Neuem
auf, ſelbſt die Bänkelſänger auf den Jahrmärkten beſangen die gräßliche
Mordgeſchichte von den drei Blutopfern; in der rheiniſchen Preſſe fand
der Günſtling des Hauſes Rothſchild freilich auch manche tugendhafte Ver-
theidiger.
Während dieſe Händel noch ſchwebten hatte Blittersdorff endlich ein-
geſehen, daß ſeines Bleibens in dem feindſeligen Lande nicht mehr ſei.
Im November 1843 ging er wieder als Bundesgeſandter nach Frankfurt
um dort abermals auf eigene Fauſt öſterreichiſche Politik zu treiben.
Aus ſeinem und aus Abels Regiment entnahmen die Süddeutſchen die
heilſame Erkenntniß, was von clericaler oder halbelericaler Parteiherr-
ſchaft zu erwarten ſei. Sein Rücktritt kam aber zu ſpät; der Mißmuth
hatte ſich ſchon zu weit verbreitet. Der Finanzminiſter Böckh, der fortan
die Leitung übernahm, vermochte trotz ſeiner fachmänniſchen Tüchtigkeit
das Anſehen der Regierung nicht wiederherzuſtellen. Alles ging aus Rand
und Band.
Bei dem preußiſchen Hofe fand der Großherzog, der in ſeiner Hilf-
loſigkeit überall Rath ſuchte, keine wirkſame Unterſtützung. Der König
hatte den alten, in Süddeutſchland wohlbewanderten Geſandten Otter-
ſtedt abberufen und ſeinen Freund Radowitz beauftragt, neben dem Frank-
furter Poſten auch die Karlsruher Geſandtſchaftsſtelle zu verwalten.
Wieder ein unbegreiflicher Mißgriff. Radowitz kannte die Zuſtände des
Südens gar nicht und vermochte ſie auch nicht unbefangen zu beobachten,
da er damals noch ſtreng clericale Anſichten hegte, mit Mone und deſſen
Hintermännern auf guten Fuße ſtand. Durch ſeine überlegene Perſönlichkeit
gewann er am Hofe bald feſten Boden. Der Großherzog beſuchte ihn
oft heimlich, und war der Preuße in Frankfurt, ſo ſchrieb Leopold ihm
[333]Blittersdorff’s Sturz.
Briefe oder ließ ihn durch ſeinen Flügeladjutanten Krieg mündlich be-
fragen. Die Erwiederungen lauteten immer mild und ruhig. Radowitz
warnte vor Staatsſtreichen, er ermuthigte den gequälten Fürſten zum
Ausharren, wenn dieſer unterweilen an Abdankung dachte, und ver-
hehlte auch nicht, daß er Blittersdorff für einen unheilvollen Mann an-
ſah. Doch niemals begriff er, was die Verfaſſung für dies Land be-
deutete. Das ganze bureaukratiſch-conſtitutionelle Staatsleben des Südens
ekelte ihn an; „die Umwandlung deutſch-fürſtlicher Herrſchaften in moderne
Souveränitäten“ blieb ihm der Urgrund alles Uebels. Darum hielt er für
rathſam die Verfaſſung in weſentlichen Punkten umzugeſtalten, freilich
nur mit geſetzlichen Mitteln — was doch bei der Stimmung des badiſchen
Landes rein unmöglich war. Lebhaft empfahl er ein politiſches Bünd-
niß zwiſchen dem Hof und dem Erzbiſchof, damit eine conſervative Partei
„mit ſpecifiſch katholiſchem Charakter“ ſich bilden könne. Daß eine ſolche
Partei der Krone Preußen feind ſein mußte, ahnte er nicht.*)
Den Ultramontanen zerſtörte Blittersdorff’s Sturz manche ſtille
Hoffnungen. Indeß zeigte ſich die Regierung ſo zerfahren und rathlos, daß
man wohl noch einen Vorſtoß wagen konnte. Vicari, der Nachfolger des
friedfertigen Demeter auf dem erzbiſchöflichen Stuhle, war ein ſchwacher,
freundlicher, leicht zu beherrſchender Greis, und bald genug ließ ſich die
Wirkſamkeit jener geheimnißvollen weltlichen und geiſtlichen Gäſte erkennen,
welche ſich am Freiburger Münſterplatze zur wohlbeſetzten Prälatentafel
einzufinden pflegten. Von Rom her ermuthigt, auch durch mehrere Peti-
tionen der Seeſchwaben aufgeſtachelt, befahl der Erzbiſchof plötzlich (1845),
daß bei der Einſegnung gemiſchter Ehen fortan wie in Preußen die katho-
liſche Erziehung der Kinder gefordert werden müſſe; und er ſetzte ſeinen
Willen durch, obgleich die Regierung lebhaft widerſprach, auch ein Theil
des Clerus ſelbſt bei dem milderen alten Brauche verharren wollte. So
begann ein kirchenpolitiſcher Kampf, der ſich durch ein Vierteljahrhundert
hinziehen ſollte. —
Ueberall in der Welt nahm der römiſche Stuhl ſeine alten Anſprüche
wieder auf, ſeit er in dem Kölniſchen Handel ſo unerwartet geſiegt hatte.
Auch Württemberg, das alle paritätiſchen Staaten Deutſchlands bisher um
ſeinen kirchlichen Frieden beneidet hatten, erlebte jetzt den erſten Anſturm
der Ultramontanen. Hier wurde das alte ſtaatskirchliche Syſtem, das in
ſämmtlichen Staaten der oberrheiniſchen Kirchenprovinz herrſchte, mit beſon-
derer Strenge gehandhabt. Die königliche Oberaufſichtsbehörde, der katho-
liſche Kirchenrath behütete alle Rechte der Kirchenhoheit ſo wachſam, daß
König Wilhelm nach ſeinen Erfahrungen wohl berechtigt war der Krone
Preußen die Nachbildung dieſer Behörde zu empfehlen. Selbſt in das innere
[334]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
kirchliche Leben griff der Kirchenrath handfeſt ein; er ordnete Gottesdienſt
und Gebete an, er beſtimmte die Länge der Predigten und der Homilien,
er ertheilte den geiſtlichen Weihen ſeine Zuſtimmung. Der Landesbiſchof,
der in Rottenburg, abſichtlich in der Nähe der ſtrengproteſtantiſchen alt-
württembergiſchen Gebiete und der paritätiſchen Landesuniverſität, ſeine ſehr
beſcheidene Reſidenz angewieſen erhielt, beſaß gar keine ſelbſtändige Dis-
ciplinargewalt über ſeinen Clerus und durfte keine einzige Pfründe im
Lande vergeben, da die Krone kraft zweifelhafter Rechtstitel ein landes-
herrliches Patronat beanſpruchte; alle Erlaſſe ſeines Ordinariats bedurften
der Genehmigung des königlichen Commiſſars. Der König zeigte ſich in
dieſen Jahren höchſt mißtrauiſch gegen die römiſche Kirche. Evangeliſche
Geſinnung lag dem ſarkaſtiſchen Weltmanne fern, doch eine ſtarke Staats-
gewalt erſchien ihm als der einzige Halt und Hort in der gährenden Zeit;
darum ſah er in den Clericalen jeder Farbe nur geiſtliche Demagogen. Offen
ſprach er aus, daß er die Tübinger katholiſche Facultät von den Schülern
Möhler’s reinigen wolle, und in der That ward ein ultramontaner Eiferer,
Profeſſor Mack auf eine ſtille Landpfarre verſetzt.*) Die nachgiebige Kirchen-
politik Preußens erfüllte den König mit ſchwerer Beſorgniß, dagegen begrüßte
er freudig den Guſtav-Adolfs-Verein, dem er ſogleich durch ein veröffent-
liches Handſchreiben ſeine Unterſtützung zuſagte. Wegen der kirchenpolitiſchen
Streitfragen verlangte er mehrmals den Rath Weſſenberg’s. Dieſer ehr-
würdige alte Herr lebte freilich in Zeiten, die geweſen; er träumte noch
immer den unmöglichen Traum einer deutſchen Nationalkirche, deren Primat
zwiſchen den Erzbiſchöfen von Köln, Freiburg, München wechſeln ſollte, und
mahnte vornehmlich, das Placet feſtzuhalten, auch in Sachen der gemiſchten
Ehen nichts zu ändern — zwei Forderungen, die doch jetzt, nachdem
die Krone Preußen nachgegeben, ſchon allen Boden verloren hatten.**)
Lange Jahre hindurch hatte der ſchlaffe greiſe Biſchof Keller von Rotten-
burg die geſtrenge aber fürſorglich wohlmeinende Vormundſchaft des Staats
geduldig ertragen; er gehörte noch zu der leidſamen alten Schule und
war vor Jahren ſelbſt Mitglied des Kirchenraths geweſen. Nach und nach
begann die neue clericale Partei ihm doch über den Kopf zu wachſen. Die
dem Könige beſonders verhaßten Repetenten des Tübinger Wilhelmsſtifts,***)
die katholiſchen Edelleute Oberſchwabens und die jungen Cleriker, die ſich
hier wie zu Freiburg in die biſchöfliche Curie eindrängten, beſtürmten ihn
mit Forderungen. Er wurde in Rom angeſchwärzt, erhielt drohende Mah-
nungen aus dem Vatican, und um dem Schickſal Sedlnitzky’s zu ent-
gehen entſchloß er ſich endlich, dem Landtage von 1841/42 eine lange
[335]Clericale Bewegung in Württemberg.
Reihe von Beſchwerden über die Bedrängniß der katholiſchen Kirche vor-
zulegen. Die begleitende Denkſchrift lautete ſo ungeſchlacht, daß ihm
Miniſter Schlayer auf den Kopf zuſagte, dergleichen könnten nur junge
Hitzköpfe geſchrieben haben.
Der Schlag war von langer Hand her vorbereitet; Graf Zeil hatte
ſich deswegen in München mit Abel und dem Nuntius verabredet.*)
Aber auch die Gegner geriethen in Aufregung. Die tapferen Evangeliſchen
in der Exulantenſtadt Freudenſtadt, die pietiſtiſchen Stundenleute von
Calw und Kornthal, alle guten Altwürttemberger riefen erſchrocken: jetzt
wollen die Jeſuiten die feſte Burg des ſüddeutſchen Proteſtantismus
erſtürmen. Nach leidenſchaftlicher Berathung wurden die Beſchwerden des
Biſchofs von der Kammer alleſammt abgewieſen und nur eine ange-
nommen: die Klage über die Beſchränkung der Preſſe, eine Klage, die
ſich freilich in Keller’s Munde ſeltſam ausnahm, da er früherhin immer
gegen die gottloſe Preßfreiheit geeifert hatte. Hier zeigte ſich, wo die Stärke
der Ultramontanen lag. Wenn ſie das Zauberwort der Freiheit gegen
die unleugbaren Härten des alten Polizeiſtaates geſchickt ausſpielten, dann
konnte ihnen die Hilfe der Liberalen nicht fehlen. Trotz ihres Sieges
fühlte ſich die Regierung unſicher und ſuchte ihr Verhalten durch eine
Denkſchrift vor dem römiſchen Stuhle zu rechtfertigen. Bald darauf (1844)
gewährte ſie aus freien Stücken zwei kleine Erleichterungen. Der Biſchof
erhielt eine etwas erweiterte Disciplinargewalt und die Beſetzung von fünf-
zehn Pfarreien. Der alte Territorialismus hatte noch einen letzten Er-
folg davon getragen, aber ſeine Tage waren gezählt. —
Nicht blos den Staatsgewalten hatte die römiſche Kirche große Zugeſtänd-
niſſe entrungen; ſie bewährte ihre gewaltige Widerſtandskraft auch gegen den
Verſuch einer Sektenbildung, die freilich von Haus aus hohl und geiſtlos,
doch an dem unklaren politiſchen Freiheitsdrange der Zeit eine Stütze fand.
Arnoldi, der einſt von dem alten Könige zurückgewieſene, nunmehr von dem
Nachfolger begünſtigte neue Biſchof von Trier, gerieth bald in die Hände der
clericalen Partei und veranſtaltete im Sommer 1844 die Ausſtellung des
ungenähten heiligen Rocks — ein Schauſpiel, das ſeit mehr als einem
Menſchenalter unterblieben war und jetzt, wie der alte Görres öffentlich
ausſprach, lediglich dazu dienen ſollte, den Triumph der Kirche über den
paritätiſchen Staat feierlich zu bekunden. Und dies pfäffiſche Blendwerk
wurde gewagt, obwohl Papſt Gregor erſt vor einem Jahre den Benedik-
tinern von Argenteuil in einem Breve bezeugt hatte, daß ſie den heiligen
Rock des Herrn in ihrem Altar verwahrten. Zum Ueberfluß bewieſen
[336]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
noch zwei junge Bonner Profeſſoren, der Orientaliſt J. Gildemeiſter und
der Hiſtoriker H. v. Sybel in einer ſtreitbaren, aber ernſten, ſtreng wiſſen-
ſchaftlichen Schrift über „den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig
anderen heiligen ungenähten Röcke“, welch ein Unfug die Jahrhunderte
hindurch mit dieſer gefälſchten Reliquie getrieben worden war. Doch was
vermochten Gründe wider den frommen Wahn? Was galt es den römiſchen
Prieſtern, daß Nitzſch zu Bonn in einer herrlichen Predigt die Proteſtanten
ermahnte, ſtatt der todten Reliquie die Heilkraft des lebendigen Chriſtus
zu verehren, und mitleidig ausrief: o der Armen, denen das Evangelium
nicht gepredigt wird! Binnen ſieben Wochen ſtrömten eine Million und
hunderttauſend Pilger nach Trier; in allen Städten und Dörfern des
ſchönen Moſellandes läuteten die Glocken ſo oft ein Zug von Wall-
fahrern mit wehenden Kirchenfahnen herankam; die Gaſtwirthe, die Bil-
derkrämer, die Paramentenhändler der Biſchofsſtadt hielten eine goldene
Ernte, und inbrünſtig erklang im Dome das Stoßgebet: heiliger Rock,
bitt’ für uns! Auch die Mirakel blieben nicht aus. Eine Verwandte
des alten Erzbiſchofs Droſte-Viſchering wähnte durch den Anblick des
Rocks von einer Lähmung geheilt zu ſein; und das Bänkelſängerlied
ſpottete ihr nach: Du Rock biſt ganz unnäthig, drum biſt du auch ſo
gnädig! Ernſte Proteſtanten konnten nur mit Beſorgniß wahrnehmen,
wie verblendet der Clerus grade die alten Mißbräuche neu belebte, welche
einſt die Reformation unmittelbar veranlaßt hatten.
Da erklang plötzlich ein gellender Widerſpruch aus der Mitte der
Prieſterſchaft ſelbſt. Ein junger, vor Kurzem wegen eines freigeiſtigen
Zeitungsartikels ſuspendirter Caplan zu Laurahütte in Oberſchleſien, Jo-
hannes Ronge, veröffentlichte in den radicalen Sächſiſchen Vaterlands-
blättern ein Schreiben an Arnoldi, das den Biſchof wegen ſeines „Götzen-
feſtes“ ſcharf angriff und in dem Satze gipfelte: „Schon ergreift der Ge-
ſchichtsſchreiber den Griffel und übergiebt Ihren Namen, Arnoldi, der
Verachtung bei Mit- und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel
des neunzehnten Jahrhunderts.“ Dieſe Worte bewieſen ſchon genugſam,
daß der eitle Mann, der ſich ſo deutlich ſelber für einen neuen Luther aus-
gab, nicht aus dem Holze der Reformatoren geſchnitzt war. Ihn entflammte
ein achtungswerthes Gefühl jugendlicher Entrüſtung wider das Schau-
gepränge römiſcher Werkheiligkeit; doch von dem Ernſte, dem Tiefſinn, der
Selbſtverleugnung des Glaubenshelden lag nichts in ihm. Sein Brief
wiederholte lediglich alte Wahrheiten, die der Proteſtantismus längſt kühner
und würdiger ausgeſprochen hatte; neu war daran nur der moderne jour-
naliſtiſche Stil und das patriotiſche Pathos. „Erzürnen Sie nicht die
Manen Ihrer Väter, welche das Capitol zerbrachen, indem Sie die Engels-
burg in Deutſchland dulden“ — ſo rief er dem Biſchof zu, und man
konnte leicht errathen, daß er ſeine Weltanſchauung gutentheils der Rotteck-
ſchen Weltgeſchichte verdankte.
[337]Ronge und der heilige Rock.
Trotzdem rief Ronge’s Schreiben eine ſtarke, freilich nicht nachhaltige
Erregung hervor. Das Trierer Schauſpiel erſchien weiten Kreiſen wie eine
muthwillige Verhöhnung aller modernen Bildung; denn die Zeit wähnte
ſehr frei zu denken, und nur wenige helle Köpfe bemerkten ſchon, daß in
dieſem durch ſo mannichfache Gegenſätze zerklüfteten Jahrhundert auch der
rohe Autoritätsglaube hüben und drüben eine gewaltige Macht beſaß,
da die Einen ebenſo blind auf die Zeitungen und die Schlagworte der
Tagespolitik ſchwuren, wie die Anderen auf Heiligenbilder und Reliquien.
In Schleſien zeigten die Ultramontanen ſeit Sedlnitzky’s Sturz einen her-
ausfordernden Hochmuth, der das ohnehin unzufriedene Volk reizte; der
Breslauer Pöbel verhöhnte nicht ſelten die geiſtlichen Herren auf der Straße,
ſelbſt Fürſtbiſchof Diepenbrock ward einmal von Studenten öffentlich be-
ſchimpft. Auch die unklaren reformatoriſchen Gedanken regten ſich wieder,
die aus der katholiſchen Kirche Schleſiens niemals ganz verſchwunden
waren,*) gutmüthige Vorſtellungen von einer geläuterten Kirche, welche nicht
römiſch und doch katholiſch ſein ſollte. Nach wenigen Wochen ſchon gründete
Ronge eine Gemeinde, die ſich von Rom förmlich losſagte. Sie beſtand
zumeiſt aus kleinen Leuten der Mittelklaſſen; aber auch zwei Männer
von geachtetem wiſſenſchaftlichem Namen ſchloſſen ſich an, erſt der
Kirchenrechtslehrer Domherr Regenbrecht, dann der gelehrte, grundehrliche
Pater Anton Theiner, Beide den Clericalen längſt verhaßt als uner-
ſchrockene Kämpfer wider den Cölibat und andere römiſche Mißbräuche.
Unterdeſſen hatte auch Caplan Czerski in Schneidemühl, ein wegen heim-
licher Ehe verurtheilter Prieſter, mit ſtarkem Anhang die römiſche Kirche
verlaſſen, und bald bildeten ſich in zweiundzwanzig norddeutſchen Städten
Diſſidentengemeinden, die den widerſpruchsvollen Namen der Deutſchkatho-
liken annahmen. Im Süden war der Zulauf ſchwächer, da Oeſterreich
und Baiern die neue Sekte mit äußerſter Härte verfolgten. Das gläubige
Landvolk hielt ſich überall fern. Mehr als 60,000 Bekenner zählte der
Deutſchkatholicismus niemals, und die volle Hälfte gehörte Ronge’s ſchleſi-
ſcher Heimath an.
Im Vatican war anfangs der Schrecken groß; denn wer mochte
wiſſen, wohin ein Schisma auf dieſem heißen Boden, in dem Vaterlande
der einzigen ſiegreichen Ketzerei noch führen konnte? Der Clerus erhielt
Befehl, mit weltkluger Mäßigung zu verfahren, und nur die abtrünnigen
Prieſter wurden excommunicirt. Die Evangeliſchen hingegen hießen Ronge’s
Unternehmen willkommen; ihrer viele ſahen ja das Weſen des Proteſtan-
tismus allein in der Bekämpfung des Papſtthums, und auch die Gläubigen
lebten der Ueberzeugung, daß die evangeliſche Lehre die dem deutſchen Ge-
müthe entſprechende Form des Chriſtenthums iſt, ſie hofften auf die kirchliche
Wiedervereinigung der Nation. Faſt in allen Städten, wo deutſchkatholiſche
Gemeinden entſtanden, beeilten ſich die Proteſtanten, ihnen die Rathhausſäle
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 22
[338]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
oder auch ihre Gotteshäuſer einzuräumen. Im März 1845 trat zu Leipzig
ein Concil zuſammen um Bekenntniß und Verfaſſung der neuen Sekte feſt-
zuſtellen, und hier zeigte ſich alsbald die religiöſe Schwäche der Bewegung.
Der Deutſchkatholicismus krankte nicht nur an einem logiſchen Wider-
ſpruche, da er zugleich allgemeines und nationales Chriſtenthum ſein wollte,
ſondern auch an einer ſchweren ſittlichen Unwahrheit, denn er gab vor,
zwiſchen den Katholiken und Proteſtanten mitteninne zu ſtehen, während
er in Wirklichkeit weit über den evangeliſchen Glauben hinausging und
nur den extremen Sekten der Proteſtanten verwandt war. Erſchienen doch
in Königsberg zur Eröffnung des deutſchkatholiſchen Gottesdienſtes, freund-
lich eingeladen, ſogar die Führer der liberalen Judenſchaft, Jacoby, Falk-
ſon, Korſch. Auf dem Leipziger Concile errang Ronge mit ſeinem radicalen
Anhange den Sieg. Das Dogma wurde im Geiſte des platten Rationalis-
mus dermaßen vereinfacht, daß von chriſtlichem Inhalt wenig übrig blieb;
die Gemeinden erhielten eine faſt unbeſchränkte Selbſtändigkeit, ihrer viele
gewährten, allem kirchlichen Brauche zuwider, ſogar den Frauen das Stimm-
recht. So weit wollte der immerhin etwas ernſter geſtimmte Czerski doch
nicht gehen, den Glauben an die Göttlichkeit Chriſti gab er nicht auf; auch
der wackere Pater Theiner zog ſich bald zurück, entſetzt über Ronge’s windige
Phraſen; und es ließ ſich jetzt ſchon vorherſehen, daß dieſe gedankenloſe
Sektirerei an der gewaltigen Conſequenz der katholiſchen Kirche nothwendig
zerſchellen mußte.
Aber die fieberiſche politiſche Freiheitsſehnſucht des Zeitalters klammerte
ſich an jeden Strohhalm; Alles hieß ſie willkommen, was den alten Ge-
walten in Staat und Kirche irgend widerſtrebte. Ulrich von Hutten war
den Liberalen dieſer Tage die Lieblingsgeſtalt der deutſchen Geſchichte;
in ſeinem kühnen Freimuth, ſeinem rhetoriſchen Pathos, ſeiner ungebundenen
Lebensweiſe, ſeinen geſtaltloſen vaterländiſchen Träumen meinten ſie ſich
ſelber wiederzuerkennen. Und wie er einſt von der Reformation die Auf-
erſtehung deutſcher Macht und Herrlichkeit erhofft hatte, ſo wähnten jetzt
Unzählige, dieſer ſchleſiſche Caplan würde der nahenden politiſchen Revo-
lution eine Gaſſe brechen. Der philoſophiſche Radicalismus trat für einige
Zeit ganz in den Hintergrund, da ſich mit einem male die Ausſicht auf
große praktiſche Erfolge der geiſtigen Freiheit zu eröffnen ſchien. Viele
liberale Zeitungen verherrlichten den Führer der Deutſchkatholiken mit
einer Inbrunſt, die ſich neben der Nichtigkeit des Mannes und der Dürftig-
keit ſeiner Erfolge hochkomiſch ausnahm. Ein Rebus, der an allen Schau-
fenſtern hing, ſagte:
[339]Deutſchkatholiſche Bewegung.
Wie hätte der Eitle ſolches Lob ertragen ſollen? In neuen Send-
ſchreiben, die er nunmehr an ſeine Glaubensgenoſſen, an die Geiſtlichen,
an die Lehrer richtete, ſchlug er ganz den Ton des radicalen journaliſtiſchen
Großſprechers an. Er prahlte, die Schlacht gegen das Römerthum würde
nicht mehr im Dunkel des Teutoburger Waldes, ſondern auf den Höhen
des germaniſchen Geiſtes geſchlagen; er weiſſagte, die in der erſten Refor-
mation verlorene Weltherrſchaft Deutſchlands ſolle jetzt durch die zweite
Reformation wiedergewonnen werden, und verhieß ſeinen Genoſſen: „der un-
austilgbare Dank der Geſchichte wird Sie durch die Jahrhunderte tragen.“
Mit ſeinem getreuen Dowiat, einem feurigen radicalen Kraftredner
bereiſte er ſodann die ſüddeutſchen Städte, um überall auf Banketten und
Zweckeſſen die Huldigungen der Oppoſition entgegenzunehmen. Ein ekel-
hafter Anblick, wie der neue Luther im vierſpännigen Wagen mit Ruge
und Fröbel, den ungläubigen Demagogen, und mit Fickler, dem Volksmanne
der liberalen Seeſchwaben, aus Conſtanz hinausfuhr zur Kirchenfeier auf
dem nahen ſichern Schweizerboden, und der dicke Fickler ſchmunzelnd ſagte:
das hätt’ ich nicht gedacht, daß ich noch einmal Apoſtel werden ſollte.
Nachher beim Feſtmahl rief Dowiat ein ſchmetterndes Pereat auf die Peters-
burg im Süden und die Petersburg im Norden; währenddem meldeten ſich
einige harmloſe Conſtanzer zum Eintritt in die neue Gemeinde; Dowiat
ging hinaus um nach weihevoller Anſprache ihre Namen in ſein Kirchen-
buch einzutragen und kehrte dann ſarkaſtiſch lächelnd zum Champagner
zurück. Darum erklärte der fromme, von Rom ſo ſchwer gekränkte Weſſenberg
ſehr nachdrücklich, daß er mit dieſem frivolen Treiben nichts gemein haben
wolle. Viele andere tüchtige Männer überſchätzten die Bewegung; der
alte Proteſtantenhaß gegen den römiſchen Antichriſt wallte hoch auf, Alles
ſtrebte hinaus aus der Stickluft dieſer Tage der Erwartung. Sogar der
ſcharfblickende Karl Mathy ließ ſich, allerdings nicht lange, über die Be-
deutung der kirchlichen Demagogen täuſchen; war er doch ſelbſt der Sohn
eines römiſchen Prieſters, der ſich einſt nach ſchweren Seelenkämpfen in die
evangeliſche Freiheit hinübergerettet hatte.
Von ſelbſt verſtand ſich, daß der unaufhaltſame alte Paulus „zur
Rechtfertigung der Deutſchkatholiken“ ſchrieb; er glaubte ihnen treuherzig,
ſie würden den Weſtphäliſchen Frieden ausführen, den Gegenſatz der Be-
kenntniſſe in Deutſchland verſöhnen. Ebenſo zuverſichtlich begrüßte ſein
rationaliſtiſcher Geſinnungsgenoſſe Röhr in Weimar den neuen Kampf
wider Rom. Aber auch Gervinus, der weltlichſte unter den jüngeren
Hiſtorikern wähnte ſich berufen, von „der Miſſion der Deutſchkatholiken“
Großes zu weiſſagen und in einer zweiten Streitſchrift die proteſtantiſchen
Geiſtlichen wegen ihrer beſonnenen Zurückhaltung hart anzulaſſen. Er hielt
es für ein Naturgeſetz, daß Deutſchland nach einer religiöſen und einer
literariſchen Epoche jetzt eine politiſche Zeit erleben müſſe; ſolcher Hoffnung
voll begrüßte er die neue Sekte als den Keim einer großen nationalkirch-
22*
[340]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
lichen Union, die über das Dogma hinwegſehend, allein der Moral, der
Duldſamkeit, der Abwehr ausheimiſcher Mächte leben ſollte. Von der
beſeligenden Kraft der göttlichen Verheißung, von dem gemeindebildenden
Drange des lebendigen Glaubens hatte er gar keine Ahnung. Zugleich
zeichnete er hier zuerſt die Umriſſe einer neuen demokratiſchen Geſchichts-
philoſophie, die noch viel Unheil in den Köpfen der Halbdenker anzurichten
beſtimmt war. Während die Weltgeſchichte ſich bisher immer durch die
Wechſelwirkung großer Perſönlichkeiten und der allgemeinen Zuſtände fort-
gebildet hatte, durch Männer, die aus den Trümmern alter Welten
eine neue zu formen verſtanden, ſollte ſie im neunzehnten Jahrhundert
plötzlich ihren Charakter verändert haben und ſich fortan ohne die Macht
des Genius, allein durch die Meinungen und Leidenſchaften der Maſſen
weiter bewegen. So lautete die neueſte Geſchichtsoffenbarung; Otto v.
Bismarck war grade dreißig Jahr alt. Gervinus ſtand nicht an, weiter
zu ſchließen: die Deutſchkatholiken könnten eben darum auf die Zukunft
zählen weil ſie ſo blutarm ſeien an bedeutenden Männern; und an dieſem
Satze hielt er eigenrichtig feſt, obgleich doch grade in der Kirchengeſchichte
die Macht der Perſönlichkeit ganz überwältigend wirkt; denn noch nie und
nirgends iſt eine kräftige Religion oder Sekte anders entſtanden als durch
die erweckende Kraft gottbegeiſterter Apoſtel und Propheten.
Dieſe trocken politiſche Beurtheilung kirchlicher Dinge war ſo undeutſch,
daß ſelbſt Gervinus’ nächſte Freunde darüber erſchraken. Vor Allen Dahl-
mann. Er hegte, durchweg tiefſinniger und darum beſcheidener als ſein
jüngerer Freund, von frühauf ein ſtarkes religiöſes Gefühl und empfand ſo
ſchmerzlich wie einſt Niebuhr, daß ſein ganzer Bildungsgang ihn dem kirch-
lichen Leben entfremdet hatte. Demüthig ſprach er aus: „Auf der Sitten-
lehre läßt ſich keine Kirche gründen. Mir kommt es vor, daß diejenigen welche
ſich an Chriſtus ſelbſt halten, die Kirche ausmachen. Wenn wir Andern
ein- und ausgehen, wir bringen Zug, aber keine Wärme hinein.“ Und
der liberale Theolog Thudichum in Büdingen ſagte in einer Gegenſchrift
ruhig: wo ſei denn die aufbauende Kraft der neuen Sekte, da doch die
römiſche wie die evangeliſche Kirche trotz allem Zeitungsgeſchrei ganz un-
erſchüttert daſtünde? Aehnlich äußerte ſich der Führer der Vermittlungs-
theologen, Ullmann in Heidelberg, ein feiner, ſinniger, künſtleriſch an-
gelegter Geiſt. In ſeinem „Bedenken über die deutſch-katholiſche Bewegung“
fragte er zweifelnd: wie könne eine dauernde religiöſe Gemeinſchaft beſtehen,
wenn ſie nicht wie aus einem Keime herauswüchſe aus dem urſprüng-
lichen, vollen Leben eines hervorragenden, geiſtig gewaltigen Einzelnen? —
Die Zweifler behielten Recht. Schon nach Jahresfriſt war der Deutſch-
katholicismus ganz verweltlicht, ganz in den Wirrwarr der radicalen Politik
hinabgeſunken. Die Ironie des Schickſals fügte, daß er nur im König-
reich Sachſen tiefe Spuren ſeines Wirkens hinterlaſſen ſollte, in dem ein-
zigen der größeren deutſchen Staaten, der faſt gar keine Katholiken ent-
[341]Sachſen. Lindenau’s Rücktritt.
hielt und mithin für eine ernſthafte katholiſche Reformbewegung den denkbar
ungünſtigſten Boden bildete. Die glücklichen erſten Jahre des ſächſiſchen
Verfaſſungslebens gingen zu Ende. Miniſter Lindenau, der Schöpfer des
Grundgeſetzes fühlte ſich nicht mehr ſicher. In Wien war er ſehr ſchlecht
angeſchrieben; denn er verhehlte nicht, daß er die Beſchlüſſe der Miniſter-
conferenzen von 1834 für bedenklich hielt; er wurde in den deutſchen,
den franzöſiſchen, den engliſchen Zeitungen beſtändig als Gegner Metter-
nich’s gefeiert und hatte einmal eine ſehr peinliche diplomatiſche Aus-
einanderſetzung mit den beiden deutſchen Großmächten wegen ultraliberaler
Aeußerungen, die ihm die Preſſe andichtete.*) Am Hofe verzieh man ihm
nie, daß er dem Könige gerathen hatte, die Einkünfte des Kammergutes
gegen eine Civilliſte hinzugeben, was nach der ſtrengen Haller’ſchen Doctrin
für eine Entwürdigung des Königthums galt.**) Die erſte Kammer zeigte
ſich dem Miniſter feindlich; der Grundadel wollte weder in die Aufhebung
der Patrimonialgerichte willigen, noch in ein billiges Wildſchadengeſetz, deſſen
die kunſtvolle Landwirthſchaft des dichtbevölkerten Landes doch gar nicht
entrathen konnte. Auf der anderen Seite begann der Radicalismus, der
hier ſeit Jahren unter dem Boden arbeitete,***) ſichtlich zu erſtarken, zu-
erſt im Vogtlande. Neue Abgeordnete zogen in die Kammer ein, zunächſt
die Vogtländer Todt, Dieskau, Watzdorf, wohlmeinende Liberale, die ſich
doch gedankenlos von der Strömung des Tages forttreiben ließen und
bald zu der Forderung des Einkammerſyſtems gelangten. Zwiſchen dieſen
feindlichen Mächten wußte Lindenau’s zarte Gelehrtennatur ſich nicht zu
behaupten; zum Bedauern aller Einſichtigen im Lande nahm er 1843
ſeinen Abſchied.
An die Spitze des Miniſteriums trat nunmehr der Juſtizminiſter
v. Könneritz, ein tüchtiger Juriſt von hartconſervativer Geſinnung. Die
neue Regierung war nicht geradezu reactionär, aber dem Liberalismus
feindlich, da jetzt ein anderer Wind von Berlin her wehte; und man
merkte ihr raſch jene Rathloſigkeit an, welche gemeinhin revolutionären
Bewegungen vorangeht. Die Behörden verfuhren bald ſchwach bald hart.
Schwere Noth brach herein, mehrere Städte wurden von großen Bränden
heimgeſucht; die Dürre des Jahres 1842, die Kartoffelkrankheit, die Ge-
ſchäftsſtockung in vielen großen Gewerbsbetrieben des Erzgebirges nährten
die allgemeine ſchleichende Unzufriedenheit. Auf dem Landtage vertheidigte
Miniſter Könneritz tapfer und beredt die völlig verlorene Sache des alten
geheimen ſchriftlichen Strafproceſſes; er ſtand faſt allein, die Liberalen
aber veranſtalteten eine Sammlung, damit einer ihrer juriſtiſchen Führer,
Braun die Länder des öffentlichen Verfahrens bereiſen und ſich über die
[342]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Schwurgerichte belehren konnte. So erwachte plötzlich der politiſche Sinn
in dem vordem ſo ſtillen Lande. Inzwiſchen verſtärkte ſich die Oppoſition
durch neue Wahlen; Schaffrath, Joſeph und einige andere Radicale er-
ſchienen im Landtage, noch eine kleine Schaar, maßlos in den Grund-
ſätzen, formlos im Auftreten. Selbſt die allzeit getreue freie Bergſtadt
Freiberg begann zu grollen, als zwiſchen den Bergſtudenten und der
Garniſon Zwiſtigkeiten entſtanden, die durch rechtzeitige Strenge der Be-
hörden leicht beigelegt werden konnten,*) und die Regierung dann, nach
einem unglücklichen Duell, volle zwei Drittel der Studentenſchaft relegirte;
das Land war eine Zeit lang nahe daran, ſeinen Stolz, die berühmte
Bergakademie ganz zu verlieren.
Und nun bewährte ſich wieder, wie noch in allen unruhigen Zeiten der
neueren ſächſiſchen Geſchichte, der alte Fluch des albertiniſchen Hauſes:
ſelber ſchuldlos mußten die Nachkommen noch immer unter dem unſeligen
Glaubenswechſel Auguſt’s des Starken leiden. In dem wohlwollenden
Charakter des Königs lag gar kein Zug confeſſioneller Engherzigkeit, und
im Vatican kannte man den hartproteſtantiſchen Boden Kurſachſens zu
gut um die Hebel grade hier einzuſetzen. Trotzdem fühlte ſich das Volk
ſchwer beunruhigt durch den Uebermuth, den die ultramontane Partei
im benachbarten Preußen und Baiern zur Schau trug; man glaubte
allgemein, auch in Sachſen trieben die Clericalen ihr Weſen, und bald
hieß es, die Jeſuiten ſeien im Lande. Ernſthafte Beſchwerden lagen nicht
vor. Die Erzbrüderſchaft vom Herzen Jeſu hatte in einer Ortſchaft der
Lauſitz eine kleine Niederlaſſung gegründet, aber ohne Vorwiſſen der Re-
gierung; dann fand man in der neuen katholiſchen Kirche zu Annaberg
am Hochaltar den Namen des heiligen Ignatius und ſchloß daraus, ganz
willkürlich, dieſe Kirche gehöre der Geſellſchaft Jeſu. Das war nahezu
Alles. Doch das Mißtrauen im Volke ließ ſich nicht beſchwichtigen und
wendete ſich mit unbegreiflicher Verblendung gegen den Prinzen Johann,
der allerdings ein ſtrengerer Katholik war als ſein königlicher Bruder, aber
in allen kirchenpolitiſchen Fragen ſtets eine untadelhafte Mäßigung ge-
zeigt und ſoeben erſt durchgeſetzt hatte, daß die Kniebeugung der pro-
teſtantiſchen Soldaten in der Dresdener Hofkirche abgeſtellt wurde. Der
ſchändlich verleumdete Prinz ſollte durchaus ein Jeſuit ſein, das glaubte
Jedermann bis zu den Schulkindern herunter, und Jedermann nahm
es für ein Zeichen des göttlichen Zornes wider den katholiſchen Hof, daß
bei dem ſchweren Eisgange des Frühjahres 1845 das große goldene
Cruzifix auf der Dresdener Brücke, für immer unauffindbar, in den Wellen
verſank.
Nur dieſe krankhafte Jeſuitenfurcht und die politiſche Verſtimmung
des Landes bewirkten, daß in dem kleinen Häuflein der ſächſiſchen Katho-
[343]Robert Blum.
liken mehrere deutſch-katholiſche Gemeinden entſtanden, die ſich bald durch
radicale Proteſtanten verſtärkten und mit den freien Gemeinden der be-
nachbarten preußiſchen Provinz in Verbindung traten. In Dresden
übernahm ein gewöhnlicher Schwätzer, der Stenograph Wigard, die Füh-
rung, in Leipzig aber Robert Blum, neben Friedrich Liſt das größte dema-
gogiſche Talent dieſer Tage.
In Köln geboren, kleiner Leute Kind, hatte Blum vor Jahren als
Chorknabe den Altardienſt verrichtet und ſich dann aus tiefer Armuth
tapfer in die Höhe gearbeitet, auch eine leidliche Bildung erlangt, die
doch niemals weit über den Geſichtskreis des Kleinbürgerthums hinaus-
ging, alſo dem ſchlichten Volke immer verſtändlich blieb. Die natürliche
Beredſamkeit der Rheinländer beſaß er im höchſten Maße und dazu eine
dämoniſche Gabe die Menſchen zu beherrſchen. Wenn der breitſchulterige,
behagliche Bürger mit dem unſchönen, aber klugen und gutmüthigen Ge-
ſicht und den ſtrahlenden blauen Augen zu ſprechen anhob, immer aus
tiefſter Bruſt, meiſt hochpathetiſch, zur rechten Zeit auch ſentimental, dann
fühlten die Handwerker und die Ladengehilfen: das iſt unſer Mann. Jetzt
bekleidete er in Leipzig die beſcheidene Stelle des Theatercaſſirers und
war doch ſchon eine Macht. Auf den jährlich wiederkehrenden Schiller-
feſten, die er eingerichtet hatte, feierte er den Dichter der Freiheit; mit
den Führern der ſüddeutſchen Oppoſitionsparteien ſtand er in regem Ver-
kehr; die polniſchen Flüchtlinge nahmen in ſeinem Hauſe Herberge, und
in ſtiller Nacht feilte er ſelbſt an dem Schlüſſel, der den Aufſtändiſchen
das Thor der Krakauer Citadelle öffnen ſollte. Bei allen Wahlen ent-
faltete er eine raſtloſe Thätigkeit, die er ſelbſt ehrlich als Wühlerei
bezeichnete. Auch mit gewandter Feder vertrat er die demokratiſchen Grund-
ſätze in ſeinem Volkstaſchenbuche „Vorwärts“ und in den Sächſiſchen
Vaterlandsblättern, einem ſehr wirkſamen Blättchen, das namentlich die
Abderitenſtreiche der Kleinſtaaterei köſtlich verhöhnte. An Stoff konnte
es ja hier in der Mitte Deutſchlands niemals fehlen. Da war in Alten-
burg der hochmüthige, verſchwenderiſche Hof, in Reuß jüngerer Linie der
halbtolle Fürſt Heinrich LXXII. Die Erlaſſe dieſes volksbeglückenden Patri-
archen brauchte man nur nachzudrucken um den Radicalen ein Feſt zu
bereiten. Seinen Garten in Oſterſtein öffnete er allen anſtändigen Frem-
den, aber „mit der Dunkelheit hört der Beſuch auf. Warum? Weil dann
die Begriffe Anſtändig und Unanſtändig ſich verwirren.“ Und nach einem
Feuer in Lobenſtein ließ ſich der zweiundſiebzigſte Heinrich alſo vernehmen:
„Mein Grundſatz iſt: erſt löſchen und dann einpacken. Nämlich ſo:
wenn ein kleines Feuer ſchnell gelöſcht wird, ſo ſchlafen dann die Leute
ruhiger, als wenn durch Vernachläſſigung deſſelben eine ſchlecht gebaute
Stadt vielleicht drauf geht.“
Alſo unermüdlich in der Verbreitung demokratiſcher Ideen, begrüßte
Blum es als einen willkommenen Zufall, daß er ſelbſt katholiſch getauft
[344]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
war, und bemächtigte ſich ſofort der Leipziger Deutſchkatholiken; vor
Freunden geſtand er aufrichtig, dieſe kirchlichen Wirren dienten ihm nur
zum Mittel für ſeine politiſchen Zwecke. Auf dem Leipziger Concil hielt
er, hinter einem verhängten Tiſche ſtehend, zündende Reden. Kam eine
ſchwierige kanoniſche Frage vor, dann langte ihm der Hiſtoriker Wuttke,
ein giftiger kleiner radicaler Molch, der nebenan hinter einem Haufen
Bücher ſaß, unter dem Tiſchtuch einen Zettel herüber; ein Blick darauf
genügte, und der Kirchenſtifter ſprach alsbald mit bewunderungswürdiger
Geläufigkeit über das tridentiniſche Concil, deſſen Daſein er vordem wohl
kaum gekannt hatte.
Inzwiſchen ward die Regierung beſorgt, da die freien Gemeinden
Preußens ihre Sendboten nach Sachſen ſchickten und ſich mit den Deutſch-
katholiken verbrüderten. Am 17. Juli 1845 erklärten die mit der Wahrung
des lutheriſchen Kirchenregiments beauftragten Miniſter, daß ſie, eingedenk
ihres Eides, Verſammlungen oder Vereine, welche das Augsburgiſche Be-
kenntniß in Frage ſtellten, nicht dulden könnten. Der Erlaß war ſchwer-
lich bös gemeint, aber höchſt ungeſchickt, wie faſt Alles was von Könneritz
und dem neuen Miniſter des Innern Falkenſtein ausging; verſtand man
ihn buchſtäblich, ſo ſchien er in der That die Gewiſſensfreiheit zu be-
ſchränken, den Austritt aus der lutheriſchen Landeskirche zu verbieten.
Ganz deutlich ſagte er aber, daß die ſächſiſche Regierung, wie die preu-
ßiſche, mit dem alten Rationalismus brechen wollte. Und dieſe behag-
liche, bis zur Gleichgiltigkeit duldſame Aufklärung herrſchte im Volke, zumal
in den Städten noch überall vor; ihr gefeierter Vertreter, der greiſe
Ammon war noch immer Oberhofprediger. Darum erregte die Bekannt-
machung der Miniſter allgemeinen Unwillen, und wieder ſchob man alle
Schuld auf den gänzlich unbetheiligten Prinzen Johann.
Die Gemüther waren erhitzt, die Behörden hatten ſchon mehrfache
Warnungen erhalten; da kam der Prinz am 12. Auguſt nach Leipzig um
die Communalgarde zu muſtern. Schon während der Truppenſchau er-
laubten ſich die Zuſchauer manche Frechheit; und als der Prinz nachher
ſpät Abends mit den Spitzen der Behörden bei Tafel ſaß, im Garten-
hauſe des Preußiſchen Hofs am Roßplatze, da ſammelte ſich eine tobende
Volksmaſſe auf dem weiten Platze. Die Menge ſang „Eine feſte Burg iſt
unſer Gott“; dann ertönten Hochrufe auf Ronge und Czerski, wilde Lieder,
Flüche und Schimpfreden, ein Hagel von Steinen ſchlug an die Fenſter
des Gaſthofs. Niemand von den Behörden fand den Muth, dem Haufen
mit einer kräftigen Anſprache entgegenzutreten. Erſt als der Unfug ſich
bedrohlich ſteigerte, ſendete man nach der [Wachtmannſchaft] der Communal-
garde. Gleich darauf ließ der Stadtcommandant Oberſt v. Buttlar, ein
ſehr tüchtiger Offizier, auf Verlangen der Civilbehörde ein Bataillon ſeiner
Truppen herbeirufen; die noch von den Dresdener Straßenkämpfen her
beim Pöbel verhaßten ſchwarzen Schützen waren früher zur Stelle als
[345]Straßenkampf in Leipzig.
die behagliche Bürgerwehr. Um ſeine Furchtloſigkeit zu beweiſen kam
der Prinz ſelbſt einen Augenblick heraus und verlangte daß man für die
Räumung des Platzes ſorgte, dann kehrte er zu ſeinen Gäſten in den Garten-
ſaal zurück ohne zu ahnen was ſich nun begeben ſollte.*) Unterdeſſen
hatten die Schützen ohne Gewaltthätigkeit den Haufen von dem Platze
größtentheils hinweggedrängt. Jetzt ſtaute ſich die Menge in den Baum-
gängen der Promenaden, die den Roßplatz umſäumten. Abermals Stein-
würfe, abermals Geſchrei und Toben; wiederholte Aufforderungen zum
Auseinandergehen verhallen ungehört oder unbeachtet; da feuern zwei Pelo-
tons der Schützen in die dichtgedrängte Maſſe hinein, ſieben aus der Menge
werden getödet, mehrere verwundet. Es war eine unglückſelige Uebereilung,
ganz gewiß nicht planvoll vorbereitet, aber auch nicht entſchuldigt durch drän-
gende Noth; allem Anſchein nach hatten zwei Offiziere inmitten der wüſten
Verwirrung, im abendlichen Dunkel den Ueberblick verloren und die augen-
blickliche Gefahr zu hoch angeſchlagen. Als die Communalgarde endlich
durch Generalmarſch aufgeboten wurde, da verliefen ſich die Maſſen, aber
ein tiefer Groll blieb in den Herzen der Bürgerſchaft zurück. Der durch
den blutigen Vorfall ſchmerzlich überraſchte Prinz Johann ſollte wieder
an Allem die Schuld tragen, und als er am Frühmorgen abreiſte, wurde
ſein Wagen mit Flüchen und Steinwürfen verfolgt.
Alle Parteien überſchätzten das traurige Ereigniß, denn das Vor-
gefühl einer großen Entſcheidung zitterte durch die Welt. Freiligrath ſang
die volltönende Ode auf Leipzigs Todte:
prächtige Verſe, die ſich neben der nüchternen Wirklichkeit doch faſt lächer-
lich ausnahmen. Ebenſo aufgeregt betrachtete man in Wien dieſe Pöbel-
unruhen, denen die wackere Bürgerſchaft der Meßſtadt ganz fern ge-
blieben war. Metternich ſah die ſeit einem Menſchenalter befürchtete
Revolution jetzt mit Rieſenſchritten herannahen und hatte ſchon im April
ſeinen Diplomaten geſchrieben: „Tritt das Uebel einmal deutlich aus dem
Verſtecke, in dem es ſich hält, hervor, dann werden die Regierungen ſich
zu erheben bemüßigt ſein aber Freiſchaaren gegenüberſtehen, denen die
geregelte Macht in die Länge nur ſchwer zu widerſtehen vermag.“**)
Ganz im Sinne des Meiſters berichtete nunmehr der k. k. Generalconſul
Hübner in Leipzig, ein kluger, ehrgeiziger Reactionär, der in der Geſell-
[346]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
ſchaft Jeſu eine hohe Stellung einnahm: dieſe durch die Schwäche der Be-
hörden verwöhnte „ſogenannte Hauptſtadt der Intelligenz“ ſei neben Königs-
berg der Hauptſitz des deutſchen Demagogenthums; den Tumult hätten die
Literaten veranlaßt und die Studenten als Werkzeuge gebraucht; „hier iſt
Alles zur Revolution reif, verſöhnt wird hier Niemand.“ Seine Schilde-
rung war ſo grell, daß ſelbſt das preußiſche Miniſterium meinte, der
Oeſterreicher ſcheine doch nicht unbefangen.*)
Am Morgen nach dem Blutvergießen zeigten ſich die königlichen Be-
hörden ganz gelähmt vom Schrecken, kein Soldat erſchien in den Straßen.
Die Studenten, die noch in der Nacht den Fechtboden erbrochen hatten,
verſahen im Verein mit der Communalgarde allein den Sicherheitsdienſt.
Nachmittags drängten ſich Schaaren von Bürgern und Studenten in das
Schützenhaus, Alles verwünſchte den Prinzen, dem man eine berechnete
Unthat andichtete, und forderte Rache für das vergoſſene Blut. Da trat
plötzlich Robert Blum in die furchtbar aufgeregte Verſammlung. Er
war am Tage zuvor verreiſt geweſen — was ihm jetzt ſehr zum Vor-
theil gereichte — und gradeswegs vom Bahnhofe herbeigeeilt. Augen-
blicklich überſah er die Lage und begriff, daß die Zeit für neue Gewalt-
thätigkeiten noch nicht gekommen war; in mächtiger, tief ergreifender Rede
ſprach er den Verſammelten aus, eine Sühne müſſe der Stadt werden,
aber nur auf geſetzlichem Wege. Dann führte er dieſe erbitterten Tau-
ſende in ruhiger Ordnung nach dem Markte; kein Unfug befleckte, ſo rühmte
Blum, „die wahrhafte Majeſtät dieſer Volksverſammlung“. Nach kurzer
Friſt verkündete er vom Altane des Rathhauſes herab, daß der Stadt-
rath ſich den Beſchlüſſen des Volks unterworfen habe, Abzug der Garniſon
und ſtrenge Unterſuchung vom Könige verlangen wolle. Vier Tage hindurch
beherrſchte er die Stadt wie ein Dictator, die Behörden ſchienen ver-
ſchwunden. Beim Begräbniß der Erſchoſſenen erklangen wieder ſtürmiſche
Reden, doch die Ordnung blieb völlig ungeſtört; die Communalgarde
hielt ſtrenge Wacht, nach den Weiſungen des Demagogen.
Am Dresdener Hofe wußte man ſich anfangs nicht zu helfen. Die
Miniſter ſchöpften erſt wieder Muth, als durch Blum’s Entſchloſſenheit die
nächſte Gefahr beſeitigt war, und nun endlich griffen ſie ſehr ſcharf ein.
In ſtiller Nacht wurden Truppen mit Geſchützen nach Leipzig geſendet, und
gedeckt durch dieſe bewaffnete Macht erſchien am 17. als königlicher Commiſſär
der Geh. Rath v. Langenn, ein gelehrter Juriſt, der ſich in allen politiſchen
Kämpfen als hochreaktionärer Parteimann benahm. Parteiiſch verfuhr er
auch hier. Er kündigte, wie billig, eine ſtrenge Unterſuchung gegen die
Aufrührer an, erklärte aber zugleich, daß die Regierung die doch keines-
wegs tadelfreien Maßregeln ihrer Organe vertreten würde. Die Stadt,
[347]Leipzig und die Regierung.
ſagte er kurzab, hat eine Sühne nur zu geben, nicht zu fordern; und
noch hochmüthiger ermahnte nachher im Landtage Miniſter Falkenſtein
die Leipziger, ſie ſollten in ſich gehen und ſich wiederfinden. Die Be-
kanntmachung über die Ergebniſſe der commiſſariſchen Vorunterſuchung
erſchien erſt nach ſechs Wochen und enthielt offenbare Unwahrheiten.
Sie begnügte ſich nicht mit der ganz unbeſtreitbaren Verſicherung, daß
Prinz Johann das Schießen nicht befohlen hatte, ſondern leugnete ſogar
feierlich ab, daß er vor dem Feuern einmal auf den Platz hinausgekommen
war — was doch gar nichts zur Sache that und von dem Prinzen ſelber
unbefangen eingeſtanden wurde. Solche liebedieneriſche Unaufrichtigkeiten
mußten den Verdacht erwecken, daß die Regierung nicht mit gleichem Maße
meſſe. Auch über das gerichtliche Verfahren nachher verlautete nur wenig
Beſtimmtes. Die radicalen Agenten, die wohl ſicherlich insgeheim mit-
gewirkt und den blinden Papiſtenhaß der Maſſen mißbraucht hatten, hielten
ihr Spiel wohlverdeckt; die zunächſt betheiligten Offiziere aber wurden in
der Stille aus Leipzig verſetzt.
So ließ die bureaukratiſche Seelenangſt Alles im Dunkel, wiewohl
ſie eigentlich nichts Fürchterliches zu verſtecken hatte. Um ſo eifriger
zeigte ſie ſich in kleinen polizeilichen Bosheiten. Mehrere der auswär-
tigen Schriftſteller wurden ausgewieſen, ſogar der Königsberger Wilhelm
Jordan, der ſchon das ſächſiſche Staatsbürgerrecht beſaß. Unabläſſig be-
ſtürmte der Dresdener Hof den Berliner um ſtrenge Maßregeln gegen
die angeblich mitſchuldigen Radicalen der Provinz Sachſen, namentlich
gegen die Hallenſer Studenten — obgleich ein ſofort hinübergeſendeter
Pedell keinen einzigen Hallenſer in Leipzig auffinden konnte.*) Vornehm-
lich die Preſſe bereitete dem ſächſiſchen Hofe ſchweren Kummer. Die Köl-
niſche, die Schleſiſche, die Magdeburgiſche Zeitung beeilten ſich ihren Leſern
die Leipziger Mordnacht in greller Beleuchtung, nicht ſelten mit groben
Entſtellungen, vorzuführen. Der ſächſiſche Geſandte Minckwitz brachte dem
Miniſter in Berlin ganze Stöße ruchloſer preußiſcher Zeitungsartikel und
bat flehentlich, die Beſprechung der Leipziger Ereigniſſe ganz zu verbieten
oder doch mindeſtens die Namen der frevelnden Correſpondenten zu er-
forſchen. Beides war unzuläſſig, nach den wahrlich nicht milden neuen
Cenſurverordnungen Preußens; auch merkte man in Berlin, daß die ſäch-
ſiſchen Miniſter Rache nehmen wollten an einigen verdächtigen Schrift-
ſtellern in Leipzig. Vier Monate währte dies klägliche Jammergeſchrei;
dann endete es ohne jedes Ergebniß.**)
In ſolcher Lage begann der neue ſächſiſche Landtag, lärmend und
friedlos. Die Oppoſition erhob ſogleich heftige Anklagen, ihr radicaler
[348]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Flügel verlangte ſogar ſchon, in Folge einer Petition Robert Blum’s,
Verminderung des Heeres und Vereidigung der Truppen auf die Ver-
faſſung. Für diesmal ward ſie noch geſchlagen; der Hof fühlte jedoch,
wie die Zuverſicht der Gegner unaufhaltſam anwuchs, und ließ den Nach-
barhöfen ausſprechen, nur feſte Eintracht aller Kronen könne noch retten.
Darauf verſprach ihm Metternich die moraliſche Unterſtützung Oeſterreichs;
der preußiſche Geſandte aber, der alte Jordan, der doch ſonſt den Herr-
gott gern einen guten Mann ſein ließ, ſagte ſorgenvoll: „Ich fürchte, es
dürfte die Zeit kommen, wo das appui moral nicht mehr ausreichen
wird.“*)
In der That hatte Robert Blum ſeit jenen ſtürmiſchen Auguſttagen
eine gefährliche Macht erlangt. Es erfüllte ſich, was der Oeſterreicher
Hübner damals vorausſagte: Blum hält die Ordnung aufrecht, und
„dieſen Dienſt wird er ſich theuer bezahlen laſſen“. Die Regierung konnte
ihm nichts anhaben, ſie war dem klugen Demagogen ſogar Dank ſchuldig.
Das Volk betete ihn an, bei keinem Zweckeſſen, keiner politiſchen Verſamm-
lung durfte er fehlen; ſeine Freunde ſchürten überall die Mißſtimmung,
und es war weſentlich ſein Werk, daß beim Ausbruch der Revolution
Sachſen neben Baden als das radicalſte aller deutſchen Länder erſchien.
Seltſamerweiſe — ſo wenig kannten die Miniſter ihr eignes Land —
fand Blum in den kleinen Induſtrieſtädten mehr Anhänger als in Leipzig
ſelbſt. Zwar umgab ihn auch hier eine ſtarke Partei, die er durch die
Schillerfeſte und ſeinen neugegründeten Redeübungsverein ſtets in Athem
hielt; der Kern der reichen, gebildeten Bürgerſchaft aber gehörte dem ge-
mäßigten Liberalismus an, und als die Tage der Prüfung kamen, da hielt
ſich keine Stadt des Landes ſo ruhig, ſo geſetzlich, wie dies von der Re-
gierung ſo ſchnöde behandelte Leipzig.
Alſo blieb die deutſchkatholiſche Bewegung für das religiöſe Leben
gänzlich unfruchtbar und bewirkte nur, daß die römiſche Kirche unangreif-
barer denn je erſchien. In den Landtagen wurde natürlich um die Dul-
dung der neuen Sekte lebhaft geſtritten; je liberaler eine Regierung war,
um ſo freundlicher kam ſie den Anhängern Ronge’s entgegen, ſo vornehm-
lich der Braunſchweiger Hof. Im badiſchen Landtage verlangte Pfarrer
Zittel die völlige Religionsfreiheit und Rechtsgleichheit für alle chriſtlichen
Sekten. Ein echter Sohn des badiſchen Pfarrhauſes, vielſeitig gebildet,
mild, fromm, ganz von Hebel’s menſchenfreundlicher Weisheit erfüllt, hätte
Zittel gern auch für die Juden alle bürgerlichen Rechte gefordert und ſtand
davon nur ab, weil er den tiefen Abſcheu ſeiner Bauern gegen die Güter-
ſchlächter und Roßtäuſcher kannte. Aber ſelbſt mit ſeinem beſchränkten An-
trage vermochte er noch nicht durchzudringen, da die Ultramontanen im
Oberlande Lärm ſchlugen und die Regierung bedenklich wurde.
[349]Preußen und die Deutſchkatholiken.
Sehr unſicher verfuhr die Krone Preußen gegen die neue Sekte.
Zu Anfang begrüßte der König den Abfall Ronge’s gradezu mit Freude.
Nach ſeiner Doctrin konnten ja beide Kirchen nur an innerer Kraft ge-
winnen, wenn die Ungläubigen ausſchieden. Ganz in ſeinem Sinne
rieth General Thile, die kleine, von Rom ausgeſtoßene Schneidemühler
Gemeinde Czerski’s ſo günſtig als möglich zu ſtellen; das würde hoffentlich
auch die evangeliſchen Sektirer zum Austritt aus der Landeskirche er-
muthigen, „und der Weg zu einer Reinigung unſerer Kirche kann ſich
dadurch vielleicht mit anbahnen“. Da die Schneidemühler ſich ernſt und
ehrbar hielten, ſo war Friedrich Wilhelm ſogar geneigt, ſie als Augsburger
Confeſſionsverwandte anzuerkennen und ihnen ſein Wohlgefallen auszu-
ſprechen.*) Erſt nach einem Geſpräche mit dem Erzbiſchof Geiſſel auf
Stolzenfels ward er mißtrauiſcher; er begann jetzt zu bemerken, wie der
politiſche Radicalismus ſich der Sekte bemächtigte, und als er gar erfuhr,
daß Ronge in der evangeliſchen Kirche zu Jerſchendorf erſchienen war, um
die Gemeinde zum Abfall zu verführen, da ſchrieb er zornig: „Heute
hört man noch nichts von ernſtlicher Unterſuchung, viel weniger aber von
Beſtrafung des Frevels!!!!!!! Es iſt mein ernſter Wille, daß für die
Zukunft unſerer Kirche derſelbe Rechtsſchutz gegen die neukatholiſchen Ein-
griffe geleiſtet werde, deſſen ſich die römiſche Kirche bei uns erfreut.“**)
Nach vielfachen Erwägungen beſchloß er endlich, die rechtliche Stellung
der Deutſchkatholiken und der proteſtantiſchen Diſſidenten zugleich durch
ein umfaſſendes Toleranz-Edikt zu regeln. —
Dieſer Entſchluß rechtfertigte ſich von ſelbſt, denn auch die evangeliſche
Kirche ward durch ſektireriſche Bewegungen erſchüttert. Der älteſten und
ehrwürdigſten dieſer proteſtantiſchen Sekten, den Altlutheranern, ſuchte
Friedrich Wilhelm von Haus aus durch milde Nachſicht gerecht zu werden,
wie er ja ſchon als Kronprinz die harte Behandlung dieſer Frommen
ſtets verurtheilt hatte.***) Er geſtattete ihnen ſtillſchweigend ungeſtörten
Gottesdienſt und die Heimkehr der ausgewanderten Prediger. Die geſetz-
liche Anerkennung der Sekte wagte er jedoch erſt nach Jahren auszuſprechen,
weil der Prinz von Preußen ernſt und beharrlich widerſtand. Immer
voll Pietät für den Vater, verlangte der Thronfolger, daß man die An-
ordnungen der früheren Regierung nicht förmlich zurücknehmen, ſondern
die Behörden lediglich zur Duldung der Altlutheraner anweiſen ſolle.
So in Allem und Jedem zeigte ſich der Gegenſatz der beiden Brüder.
[350]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Der getreue Thile fürchtete ſchon, daß der Thronfolger durch die Kraft
ſeines Charakters die Herrſchaft im Miniſterrathe erlangen könnte, und
warnte: „Der Prinz hat in hohem Grade die Gabe der Ausdauer und
Energie in dem, was er will und verfolgt, und jede Erfahrung, daß er auf
dem Wege des beharrlichen Widerſpruchs ſeinen Zweck erreicht, wird ihn
darin nur beſtärken.“*)
Schließlich erlangte der Thronfolger doch ſo viel, daß, ſtatt eines Ge-
ſetzes, am 23. Juli 1845 nur eine „General-Conceſſion“ veröffentlicht
wurde.**) Sie ſicherte den Altlutheranern alle bürgerlichen Rechte zu, ge-
ſtattete ihnen die Bildung von Kirchengemeinden unter einem gemeinſamen
Vorſtande, erklärte ihre Taufen und Trauungen für rechtsgiltig, ſobald
ſie den Gerichten angezeigt würden; nur der Name Kirche ſollte den Bet-
häuſern verſagt bleiben. Welch’ ein Widerſpruch, daß alſo eine Kirche,
die doch älter war als die unirte Landeskirche ſelbſt, jetzt nachträglich eine
bedingte Anerkennung erhielt! Immerhin ward den Bedrängten endlich
eine Sühne alten Unrechts; ſie bildeten, etwa 50,000 Köpfe ſtark, nunmehr
eine Kirchengemeinſchaft mit dem Mittelpunkte Breslau, die ſich in ihrem
frommen Stillleben ſehr engherzig zeigte und ſogar die „gemiſchten Ehen“
von Lutheranern und unirten Evangeliſchen zwar nicht gradezu verbot,
doch für ſeelengefährlich erklärte. Alles was einſt Thomaſius vor andert-
halb Jahrhunderten über dieſe Ehefragen geſchrieben, und der ganze große
Wandel der Zeiten ſeitdem war für den confeſſionellen Starrſinn nicht
vorhanden. Bald darauf erwachte der lutheriſche Sondergeiſt auch in der
unirten Kirche ſelbſt; Superintendent Otto und andere ſtreng lutheriſche
Geiſtliche von den Odermündungen unternahmen, innerhalb der Union
eine geſchloſſene altpommerſche Landeskirche zu bilden.
Weit gefährlicher erſchienen dem Könige die radicalen Proteſtanten,
die jetzt in der alten Heimath der Aufklärung, der Provinz Sachſen ihre
Stimmen erhoben. Hier begann das kirchliche Zerwürfniß ſchon in den
letzten Tagen des Miniſteriums Altenſtein. Biſchof Dräſeke, der gewaltige
Kirchenredner, gerieth in einen heftigen Kanzelſtreit mit dem Prediger
Sintenis, der die Anbetung Chriſti feierlich verdammt hatte. Wie ein
Mann traten die Berliner Orthodoxen für den Biſchof ein, obgleich er
keineswegs zu ihrer Partei gehörte. In der Provinz dagegen, mindeſtens
unter den älteren Geiſtlichen und im Kleinbürgerthum, herrſchte noch durch-
aus die Schule der rationaliſtiſchen Hallenſer Wegſcheider und Geſenius;
der vor Kurzem noch hochgefeierte Biſchof ſah ſich plötzlich in Zeitungen
und Flugſchriften ſchonungslos angegriffen. Da ſuchte Eichhorn den Frieden
herzuſtellen indem er beiden Gegnern Stillſchweigen gebot. Eine ſolche
Demüthigung wollte der ſtolze Prälat nicht ertragen; er fühlte, daß er
[351]Altlutheraner. Lichtfreunde.
die Herrſchaft über ſeine Herde verloren hatte, legte ſein Amt nieder und
zog ſich, ein gebeugter Mann, nach Potsdam zurück, wo ihn des Königs
Gnade doch nicht über den tiefen Fall zu tröſten vermochte. Seitdem
ſchwoll das Selbſtgefühl der Rationaliſten mächtig an, und wie einſt Alten-
ſtein’s harte Unionspolitik den Sektengeiſt der Altlutheraner geſtachelt
hatte, ſo wurde jetzt der Radicalismus aufgereizt durch die ſtreng kirchliche
Haltung Eichhorn’s und des neuen Magdeburgiſchen Conſiſtorialpräſi-
denten Göſchel. Seit 1841 vereinigte ſich eine ſtarke Anzahl von ratio-
naliſtiſchen Geiſtlichen zu regelmäßigen Verſammlungen um die Neugeſtal-
tung der Kirche im Sinne eines einfachen, vernunftgemäßen evangeliſchen
Chriſtenthums zu beſprechen; ſie nannten ſich ſelbſt die proteſtantiſchen
Freunde, von den Gegnern wurden ſie als Lichtfreunde verſpottet. Bald
traten auch Laien hinzu, der Zulauf wuchs von Jahr zu Jahr. Die Eiſen-
bahnen bewährten ſich hier zum erſten male als eine demokratiſche Macht,
die neuen Bahnlinien zwiſchen Saale, Elbe und Mulde führten Tauſende
herbei; auf dem weiten Köthener Bahnhofe tagten mehrmals große Volks-
verſammlungen der Lichtfreunde, die bei Bier und Tabak über die Zukunft
des Chriſtenthums verhandelten.
Die Führer dieſer Bewegung zeichneten ſich durch ehrliche Recht-
ſchaffenheit und religiöſen Ernſt ſehr vortheilhaft aus vor den windigen
Helden des Deutſchkatholicismus. Leberecht Uhlich hatte einſt als Köthe-
ner Landprediger ſeine proteſtantiſche Geſinnung, dem katholiſchen Hofe
gegenüber, freimüthig behauptet und dann in einem Magdeburgiſchen
Dorfe ſein Pfarramt mit ſolchem Eifer verwaltet, daß er eine Zeit lang
gar in den Ruf des Pietismus gerieth, weil die meiſten anderen Rationa-
liſten ſich um die Pflichten der Seelſorge wenig zu bekümmern pflegten.
Als er jetzt eine Predigerſtelle in der Stadt Magdeburg erhielt, ſtrömten
ihm die kleinen Bürger freudig zu. Sie glaubten ihm, denn er redete
ihre Sprache und lebte mit ihnen, wie er auch ſeine Söhne zu ſchlichten
Handwerkern erzog; die lärmenden Volksverſammlungen ſchwiegen ſofort,
wenn der derbe grobknochige Mann mit den ernſten treuherzigen Augen
ſeine ſtarke Stimme erhob. Daß er ſelber noch feſt auf dem Boden ſeiner
geliebten evangeliſchen Kirche ſtände, war dem ehrlichen Rationaliſten ganz
unzweifelhaft; er predigte ja noch immer dieſelben Grundſätze, die er einſt
bei Wegſcheider auf der königlichen Univerſität gelernt hatte, und konnte
gar nicht begreifen, warum ihm das jetzt zum Vorwurfe gereichen ſollte.
Ebenſo grundehrlich war der Hallenſer Pfarrer Wislicenus, ein hart-
verſtändiger Kopf, der ſich mit den Kämpfen der neuen Theologie doch
etwas ernſtlicher als Uhlich beſchäftigt und darum auch einige Gedanken
der Junghegelianer aufgenommen hatte.
Dieſen beiden Führern folgten viele hilfloſe, einfältig fromme Menſchen,
denen das Herz ſchwer ward, weil ſich der Widerſpruch zwiſchen der chriſt-
lichen Offenbarung und den landläufigen Lehrſätzen moderner Natur-
[352]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und Geſchichtsforſchung doch gar nicht wegleugnen ließ. Sehr tief wurzelte
in den Maſſen jener alte gutmüthige Rationalismus, der, nach der Weiſe
des bekannten „vergnügten“ Katechismus der Holſten, die ſittliche Aufgabe
der Menſchheit in einem vergnügten, bürgerlich achtbaren Leben ſuchte.
Den frommen weſtpreußiſchen Dichter Bogumil Goltz faßte gradezu ein
Schauder, wenn er dies ſo ganz im Dieſſeits aufgehende, aller Heiligung
entfremdete Geſchlecht betrachtete, und er verkündete ſeine Warnungen in
einer geiſtvollen, leider formloſen Schrift: Deutſchlands Entartung in
der lichtfreundlichen und modernen Lebensart. Hinter den Rationaliſten
ſtand die breite Maſſe der Unzufriedenen. Irgendwie mußte ſich der
Groll über die Stockung des öffentlichen Lebens doch Luft machen. Hier
in den alten Lutherlanden warf er ſich zunächſt auf die kirchlichen Fragen.
Dies Land alter Cultur und ſtarker geiſtiger Regſamkeit trat ſpäter
als alle andern preußiſchen Provinzen in die Kämpfe des Staatslebens
ein. Als aber die politiſche Leidenſchaft dann endlich erwachte, da
verſchwand die religiöſe Parteiung ebenſo ſchnell, wie ſie gekommen war,
weil ſie doch mehr in dem unbeſtimmten Gefühle allgemeinen Mißmuths
als in der Empörung des Gewiſſens ihre Wurzeln hatte. Zur ſelben
Zeit entbrannte auch in Königsberg der kirchliche Streit; der Diviſions-
prediger Rupp bekämpfte vor ſeinen Soldaten das athanaſianiſche Glaubens-
bekenntniß und wurde dafür von Jacoby’s Judenkreiſe mit ſchadenfrohem
Lobe überſchüttet, von dem Conſiſtorium aber, auf Andringen des frommen
Generals Dohna, zur Rechenſchaft gezogen. Auch Rupp war ein ſehr
achtungswerther, im Grunde des Herzens chriſtlich geſinnter Geiſtlicher,
höher gebildet als die beiden Sachſen; der rückſichtsloſe Wahrheitsdrang,
der ſo tief im Weſen des Proteſtantismus liegt, verleitete ihn, die Kanzel
mit dem Katheder zu verwechſeln und ſeiner Heerde ſtatt des Brodes der
Erbauung den Stein theologiſcher Kritik zu bieten.
Der Kampf ward heftiger, als Wislicenus auf einer Köthener Ver-
ſammlung (1844) die Frage ſtellte: ob Schrift, ob Geiſt? — und rund-
weg antwortete: unſere Lehre iſt nicht ſchriftgemäß. Da erhoben ſich die
Hallenſer Orthodoxen, die dort in der theologiſchen Facultät den alters-
ſchwachen Rationalismus ſchon faſt ganz überwunden hatten: voran Gue-
ricke, der einſt verfolgte, erſt kürzlich wieder eingeſetzte ſtrenge Lutheraner,
ein Mann ohne alle Menſchenfurcht, in der Politik faſt radical, in ſeinem
religiöſen Wunderglauben ſo folgerecht, daß ihm ſelbſt Bileam’s redender
Eſel keine Bedenken erregte. Nachher hielt Tholuck Zeitpredigten wider
den Unglauben, tapfer und beredt, aus der Fülle ſeines frommen Ge-
müthes heraus, aber auch hart und ungerecht gegen die Weltanſchauung
des fridericianiſchen Zeitalters. Unterdeſſen begann Hengſtenberg’s Kirchen-
zeitung Lärm zu ſchlagen; Hunderte von Geiſtlichen, Paſtor Büchſel voran,
erklärten in ihren Spalten, daß ſie dem ungläubigen Wislicenus die
Paſtoralgemeinſchaft aufſagen müßten. So wunderlich hatten die Zeiten
[353]Friedrich Wilhelm und die Lichtfreunde.
ſich verändert, der feierliche Kirchenbann erſchien jetzt in der leichtfertigen
Geſtalt von Zeitungsartikeln. Gegenerklärungen blieben nicht aus, ſie
trugen weit mehr Unterſchriften, aber meiſt von Laien; auch manche er-
klärte Feinde des Chriſtenthums nahmen theil, um der Kirche doch einmal
einen Schlag zu verſetzen.
In früheren Zeiten hatte Deutſchlands evangeliſche Kirche unter der
milden Leitung ihrer Landesherren ſolche ſektireriſche Bewegungen faſt
immer niederzuhalten vermocht. Es war ihr Ruhm, daß ſie die noth-
wendigen radicalen Elemente des Proteſtantismus nicht, wie Englands
phariſäiſche Staatskirche, als Diſſenters ausgeſtoßen, ſondern meiſt lang-
müthig ertragen und dadurch immer wieder beſänftigt hatte. Jetzt am
wenigſten war die Zeit, mit ſolchen ſchönen Traditionen zu brechen. Der
Rationalismus hatte hundert Jahre lang die Kanzeln beherrſcht, er beſaß
unbeſtritten ein hiſtoriſches Recht; nun da er alterte und vermorſchte,
konnten ſeine an Geiſt und Glaubenskraft armen Epigonen der Kirche
nicht mehr gefährlich werden. Das deutſche Gewiſſen rang danach, die
neue wiſſenſchaftliche Weltanſchauung mit der ewigen Wahrheit des Chriſten-
thums zu verſöhnen; ſelbſt der fromme Tweſten geſtand traurig ſeinem
gleichgeſinnten Freunde Perthes: wir Gläubigen haben eigentlich mehr
Sehnſucht nach Glauben als wirklichen Glauben. In ſolchen Tagen des
Zweifels und der Gährung, in dieſem unverkennbar weltlichen Zeitalter
mußte die Kirche ſich vor jedem unbedachten Eingriff hüten, werdende Ge-
danken und Parteibildungen in Freiheit ausreifen laſſen.
Ganz anders empfand König Friedrich Wilhelm. Mit Unrecht warfen
ihm die Gegner vor, daß er ſich bethören ließe durch das Vorbild der
anglikaniſchen Kirche, deren Schwächen er ſehr wohl erkannte. Aus ſeinen
eigenſten Gemüthserfahrungen, aus ſeinem ganzen Sein und Denken
vielmehr ergab ſich ihm die Ueberzeugung, daß die lebendige Kirche nur
aus Gläubigen beſtehen dürfe — ein hohes Ideal, das ſich freilich in der
Gebrechlichkeit dieſer Welt noch nie und nirgends verwirklicht hatte. So
lange die gegenwärtige Kirchenverfaſſung beſtand, wollte er, wie ſein ge-
treuer Thile ſich ausdrückte, zwar nicht das centrum auctoritatis, wohl
aber das centrum unitatis für die evangeliſche Landeskirche bleiben; und
dieſe Pflicht des Kirchenhauptes — oft genug ſprach er es gegen Eichhorn
aus — ſtand ihm unendlich höher als etwa die Sorge für die auswärtige
Politik ſeines Staates. Er meinte im Geiſte evangeliſcher Freiheit zu
handeln und ſeinen irrenden Brüdern ſelbſt einen chriſtlichen Liebesdienſt
zu erweiſen, wenn er ihnen, um ſie vor Heuchelei zu bewahren, die Pforte
der Kirche zum Austritt weit aufthat. Ihn quälte dabei nur das eine
Bedenken, ob man nicht die Verſuchung zum Abfall befördere, wenn man
das Ausſcheiden allzu ſehr erleichtere. Daher erklärte Eichhorn den
Magdeburger Lichtfreunden von vornherein: ſie hätten nur die Wahl,
entweder auszutreten oder ihre kirchlichen Reformpläne aufzugeben. In
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 23
[354]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
einer langen Denkſchrift, die des Königs vollen Beifall fand, führte Thile
aus: das Bekenntniß bilde den einzigen Boden für das ſtaatsrechtliche
Daſein der evangeliſchen Kirche; träte ſelbſt die Hälfte ihrer Mitglieder
aus, ſo würde die andere Hälfte um ſo feſter zuſammenhalten, wie das
Beiſpiel der Altlutheraner bewieſe. Nicht wir, ſo ſchloß er, wollen richten,
wer noch evangeliſch ſei, ſondern nur denen die Thür öffnen, die ſich
ſelbſt für abgefallen bekennen.*)
Von ſolchem Bekenntniß waren die Lichtfreunde jedoch weit entfernt;
ſie behaupteten vielmehr gute evangeliſche Chriſten zu ſein. Freiheit in
der Kirche, nicht außer der Kirche! — ſo lautete ihr Feldgeſchrei. Die
katholiſche Kirche begnügte ſich neuerdings, gleich der weltlichen Staats-
gewalt, meiſt mit dem äußerlichen Gehorſam, mit der Befolgung ihrer
Satzungen und Formen, und erwies durch dieſe mehr politiſche als kirch-
liche Behandlung des religiöſen Lebens doch den Zweifelnden und Schwan-
kenden einige Schonung. Der Proteſtantismus hingegen, der den Glauben
ſo viel tiefſinniger und innerlicher auffaßte, mußte ebendeßhalb ſofort zu
den Machtmitteln des Gewiſſensdrucks greifen, wenn er verſuchte, die
Treuen von den Ungetreuen zu ſcheiden. Alſo geſchah es, daß dieſer König,
der die Gewiſſensfreiheit ſo hoch hielt, gehäſſige Lehrproceſſe gegen die
Lichtfreunde einleiten ließ, damit ſie ſelbſt ihren Unglauben eingeſtünden
und dann der Freiheit des Unglaubens preisgegeben würden. Nach dem
beſtehenden Kirchenrechte war er dazu unzweifelhaft befugt. Er verkannte
jedoch, daß ſolche Religionsgeſpräche niemals ein überzeugendes Ergebniß
haben, weil die Gemüthswahrheiten des Glaubens nur erlebt, nicht be-
wieſen werden können; er verkannte, daß nicht jedem Menſchen der gleiche
Drang und die gleiche Kraft des Glaubens verliehen iſt; und wie er Alles
perſönlich nahm, ſo betrachtete er die Geiſtlichen, die ihm „der Apoſtaſie
vom chriſtlichen Glauben“ ſchuldig ſchienen, kurzweg als Eidvergeſſene.**)
So mußten denn der ehrwürdige ſtrenglutheriſche Superintendent Heubner,
Tweſten und andere Theologen in Wittenberg, ganz nach der Weiſe des
ſiebzehnten Jahrhunderts, ein Colloquium mit Wislicenus abhalten; auch
Rupp in Königsberg und Archidiaconus Krauſe in Breslau wurden ſolchen
Verhören unterworfen. Alle Angeſchuldigten behaupteten, daß ſie durch
ihre Auslegung der Dogmen nur das gute Recht evangeliſcher Freiheit
bethätigt hätten.***)
Mittlerweile tobte der Kampf zwiſchen Hengſtenberg und den Licht-
freunden weiter, und zum Kummer des Königs erklärte ſich jetzt auch eine
unbeſtreitbar kirchlich geſinnte Mittelpartei wider die Verfolgungsſucht der
Orthodoxen. Biſchof Dräſeke, der ſoeben erſt durch die ſächſiſchen Rationa-
[355]Die Stadträthe gegen die Orthodoxen.
liſten ſo ſchwer verunglimpfte, und der allezeit unterthänige greiſe Biſchof
Eylert unterzeichneten (Aug. 1845) eine von den Schülern Schleiermacher’s
in Berlin entworfene Adreſſe an den Monarchen, welche zwar die Ver-
irrungen der Lichtfreunde beklagte, aber auch vor willkürlichen Aus-
ſchließungen dringend warnte: nur unter lebendiger Theilnahme der Ge-
meinden ſolle die Kirche ſich ſelbſt geſtalten und ihre Lehrformeln in chriſt-
lichem Sinne frei entwickeln. Weit gröber lautete eine bald nachher vom
Berliner Magiſtrat beſchloſſene Adreſſe. Alle dieſe Jahre hindurch hatte die
Stadt Nicolai’s lediglich durch Witze und Klatſchereien in die Kämpfe des
öffentlichen Lebens eingegriffen; erſt als ſie die Grundſätze der Aufklärung
bedroht glaubte, gerieth ſie in Aufregung. Mit begreiflicher Verwunde-
rung berichteten die ausländiſchen Zeitungen, wie dieſer Magiſtrat, der
doch nur als Patron an kirchlichen Dingen theilnahm und die Pflichten
des Kirchenpatronats immer ſehr leicht genommen hatte, jetzt plötzlich in die
theologiſche Polemik hineingerieth und die Zeitung Hengſtenberg’s wegen
ihres „katholiſchen Princips“ vor dem Monarchen feierlich verklagte. Einen
ſolchen theologiſirenden Stadtrath hatte die Welt ſeit den Zeiten der Puri-
taner nicht mehr geſehen, und wahrlich kein Hauch von dem Glaubens-
ernſte jener Gottſeligen wehte im Berliner Rathhauſe; es war allein die
werdende politiſche Oppoſition, die ſich hinter der theologiſchen Hülle ver-
barg. Als der König auf einer Reiſe durch Pommern von dieſer „frechen
Adreſſe“ erfuhr, gerieth er in heftigen Zorn und beſtand darauf, ihre Ur-
heber müßten ſie ihm perſönlich überreichen.*) Nach ſeiner Heimkehr, am
2. Oct. fuhren die Stadtbehörden Berlins in einem langen Zuge von
Staatswagen zum Schloſſe, wo ihnen ein ſehr ungnädiger Empfang wurde.
Der König verwies ihnen, daß ihre Eingabe nur die Treuen tadle, nicht
auch die Eidbrecher, und ſchloß mit der Verſicherung, er würde den Tag
ſegnen, wo er „das Kirchenregiment in die rechten Hände zurückgeben“
könne. Wen er unter dieſen rechten Händen meinte, das blieb den Berlinern
vorderhand noch dunkel. Ebenſo ſtreng wurden zwei Adreſſen der Städte
Breslau und Königsberg abgefertigt, und tief beſorgt meinte Bodelſchwingh:
„Lieber wäre es mir freilich, Se. Majeſtät überließe in ähnlichen Fällen
den Miniſtern die Beſcheidung.“**)
Indem der König ſo ganz perſönlich in die kirchlichen Parteikämpfe
eingriff, ſetzte er ſich den ärgſten Verdächtigungen aus, da der beſchränkte
Hochmuth der modernen Aufklärung an die Ehrlichkeit der Gegner niemals
glauben will. Er ahnte das ſelbſt und ſagte in dieſen Tagen bitter — ſo
erzählte man überall und wohl mit gutem Grunde: — bei der Huldigung
wollten mich die Berliner vor Liebe aufeſſen, heute thut es ihnen leid, daß
ſie es nicht gethan haben. Die Sache der Lichtfreunde erſchien jetzt ſchon
23*
[356]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Vielen als die Sache der evangeliſchen Freiheit; in ſolchem Sinne redete
ein Aufruf aus Halle, der die Unterſchriften Max Duncker’s, des Philo-
ſophen Hinrichs und vieler anderen gemäßigten Männer trug. Selbſt der
alte Marheineke — ſo ſeltſam verwirrten ſich die Parteien — hieß jetzt
ein Liberaler, weil er Eichhorn’s Kirchenpolitik literariſch bekämpfte, auch
als Hegelianer den Rationaliſten nahe ſtand; und er hatte doch einſt im
Namen der allmächtigen Staatsgewalt die liturgiſchen Schriften Schleier-
macher’s ebenſo lebhaft befehdet. Neue Verfolgungen ſchärften den Un-
willen. In Breslau wurde Conſiſtorialrath David Schulz entlaſſen,
weil er die Adreſſe der Stadt mit unterſchrieben hatte; in Magdeburg
konnte Erler, ein weit milderer Rationaliſt, die Beſtätigung als Super-
intendent nicht erlangen, weil er an Verſammlungen der Lichtfreunde theil-
genommen und dadurch das Vertrauen des Königs verloren hatte;*) in
Halle mußte Karl Schwarz, ein gelehrter, keineswegs unkirchlicher junger
Theolog, ſeine Vorleſungen einſtweilen, bis auf beſſere Erkenntniß, ein-
ſtellen; in Königsberg ſchloß die reformirte Gemeinde ſelbſt ihre Kirche,
nachdem das Conſiſtorium ſtatt des Pfarrers Detroit, der die Symbole nicht
verleſen wollte, einen anderen Geiſtlichen berufen hatte, und als der Berliner
Michelet den Vorfall in einem parteiiſchen Zeitungsartikel beſprach, da wurde
ſelbſt dieſer ſchon längſt unſchädliche, ganz in ſeinen dialectiſchen Formeln
eingeroſtete Hegelianer mit Abſetzung bedroht. Das Alles geſchah auf
ausdrücklichen Befehl des Königs, der eigenhändig verfügte: „Die Frech-
heit der Feinde des Evangelii wird nachgrade zu arg. Es muß und es
ſoll auf’s Würdigſte und Aller-Entſchiedenſte gegen ſie eingeſchritten
werden, ſowohl in Königsberg, als in Halle, Magdeburg, Nordhauſen,
Berlin oder wo immer der Abfall von Gott vorbereitet wird um bald vom
König abfallen zu können.“**) Der Partei Hengſtenberg’s genügten dieſe
kleinen Quälereien noch nicht, und auf der weiten Welt fand Friedrich
Wilhelm’s Kirchenpolitik nur einen einzigen namhaften Vertheidiger: Thomas
Carlyle, den Namensvetter des Hiſtorikers, einen der zwölf Apoſtel der
ſchottiſchen Irvingianer, der in ſeiner Schrift „Deutſchlands moraliſche
Phänomene“ den chriſtlichen Monarchen nicht ohne Geiſt, aber ohne Sach-
kenntniß verherrlichte.
Die krankhafte, unſern Tagen faſt unbegreifliche Reizbarkeit der Zeit
zeigte ſich grell, als Friedrich v. Raumer im Jan. 1847 in Gegenwart
des Königs eine akademiſche Gedächtnißrede auf Friedrich II. hielt. Der
nach Form und Inhalt gleich werthloſe Vortrag war erſichtlich veranlaßt
durch Tholuck’s Predigt über den großen König und ſollte wohl auch der
gegenwärtigen Regierung einige leiſe Mahnungen andeuten; dieſe polemiſche
Abſicht ließ ſich aber kaum bemerken, da der Redner in platter Behaglich-
[357]Verhandlungen über das Toleranzedikt.
keit immer nur den einen Gedanken, daß Jeder nach ſeiner Façon ſelig
werden müſſe, hin und her wendete. Gleichwohl ſuchten die erregten
Hörer in jedem unſchuldigen Worte eine Anzüglichkeit; auf den Bänken
hinter dem Monarchen wurde laut gelacht, als Raumer von den gut-
müthigen eigenſinnigen Fürſten ſprach, die in Allem nach ihrer Ueber-
zeugung regieren wollten, und von den größeren, welche den Werth der
Perſönlichkeit anerkännten. Voll Unwillens verließ der Hof den Saal.
Die Akademie benahm ſich wieder ebenſo klein, wie vor Jahren, als ſie
Hegel den Einlaß verweigerte; wie damals durch perſönliche Bosheit ſo
ward ſie jetzt durch klägliche Angſt bethört und richtete ein höchſt unter-
thäniges, würdeloſes Entſchuldigungsſchreiben an den Monarchen. Selbſt
Humboldt war Hofmann genug, die langweilige Rede „maßlos“ zu nennen.
Darauf erklärte Raumer ſeinen Austritt, obgleich Friedrich Wilhelm ſich
bald wieder beſänftigt hatte und über die „Excuſen“ ſeiner Akademiker
muthwillig ſcherzte.*)
So von allen Seiten her angefeindet beſchäftigte ſich der König nur
um ſo eifriger mit dem Toleranzedikte, das die Welt über die beiden
Grundgedanken ſeiner Kirchenpolitik aufklären ſollte: er dachte im Staate
Jedem die altpreußiſche Gewiſſensfreiheit zu ſichern, aber zugleich die evan-
geliſche Kirche von allen erklärten Ungläubigen zu reinigen. Faſt zwei
Jahre lang, ſeit dem Juli 1845, wurde darüber berathen, im Staats-
miniſterium, im Staatsrathe, auch mit mehreren Theologen. Von vorn-
herein ſtellte der König die Regel auf, das Kirchenvermögen gehöre der
geſammten Kirche, nicht der einzelnen Gemeinde, und dürfe daher niemals
von den Diſſidenten beanſprucht werden: — einen rechtlich unhaltbaren, hoch-
gefährlichen Grundſatz, der den alten Anmaßungen der römiſchen Curie ent-
gegenkam und, bis in ſeine letzten Folgerungen durchgeführt, die Ordens-
herrſchaft im Herzogthum Preußen hätte wiederherſtellen müſſen.**) Beſon-
dere Schwierigkeiten bot die Frage der bürgerlichen Eheſchließung. Der im
Kölniſchen Biſchofsſtreite bewährte Starrſinn der katholiſchen Prieſter, die
neuen Sektenbildungen, die mit der Freizügigkeit anwachſende confeſſionelle
Miſchung der Bevölkerung, die kirchliche Gleichgiltigkeit breiter Volks-
ſchichten — kurz, alle Erfahrungen der jüngſten Jahre zwangen den Staat
gradezu, die Civilehe in irgendwelcher Form einzuführen. Griff die Krone
rechtzeitig durch, dann konnte die unabweisbare Reform noch ſehr wohl ohne
Verletzung der frommen kirchlichen Gefühle dergeſtalt erfolgen, daß die
bürgerliche Eheſchließung nur aushilfsweiſe eintrat falls die kirchliche Trau-
ung durch anerkannte Geiſtliche entweder verweigert oder verſchmäht wurde.
Dem Könige wurden ſolche Gedanken aufgedrängt durch einen häß-
[358]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
lichen Vorfall, der ihn in ſeinen heiligſten Gefühlen verletzte. Der junge
Dr. Falkſon in Königsberg, ein achtungswerther, gemäßigt liberaler Mann
aus Jacoby’s Freundeskreiſe wollte ein Chriſtenmädchen heirathen und
doch Jude bleiben, obgleich er dem poſitiven Glauben ſeiner Stamm-
genoſſen fern ſtand. Eine ſolche Ehe war verboten, durch eine ganz un-
zweideutige, von allen Gerichten ſtets übereinſtimmend ausgelegte Vorſchrift
des Allgemeinen Landrechts (Thl. 2. Tit. 1. § 36). Selbſt Rupp, der Pre-
diger der freien Gemeinde, verweigerte die Trauung; alle guten Proteſtanten
nannten es eine Unverſchämtheit, daß dieſer Jude, aus rein perſönlichen
Gründen, ſich den Segen der evangeliſchen Kirche zu erſchleichen ſuchte.
Da die Krone trotz wiederholter Eingaben das Recht nicht beugen wollte,
ſo ließ ſich Falkſon in Hull durch einen anglikaniſchen Geiſtlichen trauen.
Darin ſah der König, mit gutem Grunde, „eine freche Verhöhnung der
Landesgeſetze“, und verfügte: „Die Ehe kann nur beſtehen, wenn ſie ſich
gerichtlich verpflichten, ihre Kinder chriſtlich taufen und erziehen zu laſſen;
wollen ſie das nicht, ſo muß man ſie engagiren, dahin auszuwandern,
wo ſie ſich haben trauen laſſen. Hier im Lande jedoch dürfen ſie dann
nicht vierundzwanzig Stunden zuſammenbleiben, oder vielmehr, ihre Pro-
genitur muß im Voraus als Baſtarde erklärt werden.“ Bunſen erhielt
darauf Befehl, in England nachzuforſchen, auch vielleicht von dem Primas
eine Nichtigkeitserklärung zu erlangen. Dort ließ ſich nichts erreichen;
denn die anglikaniſche Kirche fühlte ſich von jeher dem Judenthum näher
verwandt als der deutſche Proteſtantismus. Nun endlich mußten die
preußiſchen Gerichte einſchreiten*), obwohl der König ihrem Liberalismus
wenig traute. „Unſere Gerichte“, ſchrieb er an Bunſen, „ſind in allen
kirchlichen Dingen mehr wie ſchlecht, d. h. zugleich ignorant und entſchloſſen
alle Geſetzesſtellen auf das möglichſt Unkirchlichſte zu interpretiren.“ Sein
Mißtrauen rechtfertigte ſich nicht. Falkſon’s Ehe wurde, dem Geſetze
gemäß, in zwei Inſtanzen für nichtig erklärt, und das gerichtliche Ver-
fahren erſt eingeſtellt, als die Verfaſſung von 1848 den Rechtsboden
verändert hatte.
Mitten in ſeiner zornigen Aufregung fühlte der König doch, daß die
beſtehenden Geſetze der verwandelten Zeit nicht mehr genügten. Seinem
Bunſen geſtand er: „Ich gehe mit dem Project (aber nur in gremio)
ſchwanger, dergleichen gemiſchte, ſäuiſche und apoſtatiſche Ehen nicht zu
verbieten für die Zukunft … dagegen den Chriſten das Getrautwerden
in der Synagoge, den Juden daſſelbe in der Kirche ſtreng zu verbieten;
die Schließung ſolcher Ehen aber vor den Richter zu verweiſen, wie das
geſchehen ſoll mit den Ehen aller derer, die aus der Landeskirche aus-
treten. Ich bin überhaupt ein großer Freund, nicht der Civilehe im fran-
[359]Das Religions-Patent.
zöſiſchen Sinne, wohl aber der Erklärung einer legitimen Ehe vor dem
Richter.“ Eifrig kam er auf dieſe Idee einer „Quaſi-Civilehe“ zurück, nur
ſollte ſie mit den Inſtitutionen des „revolutionären Frankreichs“ ſchlechter-
dings nichts gemein haben.*) Bald zeigte ſich aber, daß er über ſolche
Dinge weit freier dachte, als die Mehrzahl ſeiner Räthe; darum beſchloß
er die große Prinzipienfrage der bürgerlichen Eheſchließung vorläufig ruhen
zu laſſen und zunächſt nur für die Trauungen der Diſſidenten mildere
Vorſchriften zu geben. Auch dabei ſtieß er auf lebhaften Widerſpruch.
Mehrere der Miniſter fanden die Pläne des Monarchen von Haus aus
viel zu weitherzig; Hofprediger Snethlage, ein gläubiger, keineswegs fana-
tiſcher Weſtphale, der ſich bald des Königs perſönliches Vertrauen gewann,
verlangte zum mindeſten, daß die bürgerliche Eheſchließung der kirch-
lichen Einſegnung der Diſſidenten immer vorangehen müßte, damit der
chriſtliche Staat nicht in die Lage käme, die Ceremonien der Sektirer
mittelbar anzuerkennen.
Nach ſehr weitläufigen Verhandlungen einigte man ſich dahin, daß
die Brautleute der geduldeten Sekten zunächſt gerichtlich aufgeboten, dann
nach dem Brauche ihrer Sekte eingeſegnet werden und ſchließlich durch die
Eintragung in die Regiſter der Gerichte die bürgerliche Anerkennung ihrer
Ehe erlangen ſollten.**) Im Uebrigen ſchloß ſich der von Eichhorn vor-
gelegte Entwurf des Religionspatentes eng an die Vorſchriften des All-
gemeinen Landrechts an.***) Gleichwohl erſchien er manchen Orthodoxen wie
eine gefährliche Neuerung. Präſident Gerlach widerſprach im Staatsrathe
entſchieden — denn „man darf nicht Alles was ſich Kirche und Trauung
nennt, auch als ſolche unbeſehens gelten laſſen“ — und beſchwor noch im
letzten Augenblicke ſeinen königlichen Freund flehentlich, dies unſelige,
die Abtrünnigkeit fördernde Geſetz nicht zu veröffentlichen.†) Der König
blieb ſtandhaft. Am 30. März 1847 wurde das Patent über die Bildung
neuer Religionsgeſellſchaften unterzeichnet, das allen Ausgetretenen den
Genuß der bürgerlichen Rechte und Ehren zuſicherte, ſobald ihre neue Re-
ligionsgemeinſchaft vom Staate genehmigt würde. Solche Sekten, welche
ſich mit einer der beiden großen Religionsparteien des Weſtphäliſchen
Friedens „in weſentlicher Uebereinſtimmung befänden“, ſollten, gleich den
Altlutheranern, befugt ſein ihre Amtshandlungen mit voller rechtlicher
Wirkung vorzunehmen; andere Sekten wurden nur geduldet und mußten
ſich den neuen Vorſchriften über die Quaſi-Civilehe unterwerfen.
[360]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Das Patent brachte endlich Klarheit in verdunkelte Rechtsverhält-
niſſe. Gleichwohl erntete der König keinen Dank dafür; denn man
fürchtete allgemein, daß die den Diſſidenten ſo großmüthig gewährte Frei-
heit zugleich als ein Mittel dienen ſollte um das doctrinäre Ideal einer
ſichtbaren Kirche von Gläubigen zu verwirklichen und die Zweifelnden aus
der Landeskirche zu verdrängen. So geſchah es auch. Rupp, Uhlich, Wisli-
cenus hatten ſich inzwiſchen mit ihren Anhängern zu freien Gemeinden
zuſammengethan; gleich ihnen der Prediger Baltzer in Nordhauſen, auch
er ein grundguter, herzensfrommer Mann, bekannt durch ſein phraſen-
reiches Gedicht:
Sie Alle ſahen ſich nunmehr gezwungen die Landeskirche zu verlaſſen; Rupp
ward auch aus dem Guſtav Adolfs-Vereine ausgeſchloſſen, weil ihn die Mehr-
heit nicht mehr für einen Chriſten gelten ließ. Gegen Uhlich war der
König beſonders aufgebracht; er nannte ihn undankbar, da er ihm doch
„unerhörte Schonung“ erwieſen, ſeine Berufung nach Magdeburg nicht
gehindert hätte.*)
Die Magdeburgiſche Gemeinſchaft ſchien anfangs kräftig zu gedeihen,
ſie zählte 5000 Köpfe und war nicht arm an Werken chriſtlicher Liebe.
Bald aber erfüllte ſich auch an ihr wie an allen anderen freien Ge-
meinden die alte Wahrheit, daß ſich eine Kirche nicht auf Verneinungen
aufbauen läßt. Zumal im deutſchen Volke, das für die Sektirerei
niemals viel Sinn gehegt hat, konnten ſich kleine Sonderkirchen immer
nur dann behaupten, wenn ſie durch die Kraft myſtiſcher Verzückung,
begeiſterter Glaubensinbrunſt getragen wurden. Von Alledem zeigte
ſich hier keine Spur. Die rohe Kritik des ungeſchulten Verſtandes
drängte die freien Gemeinden von einem Nein zum andern. Manche
verzichteten bald auf jedes Bekenntniß, andere auf die Sacramente; in
Magdeburg wirkte eine Zeit lang ein ungetaufter Jude mit; Wislicenus’
Halliſche Gemeinde gab ſelbſt den Namen einer kirchlichen Gemeinſchaft auf
und hielt ihre Verſammlungen unter den heiteren Klängen der Pickelflöte.
Da die Volksverſammlungen der Lichtfreunde ſchon im Auguſt 1845,
nach dem Vorgange Sachſens, verboten wurden, ſo verſchwand die neugierige
Theilnahme des großen Publicums ſchnell, und als nunmehr die Politik
alle Leidenſchaften der Zeit in Anſpruch nahm, da wurden auch die freien
Gemeinden in die Wirbel der politiſchen Oppoſition hineingeriſſen. Das
Strohfeuer der religiöſen Erregung verflackerte, die Mehrzahl der Genoſſen
ging in das demokratiſche Lager über. Uhlich’s Freund, der nach Bremen
übergeſiedelte Prediger Dulon ward ein Apoſtel des wilden Radicalismus,
während Uhlich ſelbſt auch in der Politik ſeine kleinbürgerliche Ehrbarkeit
[361]Kirchenverfaſſungs-Pläne des Königs.
nicht ganz verleugnete. Nach wenigen Jahren blieb von den Lichtfreun-
den nichts übrig als ein Häuflein von kleinen deiſtiſchen oder atheiſtiſchen
Vereinen, die für das religiöſe Leben der Nation nicht das Geringſte leiſteten.
Alſo bereiteten dieſe Diſſidenten, ganz wie die Deutſchkatholiken, zuletzt
nur ihren unbedingten Gegnern einen Triumph. Hengſtenberg ſchien
Recht zu behalten, wenn er vorausſagte, daß jeder Abfall vom ſtrengen
Bekenntniß nothwendig zur Anarchie führe. Wer freier und milder ur-
theilte, wie der tief fromme Bethmann-Hollweg, mußte freilich zugeſtehen,
daß auch der König und ſein Kirchenregiment an dieſem Jammer eine
Mitſchuld trugen. Mit etwas mehr Weisheit und chriſtlicher Geduld
hätte man „den armen, unglücklichen Uhlich“ ſo wie viele andere ſeiner
gleich redlichen Geſinnungsgenoſſen wohl in der Landeskirche feſthalten
und alſo vielleicht vor radicalen Verirrungen bewahren können. —
Wer „die rechten Hände“ waren, denen der König dereinſt ſeine
Kirchengewalt anvertrauen wollte, das wußten ſeine Vertrauten längſt.
Schon vor ſeiner Thronbeſteigung hatte er in einem ausführlichen Briefe
an Bunſen dargeſtellt, wie Preußens evangeliſche Kirche ſich aus ſich
ſelbſt heraus, nach dem Vorbilde der chriſtlichen Urkirche, neu geſtalten
ſollte. Er wollte Biſchöfe die nach altchriſtlichem Brauche ſich unmittel-
bar an der Seelſorge betheiligten, mithin beſcheidene kleine Bisthümer,
„Kirchen“, etwa ſo groß wie die beſtehenden Sprengel der Superinten-
denten, für ganz Preußen ungefähr 350. Die Biſchöfe ſollten alleſammt
durch Handauflegung eine ganz unanfechtbare apoſtoliſche Weihe empfangen,
die erſten alſo durch engliſche oder ſchwediſche Biſchöfe eingeſegnet werden
und dann den empfangenen Segen weiter ſpenden; von dieſer katholiſchen
Vorſtellung kam Friedrich Wilhelm nicht los, und ſchlechterdings nicht wollte
er zugeſtehen, daß ſie den Grundgedanken des Proteſtantismus widerſprach.
Darunter Presbyterien von Pfarrern und Laien, die aber auch Kirchen-
diener, nicht Repräſentanten ſein ſollten; dann noch altardienende, armen-
pflegende Diakonen, zu unterſt die Gemeinden der Gläubigen, der am Wort
und Sakrament wirklich Theilnehmenden. Ueber den Biſchöfen etwa dreizehn
Metropolitane in den althiſtoriſchen Biſchofsſitzen des evangeliſchen Preu-
ßens, mit Capiteln, denen die Befugniſſe der bisherigen Conſiſtorien über-
tragen würden. An höchſter Stelle endlich der Fürſt Erzbiſchof von Magde-
burg, der Primas Germaniens, mit einem Primatialcapitel, das an die
Stelle des Cultusminiſters treten ſollte. Dem Monarchen verbliebe dann
nur noch die äußere Schirmherrſchaft und das Recht, die Beſchlüſſe der großen
Landesſynoden zu beſtätigen.
Die Unausführbarkeit dieſes Planes ſprang in die Augen; Friedrich
Wilhelm ſelbſt rechnete ihn zu ſeinen zahlreichen Sommernachtsträumen.
[362]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Eichhorn hingegen erkannte als erfahrener Geſchäftsmann den Weg, der
allein zur Aufhebung des alten harten Territorialſyſtems führen konnte.
Es gelang ihm zwar nicht, den Monarchen von ſeinen geheimen Lieb-
lingsgedanken abzubringen — denn wer hätte das je vermocht? — wohl
aber bewog er ihn, die Selbſtändigkeit der Landeskirche zunächſt durch
freiere Ausbildung ihrer beſtehenden Inſtitutionen vorzubereiten. So
wurden denn ſeit 1841 die im Oſten faſt verſchwundenen Kreisſynoden
neu belebt, 1844 die Provinzialſynoden einberufen. Im folgenden Jahre
erhielten die Conſiſtorien erweiterte Befugniſſe und eigene Präſidenten,
während ſie bisher faſt nur die Prüfung der Candidaten ſelbſtändig be-
ſorgt, die Regierungen aber die eigentlich kirchliche Verwaltung geleitet
hatten.
Das Alles geſchah unter dem ſtillen Widerſtande der Mehrzahl
der Miniſter; Graf Arnim und die anderen unter ſeinen Amtsgenoſſen,
welche gleich ihm früher an der Spitze einer Regierung geſtanden hatten,
konnten ſich, nach der alten bureaukratiſchen Ueberlieferung, unabhängige
kirchliche Behörden gar nicht vorſtellen. Bedenklicher war, daß der Mon-
arch ſelbſt die geſunde, freie kirchliche Selbſtverwaltung, die in Rheinland
und Weſtphalen aufzublühen begann, ſehr mißtrauiſch betrachtete.*) Dieſe
Presbyterien waren ihm zu modern, ſie erinnerten ihn zu ſehr an das
gottloſe Repräſentativſyſtem. Nicht ihnen wollte er die Kirchenzucht an-
vertrauen, ſondern allein der gläubigen Gemeinde, der „Kirche“. Ver-
geblich wendete Thiele ein, ſolche ganz im Glauben einige Gemeinden be-
ſtünden heute nur noch ſelten.**) Friedrich Wilhelm blieb dabei, die große
Idee des evangeliſchen Prieſterthums würde geſchändet, wenn auch Gleich-
giltige und Ungläubige an den Wahlen und den Aemtern theilnähmen;
niemals begriff er, daß dieſe idealiſtiſche Doctrin nicht ohne Heuchelei und
unevangeliſchen Zwang verwirklicht werden konnte. Andererſeits wollte
er, aus Scheu vor der römiſchen Kirche, den Presbyterien des Weſtens
nicht einmal eine berechtigte kirchliche Nothwehr geſtatten; er unterſagte
ihnen, pflichtvergeſſene Hausväter, die ihre Kinder alleſammt katholiſch
erziehen ließen, von den kirchlichen Aemtern auszuſchließen.
Doch die Zeit drängte. Angeſichts der überhandnehmenden Sektirerei
und des gewaltigen Aufſchwungs der ultramontanen Partei mußten die
evangeliſchen Landeskirchen Deutſchlands verſuchen ſich innerlich zu kräftigen
und ſich untereinander feſter zuſammenzuſchließen. Niemand empfand
dies früher als der ganz unkirchlich geſinnte, aber politiſch kluge König
von Württemberg. Die clericalen Umtriebe in ſeinem eigenen Lande und
die ultramontane Politik des verhaßten bairiſchen Nachbarhofes beunruhigten
ihn ſchwer. Schon am 28. Arpil 1843 überſendete er dem Geſandten
[363]Evangeliſche Conferenz in Berlin.
Rochow mit einem eigenhändigen Briefe eine Denkſchrift, welche der preu-
ßiſchen Regierung vorſchlug, ein neues Corpus Evangelicorum am Bundes-
tage zu bilden: die evangeliſchen Höfe ſollten ſich vereinbaren über eine
gemeinſame Kirchenpolitik, insbeſondere über die Abwehr römiſcher Ueber-
griffe. In ſolcher Geſtalt ſchien der württembergiſche Antrag unan-
nehmbar. Das Corpus Evangelicorum hatte den Proteſtanten einſt als
Schutzwehr gegen die katholiſche Mehrheit der alten Reichstage gedient;
jetzt da nur noch ſechs der regierenden Fürſten katholiſch waren, drohte
ein ſolcher Bund im Bunde nur Unfrieden zu erregen; und wie konnten
die evangeliſchen Höfe unbedingt für einander einſtehen, da ihre Kirchen-
politik ſich doch auf ſo verſchiedenen Bahnen bewegte? Daher gab der
König durch das Auswärtige Amt eine vorſichtig ablehnende Antwort; zu
Verhandlungen über das evangeliſche Kirchenweſen erklärte er ſich jedoch
bereit.*) So leicht ließ ſich der beſorgte Schwabenkönig nicht abweiſen.
Er war über die Umtriebe der Ultramontanen gut unterrichtet; er wußte,
daß die Getreuen der Münchener Congregation überall in der Welt, ſelbſt
in Irland geſchäftig arbeiteten; er mußte erleben, daß eine Verfügung
ſeines eigenen Conſiſtoriums, welche die evangeliſchen Geiſtlichen zur kirch-
lichen Treue aber auch zur Sanftmuth gegen die Andersgläubigen er-
mahnte, von den bairiſchen clericalen Blättern höhniſch angegriffen wurde.
Solchen Feinden gegenüber hielt er für nöthig, daß die evangeliſchen Kronen
am Bundestage gemeinſam die bedrängte Lage der Proteſtanten in Oeſter-
reich und Baiern, die bedrohlichen Anmaßungen der römiſchen Kirche zur
Sprache brächten. In Berlin aber ſuchte man Alles zu vermeiden was den
Vatican reizen konnte; einen Antrag beim Bunde wollte König Friedrich
Wilhelm höchſtens als „ultima ratio“ zulaſſen.**) Alſo nochmals abge-
wieſen ermäßigte der König von Württemberg ſeine Wünſche und verlangte
nur noch, auf den Rath ſeines Oberhofpredigers Grüneiſen, daß Preußen
die evangeliſchen Regierungen zu Berathungen über die Kirchenverfaſſung
einladen ſollte. Dieſe Idee der „inneren Unirung“ der deutſchen Landes-
kirchen hatte Eichhorn ſchon im Anfang der langwierigen Verhandlungen
ausgeſprochen; jetzt wurde ſie von Ullmann auch vor der Leſewelt ver-
treten in dem Büchlein „für die Zukunft der evangeliſchen Kirche Deutſch-
lands“, das der König von Preußen mit großer Befriedigung las.***)
So ward denn das alte, niemals ganz verſchwundene Idealbild der deut-
ſchen evangeliſchen Nationalkirche wieder lebendig, leider in Tagen die
es unmöglich ausgeſtalten konnten. Auf Preußens Einladung verſam-
melten ſich nunmehr, um Neujahr 1846 die Abgeſandten der ſämmtlichen
proteſtantiſchen Regierungen Deutſchlands zu einer freien „Evangeliſchen
[364]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
Conferenz“ in Berlin. Durch perſönliche Würde, tiefen Glaubensernſt
und umfaſſende juriſtiſche Sachkenntniß erlangte Bethmann-Hollweg bald
die Stellung des Führers unter den Tagenden. Gleichwohl ließ ſich an
einen augenblicklichen Erfolg gar nicht denken, da die kirchlichen Zuſtände
der einzelnen Lande ſich durch eine wirrenreiche Geſchichte ſo grundver-
ſchieden geſtaltet hatten und auch der particulariſtiſche Eigenſinn kräftig
heraustrat. Die biſchöflichen „Kirchen“ Friedrich Wilhelm’s mit ihren
Presbytern und Diakonen fanden in der Verſammlung gar keinen An-
klang, während er wiederum den von Württemberg vorgelegten Verfaſſungs-
entwurf nicht billigen mochte.*) Nach ſechs Wochen endeten die Be-
rathungen ohne ein beſtimmtes Ergebniß. Ganz ohne Folgen blieb der
verfrühte Verſuch doch nicht. Aus dieſer Verſammlung gingen die
Eiſenacher Conferenzen hervor, die ſich in ſpäteren Jahren regelmäßig
unter Bethmann-Hollweg’s Leitung vereinigten und zur Klärung des wieder-
erſtarkten kirchlichen Lebens manches beitrugen.
Nach ſolchem Mißerfolge ſchien es um ſo rathſamer, zunächſt die
Verfaſſung der preußiſchen Landeskirche unter Dach zu bringen. Auf
Pfingſten 1846 berief der König die erſte evangeliſche Generalſynode.
Sie beſtand aus 37 Geiſtlichen und 38 Laien — aus den General-
ſuperintendenten, aus Vertretern der theologiſchen und juriſtiſchen Facul-
täten und einigen durch die Kirchenbehörden der Provinzen vorgeſchlagenen
Mitgliedern geiſtlichen und weltlichen Standes; ſie erſchien mithin als eine
Notabelnverſammlung, welche zwar nicht den Willen der Kirche förmlich
ausſprechen konnte, aber durch Anſehen, Einſicht, Erfahrung wohl be-
fähigt war, die künftige Kirchenverfaſſung vorzubereiten. Mehr verlangte
Friedrich Wilhelm auch nicht; er ließ noch keinen Verfaſſungsplan aus-
arbeiten, ſondern erwartete zunächſt nur, daß die Berufenen „ſich aus-
ſprächen“. Aber wie gehäſſig wurden ſeine edlen Abſichten wieder miß-
deutet. Das Bürgerthum der großen Städte des Oſtens war durch den
lichtfreundlichen Adreſſenſturm ſtark erregt; um Ronge zu ehren hatten
die Berliner ſogar Volksverſammlungen unter den Zelten abzuhalten
gewagt. Nach all dem wirren freigeiſteriſchen Gerede dieſer Jahre hatte
man für die kirchlichen Pläne des Monarchen nur noch Hohn und freche
Witze. Als die Erzbilder der Roſſebändiger auf der neuen Schloßterraſſe
aufgeſtellt wurden, da hieß es überall, der König könne ſeinen Hengſten-
berg gar nicht nahe genug bei ſich haben; Varnhagen aber und ſein Kreis
verurtheilten die Generalſynode ſchon im Voraus als eine geiſtliche Spie-
lerei der Weltlichen. Zehn Städte ſendeten ihren zur Generalſynode ein-
berufenen Mitbürgern Weiſungen im Sinne der modiſchen Aufklärung;
die Magdeburger erklärten ihrem Stadtrath Grubitz, ſie könnten dieſe Ver-
ſammlung nicht als eine Vertretung der Landeskirche anerkennen, und
[365]Die Evangeliſche Generalſynode.
legten ihm auf, eine „aus freien Wahlen von unten“ hervorgehende Pres-
byterial- und Synodalverfaſſung zu fordern. Dem Könige ſchnitt es tief
ins Herz, daß grade dieſe ehrwürdige Märtyrerſtadt des Proteſtantismus,
die er ſich als Sitz des Fürſten Primas dachte, ſo reich an „Heiden“ war;
er fand in dem Schreiben „modernes Mißverſtändniß oder wiſſentliche
Unwiſſenheit, ja Aufforderung zum Ungehorſam“ und drohte im erſten
Zorn, er würde ſich „über das Geſetz ſtellen“, die ſtädtiſchen Freiheiten
ſuspendiren müſſen.*) Schwer ließ er ſich beſänftigen; doch bald wurde
die maßloſe Tadelſucht der Oppoſition durch die Haltung der General-
ſynode ſelbſt tief beſchämt.
Eichhorn ſagte in ſeiner würdevollen Eröffnungsrede: noch niemals
ſeit den Zeiten der Reformation habe Deutſchland eine ſolche Verſamm-
lung geſehen und noch niemals einen landesfürſtlichen Schirmherrn, der
die freie Entwicklung der Kirche ſo vertrauensvoll ermuntert hätte. In
der That durften die deutſchen Proteſtanten nach ſo vielen Erfolgen des
Papſtthums jetzt wieder einmal aufathmen und ſich der überlegenen
geiſtigen Kräfte dieſer Kirchenverſammlung erfreuen. Sie war die erſte
gemeinſame Vertretung aller preußiſchen Provinzen, gleichſam das kirch-
liche Vorſpiel des geplanten Vereinigten Landtags; und jener Zug vom
Weſten her, der die ganze Zeit durchwehte, mußte gerade hier ſeine volle
Kraft zeigen, weil die rheiniſch-weſtphäliſchen Proteſtanten in der Aus-
bildung ihrer Kirchenverfaſſung dem Oſten unzweifelhaft vorausgeeilt
waren. Der alte Rationalismus war auf der Synode nur durch einen
Mann vertreten, den Kanzler des Königreichs Preußen v. Wegnern, der
mit beſcheidenem Freimuth ſagte: von einem alten Oſtpreußen könne man
doch keine andere Geſinnung erwarten. Auch die ſtreng Confeſſionellen
geboten nur über ein gutes Fünftel der Stimmen. Die große Mehrzahl
gehörte zu den verſchiedenen Parteien der Vermittlungstheologie, die ſich
alleſammt auf Schleiermacher beriefen; darum wurde die Verſammlung
von Haus aus durch die Lichtfreunde ebenſo heftig angefeindet wie durch
Hengſtenberg’s Kirchenzeitung, ein lutheriſcher Paſtor des Wupperthals
ſchimpfte ſie kurzab eine Räuberſynode. Das hochverehrte Haupt der Mehr-
heit war Nitzſch, der Wittenberger, der ſich ſeit ſo vielen Jahren ſchon in die
kirchliche Selbſtverwaltung des Weſtens eingelebt hatte und wie Niemand ſonſt
befähigt ſchien die lutheriſchen Lande des Oſtens mit den Grundgedanken
der calviniſchen Kirchenverfaſſung zu befreunden. Seine tiefe Gelehr-
ſamkeit wurde ebenſo allgemein anerkannt, wie ſein frommer chriſtlicher
Sinn, der die Einheit der Lehre ſtets in der Perſon des Erlöſers ſuchte.
Der edle Mann erlebte jetzt die Tage ſeines höchſten Ruhmes, aber auch
[366]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
den tragiſchen Wendepunkt ſeiner Wirkſamkeit; denn es zeigte ſich bald,
daß wohl Eichhorn mit ihm übereinſtimmte, doch nicht der König ſelbſt.
Friedrich Wilhelm begrüßte die Synode mit einer überſchwänglichen
Anſprache; er forderte ſie auf, ihre Blicke über die Grenzen der Landeskirche,
ja ſelbſt des evangeliſchen Bekenntniſſes hinaus zu richten; im Geiſte des
urſprünglichen, apoſtoliſchen, allgemeinen Chriſtenthums ſollte ſie allen
Chriſten ſagen, daß Preußens evangeliſche Kirche die Gläubigen aller Be-
kenntniſſe zu ihrem heiligen Tiſche zulaſſe und nur der Unglaube von ihr
ſcheide. Eine ſo ſcharfe Trennung der Gläubigen von den Ungläubigen
konnten Nitzſch und ſeine Freunde unmöglich billigen; man bemerkte auch
ſogleich, wie ſorgſam der König und ſein General Thile jedes eingehende
Geſpräch mit dem verdächtigen Bonner Profeſſor vermieden.
Dies Mißtrauen des Monarchen ſteigerte ſich noch, als nunmehr
über die Lehrverpflichtung der Geiſtlichen berathen wurde. Die Union
war einſt nur darum durchgedrungen, weil ſie lediglich eine Gemeinſchaft
des Cultus und der Sakramente, nicht eine vollſtändige Glaubensgemein-
ſchaft darſtellen wollte. Trotzdem verſuchte die Generalſynode, eine Be-
kenntnißformel für alle Geiſtlichen der Landeskirche aufzuſtellen; daneben
ſollte den einzelnen Gemeinden noch freiſtehen ihre Prediger auf beſondere
Symbole zu verpflichten. Nitzſch wollte die Formel ſo weit faſſen, daß
jeder evangeliſche Chriſt ſie annehmen, auch die lebendige Wiſſenſchaft
der Gegenwart nichts dawider einwenden könnte; ſelbſt das apoſtoliſche
Glaubensbekenntniß erſchien ihm zu eng, und er entwarf, nach ſeiner
ſubjektiven wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung, eine noch einfachere Formel,
welche freilich nur aus Bibelworten beſtand, aber auch noch mannich-
fache Auslegungen zuließ. Das wohlgemeinte Unternehmen mußte miß-
lingen, weil ſein gelehrter Urheber, trotz ſeiner reichen Erfahrungen
im praktiſchen Kirchenleben, diesmal doch die Kraft des Volksglaubens
doktrinär verkannte; die deutſche Theologie war ja die gelehrteſte von allen
und fühlte ſich leicht verſucht, die Macht der Wiſſenſchaft in der Kirche
zu überſchätzen. Wagte man das Apoſtolicum zu vereinfachen, das älteſte
und ehrwürdigſte Bekenntniß der geſammten Chriſtenheit auch nur in der
Form zu verändern, ſo wurden vielleicht einige hundert gebildete Männer
befriedigt, die Radicalen aber nicht entwaffnet und Millionen ſchlicht gläu-
biger Menſchen, die doch für die Kirche genau ſo viel bedeuten wie die Ge-
lehrten, in ihren frommen Gewiſſen beirrt. Nur ein glaubensſtarker,
durch die freudige Zuſtimmung des geſammten evangeliſchen Volks ge-
tragener und gehobener Reformator, doch wahrlich nicht dies zweifelnde
und ſuchende Geſchlecht durfte zu ſolchem Wagniß ſich erkühnen.
Sehr lebhaft traten die Confeſſionellen wider den Antrag auf. Der
pommerſche Lutheraner v. Thadden-Trieglaff — ein conſervativer Heiß-
ſporn, der bald nachher aus der Landeskirche ausſchied — hatte keineswegs
Unrecht, als er die paradoxe Behauptung aufſtellte, dieſer Weg führe zur
[367]Das apoſtoliſche Glaubensbekenntniß.
Hierarchie. Es war doch wirklich das von den Pietiſten ſo oft bekämpfte
„Papſtthum der Wiſſenden“, das ſich jetzt, in beſter Abſicht freilich, heraus-
nahm, ſeinen kritiſch geläuterten Glauben den proteſtantiſchen Gemeinden
aufzuerlegen; wie die Bourgeoiſie im franzöſiſchen Staate, ſo ſuchte in
der deutſchen evangeliſchen Kirche die Intelligenz alle Herrſchaft an ſich
zu reißen und verwechſelte unbefangen ſich ſelber mit dem geſammten
Volke. Auch Stahl, der damals noch die Union als eine vollendete That-
ſache anerkannte, mahnte ernſt: in Zeiten der Noth dürfe die Kirche wohl
ſchweigen, doch nicht zweideutig reden; ja ſelbſt der mit Nitzſch perſönlich
und wiſſenſchaftlich befreundete Tweſten warnte, man ſolle das chriſtliche
Volk nicht durch die theologiſche Wiſſenſchaft vergewaltigen. Für die An-
träge ſprachen beredt und geiſtvoll der Hallenſer Julius Müller und der
Königsberger Dorner. Die Anhänger der Schleiermacher’ſchen Linken,
Graf Schwerin und der Berliner Prediger Sydow erklärten ſich anfangs
im Namen der evangeliſchen Freiheit gegen jede bindende Lehrverpflich-
tung; im Verlaufe der langen, höchſt lebendigen und gedankenreichen Ver-
handlungen traten ſie jedoch den Anſichten Nitzſch’s näher. Schließlich
wurde mit ſtarker Mehrheit eine vereinfachte Ordinationsformel ange-
nommen, die mit dem Geiſte der Union doch nicht im Einklange ſtand,
wie weitherzig man ſie auch auslegen mochte. Mehrheitsbeſchlüſſe haben
aber nur da Sinn und Werth, wo ein Entſchluß für das handelnde Leben
gefaßt werden muß und die Abſtimmung erweiſen ſoll, auf welcher Seite
die ſtärkere Macht ſteht. In Glaubensſachen bedeutet die Mehrzahl ſo
wenig wie in der Wiſſenſchaft. Die confeſſionelle Minderheit fühlte ſich mit
nichten überwunden, denn mit geiſtigen Waffen war ſie nicht geſchlagen;
und wie konnte man gar hoffen, daß der König einer Abſchwächung der
alten Symbole jemals zuſtimmen würde? Hofprediger Strauß, ein
gefühlvoller, allezeit begeiſterter Pietiſt, der den Monarchen genau kannte,
gab ſchon während der Berathungen deutlich zu verſtehen, das Alles ſei
verlorene Arbeit.
Der unſelige Streit um die Lehrverpflichtung wurde leider auch dem
Hauptwerke der Generalſynode, dem Kirchenverfaſſungs-Entwurfe verderb-
lich. Wie planlos und hilflos ſtand die Krone doch dieſer großen Auf-
gabe gegenüber. Von den kleinen biſchöflichen „Kirchen“, die der König
wünſchte, war kaum die Rede. Eichhorn überließ vielmehr der Verſammlung,
ihre eigenen Vorſchläge auszuſprechen, und ganz von ſelbſt vereinigte ſich
die große Mehrheit in dem Gedanken die beſtehende Ordnung weiter auszu-
bauen: das Conſiſtorialſyſtem des Oſtens wollte man nicht aufheben, ſondern
durch die presbyterialen und ſynodalen Inſtitutionen des Weſtens ergänzen
und beleben. Hier zeigte Nitzſch ſeine große organiſatoriſche Begabung;
Bethmann-Hollweg, der jetzt auch dem Rheinland angehörte, ging ihm
zur Hand mit ſeiner gründlichen Rechtskenntniß, Landfermann mit
ſeiner reichen, im Weſten angeſammelten Erfahrung. So entſtand ein
[368]V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
tief durchdachter, wohl ausführbarer Entwurf. Die Conſiſtorien ſollten
fortbeſtehen und über ihnen noch ein Oberconſiſtorium errichtet werden
als höchſte Kirchenbehörde zur Wahrung der Disciplin und Berathung des
Landesherrn. In jeder Gemeinde ein Presbyterium, das von allen chriſtlichen
Hausvätern, nach unmaßgeblichen Vorſchlägen der Kirchenvorſtände, frei
gewählt würde. Darüber Kreis- und Provinzialſynoden, dann endlich die
Generalſynode, ſie alle aus geiſtlichen und weltlichen Mitgliedern gemiſcht,
aber keineswegs nach den Grundſätzen des politiſchen Repräſentativſyſtems
eingerichtet, ſondern alſo gebildet, daß der Regel nach nur ſachkundige,
im Kirchendienſt erprobte Männer ihnen angehören konnten. Dergeſtalt
ſuchte man den Gemeinden ihr gutes Recht zu geben und doch die völlig
Gleichgiltigen oder Unerfahrenen von den Synoden fern zu halten. Die
Grundgedanken dieſer Reform erwieſen ſich ſo dauerhaft, ſo lebenskräftig,
daß Emil Herrmann ſie mit geringen Aenderungen wieder aufnahm, als
er ein Menſchenalter ſpäter den Neubau der Kirchenverfaſſung endlich
zum Abſchluß brachte.*)
Für jetzt ſtand freilich nichts zu hoffen. Drei Monate hindurch
waren die Synodalen faſt Tag für Tag die hundert Stufen hinaufge-
klommen, um droben in der alten Schloßcapelle, unbekümmert um die
glühende Sommerhitze dieſes geſegneten Weinjahres, ihre langen müh-
ſeligen Sitzungen zu halten; da wurde die Verſammlung am 29. Auguſt
ohne einen Beſcheid vertagt. Friedrich Wilhelm ſcherzte zuweilen ſelbſt
über ſeine oberſtbiſchöfliche Gewalt, die er ſo gern den „rechten Händen“
übergeben wollte. Als er, von Staatsgeſchäften überhäuft, die Synode
mit jener unvorbereiteten Anſprache begrüßt hatte, die ihn ſelber nicht
befriedigte, da ſchrieb er ſpöttiſch: „Ein neuer Beweis, daß unſer sum-
mus episcopus ein ſehr bedenkliches Creatur iſt !!!!!!!“**) Gleichwohl
hielt er ſich verpflichtet dieſe Gewalt, ſo lange ſie ihm noch zuſtand,
rückſichtslos auszuüben, und nach ſeiner Ueberzeugung gereichten die Be-
ſchlüſſe der Generalſynode wahrlich nicht zum Heile der Kirche: die neue
Ordinationsformel ſchien ihm unchriſtlich, und darum betrachtete er auch
den Verfaſſungsentwurf mit Argwohn. Nur ungern erlaubte er einige
Monate ſpäter, auf Eichhorn’s dringende Bitten, daß Nitzſch als Propſt
nach Berlin berufen wurde; nach wie vor vermied er jede nähere Be-
rührung mit dem Manne, den er für den Führer der kirchlichen Oppo-
ſition anſah, und niemals konnte Nitzſch in Berlin wieder eine ſo frucht-
bare Wirkſamkeit erlangen wie einſt am Rhein. Ganz vergeblich bemühte
ſich der Miniſter um die Beſtätigung der Synodalbeſchlüſſe. Inzwiſchen
fuhr Hengſtenberg mit ſeinen Anklagen fort, und der ehrwürdige alte
[369]Verfaſſungsentwurf der Generalſynode.
Goßner jammerte: die neue Lehrverpflichtung reiße die Mauern der Kirche
nieder, ſo daß die Ungläubigen in Haufen eindringen könnten. Die li-
berale Preſſe andererſeits zeigte ſich gleichgiltig oder hämiſch, und im
deutſchen Auslande, wo die preußiſche Union längſt in ſchlimmem Rufe
ſtand, war der Göttinger Lücke faſt der einzige namhafte Theolog, der ſich
warm für das Werk der Synode ausſprach. Zuletzt blieb Alles liegen;
der König wollte die vertagte Generalſynode weder abermals einberufen
noch mit einem abweiſenden Beſcheide auflöſen.
Von allen Inſtitutionen des Verfaſſungsentwurfs trat nur eine einzige
ins Leben: das Oberconſiſtorium; denn dies ſollte ja, nach den gehei-
men Abſichten des Monarchen, das Seitenſtück werden zu der geplanten
Conferenz der katholiſchen Biſchöfe. So vereinzelt, ſo losgelöſt von den
ſynodalen Inſtitutionen, erſchien die neue oberſte Kirchenbehörde nur wie
eine Verſtärkung des alten Conſiſtorialſyſtems, von dem man ſich doch
grade befreien wollte, und wurde daher ſelbſt von den gemäßigten Parteien
ſogleich als eine hierarchiſche Macht angefeindet. Im Februar 1848 trat
ſie zuſammen, und nachdem ſie eine einzige Sitzung abgehalten, war ſie
ſchon von den Wellen der Revolution hinweggeſpült. Alſo mißrieth dem
Könige Alles; auch die Ruhigen konnten ſich der bangen Ahnung nicht mehr
erwehren, daß ein Gewitter die ſchwüle Luft dieſer Tage reinigen müſſe. —
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 24
[[370]]
Fünfter Abſchnitt.
Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Treuer als die ſo oft durch politiſche Hintergedanken verdunkelten
und verfälſchten kirchlichen Kämpfe ſpiegelte die Literatur den Geiſt
dieſer weltlichen Tage wieder. Unverloren blieb ihr das beſte Vermächtniß
des Jungen Deutſchlands, der Drang nach dem Wirklichen, nach dem
modernen Leben; die politiſche Leidenſchaft, die Ahnung eines nahenden
großen Umſchwungs zwang ſich jedem ernſten Geiſte ſo mächtig auf, daß
ſelbſt die ſtrenge Wiſſenſchaft ſich der Tendenz nur ſelten ganz zu erwehren
vermochte. Künſtleriſche Andacht konnte einem ſo friedloſen, aufgeregten
Geſchlechte nicht leicht fallen; gleichwohl begann der Formenſinn un-
verkennbar wieder zu erſtarken nach der wüſten äſthetiſchen Verwilderung
der dreißiger Jahre. Die Herrſchaft des ſouveränen Feuilletons war ge-
brochen; all der Wuſt von eilfertigen Kritiken, Zeitbildern, Capriccios und
Halbnovellen, die ganze trübe Vermiſchung von Poeſie und Proſa, die
im letzten Jahrzehnt für geiſtreich gegolten hatte, erſchien jetzt ſchal und
abgeſtanden. Wieder einmal bewährte ſich die alte Erfahrung, daß die
Zeit nichts verſchont, was ohne ſie geſchaffen iſt. Auch die witzelnde
Frechheit des Judenthums behauptete nicht mehr ihre Macht über die
Leſerwelt. Wohl hatte ſich die Schaar der jüdiſchen Journaliſten ge-
waltig vermehrt, und wenn ein junger Schriftſteller auf Zeitungsruhm
ausging, ſo mußte er ſich vor jeder Kränkung der orientaliſchen Eitelkeit
ſorgſam hüten; aber die alten literariſchen Chorführer, Börne, Gans,
die Rahel waren geſtorben, Heine hatte ſeine Blüthezeit längſt hinter ſich.
Neue Talente kamen empor, faſt alle deutſchen Blutes, faſt alle beſeelt von
einer jugendlichen lyriſchen Begeiſterung, welche dem Jungen Deutſchland
immer gefehlt hatte. Gleich ihren Vorgängern fühlten ſie ſich als Kämpfer
der Freiheit und panzerten ihre Muſe mit dem Waffenſchmuck der poli-
tiſchen Tendenz; doch zugleich erwachte wieder die Freude an Bild und
Reim; Kritik und Witz genügten nicht mehr, die neuen Zeitpoeten ſchwelgten
im Wohllaut des Verſes und zeigten ſich ſchon durch den Adel der Kunſt-
form dem Feuilletongeplauder des letzten Jahrzehntes überlegen.
[371]Neue Wendung in der Literatur.
Die kräftigeren Geiſter des Jungen Deutſchlands ſelbſt hatten ſich
längſt aus dem verzettelnden Eintagsſchaffen hinausgeſehnt, ſie wendeten
jetzt ihre gereifte und geſammelte Kraft der Bühne zu und mit ihnen
Viele von dem jüngeren Nachwuchs. Bühnengerechte, künſtleriſch durch-
dachte Dramen, manche wohl angekränkelt von der nervöſen Unruhe der
Zeit, aber manche auch lebendig, aus dem Herzen der Gegenwart heraus
empfunden, brachten dem verfallenen Theater ein friſcheres Leben, das
leider durch die Stürme der Revolution nur zu bald zerſtört werden
ſollte. Auch auf die Dichtung hatte die nationale Begeiſterung des Jahres
1840 erſtaunlich tief eingewirkt. Ganz ſo gekräftigt war der deutſche
Nationalſtolz freilich noch nicht, wie König Ludwig meinte, als er in einem
wunderlichen Gedichte den „Teutſchen ſeit dem Jahre 40“ nachrühmte:
„daß vorüber nun iſt die Verblendung.“ In einem Volke, das noch kaum
die Anfänge einer ernſthaften Parteibildung beſaß, konnte der wüſte, ziel-
loſe Radicalismus nicht völlig ausſterben. So ſchamlos aber wie vor
zehn Jahren wagten ſich das vaterlandloſe Weltbürgerthum und die
knechtiſche Vergötterung Frankreichs nur noch ſelten heraus; die meiſten
der jungen Zeitpoeten ſchwärmten für ein mächtiges Vaterland, ſie ahnten
ſeine große Zukunft, und auch darum erſchienen ſie achtungswerther als
die Schildknappen Börne’s.
An Geiſt und Empfindung war die Zeit nicht arm; eine heitere
Sinnlichkeit belebte und erwärmte den geſelligen Verkehr. Lieblichere
Trachten als damals haben die Frauen in dieſem geſchmackloſen Jahr-
hundert nie getragen: die Taille ſaß endlich einmal an der rechten Stelle;
aus dem faltigen, nicht allzu ſtark aufgebauſchten Rock hob ſich die Ge-
ſtalt ſchlank und leicht empor; das ſchlicht geſcheitelte Haar, die nackten
Arme, der frei, nicht frech entblößte Buſen ließen die natürliche Schön-
heit auch ſchön erſcheinen. Von dem berückenden Liebreiz der genialen
Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient und der Herzogin von Sagan,
von den galanten Abenteuern des Fürſten Lichnowsky und des „Lands-
knechts“ Schwarzenberg erzählte Jedermann. Wenn die Münchener und
die Düſſeldorfer ihre farbenreichen Künſtlerfeſte hielten, wenn die jungen
lyriſchen Dichter in Unkel oder St. Goar oder im Bonner Maikäferbunde
zuſammentrafen, um das niemals ausgeſungene Lob des Rheines zu ſingen,
dann wallte die herzhafte Lebensluſt fröhlich auf; ſelbſt auf den ungezählten
Zweckeſſen und politiſchen Feſtbanketten erklangen mitten im Phraſen-
ſchwall zeitgemäßer Stichwörter oftmals die herzbewegenden Reden einer
tiefen, urſprünglichen Begeiſterung. Die deutſche Welt glaubte noch an
Ideale. Aber auch die dämoniſchen Mächte der frechen Unzucht und die
Krankheit des Jahrhunderts, der Größenwahnſinn der halben Talente
fanden freies Spiel in der allgemeinen Anarchie der Geiſter. Keine Partei
blieb von ihnen verſchont. In der Vermeſſenheit geiſtigen Hochmuths.
ſtanden die liederlichen Schlemmgeſellen des conſervativ-liberalen kleinen
24*
[372]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
bairiſchen Catilina Friedrich Rohmer nicht zurück hinter den Brüdern
Bauer und den Berliner Freien, die einmal beim Saufgelage ein kräftiges
Pereat Gott! gröhlten. Einer aus Rohmer’s Kreiſe, A. Widmann, ſchilderte
ſeine Erlebniſſe, ſobald er aus dem Taumel erwacht war, in einem
Romane „der Tannhäuſer“; und als er drei Jahre ſpäter, 1850, in der
Zeit der politiſchen Enttäuſchung, ſein geiſtreiches Buch herausgab, da
konnten die ernüchterten Leſer ſchon kaum mehr begreifen, daß man „dies
neue Titanenthum, das unſerer Revolution vorausging“, jemals be-
wundert hätte.
In ſolchen Tagen beſaß das halb poetiſche halb patriotiſche Pathos
der politiſchen Lyrik ſeine volle Berechtigung. Wenn die neuen Zeitpoeten
in wohlgereimten Verſen die Nation beſchworen, fortan das Verſeſchweißen
zu laſſen, ſo bekundeten ſie durch den wunderlichen Widerſpruch nur was
dies thatenarme und thatendurſtige Geſchlecht wirklich empfand. Sie
glaubten den Deutſchen etwas völlig Neues zu bringen und betrachteten
geringſchätzig die von Heine ſo oft verhöhnte Jünglingspoeſie des Be-
freiungskriegs. Dennoch ſind von ihren feiner und glätter durchgebildeten
Gedichten nur ſehr wenige ſo lebenskräftig bis zur Nachwelt durchgedrungen
wie die kunſtloſen Lieder Arndt’s und Körner’s, Schenkendorf’s und Fou-
qué’s. Die Dichter des großen Völkerkampfes beſangen den Krieg, die
einzige der künſtleriſchen Anſchauung ſofort vertraute politiſche Thätigkeit;
ſie erweckten durch ihre patriotiſche Begeiſterung ewige, rein menſchliche
Gefühle, Waffenluſt und Schlachtenzorn, Siegeshoffnung und Sieges-
freude; ſie verfolgten ein beſtimmtes, dem ſchlichten Sinne verſtändliches
Ziel, die Befreiung des Vaterlandes von den fremden Unterdrückern; ſie
dichteten mit dramatiſcher Wahrheit, oft recht eigentlich aus dem Steg-
reife, faſt im Angeſichte des Feindes, und blieben beſcheiden, weil in großer
Zeit die That das Wort beſchämt. Die modernen friedlichen Ideale conſti-
tutioneller Freiheit, bürgerlicher Gleichberechtigung, nationaler Einheit boten
hingegen einen weit ſpröderen Stoff, der nur durch mächtige Leidenſchaft,
durch ungewöhnliche Größe des Urtheils künſtleriſch bezwungen und geſtaltet
werden konnte; das leichtere Talent lief hier immer Gefahr, in die Leere
der phraſenhaften Allgemeinheit oder in den Kleinſinn des Parteihaſſes
oder in die Proſa der rohen Satire zu verfallen.
Und begreiflich genug, daß die neuen politiſchen Dichter ſich ſelbſt über-
ſchätzten, denn vor glorreichen Thaten brauchten ihre großen Worte nicht zu
erröthen; ſie hielten ſich für die gottbegnadeten Führer der Zeit, weil ſelbſt
die Männerwelt ihren Liedern freudig lauſchte. So ſtürmiſche Huldigungen,
wie ſie Herwegh auf ſeiner Triumphreiſe erlebte, waren einem deutſchen
Dichter von ernſten Männern kaum je bereitet worden, und faſt ſchien es,
als ſollte die Dichtung wieder ſtolz und breit in die Mitte unſeres Volks-
lebens treten. In Wahrheit war dieſe Begeiſterung rein politiſch. Die
politiſchen Lieder klangen den Hörern wie verhaltene Parlamentsreden und
[373]Politiſche Lyrik. Herwegh.
verfielen darum, wie die Worte des Staatsmannes und des Publiciſten,
dem Looſe der Vergänglichkeit. Sobald die Politik in neue Bahnen ein-
lenkte erſchienen ſie überwunden und abgethan, während das reine Kunſt-
werk, eine Welt für ſich ſelber, der Zeit zu trotzen vermag; und ſchon
heute verſtehen die Rückſchauenden ſchwer, daß in der flüchtigen, doch nicht
hohlen Erſcheinung dieſer Zeitgedichte die nationale Sehnſucht eines lang-
ſam zum politiſchen Wollen erſtarkenden Geſchlechtes ihren natürlichen
Ausdruck fand.
Im Grunde war keiner der jungen Zeitpoeten an eigenen Gedanken
und urſprünglicher Empfindung ſo arm wie der berühmteſte von Allen,
Georg Herwegh. Man nannte ihn die Lerche des deutſchen Völkerfrühlings,
weil die Gedichte eines Lebendigen, zum erſten male nach Anaſtaſius Grün’s
Wiener Spaziergängen, die politiſche Begeiſterung vom Auslande hinweg
wieder zu den vaterländiſchen Kämpfen zurücklenkten. Schmetternd, ſinn-
verwirrend erklangen dieſe ungeſtümen Weckrufe; prahleriſche, unmögliche
Hyperbeln, die in den wohlgeglätteten Verſen nur um ſo draſtiſcher wirkten,
verſtärkten noch den Eindruck, als wollte ein raſender Titane ein ver-
ſinkendes Volk zum letzten Verzweiflungskampfe aufbieten:
Doch der tiefe, ernſte Inhalt fehlte. Faſt überall nur eine fieberiſche Un-
geduld, die aus der Langeweile der Gegenwart hinausdrängte und zornig
drohend irgend eine unbeſtimmte Herrlichkeit, bald den Aufruhr ſchlechthin,
bald den Krieg mit Ruſſen und Franzoſen, bald auch die Verbrüderung
aller freien Völker forderte. Am glücklichſten zeigte ſich die lyriſche Be-
gabung des Poeten in den eingeſtreuten unpolitiſchen Gedichten: wenn er
die Todesahnung der in’s Morgengrauen hinausſprengenden Reiter aus-
ſprach oder in einem ſentimentalen aber ſtimmungsvollen Klageliede ſich
wünſchte, hinzugehen wie das Abendroth und wie der Tag in ſeinen
letzten Gluthen. Seine politiſchen Ideen hatte er faſt durchweg aus Börne’s
Schriften geſchöpft, und unter den Kämpfern der deutſchen Vorzeit ſtand
ihm keiner höher als „unſer Heiland“ Ulrich von Hutten. Das trotzige
„Ich hab’s gewagt“ des fahrenden Ritters hallte in unzähligen Gedichten
und Zeitungsaufſätzen nach, der feurige, unklare politiſche Idealismus
des ſechzehnten Jahrhunderts ſagte dieſer unkirchlichen Zeit zu während
Luther’s religiöſe Gewiſſenskämpfe ihr fremd blieben. Mit dem gedanken-
reichen Tiefſinn der Schwaben hatte Herwegh’s oberflächliche, ſchnell-
fertige Keckheit nichts gemein; darum galt er auch in ſeiner Heimath
weniger als im Norden, und der erſte Kunſtkenner Schwabens, Friedrich
Viſcher urtheilte, ſelbſt ein Radicaler, in ſeinen geiſtvollen „Kritiſchen
Gängen“ ſehr hart über die dürftige [Geſtaltungskraft] dieſes Dichters der
hohen Worte. Herwegh gab ſich früh aus; er zählte zu den Blendern,
[374]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
die ſich in abſteigender Linie entwickeln, der unmäßige Beifall war Gift
für dieſe kleine eitle Seele. Die Radicalen hatten ihm nicht verargt, daß
er, der Deſerteur, in prahlenden Liedern nach „eines Streithengſts Bü-
geln“ verlangte; aber ſeine herzbrechende Klage „mein ganzer Reichthum
iſt mein Lied“ vergaßen ſie nicht, und als er jetzt, durch eine Heirath
reich geworden, in ein träges, nichtsnutziges Wohlleben verſank, da wendeten
ſie ſich doch erſchrocken ab, denn der ekelhafte Anblick praſſender Dema-
gogen war den Deutſchen noch neu.
Von dichteriſcher Kraft blieb ihm bald nichts mehr als die Form-
gewandtheit. Seine radicale Geſinnung erhitzte ſich bis zur läſternden
Frechheit, weil er zu faul, zu ſelbſtiſch war um von der Zeit zu lernen.
Schon vier Jahre vor der Revolution ſang er die wüſten Verſe:
Und während des polniſchen Aufſtandes von 1846 ſchrieb er wüthend:
Als ihm dann endlich, nach kläglichen Heldenthaten im Revolutionsjahre,
ein gütiges Geſchick beſchied, die Tage deutſchen Ruhmes zu erleben, da iſt
er noch lange keifend, ſchimpfend, höhnend hinter dem Siegeswagen des
neuen deutſchen Reichs dahergetaumelt, ein Trunkenbold der Phraſe, ver-
achtet von den Einſichtigen, vergeſſen von der Mehrheit der Nation. Neben
Herwegh’s Neuen Gedichten erſchienen die loſen Spottverſe Hoffmann’s
v. Fallersleben, mit aller ihrer burſchikoſen Thorheit, doch ehrlich und
harmlos; und wie konnte man denn mit ihm rechten, der in guten Stunden
ſeinem Volke ſo tief in’s treue Herz blickte, der, ſelber ohne Haus und
Heerd, in ſeinen Kinderliedern das holde Dämmerglück der deutſchen Kinder-
welt ſo warm, ſo wahr, ſo einfältig, ohne einen einzigen falſchen Ton
moderner Niedlichkeit, beſang?
Aus feinerem Thone geformt war der dritte der beliebten Zeitpoeten,
der kosmopolitiſche Nachtwächter Franz Dingelſtedt. Man feierte ihn
weniger laut als jene Beiden, weil die jüdiſchen Zeitungskritiker ihm grollten
und ſeine oft an Platen’s Formenſtrenge erinnernden Gedichte ſich nicht
ſingen ließen. Dennoch übertraf er ſie durch Geiſt und Witz, durch die
ſcharfe Welt- und Menſchenkenntniß, die dem politiſchen Dichter ſo un-
entbehrlich iſt wie dem Hiſtoriker. Die leeren Allgemeinheiten verſchmähend
ſuchte er die grellen Widerſprüche des deutſchen Lebens zu anſchaulichen
Bildern zu geſtalten und ſchilderte bald mit übermüthigem Spott die
[375]Dingelſtedt.
bairiſche Pfaffenherrſchaft oder die närriſchen Despotenlaunen der Dutzend-
fürſten und Taſchenhöflein, bald in finſterer Ahnung das unheimliche
Schickſal, das über den alten Welfen und ſeinen blinden Knaben herauf-
zog. Sein bitterſter Hohn galt „der Stadt der Bildung und des Thees,
der Künſte und der Nücken“, die eitle geiſtreiche Unfruchtbarkeit der
Berliner Politik und Kunſt ekelte ihn an. Ganz unbekümmert um die
Judenſchwärmerei ſeiner liberalen Freunde wagte der Nachtwächter frank
herauszuſagen, daß „Er, der Einzle, Einz’ge, Eine“, Rothſchild ſchon in
der Bundesſtadt allmächtig ſchalte; er warnte die Deutſchen, das ewig
klagende Juda hätte ſchon längſt zu Haufen ſich geſammelt,
Rückſichtslos war ſeine Muſe, wie der Mann ſelber, aber niemals frech.
In dankbarer Ehrfurcht beugte er ſich vor Goethe, Platen, Chamiſſo; ein
tiefes Heimweh klang durch ſeine Lieder, wenn er von dem ſtillen Liebreiz
ſeines Weſerthals oder von dem Freiheitstrotze ſeiner tapferen heſſiſchen
Landsleute ſang; und den Frevlern, die in ihrem raſenden Parteihaß das
Vaterland ſelber läſterten, erwiderte er einfach:
Seine Dichterkraft völlig auszubilden, gelang dieſem edel angelegten
Geiſte doch niemals. Ein Menſch von Fleiſch und Blut, ſchön, ſchlank
und liebenswerth, ſprudelnd von Lebensluſt und Lebensmuth, ſehnte er ſich
hinaus aus der kleinbürgerlichen Enge ſeiner Jugend, er wollte die Welt
ſehen, in ihr herrſchen, an ihrem Glanze ſich ſonnen. Als er dann,
ohne ſeine liberale Geſinnung je zu verleugnen, eine Bibliothekarſtelle am
Stuttgarter Hofe erhielt, da mußte er wegen ſolcher Verhofrätherei, wie
Heine ſpottete, von den Ueberzeugungsterroriſten der liberalen Preſſe groben
Unglimpf hören, wie auch Anaſtaſius Grün ein Abtrünniger geſcholten
wurde, weil er nach dem Brauche ſeines Hauſes den öſterreichiſchen Käm-
merertitel annahm. Nachher gewann Dingelſtedt als Leiter großer Hof-
bühnen eine Mittelſtellung zwiſchen der Kunſt und der vornehmen Geſell-
ſchaft, wie ſie ſeiner Neigung zuſagte; er erwarb ſich hohe Verdienſte um
die Bühne, doch zu eigenem Schaffen konnte er ſich in dem weltmänniſchen
Treiben nur noch ſelten ſammeln.
Dieſen Bannerträgern folgte ein ganzes Heer von Zeitpoeten. Die
Lyrik, die ſo lange in den Taſchenbüchern der Damenwelt ein ſtilles thränen-
ſeliges Daſein geführt hatte, drängte ſich lärmend auf den Markt hinaus;
faſt keine Zeitung, die nicht manchmal einen gereimten Leitartikel brachte.
Meiſt wurde die Poeſie durch die Tendenz gänzlich übertäubt; das Vater-
land, ſo hieß es kurzab, „das will von der Dichterinnung ſtatt dem ver-
brauchten Leiertand nur Muth und bied’re Geſinnung“. Der Ton war
faſt überall radical, da die Kunſt keine Vermittlung verträgt. Einer
[376]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
aus der raſch anwachſenden Schaar unzufriedener Leutnants, die aus
dem langweiligen Garniſonsdienſte zur Schriftſtellerei übergingen, der hoch-
ſinnige Enthuſiaſt Friedrich v. Sallet, dem leider das Pathos ſtatt der
Schönheit galt, nahm der großen Mehrzahl der jungen Stürmer das
Wort von den Lippen, als er, noch immer im barſchen Tone des mili-
täriſchen Commandos, kurzab fragte:
Ganz unwillkürlich ward auch Ferdinand Freiligrath in die Wirbel der
Tendenzpoeſie hineingeriſſen, ein weſtphäliſcher Seelenmenſch mit treu-
herzigen Kinderaugen, der zuerſt durch die virtuoſe Behandlung fremd-
ländiſcher Stoffe Aufſehen erregt hatte. Seine Jugendgedichte vom Ritt
des Löwen auf der Giraffe, vom Mohrenfürſten, vom Banditenbegräbniß
ſchilderten faſt durchweg fertige Situationen ohne dramatiſche Bewegung,
aber mit glühender Farbenpracht, in markiger, packender Sprache; und
wie ſonderbar ſich auch der Baobab, das Gnu, die Karroo und all’ der
andere ausländiſche Flitter in den deutſchen Verſen ausnahmen, ſo fühlte
der Hörer doch, daß Alles ſelbſterlebt war, erlebt von einem tiefen deut-
ſchen Gemüthe. Wenn der junge Poet in ſeinem weltabgeſchiedenen hei-
miſchen Städtchen hinter dem Ladentiſche ſtand oder nachher als Kauf-
mannsdiener in Amſterdam die mächtigen Oſtindienfahrer an der Buiten-
kant landen ſah, da ergriff ihn die Sehnſucht nach der Märchenwelt der
weiten Ferne; die glänzenden Gemälde, die ihm dann im Augenblicke auf-
ſtiegen, mußten auch augenblicklich von fröhlichen Freunden beſtaunt werden,
und er ſelbſt freute ſich ſo herzlich daran wie ein Knabe an den Wundern
des Orbis pictus oder des Guckkaſtens. Das Ferne und Fremde trat
ihm menſchlich nahe, ſobald es ſich ihm zum Bilde geſtaltete. Als ihm
einmal in heller Sommernacht im Schlafzimmer ein Landsmann die alte
Sage erzählte, daß weſtphäliſche Legionäre beim Kreuze Chriſti Wache ge-
halten und um des Heilands Kleid gewürfelt hätten, da ſtand ihm mit einem
male vor Augen, wie dort auf Golgatha die alte und die neue Welt-
geſchichte ſich berührten; er ſprang auf, ſchlug ſich das Betttuch in male-
riſchen Falten um das Hemde und rief: „In Chriſti Mantel der Ger-
mane!“ — den Schlußvers ſeines poetiſchen Gemäldes „die Kreuzigung“.
Derſelbe Drang nach dem Hohen, Großen, Wunderbaren führte ihn
dann in die Reihen des allerwildeſten Radicalismus, als die politiſche
Begeiſterung ihn ergriff; die wildſchöne Siegerin mit rother Mütze und
flatterndem Haar, die Revolution ward ſeine Göttin. Ehrlich im Haſſen
wie im Lieben, harmlos unerfahren in der Welt der Geſchichte, konnte er
nichts begreifen was ihm Halbheit ſchien. Mit ſtarker Leidenſchaft, die
[377]Freiligrath. Lenau.
auch den rohen Cynismus nicht verſchmähte, trat er für dieſe Ideale ein;
in ſeinem wuchtigen „trotz alledem und alledem“ hallten die Schlachtrufe
Ulrich’s von Hutten: Perrumpendum tandem! Iacta est alea! ganz
anders nach als in Herwegh’s zierlicheren Verſen. Wenn er ſich in ſeine
radicalen Träume verlor, dann ſpielte ſeine erhitzte Phantaſie ſelbſt
mit dem Bilde des Königsmords; er ſchilderte den „Proletarier-Ma-
ſchiniſten“, der den König von Preußen rheinauf zum Stolzenfels fährt
und ſich ſchon überlegt, ob er nicht das Dampfſchiff mitſammt ſeiner er-
lauchten Laſt in die Luft ſprengen ſolle: „der Dampf rumort, er aber
ſagt: heut, zornig Element, noch nicht!“ Dabei blieb er doch allezeit ein
freundlicher frohmuthiger Geſell und dichtete mitten unter den revolu-
tionären Drohungen auch unſchuldige Lieder vom Rhein und Wein und
das tief empfundene „O lieb’ ſo lang du lieben kannſt“, ſo daß er nie-
mals blos für einen Tendenzdichter gelten konnte. Sein gutes Herz be-
wahrte ihn auch, trotz ſo manchem politiſchen Thorenſtreiche, vor der Ver-
zweiflung am Vaterlande. „Herr Gott im Himmel, welche Wunderblume
wird einſt vor allen dieſes Deutſchland ſein“, ſo ſprach er ahnungsvoll
da er die Blüthen am Baume der Menſchheit betrachtete; und wenn
er ſein Deutſchland einen Hamlet nannte — eine Vergleichung, die nun-
mehr in Vers und Proſa unendlich oft wiederholt wurde — ſo fügte er
doch beſcheiden hinzu:
So konnte er leben mit den Lebendigen, und als nach Jahren alle ſeine
republikaniſchen Ideale zertrümmert am Boden lagen, der Traum ſeiner
Jugend durch monarchiſche Gewalten in Erfüllung ging, da jubelte er dank-
bar, ohne Kleinſinn, der neuen Größe Deutſchlands zu, und ſein heller
Dichtergruß antwortete der Trompete von Gravelotte.
Nicht eigentlich durch die politiſche Leidenſchaft, ſondern durch die
Sehnſucht nach geiſtiger Freiheit wurde auch der Deutſch-Ungar Nikolaus
Lenau in das Heerlager der lyriſchen Streiter geführt. Dem edlen, wahr-
haftigen, liebevollen Träumer hing die Schwermuth nachtend über der
krauſen Stirn und den feurigen dunklen Augen; er verſenkte ſich in
die Schauer der „ernſten, milden, träumeriſchen, unergründlich ſüßen
Nacht“, er hörte das Schilf am See geſpenſtiſch flüſtern, er brütete finſter
über der Nichtigkeit des Lebens „wie man’s verraucht, verſchläft, vergeigt
und es dreimal verachtet“. Die Jugendgedichte, in denen er die öde ſchwei-
gende Haide, das unendliche Meer, das Leid der jungen Liebe, die ſüße
Todesmüdigkeit des Unglücks beſang, waren zuweilen unklar und form-
los, aber immer belebt durch eine tief und wahr empfundene elegiſche
Stimmung; ſie klangen als ob die Zigeuner ſeiner heimiſchen Pußten
auf ihren Geigen eine traurige Weiſe ſpielten. In jungen Jahren ging
er, die Freiheit ſuchend, nach Amerika, und als er dann ſchmerzlich ent-
[378]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
täuſcht aus dem „Land voll träumeriſchem Trug“ heimgekehrt war, ver-
ſuchte er ſich an größeren Werken.
In der lockeren, echt modernen Kunſtform des lyriſchen Epos, die in
England ſeit Scott und Byron heimiſch, den Deutſchen noch wenig ver-
traut war, konnte Lenau’s allezeit ſchwärmeriſch erregter und doch nach
Geſtaltung drängender Geiſt ſich am freieſten entfalten. Die harmoniſche
Schönheit der Goethiſchen Dichtung war ihm ſo unheimlich wie des Alt-
meiſters heitere Lebensweisheit; er wollte der Menſchheit durch richtende
und befreiende Worte das Bewußtſein ihrer Ewigkeit erwecken. Doch der
Drang der Erkenntniß gereichte dem Grübler zum Fluche; furchtbare
Zweifel zerriſſen und zermarterten ſein krankes Herz, ſein Weltſchmerz
war ehrlich und endete im Wahnſinn. So ward auch der Zweifel, wie
Lenau ſelbſt geſtand, der eigentliche Held ſeiner wirkſamſten Dichtung,
der Albigenſer. Manche Auftritte des gräßlichen Glaubenskrieges führte
er den Leſern mit erſchütternder Gewalt vor die Seele; der Wechſel der
bewegten Versmaße, gefährlich für die Einheit des Ganzen, gab den ein-
zelnen Scenen lebendige Stimmung. Der ſchlichte evangeliſche Bibel-
glaube aber, in dem doch gerade die ahnungsvolle Größe, der geiſtige
Gehalt jenes ehrwürdigen mittelalterlichen Ketzerthums enthalten iſt, blieb
dem katholiſchen Zweifler unverſtändlich; der Dichter ſtrich von ſeinen
Albigenſern alle friſche hiſtoriſche Farbe ab und zeichnete ſie als die
Vorkämpfer einer zielloſen Freigeiſterei, einer modernen, ſchlechthin ver-
neinenden Geſinnung. Und ganz nach dem Herzen ſeiner aufgeregten Leſer,
ein rechtes Zeichen der Zeit war denn auch die prächtige Schlußviſion des
Gedichts, welche die geſammte Weltgeſchichte wie einen unendlichen Kampf
der Freiheit wider dumpfen Zwang darſtellte:
Mit wohlbegreiflichem Aerger betrachtete Heinrich Heine dieſe Wand-
lungen unſeres geiſtigen Lebens. Das hohe Pathos der lyriſchen Dema-
gogen mußte dem äſthetiſchen Gefühle des geiſtreichen Schalks lächerlich
erſcheinen, und unmöglich konnte er der Weltgeſchichte verzeihen, daß ſie
ſo ganz andere Wege ging als er geweiſſagt. Die Deutſchen, die hundert-
mal beſchimpften, wagten gegen „das aufrichtige und großmüthige, bis
zur Fanfaronade großmüthige Frankreich“ ihren Willen zu behaupten und
durchzuſetzen, ſie erdreiſteten ſich ſogar eine Nation zu werden — was
ihnen Heine doch ein für allemal grinſend verboten hatte; und das
Aergſte von Allem, das tödlich gehaßte Preußen ſtand jetzt im Vorder-
grunde der deutſchen Politik. Noch immer jammerte Heine in ſeinen
Schriften kläglich über die ſchlafloſen Nächte des Exils, das er ſich durch
eine deutſche Vaterlandsliebe verdient haben wollte. Dabei bezog er
[379]Heine im Exil.
wohlgemuth ſeine Penſion von König Ludwig Philipp, und da er ſich von
Frankreich bezahlen ließ, ſo bewarb er ſich, ganz folgerichtig, auch um das
franzöſiſche Staatsbürgerrecht. Der ängſtliche Guizot erſchrak; denn nach
den herzbrechenden Klagen des Dichters mußte er annehmen, daß Heine
in Deutſchland als ein fürchterlicher Hochverräther verfolgt würde. Um
den Berliner Hof nicht zu beleidigen ließ er zunächſt durch den Ge-
ſandten Breſſon vorſichtig anfragen: wie Heine zur preußiſchen Regierung
ſtehe? und was man thun wolle, wenn er franzöſiſcher Unterthan würde?
Darauf erfolgte (17. Febr. 1843) die kühle Antwort: unſere Behörden
wiſſen gar nicht, ob Heine noch preußiſcher Unterthan iſt; ſie haben vor
Jahren ſeine Schriften verboten, aber gegen ſeine Perſon niemals irgend
eine polizeiliche Maßregel angeordnet; will er ſich in Frankreich natu-
raliſiren laſſen, ſo finden wir nichts dawider einzuwenden, dann hat er
gegen uns die Rechte eines Franzoſen.*) Das war der Unglückliche,
deſſen gräßliches Martyrium den deutſchen Zeitungsſchreibern ſo viele
blutige Thränen erpreßte! Da mithin Guizot’s einziges Bedenken auf’s
Gründlichſte beſeitigt war, ſo läßt ſich mit großer Wahrſcheinlichkeit an-
nehmen, daß Heine nunmehr wirklich ein Franzoſe wurde, obgleich er dies
ſpäterhin ableugnete; das Bürgerrecht des ſo unſäglich verabſcheuten preu-
ßiſchen Staates aufzugeben, konnte ihn doch keine Ueberwindung koſten, nach-
dem er längſt ſchon franzöſiſchen Sold empfing. Als Guizot kaum zwei
Jahre darauf (Jan. 1845) ſich entſchloß, die ſämmtlichen Mitarbeiter der
radicalen deutſchen Zeitſchrift Vorwärts auszuweiſen, da wurde Heine, der
auch zu den Mitarbeitern gehörte, ausdrücklich ausgenommen, weil er als
naturaliſirter Franzoſe nicht ausgewieſen werden konnte; und wer mag
glauben, daß die franzöſiſche Regierung, nach Allem was geſchehen, die
Staatsangehörigkeit eines ihr ſo nahe ſtehenden Mannes nicht gekannt
haben ſollte?
Auf die Dauer konnte das leere Geplauder des Feuilletons dem
Künſtlerſinne Heine’s doch nicht genügen; er ſammelte ſich wieder zu poetiſcher
Arbeit, und manche ſeiner neuen Gedichte ſtanden den älteren gleich. Selbſt
in dem Liederſtrauße, den er unbefangen neun Pariſer Straßendirnen
zugleich darbot, dufteten einzelne friſche Blüthen. So dreiſt, ſo lebendig
hatte er ſein Evangelium von der Verklärung des Fleiſches noch nie ver-
kündigt, wie jetzt in den Verſen:
Die Geſinnungstüchtigkeit der neuen politiſchen Lyrik, die ihn ſo wider-
wärtig an die verhaßten teutoniſchen Geſänge des Befreiungskrieges er-
[380]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
innerte, dachte er zu überwinden durch den Atta Troll, einen Sommer-
nachtstraum, der phantaſtiſch ſein ſollte, zwecklos wie die Liebe, wie das
Leben. Er überwand ſie nicht, obwohl er zu ihrer Verhöhnung das glück-
liche Schlagwort erfand „kein Genie, doch ein Charakter“; denn ſein
eigenes Gemüth empfand längſt nicht mehr frei genug um ſich unbefangen
im Spiele des Humors zu ergehen. Der Atta Troll wurde keineswegs,
wie der Dichter meinte, das letzte freie Waldlied der Romantik, ſondern
grade durch den bewußten Kampf wider die Tendenz ſelbſt ein Tendenz-
gedicht; ihm fehlte nicht nur, wie allen größeren Verſuchen Heine’s, die
geſchloſſene künſtleriſche Compoſition, ſondern auch die Einheit der Stim-
mung. An dem dünnen Faden einer albernen, nicht einmal drolligen
Bärengeſchichte war allerhand feuilletoniſtiſcher Kleinkram aufgereiht:
Landſchaftsſchilderungen aus den Pyrenäen, Zauberbilder von der Hexen-
küche und der wilden Jagd, vornehmlich aber politiſche und literariſche
Bosheiten jeder Art. Reich an ſchönen Bildern und beſtechenden über-
müthigen Witzen wirkte das Ganze doch nicht heiter, nicht befreiend.
Der Waldesduft der unſchuldigen Märchenwelt vertrug ſich nicht mit dem
Schwefeläther journaliſtiſcher Polemik; die vierfüßigen Trochäen, die nur
durch das heroiſche Pathos ſpaniſcher Grandezza Kraft und Feuer ge-
winnen können, klangen hier, wo ſie einem komiſchen Stoffe aufgezwängt
wurden, eintönig, einſchläfernd, wie das Geplätſcher aus dem Brunnen-
rohre.
Weit freier und ehrlicher, aber auch noch ſchmutziger und frecher gab
ſich Heine in dem Wintermärchen: Deutſchland (1844); er ſchrieb es nieder,
nachdem er, völlig unbeläſtigt durch die Behörden, ſein Vaterland noch
einmal beſucht hatte. Hier war Alles Tendenz; hier zeigte ſich, daß der
Atta Troll durchaus nicht die proſaiſche Herabwürdigung der freien Kunſt
bekämpft hatte, ſondern lediglich die politiſche Richtung der neuen Zeit-
lyriker. Dieſe jungen Propheten fühlten ſich zumeiſt doch ſtolz als Söhne
eines großen Vaterlandes; Heine’s Tendenz aber blieb nach wie vor
alles deutſche Weſen zu verhöhnen, obgleich ihn dann und wann ein-
mal ein leiſes Heimweh beſchlich. Er hatte ſich ſeiner Nation ent-
fremdet und ſtand den neuen Ideen, welche Deutſchland jetzt durch-
rauſchten, ebenſo verſtändnißlos, ebenſo reaktionär gegenüber, wie einſt Ni-
colai und die Berliner Aufklärer unſerer jugendlichen claſſiſchen Dichtung.
Was ihm auch im neuen Deutſchland begegnen mochte, Alles und Jedes
riß er in den Staub; auf jeder Seite des Wintermärchens kicherte er
ſchadenfroh: es wird nichts daraus, es kann nichts daraus werden; und
den Siegern von Dennewitz und Belle Alliance, die in ihrem neuen
Helmſchmucke ſo bald wieder zum dritten male den alten Siegesweg nach
Paris ziehen ſollten, ſang er weiſſagend die Warnung zu: „Des Mittel-
alters ſchwerer Helm könnt’ Euch geniren im Laufen!“ Aber all dieſer
Hohn und Haß kam unzweifelhaft aus den Tiefen des Herzens. Auch
[381]Atta Troll. Wintermärchen. Zeitgedichte.
das leichte gereimte Versmaß mit ſeinen ſcheinbar kunſtloſen und doch dem
Genius unſerer Sprache fein abgelauſchten Hebungen und Senkungen
gab dem Wintermärchen einen frechen Schwung, der den Künſteleien des
Atta Troll fehlte; die alte Sprachgewalt war dem Dichter auch jetzt noch
geblieben, und in Paris wollte man ſein Franzöſiſch nie recht gelten laſſen,
denn wer einer Sprache gänzlich Meiſter iſt kann eine zweite faſt niemals
völlig beherrſchen. Um den Beſuch des alten Vaterlandes würdig abzu-
ſchließen fragte Heine zum Abſchied nach der Zukunft Deutſchlands und
erblickte ihr Bild — im Nachtſtuhle Karl’s des Großen: „es war als fegte
man den Miſt aus ſechsunddreißig Gruben!“ Grade dies Gedicht, eines
der geiſtreichſten und eigenthümlichſten aus Heine’s Feder, mußte den
Deutſchen zeigen was ſie von dieſem Juden trennte. Die ariſchen Völker
haben ihren Therſites, ihren Loki; einen Ham, der ſeines Vaters Scham
entblößt, kennen nur die Sagen der Orientalen.
Daß ein engliſcher, ein franzöſiſcher oder italieniſcher Jude ſich je
erfrecht hätte ſein Geburtsland dermaßen mit Unflath zu bewerfen, war
ſchlechthin undenkbar. Der deutſche Nationalſtolz aber, unfertig wie er
war, bald überreizbar, bald ſtumpf, ertrug auch dies. Derweil die ernſten
Männer ſich angeekelt abwendeten, behielt Heine unter der radicalen
Jugend noch immer Verehrer, und bald wagte er in ſeinen „Zeitgedichten“
jene Schmutzereien noch zu überbieten. Ueber dem ſtinkenden Sumpfe
der „Lobgeſänge auf König Ludwig von Baiern“ erglänzte noch dann
und wann das Irrlicht eines ſchlechten Witzes; doch den Spottliedern auf
Preußen und ſein Herrſcherhaus fehlte jeder Hauch künſtleriſcher An-
muth, feinen Scherzes; hier erklang nur noch das „ſteiniget ihn, kreu-
ziget ihn“, das blödſinnige Wuthgeheul jüdiſchen Haſſes. „Ihr ſollt es
erſäufen oder verbrennen“, ſo ſprach er über Preußen, den Wechſel-
balg, das Ungethüm, unter einem Aufwande ſodomitiſcher Bilder, wie ſie
nur ſeiner unreinen Phantaſie entſteigen konnten. Und wieder unter
ſodomitiſchen Schmutzreden ſchilderte er die Hohenzollern, das Geſchlecht
Friedrich’s des Großen, alſo:
Nicht lange nachher verfiel er einer ſchrecklichen Krankheit, die ihn bis zum
Tode an das Bett feſſelte. Er ertrug ſie ſtandhaft — allerdings nicht
ohne der Welt die Qualen ſeiner „Matratzengruft“ mit orientaliſchem
Marktgeſchrei zu verkündigen — und blieb der Alte, ein Dichter, der Schön-
heit ebenſo mächtig wie der Niedertracht. Sein letzter Ausgang, bevor
er für immer der freien Luft entſagen mußte, führte ihn in den Louvre,
zu der Stelle, wo das Standbild der Venus von Melos leuchtend aus
der rothen Wand heraustritt. Dort vor dem Bilde der Göttin, die ihm
[382]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſo viel Luſt und ſo viel Leid geſchenkt, brach er weinend zuſammen —
ein erſchütternder Anblick für Jeden, der Menſchenſchuld und Menſchen-
ruhm menſchlich zu verſtehen vermag.
So klirrte und ſchwirrte es überall von ſtreitbaren politiſchen Verſen.
Selbſt Adolf Glasbrenner, der Liebling und Erzieher des zungenfertigen
demokratiſchen Berliner Kleinbürgerthums, beſtieg jetzt einmal das Flügel-
roß. Sein Neuer Reineke Fuchs ſpiegelte den Jeſuitenhaß der nord-
deutſchen Lichtfreunde in burlesken Bildern und ausgelaſſenen Späßen
wieder; doch über die feine Grenze, welche die Proſa von der Poeſie, die
grobe direkte Satire vom verklärenden Humor trennt, kam er nur ſelten
hinaus.
Unter den jungen Lyrikern war nur einer, der ſich herausnahm,
ſtolz, im Gefühle eines hohen künſtleriſchen Berufes, dem Radicalismus
der Zeitpoeten und der Heiniſchen Frivolität zugleich entgegenzutreten:
der Lübecker Emanuel Geibel. Aufgewachſen in der geſunden Luft eines
frommen, hochgebildeten evangeliſchen Pfarrhauſes, unter dem kräftigen
Bürgerthum und den großen hiſtoriſchen Erinnerungen ſeiner alten Hanſe-
ſtadt, ſtand er von frühan feſt auf dem Boden des chriſtlichen Glaubens:
Er hatte Italien durchwandert, mit ſeinem Freunde, dem Philologen
Ernſt Curtius auf den Inſeln des ägeiſchen Meeres eine ſelige Zeit der
Dichterwonne durchlebt, und noch lange nachher fiel es ihm ſchwer, die
Flammenſtrahlen der ſüdlichen Sonne zu entbehren. Die reine Schön-
heit, die er dort geathmet, den Formenadel ſeines Lieblings Platen
wollte er der deutſchen Lyrik durch ernſte, keuſche Dichtungen wieder
bringen, im bewußten Gegenſatze zu Heine’s ſpielender Formloſigkeit und
zu der handgreiflichen Tendenz der politiſchen Dichter. Die Kritik wußte
mit ihm zuerſt nichts anzufangen; ſie fällte das Urtheil, das er ſelbſt
vorhergeſagt: „und wer nicht mitſchreit heißt ein Knecht.“ Man nannte
ihn den Poeten der Backfiſche, weil die Liebesgedichte ſeiner Jugend, ob-
wohl alleſammt erlebt in tiefem Seelenglück und Seelenleid, von ſenti-
mentaler Weichheit nicht frei waren. Nachher kam doch die Zeit, da auch
reife Männer ſich an der getragenen Würde ſeiner gedankenreichen, form-
vollendeten Terzinen und Sonette erfreuten. Die fortreißende Macht
dramatiſcher Leidenſchaft blieb ihm freilich ebenſo verſagt wie der Einblick
in die tiefſten Abgründe des Seelenlebens. Faſt zu gleicher Zeit verſuchten
ſich Geibel und Heine an der Fabel vom Tannhäuſer. Geibel’s Gedicht
ward ein wohlabgerundetes kleines Kunſtwerk, vom Anfang bis zum Ende
durchklungen von demſelben Tone warnender Wehmuth, während Heine
nach einem glücklichen Anfang ſich den letzten Eindruck durch feuilleto-
niſtiſche Witzeleien ſelbſt verdarb. Aber die Schauer der Wolluſt, die
geheimnißvolle Macht der Weiberſchönheit, die ſchon Vater Homer ſchreck-
[383]Geibel. Tieck.
haft nannte, die ſinnberückenden Zauberkünſte der Teufelin des Venus-
bergs, dieſe ganze dämoniſche, mit der Askeſe des Mittelalters ſo wirk-
ſam contraſtirende Welt der Sinnengluth, die der alten Sage doch allein
Farbe und Leben giebt, verſtand der loſe Pariſer Spötter unvergleichlich
anſchaulicher, feuriger, ſchöner auszugeſtalten als ſein ſittſamerer Gegner.
Geibel haßte den Pöbel, den Gleichheitswahn des Radicalismus,
„denn Sünde ward es aus dem Schwarm zu ragen“, und mit einem
ehrlichen „Gott helfe mir, ich kann nicht anders“ ſagte er Herwegh
in’s Geſicht: daß Deine Lieder Aufruhr läuten! „Zu bau’n, zu bilden,
zu verſöhnen“ dünkte ihm ein beſſeres Amt als die Fackel Heroſtrat’s
zu ſchwingen. Und doch glühte auch ſein Herz für die Größe des Vater-
landes, für ein freies Volk, das feſt halten ſollte an ſeinem Gott
und ſeinem Recht. Aus den verworrenen Träumen der Zeit fand ſein
edler Sinn ſicher die lebendigen Ideale heraus; den alten Kaiſertraum
ſeines Volks bewahrte er ſich in aller Enttäuſchung ſo treu wie die
Hoffnung auf den Staat Friedrich’s des Großen; für die Rechte Schleswig-
Holſteins trat er zuerſt unter allen deutſchen Dichtern in die Schranken;
der Conſervative ſcheute ſich nicht, auch den Italienern einen rettenden
Odyſſeus, den Griechen die Befreiung des Bosporus zu weiſſagen, und
nachdem ſeine erſten Zeitgedichte in dem wüſten Toben des Radicalismus
faſt verklungen waren, ſollte er dereinſt noch der glückliche Sängerherold
des neuen Reiches werden. Damals freilich konnte ſelbſt dieſer milde,
ſinnige Dichtergeiſt ſich der Ahnung furchtbarer Kämpfe nicht erwehren;
er ſah, wie der Hader der Parteien uns das Mark im Gebeine verſengte,
wie viel tauſend Hungergeſichter ſich vor den Häuſern der Reichen drängten,
und ſagte warnend: Deutſchland iſt todkrank, ſchlagt ihm eine Ader! —
Wie eine Stimme aus dem Grabe erklang in dieſe modernen Kämpfe
hinein der Roman Vittoria Accorombona, Ludwig Tieck’s letzte Dichtung,
kurz vor der Ueberſiedelung nach Berlin vollendet, wohl das reifſte, das
beſtdurchdachte Kunſtwerk des alten Meiſters, eine in ſtrengem hiſtoriſchem
Stile gehaltene, ſelten durch Betrachtungen unterbrochene Erzählung von
den Gräueln des ausgehenden Cinquecento, von den Unthaten jenes hoch-
gebildeten Geſchlechts, das jeden ſtarken Menſchen in die Wirbel der all-
gemeinen politiſchen und ſittlichen Zuchtloſigkeit hineinriß und ſich ſo lange
ſelbſt zerfleiſchte bis der bleiſchwere Schlummer der Fremdherrſchaft über
Italien hereinſank. Die Sinnlichkeit erſchien hier immer heidniſch nackt,
das Verbrechen berechnet, ſicher, unbedenklich, die Schuld des Einzelnen
als die nothwendige Schuld des Ganzen; das Gewiſſen ſchwieg, jeder
Frevler ſagte zu ſeinen Opfern kalt: cosa fatta capo ha. Die Kritiker,
die den alten Gegner des Jungen Deutſchlands längſt haßten, beeilten
[384]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſich dies ganz aus der Fülle geſchichtlichen Lebens heraus empfundene,
in ſeiner Art meiſterhafte Gedicht mit einigen ſchnöden Bemerkungen über
altromantiſchen Höllenſpuk abzuthun.
Ganz grundlos war dieſer ungerechte Tadel nicht. Die Gegenwart
beſaß doch ſchon zu viel eigenes Leben, ſie verlangte mit Recht, ihre eigenen
Empfindungen auch in der Schilderung einer fremden abenteuerlichen Welt
wiederzufinden. Darum vornehmlich hatten Walter Scott’s hiſtoriſche
Romane, die Allen verſtändlichen, in Deutſchland eine ſo ungeheuere Ver-
breitung gefunden, obgleich Tieck und die anderen Romantiker den größten
Erzähler des Jahrhunderts kaum zu den Dichtern rechnen wollten. Unter
Scott’s zahlreichen Nachahmern waren manche Unterhaltungsſchriftſteller
gewöhnlichen Schlages, aber auch der geiſtreiche Schwabe Rehfues, deſſen
Roman Scipio Scicala den dumpfen Druck der ſpaniſchen Herrſchaft in
Neapel, das wilde Renegatenthum der ſpaniſch-türkiſchen Seekriege, die
gräßliche Entartung des ſüdländiſchen Prieſterlebens ſo treu und lebendig
ſchilderte, daß die Cleriſei des Rheinlands für nöthig hielt den freimüthigen
Dichter aus Bonn zu entfernen.*)
Sie Alle überragte Wilibald Alexis, ein in Berlin längſt heimiſcher
Schleſier aus hugenottiſchem Stamme. Er faßte ſich das Herz, mit
Scott ſelbſt zu wetteifern, den hiſtoriſchen Roman, ſo wie es dem
Schotten in ſeiner Heimath gelungen war, zum modernen National-
epos zu erheben. Die Freude am Erzählen hatte er von den ſchle-
ſiſchen und franzöſiſchen Altvordern geerbt; einem bewegten Geſchäftsleben
verdankte er eine reiche Menſchenkenntniß. Schon 1832, lange bevor
die Hiſtoriker ſich des gewaltigen Stoffes ernſtlich bemächtigt hatten,
wagte er ſich in dem Roman Cabanis an das fridericianiſche Zeitalter;
und nicht blos der ſchon von Leſſing geſchilderte Gegenſatz kurſächſiſcher
Feinheit und preußiſcher Schroffheit, auch die vielen anderen tragiſchen
Gegenſätze jener großen Tage, die engherzige Haustyrannei des Berliner
Kleinbürgerthums und die freie Heldengröße des Königs, die eiſerne
Mannszucht des Heeres und die windigen Ränke abenteuernder Diplo-
maten erſchienen hier lebendig ausgeſtaltet in Menſchen von kräftiger Eigen-
art. Dann folgten Romane aus den askaniſchen und den erſten hohen-
zollernſchen Zeiten, aus den Tagen, da die Reformation in die Marken ein-
zog, endlich aus dem Zeitalter der Fremdherrſchaft. Ueberall echt märkiſche
Charaktere, knapp und ſcharf, treu und tapfer, nicht ganz ſo übermäßig ſitt-
ſam wie die meiſten Helden Scott’s, Kerneichengewächs, aus dem ſich wohl
das Holz zu einer Großmacht ſchnitzen ließ. Und wie köſtlich war die ſeit den
Kräuterſalat-Verſen des guten Schmidt von Werneuchen und dem Spotte
Goethe’s ſo viel verhöhnte märkiſche Landſchaft verklärt: die im Abend-
lichte glühenden rothen Kiefernſtämme, das mittägliche Schweigen der
[385]Alexis. Auerbach.
ſchwülen öden Heide, die blauen Seen mit dem einſam kreiſenden Reiher
darüber. Was im alten Berlin lebendig und naturwüchſig war iſt niemals
treuer dargeſtellt worden als von den beiden Halbfranzoſen Chamiſſo und
Häring. Ein fleißiger Künſtler, bedachtſam ſinnend und feilend, vermochte
Alexis doch nicht jederzeit in ſo heiterer Sicherheit wie Scott über der Fülle
ſeiner Geſtalten zu ſtehen; und die große Schlußwirkung, grade die Stärke
des Schotten, fehlte bei ihm faſt immer, da er die Einwirkung der Tieck’ſchen
Romantik nie ganz überwand und zuletzt oft wie im Traum die Zügel aus
den Händen gleiten ließ.
Gleichwohl blieben dieſe vaterländiſchen Romane echte Perlen erzählen-
der Dichtung, ſie konnten in jedem guten deutſchen Bürgerhauſe zugleich
künſtleriſche und patriotiſche Freude erregen. Da zeigte ſich aber, was
es auf ſich hat, ob eine Nation ſich noch eins fühlt mit ihrer Geſchichte.
Die Schotten lebten und dachten alleſammt mit ihrem nationalen Roman-
dichter, ſie hoben ihn frohlockend auf den Schild. Jeder Graham, Scott,
Campbell, Douglas fühlte ſich geehrt, wenn er die Genoſſen ſeines Clans
in Sir Walter’s Romanen wiederfand. Dem deutſchen Dichter, der
allerdings nicht ganz ſo hoch ſtand, wurde von ſolchem Flammenmeere
nationaler Begeiſterung nicht einmal ein kümmerlicher Lichtſtrahl zu theil.
Die Deutſchen außerhalb Brandenburgs wußten von der märkiſchen Vor-
zeit noch ſchlechthin gar nichts; ſie fanden es mühſam ſich auch nur hin-
einzuleſen in dieſe fremde Provinzialgeſchichte. Die Brandenburger ſelbſt
wurden geiſtig beherrſcht von dem durchaus liebloſen und geſchichtsloſen
Berlinerthum, ſie haben ſich um den eigentlich märkiſchen Dichter nie viel
gekümmert. Und auch die Undankbarkeit der Hohenzollern ſollte er gründ-
lich kennen lernen, den unſchönen Erbfehler des Herrſcherhauſes, von dem
unter allen preußiſchen Königen allein Friedrich der Große und Kaiſer
Wilhelm I. ganz frei geblieben ſind; ſo viel man weiß hat der Dichter
des Roland’s von Berlin und der Hoſen des Herrn v. Bredow in dieſen
Jahren von ſeinem kunſtſinnigen Könige nie ein anderes Zeichen der Theil-
nahme empfangen als jenen ungerechten Brief, der ihm die liberalen Harm-
loſigkeiten ſeiner Voſſiſchen Zeitung ſtrafend vorhielt.*)
Weit reicheren Beifall ernteten die Dorfgeſchichten Berthold Auer-
bach’s, ein Buch, das den realiſtiſchen Zug, die demokratiſche Weltanſchau-
ung des neuen Geſchlechts kräftig förderte und dadurch Bedeutung für
die Zeitgeſchichte gewann. Auerbach ſtammte aus einem jener jüdiſchen
und halbjüdiſchen Dörfer, welche, eine ſeltene Ausnahme auf deutſchem
Boden, da und dort am oberen Neckar liegen. An Spinoza gebildet
hatte er ſich als Dichter anfangs nur an jüdiſchen Stoffen verſucht und
trat nun plötzlich mit einem weiten Schritte aus dem Ghetto in das deutſche
Volksleben hinüber. Seine kleinen Geſchichten waren mit niederländiſchem
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 25
[386]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Fleiße ſauber ausgemalt, gewiſſenhaft der Natur nachgebildet, friſch und
kräftig, frei von gefühlsſeliger Schönfärberei, ſo realiſtiſch gehalten, daß
ſelbſt die Sprache beſtändig wechſelte: der ſchwäbiſche Dialekt der Bauern-
geſpräche und ſogar der Bauernbriefe hob ſich grell, oft häßlich ab von
dem Hochdeutſch der Erzählung und der allzu reichlich eingeſtreuten Re-
flexionen. Auerbach hatte ſein Manuſcript der liberalen Baſſermann-
ſchen Buchhandlung in Mannheim, der jetzt auch Karl Mathy angehörte,
zugeſendet, und Mathy’s treffliche Hausfrau fühlte ſich glückſelig, da ſie die
Blätter zuerſt durchmuſterte und dies neue Kleinod deutſcher Dichtung
gleichſam entdeckte. Auch Freiligrath, der allezeit neidlos empfängliche,
rief begeiſtert: „das iſt ein Buch! ich kann es Dir nicht ſagen wie mich’s
gepackt hat recht in tiefſter Seele;“ und den Brüdern Grimm diente
dieſe Fülle oberländiſcher, dem Volksmunde ſorgſam abgelauſchter Wörter
und Redewendungen als eine willkommene Fundgrube ſprachlicher Forſchung.
Der erſte Erfolg der Dorfgeſchichten war groß und wohlverdient.
Ueberſättigt von den ſüßen Salonnovellen der Taſchenbücher ſtürzten ſich
die Leſer mit Behagen auf dieſe derbe Hausmannskoſt, und ſelbſt die blaſirte
vornehme Welt fand eine Zeitlang den Tolpatſch originell, den Ivo pi-
kant, das Vefele allerliebſt. In der Geſellſchaft wurde der junge Dichter
wie ein fröhlicher Salon-Tyroler betrachtet; er erzählte auch im Geſpräche
meiſterhaft, redete mit erſtaunlicher Offenherzigkeit über ſeine Entwürfe und
nahm jeden Beifall begierig auf; ein guter treuer Kamerad, ein warm-
herziger liberaler Patriot, erwarb er ſich viele Freunde und ſelbſt ſein
ſtark jüdiſch gefärbter Spinozismus ſchien, nach der Meinung jener
Tage, von der vorherrſchenden chriſtlichen Aufklärung nicht ſehr weit ab-
zuweichen. Zahlreiche Nachahmer, die ſehr bald in Manier verfielen, be-
mächtigten ſich ſogleich der neu entdeckten Dorfwelt; aus allen dunklen
Winkeln deutſcher Erde, aus Oberſchleſien und aus dem Ries, ſtieg in
den nächſten zehn Jahren ein Geſchlecht von Tölpeln und Rüpeln empor,
und je roher, je plumper dieſe Bauern es trieben, deſto lauter wurden
ſie bewundert als aus dem Leben gegriffene Geſtalten, deſto lebhafter
reizten ſie das ſtoffliche, ethnographiſche Intereſſe der Leſewelt. Unleugbar
lag eine erziehende Kraft in ſolchen einfachen Stoffen, die jeder Leſer bis in’s
Einzelne nachprüfen konnte; wer ſich daran wagte mußte der Natur treu
bleiben. Seit die Dorfgeſchichten aufkamen wurden auch die nach ſchöneren
Kränzen ſtrebenden Dichter gezwungen zu einer genauen, andächtigen Beob-
achtung des wirklichen Lebens, welche der deutſchen Poeſie nur zu oft fehlte.
Als der Reiz der Neuheit verflog, da bemerkte man freilich, daß
Auerbach ſelbſt nicht gänzlich in und mit ſeinen Menſchen lebte; eine ſo
mächtige, ſo unvergeßliche Geſtalt wie der Hofſchulze im Münchhauſen ge-
lang ihm nie, obgleich er viel mehr berechnete Kunſtmittel aufwendete
als Immermann. Er ſpottete gern über die theoretiſirenden Künſtler, die
das Ei hart ſieden und hernach noch ausbrüten wollten. Im Grunde be-
[387]Dichtende Frauen.
ſaß er ſelbſt wenig naive Dichterkraft. Oft verfuhr er wie ein Gelehrter
oder ein gebildeter Althändler, der die Prachtexemplare aus ſeiner Samm-
lung vorwies und dann die Eigenthümlichkeiten dieſer merkwürdigen Stücke
des Menſchengeſchlechts ſinnig betrachtend erläuterte; ja einzelne Bauern
waren, wenn man ſie näher anſah, doch nur verkleidete Juden, denn wo
das dämmernde Gemüthsleben des Volks geſchildert werden ſoll, da läßt
ſich die Stimme der Natur durch alle Kunſtfertigkeit niemals ganz erſetzen.
Dies fühlte man zuerſt in der ſchönheitskundigen Heimath des Dichters
ſelbſt; Auerbach iſt den württembergiſchen Schwaben, ſo herzensgut er es
auch mit ihnen meinte, doch niemals ſo lieb geworden, wie den badiſchen
ihr Hebel, der kein bewußter Künſtler war, aber als chriſtlicher Landpfarrer
mit dem chriſtlichen Volke gelebt hatte. Nach und nach begann man auch
wieder zu fühlen, daß die große Leidenſchaft, um künſtleriſch groß zu er-
ſcheinen, eines weiten Hintergrundes bedarf, tragiſche Kämpfe in der Enge
des Dorflebens meiſt quälend und bedrückend wirken, weil die ſcheußliche
Proſa des Zuchthauſes oder der rohen Mißhandlung immer dahinter lauert.
Man erkannte allmählich, daß die bewunderten Naturkinder aus dem nie-
deren Volke, gebunden wie ſie ſind durch ſtarre Sitten und Ehrbegriffe, oft
weniger frei, weniger menſchlich empfinden als die Gebildeten, und der
Dorfgeſchichte mithin in der Romandichtung nur die Stelle gebührt, die
ihr Immermann von Haus aus angewieſen hatte, die Stelle einer be-
ſcheidenen Epiſode. Auerbach ſelbſt blieb nur auf dieſem ſeinem eigenſten
kleinen Gebiete ſchöpferiſch; was er darüber hinaus verſuchte mißrieth.
In der beſtändig wachſenden Schaar der Poeten gelangten auch einige
Frauen zu Anſehen. Ganz im Geiſte der demokratiſchen Aufklärung ſchrieb
Fanny Lewald, eine vielſeitig gebildete oſtpreußiſche Jüdin von klarem,
gradem Verſtande, arm an Phantaſie, mehr zur Kritik befähigt und zum
ſicheren Beobachten als zum künſtleriſchen Geſtalten, dabei menſchenfreund-
lich, treu bemüht um die geiſtige und wirthſchaftliche Hebung des weib-
lichen Geſchlechts, bürgerlich achtbar und wohlanſtändig. Nur zuweilen
verrieth ſich bei ihr eine dem deutſchen Gemüthe unverſtändliche Empfin-
dungsweiſe: ganz unbefangen erzählte ſie, wie ihr hochverehrter Vater nach
dem Rückzuge der Franzoſen aus Moskau den elenden Flüchtlingen das in
Rußland geraubte Kirchenſilber abgekauft und in ſeiner Silberſchmelze ver-
jüngt hatte. In dem Tendenzromane Jenny verfocht ſie die Emancipation
ihrer Stammgenoſſen, nicht ohne Geſchick, aber auch nicht ohne gemachten
und gezierten Judenſchmerz; ſie beſaß das Talent, alle Dinge nur von einer
Seite zu ſehen, — jene gefährliche Gabe, welche die Juden zu ſo brauchbaren
Rechtsanwälten macht. Wenn die Verlobung ihrer freigeiſteriſchen, ohne
Erfolg getauften Heldin mit einem gläubigen evangeliſchen Theologen noch
zur rechten Zeit wieder auseinander ging, ſo war dies doch ſittlich nothwendig,
heilſam für beide Theile, durchaus kein Beweis chriſtlicher Unduldſamkeit;
und wenn dieſelbe reiche Jüdin ſchmelzend klagte: o Vaterland ſüß, Vater-
25*
[388]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
land mein, könnt’ ich nur im Tode vereinet Dir ſein — ſo hatten die
chriſtlichen Deutſchen auch dies Herzeleid nicht verſchuldet, ſie verwehrten
ihr ja keineswegs nach Paläſtina heimzukehren.
Zarter, reizender, weiblich liebenswürdiger erſchien Fanny Lewald’s
Todfeindin, die Gräfin Ida Hahn-Hahn in ihren nachläſſig hingeworfenen,
mangelhaft durchgebildeten Salonromanen. Die anmuthige Tochter des
allbekannten mecklenburgiſchen Theatergrafen, der ſein ganzes Leben und
ein großes Vermögen an die Abenteuer wandernder Schauſpielerbanden
verſchwendete, hatte von ihrem Vater die Wunderlichkeit und die ſchwär-
meriſche Empfindung geerbt. Ihre „immenſe Seele“ ſehnte ſich ewig
unbefriedigt nach „dem Rechten“; und es war Weiberloos, daß dies liebe-
bedürftige Gemüth nach manchen holden Verirrungen endlich von Babylon
nach Jeruſalem pilgerte, in der Strenge des Kloſters ſeinen Frieden ſuchte.
Ihre Welt war der Adel, aber nicht die tüchtigen, auf der väterlichen
Scholle hauſenden oder unter den Fahnen ihres Fürſten kämpfenden Edel-
leute, wie Alexis ſie ſchilderte, ſondern die eleganten Weltmänner der
Reſidenzen und der Bäder, faſt alle geiſtreich, galant, eifrig beſchäftigt
mit der Erforſchung großer Frauenſeelen, ſo völlig unbekümmert um die
Proſa des Lebens, daß ſie von einem ihrer Helden bezeichnend ſagen
konnte: der ganze geſtrige Abend war ihm wie Geld unter den Händen weg-
gekommen. Aus manchen Liebesſcenen ſprach ein reines Gefühl ſüßer weib-
licher Hingebung; zuletzt hinterließ das geſammte Treiben dieſer vornehmen
Geſellſchaft doch den Eindruck zweckloſer, eitler Müßigkeit. Von der Kritik
unbarmherzig mißhandelt, wirkten die Romane der Gräfin faſt wie Sa-
tiren, ſie ſtärkten den Adelshaß in dem demokratiſchen jungen Geſchlechte.
Hoch über dieſen beiden vielgenannten Gegnerinnen ſtand, noch wenig
beachtet, Annette Droſte-Hülfshoff, unter Deutſchlands ſchriftſtellernden
Frauen das ſtärkſte Dichtertalent, dem nur leider die künſtleriſche Durch-
bildung fehlte. Unter den Vorkiekern des Münſterlandes war ſie geboren,
unter den ſchweigſamen, blaßblonden, träumeriſch blickenden Niederſachſen,
denen die Gabe des zweiten Geſichts beſchieden iſt; dann verbrachte ſie
faſt ihr ganzes Leben in romantiſcher Einſamkeit auf dem Rüſchhaus und
anderen ſtillen Heideſchlöſſern der Heimath, zuletzt auf der alten Mers-
burg am Bodenſee, bei ihrem Schwager, dem letzten Ritter des heiligen
römiſchen Reichs, dem ſagenkundigen Freiherrn v. Laßberg*) — eine jener
hohen, edlen Frauen, die überall Liebe und Verehrung finden ohne die
Leidenſchaft eines Mannes zu reizen. Von nonnenhafter Zartheit lag
gar nichts in ihrem freien, ſtarken Geiſte; ſie ſcheute den derben Humor ſo
wenig wie den Ernſt der Forſchung oder die Pein des Zweifels und kehrte
erſt nach ſchweren innern Kämpfen zurück zu der katholiſchen Geſinnung,
die ihr in die Wiege gebunden war. Mit ihrem Landsmann Freiligrath
[389]Aufſchwung der Dramatik.
theilte ſie die kindliche Freude am Großen, Herrlichen, Wunderbaren, und
ganz weſtphäliſch, kräftige Kinder der rothen Erde waren auch ihre Ge-
dichte und Erzählungen — meiſt einfache Stoffe, aus Gebirg und Moor,
aus dem Alltagsleben, aus dem Kirchenjahre und der Geſchichte der Heimath,
aber Alles verklärt durch die leidenſchaftliche Macht einer immer ſelb-
ſtändigen, urſprünglichen Empfindung. Das geheimnißvolle Traumleben
der Natur, in der Landſchaft wie in der fiebernden, bangenden Menſchen-
ſeele, war der Tochter der Heide von Kindesbeinen an vertraut und ihre
männliche Sprachgewalt fand auch für das Geiſterhafte ſtets den packenden,
den entſcheidenden Ausdruck. Leider verdarb ſie den Eindruck ihrer Dich-
tungen oft durch die ungelenke, ja rohe und incorrekte Form; das Ge-
heimniß der künſtleriſchen Compoſition blieb ihr wie faſt allen Weibern
unfaßbar. Dem Streite des Tages ſtand Annette fern; nur ſelten wagte
ſie ein Wort der Warnung an den Vorwitz der Weltverbeſſerer oder an
die friedloſe Haſt des neuen Geſchlechts, das kaum noch fähig ſchien Freud
und Leid der vierundzwanzig Tagesſtunden rein auszukoſten:
Friſchere Blüthen als die anderen Zweige der Dichtung trieb in dieſen
Jahren die dramatiſche Kunſt. Zu lange ſchon kränkelte unſer Theater
an den Schultheorien der Romantiker. Feine Kennerkreiſe erlabten ſich
an Tieck’s Shakeſpeare-Vorleſungen oder an gelehrten Leſedramen. Die
mißachtete Bühne aber, die doch leben, doch die Schauluſt der Menge be-
friedigen mußte, verfiel mehr und mehr dem Handwerkerfleiße ſchlechter
Ueberſetzer.*) In ſolcher Lage erwarben ſich die beiden kräftigſten Talente
des eigentlichen Jungen Deutſchlands, Laube und Gutzkow, ein großes Ver-
dienſt, als ſie verſuchten dem deutſchen Theater durch deutſche, ſtreng bühnen-
gerechte und doch nicht gehaltloſe Werke wieder aufzuhelfen. Ihre Vorbilder
konnten ſie nur bei den Franzoſen finden, bei dem einzigen Volke, deſſen
Theater damals wirklich lebte. Zum Glück beſaß Frankreich keinen über-
legenen dramatiſchen Genius, der die deutſchen Schüler, wie Walter Scott
unſere Romandichter, zu unfreier Nachahmung verführen konnte. Wohl aber
ließ ſich von Scribe’s vollendeter Technik Vieles lernen; ſeine feinberechneten
Intrigen vermochten allein dem deutſchen Gemüthe ſo wenig zu genügen
wie die mageren, ſchablonenhaften, ganz durch die Handlung beherrſchten,
ja faſt erdrückten Charaktere. Es galt, Dramen zu ſchaffen, deren Handlung
ebenſo ſpannend und erregend wirkte, aber aus dem Zuſammenſtoße der
Charaktere nothwendig hervorging. Und wie ſchwer war dieſe Aufgabe.
Welch einen Schatz beſaß Frankreich an ſeiner rein nationalen Bühne;
ſeine Schauſpieler hatten immer nur Franzoſen darzuſtellen, Menſchen,
deren Art und Unart jedem Hörer verſtändlich war. Unſere Dichter und
[390]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Ueberſetzer waren in ihrem weltbürgerlichen Drange ſo weit auf der Erde
umhergefahren, daß ſie den Schauſpielern faſt unmögliche Aufgaben ſtellten
und ein nationaler Bühnenſtil ſich niemals bilden konnte. Uns fehlte
die Hauptſtadt, uns fehlten die Allen gemeinſamen nationalen Gefühle;
uns fehlte ſelbſt die lebendige hiſtoriſche Erinnerung, denn den alten Fritz
oder die Helden des Befreiungskriegs kannte man in Baiern faſt eben-
ſo wenig wie in Pommern die Kaiſer unſeres Mittelalters.
Laube’s geſunde, derbe, praktiſche Natur hatte die jungdeutſche Ziererei,
die ihm nur von außen her angeflogen war, bald wieder abgeſchüttelt. Er
lebte ſich mit gewiſſenhaftem Fleiße in die Theaterwelt ein, was ſeit langen
Jahren außer Immermann kein ernſter Dichter mehr für nöthig gehalten
hatte, und verkehrte freundſchaftlich mit Schauſpielern, denen er dankbar
ſeine Stücke zu widmen pflegte. Ihm entging nicht, daß die Hörer wie die
Schauſpieler faſt nur noch dem bürgerlichen Drama willige Empfänglich-
keit entgegenbrachten; durch gemeinverſtändliche, Jedem naheliegende Stoffe,
grobe Züge, einfache Expoſition hoffte er den verwilderten Geſchmack des
Publicums wieder an den Genuß dramatiſcher Kunſtwerke zu gewöhnen.
Seine Dramen waren mehr gemacht als gedichtet, da ihm der hohe poe-
tiſche Schwung verſagt blieb, aber wohl gebaut, lebendig, von einer kecken
Friſche, die den fröhlichen Waidmann verrieth; ihr Gehalt niemals tief-
ſinnig, doch bedeutſam genug für gebildete Hörer. Die beiden beliebteſten,
Gottſched und Gellert und die Karlsſchüler, verdankten ihren Erfolg freilich
einem äſthetiſchen Fehler, den erſt ein ſpäteres, thatenfrohes Geſchlecht
ganz durchſchauen ſollte. Der Dichter ſuchte nach volksthümlichen hiſto-
riſchen Stoffen, er pries ſich glücklich in Schiller einen Mann zu finden,
den die Deutſchen alleſammt beſſer kannten als irgend einen politiſchen
Helden, und überſah nur, daß die rein geiſtige Größe ſich nicht in dra-
matiſcher Handlung ausgeſtalten läßt. So entſtand ihm ein Literatur-
drama, eine Zwitterform, die den Stimmungen dieſer Uebergangszeit
entſprach, aber minder berechtigt war als vormals die ganz von der
Bühne abſehenden dramatiſchen Satiren Platen’s. Die Literaturgeſchichte
diente hier der Bühnenkunſt nur als Krücke, als ein unkünſtleriſches Mittel
für wohlfeile Effekte; der junge Schiller, der ſich aus dem Zwange der
Karlsſchule losriß, entzückte die Hörer nicht durch die Macht der drama-
tiſchen That, ſondern weil ſie von der Schulbank her wußten, daß dieſer
Jüngling dereinſt noch den Wallenſtein und den Tell ſchreiben würde.
Mehr Geiſt und mehr Unruhe brachte Gutzkow dem Theater. Auch
er war den Verirrungen ſeiner Jugend längſt entwachſen und, ſcharf beob-
achtend, auf der Bühne ganz heimiſch geworden; er hegte den Ehrgeiz,
daß ſeine Dramen zugleich als Waffen dienen ſollten für den Kampf der
Aufklärung gegen die Lüge, während Laube die Tendenz nur gelegentlich
als ein Zugmittel benutzte. Und doch geriethen ihm gerade die Dramen
am glücklichſten, in denen die Tendenz ganz zurücktrat; ſeinem ſkeptiſchen
[391]Laube’s und Gutzkow’s Dramen.
Verſtande lag die feine Pointe des Luſtſpiels näher als das tragiſche
Pathos. Im Urbild des Tartuffe ſchilderte er geiſtreich, mit allem Auf-
wande bühnengerechter heiterer Ueberraſchungen, das Loos des komiſchen
Dichters, den Alle loben ſo lange ſie ſich nicht ſelbſt von den Pfeilen ſeines
Witzes getroffen fühlen; in Zopf und Schwert ebenſo lebendig, mit dick
aufgetragenen Farben, den Gegenſatz altpreußiſcher Soldatenderbheit und
feiner moderner Weltbildung. In dieſem vaterländiſchen Drama klang
ſogar zuweilen ein gemüthlicher Ton warmer Berliniſcher Heimathliebe
durch; die grob gezeichnete Geſtalt Friedrich Wilhelm’s I. war doch lebendig
genug um in preußiſchen Herzen ein Gefühl launigen Behagens zu er-
wecken, und ſelbſt die ängſtliche Berliner Theatercenſur mußte endlich ein-
ſehen, daß die alte engherzige Vorſchrift, welche die Perſonen des Fürſten-
hauſes von den Brettern ausſchloß, nur der Sache des Königthums ſelber
ſchadete: wenn die großen Hohenzollern auf der Bühne erſchienen, ſo
wurden ſie dem Volke doch ungleich verſtändlicher als durch Denkmäler
oder Gemälde.
Gutzkow’s Trauerſpiele dagegen verriethen überall, daß der nervöſe,
friedloſe, unruhig grübelnde Dichter zur inneren Freiheit noch nicht ge-
langt war. Im Richard Savage wurde ein tiefſinniger Stoff, der Wider-
ſpruch zwiſchen dem natürlichen Gefühle und der geſellſchaftlichen Heu-
chelei, unter allerhand geiſtreichen Einfällen und gezierten Geſprächen
ſo leichthin abgethan, daß der ſittliche Gehalt der Fabel ganz verloren
ging; im Patkul mußte die abſtrakte Freiheitsrhetorik, im Wullenweber
gar das Zeitungsſchlagwort die tragiſche Leidenſchaft erſetzen. In ſeinem
haſtigen Schaffen ließ er ſich nicht Zeit zu der umſtändlichen Ausführung
der Charaktere, die er doch ſelbſt an Schiller bewunderte, und vermochte
darum auch nicht ſo feſt an ſeine Menſchen zu glauben wie Schiller an
den Max oder den Tell. Faſt noch unſicherer ſprach ſein ſittliches Gefühl
im Uriel Acoſta, der vielbewunderten Tragödie der freien Forſchung: der
Held war kein Denker, ſondern ein Zweifler, kein Bekenner, ſondern ein
Schwächling, der nur durch die Verkettung der Umſtände, nicht durch
freien Entſchluß vor ſchimpflichem Widerrufe bewahrt wurde. Aber in
dieſen Tagen der freien Gemeinden und des Deutſchkatholicismus klang
der Vers „die Ueberzeugung iſt des Mannes Ehre“ ganz unwiderſtehlich.
Die Hörer vergaßen willig die Erbärmlichkeit des Helden, da das Stück
doch in ſehr wirkſamen Scenen den Kampf des freien Gedankens wider
das verknöcherte Dogma vorführte; und obſchon die mächtige Judenſchaft
dem Dichter grollte, weil er nicht die landesüblichen chriſtlichen Prieſter,
ſondern Rabbiner als Vorkämpfer des Gewiſſenszwanges auftreten ließ,
ſo blieb das Stück gleichwohl ein Liebling der aufgeklärten Freigeiſter, und
noch viele Jahre ſpäter pflegte die kirchliche Reaktion überall wo ſie ſiegte
mit Verboten gegen den Uriel einzuſchreiten.
Wie viel Verfehltes auch mit unterlief, das deutſche Theater beſann
[392]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſich doch wieder auf ſich ſelber und wollte nicht mehr bloß vom Abhub
fremder Tiſche zehren. Die jungen Dramatiker glaubten wieder an die
Zukunft unſerer Bühne; die Stücke Gutzkow’s und Laube’s ſpiegelten
das Leben der Zeit immerhin treuer wieder als die weit zierlicher aus-
gefeilten Dramen des Oeſterreichers Halm, der, ganz undeutſch, an ſpa-
niſchen Vorbildern geſchult, die erkünſtelte Unnatur ſeiner Geſtalten nur
durch techniſches Geſchick und eine melodiſche, klangvolle Sprache erträglich
machte. Für den täglichen Hausbedarf ſorgte außer den Wiener Luſtſpiel-
dichtern jetzt auch der Leipziger Benedix, ein luſtiger Naturburſch mit ſehr
leichtem Gepäck, höchſt erfinderiſch in derb komiſchen Situationen. Wenige
Monate vor dem Ausbruch der Revolution erſchien auch ſchon, in Kaliſch’s
erſter Poſſe, die volksthümliche Geſtalt Zwickauer’s auf der Berliner Bühne.
Damit begannen die Blüthezeiten der Berliner Poſſe, die, begünſtigt durch
die neue Redefreiheit, durch die politiſche Erregung, durch die unaufhaltſame
Demokratiſirung der Sitten, etwa anderthalb Jahrzehnte währen ſollten.
Alle die luſtigen Figuren aus dem niederen Berliner Volksleben, die bisher
in Glasbrenner’s Flugblättern ihr Weſen getrieben, traten jetzt auf die
Bretter, alle ſchnippiſch, vorlaut, witzig, ſelbſtbewußt, nicht ohne derbe
Gutmüthigkeit, und wurden nicht müde einander zu ſchrauben, zu uzen,
zu verhöhnen; unerbittlich fegte die freche Satire über die Höhen und
Tiefen des ſocialen Lebens dahin; leichte Muſik und kecke Couplets er-
höhten noch die komiſche Wirkung, und es war ſicherlich ein Glück, daß
dieſe überkluge Großſtadt wieder lernte ſo herzlich über ſich ſelbſt zu lachen.
Freilich blieb die Berliner Poſſe, da ſie ſo ganz naturwüchſig aus dem
märkiſchen Sande aufſtieg, auch allezeit grundproſaiſch; für den roman-
tiſchen Zauber, der einſt die Poſſen Raimund’s verklärte, wehte die Luft
an der Spree zu ſcharf.
Der wieder erwachende Schaffensdrang der dramatiſchen Dichter be-
lebte auch die Schauſpielkunſt. Einige Theater ſpielten ſehr wacker. Die
Dresdener Bühne, die eine Zeit lang durch Eduard Devrient einſichtsvoll
geleitet wurde, beſaß für das Drama an Emil Devrient und Marie Baier-
Bürck, für die Oper an Tichatſchek und Wilhelmine Schröder-Devrient
zwei unvergleichliche Heldenpaare. Dort wirkte auch ſchon im Orcheſter
der junge Richard Wagner; er errang ſoeben mit ſeinem Rienzi den erſten
großen Erfolg und trug ſich ſchon mit dem Plane, die Oper zu überbieten
durch muſikaliſche Tragödien, in denen Muſik und Dichtung völlig ver-
ſchmolzen und namentlich die dem recitirenden Drama verſagten groß-
artigen Maſſenwirkungen erreicht werden ſollten.
Eine ganz eigene Stelle, halb in der Zeit halb außer ihr, wählte
ſich der Ditmarſche Friedrich Hebbel, ein ernſter, gedankenſchwerer, grüb-
leriſcher Nordländer, der in rauher Lebensſchule eine düſtere, faſt hoffnungs-
loſe Anſicht von der Menſchheit, von den Widerſprüchen der modernen Ge-
ſellſchaft, von der Geſchichte Deutſchlands gewonnen hatte. Er ſetzte ſich
[393]Hebbel.
die höchſten Ziele, ſuchte ſtets große ſittliche Probleme dramatiſch zu ge-
ſtalten und entſprach dem realiſtiſchen Zuge des Zeitalters durch die un-
erbittlich ſtrenge, folgerechte, alle Phraſe verſchmähende Durchbildung ſeiner
Charaktere. Aber ſein Schaffen war zu bewußt, ſeine Geſtalten ſelbſt wußten
ſich zu viel mit ihrer Eigenart, jedes ihrer Worte klang ſo ſcharf berechnet,
daß ihnen die naive Freiheit, der Reiz des Unmittelbaren verloren ging;
und obwohl die gedrungene Compoſition, die mächtig aufſteigende Handlung,
der erſchütternde Schluß einen ſtarken theatraliſchen Erfolg zu erzwingen
ſchienen, ſo fehlte ihm doch der Sinn für das Gemeinverſtändliche, der
alle Bühnenwirkung bedingt; die krankhaften, verſchlungenen, bis zur Un-
geheuerlichkeit ſeltſamen Seelenkämpfe, die er darzuſtellen liebte, konnten
ſchlichte Hörer nur befremden. Verwirrend und berauſchend wirkte ſein
erſtes Drama Judith. Hebbel fühlte ſcharf heraus, daß dieſe von dem naiven
Gattungsgefühle des Alterthums ſchlechthin bewunderte epiſche Heldin uns
Modernen als eine tragiſche Geſtalt erſcheinen muß, weil unſer freies
chriſtliches Gewiſſen die blinde Hingebung des Einzelnen an das Volks-
ganze nicht mehr für eine unbedingte Pflicht anſieht, und erregte nun in
der Seele des gräßlichen Weibes einen Sturm widerſprechender Empfin-
dungen, aus denen die nervöſe Sinnlichkeit des Zeitalters zuletzt ſo über-
mächtig hervortrat, daß ein reines tragiſches Mitleid nicht mehr aufkam.
Sein wirkſamſtes Drama war Maria Magdalena, ein bürgerliches
Trauerſpiel, das durch die Wucht der Leidenſchaft, die gewaltſame Span-
nung lebhaft an Kabale und Liebe erinnerte. Hier wagte Hebbel aus der
Noth eine Tugend zu machen; er wagte „die ſchreckliche Gebundenheit in der
Einſeitigkeit“ — jene Klippe, woran ſo viele bürgerliche Dramen und Dorf-
geſchichten ſcheiterten — ſelber zum Mittelpunkte des tragiſchen Kampfes
zu erheben. An der Grauſamkeit der kleinbürgerlichen Ehrbegriffe ließ
er ſeine Heldin untergehen, und in dem harten, borſtigen Meiſter Anton
ſchuf er eine Geſtalt, die ſich dem alten Miller vergleichen durfte. Aber
auch hier blieb zuletzt kein reiner Eindruck zurück, weil die Schuld der
Heldin ſo unnatürlich, ſo ſeltſam erklügelt war. Nachher zog ſich Hebbel
verſtimmt von der Bühne zurück, in eine bewußte und gewollte Verein-
ſamung, die dem Dramatiker ſtets verderblich wird. Umgeben von einer
kleinen Schaar fanatiſcher Verehrer, die ſeinen Hochmuth bis zum Ueber-
maße ſteigerten, brütete er lange über einer neuen, unmöglichen Kunſtform,
der Tragikomödie. Erſt nach vielen Jahren qualvollen Ringens fand
er den Glauben an einfachere Ideale wieder und die Kraft zu dauernden
Werken — ein großangelegter, tiefſinniger Dichtergeiſt, ein echter Sohn
dieſer Hohes ſuchenden, wenig vollendenden Tage.
Die rechte Herzensfreudigkeit des glücklich ſchaffenden Dichters beſaß
unter allen den neuen Dramatikern nur Einer, der Schleſier Guſtav Freytag.
Wie tapfer und bewußt er auch theilnahm an allen den geiſtigen und poli-
tiſchen Kämpfen ſeiner hoch erregten Zeit, immer bewahrte er ſich doch jene
[394]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
„gutmüthige in’s Reale verliebte Beſchränktheit“, welche Goethe ſo oft das
wahre Glück des Dichters nannte. Er liebte ſeine Menſchen und lebte
mit ihnen, er ſchien ſie an ſein Herz zu drücken, ſo daß ſie ihm ſelbſt
und den Hörern unvergeßlich blieben, während man den dramatiſchen Ge-
ſtalten der Anderen oft die Berechnung, die Reflexion anmerkte. Darin
lag ſchon der Reiz ſeines Erſtlingsdramas, des Kunz von der Roſen;
die noch loſe aneinander gereihten Scenen bezauberten den Leſer, weil die
goldene Laune des Helden Alles verklärte und der treuherzige Frohmuth
unſeres ſechzehnten Jahrhunderts Jeden anheimelte. Vor den Brettern
erkannte Freytag ſelbſt, daß dies Stück noch kein Drama war, und nachdem
er das Theater gründlich kennen gelernt, ſchenkte er ihm zwei bühnen-
gerechte Schauſpiele aus der modernen vornehmen Welt, Valentine und
Graf Waldemar. Beide behandelten ein einfaches, aber ſchönes und ge-
haltreiches Problem; ſie zeigten, wie die wahre Liebe eine edle Natur von
der Verbildung der großen Geſellſchaft zur ſittlichen Freiheit zurückführt.
Er erlaubte ſich viel, weil ſeine heitere Anmuth viel wagen durfte, doch nie-
mals einen groben theatraliſchen Effekt. Stärker noch als der feſtgegliederte
Aufbau ſeiner Dramen wirkten die Charaktere, dieſe ſo feſt mit dem Gemüthe
des Dichters verwachſenen, ſo ganz in heimlicher Stille ausgereiften Ge-
ſtalten, und der freie optimiſtiſche Humor, der ſelbſt in den Spitzbuben
noch das Menſchliche zu finden wußte.
An der Grenze, dicht neben den Slaven war er aufgewachſen, im
ſicheren Gefühle deutſcher Ueberlegenheit, ein ſtolzer Preuße, ein rechter
Markmanne; auf der Univerſität wendete er ſich der germaniſtiſchen Wiſſen-
ſchaft zu, und ſo grunddeutſch blieb ſeine Empfindung, daß ihn die fremd-
brüderliche Schwärmerei jener Jahre nur anwidern konnte. Wohl lernte
er dankbar aus engliſchen Romanen und franzöſiſchen Dramen, doch ſeine
eigenen Stoffe fand er unwillkürlich nur im Vaterlande. Hier war ſeine
Welt, ſelbſt der Wunſch fremde Länder zu bereiſen regte ſich ihm kaum
jemals. Amerika, das in der engen Verhältniſſen der Dorfgeſchichten immer
als das Eldorado der Freiheit erſchien, ſpielte auch in ſeine Dichtungen zu-
weilen hinein, doch nur wenn er einen ſeiner Helden durch einen roman-
tiſchen Zug abenteuerlicher Keckheit von dem deutſchen Stillleben dieſer
Friedensjahre wirkſam abheben wollte. Die Tendenz verſchmähte er grund-
ſätzlich; endlichen Zwecken, ſo ſagte er ſtolz, ſollten ſeine Kunſtwerke niemals
dienen. Und zu ſeinem Glücke beſaß er auch die journaliſtiſche Feder-
gewandtheit; er konnte ſeine literariſchen und politiſchen Gedanken als
Kritiker und Publiciſt in angemeſſener Form ausſprechen, darum durfte
das Schifflein ſeiner Dichtung, unbeſchwert vom proſaiſchen Ballaſt, frei
dahin ſegeln. Schon dieſe erſten Dramen verriethen, obwohl ſie ſich auf
den Höhen der Geſellſchaft bewegten, deutlich die bürgerlich-demokratiſche Ge-
ſinnung des Dichters; Bürgerliche vertraten die einfache ſittliche Wahrheit,
während der Adel faſt nur ſeine Schattenſeiten zeigte. Noch ſtand Freytag
[395]Freytag.
mitten in ſeiner Entwicklung, ſeine Helden ſpielten noch übermüthig mit
dem Leben ohne es handelnd zu beherrſchen; die Zeit ſollte noch kommen,
da er der Lieblingsdichter des deutſchen gebildeten Bürgerthums wurde.
Auffällig unterſchied ſich Freytag von den anderen Dramatikern auch
durch den Adel ſeiner einfachen, reinen, ſeelenvollen Sprache. Wer dieſe
Dramen las oder die Gedichte Geibel’s und Dingelſtedt’s, oder die Proſa
der Brüder Grimm, Ranke’s, Dahlmann’s, Schelling’s, der mußte freudig
erkennen, daß die friſche Lebenskraft der jüngſten und bildſamſten Cultur-
ſprache weder unter der Jäteluſt der urteutoniſchen Sprachreiniger, noch
unter der fremdbrüderlichen Ziergärtnerei der Jungdeutſchen ernſtlich ge-
litten hatte. Alle dieſe Schriftſteller ſchrieben gut deutſch, keiner dem
andern gleich, und in der Freiheit des individuellen Stils lag unſere
Stärke. Die ſtraffen Saiten der alten herrlichen Goldharfe gaben noch
vollen Klang, ſie harrten immer nur des Meiſters, der ſie ſpielen konnte.
Mit gerechtem Stolze rief Rückert unſerer Sprache zu:
Die Poeſie bleibt allezeit die eigentlich nationale Kunſt. Wie ihre
Sprache nur von den Volksgenoſſen ganz verſtanden wird, ſo ſchöpft auch
der Dichter die Ideale für ſein bewußtes Wirken gradeswegs aus dem
Leben ſeines eigenen Volks; alle großen chriſtlichen Nationen, wie Vieles
ſie auch dem Gedankenaustauſche mit dem Auslande verdanken mochten,
haben ſich ihre claſſiſche Dichtung weſentlich aus eigener Kraft geſchaffen,
auf ſehr verſchiedenen Altersſtufen, manche in Zeiten da die anderen
Völker ſämmtlich brach lagen, aber alle dann wenn ihnen die eigene Seele
frei und reich ward. Das Gemüth iſt national, Ohr und Auge ſind
Weltbürger. Die großen Epochen der Muſik und der bildenden Künſte,
Gothik, Renaiſſance, Barock und Zopf gehören, trotz der Mannichfaltig-
keit der nationalen Stile, allen Culturvölkern an; aus der Gemeinſam-
keit der Sitten und Trachten, des Verkehres und der Weltverhältniſſe
bildete ſich jedes Jahrhundert beſtimmte Tonempfindungen und Formen-
typen aus, denen ſich keine Nation ganz entziehen konnte. Und dieſer
weltbürgerliche Zug der bildenden Künſte verleugnete ſich auch nicht in
dem neunzehnten Jahrhundert, das unſtät ſuchend, haſtig ſchaffend ſeinen
eigenen Stil niemals recht zu finden vermochte. Der erhabene Idealismus
der einſt unter den deutſchen Malern in Rom zuerſt erwacht war, hatte
auch die franzöſiſche Kunſt nicht unberührt gelaſſen; doch ſchon nach zwei
[396]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Jahrzehnten — ſo ſchnell, daß die Kunſtſtile dieſes unruhigen Zeitalters faſt
wie Moden erſchienen — begann von Frankreich her der Rückſchlag.
Cornelius und ſeine Schüler hegten einen hochariſtokratiſchen Stolz,
der ſich in dieſem demokratiſirten Jahrhundert nicht auf die Dauer behaupten
konnte, ſie betrachteten die Kunſt als eine vom gemeinen Alltagsleben ganz
abgetrennte Welt der Ideale, als einen Tempel, den Niemand mit unheiligen
Sohlen, Niemand ohne ſtille Sammlung betreten ſollte; und wie ſie in
ihrem eigenen Schaffen die Technik gering ſchätzten neben der poetiſchen
Erfindung, ſo fühlten ſie ſich auch hoch erhaben über allem Kunſthand-
werk, während doch in wahrhaft ſchönheitsfrohen Zeiten die Kunſt allgegen-
wärtig wirkt, durch Schmuck und Geräth das Leben jedes Hauſes verklärt.
In Frankreich war das Kunſtgewerbe nie ſo gänzlich zerſtört worden wie
in dem verarmten Deutſchland, und nicht zufällig geſchah es, daß dort
die Malerei zuerſt wieder verſuchte, die Natur in jedem Zuge ſorgſam
nachzubilden, durch Farbenreiz das Auge zu entzücken. Auch in der
Literatur aller Länder bekundete ſich dieſer der Grundſtimmung der neuen
Zeit entſprechende realiſtiſche Drang mächtig, nur daß ihn die Dichter nach
ihrer nationalen Eigenart, in ſehr verſchiedenen Formen ausgeſtalteten.
Der Malerei aber dienten die franzöſiſchen Coloriſten unmittelbar zum
Vorbilde. Schon die Düſſeldorfer Malerſchule, die zuerſt dem Idealismus
der Cornelianer ſchüchtern entgegentrat, lernte viel von den Franzoſen,
und noch mehr verdankten ihnen die Belgier. Dort an der Schelde be-
gann die bildende Kunſt in derſelben Zeit wieder aufzublühen als das Land
ſich von der holländiſchen Herrſchaft losriß; und da das zweiſprachige Volk
eine nationale Dichtung nie erlangen konnte, der flamiſche Dichter Hendrik
Conſcience doch nur für die Flamen ſchrieb, ſo hegten und pflegten alle Bel-
gier im ſchönen Wetteifer ihre junge farbenreiche Malerei als die nationale
Kunſt: ſie ſollte die neu gewonnene Unabhängigkeit des Landes gleichſam
geiſtig vor Europa rechtfertigen. Im Jahre 1843 machten zwei wirkſam
gemalte belgiſche Hiſtorienbilder, von Gallait und de Biefve, die Runde
durch Deutſchlands Städte und wurden überall unmäßig bewundert; an
dieſer Kraft der Farbe, an dieſer naturgetreuen Charakteriſtik, ſo hieß es
allgemein, ſollte die deutſche Kunſt ſich ein Beiſpiel nehmen. Um dieſelbe
Zeit ward auch der größte der neufranzöſiſchen Maler, Paul Delaroche
den Deutſchen näher bekannt durch ſein lebensvolles Bild Napoleon in
Fontainebleau. Die deutſchen Kunſtgelehrten, denen die ſpröde Strenge
des alten Idealismus noch im Blute lag, ſtritten ſich ernſthaft über die
Frage, ob es auch äſthetiſch erlaubt ſei, daß dieſer Cäſar, der nach langem
Fluchtritt erſchöpft und verzweifelnd auf dem Stuhle ſaß, wirklichen
Schmutz an ſeinen Reitſtiefeln trug. Die unbefangenen Beſchauer aber
dankten dem fremden Künſtler, daß er ihnen das Große und Furchtbare
ſo menſchlich nahe brachte. Es war nicht anders, die Augen der Menſchen
begannen ſich zu verwandeln, ſie verlangten nach ſinnlicher Wahrheit,
[397]Cornelius’ letzte Werke.
nach natürlicher Kraft, nach lebendigem Können und fühlten ſich beleidigt,
wenn ihnen die künſtleriſche Idee formlos entgegentrat.
Zu ſo ungünſtiger Zeit betrat Cornelius den feindlichen Boden
Berlins. Sein Abgang war für München ein unerſetzlicher Verluſt.
Mochte auch der grollende Wittelsbacher trotzig ſagen: „ich, ich der
König bin die Kunſt in München“ — es ergab ſich doch bald, daß faſt
allein die herriſche Perſönlichkeit des großen Malers die Künſtlergemeinde
zuſammengehalten hatte. Bald nach ihm verließen mehrere andere nam-
hafte Künſtler die Iſarſtadt; Zerſplitterung und Mißmuth zeigten ſich
überall; und es währte ſehr lange, bis die Münchener Künſtler das ſtolze
Gefühl einer großen hiſtoriſchen Beſtimmung, das Cornelius ihnen er-
weckt hatte, einigermaßen wiederfanden. Aber auch der Meiſter ſelbſt
erlebte ſchmerzliche Enttäuſchungen, bald nachdem er beim Scheiden den
Gegnern ſtolz zugerufen hatte:
Gleich das erſte Werk, mit dem er ſich in ſeinem neuen Wohnſitz
einführte, das abſcheulich gemalte Oelbild: Chriſtus in der Vorhölle be-
fremdete die Berliner, die an monumentale Malerei noch nicht gewöhnt
waren und ſich eben jetzt für die neuen belgiſchen Coloriſten begeiſterten.
Als ſodann jüngere Künſtler unter ſeiner Oberleitung die Schinkel’ſchen
Fresken in der Vorhalle des Muſeums ausmalten, da konnten auch Unbe-
fangene die Schwächen dieſer in Ideen und theoretiſchen Programmen ſchwel-
genden Kunſtweiſe nicht mehr ableugnen. Die hochpoetiſchen Bilder der aus
dem Chaos aufſteigenden Weltkräfte, der dem Himmelslichte zuſtrebenden
helleniſchen Cultur, wie entſtellt erſchienen ſie hier durch grobe Verzeichnungen
und falſche Farben; wo war hier jener entſagende Künſtlerfleiß, den einſt
der ungeſtüme Michel Angelo bethätigt hatte, als er die gewaltige Decke
der ſixtiniſchen Capelle geduldig mit eigenen Händen malte? Wahre Freude
konnte das tiefſinnige Werk nur dann erregen, wenn einmal Abends bei
feſtlicher Beleuchtung der prächtige Farbenteppich zwiſchen den hohen
Säulen phantaſtiſch herausſtrahlte und die Mängel der einzelnen Ge-
ſtalten in dem unſicheren Lichte verſchwanden. Unterdeſſen zeichnete Cor-
nelius an den Cartons für den nie vollendeten Campo Santo und be-
ſchämte ſeine Neider, indem er raſtlos wie ein Jüngling an ſich ſelber
arbeitend, auch die Formen immer ſicherer zu beherrſchen lernte. So
mächtig hatte ſich ſein Genius noch nie offenbart wie jetzt in der dämo-
niſchen, zermalmenden Furchtbarkeit der apokalyptiſchen Reiter oder in der
Majeſtät des ſtrafenden Erzengels auf den Trümmern Babels.
Die alten Getreuen in Rom und München jauchzten ihm zu ſo oft
er ein Bruchſtück ſeines großen Werks vor ihnen ausſtellte. In Berlin
blieben die Meinungen immer getheilt; und allerdings verſtieg ſich der
Meiſter, als jede Hoffnung auf die maleriſche Vollendung ſeiner Entwürfe
[398]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
verſchwand, zuletzt in eine erhabene Gedankenkunſt, die, überreich an po-
etiſcher Erfindung, doch nur ihm ſelber angehörte. Ganz aus ſeinem perſön-
lichen Gefühle heraus ſchuf er ein Epos mit eingeflochtenen Chorgeſängen,
das über die Grenzen aller überlieferten Kunſtgattungen verwegen hinweg-
ſchritt. Seine warmen Bewunderer Rauch und Rietſchel verlangten beide,
er ſollte die ſchönen Gruppenbilder von den Seligſprechungen nicht in Far-
ben ausführen laſſen, ſondern als Reliefs in weißem Marmor; und die
beiden großen Bildhauer wußten doch genau, daß gerade das Relief
der ſtrengſten plaſtiſchen Formen bedarf und allen maleriſchen Reiz ver-
ſchmähen muß. So ſtand Cornelius bald einſam in der verwandelten Welt;
das Publicum „das mit gleichem Appetit Häckſel und Ananas frißt“
hatte er von jeher verachtet und zu einem der neuen Coloriſten ſagte er
kurzab: Sie haben vollkommen erreicht was ich mich mein Lebenlang
ſorgfältig zu vermeiden bemüht habe. Als der Freund zweier Könige war
er durch das Leben geſchritten, und unbefangen, wahrlich nicht um zu
ſchmeicheln ſetzte er die Bildniſſe der preußiſchen Königsfamilie in ſein
Gemälde von der Erwartung des jüngſten Gerichts; die Geſalbten des
Herrn ſollten das Leben der Menſchheit leiten bis dereinſt der letzte aller
Könige ſeine Krone in die Hände des Gekreuzigten niederlegte. Er wollte
es nicht anders wiſſen, und ganz unbegreiflich blieben ihm die Ideen der
Volksherrſchaft, die jetzt über die Welt hereinbrachen.
Wie viel leichter verſtand Kaulbach ſich in die neue Zeit zu finden,
der Vielgewandte, der kurz vor der Revolution nach Berlin berufen wurde,
um für das Treppenhaus des Neuen Muſeums Coloſſalbilder aus der
Geſchichte der Menſchheit zu malen. Seiner virtuoſen Gewandtheit ge-
lang es, die ſchon erkaltende Theilnahme für das Coloſſale noch einmal
zu beleben und ein volles Jahrzehnt hindurch blieb er, den Meiſter
ganz verdunkelnd, der Lieblingskünſtler der Berliner. Der unbefangene
Tiefſinn der alten italieniſchen Hiſtorienmalerei, die den Geiſt der Ver-
gangenheit einfach in den großen Thaten großer Menſchen künſtleriſch
auszugeſtalten ſuchte, erſchien dem vielbeleſenen Monarchen zu ſchlicht.
Nicht der Wille und die That, ſondern die Idee war ihm der Inhalt
des hiſtoriſchen Lebens; er erging ſich gern in geſchichtsphiloſophiſchen
Betrachtungen, die er ohne es ſelbſt zu ahnen doch dem geſcholtenen
Hegel verdankte, und in dieſem Sinne ſollte auch Kaulbach den Ideenge-
halt der Geſchichte durch große ſymboliſche Bilder darſtellen. Die beiden
erſten und ſchönſten dieſer mächtigen Entwürfe, die Hunnenſchlacht und
die Zerſtörung Babylons, zeigten noch die geſchloſſene Einheit einer dra-
matiſchen Handlung, die ſpäteren nur ein verwirrendes Durcheinander
geiſtreicher Einfälle, bei denen ſich der grübelnde Verſtand allerhand denken
mochte. Es war eine gelehrte Kunſt, ſo alexandriniſch wie der unglück-
ſelige Bau des Neuen Muſeums ſelber, ganz begreiflich nur mit Hilfe
wiſſenſchaftlicher Commentare, und doch dem Durchſchnittsmenſchen ver-
[399]Kaulbach’s Wandgemälde.
ſtändlicher als Cornelius’ Cartons; denn hier fühlte ſich Niemand bedrückt
durch die Uebermacht religiöſer Begeiſterung, hier redete überall ein ganz
moderner, liberal aufgeklärter Geiſt, der, kühl bis an’s Herz hinan, die
Geſtalten des Alterthums, des Mittelalters, der Renaiſſance mit der
gleichen Leichtigkeit aus dem Aermel ſchüttelte und in den Bildern der
erlöſten, aus Babels Zwingburg fröhlich ausziehenden Völker auch den
Freiheitsdrang der neuen Zeit unmittelbar zu befriedigen wußte.
Beſonders glücklich gelangen ihm erhabene allegoriſche Einzelfiguren,
wie die Sage; die Geſtalten der hiſtoriſchen Gruppenbilder dagegen wurden
allmählich, da ſie ja alleſammt kein perſönliches Leben führten, ſondern
nur Ideen darſtellten, ſo ſchablonenhaft, daß man jedes Geſchöpf der Kaul-
bach’ſchen Muſe an dem ſüßlich verzogenen Munde, der immer einem
liegenden Paragraphenzeichen glich, ſofort erkennen konnte. Das Alles
aber war flott, friſch, wirkſam gemalt; die Fruchtbarkeit des Künſtlers
ſchien unerſchöpflich, die elegante gedämpfte Färbung der Waſſerglasmalerei
behagte dem modernen Geſchmacke mehr als die Strenge des Fresco. Die
Fülle der feinen Beziehungen und Anſpielungen in dieſen geſchichtsphilo-
ſophiſchen Gemälden gab reichen Stoff für das überbildete Geſchwätz, das
an der Spree geiſtreich hieß; der Berliner fühlte ſich ſo grundgeſcheidt,
wenn er in der unmöglichen Gruppe der friedlich aus dem brennenden
Jeruſalem hinwegflüchtenden Chriſten eine große Idee entdeckte oder in
dem Shakeſpeare auf dem Bilde des Reformationszeitalters das Geſicht
eines bekannten Kunſtkritikers wiedererkannte.
Mancher Zug in Kaulbach’s Charakter erinnerte an Heine oder Voltaire.
Den deutſchen Dichter überragte er freilich weit durch ſeine mächtige Geſtal-
tungskraft; hinter dem Franzoſen ſtand er zurück, weil er nicht wie dieſer die
nationale Bildung eines reichen Jahrhunderts in ſich verkörperte, ſondern
nur eine flüchtige Erſcheinungsform unſerer liberalen Aufklärung. Der
Schelm aber ſaß ihm ſtets im Nacken, er blieb immer der Künſtler des Rei-
neke Fuchs, der lebenskluge Menſchenkenner und Menſchenverächter. Auch
in dieſen Jahren, da alle Welt ſeine idealen Geſchichtsbilder anſtaunte, be-
kundete ſich ſein Talent immer am ſtärkſten und eigenthümlichſten, wenn er
in kleinen übermüthigen humoriſtiſchen Zeichnungen, die ſich oft kaum vor
das Vaterauge der Sittenpolizei hinauswagen durften, die Sinnlichkeit und
die Narrheit der Welt verhöhnte. Leider hielt ſich dieſer ſatiriſche Drang
nicht immer in ſeinen natürlichen Schranken. Als König Ludwig ihm die
Außenwände der Neuen Pinakothek zur Bemalung übergab, da konnte Kaul-
bach der Verſuchung nicht widerſtehen, die geſammte neue Münchener Kunſt,
die doch ſeine eigene Mutter war, grauſam zu verſpotten und beleidigte
das künſtleriſche, wie das ſittliche Feingefühl durch die widerliche Geſchmack-
loſigkeit koloſſaler Caricaturen.
Mit wachſendem Widerwillen verfolgte Cornelius das ganz moderne
Schaffen dieſes abtrünnigen Schülers, und tief mußte es ihn wurmen,
[400]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
daß die monumentale Malerei, die er immer für die wahrhaft deutſche
Kunſt erklärt hatte, in allen dieſen Jahren nur noch einen hochbegabten
Jünger fand: den Rheinländer Alfred Rethel, der ſich ganz unabhängig,
mehr durch Dürer und Holbein als durch moderne Meiſter belehrt, zum
Hiſtorienmaler hohen Stils herangebildet hatte und in ſeinen Cartons
zur Geſchichte Karl’s des Großen, tiefſinnig wie Cornelius, aber ohne jede
ſymboliſche Zuthat, einfach die Männer und die Waffen ſelber reden ließ.
Die Majeſtät ruhiger Männerſchönheit verſtand Rethel ebenſo lebendig
darzuſtellen wie den teufliſchen Reiz der Sünde. Nur der ausdrückliche
Befehl des Königs ermöglichte ihm, dieſe herrlichen Bilder im Aachener
Rathhausſaale auszuführen; der Stadtrath der alten Karolingerſtadt —
zu ſolchem Wahnſinn hatte ſich der kirchliche Haß ſeit dem rheiniſchen
Biſchofsſtreite ſchon geſteigert — wollte die gegebene Zuſage zurücknehmen,
weil der mitten im alten „Reiche von Aachen“ geborene Künſtler zufällig
Proteſtant war, was man ſeinen Gemälden doch nirgends anmerkte.
Mittlerweile zog einer der treueſten Schüler von Cornelius, Julius
Schnorr von Carolsfeld aus München hinweg, nachdem er noch den Cyklus
ſeiner Nibelungenbilder vollendet hatte — dann immer glücklich, wenn
ihm der ewig drängende König Ludwig einmal erlaubte, die üblen Gewohn-
heiten der verrufenen Münchener Eilkunſt zu verlaſſen und ſeine groß-
gedachten Entwürfe gründlich durchzubilden. Da ihm jetzt, in der ſächſiſchen
Heimath kein monumentales Gemälde mehr aufgetragen wurde, ſo begann
er an dem lang vorbereiteten Unternehmen zu arbeiten, das allein unter
allen Werken der Cornelianer ſich die Gunſt des Volks erwerben, dieſe
hochariſtokratiſche Kunſt dem Verſtändniß der Maſſen näher bringen ſollte:
an ſeiner „Bibel in Bildern“. Ganz durchdrungen von dem Schiller’ſchen
Gedanken der äſthetiſchen Erziehung des Menſchengeſchlechts wollte er in
kräftigen friſchen Zügen dem Volke die heilige Weltgeſchichte vor das Auge
führen; der Holzſchnitt galt ihm als ein Frescobild im Kleinen, als eine
Kunſtform, die dem Zeichner erlaubte, ſich an die großen Grundzüge der
Handlung zu halten, und nach der Weiſe der alten Italiener gab er ſeinen
heiligen Geſtalten, den Realismus der maleriſchen Reiſebeſchreiber ver-
ſchmähend, in Gewand und Geſicht den idealen, „urweltlichen“ Charakter,
der ſie nicht als Semiten, ſondern als Träger allgemeingiltiger, menſch-
licher Empfindungen erſcheinen ließ. So entſtand in langen Jahren ein
echtes Volksbuch, erhaben zugleich und gemeinverſtändlich, unverkennbar
proteſtantiſch und doch nach deutſcher Art im Geiſte des allgemeinen
Chriſtenthums gehalten, das ſchönſte Vermächtniß, das die alte idealiſtiſche
Kunſt in ihrem Niedergange noch unſeren Mittelſtänden hinterlaſſen hat.
Schwind, der dem alten Meiſter immer die Treue bewahrte, wußte
doch als begeiſterter Muſiker ſehr wohl, daß Jeder nur ſingen kann, wie
ihm der Schnabel gewachſen iſt, und geſtaltete ſich aus den deutſchen
Märchen und Sagen ſeine eigene claſſiſch-romantiſche Bilderwelt. Auch
[401]Spaltung der Düſſeldorfer Schule.
Friedrich Preller in Weimar, des alten Goethe jüngſter Schüler, war ein
abgeſagter Feind der neuen realiſtiſchen franzöſiſchen Kunſt, die von außen
nach innen gehe, während der rechte Deutſche von innen nach außen
wirken müſſe. Auch er ging ſeine eigene Bahn; ihn entzückte die ideale
Landſchaft, die er ſtets als ein Ganzes, durch den Aufbau und den Fluß
der Linien wirken ließ; zugleich verſtand er der nackten menſchlichen Ge-
ſtalt ſo einfach kräftige, claſſiſche Formen zu geben, wie nur ſein Freund,
der große Zeichner Genelli. Als er in Unteritalien die Stätten der Wander-
fahrt des Odyſſeus durchzog, da bevölkerte ſeine Phantaſie ganz von ſelbſt
Felſen, Wald und Meer mit den Bildern der homeriſchen Helden, die er
ſich nur in der feierlichen Größe dieſer Natur denken konnte, und in
mannichfachen Entwürfen bereitete er ſchon ſein Lebenswerk vor, den Cyklus
der erhabenen odyſſeiſchen Landſchaften.
Selbſt an dem Stillleben der Düſſeldorfer gingen die Kämpfe der Zeit
nicht ſpurlos vorüber. Wie ſchnell war doch Wilhelm Schadow zum kirchlichen
Parteimanne geworden, der Liebenswürdige, der früherhin ſo vielen grund-
verſchiedenen Talenten als verſtändnißvoller Lehrer die Wege geebnet hatte.
Jetzt vergiftete pfäffiſcher Haß alles Leben am Rhein. Da der tapfere Leſſing
unbeirrt fortfuhr, die Helden der Reformationszeit in kräftigen hiſtoriſchen
Bildern zu verherrlichen — immer lebendig und feurig, aber niemals mit be-
wußter Parteilichkeit — ſo entſtanden bald häßliche Zerwürfniſſe in der fröh-
lichen Kumpanei des Düſſeldorfer Malkaſtens. Die neuen Nazarener ſchaarten
ſich um Schadow’s Panier. Zu ihnen zählten Deger und manche andere
begabte Künſtler, die in den Fresken der Remagener Apollinariskirche viel
Gefühl und viel techniſches Geſchick bekundeten; aber in allen ihren Werken
verrieth ſich die beſchränkte Einſeitigkeit eines Sektengeiſtes, der dem freien
deutſchen Gemüthe niemals zugeſagt hat, und der neue Düſſeldorfer Verein
zur Verbreitung religiöſer Bilder bemühte ſich grundſätzlich, eine katho-
liſche, den Ketzern unverſtändliche Kunſt zu fördern. Bei allem Zwiſt
ging dem munteren Düſſelvölkchen der Humor nicht aus; das zeigten Haſen-
clever’s derbluſtige Bilder von den Weinproben der rheiniſchen Schoppen-
ſtecher. Am letzten Ende gereichte der nothwendige Streit der Düſſel-
dorfer Schule zum Heile, er bewahrte ſie vor Erſtarrung. Außerhalb der
Akademie Schadow’s entſtanden fortan ſelbſtändige Malerwerkſtätten. In
ihnen wuchs nach und nach ein neues Geſchlecht heran: Genremaler, die
nicht ewig die taubenrunden und taubenfrommen altdüſſeldorfiſchen Jung-
frauengeſichter malen, Landſchafter, die nicht allezeit denſelben Mondſchein
über denſelben rheiniſchen Burgen erglänzen laſſen wollten; ſie freuten
ſich alle an der Farbenkraft und der lebendigen Charakteriſtik der belgiſch-
franzöſiſchen Nachbarn. Die Jugend glaubte nicht mehr an den Kern-
ſpruch Genelli’s: „der Fiſch gehört in’s Waſſer, der Künſtler nach Rom.“
Hatte doch Leſſing ſelbſt den Boden Italiens nie betreten. Man begann
zu ahnen, daß die Formenwelt des Südens jetzt nach ſo langem innigem
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 26
[402]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Verkehre jedem ernſtlich gebildeten deutſchen Maler in Fleiſch und Blut
gedrungen ſein mußte und nunmehr eine ganz ſelbſtändige nordiſche Kunſt
möglich war.
Unterdeſſen bewies ein beſcheidener, lange kaum beachteter Meiſter,
daß auch in dieſer bildungsſtolzen Zeit die volksthümliche Kunſt mit ein-
fachen Mitteln große Erfolge erringen konnte. Ludwig Richter war in
dem ſtillvergnügten Philiſterthum einer armen Vorſtadt Dresdens auf-
gewachſen, in einer Welt von kleinbürgerlichen Originalen; die engen Ver-
hältniſſe bedrückten den kindlich frommen, genügſamen Jüngling wenig; war
doch die Natur ſo reich und mild im heiteren Thale der Elbe, und wie
wonnig ließ es ſich träumen unter den Zweigen des alten Birnbaums im
Garten, vor den üppigen Roſenbeeten. Nachher zu Rom ſchloß er Freund-
ſchaft mit Koch und ſeinem Landsmanne Schnorr und verſuchte ſich in
dieſer ſtrengen Schule an dem hohen Stile hiſtoriſcher Landſchaften;
als er aber dort einmal gedrängt wurde, raſch aus dem Kopfe ein Bild
zu entwerfen, da zeichnete er unwillkürlich eine Schaar ſächſiſcher Land-
leute, die mit ihren Kindern am Sonntag durchs hohe Korn zur Kirche
zogen. Es war die Stimme des Herzens, die Ahnung ſeines Lebens-
berufes.
Als er dann wieder daheim im beſcheidenen glücklichen Hauſe ſaß,
da fühlte er bald, daß ihm das ſchlichte Bürgerkind, die deutſche Land-
ſchaft doch viel traulicher zum Gemüthe redete als die ſtolze Königs-
tochter des Südens, und er begriff, warum der Wälſche im Walde auf
dem Bauche liegt, der Deutſche auf dem Rücken. Die Heimath mit ihrem
Kleinleben ward ihm immer lieber, und er begann nunmehr für den
Holzſchnitt zu zeichnen — eine echt deutſche Kunſtweiſe, die einſt in Dürer’s
Tagen weit tiefer als die Malerei auf unſer Volk eingewirkt hatte, dann
lange ganz vergeſſen und endlich in England zuerſt wiederbelebt, neuer-
dings auch in Deutſchland wieder tüchtige Vertreter fand. Naiv, wie er
immer blieb, wendete er ſich alſo von der großen zur kleinen Kunſt, vom
Erhabenen zum Schlichten, ohne ſich’s träumen zu laſſen, daß dieſe Wen-
dung doch durch die veränderte Zeitſtimmung mitbedingt war. Ihm war
die Kunſt „ein wunderſchöner Engel, der die Menſchen, die eines guten
Herzens ſind, auf ſonnige und blumige Stellen führt“, und mit ſeliger
Freude ſchilderte er nun auf unzähligen Blättern das Treiben ſeines Volks:
Studenten und Handwerksburſchen, das Lebkuchenhäuschen des Volksmär-
chens und die frierenden Kinder, die auf dem Dresdener Striezelmarkte
ihre aus Backpflaumen geformten Schornſteinfeger verkaufen, vor Allem
doch das Glück des Hauſes: den Weihnachtsbaum, die Punſchbowle des
Sylveſterabends und die dampfende Kartoffelſchüſſel — was Jeder kennt
und Jeder erlebt hat.
Ueberall Glück und Frieden, auch ein Zug von jenem warmherzigen
Spener’ſchen Pietismus, der unter den Stillen im kurſächſiſchen Lande
[403]Ludwig Richter.
noch fortlebte; Niemand hätte errathen, daß Richter katholiſch erzogen war
und erſt als Mann, dann freilich mit andächtigem Entzücken, die unver-
fälſchte Bibel kennen gelernt hatte. Die drolligen Philiſter ſeiner Heimath
gelangen ihm immer, auch die Weiber und Kinder, die Engel und die
Gnomen, ſeltener die kräftigen Männer, nun gar an die Heldengeſtalten
unſerer erhabenen Dichtung durfte er ſich nicht heranwagen; das Koſtüm
beachtete er wenig, aber gern ſtellte er ſeine unſchuldigen Menſchen mitten
hinein in eine anmuthige Landſchaft oder ließ den Rauch aus dem Schorn-
ſtein des befriedeten Hauſes ſich hell abheben vom dunklen Tannenwalde
dahinter. Der Beifall wuchs; in den fünfziger Jahren lagen Richter’s Holz-
ſchnitte faſt auf jedem deutſchen Familientiſche, ſtrenge Kunſtgelehrte ſchrieben
Abhandlungen über ſeine Entwicklung, die Sammler drängten ſich um
jedes Blatt, das er irgend einmal für ein Commersbuch, einen Volks-
kalender, eine Märchenſammlung gezeichnet hatte. So lebte er von Haß
und Neid ganz unberührt, ein geliebter Hausfreund ſeines Volks, und
noch im hohen Alter ſchritt er täglich, froh bewegt, ſeines Gottes voll,
hinauf nach dem Waldrande über ſeinem Loſchwitzer Weinbergshäuschen,
um ſich der lieblichen Landſchaft zu erfreuen. Er bemerkte nicht mehr,
daß noch bei ſeinen Lebzeiten der Kunſtgeſchmack dieſes raſtloſen Jahr-
hunderts ſich ſchon wieder veränderte. Das Geſchlecht, das ſich an Richter’s
frommer Einfalt erbaute, war reich an literariſchen und politiſchen Ge-
danken, doch in ſeinen Lebensgewohnheiten noch ſehr beſcheiden; nachher
wuchſen mit dem Wohlſtande die Genußſucht, die Anſprüche an das Leben,
der Drang nach ſinnlicher Fülle des Daſeins, und die verwandelte Zeit
begann den unſchuldig gemüthlichen Idealismus langweilig und leer zu
finden. Die Freude an Richter’s Holzſchnitten verſchwand zuſehends —
für lange, vielleicht für immer; denn in dem launiſchen Geſchmackswechſel
eines überſättigten Zeitalters können wohl elegante Kunſtwerke, wie die
ſo lange mißachteten Gemälde Watteau’s wieder zu Ehren kommen; die
genügſamen Menſchen aber, die ſich an den Kinderbildern des Dresdener
Zeichners ergötzten, kehren ſo leicht nicht wieder.
Ueber die idealiſtiſchen Anfänge unſerer neuen Malerei ſagte Schnorr
einſt: Wir hatten damals vollauf zu thun um nach den Grundanſchau-
ungen der alten großen Meiſter des fünfzehnten Jahrhunderts wieder ar-
beiten zu lernen; „es war uns unmöglich Alles auf einmal zu leiſten,
und wir glaubten die Weiterführung, namentlich die Ausbildung der Tech-
nik in demſelben Geiſte, den Nachkommenden überlaſſen zu können.“ Aber
alle Kunſt iſt Können, ſie darf die Technik nicht als ein Beiwerk anſehen,
das auch wegbleiben kann. Unſere Malerei bedurfte eines Künſtlers, der,
kräftiger als die Düſſeldorfer, mit unerbittlichem Ernſt, mit der Hand
und dem Herzen zugleich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ſuchte
und doch durch poetiſche Erfindſamkeit ſo hoch ſtand, daß ihn Niemand
wie einen Handwerker geringſchätzen durfte. So, als ein Bahnbrecher
26*
[404]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
des ſtarken, mannhaften Realismus trat plötzlich Adolf Menzel auf, ein
Schleſier, der ſchon ſeit ſeinen Jugendtagen, von Wenigen gewürdigt, in
Berlin einen harten Lebenskampf beſtanden hatte. Italien kannte er nicht,
und von den lebenden deutſchen Meiſtern hatte keiner tief auf ihn eingewirkt,
nicht einmal der preußiſche Soldatenmaler Franz Krüger. Ganz ſelbſtändig
ſchritt er ſeines Wegs, ſcharf um ſich ſchauend in die wirkliche Welt, und
ſagte „den Schönheitsſchwärmern“ ruhig: „Man muß gar nichts ver-
langen, dann wird man in allerwege überraſcht.“
Als im Jahre 1839 die Geſchichte Friedrich’s des Großen von dem
Kunſthiſtoriker Franz Kugler mit Menzel’s Zeichnungen erſchien, da mochte
die deutſche Wiſſenſchaft wohl beſchämt die Augen niederſchlagen. Seit dem
alten Archenholtz hatte ſich kein namhafter Hiſtoriker mehr an den reichen
Stoff herangewagt. Kugler ſelbſt bot im Text nur eine muntere, wenig
durchgeiſtigte Erzählung. Wie unwiderſtehlich hingegen ſprach aus dieſen
Holzſchnitten das innerſte Weſen einer großen Zeit. Schlachten und Hof-
feſte, Heldenzorn und Heldennoth, Zerſtörung und Siegesfreude, die ganze
gewaltige Entwicklung des Königs ſelbſt von den ſtürmiſchen Jugendtagen
an bis zu der Zeit, da er beim Ende des ſechſten Kriegsjahres noch am
Rande des Abgrunds als kühner Fechter ſtand und wieder bis zu den
letzten finſteren Jahren der einſamen Größe — das Alles erſchien hier
in ſo überwältigender Wahrheit, daß Alexis’ patriotiſche Romane daneben
doch ganz verſchwanden. Mit einem male war das Werk da, und jeder
treue Preuße, der ſich darein verſenkte, fragte unwillkürlich: warum iſt es
nicht immer da geweſen? Kein anderes Volk beſaß ein ſolches nationales
Erinnerungsbuch, das in ſeiner beſcheidenen Geſtalt in Jedermanns
Hände gelangen konnte und doch an tiefem hiſtoriſchem Gehalt ſo reich
war wie die großen Doelen- und Regentenſtücke der alten Niederländer.
Und welch ein ungeheuerer Fleiß verbarg ſich hinter dieſen kleinen Blättern.
In ſorgſamen Studien war der Abſtand der Uniformknöpfe wie die Länge
des Metallbeſchlags an den Offiziersſtöcken bis auf den Zoll vorher aus-
gemeſſen, und nachher erſchien das peinlich Erforſchte doch in voller künſt-
leriſcher Lebendigkeit. Der Künſter wußte, daß alle wahrhaftige Geſchichte
grelle Farben trägt; er ließ ſich’s nicht verdrießen ſelbſt den Regiments-
profoßen durch ſein hartes Tagewerk hindurch zu verfolgen und bildete ihn ab,
wie er die Spießruthen ſchneidet für die Strafen des nächſten Morgens.
Vier Jahre nachher wurde die akademiſche Prachtausgabe der Werke
Friedrich’s vorbereitet; da verſtand es ſich ſchon von ſelbſt, daß nur
Menzel den Auftrag zur Ausführung der zweihundert Vignetten erhalten
konnte. Dem Monarchen aber war offenbar nicht recht geheuer bei dem
Realismus und der kriegeriſchen Kraft dieſer fridericianiſchen Bilder; er
beſprach ſich niemals mit dem Künſtler, ließ ſich niemals einen Entwurf
vorlegen, obgleich er doch ſonſt ſo gern in der Kunſt dilettirte. Während
der ſechsjährigen Arbeit erhielt Menzel vom Hofe nur die einzige Weiſung,
[405]Adolf Menzel.
daß keine Vignette die Höhe von 12 Centimetern überſchreiten dürfe. *)
So konnte er, gleich den Meiſtern unſeres ſechzehnten Jahrhunderts, die
glückliche Freiheit des Holzſchnittes ausgiebig benutzen und, wie jene, auf
loſen Blättern den ganzen Reichthum ſeiner Gedanken und Erfindungen
entfalten; die dem entſchloſſenen Realismus immer drohende Gefahr der
Ueberſchreitung der Kunſtgrenzen war ja in dieſer faſt ſchrankenloſen
Darſtellungsform nicht zu fürchten, und die Holzſchneider Unzelmann,
Vogel, Müller beherrſchten die Technik ſchon ſo ſicher, daß ſie jeder
Kühnheit des Zeichners zu folgen vermochten. Die Bilder, mit denen er
Friedrich’s philoſophiſche Aufſätze ſchmückte, verriethen deutlich, daß er ſelbſt
dem königlichen Freigeiſte weit näher ſtand als dem romantiſchen Nach-
fahren. Weibliche Anmuth und gemüthliche Beſchaulichkeit lockten ihn nicht;
ſein Gebiet war das Denken und Schaffen der Männer. Durch ſeinen
Stoff ward er tief in die Formenwelt des Barock- und Rococoſtils ein-
geführt; er liebte ſie ohne je in ihr unterzugehen; und wenn er an den
Eingang der Geſchichte Friedrich’s das Bild des Schlüter’ſchen Kurfürſten-
denkmals mit dem alten Schloſſe dahinter ſetzte, ſo war damit ebenſo ſehr
ein äſthetiſcher wie ein hiſtoriſcher Gedanke ausgeſprochen. Auch die reiche
Kleinkunſt dieſer allzu hart geſcholtenen Zeit brachte er durch ſeine Zeich-
nungen zuerſt wieder zu Anſehen.
Eine Schule zu bilden liegt nicht in der Neigung ſolcher ſtarken,
ſtolzen, durchaus eigenartigen Naturen; aber Menzel’s ſtille, mittelbare
Wirkſamkeit war ungeheuer, wenngleich ſie ſich erſt langſam offenbarte.
Als er nachher mit der Tafelrunde von Sansſouci die Reihe ſeiner
großen Gemälde begann und darauf wieder, wie in ſeinen früheſten
Jugendarbeiten, mitten hineingriff in das Leben der nächſten Gegen-
wart, da konnte Niemand mehr an ſeinen Werken vorübergehen; jeder
Künſtler ſah ſich gezwungen einmal in dieſen ſcharfen Spiegel zu ſchauen
und ſich zu fragen, ob er auch ſelbſt noch wahr ſei. Alſo brach für
die deutſche Malerei eine neue Zeit an, reich an Erfolgen, ſpäterhin
auch reich an Verirrungen. Ganz deutſch in ſeinen Stoffen wie in ſeinen
Empfindungen errang ſich Menzel weit mehr, als es einem der alten
Idealiſten je gelungen war, die Bewunderung auch des Auslands; denn
der Drang nach Lebenswahrheit, dem er einen ſo mächtigen Ausdruck gab,
beherrſchte die Gefühle des ganzen Zeitalters.
Daſſelbe Jahr, das Menzel’s Friedrichsbuch erſcheinen ſah, brachte
auch der Bildnerkunſt eine folgenreiche Entſcheidung. Schon ſeit zwei
Menſchenaltern wurde in Berlin der Plan eines Denkmals für den großen
König hin und her erwogen. Taſſaert und Schadow, Schinkel und Rauch
hatten in Vorſchlägen gewetteifert, in der Mannichfaltigkeit dieſer Pläne
ſpiegelte ſich der Wandel der Kunſtempfindungen eines ſuchenden Jahr-
[406]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
hunderts treulich wieder. Als Rauch endlich mit der Ausführung beauf-
tragt wurde, da ſah er alsbald, daß Friedrichs ſtolze Wahrhaftigkeit ſich
mit claſſiſchem Pomp ſogar noch weniger vertrug als die ſchlichte Größe
der Feldherren des Befreiungskrieges. Den alten Fritz, deſſen Geſtalt
noch in aller Gedächtniß lebte, auf eine Trajansſäule ſtellen oder in einen
Tempel oder als Triumphator auf eine Quadriga, wie noch Schinkel vor-
geſchlagen hatte, das hieß das Volksgefühl beleidigen; und von der volks-
thümlichen Wirkſamkeit der Kunſt war Rauch ebenſo tief überzeugt wie
ſein Liebling Rietſchel, der dem Meiſter ermuthigend ſchrieb: vom Volke
begriffen werden, es erheben, begeiſtern, hierdurch erhält ein Kunſtwerk
die wahre Autorität. Auf Rauch’s Antrag genehmigte der alte König ein
halbes Jahr vor ſeinem Abſcheiden die Errichtung eines großen Reiterſtand-
bilds; es war die letzte gute That, die der anſpruchsloſe und doch ſo ſtill
ſinnige Mäcenas der deutſchen Kunſt erwies. Enthuſiaſtiſch ging der
Nachfolger auf den Gedanken ein; er erlaubte, den Plan zu erweitern,
am Sockel des Königsſtandbilds den ganzen Heldenkreis der fridericianiſchen
Zeiten in mächtigen Erzgeſtalten darzuſtellen und ſuchte dem Meiſter ſelbſt
bei der Compoſition zu helfen. Künſtler, Gelehrte, Offiziere wurden be-
fragt, wer einen Platz auf dem Sockel verdiene. Die langwierigen Ver-
handlungen erſchienen faſt wie ein hiſtoriſcher Familienrath des preu-
ßiſchen Volks; man empfand die Macht einer noch in der Gegenwart fort-
wirkenden großen Geſchichte, alle die alten Soldatengeſchlechter ſetzten ihren
Stolz darein, daß ihre Ahnen auf dem nationalen Ehrendenkmal nicht
fehlen ſollten.
Das geiſtvolle, dem Maler ſo willkommene Geſicht des großen Königs
ließ ſich unbeſchattet vom Bildhauer kaum darſtellen, da der Ausdruck
ganz in den mächtigen Augen lag und das Profil nur zwei ſcharfe Linien
zeigte. Darum mußte Rauch den Kopf Friedrich’s mit dem Hute bedecken,
wie die Hellenen den Zwiebelkopf ihres Perikles unter dem Helme ver-
bargen. Als eine Erinnerung gleichſam an die früheren antikiſirenden
Entwürfe blieb nur der ſchwere Krönungsmantel, der dem Herrſcher um
die Schultern geſchlagen zu dem Dreiſpitz, dem Krückſtock, der Uniform
wenig ſtimmte. Streng in der Tracht der Zeit wurden die Bildwerke
des Sockels gehalten: die vier Reitergeſtalten der erſten Heerführer des
Königs aus den Ecken hervorſprengend, dazwiſchen die dichte Schaar der
Generale, auf der Rückſeite auch die Staatsmänner und Denker. Welch’
eine Zumuthung an den greiſen Künſtler, der ſoeben noch in der hellen
Schönheit ſeiner Walhalla-Victorien geſchwelgt hatte, „dieſe ſämmtlich von
einem Friſeur mit gleicher Lockenzahl über dem Ohr friſirten Menſchen“
mit ihrer häßlichen Tracht zu bekleiden; er fühlte ſich zuweilen „geiſtig
fertig“. Doch ſein eiſerner Wille hielt Stand bei der ungeheueren Arbeit.
Jedem der Köpfe, die er zumeiſt nur aus ſchlechten Bildniſſen kannte,
verſtand er ein kräftiges perſönliches Leben einzuhauchen; die bald ganz
[407]Rauch’s Friedrichsdenkmal. Rietſchel.
frei, bald halbrund, bald flach aus dem Sockel heraustretenden Geſtalten
ordnete er ſo glücklich hinter und neben einander, daß die Ueberzahl der Arme
und Beine verdeckt blieb; die ruhige Gruppe der Männer des Friedens
hob ſich wirkſam ab von den bewegteren der Kriegshelden. Das Werk
reichte an die Majeſtät des Schlüter’ſchen Kurfürſtenſtandbildes nicht ganz
heran und erſchien etwas ſteif durch den allzu hohen Aufbau; aber in
dieſem Jahrhundert war der deutſchen Bildnerkunſt noch nie eine ſo groß-
artige Schöpfung gelungen. Leider konnte das Denkmal erſt nach der
Revolution enthüllt werden, vor einem verſtimmten Geſchlechte, das dem
unglücklichen Könige für nichts mehr danken wollte.
Gleich dem Meiſter wendete ſich auch ſein liebevoller Johannes, Ernſt
Rietſchel, ohne die claſſiſche Formenſtrenge aufzugeben, einer ſchärfer
charakteriſirenden, realiſtiſchen Kunſtweiſe zu. Der milde, fromme, kind-
lich beſcheidene Künſtler ähnelte in manchen Charakterzügen ſeinem Freunde
und Landsmanne Ludwig Richter. Nur war ſein Geiſt weit freier, größer
angelegt und durch eine harte Lebensſchule geſtählt. Wie ahnungsvoll
hatte der blutarme Knabe einſt von den Bergen ſeiner Lauſitz hinüber-
geſchaut nach den fernen Thürmen Dresdens; und als er dann in die er-
ſehnte Stadt des Glanzes und der Künſte einzog, da kümmerte er wieder
jahrelang hin, rathlos, führerlos, unter unfähigen Lehrern, in einer weichen
romantiſchen Luft, oft ganz zerknirſcht durch den Gedanken, daß der Bild-
hauer für die Ewigkeit ſchaffen ſoll — bis ihm endlich Rauch eine neue
Welt kraftvoller Schönheit aufſchloß. Jetzt errang er zuerſt einen durch-
ſchlagenden Erfolg, als er in der Gruppe der Pieta einen tauſendmal
behandelten Stoff völlig neu und eigenthümlich geſtaltete, ebenſo gemüth-
voll wie die alten Nürnberger Meiſter, aber mit unvergleichlich reinerem
Formenſinne.
Dann übertrugen ihm die Braunſchweiger die Ausführung ihres
Leſſingſtandbildes, und ſofort machte er dieſelbe Erfahrung wie Rauch
beim Friedrichsdenkmal. Der Todfeind des geſpreizten Römerthums der
franzöſiſchen Tragödie konnte doch unmöglich in der Toga erſcheinen,
der ſtolze Verächter alles falſchen Scheines unmöglich im Theatermantel.
Rietſchel entſchloß ſich alſo noch einen Schritt über den Meiſter hinaus
zu wagen und den Helden ſelbſt, ſo wie einſt Schadow den alten Zieten,
ſtark, ſchlicht und ehrlich, ohne jede ſchmückende Zuthat, in der Tracht
der Zeit hinzuſtellen, ein köſtliches Bild deutſchen Wahrheitstrotzes. Scha-
dow’s Zieten war im Grunde nur eine akademiſche, zufällig in die Huſaren-
uniform gekleidete Geſtalt; Rietſchel ging darauf aus, daß Form und
Inhalt ſeines Bildwerks vollkommen übereinſtimmen ſollten. Aus jeder
Noth ward ihm eine Tugend, den Haarbeutel benutzte er um die freien
Linien des wallenden Haares zu zeichnen, das enge kurze Beinkleid um
die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. Auch dies lang und ſchwer
durchdachte Werk gelangte erſt nach den Stürmen der Revolution zum
[408]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Abſchluß. Alſo begann die Bildnerkunſt auf die Höhe eines claſſiſch
geſchulten, dem Idealen nicht entfremdeten Realismus aufzuſteigen; erſt
die Zukunft ſollte erfahren, daß von dieſem ſteilen Gipfel manche lockende
Abwege niederwärts führten zur naturaliſtiſchen Roheit und maleriſchen
Unruhe.
An wahrhaft genialen Baumeiſtern beſaß dieſe Zeit nur einen,
Gottfried Semper, und ihn verſuchte König Friedrich Wilhelm ſeltſamer-
weiſe niemals für ſich zu gewinnen. Semper blieb in Dresden, und nach-
dem der ſchöne Halbrundbau des Theaters mit dem reichen Bildnerſchmucke
Rietſchel’s und Hähnel’s vollendet war, begann er den Bau des Neuen
Muſeums, ein Werk, das alle architektoniſchen Unternehmungen des kunſt-
ſinnigen Preußenkönigs leuchtend überſtrahlte. Es war ein tollkühnes
Unternehmen, die vierte, noch offene Seite des Zwingervierecks durch
einen römiſchen Renaiſſancepalaſt auszufüllen; und doch fügte ſich die
reine, ruhige, an Bramante gemahnende Schönheit dieſes Langbaues
glücklich ein in die maleriſche Umgebung, ſie hielt kräftig Stand vor der
überladenen Pracht der Rococo-Pavillons gegenüber. Die heitere, warme
Anmuth der Innenräume ſtimmte Jeden, der die ſchönſte Gallerie des
Nordens betrat, ſofort feſtlich und empfänglich. Auch dieſer Bau und
die verdiente Bewunderung, die er nach ſeiner ſpäten Vollendung fand,
bewieſen, wie unaufhaltſam dies erregte Geſchlecht aus der claſſiſchen Ein-
fachheit der Schinkel’ſchen Zeiten hinausſtrebte. —
Der friſche politiſche Zug, der ſeit der Vertreibung der Göttinger
Sieben die deutſchen Hochſchulen durchwehte, verſtärkte ſich noch von Jahr
zu Jahr in dieſem Zeitalter der ungeduldigen Erwartung; und es konnte
nicht fehlen, daß die Gelehrten jetzt häufiger denn je zuvor mit den Waffen
der Wiſſenſchaft in den Kampf des Tages eintraten. Wie einſt Fichte durch
die Philoſophie das Leben der That beherrſchen wollte, ebenſo, und mit
demſelben Pathos eines hohen ſittlichen Berufes, faßte Dahlmann von
jeher ſein politiſch-hiſtoriſches Lehramt auf; er wollte aus den Thatſachen
entwickeln, „wie man praktiſch die Aufgaben der Staatskunſt mehr oder
minder glücklich gelöſt“ habe, und alſo ſeinen Hörern den Weg zum eigenen
Handeln weiſen. Auf die Bitten ſeiner Freunde entſchloß er ſich jetzt,
zwei ſeiner Collegien, die Geſchichte der engliſchen und der franzöſiſchen
Revolution in Buchform herauszugeben. In gedrungener Kürze, wie einſt
Mignet, in einer markigen, das Gewiſſen erſchütternden Sprache und mit
erſtaunlicher Kraft der Charakterzeichnung ſchilderte er hier die beiden großen
Umwälzungen. Mignet freilich war ſo glücklich die Geſchichte ſeines Vater-
landes zu erzählen, und ſeine Schrift vermochte, auch nachdem ſie wiſſen-
ſchaftlich überwunden war, als ein Erinnerungsbuch des nationalen Ruhmes
[409]Semper. Dahlmann’s zwei Revolutionen.
noch lange unter den Franzoſen fortzuleben. Dahlmann ſollte — ſo müh-
ſelig war noch der Entwicklungsgang deutſcher Hiſtoriker — niemals dazu
gelangen, die Geſchichte des Volkes zu ſchreiben, dem doch all ſein Denken
galt, und die Darſtellung der beiden ausländiſchen Revolutionen, die er
jetzt ſeiner Nation vorhielt, damit ſie die herbe Frucht der Selbſterkenntniß
pflückte, konnte nur ſo lange das Herz der Deutſchen feſſeln, als ſie ſelber
noch glaubten, daß fremde Nationen ihnen einfach zum Vorbilde dienen
müßten. In dieſer kurzen Zeit aber, etwa ein Jahrzehnt hindurch, wirkten
die beiden Büchlein ſehr ſtark und heilſam. Sie wurden die Sturmvögel
der deutſchen Revolution.
Zum erſten male gelang es dem ernſten, wortkargen Manne, auch
die breiten Maſſen des gebildeten Mittelſtandes hinzureißen. In unzähligen
Landtags-Anträgen und -Reden der nächſten Jahre klangen Dahlmann’s
Kernworte wieder; und wie einſtmals die Damen der Pariſer Salons arglos
geſpielt hatten mit den Ideen Voltaire’s und Rouſſeau’s, welche bald die
alte franzöſiſche Geſellſchaft in ihren Flammen verzehren ſollten, ſo wurden
jetzt die zwei Revolutionen Dahlmann’s nicht bloß von der liberalen Prin-
zeſſin von Preußen, ſondern auch an hochconſervativen deutſchen Fürſten-
höfen eifrig geleſen. Furchtbar ernſt klang aus beiden Büchern das porro
unum est necessarium heraus, die Forderung, daß Preußen zu con-
ſtitutionellen Einrichtungen übergehen müſſe. „Unverrückt“, ſo hieß es
kurzab, „weiſt der große Zuchtmeiſter der Welt immerfort auf dieſelbe
Aufgabe hin.“ Obgleich Dahlmann, ganz frei von Schloſſer’s morali-
ſirender Strenge, auch die Gegner mit menſchenfreundlichem Humor zu
würdigen wußte, ſo ſprach er doch ſeine politiſchen Ideen mit einem ſolchen
Nachdruck aus, daß die Zweifelnden ſich ſittlich beſchämt und entmuthigt
fühlen mußten.
In der bewußten und gewollten Einſeitigkeit dieſer Grundgedanken lag
gerade die Stärke der beiden Bücher; denn wer in den Zeiten großer vater-
ländiſcher Kämpfe ganz unbefangen und leidenſchaftslos zu bleiben vermag,
der verdient nicht ſie zu erleben. Niebuhr’s Vorleſungen über das Revo-
lutionszeitalter, die faſt zur ſelben Zeit gedruckt erſchienen, ließen die
Leſerwelt kalt, denn aus ihnen redete die faſt verſchollene Geſinnung der
Reſtaurationsjahre; Dahlmann verkündete was die Gegenwart ſtürmiſch
forderte. Den Zunftgelehrten bot er der Blößen genug. Wenn der Hiſto-
riker immer nur einen Ausſchnitt aus der Fülle des Geſchehenen zu geben
vermag, ſo war hier die Grenze doch ſehr willkürlich gezogen: die aus-
wärtige Politik und die ſocialen Verhältniſſe traten ganz zurück; beide
Revolutionen erſchienen nur wie Kämpfe um Verfaſſungsfragen. Die
wenig ſelbſtändige Forſchung entlehnte viel, hier von Guizot, dort von
Droz; den Vorkämpfern der conſtitutionell-monarchiſchen Gedanken ward
übermäßige Bewunderung gezollt, Hampden erhielt die Stelle zugewieſen,
die allein dem Protector Cromwell gehört, und Mirabeau erſchien auf
[410]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
einer Höhe, welche wohl ſeinem dämoniſchen Genie, doch nicht ſeiner
politiſchen Thätigkeit gebührt. Trotz alledem bewieſen beide Schriften
durch ihre mächtige Wirkſamkeit, wie hoch das politiſche Denken und Wollen
über der gelehrten Forſchung ſteht; ſie ſprachen das rechte Wort zur rechten
Zeit, ſie zwangen auch die kleinmüthigen deutſchen Hiſtoriker, fortan mit
ihrem politiſchen Urtheil nicht mehr ängſtlich hinter dem Berge zu halten
und erhoben den tapferen Verfaſſer für einige Jahre zum verehrten poli-
tiſchen Führer unſerer Gelehrtenwelt. Wie eine Weiſſagung klang ſein
Ausſpruch, daß „die monarchiſche Unumſchränktheit ihre unvergeßliche Zeit
gehabt hat, gegenwärtig aber, verlaſſen von dem Glauben der Völker,
ein ſo eitles Geräuſch treibt, wie die klappernden Speichen eines Rades,
deſſen Nabe zerbrochen iſt.“
Noch ſchärfer und kühner verkündete J. G. Droyſen die Forderungen
der Gegenwart in ſeiner Geſchichte der Freiheitskriege. Aufgewachſen in
einem ſtillen pommerſchen Pfarrhauſe war Droyſen früh in die Kreiſe
der höchſten künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Bildung Berlins einge-
treten und hatte ſeine vielſeitige Begabung ſchon durch die geiſtvolle Ueber-
ſetzung des Aeſchylus und Ariſtophanes bewährt, nachher durch die Ge-
ſchichte Alexander’s, ein Buch voll ſchöner jugendlicher Begeiſterung, das
freilich nach Hegel’s Weiſe den unterliegenden Parteien meiſt Unrecht gab.
Unter Freiheitskriegen verſtand er die geſammte große Bewegung, welche
ſeit der Erhebung Nordamerikas bis zu den Pariſer Friedensſchlüſſen die
geſittete Welt erſchüttert hatte. Das Buch konnte und wollte nur ein
erſter Verſuch ſein, den Deutſchen ein Bewußtſein von dem Ideengehalte
dieſer reichen Zeit zu erwecken. Die Darſtellung der Thatſachen mußte
mangelhaft bleiben, da die deutſchen Archive noch verſchloſſen lagen; die
Erzählung ward durch die Reflexion noch ſtark überwogen, die Geſchichte
erſchien mehr als ein dialektiſcher Proceß, denn als ein Kampf wollender
Männer. Aber klar und lebendig trat das letzte Ziel der langen Ent-
wicklung heraus: das nationale Preußen, das ſeinem Sondergeiſt ent-
wachſend mehr und mehr im deutſchen Namen untergehen müſſe. Voll-
ſtändig, erſchöpfend wie in keinem anderen Buche dieſer Jahre ward das
ganze Programm des gemäßigten Liberalismus dahin zuſammengefaßt:
nationale Selbſtändigkeit und Einheit; grundgeſetzliche Rechtsſicherheit; ein
wahrhaftes Staatsbürgerthum, gegründet auf communaler und reichsſtän-
diſcher Freiheit; gerechte Autonomie in allen Lebenskreiſen, deren Zweck
nicht der Staat iſt. In der Summe dieſer Forderungen ſah Droyſen, da
er von der Doctrin der Menſchenrechte doch noch nicht ganz loskam, die
königliche Vollfreiheit des ſittlichen Menſchen, und in dieſer — nach Schön’s
bekanntem Ausſpruch — den unerſchütterlichen Pfeiler jedes Thrones. König
Friedrich Wilhelm hatte ſich in die Welt ſeiner ſtändiſchen Gliederung ſchon
ſo tief eingeſponnen, daß er ſelbſt dieſe maßvoll und edel vorgetragenen
Gedanken nicht mehr verwinden konnte. Den erſten Band des Buchs
[411]Droyſen. Hiſtoriſche Satiren.
nahm er mit kühlem Danke an, den zweiten ließ er ungnädig dem Ver-
faſſer zurückſenden.*)
Dahlmann und Droyſen gebrauchten nur das gute Recht des Hiſto-
rikers, wenn ſie aus den Erfahrungen der Vergangenheit ernſte Lehren
für die Gegenwart zu gewinnen ſuchten. Aber neben dieſer berechtigten
Tendenz wagte ſich auch die unberechtigte des boshaften Anſpielens und
des verſteckten Anwinkens hervor, ein ſchlechtes Handwerk, das ſich mit
der Würde der Geſchichte nie verträgt. David Fr. Strauß hatte die
letzten Jahre, tief darniedergedrückt durch ſeine unglückliche Ehe mit der
ſchönen Sängerin Agneſe Schebeſt, ganz unthätig verbracht; und recht
geneſen war er auch noch nicht, als er, der ehelichen Feſſeln endlich ledig,
ſeine ſtreitbare Feder wieder ergriff und den lange verhaltenen Groll wider
König Friedrich Wilhelm in der Flugſchrift „der Romantiker auf dem
Throne der Cäſaren“ entlud. Das Beſte daran war der witzige Titel,
der denn auch genügte, der ſehr wenig geleſenen Schrift einen in Zei-
tungen und Büchern dauernden Ruhm zu verſchaffen. Julianus, der ge-
waltige Feldherr, der ernſte, proſaiſche, ganz in politiſchen Sorgen aufgehende
Staatsmann wurde hier mit dem romantiſchen Preußenkönige verglichen,
weil der geſtrenge Römer die alte mit dem römiſchen Staate unzertrennlich
verwachſene Staatsreligion wieder herzuſtellen verſucht hatte und das
Chriſtenthum, nach Straußens Anſicht, heutzutage ebenſo verlebt ſein
ſollte wie damals das Heidenthum. Nur der verblendete Haß konnte zwei
in Art und Unart ſo grundverſchiedene Charaktere nebeneinander ſtellen,
und die froſtigen Witze über den romantiſchen Dombau des Tempels von
Jeruſalem oder über Julian’s altgläubige Cabinetsordres ließen den ab-
geſchmackten Einfall nur noch widerlicher erſcheinen.
Geiſtreicher, kräftiger als Strauß ſchwang einige Jahre nach der
Revolution ſein Landsmann, der Bonner Hiſtoriker Otto Abel die
Geißel der Satire, indem er einen — dem preußiſchen Monarchen un-
verkennbar verwandten — Charakter ſchilderte, Theodat, den König der
Oſtgothen, den gelehrten Schwächling, der durch friedensſelige Thaten-
ſcheu das glorreiche Erbe großer Vorfahren zerſtörte. Abel ſchrieb nicht
mit der Bosheit des Parteihaſſes, ſondern mit tiefem patriotiſchem
Schmerze, er ſtörte ſeine Erzählung durch kein einziges Wort unmittel-
barer Anſpielung, und noch heute, da die Halbwahrheit aller ſolcher hiſto-
riſchen Vergleichungen von der ruhigeren Nachwelt längſt durchſchaut iſt,
kann ſeine Schrift als ein kleines Meiſterſtück hiſtoriſcher Charakteriſtik
mit unbefangener Freude genoſſen werden. Was Strauß nur in einem
übellaunigen Capriccio flüchtig andeutete, das führte der Berliner Hiſtoriker
Adolf Schmidt in der ganzen Breite gelehrter Pedanterei ſchwerfällig
aus. Seine „Geſchichte der Denk- und Glaubensfreiheit“ unter den erſten
[412]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Cäſaren behandelte „das Verhältniß der Monarchie zu den Wirkungen der
Aufklärung, Monarchie und Cultus im Bunde gegen die Glaubensfreiheit“
— und was der plumpen Andeutungen mehr war. Friedrich Wilhelm und
Tiberius, Eichhorn und Sejan erſchienen hier wie nahe Geſinnungsver-
wandte; die auf beiden Füßen hinkenden Vergleichungen, die hämiſchen
Sticheleien und Nutzanwendungen verzerrten das Bild der Vergangenheit
gänzlich, aber die von Parteihaß zerwühlte Zeit bewunderte ſelbſt ein ſo
giftiges Buch.
Für das ſtarke Selbſtgefühl dieſer conſtitutionellen Gelehrten war es
ein harter Schlag, daß der größte deutſche Hiſtoriker ihren Beſtrebungen
faſt ebenſo kühl gegenüberſtand wie einſt Erasmus den Kämpfen Luther’s.
Ranke genoß der perſönlichen Freundſchaft König Friedrich Wilhelm’s und
folgte der neuen Regierung mit hoffnungsvollem Vertrauen. Jeder Ten-
denz, zu allermeiſt der liberalen, abhold, vollendete er jetzt mit ſtaunens-
werther Fruchtbarkeit die deutſche Geſchichte im Zeitalter der Reforma-
tion, das wiſſenſchaftlich werthvollſte unter allen ſeinen bisherigen Werken.
Wunderbar, wie wenig die Deutſchen von dem folgenreichſten Jahrhundert
ihrer Vorzeit noch kannten. Die Schriftſteller der Aufklärung hatten die
Zeit der Reformation wenig beachtet oder ſie wohl gar, wie König Friedrich
that, in’s Platt-Alltägliche hinabgezogen; Schiller, deſſen genialer In-
ſtinkt die einzige Größe jenes Zeitalters ſofort durchſchaute, konnte die
Tage Luther’s nur mit einigen beiläufigen geiſtvollen Bemerkungen ſtreifen,
weil es der Stoff ſeiner beiden Geſchichtswerke ſo verlangte. Seitdem
blieb die Geſchichte unſeres ſechzehnten Jahrhunderts vornehmlich den theo-
logiſchen Kirchenhiſtorikern überlaſſen, die ſich denn nach ihrer Weiſe die
weltumgeſtaltende Bewegung als einen Kampf dogmatiſcher Syſteme
zurechtlegten. Ranke zuerſt wagte die politiſche Geſchichte des Zeitraums
zu ſchreiben, auf Grund der Reichstagsakten ſowie zahlreicher anderer
archivaliſcher Fünde, und er hob die entſcheidenden Männer, die beſtimmen-
den Thatſachen aus der Flucht der Erſcheinungen ſo ſicher heraus, daß
er mit gerechtem Selbſtgefühle ſagen durfte, „ſpätere Entdeckungen würden
zwar wohl das Einzelne näher beſtimmen, aber die Grundwahrnehmungen
doch zuletzt beſtätigen müſſen.“
Die Mehrzahl der Leſer kannte nur die den Aufklärern wie den
Jeſuiten gleich geläufige Behauptung, daß die Gier nach dem Kirchengute
die Politik der deutſchen Fürſten weſentlich beſtimmt haben ſollte; eine
neue Welt ging ihnen auf, als ihnen hier das feine Geäder der diplomati-
ſchen Verhandlungen bloßgelegt und im Einzelnen nachgewieſen wurde, wie
die politiſchen und die kirchlichen Gegenſätze einander fort und fort bald
bedingt bald durchkreuzt hatten. Noch ſtärker faſt als die Fülle der neuen
Mittheilungen überraſchte das ſelbſtändige Urtheil, das längſt bekannten,
unverſtandenen Thatſachen ſofort ihre hiſtoriſche Stellung ſicherte; wer
hatte vordem je bemerkt, daß die eigentliche Kirchenſpaltung, die Bildung
[413]Ranke’s Reformationsgeſchichte.
ſelbſtändiger Landeskirchen im Reiche, zuerſt von den Altgläubigen aus-
gegangen und die Evangeliſchen dem verhängnißvollen Beiſpiele der Gegner
nur gefolgt waren? Auch hier behielt Ranke die Univerſalgeſchichte ſtets
im Auge; doch da zu Luther’s Zeiten die den Welttheil beherrſchende
religiöſe Bewegung in Deutſchland entſprang „und zwar in der echten
reinen Tiefe und eingeborenen Macht des deutſchen Geiſtes“, ſo konnte
er diesmal bei den Zuſtänden des Vaterlandes behaglich verweilen. Daß
ſein neues Werk in künſtleriſcher Abrundung der Geſchichte der Päpſte
nicht ganz gleich kam, geſtand er ſelbſt; denn unter allen hiſtoriſchen
Stoffen iſt keiner ſo tiefſinnig, aber auch keiner ſo formlos wie die deutſche
Geſchichte. Auch fühlte ſich Ranke’s ariſtokratiſche Natur an den feinge-
bildeten Höfen Italiens offenbar heimiſcher als in dem vollſaftigen, derb
humoriſtiſchen, bis zur Unflätherei männiſchen Volksleben unſeres ſech-
zehnten Jahrhunderts. Die Maſſenbewegungen blieben ihm unheimlich;
der Vernunft, die in den wilden ſocialen Leidenſchaften des Bauernkrieges
lag, wurde er nicht ganz gerecht.
Er äußerte zuweilen: ich möchte mein Selbſt auslöſchen, wenn ich
die Dinge genau ſo ſehen könnte wie ſie waren; und geiſtloſe Schüler,
die kein Selbſt zu verlieren hatten, beeiferten ſich dies Wort, das eben
nur den tiefen Wahrheitsdrang des Meiſters draſtiſch ausſprach, wohlge-
fällig umherzutragen, gleich als ob ſie damit ihre eigene Blöße verdecken
könnten. Doch unzweifelhaft wollte er nicht im Ernſt behaupten, das phyſiſch
Unmögliche und ſittlich Verwerfliche ſei ein wiſſenſchaftliches Ideal. In der
Reformationsgeſchichte war ſein Selbſt mit nichten ausgelöſcht; ſeine warme
und tiefe evangeliſche Ueberzeugung verleugnete ſich nirgends, und obſchon
ihm der conſervative alte Luther unverkennbar theuerer war als der ra-
dicale Himmelsſtürmer der erſten Wittenberger Zeiten, ſo zeichnete er
doch die ſittliche Größe der deutſchen Reformatoren mit ſo ſicherem Ver-
ſtändniß, daß die Ultramontanen ihn ſeitdem immer als einen gefährlichen
Feind gehaßt haben. Eine einfache Stufenfolge menſchlicher Entwicklung
ſchien ihm, wie ſeinem königlichen Freunde, unvereinbar mit der Gerechtig-
keit Gottes, und wiewohl er zugab, daß die unerforſchliche Schöpferkraft
der Geſchichte edle und unedle Völker, hoch und niedrig begabte Gene-
rationen, darum auch große und kleine Zeiten hervorbringt, ſo blieb es
doch ſein Lebensglück, in jeder Zeit einen Strahl der göttlichen Vernunft
aufzufinden. Dieſe recht eigentlich fromme Ueberzeugung gab allen ſeinen
Werken einen Zug ruhiger Weisheit.
Die Ausländer fanden es faſt unbegreiflich, daß grade ein deutſcher
Gelehrter unternahm, eine bisher ganz der Gottesgelahrtheit anheimgegebene
Epoche politiſch zu beurtheilen. Daheim erlangte Ranke erſt durch dies Werk
die Stellung, welche ihm in der Weltliteratur ſchon durch die Geſchichte
der Päpſte geſichert war. Allgemein war die Bewunderung freilich auch
jetzt noch nicht. Wenn ein Buch erſcheint, das nur Einer ſchreiben konnte,
[414]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
dann regt ſich überall die Scheelſucht gemeiner Seelen. In Völkern von
altbefeſtigtem Stolze wird ſolcher Kleinſinn gebändigt durch den nationalen
Inſtinkt, der ſich den Einen doch nicht rauben laſſen will. In Deutſchland
beſtand dieſe Schranke des Neides nicht. Mit philoſophiſchem Selbſtge-
fühle blickten die Kritiker der Deutſchen Jahrbücher auf Ranke’s „Halb-
gedanken“ hernieder und belehrten ihn herablaſſend über hiſtoriſche That-
ſachen, deren Daſein ſie ſelber erſt aus ſeinem Werke erfahren hatten.
Auch reichgebildete Männer konnten den liberalen Parteihaß nicht über-
winden; in den Kreiſen Humboldt’s und Varnhagen’s ſtellte man F. v.
Raumer, ja ſogar den treufleißigen, harmloſen Sammler Preuß weit
über den Verfaſſer der Reformationsgeſchichte.
Die abgünſtigen Urtheile äußerten ſich noch dreiſter, als darauf die
Neun Bücher preußiſcher Geſchichte erſchienen. Nachdem Stenzel, der gründ-
liche Kenner deutſch-ſlaviſchen Grenzerlebens, zuerſt verſucht hatte, die Ge-
ſchichte des preußiſchen Staates von den älteſten Zeiten an gemeinverſtänd-
lich, im Geiſte des gemäßigten Liberalismus darzuſtellen, wagte ſich Ranke
an einen ihrer bedeutſamſten Abſchnitte, an die Zeiten, da das abſolute
Königthum den Staat erſt im Innern neu geſtaltete, dann durch die beiden
erſten ſchleſiſchen Kriege zur Großmacht emporhob, und wieder erſchloß er
dem hiſtoriſchen Urtheil einen neuen Geſichtskreis. Zur Verwunderung
ſeines königlichen Gönners bewies er zuerſt, daß Friedrich Wilhelm I. der
ſchöpferiſche Organiſator unſerer Verwaltung war, und ſagte ſchon voraus,
welch ein Schatz politiſcher Belehrung noch zu heben ſei, wenn dereinſt
die Geſchichte der preußiſchen Verwaltung im Zuſammenhange, auf Grund
umfaſſender Aktenforſchung geſchildert würde. Dies Urtheil berührte ſich
zwar mit der Anſicht Schön’s, der dem Wiederherſteller Litthauens immer
dankbare Verehrung bewahrte; die liberale Durchſchnittsmeinung jedoch
ließ ſich das altüberlieferte Zerrbild des rohen, bildungsloſen „Natur-
menſchen“ Friedrich Wilhelm ſo ſchnell nicht nehmen. Ohnehin zeigte
die nach conſtitutionellen Formen drängende Zeit wenig Sinn für die
großen Tage königlicher Machtvollkommenheit. Das Buch erwärmte Nie-
mand; die elegante, kühl diplomatiſche Erzählung, die über Friedrich’s I.
auswärtige Politik und andere ſchwache Stellen unſerer Geſchichte leicht
hinwegglitt, ſtand in auffälligem Gegenſatze zu der grellen Lebenswahrheit
der Menzel’ſchen Zeichnungen. So ward denn dies Werk anfangs ſehr
undankbar aufgenommen; an ihm bewährte ſich noch mehr als an den
meiſten anderen Schriften Ranke’s, daß ſeine neuen Ideen immer erſt
einer Reihe von Jahren bedurften bis ſie von der Nation ganz verſtan-
den wurden.
Ranke’s friedfertigen Geiſt wähnte man mit ſpöttiſcher Geringſchätzung
abfertigen zu können. Den überſchwänglichen Haß der liberalen öffentlichen
Meinung aber bekam Stahl zu empfinden, der tapfere Staatsrechtslehrer
der ſtrengconſervativen Richtung, der einzige große politiſche Kopf unter allen
[415]Stahl’s Rechtsphiloſophie.
Denkern jüdiſchen Blutes. Einem Volke, das ſeit Jahrhunderten ſeinen natio-
nalen Staat verloren hatte, mußte die lebendige Staatsgeſinnung fremd blei-
ben; ſelbſt die zwei politiſchen Schriften Spinoza’s verdankten ihren Ruhm
nur ihrer mächtigen dialektiſchen Kraft, nicht der politiſchen Einſicht. Stahl
dagegen wurde ſo ganz zum Chriſten und zum Preußen, daß ſeine Stamm-
genoſſen ihn bald nicht mehr zu den Ihrigen zählen wollten. Er hatte
ſich, durchaus ſelbſtändig, an den Ideen der hiſtoriſchen Rechtsſchule ge-
bildet. In ſeiner Rechtsphiloſophie widerlegte er zunächſt die unlebendigen
Abſtraktionen der Naturrechtslehre und erwies ſchlagend, daß es überall
nur ein poſitives, hiſtoriſch gewordenes Recht geben kann. Nachdem er
alſo die Gegner überwunden, unternahm er ſodann „auf der Grundlage
chriſtlicher Weltanſchauung“ ein Syſtem der Staats- und Rechtslehre auf-
zubauen, und hier verirrte ſich ſein ſcharfer und tiefer Geiſt doch in die
Irrwege jener phantaſtiſchen Schelling’ſchen Methode, welche dem Denker,
ſobald er ſich zur Idee des Univerſums erhoben hätte, das Recht zuſprach,
die höchſten Probleme ohne Beweiſe, allein aus der Anſchauung jener Idee
heraus, zu erklären. Stahl erkannte, daß alles Recht ſeinen Inhalt aus
dem nationalen Bewußtſein, ſein Anſehen durch ſich ſelbſt empfängt, ſeinen
letzten Grund jedoch nur in dem Gebote des lebendigen, perſönlichen, das
perſönliche Leben der Geſchichte beherrſchenden Gottes haben kann, ganz
wie das Gewiſſen der Völker und der Einzelnen, das je nach Zeit und
Ort ſo Verſchiedenes ausſagt, doch die Allen gemeinſame Vorſtellung von
einem höchſten ſittlichen Gute, vom Willen Gottes enthält. Allein er glaubte
von dieſem Ethos, dieſem Gebote Gottes mehr zu wiſſen, als Sterblichen
zu erkennen beſtimmt iſt; er ſchrieb dem menſchlich nothwendigen Staate
zugleich einen göttlichen Charakter zu und wollte in den Geſchicken des
Staates eine mittelbare Einwirkung des göttlichen Willens erkennen, der-
geſtalt daß überall ſelbſt die beſtimmten Perſonen der Obrigkeit göttlicher
Weihe theilhaftig ſein ſollten. So gerieth er in das Gebiet des Unbeweis-
baren und ſtellte gerade bei der Erörterung der politiſchen Grundbegriffe
ſtatt wiſſenſchaftlicher Sätze oftmals nur willkürliche ſubjective Behaup-
tungen auf, die er freilich mit dem ganzen Nachdruck einer innerlich er-
lebten religiöſen Ueberzeugung vortrug.
Aber wie gröblich verkannte man ihn doch, wenn man ihn darum
einen Myſtiker ſchalt. Wie er einſt als bairiſcher Abgeordneter die Rechte
des Landtags tapfer vertheidigt hatte, ſo blieb er ſein Lebelang ein ab-
geſagter Feind aller Staatsſtreiche, aller polizeilichen Willkür. Ein ganz
moderner Menſch bekämpfte er Adam Müller’s theokratiſche Ideen ebenſo
entſchieden wie Haller’s altſtändiſche Staatslehre und erklärte geradehin,
der innerſte Lebenstrieb des Zeitalters bekunde ſich überall in dem Drange,
den Particularismus der Stände durch die nationale Einheit, die patri-
moniale Staatsanſchauung durch die ſtaatliche, conſtitutionelle zu über-
winden. Obwohl er den Traum eines Staatsideals verwarf, ſo hielt er
[416]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
doch die conſtitutionelle Monarchie für die tiefſinnigſte der beſtehenden
Staatsformen, wenn ſie nur chriſtlich ſei, und mit ihr allein befaßten ſich
die Hauptabſchnitte ſeiner Staatslehre; denn ſein praktiſcher, ganz auf
das Wirkliche gerichteter Geiſt verlangte nach den Kämpfen der Gegenwart.
Gelehrte Unterſuchungen über die Verfaſſungsformen der Vergangenheit
reizten ihn nicht, auch hätte ſein mäßiges hiſtoriſches Wiſſen dazu ſchwerlich
ausgereicht. Die Idee des chriſtlichen Staates verſtand er in einem großen
und freien Sinne; er wollte keineswegs eine Staatskirche, ſondern forderte
nur, daß der Staat in Verfaſſung, Rechtspflege und Verwaltung die chriſt-
liche Wahrheit befolgen, die Kirchen beſchützen, in ſeinen öffentlichen Hand-
lungen ſich ſelbſt zum Chriſtenthum bekennen und demnach den Nicht-
chriſten zwar alle bürgerlichen, doch nicht die politiſchen Rechte und Aemter
einräumen ſolle.
Als die Entſcheidung der preußiſchen Verfaſſungskämpfe herannahte,
verlangte Stahl (1845) in dem meiſterhaft geſchriebenen Büchlein über
„das monarchiſche Princip“ beſchließende, regelmäßig wiederkehrende Reichs-
ſtände, damit die Krone nicht durch die Macht der Ereigniſſe überholt
würde. Doch zugleich erwies er, welche Schranken den conſtitutio-
nellen Ideen durch Deutſchlands monarchiſche Geſchichte geſetzt ſind,
und mochte er auch über einzelne Fragen allzu ängſtlich urtheilen, ſo
verdiente er doch wahrlich nicht, daß Dahlmann ihn verſpottete; denn
weltkundiger als Dahlmann ſelbſt erkannte er gerade die gefährlichſten
Irrthümer der herrſchenden liberalen Doctrin, Irrthümer, von denen ſich
erſt ein ſpäteres Geſchlecht nach ſchweren Erfahrungen befreit hat. Er zeigte
den Aberwitz des unbeſchränkten Widerſtandsrechts, die Unmöglichkeit einer
allgemeinen Steuerverweigerung und erwies ſiegreich, daß Preußens demo-
kratiſirte Geſellſchaft weder die Herrſchaft der Parlamentsmehrheit ertragen,
noch des perſönlichen Willens der Krone entbehren kann; was er ſodann
über die Gefahren der reinen Kopfzahlwahlen ſagte, beginnt erſt heute
ganz verſtanden zu werden. Er wünſchte einen ſtändiſch gegliederten Reichs-
tag, der alle die großen ſocialen Gegenſätze der modernen Geſellſchaft in
ſich enthalten, insgeſammt aber nicht die Intereſſen der einzelnen Stände,
ſondern die einige Nation vertreten ſollte, und war alſo berechtigt, dieſe
ſtändiſche Monarchie conſtitutionell zu nennen. Unter den ſyſtematiſchen
Theoretikern der hochconſervativen Parteien ſtand Stahl ebenſo unver-
gleichlich da wie Gentz unter ihren Publiciſten. Die Zeit war jedoch nicht
in der Stimmung, ihm gerecht zu werden. Schon der Name des chriſtlichen
Staates genügte, um die vom Judenthum beherrſchte Preſſe wider ihn
aufzuregen; und allerdings beurtheilte er die inner-kirchlichen Fragen von
Haus aus weit weniger unbefangen als die politiſchen. Wohl in Folge
ſeiner bairiſchen Erfahrungen verlangte er für den Lehrſtand der evan-
geliſchen Kirche eine Macht, die ſich mit der evangeliſchen Freiheit nicht
mehr vertrug. Alſo beſtändig ankämpfend wider die öffentliche Meinung,
[417]Gervinus.
nachher wider die Unzucht der Revolution wurde der gemäßigte Mann,
der in der Polemik auch gehäſſige Feinde ſtets würdig behandelte, mehr
und mehr in das Lager der Reaktion hinübergedrängt und gelangte ſchließ-
lich ſo weit, daß ihm der Gegenſatz von Legitimität und Revolution, von
Glauben und Unglauben als der einzige Inhalt der wandelreichen Menſchen-
geſchichte erſchien — eine unlebendige Abſtraktion, die er in ſolcher Härte
früherhin nie ausgeſprochen hatte.
Wie durch eines Himmels Weite getrennt ſtand dieſem Denker G. G.
Gervinus gegenüber, der jüngſte der Göttinger Sieben, deſſen Schriften die
liberale Welt faſt noch ſtärker ergriffen als Dahlmann’s Zwei Revolutionen.
Gervinus hatte ſeine Jugend als Kaufmann zu Darmſtadt verlebt und ſich
nachher in Heidelberg, mächtig angeregt durch Schloſſer’s moraliſirende
Geſchichtsbehandlung, mit eiſernem Fleiße zum Gelehrten herangebildet —
ein reicher, vielſeitiger, aber unharmoniſcher Geiſt, voll ſittlichen Ernſtes
und doch lieblos, launenhaft, rechthaberiſch; ſprudelnd von Einfällen und
doch ohne ſpeculativen Tiefſinn, voll künſtleriſcher Neigungen und doch
ohne jedes Stilgefühl; voll patriotiſcher Leidenſchaft und doch ohne poli-
tiſches Talent. Frei von Eigennutz und kleiner geſellſchaftlicher Eitelkeit
behandelte er weiche, anſchmiegende junge Männer mit väterlichem Wohl-
wollen; ſtärkere Naturen, die ſchon eigene Gedanken hegten, fühlten ſich oft
niedergedrückt in ſeiner Nähe. Er ſelbſt erkannte die ſeltſamen Widerſprüche
ſeiner Begabung niemals; denn ſein von Haus aus unbändiges Selbſtge-
fühl wurde noch verſtärkt durch zwei Empfindungen, die einander gemeinhin
auszuſchließen pflegen: durch den Stolz des Autodidakten und den Zunft-
dünkel des Profeſſors. Als er ſich dann durch ſein tapferes Verhalten unter
den Göttinger Sieben frühen Ruhm erworben hatte und nachher jahrelang
faſt ohne amtliche Thätigkeit dahinlebte, ohne Kinder, vergöttert von einer
liebevollen Frau, verwöhnt durch die Freundſchaft weit älterer und grö-
ßerer Männer, Dahlmann’s und der Brüder Grimm, da ſpann er ſich immer
tiefer ein in ſein erhabenes ſittliches Ich und gelangte zu einer doktrinären
Unfehlbarkeit, die in einer Zeit weltverwandelnder Geſchicke zuletzt noth-
wendig durch eine tragiſche Demüthigung gezüchtigt werden mußte.
Von früh auf hegte er den Ehrgeiz, durch wiſſenſchaftliche Werke
praktiſche Zwecke zu erreichen, die Nation zum ſittlich-politiſchen Handeln
anzuregen, und als er zuerſt den Plan eines größeren Werkes faßte, da
ließ er dem Verleger die Wahl zwiſchen einer Geſchichte der neueſten Zeit,
einer Politik und einer Literaturgeſchichte. Der Buchhändler wählte das
Letzte, und ſo entſtand das beſte von Gervinus’ Werken, die Geſchichte der
deutſchen Dichtung, ein Buch von bleibendem Werthe, das die Wiſſenſchaft
der deutſchen Literaturgeſchichte im Grunde erſt geſchaffen hat. Bisher
hatte nur Goethe in Wahrheit und Dichtung von den Anfängen unſerer
claſſiſchen Literatur ein wahrhaft hiſtoriſches Bild gegeben. Sonſt war
die Geſchichte deutſcher Dichtung nur äſthetiſch oder in lexicographiſcher
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 27
[418]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Aufzählung behandelt worden, ſelbſt Schloſſer ließ die literariſche Bewe-
gung und die politiſchen Machtkämpfe noch faſt unvermittelt nebeneinander
hergehen. Erſt Gervinus verſuchte die Wechſelwirkung beider zu begreifen,
den Stammbaum unſerer literariſchen Ideen nachzuweiſen, das Werden
der Dichtung im Zuſammenhange mit den Schickſalen, den Thaten, den
Empfindungen der Nation, mithin in ſeiner Nothwendigkeit aufzufaſſen.
Indem er alſo Goethe’s Spuren folgte, zeigte er einen Weg, den keiner
ſeiner zahlreichen Nachfolger ganz verlaſſen konnte, und gab auch ver-
wandten Fächern eine heilſame Anregung. Um dieſelbe Zeit unter-
nahmen Schnaaſe und Kugler, beide noch ſuchend und mit ſtark ſub-
jectivem Urtheil, die Kunſtgeſchichte als ein Ganzes darzuſtellen. Un-
ausbleiblich mußten bei der erſten Bewältigung eines ſo maſſenhaften
Stoffes viele Irrthümer mit unterlaufen, und ebenſo unvermeidlich
war der zweiſchneidige Erfolg dieſer jungen Wiſſenſchaft: den Einen
erweckte ſie ein denkendes Bewußtſein unſeres äſthetiſchen Werdeganges,
die Anderen beſtärkte ſie in der Modethorheit des Jahrhunderts der
Converſationslexica, in der Neigung, über ungeleſene Bücher vorlaut ab-
zuſprechen. Leider krankte dies grundlegende Werk an barbariſcher Form-
loſigkeit. Der Kritiker, der alle deutſchen Schriftſteller, ſogar einen Goethe,
wegen ihres Stiles meiſterte, konnte ſelber nicht deutſch ſchreiben: keuchend,
zerzauſt und zerfetzt kam der Leſer wieder in’s Freie, wenn er ſich eine
Weile durch das Dorngeſtrüpp der verfitzten Gervinus’ſchen Sätze hindurch-
gearbeitet hatte. Und welch’ ein unleidlicher griesgrämiſcher Ton klang
durch das Werk. Die alte norddeutſche Todſünde der Tadelſucht fand in
dieſem Süddeutſchen ihren nie übertroffenen Meiſter.
Weſſen er fähig war im Zanken und Schelten, das hatte er ſchon
vor Jahren bewieſen durch ſein abſcheuliches Büchlein „über den Goethiſchen
Briefwechſel“. Damals, wenige Jahre nach des Dichters Tode, meinte
ſich der dreißigjährige junge Mann berechtigt, „gegen die wunderliche Goetho-
manie unſerer Tage“, die doch nur in ſehr engen Kreiſen herrſchte, zu
Felde zu ziehen, und er wagte dem wahrhaftigſten aller Menſchen vorzu-
werfen, Goethe’s letzte Schriften und Briefe ſeien nur geſchrieben, „um
das Publicum zu myſtificiren“, gleich den Memoiren von St. Helena!
Wenn der erſte unſerer Dichter alſo verleumdet wurde, was konnten die
übrigen erwarten? Warmen Dank empfing eigentlich nur Leſſing, der als ein
Held der Aufklärung bei Gervinus ebenſo hoch in Gunſt ſtand wie bei ſeinem
Lehrer Schloſſer. Faſt alle anderen Dichter mußten einen ſolchen Schwall
von Ermahnungen und Ausſtellungen über ſich ergehen laſſen, daß dem
Leſer die Freude an der oft treffenden, geiſtreichen Charakteriſtik ganz ver-
gällt wurde; nun gar auf die Poeten der neueſten Zeit hagelten die Keulen-
ſchläge hernieder. Alles malte er grau in grau. Er konnte keinen hiſto-
riſchen Charakter ſich frei ausleben laſſen; immer mußte er ſich ſelber reden
hören, immer die Dattel vom Feigenbaume fordern, immer wuchtig aus-
[419]Die Literaturgeſchichte.
ſprechen, was dieſer Mann eigentlich hätte thun oder werden ſollen. Der
ritterlichen Kampfluſt eines Hutten oder Leſſing verzeiht der Leſer Alles,
ſelbſt wo ſie Unrecht haben; Gervinus’ ſchulmeiſternder Hochmuth aber ver-
letzte ſogar noch tiefer als Schloſſer’s ſittenrichterlicher Eifer, der doch immer
ein warmes Herz erkennen ließ. Claſſiſche Werke befreien die Seele,
das iſt ihr ſicherer Prüfſtein; ſie erheben den Leſer, ſo daß er mit hellerem
Kopfe oder mit friſcherem Muthe in dieſe ſchöne Welt hineinſchaut. Ger-
vinus’ Buch weckte Verdruß und Aerger; das Beiſpiel ſeiner grauſamen
Härte wirkte ſchädlich auf ein Volk, das ohnehin ſtarke Talente nur
ungern anerkannte. Gerade die jungen, ſchaffensfrohen Dichter, die doch
für äſthetiſche und literariſche Werke den natürlichen Leſerkreis bilden, ver-
abſcheuten Gervinus wie einen perſönlichen Feind, wie einen Wütherich, der
ihnen die zarten Kinder der Muſe ſchon im Mutterleibe vergiften wollte.
Wie anders verſtand der junge Friedrich Viſcher in ſeiner Aeſthetik pro-
duktive Kritik zu üben und durch neue Anſchauungen, aus der Fülle des
Lebens heraus, zumeiſt die Künſtler zu erfreuen.
Das wiſſenſchaftliche Gebrechen der Literaturgeſchichte lag in ihren
leichtfertigen Geſchichtsconſtructionen. Gervinus ſtand der Philoſophie
ebenſo fern wie dem religiöſen Glauben; gleichwohl vermaß er ſich, ſo recht
im Gegenſatze zu Ranke’s weiſer Zurückhaltung, eine Geſchichtsphiloſophie
aus dem Aermel zu ſchütteln, welche den Lebensnerv der hiſtoriſchen Welt,
die perſönliche Freiheit zerſtörte. Aus der Beobachtung wiederkehrender
Ereigniſſe, die doch auch nicht wiederkehren konnten, aus geiſtreichen Paral-
lelen und halbrichtigen Vergleichungen leitete er kurzweg hiſtoriſche Ge-
ſetze ab. Und gerade das wichtigſte dieſer Geſetze, das dem ganzen Buche
zu Grunde lag, war unzweifelhaft falſch. Gervinus behauptete, die Blüthe-
zeiten der Religion, der Literatur, der Politik folgten auf einander im Laufe
der Geſchichte, während doch der Augenſchein lehrt, daß Kunſt und Dich-
tung ihr eigenes, urſprüngliches Leben führen, das durch die politiſchen
Schickſale wohl beeinflußt aber nicht bedingt wird. Jedes Volk geſtaltet
ſich ſeine äſthetiſchen Ideale unfehlbar aus, ſobald ihm neue mächtige
Gedanken Herz und Phantaſie bewegen; die Engländer verdankten ihrer
ungeſtörten nationalen Entwicklung das beneidenswerthe Glück, daß ſie
ſich immer in den Tagen ihres kriegeriſchen Ruhmes auch zu den höchſten
Dichterthaten aufſchwangen; Deutſche und Italiener dagegen vollendeten
ihre claſſiſchen Kunſtwerke unter ſchweren politiſchen Mißgeſchicken; andere
Nationen wiederum fühlten ſich nach großen kirchlichen oder politiſchen
Kämpfen ſo erſchöpft, daß ihre literariſche Kraft eine Zeit lang erlahmte;
und ſchließlich ſind doch Kunſt und Dichtung, wenngleich nicht jede Zeit
das Größte ſchaffen konnte, allen Culturvölkern immer ſo unentbehrlich
geblieben wie das liebe Brod. Für dieſe freie und doch nicht geſetzloſe
Mannichfaltigkeit des hiſtoriſchen Lebens beſaß Gervinus kein Verſtändniß;
er wollte durchaus dem Seidenwurm zu ſpinnen verbieten und erklärte
27*
[420]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
rundweg, daß die deutſche Dichtung ſeit den claſſiſchen Tagen von Weimar
ihre Lebenskraft verloren hätte. Darum behandelte er faſt Alle, die nach
Schiller und Goethe noch zu dichten gewagt hatten, mit ſchnöder Un-
gerechtigkeit; darum nannte er unſere geſammte neueſte ſchöne Literatur
einen giftigen, ſtagnirenden Sumpf — ein Jahr etwa nachdem Immer-
mann’s Münchhauſen erſchienen war — und faßte das Ergebniß ſeiner
Forſchungen dahin zuſammen: „Unſere Dichtung hat ihre Zeit gehabt;
und wenn nicht das deutſche Leben ſtillſtehen ſoll, ſo müſſen wir die Ta-
lente, die nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat
locken, wo in neue Materie neuer Geiſt zu gießen iſt.“ So ſeltſame
Paradoxen trieb dieſe Epoche der Erwartungen hervor: während die Zeit-
poeten unſer Volk ſingend vor dem Singen warnten, ſchrieb dieſer
geſtrenge Gelehrte fünf ſtarke Bände hiſtoriſch-literariſcher Erörterungen,
um ſchließlich zu beweiſen, daß unſere alten äſthetiſchen Ideale heute
nichts mehr bedeuteten. Unwiſſentlich beſtärkte er alſo die jungen Lyriker,
die er doch tief verachtete, in ihren politiſchen Tendenzen.
Ueberhaupt galt ſein Werk für eine politiſche That, ganz wie Schloſſer
der Moraliſt von der Maſſe der Leſewelt weſentlich als ein Prediger des
demokratiſchen Despotenhaſſes geprieſen wurde. Gervinus’ Geſchichtscon-
ſtructionen enthielten, trotz ſo mancher Uebertreibung und Gewaltſamkeit,
doch den wahren, zeitgemäßen Gedanken, daß dem neuen Geſchlechte po-
litiſche Leidenſchaft und Thatkraft nöthiger war als äſthetiſche Beſchaulich-
keit, und indem er dieſen Gedanken unabläſſig nach allen Seiten hin und
her wendete, half er an ſeinem Theile mit, unſer Volk für den nationalen
Staat zu erziehen. Von politiſcher Vorausſicht beſaß er freilich gar nichts;
ſeine zahlreichen Weiſſagungen gingen faſt niemals in Erfüllung. Die
Verfaſſungsformen des inneren Staatslebens galten ihm mehr als die
großen Machtverhältniſſe der Staatengeſellſchaft, denen Ranke ſich mit Vor-
liebe zuwendete; und in Wahrheit kam er nie weit hinaus über den Ge-
dankenkreis der ſüddeutſchen liberalen Kammerredner. Daher hielt er es
auch nie der Mühe werth, die beiden politiſchen Mächte, welche unſere Zu-
kunft trugen, den preußiſchen Staat und den Zollverein gründlich kennen zu
lernen, obgleich er für Preußen die bündiſche Hegemonie forderte. Doch
wie durfte man auch eingehende, ſachkundige Belehrungen verlangen von den
unzähligen politiſchen Betrachtungen, die er nebenbei in ſeine Literatur-
geſchichte einwob? Hier genügte zunächſt das ſtarke patriotiſche Pathos.
Schonungslos, mit dem ganzen Nachdruck ſeiner Selbſtgewißheit hielt er
den Deutſchen beſtändig die Unhaltbarkeit ihrer politiſchen Zuſtände vor.
Radicale Wahrheiten wirken aber am ſtärkſten von den Lippen der Ge-
mäßigten. Wenn dieſer Mann, der tapfere Gegner Börne’s und der
jungdeutſchen Radicalen, ſo grell, ſo unerbittlich die Schande unſerer Zer-
riſſenheit ſchilderte, dann mußten die Leſer ſich an die Bruſt ſchlagen.
Alſo wurde die Literaturgeſchichte eine Macht in den politiſchen Kämpfen
[421]Grimm’s Geſchichte der deutſchen Sprache.
des Tages, ein Schrecken für alle Reaktionäre; in der Entwicklung der deut-
ſchen Wiſſenſchaft behauptet ſie eine noch höhere Stelle.
Mit dem Zartſinne des liebevollen Freundes und doch ſehr deutlich
äußerte Jakob Grimm ſeine Bedenken gegen dieſe moraliſch-politiſche Härte,
die ſogar in unſerer alten Thierfabel mehr das ſittliche Beiſpiel oder auch
die Satire ſuchte als das weichere epiſche Leben; am wenigſten verzieh er
dem Freunde die Ungerechtigkeit gegen Goethe, „der doch ſo geſungen hat,
daß ohne ihn wir uns nicht einmal recht als Deutſche fühlen könnten.“
Grimm ſelbſt gehörte einem anderen Geſchlechte an. Er hatte einſt als Mar-
burger Student niemals eine Zeitung zu Geſicht bekommen und dann die po-
litiſche Begeiſterung des Befreiungskampfes in warmem Herzen mitempfun-
den, doch ſogleich nach den Kriegswirren ſich zurückgewendet zur „ſtillen För-
derung des Volks“, zur friedlichen gelehrten Forſchung. So thaten die
Brüder auch jetzt wieder in ihrer neuen Berliner Freiſtätte; daß man ſie
wegen der That der Göttinger Sieben als politiſche Helden feierte, war ihnen
ſelber läſtig, ſie hatten ja nur nach ihrem Gewiſſen, als eidestreue Männer
gehandelt. Wo auf deutſcher Erde hätten die Beiden ſich auch nicht heimiſch
fühlen ſollen? Kinderhand iſt leicht gefüllt; ihnen Beiden blieb bis zum
Grabe neben der Kraft reichen Schaffens die ſchlichte Einfalt, die frohe
Dankbarkeit für jedes Glück des Lebens. Die rothen Berge der heſſiſchen
Heimath vermißten ſie freilich mit Schmerzen; aber dicht vor ihrem Hauſe
rauſchten die Wipfel der alten Bäume des Thiergartens; ſelbſt an dem
Goldfiſchteiche des Parks hatte Wilhelm ſeine kindliche Freude, und als
er ſeiner Bettina das Märchenbuch von Neuem zueignete, das er in jeder
Auflage reicher und ſinniger ausgeſtaltete, da lobte er die alte Freundin
treuherzig, weil ſie noch mit der Luſt der erſten Jugend in den Kelch
einer einfachen Blume ſchauen konnte. An Beiden erfüllte ſich was Jakob
ſeinem Neffen ſchrieb: „die, welche als Studenten toll und wild ſind, pflegen
ſpäter im Leben zahm und matt zu werden, während denen, die eifrig
ſtudiren, hernach auch die Kraft und die Freude nicht ausgeht.“*)
Grade bevor die Revolution begann, brachte Jakob das vierte ſeiner
großen Werke noch unter Dach: die Geſchichte der deutſchen Sprache.
Hier ſuchte er ſich zu verſtändigen mit der vergleichenden Sprachwiſſen-
ſchaft, die einſt durch ihn ſelber mitbegründet, im Laufe der Jahre ſtark
und ſelbſtändig aufgewachſen war. Er betrachtete das Verhältniß zwiſchen
den Sprachen der zehn Urvölker, die er in Europa annahm, ſodann
die engere Verwandtſchaft von Gothen, Hochdeutſchen, Niederdeutſchen,
Skandinaviern, „die ſich, je höher man zurückſteigt, deſto ähnlicher werden
und alle gleichen Urſprungs ſind.“ Mit tiefem Ernſt, wie der Wächter
eines nationalen Schatzes, hielt er ſeinen Landsleuten vor, was die
Sprache auch für die Macht der Völker bedeutet, denn wie unvergleichlich
[422]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſtünde heute das Germanenthum in der Geſchichte, wenn Gothen, Bur-
gunden, Franken, Langobarden in den eroberten Römerlanden ſich ihre
Mutterſprache bewahrt hätten; den Deutſchen aber, die an dieſem Kleinod
feſthielten, blieb in allem Wandel der politiſchen Zerwürfniſſe das Gefühl
des gemeinſamen Volksthums unverloren, ſonſt hätten die Nachbarn der
Donaukelten doch nicht Markmannen heißen können. In einzelnen Zügen
poetiſcher Willkür verrieth ſich freilich der alte Romantiker. Die ferne
Urzeit bezauberte ſein Gemüth ſo mächtig, daß er die Welteroberung
der wandernden Germanen faſt höher ſchätzte als Alles was ſie nachher
im ſeßhaften Staatsleben noch geſchaffen hatten; und aus dem Gemüthe
entſprang doch auch ſeine unerweisliche Behauptung, daß die getiſchen
Völker des Alterthums Gothen geweſen wären, er konnte ſich die Anfänge
der germaniſchen Welt gar nicht groß und mächtig genug vorſtellen. Unter-
deſſen arbeiteten die Brüder ſchon an einem neuen Werke, dem neuhoch-
deutſchen Wörterbuche. Die wackeren „Weidmänner“ Salomon Hirzel und
Karl Reimer, die Beſitzer der Weidmann’ſchen Buchhandlung in Leipzig
übernahmen den Verlag, zunächſt um den Vertriebenen über die Sorgen
der amtloſen Jahre hinwegzuhelfen, und bald waren mehr als achtzig
ſammelnde Mitarbeiter gewonnen. Was einſt in Frankreich nur durch
die Akademie, unter dem Schutze und Zwange einer allmächtigen Staats-
gewalt gelungen war, wurde in Deutſchland vorbereitet durch die freie
Thätigkeit der Gelehrtenwelt; und im Geiſte der Freiheit, ganz anders
als die franzöſiſche Akademie, entwarfen auch die Brüder den Plan für
ihr Wörterbuch: ſie wollten nicht die Sprache an ſtarre Regeln binden,
ſondern ſie durch Selbſterkenntniß zu freiem Leben kräftigen.
Neben dem kühnen Finder Jakob Grimm wirkte in Berlin der ſcharfe
Kritiker Karl Lachmann. Er bildete die lebendige Brücke zwiſchen der
germaniſtiſchen und der claſſiſchen Philologie, er erzog die jüngere Wiſſen-
ſchaft in wenigen Jahrzehnten zu der ſtrengen ſicheren Methode, die ſich
die ältere erſt durch die Arbeit von Jahrhunderten erworben hatte. Es
war ein ſchönes Geben und Empfangen: die claſſiſchen Philologen ihrer-
ſeits lernten von den Germaniſten, den antiken Volksdialekten, die man
erſt ſeit dem Erſcheinen der Böckh’ſchen Inſchriftenſammlung recht zu be-
achten anfing, in eindringender Forſchung nachzuſpüren. Lachmann war
durchaus wiſſenſchaftlicher Parteimann, treu, gemüthlich, heiter unter den
Freunden, unerbittlich gegen die Feinde; er verlangte unbedingte Zuſtim-
mung, auch wenn er mit überſcharfer Kritik die Ilias oder die Nibelungen
gewaltſam in einzelne Lieder zerſtückelte, und wie er an ſich ſelber die
ſtrengſten Anforderungen ſtellte, ſo verdammte er die wiſſenſchaftlichen
Irrthümer Anderer als unſittliche Schwächen. Das junge Philologenge-
ſchlecht, das unter ſeiner Einwirkung emporkam, trat ſchroffer, unduld-
ſamer, hochmüthiger auf als die ältere, noch in dem Jahrhundert der
Humanität erwachſene Generation — und dies in einer Zeit, da die
[423]Lachmann’s Schule.
mit realiſtiſchen Notizen überlaſteten Gymnaſien ſchon nicht mehr ver-
mochten den claſſiſchen Unterricht ganz auf ſeiner alten Höhe zu halten.
Gleichwohl hat Lachmann der Geſtrenge auch als Vermittler gewirkt. Er
erreichte, daß der alte Gegenſatz der Sach-Philologen und der Gramma-
tiker ſich auszugleichen begann; ſeine genaue Textkritik ruhte ſtets auf
einem breiten Unterbau gründlicher hiſtoriſcher Unterſuchungen, und un-
willkürlich traten ſeine Schüler den philologiſchen Hiſtorikern näher als
vordem die Schüler Gottfried Hermann’s.
Kaum ſiebzig Jahre waren vergangen, ſeit F. A. Wolf einſt in
Göttingen zuerſt gewagt hatte ſich einen Studenten der Philologie zu
nennen, und zu welch’ einem mächtigen, vielaſtigen Baume hatte ſich der
junge Setzling der Theologie ſeitdem ausgewachſen. Im Zeitalter der Re-
naiſſance ſuchte man die moderne Welt unmittelbar durch die antike neu
zu beleben. Palladio baute ſein Olympiſches Theater genau nach den
Vorſchriften des Vitruv, Machiavelli’s Bücher von der Kriegskunſt hielten
den Florentinern die römiſchen Cohorten als Muſterbilder vor. Die deutſche
Philologie hingegen ſtrebte ſeit Niebuhr, das Alterthum dem neuen Ge-
ſchlechte lebendig zu vergegenwärtigen, ſie ſuchte die antike Welt durch die
moderne zu beleben und zu beleuchten, das Ferne und Fremde dem hiſto-
riſchen Verſtändniß der Gegenwart zu erſchließen, indem ſie die politiſchen,
die wirthſchaftlichen, die literariſchen Verhältniſſe der neuen Zeit zur
Erklärung heranzog. Zu den beiden alten Heimſtätten der Sprachwiſſen-
ſchaft Berlin und Leipzig trat jetzt Bonn als dritte hinzu; in der rheini-
ſchen Hochſchule lebte der einſt durch Niebuhr geweckte philologiſche Geiſt
kräftig wieder auf, ſeit dort neben dem geiſtvollen Aeſthetiker Welcker der
Thüringer Friedrich Ritſchl ſeine reiche Lehrthätigkeit begann, ein ſtrenger
Kritiker und Hermeneutiker, der beſte Kenner altlateiniſcher Dichtung. —
Neben dem andauernden Glanze der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ver-
blich nach und nach das Geſtirn der Speculation. Die antike Philoſophie
ſtand hoch über dem Volksglauben, die chriſtliche ſteht unter ihm; ſie bildet
Denker, nicht Weiſe, ſie gelangt nicht hinaus über die erhabene Sittlich-
keit der Evangelien. Darum verfiel ſie faſt immer, nach einer Zeit der
Blüthe, in einen trügeriſchen Hochmuth, dem dann unausbleiblich ein
Rückſchlag folgen mußte. Uebermüthiger als in Deutſchland hatte ſie ſich
noch nirgends gezeigt; dahin war es mit ihr gekommen, daß ſie auf dem
eingeſchlagenen Wege nichts mehr beweiſen, ſondern nur noch ſich ſelber
aufheben konnte. Derweil die letzten Hegelianer noch mit der alten Zu-
verſicht, aber von der Nation kaum beachtet, die Formeln des Syſtems
wiederholten, ſtellte Feuerbach ſchon die Sätze auf: keine Philoſophie, meine
Philoſophie; keine ſinnliche Exiſtenz iſt keine Exiſtenz — bis er endlich
[424]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
gar zu dem troſtloſen Unſinn gelangte: der Menſch iſt was er ißt. Feuer-
bach’s edle Natur konnte einen idealiſtiſchen Zug niemals ganz verleugnen;
er glaubte noch an eine Sittlichkeit, die den fremden Glückſeligkeitstrieb
mit dem eigenen vereinbaren ſollte. Im Norden aber trieben allerlei
Starkgeiſter ihre Marktſchreierei, zuchtloſe junge Leute, die nur den einen
Ehrgeiz hegten immer noch „weiter zu gehen“. Max Stirner’s Schrift
„der Einzige und ſein Eigenthum“ zertrümmerte Geiſt und Menſchheit,
Recht und Staat, Wahrheit und Tugend als Götzenbilder der Gedanken-
knechtſchaft und bekannte frei: „Mir geht nichts über Mich.“ Eine Sekte
von Egoiſten that ſich auf, die den Berliner Freien nahe ſtand; ſie feierte
ihre Gelage in der Kellergeſellſchaft zu Koethen und ſandte als die Re-
volution ausbrach ihre Getreuen auf die Barrikaden. Angeſichts dieſer
allgemeinen Anarchie und Zerſetzung erkannten die ernſten wiſſenſchaft-
lichen Köpfe unter den Philoſophen, daß die Zeit für neue Syſteme noch
nicht gekommen war; Ritter, Zeller und andere tüchtige Gelehrte begannen
die Geſchichte der Philoſophie gründlich auszubauen, denn die verwilderte
Speculation bedurfte zunächſt der Selbſtbeſinnung.
Die Nation war der Philoſophie bis zum Ekel ſatt. Ihre geſammte
Weltanſchauung begann ſich zu ändern ſeit auch Deutſchland mit der
ganzen Kraft ſeines Genius eintrat in die große Bewegung, welche mit
einem male die Naturwiſſenſchaften von Sieg zu Sieg führte. Wie weit
waren ſie doch, alle die Jahrtauſende hindurch, zurückgeblieben hinter dem
Reichthum der Geiſteswiſſenſchaften; wie kindlich unwiſſend ſtanden die Alten
vor der Natur, ſie, die in Dichtung, Beredſamkeit, Philoſophie, Geſchicht-
ſchreibung Unerreichbares ſchufen. Ein Grund dieſer auffälligen Erſchei-
nung liegt in äußeren Verhältniſſen. Wiſſenſchaftlich genaue Beobach-
tung der Natur ſetzt einen hohen Stand der Technik voraus, der wieder
nur das Ergebniß einer langen Geſchichte ſein kann; wie viele Jahrhun-
derte lang mußte die menſchliche Kunſtfertigkeit arbeiten, bis auch nur das
einfache Inſtrument möglich wurde, mit dem wir die Wärme der Luft
meſſen. Ein anderer Grund liegt tiefer, er liegt in der idealiſtiſchen Be-
gabung des Menſchengeſchlechts. Alle Wiſſenſchaften entſtehen urſprüng-
lich um des Nutzens willen, Erfahrungen und Geheimlehren werden von
den Barbaren aufbewahrt um den Zwecken des praktiſchen Lebens zu dienen;
in bildſamen Völkern erwacht jedoch ſehr früh der von Ariſtoteles verherr-
lichte ſelbſtändige theoretiſche Trieb, der das Erkennen um des Erkennens
willen ſucht, und ſobald er erwacht, wendet er ſich immer zunächſt der
idealen Welt der Geiſteswiſſenſchaften zu. Wie alle edlen Völker früher
Tempel bauen als ſtattliche Wohnhäuſer, früher die hohe Kunſt pflegen
als die Kleinkunſt für das tägliche Behagen, ſo verlangen ſie auch immer
zuerſt ſich Rechenſchaft zu geben über ihre Geſchichte, ihr Recht, ihre
Sprache, über die letzten Gründe alles Erkennens, bevor ſie ſich ernſtlich
an die Erforſchung der Naturgeſetze wagen. Dieſen idealiſtiſchen Zug des
[425]Die neue Naturwiſſenſchaft.
Menſchengeiſtes erkannte Goethe, der Pfleger und Verehrer der Natur-
wiſſenſchaften, unbefangen an, als er ſagte: „das eigentliche Studium
des Menſchen iſt der Menſch; und der Lehrer, der das Gefühl an einer
einzigen guten That, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leiſtet
mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der
Geſtalt und dem Namen nach überliefert.“ Die Naturwiſſenſchaft kann
ſich nur dann in ihrer ganzen Kraft zeigen, wenn ihr die Geiſteswiſſen-
ſchaften von langer Hand her vorgearbeitet haben, wie auch die Sprache
ſchon zur vollen Verſtandesreife gelangt ſein muß um die Sätze der
Naturerkenntniß bündig auszudrücken. Jetzt war ein ſolcher Zeitpunkt ein-
getreten.
Die Philoſophie begann zu ſinken, aber die Kraft und Geſchmeidigkeit
des Denkens, die ſie der Nation einſt geſchenkt hatte, blieb auch den Gegnern
unverloren, und die neue Bahn der empiriſchen, vorausſetzungsloſen For-
ſchung war durch die Hiſtoriker ſchon gewieſen. Der wachſende Reichthum
und die nicht minder ſchnell wachſende wirthſchaftliche Noth der Cultur-
völker, die Fortſchritte der Technik, die Bedürfniſſe des regeren Verkehrs,
die Verbindung mit den neuen Kolonialländern, die wie alle Kolonien der
Vorzeit nur die materiellen Güter der alten Cultur gelten ließen, das Alles
im Verein weckte und ſchärfte den Drang, die Naturkräfte zu erkennen
und zu benutzen, und wie immer in Zeiten großer Wandlungen rief die
ſchöpferiſche Kraft der Geſchichte zur rechten Zeit die rechten Männer hervor.
So geſchah es, daß die Naturwiſſenſchaften in einem raſchen Anlaufe,
deſſen gleichen die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß kaum je ge-
ſehen hat, den weiten Vorſprung der Geiſteswiſſenſchaften plötzlich ein-
holten. Die Nachbarvölker gingen bei dieſer Umwandlung anfangs den
Deutſchen voran, denn unſer Wohlſtand und Verkehr erholte ſich nur
langſam von ſchweren Mißgeſchicken, und die alte äſthetiſch-philoſophiſche
Bildung, die auf deutſchem Boden ihre größten Erfolge errungen hatte,
ſträubte ſich noch lange gegen die neue Erfahrungswiſſenſchaft.
Als nun endlich auch die Deutſchen zum Wettkampfe vortraten und
ſogleich durch einige Meiſterwerke den alten wiſſenſchaftlichen Ruhm der
Nation bewährten, da bemächtigte ſich vieler Köpfe ein materialiſtiſcher
Rauſch; die Halbgebildeten und manche der Gebildeten überſchätzten die
große Umwälzung, wie denn jede neue Idee, damit ſie durchdringt, zuerſt
überſchätzt werden muß. Die Naturwiſſenſchaften erfüllen unmittelbar,
was Baco von aller Erkenntniß forderte, ſie geben Macht, ihre Ergebniſſe
fallen in die Sinne, verwandeln die Sitten und Lebensgewohnheiten. Und
gerade in dieſen vierziger Jahren, da die Deutſchen ihre neuen Eiſen-
bahnen noch wie Wunderwerke beſtaunten, verbreitete ſich in weiten Kreiſen
der Wahn, daß die Weltgeſchichte ihren alten Inhalt verloren hätte,
die hiſtoriſche Größe der Nationen ſich nicht mehr in Politik und Krieg,
ſondern in Maſchinen und Dungmitteln offenbare — bis dann plötzlich
[426]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
in den Revolutionsjahren die Majeſtät des Staatsgedankens ſich Jedem
wieder unwiderſtehlich aufdrängte. Man redete leichthin von der Be-
herrſchung der Natur durch den Menſchen, während doch der ſchwache
Sterbliche ſich begnügen muß einzelne Kräfte der Natur, indem er ſich
ihren erkannten Geſetzen fügt, für ſeine Zwecke zu benutzen. Man rühmte
ſich den Raum beſiegt zu haben, obgleich dieſer Sieg noch recht be-
ſcheiden blieb: die Schnelligkeit des Roſſes hatte der Menſch endlich
übertroffen, allein jeder Hecht und jede Schwalbe beſchämte ihn noch.
Man ſprach von den Fortſchritten der Technik und der Erleichterung des
Verkehrs, als ob ſie ſelber die Cultur ausmachten, während ſie doch nur
die Mittel darbieten zur Förderung der Cultur; denn die unbeſtechliche
Nachwelt wird dereinſt nicht fragen, wie ſchnell wir uns Briefe ſenden
konnten, ſie wird fragen, ob wir uns große menſchliche Gedanken mitzu-
theilen wußten; ſie wird auch nicht aufhören, neben dem Maßſtabe der
Nützlichkeit auch den Maßſtab des Schönen und des Guten an die viel-
geſtaltige Geſchichte anzulegen und darum gewiß nicht das thörichte Urtheil
fällen, daß eine hell leuchtende, aber geſchmackloſe moderne Gaskrone ein
edleres Menſchenwerk ſei als eine ſchlecht brennende aber ſchöne pompe-
janiſche Lampe.
Die Naturwiſſenſchaft errang in der Forſchung ſo große Erfolge
und griff ſo mächtig in das praktiſche Leben ein, daß ſie jetzt ſchon
mit gutem Fug vom Staate eine gleichberechtigte Stellung neben den
Geiſteswiſſenſchaften verlangen konnte; noch war ja Alles erſt im Wer-
den, ein öffentliches phyſikaliſches Laboratorium beſtand noch nirgends,
nur in Berlin hatte Magnus aus eigenen Mitteln ſchon eine ſolche An-
ſtalt errichtet, die er den jungen Leuten hochherzig zur Benutzung ein-
räumte. Doch in dem emſigen Getriebe der neuen Volkswirthſchaft wuchs
auch raſch ein Geſchlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerwelts-Fort-
ſchrittsmännern empor, ein dem ſtillen alten Deutſchland ganz unbekannter
Menſchenſchlag, den die Münchener Künſtler in ihren Maskenzügen und
Witzblättern unter dem Bilde des Miſter Vorwärts verſpotteten. Dieſe
Leute kannten England oder Amerika, ſie betheiligten ſich an allen den
neuen, oft noch ſehr ſchwindelhaften Eiſenbahngeſellſchaften und Fabrik-
unternehmungen, ſie ſchätzten nur was ſich zählen, meſſen und wägen
ließ. In dieſen Kreiſen zuerſt ward der Ruf erhoben, den die unwiſſen-
den Zeitungsſchreiber gefällig wiederholten: die naturwiſſenſchaftliche Bil-
dung müſſe zur allgemeinen Bildung werden und die ſprachlich-hiſtoriſche
Bildung, von der ſich ſeit Jahrtauſenden alle Culturvölker ohne Aus-
nahme genährt hatten, kurzerhand entthronen. Aehnliche Forderungen
waren ſchon mehrmals in der Geſchichte ausgeſprochen worden: immer
in Zeiten da Staat und Sitte verfielen, im Alterthum vornehmlich von
den Epikuräern, den Vertretern der politiſchen und ſittlichen Ruheſeligkeit,
dann wieder im ſiebzehnten Jahrhundert; immer mit geringem Erfolge,
[427]Humboldt’s Kosmos.
weil die Naturwiſſenſchaften Fachwiſſenſchaften ſtets ſind und bleiben, ihre
Schriften niemals ſo vollſtändig zum Gemeingut aller Gebildeten werden
können wie die Werke der Geiſteswiſſenſchaften.
Jetzt erhob Jakob Grimm ſeine warnende Stimme dawider in einer Ver-
ſammlung der Germaniſten. Er erwies kurz und ſchlagend, daß die Geiſtes-
wiſſenſchaften darum die Grundlage der allgemeinen Bildung bleiben müſſen,
weil ſie allein das ganze Menſchenleben, auch die Welt der Phantaſie
und des Herzens umfaſſen; er zeigte, daß ſie weltbürgerlich und national
zugleich ſind, die Naturwiſſenſchaften weltbürgerlich ſchlechthin; und nur
wo volksthümliche und allgemein menſchliche Bildung einander durch-
dringen, entfaltet ſich der ganze Reichthum der Weltgeſchichte. Er er-
kannte freudig an, was unſer geſammtes Volksleben, und inſonderheit
ſeine geliebte Sprache, der exakten Forſchung verdankte. Die jungen
Naturforſcher ſchrieben meiſtens vortrefflich; ihre klare, beſtimmte, einfache
Proſa nahm den deutſchen Geiſt, der ſich ſo gern zu träumeriſchen
Ahnungen verſteigt, in eine ſtrenge, heilſame Zucht; doch ſie beherrſchte
nur einen kleinen Theil des unermeßlichen Sprachſchatzes. Der Stil des
Naturforſchers, der immer von Geſetzen, Begriffen, Gattungen und Arten
handelt, legt den Ton auf das ſtarre Hauptwort und kann, in ſeiner Art
vollendet, ſchließlich doch nicht wetteifern mit dem reicheren Stile des
Hiſtorikers, der ſich frei in der Welt des Werdens, der freien Thaten
umſchaut und darum den Ton auf das erregende, Leben ſpendende Zeit-
wort legt. Es blieb auch fernerhin bei dem alten Geſetze, daß die Cultur-
ſprachen fortgebildet werden zuvörderſt durch den Volksmund und die
Dichtung, ſodann durch Redner, Hiſtoriker, Philoſophen; die neuen von
den exakten Wiſſenſchaften geſchaffenen Kunſtausdrücke waren in ihrer
Mehrzahl international und zeigten ſchon durch ihre willkürliche Form,
daß ſie nicht der Naturgewalt des Sprachgeiſtes, ſondern verſtändiger
Berechnung entſprangen.
Vorderhand blieb die Ueberhebung, die ſich unter den Lobrednern
der realiſtiſchen Bildung ſchon hie und da kundgab, noch ganz ungefähr-
lich. Mit gerechtem Stolze freute ſich die Nation an den kühnen Ent-
deckungen ihrer Naturforſcher, und der greiſe Humboldt pries ſich glück-
lich dieſen neuen Tag noch zu erleben. Er hatte ſein Lebelang, anfangs
faſt allein, feſtgehalten an der Methode der gewiſſenhaften Induction;
nun ſah er befriedigt, daß die junge Generation ſchon gar nicht mehr
anders athmen konnte als in der reinen Luft der bewußten Empirie.
In dem Kosmos zog er jetzt die große Summe ſeines Lebens. Schon
vor mehr als einem halben Jahrhundert, auf ſeiner Reiſe mit Georg
Forſter, hatte er ſich zuerſt die Frage vorgelegt, ob es wohl möglich ſei,
die geſammte Natur als ein geordnetes Ganzes zu begreifen und dar-
zuſtellen. Als er dann Südamerika für die Wiſſenſchaft entdeckte, den
Theil der Erde, der unter allen dem Forſcher die mannichfaltigſten Natur-
[428]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
bilder darbietet, und nachher noch auf neuen Reiſen eine unvergleichliche
Erfahrung ſammelte, da reifte der Gedanke ſeiner Jugend langſam aus.
In ſeinen erſten Berliner Vorleſungen zeichnete er ſchon die Umriſſe
für den Entwurf einer phyſiſchen Weltbeſchreibung.*) Dann verging
wieder eine lange Zeit in umſichtiger Vorbereitung, und als endlich
(1844), nach zehnjähriger Drucker-Arbeit, der erſte Band des Kosmos
erſchien, da begrüßte ihn der König mit den Goethiſchen Verſen: ſo
halt’ ich’s endlich denn in meinen Händen und nenn’ es in gewiſſem
Sinne mein.
Diesmal ſprach Friedrich Wilhelm allen Deutſchen aus der Seele, denn
alle fühlten, daß nur ein Deutſcher ſich zu einer ſolchen Univerſalität des
Wiſſens und des Denkens aufſchwingen konnte. Humboldt ſagte ſelbſt von
ſeinem Werke: „es muß eine Epoche der geiſtigen Entwicklung der Menſchheit,
in ihrem Wiſſen von der Natur darſtellen.“ Er gab zuerſt einen Ueber-
blick über das Ganze der geſchaffenen Welt, von den Himmelsräumen
und ihren Nebelſternen an bis herab zu der Geographie der Felſenmooſe.
In dem zweiten, noch reicheren Bande entwarf er ſodann, was noch Nie-
mand gewagt hatte, eine Geſchichte der Weltanſchauung. Er zeigte, wie
das Bild der Welt die Jahrhunderte entlang ſich im Verſtande und im
Gemüthe der Menſchheit wiedergeſpiegelt, wie Himmel und Erde ſich nach
und nach der Wiſſenſchaft, dem Unternehmungsgeiſte, dem künſtleriſchen
Gefühle aufgeſchloſſen hatten. Da der Fortſchritt des Menſchengeſchlechts
ſich allein im Bereiche der expanſiven Civiliſation unzweifelhaft erweiſen
läßt, ſo behauptete hier der hoffnungsvolle Optimismus des alten Jahr-
hunderts, dem Humboldt’s eigene Bildung entſtammte, ſein gutes Recht.
Er ſchilderte mit wohlthuender Wärme, wie es auf Erden, trotz „dem läſti-
gen Kampfe des Wiſſens und des Glaubens“ doch immer heller geworden
war, wie der Geſichtskreis der Menſchheit ſich beſtändig erweitert hatte
und darum auch noch der Tag kommen müſſe, da ſie in vollem Ernſt
das kühne Seherwort der Renaiſſancezeit wiederholen dürfte: il mondo
è poco.
Als er dann im dritten Bande ſein Weltenbild im Einzelnen auszu-
malen begann, da ſchwoll ihm der Stoff unter den Händen an, weil das junge
Geſchlecht raſtlos von Entdeckung zu Entdeckung aufſtieg, und er ſollte den
Abſchluß des Werkes nicht mehr erleben. Der Kosmos bezeichnete in der
That eine Epoche unſeres geiſtigen Lebens — in anderem Sinne aller-
dings, als Humboldt ſelbſt glaubte — er ſtand vor- und rückſchauend auf
der Grenze zweier Zeitalter. Er war, noch ganz im Geiſte unſerer claſſi-
ſchen Dichtungszeiten, als ein großes Kunſtwerk gedacht, das durch die
Pracht ſeiner reichen Schilderungen den Geiſt anregen, das äſthetiſche
Gefühl befriedigen, „das Gemüth ergötzen ſollte“; er war erfüllt von dem
[429]Liebig’s Agriculturchemie.
Drange nach allſeitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beſeelt hatte,
und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen
Selbſttäuſchungen die neue Zeit ſchon zu entwachſen begann. Die hand-
feſten jungen Hiſtoriker konnten dem freundlichen Greiſe doch unmöglich
beiſtimmen, wenn er die Rouſſeau’ſche Behauptung aufſtellte: „die Natur
iſt das Reich der Freiheit“ — oder wenn er aus der ſcharfſinnig erwie-
ſenen Einheit des Menſchengeſchlechts ſanft den Schluß zog: „es giebt
bildſamere, höher gebildete, durch geiſtige Cultur veredelte, aber keine
edleren Volksſtämme; alle ſind gleichmäßig zur Freiheit beſtimmt.“ Und
doch war dies Buch, das ſo lebhaft an die Zeiten Herder’s und Goethe’s
gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um-
faſſende Encyclopädie Alles deſſen, was die empiriſche Naturerkenntniß bis-
her erforſcht hatte. Begeiſterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied
der neuen Wiſſenſchaft und ſprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander
Humboldt’s. Die vereinzelten Stimmen beſorgter Theologen, die vor dem
unheiligen Geiſte des Buches warnten, beirrten ſelbſt den frommen König
nicht und verſtummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das
geſammte Europa fühlte, daß ein ſolches Buch nur einmal, und nur von
einem Manne gewagt werden konnte.
Doch derweil Humboldt ſchrieb, verwandelte ſich die Welt bereits
wieder, und das ſo lange geplante Werk ſtand, als es endlich erſchien,
ſchon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiſte der Zeit. Die jungen
Naturforſcher raunten einander ſchon oft abſchätzige, ungerechte Urtheile über
den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen,
daß er für ihre Wiſſenſchaft ſo wenig Sinn zeigte. Dieſe jugendlichen
Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beſchreibungen noch nach
hiſtoriſchen Rückblicken; ſie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer
neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm.
Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent-
deckung hervor, welche die Landwirthſchaft aller Culturvölker umgeſtalten
ſollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen.
Liebig begründete die Lehre vom organiſchen Stoffwechſel und wendete ſie
an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachſende Pflanze
der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich ſein
müſſe, durch natürlichen oder künſtlichen Dünger dem Boden die entzogenen
Stoffe vollſtändig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einſt der Raubbau
der alten Völker die ſchönſten Länder der Erde verwüſtet; jetzt eröffnete
ſich die tröſtliche Ausſicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer
bei rationellem Ackerbau allzeit unerſchöpflich bleiben würde. Nach lang-
jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen
vollſtändigen Sieg. Stöckhardt’s chemiſche Feldpredigten und andere popu-
läre Schriften verbreiteten ſie in weiten Kreiſen; der künſtliche Dünger,
den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-
[430]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſchen Landwirthen unentbehrlich. Und wie immer in der Wiſſenſchaft ein
Fund den anderen hervorruft, ſo gab Liebig bald neue, für Theorie und
Praxis gleich werthvolle Aufſchlüſſe über Verbeſſerung und Erhaltung der
Nahrungsmittel. Seine Schuld war es nicht, daß die neue Erkenntniß
auch gröblich mißbraucht wurde. Bald nahm eine in aller Geſchichte beiſpiel-
loſe Verfälſchung der Lebensmittel überhand und ſchädigte die Geſundheit
wie die Sittlichkeit des Volks ſo ſchwer, daß man ernſtlich bezweifeln konnte,
ob der Fortſchritt der Chemie der Menſchheit mehr Segen oder mehr
Unſegen gebracht hatte. Der Gießener Chemiker erſchien den fremden
Nationen wie der Herold der deutſchen Naturwiſſenſchaft, und die Zeit
kam, da der ſtolze leidenſchaftliche Mann zuverſichtlich ſagen durfte: „ich
werde meinen Gegnern durch neue wunderbare Dinge antworten.“
Zur ſelben Zeit da Liebig über den organiſchen Stoffwechſel ſchrieb,
begründete ein Schüler Johannes Müller’s, der Rheinländer Schwann
eine neue Theorie der organiſchen Entfaltung durch ſeine Zellenlehre.
Er wies nach, daß Structur und Wachsthum der Thiere und der Pflanzen
übereinſtimmen, daß ſämmtliche Gewebe und Organe des thieriſchen Körpers
aus Zellen hervorgehen. Der ſtille, beſcheidene, kleine Mann, der bald
nachher im katholiſchen Belgien eine neue Heimath fand und Tag für
Tag inmitten der Marktweiber andächtig der Frühmeſſe beiwohnte, ließ
ſeit jenem großen Wurfe wenig mehr von ſich hören; aber durch den einen
fruchtbaren Gedanken hatte er der geſammten Pathologie und den ver-
wandten Wiſſenſchaften neue Bahnen gewieſen.
Auch der Ideenkreis der Phyſiker erweiterte ſich inzwiſchen mächtig,
als Dove das Geſetz der Winde fand, die Grundlage für die neue Wiſſen-
ſchaft der Meteorologie. Der heitere, geiſtreiche Schleſier hatte ſich in
allen Kreiſen der Berliner Gelehrtenwelt längſt eingebürgert, und an der
Univerſität durch ſeine lebensvollen Vorträge eine angeſehene Stellung er-
rungen; eine Zeit lang ſtand er den Hegelianern nahe und ſchrieb auch
unterweilen in ihre wiſſenſchaftlichen Jahrbücher; doch mit freier Sicherheit
trat er dem Hochmuth der Philoſophen entgegen, die ihm das Experiment
als Handwerkerarbeit verbieten wollten, und je näher er Humboldt kennen
lernte, um ſo mehr befeſtigte er ſich in der Methode empiriſcher Forſchung.
Nun ward ihm die Freude, daß ſeine große Entdeckung faſt ebenſo ſtark
wie Liebig’s Erfindungen auf die Volkswirthſchaft einwirkte. Auf Hum-
boldt’s Verwendung entſtand im Norden eine Anzahl meteorologiſche In-
ſtitute, und man durfte hoffen, den Landwirthen einen Anhalt für ihre
Wetterberechnungen zu geben, die Schiffer auf hoher See vor drohenden
Stürmen zu warnen.
Der phyſikaliſchen Theorie gelang im Jahre 1847 eine entſcheidende
That. Hermann Helmholtz aus der Mark, ein junger Militärarzt, den
die hochmüthigen Offiziere des Gardehuſarenregiments ſehr geringſchätzig
behandelten, veröffentlichte die kleine Schrift „die Erhaltung der Kraft“,
[431]Schwann. Dove. Helmholtz.
die den kühnen Verſuch wagte, den Zuſammenhang der geſammten Natur-
kräfte nachzuweiſen, die Phyſik als Bewegungslehre aufzufaſſen. Aehnliche
Ideen hatte kurz zuvor, ohne daß Helmholtz darum wußte, der Heilbronner
Arzt Robert Mayer ausgeſprochen, einer jener unſeligen, zwiſchen Genie
und Wahnſinn ſchwankenden Geiſter, die unter den Erfindern und Ent-
deckern nicht ſelten erſcheinen. Ermuthigt durch Humboldt’s Beifall, un-
geſchreckt durch den Spott und den Zweifel vieler anderen Fachgenoſſen,
verfolgte Helmholtz den Gedanken weiter, und es gelang ihm, die noch
vorherrſchende halbmyſtiſche Vorſtellung von einem Spiele verſchiedener
Naturkräfte zu verdrängen durch die klare Erkenntniß eines Kreislaufs
der Bewegungen. Er erwies, daß die Natur einen unzerſtörbaren und
unverlierbaren Vorrath von Energie oder wirkungsfähiger Triebkraft ent-
hält, die in mannichfachen Formen erſcheinen kann, bald als gehobenes
Gewicht, bald im Schwunge bewegter Maſſen, bald als Wärme oder
chemiſche Verwandtſchaft. Damit war der eigentliche Hauptgedanke der
modernen Naturwiſſenſchaft ausgeſprochen, ein Gedanke ebenſo folgenreich
wie einſt Newton’s Geſetz der Schwere, und es ergab ſich die Mög-
lichkeit eines neuen, auf ſtreng erweisbare Beobachtung gegründeten natur-
philoſophiſchen Syſtems, das freilich erſt in einer unabſehbaren Zukunft
ſich runden konnte. Ein philoſophiſcher Kopf, an Kant gebildet, hielt
Helmholtz die Grundſätze des bewußten Empirismus immer feſt, bis er
ſchließlich zu der Erkenntniß gelangte, daß ſelbſt die Axiome der Geo-
metrie nur Erfahrungsthatſachen ſind, und Räume, in denen andere
Geſetze gelten, ſich wohl denken laſſen. In allen dieſen bahnbrechenden
Köpfen der neuen Naturforſchung blieb der alte ſchöne deutſche Idealismus
noch lebendig; ſie forſchten im Bereiche der Erfahrung zu kühn zugleich und
zu gewiſſenhaft, als daß ſie ſich je hätten vermeſſen ſollen, die Schranken
der Erfahrung zu leugnen. Erſt ihre kleineren Nachfolger verfielen in
materialiſtiſche Plattheit.
Die Medicin wurde von dem Aufſchwung der Naturwiſſenſchaft vor-
erſt noch wenig berührt. Die große Mehrzahl der Hausärzte befolgte noch
die alte rohe Praxis, die durch Brech- und Abführungsmittel, durch Brunnen-
kuren, durch Haarſeile und Fontanelle die gefürchteten böſen Säfte und
Krankheitsſtoffe aus dem Leibe hinauszutreiben ſuchte; kein Wunder, daß
manche der mißhandelten Kranken ſich zu den ſanften Mittelchen Hahne-
mann’s und ſeiner neuen homöopathiſchen Schule flüchteten. Und wie
beſchämend dürftig war doch noch die Kenntniß des menſchlichen Körpers.
Wie viele tauſend Cadaver hatte man nun ſchon zerſchnitten, und noch
wußte Niemand, zu welchen Functionen eigentlich die Milz oder der
Blinddarm beſtimmt ſeien. Selbſt Auge und Ohr blieben noch faſt un-
bekannt; die Aerzte mußten erſt abwarten, ob ihnen die Phyſiker vielleicht
die Inſtrumente zur genauen Beobachtung dieſer edlen Organe erfinden
würden. Nur die Chirurgie hielt gleichen Schritt mit den Naturforſchern;
[432]V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
man bewunderte allgemein die Muskeldurchſchneidungen Stromeyer’s, und
die Berliner Studenten berichteten ſtolz, wie glücklich ihr geliebter Lehrer
Dieffenbach durch die neue Kunſt der plaſtiſchen Chirurgie verſtümmelte
Glieder zu ergänzen wußte.
Alſo begannen Kunſt und Wiſſenſchaft ſich überall auf die Wirklich-
keit des Lebens zu richten; doch nur zu bald ſollte ſich zeigen, daß die
politiſche Bildung der Zeit noch ſehr weit hinter der geiſtigen Bildung
zurückſtand. —
[[433]]
Sechſter Abſchnitt.
Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Die neue Weltanſchauung, die ſich in Kunſt und Wiſſenſchaft ſo
lebhaft bekundete, wurde, bewußt oder unbewußt, durch die großen Wand-
lungen des wirthſchaftlichen Lebens mit bedingt. Kein Zeitraum der
deutſchen Geſchichte bietet dem Nationalökonomen ein ſo wechſelreiches Bild
wie dies neunzehnte Jahrhundert, das in beiſpiellos raſcher Folge zwei
gewaltige Umwälzungen der volkswirthſchaftlichen Zuſtände und Partei-
gegenſätze erlebte. Vor einem Menſchenalter erſt hatte in Preußen eine
friedliche Revolution von oben her die feudalen Feſſeln der alten Geſell-
ſchaft zerſprengt; damals glaubten faſt alle hellen Köpfe der Nation, mit
dem freien Wettbewerb der wirthſchaftlichen Kräfte, mit dem unbeſchränkten
Eigenthum und der ungeſtörten Arbeit jedes Einzelnen ſei der ſociale
Frieden und Fortſchritt für alle Zukunft geſichert. Noch war die neue
wirthſchaftliche Freiheit bei weitem nicht überall in Deutſchland zum
Siege gelangt; Gewerbsbetrieb, Heirath, Niederlaſſung unterlagen in den
meiſten Kleinſtaaten noch ängſtlichen Beſchränkungen, welche Preußen nicht
mehr kannte. Da begann ſchon in den vierziger Jahren eine Gegen-
bewegung; ſie wuchs langſam an, unter ſtarken Rückſchlägen, und erſt nach
langen Jahren, als die Deutſchen ſich ihren nationalen Staat geſchaffen
hatten, errang ſie Erfolge. Wenn die Urheber des preußiſchen Zoll-
geſetzes unſchuldig gehofft hatten, der mäßige deutſche Zollſchutz und das
ehrliche Anerbieten der Gegenſeitigkeit würden genügen, um nach und nach
den ganzen Welttheil der allgemeinen Handelsfreiheit anzunähern, ſo er-
wies ſich dieſe Erwartung jetzt ſchon als irrig; der Zollverein gerieth bald
in ſchwere wirthſchaftliche Machtkämpfe mit Völkern von älterem Reich-
thum und ſtärkerem Selbſtgefühl, und aus dem Lager ſeines jungen Ge-
werbfleißes erklang, hier mit Recht, dort mit Unrecht der Ruf nach Schutz
der nationalen Arbeit. Im Innern aber rief der freie Wettbewerb nicht
die erhoffte gerechte Geſellſchaftsordnung hervor, ſondern neue gehäſſige
Klaſſenkämpfe; das bewegliche Großkapital begann eine gefährliche Ueber-
macht zu erlangen, breite Maſſen des rechtlich befreiten Volks verſanken
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 28
[434]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
in eine wirthſchaftliche Abhängigkeit, die oft ſchwerer empfunden wurde,
als vormals die patriarchaliſche Unfreiheit der alten Geſellſchaft, und bald
von tobenden Anarchiſten bald von menſchenfreundlichen Denkern wurde
der Staat gemahnt, daß er mit ſeiner zwingenden Gerechtigkeit die Schwachen
gegen die Starken beſchützen müſſe.
Die rieſigen Kapitalanſammlungen, die völlig neuen wirthſchaftlichen
Mächte, die in dieſem Zeitalter der Erfindungen jählings aufſchoſſen,
ſtellten an den Staat Anforderungen, von denen die Geſetzgeber der
großen Reformzeit nichts geahnt hatten. Die alte Loſung hieß: freie
Selbſtthätigkeit; jetzt erhob ſich der Ruf nach erweiterter Wirkſamkeit der
Staatsgewalt. Beuth, Hoffmann, Kühne, alle die alten wohlverdienten
Beamten, die einſt dem Staatskanzler Hardenberg zur Hand gegangen
waren, fühlten ſich jetzt wie in einer fremden Welt, da ihnen faſt Alles
bezweifelt und beſtritten wurde, was ſie für den idealen Inhalt ihres
Lebens anſahen. Der König aber, der ſich über die Umwälzung der
wirthſchaftlichen Verhältniſſe keineswegs täuſchte und in ſeinem weichen
Herzen die Leiden der arbeitenden Klaſſen lebhaft mitempfand, beſaß doch
weder die Willenskraft noch die Sachkenntniß um den Anſprüchen der
verwandelten Zeit gerecht zu werden. So geſchah es, daß in dieſen Jahren
der allgemeinen Enttäuſchung auch die preußiſch-deutſche Wirthſchafts-
politik, die in den beiden letzten Jahrzehnten des alten Königs ſtolz von Sieg
zu Sieg vorgeſchritten war, ihre feſte Haltung verlor und, obgleich ſie
die großen Errungenſchaften der vorigen Regierung nicht preisgab, doch
aus Wirren und Kämpfen, aus Verſuchen, Mißgriffen und Plänen ſelten
herauskam.
Die Fortdauer des Zollvereins war ſchon zur Zeit des Thronwechſels
ſo gut wie geſichert, nachdem Kühne die Bedenken der ſparſam rechnenden
Finanzpartei widerlegt und der neue König noch als Kronprinz dieſer
Widerlegung freudig zugeſtimmt hatte.*) Nun beſeitigte Eichhorn kurz
bevor er ſein altes Amt verließ noch die letzten Einwendungen und nahm
alſo einen würdigen Abſchied von dem Vereine, dem er die beſten Jahre
ſeines Lebens gewidmet hatte. Am 8. Mai 1841 wurden die Zollvereins-
verträge, mit unweſentlichen Aenderungen, für zwölf Jahre erneuert, und
alle die verbündeten kleinen Höfe ſprachen lebhaft ihre Befriedigung aus.
Keinem von ihnen war je der Wunſch aufgeſtiegen, den geſchloſſenen Bund
zu löſen; die gute Sache hatte überall den guten Geiſt bündiſcher Ein-
tracht erweckt, die Zollverwaltung zeigte ſich in allen Vereinsſtaaten gleich
zuverläſſig. Die wirthſchaftlichen Segnungen des Zollvereins konnte
Niemand mehr verkennen. Raſch wie eine auſtraliſche Anſiedlung blühte
auf der öden Rheinſchanze Mannheim gegenüber die junge Fabrikſtadt
Ludwigshafen empor, und die vormals ſo ſtillen Thäler Weſtphalens
[435]Der Zollverein ohne Küſte.
hallten jetzt wieder vom Klange der Eiſenhämmer. Mit vollem Recht
rühmten ſich die Deutſchen, daß ihre junge Zolleinheit ungleich mehr
bedeutete als die längſt geſicherte der benachbarten Einheitsſtaaten; denn
ſie war errungen in ſchweren Kämpfen, ſie mußte durch neue Kämpfe noch
geſichert und erweitert werden, ſie ſollte den Eckſtein bilden für unſere
politiſche Einheit. Doch je klarer man endlich die vaterländiſche Bedeu-
tung des Werkes erkannte, um ſo lebhafter forderte der ſeit der jüngſten
Kriegsgefahr neuerſtarkte Nationalſtolz, der junge Handelsbund müſſe ſich
auch die Gleichberechtigung neben den fremden Mächten erzwingen.
Und wie unfertig und unförmlich erſchien der Zollverein noch gegen-
über dem Auslande. In Wahrheit blieb er noch immer ein Binnenland.
Von ſeinen 1089 Grenzmeilen waren nur 129 Seegrenze; und dieſe pom-
meriſch-preußiſchen Küſten bildeten blos für einen Theil der öſtlichen Pro-
vinzen Preußens, nicht einmal für Berlin die natürliche Einfuhrſtelle; ſie be-
ſaßen im Jahre 1843 insgeſammt erſt 790 Schiffe mit einer Tragfähigkeit
von 106,000 Laſt, während der Zollverein im ſelben Jahre allein an Colo-
nialwaaren 132,000 Laſt einführte. Die große Mehrzahl der Zollvereins-
ſchiffe eignete ſich nur für die kurze Fahrt auf der Oſtſee, die ſeit der
Entdeckung Amerikas mehr und mehr ein Binnenſee geworden war. Zu-
dem wurde die lange Fahrt auch noch durch den Sundzoll erſchwert, und
ſelbſt das kräftig aufſtrebende Stettin beſchäftigte im außereuropäiſchen
Handel erſt 24 Schiffe mit 3773 Laſt. So ſah ſich denn der mächtige
Handelsbund mit ſeinen 25 Mill. Einwohnern faſt allein auf die Schiff-
fahrt des Auslandes angewieſen, vornehmlich auf das deutſche Ausland
an der Nordſee, das man mit zarter Höflichkeit als Vorland des Zoll-
vereins zu bezeichnen pflegte. Trotzdem wußten die europäiſchen Nach-
barn ſehr wohl, was ſie von dieſer unfertigen Macht zu fürchten hatten.
Palmerſton nahm, wie gewöhnlich, allen Engländern das Wort vom Munde,
als er im Parlament die freundnachbarliche Hoffnung ausſprach: der
erſte Feſtlandskrieg wird den Zollverein wieder auflöſen. Der geiſtreiche
franzöſiſche Nationalökonom Richelot weiſſagte traurig, die Deutſchen
würden, wenn ſie ſich erſt einigten, bald das erſte Handelsvolk des Feſt-
lands werden; und bei allen ſeinen handelspolitiſchen Verhandlungen mit
den Nachbarvölkern hatte Preußen eine feindſelige Eiferſucht zu bekämpfen,
deren Stärke unſere tadelſüchtigen Zeitungsſchreiber nicht ahnten. In
Amerika dagegen, in Rio wie in New-York, fragte man höhniſch: wo iſt Euer
Deutſchland? wir wiſſen nur von einer preußiſchen, einer kniphauſener und
noch ſieben anderen Flaggen, die ſich für deutſch ausgeben, aber alle ver-
ſchiedenen Geſetzen gehorchen; wir kennen weder eine deutſche Flagge noch
einen Conſul, der ſie vertritt, noch ein Kriegsſchiff, das ſie vertheidigt,
und wenn die ſogenannten deutſchen Schiffe löſchen, ſo tragen ihre Waaren
faſt alleſammt engliſche oder franzöſiſche Etiketten.
Der treffende Spott verwundete tief; denn traten die Vorhäfen am
28*
[436]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
deutſchen Meere dem vaterländiſchen Handelsbunde bei, dann gebot das
geeinte Deutſchland, ohne Oeſterreich, über die zweite Handelsmarine der
Welt; Bremen allein beſaß zur Zeit mehr große Schiffe von 500 Laſt
und darüber, als das geſammte Frankreich, und eine Nation von ſolcher
Stärke galt jenſeits des Oceans gar nichts. Die ſtärkſte Handelsader
des Zollvereins, der Rhein, war ihm ja längſt unterbunden, da Holland,
auf unabſehbare Zeit hinaus, ſich von dem alten Vaterlande getrennt
hatte. Um ſo heftiger ward alſo verlangt, daß mindeſtens die Nordſee-
küſten von der Ems bis zur Elbe, Hannover und die Hanſeſtädte ſich
endlich dem nationalen Handelsbunde einfügen müßten. Am lauteſten
erklang dieſe wohlbegründete Forderung in Süddeutſchland, das ſoeben
erſt den Segen großer Verhältniſſe kennen gelernt hatte und ſich nun
doch vom Weltmeer gänzlich abgetrennt ſah. Jetzt zeigte ſich aber, wie
ſchon ſo oft in der Geſchichte des Zollvereins, daß der norddeutſche Parti-
cularismus noch weit ſchwerer zu überwinden iſt als der ſüddeutſche. Die
Finanznoth allein hatte einſt den Trotz der ſüddeutſchen Höfe beſiegt; dieſe
Küſtenlande der Nordſee hingegen wähnten ſich in ihrem Sonderleben ſehr
glücklich zu befinden. Mit begreiflichem Stolze rechneten die Hanſeaten
den Binnenländern vor, wie mächtig ihre Städte ohne Deutſchlands Hilfe
aufgeſtiegen waren. Ohne den heilſamen Zwang einer gebietenden Reichs-
gewalt ließ ſich dieſem ſelbſtgefälligen Hanſetrotze ſchwerlich die einfache
Wahrheit beibringen, daß die deutſchen Häfen im Bunde mit dem großen
Vaterlande unzweifelhaft noch viel raſcher aufblühen mußten.
Die nächſte Aufgabe des Zollvereins, die Abrundung ſeiner Grenzen bis
zur See, ſchien zur Zeit faſt unmöglich, und faſt ebenſo hoffnungslos war auch
für jetzt das Verlangen nach einer Verfaſſungsänderung des Handelsbundes.
Es iſt die Größe der abſoluten Monarchie, daß ſie zuweilen eine Politik der
Ideen durchzuführen vermag, während der Parlamentarismus immer und
überall durch die Klaſſenintereſſen der Geſellſchaft beherrſcht wird. Nur die
abſolute preußiſche Krone hatte die Idee der deutſchen Handelseinheit
verwirklichen, alle die weitverzweigten geheimen Verhandlungen, welche den
Zollverein begründeten, zum glücklichen Ende führen können. Doch kaum
beſtand dieſe neue Einheit, ſo regten ſich ſofort die ſocialen Intereſſen und
wirthſchaftlichen Gegenſätze. Man verlangte ſtürmiſch Oeffentlichkeit der
Zollconferenzen oder auch ein Zollparlament oder Notabelnverſammlungen,
damit jeder Gewerbszweig ſeine Anliegen vor der Nation vertreten könne.
Aber wie ſollten dieſe durchaus berechtigten und erklärlichen parlamenta-
riſchen Wünſche befriedigt werden, da der Zollverein doch kein Staat war?
Alſo ſah die führende Macht des Zollvereins eine Menge neuer,
überaus ſchwieriger Pflichten vor ſich. Zunächſt gelang ihr eine kleine Er-
weiterung des Zollgebiets. Nach neunjähriger Anarchie wurde das Groß-
herzogthum Luxemburg jetzt endlich als ein ſouveräner deutſcher Bundes-
ſtaat eingerichtet; es erhielt eine ſelbſtändige Regierung, am 12. Oct. 1841
[437]Verhandlung mit Luxemburg.
auch eine beſcheidene landſtändiſche Verfaſſung, an deren Entwürfen Haſſen-
pflug noch mitgearbeitet hatte*), und da die Landſchaft nunmehr von dem
verkleinerten Königreiche der Niederlande weit abgetrennt lag, ſo beantragte
der König-Großherzog ihre Aufnahme in den Zollverein — zur Freude
einiger klugen Fabrikanten, zum Entſetzen der mächtigen belgiſch-franzö-
ſiſchen Partei, die ſich noch immer mit dem walloniſchen Luxemburg wieder
zu vereinigen hoffte. Preußens Finanzen und Volkswirthſchaft konnten
durch den Anſchluß des feindſeligen Ländchens durchaus nichts gewinnen;
zumal die Gerber in den Grenzſtädten Malmedy und St. Veith fühlten
ſich bedroht und klagten ſo lange, bis ihnen ihr gütiger König eine Geld-
entſchädigung zahlen ließ. Nur das deutſche Pflichtgefühl und die politiſche
Berechnung zwangen den Berliner Hof, ſich auf die Verhandlungen ein-
zulaſſen; denn wies er die luxemburgiſchen Anträge ab, ſo ſchloß ſich das
Ländchen entweder dem belgiſchen Zollweſen an, oder es entſtand dicht
vor den Thoren des Zollvereins eine gefährliche Schmugglerfreiſtatt. Die
Unterhandlungen zogen ſich mehr als zwei Jahre hin. Die preußiſche
Regierung wahrte eiferſüchtig die nationale Unabhängigkeit des Zollvereins,
ſie wollte einem fremden Fürſten ſchlechterdings kein Stimmrecht im Rathe
des deutſchen Handelsbundes einräumen. Sie beſtand darauf, daß Luxem-
burg auf den Zollconferenzen durch Preußen vertreten würde; die Zoll-
direktion des Großherzogthums ſollte dem preußiſchen Finanzminiſterium
unterſtellt, auch ein Theil der Zollämter unter Mitwirkung der Zollvereins-
ſtaaten beſetzt werden, da die Deutſchen den gänzlich verwilderten luxem-
burgiſchen Beamten nicht trauten. Auf dieſe Bedingungen hin ward am
8. Aug. 1841 der Anſchlußvertrag abgeſchloſſen, und verabredetermaßen
kamen ſogleich preußiſche Beamte nach Luxemburg um das neue Zollweſen,
zur Verhinderung von Unterſchleifen, plötzlich einzuführen.
Da erhob ſich ein völlig unerwarteter Widerſtand. Ganz ungleich
ſeinem nüchternen Vater, war der neue König der Niederlande, Wilhelm II.
ein unruhiger Kopf, phantaſtiſch, erregbar, wetterwendiſch, immer mit
hohen Plänen beſchäftigt, zugänglich allen Einflüſterungen. Er hatte einſt
als Prinz von Oranien in dem zehntägigen Feldzuge die belgiſchen Re-
bellen zu Paaren getrieben und hoffte noch immer, ihnen dereinſt ihren
Raub wieder zu entreißen; darum begünſtigte er die Katholiken und ver-
kehrte gern mit belgiſchen Unzufriedenen; von dem glorreichen achtzig-
jährigen Kriege, der doch die Größe des Hauſes Oranien begründet hatte,
wollte er gar nicht reden hören. Mit ſeinem faſt gleichalterigen könig-
lichen Vetter in Berlin war er von Kindesbeinen an innig befreundet.
Friedrich Wilhelm aber behandelte die Oranier nach der alten Ueberliefe-
rung wie preußiſche Prinzen; er ſah in der Theilung der Niederlande
eine den Hohenzollern ſelber angethane Schmach, und noch in den wirren
[438]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Träumen ſeiner Todeskrankheit hat ihn das Mißgeſchick der oraniſchen
Verwandten oft beſchäftigt. Im Vertrauen auf die Herzensgüte ſeines
preußiſchen Vetters wagte nun der niederländiſche König eine That un-
erhörter Treuloſigkeit; er hatte unterdeſſen einige Luxemburger von der
preußenfeindlichen Partei insgeheim zu Rathe gezogen und erklärte plötz-
lich, ohne einen Grund anzugeben, daß er den Vertrag nicht ratificiren
könne. Vielleicht ſtand dabei noch ein abenteuerlicher Plan im Hintergrunde.
Eben in dieſen Septembertagen wurde in belgiſchen Garniſonen eine
orangiſtiſche Verſchwörung entdeckt, an deren Spitze zwei Generale ſtanden,
und man argwöhnte in Brüſſel wie im Haag, daß der König geglaubt
hätte, jetzt ſei die Zeit für eine Gegenrevolution gekommen.*) Genug, der
Oranier verſagte ſeine Genehmigung einem Vertrage, den ſeine Bevoll-
mächtigten genau nach ſeinen eigenen Weiſungen abgeſchloſſen hatten. Es
war nicht gradehin ein Bruch des Völkerrechts, aber eine ſo unehren-
hafte Verletzung des internationalen Anſtandes, daß der alte Miniſter
des Auswärtigen, Verſtolk van Soelen, ſofort entrüſtet ſeinen Abſchied
nahm und mehrere andere erfahrene Diplomaten dem Monarchen erklärten,
unter ſolchen Umſtänden könnten ſie das Auswärtige Amt nicht über-
nehmen.
Geſchäftsſachen unter Freunden geſchäftlich nüchtern zu erledigen wider-
ſtrebte dem weichen Gemüthe König Friedrich Wilhelms immer. In einem
brüderlichen Briefe hielt er „ſeinem lieben Wilhelm“ die Thorheit und das
Unrecht der plötzlichen Sinnesänderung vor und ſchloß treuherzig: „In
Summa, die Nicht-Ratification wird uns ſehr angenehm ſein, aber ſie
wird ein Unglück für Luxemburg ſein und eine unerſchöpfliche Quelle von
Katzenjammer (déboires) für Dich!“ Dieſen gemüthlichen Ton ſuchte
der Oranier ſchlau auszunutzen; er erwiderte „ſeinem lieben Fritz“ am
15. Sept.: „ich ſehe alſo mit wahrer Freude, daß Du mir nicht nur nicht
die Zunge herausſtrecken wirſt, ſondern daß meine Nicht-Genehmigung
Dir ſogar ſehr angenehm ſein wird, da ſie Deinen Unterthanen Vortheil
bringt.“ Darauf verſicherte er, die Luxemburger würden erſt nach langer
Zeit zu Deutſchen werden, und dann nur aus Intereſſe, wenn Deutſch-
land ihre Unabhängigkeit nicht ſtörte, ſondern beſchützte.**) Gleich nachher
erſchien ſchon der niederländiſche Bundesgeſandte v. Scherff in Berlin
und erbat, daß Preußen und der Zollverein den Abfall König Wilhelm’s
von dem geſchloſſenen Vertrage förmlich genehmigen möchten. Die durch-
weg belgiſch geſinnten Zeitungen Luxemburgs frohlockten ſchon: die un-
natürliche Trennung der beiden Hälften des Landes würde jetzt endlich
aufhören.
[439]Treuloſigkeit König Wilhelm’s II.
Da regte ſich doch der preußiſche Stolz. General Dumoulin, der
alte treue Grenzenhüter der Weſtmark beſchwor das Auswärtige Amt
feſt zu bleiben; der Anſchlag gehe aus von jener Partei, welche ſeit Jahren
darnach trachte „das Land ſyſtematiſch ganz von Deutſchland zu trennen
und den letzten Keim deutſcher Sitte darin zu vernichten.“*) Die Mah-
nung wirkte. Miniſter Werther ſprach dem Könige nachdrücklich aus: jede
Nachgiebigkeit ſei unmöglich, es handle ſich um die hochpolitiſche Frage,
ob Luxemburg ſich an Deutſchland oder an Frankreich und Belgien an-
ſchließen ſolle. Nunmehr ſchrieb Friedrich Wilhelm wieder, diesmal ſehr
ernſt, an den Oranier: „Ich muß alſo, theurer und vortrefflicher Wilhelm,
jede Verantwortlichkeit für die von Dir beabſichtigte Nichtgenehmigung
gegenüber den anderen Regierungen des Zollvereins hier auf die feier-
lichſte Weiſe von mir ablehnen.“ Dann erinnerte er ihn an die feind-
ſelige Politik der Niederlande, die ſchon ſeit Jahren ſo viel Mißtrauen
in Deutſchland erweckt hätte: „Ach, theurer Wilhelm, könnteſt Du die
große und ſchöne Rolle des Verſöhners ſpielen!“**) Immer und immer
ſchwankte Friedrich Wilhelm zwiſchen königlichem Pflichtgefühl und gut-
müthiger Schwäche. Es that ihm wehe, mit dem alten Freunde ſo ganz
perſönlich an einander zu gerathen. Darum wollte er jetzt den Streitfall,
unter Oeſterreichs Vermittlung, dem Bundestage zur Entſcheidung vor-
legen, und erſt durch die dringenden Vorſtellungen des Auswärtigen Amts
ließ er ſich von dieſem unglücklichen Gedanken, der unfehlbar Alles ver-
dorben hätte, wieder abbringen.***)
Als der niederländiſche König einſah, daß die Preußen ihn nicht frei-
gaben, verſuchte er neue Winkelzüge und ſendete zur Unterſtützung Scherff’s
zwei luxemburgiſche Bevollmächtigte. Die beiden Luxemburger, Simons
und Pescatore waren in Berlin als belgiſche Parteigänger und Feinde
Deutſchlands übel berüchtigt; ſie erklärten, ihr König-Großherzog wolle
den Vertrag genehmigen, doch nur auf ein Jahr und mit ſechsmonat-
licher Kündigung. Ein ſolcher Vorſchlag aus ſolchem Munde war offenbar
frivol. Nur Friedrich Wilhelm bemerkte die Argliſt nicht; er dachte ſchon
einzuwilligen, falls Luxemburg ſich verpflichtete in den nächſten vier Jahren
weder mit Belgien noch mit Frankreich einen Handelsvertrag zu ſchließen.
Seine Miniſter urtheilten anders. Nachdem der widerliche Streit einige
Wochen gewährt hatte, entwarfen Thile, Alvensleben, Maltzan einen ge-
meinſamen Bericht und zeigten dem Monarchen was auf flacher Hand
lag: im erſten Jahre bringe eine Zollvereinigung immer mannichfache Ver-
luſte; der belgiſchen Partei in Luxemburg würde es alſo nicht an Vor-
[440]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wänden fehlen um den Vertrag nach ſechs Monaten zu kündigen und
das ganze Werk über den Haufen zu werfen. Für Preußen aber ſtehe
Großes auf dem Spiele. Ließe ſich die Krone von einem ſchwachen Nach-
barn alſo verhöhnen, dann müßten die Zollverbündeten alles Vertrauen zu
Preußen verlieren, „und auf dieſem Vertrauen allein — ſo ſchrieb Thile —
ruht das ganze Gebäude des Zollvereins.“*) Dieſe Gründe überzeugten
den König. Er ſendete die beiden Luxemburger heim und ſchrieb noch-
mals ſehr eindringlich an den Freund im Haag (12. Jan. 1842): „Der
gegenwärtige Zuſtand iſt und muß ſein das phyſiſche und moraliſche Ver-
derben Deines Großherzogthums!!!!!! Retteſt Du Dich daraus nach der
deutſchen Seite hin, ſo werden Deine Feinde über Unbeſtändigkeit ſchreien;
wendeſt Du Dich nach der anderen, der ſchlechten Seite, ſo wirſt Du
ganz Deutſchland gegen Dich haben. Und das will etwas ſagen, theuerer
Wilhelm, ſeit dem Jahre 1840.“**)
Nunmehr gab der Oranier ſein Spiel verloren; er wußte, wie ver-
ächtlich alle deutſchen Höfe über ihn redeten, und er war klug genug,
den unehrenhaften Handel jetzt raſch aus der Welt zu ſchaffen. Darum ant-
wortete er freundlich und ſendete ſeinem königlichen Vetter, der ſoeben die
Taufreiſe nach England angetreten hatte, alsbald zwei neue Unterhändler
nach London, die angeſehenen niederländiſchen Diplomaten Rochuſſen und
van Heekeren.***) Mit dieſen Beiden verhandelte der König perſönlich in
Bunſen’s Hauſe und genehmigte am 29. Jan. 1842 ein Protokoll, das den
Auguſtvertrag wiederherſtellte: Luxemburg trat, zunächſt auf vier Jahre,
dem Zollvereine bei, die Zahl der anzuſtellenden preußiſchen Beamten
ſollte ſo gering wie irgend möglich bemeſſen werden. Hocherfreut meldete
er dies Ergebniß dem reuigen Vetter, und da bei dem Verſöhnungsfeſte
auch das Opferlamm nicht fehlen durfte, ſo verhieß er zugleich in tiefem
Geheimniß: ſein Geſandter Graf Lottum, der ſich mit preußiſcher Deut-
lichkeit über den oraniſchen Biederſinn ausgeſprochen hatte, würde nicht
wieder in den Haag zurückkehren.†)
Nach ſolchen Wirren wurde die kleine Weſtmark dem Zollverein ein-
verleibt, und kaum ein anderes deutſches Land hat aus der nationalen
Handelseinheit größeren wirthſchaftlichen Vortheil gezogen. Der lange
Belagerungszuſtand in der Hauptſtadt und die faſt geſetzloſe Verwaltung
der proviſoriſchen belgiſchen Behörden draußen hatten das Ländchen von
Grund aus verwüſtet; Handel und Wandel lagen darnieder, nur der
[441]Anſchluß Luxemburgs.
Schmuggel blühte. Nun entſtand wieder ein geordneter Verkehr, das
fleißige betriebſame Völkchen begann wieder zu hoffen und knüpfte bald
einen Geſchäftsverkehr mit den öſtlichen Nachbarn an, der ſich zum Er-
ſtaunen der Luxemburger ſelbſt als geſund und einträglich erwies. Nicht
lange, ſo empfing das Großherzogthum mehr als eine halbe Million Franken
jährlich aus den Kaſſen des Zollvereins, eine Summe, die über die be-
ſcheidene Conſumtion des Ländchens ſehr weit hinausging. Gleichwohl
dankte Niemand den Deutſchen für ſolche Wohlthaten. Die Luxemburger
wollten nicht vergeſſen, wie kläglich der Deutſche Bund ſie während der
Revolutionsjahre preisgegeben hatte, ſie haßten die Preußen, die Be-
ſchirmer der Bundesfeſtung, als ihre natürlichen Feinde. Der Großherzog
that auch gar nichts um das Land dem deutſchen Leben zu befreunden.
Rechtspflege, Verwaltung, Geldweſen blieben belgiſch-franzöſiſch, ſogar die
Amtsſprache blieb franzöſiſch in dem grunddeutſchen Lande — lediglich zur
Bequemlichkeit der verwälſchten Beamten, die ſämmtlich auf franzöſiſchen
oder belgiſchen Hochſchulen ihre Lehrzeit verlebt hatten und dann daheim
Alles aufboten um die alten ehrlichen Ortsnamen Klerf und Siebenbrunn
in Clervaux und Septfontaines zu verwandeln. Alſo mäſtete ſich fortan
an Deutſchlands mächtigem Stamme die ekelhafte Schmarotzerpflanze der
Nation luxembourgeoise, ein Blendlingsvolk ohne Vaterland und darum
ohne Ehre. —
Mittlerweile eröffnete ſich dem Zollvereine ganz unerwartet eine
glänzende Ausſicht. Der hannoverſche Steuerverein, der ihn bisher
vom Deutſchen Meere abſperrte, drohte zu zerfallen. Der Steuerverein
hatte anfangs dem großen Zollvereine mancherlei Feindſeligkeit erwieſen
und namentlich ſeine preußiſchen Enclaven ſehr gehäſſig behandelt. Doch
ſeit man ſich im Jahre 1837 über ein Zollcartell geeinigt, lebten die beiden
Vereine in leidlicher Freundſchaft, wenngleich Hannover die Grenzbewachung
ziemlich ſaumſelig durchführte; und Preußen beſchloß zunächſt ruhig ab-
zuwarten, ob nicht das beinahe ringsum von Zollvereinslanden umklam-
merte Welfenreich freiwillig die Vereinigung beantragen würde. Darauf
war freilich kaum zu hoffen. Die mäßigen Finanzzölle des Steuervereins
brachten reichlichen Ertrag, wohlfeile engliſche Fabrikwaaren überſchwemmten
das Land. Daß dieſer übermächtige fremde Wettbewerb die hannoverſche
Induſtrie ganz darniederhielt, war dem alten Welfenkönige nur willkommen;
er liebte die Fabriken nicht, und wie er ſelbſt zum Frühſtück ſein engliſches
Mutton-Chop verſpeiſte, ſo fand er es auch hocherfreulich, wenn ſeine
Hannoveraner ſich bemühten die Lebensweiſe künſtlicher Engländer zu führen.
Sein Volk huldigte derſelben Meinung und pflegte den armen Hunger-
leidern im Zollvereine mitleidig vorzuwerfen, wie viel mehr Bordeauxwein,
Cigarren und Kaffee man, Dank den niedrigen Zöllen, im Steuervereine
verzehre. Dieſe ſtolze Behauptung beruhte freilich auf zweifelhaften
Schätzungen — denn nachdem Braunſchweig ſpäterhin dem Zollvereine
[442]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
beigetreten war, verminderte ſich dort der Verbrauch von Kolonialwaaren
keineswegs — doch ſie wurde allgemein geglaubt, und als die Binnen-
länder den Anſchluß des Steuervereins laut verlangten, da erſchien in
einer hannöverſchen Zeitung ein trutziges Lied, das den ganzen Gedanken-
reichthum des welfiſchen Nationalſtolzes treu wiedergab:
Zu Anfang 1841 verhandelten die verbündeten Staaten in guter Ein-
tracht über die Verlängerung der Steuervereins-Verträge. Da verlangte
Braunſchweig zuletzt noch, Hannover ſolle den mit Preußen gemeinſam
begonnenen Bau der neuen Straße von Salzwedel nach Uelzen ein-
ſtellen, weil dies Unternehmen die alte von Magdeburg über Braunſchweig
nach Lüneburg führende Straße zu ſchädigen drohte. Damit mutheten
die Braunſchweiger dem welfiſchen Königshofe einen offenbaren Treubruch
zu, denn jener Straßenbau war auf Hannovers eigenen Wunſch mit
Preußen verabredet worden. Gleichwohl nahm der hannoverſche Bevoll-
mächtigte den Vorſchlag an, ſeine Regierung genehmigte dieſen Schritt
ausdrücklich, der Vertrag ward abgeſchloſſen, und es fehlte nur noch der
Austauſch der Ratificationen. Bei näherer Erwägung fand der alte Welfe
dieſe Clauſel doch unanſtändig und verlangte nachträglich noch Aende-
rungen. Er verfuhr alſo ähnlich wie der König-Großherzog von Luxem-
burg, nur konnte er für ſeinen verſpäteten Geſinnungswechſel mindeſtens
einen achtungswerthen Grund anführen. Darob entbrannte nun der Her-
zog von Braunſchweig in hellem Zorne. Ihm war der hoffärtige Ton, den
die Hannoveraner gegen die kleineren Höfe anzuſchlagen liebten, längſt zu-
wider; jetzt meinte er durch die Wortbrüchigkeit der Nachbarn „ſeine Würde,
ſein Anſehen, ſein Recht“ gefährdet, und in einem eigenhändigen Briefe kün-
digte er dem Welfenkönige an, daß er aus dem Steuervereine austrete. Hier-
auf ſuchte er Hilfe bei Preußen — weil ihm ein gegen Preußen gerichteter
feindſeliger Anſchlag mißlungen war! Eine ſo verwegene Schwenkung war
neu, ſelbſt in der Geſchichte des Zollvereins, die von kleinſtaatlicher Dreiſtig-
keit und preußiſcher Langmuth gar viel zu erzählen wußte. In den letzten
Märztagen erſchien der Finanzdirektor v. Amsberg in Berlin, ein fähiger,
in der Volkswirthſchaftspolitik wohl bewanderter Staatsmann, der, freier
geſinnt als ſein Herzog, ſchon die Zollvereinigung des geſammten Vater-
lands in’s Auge faßte. Er überbrachte eine Zuſchrift des braunſchwei-
giſchen Staatsminiſteriums, welche trocken anzeigte, „daß plötzlich einge-
tretene Hinderniſſe die Erneuerung unſerer Steuervereinigungs-Verträge
mit dem Königreich Hannover und dem Großherzogthum Oldenburg un
[443]Braunſchweigs Austritt aus dem Steuervereine.
thunlich gemacht haben.“ Daraufhin erbat er ſich die Aufnahme ſeines
Herzogthums in den Zollverein.*)
Der preußiſche Hof fühlte ſich nicht berufen den Sittenrichter zu
ſpielen in dieſem unerquicklichen Zwiſte des Welfenhauſes. Er befand ſich
vielmehr in der tragikomiſchen Lage, daß er das unwillkommene Anerbieten
ſeines ſo raſch bekehrten neuen Freundes nicht von der Hand weiſen
durfte. Das braunſchweigiſche Ländchen allein mit ſeinen verfitzten Gren-
zen war durchaus kein Gewinn für den Zollverein. Miniſter Alvens-
leben äußerte ſich darüber zu dem hannoverſchen Geſandten General
Berger mit einer freundſchaftlichen Offenheit, die der alte Soldat dankbar
anerkannte und bemühte ſich ſogar, die beiden Welfenhöfe mit einander zu
verſöhnen.**) Vergeblich. Der erboſte Braunſchweiger erklärte: wenn
man ihn nicht in den Zollverein aufnehme, dann bleibe er allein. Alſo
drohte mitten im Zollvereine nochmals ein großes Neſt des Schleichhan-
dels zu entſtehen, die Krämer in den kleinen Harzſtädten ſprachen ſchon
frohlockend von der Wiederkehr der alten goldenen Zeit des Schmuggels.
Dieſe Befürchtung zwang die Miniſter, dem Könige die Aufnahme Braun-
ſchweigs zu empfehlen, aber unter der Vorausſetzung, daß Hannover, „das
wie Braunſchweig dem Anſchluß an den Zollverein entgegenreife“, ſich min-
deſtens zu Verhandlungen bereit erkläre.***) Hannover gab dieſe vorläufige
Zuſage, alle Staaten des Zollvereins ſtimmten freudig bei, alle erwarteten,
die Kugel komme endlich in’s Rollen. In der That ſchien es möglich, daß der
Zollverein jetzt mit einem male bis zu den Mündungen der Elbe, Weſer
und Ems vordrang und darnach auch die Hanſeſtädte zum Beitritt bewog.
Das braunſchweigiſche Land erſtreckte ſich nämlich in einem ſchmalen
Streifen weit nach Weſten, vom Harze bis zur Weſer; trat alſo das ge-
ſammte Herzogthum dem Zollvereine bei, dann wurden die Landſchaften
Göttingen und Grubenhagen, die man in Hannover mit dem erhabenen
Namen der ſüdlichen Provinzen ſchmückte, von der Hauptmaſſe des Welfen-
Königreichs abgeſchnitten, und der ohnehin lockere Steuerverein zerſtückelt.
Doch was fragte der alte Welfe nach der Volkswirthſchaft? König
Ernſt Auguſt verfuhr bei dieſen Verhandlungen von Haus aus unredlich;
er knüpfte ſie nur darum an, weil er hoffte ſich noch freien Verkehr mit
ſeinen ſüdlichen Provinzen zu ſichern. Seinem Geſandten Kielmansegge
in London ſchrieb er eigenhändig: ich bin gegen den Zollverein und werde
ſelbſt im äußerſten Falle immer vermeiden Englands Intereſſen zu ſchä-
digen, „was man einem engliſchen Prinzen nicht übel nehmen kann“.
Bei ſeinen wiederholten Beſuchen in England verſicherte er den Miniſtern
[444]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
beſtändig — das erfuhr der preußiſche Geſandte von Lord Aberdeen
ſelbſt —: keine Macht der Welt ſoll mich je zum Eintritt in den preu-
ßiſchen Verein bewegen! Nun gar jetzt ſich durch das verhaßte Braun-
ſchweig gleichſam zwingen zu laſſen — das ging ihm wider die Ehre.
Die Briten beſtärkten ihn, wie ſich von ſelbſt verſtand, in ſolchen Vorſätzen,
obgleich Aberdeen dem leichtgläubigen Bunſen treuherzig betheuerte: der
Beitritt Hannovers würde die Partei des Freihandels im Zollvereine kräf-
tigen und uns darum willkommen ſein.*) Auf ſeine Hannoveraner konnte
der Welfe ſich verlaſſen. In der Preſſe des Landes polterte widerwärtig der
breite niederſächſiſche Bauernhochmuth, der ohne nach dem großen Vater-
lande auch nur zu fragen ſich wohlgefällig ſeines gefüllten Magens rühmte,
und die Hanſen ſuchten dieſen Trotz nach Kräften zu nähren.
In Bremen, das allezeit mehr vaterländiſche Geſinnung zeigte als
Hamburg, ward die Verbindung mit dem Zollvereine allerdings ſchon
zuweilen erwogen; doch allein konnte die Weſerſtadt nichts wagen, ſie
mußte ſonſt fürchten ihren geſammten Zwiſchenhandel an das reichere Ham-
burg zu verlieren. Dort an der Elbe hatte ſich in dem langen hanſiſchen
Sonderleben eine Geſinnung herausgebildet, die man ebenſo wohl allzu
weitherzig wie allzu engherzig nennen konnte, eine rein kaufmänniſche
Auffaſſung des politiſchen Lebens, die in dem Staate nur den unbequemen
Dränger, den natürlichen Feind des freien Handels ſah und überdies
mit republikaniſchem Dünkel auf die angebliche Unfreiheit der preußiſchen
Monarchie herabblickte. Der hanſiſche Handel hatte die Stellung einer
Weltmacht behauptet in Zeiten, da das Vaterland tief darniederlag. Kein
Wunder, daß man anfing das eigene Verdienſt zu überſchätzen und die
doch leicht begreifliche Blüthe dieſer Emporien eines gewerbfleißigen, dicht-
bevölkerten Hinterlandes allein aus der tiefen Weisheit ihrer Handels-
politik herleitete. Man legte ſich die Frage kaum noch vor, warum denn
London und Liverpool, New-York und Marſeille unter dem Schutze ihrer
nationalen Zolllinien gediehen? warum an den Mündungen von Rhein,
Maas und Schelde, ebenfalls hinter nationalen Zollſchranken, eine ganze
Reihe blühender Handelsſtädte beſtand? Die Natur ſelbſt — das galt
in Hamburg als ein Glaubensſatz — hatte Deutſchland zu einer ewigen
handelspolitiſchen Selbſtverſtümmelung beſtimmt, ſie hatte die Mündungen
der Elbe, der Weſer, der Trave ſo ganz abſonderlich geſtaltet, daß ſie immer-
dar „eine Freiküſte“ bleiben mußten. Eine Erklärung dieſes Naturwunders
wußte freilich Niemand zu geben.
Der tiefſte Grund des hamburgiſchen Particularismus lag in der
Schwerfälligkeit der Kaufleute, die ſich nicht entſchließen konnten, eine alt-
gewohnte und meiſterhaft betriebene Geſchäftsweiſe rechtzeitig zu ändern.
Sie betrachteten noch immer, wie in althanſiſcher Zeit, den Zwiſchen-
[445]Hannover und die Hanſeſtädte.
handel als ihre wichtigſte Erwerbsquelle, ſie hatten ihre Vaterſtadt zu
einem großen freien Markte für alle ſkandinaviſchen Völker erhoben, und
wollten nicht ſehen, daß ihnen jetzt eine noch reichere Zukunft offen ſtand,
wenn ſie mit der neuerdings ſo mächtig angewachſenen Induſtrie des
Hinterlandes in freien Verkehr traten; ihr nordiſcher Zwiſchenhandel
konnte ja daneben, in einem wohlgeordneten Freihafen, ungeſtört fort-
dauern. Eigenſinnig wie vormals die Kaufleute von Leipzig und Frank-
furt ſträubten ſie ſich wider ihr eigenes Glück, ganz wie jene rühmten
ſie die Trennung vom Vaterlande als Handelsfreiheit und verachteten
das weiter blickende preußiſche Beamtenthum. Ihre Schriftſteller — nicht
blos die blinden Particulariſten des Hamburger Correſpondenten, ſondern
auch der gelehrte Patriot Wurm — hatten für die Idee der praktiſchen
deutſchen Einheit nur leere Worte. Wenn ſie zuweilen ſehnſuchtsvoll von
der Zolleinigung des Vaterlandes ſprachen, dann fügten ſie ſtets den un-
möglichen Vorbehalt hinzu: erſt müſſe Oeſterreich beitreten; und wenn ſie
Preußens Bemühungen um die Einheit der Münzen und Maße herablaſſend
lobten, dann fiel es ihnen doch gar nicht ein, daß Hamburg mit gutem Bei-
ſpiele vorangehen, ſein lächerliches zweifaches Münzweſen mit der erprobten
Thalerwährung vertauſchen ſollte. Es war nicht anders, die große Mehr-
heit des Volks an der Nordſeeküſte wollte ihr Sonderleben nicht aufgeben.
Klefeker in Hamburg, Berg in Oldenburg, v. d. Horſt in Hannover und
die wenigen anderen einſichtigen Publiciſten, die zum Anſchluß mahnten,
richteten nichts aus gegen das allgemeine Vorurtheil.
König Friedrich Wilhelm hielt in dieſen Jahren Hannover und Kur-
heſſen für die beiden nächſten Freunde Preußens im Deutſchen Bunde,
denn von Baiern her wurde ſeine Regierung heftig befehdet, und den
übrigen Mittelſtaaten traute er wenig Widerſtandskraft gegen die Libe-
ralen zu. Darum behandelte er ſeinen welfiſchen Oheim mit zarter
Schonung und ſetzte ſogar bei den widerſtrebenden Braunſchweigern durch,
daß jener Harz- und Weſerkreis, der das Welfenkönigreich durchſchnitt,
vorläufig noch zwei Jahre lang im Steuervereine verblieb, damit der
hannöverſche Hof Zeit gewönne ſich auf den Zollanſchluß vorzubereiten.
Die Hannoveraner zeigten ſich für ſolche Freundlichkeit wenig dankbar;
ſie ließen viele Monate verſtreichen, bis ſie nach wiederholten Mahnungen
die zugeſagten Verhandlungen endlich begannen, und dann ſtellten ſie
alsbald zwei gleich unannehmbare Bedingungen. Sie verlangten, daß der
Zollverein ſeine Zölle auf mehrere der einträglichſten Kolonialwaaren be-
trächtlich herabſetzte und außerdem noch dem Königreiche ein Präcipuum
gewährte, einen erhöhten Antheil an den gemeinſamen Einnahmen, zur
Entſchädigung für die angeblich größere Conſumtion im Welfenlande.
Den 2 Millionen Deutſchen des Steuervereins zu Lieb’ ſollten alſo die
28 Millionen des Zollvereins ſich ihre ergiebigſten Finanzzölle verderben.
Die zweite Forderung aber verſtieß gegen den Grundgedanken des Zoll-
[446]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
vereins, die gleiche Vertheilung der Einnahmen nach der Kopfzahl. Um
dieſes Grundſatzes willen hatte die preußiſche Regierung erſt vor drei
Jahren den unglücklichen Plan, für ſich ſelber ein mäßiges Präcipuum zu
beanſpruchen, ſchleunig wieder aufgegeben. Wie durfte ſie jetzt von ihren
Zollverbündeten eine noch weit größere Vergünſtigung für Hannover ver-
langen, nachdem Braunſchweig ſoeben, ohne ein Präcipuum zu fordern,
eingetreten war?
Den ſüddeutſchen Höfen, die ſich ſo eifrig bemühten ihrer jungen
Induſtrie verſtärkten Zollſchutz zu ſchaffen, mußten die hannoverſchen
Denkſchriften wie Stimmen aus der verkehrten Welt klingen. Die Welfen-
krone ſuchte den Nerv der Volkswirthſchaft in der üppigen Conſumtion,
ſie rühmte ſtolz: der Anſchluß des Steuervereins bringt dem Zollverein
zwei Millionen ſo ſtarker Conſumenten und ſo wenig bedeutender Fabri-
kanten zu, wie ſie bis jetzt im Zollvereine nicht vorhanden ſind. Daß dieſe
zwei Millionen durch den Zollverein erſt freien Verkehr und die Möglich-
keit einer eigenen Induſtrie erhalten ſollten, kam daneben nicht in Be-
tracht. Wohl mochte die Conſumtion von Kolonialwaaren mindeſtens in
den eigentlichen Küſtenlanden Hannovers etwas höher ſtehen als in man-
chen Theilen des Zollvereins; doch über die Geldfrage des Präcipuums
ließ ſich noch gar nicht verhandeln, ſo lange die volkswirthſchaftlichen An-
ſichten hüben und drüben ſo weit aus einander gingen. Zudem bewies
die Welfenkrone überall ihren böſen Willen durch gehäſſige Anmaßung.
Im Sommer 1843 überbrachte der hannoverſche Finanzrath Witte Vor-
ſchläge ſeines Hofes nach Berlin; er ſtellte dem preußiſchen Miniſterium
ohne Weiteres die Wahl, anzunehmen oder abzulehnen, er behauptete
ungeſcheut, der Zollverein wolle im Harz- und Weſerkreiſe „ein Schmuggel-
depot“ gegen Hannover einrichten und drohte mit empfindlichen Repreſſalien.
Eine ſolche Sprache war in den ſtürmiſchen deutſchen Zollverhandlungen
doch nicht mehr gehört worden ſeit jenen fernen Tagen, da der Herzog
von Koethen einſt einen ſtreitbaren Lieutenant mit ſeinem Ultimatum
nach Berlin geſchickt hatte. Bülow erwiderte kurz, Witte’s Zuſchrift ge-
ſtatte ihm keine Antwort, und ſtellte dem Hannoveraner anheim ſofort
abzureiſen.
Währenddem erhitzte ſich auch der braunſchweigiſche Hof mehr und
mehr, der alte Haß der beiden Welfenlinien brach wieder durch. Der
Landtag ſtand dem Herzog treu zur Seite; die Mehrzahl der Abgeordneten
hatte doch endlich die nationale Bedeutung des Zollvereins begriffen, ihr
wackerer Führer K. Steinacker ſagte in ſeiner Streitſchrift wider die Han-
noveraner hoffnungsvoll: „Vaterland! der Name war lange ein leeres
Wort für uns. Jetzt aber wiſſen wir, daß wir ein Vaterland haben,
ein Vaterland, welches im kräftigſten geſundeſten Verjüngungsproceſſe ſich
befindet.“ Wie würdig nahmen ſich ſolche Worte aus neben den wüſten
Schimpfreden des Gothaers Zimmermann, der einſt ſchon den hannover-
[447]Anſchluß Braunſchweigs.
ſchen Staatsſtreich vertheidigt hatte und jetzt wieder unter dem Namen
eines Dr. Faber „Politiſche Dachpredigten“ zur Vertheidigung Ernſt Au-
guſt’s ſchrieb. Der verhehlte gar nicht, daß der Welfenhof die Geſinnungen,
aus denen einſt der Mitteldeutſche Handelsverein entſprungen war, noch
keineswegs aufgegeben hatte und den Zollverein ſelbſt bekämpfte; er mahnte
die Deutſchen, Rückſicht zu nehmen auf „das mächtige Ausland“, zumal
auf England, und ſagte plump: „Ich halte ſämmtliche Vertheidiger einer
zweiten Einheit Deutſchlands, neben oder außer der im Bunde, entweder
für gutmüthige Häute oder ſchlaue Füchſe.“ Dieſe groben Angriffe
nöthigten auch den Berliner Hof ſich noch offener als bisher über den
nationalen Zweck ſeiner Handelspolitik auszuſprechen. Die amtliche Preußi-
ſche Allgemeine Zeitung erklärte rund heraus: Preußens Aufgabe im Zoll-
vereine wird dann erfüllt ſein, wenn der Zollverein das ganze Bundes-
gebiet umfaßt und alſo die im Art. 19 der Bundesakte verheißene Han-
delseinheit vollendet iſt. Dabei ward freilich vorſichtig verſchwiegen, daß
Oeſterreich dem Zollvereine nicht beitreten ſollte. An dieſer unerläßlichen
Bedingung hielt auch König Friedrich Wilhelm für jetzt noch feſt. Als
ſein Geſandter in Wien mit Metternich über den ſchwebenden Streit ge-
ſprochen hatte, erging aus Berlin ſofort die gemeſſene Weiſung: ein freund-
liches Wort Oeſterreichs in Hannover kann nichts ſchaden; doch irgend
eine Vermittlung in Zollvereinsſachen werden wir dem kaiſerlichen Hofe
nie erlauben.*)
Nach faſt drei Jahren, zu Anfang 1844 wurden die widerwärtigen
Verhandlungen abgebrochen. Braunſchweig trat nunmehr mit ſeinen
ſämmtlichen Kreiſen dem Zollvereine bei, und der Steuerverein blieb be-
ſtehen, obgleich ſein Gebiet zerriſſen war. Abermals nach häßlichem Streite
erneuerte man dann auch das Zollcartell. Die drei nächſtbetheiligten
Cabinette ſuchten ihr Verhalten durch veröffentlichte Staatsſchriften zu
rechtfertigen, und erbaulich war es nicht, wie die beiden ergrimmten
Welfenhöfe ihre ſchwarze Wäſche vor aller Welt wuſchen. Ruhiger redete
die preußiſche Staatsſchrift; ihre ſtreng ſachliche Darſtellung überzeugte
ganz Deutſchland, nur nicht die unbelehrbaren Hannoveraner und Hanſen.
Ernſt Auguſt aber hatte mittlerweile ſein altes Vaterland wieder beſucht
und ſogar, nach Ableiſtung des üblichen Eides, ſeinen Sitz im Oberhauſe
wieder eingenommen, obgleich Aberdeen ſelbſt ihm vorſtellte, dazu hätte
ſich weder König Leopold noch Prinz Albert je herabgelaſſen. Sein Ver-
hältniß zu dem engliſchen Hofe blieb ſehr kühl, weil die Königin argwöhnte,
ihr feindſeliger Oheim würde die Lords gegen ſie aufwiegeln. Indeß
verabredete er mit den Miniſtern insgeheim einen Schachzug gegen
Preußen.**) Am 22. Juli 1844 ſchloß er mit England einen Schifffahrts-
[448]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
vertrag, der ihm den Anſchluß an den Zollverein auf Jahre hinaus un-
möglich machte. Großbritannien gewährte der hannöverſchen Flagge einige
Begünſtigungen, auch für die indirekte Fahrt, und erlangte für ſeine
Schiffe eine Ermäßigung des berüchtigten Stader Elbzolles, den die Han-
noveraner ſoeben wieder, auf den Dresdener Elbſchifffahrtsconferenzen von
1842, hartnäckig als einen Seezoll gegen ihre deutſchen Landsleute be-
hauptet hatten. Alſo blieb das deutſche Welfenkönigreich, auch nachdem
es ſich von der engliſchen Krone getrennt hatte, noch immer ein Brücken-
kopf der britiſchen Handelspolitik auf dem Feſtlande. —
Den dürftigen Erfolg dieſer Verhandlungen mit den Welfenhöfen
empfand man in Berlin ſehr peinlich; denn Preußens Anſehen im Zoll-
vereine war ohnehin ſchon erſchüttert durch einen wirthſchaftlichen Partei-
kampf, der 1841 durch Liſt’s Buch „das nationale Syſtem der politiſchen
Oekonomie“ eingeleitet wurde. Die einfache, damals noch viel verkannte
Wahrheit, daß die Volkswirthſchaftslehre eine hiſtoriſche Erfahrungswiſſen-
ſchaft iſt und folglich auch mit den praktiſchen Erfahrungen der Gegen-
wart in beſtändiger Wechſelwirkung ſteht, ließ ſich grade in dem Deutſch-
land dieſer Tage mit Händen greifen. In allen anderen Wiſſenſchaften
hatten wir uns längſt unſere eigene Bahn gebrochen; nur die National-
ökonomie verharrte noch in einem ſeltſamen Anachronismus, ſie folgte noch
faſt blindlings den Lehren des Auslands, weil unſer Wohlſtand noch ſo
jung, ſelbſt die Einheit des nationalen Marktes noch nicht ganz errungen
war, große wirthſchaftliche Parteien ſich erſt zu bilden begannen.
Die ſenſualiſtiſche Philoſophie der Schotten war in Deutſchland nie zu
allgemeinem Anſehen gelangt und ſchon durch Kant wiſſenſchaftlich über-
wunden. Gleichwohl herrſchte in der deutſchen Volkswirthſchaftslehre
noch die Lehre Adam Smith’s, die doch mit dem Senſualismus ſtand und
fiel; ſie war ſeitdem durch Ricardo und Say mit einſeitiger Härte weiter-
gebildet worden und durch Baſtiat’s lebendige populäre Schriften auch
in weitere Kreiſe eingedrungen. Sie hatte einſt, da es galt die alte
feudale Geſellſchaftsordnung zu zerſtören, als eine zeitgemäße, befreiende
Macht gewirkt; jetzt lebte ſie auf den deutſchen Kathedern nur noch fort
als eine gedankenloſe Tradition. Ganz nach der unlebendigen Methode
des alten Naturrechts, die doch längſt kein tüchtiger Juriſt mehr gelten
ließ, pflegte der Nationalökonom ſeine Sätze in logiſcher Folge abzuleiten
aus der Abſtraktion des billig kaufenden und theuer verkaufenden Einzel-
menſchen. Aus dem Kampfe der Selbſtſucht dieſer Einzelweſen, aus dem
freien Spiele der ſocialen Kräfte ſollte dann ganz von ſelbſt die Har-
monie aller Intereſſen, die gerechte und vernünftige Ordnung der Geſell-
ſchaft hervorgehen; der thieriſche Trieb des Eigennutzes vollbrachte mithin
[449]Liſt’s Nationales Syſtem.
das Wunder, die Menſchen über den Zuſtand der Thierheit zu erheben.
Feinere Naturen, die das Undeutſche dieſer Lehre empfanden, wollten
mindeſtens der weitblickenden Selbſtſucht eine ſolche Wunderkraft zu-
ſchreiben, ohne zu bedenken, daß die Selbſtſucht nicht weit blicken kann,
von ihren Niederungen aus das Ganze des Volkslebens nicht zu überſehen
vermag. Die Theorie beruhte auf einem unhiſtoriſchen Optimismus,
der zwei Großmächte der Weltgeſchichte, die Mächte der Dummheit und
der Sünde ganz verkannte und folgerecht zu dem Schluſſe gelangen mußte,
durch die zunehmende Erkenntniß des eigenen Intereſſes würde das Ver-
brechen von ſelbſt aus der Menſchheit verſchwinden. Wohl lehrten auf
den deutſchen Univerſitäten Schmitthenner, Eiſelen ſowie einige andere
wenig hervorragende Anhänger des Schutzzollſyſtems, und C. H. Rau
in Heidelberg, ein beſonnener Anhänger der Lehre Smith’s, ſpeicherte in
ſeinen gründlichen Lehrbüchern ein reiches ſtatiſtiſches Material auf, um
alſo aus der Fülle der Erfahrung heraus die einzelnen Sätze des Syſtems
zu ergänzen oder einzuſchränken. Vorherrſchend blieb doch die Meinung,
daß die Güterwelt überall und jederzeit unwandelbaren Naturgeſetzen
unterworfen ſei.
In dies Traumleben der theoretiſchen Abſtraktion brach nun Liſt’s
Buch wie ein Wetterſchlag herein. Mit dem ganzen Pathos ſeiner vater-
ländiſchen Leidenſchaft bekämpfte er den Individualismus und, was im
Grunde daſſelbe ſagte, das Weltbürgerthum der herrſchenden Schule.
Er zeigte, daß die Volkswirthſchaft jeder Nation ein lebendiges Ganzes
bildet, alle ihre Glieder auf einander angewieſen ſind und „die Individuen
den größten Theil ihrer produktiven Kräfte von der politiſchen Organiſa-
tion der Regierung und der Macht der Nation empfangen“. Mit mäßigen
hiſtoriſchen Kenntniſſen, aber mit einem glücklichen hiſtoriſchen Blicke,
der trotzdem meiſtens das Weſentliche herausfand, ſchilderte er den wirth-
ſchaftlichen Entwicklungsgang der großen Nationen, wie ſie ſich alleſammt
in harten Machtkämpfen mit dem Wettbewerb anderer Völker behauptet,
ihren heimiſchen Gewerbfleiß durch Zölle und Monopole geſchützt hatten.
Auf dem Grunde dieſer hiſtoriſchen Erfahrungen baute er nun ſein
eigenes Schutzzollſyſtem auf, das ſich von dem alten Mercantilſyſtem weſent-
lich unterſchied: er ſuchte den Reichthum der Völker keineswegs in den edlen
Metallen, aber er erkannte die von den Freihändlern abgeleugnete Be-
deutung der Handelsbilanz wieder an, da ſich an dem Werthe und der
Art der ein- und ausgeführten Waaren allerdings die Höhe der wirth-
ſchaftlichen Cultur eines Volks annähernd abſchätzen läßt; er verlangte
Schutzzölle als Mittel der Ermunterung und Erziehung, damit neue pro-
duktive Kräfte, immerhin gegen die Aufopferung von Tauſchwerthen, ge-
weckt würden, die Nationen des Feſtlands ſich von dem Drucke der eng-
liſchen Handelsübermacht befreiten und ſchließlich dahin gelangten, „nur
von denen zu kaufen, die von uns kaufen.“ Berauſcht von dem Anblick
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 29
[450]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
der jugendlich aufſtrebenden nordamerikaniſchen Welt, ſah er in dem Wohl-
ſtande, zumal im induſtriellen Vermögen ſchlechthin Alles und behauptete
keck, in gleichem Verhältniß mit dem Reichthum wüchſen überall die
Thätigkeit, die Bildung, ja ſogar die Sittlichkeit der Nationen. Durch
Wohlſtand wollte er ſein heißgeliebtes Volk zur Freiheit erziehen, ihm die
Duckmäuſerei, das Philiſterthum, die Wolkenkukuksheimer Träume aus-
treiben. „Auf der Ausbildung des deutſchen Schutzſyſtems — das blieb
der Grundgedanke — ruht die Unabhängigkeit und Zukunft der deutſchen
Nationalität.“
Diesmal täuſchte ſich ſein Seherblick, der ſonſt ſelten irrte: Deutſch-
land ſollte ohne hohe Schutzzölle ſich ſein neues Reich erbauen und erſt
weit ſpäter, als ſeine politiſche Macht längſt geſichert war, bei gänzlich
veränderter Lage des Weltmarkts ſich dem Schutzzollſyſteme zuwenden.
Dennoch war ſeine Schrift ein Markſtein in der Geſchichte unſerer poli-
tiſchen Bildung. Zum dritten male regte der kühne Mann, wie einſt
bei der Begründung der Handelseinheit und des Eiſenbahnweſens, durch
einen weckenden Ruf ſein Volk kräftig auf. Er zuerſt in Deutſchland er-
ſchloß die Nationalökonomie, die man bisher faſt wie eine Geheimlehre
mathematiſcher Formeln geſcheut hatte, durch lebendige, lichtvolle Dar-
ſtellung dem Verſtändniß und der Theilnahme aller Gebildeten; er be-
trachtete ſie, grundſätzlich abſehend von allen fertigen Doctrinen, allein
von dem Standpunkte hiſtoriſcher Erkenntniß und praktiſcher Geſchäfts-
erfahrung; er erwies mit flammender Beredſamkeit und oft ſtark über-
treibend, daß alle großen volkswirthſchaftlichen Fragen nationale Macht-
fragen ſind, ihre Löſung über die Selbſtbehauptung der Völker entſcheidet.
Dies letzte Verdienſt war das größte; ſolche Wahrheiten konnten einem
Volke, das grade im Handel und Wandel ſeine fremdbrüderliche Schwach-
heit zeigte, ausländiſche Waaren würdelos bevorzugte, nicht laut, nicht
ſcharf genug geſagt werden. Darum entſetzten ſich auch alle Ausländer,
die auf Deutſchlands Schwäche rechneten, über Liſt’s Werk. Die eng-
liſche Preſſe jammerte ſcheinheilig: wie ſei es nur möglich, daß unter den
humanen, gebildeten Deutſchen eine ſo barbariſche Geſinnung volksthüm-
licher Ausſchließlichkeit auftauche; und ſelbſt Graf Camillo Cavour nannte,
da er die Freihandelslehren noch kurzweg als die rette dottrine bewun-
derte, das Buch des Schwaben eine krankhafte Ausgeburt des überſpannten
Nationalſtolzes.
Die Fachwiſſenſchaft wurde von Liſt’s Ideen zunächſt nur wenig be-
rührt; ihm ſelbſt lag ja auch nichts ferner als der Ehrgeiz des Gelehrten.
Es geſchieht aber nicht ſelten, daß die ſchöpferiſche Kraft der Geſchichte
die nothwendigen, der Zeit gemäßen Gedanken gleichzeitig aus ganz ver-
ſchiedenen Quellen hervorſpringen läßt. Unabhängig von Liſt, allein durch
wiſſenſchaftliches Nachdenken hatte ſich mittlerweile der junge Hannoveraner
Wilhelm Roſcher, der bald in Leipzig heimiſch wurde, den Plan ge-
[451]W. Roſcher. Das Zollvereinsblatt.
bildet für ſeine reiche Gelehrtenthätigkeit. Er wollte der Nationalökonomie
das hiſtoriſche Verſtändniß erwecken, das die Rechtswiſſenſchaft den Werken
Savigny’s, Eichhorn’s, Niebuhr’s verdankte. In einem kleinen Grundriß
für Vorleſungen (1843) zeichnete er zuerſt die Umriſſe ſeiner hiſtoriſchen
Methode; er faßte die Volkswirthſchaft als eine Welt des Werdens auf
und ſuchte überall zu zeigen, daß die Theorie nur relative Wahrheiten
finden kann, daß dieſelben Inſtitutionen, die das jugendliche Volk erheben,
dem gereiften zur Feſſel werden. Ein Gelehrter von ausgebreitetem Wiſſen,
ebenſo beſcheiden, gerecht, friedfertig, wie Liſt trotzig, parteiiſch, kampfluſtig
war, ſtimmte Roſcher auch in dem Streite des Tages keineswegs mit dem
ſchwäbiſchen Agitator überein, da er den freihändleriſchen Gedanken weit
näher ſtand. Gemeinſam war den Beiden nur der hiſtoriſche Sinn
und die Erkenntniß der ſittlichen Mächte des wirthſchaftlichen Lebens.
Während Liſt’s Buch einen leidenſchaftlichen Parteikampf entzündete, machte
Roſcher’s Grundriß langſam, ganz in der Stille ſeinen Weg; aus den
Anregungen, die hier zuerſt gegeben wurden, ging nach und nach eine
neue, realiſtiſch-hiſtoriſche Auffaſſung der Volkswirthſchaft hervor, und es
entſtand im Laufe der Jahre eine deutſche nationalökonomiſche Schule,
die feſt auf eigenen Füßen ſtehend ſich dem Auslande bald überlegen
zeigte.
Liſt ſäumte nicht, die Silberbarren ſeines „Nationalen Syſtems“ in
kleine Münzen umzuprägen. Er gründete (1843) das Zollvereinsblatt,
und um das Banner dieſer ſtreitbaren Zeitſchrift ſchaarte ſich bald die
geſammte Schutzzoll-Partei des Südens, vornehmlich der junge Stand der
Fabrikanten und Techniker, der viele auf den neuen Gewerbſchulen gut
gebildete, tüchtige und rührige Männer in ſeinen Reihen zählte. In
Baden drang die Bewegung tief in’s Volk, weil dort die neuen Fabriken
meiſt durch Actiengeſellſchaften gegründet waren, viele Bauern und kleine
Bürger ſich am Actienkaufe betheiligt hatten. Manche Forderungen der
Partei waren ſachlich wohl begründet, doch unverkennbar wirkte auch die
kleinſtädtiſche Weltanſchauung mit. Preußens ſociale Freiheit blieb den
Süddeutſchen noch verſagt, und wie ſie gewohnt waren für Heirath und
Niederlaſſung ſtets die Genehmigung der Obrigkeit einzuholen, ſo erwar-
teten ſie auch in der Handelspolitik alles Heil von oben. In Württem-
berg zeichnete ſich der Eßlinger Fabrikant Deffner durch ſeinen Eifer aus,
in der badiſchen Kammer der feurige Redner Sander, am Rhein Berg-
rath Böcking zu Saarbrücken. Das mächtige Bankhaus Haber in Karls-
ruhe verſorgte einen großen Theil der ſüddeutſchen Zeitungen mit ſchutz-
zöllneriſchen Correſpondenzen, auch Cotta ſtellte die Allgemeine Zeitung
und die Deutſche Vierteljahrsſchrift der Schutzzoll-Partei zur Verfügung.
Nicht lange, ſo galt es im Süden für ausgemacht, daß jeder Liberale
ein Schutzzöllner, jeder Freihändler ein Reaktionär ſein müſſe. Wieder
einmal zeigte ſich, daß Liſt wohl aufregen und beleben, doch nicht Maß
29*
[452]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
halten, nicht geſtalten konnte. Wie er einſt gegen das preußiſche Zoll-
geſetz getobt hatte, das doch ſeine eigenen Ideale verwirklichte, ſo ſchalt
er jetzt ungeſtüm auf die preußiſche Handelspolitik und untergrub das
Vertrauen zu der führenden Macht des Zollvereins, obgleich er die Noth-
wendigkeit der preußiſchen Hegemonie wohl begriff. In ſeinem blinden
Zorne bemerkte der edle Enthuſiaſt nicht mehr, welche dämoniſchen Kräfte
der Zwietracht und des Bruderhaſſes er entfeſſelte. Abel und die ganze
Heerſchaar der bairiſchen Ultramontanen ſtimmten ihm ſchadenfroh zu,
und bald ließ ſich auch ſchon der Ruf hören: ſtatt des unfähigen Preußens
müſſe Oeſterreich die Führung des Zollvereins übernehmen — eine For-
derung, die von Liſt ſelbſt allerdings nie gebilligt wurde.
Mißtrauen zwiſchen Nord und Süd war unter allen Gefahren, welche
den Zollverein bedrohen konnten, die ſchwerſte; denn das vertrauensvolle
Einverſtändniß von Preußen-Heſſen und Baiern-Württemberg hatte ihn
einſt begründet; zerriß dies Band, ſo ging der erſte Anfang praktiſcher
deutſcher Einheit verloren. Es war die tragiſche Schuld in Liſt’s ſtür-
miſchem Leben, daß dieſer begeiſterte Patriot, der das ganze Vaterland
mit glühender Liebe umfaßte, doch die Kluft zwiſchen dem Süden und
dem Norden gewaltſam erweiterte. Er betrieb die ſchutzzöllneriſche Agi-
tation, die ja ihre guten Gründe hatte, mit einer ſolchen Erbitterung,
daß der im Süden ſchon halb verblaßte Preußenhaß mächtig wieder auf-
brauſte. Der Same des Unfriedens, der damals ausgeſtreut wurde, trug
noch nach vielen Jahren arge Früchte; noch bis zum Jahre 1866 ließen
ſich in der ſüddeutſchen Preſſe, zumal in den Blättern des Hauſes Cotta
die Nachklänge dieſes rohen Schutzzöllnerhaſſes vernehmen. Nachdem
Preußen nachweislich ſo große finanzielle Opfer für den Zollverein ge-
bracht hatte, verbreitete man im Süden ein Witzbild, das die Dinge
gradezu auf den Kopf ſtellte: die Kuh des Zollvereins wurde von dem
geduldigen ſüddeutſchen Michel feſtgehalten und von Preußen gemolken.
Liſt ſelbſt ſcheute ſich nicht, der preußiſchen Regierung vorzuwerfen, daß
ſie den Zollverein zu ihrem Vortheil ausbeute. Er erging ſich — und
mehr noch ſein Anhang — in wüſten, demagogiſchen Anklagen. Er jam-
merte, das wehrloſe Deutſchland würde von der Handelspolitik des Aus-
lands ausgeplündert, und vergaß undankbar, daß der Zollverein die wirth-
ſchaftliche [Fremdherrſchaft] im Weſentlichen doch ſchon gebrochen hatte,
und jetzt nur noch in Frage ſtand, ob nicht einzelne Gewerbszweige eines
ſtärkeren Schutzes bedürften.
Dieſe trockene Geſchäftsfrage, wie viel Zoll eine Waare zu ertragen
vermöge, wurde mit einer Wuth behandelt, als ob nur Landesverräther
anderer Meinung ſein könnten. Geborene Kämpfer lieben, ſich ihre Feinde
als Zerrgeſtalten vor die Augen zu halten. Wie Luther aus dem Coch-
läus einen Rotzlöffel, aus dem Herzog von Braunſchweig einen Hans
Worſcht machte um dann dieſe Fratzen nach Herzensluſt zu zerzauſen, ſo
[453]Die ſüddeutſchen Schutzzöllner.
bekämpfte Liſt in ſeinem „Nationalen Syſteme“ neben der „Rechtspeſt“ der
Pandekten ein mythologiſches Ungeheuer, das er „die Schule“ nannte und
jeder erdenklichen Sünde zieh. Neuerdings war ſein Popanz die preußiſche
„Bureaukratie, dieſer halborientaliſche Auswuchs, dies ſchlingpflanzenartige
Unkraut“ des deutſchen Staates; ſtatt der Aktenweisheit des grünen Tiſches
ſollte fortan die lebendige Erfahrung der Gewerbsleute den deutſchen Zoll-
bund beherrſchen. Gewiß bedurfte die einſeitig bureaukratiſche Leitung
des Zollvereins dringend der Ergänzung durch populare Kräfte; ſo ein-
fach, wie Liſt meinte, lagen die Dinge dennoch nicht. Wer hatte einſt den
Zollverein gegründet? Das deutſche Beamtenthum im Kampfe mit der
Thorheit der Kaufleute und Fabrikanten. Und wer hinderte jetzt, daß er
ſich bis zu ſeinen natürlichen Grenzen ausbreitete? Nicht das Beamten-
thum, ſondern die geſchäftskundigen Kaufleute der Hanſeſtädte.
Liſt verſchmähte, was doch die nächſte Aufgabe jeder fruchtbaren Publi-
ciſtik iſt, ſich hineinzudenken in die Lage des von ihm ſo grauſam ge-
ſcholtenen Staates. Die preußiſche Regierung ſollte einen Verein leiten,
der — was Süddeutſchland ſelbſt einſt dringend verlangt hatte — ſeinen
Tarif nur durch einſtimmige Beſchlüſſe verändern durfte; ſie konnte ſich
mithin keiner der wirthſchaftlichen Parteien, die einander bekämpften, willen-
los unterwerfen, ſondern mußte zwiſchen ihnen zu vermitteln ſuchen, da-
mit das Ganze nicht aus einander fiel. Da Liſt ſich um die preußiſchen
Zuſtände leider nie recht bekümmert hatte, ſo kannte er auch die entſchei-
denden Männer nicht und wiederholte zuverſichtlich, allein die Rückſicht
auf England beſtimme Preußens Handelspolitik. Der Vorwurf lag nahe;
man wußte ja, wie ſchwärmeriſch der neue Hof alles engliſche Weſen be-
wunderte. Dennoch entbehrte der Verdacht jedes Grundes; denn die drei
eifrigſten Anglomanen in den preußiſchen Regierungskreiſen waren der
König ſelbſt, Bülow und Bunſen, und grade dieſe Drei hegten lebhafte
Vorliebe für die Gedanken der Schutzzöllner. Kühne hingegen, Beuth
und die anderen bureaukratiſchen Gegner der Zollerhöhung waren ſtramme
Preußen, ganz frei von engliſchen Neigungen; wenn ſie die Pläne Liſt’s
bekämpften, ſo geſchah es nur, weil ſie tief überzeugt an den Ideen der
Hardenbergiſchen Zeiten feſthielten und nicht einſehen konnten, daß ihr
durch ein Vierteljahrhundert erprobtes Zollgeſetz jetzt doch an vielen Stellen
ſchadhaft wurde.
Wer ſollte es nicht menſchlich finden, daß die unbändigen Schmähungen
der ſüddeutſchen Schutzzöllner auch auf der anderen Seite höchſt unge-
rechten Verdacht hervorriefen? Man konnte in Berlin nicht begreifen,
warum der feurige Liberale Liſt jetzt mit den Spießgeſellen Metternich’s
und Abel’s zuſammen ging; die preußiſchen Geſandten an den ſüddeut-
ſchen Höfen glaubten alleſammt, der makellos rechtſchaffene Mann laſſe
ſich von Oeſterreich und Baiern bezahlen. Sogar der feine, geiſtreiche
Canitz ſchrieb: „Verkaufen wird er ſeine Ueberzeugung wohl nicht, aber
[454]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſie Jedem leihen, der gut zahlt. Man gebe ihm Geld und zwar viel, ſo
wird es ihm ziemlich gleichgiltig ſein, ob er Eiſenbahnen oder Kolonien
in Oeſterreich oder Preußen zu verwalten habe.“*) Kühne ſelbſt wahrte
ſeine Amtswürde und antwortete in der Staatszeitung nur auf die ſach-
lichen, nie auf die perſönlichen Angriffe des ſüddeutſchen Agitators. Um
ſo heftiger äußerte er ſich mündlich über „die Abſurdität und Schlechtig-
keit“ des Schwaben, über des tolle Treiben der „völlig verrückten Liſt’ſchen
Sünder“. Er begriff nicht, daß Liſt’s Buch ganz neue, fruchtbare Ge-
danken enthielt, er ſah darin nur die Wiederholung alter Irrthümer und
fand es „räthſelhaft, wie dies ſo ganz hohle und verbrauchte Mercantil-
ſyſtem wieder aufleben konnte.“**)
In Norddeutſchland ſtimmte wohl die große Mehrzahl dieſem verſtänd-
nißloſen Urtheile zu. Hier wurde Liſt’s Lehre faſt allein von den Eiſen-
werksbeſitzern Weſtphalens und einem Theile der ſchleſiſchen Fabrikanten
willkommen geheißen. Die meiſten der altbefeſtigten Fabriken ſahen ſich
durch die beſtehenden Zölle genugſam geſchützt; die Handelsplätze vollends
und die ackerbauenden Provinzen verlangten nach Freihandel. Während
im Süden die ſchutzzöllneriſche Geſinnung für freiſinnig galt, herrſchte
im Nordoſten, zumal in Altpreußen, die genau entgegengeſetzte Meinung:
wer ein feſter Liberaler war und die befreiende ſociale Geſetzgebung der
Stein-Hardenbergiſchen Tage hochhielt, mußte auch den freien Handel
fordern. Selbſt der Landadel ſtimmte in der Wirthſchaftspolitik mit ſeinen
alten Gegnern, den Geheimen Räthen überein; für ſeine Bodenfrüchte
hatte er ja keinen erdrückenden fremden Wettbewerb zu fürchten, darum
wünſchte er Erleichterung der Conſumtion, vor Allem wohlfeile Maſchinen,
um die noch tief darniederliegende landwirthſchaftliche Technik zu ver-
beſſern. Der halbwahre, in vielen Fällen falſche Satz, daß der Conſu-
ment allein den ganzen Schutzzoll bezahlen müſſe, wurde noch allgemein
geglaubt, und Niemand fragte, warum denn die engliſchen Producenten
ſo gar ängſtlich vor jeder Erhöhung der deutſchen Garn- und Eiſenzölle
warnten. Vergeblich rechnete Fritz Harkort, der Volksmann Weſtphalens,
den Grundbeſitzern vor: der Pächter einer weſtphäliſchen Domäne von
1000 Morgen brauche im Jahre etwa 24 Ctr. Stabeiſen und 1 Ctr. Stahl,
er zahle mithin für jeden Morgen ſchlimmſten Falles 1 Sgr. Zoll und
könne folglich durch eine mäßige Erhöhung der Eiſenzölle nicht ſchwer ge-
troffen werden. Erſt in einer weit ſpäteren Zeit, als der Ackerbau ſich
ſelbſt durch die Getreideeinfuhr anderer Völker bedroht ſah, begannen die
Landwirthe zu erkennen, daß in der That alle Zweige der nationalen Er-
werbsthätigkeit, trotz der Reibungen daheim, dem Auslande gegenüber eine
lebendige Intereſſengemeinſchaft bilden, wie Liſt immer behauptet hatte.
[455]Norddeutſche Freihändler. Prince Smith.
Nach deutſcher Weiſe wurde die Lehre der freien Concurrenz bald
zu einem geſchloſſenen Syſteme ausgeſtaltet, und es bildete ſich eine
Schule radicaler Freihändler, die mit Richard Cobden und den Mancheſter-
männern in Verbindung trat. An ihrer Spitze ſtand John Prince Smith,
ein vornehmer Engländer, der von lange her in Preußen eingebürgert,
zu Elbing mit dem handfeſten Liberalen van Rieſen Freundſchaft geſchloſſen
hatte und trotzdem alle rein politiſchen Fragen mit großer Gleichgiltigkeit
betrachtete. Er wollte nichts ſein als Freihändler und hielt ſich zu den
Liberalen nur, weil er durch ſie ſeine wirthſchaftlichen Ideale zu er-
reichen hoffte. Beſchränkt und ſicher, ein echter Brite, ſah er auf der
weiten Welt nichts Andres als Handel und Wandel; techniſche Entwürfe
und Verbeſſerungen beſchäftigten ihn unabläſſig; der Staat war ihm nicht
mehr als der Producent der wirthſchaftlichen Sicherheit, und als ſolchen
hatte er ſein Preußen aufrichtig ſchätzen gelernt. Die allgemeine Handels-
freiheit mußte — daran blieb ihm kein Zweifel — die Glückſeligkeit aller
Nationen und zuletzt den dauernden Völkerfrieden begründen; denn waren
nur erſt überall die Maſchinen im Gange, dann konnte ja, wegen der
Gefahr einer großen Handelskriſis, kein Staat mehr einen Krieg zu führen
wagen. Solche Gedanken verbreitete er — in der perſönlichen Polemik
immer maßvoll, in ſeinen Lehrſätzen ganz unfehlbar — durch zahlreiche
Flugſchriften. Als er ſodann nach Berlin überſiedelte, ſtiftete er einen
freihändleriſchen Verein, dem ſich manche begeiſterte junge Männer an-
ſchloſſen.
In dieſer Schwärmerei des trockenen Geſchäftsverſtandes lag ein
eigenthümlicher Reiz, der grade deutſche Idealiſten leicht beſtricken konnte.
Die Lehre von der ungehemmten Entfaltung aller wirthſchaftlichen Kräfte
berührte ſich, freilich nur ſcheinbar, mit dem äſthetiſchen Idealismus
Wilhelm Humboldt’s, der einſt in ſeiner Jugendſchrift das Recht der
freien Perſönlichkeit ſo warm gegen die zwingende Staatsgewalt vertheidigt
hatte; und wie verführeriſch klang doch für edle Naturen der erhabene
Satz, daß der gerechte Staat ſich niemals durch die Klaſſenintereſſen
ſelbſtſüchtiger Fabrikanten beirren laſſen dürfe. Nur zu bald ſollte ſich
zeigen, wie ſtark die Klaſſenintereſſen der Kaufmannſchaft und der Börſe
bei den Lehren der Freihändler ſelbſt mitwirkten. Das abſtrakte, vater-
landsloſe Weltbürgerthum ward in dem Vereine immer mächtiger; das
radicale Gerede der Berliner Nichts-als-Freihändler beſtätigte nachträglich
Alles, was Liſt einſt ſtark übertreibend „der Schule“ Adam Smith’s
vorgeworfen hatte.
Der feſte, ſichere Wille, der allein ſo ſcharfe Parteigegenſätze nieder-
halten konnte, fehlte in Berlin leider gänzlich. Der König empfand dunkel,
daß die Hilferufe der Schutzzöllner aus dem Süden doch nicht ganz un-
berechtigt waren. Er hatte von jeher, zum Erſtaunen ſeiner romantiſchen
Freunde, viel Verſtändniß für volkswirthſchaftliche Fragen gezeigt und, da
[456]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
er dem Beamtenthum ſtets mißtraute, ſchon als Kronprinz oft beklagt,
„daß die Maſſe der Erfahrung, die in dem Handel und Gewerbe treiben-
den Publicum vorhanden iſt, in den oberſten Behörden gar keine Ver-
tretung fand“.*) Darum gründete er, nach den Plänen ſeines Vaters,
am 16. Jan. 1842 das Landes-Oekonomiecollegium, eine berathende tech-
niſche Behörde, die mit den landwirthſchaftlichen Vereinen in Verbindung
trat, in allen Provinzen namhafte Grundbeſitzer als außerordentliche Mit-
glieder anſtellte und alſo wohlunterrichtet über die Lage des Landbaues
ihre Gutachten abgab. Von ganzem Herzen erfreute er ſich an der erſten,
durch Beuth veranſtalteten großen Gewerbeausſtellung, die im Berliner
Zeughauſe 1844 eröffnet wurde; zum Andenken ließ er eine ſchöne Schau-
münze prägen mit dem Bilde der Germania und der Inſchrift: Seid
einig! Die wiederholten Bitten der Provinziallandtage um Wiederein-
ſetzung eines Handelsminiſteriums hatten ihm längſt gezeigt, daß er die
Gewerbs- und Handelsſachen nicht mehr allein dem Finanzminiſter und
der oft rein fiscaliſchen Geſinnung ſeiner Räthe überlaſſen durfte.
Als ihm nun der aus London heimgekehrte Miniſter Bülow vor-
ſchlug, ein Handelsamt nach dem Vorbilde des engliſchen Board of Trade
zu gründen, da ging der König freudig auf den Gedanken ein. Den
rechten Mann für die Leitung des neuen Amts glaubte er ſchon gefunden
zu haben in dem Miniſterreſidenten zu Waſhington, dem Holſten Ludwig
von Rönne, der ſchon ſeit längerer Zeit auf Urlaub in Berlin weilte und
hier, von Savigny, Bunſen und dem allezeit ſtill thätigen Senfft v. Pil-
ſach warm empfohlen, dem Monarchen bald näher trat. Rönne hatte in
ſeinen diplomatiſchen Berichten die volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe immer
ausführlich beſprochen und ſich auch viele deutſche Fabrikanten durch werth-
volle Geſchäfts-Mittheilungen zu Dank verpflichtet; die Amerikaner be-
hielten die ſtattliche Erſcheinung des liebenswürdigen preußiſchen Reſidenten
noch lange in gutem Andenken. Er ſchwärmte für den neuen König, aber
auch für das freie Polen und für die Vereinigten Staaten, deren Bundes-
verfaſſung er in Deutſchland nachzubilden wünſchte; und zu verwundern war
es nicht, daß der leicht erregbare Enthuſiaſt ſich ſpäterhin in die Irrwege
einer unfruchtbaren liberalen Oppoſition verlor. Den Schutzzoll-Theorien
Liſt’s ſtimmte er begeiſtert zu, und mit dem wahlverwandten Bunſen ver-
handelte er gern über deutſche Kolonien und geſammtdeutſche Schifffahrt
— hochſinnige Pläne, denen nur leider für jetzt jeder Boden fehlte. Geiſt-
reich und vielſeitig unterrichtet durfte er ſich mit Kühne’s reicher Erfah-
rung und Geſchäftskenntniß doch nicht von fern vergleichen.
Da dem Könige das Einfache ſtets am fernſten lag, ſo konnte er ſich
nicht entſchließen, nach den Wünſchen der Provinziallandtage, das unter-
gegangene Handelsminiſterium wieder in’s Leben zu rufen; er fürchtete,
[457]Das Handelsamt. Rönne.
ſeltſam genug, dies würde „eine Erſchwerung in den Gang der Staats-
verwaltung bringen“.*) Angeregt durch eine Denkſchrift Rönne’s entſchied
er ſich für eine unglückliche Halbheit. Er wollte ein Handelsamt unter
Rönne’s Vorſitz bilden, das gleich dem Landes-Oekonomiecollegium nur
techniſche Gutachten erſtatten, ſachverſtändige Kaufleute und Gewerbtrei-
bende zur Berathung zuziehen, auch mit den Handelskammern ſich ver-
ſtändigen ſollte. Ueber die alſo begutachteten handelspolitiſchen Fragen
entſchied dann der Handelsrath, der aus fünf Miniſtern und dem Präſi-
denten des Handelsamts beſtand und von Zeit zu Zeit unter dem Vor-
ſitze des Monarchen ſelbſt zuſammentrat. Das hohe Beamtenthum er-
kannte ſogleich, daß damit eine Annäherung an das Schutzzollſyſtem be-
zweckt wurde; auch fürchtete man, das Handelsamt könnte, wie vormals
die Generalcontrolle, den Miniſterien über den Kopf wachſen.**) Bodel-
ſchwingh ſah ſogar in den wirthſchaftlichen Notabeln den gefährlichen Keim
einer „conſtitutionellen Repräſentation“. Alle Miniſter widerſprachen dem
Plane lebhaft; nur Bülow trat für Rönne ein.***) Dem ungeachtet
wurden am 7. Juni 1844 Handelsrath und Handelsamt geſetzlich ein-
geführt. Die Schutzzollpartei begrüßte das neue Amt mit frohen Hoff-
nungen†); doch bald mußte ſie erfahren, welch’ einen Mißgriff der König
in beſter Meinung gethan hatte. Da jetzt ein ernſter ſachlicher Gegen-
ſatz vorlag und das begutachtende Handelsamt zudem keine geſicherte
Stellung neben den entſcheidenden Behörden einnahm, ſo brach die alte
Krankheit des preußiſchen Beamtenthums, der Krieg der Departements,
wieder heftig aus; die Feindſchaft zwiſchen dem Finanzminiſterium und
dem Handelsamte wurde landkundig, Rönne ſcheute ſich nicht ſogar die
Zeitungen gegen Kühne aufzuwiegeln, und man ſpottete laut, Preußens
Handelspolitik ſei zweiköpfig. —
Weil der erſte Handelsvertrag des Zollvereins mit dem Auslande, der
niederländiſche, entſchieden mißlungen und nach kurzer Zeit wieder auf-
gekündigt worden war††), ſo betrachteten die Süddeutſchen fortan alle
handelspolitiſchen Verhandlungen Preußens mit begreiflichem Mißtrauen.
Ihr Argwohn ſtieg auf’s Höchſte, als Preußen am 2. März 1841 einen
Schifffahrtsvertrag mit England abgeſchloſſen hatte — mit dieſem Eng-
land, das in unſerem Süden, wahrlich mit Recht, als der Todfeind der
deutſchen Handelseinheit verwünſcht wurde. Da hieß es überall: das ſei
der erſte Verſuch, Deutſchland ganz den Briten zu unterwerfen und unſere
Schutzzölle aufzuheben. Die Allgemeine Zeitung und faſt alle Blätter des
[458]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Südens tobten; Liſt meinte zornig, jeder durch Preußen abgeſchloſſene
Handelsvertrag ſei ein öffentliches Unglück für den Zollverein. In Wahr-
heit war dieſer vielgeſchmähte Vertrag ſehr unſchuldig, ja ſogar vortheil-
haft für Deutſchland. England verſprach, den Zollvereinsſchiffen die Ver-
günſtigungen, welche ihnen bisher nur für die direkte Fahrt zuſtanden,
künftighin auch für die indirekte Fahrt aus den ſogenannten Vorhäfen
des Zollvereins, aus den Nordſeehäfen zwiſchen Elbe und Rhein, zu ge-
währen. Die preußiſche Regierung hatte mithin einen kleinen Schritt
vorwärts gethan auf der Bahn der nationalen Handelseinheit; ſie hatte
erreicht, daß England anfing, das geſammte Deutſchland in Sachen der
Schifffahrt als ein handelspolitiſches Ganzes zu behandeln. Dafür gab
ſie nur das ſelbſtverſtändliche Verſprechen, daß ſie auch ihrerſeits für
die Dauer des Vertrags nichts ändern würde an ihrer Schifffahrtsgeſetz-
gebung, die allerdings weit liberaler war als die engliſche Navigations-
akte und zwiſchen direkter und indirekter Fahrt keinen Unterſchied kannte.
Der wüſte, zielloſe Lärm bewies lediglich, wie viel ſchroffe Parteigegen-
ſätze der Zollverein in ſich barg. König Friedrich Wilhelm ſchwankte
einen Augenblick, dann fragte er Kühne um Rath und ließ ſich überzeugen.*)
Darauf rechtfertigte der ſtreitbare General-Steuerdirektor den engliſchen
Vertrag in der Staatszeitung durch einen lichtvollen Aufſatz, der die
Gegner zum Schweigen brachte. —
Weit wichtiger wurden die langwierigen Zollverhandlungen mit Belgien.
Hier galt es, nöthigenfalls ſelbſt durch wirthſchaftliche Opfer, eine ernſte
politiſche Gefahr abzuwenden. Schon vor längerer Zeit hatte König Leo-
pold in Berlin leiſe anfragen laſſen, ob Belgien nicht in den Zollverein
eintreten könne, und darauf die Antwort erhalten, der Zollverein ſolle ein
ausſchließlich deutſcher Handelsbund bleiben.**) Es ſtellte ſich bald heraus,
daß jene Anfrage eine diplomatiſche Falle war; denn wäre die preußiſche
Regierung auf das keineswegs ernſtlich gemeinte Anerbieten irgendwie ein-
gegangen, ſo hätte ſie das Recht verloren, künftighin gegen einen franzöſiſch-
belgiſchen Zollverein Einſpruch zu erheben. Und dies für Deutſchland
bedrohliche Unternehmen wurde im Sommer 1841 wirklich in Angriff ge-
nommen; man erfuhr in London, daß der Brüſſeler Hof in Paris die
Bildung eines Zollvereins, nach dem Vorbilde des deutſchen, vorgeſchlagen
hatte.***) Der Antrag ging, wie der König von Württemberg bald aus
ſicherſter Quelle vernahm†), von Leopold perſönlich aus, und Guizot konnte
ihn nicht von der Hand weiſen, da die Einverleibung Belgiens noch immer
der Traum jedes Franzoſen war und alle Nachbarmächte die Erfolge der
preußiſchen Zollvereinspolitik mit Eiferſucht betrachteten; ein Glück nur,
[459]Plan eines belgiſch-franzöſiſchen Zollvereins.
daß viele franzöſiſche Fabrikanten den Wettbewerb Belgiens fürchteten und
durch ihren Einſpruch die Verhandlungen erſchwerten.
Wollte der Brüſſeler Hof die ihm von allen Mächten verbürgte Neu-
tralität gewiſſenhaft einhalten, ſo durfte er mit keiner Großmacht einen
Zollverein ſchließen, am allerwenigſten mit Frankreich; denn was die
Anweſenheit franzöſiſcher Zollbeamten im Auslande bedeutete, das hatte
Europa im Zeitalter der Continentalſperre zur Genüge erfahren. Sicher-
lich konnte der kluge Coburger dieſe handgreifliche Wahrheit nicht ver-
kennen. Wenn er den unmöglichen Gedanken eines belgiſch-franzöſiſchen
Zollvereins aufwarf, ſo hegte er offenbar nur die Abſicht, nach langem
Schaukeln ſchließlich von beiden Nachbarn günſtige Handelsverträge zu
erlangen; war doch das belgiſche Zwiſchenland mit ſeinem umfänglichſten
Verkehre auf Frankreich, mit ſeinen werthvollſten Erzeugniſſen auf Deutſch-
land angewieſen. Das abgefeimte kaufmänniſche Spiel währte drei volle
Jahre hindurch, ſo daß Bunſen faſt die Hälfte ſeiner Berichte dieſen
Nachrichten widmen mußte. Zuweilen verſtieg ſich der Coburger bis zu
Drohungen; einmal ſagte er gar: ich ſcheue nicht den Krieg mit den Oſt-
mächten, die mich gar zu ſchlecht behandelt haben, dann würde ich mich
ganz in Frankreichs Arme werfen.*)
Die preußiſche Regierung, als die zunächſt betheiligte Macht, bot wider
dieſe Zettelungen Alles auf; ſie verlangte, da der König ſich in ſchwieriger
Lage immer gern an das geſammte Europa wendete, daß die Bürgen der
belgiſchen Neutralitat auf einer Conferenz gemeinſam erklären ſollten, ein
neutraler Staat dürfe keinen Zollverein mit dem Auslande ſchließen.
Sie erfuhr jedoch wieder einmal, wie wenig eine europäiſche Geſammt-
bürgſchaft bedeutet. Jede der Mächte ſuchte ſich hinter den anderen zu
verſtecken; jede fürchtete durch eine förmliche Erklärung dem Miniſterium
Guizot Verlegenheiten zu bereiten und alſo den ſo mühſam geſicherten
europäiſchen Frieden wieder zu gefährden. Den Grundſätzen Preußens
ſtimmten ſie wohl zu; doch von einer Conferenz wollten ſie alle nichts
wiſſen, und ſelbſt Neſſelrode ſprach nur lau.**) Metternich ſendete ein-
mal eine ſcharfe Depeſche an den Botſchafter in Paris und rühmte ſich
mit gewohntem Selbſtgefühl gegen den preußiſchen Geſandten: „ich habe
dieſen Plan getödet;“***) nachher that er nichts mehr, obwohl der Plan
noch lange am Leben blieb. Aberdeen floß von freundſchaftlichen Ver-
ſicherungen über, er betheuerte, daß er den König der Belgier mehrmals
ſchriftlich und mündlich gewarnt hätte; im Nothfalle wollte er ſogar die
Hand bieten zu einer gemeinſamen Erklärung der vier Mächte am Tui-
lerienhofe; für jetzt ſchien ihm aber ein ſolcher Schritt nicht recht zeit-
[460]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
gemäß (less obvious).*) Ueberdies war der Lord mit Guizot perſönlich
befreundet; ein minder befangener Beobachter als Bunſen hätte auch leicht
einſehen müſſen, daß weder England noch Oeſterreich ernſtlich beabſichtigen
konnte die Politik des deutſchen Zollvereins zu unterſtützen. Das Er-
ſtarken der Mitte Europas ſchien allen Mächten gleich bedrohlich.
Der preußiſche Staat ſah ſich mithin auf ſeine eigene Kraft ange-
wieſen, und er beſaß, wie die Dinge lagen, nur eine Waffe um den bel-
giſch-franzöſiſchen Zollverein zu verhindern: er mußte den Belgiern einen
Handelsvertrag anbieten, der ihnen die Annahme des franzöſiſchen Zoll-
ſyſtems unmöglich machte. Zu dieſem Zwecke wurden in Brüſſel lang-
wierige Unterhandlungen eingeleitet. Ihr Verlauf bewies, daß König Leo-
pold und ſein gewandter Miniſter Nothomb das Schreckbild des franzöſiſchen
Zollvereins weſentlich als ein Mittel benutzten, um auf Deutſchland zu
drücken. Als die Verhandlung begann, verſicherte Leopold ſeinem Neffen
zu Windſor inbrünſtig, der franzöſiſche Plan ſei jetzt gänzlich aufgegeben;
als ſie nachher in’s Stocken kam und Preußen ſich ſogar genöthigt ſah, die
Zollbeläſtigungen des kleinen Nachbarlandes durch kräftige Retorſionen zu
beantworten, da tauchte der franzöſiſche Zollvereinsgedanke plötzlich wieder
auf.**) Dem Coburgiſchen Voltenſchläger konnte Niemand ſo leicht in die
Karten ſehen, und da er auch auf Frankreichs Hilfe ſicher rechnen durfte,
ſo befand ſich Preußen in einer ſchwierigen diplomatiſchen Lage.
Geſandter in Brüſſel war Frhr. Heinrich v. Arnim, einer von den
romantiſchen Jugendfreunden des Königs. Er hatte einſt die Salons der
Wilhelmſtraße durch Geiſt und Witz, durch beredte Vertheidigung der
Haller’ſchen Staatslehre entzückt, neuerdings aber, belehrt durch die Er-
fahrung, ſich liberaleren Anſchauungen zugewendet. Von Deutſchlands
künftiger Macht und Herrlichkeit dachte er immer groß. Ebenſo ehrgeizig
als talentvoll verſtand er in der vornehmen Welt ſcharf zu beobachten, auch
mit Gelehrten gut auszukommen; begabte junge Männer fühlten ſich von
ſeiner anregenden Liebenswürdigkeit unwiderſtehlich angezogen. Leider lag
in ſeiner Natur ein phantaſtiſcher, halb närriſcher Zug, der ſich gemeinhin
nur in ſonderbaren naturphiloſophiſchen Liebhabereien und in einem ſtrengen
Pietismus bekundete, zuweilen aber auch politiſch gefährlich wurde. Arnim
liebte die Häfen und die Fabriken zu bereiſen und ſagte ſtolz: „Nationalöko-
nomie iſt meine Specialität,“***) obwohl ſeine volkswirthſchaftliche Sach-
kenntniß nicht weit über das Wiſſen eines vornehmen Dilettanten hinausging;
er ſtand den Ideen Rönne’s nahe und verkehrte auch mit Liſt, der einmal
ſelbſt nach Brüſſel hinüberkam um bei den Verhandlungen mitzuwirken.
Dem Miniſter Nothomb erklärte Arnim offen, aus politiſchen Gründen
[461]H. v. Arnim. Preußiſch-belgiſcher Handelsvertrag.
müſſe Preußen die Verſtändigung durchſetzen, und nach langen Mühen
ſchloß er am 1. Sept. 1844 eigenmächtig den Handelsvertrag ab. Belgien
erlangte die Herabſetzung der deutſchen Eiſenzölle, alſo eine wichtige Be-
günſtigung grade für ſeine walloniſchen, den deutſchen Nachbarn bisher
feindlichen Provinzen; der Zollverein aber erhielt die beruhigende Ge-
wißheit, daß der kleine Nachbarſtaat für die Dauer des Vertrags keinem
Zollvereine beitreten konnte, außerdem wurde die ſchon früher zugeſtandene
freie Durchfuhr für die Bahnlinie Aachen-Antwerpen abermals anerkannt.
Einen wirthſchaftlichen Vortheil errang Deutſchland mithin durchaus nicht;
die Begünſtigung des belgiſchen Eiſens widerſprach nicht nur den Grund-
ſätzen des Zollvereins, der ſonſt keine Differentialzölle gewährte, ſie ſchä-
digte auch den deutſchen Bergbau, der dem Wettbewerbe der älteren und
reicheren belgiſchen Eiſenwerke noch nicht gewachſen war. König Leopold
hatte abermals ſeine kaufmänniſche Gewandtheit bewährt, und als er dann
(1845) auch mit Frankreich einen günſtigen Handelsvertrag ſchloß, da durfte
er ſich wohl rühmen, daß ſeine Schaukelpolitik reiche Zinſen trug.
Die großen Erwartungen, welche Arnim von dem freien Antwerpener
Durchfuhrhandel hegte, erfüllten ſich nicht. Er hoffte, der Verkehr auf
der Schelde würde ſich wieder ſo reich geſtalten, wie einſt in den fernen
Tagen, da die Hanſen ſich ihr mächtiges Deutſches Haus am Hafen
erbaut hatten; Antwerpen ſollte das Emporium des deutſchen Weſtens
werden, den Rheinhandel von Holland ablenken und alſo ſchließlich auch
die Hanſeſtädte zwingen, dem Zollvereine beizutreten. Er entwickelte dieſe
Gedanken in einer geiſtreichen Denkſchrift, welche unter dem Titel „Ein
handelspolitiſches Teſtament“ in zwölf Exemplaren gedruckt und, obwohl
die Zeitungen ſie gar nicht kannten, von allen Blättern der Schutzzoll-
Partei höchlich gerühmt wurde. Arnim’s letzte Hoffnung war ein deut-
ſches Differentialzoll-Syſtem, das doch ohne eine zwingende Reichsgewalt
und ohne die Mitwirkung der Hanſeſtädte rein unmöglich blieb; und
wieder, ſo lange Deutſchland den holländiſchen Handel nicht durch harte
Unterſcheidungszölle, zum Schaden unſerer Rheinlande ſelbſt, beläſtigte,
konnte ſich auch der große Verkehr nicht vom Rheine nach der Schelde
hinüberziehen. Genug, der belgiſche Vertrag brachte dem Zollvereine un-
mittelbar keinen Gewinn; gleichwohl empfing der Geſandte für ſein eigen-
mächtiges Verfahren das warme Lob ſeines Hofes. Mit gutem Grunde;
die politiſche Nothwendigkeit entſchuldigte viel, die Vereinigung Belgiens
mit dem franzöſiſchen Zollſyſteme mußte durchaus verhindert werden.
Dies leuchtete auch den zollverbündeten Höfen ein; ſie waren ſchon im
Voraus von der preußiſchen Regierung darauf hingewieſen worden, daß
der Handelsvertrag nur durch Begünſtigung des belgiſchen Eiſens zu er-
langen ſei, und billigten nachträglich Alles. König Ludwig vornehmlich
freute ſich, ſeinen geliebten Zollverein aus einer ſchweren Gefahr errettet
zu ſehen. Zum Glück zeigten ſich ſelbſt die ſüddeutſchen Schutzzöllner
[462]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
verſöhnlich; ſie lobten den Vertrag, der doch ihren Grundſätzen zuwider-
lief — weil Liſt dabei mitgeholfen hatte. —
Wenn Preußens Handelspolitik ſchon dieſem kleinen weſtlichen Nach-
barn gegenüber ſich nicht frei bewegen konnte, ſo war ſie vollends im Oſten
ſchwer bedrängt. Seit dem Jahre 1836, ſeit der alte König ſich geweigert
hatte mit der vertragsbrüchigen Nachbarmacht einen neuen Handelsver-
trag abzuſchließen, verfuhren Preußen und Rußland an ihrer Grenze
beide ganz nach Willkür; es bildete ſich dort, wie König Friedrich Wilhelm
ſelbſt ſagte, „ein unter benachbarten und befreundeten Völkern ganz un-
gewöhnlicher Zuſtand.“*) In ſeinen erſten Regierungsjahren hatte Czar
Nikolaus die nationalen Gedanken der Moskowiter faſt ebenſo mißtrauiſch
betrachtet wie die liberalen Ideen, weil die Führer der gegen ſeinen Thron
verſchworenen Dekabriſten ja alleſammt altruſſiſchen Adelsgeſchlechtern
angehörten; nach der Zerſchmetterung des polniſchen Aufruhrs näherte
er ſich jedoch mehr und mehr den Beſtrebungen der moskowitiſchen Partei,
die ohnehin ſeinem rohen Bildungshaſſe zuſagten. Er wollte ſein heiliges
Rußland abſperren von den Ideen wie von den Waaren des verderbten
Weſtens; ſeinem preußiſchen Vertrauten Rauch geſtand er offen: ich muß
die Grenze geſchloſſen halten, damit die polniſchen Flüchtlinge nicht ihr
revolutionäres Gift in’s Land bringen.**) Das unterjochte Polen wurde
im Weſentlichen als eine ruſſiſche Provinz behandelt, und ſchon begannen
auch die erſten Angriffe auf die alten Landesprivilegien der treuen bal-
tiſchen Provinzen. Hier in dieſer halborientaliſchen Welt, wo die Religion
die Menſchen noch feſter als der Staat an einander bindet, war es ein
furchtbarer Schlag für das lutheriſche Deutſchthum der Oſtſeelande,
daß jetzt tauſende von eſthiſchen und lettiſchen Bauern durch gleißende
Verſprechungen zur orthodoxen Kirche hinübergelockt, binnen wenigen Jahren
zwanzig griechiſche Gotteshäuſer auf den Krondomänen erbaut wurden. Die
neuen, durch Cancrin’s Prohibitivſyſtem künſtlich geförderten Fabriken ſie-
delten ſich meiſt um Moskau an, der Schwerpunkt des Reichs verſchob ſich
nach dem Süden hin; eine neue Zeit kündigte ſich an, die das Cultur-
werk Peter’s des Großen zu zerſtören drohte. Einheit der Sprache, des
Rechtes, des Glaubens überall unter dem Scepter des weißen Czaren
— ſo lautete jetzt die Loſung, und ſie entſprach unzweifelhaft der Geſinnung
der herrſchenden Klaſſen.
In dem Jahrhundert der nationalen Ideen und Gegenſätze mußte
das grauſame Geſetz des hiſtoriſchen Undanks, das faſt alle Culturvölker
an ſich erprobt haben, ſehr wirkſam hervortreten, zumeiſt zu Deutſchlands
Schaden. Wie die Deutſchen einſt ſelber, kaum herangereift, ihre Lehrer
und Culturbringer, die Römer aus dem Lande vertrieben hatten, ſo waren
[463]Moskowitiſcher Deutſchenhaß.
ihnen im ſechzehnten Jahrhundert ihre eigenen Schüler, die ſkandinaviſchen
Völker trotzig entgegengetreten um ſich ſelbſt für mündig zu erklären und
ein unabhängiges nationales Leben zu beginnen. Jetzt kam die Zeit, da
auch die geſammte ſubgermaniſche Welt des Oſtens, die ihre Geſittung
faſt ausſchließlich den Deutſchen verdankte, ihren germaniſchen Lehrmeiſtern
zu entwachſen verſuchte. Der erſtarkende Nationalſtolz der Magyaren
und der Tſchechen, der Ruſſen und der Südſlaven bekundete ſich — das
war der nothwendige Lauf der Welt — in einem wüthenden Deutſchen-
haſſe. In Rußland nahmen auch ſchon die panſlaviſtiſchen Ideen über-
hand, phantaſtiſche Träume von einer Vereinigung aller ſlaviſchen Völker,
die ſich ſämmtlich dem weißen Czaren unterordnen ſollten. Darum be-
geiſterte ſich der ruſſiſche Adel jetzt für ein Bündniß mit Frankreich, und
dieſer Gedanke, der ſchon unter Alexander I. mehrmals aufgetaucht war,
fand nunmehr auch in Frankreich manche ſchwärmeriſche Anhänger. Man
entſann ſich wieder der Zeiten, da einſt Pozzo di Borgo als ruſſiſcher
Geſandter und franzöſiſcher Patriot dem Tuilerienhofe ſeine Rathſchläge
ertheilt hatte. Lamartine, der in ſeinen überſchwänglichen Reden doch zu-
weilen ein Herzensgeheimniß ſeines Volkes prophetiſch herausfühlte, nannte
das franzöſiſch-ruſſiſche Bündniß „den Schrei der Natur“, eine geographiſche
Nothwendigkeit.
Die Nationen gleichen in ihrem Gemüthsleben den einzelnen Menſchen
weit mehr, als die demokratiſche Volksſchmeichelei zugeben will; die Einen
wie die Anderen laſſen ſich oft auf lange hinaus durch fixe Ideen, durch
unklare Wahnvorſtellungen bezaubern. Rußland und Frankreich waren
durch keinerlei Gemeinſchaft der Intereſſen auf einander angewieſen; nur
ein einziges mal, im ſiebenjährigen Kriege, hatten ſie gemeinſam gegen
Deutſchland gefochten, und wahrhaftig nicht zu ihrem Ruhme. Was gleich-
wohl den Gedanken eines franzöſiſch-ruſſiſchen Bündniſſes jetzt wieder be-
lebte, war allein der Haß gegen das erſtarkende Mitteleuropa; und da
dieſe Empfindung im Weſten wie im Oſten die Gemüther wirklich be-
herrſchte, ſo konnte vielleicht dereinſt noch eine Zeit kommen, wo der krank-
hafte politiſche Plan ſich verwirklichte. Bis zu dieſem Aeußerſten freilich
wollte Nikolaus den Moskowitern nicht folgen. An dem Bunde der Oſt-
mächte hielt er noch immer ebenſo feſt wie ſeine vertrauten Rathgeber
Neſſelrode und Orlow; den Haß gegen das Julikönigthum und die alte
Vorliebe für das preußiſche Heer gab er auch niemals auf. Deßhalb ver-
höhnten ihn die Panſlaviſten als einen deutſchen Gottorper und benamſten
ihn Karl Iwanowitſch — was ihnen nebenbei den Vortheil bot, auf ihren
Czaren ebenſo ungeſtraft zu ſchimpfen wie die radicale Jugend Preußens über
ihren „Lehmann“ zu ſpotten pflegte. In der inneren Politik aber waltete
unumſchränkt das Moskowiterthum mit ſeinem barbariſchen Fremdenhaſſe.
Mit den Jahren wurde die Unordnung an der Grenze doch den Ruſſen
ſelbſt läſtig. Cancrin zeigte ſich, als er zur Zeit des Thronwechſels durch
[464]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Berlin kam, und nachher auch gegen den preußiſchen Geſandten ſehr ver-
bindlich, er wünſchte einen neuen Handelsvertrag abzuſchließen. Die
Gelegenheit zu einem ſolchen Abkommen bot ſich bald, da der Cartellver-
trag über die Auslieferung der Flüchtlinge im Jahre 1842 ablief. Dies
Cartell war für Rußland unſchätzbar, weil die leibeigenen Soldaten ſehr
oft nach Preußen zu deſertiren verſuchten. Preußen dagegen empfand
es nur als eine Beläſtigung; denn preußiſche Flüchtlinge gab es kaum,
und die ruſſiſchen wurden, ſobald ſie der Wachſamkeit der Grenzbehörden
entgingen, als kräftige Feldarbeiter von den Grundbeſitzern in Poſen
und Oſtpreußen nicht ungern aufgenommen. Wenn der Berliner Hof
gleichwohl die Erneuerung des Cartells nicht von der Hand wies, ſo durfte
er ſich für einen ſolchen Beweis freundnachbarlicher Gefälligkeit wohl die
Erleichterung des Grenzverkehres, die in den Oſtprovinzen überall ſtürmiſch
gefordert wurde, und einige Zollermäßigungen ausbedingen. Deßhalb
wurden im Frühjahr 1842 Unterhandlungen eingeleitet und das Cartell
noch vorläufig auf ein halbes Jahr verlängert.*)
Als der König darauf im Juni ſelbſt nach Petersburg kam**), da
bereitete der Czar dem Gaſte ſeines Hauſes eine orientaliſche Ueberraſchung,
deren gleichen im Abendlande kaum möglich war. Er erklärte, aus reiner
Freundſchaft für den König wolle er ſofort den Grenzverkehr, wie Preußen
wünſchte, etwas erleichtern, auch mehrere neue Grenzämter einrichten und
die Zölle auf einige preußiſche Waaren, Seide, Baumwolle, Eiſen ernie-
drigen. Dieſe Gewährungen ſollten ſogleich durch einen Ukas eingeführt
werden. Gegenleiſtungen verlangte er nicht; vielmehr überließ er die
Erneuerung des Cartells und die Herabſetzung der Durchfuhrzölle für
ruſſiſches Getreide vertrauensvoll „der Billigkeit und den freundſchaft-
lichen Gefühlen des Königs“. Die plumpe Liſt konnte bei Friedrich Wil-
helm’s argloſer Hochherzigkeit vielleicht gelingen; doch zum Glück begleiteten
ihn zwei nüchterne, geſchäftskundige Unterhändler, die Cabinetsräthe Uhden
und Müller. Beide warnten dringend, und in Berlin errieth man ſofort,
wo der Czar hinaus wollte. Er rechnete — ſo ſchrieb General Thile —
„daß es ihm durch die Form einer zuvorkommenden Generoſität am ſicher-
ſten gelingen würde, jede weitere Verhandlung zu umgehen und die Be-
dingungen der Vereinigung einſeitig zu normiren.“***)
Die preußiſche Regierung behandelte mithin die Gewährungen des
Czaren, wie es ſich zwiſchen civiliſirten Staaten ganz von ſelbſt verſteht,
nur als Vorſchläge und verlangte noch einige andere Zugeſtändniſſe.†)
Darüber gerieth Nikolaus in Wuth; es wurmte ihn gar zu tief, daß man
ihn durchſchaut hatte, grimmig ſchalt er auf den ſchnöden Undank der
[465]Die Petersburger Ueberraſchung.
Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Werth der
ruſſiſchen Großmuth noch näher kennen; denn als der verſprochene Ukas
erſchien, da ergab ſich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für
preußiſche Waaren, nicht für Waaren des Zollvereins gelten ſollten und
folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte
der Zollverein bisher alle ruſſiſchen Zollverhandlungen allein durch Preußen
als den einzigen Grenzſtaat führen laſſen. Da er aber den inneren Ver-
kehr ganz frei ließ, ſo mußten alle der preußiſchen Ausfuhr gewährten
Vortheile nothwendig dem geſammten Zollvereine zu gute kommen, wie
ja auch der ruſſiſchen Einfuhr nach Ueberſchreitung der preußiſchen Grenze
ſofort das ganze deutſche Zollgebiet offen ſtand; die Behörden waren
ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußiſche Urſprungsſcheine
auszufertigen. Unmöglich konnte ſich ein Staatsmann von Cancrin’s
Sachkenntniß über dieſe Verhältniſſe täuſchen; er beabſichtigte freundnach-
barlich, neue Vergünſtigungen von Preußen zu erpreſſen, auch wohl Un-
frieden im Innern des Zollvereins zu erregen.
In der That erhoben die ſüddeutſchen Zeitungen ſobald der Ukas
bekannt wurde ein heftiges Geſchrei gegen Preußens treuloſe Selbſtſucht.
Wieder einmal ein ganz ungerechter Vorwurf gegen die Vormacht des
Zollvereins. Der preußiſche Hof dachte keinen Augenblick an eine Preis-
gebung ſeiner Zollverbündeten; er ließ vielmehr alsbald erwidern, daß er
die ruſſiſchen Gewährungen ablehne, wenn ſie nicht dem ganzen Zollver-
eine zu theil würden. Cancrin aber empfing dieſe Antwort, die doch gar
nicht anders lauten konnte, mit ſo wohl geſpielter entrüſteter Verwunde-
rung, daß König Friedrich Wilhelm ſich über die Heuchelei des Deutſch-
Ruſſen entſetzte und in hellem Zorne ſchrieb: „Ich möchte ihn anreden
mit dem Schluß der Rede des Götz von Berlichingen an den Reichstrom-
peter!!! Die ruſſiſche Verpuppung iſt bei dieſem Deutſchen
vollendet.“*) Nunmehr erklärte Neſſelrode erhaben, ſein Kaiſer „zögere
nicht, auf das Cartell zu verzichten und alſo ein neues Opfer allen denen,
die er ſich ſchon freiwillig auferlegt, hinzuzufügen.“**) Mehrere Monate
lang lebten hierauf die beiden Nachbarſtaaten ohne jedes Vertragsverhält-
niß; Preußen beſchränkte ſich auf die Auslieferung gemeiner Verbrecher.***)
Auch der Prinz von Preußen richtete nichts aus, als er im December
den ruſſiſchen Schwager beſuchte. Der Czar wetterte und tobte, er ver-
fiel in ſeinem Grimm auf ungeheuerliche Vertheidigungspläne, befahl alle
Juden 50 Werſt weit von der Grenze wegzuſchaffen und dachte ſogar,
der Weſtgrenze entlang einen Landſtreifen von der Breite eines Kilometers
ganz wüſt legen zu laſſen, um alſo jede Flucht und jeden Schmuggel zu
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 30
[466]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
verhindern.*) Dem Geſandten Liebermann, der freilich mit ſeiner recht-
haberiſchen Taktloſigkeit den Erboſten nicht zu beſchwichtigen verſtand, zeigte
er deutlich ſeine üble Laune; dem getreuen Rauch aber ſagte er bitter:
der wilde Ruſſenhaß, der ſich überall in Deutſchland bekundet, macht mir
jede Freundlichkeit gegen den Zollverein unmöglich.**)
Endlich fühlte er, daß er mit ſolchem Trotze nicht weiter kam. Die
Verhandlungen begannen von Neuem, und die preußiſche Regierung ent-
deckte einen Ausweg, der dem Czaren erlaubte, ſich ohne förmlichen Wider-
ruf zurückzuziehen. Liebermann mußte vorſchlagen, der Kaiſer brauche
ſeinen Ukas nicht aufzuheben, er brauche nur zu befehlen, die preußiſchen
Urſprungsſcheine ſollten genügen, wenn ſie die einfache Verſicherung
enthielten, daß die eingeführten Waaren aus dem freien Verkehre des
Inlands — und dies bedeutete: aus dem Zollvereine — herſtammten.
Darauf erwiderte Cancrin mit einem Tugendſtolze, der aus ruſſiſchem
Munde hoch ergötzlich klang: dieſer Vorſchlag iſt etwas jeſuitiſch.***) Je-
doch begann er bald einzuſehen, daß dieſer unſittliche Vorſchlag ihm eine
goldene Brücke baute. Im September 1843 kam Nikolaus ſelbſt nach
Preußen und fühlte ſich ganz entzückt, als bei den Manövern zwei Armee-
corps und 17 Reiterregimenter in den ſchönen neuen Helmen und Waffen-
röcken vor ihm erſchienen. Hier wurde nochmals wegen des Grenzverkehrs
mit ihm verhandelt†), und nun endlich, im Januar 1844, bewilligte er
die von Preußen geforderte freiere Faſſung der Urſprungsſcheine; die
Waaren aus dem Zollvereine wurden mithin, ohne daß man es förmlich
ausſprach, den preußiſchen gleich geſtellt. Nachdem Preußen alſo den
nächſten Zweck erreicht hatte, ſchrieb der König ſeinem Schwager zärtlich:
„Du haſt eine gute und große That vollbracht, indem Du die neue Form
der Zollſcheine anordneteſt für die Waaren, welche, nach Deinen Wohlthaten
vom vorigen Jahre, Deine Grenzen zu überſchreiten wagen. Darum bin
ich nicht mehr gezwungen, auf dieſe Wohlthaten für meine Unterthanen
zu verzichten. Auch Deine Stellung, theuerſter Freund, iſt Deutſchland
gegenüber jetzt eine andere geworden, ſie iſt jetzt gut, ſie iſt was ſie ſein
ſoll; und viele Dinge, die ich im vergangenen Jahre nicht zu thun wagte,
weil eine achtungswerthe öffentliche Meinung ſich ihnen widerſetzte, ſind
heute thunlich, denn der Widerſpruch des Publikums würde jetzt nicht
mehr achtungswerth ſein und folglich von mir nicht beachtet werden.“††)
Nunmehr kam man raſcher vorwärts. Preußen ſetzte die Durchfuhrzölle
für den Flußverkehr des ruſſiſchen Getreides etwas herab und erneuerte
am 20. Mai 1844 den Cartellvertrag.
[467]Abſchluß mit Rußland.
Auch bei dieſen Schlußverhandlungen ließen es die Moskowiter nicht
an anmuthigen Ueberraſchungen fehlen. Der Czar hatte ſoeben befohlen,
daß alle ruſſiſchen Juden, wenn ſie das Reich ohne Paß verließen, da-
durch von Rechtswegen alsbald ihre Staatsangehörigkeit verlieren ſollten,
und verlangte nun unſchuldig, Preußen möge im Cartellvertrage dieſe
Verordnung als rechtsverbindlich anerkennen. So konnte Rußland, nach
ſeinen bewährten Verwaltungsgrundſätzen, den minder liebenswerthen Theil
ſeiner Judenſchaft einfach nach Preußen abſchieben. Die Preußen verbaten
ſich jedoch dieſen neuen Freundſchaftsbeweis und ſetzten durch, daß die
Juden in dem Cartellvertrage gar nicht erwähnt wurden.
Das Geſammt-Ergebniß war für Preußen wenig erfreulich. Die ruſſi-
ſchen Gewährungen bedeuteten nicht viel, und dafür übernahm man wieder
die läſtigen Cartellpflichten zu Gunſten einer halbaſiatiſchen Nachbarmacht.
Der König brachte dies ſchwere Opfer, das den preußiſchen Staat allein
traf, lediglich um Deutſchlands willen, um ſeinen Zollverbündeten die
Gleichberechtigung zu ſichern; und doch ward ihm dieſer ſchöne Beweis
deutſcher Treue von den beharrlich ſchmähenden ſchutzzöllneriſchen Blättern
des Südens niemals angerechnet. Indeſſen geſtaltete ſich der Grenzverkehr
in den nächſten Jahren etwas menſchlicher. Noch beſſere Ausſichten ſchienen
ſich zu erſchließen, als Cancrin den Abſchied nahm und bald darauf (1845)
ſtarb. Mit ſeinem gewaltigen Urheber — ſo hoffte alle Welt — mußte
auch das verhaßte Prohibitivſyſtem fallen. Der beſte Kenner der ruſſi-
ſchen Volkswirthſchaft, Tegoborski, verlangte entſchieden die Herabſetzung
der drückenden Zölle und wurde jetzt häufig zu Neſſelrode berufen. Niko-
laus ſelbſt äußerte ſich zuweilen in ähnlichem Sinne, wenn er mit Gene-
ral Rochow zur Parade ritt, dem neuen Geſandten, der ihm als hoch-
conſervativer alter Soldat weit beſſer gefiel als vordem Liebermann. Aber
alle dieſe guten Abſichten, die immerhin etwas mehr waren als leere Vor-
ſpiegelungen, trugen keine Frucht. Das alte Syſtem blieb aufrecht; denn
der Czar konnte ſich nicht entſchließen einen fähigen Finanzmann in Can-
crin’s Stelle zu berufen, und die mächtigen, bei den neuen Fabriken
ſtark betheiligten Hoffamilien widerſtrebten jeder Reform.*) Darum kam
Geh. Rath v. Patow, nach langen Berathungen mit Kühne, zu dem
Schluſſe: wir können keinen Vertrag mit dem Nachbar ſchließen, weil
Rußland doch nichts gewährt oder nichts hält; „die Zeit der Handelsver-
träge iſt überhaupt vorüber, wie Sir Robert Peel ſagt und zum Theil
weil er es ſagt.“**)
Auch ſonſt im Auslande war Preußens Handelspolitik nicht glücklich.
Ein mit den Vereinigten Staaten verabredeter Handelsvertrag wurde durch
den amerikaniſchen Congreß verworfen. Lange, widerwärtige Verhandlungen
mit Dänemark bewirkten ſchließlich nur eine geringe Ermäßigung des Sund-
30*
[468]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
zolls, da weder England noch Rußland noch Schweden den preußiſchen
Hof ernſtlich unterſtützte, und mit wiehernder Schadenfreude begrüßten
die ſtammverwandten Hanſen das Mißgeſchick ihrer Concurrenten an der
Oſtſee. —
Angeſichts dieſer geringen Erfolge der auswärtigen Verhandlungen
verſchärfte ſich unausbleiblich der wirthſchaftliche Parteikampf im Innern.
Der Zollverein mußte jetzt ſeine Feuerprobe beſtehen. Alle Kriſen, die
er ſpäterhin noch überdauern ſollte, wurden veranlaßt oder doch gefördert
durch die politiſchen Hintergedanken der nach Oeſterreich hinüberſchauenden
Mittelſtaaten. Dieſe erſte und ſchwerſte Kriſis aber kam aus dem Volke.
Abel mitſammt ſeinen ultramontanen Genoſſen hätte ſicherlich den natio-
nalen Handelsbund gern zerſtört, es gelang ihm auch den trefflichen, in
Preußen beliebten Generalzolldirektor Bever zu beſeitigen; König Ludwig
jedoch gebot ihm Halt. Der Wittelsbacher blieb ſelbſt in dieſen Tagen
ſeiner clericalen Träume immer gut deutſch geſinnt, er zeigte ſich durchaus
verſöhnlich und ſagte zu dem preußiſchen Geſandtſchaftsvertreter: der Zoll-
verein iſt unzerſtörbar, viel wichtiger als der Deutſche Bund.*) Auch die
anderen Höfe hegten keine feindſeligen Pläne, ſie wurden nur fortgeriſſen
durch die ungeſtümen Wünſche ihrer Fabrikanten. Nord und Süd drohten
ſich zu trennen. Zu Preußen hielten alle norddeutſchen Zollverbündeten
und Darmſtadt, zur Partei des Schutzzolls Baden, Württemberg, Naſſau
und — beſonnener als die andern — Baiern.
Leider lagen die Dinge ſo einfach nicht, wie Bodelſchwingh annahm,
da er zuverſichtlich ſagte: das Geſchrei nach hohen Schutzzöllen iſt künſt-
lich erzeugt; bei niedrigen Zöllen und blühenden Finanzen befindet ſich
die Mehrzahl des Volkes wohl.**) Der alte Tarif, der im Ganzen noch
genügte, ſchädigte unleugbar einzelne wichtige Gewerbszweige. Am ſchwer-
ſten litt die einſt ſo blühende Leineninduſtrie Schleſiens. Früherhin hatten
die frohnenden Bauern den Flachs der Rittergüter zu Leinengarn ver-
ſponnen. Seit der Aufhebung der Frohnden verfiel der Flachsbau, man
ſuchte ſparſam Leinſamen und Flachs zugleich auf demſelben Felde zu er-
zeugen, was doch kaum möglich war, und als die unglücklichen Weber nun
dieſen ſchlechteren Flachs auf ihren altväteriſchen Webſtühlen mühſam
verarbeiteten, ſahen ſie ſich plötzlich bedroht durch den überlegenen Wett-
bewerb der mechaniſchen Spinnerei Englands, die im napoleoniſchen Zeit-
alter, unter dem Schutze hoher Zölle, mächtig angewachſen war und alle
neuen Erfindungen des Maſchinenweſens findig ausnutzte. Zur Zeit da
das preußiſche Zollgeſetz erſchien, beherrſchte die deutſche Leineninduſtrie
den inländiſchen Markt noch ganz und die neuen Zölle reichten aus.
Bald wendete ſich das Blatt; während die deutſche Ausfuhr ſich um volle
[469]Forderungen der Schutzzollpartei.
zwei Drittel verminderte, ſtieg die engliſche Einfuhr beſtändig, die des
Leinengarns allein wuchs in fünf Jahren (1840 — 44) auf mehr als
das Dreifache an, von 19,000 auf 62,000 Ctr.
Die Regierung verhielt ſich bei alledem faſt ganz unthätig; ſie glaubte
noch lange an die alte Unüberwindlichkeit der ſchleſiſchen Leinenwaaren,
und als ſie von dieſem Irrthum endlich zurückkam, da meinten die Geheimen
Räthe gleichmüthig, gegen die Naturgeſetze der Volkswirthſchaft könne man
nichts ausrichten. Und doch war grade hier, inmitten eines blutarmen,
bis zur Willenloſigkeit ermatteten Volkes fridericianiſche Bevormundung,
durchgreifende Staatshilfe ganz am Platze: der Staat mußte Schutzzölle
gewähren, Maſchinen ankaufen, Spinnſchulen und große mechaniſche Spin-
nereien errichten, wenn dieſe halbverhungerten Menſchen dem engliſchen
Capital nicht erliegen ſollten. Merckel aber, der tüchtige, um das Wohl
Schleſiens unabläſſig beſorgte Oberpräſident, bemühte ſich ſeit Jahren die
neuen Agrargeſetze gegen den Widerſtand der Grundherren durchzuführen,
er lebte und webte in den Emancipationsgedanken der Hardenbergiſchen
Zeiten, Freiheit des Eigenthums und der Arbeitskräfte blieb ihm das Höchſte.
Die ſchleſiſche Hausinduſtrie war längſt frei, ſie hatte einen Zunftzwang
nie gekannt; Merckel begriff nicht, was der Staat dort noch helfen ſolle, und
wollte von dem Jammer im Rieſengebirge nichts hören. Feſtgebannt in
ſeiner volkswirthſchaftlichen Theorie verabſäumte er alſo ſeine ſtaatsmän-
niſche Pflicht und verfiel, gleich vielen ſeiner beſten Amtsgenoſſen, in eine
tragiſche Schuld, weil er nicht rechtzeitig einſah, daß die befreiende Staats-
gewalt in dieſem Jahrhundert der wirthſchaftlichen Wandlungen auch zu
zwingen und zu ſchützen verſtehen mußte. Die Ungunſt der Verhältniſſe
des Weltmarkts und die langjährigen Unterlaſſungsſünden der Regierung
hatten jetzt das Elend der ſchleſiſchen Leinwandinduſtrie ſchon ſo hoch ge-
ſteigert, daß Schutzzölle allein kaum noch viel helfen konnten.
Auch die neuen, zum Theil ſehr leichtfertig gegründeten Baumwoll-
ſpinnereien des Südens verlangten heftig nach ſtärkerem Schutz, während
die Baumwollwebereien den beſtehenden Twiſtzoll, der etwa 6 Procent vom
Werthe betrug, ſchon viel zu hoch fanden. So entbrannte der lange,
leidenſchaftliche Kampf zwiſchen Spinnern und Webern. Jeder der ver-
bündeten Höfe ſuchte, wie billig, das in ſeinem Lande überwiegende
Intereſſe zu begünſtigen; die ſächſiſche Regierung trat an die Spitze der Frei-
handelspartei, weil die großen Baumwollfabriken des Erzgebirges faſt aus-
ſchließlich engliſches Baumwollengarn verarbeiteten. Im preußiſchen Finanz-
miniſterium bemühte man ſich redlich, die beiden feindlichen Intereſſen
gegen einander abzuwägen und entſchied ſich endlich gegen die Erhöhung
der Garnzölle, da Kühne berechnete, daß die Weberei im geſammten Zoll-
vereine unvergleichlich mehr Arbeitskräfte beſchäftigte als die Spinnerei.
Aber ſo mechaniſch, nach Zahlen allein, laſſen ſich die lebendigen Kräfte
der nationalen Wirthſchaft nicht abſchätzen. Die ſtark übertriebenen
[470]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Forderungen der Spinner waren durchaus nicht ganz unberechtigt; wurde
der Garnzoll erhöht, ſo erlitten die Weber zunächſt wohl einige Einbuße,
auf die Dauer gewannen ſie doch ſelbſt, wenn ſie ihr Garn von der er-
ſtarkten vaterländiſchen Spinnerei beziehen konnten.
Faſt ebenſo laut erſchollen die Klagen aus den Reihen der Eiſen-
induſtrie. Die Nachfrage hatte ſich ſeit dem beginnenden Eiſenbahnbau
ungeheuer geſteigert, und da die deutſchen Werke, die noch gar nicht mit
Cokes zu arbeiten verſtanden, ihr unmöglich entſprechen konnten, ſo verzehn-
fachte ſich die Einfuhr von Roheiſen, Schienen und geſchmiedetem Eiſen,
ſie ſtieg in dem Jahrzehnte 1834 — 43 von 0,367 auf 3,698 Mill. Ctr.
Der Wettbewerb Englands, deſſen Eiſen- und Kohlenwerke ja alleſammt
dicht neben einander lagen, zeigte ſeine ganze Macht zu Anfang der vier-
ziger Jahre, als die engliſche Eiſeninduſtrie, durch eine Kriſis heimgeſucht,
ihre Erzeugniſſe maſſenhaft auf das Feſtland warf; oft kam das engliſche
Eiſen als Ballaſt in Stettin oder Hamburg an und wurde dann wohl-
feil auf den Flüſſen landeinwärts verſendet. Begreiflich alſo, daß die
ſchleſiſchen und einige der weſtphäliſchen Bergwerke den König dringend
um Zollſchutz baten.*) Doch auch hier zeigte ſich derſelbe Gegenſatz der
Intereſſen wie in dem Kampfe zwiſchen Spinnern und Webern. Von
ausländiſchem Roheiſen wurden im Jahre 1843 ſchon 2,675 Mill. Ctr.
im Zollvereine verarbeitet — ſechs Jahre vorher nur 0,40 Mill. Ctr. —
und die großen Werke an der Ruhr, die an dieſer kräftig aufblühenden
Gewerbsthätigkeit zumeiſt betheiligt waren, verbaten ſich jeden Roheiſenzoll
ebenſo entſchieden, wie die zahlloſen kleinen Scheerenſchleifer und Schwert-
feger des bergiſchen Landes.
Gegen dieſe drei ſchwachen Stellen des Zolltarifs richtete die Schutz-
zoll-Partei zunächſt ihre Angriffe. Siegte ſie hier, ſo wollte ſie weiter
gehen; einer ihrer Heißſporne, Moritz Mohl, derſelbe, der einſt bei der
Begründung des Zollvereins ſeinen wüthenden Haß gegen Preußen ge-
zeigt hatte**), ſchrieb in dieſen Jahren ein gelehrtes Buch über Frankreichs
Gewerbszuſtände, zur Verherrlichung des ſtrengen Prohibitivſyſtems. Die
Stimmung im Süden war tief erregt; ſelbſt Nebenius, der allezeit be-
hutſame, verlangte in einer Flugſchrift über die Eiſenzölle ganz unmäßige
Zollſätze. Als die Zollconferenz im Sommer 1842 zu Stuttgart zu-
ſammentrat, forderten Württemberg und Baden ſogleich mehrere Zoller-
höhungen, ein einſtimmiger Beſchluß ließ ſich jedoch nicht erreichen. Der
bisherige Tarif blieb alſo beſtehen, man trennte ſich im Unmuth, die alte
ſchöne Eintracht des Handelsbundes ſchien ganz zerſtört. Nunmehr brach
der Zorn in Süddeutſchland ſo heftig aus, daß die Berliner Finanzpartei
ſelbſt für den Beſtand des Zollvereins zu fürchten begann und darum
[471]Die Kriſis des Zollvereins.
ſich zu einiger Nachgiebigkeit entſchloß.*) Nach neuen, überaus ſchwierigen
Verhandlungen beſchloß der Zollverein (1844), ſeinen Tarif etwas abzu-
ändern: das bisher zollfreie Roheiſen zahlte fortan 10 Sgr. vom Centner,
auch die Zölle auf Stab-, Schienen-, Schmiedeeiſen, ſowie auf Leinenzwirn
wurden erhöht. Alsbald begann die Eiſeneinfuhr zu ſinken, doch war
die Wirkung der neuen Zölle nicht ganz ſo ſtark, wie die Grubenbeſitzer
hofften, da Deutſchland gleich nachher den Belgiern durch jenen noth-
gedrungenen Handelsvertrag Begünſtigungen zugeſtehen mußte.
Durch dieſen halben Sieg wurde die Schutzzoll-Partei zu neuen An-
griffen ermuthigt, ihre Blätter ſprachen täglich heftiger, ſelbſt vor revo-
lutionären Drohungen ſcheute ſie ſich nicht mehr. In einer Verſammlung
badiſcher Fabrikanten zu Karlsruhe ſagte der radicale Schopfheimer Ab-
geordnete Gottſchalck: wenn der Zollverein keinen Zollſchutz gewähre, dann
ſollten die Fabrikanten nur ihre Arbeiter verabſchieden und dieſen über-
laſſen, ihre Wünſche wirkſamer vorzutragen!**) Kündigung des Zoll-
vereins, Anſchluß an Oeſterreich! — ſo riefen die Verblendeten überall,
ſie wußten nicht mehr was ſie ſagten. Cotta’s Allgemeine Zeitung ver-
öffentlichte als gräßliche Enthüllung einige irgendwie verrathene Berichte
des engliſchen Geſandten Lord Weſtmoreland in Berlin; und obwohl der
Lord eigentlich nur erzählte, daß die preußiſchen Miniſter ihm ihre ge-
mäßigten handelspolitiſchen Grundſätze mit etwas überſchwänglicher Freund-
lichkeit auseinandergeſetzt hatten, ſo wurden doch dieſe nichtsſagenden, im
diplomatiſchen Verkehre unvermeidlichen Höflichkeiten von Liſt und ſeinen
Leuten ſo gehäſſig ausgelegt, als wäre nunmehr klar erwieſen, daß Preußen
den Befehlen Englands folgte. Alle Sünden deutſcher Zankſucht brachen
wieder aus.
Mittlerweile war das preußiſche Handelsamt gegründet worden, und
Rönne kündigte, da er auf die Gunſt des Monarchen baute, der Finanz-
partei ſofort offene Fehde an. Ohne bei dem Finanzminiſterium auch
nur anzufragen***), berief er im Frühjahr 1845 eine Verſammlung von
wirthſchaftlichen Notabeln, die faſt alleſammt der Schutzzoll-Partei an-
gehörten und mithin eifrig für Zollerhöhungen ſtimmten. Auch die radi-
calen Gegner rüſteten ſich. Prince Smith widmete der nahenden Zoll-
Conferenz ein Schriftchen, das kurz und gut alle Schutzzölle als „Theuerungs-
zölle“ verdammte. In ähnlichem Sinne ſprachen die oſtpreußiſchen Stände;
ſie wurden jedoch im Landtagsabſchiede ſehr ernſt dahin bedeutet, daß die
Krone durch das alte Zollgeſetz ſelbſt verpflichtet ſei, den Gewerbfleiß des
Inlands zu ſchützen. Wie gern wäre Friedrich Wilhelm allen Intereſſen
gerecht geworden, er quälte ſich ab in gewiſſenhaften Erwägungen, doch
[472]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wo bot ſich ein Ausweg aus dieſem Gewoge der Parteien? Sein neuer
Finanzminiſter Flottwell dachte im Herzen, wie damals faſt alle Oſtpreu-
ßen, ſtreng freihändleriſch; Kühne wollte von dem beſtehenden mäßigen
Tarife nur im Nothfall einige Sätze erhöhen; und neben den Beiden ſtand
der radicale Schutzzöllner Rönne.
Unter ſo trüben Ausſichten begann im Juli 1845 die Karlsruher
Zollconferenz, die unfriedlichſte der geſammten Zollvereinsgeſchichte. Sie
währte unter wachſender Aufregung faſt vier Monate. Eine Menge aus-
ländiſcher Agenten war zur Stelle; die Engländer vornehmlich drängten
ſich ſo roh an die Bevollmächtigten heran, daß giftige Nachreden nicht
ausbleiben konnten. Um des Friedens willen erklärte ſich Preußen bereit,
die Zölle auf Leinen-, Baumwoll- und Kammgarn etwa zu verdoppeln; noch
in den letzten Tagen hatte der König ſeinen neuen Handelsrath nach
Stettin berufen und ihm ſelber die Frage vorgelegt „bis wohin wir den
ſüddeutſchen Begehren nachgeben können“.*) Baden und Württemberg
aber ließen ſich fortreißen von dem wilden Ungeſtüm ihrer Schutzzoll-Partei,
obgleich ſie wußten, daß Sachſen und die meiſten anderen der nord-
deutſchen Verbündeten die Nachgiebigkeit Preußens ſchon zu groß fanden;
ſie verlangten noch mehr und ſchließlich: Alles oder nichts! Sie allein
verſchuldeten alſo, daß wieder kein Beſchluß zu Stande kam und die
Conferenz in arger Zwietracht auseinander ging. Die beſonnenen An-
hänger der nationalen Handelseinheit fühlten ſich tief niedergeſchlagen; die
radicalen Freihändler und die Fremden triumphirten, ja der engliſche Ge-
ſandte Sir A. Malet erfrechte ſich ſogar die Mitglieder der Conferenz
zu einem großen Siegesmahle einzuladen. Dies ward freilich durch Ra-
dowitz hintertrieben und nachher vom preußiſchen Hofe als eine Anmaßung
ſcharf zurückgewieſen.**)
Von neuem, und noch lauter denn zuvor, erhoben jetzt die entrüſteten
Schutzzöllner ihren Schlachtruf. Im Stuttgarter Ständeſaale wurden
Metternich’s Mauthbeamte als Deutſchlands natürliche Beſchützer verherr-
licht, die Preußen als Schleppträger Englands gebrandmarkt, obgleich Aber-
deen gegen Bunſen beſtändig klagte: die Handelsbeziehungen ſind das
Einzige was uns von Preußen trennt***) — und grade in dieſen Tagen eine
Depeſche des Lords an Weſtmoreland bekannt wurde, die ſich ſehr gereizt
über Preußens feindſelige Handelspolitik ausſprach. Dem Münchener Land-
tage ſchilderte der Abgeordnete Neuffer die alte Handelsknechtſchaft der
Deutſchen, die jetzt durch Preußens Schuld wiederkehre. Liſt’s Genoſſen
in der Preſſe fanden kaum mehr Worte genug für die Dummheit, die
Schlechtigkeit der deutſchen „Bureaukratie“. Aber grade dies Uebermaß
ſinnloſer Schmähungen zwang die Bureaukraten, die den Zollverein doch
[473]Karlsruher Zollconferenz. Verſöhnung.
regierten, ſich einander wieder zu nähern. Auf eine ernſte Anfrage Preußens,
ob der Zollverein fortbeſtehen ſolle, antworteten alle Regierungen verſöhn-
lich. Eine treffliche Schrift Kühne’s über die Entwicklung des Zollvereins
ſeit 1834 zeigte auch dem großen Publicum anſchaulich, was Deutſchland
an ſeinem Handelsbunde beſaß. Man begann ſich zu verſtändigen, und
als im Sommer 1846 die Zollconferenz zu Berlin wieder zuſammen-
trat, da meinte Canitz ſarkaſtiſch: „der Karlsruher Rauſch ſcheint aus-
geſchlafen.“ Die Schutzzöllner freilich mußten für ihren lärmenden
Uebermuth büßen. Rönne, der das Getobe ſogar durch Indiscretionen
gefördert hatte, ſah ſich jetzt überall zurückgeſetzt, er verlangte ſeine Ent-
laſſung, die der König jedoch nicht annehmen wollte; und die neuen
Vermittlungsanträge, welche Geh. Rath v. Patow auf der Conferenz
glücklich vertheidigte, boten der Schutzzoll-Partei etwas weniger als vor-
dem die Karlsruher Vorſchläge. Es war die Fabel von den ſibyllini-
ſchen Büchern. Man einigte ſich über eine Erhöhung der Garnzölle,
die hinter den Wünſchen der Schutzzoll-Partei weit zurückblieb. Die Re-
gierungen aber athmeten auf; gleich ihnen die große Mehrheit der Na-
tion; denn nachdem der Zollverein dieſe Gefahr überſtanden hatte, war ſein
Beſtand auf lange hinaus geſichert. Ueberdies wurden die Augen der
Welt bald durch ernſtere politiſche Kämpfe von den Tarifſtreitigkeiten ab-
gelenkt. —
Zu der Wiederverſöhnung der Zollverbündeten hatte die Unfähigkeit
der Hofburg wider Willen mitgeholfen. Wenn die Fanatiker des Schutz-
zolls in Süddeutſchland beſtändig einen öſterreichiſchen Zollverein ver-
langten, ſo mochten manche nur prahlen, viele meinten die Drohung ernſt.
Denn ſeit dem Kölniſchen Biſchofsſtreite entſtand im Süden ganz in der
Stille eine öſterreichiſch-großdeutſche Partei.*) Ihren Stamm bildeten die
Clericalen, dann die preußenfeindlichen Schutzzöllner, endlich die alten Dom-
herrengeſchlechter, die der fürſtbiſchöflichen Herrlichkeit noch nicht vergeſſen
konnten und ihre Söhne meiſt im öſterreichiſchen Dienſte unterbrachten;
erſt ſpäterhin ſchloſſen ſich auch demokratiſche Genoſſen an. Liſt ſelber
wollte ſo weit nicht gehen; unerſchöpflich in Einfällen und Plänen ſtellte
er jedoch die gefährliche Forderung auf, daß Baiern die Führung der
deutſchen Handelspolitik, dem Oriente und den Donauländern gegenüber,
übernehmen müſſe. Solcher Stimmungen konnte ſich die öſterreichiſche
Politik, wenn ſie klug und kühn verfuhr, leicht bemächtigen. Im Kaiſer-
ſtaate ſelbſt wurde das harte, durch frechen Schmuggel überall durchbrochene
Prohibitivſyſtem gründlich verabſcheut. Einzelne Unzufriedene verlangten
Anſchluß an den deutſchen Zollverein, am eifrigſten Graf Chotek, der
Oberſtburggraf von Böhmen;**) der Graf fand jedoch in ſeiner eigenen
[474]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Heimath, dem wichtigſten Induſtrielande der Monarchie, wenig Zuſtim-
mung, die böhmiſchen Fabrikanten fürchteten alle den deutſchen Wettbewerb.
Sogar der alternde Metternich empfand dunkel, daß man das ver-
morſchte Zollweſen zerbrechen mußte. Er hatte einſt den werdenden Zoll-
verein, als es ſchon viel zu ſpät war, zu vernichten geſucht. Jetzt gingen
ihm die Augen auf. Als er im Sommer 1841 ſeinen Johannisberg wieder
beſuchte, da fiel ihm auf, wie überall in Deutſchland unter dem Schutze
der Handelseinheit Verkehr und Wohlſtand emporwuchſen; er ahnte, dieſer
Zollverein würde bald unaufhaltſam um ſich greifend das ganze Deutſch-
land verſchlingen, und nun endlich verfiel er auf die Frage, ob nicht
Oeſterreich ſelbſt beitreten ſolle um Preußen zu überflügeln. Abel und
die anderen clericalen Freunde in München hatten ihn ja ſo inbrünſtig
verſichert, ganz Süddeutſchland wünſche dieſen Beitritt, damit Preußens
Hegemonie ein Gegengewicht erhielte. Doch zu Deutſchlands Glück war
Metternich in allen volkswirthſchaftlichen Dingen noch immer ebenſo un-
wiſſend, wie vor Jahren da Motz über ſeine handelspolitiſche Weisheit ſpottete.
Alles Ernſtes behauptete er: im alten deutſchen Reiche „galten gleiche
Handelsberechtigungen für alle Mitglieder deſſelben“; und ebenſo gründ-
lich wie die deutſche Handelsgeſchichte kannte er auch die Verfaſſung des
Zollvereins. Er verlangte lediglich eine Ermäßigung der erdrückenden
Prohibitivzölle als „Anfang einer Einlenkung in das deutſche Zollſyſtem“
und begriff nicht, daß Oeſterreich ſich durch dieſe armſelige Reform dem
Zollvereine kaum ebenſo weit genähert hätte wie England oder Frankreich.
Hell vor Augen ſtand ihm nur die Hoffnung, Preußen zu bekämpfen; alles
Andere war unklarer Dilettantismus. In ſolchem Sinne ſchrieb er an den
neuen Leiter des Finanzweſens, den Hof-Kammerpräſidenten Kübeck, einen
thätigen, brauchbaren Beamten, der als Plebejer von der öffentlichen Mei-
nung anfangs mit großen Erwartungen empfangen wurde, doch bald genug
zeigte, daß er weder das unſterbliche Deficit beſeitigen noch einen ſchöpfe-
riſchen Gedanken finden konnte. Im November 1841 beriethen die Mi-
niſter über eine mögliche Annäherung an Deutſchland; aber die Entſchei-
dung wurde vertagt, denn der alte Todfeind jeder Reform, Erzherzog Lud-
wig führte den Vorſitz, und im Stillen ſagte ſich Jeder, daß die nicht
deutſchen Kronländer ſolchen Plänen unmöglich folgen konnten. Als Kü-
beck zwei Jahre darauf den Entwurf eines milderen Zollgeſetzes vorlegte,
da ſcheiterte Alles an dem Widerſpruche der böhmiſchen Fabrikanten. Das
alte „taubſtumme Syſtem“ — ſo nannte es Canitz — blieb unwandelbar
im Zollweſen wie in der geſammten Verwaltung.*) Kamen unterweilen
noch einzelne deutſche Verehrer Oeſterreichs nach Wien um wegen mög-
licher Handelserleichterungen anzufragen, dann empfing ſie Metternich
freundlich; zuletzt fand er doch immer, das ſei Ideologie, und Canitz be-
[475]Oeſterreichiſche Zollvereinspläne.
merkte: „dies Wort iſt dem Fürſten recht geläufig, er gebraucht es manch-
mal ſtatt jeder anderen Widerlegung oder Erklärung.“*)
Wie hilflos ſtand doch dies unförmliche Reich mit ſeinem Völker-
gemiſch zwiſchen den beiden großen ſchickſalsverwandten Nationen, die ſich
in jugendlichem Selbſtgefühl zu erheben begannen. Schon längſt betrach-
teten die Italiener den deutſchen Zollverein mit ſchmerzlicher Bewunderung;
und noch gab es einzelne gutmüthige Patrioten, die nicht ganz an Oeſter-
reich verzweifelten. Die Annali universali di statistica veröffentlichten
(1843) einen Artikel Serriſtori’s, der den italieniſchen Staaten rieth, ſich
nach und nach ebenſo an das öſterreichiſche Zollſyſtem anzuſchließen, wie
die deutſchen Staaten das preußiſche Zollgeſetz angenommen hätten. Und
ſo wunderbar war die Welt ſchon verwandelt: dieſer Aufſatz, der vor einem
Vierteljahrhundert ſeinen Verfaſſer unfehlbar in den Kerker gebracht hätte,
wurde jetzt im Oeſterreichiſchen Beobachter belobt und überſetzt. Aber wie
klein, wie unfruchtbar, wie ängſtlich zeigte ſich Metternich auch hier. Er
ſah in der wirthſchaftlichen Einigung Italiens nur ein Mittel um die
gefürchteten „Sekten“ zu bekämpfen, ganz wie vor zwanzig Jahren viele
deutſche Kleinminiſter den Zollverein als einen Schutzwall gegen die na-
tionale Einheit geprieſen hatten. Ein wirklicher Zollverband erſchien ihm
auch zu kühn; und allerdings konnte die berüchtigte k. k. Mauth mit
ihren beſtechlichen Beamten und den rieſigen venetianiſchen Schmuggel-
niederlagen unmöglich die Bewunderung der weltklugen Italiener erwecken.
Die Hofburg begnügte ſich alſo, den italieniſchen Staaten in tiefem Ge-
heimniß einige Handelserleichterungen vorzuſchlagen. Allein ſelbſt der ge-
treueſte Hof der Halbinſel, der Hof von Neapel hegte gegen die k. k. Han-
delspolitik, die ihm ſchon manche ärgerliche Zollſtreitigkeiten bereitet hatte,
ein ſtarkes Mißtrauen, und die Turiner Regierung lehnte ſogar rund-
weg ab. Dort in Piemont regte ſich ſchon mit Macht der nationale Ge-
danke. Wenn dort ein Zollverein zwiſchen Sardinien, Toscana und dem
Kirchenſtaate erwogen wurde, wenn die Grafen Petitti und Cavour ein
italieniſches Eiſenbahnnetz empfahlen, ſo richteten alle dieſe Pläne ihre
Spitze gegen Oeſterreich. Was in Italien ſtark und edel war, bekämpfte
den Wiener Hof. Jenſeits der Alpen wie jenſeits des Rieſengebirges
konnte der Kaiſerſtaat nur noch hemmen und ſtören, nichts mehr ſchaffen. —
Von der nächſten Zukunft durfte die enttäuſchte deutſche Schutzzoll-
Partei überhaupt nur wenig erwarten. Der ganze Zug der Zeit war
ihr ungünſtig. Die unter dem Schirm ihrer Zölle und Schifffahrtsgeſetze
erſtarkte erſte Handelsmacht der Welt lenkte eben jetzt in die Bahnen
des Freihandels ein. Englands Volkswirthſchaft war, wie Liſt bitter ſagte,
nunmehr ſo hoch geſtiegen, daß ſie die Leiter, die ihr emporgeholfen, ge-
troſt abbrechen konnte. Die Lehre von dem größten Wohlſein der größten
[476]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Zahl, dieſe einſt durch den Vater des engliſchen Radicalismus Jeremias
Bentham zuerſt verkündigte Doctrin gewann im britiſchen Volke immer
breiteren Boden; aus ihr ergab ſich das Verlangen nach freiem Handel
und wohlfeiler Conſumtion. Die Mittelklaſſen, die ſeit der Reformbill
in das Parlament eingedrungen waren, richteten ihre Angriffe zunächſt
gegen die Kornzölle, weil ſie fühlten, daß die dem alten Adel noch ge-
bliebene Macht zum Theil auf den Korngeſetzen ruhte. Die breiten Maſſen
der Arbeiter dagegen betrachteten dieſe zugleich politiſche und wirthſchaft-
liche Bewegung mit Argwohn; ſie trauten dem Bürgerthum noch weniger
als den Grundherren und ſie befürchteten von der Abſchaffung der Korn-
zölle ein Sinken der Arbeitslöhne, das allerdings von vielen Gegnern der
Korngeſetze insgeheim erhofft wurde. Seit dem Jahre 1839 begann die
von Richard Cobden geſtiftete Anti-Korngeſetz-Liga durch Verſammlungen,
Zeitungen und Flugſchriften, durch Reiſeprediger und Maſſenpetitionen,
durch Aufzüge und Gewerbeausſtellungen das Bürgerthum zu bearbeiten,
die Fabrikanten verſorgten ſie mit gewaltigen Geldmitteln. Nach ſechs
Jahren raſtloſer Agitation hatte ſie die große Mehrheit der Mittelklaſſen,
zumal in Mancheſter und dem gewerbreichen Nordweſten für ſich ge-
wonnen, weithin durch das Land ſcholl der Ruf nach freiem Handel.
In den Schriften der neuen Mancheſterſchule lebte das alte hierzu-
lande noch niemals wiſſenſchaftlich überwundene Naturrecht wieder auf, deſſen
Sätze, gleich allen unlebendigen Abſtractionen, von der materialiſtiſchen Platt-
heit ebenſo leicht ausgebeutet werden konnten wie von dem überſpannten
Idealismus. Darum vermochte John Stuart Mill ſich gleichzeitig für Wil-
helm Humboldt und für den engliſchen Radicalismus zu begeiſtern. In den
Formeln mit Humboldt übereinſtimmend, und doch im denkbar ſchärfſten
Gegenſatz zu ihm, betrachtete Cobden den Staat als eine durch die Willkür
der Einzelmenſchen gegründete Verſicherungsanſtalt, die lediglich Geſchäft
und Arbeit vor gewaltſamen Störungen behüten und von den Verſicherten
möglichſt niedrige Prämien verlangen ſollte. Die Volkswirthſchaft blieb
ihm der einzige Inhalt des Menſchenlebens, raſches Reiſen der Muſter-
reiter und wohlfeile Kattunerzeugung der höchſte Zweck jeder Cultur. In
vollem Ernſt ſprach er aus, daß Stephenſon und Watt für die Weltgeſchichte
unvergleichlich mehr bedeuteten als Caeſar oder Napoleon. Wurden nur erſt
überall Handel und Wandel ihrer natürlichen Freiheit überlaſſen, dann
mußte ſich jede Nation unfehlbar den Erwerbszweigen widmen, welche ſie
mit dem größten Gewinn betreiben konnte, jede arbeitete alſo allen anderen
in die Hände durch eine Ausfuhr, die der Einfuhr immer genau entſprach;
die Harmonie der Intereſſen ſtellte ſich von ſelber her, der ruchloſe Luxus
der ſtehenden Heere hörte auf, die Schwerter verwandelten ſich in Pflug-
ſchaaren nach der Weiſſagung des alten Propheten, und der ewige Friede
brach an. Cobden liebte die Arbeiter aufrichtig, er wollte ihnen durch das
billigere Brot eine Wohlthat erweiſen; er vertheidigte ſogar den Schulzwang,
[477]Die Mancheſterſchule.
weil die arbeitenden „Hände“ in den Fabriken nur wenn die Köpfe leidlich
erleuchtet waren die größte Gütermaſſe erzeugen konnten; Fabrikgeſetze
hingegen verwarf er als einen Eingriff in die perſönliche Freiheit.
Ein ſolches Evangelium des Mammonsdienſtes drohte die Menſchheit
zu verſtümmeln, alles Heldenthum, alles Schöne und Erhabene, alle Ideale
des Gemüths zu vertilgen; dennoch zeigte die Lehre des Voluntarismus,
des unbeſchränkten, jeden Staatszwang erſetzenden ſocialen Wettbewerbs
einen Zug kühner Selbſtgewißheit, der kräftige, unternehmende Männer be-
ſtechen mußte. War doch die ganze Gedankenbewegung des Revolutions-
zeitalters von dem Kampfe der freien Perſönlichkeit wider die Staats-
gewalt ausgegangen. Auch Cobden empfand eine faſt ſchwärmeriſche Be-
geiſterung für den nüchternen Gedanken des improvement, des materiellen
Fortſchritts, er hielt ſich für den auserwählten Apoſtel des allgemeinen Völker-
glücks. Freilich konnten ſeiner weltbürgerlichen Lehre, da ſie von dieſem ſelbſt-
gefälligen, alle Ausländer verachtenden Inſelvolke herkam, argliſtige kauf-
männiſche Hintergedanken unmöglich fehlen. Er ſelbſt zeigte für fremde
Völker mehr Verſtändniß als die meiſten ſeiner Landsleute, er bewunderte
Preußen, ſogar die Einheit Deutſchlands und Italiens war ihm nicht
ſchreckhaft. Doch ſchon beim Beginn ſeiner öffentlichen Wirkſamkeit ſagte
er trocken: „unſer einziges Ziel ſind die gerechten Intereſſen Englands,
ohne Rückſicht auf die Zwecke anderer Nationen.“ Seine Doctrin vom
allgemeinen freien Waarenaustauſch beruhte auf der ſtillſchweigenden Vor-
ausſetzung, daß England die Großinduſtrie der weiten Welt beherrſchen,
anderen Völkern nur die Urproduction ſowie einzelne ſchwer zu verpflan-
zende Gewerbszweige überlaſſen müßte. Wie Canning und Palmerſton
einſt die conſtitutionelle Phraſe, ſo ſchätzte Cobden die freihändleriſche
Phraſe als einen einträglichen Ausfuhrartikel, der die Runde um den Erd-
kreis machen, alle Nationen für die Intereſſen der britiſchen Handelsherr-
ſchaft gewinnen ſollte. Da die klugen Fabrikanten dieſen geheimen Zweck
der Freihandelslehren alsbald durchſchauten, ſo ſchwoll die Bewegung un-
widerſtehlich an, bis der leitende Staatsmann Robert Peel ihr nicht mehr
widerſtehen konnte.
Obſchon Peel als Sohn eines reichen, durch Fleiß und Klugheit
emporgekommenen Baumwollſpinners ſelbſt dem Bürgerthum angehörte,
hatte er doch mit Cobden’s Weltanſchauung nicht das Mindeſte gemein.
Gleich ſeinem Vater, dem die Arbeiter für unzählige Beweiſe werkthätiger
Menſchenliebe immer dankbar blieben, ſtand er von jeher hoch über der
Klaſſenſelbſtſucht der Fabrikanten. Er wuchs auf in den Geſinnungen der
Torypartei, der Hochkirche, der altüberlieferten gediegenen claſſiſchen Bil-
dung, und ſah in Pitt das Ideal des Staatsmannes; der ruhige, er-
wägſame, vorſichtige Mann erſchien wie ein geborener Conſervativer.
Und doch beſchied ihm das Schickſal die Rolle des Reformers. Die raſch
ſchreitende Zeit zwang ihn wieder und wieder die Anſichten ſeiner Partei
[478]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſorgſam zu prüfen, und ſobald er einſah, daß ſie dem Wohle des Landes
nicht mehr entſprachen, dann trat er ſtets mit hoher ſittlicher Kühnheit
für die erkannte neue Wahrheit ein, unbekümmert um den Widerſpruch
alter Freunde, unbekümmert um das engherzige Parteiherkommen, das ſich
Ethics of party nannte. Selten hat ein Staatsmann ſeine Meinung
über große politiſche Fragen ſo oft verändert, ohne doch je ſich ſelber un-
treu zu werden. Schon als junger Mann wagte Peel im Parlamente,
„der Autorität, der er immer gefolgt war“, ſeinem eigenen Vater zu
widerſprechen, die Wiederaufnahme der Baarzahlungen von der Bank
von England zu verlangen. Dann erkannte er, wie Wellington, die Noth-
wendigkeit der bisher von allen Torys bekämpften Emancipation der
Katholiken und vertheidigte dieſe Reform, die für alle demokratiſchen
Neuerungen der nächſten Jahrzehnte den Weg öffnete. Der Reformbill
ſelbſt widerſetzte er ſich gleichwohl hartnäckig, bis zum Ende; als aber die
Entſcheidung gefallen, die Mittelklaſſe in das Unterhaus eingezogen war,
da konnte er ſich nicht mehr verhehlen, daß der Schwerpunkt des alten
ariſtokratiſchen Staatsbaues ſich verſchoben hatte. Jetzt als Miniſter ent-
ſchloß er ſich, der unaufhaltſamen Freihandelsbewegung nachzugeben und
alſo die Politik der Reformbill weiterzuführen.
Die Mehrzahl ſeiner Toryfreunde verſagte ſich ihm. Im Bunde mit
den alten Gegnern, mit den Whigs und den Radicalen ſchritt er vorwärts,
umbrauſt von den jubelnden Zurufen der Mittelklaſſen, ein Staatsmann,
der die Zeit nicht mit ſchöpferiſchen Gedanken beherrſchte, ſondern ge-
wiſſenhaft von ihr lernte, auch als Redner nicht glänzend, aber ſtark durch
Rechtſchaffenheit, Offenheit und durch den Muth, das Nothwendige zu wollen.
Die ſtolzen Herren vom alten Tory-Adel verwünſchten den Baumwollſpinner,
der trotz ſeines fürſtlichen Reichthums doch immer ein Plebejer bliebe und
ſeine Partei ehrlos verriethe,*) und der junge Heißſporn der Torys Benja-
min Disraeli ſagte: eine ſolche conſervative Regierung iſt nur eine große
Heuchelei. Aber ſchon begannen die Arbeiter ſich den ſocialiſtiſchen Ge-
danken des Chartismus zuzuwenden, Rieſenpetitionen um Erweiterung der
Volksrechte beſtürmten das Parlament. Der dumpfe Groll der Maſſen
und der Nothſtand der Gewerbe im Nordweſten zwangen die Regierung
zur That.
Im Jahre 1842 wurden faſt zwei Drittel aller Zollſätze des alten
Tarifs aufgehoben oder herabgeſetzt. Andere Zollermäßigungen folgten
bald. Dann brachte (1845) eine ſchwere Mißernte unſägliches Elend über
das Inſelreich, zumal über Irland. Jedermann ſah, Großbritannien war
zu einem Induſtrielande geworden, der heimiſche Ackerbau reichte nicht
mehr aus um die mächtig angewachſene ſtädtiſche Bevölkerung zu er-
nähren. Nach ſolchen Erfahrungen wagte Peel den entſcheidenden Schritt;
[479]Aufhebung der engliſchen Kornzölle.
im Mai 1846 wurden die Kornzölle aufgehoben. Die Lords ſtimmten
zu, denn der eiſerne Herzog warnte: fügen wir uns jetzt nicht freiwillig,
dann wird das Oberhaus ſpäterhin gezwungen oder vernichtet werden.
So ausſichtslos erſchien jetzt ſchon jeder Widerſtand gegen die aufſtre-
benden Mittelſtände. Wenige Wochen nachher mußte Peel zurücktreten.
Die alten Gegner hatten ihm zum Siege verholfen, nun rächten ſich
die geſchlagenen Freunde. Löſte er das Parlament auf, dann konnte er
ſicher eine ſtarke Mehrheit erlangen, aber — ſo ſagte er zu Bunſen —
nur durch den Beiſtand der Radicalen, „und mit den Radicalen gehe ich
nicht.“*) So ſchied er aus, ein Opfer des Parteigeiſtes, und noch lange
feierte ihn das Bürgerthum als den volksthümlichſten aller britiſchen Staats-
männer. Er wußte daß er, im Geiſte ſeines edlen Vaters, den arbeitenden
Klaſſen eine große Wohlthat erwieſen, aber auch die Handelsmacht ſeines
Landes befeſtigt hatte; denn die rückſichtsloſe nationale Selbſtbehauptung
war ihm ebenſo heilig wie allen ſeinen Landsleuten. Für die Zwecke der
Handelspolitik verſchmähte auch er die kleinen Künſte leerer Vorſpiegelungen
nicht; ſagte er doch einmal dem preußiſchen Geſandten: Ihr müßt Euch
mit uns über die Zollfragen verſtändigen, denn ſonſt könnte leicht ein fran-
zöſiſch-amerikaniſches Seebündniß die wirthſchaftliche und politiſche Unab-
hängigkeit des Feſtlands bedrohen!**)
Seine Erbſchaft übernahmen die Whigs, und ſie mußten fortan oft
mit den Radicalen zuſammengehen, obgleich ihre eigenen Führer faſt alle-
ſammt den ſtolzeſten und vornehmſten Adelsgeſchlechtern angehörten. Lord
Palmerſton, der wieder in das Auswärtige Amt eintrat, konnte alſo nun-
mehr die alte Politik der heimlichen Friedensſtörung mit verdoppelter
Kraft fortſetzen, er konnte die Bären des Continents bald nach der libe-
ralen, bald nach der freihändleriſchen Pfeife tanzen laſſen. Die Sieger
gefielen ſich in maßloſer Selbſtberäucherung. Cobden rief freudetrunken:
„Freihandel iſt das internationale Geſetz des Allmächtigen; nicht blos
England, ſondern die ganze Welt iſt für jetzt und für immer an dem
Kampfe der Kornliga betheiligt.“ Seine Anhänger verglichen das Jahr
1846 mit der Revolution von 1688. Und allerdings griff die Aufhebung
der Korngeſetze ſehr tief in alle ſocialen Verhältniſſe ein, ſie demokratiſirte
die Geſellſchaft, wie einſt die Reformbill den Staat.
Wenn Cobden in Reden und Schriften den Grundherren ſtets verſichert
hatte, ſie würden unter der Reform nicht leiden, ſo erwieſen ſich dieſe Be-
ſchwichtigungsverſuche alsbald als Irrthum oder als berechnete Täuſchung.
Die Grundrente ſank beträchtlich, und wie der engliſche Adel ſich immer der
Zeit zu fügen verſtand, ſo erkannte er auch jetzt ſchnell, daß er ſeine Stellung
über dem Bürgerthum nur noch durch die Machtmittel des Bürgerthums
[480]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſelber einigermaßen behaupten konnte. Er begann, da der Grundbeſitz
nicht mehr genug abwarf, an Eiſenbahnen, Banken, induſtriellen Unter-
nehmungen aller Art theilzunehmen, und nicht lange, ſo betrieb der Sohn
des Herzogs von Argyll, ohne Aergerniß zu erregen, eine einträgliche
Weinhandlung. Die alten Ehrbegriffe und Vorurtheile des Standes zer-
ſtoben vor der Uebermacht des Geldes, derweil der deutſche Adel arm aber
ritterlich blieb. Kaufmänniſche Luft durchwehte das geſammte Leben der
Nation. Das unentbehrliche letzte Nothmittel gegen die Verwilderung
der Geſellſchaft, das Duell kam außer Brauch und verſchwand bald gänz-
lich; die Reitpeitſche verdrängte Degen und Piſtole, und dieſer Sieg der
Roheit ward als ein Triumph der Aufklärung gefeiert. Bei ariſtokratiſchen
Hochzeiten zählten die Zeitungen in einem genauen Conto ſorgfältig auf,
wie viel jeder Hochzeitsgaſt an Geſchenken oder baarem Gelde geſpendet
hatte; ſelbſt die Jugend betrieb ihren Sport als Geſchäft und kämpfte
um werthvolle Preiſe, während die deutſchen Studenten ſich um der wirk-
lichen oder vermeintlichen Ehre willen ihre Geſichter zerfetzten. Die Kluft
zwiſchen den deutſchen und den britiſchen Sitten erweiterte ſich mehr und
mehr. Was die Puritaner von Shakeſpeare’s fröhlichem altem England
noch übrig gelaſſen hatten, ging nunmehr völlig unter in der Proſa des
Geſchäftslebens. Demgemäß wurde fortan auch die Haltung des Inſel-
reichs in der Staatengeſellſchaft noch mehr als bisher durch die Berech-
nungen der Handelspolitik beſtimmt.
Der Umſchwung in England erfüllte die Freihändler aller Länder
mit Siegeszuverſicht, ihre Lehren behaupteten während der nächſten zwei
Jahrzehnte faſt überall in der geſitteten Welt die Oberhand. Alle die
neuen Erfindungen, deren das Jahrhundert ſich rühmte, wirkten als völker-
verbindende Mächte; ſie durch Zollſchranken zu hemmen ſchien faſt un-
vernünftig. Es begann eine lange Zeit wechſelſeitiger Handelserleichte-
rungen und ſie förderte den Wohlſtand. Nachher zeigte ſich doch wieder,
wie viel mehr der innere Markt bedeutet als der Weltverkehr; die Völker
des Continents erfuhren, daß der freie Wettbewerb die Uebermacht des
Starken nicht ausgleicht, ſondern erhöht, und die halbverſchollenen Ideen
Liſt’s gewannen neues Anſehen. Zunächſt folgte Nordamerika dem Bei-
ſpiel Englands und erniedrigte einen Theil ſeiner Zölle.
Deutſchland hatte einſt, als unſere Induſtrie noch in den Windeln lag,
aus den britiſchen Kornzöllen Vortheil gezogen, denn ſie verhinderten uns
damals mit dem übermächtigen Inſelreiche gefährliche Verträge zu ſchließen;
jetzt laſteten ſie längſt ſchon ſchwer auf dem deutſchen Ackerbau und Getreide-
handel. Ihre Aufhebung wurde alſo überall in Norddeutſchland freudig
begrüßt. Die Berliner Finanzpartei vernahm mit begreiflicher Genug-
thuung, daß England endlich nachholte, was Preußen ſchon vor achtundzwan-
zig Jahren gewagt hatte. Und wie liebenswerth erſchien den Deutſchen
Peel’s bürgerlich ehrenfeſtes Weſen; grade ſeine ſtolze Selbſtändigkeit, die
[481]Triumph der Freihändler.
ihn den Torys verdächtig machte, gefiel unſerem noch nicht ganz vom
Parteigeiſt beherrſchten Volke. In Elbing, wo Prince Smith ſo lange
gewirkt hatte, beſchloß die Kaufmannſchaft, dem Reformer einen Glück-
wunſch zu ſenden. Peel’s Antwort zeigte, daß auch ehrliche Engländer,
wenn ſie mit Ausländern reden, ihren heimathlichen cant ſchwer auf-
geben; er ſchrieb: „ſo finden wir im Handel das Mittel die Civiliſation
zu befördern, Eiferſucht und nationale Vorurtheile zu beſchwichtigen und
einen allgemeinen Frieden herbeizuführen, aus nationalem Intereſſe ſowohl
wie aus chriſtlicher Pflicht.“ Inzwiſchen löſte Cobden ſeine Liga auf und
unternahm eine Triumphreiſe durch das Feſtland, um überall den Stamm
einer internationalen Freihandelspartei anzuſammeln. In Deutſchland
wurde der ſchlichte freundliche Mann ſehr herzlich empfangen, am wärmſten
in Hamburg. Dort feierte, dem großen Briten zu Ehren, der vaterlands-
loſe radicale Freihandel ſeine Saturnalien. Der Präſident der Commerz-
deputation Ruperti ließ „die Erzeugerin jeder anderen Freiheit, die Handels-
freiheit“ hoch leben. Cobden pries die unvergleichliche Handelspolitik der
Hanſen, dann ſchloß er weihevoll: „lehret Eure Nachbarn Eurem Beiſpiel
zu folgen“ — und gewiß konnte England ſich Glück wünſchen, wenn der
Zollverein die Bahn hamburgiſcher Erbweisheit eingeſchlagen hätte.
Tief ſchmerzlich wurde Friedrich Liſt durch die engliſchen Nachrichten
berührt. Er hatte zwar ſelber, da er ja nur Schutz für die Induſtrie ver-
langte, die Kornzölle ſtets bekämpft; dennoch fürchtete er — mit Unrecht,
wie ſich bald zeigte — die freihändleriſche Wendung der britiſchen Politik
würde der deutſchen Volkswirthſchaft Verderben bringen. Während die
Kornliga ihren Cobden durch eine glänzende Dotation ehrte, belohnten
die ſüddeutſchen Fabrikanten ihren unermüdlichen Vorkämpfer nur ſehr
kärglich — nicht eigentlich aus Geiz, ſondern aus kleinſtädtiſcher Uner-
fahrenheit, weil man in Deutſchland eine ſolche Agitation kaum erſt
kannte, ihren Werth nicht zu ſchätzen wußte. Der edle Mann, den alle
Gegner für beſtochen hielten, kämpfte beſtändig mit Nahrungsſorgen, und
es war einer der vielen tragiſchen Widerſprüche ſeines ſtürmiſchen Lebens, daß
der Todfeind der Bureaukratie jetzt ſelbſt verſuchte eine Stellung im Beam-
tenthum zu erlangen. Doch in der ſchwäbiſchen Heimath wie in Baiern
ſpeiſte man ihn mit ſchmeichelhaften Worten ab; ſein Feuergeiſt hätte
ſich in der geregelten Beamtenthätigkeit auch ſchwerlich zurechtgefunden.
So trieb er ſich raſtlos umher. Einmal kam er auch nach Oeſterreich
und ſuchte dann in einem Aufſatze zu erweiſen, daß die reichen, dünn
bevölkerten Länder der ungariſchen Krone das natürliche Gebiet für die
deutſche Auswanderung bildeten — lockende Gedanken, denen nur leider
jeder hiſtoriſche Boden fehlte; denn die Zeit der großen Oſtlandsfahrten
war längſt vorüber, den modernen Menſchen trieb der Drang in die
Ferne nach dem amerikaniſchen Weſten.
Als die Entſcheidung in England herannahte, eilte Liſt nach London,
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 31
[482]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
und es gelang ihm leicht, den ſanguiniſchen, für neue Gedanken immer
empfänglichen Bunſen ganz zu bezaubern.*) Dort verfaßte er einen langen
Aufſatz über die Allianz zwiſchen Großbritannien und Deutſchland — eine
ſeltſame Denkſchrift, die ſich nur aus ſeiner leidenſchaftlichen patriotiſchen
Beſorgniß erklären ließ. Wer hatte ſchärfer als Liſt die großartige Selbſt-
ſucht der britiſchen Handelspolitik durchſchaut? wer klarer erkannt, daß
die Engländer in Deutſchland ihren gefährlichſten Nebenbuhler ſahen? Und
dieſer ſelbe Mann ſuchte jetzt die Briten zu gewinnen durch Lobreden,
die der Inſulaner als pflichtſchuldigen Tribut der verachteten Foreigners
ſtets kaltblütig hinnimmt; er zeigte ihnen, daß ſie ihre Ueberlegenheit gegen
Nordamerika und gegen eine drohende ruſſiſch-franzöſiſche Allianz nur
dann behaupten könnten, wenn ſie ſich feſt mit Deutſchland verbündeten;
darum müßten ſie, ſelber beim Freihandel verharrend, darein willigen,
daß Deutſchland durch hohe Schutzzölle des Zollvereins allmählich erſtarkte.
In dem Augenblicke alſo, da die engliſche Regierung zum Freihandel
überging, muthete er ihr zu, in Deutſchland ein ſtrenges Schutzzollſyſtem
zu begünſtigen, das ſeine Spitze doch nur gegen Großbritannien richten
konnte. Wunderlicher hat ein genialer politiſcher Kopf kaum jemals geirrt.
Dieſe Abhandlung ſendete Liſt an Peel und Palmerſton, unbekümmert
um das Kopfſchütteln des preußiſchen Geſandten. Beide Staatsmänner ant-
worteten, wie ſich von ſelbſt verſtand, höflich ablehnend. Peel erinnerte an
den Glaubensſatz der Freihändler, daß jede Nation die Waaren erzeugen
ſolle, die ſie am billigſten hervorbringe; Palmerſton aber ſagte mit einer
frommen Salbung, die dem alten Schalk ergötzlich anſtand: „der Freihandel
wie die Wohlthätigkeit beginnt zu Hauſe.“ Zugleich wurde die Denkſchrift
nach Berlin geſchickt, und Liſt wagte, in einem begleitenden Briefe dem
Könige ſeine Dienſte anzubieten, obgleich ſeine Partei alle dieſe Jahre hin-
durch die preußiſche Politik bis auf’s Blut bekämpft hatte. „Es iſt falſch“, ſo
ſchrieb er, „wenn man mich für einen Gegner Preußens hält.“ Er glaube
aber, „daß der Geiſt des erleuchteten Herrſchers von Preußen nicht immer
der Geiſt der preußiſchen Bureaukratie ſei.“ Und „deshalb“, fuhr er fort,
„beſtehe ich getroſt das Wagniß, in einer Sache, die das höchſte Wohl des
Vaterlandes in Frage ſtellt, von einer befangenen Bureaukratie an die
glückliche Geiſtesfreiheit und Geiſtesſtärke Ew. K. Majeſtät zu appelliren.“
Er ſchloß mit der Erklärung „daß ich bereit ſei, mit Freuden jede Bürde
zu tragen, die Ew. K. Majeſtät in Ihrer Weisheit und zum Beſten des
Vaterlandes meinen Schultern aufzulaſten für gut finden ſollten“.**)
Brief und Denkſchrift mußten dem Monarchen gefallen. Die Aus-
fälle auf die Bureaukratie thaten ihm wohl, und im Grunde des Herzens
war er noch immer ſchutzzöllneriſch geſinnt, gleich dem Prinzen von
[483]Liſt’s Tod.
Preußen. Nun wies ihm Liſt nach, daß der Zollverein mit dem geliebten
England auch dann in guter Freundſchaft leben könnte, wenn er ſtrenge
Schutzzölle einführte. Was konnte ihm willkommener ſein? Friedrich
Wilhelm wünſchte lebhaft, den durch Bunſen und Rönne warm empfohlenen
Verfaſſer der Denkſchrift im preußiſchen Dienſte anzuſtellen, etwa als
General-Inſpector der Eiſenbahnen und Fabriken des Zollvereins oder
als Leiter der deutſchen Coloniſation in Poſen, wie Bunſen vorſchlug.
Freilich konnte eine ſolche Ernennung nicht ſogleich erfolgen, weil der Zwie-
ſpalt im hohen Beamtenthum noch fortwährte. Als Kühne eben in dieſen
Tagen für die nochmals erledigte Stelle des Finanzminiſters vorgeſchlagen
wurde, da verlangte der König, Kühne müſſe ſich erſt mit Liſt, der nach
Berlin berufen werden ſollte, über die Grundſätze der Handelspolitik ver-
ſtändigen. Hierauf konnte ſich Liſt’s alter Gegner nicht einlaſſen, und
dieſe Weigerung diente als Grund oder als Vorwand um den liberalen
Candidaten, der ſich ohnehin nicht der königlichen Gunſt erfreute, vom
Miniſterrathe fern zu halten.*)
Von allen dieſen Plänen erfuhr Liſt kein Wort. Er erhielt vor-
läufig nur ein einfaches Dankſchreiben aus Berlin und kehrte faſt muth-
los in die Heimath zurück. Hier übermannte ihn gänzlich die ſchreckliche
Hypochondrie, die ſeinen fröhlichen Sinn ſchon ſo oft gemartert hatte.
Er wähnte ſich verfolgt von aller Welt, da ihm die Gegner ſeine groben
Angriffe durch ſchmähliche Verleumdungen heimzahlten; er fühlte ſich un-
fähig zu jeder Arbeit und obwohl für ſeine nächſte Zukunft noch hinrei-
chend geſorgt war, ſo meinte er doch die Zeit nahen zu ſehen, da ſeine
Feder ihn und ſeine heißgeliebte Familie nicht mehr ernähren könnte.
Völlig krank, von fieberiſcher Unruhe gepackt unternahm er noch eine
zweckloſe Reiſe, und im November 1846 gab er ſich in Kufſtein ſelbſt den
Tod. Dies ſchauerliche Ende eines reichen Lebens erſchütterte die ge-
ſammte Nation. Auf dem Kufſteiner Kirchhofe, dicht an der deutſchen
Grenze, wurde „Deutſchlands Friedrich Liſt“ unter einem großen Grab-
ſteine gebettet, Sammlungen der Parteifreunde ſicherten den Unterhalt
der Hinterlaſſenen, und manche klagende Stimme nannte ihn ein Opfer
deutſcher Undankbarkeit. In Wahrheit war ſein Tod nur die Folge
einer unheimlichen Krankheit, die ihm zuletzt die Freiheit des Willens
benahm. Wer darf ſagen, ob dieſe Prophetennatur, die nur wecken, er-
regen, entflammen, nicht leiten konnte, in einem mächtigen Parlamente
glücklicher gewirkt hätte? Das aber iſt ſicher: das Elend unſerer Klein-
ſtaaterei, die einen großen politiſchen Charakter ſo gar nicht zu ertragen ver-
mochte, hat ihm ſein ganzes Leben vergällt und getrübt. Erſt die Nachwelt
würdigt ganz was unvergänglich war in ſeinem Schaffen. —
In allen dieſen Zollvereinshändeln ſprachen die beiden ſtreitenden
31*
[484]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Parteien das Verlangen nach nationaler Macht ſo ſtürmiſch aus, daß
ſogar die ſelbſtgenügſamen Hanſen nicht umhin konnten, ihre patriotiſche
Geſinnung irgendwie zu bethätigen. Schon im Jahre 1841 entwarf
Bürgermeiſter Smidt von Bremen den Plan eines deutſchen Schifffahrts-
bundes, der allen deutſchen und öſterreichiſchen Schiffen, dem Auslande
gegenüber, eine gemeinſame Heimath (country) ſichern ſollte. Smidt
legte ſeine Entwürfe dem preußiſchen Hofe und dem Fürſten Metternich
perſönlich vor. Um ſie zu vertheidigen, bereiſte ſodann der hamburgiſche
Bundesgeſandte Karl Sieveking die deutſchen Hauptſtädte, ein treuer Patriot
von hoher Bildung und ernſter Frömmigkeit, der, mit Neander und Gene-
ral Gerlach nahe befreundet, als Mitbegründer des Rauhen Hauſes allen
Kirchlichgeſinnten theuer war.
Leider bewies Smidt’s Denkſchrift nur, wie doctrinär auch ein kluger
Staatsmann künſteln kann ſobald er ſich ſcheut das Nothwendige zu wollen.
Daß der Bundestag die nationale Schifffahrt nicht zu beſchützen vermochte,
ſtand längſt außer allem Zweifel; ward aber neben dem Deutſchen Bunde
und neben dem Zollvereine noch ein Schifffahrtsbund errichtet, ſo ver-
wirrte ſich die deutſche Politik, die dem Auslande jetzt ſchon kaum ver-
ſtändlich war, bis zum Unerträglichen. Und war es nicht eine naive
Zumuthung, daß der Zollverein, der mit der einzigen Ausnahme Preußens
nur aus Binnenſtaaten beſtand, durch ſeine Geſammtmacht der han-
ſiſchen Schifffahrt Begünſtigungen verſchaffen ſollte — ohne jede handels-
politiſche Gegenleiſtung? Nun gar der Vorſchlag, auch Oeſterreich in den
Schifffahrtsbund aufzunehmen erſchien faſt wie eine Bedrohung des Zoll-
vereins ſelbſt. Kurz und ſchlagend bemerkte Canitz: das einfache Mittel
zur Begründung des Schifffahrtsbundes wäre der Eintritt der Hanſe-
ſtädte in den Zollverein; aber dieſer Unannehmlichkeit will man entgehen!*)
Auch das preußiſche Auswärtige Amt wollte ſich auf nichts einlaſſen, da
Bülow noch auf den Anſchluß der Nordſeeküſte hoffte; überdies, ſchrieb
der Miniſter (28. März 1843), hat Preußen ſchon durchgeſetzt, daß Eng-
land die Vorhäfen im Weſentlichen wie die Zollvereinshäfen behandelt,
„es iſt hierdurch ein Theil gewonnen (und wir glauben ſo viel als das
Bedürfniß erfordert) von demjenigen was der vorgeſchlagene deutſche
Schifffahrtsbund bezweckt.“**)
Einige Jahre nachher (1845) nahm Rönne, der in immer neuen
Entwürfen ſchwelgte, den alſo geſcheiterten Plan wieder auf und verband
damit den Vorſchlag eines Differenzialzoll-Syſtems, wie es Arnim in ſeinem
Teſtamente empfohlen hatte. Eine Denkſchrift des preußiſchen Handels-
amts verlangte, daß die deutſchen Küſtenſtaaten zu einem Schifffahrts-
bunde zuſammenträten um die deutſche Schifffahrt zu begünſtigen, das
[485]Deutſcher Schifffahrtsbund.
Ausland durch kräftige Retorſionen zur Milderung ſeiner Schifffahrts-
geſetze zu nöthigen und alſo die allgemeine Handelsfreiheit vorzubereiten.
Freudig ging König Friedrich Wilhelm auf Rönne’s Vorſchläge ein; ſein
allezeit begeiſterter Bunſen meinte ſchon, dieſer Schifffahrtsbund würde die
Briten zur Aufhebung der Navigations-Akte zwingen.*) In den Hanſeſtädten
vertrat der Bremiſche Senator Duckwitz die patriotiſchen Gedanken mit
ſchönem Eifer; auch durch eine veröffentlichte Denkſchrift vertheidigte er
Rönne’s Pläne. Obgleich er ſelbſt weiter blickte als ſeine Mitbürger, ſo
konnte er ſich doch nicht verbergen, daß die Hanſen dem Zollvereine ſo
bald nicht beitreten würden, und ſchrieb alſo an Liſt beſchwichtigend:
die Schifffahrtsſache ſei viel wichtiger als „der elende Hader über Zoll-
anſchluß“. Auf dieſen elenden Zollanſchluß kam aber ſchlechterdings Alles
an; denn ſo lange die Nordſeeküſte ſich der nationalen Zollgemeinſchaft
verſagte ſchwebte der Schifffahrtsbund in der Luft. Mit vollem Rechte
erwiderten Kühne, Beuth und die anderen erfahrenen Geſchäftsmänner
des Finanzminiſteriums: ein ſolcher Bund könnte höchſtens die deutſchen
Schiffe einander gleichſtellen, nicht aber ihre Ladungen, und dies ſei doch
das Weſentliche. Zudem hatte der Zollverein bisher alle Unterſcheidungs-
zölle verſchmäht; der Gefahr feindſeliger Retorſionen, welche ein Diffe-
renzialzoll-Syſtem immer in ſich birgt, konnte er ſich doch nur ausſetzen,
wenn die Vorhäfen ihm wirklich gehorchten.
Trotz dieſer augenfälligen Bedenken verfolgte Rönne ſeine Pläne weiter;
der Zwieſpalt in der Leitung der preußiſchen Handelspolitik zeigte ſich grell.
Im Jahre 1847 verhandelte Geh. Rath v. Patow deshalb zu Bremen mit
Duckwitz und jenem Hannoveraner Witte, den man erſt kürzlich wegen grober
Feindſeligkeit aus Berlin hatte ausweiſen müſſen. Er verſicherte mit warmen
Worten, ſein König wünſchte durch den Schifffahrtsbund „das Princip
der deutſchen Einheit“ zu ſichern. Doch mit löblicher Geſinnung allein
ließ ſich die harte Geſchäftsſache nicht bewältigen, ſchließlich ſcheiterte Alles
an dem entſchiedenen Widerſpruche Hamburgs. Die Senatoren Kirchen-
pauer und Geffcken entwarfen eine gründliche Denkſchrift über „das Diffe-
renzialzoll-Syſtem“, die alsbald gedruckt und von der Freihandelspartei mit
Jubel begrüßt wurde. Siegreich in der Kritik, wies ſie nach, daß Ham-
burgs Zwiſchenhandel, wie er war, Unterſcheidungszölle in der That nicht
ertragen konnte. Irgend einen Gegenvorſchlag zum Schutze der deutſchen
Schifffahrt boten die Hamburger freilich nicht, denn nach ihrer Meinung
war die ſchimpfliche Anarchie an unſerer Nordſeeküſte ein beneidenswerther
Zuſtand des „Freihandels“; und frohlockend verkündete Prince Smith im
Berliner Freihandelsvereine, daß wieder einmal nichts zu Stande ge-
kommen war.
Mittlerweile hatte die preußiſche Regierung in London ſehr nachdrück-
[486]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
lich ähnliche Vergünſtigungen, wie ſie Hannover durch ſeinen Sonder-
vertrag erlangt, auch für den Zollverein gefordert; ſie verlangte, daß
England alle Fahrten deutſcher Schiffe in der geſammten Nord- und
Oſtſee als direkte Fahrten behandeln ſolle. Die Briten weigerten ſich,
denn inzwiſchen war Gladſtone, der geſchworene Feind Deutſchlands in
das Cabinet eingetreten. Da kündigte der Berliner Hof (1847) den Ver-
trag von 1841, der einſt die Süddeutſchen ſo ſehr erbittert hatte, und
bewies damit abermals, daß er wirklich nicht gemeint war ſich von
England in’s Schlepptau nehmen zu laſſen. Dieſe Kündigung erregte
in Downingſtreet heftigen Unwillen, und doch trug ſie dazu bei, daß
endlich ein Entſchluß zur Reife kam, der ohnehin ſchon längſt in dem
neuen Whig-Cabinet erwogen wurde. Seit dem Beginne der Freihandels-
politik ließ ſich Cromwell’s Werk, die Navigationsakte kaum noch halten;
die übermächtige engliſche Handelsflotte bedurfte auch nicht mehr dieſer
Stütze, die ihr volle zweihundert Jahre hindurch ſo große Dienſte er-
wieſen hatte. Um Weihnachten 1847 ward der Miniſterrath einig; die
Thronrede kündigte dem Parlamente an, daß die Navigationsakte demnächſt
fallen ſolle. Die deutſche Schifffahrt durfte alſo in naher Zukunft eine
lange gewünſchte Erleichterung erwarten.
Ungeſchreckt durch das Mißlingen ſeines Schifffahrtsbundes, brachte
der unermüdliche Duckwitz doch noch ein für die deutſche Schifffahrt folgen-
reiches Unternehmen zu Stande. Wie kläglich lag unſere Ausfuhr noch
darnieder: als der unternehmende Fritz Harkort ſeinen Dampfer „Rhein“
gradeswegs von Köln nach London zu ſenden wagte (1837), da mußte er
das Schiff, damit es nur die See halten konnte, mit Pflaſterſteinen füllen.
Und was für lächerliche Kämpfe hatte Duckwitz vor wenigen Jahren erſt
gegen die böſen Welfiſchen Nachbarn führen müſſen. Damals beabſichtigte
er, auf der oberen Weſer bis nach Hameln hinauf eine Dampfſchifffahrt
einzurichten; daß dies möglich war, hatte Harkort durch eine kühne Probe-
fahrt ſchon bewieſen. Alle die landesüblichen kleinen Bedenken und Hinder-
niſſe waren endlich beſeitigt; bei Liebenau aber, auf hannoverſchem Ge-
biete lagen mitten im Strombett einige Felsblöcke, die den Fluß für die
gewöhnliche Fahrt der Dampfſchiffe ſperrten. Dieſe Liebenauer Steine zu
ſprengen hielt die hannoverſche Regierung für unmöglich; ſie wollte auch
an das ausſichtsloſe Wagniß kein Geld verſchwenden, weil der Flußver-
kehr der Zollkaſſe weniger einbrachte als die Frachtfuhren auf den Land-
ſtraßen. Da erſchien eines Tages bei Duckwitz einer von Harkort’s Fahrt-
genoſſen, der Schiffer Rolff aus Preußiſch-Minden und erklärte dreiſt:
„wenn Sie mir 250 Thaler verſprechen, ſo ſchaffe ich die Liebenauer
Steine weg.“ Er empfing die Zuſage und erwirkte ſich auch die Erlaubniß
des hannoverſchen Amtmannes, der den tapferen Preußen für einen toll-
dreiſten Narren hielt. Nach einigen Wochen kam er wieder nach Bremen
und meldete: „die Liebenauer Steine liegen hier im Hafen!“ So ward
[487]Transatlantiſche Dampfſchifffahrt.
die obere Weſer befreit — für 250 Thaler — und die Dampfſchifffahrt
konnte beginnen. Der welfiſche Hof aber verwand es nicht, daß ihm die
Berechnungen ſeiner Handelspolitik ſo freventlich geſtört wurden, und ließ
gegen Rolff wegen verbotener Steine-Ausfuhr ein Strafverfahren ein-
leiten, das erſt nach längerer Zeit wieder eingeſtellt wurde.
Dieſe Händel waren kaum beendet, da wagte Duckwitz ſchon, an eine
transatlantiſche Dampfſchifffahrt zu denken. Bisher war erſt eine Dampfer-
linie nach Nordamerika in regelmäßigem Betriebe, die von der engliſchen
Regierung reichlich unterſtützte Cunard-Linie zwiſchen Liverpool und Neu-
York. Die ſchwachen Maſchinen der Dampfer arbeiteten freilich noch
ſo unſicher, daß viele Poſtverwaltungen vorzogen, bei günſtigem Paſſat-
winde raſche Segler zu benutzen; denn grade in dieſen Jahren erreichte
die Segelſchifffahrt ihren Höhepunkt, es war die Zeit der gerühmten ameri-
kaniſchen Klipper. Als nunmehr die Vereinigten Staaten den Plan faßten,
eine Dampferlinie nach dem Feſtlande Europas einzurichten und zu unter-
ſtützen, da bewirkte der Conſul Man, angeregt durch Duckwitz und andere
Bremer Kaufherren, daß die Weſerſtadt zum Zielpunkte dieſer Linie ge-
wählt wurde. Die Union verſtändigte ſich darauf mit den deutſchen
Staaten, obgleich England kräftig entgegenzuwirken ſuchte. Zwei Dampfer,
Waſhington und Hermann wurden ausgerüſtet; Amerika zahlte 100,000
Dollars Unterſtützung für jedes Schiff, Deutſchland insgeſammt 286,000,
davon Preußen und Bremen je 100,000 Dollars. Und wie reiche Zinſen
trug dies Opfer, das die radicalen Freihändler für Verſchwendung er-
klärten. Der regelmäßige Verkehr rief ganz von ſelbſt neue Geſchäfts-
verbindungen hervor; alle deutſchen Poſtverwaltungen bedienten ſich der Bre-
miſchen Dampfer, ſo daß ſich hier zuerſt der Keim eines geſammtdeutſchen
Poſtweſens zeigte; und binnen acht Jahren ſtieg der Werth der über
Bremen nach Nordamerika ausgeführten Induſtriewaaren von 3,3 auf
16 Mill. Thlr. Es war der beſcheidene Anfang einer gewaltigen Ent-
wickelung, die ſchließlich dahin führte, daß Deutſchlands überſeeiſcher
Handel größer wurde als ſein Handel mit dem europäiſchen Ausland.
Und wie viele andere Unterlaſſungsſünden noch, die man in der
langen Zeit binnenländiſcher Verſtockung kaum bemerkt hatte, erſchienen
jetzt als eine nationale Schmach; die Deutſchen beſannen ſich wieder auf
ſich ſelber und gedachten ihrer alten Seeherrſchaft. Die Publiciſten, Liſt
voran, forderten ungeduldig eine deutſche Flagge; mit vollem Rechte, denn
die Ausländer wußten kaum, daß es ein Deutſchland gebe, und ſogar
unſere Seeleute, die ſich mit den beſten der Welt kühnlich meſſen durften,
ſtanden draußen doch in geringem Anſehen, zumal da ſie, nach dem be-
ſcheidenen alten deutſchen Brauche, nur halb ſo hohen Lohn empfingen
wie die engliſchen. Ebenſo lebhaft wurde die Einſetzung deutſcher Conſuln
verlangt; Preußen beſaß ihrer zwar ſchon 230, doch faſt durchweg nur kauf-
männiſche Wahl-Conſuln, und ſie durften andere Deutſche nicht vertreten.
[488]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Am lauteſten aber erklang der Ruf nach einer deutſchen Kriegs-
flotte. Vor einem Menſchenalter noch hatte es Jedermann ganz in der
Ordnung gefunden, daß Preußen die in Antwerpen erbeuteten franzöſiſchen
Kriegsſchiffe, als unnütz für Deutſchland, einfach den Engländern ſchenkte;
dann waren am Bundestage einmal einige verlorene Worte gefallen über
die Ausrüſtung deutſcher Kriegsſchiffe gegen die Barbaresken.*) Jetzt end-
lich, ſeit der Zollverein das nationale Selbſtgefühl gekräftigt hatte, er-
kannten die Deutſchen mit Scham, welche lächerliche Rolle ihre waffen-
gewaltige Landmacht auf den Meeren ſpielte. Leider waren die Verhält-
niſſe den patriotiſchen Flottenplänen ſehr ungünſtig. Die Hanſen, die auch
in ihren überſeeiſchen Commanditen mit den Zollvereinsfirmen ſehr ſchlechte
Nachbarſchaft hielten, hatten ſich durch kaufmänniſches Geſchick eine leidliche
Stellung in den meiſten Staaten des Auslands geſichert, und da ſie noch
ganz in den Ueberlieferungen der alten unwürdigen Neutralitätspolitik
befangen waren, ſo fühlten ſie gar nicht, daß ſie doch nur von der Gnade
der Fremden lebten. Der Kaufmannsgeiſt ertödete den nationalen Stolz;
an der Hamburger Börſe bezweifelte Niemand, daß eine deutſche Kriegs-
flotte den friedſamen Handel der Hanſen nur ſtören könne. Dem preu-
ßiſchen Staate aber war der Sinn für den Werth der Seemacht allmäh-
lich ganz abhanden gekommen, da er ſeine kriegeriſche Kraft zu Lande,
um Deutſchlands willen, ſo übermäßig anſpannen mußte.
Das Waſſer iſt bekanntlich nicht unſer Element — ſo ſagte ein tüch-
tiger Offizier in einer Denkſchrift über die Flottenfrage. Mit Neuvor-
pommern hatte Preußen auch einige ſchwediſche Ruderſchaluppen im Strela-
ſunde übernommen; dazu noch zwei leibhaftige Seeoffiziere, die auf der
Berliner Parade manchmal als ergötzliche Wunderthiere Aufſehen erregten.
Unter dem alten Könige wurde der Plan einer Küſtenflotte oft und gründ-
lich erwogen, die Sparſamkeit der Miniſter vereitelte jedoch alle Hoffnungen.
Der neue Monarch hatte als Kronprinz lange das pommerſche Armee-
corps befehligt und in Stettin den alten Oberpräſidenten Sack oft be-
weiſen hören, daß ſein Pommern nicht blos des Küſtenſchutzes, ſondern
einer ſtarken, die Oſtſee beherrſchenden preußiſchen Flotte bedürfe. Sack’s
Lehren fielen auf fruchtbaren Boden; Friedrich Wilhelm wurde ſeit dem
großen Kurfürſten der erſte Hohenzollerſche Herrſcher, der wieder ein Ver-
ſtändniß für die See zeigte. Freilich blos das Verſtändniß des geiſtreichen
Dilettanten.
Zur Zeit lebte in Preußen nur ein einziger vornehmer Mann,
der das Seeweſen in großem Sinne und mit dem Ernſt des Fachmanns
betrachtete: Prinz Adalbert, der General-Inſpecteur der Artillerie. Wie
oft entſcheiden Jugendeindrücke über ein ganzes Leben. Als Prinz Adal-
bert zu Fiſchbach am Fuße des Rieſengebirges, unter den Augen ſeiner
[489]Prinz Adalbert. Amazone.
Eltern, des Prinzen Wilhelm und der frommen Prinzeſſin Marianne
heranwuchs, da erzählte ihm ein Spielgefährte, Graf v. d. Gröben oft-
mals von den Thaten ſeines Ahnherrn, des afrikaniſchen Helden der
Kurbrandenburger; auch der befreundete Nachbar Feldmarſchall Gneiſenau
ſprach gern von ſeinen amerikaniſchen Wanderfahrten. Seitdem träumte
der feurige wageluſtige Prinz von der weiten Ferne. Dann unternahm er
große Seereiſen, als Gaſt an Bord engliſcher, ruſſiſcher, ſardiniſcher Kriegs-
ſchiffe, und lebte ſich in den Beruf des Seemanns ein. Er lernte die Welt
kennen und begriff, wie eng das binnenländiſche Leben ſeiner Heimath war.
Für ein wachſendes Volk — ſo wiederholte er oft — kein Wohlſtand ohne
Ausbreitung, keine Ausbreitung ohne überſeeiſche Politik, keine überſeeiſche
Politik ohne Flotte. Von Halbheiten wollte er jedoch nichts wiſſen; viel-
mehr ſagte er voraus, daß eine kleine Flotte den großen Seeſtaaten wie
eine aufreizende Anmaßung erſcheinen würde; wolle man den kühnen
Wurf wagen, dann müſſe Deutſchlands Seemacht bald ſtark genug werden
um ſich zur Schlacht auf die hohe See hinauszuwagen. Solchen Plänen
ſeines jugendlichen Vetters hörte der König gern zu, aber die Bedenken
der Miniſter vermochte er nicht zu beſiegen. Zunächſt befahl er nur (1842)
den Bau des erſten königlich preußiſchen Kriegsſchiffs, der Corvette Amazone,
die befehligt von dem däniſchen Capitän Dirckinck-Holmfeld, zur Einübung
der Navigationsſchüler häufig die Oſtſee, zuweilen auch den Ocean befuhr.
Dies war, außer einigen königlichen Poſtdampfern in der Oſtſee, vor-
läufig Alles, was den Namen einer deutſchen Marine verdiente; denn
Jedermann wußte, daß Oeſterreichs Flotte, die Erbin Venedigs den Zwecken
deutſcher Politik niemals dienen konnte. Sehnſüchtig wiederholten die Pa-
trioten die Klage aus Freiligrath’s „Flottenträumen“:
Wie dringend Deutſchland einer Seemacht bedurfte, das ward grade
jetzt ſehr ſchmerzlich empfunden, da die anhaltende Auswanderung, die
dem Vaterlande ſo ganz verloren ging, in weiten Kreiſen das Verlangen
nach deutſchen Kolonien erweckte. Bunſen ſprach darüber oft mit ſeinen
engliſchen Freunden. Unermüdlich ließ er ſeine politiſchen Seifenblaſen
in die geduldige Luft ſteigen, Peel und Aberdeen ſtanden freundlich lächelnd
dabei, hielten ihm das Seifenbecken und ſchlugen den Schaum. Sobald
ſich das Gerücht von einer deutſchen Nationalflagge verbreitete, ſagte Aber-
deen zärtlich: das iſt ein ausgezeichneter Gedanke; Englands Intereſſe
verlangt, daß ſich zwiſchen der britiſchen und der franzöſiſchen Marine
einige Zwiſchen-Seemächte (des marines intermédiaires) bilden.*) Als
Bunſen aber den leitenden Miniſter unſchuldig fragte, ob England eine
[490]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſeiner Kolonien an Deutſchland abtreten könne um den Gefahren unſerer
Uebervölkerung abzuhelfen, da erwiderte Peel: das ließe ſich ſchwer aus-
führen; warum wolle Deutſchland nicht lieber Puerto Rico erwerben?
Dieſe Inſel war freilich viel zu klein, ihr tropiſches Klima auch für ſtarke
europäiſche Anſiedlungen ganz ungeeignet; ſie beſaß jedoch den großen
Vorzug, daß ſie der Krone Spanien gehörte, die engliſche Großmuth konnte
ſie mithin ohne ſchmerzliche Unkoſten den Deutſchen anbieten.
Aus dieſem Gewoge nebelhafter Entwürfe tauchte doch einmal ein Plan
auf, der nicht völlig ausſichtslos ſchien. Californien, das wüſte Land an der
Südſee, deſſen Goldſchätze damals noch Niemand ahnte, war zur Zeit faſt
herrenlos, die bankrotte Republik Mexiko ſchien nicht abgeneigt, das werth-
loſe Beſitzthum für mäßigen Preis zu veräußern. Was konnte den ideen-
reichen Köpfen Rönne’s und Bunſen’s willkommener ſein? Beide hofften
dies californiſche Land für Preußen zu erwerben und in der Bai von San
Francisco einen großen Freihafen zu gründen. Aberdeen zeigte ſich wieder
ſehr großmüthig; er ſtimmte fröhlich zu und fragte, ob Preußen nicht gleich
weiter nördlich ausgreifen und das Gebiet von Oregon dazu erwerben wolle.
Allerdings mußte Bunſen wiſſen, daß die Vereinigten Staaten, nach der
Monroe-Doctrin, eine europäiſche Kolonie auf ihrem Continente nicht dulden
würden; er erfuhr ſogar aus dem eigenen Munde des amerikaniſchen Staats-
ſecretärs Mac Lane, daß die Unions-Regierung ernſtlich beabſichtigte, die
Wirren in Mittelamerika zu benutzen um ihr eigenes Gebiet bis zur
Meerenge von Panama auszudehnen. Trotzdem war die Erwerbung Cali-
forniens nicht ganz undenkbar, wenn Preußen ſich insgeheim mit Mexiko
verſtändigte und — ſeine Kolonie durch eine Seemacht beſchützte! Auch
dafür wußte Bunſen Rath; wann wäre er je um einen Einfall verlegen
geweſen? Dänemark, der Todfeind der alten Hanſa, der Unterdrücker
des Deutſchthums in Schleswig, war doch Mitglied des Deutſchen Bundes
und konnte die Koſten ſeiner Flotte nur ſchwer erſchwingen. Weßhalb ſollte
alſo der Dänenkönig nicht Großadmiral der neuen Hanſa, des Zollver-
eins werden und als ſolcher die preußiſche Kolonie Californien mit ſeinem
Danebrog vertheidigen? Dann genügten ein oder zwei preußiſche Bataillone
um das Land im Innern zu ſichern. Dieſe Vorſchläge entwickelte der
preußiſche Geſandte ſeinem Amtsgenoſſen, dem Grafen Reventlow, einem
eifrigen Dänen, der insgeheim den engliſchen Hof für die Vernichtung
der Selbſtändigkeit Schleswigholſteins zu gewinnen ſuchte, doch mit Bunſen
nahe befreundet war und auch jetzt die zärtlichen Worte nicht ſparte.
Das Auswärtige Amt aber konnte nicht umhin, die Berichte des er-
findungsreichen Diplomaten am Rande mit einigen großen Fragezeichen zu
ſchmücken, und Bunſen fühlte ſich tief bekümmert, als ſeine Ideen von
dem natürlichen Tode aller Seifenblaſen ereilt wurden.*)
[491]Kolonien. Auswanderung.
Auf ſolche Thorheiten verfielen deutſche Diplomaten, weil ſie ohne
Flotte überſeeiſche Politik treiben wollten; die Warnungen des Prinzen
Adalbert beſtätigten ſich nur zu ſehr. Auch der Hamburger Sieveking
konnte gegen Englands Widerſpruch nichts ausrichten, als er die neuſee-
ländiſchen Chatham-Inſeln für Deutſchland zu erwerben ſuchte. Zudem
hatte ſich das öffentliche Urtheil über die Bedeutung kolonialen Beſitzes
noch keineswegs geklärt. Sehr tüchtige deutſche Männer hielten das Zeit-
alter der Kolonialpolitik für überwunden und abgethan, derweil England
fortfuhr, Jahr für Jahr neue zukunftsreiche Pflanzungsländer in allen
Welttheilen zu erwerben; ſie machten aus der Noth eine Tugend und prieſen
Deutſchland glücklich wegen der binnenländiſchen Beſchränktheit ſeines po-
litiſchen Lebens. Selbſt der beredte Vertheidiger der nationalen Handels-
politik Heinrich v. Arnim behauptete: der Zollverein könne eben deswegen
günſtige Handelsverträge ſchließen, weil er glücklicherweiſe keine Kolonien
beſitze. Seit dem Abfall der Union und des ſpaniſchen Amerikas galt
es im Lager der radicalen Freihändler für ausgemacht, daß jede zur Reife
gelangte Kolonie fich unfehlbar von dem Mutterlande losreißen müſſe.
Man bemerkte nicht, daß jene beiden großen Revolutionen durch ganz eigen-
artige hiſtoriſche Verhältniſſe bedingt waren und ſich nicht nothwendig
überall wiederholen mußten; man bemerkte noch weniger, wie Großes Eng-
land und Spanien, trotz des politiſchen Abfalls ihrer Kolonien, durch die
weite Verbreitung ihrer Nationalität, ihrer Sprache und Sitte in der Welt
gewonnen hatten. Der Erdkreis war jetzt aufgedeckt, eine neue barbariſche
Völkerwanderung nicht mehr zu befürchten; die Maſſenariſtokratie der Euro-
päer begann ſich in die Herrſchaft der überſeeiſchen Welt zu theilen, und
an dieſem ungeheueren Kampfe, welcher die zweite Hälfte des Jahrhunderts
füllte, nahmen die Deutſchen nur einen ſehr beſcheidenen Antheil.
Die Auswanderung, die ihren Weg noch immer faſt ausſchließlich nach
Nordamerika nahm, verdreifachte ſich in kurzer Zeit, ſie wuchs in den Jahren
1840—47 von 34,000 auf 110,000 Köpfe. Auch Preußen, das ſich bisher
durch ſeine freie ſociale Geſetzgebung leidlich geſchützt hatte, blieb von der
Bewegung nicht mehr unberührt; im Jahre 1846 wanderten mehr denn
16,000 Preußen aus, die Mehrzahl aus den winzigen Landgütern des
dichtbevölkerten Regierungsbezirks Trier. Da die Demagogenverfolgung
vorläufig aufgehört hatte, ſo befanden ſich jetzt unter den Ausziehenden nur
wenige gebildete Männer; alle Anderen überragte der Thüringer J. A. Röb-
ling, ein genialer Ingenieur, der durch ſeine Drahtſeilbahnen und Hänge-
brücken bekannt, nachher durch die Ueberbrückung des Niagara und des
Eaſt River weltberühmt wurde. Die kleinen Leute aus den ſüddeutſchen
Dörfern, die den Stamm der Auswanderer bildeten, mußten ſchon auf
der Ueberfahrt viel leiden, weil die elenden Segelſchiffe in den Hanſe-
ſtädten keiner ſtrengen Aufſicht unterlagen. Drüben verſchwanden ſie
meiſt ſehr ſchnell in dem übermächtigen fremden Volksthum; die Turn-
[492]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
und Geſangvereine, in denen ſie noch ihre vaterländiſchen Erinnerungen
pflegten, bedeuteten für die Politik gar nichts. Grade in dieſen Jahren
zeigten die Yankees den deutſchen Einwanderern faſt nur Hohn und
Verachtung.
In Deutſchland war man noch faſt rathlos. Einige Redner in
den ſüddeutſchen Kammern empfahlen zwar die Auswanderung als letztes
Heilmittel wider die angeblich drohende Uebervölkerung. Mehrere be-
drängte Gemeinden in Sachſen, Heſſen, Baden gaben ihren Armen
ſogar Reiſegeld und Wegzehrung für die Fahrt nach dem gelobten Weſten.
Die Regierungen aber erkannten, welchen unerſetzlichen Verluſt das Vater-
land durch die Auswanderung erlitt, und Miniſter Bodelſchwingh ſagte
gradezu: wir dürfen dies nationale Unglück mindeſtens nicht fördern.
Andererſeits fühlten ſie alle, daß ſie den unbändigen Wandertrieb nicht
hemmen, höchſtens die Agenten, deren verlockende Anzeigen ſchon in jedem
Dorfwirthshauſe Süd- und Mitteldeutſchlands aushingen, ſchärfer be-
aufſichtigen konnten. Was ſollte nun geſchehen um die Auswanderer zu
beſchützen und dem alten Volksthum zu erhalten? Eichhorn ſuchte die
Frage in einer geiſtvollen Denkſchrift zu beantworten (Febr. 1845). Der
gewiegte Zollvereinspolitiker ſah wohl ein, daß Deutſchland ohne See-
macht keine eigenen Kolonien erwerben konnte; trotzdem hoffte er „die
Auswanderung dem Vaterlande wieder nutzbar zu machen“, wenn ſie,
durch die preußiſchen Conſuln geleitet, ſich in zuſammenhängenden Maſſen
anſiedelte und dann Kirche und Schule, unter Beihilfe des Mutterlandes,
für die Erhaltung deutſcher Sprache und Sitte wirkten. Selbſt dieſe
anſpruchsloſen Vorſchläge ſchienen dem Auswärtigen Amte gefährlich, und
leider waren ſeine Bedenken nicht ohne Grunde. Niemand kann zwei
Vaterländer haben, und es frommte wahrlich nicht, den Deutſchen, die
ſchon daheim in ſo unklaren politiſchen Verhältniſſen lebten, den Ernſt
des Sta[a]tsgedankens noch mehr zu verdunkeln. Jede Nationalität wird
zum Zwitter, wenn ſie ſich von ihrem Staate löſt; über die abtrünnigen
Söhne des Vaterlandes, die freiwillig amerikaniſche Bürger wurden, durfte
Preußen keinerlei Schutzrecht ausüben, ſobald die Unionsregierung, wie ſich
leicht vorausſehen ließ, Einſpruch erhob.
Verwandte Gedanken regten ſich unter den Auswanderern ſelbſt.
In Texas entſtand ein freimaureriſcher Orden Teutonia, der ſeine Mit-
glieder zur Wahrung der nationalen Eigenart verpflichtete. Ein höheres
Ziel ſetzte ſich der „Verein zum Schutze der deutſchen Einwanderung in
Texas“; er hoffte eine ſelbſtändige Kolonie, vielleicht gar einen deutſchen
Staat zu gründen, weil Texas, von Mexiko losgeriſſen, noch nicht zu
feſter politiſcher Ordnung gelangt war. Die Herzoge von Naſſau, Co-
burg, Meiningen, der Fürſt von Rudolſtadt, der Landgraf von Hom-
burg ſowie neunzehn Fürſten und Grafen vom mediatiſirten Reichsadel
gehörten ihm an; Fürſt Leiningen, der vielgeſchäftige Stiefbruder der
[493]Deutſche Einwanderer in Texas.
Königin Victoria führte den Vorſitz. Das Vorbild des mildthätigen
Friedrich Wilhelm hatte überall im hohen Adel philanthropiſchen Eifer er-
weckt; man ſchwärmte für die Rettung der Nothleidenden und ſuchte, vorerſt
noch ohne Erfolg, die Hilfe des frommen Königs zu gewinnen.*) Leider
ward das wohlgemeinte Unternehmen mit der ganzen Leichtfertigkeit geſchäfts-
unkundiger vornehmer Herren eingeleitet; das Capital von 80,000 Dollars
genügte nicht von ferne; auch die politiſche Berechnung erwies ſich als
falſch, da Texas ſchon 1845 in die Union eintrat. Prinz Karl von
Solms-Braunfels, ein phantaſtiſcher, gutmüthig prahleriſcher junger Mann
zog ſelbſt hinüber, er gründete die Stadt Neu-Braunfels und eine Ort-
ſchaft Sophienburg, nach dem Namen einer deutſchen Fürſtin, die er
glühend verehrte; doch lange hielt er nicht bei der Stange aus. Von
den 5000 Auswanderern, die der Fürſtenverein in den Jahren 1845 und
46 nach Texas führte, gingen mehr denn zwei Drittel elend zu Grunde;
die 1500 welche endlich, unter der kräftigen Führung des Generalcommiſſärs
v. Meuſebach, ſich ſelber zu helfen lernten, wurden zu deutſch-engliſchen
Amerikanern, wie alle die anderen deutſchen Einwanderer in der Union.
Der klägliche Untergang dieſes im Jahre 1847 aufgelöſten Fürſtenvereins
war ein Unglück auch für die deutſche Politik; denn die Radicalen, die
im Stillen überall mit wachſendem Erfolge arbeiteten, bemächtigten ſich
ſchadenfroh der traurigen Vorfälle, und noch in den Volksverſammlungen
des Revolutionsjahres ſprachen die Demagogen gern von den tauſenden
wackerer Plebejer, die an der Fieberküſte von Texas als Opfer fürſtlichen
Leichtſinns gefallen waren. Es ſtand nicht anders: ſo lange Deutſchland
keine Reichsgewalt beſaß, gingen alle ſeine Auswanderer dem Staate, die
meiſten auch dem Volksthum der Heimath verloren. —
Gewaltig veränderte ſich mittlerweile das volkswirthſchaftliche Leben
durch den fortſchreitenden Eiſenbahnbau. Die Nothwendigkeit der neuen
Erfindung zeigte ſich ſchon jetzt ſo deutlich, daß der Widerſpruch mehr
und mehr verſtummte. Unter den namhaften Politikern Europas blieben
nur noch zwei unverſöhnliche Widerſacher: der Reſtaurator der Staats-
wiſſenſchaft K. L. v. Haller und der Deutſchruſſe Cancrin, der doch nicht
hindern konnte, daß ſchon bei ſeinen Lebzeiten einige Bahnbauten in dem
Czarenreiche begonnen wurden. Im preußiſchen Heere fanden die ſkeptiſchen
Anſichten des Generals Aſter nur noch wenig Anklang. H. v. Moltke, der jetzt
heimgekehrt als Major im Generalſtabe ſtand, trat ſogar in den Verwal-
tungsrath der Berlin-Hamburger Eiſenbahn und beantwortete in einem
lichtvollen Artikel der Deutſchen Vierteljahrsſchrift die Frage: „welche
Rückſichten kommen bei der Wahl der Richtung von Eiſenbahnen in Be-
[494]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
tracht?“ Auch andere tüchtige Offiziere verlangten, daß die Regierung
den Bau der Eiſenbahnen nach einem durchdachten Plane leiten müſſe.*)
Da der König ſchon als Kronprinz ähnliche Meinungen gehegt hatte, ſo
wurden im Staatsminiſterium (1842) die Grundzüge eines die geſammte
Monarchie umfaſſenden Eiſenbahnnetzes feſtgeſtellt; und immer wieder
drängte ſich die Erwägung auf, ob man nicht kurzweg Staatseiſenbahnen
bauen ſolle.
Die Finanzen erfreuten ſich einer beneidenswerthen Blüthe; das blieb
immer die ſtarke Seite der Regierung Friedrich Wilhelm’s. Die Staats-
ſchuld ſank bis zum Jahre 1847 auf 137 Mill. Thlr., die Staatsſchuld-
ſcheine ſtanden ſehr hoch im Curſe. Nach der glücklich vollendeten Ein-
ziehung der fünfprocentigen Papiere wagte man jetzt ſchon, die Verzinſung
von 4 auf 3½ Proc., noch unter den landesüblichen Zinsfuß, herabzuſetzen,
obwohl Graf Alvensleben in gerechter Beſorgniß warnte, dieſe Politik der
peinlichen Zinſenerſparniß würde die Staatsgläubiger ſehr hart treffen
und das Privatcapital vielleicht zu ſchwindelhaften Unternehmungen ver-
führen.**) Zugleich hob ſich der Ertrag der Domänen in den Jahren
1833—48 von 4,2 auf 5,25 Mill. Thlr.; nach der knappſten Berech-
nung empfing der Staat aus ſeinem geſammten Vermögen eine Rente
von 6,25 Mill. jährlich, während er nur noch eine Zinſenlaſt von 5 Mill.
trug. Trotz des Steuererlaſſes wuchs auch das Einkommen aus den
Abgaben beſtändig, und im Jahre 1847 bezog die Monarchie ſchon eine
regelmäßige Geſammteinnahme von mehr denn 67 Mill. Thlr. Darum
wurden Staatseiſenbahnen, wie die Berathungen der Vereinigten Ausſchüſſe
deutlich erkennen ließen,***) in weiten Kreiſen für unbedenklich und noth-
wendig gehalten. Unmöglich konnte man doch behaupten, daß Privatbeamte
den Eiſenbahndienſt, der nur ſtrenge Ordnung und Ehrlichkeit verlangt,
beſſer beſorgen ſollten als das bewährte Staatsbeamtenthum; der Stachel
des freien Wettbewerbs, der ſonſt die Privatunternehmungen zu großen
Leiſtungen anſpornt, fiel hier hinweg, da die Eiſenbahnen thatſächlich ein
Monopol beſaßen.
Nach alledem begann ſelbſt der alte Miniſter Rother ſich mit dem
Gedanken des Staatsbaues zu befreunden. Als er einige Monate nach
der Entlaſſung der Vereinigten Ausſchüſſe dem Miniſterium (21. Febr.
1843) eine große Denkſchrift „zur Förderung des Eiſenbahnbaues“ ein-
reichte, da ſprach er offen aus: an ſich ſei der Staatsbau wohl vorzuziehen,
weil der Staat ohnehin ſchon Herr der Straßen ſei, weil er beſſer verwalte
als Aktiengeſellſchaften und bei dem günſtigen Stande der Staatsſchuld
das Wagniß wohl auf ſich nehmen könne. Dem gegenüber aber ſtand
[495]Preußiſche Eiſenbahnpolitik. Das Aktiengeſetz.
das alte unüberwindliche ſtaatsrechtliche Bedenken: ohne Reichsſtände
durfte die Krone keine Anleihen aufnehmen, auch hatte ſie den Provinzial-
ſtänden bereits angekündigt, daß ſie für jetzt auf Staatsbahnen verzichte.
Deßhalb allein empfahl Rother ein vermittelndes Syſtem, das offenbar
den Uebergang zu dem Staatsbahnſyſtem der Zukunft bilden ſollte. Er
verlangte, der Staat müſſe die Hauptlinien unter ſeiner Leitung und Aufſicht
durch Aktiengeſellſchaften bauen laſſen, und ihnen aus ſeinen regelmäßigen
Einnahmen 2 Mill. Thlr. jährlich zuſchießen, auch nöthigenfalls eine Ver-
zinſung von 3½ Procent verbürgen, die Zinſen ſeiner eigenen Aktien aber
nebſt neuen Ueberſchüſſen in einem beſonderen Eiſenbahnfonds anſammeln
um ſpäterhin, nach zwanzig Jahren etwa, die Bahnen ſelbſt anzukaufen. Alſo
erſcheine der Staat immer nur als Gläubiger, nie als Schuldner, und das
Staatsſchuldengeſetz von 1820 bleibe unverletzt.*) Obwohl dieſe letzten
Sätze ſich mit guten Rechtsgründen anfechten ließen, und mehrere der
andern Miniſter, zumal der ſparſame Thile, die Pläne des klugen alten
Herrn allzu kühn fanden, ſo drang er doch bei dem Monarchen durch.
Im Weſentlichen nach ſeinen Vorſchlägen wurde die Eiſenbahnpolitik wäh-
rend der nächſten Jahre gehandhabt.
Das Privatcapital in den mittleren und den weſtlichen Provinzen
zeigte ſich gewagten Unternehmungen nur zu ſehr geneigt. Jetzt zum
erſten male wurde Berlin von dem Fieber wüſten Aktienſchwindels er-
griffen, das ſeitdem noch ſo oft wiederkehren ſollte. Das böſe Beiſpiel gab
England. Da die Geſchäftswelt von der Ueberlegenheit großer Eiſenbahnen
noch nichts ahnte, ſo drängten ſich in Großbritannien die Gründungen.
In den zwölf Jahren bis 1844 waren dort 44 Eiſenbahngeſellſchaften
entſtanden, in dem einen Jahre 1845 bildeten ſich 118 neue; geplant
waren ihrer noch 1263 mit einem angeblichen Capitale von 562 Mill. Lſtrl.**)
und es bedurfte noch vieljähriger ſchlimmer Erfahrungen, bis ſich endlich
die große Nordoſtbahngeſellſchaft aus der Verſchmelzung von 37 kleinen
Bahnen bildete. Vor dieſem Uebermaße des Schwindels blieb Preußen
freilich bewahrt, Dank ſeiner Armuth und der ſtrengeren Staatsaufſicht.
Immerhin ward der Tanz um das goldene Kalb ganz ſchamlos. Männer
aus allen Ständen, ſelbſt Offiziere in Uniform, berühmte Künſtler und
Gelehrte drängten ſich täglich in das winklige Börſengebäude neben dem
Dom um mit den Aktien aller Länder zu ſchachern. Da wurden durch
das Geſetz vom 24. März 1844 alle Zeitkäufe über inländiſche, alle Ge-
ſchäfte über ausländiſche Aktienpromeſſen plötzlich verboten. Das von
Bodelſchwingh entworfene, ſtrenge aber nothwendige Geſetz wirkte furchtbar,
weil es ganz unvermuthet von der abſoluten Krone ausging, und keiner-
lei ſtändiſche Verhandlungen die Geſchäftswelt darauf vorbereitet hatten.
[496]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Die Folge war, daß nach ſchweren Verluſten das Privatcapital ſich ſcheu
zurückzog und alle Börſen über Geldmangel klagten.
Trotzdem ſchritt der Bahnbau vorwärts. Bis zum Jahre 1847
wurden in Preußen 280 Meilen Eiſenbahnen eröffnet und der Staat über-
nahm eine Zinsbürgſchaft für 29 Mill. Thlr. Es wurden vollendet oder
der Vollendung nahe gebracht die großen Linien nach Stettin, nach der
ſchleſiſch-öſterreichiſchen Grenze, nach Sachſen und weiter weſtlich durch Thü-
ringen. Nachdem Mecklenburg und Hamburg einen beträchtlichen Theil des
Anlagecapitals — weit mehr als Preußen ſelbſt — übernommen hatten
und der kleinliche Widerſpruch der Krone Dänemark endlich überwunden
war, kam auch die Berlin-Hamburger Bahn zu Stande. Beſondere
Schwierigkeiten bereitete die wichtige Verbindung Berlins mit den weſt-
lichen Provinzen. Ein Glück nur, daß im braunſchweigiſchen Finanzweſen
der rührige Director v. Amsberg faſt unumſchränkt ſchaltete. Der hatte
ſchon ſeit den zwanziger Jahren, weit vorausſchauend, große Pläne für
ein nordweſtdeutſches Eiſenbahnſyſtem begonnen und dann, als er bei
dem welfiſchen Königshofe nichts durchſetzen konnte, im Jahre 1838 die
erſte deutſche Staatsbahn, Braunſchweig-Wolfenbüttel-Harzburg, gegründet.
Die Bahn blühte ſchnell auf in dem verkehrsreichen Ländchen und bil-
dete den Stamm der großen Straße zwiſchen Spree und Rhein. Im
Oſten ſchloſſen ſich preußiſche Linien an; es waren, nach der Weiſe dieſer
Zeit, mehrere kleine Geſellſchaften, die ſich erſt mühſam unter einander
verſtändigen mußten: die Magdeburg-Halberſtädter und die bis nach Magde-
burg ausgedehnte Berlin-Potsdamer Bahn. Im Weſten trat Hannover
hinzu. König Ernſt Auguſt ſträubte ſich lange, doch ſobald er die Noth-
wendigkeit erkannte betrieb er den Bahnbau mit gewohnter Thatkraft und
beſtand nur noch darauf, daß die Linie recht viel hannoverſches Land durch-
ſchneiden müſſe. Preußen forderte eine Bahn von Hannover nordweſtwärts
über Neuſtadt, damit von Nienburg aus eine Zweigbahn nach Bremen erbaut
und Weſtphalen alſo auf dem kürzeſten Wege mit dem Weſerplatze ver-
bunden würde. Dem widerſprach der Welfe; er verlangte die ſüdliche
Linie Hannover-Minden, um nachher von irgend einer hannoverſchen Sta-
tion aus eine ſehr unbequeme, aber ſehr lange und rein-welfiſche Bahn
nach Bremen bauen zu können. Da man den ſtörriſchen Alten weder
zwingen noch überzeugen konnte, ſo gab Preußen ſchließlich nach und be-
willigte die Linie Braunſchweig-Hannover-Minden.*) Daran ſchloß ſich end-
lich die große Bahn von Minden nach Köln. So geſchah es, daß die ge-
werbreiche Provinz Weſtphalen, deren Volksmann Harkort ſchon vor langen
Jahren für den Bahnbau gekämpft hatte, erſt ſehr ſpät, ſeit 1847 in den
großen Eiſenbahnverkehr eintrat. Ihre Fabriken und Bergwerke hatten
unter der langen Säumniß ſchwer gelitten.
[497]Anfänge des preußiſchen Staatsbahnweſens.
Unterdeſſen mußte die preußiſche Regierung erfahren, daß ſie mit
der behutſamen Politik der Unterſtützungen und Zinsgarantien nicht zum
Ziele gelangte. Die neue franzöſiſche Oſtbahn begann eine große Linie bis
zur preußiſchen Grenze bei Forbach; von der anderen Seite her baute die
pfälziſche Ludwigsbahngeſellſchaft eine Bahn durch die Berge des Weſt-
richs bis gegen Neunkirchen hin. Kamen dieſe Bauten zum Abſchluß,
dann war eine Schienenverbindung zwiſchen Frankreich und Deutſchland
— die einzige unmittelbare die damals möglich ſchien — faſt vollſtändig
hergeſtellt. Nur ein kleiner Streifen preußiſchen Gebietes trennte noch die
beiden Endpunkte, und in ihm lagen die großen, zumeiſt dem Staate gehörigen
Kohlengruben des Saarbrückener Beckens. Da war kein Zaudern mög-
lich; die Krone entſchloß ſich (1847) zum Bau der erſten preußiſchen
Staatsbahn, der kurzen, für die Volkswirthſchaft hochwichtigen Saar-
brückener Bahn.
Dieſe kleine Strecke konnte zur Noth noch ohne Anleihe, durch die
reichen Ueberſchüſſe der Staatseinnahmen gebaut werden; doch mittlerweile
trat eine neue, ungleich ſchwerere Aufgabe an den Staat heran. In dem
geplanten Eiſenbahnnetze fehlte noch ein wichtiges Glied, die große Oſt-
bahn nach Königsberg; und der König hielt es mit Recht für eine Ehren-
pflicht, ſein geliebtes, durch die Ungunſt der geographiſchen Lage ſo ſchwer
bedrängtes Altpreußen baldigſt mit der Hauptſtadt und dem großen mittel-
europäiſchen Verkehre zu verbinden. Ueber die Richtung der Bahn wurde
lange geſtritten. Rönne, der immer ſeine abſonderlichen Gedanken hegte,
empfahl „wegen des Seeverkehrs“ die Linie von Stettin durch Hinter-
pommern; er kannte unſeren Oſten wenig, er wußte nicht, daß Hinter-
pommern weſentlich ein Binnenland iſt, weil die Oſtſee minder tief als
andere Meere in das Leben ihrer Uferländer einwirkt. Der König ſchien
anfangs den Vorſchlägen dieſes vertrauten Rathgebers geneigt. Seine
Miniſter aber hatten von den Erfahrungen der jüngſten Jahre gelernt
und ſahen ein, daß die Eiſenbahnen wo möglich dem Zuge der alten ver-
kehrsreichen Handelswege folgen mußten; ſie riethen daher, die Oſtbahn
über Landsberg die Warthe entlang nach Bromberg und alsdann ab-
wärts am Weichſelthale hin zu führen. Dieſe Meinung ſiegte, weil auch
die oſtpreußiſchen Landſtände den König beſchworen, ſeiner alten ſtolzen
Weichſelſtädte nicht zu vergeſſen.*) Da verſagte ſich das Privatcapital.
Die Eiſenbahngeſellſchaft, der das große Bankhaus J. Mendelsſohn und
mehrere der angeſehenſten Männer Oſtpreußens angehörten, erklärte plötz-
lich: bei dem Geldmangel, der ſeit dem neuen Aktiengeſetze die Börſen
heimſuche, vermöchte ſie die 32 oder 40 Mill. Thlr. für das gewaltige
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 32
[498]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Unternehmen unmöglich aufzubringen. Jetzt blieb nichts übrig als ein
verzweifelter Entſchluß; nach ſo vielen Verheißungen und Vorarbeiten
konnte die Krone nicht mehr zurück. Am 16. März 1847 beſchloß das
Staatsminiſterium: der Staat müſſe nunmehr ſelber die Oſtbahn bauen
und von dem demnächſt zuſammentretenden Vereinigten Landtage ſogleich
eine große Anleihe verlangen. Der König genehmigte den Antrag; er
ahnte nicht, wie ſeltſam das Schickſal ſeiner Oſtbahn ſich noch mit dem
Verfaſſungskampfe verſchlingen ſollte.*)
Derweil Preußens Handelspolitik alſo beſtändig durch ſtaatsrecht-
liche Bedenken gehemmt wurde, brauchten die kleineren Bundesſtaaten, Dank
ihren Verfaſſungen, ſolche Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Sie er-
freuten ſich zudem blühender Finanzen, denn für die Vertheidigung des
Vaterlandes hatten ſie alleſammt Preußen allein ſorgen laſſen, Baden
verwendete nur ein Fünftel ſeiner Staatsausgaben auf das Heerweſen.
Darum konnten ſie früher als Preußen den Staatseiſenbahnbau wagen; die
meiſten von ihnen ſahen ſich ſogar dazu gezwungen, weil das Privatcapital
in Süddeutſchland und in Hannover weniger Unternehmungsluſt zeigte
als in Preußen oder Sachſen. Nur Braunſchweig und Baden erkannten
von Haus aus grundſätzlich die Vorzüge des Staatsbahnweſens.
In Braunſchweig ſpürte man überall die ſtarke Hand Amsberg’s, der in
dieſen Geſchäften alle anderen deutſchen Staatsmänner überragte. In Baden
hatte Nebenius den Staatsbau durchgeſetzt; die Ausführung entſprach
jedoch dem frei gedachten Plane wenig. Obgleich dies Land ſeine handels-
politiſche Bedeutung weſentlich dem Durchfuhrhandel verdankte, ſo drängten
ſich doch bald die kleinen örtlichen Intereſſen anſpruchsvoll vor, und man
gab den Schienen ſogar eine von dem deutſchen Normalmaße abweichende
Spurweite, damit ja kein fremder Eiſenbahnwagen in das Ländle hin-
über käme. Die Schwäche des Staatseiſenbahnſyſtems, die Parteilichkeit
zeigte ſich hier, in dem ſo lange durch politiſche Kämpfe zerrütteten con-
ſtitutionellen Muſterſtaate ſehr häßlich. Laſſen Sie Sich Ihre Bahn durch
Ihren liberalen Abgeordneten bauen! — ſo antwortete Blittersdorff den
klagenden Gemeinderäthen der verkehrsreichen Fabrikſtadt Lahr, die ſeitab
von der Staatsbahn liegen blieb. Die mit dem Großherzogthum Heſſen
verabredete Main-Neckar-Bahn wurde nicht gradeswegs an den dichtbe-
völkerten Ortſchaften der oberen Bergſtraße vorbei nach Heidelberg geführt,
aber auch nicht weſtwärts nach Mannheim, denn beide Städte ſtanden
in Ungnade wegen ihrer liberalen Geſinnung; man gründete vielmehr
mitten zwiſchen beiden Orten in der ſandigen Rheinebene den lächerlichen
Knotenpunkt Friedrichsfelde. In Württemberg begann die Regierung ſeit
1841 den Staatsbau, weil ſie umgangen zu werden fürchtete und das
[499]Eiſenbahnen in den kleinen Staaten.
Privatcapital ſich muthlos zeigte. Sie verfuhr fortan mit großem Eifer,
erklärte ſich entſchieden gegen „die Corruption, die neue Feudalität“ der
Privateiſenbahnen und wagte ſogar, wenige Meilen von der Linie Augs-
burg-Lindau eine Parallelbahn Ulm-Friedrichshafen zu bauen, damit Baiern
den Verkehr des Bodenſees nicht an ſich riſſe. Auch in Baiern ver-
mochten die kleinen Geſellſchaften, welche die Theilſtrecken der Linie Augs-
burg-Hof übernommen hatten, ſich nicht zu halten, und der Staat mußte
ſelbſt eintreten; nur die wohlhabenden, unternehmenden Pfälzer bauten
ſich ihre Bahnen durch Privatgeſellſchaften.
Die ſächſiſche Regierung, die auf dieſem Gebiete die reichſten Er-
fahrungen beſaß, wollte ſich zunächſt die Vortheile des Durchfuhrverkehrs
ſichern und entwarf einen wohldurchdachten Plan für Bahnverbindungen
mit Schleſien, Böhmen, Baiern; doch ſelbſt in dieſem gewerbreichen Lande
konnte das Privatcapital nur die einträgliche Leipzig-Dresdner Linie, nicht die
anderen minder ergiebigen Bahnen feſthalten, und nach einigen Jahren ſah
ſich der Staat auch hier gezwungen die Neubauten zu übernehmen. Hannover
dagegen beſaß, Dank ſeiner erleuchteten Handelspolitik, noch gar keine großen
induſtriellen Capitalien und mußte daher von Haus aus den Staatsbau
wagen. Er wurde eifrig, aber planlos betrieben; die beiden wichtigen Bahnen
von Hamburg und Bremen mündeten nicht in der Hauptſtadt, ſondern
einige Stunden entfernt in Lehrte und Wunſtorf. Man wußte noch nicht
und konnte nur durch die Erfahrung lernen, was ein Knotenpunkt im
Bahnverkehr bedeutet. Die Kurheſſen trugen ſich ſchon ſeit vielen Jahren mit
großen Bahnplänen, ſie hofften, daß Caſſel den Mittelpunkt des deutſchen
Eiſenbahnnetzes bilden ſollte. Der Prinzregent aber verzögerte Alles durch
Trägheit und böſen Willen. Endlich durfte eine Aktiengeſellſchaft zur Ver-
bindung von Thüringen und Weſtphalen zuſammentreten; ſie gewann die
Gnade des Landesherrn, weil ſie den ſtolzen Namen der Friedrich-Wilhelms-
Nordbahn annahm. Die Main-Weſerbahn zwiſchen Caſſel und Frankfurt
ſollte auf Staatskoſten, gemeinſam mit Heſſen-Darmſtadt, gebaut werden;
der Landtag bewilligte dazu eine Anleihe von 6 Mill. Thlr. Das Haus
Rothſchild, das dieſe Anleihe aufzulegen hatte, überſchritt die vereinbarte
Summe um 750,000 Thlr. und beanſpruchte dieſen Ueberſchuß von
12½ Procent für ſich ſelbſt als ſauer verdiente Proviſion. Es war ein
öffentliches Geheimniß, wie der preußiſche Geſandte Graf Galen ſagte,
daß der getreue Hofbankier ſich mit dem Kurprinzen in den Gewinn theilte,
„daß auf Koſten des Landes der Regent in jüdiſcher Gemeinſchaft gute
Geldgeſchäfte machte.“*) Darum richtete der ehrliche Abgeordnete Wipper-
mann nichts aus, als er in der Kammer den Gaunerſtreich Rothſchild’s
zur Sprache brachte.
Von Kiel nach Altona beförderte die königlich däniſche Poſt auf der
32*
[500]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſoeben erſt vollendeten neuen Steinſtraße täglich vier bis ſechs Perſonen
in dreizehn Stunden, und die ſchlichten Leute fragten ganz verwun-
dert: was man denn noch mehr verlangen könne? — als in beiden
Städten Vereine zur Begründung einer Eiſenbahn zuſammentraten. Der
Plan ſchien anfangs faſt ausſichtslos; die Unternehmer baten ſogar den
Czaren Nikolaus, als dieſer durch Holſtein kam, um die Zeichnung einiger
Aktien, damit das Werk durch den Zauber ſeines mächtigen Namens ge-
fördert würde. Im Auftrage der Stadt Kiel ging dann Franz Hegewiſch
(1842) nach Kopenhagen und er behandelte ſeinen Gönner, den geſcheidten,
eitlen König Chriſtian VIII. mit ärztlicher Klugheit; er legte ihm genaue
Rechnungen vor und dazu den Antrag, daß die Bahn den Namen „König
Chriſtian VIII. Oſtſeebahn“ führen ſolle.*) Eine ſolche Lockung wirkte
in Kopenhagen ebenſo unwiderſtehlich wie in Caſſel. Die Bahn wurde
genehmigt und ſchon nach zwei Jahren dem Verkehr übergeben. Freilich
ahnte der König nicht, was ſich ſeine treuen Holſten bei dem Unternehmen
dachten; er zeigte ſich ſehr aufgebracht, als Hegewiſch bald nachher auf
dem Kieler Aerztetage furchtlos ſagte, dieſer Schienenweg ſolle das un-
getheilte Schleswig-Holſtein feſt mit dem deutſchen Vaterlande verbinden.
Um ſo mehr war er darauf bedacht, Lübeck niederzuhalten, die alte Feindin
Dänemarks, die jetzt auch mit dem aufſtrebenden Kiel einen ſcharfen Con-
currenzkampf führte. Weder eine Hamburg-Lübecker Bahn, noch eine
Zweigbahn zum Anſchluß an die Berlin-Hamburger Linie wollte er der
verhaßten Stadt erlauben, und da auch Mecklenburg, ängſtlich beſorgt um
ſeine eigenen Seeplätze Wismar und Roſtock, einen Schienenweg nach
Schwerin nicht geſtattete, ſo blieb Lübeck, allein unter den Hanſeſtädten,
noch viele Jahre lang ohne Eiſenbahnverbindung.
Bald fühlten die Verwaltungen ſelbſt, daß die naturwüchſige Anarchie
dieſer kleinen Linien doch einiger Ordnung bedurfte; es entſtanden vier große
Eiſenbahnverbände: eine norddeutſche Gruppe mit Berlin, eine niederrhei-
niſche mit Köln, eine ſüdweſtliche mit Frankfurt, eine bairiſche mit Augsburg
als Mittelpunkt. Die Verbände verſtändigten ſich über einige gemeinſame
Betriebsgrundſätze, vornehmlich über die Waarenbeförderung; denn man
begann jetzt ſchon zu begreifen, daß der Güterverkehr mehr bedeutete als
der Perſonenverkehr, und die Tarifſätze der Eiſenbahnen für viele Ge-
werbszweige wichtiger waren als die Schutzzölle. Trotz ſo mancher Miß-
griffe und Thorheiten blieb es doch ein erhebendes Schauſpiel, wie tapfer
dies Land ohne Hauptſtadt dem centraliſirten, reicheren Frankreich vor-
ausſchritt. Was auch die Wälſchen prahlen mochten, die Sonne ging
über Europa noch immer nicht im Weſten auf. Im Volke regte ſich zwar
da und dort ein Widerſtand. Viele bairiſche Städtchen baten ihren König
[501]Telegraphie. Preußiſche Bank.
dringend ſie mit der Eiſenbahn zu verſchonen; ſie ahnten dunkel, daß
die neue Erfindung mancher kleinen für Fabrikanlagen ungeeigneten Ort-
ſchaft mehr Schaden als Nutzen bringen mußte. In der Preſſe wurden
dieſe vereinzelten Gegner als thörichte Schildbürger verſpottet; denn faſt
überall ſah man der neuen Zeit mit überſchwänglichen Hoffnungen ent-
gegen. Die Wünſchelruthe ſchien gefunden. Die Bürger des hannoverſchen
Pferdemarktes Peina ſangen, als ihre Eiſenbahn eröffnet wurde, beim Feſt-
mahle feierlich nach der Melodie des Landesvaters: „Peina bricht ſich,
Peina bricht ſich eine neue Lebensbahn!“
Unterdeſſen hatten der Amerikaner Morſe und der Engländer Wheat-
ſtone die deutſche Erfindung der elektriſchen Telegraphie weiter gebildet
und für den täglichen Verkehr nutzbar gemacht. Es ward hohe Zeit.
Der alte optiſche Telegraph arbeitete gar zu unſicher; in nebliger Winters-
zeit geſchah es wohl, daß ein Telegramm von London nach Berlin fünf
Tage brauchte. Nun fand ſich wieder ein deutſches techniſches Genie,
das die Arbeit der Fremden fortführte. Der preußiſche Artillerieleutnant
Werner Siemens benutzte einen elaſtiſchen Pflanzenſtoff, der jetzt zuerſt
in den Handel kam, die Guttapercha, um die Drähte der Telegraphen-
leitungen zu umhüllen und zu iſoliren; zwiſchen Berlin und Großbeeren
unternahm er den erſten Verſuch (1847) und legte alſo den Grund für
das deutſche Telegraphennetz. Die neue Firma Siemens und Halske ar-
beitete bald für den Weltmarkt. —
Unmöglich konnte die Preußiſche Bank von dieſem gewaltigen Um-
ſchwunge des Verkehrslebens unberührt bleiben. Sie hatte ſich im letzten
Jahrzehnt, ſeit 1837, unter Rother’s umſichtiger Leitung kräftig entwickelt,
den gefährlichen Effectenhandel eingeſchränkt, ihren Wechſelverkehr ſtrenger
geordnet und das leidige Deficit, das ihr noch von den napoleoniſchen
Zeiten her anhing, wieder um 3,4 Mill. Thlr. vermindert.*) Ihr geſammter
Umſatz ſtieg von 264,7 auf etwa 373,6 Mill. Thlr. Berlin war mit ſeinen
408,000 Einwohnern und 712 Großkaufleuten jetzt wirklich eine Groß-
ſtadt, als Knotenpunkt der neuen Bahnen, als Handels- und Induſtrie-
platz mächtig, ſogar als Geldmarkt nicht mehr weit hinter Frankfurt zu-
rück. Der Aktienſchwindel, den der Staat leider durch die voreilige Herab-
ſetzung ſeiner Schuldzinſen ſelbſt genährt hatte, wirkte freilich mit; doch im
Weſentlichen waren die wachſenden Anſprüche an die Bank lediglich die
natürliche Folge des erwachten Unternehmungsgeiſtes. Seit 1838 hatte
das Privatcapital über 100 Mill. Thlr. für die preußiſchen Eiſenbahnen
aufgebracht, ſicherlich mehr als der Staat ſelbſt in ſo kurzer Zeit auf-
gewendet hätte.
Wie ſollte die Bank den Anforderungen ihres jetzt faſt vervierfachten
Lombard- und Wechſelverkehrs auf die Dauer genügen mit 6 Mill. Caſſen-
[502]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
anweiſungen und den 2 Mill. baar, die ihr der Staatsſchatz überwieſen
hatte? Rother verlangte darum, daß die Bank einen um 10 Mill. Thlr.
vergrößerten Betriebsfonds erhalten und dafür Noten bis zu demſelben
Betrage ausgeben müſſe. Praktiker durch und durch, war er vom Regi-
mentsſchreiber zum Miniſter aufgeſtiegen und mit der Geſchäftswelt immer
in Fühlung geblieben. Wie er einſt, zum Entſetzen des zünftigen Be-
amtenthums, den Bankier Schickler in die Staatsſchuldenverwaltung
berufen hatte, ſo erklärte er jetzt: die Bankverwaltung bedürfe für ihre
Noten des allgemeinen Vertrauens, für ihre erweiterte Thätigkeit einer
genauen Kenntniß der augenblicklichen Marktverhältniſſe; darum müßten
die 10 Mill. durch das Privatcapital aufgebracht und den Inhabern der
Bank-Antheilſcheine eine ſtimmberechtigte Vertretung eingeräumt werden.
Die Bank ſollte mithin eine durch einen königlichen Präſidenten geleitete
Staatsanſtalt bleiben — denn einer Privatbank wollte Rother die Depo-
ſiten der Gerichte nimmermehr anvertrauen — doch zugleich ſo unabhängig
geſtellt werden, daß ſie durch den Ausſchuß ihrer kaufmänniſchen Theil-
haber gefährliche Zumuthungen eines leichtſinnigen Finanzminiſters jeder-
zeit abweiſen konnte.
Rother’s Vorſchläge erſchienen ſchüchtern, faſt ängſtlich gegenüber den
Bedürfniſſen des ſo mächtig angeſchwollenen Verkehres. Doch ihr Grund-
gedanke war geſund, er entſprach dem volksthümlichen Geiſte dieſer Monarchie,
die ja immer ihr Beſtes geleiſtet hatte, wenn ihre ſtarke Staatsgewalt
mit den freien Kräften der Nation zuſammenwirkte. Gleichwohl erhob ſich
von allen Seiten her leidenſchaftlicher Widerſpruch gegen die Pläne des
Bankpräſidenten. Schön polterte in Briefen, die faſt nur noch aus Schimpf-
wörtern beſtanden, wider die Unwiſſenheit, die Anmaßung, die durch Toll-
heit grandioſe Verrücktheit des Commis Rother und ſeiner Juden. Der
Grimmige lebte immer noch in den traurigen Erinnerungen des Jahres
1806; er fürchtete, ein Bataillon Franzoſen in Trier würde genügen, um
die 10 Mill. Banknoten ſofort zu entwerthen. Andererſeits hatte der er-
findungsreiche Bülow-Cummerow den Gedanken einer großen privilegirten,
aber vom Staate unabhängigen Nationalbank aufgebracht, die mit 25 Mill.
Capital ausgerüſtet, Hypotheken-, Giro-, Zettelbank, Alles in Allem ſein
ſollte. Er vertheidigte ſeinen Plan in zahlreichen Schriften, die er alle durch
die gewandte Feder ſeines Neffen Killiſch v. Horn ausarbeiten ließ, und er-
langte die freudige Zuſtimmung Rönne’s, dem niemals ein Plan zu
nebelhaft war. Auch der Finanzminiſter Flottwell ließ ſich überzeugen, er
war Neuling im Bankweſen, wollte für den Staatshaushalt keine gefähr-
lichen Verpflichtungen übernehmen und hörte gläubig zu, wenn ihm einige
Berliner Börſenmänner Wunderdinge von der geplanten Nationalbank
erzählten. Der König ſelbſt ſchien anfangs, wie ſo oft ſchon, ganz durch
Rönne’s feurige Beredſamkeit gewonnen zu ſein.
Dem alten Rother ward unheimlich zu Muthe. Er fühlte längſt,
[503]Rother’s Bankreform.
daß ſein trocken geſchäftliches Weſen den geiſtreichen Monarchen lang-
weilte, und fragte ſogar einmal ehrlich an, ob er das Vertrauen Sr. Maje-
ſtät noch beſitze. Darauf antwortete der König ſofort ſehr gnädig — denn
er wußte wohl, daß er keinen treueren Diener beſaß —: „ſchlagen Sie
Sich die Grillen aus dem Kopf und freuen Sie Sich vielmehr des großen
Vertrauens Ihres herzlich wohlgeneigten F. W.“ Zugleich ſchrieb er, ſo-
eben aus dem Theater heimgekehrt, an Thile: „Hier, theuerſter Thile, ein
Brieflein des alten Rother, welcher raſet. Beruhigen Sie ihn einſtweilen
und beweiſen Sie ihm, daß er, chose incroyable, mit ſeiner Ein-
bildungskraft durchgeht. Ich komme ganz durchbebt von claſſiſch-
helleniſchem Weh, von des alten ſchuldloſen Frevlers Oedipus Laios Sohnes
donnerumhallt geheimnißvollem Ende.“*) Trotzdem fühlte ſich der Mi-
niſter bedroht. Als im December 1845 der Handelsrath verſammelt
wurde, um unter dem Vorſitze des Monarchen die Vorſchläge Bülow-
Cummerow’s zu vernehmen und alsdann zu entſcheiden: ob Staatsbank
oder Nationalbank? — da ſagte Rother zu ſeinen Freunden bitter: ich
werde nur mitberufen, weil ich ein alter Eſel bin.**) Er ſollte ſehr angenehm
enttäuſcht werden. Es war doch ein gar zu ungeheuerlicher Gedanke, daß
man dieſe Preußiſche Bank, die ſich zum Ruhme der Monarchie aus hoff-
nungsloſer Zerrüttung ſo ehrenhaft wieder emporgearbeitet hatte, mit-
ſammt ihren erprobten Beamten und ihren alten Geſchäftsbeziehungen
jetzt plötzlich aufgeben wollte, um eine ganz neue Schöpfung zu wagen.
Und welche Sicherheit bot das neue Unternehmen? Bülow ſelbſt, der
reiche, unabhängige Grundherr, hegte unzweifelhaft die beſten Abſichten,
obgleich ihn die Berliner Geheimen Räthe als einen gefährlichen Streber
verleumdeten; er lebte nach dem guten Wahlſpruche des zahlreichſten deutſchen
Adelsgeſchlechts: „alle Bülows ehrlich.“ Aber die von ihm gegründete
Ritterſchaftliche Privatbank in Stettin, welcher die Anfänge des pommerſchen
Chauſſeebaus zu danken waren, ſtand niemals ganz feſt; ihre Geſchäfts-
führung zeichnete ſich weder durch Klugheit noch durch Ordnung aus.
Solche Erwägungen machten auf Friedrich Wilhelm tiefen Eindruck.
An ſeinen übrigen Herrſchergaben begann er jetzt ſchon oft zu zweifeln, doch
als ein getreuer Haushalter wollte er immer erfunden werden; ſeine
Pflichten gegen die Staatsfinanzen nahm er ſehr ernſt, und in dieſen
Geſchäften ging auch ſein Urtheil ſelten fehl. Bülow-Cummerow’s Vor-
ſchläge wurden alſo verworfen, der Bankpräſident ſchlug den Finanz-
miniſter. Die peinliche Frage, ob die 10 Mill. Banknoten nicht eine un-
geſetzliche Vermehrung der Staatsſchuld bedeuteten, blieb vorerſt uner-
ledigt. Sie ließ ſich jetzt, da der Staat ja nicht alleiniger Eigenthümer der
Bank bleiben ſollte, faſt mit gleich guten Gründen bejahen oder verneinen;
[504]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
der Wirrwarr des Verfaſſungsrechts — Jedermann erfuhr es auf Schritt
und Tritt — bedurfte endlich einer unzweideutigen Regelung. Am 11. April
1846 befahl eine Cabinetsordre die Neugeſtaltung der Preußiſchen Bank,
im Weſentlichen nach Rother’s Vorſchlägen; am 5. Oct. erſchien dem-
gemäß die neue Bankordnung. Rother erlebte noch die Freude, daß ſeine
Noten, die er mit der äußerſten Vorſicht bankmäßig gedeckt hatte, überall,
auch im Auslande, unbedenklich wie baares Geld angenommen wurden und
ſelbſt in den Stürmen des Jahres 1848 ruhig ihre Geltung behaupteten.
Nach einer ſolchen Niederlage konnte Flottwell ſich nicht mehr im
Amte halten. Wie grauſam wurde doch dieſem ausgezeichneten Beamten
durch die Wechſelfälle der neuen Regierung mitgeſpielt. Der König hatte
ihn erſt, zum Dank für ſeine muſterhafte Verwaltung, von Poſen hinweg
nach Magdeburg verſetzt; er hatte ihn ſodann zum Finanzminiſter ernannt,
obgleich Flottwell ſich ſelbſt als Nicht-Fachmann bekannte, und nachher
noch den Zweifelnden oftmals ſeines ungeſchwächten Vertrauens verſichert.*)
Nun zeigte ſich doch, wie berechtigt Flottwell’s eigner Zweifel geweſen.
Er glaubte trotzdem ſich durch einen kühnen Schritt retten zu können.
In einer langen Denkſchrift (Juni 1846) ſchlug er dem Monarchen eine
Umgeſtaltung des Miniſteriums vor, dergeſtalt, daß die Bank ſowie
alle Geldinſtitute des Staates dem Finanzminiſter untergeordnet, Handel
und Gewerbe, Bergwerke und Poſten hingegen einem neuen Handels-
miniſterium überwieſen würden; denn in ſeiner gegenwärtigen Stellung
ſei der Finanzminiſter „vernichtet“. Dies war eine offene Kriegserklärung
gegen Rother, deſſen Pläne der König ſoeben erſt angenommen hatte.
Friedrich Wilhelm brauſte auf; er ſah in dem Vorgehen des Miniſters
ſtrafbaren Ungehorſam. Im Juli wurde Flottwell ungnädig entlaſſen und
mußte noch froh ſein, als er nachher die Stelle des Oberpräſidenten in
Weſtphalen erhielt.**)
Alſo war die Stelle des Finanzminiſters, zum dritten male ſeit dem
Thronwechſel, erledigt; und da der Einzige, der vielleicht als Vierter er-
folgreich eintreten konnte, Kühne, dem Monarchen mißfiel, ſo wurde nach
langen Erwägungen der erſt vor’m Jahre entlaſſene Graf Arnim-Boitzen-
burg zur Uebernahme des Amtes aufgefordert. Der Graf erwiderte,
wie vormals Flottwell: vom Finanzweſen verſtehe er nichts. Nachdem er
dies Bedenken, auf das Zureden des Königs, endlich aufgegeben hatte,
erklärte er freimüthig: ſeinen Widerſpruch gegen die königlichen Verfaſſungs-
pläne könne er nicht fallen laſſen und ſie darum auch nicht vor dem be-
vorſtehenden Landtage vertheidigen.***) Seitdem war er unmöglich. Nun
[505]Die Bank-Ordnung. Flottwell’s Entlaſſung.
wurde Geh. Rath v. Düesberg berufen, derſelbe, der zuerſt die Leitung
der Katholiſchen Abtheilung übernommen hatte, ein tüchtiger Juriſt, aber
auch kein Finanzmann.
Die Reform der Preußiſchen Bank allein befriedigte die Maſſe der
Kaufleute und Fabrikanten ſchon darum nicht, weil die Bank in den
Provinzen nur erſt wenige Contore und Commanditen beſaß. Für Weſt-
phalen berechnete Fritz Harkort den jährlichen Umſchlag der fünf wichtigſten
Gewerbszweige — ſicherlich noch zu niedrig — auf 16 Mill. Thlr.;
und dieſe Provinz mit faſt 1½ Mill. Einwohnern beſaß erſt drei kleine
Bankiers, in Münſter und Schwelm, ſie mußte ihre Creditgeſchäfte durch
Kölner Bankhäuſer beſorgen laſſen. In Wort und Schrift verlangte nun
Harkort eine Privatbank für ſeine Heimath; dann traf er (1845) in Berlin
mit Induſtriellen aus Schleſien, Poſen und dem Rheinlande zuſammen,
die Regierung ſchlug jedoch alle Bitten ab, weil ſie zunächſt ihre eigene
Bank neu ordnen wollte. Ein neuer Stand von Capitaliſten und Staats-
gläubigern wuchs heran; deßhalb forderte der geiſtvolle Nationalökonom
Rodbertus-Jagetzow eine große Hauptbank in Berlin mit vielen Filialen,
deren Capital zur einen Hälfte durch freie Zeichnung, zur anderen durch
die Provinzen aufgebracht werden ſollte. Auch ein ungeheures Schwindel-
unternehmen zeigte, daß die alte übervorſichtige Bankpolitik ſich nicht mehr
halten ließ. In Deſſau verſuchte der Kölner Schulte eine Rieſenbank zu
gründen mit 100, ſpäterhin gar 200 Mill. Thlr. Capital, wofür ebenſo
viel Banknoten ausgegeben werden ſollten. Da das Anhaltiſche Streit-
ländchen noch von den Zeiten des Köthener Zollkrieges her an freundnach-
barliche Ausbeutung der preußiſchen Umlande gewöhnt war, ſo willfahrte
der Deſſauer Hof dem Geſuch und zeigte ſich tief gekränkt, als Preußen
keine Filialen dieſes Unternehmens dulden wollte. Späterhin ſchrumpfte
dieſe wunderſame Deſſauer Bank zuſammen zu einer Landesbank mit
2½ Mill. Capital. Für ſolche Zeichen der Zeit war der König nicht
blind. Als er die neue Bankordnung genehmigte, beauftragte er zugleich
Rother, einen Geſetzentwurf über die Privatbanken auszuarbeiten. Hier
aber verſagte die Kraft des Alten. Rother vermochte ſich in den neuen
Verkehr nicht recht zu finden und hegte, obwohl ihn Schön ſchändlicher-
weiſe einen Judengenoſſen ſchimpfte, unüberwindliche Scheu vor den
Gefahren des Bankſchwindels. Privat-Zettelbanken wollte er überhaupt
nicht dulden; und wenn ja eine Bankgeſellſchaft für Wechſel-, Lombard-
und Depoſitenverkehr erlaubt würde, dann ſollte fünf Meilen im Um-
kreiſe keine zweite ſich bilden dürfen. So ängſtliche Vorſchläge konnten
unmöglich ausreichen, die Revolution ſchritt bald über ſie hinweg.
Auch in der Verwaltung der Seehandlung, die er einſt ſelbſt aus tiefem
Verfalle gerettet hatte, wollte Rother jetzt nichts mehr ändern. Die Bank
war für den Verkehr der kaufmänniſchen Welt beſtimmt, die Seehandlung
für die Geldgeſchäfte des Staates, und ſie leiſtete ihm treffliche Dienſte,
[506]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
da ſie ihn vor der koſtſpieligen unmittelbaren Mitwirkung der großen
Bankhäuſer bewahrte. Es war Rother’s Verdienſt, daß die Gebrüder
Rothſchild den preußiſchen Staat als einen faſt unnahbaren Kunden immer
mit ſchelen Augen anſahen. Neben den Geſchäften eines großen Staats-
bankierhauſes betrieb die Seehandlung, gemäß der fridericianiſchen Ueber-
lieferung, auch einen ausgebreiteten Seehandel, und Rother freute ſich
ſeiner ſchönen fünf Schiffe, die in allen Häfen der Welt bewundert wurden;
außerdem beſaß ſie noch mehrere Landgüter und Fabriken. Die alſo feſt-
gelegten Capitalien brachten aber wenig ein und beeinträchtigten das Bank-
geſchäft, das jederzeit über leicht kündbares Capital verfügen wollte. Sollte
die Seehandlung ihren neuen Aufgaben als Staatsbankhaus ganz ge-
nügen, ſo mußte ſie, unbekümmert um ihren alten Namen, die Seehandels-
und Fabrikgeſchäfte aufgeben, und zu dieſer radicalen Reform konnte ſich
Rother nicht entſchließen. Der letzte Vertreter der alten Hardenbergiſchen
Beamtenſchule, ſtand er dicht vor der Schwelle einer neuen Zeit, die er nicht
zu betreten wagte. Ihr Thor jedoch hatte er ſelbſt aufgeſchloſſen durch
ſeine Bankordnung. Die Preußiſche Bank brauchte noch zehn Jahre bis
ſie, nach abermaliger Verſtärkung ihres Betriebscapitals, in die Reihe der
großen Banken Europas eintrat; die Grundlagen ihrer neuen Verfaſſung
hingegen veränderten ſich nicht. Auf dem Zuſammenwirken der Staatsgewalt
und des Privatcapitals beruht noch heute die deutſche Reichsbank. Und
ſo bleibt dem wackeren Alten, der kein ſchöpferiſcher Geiſt wie Motz, aber
ein großer Geſchäftsmann war, eine ehrenvolle Stelle in der Geſchichte
des deutſchen Beamtenthums geſichert. —
Die Wunden der Kriegsjahre waren endlich ausgeheilt, überall ſchritt
die Induſtrie jetzt raſcher vorwärts als in den letzten zwei Jahrzehnten.
Seit dem Erſcheinen des neuen Zollgeſetzes bis zum Tode des alten Königs
hatte ſich in Preußen die Zahl der Grob-, Nagel- und Meſſerſchmiede
von 59,000 auf 79,000, die der Webſtühle für Baumwoll- und Halb-
baumwollwaaren von 14,000 auf 49,000 gehoben. Unter der neuen
Regierung vermehrten ſich binnen neun Jahren die Dampfmaſchinen der
Berliner Fabriken von 29 mit 392 Pferdekräften auf 193 mit 1265 Pferde-
kräften, und die Kopfzahl der Berliner Metallarbeiter hob ſich in 13 Jahren
von 3000 auf 4500. Schritt für Schritt ſuchte der deutſche Gewerbfleiß den
weiten Vorſprung des Auslandes einzuholen. Als die Berlin-Anhaltiſche
Eiſenbahn gegründet wurde, beſtellte ſie in England 15 Locomotiven und
nur 6 bei Borſig; der aber that ſein Beſtes mitſammt ſeinen wohlgeſchulten
Leuten, die ſich ſtolz als eine Ariſtokratie in der Berliner Arbeiterſchaft
fühlten, und in dem Jahrzehnt nach 1842 lieferte er der Bahn ſchon
19 Locomotiven, England und Belgien zuſammen nur noch 16. Zugleich
begannen die Deutſchen auch für den übrigen Eiſenbahnbedarf ſelbſt zu
ſorgen, ſeit Caspar Harkort bei Hagen zuerſt Eiſenbahnwagenräder ge-
fertigt hatte.
[507]Veränderung der Lebensgewohnheiten.
Allein ſehr bald zeigte ſich auch die Schattenſeite des gewaltigen
neuen Verkehrs. Unſer Stolz war der ſtarke wehrhafte Bauernſtand.
Deutſchland beſaß nach Verhältniß faſt dreimal mehr Ackerland und
ſechsmal weniger unproduktiven Boden, als Großbritannien, wo der Adel
die Bauern großentheils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leid-
lichem Gleichmaß über Stadt und Land vertheilt; darum bewahrte ſich
das deutſche Leben noch immer einen Zug urſprünglicher Kraft und un-
ſchuldiger Friſche, deſſen die urbane Cultur der ſüdlichen und weſtlichen
Nachbarvölker faſt ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deutſchland,
erſt langſam, dann unaufhaltſam anſchwellend, der Zudrang zu den Städten.
In Breslau entſtand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein neuer
Stadttheil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, ſelbſt in dem ſtillen
Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern
ſah, wuchſen die Fabriken heran. Die Haſt, die Genußſucht, die Un-
zufriedenheit des großſtädtiſchen Lebens verbreiteten ſich weithin in die
kleinen Ortſchaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden
alle Lebensgewohnheiten durch die Maſſenproduktion der jungen Groß-
induſtrie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in
der Textilinduſtrie, waren ganz unnütz; ſie förderten lediglich die Ueber-
produktion, den wilden Kampf der Concurrenz, den raſtloſen Wechſel der
Moden. Die derben alten Tuche, die ſich der ſparſame Bürgersmann
nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die ele-
ganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten ſelten einen
Sommer. Der Düſſeldorfer Maler wußte längſt nicht mehr, womit er
malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben ſeines Fabri-
kanten unbegreiflich ſchnell verbleichen oder gar den Firniß abbröckeln
ſah, dann beneidete er die ſchlichten alten Meiſter, die ihre Farben noch
ſelber rieben und ſich’s darum auch zutrauten für die Zukunft zu malen.
Der Schriftſteller desgleichen konnte ſich der angenehmen Erwartung hin-
geben, daß ſeine auf dem dünnen, glatten Maſchinenpapiere wohlfeil und
ſchnell gedruckten Werke in hundert Jahren buchſtäblich unlesbar ſein
würden.
Kurzlebig, vergänglich war Alles, was die neue Induſtrie hervorbrachte,
und es konnte nicht ausbleiben, daß dieſe Flüchtigkeit der wirthſchaftlichen
Arbeit auf die ganze Weltanſchauung des Zeitalters zurückwirkte. Der
große Ehrgeiz, der für die Dauer ſchaffen will, wird immer nur einzelne
ſtarke Geiſter beſeelen; doch kaum jemals in der Geſchichte iſt die Lehre,
daß der Menſch am Tage den Tag lebe, mit ſolcher Selbſtgefälligkeit ver-
kündigt worden, wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
Die geſammte radicale Literatur der Zeit predigte in mannichfachen Wen-
dungen: mit der ſchweren alten Wiſſenſchaft ſei es vorbei, nur in der
leichten Form der Publiciſtik könne das freie moderne Bewußtſein ſeinen
Ausdruck finden, nur wer den Duft des friſch bedruckten Zeitungspapieres
[508]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wie Morgenluft einathme ſtehe auf der Höhe des Jahrhunderts. Ein neues
Geſchlecht begann heranzuwachſen, das von Ort zu Ort, von einem Ein-
druck zum anderen haſtete, ſchnell lernend und ſchneller vergeſſend, immer
genießend, immer erwerbend, ganz in ſich ſelbſt und in das Diesſeits ver-
liebt, friedlos und freudlos. In Deutſchland verriethen zunächſt nur
einzelne Anzeichen dieſe beginnende Umwandlung des ſocialen Lebens.
Die Macht der materiellen Intereſſen fand noch ein ſtarkes Gegengewicht
an dem hohen Idealismus der politiſchen Einheitskämpfe; und erſt weit
ſpäter, als die nationale Sehnſucht ihr Ziel erreicht hatte, ſollte auch
über Mitteleuropa ein Zeitalter des vorherrſchenden Erwerbes und Ge-
nuſſes hereinbrechen.
Sehr ſchwer litt unter den veränderten Verkehrsverhältniſſen das
deutſche Haus und ſeine Hüterin, die Frau. Unſere wechſelreiche Geſchichte
hatte nach dem dreißigjährigen Kriege und ſonſt noch mehrmals Zeiten
geſehen, da die Frau höher ſtand als der Mann und das verwilderte
Männervolk an der guten Sitte des Hauſes wieder geſundete; jetzt kamen
Tage, da die Frau ſich in der verwandelten Welt ſchwerer zurecht fand
als der Mann und an ihrem natürlichem Berufe irr wurde. Die alte
vorſorgliche Wirthſchaftsweiſe, die das ehrenfeſte Bürgerhaus für die Win-
terszeit mit reichen Vorräthen auszuſtatten pflegte, verbot ſich jetzt von
ſelbſt; die weibliche Handarbeit im Hauſe verlor Sinn und Werth, ſeit
man Wäſche und Kleider im Laden fertig kaufte. Das patriarchaliſche
Verhältniß zwiſchen Herrſchaft und Geſinde ging zu Grunde, der Wander-
trieb der Zeit ergriff auch die Dienſtboten. Alſo kam den Frauen ein
guter Theil ihrer gewohnten ſtillen Wirkſamkeit abhanden, ſie fühlten
ſich unglücklich in einem halb zweckloſen Leben. Da überdies die Ehe-
ſchließung in den höheren Ständen durch den ſinkenden Geldwerth und
die verwickelten Erwerbsverhältniſſe erſchwert wurde, ſo wuchs die Zahl
der unbefriedigten, der kranken und nervöſen Frauen beſtändig an. Rath-
los ſtand die Welt vor einer „Frauenfrage“, welche die einfache Vorzeit
nicht gekannt hatte. Frauen drängten ſich mit dilettirender Geſchäftigkeit
in männliche Berufe, und ganz wie einſt in den Zeiten der Sittenver-
derbniß des claſſiſchen Alterthums ſtiegen aus dem Schlamme der Ueber-
bildung die Lehren der Weiber-Emancipation empor.
Unnatürlich früh entſtanden, obgleich der allgemeine Wohlſtand noch
recht beſcheiden blieb, ſchon einzelne rieſige Vermögen. Der Reichthum
des Hauſes Rothſchild überbot bei Weitem Alles, was die römiſche Kaiſer-
zeit an ungeſunden Capitalanhäufungen geſehen hatte. Es lag im Weſen
der neuen Großinduſtrie, daß ſie, um nur zu beſtehen, beſtändig nach
Erweiterung trachten mußte. Dieſen Wandlungen des ſocialen Lebens
vermochte der Staat, der ja immer langſamer lebt als die Geſellſchaft,
längſt nicht mehr zu folgen. Von ſolchen Vermögen, wie ſie jetzt über
Nacht aufwuchſen, hatten ſich Hardenberg und Hoffmann nichts träumen
[509]Die neuen Capitalmächte.
laſſen, als ſie vor einem Vierteljahrhundert mit hausväterlicher Sorgſamkeit
ihrem verarmten Volke die neuen Steuern auferlegten. In dem reichen
Köln entrichteten um 1845 nur fünf Firmen die höchſte Gewerbeſteuer
mit 260 Thlr., und darunter waren die weltbekannten Bankhäuſer Sal.
Oppenheim und Schaaffhauſen; die größte der beiden Rhein-Dampfſchiffs-
geſellſchaften zahlte nur 91 Thlr. Nun gar die beſcheidenen höchſten Sätze
der Klaſſenſteuer erſchienen dieſen Vermögen gegenüber wie Hohn, und mit
gerechtem Groll ſah der kleine Mann, wie unbillig der Reichthum bevorzugt
wurde. Die neuen Capitalmächte zeigten gar nichts von jener großartigen,
gemeinnützigen, ganze Städte ſchmückenden und darum verſöhnenden Frei-
gebigkeit, welche den reichen Leuten des claſſiſchen Alterthums durch die
Volksſitte aufgezwunden wurde. Sie benutzten nicht nur rückſichtslos ihre
Ueberlegenheit auf dem Markte, ſie begannen auch ſchon, dem Geſetze
trotzend, ſich gegen die Arbeitskräfte zu verſchwören; es kam an den Tag,
daß die Bonn-Kölner und die Leipzig-Dresdner Eiſenbahngeſellſchaft ſich
zur Ausſperrung mißliebiger Arbeiter verabredet hatten.
Man bemerkte auch bereits die erſten Anfänge einer internationalen
Verbindung zwiſchen den großen Geldmächten. Im Mittelalter hatten
zuweilen deutſche und franzöſiſche Ritter gemeinſam gegen das Bürger-
thum gefochten, im ſechzehnten Jahrhundert die Religionsparteien aller
Länder unbedenklich die Hilfe der fremden Glaubensgenoſſen angerufen
wider die andersgläubigen Landsleute. Es war der Ruhm der neueſten
Geſchichte, daß die Eigenart des Volksthums ſich überall ſtark und be-
wußt ausbildete, daß die nationalen Gegenſätze allmählich gewichtiger
wurden als die Gegenſätze der politiſchen, der ſtändiſchen, der kirchlichen
Parteiung; die eigenthümliche Größe der modernen Cultur lag in der
Mannichfaltigkeit ihrer nationalen Gebilde. In dieſer geſunden, natür-
lichen Entwicklung trat nun plötzlich ein unheilvoller Rückſchlag ein. Die
Börſenmächte aller Culturländer begannen ſich in der Stille über das
gemeinſame Geldintereſſe zu verſtändigen, und die neue internationale
Partei des Großcapitals fand ihre natürliche Stütze an dem vaterlands-
loſen Judenthum. Einer der Führer der europäiſchen Judenſchaft, der
radicale Abgeordnete Cremieux in Paris verkündete bereits triumphirend,
welche Rieſenſchritte Iſrael gethan habe; und der franzöſiſche Ultramontane
A. Touſſenel veröffentlichte ſchon 1847 ſein warnendes Buch Les Juifs
rois de l’époque. Die werthloſe, an thörichten Behauptungen überreiche
Schrift zeigte immerhin, daß ihr fanatiſcher Verfaſſer ein ſcharfes Witte-
rungsvermögen beſaß.
Dieſen Capitalmächten ſtand die Maſſe der Arbeiter faſt hilflos gegen-
über. Wohl erſchienen die ſocialen Mißſtände in der noch unfertigen deut-
ſchen Großinduſtrie bei Weitem nicht ſo entſetzlich wie in Frankreich oder
England; der verzweifelte Schlachtruf der franzöſiſchen Arbeiter: „kämpfend
ſterben oder arbeitend leben“ fand in Deutſchland noch keinen Wiederhall.
[510]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Doch über Hungerlöhne, Kinderarbeit, Mißhandlung und Ausbeutung
der Leute wurde ſchon laut geklagt, viele deutſche Fabrikanten hatten
ſchon das ſchändliche engliſche Truckſyſtem, die Ablöhnung der Arbeiter
durch Waaren eingeführt; und als der wackere Breslauer Wolff (1843)
das grauenhafte Elend in den Arbeiterwohnungen der „Kaſematten“ ſeiner
Vaterſtadt ſchilderte, da erkannte man mit Schrecken, daß auch Deutſch-
land ſchon Höhlen des Jammers beſaß, die ſich mit der Pariſer Rue de
la misère oder dem Impasse des cloaques vergleichen konnten. Den be-
ſitzenden Ständen fehlte noch faſt jedes Verſtändniß für die Empfindungen
der Maſſe. Mancher Fabrikant im Erzgebirge erzählte unbefangen, ohne
ſich etwas Schlimmes dabei zu denken: ſein Arbeiterſtamm vermehre ſich
durch Inzucht in den neuerbauten Arbeiterkaſernen; dort mochten die Leute
nach Belieben in wilder Ehe beiſammen leben, die nachſichtigen Behörden
kümmerten ſich nicht darum. Welche Kluft die Höhen und die Tiefen
der Geſellſchaft trennte, das zeigte ſich grell an dem Schickſal der Dorf-
geſchichten. Die Verfaſſer dieſer ſo volksfreundlich gemeinten Dichtungen
machten alleſammt die tragikomiſche Erfahrung, daß ihre Werke dem nie-
deren Volke ganz unverſtändlich blieben, weil der kleine Mann nur Schrift-
deutſch leſen kann. Noth und Trägheit ſetzten den Erziehungsverſuchen
der Staatsgewalt einen ungeheueren Widerſtand entgegen. Nach ſo langen
Jahren eifriger Arbeit war die preußiſche Unterrichtsverwaltung doch erſt
dahin gelangt, daß in Poſen 61, in der Rheinprovinz 80 Procent der
ſchulpflichtigen Kinder die Schule beſuchten, nur in der Provinz Sachſen
ſchon 93 Procent; und grade die großen Fabrikſtädte zeichneten ſich durch
die Verwahrloſung der Jugend bedenklich aus: in Elberfeld gingen nur
79, in Aachen gar nur 37 Procent der Kinder zur Schule.
Der König betrachtete die Beſchützung der kleinen Leute als heilige
Chriſtenpflicht; Parteilichkeit für das Großcapital lag ſeiner politiſchen
Geſinnung fern, wieder und wieder beſchäftigte ihn die Frage, ob er
nicht in ſeinem geplanten Vereinigten Landtage den Arbeitern eine be-
ſondere ſtändiſche Vertretung gewähren ſolle. Er freute ſich herzlich und
bewilligte reiche Unterſtützungen, als in Berlin nach der Gewerbeaus-
ſtellung von 1844 ein „Verein für das Wohl der arbeitenden Klaſſen“ zu-
ſammentrat, der durch Volks-Sparkaſſen, Schulen, gemeinnützige Schriften
zu wirken ſuchte. In vielen großen Städten entſtanden dann ähnliche
Vereine; Barmherzigkeit gegen die Armen war die Loſung, die von dem
frommen Hofe ausging. Doch leider fehlte dem Monarchen alle Kenntniß
des praktiſchen Lebens; ſeine Beamten aber hielten faſt alleſammt noch
das Anwachſen der neuen Großinduſtrie für einen Culturfortſchritt ſchlecht-
hin und ſcheuten ſich die Unternehmer zu beläſtigen. An eine irgend ernſt-
hafte Beaufſichtigung der Fabriken wagte man noch kaum zu denken.
Als die Provinzialſtände von Rheinland und Weſtphalen (1843) ein Ge-
ſetz gegen das Truckſyſtem verlangten, da erwiderte die Krone: im Noth-
[511]Arbeiternoth. Ländliches Proletariat.
fall ſei ſie dazu bereit; es erſchien ihr jedoch „ſehr zweifelhaft“, ob der
Geſetzgeber hier ſchützen könne „ohne durch zu tiefes Eingreifen in die
privatrechtlichen Verhältniſſe die Exiſtenz der Arbeiter, beſonders in Zeiten
gedrückten Fabrikbetriebs, zu gefährden“; ſie gab ſich vielmehr der unſchul-
digen Hoffnung hin, „das wucheriſche Benehmen einzelner Fabrikherren
würde, gebrandmarkt durch die öffentliche Meinung, endlich ganz aufhören.“
Die in England längſt gewährte Freiheit der Aſſociation war in Deutſch-
land, Dank der Aengſtlichkeit der Bureaukratie, den Arbeitern überall ver-
ſagt. Aus aller Welt zuſammengeſchneit, heimathlos und doch ſtreng an
Ort und Zeit gebunden, vereinzelt, ohne jede ſtändiſche Ordnung, ohne
kameradſchaftlichen Gemeinſinn, ohne Freude an dem Erzeugniß ihres
Fleißes, das ſie nicht, wie jeder ſchlichte Handwerker, ſtolz als ihrer Hände
Werk betrachten konnten, gedankenloſe Sklaven der Maſchinen, nur mangel-
haft geſchützt durch die hie und da neu gebildeten Fabrikgerichte, blieben
die Arbeiter alſo ganz in der Hand der mächtigen Unternehmer, die ihnen
nur den ausbedungenen Lohn zu zahlen brauchten und auch dieſen, auf
Grund der willkürlich auferlegten Contracte, nur zu oft ſchmälerten. Dem
Geſetze zuwider verſuchten die Bedrängten ſich zuweilen ſchon durch Ar-
beitseinſtellungen zu helfen, ſo die Kattunweber in Berlin, die Eiſenbahn-
arbeiter bei Brandenburg und Vohwinkel.
Auch auf dem flachen Lande des Nordoſtens zeigten ſich krankhafte ſociale
Verhältniſſe, ſeit man die zweiſchneidige Wirkung der Stein-Hardenbergiſchen
Geſetzgebung zu fühlen begann. Wie zuverſichtlich ſtellte Hardenberg einſt
an die Spitze ſeines Verfaſſungsplanes den Grundſatz: wir haben lauter freie
Eigenthümer; wie hoffnungsvoll ſprach Sack von „dem zweiten und dem
dritten Pommern“, das durch die Anſiedlung freier Bauern entſtehen
ſollte. Und doch wie anders war Alles gekommen. Der ländliche Mittelſtand
freilich hatte durch die agrariſchen Reformgeſetze erheblich gewonnen; die
Bauern waren jetzt perſönlich frei, der grundherrlichen Abgaben entlaſtet
und, nach Abtretung eines Theiles ihrer Beſitzungen, unbeſchränkte Eigen-
thümer. Sobald der Preis des Getreides wieder ſtieg, gelangten ihrer viele
zum Wohlſtand, zumal die beſonders günſtig geſtellten alten Domänen-
bauern; manche wurden reicher als die benachbarten Rittergutsbeſitzer
und begannen gleich dieſen, ihren Boden nach den Grundſätzen des neuen
rationellen Ackerbaus zu bewirthſchaften. Die Beſitzer der kleinen nicht
ſpannfähigen Stellen hingegen ſahen ſich durch die Declaration vom
29. Mai 1816 von der Regulirung ausgeſchloſſen, weil die Krone damals
Bedenken trug, die im Kriege ſo hart mitgenommenen Grundherren durch
Entziehung der gewohnten Handdienſte ganz zu Grunde zu richten.*) Seit
die Landgüter frei veräußert werden durften, fiel aber auch der alte wohl-
thätige Bauernſchutz hinweg, und die Geſetzgeber konnten kaum vorherſehen,
[512]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens grade unter den armen Leuten auf-
räumen ſollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernſtellen wurde nach und nach
eingezogen, und während früherhin die Bauern, Koſſäten, Häusler, Einlieger
insgeſammt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsunterthanen angehört
hatten, trennte ſich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klaſſen.
Tief unter den Bauern ſtand fortan eine ländliches Proletariat von
freien, wirthſchaftlich ganz ungeſicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine
Gutsunterthan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber
auch berechtigt dieſe Scholle zu bebauen; er nahm auch Theil an der Ge-
meindenutzung und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen Tage-
löhner beſaßen an Boden wenig oder nichts. Selbſt bei der Gemeinheits-
theilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft
alter Gewohnheit, nicht von Rechtswegen zuſtand, und ſie klagten bitter-
lich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem
waltete auch im Landvolke der Drang nach perſönlicher Unabhängigkeit,
der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderſtehliche Naturgewalt beherrſchte.
Die Maſſe der Häusler und der ganz beſitzloſen Einlieger wuchs weit
ſchneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angeſiedelten, oft
beſſer verſorgten Gutstagelöhner; man band ſich nicht mehr gern für
längere Zeit. Inzwiſchen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Runkel-
rübenwirthſchaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirthſchaft
auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in dieſen
neuen landwirthſchaftlichen Induſtriezweigen oft noch ſchwerer zu leiden
als ihre Genoſſen in den ſtädtiſchen Fabriken. In der neuen Geſell-
ſchaft fühlten ſich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchaliſche
Gutsherrſchaft beſtand nicht mehr, und an den Berathungen der Dorf-
gemeinde hatten ſie keinen Antheil. Das Landvolk beſitzt aber ein zähes
Gedächtniß. Die längſt entſchwundenen Zeiten, da Jedermann ſich im
reichen Walde mit Holze laden durfte, blieben noch überall in Deutſch-
land unvergeſſen, und nirgends wollte der Landmann recht einſehen, daß
Waldfrevel wie andere Vergehen beſtraft werden ſollten. So wußte auch
der neue Stand der freien Tagelöhner ſehr wohl, daß ſeine Vorfahren
einſt ein Stück Land für ſich ſelber bebaut hatten. Er fühlte dunkel,
daß er Unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer
mittlerweile veralteten ſocialpolitiſchen Denkweiſe; denn Niemand kann
gänzlich aus ſeiner Zeit heraus, die ſegensreichen Reformen Stein’s und
Hardenberg’s wurzelten doch in der Weltanſchauung des achtzehnten Jahr-
hunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklaſſen verſtand und
von den arbeitenden Maſſen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grund-
beſitz Eines und Alles iſt, ſo war den Wünſchen der grollenden Tagelöhner
ein beſtimmtes Ziel gewieſen, und als die Revolution hereinbrach, klang
aus Aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: der König muß
uns Land verſchreiben. —
[513]Deutſche Communiſten in der Schweiz.
In ſo bedrohlichen wirthſchaftlichen Verhältniſſen gediehen die Lehren
der ſocialen Zerſtörung wie die Würmer im Aaſe. Die communiſtiſche
Partei, die im Auslande ihren Heerd, in Deutſchland ſchon überall ihre
geheimen Sendboten beſaß, bekannte ſich jetzt offen zu kosmopolitiſchen
Plänen, ſie verlangte den ſocialen Umſturz überall in der Welt, wie ja
auch die großen Geldmächte ſchon von Land zu Land ihre Fäden ſpannen.
Die goldene und die rothe Internationale, wie eine ſpätere Zeit ſie
nannte, begannen ſich zu organiſiren. Die Communiſten ſagten ſich förm-
lich los von dem politiſchen Radicalismus, aus dem ſie einſt ſelber hervor-
gegangen waren; ſie verhöhnten „den Samen Hambach’s“, ſie belachten
„das conſtitutionelle Eldorado“ und die deutſche Einheit, ſie warfen ſelbſt
den cyniſchen Demagogen Fein, der ſoeben Schön’s Woher und Wo-
hin? herausgegeben hatte, geringſchätzig zu den „liberalen Amphibien“.
Unter den deutſchen Handwerkern in der Schweiz führte der Schneider
Weitling das große Wort, neben ihm ein ſehr gewandter Agitator, der
ſchwäbiſche Gerber Schmidt. Beide ſtanden in Verbindung mit dem Fran-
zoſen Cabet, der das gelobte Land der Gütergemeinſchaft, Ikarien mit-
ſammt ſeinem Limonadenmeere ſo gar rührſam geſchildert hatte. Sie
gründeten überall radicale Arbeitervereine und berechneten ſchon hoffnungs-
voll, daß fortan alljährlich 600 Handwerksburſchen aus der Schweiz heim-
kehren würden um die Lehren des Communismus in Deutſchland zu ver-
breiten. Auch Bakunin tauchte in dieſen Kreiſen zuerſt auf, ein vor-
nehmer Ruſſe, der durch gewiſſenloſe revolutionäre Thatkraft alle die
anderen Demagogen übertraf.
Weitling ſetzte ſeine ſchriftſtelleriſche Thätigkeit fort und veröffentlichte
neben anderen Brandſchriften das Evangelium des armen Sünders, ein
blasphemiſches, an die Wiedertäufer erinnerndes Buch, das wieder ein-
mal zeigte, wie nahe ſich in den communiſtiſchen Träumen der weltver-
achtende Idealismus und die gemeine Sinnlichkeit berühren. Da wurde
die Gütergemeinſchaft der Apoſtel zur Rechtfertigung der ſocialen Revo-
lution, ja ſogar des gemeinen Diebſtahls verwerthet, Jeſus galt für einen
fröhlichen Lebemann, und die göttliche Macht der Liebe, die der Sünderin
Magdalena verzieh, erſchien als ein Freibrief für jegliche Unzucht. Das
fanatiſche Schneiderlein hoffte alles Ernſtes auf die Zuſtimmung La-
mennais’, der ſeit Jahren ſchon im Namen Gottes die beſtehende Geſell-
ſchaft als ein Werk Satans bekämpfte, und ſah ſich ſchmerzlich enttäuſcht,
als der katholiſche Socialiſt entrüſtet erwiderte, mit dieſer fratzenhaften
Verzerrung der evangeliſchen Wahrheit wolle er nichts gemein haben.
Die Schweizer ſelbſt wurden bald beſorgt. Die Brandreden der Flücht-
linge wider die Fürſten hatten ſie gern ertragen, doch der Kampf gegen
das Eigenthum widerſtrebte ihrem haushälteriſchen Ordnungsſinne, ihre
Zeitungen ſchalten heftig auf „dieſe deutſchen Lausbuben“, und im Jahre
1843 wurde Weitling aus der Eidgenoſſenſchaft ausgewieſen. Im Auf-
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 33
[514]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
trage des Cantons Zürich ſchrieb dann der conſervativ-liberale Bluntſchli
einen verſtändigen Bericht über die Communiſten in der Schweiz. Die
Veröffentlichung dieſer Denkſchrift bewirkte freilich, daß die Beſtrebungen
der Anarchiſten erſt jetzt in weiten Kreiſen bekannt wurden und in den
nächſten Monaten an dreihundert deutſche Handwerker der Pariſer Com-
muniſtengeſellſchaft beitraten; einer ihrer Führer, Moſes Heß dankte dem
Züricher Juriſten ſogar in einer höhniſchen Adreſſe, weil er der guten
Sache ſo viele neue Anhänger gewonnen hätte.*)
Mittlerweile war in der Schweiz nochmals ein „Junges Deutſchland“
zuſammengetreten, und zum dritten male erlangte dieſer Name eine flüch-
tige Bedeutung. Der neue Arbeiterbund hatte aber mit den Genoſſen
Mazzini’s kaum mehr gemein als mit der gleichnamigen deutſchen Literaten-
ſchule; er verſchmähte alle nationalen Ideen und ging grundſätzlich darauf
aus, den Maſſen den Glauben an das Beſtehende, zumal den religiöſen
Glauben zu rauben. Von den älteren Verſchwörern trat nur der Poet
Harro Harring bei; der ging jetzt, gleich allen Genoſſen, in der Arbeiter-
bluſe einher und ſang:
Die neuen Führer waren durchweg unbedeutende Menſchen: ein
philoſophiſcher Schüler Ruge’s Döleke, ein Schloſſer Standau, ein lang-
bärtiger, feierlich blickender Prophet Kuhlmann, ein windiger Hamburger
Kaufmannsdiener W. Marr, der nachher, ausgewieſen, ſeine ſchweizeriſchen
Heldenthaten in einem umfänglichen Buche ſelbſt verherrlichte. Gleich-
wohl fanden die Demagogen ſtarken Anhang. Der genoſſenſchaftliche
Sinn, der ſo tief im deutſchen Weſen wurzelt und weder in den ver-
fallenden alten Zünften noch in den neuen Fabriken Befriedigung fand,
konnte ſich in den communiſtiſchen Vereinen bethätigen. Auf ihren Rede-
und Leſeabenden zeigten die Arbeiter viel achtungswerthen Bildungsdrang,
aber wie ſchändlich ward er mißleitet durch die Apoſtel eines den Staat
und jede geſellſchaftliche Ordnung leugnenden „Anarchismus“. So nannte
Marr ſelber ſeine Doctrin. Ihre atheiſtiſchen Grundſätze ſchöpften die
Genoſſen aus Feuerbach’s „Religion der Zukunft“, einem Buche, das durch
ſeine ſchöne Sprache und durch den idealiſtiſchen Schwung eines nicht
unedlen Gemüths grade die Halbgebildeten bezaubern mußte.
Die Häuptlinge der ſchweizeriſchen Anarchiſten empfingen geheime Wei-
ſungen aus Paris durch den Dr. Ewerbeck.**) Dort an der Seine beſtand
ein ganzes Neſt von communiſtiſchen Geheimbünden, die ſich zumeiſt
von der alten Geſellſchaft der Menſchenrechte abgezweigt hatten. Längſt
[515]Deutſche Communiſten in Paris.
verflogen war die religiöſe Begeiſterung der alten St. Simoniſten, längſt
überwunden ihre idealiſtiſche Forderung: Jedem nach ſeiner Fähigkeit,
jeder Fähigkeit nach ihren Leiſtungen. Das junge Geſchlecht ſagte kurz-
ab: Jedem nach ſeinen Bedürfniſſen; nur die Milderen begnügten ſich
mit der vieldeutigen „Organiſation der Arbeit“. Da der Geldbeutel unter
dem Bürgerkönigthum Alles war und die Charte jedes politiſche Recht an
einen hohen Cenſus knüpfte, ſo mußte die radicale Oppoſition unausbleib-
lich ihre Angriffe wider das Eigenthum ſelber richten. Ein wüthender
Haß gegen die beſitzenden Klaſſen beſeelte alle dieſe Parteien, mochten ſie
ſich nun Cabetiſten, Egalitäre oder Reformiſten nennen; und auch darin
zeigte ſich der franzöſiſche Charakter der Bewegung, daß der Name Bour-
geoiſie längſt zum Schimpfwort geworden war, während der Name des
deutſchen Bürgerthums, trotz allen Schmähungen der Radicalen, noch
immer in Ehren blieb. In wunderbarer doctrinärer Verblendung wollte
Guizot von allen den Anzeichen einer furchtbaren ſocialen Revolution nichts
bemerken; er wähnte das Volk zufrieden, weil er jederzeit auf die Zu-
ſtimmung der ergebenen Kammermehrheit, des pays légal ſicher zählen
konnte; er beſtritt ſogar, daß ein vierter Stand beſtände, da ja ſein ge-
liebter Tiers-état nach unten hin rechtlich nicht abgeſchloſſen war. Ganz ſo
ſelbſtgefällig wie der leitende Staatsmann ſelbſt verſicherte das Miniſterium
des Innern dem preußiſchen Geſandten: bei „dem lichten und poſitiven
Geiſte der Franzoſen“ fänden die Lehren Proudhon’s, Cabet’s, Conſtant’s
wenig Anklang; die deutſchen Arbeiter zeigten ſich empfänglicher, denn ſie
liebten humane und philoſophiſche Träumerei, auch die Lehren der Wieder-
täufer und der Illuminaten wirkten unter ihnen noch nach. Was die fran-
zöſiſche Polizei im Einzelnen über den deutſchen Communiſtenbund zu berich-
ten wußte, bedeutete nicht viel: ſie gab nur an, daß der Verein hunderte von
Mitgliedern zählte, darunter viele Juden und namentlich Arbeiter der feineren
Berufszweige, Setzer, Mechaniker, Elfenbeindreher; unter den deutſchen
Landſchaften waren Kurſachſen, Thüringen und die Pfalz ſtark vertreten.*)
Einige der in Paris zuſammengeſtrömten deutſchen Literaten, Ruge,
Marx, Börnſtein, Bernays, Heß, Heine begannen eine Zeitſchrift des inter-
nationalen Radicalismus, den Vorwärts; es waren, bezeichnend genug, lauter
Juden, mit der einzigen Ausnahme Ruge’s. Der Vorwärts brachte mehrere
der ſchmutzigſten Zeitgedichte Heine’s, er verherrlichte in Vers und Proſa
den Königsmörder Tſchech und erfand für den König von Preußen den
Namen: Knäs von Rußland — einen Titel, der wegen ſeiner Albernheit
von der geſammten radicalen Welt alsbald freudig nachgeſprochen wurde.
Kaum in’s Leben getreten ward die Zeitſchrift ſchon durch Guizot unterdrückt.
Auch ihre Mitarbeiter hielten nicht lange bei einander aus. Als Heine
33*
[516]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
einmal mit Weitling zufällig zuſammentraf und von dem Schneider wie ein
biderber Kamerad angeredet wurde, da fühlte er ſich tief gedemüthigt „beim
Handwerksgruße des ungläubigen Gnotenthums“. In Wahrheit war der
Gnote gläubiger als der Dichter, der mit allen ſeinen Ueberzeugungen
nur geiſtreich ſpielte; aber Heine’s künſtleriſche Empfindung konnte den
Verkehr mit der Hefe der Geſellſchaft nicht ertragen, und bald zog er
ſich vorſichtig zurück. Auch Ruge erſchrak, als er die letzten Ziele ſeiner
Pariſer Kumpanei endlich erkannte. Wie viele Standpunkte hatte der
Hoheprieſter der Junghegelianer mit ſeiner behenden Dialektik nun ſchon
überwunden; über den Standpunkt der ſelbſtändigen Perſönlichkeit und
ihres Eigenthums kam er doch nicht hinaus, obgleich er ſelber arm blieb.
Sein derber pommerſcher Menſchenverſtand und das reizbare Ehrgefühl des
alten Burſchenſchafters bewahrten ihn vor dem Alleräußerſten, und ſo-
bald er ſeine Leute durchſchaut hatte ſchrieb er mit gewohnter Kampf-
luſt gegen „die Verrücktheit der Theorie und den Schmutz der Geſinnung
des Rabbi Moſes Heß“. Sogar Heinzen, das große Schimpftalent der
Demagogen wollte den Communiſten nicht mehr folgen, als ſie den logi-
ſchen Schluß aus ſeinen eigenen Lehren zogen. Der politiſche und der
ſociale Radicalismus begannen ſich zu ſcheiden.
Die kräftigſte Hilfe kam den Communiſten aus England. Dort hatten
die ſchändlich bedrückten Arbeiter ſchon 1835 den mächtigen Chartiſten-
bund gebildet. Die große Volkscharte forderte zunächſt nur politiſche
Rechte: das allgemeine Stimmrecht mit Allem, was dazu gehört. Doch
Jedermann wußte, daß die gerühmten ſechs Punkte der Charte nur die
Mittel bieten ſollten um das wirthſchaftliche Leben gänzlich umzugeſtalten;
und ſchon nach drei Jahren ſprach der Methodiſtenprediger Stephens das
entſcheidende Wort: der Chartismus iſt eine Meſſer- und Gabelfrage. In
der Arbeiter-Marſeillaiſe der Chartiſten wurde König Dampf verflucht,
„ein Tyrann, den der weiße Sklave kennt.“ Um die Macht und die
Niedertracht der modernen Großinduſtrie an der Quelle kennen zu lernen
ging der junge Rheinländer Fr. Engels, neben Marx der beſte Kopf der
deutſchen Communiſten, nach London und ſchrieb ſodann, im Einzelnen
parteiiſch übertreibend, im Weſentlichen wahrheitsgetreu, ein geiſtreiches,
gründliches Buch über „die Lage der arbeitenden Klaſſen in England“
(1843). Die draſtiſche Schilderung namenloſen Elends wirkte tief er-
greifend; ſie ſchloß mit der Weiſſagung einer nahen ſocialen Revolu-
tion, die in England allerdings drohte, jedoch durch den ſtarken Selbſt-
erhaltungstrieb des altbefeſtigten Staatsweſens noch glücklich abgewendet
wurde. Späterhin traten Engels und Marx in den großen internatio-
nalen Arbeiterbund, der einſt durch den Deutſchen Schapper in London
geſtiftet und mittlerweile ſtark angewachſen war.*) Marx war jetzt ſchon
[517]Engels. Marx. Heß.
ſo weit, daß er Religion, Staat, Recht, jede göttliche und menſchliche Ord-
nung verwarf. Zu Anfang 1848 entwarfen die beiden Freunde gemein-
ſam das Manifeſt der communiſtiſchen Partei, das den Umſturz der Ge-
ſellſchaft, Enteignung der Grundeigenthümer, Abſchaffung des Erbrechts
forderte und rundweg ausſprach: wir unterſtützen jede revolutionäre Be-
wegung! Das Kernwort lautete: „Proletarier aller Länder, vereinigt
Euch!“ Das Programm des internationalen Umſturzes war aufgeſtellt,
und ſeine Urheber waren zwei vaterlandsloſe Deutſche.
Die deutſche gelehrte Welt wurde auf dieſe Bewegung zuerſt aufmerk-
ſam, als der Schleswigholſteiner Lorenz Stein (1842) ſein gedankenreiches
hiſtoriſch-kritiſches Werk über den Socialismus und Communismus er-
ſcheinen ließ. Der große Haufe der Leſerwelt wußte freilich mit dem ſchwer-
fälligen, ſcholaſtiſch gehaltenen Buche nichts anzufangen. Er verlangte nach
leichterer Koſt und er fand ſie in dem Geſellſchaftsſpiegel, den der aus Paris
entwichene rheiniſche Jude Moſes Heß eine Zeit lang in dem frommen
Wupperthale erſcheinen ließ. Dies „Organ für Vertretung der beſitzloſen
Volksclaſſen“ fand „die einzige Urſache unſerer geſammten Leiden in der
freien Concurrenz“ und brachte neben thörichten radicalen Brandreden auch
manche nur allzu wahre Schilderung aus dem Fabrikleben der weſtlichen
Provinzen. Aehnlich redete O. Lüning in ſeinem Weſtphäliſchen Dampfboot
und Karl Grün, der aus Baden Vertriebene, in der Trierſchen Zeitung.
Ueberall in den Heimathlanden von Marx und Engels wurden die Ge-
danken der ſocialen Revolution umhergetragen; in Köln beſaß die Partei
allem Anſchein nach eine geheime Preſſe. Die Cenſoren aber erwieſen den
Organen des weſtdeutſchen Socialismus mehr Nachſicht als den Blättern
der politiſchen Oppoſition; ſie ahnten nicht was der kleine Mann bei den
leicht verhüllten Anpreiſungen der Gütergemeinſchaft empfand.
Selbſt in dem reichen rheiniſchen Bürgerthum, das im Volke noch
immer der kölniſche Klüngel hieß, bekundete ſich zuweilen eine ſchwächliche,
freilich nur theoretiſche Vorliebe für den ſocialen Radicalismus. Als in Köln
ein Verein für das Wohl der arbeitenden Klaſſen, nach dem Muſter Berlins,
gebildet werden ſollte, da erklärte Aſſeſſor Jung, der Mitarbeiter der unter-
gegangenen Rheiniſchen Zeitung: dieſer Name iſt beleidigend, denn wir
Alle ſind Arbeiter — eine Behauptung, die aus dem Munde des ver-
wöhnten Lebemanns allerdings ſeltſam klang. Er verlangte den Namen:
Allgemeiner Hilfs- und Bildungsverein; bei der Verhandlung darüber
wurden die Schlagwörter der communiſtiſchen Zeitſchriften ſo häufig wieder-
holt, daß Ludolf Camphauſen und einige andere gemäßigte Liberale ſofort
zurücktraten. In Berlin, in Hamburg, Kiel, Magdeburg entſtanden Ar-
beitervereine, in denen das Selbſtgefühl des jungen vierten Standes kräftig
redete; daneben wirkten überall in den größeren Städten tiefgeheime Ver-
eine, wo man communiſtiſche Schriften vorlas, überall kleine Meiſter
und Geſellen, die ſich den Vertrauten als Sendboten der Pariſer Marianne
[518]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
oder anderer ausländiſcher Geheimbünde zu erkennen gaben. Der ganze
Umfang dieſer weitverzweigten unterirdiſchen Wühlerei wird wohl immer
im Dunkel bleiben; wie erfolgreich ſie aber arbeitete, das erwieſen die
Barrikadenkämpfe des Revolutionsjahres. Auch die Zeitpoeten Freiligrath,
Wilhelm Jordan, Karl Beck beſangen jetzt ſchon öfter das ſociale Elend
als den politiſchen Freiheitskampf; der Deutſchböhme Alfred Meißner
klagte:
Weit größere Verbreitung fanden die ſchlechten Ueberſetzungen der
neueſten aus Schmutz und Blut gemiſchten franzöſiſchen Poeſie. Die
Weltweisheit dieſer ſocialen Dichtung ließ ſich mit dem denkbar geringſten
geiſtigen Aufwande verſtehen, man brauchte nur alle Begriffe einfach auf
den Kopf zu ſtellen: Gott iſt die Sünde, die Ehe iſt Unzucht, Eigenthum
iſt Diebſtahl. Eugen Sue’s Ewiger Jude und die Geheimniſſe von
Paris wurden in Deutſchland maſſenhaft geleſen; die ekelhaften Bilder
des weichherzigen Gurgelabſchneiders, der tugendhaften Bordelldirne, des
ehrlichen Spitzbuben und des grauſamen Wucherers vergifteten Unzähligen
die Phantaſie. Faſt der gleiche romanhafte Reiz lockte die Deutſchen auch
zu Louis Blanc’s Geſchichte der zehn Jahre, die in einem Jahre dreimal
überſetzt wurde. Ein mittelmäßiger, gedankenarmer Kopf, aber ein ge-
wandter Erzähler, wußte L. Blanc die Geldherrſchaft der Bourgeoiſie mit
allen Sünden ihrer Hartherzigkeit anſchaulich darzuſtellen und die em-
pörten Leſer dann zu tröſten durch das unbeſtimmte Idealbild einer zu-
künftigen Organiſation der Arbeit, bei dem ſich Jeder Jedes denken konnte.
Auch ein Gegner der Radicalen, Lamartine förderte arglos die Beſtre-
bungen der Umſturzpartei. Seine Geſchichte der Girondiſten verklärte die
häßliche Proſa der Revolutionskämpfe durch den Zauber hochpoetiſcher
Schilderungen und trieb mit dem politiſchen Verbrechen einen ſentimen-
talen Götzendienſt, der den deutſchen Halbgebildeten beſſer zuſagte als der
hiſtoriſche Ernſt Niebuhr’s, Carlyle’s oder Dahlmann’s.
Derweil alſo der ſociale Unfriede durch unzählige Agenten und
Schriften geſchürt wurde, erlebte Deutſchland auch ſchon einzelne Fälle
gräßlicher Maſſennoth. In Berlin lebten um 1847 etwa 10,000 Almoſen-
empfänger und 30,000 polizeilich überwachte Perſonen, während die Zahl
der wirklich leiſtungsfähigen Bürger nur auf 20,000 geſchätzt wurde. Oſt-
preußen kam ſeit den großen Ueberſchemmungen des Jahres 1845 und
wiederholten Mißernten gar nicht mehr aus dem Nothſtande heraus.
Miniſter Flottwell bemühte ſich zwar redlich das Elend in ſeiner geliebten
Heimath zu lindern; mehr als eine Mill. Thlr. wurde nach und nach
zur Unterſtützung dieſer einen Provinz aufgewendet, leider planlos und mit
geringem Erfolge.
[519]Die ſchleſiſchen Weber.
Im ſchleſiſchen Gebirge wagten die verzweifelten Weber offenen Auf-
ruhr. Die Gewerbefreiheit hatte dies zunftfreie Gewerbe zwar nicht
unmittelbar geſchädigt, wohl aber mittelbar; denn die Zahl der freien
Hausweber war ſeit den neuen Reformgeſetzen ſtark angewachſen, des-
gleichen die Zahl der Kaufleute und Fabrikanten, und der ſcharfe Con-
currenzkampf verführte die Unternehmer zu einer grauſamen Hartherzig-
keit, die unter einem ſo gutmüthigen Menſchenſchlage teufliſch ſchien.
Ungeheuer war die Macht der Trägheit in dieſem entkräfteten, hoffnungs-
loſen Völkchen; die Weber widerſetzten ſich oft der Einführung verbeſſerter
Arbeitsmethoden, ſie entſchloſſen ſich ſchwer zu anderen, lohnenden Be-
ſchäftigungen überzugehen, ſie trieben in den Rüben- und Kartoffelfeldern
der benachbarten Grundherren unglaubliche Dieberei, und aus ihren
überſchuldeten Häuschen mochten ſie nicht heraus, auch wenn ſie anders-
wo beſſer und billiger wohnen konnten. Die habgierigen Kaufleute aber
wollten ihre Waaren lieber zu Spottpreiſen von halbverhungerten Haus-
arbeitern beziehen als aus wohlgeordneten Fabriken. Dem Könige zitterte
das Herz, als er bei ſeinen Beſuchen in Erdmannsdorf etwas — leider
nur zu wenig — von dieſem Elend kennen lernte; er ließ dort und in
einigen anderen Orten des Gebirges durch die Seehandlung große Spinne-
reien errichten, bei denen mancher Unglückliche unterkam. In Bres-
lau bildeten die Grafen Dyhrn, York, Zieten und der Dichter Guſtav
Freytag einen Hilfsverein, der ſich bald in zahlreichen Ortsvereinen über
die Provinz verzweigte. Das Alles vermochte nichts gegen den gräß-
lichen Jammer. Oberpräſident Merckel aber und ſeine Regierungsräthe
wollten das Daſein eines Nothſtandes gar nicht eingeſtehen; ſie glaubten
felſenfeſt an die Heilkraft der volkswirthſchaftlichen Naturgeſetze, die durch
Angebot und Nachfrage alles Leid von ſelber aufheben müßten, und wit-
terten ſogar in dem Breslauer Hilfsvereine gemeinſchädliche Abſichten. Ihr
Mißtrauen ward erſt beſchwichtigt als der Verein vorſorglich militäriſche
Hilfe anrief und den commandirenden General, den wackeren Grafen
Brandenburg in ſeinen Vorſtand erwählte. Erſtaunlich doch, wie dieſe
alten in der Schule des Allgemeinen Landrechts aufgewachſenen Beamten
ſo ganz vergaßen, daß der fridericianiſche Staat auf einer monarchiſchen
Organiſation der Arbeit beruht hatte und das Landrecht ſelbſt ein Recht
auf Arbeit ausdrücklich anerkannte.
Im Frühling 1844 hörte man in den großen Weberdörfern des Ge-
birges überall ein neues Volkslied, das Blutgericht ſingen:
An einem Junitage wurde das Haus der Firma Zwanziger in Peters-
waldau von den Webern zerſtört, und noch zwei Tage lang hauſte das
[520]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ergrimmte Volk, Alles zertrümmernd, ſelten raubend, in den Fabriken
der Nachbarorte. Und es war wirklich nur die Raſerei der Noth, was
dieſe Tobenden verblendete; von den Schriften der Communiſten hatten die
Armen, die ſich Abends ihre kalte Stube mit einem Kienſpahn erleuch-
teten, nie ein Wort geleſen. Zu ſpät erkannte Merckel, wie gründlich er
ſich über die Lage getäuſcht hatte. Er eilte ſelbſt herbei; Truppen ſtellten,
nicht ohne Blutvergießen, die Ordnung her, 83 Gefangene wurden ab-
geführt, die Hauptſchuldigen zu ſchweren Strafen verurtheilt. Nun ſen-
dete die Krone einen Generalbevollmächtigten, Geh. Rath v. Minutoli,
zur Unterſuchung des Nothſtandes, ließ durch die Seehandlung neue
Spinnereien errichten, die Erwerbloſen bei großen Straßenbauten beſchäf-
tigen, daneben auch mannichfache baare Unterſtützungen vertheilen.
Doch die Ueberlegenheit des engliſchen Wettbewerbs war nach ſo vielen
Unterlaſſungsſünden nicht mehr zu beſiegen, auf die Selbſthilfe der Arbeiter
konnte man ebenſo wenig zählen, wie auf die Einſicht der Unternehmer;
die Lage der Weber blieb faſt ſo elend wie zuvor. So war den Angriffen
des Radicalismus Thür und Thor geöffnet, und der König befahl ſtrenge
Wachſamkeit wider die ſchleſiſchen Blätter, „in welchen das Beſtreben, die
unteren gegen die höheren Stände, die Armen gegen die Wohlhabenden
aufzuregen, nicht zu verkennen iſt.“*) In Breslau erſchien ein halb-
communiſtiſches Blatt, der Volksſpiegel; der anrüchige Literat Pelz ver-
faßte unter dem Namen Treumund Welp aufregende Schriften, und
der Düſſeldorfer Maler Karl Hübner aus Oſtpreußen ließ in Berlin ein
Tendenzgemälde „die ſchleſiſchen Weber“ ausſtellen, dem nachher ähnliche,
grob handgreifliche Bilder von Auspfändungen und Wilddieben folgten.
Heine aber benutzte die Gelegenheit, um wieder einmal ſeinen Groll an
dem Monarchen auszulaſſen, der ſich doch während dieſer traurigen Wirren
weit volksfreundlicher gezeigt hatte als ſein Beamtenthum. Er ſang das
Weberlied:
Einige Monate nachher, im Frühjahr 1845 wurde im Hirſchberger Thale
eine Eidgenoſſenſchaft entdeckt, die auf den Umſturz von Staat und Geſell-
ſchaft hinarbeitete. An ihrer Spitze ſtand ein Tiſchler Wurm zu Warmbrunn.
Auch er gehörte keinem der auswärtigen Geheimbünde an; er kannte je-
doch ihre Schriften und hatte ganz in ihrem Sinne eine Proclamation ent-
worfen, um die Gebirgsbewohner aufzurufen gegen „die Unterdrücker der
arbeitenden Klaſſen — jene verächtliche Klaſſe von Menſchen, die man
den Adel nennt, deren Urſprung in den finſterſten Zeiten der Barbarei
[521]Merckel’s Entlaſſung. Die Nothjahre.
iſt, deren Vorfahren die Rolle der Straßenräuber, der Mordbrenner ſo
ſchön ſpielten … Wenn die Statuen der Könige in Trümmer ſtürzen,
wird Euer Name ſich miſchen in den Sturm der Elemente und wie Donner-
gebrüll den letzten Tyrannen erſchrecken, in der Mitte ſeiner gezwungenen
Schaarwächter, vom Lager, daß er zittere vor der erwachten Menſchheit
und fliehe wie ein Knabe.“ Der König ſendete ſofort den Geh. Rath
Mathis als Commiſſar hinüber; in deſſen Gefolge befand ſich der junge
ſchlaue Referendar Stieber, der hier zum erſten male ſeinen polizeilichen
Spürſinn bewährte. Im Verdachte der Mitwiſſenſchaft ſtand außer dem
unermüdlichen demagogiſchen Schulmeiſter Wander*) vornehmlich der Fabri-
kant Schlöffel in Eichberg, ein grimmiger Radicaler, der mit den Schweizer
Flüchtlingen viel verkehrte. Der greiſe Oberpräſident aber wollte dem ange-
ſehenen Fabrikanten eine ſolche Thorheit doch nicht zutrauen; er behandelte
Schlöffel gütig, hielt ihn nur kurze Zeit in Haft. Deßhalb entſpann ſich
zwiſchen Merckel und Mathis ein heftiger Streit, und der König, der ſchon
über die ſaumſelige Behandlung der Webernöthe aufgebracht war, verfügte
nunmehr die Entlaſſung des Oberpräſidenten. Merckel hatte ihn früher ge-
beten, er möge es ihm ſelber ſagen, wenn er zu ſeiner phyſiſchen oder
moraliſchen Kraft kein Vertrauen mehr hege. Nun mußte der Miniſter
des Innern kurzweg ſchreiben: dieſer Zeitpunkt iſt jetzt eingetreten, Se.
Majeſtät ſind von der Unzuläſſigkeit der bisherigen Verwaltung des Ober-
präſidiums ganz überzeugt.**) So trat der Mann zurück, der ſeit mehr
denn einem Menſchenalter allen Schleſiern für das natürliche Haupt der
Provinz galt und namentlich während ſeiner zweiten Amtsführung ſich
das allgemeine Vertrauen erworben hatte. Jetzt feierte man ihn, begreif-
lich genug, als ein Opfer der Reaction. In einem gerührten Abſchieds-
ſchreiben dankte er für die zahlloſen Beweiſe der Liebe ſeiner ſchleſiſchen
„Vaterlandsgenoſſen“. Der Erfolg der Unterſuchung ſchien ihm Recht zu
geben. Schlöffel wurde freigeſprochen, da ſich nichts Sicheres erweiſen
ließ; nur Wurm mußte, zum Tode verurtheilt, in’s Zuchthaus gehen.
Dann brach über ganz Deutſchland eine jener ſchweren Theuerungs-
zeiten herein, welche in der Geſchichte faſt regelmäßig den Revolutionen vor-
angehen. Die Ernte der Jahre 1846 und 47 mißrieth ſo gänzlich, daß
der Zollverein, deſſen Getreidehandel ſonſt immer eine ſtarke Mehrausfuhr
aufwies, im erſten Jahre faſt 2,9 Mill., im zweiten 5 Mill. Scheffel Roggen
mehr als die Ausfuhr betrug einführen mußte. Am durchſchnittlichen
Ertrage der Roggenernte fehlte in Mitteldeutſchland faſt ein Viertel. Und
was für unnatürliche Zuſtände in den einzelnen Landestheilen! Die halb-
verhungerten Oſtpreußen mußten, weil ſie ſelber nicht zahlen konnten, den
[522]V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
größten Theil ihrer dürftigen Ernte in das Ausland verkaufen. Bei dem
allgemeinen Elend zeigte ſich der Bundestag wieder ebenſo nichtig wie
vor dreißig Jahren, und wieder wie damals verbot Oeſterreich bundes-
freundlich ſofort die Getreide-Ausfuhr nach den deutſchen Nachbarländern.
Aber auch der Zollverein einigte ſich nicht rechtzeitig über gemeinſame
Maßregeln; man fühlte nur zu ſchmerzlich, daß der alte König, Motz und
Eichhorn nicht mehr umſichtig den nationalen Handelsbund behüteten.
Jeder Bundesſtaat handelte auf eigene Fauſt, am klügſten das Königreich
Sachſen, das die Ausfuhrverbote des öſterreichiſchen Nachbarn nicht er-
widerte, ſondern mit mäßigen Getreide-Einkäufen und einer ſehr milden
Beaufſichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam. Hier allein blieb die
Ruhe ganz ungeſtört. Faſt überall ſonſt in den größeren Städten, ſelbſt
in dem ſtillen Stettin mußten Zuſammenrottungen der hungernden kleinen
Leute mehr oder minder gewaltſam auseinander getrieben werden. Viel
zu denken gaben die Unruhen, welche Berlin im April 1847 drei Tage
hinter einander heimſuchten. Sie wurden durch die Schlaffheit des greiſen
Gouverneurs Müffling genährt, dann durch das entſchloſſene Eingreifen
des Generals Prittwitz und ſeiner Küraſſiere geſtillt. Es fiel doch auf,
wie viele wohlgekleidete Männer ſich unter dem hungernden Pöbel um-
hertrieben; die zahlreichen Verwundeten hielten ſich alleſammt verſteckt,
kein einziger meldete ſich in den öffentlichen Krankenhäuſern. Man konnte
ſich des Verdachtes kaum erwehren, daß eine verſchworene Umſturzpartei
die gute Stunde benutzt hatte um die Widerſtandskraft der Staatsgewalt
einmal auf die Probe zu ſtellen. Erſchreckt durch dieſe Unruhen, ließ der
König, um den Armen das unentbehrlichſte Nahrungsmittel zu erhalten,
für einige Zeit die Ausfuhr der Kartoffeln und die Branntweinbrennerei
unterſagen — ein Verbot, das nichts nützte, ſondern, wie Kühne vorher-
ſagte, die allgemeine Beſorgniß nur ſteigerte. Der heſſiſche Miniſter du
Thil ließ in Holland Getreide einkaufen und verſchaffte ſich dazu Credit-
briefe vom Hauſe Rothſchild. Als aber die Mehrzahl der holländiſchen
Verkäufer vorzog ſich in Mainz baar bezahlen zu laſſen, da wollte der
menſchenfreundliche Rothſchild aus der ungewöhnlichen Landesnoth auch
noch einen ungewöhnlichen Gewinn ziehen und verlangte Entſchädigung
für die unbenutzten Creditbriefe — was du Thil als „eine Unverſchämt-
heit“ rundweg zurückwies.*) Alſo half ſich jeder Landesherr wie er konnte;
im Volke blieb viel dumpfer Mißmuth zurück.
Nur an einer Stelle Deutſchlands wüthete verheerend die Hungers-
noth: unter den Waſſerpolen Oberſchleſiens. Dieſe blutarmen Berg-
arbeiter hatten drei Jahre nach einander die Kartoffelernte mißrathen ſehen,
ſie hatten „die Bergmannskuh“, die Ziege längſt geſchlachtet, ſie waren
entnervt durch die Branntweinspeſt. Nun da ſie ſchon alle Hoffnung
[523]Hungersnoth in Oberſchleſien.
fahren ließen, wurde zugleich von Galizien her der Typhus eingeſchleppt.
Der Schnitter Tod heimſte ſeine furchtbare Ernte ein, die unwiſſenden
rathloſen Menſchen verſchloſſen ſich ſtumm verzweifelnd in ihren Häuschen.
Alles war wie gelähmt, kein einziger Pfarrer berichtete dem edlen Fürſt-
biſchof Diepenbrock von dem entſetzlichen Jammer. Als endlich doch die
Schreckenskunde nach Breslau gelangte, da kam Hilfe, aber ſie kam zu
ſpät. Die Barmherzigen Brüder und Schweſtern durchzogen die Dörfer,
an freiwilligen Beiträgen liefen 360,000 Thlr. ein, weit mehr als die
Weber des Gebirges erhalten hatten. Doch in den Kreiſen Pleß, Rybnik,
Ratibor mußten Staat und Gemeinden während der nächſten Jahre 4000
hilfloſe Waiſenkinder verſorgen; im Kreiſe Pleß allein waren im Jahre 1847
über 6800 Menſchen geſtorben, faſt dreimal mehr als ſonſt in Jahres-
friſt, und darunter wohl 900 vor Hunger. Die neue Zeit und ihr König
Dampf hielten auch in Deutſchland ihren Einzug über Leichen. Wenn
der politiſche Unmuth der Gebildeten und der ſociale Groll der Armen
ſich dereinſt zu gemeinſamem Kampfe zuſammenfanden, dann war die alte
Ordnung der Dinge verloren. —
[[524]]
Siebenter Abſchnitt.
Polen und Schleswigholſtein.
Seit der Meerengen-Vertrag den Weltfrieden nothdürftig hergeſtellt und
zugleich alle die alten Allianzen gelockert hatte, blieb die diplomatiſche Welt
mehrere Jahre hindurch faſt unbeweglich. In den Kolonien betrieb Eng-
land, in Inneraſien Rußland unausgeſetzt die alte Eroberungspolitik; in
Europa aber ſuchten alle Mächte behutſam den Frieden zu wahren. Die
einen lähmte die Ahnung der nahenden Revolution, die anderen die Angſt
vor den Kriegswirren, welche der Tod des alternden Bürgerkönigs herauf-
zuführen drohte. Wie unberechenbar die Zukunft dieſer geraubten Krone
war, das fühlten alle tief erſchreckt, als der Herzog von Orleans im Juli
1842 aus dem Wagen ſtürzte und ſtarb. Aufrichtig beweinten die Fran-
zoſen ihren Thronfolger. In ſeinem Teſtamente ermahnte er ſeinen Erben,
allezeit ein Katholik, ein ergebener Sohn Frankreichs und der Revolution
zu bleiben, auch wenn er nie die Krone tragen ſollte; und ſo als ein echter
Vertreter des modernen militäriſch-liberalen franzöſiſchen Geiſtes hatte er
ſich ſelber immer gehalten. Eine Welt von ehrgeizigen Hoffnungen ging
mit ihm zu Grabe, und Alfred de Muſſet ſang: „doch eine Seite bleibt
in der Geſchichte leer, ein ganz Jahrhundert, ach, voll Ruhmes kommt
nicht mehr!“ Nach heftigen parlamentariſchen Kämpfen wurde die Regent-
ſchaft für den Fall der Thronbeſteigung des minderjährigen Grafen von
Paris dem älteſten Oheim, dem Herzog von Nemours übertragen. Dieſem
Lieblingsſohne Ludwig Philipp’s konnte Niemand, wie dem Verſtorbenen,
kühne kriegeriſche Pläne zutrauen; das Volk aber liebte den ernſten, ſteifen,
conſervativen Prinzen wenig, und wer durfte hoffen, daß eine ſolche Regent-
ſchaft ſich halten oder die nationalen Leidenſchaften bändigen würde?
Je dunkler alſo die Ausſichten des Julikönigthums erſchienen, um ſo
ängſtlicher vermieden die Mächte Alles was den Beſtand dieſer gebrech-
lichen Dynaſtie irgend gefährden konnte. Darum wurde König Friedrich
Wilhelm von den verbündeten Höfen nur mit leeren Worten unterſtützt,
als er das rechtswidrige Unternehmen des belgiſch-franzöſiſchen Zoll-
vereins bekämpfte und ſchließlich vernichtete. Ebenſo vereinſamt ſtand er
[525]Verfall des Julikönigthums. Belgiſche Feſtungen.
auch, als er die Mächte aufforderte, die ſeit zwölf Jahren vertragsmäßig
ausbedungene Schleifung der ſüdbelgiſchen Feſtungen, die das kleine König-
reich gar nicht vertheidigen konnte, nunmehr endlich durchzuſetzen.*) Dieſen
„infamen Feſtungsvertrag“ hatte die Pariſer Preſſe ſeit Jahren immer
wieder für null und nichtig erklärt. Die Franzoſen betrachteten es als
ihr gutes Recht, daß ihnen im Kriegsfalle die feſten Plätze des neutralen
Belgiens ohne Widerſtand geöffnet würden; und — ſo friedensſelig war
die Welt — als Preußen jetzt an die alte unbeſtreitbare Vertragspflicht
erinnerte, da zeigten ſich Aberdeen, Metternich, Neſſelrode alleſammt ſehr
unluſtig. Um Preußens willen wollten ſie den Tuilerienhof nicht kränken.**)
König Leopold aber beſchwor die Mächte (31. März 1845), ſie möchten ihn
nur jetzt nicht an die Verträge mahnen, ihm nur jetzt nicht aus lauter
Freundſchaft Händel bereiten mit den franzöſiſchen Nachbarn und den
Parteien daheim. „Bisher“, ſo ſchloß er, „hat man mir freundlich geſtattet,
ſelber zu entſcheiden, wann die Ausführung der Maßregel zeitgemäß wäre,
und ich wünſche ſehr, daß man auch diesmal ebenſo verfahren möge.“***)
Die Mächte erhörten ſeine Bitte, und der kluge Coburger wußte dafür
zu ſorgen, daß der rechte Zeitpunkt für die Erfüllung der Verträge nie-
mals eintrat.
In ſolchen Zeiten, da die großen politiſchen Gegenſätze ruhen und
kein fruchtbarer neuer Gedanke eine entſchiedene Parteiſtellung erzwingt,
pflegt das kleine diplomatiſche Ränkeſpiel zu blühen. Trotz der Legende
von dem Bunde des freien Weſtens und trotz der perſönlichen Vertrau-
lichkeit der beiden Königshöfe ſtellte ſich das belobte herzliche Einvernehmen
zwiſchen England und Frankreich nie wieder vollſtändig her. Dieſſeits
wie jenſeits des Kanals hatten die letzten Kämpfe ihren Stachel zurück-
gelaſſen, die natürliche Eiferſucht brach überall hervor. Sie zeigte ſich
als England das Recht verdächtige Sklavenſchiffe zu durchſuchen verlangte,
und wieder als die Miſſionäre der beiden Nationen auf den Inſeln der
Südſee ſich befehdeten, und nochmals als Frankreich einen Streit mit
den böſen marokkaniſchen Nachbarn, um nur Englands Einmiſchung zu
verhindern, durch einen milden Friedensſchluß ſchleunig beilegte. Alle
dieſe kleinen Händel wurden durch den Parteihaß der Franzoſen mit maß-
loſer Uebertreibung ausgebeutet; die Pariſer Preſſe blieb dabei, dies Mi-
niſterium des Auslands wage nirgends den Fremden die Zähne zu zeigen.
Und allerdings pflegte Guizot die berechtigten wie die unberechtigten Auf-
wallungen der nationalen Empfindlichkeit mit wegwerfender Verachtung
abzufertigen; ſeinen Hörern war dabei zu Muthe, als ob er ſelbſt die
Fragen der auswärtigen Politik nur mit kalter Hundsnaſe obenhin be-
[526]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſchnoberte. Auch in England bekundete ſich eine gereizte, mißtrauiſche
Stimmung, ſeit Palmerſton (1846) wieder in das Auswärtige Amt ein-
getreten war. Der Lord konnte ſeine Streitigkeiten mit Talleyrand nie
vergeſſen, überall in der Welt witterte er Pariſer Ränke, ſogar das lang-
ſame Anwachſen der franzöſiſchen Seemacht ſchien ihm bedrohlich. Wie
zornig klagte Bunſen, als die Mittelmeermacht Frankreich ſich in ihrem
Hafen Toulon einige neue Kriegsſchiffe erbaute; er meinte, „es wäre eine
Wohlthat für Europa, wenn England die Anmaßung der Bourbonen im
Mittelmeere demüthigte!“ An der mediterraniſchen Fremdherrſchaft der
Briten fand dieſer Deutſch-Engländer nichts auszuſetzen.*)
Das Bündniß der Weſtmächte wankte; um ſo lebhafter bewarb ſich
Guizot daher um das Wohlwollen des Wiener Hofes. Eifrig, und nicht
immer würdevoll betheuerte er der Hofburg ſeine conſervative Geſinnung:
er wollte mit allen Mächten gemeinſam die Anarchie bekämpfen, in Italien
die Revolution niederhalten, in Spanien die Monarchie wiederaufrichten;
er bat dringend, man möge in Wien die Bedeutung der entente cordiale
der Weſtmächte nicht mißverſtehen, nicht die „reinen Monarchien“ den
conſtitutionellen feindlich gegenüberſtellen. Nicht ohne Schadenfreude em-
pfing Metternich ſolche befliſſene Verſicherungen, unter Freunden ſpottete
er wohl: dieſe Weſtmächte nennen ſich alſo ſelber unreine Monarchien!**)
Gleichwohl fühlte er ſich durch eine geheime Wahlverwandtſchaft zu dem
bekehrten franzöſiſchen Doctrinär hingezogen, das alternde Julikönigthum
wurde dem öſterreichiſchen Regierungsſyſteme immer ähnlicher. Ganz ſo
tugendſtolz wie Metternich nannte Guizot ſeine Politik des Widerſtandes
une politique un peu grande seulement, und ganz ſo ſtarr wie dieſer
behauptete er ſeine pensée immuable. Erhaltung des Beſtehenden —
ſo lautete der Wahlſpruch in den Tuilerien wie in der Hofburg, und bald
wußte Jedermann in der diplomatiſchen Welt, daß Metternich das einſt
verabſcheute Bürgerkönigthum jetzt als eine Stütze der europäiſchen Ord-
nung behutſam zu ſchonen ſuchte.
Derweil Oeſterreich und Frankreich alſo einander näher traten, be-
mühte ſich Czar Nikolaus die neue Freundſchaft mit England zu befeſtigen.
Wohl war er entſchloſſen, das ſogenannte legitime Recht auch in Oeſter-
reich zu vertheidigen; und niemals beirrte ihn die naheliegende Frage, ob er
nicht die nationalen Gegenſätze des Nachbarreichs für panſlaviſtiſche Zwecke
ausbeuten ſolle. Als ihm Metternich (1837) die Möglichkeit einer un-
gariſchen Revolution vertraulich vorſtellen ließ, da befahl er ſeinem Kanzler:
„Danken Sie dem Grafen Ficquelmont für dieſe wichtige Mittheilung. Ich
bitte Gott, daß er Oeſterreich die Prüfung, die ſich vorbereitet, erſparen
möge. Ich hoffe, die Maßregeln ſind gut getroffen, aber in jedem Falle
[527]Verſchiebung der alten Allianzen.
kann Oeſterreich auf Rußland zählen“ —*) ein Verſprechen, das er zwölf
Jahre ſpäter ritterlich einlöſte. Doch ein rückhaltloſes Vertrauen zu Metter-
nich hatte er nie gehegt, weil er ihm, ſicherlich mit Unrecht, eine geheime
Mitſchuld an dem Dekabriſtenaufſtande und der polniſchen Revolution
beimaß. Neuerdings fühlte er ſich auch perſönlich verletzt. Er wünſchte
ſeine ſchöne Tochter Olga mit dem geiſtreichen jungen Erzherzog Stephan
zu verheirathen und ſendete deßhalb ſogar ſeinen Vertrauten Orlow an
die Donau (1844); der öſterreichiſche Hof aber verlangte, ſtolzer als die
deutſchen proteſtantiſchen Fürſten, daß die Großfürſtin zur katholiſchen
Kirche übertreten müſſe. Daran ſcheiterte Alles, und Nikolaus ſah ſich,
da das Geheimniß ſchlecht gewahrt wurde, ärgerlichen hämiſchen Nach-
reden ausgeſetzt.**) Gegen Frankreich bewahrte er noch den alten Groll,
und ſeinem preußiſchen Schwager traute er wenig, ſchon wegen der reichs-
ſtändiſchen Pläne; überhaupt hatte Preußen das hohe Anſehen, das ihm
der alte König in den letzten Jahren verſchafft, längſt eingebüßt, keine der
großen Mächte bemühte ſich ernſtlich um die Freundſchaft des unberechen-
baren neuen Monarchen.
Für die orientaliſchen Entwürfe, die den Czaren noch immer unaus-
geſetzt beſchäftigten, erſchien ihm England als der einzige werthvolle Bundes-
genoſſe; war dieſe Macht gewonnen, dann folgten die beiden Oſtmächte
von ſelbſt und Frankreich blieb wieder zur Seite liegen. Schon zweimal,
in den Tagen der Navariner Schlacht und ſoeben wieder durch Brunnow’s
Sendung, hatte er die Briten zur Mitwirkung bei ſeiner orientaliſchen
Politik verführt; er traute ſich’s zu, nunmehr auch eine Verſtändigung
über die Zukunft des osmaniſchen Reichs zu bewirken. Bald nach dem
Meerengenvertrage überraſchte er die Hofburg durch die Anfrage, ob man
nicht wohl thue, dem engliſchen Hofe einen Beweis rückhaltloſen Ver-
trauens zu geben: der geheime Münchengrätzer Vertrag, der die beiden
Kaiſermächte verpflichtete, beim Untergange der Türkei nach gemeinſamem
Plane zu handeln, ſollte dem Londoner Cabinet mitgetheilt werden.***)
Metternich aber widerſprach; er fürchtete offenbar, eine ſolche unerwartete
Aufrichtigkeit würde den Argwohn der Briten nur verſchärfen, und über-
dies hatte er ja ſelbſt jenem Vertrage nur zugeſtimmt um Rußland im
Oriente zu überwachen. Darauf entſchloß ſich Nikolaus, durch den Zauber
ſeiner perſönlichen Erſcheinung zu wirken. Im Mai 1844 verbreitete ſich
zu Petersburg das Gerücht, der Czar beabſichtige eine große Reiſe. Ehe
man noch etwas über das Ziel der Fahrt vernahm, erſchien er ſchon
[528]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſelber bei den königlichen Verwandten in Potsdam, nach ſeiner Gewohnheit
Alle überraſchend, und fuhr am nächſten Morgen weiter um die Königin
Victoria zu beſuchen.
In England wurde der unerwartete Gaſt mit Ehrenbezeigungen über-
ſchüttet. Man erlaubte ihm ſogar, allem britiſchen Hofbrauche zuwider,
in Uniform zu erſcheinen; denn in bürgerlicher Kleidung fühlte er ſich
unbehaglich, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte. Die Damen
der vornehmen Welt wollten gerade in dieſen Tagen, wie alljährlich, einen
großen Polenball abhalten mit einer Sammlung zum Beſten der Flücht-
linge; nun fragten ſie ſich ängſtlich, ob man unter den Augen des Czaren
eine ſolche Feindſeligkeit wagen dürfe. Da richtete Brunnow ein ſanftes
Brieflein an die Lady Patroneß, die Herzogin von Somerſet: „ich bin
von Sr. Majeſtät beauftragt, mich mit jeder Summe zu unterſchreiben,
deren Sie für Ihren wohlthätigen Zweck etwa noch zu bedürfen glauben.“*)
So ward die politiſche Abſicht des Feſtes vereitelt, in aller Höflichkeit und
zur großen Entrüſtung der polniſchen Flüchtlinge. Nikolaus erwies der
jungen Königin ritterliche Ehrfurcht, ihren Kindern väterliche Zärtlichkeit,
er pries begeiſtert die Reize Windſors und des engliſchen Landlebens.
Immer ſprach er im Tone des offenherzigen Biedermannes: ich weiß es
wohl, man nennt mich einen Schauſpieler, ich ſage aber meine Meinung
ſtets gerade heraus. Dem Lord Aberdeen betheuerte er gemüthlich: ich
habe den Bund der Weſtmächte niemals beargwöhnt, ſondern ihn immer
für eine Bürgſchaft des Weltfriedens gehalten.
Wie konnte er hoffen, die nüchternen engliſchen Rechner durch ſolche
Künſte zu täuſchen? Und was ſollten ſie gar denken, wenn er ihnen ſagte:
Ihr haltet die Türkei für todkrank; ich glaube, ſie iſt ſchon todt, alſo müſſen
wir uns über das Schickſal ihrer Trümmer verſtändigen. Ich will keine Er-
oberungen; der Beſitz Konſtantinopels würde leicht die Einheit Rußlands, die
Zukunft der ruſſiſchen Nation gefährden. Aber ein byzantiniſches Reich, wie
es König Otto und die Griechen zu erhoffen ſcheinen, kann ich nicht dulden.
Das hieße mich ſelbſt vernichten vor meinem Volke und meiner Kirche.
Zu irgend einem anderen Abkommen bin ich bereit, und ich hoffe, daß
England mich dabei gegen Frankreich unterſtützen wird. Der gradſinnige
Peel und der gutmüthig beſchränkte Aberdeen glaubten wirklich, der Czar
ſage die Wahrheit; doch auch ſie fühlten, wie Prinz Albert und Welling-
ton, den eigentlichen Sinn ſeiner Worte heraus. Sie erkannten, daß
Rußland unter keinen Umſtänden eine ſelbſtändige Macht auf der Balkan-
halbinſel zu dulden gewillt ſei; und da England ſtillſchweigend entſchloſſen
war, die Bosporuslande nöthigenfalls mittelbar oder unmittelbar ſich ſelber
anzueignen, ſo führten die höfiſchen Geſpräche nur zum Austauſch nichts-
ſagender Artigkeiten.**) H. v. Moltke ſchrieb in dieſen Jahren: die Theilung
[529]Fürſtenbeſuche in England.
der Türkei ſei wie die Theilung eines Diamantrings; es frage ſich allein,
wer den Diamanten Stambul erhalten ſolle. Ebenſo dachten die bri-
tiſchen Staatsmänner. Ein Verſprechen für die Zukunft wollten ſie
ſchlechterdings nicht geben, was der Czar bei beſſerer Kenntniß der eng-
liſchen Politik wohl hätte vorausſehen müſſen. Seine Reiſe verfehlte
ihren Zweck, und wenn ein ruſſiſches Rundſchreiben nachher von dem
glücklich erzielten Einvernehmen ſprach, ſo ſollten die vieldeutigen Worte
nur die erlittene Niederlage verhüllen.
Und nicht blos in den orientaliſchen Verhandlungen verrieth ſich der
Gegenſatz, der beide Höfe trennte. Ganz ſo ſchroff wie vormals redete
Nikolaus allerdings nicht mehr über das Recht der Legitimität; Don Car-
los und Heinrich V. waren ihm ja Beide widerwärtig wegen ihrer per-
ſönlichen Nichtigkeit und ihrer clericalen Geſinnung. Doch trotz der deut-
lichen Winke der Königin Victoria wollte er ſich auch jetzt noch nicht ent-
ſchließen, mit ihrem belgiſchen Oheim einen regelmäßigen diplomatiſchen
Verkehr anzuknüpfen; denn König Leopold hatte ihn erſt kürzlich wieder
ſcharf gereizt durch die Aufnahme polniſcher Offiziere in das belgiſche
Heer. Nach der Heimkehr verſicherte Neſſelrode den fremden Geſandten
ſtolz: nunmehr ſei die entente cordiale für immer ein leeres Wort.*)
In Wahrheit wurde die längſt ſchon unſichere Freundſchaft der Weſtmächte
durch die Reiſe des Czaren weder erſchüttert noch geſtärkt. Ludwig Philipp
witterte gleichwohl Unrath und nach ſeiner plebejiſchen Weiſe beeilte er
ſich ebenfalls zu „ſeiner Victoria“ hinüberzufahren. Nachdem mittlerweile
der Prinz von Preußen dem engliſchen Hofe einen anſpruchslos freund-
ſchaftlichen, ganz unpolitiſchen Beſuch abgeſtattet hatte, erſchien im October
auch der Bürgerkönig. Auch er wurde hoch geehrt, ſogar mit dem Hoſen-
band-Orden geſchmückt; der Lordmayor und die Aldermen von London
erfreuten ſich ſeiner biderben Anſprachen und ſeiner kräftigen Handſchütte-
lungen. Dem ſtolzen Adel aber gefiel er weniger als der Czar, deſſen
Reiſe doch ſchon durch ihre ſoldatiſche Keckheit Bewunderung erregt hatte.
Die parlamentariſchen Staatsmänner überlief es kalt, wenn der redſelige
Orleans ihnen ſelbſtgefällig erzählte, wie viele Miniſter er nun ſchon er-
hoben und wieder zu Falle gebracht hätte. Robert Peel meinte: er iſt
ein ſehr ſchlauer und gewandter König, ſein Syſtem mag gut ſein für
Frankreich, nicht für England.**)
Nach Frauenart fühlte ſich Königin Victoria durch alle dieſe Hul-
digungsreiſen lebhaft geſchmeichelt; ſie meinte gerührt, ſo viele Freunde
verdanke ſie ihrem geliebten Gatten und dem guten Rufe ihrer glücklichen
Ehe. Wie wenig indeß die Höflichkeit der Fürſten für die Politik bedeutete,
das lehrte der raſtloſe diplomatiſche Kampf im Oſten, auf den alten
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 34
[530]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Tummelplätzen des internationalen Ränkeſpiels. Was mußte das unglück-
liche Griechenland leiden unter dem ewigen Gezänk der drei Mächte, die
ſich wie zum Hohne die puissances créatrices, die Erzeuger des jungen
Königreichs nannten. Dem Czaren war die Selbſtändigkeit des Rebellen-
ſtaates und ſeines katholiſchen Herrſcherhauſes von vornherein widerwärtig.
Den König Otto hatte er ſelbſt durch die Zuſendung eines kaiſerlichen
Generaladjutanten, die doch ſonſt überall im Oriente als unfehlbares
Ueberredungsmittel wirkte, nicht für die orthodoxe Kirche zu gewinnen
vermocht; und ſeit der Kronprinz von Baiern gar die Hand ſeiner Tochter
Olga verſchmäht hatte*), hegte er einen tiefen Groll gegen alle Wittels-
bacher.
Auch wußte die wohl erfahrene ruſſiſche Diplomatie genau, daß ein
großer nationaler Staat auf der Balkanhalbinſel, wenn er überhaupt
möglich war, nur durch das helleniſche Volksthum geſchaffen werden konnte.
Welche Lebenskraft bewährte doch immer noch, trotz der ſtarken Blutver-
miſchung und trotz der politiſchen Ohnmacht dies unverwüſtliche Hellenen-
thum, das einſt ſogar gegen die weltherrſchende Roma ſeine Cultur im Oſt-
becken des Mittelmeeres behauptet hatte. Die meiſten der großen Kaufleute
in den Hafenplätzen des Osmanenreiches waren Griechen; ſie arbeiteten,
wagten und ſparten, derweil die Türken in Trägheit verkamen; ſie bildeten
eine große ſtille Verſchwörung mit den Landsleuten im kleinen Mutterlande,
die beſtändig eine Erweiterung ihrer unerträglich engen Grenzen verlangten.
Selbſt die zäheſte Nationalität des Abendlandes, die italieniſche, widerſtand
ihnen nicht, alle die alten venetianiſchen Geſchlechter auf den ioniſchen
und den kykladiſchen Inſeln wurden nach und nach zu Byzantinern. Da
der Czar ſich ſelber als den rechtmäßigen Erben des Doppeladlers von
Byzanz betrachtete, ſo ſah er ſich demnach gezwungen zu einer argliſtigen
Politik, welche, ſobald ſie durchſchaut war, die Hellenen mit unauslöſch-
lichem Groll erfüllen mußte. Er ließ einerſeits, um die Türkei zu ſchwächen,
die ohnmächtige Ländergier der Griechen insgeheim aufſtacheln und ſuchte
andererſeits die Macht des jungen Königthums zu untergraben. Dies
Doppelſpiel betrieb mit unheimlicher Gewandtheit der ruſſiſche Geſandte
Katakazi, ein Grieche, der ſich der beſonderen Gunſt Neſſelrode’s erfreute.**)
Katakazi unterhielt geheimen Verkehr mit der orthodoxen Partei der Nap-
piſten, die ihre begehrlichen Blicke zunächſt auf Theſſalien warf; ſeine
Berichte ſprachen mit äußerſter Geringſchätzung von König Otto, von
deſſen Umgebung, von dem geſammten griechiſchen Staatsweſen.***)
Ebenſo feindſelig zeigte ſich England, freilich aus ganz verſchiedenen
Gründen. Sämmtliche Parteien des Inſelreichs, vor allen die Whigs,
glaubten jetzt wieder an die Unantaſtbarkeit der Osmanenherrſchaft; die
[531]Griechenland und die Schutzmächte.
philhelleniſchen Träume waren verflogen, das junge, durch England ſelbſt
mitgeſchaffene Königreich wurde als ein Pfahl im Fleiſche der heiligen
Türkei tödlich gehaßt. Als ein getreuer Vertreter dieſes eingefleiſchten
Nationalhaſſes erſchien in Athen, durch Palmerſton geſendet, Sir E. Lyons.
Der rohe Seemann begegnete dem Hofe mit einer Anmaßung, die ſogar
über das Maß engliſcher Anmuth weit hinausging, er blieb ſelbſt der
Geburtstagsfeier des Königs fern*), er verlangte hartnäckig die pünkt-
liche Verzinſung der Anleihe, welche die drei Schutzmächte bei Rothſchild
aufgenommen hatten, obgleich er wußte, daß dies blutarme Land ſolchen
Forderungen unmöglich genügen konnte, und bald erzählte ſich alle Welt,
daß er insgeheim die conſtitutionelle Partei der Griechen aufwiegelte.
Palmerſton ſcheute ſich längſt nicht mehr, offen auszuſprechen, England
habe den Beruf, überall, namentlich in dem abſolutiſtiſchen Südeuropa,
die conſtitutionellen Beſtrebungen zu fördern; dann wird — ſo ſagte er
mit gewohnter Selbſtgefälligkeit, „die nationale Partei überall von ſelbſt
die engliſche Partei ſein“.**) In dieſer unziemlichen Stellung eines ge-
heimen griechiſchen Parteihauptes verblieb Lyons ſelbſt während der fünf-
jährigen Tory-Regierung. Aberdeen wollte den gefährlichen Zänker nicht
abrufen; ihm war es willkommen, wenn Griechenland ſich durch inneren
Hader ſchwächte. Auch der franzöſiſche Geſandte Piscatori nahm an den
Umtrieben der conſtitutionellen Partei eifrig theil, ſchon weil er dem
Briten nicht den Vortritt überlaſſen durfte; immerhin bewies Frankreich
allein unter den drei Schutzmächten dem mißhandelten Schützling noch
einiges Wohlwollen und ſuchte ihm namentlich die Finanznoth großmüthig
zu erleichtern.
Bei ſolchem Gewirr heimiſcher und ausländiſcher Ränke fühlte ſich
König Otto völlig haltlos. Herrſchergaben fehlten ihm ſo gänzlich, daß
ſchon vor Jahren Armansperg und die engliſche Partei ernſtlich daran
gedacht hatten, ihn auf Grund eines ärztlichen Gutachtens für regierungs-
unfähig zu erklären. Nirgends beſaß er perſönliche Anhänger; die Hellenen
ſchalten noch immer auf die Bavareſi, obgleich alle Baiern, bis auf einige
Vertraute und Diener des Königs, längſt heimgezogen waren. Auch ſeine
Gemahlin, die ſchöne, geiſtvolle, ehrgeizige Amalie von Oldenburg wurde
dem demokratiſchen Volke bald unleidlich, weil ſie ihre königliche Würde
ſehr hoch hielt. Wie ausſichtslos hatte ſich doch die Lage dieſes einſt von
ganz Europa verherrlichten und jetzt überall mißachteten Staates geſtaltet.
Seine Hauptſtadt blühte auf, ihre junge Univerſität wurde von den Söhnen
des lernbegierigen Volkes faſt allzu eifrig beſucht, die reichen Griechen im
Auslande ſchmückten wetteifernd das wiedererſtandene Athen mit Pracht-
gebäuden. Aber je raſcher hier ein neuer Mittelpunkt helleniſcher Cultur
34*
[532]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
emporwuchs, um ſo widerſinniger erſchien das Verlangen nach einer anderen
Metropole, und doch konnte das erhoffte Byzantinerreich ſeine Hauptſtadt
nur am Bosporus finden, alle Griechen in der großen Polis blickten ver-
ächtlich auf das kleine Athen hernieder. Der kriegeriſche Geiſt war völlig
erloſchen; für die Verſtärkung des erbärmlichen Heeres hatten jene großen
Kaufherren, welche für Akademien und Bibliotheken Millionen ſpendeten,
keine Drachme übrig. Ohne Geld und Waffen konnte der König, wie
lebhaft er es auch ſelber wünſchte, dem nationalen Ehrgeiz unmöglich ent-
ſprechen.
An dem öſterreichiſchen Geſandten, dem eitlen, federgewandten Prokeſch
v. Oſten fand er auch keine feſte Stütze; denn Metternich wollte von dem
verabſcheuten Staate der Revolution noch immer nichts hören, er ſagte
ſcharf: „ich preiſe mich glücklich, weil ich an der Schöpfung dieſer poli-
tiſchen Mißgeburt gar keinen Antheil genommen habe.“*) Der einzige
zuverläſſige diplomatiſche Rathgeber Otto’s blieb der preußiſche Geſandte
Braſſier de St. Simon, ein leichtlebiger, feingebildeter Weltmann, der
einſt den Berliner Hof durch ſeine geiſtreichen Geſpräche entzückt hatte,
als Dichter der Barcarole „Das Schiff ſtreicht durch die Wellen“ auch
in weiteren Kreiſen bekannt war. Nebenbei trieb er ſomnambüle Zauberei,
wie ja faſt alle preußiſchen Diplomaten dieſer politiſchen Dilettantenzeit,
Bunſen, H. v. Arnim und Andere, ſich mit Homöopathie, Magnetismus
und ähnlichen brotloſen Künſten vergnügten. Schon der alte König hatte die
griechiſche Politik der Wittelsbacher immer unterſtützt und vor Jahren ſeinem
Neffen Adalbert die Annahme der helleniſchen Krone unterſagt, weil er den
bairiſchen Verwandten ihre Cirkel nicht ſtören wollte. Der Nachfolger war
der philhelleniſchen Jugendträume noch immer eingedenk: er freute ſich, daß
ſein Geſandter dem geliebten Neffen treu zur Seite ſtand**), und vernahm
es gern, wenn König Ludwig immer wieder dankbar ausſprach: Preußen
allein zeigt ſich in dieſen ſchweren Tagen als Baierns ehrlicher Freund.***)
Freilich galt der preußiſche Staat, da er nicht einmal ein Kriegsſchiff
in den Piräus ſenden konnte, bei den Griechen ſehr wenig. Braſſier
erwarb ſich durch ſein vertrautes Verhältniß zum Hofe nur den Haß
der Parteihäupter, und leider zeichneten ſich auch die Rathſchläge, die
aus Potsdam kamen, keineswegs durch Weisheit aus. Wie die Dinge
lagen, durfte König Otto, der doch nur von Volkes Gnaden regierte, den
Hellenen die erſehnte Verfaſſung nicht länger vorenthalten; je früher er
den nothwendigen Schritt freiwillig wagte, um ſo ſicherer konnte er hoffen
die monarchiſche Macht nothdürftig aufrecht zu halten. Der Vater in
München aber und der Oheim in Sansſouci beſchworen ihn Beide, der
conſtitutionellen Partei nichts zuzugeſtehen.
[533]Revolution in Athen.
So ging eine köſtliche Zeit verloren, die Geſandten der drei Schutz-
mächte hetzten und wühlten ungeſtört. Am 15. Sept. 1843 brach endlich
eine Soldatenmeuterei aus. Oberſt Kalergis, ein erklärter Anhänger der
ruſſiſchen Partei, führte ſeine Truppen gegen das Schloß, und der er-
ſchreckte König ließ ſich das Verſprechen einer Verfaſſung abtrotzen. Als-
bald ward die Verheißung vom Altane des Palaſtes herab verkündigt,
unter donnernden Zitorufen, in Gegenwart der fremden Geſandten. Be-
amte und Heer beſchworen im Voraus das Syntagma, dann trat eine
Nationalverſammlung zuſammen um die beſchworene Verfaſſung nach-
träglich zu ſchaffen. Gewiß ſtand Katakazi hinter der Verſchwörung, auch
Lyons und Piscatori hatten nachgeholfen; und ebenſo gewiß wollten die
Empörer den katholiſchen König entthronen, eine Abſicht, die nur durch die
raſche Zuſage der Verfaſſung vereitelt wurde. Da der Aufruhr mithin ſeinen
eigentlichen Zweck verfehlt hatte, und der Czar vor der Welt doch un-
möglich als Beſchützer einer Conſtitution erſcheinen durfte, ſo wurde Kata-
kazi unter lauten Kundgebungen des kaiſerlichen Zornes abberufen, nach-
her aber in Rußland ganz unbehelligt gelaſſen. Der Petersburger Hof
gab ſich fortan den Anſchein, als ob er mit dieſen verworfenen Hellenen
nichts mehr zu thun haben wollte; er ließ ſich in Athen nur noch durch
einen Reſidenten vertreten, und Neſſelrode ſagte ſardoniſch lächelnd: die
griechiſche Verfaſſung wird ganz abſcheulich, aber eine, die norwegiſche, iſt
doch noch ſchlechter.*) Inzwiſchen brachen über das unſelige Land alle
Plagen der parlamentariſchen Corruption herein. Die natürliche Bered-
ſamkeit der Hellenen entlud ſich in endloſen Wortkämpfen; eine Schaar
von Palikaren mußte das Haus der Nationalverſammlung bewachen, um
die Maſſe der Gunſtjäger und Stellenſucher, die ſich ſchreiend und mark-
tend an die Volksvertreter herandrängten, in Ordnung zu halten.
Wie zu erwarten ſtand, gerieth das neue Syntagma ganz nach dem
Sinne des unerfahrenen Radicalismus, nach der doktrinären Pariſer
Schablone. Der ruſſiſche Urſprung dieſer unſauberen Revolution verrieth
ſich jedoch ſehr deutlich in dem einſtimmig angenommenen Artikel, der von
den künftigen Königen das griechiſche Glaubensbekenntniß verlangte. Aller-
dings konnte hier in den Heimathlanden des Cäſaropapismus nur ein
orthodoxer König als ein wahrhaft nationaler Fürſt gelten; dem Hauſe
Wittelsbach war aber das Thronfolgerecht ſchon ohne confeſſionelle Be-
ſchränkungen übertragen, durch die Verträge der Schutzmächte und durch
die Zuſtimmung des helleniſchen Volks. Wie durfte man ſolche Verträge
jetzt einſeitig ändern? König Otto’s Ehe blieb kinderlos; der erſehnte
Konſtantinos kam nie zur Welt. Prinz Luitpold, der nächſtberechtigte
Bruder, erklärte als treuer Katholik entſchieden, daß er weder ſelbſt über-
treten, noch ſeinen Söhnen einen Glaubenswechſel geſtatten würde**);
[534]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
und der bekümmerte Vater König Ludwig ſendete den Fürſten Wallerſtein
nach London und Paris, um irgend eine Bürgſchaft für das Erbfolge-
recht der Wittelsbacher, ſowie für die monarchiſche Gewalt der griechiſchen
Krone zu erlangen. Beide Weſtmächte gaben nur unbeſtimmte Zuſiche-
rungen, und die Fortſetzung der diplomatiſchen Reiſe bis nach Athen unter-
blieb ſchließlich, weil Wallerſtein ſelbſt einſah, daß die Anweſenheit eines
Bavareſen die erhitzten Hellenen noch mehr reizen würde.*) Unterdeſſen
waren die drei Schutzmächte zu einer Conferenz zuſammengetreten; und
hier ſagte Brunnow unſchuldig: durch den nachträglichen Beſchluß über
das orthodoxe Bekenntniß der Hellenenkönige würde das Erbfolgerecht der
Wittelsbacher doch nicht beeinträchtigt. Er begriff gar nicht, wie man der
griechiſchen Nationalverſammlung das Recht zu ſolchen Beſchlüſſen be-
ſtreiten könne. Ebenſo unſchuldig ſchrieb Neſſelrode nach München: „Haben
nicht alle unſere Verhandlungen den Zweck gehabt, den Thron Griechen-
lands den Nachkommen des Königs von Baiern zu ſichern? Und würde
dieſer Gedanke nicht eine neue Verbürgung erhalten, wenn man beſtimmte,
daß der künftige Souverän ſich mit ſeinem Volke durch die Bande des
gleichen Glaubens vereinigen muß? An dem Kaiſer von Rußland iſt es
ſicherlich nicht, eine Nothwendigkeit zu beſtreiten, worüber alle Griechen
einſtimmig ſind.“**)
Die Conferenz wußte ſich nicht zu helfen, und ſchließlich rieth ihr
der König von Preußen, der jeden Eingriff in die Rechte des bairiſchen
Hauſes verhindern wollte, die Schutzmächte möchten die förmliche Ent-
ſcheidung der confeſſionellen Frage vorläufig vertagen.***) So geſchah es
auch. Die Schutzmächte begnügten ſich, einige fromme Wünſche für die
Wiederherſtellung der Ordnung in Hellas kundzugeben; um ſo nachdrück-
licher ſprachen ſie die Erwartung aus, daß ihr Schützling ſeine Geld-
verpflichtungen erfüllen und auf alle Gebietserweiterungen verzichten müſſe.
Ihr gemeinſames Kind ſollte in ſeiner Nichtigkeit verharren — in dieſem
Gedanken fanden ſich die drei liebevollen Erzeugermächte zuſammen; und
ſalbungsvoll ſchrieb Aberdeen ſeinem ruſſiſchen Freunde: wichtig iſt nur,
jeden Angriff der Griechen auf die Türkei zu verhindern, darum wollen
wir uns beiderſeits dem helleniſchen Parteitreiben fern halten „und wahr
gegen einander bleiben, mein theuerer Brunnow“.†) England und Ruß-
land forderten nunmehr die Abtragung der Schulden ſo ungeſtüm, daß
der griechiſche Finanzminiſter der Nationalverſammlung erklären mußte,
ein Budget könne er überhaupt nicht vorlegen, und König Otto ſich ſchließlich
genöthigt ſah, ſein Heer auf 5000 Mann herabzuſetzen. Mehr — meinte
[535]Griechenland und die Wittelsbacher.
Aberdeen — brauchen die Hellenen nicht, als eine Schutztruppe für den
inneren Sicherheitsdienſt; und noch deutlicher ſagte nachher Palmerſton:
wir wollen dieſem Volke ſeine byzantiniſchen Gelüſte für immer austreiben!*)
Die neue Verfaſſung, mitſammt dem Artikel über die orthodoxe Thron-
folge blieb unverändert, ſtillſchweigend anerkannt von den Schutzmächten.
Alſo hatte Rußland die verſchmähte Olga gerächt und ſein Spiel mindeſtens
halb gewonnen. Die Wittelsbacher waren zwar nicht entthront, doch Jeder-
mann mußte vorausſehen, daß König Otto beſten Falls nur noch auf
Lebenszeit regieren und ſein Bruder Luitpold niemals die Krone der
Hellenen tragen würde. Mit vollem Rechte lärmten daher die bairiſchen
Zeitungen, am lauteſten die ultramontanen, wider die Feindſeligkeit der
Moskowiter. Neſſelrode zählte aber zu jenen ehrlichen Leuten, denen ſich
nichts beweiſen läßt; er forderte Genugthuung, drohte mit Abbruch des
diplomatiſchen Verkehrs. Endlich ließ ſich der Münchener Hof zu einigen
Entſchuldigungen herbei und verbot ſeinen Zeitungen, auf Rußland zu
ſchelten.**)
In Griechenland kämpften die Anhänger der drei Schutzmächte noch
lange mit einander. Braſſier de St. Simon wurde abberufen, weil die
Uhr des Abſolutismus abgelaufen war. England ſuchte ſeine Schuld-
forderungen mit der äußerſten Gehäſſigkeit, einmal ſogar durch die Ab-
ſendung von Kriegsſchiffen einzutreiben. Die Ruſſen ſahen dieſen rohen
Mahnungen mit ſtiller Schadenfreude zu; König Friedrich Wilhelm
aber, der freilich nicht helfen konnte, beklagte bitterlich, wie die Mächte
das unſelige Land alſo durch die britiſche Habgier zu Grunde richten
ließen.***) Zuletzt errang Kolettis, der Führer der franzöſiſchen Partei einen
vollſtändigen Sieg. Palmerſton ſchäumte vor Zorn als er dieſen Triumph
Guizot’s erfuhr. Er überhäufte die griechiſche wie die bairiſche Regierung
mit groben Schmähungen und ſuchte auch Preußen gegen die beiden Wittels-
bachiſchen Höfe aufzuregen. „Das Königreich Griechenland“, ſchrieb er nach
Berlin, „iſt von den drei Mächten nicht geſchaffen worden für die perſön-
lichen Vortheile und Vergnügungen eines bairiſchen Prinzen, ſondern ein
bairiſcher Prinz iſt von den drei Mächten zum König von Griechenland er-
wählt worden um die griechiſche Nation zu beglücken und ihr zu nützen“…
Es wird noch dahin kommen, daß König Otto „durch unfähige, beſtechliche
und tyranniſche Miniſter den Griechen ein Syſtem der Mißregierung und
Unterdrückung auferlegt, das die Stellung eines Unterthanen des Königs
von Griechenland weniger erträglich macht, als die Stellung eines Rajahs
des Sultans.“†) Canitz erwiderte trocken: „uns liegt nur an der Un-
abhängigkeit Griechenlands, darum wollen wir ſeine Regierung nicht ſtören;
[536]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ehe man ſo heftige Vorwürfe erhebt, müßte man wenigſtens die Stimme
der griechiſchen Nation hören.“*) In Athen erregten Palmerſton’s Wuth-
ausbrüche und die wachſende Anmaßung ſeines Geſandten Lyons nur Wider-
willen.
Kolettis behauptete ſich, und unter ſeiner mehrjährigen Regierung
drang die franzöſiſche Geſinnung den Hellenen in Fleiſch und Blut. Den
deutſchen Philologen, zumal dem geiſtvollen Otfried Müller, der auf dem
Hügel von Kolonos ſein frühes Grab fand, widmeten ſie wohl einige Hoch-
achtung; ihre Liebe aber ſchenkten ſie, wie alle Orientalen, den Pariſer
Sitten. Der Tuilerienhof beeiferte ſich auch, durch ſeine freundliche Haltung
ſolche Empfindung zu beſtärken, und ganz unwiderſtehlich erſchien dieſem
halbgeſitteten Volke die Macht der franzöſiſchen liberalen Phraſe. Die beiden
Hauptplätze Athens hießen nach dem Pariſer Muſter der Eintrachtsplatz
und der Verfaſſungsplatz, man luſtwandelte Abends von der Homonoia
zum Syntagma. Doch die Eintracht ſtand auf ebenſo ſchwachen Füßen
wie das Grundgeſetz. Die politiſche Kraft der Hellenen war durch die
berechnete Grauſamkeit der Schutzmächte, durch inneren Zwiſt und kauf-
männiſche Waffenſcheu auf lange hinaus geſchwächt, und die ſanfte Schirm-
herrſchaft, welche der franzöſiſche Geſandte fortan im Schatten der Akro-
polis ausübte, bedeutete für Europa ſehr wenig.
In Athen konnten England und Rußland den Schein der Freund-
ſchaft wahren, weil beide das Verderben ihres Schützlings planten. Sonſt
ließ ſich die natürliche Nebenbuhlerſchaft der beiden Mächte nirgends mehr
im Oriente ganz verhüllen. Neſſelrode wiederholte beſtändig die friedfer-
tigen Betheuerungen, die er ſchon vor Jahren dem britiſchen Cabinet ge-
geben hatte: „die Politik des Kaiſers im Oriente wird von denſelben
Grundſätzen beherrſcht, welche ſie in Europa leiten. Entfernt von jedem
Eroberungsplane hat dieſe Politik zum einzigen Zweck die Aufrechterhaltung
der Rechte Rußlands und die Achtung vor den durch andere Mächte er-
worbenen legitimen Rechten. Der Gedanke, die Ruhe der engliſchen Be-
ſitzungen in Indien auch nur zu ſtören, iſt dem Geiſte unſeres erhabenen
Herrn niemals nahe getreten.“**) Wenn ſolche Verſicherungen in London
eintrafen, dann ſagte Robert Peel ſchwermüthig: man darf im öffentlichen
Intereſſe nicht annehmen, daß Rußland ſeine Verſprechungen nicht halten
wird. Mittlerweile eroberten die Heere des Czaren nach und nach den
Kaukaſus, und ſeit das Waffenglück ihnen günſtig wurde, zeigte die Nation
lebhafte Freude an dem Kriege. Das Kaspiſche Meer war bereits ein
moskowitiſcher Binnenſee; ruſſiſche Dampfer, mit perſiſchen Kohlen geheizt,
befuhren ſeine Gewäſſer, und alſo im Rücken gedeckt, drangen die nordiſchen
Eroberer weiter und weiter in die transkaspiſchen Gebiete. Die wieder-
[537]Die Türkei und die Mächte. Stratford Canning.
holte Anfrage des Petersburger Hofes, ob man ſich über die Abgrenzung
der beiden aſiatiſchen Machtbereiche friedlich verſtändigen könne, wurde in
London ſtets zurückgewieſen, weil die Briten dort im Oſten ebenſo uner-
ſättlich um ſich griffen wie ihre Nebenbuhler.
In der Türkei ließ ſich dem ruſſiſchen Hofe ſein vertragsmäßiges
Schutzrecht über die chriſtlichen Vaſallenſtaaten nicht mehr beſtreiten, und
Nikolaus gebrauchte es mit hartem Uebermuthe. Als die Serben (1842)
ihren Fürſten Michael Obrenowitſch abgeſetzt und den Alexander Kara-
georgewitſch auf den Thron erhoben hatten, da ſchrieb der Czar dem Sultan
eigenhändig: „Es iſt mir ſehr ſchmerzlich zu ſehen, wie die Hohe Pforte
von dem Wege, welchen die beſtimmteſten Satzungen unſerer Verträge ihr
vorzeichnen, ſich entfernt, wie ſie der billigen Rückſichten vergißt, die eine
Macht mit Recht erwarten konnte, welche ſoeben erſt dem Osmaniſchen
Reiche inmitten der es umringenden Gefahren ſo glänzende Dienſte ge-
leiſtet hat — und dies um den Triumph der Revolution anzuerkennen,
um die Wahl eines Fürſten zu genehmigen, welchen aufrühreriſche Unter-
thanen die Frechheit gehabt haben mit den Waffen in der Hand auszu-
rufen, endlich um dem gefährlichſten Beiſpiel die verhängnißvollſte Ermu-
thigung zu geben!“ Der ganze Wortſchwall bezweckte lediglich die Pforte
nachdrücklich an ihre Abhängigkeit zu erinnern; der ſerbiſche Thronwechſel
ſelbſt war dem ruſſiſchen Hofe gleichgiltig. Der geängſtigte Padiſchah
mußte nunmehr den entthronten Fürſten feierlich abſetzen; dann wurde
der neue Fürſt, der inzwiſchen abgedankt hatte, abermals gewählt. Oeſter-
reich aber wagte ſo wenig wie die Weſtmächte dies höhniſche Poſſenſpiel
zu verhindern.*)
Am Bosporus ſelbſt war die ruſſiſche Diplomatie weniger glücklich.
Als Gönner der Aegypter und der Griechen mußte Frankreich der Pforte
immer verdächtig bleiben. Oeſterreich und Preußen vermochten in Pera nicht
viel; Metternich war ganz zufrieden, wenn ſein geliebter Großtürke nur un-
behelligt blieb, er ſagte beruhigt: „der Fall der Türkei iſt nicht ſo nahe wie
man glaubt.“**) Die aufdringlichen ruſſiſchen Beſchützer aber wurden aus
der Gunſt des Sultans bald ganz verdrängt durch den neuen britiſchen Ge-
ſandten Stratford Canning, den tüchtigſten Mann, welcher England je im
Oriente vertreten hat. Ein geborener Herrſcher, menſchenkundig, feſt, willens-
kräftig und doch nicht ſo ungeſtüm wie ſein Vorgänger Ponſonby, hieß Strat-
ford bei den Osmanen der große Elchi, der erſte aller Geſandten, und
bemächtigte ſich gänzlich des nichtigen jungen Padiſchah, von dem er auf-
richtig ſagte: ein Mündel iſt mir lieber als ein Nebenbuhler; die Pforte
vermag ihren eigenen Vortheil nicht zu beurtheilen. Gleich vielen ſeiner
Landsleute hatte er einſt philhelleniſche Träume gehegt und dann enttäuſcht
[538]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſich die Meinung gebildet, daß die Türkei von innen heraus verjüngt, der
chriſtlichen Cultur angenähert werden müſſe. Mit Hilfe ſeines Freundes
Reſchid Paſcha erreichte er auch einzelne kleine Milderungen der barbariſchen
Geſetze: die Folter ward abgeſchafft, und der Großherr verſprach mindeſtens,
daß der Uebertritt zum Chriſtenthum nicht mehr mit dem Tode beſtraft,
Chriſtenkinder nicht mehr gewaltſam dem Islam zugeführt werden ſollten.
Das Alles änderte freilich gar nichts an dem Weſen dieſer orientaliſchen
Theokratie, an der hoffnungsloſen Knechtſchaft der Rajah-Völker. Die
ruſſenfeindliche liberale Preſſe Europas aber verherrlichte mit treufleißiger
Begeiſterung alle die Wunderthaten der türkiſch-engliſchen Reformpolitik.
Unermeßlich war der Jubel, als ein diplomatiſches Prunkmahl abgehalten
wurde im Palaſte Beglerbeg, in jenen üppigen Kuppelſälen, wo der Harem
des Padiſchahs ſich morgens in Gegenwart ſeines erhabenen Gebieters
zu baden pflegte, und der große Elchi den Trinkſpruch ausbrachte: die Civi-
liſation und der Fortſchritt in der Türkei, die entente cordiale überall,
vornehmlich zwiſchen Abendland und Morgenland! Nach langen Jahren
erſt ſollte Stratford ſelbſt erkennen, daß er edle Kraft an ein unmögliches
Unternehmen verſchwendet hatte, daß die Sitten des Harems ſich mit der
chriſtlichen Cultur doch nicht ſo leicht vereinigen ließen. Vorläufig behaup-
tete der engliſche Geſandte am Goldenen Horn eine Herrſchaft, die nur
ſelten durch das Erſcheinen eines ruſſiſchen Generaladjutanten unlieb-
ſam geſtört wurde. Czar Nikolaus wartete ſeiner Stunde, da er wohl
einſah, daß ſeine Diplomaten es mit Stratford’s überlegener Perſönlich-
keit nicht aufnehmen konnten. Er ſagte grimmig: ich thue nichts gegen
den Bosporus ſo lange England und Frankreich ſich ruhig halten; wagen
ſie aber etwas „dann werde ich gewiß der erſte in Konſtantinopel ſein und
nicht loslaſſen“.*)
In Deutſchland ward das öffentliche Urtheil zugleich berichtigt und ver-
wirrt durch die Fragmente aus dem Orient von dem Tyroler Jakob Fall-
merayer, ein geiſtreiches Buch, das den allgemeinen Ruſſenhaß noch ſtärker
aufreizte als vordem Urquhart’s Portfolio. „Der Kampf zwiſchen Licht
und Finſterniß, zwiſchen perſönlicher Freiheit und ſchmachvollem Ruſſen-
thum, zwiſchen pfäffiſch-demüthiger Niederträchtigkeit und freier ſittlicher
Würde“ erſchien dem Fragmentiſten als der Inhalt der neuen Geſchichte.
Fallmerayer war auf ſeinen weiten orientaliſchen Reiſen und durch gründ-
liche Erforſchung der byzantiniſchen Geſchichte zu der Ueberzeugung ge-
langt, daß geiſtliche Allmacht und menſchliche Erniedrigung überall zu-
ſammengehen — einer Anſicht, die ſich dort in den Landen des Islams
und des Cäſaropapismus allerdings jedem freien Geiſte von ſelber auf-
drängt; er bewunderte Konſtantinopel als „die Metropolis des Erdbodens,
wo die Looſe für Europas Zukunft geſchrieben würden“. Der phantaſtiſche
[539]Fallmerayer’s Fragmente
Rauſch, der die Geſandten in Pera ſo oft ergreift, überwältigte auch ihn:
er wollte auf der weiten Welt nichts mehr ſehen als die orientaliſche Frage.
Da nun das dem Fragmentiſten ganz unbekannte Preußen der proſaiſchen
Meinung war, daß die Looſe Europas ſchon ſeit vierzehnhundert Jahren
nicht mehr am Bosporus geſchrieben würden und ſich demnach an dem
diplomatiſchen Ränkeſpiele der Metropolis nur wenig betheiligte, ſo glaubte
er, Deutſchland ſei in ſchmähliche Ohnmacht verſunken. Ebenſo hoffnungs-
los urtheilte er über die Neugriechen. Mit einem großen Aufwande hiſto-
riſcher Gelehrſamkeit erklärte er ſie für ein elendes ſlawiſch-ſchkypetariſches
Miſchvolk. Ihm entging ganz, daß die Nationalität durchaus nicht allein
durch die Reinheit des Blutes bedingt iſt. Faſt überall in Europa hatte
nach den großen Völkerwanderungen die überlegene Cultur der Beſiegten
ihre Rache genommen an den barbariſchen Siegern; die Slawen waren
auf helleniſchem Boden ganz ebenſo zu Byzantinern geworden, wie die
Gothen, Langobarden und Burgunden auf Römerboden zu Romanen
wurden. Die Hellenen haßten ihren Läſterer tödlich, und König Ludwig
fand es ruchlos, daß ein in Baiern längſt eingebürgerter Gelehrter in
der bairiſchen Allgemeinen Zeitung das Lieblingsvolk der Wittelsbacher
alſo um allen Credit brachte. Ruſſenhaß, Griechenhaß, Zorn über Deutſch-
lands Schwäche, Entrüſtung wider den Vibius Egnatius Tartuffius des
Prieſterthums — das waren die vorherrſchenden Empfindungen des Frag-
mentiſten. Er nannte ſich gern einen Mann von Welt, weil er in Frank-
reich, in Rußland, in Pera viel in vornehmen Kreiſen verkehrt hatte, und
ſpottete über die doktrinäre philhelleniſche Schwärmerei der deutſchen Philo-
logen. In Wahrheit war er ſelbſt ein ganz unpolitiſcher Kopf, der die
Wirkung ſeiner Worte nicht zu berechnen verſtand. Wenn er die Hellenen
ſchonungslos verunglimpfte, ſo arbeitete er doch den verhaßten Ruſſen in
die Hände; auch ſeine Spöttereien über Egnatius Tartuffius konnten dem
Czaren, der ja überall, namentlich in Baiern die Ultramontanen bekämpfte,
nur Freude bereiten. Aber er war zugleich ein Stück Poet, und darin lag
ſeine Stärke. Der funkelnde, etwas überladene Stil der Fragmente ſprühte
von Geiſt und Leben. Die herrlichen hochromantiſchen Schilderungen des
Komnenenſchloſſes von Trapezunt, der Waldeinſamkeit am Pontus, der
lorbeerumrauſchten Klöſter auf dem heiligen Berge Athos blieben dem Leſer
unvergeßlich, und mit der Süßigkeit dieſer Landſchaftsdichtungen ſchlürfte
er auch das geiſtreiche politiſche Kauderwälſch des Fragmentiſten begierig
ein, das im Grunde doch nur ſagte: der Tod iſt von den Sünden des
Lebens frei, folglich ſteht der Türke hoch über den Rajah-Völkern. Da
das freie England in Pera herrſchte, ſo gaben ſich die deutſchen Liberalen
der tröſtlichen Hoffnung hin, die Stadt Konſtantin’s ſei vorläufig noch
wohl geborgen in den Händen des Großtürken und ſeiner aufgeklärten
Eunuchen. —
[540]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Aus dieſem zielloſen Gewoge diplomatiſcher Kämpfe erhob ſich endlich
wieder eine feſtere Parteibildung, ſeit die geheime Arbeit der polniſchen
Verſchwörer die drei Oſtmächte zu gemeinſamem Handeln zwang. Die
gaſtfreundliche Unterſtützung, welche dieſer erklärten Umſturzpartei in Eng-
land, Belgien und der Schweiz, vornehmlich in Frankreich gewährt wurde,
ſprach allem Völkerrechte Hohn. Mit erſtaunlicher Dreiſtigkeit pflegte der
Tuilerienhof von den Berliner Miniſterien Mittheilungen zu erbitten
über preußiſche Unterthanen, die in Paris als polniſche Märtyrer Unter-
ſtützung aus den geheimen Fonds verlangten. Canitz meinte zornig: „Es
iſt eine eigene Forderung, die jetzt ſo oft wiederholt wird, daß die preußiſche
Regierung Anweiſungen und Legitimationen für Verräther ertheilen ſoll.“
Gleichwohl wurde die gewünſchte Auskunft ſelten verweigert, weil man
auf ſolche Weiſe genaue Nachrichten über die Perſonen der Verräther er-
hielt.*) Viele der ſogenannten Geächteten lebten, gänzlich unverfolgt, aus
freiem Willen in der Verbannung, um die jedem polniſchen Herzen un-
widerſtehlichen Reize der Pariſer Geſelligkeit zu genießen oder um das ſchlechte
Handwerk der Verſchwörung unter franzöſiſchem Schutze ſicherer zu treiben.
Die drei namhafteſten polniſchen Dichter der Zeit, Mickiewicz, Kraſinski,
Stowaski ſpielten alleſammt, gefühlvoll wie Heinrich Heine, die Rolle frei-
williger Flüchtlinge.
In den Kreiſen ſolcher Ausgewanderten erlangen aber die extremen
Parteien ſtets die Oberhand. Die ariſtokratiſche Fraktion, die Geſellſchaft
vom 3. Mai verehrte noch immer den greiſen Fürſten Czartoryski als
ihren König Adam I. Czartoryski ſelbſt hielt ſich behutſam zurück. Er
empfing im Palaſte Lambert die polniſchen Flüchtlinge mit fürſtlicher Gaſt-
freundſchaft und nahm auch zuweilen die Huldigungen der Pariſer Stu-
denten und Journaliſten entgegen. Alljährlich am 29. Nov. zur Feier der
großen Woche hielt er ſeinen Landsleuten eine wohlgeſetzte Rede um ſie
auf den dereinſtigen allgemeinen nationalen Aufſtand zu vertröſten, aber
auch vor radicaler Ueberſtürzung zu warnen. Seine Partei beſaß an
den Grafen Zamoyski und Walewski zwei rührige, beharrlich umherreiſende
Agenten, an dem ſchlauen, reichen Grafen Titus Dzialynski in Poſen einen
mächtigen geheimen Verbündeten. Sie unterhielt Verkehr mit dem inter-
nationalen Prieſterkreiſe zu München**), auch mit dem Poſener hohen Clerus,
der ſeit den wohlfeilen Triumphen des Erzbiſchofs Dunin ſeine revolutionäre
Geſinnung kaum noch verbarg und unter den Bauern das Lied verbreiten ließ:
[541]Mieroslawski und die polniſche Emigration.
Die Maſſe der Schlachtizen aber und die kleinen Pfarrer wollten
ſich zu den vornehmen Magnaten kein Herz faſſen. Nach wüſten Kämpfen
zwiſchen ſechs verſchiedenen Parteien blieb die Demokratiſche Geſellſchaft
obenauf, das Organ der Verſailler Centraliſation. Sie bekannte ſich zu
„rein demokratiſch-philoſophiſchen Grundſätzen“, radicalen Lehren der
Junghegelianer, die dem Communismus nahe kamen, und ſchrieb nicht
blos den Aufruhr, ſondern die ſociale Revolution auf ihr Banner. In
dem wiederhergeſtellten Polenreiche von 1772 ſollten alle ſocialen Unter-
ſchiede verſchwinden, alle Polen wollten Brüder ſein, Kinder eines Vaters,
Gottes, einer Mutter, des Vaterlandes. Die alte natürliche Wahlver-
wandtſchaft zwiſchen der polniſchen Adelslibertät und dem modernen Radi-
calismus trat wieder zu Tage. Gelehrig ging der Poſener adliche Pan
auf dieſe demagogiſchen Schlagwörter ein; wenn er in den Agronomiſchen,
den Unterſtützungs-, den Leſe-Vereinen mit den Bauern, die ihm ſonſt
die Kniee zu küſſen pflegten, kameradſchaftlich zuſammenſaß, dann ver-
langte er liebreich, daß man ihn fortan nicht mehr Graf, ſondern Bruder
nennen ſolle. Auch den kirchlichen Fanatismus verſchmähten die Demo-
kraten nicht. Da der Biſchofsſtreit beigelegt war, ſo ſchalt man auf die
Duldung, welche der König den Deutſchkatholiken in Schneidemühl ge-
währte. Es kam dort ſogar zu blutigen Händeln, und immer wieder
warnten die Kapläne das Bauernvolk: der Preuße will uns die Religion
rauben!
Die Seele der Demokratiſchen Geſellſchaft war Ludwig von Mieros-
lawski, ein echter Vertreter des vornehmen internationalen Demagogen-
thums, in Frankreich geboren und der franzöſiſchen Sprache mächtiger als
der polniſchen, nachher im Kriege gegen Rußland geſchult; ein leichtes Talent,
nicht ganz ohne mathematiſch-militäriſche Kenntniſſe, aber noch mehr bewun-
dert als Redner und Improviſator, ritterlich, eitel, geſchwätzig, liebenswürdig,
nach Sarmatenart bald ſanft bald gewaltthätig, ein Freund der Weiber,
des Tanzes, der Toilettenkünſte, ſo durch und durch frivol, daß er in einem
Athem die Jungfrau Maria, das polniſche Vaterland und ſeine eigene
Geliebte hoch leben ließ. Daneben beſtand noch eine eigentliche commu-
niſtiſche Partei, die in Poſen durch die Schriftſteller der Stefanskiſchen
Buchhandlung vertreten wurde. Communismus konnte dort im Oſten,
wo das bewegliche Capital ſo ſelten war, nichts anders bedeuten als Aecker-
vertheilung. Dies Zauberwort zündete in Poſen nur ſelten; denn hier
waren die bäuerlichen Verhältniſſe durch die Gerechtigkeit einer wohl-
wollenden Regierung leidlich geordnet und der Bauer vernahm die freund-
lichen Reden der vordem ſo hochmüthigen Edelleute mit Argwohn, ſchon
weil er im Verkehre mit den Schacherjuden die Lebensregel gelernt hatte:
wer mir ſchmeichelt will mich betrügen. Furchtbar aber, und ganz anders
als die kurzſichtigen Demagogen wähnten, wirkte die communiſtiſche Propa-
ganda in Galizien, wo das Landvolk längſt über die ſchweren Roboten
[542]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
und Grundlaſten murrte und nunmehr an den grauſamen adlichen Herren
blutige Rache zu nehmen hoffte.
Dieſe raſtloſen, von dem gutmüthigen Statthalter, dem Erzherzog
Ferdinand kaum bemerkten Umtriebe, die geheimen Sendboten, die in der
letzten Freiſtätte des Polenthums, in Krakau beſtändig aus- und eingingen,
und zu allermeiſt die freche Sprache des Poſener Landtags beunruhigten
den Wiener Hof lebhaft. Schon im Sommer 1842 fragte Metternich bei
den anderen Theilungsmächten vertraulich an, ob es nicht rathſam ſei,
jetzt auf den geheimen Vertrag vom 14. Oct. 1835 zurückzukommen und
das Krakauer Gebiet mindeſtens in die Zolllinie Oeſterreichs aufzunehmen.*)
Ehrlich verfuhr er dabei nicht; die vollſtändige Ausführung jenes Ver-
trags, die gänzliche Einverleibung der Republik in den Kaiſerſtaat, er-
klärte er unter den gegenwärtigen Verhältniſſen für „eine Narrheit“, der
preußiſche Geſandte Canitz merkte aber bald, daß dieſe Narrheit grade
Oeſterreichs Wunſch war.**) Mit Entſetzen wies König Friedrich Wilhelm
ſolche Anſchläge wider ſein geliebtes Polen zurück, und da er als Kron-
prinz von diplomatiſchen Geheimniſſen wenig erfahren hatte, ſo wollte er
nicht einmal glauben, daß jemals ein ſo ſchändlicher Vertrag förmlich ab-
geſchloſſen worden ſei. Sein Petersburger Geſandter Liebermann, der
einſt bei jenen Geſchäften mitgeholfen hatte, belehrte ihn freilich eines
Beſſeren; gleichwohl hielt er ſeinen Widerſpruch aufrecht und forderte ent-
ſchieden, die alte Verabredung müſſe für immer vergeſſen, die Unab-
hängigkeit Krakaus gewiſſenhaft geachtet werden. Czar Nikolaus, der mit
Metternich ganz übereinſtimmte, wollte doch den Schwager augenblicklich
nicht drängen; ſo vertagte denn der Wiener Hof vorläufig die Ausfüh-
rung ſeines Vorhabens***), und Canitz berichtete in heller Freude: „Der
Schlag iſt abgewehrt. Die Stimme eines ſeiner erlauchten Beſchützer
hat das bedrohte Daſein des armen Schützlings gerettet, die Theilung
Polens wird nicht kleinlich wiederholt werden durch die Erdrückung ſeiner
letzten Trümmer. Dieſer Plan iſt verdientermaßen getödet und begraben.“†)
Nur zu bald ſollte dieſen gutmüthigen Hoffnungen die Enttäuſchung
folgen. Die Ruſſen verſäumten keine Gelegenheit die ruchloſen Pläne
der Polen anzuſchwärzen. Als Nikolaus im October 1843 durch Poſen
kam, da wurde, ſo hieß es, ein Flintenſchuß auf einen Wagen des kaiſer-
lichen Gefolges abgefeuert. Der Czar glaubte wirklich einer Lebensgefahr
entgangen zu ſein, und ſein Hof bejammerte laut l’horrible attentat de
Posen. Die Schandthat blieb trotz eifriger Nachforſchungen unentdeckt,
ſie beſtand wohl nur in der Phantaſie der Moskowiter.††) Schon im
[543]Aufruhr in Poſen.
Januar des nächſten Jahres aber wurden in Poſen einige Rädelsführer
der großen Pariſer Verſchwörung verhaftet, und ſeit ſie die Wachſamkeit
der Behörden erkannten, verlangten die anderen Eingeweihten ſtürmiſch
den ſofortigen Beginn des Kampfes. Um die Ungeduldigen zu beſchwich-
tigen, eilte Mieroslawski ſelbſt im März 1845 aus Paris herbei; er ſah
jedoch bald, daß er die Leidenſchaft nicht mehr bändigen konnte, und als er im
December nach Poſen zurückkehrte, da beſchloß er, nach einer geheimen Be-
rathung in Krakau, das tolle, ſo lange geplante Unternehmen alsbald in’s
Werk zu ſetzen. Da das Königreich Polen unter den eiſernen Griffen
ſeines Statthalters Paskiewitſch wie erwürgt da lag, ſo ſollte diesmal der
Aufſtand in Poſen und Galizien beginnen, dann aber gleich der Lawine
wachſend über das Königreich, über Litthauen und Kleinrußland, bis zur
Düna und zum Dniepr ſich ausbreiten — denn wo war eine Schranke für
Mieroslawski’s Einbildungskraft?
In Krakau wurden die Rollen vertheilt, die Befehlshaber für jede
der aufſtändiſchen Landſchaften ernannt; um Mitte Februar 1846 wollte
man überall gleichzeitig losſchlagen. Sogar Czartoryski’s ariſtokratiſche
Partei wagte jetzt dem Sturme der nationalen Begeiſterung nicht mehr
zu widerſtehen. Auf ihre Bitte erklärte König Adam, er wolle nur das
Haupt der Emigration ſein und überlaſſe der Nation, über ihre künftige
Verfaſſung ſelbſt zu entſcheiden. Mehr als ſchöne Worte wußte der müde,
ganz in Entſagung verſunkene alte Fürſt ſeinem Volke freilich nicht zu
bieten.
Indeſſen war Oberpräſident Beurmann durch einige neue Verhaf-
tungen den Umtrieben auf die Spur gekommen. Als die Poſener Ver-
ſchworenen am 14. Febr. ſich in ihren Bazar begaben, um bei einem
großen Mittagsmahle die letzten Verabredungen zu treffen, da erfuhren
ſie ſchon, daß Alles entdeckt war. Der entſchloſſene Commandant General
Steinäcker hatte ſoeben die Feſtung ſchließen, einige verdächtige Unter-
offiziere verhaften laſſen; inzwiſchen wurde Mieroslawski ſelbſt in einem
Städtchen der Provinz aufgegriffen und gefeſſelt nach Poſen abgeführt.
In der folgenden Woche zog ein Haufe Bauern, den ein Carmeliter-
mönch zum Glaubenskriege aufgeſtachelt hatte, bei Nacht gegen Preußiſch-
Stargard; ſobald die Leute jedoch merkten, daß ſie wider die Obrigkeit
kämpfen ſollten, liefen ſie aus einander. Als am 3. März aufregende
Nachrichten aus Krakau eingelaufen waren, flammte das Kriegsfeuer
noch einmal empor. Der junge Hitzkopf Dr. v. Niegolewski und ein
Oberförſter des Grafen Dzialynski unternahmen einen nächtlichen Hand-
ſtreich gegen die Poſener Citadelle, das Fort Winiary, aber ſchon an der
Brücke der Walliſchei wurde die Bande angehalten und großentheils ge-
fangen. Das war das lächerliche Ende einer weitverzweigten Verſchwö-
rung, wobei die Demagogen in Paris, London, Brüſſel, Leipzig mitgewirkt
und die Geſandtſchaften der Weſtmächte ſchmähliche Botendienſte geleiſtet
[544]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
hatten. Die Behörden verfuhren überall wachſam, feſt und ohne unnütze
Härte, ſo daß der König nachher dem Oberpräſidenten Beurmann wohl-
verdienten Dank ausſprach*), die Truppen blieben unverbrüchlich treu, bis
auf eine Handvoll Lieutenants und Unteroffiziere. Eine ſchon im Januar
eingeſetzte Unterſuchungs-Commiſſion ließ zahlreiche Verhaftungen vor-
nehmen, und nachdem der Belagerungszuſtand verkündet war ſchien die
Provinz ſich ſchnell zu beruhigen. Dem leichten, faſt unblutigen Siege
entſprangen aber ſofort neue Gefahren. Die Verſchwörung war ſehr weit
verbreitet, der Demokratiſche Verein zählte mindeſtens 3000 Mitglieder,
dazu in der Provinz noch eine Menge halbeingeweihter Genoſſen, und da
die Verräther die Schärfe der preußiſchen Waffen nicht ernſtlich gefühlt
hatten, ſo glomm das Feuer unter der Aſche fort. Auch im ruſſiſchen
Polen wurden nur einige kleine Aufſtandsverſuche gewagt und alsbald
grauſam niedergeſchlagen.
Weit gewaltſamer verlief der Aufruhr in Galizien. Am 18. Febr.
rückte General Collin mit 1000 Mann Oeſterreichern in Krakau ein, weil
die republikaniſchen Behörden ſelbſt erklärt hatten, ſie vermöchten ſich nicht
zu vertheidigen. Als der Aufruhr drei Tage ſpäter wirklich ausbrach, da
verlor der kaiſerliche General die Beſinnung und räumte die Stadt, die
er mit einigem Muthe wohl halten konnte; mit ihm flohen auch die recht-
mäßige Regierung und die Reſidenten der drei Schutzmächte. Die elende
Republik gab ſich ſelber auf, in ihrem Gebiete ſchaltete einige Tage lang
der Dictator Tyſſowski mit ſeinen Banden. Der Dictator verkündete ſofort
allen Polen in einem Manifeſte: die Stunde der Empörung hat geſchlagen,
und forderte alle auf, der nationalen Regierung der polniſchen Republik un-
bedingten Gehorſam zu ſchwören. Krakau ſollte den Mittelpunkt des wieder-
auferſtehenden Polenreichs bilden. Da kamen die öſterreichiſchen Truppen
nochmals heran, diesmal in größerer Anzahl und verſtärkt durch Bauern-
ſchaaren; bald wurden die Aufſtändiſchen geworfen. Oberſt Benedek, der
Falke von der Weichſel legte in dieſen Gefechten den Grund für ſeinen
militäriſchen Ruhm. Am 3. März war die Stadt wieder in den Händen
der Oeſterreicher; alsbald ließen auch die beiden anderen Schutzmächte
Truppen einrücken, die letzten Flüchtlinge der aufſtändiſchen Schaaren er-
gaben ſich den Preußen, eine von den drei Reſidenten beaufſichtigte Re-
gierung ſtellte die Ordnung her. In den benachbarten Strichen Galiziens
tobte unterdeſſen ein gräßlicher Bauernkrieg. Hier hatten ſich die Agenten
der polniſchen Revolution ſelber die Ruthe gebunden. Nicht umſonſt war
den Bauern ſeit Jahren das Traumbild communiſtiſcher Glückſeligkeit vor-
geſpiegelt worden. Jetzt kochte die Wuth der mißhandelten Fröhner auf,
ſie ergoß ſich aber nicht gegen die kaiſerlichen Behörden, die der Bauer
wenig kannte, ſondern gegen die nächſten Bedrücker, die Grundherren und
[545]Aufruhr in Krakau und Galizien.
ihre hartherzigen Verwalter, die Mandatare. Im öſtlichen Galizien, wo
nur die Edelleute Polen waren, die Bauern aber dem orthodoxen roth-
ruſſiſchen Volksſtamme angehörten, wurde der Adelshaß noch durch kirch-
liche und nationale Feindſeligkeit verſchärft; „in’s Verderben ſoll der
ſtolze Pole ſtürzen,“ ſagte ein Volkslied der Ruthenen. So brauſten denn
Mordbrand und Plünderung über die Edelhöfe dahin; ein ausgedienter
Soldat Szela führte die wüthenden Haufen an.
Es war ein echt ſarmatiſches Schauſpiel. Wie einſt in den alten
polniſchen Reichstagen die Anarchie des Liberum Veto an der ärgeren
Anarchie der bewaffneten Conföderationen ihre Schranke gefunden hatte,
ſo wurde jetzt die Verſchwörung der Edelleute durch die Raſerei der Ro-
botpflichtigen gebändigt. In der Hofburg war Alles vom Schrecken gelähmt.
Selbſt die Regimenter zeigten ſich nicht durchweg zuverläſſig, bis in die
Kreiſe der Offiziere war der Verrath eingedrungen. Die Behörden wußten
ſich nicht zu helfen und ließen die Mordbanden gewähren; der Kreishaupt-
mann in Tarnow zahlte den Bauern ſogar Geldpreiſe für jeden Edel-
mann, den ſie gefangen einbrachten. Gewiß hatte der Wiener Hof die
Zahlung dieſer Blutgelder nicht ſelber anbefohlen, ſchon weil ihm der Muth
fehlte; doch die Schande blieb an ihm haften, daß er die politiſche Revo-
lution nur durch ſtillſchweigende Duldung der ſocialen Revolution be-
zwungen hatte. Nach einigen entſetzlichen Tagen verrauchte der Blutdurſt;
die Bauern kehrten heim, zufrieden in dem Gedanken, daß der rothe Hahn
ſo vielen Edelleuten auf’s Dach geflogen war. Das alte Syſtem war mit
ſeiner Weisheit am Ende. Metternich ſchrieb erleichtert: „der größte,
der dickſte und durch eine Anzahl von Umſtänden am meiſten begünſtigte
Verſuch der Umſturzpartei hat geſcheitert;“*) aber nach ſolchen Gräueln
wußte er dem zerrütteten Kronlande keine andere Sühne zu bieten als
die Entlaſſung des kopfloſen Statthalters und ein ganz ungenügendes
Geſetz über die freiwillige Ablöſung der Roboten.
Der Aufruhr war beſiegt, die Ruheſeligen athmeten auf. Wer weiter
ſah mußte ahnen, daß eine ſchwierige diplomatiſche Verwicklung bevorſtand.
Selbſt der alte Welfenkönig bemerkte zu einem ſiegesfrohen Berichte ſeines
Berliner Geſandten: „Ich bin nicht der Meinung, daß Alles vorbey iſt.
Nun iſt erſt die politiſche Frage: was ſoll mit dieſe Republik werden?“**)
In der That kam der Wiener Hof, ſobald die erſte Angſt überſtanden
war, unverzüglich auf ſeine alten Pläne zurück; das Brutneſt aller pol-
niſchen Aufſtände, die Republik Krakau ſollte verſchwinden, und gewiß
ließ ſich den Oſtmächten jetzt nicht mehr zumuthen, daß ſie dieſen traurigen
Staat, nachdem er thatſächlich zerſtört war, künſtlich wieder aufrichten
ſollten. Schon am 25. Februar theilte Metternich ſeinen Vorſchlag dem
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 35
[546]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ruſſiſchen Geſandten Medem mit und fügte hochmüthig hinzu: wenn Preußen
widerſpricht, ſo gehen wir darüber hinweg (nous nous passerons de la
Prusse). So rückſichtslos wollte der Czar doch nicht verfahren. Er ſchrieb
ſeinem Schwager: nach Allem was geſchehen müſſe man ſich freundſchaft-
lich über die unumgängliche Vernichtung Krakaus verſtändigen, „um ein-
mal für allemal die verbrecheriſchen Anſchläge zu vernichten;“ darum ſolle
ſein General Graf Berg, ein ehrenhafter, in Preußen wohlbekannter Deut-
ſcher, demnächſt nach Berlin kommen.*) Auf Nikolaus’ Wunſch kündigte
auch Kaiſer Ferdinand an, daß er ſeinen erprobten Unterhändler, den
General Ficquelmont in die preußiſche Hauptſtadt abſenden wolle, und zu-
gleich ſuchte Metternich das weiche Gemüth ſeines königlichen Freundes
durch einen lehrhaften Brief zu bearbeiten: „Zu meiner moraliſchen
Geſtaltung gehört nebſt manch anderen Hin- und Abneigungen die Hin-
neigung zu den Sachen und die Scheue vor ſchalen oder gediegen ſchei-
nenden aber in der That leeren Worten. Zu den letzteren gehört heute
der Nationalismus und deſſen direkte Anwendung auf den Polonismus.
Mit den beiden Worten kann der geſammte Stand aller Weltreiche bis
zu den kleinſten politiſchen Körpern nicht nur in Frage geſtellt, ſondern
aus doktrinellen Gründen über den Haufen geworfen werden.“**)
Als die beiden Bevollmächtigten im April zu Berlin eintrafen, fanden
ſie das Auswärtige Amt ſchon wieder in anderen Händen. Miniſter
Bülow war an einem Gehirnleiden unheilbar erkrankt, und General Ca-
nitz, der bereits ſeit Monaten in Berlin weilte um bei den reichsſtändiſchen
Plänen des Königs Rath zu ertheilen, hatte ganz unvermuthet die er-
ledigte Stelle erhalten. Welche boshafte Tücke des Schickſals! Vor Kurzem
erſt hatte Canitz als Geſandter in Wien eine neue Theilung Polens für
unzuläſſig erklärt, und nun mußte er ſelbſt dabei mitwirken. Die Lehren
Metternich’s von der revolutionären Wirkſamkeit des „Nationalismus“ er-
kannte er ebenſo wenig an wie ſein König; doch mußte er zugeben, daß
die Radicalen das Polenthum mißbraucht und gefälſcht hatten,***) und da
die Wiederherſtellung eines Kleinſtaates, der ſeit einem Menſchenalter die
Pflichten ſeiner Neutralität ſchmählich verletzt hatte, offenbar unmöglich
war, ſo genehmigte Preußen in einem geheimen Protokoll vom 15. April
die Vorſchläge der beiden Kaiſerhöfe. Die Republik Krakau ſollte dem
öſterreichiſchen Staate einverleibt werden, weil ſie ſich ſelbſt vernichtet habe.
Dieſen Rechtsgrund hatte Canitz angegeben, denn er wollte jede Erwäh-
nung des geheimen Vertrags von 1835 vermeiden. In welchem Lichte, ſo
ſagte er ſpäterhin, ſtänden wir vor der Welt da, wenn man erführe, daß
wir die Vernichtung Krakaus ſchon vor elf Jahren beſchloſſen und dieſen
[547]Das Berliner Protokoll über Krakau.
Beſchluß immer feierlich abgeleugnet haben?*) Auf Canitz’s Antrag wurde
in das Protokoll der Art. 2 aufgenommen: „Dieſe Einverleibung wird
erſt ausgeführt werden nachdem Alles was damit zuſammenhängt geregelt
iſt, hinſichtlich der Beziehungen der drei hohen vertragſchließenden Parteien
unter ſich und zu den anderen Mächten. Dies wird geſchehen durch eine
Berathung der nach Wien berufenen Conferenz.“ General Berg erklärte
aber beſtimmt und ohne Widerſpruch: das ſolle keineswegs bedeuten, daß
„die anderen Mächte“ förmlich zuſtimmen müßten; vielmehr verwahrten
ſich die drei Schutzmächte ausdrücklich ihr Recht, das Beſchloſſene unbe-
dingt auszuführen.**) So ſchien man einig, und frohen Muths ſahen die
beiden Kaiſermächte der Wiener Conferenz entgegen, die in kürzeſter Friſt
zuſammentreten ſollte. Neſſelrode dankte der preußiſchen Regierung leb-
haft, weil ſie jede „peinliche Verhandlung“ vermieden hätte. Er ſchrieb ſo
ungemein herzlich, daß Canitz verwundert ſagte: Die Ruſſen ſcheinen ja
ganz überraſcht uns ſo nachgiebig gefunden zu haben.***)
Allerdings hatte der Czar guten Grund zu freudiger Ueberraſchung.
Der Aprilvertrag, den der königliche Gönner des Polenthums doch nur
widerſtrebend genehmigt hatte, mußte nicht blos die liberale öffentliche
Meinung gegen den Berliner Hof aufbringen, er bedrohte auch die
Volkswirthſchaft Preußens mit ſchweren Verluſten. Die Krakauer Re-
publik war auf Grund der Wiener Verträge ein Freihandelsgebiet, und
die Breslauer Kaufleute wußten dieſen Vortheil gründlich auszunutzen.
Sie unterhielten in der Republik ihre Commanditen und ſendeten dahin
außer deutſchen Erzeugniſſen auch Maſſen von Kolonialwaaren, die von
den Seeplätzen her, nur mit den leichten Durchfuhrzöllen des Zollvereins
beſchwert, gradeswegs nach der Weichſelſtadt durchgingen. In Krakau ſelbſt
verblieb nur ein kleiner Theil dieſer Einfuhr; alles Uebrige wurde von den
Juden, welche den zuchtloſen Kleinſtaat wie ein anderes Land Goſen ver-
ehrten, nach dem öſterreichiſchen und dem ruſſiſchen Polen hinübergeſchmug-
gelt. Das Geſchäft blühte. Von 92,000 Centnern Durchfuhrgut, welche
im Jahre 1844 die ſchleſiſche Grenze überſchritten, gingen faſt 78,000 über
Neu-Berun nach Krakau, von der geſammten ſchleſiſchen Ausfuhr etwa
die Hälfte; ein einziges großes Breslauer Haus berechnete ſeinen jährlichen
Umſatz in der Republik auf 0,9 Mill. Thlr. Der Zollverein, der weder
mit Rußland noch mit Oeſterreich in Zoll-Cartell ſtand, fand ſich nicht
bewogen dieſen Handel zu ſtören; er gewann ja nur an den Durchfuhr-
zöllen, und daß die Waaren aus den Krakauer Freilagern wieder über
die wohlbewachte deutſche Zollgrenze zurückgepaſcht wurden, geſchah doch
ziemlich ſelten.
35*
[548]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Sobald aber das Gebiet der Republik in die öſterreichiſche Zolllinie
eingeſchloſſen wurde, konnte dieſer altgewohnte Geſchäftsbetrieb unmöglich
fortdauern. Die preußiſche Regierung durfte alſo der Einverleibung erſt
dann endgiltig zuſtimmen, wenn dem deutſchen Handel vorher mindeſtens
einige Entſchädigung für die drohenden Verluſte unzweideutig zugeſichert
wurde; ſie mußte ihre Bedingungen ſchnell und entſchieden aufſtellen, weil
der gefährdete Verkehr doch großentheils Schmuggelhandel war, nachträgliche
Beſchwerden alſo gewiß nichts erreichen konnten. Canitz fühlte dies auch
und ließ alsbald von den ſachverſtändigen Handelspolitikern eine Denk-
ſchrift ausarbeiten, die zu dem Schluſſe gelangte, drei Zuſicherungen
mindeſtens müſſe Preußen fordern: zum erſten einen Packhof in Krakau
mit milder Controle, zum zweiten Fortdauer der bisherigen niedrigen
Durchfuhrzölle im Krakauer Gebiete, zum dritten ſchleunige Vollendung
der längſt verheißenen Krakau-Breslauer Eiſenbahn nebſt Erleichterungen
für den Durchfuhrverkehr.*) Dieſe überaus beſcheidenen Bedingungen
genügten durchaus nicht, um die ſchleſiſchen Geſchäftsleute, die ſeit einem
Menſchenalter große Capitalien in dem Krakauer Freihandelsgebiete an-
gelegt hatten, für ihre Einbuße ſchadlos zu halten, und die Denkſchrift
ſelbſt geſtand, man könne auch noch weit mehr verlangen. Sollte Preußen
einen für Krieg und Handel gleich wichtigen Straßenknotenpunkt dicht an
ſeiner Grenze ohne jeden Rechtsgrund den Oeſterreichern übergeben und
dafür zum Danke ſich den altgewohnten ſchleſiſchen Handelszug zerſtören
laſſen?
Da die Einverleibung Krakaus ohne Preußens endgiltige Zuſtimmung
unmöglich war, ſo konnte der Berliner Hof jetzt einige der Forderungen
durchſetzen, welche die bedrängte, zwiſchen dem Auslande eingeklemmte
ſchleſiſche Provinz ſchon ſeit Jahren aufſtellte: freien Verkehr für die
alltäglichen Unterhaltsmittel in den Grenzorten, freie Einfuhr der ſchle-
ſiſchen Leinengarne, die in Böhmen verwebt und dann zurückgeſendet
wurden, vor Allem aber Herabſetzung einiger Prohibitivzölle, namentlich
für Gewebe. Doch dazu gehörte volkswirthſchaftliche Sachkenntniß, und
jetzt rächte ſich’s wieder, daß der erſte Diplomat des Zollvereins, Eich-
horn in das Cultusminiſterium verſetzt war. Von den oberſten Räthen
des auswärtigen Amts vermochte keiner die handelspolitiſchen Folgen der
Einverleibung ſicher zu beurtheilen. Die Kaufmannſchaften oder die zu-
nächſt betheiligten Gewerbtreibenden wollte man auch nicht befragen, weil
der Aprilvertrag ja zunächſt tiefgeheim bleiben ſollte. So geſchah es, daß
Canitz die handelspolitiſche Frage, die er durch rechtzeitiges Drängen ſicher
entſcheiden konnte, vorläufig in der Schwebe hielt.
An Zeit fehlte es wahrlich nicht; denn der Wiener Hof, der anfangs
[549]Krakauer Freihandel. Graf Arnim in Wien.
ſo eifrig vorgegangen war, zeigte ſich jetzt ſehr bedachtſam, weil er den Ein-
ſpruch der Weſtmächte fürchtete. Preußen und Rußland zogen ihre Truppen
aus Krakau zurück, auch die drei Reſidenten kehrten heim, die Stadt wurde
vorläufig von öſterreichiſchen Regimentern bewacht; denn die drei Mächte,
die ſich, etwa mit dem gleichen Rechte wie die Schutzmächte Griechenlands,
les puissances créatrices et protectrices de Cracovie nannten, wollten
der Welt unzweifelhaft beweiſen, daß ihr Schützling augenblicklich gar keine
Regierung mehr beſäße.*) Gleichwohl ließ Metternich den ganzen Sommer
verſtreichen ohne die Geſandten Preußens und Rußlands zu der verab-
redeten Conferenz zu berufen; er ſagte weiſe: zum Bekennen der Grund-
ſätze bin ich immer raſch bereit, aber zum Handeln warte ich die rechte
Zeit ab.**)
Im Juli beſuchte König Friedrich Wilhelm den öſterreichiſchen Staats-
kanzler auf der Durchreiſe in Königswart, und hier bot ſich ganz von
ſelbſt die Gelegenheit, Preußens handelspolitiſche Forderungen unbedingt
und nachdrücklich auszuſprechen. Sie blieb unbenutzt; das politiſche Ge-
ſpräch bewegte ſich nur um die preußiſche Verfaſſungsfrage. Erſt nachher,
am 28. Auguſt, ſendete der König an Metternich einen jener unglück-
lichen, gemüthvollen Briefe, wodurch er ſchon ſo oft klare diplomatiſche
Geſchäftsſachen verdunkelt hatte. Er wünſche, ſo ſchrieb er, in Krakau
den beſtehenden Zuſtand, alſo auch die Handelsfreiheit bis zu einer neuen
Uebereinkunft zu erhalten, er wolle jedoch „im Vertrage bleiben und nicht
abſpringen“ und überlaſſe dem Wiener Hofe vertrauensvoll, den rechten
Zeitpunkt für die Einverleibung zu beſtimmen. Metternich antwortete
(27. Sept.) mit einigen nichtsſagenden Betheuerungen: „Heute iſt der
Moment der Handlung noch nicht gekommen. Ich habe die Herren noch
nicht einmal um mich verſammelt und bitte Ew. Maj. Sich auf jeden Fall
auf mich zu verlaſſen, denn ich gehöre nicht zu denjenigen welche Ver-
trauen zu mißbrauchen die Gefahr laufen.“***)
Zu allem Unglück war Preußen augenblicklich in Wien wieder ſo
ſchlecht vertreten wie einſt in den böſen Tagen des Fürſten Hatzfeldt. Unter
einer ſchwachen Regierung pflegt die Diplomatie Nationalſtolz und Selbſt-
vertrauen ſchnell zu verlieren, nirgends ſchneller als im fremdbrüderlichen
Deutſchland. Canitz’s Nachfolger, Graf Arnim, ein behaglicher Lebemann
und Feinſchmecker, bekannt unter dem Namen des Kuchen-Arnim’s, hatte
als Geſandter in Paris viele Freundlichkeit erfahren, weil er dem Bürger-
könige immer nach dem Munde ſprach; jetzt an der Donau befreundete
er ſich ebenſo raſch mit der k. k. Politik. Alltäglich erſchien er Morgens und
Abends in der Staatskanzlei, jeder Ausſpruch Metternich’s war ihm heilig.
Arnim wurde angewieſen, zunächſt die drei Punkte jener Denkſchrift —
[550]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
den Krakauer Packhof, die freie Durchfuhr, die Eiſenbahn — durchzuſetzen,
ſodann in gründlicher Verhandlung noch andere Entſchädigungen für den
preußiſchen Verkehr auszubedingen; der endgiltigen Einverleibung ſollte
er keinenfalls eher zuſtimmen als wenn die handelspolitiſche Frage zu
Preußens Befriedigung geordnet ſei. Er verſtand aber von volkswirth-
ſchaftlichen Dingen nicht das Mindeſte und that auch gar nichts um ſich
zu belehren.
Zu Ende Octobers erklärte Metternich plötzlich, nachdem er dem drän-
genden ruſſiſchen Geſandten ſo lange widerſtanden hatte: jetzt ſei der rechte
Augenblick für die Einverleibung gekommen. Die Zeit war gut gewählt,
denn die Weſtmächte hatten ſich eben in dieſen Tagen wegen der ſpaniſchen
Thronfolgefrage dermaßen entzweit, daß ein gemeinſamer thatkräftiger
Widerſpruch von ihnen nicht zu erwarten ſtand; überdies meldete der com-
mandirende k. k. General aus Krakau in einem kläglichen Berichte, der na-
türlich beſtellte Arbeit war: die Ordnung laſſe ſich ſchlechterdings nicht mehr
aufrecht halten, die förmliche Einverleibung nicht länger mehr hinausſchieben.
Je ängſtlicher der Wiener Hof bisher gezögert hatte, um ſo raſcher ſchritt
er nunmehr an’s Werk: er hoffte durch die vollendete Thatſache zugleich die
Weſtmächte zu überraſchen und das argloſe Preußen zu betrügen. Was war
die Geſchichte des Zollvereins anders als eine Kette öſterreichiſcher Nieder-
lagen? Jetzt galt es Rache zu nehmen für ſo viele Schmach und dem
preußiſchen Nebenbuhler gerade auf dem handelspolitiſchen Gebiete, wo er
bisher immer ſiegreich geweſen, eine empfindliche Beſchämung zu bereiten.
Durch dieſe fröhliche Hoffnung fühlte ſich Metternich wie verjüngt; mit
ungewohnter Entſchloſſenheit bereitete er Schlag auf Schlag die Entſchei-
dung vor. In den erſten Novembertagen berief er Arnim und Medem
zur Conferenz. Am 6. Nov. gab er dem Preußen die ſchriftliche Zuſicherung,
daß Oeſterreich die drei Punkte jener Denkſchrift annehme.*) Ueber alles
Weitere — ſo ſagte er gemüthlich, und der Ruſſe ſtimmte zu — könnten
Oeſterreich und Preußen ſich ja ſpäterhin noch verſtändigen. Arnim ließ
ſich durch dies ſanfte Gerede gewinnen, obgleich er ſoeben noch aus Berlin
die erneute Weiſung erhalten hatte, er ſolle die Einverleibung ablehnen,
ſo lange nicht die Zuſagen des April-Protokolls erfüllt und die Handels-
fragen geordnet wären.**) Noch am ſelben Tage unterzeichneten die drei
Bevollmächtigten ein Protokoll, das nochmals ausſprach, die Schutzmächte
befänden ſich in „der Nothwendigkeit, eine Schöpfung nicht wieder in’s Leben
zu rufen und nicht wieder herzuſtellen, welche, nachdem ſie die Langmuth
ihrer Begründer erſchöpft, ſich ſelber aufgelöſt hat.“ Daraufhin wurde
der Vertrag vom 3. Mai 1815, der die Republik begründet hatte, zurück-
genommen und förmlich verfügt, daß ihr Gebiet, wie vor dem Jahre 1809,
[551]Wiener Vertrag. Einverleibung Krakaus.
wieder mit der öſterreichiſchen Monarchie vereinigt werden ſollte.*) Wenige
Tage nachher verkündigte Kaiſer Ferdinand öffentlich die Beſitzergreifung und
im Januar wurde das k. k. Mauthſyſtem im Krakauer Gebiete eingeführt.
Die preußiſche Regierung war plump überliſtet und ſah ſich zudem dem ge-
rechten Vorwurfe ausgeſetzt, daß ſie die Intereſſen ihres Landes thöricht
preisgegeben hätte.
Die einzig mögliche Antwort auf ein ſo unerhörtes Verfahren war
die Abberufung des pflichtvergeſſenen Geſandten. An Arnim’s nichtige
Unterſchrift brauchte ſich die Krone nicht zu binden; freilich hatte ſie ihre
ſchärfſte Waffe ſchon ſelbſt aus der Hand gegeben, da ihre Truppen im
Sommer aus Krakau abgezogen waren. Der König aber fand es unritter-
lich, die Zwietracht im Lager der Oſtmächte vor aller Welt zu bekunden,
eben jetzt da die geſammte öffentliche Meinung Weſteuropas über die neue
Theilung Polens zürnte. Graf Arnim blieb, ſtreng getadelt, auf ſeinem
Poſten; er bat flehentlich um Verzeihung und ſuchte ſich zu entſchuldigen,
indem er alle die Märchen über den Krakauer Handel, die ihm die Oeſter-
reicher vortrugen, gedankenlos nachſprach. Man ſagt mir nach, ſo ſchrieb
er gemüthsruhig, daß Metternich mich in der Taſche hätte; das hat man
aber auch von allen früheren preußiſchen Geſandten hier behauptet.**) Er
erhielt Befehl, ſofort Verwahrung einzulegen und ſich weitere Anträge vor-
zubehalten. Aber die Unterſchrift wurde nicht zurückgezogen, das Wiener
Protokoll beſtand mithin zu Recht. Das Spiel war verloren; verſpätete
Beſchwerden konnten nur zu neuen Beſchämungen führen. Als bewährter
Diplomat war Canitz anfangs mit großen Hoffnungen begrüßt worden;
jetzt zeigte ſich doch, daß der König auch diesmal nicht den rechten Mann
gefunden hatte. Der geiſtreiche Miniſter begann ſeine neue Laufbahn mit
einer ſchimpflichen Niederlage, und während ſeiner geſammten Thätigkeit
im Auswärtigen Amte ſollte ihn das Unglück unabläſſig verfolgen.
Der Czar ſtand in dieſem Streite von vornherein auf Seiten Oeſter-
reichs. Ihm lag allein an der Bändigung des Polenthums; was kümmer-
ten ihn die Intereſſen der Volkswirthſchaft? Ich weiß es wohl, ſagte er
zu Rauch, die preußiſchen wie die ruſſiſchen Unterthanen müſſen unter der
Einverleibung leiden, aber Geldrückſichten gelten nichts neben der politiſchen
Nothwendigkeit. „Bei ſeiner Freundſchaft“ beſchwor er den König, dieſen
Zank nicht weiter zu treiben, die Eintracht der Oſtmächte nicht zu ſtören.
Wie zum Hohne fügte er hinzu, Preußen hätte ſeine Forderungen früher
durchſetzen ſollen — obgleich ſein eigener Geſandter auf der Wiener Con-
ferenz ſoeben gerathen hatte, die deutſchen Mächte möchten ſich über die
Handelsfrage nachträglich verſtändigen!***) Alſo von beiden Kaiſermächten
[552]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
mißhandelt, erging ſich Canitz in leeren Drohungen: Sollte die Grenz-
ſperre wirklich eintreten, „ſo würde nichts übrig bleiben als ein Appell an
die Mit- und Nachwelt durch offene Darlegung der Verhandlungen.“
Und als das Gefürchtete doch geſchah, da jammerte er wie ein unſchuldig
beſtrafter Muſterſchüler: „Trotz dieſem Verfahren, welches wir uns gegen
keinen mediatiſirten Fürſten erlauben würden, haben wir den Fremden gegen-
über treulich feſtgehalten, weil wir Europa nicht den Skandal und unſeren
Feinden nicht den Triumph geben wollten, daß man uns ſo ſchmählich be-
handelt hätte.“*) Metternich konnte ſeine Schadenfreude kaum verbergen.
Er ſchrieb an den Geſandten in Berlin ſcheinbar verwundert (7. Jan.
1847): was denn die Preußen eigentlich noch wollten? Oeſterreich hätte ja
die drei Punkte jener preußiſchen Denkſchrift angenommen und damit
Alles erledigt. Wir ſind, meinte er trocken, zu gar keiner Entſchädigung
verpflichtet, da die Handelsverluſte ſich nothwendig aus der Einverleibung
ergeben. Darauf erwiderte Canitz: „man kann uns den Vorwurf der Un-
vorſichtigkeit machen; wir hätten die königlichen Truppen nicht zu früh zu-
rückziehen, wir hätten in die Beſitznahme nicht einwilligen ſollen;“ jedoch
wir haben uns auf die Ehrenhaftigkeit des Staatskanzlers verlaſſen, der
unſerem Monarchen verſprochen hatte ſein Vertrauen nicht mißbrauchen zu
wollen.**)
Im diplomatiſchen Verkehre iſt aber Unklugheit nicht blos ein Ver-
ſtandesfehler, ſondern ein ſittliches Verbrechen. Metternich konnte dieſe
unwürdigen Klagen nur mit geringſchätzigem Hohne vernehmen. Unter-
deſſen brach in Preußen, ſeit die Einverleibung bekannt wurde, ein Sturm
der Entrüſtung aus. Die Berliner Kaufmannſchaft, die Breslauer Bürger,
auch die großen Hüttenbeſitzer Schleſiens, die Grafen Hochberg und Renard,
beſchworen den Miniſter, für den zerſtörten Krakauer Handel mindeſtens
einige Zoll-Erleichterungen zu verlangen. Das Handelsamt ſtimmte ihnen
bei; die Zollvereinsregierungen ſprachen ebenfalls ihre Beſorgniſſe aus. Der
Oberbürgermeiſter von Breslau, Pinder eilte ſogar nach Wien um die
Intereſſen ſeiner Bürgerſchaft zu vertreten. Dort war im December auch
ein Unterhändler des Auswärtigen Amts eingetroffen, Legationsrath von
Kamptz, der ganz aus der Art geſchlagene Neffe des alten Demagogen-
verfolgers, ein junger Beamter von gründlicher handelspolitiſcher Sach-
kenntniß und freier nationaler Geſinnung. Der Unglückliche ſollte nach-
träglich erlangen was leider ſchon verloren war; er wurde von vornherein
mit einer Ungezogenheit behandelt, wie man ſie unter dem alten Könige
nie gewagt hatte, und bald ſogar als Demagog verdächtigt. Zur Unter-
handlung verwendete Metternich erſt den aller Handelspolitik unkundigen
Bundesgeſandten Münch, den geſchworenen Preußenfeind, der ohne ſich
[553]Streit um die Krakauer Mauth.
auf irgend eine ſachliche Erörterung einzulaſſen, immer betheuerte: „Oeſter-
reich und Preußen geſpannt, das heißt die Welt aus ihren Fugen treiben“
— nachher den Dr. Hock, einen tüchtigen Nationalökonomen, der aber im
Staatsdienſte noch eine ſo untergeordnete Stellung einnahm, daß er wichtige
Geſchäfte unmöglich abſchließen konnte. Kamptz merkte bald: man wollte
ihn nur hinhalten. Er fragte bitter: „ob es Preußens Aufgabe iſt, ſich
mit den Anſichten an der Donau und Newa, ſelbſt auf Koſten des
inneren häuslichen Friedens und des Vertrauens der übrigen deutſchen
Staaten, unter allen Umſtänden conform zu halten … Wahrlich, wir
haben noch viel zu thun wenn wir das wieder werden wollen, was wir
geweſen ſind.“ Nach faſt zwei Monaten, zu Ende Januar 1847, reiſte
Kamptz unverrichteter Dinge heim; er fürchtete geradezu, bei längerem
Verweilen ausgewieſen zu werden.*) Im Auswärtigen Amte wurde noch-
mals erwogen, ob man nicht Arnim abberufen, den diplomatiſchen Verkehr
mit dem Wiener Hofe abbrechen ſolle;**) aber was konnte das alles noch
fruchten, nachdem das Wiener Protokoll unterzeichnet, die Einverleibung
Krakaus vollzogen war?
Nach einigen Wochen peinlicher Spannung fand Metternich das rechte
Mittel um die erzürnten Preußen zu beſchwichtigen. Seit Langem ſchon
plagte ihn der Berliner Hof mit Plänen für deutſche Bundesreform, für
deutſches Poſt-, Maß- und Münzweſen — lauter Gedanken, die der Staats-
kanzler als Utopien des „Nationalismus“ ſtill belächelte, aber auch nicht
gradehin ablehnen wollte. Nun ſchickte er im März 1847 ſeinen ver-
trauten Hofrath v. Werner nach Berlin um eine ganz allgemein gehaltene
Denkſchrift über eine mögliche deutſch-öſterreichiſche Handelseinigung vor-
zulegen. Das Auswärtige Amt war angenehm überraſcht. Selbſt Kamptz
der tief gekränkte rieth: jetzt müſſe man zuerſt dieſe wichtige nationale
Frage erledigen; gelinge das, dann falle die Krakauer Sache von ſelbſt
hinweg. Canitz aber ſchrieb glückſelig an Werner: „ſenden Sie uns bald
einen Mann hierher, mit dem wir über die Verkehrsverhältniſſe im All-
gemeinen verhandeln können, ſo ſoll er von Krakau gar nichts zu hören
bekommen.“***) Die große Handelseinigung ging, wie Metternich voraus-
geſehen, den Weg aller Bundesreformen, ſie löſte ſich bald in Rauch auf;
aber der Krakauer Streit war begraben.
Der Wiener Hof hielt ſein Mauthweſen, das einer Grenzſperre nahe
kam, aufrecht, er erfüllte ſogar die drei beſcheidenen der preußiſchen Re-
gierung gewährten Bedingungen unredlich: da fortan alle für Oeſterreich
beſtimmten Waaren ſofort an der Grenze verzollt wurden, ſo verlor das
[554]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Krakauer Freilager jeden Werth für den ſchleſiſchen Handel. Die deutſchen
Kaufleute ſchloſſen zumeiſt ihre Commanditen, und die alte Krönungsſtadt,
dieſe herrliche Schöpfung des deutſchen Bürgerthums, die mit ihren Erker-
bauten ſo lebhaft an die oſtdeutſchen Städte Leipzig, Eger, Breslau er-
innerte, in ihren Kirchen noch die Königsgräber von Veit Stoß und ſo
viele andere Denkmäler deutſcher Kunſt bewahrte, verfiel jetzt ganz den
Polen und den Juden. Die Vernichtung der letzten Heimſtätte ſar-
matiſcher Unabhängigkeit beförderte alſo am letzten Ende das Erſtarken des
polniſchen Volksthums. Schleſien aber berechnete ſeinen Verluſt auf
Millionen, und der Unmuth hallte noch in den Bewegungen des Revo-
lutionsjahres nach. Ebenſo ſchwach zeigte ſich der Berliner Hof auch gegen
Rußland. Paskiewitſch, der brutale Statthalter in Warſchau verlangte
1846, daß ihm künftighin polniſche Staatsverbrecher kurzerhand auf das
Geſuch der ruſſiſchen Geſandtſchaft hin ausgeliefert werden ſollten. Die
preußiſche Regierung verweigerte die vertragsmäßige Auslieferung nicht,
ſie forderte nur für jeden einzelnen Fall ein rechtskräftiges Urtheil oder
eine gerichtliche Anklageſchrift. Nach langem Sträuben gewährte ſie jedoch
ſelbſt dies letzte Zugeſtändniß, das einem ſolchen Nachbarn gegenüber mehr
als leichtſinnig war. Und das Alles geſchah unter einem Monarchen, der
die Polen bis zur Schwärmerei liebte. —
Gegen das Ausland hielten die drei Theilungsmächte einträchtig zu-
ſammen, weil ſie wohl fühlten, daß ſie nicht auf unantaſtbarem Rechtsboden
ſtanden. Allerdings war das Krakauer Gebiet während des Befreiungs-
krieges durch Rußland erobert und dann, weil man ſich nicht anders zu
einigen wußte, durch die drei Theilungsmächte allein als eine neutrale Re-
publik neu geſtaltet worden; aber die Haupt-Artikel des Vertrages über die
Neutralität und Unabhängigkeit Krakaus hatten nachträglich auch Aufnahme
in die Schlußakte des Wiener Congreſſes (Art. 6 ff.) gefunden. Was be-
deutete dies für das Völkerrecht? Die Oſtmächte behaupteten, der von
ihnen geſchaffene Freiſtaat könne auch durch ſie allein vernichtet werden;
die anderen Unterzeichner der Congreßakte dürften nur verlangen, über
ſolche Aenderungen amtliche Nachricht zu erhalten. Dieſe auch von dem
conſervativen Bonner Juriſten Perthes in einer verſtändigen Druckſchrift
vertheidigte Anſicht entſprach dem Völkerrechte; denn die Congreßakte ent-
hielt auch noch eine Menge anderer Einzelverträge, von denen mehrere
ſchon durch freiwillige Uebereinkunft der Vertragſchließenden anſtandslos
abgeändert worden waren; überdies ſtand der Krone Frankreich gewiß
kein Einſpruchsrecht zu, weil die Sieger ſich im Pariſer Frieden ausdrück-
lich vorbehalten hatten, über die Vertheilung der eroberten Gebiete allein
ohne Frankreichs Mitwirkung zu entſcheiden. Immerhin ließen ſich mit
einigem Scheine Rechtsbedenken erheben, da die Unabhängigkeit Krakaus
doch in den Wiener Verträgen verbürgt war. Um ſo unanfechtbarer
waren die politiſchen Gründe, welche die Oſtmächte zwangen, einer diplo-
[555]Krakau und die Weſtmächte.
matiſchen Mißgeburt, die man niemals hätte ſchaffen ſollen, endlich den
Garaus zu machen; und mit gutem Grunde wiederholte Metternich be-
ſtändig: stat pro voluntate necessitas.
Wenn die Weſtmächte gegen ſolche Nothwendigkeit die Heiligkeit der
Wiener Verträge anriefen, ſo handelten ſie von Haus aus unredlich; denn
dieſe Verträge hatte Frankreich durch die Juli-Revolution, England durch die
Anerkennung Belgiens gröblich verletzt, und kein denkender Kopf durfte jetzt
noch verkennen, daß die Weltgeſchichte vor dieſer papierenen Schranke nicht
ewig ſtill halten konnte. Und wie frech hatten beide Weſtmächte gegen das
Völkerrecht geſündigt durch die langjährige Begünſtigung der polniſchen Ver-
ſchwörer. Dafür gab es gar keine Entſchuldigung. Die Verſailler Centrali-
ſation trieb ihr Unweſen ungeſcheut dicht vor der Thür der Tuilerien — was
die conſervativen Pariſer Blätter ſelbſt rügten — und vor Kurzem erſt hatte
der ehrliche Radicale Duncombe im Parlamente enthüllt, daß die engliſche
Regierung das Recht der Brieferbrechung nicht nur beſaß, ſondern auch
handfeſt ausübte;*) es lag alſo allein an ihrem böſen Willen, wenn die
polniſchen Rebellen unbehelligt blieben. Schon im März 1846, gleich
nach der Beſetzung Krakaus mahnte Guizot die drei Höfe ſalbungsvoll an
„die Achtung vor den Verträgen, eine der feſteſten Grundlagen der conſer-
vativen Politik“.**) Nach der Einverleibung legte er (4. Dec.) im Namen
Frankreichs feierliche Verwahrung ein: „Frankreich könnte ſich einer That
freuen, welche ihm nach dem Rechte der Gegenſeitigkeit erlauben würde,
künftighin nur noch der weitſichtigen Berechnung ſeiner Intereſſen zu
folgen. Und doch iſt es Frankreich, das an die treue Beobachtung der
Verträge die Mächte erinnert, welche daraus die größten Vortheile gezogen
haben“ — und ſo weiter noch ein langer Wortſchwall.***) Mit vollem
Rechte ſpottete Canitz über dieſe „rauhe Rechtſchaffenheit“. Er wußte,
welche unſauberen Ränke der tugendſtolze franzöſiſche Miniſter ſoeben in
Madrid trieb; er wußte auch wie Ludwig Philipp ſelbſt über Guizot’s
Sittenpredigten dachte. Eifriger denn je bewarb ſich der Bürgerkönig
jetzt um die Gunſt des Wiener Hofes, da er in Spanien mit Englands
Feindſchaft zu ringen hatte. Mit ſeiner gewohnten plebejiſchen Derbheit
ſagte er zu Apponyi: Ich habe nie etwas Dümmeres geſehen als die
Republik Krakau. Sie war das Seitenſtück zu jener lächerlichen Phraſe
von der polniſchen Nationalität in unſerer Kammer, welche meine Miniſter
trotz meinem Drängen nie zu bekämpfen den Muth hatten.†)
Auch dem engliſchen Cabinet lagen die ſpaniſchen Händel weit näher
als der Krakauer Streit, der ja gar kein britiſches Intereſſe berührte.
[556]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Als ergebener Diener der öffentlichen Meinung mußte Palmerſton freilich,
da die Polen und die Juden zur Zeit die verwöhnten Lieblinge der Lon-
doner Preſſe waren, ſich an dem nationalen Sport betheiligen und ſagte
im Parlamente ſchon im Auguſt: wenn die Wiener Verträge an der
Weichſel nichts mehr gelten ſollen, dann gelten ſie auch nichts am Rhein
und am Po! Aber zu gleicher Zeit beſprach er „als guter Freund“ mit
Brunnow: was denn aus dieſer Krakauer „Fliege“ werden ſolle. Man
kam gemüthlich dahin überein, England müſſe proteſtiren ſobald die Ein-
verleibung erfolgt ſei, und der Ruſſe ſchloß verbindlich: Sie brauchen eine
parlamentariſche Deckung; wir werden Ihnen ſeiner Zeit genügendes Ma-
terial liefern.*) Tief erbittert durch Guizot’s ſpaniſche Umtriebe, wollte
der Lord die zärtliche Freundſchaft der Ruſſen jetzt am wenigſten zurück-
weiſen. Auch der König von Preußen bemühte ſich wieder eifrig, ſein
England zu den conſervativen Mächten hinüberzuziehen und ließ deßhalb
durch Leopold Ranke eine Denkſchrift ausarbeiten; ſein Wunſch war, man
ſollte ſich mit dem Londoner Hofe noch vor der Einverleibung glatt verſtän-
digen. Ganz ſo weit kam man doch nicht. Als die Wiener Conferenz ihre
Beſchlüſſe gefaßt hatte, ſprach Palmerſton (23. Nov.) den Oſtmächten ſein
Bedauern aus über eine Verletzung der Verträge, „die durch keine ge-
nügende Nothwendigkeit gerechtfertigt wäre“. Die Sanftmuth dieſer Vor-
würfe ſtach wunderlich ab von dem groben Tone, welchen der Lord ſonſt
in ſeinen Proteſtnoten anzuſchlagen liebte. Mit Frankreich zuſammen-
zugehen kam ihm nicht in den Sinn. Vielmehr rühmte er ſich vor Bunſen:
„die drei Mächte werden ſehen, wie freundſchaftlich ich in der Krakauer
Sache gehandelt und wie ernſt ich die heimtückiſchen Vorſchläge des fran-
zöſiſchen Cabinets beantwortet habe.“**)
Sogar der alte grimmige Ruſſenfeind Lord Ponſonby ſagte zu Met-
ternich: man möge nur ſchnell handeln, durch die vollendete Thatſache
der Einverleibung Alles erledigen — und König Friedrich Wilhelm ſchrieb
vergnügt an den Rand des Berichts: Noël! Noël! Ouf!***) Nach Alle-
dem konnte das unvermeidliche parlamentariſche Wehgeſchrei die Oſtmächte
nicht mehr beunruhigen. Als die beiden Häuſer im Januar 1847 wieder
zuſammentraten, zeigte Palmerſton „ſeinem theueren Brunnow“ den Satz
der Thronrede, der von Krakau handelte, und änderte auf Wunſch des
Ruſſen einige Worte. Die drei Geſandten fanden jedoch die Stelle, trotz
der Milderung, noch ziemlich ſcharf, und Brunnow ſchrieb dem Lord in
Freundſchaft: wir Drei wollen lieber nicht (rather not) zur Eröffnung
des Parlaments erſcheinen, ſo vermeiden wir einen peinlichen Depeſchen-
wechſel.†)
[557]Schwäche der Weſtmächte.
Engliſcher als die engliſchen Miniſter zeigte ſich Bunſen. Der glaubte
Alles was die Londoner Preſſe ſagte und verſicherte im Ernſt, ſeit
Napoleon’s Gewaltthaten hätte nichts mehr die britiſche Nation ſo furcht-
bar erbittert; er wußte nicht, daß Oeſterreich die Krakauer Frage zuerſt
angeregt hatte, und klagte entrüſtet, dieſer vergiftete Biſſen ſei durch Ruß-
land dem Wiener Hofe dargereicht.*) Statt die reiflich erwogene Rechts-
anſchauung ſeiner Regierung gegen das Ausland treu zu vertheidigen
ſchickte er nach Berlin eine lange Denkſchrift, welche ſich ganz dem ober-
flächlichen Gerede der engliſchen Zeitungen anſchloß und den Beweis zu
führen ſuchte, daß alle Unterzeichner der Congreßakte über Krakaus Zu-
kunft zu entſcheiden hätten.**) Dem Vertrauten des Königs mußte man
viel nachſehen. Die Fülle dieſer freiwilligen Bunſen’ſchen Denkſchriften,
die ſich nicht blos über England***), ſondern über ganz Europa mit lehr-
hafter Sicherheit ausſprachen, wurde jedoch auf die Dauer dem lang-
müthigen Miniſter furchtbar. Als praktiſcher Diplomat war er dieſem
Geſandten doch immer noch weit überlegen, und er ſchrieb endlich ſanft:
„Zuweilen wandelt mich der Gedanke an: ob nicht einſtens einmal ein
Hiſtoriker, wie z. B. Ranke, über unſere Akten kommen und nachſehen könnte,
wie dieſe mit den Zeitungen übereinſtimmen oder was noch außerdem über
die Geſchichte unſerer Tage zu finden wäre? Kämen nun einem ſolchen
Manne die von Ew. Exc. über die engliſchen, franzöſiſchen, ſpaniſchen
und polniſchen Fragen eingereichten Denkſchriften in die Hände, ſo würde
er, nachdem er ſich des Fundes erfreut und ihn exploitirt hätte, vielleicht
doch auch darnach fragen, was der damalige Miniſter der Ausw. A. dazu
geſagt habe? Scheint es nicht zuweilen, als ob es noth gethan habe, den
Verblendeten zu warnen, daß er nicht Alles verderbe und Preußen aus
einer glänzende Ausſichten gewährenden Stellung in eine verzweiflungs-
volle bringe, als ob er inmitten aller Gefahren, welche franzöſiſche Erobe-
rung, ruſſiſche Unterdrückung, öſterreichiſche Hemmniſſe und allſeitiges Miß-
trauen dem Vaterlande drohen, taubſtumm und lahm da geſtanden hätte?“†)
In ſolcher Lage konnten die Oſtmächte ſtolz und ſicher auftreten.
Canitz entwickelte in einem Rundſchreiben an die Geſandtſchaften (29. Nov.),
was den König zu ſeinem Verfahren bewogen habe. Er ſchloß mit der
zuverſichtlichen Behauptung, daß in Poſen gar kein Stoff zu einem Auf-
ſtande vorhanden, alle Unruhe nur von außen hereingetragen ſei, und
„daß es folglich für uns von der größten Wichtigkeit iſt, einen Heerd dieſer
Umtriebe an den Grenzen der preußiſchen Lande nicht zu dulden oder
vollends ihn als Schutz- und Pflegebefohlenen neu wieder aufzubauen,
[558]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
nachdem er ſich im Uebermaß rebelliſcher Frechheit ſelbſt zerſtört hatte“.*)
Aehnlich ſagte Metternich in mehreren Rundſchreiben, dieſe Republik habe
ihre Begründer gezwungen nur noch zu bedenken was ſie ſich ſelbſt und
ihren Völkern ſchuldig ſeien; er ſtellte ſogar die kühne Behauptung auf:
„Die Congreß-Akte wird in Folge des Krakauer Ereigniſſes nur zu ge-
winnen vermögen!“**) Neſſelrode betonte namentlich, daß die polniſchen
Flüchtlinge den Freiſtaat von vornherein verfälſcht und darauf mit eigenen
Händen zerſtört hätten.***) Als die drei Mächte dann nochmals (4. Jan.
1847) in gleichlautenden Depeſchen ihre Anſicht vertheidigt hatten war
der diplomatiſche Kampf zu Ende. Die Redeſchlachten, die nunmehr noch
in Paris und London entbrannten, bedeuteten nichts mehr. Die Welt
begann des polniſchen Rührſtücks ſatt zu werden; Lord Bentinck, Disraeli
und einige andere beherzte Torys wagten auch ſchon einzugeſtehen, daß
ihnen die politiſche Nothwendigkeit des Gewaltſtreiches einleuchtete.
Trotz dieſes leichten diplomatiſchen Erfolges fühlten ſich die beiden
deutſchen Großmächte beunruhigt. Was ſie auch ſagen mochten — durch die
gewaltſame Vernichtung eines allgemein anerkannten europäiſchen Staates
wurde das unwandelbare legitime Recht, zu dem ſie ſich ſelber ſo oft feier-
lich bekannt hatten, gröber verletzt als durch irgend eine der Revolutionen
und Gebietsveränderungen des letzten Menſchenalters. Daher bemächtigte
ſich der kleinen deutſchen Höfe eine wohl begreifliche Angſt. Auf feſterem
Rechtsboden als weiland Krakau ſtanden Meiningen und Sondershauſen
nicht, und die Macht ſich ſelber zu behaupten beſaßen ſie eben ſo wenig.
Einige der kleinen Bundesgeſandten befragten in ihrer Herzensangſt ſchon
den Vertreter Frankreichs Chaſſeloup-Laubat.†) Metternich empfand ſelbſt,
in welche Widerſprüche er gerathen war. Um die erſchreckten Kleinen zu
beſchwichtigen und zugleich ſich ſelber vor aller Welt das Zeugniß unwandel-
barer Ueberzeugungstreue auszuſtellen entwarf er nun einen Plan, den
ihm nur die ſtarre Selbſtgerechtigkeit ſeines Greiſenalters eingeben konnte.
Er verabredete mit Canitz nach langen Verhandlungen eine Erklärung fol-
genden Inhalts: „Jeder rechtsgiltig geſchloſſene Vertrag hat den Werth
gegenſeitig gelobter Treue … Ihre Majeſtäten können jedoch keineswegs
einräumen, daß ein Vertrag beſtehen könne ohne jene Verknüpfung gegen-
ſeitiger Rechte und Verbindlichkeiten, noch daß die Grenzen dieſer Rechte
und Verpflichtungen willkürlich über den Bereich der Betheiligten hinaus
erweitert oder durch Einmiſchung Nichtbetheiligter beſchränkt oder verſchoben
werden dürfen.“††)
[559]Der Bundestag und Krakau.
Dieſe Erklärung ſollte der Bundestag billigen, wie einſt die Beſchlüſſe
des Congreſſes von Verona, obgleich der Deutſche Bund an den Krakauer
Händeln unmittelbar gar nicht betheiligt war. Aber die Zeiten von Troppau
und Verona waren vorüber. Mochte Canitz immerhin verſichern, die Er-
klärung erſcheine nöthig, weil „der Deutſche Bund für die Bewahrung des
Völkerrechts eine ſichere Stätte darbiete“*) — die deutſchen Höfe fühlten
doch richtig heraus, wie phariſäiſch eine ſolche Verherrlichung gelobter Treue
klang eben in dem Augenblicke, da die Wiener Verträge unzweifelhaft ge-
ändert wurden, und alle zitterten für ihr eigenes Daſein. Die bairiſche
Regierung wollte ſchließlich zuſtimmen, „da das Weſentliche des Deutſchen
Bundes vorzugsweiſe in der Gegenſeitigkeit der Vertragsrechte begründet
ſei,“ aber ſie fügte zugleich den unzweideutigen Wunſch hinzu: „daß eine
ſpecielle Billigung deſſen, was hinſichtlich des Freiſtaats Krakau geſchehen,
ausgeſchloſſen bleibe, und daß daher die Anerkennung der von Oeſterreich
und Preußen aufgeſtellten Grundſätze nur in ihrer Anwendung auf die
Verhältniſſe des Deutſchen Bundes ausgeſprochen werde.“**) Auch der
ſächſiſche Miniſter Zeſchau ſagte dem k. k. Geſandten Kuefſtein aufrichtig:
ich verkenne die Nothwendigkeit des Geſchehenen nicht; ich erwarte aber
„die gegen Krakau angewendete Maßregel wird gegen keinen anderen Staat
angewendet werden, und wäre er auch der kleinſte.“ Darauf betheuerte
ihm Metternich heilig „die tiefe Ehrfurcht des Kaiſers vor jedem urkund-
lich verbrieften Rechte“ und ſprach die Hoffnung aus, der Deutſche Bund
würde „ſich mit Oeſterreich und Preußen in der lauten Huldigung für die
ewigen Grundſätze des Völkerrechts vereinigen“ — leere Worte, die dem
ehrlichen Sachſen in ſolchem Augenblicke wie freche Heuchelei klingen
mußten.***)
Canitz ſelbſt ſchämte ſich im Stillen; er ſagte traurig: wir können
den Zollvereinsregierungen nicht von Vertragstreue ſprechen ſo lange der
Wiener Hof das Krakauer Zollweſen ganz nach Willkür handhabt.†) Aus
allen deutſchen Landen meldeten die Geſandten übereinſtimmend, wie
ſchwierig die Stimmung ſei; die Conſervativen klagten überall noch lauter
als die liberalen Polenfreunde, das alte Syſtem der unwandelbaren Legi-
timität ſprach ſich ja ſelbſt das Todesurtheil.††) Ganz einverſtanden waren
von allen Regierungen der Mittelſtaaten nur vier: Hannover, die beiden
Heſſen und der König von Württemberg, der jetzt nur noch an die Be-
kämpfung der Revolution dachte.†††) Es bedurfte noch mannichfacher ver-
[560]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
traulicher Zureden, bis der Präſidialgeſandte am 17. Juni 1847 endlich
wagen konnte, die Erklärung der beiden Großmächte dem Bundestage förm-
lich vorzulegen. Den Abſtimmungen ließ ſich zumeiſt deutlich anmerken, wie
ungern ſie gegeben wurden; der Beſchluß lautete ganz unbeſtimmt dahin,
daß der Bund „die Darlegung der Grundſätze gewiſſenhafter Heilighaltung
der Verträge“ mit Dank und voller Zuſtimmung vernommen habe. Die
gereizte Stimmung der Tagenden verſchärfte ſich noch, als der Vorſitzende
zum Schluß eine Zuſchrift des ruſſiſchen Geſandten verlas, welche die
Zuſtimmung des Czaren zu den Grundſätzen der deutſchen Großmächte
erklärte. So ganz im Veroneſer Stile wollte ſich der Bundestag doch
nicht mehr mißhandeln laſſen. Er begnügte ſich, ohne Dank „die volle
Würdigung“ der Grundſätze des ruſſiſchen Kaiſers „auszudrücken“, und
beſchloß ſchließlich gar, dieſe ganze Verhandlung in einem geheimen Pro-
tokolle zu vergraben.*) Die Veröffentlichung des Protokolls wurde den
beiden Großmächten anheimgeſtellt. Sie erfolgte zwar, aber man beachtete
ſie kaum. Die Abſichten des Wiener Hofes waren faſt ganz vereitelt;
ſtatt einer feierlichen Zuſtimmung des geſammten Deutſchlands hatte er
nichts erreicht als eine faſt ironiſch klingende Erklärung über die Heilig-
haltung der Verträge. Es ging abwärts; Metternich’s Künſte verfingen
nicht mehr, nicht einmal am Bundestage. Bald nachher wurde das König-
reich Polen in die ruſſiſchen Zollinien aufgenommen — eine Gewaltthat,
die ſich aus den früheren Ereigniſſen nothwendig ergab und der polniſchen
Volkswirthſchaft ſogar Vortheil brachte, aber auch von Neuem bewies, was
von der Vertragstreue der Oſtmächte zu halten war. —
Im ganzen Verlaufe dieſer polniſchen Unruhen hatten die drei Thei-
lungsmächte ihren politiſchen Charakter unzweideutig offenbart. Im ruſſi-
ſchen Polen regierte die Fauſt; die Wenigen, die ſich einer Schilderhebung
erdreiſteten, wurden gehenkt oder ſie verſchwanden — vielleicht in Sibirien.
In Oeſterreich ſah die Regierung ſtumpfſinnig mit an, wie das wüthende
Landvolk die polniſchen Rebellen todtſchlug. In Poſen wurde der Auf-
ſtand faſt ohne Blutvergießen unterdrückt, und die Maſſe des Volks blieb
ſtill. Auf Beſitz und Bildung geſtützt ſchritt das Deutſchthum, trotz allen
polniſchen Umtrieben noch immer unaufhaltſam vorwärts. Erſt weit ſpäter,
etwa ſeit 1861, trat der tragiſche Rückſchlag ein. Durch Preußens Schu-
len, Preußens Gewerbefreiheit, Preußens Agrargeſetze erzogen, wuchs all-
mählich in Stadt und Land ein polniſcher Mittelſtand empor, der ſeine
Wohlthäter mit dem unvermeidlichen hiſtoriſchen Undank belohnen ſollte.
Vorderhand ſchien das Deutſchthum noch einer großen Zukunft ſicher.
Merkwürdig nun, wie die polniſchen Wirren jetzt zum zweiten male
in die Geſchichte der preußiſchen Juſtizgeſetzgebung entſcheidend eingriffen.
Unter Friedrich Wilhelm II. war einſt das längſt zurückgelegte frideri-
[561]Oeffentliches Verfahren. Der Polenproceß.
cianiſche Allgemeine Landrecht ſchließlich nur darum veröffentlicht worden,
weil die neuen, durch die Theilung Polens erworbenen Provinzen ſchlechter-
dings ſofort einer geordneten Rechtspflege bedurften. Dem jetzigen Könige
lag das Schickſal der 254 angeklagten Polen, welche die Unterſuchungs-
commiſſion aus der Maſſe der Verhafteten ausgeſondert hatte, ſchwer auf
dem Herzen; er wollte ihnen die Wohlthat einer öffentlichen und münd-
lichen Verhandlung gewähren, um das Verfahren abzukürzen und vor
aller Welt zu zeigen, daß in Preußen allein das Recht entſcheide. Be-
rathungen über die Einführung des öffentlichen Strafverfahrens ſchwebten
in den beiden Juſtizminiſterien ſchon ſeit Jahren; aber erſt der polniſche
Aufruhr erzwang die längſt als nothwendig erkannte Reform. Auf Wunſch
des Monarchen ließ der zweite Juſtizminiſter Uhden, während Savigny
in ſeinen gelehrten Forſchungen verſunken war, einen Geſetzentwurf aus-
arbeiten, kraft deſſen das öffentliche Verfahren zunächſt bei den Berliner
Gerichten eingeführt werden ſollte. Unzweifelhaft war es freilich nicht,
ob dies geplante Geſetz auf den Polenproceß, der vor das Kammergericht
gehörte, alsbald angewendet werden konnte; er war ja ſchon vor Monaten
in Poſen eingeleitet, und durfte man Geſetze mit rückwirkender Kraft er-
laſſen? Der Prinz von Preußen, dem jede Verdunkelung des Rechts
entſetzlich war, ſprach denn auch ſeine Bedenken lebhaft aus: „Dergleichen
übereilte Schritte, die ſogar nach Willkür ausſehen, haben in unſeren
Tagen unberechenbaren Einfluß und ſind auf’s Sorgfältigſte zu vermeiden.“
In gleichem Sinne äußerte ſich der alte Kammergerichts-Präſident Kleiſt.*)
Der König aber ward in ſeinen großmüthigen Abſichten nicht beirrt und
unterzeichnete das Geſetz am 17. Juli 1846. Er wünſchte die Entſchei-
dung zu beſchleunigen, und ſeine Miniſter ſahen voraus, daß die pol-
niſchen Verſchwörer in der Achtung der Welt nur verlieren konnten wenn
ſie ſich öffentlich verantworten mußten.**)
Im März 1847 wurden die Ergebniſſe der ſchwierigen Unterſuchung
dem Staatsanwalt des Kammergerichts mitgetheilt, und am 2. Auguſt be-
gann im Saale des neuen Moabiter Zellengefängniſſes der große Polen-
proceß, die erſte öffentliche Gerichtsverhandlung in Preußens alten Pro-
vinzen, ein Ereigniß von „beſonderer Bedeutung für uns, für Europa,
für die Welt“, wie der Vertheidiger Deycks pathetiſch ſagte. Die Zuhörer
drängten ſich in Maſſen ſchon zur frühen Morgenſtunde herbei und er-
wieſen nach Kräften den Angeklagten ihre Huld, da jeder aufgeklärte Ber-
liner verpflichtet war die polniſchen Rebellen zu lieben. Der Hauptſchul-
dige Mieroslawski hatte ſich ſchon in der Unterſuchungshaft durch den
klugen Polizeidirector Duncker, den Schrecken der Berliner Spitzbuben,
umfaſſende Geſtändniſſe entlocken laſſen und mußte nun vor dem Gerichte
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 36
[562]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ziemlich aufrichtig reden, was ihm die Mitangeklagten ſehr verargten. Der
langmüthige Gerichtshof erlaubte ihm ſogar — gegen das Geſetz — fran-
zöſiſch zu ſprechen; denn dieſer Führer der polniſchen Nation war der
polniſchen Sprache wirklich nicht ganz mächtig und er berechnete ſchlau,
daß eine franzöſiſche Rede doch von einem Theile der beifallsluſtigen Zu-
hörer verſtanden würde, während ein polniſcher Vortrag, ſatzweiſe ver-
dolmetſcht, Alle langweilen mußte. Die prachtvollen Schlagworte, die er
nunmehr mit hochtheatraliſchen Armbewegungen in fließendem Franzöſiſch
vorbrachte, waren freilich mehr für polniſche Schlachtizen geeignet, als
für überkluge Berliner, die das Alles ſchon aus den Zeitungen kannten.
Da fehlte weder der verfluchte Mutterſchooß, der der Unterdrückung ein
Opfer gebar, noch der Rabe der Verleumdung auf dem polniſchen Kreuze,
noch die Nation, die ein ganzes Jahrhundert hindurch mit Galle und
Eſſig getränkt am Kreuze ſchmachten mußte. Gegen Preußen hatte Mieros-
lawski gar nichts Arges im Schilde geführt; die Einnahme der Feſtung
Poſen ſollte ihm ja nur als Mittel dienen um das ruſſiſche Polen zu
erobern. Sehr rührſam führte er aus, welche ſchöne Rolle die Preußen
ſpielen könnten, wenn ſie ſich entſchlöſſen, zur Entſchädigung für die ihnen
zugefallenen polniſchen Länder, die übrigen den Polen zurückzuerobern:
„Preußens Zukunft muß ſich befreunden mit der Auferſtehung einer Macht,
welche einzig im Stande iſt das drohende Ungeheuer des Panſlavismus
aufzuhalten.“
So ſtimmte dieſer Todfeind Preußens das Sirenenlied an, das ſeit-
dem bis zum heutigen Tage nach mannichfachen Weiſen den gutmüthigen
Deutſchen immer wieder vorgeſungen wurde. Zum Glück richtete der
Marquis Wielopolski eben jetzt an Metternich einen offenen Brief, der
das genaue Gegentheil ausſprach und, nach heftigen Anklagen gegen die
elende öſterreichiſche Regierung, zu dem Schluſſe gelangte: die Polen hätten
nur dann noch eine Zukunft, wenn ſie ſich der großen Familie des Pan-
ſlavismus anſchlöſſen, wenn ſie, ſtatt ihr Land durch eine thörichte Emi-
gration zu ſchwächen, friedlich arbeitend daheim blieben um ſich zur rechten
Zeit unter die Führung ihrer großmüthigſten Feinde, der Romanows,
unter das gemeinſame Banner des ſlaviſchen Volksthums zu ſtellen. Dieſer
offene Brief kam den demokratiſchen Poſener Schlachtizen ſehr ungelegen,
aber bei den Magnaten des ruſſiſchen Polens galt der reiche Marquis
weit mehr als Mieroslawski, und auch unter dem Warſchauer Kleinadel
beſaß der Panſlavismus viele Anhänger. Welchem der beiden polniſchen
Apoſtel ſollten die Deutſchen nun Glauben ſchenken? Gegen ſolche Nach-
barn war wachſame Strenge die einzig mögliche Politik.
Mieroslawski’s Schickſalsgenoſſen verſcherzten ſich das Mitleid, das
politiſchen Verbrechern immer entgegenkommt, ſelber durch würdeloſe Ver-
logenheit. Offenbar nach Verabredung leugneten ſie faſt Alles ab, und die
anfangs überfüllten Zuhörerbänke leerten ſich gegen das Ende der Verhand-
[563]Verurtheilung der Poſener Aufſtändiſchen.
lungen, die bis zum 17. Nov. währten, gänzlich. Das eintönige Schauſpiel
halsſtarriger, dummdreiſter Verneinung und gründlicher Ueberführung
mußte deutſche Hörer zuletzt anwidern. Perſönliche Theilnahme erregten
nur Dr. Libelt, ein geſcheidter, bleicher, kleiner Mann, den die Polen ihren
Patriarchen nannten, und der feurige junge Niegolewski; ſonſt zeigten
Alle die gleiche flache Leichtfertigkeit. Bei Manchen, die ſchon von dem
alten Könige Begnadigung erbettelt und erhalten hatten, erſchien die Un-
treue ſchlechthin ekelhaft. Der Sachverhalt ſtellte ſich klar heraus: un-
zweifelhaft hatte eine weitverzweigte, ganz thörichte, aber auch ganz ge-
wiſſenloſe Verſchwörung den Plan verfolgt, Poſen und Weſtpreußen von
der Monarchie loszureißen. Der Präſident Koch und die übrigen Richter
bewahrten eine ruhige Würde, die ſich von dem leidenſchaftlichen Tone
der politiſchen Proceſſe Frankreichs auffällig unterſchied. Auch die Staats-
anwaltſchaft wurde durch den liberalen Geh. Rath Wentzel ſehr ſtattlich
vertreten. Unter den Vertheidigern zeichnete ſich Anwalt Deycks durch
ſeine maßloſe Sprache aus, er ſagte geradezu, der preußiſche Staat hätte
die Verbrecher wie das Verbrechen erſt geſchaffen. Ruhiger redeten An-
walt Lewald, ein erklärter Gegner der „Germaniſirungspolitik“, und der
kluge Crelinger aus dem Jacoby’ſchen Freundeskreiſe; ſie alle ſuchten zu
beweiſen, daß die Polen nur dem Beiſpiele der Preußen ſelbſt gefolgt ſeien,
denn Dank der liberalen Mythenbildung war die Thatſache ſchon halb
vergeſſen, daß der deutſche Befreiungskrieg nicht ein Aufſtand, ſondern ein
regelmäßiger Krieg geweſen war. Am 2. Dec. verkündete der Gerichtshof
das Urtheil. Er gab den Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts eine ſehr
milde, durchaus nicht unbeſtreitbare Auslegung und wollte keinen Hoch-
verrath annehmen, weil die gewaltſame Abreißung einiger Landestheile doch
nicht gradehin als Umwälzung der Staatsverfaſſung zu betrachten ſei;
darum erkannte er nur auf ſchweren Landesverrath. Acht der Angeklagten
wurden zum Tode, 109 zu Zuchthaus- und Feſtungsſtrafen verurtheilt,
116 wegen mangelhafter Beweiſe von der Unterſuchung entbunden und
nur 18 gänzlich freigeſprochen.
Wenn der König jetzt der Gerechtigkeit freien Lauf und mindeſtens
dem frivolen Führer der Rebellen den Kopf vor die Füße legen ließ, ſo
konnte er dem Lande Poſen vielleicht Ströme unſchuldigen Blutes erſparen.
Mieroslawski ſelbſt erwartete auch nichts Anderes. Er bat nicht um Gnade,
wie man bei Hofe hoffte, ſondern ſagte rund heraus: der König muß mich
hinrichten laſſen, ich habe mich zu ſchwer gegen ihn vergangen; läßt man
uns frei, ſo fangen wir wieder an, ich wenigſtens ganz gewiß! Zu ſolcher
Strenge wollte der weichherzige Monarch ſich nicht entſchließen; er ahnte
auch nicht, wie es in Poſen ſtand, er wußte nicht, daß die durch die un-
blutige Niederlage keineswegs entmuthigten Polen ſich die Hände rieben
und zuverſichtlich ſagten: Blut läßt der gute König doch nicht fließen!
Die Verurtheilten blieben vorläufig in Haft, und ſchon nach wenigen
36*
[564]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Monaten ſollte Preußen abermals erfahren, wie die Polen der deutſchen
Großmuth dankten. —
Ueber die polniſchen Händel hatte ſich Deutſchlands öffentliche Mei-
nung noch kein ſicheres Urtheil gebildet; nationaler Stolz und fremdbrüder-
licher Schwachſinn hielten einander noch die Wage. Als aber jetzt auch
unſere Nordmark durch die Gewaltſtreiche des Auslandes bedroht wurde,
da regte ſich das jugendliche Selbſtgefühl der Nation in ſchönem Ein-
muth. Im December 1839, kurz vor dem König von Preußen, war der
greiſe Friedrich VI. von Dänemark geſtorben, und hier wie dort begann
mit dem Thronwechſel eine neue Zeit. Der Verſtorbene war der erſte
rein däniſch geſinnte König des Inſelreichs geweſen, aber ein ruheſeliger
Herr, dem die Parteien den Frieden ſeiner alten Tage nicht gern ſtören
mochten. Unter ſeinem Nachfolger Chriſtian VIII. brauſten die mühſam
verhaltenen nationalen Wünſche ſofort kräftig auf.
Auch König Chriſtian, der Zögling Hoegh-Guldberg’s, fühlte ſich ganz
als Däne, obgleich er den Werth deutſcher Bildung wohl zu ſchätzen
wußte. Ein ſchöner Welt- und Lebemann, Freund des Prunkes, der
Tafel, des witzigen Geſprächs, bezauberte er Alles durch ſeine einſchmei-
chelnde Liebenswürdigkeit, wenn ihn nicht einmal das hitzige Blut über-
mannte. Als langjähriger Präſident der Akademie hatte er ſich große Ver-
dienſte um die Pflege der Künſte erworben, die Naturforſcher ſchätzten ſeine
mineralogiſchen Schriften über den Veſuv; mit vielen Gelehrten wechſelte
er Briefe, Freiherr v. Rumohr, der Gaſtronom und Kunſtkenner, behagte
ihm am beſten. Manche Züge dieſes beweglichen, vielſeitig empfänglichen
Geiſtes erinnerten an Friedrich Wilhelm IV., der ihm auch perſönlich
theuer und durch den gemeinſamen Freund Rumohr nahe verbunden
war. In den erſten Tagen der Hoffnung ſagte Humboldt froh, zwei
ſolche Könige ſeien würdig ſich gegenſeitig zu ſchätzen. Aber an die um-
faſſende Bildung und die Gedankenfülle Friedrich Wilhelm’s reichte der
geiſtreiche Däne doch nicht heran; Dilettant in Allem, beſaß er auch die
Herzensgüte des Deutſchen nicht, und während dieſer nur zuweilen durch
die phantaſtiſche Ueberſchwänglichkeit ſeiner Reden den Eindruck der Schau-
ſpielerei erweckte, ſuchte König Chriſtian wirklich durch berechnete Bühnen-
künſte zu blenden und zu berücken. Wenn er alljährlich in rothſammtener
Phantaſie-Uniform, bedeckt mit glitzernden Ordensſternen, zur Eröffnung
der Sitzungen des oberſten Gerichtshofs fuhr, dann erſchien er ganz wie ein
Theaterkönig. Die wohlfeilſten Effecte verſchmähte er nicht: zu dem Stu-
denten Rudolf Schleiden, der in Nyborg wegen eines harmloſen, unpo-
litiſchen Duells auf der Feſtung ſaß, trat er plötzlich in’s Zimmer, wie
der Gott aus der Maſchine, um feierlich die Begnadigung zu verkünden.
[565]Chriſtian VIII.
Niemand beherrſchte ihn, denn er glaubte etwas von der geheimnißvollen
Königskunſt, der Kingscraft der Stuarts zu beſitzen, und ſah mit ſtillem
Hochmuth auf die kleinen Sterblichen hernieder. Der Cabinetsſekretär Adler,
der ihn von Jugend an auf allen Irrwegen ſkandinaviſcher Politik be-
gleitet hatte, blieb ſein einziger Vertrauter. Vor kühnem Wagen und raſchen
Entſchlüſſen ſchrak er zurück, aber mit zäher Geduld hielt er ſeine ge-
heimen Pläne feſt um ſie, liſtig die Schwäche der Menſchen benutzend, nach
und nach zu verwirklichen. Ihm fehlte die Ehrfurcht vor dem Rechte,
der Glaube an die ſittlichen Mächte der Geſchichte und darum auch das
Verſtändniß für die nationalen Empfindungen ſeiner Völker.
So war er trotz ſeiner diplomatiſchen Verſchlagenheit doch kein Staats-
mann; er dachte ein anderer Waldemar Attertag zu werden, und ſein acht-
jähriges Regiment bereitete die Kämpfe vor, welche den däniſchen Geſammt-
ſtaat zerſchlagen ſollten. Er hatte ſich einſt durch feines Spiel die nor-
wegiſche Königskrone für wenige Monate errungen und damals, allerdings
nicht ganz freiwillig, die Verfaſſung unterzeichnet, welche fortan das Ideal
aller liberalen Skandinavier blieb. Auch nachher ſtand er noch lange im
Rufe radicaler Geſinnung, weil er auf einer Reiſe zufällig in die neapoli-
taniſche Revolution hineingerathen und dort den Verhandlungen der Carbo-
nari nicht ohne Freude gefolgt war.*) In reiferen Jahren gelangte er zu
einer Weltanſchauung, die ſich mit den Ideen König Friedrich Wilhelm’s
nahe berührte. Die Hegel’ſche Philoſophie hielt er für gemeingefährlich,
obgleich er ſelbſt wenig religiöſe Empfindung beſaß; unſchädlicher ſchienen
ihm die frommen naturphiloſophiſchen Träumereien ſeines Landsmanns
Steffens. Als Erbe der däniſchen Alleingewaltsherrſcher wünſchte er eine
freie ſtarke Krone, die durch ſtändiſchen Beirath nur wenig, nur ſo weit es die
Stimme der Zeit durchaus verlangte, beſchränkt werden durfte; und da die
däniſchen Provinzialſtände den preußiſchen nachgebildet waren, ſo entſchloß
er ſich auch den ſtändiſchen Reformplänen ſeines preußiſchen Freundes
Schritt für Schritt zu folgen. Wie dieſer dachte er erſt Vereinigte Aus-
ſchüſſe zu bilden, nachher einen Vereinigten Landtag für die geſammte
Monarchie. In einem ſolchen Reichstage konnte der König theilend herrſchen,
er konnte die Parteien und die Nationen wider einander ausſpielen, den
Radicalismus ſeiner Dänen durch die conſervative Geſinnung der Schleswig-
holſteiner, das Deutſchthum der Herzogthümer durch das Dänenthum der
Inſeln niederhalten.
Alle dieſe Entwürfe ſchwebten aber in der Luft, ſo lange der Beſtand
des Geſammtſtaates ſelber nicht geſichert war; die Sorge um die Thron-
folge drängte ſich dem Könige gebieteriſch auf, ſeit die Auguſtenburger ihre
Erbanſprüche auf Schleswigholſtein öffentlich angekündigt hatten.**) Chri-
[566]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſtian’s einziger Sohn Friedrich blieb kinderlos; auch die zweite Ehe des Kron-
prinzen mußte, gleich der erſten, nach wenigen Jahren getrennt werden, weil
die Gemahlin die Roheit des Gatten nicht zu ertragen vermochte, und er
weigerte ſich, zum dritten male eine fürſtliche Heirath zu wagen.*) Außer
ihm lebte nur noch ein königlicher Prinz, der bejahrte kinderloſe Bruder
Chriſtian’s. Starb Kronprinz Friedrich dereinſt, dann erloſch nach menſch-
lichem Ermeſſen die königliche Linie und der däniſche Geſammtſtaat barſt aus
einander; denn in den Herzogthümern gebührte die Thronfolge nach altem
Landesrecht dem Mannesſtamme, den Auguſtenburgern, in Dänemark nach
dem Königsgeſetze dem Weiberſtamme. Wenn der König dieſe Gefahr von
ſeinem Reiche abwenden wollte, ſo mußte er die eine der beiden erbberechtigten
Linien zu freiwilligem Verzicht bewegen, und nach den Ueberlieferungen ſeines
Hauſes wie nach allen Berechnungen der Staatsklugheit konnte er eine
ſolche Zumuthung nur dem Weiberſtamme ſtellen. Im vergangenen Jahr-
hundert hatte der geſammte Norden, Rußland wie die drei Kronen Skan-
dinaviens, dem Hauſe Holſtein-Oldenburg angehört; jetzt waren Schweden
und Norwegen verloren, und es erſchien wie ein dynaſtiſcher Selbſtmord,
wenn ein oldenburgiſcher König auch noch verſuchte, ein dem Norden fremdes
Fürſtengeſchlecht auf den däniſchen Thron zu erheben.
Nächſter Erbe aus dem Weiberſtamme war — möglicherweiſe, aber
nicht gewiß, da die cognatiſche Erbfolge immer unſicherer bleibt als die agna-
tiſche — des Königs Schwager, der Gemahl der Prinzeſſin Charlotte, Land-
graf Wilhelm und, nach deſſen Ableben, ſein Sohn, Landgraf Friedrich
von Heſſen, ein eitler, leerer junger Menſch, der, ernſten Männern und
ernſten Geſprächen abhold, ſeine Zeit in ſchalen Vergnügungen vergeudete
und in Kopenhagen gar nichts galt. Ueberdies war Landgraf Friedrich
auch rechtmäßiger Thronfolger in Heſſen-Kaſſel, und wie konnte ein däniſcher
König wünſchen, die ſchwierigen Verhältniſſe ſeines Geſammtſtaats durch
eine Perſonal-Union mit Kurheſſen noch mehr zu verwirren? Bei dem
ſprichwörtlichen Geize des Hauſes Brabant ſchien es keineswegs unmöglich,
den Heſſen ihre noch nicht unzweifelhaften Erbanſprüche mit einem guten
Stück Geldes abzukaufen und alſo alle Länder der däniſchen Monarchie
unter dem Mannesſtamme des Hauſes Oldenburg zuſammenzuhalten.
Verſchaffte man dem Landgrafen durch die Gnade der deutſchen Großmächte
gar noch den Titel eines Königs von Heſſen, die heiß erſehnte Kattenkrone,
dann war nahezu ſicher, daß er auf Dänemark verzichtete, während die
Auguſtenburger wieder und wieder erklärt hatten, daß ſie ihre Anſprüche
auf Schleswigholſtein niemals aufgeben würden.**)
So einfach lagen die Dinge, wenn der König unbefangen rechnete.
[567]Die däniſche Erbfolge.
Hier aber zeigte ſich wieder, wie ſtark die leitenden Männer und ihre perſön-
lichen Empfindungen in das Schickſal der Völker eingreifen. Chriſtian
hegte gegen den Herzog von Auguſtenburg einen tiefen, menſchlich wohl
entſchuldbaren Haß und liebte ebenſo herzlich ſeine ehrgeizige, ränke-
ſüchtige Schweſter, die abgeſagte Feindin Schleswigholſteins, Landgräfin
Charlotte. Ihr zu Liebe beſchloß er, den Geſammtſtaat unter dem Hauſe
Heſſen aufrecht zu halten. Was galt ihm das Recht? er traute ſich’s zu,
das unmögliche Ziel auf krummen Wegen zu erreichen. Um den heſſiſchen
Verwandten einen mächtigen Schutz zu ſichern bewirkte er, daß Landgraf
Friedrich eine Tochter des Czaren, Großfürſtin Alexandrine heirathete.
Der feine Plan wurde freilich durch das Schickſal vereitelt. Die Groß-
fürſtin ſtarb nach kurzer Ehe, gleich nach dem Tode ihres einzigen Kindes
und der Landgraf ließ alsbald die Verſteigerung ihres Nachlaſſes an-
kündigen; Nikolaus aber konnte den öffentlichen Skandal nur durch geheime
Abkaufung verhindern, er vergaß dem Heſſen dies Probeſtück unfürſtlichen
Geizes niemals und zeigte ſeitdem nur wenig Theilnahme für die Anſprüche
des kinderloſen Schwiegerſohnes.
In der inneren Politik verfuhr der neue König zunächſt ſehr behut-
ſam: er wollte es mit keiner Partei ganz verderben und doch immer die
Entſcheidung in der eigenen Hand behalten. Die Bitten um Preßfreiheit
und Erweiterung der ſtändiſchen Rechte, die ihm gleich nach der Thron-
beſteigung aus dem Königreiche wie aus den Herzogthümern zukamen, wies
er gnädig zurück. Die alten Privilegien Schleswigholſteins wurden jedoch
ausdrücklich beſtätigt, und zum allgemeinen Erſtaunen erhielt ſogar der
Bruder des Herzogs von Auguſtenburg, Prinz Friedrich v. Noer den Ehren-
poſten des Statthalters der Herzogthümer, der gut deutſch geſinnte Graf
Joſeph Reventlow-Criminil den Vorſitz in der ſchleswigholſteiniſchen Kanz-
lei. Aber gleichzeitig bewieſen andere, wichtigere Maßregeln, daß Chriſtian
ſeine deutſchen Lande Schritt für Schritt daniſiren wollte. Die alten
Regimenter wurden in Bataillone aufgelöſt, die hiſtoriſchen Fahnen mit
den herzoglichen Wappen überall durch den Danebrog verdrängt, ein Theil
der ſchleswigholſteiniſchen Truppen nach Jütland und den Inſeln verlegt.
Die Offiziere ſollten fortan nicht mehr in ihrem Regimente, ſondern in
der ganzen Armee aufrücken, und da die Deutſchen ohnehin das Kopen-
hagener Cadettenhaus nur ſelten beſuchen wollten, ſo beſtand binnen Kurzem
die große Mehrheit des Offiziercorps aus Dänen, wie auch die Marine
durchweg däniſche Offiziere beſaß. Statt der dringend erbetenen Landes-
bank erhielten die Herzogthümer nur eine Filiale der däniſchen Reichs-
bank in Flensburg; mehr wagte man nicht. Zugleich wurde das däniſche
Reichsbankgeld eingeführt, der König ſcheute ſich jedoch, einen zwingenden
Befehl auszuſprechen; darum hielten die Schleswigholſteiner hartnäckig an
ihren lübiſchen Schillingen feſt und ſendeten die däniſchen Kupfermünzen
in ſolchen Maſſen nach dem Teutoburger Walde, daß Bandel ſeinem Her-
[568]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
mann einen Arm anſchmieden konnte. Während Preußen den Eintritt
Schleswigholſteins in den Zollverein wünſchte und deshalb mehrmals ver-
traulich anfragte, dachte Chriſtian vielmehr die uralte Zollgrenze zwiſchen
Jütland und den Herzogthümern aufzuheben um alſo die wirthſchaftliche
Einheit ſeines Geſammtſtaats zu begründen; doch auch dieſer Verſuch ge-
langte nicht über Vorarbeiten hinaus. Ebenſo wurde die geplante Errich-
tung einer gemeinſamen oberſten Kirchen- und Schulbehörde bald wieder
aufgegeben, weil die Deutſchen widerſtrebten.
Wie wenig kannte der König ſeine Dänen, wenn er ſie durch ſolches
Taſten zu befriedigen wähnte. Gleich der Windsbraut raſte die ent-
feſſelte nationale Leidenſchaft über das Inſelreich dahin. Es war, als
ob das ſtolze, von ſeiner alten Macht ſchon ſo tief herabgeſunkene kleine
Volk den nahen letzten Sturz ahnte und ſich mit krampfhafter Anſtrengung
auf der Höhe zu halten ſuchte. Wunderbar, wie dieſe im bürgerlichen
Leben ſo achtbare däniſche Nation jetzt in ihrem wilden Deutſchenhaſſe alle
Scham, allen Anſtand verleugnete: als die Holſten (1840) ihren Volks-
helden Gerhard den Großen, ein halb Jahrtauſend nach ſeinem Tode,
durch ein Standbild ehren wollten, da trat in Dänemark ein Verein zu-
ſammen, der alles Ernſtes vorſchlug, dem Mörder Gerhard’s dem Dänen
Niels Ebbeſen in Randers ein Denkmal zu ſetzen. Die junge Partei der
Eiderdänen verbreitete ſich bald über das ganze Land. Ein Dänemark von
der Eider bis zum Sund, einig in Sprache, Sitte, Recht — ſo hieß die
Loſung. An Holſtein wollten ſich die Eiferer vorerſt noch nicht heranwagen,
weil ſie den Widerſpruch des Deutſchen Bundes fürchteten; vielleicht daß
ſpäterhin auch dies deutſche Land noch in den erſtarkten däniſchen Einheits-
ſtaat eintreten konnte. Schleswig aber ſollte ſofort einverleibt, gänzlich
daniſirt und als „Morgengabe“ Gammel Dannemarks dem Bunde der drei
Kronen Skandinaviens dargebracht werden. Der alte Gedanke der Kal-
mariſchen Union, der doch immer wieder an dem ſtarken Nationalhaſſe der
drei „Brudervölker“, an der Eiferſucht ihrer Hauptſtädte geſcheitert war,
erwachte auf’s Neue; mancher der jungen Schwärmer dachte insgeheim,
das Haus Bernadotte des volksbeliebten, liberalen Königs Oskar von
Schweden würde die Oberherrſchaft in der ſkandinaviſchen Union erlangen.
In dem Entſchluſſe, das Deutſchthum Schleswigs auszurotten, die
Verbindung der beiden deutſchen Herzogthümer zu zerreißen war die ganze
Partei einig; und drohend rief Orla Lehmann: „Wir ſind bereit, unſer
altes Dänemark ſowohl gegen das hochverrätheriſche Geſchrei der Nord-
albingier als gegen die ſeekranke Eroberungsluſt aller deutſchen Vogel-
fänger zu vertheidigen. Und ſollte es nöthig ſein, ſo wollen wir mit dem
Schwerte den blutigen Beweis auf ihren Rücken ſchreiben: Dänemark will
nicht!“ Aus Lehmann’s Worten ſprach die wilde Wuth des Renegaten;
er ſelbſt war ein Schleswiger, der Sohn eines angeſehenen ſchleswigholſtei-
niſchen Beamten. Doch um ihn ſchaarte ſich bald Alles, was Dänemarks
[569]Orla Lehmann und die Eiderdänen.
Bürgerthum an aufſtrebenden Talenten beſaß: die unruhige Studenten-
ſchaft der Hauptſtadt, die verſchwiegerten und vervetterten Profeſſoren-
familien, die ſich auch in ihrem Erwerbe beeinträchtigt ſahen, weil die alte
Nebenbuhlerin Kiel allein berechtigt war die jungen Leute für die Aemter
Schleswigholſteins vorzubilden, dann die Kaufleute und Rheder, denen
die Zeitung Fädrelandet als beredtes Organ diente, endlich faſt alle guten
Köpfe aus den Kreiſen der jüngeren Beamten und Offiziere. Der ge-
lehrte Philolog Madvig, der Hauptmann Tſcherning, die Theologen Clauſen
und Monrad zeichneten ſich durch ihren Fanatismus aus; ſie alle ſprachen
aus tiefer Ueberzeugung und mit dem frohen Bewußtſein, auf der Höhe der
Zeit zu ſtehen.
Wie die Eiderdänen über das hiſtoriſche Recht der deutſchen Herzog-
thümer dreiſt hinwegſtürmten, ſo verlangten ſie auch für ihren däniſchen
Einheitsſtaat eine radicale Neugeſtaltung. Dieſelben demokratiſchen Kräfte,
welche vor hundertundachtzig Jahren durch die Kopenhagener Revolution
das Königsgeſetz geſchaffen, den Adel der Krone unterworfen hatten,
trachteten jetzt die Alleingewaltherrſchaft des Königsgeſetzes durch einen
ſchrankenloſen Parlamentarismus zu verdrängen. Das Vorbild Norwegens
und die Schriften der altbefreundeten Franzoſen wirkten auf die Ideen
dieſer jungen ſkandinaviſchen Demokratie kräftig ein; Mancher hoffte auch
wohl im Herzen, einen Theil der Deutſchen Schleswigholſteins durch
den Zauber liberaler Glückſeligkeit zu gewinnen. Da der Adelshaß im
däniſchen Landvolk tief eingewurzelt und der Name des königlichen „Volks-
freundes“ Chriſtian’s II. noch unvergeſſen war, ſo ſpendeten auch zahl-
reiche Bauernverſammlungen den Freiheitslehren der radicalen Haupt-
ſtadt ihren Beifall. Die ganze Bewegung zeigte von Haus aus das lär-
mende, rauſchende Weſen, das der lebensluſtigſten Stadt Nordeuropas
zuſagte. Zweckeſſen und Bankette, Verſammlungen und Feſtgelage, Er-
innerungsfeiern und Aufzüge drängten ſich in raſcher Folge; ſogar die
Todtenfeier für Thorwaldſen wurde ſo ganz im Geiſte des ſtreitbaren
Dänenthums gehalten, daß die Schleswigholſteiner ſich unmöglich betheiligen
konnten. In Schaaren zogen die Studenten über den Sund um ſich mit
den ſchwediſchen Commilitonen zu verbrüdern; dann erwiderten die Schweden
den Beſuch, feſtlich begrüßt von Orla Lehmann’s neuer Skandinaviſcher
Geſellſchaft. Auf der großen ſkandinaviſchen Naturforſcherverſammlung
feierte der Prinz von Canino, ein Napoleonide, der ſich der internationalen
Demokratie in die Arme geworfen hatte, die Union der drei Kronen des
freien Nordens; und gewaltig brauſte der Jubel auf, als einmal König
Oskar ſelbſt auf einige Tage herüberkam.
Als Orla Lehmann ſeine öffentliche Thätigkeit begann (1837), da trat
ihm der verdiente alte däniſche Hiſtoriker Baden offen entgegen und mahnte
den jungen Mann, er möge ſich bei ſeinem gelehrten Vater unterrichten,
um alſo zu lernen, daß es „eine Sünde“ ſei Schleswig von Holſtein zu
[570]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
trennen. Solche Stimmen der Gerechtigkeit wagten ſich nach wenigen
Jahren ſchon kaum mehr zu äußern. Wohl beſtand noch eine conſervative
Geſammtſtaats-Partei, welche die Monarchie, gleichviel unter welchem Herr-
ſcherhauſe, ungeſchmälert erhalten und die Sonderrechte der Herzogthümer
wenn auch beſchränken, ſo doch nicht zerſtören wollte. Zu ihr gehörten
faſt alle die erfahrenen hohen Beamten, Dänen wie Deutſche; im Volke
aber hatte ſie keine Wurzeln. Führer ohne Heer, konnten dieſe Geſammt-
ſtaats-Männer ſich nur auf den unberechenbaren König ſtützen, der ein-
mal den Aufwiegler Orla Lehmann vor das ſehr mild urtheilende oberſte
Gericht ſtellen ließ und gleichzeitig anderen Wortführern der däniſchen
Propaganda ſein Wohlgefallen ausſprach.
Das nächſte Ziel der Eiderdänen war Nordſchleswig. Um in dieſem
ſtillen Lande däniſche Sprache und Geſittung zu verbreiten wurden in
wenigen Jahren ſechs verſchiedene Vereine gegründet. Ein redefertiger
Bauer Laurids Skau leitete die Umtriebe, er reiſte raſtlos zwiſchen Flens-
burg und Kopenhagen hin und her, ward auch von dem Monarchen ſelbſt
gnädig empfangen; ſieben Kopenhagener Demagogen, die man in Schles-
wig das Siebengeſtirn nannte, ſtanden ihm treu zur Seite. Der Erfolg
blieb lange aus; die ſchwerfälligen, gutmüthigen Bauern Nordſchleswigs
hatten ja gar keinen Grund wider die Deutſchen zu klagen, und ihr
ſchwunghafter Viehhandel verband ſie mit Hamburg. Nach und nach
begann der Same des Unfriedens doch aufzuſprießen. In der äußerſten
Nordoſtecke Schleswigs, auf der Skamlingsbank, einer ſchönen Waldhöhe
am kleinen Belt, die von Jütland und den Inſeln zu Schiff leicht erreicht
werden konnte, pflegte Laurids Skau ſeine großen Volksfeſte abzuhalten;
und mancher harmloſe Bauersmann fühlte ſich bezaubert, wenn dort die
däniſchen Nationallieder erklangen oder der dreieinige Norden in feurigen
Reden verherrlicht oder ein großer däniſcher Patriot mit einem ſilbernen
Trinkhorn beſchenkt wurde. Die däniſche Partei unter dem nordſchles-
wigſchen Landvolke vermochte noch wenig, da dort alle Bildung deutſch
war, aber ſie wuchs langſam an.
Unmöglich konnten die Landtage von dieſer ſtürmiſchen nationalen
Bewegung unberührt bleiben; ſchon bisher hatten ſie, da ſie aus direkten
Wahlen hervorgingen, trotz ihrer beſchränkten Befugniſſe jeden Volks-
wunſch treulich ausgeſprochen. Wenn Preußen ſelbſt, das ſo viel feſter
ſtand, mit ſeinen Provinziallandtagen kaum noch auskam, wie heillos
mußte ſich vollends die Lage dieſes Miſchreichs geſtalten, ſeit ſeine bei-
den däniſchen Landtage gegen die beiden deutſchen ankämpften und der
Welt abermals bewieſen, daß in nationalen Streitigkeiten die Völker ſtets
unduldſamer ſind als die Cabinette. Die Jüten begannen den Angriff.
Als im Schleswiger Landtage (1842) ein däniſch geſinnter Abgeordneter,
der ſchon oft gut deutſch geſprochen hatte, plötzlich däniſch zu reden be-
gann und dafür zur Ordnung gerufen wurde, da legte der jütiſche
[571]Laurids Skau. Allgreen Uſſing’s Antrag.
Landtag zu Viborg eine feierliche Verwahrung ein, die ihm gar nicht
zuſtand. Der Streit währte lange, ſchließlich befahl der König, daß die
ſchleswigſchen Landſtände nur wenn ſie des Deutſchen nicht mächtig wären
däniſch reden dürften, aber die Jüten wurden für ihren verfaſſungs-
widrigen Uebergriff belobt, die Schleswiger wegen ihrer geſetzmäßigen
Abwehr ſcharf getadelt. Nach mehrfachen ähnlichen Häkeleien unterſtand
ſich der Kopenhagener Bürgermeiſter Allgreen Uſſing (Oct. 1844) auf dem
ſeeländiſchen Landtage in Rotſchild zu beantragen: der König möge die
erbliche Unzertrennlichkeit des däniſchen Staats öffentlich ausſprechen und
jeden Angriff dawider verbieten. Der Vorſchlag wurde mit allen gegen
eine Stimme angenommen; auch Miniſter Oerſted, Dänemarks erſter
Juriſt, äußerte ſich im Weſentlichen zuſtimmend, obwohl der Antrag offen-
bar weit über die Befugniß berathender Provinzialſtände hinausſchritt.
Damit kündigten die Dänen dem alten Landesrechte Schleswigholſteins
offene Fehde an; der Beſchluß war um ſo bedenklicher, da er von einem
gemäßigten Geſammtsſtaatsmanne, nicht von einem eiderdäniſchen Demo-
kraten ausging.
Dieſe Uebergriffe der Nachbarn weckten mit einem male die ſchlum-
mernde politiſche Kraft Schleswigholſteins, die ſelbſt durch Lornſen’s
Kühnheit nur leiſe erregt worden war. Wie ruhig hatte man hier in
dem Lande der glücklichen Ehen bisher dahingelebt, jeder zufrieden im
eng bezirkten Kreiſe des Amtes und der Familie, jeder dem anderen be-
kannt, jeder noch im hohen Alter glücklich wenn man ihm nachſagen
konnte, daß er einſtmals im Examen „den zweiten Charakter mit rühm-
licher Auszeichnung“ erlangt hatte. Als aber das „up ewig ungedeelt“
der alten Freiheitsbriefe frech bedroht wurde, da fuhr es wie ein Wetter-
ſchlag in dieſe ſtille Welt, und Deutſchland erfuhr ſtaunend, wie viel
ſtarke Leidenſchaft, wie viel Stolz und Talent in dem tapferen Grenzvolke
lebte. Früherhin hatten die Schleswigholſteiner die Erbfolgefrage, die ja
noch ganz fernab zu liegen ſchien, wenig beachtet; ſelbſt Dahlmann und
Falck lebten lange des Glaubens, daß Schleswig der Thronfolgeordnung
des Königsgeſetzes unterliege. Jetzt begann man einzuſehen, daß grade
die Verſchiedenheit der Thronfolge das rechtliche Mittel darbot um das
Deutſchthum vor däniſcher Tyrannei zu bewahren. Ganz zur rechten
Zeit (1841) gab Georg Beſeler das nachgelaſſene Werk Lornſen’s über
die Unionsverfaſſung heraus, und mächtig mußte die große Weiſe des un-
vergeßlichen Mannes jedes deutſche Herz ergreifen: er verlangte ein ſelb-
ſtändiges, nur durch Perſonalunion mit Dänemark verbundenes Schleswig-
holſtein und dann, ſobald die königliche Linie ausſtürbe, den Eintritt der
befreiten Nordmark in den Deutſchen Bund. Nachher veröffentlichte der
junge Juriſt K. Samwer eine gründliche Unterſuchung über „das Staats-
erbfolgerecht der Herzogthümer Schleswigholſtein“.
Seitdem vereinigten ſich alle Deutſchen in der Meinung, daß allein
[572]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
der Mannesſtamm in den unzertrennlichen Herzogthümern erbberechtigt
ſei. Theodor Olshauſen und ſeine radicalen Freunde hatten lange, ohne
viel Anklang zu finden, im Kieler Correſpondenzblatte die ſeltſame, ganz
unhiſtoriſche Anſicht vertreten, man müſſe Schleswig opfern um Holſtein
deſto feſter mit dem liberalen Deutſchland zu verbinden; doch ſobald die
Angriffe der Dänen bedrohlich wurden, gaben dieſe „Neuholſteiner“ ehren-
haft ihre Sondermeinung auf und ſchaarten ſich um das Banner des
Landesrechts. Das ganze Volk war einig, bis auf einzelne Striche Nord-
ſchleswigs; erſtaunlich ſchnell drang die Bewegung bis in die Maſſen
hinab. Schon im Juli 1844, noch bevor Allgreen Uſſing auftrat, erklang
auf dem ſchleswigſchen Sängerfeſte zum erſten male das Lied von Chem-
nitz: Schleswigholſtein meerumſchlungen, deutſcher Sitte hohe Wacht!
Aus den vier Farben Schleswigs und Holſteins wurde, mit Weglaſſung
der gelben, die neue blauweißrothe Fahne des einen meerumſchlungenen
Landes zuſammengeſetzt — denn drei Farben mußten es ſein, ohne eine
Tricolore konnte ſich dieſe Zeit einen Freiheitskampf nicht vorſtellen —
und ſie tauchte trotz der Verbote immer wieder auf.
Das Land glaubte feſt und ehrlich an ſeine Selbſtändigkeit und
Unzertrennlichkeit, wie an das Thronfolgerecht des Mannesſtammes,
und in der That ſtanden die Erbanſprüche der Auguſtenburger auf ſo
ſicherem Rechtsgrunde als dies irgend möglich war bei Rechten, die in die
verworrene Geſchichte entlegener Jahrhunderte zurückreichten; denn die
alte Untheilbarkeit der Lande war von der Krone Dänemark unzählige
male feierlich beſtätigt, das Königsgeſetz dagegen und ſeine neue Erbfolge-
ordnung niemals in den Herzogthümern als Geſetz verkündet worden.
Ernſthafte Rechtsbedenken ließen ſich eigentlich nur wegen der Herrſchaft
Pinneberg und der Grafſchaft Rantzau erheben. Dieſer Landſtrich Hol-
ſteins, die Umgegend Altonas hatte an der verhängnißvollen Herzogswahl
des Jahres 1460 nicht mit theilgenommen; er hatte damals als freies
Allod einer Seitenlinie der alten ſchauenburgiſchen Grafen angehört, war
dann, bei deren Ausſterben (1640), von der königlichen und der Gottorper
Linie gemeinſam angekauft worden, ſpäterhin, nach mannichfachen Schick-
ſalswechſeln, ganz unter die Herrſchaft der königlichen Linie gekommen und
ſchließlich, 1806, dem Herzogthum Holſtein einverleibt worden. Hier hau-
ſten noch von Altersher der Landdroſt von Pinneberg und der Admini-
ſtrator der Grafſchaft Rantzau, die reichſten unter dem reichen Beamten-
thum des Landes, die man neben dem Amtmann von Reinbeck die drei
Fürſten Holſteins nannte. Hier bot ſich allerdings ein ergiebiges Feld
für ſtaatsrechtliche Doctordiſſertationen, hier ließ ſich in gutem Glauben
der beliebte Juriſtenbeweis führen, daß zwei ganz gleiche Dinge doch wie-
der ganz verſchieden ſind. Es war aber nur menſchlich, daß die Schleswig-
holſteiner ſich um den zweifelhaften verfitzten Rechtszuſtand dieſes Ländchens
nicht kümmerten. In allem Weſentlichen hatten ſie Recht. Nur einzelne
[573]Widerſtand der Herzogthümer. Die Auguſtenburger.
ihrer Heißſporne ſchoſſen über das Ziel hinaus, indem ſie gar noch be-
haupteten, auch in Lauenburg erbe der Mannesſtamm. Davon konnte
im Ernſt nicht die Rede ſein, denn Lauenburg war als Entſchädigung für
Norwegen an Dänemark gekommen und ſtand mithin unzweifelhaft unter
dem Thronfolgerechte der däniſchen Krone. Die Lauenburger wußten dies
ſelbſt; ſie waren in ihrem altſtändiſchen Stillleben niemals durch däniſche
Willkür geſtört worden und ließen ſich von den deutſchen Nachbarn willig
der Schwäche zeihen, weil ſie ſich an einem Kampfe, der ihr Landesrecht
nicht berührte, nur wenig betheiligten.
Der Zorn der Schleswigholſteiner entſprang dem gekränkten Rechts-
ſinne, er ward geſtärkt und geadelt durch eine ſchöne vaterländiſche Empfin-
dung, durch das ſtolze Gefühl, daß dies alte Landesrecht zugleich die Sache
Deutſchlands war. Dynaſtiſche Nebengedanken blieben der Volksbewegung
fremd. Nichts konnte falſcher ſein, als die in der Kopenhagener Preſſe
übliche Beſchuldigung, das Haus Auguſtenburg hätte die Unruhen in den
Herzogthümern angezettelt. Im Jahre 1786 hatte der jüngere Bernſtorff,
da die Zukunft des königlichen Hauſes gefährdet ſchien, die Heirath zwi-
ſchen Herzog Friedrich Chriſtian von Auguſtenburg, dem Gönner Schiller’s,
und einer Tochter Chriſtian’s VII. zu Stande gebracht; der kluge Staats-
mann hoffte dadurch die beiden Linien zu vereinigen und alſo jeden Erb-
folgeſtreit abzuſchneiden. Die Beſorgniſſe, welche man damals hegte, ver-
ſchwanden wieder, als bald nachher ein Thronfolger, der ſpätere König
Chriſtian VIII. geboren wurde. Doch ſeitdem galten die Auguſtenburger
am Kopenhagener Hofe als heimliche Prätendenten und hatten unter der
Feindſeligkeit der Krone viel zu leiden. Sie wachten auch ſehr mißtrauiſch
über ihren Rechten, ſie verwahrten ſich als Holſtein aus dem Verbande
des heiligen Reichs ausſchied — ein Schritt dynaſtiſcher Vorſicht, der
ſpäterhin über Gebühr geprieſen wurde;*) ſie dachten ſogar ernſtlich daran,
ihre Erbanſprüche auf Oldenburg geltend zu machen, als Napoleon das
Fürſtenhaus dort entthront hatte.**) Aus jener däniſchen Ehe ſtammten
der gegenwärtige Herzog Chriſtian Auguſt und ſein Bruder Prinz Friedrich
v. Noer. Söhne einer Dänin, Enkel einer Engländerin hatten ſie Beide
einen Theil ihrer Jugend im Auslande verlebt und ſich jene vaterlands-
loſe Geſinnung, welche ſo viele Mitglieder der großen europäiſchen Für-
ſtengemeinſchaft bethört, von Grund aus angeeignet. Deutſchland blieb
ihnen immer gleichgiltig, und den liberalen Zug der Zeit betrachteten ſie
mit Abſcheu. Das Recht ihres Hauſes war ihnen Eines und Alles. Darum
blieben ſie den däniſchen Verwandten ſtets verdächtig, obgleich Chriſtian VIII.
aus aufrichtiger Neigung ihre Schweſter geheirathet hatte und die gütige
Königin Chriſtine Amalie zwiſchen den Schwägern immer zu vermitteln
[574]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſuchte. In vertrauten Briefen äußerte ſich der Prinz von Noer auf’s
Gröbſte über „unſer ſchwägerliches Schöpsgenie und die übrige Bagage,
die meinetwegen zur Hölle fahren mag“.
Der Herzog beſaß eine gute Bildung, und die Gäſte, die er auf
Gravenſtein oder Auguſtenburg empfing, rühmten die Liebenswürdigkeit
ſeines ehrbaren Hauſes; aber hinter gemeſſenen, weltmänniſchen Formen
verbarg er eine hoffärtige Selbſtgerechtigkeit, die in der langjährigen Ein-
ſamkeit des Landlebens ſchließlich ſo mächtig anſchwoll, daß er jede ab-
weichende Meinung kurzweg für „blühenden Unſinn“ anſah. Vertrauen
und Liebe fand er nirgends, obgleich er im Schleswiger Landtage taktvoll
und verſtändig auftrat. Seine Gutsunterthanen im Sundewitt und auf
Alſen haßten den ſtrengen Grundherrn herzlich, ſie waren die eifrigſten
Dänen in ganz Nordſchleswig. An die ſittlichen Mächte des Völkerlebens
glaubte er nicht feſter als ſein königlicher Schwager; der Zufall erſchien
ſeinem dürren Verſtande als die bewegende Macht der Geſchichte.
Ebenſo ſelbſtgefällig dachte der Prinz von Noer; der trug ſeinen maß-
loſen Dünkel herausfordernd zur Schau, er ließ an Niemand, nicht ein-
mal an ſeinem Bruder, ein gutes Haar und verletzte Jedermann durch
ſein abſprechendes, junkerhaftes Weſen. Noch nach dem Kriege rühmte er
ſich kurzab, „der einzigſte conſequente Menſch in der ſchleswigholſteiniſchen
Sache“ zu ſein.*) Er prahlte mit ſeiner kriegeriſchen Tüchtigkeit und doch
fehlte ihm jedes militäriſche Urtheil, auf das peußiſche Heer ſah er aus
Himmelshöhen mitleidig hernieder. An unruhigem Ehrgeiz gebrach es ihm
nicht. Die Statthalterwürde hatte er ſeit Jahren für ſein Haus erſtrebt;
nachher wußte er freilich mit dem mehr glänzenden als einflußreichen
Amte wenig anzufangen. Außer einigen perſönlichen Freunden beſaßen
die Auguſtenburger durchaus keine Partei im Lande. Selbſt K. Samwer
war, als er ſeine erſte Schrift über die Erbfolgefrage herausgab, dem
Herzoge noch ganz unbekannt;**) er ſchrieb nach ſeiner ehrlichen juriſtiſchen
Ueberzeugung und trat erſt ſpäterhin mit dem Auguſtenburgiſchen Hofe in
Verkehr. Zwar verfaßte der Herzog ſelbſt ſeit dem Ende der dreißiger
Jahre eine Menge anonymer Schriften und Zeitungsartikel zur Verthei-
digung ſeiner Rechte, und noch manche andere Feder ſtand ihm zu Dien-
ſten. Aber dieſe emſige Schriftſtellerei allein konnte nur wenig ausrichten.
Auf die Maſſen der ſchlichten Bürger und Bauern wirkte der Name
Auguſtenburg damals eher abſchreckend als anſpornend; ſie waren, ohne
viel nach den dynaſtiſchen Folgen zu fragen, ſchlechtweg begeiſtert für das
alte deutſche Recht ihres Landes.
Soeben erſt, im Sommer 1844, hatte König Chriſtian gewohnter-
maßen das Seebad auf Föhr beſucht und unterwegs aus dem herzlichen
[575]Das Commiſſionsbedenken. Der Offene Brief.
Empfange, den ihm die Schleswigholſteiner überall bereiteten, zur Genüge
lernen können, wie wenig dies treue Volk gemeint war ſich von ſeinem
angeſtammten Herzog leichtfertig loszuſagen. Da brachte Allgreen Uſſing’s
Antrag Alles in Bewegung. Der Itzehoer Landtag war gerade verſammelt.
Graf Friedrich Reventlow, der Kloſterpropſt von Preetz, übernahm die Füh-
rung, ein hochgebildeter Ariſtokrat von der guten alten Holſtenart, con-
ſervativ nach Erziehung und Neigung, aber unbefangen genug um die
Berechtigung des anwachſenden liberalen Bürgerthums zu würdigen, eine
ſtattliche Erſcheinung, ſtolz und mild zugleich, ganz und gar ein Mann des
Rechts. Auf ſeinen Vorſchlag beſchloß der Landtag eine Rechtsverwahrung,
welche die drei Hauptſätze des ſchleswigholſteiniſchen Staatsrechts feierlich
ausſprach: die Selbſtändigkeit, die Untheilbarkeit der Herzogthümer und
das Erbfolgerecht des Mannesſtammes. Entrüſtet wieſen die Stände die
terroriſtiſche Anmaßung des ſeeländiſchen Landtags zurück, der ſelber ganz
unbefugt über die Thronfolge der Herzogthümer Beſchlüſſe faßte, den
Deutſchen aber verbieten wollte auch nur mitzuſprechen; ſie erinnerten
warnend an Spanien, wo die leichtfertige Aenderung der Erbfolgeordnung
den Bürgerkrieg hervorgerufen hatte. Da der ſchleswigſche Landtag nicht
verſammelt war, ſo trat die Ritterſchaft beider Herzogthümer unter der
Führung des Grafen Reventlow-Preetz zuſammen und bat den Monarchen
in einer würdig gehaltenen Adreſſe um Wahrung des Landesrechts. Alles
vergeblich. Zweimal verſuchte der König in dieſen Jahren, ſeinen Schwa-
ger zu freiwilliger Entſagung zu bewegen. Der Herzog aber erwiderte,
ein Verzicht könne nur der weiblichen Linie zugemuthet werden; weiter
ging er nicht, denn den Boden des urkundlichen Rechts wollte er nicht
verlaſſen, auch fühlte er wohl, daß er eine Hoffnung auf die Königskrone
mindeſtens nicht offen ausſprechen durfte, weil die Dänen ihn alleſammt
tödlich haßten.
Ermuthigt durch den Antrag des Rotſchilder Landtags glaubte Chri-
ſtian nunmehr etwas wagen zu können und berief eine Commiſſion zur
Erörterung der ſchleswigholſteiniſchen Erbfolgefrage. Drei Deutſche ge-
hörten ihr an: der hochconſervative Bundesgeſandte Pechlin, aus dem
Auswärtigen Amte der Miniſter Graf Heinrich Reventlow-Criminil und
ſein Rath Dankwart, dazu als Vierter der vertraute Cabinetsſecretär
Adler. Keiner von ihnen war Fachmann im Staatsrechte. Nach langen
Berathungen brachten die Vier ein „Commiſſionsbedenken“ zu Stande,
das keinen bündigen Schluß enthielt. Sie meinten zwar, der weiblichen
Linie gebühre das Erbfolgerecht in einem Theile der Herzogthümer, wider-
riethen jedoch eine öffentliche Erklärung ſo lange nicht mit den Agnaten
und den Großmächten verhandelt ſei. Der König aber wollte vorwärts,
in einer feurigen Rede ſprach er dem Staatsrathe dieſe Willensmeinung
aus. Am 8. Juli 1846 verkündigte er ſodann um „unklaren und un-
richtigen Vorſtellungen entgegenzutreten“, durch einen Offenen Brief, daß
[576]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
er auf Grund des Commiſſionsbedenkens das Erbrecht ſeiner königlichen
Thronnachfolger in Schleswig aufrecht halten werde; in einzelnen Theilen
Holſteins ſei dies Erbrecht zweifelhaft, er hoffe jedoch die Hinderniſſe zu
beſeitigen und „die vollſtändige Anerkennung der Integrität des däniſchen
Geſammtſtaates zu Wege zu bringen“; im Uebrigen ſollten die Rechte der
Herzogthümer unangetaſtet bleiben. Das Commiſſionsbedenken ſelbſt wurde
niemals vollſtändig veröffentlicht, weil es noch unbeſtimmter lautete als
der Offene Brief ſelbſt. Was davon bekannt ward ließ ſich leicht wider-
legen. Die Commiſſion berief ſich vornehmlich auf die Thatſache, daß
die Ritter und Beamten des gottorpiſchen Antheils von Schleswig, als
dieſer 1721 mit dem königlichen vereinigt wurde, dem Könige Friedrich IV.
geſchworen hatten, „ihm und ſeinen Erbſucceſſoren in der Regierung
secundum tenorem legis regiae treu, hold und gewärtig zu ſein“;
es lag aber auf der Hand, daß dieſer ſchon nach ſeinem Wortlaute viel-
deutige „gewöhnliche Erbhuldigungseid“, der noch dazu nur einmal im
gottorpiſchen, niemals im königlichen Schleswig geleiſtet wurde, ohne die
Zuſtimmung der Agnaten und der Landſtände an dem Thronfolgerechte
des Landes gar nichts hatte ändern können.*)
Der Offene Brief entſprach dem Charakter König Chriſtian’s. Er
war das Werk einer überfeinen Berechnung und eben deshalb eine un-
kluge Halbheit; er ſollte die Schleswigholſteiner freundlich zum Vertrauen
auf die landesväterlichen Abſichten ihres König-Herzogs ermahnen, aber
er vergewaltigte das Recht Schleswigs, er drohte auch das Recht Hol-
ſteins zu vergewaltigen und wirkte darum ebenſo aufregend wie ein vollen-
deter Staatsſtreich. Bei den Dänen, die den geiſtreichen Epikuräer bis-
her wenig geliebt hatten, errang ſich der König jetzt mit einem male die
allgemeine Volksgunſt. Seinen Rotſchilder Landſtänden dankte er für ihre
patriotiſche Geſinnung und fügte nur einen ſanften Tadel hinzu wegen
der offenbaren Ueberſchreitung ihrer Befugniſſe. Unter den Deutſchen da-
gegen war die Entrüſtung allgemein. Der Statthalter Prinz v. Noer
legte ſein Amt nieder, desgleichen der Präſident der Deutſchen Canzlei
Graf Joſeph Reventlow, der Geſandte Reventlow-Altenhof und mehrere
andere hohe Beamte; auch der Herzog von Glücksburg verzichtete auf ſeine
Offiziersſtelle. An die Spitze der Deutſchen Canzlei wurde nunmehr Graf
Carl Moltke geſtellt, ein geſcheidter, ſtrenger Abſolutiſt, der ſich grundſätzlich
verpflichtet hielt den Willen des Monarchen auszuführen. Der Statt-
halterpoſten blieb unbeſetzt, und ganz ohne Einrede ſchaltete alſo fortan der
neue Präſident der ſchleswigholſteiniſchen Landesregierung v. Scheel, ein
gemeiner Ehrgeiziger von niederer Abkunft, der ſich zu Allem hergab und
überdies durch ſeine gallige Unfreundlichkeit die Deutſchen abſtieß. Den
holſteiniſchen Ständen wurde ſofort, noch im Juli, eröffnet, daß der
[577]Schleswigholſtein und der Offene Brief.
König ihre letzten Beſchlüſſe mit gerechtem Befremden vernommen habe.
Auf den Antrag des Grafen Reventlow-Preetz beſchloſſen ſie ſodann eine
ſcharfe Adreſſe, und als Scheel dieſe Eingabe kurzerhand zurückwies, rich-
teten ſie zur Verwahrung des Landesrechts eine Beſchwerdeſchrift an den
Deutſchen Bund. Nunmehr wollte ihnen Scheel alle weiteren Vorſtel-
lungen verbieten; da erklärten ſämmtliche Abgeordnete, bis auf ſechs, ihren
Austritt. Die Einberufung der Stellvertreter fruchtete nichts, der Land-
tag war thatſächlich aufgelöſt.
Im October verſammelte ſich auch der Landtag Schleswigs, und hier
ſchaarte ſich Alles um den Präſidenten Wilhelm Beſeler wie in Itzehoe um
Reventlow-Preetz. Wie immer in Zeiten ernſter Volksbewegung fanden
ſich raſch die geborenen Führer. Beſeler war Rechtsanwalt, ein ſtattlicher
Mann von ſtarkem Selbſtgefühl und würdiger Haltung, zäh und tapfer,
in ſeinen politiſchen Grundſätzen ebenſo gemäßigt wie Reventlow, nur daß
er dem bürgerlichen Liberalismus näher ſtand. Mehr als hundert Adreſſen
aus dem Herzogthum liefen ein. Die meiſten wurden perſönlich überreicht,
faſt alle ſprachen ſcharf gegen den Offenen Brief. Die Berathungen ver-
liefen ſtürmiſch, der Koogbeſitzer Tiedemann und der Juriſt Gülich be-
kämpften freimüthig das ganze Syſtem der Regierung. Dann beantragte
der Herzog von Auguſtenburg eine Adreſſe, welche den König um die Ge-
währung einer gemeinſamen ſchleswigholſteiniſchen Verfaſſung bitten ſollte.
Rechtzeitig überwand er alſo ſeinen Widerwillen gegen die liberalen Ideen;
denn nach allem was geſchehen ließ ſich die Selbſtändigkeit der Herzog-
thümer unter berathenden Provinzialſtänden nicht mehr aufrecht halten.
Der Antrag wurde mit allen gegen zwei Stimmen angenommen. Scheel
aber erkärte, vor allen anderen Vorſchlägen müßten zuerſt die königlichen
Propoſitionen berathen werden; offenbar beabſichtigte er, durch plötzliche
Schließung des Landtags den Ständen ihr verfaſſungsmäßiges Petitions-
recht ganz zu verderben. Da er nicht nachgab, ſo verließ endlich der
Herzog, unter feierlicher Verwahrung, den Saal, und ihm folgte die große
Mehrheit der Verſammlung. Damit war auch dieſer Landtag aufgelöſt, die
alte Provinzialſtände-Verfaſſung brach von ſelbſt zuſammen. Das Land
war ohne Vertretung; darum ſendete die Ritterſchaft, auf Reventlow’s
Betrieb, nochmals eine Rechtsverwahrung an den König.
Unterdeſſen hatte Chriſtian wieder ſeine gewohnte Sommerreiſe durch
die Herzogthümer unternommen, aber er fand ein verwandeltes Volk.
Eiſige Kälte überall, zu den Empfängen erſchien faſt Niemand außer den
Beamten; als er die Truppen muſterte, da ſangen die Volksmaſſen dicht
neben ihm: Schleswigholſtein meerumſchlungen! Das wurmte ihn doch.
An ſeinem Geburtstage, am 18. Septbr. erließ er einen zweiten Offenen
Brief, der den Deutſchen in gemüthlich patriarchaliſchem Tone betheuerte,
die Selbſtändigkeit Holſteins ſolle nicht im Mindeſten gefährdet, ſondern
durch die Unzertrennlichkeit der Monarchie nur geſichert werden. Was
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 37
[578]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
konnten dieſe leeren Worte wirken, da ſie doch nichts zurücknahmen? Graf
Reventlow-Preetz wurde im Schloſſe Plön nicht vorgelaſſen, als er noch einmal
herbeikam um dem Monarchen die Augen zu öffnen; mit den aufſäſſigen
Landſtänden Holſteins wollte Chriſtian nichts mehr zu ſchaffen haben.
So hielt denn die Bewegung im Volke an. Schon im Juli beſchloß eine
große Volksverſammlung in Neumünſter, auf Antrag des Anwalts Lorentzen:
das Land müſſe feſthalten an den drei Kernſätzen ſeines alten Rechts und
nöthigenfalls ſich an Deutſchland anſchließen. Als Th. Olshauſen eine
zweite große Volkskundgebung bei Nortorf veranſtalten wollte, wurde er
gefangen nach Rendsburg abgeführt, die Nortorfer Verſammlung ging
vor der herannahenden bewaffneten Macht ruhig auseinander; Olshauſen
aber mußte wieder frei gegeben werden, und die Kieler begrüßten ihn bei
der Heimkehr wie einen Triumphator.
Der Herzog von Auguſtenburg hatte unmittelbar vor dem Erſcheinen des
Offenen Briefs den Kopenhagener Hof beſucht um ſeine Söhne vorzuſtellen
und dort eine überraſchend freundliche Aufnahme gefunden; der gnädige
König ernannte ſogar die beiden jungen Prinzen zu Oberſtleutnants, was
die Dänen verſtimmte und die deutſche Königin böſen Nachreden ausſetzte.*)
In denſelben Tagen aber bereitete Chriſtian den Gewaltſtreich gegen die
Rechte ſeiner Agnaten heimlich vor. Als der unerwartete Schlag erfolgt
war, legte der Herzog alsbald Verwahrung ein und ſendete ſodann eine
Beſchwerde an den Bundestag. Alle Prinzen der auguſtenburgiſchen und
der glücksburgiſchen Linie ſchloſſen ſich ihm an. Nur der junge Prinz
Chriſtian von Glücksburg ſtellte ſich auf die Seite des Königs; der hatte
vor Kurzem eine Tochter der Landgräfin Charlotte geheirathet und baute
auf die Zukunft der heſſiſchen Linie. Der Großherzog von Oldenburg
behielt ſich ebenfalls feierlich ſeine Erbanſprüche vor.
Auch die Kieler Univerſität trat ſofort wieder auf den Kampfplatz.
Sie beſaß zwar in ihrem Lehrkörper noch zwei fanatiſche Dänen, Flor und
Paulſen, während in Kopenhagen längſt kein Gelehrter mehr ein Wort zu
Gunſten der Herzogthümer wagte; aber die deutſche Geſinnung überwog
durchaus. Dahlmann ſelbſt, der nach ſeiner gewiſſenhaften Weiſe die ſchwie-
rige Erbfolgefrage lieber noch vertagt und erſt genauer geprüft hätte, konnte
nun nicht mehr verkennen, daß der Offene Brief mit der Untheilbarkeit
der Lande zugleich die geſammte Verfaſſung bedrohte, und erklärte ſich offen
für ſeine Landsleute. In ſeinem Sinne lehrten jetzt die jungen Hiſtoriker
Waitz und Droyſen; für das deutſche Recht im Norden einzuſtehen galt
als Ehrenpflicht unter den Kieler Gelehrten. Neun Profeſſoren der Uni-
verſität, voran der alte Falck, veröffentlichten eine ſcharfe, in allem We-
ſentlichen ſiegreiche Widerlegung des Commiſſionsbedenkens, und der König
fühlte ſich ſo unſicher, daß er ihnen nur einen ſanften Verweis ertheilen
[579]Die deutſche Nation und der Offene Brief.
ließ. Zugleich ſetzte Samwer wieder ſeine ſcharfe Feder ein. Dirckinck-
Holmfeld, der Hiſtoriograph Wegener und die anderen däniſchen Publi-
ciſten ſahen ſich bald in die Enge getrieben; ſie merkten ſelbſt, wie wenig
die Erbhuldigung des Jahres 1721 bedeutete, und ſuchten andere Aus-
flüchte. Mit Maulwurfs-Eifer gruben dieſe Demokraten die unterlaſſenen
Lehensmuthungen der Sonderburger Linie aus, ja ſie wollten den jungen
auguſtenburgiſchen Prinzen ſogar die Ebenbürtigkeit beſtreiten, weil der Her-
zog und ſein Bruder zwei Gräfinnen Danneſkiold geehelicht hatten; und doch
wußte Jedermann, daß die Frage der Mißheirath allein nach den Haus-
geſetzen und dem Hausbrauche jeder einzelnen Dynaſtie beurtheilt werden
darf, und grade im Hauſe Holſtein-Oldenburg waren Ehen mit Frauen vom
niederen Adel von jeher häufig vorgekommen. In Schleswigholſtein ließ
ſich Niemand durch ſolche Fechterkünſte beirren. Das Land hielt zuſammen
wie eine große Familie, die ihr Hausrecht wahrt, der gemeinſame Kampf
führte alle Stände in ungewohnter Herzlichkeit einander näher; und wenn
die deutſchen Nachbarn früherhin manchmal gutmüthig über den Hahnen-
ſchritt der holſteiniſchen Normalmenſchen geſpottet hatten, ſo freuten ſich
jetzt alle an dem ſchönen Einmuth ihrer Nordmark.
Der Offene Brief regte die öffentliche Meinung in ganz Deutſchland
ſo mächtig auf wie vor ſechs Jahren das Kriegsgeſchrei der Franzoſen.
Damals aber hatte die Nation einem ebenbürtigen Feinde die ſtolze Stirn
geboten; jetzt fühlte ſie ſich bitterlich beſchämt, da ein winziger Nachbar
deutſches Recht mit Füßen trat ohne nach Deutſchland auch nur zu fragen,
und Geibel nahm Allen das Wort vom Munde als er ſang:
In einer Maſſe von Flugſchriften und Gedichten, von Verſammlungen
und Reden entlud ſich der Sturm. Die Heidelberger Gelehrten gingen
voran, ſie ſendeten ſchon im Juli an W. Beſeler eine von Gervinus
verfaßte Adreſſe: „es giebt keine größere politiſche und nationale Sünde
als die Selbſtverſäumniß.“ Da der ernſte nationale Machtkampf zunächſt
in der Geſtalt einer ſtaatsrechtlich-hiſtoriſchen Streitfrage erſchien, ſo trat
das Profeſſorenthum wieder für einige Zeit in den Vordergrund des
deutſchen Lebens. Hälſchner in Bonn und viele andere Hiſtoriker und Ju-
riſten erörterten den Erbfolgekampf in gelehrten Streitſchriften; der Berliner
Helwing vertheidigte ſogar die wohlgemeinte, aber ganz haltloſe Behaup-
tung, daß die Erbfolge in den Herzogthümern dem Hauſe Brandenburg
gebühre. Großes Aufſehen erregte General Radowitz durch ſein Schriftchen:
Wer erbt in Schleswig? Er verfocht ohne jeden Vorbehalt die Rechts-
anſchauung der Schleswigholſteiner, da er durch ſeine Verwandten, die
Reventlows, die transalbingiſchen Verhältniſſe gründlich kennen gelernt
37*
[580]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
hatte, und zeigte hier zum erſten male öffentlich, wie viel bildſamer er
war als die anderen Vertrauten König Friedrich Wilhelm’s. Unter allen
namhaften deutſchen Rechtsgelehrten wagte nur einer den Dänenkönig
zu vertheidigen: Miniſter Kamptz, der alte Demagogenverfolger, deſſen
Name ſchon abſchreckend wirken mußte. Der entfaltete in ſeinen „Be-
merkungen über den Offenen Brief“ eine reiche, aber ganz verworrene Ge-
lehrſamkeit; die Schleswigholſteiner erklärte er kurzweg für Rebellen, und
daß Schleswig die Deutſchen gar nichts anging ergab ſich ja ſchon aus
der Bundesakte.
Nach dieſem Juriſtenſtreit und den alten Pergamenten fragte die
Nation wenig, ſie kannte die Auguſtenburger gar nicht. Was die Deutſchen
entflammte war das nationale Selbſtgefühl. Geibel fand wieder das
rechte Wort, als er den hohen Sinn des Kampfes dahin zuſammenfaßte:
Und dies Gefühl bekundete ſich in den leidenſchaftlichen Berathungen der
kleinen deutſchen Landtage ſo übermächtig, daß ſelbſt die Fürſten ſich ihm
nicht ganz entziehen konnten; ihr eigenes Heiligthum, das legitime Dynaſten-
recht wurde ja durch Dänemarks Gewaltſtreiche nicht weniger bedroht als
die nationale Ehre. Zudem reiſten die holſteiniſchen Prinzen an den
Höfen geſchäftig umher; auch die Stände der Herzogthümer ſendeten Tiede-
mann und andere Vertrauensmänner zu den kleinen Regierungen um
ihnen das Landesrecht der Nordmark an’s Herz zu legen. Beſonders
freundlich zeigte ſich, ſeltſam genug, der alte Welfe. Der hatte bei den
Lüneburger Manövern des zehnten Bundesarmeecorps ſelbſt mit angehört,
wie die holſteiniſchen Soldaten, wenn man ſie Dänen nannte, heftig er-
widerten: wir ſind gute Deutſche; er ſchätzte den Auguſtenburger perſönlich
hoch und wurde durch ſeinen Berliner Geſandten, den Grafen Platen,
deſſen Verwandtſchaft dem holſteiniſchen Adel angehörte, in ſeiner guten
Geſinnung beſtärkt.*) Nach Alledem ſchien den Beſchwerden beim Bun-
destage ein günſtiger Erfolg ſicher zu ſein.
Ganz anders dachten die großen Mächte. Sie bekannten ſich alle
zu dem unverbrüchlichen Glaubensſatze, die Integrität der däniſchen Mon-
archie ſei nothwendig für die Erhaltung des europäiſchen Gleichgewichts.
Unſchuldige Leute mochten wohl verwundert fragen: warum denn Europas
Gleichgewicht erſchüttert werden ſollte, wenn der kleine Staat am Sund
und Belt von drittehalb auf anderthalb Millionen herabſänke? Wer tiefer
blickte, konnte jedoch nicht verkennen, daß die Meinung der großen Höfe
ernſte Gründe hatte; ſie wurzelte nicht blos in der Ruheſeligkeit der Zeit,
ſondern in der allgemeinen Angſt vor Deutſchlands Erſtarken. Das von
Dänemark losgeriſſene Schleswigholſtein mußte — Niemand bezweifelte
[581]Dänemark und die Großmächte.
es — ſich feſt an Deutſchland anſchließen, zu ſeiner Sicherung preußi-
ſche Truppen herbeirufen, vielleicht gar der preußiſchen Flotte, deren
erſtes Schiff ſoeben vom Stapel gelaufen war, den ſchönſten Hafen der
Oſtſee einräumen. Ein deutſcher Kriegshafen in Kiel! — dieſer eine
Gedanke genügte um jedes engliſche Herz zu empören. Aus Haß gegen
Deutſchland wurden Dänemarks Erbfeinde, die Briten jetzt freundliche
Gönner des Kopenhagener Hofes. Gleich nach dem Erſcheinen des Offenen
Briefs ſchrieb die Times, damals noch das mächtige Organ der nationalen
Meinung: „Die preußiſchen Staatsmänner können nicht freigeſprochen
werden von dem Vorwurfe, daß ſie mit einer gewiſſen Bereitwilligkeit
eine fieberiſche, der Ruhe eines Nachbarlandes gefährliche Aufregung lebendig
erhalten haben, weil es ihnen einfiel die deutſche Nation angenehm zu
unterhalten (to amuse), und weil ſie vielleicht deren Aufmerkſamkeit von
anderen, weit mehr praktiſchen und der Heimath viel näher liegenden
Fragen ablenken wollten.“ Dann wurde Deutſchland gewarnt vor der
Ländergier, die ſchon in der neuen Welt gefährlich, im Herzen Europas
verderblich wirke. Mit ſolcher Heuchelei wagte ein Volk, das ſich Jahr
für Jahr neue Kolonien aneignete, die Deutſchen zu beſchimpfen, weil ſie
beſcheiden das Erbe ihrer Väter behaupten wollten! Die Regierung hielt
ſich noch zurück: ſie wünſchte zunächſt nur, daß der däniſche Geſammtſtaat
zuſammenbliebe, gleichviel unter welchem Herrſcherhauſe; denn ſie betrachtete
ihn, wunderlich genug, als ein Bollwerk gegen Rußland!
Etwas dreiſter wagte ſich Frankreich, der alte treue Bundesgenoſſe
Dänemarks, hervor. Das Verhältniß zwiſchen den beiden Höfen war ſehr
herzlich. Ludwig Philipp ſendete einmal den halbverſchollenen alten
Herzog Decazes, bourboniſchen Andenkens, der zugleich däniſcher Vaſall
war, als außerordentlichen Botſchafter hinüber; der Dänenkönig fühlte
ſich ſehr geſchmeichelt und ernannte Guizot zum erſten bürgerlichen
Ritter ſeines Elephantenordens. Unterdeſſen reiſte der franzöſiſche Ge-
ſandte Baron Billing zwiſchen Kopenhagen, Paris und London ge-
heimnißvoll hin und her um die Pläne König Chriſtian’s zu befördern;
er witterte heraus, ſein Beobachtungspoſten müſſe jetzt zu einem Aktions-
poſten werden, und erhielt von Guizot Befehl, den Beſtrebungen Preußens
und Rußlands entgegenzuarbeiten, obgleich die beiden Oſtſeemächte hier
am Sunde keineswegs zuſammengingen.*) Alle dieſe kleinen diplomatiſchen
Zettelungen blieben zunächſt ohne Folgen. Der Tuilerienhof betrachtete
den däniſchen Geſammtſtaat als ein europäiſches Heiligthum; von näheren
Sorgen bedrängt hatte er ſich jedoch eine feſte Anſicht über die Erbfolge-
frage bisher noch nicht gebildet.
Die Weſtmächte konnten in Schleswigholſtein für ſich ſelbſt nichts
verlangen. Der Petersburger Hof dagegen verrieth ſchon deutlich, daß
[582]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
er nicht abgeneigt war bei einer Theilung der deutſchen Herzogthümer
herzhaft zuzugreifen. Die ruſſiſchen Gottorper hatten zwar durch die
Verträge von 1767 und 73 auf das längſt verlorene Schleswig förmlich
verzichtet und ihren Antheil an Holſtein ausgetauſcht gegen die Grafſchaften
Delmenhorſt und Oldenburg, die nachher der jüngſten gottorpiſchen
Linie überwieſen wurden. Doch wann war jemals ein ruſſiſcher Vertrag
zu Stande gekommen, der nicht nachher irgendwo einen Haken zeigte?
Jener Verzicht war erfolgt zu Gunſten des damaligen Königs von Däne-
mark „und ſeiner Kronerben“. Wer dieſe Kronerben ſeien, wurde jetzt
ſtreitig. Folglich, ſo ſchloſſen die Moskowiter mit ihrer eigenthümlichen
Logik, konnten Rußlands Anſprüche auf den gottorpiſchen Antheil an Hol-
ſtein vielleicht wieder aufleben, und zu dieſem Antheile gehörte erfreulicher-
weiſe auch der Kieler Hafen! Dem preußiſchen Geſandten ſagte Neſſelrode
mehrmals: wir glauben auf Holſtein Anſprüche zu haben; ich habe dem
Kaiſer abgerathen ſie aufzugeben, weil er die Rechte ſeiner Nachkommen
nicht aufopfern darf und ſich jedenfalls ein Compenſationsobjekt ſichern
muß.*) Noch aufrichtiger redete eine Weiſung des ruſſiſchen Kanzlers an
den Geſchäftsträger in Kopenhagen. Hier belobte er den Offenen Brief
als eine weiſe Maßregel und billigte durchaus die Rechtsanſchauung des
Dänenkönigs. Schleswig unterliege, nachdem das Haus Gottorp darauf
verzichtet, dem däniſchen Thronfolgerechte — ſo ſchrieb er zuverſichtlich, ob-
gleich die Gottorper ein Recht, das ihnen ſelber nicht zuſtand, doch ſicher-
lich auch nicht hatten abtreten können. Ueber Holſtein müſſe man allerdings
noch verhandeln; indeß würde der Czar ſich aufrichtig freuen, die Anſprüche
des Hauſes Gottorp in Einklang zu bringen „mit den Lebensintereſſen
einer Monarchie, deren Aufrechterhaltung und Untheilbarkeit der König
mit einer gerechten Beſorgniß betrachtet, welche Se. Kaiſ. Majeſtät in
hohem Grade theilt“.**) Auf Rußlands Beiſtand konnte ſich Chriſtian
mithin verlaſſen, wenn er nöthigenfalls dem Hauſe Gottorp irgend eine
Entſchädigung gewährte. Ueber die Anſprüche der Auguſtenburger äußerte
ſich der Czar vorläufig noch nicht abſchließend, aber die Haltung der
Schleswigholſteiner fand er revolutionär.
Der Wiener Hofburg kam der transalbingiſche Streit ſehr ungelegen;
nach der Eigenart ihres Reiches hatte ſie ja ſelbſt nichts mehr zu fürchten
als die Macht der nationalen Ideen. Von Deutſchthum, Dänenthum und
anderen ſolchen „Thümern“ wollte Metternich gar nichts hören. Er war
empört über das Gelichter der deutſchen liberalen Partei und ihr Halli-
Halloh, er fand die ganze ſchamloſe Agitation künſtlich, gemacht, revolu-
tionär und wünſchte vornehmlich Beſtrafung der frechen Heidelberger
Profeſſoren. Aber auch der Krone Dänemark warf er vor, daß ſie das
[583]Preußens Haltung. Schoultz v. Aſcheraden.
liberale Ungeziefer ſeit Jahren careſſirt und jetzt vor der Zeit unreife Pläne
verlautbart habe, während man doch ſonſt die Gäſte nicht in die Küche
führe, ſondern ihnen die Speiſen fertig vorſetze. Von Berlin her gewarnt
ſah er jedoch ein, daß man die ungeheuere Aufregung in Deutſchland
irgendwie beſchwichtigen mußte; und da er, ſchon wegen der möglichen
Verſtärkung Preußens, den Zerfall des däniſchen Geſammtſtaats durchaus
verhindern wollte, ſo gelangte er zu der Anſicht, das Beſte ſei die Auf-
hebung des Königsgeſetzes und die Thronfolge der Auguſtenburger in allen
Kronlanden. Es war ſicher der freundlichſte Rath, der ſich dem Dänen-
könige geben ließ. Wenn nur die Menſchen nicht Menſchen wären! Wenn
nur nicht der wilde Deutſchenhaß der Dänen grade dieſen ſicherſten Aus-
weg ganz verſperrt hätte!
Wunderlich, faſt tragikomiſch erſchien unter ſolchen Umſtänden die
Haltung des Berliner Hofes. Alle Ausländer trauten ihm einen Ehrgeiz
zu, der ihm durch die Geſchichte des preußiſchen Staates geradezu auf-
gezwungen wurde und gleichwohl dem ſanften Gemüthe dieſes Königs ganz
fern lag. Niemals hat Friedrich Wilhelm die Frage erwogen, ob die
transalbingiſchen Händel nicht benutzt werden ſollten um Preußens Macht-
ſtellung an der Oſtſee zu verſtärken; er hielt für unmöglich, daß man ihm
ſo verruchte Pläne auch nur andichten könnte. Wie er den leidlichen
Ausgang des Kölniſchen Biſchofsſtreites lediglich dem Trotze Droſte-Viſche-
ring’s verdankte, ſo wurden auch die nothwendigen Kämpfe, welche ſchließ-
lich unſere Nordmark unter die Krone der Hohenzollern bringen ſollten,
nicht durch preußiſche Berechnung, ſondern einzig und allein durch die
Verblendung Chriſtian’s VIII. und ſeiner Dänen herbeigeführt. Eine Re-
gierung ohne Stolz und Thatkraft, welche grundſätzlich nie das Schwert
ziehen will, kann ſich vielleicht, durch die Macht alter Traditionen, noch eine
Zeit lang ein tüchtiges Heer bewahren, ihr Auswärtiges Amt aber muß
ſchnell entſittlicht werden. Welch einen jämmerlichen Anblick bot doch das
diplomatiſche Corps des vierten Friedrich Wilhelm neben jenen kühnen,
kriegeriſchen Geſandten, die einſt die Befehle des großen Königs handfeſt
vollſtreckt hatten. General Rauch war ein guter Ruſſe, obwohl ihm das
preußiſche Gefühl nicht gänzlich fehlte, Bunſen war ein guter Engländer,
Graf Arnim ein guter Oeſterreicher, aber ſie Alle überbot noch bei Weitem
Freiherr Schoultz von Aſcheraden in Kopenhagen. Einen beſſeren Patrioten
als dieſen fremdbrüderlichen preußiſchen Geſandten hat Gammel Danne-
mark unter ſeinen eigenen Landeskindern nie beſeſſen. Schoultz war vor
langen Jahren auf dem gleichgiltigen Kopenhagener Geſandtſchaftspoſten
verſorgt worden, wo alle Höfe ihre diplomatiſchen Nullen unterzubringen
pflegten, und behielt die Stelle leider auch als ſie plötzlich hochwichtig
wurde. Er fühlte ſich am Sunde ganz heimiſch, glaubte den däniſchen
Miniſtern, die faſt durchweg gebildete, liebenswürdige Männer waren,
treulich auf’s Wort und berichtete in ſeinem ſchauderhaften Franzöſiſch, das
[584]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
den König zuweilen zu ſarkaſtiſchen Randbemerkungen veranlaßte, höchſt
gewiſſenhaft, was der Hof während des größten Theiles des Sommers,
pendant la pluralité de l’été, Alles vorzunehmen gedenke.*) Als die
ſchleswigholſteiniſchen Wirren begannen, zeigte er ſich ſehr ungehalten über
die Unbotmäßigkeit der Deutſchen; von der unerſättlichen Begehrlichkeit, der
Liſt, der berechneten Zurückhaltung des auguſtenburgiſchen „Prätendenten“
ſprach er ganz ſo entrüſtet wie ſeine däniſchen Freunde;**) und wenngleich
er zuweilen auch die Gehäſſigkeit der Dänen bitter beklagte, ſo hatte er
doch von dem Sinne des nationalen Kampfes gar keine Ahnung.
Dieſe lächerlichen Geſandtſchaftsberichte konnten das Urtheil König
Friedrich Wilhelm’s nicht beirren. Er bedauerte zwar den Haß zwiſchen
Deutſchen und Dänen, wie Canitz ſagte, als „eine der ärgſten Tollheiten
unſeres erleuchteten Jahrhunderts“;***) er wünſchte von ganzem Herzen
die Fortdauer des däniſchen Geſammtſtaates und wollte auch ſeinen könig-
lichen Freund, der ihn ſoeben, bei einem Beſuche in Kopenhagen, mit
Zärtlichkeit überſchüttet hatte, durchaus nicht kränken. Aber das Recht
blieb ihm heilig. Schon im Jahre 1845 ließ er ſich von den Juriſten
Eichhorn und Lancizolle ein Gutachten über die Erbfolgefrage erſtatten,
und obwohl dieſe Denkſchrift ſehr unſicher lautete, ſo überzeugte er ſich
doch nach und nach ſelber von dem beſſeren Rechte der Auguſtenburger.
Wie Metternich hoffte er den Streit durch einen Verzicht der heſſiſchen
Linie und durch die Thronfolge der Agnaten im Geſammtſtaate friedlich
beizulegen: dann konnten die befreundeten Dänen unter Auguſtenburgi-
ſchen Königen bis an das Ende aller Dinge in Kiel und Altona hauſen.
Freilich war die Uebereinſtimmung nicht vollſtändig, denn der Wiener
Hof betrachtete die Integrität Dänemarks als das Weſentliche, der Ber-
liner das deutſche Recht der Herzogthümer und der Agnaten. Im Noth-
falle — das deutete ſchon jenes Rechtsgutachten an — wollte Preußen
ſelbſt ein ſouveränes Schleswigholſtein unter deutſchem Fürſtenhauſe an-
erkennen. Die däniſchen, nicht die holſteiniſchen Landſtände, ſo meinte
Canitz, haben den Streit angefangen. Die Dänen ſind die Revolutionäre
und zudem erfüllt von abſurdem Haſſe gegen Deutſchland. Sie miß-
brauchen unehrlich den Gedanken der Nationalität um den politiſchen
Frieden von oben her zu ſtören, wie die Polen von unten her. Wir wün-
ſchen die Integrität der däniſchen Monarchie, aber ohne Schädigung
deutſcher Rechte.†)
Zunächſt hatte der Bundestag auf die holſteiniſchen Beſchwerden zu
antworten. Metternich behauptete zwar anfangs, dieſe Sache gehe den
Bund gar nichts an, jedoch auf Canitz’s lebhaftes Andrängen gab er nach
[585]Bundesbeſchluß über den Offenen Brief.
und genehmigte, daß ein Bundesbeſchluß die Rechte Deutſchlands in mil-
der Form verwahren, aber zugleich dem unleidlichen Halli-Halloh der
Liberalen ſcharf entgegentreten ſolle. Sein getreuer Münch, der ganz däniſch
geſinnt war, mußte alſo, wie Canitz ſpottete, „diesmal aus dem magiſchen
Kreiſe der Incompetenz-Erklärungen hinaustreten“ und das Geſchäft mit
einer in Frankfurt ganz unerhörten Eile betreiben.*) Man konnte nicht
anders. Die Landtage, die Preſſe, zahlloſe Eingaben aller Art beſtürmten
den Bundestag. Als „ein ernſtes Zeichen der Zeit“ erwähnte der preußiſche
Bundesgeſandte auch die Zuſchrift eines begeiſterten Berliner Studenten,
der ſich ſpäterhin noch einen guten Namen machen ſollte. Dieſer junge
Mann rieth dem Bundestage, ſchleunigſt einen Bundescommiſſär nach
Kopenhagen zu ſenden und entſchuldigte ſeine Vermeſſenheit „mit dem
Beiſpiel der Jungfrau von Orleans, die auch nur eine arme Schäferin
geweſen ſei, aber ihr Vaterland doch gerettet habe.“**)
Frhr. v. Pechlin, der däniſche Bevollmächtigte, der im Herzensgrunde
doch deutſch empfand und dem Offenen Briefe nur ſehr ungern zugeſtimmt
hatte, gab die verſöhnlichſten Erklärungen: er betheuerte heilig, ſeinem Könige
ſei nie in den Sinn gekommen, die Rechte des Deutſchen Bundes zu ver-
letzen; er geſtand ſogar zu, daß die beiden Herzogthümer alle öffentlichen
Rechtsverhältniſſe — bis auf die Provinzialſtände und wenige andere Inſti-
tutionen — mit einander gemein hätten. Da nun auch der Offene Brief
ſelbſt noch nichts anordnete, ſondern nur die perſönlichen Anſichten des
Königs kundgab, ſo ſprach der Bundestag am 17. Sept. die vertrauensvolle
Erwartung aus: der König würde bei endgiltiger Feſtſtellung dieſer Ver-
hältniſſe die Rechte Aller und Jeder, insbeſondere die Rechte des Bundes,
der Agnaten und der holſteiniſchen Landſtände beachten. Zugleich forderte
er die Regierungen auf, den leidenſchaftlichen Ausbrüchen einer anerkennens-
werthen patriotiſchen Geſinnung „gehörige Schranken zu ſetzen“. Alle
ſtimmten zu, auch Pechlin ſelber. Nur Kurheſſen wollte die Verwarnung
der deutſchen Patrioten ſchärfer gefaßt ſehen; der Luxemburger endlich
behauptete keine Weiſungen zu haben, offenbar weil er fürchtete, bald könnte
auch Luxemburg an die Reihe kommen. Wie matt und ſchüchtern der
Beſchluß auch klang, ganz leer war er nicht. Der Bundestag hatte ſich,
allen ſeinen Gewohnheiten entgegen, doch nicht wieder für unzuſtändig
erklärt, er behielt ſich doch ausdrücklich ſeine Rechte vor und erlangte
alſo zum erſten male einiges Lob bei den gemäßigten Parteien.
König Chriſtian merkte auch ſelbſt, daß er mit der Politik des Offenen
Briefes nicht mehr weiter kam; er fühlte ſich tief unglücklich und konnte
ſeine Stimmung ſogar vor Schoultz-Aſcheraden’s blöden Augen nicht ganz
verbergen.***) Gegen den preußiſchen General Wrangel beklagte er ſich
[586]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
bitterlich: wie ihn die Deutſchen ſo ganz verkennen könnten; niemals
hätte er daran gedacht, Schleswigholſtein von Deutſchland loszureißen.
Im Juni 1847 ſendete er einen alten Freund, den Grafen Löwenſtern,
der ſeinem Könige dieſen letzten Ritterdienſt nicht verweigern mochte, nach
Berlin um wegen der Erbfolgefrage Rath einzuholen. Canitz erwiderte:
das einzige Mittel den Geſammtſtaat zu erhalten ſei die Aufhebung
des Königsgeſetzes und das Königthum der Auguſtenburger. Das wies
der alte Däne weit von ſich; am Wiener Hofe aber wurde ihm, offen-
bar nach Verabredung, gleich nachher dieſelbe Antwort ertheilt.*) Nun-
mehr hoffte König Chriſtian ſein Ziel auf einem neuen, noch ſeltſameren
Umwege zu erreichen; er wollte ſeinem Geſammtſtaate — nach dem Vor-
bilde des Preußiſchen Vereinigten Landtags, deſſen Verhandlungen er mit
geſpannter Aufmerkſamkeit verfolgte — einen gemeinſamen Reichstag ge-
währen. Mit Hilfe der däniſch geſinnten Mehrheit dieſes Reichstags dachte
er dann ſpäterhin die Thronfolge der weiblichen Linie im ganzen Reiche
durchzuſetzen. In was für Künſteleien verlor ſich wieder die Ueberklug-
heit des Monarchen! Nach Allem was geſchehen, mußte die Thronfolge-
frage jetzt vor der Verfaſſungsfrage entſchieden werden; denn ſo lange
noch nicht feſt ſtand, ob der Geſammtſtaat ſelber fortdauern würde, konnten
die Schleswigholſteiner einer Geſammtſtaatsverfaſſung doch ſchwerlich zu-
ſtimmen. Während der nächſten Monate ließ der König ſeinen Verfaſſungs-
plan durch Carl Moltke und den unentbehrlichen Adler ausarbeiten. Da
ſtarb er plötzlich nach kurzer Krankheit am 20. Jan. 1848, wohl der geiſt-
reichſte aus der langen eintönigen Reihe der Oldenburgiſchen Könige, und
doch ein Mann des Unheils, ein Herrſcher, der die Macht ſeines Hauſes
ſelbſt zerſtörte, weil er das Recht ſeiner Völker mißachtete.
Die Todesnachricht erſchütterte das Land im Innerſten. Die Dänen
hofften, die Deutſchen fürchteten Alles von dem Thronfolger. Nach aller
Wahrſcheinlichkeit war Friedrich VII. der letzte König ſeines Stammes;
denn er hatte damals ſchon ein Liebesverhältniß mit der Putzmacherin
Rasmuſſen angeknüpft, und dies gemeine Weib, die natürliche Bundes-
genoſſin der Kopenhagener Demokratie, hielt ihn ſo feſt umſtrickt, daß eine
dritte fürſtliche Heirath faſt unmöglich ſchien. Mit albernem, läppiſchem
Zeitvertreib brachte er ſeine Tage dahin und fühlte ſich wohl in ſchlechter
Geſellſchaft, die freilich nicht murren durfte, wenn es ihm plötzlich einfiel
den Fürſten herauszukehren. Roh, ungebildet, grob ſinnlich, jähzornig,
nicht ohne Verſtand und derben Humor, lernte er niemals ernſthaft zu
arbeiten. Als eingefleiſchter Däne haßte er alles Fremde; die ausgelaſſene
Luſtigkeit der Matroſen, die in der C4’s Halle und in den anderen Spe-
lunken an der Kopenhagener Knüppelbrücke ihre Späße trieben, behagte
[587]Geſammtſtaats-Pläne. Friedrich VII.
ihm beſſer als das gemeſſene Weſen der Schleswigholſteiner. Den libe-
ralen Ideen war er nicht feind, obgleich er eigentlich gar keine politiſchen
Grundſätze beſaß. Von ſeinem Vater hatte er nichts geerbt als die Furcht-
ſamkeit und die unkriegeriſchen bequemen Gewohnheiten. Friſch und männ-
lich erſchien der Schwerfällige nur, ſobald er an Bord eines Schiffes trat;
wenn ihn irgend etwas begeiſtern konnte, ſo waren es die Erinnerungen
an die Seekönige des Nordens, und das alte Volkslied: König Chriſtian
ſtand am hohen Maſt!
Der alte König hatte noch während ſeiner letzten Krankheit in einem
langen Briefe ſeine Rathſchläge für die neue Regierung niedergelegt. Der
Nachfolger zeigte ſich zuerſt ganz als guter Sohn; er ernannte, nach des
Vaters Wunſche, den Grafen Carl Moltke zum Staatsminiſter und ver-
kündete durch ein Manifeſt alsbald den Entſchluß, die von ſeinem Vor-
gänger „beabſichtigte Ordnung der öffentlichen Verhältniſſe zu Ende zu
bringen“. Die den politiſchen Verbrechern gewährte Amneſtie mußte den
Herzogthümern freilich wie Hohn klingen, weil dort keiner der zahlreichen
Proceſſe zu einer Verurtheilung geführt hatte. Aber ſchon am 28. Jan. berief
ein königliches Kanzlei-Patent 52 erfahrene Männer, je 26 aus dem König-
reiche und aus Schleswigholſtein, nach der Hauptſtadt um ihr Gutachten
abzugeben über die Geſammtſtaatsverfaſſung des verſtorbenen Monarchen.
Sechzehn davon ernannte der König ſelbſt, die übrigen wurden vom Lande
erwählt. Auch die Form war klug berechnet; das Patent ſprach immer
nur von „Unſerem Königreich Dänemark und Unſeren Herzogthümern
Schleswig und Holſtein“, es ſchien alſo die ſtaatsrechtliche Verbindung der
beiden deutſchen Lande ſtillſchweigend anzuerkennen. Der Verfaſſungsplan
ſchloß ſich eng an das Vorbild Preußens an; die Provinziallandtage blieben
erhalten, doch über ihnen ſtand künftighin ein Geſammtſtaats-Reichstag,
der, bald im Königreiche bald in den Herzogthümern tagend, über ge-
meinſame Geſetze und neue Steuern frei beſchließen ſollte. Es war das
letzte Meiſterſtück des liſtigen alten Königs. Die ſcheinbare Gleichſtellung
der beiden ungleichen Hälften des Geſammtſtaats ſollte den Deutſchen
ſchmeicheln; und doch konnte die Krone hoffen, durch ihre ſechzehn Ver-
trauensmänner ſowohl die Schleswigholſteiner wie die radicalen Eider-
dänen niederzuhalten. Hätte König Chriſtian noch gelebt, ſo war ein Er-
folg, freilich nur für den Augenblick, vielleicht denkbar. Doch was ließ
ſich jetzt erwarten, unter einem Monarchen, dem die Dänen niemals Ach-
tung, die Deutſchen niemals Vertrauen ſchenken konnten?
Sowie der alte König die Augen geſchloſſen hatte, trat die Kopenhagener
Demokratie höchſt ungebärdig auf. Eine Schrift der Profeſſoren Clauſen
und Schouw verkündete ſofort in ungeſtümer, drohender Sprache das eider-
däniſche Programm: Daniſirung Schleswigs, Abtrennung Holſteins. Eine
Verſammlung von Stadtvertretern, die der alte Heißſporn Etatsrath Hvidt
berufen hatte, ſendete dem neuen Herrſcher eine Deputation in’s Schloß
[588]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
um ſofortige Aenderung der Verfaſſung zu verlangen. König Friedrich
ließ die Abgeſandten nicht vor, aber zugleich berief er ſeinen Freund
Bardenfleth, einen fanatiſchen Dänen, in das Miniſterium. Die Eider-
dänen witterten Morgenluft; ſie verlangten ſtürmiſch, die erfahrenen Männer
müßten nach der Kopfzahl erwählt werden, alſo je fünf Dänen auf drei
Deutſche. Die Schleswigholſteiner hingegen bemühten ſich bis zum letzten
Augenblicke in den Schranken der Mäßigung zu verbleiben; ſie wollten
die dargebotene Hand des neuen König-Herzogs nicht von ſich ſtoßen. Auf
einer Zuſammenkunft in Kiel, wo ſich die Landtagsabgeordneten beider
Herzogthümer vollzählig einfanden, ſprachen Reventlow und Beſeler ſehr
beſonnen; man beſchloß (17. Febr.), die Wahl der erfahrenen Männer
vorzunehmen. Aber jedem der Gewählten wurde anheimgegeben, das deut-
ſche Recht nach Gewiſſenspflicht zu verwahren. An eine friedliche Ver-
ſtändigung glaubten nur noch Wenige; Reventlow und Beſeler hatten
bereits im letzten Herbſt die Möglichkeit eines offenen Kampfes zuſammen
erwogen. Schon die Einberufung dieſer Verſammlung ſelber, die doch
nichts anderes war als ein Vereinigter Landtag Schleswigholſteins, zeigte
deutlich, wie der alte Geſammtſtaat aus den Fugen ging. Die Auguſten-
burger begannen alsbald die Brücken hinter ſich abzubrechen. Bei Chriſtian’s
pomphaftem Begräbniß war keiner aus ihrer Linie zugegen; und als ihnen
der neue Herrſcher, allerdings gegen den Hausbrauch der letzten Jahr-
zehnte, die Erneuerung ihres Huldigungseides zumuthete, da weigerte ſich
der Herzog ſowohl wie der Prinz von Noer. König Friedrich ſah in Alle-
dem berechnete Auflehnung.*)
So geſpannt war die Lage. Jeden Augenblick konnte die nationale
Leidenſchaft hüben oder drüben losbrechen und das blutige Spiel um
Deutſchlands Nordmark beginnen. Der König von Preußen bemerkte
dies wohl. Er ſendete bald nach dem Thronwechſel ſeinen vertrauten
General Gerlach nach Kopenhagen, angeblich um ſein Beileid auszuſprechen,
in Wahrheit um zu beobachten und nöthigenfalls zu rathen. Canitz ließ den
General durch den geſcheidten Legationsrath Grafen Hans v. Bülow über die
däniſchen Verhältniſſe genau unterrichten und ertheilte ihm ſelbſt (4. Febr.)
ausführliche Weiſungen, die nur von Neuem bewieſen, wie harmlos ehr-
lich die preußiſche Regierung verfuhr, aber auch, wie wenig ſie den Ernſt
der Zeit und die Macht der nationalen Gegenſätze verſtand. Noch immer
betrachtete Canitz den Streit zwiſchen Dänen und Deutſchen als baare
Thorheit; er hielt Dänemark für Deutſchlands natürlichen Verbündeten,
da ſeine Flotte ja bei uns keinen Nebenbuhler zu fürchten hätte. Dieſen
Verbündeten wollte er nicht ſchwächen; darum verwarf er ſowohl die Politik
der Eiderdänen, die in blindem Deutſchenhaß ihren eigenen Vortheil ver-
kännten, wie den Plan Schleswig für Deutſchland zu erobern, einen Plan,
[589]Erfahrene Männer. Gerlach in Kopenhagen.
der „aus einer unrichtigen, wenigſtens unklaren Auffaſſung des Begriffes
der Nationalität entſpringe“. Er wünſchte nach wie vor die Integrität
der däniſchen Monarchie, womöglich unter dem auguſtenburgiſchen Herr-
ſcherhauſe. Aber an den althiſtoriſchen Rechten der Herzogthümer hielt
er feſt: „wir müſſen vorangehen; es iſt eine von den ſeltenen Sachen,
wo wir auf die Zuſtimmung der deutſchen Bundesregierungen rechnen
können.“*)
Durch Unwetter aufgehalten konnte Gerlach erſt am 15. Febr. in
der däniſchen Hauptſtadt eintreffen. Unterwegs hatte er Falck, Reventlow
ſowie andere deutſche Patrioten geſprochen und fühlte ſich angenehm über-
raſcht, in dieſen Schleswigholſteinern, die doch mit allen deutſchen „Wüh-
lern“ verbündet waren, ſo conſervative Männer kennen zu lernen. Dieſe
unſchuldigen Geſpräche, bei denen er ſtreng die Rolle des vorſichtigen Be-
obachters einhielt, wurden ihm freilich von den Dänen als verrätheriſche
Umtriebe angerechnet. In Kopenhagen bemerkte er ſogleich, wie Alles aus
Rand und Band ging. Er durchſchaute die vollendete Nichtigkeit Fried-
rich’s VII. und die Zwietracht ſeiner Räthe, die Schwäche des einzigen deutſch-
geſinnten Miniſters Heinrich Reventlow; er begriff, daß die Verfaſſung un-
möglich gelingen konnte ſo lange die Erbfolgefrage in der Schwebe blieb; er
erkannte ſogar, daß weder die Dänen noch die Deutſchen mehr an die Inte-
grität des alten Geſammtſtaats glaubten. Aber wie ſcharfſinnig er auch im
Einzelnen urtheilte, eine kühne nationale Politik hielt er für eine Träumerei
der „Germanomanen“; an die Möglichkeit einer Machterweiterung Preußens
dachte er niemals. Sein letzter Rath ging dahin: Preußen ſollte ſich zu-
nächſt mit Rußland und Oeſterreich verſtändigen, damit nachher die dä-
niſche Thronfolge, wie einſt die badiſche, durch eine europäiſche Entſcheidung
friedlich geregelt würde. Als Graf Reventlow-Preetz ihn beſtimmt fragte:
wird der Deutſche Bund uns Holſten ſchützen falls Dänemark uns eine
Verfaſſung aufzuzwingen oder Schleswig von uns loszureißen wagt? —
da anwortete der General ausweichend, Schleswig gehöre ja nicht zum
Bunde, und rechtfertigte ſich vor ſeinem Monarchen alſo: „Ich glaube
nicht, da der Fall mir wenigſtens nicht klar iſt, durch die Autorität des
Abgeſandten Ew. Maj. die Oppoſition der Herzogthümer verſtärken zu
dürfen.“**) Wahrlich, Preußen durfte wie der Sohn des Laios ſagen:
ſo, gar nichts ahnend kam ich nun wohin ich kam! Währenddem tobte
die geſammte Preſſe Weſteuropas wider la politique envahissante de
l’Allemagne; und über König Friedrich Wilhelm, den man aus ſeinen
Reden doch endlich kennen mußte, urtheilte Lamartine: das ſei ein fürchter-
licher Kraftmenſch, „fähig Alles zu verſtehen, Alles zu verſuchen, Alles
zu wagen!“
[590]V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
Der preußiſche Abgeſandte weilte ſchon ſeit zwei Wochen am Sunde
und dachte noch länger zu bleiben; da kam am 2. März die Nachricht
von dem Sturze des Julikönigthums und zwang ihn zu ſchleuniger Heim-
kehr. Kaum hatte er die Inſel verlaſſen, ſo fand die Pariſer Revolution
in Kopenhagen einen donnernden Widerhall. Eine ſtürmiſche Volkser-
hebung warf die Geſammtſtaatspläne über den Haufen, führte die eider-
däniſche Partei an’s Ruder und zwang den König Friedrich zu einer Ge-
waltthat, die ſeinen ſtillen Herzensmeinungen wohl entſprechen mochte.
Mit einem Federzuge wurde die vierhundertjährige Einheit Schleswighol-
ſteins vernichtet. Jetzt blieb keine Wahl mehr. Vor dem ehrlichen Radi-
calismus des Krieges mußte jede Halbheit verſchwinden. Unſere Nord-
mark ſtand vor der Frage: däniſch oder deutſch? —
[[591]]
Achter Abſchnitt.
Der Vereinigte Landtag.
Nach ſo vielen Enttäuſchungen und Niederlagen blickte König Fried-
rich Wilhelm noch immer ſorglos, heiter in das Leben. Wie ein humo-
riſtiſcher Künſtler verſtand er, ſobald der erſte Zorn verraucht war, jedes
Aergerniß mit einem guten oder ſchlechten Witze von ſich abzuſchütteln;
und wenn er ſich zuweilen ſelber anklagte, ſo erhob er ſich ſtets wieder
an dem Glauben, daß er kraft der göttlichen Weihe ſeiner Krone den
Lauf der Welt beſſer überſähe als alle anderen Sterblichen. So ſchritt
er über den Wolken dahin, im Wahne ſeiner königlichen Unfehlbarkeit. Und
wie einſam war es um ihn geworden in kurzen fünf Jahren. An ſeine
ſtaatsmänniſche Weisheit glaubten nur noch Wenige, bei jedem Schritte
ſtieß er auf ein unüberwindliches Mißtrauen; Eichhorn und Bodelſchwingh
vernutzten ihre edle Kraft im ausſichtsloſen Kampfe wider eine öffentliche
Meinung, die mit all’ ihrer Thorheit doch eine lebendige Macht war.
Der Volksgunſt erfreute ſich unter allen Miniſtern nur einer, General
Boyen. Der Organiſator der Landwehr galt nach der volksthümlichen
Legende zugleich für einen Märtyrer liberaler Ueberzeugungstreue, und
ſein tapferes Landwehrlied: „Recht, Licht und Schwert“, das der König
doch ſelbſt mit herzlicher Freude aufgenommen hatte, wurde von den Un-
zufriedenen ſogar zur Verhöhnung der Regierung mißbraucht. Als Eich-
horn bei einem Berliner ſtädtiſchen Feſte einen Trinkſpruch ausbrachte
und auch auf kirchliche Dinge zu reden kam, da unterbrachen ihn die
Hörer ſtürmiſch; ſie verlangten, daß Boyen’s Nationallied geſpielt würde,
und ſangen dem Miniſter unter ſpöttiſchem Jubel die Verſe zu:
Solche Auftritte kränkten den alten Helden tief, denn immer hatte er hoch über
den Parteien geſtanden. Je ſchmerzlicher er fühlte, daß ſeine rationaliſtiſche
Frömmigkeit von der kirchlichen Romantik des Königs weit abſtand, um
ſo ernſter bethätigte er überall ſeine ſtreng monarchiſche Geſinnung. Vom
Heerde des Radicalismus flogen dann und wann ſchon einige Funken
[592]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
in die Armee hinüber; die Leutnants Anneke, Willich und einige andere
junge Offiziere wurden entlaſſen, weil ſie republikaniſche oder auch com-
muniſtiſche Lehren mit dreiſter Unbefangenheit verbreiteten. Sie fanden
in der Preſſe begeiſterte Fürſprecher, mehrere von ihnen tauchten nachher
als Barrikadenkämpfer wieder auf. Bei dieſen Unterſuchungen zeigte ſich
Boyen ſtets unerbittlich, zum Erſtaunen ſeiner liberalen Bewunderer; er
wußte, was die Treue im Heere bedeutet.
Seine zweite Amtsführung brachte der Armee — außer der neuen
Uniformirung, die weſentlich des Königs eigenes Werk war — noch eine
folgenreiche Reform: nach langjährigen Verſuchen und Berathungen wurde
(1847) beſchloſſen, das leichte Percuſſionsgewehr, den Dreyſe’ſchen Zünd-
nadel-Hinterlader nach und nach bei der geſammten Infanterie einzu-
führen. Leicht war der Entſchluß nicht. Zwar Boyen ſelbſt, der Alles
in großem Stile trieb und die Gegenwart gern in ihrem hiſtoriſchen Zu-
ſammenhange auffaßte, erklärte zuverſichtlich, dieſe Reform entſpreche den
alten Traditionen des preußiſchen Fußvolks, das ja immer, ſchon in den
Tagen des Großen Kurfürſten und des alten Deſſauers, durch raſches
Feuern ſeine Ueberlegenheit gezeigt hatte; auch der leicht begeiſterte König
weiſſagte der neuen Waffe glänzende Erfolge für das Vaterland. Aber
viele tüchtige Offiziere hegten ernſte Bedenken; ſie hielten für unzweifel-
haft, daß eine mit ſo raſch feuernden Gewehren bewaffnete Truppe ſich
ſchon beim Beginn des Gefechts verſchießen und bald wehrlos daſtehen
müſſe, denn kein Führer ſei im Stande, die Mannſchaft ganz in ſeiner
Hand zu halten, ihre Blutleckerei oder auch ihre Furcht ſicher zu bän-
digen. Glücklicherweiſe wurde dieſe Meinung überall im Auslande ge-
theilt. Niemand mochte dem preußiſchen Beiſpiele folgen, am wenigſten
die kleinen deutſchen Heere, denn die einen hemmte die Bequemlichkeit, die
anderen das Mißtrauen gegen Alles was aus Preußen kam. So blieb
dem preußiſchen Heere genügende Zeit, die neue Bewaffnung vollſtändig
einzuführen und zugleich die Mannszucht des Fußvolks ſo ſtreng und ſicher
durchzubilden, daß jeder Gemeine ſein Gewehr mit Ueberlegung handhabte.
Nach neunzehn Jahren ſollte die Welt erfahren, welch ein Vermächtniß
Boyen ſeinem Volke mit dieſer Waffe hinterlaſſen hatte.
Aus ſeiner altväteriſchen Höflichkeit klang noch der gefühlvolle Ton
des Zeitalters der Befreiungskriege heraus. Ueberkluge Leute meinten
wohl, der Alte hätte ſich überlebt, und den raſchen Wagemuth ſeiner
Jugend beſaß er allerdings nicht mehr ganz, aber auf neue Ideen ging er
noch immer freudig ein. Oberſtleutnant Griesheim und andere Offiziere
ſeines Miniſteriums dienten ihm als einſichtige Gehilfen, und in den
zahlreichen Commiſſionsberathungen dieſer Jahre erwarb er ſich auch, trotz
mancher Meinungsverſchiedenheit, die Freundſchaft und Bewunderung des
Prinzen von Preußen. Unter des Prinzen entſcheidender Mitwirkung
ward ein vereinfachtes Exercirreglement für die Infanterie vollendet;
[593]Boyen’s zweite Amtsführung.
auch der fröhliche fridericianiſche Reitergeiſt belebte ſich wieder und die
ſteifen Paradekünſte der langen Friedenszeit geriethen in Verruf, ſeit
General Wrangel auf den Cavalleriemanövern von 1843 gezeigt hatte,
was der weit ausholende Angriff großer Reitermaſſen zu leiſten vermag.
Inzwiſchen erhielt die Armee neue Kriegsartikel und ein wohl durchdachtes
Militärſtrafgeſetzbuch, woran die Räthe des Juſtizminiſteriums und die
Offiziere gemeinſam gearbeitet hatten.
Die Organiſation des Heeres aber, deren Mängel doch mit jedem
Jahre greller hervortraten, blieb leider unverändert. Je ſtärker die Be-
völkerung anwuchs, um ſo weiter entfernte man ſich unwillkürlich von
dem großen Grundſatze der allgemeinen Wehrpflicht. Die Maſſe der
Reclamationen, welche bei den Mobilmachungen der dreißiger Jahre und
nachher noch bei jeder Landwehrübung einliefen, bewies keineswegs, wie die
Schwarzſeher behaupteten, daß der opferfreudige Sinn im preußiſchen
Volke erſtorben war, ſie war vielmehr nur die natürliche Folge der fehler-
haften Heeresverfaſſung. Mußte der Landwehrmann nicht über Ungerech-
tigkeit klagen, wenn er von Weib und Kind, von den dringenden Arbeiten
ſeines Geſchäfts hinweggerufen wurde, während tauſende jüngerer, wehr-
kräftiger Männer dienſtfrei blieben? Boyen entwickelte die Gedanken, die
ihn bei ſeinem Wehrgeſetze geleitet hatten, kurz vor ſeinem Rücktritt (1847)
noch einmal in einer großen Denkſchrift „Ueberblick der preußiſchen Heer-
verfaſſung und ihrer Koſten ſeit dem Großen Kurfürſten“. Er wollte „ein
von der übrigen Landesbewaffnung getrennt zu bewegendes ſtehendes Heer“,
denn eine reine Linien-Armee ſei, wegen der Maſſe der Beurlaubten, „vor
erklärtem Kriege das unbeweglichſte Ding von der Welt“. Er verlangte,
dies ſtehende Heer müſſe zu einem Viertel aus altgedienten Capitulanten
beſtehen und ſo ſtark ſein, daß bei dreijähriger Dienſtzeit die geſammte
Mannſchaft der Landwehr in ſeinen Reihen ausgebildet würde. Aber wie
wenig entſprach die Wirklichkeit dieſen wohlberechtigten Grundſätzen! Die
ſtehende Armee war ſo ſchwach, daß ſie getrennt von der Landwehr nicht
wirkſam bewegt werden konnte. Nicht zum Kriege, ſondern lediglich zur
Bewachung ſeiner Grenzen hatte der Staat nach 1830, unter ſchwerer
Schädigung der Volkswirthſchaft, den größten Theil des erſten Aufgebots
der Landwehr unter die Fahnen rufen müſſen. Die Zahl der Capitulanten
wurde ſtark herabgeſetzt, da bei dem ſteigenden Arbeitslohn der bürgerlichen
Gewerbe der Soldatendienſt ſo wenig lockend erſchien; man verlangte ihrer
nur noch 720 für die vier Linien-Infanterieregimenter jedes Armeecorps.
Doch ſelbſt dieſen verringerten Anforderungen wurde nicht von fern ge-
nügt: das arme Oſtpreußen, das noch die meiſten ſchlecht gelohnten Arbeiter
beſaß, ſtellte für ſein erſtes Armeecorps (1847) nur 449 Capitulanten,
das rheiniſche Armeecorps zählte ihrer gar nur 150.
Zudem diente die Maſſe der Mannſchaft jetzt nur noch zwei Jahre. Sehr
ungern, „allein dem Drange der Umſtände“ weichend, hatte der alte König
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 38
[594]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
einſt dies leidige Auskunftsmittel falſcher Sparſamkeit genehmigt und nachher
(1837) ausdrücklich verfügt, die Neuerung müſſe aufhören, ſobald „die Ver-
hältniſſe die allgemeine Verlängerung der Dienſtzeit bei der Infanterie
geſtatteten“. Seine Befürchtungen rechtfertigten ſich nur zu ſehr. Die
zweijährige Dienſtzeit brachte zwar den doppelten Vortheil, daß nunmehr
eine ſtärkere Anzahl von Wehrpflichtigen eingeſtellt und alle Landwehr-
männer im ſtehenden Heere ausgebildet werden konnten, während im Jahre
1831 noch die größere Hälfte der Landwehr aus mangelhaft oder gar nicht
geſchulten Landwehr-Rekruten beſtanden hatte. Dafür ſank die Kriegs-
tüchtigkeit der Linie ſelbſt; die faulen und unluſtigen Leute ließen ſich
gehen, da ſie wußten, daß ſie doch alleſammt nach zwei Jahren entlaſſen
würden, die Offiziere erlagen faſt der Laſt der Arbeit, ſeit ſie Jahr für
Jahr die Hälfte ihrer Compagnie neu ausbilden mußten, und immer wie-
der mahnte der Prinz von Preußen: die Erfahrung lehre, daß dieſe un-
mäßig verkürzte Dienſtzeit die Armee verderbe.
Wohl ſtand das preußiſche Heer noch immer unter allen deutſchen
Contingenten obenan; doch dies wollte leider nicht viel ſagen. Sollte
Preußen ſeiner großen Zukunft ſicher entgegengehen, ſo mußte endlich
einmal eine ſtarke Ausgabe für das ſo lange kümmerlich behandelte Heer
gewagt werden. Die Finanzen blühten, die wirthſchaftliche Kraft des Volks
war jetzt genugſam erſtarkt. Solches vermochte freilich nur ein ſtarker
Wille, denn in dieſem Staate hing das Heerweſen mit der geſammten
Verfaſſung innig zuſammen. Wenn die Krone den unſeligen Verfaſſungs-
ſtreit rechtzeitig abſchloß, ſo daß ſie fortan den Eiſenbahnbau durch un-
anfechtbare Anleihen ſichern konnte, dann boten ihr die reichen Ueber-
ſchüſſe des Staatshaushalts und vielleicht noch ein mäßiger Steuerzuſchlag
vollauf genügende Mittel um die geſetzliche dreijährige Dienſtzeit wieder
einzuführen und das ſtehende Heer durch einige Jahrgänge der jüngſten
Wehrmänner alſo zu verſtärken, daß die Maſſe der Landwehr, ihrem ur-
ſprünglichen Berufe gemäß, der Regel nach nur in der Heimath zu dienen
brauchte. An ſo kühne Reformgedanken wollte aber Boyen jetzt im hohen
Alter nicht mehr herantreten. Ihm verdankte Preußen das Wehrgeſetz,
und zweimal im Leben einen ſo großen Wurf zu wagen überſteigt faſt
die Kräfte eines Mannes. Der friedfertige König vollends war für ver-
wegene militäriſche Pläne ganz unzugänglich, er hatte ſich heilig vor-
genommen, die Steuern bei ſeinen Lebzeiten nie zu erhöhen; und nun gar
die öffentliche Meinung, die beſtändig über die ſchwere Militärlaſt klagte,
hätte damals eine Verſtärkung des Heeres gradezu als Wahnſinn betrachtet,
ſie bedurfte noch langer, wirrenreicher Jahre, bis ſie das Nothwendige
endlich einſah. So blieb es denn bei der alten Ordnung, das ſtehende
Heer vermehrte ſich, trotz der ſtärkeren Einſtellung, nicht um einen Mann.
Die Ausgaben für das Heer ſtiegen in dieſen acht Jahren von 25 auf
mehr als 28 Mill. Thlr., weil die Neubewaffnung des Fußvolks, die Um-
[595]Zweijährige Dienſtzeit. Linie und Landwehr.
arbeitung der Feldgeſchütze, die dringend nöthigen Soldzulagen für ältere
Unteroffiziere großen Aufwand forderten. Dafür ſuchte man im Einzelnen
ängſtlich, oft zum Schaden des Dienſtes zu ſparen. Sogar die Uebungen
der Linientruppen wurden verkürzt, und ſelbſt für den Kriegsfall verſprach
man ſich beträchtliche Erſparungen von einem neu ausgearbeiteten Mo-
bilmachungsplane.*) Als der Kriegsminiſter zum zweiten male zurücktrat,
da war das Heer treu wie Gold und nach wie vor ſehr tüchtig, aber in
ſeiner Organiſation ſo mangelhaft, daß ihm in unruhiger Zeit peinliche
Erfahrungen nicht erſpart bleiben konnten.
Weil er ſeine Landwehr überſchätzte hatte Boyen einſt zum erſten
male ſein Amt aufgeben müſſen, und ſeltſamerweiſe war er in zwanzig
Friedensjahren von dieſem alten Lieblingsgedanken noch nicht ganz los-
gekommen. Nichts lag dem genialen Manne ferner als die laienhafte
Schwärmerei für ein ungeſchultes Volksheer. Wenn man ihn fragte,
warum er nicht einfach die improviſirte Landwehr des Jahres 1813 bei-
behalten habe, dann antwortete er ſcharf: „weil ich etwas Beſſeres wollte
als was die Noth geboren hatte.“ Gleichwohl verlangte er, daß die Land-
wehr, die doch jetzt nur aus gedienten Soldaten beſtand, unabhängig neben
der Linie ſtehen müſſe. „Es liegt im Geiſte der Landwehr“, ſo ſagte er
noch in ſeiner letzten Denkſchrift, „daß ihre Offiziere bis zum Hauptmann
aus ihr ſelbſt hervorgehen;“ jungen Leutnants von der Linie wollte er
die Führung alter Wehrmänner nicht anvertrauen. Unter den faſt durch-
weg patriotiſchen und wiſſenſchaftlich gebildeten Landwehroffizieren befanden
ſich aber nach ſo langer Friedenszeit nur noch wenige ſtreng militäriſch
geſchulte, und unter dieſen wieder nur wenige, die ſich jederzeit von den
Pflichten ihres bürgerlichen Berufes befreien konnten um der Fahne zu
folgen. Da die Landwehr auch an brauchbaren Unteroffizieren Mangel litt,
ſo bedurfte ſie durchaus einer großen Zahl abcommandirter Linienoffiziere,
zumal für die verantwortlichen Stellen der Compagnieführer. Darum
hatte der alte König immer, gegen Boyen’s Widerſpruch, die geſchloſſene
Einheit des Heeres, die feſte Verbindung zwiſchen Linie und Landwehr
zu wahren geſucht. Dieſe Meinung vertraten auch jetzt noch nachdrücklich
der Prinz von Preußen und der vertraute General à la suite v. Forſtner.
Der neue König aber ließ den Kriegsminiſter gewähren, und Boyen er-
nannte, im feſten Vertrauen auf die bürgerliche „Intelligenz“, nach und
nach eine große Anzahl von Landwehrhauptleuten — bis ſich dann in
den Revolutionsjahren herausſtellte, daß grade in den weſtlichen Provinzen,
die ſich ſo gern ihrer überlegenen Bildung rühmten, die Menge der unab-
kömmlichen oder unverwendbaren Landwehroffiziere beſonders groß war.
Erſtaunlich doch, wie der preußiſche Organiſator auf dieſem Gebiete
38*
[596]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſo ganz anders verfuhr als ſein Vorbild Carnot. Der Franzoſe hatte einſt
das Heer gekräftigt durch die Vereinigung der Linie mit dem Volksauf-
gebote, der Deutſche ſuchte beide ſtreng auseinanderzuhalten. Er erwirkte
ſogar (1847) einen königlichen Befehl, kraft deſſen auch die Landwehr-
ſchwadronen künftighin nur im Nothfalle durch Linienoffiziere befehligt
werden ſollten; und doch ließen ſich rüſtige Landwehrrittmeiſter noch weit
ſchwerer auffinden als tüchtige Landwehrhauptleute. Er beförderte ſelbſt
einzelne Landwehroffiziere in die Stabsoffiziersſtellen, was ſeit 1820 faſt
nie mehr geſchehen war. Auch das übertriebene Lob, das er nach jedem
Manöver den Landwehren ſpenden ließ, wirkte ſchädlich. In dieſer Be-
günſtigung der Landwehr lag die Schwäche ſeiner zweiten Amtsführung,
und es konnte nicht fehlen, daß die Linienoffiziere oft über ihn klagten;
ſelbſt General Canitz ſprach von dem alten Kriegsminiſter mit der ärgſten
Ungerechtigkeit. Ohnehin hatte der langweilige Frieden in der Armee viel
böſes Blut aufgeregt. Das Avancement ſtockte gänzlich; die Hauptleute
waren im Durchſchnitt älter als vor der Schlacht von Jena, zudem ſchlechter
bezahlt und unvergleichlich ſtärker beſchäftigt. Die Linienregimenter murrten,
weil die Garde ihnen die von ihr ſelbſt ſchlecht ausgebildeten Offiziere
zuſendete. Ueber den unmilitäriſchen Monarchen erlaubten ſich ſelbſt die
jüngeren königlichen Prinzen zuweilen rückſichtsloſe Urtheile.*) Seit dem
Tode Grolman’s (1843) war der Prinz von Preußen die Hoffnung der
Armee, und von ihm wußte man doch auch, daß er mit dem königlichen
Bruder wenig übereinſtimmte, obſchon er im Kreiſe der Offiziere ſtets eine
gemeſſene Haltung bewahrte.
Anhaltende Streitigkeiten zwiſchen dem Heere und dem Volke ſind
in einem Staate der allgemeinen Wehrpflicht ſtets ein Zeichen verſchro-
bener politiſcher Zuſtände, und in der That ließ es ſich nur aus der
krankhaften Verſtimmung der Zeit erklären, daß unter der Verwaltung
eines für liberal gehaltenen Kriegsminiſters Bürger und Soldaten häufiger
als je zuvor mit einander in Händel geriethen. Einige Schuld trugen die
Offiziere ſelbſt. Der hochmüthige Ton von 1806 wurde oft wieder laut,
in Berlin gab der Gouverneur General Müffling durch ſchnöde Behand-
lung der Gemeindebehörden ein ſchlechtes Beiſpiel. Die größere Schuld
trugen jedoch die Parteimänner der Oppoſition, die in ſelbſtmörderiſcher
Verblendung das Heer reizten und beſchimpften, während die franzöſiſchen
Demagogen den Truppen klug zu ſchmeicheln wußten. Den Flugſchriften
der Flüchtlinge ſchien kein Schmähwort zu gemein für die Hundetreue
der verthierten Söldlinge, aber auch die Blätter der gemäßigten Liberalen
redeten vom Heere mit einer verſtändnißloſen Gehäſſigkeit, die wir heute
kaum noch begreifen. Da hießen die Cadettenhäuſer „Mißgeburten einer
[597]Streitigkeiten zwiſchen Heer und Bürgerthum.
fernen Zeit“, die Kaſernen Freiſtätten des Laſters und der Menſchen-
quälerei, die Offiziere anmaßende Müßiggänger, das ganze Heerweſen ein
leeres Spiel, das durch Bürgerwehren oder Milizen erſetzt werden müßte.
Das alt hergebrachte Duzen, ja ſelbſt der urgermaniſche Name der „Ge-
meinen“ wurde als ehrenrührig und kränkend gebrandmarkt. Die preu-
ßiſche Armee galt ſchon darum für beſonders volksfeindlich, weil hier der
von den Liberalen verlangte Verfaſſungseid der Truppen noch unmög-
lich war. Zu dieſer alten Forderung der Geſinnungstüchtigen traten
jetzt neue hinzu: außer Reih und Glied ſollten die Offiziere keine Uni-
form, die Soldaten keine Waffe tragen, und — das war das belieb-
teſte Schlagwort des Tages — außer Dienſt mußte überhaupt voll-
kommene Gleichheit beſtehen, wie angeblich in Frankreich, nur im Dienſte
durfte der Offizier Gehorſam und Gruß verlangen. Wenn manche Ra-
dicale hofften durch ſolches Gerede die Mannſchaft wider ihre Führer auf-
zuwiegeln, ſo ſahen ſie ſich bald enttäuſcht: das Band der Kameradſchaft
hielt feſt, das ganze Heer fühlte ſich beleidigt durch ſo mannichfache Zei-
chen einer Geringſchätzung, welche gegenüber den verwahrloſten Truppen
vieler Kleinſtaaten wohl begreiflich, in Preußen aber nichts als grober
Undank war.
In Königsberg überwarf ſich General Dohna mit der liberalen
Bürgerſchaft noch ſchneller als ſein Vorgänger Wrangel. Als einer
ſeiner Leutnants einen Referendar wegen Majeſtätsbeleidigung in einem
öffentlichen Bürgergarten forderte und dann im Zweikampf erſchoß, da
nahm die geſammte Bürgerſchaft für den Erſchoſſenen Partei. Sie ver-
langte, daß den Offizieren der Beſuch des Gartens verboten würde; der
commandirende General, der ſeine Verachtung gegen die Anhänger Jacoby’s
allerdings ſehr ſchroff ausſprach, wechſelte mit den Gemeindebehörden
gereizte Erklärungen. Seit die Conſervativen Königsbergs ſich zur Be-
kämpfung der herrſchenden „Jacobyner“ ein ſchlagfertiges Blatt, den „Frei-
müthigen“ geſchaffen hatten, wurde der allezeit harte Parteihaß der Oſt-
preußen maßlos heftig. Aehnliche Auftritte ſpielten in anderen Garniſonen;
in Mainz, in Coblenz, in Köln verſuchte man mißliebige Offiziere aus
den Caſinos auszuſchließen; es ſchien faſt, als könnten des Königs Rock
und das Bürgerkleid nicht mehr friedlich in einem Saale beiſammen
weilen. Auf der Kölniſchen Kirmes (1847) mußten die Truppen den
lärmenden Pöbel mit der blanken Waffe auseinander treiben, wobei ein
Faßbinder erſtochen wurde; ein prächtiger Leichenzug verherrlichte den
Gefallenen, die Bürger traten in Sectionen zuſammen um Zeugen zu
vernehmen und die Ruhe zu ſichern, was den ängſtlichen Behörden ſchon
als eine Erinnerung an die Pariſer Revolutionszeit ganz ungehörig er-
ſchien. Leider verſchärfte der König ſelbſt die Mißſtimmung, indem er
perſönlich in dieſe armſeligen Händel eingriff. Die Königsberger Stadt-
vertreter berief er bei einem neuen Beſuche Altpreußens (1845) ſelber zu
[598]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſich und vermahnte ſie ſcharf wegen jenes Duells: „ſonſt wird von dem
was man Gnade nennt nicht mehr die Rede ſein.“ Als ſie ſich verthei-
digten, belehrte er ſie durch den Oberpräſidenten alſo: „daß die ritterliche
Treue gegen den Landesherrn auch in ihrer Uebertreibung ſchön und
herzerwärmend ſein kann, daß hingegen die auch noch ſo indirecte Scho-
nung entgegengeſetzter Tendenzen und die Verweigerung, die Hand zu
einem edlen Werke des Friedens zu bieten unſchön und herzerkältend iſt.“
Der „ſkandalöſe Coblenzer Caſinobeſchluß“ erbitterte ihn tief, und über die
Kölner Zwiſtigkeiten ſchrieb er gar: „Sollte das Canaillen-Pack die Ober-
hand im Caſino behalten, ſo müſſen die Civil- und Juſtizbehörden „Alle“
auf dem Fleck ausſcheiden. Wer etwa nicht will, zeigt dadurch eine ſo
qualificirte Geſinnung, daß die Erklärung im Voraus gerechtfertigt iſt:
es werde ihr Verharren in einer ſolchen Gemeinſchaft als ihr
Abſchiedsgeſuch betrachtet werden. Hier gilts Charakter und Energie
zeigen.“*)
Für das Heer hatte Friedrich Wilhelm niemals eine große Umgeſtal-
tung beabſichtigt. Die ſo lange vorbereitete Juſtizreform hingegen lag
ihm nahe am Herzen, und wie wenig entſprach der große Gelehrte, dem
er dieſe Aufgabe anvertraut hatte, ſeinen Erwartungen. Von der leben-
digen Legislation, welche Savigny’s Freunde erwarteten, ließ ſich wenig
ſpüren: das Preßgeſetz kam nicht zu Stande, das Eheſcheidungsgeſetz
blieb ein Bruchſtück. Glänzende wiſſenſchaftliche Namen, wie ſie in ſolcher
Fülle noch keinem modernen Geſetzgeber zu Gebote geſtanden hatten, wurden
nach und nach zur Mitarbeit herbeigerufen: C. F. Eichhorn, Puchta,
Homeyer, Stahl, Heffter, Bethmann-Hollweg und Andere; und doch wollte
nichts gelingen. Niemals hat ſich ſo unwiderleglich die Wahrheit erwieſen,
daß alle Rechtspflege eine politiſche Thätigkeit iſt und die Gelehrſamkeit
allein für ſie nicht ausreicht. Vor langen Jahren ſchon, alsbald nach
dem Erſcheinen von Savigny’s claſſiſcher Schrift über den Beruf zur
Geſetzgebung, war ihm ſein Schwager Achim Arnim entgegengetreten um
das Recht der Gegenwart wider den Hiſtoriker zu vertheidigen. Selber
ganz von der romantiſchen Weltanſchauung erfüllt, kannte Arnim doch
als märkiſcher Edelmann und Gerichtsherr das Leben der kleinen Leute
aus der Nähe und bat den gelehrten Schwager, er möge den praktiſchen
Segen einer gemeinverſtändlichen, deutſchen, modernen Geſetzgebung nicht
unterſchätzen; im Preußiſchen halte ſelbſt der Bauer das Rechtsweſen nicht
wie in den Ländern des gemeinen Rechts „für eine geheimnißvolle Geiſter-
beſchwörung und Glücksſpielerei, ſondern für etwas Treues, Ehrliches und
ſehr Würdiges“; gleich der lutheriſchen Bibel würde das Preußiſche Landrecht
im Volke nicht eigentlich geleſen, wohl aber oft und mit gutem Erfolge
nachgeſchlagen. Solche Laien-Erfahrungen beirrten den genialen Juriſten
[599]Die Disciplinargeſetze.
nicht. Er lebte ſich immer tiefer ein in die Vorſtellung, daß auf die gründliche
wiſſenſchaftliche Durchbildung des Richterſtandes Alles ankomme; er ver-
kannte, daß es Zeiten giebt, wo die Geſetzfabrikation, die er ſo tief ver-
achtete, zum nothwendigen Uebel wird, wo der raſche Wechſel aller ſocialen
Verhältniſſe eine ſchlagfertige, ja ſelbſt überhaſtete Thätigkeit der Geſetz-
gebung geradezu erzwingt. Ihm fehlte die ſtarke, das Leben geſtaltende
Willenskraft, die den Juriſten zum Geſetzgeber macht, der praktiſche Ehrgeiz
eines Schwarzenberg oder Svarez. Die mannichfachen Entwürfe, die er ſich
durch ſeine Räthe ausarbeiten ließ, ſtießen ſtets auf ſeine Bedenken, weil
das Vollkommene doch nicht erreicht war, und als er nach einigen Jahren
ſelbſt zu ſeinen geliebten wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen zurückkehrte, da
ſtockte die Arbeit in ſeinem Miniſterium ſo gänzlich, daß der König ſogar an
der ſtaatsmänniſchen Kraft des verehrten Lehrers zu verzweifeln begann.
Zum Unglück wurde auch Savigny von der liberalen öffentlichen
Meinung mit verunglimpft, als im Jahre 1844 die in Mühler’s Mini-
ſterium ausgearbeiteten neuen Disciplinargeſetze für das Beamtenthum
erſchienen. Das preußiſche Landrecht ſprach nur von der Unabſetzbarkeit
der Richter, da in den fridericianiſchen Zeiten jeder Beamte nur für ein
beſtimmtes Amt ernannt wurde; auch die Charte der Franzoſen verlangte
nicht mehr; erſt der Art. 100 der belgiſchen Verfaſſung ſtellte die Regel
auf, daß der Richter nur mit ſeiner Einwilligung auf eine andere Stelle
verſetzt werden dürfe. Dieſer völlig neue Grundſatz wurde aber, wie Alles
was aus Belgien kam, von dem rheiniſchen Richterſtande mit Frohlocken
aufgenommen, dann durch den ſcharfen Weſtwind dieſer Jahre auch in
die alten Provinzen hinübergetragen. Da nun die neuen Disciplinar-
geſetze dem Juſtizminiſter die Verſetzung der Richter, im Intereſſe des
Dienſtes oder auch zur Strafe, erlaubten, ſo erhob der Stadtgerichtsrath
Heinrich Simon in Breslau, ein Fanatiker des juriſtiſchen Formalismus,
ſeine donnernde Stimme, um mit dialektiſcher Kunſt und zeitgemäßem
Pathos zu erweiſen, dieſe Neuerung zerſtöre einen Grundpfeiler preußiſcher
Freiheit. Er nahm deshalb ſeinen Abſchied und führte noch einen groben
Federkrieg mit dem alten Kamptz, der, begreiflich genug, für das Mini-
ſterium auftrat. Ebenſo begreiflich, daß die liberale Preſſe ſich für Simon
begeiſterte. Unbekümmert um das Preußiſche Landrecht, erklärte ſie ihre
vernunftrechtlichen Schlagwörter kurzerhand für geltendes Recht, und weil
das Mißtrauen gegen jede Regierung für freiſinnig galt, ſo ward dem
unglücklichen Könige auch noch angedichtet, daß er die Rechtspflege ver-
fälſchen wolle. In Wahrheit blieb die Selbſtändigkeit des preußiſchen
Richterſtandes nach wie vor ganz unangetaſtet, ja ſie wurde nicht ſelten
ſchon zu Parteizwecken mißbraucht, ſeit der Geiſt der Oppoſition in alle
Kreiſe des Beamtenthums unaufhaltſam eindrang. Als das Paderborner
Oberlandesgericht den wegen eines radicalen Gedichtes angeklagten Publi-
ciſten Lüning freiſprach, da fügten die pflichtvergeſſenen Richter ihrem
[600]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
höchſt anfechtbaren Spruche Entſcheidungsgründe hinzu, welche ſelbſt eine
boshafte Verhöhnung des Deutſchen Bundes und der monarchiſchen Ord-
nung enthielten; der König aber ſtieß das Urtheil nicht um, weil er die
oberſtrichterliche Gewalt ſeiner Krone nicht mehr gebrauchen wollte, ſondern
begnügte ſich mit einem ſtrengen Verweiſe. Indeß blieb der ärgerliche
Streit um die Disciplinargeſetze nicht unfruchtbar für die Zukunft. Wie
maßlos Simon auch übertrieb, alle Unbefangenen mußten doch einſehen,
daß die Verſetzbarkeit der Richter in Zeiten politiſcher Kämpfe leicht zur
Willkür führen konnte; der belgiſche Verfaſſungsſatz, der die Richter gegen
unfreiwillige Verſetzungen ſicherte, wurde zu einem Gemeingute der öffent-
lichen Meinung und bald nachher in die preußiſche Verfaſſung auf-
genommen.
Mittlerweile hatte Uhden das Miniſterium der Juſtizverwaltung
übernommen, ein Juriſt von mäßiger Gelehrſamkeit, in der Politik ganz
ebenſo conſervativ wie ſein Lehrer Savigny, aber ein nüchterner Geſchäfts-
mann, der immer auf das Nächſte, das Erreichbare ausging, auch ſeine
Leute klug zu wählen verſtand und, ſeit er das handelspolitiſche Ränke-
ſpiel des Czaren ſo entſchloſſen durchkreuzt hatte, auf das Vertrauen des
Königs ſicher zählen konnte. Uhden berief ſogleich in die erſte Stelle des
Departements den liberalen Bornemann, der im Frohndienſte des verhaßten
Ober-Cenſurgerichts ſeinen alten Ueberzeugungen treu geblieben war.
Auch dieſer geſcheidte, entſchloſſene Praktiker hatte einſt, wie die Mehr-
zahl der preußiſchen Richter, zu Savigny’s Füßen geſeſſen, doch die tief-
gründige Gelehrſamkeit des Meiſters genügte ihm nicht. Nach ſo vielen
Anläufen und Verſuchen wollte er endlich Thaten ſehen; er gewann ſich
die Zuſtimmung ſeines Miniſters und an dem liberalen jungen Aſſeſſor
Friedberg einen rüſtigen Helfer für die Ausarbeitung ſeiner Entwürfe.
Bald begann zwiſchen den beiden Juſtizminiſtern ein heftiger Streit, wie
zwiſchen dem Handelsamte und dem Finanzminiſterium — eine Beamten-
Anarchie, die nur unter einem ſo ſteuerloſen Regimente möglich war.
Die handfeſten Geſchäftsmänner der Juſtizverwaltung bereiteten dem
Miniſter der Geſetzgebung eine Niederlage nach der andern; denn der
König drängte vorwärts, er entſchied faſt immer zu Ungunſten ſeines ge-
lehrten Freundes. Wenige Tage nach jenem folgenreichen Geſetze über
das Strafverfahren, das die Oeffentlichkeit des Polenproceſſes ermöglichte,
am 21. Juli 1846 unterzeichnete Friedrich Wilhelm auch eine Verordnung
über die Vereinfachung des Civilproceſſes; ſie war im gleichen Geiſte ge-
halten und ebenfalls ohne die Zuſtimmung des Miniſters der Geſetz-
gebung vollendet worden. Im April des nächſten Jahres folgte ein Ge-
ſetz über die Competenzconflicte, das den Anſichten Savigny’s geradezu
widerſprach. Die Juſtizreform kam langſam in Gang, die altländiſchen
Juriſten näherten ſich mehr und mehr den Gedanken des Rheiniſchen
Rechts. —
[601]Savigny und Uhden. Ständiſche Bewegung.
Unterdeſſen ſchwoll die conſtitutionelle Bewegung im Lande beſtändig
an. Der König hatte im Jahre 1843 den Poſener Landſtänden rundweg
erwidert, daß er die Verordnung vom 22. Mai 1815 nicht als rechts-
verbindlich anſehe, und dadurch wie durch ſein räthſelhaftes Zaudern die
allgemeine Beſorgniß nur geſteigert. Auf den Provinziallandtagen von
1845 zeigte ſich ſchon faſt überall eine ungeduldige, gereizte Stimmung.
In Münſter ſagte der junge Freiherr Georg v. Vincke, ein Sohn des
alten Oberpräſidenten: Preußen müſſe ſich, wie im Zollvereine, ſo auch
durch eine freie Verfaſſung „an die Spitze der deutſchen Staaten ſtellen“; er
ſprach damit nur aus was die Jugend überall dunkel erhoffte, der preußiſche
Ehrgeiz und der Liberalismus begannen ſich zu verbünden. Sein An-
trag, die Krone um Verleihung einer reichsſtändiſchen Verfaſſung zu bitten
erlangte zwar bei den conſervativen Weſtphalen noch nicht die geſetzliche
Zweidrittelmehrheit, doch ſeine mächtige Rede hallte weit im Lande wieder.
Stärkere Zuſtimmung fand der gleiche Antrag bei den Ständen des Rhein-
lands; Beckerath, Camphauſen, faſt alle Führer des rheiniſchen Bürger-
thums traten lebhaft dafür ein, und vernehmlich ſprach aus ihren Reden
die ſtolze Zuverſicht, daß die Inſtitutionen des freien Rheinlands unter
dem Schutze der Verfaſſung dem geſammten preußiſchen Staate zu theil
werden müßten. Dem preußiſchen Landtage überreichten die radicalen
Elbinger eine Petition, welche noch weit über die königlichen Verheißungen
hinausging und in ſtarkem, faſt drohendem Tone eine alle Klaſſen um-
faſſende Landesrepräſentation forderte. Wie unwiderſtehlich waren doch die
Verfaſſungsgedanken in kurzen vier Jahren erſtarkt. Alle Provinziallandtage
— nur Brandenburg und Pommern ausgenommen — beriethen den An-
trag auf Verleihung einer Geſammtſtaats-Verfaſſung, und in allen ſechs
— mit der einzigen Ausnahme Sachſens — erlangte er die Mehrheit,
die Zweidrittelmehrheit freilich nur in Preußen und Poſen. Als man im
Miniſterium die Summe zog, da ergab ſich, daß ſchon die große Mehr-
zahl aller Provinzialabgeordneten für die reichsſtändiſche Idee gewonnen
war, und man war ehrlich genug einzugeſtehen, daß Viele aus der Minder-
heit lediglich aus Ehrfurcht vor der Krone ihre wahre Meinung zurück-
gehalten hatten.*) Gleichwohl ließ der König, da Niemand ihm vorgreifen
durfte, alle ſolche Wünſche abermals kurz abweiſen, desgleichen die Bitte der
Schleſier um Preßfreiheit und die wiederholten Anträge auf Oeffentlichkeit der
Landtagsverhandlungen. Er rühmte oft, kein Land der Welt beſitze ſo ganz
unabhängige Landſtände, und in der That war alle Corruption, alle Wahl-
verfälſchung in Preußen noch ganz unbekannt; doch wenn er von ſeinen
Ständen ſo hoch dachte, wie konnte er dann hoffen, daß ſie ſich auf
die Dauer bei ſeinem beharrlich wiederholten achtfachen Nein beruhigen
würden?
[602]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Auch die Preſſe befaßte ſich wieder lebhaft mit der Verfaſſungsfrage,
ſeit Johann Jacoby dem jüngſten preußiſchen Provinziallandtage ſeine
alten Forderungen in einer neuen Druckſchrift vorgehalten hatte. Die
Sprache des Königsberger Demagogen ward immer gehäſſiger. Wie ein
zeternder Wucherer hielt er der Krone ſeinen Schuldſchein vor; er be-
hauptete, die Verordnung vom 22. Mai, die bekanntlich erſt nach der
Schlacht von Belle-Alliance erſchienen war, ſei dem preußiſchen Volke ge-
geben worden als „Aufforderung zu neuem Kampfe“ und als Preis für
frühere Opfer; er erdreiſtete ſich ſogar zu verſichern, der alte König hätte,
ſeiner Zuſage ungeachtet, die provinzialſtändiſche Verfaſſung niemals den
Eingeſeſſenen der Provinzen zur Berathung vorgelegt. Die Notabeln-
Verſammlungen der Jahre 1822 und 23 waren dieſem gefeierten Publi-
ciſten mithin ganz unbekannt. Ueberall in der Preſſe zeigte ſich eine
erſchreckende Unkenntniß der preußiſchen Verfaſſungsgeſchichte, ſo tief hatte
das öffentliche Leben in den letzten Jahrzehnten geſchlummert. Ein liberaler
Buchhändler veranſtaltete eine Ueberſetzung der Schrift Benjamin Con-
ſtant’s über den Triumph des conſtitutionellen Princips in Preußen;
weder der Verleger noch der Ueberſetzer noch die Leſer wußten, daß dies
Büchlein Conſtant’s ſelber nichts anderes war als eine Ueberſetzung der
einſt ſo viel genannten Benzenbergiſchen Schrift über Hardenberg’s Staats-
verwaltung.*)
In ſolcher Lage erwarben ſich die ſchleſiſchen Hiſtoriker Röpell und
Wuttke immerhin ein Verdienſt als ſie einige Aktenſtücke zur Geſchichte
des verſchollenen erſten preußiſchen Verfaſſungskampfes veröffentlichten.
Daraus ließ ſich für die Gegenwart doch mehr lernen als aus der
Sammelſchrift des radicalen Nauwerk, der in wunderbarer politiſcher
Unſchuld alle die alten Freiheitsbriefe der Hochmeiſter und der Herzoge
Preußens herausgab, um daraufhin die Nothwendigkeit des Repräſen-
tativſyſtems zu erweiſen. Den Grundgedanken der liberalen Oppo-
ſition ſprach der Kammergerichtsrath W. v. Merckel draſtiſch aus, ein
gemäßigter Mann, der in den ſpäteren parlamentariſchen Kämpfen ſtets
den Mittelparteien angehörte. Er ſagte in ſeiner Flugſchrift „das Ge-
rücht von einer Conſtitution in Preußen“ (1845) kurzab: „bis jetzt gehören
wir der That nach blos der Gnade Anderer, alſo dem Sachenrecht an.“
Wie ungeheuerlich auch dieſer Satz erſcheinen mochte, ſo dachte die liberale
Jugend wirklich; ſie empfand es als eine Beleidigung der Würde, der
Freiheit, der Cultur des preußiſchen Volks, daß die Verfaſſung noch aus-
blieb, und in dieſer ſittlichen Entrüſtung lag die Stärke der Oppoſition.
Die Anhänger der ſtändiſchen Monarchie, die ſich gegen Jacoby’s
Genoſſen wendeten, der allezeit kampfluſtige Heinrich Leo, der Althege-
lianer Henning, der geiſtreiche Bonner Geograph Mendelsſohn befanden
[603]Liberale Schriften und Verſammlungen.
ſich von vornherein in einer ungünſtigen Defenſive; ſiegreich in der Kritik
glaubten ſie doch ſelbſt nicht recht an die Lebenskraft der halbfertigen
ſtändiſchen Inſtitutionen. Nun gar die gelehrten Bücher des ehrlichen
Lancizolle über Preußens Königthum und Landſtände klangen ſchon faſt
wie eine Stimme aus dem Grabe; der treue Hallerianer ſprach wie vor
Zeiten Schmalz und Marwitz, von den verſchiedenen „Staaten“ des könig-
lichen Hauſes, den modernen Staat und ſeine Rechtseinheit hielt er für
eine leere Abſtraction. Schwereren Schaden brachte der Sache des Königs
der alte Todfeind der Liberalen Kamptz, der jetzt im Ruheſtande ſeiner
ſchreibſeligen Feder freien Lauf ließ und in einer ganzen Reihe ſtaats-
rechtlicher Abhandlungen, auch in einer wohlfeilen, für die Maſſe be-
ſtimmten Flugſchrift „das wahre königliche Wort Friedrich Wilhelm’s III.“
immer wieder bewies: nichts, gar nichts hätte der alte König ſeinem Volke
verſprochen. Wußte der ergraute Miniſter wirklich nicht mehr, daß Harden-
berg, der Urheber der Verordnung vom 22. Mai, auf das Beſtimmteſte
erklärt hatte, dieſe Verordnung enthalte eine feierliche königliche Zuſage?*)
Möglich immerhin, daß er in ſeinem wilden Fanatismus die Wahrheit
zu ſagen glaubte; noch gewiſſer aber, daß die unſäglich groben Schriften
des verwünſchten Demagogenjägers, der ſich eigenmächtig zum Vertheidiger
der Krone aufwarf, die Liberalen gegen den Monarchen ſelbſt erbitterten.
Zugleich bekundete ſich der ungeduldige politiſche Thatendrang in unzäh-
ligen Verſammlungen. In Königsberg entſtand ein großer Bürgerverein,
der zum erſten male die Handwerker mit den Gelehrten zuſammenführte.
Als er aufgelöſt wurde, da zogen die Genoſſen, 6000 Köpfe oder mehr, all-
wöchentlich nach dem Böttchershöfchen draußen vor den Thoren, und Jeder
den der Geiſt trieb hielt unter freiem Himmel eine europäiſche Rede.
Als die Polizei auch dawider einſchritt, ließ Jacoby eine grimmige „Pro-
vocation auf rechtliches Gehör“ drucken. In Breslau verſammelten ſich
die Liberalen auf den neuen Bahnhöfen, nachher in einer ſtädtiſchen Reſ-
ſource; auch hier fehlte es nicht an Auflöſungen und Proteſten, aber hinter
dieſen harmloſen Kundgebungen ſtand ſchon eine radicale Partei, die ein-
mal, zur Feier des königlichen Geburtstags, durch zuchtloſe Frechheit ihr
Daſein bekundete. In Halle pflegte die ehrenfeſte Bürgerſchaft auf der
Giebichenſteiner Weintraube nationale Erinnerungstage zu feiern; die licht-
freundliche Bewegung begann ſchon zu ebben, das politiſche Pathos
aber erklang mächtig aus den begeiſternden Reden Max Duncker’s. In
Stralſund hielt der geiſtreiche Arzt v. Haſelberg Vorträge über die Zu-
ſtände der Gegenwart. Der Kölniſche Carneval von 1844 war nichts als
eine politiſche Satire auf die Regierung, die Cenſur, die Geſetzbücher, und
ſelbſt der furchtloſe, liberale General Friedrich Gagern fand, eine ſolche
Anarchie der Geiſter und der Tendenzen könne nicht lange dauern. Und ſo
[604]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
überall. Es ward hohe Zeit, dem erwachenden Bürgerthum eine Bühne
verantwortlicher politiſcher Thätigkeit zu eröffnen. —
König Friedrich Wilhelm fühlte dies ſelbſt, die Grundgedanken ſeines
Verfaſſungsplans ſtanden auch ſchon ſeit Langem feſt, und gleichwohl ver-
mochte er es noch immer nicht über ſich, endlich einmal abzuſchließen.
Nachdem er im Sommer 1845 den widerſprechenden Grafen Arnim ent-
laſſen und eine neue Verfaſſungscommiſſion gebildet hatte, wollte er doch
noch einmal Metternich’s Meinung hören. Sehr ungern folgte der Oeſter-
reicher dieſer Einladung; er wußte jetzt längſt, wie wenig die Rathſchläge
Dritter über den König vermochten, und ſah richtig voraus, daß die öffent-
liche Meinung gleichwohl ihn ſelbſt als Preußens böſen Genius verläſtern
würde. Im Auguſt trafen ſich die Beiden am Rhein, wo der König den
Gegenbeſuch der Königin Victoria empfing und ſeine Freude durch ein un-
erhörtes Gepränge bekundete. Der große Zapfenſtreich im Brühler Schloß-
hofe, das prächtige Feuerwerk in Köln, die Enthüllung des Beethoven-
Denkmals in Bonn und die tauſend Salutſchüſſe, die von den Wällen
des Ehrenbreitſteins und den Coblenzer Bergfeſten herabdröhnten, erregten
auch bei den verwöhnten britiſchen Gäſten Verwunderung, und bis zu
Thränen fühlte ſich die Königin gerührt, als der erlauchte Schloßherr zu
Brühl in einem begeiſterten Trinkſpruche das Wort feierte, das in bri-
tiſchen und deutſchen Herzen hell erklinge, wie einſt auf dem Siegesfelde
von Waterloo, ſo jetzt unter den Segnungen des Friedens am ſchönen
Geſtade des Rheins: Victoria! Den Deutſchen, natürlich mit Ausnahme
des coburg-gothaiſchen Volkes, gefiel die alſo Verherrlichte wenig; die Rhein-
länder fanden ſie „ſehr engliſch“, und dies war im Volksmunde keines-
wegs, wie am Berliner Hofe, ein Lobſpruch. Auch Friedrich Wilhelm
ſelber fühlte ſich nachher etwas enttäuſcht; er wünſchte ſo ſehnlich, ſein
geliebtes England feſt mit den conſervativen Oſtmächten zu verbinden,
und nun mußte er erleben, daß Victoria, nachdem ſie noch die thü-
ringiſche Heimath ihres Albert geſehen, auf der Heimreiſe plötzlich vom
Wege abbog, um den Bürgerkönig zum zweiten male in Eu zu beſuchen.
Während der rheiniſchen Feſte hatte er mit Metternich, ja ſogar mit
Aberdeen mehrmals über ſeine Verfaſſungspläne geredet. Sein Herz
drängte ihn, er mußte ſich ausſprechen; einen Rath konnte er von dem
wohlmeinenden, geiſtloſen, aller deutſchen Dinge unkundigen Lord doch
unmöglich erwarten. Der Engländer geſtand auch aufrichtig: ich bin aus
den Worten des preußiſchen Monarchen nicht klug geworden. Metternich
aber erkannte wieder was er ſchon längſt wußte, daß der König von dem
Plane ſeines Vereinigten Landtags nicht mehr abzubringen war; er ſah das
alte Preußen ſchon vernichtet, das neue noch nicht gegründet; ihm war
zu Muthe als erblickte er den Holbein’ſchen Todtentanz, und zum Abſchied
weiſſagte er, was ſich bald erfüllen ſollte: „daß Ew. Majeſtät Ihre ſechs-
hundert Provinzialabgeordneten als ſolche einberufen und daß dieſelben
[605]Letzte Berathungen der Verfaſſungscommiſſion.
als Reichsſtände auseinander gehen werden.“ Vor einigen Diplomaten
äußerte er zwar mit gewohnter Ruhmredigkeit: ich habe den preußiſchen
Verfaſſungsplan getödet. In Wahrheit fühlte er ſich beklommen. Die
Nachrichten von den Leipziger Unruhen, die grade während der Feſtlichkeiten
auf Stolzenfels einliefen, bekümmerten ihn ſchwer; er ſah darin „ein
Vorpoſtengefecht“ der Revolution, eine neue Beſtätigung ſeiner alten Be-
hauptung, „daß das Feuer brennt und das Scheidewaſſer ätzt,“ und im
November ſchrieb er warnend an Canitz: „Bei Ihnen iſt ſchrecklich viel
auf einmal in Angriff genommen, und wo dies ſtattfindet beſteht Gefahr.
Die Dinge wachſen dem kräftigſten Menſchen leicht über den Kopf. Ich
weiß nun, daß man mir hierauf antworten wird: das preußiſche Volk
iſt ein anhängliches, überlegendes, nicht leicht verführbares; und dies eben
iſt es was ich weder für das preußiſche noch für kein Volk der Erde —
die Beduinenſtämme etwa ausgenommen — als vollkommen richtig an-
nehme, denn nur die Wüſte und das freie Leben in ihr kann keinen Er-
ſatz finden.“ Ich bin, ſo fuhr er fort, in meinem langen Leben „nie
ſtehen geblieben, ich bin ſtets mit der Zeit gegangen“, aber noch niemals
habe ich ſchwerere Gefahren erlebt, denn „heute ſteht die Revolution ent-
körpert und durch die Zeit geglättet vor einer Generation wieder da, welche
ſie in der Periode der lebendigen Kämpfe nicht gekannt hat.“*)
Die Verfaſſungscommiſſion hielt unterdeſſen, im Juli, dann nochmals
ſeit Ende Septembers, langwierige Berathungen. Fünf Miniſter, der
Fürſt v. Solms-Lich und der hochconſervative brandenburgiſche Land-
tagsmarſchall Rochow-Stülpe gehörten ihr an. Sie alle erklärten, Rochow
allein ausgenommen,**) allgemeine Landſtände für nothwendig; ſie wünſchten
aber, der König möge ſtatt einen unförmlichen Vereinigten Landtag zu
berufen vielmehr die ſchon vorhandenen Vereinigten Ausſchüſſe verſtärken
und mit reichsſtändiſchen Rechten ausſtatten; ſo hätte ſich Alles weit ein-
facher geſtaltet. Beſonders lebhaft warnte der alte Rother, „ſelbſt bei zu
beſorgender Ungnade“. Einſtimmig verwahrte ſich die Commiſſion gegen die
Bildung eines geſonderten Herrenſtandes, die der bisherigen Verfaſſung
widerſpreche.***) Doch was vermochten Commiſſionsbedenken gegen Friedrich
Wilhelm’s ſelbſtherrlichen Willen? Er hielt alle ſeine Pläne ſtandhaft
feſt: den Vereinigten Landtag mitſammt der Herrencurie, deren förmliche
Einrichtung er ſich für die Zukunft vorbehielt, ſodann die ſtändiſche Ge-
nehmigung aller Anleihen in Friedenszeiten, endlich das Recht der Be-
willigung neuer Steuern. Dies alte Recht deutſcher Landſtände ſchien ihm
ganz ungefährlich, denn an eine Erhöhung der directen Steuern war, ſo
meinte er, in einer abſehbaren Zukunft niemals zu denken, die Zölle aber
[606]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
und die meiſten indirecten Steuern waren durch die Zollvereinsverträge
feſtgelegt. Nur in einem einzigen Punkte gab er ſeinen Räthen nach:
die Berufung der Reichsſtände nach Brandenburg ließ er fallen; ſie hätte
Furcht verrathen und zudem die Geſchäfte unleidlich erſchwert.
Da erhob der Prinz von Preußen zum zweiten male Einſpruch. Der
Thronfolger war den Berathungen der letzten Monate fern gehalten worden
aber genugſam darüber unterrichtet und fühlte ſich nun durch ſein Ge-
wiſſen gedrängt, dem Könige in einem brüderlichen Briefe zu geſtehen,
„daß er ſich ſeinen Plänen nicht anſchließen könne“ (20. Nov.). Unerſchütter-
lich in den Grundſätzen übertraf er den Bruder bei Weitem durch eine
geiſtige Beweglichkeit, die immer mit den Thatſachen zu rechnen wußte.
Da er einſah, der Monarch würde die Dreiheit des Geſammtlandtags,
der Vereinigten Ausſchüſſe und der Provinziallandtage doch nicht aufgeben,
ſo ſtellte er ſich entſchloſſen auf dieſen neuen Boden und faßte nur noch
die Frage in’s Auge: wie das Eine was ihm das Weſen des preußiſchen
Staates war, die lebendige Macht der Krone neben dieſer ungefügen drei-
fachen Gliederung ſtändiſcher Körperſchaften noch beſtehen ſolle? Seine
beigelegte Denkſchrift ging aus von der ſchwierigen Weltſtellung, welche
der Staat als Großmacht und als deutſches Bundesglied behaupten müſſe;
„alle Inſtitutionen, die den conſtitutionellen ſich nähern oder in dieſe über-
zugehen drohen, ſind daher für Preußen unannehmbar.“ Um ſolcher Ge-
fahr vorzubeugen, ſchlug er vor: der aus etwa 150 Abgeordneten der
Provinziallandtage gebildete Allgemeine Landtag ſolle ausſchließlich über
den Staatshaushalt berathen, die Vereinigten Ausſchüſſe ebenſo aus-
ſchließlich über Geſetzentwürfe; dann könne die Berathung des Staats-
haushalts nicht zur Erzwingung neuer Geſetze mißbraucht werden oder
umgekehrt. Die doctrinäre Angſt vor ſtändiſcher Verbürgung der Kriegs-
anleihen fand er ganz unbegreiflich, weil er die Treue ſeiner Preußen kannte.
Er ſagte einfach: für den Beginn eines Krieges beſitzt der Staat ge-
nügende Mittel; „wird aber im Laufe des Krieges eine Anleihe noth-
wendig, ſo hat es nicht das geringſte Bedenken, die Reichsſtände zu be-
rufen.“ Unverbrüchlich hielt er an den Gedanken ſeines Vaters feſt, der
jederzeit nur berathende Stände gewollt hatte. „Alle Berathungen aller
drei ſtändiſchen Verſammlungen“ — ſo ſchloß er — „ſind durchaus
conſultativ, von einem Bewilligungsrecht irgend einer Art darf nie
die Rede ſein.“*) Dem Wunſche des Bruders willfahrend ließ der König
dieſe Denkſchrift durch die Commiſſion prüfen und ihm dann deren ab-
lehnendes Gutachten zugehen.**)
Alſo ſah ſich der Thronfolger abermals zurückgewieſen. Gleichwohl
kam das Verfaſſungswerk, das im Geiſte des Königs ſchon ſo lange feſt-
[607]Neuer Einſpruch des Prinzen von Preußen.
ſtand, noch immer nicht zum Abſchluß. War es Unentſchloſſenheit, was
den Monarchen hemmte? oder wollte er ſein Volk abſichtlich an die ge-
prieſene organiſche Entwicklung gewöhnen? Genug, erſt im März 1846
ließ er die Immediatcommiſſion mit ſämmtlichen Staatsminiſtern zu ge-
meinſamen Sitzungen zuſammentreten, und dieſe Berathungen währten,
mehrfach unterbrochen, noch dreiviertel Jahre. Sogleich zum Beginn,
am 11. März, ſtellte der Prinz als Vorſitzender die Frage, ob eine ſtän-
diſche Centralvertretung nothwendig ſei, und geſtand aufrichtig, er ſelber
hätte ſich von dieſem Bedürfniß noch nicht ganz überzeugt. Nachdem ſo-
dann alle Anweſenden bis auf Zwei die Frage bejaht hatten, ſprach er
am Schluſſe dieſer entſcheidenden Sitzung ebenſo offen aus: nunmehr
wolle er die Nothwendigkeit anerkennen. Auch die Bildung eines Ver-
einigten Landtags, die im vorigen Jahre nur von einem einzigen Miniſter,
von Uhden gebilligt worden war, fand jetzt eine Mehrheit von 9 Stimmen.
Der Prinz und noch ſechs Andere widerſprachen.*) Er blieb auch ferner-
hin faſt mit allen ſeinen Anträgen in der Minderheit. Die meiſten der
übrigen Mitglieder unterdrückten ihre ſchweren Bedenken. Sie betrachteten
ſich, nach den Ueberlieferungen des alten Abſolutismus, nicht als ſelb-
ſtändige, verantwortliche Rathgeber, ſondern hielten jeden grundſätzlichen
Widerſpruch für ausſichtslos, nachdem der Monarch ſeine Willensmeinung
ausgeſprochen hatte. Am 17. Dec. 1846 waren die Berathungen nahezu
beendigt, die Entwürfe des Königs im Weſentlichen angenommen.
Da zeigte der Prinz an, daß er dem Monarchen ein Sondergutachten
einreichen würde. Er hatte im vergangenen Sommer den Petersburger
Hof wieder beſucht und dort Kaiſer und Kaiſerin auf’s Aeußerſte erſchreckt
durch die ruhige Erklärung, daß er die Fortbildung der ſtändiſchen In-
ſtitutionen für nothwendig hielte.**) Aber in den Mitteln, welche ſein
Bruder wählte, konnte er, zu ſeinem tiefen Schmerze, „nicht das Heil des
Thrones und des Vaterlandes erblicken“. Noch am 17. Dec. beendete er
eine umfängliche Denkſchrift, welche zunächſt nochmals auf die unlenkſame
Schwerfälligkeit einer Verſammlung aller acht Provinziallandtage hinwies.
Zugleich zeigte er ſcharfſinnig, was noch Niemand bemerkt hatte, daß dieſer
Vereinigte Landtag unauflöslich ſei; denn da der König allgemeine Wahlen,
das Fieber der „Urwahlen“, wie man damals ſagte, unter allen Umſtänden
vermeiden wollte, ſo konnte er auch einen Vereinigten Landtag, der aus
der Geſammtheit der acht Provinziallandtage beſtand, unmöglich auflöſen.
„Somit ſtehet dieſe neue berathende preußiſche Ständeverſammlung weit
mächtiger da als die conſtitutionellen Kammern anderer Staaten, welche
alle ſich für extreme Fälle die Auflöſung und Neuwahlen vorbehalten
haben.“ Darum verlangte der Prinz als ſtarkes Gegengewicht zum mindeſten
[608]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ein aus den geſündeſten ariſtokratiſchen Kräften des Landes gebildetes
Oberhaus; ſein Soldatenverſtand konnte nicht begreifen, warum der König
jetzt, da „eine ganz neue ſtändiſche Aera geſchaffen wird“, ſich immer noch
zaudernd vorbehielt über die Einrichtung der Herrencurie Weiteres zu be-
ſtimmen. Nur in einer geſondert tagenden Erſten Kammer — ſo ſchrieb
er, ſein eigenes Schickſal ahnend — würden die königlichen Prinzen einen
angemeſſenen Platz finden; den Stürmen einer großen Verſammlung, wo
„alle Wirren der politiſchen Leidenſchaft ſich zügellos Luft machen“, dürfe
man ſie nicht ausſetzen.
Zum Zweiten warnte er nochmals vor dem Steuerbewilligungsrechte
der Landſtände; das heiße ein Majeſtätsrecht aufgeben, das ſeit dem
Großen Kurfürſten dem preußiſchen Throne ſeine Selbſtändigkeit, dem
Staate ſeine Macht geſichert habe. Zum Dritten verlangte er wiederum,
daß alle Finanzſachen ausſchließlich dem Vereinigten Landtage zugewieſen
würden. Zum Vierten endlich warnte er vor den Gefahren des unbe-
beſchränkten ſtändiſchen Petitionsrechts, das ſo leicht die europäiſche Macht-
ſtellung des Staates und den Beſtand ſeines Heeres ſchädigen könne.
Hier erinnerte ſich der Prinz offenbar des Streites, den er ſeit ſo vielen
Jahren mit ſeinem Freunde Boyen führte, und lebhaft ſchilderte er nun,
wie die Bewegungspartei in allen Ländern nach Abſchaffung der ſtehenden
Heere ſtrebe, wie ſie ihr Ziel auf Umwegen zu erreichen ſuche, zunächſt
Schwächung der Armee, kürzere Dienſtzeit für die Linie, ſeltenere Uebungen
für die Landwehr verlange. „Daher iſt die Neigung unverkennbar, die
Landwehr auf Koſten der Linie zu erheben und ihre Trennung von der
Linie immer greller zu machen, und zu beweiſen, daß die ſtrenge militä-
riſche Form und Disciplin ihr nicht nöthig ſei und ſie vielmehr die Stel-
lung einer Nationalgarde einzunehmen habe … Wenn Discuſſionen
und Petitionen gedachter Natur dem Vereinigten Landtage preisgegeben
werden und die Preſſe noch mehr als bisher ſchon geſchehen entfeſſelt
wird, iſt das Beſtehen der preußiſchen Landwehr, wie ſie zur wahren Ehre,
zur Wohlfahrt und zum Ruhme des Vaterlandes vor zweiunddreißig
Jahren geſchaffen wurde, eine völlige Unmöglichkeit!!“ Kann aber der
Staat nicht mehr ſeine Armee im Kriege verdoppeln oder verdreifachen,
„ſo tritt Preußen auch von der Stelle, auf welche ſeine Armee es geſtellt
hat, herab.“ — So lebendig ſtand dem Prinzen ſchon vor Augen, was
er nach fünfzehn Jahren ſelbſt erleben und durchkämpfen ſollte. An die
Möglichkeit ſeiner eigenen Thronbeſteigung dachte er jedoch in jenen Tagen
niemals. Vielmehr fuhr er fort: es ſei ſeine Pflicht abzurathen, nicht
von der Erfüllung der alten Verheißungen ſelbſt, wohl aber von dem ein-
geſchlagenen Wege, der leicht dazu führen könne, daß demnächſt eine Con-
ſtitution ertrotzt würde, und der König ſelbſt hätte doch „oft ausgeſprochen,
daß eine Conſtitution für Preußen unmöglich ſei, weil es mit derſelben auf-
hören würde Preußen zu ſein … Aber noch eine andere Pflicht nöthigt
[609]Das Patent.
mich dazu, es iſt der Blick auf meinen Sohn! Nach dem unerforſchlichen
Rathſchluß Gottes ſcheint es beſtimmt zu ſein, daß die Krone ſich in meiner
Linie vererben ſoll! Da iſt es denn meine heilige Pflicht, darüber zu wachen,
daß der Nachfolger auf dem Throne die Krone mit ungeſchmälerten Rechten
und mit der Würde und der Macht überkomme, wie ich ſie heute vor mir
ſehe.“ Indem er abermals um die Befragung aller volljährigen Prinzen
bat, ſchloß er „mit tiefbewegtem Herzen, Gottes gnädigen Beiſtand wün-
ſchend“.*)
Der König aber war mit nichten geſonnen, ſein Schiff ſo dicht vor
dem Hafen noch zu wenden. Die vielfach übertriebenen Befürchtungen
des Prinzen überzeugten ihn ebenſo wenig wie die tiefen und wahren
Gedanken, welche die Denkſchrift enthielt; er glaubte ja den Bruder weit
zu überſehen. Er verweigerte die förmliche Befragung der Agnaten, wie
es ſein gutes Recht war, und genehmigte endgiltig die Entwürfe nach den
Beſchlüſſen der Commiſſion. Sobald die Entſcheidung des Monarchen ge-
fallen war, gab der Prinz von Preußen gehorſam ſeinen Widerſpruch auf.
Entſchloſſen blickte er der Zukunft in’s Geſicht und ſagte in der Commiſſion:
„Ein neues Preußen wird ſich bilden. Das alte geht mit Publicirung
dieſes Geſetzes zu Grabe. Möge das neue ebenſo erhaben und groß
werden, wie es das alte mit Ruhm und Ehre geworden iſt!“ Um dem
Teſtamentsentwurfe des Vaters und den Bitten des Bruders doch einiger-
maßen zu genügen, berief der König dann noch die ſämmtlichen groß-
jährigen Prinzen ſeines Hauſes um ihnen das Patent, lediglich zur Kennt-
nißnahme, mitzutheilen. Alle fügten ſich gehorſam.
Am 3. Februar 1847, am Jahrestage des erſten Aufrufs von 1813,
ließ Friedrich Wilhelm ein kurzes „Patent“ veröffentlichen, das die neuen,
zum Ausbau des Staatsſchuldengeſetzes von 1820 und des Provinzial-
ſtändegeſetzes von 1823 beſchloſſenen „ſtändiſchen Einrichtungen“ ankün-
digte. Der Verordnung vom 22. Mai war abſichtlich nicht gedacht, weil
der König ſie für aufgehoben anſah. Dies Patent unterzeichnete der
Monarch allein, denn er ſuchte auch in der Form „jede Aehnlichkeit mit
einem Staatsgrundgeſetze zu vermeiden“;**) er wollte ſogar den Zeitungen
verbieten, die Namen: Kammern, Volksvertreter, Pairs für die neuen
Inſtitutionen zu gebrauchen. Sein Landtag ſollte durchaus etwas Anderes
ſein als „eine Volksvertretung in dem modernen Wortſinne“, und nur
mit Mühe erlangten die Miniſter, daß dies aufregende Verbot unter-
blieb.***)
Gleichzeitig mit dem Patente erſchienen drei von dem Prinzen von
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 39
[610]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Preußen und dem geſammten Staatsminiſterium gegengezeichnete königliche
Verordnungen über den Vereinigten Landtag, den Vereinigten Ausſchuß
und die Staatsſchuldendeputation. Darnach ſollten die geſammten Pro-
vinzialſtände künftighin zu einem Vereinigten Landtage zuſammentreten,
ſo oft der König ſie in Friedenszeiten zur Genehmigung von Staats-
anleihen oder zur Erhöhung der Steuern oder auch aus anderen Grün-
den einberiefe. Der Vereinigte Landtag erhielt das Recht der freien Be-
willigung neuer oder erhöhter Steuern und das Petitionsrecht in allen
inneren Angelegenheiten; er hatte auch, wenn es dem Könige gefiel, über
Geſetzentwürfe zu berathen. Innerhalb des Vereinigten Landtags ward
ein Herrenſtand eingerichtet, der vorläufig aus den königlichen Prinzen
und den 72 vornehmſten Mitgliedern der Provinzialſtände beſtehen und
ſpäterhin, nach königlichem Ermeſſen, noch verſtärkt werden ſollte; er berieth
und beſchloß über Finanzſachen mit den drei anderen Ständen gemeinſam,
über alle anderen Angelegenheiten für ſich allein. Daneben aber blieben
die Vereinigten Ausſchüſſe fortbeſtehen; ſie wurden fortan periodiſch, aller
vier Jahre, verſammelt und erhielten der Regel nach die neuen Geſetze
zur Berathung vorgelegt, konnten auch in einzelnen Finanzſachen den
Vereinigten Landtag vertreten; und zudem behielt die Krone ſich noch
vor, allgemeine Geſetze nach Gutdünken den Provinziallandtagen vorzu-
legen. Die Genehmigung der Kriegsanleihen endlich und die regelmäßige
Prüfung der Staatsſchulden-Rechnungen wurde einer ſtändiſchen Staats-
ſchuldendeputation zugewieſen, die aus acht Mitgliedern — je einem für
jeden Provinziallandtag — beſtehen und jährlich mindeſtens einmal tagen
ſollte.
Alſo traten des Königs urſprüngliche Entwürfe faſt Wort für Wort
in’s Leben, die langen Verhandlungen ſeiner Räthe hatten an dieſem
ſeinem eigenſten Werke nichts Weſentliches geändert. Es war ein großer
Schritt, größer als der König ſelbſt glaubte. Friedrich Wilhelm wähnte
die Zukunft ſeines Verfaſſungswerkes noch ganz in ſeiner Herrſcherhand
zu halten. Jedoch eine ſo ſtarke ſtändiſche Vertretung mußte, einmal
berufen, kraft ihrer eigenen Schwere fortbeſtehen, und ſie beſaß ſchon
zwei verbriefte wirkſame Rechte; denn ohne Eiſenbahn-Anleihen konnte der
Staat nicht mehr auskommen, und nach der gewaltigen Aenderung aller
ſocialen Verhältniſſe wurde auch eine Umgeſtaltung des Steuerſyſtems,
obgleich der König davon noch nichts ahnte, in naher Zukunft unvermeid-
lich. Wider Wiſſen und Willen führte Friedrich Wilhelm ſeinen Staat
in die Bahnen des conſtitutionellen Lebens hinüber.
Aber wie eigenſinnig verdarb ſich der Geſetzgeber ſein edel gedachtes
Werk durch Künſtelei und Willkür! Schien es doch faſt, als wollte er
abſichtlich Rechtsbedenken und Proteſte hervorrufen. Weshalb wurde die
Verordnung vom Mai 1815, die doch unzweifelhaft noch zu Recht beſtand
und den ſpäteren ſtändiſchen Geſetzen keineswegs widerſprach, faſt muthwillig
[611]Wirkung des Patents.
beſeitigt? War der Ausdruck „Landesrepräſentation“, der in ihr vorkam
und doch auch auf den Vereinigten Landtag paßte, wirklich ſo entſetzlich, daß
man um dieſes einen Wortes willen ein Geſetz ſtillſchweigend umſtoßen durfte?
Und mußte nicht der Vereinigte Landtag, ſo lange er ſeiner regelmäßigen
Wiederberufung nicht ſicher war, ſelber bezweifeln, ob er ſich für die geſetz-
mäßige Landesvertretung halten ſollte? Und warum nicht ein klares Zwei-
kammerſyſtem ſtatt eines Herrenſtandes, der bald mit der Curie der drei
Stände, bald neben ihr tagen ſollte? Dieſe Herrencurie, an ſich gewiß einer
der glücklichſten politiſchen Gedanken des Königs, war doch leider nicht zum
Abſchluß gekommen und konnte, wie ſie war, unmöglich für eine gerechte
Vertretung der ariſtokratiſchen Kräfte des Landes gelten. Von ihren 72
Stimmen entfiel die größere Hälfte auf Schleſien und Rheinland allein;
die große Provinz Preußen erhielt nur fünf Stimmen, Pommern gar
nur eine einzige. Mit vollem Rechte fühlte ſich alſo die treue Ritterſchaft
der alten Provinzen zurückgeſetzt und gekränkt. Vergeblich mahnte der
Prinz von Preußen in ſeiner Denkſchrift, man müſſe die Ariſtokratie
ganz gewinnen indem man ſie ehre; vergeblich bat Graf Arnim-Boitzen-
burg noch in letzter Stunde um die Verſtärkung des Herrenſtandes;*) der
König behielt ſich geheimnißvoll ſeine Pläne für die Zukunft vor. Und
wozu dann die wunderliche Beſtimmung, daß die Geſetzentwürfe nach
Belieben bald dem Vereinigten Landtage bald dem Vereinigten Ausſchuſſe
bald den Provinziallandtagen vorgelegt werden ſollten? Offenbar wollte
der König durch dieſe künſtliche Vertheilung der ſtändiſchen Rechte verhin-
dern, daß eine der drei landſtändiſchen Körperſchaften übermächtig würde.
Er überſah nur, daß die natürliche Gewiſſenloſigkeit jeder vielköpfigen ſtän-
diſchen Vertretung allein durch das Bewußtſein ernſter Verantwortlichkeit
gebändigt werden kann; dies Gefühl ward aber den Landtagen und Aus-
ſchüſſen gradezu genommen, wenn ſie den Umfang ihrer eigenen Rechte
nicht mit Sicherheit kannten. Und warum endlich noch die rechtswidrige
und in Wahrheit nutzloſe Verkümmerung des Rechtes der Anleihebewilligung?
Alle dieſe Abweichungen von den alten Geſetzen erſchienen ſo bedenk-
lich, daß der hochherzige Entſchluß des Monarchen und ſelbſt die wichtige
Gewährung des Steuerbewilligungsrechts nicht recht gewürdigt wurde.
Obgleich das Patent jetzt nach dem langen Zaudern faſt Allen unerwartet
kam, ſo zeigte ſich doch nur ſelten die dankbare Freude, die der König erhofft
hatte; die Stimmung blieb gedrückt und unſicher. Wohl ſendete Max
Duncker mit ſeinen getreuen Hallenſern eine Dankadreſſe an den Thron,
auch die Elbinger und die Thorner bekundeten ihre Freude und ſelbſt
der radicale Ruge meinte, die Preußen dürften dieſe erſte Möglichkeit
praktiſchen politiſchen Wirkens nicht aus der Hand geben. Am Rhein
aber, in Schleſien und vornehmlich in Altpreußen verlangten viele Stimmen
39*
[612]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Zurückweiſung des ungenügenden königlichen Gnadengeſchenks. Der Neiden-
burger Kreistag faßte ſogar den Beſchluß, die Abgeordneten ſollten ſich für
incompetent erklären, ſo lange ihnen nicht ihr Recht würde, und im Kreiſe
Strasburg begann der zungenfertige junge Gutsbeſitzer v. Hennig ſeine
liberale Laufbahn mit einem ähnlichen Verſuche.*)
Das Lärmzeichen für dieſe Unverſöhnlichen gab Heinrich Simon mit
ſeiner Flugſchrift: Annehmen oder Ablehnen? Er hatte bei dem Kampfe
gegen die Disciplinargeſetze Muth und Feſtigkeit, aber auch viel ſpitzfindige
Advocatenkünſte gezeigt; die Juriſten ſchätzten ſeine brauchbaren, mehr
durch Fülle als durch Vergeiſtigung des Stoffes ausgezeichneten Hand-
bücher über preußiſches Staatsrecht. Als Neffe des alten um die rhei-
niſche Rechtspflege hochverdienten Gerichtsraths Simon konnte er bei den
Liberalen des Weſtens von vornherein freundliches Gehör erwarten; und
da ihn die Juden, trotz der Taufe, noch immer zu ihren Leuten rechneten,
ſo erfreute er ſich in allen Zeitungen einer befliſſenen Verherrlichung,
welche ſelbſt ſeinem hohen Selbſtgefühle genügte. Doch muß auch in
ſeiner Perſönlichkeit ein eigenthümlicher Reiz gelegen haben, der ſich aus
ſeinen trockenen juriſtiſchen Schriften nicht errathen läßt. Zwei feindliche
Dichterinnen, Ida Hahn-Hahn die geliebte und Fanny Lewald die ver-
ſchmähte, beteten ihn mit gleicher Inbrunſt an, und ſelbſt ſeinem Gegner
Radowitz erſchien er bei flüchtiger Reiſebekanntſchaft ſofort als ein un-
gewöhnlicher Mann. Seine neueſte Schrift verdiente freilich ihren Eintags-
ruhm in keiner Weiſe, ſie brachte nichts vor als das leere Entweder —
Oder des Radicalismus. „Wir baten dich um Brot und du giebſt uns
einen Stein“ — ſo begann er gleich, und entwickelte dann die längſt
überwundene privatrechtliche Theorie, wonach die ſtändiſche Verfaſſung
ein Vertrag zwiſchen Krone und Volk ſein ſollte. Er behauptete, was
einem gewiegten Juriſten doch kaum zu verzeihen war: das Patent „nehme
dem Volke ſeine wenigen ſtaatlichen Rechte“; er lobte ſogar das ſuspen-
ſive Veto Norwegens, da „ein Einzelner“ doch nicht mehr gelten dürfe
als der Wille der Millionen, und mahnte den König, er möge brechen
mit der Anſicht, daß ihm die Krone von Gott gegeben ſei, und ſich viel-
mehr halten an den Wahlſpruch: Volkes Stimme iſt Gottes Stimme!
Friedrich Wilhelm war empört, er verlangte im erſten Zorne Abſetzung
der Cenſoren, die das „Verbrechen“ begangen hätten „ſolch Buch nicht
confisciren zu laſſen“ — bis ſich dann herausſtellte, daß die Schrift als
cenſurfreies Zwanzigbogenbuch in Leipzig erſchienen war.**) Die grobe
Handgreiflichkeit der Simon’ſchen Vertragstheorie mußte viele Halbgebil-
dete überzeugen. Zu weiterer Belehrung ließ dann Simon’s Verleger
noch eine „Parallele der preußiſchen Verfaſſung mit den Verfaſſungen
[613]Simon, Annehmen oder Ablehnen. Gervinus.
von Kurheſſen, Norwegen und Belgien“ drucken. Dieſe drei Staaten hatten
bekanntlich dem „Zeitgeiſte die ihm gebührenden Zugeſtändniſſe gemacht“,
und da der Zeitgeiſt Alles, die Geſchichte nichts galt, ſo konnte hier jeder
geſinnungstüchtige Leſer lernen, wie viel glücklicher der freie Kurheſſe
war als der geknechtete Preuße. Auch die Flüchtlinge warfen ein Libell
„das Patent“ über die Grenze, das einfach erklärte: „Alle Hoffnungen ſind
betrogen, alle Täuſchungen ſind zu Ende. Keine Volksgeltung ohne Volks-
herrſchaft, keine Volksherrſchaft ohne Republik! Recht oder — Blut!“
Bei der beſonnenen Mehrheit des preußiſchen Volks konnte ein ſo
thörichter, ſo undankbarer Radicalismus doch nicht durchdringen. Auf
einer Verſammlung rheiniſcher Abgeordneten zu Köln wurde, wenn auch
unter mannichfachen Bedenken, endlich beſchloſſen den Verſuch einer Ver-
ſtändigung zu wagen, und es zeigte ſich bald, daß die Geſammtheit der
Provinzialvertreter entſchloſſen war in alter Treue dem Rufe des Königs
zu folgen. Die ſüddeutſchen Liberalen meinten ebenfalls, mit dem ſtarren
Verneinen ſei nichts gethan. Welcker ſogar, der alte grimmige Feind
Preußens, gelangte in einer unförmlichen, mit allen Schlagwörtern des
verendenden Vernunftsrechts ausgeſchmückten Abhandlung „Grundgeſetz
und Grundvertrag“ doch zu dem Schluſſe, das preußiſche Volk müſſe dieſe
große Gelegenheit mit Freuden benutzen: „gründet die ganze Freiheit wie
auch die anderen freien Völker ſie haben.“ Auch Gervinus fühlte ſich
wieder verpflichtet mitzureden, obgleich er von preußiſchen Dingen noch
weniger als Welcker verſtand. Ihm fehlte ſogar was der ehrlich polternde
Welcker doch einigermaßen beſaß, die erſte Tugend des Publiciſten: die
Freiheit des Gemüths, die Sicherheit des feſt dem Ziele zugewandten
Willens. Schwelgend im Genuſſe ſeiner eigenen Vollkommenheit redete er
immer nur über die Dinge hin und ſagte nicht was er eigentlich wollte.
In ſeinem übellaunigen Büchlein „das Patent vom 3. Februar“ über-
ſchüttete er Preußen mit einem ſolchen Gallenerguſſe, daß ſein unſchuldiger
Freund Jakob Grimm ganz erſchrocken antwortete: wenn das Alles wahr
wäre, wenn bei uns wirklich nur Lug und Trug herrſchten, dann müßte
ich „um jeden Preis aus einem ſolchen Lande weichen“! Im Grunde lief
der ganze Tadel darauf hinaus, daß Preußen unglücklicherweiſe Preußen
war und nicht Heſſen-Darmſtadt oder Sachſen-Meiningen; und dabei
glaubte Gervinus doch Preußens treueſter Freund zu ſein. So viel ließ
ſich aus der Maſſe der Scheltworte immerhin errathen, daß der Ge-
ſtrenge nicht geradezu das kahle Ablehnen empfehlen wollte; aber was
er thun konnte um die Ausſöhnung der Parteien zu hintertreiben, das
that er durch ſein Zanken redlich. Neben dieſen vielgeleſenen Schriften
wurde der alte Reſtaurator Haller kaum beachtet, als er in einer Flug-
ſchrift tief beſorgt die Krone vor allzu freigebigen Gewährungen warnte.
Alſo war die Partei der unbedingten Verneinung vorläufig über-
wunden, doch wirkliche Eintracht mit nichten hergeſtellt. Dieſe Regierung
[614]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
der Mißverſtändniſſe blieb ihrem Charakter treu: der König wähnte mit
dem Patente für lange Zeit ſein letztes Wort geſprochen zu haben, die
öffentliche Meinung ſah darin nur den erſten Anfang eines freieren
politiſchen Lebens, und ſchon jetzt zeigte ſich daß der Gegenſatz ſich zuſpitzen
mußte zu der einen Frage der periodiſchen Landtagsberufung. War der
Vereinigte Landtag erſt ſeiner regelmäßigen Wiederkehr ſicher, dann konnte
er ſich mit Fug und Recht für die geſetzliche Landesvertretung anſehen;
die Vereinigten Ausſchüſſe verloren dann jede Bedeutung, und auch der
Nebenſtreit um die Kriegsanleihen und die Schuldendeputation ließ ſich
leichter erledigen. In der Forderung periodiſcher Reichsſtände fanden ſich
drei ganz verſchiedene Parteien zuſammen: zunächſt alle die beſonnenen
Männer, die der Unſicherheit des öffentlichen Rechts ein Ende machen
wollten; ſodann die entſchiedenen Liberalen, die von einem vielköpfigen
Parlamente für ihre Parteizwecke mehr erwarteten als von einem kleinen
Ausſchuß; dazu endlich die hohe Ariſtokratie, denn durch den Herrenſtand
des Vereinigten Landtags hoffte ſie politiſche Macht zu gewinnen, während
ſie in den Vereinigten Ausſchüſſen nur durch wenige Stimmen vertreten
war. Dies erkannte Kühne, er befürchtete eine Coalition monstreuse
zwiſchen den extremen Liberalen und Ariſtokraten. Mündlich und brief-
lich ſtellte er ſeinem alten Freunde Bodelſchwingh vor: dieſe große Ver-
ſammlung würde nur dann in Frieden zu Ende gehen, wenn der König
rechtzeitig, bevor man ihn zwänge, in der einen entſcheidenden Frage nach-
gäbe und dem Vereinigten Landtage, ebenſo wie ſchon den Vereinigten
Ausſchüſſen, die periodiſche Einberufung zuſagte.*)
Welch’ eine Laſt lag jetzt auf Bodelſchwingh. Einſt im Befreiungs-
kriege hatte eine franzöſiſche Kugel dem tapferen Kriegsmanne die Lunge
durchbohrt, und gerade jetzt packte ihn wieder eine jener ſchweren Lungen-
entzündungen, die ihn ſeitdem ſchon mehrmals heimgeſucht hatten. Er
rang mit dem Tode; den ganzen März hindurch blieb er unfähig zur
Arbeit. Kaum halb geneſen raffte er ſich dann auf, um heldenhaft, faſt
allein, ſelber ein parlamentariſcher Neuling, dieſer ſtürmiſchen Verſamm-
lung die Stirne zu bieten. Als Miniſter des Innern und Cabinets-
miniſter zugleich, mußte er die Sache der Krone zunächſt vertreten, und
es ergab ſich auch bald, daß er allein unter allen Miniſtern ein ungewöhn-
liches Rednertalent beſaß. Er war ein Sohn jenes ſtolzen Freiherrn
Bodelſchwingh-Plettenberg, der einſt ſo hartnäckig die ſtändiſchen Rechte
der Grafſchaft Mark vertheidigt hatte, ein Liebling Stein’s und des alten
Vincke, Weſtphale durch und durch, und hatte ſich doch in den mannich-
fachen Stellungen einer beiſpiellos raſchen Beamtenlaufbahn überall Liebe,
ſelbſt in der böſen Zeit des Kölniſchen Biſchofsſtreites die Achtung der
Rheinländer gewonnen. Die älteren weſtphäliſchen Landsleute erinnerte
[615]Bodelſchwingh.
ſein ganzes Weſen an Juſtus Möſer. Höchſt unſcheinbar gekleidet, fiel
er ſogleich auf durch ſeine hohe kriegeriſche Geſtalt und durch den treu-
herzigen Blick ſeiner offenen, großen Augen. Urſprüngliche Kraft, un-
ſchuldige Friſche ſprach aus ſeinem ganzen Weſen, und General Gerlach,
der den „liberalen“ Miniſter durchaus nicht liebte, ſagte wohl: ſo un-
gefähr muß Adam ausgeſehen haben. Der letzte hervorragende Vertreter
des alten abſolutiſtiſchen Beamtenthums, hielt er ſich im Gewiſſen ver-
pflichtet, die Willensmeinung des Königs, ſofern ſie nur dem Rechte nicht
offenbar widerſprach, mit der ganzen Selbſtverleugnung eines altgermaniſchen
Vaſallen zu vertheidigen. Er hatte bei der Berathung des Patents wieder
und wieder die Bedenken hervorgehoben, die ihm ſein ſchlichter Geſchäfts-
verſtand aufdrängte; und auch jetzt erkannte er, nachdem der Unwille der
erſten Ueberraſchung überſtanden war, im Stillen ſehr wohl, wie richtig
Kühne urtheilte. Aber der Monarch hatte geſprochen, an ſeinem Willen ließ
ſich nichts mehr ändern. Bei der Eröffnung des Vereinigten Landtags
drückte Bodelſchwingh dem treuen Freunde die Hand und ſagte bewegt
in ſeinem heimiſchen Platt: es geht nicht anders; „wir ſind davör, wir
möt dadör.*)“ —
Als die Mitglieder des Vereinigten Landtags zu Anfang Aprils in
Berlin eintrafen, da begann der erſte große parlamentariſche Kampf der
deutſchen Geſchichte, ein Schauſpiel, das alle die Händel der kleinen Land-
tage ganz in den Schatten ſtellte, und zum allgemeinen Erſtaunen ward
offenbar, welche gewaltigen ſtaatsbildenden Kräfte Deutſchland in dieſem
Preußen beſaß. Die Männer, die hier von der belgiſchen und der ruſ-
ſiſchen Grenze, von der Oſtſee und den thüringiſchen Bergen her zu-
ſammenkamen, fühlten ſich alleſammt als Söhne eines Volkes, allein
das kleine Häuflein der Polen ausgenommen, und trugen mit Stolz
den Namen der Preußen. In der langen wohlthätigen Stille der Herr-
ſchaft des verſtorbenen Königs hatten der alte Stammeshaß und die
landſchaftlichen Sonder-Erinnerungen viel von ihrer Schärfe verloren —
ein Ergebniß, das ſich bei freierem öffentlichen Leben ſchwerlich ſo bald
hätte erreichen laſſen; dann waren, unter dem aufregenden Regimente
des Nachfolgers, überall im Oſten wie im Weſten neue politiſche Ideen
erwacht, aus denen leicht große geſammt-preußiſche Parteien hervorgehen
konnten. Gleich bei den erſten Vorbeſprechungen ward man inne, daß
dieſe neuen Parteigegenſätze zwar trennend, aber noch mehr verbindend
wirkten; denn der Riß der Parteiung ging mitten durch alle Provinzen, die
Mehrheit der Rheinländer und der Oſtpreußen bildeten den Kern der
Oppoſition, gerade die entlegenſten Landestheile fanden ſich in guter Freund-
[616]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſchaft zuſammen. Die Provinzen wie die Stände des Vereinigten Land-
tags beſaßen das Recht, die Sonderung in Theile zu verlangen; aber
von dieſer gefährlichen Befugniß verſuchten nur zweimal, ganz zu Anfang
der Tagung, einzelne Heißſporne Gebrauch zu machen. Beide male ver-
geblich. Der Landtag wollte ein untrennbares Ganzes bleiben; die Natur-
gewalt der nationalen Einheit, der Ernſt des preußiſchen Staatsgedankens
hielt alle Sondergelüſte darnieder. Das war es was Metternich vor
Allem fürchtete. Er wußte wohl, daß Oeſterreich und Frankreich die ge-
borenen Feinde der deutſchen Einheit waren, und warnte Guizot vor den
großen Gefahren, welche dieſer Landtag den beiden Höfen zu bereiten drohe;
er ſtachelte die particulariſtiſche Angſt des Königs von Württemberg gegen
das Deutſchthum und den „Alles oder nichts ſagenden Begriff“ der Natio-
nalität. Als feſtes Bollwerk wider das werdende Deutſchland dort im
Norden empfahl er den Deutſchen Bund, die natürliche Stütze des Parti-
cularismus.
Zum erſten male ſeit es ein Königreich Preußen gab traten die Stände
als eine ſelbſtändige Macht der Krone gegenüber; und wie ſtark und mannich-
faltig erſchien das nationale Leben, das hier plötzlich Sprache gewann, wie
wenig hatte man draußen im Reich von den großen Verhältniſſen des wirk-
lichen deutſchen Staates gewußt. „Preußen hat wieder einen Adel“ —
ſo ſagte eine ehrliche liberale Zeitung ganz verwundert; denn das land-
läufige Zerrbild vom preußiſchen Junkerthum paßte wahrhaftig nicht auf
die tapferen, gebildeten, patriotiſchen Edelleute, die im Vereinigten Land-
tage, manche als Wortführer des Liberalismus, alle gleich freimüthig auf-
traten; viele von ihnen erklärten ſich ſogar bereit — freiſinniger als der
bairiſche Adel — auf ihre Patrimonialgerichtsbarkeit zu verzichten. Faſt
noch mehr überraſchte die Deutſchen der Kleinſtaaten das ſtolze Selbſt-
gefühl des preußiſchen Bürgerthums, das in der älteren Geſchichte der
Monarchie faſt immer nur eine beſcheidene Rolle geſpielt hatte, jetzt aber,
raſch erſtarkt unter dem Schutze des Zollvereins, ſeine großen wirthſchaft-
lichen Intereſſen nachdrücklich vertrat. Auch das alte ſtreng proteſtantiſche
Preußen war nicht mehr; die Parität der Bekenntniſſe ward in den Formen
überall ſorgſam gewahrt, und die aufgeklärten Berliner Katholikenhaſſer
wollten nicht begreifen, warum der Landtag das Frohnleichnamsfeſt als
einen Feiertag ehrte.
Ueberhaupt kam ein neuer, freierer, großſtädtiſcher Zug in das
Berliner Leben, ſeit die Fürſten und Grafen des Weſtens, die ſchle-
ſiſchen Granden und der oſtpreußiſche Adel, der bisher immer ſtill da-
heim geblieben war, alle bei Hofe erſchienen und der König auch die
Vertreter der Städte und der Landgemeinden zu ſeinen Feſten lud; erſt
ſeit dieſen Anfängen der parlamentariſchen Kämpfe begann Berlin zur
wirklichen Hauptſtadt zu werden. Und wie reich war dieſer erſte Land-
tag an redneriſchen Talenten, an muthigen, erfahrenen, ehrenhaften
[617]Charakter des Vereinigten Landtags.
Männern. Metternich ſelbſt war erſtaunt über die „parlamentariſche Ge-
diegenheit“ dieſer jungen Verſammlung; man wußte im Auslande nicht,
daß die meiſten der Abgeordneten keine Neulinge waren, ſondern ſchon
ſeit Jahren in der beſcheidenen Schule der Provinziallandtage die Kunſt
der Rede und der parlamentariſchen Taktik gelernt hatten und jetzt die
Fülle der dort geſammelten Erfahrungen zur gemeinſamen Arbeit herbei-
trugen. Noch überwog die ſchöne Beredſamkeit des Herzens, wie es in
einer Zeit der Erwartung nicht anders ſein konnte; aber auch die Leiden-
ſchaft hielt ſich faſt immer in den Schranken der guten Sitte, und nie-
mals wieder hat Preußen ein ſo würdevolles Parlament geſehen. Von
dem Monarchen ſprachen Alle mit tiefer Ehrfurcht, Manche mit über-
ſchwänglicher Bewunderung, ein Redner der Oppoſition nannte Friedrich II.
den größten König, welcher Preußen vor dem Jahre 1840 beherrſcht hätte;
bei Hofe galt der Name Friedrich der Große faſt für unſchicklich, die
neue Zeit friedlicher Weisheit ſollte ja alle Kriegsthaten der heldenhaften
Altvordern verdunkeln.
Von vornherein zeigten die Männer der Oppoſitionsparteien das Ge-
fühl entſchiedener Ueberlegenheit; ſie trugen in ſich das Bewußtſein einer
großen Beſtimmung, ſie hofften den preußiſchen Staat durch die Aus-
bildung der ſtändiſchen Inſtitutionen mit dem übrigen Deutſchland zu be-
freunden und ihm alſo die Führung der Nation zu ſichern. In den Sälen
des Ruſſiſchen und des Franzöſiſchen Hofes, wo die Oppoſition, noch ganz
ohne Fractionszwang, ihre freien Vorbeſprechungen zu halten pflegte, fanden
ſich auch manche Liberale von auswärts ein: Jacoby aus Königsberg, Graf
Reichenbach, H. Simon und Stein aus Schleſien, Biedermann aus Leipzig,
Beſeler und andere Schleswigholſteiner. Sie alle erwarteten von Preußens
erſtem Reichstage eine Wendung der deutſchen Geſchicke, auch der junge
Julian Schmidt wurde durch die Bewegung dieſer Tage von der Literatur
zur Politik hinübergeführt. Zu den Sitzungen des Landtags ſelbſt ließ
der König keine Hörer zu, aber die Verhandlungen wurden vollſtändig
gedruckt, jetzt endlich mit Nennung der Redner, und obgleich die noch un-
beholfenen Stenographen ihren Bericht meiſtens erſt nach acht Tagen fertig
ſtellten, ſo folgten doch alle Gebildeten dem parlamentariſchen Kampfe mit
reger Theilnahme. Die Kölniſche Zeitung ließ ſich ihre Berliner Zeitungs-
packete von Minden an durch eigene Stafetten zuſenden nur um den
Rheinländern den Landtagsbericht einen Tag vor den anderen Blättern
darzubieten.
Neben der Zuverſicht der Oppoſition erſchien die Haltung der Re-
gierung von Haus aus ſchwächlich und unſicher; die Miniſter befolgten
getreulich die Befehle ihres königlichen Herrn, obgleich kein einziger unter
ihnen mit den wunderlichen Plänen des Monarchen ganz einverſtanden
war. Und ſo fühlten ſich auch die conſervativen Abgeordneten, die im
Engliſchen Hofe zuſammenkamen, beim beſten Willen die Krone zu unter-
[618]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſtützen doch völlig rathlos. Wo war ein Ausweg aus dieſem durch den
Monarchen allein verſchuldeten Rechtsgewirre? Der König hatte, den
Rath des Grafen Arnim verſchmähend, ſich nicht auf den unangreifbaren
Rechtsboden der Geſetze ſeines Vaters geſtellt, ſondern den Ständen einer-
ſeits alte Rechte genommen, andererſeits neue, größere Rechte geſchenkt;
er hatte — daran hing Alles — die Wiederberufung des Vereinigten
Landtags durchaus ſeinem eigenen Ermeſſen vorbehalten und alſo das
ganze Verfaſſungswerk, das doch grade abgeſchloſſen werden ſollte, noch
in der Schwebe gelaſſen. Und unmöglich konnte der abſolute König, nach
ſo großen freiwilligen Gewährungen, ſeine neue Geſetzgebung auf den Wunſch
der Stände ſofort wieder ändern; das Anſehen der Krone und der per-
ſönliche Stolz Friedrich Wilhelm’s hätten unter ſolcher Nachgiebigkeit zu
ſchwer gelitten.
So ſtand denn dieſer durch und durch königstreue, gemäßigte, be-
ſonnene Landtag vor einer faſt unlösbaren Rechtsfrage. Die Abgeord-
neten ſagten ſich: entweder ſind wir die von dem alten Könige verheißene
Landesrepräſentation, dann müſſen wir auch alle ihre Rechte für uns
verlangen; oder wir ſind ein nach dem Belieben des neuen Herrſchers
berufener Ständetag, dann dürfen wir die Rechte der Landesrepräſentation
nicht ausüben. Kühne Realpolitiker, wie der junge Deichhauptmann Otto
v. Bismarck, der hier zuerſt in das öffentliche Leben eintrat, mochten wohl
über ſolche Skrupel lachen, denn mit voller Sicherheit ließ ſich vorher-
ſehen, daß der Vereinigte Landtag zu einer dauernden Inſtitution des
Staates werden mußte; für den ſtreng geſetzlichen Sinn der Mehrheit
aber waren die Rechtsbedenken faſt unüberwindlich. Und leider ward die
Haltung der Oppoſition auch durch eine geheime Unwahrheit verdorben.
Die Männer, die ſich ſo ſtreng auf den Rechtsboden beriefen, wollten in
Wahrheit weit mehr als die alten Geſetze verhießen. Sie trugen durch-
aus kein Bedenken, das neue Steuerbewilligungsrecht, das ihnen der König,
den alten Geſetzen zuwider, geſchenkt hatte, gleichſam als gute Priſe an-
zunehmen, denn ſie hofften insgeheim den Monarchen Schritt für Schritt
auf neue Bahnen zu drängen. Die Mehrzahl der Rheinländer und viele
Vertreter der großen Städte des Oſtens dachten an eine Verfaſſung
belgiſchen Stiles, die liberalen Edelleute an eine mächtige ſtändiſche Ver-
ſammlung.
Allen dieſen Beſtrebungen hatte der König durch die willkürlich dilet-
tantiſche Behandlung der Rechtsfragen ſelber Thür und Thor geöffnet.
Das Wagniß ſeiner Politik war um ſo gefährlicher, da hinter den Ständen
noch andere Mächte der Bewegung ſtanden, welche weit über die Ziele
des Landtags hinaus ſtrebten. Die radicale Partei, deren Macht im
Lande ſich doch nicht mehr verkennen ließ, fand auf dem Landtage
keinen einzigen Wortführer; nur dann und wann verrieth ſich in ein-
zelnen Aeußerungen der bäuerlichen Abgeordneten ein tiefer, verhaltener
[619]Die Thronrede.
ſocialer Groll, der ſchleſiſche Erbſchulze Krauſe meinte einmal, er und
ſeine Standesgenoſſen hätten dreißig Jahre lang geſchlafen, jetzt aber
wären ſie endlich zum Bewußtſein ihrer Rechte erwacht. Unvertreten
war auch, nach dem Wahlgeſetze, die breite Maſſe der ſtädtiſchen Arbeiter,
unvertreten endlich der mächtige Stand der eigentlichen Schriftgelehrten.
Wenn die Krone mit einem Landtage, der ausſchließlich die ſeßhaften,
vermögenden, conſervativen Elemente der Geſellſchaft vertrat, ſich nicht zu
verſtändigen vermochte, dann war eine friedliche Entwicklung des politiſchen
Lebens kaum noch zu erwarten. —
Mit königlichem Pomp, die Reichs-Inſignien voran, betrat Friedrich
Wilhelm am 11. April den prachtvoll wiederhergeſtellten Weißen Saal
des Schloſſes um den Landtag mit feierlicher Anſprache zu eröffnen. Alle
königlichen Prinzen ſchaarten ſich um ihn; ſelbſt der getreue Geſinnungs-
genoſſe des ruſſiſchen Schwagers, Prinz Karl, der, grollend über die
„chambre monstre“, lange in Italien verweilt hatte, war im letzten
Augenblicke auf Befehl des Monarchen noch herbeigeeilt.*) Zum letzten
male — wie wenig konnte er das ahnen — redete der König hier mit
der vollen Freiheit des unbeſchränkten Herrſchers zu ſeinem Volke, aus
der Tiefe des Herzens heraus, aufrichtig wie kaum je ein gekröntes Haupt
geſprochen hat; es war, als wollte er ſich ſelber an dem Schwung und
dem Glanze ſeines reichen und doch ſo ganz unpolitiſchen Geiſtes weiden.
Er erklärte, wie es die Kundigen nicht anders erwarten konnten, das Ver-
faſſungswerk ſeines Vaters nunmehr für vollendet und warnte die Stände,
dies Werk „nicht gleich durch ungenügſame Neuerungsluſt in Frage zu
ſtellen“; er legte ihnen, wie einſt ſchon den Vereinigten Ausſchüſſen, an’s
Herz, daß ſie nicht „Meinungen zu repräſentiren“, ſondern nach altem
deutſchen Brauche ihre eigenen Rechte zu wahren hätten. Er erinnerte ſie
an die „Erbweisheit ohne Gleichen“, welche die engliſche Verfaſſung, ohne
ein Stück Papier geſchaffen habe, und obgleich er ſoeben ſelbſt das beſchriebene
Blatt des Patents hatte hinausgehen laſſen, gab er das feierliche Ge-
löbniß: „daß es keiner Macht der Erde je gelingen ſoll mich zu bewegen,
das natürliche, grade bei uns durch ſeine innere Wahrheit ſo mächtig
machende Verhältniß zwiſchen Fürſt und Volk in ein conventionelles, con-
ſtitutionelles zu wandeln, und daß ich es nie und nimmermehr zugeben
werde, daß ſich zwiſchen unſeren Herrgott im Himmel und dieſes Land
ein beſchriebenes Blatt gleichſam als eine zweite Vorſehung eindränge,
um uns mit ſeinen Paragraphen zu regieren und durch ſie die alte Treue
zu erſetzen.“ Sichtlich erregt ſprach er von den Angriffen der Preſſe,
die doch ſo tief unter ihm ſtand: „von allen Unwürdigkeiten, denen ich
und mein Regiment ſeit ſieben Jahren ausgeſetzt geweſen, appellir’ ich an
mein Volk.“ Und indem er ſeine getreuen Stände aufforderte zum ge-
[620]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
meinſamen Kampfe gegen die Untreue, die böſen Gelüſte der Zeit, legte
er das Bekenntniß ab: „Ich und mein Haus wir wollen dem Herrn dienen.
Ja wahrhaftig!“ Für die Zukunft erhielten die Stände nur die väter-
lich mahnende Zuſage, daß der König ſie zur Bewilligung neuer Steuern
und Anleihen wieder berufen werde, und auch ſonſt noch „wenn ich es
für gut und nützlich halte, und ich werde es gern und öfter thun, wenn
dieſer Landtag mir den Beweis giebt, daß ich es könne ohne höhere Re-
gentenpflichten zu verletzen.“
Die Thronrede erſchreckte und verwirrte die Hörer. Wohl empfand
Jedermann die Macht einer ungewöhnlichen Perſönlichkeit; der politiſche
Inhalt der hochtönenden, vielfach unklaren Sätze lief jedoch darauf hin-
aus, daß der König ſeine deutſchrechtlichen Stände vor jeder Annäherung
an das conſtitutionelle Kammerweſen der kleinen Nachbarſtaaten ſtreng
bewahren und die Ausbildung dieſer ganz eigenartigen Inſtitutionen allein
ſeiner eigenen Weisheit und Gnade vorbehalten wollte. Die Liberalen,
die in dem Patente nur die Grundlage für weitere Verhandlungen ſahen,
fühlten ſich tief niedergeſchlagen. Manche der heißblütigen Oſtpreußen
wollten ſofort abreiſen, da doch keine Verſtändigung möglich ſei, und nur
durch das Zureden ihrer weltklugen rheiniſchen Freunde ließen ſie ſich
zum Bleiben bewegen. Beim Beginn der erſten Sitzung erhob ſich nun
Graf Schwerin, ein Pommer aus dem altberühmten Soldatengeſchlechte,
eine breite, gedrungene Geſtalt von ungezwungener Haltung, mit einem
kräftigen biederen Geſichte, das durch die herabhängenden dunklen Haare
den Ausdruck eines faſt pietiſtiſchen Ernſtes erhielt; er hatte ſich als
Schleiermacher’s Schwiegerſohn mit Arndt und anderen patriotiſchen Ge-
lehrten befreundet und ſchon auf der Generalſynode die Ideen eines milden
kirchlichen Liberalismus freimüthig vertreten. Er ſtellte den Antrag, die
Stände ſollten dem Monarchen in einer Adreſſe ihren Dank, aber auch
ihre Rechtsbedenken ausſprechen. Den Adreßentwurf verfaßte der gefeierte
Redner des rheiniſchen Provinziallandtags, F. v. Beckerath aus Crefeld.
Seine Wiege hatte, wie er gern erzählte, neben dem Webſtuhle ſeines
Vaters geſtanden; ganz durch eigene Kraft war er zum reichen Kaufherrn
geworden. Mennonit und nicht ohne einen Zug quäkeriſcher Salbung,
der ihm trotz der politiſchen Meinungsverſchiedenheit doch immer das
Wohlwollen des frommen Königs ſicherte, trug er ſeine gemäßigt liberalen
Anſichten mit einem eigenthümlichen lyriſchen Pathos vor. Die Begeiſte-
rung ſtand ihm wohl an, ſie kam aus tiefer Bruſt und verirrte ſich nie
gänzlich in Phraſen. „Hier, rief er aus, ſei der Pulsſchlag eines neuen
verjüngten Preußens, eines Preußens, das umgeben von den Sympathien
der deutſchen Brüderſtaaten, das deutſche Volk zu der Stelle hinan führen
wird, die ihm unter den Culturvölkern der Erde gebührt.“
Mit Beſorgniß ſah Graf Arnim, wie die rechtliche Unklarheit, deren
Gefahren er ſelbſt dem Könige ſo oft vorgeſtellt hatte, jetzt ſchon ihre
[621]Schwerin. Beckerath. Hanſemann. Vincke.
ſchlimmen Früchte trug. Beckerath’s Adreſſe enthielt ſehr ernſte Rechts-
verwahrungen. Wenn der König ſie zurückwies, dann ging der Landtag
noch ehe er recht begonnen hatte ſchon zu Ende; denn dieſe Verſammlung
war unauflösbar — das hatte der Prinz von Preußen ſeinem Bruder
vorher geſagt, und Alle fühlten bereits, wie wahr er geſprochen. Kam es
zum Bruche zwiſchen der Krone und den Ständen, ſo fiel das Patent
ſelbſt, und der Staat trieb vielleicht gewaltſamen Erſchütterungen ent-
gegen. Darum hielt ſich Arnim verpflichtet, ritterlich für die vergeblich
gewarnte Krone einzutreten. Er brachte einen Gegenentwurf ein, der die
Rechtsbedenken nur leiſe und ſchüchtern andeutete. In der langen Ver-
handlung, die ſich nunmehr entſpann, traten ſchon die beiden Redner
auf, welche die Regierung fortan als ihre gefährlichſten Feinde fürchtete:
der bürgerliche Liberale Hanſemann und Vincke der liberale Ariſtokrat.
Hanſemann hatte ſeine große geſchäftliche Begabung neuerdings wieder in
mannichfachen Eiſenbahn-Unternehmungen bewährt; ſein Ziel war die
conſtitutionelle Herrſchaft der wohlhabenden Bourgeoiſie, wie in Belgien.
In ihm verkörperte ſich die echt moderne kaufmänniſche Staatsanſicht, die
alle politiſchen Begriffe auf den Kopf ſtellte und eben deßhalb in einer
Zeit wachſenden Erwerbes und Genuſſes unaufhaltſam um ſich griff: er
betrachtete Heer und Beamtenthum als läſtige Koſtgänger der Kaufleute und
Fabrikanten, während doch Handel und Wandel, Geld und Tauſch ohne
den Staat, ſein Recht und ſeine Waffen gar nicht auf der Welt wären
und man alſo mit gleich guten Gründen behaupten konnte, daß die reichen
Börſenmänner zum Theil durch die Arbeit der ſchlecht bezahlten Staats-
diener ernährt würden. Im Landtage redete er ſehr ſcharf, oft mit ple-
bejiſcher Plumpheit, er ſtellte den Ständen kurzab die Wahl: „ob das
Gefühl des Rechts in Ihnen lebt oder ob Sie nur von Vertrauen, von
Gnade leben wollen.“
Ungleich mächtiger ſprach Vincke, ein wohlbeleibter, ſtiernackiger junger
Mann, deſſen nachläſſige Haltung und Kleidung doch den Edelmann nicht
verkennen ließen; ſein ſchwerer, von dichtem rothem Backenbart umrahmter
Kopf zeigte eine impoſante Häßlichkeit, wie ſie ſo oft ſchon bedeutenden
Rednern als Schild und Waffe gedient hat. Er war der größte aller
Parlamentsredner der preußiſchen Geſchichte, ganz unvergleichlich in der
Kunſt raſcher, ſchlagfertiger Debatte, und dennoch kein ſchöpferiſcher ſtaats-
männiſcher Geiſt, ja nicht einmal ein gewandter Parteiführer. Im Kampfe,
im Angriff allein lag ſeine Kraft. Wie ward ihm wohl, wenn er einen
Redner der Gegenpartei lange mit den ſpöttiſchen Blicken ſeiner ſcharf
hinter der Brille hervorlugenden Augen, mit höhniſchen Gebärden und
Zwiſchenrufen verfolgt hatte und dann aufſprang, beide Hände in den
Hoſentaſchen, um den Unglücklichen mit ſcharfer Dialektik, mit grauſamen
Witzen und that es noth mit ſtürmiſcher Entrüſtung zu zermalmen. Dem
Könige blieb er ſtets verhaßt; denn Friedrich Wilhelm nahm Alles per-
[622]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſönlich und konnte ſich nicht darein finden, den Sohn des Getreueſten
aller Weſtphalen in den Vorderreihen der Oppoſition zu ſehen. Auch der
Vater hatte in ſeinen letzten Lebensjahren die liberale Geſinnung des
jungen Landraths und Landſtands nicht ohne Sorgen betrachtet. Im
Grunde des Herzens hegte der Sohn jedoch weit mehr ariſtokratiſchen
Stolz als der ſchlichte volksfreundliche alte Oberpräſident. Er freute ſich
ſeines alten Geſchlechtes und wollte gleich der langen Reihe ſeiner Ahnen
allezeit „den Acker des Rechtes pflügen“. Freilich hatte er ſich von ſeinem
unantaſtbaren Rechtsboden ein ziemlich willkürliches Bild entworfen. Er
betrachtete die ſtändiſchen Rechte als ein von den Vätern überkommenes
Fideicommiß, als „ein eiſernes Inventar, das wohl vermehrt, doch nicht
vermindert“ werden dürfe. Darum nahm er das neu geſchenkte Steuer-
bewilligungsrecht kurzweg an und verlangte trotzdem die Erfüllung aller
früheren Zuſagen bis auf den letzten Buchſtaben. Einen Dank wollte
er in der Adreſſe überhaupt nicht ausſprechen, ſondern nur eine Rechts-
verwahrung, da Beides einander ausſchlöſſe. Noch mehrere andere un-
gewöhnlich begabte Redner erhoben ihre Stimme. So Meviſſen, der Mit-
begründer der Rheiniſchen Zeitung, der unterdeſſen viel gelernt hatte und
ganz in Beckerath’s Sinne ausführte: wenn nur erſt der Vereinigte Land-
tag alljährlich den geſammten Staatshaushalt prüfe, dann würden die
Preußen nicht mehr mit Neid auf ihre kleinen Nachbarn ſchauen, ſondern
die Führung Deutſchlands erlangen. So auf der anderen Seite Fürſt Felix
Lichnowsky, der kecke übermüthige carliſtiſche Abenteurer, der zum allge-
meinen Erſtaunen zwar für die Krone, aber durchaus nicht in reactionärem
Geiſte ſprach und wenn er auch hinter ſeinem Vorbilde Mirabeau weit
zurückblieb, doch unverkennbar Talent, Muth, Thatkraft zeigte.
Großen Eindruck machte eine kurze Anſprache des Prinzen von
Preußen. Herausgefordert durch einen Vorwurf Hanſemann’s gab er als
erſter Unterthan und erſter Rathgeber des Königs die feierliche Verſicherung:
bei der Berathung der Verordnungen vom 3. Febr. hätten er und die
anderen Räthe der Krone durchaus kein Mißtrauen gehegt, wohl aber die
Erwartung, daß „Freiheiten und Rechte der Stände niemals auf Unkoſten
der Rechte und Freiheiten der Krone“ gewährt werden ſollten. Der Sinn
ſeiner Rede war verſöhnlich, aber ihr Ton klang dictatoriſch; der Prinz
ſprach wie ein des Befehlens gewohnter General, und da der unwiſſende
Haufe nicht einſah, daß der Thronfolger doch gar nicht anders auftreten
durfte, ſo bemächtigte ſich der niederträchtige Berliner Klatſch dieſer ein-
fachen Worte. Der Prinz war der Liebling des Heeres und darum ſchon
allen Unzufriedenen verdächtig. Die längſt verbreiteten Gerüchte von ſeiner
reactionären Geſinnung wurden durch Varnhagen in den Salons, durch
allerhand Unbekannte beim Pöbel umhergetragen; er galt überall für den
böſen Dämon ſeines Bruders, obgleich er zur Zeit gar keinen Einfluß
beſaß, ſondern nur als ehrenhafter Soldat die Sache ſeines königlichen
[623]Die Adreſſe. Erklärung der Rechte.
Herrn vertheidigte. Bei den Straßenaufläufen dieſer Apriltage warf ihm
der Pöbel die Fenſter ein; es war ein Schatten kommender Ereigniſſe, die
liberalen Zeitungen entſchuldigten die Heldenthat mit der fragwürdigen
Verſicherung, der Anblick der Spiegelſcheiben des beſcheidenen prinzlichen
Palaſtes hätte die armen Hungerleider gar zu ſchmerzlich an ihr eigenes
Elend erinnert.
Um die Parteien zu verſöhnen beantragte endlich Alfred v. Auers-
wald eine neue, etwas ſchärfere Faſſung des Arnim’ſchen Adreßentwurfs.
Der treue Mann, der dem Monarchen in jungen Jahren ſo nahe geſtanden
hatte, wollte einen Bruch mit der Krone durchaus vermeiden, jedoch auch
ſeine Rechtsüberzeugung nicht aufgeben. In der alſo umgeſtalteten Adreſſe
erklärten die Stände nach warmen Dankesworten: ſie würden die Ehre
und Kraft der Krone, aber auch die ſtändiſchen Rechte „beide als un-
ſchätzbare Kleinode bewahren und pflegen“; demnach behielten ſie ſich vor,
die Abweichungen des Patents von den früheren Geſetzen noch näher zu
erörtern, und baten den Monarchen ſolche Widerſprüche demnächſt aus-
zugleichen. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen; er
gab den Verhandlungen des Landtags von vornherein ihr Gepräge: den
Charakter einer ehrfurchtsvollen und beſonnenen, aber feſten und ent-
ſchloſſenen Oppoſitionspolitik. In gnädigem Tone ließ der König (22. April)
antworten: „Die Geſetzgebung vom 3. Febr. iſt in ihren Grundlagen un-
antaſtbar, wir betrachten ſie aber deßhalb nicht als abgeſchloſſen, vielmehr
als bildungsfähig.“ Darum gab er den Ständen anheim weitere Anträge
zu ſtellen und verhieß ſogar von freien Stücken, den Vereinigten Land-
tag ſpäteſtens in vier Jahren wieder zu verſammeln. Alſo wich er ſchon
ſelbſt einen Schritt zurück, was ihm ſchwer genug fallen mußte, da er
doch ſoeben erſt ſeine Stände vor ungenügſamer Neulingshaſt gewarnt
hatte. Zu dem Verſprechen periodiſcher Einberufung konnte er ſich gleich-
wohl nicht entſchließen, und doch fühlten jetzt ſchon alle Unbefangenen,
auch die auswärtigen Diplomaten, daß dieſe Zuſage allein den unſeligen
Streit abzuſchneiden vermochte. Sogar der hannoverſche Geſandte Graf
Knyphauſen wagte in ſolchem Sinne zu berichten, was der alte Welfe frei-
lich durch die Randbemerkung rügte: „Geleſen, bin aber gar nicht ver-
ſtänden mit die angeführten Wegen.“*)
Die Rechtsfrage blieb alſo noch immer ungelöſt, und Vincke hielt in
ſeinem ungeſtümen Rechtstrotze nunmehr für geboten, daß der Landtag dem
Könige eine feierliche „Erklärung der Rechte“ übergäbe. Offenbar ſchwebte
ihm das Beiſpiel der Bill of rigths vor Augen; Dahlmann’s Geſchichte der
engliſchen Revolution war ja zur Zeit in Jedermanns Händen. Aber wie
wenig hatten die Zuſtände Preußens mit der engliſchen Geſchichte gemein.
Die engliſche Erklärung der Rechte wurde einem fremden Uſurpator auf-
[624]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
erlegt, der ſeine Krone der Revolution, dem Willen des britiſchen Volkes
verdankte, während die Preußen einem legitimen, abſoluten Könige gegen-
überſtanden, der ſich ſoeben erſt freiwillig großer Machtbefugniſſe entäußert
hatte. Die Briten vertheidigten uralte, oft ausgeübte, durch Bürgerkrieg
und ſchweren parlamentariſchen Kampf immer wieder errungene Rechte;
Vincke vermochte ſich nur auf die dürftigen, unzuſammenhängenden, noch
niemals ausgeführten Verheißungen der leichtfertigen Hardenbergiſchen Ge-
ſetzgebung zu berufen. Darum war die engliſche Erklärung der Rechte eine
weltgeſchichtliche That, der Verſuch ſie in Preußen nachzubilden fiel platt
zur Erde. Wer unparteiiſch draußen ſtand, konnte ſich für dieſen zweifel-
haften Rechtsboden nicht leicht begeiſtern. Sogar Stüve, der zähe Ver-
theidiger des ſtrengen Rechts, fand in den Reden und Schriften der un-
bedingten preußiſchen Oppoſition viel „Wortklauberei und Advocaten-
Hocuspocus“, er ſpottete über „die eminenten Rechte, die man zu beſitzen
ſich einbilde“.*) Im Landtage verweigerten ſelbſt Beckerath und Schwerin
ihre Unterſchrift zu dem ſeltſamen Aktenſtücke, das in langer Reihe ab-
geriſſene Stellen der älteren Geſetze aufzählte. Nur 138 Abgeordnete
unterzeichneten, faſt drei Viertel davon waren Rheinländer oder Oſtpreußen.
Der Einmuth alſo, der ſolchen Gewiſſensverwahrungen doch allein Nach-
druck giebt, fehlte gänzlich; und als die Herrencurie ſich weigerte in die
Berathung einzutreten, da mußte die Erklärung der Rechte ſtillſchweigend
zurückgezogen werden. Vincke hatte zum erſten male bewieſen, wie wenig
er eine Partei zu leiten verſtand.
Sobald der Landtag nunmehr in die Geſchäfte eintrat, fühlte er ſich
auf jedem Schritt durch juriſtiſche Bedenken gehemmt, da er nicht wußte,
ob er ſich ſelbſt als die verheißene Landesrepräſentation anſehen ſollte,
und der offene Kampf brach aus, als die Regierung den Ständen zwei-
mal die Uebernahme finanzieller Verpflichtungen zumuthete. Sie ver-
langte zunächſt die ſtändiſche Garantie für die neuen Landrentenbanken,
welche die Ablöſung der grundherrlichen Laſten erleichtern ſollten. Sach-
liche Bedenken gegen dies verſtändige Geſetz hegte nur ein kleiner Kreis
conſervativer Grundbeſitzer, der die Berechtigten durch die Ablöſung zu
ſchädigen fürchtete; den Finanzen drohte auch keine Gefahr, da die Land-
rentenbriefe ja der Sicherheit erſter Hypotheken genoſſen. Unlösbar aber
ſchien wieder die Rechtsfrage. Vincke eiferte: wie dürfen wir das Land
mit neuen Verpflichtungen belaſten, ſo lange der Vereinigte Landtag nicht
regelmäßig die Lage des Staatshaushalts prüft, und die Regierung ohne
unſer Wiſſen Schulden aufnehmen kann? Zum Unglück wagte Bodel-
ſchwingh, der faſt allein, kaum unterſtützt von den ſchweigſamen anderen
Miniſtern, mit bewunderungswürdiger Geduld die Sache der Krone ver-
trat, jetzt die unhaltbare Behauptung aufzuſtellen: eine Bürgſchaft dürfe
[625]Landrentenbanken. Oſtbahn.
man doch nicht wie eine Schuld anſehen. Daſſelbe hatte er ſchon vor
vier Jahren den Vereinigten Ausſchüſſen geſagt, damals noch ohne leb-
haften Widerſpruch.*) Seitdem aber waren die ſtaatsrechtlichen Fragen
mannichfach erwogen und durchdacht worden; man erkannte allgemein, das
Anleihebewilligungsrecht der Stände verliere jeden Werth, wenn es nicht
ganz unzweideutig anerkannt würde. Der Miniſter ſah ſich alſo heftig
angegriffen, manche der Abgeordneten geriethen in eine Aufregung, als ob
die Krone ſie böslich betrügen wollte, und der Geſetzentwurf ward ver-
worfen.
Aehnliche Kämpfe, aber ungleich heftiger und bedeutſamer, erneuerten
ſich, als die Regierung den ſoeben erſt vollendeten Geſetzentwurf über die
Oſtbahn nach Königsberg vorlegte. Da das Privatcapital ſich verſagt
hatte, ſo wollte die Krone ſelbſt den gewaltigen Bau in die Hand nehmen**)
und verlangte darum die ſtändiſche Bürgſchaft für eine Anleihe von
22—25½ Mill. Thlr. Die Nothwendigkeit des großen Unternehmens
konnte Niemand bezweifeln. Es war für die Volkswirthſchaft des be-
drängten alten Ordenslandes, für die politiſche Einigung und die mili-
täriſche Sicherheit der Monarchie geradezu eine Lebensfrage, daß der wilde
Weichſelſtrom, der bisher nur bei Thorn eine elende, dem Verfalle nahe
Pfahlbrücke trug, endlich bezwungen wurde und Oſtpreußen zu jeder Jahres-
zeit eine geſicherte Verbindung mit der Hauptmaſſe des Staates erhielt.
Die Vorarbeiten waren längſt im Gange; ein genialer Ingenieur, Bau-
rath Lentze hatte ſchon ſeit Jahren die Pläne entworfen für die Ueber-
brückung der Weichſel und der Nogat bei Dirſchau und Marienburg.
Brücken von ſo rieſiger Spannweite kannte man in Europa, ſelbſt in
England noch nicht; die Bahn mußte auf weiter Strecke durch die Werder
acht Fuß unter dem Waſſerſpiegel der beiden Ströme geführt werden, und
ſchon waren an 8000 Arbeiter thätig um die ungeheueren Deichbauten
auszuführen. Und dies großartige, dem preußiſchen Staate zu hohem
Ruhme gereichende Werk konnte vollendet werden ohne die Steuerzahler
irgend zu belaſten; die 2 Mill. Thlr., die bereits als jährlicher Staats-
zuſchuß für den Eiſenbahnbau angewieſen waren, genügten allein ſchon,
um die Anleihe zu verzinſen und zu tilgen. Trotzdem ſchien die Bewilli-
gung, wegen der leidigen Verfaſſungsfrage, den Ständen ganz unmöglich.
Die große Mehrheit der Oſtpreußen ſetzte ihren Stolz darein, dem
Lande zu beweiſen, daß ſie nicht um ihres Vortheils willen die ſtändiſchen
Rechte preisgeben wollten. Einer ihrer angeſehenſten Edelleute, Saucken-
Tarputſchen, ein alter Kämpfer aus den Befreiungskriegen, deſſen unver-
brüchliche Treue der König ſelbſt wohl kannte, erklärte feierlich: „Wenn
ich auch alle Hütten meines Landes durch die Bewilligung des Anlehens
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 40
[626]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
zu Schlöſſern verwandeln könnte, ſo würde ich in dem Glauben, daß
mit leichtem und ruhigem Gewiſſen es ſich glücklicher und behaglicher in
einer Hütte, als mit einem beſchwerten im Palaſte ſelbſt wohnen läßt,
dagegen ſtimmen.“ Und wieder vertheidigte Vincke in einer hinreißen-
den Rede das, was er Recht nannte: „Es giebt Lagen in dem Leben
der Staaten, wo der Patriot ſein Haupt verhüllt, in ſein Inneres zu-
rückgeht und den feſten Entſchluß faßt, nur der inneren Stimme zu folgen,
welche ihm zuruft: thue Recht und ſcheue Niemand!“ Hanſemann aber
benutzte die Gelegenheit um auch den Kriegsſchatz anzugreifen, der, nach
ſeiner kaufmänniſchen Weltanſchauung, dem Staate in Zeiten der Be-
drängniß viel weniger nützte als eine gute Nationalbank, und beantragte,
die Krone möge vorläufig 10 Mill. aus dem Staatsſchatze für dieſen Eiſen-
bahnbau verwenden. Dabei that er den kühnen Ausſpruch, der in der
zartbeſaiteten Geſchäftswelt überall Widerhall fand und alsbald zum ge-
flügelten Worte wurde: „in Geldſachen hört die Gemüthlichkeit auf.“
Und war denn das Recht, um deſſentwillen ſo viel Pathos verſchwendet
wurde, wirklich ſo unzweifelhaft und ſo werthvoll? Konnten die Oſtpreußen
nach Vollendung der Oſtbahn wirklich nicht mehr in ihren Hütten und Pa-
läſten mit ruhigem Gewiſſen ſchlafen — blos weil der Vereinigte Landtag
ſeine periodiſche Berufung zwar mit Gewißheit erwarten durfte, aber noch
nicht förmlich zugeſichert erhalten hatte und das Recht der Bewilligung von
Kriegsanleihen noch nicht beſaß? Durften die Stände wegen ſolcher Spitz-
findigkeiten das Wohl des Landes mit Füßen treten und ein Geſetz, das
ſie ſelber vollkommen billigten, zurückweiſen? Otto v. Bismarck wenigſtens
vermochte dieſem Rechtsfanatismus nicht zu folgen. Unter dem lauten
Murren der Verſammlung warf er den Gegnern vor, ſie wollten „gleichſam
ein Retentionsrecht an dem Rechte der Anleihebewilligung ausüben“; er
fragte, ob ſie es nicht ſelber „mit dem Namen der Erpreſſung brand-
marken“ würden, wenn die Regierung ihre adminiſtrativen Wohlthaten von
dem politiſchen Verhalten der Provinzen abhängig machte? Die Warnung
des jungen Feudalen, den man überall nur für einen Heißſporn der
Reaction anſah, fruchtete nichts. Die Anleihe wurde mit Zweidrittel-
Mehrheit verworfen, obgleich der geſammte Herrenſtand mit einer einzigen
Ausnahme dafür ſtimmte. Da die Stände jedoch den Unſinn dieſer Ab-
lehnung ſelber fühlten, ſo fügten ſie noch die völlig widerſprechende Bitte
hinzu: der König möge dem nächſten Landtage eine neue Propoſition über
die Oſtbahn vorlegen und bis dahin die begonnenen Arbeiten fortſetzen
laſſen.
Dieſe unſelige Verhandlung entſchied über das Schickſal des Land-
tags. Sie brachte den König, der die ganze Verwirrung freilich ſelbſt
verſchuldet hatte, zu der Einſicht, daß er ſich mit ſeinen Ständen nicht
verſtändigen könne. Wie hoffnungsvoll war er in die neue Laufbahn
eingetreten. Soeben erſt hatte er ſich von Cornelius die Zeichnung für
[627]Verwerfung der Oſtbahn-Anleihe.
eine ſchöne Denkmünze vorlegen laſſen: da ſtand, umgeben von den vier
Ständen, der Genius Preußens, mit der Geſetztafel des Patentes hoch in
der Hand, und der Dämon der Empörung floh hinweg. Und jetzt lohnte
ihm ſeine Lieblingsprovinz eine große königliche Wohlthat mit ſchnöder
Verneinung und verführte auch die anderen Provinzen zur Unbotmäßigkeit!
Den Ehrennamen der „Preußen“ wollte er dieſen Undankbaren in Schrift
und Rede kaum noch gönnen. In höchſtem Zorne ſchrieb er ſofort (8. Juni)
an Thile: „Es iſt gut, daß den ‚Preußen‘ die Strafe ihres wahnſinnigen
Votirens gewaltiglich vor’s Angeſicht geſtellt werde. Es iſt mein Wille,
daßangenblicklich alleArbeiten an derWeichſelbrückeund Eiſen-
bahneingeſtelltwerden. Mich macht das Verwerfen der Anleihe nicht
kalt und nicht warm. Es ſoll aber die ‚Preußen‘ kalt und warm machen.“
Auch General Boyen war über das Verhalten ſeiner Landsleute entſetzt
und ſtimmte mit dem Monarchen dahin überein: beſſer „eine That des
Ernſtes, welche den Ständen andere Thaten des Ernſtes und
der Strengeahndenläßt als eine Antwort ohne That auf eine Pe-
tition viele Tage nach dem gegebenen Skandal.“ Als einige der
anderen Miniſter dem Monarchen vorſtellten, Vertrauen erwecke Vertrauen,
Gereiztheit erwecke Gereiztheit, da erwiderte er heftig: „Keiner der an-
geführten Gründe faßt. ErnſtesHandeln (nicht Reden) war nach meiner
tiefſten Ueberzeugung hier geboten. Es mußte dem erkrankenden Landtag
und den in Ungeſetzlichkeit erſoffenen ‚Preußen‘ in specie ein Eimer kaltes
Waſſer über den Kopf gegoſſen werden. Trotz ihres Soffs wiſſen ſie
meiſterlich das à propos zu treffen. Man muß mit derſelben Waffe des
à propos und zwar in der Realität der Staatsmacht ſie bekämpfen.“*)
Der König beharrte bei ſeinem Willen. Lentze und ſeine Leute waren
gerade in ihrem Maſchinenhauſe feierlich verſammelt um zuzuſchauen, wie
das erſte Eiſenſtück mit dem eingeformten Bergmannsgruße Glückauf!
gegoſſen wurde; in dieſem Augenblicke kam der königliche Befehl, alle
Arbeiten ſofort einzuſtellen. Welch ein Eindruck! Drei Jahre lang blieb
der Brückenbau unterbrochen, nur die Deicharbeiten wurden fortgeführt.
Die Provinz, die ja vor Kurzem erſt ſo dringend um den Bau der Oſt-
bahn gebeten, empfand den Schlag ſehr ſchwer, und es zeigte ſich un-
zweideutig, daß die 18 Abgeordneten, welche für die Anleihe geſtimmt
hatten, mindeſtens unter den ſchlichten Leuten des flachen Landes mehr
Anhänger beſaßen als die 65 Verneinenden. Wer konnte auch die über-
feinen Rechtsbedenken begreifen, die das Ordensland um eine ſolche Wohl-
that gebracht hatten? Volksthümlich, gemeinverſtändlich war die Haltung
der Landtagsmehrheit nicht. Friedrich Wilhelm hatte jetzt alles Vertrauen
zu ſeinen Ständen verloren, er mochte ihre Verhandlungen gar nicht mehr
40*
[628]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
leſen und auf den Hoffeſten gab er den Mitgliedern der Oppoſition ſehr
deutlich ſeine Ungnade zu erkennen. Er wünſchte nur noch raſchen Ab-
ſchluß der Berathungen, aber die Ehre einer perſönlichen Anſprache wollte
er den Undankbaren nicht mehr gönnen. —
Noch viele andere hochwichtige Verhandlungen drängten ſich in dieſen
elf kurzen Landtags-Wochen zuſammen. Wenn der König gehofft hatte,
bei ſeinen Lebzeiten würden die Stände ihr Steuerbewilligungsrecht nie-
mals ausüben, ſo erwies ſich dieſe Erwartung jetzt ſchon als irrig. Eine
Erhöhung der Steuern war allerdings nicht nöthig, wohl aber ſchien eine
Veränderung des Steuerſyſtems wünſchenswerth, und auch ſie bedurfte
jetzt der ſtändiſchen Zuſtimmung. Die Mahl- und Schlachtſteuer, die in
den größeren Städten als Erſatz für die Klaſſenſteuer diente, wurde in
der Preſſe als eine Bedrückung der Armen ſchon von langeher heftig an-
gefeindet; man verlangte ſtatt ihrer die Beſteuerung des Einkommens der
höheren Stände, und dieſer alte Lieblingsgedanke des rheiniſchen Liberalis-
mus gewann neue Kraft ſeit die Lehren der Socialiſten ſich zu verbreiten
begannen. Allerdings waren die Uebelſtände, welche die Mahl- und Schlacht-
ſteuer bewirkte, im ganzen Lande bekannt; die Beläſtigung des kleinen
Verkehrs an den Stadtthoren forderte den Unterſchleif geradezu heraus,
in manchen Städten kam jährlich ſchon auf 300, in einzelnen gar auf
200 Einwohner ein entdeckter Uebertretungsfall. Gleichwohl hatte ſich
auch hier wieder die alte Erfahrung bewährt, daß eine theoretiſch ſehr an-
fechtbare Abgabe, wenn ſie lange beſteht und die Abwälzung ſich vollzogen
hat, im praktiſchen Leben ohne ſonderliche Beſchwerde ertragen wird. Die
kleinen Leute litten unter dieſer verrufenen Steuer wenig oder gar nicht;
vielmehr drängten ſich die Arbeiter maſſenhaft gerade in die mahl- und
ſchlachtſteuerpflichtigen Städte, weil ihnen die Steuer durch den höheren
Arbeitslohn reichlich erſetzt wurde. Und war es denn ſo ſicher, daß die
Preiſe von Brot und Fleiſch nach Aufhebung der Steuer beträchtlich ſinken
mußten? Unbeſchränkter Wettbewerb beſtand wohl im großen Verkehr,
doch nicht im Kleinhandel mit Lebensmitteln, welche der Regel nach in
der Nachbarſchaft der Kunden hergeſtellt wurden; fiel die Steuer hinweg,
ſo war es für die geringe Zahl der ſtädtiſchen Bäcker und Metzger offen-
bar vortheilhaft, wenn ſie einander nicht gegenſeitig unterboten, ſondern
gemeinſam die Preiſe auf der alten Höhe zu halten ſuchten.
Die Frage war ſehr ſchwierig. Der erfahrene General-Steuerdirector
Kühne konnte ſich von der unbedingten Nothwendigkeit der Reform durch-
aus nicht überzeugen. Aus politiſchen Gründen hielt er jedoch für rathſam,
daß die Regierung aufregenden Anträgen der Stände ſelbſt zuvorkäme
durch einen Vorſchlag, der als ein Zugeſtändniß an die liberale öffentliche
Meinung freundlicher Aufnahme ſicher war und, wenn er doch ſcheiterte,
die beſtehende Ordnung des Staatshaushalts nicht gefährden konnte.*)
[629]Die Einkommenſteuer.
Der Verſuch war ehrlich gemeint und fand die königliche Genehmigung.
Die Regierung ſchlug dem Landtage die Aufhebung der Mahl- und Schlacht-
ſteuer vor; zum Erſatze ſollte die Klaſſenſteuer für die ärmeren Stände
auch in den Städten eingeführt, jedes Einkommen über 400 Thlr. aber
mit einer ſehr mäßigen Steuer — das fundirte mit 3, alles andere
Einkommen mit 2 Proc. — belaſtet werden. Doch alsbald ergab ſich,
daß der zukunftsreiche Gedanke der Einkommenſteuer, obwohl ihn die
Preſſe ſo oft beſprochen hatte, noch keineswegs zur allgemeinen Aner-
kennung gelangt war. Vincke, Beckerath, Schwerin und mehrere andere
Liberale erklärten ſich dawider. Viele der Grundherren ſcheuten eine neue
Belaſtung, die ihnen ohne jeden Entgelt zugemuthet wurde; ſie klagten
nicht mit Unrecht, die Geſetzgebung der letzten Jahrzehnte ſei zumeiſt dem
beweglichen Capital zu gute gekommen. Vornehmlich aber fürchtete man
den fiscaliſchen Spürſinn, die Aufdeckung der wirthſchaftlichen Verhältniſſe
jedes Haushalts; war doch auch in England die Einkommenſteuer höchſt
unbeliebt, weil Niemand gern die Behörden in ſeine Rechnungsbücher
blicken ließ. Der beſte politiſche Kopf der rheiniſchen Liberalen, Ludolf
Camphauſen, ein hoch aufgerichteter hagerer Mann mit ſcharfen Zügen
und ſtrengen großen Augen, vertheidigte zwar die Vorſchläge der Regierung
in einer gedankenvollen Rede, und es war ein Zeichen der Zeit, wie un-
befangen dieſer reiche Kölniſche Kaufherr, der in der Zollpolitik ganz frei-
händleriſch dachte, den geſunden Kern der neuen ſocialiſtiſchen Lehren
würdigte. Er geſtand — was die engliſche Mancheſterſchule durchaus
nicht zugab — daß der Menſch, der lebe, auch das Recht habe zu leben,
und die Geſellſchaft dies Recht in weiterem Umfange als bisher anerkennen
müſſe; er verlangte die Einkommenſteuer, damit die kleinen Leute entlaſtet,
die Wohlhabenden durch die Selbſteinſchätzung fühlbar an ihre ſocialen
und politiſchen Pflichten erinnert würden. Die Mehrheit ließ ſich jedoch
nicht überzeugen; der Landtag begnügte ſich mit der unbeſtimmten Bitte,
die Regierung möge auf eine Erleichterung der Abgaben der ärmſten
Klaſſen hinwirken.
Heftigeren Streit erregte das neue Judengeſetz. Obgleich Friedrich
Wilhelm die Juden ſo wenig liebte und durch Jacoby’s Königsberger Ge-
noſſen unaufhörlich gereizt wurde, ſo hielt er doch für Königspflicht auch
ihnen gerecht zu werden. Er beſchloß, das milde Hardenbergiſche Juden-
geſetz vom Jahre 1812, das bisher nur in den alten Provinzen beſtand, von
den übrigen Provinziallandtagen aber als allzu liberal zurückgewieſen
worden war,*) mit einigen Abänderungen in dem geſammten Staats-
gebiete einzuführen. Leider verleitete ihn ſeine Vorliebe für ſtändiſche
Gliederung dabei zu einem Mißgriff: er dachte die Judenſchaften als
Corporationen abzuſchließen, was doch rein unmöglich war, da grade die
[630]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
gebildeten, germaniſirten Juden nicht wünſchen konnten als eine ſelb-
ſtändige Nation neben ihren deutſchen Mitbürgern aufzutreten. Wurde
dieſer Fehler noch ausgemerzt, ſo bot der Geſetzentwurf den Juden in
der Mehrzahl der neuen Provinzen unleugbar eine dankenswerthe Er-
leichterung. Sie erlangten fortan vollſtändige Gleichheit der bürger-
lichen Rechte und Pflichten; nur die landſtändiſchen Rechte, die eigentlich
obrigkeitlichen Aemter und ein Theil der Lehrerſtellen blieben ihnen noch
verſagt.
Preußens Judenſchaft beſtand aus ſehr ungleichen Schichten. Zu ihr
zählten die großen und kleinen Geſchäftsleute, darunter viele hochgeachtete;
ſodann die buntgemiſchte Schaar der Gelehrten, Aerzte und Literaten, die
zum Theil durch ihre radicale Geſinnung den Behörden läſtig, aber bürger-
lich achtbar waren. Dazu endlich ein entſetzlicher Pöbel, der außer einigen
ehrlichen armen Leuten eine Unzahl von Wucherern und Güterſchlächtern,
Trödlern und Roßtäuſchern, Schnaps- und Bordellwirthen, Factoren und
Schadchen, Hauſirern und Schnorrern, Hehlern und Stehlern umfaßte;
die deutſche Gaunerſprache war ja mit hebräiſchen Worten überladen.
Dieſe Hefe des Judenthums ſaß vornehmlich im Großherzogthum Poſen,
in ihr hatte ſich aller Schmutz der polniſchen Geſchichte abgelagert; deutſch
war an dieſen Leuten mit dem ſtinkenden Kaftan und den Locken des
Geſetzes noch nichts als ihre abſcheulich verhunzte Sprache. Darum hatte
der preußiſche Staat die Judenſchaft Poſens von jeher nach beſonderen
Geſetzen behandelt und ſie neuerdings (1833) förmlich in naturaliſirte
Juden und Schutzjuden eingetheilt. Der Schutzjude durfte weder das
Bürgerrecht in den Gemeinden erwerben noch in eine andere Provinz
überſiedeln; wenn er aber ein ehrbares bürgerliches Gewerbe trieb oder
ein kleines Landgut bewirthſchaftete oder ſeine Wehrpflicht untadelhaft
erfüllte oder auch nur von den Ortsbehörden ein Zeugniß der Würdigkeit
erhielt, dann erlangte er leicht die Naturaliſation und damit alle Rechte
der Juden in den alten Provinzen. Dieſe auf Betrieb des liberalen Ober-
präſidenten Flottwell ergangene Verordnung wirkte ſehr wohlthätig; die
beſſeren der kleinen Poſenſchen Juden ſuchten ſich an deutſche Sitte und
geregelte Arbeit zu gewöhnen um dadurch zur Naturaliſation zu gelangen.
Währte dieſe heilſame Beſchränkung noch eine Reihe von Jahren hindurch,
dann konnte man vielleicht hoffen, die jüdiſche Einwanderung nach Berlin
und den Nachbarprovinzen, die ſich auf die Dauer doch nicht abwenden ließ,
einigermaßen zu regeln, ſo daß ſie nicht zur offenbaren Landplage wurde.
Die Schranke plötzlich hinwegzunehmen war ſchon darum unrathſam,
weil die Juden aus dem ruſſiſchen Polen, die noch viel tiefer ſtanden
als ihre Poſener Stammgenoſſen, bereits gierig nachdrängten und ihr
Einbruch ſchwer zu hindern war. Auch die Ausſchließung der Juden
von den Staatsämtern entſprach unzweifelhaft der im Volke vorherrſchen-
den Geſinnung, denn alle Obrigkeit bedarf des Anſehens und des Ver-
[631]Berathung über das Judengeſetz.
trauens, an die Gerechtigkeit eines jüdiſchen Richters aber wollten die
Bauern ſchlechterdings nicht glauben.
In den höheren Ständen dagegen war die Meinung neuerdings ſtark
umgeſchlagen. Vor zwanzig Jahren noch hatten nicht blos die chriſtlich-
germaniſchen Burſchenſchafter und die conſervativen preußiſchen Provinzial-
ſtände ſondern auch die ſüddeutſchen Liberalen die Gleichberechtigung der
Juden entſchieden bekämpft. Noch nach der Juli-Rvolution (1831) ver-
öffentlichte Paulus, das Haupt der liberalen Rationaliſten, eine ſehr ſcharfe
Schrift gegen „die jüdiſche National-Abſonderung“. Auch Rotteck, Welcker
und ihre Freunde in der badiſchen Kammer verwarfen damals noch die
völlige Gleichſtellung — manche wohl nur weil ſie ſich vor der entſchie-
denen Abneigung ihrer Wähler fürchteten. Aber nach und nach drang
die abſtrakte franzöſiſche Lehre von dem gleichen Staatsbürgerthum aller
Einwohner auch in Deutſchland vor; die jüdiſchen Zeitungsſchreiber ver-
breiteten ſie geſchäftig und wußten das klug erſonnene neue Schlag-
wort „Juden-Emancipation“ geſchickt zu verwerthen, obgleich mindeſtens
in den alten preußiſchen Provinzen eine Sklaverei der Israeliten nicht
beſtand. Kurheſſen war das erſte deutſche Land, das den Juden (1833)
die unbedingte Gleichberechtigung gewährte; der mit Amſchel Rothſchild
ſo nahe befreundete Prinzregent wagte den Anträgen des liberalen Land-
tags nicht zu widerſprechen. Dieſer erſte Verſuch bewährte ſich ſehr ſchlecht.
Grade hier kam an den Tag, daß die Sünden des Wuchers und des
Truges durchaus nicht blos Folgen der Unfreiheit, ſondern tief eingewur-
zelte, ſo leicht nicht zu überwindende jüdiſche Nationallaſter waren; grade
hier, wo die Juden nach Belieben jeden Beruf ergreifen konnten, zeigten
ſie ſich als grauſame Blutſauger des armen Landvolks, und ſo wurde
dieſe Wiege der deutſchen Judenbefreiung ſehr bald zur Heimſtätte eines
ganz fanatiſchen Judenhaſſes. Trotzdem hielt der Luftzug aus dem Weſten
an, das franzöſiſche Recht wurde in weiten Kreiſen als die geſchriebene
Vernunft angeſehen; der reiche Breslauer Fabrikherr Milde, ein in Frank-
reich und England gebildeter ehrlicher Vorkämpfer des neuen liberalen
Bürgerthums, verlangte im Vereinigten Landtage ſchon kurzweg, man ſolle
nur einfach die napoleoniſchen Geſetzbücher mit geringen Aenderungen
in dem geſammten preußiſchen Staate einführen.
Auch die Kirchenfeindſchaft der radicalen Dichter und Philoſophen
kam den Wünſchen der Juden entgegen. Geringſchätzung aller religiöſen
Gefühle galt ſchon für das Kennzeichen ſtarker Geiſter, und der ungeheuer-
lichen Behauptung, daß der Proteſtantismus dem Judenthum näher ſtehe
als der katholiſchen Kirche, ſtimmten viele der liberalen Proteſtanten zu,
welche das Weſen ihres Glaubens nur im Kampfe gegen Rom ſuchten.
Argen Mißbrauch trieben die Vertheidiger der Juden-Emancipation mit dem
großen Namen Leſſing’s. Das herrliche Märchen von den drei Ringen,
deſſen tiefſinnige Ironie ſich doch leicht erkennen läßt, da ja nur einer
[632]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
der Ringe echt iſt, wurde ganz gedankenlos ausgelegt, als wäre Leſſing ſelber
ebenſo ſtumpfſinnig geweſen wie ſeine Erklärer, als hätte er den gewalt-
thätigen Islam oder das längſt zur Mumie erſtarrte Judenthum wirklich
der Religion der Liebe und der Freiheit gleich ſtellen wollen. In der
Hauptſtadt herrſchte ſeit dem Adreſſenſturme der Lichtfreunde wieder faſt
unumſchränkt jene ſelbſtgefällige Aufklärung, welche einſt, zu Nicolai’s
Zeiten, ihren Ausdruck gefunden hatte in den echt berliniſchen Verſen:
„Daß Gott ſei, lehrte Moſes ſchon; doch den Beweis gab Moſes Mendels-
ſohn.“ Humboldt und ſein Kreis wollten als unbedingte Verehrer der
franzöſiſchen Revolution in jeder Beſchränkung der politiſchen Rechte der
Israeliten nichts ſehen als Glaubensdruck und finſtere Barbarei. Leider
kannte der große Reiſende ſein eigenes Vaterland weit weniger als Mexico
oder Sibirien. Er überſah, daß in Preußen nach Verhältniß mindeſtens
achtmal mehr Juden lebten als in Frankreich, und daß dieſe Israeliten
dem polniſchen Stamme angehörten, nicht, wie damals noch die Mehrzahl
der franzöſiſchen Juden, dem bildſameren, den Abendländern näher ſtehen-
den ſpaniſchen Judenſtamme. Da er ſelbſt mehr Weltbürger als Deutſcher
war, ſo entging ihm auch das allerwichtigſte Bedenken: daß die Deutſchen
leider nicht jenen ſchönen inſtinktiven Nationalſtolz beſaßen, der in Frank-
reich jedes fremde Volksthum zwang ſich der nationalen Sitte unbedingt zu
unterwerfen.
Unterdeſſen hatte das deutſche Judenthum einen tapferen, beredten
Vorkämpfer gefunden an dem Hamburgiſchen Juriſten Gabriel Rieſſer,
einem edlen, vaterländiſch geſinnten Manne, dem ſeine Freunde nachrühm-
ten, in ihm ſei das Recht Gemüth geworden. Die Gleichberechtigung
ſeiner Stammgenoſſen war ihm Herzensſache; ſeit dem Anfange der drei-
ßiger Jahre vertrat er ſie, oft heftig, aber immer ehrenhaft, in ſeiner
Zeitſchrift „der Jude“ und in zahlreichen Flugſchriften. Selber ein gemäßig-
ter Liberaler, faßte er muthig den Stier bei den Hörnern und bekämpfte
namentlich die badiſchen Liberalen. Er wußte wohl, daß ſeine Stamm-
genoſſen nur wenn ſie durchaus zu Deutſchen wurden das gleiche Recht ver-
langen durften; doch da er ſelbſt ſo grunddeutſch empfand wie ſein wackerer
Freund M. Veit in Berlin und die anderen gebildeten Juden ſeines näheren
Umgangs, ſo behauptete er kurzweg, die deutſchen Juden hätten ihrer alten
Nationalität ſchon längſt entſagt. Hier lag die Schwäche ſeiner Aus-
führungen; er ſetzte voraus was zu beweiſen war. Wären alle deutſchen
Juden wirklich ſo geſinnt geweſen wie dieſer begeiſterte Patriot, dann hätte
ihre Gleichberechtigung in unſerem weitherzigen Volke keinen Widerſtand
gefunden.
Die Landtagsverhandlungen litten, wie noch heute jeder Streit um
die Judenfrage, unter einer rechtlichen Unklarheit. Jude im Sinne des
Rechts war nur der Bekenner der moſaiſchen Religion; wer die vollſtän-
dige Gleichberechtigung der Juden bekämpfte, gerieth alſo leicht in den
[633]G. Rieſſer. Der chriſtliche Staat.
falſchen Schein, als ob er die religiöſe Duldung, den alten Ruhm Preußens
beeinträchtigen wollte. Und doch wurde die preußiſche Geſetzgebung den
Juden gegenüber ſchon ſeit anderthalb Jahrhunderten allein durch weltlich-
politiſche Gedanken beſtimmt. Religiöſe Skrupel waren es doch wahrhaftig
nicht, welche den königlichen Freigeiſt Friedrich bewogen, den Namen Moſes
Mendelsſohn’s von der Candidatenliſte der Akademie zu ſtreichen; und
wenn der Staat gegenwärtig die Poſener Schutzjuden nur unter gewiſſen
Bedingungen naturaliſirte, ſo verlangte er von ihnen doch durchaus keine
Verleugnung religiöſer Geſinnungen, er forderte nur, daß ſie ſich durch
ehrliche Arbeit ernähren und die ſchwierige Kunſt des Waſchens und des
Kämmens nicht gänzlich verabſäumen ſollten. Die Staatsgewalt nahm an,
und in der Regel mit Recht, daß ein Jude, ſobald er ſich taufen ließe,
damit auch die Abſicht bekundete ganz zum Deutſchen zu werden; ſie glaubte,
dies fremde, der Maſſe der deutſchen Nation unzweifelhaft verhaßte Volks-
thum ſei bisher in ſeiner Geſittung noch nicht genugſam germaniſirt, und
man könne darum noch nicht wagen, chriſtliche Deutſche unter den Befehl
jüdiſcher Beamten zu ſtellen. Um dieſe rein politiſche Frage bewegte
ſich in Wahrheit der ganze Streit. Das Geſetz aber durfte die Juden
nur als eine religiöſe Gemeinſchaft anſehen, weil eine andere rechtliche
Grenze zwiſchen Deutſchen und Juden ſich ohne Willkür nicht feſtſtellen
ließ. Darum ſtützten ſich die Vertheidiger des beſtehenden Rechts auf die
Lehre vom chriſtlichen Staate, die, wie geiſtvoll ſie auch neuerdings in Stahl’s
Schriften vertreten wurde, doch die Rechtsbegriffe nur noch mehr verwirren
konnte. Denn ſo gewiß die Deutſchen ein chriſtliches Volk, ihr ganzes Leben
und mithin auch ihre Geſetze von chriſtlichem Geiſte durchdrungen waren,
ebenſo gewiß war der deutſche Staat eine weltliche Ordnung, die ihren eigenen
Rechts- und Machtzwecken lebte und alle religiöſe Thätigkeit grundſätzlich den
Kirchen überließ. Ueberdies beſtand das Chriſtenthum rechtlich nur in der
Form beſtimmter Confeſſionen, geſchloſſener Kirchen, und da das paritätiſche
Preußen keine Staatskirche kannte, ſo verloren ſich die Vertheidiger des
chriſtlichen Staates in unbeſtimmte, allgemeine Behauptungen, denen die
Gegner mit ebenſo allgemeinen Sätzen über Menſchenrecht und Menſchen-
würde antworteten. Auch allerhand häßliche Nebenrückſichten ſpielten bei
der Verhandlung mit; das Judenthum hatte ſich in die moderne Geſell-
ſchaft ſchon ſo tief eingefilzt, daß eine rein ſachliche Behandlung der Frage
längſt nicht mehr möglich war. In der vornehmen Welt wußte Jeder-
mann, daß manche der Grundherren im Landtage jüdiſche Schuldknechte
waren und ihre Abhängigkeit von den Berliner Bankiers, die hinter den
Kuliſſen geſchäftig arbeiteten, doch nicht gern verrathen wollten.*)
So kam es, daß die lange Berathung über das Judengeſetz nur wenig
fruchtbare Gedanken zu Tage förderte. Im Namen des Chriſtenthums
[634]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
mahnte Beckerath ſalbungsvoll: „Laſſen Sie uns Keinen, dem Gott das
unvergängliche Siegel ſeines Ebenbildes auf die Stirn gedrückt hat, aus-
ſchließen aus dem Kreiſe menſchlicher Berechtigung!“ Aber das Menſchen-
recht beſtritt den Juden Niemand, ſondern nur das Recht, Staatsämter
in einem chriſtlichen Volke zu bekleiden. Ebenſo unglücklich ſprach Miniſter
Thile, als er endlich ſeine ſchweigſamen Lippen zu einer Rede, die einer
Predigt glich, öffnete. Er meinte, der Jude könne niemals ein Deutſcher,
ein Preuße werden, ſein Vaterland ſei Zion — eine Behauptung, die
doch nur auf die kleine Zahl der ſtreng altgläubigen Israeliten zutraf.
Auch Eichhorn zeigte ſich nicht als wirkſamer Redner, als er die Idee des
chriſtlichen Staates vertheidigte. Dieſe chriſtlichen Doctrinen überſchüttete
dann Vincke mit der Lauge ſeines Hohnes, in einer blendenden, aber höchſt
unklugen Rede, die gradezu darauf auszugehen ſchien, den frommen König
in ſeinen heiligſten Gefühlen zu verletzen und im Grunde nur flaches
Geſpött enthielt. Unter ſchallendem Gelächter führte er aus: ein chriſt-
licher Staat ſei doch unmöglich, da die Bibel ſage: du ſollſt nicht töden
— und was der Witze mehr war; daß dieſelbe Bibel tief ernſt von der
Nothwendigkeit des Krieges und der Hinrichtungen ſpricht, ſchien er gar
nicht zu wiſſen. Mit der ganzen Dreiſtigkeit der Sarmaten empfahl nach-
her der Pole Jaraczewski die Emancipation der Juden, damit ſeine Heimath
Poſen von der Ueberzahl ihrer Israeliten entlaſtet würde; um die ge-
duldigen deutſchen Nachbarn zu beſchwichtigen ſagte er tröſtend: die Juden
glichen dem Waſſer, das aufgeſtaut leicht verſumpfe und das Land ver-
peſte, aber frei durch die Gefilde dahinſtrömend alle ſeine wohlthätigen
Eigenſchaften zeige.
Der liberalen Mehrheit behagten die fröhlichen Weiſſagungen des
Polen weit mehr als die Warnungen des Pommern v. Thadden-Trieg-
laff, der, im ſchärfſten Gegenſatze, „die Emancipirung der Chriſten von
den Juden“ verlangte und namentlich die Wirkſamkeit jüdiſcher Lehrer
in chriſtlichen Schulen gefährlich fand. Thadden war eines jener Ori-
ginale, wie ſie in dem erregten Gemüthsleben der Erweckten, der Stillen
im Lande ſich zuweilen ausbilden, ein gottſeliger Kriegsmann aus den Be-
freiungskämpfen, tief fromm, von kindlicher Sittenreinheit, mildthätig bis
zur Verſchwendung, aber ganz und gar kein Kopfhänger, vielmehr heiter,
überaus witzig, vielbeleſen, frei von Menſchenfurcht und darum gern bereit,
den Gegnern ſeiner hochlegitimiſtiſchen Geſinnung jeden Freimuth zu ge-
ſtatten. Wer ihm näher trat mußte den Patriarchen Hinterpommerns
lieb gewinnen; die Liberalen aber hielten ihn kurzweg für einen Narren.
Nicht viel höher ſchätzten ſie ſeinen jungen Liebling Bismarck, der
jetzt ebenfalls die Lehre vom chriſtlichen Staate vertheidigte. Naiv wie
der Genius iſt, bekannte ſich Bismarck zu der naturwüchſigen Empfindung,
die in der Maſſe des deutſchen Landvolks unleugbar vorherrſchte: „ich
würde mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen, wenn ich mir als Re-
[635]Bismarck. Das neue Judengeſetz.
präſentanten der geheiligten Majeſtät des Königs einen Juden denke.“
Dann ſchlug er die tiefen Töne deutſchen Stolzes an. Beckerath hatte
nach ſeiner elegiſchen Weiſe von einem jüdiſchen Jüngling geſprochen, der
im Befreiungskriege gefallen war und ſich alſo, da die Juden noch immer
nicht Miniſter werden konnten, umſonſt aufgeopfert hatte. Gegen dieſe
dünne Gefühlsſeligkeit brach nun Bismarck gewaltig los: „Ich kann nicht
glauben, daß ein Blut vergebens gefloſſen iſt, welches für die deutſche
Freiheit floß, und bisher ſteht die deutſche Freiheit nicht ſo niedrig im
Preiſe, daß es nicht der Mühe lohnte dafür zu ſterben, auch wenn man
keine Emancipation der Juden damit erreicht.“ Ein großes Opfer wollte
er in einem ſolchen Tode überhaupt nicht ſehen; vielmehr wünſchte er
den Deutſchen „das ſtolze Gefühl der National-Ehre“ das den Engländern
und Franzoſen verbiete ihre Geſetze dem Auslande nachzubilden.
Auf dieſe Gedanken kam er auch in anderen Reden beharrlich zurück.
Nichts empörte ihn tiefer als das liberale Märchen, daß die Preußen um
der erhofften Verfaſſung willen den Freiheitskrieg geführt hätten. Für
dieſen Krieg, erwiderte er heftig, brauchte unſer Volk keinen „anderen
Grund als die Schmach, daß Fremde unſerem Lande geboten“; wer das
leugnet, „erweiſt der National-Ehre einen ſchlechten Dienſt“. Und als die
Liberalen den jungen Mann, der ja die Befreiungskriege nicht mit erlebt
hatte, von oben herunter abfertigten, da erwiderte er mit jenem mächtigen
Selbſtgefühle, deſſen Berechtigung erſt die Thaten der Zukunft erweiſen
ſollten: „Ich habe immer geglaubt, daß die Knechtſchaft, die damals be-
kämpft wurde, im Auslande gelegen habe; ſoeben bin ich aber belehrt
worden, daß ſie im Inland gelegen hat, und ich bin nicht ſehr dankbar
für dieſe Aufklärung.“ Ueber die Macht und Einheit des Vaterlandes
hatte ſchon mancher Redner dieſer reichbegabten Verſammlung edel und warm
geſprochen; aber ſo kühn, ſo ſicher, mit einem ſolchen Teutonentrotze wie
dieſer verrufene märkiſche Junker ſagte doch Niemand ſonſt: Deutſchland
über Alles! Es war die Stimme des Mannes, der einſt das Werk der
Staufer und der Hohenzollern vollenden ſollte.
Die Curie der drei Stände verlangte noch einige Erweiterung der jü-
diſchen Rechte, ſie wollte ſogar die Juden Poſens den übrigen ſofort gleich
ſtellen. Da die Herrencurie jedoch dieſem leichtſinnigen Beſchluſſe wider-
ſprach, ſo blieb die für alle Theile heilſame Sonderſtellung der Poſener
Juden beſtehen, und am 23. Juli 1847 wurde das neue Judengeſetz ver-
öffentlicht, das im Weſentlichen dem Entwurfe der Regierung entſprach;
nur der unglückliche Gedanke der Einrichtung incorporirter Judenſchaften
war aufgegeben. Der milde und gerechte Geiſt des Geſetzes ließ ſich gar
nicht verkennen, wenn man die Zuſtände der deutſchen Nachbarſtaaten ver-
glich: die ſächſiſchen Juden durften ja nur in zwei Städten des Landes
wohnen, die mecklenburgiſchen an manchen Orten nicht einmal übernachten.
Aber der Dank blieb aus, die hochherzige Gewährung weckte nur neue
[636]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Begehren. Die liberale Preſſe lärmte, ſie forderte die Freiheit wie in
Kurheſſen, und ſchon ließ ſich vorherſehen, daß die Gedanken des na-
poleoniſchen Rechts über lang oder kurz den Sieg erringen würden.
Auch die Polen verlangten von den Ständen „Erhaltung ihrer Na-
tionalität und Sprache“. Aber im Vereinigten Landtage zeigten dieſelben
Männer, die auf ihrem Provinziallandtage ſo oft zuchtlos getobt hatten,
eine auffällige Beſcheidenheit, Fürſt Radziwill galt in der Herrencurie ſogar
für einen warmen Anhänger der Regierung. Die Mäßigung war ſchlau be-
rechnet; denn der große Polenproceß ſtand grade vor der Thür, und die pol-
niſchen Abgeordneten fürchteten durch Kundgebung ihrer wahren Geſinnung
das Schickſal ihrer angeklagten Landsleute zu erſchweren. Die Liberalen
erwieſen den Polen, trotz der frechen Empörung des vergangenen Jahres,
eine ſchwächliche, ſentimentale Theilnahme. Vincke ſprach wieder ſehr ſchön
und wieder ſehr unklug, ohne jede Sachkenntniß; er empfahl Nachgiebigkeit,
damit die Polen „ſich ganz deutſch und preußiſch fühlten“ — woran ſie
doch ſelber gar nicht dachten. Wie tief ward dieſe deutſche Fremdbrüder-
lichkeit beſchämt, als der oberſchleſiſche Pole Wodiczka jede Geſinnungs-
gemeinſchaft mit den Poſener Unzufriedenen feierlich zurückwies. Die Polen,
rief er aus, ſehen uns nicht als polniſche Brüder an; und in der That
waren die ſchleſiſchen Waſſerpolaken von ihren ſarmatiſchen Nachbarn durch
die Verſchiedenheit der Geſchichte, der Sitten, des Dialekts ſcharf getrennt
und der Krone Preußen dankbar ergeben. „Wir Oberſchleſier“, ſo ſchloß
Wodiczka, „wollen nur als deutſche Brüder, als Preußen angeſehen und
behandelt werden.“ Der Landtag nahm die Petition der Poſener an,
obgleich er ſich, nach dem Patente, mit Provinzialbeſchwerden nicht be-
faſſen durfte. Der ſechsjährige gemeinſame Kampf gegen die Regierung
hatte die Provinziallandtage einander genähert, der Parteigeiſt überwucherte
den alten deutſchen Markmannenſtolz, die liberalen Polen zu begünſtigen
galt jetzt ſelbſt in Oſtpreußen ſchon als eine liberale Ehrenpflicht. Der König
aber, der ſeinen Polen auch nichts übel nahm, ließ die Bittſteller gnädig
bedeuten, ſie ſollten ihren Antrag gehörigen Orts, bei ihrem Provinzial-
landtage oder unmittelbar vor dem Throne einbringen, dann könnten ſie
wohlwollender Prüfung ſicher ſein. Nachher wurde die Mehrheit durch
ihre Polenſchwärmerei noch zu einem höchſt unziemlichen Beſchluſſe ver-
leitet: ſie bat den König ſchon im Voraus, gegen die gefangenen polniſchen
Verſchwörer „nach Möglichkeit Gnade walten zu laſſen“, obgleich doch erſt
der bevorſtehende Polenproceß erweiſen konnte, wie ſchwer dieſe Rebellen
ſich gegen ihre milde Regierung vergangen hatten. Eine Beſprechung ward
abſichtlich unterlaſſen, weil man die Gefühle der polniſchen Abgeordneten,
deren Freunde und Verwandte im Kerker ſaßen, zartſinnig ſchonen wollte.
Wie hier, ſo wurden auch in vielen anderen Fällen die kleinlichen
Vorſchriften der Geſchäftsordnung übertreten. Der König ſtand ſchon
längſt auf der ſchiefen Fläche, vor der ihn Metternich ſo oft gewarnt hatte.
[637]Polniſche Klagen. Auswärtige Politik.
Ein ſolcher Landtag, ſo zahlreich, ſo ſtark an Talenten, ſo tief bewegt von
den Ideen einer unruhigen Zeit, mußte gradezu übergreifen, er mußte
Alles was des Vaterlandes Wohl und Wehe berührte zu beſprechen ſuchen.
Nach dem Patente ſollte er ſich nur mit inneren Angelegenheiten befaſſen;
die Einverleibung Krakaus aber und die langjährige Unterbrechung des
Handelsverkehres mit dem revolutionären Spanien hatten in mehreren
Provinzen, zumal in Schleſien, Handel und Wandel ſchwer geſchädigt, und
wie konnte man dieſe Landesbeſchwerden erörtern ohne die europäiſche
Politik zu berühren? Miniſter Canitz erkannte das ſelbſt und verſicherte
den Ständen, eine taktvolle Beſprechung der auswärtigen Angelegenheiten
ſolle ihnen nicht verboten werden. Wie wenig ahnte er die Wirkung ſeiner
leichthin geſprochenen Worte! Alles jubelte; man nahm an, die Krone
wolle den Ständen freiwillig ein neues Recht gewähren. Auch der Mar-
ſchall der Curie der drei Stände, Rochow-Stülpe theilte dieſe Meinung. Er
hatte vor Kurzem noch in der Verfaſſungscommiſſion alle reichsſtändiſchen
Pläne des Königs hartnäckig bekämpft, er war nachher gleichwohl zum
Landtagsmarſchall ernannt worden und bemühte ſich mit großer Selbſt-
verleugnung, ſein ſchwieriges Amt unparteiiſch zu handhaben. Jetzt er-
klärte er einfach: bisher hätte er alle Petitionen über auswärtige Politik
als unſtatthaft zurückgewieſen, nunmehr würde er ſie zulaſſen.
Darüber geriethen nun der Hof und das geſammte conſervative Lager
in begreifliche Aufregung. Der Prinz von Preußen beſtürmte ſeinen könig-
lichen Bruder mit ernſten Vorſtellungen. Ohnehin kein Freund des ſarka-
ſtiſchen Canitz, lebte er ganz in den Gedanken preußiſcher Großmachtspolitik;
und wohin trieb man, wenn dieſer Landtag, der nur zu berathen hatte, alſo
keinerlei Verantwortlichkeit trug, die europäiſche Politik der Krone jeder-
zeit durch leichtfertige Petitionen ſtören durfte? Der alte Welfe, der dem
preußiſchen Miniſter als einem Gegner des hannoverſchen Staatsſtreichs
noch von ſeiner Geſandtſchaftszeit her grollte, ſchrieb hämiſch: „Habe mich
nicht geirrt auf Dummheit des Canitz.“*) Am Berliner Hofe ſagte man
laut: Canitz verdiene an demſelben Stricke gehenkt zu werden, den er
ſich ſelber durch ſeine Rede gedreht hätte. König Friedrich Wilhelm wollte
dieſen Miniſter, der ihm beſonders werth war, nicht fallen laſſen; er
fühlte auch, daß man dem Landtage die auswärtige Politik nicht gänz-
lich verſchließen konnte. Aber ſo lange er ſelbſt in königlicher Weisheit
noch nichts geändert hatte, ſollten ihm die Stände keinen Schritt weit
über die gewährten Rechte hinausgehen. Darum nannte er (20. Mai)
die Rede des Landtagsmarſchalls „funeſt“ und ſagte: „Das iſt gegen mein
Geſetz vom 3. Febr. und muß coute que coute reparirt werden.“**) Nach
einem großen Miniſterrathe ſah ſich Canitz genöthigt, vor dem Landtage
[638]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſeiner erſten Rede eine ſtark einſchränkende Auslegung zu geben. Aber
die Schleußen waren geöffnet. Heftige Ausfälle gegen den Deutſchen
Bund, leidenſchaftliche Klagen über die Zerriſſenheit des Vaterlandes ließen
ſich nicht mehr verbieten. Eine Petition um Wahrung des deutſchen
Rechts in Schleswigholſtein wurde ſogar förmlich an eine Commiſſion
verwieſen. Deren Bericht kam erſt ſpät zu Stande, erſt in dem Augenblicke,
da der Landtag geſchloſſen werden ſollte. Da erhob ſich plötzlich Graf
Schwerin und verlas eigenmächtig vor dem geſammten Landtage den Com-
miſſionsbericht, der ſich ſehr warm für die Rechte Nordalbingiens aus-
ſprach. Die Verſammlung ſtimmte mit brauſendem Zurufe bei, und
obwohl der Landtagsmarſchall das ungeſetzliche Verfahren nachträglich
rügte, ſo vermochte er doch an der geſchehenen Kundgebung nichts mehr zu
ändern.
Niemand konnte es hindern, alle die lange verhaltenen Wünſche der
ungeduldigen Zeit wurden im Landtage laut. Die Stände verlangten
Oeffentlichkeit der Berathungen der Stadtverordneten, und die Krone
konnte nicht umhin, durch eine Cabinetsordre vom 23. Juli 1847 der
Forderung zu entſprechen. Sie beſchloſſen einſtimmig, auf Auerswald’s
Antrag, eine Bitte um Preßfreiheit; eine Debatte hielten ſie für über-
flüſſig, denn über die Unmöglichkeit der Cenſur waren ſchon alle Par-
teien einig. Thadden-Trieglaff veröffentlichte bei dieſer Gelegenheit eine
ungehaltene Rede, die in dem Satze gipfelte: „die Preßfreiheit, aber der
Galgen daneben!“ Die Rede enthielt in paradoxer Form manche geſunde
Gedanken und fand den Beifall des Prinzen von Preußen. Der frei-
müthige Sonderling ſah die Zeit kommen, da die Menſchen nicht mehr
an Gott, wohl aber an ihre Zeitung glauben würden; er erkannte die
allen demokratiſchen Epochen gemeinſame Gefahr der moraliſchen Feigheit,
die ſich in der Scheu vor jeder perſönlichen Verantwortlichkeit, in dem
Verlangen nach geheimen Wahlen und Anonymität der Preſſe bekundet.
Darum forderte er Aufhebung der Cenſur, ſtrenge Beſtrafung der Preß-
vergehen, Unterzeichnung aller Artikel. Aber die Anonymität der Zei-
tungen war längſt mit allen modernen Lebensgewohnheiten verwachſen;
die Rede wurde nur verhöhnt und erlangte ſchon wegen ihres heraus-
fordernden Hauptſatzes ganz unverdientermaßen einen ſprichwörtlichen Ruf
als Probſtück reactionärer Narrheit. Auf dieſe Forderung der Preßfrei-
heit wußten die Vertreter der Krone nichts zu antworten, als daß der
Bundestag zunächſt ſein Preßgeſetz ändern würde.
Sichtlich in Verlegenheit geriethen ſie auch, als Hanſemann mit komi-
ſchem Pathos von der Rednerbühne herab dem Landtage erſt das dünne
Heft der preußiſchen Staatshaushalts-Ueberſicht, dann die dicken Bände
des belgiſchen, des franzöſiſchen, des däniſchen Budgets vorzeigte. Wohl
erwiderte Bodelſchwingh der Wahrheit gemäß: wir haben nichts zu ver-
bergen; die geheimen Fonds beziffern ſich bei uns nicht, wie im conſtitu-
[639]Schlußverhandlungen über das Patent.
tionellen Frankreich auf Millionen, ſondern auf 17,000 Thlr. Aber dieſe
im Ganzen ſo ſparſame, ſo peinlich rechtſchaffene Finanzverwaltung hatte
doch auf Befehl des alten Königs 473,000 Thlr. an Don Carlos gezahlt,
und was hinderte, daß Aehnliches oder Schlimmeres wieder geſchah? Eine
gründliche und genaue Prüfung des Staatshaushalts ließ ſich den Ständen
gar nicht mehr vorenthalten; das war ihr gutes Recht, wenn ſie Steuern
und Anleihen bewilligen ſollten. Während alſo Wünſche, Beſchwerden,
Anträge jeder Art auf den Landtag einſtürmten, verſtand die Oppoſition
doch ſehr klug, Alles zu vermeiden, was ſie ſelber zerſpalten konnte. Ueber
die Diſſidenten wurde ſehr heftig geredet, jedoch über das Verhältniß des
Staates zur römiſchen Kirche ſprach Niemand, weil die Liberalen aus
dem Oſten ihre rheiniſchen Genoſſen nicht reizen wollten. Das Elend
der ſchleſiſchen Weber kam zur Sprache, der Prinz von Preußen, Fürſt
Lichnowsky und andere Mitglieder der Herrencurie verwendeten ſich lebhaft
für die Erhöhung der Garnzölle; aber eine grundſätzliche Erörterung der
Zollpolitik wurde behutſam vermieden, weil die ſchleſiſchen und die rhei-
niſchen Liberalen zum Theil Schutzzöllner waren, ihre Freunde aus den
Küſtenlanden alleſammt Freihändler.
Während der letzten Wochen der Tagung bewegten ſich die Verhand-
lungen weſentlich um die längſt vorbereiteten Anträge auf Abänderung
der Geſetze vom 3. Februar. In dieſer Erweiterung der ſtändiſchen Rechte
ſahen viele Liberale die eigentliche Aufgabe des Landtags; die Unterzeichner
der verunglückten Erklärung der Rechte ſuchten jetzt ihr Ziel auf einem
anderen Wege zu erreichen. Die Stellung der Regierung war wieder ſehr
ſchwierig, ihr fehlte der ſichere Rechtsboden. Savigny ſelbſt mußte die Er-
fahrung machen, daß der große akademiſche Redner parlamentariſcher Er-
folge nicht ſicher iſt; er überzeugte Niemand, als er zu beweiſen ſuchte,
die früheren Geſetze verpflichteten den König nicht zur regelmäßigen Be-
rufung der Reichsſtände. Als die Miniſter dann gar behaupteten, die
Krone hätte keine Garantie für die preußiſche Bank übernommen, da ver-
wickelten ſie ſich in beſchämende Widerſprüche; auf der Banknote, die ein
Abgeordneter entrüſtet vorwies, ſtand doch deutlich zu leſen, daß ſie von
allen Behörden ſtatt baaren Geldes angenommen werden mußte, und der
König ſelbſt ſah ſich genöthigt, dies zur Beruhigung ſeiner getreuen Stände
nochmals zu beſtätigen. Jedoch auch die Oppoſition bewegte ſich im Kreiſe,
wenn ſie immer wieder die unklaren Verheißungen der Hardenbergiſchen
Geſetze für unzweifelhaftes Recht erklärte. „So hoch der Himmel über
der Erde“ — ſagte Vincke — „ſo hoch ſteht das Recht über den Nütz-
lichkeitsgründen. Möge die unparteiiſche Geſchichte ſagen: der erſte Land-
tag der Krone Preußen, insbeſondere die Mitglieder der Curie der Ritter-
ſchaft, der Städte und der Landgemeinden, ſie wurden als treue und
fleißige Ackerer erfunden auf dem Boden des Rechts, ſie ſind von dieſem
Boden nicht um einen Fuß breit abgewichen; nicht um eines Nagels Dicke
[640]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
haben ſie nachgegeben von ihrem guten Rechte; ſie haben ſtets unabänder-
lich beharrt bei dem alten deutſchen Grundſatze unſerer Väter: Recht muß
doch Recht bleiben!“ Stürmiſcher Beifall folgte ſeinen Worten, aber die
Gegner gewann er nicht.
Es war ein troſtloſes Silbenſtechen, treue Patrioten ſtanden hüben
und drüben; und dies ganze erbitterte und erbitternde Gezänk hätte der
König durch eine klare, rechtlich unangreifbare Faſſung ſeines Patents ſo
leicht verhindern können. Die Nothwendigkeit der periodiſchen Einberufung
des Landtags ſtellte auch Bismarck nicht in Abrede. Ohne ſie fehlte dem
Landtage das geſicherte Daſein, und den böswilligen Gerüchten, die überall
umliefen, blieb Thür und Thor geöffnet: die allwiſſenden Berliner be-
haupteten ja ſchon längſt, der Landtag ſei nur eine „Pump-Anſtalt“ für
die geldbedürftige Krone und würde erſt wiederkehren wenn die Finanzen
wieder Noth litten. Aber der König hatte ſchon verſprochen, die Ver-
einigten Landſtände in ſpäteſtens vier Jahren wieder zu berufen; Jeder-
mann ſah voraus, daß dieſe Friſt ſich thatſächlich ſtark verkürzen würde,
und unterdeſſen ſollten ja auch noch die periodiſchen Vereinigten Aus-
ſchüſſe zuſammentreten. War es klug, in ſolcher Lage den König zu drängen,
ihn jetzt ſchon zur förmlichen Aenderung ſeiner ſoeben verkündigten Ge-
ſetze zu nöthigen? Darüber durften einſichtige Männer wohl verſchiedene
Meinungen hegen. Bismarck erklärte den Liberalen zu ihrem heftigen
Unwillen, er könne die Meinung des preußiſchen Volks nicht in den Ver-
ſammlungen des Königsberger Böttchershöfchens vertreten finden; er rieth,
man möge mindeſtens das Gras dieſes Sommers über den Streit wachſen
laſſen ehe man neue Forderungen ſtelle. Auch die Herrencurie wollte ſich,
da die Rechtsfrage ſo dunkel war, nicht zu einer Rechtsverwahrung ver-
ſtehen, ſondern nur zu Bitten an den König. Sie zeigte ſich keineswegs
engherzig; die Fürſten Wied, Lichnowsky, Lynar, die Grafen Dyhrn, York,
Zieten ſprachen entſchieden aus, Preußens Herrenſtand dürfe nimmermehr
dem Beiſpiel des verblendeten bourboniſchen Adels folgen. Bei der Mehr-
heit aber gab den Ausſchlag das Anſehen des Prinzen von Preußen, der
nochmals, unbekümmert um die Verleumdungen draußen, für ſeinen könig-
lichen Bruder eintrat. Immer wieder mahnte er zum Vertrauen: wenn
es je einen König von Preußen geben könnte, der die ſtändiſchen Rechte
willkürlich ändern wollte, „ſo glaube ich mit Stolz ſagen zu können, daß
ein ſolcher König nicht ſeiner Ahnen würdig daſtehen würde. Daß ich
dieſe Geſinnungen meinem Sohne einprägen und ſie auf ihn vererben
werde, dieſe Verſicherung glaube ich geben zu können, und ſo Gott will
wird es ſo weiter gehen.“ So dachte er ſtets nur an ſeinen Sohn; ſeine
eigene Zukunft ahnte er nicht.
Nach langwierigen Verhandlungen kamen alle ſchärferen Anträge zu
Falle, und die vier Curien einigten ſich über eine ſehr beſcheidene Petition:
ſie baten den König um periodiſche Einberufung des Landtags und dem-
[641]Wahl der Vereinigten Ausſchüſſe.
gemäß um Beſchränkung des Wirkungskreiſes der Vereinigten Ausſchüſſe;
ſie baten ihn endlich, „mit Beziehung auf die frühere Geſetzgebung und
aus Gründen der Nützlichkeit und inneren Nothwendigkeit“ die Wahl der
Ausſchüſſe für jetzt auszuſetzen. Eine ſchwüle Stimmung herrſchte im
Hauſe, und bei dem letzten Hoffeſte auf Sansſouci gedachte Thadden-
Trieglaff ahnungsvoll des Liedes: O Richard, o mon roi, tout le monde
t’abandonne! Des Königs Antwort lautete abſchlägig, aber nicht ganz
ungnädig, obgleich die Stände den Monarchen mittlerweile durch den un-
glücklichen Beſchluß über die Oſtbahn bitter gereizt hatten. Im Stillen
fühlte Friedrich Wilhelm längſt, daß die periodiſche Berufung der Ver-
einigten Stände nunmehr unvermeidlich war; vorher aber mußte Alles,
was er in den Verordnungen vom 3. Februar anbefohlen hatte, gehorſam
ausgeführt werden, dann erſt wollte er frei, ungedrängt, nach ſeiner könig-
lichen Weisheit entſcheiden. Deßhalb verſprach er, die Anträge auf perio-
diſche Einberufung des Landtags und auf Beſchränkung der Ausſchüſſe
„in ſorgſame Erwägung zu ziehen“; dagegen ſollten die Ausſchüſſe jetzt
ſogleich neu gewählt werden, da er ihnen demnächſt den lange vorbereiteten
Entwurf des neuen Strafgeſetzbuchs zur Begutachtung vorlegen wollte.
Dieſe königliche Botſchaft erſchien am 24. Juni. Schon zwei Tage
darauf ſollte der Landtag geſchloſſen werden, der König ſelbſt war in-
zwiſchen bereits in tiefem Unmuth abgereiſt. Da galt es denn raſch zu
entſcheiden, ob man die Wahl vornehmen dürfe, und der Landtag endete,
wie er begonnen, mit einem unfruchtbaren Rechtsſtreite. Die Vereinigten
Ausſchüſſe waren eine gänzlich verfehlte Künſtelei — daran zweifelte eigent-
lich Niemand mehr — aber vor ſechs Jahren durch die abſolute Krone
geſchaffen, beſtanden ſie unzweifelhaft noch zu Recht; der Landtag ſelbſt
hatte das nicht beſtritten und folglich war er auch zu der geſetzlichen Neu-
wahl verpflichtet. Daß die Rechte des Landtags beeinträchtigt würden,
wenn ein von ihm ſelbſt erwählter Ausſchuß ein unmaßgebliches Gutachten
über das Strafgeſetzbuch erſtattete — dieſe ſpitzfindige Behauptung konnte
ſich nur auf gewaltſam herbeigezogene, dem Volke unverſtändliche Rechts-
bedenken ſtützen. Da Jedermann wußte, daß der König geneigt war die
periodiſche Einberufung des Landtags in einer nahen Zukunft zu bewilligen,
ſo gebot ſchon die monarchiſche Ehrfurcht, daß man ihn nicht durch ſtör-
riſchen Eigenſinn erbitterte; und wenn die Oppoſition nicht wählte, dann
ſchloß ſie ſich ja ſelbſt von den Vereinigten Ausſchüſſen aus.
Alle dieſe handgreiflichen politiſchen Bedenken galten dem unaufhalt-
ſamen „Abgeordneten der Grafſchaft Mark“ gar nichts. In den ſtürmiſchen
Vorberathungen verlangte Vincke kurzweg, man müſſe ſich der Wahl ent-
halten. Das nannte er Recht. Der Ruhm der unbedingten Folgerichtig-
keit, der von praktiſchen, dem Vaterlande dienenden Staatsmännern immer
gering geſchätzt wird, war ihm Eines und Alles. Diesmal aber verſagten
ſich ſeine oſtpreußiſchen Freunde, die ihre ſtrenge Rechtsgeſinnung doch
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 41
[642]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
genugſam bewieſen hatten. Einſtimmig erklärten ſie, daß ſie wählen würden,
wenn auch unter Vorbehalt der Rechte des Landtags. Das Ergebniß
war, daß nur 58 Abgeordnete ſich der Wahl enthielten; darunter waren
28 Rheinländer, Hanſemann, Meviſſen und ihre Anhänger, aber kein
einziges Mitglied der Herrencurie. 157 Mitglieder wählten unter ver-
ſchiedenen Vorbehalten, die alleſammt geſetzlich nichts bedeuteten; 284
wählten unbedingt. Der Verſuch, die Erklärung der Rechte zu wiederholen,
war alſo kläglich geſcheitert; Vincke hatte abermals ſeiner eigenen Partei
eine Niederlage bereitet. Gleichwohl hinterließ dieſe vielbeſtrittene Wahl
peinliche Eindrücke. Man trennte ſich nicht gradehin in Feindſchaft, aber
mit dem ſchmerzlichen Gefühle, daß köſtliche Kräfte faſt nutzlos vergeudet
waren. Bodelſchwingh ſelbſt ſprach, als er die Sitzungen ſchloß, tief be-
wegt aus: „daß die Ergebniſſe des Vereinigten Landtags weniger frucht-
bringend für das Land geweſen ſind als ſie es hätten ſein können.“ Im
Volke hatten die glänzenden Redner des Landtags viel Bewunderung ge-
funden; ihnen gegenüber war das gefürchtete Beamtenthum, da es eigent-
lich nur durch Bodelſchwingh und einige tüchtige Regierungscommiſſäre,
wie Kühne, würdig vertreten wurde, ſehr ſchwach erſchienen, viel ſchwächer
als es wirklich war. Jedoch ein ſtarkes, ſicheres Gefühl, ſei es des Haſſes
ſei es der Freude, konnten dieſe ſo geiſtreichen und doch ſo wunderlich
verworrenen Verhandlungen nirgends erregen. Auch die Treuen wußten
nicht mehr woran ſie ſich halten ſollten, und ſolcher rathloſer Mißmuth war
zu allen Zeiten der fruchtbare Nährboden der Revolution. An dieſer ge-
fährlichen Verſtimmung trug aber Niemand größere Schuld als der König,
der die Nation ſo ganz väterlich nach ſeinen unerforſchlichen Rathſchlüſſen
gängeln wollte.
Die Schlußverhandlungen des Landtags ſteigerten den Unwillen Fried-
rich Wilhelm’s auf’s Höchſte. Er dachte alles Ernſtes, die Abgeordneten,
welche die Wahl verweigert hatten, aus dem Landtage auszuſchließen oder
ſie wegen Ungehorſams zu beſtrafen. Die Oberpräſidenten der unzu-
friedenen Provinzen aber ſtellten ihm alleſammt dringend vor, ſolche Maß-
regeln würden die Mißſtimmung verſchärfen, und ſo ward der Plan auf-
gegeben.*) Beſſer begründet war der Zorn des Königs wider die Landräthe
Vincke, Bockum-Dolffs, Bardeleben, Platen, die ſich unter den Liberalen
hervorgethan hatten. Sobald es ernſt ward mit dem ſtändiſchen Leben,
mußte die Stellung der Regierungsbeamten im Landtage irgendwie ge-
ordnet werden. Daß der Landrath Vincke, der Untergebene Bodelſchwingh’s
als Führer einer unverſöhnlichen, die geſammte Rechtsanſchauung der
Miniſter beſtreitenden Oppoſition aufgetreten war, ließ ſich mit der Manns-
zucht einer geordneten Verwaltung kaum noch vereinbaren. Auf königlichen
[643]Ausgang des Landtags.
Befehl wurden die vier Landräthe alſo befragt, ob ſie die Geſetze vom
3. Februar als rechtsverbindlich anſähen und ihnen in ihrer Amtsthätigkeit
nachleben wollten. Alle Vier verſprachen, die ſtändiſchen Geſetze auszu-
führen ſo lange es ihr Gewiſſen erlaube; Vincke fügte hinzu, nöthigen-
falls würde er rechtzeitig ſeine Entlaſſung nehmen. Schon dieſe Zuſage
bewies, daß der Rechtsboden, um den man ſtritt, ſeinen eigenen Verthei-
digern nicht ſo ganz feſt erſchien. Nunmehr riethen die Miniſter, von
weiteren Maßregeln abzuſehen, da weder das Verhalten der Landräthe
auf dem Landtage noch ihre Geſinnungen beſtraft werden könnten. Der
König ließ es dabei bewenden; doch befahl er Vincke zu bedeuten: „wie
mir bei ſeinen ſonſtigen guten Eigenſchaften und bei meinem beſonderen
Wohlwollen für ſeinen verſtorbenen Vater eine Umkehr von ſeinen irrigen
Anſichten doppelt erfreulich ſein würde.“ Auch Bardeleben, deſſen Ant-
wort etwas unbeſtimmt gelautet hatte, erhielt noch eine beſondere Ver-
warnung: „ich will ihm Gelegenheit geben, meine wankend gewordene
Achtung und mein völlig verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen.“*)
So milde — weit milder als eine conſtitutionelle Regierung verfahren
darf — behandelte die abſolute Krone ihre Verwaltungsbeamten; doch
die wohlweiſe Väterlichkeit ſolcher Vermahnungen mußte ſtolze Männer
faſt noch ſchwerer kränken als eine Strafe.
Bei allem Unmuth hatte Friedrich Wilhelm keineswegs das Ge-
fühl einer erlittenen Niederlage: Unterthanen konnten ihn doch nicht be-
ſiegen. Vielmehr glaubte er noch immer, die Zukunft ſeines Verfaſſungs-
werkes feſt in ſeiner königlichen Hand zu halten. In ſeiner Thronrede
meinte er ſich ganz unmißverſtändlich ausgeſprochen zu haben. Daher
ſchrieb er an Bunſen: „der ſehr kurze Sinn der ſehr langen Rede (die
ich geſprochen aber nicht geleſen habe) iſt der: man wäre ein ſiebenfaches
Rindvieh 1) eine Verfaſſung zu fordern, 2) ein noch viel größeres, eine
Verfaſſung zu geben — wenn man ſchon eine hat. Darum die kurze
Hindeutung auf England. Mon chancellier vous dira le reste.“**) Um
den augenblicklichen Aerger zu vergeſſen, überließ er ſich ganz ſeiner unruhigen
Reiſeluſt. Er ging nach Breslau, wo das Reiterſtandbild des großen Königs
von Kiß enthüllt wurde, dann nach Pillnitz zu dem geliebten Schwager, dem
Prinzen Johann von Sachſen. Freilich, die luſtigen Zeiten kehrten nicht
wieder, da Kronprinz „Dicky“ einſt mit ſeinem Carissimo Sasso di Dante
hier am Strande der Elbe „Urküche gegeſſen“ hatte.***) Indeß der König
fühlte ſich wohlauf, und recht von Herzen freute er ſich, als ihm hier eine
Dankadreſſe von etwa vierzig Mitgliedern der märkiſchen Ritterſchaft zukam,
41*
[644]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
die er ſogleich veröffentlichen ließ.*) Nun reiſte er nach Iſchl zu ſeiner
leidenden Gemahlin, darauf nach Trieſt und Venedig, dann zurück an
den Rhein. Dort verlebte er wieder einen ſeligen Tag, als er im ſtillen
Waldthale von Altenberg den wiederhergeſtellten herrlichen Bergiſchen
Dom dem Gottesdienſte übergab und damit einen alten Herzenswunſch
der Nation, den einſt Goethe, Schinkel, Arndt, Harkort und ſo viele andere
ausgezeichnete Männer ausgeſprochen hatten, hochherzig erfüllte.
Derweil der König alſo ſeinen Mißmuth zu vergeſſen ſuchte, em-
pfanden ſeine näheren Freunde ſehr ſchmerzlich das Mißlingen des reichs-
ſtändiſchen Unternehmens. Niemand ſchmerzlicher als der treue Radowitz.
Der war den Verhandlungen des Landtags mit Spannung gefolgt und
hatte dann und wann aus der Ferne ein Heft „nicht gehaltener Reden“
in die Debatten hineingeworfen. Noch vor dem Schluſſe der Tagung
ſah er ein, dies „verſtimmte und mißtrauiſche Geſchlecht ſei unfähig das
Wort ſeines Königs zu verſtehen“, und er ſchrieb ehrlich (13. Juni): „Ich
habe mein Leben in hiſtoriſchen Studien zugebracht aber keinen Regenten
gefunden, der mit ſolcher Zuſammenſetzung des Herzens und Geiſtes, ſo
unbefleckt von dem Unrathe der politiſchen Irrlehre, ſo ernſt und ſo freudig
in ſeinem mühſamen Berufe, einen mächtigen Thron beſtiegen hätte. Ew.
Königl. Majeſtät wären der Mann Ihres Volks und der deutſchen Nation
geworden … dann war der Boden feſt gegründet, auf welchem das Ge-
bäude der rechten ſtändiſchen Monarchie errichtet werden konnte … Es
iſt nicht geſchehen. Sieben Jahre ſind verfloſſen, die nicht wiederkehren.
Im tiefſten Schmerze ſorge ich, daß weil das Mögliche nicht verſucht
worden, jetzt das Unmögliche unternommen werde.“**) Er ahnte den Zu-
ſammenbruch, und die Stimmung im Lande ward allerdings bedroh-
lich. Der Landtag ſelbſt ging ziemlich ſtill auseinander. Die Oppo-
ſition verſammelte ſich noch einmal zu einem Bankett. Da wurden denn
Adreſſen der liberalen Schwaben und der geſinnungstüchtigen Danziger
verleſen, und die 138 Declaranten gefeiert, die der König zu ſeinen letzten
Hoffeſten nicht mehr eingeladen hatte; Fürſt Lichnowsky verherrlichte mit
gellender Stimme die Eintracht der vier Curien, Vincke trank auf das
Wohl der Oſtpreußen, die er für die Zukunft doch nicht miſſen konnte,
obwohl ſie ihn bei den Ausſchußwahlen alleſammt verlaſſen hatten. In
der Heimath wurde nur einigen der Abgeordneten ein feſtlicher Empfang
bereitet, weil das Volk ſich über den gerühmten Rechtsboden dieſes Land-
tags kein ſicheres Urtheil bilden konnte.
Indeſſen verriethen viele Anzeichen, wie der innere Unfrieden zunahm.
In der Preſſe redeten die enttäuſchten Juden täglich frecher. Auf die
Dankadreſſe der brandenburgiſchen Ritterſchaft folgte alsbald eine ſehr
[645]Mißſtimmung im Landtage.
grobe, durch den ukermärkiſchen Liberalen v. Holtzendorff veranlaßte Ein-
gabe märkiſcher Landleute, welche die Erfüllung der alten königlichen Ver-
heißungen ungeſtüm forderte. Beſonders gefährlich erſchien die Miß-
ſtimmung im Weſten. Einer der rheiniſchen Landtagsabgeordneten, Sted-
mann ließ als Manuſcript ein Büchlein über das Staatsrecht der rheiniſchen
Herzogthümer drucken, das hiſtoriſch nachweiſen ſollte, die Rheinländer
hätten früherhin „niemals ein geringeres Maß von perſönlicher Freiheit
und bürgerlicher Berechtigung genoſſen“ als unter der preußiſchen Herr-
ſchaft. Die Undankbarkeit dieſer Weſtländer, denen der alte König das
eiſerne Joch Bonaparte’s vom Halſe genommen hatte, wurde nachgrade
ſchamlos. In Mainz entſtand ein großer „Rheiniſcher Verein“, der von
Crefeld bis nach Karlsruhe hinauf ſeine Zweigverbände einrichtete und
die unbedingte Aufrechterhaltung des franzöſiſchen Rechts erſtrebte. Ein
„rheiniſcher Ausſchuß zur Gründung der deutſchen Republik“ verbreitete
maſſenhaft einen Aufruf „zur Vorbereitung“. Das Machwerk konnte,
nach der Fülle der Schimpfwörter zu ſchließen, nur von Heinzen herrühren
und ſchloß mit der Anrede an die Rheinländer: „die Preußen hinaus,
oder nieder mit dem Berlinerthum.“
Friedrich Wilhelm merkte von der dumpfen Luft im Lande ſehr wenig.
Auf Augenblicke beunruhigten ihn wohl die einlaufenden Berichte über
demagogiſche Umtriebe, und zuweilen geſchah es auch, daß lächerliche Kleinig-
keiten ſein Gemüth tief aufregten. Als der Fürſtbiſchof Diepenbrock ihn
auf einen Königsmörder-Verein der Primaner des Neiſſiſchen Gymnaſiums
aufmerkſam gemacht hatte, da ſchrieb er zerknirſcht: „Ich fühle mich
ſchuldig, denn vor Gott bin ich für die Bevollmächtigten meiner Autorität
verantwortlich. Ich ſteh’ dem Diepenbrock wie ein dummer Junge gegen-
über, der das nicht weiß was er wiſſen ſoll, wenn er ein rechter König
iſt. Gott beſſer’s!“*) Allein ſolche Stimmungen verflogen ſchnell. Noch
immer glaubte er ſeiner Selbſtherrlichkeit völlig ſicher zu ſein. Das zeigte
ſich deutlich, als General Boyen gleich nach dem Schluſſe des Landtags
ſeinen Abſchied verlangte. Der alte Held erhielt als Feldmarſchall das
Commando des Invalidenhauſes und lebte nur noch wenige Monate (bis zum
Febr. 1848); ein gütiges Geſchick erſparte ihm die Niedertracht der Berliner
Revolution noch zu erleben. Das durch Boyen’s Rücktritt erledigte Prä-
ſidium des Staatsminiſteriums konnte, nach der Meinung von Freund
und Feind, Niemand ſonſt erhalten als Bodelſchwingh; als Cabinets-
miniſter und Miniſter des Innern zugleich beſaß er ja ſchon die wichtigſte
Stellung im Miniſterrathe, und vor den Landſtänden hatte er faſt allein
tapfer den König vertreten. Aber für einen wirklichen Miniſterpräſidenten
war unter dieſem Regimente kein Raum; Bodelſchwingh ſelbſt hätte ſich
ſolchen Ehrgeizes wohl kaum erdreiſtet. Savigny erhielt, nach dem Dienſt-
[646]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
alter, das Amt, das in ſeinen Händen nur ein Ehrenamt ſein konnte und
ſollte.
So regierte der König in ſeiner Unumſchränktheit weiter, und ganz
unmöglich war es, ihn in dem Gange zu ſtören, den er ſich für ſeine
ſtändiſche Geſetzgebung vorgezeichnet hatte. Seine Umgebungen unter-
ſtanden ſich kaum noch zu widerſprechen. Höchſtens der freimüthige Gene-
ral v. Forſtner wagte zuweilen, den angebeteten Monarchen über „ſeine
Polen“ oder ähnliche Phantaſiebilder aufzuklären*); und wenn der libe-
rale Leibarzt, der große Kliniker Schönlein ſich mit ſeiner durch den langen
Schweizer Aufenthalt noch geſtärkten fränkiſchen Derbheit einmal ein burſchi-
koſes Kraftwort erlaubte, dann lachte Friedrich Wilhelm gemüthlich; er kannte
das ſüddeutſche Sprichwort: die Bamberger rauchen keinen feinen! Der oſt-
preußiſche Graf Dohna-Lauck, wahrhaftig kein Liberaler, bat ihn im Nov.
1847 flehentlich, die periodiſche Einberufung des Landtags alsbald aus-
zuſprechen, noch bevor eine der vielen ſtändiſchen Körperſchaften wieder
zuſammenträte, und zugleich ein einfaches Zweikammerſyſtem einzuführen,
ſo daß die Herrencurie aus ihrer unerträglichen Mittelſtellung heraus-
käme. Dann würde die ſtändiſche Geſetzgebung endlich ihren Abſchluß
erhalten.**) Es waren dieſelben einfachen Gedanken, welche Graf Arnim
als Miniſter ſo oft vertheidigt hatte. Die geheimnißvollen Pläne des
Königs ſtanden aber ſchon feſt: zunächſt ſollten die Stände Alles, was er
anbefohlen, buchſtäblich ausführen, dann erſt wollte er den gehorſamen
Kindern das letzte Geſchenk ſeiner väterlichen Huld, die periodiſche Be-
rufung des Landtags ankündigen.
So geſchah es auch. Die ſtändiſche Staatsſchuldencommiſſion be-
gann befohlenermaßen ihre Thätigkeit, und im Januar 1848 traten die
Vereinigten Ausſchüſſe zur Berathung des Strafgeſetzbuchs zuſammen.
Beckerath erklärte noch im letzten Augenblicke, daß er wegen ſeiner Rechts-
bedenken fern bleiben müſſe. Ludolf Camphauſen aber erſchien, verſöhn-
licher als die Mehrzahl ſeiner rheiniſchen Landsleute; und es machte
tiefen Eindruck, als dieſer königstreue, durch und durch preußiſch geſinnte
Patriot den Verlauf der letzten Kämpfe in bewegter Rede, nicht unpar-
teiiſch aber auch nicht ungerecht, alſo ſchilderte: „Als die Stände bis auf
die äußerſte Grenze vorrückten und, weit hinübergebogen, die Hand zur
Ausgleichung darboten, iſt dieſe Hand im Zorne zurückgeſtoßen worden.
Ein Wort hätte hingereicht, den Verfaſſungsſtreit in Preußen auf immer
zu beendigen. Es iſt nicht geſprochen worden. Die Folgen müſſen ge-
tragen werden. Die Geſchichte aber wird richten zwiſchen uns und der
Regierung!“ Im Ganzen zeigte der Vereinigte Ausſchuß große Mäßigung,
er hielt ſich ſtreng an ſeine nächſte Aufgabe. Der Entwurf des Straf-
[647]Verhandlungen der Vereinigten Ausſchüſſe.
geſetzbuchs war ein ernſtes, wohldurchdachtes Werk; nur einzelne ſeiner
Beſtimmungen mußten der Empfindung der Zeit allzu hart erſcheinen,
ſo die Vorſchrift, daß die Todesſtrafe in gewiſſen Fällen durch das Ab-
hauen der rechten Hand und die Aufſpießung des Kopfes verſchärft werden
ſollte. Die Rheinländer aber hielten an ihrem Code Napoleon, der im
Grunde weit ſtrenger war, eigenſinnig feſt; ihr „Rheiniſcher Verein“
und ihre kleinen ultramontanen Blätter warnten einträchtig vor „der
Chimäre der Verbrüderung, der Centraliſation“. Sie wollten nicht ſehen,
daß es eine Schande war, wenn im Namen deſſelben Königs von Preußen
hier eine That für ſtraflos, dort für verbrecheriſch erklärt wurde; der
ſittliche Werth eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs blieb ihrem verbiſſenen
Provinzialtrotze ganz unfaßbar. In der Kölniſchen Zeitung veröffentlichte
der geiſtreiche Bonner Juriſt Ed. Böcking eine ſcharfe Kritik des Entwurfs,
eine Arbeit, die gewiß nicht particulariſtiſch gemeint war, aber die Rheinländer
in ihrem Widerſtande beſtärkte. Genug, das Geſetz wurde von der liberalen
Preſſe, die den Rheinländern immer nach dem Munde redete, ſchon im
Voraus verläſtert. Savigny hatte im Landtage nur ſehr wenig geſprochen;
jetzt führte er die Sache der Krone faſt allein und vertheidigte mit über-
legener Ruhe Punkt für Punkt des verrufenen Geſetzes. Er zeigte, daß
nur eine „mißverſtandene Humanität“ die Todesſtrafe oder die Prügel-
ſtrafe für Ehrloſe bekämpfen könne; er erwies, daß Preußen als ein Glied
der großen chriſtlichen Staatengeſellſchaft verpflichtet ſei, auch die im Aus-
lande begangenen Verbrechen zu beſtrafen — was die liberale Sanftmuth
noch beſtritt.
Als die Berathungen ſich ſchon zum Ende neigten, kam plötzlich die
Nachricht von dem Ausbruch der Pariſer Februar-Revolution. Mit einem
Schlage verwandelte ſich die Welt, alle ſtillen Wünſche der letzten Jahre
gewannen augenblicklich Sprache, und es war nur menſchlich, daß der Aus-
ſchuß nunmehr beſchloß, das Strafgeſetzbuch ſolle nicht eher verkündigt
werden, als bis der Vereinigte Landtag auch über die beabſichtigte Reform
des Strafproceſſes berathen hätte. Schon der letzte Landtag hatte mit
gutem Grunde verlangt, das in Berlin bereits eingeführte öffentlich-münd-
liche Verfahren müßte der geſammten Monarchie zu theil werden. Jetzt
ſchien auch dieſe Forderung ſchon überwunden. Das Schwurgericht, das
ſo oft als Bollwerk der Volksfreiheit gefeierte, war in Aller Munde, nur
durch Geſchworene glaubte man die gerechte Handhabung des Strafgeſetzes
ſichern zu können. Savigny aber, der von dem nahenden Sturme noch
nichts bemerkte, mahnte bedachtſam: über den Werth der Schwurgerichte
gingen die Meinungen doch weit auseinander.
Auch der König ahnte noch nicht, daß eine neue Zeit gekommen war.
Er war zufrieden mit dem ruhigen Verhalten ſeiner Ausſchüſſe und ſchloß
ſie am 6. März perſönlich mit einer gnädigen Anſprache. Freudig kün-
digte er ihnen an: nachdem nunmehr allen ſeinen Befehlen genügt ſei,
[648]V. 8. Der Vereinigte Landtag.
wolle er, die Wünſche ſeiner getreuen Stände genehmigend, die periodiſche
Einberufung des Vereinigten Landtags und demgemäß die Beſchränkung
der Wirkſamkeit der Ausſchüſſe hiermit anordnen. So war das erlöſende
Wort endlich ausgeſprochen — aber zu ſpät und darum vergeblich. Ein
Jahr früher verkündigt, hätte dieſe königliche Entſchließung den ganzen
heilloſen Verfaſſungskampf abgeſchnitten und vielleicht ſogar bewirkt, daß
Preußen mit einem wohlgeordneten, rechtlich geſicherten Ständeweſen der
Anarchie Trotz bieten konnte. Jetzt erſchien die verſpätete Zuſage, obwohl
ſie längſt beſchloſſen war, nur wie ein abgedrungenes Zugeſtändniß. Nach
wenigen Tagen ſchritt die Revolution auch über ſie hinweg, und der ſtolze
Herrſcher, der ſeinem Volke Schritt für Schritt den Weg hatte vorſchreiben
wollen, lag gedemüthigt am Boden. —
[[649]]
Neunter Abſchnitt.
Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Die großen Wandlungen der Geſchichte kann der Denker wohl aus
ihren Vorbedingungen und Nachwirkungen als nothwendig begreifen.
Doch niemals vermag er zu erweiſen, warum der Umſchwung ſo und
nicht anders erfolgen, warum im entſcheidenden Augenblicke dieſe und
nicht andere Männer an entſcheidender Stelle ſtehen mußten. Ueber der
Welt der perſönlichen Freiheit, über dem Kommen und Gehen der hiſto-
riſchen Perſonen walten Geſetze, deren göttliche Vernunft wir zuweilen
ahnen, aber nie ergründen. In Deutſchland war die alte fürſtliche Selbſt-
herrſchaft längſt zur Vernichtung reif, und der Uebergang zu der noth-
wendigen neuen Ordnung der Dinge konnte noch immer auf friedlichen
Wegen erfolgen. Da fügte das Geſchick, daß die beiden mächtigſten und
geiſtvollſten Vertreter der monarchiſchen Vollgewalt, die beiden Herrſcher,
welche im Hochgenuſſe ihres königlichen Ichs wie trunken ſchwelgten, eben
zu der Zeit, da eine Verſöhnung möglich ſchien, ſich ihrem Volke ent-
fremdeten. Gewiß war es eine furchtbare, eine unausbleibliche Ironie des
Schickſals, daß grade die zwei erſten Männer des deutſchen Fürſtenſtandes
die Unzulänglichkeit des alten perſönlichen Regiments gleichſam am eigenen
Leibe erfahren mußten; die einzelnen Auftritte dieſer Tragödie des deut-
ſchen Abſolutismus laſſen ſich jedoch nur aus perſönlichen Erlebniſſen
und Empfindungen erklären.
In Preußen hatte der König mit der Einberufung der Vereinigten
Stände eine Bahn beſchritten, welche faſt unzweifelhaft zur geordneten
ſtändiſchen Monarchie zu führen ſchien; doch ein räthſelhafter Eigenſinn
verbot ihm, ſeinen hochſinnigen Zugeſtändniſſen zur rechten Zeit die Ge-
währ zu geben, die ihren Beſtand allein ſichern konnte; erſt als es zu
ſpät war verſprach er die periodiſche Einberufung des Landtags. In
Baiern ſchienen ſich zur nämlichen Zeit, um Neujahr 1847, die Verhält-
niſſe ebenſo hoffnungsvoll zu geſtalten. König Ludwig war aus ſeinen
clericalen Träumen erwacht. Er hatte während der letzten Monate aus
dem demagogiſchen Getobe der Ultramontanen gelernt, daß dieſe Partei
[650]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
die Krone nicht ſtützen, ſondern beherrſchen und mißbrauchen wollte.*)
Schon waren zwei Mitglieder des verhaßten Miniſteriums Abel ent-
laſſen; Abel ſelbſt mußte die Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten
abtreten und ſagte ſchmerzlich: ich beſitze das Vertrauen des Königs nicht
mehr. Nicht umſonſt hatte der Präſident der Reichsräthe, Fürſt Leiningen
ſchon im Frühjahr den Monarchen gewarnt: beim Andauern der clericalen
Parteiherrſchaft würde die Revolution in Baiern „ein gepflügtes Feld
finden“.**) Verliefen die Dinge ruhig, ſo ließ ſich mit Sicherheit hoffen,
daß König Ludwig binnen Kurzem auch Abel entlaſſen und die Staats-
gewalt wieder in paritätiſchem Geiſte handhaben würde. Der Haß gegen
das rohe Parteiregiment der Ultramontanen war ſehr hoch geſtiegen. Ge-
ſchah es doch, daß das Münchener Appellationsgericht einen wegen Duells
zum Tode verurtheilten jungen Polytechniker in zweiter Inſtanz nur mit
kurzer Haft beſtrafte und dabei ausdrücklich erklärte: größere Strenge er-
ſcheine unbillig nachdem man die beiden Duellanten Miniſter Abel und
Wallerſtein ſtraflos gelaſſen hätte.
Doch mittlerweile war ein Ereigniß eingetreten, das die Stimmungen
im Lande plötzlich verwandelte. Im October 1846 erſchien die Tänzerin
Lola Montez auf dem Münchener Theater, ein verrufenes Weib, das ſchon
in Oſtindien, in England, in Paris, in Berlin, in Baden, überall ſelt-
ſame Abenteuer erlebt hatte. Tochter eines ſchottiſchen oder iriſchen Vaters
und einer creoliſchen Mutter, beſaß ſie den Zauber nordiſcher und ſüd-
ländiſcher Schönheit zugleich und verdiente es wohl, daß Stieler ihr Bild
für die Schönheitsgallerie des Wittelsbachers malte. Eine Künſtlerin war
ſie nicht; aber wenn ſie in dem leidenſchaftlichen Tanze El Ole allen
Liebreiz ihrer üppigen und doch ſchlanken Glieder zeigte, dann widerſtanden
die Männer nicht leicht dem Gluthblick dieſer wunderſamen Augen. Frech,
ſchamlos, unerſättlich in der Wolluſt, wie die Sempronia der catilinariſchen
Verſchwörung, verſtand ſie unter Freunden auch anmuthig, ja geiſtreich
zu plaudern; ſie tummelte ſich gewandt auf feurigen Roſſen, ſang ſeelen-
voll zur Zither, trug ſpaniſche Gedichte lebendig und mit wohltönender
Stimme vor; ihren Feinden ging ſie herzhaft zu Leibe, mit der Reit-
peitſche oder auch mit Ohrfeigen. Den ſchönheitsfrohen König bezauberte
ſie auf den erſten Blick vollſtändig; es war wirklich, ſo geſtand er ſpäter
ſelbſt, als ob ſie ihm einen Minnetrank gereicht hätte. Ueber ihr vergaß
er die Welt, ſich ſelber und ſeine königliche Würde; und da die wittels-
bachiſche Muſe niemals ſchweigen konnte, ſo gingen in der klatſchſüchtigen
Hauptſtadt bald erſtaunliche Dichtungen von Hand zu Hand, ſo ein Vers
„auf Lolita“, der einen Pentameter vorſtellen ſollte:
In der Spanierin fand Liebe im Leben ich nur;
ſo ein anderes Kunſtwerk: „Der Dichter, L. M. betreffend. Das Gewölke
[651]Lola Montez.
iſt vergangen, und die Luft iſt wieder blau;“ ſo noch ein Stück: „L. M.
Wonnemeer die Seelen trinken, tönt zur Zither dein Geſang.“
Und ſeltſam, während eine Schaar junger Wüſtlinge die gefällige
Schöne begehrlich umſchwärmte, hielt ſich die Neigung des Königs immer
noch in gewiſſen Schranken. Sein alter Verehrer Fürſtbiſchof Diepen-
brock in Breslau hatte mit tiefem Schmerz von dem großen Münchener
Aergerniß gehört und wagte den geliebten Monarchen geiſtlich zu ermahnen;
der ſchöne prieſterliche Freimuth gegen die Gewaltigen dieſer Welt iſt ja
unter den katholiſchen Prälaten, weil ſie ſich ſelbſt für die Häupter des
erſten aller Stände halten, weit häufiger als in der proteſtantiſchen Geiſt-
lichkeit. Ludwig nahm die warnenden Worte, da er die edle Geſinnung
des Schreibers kannte, ganz unbefangen auf und betheuerte auf ſein
Ehrenwort, daß er die letzte Liebesgunſt von Lola nie verlangt hätte; eine
Abſchrift dieſer Antwort ließ er ſogar allen bairiſchen Biſchöfen zuſenden.
Dadurch erſchien freilich die Macht des dämoniſchen Weibes nur um ſo
räthſelhafter, und Miniſter Canitz ſagte, als ihm der bairiſche Geſandte
verſicherte, dieſe Liebe ſei platoniſch, mit der Ruhe des erfahrenen Welt-
mannes: „das wäre vollends Narrheit!“
Auffällig früh, ſchon wenige Tage nach Lola’s Ankunft, verbreitete
ſich in München das unſinnige Gerücht, ſie ſei von den engliſchen Frei-
maurern abgeſendet um die Jeſuiten zu bekämpfen. Grundſätze, gute wie
ſchlechte, waren ihr völlig unbekannt; aber ſie wollte herrſchen, ſie wollte
durch die Liebe des Königs auch politiſche Macht erlangen; und da ſie
mit ihrer Weiberſchlauheit alsbald erkannte, das Miniſterium Abel ſei
verloren, ſo mochte ſie ihre Flagge nicht auf einem ſinkenden Schiffe hiſſen.
Auch war es ihr, nach ihren Lebensgewohnheiten, ſicherlich unbequem,
mit einer Prieſterpartei zuſammenzugehen, die doch einige Wahrung des
äußeren Anſtands verlangen mußte. Ernſte ſittliche Bedenken hegten die
ultramontanen Miniſter gewiß nicht. So viele Jahre hindurch hatten ſie
die mannichfachen galanten Abenteuer ihres liebebedürftigen Herrſchers
mit großer Gelaſſenheit ertragen; im feindlichen Lager behauptete man
ſogar — freilich ohne ſicheren Beweis — daß ſie vergeblich unter der Hand
verſucht hätten, ſich auch diesmal mit der neuen königlichen Geliebten zu
verſtändigen. Gleichviel; ſchon nach kurzer Zeit gebärdete ſich Lola als
erklärte Feindin der Clericalen, ſie wollte die neue Eſther ſein, die das
geknechtete Volk der Liberalen vom Druck erlöſte, und ſchenkte ſogar den
nationalen Beſtrebungen des deutſchen Liberalismus ihre Gunſt. Als
Tiedemann und die anderen Abgeſandten der ſchleswigholſteiniſchen Pa-
trioten in dieſen Herbſttagen von König Ludwig empfangen wurden, da
bemerkten ſie wohl, wie Lola’s zierliche Füßchen unter dem Ofenſchirm
hervorragten.*)
[652]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
So geſchah das Aergſte was geſchehen konnte: der längſt ſchon
in ernſtem Nachdenken gereifte Entſchluß des Königs, mit dem ultra-
montanen Parteiregimente zu brechen, wurde durch ein gemeines Weib
gefördert und erſchien, da er endlich zur Ausführung kam, als ein Werk
unſauberer perſönlicher Ränke. Sobald Lola’s Parteiſtellung entſchieden
war, brachte die geſammte clericale Preſſe Deutſchlands, ſo weit es die
Cenſur irgend erlaubte, Tag für Tag Schmutzgeſchichten vom Münchener
Hofe; die Radicalen ſtimmten mit wiehernder Schadenfreude ein, wie glück-
lich fühlten ſie ſich, das Königthum ſo perſönlich entwürdigen zu können,
und bald redete alle Welt, als ob der bairiſche Staat ganz aus den Fugen
ginge. Die bairiſche Preſſe freilich mußte unverbrüchlich ſchweigen. In
Wahrheit lag noch gar keine politiſche Miſſethat vor, ſondern nur die
phantaſtiſche Herzensverirrung eines Fürſten, der nach Allem was er für
Deutſchlands Kunſt, für den Zollverein, für das bairiſche Land gethan,
doch gewiß ein menſchliches Urtheil verlangen durfte und grade jetzt im
Begriffe ſtand, ſein Volk von einer gehäſſigen Parteiherrſchaft zu befreien.
Eben dieſe Gewißheit ihres nahen Sturzes erbitterte die Ultramontanen
auf’s Aeußerſte. Sie ließen über Lola’s tolle Streiche von Aufpaſſern
genau Buch führen und verſuchten noch einmal den König zu warnen
durch den Miniſter Graf Seinsheim, der als alter Freund mit Ludwig’s
früheren Liebeshändeln ſehr genau bekannt war. Seinsheim empfing
darauf die ſcharfe Weiſung, ſich jeder Einmiſchung in die Privat-Ange-
legenheiten des Hofes zu enthalten, und ſeitdem ward die Sprache der
verſinkenden Partei mit jedem Tage trotziger.*) Im Januar 1847 über-
nahm der Eichſtädter Graf Reiſach das Münchener Erzbisthum. Sein erſter
Hirtenbrief war ein Meiſterſtück pfäffiſcher Gleißnerei und Herrſchſucht; er
mahnte die Gläubigen „Euer Prüfſtein in allen Dingen ſei das Urtheil
der Kirche“, und ſprach zugleich von den Tagen Max Joſeph’s, von „den
traurigen Zeiten der Zerſtörung der Kirche Baierns“ mit einer berechneten
Bosheit, welche den König tief verletzte.
Unterdeſſen konnte die mit Geſchenken überhäufte Lola ihre Begehr-
lichkeit nicht mehr bändigen, ſie erbat ſich von ihrem hohen Beſchützer
die Erhebung in den Grafenſtand, und er war verblendet genug ihr dieſe
Gnade zu verſprechen. Wie thöricht immer, ungeſetzlich war ſeine Zuſage
nicht. Standeserhöhungen gehörten zu den unbeſtrittenen Prärogativen
der Krone; auch galt der Grafentitel in Baiern nicht gar viel, ſeit Karl
Theodor in den Zeiten ſeines Reichsvicariats ſo viele arme Ritter gegraft
hatte. Als Ausländerin bedurfte Lola aber zugleich der Verleihung des
Indigenats, und für dieſe unbedeutende Förmlichkeit, die gemeinhin ganz
glatt ablief, verlangte das Geſetz zunächſt die Befragung des Staatsraths,
ſodann die Unterſchrift eines Miniſters. Der Staatsrath wagte abzu-
[653]Memorandum des Miniſteriums Abel.
rathen; an dies unmaßgebliche Gutachten war der König jedoch nicht ge-
bunden, und der Hausminiſter Graf Bray, deſſen Unterſchrift erfordert
wurde, hatte grade einen langen Urlaub angetreten. Da traten die anderen
vier Miniſter, Abel, Seinsheim, Gumppenberg, Schrenck, die an der Sache
amtlich gar nicht betheiligt waren, zur Berathung zuſammen, und Abel
erkannte mit dem Scharfblick des erfahrenen Parteimannes, jetzt ſei für
ihn die rechte Stunde gekommen, um mit feierlicher Salbung, mit dem
ganzen Schmerze tief gekränkter Tugend den längſt gebotenen Abſchied zu
fordern.
Statt dem Könige, wie ihr gutes Recht war, beſcheiden vorzuſtellen,
eine ſolche Standeserhöhung ſei ein Aergerniß und müſſe auch den Ruf
der nicht unmittelbar betheiligten Miniſter ſchädigen, überreichten ſie ihm
am 11. Febr. 1847 ein langes, von Abel verfaßtes Memorandum, das
in der Geſchichte deutſcher Monarchien ohne Beiſpiel daſtand. Unter
einem Schwall unterthänigſter Ergebenheitsverſicherungen tadelten ſie ſein
Verhältniß zu Lola mit einer Roheit, die der ſechzigjährige Monarch von
ſeinen Dienern nicht hinnehmen durfte. Sie behaupteten: „das National-
gefühl iſt auf das Tiefſte verletzt, weil Baiern ſich von einer Fremden,
deren Ruf in der öffentlichen Meinung gebrandmarkt iſt, regiert glaubt“
— und doch hatte Lola bisher ihren Uebermuth wohl an einzelnen Polizei-
beamten ausgelaſſen, aber auf den Gang der großen Staatsgeſchäfte noch
nirgends eingewirkt. Sie verſicherten mit ungeheuerlicher Uebertreibung:
„Eine gleiche Stimmung beſteht in Berchtesgaden und Paſſau, in Aſchaffen-
burg und Zweibrücken, ja ſie iſt über ganz Europa verbreitet, ja ſie iſt
ganz die gleiche in der Hütte des Armen wie in dem Palaſte des Reichen.
Es iſt nicht blos der Ruhm und das Glück der Regierung Ew. K. Maje-
ſtät, es iſt die Sache des Königthums, die auf dem Spiele ſteht.“ Sie
wagten ihrem Könige ſogar die offenbare Unwahrheit zu ſagen: „auf die
Länge würde auch die bewaffnete Macht“ dem allgemeinen Unwillen nicht
widerſtehen, „und wo ſoll noch eine Hilfe gefunden werden, wenn auch
dieſes ungeheure Uebel einträte, wenn auch dieſes Bollwerk ſchwankte.“
Allerdings herrſchte in den Münchener Kaſernen, Dank der erbärmlichen
Verwaltung des mitunterzeichneten Kriegsminiſters Gumppenberg, zur Zeit
gräuliche Unordnung; doch wer ſollte glauben, daß dieſe lebensluſtigen,
königstreuen bairiſchen Soldaten ihrem noch immer geliebten „Ludwigel“
wegen einer anſtößigen Liebesgeſchichte den Fahneneid brechen könnten —
wenn ſie nicht etwa durch die Prieſter künſtlich aufgewiegelt wurden?
Dann drohten die Miniſter dem Monarchen auch noch mit den „unberechen-
baren Folgen“ der Verhandlungen des „unter ſolchen Eindrücken“ ein-
zuberufenden nächſten Landtags, der in Wahrheit ziemlich ſtill verlaufen
ſollte. Zum Schluß baten ſie den König, falls er „ihr heißes Flehen nicht
erhören“ wolle, um ihre Entlaſſung.
Einige der Unterzeichner mochten vielleicht die Wirkung ihrer Worte
[654]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
nicht ganz überſehen. Abel jedoch, der ſeinen königlichen Herrn genau
kannte, mußte wiſſen, daß eine ſo unehrerbietige, faſt drohende Sprache
den Selbſtherrſcher nur reizen konnte. Er wollte brechen und, wie Canitz
ſarkaſtiſch bemerkte, den unvermeidlichen Rückzug mit allen kriegeriſchen
Ehren antreten. Das Memorandum konnte ebenſo wenig geheim bleiben
wie vordem Schön’s Büchlein Woher und Wohin; nach wenigen Tagen
war es auch ſchon in Jedermann’s Händen, obgleich alle vier Miniſter
heilig ihre Unſchuld betheuerten, und wirkte nunmehr verderblicher als
jemals eine demagogiſche Brandſchrift. Auch mancher Unbefangene ließ
ſich durch den Biedermannston der hochpathetiſchen Tugendpredigt ge-
winnen; ihre ganze Faſſung war offenbar von Haus aus auf das große
Publicum berechnet. Am Münchener Hofe aber blieb den Clericalen dieſer
Beweis monarchiſcher Geſinnung unvergeſſen; keiner der wittelsbachiſchen
Herrſcher ſeitdem, wie weit auch ſonſt ihre Neigungen aus einander gingen,
hat der ultramontanen Partei je wieder volles Vertrauen gezeigt. Am
16. Febr. wurden die Miniſter ſämmtlich entlaſſen; mit ihnen zugleich
mußte auch Hörmann ausſcheiden, der Regierungspräſident von Ober-
baiern, der ſich ſchon vor Jahren in der Mainzer ſchwarzen Commiſſion
und nachher wieder in München als unerbittlicher Demagogenverfolger
ausgezeichnet hatte. Erſt ſeit Abel’s Memorandum gewann Lola wirkliche
politiſche Macht; war doch nunmehr Alles beſtätigt was ſie ihrem er-
lauchten Gönner über die Herrſchſucht der Ultramontanen geſagt. In
ihrem thörichten Uebermuthe ſchrieb ſie ſogar an die Times: obgleich ſie
ſelber bei dem Miniſterwechſel nicht mitgewirkt hätte, ſo glaube ſie doch,
daß der König durch gerechte Gründe dazu beſtimmt worden ſei! Mit
Ingrimm wendete ſich Ludwig von der Partei hinweg, die ihn ſo lange
beherrſcht hatte, und ſagte in einem alsbald veröffentlichten Sonette:
Sein Zorn ward ganz unbändig, als jetzt auch die ultramontanen
Gelehrten ihm entgegentraten. Einer ihrer Heißſporne, der ehrenhafte,
tapfere, freimüthige Laſaulx beantragte im Senate, die Univerſität möge
den Miniſtern, die für die Sittlichkeit eingetreten wären, Dank und An-
erkennung ausſprechen, denn ſie ſei „die erſte ſittliche Corporation des
Staates“ — ein Ehrenname, der nach katholiſcher Anſchauung ſicherlich
allein der Kirche gebührte. Der Antrag war offenbar ungehörig, da die
Univerſität mit dem politiſchen Streite nichts zu ſchaffen hatte, auch dem
harten Bureaukraten Abel durchaus keinen Dank ſchuldete. Einige der Pro-
feſſoren ſtimmten zu, andere ſuchten zu vermitteln; ein Beſchluß war noch
nicht gefaßt, da wurden die Abſtimmungen ſchon durch den unterthänigen
Rector Weißbrod dem Hofe mitgetheilt, und nun ließ ſich der König ſogar
durch Lola’s Fürbitten nicht mehr halten. Sofort am 1. März wurde
[655]Abel’s Sturz. Mißhandlung der Univerſität.
Laſaulx entlaſſen. Die Studenten, die den phantaſtiſchen Philologen doch
als anregenden, beredten Lehrer liebten, eilten in Schaaren hinaus um
von ihm Abſchied zu nehmen, dann zogen ſie vor das Haus Lola’s, die
den lärmenden Haufen drunten von ihrem Fenſter her verhöhnte. Mitten
im Getümmel erſchien plötzlich der König, Alles machte ihm ehrfurchtsvoll
Platz; doch als er nach langer Friſt von der Geliebten zurückkehrte, da
brach die Frechheit des Pöbels los, und der Schöpfer des neuen Münchens
wurde in dieſer Stadt, die ihm Alles verdankte, perſönlich beſchimpft.
Kalt und ruhig, in königlicher Haltung, ſchritt er durch den johlenden
Haufen. Nun fielen Schlag auf Schlag Gewaltſtreiche gegen die Uni-
verſität, die an die Vertreibung der Göttinger Sieben erinnerten. Raſch
nach einander wurden die beiden Juriſten Phillips und Moy beſeitigt,
dann der Hiſtoriker Höfler, dann Döllinger, Deutinger, Sepp, alle die
clericalen Gelehrten, welche Ludwig einſt ſelber berufen hatte um ſein
München zu einem katholiſchen Berlin zu erheben. So zertrümmerte
er in blindem Unmuth ſein eigenes Werk. Unter den berühmten ultra-
montanen Profeſſoren blieben nur zwei verſchont: der greiſe Görres —
denn Ludwig befahl: den alten Mann laßt mir in Ruh’ — und der getreue
Nepomuk Ringseis. Der hatte ſich entſchieden für Laſaulx’s Antrag aus-
geſprochen; ſein alter Freund aber meinte: „der Muckerl meint es gut,
er hat mir ſchon oft bittere Wahrheiten geſagt.“
Im Sommer ging Ludwig nach ſeinem geliebten altfuldiſchen Schloſſe
Brückenau. Es bezeichnete ſeinen künſtleriſchen Sinn, daß er unter den
vielen ſchönen Stellen ſeines Landes nicht die übermächtige, das Gemüth ſo
leicht erdrückende Pracht der Alpenlandſchaften bevorzugte, ſondern die ſanfte
Anmuth dieſes ſtillen vom Waldgebirge der Rhön umſchloſſenen Wieſen-
grundes: hier ließ ſich’s träumen und dichten. Seine Lola folgte ihm
bald nach; Küraſſiere ritten neben ihrem Wagen um den katholiſchen Pöbel
fern zu halten. Er ſelbſt wurde, als er nachher in die Pfalz reiſte, über-
all mit der alten treuen Herzlichkeit aufgenommen. Unterwegs beſuchte
ihn der Bundesgeſandte Graf Dönhoff, und wie erſtaunte der Preuße,
den König ſo verwandelt, ſo ganz umgetauſcht zu finden: über alle die
Männer, welche Ludwig einſt in München gegen Dönhoff vertheidigt hatte,
ſprach er jetzt mit der äußerſten Heftigkeit.*) Dem Würzburger Biſchof
Stahl hielt er eine ungnädige Rede, die er von zwei Flügeladjutanten
niederſchreiben ließ: „Der Beſchützer der Kirche — als ſolcher bewies ich
mich — ihr Wohlthäter — keiner meiner Vorfahren machte aus eigenen
Mitteln ſo viele Stiftungen — der wird von der ultrakirchlichen Partei
ſo ſchändlich behandelt, daß ſie den Jacobinern nichts übrig läßt. Die
dem Papſte feindliche Partei iſt’s auch mir. Seit Jahren gingen mir die
Augen auf, immer mehr und mehr, und ſollten auch alle hell ſehenden
[656]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
um mich ſich ſchließen, bleiben meine offen ſo lange ich lebe. Wenn
irgend jemand mir Theueren ein Haar gekrümmt wird, werde ich keine
Schonung mehr kennen. Daß in Würzburg Umtriebe ſtattfinden iſt mir
bekannt. Ich ſage nicht, daß Sie theilgenommen, aber damit Sie’s ſagen.
Vor zwei Zeugen rede ich. Wüßte ich daß Sie ſchuldig, ich würde es
Ihnen ſagen. Offen und grad iſt meine Art, und ſo hoffe ich zu ſterben.
Ich ſpreche nicht von Dankbarkeit und Pflichten gegen den Landesherrn,
aber dumm, dumm iſt’s ſich ſo zu benehmen.“*)
Die Leitung des neuen Miniſteriums übernahm der Pfälzer Maurer,
der einſt in der griechiſchen Regentſchaft mit Abel zuſammengewirkt, da-
heim aber den zur ultramontanen Partei übergegangenen alten Freund
gänzlich aufgegeben hatte. Er war, zum Entſetzen der Clericalen, der erſte
proteſtantiſche Miniſter Baierns: ſo lange wirkten, trotz der rechtlich an-
erkannten Gleichheit, die alten confeſſionellen Erinnerungen noch in den
meiſten deutſchen Staaten nach, in Preußen ward erſt nach der Revo-
lution der erſte katholiſche Miniſter möglich. Mit dem Könige hatte Maurer
ſchon als Kind in dem Rohrbacher Schlößchen bei Heidelberg oft zuſammen
geſpielt. Mehr Gelehrter als Staatsmann, aber geſchäftstüchtig, erfahren,
arbeitſam, übernahm er das peinliche Amt nur aus Pflichtgefühl und mit
der redlichen Abſicht, die durch eine rohe Parteiherrſchaft dem Lande ge-
ſchlagenen Wunden zu heilen. Die Indigenats-Urkunde für Gräfin Lola
Landsfeld mußte er freilich unterzeichnen, obgleich er eine ſolche Standes-
erhöhung erſt kürzlich im Staatsrathe ſelber für eine große „Calamität“
erklärt hatte; doch jeden perſönlichen Verkehr mit der neuen Gräfin ver-
bat er ſich ernſtlich. Mit geſetzgeberiſchem Feuereifer, wie einſt in Griechen-
land, arbeitete er nun an der lange geplanten Juſtizreform und gewann den
König für das öffentlich-mündliche Verfahren; nur von Geſchworenen
wollte Ludwig nichts hören. Die beiden ſo ſchwer mißhandelten Liberalen
Behr und Eiſenmann erlangten endlich ihre Freiheit wieder; die Uni-
verſitäten erhielten eine neue, etwas verſtändigere Studienordnung, die
Studenten erweiterte Rechte für ihre Verbindungen. Andererſeits wurde
die Miſſionsthätigkeit der Redemtoriſten beſchränkt und den Nonnen die
Ablegung der ewigen Gelübde erſt in reiferem Lebensalter geſtattet. Er-
gebene Anhänger nannten die neue, offenbar ehrliche Regierung ſchon
das Miniſterium der Morgenröthe.
Der Wiener Hof zeigte ſich über das Unglück ſeiner bairiſchen Freunde
tief bekümmert. Sein Geſandter Graf Senfft, der ſo lange mit den
Münchener Ultramontanen Hand in Hand gegangen war, gab Feſte zu
Ehren der geſtürzten Miniſter, er bekam die Ungnade König Ludwig’s ſtark
zu fühlen und ſah ſich ſchließlich gezwungen, ohne Abſchied zu verſchwinden.
Nachher ließ ſich die Hofburg, da ſie ihre üble Laune nicht bemeiſtern
[657]Miniſterium Maurer.
konnte, eine Zeit lang nur durch Geſchäftsträger vertreten.*) Den pro-
teſtantiſchen deutſchen Höfen ließ Ludwig die Gründe des Miniſterwechſels
vertraulich mittheilen und zugleich die Hoffnung ausſprechen, nunmehr
würde ſich das Verhältniß zwiſchen den Bundesgenoſſen wieder freundlicher
geſtalten. Es ward hohe Zeit. Der Münchener Hof ſtand augenblicklich
ganz vereinſamt; alle mieden und beargwöhnten ihn, ſeit Abel ſich er-
dreiſtet hatte, die Biſchöfe gradeswegs zum Kampfe gegen die Kirchen-
politik der deutſchen Regierungen aufzuwiegeln.**) Ueber ihre Vorgänger
ſprachen die neuen Miniſter mit der größten Schärfe. In einer, dem
preußiſchen Auswärtigen Amte mitgetheilten Weiſung an den Geſandten
Lerchenfeld ſchilderte Maurer die Politik Abel’s und fuhr fort: „das un-
ſinnige und ſtrafbare Treiben möchte ganz unbegreiflich erſcheinen, wenn
man nicht wüßte, daß S. Maj. der König ſchon ſeit längerer Zeit an
eine Aenderung des bisher befolgten Syſtems gedacht haben, welche nicht
blos den bairiſchen Intereſſen, ſondern auch denen des geſammten deutſchen
Vaterlandes mehr zuſagen dürfte.“***) Die meiſten der kleinen Höfe ant-
worteten ſehr erfreut, auch die Weſtmächte und der den Ultramontanen
allezeit feindliche Czar bekundeten ihre Zufriedenheit; ſelbſt der neue Papſt
äußerte ſich wohlwollend, denn er wünſchte kirchlichen Frieden. Der württem-
bergiſche Reſident Graf Degenfeld aber ſchrieb frohlockend an Thile, jetzt
könne Preußen die diplomatiſche Herrſchaft in München erlangen, und
warf dem Grafen Bernſtorff vor, daß er die Gunſt der Stunde noch nicht
benutzt hätte.†)
Bernſtorff’s Zurückhaltung hatte gute Gründe, denn rückſichtslos zu-
zugreifen, moraliſche Bedenken über politiſchen Zwecken zu vergeſſen war
Friedrich Wilhelm’s Weiſe nicht. Nirgends erregten die ſeltſamen Münchener
Liebeswirren ſo viel Herzeleid wie bei dem bis zur Peinlichkeit ſittenſtrengen
preußiſchen Königspaare. Dem Könige war überdies die neu empor-
kommende liberalere Richtung faſt ebenſo zuwider wie die geſchlagene ul-
tramontane Partei, und ſeine Gemahlin empfand tiefes Mitleid mit ihrer
armen Schwägerin der Königin Thereſe, die ihr hartes Loos mit einer
faſt übermenſchlichen Geduld ertrug. Auch Canitz konnte nicht umhin, mit
dem eigenthümlichen Tugendſtolze dieſes Hofes auszuſprechen: ſein eigener
allergnädigſter Herr hätte durch ſein Verhalten gegen die römiſche Kirche
das alte Wort bekräftigt: sui victoria indicat regem. Er freute ſich des
angekündigten Syſtemwechſels und der „Bekräftigung eines alten Bünd-
niſſes“, aber — ſo ſagte er bedenklich — „die Veranlaſſung erſcheint
uns nicht geeignet, darin einen Sieg der Sache, die wir für die unſerige
halten, zu erkennen“. Noch deutlicher ſprach er in einem Begleitſchreiben
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 42
[658]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
an Bernſtorff (9. März): „Man bietet uns eine entente cordiale an
ohne uns Bedingungen zu machen; man geſteht, daß das bisherige Be-
nehmen einer Aenderung bedürfe, die uns nur erwünſcht ſein kann …
Iſt aber das Verhältniß nicht einigermaßen dem zu vergleichen, wo ein
in den Koth gefallener Freund ſeine Hand ausſtreckt?“ Darum rieth er,
„die angebotene Gelegenheit zu benutzen, ohne uns jedoch in den Skandal
verflechten zu laſſen, damit jeder Schein vermieden werde, als wäre Lola
Montez unſere Alliirte oder als drückten wir beide Augen zu um gegen
Herrn v. Abel \& Co. Vortheile zu gewinnen“.*) Und als nun der un-
glückliche Wittelsbacher tief und tiefer in die Netze ſeiner Geliebten hinein
gerieth, auch ihre politiſche Macht beſtändig zunahm, da ſchrieb Canitz
(17. Aug.): „Es haben mehrere Könige mit Tänzerinnen gelebt; das iſt
nicht lobenswerth, doch iſt es möglich dabei zu beſtehen, wenn die Ge-
ſchichte in gehörigen Schranken bleibt. Aber dieſe Verknüpfung von Re-
gierungsſyſtem und Verliebtheit in eine vagabundirende Grazie, das iſt
eine neue Erſcheinung; und damit zu beſtehen iſt ebenſo unmöglich wie
mit Sonetten in heutiger Zeit zu regieren. Der Würde des Königthums
geſchieht unberechenbar größerer Schaden durch ſolchen Unfug als durch
allen den, welchen die Demagogen anzetteln.“**)
Das Urtheil war ſehr hart, aber nicht ungerecht. Das dämoniſche
Weib verpeſtete allmählich das ganze Land, unter ſolchem Schutze erſchienen
auch die wohlmeinenden Miniſter Maurer, Zu Rhein, Zenetti in falſchem
Lichte. Die beiden Parteien der Ultramontanen und der „Lolamontanen“
bekämpften einander mit niederträchtigen Schmähungen. Lola ſelbſt ſchrieb
in die Allgemeine Zeitung: „Müde die Zielſcheibe ſo vieler heimlichen
und öffentlichen, mündlichen, brieflichen und gedruckten Bosheiten zu ſein,
erkläre ich Jeden für einen ehrloſen Verleumder, der ſich auf irgend eine
Weiſe eine üble Nachrede gegen mich erlaubt ohne ſie beweiſen zu können.“
Bei Hoffmann und Campe in Hamburg, den Verlegern der jungdeutſchen
Radicalen, ließ P. Erdmann eine Verherrlichung der freien Liebe erſcheinen:
Lola Montez und die Jeſuiten. Das Buch begann mit dem Satze: „die
Welt iſt noch keineswegs darüber im Reinen, was denn eigentlich Sitt-
lichkeit ſei,“ und ſchloß mit einer Betrachtung über den Ausſpruch aus
Heinſe’s Ardinghello: „wir können uns von dem Krebsſchaden der Vor-
urtheile vieler Jahrtauſende noch nicht heilen.“ Von der anderen Seite
her kamen Brandſchriften wie: „Lola Montez, oder das Menſch gehört
dem Könige;“ Ludwig’s Sonett auf „das entſcheidende Ereigniß“ wurde
unzähligemal parodirt, eines der Spottgedichte ſchloß: „die ſchlechtſte Metze
hat Dich nun gerichtet.“ Die Schmutzerei ward unſagbar ekelhaft.
Welche Verwirrung dieſe tollen bairiſchen Händel überall in den Köpfen an-
[659]Lolamontane und Ultramontane.
richteten, das mußte der einfältig ehrliche Polterer Jacob Venedey in Paris
erfahren. Er ſchrieb als germaniſcher Tugendbold und Keuſchheitswächter
einen flegelhaften Aufſatz „die ſpaniſche Tänzerin und die deutſche Frei-
heit“. Da die deutſchen Zeitungen, der Cenſur halber, ſein Machwerk
nicht aufnehmen konnten, ſo wendete er ſich an Marraſt, den Heraus-
geber des National. Der aber meinte trocken: die Freundin der Liberalen
können wir nicht bekämpfen. Nun ging Venedey zu den Fourieriſten Con-
ſiderant und Cantagrel; ſie lachten ihn aus: die deutſchen Liberalen wären
„abſurd“, wenn ſie ſich an „die alte Moral“ hielten und nach dem Lebens-
wandel ihrer Beſchützerin fragten! Als der deutſche Demagog darauf mit
dem ganzen Pathos des alten Burſchenſchafters ausrief: aus beſudelten
Händen nehme ich die Freiheit nicht an — da erwiderte ihm Cantagrel,
der die Dame noch von ihren Pariſer Zeiten her gründlich kannte, ſieg-
reich: o nein, Lola’s Hände ſind ſehr rein und ſchön! Das Alles ließ
Venedey drucken; er ahnte nicht, wie lächerlich er ſich machte. Und doch
war es ein unheimliches Zeichen der Zeit, daß ein deutſcher König, der
Schirmherr der Kirche, alſo von den Predigern der „neuen Moral“ des
Communismus in Schutz genommen wurde.
Der Landtag, der im October 1847 für kurze Zeit zuſammentrat um
über eine neue Eiſenbahn-Anleihe zu beſchließen, hielt ſich ruhig: denn
über den Skandal, der alle Welt beſchäftigte, durfte man auf der Redner-
bühne nichts ſagen. Auch waren die Liberalen aus den Provinzen, zumal
die Pfälzer, herzlich froh der verhaßten clericalen Herrſchaft endlich ent-
ledigt zu ſein, ſie freuten ſich des überall umhergetragenen königlichen
Wortes: das Jeſuiten-Regiment hat aufgehört in Baiern. Der Haß
gegen die geſtürzte Partei entlud ſich nur in einigen ſtürmiſchen Auftritten.
Von den Reichsräthen verlangte Fürſt Wrede kurzweg die Ausſchließung
des neuen Münchener Erzbiſchofs, der im Germanicum den Jeſuiteneid
geleiſtet hätte; Graf Reiſach verſicherte darauf mit einer alle Sachkundigen
erſchreckenden Unſchuld: daß er der Geſellſchaft Jeſu nicht angehöre. In der
Adreſſe ſprach die zweite Kammer den neuen Räthen der Krone ihr Ver-
trauen aus und zugleich die Hoffnung, daß „die großartige Schöpfung des
Zollvereins zu einer noch vollſtändigeren Vereinigung aller deutſchen Volks-
ſtämme führen möge“. Der alſo angeſchlagene liberale Ton klang mächtig
wieder, als ein Antrag auf Preßfreiheit berathen und ſchließlich ſelbſt von
den Reichsräthen beinah einſtimmig angenommen wurde. Der König
willfahrte dem Wunſche, da die ſo oft beſprochene Reviſion des Bundes-
preßgeſetzes doch noch in weitem Felde lag, und verfügte am 17. Dec.
— dem Bundesrechte zuwider — daß fortan nur noch die Artikel über
auswärtige Politik der Cenſur unterliegen ſollten.
Aber ehe das Land noch dieſes Geſchenkes froh werden konnte, brach
das Miniſterium Maurer ſchon zuſammen. Es war Ludwig’s tragiſches
Verhängniß, daß ihm ſeine thörichte Liebe jetzt auch ſeine wohldurchdachten
42*
[660]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Reformen verderben mußte. Seit der Heimkehr aus Brückenau gebärdete ſich
Lola frech als Herrſcherin; ſie hielt in der lieblichen Villa, die ihr der
König auf der Barerſtraße erbaut hatte, üppige Gelage, fuhr in prächtigem
Geſpann durch die Straßen, und überall wo ſie ſich zeigte gab es Händel,
die durch ergebene Geheimpoliziſten und Gensdarmen mühſam beigelegt
wurden. Zunächſt wünſchte ſie Aufnahme zu finden in der vornehmen
Geſellſchaft, doch alle Thüren blieben ihr verſchloſſen; ſelbſt ein Flügel-
adjutant des Königs, ein Sohn ſeines alten Jugendfreundes v. d. Tann
weigerte ſich die Gräfin zu beſuchen. Ludwig fluchte auf die Pfaffen und
die alten Weiber, die ſeiner Geliebten das Leben vergällten, und da auch
Maurer den geſelligen Verkehr ſtandhaft verweigerte, ſo mußte der Mi-
niſter vor der Tänzerin weichen. Am 1. December, alsbald nach Schluß
des Landtags, trat eine neue Regierung zuſammen, die ſogleich den wohl-
verdienten Namen des Lola-Miniſteriums erhielt. Fürſt Oettingen-Waller-
ſtein, der Unberechenbare, der in den letzten Jahren, über und über ver-
ſchuldet, immer mehr zum Abenteurer geworden war, nahm keinen An-
ſtand an die Spitze dieſes Cabinets zu treten, der Leichtſinnige traute
ſich’s zu jede nähere Berührung mit der Tänzerin vermeiden zu können.
Allgemeinen Abſcheu erweckte ſein neuer Amtsgenoſſe Berks, ein gemeiner
Geſell und dreiſter Schwätzer, der ſich bisher nur als Lola’s Reiſebegleiter
Verdienſte erworben hatte. Von nun an zeigte die bisher weſentlich durch
die Ultramontanen geſchürte Münchener Volksbewegung ein verändertes
Weſen. Wohl ſchwoll die Wuth der Clericalen noch immer an, zumal
da jetzt zwei ihrer ſchärfſten Gegner, Hormayr und Fallmerayer an das
Archiv und die Univerſität berufen wurden; aber der Parteihaß war fortan
ſchwächer als das Gefühl menſchlichen Ekels. Die tolle Fremde trieb
es zu arg, ihre dummdreiſte ſpaniſche Hoffart empörte ſchließlich Jeder-
mann ohne Unterſchied der Partei, nur nicht das Geſindel ihrer Schma-
rotzer und den noch immer verblendeten König. Das Weib muß fort!
— ſo ſagte alle Welt, und es begann ein echt bairiſches Haberfeldtreiben,
wobei die Erboſten ganz vergaßen, daß ihre Entrüſtung auch den König
traf, den ſie doch nicht treffen ſollte.
An die Spitze dieſer nunmehr ganz unpolitiſchen Oppoſition trat
wieder die Univerſität. Froh der neu gewährten Verbindungsfreiheit,
hatten die Studenten die Austreibung ſo vieler beliebter Lehrer ſchon
vergeſſen; da bemerkten eines Tages einige Corpsburſchen der Palatia
beim Durchwandeln der Barerſtraße, daß zwei ihrer Leute vergnügt in
der verrufenen Villa ſaßen und Lola ſich die Pfälzermütze auf ihr ſchönes
ſchwarzes Haar geſtülpt hatte. Das ging den jungen Männern gegen
die Ehre, denn ein ritterliches Gefühl für den makelloſen Ruf ihrer
Farben haben die deutſchen Studentenverbindungen ſich allezeit bewahrt.
Die beiden Sünder wurden von ihrem Corps ausgeſchloſſen und traten
alsbald mit einigen Geiſtesverwandten zu einem neuen Corps Alemannia
[661]Alemannia. Görres’ Tod.
zuſammen, das ſeine Kneipe im Hinterhauſe der gräflichen Villa aufſchlug.
Es waren durchweg ſchöne Leute, auf Koſten ihrer Freundin elegant ge-
kleidet, im Uebrigen ein nichtsnutziges, ſittenloſes Volk; und dieſer Auswurf
der Univerſität bildete fortan Lola’s Leibwache, wenn ſie die Straßen und
die Cafehäuſer durchzog. Die Alemannen zeigten ſich jetzt prahleriſch, her-
ausfordernd in den Hörſälen, wo man ſie früher nie geſehen, aber ſobald
eine rothe Alemannenmütze auftauchte begannen die Commilitonen zu
lärmen, zu ziſchen, zu pfeifen und verließen dann alleſammt den Saal.
Die Studentenſchaft war Mann für Mann entſchloſſen, eine ſolche Rotte
nicht mehr unter ſich zu dulden; und nun erfrechte ſich Miniſter Berks
gar noch, auf einem Commerſe die Alemannen als Pfleger der Studien,
der Humanität, der Sittlichkeit zu feiern, die Gefolgſchaft Lola’s der ver-
dorbenen Jugend als Muſterbild vorzuhalten. Das war mehr als deutſche
Burſchen vertragen konnten; ſelbſt Thierſch, der allbeliebte neue Rector,
vermochte durch ſeine väterlichen Anreden den Grimm der Jugend nicht
mehr auf die Dauer zu bändigen.
Mitten in dieſen akademiſchen Wirren ſtarb Görres (29. Jan. 1848).
Glücklicher konnte er nicht enden, denn grade jetzt ward er als unbeug-
ſamer, freimüthiger Feind einer verachteten Regierung überall geprieſen.
Noch auf dem Sterbebette ſagte er: „der Staat regiert, die Kirche pro-
teſtirt.“ Auch die ehrlichen Gegner fühlten, daß dieſer phantaſtiſche Geiſt
auf ſeinen weiten Irrfahrten vom Jacobinerthum bis zur clericalen Partei
doch eigentlich ſich ſelber niemals untreu geworden war; für die Nation
blieb er der gewaltige Redner des Rheiniſchen Mercurs. Sein Begräbniß
geſtaltete ſich zu einer drohenden Kundgebung gegen das neue Regiment,
und die ganz von Lola abhängige Polizei reizte Bürger und Studenten
noch mehr auf durch allerhand plumpe Eingriffe. Am 7. Febr. 1848
erfüllten lärmende Maſſen den ſtillen Platz vor dem neuen Univerſitäts-
gebäude am Siegesthore, die Alemannen traten ihren Feinden mit erſtaun-
licher Frechheit entgegen. Am 9. wiederholten ſich die unruhigen Auf-
tritte, diesmal heftiger; auf der langen Ludwigsſtraße vom Siegesthore
bis zum Hofgarten tummelten ſich tobende Volkshaufen, ein Alemanne
zückte den Dolch gegen einen Commilitonen und floh dann noch rechtzeitig
mit ſeinen Geſellen. Da erſchien plötzlich Lola ſelbſt in den Arkaden des
Hofgartens, wildes Geheul empfing ſie, mit Koth und Steinen beworfen
mußte ſie in der nahen Theatinerkirche Schutz ſuchen.
Nun hielt ſich Ludwig nicht mehr. Noch am nämlichen Tage befahl
er die Univerſität ſofort bis zum Winter zu ſchließen. Dieſelbe Strafe
hatte er ſchon vor ſiebzehn Jahren einmal über ſeine unruhigen Stu-
denten verhängt.*) Damals war die Uebereilung in der Stille wieder
zurückgenommen werden; jetzt aber durchflog die Nachricht wie ein Lauf-
[662]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
feuer die erregte Stadt. Die Bürger murrten laut, viele lebten ja von
den Profeſſoren und Studenten; auf ihre dringenden Bitten wich der König
einen Schritt zurück und verſprach die Univerſität bereits im Sommer
wieder eröffnen zu laſſen. Das genügte ſchon nicht mehr. Am 11. Febr.
tagte eine große Bürgerverſammlung auf dem Rathhauſe, drunten auf
dem Schrannenplatze ſtand das Volk Kopf an Kopf. Nach heftigen Reden
wurde beſchloſſen, ſofort eine neue Bitte dem Monarchen vorzutragen,
die Maſſe drängte den Abgeſandten zum Schloſſe nach. Man fürchtete
das Aergſte, da der Pöbel durch die Bierkrawalle der jüngſten Zeit ſchon
an Unfug gewöhnt, auch über manche Roheit der Gensdarmen erbittert
war. Endlich trat Fürſt Wallerſtein in das Portal des Schloſſes und
verkündete, die Bitte ſei genehmigt, die Vorleſungen an der Univerſität
ſollten ſofort wieder beginnen. Zugleich erzählte er den Umſtehenden,
die Gräfin Landsfeld würde noch heute die Stadt verlaſſen. Unter wildem
Freudengeſchrei eilte nun die Maſſe nach der Barerſtraße um Lola’s Ab-
reiſe abzuwarten. Plötzlich ging der Thorweg auf, und der Wagen der
Gräfin jagte in raſendem Laufe davon. Der enttäuſchte Pöbel ſtürmte
ſodann in die Villa und begann Alles zu zerſchlagen. Mit einem male
kam der König und befahl kurz mit lauter Stimme: ſchonet mein Eigen-
thum! Augenblicklich ward Alles ſtill, die Häupter entblößten ſich, einer
aus dem Haufen hub an: „Heil unſerm König, Heil“, und die Maſſe
ſang das Lied nach, derweil Ludwig ſchweigend hinwegſchritt.
So ſchien der Spuk verflogen, der wüſte Zigeunertanz beendigt.
Fromme Zeichendeuter erkannten ſchon den Finger Gottes, denn genau
am Jahrestage des Abel’ſchen Memorandums hatte die Unholdin das Feld
räumen müſſen. Alle Verſtändigen rechneten jetzt ſicher auf inneren Frieden;
ſie wußten im Voraus, daß die leichtlebigen Münchener ihrem Ludwig ſeine
Wanderungen im Irrgarten der Liebe nicht ſplitterrichterlich nachtragen
würden; leicht und ohne Kleinſinn zu verzeihen war ja von jeher gut
bairiſche Art. Ludwig ſelbſt dachte anders. Er hatte ſich im Herzen von
ſeiner Lola noch nicht losgeſagt und hoffte noch immer auf ihre Wieder-
kehr; er empfand die gehäſſige Undankbarkeit ſeiner Münchener ſehr bitter
und fühlte ſich durch die abgezwungenen Zugeſtändniſſe ſo tief gedemüthigt,
daß er ſchon ernſtlich die Frage erwog, ob er nicht die Krone ſeinem in
jeder Hinſicht kleineren Thronfolger überlaſſen ſolle. Derweil er alſo noch
mit ſich ſelber kämpfte, kamen die Nachrichten von der Pariſer Revolution.
München gerieth abermals in Bewegung, das ſchon erſchütterte Anſehen
des Thrones ward abermals bedroht, und in blindem Unmuth entſchloß
ſich Ludwig ganz ohne Noth zu der Abdankung, die ein Unglück werden
ſollte für Deutſchland und für Baiern. —
Von dieſen doch faſt zufälligen Verirrungen und Parteikämpfen konnten
ſich die volksbeliebten Wittelsbacher immerhin bald wieder erholen. Weit
tiefer und nachhaltiger wurde das Anſehen des deutſchen Fürſtenſtandes
[663]Lola’s Flucht. Der alte Kurfürſt.
geſchädigt durch die fortſchreitende Entartung des heſſiſchen Kurhauſes.
Wie viele Diplomaten ganz verſchiedenen Schlages hatten nun ſchon den
preußiſchen Hof in Caſſel vertreten: erſt Hänlein, der ſchwerfällige Regens-
burger Reichsjuriſt, dann deſſen lebensluſtiger Sohn, darauf der ſarkaſtiſche
Canitz, der über ſeine geliebte heſſiſche Heimath doch ſo mild wie möglich
urtheilte, dann Stach v. Goltzheim, ein beſchränkter Kopf, jetzt endlich der
ſtreng clericale weſtphäliſche Graf Galen, der einſt wegen des Kölniſchen
Biſchofsſtreites aus dem diplomatiſchen Dienſte ausgeſchieden, unter dem
neuen Könige jedoch wieder eingetreten war. In Einem aber ſtimmten alle
preußiſchen Geſandtſchaftsberichte vollſtändig überein: in der Entrüſtung über
dies gewiſſenloſe Fürſtengeſchlecht, das am Berliner Hofe doch ſtets als treuer
Bundesgenoſſe betrachtet wurde. Der Kurprinz-Mitregent ſchien ſelbſt zu
ahnen, wie die Nachwelt dereinſt über ihn richten würde; er ließ alle wichtigen
Akten über ſein Regiment ſo ſorgfältig beſeitigen, daß ſich heute im Mar-
burger Archiv ſchlechterdings nichts über dieſe Zeiten vorfindet. Mit ge-
waltſamer Selbſtüberwindung bewahrte ſich das heſſiſche Volk ſeine dyna-
ſtiſche Treue; zum höchſten Geburtstage ſang ein patriotiſcher Dichter:
„ein Lebehoch erſchall’ im Jubeltone dem theuren Vater und dem theuren
Sohne!“ Der theuere Sohn war aber dermaßen verhaßt, daß Stach v.
Goltzheim tief betrübt geſtehen mußte: „ich kenne keinen einzigen aufrichtigen
Anhänger und Verehrer des Kurprinzen.“*) Das Volk begann ſchon ſich
nach dem Vater zurückzuſehnen, der immer noch grollend außer Landes
weilte.
Als die unglückliche Kurfürſtin Auguſte ſtarb und der alte Herr nun-
mehr ſofort ſeine Reichenbach heirathete (1841), da bat ihn der Caſſeler
Magiſtrat durch eine ſtreng geheim gehaltene Adreſſe, er möge mit ſeiner
ehelichen Gemahlin in ſeine Hauptſtadt zurückkehren.**) Nicht lange darauf
ſtarb auch die Gräfin Reichenbach, und nun ſchloß der Kurfürſt eine dritte
Ehe mit einer Tochter des Landes, einer Freiin von Berlepſch, die zur
Gräfin Bergen erhoben wurde. Da er mit dieſer achtungswerthen liebens-
würdigen Frau fortan ganz ehrbar zu Frankfurt in ſeiner ſchönen Villa
am Mainufer lebte und nur noch zuweilen einmal zu der nahen Homburger
Spielbank hinüberfuhr, ſo waren die Kurheſſen jetzt bereit, ihren gebeſſerten
Landesvater mit offenen Armen aufzunehmen. Der Sohn aber zitterte
vor der Rückkehr des Vaters, er bat die beiden Großmächte flehentlich
um Schutz und reiſte einmal ſelbſt nach Schleſien zu König Friedrich
Wilhelm um ſich der preußiſchen Hilfe zu verſichern. Unnöthige Angſt.
Der alte Kurfürſt war mit nichten gemeint ſein Stilleben aufzugeben;
die vielen Liebesbeweiſe aber, die ihm jetzt aus der Heimath zukamen,
thaten ihm wohl, in ſeinen letzten Jahren ſöhnte er ſich mit den Land-
[664]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
ſtänden und der meuteriſchen Hauptſtadt wieder leidlich aus. Unterdeſſen
that der Sohn das Menſchenmögliche um die Sehnſucht nach dem Vater
wach zu halten. Die dem Lande geraubte Rotenburger Quart behielt er
für ſich,*) und nachdem der Bundestag ſich für incompetent erklärt hatte,
fruchteten alle Klagen der Stände nichts mehr.
Dem Landtage, der allerdings mehrmals wieder ausſichtsloſe Miniſter-
anklagen verſuchte, trat Miniſter Scheffer mit Geringſchätzung, noch höhni-
ſcher faſt als vordem Haſſenpflug, entgegen. Er verlangte die Schlüſſel
des Ständehauſes und ließ, als ſie ihm verweigert wurden, die Thüren
erbrechen, die Schlöſſer verändern; er verjagte die neu angeſtellten Steno-
graphen, obgleich die Verfaſſung öffentliche Berathungen verlangte; ein-
mal löſte er den Landtag mitten während einer Sitzung auf, mit den
barſchen Worten: meine Herren, Sie ſind entlaſſen! Es war als ob er
Händel ſuchte und gefliſſentlich immer neue Streitfragen aufſpürte. Ganz
unerwartet ſtellte er die Forderung auf, daß jeder Abgeordnete der drei
in der einen Kammer vereinigten Stände ſeinem Stande wirklich ange-
hören müſſe. Dies war in der Verfaſſung nicht vorgeſchrieben und bis-
her auch nicht befolgt worden. Doch die neue Berliner Lehre von der
ſtändiſchen Gliederung hatte jetzt auch in Caſſel ihre Gläubigen gefunden.
Die Regierung behauptete hartnäckig, jeder Abgeordnete vertrete nur die
Rechte ſeines Standes, und nach langem widerwärtigem Streit erreichte
ſie in der That, daß zwei Mißliebige dem Landtage fern bleiben mußten.
Den Clericalen war der Mitregent nicht hold; er ſelbſt glaubte freilich
nur an einen Gott, den Mammon, und liebte die reactionären Pietiſten,
die ſich an ihn herandrängten, ſehr wenig, noch weniger aber die römiſche
Kirche, die ſo leicht einen Staat im Staate bilden konnte. Darum hatte
der Biſchof von Fulda beſtändig, und meiſt mit Recht, über kleinliche bu-
reaukratiſche Quälerei zu klagen. Am allerwenigſten jedoch wollte Friedrich
Wilhelm von den neuen freigeiſteriſchen Kirchen wiſſen. Metternich, um
deſſen Gunſt er ſich eifrig bemühte weil er ſeiner Gemahlin den öſter-
reichiſchen Fürſtenhut zu verſchaffen hoffte, hatte ihn bei einem Beſuche
auf dem Johannisberge über die ſtaatsgefährlichen Pläne der Deutſch-
katholiken gründlich belehrt; und es war nur ein lächerlicher Zufall, daß
eben jetzt die Bonner Gelehrten Sybel und Gildemeiſter, die das Märchen
vom heiligen Rock ſo gründlich beleuchtet hatten, an die Marburger Uni-
verſität berufen wurden. Die literariſchen Sünden der Beiden waren ihm
von ſeinen Räthen ſorgfältig verborgen worden.**) Der Kurprinz verfolgte
die deutſchkatholiſche Sekte ſtreng, unbekümmert um die Vorſtellungen
des Landtags, verwehrte ihr durchaus Gemeinden zu bilden, obgleich ſie
im ganzen Lande kaum hundert Anhänger zählte; er ließ ſogar auf dem
[665]Miniſterium Scheffer. Proceß Jordan.
Hanauer Kirchhofe die Leiche eines unbeſcholtenen deutſchkatholiſchen Bürgers
wieder ausgraben und dann an der Mauer verſcharren. Die Narren-
ſtreiche der heſſiſchen Cenſur fanden jetzt, da man überall milder ward,
nur noch in Oeſterreich ihres gleichen. Ueber die Geſchenke, welche die
Mutter des Kurprinzen der Stadt Caſſel vermacht hatte, durften die längſt
gezähmten Zeitungen kein Wort ſagen. Ein liberaler Marburger Buch-
händler konnte von der Regierung nicht erlangen, daß ſie ihm für eine
geplante ſtatiſtiſche Zeitſchrift einen Cenſor gab, und mußte ſchließlich, zum
allgemeinen Ergötzen, eine „Klage auf Beſtellung eines Cenſors“ einreichen,
denn ohne Cenſur durfte das Blatt nicht erſcheinen. Beſonders aufreizend
erſchien der Polizei das alberne bei den jungdeutſchen Radicalen beliebte
Zerrbild des deutſchen Michels. Wo immer dies Bild ſich zeigte, in Zei-
tungen oder Flugſchriften, da ward es unnachſichtlich confiscirt, und der
witzige liberale Rechtsanwalt Friedrich Oetker ſah ſich genöthigt, einmal
im Auftrage mehrerer Buchhändler eine Beſchwerdeſchrift „wegen ſieben
deutſcher Michel“ auszuarbeiten.
Doch was wollten ſolche Lächerlichkeiten bedeuten neben dem furcht-
baren, das ganze Land erregenden Schickſale Silveſter Jordan’s. Viele
Jahre lang hatten die Polizeibehörden insgeheim Stoff geſammelt, um
dem Vater der heſſiſchen Verfaſſung nachzuweiſen, daß er bei dem Frank-
furter Wachenſturme und den anderen Verſchwörungen jener längſt ver-
ſchollenen Tage mitgewirkt hätte; als ſie endlich der Beweiſe genug zu
haben glaubten, wurde Jordan (Aug. 1839) unter der Anklage des Hoch-
verraths auf das Marburger Bergſchloß abgeführt. Da ſaß er nun in
langer, ſchwerer Haft und blickte hernieder auf die Stadt, die ihn einſt
mit fürſtlichen Ehren empfangen hatte. Noch einmal fiel er in eine Grube,
die er ſich mit eigenen Händen gegraben. Er ſelber hatte einſt, um ver-
faſſungsfeindliche Miniſter ſicher zu knebeln, in die Verfaſſung den Art.
126 hineingebracht, der bei Anklagen auf Verfaſſungsverletzung ſowohl
die Niederſchlagung wie die Begnadigung unterſagte; folglich konnte das
Verfahren gegen ihn ſelbſt, einmal begonnen, nicht mehr aufgehalten
werden. Da ſeine Geſundheit in dem Thurme droben ſchwer gelitten
hatte, ſo erlaubte man ihm endlich, unter ſtrenger Bewachung in der
Stadt zu leben, doch erſt im Jahre 1843 erfolgte der Richterſpruch, der
ihn „wegen Nichthinderung hochverrätheriſcher Unternehmungen“ verur-
theilte. Er appellirte, und das allezeit nach oben wie nach unten furcht-
loſe Oberappellationsgericht ſprach ihn im October 1845 gänzlich frei.
Die Belaſtungszeugen waren meiſt verdächtige Leute, und ganz un-
zweifelhaft ergab ſich, daß die windigen deutſchen und polniſchen Demagogen,
die zu jener Zeit bei ihm eingekehrt waren, ſeinen ſowie viele andere ge-
achtete Namen mißbraucht hatten um neue Genoſſen zu werben. Von einigen
thörichten Anſchlägen mochte er damals wohl gehört haben; doch wie durfte
man ihn tadeln, wenn er dieſe hirnverbrannte Rederei keiner Beachtung
[666]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
werth gehalten hatte? Und welch ein Ergebniß! Sieben Jahre nach dem
angeblichen Verbrechen ward er gefangen geſetzt; darauf ſechs Jahre ſchwe-
rer Unterſuchungshaft, und dann vollſtändige Freiſprechung. Die Un-
haltbarkeit des alten geheimen Verfahrens wurde durch dieſen Proceß,
eben weil keine Gewaltthätigkeit, keine Verletzung des formalen Rechts
nachzuweiſen war, noch deutlicher erwieſen als einſt durch Weidig’s un-
heimliches Geſchick. Eine ganze Schaar liberaler Schriftſteller, voran der
unaufhaltſame Welcker, bemächtigte ſich auch alsbald des Hergangs um
die geheime Juſtiz zu brandmarken. Die „Wanderungen aus meinem
Gefängniſſe“, welche Jordan in ſeinem Bergſchloſſe ſchrieb, redeten noch
in dem alten burſchikos liberalen Tone gegen die ſtehenden Heere, gegen
die Barbarei der Todesſtrafe, gegen alle Halben und Vermittler. Doch
als der Unglückliche endlich frei kam, da war er gebrochen an Leib und
Seele, ſeine weiche Natur hatte ſo vielem Jammer doch nicht Stand ge-
halten, er zeigte ſich fortan ſehr friedfertig, faſt bis zum Uebermaße.
Im November 1847 ſtarb der alte Kurfürſt, und unter geſunden
Verhältniſſen hätte der Kurhut ganz ebenſo unmerklich auf den Sohn
übergehen müſſen, wie in Sachſen die Königskrone auf den ehrenhaften
Mitregenten, den Prinzen Friedrich Auguſt übergegangen war. Der Kur-
prinz hatte ja ſchon vor ſechzehn Jahren die Regierungsgeſchäfte über-
nommen und damals eidlich gelobt, „die Staatsverfaſſung des Kurſtaats
aufrechtzuhalten“. Aber nach der neuen höfiſchen Doctrin, die im Welfen-
reiche ſo glänzend geſiegt hatte, ſtand es jedem Fürſten frei, ſobald er die
Regierung kraft eigenen Rechtes antrat, die Landesverfaſſung anzuerkennen
oder nicht. Niemand bekannte ſich zu dieſer Lehre freudiger als der neue
Kurfürſt; an den Verfaſſungseid, den er einſt als Regent geleiſtet, fühlte
er ſich nicht mehr gebunden, ein Gewiſſen kannte er ſo wenig wie Fal-
ſtaff die Ehre. Seit Jahren ſchon plante er, bei ſeiner Thronbeſteigung
das verabſcheute Staatsgrundgeſetz über den Haufen zu werfen; wenn er
ſich nur nicht gar ſo ſehr gefürchtet hätte! Dieſe Neigungen des Sohnes
mochte der Vater wohl kennen. Schon im Jahre 1841, als er eben anfing
ſich mit ſeinem Lande auszuſöhnen, hinterlegte der Alte bei einem Frank-
furter Anwalt ein teſtamentariſches Schreiben an ſeine Landſtände, das
„den Unwürdigen“ Verzeihung zuſagte für „die Ausbrüche roher Leiden-
ſchaft“ und zugleich den Landtag ermahnte, „den Geiſt des Widerſpruchs,
mit der Bezeichnung Oppoſition beſchönigt, zu verbannen … und ſo
die Aufrechthaltung der von Uns gegebenen Verfaſſung zu ſichern“.
Der Wink war deutlich, und die Stände beeilten ſich, den nach-
gelaſſenen Brief, ſobald er ihnen kund geworden, dem Nachfolger nebſt einer
Beileids-Adreſſe zu überreichen. Sie wurden jedoch nicht vorgelaſſen. Der
neue Herr ſchwankte noch. Er forderte ſoeben von ſeinen Truppen einen
neuen Fahneneid, für ſeine Perſon allein; da zeigte ſich’s, wie ſchwer die
unſinnige liberale Erfindung des zweifachen Eides die Gewiſſen ehrenhafter
[667]Kurfürſt Friedrich Wilhelm. Verfaſſungseid.
Soldaten bedrücken mußte. Viele der Offiziere hatten vor Jahren den
Verfaſſungseid nur mit Widerſtreben geleiſtet; nun da er längſt geſchworen
war fühlten ſie ſich wieder von der anderen Seite her bedroht. Einige
gingen zu den Oberſten Urff und Gerland, den Commandanten der Leib-
garde und der Artillerie um ſich Rathes zu erholen, und als dieſe beiden
tapferen Männer dem Kurfürſten darauf die Bedenken ihrer Kameraden
ausſprachen, da empfingen ſie den mürriſchen Beſcheid: natürlich bleibe
der alte Verfaſſungseid in Kraft, die neue Verpflichtung bedeute ja nur,
daß die Perſon des Landesherrn ſich geändert hätte.*) Nunmehr leiſteten
die Truppen den Eid; der Kurfürſt aber zeigte ſich noch übellauniger als
ſonſt ſeine Art war und ließ einige der Offiziere, die ihre Zweifel geäußert
hatten, zur Strafe verſetzen. Unterdeſſen begannen wieder jene häus-
lichen Zänkereien, welche jeden Schickſalswechſel der heſſiſchen Landes-
geſchichte unfehlbar begleiteten. Der alte Kurfürſt hatte ſein großes Ver-
mögen außer Landes untergebracht, theils in Oeſterreich, theils bei Amſchel
Rothſchild oder ſonſtwo in Frankfurt. Sein Sohn argwöhnte ſofort, man
könne ihm etwas vorenthalten und ſendete Gensdarmen nach Frankfurt
hinüber, worauf der Senat der freien Stadt entrüſtet ſeine Souveränität
vertheidigte. Dann ſuchte Friedrich Wilhelm gegen Deines, den Vertrauens-
mann ſeines Vaters, vorzugehen, der war aber ſchon längſt öſterreichiſcher
Unterthan geworden; auch die Rechnungen über das Vermögen der Reichen-
bach’ſchen Kinder hatte der Alte vorſichtig verbrennen laſſen, und da der
Hausfideicommißfonds nicht angetaſtet war, ſo konnte der liebevolle Sohn
nichts ausrichten. Nun ſchickte er Commiſſäre in die Villa am Main
um die Gräfin Bergen daraus zu vertreiben und befahl ſeinem Bundes-
geſandten, ſchleunigſt dort Wohnung zu nehmen, weil dieſer, nach dem
Rechte der Exterritorialität, ſo leicht nicht wieder verdrängt werden konnte;
die tapfere Gräfin aber jagte die Eindringlinge hinaus und erwies ihnen
durch ein vorgezeigtes Aktenſtück, daß ſie die rechtmäßige Erbin des Hauſes
war. So ging es weiter, immer im gewohnten kurheſſiſchen Familien-
ſtile.**) Kaiſer Ferdinand, dem der alte Kurfürſt die Oberaufſicht über
die Ausführung des Teſtaments übertragen hatte, lehnte den Auftrag ab;
denn Metternich fand es bedenklich, daß ſich ſein Herrſcherhaus mit dieſem
kurheſſiſchen Schmutze befaſſen ſollte.***) Am Bundestage ſtand der neue
Kurfürſt in ſchlimmem Rufe, da er ſoeben einen widerlichen Streit mit
Waldeck wegen angeblicher lehnsherrlicher Rechte begonnen hatte; die
Bundesgeſandten nahmen ſämmtlich an, daß er lediglich bezweckte ſich
ſeine Anſprüche abkaufen zu laſſen.†)
Die Entſcheidung über die heſſiſche Verfaſſung lag in Wien und
[668]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Berlin; denn ohne die ſichere Hilfe der beiden Großmächte wollte der
Kurfürſt nichts wagen, von Metternich hatte er ſich auch ſogleich, wie ſchon
oftmals früher, brieflich Rath erbeten. König Friedrich Wilhelm ſchwankte
keinen Augenblick, er nannte den Heſſen kurzweg einen böſen Mann und
wollte mit dieſen Umſturzplänen nichts zu ſchaffen haben. Einer Wieder-
holung des welfiſchen Staatsſtreichs war die aufgeregte Zeit wahrlich nicht
günſtig. Demgemäß ſendete Canitz ſchon am 30. Nov. eine Weiſung an
Galen, die dem heſſiſchen Hofe mitgetheilt wurde. Sie warnte dringend
vor ungeſetzlichen Schritten: fände der neue Herr einzelne Sätze der ra-
dicalen Verfaſſung ganz unerträglich, ſo möge er den Bundestag um die
Verbürgung des Grundgeſetzes bitten; dann böte ſich von ſelbſt die Ge-
legenheit, mit den Landſtänden über einige Veränderungen friedlich zu ver-
handeln. Canitz’s Rath war ebenſo wohlgemeint, wie ſeine gleichzeitigen
Mahnungen an den däniſchen Hof; er konnte, rechtzeitig befolgt, dem
heſſiſchen Lande traurige Kämpfe erſparen. Doch in Caſſel wie in Kopen-
hagen waren die Menſchen ſtärker als die Vernunftgründe. Einen bru-
talen Staatsſtreich mit Beihilfe der beiden Großmächte hätte der Kurfürſt
wohl gewagt, aber zu ſchwierigen Verhandlungen mit dem Bundestage
und den Landſtänden zugleich beſaß er weder den Muth, noch den Verſtand,
noch den guten Willen. In Canitz’s Sinne ſprach auch General Gerlach,
der die Beleidsbezeigung des Königs überbrachte; der gewann einen ſehr
traurigen Eindruck vom Caſſeler Hofe, er fürchtete, dieſer Fürſt hätte „ein
böſes Herz, abſolutiſtiſche Geſinnung, Habſucht und Mangel an Liebe zu
ſeinem Lande“. Noch während er in Caſſel weilte, erſchien, am 11. Dec.,
Hofrath Philippsberg aus Wien mit der Antwort Metternich’s und einem
begleitenden Gutachten. Dieſe öſterreichiſche Denkſchrift ſtimmte faſt wört-
lich mit Canitz’s Depeſche überein und war alſo vermuthlich mit dem
Berliner Hofe verabredet.*) Welch ein Wandel der Zeiten! Im Jahre
1831 hatte Metternich eine Bundesgarantie für dieſe radicale Verfaſſung
entſchieden zurückgewieſen,**) und ein an den Höfen allgemein geglaubtes
Gerücht behauptete, daß er auch ſpäter noch mit dem Prinzregenten wegen
eines Staatsſtreiches verhandelt hätte. Und jetzt rieth er dem neuen
Kurfürſten ſelbſt, die Bürgſchaft des Bundes für das Grundgeſetz nach-
zuſuchen, allerdings unter Bedingungen, die ſich noch nicht abſehen ließen.
Von einem gewaltſamen Umſturz wollte er nichts mehr hören. Durch
dieſe Erklärungen der beiden Großmächte war der heſſiſche Staatsſtreich
vorläufig abgewendet; ein mahnender Brief, den der Prinzgemahl Albert
am 12. Dec. an den König von Preußen ſendete, traf erſt lange nach der
Entſcheidung ein.
Sichtlich enttäuſcht beſchied der Kurfürſt wenige Stunden nach Ein-
[669]Heſſiſche Staatsſtreichspläne. Hannover.
gang der öſterreichiſchen Antwort die Vertreter des Landtags zu ſich um
ihre Beileidsadreſſe endlich entgegenzunehmen. Er empfing ſie freundlich,
und die Stände nahmen ſtillſchweigend an, daß er den beim Antritt der
Regentſchaft geſchworenen Eid auch jetzt noch als bindend anſähe. Dar-
über ſprach ſich der neue Herr nicht offen aus, doch gab er zu verſtehen,
die Verfaſſung bedürfe einerſeits der Sicherung andererſeits mehrerer
Verbeſſerungen.*) Seine Abſicht war alſo, den Rath der Großmächte
zu befolgen und die Bürgſchaft des Bundestags nachzuſuchen; er berief
auch alsbald eine Commiſſion von drei Beamten, welche die nothwendigen
Abänderungen der Verfaſſung vorſchlagen ſollte. Aber die Arbeit ſtockte
bald, es fehlten Einſicht und Ehrlichkeit. In dieſem ſonderbaren Zu-
ſtande, unter einem verabſcheuten Fürſten, den allein die Warnungen der
Großmächte vom Eidbruche zurückgehalten hatten, wurde das unglückliche
Land von den Stürmen der Revolution getroffen. —
Der alte Welfe konnte unterdeſſen ſeines gelungenen Staatsſtreichs nicht
recht froh werden. Das neue Landesverfaſſungsgeſetz war durch Lug und
Trug endlich zu Stande gekommen, und der gefährlichſte Mann der Oppo-
ſition, Stüve mußte dem Landtage fern bleiben, da er in einem gehäſſigen
politiſchen Proceſſe wegen Verjährung des Vergehens zwar nicht verur-
theilt, aber auch nicht förmlich freigeſprochen worden war. Folglich, ſo ent-
ſchied die Regierung, war Stüve nicht mehr unbeſcholten. Danton’s Grund-
ſatz, daß jeder Verdächtige als ſchuldig zu behandeln ſei, fand nirgends
treuere Schüler als an dieſem reactionären Hofe; auch nach ſeinem Siege
verſchmähte Ernſt Auguſt die Geſchlagenen durch eine Amneſtie zu ver-
ſöhnen. Sein Verhältniß zu dem neuen Landtage blieb immer unfreund-
lich, ſchon weil der Staatsſtreich ſich ſehr bald auch als eine ſtaats-
wirthſchaftliche Thorheit erwies. Die gewaltſam wiederhergeſtellte Kronkaſſe
kam mit ihren Einkünften nicht aus und mußte immer wieder ſtändiſche
Beihilfe erbitten, die nur unter heftigen Klagen gewährt wurde. Die
liberalen Ideen der Zeit drangen unaufhaltſam ſelbſt in dieſen verſtüm-
melten Landtag ein; ſogar einige Mitglieder der Lüneburgiſchen Ritterſchaft
verlangten jetzt — wer hätte das früher gedacht? — eine Vertretung des
Bauernſtandes. Das Volk ſchwieg mürriſch und war im Grunde nur
mit einer That des Königs ganz zufrieden: mit ſeinem Kampfe wider den-
Zollverein. Im Particularismus fanden ſich der welfiſche und der han-
növerſche Eigenſinn zuſammen. „Man will eben nicht“ — ſo erklärte
Stüve einfach die Stimmung des Landes — Hannover, Hildesheim, Celle
fürchten ſich vor Braunſchweig, die Oſteroder Tuchmacher vor Quedlin-
burg, die Bremer und Lüneburger Bauern vor der Trennung von Ham-
burg und Bremen.**) Auch in anderen Fällen zeigte ſich der Welfe höchſt
[670]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
ungebärdig gegen den preußiſchen Nachbarn. Ich empfange keinen katho-
liſchen Diplomaten aus Preußen — ſo ſagte er trotzig, als ihm die Er-
nennung des Grafen Weſtphalen zum preußiſchen Geſandten angekündigt
wurde. Der eingefleiſchte Papiſtenhaß des alten Orangemannes mochte
dabei wohl mitwirken; entſcheidend blieb doch, daß Weſtphalen der Schwieger-
ſohn des verabſcheuten Canitz war. Da König Friedrich Wilhelm nach
preußiſcher Ueberlieferung ſich dieſe grundſätzliche Verſchmähung eines
Katholiken nicht bieten laſſen durfte, ſo mußte der Geſandtſchaftspoſten in
Hannover längere Zeit unbeſetzt bleiben.*) Noch hochmüthiger verfuhr
Ernſt Auguſt gegen die kleinen Nachbarfürſten. Wie tobte er, als der
Cabinetsrath des Großherzogs von Oldenburg Starklof in einem Romane
den Gedanken ausgeführt hatte: ein blinder Bauernſohn dürfe nirgends
den väterlichen Hof erben, noch viel weniger alſo ein blinder Königsſohn
die Krone. Er ließ nicht ab bis Starklof entlaſſen war.
Dieſer Roman verletzte ihn in ſeinen theuerſten Gefühlen; denn das
blieb ſein beſonderer Stolz, daß er, gegen die Geſetze der Natur, gegen
das Reichsrecht, gegen den alten Hausbrauch der Welfen ſelbſt, ſeinem
Sohne die Krone geſichert hatte. So oft er verreiſte, übertrug er dem
Blinden die Regierungsgeſchäfte; die Welt ſollte wiſſen, im Welfenlande
ſei auch das Unmögliche möglich. Der Kronprinz zeigte ſich jetzt ſchon
als würdiger Abkomme der Stuarts, er ſprach mit unheimlicher Selbſt-
überhebung von dem Lehen Gottes, das ihm dereinſt zufallen würde, von
der ewigen Dauer des Welfenreichs. Mit derſelben läſterlichen Zuver-
ſicht, nur ohne Salbung redete der Vater. Im April 1847 wagten ihn
ſeine getreuen Stände um Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen an-
zugehen; ſogar die erſte Kammer hatte beinahe einſtimmig beigepflichtet,
ſo weit war der Wind ſchon umgeſchlagen. Da erſchien am 21. April
eine von Falcke gegengezeichnete königliche Antwort. Der alte Miniſter
Scheele war mittlerweile geſtorben, aber der allen welfiſchen Schriftſtücken
eigenthümliche brutale Ton hatte ſich nicht verändert. Mit einem Schwall
ungnädiger Worte hielt der König ſeinen Ständen vor: die Oeffentlichkeit
des Landtags würde nur unerreichbare Wünſche erwecken, eine erkünſtelte
öffentliche Meinung bilden, die Maſſen aufregen und verblenden. Dann
ſchloß er: „Wir haben demnach unabänderlich beſchloſſen, eine Oeffent-
lichkeit der Sitzungen der Kammern niemals zu geſtatten.“ So ſprach
der Welfe ſein Niemals — wenige Tage nachdem König Friedrich Wilhelm
dem Vereinigten Landtage ſein Nie und nimmermehr! zugerufen hatte. Nur
ein Jahr, und der Oheim wie der Neffe ſollte erfahren, daß auch Könige
dem lebendigen Gott ſeine Wege nicht vorſchreiben können.
Selbſt das ſtille Mecklenburg blieb von der liberalen Zeitſtrömung
nicht mehr unberührt. Die bürgerlichen Grundherren verlangten, mit
[671]Mecklenburg. Sachſen.
guten Gründen, aber noch ganz vergeblich die vollſtändige Theilnahme an
allen landſtändiſchen Rechten, die ihnen vom Adel beſtritten wurde; und
tief bekümmert klagte der alte Großherzog Georg von Strelitz ſeinem
preußiſchen Neffen: „Sie wiſſen, daß unſere bürgerlichen Gutsbeſitzer
leider — wenigſtens die bedeutende Mehrzahl derſelben — zu der libe-
ralen Partei gehören, welche immer mehr und mehr und um ſo ſchmerz-
licher hervortritt, als die Fortſchritte, die wir in wünſchenswerthen Dingen
machen, keineswegs gleichen Schritt mit dieſem ſogenannten Fortſchritt
halten.“*) Die Sache der Bürgerlichen führte ſehr würdig der Roſtocker
Germaniſt Georg Beſeler, der Bruder des Schleswigholſteiners, für den Adel
ſchrieb mit gewohnter Derbheit der alte Miniſter Kamptz, der den mecklen-
burgiſchen Edelmann nie vergeſſen konnte. Was dieſer Adel unter wün-
ſchenswerthem Fortſchritt verſtand, das zeigte ein Landtagsbeſchluß, der
die beiden Sereniſſimi um Preßfreiheit bat, weil die Frechheit der liberalen
Zeitungen nicht durch ſchlaffe Cenſur, ſondern nur durch empfindliche
Strafen bekämpft werden könne.
Ein ganz anderes und doch auch ein unheimliches Bild boten die
ſächſiſchen Zuſtände. Der gute König Friedrich Auguſt bemühte ſich red-
lich, den inneren Frieden wiederherzuſtellen, und von ſchwerem Druck
ließ ſich, einige Zeitungsverbote abgerechnet, auch nichts ſpüren. Aber
der unſelige Leipziger Straßenkampf hatte im Volke ſehr viel Groll zu-
rückgelaſſen. Die Oppoſition im Landtage, die von der nationalen Ge-
ſinnung des ſüddeutſchen Liberalismus wenig beſaß, bemühte ſich was
ihr an Talent fehlte durch ungeſchliffene Grobheit zu erſetzen; ſie hinter-
trieb die dringend nöthige, durch das Bundesgeſetz gebotene Organiſation
der Armeereſerve, ſie verlangte wiederholt, daß die Truppen auf die Ver-
faſſung vereidigt werden müßten, und ſuchte durch kleinliche, oft lächerliche
Beſchwerden die Soldaten gegen ihre Vorgeſetzten aufzuwiegeln. Ihrer
beſonderen Gunſt erfreuten ſich die Turnvereine, die in Sachſen bald ganz
dem Radicalismus anheimfielen und zu einer Pflanzſchule des Barrikaden-
kampfes wurden. Der Vorſchlag, die militäriſche Volkserziehung durch die
Turnerei zu erſetzen — ein Gedanke, dem der Prinz von Preußen ſogar im
preußiſchen Staatsminiſterium hatte entgegentreten müſſen — war hierzu-
lande gäng und gäbe. Einmal ließ der Kriegsminiſter Noſtitz-Wallwitz, ein
kurz angebundener Soldat, ein Commisbrod gradeswegs aus der Kaſerne
in die Kammerſitzung bringen und zwang die Liberalen, ſich perſönlich von
der Schmackhaftigkeit dieſes unmäßig geſcholtenen Leckerbiſſens zu überzeugen.
Das war ein Lichtblick in dem unerquicklichen Einerlei dieſer aufge-
regten und doch inhaltloſen Landtagsverhandlungen. Unterdeſſen wuchs
im Volke, gefördert durch Robert Blum und die Unzahl der Advokaten,
eine unklare radicale Verſtimmung, und auch in dem ſtillen Thüringen
[672]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
blühte die republikaniſche Phraſe, ohne die dynaſtiſche Geſinnung im
Mindeſten zu beeinträchtigen. In Weimar führten der wenig begabte,
aber rechtſchaffene Großherzog Karl Friedrich und ſeine edle wohlthätige
Gemahlin, die einſt von Schiller beſungene Maria Paulowna eine harm-
loſe patriarchaliſche Herrſchaft, desgleichen in Meiningen Herzog Bern-
hard Erich Freund, und in Gotha begann der junge Herzog Ernſt II. mit
großem Geräuſch ein liberales Regiment, das dem Landadel ſchon viel zu
weit ging. Wildſchäden gab es freilich in Menge, und der Unterhalt ſo vieler
Höfe verſchlang ganz unverhältnißmäßige Summen, doch dafür war auch
das ganze Waldgebirge ein wohlgepflegter ſchöner Wildpark zur Freude des
Volks, und von den Ausgaben der Höfe wurde doch ein großer Theil
väterlich zum Wohle des Landes verwendet. Die Lächerlichkeit ihrer macht-
loſen Scheinſtaaten empfanden die Thüringer durchaus nicht; was die Ge-
müther erregte war ein unbeſtimmter, durch die Eintönigkeit der langen
Friedenszeit genährter Thatendrang und eine vorlaute Zuchtloſigkeit, welche
die ſchwachen Regierungen nicht zu bemeiſtern verſtanden. —
Weit reicher erſchien das öffentliche Leben im Südweſten; dieſer
Winkel Deutſchlands wurde für einige Jahre zum Heerde der nationalen
Idee. In Württemberg feierte König Wilhelm (1841) den fünfund-
zwanzigſten Jahrestag ſeiner Thronbeſteigung, und als er am Feſttage
allein durch die Straßen ſeiner Hauptſtadt ritt, da umringte ihn das
Volk mit donnerndem Jubel. Das ganze Land wetteiferte in freudigen
Huldigungen, faſt in jeder größeren Ortſchaft ward eine Wilhelms-
linde, eine Königseiche gepflanzt, in Stuttgart ſollte zur Erinnerung eine
hohe Trajansſäule vor dem Schloſſe errichtet werden. Seitdem rechnete
Wilhelm ſicher auf die Dankbarkeit ſeines Volkes, die er ſich auch durch
die Wohlthaten einer geordneten, ſorgſamen Verwaltung verdient hatte;
er wußte jetzt Alles am beſten, da kein anderer Fürſt eine ſo reiche conſti-
tutionelle Erfahrung beſaß, und nannte ſeine Miniſter ſelbſt zuweilen gering-
ſchätzig „meine Doctrinäre“. Die deutſchen Höfe ſchätzten ihn als einen
klugen, der Herrſchaft kundigen Fürſten, Vertrauen und Liebe fand er
wenig. Mit dem preußiſchen Geſandten General Rochow, der hier im
Süden weit nützlicher wirkte als ſpäterhin in Rußland, verkehrte er ſehr
viel; er freute ſich, daß ſein Neffe Prinz Auguſt in der Berliner Garde
ſo ganz zum Preußen geworden war, und wünſchte lebhaft, Preußen möge
ſtatt des morſchen Oeſterreichs die Führung des Deutſchen Bundes über-
nehmen. Rochow wußte jedoch, daß der Schwabenkönig dem öſterreichiſchen
Geſandten gegenüber ganz ebenſo gehäſſig über Preußen ſprach, und be-
richtete freimüthig: „in ſeinem Weſen iſt die bekannte württembergiſche
Hausphyſiognomie ſtets ausgeprägt.“*)
Preßfreiheit, Volksbewaffnung, öffentliche Rechtspflege — ſo lautete
[673]Wilhelm von Württemberg und die Volkswünſche.
das neue liberale Programm, das jetzt in Süddeutſchland die Runde
machte. König Wilhelm aber hatte mit den Gedanken ſeiner Jugend längſt
gebrochen und urtheilte über dieſe Volkswünſche ſcharf: „ich bin durch
eine lange Erfahrung von der Unausführbarkeit überzeugt.“ Zumal die
Preßfreiheit war ihm ein Gräuel; und allerdings ſah er ſich auch per-
ſönlich in den Brandſchriften, die aus der Schweiz herüberflogen, ſchänd-
lich angegriffen. Er unterhielt um jene Zeit ein zartes Verhältniß mit
einer Schauſpielerin Stubenrauch; die Sache war nicht der Rede werth,
denn wie hätten Weiber dieſen kalten, trockenen, ſelbſtiſchen Mann je be-
herrſchen können? — die demagogiſchen Pamphletiſten aber ſtimmten ein
Wuthgeſchrei an, als ob auch Württemberg von einer Lola regiert würde.
In den allerheftigſten Worten äußerte ſich der König über dieſe feile Dirne,
die Preſſe, die gleich dem Branntwein trinkenden Matroſen ſich zuletzt nur
noch beim Scheidewaſſer wohl fühle. „Nie und nimmer“, ſo ſagte er im
Nov. 1842 zu Rochow, könne man auf die Cenſur verzichten, am wenigſten
in den conſtitutionellen Staaten; und als der Preuße einwarf, ſachliche
Beſprechungen ſeien doch nothwendig, da ward ihm die Antwort: nein,
die Politik der Bundesſtaaten kann nur in den Behörden der Regierungen
liegen, wer den Zuſammenhang nicht kennt hat kein Urtheil. So ward
auch in Stuttgart ein Niemals! ausgeſprochen, glücklicherweiſe nicht öffent-
lich, und es ſollte hier noch ſchneller als in Berlin und Hannover durch
die Macht der Thatſachen widerlegt werden. Ganz in der kleinlichen Weiſe
des Miniſteriums Abel, das er doch ſelbſt verabſcheute, behandelte der
König ſeine Zeitungen. Ueber württembergiſche Zuſtände durften ſie kein
freies Wort wagen, auf die Großmächte mochten ſie ungeſtraft ſchelten,
während die preußiſche Cenſur angewieſen war, die Beſprechungen aus-
wärtiger Verhältniſſe ſtrenger zu behandeln als die Artikel über das In-
land. Und dabei beklagte er ſich beſtändig, wenn die ſchwäbiſchen Liberalen,
die daheim nicht reden konnten, in der Kölniſchen Zeitung oder in anderen
preußiſchen Blättern ihre Empfindungen kundgaben. Rochow meinte: „man
wünſcht geſchont zu werden, ſchont aber Andere nicht; man klagt über
Andere und vergißt, daß man ſelbſt zu Beſchwerden Anlaß giebt.“*)
Des Königs einziger Vertrauter blieb ſein alter Freund Frhr. v. Maucler,
der als thatſächlich unverantwortlicher Präſident des blos berathenden Ge-
heimen Rathes bei den meiſten Beamten-Ernennungen das entſcheidende
Wort ſprach. Die Verwaltung des Innern führte, umgeben von einem
Stabe klug ausgewählter tüchtiger junger Räthe, Miniſter Schlayer, noch
immer in ſeiner alten ſtreng bureaukratiſchen Weiſe, aber geſchickt und
ſorgſam; an der Spitze des Juſtizweſens ſtand der geſtrenge Prieſer, der
gleich manchen anderen verhaßten Beamten Süddeutſchlands ſeine Schule
in der Mainzer ſchwarzen Commiſſion durchgemacht hatte. Gehorſam
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 43
[674]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
und Ruhe ward unbedingt gefordert. Darum blieb der ungläubige, den
Clericalen ſo feindſelige König auch den Tübinger Hegelianern immer
gram; er hielt ſie für Friedensſtörer und verbot dem Aeſthetiker Viſcher
für einige Zeit die Vorleſungen, als die Geiſtlichkeit wegen der panthe-
iſtiſchen Antrittsrede des neuen Profeſſors Lärm ſchlug. Noch kleinlicher
verfuhr er gegen Viſcher’s Amtsgenoſſen Robert Mohl, der ſich doch durch
ſein Württembergiſches Staatsrecht als ein würdiger Nachkomme des alten
J. J. Moſer bewährt hatte. Mohl bewarb ſich um einen Sitz in der
Kammer und richtete an einen ſeiner Wähler ein nicht einmal für die
große Oeffentlichkeit beſtimmtes Schreiben, das die Gebrechen des Re-
gierungsſyſtems ſcharf beleuchtete; daraufhin wurde er an eine kleine Ver-
waltungsſtelle verſetzt, er forderte ſeinen Abſchied und die Schwaben mußten
ihren erſten Staatsrechtslehrer nach Heidelberg ziehen ſehen.
In den Landtagsverhandlungen hallten die hannoverſchen Gewalt-
thaten noch lange nach. Der welfiſche Staatsſtreich hatte die ſüddeutſchen
Conſtitutionellen unbeſchreiblich erbittert, und ſelbſt Rochow, der mit Wolf-
gang Menzel vertraulich umging, konnte ſich dieſer Stimmung ſeiner
Umgebungen nicht entziehen; er meinte, „es heiße mit dem deutſchen
Fürſtenworte Hohn treiben“, wenn der Bund in einer ſolchen Sache gar
nichts thäte.*) Der Bundestag blieb freilich unbelehrbar. Die ſchwä-
biſche Oppoſitionspartei bemerkte bald, welch einen Fehler ſie durch ihren
Rückzug aus der Kammer begangen hatte. Seit dem Jahre 1845 traten
mehrere ihrer Mitglieder wieder ein, voran Römer, der erſte Redner
des Landtags. Er bekämpfte vornehmlich die Härte der Cenſur und ge-
langte bei dieſen berechtigten Angriffen immer wieder zu dem unhaltbaren
Schluſſe, daß die Landesverfaſſung den Bundesgeſetzen vorgehen müſſe.
Particulariſt war er darum doch nicht; vielmehr unterhielt er mit den
badiſchen und rheiniſchen Freunden lebhaften Verkehr und erwog mit
ihnen, wie dem Jammer des Bundestags endlich abzuhelfen ſei. Großen
Unmuth erregte im Lande die Verlobung des Kronprinzen Karl mit der
bildſchönen, in Baiern wie in Oeſterreich verſchmähten Großfürſtin Olga.
Der leere, nichtige, dem klugen Vater ganz ungleiche Thronfolger ſtand
ohnehin in ſchlechtem Rufe; als die Großfürſtin in mädchenhafter Ueber-
ſchwänglichkeit ihm ſchrieb, ſie hoffe ſeiner werth zu ſein, da meinte Rochow,
der die beiden Brautleute gründlich kannte: „Das iſt zu viel! Ich kann
ihr nicht Glück wünſchen.“ Der König, der doch vor Jahren ſelbſt eine
Großfürſtin heimgeführt hatte, gab jetzt, unter ganz veränderten Verhält-
niſſen, nur zögernd ſeine Einwilligung, und im Volke äußerte ſich überall
der Widerwille gegen dieſe ruſſiſche Familienverbindung. Der Czar ſelber
ließ ſich durch den herkömmlichen Einzugsjubel keineswegs täuſchen. Oft
äußerte er ingrimmig zu Rochow: wir gelten in Deutſchland heute gar
[675]Römer. Stuttgarter Hungerkrawall.
nichts, der Haß iſt zu groß; ich werde mich in Stuttgart jedes politiſchen
Rathſchlages enthalten, das könnte nur ſchaden. Er urtheilte richtig.
Die von der Preſſe beſtändig gebrandmarkte moskowitiſche Oberherrſchaft
beſtand zur Zeit nur in der Einbildung der Liberalen: weder König
Friedrich Wilhelm noch der Bundestag noch die Höfe der Mittelſtaaten
ließen ſich in ihrer inneren Politik durch Petersburger Machtſprüche leiten.
Nicolaus tröſtete ſich über ſolche unliebſame Wahrnehmungen, indem er
drohend ſagte: „wenn man mich aber brauchen ſollte, dann bin ich da
und werde gern helfen!“*) In der That ſollte nur zu bald, nach der
Revolution, eine Zeit erſcheinen, da der von den Liberalen ſo oft an
die Wand gemalte moskowitiſche Teufel plötzlich lebendig wurde.
Nun kamen die Hungerjahre, ſie brachten dem zerſtückelten, überſchul-
deten Kleingrundbeſitze Württembergs zahlloſe Zwangsverſteigerungen und
entſetzliches Elend. Im Mai 1847 rottete ſich der Stuttgarter Pöbel zu
einem Hungerkrawall zuſammen. Der König ritt hinaus, allein, wie einſt
an ſeinem Jubeltage, er dachte durch ſein Erſcheinen die Tobenden zu be-
ſchwichtigen. Wie ward ihm aber, als ihn die Maſſen mit Verwünſchungen
und Steinwürfen empfingen. Raſch entſchloſſen führte er ſelbſt ſeine
Truppen zum Angriff vor, und der Auflauf wurde nicht ohne Blutver-
gießen unterdrückt. Dieſe Stunde blieb dem Könige unvergeßlich; ſeit er
die Launen der Volksgunſt alſo durch perſönlichen Schimpf erfahren hatte,
befeſtigte er ſich mehr und mehr in ſeiner harten Menſchenverachtung. Tief
empört ſagte er nachher zu Radowitz: „Ein ſolcher Undank nach einer
dreißigjährigen Regierung!“ Er glaubte feſt — ſo blind war ſein Zorn
— daß Römer, Murſchel und andere Liberale einen großen Aufſtand
beabſichtigt hätten, und bedauerte nur die Verräther nicht überführen zu
können.**) Als Römer im Febr. 1848 dieſe Vorfälle im Landtage zur
Sprache brachte und die Frage ſtellte, wann die Anwendung von Waffen-
gewalt erlaubt ſei, da wollten ſelbſt viele ſeiner Freunde dem Führer der
Oppoſition nicht mehr folgen, und Miniſter Schlayer erwiderte: das heiße
ſich gleichſam auf die Seite der Umſturzpartei ſtellen. Alle zitterten vor
der Revolution. Nur wenige Tage, und ſie brach auch über das Schwaben-
land herein. —
In Baden hatte die Regierung ſeit Blittersdorff’s Sturz für längere
Zeit allen Halt verloren. Weder Böckh noch der gelehrte Nebenius, der
wieder in das Miniſterium zurückgerufen wurde, vermochte mit dem Land-
tag auszukommen. Hinter und neben ihnen wirkten im hohen Beamten-
thum Männer von entſchieden reactionärer Geſinnung wie Rüdt v. Collenbach
und Rettig; und dazu währten am Hofe die geheimen Zwiſtigkeiten fort, da
Großherzog Leopold in ſeiner unentſchloſſenen Schwäche überall um Rath
43*
[676]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
anfragte. Hier zuerſt in Deutſchland tauchte das Schreckwort „Camarilla“
auf, das nachher in den Zeiten der Revolution eine ſo große Rolle ſpielen
ſollte. Die Schwarzwälder Bauern dachten ſich darunter irgend ein bös-
artiges Frauenzimmer. Was dieſe verrufene Camarilla eigentlich trieb,
das ließ ſich aus der Maſſe der umlaufenden Klatſchereien allerdings nicht
erkennen; gewiß war nur, daß die Großherzogin Sophie und der com-
mandirende General Markgraf Wilhelm einander bekämpften, desgleichen
daß auch ultramontane Ränke ſich zuweilen an dieſen proteſtantiſchen Hof
heranwagten. Mehrere der hohen Hofbeamten waren alte Emigranten.
Als die beiden älteſten, noch ſehr jugendlichen Söhne des Großherzogs 1843
den Wiener Hof beſuchten, da ſollte Jarcke als politiſcher Lehrer für ſie
angeworben werden; ſo hatte Blittersdorff gerathen. Ihr Begleiter, Oberſt
Roggenbach aber erkundigte ſich zunächſt bei dem preußiſchen Geſandten
Canitz; der Preuße ſchenkte ihm reinen Wein ein und erklärte es für durch-
aus unziemlich, die Erziehung proteſtantiſcher Prinzen dieſem fanatiſchen
Convertiten anzuvertrauen, der ſchon den jungen Herzog von Naſſau ganz
in öſterreichiſch-clericalem Geiſte unterrichtet hatte. So unterblieb der
Verſuch.*)
Die Kammern zeigten, nachdem ſie über Blittersdorff triumphirt, ein
unermeßliches Selbſtgefühl, ſie glaubten an der Spitze der deutſchen Nation
zu ſtehen und nährten die Ueberhebung im Volke dermaßen, daß bald
nachher die badiſchen Demagogen alles Ernſtes hoffen konnten, die deutſche
Republik von dieſer Ecke des Vaterlandes her dem übrigen Volke auf-
zuerlegen. Radowitz meinte: „Baden wird von der geſammten ſubverſiven
Partei Deutſchlands als das Terrain betrachtet, auf welchem die Haupt-
ſchläge geſchehen.“**) In dieſen Tagen wurde das geheime Schlußpro-
tokoll der Wiener Conferenzen von 1834 zuerſt in einer deutſch-ameri-
kaniſchen Zeitung veröffentlicht und, obgleich jene Beſchlüſſe faſt ganz
wirkungslos geblieben waren, doch von der geſammten liberalen Welt mit
Abſcheu begrüßt. Welcker druckte ſodann das unheimliche Aktenſtück noch-
mals ab und dazu die vollſtändigen Protokolle der Karlsbader Conferenzen,
die er aus Klüber’s Nachlaß erhalten hatte. Dieſe „Wichtigen Urkunden
für den Rechtszuſtand der deutſchen Nation“ (1844) blieben jahrelang
die große Fundgrube für die liberale Zeitungspolemik und halfen vollends
zerſtören was von dem Anſehen des Bundestags noch übrig war. In
einer donnernden Kammerrede übergab Welcker die Wiener Conferenz-
beſchlüſſe feierlich „dem Gottesgerichte der öffentlichen Meinung“. Auch
über die Mißhandlung Weidig’s und Jordan’s, über die Cenſur, über die
geheimen Bundesprotokolle, über Alles was ſonſt noch faul war im Deutſchen
Bunde erging er ſich ſtrafend in Schrift und Rede; es ſchien zuweilen,
[677]Ultramontane und Liberale in Baden.
als ob der höchſte Gerichtshof der deutſchen Nation in der Karlsruher
Kammer tagte. Mit demſelben erhabenen Pathos, wie die großen Anliegen
des deutſchen Volkes, beſprach man aber auch die kleinlichſten badiſchen
Ortsbeſchwerden, ſo die polizeiliche Abwandlung zweier Bürger, die im
Wirthshauſe einen Polizeibeamten „ſcharf angeſchaut und ſich anzügliche
Bemerkungen über ſeine Naſe erlaubt hatten“. Der wohlmeinende li-
berale Miniſter v. Duſch erwiderte zwar auf die Warnungen des conſer-
vativen Nachbarn du Thil: „wir regieren mit der öffentlichen Meinung
und durch ſie.“*) In Wahrheit hatte ſich Blittersdorff’s hartes bureau-
kratiſches Regiment auch jetzt noch kaum geändert. Der Muſter-Cenſor
Uria-Sarachaja erlaubte ſich grade damals, unter dem ſchwachen Mini-
ſterium Nebenius, die frechſte Willkür. Mannichfache Roheiten der Polizei-
behörden reizten das Volk, zumal in Mannheim; dort war der Pöbel der
Neckarvorſtadt, „der Neckarſchleim“ ohnehin zu Unruhen geneigt, und ein-
mal wurde ſogar der Gemeinderath, als er einen keineswegs ungeſetzlichen
politiſchen Beſchluß faſſen wollte, durch die Truppen auseinandergejagt. Die
Regierung ſchwankte zwiſchen halb liberalen Neigungen und polizeilicher
Seelenangſt; in den langen ſtürmiſchen Kammerverhandlungen kam ſchließ-
lich nichts zu Stande als das neue Strafgeſetzbuch, ein tüchtiges Werk
des Staatsraths Jolly.
Da ſtellte Zittel (Dec. 1845), angeregt durch die deutſchkatholiſche
Bewegung, ſeinen Antrag auf Gleichberechtigung der chriſtlichen Religions-
parteien.**) Dieſer unverfängliche Antrag, der kaum mehr verlangte als
was König Friedrich Wilhelm bald nachher den Diſſidenten gewährte, bot
nun der jungen clericalen Partei den Vorwand um ihre Kraft zu erproben
und nach bairiſcher Art eine mächtige Kundgebung des katholiſchen Volks-
zornes zu veranſtalten. Der vormals radicale Freiburger Profeſſor Buß,
der als Gelehrter gar nichts galt, aber durch ſeine freche Stirn ſchwache
Leute zu erſchrecken vermochte, leitete die pfäffiſche Wühlerarbeit im Ober-
lande. Auch Major Hennenhofer, der verrufene Günſtling des alten
Großherzogs Ludwig, tauchte wieder aus der Vergeſſenheit auf um den
Clericalen im Breisgau beizuſpringen. Die Religion iſt in Gefahr —
oder: wollt Ihr katholiſch bleiben? — ſo erklang es in zahlloſen Flug-
ſchriften und Volksverſammlungen. Die Schwarzwälder Bauern, die noch
kaum aufathmeten von den wüthenden Wahlkämpfen der Blittersdorffiſchen
Zeit, ſahen ſich plötzlich in eine wilde kirchliche Aufregung hineingehetzt;
es war als ob alle Parteien des Landes ſich verſchworen hätten, dies er-
regbare, aber gutherzige und keineswegs zuchtloſe Volk nie mehr zur Be-
ſinnung kommen zu laſſen. Auf der anderen Seite lärmten die Juden,
die Deutſchkatholiken, die werdende radicale Partei. Als der clericale
[678]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
neue Erzbiſchof Vicari um dieſe Zeit zuerſt nach Conſtanz kam, da ge-
riethen ſeine Anhänger mit den Gegnern in wüſte Raufhändel.
Erſtaunt über den Sturm der clericalen Petitionen aus dem Ober-
lande, entſchloß ſich der Großherzog nunmehr zu einem unbegreiflichen
Mißgriff. Er löſte im Febr. 1846 die Kammer auf, ohne jeden genügen-
den Grund, wohl in der Hoffnung die liberale Oppoſition zu ſchwächen.
Die Rechnung trog gänzlich. Nach einem abermaligen heftigen Wahl-
kampfe gewannen die Clericalen nur einen einzigen neuen Abgeordneten,
den unglücklichen Buß; der aber wurde durch Mathy an ſeine radicale
Vergangenheit ſo nachdrücklich erinnert, und als er dreiſt ableugnete,
ſo ſchmählich überführt, daß ihn die Kammer fortan kaum noch anhören
mochte. Stärker denn je zuvor kehrten die Liberalen in den Landtag
zurück, und ſie traten, wie billig, der rathloſen Regierung ſehr ſcharf
entgegen. Mit der nahenden Revolution zu drohen war in dieſer Kammer
ſchon von langeher üblich, Welcker vornehmlich pflegte ſolche Schreckbilder
faſt in jeder Rede vorzuführen. Jetzt aber warnte auch Mathy, der nie ein
unbedachtes Wort ſprach, als der Antrag auf Preßfreiheit zum neunten male
geſtellt wurde: „Ich kann mich der Ahnung nicht entſchlagen, daß dieſem
neunten Antrage nicht eine gleiche Anzahl folgen, daß die Zeit nicht mehr
fern ſein werde, wo über Tag oder Nacht, über Leben oder Tod die Ent-
ſcheidung fällt.“ Mochte auch Nebenius dieſen „unwürdigen Ton“ entrüſtet
zurückweiſen, am Hofe ſelbſt ahnte man doch endlich, daß die unverkenn-
bar liberale Geſinnung des Landes nur durch ein liberales Miniſterium
befriedigt werden konnte. Das wohlhabende Land blieb von den Hunger-
krawallen dieſer Theuerungsjahre faſt ganz verſchont, gleichwohl fühlte Jeder-
mann die allgemeine Aufregung. Sogar Blittersdorff äußerte ſich von
Frankfurt her in dieſem Sinne; ſeine Hoffnung war freilich, die Liberalen
würden ihre Unfähigkeit zum Regieren bald zeigen und dann, raſch ver-
nutzt, einem reactionären Miniſterium weichen müſſen. Auch Radowitz,
deſſen Rath der Großherzog immer wieder einholte, widerſprach nicht grade-
zu, obgleich er auch jetzt noch in dem Wahne lebte, man könne auf ge-
ſetzlichem Wege zu einer Verfaſſungsänderung gelangen.*) Entſcheidend
jedoch war, daß Nebenius ſelbſt wünſchte, das Ruder des Staates an
kräftigere Hände abzugeben.
So wurde denn endlich (Dec. 1846) Staatsrath Bekk, der ſchon ſeit
einiger Zeit dem Miniſterium angehörte, an die Spitze der Regierung
geſtellt, ein tüchtiger Juriſt und wirkſamer Kammerredner von gemäßigt
liberaler, aufrichtig katholiſcher Geſinnung; er gehörte zu der alten guten
Winter’ſchen Beamtenſchule und hatte ſich durch Gerechtigkeit und Milde
allgemeine Achtung erworben. Die gröbſte Willkür der Cenſoren und der
Polizeibehörden hörte nunmehr auf; es war Bekk’s Verdienſt, daß die Ge-
[679]Bekk. Trennung der Liberalen und Radicalen.
bildeten endlich wieder einiges Vertrauen zu der Staatsgewalt gewannen
— ſo weit dies in dem tief zerwühlten und zerklüfteten Lande noch mög-
lich war. Ohne dies kurze verſöhnende Regiment, das nur leider allzu
ſpät eintrat, wäre Baden nach menſchlichem Ermeſſen wohl ſchon im Früh-
jahr 1848 ganz der Anarchie anheimgefallen.
Bekk’s Regierung bewirkte, daß hier zuerſt in Deutſchland die liberale
Partei ſich von der radicalen abzulöſen begann. Ueberall ſonſt hatte man
bisher Alle, die dem herrſchenden Syſteme widerſtrebten, ohne Unterſchied
zur Oppoſition gezählt. In Preußen wurden Dahlmann und Jacoby, Vincke
und H. Simon noch allgemein als Geſinnungsgenoſſen angeſehen, da die
radicale Partei im Vereinigten Landtage gar nicht vertreten war alſo noch
nie Farbe bekannt hatte. Auch in Baden hatte der Liberalismus während
der wilden Wahlkämpfe ſeine Bundesgenoſſen genommen wo ſie ſich fanden:
neben den erfahrenen Führern ſaßen jetzt im Landtage einige junge Demo-
kraten, der gewandte Rabuliſt Brentano, der feurige Volksredner Hecker, der
noch von ſeinen Burſchentagen her den Namen des Craſſen führte, und
Andere. Sobald aber die Regierung ſelbſt treu im Geiſte der Verfaſſung
zu handeln begann, da zeigte ſich ſofort, daß viele der gefürchteten älteren
Kammerredner, die in Radowitz’s Geſandtſchaftsberichten faſt alleſammt als
Demagogen erſchienen, in Wahrheit ſehr gemäßigte Anſichten hegten. So
lange die Liberalen in einer ausſichtsloſen Oppoſition ſtanden, hatten ſie,
begreiflich genug, oft über den Strang geſchlagen. Jetzt geſtand Baſſermann,
er ſei des unfruchtbaren Widerſprechens müde und würde ſich freuen eine
ehrlich conſtitutionelle Regierung zu unterſtützen. Mathy aber ſagte ſchon
wenige Wochen nach dem Wahlkampfe von 1846: „das Volk iſt beſchei-
dener als jene Coterien, welche den Ausdruck ſeiner Geſinnungen bei den
Wahlen zu fälſchen bemüht waren.“ Auch Welcker war der Wütherich
nicht, den die tiefbeleidigten Bundesgeſandten verläſterten. Ueber die
Gemeinplätze parlamentariſcher Redner urtheilt der ruhig Zurückſchauende
leicht ungerecht; Trivialität bleibt doch das ſicherſte Mittel um einen poli-
tiſchen Gedanken zum Gemeingute Aller zu machen. Ohne die ewigen
Wiederholungen der Kraftreden Welcker’s wäre die Ueberzeugung von der
Unhaltbarkeit der alten Bundesverfaſſung nicht ſo tief in’s Volk gedrungen;
über ein deutſches Parlament aber gingen die Wünſche des grimmigen
Polterers ſelber nicht hinaus. Von den Neugewählten ſchloß ſich vor-
nehmlich der Mannheimer Anwalt v. Soiron, ein fähiger, beredter Juriſt,
dieſem bürgerlichen Liberalismus an.
Von der anderen Seite her eröffnete Struve den Streit, der bald
mit der ganzen Gehäſſigkeit verfeindeter Brüder geführt wurde. Verbittert
durch ſeinen langen Kampf gegen den Muſter-Cenſor hatte Struve
ſich dem wilden Radicalismus angeſchloſſen und donnerte nunmehr in
ſeiner neuen Zeitſchrift, dem Deutſchen Zuſchauer wider „die Halben“,
die Paradehelden, die Kammermandarinen. Seine „Ganzen“ fanden
[680]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Bundesgenoſſen an dem jungen Demagogen Karl Blind und vielen
fremden Agenten, deren das Grenzland ſich ſchwer erwehren konnte. Zu-
gleich ward der Abhub der Schweizer und der Pariſer Preſſe Tag für
Tag über den Rhein gefahren. Das franzöſiſche Communiſtenſchimpfwort
Bourgeois klang auch in Baden wieder, wo es doch gar keinen Sinn
hatte, und auf einer radicalen Volksverſammlung zu Offenburg (Sept. 1847)
wurde außer den längſt landesüblichen Volkswünſchen auch ſchon die For-
derung aufgeſtellt: Ausgleichung zwiſchen Capital und Arbeit. Eine ſociale
Bewegung kündigte ſich an. Völlig hoffnungslos ſprach Radowitz über
„die ganz inficirte Atmoſphäre“ dieſes Landes. Unheil erwartete er auch von
den ſoeben wieder zugelaſſenen Freimaurerlogen, die allerdings in Baden,
wie in allen katholiſchen Ländern, dem kirchlich-politiſchen Liberalismus
weit näher traten als im proteſtantiſchen Norden; dies konnte der König,
nach den Traditionen ſeines Hauſes, freilich nicht ruhig hinnehmen, und
er rügte ſcharf: „Welche craſſe Unkenntniß der wahren Tendenz der
Maurerei!! Wer ſie kennen lernen will, trete in ſie ein!“*) Nach mannich-
fachen Händeln und Verſöhnungsverſuchen maßen ſich die beiden Parteien
endlich im offenen Kampfe, bei den Ergänzungswahlen im Herbſt 1847.
Struve unterlag, mit ihm einige ſeiner radicalen Freunde.
So begann die längſt ſchon gebotene Klärung des Parteiweſens, auch
ſie leider viel zu ſpät um die deutſche Nation noch rechtzeitig zu belehren.
Niemand litt unter dem Windzuge dieſer neuen Zeit ſchwerer als der alte
Adam v. Itzſtein, der ſo lange alle Kräfte der Oppoſition mit diploma-
tiſcher Kunſt zuſammengehalten hatte. Jetzt mußte er die tüchtigſten
Männer ſeiner Gefolgſchaft rechts abſchwenken ſehen, während ihn ſelber
die Wucht der tauſendmal wiederholten radicalen Phraſe nach links hin-
überzog. Fortan war er ein todter Mann. Die Schärfe der neuen Partei-
gegenſätze zeigte ſich noch einmal grell in den erſten Wochen des Jahres
1848, als die drei größten Fabriken des Landes in Waghäuſel, Ettlingen,
Karlsruhe durch den Sturz des großen Bankhauſes Haber und andere
Unglücksfälle ſchwer gefährdet wurden und die Regierung vorſchlug ihnen
durch eine Staatsunterſtützung zu Hilfe zu kommen. Da verwendete ſich
Mathy, der vor Kurzem noch ſo gefürchtete Demagog, lebhaft für den
Antrag der Miniſter; Hecker aber überreichte eine Petition von 63 Ar-
beitern, welche Macht gegen Macht den 63 Abgeordneten entgegentraten
und ſich jede Begünſtigung des Großcapitals trutzig verbaten. Unterdeſſen
beriethen die Liberalen über die Zukunft des Deutſchen Bundes. An dem
nahen Zuſammenbruche zweifelte Niemand mehr, aber Niemand wußte
auch einen ſicheren Weg der Rettung. Nur der eine Gedanke, den Welcker
ſchon vor anderthalb Jahrzehnten in dieſer Kammer ausgeſprochen hatte,
ſchien Allen unzweifelhaft: ohne die Mitwirkung populärer Kräfte konnte
[681]Baſſermann’s Antrag. du Thil.
der Bundestag nicht mehr beſtehen. Noch war die Revolution nicht aus-
gebrochen, da begründete am 12. Febr. 1848 Baſſermann mit einer tief
ergreifenden Rede ſeinen Antrag auf Berufung des deutſchen Parlaments:
„Der Weltfriede ſteht auf zwei Augen. An der Seine und an der Newa
neigen ſich die Tage, und nur das Gute und das Rechte ſind die Träger
aller Herrſchaft.“ —
Mit freundnachbarlichem Groll betrachtete der dauerhafteſte aller
deutſchen Miniſter, du Thil, dieſe Badener, die ihm namentlich durch
die freche Mannheimer Preſſe ſein ſtilleres Heſſenland beſtändig aufwiegelten.
Seit die Demagogenverfolgung endlich abgeſchloſſen war, regierte er ruhig
in ſeiner alten Weiſe, verſtändig, ehrlich, ſorgſam, aber im ſtrengſten bu-
reaukratiſchen Geiſte. Es war ihm gelungen, das dem Südweſten eigen-
thümliche Syſtem des Beamten-Parlamentarismus zur denkbar höchſten
Ausbildung zu vervollkommnen. Im Jahre 1845 befanden ſich unter den
50 Abgeordneten der zweiten Kammer 34 Staats- und 8 Gemeinde-Be-
amte; und da die Amtsdisciplin in Heſſen weit kräftiger gehandhabt wurde
als in Baden, ſo konnten die unglücklichen acht titelloſen Volksvertreter
wenig ausrichten. In der deutſchen Politik, zumal in den Zollvereins-
händeln hielt ſich du Thil immer treu auf Preußens Seite. Selbſt der li-
berale Hofprediger Zimmermann gewann ſich den Beifall des Königs von
Preußen, da er im Guſtav-Adolfs-Vereine für die Ausſchließung des Frei-
denkers Rupp ſtimmte; und als dem Prälaten darauf „von einigen Licht-
ſcheuen“ durch die Poſt eine todte Fledermaus zugeſendet wurde, da be-
fahl Friedrich Wilhelm: „Dieſe Anekdote muß in die Zeitung kommen,
mit einem kurzen Wort über die Würdigkeit des Handelns und der Ge-
ſinnung der Pro-Ruppianer.“*)
Leicht wurde dem klugen Miniſter ſeine preußiſche Haltung nicht.
Denn Prinz Emil, der ungleich begabtere Bruder des wohlmeinenden Groß-
herzogs Ludwig’s II. hegte als alter napoleoniſcher General einen natürlichen
Widerwillen gegen das preußiſche Heer, zumal gegen deſſen erſten Mann,
den Prinzen von Preußen. Mußte es ſein, ſo wollte der hochconſervative
Prinz ſein Rheinbundsland immer noch lieber in Oeſterreichs Obhut geben.
Auch ruſſiſche Ränke ließen ſich ſpüren, ſeit die Prinzeſſin Marie den
Großfürſten-Thronfolger geheirathet hatte. Der erklärte Günſtling des
Prinzen Emil, der rohe, ungebildete, im Stalle aufgewachſene, aber energi-
ſche und geſcheidte Prinz Auguſt Wittgenſtein, der ſelber einem halbruſſiſchen
Geſchlechte angehörte, vertrat bei Hofe mit Eifer die moskowitiſch-reactio-
nären Gedanken. Hier allein und im nahen Naſſau, deſſen junger Herzog
Adolf kürzlich eine Großfürſtin heimgeführt hatte, behauptete Czar Niko-
laus einige Macht, während der preußiſche Schwager allen Warnungen
taub blieb und die anderen deutſchen Höfe alleſammt dem Petersburger
[682]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Cabinet ein ängſtliches Mißtrauen zeigten. Unterdeſſen begann auch die
ultramontane Partei ihre Netze im Großherzogthum auszuwerfen. Du
Thil hielt ſeine Augen offen; er freute ſich aufrichtig, als ihm eines Tags
aus Schaffhauſen ohne Namen eine Flugſchrift zugeſendet wurde: „die Ope-
rationen der ultramontanen und abſolutiſtiſchen Partei in Süddeutſchland“
— ein Büchlein, das offenbar aus den Kreiſen der liberalen Prieſter-
ſchaft hervorgegangen war und mit gründlicher Sachkenntniß nachwies,
wie tief ſich die clericale Partei ſchon an den Höfen des Südens einge-
niſtet hatte. In Heſſen war der Kanzler Linde ihre beſte Stütze. Der
hatte, aus dem kurkölniſchen Herzogthum Weſtphalen gebürtig, ſein neues
Vaterland Preußen bald unmuthig verlaſſen und nach einer kurzen er-
folgreichen juriſtiſchen Lehrthätigkeit das Kanzleramt der Univerſität Gießen
ſowie einige andere hohe Staatsämter erlangt. Er gründete die Gießener
katholiſche Facultät, die mit Freiburg und Tübingen wetteifernd ſich um
die wiſſenſchaftliche Bildung des ſüdweſtdeutſchen Clerus große Verdienſte
erwarb. Den ſtrengen Ultramontanen blieb er ſtets verdächtig, weil er
die Verehrung für ſeinen alten Lehrer Hermes nie ganz verleugnete; und
doch wirkte er mit ihnen zuſammen, weil er ſie als unverſöhnliche Wider-
ſacher Preußens ſchätzte. Jeder ſtarke Charakter zieht an und ſtößt ab,
das gilt von den Staaten wie von dem Einzelnen. Wie der preußiſche
Staat von jeher große Talente aus dem übrigen Deutſchland an ſich ge-
zogen und mit ſeinem Geiſte erfüllt hatte, ſo mußte er jetzt auch erleben,
daß die clericale Partei des Südens ihre wildeſten Preußenfeinde alle-
ſammt aus Preußen ſelbſt erhielt: Görres, Jarcke, Phillips, Linde. Als
Erzherzog Max von Oeſterreich-Eſte, der reiche, im Stillen mächtige Gönner
der Jeſuiten, den Südweſten bereiſte, da war in Heſſen ſein erſter Gang
zu Linde, und du Thil meinte bitter: „er wußte, an wen er ſich zu wenden
hatte.“ Auch in Biebrich, wo Jarcke ſchon vorgearbeitet hatte, ſchaarte ſich
um den Freiherrn v. Loë eine clericale Hofpartei, die dem ſogenannten
„naſſauiſchen Rattenkönige“, der Vetterſchaft der mächtigen Familie Dun-
gern, die Herrſchaft zu entreißen trachtete.
Zwiſchen ſo mannichfachen höfiſchen Parteien wußte du Thil ſich
tapfer zu behaupten; er beſaß das volle Vertrauen des Großherzogs und
vertheidigte nach außen hin die Würde ſeines Fürſtenhauſes noch immer
mit der alten Eiferſucht. Welche Freude, als er nach vieljährigen Kämpfen
endlich durchgeſetzt hatte, daß Heſſen-Homburg nicht einen Antheil an der
Bundestagsſtimme der Darmſtädtiſchen Vettern erhielt, ſondern mit einem
Platze unter den Kleinen der ſechzehnten Curie vorlieb nehmen mußte;
ſonſt wäre ja die großherzogliche Virilſtimme zu einer Curiatſtimme „de-
gradirt“ worden! Als den gefährlichſten Mann der liberalen Oppoſition
fürchtete man den alten Präſidenten Jaup, der einſt bei der Entſtehung
der Verfaſſung mitgeholfen hatte und jetzt ſchon längſt als verdächtig
zur Ruhe geſetzt war. Er galt bei Hofe, ſchon wegen der cyniſchen Ein-
[683]Heſſiſche Ultramontane. Linde. Gagern.
fachheit ſeiner Erſcheinung, für einen argen Demagogen, obgleich ſeine
Wünſche nicht über die Grenzen eines ſehr beſcheidenen Liberalismus hinaus-
gingen, und es gelang, den Gefürchteten jahrelang der Kammer fern zu
halten. Als er im Jahre 1847 doch gewählt wurde, da verweigerte die
Regierung dem längſt Verabſchiedeten den Urlaub, und er ſah ſich vom
Landtage wiederum ausgeſchloſſen. „Herr Jaup“, ſo ſagte der Großher-
zog einſt zu du Thil, „wird mir nie als Miniſter aufgedrungen werden;
kommt es dahin, ſo habe ich vorher abgedankt.“*) Er ahnte nicht, wie
bald ſich dieſe Weiſſagung buchſtäblich erfüllen ſollte. Durch die deutſch-
katholiſche Bewegung kam der geheime höfiſche Parteikampf an den Tag.
Prinz Emil und Linde verlangten ſcharfe Unterdrückung, Linde bekämpfte
die neue Sekte auch in geharniſchten Schriften. du Thil aber verfuhr
milder, nach Preußens Vorbilde. Infolge dieſer Zerwürfniſſe nahm Linde
endlich, im December 1847 ſeinen Abſchied — um bald nachher den Kampf
gegen Preußen auf einer größeren Bühne von Neuem zu beginnen.
In dem ſtillen Landtage ward es erſt wieder lebendiger, als die Re-
gierung ein neues bürgerliches Geſetzbuch vorlegte, das großentheils, aber
nicht vollſtändig dem Code Napoleon nachgebildet war. Grundes genug
für die Rheinheſſen, um den alten Haß gegen die rechtsrheiniſchen Starken-
burger wieder einmal zu bekunden; nicht einen Buchſtaben von dem hei-
ligen Codex des fremden Eroberers wollten ſie miſſen. Gefördert durch den
neuen Rheiniſchen Verein, begann eine ſtarke politiſche Bewegung auf dem
linken Ufer. Der Mainzer Gemeinderath ſchämte ſich nicht, dem Groß-
herzog in einer Petition zu ſagen: der Code Napoleon verbinde die Rhein-
heſſen mit 50 Mill. Belgiern und Franzoſen und müſſe alſo auch auf
dem rechten Ufer eingeführt werden. Da der Landtag gleichwohl den Ge-
ſetzentwurf annahm, ſo fühlten ſich die Rheinheſſen tief beleidigt. Mainz
zeigte ſich wieder einmal als die Stadt der Clubiſten, in allen Weinhäuſern
erklangen Hochrufe auf die Franzoſen, und mit den Preußen der Bundes-
garniſon, die man als Feinde Frankreichs verabſcheute, ſuchten die radi-
calen Schoppenſtecher beſtändig Händel. Durch dieſen rheinheſſiſchen Streit
wurde auch Heinrich v. Gagern in das öffentliche Leben zurückgeführt.
Seit jenem Tage, da er die feierliche Frage geſtellt hatte: „wo iſt bei
uns was der Freiheit gleicht?“ — ſeit vollen zehn Jahren war er den
Kammern fern geblieben. Jetzt trat er zunächſt mit einer Druckſchrift
für „die Rechtsverfaſſung Rheinheſſens“ ein. Es war doch ein Zeichen
grundverderbter Zuſtände, daß dieſer redliche deutſche Patriot das fremde
Recht vertheidigte. War die franzöſiſche Rechtseinheit des linken Rhein-
ufers vorzuziehen oder die halbfranzöſiſche Rechtseinheit des heſſen-darm-
ſtädtiſchen Reichs? — über dieſe Frage konnte man wohl ſtreiten; in dem
Chaos unſerer Kleinſtaaterei ward Alles unklar. Nachher ließ ſich Gagern
[684]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
(1846) auch in den Landtag wählen, und da er ſogleich mit dem Unter-
ſuchungsrichter des Weidig’ſchen Proceſſes, dem allgemein verachteten Georgi
in einen leidenſchaftlichen perſönlichen Zwiſt gerieth, ſo ſchaarte ſich die
ſchwache Oppoſition alsbald um den ſchönen ritterlichen Mann als um
ihren natürlichen Führer. Er aber hatte nie verhehlt, daß er zuerſt ein
Deutſcher ſei, dann erſt ein Heſſe. Gleich ſeinem Freunde, dem Nierſteiner
Wernher ſah er den Zuſammenbruch des Bundestags voraus und ſuchte
ſich mit den Geſinnungsgenoſſen der Nachbarlande über die Zukunft des
großen Vaterlandes zu verſtändigen. —
Derweil es alſo überall gährte und eigentlich Niemand mehr an die
Dauer der beſtehenden Ordnung glaubte, ſank der Bundestag tiefer und
tiefer; es ſchien als wollte er noch zuletzt beweiſen, wie reif er zum Unter-
gange ſei. Seit die Kriegsgefahr verſchwunden war, zeigten alle Bundes-
ſtaaten, mit der einzigen Ausnahme Preußens, wieder die alte frevelhafte
Gleichgiltigkeit gegen die Wehrbarkeit des Vaterlandes. Die zweite Bundes-
Inſpection im Jahre 1846 bewies nur, daß die erſte wenig geholfen
hatte; das luxemburgiſche Contingent war noch immer „ſehr weit davon
entfernt formirt zu ſein“. Im Uebrigen gebar die neue Einrichtung nur
neue unwürdige Zänkerei. Jeder Souverän, auch wenn er gar keinen
General in ſeinem Vermögen hatte, verlangte nach dem Hochgenuſſe, an-
dere Staaten zu inſpiciren; ſelbſt die Senate von Hamburg und Lübeck
erklärten nachdrücklich: wir bilden mit Oldenburg eine Brigade und zahlen
Zuſchuß für den Brigadegeneral, folglich müſſen wir „als an der Activ-
Inſpection betheiligt, ſei es auch nur durch ein et caetera hinter Olden-
burg aufgeführt werden.“ Aber gegen dies et caetera verwahrte ſich Olden-
burg mit dem ganzen Stolze des Hauſes Gottorp.*)
Auf den Thoren und den Geſchützen der neuen Bundesfeſtungen wollte
König Friedrich Wilhelm Bundesfahnen und Bundeswappen anbringen
laſſen, und der Wiener Hof fand begreiflicherweiſe nichts dawider einzu-
wenden, wenn das althiſtoriſche gelbſchwarze Reichsbanner auf den Wällen
von Ulm und Raſtatt prangte. Ebenſo begreiflich, daß König Ludwig von
Baiern davon nichts hören wollte. Er ſchlug die ſchwarzrothgoldenen Farben
der Burſchenſchaft vor, um alſo „der revolutionären Partei eine Waffe zu
entreißen“;**) doch wußte er ſicherlich im Voraus, daß nunmehr gar nichts
beſchloſſen wurde. Etwas günſtiger verliefen die Berathungen über das
Bundeswappen. Einige der Kleinen wünſchten alle Schilder der achtund-
dreißig Souveräne in einem ſchönen Kranze zu vereinigen mit der Um-
[685]Bundeswappen. Spielbanken.
ſchrift: „Eintracht tragt ein“; alsbald erwies ſich aber, wie wenig dieſer
ſinnige Wahlſpruch zutraf. Die Reihenfolge der Wappenſchilder war ja ſeit
Langem ſtreitig, und die Einſtimmigkeit, die für einen ſolchen „organiſchen
Beſchluß“ verlangt wurde, mithin ganz undenkbar. So mußte man denn
auf den Doppeladler zurückkommen, der in den Jahrhunderten des Ver-
falles dem alten Reiche als Wappen gedient hatte. Der bairiſche Bundes-
geſandte Obercamp aber meinte: „der Adler war nie ein Zeichen deutſcher
Nationalität, ſondern ein dem Heidenthum entſtammendes Symbol römi-
ſcher Imperatorenwürde und Weltherrſchaft.“ Nach langen Verhandlungen
gab Baiern endlich nach. Der Adler durfte jedoch weder Krone noch
Scepter noch Schwert tragen, das hätte die Souveränität der Bundes-
ſtaaten zu ſchwer beeinträchtigt; und König Friedrich Wilhelm ließ dem
Bundestage durch ſeinen Geſandten ſagen: „auf den Schutzwällen des
Bundes würde der entwaffnete Reichsadler den Franzoſen zu vieler Kurz-
weil Veranlaſſung geben; ich ſei wahrhaft glücklich daran unſchuldig zu
ſein.“*) Als Preußen ſich ſodann erbot, die 1450 Mann, welche Waldeck
und die beiden Lippe zur Kriegsbeſatzung von Luxemburg zu ſenden hatten,
ſelber zu ſtellen und dafür die drei Heere in die Feſtungen Weſel und
Minden aufzunehmen, wo ſie viel ſicherer waren, auch durch ihre Un-
zucht weniger Schaden anrichten konnten, da erklärten die drei Fürſten
übereinſtimmend: dieſer Vorſchlag ſei „unangemeſſen“, denn in Luxem-
burg ſtänden ihre Truppen unter einem Bundesgeneral — der freilich
auch ein Preuße war — in Weſel und Minden dagegen „zur Dispoſition
eines Nachbarſtaats“.**)
Noch tiefer fühlten ſich die Kleinen beleidigt, als König Friedrich
Wilhelm ſich bereit erklärte, die einzige preußiſche Spielbank, die Aachener
aufzuheben und vom Bundestage für die Zukunft ein Verbot aller öffent-
lichen Spielbanken verlangte. In allen den Badeorten der Frankfurter
Umgegend blühten die Spielhöllen; die vornehmen Gauner Europas
gaben ſich hier ein Stelldichein, der Pariſer Boulevardier rechnete Hom-
bourg und Bade-Bade einfach zu Frankreich, und die öſtlichen Nachbarn
ſpotteten nicht mit Unrecht, in dieſen Spielbädern könne man die viel-
gerühmte deutſche Sittlichkeit kennen lernen. Das Unweſen wurzelte ſehr
tief. Die Spielpächter Benazet in Baden und Blanc in Homburg zählten
mit Rothſchild, Cotta und Taxis zu den mächtigen Kaufhäuſern, welche
ſich in der Eſchenheimer Gaſſe beſonderer Gunſt erfreuten, ſie waren mit
Blittersdorff und anderen Bundesgenoſſen nahe befreundet, den kleinen
Landesvätern brachten ſie erkleckliche Einnahmen und von den Bewohnern
der Badeſtädte wurden ſie als Wohlthäter der ganzen Umgegend wie
Heilige verehrt. Der Geſandte Graf Dönhoff mußte alſo bald erfahren, in
[686]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
welches Wespenneſt er geſtochen hatte. Naſſau wollte wohl die kleinen
Spielhöllen in Schlangenbad und Schwalbach preisgeben, die große in
Ems aber ſollte fortbeſtehen ſo lange die Homburger dauere. Baden
und Homburg wieſen das Anſinnen entrüſtet zurück; vorher müßten erſt
alle Lottos und Staatslotterien vom deutſchen Boden getilgt werden.*)
Das Ende des mehrjährigen Zankes war, daß eine einzige der größeren
deutſchen Spielbanken unterging, die Köthener; und ſie ſtarb eines na-
türlichen Todes, da das Land nach dem Erlöſchen der Köthener Linie
(1847) mit Deſſau vereinigt wurde. Alſo verſchwand das hiſtoriſch merk-
würdigſte der deutſchen Fürſtenthümer, das in ſeltener Vollſtändigkeit ſämmt-
liche Reize germaniſcher Kleinſtaaterei entfaltet hatte. Was war hier nicht
Alles binnen vierzig Jahren geleiſtet worden: erſt der Moniteur de l’Em-
pire Anhaltin-Coethien, dann der große Schmuggelkrieg gegen Preußen,
dann die Jeſuitenſtation mitten im altproteſtantiſchen Lande, dann endlich
die Spielbank; mehr konnten die Lobredner deutſcher Vielherrſchaft un-
möglich verlangen.
In ſolcher Nichtigkeit ſchleppten ſich die Frankfurter Dinge dahin.
Der Bundestag iſt eine Leiche, ein Gaukelſpiel, er iſt der Indifferenzpunkt
der deutſchen Politik — ſo hieß es übereinſtimmend in den Berichten der
großen wie der kleiner Geſandten. Metternich aber, dem doch dieſer Bund
ganz unſchätzbar ſein mußte, fuhr fort, die Verſammlung in der Eſchen-
heimer Gaſſe mit der äußerſten Geringſchätzung zu behandeln. Dem
Grafen Münch rechneten ſeine Amtsgenoſſen nach, daß er von den 23
Jahren ſeiner Präſidentſchaft 13 in Wien, nur 10 in Frankfurt verbracht
hatte, und für die jüngſte Zeit ſtellte ſich die Rechnung ſogar noch un-
günſtiger. Allerorten in Deutſchland — ſo geſtanden die Bundesgeſandten
ſelber — ward über die Zukunft des Vaterlandes geſprochen, nur nicht
in Frankfurt. Ein Rauſch der Feſte ging durch das deutſche Land, das
doch zu jubeln ſo wenig Urſach hatte. Wie zur ſelben Zeit die ſchickſals-
verwandten Italiener, ſo ſuchten die Deutſchen in unzähligen brüderlichen
Zuſammenkünften ihrer nationalen Einheit froh zu werden. Den Natur-
forſchertagen folgten die Zuſammenkünfte der Philologen, der Landwirthe,
der Anwälte, der Sänger, der Schriftſteller. Ueberall wurde die neue Tri-
colore Schleswigholſteins mit Frohlocken begrüßt; und auch die vom Bun-
destage verſchmähte ſchwarzrothgoldene Fahne tauchte trotz der Verbote
immer wieder auf, ſie galt ſchon allgemein als das nationale Banner.
Von lang nachwirkender Bedeutung waren unter dieſen Verſammlungen
nur die beiden, zuerſt durch den Schwaben L. Reyſcher angeregten Ger-
maniſtentage, die in Frankfurt 1846, ein Jahr darauf in Lübeck zuſammen-
traten. Sie wurden als „geiſtiger Landtag des deutſchen Volks“ geprieſen,
denn hier vereinigte ſich die Blüthe des Profeſſorenthums, das neuerdings
[687]Germaniſtentage. Heppenheimer Verſammlung.
durch den welfiſchen Staatsſtreich und den ſchleswigholſteiniſchen Streit
wieder ein hohes politiſches Anſehen errungen hatte und nunmehr in
gründlicher wiſſenſchaftlicher Erörterung die großen politiſchen Lebensfragen
der Nation beſprach. Eine andere Bühne ſtand den Deutſchen noch nicht
offen, und es war nur der Lauf der Welt, daß die Männer dieſes geiſtigen
Landtags nachher in allzu großer Zahl für das wirkliche Parlament ge-
wählt wurden. In Frankfurt ward die ſchleswigholſteiniſche Frage von
Dahlmann, Waitz, Droyſen ſo ernſt und umſichtig beleuchtet, daß ſeitdem ein
Zweifel an dem guten Rechte unſerer Nordmark kaum noch möglich ſchien.
In Lübeck ſodann gelangte der alte Streit um die Neugeſtaltung des
Strafverfahrens zu einem vorläufigen theoretiſchen Abſchluß; auch Georg
Beſeler, der kürzlich in ſeiner Schrift „Volksrecht und Juriſtenrecht“ die
Ruheſeligkeit der hiſtoriſchen Schule bekämpft und das altdeutſche Schöffen-
gericht vertheidigt hatte, bekehrte ſich jetzt zu der ſehr beſtreitbaren, aber
von der Mehrzahl gebilligten Anſicht Dahlmann’s: das Schwurgericht ſei
das gediegenſte politiſche Bildungsmittel für das Volk. So ſtimmten die Ge-
lehrten mit den volksthümlichen Wünſchen überein. Es waren doch glück-
liche Tage; eine ſchwärmeriſche, hoffnungsfrohe Begeiſterung verjüngte auch
die Alten. Uhland meinte, die alten Kaiſer ſprängen leibhaftig aus ihren
Rahmen heraus, als er im alten Römerſaale die vaterländiſche Bered-
ſamkeit der Tagenden anhörte; und im Lübecker Rathhauſe fiel der greiſe
Jakob Grimm dem Freunde Dahlmann überwältigt in die Arme mit dem
Ausruf: er habe nie etwas ſo ſehr geliebt wie ſein Vaterland. Nur zu
bald ſollte die Zeit mit ehernen Sohlen über ſolche unſchuldige Gefühle
hinwegſchreiten. Die Gelehrten empfanden das ſelbſt; ſie verabredeten
mit einander ein gemeinſames Werk über die neueſte deutſche Geſchichte,
ein Unternehmen, das beſtimmt war, der Nation das Bewußtſein ihrer
jüngſten Entwicklung zu erwecken, ihr die Einſicht zu ſchärfen für kommende
Thaten. Auch dieſer Plan ward nachher durch die Revolution vereitelt;
nur einige Bruchſtücke, das Leben Stein’s von Pertz und Wippermann’s
kurheſſiſche Geſchichte, kamen zu Stande.
Solche Verſammlungen konnten nur vorbereiten; unmittelbar der
Politik des Tages galten aber die vertraulichen Berathungen, welche alle
dieſe Jahre hindurch zwiſchen den liberalen Abgeordneten Weſtdeutſchlands
gehalten wurden. Die Rathloſigkeit und die Zwietracht der Kronen
zwangen die Nation, den Anſtoß zu einer Bundesreform nur noch von
unten her zu erwarten. Im October 1847 verſammelten ſich zu Heppen-
heim mehrere der angeſehenſten Liberalen des Weſtens: Mathy, Baſſer-
mann, Soiron aus Baden, Römer aus Württemberg, Hergenhahn aus
Naſſau, Heinrich v. Gagern aus Heſſen, Hanſemann und Meviſſen aus
dem preußiſchen Rheinlande; auch der alte Itzſtein war erſchienen, doch
merkte er bald, daß ſeine Stimme unter dieſen gemäßigten Liberalen nichts
mehr galt. Hier wurde nun der Gedanke des deutſchen Parlaments, der
[688]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
jetzt ſchon überall als Volkswunſch galt, ernſtlich erwogen, und ſobald man
den Dingen näher trat, drängte ſich auch ſchon gebieteriſch die Frage der
Zukunft hervor, die Frage: Preußen oder Oeſterreich? Mathy erwies mit
ſeinem überlegenen Verſtande: ein Reichstag ohne eine wirkliche Staats-
gewalt ſei ein Unding, ja er würde neben dem Bundestage die deutſche
Anarchie nur vollenden; der Zollverein hingegen beſitze ſchon eine gemein-
ſame Verwaltung, eine leidliche Organiſation, alſo müſſe den Zollcon-
ferenzen ein Zollparlament beigeordnet werden, das ernſthafte nationale
Geſchäfte ernſthaft beriethe ohne in leeren Phraſen unterzugehen. Es
war ein befreiendes Wort. Verfolgte man dieſen Weg weiter, ſo gelangte
man unfehlbar zu der Erkenntniß, daß die deutſche Einheit nur unter
Preußens Führung und mit Ausſchluß Oeſterreichs möglich war. Gagern
ſtimmte dem Badener zu, desgleichen Hanſemann, der ſchon den Rheiniſchen
Provinzialſtänden und dem Vereinigten Landtage die Berufung eines Zoll-
parlaments empfohlen hatte, und man trennte ſich in Eintracht. Als die
Tagenden heimkehrten, da bemerkten ſie freilich bald, daß der nüchterne
Gedanke des Zollparlaments den leidenſchaftlich erregten, nach einem un-
beſtimmten Glücke verlangenden Gemüthern der Patrioten nicht genügte.
Das deutſche Parlament blieb das einzige Schlagwort der Einheitspartei,
das die Maſſen begeiſtern konnte. Darum ſtellte Baſſermann im Karls-
ruher Landtage ſeinen Antrag auf Berufung einer geſammtdeutſchen Volks-
vertretung, obgleich der einſichtige Mann wohl wußte, wie wenig dieſer
nebelhafte Vorſchlag den Kern der Sache traf.
Schon vorher, im Juli 1847, war ein Unternehmen begonnen worden,
das den gemäßigten Liberalen für die nationale Politik die geiſtige Führung
ſichern ſollte. Der Plan einer großen, für die geſammte Nation be-
ſtimmten Zeitung beſchäftigte den König von Preußen ſeit ſeiner Thron-
beſteigung und wurde auch jetzt noch durch Profeſſor Lohbauer wieder auf-
genommen, doch er konnte unmöglich gelingen; denn wo ließen ſich die
Publiciſten finden, die, wie Friedrich Wilhelm wünſchte, zugleich ganz
freimüthig und ganz im Geiſte des Berliner Hofes ſchrieben? Dieſen
alten Lieblingsgedanken riſſen die badiſchen Liberalen dem Könige aus
den Händen, ſie beſchloſſen auf einer Durlacher Verſammlung (1846) die
Gründung einer großen „Deutſchen Zeitung“. Baſſermann’s Buchhandlung
in Mannheim übernahm den Verlag, Gervinus die Leitung, und ſeinem
unermüdlichen Eifer gelang es bald, nicht nur beträchtliche, nach deutſchen
Verhältniſſen ganz unerhörte Geldzeichnungen zu erlangen, ſondern auch
faſt alle guten Namen des gemäßigten Liberalismus im Süden und Weſten
für die Mitarbeit anzuwerben. Nur Dahlmann hegte von Haus aus
Bedenken; er blieb dabei, „daß auf preußiſchem Boden erſcheinen muß
was in Preußen Wurzeln faſſen ſoll,“ während Gervinus in ſeinem klein-
ſtaatlichen Dünkel glaubte, der Süden ſolle ſeinen conſtitutionellen Geiſt
von außen her in Preußen einpflanzen und, den Preußen nur die Aus-
[689]Deutſche Zeitung.
führung überlaſſend, in der deutſchen Politik ſtets vorangehen. Von den
Radicalen ſchon im Voraus als Profeſſorenblatt verhöhnt, brachte die
Deutſche Zeitung eine überraſchende Fülle von ernſten, wohldurchdachten
Leitartikeln; ſelbſt ihre Correſpondenzen glichen oft mehr doktrinären Ab-
handlungen als thatſächlichen Berichten, obgleich die Redaction klagte:
unſere Correſpondenz iſt noch nicht überall ganz im Syſteme. Von un-
zähligen Staatsmännern, Abgeordneten, Gelehrten liefen treffliche Bei-
träge ein. Unter den erſten Mitarbeitern bewährte ſich namentlich Mathy
als rühriges journaliſtiſches Talent, neben ihm der Heidelberger Hiſtoriker
Ludwig Häuſſer, ein junger Elſaſſer, in dem ſich alle ſchönen Charakter-
züge des ſüddeutſchen Volksthums vereinigten: geſunder Menſchenverſtand,
fröhliche Thatkraft, warme Begeiſterung und eine ſelbſt die Gegner zu-
weilen gewinnende Liebenswürdigkeit. Nachher ſind noch viele andere
tüchtige Publiciſten durch die Deutſche Zeitung für das journaliſtiſche
Handwerk erzogen worden: Kruſe, Aegidi, Heller, Marggraff.
Die Deutſche Zeitung wirkte — ſo erfolgreich, wie ſpäterhin nur
noch die Kreuzzeitung — für die Durchbildung einer ganz beſtimmten
Parteigeſinnung, aber freilich nur in einem engen Kreiſe. Faſt alle
die wackeren Gelehrten, welche nachher im Frankfurter Parlamente den
Ausſchlag gaben, die Anhänger der conſtitutionellen Monarchie und der
preußiſchen Hegemonie, verdankten den Artikeln dieſes Blattes einen Theil
ihrer politiſchen Bildung. Allein in die Maſſe der Leſewelt drang die
Deutſche Zeitung niemals ein. Sie ſchwebte von vorn herein in der
Luft, da ſie weder einen landſchaftlichen Boden unter den Füßen hatte
noch die Klaſſenintereſſen eines mächtigen Standes vertrat; der Ton ihrer
Aufſätze war gewöhnlichen Leſern zu hoch, und den wirkſamen Wucher
mit aufregenden Neuigkeiten verſchmähte ſie ſtolz. Das Schlimmſte blieb
doch, daß ſie in Preußen ſelbſt ſo wenig Mitarbeiter und Leſer fand; ſogar
der alte Schön ſchrieb gar nichts, obgleich er ſeinen gefeierten Namen
unter die Ankündigung des Blattes geſetzt hatte. Zu dem Heidelberger
leitenden Ausſchuß gehörte auch Geh. Rath Fallenſtein, ein alter Lützower
Jäger, der nach einer entbehrungsreichen Jugend im preußiſchen Staats-
dienſte emporgeſtiegen und kürzlich unmuthig ausgeſchieden war weil er
ſich mit Kühne’s dictatoriſchem Weſen nicht vertragen konnte — einer jener
ſeltenen Männer, welche mehr durch die Macht einer urſprünglichen Per-
ſönlichkeit als durch ihre Thaten wirken, ein urkräftiger Teutone, feſt,
freimüthig, bedürfnißlos wie alle die Recken der Blücher’ſchen Tage. Er
blieb ſeinem Gervinus in treuer Freundſchaft zugethan, und doch ward
dem tapferen Preußen oft ſchwül zu Muthe, wenn die Deutſche Zeitung
das theoretiſch geliebte Preußen Tag für Tag praktiſch mißhandelte und
ihm immer von außen her, meiſt ohne jede Sachkenntniß, Lehren der
Weisheit und Tugend gab. Gervinus ſelbſt entſchuldigte ſich einmal:
unſer wärmerer Tadel gegen Preußen iſt nur ein Zeichen unſerer wärmeren
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 44
[690]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Liebe; aber Liebe zu erweiſen verſtand der ewig Ungnädige wenig. Auf
die Dauer ging es nicht an, alſo außerhalb Preußens preußiſche Politik
zu predigen, und es war doch nur menſchlich, daß König Friedrich Wil-
helm, der ohnehin den liberalen Ideen ſo fern ſtand, die allezeit tadelnden
„Mannheimer und Heppenheimer“ als ſeine geſchworenen Feinde betrachtete.
Preußen iſt ein ganz deutſcher Staat geworden — in dieſem beſtändig
wiederholten Satze lag das bleibende Verdienſt der Deutſchen Zeitung,
jedoch außerhalb der Gelehrtenwelt fand die neue Erkenntniß vorerſt nur
wenig Anklang.
Die Nichtigkeit des Bundestags erſchien ſo hoffnungslos, daß ſelbſt
Blittersdorff jetzt auf Reformgedanken gerieth. Reiner Particulariſt war er
ja nie geweſen, er wünſchte eine ſtarke Bundespolitik. In ſeinem unge-
duldigen Ehrgeiz unternahm er einmal ſogar mit dem Grafen Dönhoff
anzuknüpfen und gab ihm zu verſtehen, bei der vollendeten Gleichgiltigkeit
Oeſterreichs bleibe nichts mehr übrig als der Anſchluß der kleinen Staaten
an Preußen. Dieſe Schwenkung des alten Gegners war doch zu ver-
dächtig; ſelbſt der allezeit argloſe König warnte ſeinen Geſandten: „das
kann eine Falle ſein, deren H. v. B. wohl fähig iſt.“*) Alſo von Preußen
abgewieſen, wandte ſich Blittersdorff wieder dem geliebten Oeſterreich zu
und beſtürmte ſeit dem Herbſt 1847 den Grafen Münch mit einer langen
Reihe von Denkſchriften, die alleſammt unfreiwillig und eben deßhalb un-
widerleglich erwieſen, daß die Hofburg ihre Herrſchaft in Deutſchland
nur noch durch Betrug und Rechtsverdrehung zu erweitern vermochte.
Mit dürren Worten geſtand Blittersdorff ein, Oeſterreich könne weder „ein
nationales Deutſchland mit centraler Action“ dulden, noch ſelber in den
Zollverein eintreten; folglich, ſo ſchloß er, müſſe der Wiener Hof, mit
gewandter Benutzung des nichtsſagenden Art. 64 der Wiener Schlußacte,
alle die zwiſchen den Bundesſtaaten abgeſchloſſenen Sonderverträge über
Zoll- Münz- Poſtweſen u. ſ. w. „unter den Schutz des Bundestags“ ſtellen
und dergeſtalt „die politiſche Leitung“ aller gemeinnützigen deutſchen Beſtre-
bungen, insbeſondere des Zollvereins ſelber in die Hand nehmen. Welch
ein naives Geſtändniß! Von den Pflichten des deutſchen Zollverbandes
ſollte die Hofburg frei bleiben, aber das Recht der Herrſchaft gebührte
ihr, damit nur ja niemals „ein nationales Deutſchland“ entſtände! An-
ſchaulicher ließ ſich der Löwenvertrag, der zwiſchen Oeſterreich und Deutſch-
land beſtand, nicht ſchildern. Zum Glück blieb das Alles verlorene Ar-
beit. Zu irgend einem kräftigen Entſchluſſe konnten ſich weder Metternich
ſelbſt noch ſeine ebenſo altersmüden Genoſſen aufraffen. Als du Thil
dem Grafen Münch Bundesreformen oder mindeſtens ſtrengere Hand-
habung der beſtehenden Bundesgeſetze empfahl, da erwiderte der Oeſter-
reicher: „Warum ſoll ich mich, nachdem ich mich ſo lange abgeplagt habe,
[691]Bundesreformpläne. Blittersdorff. Leiningen.
zu guter letzt vollends ganz unpopulär und verſchrien machen?“ Der
Heſſe aber dachte ahnungsvoll: Après nous le déluge!*)
Ehrlicher gemeint waren einige Reformvorſchläge des Fürſten Karl
v. Leiningen. Ein Halbbruder der Königin Victoria hatte er einen Theil
ſeiner Jugend in England verlebt, mannichfache Erfahrungen und Kennt-
niſſe geſammelt und den Segen einer ſtarken nationalen Einheit aus der
Nähe kennen gelernt; ohnehin betrachtete er, gleich der Mehrzahl der me-
diatiſirten Fürſten, die deutſchen Dynaſtien mit ſkeptiſchen Blicken, denn
warum ſollten die Häuſer Lippe oder Reuß unantaſtbarer ſein als Lei-
ningen oder Fürſtenberg? Seit er den Vorſitz im bairiſchen Reichsrathe
mit gutem Anſtande führte glaubte er ſich auch an die großen Aufgaben
der nationalen Politik wagen zu können. Leider fehlten dem warm-
herzigen Patrioten Ruhe, Stetigkeit, ausdauernder Fleiß; alle ſeine Arbeiten
waren formlos, halb ausgereift, ſie verriethen die läſſige Hand des vor-
nehmen Dilettanten. In einer ſchwungvollen Denkſchrift mahnte er ſeine
mediatiſirten Standesgenoſſen, auf die verhaßten Abgaben und obrigkeit-
lichen Rechte, die ihnen noch geblieben, rechtzeitig zu verzichten und ſich
dafür in den Landtagen eine politiſche Machtſtellung zu ſichern.**) In
zwei anderen Aufſätzen betrachtete er ſodann die deutſche Frage und er-
klärte ſich offen für Preußens Hegemonie; die Hofburg dachte er, ſo viel
ſich errathen ließ, mit einer Ehrenſtellung abzufinden. Die einſt ſo heiß
erſtrebte Souveränität der deutſchen Dynaſtien — ſo führte er aus — ſei
einerſeits durch den Zollverein, andererſeits durch die Landſtände und das
Beamtenthum, kurz durch die wachſende Macht des Mittelſtandes ſchon
ſo gründlich beeinträchtigt, daß ſie auch noch ſtärkere Einſchränkungen wohl
ertragen könne; darum müßten die Fürſten ſich der beiden bewegenden
Elemente der Zeit, der Ideen der conſtitutionellen Freiheit und der Na-
tionalität bemächtigen, die Nation nach dieſen Zielen hinführen, das Ueber-
gewicht Preußens zugleich anerkennen und feſt begrenzen. „Wie aber“,
fuhr er nachdenklich fort, „wenn ſich Preußen auch in politiſcher Beziehung
an die Spitze der Ideen und Beſtrebungen jenes ſchon ſo mächtigen
Mittelſtandes ſtellt und die Erreichung jenes Zieles, nach dem die deutſche
Nation ſo mühſelig ſtrebte, ihr plötzlich als ganz nahe zeigt?“***)
Die eine dieſer Denkſchriften, die auch am Bundestage und an den
kleinen Höfen bald bekannt wurden, ſendete der Fürſt ſeinem Schwager, dem
Prinzen Albert, und der Prinz-Gemahl entſchloß ſich alsbald mit der
ganzen Dreiſtigkeit des künſtlichen Engländers, den König Friedrich Wilhelm
über deutſche Politik zu unterrichten. Wunderbar doch, in welchen holden
Selbſttäuſchungen dieſe glückhaften Coburger dahinlebten! Die lächerliche,
44*
[692]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
nur durch eine heuchleriſche Hof-Etikette nothdürftig verdeckte Ohnmacht
des engliſchen Königthums blieb ihnen ganz verborgen, und Herzog Ernſt
von Coburg meinte alles Ernſtes, die Stellung ſeines Bruders ſei „dem
Könige von Preußen wohl gewachſen“! Die deutſche Fremdbrüderlichkeit
aber ertrug willig eine Anmaßung, welche jedes andere Volk den ver-
lorenen Söhnen des Vaterlandes ſtolz verbietet. Wie unſere Liberalen
ſich von den Deutſch-Amerikanern dankbar belehren ließen, ſo fanden es
auch unſere Höfe nicht unwürdig, daß dieſer Coburger, der ſeinem Vater-
lande gleichmüthig den Rücken gewendet hatte, immer noch in deutſchen
Dingen mitreden wollte. Was würde Königin Victoria geſagt haben,
wenn König Friedrich Wilhelm ihr im Tone des Lehrers Anweiſungen
für die innere Politik Englands gegeben hätte? — dieſe einfache Frage
legten ſich die beſcheidenen Deutſchen noch nicht vor. Prinz Albert ſtand
der particulariſtiſchen Dynaſtengeſinnung viel näher als ſein deutſcher
Schwager, und namentlich der Gedanke der preußiſchen Hegemonie blieb
ihm unheimlich. Darum eignete er ſich einige gute Gedanken der Lei-
ningen’ſchen Denkſchrift an, um ihnen ſogleich behutſam die Spitze ab-
zubrechen. Er verlangte, wie ſein Schwager, das conſtitutionelle Regiment
und die deutſche Einheit, aber obgleich er ſelber zugab, daß Oeſterreich jede
Reform grundſätzlich hindere, ſo forderte er doch, Preußen müſſe im Ein-
verſtändniß mit Oeſterreich vorgehen und den Bundestag dermaßen ſtärken,
daß alle die Zoll- und Poſt- und Münzvereine in Frankfurt unter dem
Schutze des Bundes vereinigt würden, allerdings mit Zuziehung ge-
wählter Abgeordneten und mit voller Oeffentlichkeit. Seine Rathſchläge
ſtimmten alſo am letzten Ende mit Blittersdorff’s öſterreichiſchen Denk-
ſchriften überein; nur ſtellte er, in ſeltſamem Widerſpruche, immer wieder
die Bedingung, daß Preußen die Leitung der Frankfurter Reformpolitik
allein in ſeiner Hand behalten müſſe. Wie aber dies Wunder möglich werden,
wie Preußen in Frankfurt jemals eine ſichere Mehrheit erlangen ſollte? —
darauf gab der Prinz keine Antwort. Es war doch eine recht ſchwache
Arbeit, dieſe im Vetternkreiſe vielgerühmte Denkſchrift von Ardverikie vom
11. Sept. 1847; ſie bewies nur von Neuem, daß ein vaterlandsloſer Mann
vaterländiſche Politik nicht verſtehen kann.
Mit maſſiver Offenheit, da er ja hier am heimiſchen Hofe kein Blatt
vor den Mund zu nehmen brauchte, erklärte ſich Lord Palmerſton wider
die Pläne des Prinz-Gemahls. Er wünſchte zwar den Deutſchen alles
Gute und wiederholte geläufig die zeitgemäßen Redensarten von dem na-
türlichen Bunde zwiſchen England und Deutſchland. Aber von deutſcher
Zolleinheit wollte er nichts hören; kein engliſcher Miniſter, ſo ſagte er
feierlich, könne jemals zugeben, daß Hannover und die Hanſeſtädte dem
Zollvereine beiträten, dieſe weſtdeutſche Freihandelsküſte biete ja den Briten
das einzige Mittel um ihre Fabrikwaaren nach Deutſchland hinüberzu-
ſchmuggeln. Schade nur, daß dies herzinnige engliſche Geſtändniß in
[693]Prinz Albert’s Denkſchrift. Preußens Abſichten.
Deutſchland nicht bekannt wurde. Aber auch der getreue Stockmar, der
zur Zeit in Coburg weilte, war unzufrieden; ſein deutſcher Stolz, den er
trotz ſeiner ſeltſamen internationalen Stellung doch nie verleugnete, lehnte
ſich wider die Zudringlichkeit des Prinz-Gemahls auf, und er ſchrieb
freimüthig: wer ſich ſo lange dem Vaterlande entfremdet hätte, der verliere
das Recht mitzurathen. Dann redete er dem geliebten Zögling, deſſen
ſtarren Dynaſtendünkel er wohl kannte, kräftig in’s Gewiſſen: die deut-
ſchen Fürſtenhäuſer bedürften heute vor Allem ernſter Selbſterkenntniß,
denn ſie hätten durch Verrath und Ungehorſam das alte Reich zerſtört,
das Vaterland zerriſſen; ſie würden von einem großen Theile der Nation
als Feinde der deutſchen Einheit gehaßt, ſie müßten endlich einſehen, daß
die anti-dynaſtiſche Geſinnung ſich in immer weiteren Kreiſen verbreite.
Goldene Worte. Doch der Prinz ließ ſich nicht beirren; er ſendete ſeine
und ſeines Schwagers Denkſchriften durch Bunſen’s Vermittlung dem
Berliner Hofe.
Da ergab ſich denn alsbald, daß der allein rettende Ruf: los von
Oeſterreich, daß die Rückkehr zur fridericianiſchen Politik von Niemand
tiefer verabſcheut wurde als von König Friedrich Wilhelm ſelbſt. Durch
Leiningen’s Vorſchläge wurde er, wie er an Bunſen ſchrieb, „faſt empört.
Der Schwager will Oeſterreich aus dem Bunde ſachte entfernen, einen
Bund im Bunde gegen den Bund (alſo Treubruch!), und dieſer Wirth-
ſchaft ſoll ich quasi gezwungen werden mich anzunehmen und den Wün-
ſchen dieſer Eſel von Liberalen vorauseilend, das Banner des Fortſchrittes
erheben.“ Dies blieb ſeine heilige Ueberzeugung, und ſie ſollte für den
Verlauf der deutſchen Revolution verhängnißvoll werden. Durchaus nur
als der Zweite, als kaiſerlicher Feldhauptmann und Erzkämmerer wollte
er in dem kaiſerloſen Deutſchen Bunde auftreten; was der große König
einſt darüber hinaus geplant hatte war dem Nachkommen eitel Ver-
rath; „ich will Oeſterreich den Steigbügel halten,“ ſagte er oft. Beſſer
gefielen dem Könige die friedfertigen und unbeſtimmten Gedanken des
Prinz-Gemahls, obgleich er eine ſcharfe Bemerkung über das Sitzen
am Tiſche fern von Deutſchland nicht unterdrücken konnte. Nur gegen zwei
Vorſchläge verwahrte er ſich ernſtlich. Auch er wollte die deutſche Freiheit,
doch nimmermehr im Sinne der Liberalen. „Eine einzige wunderbare
Kunſt verſteht der vulgäre Liberalismus à la Hanſemann und Conſorten,
die nämlich, ein Volk dumm und böſe zu machen. Darin hat er, wie
überhaupt in ſo Vielem, von den Jeſuiten gelernt und übertrifft ſie bei
Weitem. Der Liberalismus, der namentlich jetzt Deutſchland verſtänkert,
iſt eine Gattungs-Religion, eine Durchgangs-Religion, die ſich auf das
Chriſtenthum aufſetzt, wie man einſt Ludwig XVI. die Galeerenſklaven-
Mütze aufſetzte um ſeine Salbung zu verwiſchen; und ſie iſt ein Aberglaube
verächtlichſter Art, da ſie eine Volkswillens-Anbetung als ihr Weſen predigt,
ein Götzendienſt hundertmal ärger als der des Baal und der Aſtarte, denn
[694]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
bei der Verehrung dieſer war das Volk doch durch falſche Wunder und
Gaukeleien verführt. Der Volksanbetung aber widerſagt brüllend die
Geſchichte der Menſchheit ſeit 6000 Jahren!!!“ Zum Zweiten erklärte
der König für unmöglich, daß Deutſchlands Fürſten und Fürſtchen je-
mals etwas von ihren Souveränitätsrechten aufgeben könnten: „Das
thun nun einmal die Herren nicht. Für den Bund ſollten ſie es aller-
dings, für Preußen ſollen ſie es ſo wenig und noch weniger als für
Oeſterreich.“*) Er glaubte alſo, ſeine Bundesreformpläne, die doch alle-
ſammt eine ſtarke Beſchränkung der Territorialgewalten vorausſetzten,
würden ſich ganz von ſelbſt verwirklichen, durch die freie Uebereinſtimmung
aller 38 Souveräne.
In gleichem Sinne antwortete Canitz. Er ſpottete über „den Auf-
ſatz, welcher als das beſte Mittel zur Kräftigung des Deutſchen Bundes
die Amputation ſeines mächtigſten Gliedes anräth; dieſe Kur würde, wie
manche allopathiſche Mixtur, viel ſchlimmer ſein als das zu heilende Uebel.“
Dann gab er dem Vermittler Bunſen den deutlichen Wink: „daß unter
allen jetzt lebenden Regenten keiner weniger fremder Ideenlieferanten be-
darf, als der König unſer allergnädigſter Herr.“**) Die Berechtigung
der durch den Vereinigten Landtag ſo mächtig angeregten Ideen der
Nationalität und der ſtändiſchen Verfaſſung ſtellte er nicht in Abrede;
doch leider ſeien ſie durch Deutſchlands innere Feinde zu einem Loſungs-
worte der Umwälzung geworden; darum hoffe ſein König, „daß die deut-
ſchen Fürſten im feſten Zuſammenhalten und Anſchließen an die mächtige
Stütze des Bundes keine Gefahr, ſondern vielmehr die Gewähr für ihre
eigenen Rechte erkennen mögen.“***)
So unſicher ſtand der preußiſche Hof der anſchwellenden nationalen
Bewegung gegenüber: voll guten Willens freilich, aber ohne Verſtändniß
für die Macht der liberalen Ideen, und — was in der Politik aller Schande
Anfang iſt — ohne hohen Ehrgeiz. Mit der freien Zuſtimmung Oeſter-
reichs und aller Souveräne hoffte der König „die theure Inſtitution des
Deutſchen Bundes, die letzte Stütze der Zukunft“ — wie ſein Radowitz
ſich ausdrückte — zur Erfüllung „ihrer welthiſtoriſchen Aufgabe“ in den
Stand zu ſetzen.†) Unabläſſig brütete er über dieſen Entwürfen; es lag
aber in der Natur der Dinge, daß ſie noch viel langſamer reiften als
ſeine ſtändiſchen Pläne. Seit Langem ſchon verhandelte Canitz mit Metter-
nich über die Bundespolitik, bald brieflich, bald mündlich durch den Baron
v. Werner, den die k. k. Staatskanzlei jetzt „wie das liebe Brot brauchte.
Er gehört“, ſo ſchrieb ſein greiſer Gönner, „zu den Treuen, aber zugleich
[695]Preußens Verhandlungen mit Oeſterreich.
zu den Intellectuellen. Er verſteht mich und wird Sie alſo auch ver-
ſtehen, und heute kommt es wohl mehr als nie auf Verſtändigung unter
denen an, welche noch Kopf und Arme haben und nicht zu den Acephalen
und den Paralytikern gehören.“*) In Wahrheit war Werner nur ein
brauchbarer Bureaukrat des gewöhnlichen Schlages, ohne Ideen, ohne
Thatkraft, und ſelbſt ein größerer Mann konnte die breite Kluft, welche
die beiden Staaten trennte, nicht mehr überbrücken. Noch immer geängſtigt
durch die Leipziger Unruhen, verlangte Metternich ſcharfe Maßregeln gegen
die neuen Sekten. Canitz aber berief ſich ſtandhaft auf die bewährten
Traditionen ſeiner Monarchie: „Die Glaubensfreiheit, wie ſie in Preußen
beſteht, iſt ein Product unſerer Geſchichte, in der die ſechsundvierzigjährige
Regierung Friedrich’s II. ausradirt werden müßte, wenn wir ihren Begriff
ſo interpretiren wollten, wie Kaiſer Joſeph II. ihn, von ſeinem Stand-
punkt aus mit vollem Rechte, feſtſtellte.“**)
Ebenſo wenig konnte man ſich über die Preſſe einigen. Der Oeſter-
reicher forderte, um das tief erkrankte Deutſchland zu heilen, unnach-
ſichtliche Durchführung des Karlsbader Preßgeſetzes, das ſich doch ſo
unwirkſam gezeigt hatte. Der Preuße erwiderte, indem er auf Metter-
nich’s „Lieblingsgleichniß“ ironiſch einging: „Der Kranke wird nicht da-
durch geſund, daß er an die Vorſchriften erinnert wird, deren Befolgung
ihn vor dem Fieber, das ihn ſchüttelt, hätte bewahren können.“***) Canitz
verlangte jetzt Preßfreiheit mit einem ſtrengen Repreſſivſyſteme, denn durch
die kläglichen Erfahrungen des neuen Ober-Cenſurgerichts hatten der König
und Savigny endlich gelernt, daß man mit der Cenſur nicht mehr aus-
kam.†) Auf das Heftigſte widerſprach Metternich: In England und Frank-
reich kenne ich keinen Staatsmann, der die Preßfreiheit nicht für ein Uebel
hält, „da ſie ihrer Natur gemäß nur deren Licenz zu ſein vermag. Alle
Maßregeln, welche dem Juſte Milieu zwiſchen dem Leben und dem Tode,
welche alſo dem Siechthum angehören, bieten keinen Stoff zu Normal-
geſetzen.“ Sein preußiſcher Freund aber antwortete: Unſer Vorſchlag iſt ein
Juſte Milieu zwiſchen Leben und Tod nur in demſelben Sinne „wie es das
menſchliche Leben in dieſer gebrechlichen Welt überhaupt iſt. Es wäre ein
allzu ſtrenges Urtheil über unſer Vaterland, wenn man behaupten wollte,
in Deutſchland könne die Gewalt der Preſſe nur verderblich wirken, wenn
eine ſtrenge ängſtliche Cenſur ſie nicht lähmte.“††) Der greiſe, in ſeinen
Gedanken jetzt ganz feſt eingeroſtete Staatskanzler konnte den Widerſpruch
der Preußen gar nicht begreifen. Nach erneutem Schriftenwechſel ſendete
er im Frühjahr 1847 ſeinen Hofrath Werner nach Berlin um mit den
[696]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
bewährten Künſten öſterreichiſcher Anbiederung die preußiſchen Bundes-
reformpläne und zugleich den Krakauer Streit zu beſeitigen.*)
Aber noch während Werner am preußiſchen Hofe verweilte, ließ Canitz
durch ein Rundſchreiben vom 4. April 1847 allen deutſchen Regierungen
den längſt vorbereiteten Entwurf für ein Bundespreßgeſetz zugehen. Da
er die bundesgeſetzliche Cenſur in Preußen ſchlechterdings nicht mehr auf-
rechthalten wollte und doch einſah, daß Oeſterreich, Hannover, Kurheſſen
ſich zu einer ſolchen Reform nie freiwillig entſchließen würden, ſo lautete
der § 1 ſeines Entwurfs ganz beſcheiden: „Jedem deutſchen Bundesſtaate
wird freigeſtellt die Cenſur aufzuheben und Preßfreiheit einzuführen.“
Dann wurden die „Garantien“ aufgezählt, welche die zur Preßfreiheit
entſchloſſenen Staaten ihren Bundesgenoſſen zu geben hätten: ein ſtrenges
Conceſſionsweſen für Buchdrucker und Zeitungsherausgeber, harte Strafen
für Preßvergehen, endlich noch ein rechtsgelehrtes Bundesſyndicat, das
nach freiem Ermeſſen gemeingefährliche Schriften für ganz Deutſchland
verbieten ſollte. Wie ängſtlich auch dieſe Beſchränkungen erſcheinen mochten,
die Aufhebung der Cenſur war doch, wenn ſie gelang, eine entſcheidende
That; denn daß die übrigen Staaten, außer Oeſterreich, dem guten Bei-
ſpiel Preußens bald folgen mußten lag auf der Hand. Am Bundestage
zeigten ſich Sachſen, Baden, Weimar, ſelbſt das conſervative Darmſtadt
günſtig geſtimmt. Mit beſonderem Eifer ging Württemberg auf die preu-
ßiſchen Vorſchläge ein. König Wilhelm hatte ſich, wie er dem Grafen
Dönhoff geſtand, durch die leidenſchaftlichen Klagen ſeines Landtags von
der Unmöglichkeit der Cenſur endlich überzeugen laſſen; als erfahrener
Soldat räumte er den verlorenen Poſten und nahm das zornige Nie-
mals! das er vor Kurzem erſt der Preßfreiheit entgegengeſchleudert hatte,
entſchloſſen zurück.**) Er forderte nunmehr Aufhebung der Cenſur und
Einführung des Repreſſivſyſtems in ganz Deutſchland.
Aber wieder ſcheiterte Alles an dem böſen Willen der Hofburg. Selt-
ſam, wie die Gedanken in dem Kopfe des alternden Staatskanzlers ſich
mehr und mehr verwirrten. Metternich pflegte grade in dieſen Tagen,
da ihn die italieniſchen Unruhen lebhaft beſchäftigten und die Franzoſen
ſein Kaiſerreich als eine italieniſche Macht bezeichneten, nachdrücklich und
nicht ohne Gereiztheit zu verſichern: „Oeſterreich iſt ein Reich, das unter
ſeiner Herrſchaft Völker von verſchiedener Nationalität umfaßt, aber als
Reich hat es nur eine Nationalität. Oeſterreich iſt deutſch“, ſo ſagte er
zum Grafen Arnim, „deutſch durch die Geſchichte, durch den Kern ſeiner
Provinzen, durch ſeine Civiliſation.“***) Gleichwohl wähnte er, dieſe deutſche
Macht erfülle ihre Pflichten gegen Deutſchland am ſicherſten durch voll-
kommene Unthätigkeit. Sein getreuer Münch ſchob die Verhandlung über
[697]Reformverſuche am Bundestage.
den preußiſchen Antrag von Monat zu Monat hinaus, und als ſie im
September endlich doch ſtattfand, da beantragte er, wie üblich, die Ein-
holung von Inſtructionen.*) Darüber mußten wieder viele Monate ver-
gehen, und die vereinzelten Abſtimmungen, welche nach und nach einliefen,
bewieſen genugſam, daß man ſich nicht einigen konnte. Baiern erklärte
(Jan. 1848), ein Bundesgeſetz ſcheine überflüſſig, für Baierns Preſſe
genüge die freie bairiſche Verfaſſung vollkommen. Alſo ward auch dies
vaterländiſche Unternehmen in den großen Schiffbruch des Bundes hin-
eingeriſſen.
Nicht minder vergeblich arbeiteten Württemberg und Preußen ſelb-
ander für eine andere nöthige Verbeſſerung. König Wilhelm hatte während
der Theuerung des letzten Winters erfahren, wie beklommen ſich die ſtolze
Hofburg vor der Oeffentlichkeit fühlte. Damals war dem nach Württem-
berg beſtimmten öſterreichiſchen Getreide der Ausgang auf der Donau
plötzlich geſperrt, aber nach langem Streite augenblicklich frei gegeben
worden ſobald Württemberg drohte den Hergang zu veröffentlichen. Auf
Grund dieſer Erfahrung entſchloß ſich der kluge Schwabenkönig, in Frank-
furt (26. März 1847) die Veröffentlichung der wichtigſten Bundesprotocolle
zu beantragen. Wieder ſuchte Münch die Berathung hinzuhalten; Dönhoff
aber erſtattete im September einen Ausſchußbericht, der noch über Württem-
bergs beſcheidenen Antrag hinausging. Der Preuße erwähnte, daß ſelbſt der
Regensburger Reichstag ſeine Sitzungsberichte ſtets herausgegeben hatte,
und verlangte kurzweg Rückkehr zu der alten Ordnung, wie ſie vor dem
Jahre 1824 beſtanden: alſo die Oeffentlichkeit als Regel, mit Vorbehalt
einzelner Ausnahmen. Der geſammte Ausſchuß ſtimmte ihm zu — ſo
mächtig drang der Luftzug der öffentlichen Meinung ſchon in den Bundes-
tag ein. Nur Oeſterreich widerſprach. Münch gehörte dem Ausſchuß ſelber
an, hatte aber keiner einzigen Sitzung beigewohnt. Jetzt erklärte er im
Namen ſeines Hofes: die Geheimhaltung ſei entſchieden vorzuziehen, aller-
höchſtens könne man zugeben, daß die Protokolle nach ſorgfältiger Aus-
wahl am Ende jeder Sitzungsperiode veröffentlicht würden, aber nicht in
den Zeitungen, ſondern in einer beſonderen Sammlung. Nun wurde
wieder die Einholung von Inſtructionen beſchloſſen, und der Antrag blieb
liegen — bis zum Zuſammenbruch. Die Könige von Preußen und Württem-
berg aber erfuhren handgreiflich den Unſegen des Bundesgeheimniſſes;
über alle ihre ehrlichen Reformbeſtrebungen verlauteten in der Nation nur
unbeſtimmte Gerüchte.**)
Auch außerhalb des Bundestags bemühte ſich der Berliner Hof um ge-
ſammtdeutſche Reformen. Auf ſeinen Betrieb verſammelte ſich zu Dresden
im Spätjahr 1847 eine deutſche Poſtconferenz, die aber wenig zu Stande
[698]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
brachte, weil die particulariſtiſche Eiferſucht ſich noch nicht überzeugen ließ.
Man blieb im Weſentlichen bei den Sonder-Poſtverträgen, welche zu Anfang
der vierziger Jahre zwiſchen Preußen, Baiern, Sachſen, Baden, Taxis ab-
geſchloſſen waren. Ungleich günſtiger verlief die zur nämlichen Zeit, eben-
falls auf Preußens Aufforderung, berufene Wechſelrechts-Conferenz. Der
Gedanke war ſchon vor einem Jahrzehnt von Württemberg auf den Zoll-
conferenzen angeregt, damals aber noch als unmöglich abgewieſen worden.
Jetzt konnte man die Bedürfniſſe des ſo mächtig angewachſenen Handels-
verkehrs doch nicht mehr ableugnen, und da dieſe Rechtseinheit das Heilig-
thum der Souveränität durchaus nicht antaſtete, ſo wagte die preußiſche
Regierung, nicht blos die Zollverbündeten, ſondern alle Bundesſtaaten zu
den Verhandlungen einzuladen. Zum Verſammlungsort konnte nur Leipzig
gewählt werden; denn hier in dem großen Meßplatze ließen ſich die Miß-
ſtände der beſtehenden Rechtszerſplitterung an der Quelle kennen lernen;
hier war auch neuerdings durch Einert, Treitſchke und andere tüchtige
Juriſten eine neue Wechſelrechtslehre ausgebildet worden, die ſich vom
römiſchen Rechte losſagte und den Anforderungen des modernen Handels
gerecht zu werden ſuchte. Ein preußiſcher Entwurf, bei dem Savigny
ſelbſt mitgewirkt hatte, wurde den Berathungen zu Grunde gelegt. Geh.
Rath Biſchoff, ein Harzer, der den alten Juriſtenruhm der Heimathlande
Eicke von Repgow’s wieder einmal bewährte, vertheidigte den Entwurf mit
ſiegreichem Scharfſinn und gewandter Liebenswürdigkeit; auch der ſächſiſche
Bevollmächtigte, der geiſtreiche alte Präſident Einert half treulich mit,
obgleich die Conferenz ſich die Grundgedanken ſeiner Theorie nicht aneignen
wollte. Schon am 9. Dec., nach einer Berathung von fünfzig Tagen,
wurde die Deutſche Wechſelordnung vollendet, ein Werk aus einem Guſſe,
wie es unter parlamentariſcher Mitwirkung ſicherlich nie gelungen wäre,
ein Geſetz, das kurz und ſcharf, ſo wie es einſt Savigny in ſeiner Jugend-
ſchrift verlangte, nur die leitenden Rechtsgrundſätze aufſtellte ohne ſich
in weitläuftige Caſuiſtik zu verlieren. Es war ein juriſtiſches Meiſter-
werk; wohl nur eine ſeiner Vorſchriften, die ganz unbeſchränkte allgemeine
Wechſelfähigkeit, ließ ſich ernſtlich anfechten. Eine boshafte Tücke des
Schickſals fügte aber, daß dies einzige gute geſammtdeutſche Geſetz, das
unter der Herrſchaft des Bundestags je zu Stande kam, nicht durch ihn
verkündet wurde. Die Unruhen der nächſten Monate verhinderten den
Abſchluß, und erſt im Herbſt 1848 wurde die Wechſelordnung durch die
neuen Reichsgewalten bekannt gemacht, ſo daß ſie den Uneingeweihten als
ein Geſchenk der Revolution erſcheinen mußte. Der Bundestag hatte
wieder ſeinen Lohn dahin.
Das Alles war in Friedrich Wilhelm’s Augen nur Vorarbeit für
den umfaſſenden Bundesreformplan, den er zu Ende Novembers 1847
durch General Radowitz dem Wiener Hofe überreichen ließ. Radowitz
blieb in dieſen deutſchen Geſchäften ſein nächſter Rathgeber, da die Miniſter
[699]Wechſelrecht. Radowitz’s Reformdenkſchrift.
ihre nüchternen Geſchäftsbedenken, einige auch ihre Furcht nicht überwinden
konnten, General Gerlach aber alle „Germanomanie“ bekämpfte. In einer
großen Denkſchrift vom 20. Nov. ſtellte Radowitz die Gedanken ſeines könig-
lichen Herrn zuſammen. Sie verurtheilte in ſcharfen Worten das bis-
herige Bundesſyſtem. Da hieß es rundweg: „Auf die Frage: was hat
der Bund ſeit den 32 Jahren ſeines Beſtehens, während eines beſpielloſen
Friedens gethan für Deutſchlands Kräftigung und Förderung? — iſt
keine Antwort möglich. Die gewaltigſte Kraft der Gegenwart, die Natio-
nalität iſt die gefährlichſte Waffe in den Händen der Feinde der öffent-
lichen Ordnung geworden.“ Darum verlangte Preußen Kräftigung der
Bundesgewalt nach drei Seiten hin. Zum erſten Sicherung der Wehr-
haftigkeit des Bundes durch Inſpectionen, gemeinſame Uebungen, Verein-
barung über die Reglements, das Kaliber u. ſ. w. — aber ohne Umſturz
der beſtehenden Heeresverfaſſung. Zum Zweiten geſicherten Rechtsſchutz,
alſo ein Bundesgericht für ſtaatsrechtliche Streitigkeiten, Einheit des Straf-
rechts, des Handelsrechts, des Heimathsrechts mit voller Freizügigkeit.
Zum Dritten Förderung der materiellen Intereſſen durch Einheit der
Münzen und Maße, durch eine Poſt- und Eiſenbahn-Ordnung, durch
Bundesconſulate, endlich durch „Ausdehnung des Zollvereins auf den
Bund“.
Hochſinnig, gedankenreich, formvollendet wie Alles was aus Rado-
witz’s Feder floß, litt die Denkſchrift doch an der traumhaften Unklarheit,
welche die ganze Nation, mit ſehr vereinzelten Ausnahmen, noch befangen
hielt; ſie lief doch hinaus auf die unmögliche Hoffnung, daß ein Bund
von ſouveränen Staaten, zu denen drei undeutſche Mächte gehörten, die
Macht einer nationalen Staatsgewalt ausüben ſollte. Und konnte der
König, der bisher der Hofburg jede Einmiſchung in ſeine Zollpolitik ſtand-
haft verweigert hatte, jetzt im Ernſt beabſichtigen, das größte Werk ſeines
Vaters zu zerſtören und den Zollverein, wie Metternich längſt wünſchte,
dem Bundestage unterzuordnen? Und dies in einem Augenblicke, da die
Hofburg ſich ſoeben anſchickte die alten Zollſchranken zwiſchen Ungarn und
den deutſch-böhmiſchen Kronländern aufzuheben und mithin unzweideutig
bekundete, daß Oeſterreich ſelbſt dem Zollvereine nicht beitreten wollte?
Friedrich Wilhelm ahnte auch dunkel, in welche Widerſprüche er ſich ver-
wickelte. Darum ließ er in der Radowitz’ſchen Denkſchrift ausſprechen, daß
er zunächſt eine Verſtändigung mit dem Wiener Hofe verſuchen, und wenn
ſie gelänge, die genauere Verabredung über die geplanten Reformen ent-
weder einem Fürſtencongreſſe oder dem Bundestage unter Oeſterreichs Füh-
rung überlaſſen wollte. Käme er in Wien nicht zum Ziele, dann dachte er
ſich, ſchweren Herzens freilich, allein an den Bundestag zu wenden. Miß-
länge auch dieſer Verſuch, dann ſollte Preußen „den Geiſt der Nation“
anrufen, die öffentliche Meinung über ſeine nationalen Pläne aufklären
und mit den gleichgeſinnten Bundesſtaaten gemeinnützige Sonderverträge,
[700]V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
nach dem Vorbilde des Zollvereins abſchließen, Verträge, welche ſpäterhin
dem geſammten Vaterlande zu gute kommen müßten. Alſo ſchien der
König endlich zu begreifen, daß die Erfüllung der nationalen Einheits-
wünſche jetzt die erſte Pflicht conſervativer Politik war; er ſchien ſich
den kühnen Gedanken zu nähern, welche zur ſelben Zeit Mathy in Heppen-
heim ausſprach. Aber es ſchien auch nur ſo. Friedrich Wilhelm wußte
nichts, er wollte nichts wiſſen von der radicalen Schärfe der großen
Gegenſätze deutſcher Politik, er wollte in tiefem Frieden, ohne mit Oeſter-
reich zu brechen, ſein Ziel erreichen; er ahnte nicht, daß der Zollverein
dem particulariſtiſchen Grundgedanken der Bundesakte ebenſo vollſtändig
widerſprach, wie einſt der Schmalkaldener Bund dem Weſen des heiligen
römiſchen Reichs, und die Hofburg folglich ein Syſtem preußiſch-deutſcher
Sonderverträge unmöglich gelaſſen hinnehmen konnte. Die Schlacht von
Pharſalus, die einſt König Friedrich den Deutſchen geweiſſagt hatte, mußte
geſchlagen werden, und Niemand glaubte an dieſe Nothwendigkeit weniger
als Friedrich’s Erbe.
Mit ſolchen Aufträgen ging Radowitz nach Wien, wo man ihn mit
der gewohnten nichtsſagenden Höflichkeit aufnahm. Kaum begonnen wurden
die Verhandlungen ſchon abgebrochen, da die italieniſchen Unruhen die
Hofburg in Verlegenheit brachten. Als abgeſagter Feind der fridericianiſchen
Politik verabſcheute Friedrich Wilhelm den „heidniſchen“ Grundſatz des
großen Königs, daß man die Bedrängniß des Gegners zum entſcheidenden
Schlage benutzen müſſe; auch hielt er das Haus Oeſterreich nicht für
einen Gegner, ſondern für einen treuen, nur leider etwas ſchwerfälligen
Freund. Metternich’s peinliche Lage zu mißbrauchen, ſchien ihm unchriſt-
lich. Außerdem hatte er Radowitz beauftragt, ſich mit dem Staatskanzler
über die gemeinſame Bekämpfung des ſchweizeriſchen Radicalismus zu
verſtändigen; und dieſen unſeligen Interventionsgedanken hielten beide
Mächte für ſo wichtig, daß die deutſche Politik dahinter zurückſtehen mußte.
Um die Schweizer Frage zuerſt in’s Reine zu bringen mußte der General
im December nach Berlin heimkehren und nachher noch nach Paris reiſen.
So ging für die deutſche Bundesreform wieder eine unſchätzbare Zeit
verloren. Erſt im Februar 1848 nahm der König ſeine Bundespläne
wieder auf. Am 1. März erhielt Radowitz die Weiſung, nochmals nach
Wien zu gehen und dort die ſofortige Einberufung eines deutſchen Fürſten-
congreſſes zu beantragen, der über die Bundesreform ſo wie über die
Kriegsgefahr des Augenblicks berathen ſollte. Da inzwiſchen die Nach-
richten von der Pariſer Revolution eingetroffen waren, ſo genehmigte
Metternich am 10. März den preußiſchen Vorſchlag. Aber ſchon nach
wenigen Tagen ſtürzte das alte Syſtem in Wien wie in Berlin zuſammen.
Die letzte Möglichkeit einer friedlichen Bundesreform war verſäumt, und
da die Welt von den tiefgeheimen Verhandlungen dieſes Winters kein
Wort erfahren hatte, ſo erſchien der längſt geplante Fürſtencongreß wieder
[701]Radowitz in Wien.
nur wie ein abgedrungenes Zugeſtändiß an die Revolution. Wie einſt
der dritte Friedrich Wilhelm durch alle die löblichen Pläne ſeiner erſten
Regierungsjahre den Tag von Jena nicht hatte abwenden können, ſo
mußte auch ſein Sohn erfahren, daß Vorſätze und Entwürfe in dem
harten Handwerk der Politik gar nichts bedeuten. Belaſtet mit einem
nur halb verdienten ſchlimmen Rufe trat der König in die Zeit des Auf-
ruhrs ein. —
[[702]]
Zehnter Abſchnitt.
Vorboten der europäiſchen Revolution.
Wenn eine vermorſchte politiſche Gewalt dem Untergange entgegen-
reift, dann wird ſie durch ein gerechtes Schickſal immer gezwungen, am
Rande des Grabes ihre ſittlichen Gebrechen noch einmal handgreiflich,
ſinnenfällig vor aller Welt zu offenbaren. Schwer hatte Europa ſeit den
Länderverkäufen des napoleoniſchen Zeitalters und des Wiener Congreſſes
unter der Willkür dynaſtiſcher Politik gelitten, ſo ſchwer, daß die republi-
kaniſchen Parteien, trotz der uralten monarchiſchen Ueberlieferungen unſeres
Welttheils, einiges Recht gewannen. Nun ſollte ſich, kurz bevor das alte
Syſtem ſtürzte noch einmal zeigen, welcher Nichtswürdigkeiten die dyna-
ſtiſche Staatskunſt fähig war, und dies ekelhafte Schauſpiel wurde auf-
geführt von den beiden Fürſtengeſchlechtern, die ſich ſelber für beſonders
freiſinnig und volksfreundlich erklärten, von den Häuſern Coburg und
Orleans. Zufrieden in dem Wahne, daß die wachſende Verſtandesbildung
jeden Fortſchritt der Menſchheit in ſich ſchließe, wähnte die neue Zeit
allen früheren Jahrhunderten auch ſittlich überlegen zu ſein. Die Hiſto-
riker redeten von jenem berüchtigten cyniſchen Briefwechſel, welchen einſt
Ferdinand der Katholiſche und der Tudor Heinrich VII. wegen der Ver-
heirathung ihrer Kinder geführt hatten, mit einer Verwunderung, als wäre
eine ſolche hochfürſtliche Gaunerei nur unter den Zeitgenoſſen Machiavelli’s
möglich geweſen. Jetzt mußten ſie lernen, daß die Civiliſation wohl die
Sitten verfeinert, aber an der Sündhaftigkeit der menſchlichen Natur gar
nichts ändert; ſie mußten zugeſtehen, daß jene beiden gewaltigen alten
Tyrannen neben den modernen conſtitutionellen Höfen von London, Paris
und Madrid nur wie zwei unſchuldige, kreiſelſpielende Knaben erſchienen.
Die Tage waren dahin, da die Welt ſich an der glorreichen Qua-
drupelallianz der freien Völker des Weſtens erbaut hatte. Jetzt da das
unglückliche Spanien vom Bürgerkriege zerfleiſcht darnieder lag, begann
man überall zu fühlen, daß die muthwillige Zerſtörung der monarchiſchen
Thronfolge ein Verbrechen iſt, weil ſie den Grund alles Rechts vernichtet;
und die Frage, wie das zerrüttete Land wieder eine geſicherte Dynaſtie
[703]Die Frage der ſpaniſchen Heirathen.
erlangen ſollte, beſchäftigte alle Höfe. Metternich ergriff nun den nahe
liegenden Gedanken, durch die Verheirathung der jugendlichen Königin
Iſabella mit Don Carlos’ Sohne, dem Grafen Montemolin die beiden
feindlichen bourboniſchen Linien zu verſöhnen und alſo die geſtörte Legi-
timität auf einem Umwege wieder herzuſtellen. Der greiſe Staatskanzler
hegte und pflegte dieſen Einfall mit Zärtlichkeit, er nannte ihn mon idée*)
und König Friedrich Wilhelm erklärte als begeiſterter Legitimiſt ſeine freu-
dige Zuſtimmung. Der Plan war theoretiſch ebenſo vortrefflich, wie der
Vorſchlag, den deutſch-däniſchen Streit durch ein auguſtenburgiſches König-
thum abzuſchneiden, doch leider auch ebenſo unausführbar; die beiden
Parteien haßten einander zu ingrimmig, unmöglich konnte Don Carlos,
obgleich er zu Gunſten ſeines Sohnes ſoeben abgedankt hatte, das Thron-
folgerecht ſeiner Nichte förmlich anerkennen.
Alſo mußte man nach einem anderen Stammhalter für Spanien
ſuchen. Nach coburgiſcher Weltanſchauung gebührte aber jede auf dem
Erdkreiſe erledigte Krone von Rechtswegen den Genoſſen des großen
Brüſſeler Heirathsgeſchäfts, und längſt ſchon hielt König Leopold ſeinen
Neffen, den Prinzen Leopold von Coburg-Kohary für den ſpaniſchen Thron
bereit. Der wurde ſchon 1841, als Königin Iſabella kaum elf Jahre alt
war, den preußiſchen Gäſten am Londoner Hofe allgemein als künftiger König
von Spanien bezeichnet.**) Ganz ausſichtslos ſchienen dieſe Anſchläge nicht;
denn da das Haus Coburg nach ſo vielen glückhaften Heirathen dem fran-
zöſiſchen Hofe ebenſo nahe ſtand wie dem engliſchen, ſo konnte man wohl
auf die Zuſtimmung Ludwig Philipp’s hoffen. Nur unter dieſer Voraus-
ſetzung wollte der belgiſche König, der mit beiden Weſtmächten in Freund-
ſchaft leben mußte, dieſen Heirathsentwürfen beipflichten. Am Tuilerien-
hofe erwachten dennoch bald Bedenken. Portugal wurde bereits von einem
Coburger regiert und von der engliſchen Handelspolitik mit der äußerſten
Roheit mißhandelt; unwillkürlich regte ſich die Befürchtung, daß ein co-
burgiſches Königthum in Madrid die geſammte pyrenäiſche Halbinſel der
engliſchen Herrſchaft überantworten müßte.
Trotz ihrer liberalen Redensarten blieben die Höfe der Weſtmächte
ganz befangen in den Gedanken der alten Cabinetspolitik. Im ſpaniſchen
Erbfolgekriege hatte Europa einſt Ströme von Blut nutzlos vergeudet,
weil die Höfe glaubten, daß Spanien unter bourboniſchen Königen zu
einer franzöſiſchen Provinz werden müſſe — eine Annahme, die doch
nachher keineswegs zutraf. So rechnete auch Ludwig Philipp, obgleich
er Spanien kannte, durchaus nicht mit dem furchtbaren Fremdenhaſſe dieſer
Nation, der eine ausländiſche Herrſchaft auf die Dauer rein unmöglich
machte. Nach den Gefühlen des Volkes, deſſen Schickſal entſchieden werden
[704]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
ſollte, fragte er ſo wenig wie der engliſche Hof; ihm genügte die Befürchtung,
daß ein Coburger in Madrid der franzöſiſchen Diplomatie vielleicht läſtig
werden könnte. Andererſeits verlockte ihn die Hoffnung, ſeiner geraubten
Krone durch eine große bourboniſche Familienverbindung Glanz und Herr-
lichkeit zu verſchaffen. Feierlich berief er ſich alſo auf den Utrechter Frieden,
kraft deſſen nur ein Nachkomme Philipp’s V. die ſpaniſche Krone tragen durfte,
und verlangte die Hand Iſabella’s für einen Bourbon aus dem ſpaniſchen
oder dem neapolitaniſchen Königshauſe; die Schweſter der Königin, Luiſe
wünſchte er mit ſeinem jüngſten Sohne dem Herzog von Montpenſier zu
vermählen. Dawider verwahrte ſich ebenſo entſchieden der engliſche Hof,
denn nach dem Utrechter Vertrage hätten alle Bourbonen, die nicht zum
Stamme Philipp’s V. gehörten, insbeſondere die Orleans jedem Erban-
ſpruche auf die ſpaniſche Krone entſagt. Welch ein Uebermaß politiſcher
Heuchelei! Der Utrechter Vertrag war ja längſt in Fetzen geriſſen, und durch
wen? Durch die beiden Weſtmächte ſelbſt! Sie hatten durch ihre Qua-
drupelallianz das auf dem Utrechter Vertrage ruhende ſaliſche Geſetz ver-
nichtet, das den direkten Nachkommen Philipp’s V. ausſchließlich die Thron-
folge zuerkannte, und nun beriefen ſich beide wetteifernd auf dieſen Vertrag,
den ſie ſelber zerſtört hatten. Wahrlich, Metternich hatte guten Grund,
über die vollendete Verlogenheit dieſer conſtitutionellen Muſterhöfe zu
ſpotten.
So lagen die Dinge, als Königin Victoria nach ihrer deutſchen Reiſe
(1845) nochmals in dem gaſtlichen Schloſſe Eu vorſprach. Sie hegte den
weiblichen Wunſch, mit Jedermann freundlich zu ſtehen und wurde von
dem Bürgerkönige mit väterlicher Zärtlichkeit behandelt. Da ließen ſich
denn die Königin und der Prinzgemahl — ſo geſtand Prinz Albert ſelbſt
im tiefſten Vertrauen ſeinem Bruder dem Herzog Ernſt — das unbe-
dachte Verſprechen abſchmeicheln, daß ſie allen ihren Einfluß gebrauchen
würden, um eine Heirath zwiſchen Iſabella und einem Bourbonen zu
Stande zu bringen.*) Dafür verhieß Ludwig Philipp, ſein Sohn Mont-
penſier ſolle mit der Infantin Luiſe erſt ſpäter Hochzeit halten, nicht eher
als bis Königin Iſabella Kinder hätte — offenbar eine ganz ſinnloſe
Zuſage, die nur von Neuem bewies, wie wenig dieſe liberalen Höfe von den
Empfindungen der Völker verſtanden; denn das ließ ſich doch mit Sicher-
heit erwarten, daß die Spanier, wenn die Ehe ihrer Königin kinderlos
blieb, einſtimmig und ſtürmiſch die Verheirathung der jüngeren Schweſter
fordern mußten. Beide Theile hielten ihre ſonderbaren Verſprechungen
unredlich. Prinz Albert hoffte, die bourboniſche Heirath würde ſich noch
[705]Franzöſiſche und engliſche Heirathscandidaten.
irgendwie zerſchlagen, und arbeitete insgeheim für ſeinen Vetter. Im
Frühjahr 1846 erſchien der coburgiſche Freier Leopold — ganz zufällig
— am Londoner Hofe und beſuchte ſodann — wieder ganz zufällig —
mit ſeinem Vater die coburgiſchen Verwandten in Liſſabon; zur ſelben
Zeit unternahm Herzog Ernſt von Coburg — wieder zufällig — eine Reiſe
nach Spanien. Dem Bürgerkönige war es doch nicht zu verargen, daß
er, ohnehin keine gläubige Seele, an ſo viele coburgiſche Zufälle nicht recht
glauben wollte und ſich nun auch ſeinerſeits aller Zuſagen entbunden hielt.
Die gehoffte bourboniſche Heirath ward aber durch die ſpaniſchen
Parteihändel ſehr erſchwert. Seit dem Sturze der Carliſten war das
Land in die beiden Heerlager der Progreſſiſten und der Moderados zer-
theilt. Espartero, der Führer der Progreſſiſten, bekannte ſeine engliſche
Geſinnung unverhohlen; er hatte die Garden aufgelöſt — was der Ober-
präſident Schön ſeinem Freunde Boyen als leuchtendes Vorbild liberaler
Geſinnungstüchtigkeit anpries — er hatte die Königin Mutter Marie
Chriſtine perſönlich gedemüthigt, ſie der Regentſchaft beraubt und eine
Zeit lang nach Frankreich vertrieben. Als Marie Chriſtine dann aus
dem Exile heimkehrte, blieb ſie den Progreſſiſten feind und hielt ſich,
wenn auch nicht unbedingt, zu der franzöſiſch geſinnten Partei, dem Ge-
neral Narvaez und ſeinen Moderados. Unter den drei bourboniſchen
Prinzen aber, welche allein auf die Hand Iſabella’s hoffen konnten,
wurde der eine, ein neapolitaniſcher Bruder der Königin Mutter, bald
als unmöglich aufgegeben. So blieben nur noch zwei ſpaniſche Infanten:
der ältere, der beſchränkt bigotte Herzog Franz von Cadix war ein fa-
natiſcher Moderado, der jüngere Bruder, Herzog Heinrich von Sevilla,
hatte ſich ſehr tief in progreſſiſtiſche Umtriebe eingelaſſen und ſich durch
ſeine radicale Frechheit mit beiden Königinnen gänzlich überworfen. Be-
greiflich alſo, daß der Bürgerkönig den franzöſiſch geſinnten Moderado
Franz begünſtigte.*)
So begann denn am Madrider Hofe ein wilder Parteikampf; die
beiden Geſandten Breſſon und Bulwer, beide gleich hitzig und gleich zank-
ſüchtig, befehdeten einander mit allen erdenklichen ſchlechten Künſten. Und
nun ward plötzlich noch ein dritter Faden in dieſen verfitzten diploma-
tiſchen Knäuel eingeflochten — durch Lord Palmerſton, der ſoeben in das
Cabinet eingetreten war. Wenn der Lord ruhig rechnete, ſo mußte er
die coburgiſche Candidatur unterſtützen, die für England doch vielleicht
vortheilhaft werden konnte. Körperlich war der friſche, kräftige Coburger
den beiden traurigen ſpaniſchen Infanten weit überlegen. Darum entſchloß
ſich Marie Chriſtine in einem Anfall mütterlicher Zärtlichkeit, ihre fran-
zöſiſchen Neigungen zu überwinden; ſie ſchrieb ſelbſt an den Herzog von
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 45
[706]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Coburg, um ſeinem Neffen die Hand ihrer Tochter förmlich anzubieten.
Trat der junge Coburger nunmehr raſch entſchloſſen als Freiwerber auf,
ſo konnte ihm der Sieg nicht fehlen. Palmerſton aber hegte noch von
den orientaliſchen Händeln her einen unverſöhnlichen Haß gegen Ludwig
Philipp und Guizot. Auf das Haus Coburg gab er nichts; der Prinz-
gemahl war ihm eher widerwärtig, weil deſſen höfiſcher Einfluß doch zu-
weilen die Allmacht des Cabinets zu beeinträchtigen drohte, und ſo ſchien
ihm auch der coburgiſche Heirathscandidat als naher Verwandter Ludwig
Philipp’s hochverdächtig. Er wollte Frankreich bekämpfen, um jeden Preis,
und, gewohnt wie er war, nur mit dem nächſten Augenblicke zu rechnen,
ſprach er ſich entſchieden für den Herzog Heinrich von Sevilla aus, weil
dieſer zur Zeit von der engliſch-progreſſiſtiſchen Partei unterſtützt wurde.
Dergeſtalt ward Englands Diplomatie gelähmt, das königliche Haus und
das Auswärtige Amt verfolgten verſchiedene Ziele; und alsbald zeigte ſich,
wie wenig die britiſche Krone für ſich allein noch vermochte. Gegen Pal-
merſton und Ludwig Philipp zugleich wagten die Coburger nicht vorzugehen;
nach langen Familienberathungen wurde Herzog Ernſt bevollmächtigt, der
Königin Mutter zu erwidern, daß die coburgiſche Heirath Angeſichts der
franzöſiſchen Feindſchaft nicht rathſam ſcheine. Alſo war Prinz Leopold
beſeitigt, der doch vielleicht vermocht hätte, ein äußerlich anſtändiges Haus-
weſen am Madrider Hofe zu begründen und das tief geſunkene Anſehen
des ſpaniſchen Königthums etwas zu heben.
Zum erſten male ſeit die Coburger die Politik der geſegneten Hy-
menäen trieben, mußten ſie einen fein eingefädelten Hochzeitsplan auf-
geben; entſcheidend war, daß der altbewährte Eheſtifter des Hauſes, König
Leopold, im Wettſtreite mit Frankreich ſeine untrüglichen Vermittlungs-
künſte nicht frei entfalten durfte. Aber auch Palmerſton erlitt faſt im
ſelben Augenblick eine Niederlage. Mit brutaler Rückſichtsloſigkeit hatte
er der jungen Iſabella einen Gatten ſeiner Wahl aufzuzwingen gedacht;
doch beide Königinnen erklärten wie aus einem Munde, von dem Rebellen
Heinrich von Sevilla wollten ſie nichts hören. Mithin blieb nur noch
der lächerlichſte der drei Freier übrig, Ludwig Philipp’s Candidat, Franz
von Cadix; und nun enthüllte ſich erſt das allerſchmutzigſte Geheimniß
dieſer ſchmutzigen Händel. Der Jämmerling Franz, wie Iſabella ihn
nannte, konnte niemals auf Nachkommenſchaft hoffen, ſchon der ſchrille
Klang ſeiner Fiſtelſtimme war der jungen Königin unerträglich. Eben-
deßhalb hatte ihn Ludwig Philipp auserkoren. Iſabella’s Ehe ſollte
kinderlos bleiben, damit nachher ihre Schweſter Luiſe und die Nachkommen
Montpenſier’s die Krone erhielten. Dies üppige, von Sinnenluſt glühende,
blutjunge Weib, die Tochter einer Marie Chriſtine, an einen Mann, der
kein Mann war, anzuſchmieden — zu einer ſolchen Teufelei hatten ſich
der ehrbare Bürgerkönig und ſein tugendhafter Miniſter Guizot entſchloſſen.
Sie ſiegten. Im October 1846 wurde Iſabella dem Infanten Franz
[707]Doppelhochzeit in Madrid.
vermählt, der zur Verherrlichung des Poſſenſpiels auch noch den Königs-
titel erhielt. Noch am ſelben Tage, aber ein wenig ſpäter ließ ſich die In-
fantin Luiſe mit dem Herzog von Montpenſier trauen, ſo daß der Tugend-
held Guizot unſchuldig verſichern konnten, die beiden Hochzeiten hätten
nicht gleichzeitig ſtattgefunden! Nun kam was jeder Menſchenkenner vor-
ausſehen mußte. Die junge Königin jagte ihren elenden Gatten ſchon
nach wenigen Wochen aus dem Palaſte und entſchädigte ſich ſodann reich-
lich mit verſchiedenen Günſtlingen; die Kinder blieben nicht aus, und da
dieſe Sprößlinge ihr Thronfolgerecht doch nur von der Mutter herleiten
konnten, ſo kam auf die Väter wenig an. Spaniens franzöſiſche Gönner
bewirkten alſo, daß dieſe Krone, die nach ſo vielen Freveln vornehmlich
der ſittlichen Kräftigung bedurfte, ganz in den Koth ſank und das Ma-
drider Schloß als eine Stätte geſchmackloſer Ausſchweifungen allgemein
verhöhnt wurde. Von einem politiſchen Einfluß des franzöſiſch geſinnten
ſogenannten Königs war keine Rede, Iſabella ſchwankte haltlos zwiſchen
den beiden hadernden Parteien; Montpenſier aber und ſeine Söhne
konnten als Fremdlinge niemals irgend ein Anſehen erlangen. Der
nächſte politiſche Zweck der mit ſo ſchnöden Mitteln erſtrebten Doppel-
heirath war mithin ganz verfehlt, und für den eitlen Glanz der großen
bourboniſchen Familienverbindung zeigte das conſtitutionelle Frankreich
auch nur wenig Sinn.
Gewaltig wirkte die Komödie der ſpaniſchen Irrungen auf Europas
geſammte Politik zurück. Die gerühmte Entente cordiale, die auch nach
den orientaliſchen Wirren noch nothdürftig zuſammengehalten hatte, ging
plötzlich ganz aus den Fugen. In offener Feindſchaft ſtanden die beiden
Weſtmächte einander fortan gegenüber. Ludwig Philipp ſchloß ſich noch
enger als bisher der reactionären Politik der Hofburg an; Palmerſton
aber zeigte ſich jetzt erſt ganz als Lord Feuerbrand, überall in der Welt
ſuchte er den Aufruhr gegen die conſervativen Mächte anzuſchüren. Der
heiligſte politiſche Grundſatz aller Briten, der Satz, daß nur England
berechtigt iſt andere Mächte zu belügen, war durch die abgefeimten Pariſer
Spieler gar zu gröblich verletzt worden, und mit der ganzen Entrüſtung
des betrogenen Betrügers ließ Palmerſton nunmehr ſeine Preſſe wider
die franzöſiſche Treuloſigkeit losfahren. Im Grunde hatten ſich beide Höfe
bei der gemeinſamen Mißhandlung ihres ſpaniſchen Schützlings gleich
würdelos betragen, Frankreich allerdings noch etwas unſäuberlicher als
England. Da der Tuilerienhof jedoch den Preis davon getragen hatte,
ſo erſchien er den Unkundigen als der allein ſchuldige Theil; die wüthenden
Anklagen der engliſchen Zeitungen hinterließen ſelbſt in Frankreich einen
ſo ſtarken Eindruck, daß der längſt geſchädigte Ruf des Julikönigthums
nun vollends zu Grunde ging, und das Selbſtlob der Guizot’ſchen Blätter
„überall iſt Frankreich geliebt und gefürchtet“ auch den Franzoſen wie
Hohn klang.
45*
[708]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
In ſeinem blinden Zorne verfiel Palmerſton ſogar auf den unge-
heuerlichen Gedanken, die Oſtmächte zur Vertheidigung des Utrechter Ver-
trages, den er ſelber einſt frevelhaft zerriſſen hatte, aufzufordern; ſie
ſollten gemeinſam mit England erklären, das Haus Montpenſier dürfe
nie die ſpaniſche Krone tragen, die ſich vielmehr fortan wieder nach dem
ſaliſchen Geſetze im Mannesſtamme des neuen Scheinkönigs vererben
müſſe!*) Das ſaliſche Geſetz erſt unter allen Gräueln des Bürgerkrieges
aufheben und es dann für die unberechtigte Weiberlinie wieder einführen
— das nannte man im frommen England Recht! Nicht ohne Ironie
nahmen die Höfe des Oſtens dieſe wunderſame Einladung auf. Sie
waren dem Utrechter Frieden nur allzu treu geblieben und hatten das
Thronfolgerecht Iſabella’s noch immer nicht anerkannt. Wenn aber Pal-
merſton jetzt behauptete, die ſpaniſche Doppelheirath ſei das Frechſte, was
Frankreichs Ländergier ſeit dem erſten Napoleon je gewagt, ſo konnten
ſolche Uebertreibungen doch nur Lächeln erregen; denn der Herzog von
Montpenſier war der jüngſte von fünf Brüdern, die zum Theil ſchon
Söhne beſaßen, alſo lag die Möglichkeit, daß die Kronen Frankreichs und
Spaniens jemals auf einem Haupte vereinigt würden, noch ganz außer-
halb aller menſchlichen Berechnung.
Der Czar, der von jeher die ſpaniſchen Wirren gering ſchätzte, meinte
hochmüthig: dieſer Hochzeitszwiſt biete doch keinen Anlaß, um jetzt die
illegitime Iſabella anzuerkennen, und ſein Neſſelrode witterte ſogleich heraus,
daß der befremdliche Annäherungsverſuch des engliſchen Hofes ſeinen Grund
allein in Palmerſton’s augenblicklicher Gereiztheit hätte.**) Faſt noch kühler
hielt ſich Metternich. Der wollte, wie Canitz bald errieth, in Krakau als
Löwe, in Spanien als Lamm auftreten, um den Bürgerkönig nur deſto
feſter an ſich zu ketten und in Italien wie in der Schweiz gemeinſam
mit Frankreich zu handeln; er bewahrte alſo, wie er ſich ſelbſt rühmte,
eine verſtändig abwartende Haltung.***)
Etwas bereitwilliger zeigte ſich der Berliner Hof, dem der getreue
Bunſen andächtig berichtete: in Spanien mächtig, würde Frankreich auch
am Po und am Rhein anmaßend auftreten, ſo verſicherten alle engliſchen
Miniſter.†) Die Hoffnung auf die traumhafte engliſche Allianz war
gerade jetzt in Berlin ſehr lebendig; immer wieder ſprach Canitz in ſeinen
Weiſungen von der Erneuerung des alten Vierbundes.††) Der König er-
klärte ſehr lebhaft: „Montpenſier’s Kinder werden Orleans und Mont-
penſiers und keine Infanten von Spanien ſein; folglich können ſie recht-
lich nie in Spanien folgen;“ er ließ ſich ſodann noch durch Leopold Ranke
[709]Zerfall des Bundes der Weſtmächte.
ein hiſtoriſches Gutachten ausarbeiten, das dieſer wohlbegründeten Rechts-
anſicht durchaus zuſtimmte.*) Schließlich drang doch Canitz durch mit
ſeinem nüchternen Rathe: wir wollen nicht Frankreichs Vorgehen billigen,
„aber auch uns nicht von Palmerſton in’s Schlepptau nehmen laſſen“
in einer Sache, die England unter aller Kritik behandelt hat.**) Die
Unſauberkeit dieſer ſpaniſchen Händel mußte den ſtolzen Höfen des Oſtens,
die den politiſchen Anſtand doch immer gewahrt hatten, durchaus ekelhaft
erſcheinen, und Canitz ſchrieb verächtlich: „Der Ehrenkönigstitel für den,
wie man ſagt, ſchlechten Beſchäler der Königin von Spanien iſt auch eine
Geburt der Jetztzeit.“***)
Alſo ward Palmerſton von den Oſtmächten kalt abgewieſen, und nun-
mehr entſchloß er ſich, wie er dem allezeit gläubigen Bunſen ſagte, den
diplomatiſchen Krieg gegen Frankreich auf einer breiteren Baſis zu führen,
auf der Baſis der bürgerlichen und religiöſen Freiheit, welche Canning vor
zwanzig Jahren auf ſein Banner geſchrieben hätte.†) Seine Wuth gegen
Guizot zeigte ſich in der Krakauer Zwiſtigkeit, wo er jeden gemeinſamen
Proteſt der Weſtmächte hintertrieb, ſie zeigte ſich in Pera und Athen, wo
die Geſandten der beiden Mächte beſtändig mit einander rangen, ſie zeigte
ſich am deutlichſten in Portugal, wo Palmerſton einen neuen Aufſtand gegen
die gute Königin Maria ſogar mit den Waffen unterſtützte und ſchließ-
lich die grauſame Handelsherrſchaft Englands feſter denn jemals auf-
richtete. —
Aber auch Mitteleuropa bot der Stellen genug, wo der Lord Feuer-
brand die Minen der Revolution legen konnte. Gerade die Macht, die
bisher in der Staatengeſellſchaft ein unnatürliches Uebergewicht behauptet
hatte, zeigte ſich jetzt unter allen am ſchwächſten; in den anderen Groß-
mächten bekämpften ſich nur Parteien, in Oeſterreich ſchien der Beſtand
des Gemeinweſens ſelber bedroht. Die alte Wahrheit, daß ein lebendiges
Nationalgefühl die ſicherſte Grundlage aller politiſchen Freiheit bleibt, mußte
ſich an dem Völkergemiſch des Donaureichs noch viel greller offenbaren als
an dem däniſchen Geſammtſtaate; ſobald der alte Abſolutismus erſchlaffte
und die conſtitutionellen Ideen ſich regten, erwachten auch nothwendig die
centrifugalen Kräfte in dieſem Gemeinweſen, von dem die Lombarden
ſagten: es iſt kein Staat, ſondern nur eine Familie. Unter allen den
Nationalitäten, welche dem Kaiſerthum angehörten, gebot keine, nicht ein-
mal die Geſammtheit der Slavenſtämme, auch nur über die Mehrheit
der Kopfzahl, und unter allen waren nur zwei gut öſterreichiſch geſinnt:
die Deutſchen, die doch kaum ein Viertel der Geſammtheit ausmachten,
[710]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
und das kleine Ruthenenvolk in Galizien. Während die ſubgermaniſchen
Stämme der Magyaren, der Slaven, der Walachen, die ihre ganze Cul-
tur den Deutſchen verdankten, jetzt, zu jugendlichem Selbſtgefühl erwacht,
ihre alten Lehrer mit dem unvermeidlichen hiſtoriſchen Undank belohnten,
beſaßen die italieniſchen Provinzen längſt ihre ſelbſtändige, der deutſchen
ebenbürtige Cultur, ſie blieben dem Geſammtſtaate ganz fremd und waren
nicht einmal, wie die Donaulande, durch eine geographiſche Nothwendig-
keit auf die anderen Kronländer angewieſen.
In Preußen hatte der kurze Vereinigte Landtag das Bewußtſein der
Staatseinheit wunderbar gekräftigt; in Oeſterreich konnten dieſelben Ge-
danken, welche den nationalen Staat Preußen ſtärkten, dem Beſtande des
Reichs nur gefährlich werden. Dieſen einfachen Unterſchied verkannte
Metternich ganz, da er von nationalen Empfindungen nichts wiſſen wollte;
er betrachtete Preußen, Oeſterreich-Ungarn, Schweden-Norwegen, Däne-
mark-Holſtein als weſentlich gleichartige zuſammengeſetzte Staaten, deren
Einheit nur durch die Geſammtregierung dargeſtellt würde. Freiherr
v. Andrian aber, ein Tyroler Edelmann von gemäßigt-liberaler Geſinnung,
der „die Hervorrufung einer öſterreichiſchen Nationalität“ dringend wünſchte,
ſprach in ſeinem vielgeleſenen Buche „Oeſterreich und deſſen Zukunft“
(1841) ehrlich aus: was in Oeſterreich Macht hat iſt nicht das Volk und
die öffentliche Meinung, nicht der Adel, auch nicht die Bureaukratie, am
wenigſten von allen der Kaiſer, ſondern die Gewohnheit. So ſtand es
wirklich. Das greiſenhafte Triumvirat der Staatsconferenz, das im
Namen des blödſinnigen Kaiſers regierte, gab kaum noch ein Lebenszeichen
von ſich. Der bequeme Erzherzog Ludwig fand Metternich’s lange lehr-
hafte Vorträge ſehr läſtig, Graf Kolowrat aber begegnete dem Staats-
kanzler mit einem Haſſe, der ſich kaum noch in den Schranken geſell-
ſchaftlicher Höflichkeit hielt. Nach ſtillſchweigender Uebereinkunft der Trium-
virn wurden die Berathungen der Staatsconferenz immer ſeltener, die
Dinge ſchleppten ſich weiter ohne eine wirkliche Regierung. Die Nichtig-
keit der Centralgewalt war ſo unheilbar, daß der Statthalter des Küſten-
landes, der geiſtreiche Graf Franz Stadion ſich endlich entſchloß, ſeinem
Kronlande auf eigene Fauſt die dringend nöthige neue Gemeindeordnung
zu verleihen, weil aus Wien doch keine Antwort kam. Zugleich wuchs
am Hofe die Macht der ſtreng ultramontan geſinnten Damen. Die beiden
bairiſchen Schweſtern, die Kaiſerin Wittwe und die Erzherzogin Sophie
gewannen auch die beſcheidene Gemahlin des regierenden Kaiſers für ſich;
ſie bewirkten, daß die Verlobung des Erzherzogs Stephan mit der Groß-
fürſtin Olga nicht zu Stande kam, weil ſie keine akatholiſche Erzherzogin
dulden wollten*); ſie erzwangen, daß Metternich, ganz gegen ſeine früheren
[711]Oeſterreichs Nöthe.
Grundſätze, die Jeſuiten in Innsbruck und anderen Städten zuließ; ſie
übergaben die Erziehung des jungen Thronfolgers, des Erzherzogs Franz
Joſeph, den clericalen Grafen Bombelles und Grünne.
Die althergebrachte Finanznoth verſchlimmerte ſich beſtändig, da die
geheime Polizei und die militäriſche Bewachung der Lombardei, Venedigs,
Galiziens ungeheure Summen verſchlang und Niemand die Steuerkraft der
fruchtbaren Kronländer zu wecken verſtand. Schon in den erſten fünfund-
zwanzig Jahren ſeit dem Wiener Congreſſe vermehrte ſich die Staats-
ſchuld, nach Abzug der Tilgungen, um 441 Mill. Gulden — ohne einen
Krieg, ohne irgend welche productive Staatsausgaben. Und ſo ging es
weiter. Der getreue Wiener Rothſchild, das große, durch die Getreide-
aufkäufe der Theuerungsjahre unermeßlich bereicherte Bankhaus Sina und
andere Börſenfürſten brachten den Staat in eine ſchimpfliche Knechtſchaft,
und die lachluſtigen Wiener ſprachen gern das neue Pariſer Witzwort
nach: die Börſe hält den Staat ſo wie der Strick den Gehenkten hält.
Als die bedrängte Staatsconferenz den Aufkauf der Privateiſenbahn-Aktien
einzuſtellen beſchloß, da erſchien Rothſchild mit einigen Genoſſen perſön-
lich beim Erzherzog Ludwig und betheuerte, ſie könnten die ausbedungenen
Einzahlungen auf die letzte Anleihe nicht mehr leiſten, ja ſie müßten
Hungers halber alle ihre k. k. Staatspapiere an der Börſe verkaufen —
worauf dann ſofort der Beſchluß gehorſam zurückgenommen wurde.*)
Währenddem begann ſelbſt der adliche niederöſterreichiſche Landtag,
in dem die Städte gar kein Stimmrecht beſaßen, eigene Gedanken zu
äußern. Die Zeit war nicht mehr, da Jedermann behaglich das große
Wort Bäuerle’s wiederholt hatte: ’s giebt nur a Kaiſerſtadt, ’s giebt nur
a Wien. Die liberalen Ideen aus Deutſchland drangen unaufhaltſam
ein, obſchon eine wirkliche Kenntniß deutſcher Zuſtände den Oeſterreichern
noch immer gänzlich fehlte; die Zollbehörden ſelber hatten ihre ſtille Freude
daran, wenn die Grenzboten und der Rotteck-Welcker über die Grenze
gepaſcht wurden. In den wiſſenſchaftlich verwahrloſten Gelehrtenſchulen
herrſchte ein ganz oppoſitioneller Geiſt, die Schüler wurden für die Stu-
dentenpolitik der Revolutionszeit gradezu erzogen. Dieſen volksthümlichen
Stimmungen und zumal der zungenfertigen großſtädtiſchen Kritik der
Wiener konnten ſich die Stände Niederöſterreichs auf die Dauer nicht
mehr entziehen. Seit 1845 etwa unterſtanden ſie ſich zuweilen zu reden,
was ſie ſeit zweihundert Jahren nicht mehr gewagt hatten, ſie verlangten
eine landwirthſchaftliche Creditanſtalt, dann eine angemeſſene Vertretung
der Städte, endlich gar ein Recht des Beiraths bei neuen Geſetzen. Das
Alles ward doch bekannt, obgleich die Zeitungen nichts melden durften,
Metternich und ſeine Beamten ſich in tiefes Schweigen hüllten.
Canitz ſelbſt, damals noch Geſandter, konnte ſich nicht enthalten dem
[712]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Fürſten vorzuſtellen: Müßiggang iſt aller Laſter Anfang, dies war bisher
das Loos der Landtage Oeſterreichs; dieſe erſten Regungen ſtändiſchen
Willens ſind ein Zeichen politiſcher Geſundung; eine conſervative Politik
muß die Rechte der Stände anerkennen und geſetzlich regeln, damit ſie als
Stütze, nicht als Hemmniß dienen.*) Auf Augenblicke fühlte auch Metter-
nich, daß man mit dem alten Syſteme der Todtenſtille nicht mehr weiter kam.
Durch Preußens Vorgang ermuthigt, veranſtaltete die Regierung (1845)
die erſte öſterreichiſche Gewerbeausſtellung; in der kläglichen Eröffnungs-
rede des armen Kaiſers war freilich weder von Oeſterreich noch von einer
Staatsgeſinnung die Rede. Gleich nachher erſchien ein Folioband „Sta-
tiſtiſche Tabellen der öſterreichiſchen Monarchie“, natürlich nur in wenigen
Exemplaren für die hohen Beamten; doch da die fremden Geſandten ſich
ſehr wißbegierig zeigten, ſo verfiel Metternich ſchon auf die verwegene
Frage, ob man den Band nicht dem Buchhandel anvertrauen ſolle.**) Es
war vorbei mit der alten patriarchaliſchen Gemüthlichkeit. Selbſt der
Tyroler Landtag hallte von lebhaften Reden wieder ſeit die Clericalen
ſich zu einer geſchloſſenen Partei geſchaart hatten. Galizien blieb ſeit der
Einverleibung Krakaus in allen Tiefen aufgewühlt; drohender denn je
erklang das altnationale Sprichwort: ſo lange die Welt Welt bleibt, wird
der Pole nie des Deutſchen Bruder.
Weit folgenreicher noch wurde die zugleich nationale und liberale
Bewegung in Böhmen. Die Czechen waren aus ihrem Schlummer längſt
erwacht. Sie wendeten, wie alle wiedererſtehenden Völker, ihre phantaſtiſche
Sehnſucht der älteſten Vorzeit zu und ſchwärmten, froh ihrer neu ent-
deckten, echten und gefälſchten Geſchichtsquellen, für ihre Königin Libuſſa, für
die ſiegreichen Bauernſchlachten der Huſſitenkriege, für König Podiebrad und
alle die anderen Helden des vormals ruhmreichſten aller Slavenvölker;
ſie fanden in dem evangeliſchen Pfarrer Johann Kollar ihren erſten
Apoſtel, dann in Schaffarik, Hanka, Palacky begeiſterte patriotiſche Ge-
lehrte, in Havlicek einen gewandten Publiciſten, der durch herzzerreißende
Schilderungen des iriſchen Elends die Cenſur zu täuſchen verſtand, obgleich
alle ſeine Leſer wußten, daß er unter Irland immer das Czechenland meinte.
Viele der mächtigen Condottierengeſchlechter, welche Kaiſer Ferdinand II. einſt
in das unterworfene Böhmen verpflanzt hatte, wendeten ſich dem Czechen-
thum zu, desgleichen ein großer Theil des Clerus, der ja immer, von ſeinem
ſicheren Machtgefühle geleitet, für das minder gebildete Volksthum eintritt.
Den Deutſchen aber gereichte zum Unheil, daß die Juden ſich meiſt zu ihnen
hielten und nun der wüthende Judenhaß des ausgewucherten czechiſchen
Landvolks den Deutſchenhaß noch verſchärfte. Auf ihrer weit in das
deutſche Land hineingeſchobenen Vorpoſtenſtellung fühlten ſich die Czechen
[713]Die Czechen.
nicht ſicher, und da der Czar mit dem Papſte die Eigenthümlichkeit theilte,
daß die Nationen ihn um ſo mehr verehrten, je weiter ſie von ihm entfernt
lebten, ſo wurde Böhmen die Pflanzſtätte des Panſlavismus. Mit der
Begeiſterung für die Wenzelskrone und den weißen Löwen verbanden ſich
unklare Träume von der unermeßlichen Zukunft der großen ſlaviſchen
Völkerfamilie, die jetzt erſt ihren Morgen erlebe, während die Deutſchen
ſchon in das Mittagslicht, die Romanen ſchon in die Abenddämmerung
ihrer Geſchichte eingetreten ſeien. Derweil dieſer nationale Kampf den
Landfrieden bedrohte, fanden ſich die beiden feindlichen Völker in den libe-
ralen Zeitwünſchen doch immer wieder zuſammen. Der Prager Landtag
forderte Reform des Hypothekenweſens, Ablöſung der Roboten, Aufhebung
des Lotto’s, ja ſogar eine ſehr beſcheidene Preßfreiheit, er wagte mehrmals
ſeine Beſchwerden durch Abgeſandte dem Kaiſer ſelbſt zu überreichen, was
ſeit einem halben Jahrhundert nicht mehr geſchehen war. Solche Lebens-
zeichen der alten, ſchon ganz todt geglaubten Poſtulatenlandtage erſchreck-
ten den Staatskanzler, und er beſchäftigte ſich wieder mit der Frage,
die er ſchon vor dreißig Jahren aufgeworfen hatte, ob man nicht den
Ständen aller Kronländer in einem kleinen Ausſchuſſe eine unſchädliche
gemeinſame Vertretung ſchaffen müſſe. Doch auch jetzt wagte er nicht
den alten Gedanken zu verwirklichen.
Das Alles bedeutete noch wenig neben dem Sturme der nationalen
Leidenſchaften, der die Länder der Stephanskrone durchtoſte und die waffen-
gewaltigere Hälfte der Monarchie von dem Kaiſerſtaate loszureißen drohte.
Obgleich Metternich ſeit ſeiner Ehe mit Melanie Zichy den ungariſchen
Magnaten etwas näher getreten war, ſo hielt er doch nie für nöthig die
Nationalitäten des Kaiſerreichs in ihrer Eigenart kennen zu lernen; er
urtheilte über die ſubgermaniſchen „Bedientenvölker“ mit demſelben ver-
ſtändnißloſen Hochmuth wie die Wiener Poſſendichter, die jeden Ungarn
als einen Tölpel, jeden Czechen als einen kriechenden Schuft verhöhnten.
Dem preußiſchen Geſandten ſagte Metternich oft: eingefleiſchte Dummheit
iſt der eigentliche Nationalcharakter der Ungarn. Und doch verſtand der
in langen Kämpfen parlamentariſch geſchulte magyariſche Adel ſein Ueber-
gewicht über die anderen Völker der Stephanskrone mit maßloſem natio-
nalem Hochmuthe und zugleich mit der erfahrenen Klugheit eines Herren-
volkes zu behaupten. Weder die Südſlaven in den Nebenlanden, die ſchon
von einem dreieinigen Königreich Illyrien träumten, noch die Slovaken in
den Karpathen noch die Deutſchen zeigten ſich der magyariſchen Herrſcherkunſt
gewachſen. Nur die treuen proteſtantiſchen Sachſen Siebenbürgens und
die Koloniſten im Banat hielten feſt an ihrem deutſchen Volksthum, die
Schwaben des weſtlichen Ungarns hatten ſich allezeit durch fremdbrüder-
lichen Schwachſinn ausgezeichnet. Die Juden aber, die hier im Lande
der wirthſchaftlichen Sorgloſigkeit für unentbehrlich galten, witterten ſchon
woher der Wind wehte und drängten ſich an die Magyaren heran.
[714]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Noch im Jahre 1833 hatte der Reichstag die Frage aufgeworfen, ob
nicht zur Beſprechung der großen gemeinſamen wirthſchaftlichen Intereſſen
eine Notabelnverſammlung aus Ungarn und den deutſch-böhmiſchen
Kronländern einberufen werden ſollte; die Staatsconferenz war jedoch
über dieſen Vorſchlag, der für die Einheit des Kaiſerſtaates vielleicht
folgenreich werden konnte, mit gewohntem Stumpfſinn hinweggegangen,
und ſeitdem zog Ungarn ganz ſeines eigenen Weges. Ungarn war nicht,
ſondern wird erſt, ſo ſagte der gefeierte „größte der Ungarn“, Graf Stephan
Szechenyi. Mit beſtimmter politiſcher Abſicht und mit bewunderungs-
würdiger Thatkraft, ſo wie einſt die Holländer ihren Seemannsdialekt
zur Schriftſprache ausgebildet hatten, ſuchten die Magyaren durch eine
rührige Literatur, durch Schulen, Theater, Zeitungen, durch zahlloſe ge-
meinnützige Unternehmungen ihr unfertiges Volksthum zu der Höhe der
Culturvölker emporzuheben, das deutſche Ofen ward bald von dem ma-
gyariſch-jüdiſchen Peſth weit überflügelt. Der ungariſche Parlamentaris-
mus erlebte ſeine Blüthezeit. Große Rednertalente traten auf: neben
Szechenyi der geiſtreiche politiſche Schriftſteller Graf Eötvös, dann der
ſchlichte kleine Landedelmann Franz Deak, der bald allgemein als das
gute Gewiſſen der Nation verehrt wurde, und, Alle übertobend, der feurige
Demagog Ludwig Koſſuth. Drei Ziele ſtanden der nationalen Partei
mehr oder minder deutlich vor Augen: Herrſchaft des Magyarenthums,
Selbſtändigkeit der Stephanskrone neben den weſtlichen Kronländern, end-
lich Umwandlung der ſchwerfälligen avitiſchen Ständeverfaſſung in ein
modernes Repräſentativſyſtem. Auf dem Reichstage von 1843 errang ſie,
weſentlich durch Koſſuth’s Verdienſt, den entſcheidenden Erfolg: die neu-
trale lateiniſche Staatsſprache, die ſeit Jahrhunderten die Völkerſchaften
der Stephanskrone in erträglichem Frieden beiſammen gehalten hatte, wurde
beſeitigt und durch die Sprache des magyariſchen Herrenvolkes erſetzt. Die
gute Zeit war dahin, da der Bauer den Edelmann mit dem altgewohnten:
bonum matutinum domine! begrüßte. Obgleich das Deutſche ſich nach dem
unzerſtörbaren Rechte der überlegenen Bildung noch immer als die all-
gemeine Verkehrsſprache behauptete, ſo ſollten doch die Deutſchen, die
Slaven, die Rumänier ſich fortan einer ihnen ganz unbekannten, erſt halb
entwickelten Amtsſprache bedienen, und im Reichstage konnte die wort-
und bilderreiche nationale Beredſamkeit, die bisher durch das ſchwerfällige
Latein doch einigermaßen gedämpft worden war, ſich fortan in der eigen-
thümlich rollenden, polternden Heftigkeit magyariſcher Sprechweiſe ganz
ungezügelt ergehen.
Ein Krater nationaler Zwietracht that ſich auf, die nichtmagyariſche
Mehrheit des Königreichs fühlte ſich tödlich beleidigt, der Agramer Sonder-
landtag verlangte für ſich ſofort die kroatiſche Sprache. Die ſiegestrunkenen
Magyaren aber eilten vorwärts, von einer nationalen Forderung zur
anderen. In dem ſtreng calviniſchen Kleinadel ward der alte Haß gegen
[715]Magyariſche Bewegung.
das katholiſche Herrſcherhaus nochmals lebendig; man entſann ſich wieder
der ſchrecklichen Zeiten, da halb Ungarn gerufen hatte: lieber türkiſch
als öſterreichiſch. Gut kaiſerlich dachte nur noch ein Theil der Magnaten
und des hohen Clerus; dazu noch mit halbem Herzen die Kroaten und
die ſiebenbürgiſchen Sachſen. Zu allem Unglück ſtarb im Januar 1847
der greiſe Palatinus Erzherzog Joſeph, den die Hofburg von langeher wie
einen anderen Rebellen Rakoczy beargwöhnte; er hatte, ſeit einem halben
Jahrhundert in Ungarn heimiſch, mit beſcheidenem Talent aber ehrlichem
Wohlwollen die nationalen Gegenſätze doch noch leidlich unter der Glocke
gehalten. Als Nachfolger war nur ſein Sohn Erzherzog Stephan möglich,
ein liebenswürdiger, gutherziger, in allen erdenklichen Wiſſenſchaften als
Dilettant bewanderter junger Herr. Viele hielten ihn, da das kaiſer-
liche Haus an Talenten ſo arm war, für einen großen Staatsmann und
dachten ihm dereinſt die Stelle des kläglichen Triumvirn Erzherzogs Ludwig
zu; doch er geizte nach Volksgunſt, es war kein feſter Kern in ihm, und
nicht ohne ſchwere Beſorgniß ließ Metternich den Unerfahrenen in dies
Chaos nationaler Leidenſchaften hinüberziehen. Im November 1847 wurde
der Reichstag durch den traurigen Kaiſer-König zum erſten male in ma-
gyariſcher Sprache eröffnet; aber obwohl der König ſich zu mehreren ver-
ſtändigen Reformen erbot, ſo begann doch Koſſuth ſofort einen wüthenden
Kampf gegen das bettelhafte Privilegium der adlichen Steuerfreiheit, und
die Mehrheit des Hauſes zeigte ſich der Krone entſchieden feindlich. In
halbbarbariſchen Ländern verbreiten ſich die Gedanken des Widerſtandes
mit geheimnißvoller Schnelligkeit; Ungarn war, ohne daß man es zu Wien
noch ahnte, im Frühjahr 1848 ſchon ebenſo reif für einen großen Auf-
ſtand, wie ſpäterhin im Sommer 1866.
Was vermochte der Hof den gewaltigen centrifugalen Kräften aller dieſer
Nationen entgegenzuſtellen, die noch dazu, mit einziger Ausnahme der Ma-
gyaren, ſämmtlich ſehnſuchtsvoll nach den Stammgenoſſen jenſeits der
Reichsgrenzen hinüberſchauten? Wahrhaftig nicht die deutſche Bildung,
die, im geſelligen Leben allezeit unentbehrlich, doch unter dieſer Regierung
ihre eigenſte Kraft niemals frei entfalten durfte. Noch weniger die Bu-
reaukratie. Sie wurde von Metternich belobt, weil ſie keinen ſolchen „Ueber-
fluß an ſchoflen Elementen“ enthielte wie das preußiſche Beamtenthum;
und allerdings konnten die k. k. Hof- und Gubernialräthe unmöglich irgend
eines eigenen Gedankens verdächtigt werden, doch wer durfte ſich in Tagen
der Gefahr auf dies ſeelenloſe, nachläſſige, beſtechliche Schreibervolk ver-
laſſen? Die kräftigſte Stütze des Reichs blieb das Heer, das ſich auch
unter Metternich’s unmilitäriſchem Regimente den alten Stolz bewahrte.
Zumal die deutſchen Offiziere, die aus den Kleinſtaaten und aus Preußens
katholiſchen Provinzen noch immer herbeikamen, kannten keine andere Hei-
math als die ſchwarzgelben Fahnen; nur auf die magyariſchen und einige
der polniſchen Regimenter ließ ſich nicht mehr mit Sicherheit rechnen.
[716]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Auf dieſem Heere ruhte für jetzt Oeſterreichs ganze Zukunft. Das
zeigte ſich nirgends greller als in Italien, das ſchon ſeit Jahren that-
ſächlich nur durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand im Zaume ge-
halten werden konnte. Ein erhebender Anblick, wie nunmehr die beiden
großen Nationen Mitteleuropas zu gleicher Zeit der Erfüllung ihrer Ge-
ſchicke, dem leuchtenden Ziele der nationalen Einheit zuſtrebten, beide
durchdrungen von dem ſtolzen Gefühle, daß ſie den Idealismus in der
Menſchheit vertraten. Dieſſeits wie jenſeits der Alpen zeigte die natio-
nale Bewegung manche verwandte Züge: die gleiche jugendliche Be-
geiſterung und die gleiche phantaſtiſche Unklarheit. Die Macht und die
Berechtigung der republikaniſchen Erinnerungen in dieſem claſſiſchen Lande
der Städte erſchwerte den Italienern mehr als den Deutſchen, die Wahn-
gebilde des Radicalismus zu durchſchauen, der hier noch immer in Mazzini
einen unvergleichlich kühnen und geiſtvollen Apoſtel beſaß. Andererſeits
konnten ſie ſchneller als die Deutſchen den letzten Grund ihrer Leiden er-
kennen. Deutſchland litt unter einer verhüllten Fremdherrſchaft, deren tiefe
Unwahrheit erſt von wenigen hellen Köpfen ganz gewürdigt wurde. Italien
ſchmachtete unter dem Drucke einer auswärtigen Macht, welche der alten
Cultur der Halbinſel immer fremd bleiben mußte; unter allen ſeinen Fürſten-
geſchlechtern war nur eines, das Haus Savoyen italieniſch. Jeder Patriot
hörte mit brennender Scham die Mahnung Caeſar Balbo’s: die Unab-
hängigkeit iſt für eine Nation was die Schamhaftigkeit für ein Weib —
bis endlich Giuſti Allen aus dem Herzen ſang: Delenda Carthago! Wir
wollen keine Oeſterreicher!
Seit die Tricolore des Königreichs Italien die Parteifarben der Car-
bonari ganz verdrängt und die ernſten, thatkräftigen Stämme des Nordens,
Piemonteſen und Lombarden, den hitzköpfigen Südländern die Leitung
der nationalen Politik aus der Hand genommen hatten, begannen die
Köpfe ſich zu ernüchtern. Piemont, das geſchmähte Böotien der Halb-
inſel war endlich erwacht und ſchenkte den Italienern ihre wirkſamſten
politiſchen Schriftſteller. Der Abbate Gioberti predigte in ſeinem Buche
vom Primat Italiens eine neue welfiſche Lehre: er feierte das von allen
Patrioten ſeit Dante’s und Machiavell’s Zeiten verwünſchte Papſtthum
als eine gloria italiana, genau ſo wie viele deutſche Enthuſiaſten, König
Friedrich Wilhelm voran, den natürlichen Feind der nationalen Einheit,
das Haus Oeſterreich noch immer als das heilige Erzhaus verehrten.
Dennoch förderten dieſe traumhaften neoguelfiſchen Doktrinen die politiſche
Erziehung der Nation: ſie zeigten doch zum erſten male die Möglichkeit,
daß Italien auf geſetzlichem Wege, ohne gewaltſamen Umſturz, durch einen
Fürſtenbund unter dem Primat des Papſtes, wieder erſtarken könne. Da-
rum mochten auch die beiden tapferen piemonteſiſchen Edelleute, die jetzt
über Italiens Hoffnungen ſchrieben, den Gedanken des phantaſtiſchen
Abbate nicht gradehin widerſprechen: Graf Cäſar Balbo mahnte mit alt-
[717]Italiens Erhebung. Pius IX.
römiſcher Strenge ſeine Landsleute zu ſittlicher Ermannung, zu kriegeriſcher
Abhärtung, Maſſimo d’Azeglio verlangte angeſichts der Unruhen in der
päpſtlichen Romagna verſtändige Reformen in Rechtspflege und Polizei-
verwaltung.
Nun fügte es ein ironiſches Spiel des Schickſals, daß alle die ſeltſamen
Träume der Neoguelfen ſich plötzlich zu erfüllen ſchienen. Nach dem Tode
Gregor’s XVI., im Sommer 1846 beſtieg Cardinal Maſtai Ferretti als
Pius IX. den römiſchen Stuhl, ein weichmüthiger, wohlwollender, eitler, ge-
dankenarmer Mann von ſchwachem politiſchem Verſtande, italieniſch geſinnt
ſo weit ein Papſt es durfte, ehrlich gemeint mit aller Welt in Frieden zu leben.
Er begann ſeine Regierung mit einer hochherzigen Amneſtie, und da die
Erſcheinung eines Papſtes, der ſeine Feinde nicht auf die Galeeren ſchickte,
ſeit Langem unerhört war, ſo entwarf ſich die ungeduldige Nation als-
bald ein Idealbild von dem liberalen und nationalen Papſte, ganz ſo wie
die Deutſchen ſich den alten Erzherzog Johann wegen eines halbmythiſchen
Trinkſpruchs idealiſirt hatten. Seit jenem Tage, da die Amneſtirten mit
Palmenzweigen in den Händen den Wagen des „Engels der Freiheit“
durch den feſtlich geſchmückten Corſo geleiteten, lebte Rom anderthalb
Jahre hindurch wie in einem ewigen Rauſche. Immer wieder führte der
Pöbelkönig, der Vetturin Ciceruacchio mit der dreifarbigen Fahne ſein
Römervolk dem vergötterten Pontifex vor. Auch die Fremden widerſtanden
dem allgemeinen Taumel nicht; einmal trug der Sohn des Hiſtorikers,
Marcus Niebuhr, der bei König Friedrich Wilhelm in beſonderer Gnade
ſtand, an der Spitze der deutſchen Colonie die ſchwarzrothgoldene Fahne
feierlich auf das Capitol. Der Ruf Evviva Pio Nono wurde bald zum
Loſungsworte aller Patrioten. Metternich klagte, dieſer Hoheprieſter würfe
den Pechkranz in das Gebäude der ſocialen Ordnung, und nicht lange,
ſo erſchien ſogar ein Geſandter des liberalen Sultans um dem liberalen
Papſte die Verehrung des Großtürken auszuſprechen.
Bisher hatte Pius nur einmal die Gelegenheit gehabt einen politiſchen
Entſchluß zu faſſen: vor langen Jahren ſchon, da er als Biſchof in der Ro-
magna den Umſturzplänen der jungen Prinzen Napoleon tapfer entgegen-
getreten war. Jetzt ſtand er, obwohl ihm die Kundgebungen der Volksgunſt
in tiefſter Seele ſchmeichelten, ängſtlich und rathlos vor ſchweren Aufgaben,
welche weit über das Maß ſeiner Begabung hinausgingen. Wer hätte damals
geahnt, daß aus dieſem guten Manne dereinſt noch der hochmüthigſte aller
Päpſte werden ſollte? Er ahnte dunkel, daß einige Reformen unvermeidlich
waren, etwa im Sinne des Bunſen’ſchen Memorandums vom Jahre 1831,
das die großen Mächte dem römiſchen Stuhle ſo oft zur Beherzigung vor-
gehalten hatten*); doch er war Papſt und durfte den Laien niemals in
vollem Ernſt die Gleichberechtigung mit den Prieſtern gewähren. Noch
[718]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
weniger wollte er ſich an die Spitze eines italieniſchen Bundes ſtellen.
Solche nationale Ideen hatten wohl einſt, als die römiſche Kirche noch
die allgemeine Kirche des Abendlandes war, einen Alexander III., einen
Julius II. begeiſtert; nunmehr aber ſeit der ganze Norden Europas längſt
der Ketzerei verfallen war, mußte der Gedanke der kirchlichen Selbſtbe-
hauptung allen nationalen Rückſichten vorgehen. Am allerwenigſten dachte
Pius den Aufklärern und Freigeiſtern in der Kirche entgegenzukommen.
Er lebte und webte in ſtreng clericalen Anſchauungen, wenngleich er die
Härte der Partei Lambruschini’s tadelte, und zum erſten male ward er
mißtrauiſch gegen die römiſche Volksgunſt, als ſeine Verehrer den Ruf:
nieder mit den Jeſuiten! anſtimmten. Seitdem, ſeit dem Herbſt 1847
klagte er oft, man mißbrauche ſeinen Namen, und mahnte eindringlich
zum Gehorſam gegen jede beſtehende Obrigkeit.
In ſeiner Verlegenheit erbat ſich Pius den vertraulichen Rath der großen
Mächte, und Metternich ſäumte nicht, ſchon im Juli 1846 vor allen „Con-
ceſſionen“ zu warnen; zwiſchen den Zeilen ſeiner Denkſchriften ließ ſich
herausleſen, daß die Hofburg nicht einmal die Ausführung des Bunſen’ſchen
Memorandums ernſtlich wünſchte.*) Dem ungariſchen Landtage begegnete
der Staatskanzler ſehr nachgiebig, in Frankfurt ſuchte er Alles gemächlich
hinzuhalten; denn er rechnete, daß Oeſterreichs Herrſchaft in Ungarn durch
die geographiſche Lage, in Deutſchland durch die Macht alter Erinnerungen
und die heilloſe Wirrniß des Parteilebens doch einigermaßen geſichert war.
In den Italienern hingegen ſah er ſchlechtweg Feinde, und wie er 1820 und
1831 auf dieſer verwundbarſten Stelle des öſterreichiſchen Machtgebietes
ſofort mit den Waffen eingeſchritten war, ſo hielt er ſich auch jetzt bereit,
die drohende neue Erhebung Italiens alsbald niederzuſchlagen. Haß gegen
Oeſterreich — das witterte er ſogleich — war das gemeinſame Feldgeſchrei
aller Patrioten der Halbinſel, und da er wußte, daß ſein Kaiſerſtaat einem
nationalen italieniſchen Fürſtenbunde niemals beitreten konnte, ſo erklärte
er kurzab, die einzig mögliche Form der Einheit Italiens ſei die eine und
untheilbare Republik. Immer wieder ließ er die Höfe warnen: kein
italieniſcher Fürſt könne jemals hoffen die Krone der Halbinſel zu tragen;
die Bewegung müſſe nothwendig im allgemeinen ſocialen Umſturz aus-
münden, da die begnadigten Flüchtlinge alleſammt als vollendete Revo-
lutionäre heimkehrten; Gioberti, Balbo, Azeglio, Petitti und die anderen
ſogenannten Gemäßigten unterſchieden ſich von Mazzini nur wie die Gift-
miſcher von den Todtſchlägern. Von der Klärung der Geiſter, die ſich
in dem edlen Volke nach und nach vollzog, wollte er nichts bemerken. Wie
zum Spott wiederholte er jetzt (Aug. 1847) in einer allen Großmächten
mitgetheilten Depeſche das frevelhafte Wort vom Wiener Congreſſe: Italien
iſt nur ein geographiſcher Begriff.
[719]Oeſterreich und Italien.
Als ob er jede friedliche Verſtändigung abſchneiden wollte, ließ er ſich
an dem wichtigſten Hofe der Halbinſel, in Turin, erſt durch den unerträglich
anmaßenden Fürſten Felix Schwarzenberg vertreten, der ſich nachher auch
in Neapel allgemein verhaßt machte, dann gar durch den Grafen Buol, der
an Uebermuth ſeinem Vorgänger nichts nachgab und außerdem noch mit
einer ganz ungewöhnlichen Geiſtloſigkeit behaftet war. Ueber den Turiner
Hof, der zwiſchen zwei Großmächten eingepreßt doch wahrlich keinen leichten
Stand hatte, urtheilte Metternich ganz ebenſo hochmüthig und verſtänd-
nißlos wie über das ſchickſalsverwandte Preußen; und als die Piushymne
zu Ehren des neuen Pontifex gar nicht verſtummen wollte, da ſagte er
ingrimmig: „ein liberaler Papſt iſt ein unmögliches Weſen.“ Da er den
Wandel der Zeiten nicht zu erkennen vermochte, ſo verſchanzte er ſich, nach
ſeiner Gewohnheit, hinter großen Grundſätzen. „Nichts in dieſer Welt
iſt bleibend“, ſchrieb er dem Geſandten Lützow in Rom; „nur die Grund-
ſätze bleiben, ſie ſind dem Wechſel nicht unterworfen, weil die Wahrheit
immer dieſelbe iſt und bleiben wird.“ Die eine, unwandelbare Wahrheit
lautete aber dahin, daß Italien zum Vortheil der Hofburg in alle Ewigkeit
zerriſſen, unfrei, verachtet bleiben mußte; und für dieſe Gedanken geiſt-
und herzloſer Völkerbedrückung fand Metternich eine kräftige Stütze in
der deutſchen Preſſe, die ſich doch ſonſt ſeiner Herrſchaft ſchon zu entziehen
begann. Das Haus Cotta ſtellte ſeine Allgemeine Zeitung der italieniſchen
Politik der Hofburg unbedingt zur Verfügung, vielleicht um ſich dadurch
für die Beſprechung deutſcher Dinge etwas mehr Freiheit zu ſichern, und
mit ſchimpflicher Emſigkeit brachte das Augsburger Blatt fortan ungezählte
k. k. Lügen über das verworfene italieniſche Sklavenvolk. Dieſe feilen
Federn beſchworen die Erinnerung an die Romfahrten unſerer Kaiſer ge-
waltſam wieder herauf und prahlten, als ob der Schatten Barbaroſſa’s
durch die Raizen, Jazygen und Hannaken der öſterreichiſchen Regimenter
ſchritte, als ob der „beſiegelte“ Stock der kaiſerlichen Profoſen die Cultur
nach Italien brächte. Viele deutſche Zeitungen, denen die Mittel fehlten
eigene Verbindungen in Italien zu unterhalten, druckten alle dieſe Un-
ſauberkeiten getreulich nach; ſelbſt in den Kreiſen der preußiſchen Offiziere
wiederholte man oft den ſinnloſen, auf die deutſche Ritterlichkeit wohl be-
rechneten Lieblingsſatz der k. k. Kameraden: am Po vertheidigen wir den
Rhein! Der Name der Tedeschi, der ohnehin ſchon für jede Prügelei der
kroatiſchen Soldaten, für jeden Verrath der wälſchtyroliſchen Spione des
Hauſes Oeſterreich geduldig herhalten mußte, gerieth durch dieſe ungerechte,
erſt ſpät geſühnte Gehäſſigkeit der deutſchen Preſſe bei allen Italienern,
zumal bei den Lombarden gänzlich in Verruf. Die Lüge der verhüllten
Fremdherrſchaft vergiftete auch unſer Verhältniß zu dem Volke, das uns
unter allen am nächſten ſtand.
Auf unbedingte Zuſtimmung konnte Metternich in Deutſchland gleich-
wohl nicht zählen. Ein großer Theil der Liberalen ſchwärmte, wie billig,
[720]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
für den freiſinnigen neuen Papſt, und in allen Parteien fanden ſich doch
viele geiſtreiche Männer, welche die Wahlverwandtſchaft des deutſchen und
des italieniſchen Genius erkannten. Die Zeit lag ja noch nicht weit zurück,
da alle hochgebildeten Deutſchen zwei abſolute äſthetiſche Ideale ſchlechthin
verehrt hatten: Italien und Shakeſpeare. Niemand vielleicht empfand
dieſe äſthetiſche Bewunderung für Italiens Land und Leute ſo lebhaft wie
König Friedrich Wilhelm. Gleich den romantiſchen Malern der Corne-
lianiſchen Schule dachte er ſich unter den Römern ein „Königsvolk“ von
angeborenem Adel. Alles dort im ſchönen Süden erſchien ihm edler, vor-
nehmer, als die grobe nordiſche Welt, ſogar der italieniſche Liberalismus,
der doch, nach romaniſcher Weiſe, weit tiefer als die deutſchen Liberalen
in den Banden der gefürchteten „Ideen von 89“ befangen war. Der König
liebte „den herrlichen Pontifex“ und pries Pius glücklich, weil er nicht wie
Deutſchlands Fürſten mit der Macht der Gemeinheit zu ringen habe.
Seinem Bunſen ſchrieb er: „Was ſich dort Liberalismus nennt, wie es
nach Azeglio’s Werkchen erſcheint, das iſt allerdings mein eigenes Glaubens-
bekenntniß, und ich bin ein warmer Anhänger der italieniſchen Bewegung.
Aber die Azeglio’ſchen Liberalen wären in Deutſchland auf der äußerſten
Rechten der vernünftigen, vorwärts wollenden Conſervativen.“ Darum
ließ er durch ſeinen Geſandten Uſedom, der gleich ihm ſelber für den
Papſt und die Italiener begeiſtert war, den römiſchen Stuhl zu bedacht-
ſamen Reformen ermuntern; als die Hofburg gegen den liberalen Papſt
ſchärfer auftrat und ſogar, kraft zweifelhafter Rechtstitel, die Grenzſtadt
Ferrara beſetzen ließ, da bemühte ſich Friedrich Wilhelm redlich in dem
Streite zu vermitteln. Von der Gluth des nationalen Haffes, von der
Nothwendigkeit des nahenden Unabhängigkeitskrieges ahnte er nichts, und
daß Preußen je mit Piemont gemeinſam gegen Oeſterreich vorgehen könnte,
lag gänzlich außerhalb ſeines Gedankenkreiſes. Wie er den mit Oeſterreich
verketteten Deutſchen Bund für eine hocherfreuliche Inſtitution hielt, ſo
wollte er auch durchaus nicht begreifen, warum die Italiener nicht eben-
falls mit dem weiſen Hauſe Oeſterreich in Frieden leben ſollten. Ueber
die geheiligten Wiener Verträge durften ſeine geliebten Wälſchen nimmer
hinausgehen. Als die revolutionäre Leidenſchaft nun doch unaufhaltſam
anſchwoll, da klagte er ſchmerzlich: „Schon regt ſich der gemeine, der
ſchmeißfliegliche Liberalismus, und wir erleben dort Trauriges, und bald!“*)
Indeſſen blieb er in der Rolle des wehmüthigen Beobachters.
Weit näher ward Frankreich durch die italieniſchen Unruhen bedrängt.
Seit die Entente cordiale zerſprengt war und Palmerſton Rache ſchnob
wegen der ſpaniſchen Heirathen, bewarb ſich Ludwig Philipp noch zudring-
licher denn zuvor um Oeſterreichs Gunſt. Zweimal während dieſer letzten
bangen Monate ſendete er den von Braunſchweig her berüchtigten geheimen
[721]Italien und die Weſtmächte.
Agenten Klindworth nach Wien um ein vollſtändiges Einverſtändniß vor-
zubereiten, und im Kampfe gegen Italiens Einheit waren die beiden Höfe
allerdings einig. Wie die Hofburg ihr lombardo-venetianiſches Königreich
nur bei fortdauernder Unmündigkeit der Italiener behaupten konnte, ſo
hielten die Tuilerien feſt an dem altfranzöſiſchen Grundſatze, daß Frank-
reichs Macht auf der Nichtigkeit ſeiner Nachbarvölker beruhe; und zu
Metternich’s Wohlgefallen beſchwor Guizot die Reformpartei der Halb-
inſel, der Bewegung einen römiſchen, toscaniſchen, piemonteſiſchen Charakter
zu bewahren, denn eine italieniſche Frage wäre die Revolution! Gleich-
wohl konnte die Staatskunſt des franzöſiſchen Neides mit der Politik der
öſterreichiſchen Herrſchſucht nicht vollkommen übereinſtimmen; der begehr-
liche Wetteifer der beiden Nachbarmächte um die Vergewaltigung der Halb-
inſel wurzelte zu tief in einer alten Geſchichte. Auch vermochte Ludwig
Philipp, obgleich er jetzt immer „die Politik des Niederhaltens“ im Munde
führte, den revolutionären Urſprung ſeines Regiments doch nicht ganz
zu verleugnen. „Dieſe Regierung,“ ſo ſagte Metternich zu Canitz, „kann
nicht ſtark ſein, wenn es die Revolution zu bekämpfen gilt; ſie kann ſich
nicht mit uns auf eine Linie ſtellen, das wäre wider die Natur.“*) Und
dieſen Argwohn gab er trotz der zur Schau getragenen hochconſervativen
Geſinnungen des Tuilerienhofs niemals ganz auf; noch im Herbſt 1847
nannte er den Bürgerkönig und ſeinen Miniſter Beide „Utopiſten“. In
der That blieb Ludwig Philipp’s Haltung gegenüber den Italienern immer
zweideutig. Er verſammelte zum Schutze der weltlichen Herrſchaft des
Papſtthums insgeheim an der piemonteſiſchen Grenze das kleine Heer, das
zwei Jahre darauf wirklich in Rom einrücken ſollte, und ließ den König
Karl Albert von Sardinien, den er als geborenen Träger des italieniſchen
Einheitsgedankens fürchtete, an den kleinen Höfen gründlich verdächtigen.
Zugleich ſendete er Flinten für die römiſche Nationalgarde und empfahl
den Cabinetten der Halbinſel conſtitutionelle Reformen. In Rom vertrat
ihn Graf Roſſi, ein hochſinniger Carrareſe, der in der Schweiz und in
Paris als Staatsmann und Gelehrter im Sinne der franzöſiſchen Doc-
trinäre gewirkt hatte und jetzt die ſonderbare Rolle eines Geſandten im
eigenen Vaterlande ſpielte. Roſſi hoffte auf den italieniſchen Fürſtenbund
unter päpſtlichem Primat und mochte dem geliebten Pius wohl zuweilen
mehr ſagen als ſein Miniſter billigen konnte. In Wien galt er für
einen nichtswürdigen Jacobiner, und ſchon dieſer eine Mann machte ein
feſtes Einverſtändniß zwiſchen den beiden Höfen unmöglich.
So konnte denn Palmerſton prahleriſch als großmüthiger Beſchützer
Italiens auftreten. Auch er wurde von dem hilfloſen Pius um Rath
angegangen, und der große katholiſche Kanzelredner Londons, Biſchof
Wiſeman, der die Anfrage überbrachte, deutete leiſe an, daß der Papſt
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 46
[722]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
weder dem Wiener noch dem Pariſer Hofe ganz trauen könne. Sofort
ſchickte der Lord ſeinen Freund, den radicalen Querkopf Earl Minto als
Geſandten nach Turin, dann auch mit geheimen Aufträgen nach Rom,
wo Großbritannien ſich auf Grund ſeiner alten Geſetze nicht amtlich ver-
treten laſſen durfte, und ſagte höhniſch zu Bunſen: das wird Metternich
nicht gefallen, aber eine engliſche Flotte in der Adria wird ihm noch we-
niger gefallen.*) In Minto’s Gefolge befand ſich eine ganze Schaar
amtloſer junger Leute, die mit erſtaunlicher Unbeſcheidenheit überall an
den Höfen die nahende Revolution ankündigten. Nichts lag dieſen vor-
nehmen Demagogen ferner als eine ehrliche Theilnahme für Italiens
Unglück; ſie wollten nur Palmerſton’s Feinden Metternich und Guizot
entgegenwirken und den für Englands Handelspolitik ſo einträglichen Un-
frieden auf dem Feſtlande nähren. Bunſen freilich, dem niemals eine
engliſche Argliſt zu plump war, ließ ſich auch diesmal täuſchen, und ſchrieb
begeiſtert: der Kampf um Verfaſſungen werde zu „einer politiſchen Reli-
gionsfrage, wobei England hohenprieſterliche Stellung einnehme.“**) Pal-
merſton als Hoherprieſter! — dieſer ſpaßhafte Gedanke konnte allerdings
nur in dem fremdbrüderlich begeiſterten Haupte des preußiſchen Geſandten
entſtehen, und Canitz wollte nicht glauben, daß in einem Volke, das bis-
her auf ſeinen geſunden praktiſchen Verſtand ſtolz geweſen, „ein politiſcher
Fanatismus zu einem dauernden Syſtem gemacht werden ſollte.“***) Sein
König aber meinte, als er die unleidliche Zänkerei der weſtmächtlichen
Diplomaten kennen lernte: „die engliſchen Geſandten in Piemont und
Hellas ſcheinen mir, um recht höflich zu ſein, zum Tollhaus reif, über-
reif.Ҡ) Mit gutem Grunde klagte Metternich: der Lord Feuerbrand
nehme die alte „Canning’ſche Aeolus-Politik“ wieder auf; der Staats-
mann, der am lauteſten wider die Interventionspolitik geſcholten, miſche
ſich überall ein, er ſei le plus intervenant de tous. Was der engliſche
Hof thun konnte um den allgemeinen Weltbrand zu ſchüren das that er
nach Kräften.
Alſo zwiſchen den großen Mächten hin und her geſchleudert brachte der
gequälte Papſt in anderthalb Jahren nur eine wichtige Reform zu Stande
— die gefährlichſte von allen: er ſchuf die Nationalgarde, die ſich ſo leicht
gegen den heiligen Stuhl ſelber wenden konnte. Auch eine weltliche Con-
ſulta trat zuſammen, aber wie war es möglich, daß Cardinäle ſich der
Aufſicht der Laien wirklich unterwerfen ſollten? Nun gar der weltliche
Miniſterrath, der auf Roſſi’s Bitten endlich berufen wurde, krankte von
Haus aus an einem unheilbaren Uebelſtande. Alle große Politik der
Curie war kirchlich, die armſeligen Intereſſen des Kirchenſtaats fielen da-
[723]Reformen in Piemont.
neben kaum in’s Gewicht, folglich mußte der Cardinal-Staatsſecretär, der
entſchloſſene, ſcharf verſtändige, clericale Antonelli für ſich allein mehr
bedeuten als alle Laien-Miniſter insgeſammt. Auch ein ſchwacher Anlauf
bündiſcher Potitik wurde gewagt. Im October 1847 vereinbarten ſich die
Höfe von Rom, Turin und Florenz — die drei Reformſtaaten, wie man
ſie hoffnungsſelig nannte — vorläufig über die Bildung eines Zollver-
eins, und Palmerſton, der alte Feind des deutſchen Zollvereins ließ dieſe
Verhandlungen durch Minto kräftig fördern — immer unter der Vor-
ausſetzung, daß die Verbündeten die allein wahren Grundſätze des Frei-
handels annähmen. Er ſah in dem Plane zunächſt nur einen Schachzug
gegen Frankreich und Oeſterreich, er hoffte ſodann, dem engliſchen Handel
ein neues Abſatzgebiet zu gewinnen, da die Großinduſtrie Italiens noch
weit hinter der deutſchen zurückſtand. Der Zollverein konnte aber nur
dann in’s Leben treten, wenn auch das mitteninne liegende Modena ſich
anſchloß. Metternich gab alsbald eine deutliche Antwort; er ſchloß im
December mit Modena, dann auch mit Parma einen Vertrag, kraft deſſen
Oeſterreich jederzeit bei drohender Gefahr die beiden Herzogthümer beſetzen
durfte. Befriedigt ſchrieb er nach Berlin: „wir haben die Form eines
Vertheidigungsbündniſſes gewählt um das von den Cabinetten ſo ſtreng
verdammte Wort Intervention zu vermeiden.“ Zudem blieb der Groß-
herzog von Toscana trotz ſeiner liberalen Anwandlungen doch immer ein
unſchädlicher Erzherzog, die Bourbonen von Neapel waren durch den ge-
heimen Vertrag von 1815 verpflichtet an dem abſoluten Königthum nichts
zu ändern, und auch Karl Albert von Piemont hatte einſt in den Tagen
der Bedrängniß gelobt, ſeinem Lande niemals eine Verfaſſung zu gewähren.
Wie leicht konnten dieſe künſtlichen Stützen der Fremdherrſchaft zu-
ſammenbrechen. Die nationale und die liberale Idee begannen ſich zu
verbünden, und wie ſtark dies junge Bündniß ſchon war, das erfuhr der
Staat, der Italiens Zukunft trug, der einzige, den die Hofburg fürchtete,
Piemont. Halb Mönch halb Soldat, nach ſeiner Herzensneigung hoch-
kirchlicher Legitimiſt und doch begeiſtert für Italiens Einheit, bedroht von
der Chocolade der Jeſuiten und dem Dolche der Demagogen, ſchwankte
der König Zauderer Karl Albert lange, bis er ſich entſchloß, den Namen
des Königs von Italien, den ihm einſt die öſterreichiſchen Offiziere höhnend
zugerufen hatten, zu Ehren zu bringen. In Vielem dem ungleich geiſt-
volleren Friedrich Wilhelm ähnlich, beſaß er doch was dem Hohenzollern
fehlte, ſtarken dynaſtiſchen Ehrgeiz, und Angeſichts der drohenden Weiß-
röcke dicht an ſeiner Grenze, konnte er ſich nicht wie Jener in holdem
Wahne über Oeſterreichs Geſinnung täuſchen. Im October 1847 entließ er
den hochconſervativen Miniſter Solaro, gewährte den Communen die Wahl
ihrer Gemeinderäthe und der Preſſe, nach preußiſchem Muſter, freiere Be-
wegung. Unermeßlicher Jubel begrüßte dieſe „albertiniſchen Reformen“,
denn jede Reform in Piemont war ein Schlag gegen Oeſterreich.
46*
[724]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Nirgends wußte man das beſſer als im Hauptquartiere des Feld-
marſchalls Radetzky. Der greiſe, im menſchlichen Verkehre ſtets liebens-
würdige Kriegsmann behandelte das ſchöne Doppelkönigreich, das er für
ſeinen Kaiſer behüten ſollte, ſchlechthin als Feindesland; weder er noch
ſeine Offiziere wollten in den Italienern jemals Mitbürger und Lands-
leute ſehen, und auch General Ficquelmont, der im Sommer 1847 zur
Unterſtützung des ſchwachen Vicekönigs, des Erzherzogs Rainer nach Mai-
land geſendet wurde, ſtimmte mit dem Feldmarſchall dahin überein, daß
hierzulande nur Waffen und wieder Waffen helfen könnten. Trotz der
Umtriebe der Agenten Mazzini’s begannen ſich ſelbſt in dieſem geknechteten
Volke gemäßigte Parteien zu bilden, und Giuſti ſagte, ſo oft er die Glocken
des Mailänder Doms zum Begräbniß oder zur Taufe läuten hörte: „ein
Brigant ſtirbt, ein Liberaler wird geboren.“ Alle dieſe Selbſtbeſinnung,
all das tiefe patriotiſche Leid der Lombarden war den heimathloſen Lands-
knechten des k. k. Heeres nur lächerlich, ſelbſt der feingebildete General
Schönhals beſchimpfte die Wälſchen als Verräther und Feiglinge. „Nicht
die Stärke der Nationen — ſo ſchrieb Radetzky in dieſen Tagen dem
preußiſchen General Wrangel — ſondern die Schwäche der Fürſten er-
zeugt die Revolution. Der hochgefeierte Pius iſt ein ſchwacher, eitler
Pfaffe, vielleicht ein guter Menſch, ſonſt nichts.“
Die Maſſe des Volks fühlte von dem Drucke der Fremdherrſchaft
wenig. Was ſollten aber die Signoren empfinden? Ein ſcheußliches
Spionenweſen vergiftete jedes Haus, die gefangenen Verſchwörer wurden
grauſam mißhandelt, die Preſſe geknebelt, die Brutalität der ſtockprügel-
ſeligen Beamten erſchien eben ſo unleidlich wie der hochmüthige Wach-
ſtubenton der Truppen, jedes nationale Gefühl ward grundſätzlich ver-
höhnt. Verſöhnung war unmöglich. „O ihr geliebten Brüder, auch Euer
Tag wird tagen“ — ſo ſangen die Florentiner und die Romagnolen den
Brüdern im Norden zu. Nur auf den Congreſſen der Landwirthe und
der gelehrten Welt, die hier wie in Deutſchland das Erwachen des Ein-
heitsgedankens ankündigten, durften Lombarden und Venetianer ſich un-
geſtört ihres Volksthums erfreuen. Wo aber die Piushymne erklang, da
ſchritten die k. k. Truppen ein, ſchon floß Blut in kleinen Straßenkämpfen,
ſchon wurden die Univerſitäten von Padua und Pavia geſchloſſen, weil
man die Studenten nicht mehr bändigen konnte. Die Stunde der Ab-
rechnung kam heran. Am 12. Jan. 1848 wehte die Tricolore auf den
Thürmen von Palermo, Sicilien ſagte ſich los vom Hauſe Bourbon. Noch
glaubte man in der Hofburg wie in den Tuilerien das Beſtehende halten
zu können. Guizot erklärte, die Bourbonen hätten gar nicht das Recht
auf die Inſel zu verzichten; auf Metternich’s Wunſch war er bereit, „den
ehrgeizigen, ränkeſüchtigen, furchtſamen“ König Karl Albert zu überwachen
und nöthigenfalls Rom zu beſetzen. Er wollte, daß die vier Großmächte
des Feſtlands ſich gemeinſam für den Beſitzſtand in Italien verbürgen
[725]Revolution in Italien.
und nachträglich auch England zuziehen ſollten. Keine Zugeſtändniſſe! —
ſo lautete auch jetzt noch ſein letztes Wort.*) Doch faſt im ſelben Augen-
blicke ſiegten die Conſtitutionellen auch in Neapel, in Florenz, und wenige
Tage bevor ſie in Frankreich ruhmlos unterging, wurde die Charte des
Juli-Königthums in Turin als Statut des Königreichs Sardinien ausge-
rufen. Die Fremdherrſchaft auf der Halbinſel war der Vernichtung nahe. —
In Italien mußte Oeſterreich jede nationale und liberale Regung
niederdrücken um ſeinen alten, längſt ſchon unhaltbaren Beſitzſtand zu
vertheidigen. Wenn die Hofburg und die anderen Großmächte des Feſt-
lands aber auch in der Schweiz dieſelben Gedanken nationaler Reform
mit der äußerſten Heftigkeit bekämpften, ſo konnten ſie ſich nicht mehr auf
irgend eine Rückſicht politiſcher Zweckmäßigkeit berufen, ſondern lediglich
auf die ſtarre Doctrin eines unbelehrbaren Legitimismus. Die inneren
Verhältniſſe des kleinen republikaniſchen Staatenbundes, der ſeit Jahr-
hunderten eine Anomalie in dem monarchiſchen Europa bildete, bedeuteten
für den Welttheil ſehr wenig; eine nüchterne Politik durfte der Klugheits-
regel nicht vergeſſen, die ſich die Monſignoren des Vaticans nach ſo
manchen Proben eidgenöſſiſchen Trotzes gebildet hatten: man muß die
Schweizer bei ihren Bräuchen und Mißbräuchen laſſen. In der Wiener
Congreßacte (Art. 74) war ausdrücklich nur „die Integrität“ der verbün-
deten Cantone „als Grundlage des helvetiſchen Syſtems anerkannt“ und
der Eidgenoſſenſchaft die Neutralität verbürgt worden. Die Mächte hatten
damals die noch widerſtrebenden Cantone aufgefordert, um des gemeinen
Wohles willen ſich der Bundesverfaſſung anzuſchließen, und dafür den
Dank „der ſchweizeriſchen Nation“ entgegengenommen. Folglich konnte
dieſer ſchweizeriſchen Nation auch nicht verwehrt werden, ihre Bundes-
verfaſſung umzugeſtalten und die Grenzen zwiſchen Bundesgewalt und
Cantonalgewalt geſetzlich zu verändern, wenn nur die Integrität der Can-
tone, die in Wahrheit Niemand anzutaſten dachte, gewahrt blieb. Die
Frage, wie weit die Souveränität der Cantone durch die Bundesgewalt
beſchränkt werden ſolle, war eine rein ſchweizeriſche Angelegenheit, und
die Mächte hatten dabei ebenſo wenig mitzuſprechen, wie bei der deutſchen
Bundesreform, die ja auch nur durch Einſchränkung der Territorial-
gewalten möglich war. Gleichwohl beſtand an den großen Höfen der
Glaubensſatz, daß die traurige ſchweizeriſche Bundesverfaſſung mit ihrer
ſchrankenloſen Cantönli-Souveränität eine unabänderliche Ordnung ſei,
ſo unzerſtörbar wie der Contrat ſocial der radicalen Doctrinäre.
Unverkennbar waltete über den ſcheinbar ſo verworrenen Parteikämpfen
[726]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
dieſes claſſiſchen Landes föderativer Staatsbildung eine hiſtoriſche Noth-
wendigkeit: die Natur der Dinge drängte dahin, daß die Schweiz jede
Verbindung mit dem Auslande auflöſte und den alten Unterſchied von
Stadt und Land, von Herrenlanden und Unterthanenlanden beſeitigte.
Dies zweifache Ziel war im Jahre 1815 nahezu erreicht: die Eidgenoſſen-
ſchaft beſtand nur noch aus zweiundzwanzig gleichberechtigten Cantonen.
Nunmehr begann eine ebenſo nothwendige demokratiſche Bewegung; die tüch-
tigen, um die alte Schweiz ſo hochverdienten Patriciergeſchlechter vermochten
nur noch in Baſel, in Neuenburg und wenigen anderen Cantonen ihre
geiſtige und wirthſchaftliche Ueberlegenheit zu behaupten, der Mittelſtand
drängte ſich überall kräftig empor. Seit der Juli-Revolution ließ ſich ſchon
deutlich erkennen, daß die Schweiz der repräſentativen Demokratie zuſtrebte;
der ariſtokratiſche Kleine Rath verlor faſt allerorten an Anſehen, die Canto-
nalgewalt gerieth mehr und mehr in die Hände der Volksvertretung, des
demokratiſchen Großen Rathes. Die aufſtrebende Demokratie verlangte
zugleich eine ſtärkere Bundesgewalt, wie ſie ſchon einmal, unter der na-
poleoniſchen Mediationsacte, zum Heile des Landes beſtanden hatte.
Aber dieſe, im Weſentlichen nothwendige Veränderung des ſchweizeriſchen
Lebens betrachteten die großen Mächte von vornherein ungerecht, mit
legitimiſtiſcher Verblendung. Sie waren ſämmtlich, nicht mit Unrecht,
erbittert über die unzuverläſſige, bald harte, bald ſchlaffe Haltung, welche
die Eidgenoſſen gegenüber den Flüchtlingen gezeigt hatten. Sie nahmen
kurzweg an, daß der ſchweizeriſche Radicalismus, der in ſeinem Kerne
ganz national war und alles ausländiſche Weſen faſt unduldſam abwies,
mit den Umſturzparteien des geſammten Welttheils zuſammen arbeitete.
Ueberdies ſtanden die alten Herrengeſchlechter der Schweiz, deren große
Zeit jetzt zu Ende ging, alleſammt mit den großen Höfen in perſönlicher
Verbindung. Die katholiſchen Conſervativen unterhielten durch Haller,
Hurter, Bernhard Meyer und andere fanatiſche Ultramontane vertrauten
Verkehr mit Metternich; die Genfer Patricier waren Guizot’s und Broglie’s
alte Freunde, die Neuenburger Ariſtokraten das getreue Lehensvolk der
Krone Preußen. Schon der Name der Radicalen, der in der Schweiz
doch etwas ganz anderes bedeutete als in den benachbarten Monarchien,
ſchreckte die Diplomaten ab; die fremden Geſandten verkehrten ausſchließlich
mit ſchweizeriſchen Conſervativen, weil ihnen der Wirthshauston der radicalen
Geſellſchaft nicht zuſagte, und erſtatteten ihren Höfen ſtets parteiiſch ge-
färbte Berichte. Was die Höfe von Paris und Wien ſo gehäſſig gegen
die Schweizer ſtimmte, war doch vornehmlich die Angſt vor Deutſchlands
Erſtarken. Metternich zitterte bei dem Gedanken, daß die deutſchen
Patrioten ſich an den ſchweizeriſchen Radicalen ein Beiſpiel nehmen könnten;
Guizot ſprach mit Entſetzen von „dem Großſtaats-Ehrgeiz“ der Schweizer,
von der Möglichkeit einer furchtbaren helvetiſchen Einheitsrepublik, gleich
als ob Frankreich vor der Schweiz zittern müßte; und König Friedrich
[727]Der Sonderbund.
Wilhelm ließ ſich durch die legitimiſtiſche Seelenangſt der befreundeten Höfe
dermaßen bethören, daß er gar nicht mehr bemerkte, wie nahe ſeine eigenen
deutſchen Bundesreformpläne ſich mit den allerdings derberen Gedanken
der ſchweizeriſchen Radicalen berührten.
Zu allem Unheil ward der politiſche Parteikampf noch vergiftet durch
die confeſſionelle Feindſchaft, die hier, in dem Lande althiſtoriſcher Parität,
nur Verderben ſtiften konnte. Da der clericalen Partei ſeit dem Kölniſchen
Biſchofsſtreite überall in der Welt die Schwingen gewachſen waren, ſo
wagten die katholiſchen Freiämter des überwiegend proteſtantiſchen Cantons
Aargau einen Aufruhr. Der Aufſtand mißlang, und zur Strafe wurden
die mit den Rebellen eng verbündeten Mannsklöſter des Cantons ge-
ſchloſſen. Damit verletzten die Radicalen zuerſt die Bundesverfaſſung,
welche den Beſtand der Klöſter ausdrücklich gewährleiſtete. Der ganz von
der clericalen Demokratie beherrſchte Canton Luzern antwortete alsbald
durch eine muthwillige Herausforderung: er berief die Jeſuiten, die aller-
dings ſchon in Freiburg und anderen Cantonen angeſiedelt aber in der pro-
teſtantiſchen Schweiz unbeſchreiblich verhaßt waren. Dieſe That gab das
Signal zum Bürgerkriege, obgleich ſie dem Buchſtaben der Bundesverfaſſung
nicht widerſprach. Während der nächſten Jahre begann ſich die Eidgenoſſen-
ſchaft in zwei Feldlager zu ſcheiden. In Genf, in der Waadt, in Bern,
in Solothurn, in Zürich gelangte die radicale Partei zur Herrſchaft, während
in Wallis die Clericalen mit Luzerns Beihilfe einen blutigen Sieg errangen.
Von den benachbarten radicalen Cantonen unterſtützt verſuchte die unzu-
friedene Luzerner Minderheit durch zwei Freiſchaarenzüge das Prieſter-
regiment zu ſtürzen (1844/45), und nachher wurde der Führer der Luzerner
clericalen Volkspartei, der Bauer Leu durch einen gedungenen Mörder
umgebracht. Den zweiten dieſer Freiſchaarenzüge führte Anwalt Ochſen-
bein von Bern, ein Radicaler vom roheſten Schlage, der ſich allem An-
ſchein nach in das Treiben der demagogiſchen Flüchtlinge ſehr tief ein-
gelaſſen hatte. Er entblödete ſich nicht, in einer Druckſchrift den Bundes-
friedensbruch zu verherrlichen als „eine ſo großartige Erſcheinung, wie
ſich einer ähnlichen keine andere Nation rühmen könne“; er ſah in allen
dieſen Bürgerkämpfen nur den ewigen „Widerſtreit zwiſchen dem geſchicht-
lichen und dem Vernunftrecht, den Kampf zwiſchen geiſtiger Knechtſchaft
und freiem geiſtigem Aufſchwung.“ Ochſenbein wurde von dem eid-
genöſſiſchen Generalſtabe, dem er als Hauptmann angehörte, verdienter-
maßen aus den Liſten geſtrichen, doch gleich darauf (1846) war er erwählter
Stadtſchultheiß von Bern und als ſolcher Vorſitzender der Eidgenoſſenſchaft,
da Bern für die nächſten zwei Jahre Vorort der Schweiz wurde.
Unterdeſſen hatten die ſieben katholiſchen Cantone der inneren Schweiz
einen Sonderbund geſchloſſen, angeblich nur zum Schutze der Bundes-
verfaſſung und der Cantonalſouveränität. In Wahrheit widerſprach der
Sonderbund dem Bundesrechte, das alle der Eidgenoſſenſchaft oder ein-
[728]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
zelnen Cantonen feindlichen Bünde ausdrücklich verbot, und noch mehr
der durch ſo viele bürgerliche Kriege theuer errungenen kirchlichen Parität.
Dieſelben Cantone, welche einſt den Kampf gegen Zwingli geführt und nach-
her unter Oeſterreichs Schutze den Borromäiſchen Bund geſtiftet hatten,
bildeten den Kern des neuen Sonderbundes, und an ihrer Spitze ſtanden
die fanatiſchen Luzerner Clericalen Siegwart Müller und Bernhard Meyer.
Es zeigte ſich wieder, daß die Schweiz in manchem Sinne das conſervativſte
Land Europas iſt; der Eidgenoſſenſchaft drohte ein Religionskrieg, wie er
bei anderen Völkern des Welttheils längſt nicht mehr möglich war. Wider
den Sonderbund bot nun die radicale Partei jedes Mittel auf; Bluntſchli
und ſeine Züricher Conſervativ-Liberalen unterlagen, für Vermittler war
kein Raum mehr, Ochſenbein und die radicalen Berner behaupteten die
Führung, und nach einer Staatsumwälzung im Canton St. Gallen ward
endlich die knappe Mehrheit der Tagſatzung für die Gegner des Sonder-
bundes gewonnen. Douze voix font loi, jubelten die Radicalen.
Die zwölf Stimmen der Mehrheit waren entſchloſſen, die Jeſuiten als
Störer des confeſſionellen Friedens aus der Eidgenoſſenſchaft zu vertreiben,
den Sonderbund aufzulöſen, die Bundesgewalt zu verſtärken. Zu ſo durch-
greifenden Beſchlüſſen verlangte aber das Bundesrecht Einſtimmigkeit oder
Dreiviertelmehrheit der Tagſatzung; hier wie im Deutſchen Bunde ward
jede ernſte geſetzliche Reform durch ein unvernünftiges Grundgeſetz ver-
hindert. Auf den Buchſtaben des Bundesrechts konnte ſich mithin keine
der beiden Parteien berufen; die Radicalen kämpften jedoch, was ſie auch
durch Parteihaß geſündigt haben mochten, für den berechtigten, conſervativen
Gedanken der ſchweizeriſchen Bundeseinheit, die durch den Sonderbund
unfehlbar zerſtört werden mußte. Darum boten auch, als der Bürger-
krieg nahte, der conſervative General Dufour von Genf und die gleich-
geſinnten Oberſten Burckhardt, Ziegler, Donats der radicalen Zwölfer-
mehrheit ſofort ihre Dienſte an; und zu den erklärten Radicalen, Ochſen-
bein von Bern, Druey vom Waadtlande geſellten ſich republikaniſche
Staatsmänner von gemäßigter bürgerlich-demokratiſcher Geſinnung, wie
Munzinger von Solothurn, Furrer von Zürich, Näff von St. Gallen,
Kern und Andere. Einheit oder Zerfall? — ſo ſtand die Frage. Der
Ausgang des Krieges konnte kaum zweifelhaft ſei, da die Cantone der
Zwölfermehrheit den Sonderbund von allen Seiten her umklammert hielten,
an Geldmitteln und Kopfzahl ihn faſt um das Vierfache übertrafen; die
Zeit war auch längſt dahin, da die vier Waldſtädte in den Schaaren ihrer
kampferfahrenen alten Reisläufer die beſte kriegeriſche Kraft der Schweiz
beſeſſen hatten.
Mit einer blinden Gehäſſigkeit, die an die Tage der Karlsbader
Beſchlüſſe erinnerte, beurtheilten die Höfe von Wien, Berlin und Paris
dieſe für Ausländer wahrlich ſchwer verſtändlichen ſchweizeriſchen Wirren.
Der Czar hielt ſich etwas zurück, er wollte mit England nicht brechen,
[729]Vorbereitungen zum Sonderbundskriege.
ſo lange der erſehnte allgemeine Vernichtungskrieg gegen die Revolution
noch unmöglich ſchien. Palmerſton aber harrte ungeduldig des Augen-
blicks, da er der Verblendung Metternich’s und Guizot’s eine lächerliche
Beſchämung bereiten konnte. Am Wiener Hofe wurde die Möglichkeit
einer bewaffneten Einmiſchung ſchon ſeit dem Jahre 1845 ernſtlich er-
wogen. Metternich verdammte die Aufhebung der Aargauer Klöſter kurz-
weg als einen Raub, er wünſchte ſeinen Luzerner Getreuen feierlich Glück
zur Vertreibung der Freiſchaaren, und obgleich er die Berufung der Jeſuiten
nach Luzern bedenklich fand, ſo behauptete er doch von vornherein: der
kirchliche Streit ſei nur Vorwand, die wirkliche Abſicht dieſer ſchamloſen
Radicalen gehe dahin, die Schweiz unter dem Schutze ihrer Neutralität
zu einem Heerde der europäiſchen Anarchie zu machen, die eine und untheil-
bare helvetiſche Republik der jacobiniſchen Zeiten mit einer revolutionären
„Centralregierung“ wiederherzuſtellen. Dieſem „unterwühlenden und
brandſtiftenden Syſteme“ traute er jede Nichtswürdigkeit zu, zumal ſeit
der verrufene Ochſenbein an die Spitze der Eidgenoſſenſchaft getreten war.*)
In Wahrheit wurde der unmögliche Gedanke eines helvetiſchen Ein-
heitsſtaates nur von einzelnen Heißſpornen der Jungſchweizer gehegt; die
Maſſe der Radicalen lebte in den föderaliſtiſchen Ideen, die hierzulande in
der Luft lagen, ſie wollte die Integrität der Cantone nicht gefährden und
auch die Souveränität der Cantonalgewalten nicht zerſtören, ſondern, wie
nachher der Erfolg zeigte, nur ernſtlich beſchränken. Aber auch dieſe ge-
mäßigten Pläne mußten — wie Metternich die Dinge anſah — den
Deutſchen ein gefährliches Beiſpiel geben. Darum war in den Wiener
Hofkreiſen Jedermann für den Sonderbund begeiſtert. Der carliſtiſche
Landsknecht Fürſt Friedrich Schwarzenberg ſtellte den Urcantonen ſeinen
Degen zur Verfügung, und ſelbſt der alte Erzherzog Johann, den die
deutſchen Liberalen wegen ſeines ſagenhaften Trinkſpruchs als Geſinnungs-
genoſſen bewunderten, verlangte heftig bewaffnetes Einſchreiten gegen ein
Princip, das Alles umſtürze. Die Sonderbundscantone ſchämten ſich nicht,
die Nachbarmächte um Geld und Waffen gegen ihre eigenen Landsleute
zu bitten. Bernhard Meyer — der Blut-Bäni, wie die Schweizer ihn
nannten — erlangte im Herbſt 1846 glücklich eine Flintenſendung von
König Karl Albert — kaum ein Jahr bevor der Piemonteſe umſchwenkte
und mit den albertiniſchen Reformen die italieniſche Revolution einleitete.
Zwei andere Waffenſendungen des Wiener und des Pariſer Hofes wurden
aufgefangen, auch die dem Sonderbunde durch den Viceköng Erzherzog
Rainer übermittelten 50,000 Fr. trafen nicht mehr zur rechten Zeit ein.
Zugleich ließ der Wiener Hof eine Brigade an der Vorarlbergiſchen Grenze
zuſammenziehen, in der ausgeſprochenen Abſicht, die Zwölfermehrheit ent-
weder einzuſchüchtern oder ſie zur Theilung ihrer Streiträfte zu nöthigen.**)
[730]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Feldmarſchall Radetzky erhielt Befehl ſich jederzeit zum Einmarſch in den
Canton Teſſin bereit zu halten, und als die Bevollmächtigten der Cantone
im April 1847 in Wien zu einer Poſtconferenz zuſammenkamen, da ſcheute
Metternich ſich nicht, die Sonderbundscantone in feierlicher Anſprache
zur Ausdauer aufzufordern.
Alſo verletzten die Mächte, noch bevor der Bürgerkrieg begonnen
hatte, gröblich die der Eidgenoſſenſchaft zugeſicherte Neutralität; ſie er-
klärten ſich von Haus aus für die eine der ſtreitenden Parteien, deren
Recht doch mindeſtens zweifelhaft blieb; ſie merkten nicht, daß ſie gerade
durch ihre ungerechte Feindſeligkeit den Haß der geſammten liberalen Welt
Europas herausforderten und dem nationalen Verfaſſungskampfe ein
weltbürgerlich-radicales Gepräge gaben, das ihm eigentlich fremd war.
Der alte Metternich gebärdete ſich zuweilen wie ein Unſinniger; er meinte,
als der Krieg herankam: die Geſchichte kenne kein Beiſpiel einer ſo voll-
kommenen Negation der Grundlagen der ſocialen Ordnung! — und doch,
was verlor Europa, wenn der Stier von Uri gezwungen wurde, ſeine
ſcharfen Hörner vor dem hiſtoriſch ebenſo ehrwürdigen Kreuzbanner der
Eidgenoſſen etwas einzuziehen? Zum Glück war Alles, was Metternich
jetzt noch unternahm, greiſenhaft, halb, ſchwächlich; über geheime Auf-
reizungen und klägliche Almoſen ging er nicht mehr hinaus. So viele
Jahre daher hatten die Mächte in unzähligen Noten den Eidgenoſſen Ein-
tracht, Ruhe, Mäßigung gepredigt. Da kündigten im October 1847 die
Geſandten des Sonderbundes der Tagſatzung den Frieden auf; der
Bürgerkrieg war erklärt.
Sofort entwarf Guizot eine Vermittlungsnote im Namen der fünf
Mächte, deren Geſandte mehrentheils den Vorort Bern ſchon verlaſſen
hatten, weil ſie mit Ochſenbein’s radicaler Plumpheit nicht in Berührung
kommen wollten. Guizot ſelbſt dachte über die Schweizer Wirren ganz
wie Metternich, desgleichen der ſtreng clericale Geſandte Graf Bois le
Comte. König Ludwig Philipp aber, der in Frankreichs auswärtiger Po-
litik doch ſtets den Ausſchlag gab, zeigte ſich bedenklicher, er hoffte das
freundliche Einvernehmen mit England womöglich wiederherzuſtellen und
wünſchte jedenfalls eine bewaffnete Einmiſchung in der Schweiz zu ver-
meiden. Guizot’s Note verlangte, daß die Ausweiſung der Jeſuiten der
Entſcheidung des Papſtes unterbreitet werden ſollte, der, den Vätern der
Geſellſchaft Jeſu wenig günſtig, doch nur ungern in dieſe heiklen Händel
ſich einließ; ſie forderte ferner ſofortige Entwaffnung beider Theile und
Anerkennung der Souveränität der Sonderbundscantone. Sie ſollte mit-
hin den Ausbruch des Bürgerkriegs verhindern und konnte nur dann
etwas wirken, wenn ſie der Tagſatzung noch vor Beginn der Feindſelig-
keiten eingehändigt wurde.
Welch eine köſtliche Gelegenheit für Palmerſton, endlich Rache zu
nehmen für die ſpaniſchen Heirathen! Er brauchte nur die diplomatiſche
[731]Niederlage des Sonderbunds.
Entſcheidung, die bei der weiten Entfernung der fünf Höfe ohnehin viel
Zeit erforderte, noch ein wenig hinzuhalten, bis der Sonderbund durch
die Waffen der Zwölfermehrheit vernichtet war. Schon im September
hatte ſein getreuer Lord Minto, auf der Reiſe nach Turin, ſich mit
Ochſenbein beſprochen und mit Freuden erfahren, daß der radicale Frei-
ſchaarenführer zu raſchen Schlägen entſchloſſen war.*) Auch der preußi-
ſche Geſandte Sydow beurtheilte die Lage richtig; er berichtete heim: jeder
Tag Zeitverluſt beſchleunige nur den Untergang des Sonderbundes. Als
nun der Herzog von Broglie den Notenentwurf Guizot’s vorlegte, da
vermochte Palmerſton im erſten Augenblicke ſeine Schadenfreude nicht mehr
zu bemeiſtern, und in einem höhniſchen Brieflein gab er zur Antwort: er be-
wundere die Faſſung des Aktenſtückes; er ſehe wohl, es handle ſich um eine
zweite Auflage der Krakauer Sache, und könne nie ſeine Hand dazu bieten,
daß die Schweiz poloniſirt würde. Darob allgemeine Entrüſtung an den
großen Höfen; König Friedrich Wilhelm ſchrieb an Bunſen: „Dieſer
Witz Ihres whiggiſtiſchen Freundes ſchmeckt nach Uebergenuß von Auſtern
und Champagner. Er iſt das Kind des Guizot-Metternich-Haſſes, d. h.
der ſchlechteſten Erſcheinung auf dem diplomatiſchen Horizonte ſeit den
Julitagen.“**) Indeß lenkte der ſchlaue Lord alsbald ſcheinbar ein und
erklärte ſich bereit über eine gemeinſame Note zu verhandeln. Darüber
mußten wieder viele Tage vergehen, und währenddem ließ der engliſche
Geſandte in der Schweiz, der junge mit Ochſenbein perſönlich befreundete
Sohn Robert Peel’s, den General Dufour vertraulich auffordern, er
möge ſo ſchnell wie möglich losſchlagen. Abermals hohe Entrüſtung an
den großen Höfen, als dieſe neue Treuloſigkeit ruchbar wurde; Friedrich
Wilhelm wollte gar nicht begreifen, daß dieſer „Peelbube“ der Sohn des
Mannes ſei, der den Sinn eines Herzogs und das Herz eines Bürgers
habe.***) Aber hatten Oeſterreich und Frankreich redlicher gehandelt
als ſie den Sonderbund mit Geld und Waffen unterſtützten? Das
alte Syſtem der bevormundenden Congreſſe zeigte ſich noch einmal in ſeiner
ganzen Unwahrheit. Die Staaten Europas waren durch zu mannichfache
Intereſſen mit einander verkettet, der hohe Gerichtshof der Pentarchie
konnte in irgend ernſten Streitfällen niemals ganz unparteiiſch verfahren.
General Dufour bedurfte der engliſchen Mahnungen nicht. Er ſah
mit ſicherem Soldatenblick, daß er ſeine große Uebermacht ſofort ganz
einſetzen mußte um den Sonderbund in raſchem Anlaufe niederzurennen.
So ward der Sieg geſichert, eidgenöſſiſches Blut geſpart, die Einmiſchung
der Fremden abgewendet. Die Truppen der Tagſatzung entwaffneten zu-
nächſt den Canton Freiburg, ſie zogen ſodann gegen die Hauptſtadt des
[732]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Sonderbundes und erzwangen ſich den Einmarſch in Luzern durch ein
kurzes Gefecht an der Reußbrücke bei Gislikon (23. Nov.); darauf wurden
die Urcantone beſetzt, endlich auch das Wallis unterworfen. Das Alles
war das Werk weniger Tage. Ueber alle Erwartung ſchwach zeigte ſich
die Widerſtandskraft des Sonderbundes, nach ſo mächtigem Parteigetöſe;
er verlor in den ſämmtlichen kleinen Gefechten dieſes kurzen Krieges nur
50 Todte und 175 Verwundete, die Sieger nahezu das Doppelte. Die
unbeſchränkte Cantonalſouveränität hatte keine Wurzeln mehr im Volke;
in den großen Verhältniſſen des modernen Verkehrs erſchien der heimiſche
Canton ſelbſt den Urner und Schwyzer Bauern klein und eng, ſie wollten
für dieſe verſinkende Gewalt nichts mehr opfern. Die nationale Idee
ſiegte auch mit geiſtigen Waffen; die ſittliche Ohnmacht des Particularismus
wurde hier ſo unwiderleglich erwieſen, wie ſpäterhin im Mainfeldzuge des
Jahres 1866. Einige der alten ruhmreichen Herrengeſchlechter der Schweiz,
die Salis, Kalbermatten, Courten verſuchten im Heere des Sonderbundes
noch einmal eine Rolle zu ſpielen. Doch ihre Zeit war vorüber; das
Kriegsglück war ihnen nicht mehr hold. Am wenigſten dem unfähigen
Oberbefehlshaber, dem Proteſtanten Salis-Soglio und ſeinem Adjutanten,
dem Landsknecht Friedrich Schwarzenberg.
Nach dem Siege konnte der wackere Dufour den wilden kirchlichen
Haß, der in dem politiſchen Kampfe mitwirkte, doch nicht überall bändigen;
in Freiburg zumal wurden Kirchen und Klöſter mit bilderſtürmeriſcher
Wuth geſchändet und geplündert. Manchen der ſiegreichen proteſtantiſchen
Cantone erſchien dieſer Krieg wie eine Vergeltung für die Niederlage,
welche die Sonderbundscantone vormals dem Reformator Zwingli bereitet
hatten; ſo zäh wurden hier dreihundertjährige Erinnerungen bewahrt.
Darum ließen ſich die Züricher von den geſchlagenen Luzernern die einſt auf
dem Schlachtfelde von Kappel erbeuteten Waffen Zwingli’s wieder ausliefern.
Im Vergleich mit anderen Bürgerkriegen erſchien die gewaltthätige Roheit
der Sieger doch nicht unerträglich und nach kurzer Zeit war die Ordnung
überall wieder geſichert. Unter dem Schutze der eidgenöſſiſchen Bajonette
wurden nunmehr in allen Cantonen des Sonderbundes neue Wahlen
vollzogen. Die alſo wiederhergeſtellte Tagſatzung beſtand faſt durchweg
aus Radicalen, ſie beſchloß ſofort, ohne daß der Papſt zu widerſprechen
wagte, die 274 ſchweizeriſchen Jeſuiten aus dem Lande zu weiſen und
begann ſodann an der Reform der Bundesverfaſſung zu arbeiten.
Wie lächerlich erſchien jetzt, nachdem die Entſcheidung längſt gefallen
war, die endlich vereinbarte Vermittlungsnote der großen Mächte, die am
7. Dec. überreicht wurde. Palmerſton hatte ſeinen Zweck erreicht und
erlaubte ſich zuletzt noch einen ſeiner boshaften Scherze. Der große Elchi
aus Pera, Lord Stratford Canning war mittlerweile als außerordentlicher
Bevollmächtigter in der Schweiz erſchienen und bemühte ſich mit engliſcher
Sittſamkeit, einerſeits die Geſandten der Großmächte milder zu ſtimmen,
[733]Verſpätete Vermittlung der Großmächte.
andererſeits die Tagſatzung vor der Propaganda des europäiſchen Radi-
calismus zu warnen. Er erhielt den geheimen Befehl, die von Palmer-
ſton mit unterzeichnete Vermittlungsnote nicht zu überreichen, falls der
Sonderbund unterdeſſen vernichtet wäre. So blieb England fern, und
Palmerſton erlebte die Freude, daß die vier anderen Mächte allein durch
eine höflich ablehnende Note der Tagſatzung dahin belehrt wurden: eine
Vermittlung ſei überflüſſig, da die zwei Parteien der Eidgenoſſenſchaft
nicht mehr beſtänden. Mit lautem Hohne begrüßte der Liberalismus
überall dieſe Abfertigung der großen Mächte; ſie hatten es durch ihre
Parteilichkeit dahin gebracht, daß der Untergang des Sonderbundes wie
eine Niederlage der alten europäiſchen Ordnung erſchien. Thiers ſagte
in der Kammer, die Haltung Guizot’s ſei die lebendige Contrerevolution.
Aus Frankreich, aus Süddeutſchland, aus Sachſen erhielt die Tagſatzung
Glückwunſch-Adreſſen; auch Jacoby mit ſeinen Königsbergern ſprach den
Schweizern feierlich ſeinen Dank aus; und Freiligrath ſang:
Spott und Hohn brachten die ſchweizeriſchen Händel allen Mächten des
Feſtlands, dem Könige von Preußen aber auch noch eine ſchwere perſönliche
und politiſche Demüthigung. An geheimen Waffen- und Geldſendungen
ſich zu betheiligen war Friedrich Wilhelm zu ſtolz und zu ehrlich. Um ſo
eifriger verlangte er das offene Eintreten des geſammten Europas für das
bedrohte Bundesrecht der Eidgenoſſenſchaft. Der ſchweizeriſche Radicalis-
mus, der im Grunde den Anſchlägen der weltbürgerlichen Propaganda wenig
geneigt war, erſchien ihm wie der unheilſchwangere Mutterſchooß der euro-
päiſchen Anarchie. Schon im Sommer 1846 ließ er nach London ſchreiben:
„Die Cantonalſouveränität, wie ſie die beſtehenden Verträge ſchützen, auf-
recht zu halten iſt für Preußen wegen Neuenburgs durchaus nothwendig.“
Als ſich ſodann die zweizüngige engliſche Politik enthüllte, da beſchwerte
er ſich bitter, daß Großbritannien ſeinen beſten und treueſten Alliirten,
Preußen preisgäbe, und Canitz klagte: „Theils leidenſchaftlicher Haß gegen
Guizot und Metternich, theils grundſätzliches Intereſſe für jeden Kampf
gegen die beſtehende Ordnung unter dem Vorwande des Fortſchritts iſt
das Princip des britiſchen Cabinets, und Bankrott der Legitimität ſeine
Firma.“*) Wunderbar wie der geiſtreiche König ſich ſelber in’s Geſicht
ſchlug. In Wien und Frankfurt vertrat er ehrenhaft die deutſche Bun-
[734]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
desreform, und in der Schweiz bekämpfte er leidenſchaftlich politiſche Ge-
danken, die doch ſchließlich auf daſſelbe Ziel hinausgingen. Wie oft hatte
ſein Vater einſt jeden Eingriff der Weſtmächte in die deutſche Bundespolitik
tapfer zurückgewieſen, obgleich die Hauptartikel der Deutſchen Bundesver-
faſſung doch auch in der Wiener Congreßacte verzeichnet ſtanden; und nun
verlangte der Sohn gemeinſamen Kampf der Großmächte für die unbe-
ſchränkte Souveränität von Uri, Schwyz und Unterwalden! Selbſt General
Gerlach, der die „germanomaniſchen“ Bundesreformpläne ſeines königlichen
Herrn ſchon viel zu kühn fand, konnte die unabweisbare Frage nicht
unterdrücken: mit welchem Rechte dürfen wir die Weſtmächte der deutſchen
Bundesreform fern halten, wenn wir ſie ſelbſt zur Einmiſchung in die
ſchweizeriſchen Bundeshändel auffordern?
Während der König alſo von einem großen Kreuzzuge der europäiſchen
Legitimität wider die radicalen Eidgenoſſen träumte, verabſäumte er ſeine
nächſten landesherrlichen Pflichten gegen das Juraländchen, das ſeinem
Herzen am theuerſten war und ſeine ſchweizeriſche Politik doch weſentlich
beſtimmte. Mit überſchwänglichen Worten lobte er „das wahrhaft erbau-
liche Betragen, die herrliche reine chriſtliche Geſinnung, die verehrungs-
würdigſte Haltung meines theueren geliebten Neuenburger Landes.“*) Und
er hatte Grund ſich dieſer Getreuen zu freuen. Das kleine Fürſtenthum
lebte glücklich dahin, eine Ariſtokratie mit demokratiſchen Formen, gleich
dem alten Rom, muſterhaft verwaltet, mit allgemeinem Stimmrecht für
den geſetzgebenden Körper, aber mit unentgeltlichen Aemtern, die dem-
nach ganz in den Händen der reichen Herrengeſchlechter blieben. Die
Freiheit der Niederlaſſung und des Gewerbebetriebs war ſo unbeſchränkt
wie nirgends ſonſt in der Schweiz; eine Menge von Fremden, zumeiſt
Schweizer, hatten ſich in den Fabrikſtädten Locle und La Chaux de Fonds
angeſiedelt; ein volles Drittel der Bevölkerung, mehr als in irgend einem
anderen Canton beſtand aus Ausländern. Die alten, durch Talent und
überlieferte Herrſcherkunſt ausgezeichneten Familien verdienten ſich ihre
Machtſtellung täglich durch neue Opfer; Armenhäuſer, Irrenanſtalten,
gemeinnützige Stiftungen jeder Art bezeugten den Bürgerſinn der Pour-
talès, Meuron, Rougemont. Der Führer der Ariſtokratie, Baron Cham-
brier, der langjährige Geſandte des Fürſtenthums bei der Tagſatzung, galt
bei Freund und Feind für einen der erſten politiſchen Redner der Schweiz.
Mit rührender Liebe hingen dieſe ehrenfeſten Royaliſten an ihrem Herr-
ſcherhauſe; ſie brachten den Namen des Legitimismus, der in Frankreich
und Spanien durch ſo mannichfache Sünden entwürdigt war, wieder zu
Anſehen, und ſelbſt als ſie nachher von ihrem Fürſten preisgegeben wurden,
haben ſie kaum jemals öffentlich ein Wort des Vorwurfs gegen die Hohen-
zollern geäußert. Aber jene ſo gaſtfrei aufgenommenen Fremden bildeten
[735]Neutralität Neuenburgs.
den natürlichen Kern einer im Stillen wachſenden demokratiſchen Oppo-
ſition, die den dynaſtiſchen Sinn der Eingeborenen als unſchweizeriſch,
den ariſtokratiſchen Staatsrath als reaktionär verhöhnte.
Als der neue König nach dem Dombaufeſte das Fürſtenthum beſuchte,
da jubelte ihm das freie Volk überall ſo herzlich entgegen, daß jeder Un-
befangene fühlen mußte, eine Republik Neuenburg wäre eine ebenſolche
hiſtoriſche Ungeheuerlichkeit wie etwa ein Herzogthum Bern oder ein Fürſten-
thum Luzern; auch die Geſandten Muralt und Ruchet, welche dem Könige
die Grüße der Tagſatzung überbrachten, nahmen aus dem wohlgeordneten
und zufriedenen Ländchen ſehr günſtige Eindrücke mit hinweg. Nachdem
der ſtaatsmänniſche Plan, dem Fürſtenthum wieder die althiſtoriſche Stellung
eines zugewandten Ortes zuzuweiſen, durch Metternich’s Gedankenloſigkeit
leider vereitelt worden war,*) gerieth der fürſtliche Canton auf der Tag-
ſatzung bald in eine tragiſche Lage. Er ſtimmte ſtets untadelhaft nach
dem Buchſtaben des Bundesrechts und hielt treulich das alte Verſprechen,
das die Vertreter der Eidgenoſſenſchaft alljährlich neu beſchwören mußten:
„mit allen Cantonen als gute Verbündete und Freunde zu leben.“ Strenge
Gerechtigkeit bleibt immer ehrwürdig; doch in Zeiten, die nach der Neu-
geſtaltung eines verlebten Rechts verlangen, wird ſie politiſch unfruchtbar,
ja ſie ward hier ſchlechthin unmöglich, ſeit der kirchliche Streit ſich ſo
verhängnißvoll mit dem politiſchen verkettete. Für die rechtswidrige Ver-
gewaltigung der Sonderbundscantone durften die Neuenburger Conſerva-
tiven nicht eintreten, ſchon weil die radicale Mehrheit die hohenzollern’ſche
Fürſtengewalt offen oder heimlich bekämpfte; doch ebenſo wenig konnte dieſer
altproteſtantiſche Canton, dies Land wo einſt der Reformator Farel gelehrt
hatte, die Partei der Jeſuiten ergreifen. So blieb nichts übrig als eine
gefährliche Neutralität, die auch vom Berliner Hofe gebilligt wurde. Als
nun in der Tagſatzung der Krieg verlangt ward, da ſagte Chambrier in
feuriger Rede (29. Oct. 1847): in dieſem gottloſen Kampfe handelt es
ſich weniger um eine Kriegsfrage als um Vernichtung (d’une question
de meurtre); und doch wollte er ſich auch nicht für den katholiſchen Sonder-
bund erklären, ſondern forderte für ſeinen Canton Neutralität, Befreiung
von der Pflicht eidgenöſſiſcher Heeresfolge. Die Bitte ward natürlich ab-
geſchlagen; vor den Waffen ſchwiegen die Geſetze.
Auf dieſen entſcheidenden Wendepunkt der Geſchicke Neuenburgs mußte
man in Berlin bei einiger Vorausſicht längſt vorbereitet ſein. Dort
wurden aber die Angelegenheiten des kleinen Fürſtenthums mit ſündlicher
Sorgloſigkeit behandelt. Das neuenburgiſche Departement des Auswärtigen
Amts, dem auch der tüchtige Friedrich Chambrier der Jüngere angehörte,
erledigte die laufenden Geſchäfte des Cantons mit der gewohnten preu-
ßiſchen Beamten-Pünktlichkeit. Der einzige Preuße im Canton, der Gou-
[736]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
verneur General Pfuel bekleidete ſein jetzt ſo wichtig gewordenes Amt
noch immer nur als ein Nebenamt neben ſeinem weſtphäliſchen Com-
mando und kam nur von Zeit zu Zeit herüber. Er ſah ſeit Jahren
richtig voraus, daß eine Verſöhnung mit den fanatiſchen Luzerner Ultra-
montanen unmöglich, eine Kataſtrophe unvermeidlich war,*) und konnte
ſich doch als Liberaler kein Herz faſſen zu den conſervativen Royaliſten.
Canitz aber lebte, wie ſein König, ganz in den Berechnungen einer großen
europäiſchen Reſtaurationspolitik, und über ſolchen erhabenen Plänen ver-
gaß er das Nächſte, die militäriſche Sicherung des gefährdeten Landes.
Schon ſeit Jahren hatten die beiden deutſchen Großmächte über einen
möglichen Einmarſch preußiſcher Truppen hin und her verhandelt; Metter-
nich aber kam immer wieder zurück auf den überklugen Satz: eines großen
Krieges ſind dieſe 80,000 Neuenburger nicht werth, und ein kleines Corps
hilft doch nichts.**) So unterblieb denn jede Rüſtung; für die friedens-
ſelige Politik dieſes Königs war das Wort nicht geſchrieben, daß um der
Ehre willen ſelbſt eines Strohhalms Breite verfochten werden muß.
Die Neutralität des Cantons ließ ſich von Rechtswegen gar nicht
anfechten, ſie ward auch von den altehrwürdigen Communalverbänden
des Landes, den vier Bourgeoiſien gut geheißen mit der feierlichen Er-
klärung, daß man ſich von dem angeſtammten Fürſtenhauſe niemals
trennen wolle. Zur Theilnahme an einem Bürgerkriege, bei dem beide
Theile das Recht offenbar verletzten, durfte der Fürſt von Neuenburg
rechtlich nie gezwungen werden; jetzt hieß es einfach: Noth kennt kein Gebot.
Eine Neutralität aber, die nicht durch die Waffen geſchützt wird, iſt lächer-
lich, völkerrechtswidrig, eines Königs unwürdig. Und wie leicht konnte
Friedrich Wilhelm, falls er nur die Augen offen hielt, ſeine Fürſtenpflicht
erfüllen! Wenn er ſeine Neuchateller Gardeſchützen mit noch einigen an-
deren Bataillonen rechtzeitig bereit hielt und im Augenblicke der Neutra-
litäts-Erklärung alsbald einrücken ließ, dann war er ſeines unbeſtreitbaren
Rechtes vollkommen ſicher; er konnte dann je nach Umſtänden entweder ſein
Fürſtenthum wieder in die freiere Stellung eines zugewandten Orts zurück-
treten laſſen oder ſich der neuen demokratiſirten Bundesverfaſſung der Eid-
genoſſen anſchließen — was unter einigen Vorbehalten wohl möglich war,
da der Fürſt in Neuenburg ja nur ſehr beſcheidene Rechte ausübte. Die
befreundeten Höfe von Darmſtadt und Karlsruhe mußten ſeinen Truppen,
wenn er es ernſtlich verlangte, den Durchzug unweigerlich geſtatten; nur
weil Preußen nicht kräftig auftrat, zeigte ſich auch Baden ängſtlich. Selbſt
Frankreich, das unter anderen Umſtänden die Anweſenheit preußiſcher
Truppen dicht vor ſeiner Grenze wohl ungern geſehen hätte, war als er-
klärter Feind der Zwölfermehrheit jetzt nicht im Stande zu widerſprechen.
[737]Neuenburgs Unterwerfung.
Der alte König hatte nach der Juli-Revolution faſt ſein ganzes Heer auf
Kriegsfuß geſetzt um Deutſchlands Neutralität zu ſchützen; der Sohn wagte
für die Neuenburger Royaliſten nicht einmal eine Brigade aufzubieten
und jammerte dann noch über ſeine Ohnmacht. Daß die große Mehrheit
der Neuenburger die ſchützenden Truppen ihres Fürſten mit offenen Armen
aufgenommen hätte verſtand ſich von ſelbſt; die Tagſatzung aber konnte
nimmermehr wagen zugleich gegen den Sonderbund und gegen Preußen
zu kämpfen. So lange die Eidgenoſſen noch nicht wußten, was man
dieſem Könige bieten durfte, hüteten ſie ſich ſorgfältig ſeine mächtige Krone
zu beleidigen. General Dufour weigerte ſich entſchieden, das Fürſtenthum
zu beſetzen, obgleich der König es unbeſchützt ließ, und ſelbſt der grobe
Ochſenbein wagte nicht offen zu widerſprechen, als der preußiſche Geſandte
Sydow zu Anfang Novembers mündlich die thatſächliche Schonung der
Neutralität Neuenburgs verlangte.*) Die beiden Schweizer wollten er-
ſichtlich abwarten, was das Kriegsglück bringen würde; vor Waffen konnten
aber nur Waffen ſichern.
Als nun die Eidgenoſſen ſiegten, da war der König tief beſchämt.
Nichts, gar nichts hatte er gethan um die Neutralität ſeines Landes zu
beſchirmen — was doch in ähnlichen Fällen ſelbſt ſchwache Staaten wie
Belgien nie verabſäumten. Auch ſeine Diplomatie verfuhr unbegreiflich
langſam. Erſt am 26. Nov. überreichte Sydow eine Note, welche der
Tagſatzung ankündigte, daß der König jede Verletzung der Neutralität als
Friedensbruch und Feindſeligkeit gegen ſich ſelbſt betrachten müſſe; zugleich
erbot ſich Friedrich Wilhelm zur Vermittlung und lud die Eidgenoſſen
ein, auf einem europäiſchen Congreſſe, der in der neutralen Stadt Neuen-
burg abgehalten werden ſollte, ihre Klagen und Gegenklagen vorzulegen.
Was konnte ein ſolcher Vorſchlag fruchten — zwei Tage nachdem Luzern
gefallen und der Sonderbund ſo gut wie vernichtet war? Die Tagſatzung
lehnte die Vermittlung ab und beſtritt dem Könige das Recht in den
inneren Angelegenheiten der Schweiz mitzureden. Nunmehr mußte auch
der Canton für die Schlaffheit ſeines Fürſten büßen; er wurde von der
Tagſatzung verurtheilt, etwa 440,000 Fr. Strafe für die unterlaſſene
Heeresfolge zu zahlen, und ſchutzlos wie er war konnte er ſich den völlig
widerrechtlichen Forderungen der Sieger nicht widerſetzen. Dabei verfuhr
die Tagſatzung noch immer mit einiger Schonung, weil ſie den König nicht
zu ſehr verletzen wollte und weil die rechtſchaffene Haltung der Neuenburger
Royaliſten doch ſelbſt die radicalen Gegner zur Achtung zwang. Der Can-
ton blieb von eidgenöſſiſcher Einquartierung verſchont; die Strafſumme
wurde niedrig bemeſſen, weit niedriger als die ſchweren, den Sonderbunds-
cantonen auferlegten Brandſchatzungen, und überdies, um die Form zu
wahren, nur zur Unterſtützung der Verwundeten und Hinterbliebenen
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 47
[738]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
aus dem Sonderbundskriege beſtimmt. Aber indem der König die Zah-
lung dieſer Buße genehmigte, hob er doch ſelbſt ſeine Neutralität that-
ſächlich auf und ſtellte ſeinen fürſtlichen Canton wieder unter die Ober-
gewalt der Tagſatzung. Gleich darauf, zu Weihnachten 1847, reiſte der
Gouverneur Pfuel heim; der letzte Preuße verließ das Land, und ſogar
der hannöverſche Geſandte Knyphauſen, der ganz auf Seiten der preu-
ßiſchen Krone ſtand, fand eine ſolche freiwillige Unterwerfung „wenig
ruhmvoll“.*)
Leider entſprach auch die Haltung des preußiſchen Volkes während
dieſer Wirren ſeinem alten Rufe nicht. In einer monarchiſchen Nation
muß Jeder fühlen: meines Königs Ehre iſt die meine; ſonſt bricht der
Thron in Stücke. Von dieſem Schweizerländchen aber wußte die große
Mehrzahl der Preußen gar nichts. Die liberale Preſſe beeiferte ſich, die
einfache Sachlage durch ſtaatsrechtliche Bedenken zu verwirren, da der
Canton ja nur dem Königshauſe, nicht dem preußiſchen Staate angehörte;
und nachdem der Monarch ſo blindlings für den Sonderbund Partei ge-
nommen, verbreitete ſich überall die thörichte Meinung, die treuen prote-
ſtantiſchen Neuenburger ſeien Jeſuitenknechte. Nicht blos die Königsberger
Radicalen jubelten den Siegern von Gislikon zu; auch in Berlin ſpotteten
Varnhagen und alle Aufgeklärten über den pfaffenfreundlichen König, ein
Witzbild ſtellte ihn mit einem Jeſuiten zuſammengebunden dar. Daß
Republikaner einem Fürſten gegenüber immer Recht haben müßten, galt
in dieſen unruhigen Tagen für ausgemacht. Ein ritterlicher Zorn über
die dem Hauſe Hohenzollern und mithin auch dem preußiſchen Volke be-
reitete Demüthigung zeigte ſich nur in engen Kreiſen.
Derweil der König alſo an Ort und Stelle gar nichts that um ſeine
fürſtlichen Rechte zu vertheidigen, träumte er noch immer von der Ein-
miſchung aller legitimen Mächte. Der große europäiſche Congreß in Neuen-
burg, der die Eidgenoſſen friedlich zu ihrer alten Bundesverfaſſung zurück-
führen ſollte, erſchien ihm als der Anker der Rettung; und wie ſollten
ſolche Pläne jetzt noch gelingen, nachdem die Sonderbundscantone ſich
bereits ergeben und der radicalen Mehrheit gehorſam angeſchloſſen hatten?
In leidenſchaftlichen Briefen an Bunſen verlangte er den Beiſtand der
großen Mächte, zumal des geliebten Englands, damit ihm ſein Neuenburg
erhalten bliebe; ſonſt würde er „compromittirt“. Daß er ſchon längſt
compromittirt war, fühlte er nicht. Auch durch höchſt unvorſichtige ver-
trauliche Briefe ſuchte er die Königin Victoria und den Prinzen Albert
zu gewinnen. „J’y joue cartes sur table“, ſagte er einmal, „das thut
aber nicht gut außer mit Seinesgleichen;“**) und doch konnten fürſtliche
Schreiben ſolchen Inhalts nach engliſchem Hofbrauche dem feindſeligen
[739]Neuer Verſuch einer europäiſchen Intervention.
Whigminiſterium unmöglich verborgen bleiben. Bunſen ſelbſt war jetzt
ganz begeiſtert für die liberaliſirende Politik Palmerſton’s, den er doch
früherhin wenig geliebt hatte; er fühlte ſich glückſelig in den fürſtlichen
Schlöſſern der großen Whigfamilien, er merkte nicht, wie derb dieſe gü-
tigen Gaſtgeber ihn wegen ſeines ägyptiſchen, kirchlichen, philologiſchen,
politiſchen Allerweltsdilettantismus verſpotteten, und ſprach von der un-
auflöslichen engliſch-preußiſchen Allianz mit einem ſolchen Feuereifer, daß
Canitz ihn ſchließlich ſehr ernſt zurechtweiſen mußte: „Wenn man in Paris,
in Wien, in St. Petersburg glaubt, daß wir dem Einverſtändniß mit
England zu Liebe gemeinſchaftliche Sache mit dem dermaligen britiſchen
Miniſter in den ſchweizeriſchen, italieniſchen, überhaupt in allen den Hän-
deln machen, wo der Radicalismus ſeine Fahnen aufpflanzt, ſo iſt es
meine unzweideutige Schuldigkeit dafür zu ſorgen, daß man wiſſe: das
ſei nicht die Politik des Königs und Seines Cabinets, folglich ſolle und
könne es auch nicht die Seiner Geſandten ſein.“*)
Währenddem war Radowitz, als es längſt zu ſpät war, in Wien
eingetroffen, um die Berufung der Neuenburger europäiſchen Conferenz
durchzuſetzen und zugleich die deutſchen Bundesreform-Vorſchläge ſeines
königlichen Herrn zu überreichen. Die deutſchen Pläne blieben ſchließlich
liegen, um der ſchweizeriſchen Händel willen. Ueber dieſe aber verſtändigte
man ſich leicht: nöthigenfalls ſollte die Einmiſchung der Großmächte durch
eine Handelsſperre, ja durch die Beſetzung der Grenzcantone Teſſin, Genf,
Baſel unterſtützt werden. Nach ſolchen Abreden kehrte Radowitz um Mitte
Decembers mit dem Grafen Colloredo zurück um nochmals die Willens-
meinung des Königs entgegenzunehmen. Friedrich Wilhelm war Feuer
und Flamme. Er hatte ſoeben den verdienten Hiſtoriker Monnard ſowie
andere durch die Radicalen des Waadtlandes Vertriebene gaſtlich in Preußen
aufgenommen und urtheilte über ſie: „alle ſind ſie liberale Schweizer;
was allerdings etwas Anderes wie liberale Deutſche heißt, da erſtere frei-
ſinnige Ehrenmänner, letztere meiſtens ohne Ausnahme conſtitutions- und
majoritäts-anbetende Schöpſe oder Intriguants ſind.“**) Maßlos, bis zur
Wuth erregt, ſah er in Bern das Centrum des europäiſchen Radicalismus,
der durch ſeine Genoſſen in ununterbrochener Kette bis nach Königsberg
wirke; im ſchlimmſten Falle, ſo ſagte er zu Colloredo, müßten Oeſterreich
und Preußen allein das Brutneſt der Revolution ausnehmen. Zu Weih-
nachten erſchienen die beiden Bevollmächtigten ſodann in Paris um den
Boden zu erkunden; Radowitz überbrachte ein Schreiben ſeines Herrſchers,
das den Bürgerkönig als den erhobenen Arm der europäiſchen Monarchien
verherrlichte.
Mit dieſem überſchwänglichen Gruße ſtimmten die unheimlichen Ein-
47*
[740]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
drücke, welche Radowitz in Paris empfing freilich nicht überein. Die
preußiſche Geſandtſchaft, Heinrich Arnim ſo gut wie ſein erſter Rath Graf
Hatzfeldt, beobachtete mit Entſetzen, wie verblendet dies tugendſtolze und
tugendloſe Regiment alle Zeichen der Zeit mißachtete. Die lärmenden
Reformbankette der Radicalen bekundeten laut den Groll der unvertretenen
Volksklaſſen gegen das allein herrſchende pays légal; der ſchmähliche
Fall des Miniſters Teſte, die Ermordung der Herzogin von Praslin und
ſo viele andere Skandäle in der vornehmen Welt bezeugten, wie tief dieſe
Herrſchaft des Geldbeutels ſchon in ihren ſittlichen Grundlagen zerfreſſen
war. In der Kammer ſprach Alexis v. Tocqueville das Kaſſandra-Wort:
Sehen Sie denn nicht, daß die politiſchen Leidenſchaften ſocial geworden
ſind? wir ſchlafen auf einem Vulkane! Angeſichts ſolcher Anzeichen ſagte
Guizot erhaben: Es giebt hier nur zwei wichtige Dinge: freie Vollmacht
von Seiten des Königs und die Stimmkugeln der Kammer. Ich habe
Beides, und wenn man ſich draußen den Kugeln der Kammer nicht unter-
wirft, ſo habe ich Kartätſchen um ihren Entſcheidungen Achtung zu ver-
ſchaffen. Und im Tone vollendeter Selbſtgewißheit gab er den Preußen
die gute Lehre: ſie müßten, nachdem ſie den Vereinigten Landtag ge-
ſchaffen, nunmehr als Gegengewicht das Präfekturſyſtem einführen; ihre
collegialiſchen Regierungsbehörden ſeien zu langſam und zu unabhängig.*)
Ebenſo verblendet zeigte ſich der Bürgerkönig ſelbſt. Eines Tages wies
er dem preußiſchen Geſandten wohlgefällig den Plan von Paris vor: wie
die Stadt von den neuen Forts ſo gänzlich eingeſchloſſen ſei; beim Straßen-
kampfe müſſe die Nationalgarde vorangehen; zeige ſie ſich unzuverläſſig,
ſo würde ſie von den nachfolgenden Linientruppen niedergeſchoſſen. Arnim
dachte im Stillen: wenn dieſe ruchlos zuverſichtliche Regierung dauert,
dann lebt kein Gott im Himmel mehr! Er verglich dies ideenloſe, allein
auf die ſcheinbare Geſetzlichkeit des Jahres 1830 und auf die bewaffnete
Macht geſtützte Regiment einer verdorbenen Uhr, deren Schlüſſel verloren
gegangen ſei.**)
Aehnlicher Befürchtungen konnte auch Radowitz ſich nicht enthalten.
Indeſſen wurde am 18. Jan. 1848 von Frankreich, Preußen und Oeſter-
reich eine gemeinſame Note unterzeichnet, welche die Eidgenoſſen auffor-
derte die Sonderbundscantone zu räumen und deren Unabhängigkeit an-
zuerkennen — was im Weſentlichen ſchon geſchehen war. Sodann ver-
langten die Mächte, eine Veränderung der Bundesverfaſſung dürfe nur
durch einſtimmigen Beſchluß erfolgen. Was wollte dieſe Forderung jetzt
noch bedeuten? Der Radicalismus herrſchte ja ſchon in der Tagſatzung,
und außer Neuenburg beſaß nur noch der conſervative Halbcanton Baſel-
Stadt den Muth, der ſiegreichen Partei zu widerſprechen. Das ver-
[741]Revolution in Neuenburg.
legene Schriftſtück bekundete nur die Rathloſigkeit des alten Syſtems.
Etwas kräftiger redete nachher eine ruſſiſche Note vom 13. Febr.; ſie ſchloß
ſich den Erklärungen der anderen Feſtlandsmächte an und drohte, bei
längerem Widerſtande würde der Czar die Neutralität der Eidgenoſſen nicht
mehr anerkennen. Die Tagſatzung antwortete wiederum ablehnend, ſie
berief ſich auf ihr Recht die ſchweizeriſchen Angelegenheiten allein zu ordnen.
Durch dieſen Notenkrieg wurde Friedrich Wilhelm’s Lieblingsplan, der
europäiſche Congreß in Neuenburg, rein unmöglich, und nun blieb nichts
mehr übrig als die angedrohte Beſetzung der Grenzcantone; doch ehe
man darüber einig werden konnte, brach die Revolution herein.
Furchtbar mußte König Friedrich Wilhelm für die Fehler dieſer thö-
richten Interventionspolitik büßen. Seine Neuenburger Royaliſten er-
warteten das Beſte von der Einmiſchung Europas, ſie hofften nunmehr
bald friedlich aus der Eidgenoſſenſchaft ausſcheiden zu können, weil ſie in
ritterlicher Begeiſterung ihren Monarchen für unüberwindlich hielten. Wie
gänzlich verkannten dieſe Getreuen doch die Lage! Die Tagſatzung ſelber
wünſchte freilich den gefährlichen Streit mit dem Könige von Preußen zu
vermeiden. Aber hinter ihr ſtanden die ſiegestrunkenen Radicalen. Sie
brannten darauf, die verunglückten Luzerner Freiſchaarenzüge glücklicher zu
erneuern; ſie kannten jetzt Friedrich Wilhelm’s Muth; ſie erſehnten den
Augenblick, da ſie über den unvertheidigten fürſtlichen Canton herfallen und
die letzte fremde Gewalt, die noch dazu monarchiſch war, aus der Eidgenoſſen-
ſchaft hinausfegen konnten. Und dieſer Augenblick kam, als die Kunde
von der Pariſer Februarrevolution eintraf. Am 29. Februar bildete ſich
in La Chaux de Fonds, dem Mittelpunkte der ausländiſchen Bevölkerung,
eine proviſoriſche Regierung. Durch Zuzüge aus den Nachbarcantonen ver-
ſtärkt, rückte ein Haufe von Freiſchärlern gegen die Hauptſtadt heran; der
alte Verſchwörer Courvoiſier, ein Adjutant Ochſenbein’s, führte den Haufen.
Königliche Truppen, die den Aufruhr mit leichter Mühe niederſchlagen
konnten, waren nicht zur Stelle, das kleine Schutzbataillon des Cantons
vermochte nichts auszurichten und ward aufgelöſt. Am 1. März war das
Neuenburger Schloß in den Händen der Rebellen. Der radicale Vorort
Bern aber trat die alten Verträge der Eidgenoſſen mit Füßen; er ver-
weigerte dem Baron Chambrier den nachgeſuchten pflichtſchuldigen Beiſtand,
und nahm ſchamlos Partei für den ſchlechthin frevelhaften Bundes-
bruch. Mit ſeiner Hilfe wurden die Fürſtenherrſchaft und ihr Staats-
rath geſtürzt, die ehrwürdigen vier Bourgeoiſien zerſtört, die uralte Ge-
meindefreiheit vernichtet und durch ein hartes Präfektenſyſtem erſetzt; auch
die Akademie mußte fallen, denn ſie vertrat die Wiſſenſchaft und war
mithin ariſtokratiſch. Eine rohe Demokratie verdrängte das alte etwas
ſteife, aber gerechte, ehrliche, gebildete ariſtokratiſche Regiment.
Und dieſem häßlichen Rechtsbruche mußte der unglückliche Fürſt,
der Alles ſelbſt verſchuldet hatte, jetzt mit gefalteten Händen zuſchauen,
[742]V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
da die Wogen der Revolution nunmehr auch über ihm zuſammen-
ſchlugen! Länderverluſte und Ländervertauſchungen hatte Preußen, wie
jeder große Staat, in den Wirren ſchwerer Kriegszeiten ſchon mehrmals
ertragen müſſen. Das aber war neu, daß ein Hohenzoller ſich mitten
im Frieden ein ſchönes Land von meineidigen Eidgenoſſen und einem
Haufen Aufrührer ungeſtraft rauben ließ, daß er ſich und ſeine Krone
einer verdienten Verachtung ausſetzte, die noch heute in den Hohnreden
der ſiegloſen Sieger fortlebt. Wie oft hatte dieſer König in überſchwäng-
lichen, faſt läſterlichen Worten ſeinen Unterthanen die angeſtammte Treue
gepredigt! Und was bot er ſelbſt den Treueſten ſeiner Treuen in ihrer
Todesnoth? Bitten und Klagen, zerknirſchte Briefe, unfruchtbare Ver-
wahrungen, phantaſtiſche Träume europäiſcher Reactionspolitik — doch
wahrlich nicht die ſchlichte Treue des deutſchen Mannes, nicht die Treue
des Königs, der den Degen des großen Friedrich’s führte. Aus Schwäche
hatte er den Neuenburgern die Treue nicht gehalten; und alsbald beſchied
ihm ein grauſames Geſchick, daß er ſelber die Untreue des Berliner
Pöbels erfahren mußte. Der Sturm brach los; und wie viele Leiden
und Kämpfe noch bis ſich die Königsmacht der Hohenzollern nach tiefem
Fall wieder frei aufrichtete. —
[[743]]
Beilagen.
[[744]][[745]]
XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
Zu Bd. II. 535 ff.
Aus den Akten des großh. ſächſ. Geh. Staatsarchivs in Weimar, die ich für die
vierte Auflage des 2. Bds. benutzen durfte, berichte ich hier noch einige Einzelheiten zur
Geſchichte des Jahres 1819.
Da die Höfe ſich ſchon ſeit Stourdza’s Schrift und dem Aachener Congreß ſehr
beſorgt wegen der Univerſitäten zeigten, ſo benutzte Großherzog Karl Auguſt, um ſein
geliebtes Jena vor Aergerem zu bewahren, einen von Hannover beim Bundestage an-
geregten Gedanken und ließ am 11. März 1819, noch vor Kotzebue’s Ermordung, durch
ſeinen Bundesgeſandten v. Hendrich den Antrag ſtellen: der Bund möge Vorſchriften
über die Disciplin der Univerſitäten erlaſſen, aber ohne Beeinträchtigung der uralten
akademiſchen Freiheit Deutſchlands. Im Mai ſendete er ſodann noch den Geh. Rath
Conta nach Frankfurt um dieſen Antrag nachdrücklich zu befürworten. Nach Sand’s
That ließ er durch den Staatsminiſter Graf Edling dem Bundesgeſandten ſchreiben: „Alle
Vorfälle, die ſeit einigen Jahren den unter den Studirenden zu Jena herrſchenden Geiſt
im Auslande verdächtig gemacht haben, ſind durch Ausländer bewirkt worden.“ Sand
ſei nur ein neuer Beleg dafür. (Edling an Hendrich 28. März 1819.) Demgemäß er-
ließen der Großherzog und Herzog Auguſt von Gotha am 30. März ein Reſcript an
die Univerſität, worin ſie ausſprachen, in den Jahren 1816 und 17 hätte die Jugend
das Vertrauen der Nutritoren nicht getäuſcht. Aber ſeitdem nehme der Geiſt der Stu-
direnden „zu Unſerem großen Mißfallen hier und da eine verderbliche Richtung“. Dieſe
Geſinnung „drohe ſich täglich mehr auszubreiten. Von ausländiſchen Univerſitäten und
fremden Schulen komme viel dieſes Giftes nach Jena;“ darum ſollten bis auf Weiteres
Ausländer nur mit beſonderer Erlaubniß ihrer Regierung zugelaſſen werden.
„Da die bei der Akademie hierauf angeſtellte Unterſuchung unter der Leitung des
Senats Schwierigkeiten zu unterliegen ſcheint“, ſo ernannte der Großherzog am 29. März
eine beſondere Commiſſion zur Nachforſchung nach Sand’s möglichen Mitſchuldigen. Sie
beſtand aus dem Kammerherrn v. Könneritz und dem Regierungsaſſeſſor Emminghaus.
Beide Beamte verfuhren als gebildete, der akademiſchen Bräuche kundige Männer, ge-
wiſſenhaft und wohlwollend, aber auch ſehr gemüthlich nach der behaglichen thüringiſchen
Weiſe; es ließ ſich nicht verkennen, daß die Regierung die großſprecheriſchen jungen Leute
nach Möglichkeit ſchonen wollte, und mancher von ihnen mag wohl auf einen leiſen
Wink rechtzeitig abgereiſt ſein. Von vornherein wurde die Unterſuchung verdorben durch
die Zerſplitterung der deutſchen Rechtspflege; denn zur ſelben Zeit war auch in Mannheim
eine Commiſſion zuſammengetreten, um den Mörder ſelbſt ſowie deſſen vermuthliche
Mitwiſſer zu verhören. Beide Commiſſionen handelten ganz ſelbſtändig, ſie verkehrten
mit einander nur durch einen umſtändlichen Briefwechſel, und die Weimariſche Com-
miſſion beſchwerte ſich (12. Mai), daß ſie die badiſchen Protocolle nicht erhielte, während
ſie ſelbſt ihre Protocolle nach Mannheim ſendete.
Der Verdacht richtete ſich zunächſt gegen Sand’s beſten Freund, den stud. theol.
Gottlieb Asmis aus Mecklenburg. Der war ſchon am 27. März, ſobald die Schreckens-
[746]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
nachricht in Jena eingetroffen war, nach Wunſiedel abgereiſt um Sand’s unglückliche
Eltern zu unterrichten, und man begnügte ſich vorläufig, ohne jeden Erfolg, eine Haus-
ſuchung bei ihm vorzunehmen. Erſt am 7. April, mehrere Tage nach ſeiner Rückkehr,
ſtellte ſich Asmis der Commiſſion — ſo gemüthlich ging Alles zu. Er erklärte unſchuldig,
das Verfahren gegen ihn hätte ihn „frappirt“, darum komme er ſo ſpät. Die Com-
miſſion nannte ihn ganz richtig einen gutmüthigen, unbedeutenden, ſehr unbeholfenen,
treuherzigen Menſchen, der den Mörder herzlich liebe und als politiſcher Schwärmer
wohl zu mancher Tollheit fähig ſei. Für einige Zeit wurde er zur Unterſuchungshaft
in das Carcer abgeführt. Bei den ſpäteren Verhören ſtellte ſich aber ganz unzweifelhaft
heraus, daß der junge Mann von den Mordplänen ſeines Freundes nicht das Mindeſte
geahnt hatte, ſonſt hätte er ſie ſicherlich vereitelt; „Mord bleibt Mord“ ſagte er ehrlich.
Ganz anders verlief die Unterſuchung gegen Dr. Carl Follen (oder Follenius, wie
er ſich damals noch nannte). Follen trat feſt und trotzig auf, mit der Sicherheit eines
gewandten Advocaten; bei heiklen Fragen zeigte er ſtets eine erſtaunliche Gedächtniß-
ſchwäche, die dem berechnenden, willensſtarken Manne wunderlich anſtand; er ſpielte mit
der Commiſſion wie die Katze mit der Maus. In dieſem kleinen Robespierre lag eine
ſtarke terroriſtiſche Kraft. Die Briefe der Freunde nannten ihn oft „einen überwiegenden
Menſchen“, der jeden Anderen ſittlich zermalmen und zerknirſchen könne; einmal baten
ſie ihn, einen hitzköpfigen jungen Genoſſen von unvorſichtigen politiſchen Aeußerungen
abzuhalten, er allein vermöge das. Da Follen im erſten Verhöre (2. April) ſich an
nichts mehr recht erinnern konnte, ſo wurde ſofort Hausſuchung bei ihm gehalten. Er ſah
ruhig mit an, wie der Univerſitätsſecretär und ein Regiſtrator ſeine Papiere zuſammen-
ſuchten. Plötzlich nahm er ein Papier aus dem Haufen — ein an ihn ſelbſt adreſſirtes
Schreiben aus Eiſenach vom Februar — ſteckte das Schriftſtück in die Taſche und er-
klärte: dieſer Brief gehöre ſeinem Bruder — was ſich ſpäterhin als unwahr erwies.
Dann eilte er aus dem Zimmer und kehrte erſt nach einigen Minuten zurück. Nunmehr
führten ihn die erſchrockenen Beamten alsbald wieder vor die Commiſſion. Hier verſprach
er ſeinen Bruder um die Erlaubniß zur Herausgabe des Briefes zu bitten, er ging
hinweg und überbrachte nach längerer Friſt die Meldung: ſein Bruder verweigere die
Auslieferung. Jetzt endlich gelangte die Commiſſion zu dem weiſen Schluſſe: der Brief
ſei wohl ſchon vernichtet, und man müſſe in Eiſenach dem wahrſcheinlichen Abſender
nachforſchen. Follen blieb auf freiem Fuße und benutzte die Zeit um mit Asmis zu
verhandeln. Einige Leute auf der Gaſſe ſahen ihn, wie er aus einem dichtbenachbarten
Hauſe, aus dem Fenſter des stud. v. Wintzingerode mit dem gefangenen Asmis im
Carcer ſprach; ein Student ſtand mit am Fenſter, mehrere der Zeugen glaubten, das
wäre Wintzingerode ſelbſt geweſen. Selbſt die Commiſſion konnte ſich jetzt der Ver-
muthung nicht erwehren, daß dort Colluſion getrieben worden ſei. Follen aber be-
hauptete, er hätte den Gefangenen nur freundſchaftlich begrüßt, und als man ihn ſodann
nach jenem Studenten, dem einzigen Ohrenzeugen des Zwiegeſprächs befragte, da wurde
er wieder von ſeiner krankhaften Gedächtnißſchwäche befallen (Protocoll vom 3. Mai).
Er konnte ſich auf den jungen Mann ſchlechterdings nicht beſinnen, und das Geſpräch
war doch erſt vor wenigen Tagen abgehalten worden. Tags darauf, am 4. Mai wurde
er von dem Univerſitätsſecretär nochmals vernommen; wieder konnte er ſich an nichts
mehr erinnern, indeß verſprach er bis zum Ende der Woche mitzutheilen, ob ihm der
Name inzwiſchen eingefallen wäre. Am 7. Mai ſchrieb er in der That an die Com-
miſſion: er wiſſe nichts; „die Sache war mir damals ſo unbedeutend, und mein Ge-
bächtniß iſt für ſolche mir unbedeutende Dinge ſo ſchwach.“ Der geniale Gedanke nunmehr
Wintzingerode ſelbſt zu befragen, ſcheint der Commiſſion nicht aufgeſtiegen zu ſein; die
Protocolle wenigſtens ſagen nichts darüber.
Bei einem ſo urgemüthlichen Verfahren hatte die grundſätzliche Verlogenheit der
Unbedingten leichtes Spiel. Aus verſchiedenen Anzeichen und Ausſagen ergab ſich mit
höchſter Wahrſcheinlichkeit, daß Follen, obgleich er ſelbſt in beſchränkten Verhältniſſen
[747]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
lebte, dem Mörder das Geld für die letzte Reiſe gegeben, auch ein Packet mit Papieren,
die nachher zum Theil in den Zeitungen erſchienen, von Sand zur Aufbewahrung er-
halten hatte. Beſonders auffällig war dabei der Umſtand, daß Sand, der ſonſt alle
ſeine kleinen Schulden peinlich genau in ein beſonderes Schuldbüchlein eintrug, dieſen
letzten und größten Schuldpoſten nicht verzeichnet hatte. Follen wußte wieder, Dank
ſeinem ſchwachen Gedächtniß, nichts Sicheres anzugeben. Sand aber verſicherte in den
Mannheimer Verhören, daß er das Reiſegeld von Asmis empfangen und dieſem auch
das Packet übergeben hätte. Das war dem armen Asmis doch zu arg. In höchſter
Erregung, unter ſtrömenden Thränen betheuerte er wieder und wieder: ich kann das
nicht zugeben, „ſelbſt wenn ich Sand einen Gefallen damit thäte.“ Die Verzweiflung
des ehrlichen Jungen war offenbar ungeheuchelt, und die Commiſſion gerieth jetzt endlich
auf die Muthmaßung, welche minder gemüthliche Leute wohl ſchon früher gefaßt hätten:
daß die Eingeweihten mit ihrem Lügenſpiele nur bezweckten, den Kopf ihres Häuptlings
Follen um jeden Preis aus der Schlinge zu ziehen. Am 28. Mai ſchrieb ſie daher an
die Mannheimer Commiſſion: „Könnte Sand nicht vielleicht den Verdacht von An-
deren, die nach ſeiner Anſicht als kluge umſichtige Männer bei wichtigen Gelegenheiten
für Deutſchland brauchbar und von Bedeutung werden könnten, abwenden wollen und
vorziehen, einen gewöhnlichen unbedeutenden Menſchen, von dem er künftig nichts Großes
erwartet, vorzuſchieben?“ Oder Sand hoffe vielleicht, Asmis würde die Schuld freiwillig
auf ſich nehmen — was bei deſſen Schwärmerei nicht unmöglich ſei — und Asmis hätte
die Abſicht nur nicht verſtanden?!
Unterdeſſen wurde Follen, da ſein hartnäckiges Lügen und ſeine beiſpielloſe Ge-
dächtnißſchwäche doch verdächtig ſchienen, am Morgen des 11. Mai endlich verhaftet und
nach Weimar abgeführt, wo die Commiſſion jetzt tagte. Bei einer zweiten Hausſuchung
fand man einen langen, überſchwänglichen Brief von Sand’s Mutter an Follen. Die
unglückliche, verblendete Frau verglich „unſeren reinen, großen Märtyrer“ mit Martin
Luther und ſchrieb: „In vieler Hinſicht hat er auch gewiß mit dieſem ehrwürdigen Re-
formator in gleichem Schritt aber nur verſchieden gewirkt.“ Das Grab in Mannheim
wollte ſie mit Blumen ſchmücken laſſen „bis vielleicht einſt Deutſchland dankbar eine
Säule ſetzt“ [was bekanntlich ſeitdem geſchehen iſt]. Zu Follen ſagte ſie: „Gott ſegne
es Ihnen, der Sie ſein Leben mit ſtarker Hand ſchützen.“ Dieſe Worte bezogen ſich auf
den im Kreiſe der Unbedingten oft erwogenen thörichten Plan der gewaltſamen Befreiung
des Mörders. Follen aber erklärte zu Protocoll: das geht auf meine Abſicht, für die
That zu ſchreiben, „eine Vertheidigung dadurch, daß ſie in ſubjectiver Hinſicht, nach
Sand’s dabei gehabter Meinung dargeſtellt würde.“ In dem Verhöre vom 11. Mai
wiederholte ſich das alte Spiel; Follen’s Gedächtniß blieb unverbeſſerlich ſchwach. Als
ihm Könneritz endlich vorhielt, es ſpreche nicht zu ſeinen Gunſten, wenn er auch jetzt
noch beſtändig verſichere, „daß er ſich dieſes nicht erinnern könne,“ da erwiderte Follen
frech: „das ſei ihm ein ganz neuer eriminalrechtlicher Grundſatz,“ und proteſtirte gegen
die geſammte Unterſuchung. Der ganze Hergang beweiſt ſchlagend die Vorzüge des
öffentlich-mündlichen Verfahrens; vor einem heutigen Gerichte hätte ſich ein Mann von
Follen’s Ruf und Bildung ein ſolches Spiel auf die Dauer nicht erlauben können.
Schon Tags darauf, 12. Mai, verlangte Follen durch ein Schreiben an die Commiſſion
ſeine ſofortige Freilaſſung, da er ſeine Collegien nicht verſäumen wolle, und ſetzte mit
caſuiſtiſcher Geſchicklichkeit auseinander, man könne ihm doch höchſtens Unterlaſſung der
Anzeige vorwerfen, und dieſe ſei ſtraflos. In Folge dieſes Schreibens wurde er noch
am ſelben Tage mit Asmis confrontirt, doch wieder ließ ihn ſein Gedächtniß im Stiche.
Nun ward er freigegeben. In den ſpäteren Verhören (23. Mai, 8. 10. Juni) nochmals
das gleiche Poſſenſpiel; immer wieder hieß es, „eine genaue Erinnerung ginge ihm
nicht bei.“ Als Sand endlich Einiges von ſeinen Lügen zurücknahm, da meinte Follen,
Sand müſſe wohl nicht bei Sinnen geweſen ſein, und erbot ſich zu beſchwören, daß er
jenes Packet von Sand nie erhalten hätte — ein Eid, der ihm nach dem Grundſatze
[748]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
der Unbedingten nicht ſchwer fallen konnte. Ueber die Unbedingten ſagte er harmlos,
wie um die Commiſſion zu verhöhnen: „ein Unbedingter iſt ein Menſch, der unbedingt
nach Ausbildung ſtrebt und unbedingt nach ſeiner Ueberzeugung handelt.“
Auch der Philoſoph Fries wurde verhört (3. Apr. ff.). Er hatte von der radicalen
Partei in der Burſchenſchaft keine Ahnung und wollte nicht einmal glauben, daß ein
engerer Bund beſtanden hätte. Aber ſeltſam, wie ſtark die Moral der ſubjectiven Em-
pfindung, welche die Köpfe der Jugend verwirrte, auch dieſen Lehrer bethörte. Er meinte
ganz unbefangen: Sand war von vielen Commilitonen überzeugt, daß ſie zu Allem was
ſie für ebenſo gut und heilſam erkännten, ebenſo wie er, ſtündlich und mit Aufopferung
ihres Lebens bereit ſeien. Die Verwirrung der Begriffe war allgemein, und nur Wenige
dachten ſo nüchtern, wie der alte Frommann, der (28. März) ſeinem Sohne, dem Burſchen-
ſchafter ſchrieb: „Und nun unſere jungen Solone und Ariſtarche! Wie ſind ſie ſo ſelig
in einer Reihe von Trugſchlüſſen und Inconſequenzen; wie verirren ſie ſich in halb-
und mißverſtandenen Collegienſätzen; wie fertig ſind ſie über alle Verhältniſſe des Lebens
und des Staates. Es betrübt mich auf’s Innigſte, es ſchmerzt mich tief, denn wahrlich,
ſo gehen wir einer beſſeren Zeit nicht entgegen.“ Der turnfreundliche Mediciner Kieſer
wußte auch nichts auszuſagen und erging ſich ſchon in jener ſinnigen Theorie, welche
ſeitdem zum mediciniſchen Sport geworden iſt; er vermuthete, Sand wäre wohl geiſtes-
krank, vielleicht gar erblich belaſtet. (Kieſer an den Akad. Senat, 4. April.) Ebenſo
fruchtlos blieb ein mit dem jungen Heinrich Leo angeſtelltes Verhör (3. April). Auch
der Vorſtand der Burſchenſchaft wurde, auf Befehl Karl Auguſt’s, vernommen, und da
die Burſchenſchaft als ſolche mit den Unbedingten nichts zu ſchaffen hatte, viele ihrer
Mitglieder nicht einmal das Daſein des Geheimbundes kannten, ſo berichtete die Com-
miſſion ſchon am 28. April dem Großherzog: „Wir können jetzt mit voller Ueberzeugung
ausſprechen, daß die Burſchenſchafts-Verbindung und ihre Grundſätze gewiß auch nicht
den entfernteſten Einfluß auf die Sand’ſche That gehabt haben, daß die Burſchenſchaft
noch in ihrer urſprünglichen Reinheit beſteht, ja daß dieſelbe ſelbſt vielleicht in der letzten
Zeit, wo ſie einen größeren Umfang, der Zahl der Mitglieder nach, bekam, einen mehr
heiteren, der Jugend und der Beziehung, in welcher ſie zum Staate ſteht, angemeſſeneren
Charakter annahm.“ Dieſe wohlwollenden Worte ſtanden allerdings nicht recht im
Einklang mit dem Urtheil des edlen Fürſten ſelbſt, der erſt fünf Wochen früher öffentlich
ausgeſprochen hatte, der Geiſt der Studirenden nehme in der neueſten Zeit hie und da
eine verderbliche Richtung. Schließlich wurde dem Dr. Follen mit Sicherheit nur das
Eine nachgewieſen, daß er dem Mörder das Reiſegeld gegeben hatte; und damit ließ
ſich juriſtiſch nichts anfangen. Zur weiteren Kennzeichnung der damaligen Zuſtände
deutſcher Rechtspflege diene dann noch die Thatſache, daß Geh. Rath Conta, nachdem
er von Frankfurt aus die Mannheimer Commiſſion beſucht hatte, die dorthin geſendeten
Weimariſchen Akten in ſeinem Wagen wieder heimbrachte, weil man ſolche Papiere der
Thurn- und Taxis’ſchen Poſt doch nicht gut anvertrauen konnte. (Conta’s Bericht an
den Großherzog, 4. Mai 1819.) Es kann nicht die Aufgabe des Hiſtorikers ſein, nach-
träglich die Rolle des Staatsanwalts zu ſpielen. Das Urtheil aber, das ich früherhin
über Follen’s Charakter und politiſche Wirkſamkeit ausgeſprochen habe, muß ich bis auf
das letzte Wort noch aufrecht halten, ſeit ich die Weimariſchen Protocolle kenne. — —
Aus mannichfachen Briefen und Erzählungen iſt bekannt, wie früh ſchon der un-
glückliche Sand ſich mit unbeſtimmten Träumen von einem heroiſchen Opfertode ge-
tragen hat. Als weiterer Beleg folgt hier ein Stammbuchblatt, deſſen Original mir
ein befreundeter Leſer mittheilt:
Unſer Tod iſt Heldenlauf, kurzer Sieg, früher Tod! Thut nichts, wenn wir nur
wirklich Helden ſind. Wenn wir nur ringen im ſteten Aufſchwung und Gebet zum
heil’gen Vater und in friſcher Begeiſterung leben für das was ſein Wille iſt. Siegen
werden wir immer wenn wir nur ſelbſt tüchtig und friſch ſind. Früher Tod bricht nicht
die Siegesbahn, wenn wir nur auf ihr als Helden ſterben. So ſei denn unſer Wahl-
[749]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
ſpruch: Frommen Glauben an Gott demüthig bewahren im Herzen und thätig
lieben ſeine Sache hier auf Erden, thätig lieben unſer Volk und Vaterland. Frei
müſſen wir leben oder frei zu den glücklichen Vätern gehen. Walte Gott mit uns!
Wenn Du einſt feſt Fuß faſſeſt im Voigtlande, ſo gedenke Deines in gleichem
Streben begriffenen Nachbars im Fichtelgebirge und halte deutſche Freundſchaft
zum Frommen des Vaterlandes mit Deinem
Jena, d. 21. Juni 1818.
Karl Ludwig Sand,
der G. G. Befliſſenen aus Wunſiedel. — —
Die unſchuldigen patriotiſchen Hoffnungen, welche die Jugend zur Zeit des Wart-
burgfeſtes bewegten, finden ſich treulich ausgeſprochen in einer Weiſung, die der Kieler
Franz Hegewiſch ſeinem jungen Freunde, dem Kieler Studenten Juſtus Olshauſen —
dem ſpäterhin berühmten Orientaliſten und langjährigen Referenten für die preußiſchen
Univerſitäten — auf die Wartburgsfahrt mitgab. Hegewiſch war damals 34 Jahre alt,
ein geſcheidter, menſchenkundiger Arzt. Seine Grundſätze erinnern an das bekannte
„Glaubensbekenntniß“ des Philoſophen Fries; nur ſind ſie weit klüger, beſonnener, po-
litiſcher. Immerhin beweiſen ſie, in was für verſchwommenen hochſinnigen Träumen
die ganze Zeit noch lebte.
Vorſchlag
zu einigen Beſchlüſſen, welche am 18. October auf der Wartburg gefaßt und
ausgeſprochen werden mögen.
(Gerechtigkeit muß werden auf Erden!)
Gegen den gefährlichſten, gehäßigſten Feind ward gekämpft von den Deutſchen, mit
Anſtrengung, mit Glück, mit Seegen. Aber wofür ward gekämpft? für eine beßere Zeit.
Die Zeit der Gerechtigkeit ſoll werden. Nicht vergebens ſey das Blut der deutſchen
Jünglinge gefloßen; willig und freudig ward es gegeben, damit das Recht ſicher ſey vor
Gewalt, nicht nur von außen, ſondern auch von innen. Wir dürſten nach Gerechtigkeit
und Ordnung; wir wollen, daß gute Geſetze herrſchen.
Deutſchland iſt fruchtbar an heldenmüthigen Jünglingen, welche froh in den Kampf
gingen mit dem Feinde der Deutſchen, dem Feinde aller Tugend und Wahrheit. Aber
nimmer wäre der Sieg gelungen, wenn nicht die kampfbegierigen Jünglinge geordnet
worden, und die geſammelten Kräfte ordnungsmäßig zur rechten Stunde und am rechten
Ort gewirkt hätten.
Deutſchland iſt voll von wohlgeſinnten und wohlunterrichteten Jünglingen, deren
Herz ſchwellt von Wünſchen für das Wohl des Ganzen, deren Ungeduld zu wirken im
Guten von Tag zu Tage wächſt. Soll aber nicht unfruchtbar und ohnmächtig ſeyn der
reine Wille und die tüchtige Kraft, ſo müſſen dieſe nicht in’s unbeſtimmte Allgemeine
ſtreben, ſondern ſie müßen geordnet und auf beſtimmte Ziele gerichtet ſeyn. Künftig
müßen und werden geſetzliche Wege ſeyn, auf welchen die Wünſche braver unterrichteter
Männer des Landes zum Fürſten, zur Oeffentlichkeit gelangen. Das wird künftig ſeyn.
Da es jetzt noch in dem allergrößten Theile Deutſchlands an den geſetzlichen Wegen
fehlt, da der 13te Artikel der Bundesacte in dem größten Theile Deutſchlands noch
nicht zur Ausführung gebracht wird, ſo geſchehe das Nützliche durch freie Vereinigung
der Geſinnungen und Kräfte an gewißen Uebergangspuncten aus der alten in die neue
Zeit, ſo geſchehe das Nothwendige auf ungewöhnlichem Wege durch freie Beſchlüſſe der
verſammelten deutſchen Jugend am frei gewählten heiligen Orte. Unſere Wünſche und
Begehren laßt in beſtimmte Sätze gefaßt werden, denen die abweſenden Gutgeſinnten
ſich nach und nach anſchließen mögen. Dieſer unvollſtändige Verſuch, von dem der Ver-
faſſer glaubt, daß er nichts enthält was mit dem guten Geiſt der deutſchen Bundesacte
in Widerſpruch ſteht, wird als Vorarbeit bekannt gemacht, damit durch Berathung und
Beiträge Vieler ein vollſtändiges Glaubensbekenntniß der gegen weltliche Tyrannen Pro-
teſtirenden zum künftigen 18. October zu Stande komme.
[750]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
Grundſätze vom 18. October.
Die Gelegenheit iſt flüchtig, das Leben voll Schwierigkeit; der Geiſt verduftet; darum
laßet in guter Stunde gute Entſchlüße gefaßt und als gemeinſchaftliche Beſchlüße bekannt
gemacht werden.
Wir an der Wartburg verſammelten Jünglinge aus vielfachen Gegenden Deutſch-
lands, (hier werden die hauptſächlichſten Flüße und Berge benannt, aber keine politiſchen
Bezeichnungen,) haben wohl überlegt, ſind überzeugt, ſtimmen überein, und haben be-
ſchloßen, wie folgt:
1. Ein Deutſchland iſt; ſoll ſeyn und bleiben. Wir können nicht glauben, daß
Deutſchland aus 38 Inſeln beſtehe. Wir Deutſche ſind Brüder, wir wollen Freunde
ſeyn. Wenn auf dem Schlachtfelde Deutſche gegen Deutſche kämpfen, ſo iſt’s Bruder-
mord. Wer deutſche Krieger gegen deutſche Krieger führt, der iſt des Brudermords
ſchuldig.
Wir verſprechen uns gegenſeitig, daß wir nie uns mit den Waffen im Felde gegen-
überſtellen wollen; wir verſprechen, daß wir nie gegen unſere deutſchen Brüder im Felde
fechten wollen; und machen uns anheiſchig, allenthalben, ſo weit wir vermögen, die Lehre
zu verbreiten und zu verſtärken, daß Kampf deutſcher Krieger gegen deutſche Krieger fluch-
würdiger Brudermord ſey.
2. Wir vergeßen der für deutſche Freiheit gefallenen Kämpfer nicht. Wir ſind
überzeugt, daß, wenn je in Deutſchland die Dankbarkeit gegen diejenigen, durch welche
Gott uns errettete vom Joch des fremden Tyrannen, erlöſchen würde, die Deutſchen
wiederum reif ſeyn würden, in fremde Knechtſchaft zu ſinken. Die Pflicht, den 18. Oc-
tober zu feiern, iſt Pflicht jedes ehrlichen und frommen deutſchen Mannes, jedes ehrlichen
und frommen deutſchen Fürſten.
3. Die Lehre von der Spaltung Deutſchlands in Norddeutſchland und Süddeutſch-
land iſt irrig und falſch, iſt Lehre aus dem Munde eines böſen Feindes. Wir verſprechen
uns gegenſeitig, dieſe Lehre zu bekämpfen, und das unſrige zu thun, um dieſe falſche
Lehre und alles was künſtlicherweiſe die Theilung Deutſchlands noch mehr befördern
könnte, zu bekämpfen und zu unterdrücken.
4. Wir, des heiligen ungeſchriebenen und des geſchriebenen deutſchen Bundes, welchen
die hohen Fürſten und die freien Städte Deutſchlands abgeſchloßen haben, theilhaftige
Jünglinge bekennen, von der Wahrheit dieſes Satzes und dieſer Schlußfolge überzeugt
zu ſeyn: Wird ein Theil des deutſchen Landes angegriffen, von Weſt oder Oſt, von Süd
oder Nord, ſo wird Deutſchland angegriffen, ſo müße der Krieg ein Krieg aller Deutſchen
ſeyn. Wir ſehn ein, daß wenn Oder und Rhein nicht ſicher ſind, keine Sicherheit um
Elbe und Donau ſeyn kann.
5. So viel uns Gelegenheit gegeben wird, wollen wir, jeder in ſeinem Kreiſe, dahin
wirken, daß Landwehr und Landſturm in Ehren gehalten, ihrer Pflicht immer lebhafter
bewußt, und in den Waffenübungen tüchtig werden.
6. Wir wollen, ſo viel an uns liegt, ehren die Könige und Fürſten und Ober-
häupter der monarchiſchen Staaten, als dem Ehre gebührt, als welche das Beſte ihres
Landes wollen und nichts anderes wollen können, als von welchen kein Unrecht kommen
kann. Wir bekennen uns zu der Lehre, daß wenn nichts deſtoweniger Unrecht im Namen
des Fürſten geſchieht, die Schuld davon auf die oberſten Beamten fällt, welchen Haft und
Strafe, dem Unrecht angemeßen, gebührt.
7. Dem gerechten, dem edlen Großherzog von Weimar bringen wir unſere Hul-
digung dar. Möge das Lob der Jugend, welche noch nicht verlernt hat, das Gute und
Schöne zu lieben, das Haßenswerte zu haßen, ihm eine Vorbedeutung ſeyn für das Lob,
welches die aller Furcht vor den jetzt lebenden Feinden des Guten entbundene Nachwelt
ihm geben wird. Er zuerſt hat aus tiefer Erkenntniß und Werthſchätzung des deutſchen
Volkes, ohne Zwang, ohne Widerwillen, ohne unedle Rückſichten und Aengſtlichkeiten das
in Wien, zur Zeit der Gefahr, gegebene Wort der deutſchen Fürſten gelößt, und in ſeinem
[751]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
Lande eine verbeßerte Verfaßung geſtiftet, welche das meiſte Muſterhafte für alle deutſchen
Lande enthält. Wir Jetztlebenden wollen täglich rufen den Spruch: Gott ſegne Blücher
und Weimar!
8. Wenn in faſt allen andern deutſchen Landen noch gezögert wird, das heilige
Verſprechen des 13ten Artikels der deutſchen Bundesacte in Ausführung zu bringen, ſo
wollen wir doch nimmermehr verzweifeln an dem feierlich gegebenen Worte der Fürſten
und Herrſcher. Wir wollen vertrauen und eben deswegen mahnen. Das Unheil der
unabſehlichen Verzögerung werde nicht den Fürſten zur Laſt gelegt, ſondern die Schuld
davon müßen die Miniſter tragen. Welcher Miniſter dem Fürſten anrathen möchte, Eid
und Wort, ſchnell oder langſam, zu brechen, der wäre Hochverräther. Das Volk hat
das Recht und die Pflicht, zu bitten, daß der Fürſt ſolchen Miniſter, der ſich des Hoch-
verraths ſchuldig macht, entferne.
9. Wir wollen gehorchen dem Geſetz, dem vom Oberhaupt des Staates ſanctio-
nirten und ausgeübten, zuvor von erwählten Abgeordneten des Volks öffentlich geprüften
und berathenen Geſetze; im proviſoriſchen Zuſtande der ohne Zuziehung der Volksver-
treter ausgeübten Geſetzgebung wollen wir uns alles ſträflichen Ungehorſams enthalten.
10. Wir erklären, daß wir mit dem Worte „Souveränität“, das vom Rheinbunde
herſtammt, nicht den Begriff von Despotie verbinden können, noch wollen. Wir er-
klären auch, daß wir keine andere wünſchenswerthe Gleichheit kennen, als die Gleichheit
vor dem Geſetz, wie ſie in England längſt beſtanden, und für Frankreich in der con-
ſtitutionellen Charte von Ludwig XVIII. wirklich ausgeſprochen iſt.
11. Wir bekennen, daß wir von der Wahrheit des in der Vorzeit Deutſchlands
begründeten Satzes: nicht Auflagen ſondern Abgaben! überzeugt ſind; ſo wie
auch von der Wahrheit, daß die Bewilligung der Abgaben nur von erwählten Ab-
geordneten des Volks geſchehen könne, und zwar nur für ein Jahr. Wir bekennen, daß
wir überzeugt ſind von der Richtigkeit dieſer Schlußfolge: Was jemand beſitzt, iſt ſein
Eigenthum, weil es ſein ausſchließliches Eigenthum iſt; Schutz des Eigenthumsrechtes
iſt der Hauptzweck des Staates; dieſer Zweck würde vernichtet, wenn dem Oberhaupt
des Staates das Recht zuſtände, nach Willkür Steuern zu fordern; alſo kann dem
Staatsoberhaupt nicht das Recht zuſtehn, nach Willkür jedem Bürger jedweden Theil
ſeines Vermögens abzufordern. Was kann derjenige ſein nennen, dem ein anderer ab-
fordern kann, wie viel, wann, wie oft er will?
12. Wir erkennen, daß den Beſitzern größerer Güter eine ganz vorzügliche Stimme
gebührt in Berathung über Landesangelegenheiten, entweder nach dem Muſter der Wei-
marſchen Verfaßung, oder in eignem Senate, worin jedoch nicht Deputirte aller größern
Gutsherrn ſeyn dürfen.
13. Wir ſprechen laut unſeren Abſcheu aus vor den Banden der Leibeigenſchaft, welche
noch jetzt auf deutſchem Boden unter dem Schein des Rechts beſteht. Wir ſind überzeugt,
daß kein Seegen über unſer Vaterland kommen kann, ſolange ſolcher Schandfleck beſteht.
14. Wir erkennen, daß die Gerechtigkeit nicht gebannt iſt, noch gebannt werden
kann in ein anderes deutſches Buch; aber auch daß ſie nicht gebannt iſt in ein älteres
Buch, welches entſprang bei einem Volk, das in den beßern Zeiten, der Mehrzahl nach,
aus Sklaven beſtand, und in der ſpäteren Zeit gänzlich. Wir bekennen die Meinung,
das ſicherſte Mittel zur Förderung des einheimiſchen Rechts möchte ein Verbot ſeyn, das
Römiſche Recht vor Gericht zu citiren. Wir bekennen, daß wir als weſentliche Ver-
beßerungen betrachten und hoffen: die Einrichtung von Geſchworenengerichten, die öffent-
liche Gerichtspflege, die Aufhebung der privilegirten Gerichtsſtände (mit Ausnahme der
etwaigen Senatoren).
15. Wir verſprechen, daß wir den geiſtlichen Stand ehren wollen, und das unſrige
thun wollen, damit dieſer Stand wieder zu der ihm gebührenden Achtung gelange. Wir
wollen den arbeitenden Bürger ehren. Wir wollen dem Stolz müßiger Gelehrſamkeit,
wenn ſie nicht mit Thatkraft verbunden iſt, keine Nahrung geben durch übertriebene
[752]XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
Werthſchätzung. Wir begreifen, daß die gegenwärtige Zeit mehr das Studium der Moral
und Politik erfordere, als das der Metaphyſik.
16. Wir geſtehen, nicht zu begreifen, warum noch jetzt in manchen Theilen Deutſch-
lands die Abgaben eben ſo hoch ſind, als die Abgaben an den ſiegreichen Fremden waren,
zur Zeit unſerer Knechtſchaft.
17. Wir verſprechen, daß, wenn einige von uns künftig Staatsämter bekleiden
werden, kein einziger von uns jemals irgend ein Amt annehmen wolle, welches einer
geheimen Polizey diene, noch eine Stelle bei der Gensdarmerie, noch eine Stelle in einer
außerordentlichen, widergeſetzlichen, richterlichen Commißion, noch das Amt eines Bücher-
cenſors, noch jemals ſich dazu brauchen laßen wolle, das Siegel fremder Briefe zu er-
brechen, den Fall des Krieges ausgenommen.
18. Wir verſprechen, wenn wir künftig in Aemter gelangen, das Unſrige zu thun,
um freiere Gemeindeverwaltungen einzuführen, um ſichere Polizey, ohne Gensdarmerie,
einzurichten, um gleiche Münze und Gewicht und beßere Wege und Poſtordnung in
Deutſchland zu ſchaffen.
19. Wir erklären, daß wir uns gänzlich enthalten wollen der Titel: Edelgeboren,
Hochedelgeboren, Wohlgeboren, ſo wie auch, daß wir die Namen Mamſell und Madame
nicht gebrauchen wollen von Frauenzimmern, die unbeſcholtenen Rufes ſind.
20. Wir erkennen, daß die Deutſchen berechtigt ſind, anderen Völkern das, was
ſie uns thun, zu vergelten, und daß für das Verhältniß der Völker der oberſte Grund-
ſatz iſt: Maaß für Maaß, ſo im Krieg, ſo in diplomatiſchen Verhandlungen, ſo in
Handelsverhältnißen.
21. Ebendeswegen erkennen und erklären wir, daß es nicht mit der Gerechtigkeit
übereinſtimmt, wenn eine äußere fremde Gewalt die Regierungsform eines Volkes be-
ſtimmen will.
22. Wir erkennen, daß Deutſchland als Wahlreich unglücklich geworden, daß Erb-
reich große Uebel entfernt. Aber ſo wie die Krone das Eigenthum einer Familie ſey,
ſo ſey jedes Eigenthum heilig. Die Krone giebt das höchſte Recht, weil ſie die höchſte
Pflicht auferlegt. Recht und Pflicht müßen immer gleichen Schritt gehen. Wo Recht
behauptet wird, ohne Pflicht, da iſt Vorrecht, das iſt, Unrecht. Wo Bevorrechtete ſind,
da ſind auch Beeinträchtigte. Der Fürſt hat aber das Recht der Krone, weil er die
Pflicht hat, zu ſorgen, daß kein Bürger durch den andern beeinträchtigt werde. Wenn
alle Bürger die Pflicht haben, die Waffen für das Vaterland zu tragen und dieſe Pflicht
erfüllen, ſo gebührt auch allen das Recht, welches mit Erfüllung dieſer Pflicht ver-
bunden ſein ſoll.
23. Wir wollen uns eines friedfertigen Wandels befleißigen und die Streitigkeiten
untereinander ſo viel wie möglich ſchiedsrichterlich entſcheiden laßen. Wir erkennen, daß
weder ernſtlicher Zweikampf um kleinlicher Urſachen willen, noch ſpielender Zweikampf
wegen ſchwerer Kränkungen rühmlich iſt. Wir verſichern, daß wir keiner geheimen Ge-
ſellſchaft irgend einer Art angehören wollen, noch die Errichtung einer geheimen Geſell-
ſchaft auf einer hohen Schule dulden wollen.
24. Wir erkennen es für eine der hauptſächlichſten Pflichten jedes deutſchen Mannes
und Jünglings, die eben jetzt dringender iſt als je: die Wahrheit zu ſagen und laut zu
ſagen, weil und ſo lange die verſprochenen regelmäßigen Wege, auf welchen die Fürſten
die Wahrheit über den Zuſtand der Völker erfahren können, noch nicht eröffnet ſind,
und weil wir keine geheimen Geſellſchaften eingehen wollen.
25. Wir empfehlen der Weisheit der Regierungen die Betrachtung der Frage: ob
nicht die größten Schwierigkeiten und Gefahren vermindert würden, wenn der Adel
wiederum begrenzt würde auf den älteſten des Geſchlechts. Ein Edelmann zeugt Einen
Edelmann. Wir beſchwören die Fürſten, ſich nicht allein mit ſolchen Rathgebern zu
umringen, welche vom Kaſtengeiſt beherrſcht, und dadurch unwillig und unfähig werden,
über die billigen Wünſche und Verlangen des Volkes die Wahrheit zu melden.
[753]XXVII. Denkwürdigkeiten des Prinzen Emil von Heſſen.
26. Wir bekennen überzeugt zu ſeyn, daß ein großer Theil der Gräuel der fran-
zöſiſchen Revolution den Jakobinern zur Laſt fällt, daß aber ein vielleicht nicht geringerer
Theil der Schuld auf denen ruht, welche ſich bemühten, die politiſchen Veränderungen
und Verbeßerungen, welche die Zeit forderte, zu hindern. Wir bekennen auch die Meinung
und Ueberzeugung, daß ein ſehr großer Theil des Unrechts und des Uebels in der Welt
aus der geduldigen und trägen Schwäche derer entſpringt, welche Unrecht leiden ohne die
gerechten Mittel, welche ihnen zu Gebot ſtehen, zu ihrem Schutz zu gebrauchen.
27. Wenn ein gemeinſchaftlicher Kampf der Deutſchen gegen den Feind bevorſtände,
ſo wäre gewiß ein gemeinſchaftliches Zeichen zu wünſchen; welche Farben können paßender
ſeyn, als die Farben des Ernſtes und der Reinheit, welche Blücher trägt?
XXVII. Denkwürdigkeiten des Prinzen Emil von Heſſen.
Zu Bd. III. 63. V. 561.
Prinz Emil von Heſſen begann im Jahre 1823 Aufzeichnungen aus ſeinem Leben
niederzuſchreiben, ließ das Unternehmen jedoch leider nach wenigen Bogen wieder liegen.
Einige mir daraus gütig mitgetheilte Bruchſtücke ſcheinen lehrreich zur Charakteriſtik des
Prinzen ſelbſt und der rheinbündiſchen Höfe.
— — — die Unzuverläſſigkeit dieſes Erben [des Kronprinzen Ludwig von Baiern],
eine Seite, welche nicht leicht jemand mehr wie ich zu erkennen Gelegenheit hatte. Enthu-
ſiasmirt, oder weniſtens anſcheinend, für die Franzoſen, hatte er verlangt, mit den Bayern
den Feldzug gegen Preußen im Jahr 6 mitzumachen. Im Jahre 9 marſchierte er ebenſo
gegen die Oeſterreicher im Tyrol. In dieſem Jahr ſah ich ihn in das Hauptquartier
des Kaiſers Napoléon nach Schönbrunn kommen, wo ich mich auch befand. Letztern
im Vorzimmer mit hunderten von Marſchällen, Generalen und anderen Offizieren er-
wartend, erſchien der Kaiſer nicht ſobald, als der Kronprinz auf ihn los ging und ihm
die Hand küßte. Napoléon umarmte ihn hierauf und ſagte: „Ah, bonjour Louis,
comment cela va-t-il?“ Worauf er weiter zur Parade ging. — Dieſes Benehmen
war nun gerade nicht im vollkommenſten Einklang mit dem anno 14 gehaltenen. Da
war Frankreich und Napoléon eine Abſcheulichkeit, der Kronprinz ein teutſcher Mann
und alle diejenigen, welche, ſich ſelbſt achtend, das gefallene Idol nicht mit Füßen treten
wollten, Verräther oder verdächtige Menſchen. So erzeigte dieſer enthuſiasmierte Held
auch mir die Ehre, ſich im Jahre 15 über mich zu äußern, er wundere ſich, wie man mir
ein Commando anvertrauen könne, da ich doch ein bekannter Franzoſenfreund ſey. —
Und dies am Tiſch gehaltene propos fiel in die Zeit, wo der Kronprinz mich mit Freund-
ſchaftsverſicherungen überhäufte, bei mir zu Mittag aß u. ſ. w. Als man mir dies
propos hinterbrachte, konnte ich mir nicht verſagen, obige Anekdote dem Erzähler, einem
Anhänger des Kronprinzen, mitzutheilen, hinzufügend: „Zwar bin ich der bekannte Fran-
zoſenfreund, aber mich ſo zu erniedrigen wäre ich nicht fähig geweſen.“ — Nach geen-
digter Campagne, wo ich den Thereſen- und St. Georgs-Orden erhalten hatte, ſah ich
den Kronprinzen zu Paris. Eines Morgens kam er zu mir mit gewöhnlicher Freund-
ſchaft mich in ſeinem ſtotternden ziſchenden Organ verſichernd, wie ſehr ihn meine Successe
freuten. Ich erwiederte ihm: „Ihre Wünſche ſind mir um ſo werther, als ich Sie ver-
ſichern kann, daß es Menſchen gab, die niederträchtig genug waren, das mir ertheilte
Commando als gefährlichen Händen anvertraut zu behaupten.“ Se. K. H. bekam einen
rothen Kopf und replicierte: „In Ihre militäriſchen Eigenſchaften hat gewiß niemals
jemand Zweifel geſetzt.“ „Nein, aber in meine Ehre, und das war deſto ſchlechter“ war
meine Antwort.
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 48
[754]XXVII. Denkwürdigkeiten des Prinzen Emil von Heſſen.
— — — Hierbey erneuert ſich in mir das Andenken an meinen Aufenthalt zu
Achen, der von nicht unbedeutenden Folgen für mich war. Nach dem Fall Napoléons
war ich in dem delirirenden Teutſchland eine von den Perſonen, welche als beſtimmte
Anhänger des Kaiſers und Frankreichs angeſehen und angefeindet wurden. Es läßt ſich
dieſes zum Theil durch das Wohlwollen Napoléons gegen mich erklären, welcher gern
ſah, daß junge Leute, namentlich Prinzen, mit Eifer ihre Pflichten als Soldat zu er-
füllen ſuchten, theils aber auch durch die vom Enthuſiasmus verworrenen Begriffe. Faſt
allgemein nämlich ſah man Verrath gegen Napoléon als etwas ſehr verdienſtvolles an.
Da ich nun vom Großherzog meinem Vater, dem ich, und nicht den Franzoſen diente,
keinen Befehl zum Uebergehen in die feindlichen Reihen hatte, ſo konnte mir natürlich
ein ſolcher Gedanke nur als verächtlich und meiner Ehre vollkommen unwürdig erſcheinen.
Und doch war es wegen dieſer Unterlaſſungsſünde, und daß ich vorzog, meine Pflicht
erfüllend, als Soldat mich fechtend in Leipzig gefangen nehmen zu laſſen, daß man
mich anfeindete. Nun hatte ich mich ſpäterhin gegen den Kaiſer Alexander über mein
Benehmen erklärt und war ſo glücklich ſeinen vollkommenen Beyfall deshalb zu erlangen.
Auch der Kaiſer von Oeſtreich und die Oeſtreicher überhaupt hatten mich mit viel Aus-
zeichnung behandelt. In den zwei mit den Aliirten gegen Frankreich gemachten Feld-
zügen hatte ich das Großkreuz des Leopolds-, das kleine M. Thereſien- und das Cor
Kreuz des St. Georgen Ordens erhalten. Demohngeachtet waren noch eine Menge
bedeutende Perſonen ſehr gegen mich eingenommen. Ich hielt daher die Vereinigung zu
Achen für ſehr geeignet zu beweiſen, daß ich feſt auftreten könnte, ohne irgend jemand
ſcheuen zu müſſen. Ich entſchloß mich raſch, gegen die Mitte des Congreß nach Achen
zu reiſen: — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Den andern Morgen machte ich ſogleich die nöthigen demarchen, dem Kaiſer von
Oeſtreich und dem König von Preußen aufzuwarten. Erſterer empfing mich mit be-
ſonderer Gnade, die ſich auch während meinem ganzen Aufenthalt erhielt und ſelbſt
ſteigerte, ſo daß ich alle Woche gewiß zweimal zur Tafel geladen wurde und überhaupt
von dem K. ſowohl wie von allen ſeinen Umgebungen mit einer vorzüglichen Aus-
zeichnung und der Herzlichkeit behandelt wurde, die den Oeſtreichern eigen iſt. — Der
König von Preußen, von Natur wenig demonstrativ, konnte noch immer nicht ganz
von der früher gegen mich gefaßten prevention zurückkommen und blieb ziemlich ſteif.
Vielleicht gelang es mir während meines Aufenthaltes durch meine Unbefangenheit ſo-
wohl als durch Erläuterungen, die ich mehrern von ſeinen Umgebungen über meine
frühern Verhältniſſe gab, dieſen Einbildungen zu begegnen. Wenigſtens war bei jeder
ſpätern Gelegenheit der Empfang herzlicher und wohlwollender. Es iſt unglaublich, wie
Leute von Verſtand verbreiteten Gerüchten Glauben beimeſſen können, welche nur in
Pamphlets Platz greifen können und den Stempel der Unrichtigkeit mit ſich tragen.
Dahin gehört die Erzählung, Napoléon habe mir in der Schlacht von Lützen zugerufen:
„En avant, roi de Prusse!“ So ungereimt und lächerlich dieſe Angabe war, fand ſie
doch Glauben und wurzelte, wie es ſcheint, im Gemüth des Königs, welches ſich mir,
und vorzüglich nach meiner Gefangennehmung zu Leipzig, ſtets abgeneigt bewieß. —
Kaum war ich 8 Tage in Achen, als in der Antwerpner Zeitung dieſes Mährchen neu
aufgetiſcht wurde. Ich nahm indeß von dieſem unangenehmen, vielleicht durch Bosheit
herbeigeführten Ereigniß Gelegenheit, F. Metternich, Fürſt Hardenberg und vielen andern
ganz natürlich über die Wahrheit meiner Verhältniſſe zu den Franzoſen zu ſprechen über
mein eingehaltenes Benehmen und hatte den großen Triumph, nicht nur die Zuſtimmung
aller dieſer Männer zu erlangen, ſondern von dieſer Zeit eine Art von Geneigtheit zu
beobachten und, was mehr war, eine Achtung, die zu erlangen mein Beſtreben von
Anfang an ſeyn mußte.
[755]XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing.
XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing.
Zu Bd. IV. 606.
Ueber die räthſelhafte Ermordung des angeblichen Spions Leſſing (1835) konnte
ich im 4. Bande nur ein Non liquet ausſprechen, da mir die dürftigen Ergebniſſe der
überaus nachläſſig geführten gerichtlichen Unterſuchung ebenſo unzuverläſſig ſchienen wie
die leidenſchaftlichen Behauptungen der zahlreichen in Folge der Blutthat erſchienen Partei-
ſchriften. Neuerdings habe ich jedoch im Berliner Geh. Staatsarchiv eine Reihe von
Actenſtücken aufgefunden, welche mindeſtens über Leſſing’s Perſönlichkeit und politiſche
Haltung ſichere Auskunft geben. Hier der weſentliche Inhalt.
Von dem Frankfurter Attentate war der preußiſche Polizeiminiſter ſchon mehrere
Monate vorher unterrichtet; er machte darüber dem Auswärtigen Amte ausführliche Mit-
theilungen, die nach Frankfurt weiter gegeben wurden. „Bei aufmerkſamer Beobachtung“
hätte Alles entdeckt werden können; ſo ſagten die Miniſter Kamptz, Mühler, Rochow in
ihrem nachträglichen Berichte an den König vom 26. Mai 1834. Sie erwarteten, „daß
die Frankfurter Behörden Sicherheitsmaßregeln treffen würden. Dies war aber keineswegs
der Fall. Selbſt nach den beſtimmten und ausführlichen Anzeigen, welche dem Magiſtrat
in Frankfurt a. M. am Tage der Meuterei zugingen, konnte derſelbe zu keinen ange-
meſſenen Maßregeln bewogen werden.“ Hier wird alſo die von mir (IV. 300) ausge-
ſprochene Vermuthung beſtätigt, daß der Wachenſturm vom 3. April 1833 nicht durch
die argliſtige Berechnung der Bundesgeſandten gefördert, ſondern einfach durch die Schlaff-
heit der Frankfurter Behörden ermöglicht wurde. Angeſichts dieſer Schwäche der ſüd-
deutſchen Polizei meinte die preußiſche Regierung ſich um ſo mehr zur Wachſamkeit ver-
pflichtet. Schon am 14. April 1833 wurden die Miniſter Wittgenſtein, Lottum, Brenn
durch Cabinetsordre beauftragt, wegen des Frankfurter Attentats „in fortlaufende ver-
trauliche Beſprechungen zu treten“.
Nachdem verſchiedene polizeiliche Maßregeln getroffen waren, berichtete Miniſter
Brenn: der wegen politiſcher Umtriebe verhaftete stud. Ludwig Leſſing, jüdiſcher Religion,
aus Freienwalde a. O. hätte ſich am 6. Nov. gegen den Polizeipräſidenten zu Protokoll
erboten, „Entdeckungen“ zu machen. Der König verfügte darauf (Cabinetsordre an
Brenn, 9. Nov. 1833): bewahrheiten ſich die Mittheilungen des Leſſing, „ſo will Ich
demſelben Befreiung von aller Strafe und Unterſtützung zur Fortſetzung ſeiner Studien
zuſichern.“ Nun folgten lange Vernehmungen. Am 11. Jan. 1834 wurde berichtet,
daß Leſſing die gewünſchten, zuverläſſigen Anzeigen erſtattet hätte. Alsbald befahl der
König (Cabinetsordre vom 18. Jan. 1834 an Brenn, Kamptz, Mühler), 200 Thlr. für
das laufende Studienjahr Leſſing’s zu zahlen, und genehmigte zugleich, daß er „in der
von Ihnen vorgeſchlagenen Art verwendet werde“. Leſſing wurde dann am 11. Febr.
aus der Unterſuchungshaft entlaſſen (Schlußprotokoll vom 11. Febr.). Der Polizei-
präſident Gerlach vermahnte ihn, über die Unterſuchung zu ſchweigen und ſich von Um-
trieben fern zu halten; er gab ihm einen Miniſterialpaß nach Karlsruhe und bemerkte
dazu kurz, daß Leſſing ſpäter vielleicht nach der Schweiz, nach Italien oder Frankreich
reiſen würde. (Gerlach’s Bericht an Brenn, 10. März 1834.)
Demnach ſteht außer Zweifel, daß Leſſing ein preußiſcher Spion war, wie der be-
rüchtigte Conſeil ein Spion Ludwig Philipp’s, und die Verſammlungen des jungen
Deutſchlands in der Schweiz nur beſuchte um auszuhorchen und Bericht zu erſtatten.
Mit großer Wahrſcheinlichkeit läßt ſich ferner ſchließen, daß Leſſing’s Ermordung wirklich
— wie man ſogleich in weiten Kreiſen annahm — eine That politiſcher Rache des jungen
Deutſchlands geweſen iſt. Allerdings wurde die Leiche beraubt aufgefunden. Aber unter
den Genoſſen des jungen Deutſchlands in Zürich befanden ſich mehrere ganz verkommene
Leute; unmöglich iſt es alſo nicht, daß der oder die Mörder, indem ſie einen politiſchen
48*
[756]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
Feind vernichteten, nebenbei die Gelegenheit zu einem kleinen Raube benutzt haben. Des
Mordes angeklagt wurde der württembergiſche Jude Aldinger, ein verworfener Menſch,
der ſich unter dem Namen eines Barons v. Eyb in Zürich umhertrieb und zu den
eifrigſten Mitgliedern des jungen Deutſchlands gehörte. Trotz ſtarker Verdachtsgründe
konnte jedoch kein zwingender Beweis erbracht werden.
Das Erſtaunlichſte bei dieſen widerwärtigen Vorfällen iſt aber die Thatſache, daß
die preußiſche Geſandtſchaft in der Schweiz kein Wort von Leſſing’s polizeilicher Thätigkeit
wußte. Am 2. Nov. 1834 überſendete Legationsrath v. Olfers aus Bern dem Aus-
wärtigen Amte eine Liſte der bei den ſchweizeriſchen Umtrieben betheiligten Deutſchen.
Darin ſtand als Nr. 9 der stud. L. Leſſing, Hauptleiter der Handwerksvereine; und dazu
die unſchuldige Bemerkung: „einige der Handwerker ſehen ihn für einen Polizei-Spion
an.“ Nach Leſſing’s Ermordung berichtete der Geſandte Rochow (Zürich 6. Nov. 1835)
ganz unbefangen über die unheimliche That und ſagte: man behaupte, der Ermordete ſei
ein Preuße, die Geſandtſchaft wiſſe aber nichts darüber, da er ſich nie bei ihr gemeldet
hätte. Leſſing muß alſo ſeine Berichte hinter dem Rücken der Geſandtſchaft gradeswegs
nach Berlin geſendet haben, vielleicht an den bekannten Geh. Rath v. Tzſchoppe, deſſen
Name auch in dieſen Akten — allerdings nur bei Gelegenheit formaler Geſchäftsſachen
— mehrfach vorkommt. Auch nachher verblieb Rochow noch lange in ſeiner glücklichen
Unwiſſenheit. Als ſich herausſtellte, daß Leſſing ein Preuße war, und die Berliner Re-
gierung, aus guten Gründen, dieſen Mord alsbald für eine politiſche Rachethat erklärte,
da wurde der Geſandte beauftragt, die Verfolgung des Verbrechens nachdrücklich zu be-
treiben (Schreiben der drei Miniſter an Ancillon, 31. Jan. 1836). Er beklagte ſich
bitter über die unglaublich ſchlechte, faſt unehrliche Unterſuchung; er meinte, der Unter-
ſuchungsrichter bemühe ſich mehr, zu erfahren wer Leſſing geweſen ſei als wer ihn ermordet
hätte. Erſt ganz zuletzt, als der Proceß mit der bedingten Freiſprechung des Angeklagten
Aldinger geendet hatte, ſcheint Rochow, der ſonſt über ſchweizeriſches und ſüddeutſches
Parteileben gut Beſcheid wußte, endlich einen leiſen amtlichen Wink erhalten zu haben.
Jetzt ſchrieb er: die radicalen Schweizer hielten den Ermordeten für einen Spion und
Agent provocateur Preußens, „indeſſen wird das Publicum keine Beweiſe gegen Leſſing,
ſondern nur Verdachtsgründe finden. Beſondere Gründe — politiſche Verbindungen
einflußreicher Männer mit politiſchen Sekten“ — haben den ſchlechten Gang der Unter-
ſuchung verſchuldet. (Rochow’s Bericht, 13. Aug. 1837.) Der ganze Briefwechſel zeigt
anſchaulich, daß die Regierung eines ehrenhaften Staates ihre eigenen Beamten hinter-
gehen muß, wenn ſie das immer zweiſchneidige Mittel der geheimen politiſchen Polizei
anwendet. —
XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
Zu Bd. V. S. 118.
Meinem Freunde Th. Schiemann verdanke ich die Kenntniß des merkwürdigen
Rechenſchafsberichtes über Rußlands auswärtige Politik, welchen Graf Neſſelrode zum
fünfundzwanzigſten Jahrestage der Thronbeſteigung des Czaren Nikolaus erſtattete. So-
eben iſt zwar, wie ich höre, in der „Russkaja Starina“ eine ruſſiſche Ueberſetzung des
Aktenſtückes erſchienen; da die Denkſchrift jedoch in ſolcher Geſtalt den Deutſchen ſo gut
wie verborgen bleibt, ſo wird die Mittheilung des noch ganz unbekannten franzöſiſchen
Originals meinen Leſern willkommen ſein.
1825—1850.
Sire, Vingt-cinq années viennent de s’écouler depuis que V. M. a pris en
main le timon de l’Empire.
[757]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
Elles ont été riches et fécondes en événemens politiques importans pour
le monde et pour la Russie.
Ouvert au dedans sous les auspices de la fermeté et du courage personnel,
Votre règne s’annonçait non moins digne au dehors.
Le premier acte politique de V. M. I. fut dicté par la religion et l’humanité.
Vos correligionnaires de Grèce allaient succomber à la ruine inévitable
dont les menaçait le glaive Égyptien. Un protocole mémorable est venu les
sauver d’une guerre d’extermination, leur assurer une administration indépen-
dante, et préparer les transactions successives qui, depuis, ont appelé la Grèce
au rang des nations.
La Perse qui, dès Votre avènement au trône, avait rompu sans aucun
motif les noeuds du traité de Gulistan, forcée par une suite d’exploits rapides,
à signer la paix de Tourkmantchay; la Turquie châtiée également, après deux
campagnes victorieuses, de ses injustes provocations, la bataille de Koulewtcha,
le passage hardi des Balkans, l’entrée de nos troupes à Adrinople, suivi presque
immédiatement du traité qui porte ce nom, ce sont là des faits dont l’histoire
ne perdra point le souvenir. Elle proclamera plus haut encore la modération
avec laquelle V. M. I. voulut bien user de Ses succès. Bientôt les bouleverse-
mens amenés en 1830 par la chûte de la branche aînée des Bourbons ont ouvert
une période nouvelle à la politique de V. M. Ils ont imprimé à Son règne le
véritable caractère qui le distinguera dans l’avenir. A la suite de ces révo-
lutions, Elle est devenue pour le monde le représentant de l’idée Monarchique,
le soutien des principes d’ordre et le défenseur impartial de l’équilibre Européen.
Mais de laborieux efforts, une lutte sans cesse renaissante étaient attachés à
ce noble rôle. V. M. I. a su accepter avec constance les travaux qu’il Lui im-
posait. Entrainé par l’exemple contagieux de la France et de la Belgique, le
Royaume de Pologne s’était révolté contre l’autorité légitime. Il a été réduit
à l’obéissance et rattaché au corps de l’Empire par un lien désormais moins
précaire et plus solide. La Hollande était sacrifiée, dans son conflit avec les
Belges, à l’extrème partialité de la France et de l’Angleterre. Si notre éloigne-
ment géographique et la timidité de nos alliés n’ont malheureusement pas permis
qu’elle conservât la possession intacte des provinces qui formaient jadis avec
elle le Royaume des Pays-Bas, au moins l’appui de V. M. et Son insistance
énergique ont-ils servi à obtenir au Roi de meilleures conditions territoriales,
allégé le poids de ses sacrifices pécuniaires, modifié ce que les clauses qu’on
voulait lui imposer présentaient de trop onéreux pour ses intérêts financiers et
commerciaux. Partout où chancelaient les trônes, où la société minée fléchissait
sous l’effort des doctrines subversives, le bras puissant de V. M. se fait deviner
ou sentir. Dans les questions révolutionnaires qui tant de fois ont agité l’Es-
pagne, le Portugal, l’Italie, la Suisse, l’Allemagne, Elle a combattu pour la même
cause, prenant tour à tour l’iniative ou l’abandonnant à Ses alliés, selon les
lieux et la distance, suivant le plus ou moins d’extension que comportait Son
action matérielle. Neutraliser autant que possible l’alliance funeste qui s’était
établie entre la France de Juillet et l’Angleterre libérale; s’opposer à la mise en
pratique de ce principe de non-intervention, que, tout en le violant elles-mêmes
les premières, les deux puissances prétendaient imposer aux Cabinets conserva-
teurs, toutes les fois qu’une insurrection éclatait dans leur voisinage; soutenir
le courage vacillant des deux grandes Cours monarchiques; arrêter de concert
avec eux un système d’action commune, en y ralliant sous leur influence les États
du second rang, telle a été la tâche constante qu’a poursuivi V. M. C’est dans
ce but qu’ont été conçues les mémorables transactions de München-Graetz et
de Toeplitz — transactions qui, plusieurs années de suite, ont opposé une digue
[758]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
aux flots de la démocratie toujours croissante, écrasé l’insurrection polonaise à
Cracovie, en Galicie, à Posen, chaque fois qu’elle se réveillait, et maintenu le
repos intérieur des États plus immédiatement placés dans le rayon d’influence
morale de la triple alliance monarchique.
Mais, à coté des questions sociales, s’élevaient vers le même temps de
graves affaires politiques et dans ces dernières le rôle de V. M. I. n’a été ni
moins actif ni moins éminent. Elle achevait l’œuvre importante de la création
de la Grèce, lui donnait un gouvernement monarchique, un roi, une dynastie
héréditaire, des frontières, des moyens d’existence, qu’Elle augmentait par une
émission successive des diverses séries de Sa quote part de l’emprunt. Elle
s’occupait des mesures à prendre pour régler l’ordre de succession au trône et
pour mettre en harmonie le culte religieux du Monarque avec celui de ses sujets.
Elle défendait le nouvel état contre les exigences, fondées quelquefois, plus
souvent rigoureuses, du Cabinet Britannique; réprimait les velléités envahissantes
de la Grèce et cherchait à la maintenir en bonne intelligence avec sa voisine,
la Turquie. C’est à cette période également que se rattachent de pénibles et
âpres discussions avec l’Angleterre, au sujet des affaires de l’Affghanistan, et
les efforts heureux de V. M. I. pour reconcilier cette puissance avec la Perse,
comme aussi pour empêcher celle-ci de rompre avec le Sultan. Mais de toutes
les questions Orientales que cette époque a fait surgir, soit en Asie, soit en
Europe, celles qui concernent l’Empire Ottoman ont nécessairement occupé,
Sire, Vos plus vives sollicitudes. Évitant avec soin de se lier par une garantie
territoriale vis-à-vis un État en décadence, pour ne point enchaîner d’avance
l’avenir de la Russie, le principe de V. M. a toujours été de maintenir dans le
présent l’intégrité des possessions Ottomanes, — le voisinage de cet État, dans la
situation d’infériorité comparative où nos conquêtes antérieures l’ont laissé,
offrant, dans les circonstances actuelles, la combinaison la plus favorable à nos
intérêts commerciaux et politiques. Étrange effet des reviremens amenés par la
fortune dans les positions respectives. La Puissance qu’on regardait jadis comme
l’ennemi naturel de la Turquie en est devenu le plus ferme soutien et l’allié le
plus fidèle.
Deux fois à six ans d’intervalle, assailli par l’ambition d’un vassal révolté,
l’Empire Ottoman s’est vu menacé d’une dissolution presque inévitable. Deux
fois il a dû son salut à l’intervention décisive de V. M. La première de ces
deux crises a donné au monde un spectacle inouï dans l’histoire: elle a montré
nos guerriers Russes campant en libérateurs sur les rives du Bosphore, en face
de cette même capitale, que tant de fois, et naguère encore, ils avaient fait
trembler dans ses murs. La seconde, moins brillante peut-être, a produit des
résultats plus solides. Elle a expulsé de la Syrie, pour la confinir désormais
dans les limites restreintes de l’Égypte, cette nouvelle puissance Arabe que les
ennemis de la Russie avaient un moment songé à substituer sur le Bosphore
au pouvoir déchu de la Porte Ottomane, pour en faire dans l’avenir une tête
de pont contre nous. Le traité d’Unkiar-Skélessi, contre lequel avaient en vain
protesté la France et l’Angleterre, annulé en apparence, a été perpétué réelle-
ment sous une autre forme. En interdisant l’entrée des Dardanelles aux vaisseaux
de guerre étrangers, le nouvel acte qui l’a remplacé, reconnu par toutes les
Puissances, nous assure dorénavant contre toute attaque maritime. Enfin, un
résultat des plus importants pour nous à cette époque est sorti de cette com-
plication d’Orient. C’est la dissolution de cette Alliance Anglo-Française, si
hostile à nos intérêts politiques, si fatale pour la situation des gouvernements
conservateurs. Rompue sous les Whigs en 1840, renouée plus tard avec effort
par le Ministère Tory, elle n’a plus trainé dès lors qu’une vie précaire et in-
[759]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
offensive et n’a végété quelque temps sous le nom spécieux d’entente cordiale,
que pour se briser de nouveau avec plus d’éclat encore, contre la question des
mariages Espagnols.
De cette époque à 1847 un état de calme comparatif a regné sur la société
Européenne, et V. M. avait puissamment à l’affermir, en supprimant, de concert
avec Ses Alliés de Prusse et d’Autriche, la république de Cracovie, ce perpétuel
foyer des conspirations polonaises.
Mais le feu révolutionnaire, un moment dérobé aux yeux par la question
d’Orient et ses suites, n’était qu’endormi sous la cendre. Les instances de V. M.
ne purent engager les Puissances à le réprimer par la force en Suisse, et en
1847, évoqué tout-à-coup en Italie par un imprudent Pontife, on l’a vu, l’année
suivante, éclater avec une telle force que non seulement le trône de Juillet a
disparu dans cette explosion soudaine, mais que les Monarchies les plus vieilles
et en apparence les mieux assises en ont été bouleversées jusque dans leurs
fondements.
Et pourtant, Sire, de cette crise devastatrice qui menaçait notre tranquillité
intérieure, qui nous laissait sans Alliés en Europe parmi les peuples et les
Gouvernements, datera pour V. M. I. une position plus grande et plus forte que
celle même qu’Elle occupait jusqu’alors. Cette mission conservatrice, ce rôle
de sauveur de l’ordre que dès l’année 1830 la Providence Vous avait assigné,
les événements de 1848 n’auront servi qu’à l’agrandir. Ce résultat est dû au
coup d’œil calme avec lequel V. M., sans précipitation, comme sans faiblesse,
a laissé passer les premiers effets de la tempête Européenne, attendant pour
entrer en scène le jour et l’heure que Sa haute sagesse Lui avait marqués.
Restée seule debout sur les ruines des vieux États du continent, Elle receuillait
Ses forces en silence, pour les employer, s’il le fallait, à défendre d’abord vigou-
reusement l’intégrité de Son territoire et les faire servir plus tard au salut des
autres Gouvernements. Tandis que la Grande Bretagne, égarée par une politique
égoiste, profitait du chaos général pour y semer de nouveaux germes de désordre
et ne signalait sa puissance que par l’oppression des petits États, V. M. n’em-
ployait la Sienne qu’à calmer et à tempérer, interposant Sa voix énergique en
faveur du droit et de la faiblesse, et quand Elle ne pouvait les soutenir par Ses
armes, leur prêtant Son appui moral; proclamant le respect des traités et de
l’état de possession qu’ils consacrent; évitant sagement d’ajouter, par des
provocations gratuites, à l’effervescence des passions; mais aussi agissant avec
promptitude du moment qu’elle pouvait agir, et frappant l’anarchie là où elle
pouvait être frappée. C’est ainsi qu’en dépit de l’Angleterre, en dépit de la
Porte elle-même, aveuglée sur ses propres intérêts, Elle a réprimé en Valachie
par la force des armes une insurrection qui, dirigée en apparence contre nous-
mêmes, menaçait en réalité la sécurité de l’Empire Ottoman. C’est ainsi que
par la seule puissance de Sa parole, Elle a maintenu, en Italie, l’intégrité du
Royaume des Deux-Siciles contre le mauvais vouloir du Gouvernement Britan-
nique, et dans le Jutland et les Duchés celle de la monarchie Danoise, contre
les prétentions arrogantes de la démocratie Allemande, et l’ambition moins ouverte
du Gouvernement Prussien. C’est encore ainsi que récemment Elle plaidait
hautement la cause de l’indépendance de la Grèce, comme celle de Naples, et
de la Toscane, attaquées par les procédés arbitraires du chef de la politique
Anglaise, et faisait rentrer l’Angleterre en elle-même, en lui adressant à la face
de l’Europe un language réprobateur. Par sa simple et seule attitude envers
la France et la Grande-Bretagne, Elle mettait l’Autriche en état de reconquérir
sans entraves le royaume Lombardo-Vénitien, la sauvant de sa propre faiblesse
en refusant de prendre part à tout projet de médiation qui l’eût dépouillée d’une
[760]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
partie de ses possessions Italiennes, assurait d’abord ses derrières dans sa lutte
contre l’insurrection Madjare, jusqu’à ce qu’enfin apparaissant armée sur les
champs de bataille de Hongrie, Elle a relevé sur sa base l’unité de la Monarchie
Autrichienne, rétabli de ce côté l’équilibre qui chancelait et rendu au cabinet
de Vienne sa pleine liberté d’action pour revendiquer sa part légitime dans le
travail de réorganisation qui agite en ce moment l’ancienne Confédération Ger-
manique.
Enfin, Sire, par les négociations entamées sous Vos yeux à Varsovie, V. M.
vient de mettre le sceau à ce caractère de modérateur que les événements Lui
défèrent, et que l’Europe se sent contrainte ou empressée à Lui reconnaître.
Elle y a vu les deux grandes puissances de l’Allemagne La prendre pour juge
de leurs différends et pour arbitre de leur cause. Ses conseils, ses exhortations,
les conditions qu’Elle a mises à Son concours ont eu presque immédiatement
pour effet d’opérer un rapprochement entre des droits ou des prétentions jusque-
là restés inconciliables; et si les passions populaires ne viennent point troubler
l’accord prêt à s’établir entre les Gouvernements, V. M. aura eu l’honneur d’avoir
préservé tout à la fois l’Allemagne d’une nouvelle guerre de trente ans et l’Eu-
rope d’une conflagration générale.
J’ose donc ici le répéter: depuis 1814 la position de la Russie et de son
Souverain n’a été ni plus belle ni plus grande.
Associé par les fonctions qu’a daigné me continuer V. M. en succédant à
Son Auguste Frère à l’histoire des vingt-cinq années, dont je viens d’esquisser
les principaux traits: humble instrument de Ses desseins et organe de Ses
pensées politiques, j’aurais désiré, Sire, en Vous soumettant ce tableau rapide
et succinct, lui donner l’étendue, et tous les détails qu’il exige. Absorbé par
les négociations qui en dernier lieu ont déplacé le siège ordinaire du Cabinet
de V. M. I., je n’ai pu à mon grand regret y vouer l’attention et le temps né-
cessaires. A défaut d’un historique plus long et plus circonstancié du passé,
qu’il me soit du moins permis d’appuyer ici principalement sur le résultat satis-
faisant de ces mêmes négociations et d’en offrir à V. M. mes félicitations
respectueuses. Elle ne pouvait clôre plus dignement le cycle des vingt-cinq ans
que célèbre aujourd’hui l’Empire tout entier, s’unissant de tous les points de
sa vaste étendue à la joie de l’Auguste Famille Impériale.
Dans le cours de ces vingt-cinq ans, V. M. aura acquis plus d’un tître à
la reconnaissance de l’Europe. Mais, je ne crains pas de le dire, dans la
carrière qu’Elle a fournie, l’année même de Son jubilé aura été la plus glorieuse,
si la véritable gloire des Souverains est principalement fondée sur la bienfaisante
influence qu’ils exercent dans l’intérêt du repos et de l’humanité sur les destinées
du monde.
Que la Providence, qui jusqu’ici Vous a si visiblement protégé, continue,
Sire, à répandre ses bénédictions sur Votre règne et daigne ajouter à Votre
passé de nombreuses années encore pour le bien des peuples qu’elle Vous a
confiés. C’est le vœu qu’ose humblement déposer aux pieds du trône de V. M. I.
un vieux serviteur, dont la vie entière s’est usée au service de sa patrie et de
Ses maîtres.
Je suis avec le plus profond respect,
Sire,
de Votre M. I.
St. Pétersbourg,
le 20. Novembre 1850.
le plus soumis et fidèle sujet
Nesselrode.
[761]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
Dieſen Bericht überſendete der Kaiſer dem Großfürſten-Thronfolger und ſchrieb
darunter: „Hier haſt Du meinen Rechenſchaftsbericht für 25 Dienſtjahre. Gebe Gott,
es möchte mir gelingen, Dir Rußland ſo zu übergeben, wie ich beſtrebt war es hinzu-
ſtellen: ſtark, ſelbſtändig, wohlthätig — uns zum Heil — Niemand zum Uebel.“ —
Der Ausdruck „Dienſtjahre“ war ein Lieblingswort des Czaren, nach dem Vorbilde
König Friedrich Wilhelm’s I. Mit den Worten „ich habe Dienſt“ pflegte er fremde
Beſucher zu entlaſſen. — Beiläufig ergiebt ſich aus dieſer Denkſchrift auch, daß die
deutſchen Patrioten vollkommen im Rechte waren, wenn ſie die Tage von Warſchau
und Olmütz als einen Triumph Rußlands und eine Demüthigung Preußens betrach-
teten. — —
Minder wichtig, aber auch bedeutſam für ruſſiſche Weltanſchauung iſt eine Denk-
ſchrift Brunnow’s für den Czaren v. J. 1838, woraus ich hier noch einige Stellen
abdrucke. (Sie iſt nicht identiſch mit dem V. S. 527 erwähnten Aperçu général.)
Considérations générales sur les principes qui servent de base à notre poli-
tique 1838.
1) La politique de l’Empereur peut se résumer en trois mots: „noli me
tangere!“
7) Le ministère Whig, parvenu au pouvoir, a cru que pour se maintenir
il n’avait d’autre parti à prendre que de s’unir au Gouvernement Français.
C’est cette grande erreur du ministère Anglais qui a doublé le mal causé
par la révolution de Juillet. Par là, tout le système politique de l’Europe s’est
trouvé complètement dérangé. Les relations des états ne se règlent plus d’après
leurs vrais intérêts, mais d’après les sympathies de l’opinion publique. Ainsi,
l’Europe s’est divisée en deux camps.
D’après cela, l’Empereur, au lieu de fonder ses espérances sur l’Angleterre
qui nous échappe a pensé qu’il fallait avant tout sauver ce qui nous reste de
l’Alliance.
Il a reconnu, qu’en retirant son appui à l’Autriche et à la Prusse, il avait
fait précisément ce que desirent nos adversaires. Maintenir entre nous et la
France cette barrière morale, formée par des puissances amies et par des mon-
archies solidement fondées sur des principes analogues aux nôtres, voilà quel est
l’intérêt véritable, l’intérêt permanent de la Russie.
11) On dirait qu’Elles nous aimeraient davantage, si elles sentaient moins
vivement combien nous influons sur leur position.
Ils nous croient toujours disposés à les précipiter dans une guerre, dont
ils seraient exposés à ressentir les premiers effets et dont ils redoutent les con-
séquences. Cette crainte s’est manifestée surtout à Berlin.
En 1833, l’attitude passive de la Prusse dans les affaires de Hollande faisait
l’objet de mes entretiens avec M. Ancillon.
„Que voulez-vous, me dit-il, nous ne pouvons pas changer de conduite,
nous ne pouvons pas risquer de nous mettre en guerre avec la France, à moins
que cette guerre ne devienne une affaire nationale pour nous. Nous ne pouvons
pas l’entreprendre tant que l’opinion publique ne la soutiendra point.“
13) Les trois Cabinets alliés, dans leurs réunions successives de 1833 et
1835 ont résolu de ne pas s’ingérer dans les affaires intérieures de la France
quelque regrettables qu’elles puissent être, mais de ne point tolérer non plus
que celle-ci dépasse par une aggression quelconque les limites qui lui sont pré-
scrites, ni qu’elle protège en dehors les doctrines subversives qu’elle renferme
dans son sein.
15) S’il survient une difficulté en Italie, en Suisse, en Allemagne, notre
cabinet ne se trouve pas dans l’obligation de se prononcer le premier. Il laisse
aux cours de Vienne et de Berlin le soin de prendre l’initiative.
[762]XXIX. Europäiſche Politik des Czaren Nikolaus.
Il en est autrement des questions qui concernent directement la Russie.
Tel est nommément le cas des affaires de la Pologne et de la Turquie.
Assurément, l’attitude adoptée alors par nos alliés leur a été fortement
conseillé par leur propre intérêt, car leur cause se trouvait liée à la notre et
le triomphe de l’insurrection à Varsovie aurait porté un coup sensible à l’au-
torité de la Prusse en Posnanie comme à celle de l’Autriche dans la Gallicie.
Mais cette considération quelque juste qu’elle soit ne doit pas nous faire
perdre de vue les obligations réelles que nous devons à nos Alliés. Car eux,
de leur côté avaient des risques à courir en nous soutenant dans notre lutte, le
secours qu’ils nous prêtaient les compromettait évidemment envers nos adversaires
politiques en Angleterre et en France.
La fidélité que les cours de Vienne et de Berlin nous ont prouvée à cette
époque mérite d’autant plus d’être appréciée que nous possédons le secret de
leur faiblesse!
16) Premièrement: „ne comptons-nous pas la force de nos Alliés pour
moins qu’elle ne pèse réellement dans la balance de nos intérêts?“ —
En effet, pour être complètement dans le vrai convenons que depuis huit
ans la Russie, au milieu de circonstances très-difficiles, n’est parvenu à main-
tenir la paix générale que parce qu’elle a réussi à opposer le système conser-
vateur de la triple alliance aux efforts réunis des deux cours maritimes. Tant
que l’Autriche et la Prusse seront pour nous, ce simple fait arrêtera les projets
ambitieux de la France et déconcertera les dessins malveillants de l’Angleterre.
Toutes les deux, il faut le dire, croient l’union des puissances continentales
plus forte qu’elle ne l’est en réalité, et ce prestige a sauvé l’Europe d’une
commotion générale.
La Prusse, de son côté renferme en elle des dangers de discorde et
d’agitation intérieure. Les questions religieuses qui se rattachent à la destitution
récente de l’archevêque de Cologne contribuent à donner à ces germes de dés-
union civile et morale un fâcheux développement.
Le triomphe des idées révolutionnaires sur les bords du Danube et de l’Oder
nous regarderait de bien plus près que le bill de réforme et les barricades de
Juillet. Voilà pourquoi nous devons considérer la cause de la royauté en Prusse
et en Autriche comme une cause qui ne nous est pas étrangère, mais comme
une question qui concerne directement la Russie. C’est là ce qui explique le
prix réel que nous devons attacher à nos Alliances, parceque leur intérêt et
le nôtre ne font moralement qu’un.
Secondement: Ne demandons pas à nos Alliés plus que leur
amitié n’est en état de tenir.
Il y a deux choses surtout que nous ne devons pas attendre de nos Alliés.
1° Nous ne devons pas leur demander, dans leurs relations directes avec la
France un degré de courage moral qui est toujours l’effet de la force et qui
conséquemment ne saurait résider ni à Berlin, ni à Vienne.
2° Une autre règle de conduite que nous devons observer dans nos relations
avec nos Alliés pour ne pas nous exposer à un mécompte regrettable, c’est qu’il
ne faut attendre d’eux aucune coopération active s’il survenait quelque com-
plication entre nous et les puissances maritimes à l’égard des affaires d’Orient.
Sous ce rapport les intentions de la Cour de Berlin nous sont connues.
Aussi l’Empereur ne lui demande rien au delà de ce qu’il est équitable d’en
attendre.
[763]XXX. Römiſche Verhandlungen des Grafen Brühl.
XXX. Römiſche Verhandlungen des Grafen Brühl.
Zu Bd. V. S. 278 ff.
In E. Friedberg’s lehrreicher Schrift: Die Grundlagen der preußiſchen Kirchen-
politik unter König Friedrich Wilhelm IV., Leipzig 1882, ſind die preußiſch-römiſchen
Verhandlungen der Jahre 1840 und 41 zum erſten male auf Grund authentiſcher
Actenſtücke dargeſtellt worden. Der Verfaſſer kannte aber nur einen Theil der Quellen.
Durch ein hochherziges Vertrauen, das mich zu warmem Danke verpflichtet, habe ich
nun den geſammten politiſchen Nachlaß des Grafen Brühl, ſo weit er ſich auf die drei
römiſchen Sendungen bezieht, kennen gelernt; demnach konnte ich die Erzählung Fried-
berg’s in mancher Hinſicht ergänzen. Alles Weſentliche iſt im Texte ſchon geſagt; nur
einige kleine Züge, welche die Darſtellung zu ſehr belaſtet hätten, gebe ich hier noch an.
Graf Brühl gewann im Vatican ſofort einen ſehr ungünſtigen Eindruck von der
Stellung ſeiner Krone und ſagte ſchon am Schluſſe ſeines erſten Berichts (20. Aug.
1840): „Rom hat offenbar gewonnen, hat ſich durch die Meinung erkräftigt und will
das Erlangte nicht verletzen; Preußen hat verloren, will aber den Schein retten.“ Er
bemerkte alsbald, daß der leidenſchaftliche Lambruschini vor allen Anderen die feind-
ſeligen Cleriker in Deutſchland haßte: ſo die Hermeſianer, die doch bei der preußiſchen
Krone gar nichts mehr galten, ſo das ruchloſe, „infame“ Kölner Domcapitel, das
ſeinen Oberhirten verrathen hätte, ſo den milden Sedlnitzky, der von jeher ein ſchlechter
Katholik geweſen ſei. Für die willkürliche Behandlung des Breslauer Fürſtbiſchofs ſollte
Brühl ſofort kategoriſch eine Genugthuung verlangen; er wagte es aber nicht, weil er,
leider mit Recht, fürchtete, dann die ganze Verhandlung zu verderben (Bericht v. 21. Aug.
1840), und weil einem Prälaten, der ſich ſelber aufgab, von Staatswegen nicht mehr
zu helfen war. Von dem neuen Könige ſprachen die Monſignoren alle mit vertrauens-
voller Verehrung; Lambruschini ſagte feierlich: ſollte Frankreich je die Revolution an
den Rhein tragen, dann wird Rom ſeine Schuldigkeit thun, und ich ſelbſt werde mit
dem Kreuze in der Hand erſcheinen (Bericht v. 4. Sept. 1840). Gegen „die ſoge-
nannten Rathgeber“ Friedrich Wilhelm’s aber hegten die Cardinäle ein tiefes Mißtrauen,
Eichhorn galt ihnen offenbar nicht mehr als Altenſtein. Wie ſeltſam die Zeiten ſich
geändert hatten, das zeigte namentlich Lambruschini’s glühender Haß gegen Niebuhr,
der doch einſt mit Papſt Pius und Conſalvi ſo friedlich ausgekommen war. Dem
großen Hiſtoriker konnte man im neuen Rom gar nicht verzeihen, daß er einſt die Liſten-
wahl für die Bisthümer abgelehnt und ſeiner Krone das Recht der Excluſiva geſichert
hatte. Leider hatte die Krone dies werthvolle Recht mit unbegreiflicher Thorheit gehand-
habt, ihren Todfeind ſelbſt auf den Kölniſchen Stuhl berufen; und Brühl konnte nur
wenig einwenden, als Lambruschini ihm ſpäterhin höhniſch vorhielt: „Droſte war eine
Creatur der königlichen Regierung“ und hätte bei freier canoniſcher Wahl die erzbiſchöf-
liche Würde nie erlangt! (Bericht vom 30. Dec. 1840.)
Sehr deutlich verrieth Lambruschini gleich in den erſten Geſprächen den Wunſch
der Curie, daß Preußen einen katholiſchen Geſandten nach Rom ſchicken möge. Dem
konnte der treue Freund des Königs unmöglich beipflichten. Brühl meinte, ein Cleri-
caler würde an ſolcher Stelle ganz für den Vatican gewonnen, ein freiſinniger Katholik
bald unhaltbar werden (Brühl’s Notizen zum Bericht v. 21. Aug. 1840). Noch weit
lebhafter, in mannichfachen Wendungen, befürworteten die Cardinäle den Vorſchlag,
Preußen möge in Berlin einen beglaubigten päpſtlichen Reſidenten zulaſſen, der natürlich
nur der Vorläufer eines Nuntius ſein ſollte. Die Gründe, welche der milde Cardinal
Capaccini dafür anführte, ließen ſich wohl hören. Er ſagte ganz richtig: was wir
heute hier über Preußen erfahren, ſtammt nur aus Zeitungsartikeln oder aus gehäſſigen,
oft ſchmutzigen Denunciationen (Nachtrag zum Bericht v. 3. Sept. 1840). Die großen
Bedenken aber, welche ſich aus Preußens verwickelten Parteiverhältniſſen ergaben, waren
[764]XXXI. Das Märchen vom Flüchtling Heine.
ſo leicht nicht zu beſeitigen. Am auffälligſten war dem Preußen, wie eiferſüchtig man
den Supremat des Papſtes gegenüber „der ſogenannten Emancipation der Biſchöfe“ zu
behaupten ſuchte (Bericht v. 27. April 1841). Daß Droſte ſo gleichmüthig preisgegeben
wurde, hatte ſeinen Grund zum Theil in dem Amtswürden-Gefühle des Papſtes, der
ſich durch den Eigenſinn des deutſchen Freiherrn beleidigt fühlte.
Dem gegenüber erſcheint die Nachgiebigkeit der Krone Preußen grenzenlos. Schon
bei der erſten Verhandlung (1. Sept. 1840) wurde die unglaubliche Zuſage gegeben:
der König wolle, wenn man ſich vertrüge, nur Männer, welche das Vertrauen des
Papſtes beſäßen, in die Katholiſche Abtheilung berufen. So ging es fort, bis zu den
geringſten Angelegenheiten herunter. Der König erbot ſich von freien Stücken, Garni-
ſonskirchen zur abwechſelnden Benutzung für beide Confeſſionen zu erbauen, in Berlin
eine beſonders ſchöne. Da dies dem Vatican noch immer nicht genügte, ſo wurde
endlich die Michaeliskirche für die katholiſchen Soldaten allein errichtet.
Wenn man unbefangen betrachtet, wie die Krone Preußen dem Vatican die Aus-
gleichung des Streites über die gemiſchten Ehen, die Aufhebung des Placets, die Katho-
liſche Abtheilung, den freien Verkehr der Biſchöfe und noch viele andere, bisher ganz
unerhörte Zugeſtändniſſe freiwillig entgegenbrachte und gleichwohl erſt nach dreizehn Mo-
naten widerwärtiger Verhandlungen eine nothdürftige Verſtändigung mit dem römiſchen
Stuhle erlangte — dann kann man nur mit der äußerſten Verwunderung die zuver-
ſichtliche Behauptung A. v. Reumont’s leſen: „Dieſen guten Willen hat man römiſcher-
ſeits in vollem Maaße an den Tag gelegt. Momentane Schwierigkeiten ſind viel mehr
als von Rom von Berlin ausgegangen, wo man verſchiedene Combinationen ventilirte,
bevor man zu derjenigen kam, welche glücklicher Weiſe angenommen wurde. Daß in
Rom allerlei Einflüſſe ſich geltend machten, vielleicht Intriguen geſponnen wurden, um
dem beiderſeitigen Verſtändniß Hinderniſſe zu bereiten, darf nicht Wunder nehmen. Aber
ſie ſind völlig untergeordneter Natur geweſen.“ Dieſe Verſicherung ſchlägt den That-
ſachen in’s Geſicht. Wie iſt ſie zu begreifen? Ich finde nur zwei mögliche Erklärungen.
Entweder Reumont dachte ſelbſt ſo fanatiſch, daß ihm die unerſchöpfliche Nachgiebigkeit
der Krone noch immer nicht genügte. Das glaube ich nicht; denn Reumont war, ob-
wohl ſtreng clerical geſinnt, doch auf ſeine Weiſe ein guter Preuße und namentlich
ein glühender Verehrer des königlichen Hauſes. Oder Reumont hat von den Einzel-
heiten dieſer Verhandlungen viel weniger erfahren, als er in ſeiner bekanntlich ſehr
ſtarken Eitelkeit ſich einbildete. Dies ſcheint mir die richtige Erklärung. In den ſämmt-
lichen Papieren Brühl’s, auch in den Privatbriefen, wird Reumont nicht ein einziges
mal genannt, während der Name des Reſidenten v. Buch häufig vorkommt. Wenn
Reumont alſo, wie er angiebt, „dem Grafen Brühl während ſeiner Miſſion beigegeben
war“, ſo hat ſich ſeine Thätigkeit wahrſcheinlich auf formale Geſchäfte beſchränkt, wie
dies auch ſeiner damaligen beſcheidenen Amtsſtellung entſprach.
XXXI. Das Märchen vom Flüchtling Heine.
Zu Bd. V. S. 379.
Der Götzendienſt, welcher heute in vielen deutſchen Zeitungen mit H. Heine ge-
trieben wird, hat weder mit der Wiſſenſchaft, noch mit dem künſtleriſchen Gefühle irgend
etwas gemein; er iſt einfach Geſchäft. Leider laſſen ſich auch manche ernſte Gelehrte
durch dieſe lärmende Betriebſamkeit einſchüchtern; ſie begnügen ſich nicht, dem Dichter
den Künſtlerruhm zu ſpenden, der ihm für einen Theil ſeiner Gedichte gebührt; ſie
wagen auch, ihn, der in Allem das Gegentheil eines Helden war, als einen politiſchen
Märtyrer darzuſtellen, und verleumden — ohne je einen Beweis auch nur zu verſuchen
[765]XXXI. Das Märchen vom Flüchtling Heine.
— den preußiſchen Staat wegen grauſamer Verfolgung des Poeten. Die einfache Wahr-
heit iſt: nicht Heine hat ſich über Preußen zu beklagen, das ihn perſönlich nie verfolgte,
ſondern Preußen hat ſich über Heine zu beklagen, der ſein Vaterland unabläſſig mit
Koth bewarf.
Heine war ein freiwilliger Flüchtling, ganz ſo wie die polniſchen Dichter Mickie-
wicz, Kraſinski, Stowaski und viele andere Revolutionäre aus Deutſchland, Polen,
Italien, die ſich jahrelang gänzlich unverfolgt in Paris aufhielten. Einige von ihnen
lebten in Frankreich aus Furcht vor möglicher Verfolgung, Andere, um unter franzö-
ſiſchem Schutze ihre Verſchwörungspläne ſicherer zu betreiben, Andere wieder um die
Reize der Weltſtadt zu genießen; ſie Alle ſpielten mit hochtragiſchem Pathos die Rolle
politiſcher Dulder, und an dieſem frivolen Sport der radicalen Partei betheiligte ſich
auch Heine. Die einzige Unbill, die ihm von Seiten der preußiſchen Behörden je wider-
fuhr, war das thörichte Verbot ſeiner Schriften. Dies Schickſal theilte er mit vielen
anderen Schriftſtellern, und er konnte es, wie er ſelbſt erzählt, ſehr leicht nehmen, da
der Abſatz ſeiner Werke durch das Verbot eher gefördert als erſchwert wurde. Für
ſeine perſönliche Sicherheit hatte er nichts zu beſorgen, noch weniger ſogar als A. Ruge,
der trotz ſeiner Kämpfe mit der Preßpolizei doch in ſeinem Hauſe unangefochten blieb.
Die Regierung beurtheilte Heine richtig; ſie fürchtete nur ſeine Feder, als Demagog
ſchien er ungefährlich.
Daß er niemals polizeilich verfolgt wurde, läßt ſich jetzt auch durch ein amtliches
Zeugniß erweiſen. Als der franzöſiſche Geſandte Graf Breſſon in Guizot’s Auftrag
bei dem Berliner Hofe vertraulich anfragte, was die Folge ſein würde, wenn Heine ſich
in Frankreich naturaliſiren ließe, da erkundigte ſich das Auswärtige Amt zunächſt beim
Miniſterium des Innern und erwiderte dann (17. Febr. 1843) in trockenem, gering-
ſchätzigem Tone: Von Amtswegen wiſſe man gar nicht, ob Heine noch preußiſcher Unter-
than ſei; aucune mesure de police n’a été prise contre sa personne. Wolle er
Franzoſe werden, ſo habe die preußiſche Regierung nichts dawider und würde ihm dann
die Rechte eines Franzoſen einräumen. Darauf erörtert das Schreiben noch das Verbot
der Heiniſchen Werke und kommt zu dem Schluſſe: Da Heine im Auslande lebe und
ſelber keinen Schritt gethan habe, um eine Milderung zu erlangen, ſo könnten die be-
ſtehenden Anordnungen nur im Gnadenwege geändert werden, et il n’existe pour les
autorités du Roi aucun motif de faire d’office des démarches dans ce bût. Bei-
läufig ſcheint das Miniſterium nicht gewußt zu haben, daß Heine’s Schriften faſt ſämmt-
lich dem Verlage von Hoffmann und Campe angehörten; dieſer Verlag war aber ſchon
nach dem Hamburger Brande durch königlichen Gnadenerlaß wieder freigegeben worden
(ſ. o. V. 181).
Wie bisher, ſo blieb Heine auch ganz unbehelligt von den preußiſchen Behörden,
als er i. J. 1844 ſein Vaterland wieder beſuchte. Nachher änderte ſich die Lage etwas,
als ſeine „Zeitgedichte“ erſchienen, deren unfläthige Majeſtätsbeleidigungen in einem
monarchiſchen Staate unmöglich ſtraflos bleiben konnten. Obgleich auch jetzt keine Ver-
folgung eingeleitet wurde, ſo mußte Heine doch nunmehr befürchten, beim Betreten des
preußiſchen Bodens unter ſchwerer Anklage vor Gericht geſtellt zu werden. Er fühlte
das ſelbſt, und da er im Jahre 1846 nach Berlin reiſen wollte, um Freunde wiederzu-
ſehen und Dieffenbach zu conſultiren, ſo erbat er ſich Humboldt’s Verwendung, damit
der Monarch die Vergangenheit in der alten Regiſtratur begrübe. Dieſe Vergangenheit
war freilich allerjüngſte Gegenwart. Der ſo roh beleidigte König zeigte ſich nicht ab-
geneigt, das Buch der Lieder ließ ihn Alles vergeſſen. Die Polizeibehörde aber erklärte
nach ihrer Amtspflicht, es ſtehe nicht in ihrer Macht, die Strafloſigkeit ſchwerer Maje-
ſtätsbeleidigungen im Voraus zuzuſichern. Der König allein konnte die Sache nieder-
ſchlagen; doch bevor noch eine Entſcheidung erfolgte, hatte Heine ſchon aus anderen
Gründen ſeine Pläne geändert und die Berliner Reiſe aufgegeben. Auch damals alſo
geſchah ihm von Preußen her kein Leid, und dabei blieb es bis zu ſeinem Tode. Die
[766]XXXII. Liſt an König Friedrich Wilhelm.
weinerliche Erzählung von Heine’s „Exil“ iſt nichts weiter als eine häßliche Lüge, deren
jeder gewiſſenhafte Hiſtoriker ſich ſchämen ſollte.
Jene Anfrage des Grafen Breſſon konnte natürlich nur den einen Grund haben,
daß Heine ſich vorher in Paris um die Naturaliſation beworben hatte. Iſt dieſe Na-
turaliſation dann wirklich erfolgt? Allem Anſchein nach, ja! Das einzige rechtliche
Hinderniß, das ihr entgegenſtehen konnte, war durch die bündige Erklärung des preußi-
ſchen Auswärtigen Amtes beſeitigt, und die franzöſiſche Regierung behandelte Heine
fortan amtlich als Franzoſen. Als im Januar 1846 Guizot die Mitarbeiter der unter-
drückten radicalen Zeitſchrift Vorwärts, ſämmtlich Ausländer, auszuweiſen beſchloß, da
wurde nur der Franzoſe Heine [ausgenommen]. A. Ruge, der damals beſtändig mit
ihm verkehrte, ſchrieb in einem Briefe v. 26. Jan. 1845: „Heine iſt naturaliſirt, alſo
nicht auszuweiſen,“ und das Nämliche ſagt er in ſeinen „Studien und Erinnerungen
aus den Jahren 1843—45“ (Sämmtliche Werke V, 401). Iſt es wahrſcheinlich, daß
Heine’s nächſte Freunde über eine ſolche Frage, die im Augenblicke geradezu eine Lebens-
frage war, nicht Beſcheid gewußt hätten? Iſt es glaubhaft, daß die franzöſiſche Re-
gierung, die vor Kurzem wegen Heine’s Naturaliſation einen diplomatiſchen Schrift-
wechſel geführt hatte, ſich über die Staatsangehörigkeit dieſes Mannes, deſſen Name in
den Liſten ihrer geheimen Penſionäre ſtand, gröblich geirrt haben ſollte? Dieſen hand-
greiflichen Anzeichen ſteht ſchlechterdings nichts entgegen als die Behauptung Heine’s
ſelbſt, der i. J. 1854 öffentlich erklärte: er hätte zwar alle Vorbereitungen zur Natu-
raliſation getroffen, aber, gehindert durch „den närriſchen Hochmuth des deutſchen Dich-
ters“, ſie niemals ausgeführt. Wie viel das Wort Heine’s gelten ſoll? — darüber mag
Jeder nach ſeiner Empfindung entſcheiden. Meinerſeits glaube ich: die Verſicherung
Heine’s, daß er niemals Franzoſe geworden ſei, hat für die hiſtoriſche Wiſſenſchaft genau
denſelben Werth, wie ſeine ebenſo inbrünſtige Betheuerung, daß er „wegen ſeiner Liebe
zu Deutſchland dreißig Jahre im Exile verlebt“ hätte.
XXXII. Liſt an König Friedrich Wilhelm.
Zu Bd. V. S. 482.
Euerer Kön. Majeſtät
Geſandter am hieſigen Hofe, Chevalier Bunſen, verſichert mich, Allerhöchſtdieſelben wür-
den es nicht ungnädig aufnehmen, wenn ich Ihnen ſchriftlich die Gefühle jener tiefen
Verehrung ausſprechen würde, von welchen ich gegen Allerhöchſtdieſelben längſt durch-
drungen bin.
Schon im Sommer 1835 ſtand mir das Glück bevor Ew. K. Majeſtät nahe zu
kommen. Damals in Berlin anweſend in der Abſicht, eine große Compagnie zur Unter-
nehmung ſämmtlicher preußiſcher Eiſenbahnen zu ſtiften, war ich mit dem damaligen
Major Williſen, Ew. K. Maj. Adjutant, bekannt, und durch ihn ward Einleitung ge-
troffen, daß mir die Gnade einer Audienz bei Allerhöchſtdemſelben zu Theil werden
ſollte. Leider aber wurden Allerhöchſtdieſelben am Abend vor dem hierzu anberaumten
Tage durch Dienſtverhältniſſe nach Pommern gerufen, und damit habe ich einen Un-
ſtern erfahren, der mir von den vielen, die mich in meinem bewegten Leben betroffen
haben, nachher oft als der unglücklichſte erſchienen iſt, weil ich dadurch wahrſcheinlich
des Privilegiums beraubt worden bin, mein ſeitheriges Thun und Laſſen bei Ew. Königl.
Majeſtät unmittelbar zu rechtfertigen.
Es iſt falſch, wenn man mich für einen Gegner Preußens hält. Giebt es in
Deutſchland Patrioten, und ich glaube ihre Zahl iſt nicht gering, die von der Ueber-
zeugung durchdrungen ſind, Preußen habe die hohe Beſtimmung, durch Reaction gegen
[767]XXXIII. Graf Chriſtian Bernſtorff und Schleswigholſtein.
die ſtationären und retrograden Tendenzen altersſchwacher Mächte dem Vaterlande die
Convulſionen einer Revolution oder die Schmach einer abermaligen Unterjochung zu
erſparen — giebt es in Deutſchland Patrioten, die der feſten Meinung ſind, nur durch
Preußen könne das Vaterland zur Wiedergeburt gelangen, ſo gehöre gewiß auch ich in
dieſe Claſſe. Opponiren aber Männer ſolcher Art gegen Preußen, ſo kann es nur ge-
ſchehen, weil ſie der Meinung ſind, daß der preußiſchen [Bureaukratie] nicht immer jenes
hohe Ziel vor Augen ſchwebe, und daß der Geiſt des erleuchteten Herrſchers von Preußen
nicht auch immer der Geiſt der preußiſchen Bureaukratie ſei.
Ich weiß ſehr wohl, daß meine weit mehr auf Erfahrung und Selbſtdenken, als
auf blinden Glauben an fremde Theorien gegründeten nationalökonomiſchen Ideen nicht
minder als meine amtloſe Perſönlichkeit gelehrten Pedanten und eingebildeten Bureau-
kraten von jeher ein Gegenſtand des vornehmen Abſprechens und der metaphyſiſchen
Verdammung geweſen ſind. Ich weiß aber auch, daß Ew. Majeſtät vermöge der Ihnen
angeborenen Genialität von jeher Sich von allen jenen, einer ſolchen Aburtheilung zu
Grunde liegenden Vorurtheilen Ihrer Diener frei zu halten gewußt haben, und beſtehe
deßhalb getroſt das Wagniß, in einer Sache, die das höchſte Wohl des deutſchen Vater-
landes in Frage ſtellt, von einer befangenen Bureaukratie an die glückliche Geiſtesfreiheit
und Geiſtesſtärke Ew. Majeſtät zu appelliren.
Ich überlaſſe mich ſomit der ſchmeichelhaften Hoffnung, Ew. Majeſtät werde die
Tendenz in Gnaden beurtheilen, die meinem Streben zu Grunde liegt, Allerhöchſtdieſelbe
werde die Erklärung in Gnaden aufnehmen, daß ich bereit ſei, mit Freuden jede Bürde
zu tragen, die Ew. Königl. Majeſtät in Ihrer Weisheit und zum Beſten des Vater-
landes meinen Schultern aufzulaſten für gut finden ſollte.
Indem ich mich Ew. Königl. Majeſtät zu Gnaden empfehle, beharre ich in tiefſter
Ehrfurcht und Unterthänigkeit
Ew. Königl. Majeſtät
allerunterthänigſter
F. Liſt.
London, 31. Juli 1846.
XXXIII. Graf Chriſtian Bernſtorff und Schleswigholſtein.
Zu Bd. V. S. 573.
Durch das bekannte Werk von Droyſen und Samwer über die Herzogthümer
Schleswigholſtein iſt zuerſt die Erzählung verbreitet worden, daß Graf Chriſtian Bern-
ſtorff nach dem Untergange des heiligen Reichs beabſichtigt hätte, Holſtein gänzlich in
Dänemark einzuverleiben, auch das Erbfolgerecht des Königsgeſetzes dort einzuführen,
und nur der Herzog von Auguſtenburg dieſen Plänen ſiegreich entgegengetreten ſei.
Dem gegenüber habe ich ſchon im 3. Bande (S. 592 d. 3. Aufl.) kurz nachgewieſen,
daß Chriſtian Bernſtorff ſich in dieſer Kriſis durchaus ehrenhaft, als ein Vertreter des
guten deutſchen Rechts gehalten hat. Da jene patriotiſch gemeinte Legende aber noch
immer, ſelbſt in gediegenen hiſtoriſchen Werken wiederholt wird, ſo halte ich mich ver-
pflichtet, hier an einige authentiſche Actenſtücke zu erinnern, welche E. F. Wegener in
ſeinem längſt verſchollenen Buche „Beiträge zur Geſchichte Dänemarks im 19. Jhdt.“
(Kopenhagen 1851. I. 332 ff.) mitgetheilt hat. Nachdem Holſtein aufgehört hatte ein
deutſches Reichslehen zu ſein, mußte das ſtaatsrechtliche Verhältniß des Landes durch
ein königliches Patent neu geordnet werden; und die national-däniſche Partei am
Kopenhagener Hofe wollte die Gelegenheit benutzen, um unter der Hand die Erbfolge
des Königsgeſetzes in Holſtein einzuführen. Chriſtian Bernſtorff aber, der Miniſter des
Auswärtigen, ſchrieb ſeinem Bruder Joachim (Kiel, 26. Aug. 1806):
[768]XXXIII. Graf Chriſtian Bernſtorff und Schleswigholſtein.
„In dieſem Patent wird, meines Dafürhaltens, dem weſentlichen Inhalt nach geſagt
werden müſſen: Daß, nachdem durch die Losreißung eines großen Theiles der Stände vom
Reiche und durch die Niederlegung der Kaiſerkrone der Reichsverband aufgelöſt und die
Verfaſſung Deutſchlands erloſchen ſei, auch das Band, welches Holſtein bisher an das
Reich gebunden habe, gelöſt ſei, und dieſe Provinz von allen Beziehungen und Ver-
pflichtungen, welche ſie bisher gegen das Reich gehabt, entbunden, dagegen aber auf das
Engſte mit dem Staatskörper der der däniſchen Königskrone unterworfenen Lande, von
welchem ſelbige hinfort einen in allen Verhältniſſen und Beziehungen völlig unge-
trennten Theil ausmachen werde, vereinigt werde.
Mich däucht, daß man nicht mehr, als durchaus nöthig iſt, weder in der bis-
herigen Verfaſſung ändern, noch in dem Patente ſagen müſſe. — Der Kronprinz wünſcht
noch immer das Königsgeſetz ausdrücklich eingeführt und dadurch das Erbrecht an Hol-
ſtein auch der weiblichen Descendenz zugewandt zu ſehen. Mir ſcheint ſolches nicht nur
bedenklich, ſondern auch in Beziehung auf den vorliegenden Zweck völlig überflüſſig
zu ſein.
Nachſchrift. Was die Einführung des Königsgeſetzes betrifft, ſo hat der Kronprinz
ſeine Meinung darüber aufgegeben.“
Bernſtorff ſtimmte mithin vollſtändig überein mit dem Herzog von Auguſtenburg,
der ſich im Staatsrathe, am 3. Sept. 1806 alſo ausſprach:
„Nach allem bisher angeführten bin ich alſo des unterthänigen Dafürhaltens, daß
Holſtein nach jetzt aufgelöſtem Reichsverbande zum ſouverainen Herzogthum erklärt
werde, deſſen politiſche Verhältniſſe und Beziehungen mit denen der Krone Dänemark
aufs genaueſte vereinigt und folglich nur von letzterer abhängig wären, jedoch unbeſchadet
der in Holſtein beſtehenden Succeſſionsordnung.“
Wenn dem Herzog demnach das Verdienſt bleibt, daß er die Erbfolgerechte ſeines
Hauſes rechtzeitig wahrte, ſo war die Gefahr doch nicht groß, da der leitende Miniſter
Dänemarks ſelbſt auf ſeiner Seite ſtand. Das Patent erhielt nunmehr die von C. Bern-
ſtorff verlangte unverfängliche Faſſung, und Joachim Bernſtorff ſchrieb nachher (1. Nov.
1806) dem ſchwediſchen Geſandten Oxenſtierna:
Qu’on feroit tort à Sa Majesté en supposant qu’en fixant les rapports futurs
de Holstein avec le Dannemarc Elle ait voulu aller au delà de ce que des événe-
mens imprévus et indépendans de Sa volonté avaient rendu nécessaire.
Demnach leuchtet ein, daß C. Bernſtorff ganz ſchuldlos verleumdet worden iſt. —
Beiläufig hier noch ein Wort über eine andere Auguſtenburgiſche Legende. In den
Aufzeichnungen des Prinzen von Noer, deren Unzuverläſſigkeit freilich von Freund und
Feind anerkannt iſt, wird S. 16 f. geſchildert, wie ſehr der Prinz im Jahre 1842 durch
ſeine Ernennung zum Statthalter überraſcht worden ſei. An dieſe Ueberraſchung kann
ich nicht recht glauben. Daß die Auguſtenburger ſchon von langeher die Statthalter-
würde für ihr Haus wünſchten, verſteht ſich von ſelbſt und iſt auch durch verſchiedene
Aktenſtücke längſt erwieſen. Da der Herzog ſich durch ſeine Oppoſition im Landtage
unmöglich gemacht hatte, ſo war der Prinz v. Noer zur Zeit der einzige Candidat des
Hauſes. Eine harmloſe Erzählung aus den Tagebüchern von Franz Hegewiſch beleuchtet
den Sachverhalt genauer. Hegewiſch reiſte im März 1842 von Kiel nach Kopenhagen,
um von König Chriſtian die Genehmigung der Altona-Kieler Eiſenbahn zu erbitten —
ein Unternehmen, das ſchließlich nur durch eine kleine Kriegsliſt gelang (ſ. o. V. 500).
Am Bord des Dampfers traf er den Prinzen v. Noer, mit dem er ſeit Jahren wohl
bekannt war. Unterwegs erzählte ihm der Prinz vertraulich, er denke den König um
den erledigten Statthalterpoſten zu bitten. Da fuhr Hegewiſch erſchrocken zurück und
ſagte: „Dann bin ich verloren; wenn der König Ew. Durchlaucht zuerſt empfangen hat,
dann wird er verſtimmt ſein und meine Bitte um die Eiſenbahn entweder gar nicht
oder ungnädig anhören.“ Der Prinz ſah das ein und zeigte ſich ſehr liebenswürdig. Die
Beiden verabredeten, daß Hegewiſch zuerſt um eine Audienz bitten und der Prinz erſt
[769]XXXIV. Der Prinz von Preußen und die Verfaſſungspläne.
nachher bei Hofe erſcheinen ſolle. So ging Alles glatt ab. Dieſe ganz unbefangene,
lange vor den Aufzeichnungen des Prinzen niedergeſchriebene Erzählung eines treuen
Anhängers der Auguſtenburger beweiſt doch wohl, daß der Prinz ſich ſchon auf jener
Kopenhagener Reiſe mit ehrgeizigen Plänen trug. Als er dann die Statthalterwürde
erlangt hatte, verſtand er freilich nicht ſie zu gebrauchen. —
XXXIV. Der Prinz von Preußen und die Verfaſſungspläne.
Zu Bd. V. S. 606 ff.
Der Prinz von Preußen trat zur Zeit der Königsberger Huldigung allen Ver-
faſſungsplänen, welche dem Teſtamentsentwurfe ſeines königlichen Vaters widerſprachen,
nachdrücklich entgegen. Er verlangte ſodann, als der König die Vereinigten Ausſchüſſe
bildete, daß dieſe Inſtitution ſogleich völlig ausgeſtaltet und mit ihr das ſtändiſche Re-
formwerk abgeſchloſſen werde. Er erhob endlich, im Januar 1845, lebhaften Einſpruch,
als der Plan des Vereinigten Landtags ſich enthüllte, und wurde deshalb von ſeinem
königlichen Bruder ſehr hart angelaſſen.
Die natürliche Folge von alledem war, daß der Prinz in die neue Immediat-
commiſſion, welche im Sommer und Herbſt 1845 über die Entwürfe des Monarchen
berieth, nicht berufen wurde. Als dieſe Verhandlungen geſchloſſen waren, fühlte er ſich
aber verpflichtet, nunmehr ſeine Anſicht über die künftige Geſtaltung des ſtändiſchen Weſens
ausführlicher darzuſtellen. Am 20. November 1845 ſchrieb er dem Könige: „Du wirſt
es natürlich finden, daß ich in Erfahrung gebracht habe, wie Du in dieſem Sommer
eine Commiſſion ernannt haſt, welche Deine ſtändiſchen Pläne ausarbeiten mußte.“ Dann
erinnerte er an ſeinen Brief vom Januar und fuhr fort: „Mehr als ich darin geſagt,
erlaubt mir mein Gewiſſen nicht nachzugeben. Ich glaube es in meiner Stellung ver-
langen zu können, daß mein Plan geprüft werde. Er giebt kein Recht der Krone aus
den Händen; er bezeichnet jeder Corporation ihre Rechte, und vermeidet, die Finanzfrage,
die gefährlichſte von allen, in regelmäßiger Wiederkehr zu agitiren. Zugleich gewährt er,
unter Beibehaltung des jetzigen ſtändiſchen Fundaments, die Provinzialſtände, gewährt
in den Ausſchüſſen die verheißene Generalberathung des Geſetzes von 1823 und löſet die
Schwierigkeit des Geſetzes der Staatsſchulden von 1820. Brüderlichſt lege ich dieſe große
Angelegenheit Dir an’s Herz, das tief ergriffen davon iſt, daß es ſich Deinen Plänen
nicht anſchließen kann.“
Die beigelegte Denkſchrift zeigt ſchon jene glückliche Miſchung von Feſtigkeit und
Beweglichkeit, welcher der Prinz dereinſt als König ſo große Erfolge verdanken ſollte.
Ohne die leitenden politiſchen Grundſätze ſeines Lebens je aufzugeben, ſtellte er ſich doch
immer raſch auf den Boden der veränderten Verhältniſſe. Er hatte einſt gehofft, die
letztwillige Verfügung ſeines Vaters über die Reichsſtände würde ausreichen. Als dann
die Vereinigten Ausſchüſſe geſchaffen wurden, nahm er das Geſchehene alsbald an und
rieth, dieſe neue Verſammlung zu einem ſtändiſchen Reichstage auszugeſtalten. Jetzt ver-
kündigte der König ſeine Abſicht, neben den Vereinigten Ausſchüſſen und den Provinzial-
landtagen noch eine Centralvertretung zu ſchaffen. Der Prinz erkannte, ſein königlicher
Bruder werde ſich von dieſem verwickelten Plane nicht mehr abbringen laſſen; er ging
daher auf den Grundgedanken der neuen Entwürfe ſofort ein, obgleich er ihn ſchwerlich
ganz billigen mochte, und faßte nur die praktiſche Frage in’s Auge: wie das Eine, was
ihm das Weſen des preußiſchen Staates war, die lebendige Macht der Krone neben dieſer
ungefügen dreifachen Gliederung ſtändiſcher Körperſchaften noch beſtehen ſolle?
Die Denkſchrift begann: „Preußens politiſche und geographiſche Lage als Großmacht
im europäiſchen Staatenbunde und zugleich als Theil des deutſchen Bundes erlaubt nicht,
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 49
[770]XXXIV. Der Prinz von Preußen und die Verfaſſungspläne.
daß deſſen Monarch durch conſtitutionelle Inſtitutionen in ſeinem freien Bewegen be-
hindert werde. Aber auch alle Inſtitutionen, die den conſtitutionellen ſich nähern oder
in dieſe überzugehen drohen, ſind daher für Preußen nicht annehmbar.“ Um dieſer Gefahr
vorzubeugen und zugleich die Verheißungen der Jahre 1820—23 zu erfüllen, hält der
Prinz für nöthig, daß die geſetzgeberiſche Thätigkeit der Stände und die Berathung der
Finanzfragen ſtreng von einander getrennt und verſchiedenen ſtändiſchen Körperſchaften
zugewieſen werden. Der Allgemeine Landtag ſoll mithin ausſchließlich über den Staats-
haushalt, die Vereinigten Ausſchüſſe ebenſo ausſchließlich über die Entwürfe neuer Geſetze
berathen. Werden alſo „die Attributionen ſcharf auseinandergehalten“, dann kann die
Berathung der Steuervorlagen nicht zum Erzwingen neuer Geſetze mißbraucht werden
oder umgekehrt. Demnach ſollen beſtehen: eine reichsſtändiſche Verſammlung, aus etwa
150 Abgeordneten der Provinzialſtände gebildet, mit der Befugniß, über neue Steuern
und Anleihen zu berathen; ferner die bisherigen Vereinigten Ausſchüſſe mit dem Rechte
der Geſetzesberathung, das weiterer Ausdehnung fähig iſt und doch unſchädlich bleibt, „da
die gefährliche Geldfrage ihnen entzogen iſt“; endlich als Fundament der ſtändiſchen
Verfaſſung die Provinziallandtage.
Dann erörtert die Denkſchrift noch, wie es in Kriegszeiten mit den Anleihen zu
halten ſei. Dieſe Frage erſchien bekanntlich den Räthen des Königs ſehr ſchwierig. Der
Prinz fand ſie ganz einfach, weil er ſeine Preußen kannte. Er meinte: bei einem be-
vorſtehenden Kriege kann man allerdings, des nothwendigen Geheimniſſes wegen, die
Reichsſtände nicht um eine Anleihe angehen; für dieſen Fall genügen der Staatsſchatz und
Revirements mit den großen Geldinſtituten des Staates. „Wird aber im Laufe des
Krieges eine Anleihe nothwendig, ſo hat es nicht das geringſte Bedenken, die Reichsſtände
zu berufen.“ In Friedenszeiten dürfen Anleihen nur im äußerſten Nothfall abgeſchloſſen
werden, ſo daß Jeder die Nothwendigkeit einſieht und die Schande auf den Verneinenden
fällt. Koſtſpielige große Unternehmungen, wie die Eiſenbahnen, überlaſſe man den Pri-
vaten. Unverbrüchlich hält die Denkſchrift daran feſt, daß der verſtorbene König jederzeit
nur berathende Stände in Ausſicht geſtellt hatte. Sie ſchließt mit den Worten: „Alle
Berathungen aller drei ſtändiſchen Verſammlungen ſind durchaus conſultativ, von
einem Bewilligungsrecht irgend einer Art darf nie die Rede ſein.“
Dem Wunſche des Bruders willfahrend ließ der König dieſe Denkſchrift durch die
Immediatcommiſſion begutachten (Decbr. 1845). Ihre Mitglieder, voran Thile, Sa-
vigny, Uhden, Canitz, ſprachen ſich gegen den Thronfolger aus: denn die Vereinigung
aller Provinziallandtage ſei durch Se. Majeſtät bereits beſchloſſen, und ein beſchränktes
Steuerbewilligungsrecht laſſe ſich den Ständen nicht verſagen, wenn ſie die Bürgſchaft
für Anleihen übernehmen ſollten.
Im Frühjahr 1846 wurde der Prinz endlich von Amtswegen zur Mitwirkung be-
rufen. Der König verordnete, daß die Immediatcommiſſion mit ſämmtlichen Staats-
miniſtern zu gemeinſamen Sitzungen zuſammentreten ſolle, um die Entwürfe endlich
abzuſchließen. Als Vorſitzender des Staatsminiſteriums hatte der Prinz dieſe Verhand-
lungen zu leiten. Sogleich zum Beginn, am 11. März, ſtellte er die Frage, ob eine
ſtändiſche Centralverſammlung nothwendig ſei, und geſtand aufrichtig, er ſelber habe ſich
von dieſem Bedürfniß noch nicht ganz überzeugt. Nachdem ſodann alle Anweſenden aus-
führlich ihre Meinung begründet hatten, ſprach er am Schluſſe dieſer entſcheidenden Sitzung
ebenſo offen aus: nunmehr werde er die Frage bejahen. Hierauf ward mit allen gegen
zwei Stimmen beſchloſſen, daß eine reichsſtändiſche Verſammlung berufen werden ſolle.
Die ſpäteren Verhandlungen zogen ſich ſehr in die Länge. Der Prinz blieb faſt mit
allen ſeinen Anträgen in der Minderheit; die übrigen Mitglieder hielten jetzt jeden Wider-
ſpruch für ausſichtslos, obgleich die meiſten im Stillen ſchwere Bedenken hegten. Am
17. December 1846 war die Berathung nahezu abgeſchloſſen, und der Prinz zeigte an,
daß er ſeinem königlichen Bruder ein Sondergutachten einreichen werde.
Noch am ſelben Tage beendete er eine neue Denkſchrift für den König. Er hob
[771]XXXIV. Der Prinz von Preußen und die Verfaſſungspläne.
an mit dem ſchmerzlichen Geſtändniß, daß er in den beſchloſſenen Inſtitutionen „nicht
das Heil des Thrones und des Vaterlandes erblicken könne“, und faßte alsdann ſeine
Bedenken in vier Hauptpunkten zuſammen. Zum Erſten wendete er ſich gegen die ver-
fehlte Zuſammenſetzung des Vereinigten Landtages; und wer mag heute noch bezweifeln,
daß dieſe unförmliche Verſammlung von mehr als 600 Köpfen als dauernde Inſtitution
unmöglich fortbeſtehen konnte? Der Prinz erhob dawider einen gewichtigen Einwand,
der, ſo nahe er lag, ſeltſamerweiſe noch von keinem der vielen Mitrathenden bemerkt
worden war; er ſagte einfach: „Dieſe ſtändiſche Verſammlung iſt theils unlenkſam, theils
unauflöslich.“ Allgemeine Wahlen im ganzen Königreiche — Urwahlen, wie man damals
ſagte — wollte der König unter allen Umſtänden vermeiden. Er hielt ſie — hierin mit
dem Bruder ganz übereinſtimmend — für einen Fieberzuſtand, wovor man das Volk
bewahren müſſe, und rühmte als einen Vorzug ſeines Vereinigten Landtages, daß dieſer
nicht aus allgemeinen Wahlen, ſondern aus den Provinzialſtänden hervorgehe. Nun
wies der Prinz ſchlagend nach: der Vereinigte Landtag ſolle ja nicht aus gewählten
Deputirten der Provinzialſtände beſtehen, dann könnte „aufgelöſt und in den Provinzial-
landtagen neu gewählt werden“; er ſolle vielmehr die Geſammtheit der acht Provinzial-
landtage ſelber umfaſſen und könne folglich nie aufgelöſt werden, wenn man nicht in
allen acht Provinzen zugleich Neuwahlen ausſchreiben wolle. „Somit ſtehet dieſe neue
berathende preußiſche Ständeverſammlung weit mächtiger da als die conſtitutionellen
Kammern anderer Staaten, welche alle ſich für extreme Fälle die Auflöſung und Neu-
wahlen vorbehalten haben.“
Eine ſolche Verſammlung, ſo fuhr die Denkſchrift fort, laſſe ſich nur dann in
Schranken halten, wenn ihr ein Herrenſtand als ſelbſtändige, gleichberechtigte Macht
gegenüberſtehe. Der Plan, die Spitzen der Ariſtokratie zu einer beſonderen ſtändiſchen
Bank zu vereinigen — unzweifelhaft einer der glücklichſten politiſchen Gedanken Friedrich
Wilhelm’s IV. — war leider nicht zur vollen Reife gelangt; der König hatte bisher,
zum lebhaften Unwillen der Ritterſchaft des Oſtens, nur eine kleine Anzahl erblicher
Herren berufen und behielt ſich noch vor, über die Organiſation des Herrenſtandes
Weiteres zu beſtimmen. Dem praktiſchen Sinne des Prinzen war dies Zaudern unbe-
greiflich. Er ſagte: „Es will nicht einleuchten, wie es in irgend einer Weiſe zu recht-
fertigen wäre, wenn eine ganz neue ſtändiſche Aera geſchaffen wird, man dieſe Inſtitu-
tionen nicht gleich ganz und komplett ſchafft, ſondern in einem Paragraphen ſich die
wichtigſte Einrichtung zu creiren noch vorbehält.“ Auch fand er es ungerecht, den treuen
Adel der alten Provinzen durch Zurückſetzung zu kränken Sein Rath war, der König möge
ſogleich ein geordnetes Zweikammerſyſtem einführen, etwa 82 Fürſten und Grundherren
in das Oberhaus berufen und dieſe nach freiem Ermeſſen durch Virilſtimmen verſtärken:
ein ſolcher Herrenſtand würde ein ſtarkes Gegengewicht bilden gegen die zweite Bank.
Zum Zweiten wendet ſich die Denkſchrift gegen das Recht des Vereinigten Land-
tags, neue Steuern zu bewilligen. Das Steuerbewilligungsrecht der alten Stände iſt
nach und nach untergegangen, „weil es die Nothwendigkeit ſo mit ſich brachte. Preußen
wäre ſeit dem Großen Kurfürſten nie das geworden, was es iſt, wenn es von dieſem
Rechte abhängig geblieben wäre.“ Darum erklärt das Allgemeine Landrecht das Be-
ſteuerungsrecht für ein Majeſtätsrecht; auch die Geſetze von 1815 und 1823 verheißen
den Landſtänden nur die Berathung, nicht die Bewilligung der Steuergeſetze. „Ich halte
die Aufgabe des Steuererhebungsrechts durch die Krone für eine ſolche Beeinträchtigung
der Selbſtändigkeit und Unabhängigkeit des Thrones, daß ich mich nicht für ermächtigt
halte, allein in die Aufgabe dieſes Majeſtätsrechtes zu willigen.“
Zum Dritten mißbilligt die Denkſchrift, daß der Staatshaushaltsplan auch den
Vereinigten Ausſchüſſen vorgelegt werden ſolle. Dies kann nur zum Mißbrauch des
Petitionsrechtes führen; „daher werden Conceſſionen des Gouvernements unerläßlich
werden, ſelbſt gegen die beſſere Ueberzeugung deſſelben.“ Alle Finanzſachen gehören viel-
mehr ausſchließlich vor den Vereinigten Landtag.
49*
[772]XXXIV. Der Prinz von Preußen und die Verfaſſungspläne.
Zum Vierten wird das dem Landtage wie den Ausſchüſſen gewährte unbeſchränkte
Petitionsrecht angefochten. Petitionen über Finanzfragen erregen nur Unzufriedenheit;
„Niemand räumt ein, daß er zu viel des Geldes beſitzt; Jeder räumt ein, daß er deſſen
zu wenig habe.“ Auch höhere Politik, die innere wie die auswärtige, eignet ſich nicht
für ſtändiſche Petitionen. Sie wird ohnehin erſchwert durch Preußens Doppelſtellung
als europäiſche und als deutſche Macht. Schon mehren ſich in der Preſſe die Ausfälle
gegen die anderen deutſchen Staaten. Wie bald kann auch „das enge Band zwiſchen
Preußen, Rußland und Oeſterreich, welches durch ſeine Macht bisher den Frieden auf-
recht hielt“, durch Angriffe der Stände gefährdet werden!
Am allerwenigſten darf ſich das Petitionsrecht der Stände auf das Heerweſen er-
ſtrecken. In allen Ländern ſtrebt die Bewegungspartei nach Abſchaffung der ſtehenden
Heere; ſie ſucht ihr Ziel auf Umwegen zu erreichen, verlangt Schwächung der Armeen,
Kommunalgarden ſtatt der Truppen. Für Preußen ſind dieſe Beſtrebungen beſonders
gefährlich wegen unſerer Landwehr. „Daher iſt die Neigung unverkennbar, die Land-
wehr auf Koſten der Linie zu erheben und ihre Trennung von der Linie immer greller
zu machen, und zu beweiſen, daß die ſtrenge militäriſche Form und Disziplin ihr
nicht nöthig ſei und ſie vielmehr die Stelle einer Nationalgarde einzunehmen habe.“
Die Bewegungspartei wird alſo verſuchen, die Dienſtzeit der Linie zu verkürzen und
leicht eine Mehrheit finden, da alle Welt Erſparniſſe verlangt; ſelbſt die Konſervativen
werden den verſteckten Plan nicht erkennen. Dieſer Plan geht dahin, daß der Soldat
die ſtrenge Subordination ſich nicht mehr feſt einprägen, die Uebungen der Landwehr
möglichſt ſelten ſtattfinden ſollen. Dazu die Feindſeligkeit gegen die Offiziere, die Auf-
lockerung der Standesehre, namentlich bei den Offizieren der Landwehr. „Wenn Dis-
cuſſionen und Petitionen gedachter Natur dem Vereinigten Landtage preisgegeben werden
und die Preſſe noch mehr als bisher ſchon geſchehen entfeſſelt wird, iſt das Beſtehen der
preußiſchen Landwehr, wie ſie zur wahren Ehre, zur Wohlfahrt und zum Ruhme des
Vaterlandes vor 32 Jahren geſchaffen wurde, eine völlige Unmöglichkeit!!“ Kann aber
Preußen nicht mehr ſeine Armee im Kriege verdoppeln oder verdreifachen, „ſo tritt Preußen
auch von der Stufe, auf welche ſeine Armee es geſtellt hat, herab.“ — So lebendig ſtand
dem Prinzen ſchon vor Augen, was er nach fünfzehn Jahren ſelbſt erleben und durch-
kämpfen ſollte.
Auch das Petitionsrecht über ſtändiſche Verhältniſſe wollte er den Landſtänden ver-
ſagen: zu nahe liege die Gefahr, daß ſie dies Recht mißbrauchten, um beſtändig über-
zugreifen und, von der Preſſe unterſtützt, die Erweiterung ihrer Befugniſſe zu verlangen.
Werde die Regierung dann widerſtehen können? „Somit ſteht das ganze Gebäude der
ſtändiſchen Verfaſſung in Frage — eine Lage, die gewiß Niemand wollen kann, und der
zu entgehen man heute noch vollkommen die Macht hat.“ Im Weſentlichen wollte die
Denkſchrift alſo die Thätigkeit der Stände auf die Berathung der vorzulegenden Geſetz-
entwürfe beſchränken.
Nach alledem erklärt ſich der Prinz „zu ſeiner tiefſten Betrübniß“ außer Stande,
das Patent über die Berufung des Vereinigten Landtages zu unterzeichnen. Er ſei
nicht gegen die Fortentwickelung der ſtändiſchen Geſetzgebung, denn die alten Verheißungen
müßten erfüllt werden; er ſei auch nicht gegen den gewählten Augenblick, nur gegen die
Art und Weiſe der Erfüllung. Er ſehe „die Rechte, die Würde und die Macht der
Krone gefährdet“, er ahne die Gefahr, daß demnächſt eine Conſtitution ertrotzt werde.
„Da Ew. Majeſtät es oft ausgeſprochen haben, daß eine Conſtitution für Preußen un-
möglich ſei, weil es mit derſelben aufhören würde, Preußen zu ſein, ſo müſſen auch alle
Mittel und Wege vermieden werden, welche unfehlbar zu dieſem Ziele führen müßten.“
Dann fuhr er fort — denn an die Möglichkeit ſeiner eigenen glorreichen Regierung
hat er in jenen Tagen nie gedacht: — Es iſt meine Pflicht, auf die Gefahren aufmerk-
ſam zu machen. „Aber noch eine andere Pflicht nöthigt mich dazu, es iſt der Blick auf
meinen Sohn! Nach dem unerforſchlichen Rathſchluß Gottes ſcheint es beſtimmt zu ſein,
[773]XXXV. Kühne an Bodelſchwingh.
daß die Krone ſich in meiner Linie vererben ſoll! Da iſt es denn meine heilige Pflicht,
darüber zu wachen, daß der Nachfolger auf dem Throne die Krone mit ungeſchmälerten
Rechten und mit der Würde und mit der Macht überkomme, wie ich ſie heute vor mir
ſehe.“ Endlich bittet er den Bruder, die volljährigen Prinzen zu einer Berathung zu
berufen, wie ſie durch das Teſtament des Vaters vorgeſchrieben und vom Könige ſelbſt
im Jahre 1840 beabſichtigt worden ſei. Sollten die Agnaten ſeine Bedenken nicht theilen,
ſo behalte er ſich weitere Ueberlegung vor. So ſchließt er „mit tiefbewegtem Herzen,
Gottes gnädigen Beiſtand wünſchend.“
Am 4. Januar 1847 fügte er eine Nachſchrift hinzu, da die Entwürfe mittlerweile
noch einige Aenderungen erlitten hatten. Auf Befehl des Königs hatte die Commiſſion
den Zuſatz angenommen, daß auch die königlichen Prinzen in den Vereinigten Landtag
eintreten ſollten. Der Thronfolger fand dies nur dann unbedenklich, wenn man den
Herrenſtand ſelbſtändig, für ſich allein tagen ließe; den Stürmen einer großen Ver-
ſammlung, wo „alle Wirren der politiſchen Leidenſchaften ſich zügellos Luft machen“
würden, dürfe man die Prinzen nicht ausſetzen. Auch die inzwiſchen beſchloſſene Ver-
ſtärkung der Herren-Curie genügte ihm nicht: Man muß die Ariſtokratie ganz gewinnen,
indem man ſie ehrt; „denn nur wenn bei ſtändiſchen Inſtitutionen, wie ſie jetzt ge-
ſchaffen werden ſollen, das Zweikammerſyſtem angenommen wird, iſt Heil und Segen
noch für die Zukunft des Vaterlandes zu erwarten.“ —
Als der Vereinigte Landtag verſammelt war, ſtand der Prinz nicht an, ſich ſelber
jenem Sturme politiſcher Leidenſchaften, wovor er kürzlich noch gewarnt, auszuſetzen und
vertheidigte ritterlich die Regierung ſeines königlichen Bruders. Mit der gleichen Selbſt-
verleugnung fügte er ſich ein Jahr nachher in die conſtitutionelle Staatsform; und die
Welt weiß, wie er dann als Herrſcher verſtanden hat, das neue Preußen noch höher zu
erheben, als das alte, Geiſt und Macht des alten preußiſchen Königthums auch unter
der neuen Verfaſſung lebendig zu erhalten. —
XXXV. Kühne an Bodelſchwingh.
Zu Bd. V. S. 614.
Verehrteſte Excellenz.
Ich möchte gar zu gern Sie in dieſen wichtigen Tagen nur auf eine viertel Stunde
— denn die wird’s wohl koſten — ſprechen dürfen, wahrhaftig nicht meinetwegen, ſondern
Ihretwegen und der Sache wegen. —
Ich bin keiner der bange machen will oder leicht bange wird, das müſſen Sie mir
zutrauen, ſonſt zerreißen Sie dieſen Brief, dann werde ich zu Hauſe bleiben d. h. nicht
zu Ihnen kommen, aber doch mitfahren, wo es befohlen wird; aber mit welcher Hoffnung
auf Erfolg? Das hängt viel von der Unterredung ab, die ich mir erbitte.
Ob der König das Recht hat zu ſagen „ſo hab ich’s befohlen und ſo ſoll’s ſein
oder nicht ſein“, darüber ſtreite ich niemals, das ſind Ideologien, um die ich mich
nicht kümmere. Aber was iſt gut, was zweckmäßig, was gegenüber einer von Grund
auf durchwühlten und unterwaſchenen Maſſe durchzuführen?
Da bin ich denn ſo frei, den Unterſchied zwiſchen der Periodicität des vereinigten
Landtags und der vereinigten Ausſchüſſe auch für kaum etwas mehr als für eine Ideo-
logie zu halten. Sie ſind gut und edel und wollen Ihre Zwecke nur mit entſprechenden
Mitteln (entſprechend dieſer Ihrer Geſinnung) durchführen. — Wie aber ſind Ihre Gegner?
Sie ſind im Vertrauen auf die gute Sache, der Sie ſich geweiht haben, tapfer und un-
erſchrocken in der Vertheidigung der Stellung die Sie einmal eingenommen haben (oder
haben einnehmen müſſen) und in den Angriffen gegen die, die Sie daraus vertreiben wollen.
[774]XXXV. Kühne an Bodelſchwingh.
Wie aber ſind die Leute beſchaffen, auf deren Unterſtützung Sie dabei rechnen?
Wenn Ihnen die Folgen deutlich vor Augen ſtehen, die aus der monſtröſen Allianz
erwachſen würden; mögen Sie vorausſetzen, daß die Leidenſchaftlichkeit der in ſich ent-
gegengeſetzten Parteien gleiche Votausſicht bewahren würde? — Preußens Zukunft, die
Frage über das Sein oder Nichtſein des Staates, dem wir beide mit gleicher Innigkeit
zugethan ſind, beruht darauf, daß dieſe Verſammlung der vereinigten Landtage mit Ruhe
und Ordnung in Frieden und Einigkeit mit der Regierung zu Ende geführt werde und
daß die Verſammlung, wenn nicht mit dem Erfolge, doch mit der ſichern Hoffnung aus-
einandergeht, daß mit ihr und durch ſie ein gedeihlicher Grund zum Beſſerwerden
gelegt ſei. — Mißlingt dies, dann haben wir — das ſpreche ich nochmals als meine
innerſte Ueberzeugung aus, kein Mittel mehr, um zu regieren. —
Ich bin wie der Jude Lipke, der von Ihnen lieber eine Ohrfeige als von Andern
einen Händedruck hinnimmt! aber ſelbſt wenn es zu ſolchem Extreme käme, ſo zerreißen
Sie doch lieber dieſen Brief nicht, damit er ein Beweis bleibe, daß ich vielleicht noch
zu rechter Zeit gewarnt habe.
In treueſter Anhänglichkeit und
ehrerbietigſt
Kühne.
B. d. 3. April 47.
Appendix A
Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.
Rien de plus correct.
und Kirche.
bar von Gerlach, 4. Aug. 1840.
König, 24. Juli; Cabinetsordre an Dunin, 29. Juli 1840.
7. Aug. 1840.
lückenhaft. Der wirkliche Hergang ergiebt ſich aus dem Briefe des Prinzen von Preußen,
aus den Andeutungen A. v. Auerswald’s (Der preußiſche Huldigungslandtag i. J. 1840
S. 32 f.), endlich aus den mündlichen Erzählungen Schön’s an Frl. v. Brederlow, die
mir von guter Hand mitgetheilt ſind.
ſeines vertrauten Freundes Francke wiedergiebt.
Briefe werden in Schön’s Papieren (III. 154) nur einige einleitende Worte mitgetheilt.
Die Hauptſätze hat der Herausgeber unterdrückt. Sie ſtehen allerdings in gar zu grellem
Widerſpruche mit der dreiſten Behauptung Schön’s (III. 153): der König hätte ſich
„im Geiſte“ von Woher und Wohin? gegen Flottwell geäußert.
ſ. o. V. 47.
Randbemerkung des Königs. Miniſter Werther, Bericht an den König 15. Jan., deſſen
Weiſung an Werther d. J. 20. Jan. 1840 nebſt Randbemerkungen.
in Paris, 22. Jan., an Werther d. J. 27. 31. Jan. 1840.
26. Dec. 1839.
Charakteriſtiken aus der deutſchen Gegenwart“ (von Uſedom) S. 270 ziemlich genau
erzählt, aber noch von keinem Hiſtoriker beachtet worden. Uſedom’s Mittheilungen werden
beſtätigt und ergänzt durch Bülow’s Bericht v. 3. Juli und Bülow’s Schreiben an
Maltzan v. 9. Juli 1840.
merſton, Neumann, Brunnow an Bülow, 14. Aug. 1840.
Schreiben, 15. Juli 1840.
vertrauliche Weiſung an Apponyi, 4. Aug. 1840.
in Berlin, 27. Juli, an Titow in Konſtantinopel, 20. Juli 1840.
an den König, 23. Sept. 1840.
1841.
9. Juli 1840.
1840.
18. Dec. 1840.
1840.
Berichte von Schöler 4. 12. Sept., von Sydow 31. Oct. 1840.
ſüddeutſchen Staaten“ 1841.
1841.
Von einem Biebricher, als Mſcr. gedruckt Wiesbaden 1841. Fliegendes Blatt: „Selbſt
der ſo lange die Franzoſen“ ꝛc. — ſehr biſſig, aber ganz unmittheilbar.
ſidium, Mainz 2. März 1841.
13. Oct. 1840.
daß der König von Preußen durch Abſendung des Generals Dohna die friedliche Wen-
dung der franzöſiſchen Politik mit bewirkt hätte, beruht auf einer Verwechslung. Graf
Dohna war 1840 gar nicht in Paris, ſondern i. J. 1837, zum Beſuche der Manöver.
1840, Bülow’s Bericht 21. Aug. 1840.
Sept. 1840.
Weiſungen an Bülow 9. 11. Nov. 1840.
Bülow 24. Oct. 1840.
12. 25. 31. Oct. a. St. 1840.
an Arnim 17. Nov., an Bülow 19. Nov. 1840.
21. Jan. 1841.
20. März 1841.
burg 20. Nov. a. St. 1850. S. Beilage 19.
Febr., Arnim in Paris 12. Febr. 1841.
Eichhorn, 9. Jan. 1843.
Bericht an den König, Jeruſalem 3. Apr. 1848.
Nov. 1841. Perſönliche Bedenken gegen die beiden anderen Vorgeſchlagenen lagen nicht
vor; die Erzählung in Stockmar’s Denkwürdigkeiten S. 385 iſt nicht ganz richtig.
1841.
1842.
zollern-Hechingen an Dönhoff, 7. Mai 1844.
Königs.
v. Below an den König 25. März 1841.
April 1841.
Rother, Alvensleben, Voß, 11. Febr. 1841. S. o. IV. 189. 544.
Könige überreicht.
Bericht an den König, 24. Febr. 1841.
IV. 62.
1841.
Rochow’s Bericht an den König, 13. Mai 1841.
Rochow’s Bericht vom 21. Mai 1842.
den König, 14. April; Thile’s Bericht an den König, 24. April 1842.
abgedruckt in den „Aufzeichnungen über die Vergangenheit der Familie Dohna“ vom
Grafen Siegmar Dohna. Thl. 4. Text-Heft B. Berlin 1885 (Mannſcript).
commiſſion vom 11. Juni; Arnim an Thile, 12. Juni 1842.
ſchüſſe, 28. Sept. 1842.
24. Jan. 1842.
21. — 29. Oct; von Arnim 3. — 9. Nov. 1842.
zum 15. Nov. 1843.
an das k. Cabinet, 12. Sept. 1842.
chenfeld, 14. März 1841.
1843.
ſchrift des Auswärtigen Amts. 9. Nov. 1844.
1842.
v. Gerlach.
14. Febr. 1843.
Savigny an Thile 23. Febr. 1843.
27. Dec. 1843.
rüber, o. D., Anfang 1840.
an Thile, 22. Dec. 1842.
an den König, 2. April 1843.
ſchriften: über das Petitionsrecht, über die Veröffentlichung der Landtagsverhandlungen,
über das Verfahren der Verwaltung gegenüber den Landtagen.
ſidenten erläutert worden.
niſchen Ztg. wortgetreu veröffentlicht. Es fehlen aber in dieſem Abdruck einige Sätze
des eigenhändigen Concepts, die möglicherweiſe in der letzten Stunde noch geſtrichen
worden ſind.
19. 24. Aug. 1845.
frau Martin, 17. Nov. 1841 u. ſ. w.
fehle des Königs, 5. Nov. 1840.
Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Jan. 1841.
König, 25. Oct. 1840.
24. April 1841.
Brühl’s Bericht, 21. Juli 1841.
ordre an Eichhorn, 24. Febr. 1841.
an Eichhorn, 16. Juni; Berichte des Oberpräſidenten Merckel, 19. Juni, 27. Aug. 1841.
13. Jan., Culm 13. Jan., Trier 16. Jan., Paderborn 18. Jan., Köln 20. Jan.
1841 u. ſ. w.
Mitglied des Breslauer Domcapitels (vermuthlich Ritter).
ſterialſchreiben an Bernſtorff, 12. 13. Nov. 1845.
Rupert von Scheyern, 9. Juli 1842.
proteſtantiſchen Kirche, Febr. 1840.
Nürnberg 12. Sept. 1840, lithographirt; ſpäterhin abgedruckt in General v. Aſter’s
Betrachtungen und Urtheilen (herausgegeben von Eilers, Saarbrücken 1858) I. 251.
6. Nov. 1841.
über Baden, 10. Dec. 1846.
land, 21. Mai 1840; neuer Verſuch zur Ausgleichung des Streites über die Einſegnung
gemiſchter Ehen, Jan. 1841.
9. Dec. 1834.
Seine Erzählung iſt, wie ſich von ſelbſt verſteht, in allem Weſentlichen zuverläſſig; doch
ſtammt ſie unverkennbar erſt aus ſpäterer Zeit und enthält daher einige leicht erklärliche
kleine Ungenauigkeiten.
Innern an Canitz, 11. Oct. 1845.
Curator Pernice in Halle an Eichhorn, 16. 20. Aug. 1845.
1845 u. ſ. w. Canitz an Bodelſchwingh, 20. Oct. 14. Dec. 1845.
horn und Bericht an den König, 6. Sept. 1845.
1845.
1847.
Berichte 25. Jan. 1847 ff.
Protokoll der Miniſterconferenz 13. Dec.; Snethlage an Thile, 14. 16. Dec.; Thile’s
Antwort, 16. Dec. 1846.
30. März 1847. Miniſterialprotokoll 20. Dec. 1846.
lichen Aufſatz von O. Mejer über Miniſter Eichhorn (Biographiſches. S. 319 ff.).
rath Grubitz (mit Randbemerkungen des Königs), 16. Mai; König Friedrich Wilhelm an,
Thile, 29. Mai; Thile’s Bericht, 18. Juni 1846.
verſtorbenen Freunde E. Herrmann in manchen Geſprächen verſichert worden.
Berlin 17. Febr. 1843. Vgl. Beilage 30.
de Boſch Kemper wagt darüber nur Vermuthungen (Geschiedenis van Nederland
na 1830. IV. 56).
Wilhelm II., 30. Sept. 1841.
6. Oct. 1841.
leben und Thile, 3. Jan.; von Thile, 3. Jan. 1842.
von König Friedrich Wilhelm. Bunſen an Thile, 29. Jan.; König Friedrich Wilhelm
an König Wilhelm II., 29. Jan. 1842.
des braunſchw. Staatsminiſteriums an das preußiſche Min. d. A. A. 28. März 1841.
vensleben, 21. April 1841.
Bülow’s Berichte an den König, 17. Mai 1844.
1844.
Cabinetsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842.
1844.
Fiſcher über die Eiſenbahnlinien.
21. Febr. 1843.
1843, von Flottwell und Canitz, 30. Okt. 1845.
von Rother 9. Dec. 1844, von Flottwell 16. Jan. 1845. König Friedrich Wilhelm an
Flottwell 18. März, 17. Okt. 1845. Eingabe des preußiſchen Provinziallandtages an
den König, 1. Febr. 1845. Protokoll des Staatsminiſteriums, 13. Nov. 1845.
16. März 1847.
ſeebahn. März 1842.
an Thile 1. Nov. 1845.
über das Promemoria des Finanzminiſters 22. Juli 1846.
Cabinetsordre an Arnim, 3. Aug. 1846.
Graf Arnim, 16. Mai 1845.
Abtheilung des franzöſiſchen Miniſteriums des Innern, 17. Juni 1845 durch Graf
Arnim nach Berlin geſendet.
Antwort 19. März; Berichte an den König, vom Miniſter Graf Arnim 24. März, von
Mathis 9. April; Thile, Weiſung an Graf Arnim, 26. April 1845.
Brunnow an Neſſelrode, 8. April 1845.
Ich kenne aus dieſem Aperçu nur einige Citate, welche V. Hehn in ſeiner Denkſchrift
„Einblick in die Auswärtige Politik des Kaiſer Nikolaus“ (Petersburg, März 1857)
mittheilt.
22. Febr. (a. St.) 1844.
Bericht, Wien, 7. Aug. 1843.
ſchwingh an Canitz, 21. Dec. 1846.
durch Rochow nach Berlin überſendet 26. Dec. 1846 — nur mit Vorſicht zu benutzen.
Metternich 29. März 1846.
3. Mai 1846.
freien Stadt Krakau für den ſchleſiſchen Handel. 30. April 1846. (Vermuthlich aus
dem Handelsamte.)
dorff, 31. Dec. a. St. 1846.
13. Jan. 1847.
1847.
Canitz an Werner, 8. April 1847.
vom 5. Dec. 1846.
1846.
Denkſchrift: die Beſchlüſſe der drei Mächte in Beziehung auf Krakau.
ſtellvertretenden Bundesgeſandten Blittersdorff, 19. April 1847.
1846, von Bernſtorff, München, 1. Febr., von Dönhoff, Frankfurt, 24. April 1847.
April 1846.
gationsraths Grafen v. Bülow (Notizen für Kopenhagen, für General von Gerlach,
Berlin, Febr. 1848).
24. Dec. 1811.
an Franz Hegewiſch, 14. März, 3. April 1844.
1847.
1848.
1847.
(etwa 1847).
6. Nov. 1845.
1846.
1847. S. Beilage 34.
13. März; Berichte von Thile, 8. März, von Bodelſchwingh und Uhden, 20. März 1847.
1847 an Bodelſchwingh.
Denkſchrift vom 10. Juni 1847.
Auguſt’s.
mann, 8. Juli, Bötticher, 5. Aug. 1847.
10. Dec. 1847; Cabinetsordre an das Staats-Min., 4. Jan. 1848.
1833.
gegenwärtige Lage der ſtändiſchen Verfaſſungsverhältniſſe“, Nov. 1847.
5. Juni 1846.
Januar und im Juli 1846 geſchrieben.
mit deutſcher Ehrlichkeit aufgeklärt. Er geſteht, wie begreiflich, nicht die ganze Wahr-
heit; aber er geſteht viel mehr als Stockmar, Bulwer, Martin und andere engliſch-
coburgiſche Berichterſtatter, und er ſagt genug, um unbefangenen Deutſchen ein gerechtes
Urtheil zu ermöglichen.
bar zuverläſſigen Berichte, welcher dem preußiſchen Auswärtigen Amte am 25. Nov. 1846
von einem Madrider Agenten erſtattet wurde.
Denkſchrift über den Utrechter Frieden, Nov. 1846.
würdigkeiten ausgeſprochen.
1847.
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- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpq3.0